PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II]
Staatengeſchichte der neueſten Zeit.
Fünfundzwanzigſter Band.
Deutſche Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert Zweiter Theil.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1882.
[III]
Deutſche Geſchichte im Neunzehnten Jahrhundert
Zweiter Theil. Bis zu den Karlsbader Beſchlüſſen.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1882.
[IV]
[V]

Vorwort.

Den Fachgenoſſen bietet dieſer Band mehr Ergebniſſe neuer For - ſchung als der erſte. Ungelehrte Leſer werden leider einiger Selbſtüber - windung bedürfen um ſich in den ſpröden Stoff zu finden.

In einer Epoche weltbewegender Ereigniſſe, wie ſie der erſte Band zu ſchildern hatte, läßt ſich die bunte Mannichfaltigkeit der deutſchen Ge - ſchichte noch einigermaßen überſichtlich zuſammenfaſſen. Sobald es aber gilt, in einer ſtillen Friedenszeit die unſcheinbaren Keime neuer Entwick - lungen aufzuweiſen, dann empfindet der Hiſtoriker am eigenen Leibe den Fluch eines zerſplitterten nationalen Lebens. Streng nach der Zeitfolge zu berichten, was ſich auf zwanzig und mehr kleinen Bühnen zugleich ereignete, iſt ſchlechthin unmöglich. Ich habe alſo die geſammtdeutſchen und die preußiſchen Zuſtände wieder in den Mittelpunkt der Erzählung geſtellt und die Geſchichte der kleinen Bundesſtaaten überall da angereiht, wo ſie für die Schickſale des geſammten Vaterlandes bedeutſam wird. Daher ſind in dieſem Bande die ſüddeutſchen Verfaſſungskämpfe und die literariſch-politiſche Bewegung in Thüringen ausführlich behandelt. Für die Betrachtung der kleinen norddeutſchen Staaten wird ſich im dritten Buche die rechte Stelle finden, wenn die Frage zu beantworten iſt: warum der Süden früher als der Norden in die preußiſche Zollgemein - ſchaft eintrat? Daß ich die erſten Verhandlungen des Bundestags, trotz ihrer Nichtigkeit, gründlich beſprochen habe, bedarf kaum der Recht - fertigung. Ohne ein lebendiges Bild von dem Charakter der neuen Bundesgewalt bliebe der weitere Verlauf der Ereigniſſe unverſtändlich.

In den Anmerkungen ſind zumeiſt nur ungedruckte Aktenſtücke an - gegeben, da literariſche Nachweiſungen den Umfang des Buches allzu ſehr angeſchwellt hätten. Er iſt ohnehin ſtärker geworden als ich wünſchte. Eine ſo verworrene, durch Parteimärchen entſtellte Geſchichte kann nurVI in einer eingehenden Darſtellung bewältigt werden, und ich habe mich entſchließen müſſen, die Ereigniſſe bis zum Jahre 1830 auf zwei Bände zu vertheilen.

Dieſe Blätter enthalten der ſchmerzlichen Erinnerungen viel. Wollte ich den Stimmungen des Augenblicks nachgeben und als ein Parteimann Geſchichte ſchreiben, ſo würde ich über manche alte Sünden Oeſterreichs und der deutſchen Kronen gern einen Schleier werfen; denn in der heutigen Ordnung der deutſchen Dinge zeigt ſich unſer hoher Adel ein - ſichtiger, opferwilliger als ein großer Theil des Bürgerthums, und an der Freundſchaft, welche unſeren Staat mit Oeſterreich verbindet, wird nur ein Thor rütteln wollen. Meine Aufgabe war das Geſchehene getreu zu erzählen. Es kann dem Beſtande der Monarchie in unſerem Vaterlande nur förderlich ſein, wenn Deutſchlands Fürſten der trüben Tage nicht vergeſſen, da ihre Ahnen nahe daran waren ſich dem Leben der Nation ganz zu entfremden; unſer freier Bund mit Oeſterreich aber wird um ſo feſter ſtehen, je unbefangener man hüben und drüben aner - kennt, daß Deutſchland berechtigt war die Herrſchaft des Wiener Hofes nicht länger mehr zu ertragen.

Mit allen ihren Irrthümern und Enttäuſchungen war die verrufene Zeit, welche dieſer Band ſchildert, nicht blos reich an wiſſenſchaftlichem Ruhm, ſondern auch fruchtbar für unſer politiſches Leben. Habe ich den Ton nicht ganz verfehlt, ſo wird den Leſern der Eindruck bleiben, daß ſie die Geſchichte eines aufſteigenden Volkes vor ſich ſehen.

Rom, 20. Oktober 1882.

Heinrich von Treitſchke.

[VII]

Inhalt.

Zweites Buch. Die Anfänge des Deutſchen Bundes. 1814 1819. (Schluß.)

  • Seite
  • 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre3
  • Literariſcher Charakter des Zeitalters3
  • Dichtung und bildende Künſte16
  • Die Wiſſenſchaft58
  • 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages118
  • Europäiſche Lage118
  • Die Frankfurter Verhandlungen131
  • 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates181
  • Perſonen und Parteien am Hofe181
  • Die Reorganiſation der Verwaltung193
  • Die Provinzen244
  • Der Beginn des Verfaſſungsſtreites278
  • 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe295
  • Das gute alte Recht in Schwaben297
  • Baiern323
  • Baden354
  • Naſſau und Darmſtadt375
  • 7. Die Burſchenſchaft383
  • Jahn und die Turner383
  • Thüringen. Weimar und Jena395
  • Das Wartburgfeſt424
  • 8. Der Aachener Congreß444
  • Wachſende Macht des öſterreichiſchen Hofes444
  • Räumung Frankreichs. Erneuerung des Vierbundes467
  • Deutſche Angelegenheiten auf dem Congreſſe479
  • 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe491
  • Schwankungen in Berlin. Erſte conſtitutionelle Erfahrungen im Süden491
  • Kotzebues Ermordung. Die Demagogenverfolgung519
  • Teplitz und Karlsbad550
  • 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe573
  • Die Karlsbader Beſchlüſſe und das Ausland573
  • Der Verfaſſungsplan Hardenbergs. Humboldts Entlaſſung588
  • Der erſte preußiſche Zollvertrag607
VIII

Beilagen zu den erſten zwei Bänden.

  • Seite
  • I. E. M. Arndt und Wrede629
  • II. Blücher über die Lütticher Meuterei632
  • III. Die Teplitzer Punktation632
  • IV. Hardenbergs Verfaſſungsplan635
  • V. Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819637

Berichtigungen.

  • Seite 10, Zeile 15 v. o. lies: längere oder kürzere.
  • 31, 3 v. u. lies: Oeſterberge.
  • 40, 6 v. o. ſtatt Großinquiſitor lies: Ketzerrichter.
  • 43, 8 v. u. lies: Niemand wirken kann.
  • 127, 19 v. u. lies: unbequeme.
  • 208, 17 v. u. lies: befürwortete.
  • 338, 6 v. o. lies: aller.
  • 390, 19 v. u. lies: Karl Theodor.
  • 407, 13 v. u. lies: verbreiteten.
  • 456, 8 v. u. lies: zurechtgewieſen.
[1]

Zweites Buch. Die Anfänge des Deutſchen Bundes. 1814 1819. (Schluß.)

[2][3]

Dritter Abſchnitt. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Weſen. Namentlich in jenen müden Epochen, welche den Entſcheidungsſtunden des Völkerlebens zu folgen pfle - gen, täuſchen ſich die Muthigen und Hochherzigen oft vollſtändig über die treibenden Kräfte des Zeitalters. Vor dem Kriege hatte Niemand geahnt, wie viel Tapferkeit und Bürgerſinn, wie viel Opfermuth und edle Leiden - ſchaft in dem Volke des deutſchen Nordens ſchlummerte; jetzt, da alle dieſe verborgenen Tugenden ſich ſo herrlich bewährt hatten, wollten die erregten Wortführer der Patrioten ſchlechterdings nicht glauben, daß die hohe Begeiſterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war, wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensſchluß wer hätte das beſtritten? waren ja doch nur darum mißrathen, weil das Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht theilnehmen durfte; um ſo gewiſſer mußte die Nation, ſobald ſie nur die verheißenen land - ſtändiſchen Verfaſſungen erhalten hatte, ſich mit Eifer und Verſtändniß ihrer Angelegenheiten ſelbſt bemächtigen und die irrenden Cabinette in die Bahnen nationaler Staatskunſt zurückführen. In ſolchem Sinne ſchrieb Arndt beim Anbruch des erſten Friedensjahres: noch in dieſem Jahre 1816 ſoll zwiſchen den Herrſchern und den Völkern das Band der Liebe und des Gehorſams unauflöslich gebunden werden. Er ſah die Thore eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erſt die ſchöne Neugeborene dieſes Jahres, die verfaſſungsmäßige Freiheit, in alle deutſchen Staaten einzieht, dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einſamen Bräute und Wittwen ſüßere Thränen!

Der Hoffnungsvolle ſollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er Charakter und Geſinnung ſeines Volkes verkannt hatte. Die Nation ſtand erſt auf der Schwelle einer langen, an Irrthum und Enttäuſchung reichen politiſchen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als die ge - waltigſte Königin des Lebens pries, zeigte für die Fragen des Verfaſſungs - weſens nur geringes Verſtändniß, kaum noch ernſtliche Theilnahme. Den einſamen Wittwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt1*4II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.das Schwert mit dem Pfluge und dem Hobel vertauſchten, brannte die Noth auf den Nägeln; ſie ſorgten, wie ſie ſich nur das arme Leben friſten, wie ſie nur wieder Hütten bauen ſollten auf dem ausgeplünderten Schlacht - felde des Völkerkrieges. Deutſchland war wieder das ärmſte von allen Ländern Weſteuropas; in manchen Strichen der Mark Brandenburg be - gann zum fünften male das ſchwere Ringen um die erſten Anfänge bür - gerlichen Wohlſtandes. Mit ruhigem Gottvertrauen gingen die kleinen Leute wieder an ihr ſchweres Tagewerk und trugen geduldig das Loos der Entbehrung, das ihnen als Lohn ſo vieler Siege zufiel. Jener Geiſt der Unruhe und Verwilderung, der gemeinhin nach großen Kämpfen noch eine Zeit lang im Gemüthe der Maſſen nachzuzittern pflegt, zeigte ſich nirgends unter den frommen und genügſamen Menſchen, die dieſen heiligen Krieg geſchlagen hatten. Aber in dem Gedränge der wirthſchaftlichen Sorgen blieb auch kein Raum für die politiſche Leidenſchaft. Sogar die Erinne - rung an alle die Wunder der jüngſten drei Jahre fand ſelten lauten Aus - druck, obwohl ſie in den treuen Herzen ſtill fortlebte. Zwei, dreimal noch flammten am Abend des achtzehnten Oktobers die Freudenfeuer auf den Bergen; dann verſtummte die Feier, hier vor den Verboten der Polizei, dort vor der Gleichgiltigkeit der Menge. Auffällig gering blieb in dieſem ſchreibluſtigen Geſchlechte die Zahl der Volksbücher und Holzſchnitte, welche der Nation von der ſchönſten Zeit ihrer neuen Geſchichte erzählten. Ein geſpreiztes Bild, die Rückkehr des jungen Helden , ſah man zuweilen an den Wänden guter Bürgerhäuſer, die ihre Söhne unter die freiwilligen Jäger geſchickt hatten; auf den Jahrmärkten und in den Dorfſchenken war ſelbſt das Bildniß Blüchers, des volksthümlichen Helden, faſt nirgends zu finden.

Auch unter den Gebildeten waren es im Grunde nur drei ſcharf getrennte Kreiſe, welche ſich die gehobene Stimmung, die ſtolzen vater - ländiſchen Hoffnungen der Kriegsjahre noch im Frieden lange bewahrten: das preußiſche Offiziercorps, die akademiſche Jugend, endlich eine mäßige Anzahl von patriotiſchen Schriftſtellern und Gelehrten, die man jetzt mit dem neuen ſpaniſchen Parteinamen der Liberalen zu bezeichnen anfing. Die preußiſchen Offiziere lebten und webten in den Erinnerungen der Feldzüge; ſie blickten mit ſtarkem Selbſtgefühl auf den wiederhergeſtellten Glanz ihrer Fahnen, mit Unmuth auf den gebrechlichen Bau des deut - ſchen Bundes und das traurige Ergebniß der Friedensverhandlungen. Während des Kampfes hatten ſie die kriegeriſche Kraft des Bürgerthums achten gelernt, manchen tapferen Kameraden aus den Reihen der Frei - willigen in ihren Kreis aufgenommen. Nun wurde ihnen durch das neue Wehrgeſetz die Erziehung der geſammten wehrhaften Jugend anvertraut, ſie traten mit allen Klaſſen des Volkes in Verkehr und bewahrten ſich auch den freien, einſt durch Scharnhorſt geweckten wiſſenſchaftlichen Sinn; der Kaſtenhochmuth der alten Zeit kehrte nur in vereinzelten Rückfällen5Politiſche Ermüdung.wieder. Aber obſchon die fremden Mächte und die kleinen deutſchen Höfe alleſammt den nationalen Stolz und das friſche geiſtige Leben dieſes Volks - heeres voll Argwohns beobachteten, ſo blieb die ſtreng monarchiſche Geſin - nung der Offiziere doch allen Parteibeſtrebungen völlig unzugänglich. Ihre Kameraden von der ruſſiſchen Garde hatten in Frankreich zum erſten male die Ideen der Revolution kennen gelernt und von dort radikale Anſchau - ungen mit heim genommen, welche nachher in thörichten Verſchwörungen ihre Früchte trugen. Auf die preußiſchen Offiziere dagegen wirkte der Anblick des allgemeinen Eidbruchs und der wilden Parteikämpfe der Fran - zoſen nur abſchreckend; ſie fühlten ſich wieder, wie in den neunziger Jah - ren, ſtolz als Gegner der Revolution, ſie rühmten ſich der alten preußi - ſchen Königstreue und ſchätzten die neue conſtitutionelle Doktrin ſchon darum gering, weil ſie aus Frankreich ſtammte. Selbſt Gneiſenau, der noch vor’m Jahre die ſchleunige Vollendung der preußiſchen Verfaſſung gefordert hatte, kehrte mit veränderter Geſinnung heim und rieth drin - gend, die Ausführung ſolcher Entwürfe nur langſam reifen zu laſſen. *)Gneiſenau an Müffling, 25. März 1816.Der einzige politiſche Gedanke, der in den Briefen und Geſprächen dieſes Heeres mit Leidenſchaft erörtert wurde, war die Hoffnung auf einen dritten puniſchen Krieg, der den Deutſchen endlich ihre alte Weſtgrenze und eine angeſehene Stellung unter den Völkern zurückbringen ſollte.

Ungleich erregter zeigte ſich die Stimmung der jungen Freiwilligen, die jetzt von den Regimentern zu den Hörſälen der Hochſchulen zurück - kehrten. Vaterländiſche Begeiſterung und religiöſe Schwärmerei, Groll über den faulen Frieden und unklare Vorſtellungen von Freiheit und Gleichheit, die man unbewußt zumeiſt von den verachteten Franzoſen ent - lehnt hatte, das Alles brodelte in den Köpfen dieſer teutoniſchen Jugend wirr durch einander und erzeugte eine edle Barbarei, die nur noch die Tugenden des Bürgers gelten ließ und ſich zu dem Ausſpruch Fichtes bekannte: beſſer ein Leben ohne Wiſſenſchaft, als eine Wiſſenſchaft ohne Leben. Indeß der überſpannte Nationalſtolz des Teutonenthums wider - ſprach allzuſehr der freien Weitherzigkeit unſeres weltbürgerlichen Volkes, das gar nicht vermag, auf die Dauer gegen fremdes Weſen ungerecht zu ſein; die zur Schau getragene Verachtung aller Anmuth und feinen Bil - dung war allzu undeutſch, das ganze halb kindlich rührende, halb lächer - liche Gebahren dieſes anmaßlichen Studentenſtaates trug allzu ſehr den Charakter des Sektenweſens, als daß ſein politiſcher Fanatismus hätte auf weite Kreiſe wirken können. Es blieb bei der alten Regel, daß die Fünfzig - und Sechzigjährigen die Welt regieren. Unter den älteren Män - nern aber fanden die politiſchen Wächterrufe der patriotiſchen Schrift - ſteller zwar vereinzelte Zuſtimmung; die ſtarke Leidenſchaft, welche die That gebiert, erweckten ſie nicht.

6II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Sicherer als Arndt durchſchaute Hegel den Geiſt der Zeit, da er ſagte: die Nation hat ſich aus dem Gröbſten herausgehauen, ſie kann ſich nun wieder nach Innen, zum Reiche Gottes wenden. Die mächtigen Akkorde, welche das Zeitalter unſerer claſſiſchen Dichtung angeſchlagen, hallten noch fort; noch waren die reichen Schachte, die ſich ſeit zwei Men - ſchenaltern der geiſtigen Arbeit der Nation erſchloſſen hatten, keineswegs erſchöpft. Der Ehrgeiz dieſes durchaus unpolitiſchen Geſchlechts trachtete noch immer, unbekümmert um alle Proſa des äußeren Lebens, faſt allein nach den Kränzen des Reiches der Geiſter. Seinen beſten Männern er - ſchien die Zeit der napoleoniſchen Kriege bald nur wie eine Epiſode, wie ein Hagelſchauer, der über den blühenden Garten deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft dahingebrauſt war. Wie die kleinen Leute wieder zur Pflug - ſchaar griffen, ſo nahmen die Gebildeten die Feder wieder auf, doch nicht wie Jene mit ſtiller Entſagung, ſondern mit dem frohen Bewußtſein, ſich ſelber und ihrem eigenſten Leben wieder anzugehören. Wunderbar grell trat jener innere Widerſpruch hervor, der ſich ſeit dem Aufblühen der neuen Literatur in dem Charakter unſeres Volkes herausgebildet hatte: dieſe tapferen Germanen, die ſchon in den Sagen ihrer heidniſchen Urzeit beſtändig von Krieg und Sieg geträumt und ſeitdem in jedem Jahrhun - dert die Welt mit dem Schalle ihrer Schwerter erfüllt hatten, ſchätzten den kriegeriſchen Ruhm niedriger als irgend ein anderes Volk; ſie lebten des Glaubens, Deutſchlands ſchärfſte Waffen ſeien ſeine Gedanken.

Das Jahrzehnt nach Napoleons Sturz wurde für den ganzen Welt - theil eine Blüthezeit der Wiſſenſchaften und Künſte. Die Völker, die ſoeben noch mit den Waffen aufeinander geſchlagen, tauſchten in ſchönem Wetteifer die Früchte ihres geiſtigen Schaffens aus; nie zuvor war Europa dem Ideale einer freien Weltliteratur, wovon Goethe träumte, ſo nahe gekommen. Und in dieſem friedlichen Wettkampfe ſtand Deutſchland allen voran. Welch eine Wandlung der Zeiten ſeit jenen Tagen Ludwigs XIV., da die Cultur unſeres Volkes bei allen anderen Nationen des Abendlandes demüthig in die Schule gehen mußte! Jetzt huldigte die weite Welt dem Namen Goethes. Die winkligen Gaſtzimmer im Erbprinzen und im Adler zu Weimar wurden nicht leer von vornehmen Engländern, die den Fürſten der neuen Dichtung beſuchen wollten. In Paris genoß Alexander Hum - boldt eines Anſehens, wie kaum ein einheimiſcher Gelehrter; wenn ein Fremder in den Miethwagen ſtieg und die Hausnummer des großen Rei - ſenden nannte, dann griff der Kutſcher achtungsvoll an den Hut und ſagte: ah chez Mr. de Humboldt! Und da Niebuhr als preußiſcher Geſandter nach Rom kam, wagte ihm Niemand in der Weltſtadt den Ruhm des erſten Gelehrten zu beſtreiten.

Von unſerem Staate, von ſeinen Waffenthaten ſprach das Ausland wenig. Allen fremden Mächten kam das plötzliche Wiedererſtarken der Mitte des Welttheils ungelegen, ſie alle bemühten ſich wetteifernd den7Literariſcher Charakter des Zeitalters.Antheil Preußens an der Befreiung Europas der Vergeſſenheit zu über - geben. Keiner der ausländiſchen Kriegsſchriftſteller, welche in dieſen Jahren die Geſchichte der jüngſten Feldzüge darſtellten, ward den Verdienſten des Blücherſchen Hauptquartiers irgend gerecht. Das alte Anſehen der preu - ßiſchen Armee, die in Friedrichs Tagen Jedermann als die erſte der Welt gefürchtet hatte, war durch die Siege von Dennewitz und Belle Alliance keineswegs wiederhergeſtellt. Da der wirkliche Verlauf eines Coalitions - krieges ſich nur ſchwer überſehen läßt, ſo beruhigte ſich die öffentliche Mei - nung Europas gern bei dem einfachen Schluſſe: als die Preußen bei Jena allein fochten, wurden ſie geſchlagen, nur fremde Hilfe hat ſie gerettet. Daher kümmerte ſich auch Niemand im Auslande um die politiſchen In - ſtitutionen, denen Preußen ſeine Freiheit verdankte. Preußen blieb nach wie vor der am Wenigſten bekannte und am Gründlichſten verkannte Staat Europas. Vollends der neue Regensburger Reichstag, der jetzt in Frankfurt zuſammentrat, erregte durch ſein unfruchtbares Gezänk den Spott des Auslandes; und bald nach der wunderbaren Erhebung unſeres Volkes ſtand bei allen Nachbarn wieder die alte bequeme Meinung feſt: die deutſche Nation ſei durch den weiſen Rathſchluß der Natur zu ewiger Ohnmacht und Zwietracht beſtimmt. Um ſo bereitwilliger erkannte man nunmehr die geiſtige Größe dieſes machtloſen Volkes an; allein ihren Künſtlern und Gelehrten verdankten die Deutſchen, daß ſie von den alten Culturvölkern des Weſtens wieder zu den großen Nationen gerechnet wur - den. Sie hießen jetzt im Auslande das Volk der Dichter und der Den - ker; nur ſollten ſie auch bei der Theilung der Erde zufrieden ſein mit dem Poetenlooſe, das ihnen Schiller geſchildert, und ſich begnügen, be - rauſcht vom göttlichen Lichte das Irdiſche zu verlieren.

Zum erſten male ſeit den Zeiten Martin Luthers machten Deutſch - lands Gedanken wieder die Runde durch die Welt, und ſie fanden willi - gere Aufnahme als vormals die Ideen der Reformation. Deutſchland allein hatte die Weltanſchauung des achtzehnten Jahrhunderts ſchon gänz - lich überwunden. Der Senſualismus der Aufklärung war längſt ver - drängt durch eine idealiſtiſche Philoſophie, die Herrſchaft der Verſtandes durch ein tiefes religiöſes Gefühl, das Weltbürgerthum durch die Freude an nationaler Eigenart, das Naturrecht durch die Erkenntniß des leben - digen Werdens der Völker, die Regeln der korrekten Kunſt durch eine freie, naturwüchſige, aus den Tiefen des Herzens aufſchäumende Poeſie, das Uebergewicht der exakten Wiſſenſchaften durch die neue hiſtoriſch-äſthe - tiſche Bildung. Dieſe Welt von neuen Gedanken war in Deutſchland durch die Arbeit dreier Generationen, der claſſiſchen und der romanti - ſchen Dichter, langſam herangereift, ſie hatte unter den Nachbarvölkern bisher nur vereinzelte Jünger gefunden und drang jetzt endlich ſiegreich über alle Lande.

Mit wunderbarer Spannkraft nahm Frankreich nach dem langen8II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.dumpfen Schlummer der Kaiſerzeit ſeine geiſtige Arbeit wieder auf. Das Buch der Frau von Staël über Deutſchland, das die napoleoniſchen Cenſoren als eine Beleidigung des nationalen Stolzes zurückgewieſen hat - ten, kam jetzt in Jedermanns Hände, warb überall Anhänger für die deutſchen Ideen, die man hier in Bauſch und Bogen als Romantik be - zeichnete. Die Herrſchaft der ſenſualiſtiſchen Philoſophie brach zuſam - men vor der Kritik der Doktrinäre; ein dichter Kreis bedeutender Ta - lente, Mignet, Guizot, die Thierrys eröffneten den Franzoſen das Ver - ſtändniß der hiſtoriſchen Welt. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ſelbſt den radikalen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts noch als die Epoche claſſiſcher Formenſchönheit gegolten hatte, begann ſein Anſehen zu ver - lieren, und bald erhob ſich eine neue Dichterſchule, welche Frankreich von dem Banne der akademiſchen Regeln befreite, alſo daß Victor Hugo von ſeinem Volke mit einiger Wahrheit ſagen konnte: die Romantik iſt in der Literatur, was der Liberalismus in der Politik. Noch ſtärker und unmittelbarer war der Gedankenaustauſch zwiſchen Deutſchland und Eng - land; die Deutſchen zahlten jetzt den Briten heim, was ſie einſt von Shakeſpeare und Sterne empfangen. Walter Scott, der fruchtbarſte und beliebteſte Dichter des Zeitalters, ging bei Bürger und Goethe in die Schule und ſchöpfte aus dem tiefen Borne der Sagen und Volkslieder, welchen die Deutſchen der Welt erſchloſſen hatten; durch ſeine hiſtoriſchen Romane wurden die breiten Maſſen der europäiſchen Leſewelt erſt für die romantiſchen Ideale gewonnen. Auch einige Italiener, Manzoni vor Allen, lenkten in die Bahn der neuen Dichtung ein; zur unbeſtrittenen Herrſchaft freilich konnte die romantiſche Poeſie in dieſem halb-antiken Volke ebenſo wenig gelangen, wie einſt die nordiſche Kunſtform der Gothik.

Ueberall erwachten die Geiſter. In Deutſchland ſelbſt erſchien der Reichthum dieſer fruchtbaren Epoche minder auffällig, als in den Nachbar - landen; denn die claſſiſche Zeit unſerer Dichtung war kaum erſt vorüber, die große Mehrzahl der jungen Poeten nahm ſich neben den Heroen jener großen Tage wie ein Geſchlecht von Epigonen aus. Um ſo mächtiger und fruchtbarer entfaltete ſich die ſchöpferiſche Kraft des deutſchen Genius auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft. Faſt gleichzeitig ließen Savigny, die Grimms, Boeckh, Lachmann, Bopp, Diez, Ritter ihre grundlegenden Schriften er - ſcheinen, während Niebuhr, die Humboldts, Eichhorn, Creuzer, Gottfried Hermann auf ihren eingeſchlagenen Wegen rüſtig weiterſchritten. Unauf - haltſam fluthete der Strom neuer Gedanken dahin. Es war ein Gedränge von reichen Talenten wie einſt, da Klopſtock den jungen Tag der deutſchen Dichtung heraufführte. Und wie vormals die Bahnbrecher unſerer Poeſie, ſo erſchien auch dies neue Gelehrtengeſchlecht ganz durchglüht von un - ſchuldiger jugendlicher Begeiſterung, von einem lauteren Ehrgeiz, der auf der Welt nichts ſuchte als die Seligkeit der Erkenntniß und die Mehrung deutſchen Ruhmes durch die Thaten der freien Forſchung.

9Verbindung von Kunſt und Wiſſenſchaft.

Der trockene Staub, der ſo lange auf den Werken der deutſchen Ge - lehrſamkeit gelegen, war wie weggeweht; die neue Wiſſenſchaft fühlte ſich als die Schweſter der Kunſt. Ihre Jünger hatten alleſammt aus dem Becher der Schönheit getrunken, manche ſogar in den Kreiſen der Poeten die beſtimmenden Eindrücke ihres Lebens empfangen. Diez bewahrte noch nach vielen Jahren das Blatt, worauf ihm einſt Goethe den Titel von Reynouards provenzaliſchen Forſchungen aufgeſchrieben und alſo dem jun - gen Manne den Weg gewieſen hatte für die Arbeit ſeines Lebens. Boeckh und Creuzer hatten ſo manche Nacht auf dem Faulen Pelz mit den Schwarmgeiſtern der Heidelberger Romantik durchzecht und durchjubelt, J. Bekker mit Uhland gemeinſam in den Schätzen der Pariſer Bibliothek geforſcht; in den Studirſtuben Savignys und der Brüder Grimm trieb der Kobold Bettina Arnim zu Zeiten ſein neckiſches Weſen. Sie ſchauten alle voll Ehrfurcht zu dem alten Goethe empor und ſchaarten ſich wie eine unſichtbare Kirche um dieſen centralen Geiſt, der aus der Hand der Wahr - heit den Schleier der Dichtung empfangen hatte und das Ideal der Zeit, die lebendige Einheit von Kunſt und Wiſſenſchaft, in ſeinem Leben wie in ſeinen Werken verkörperte. Sie alle bemühten ſich die Ergebniſſe ihrer Forſchung in edler würdiger Form auszuſprechen; die keuſche Einfachheit der Schriften Savignys, die mächtige Empfindung und die Fülle unge - ſuchter, lebendig angeſchauter Bilder in Jakob Grimms markigem Stile beſchämten die ſüßliche Künſtelei mancher der neueren Poeten. An allen Werken dieſer Forſcher hatten das warme Herz und die ſchöpferiſche, das hiſtoriſche Leben nachdichtende Phantaſie ebenſo großen Antheil, wie der Sammlerfleiß und der kritiſche Scharfſinn.

Und wie die Dichtung, ſo war auch die ſpeculative Arbeit des voran - gegangenen Geſchlechts der neuen Wiſſenſchaft in Fleiſch und Blut ge - drungen. Nur weil der deutſche Geiſt ſich ſo lange vertieft hatte in das Problem der Einheit von Sein und Denken, konnte er jetzt ſich ausbreiten über die hiſtoriſche Welt ohne zu verflachen oder in der Maſſe der Ein - zelheiten unterzugehen. Nicht umſonſt hatten alle dieſe jungen Juriſten, Philologen und Hiſtoriker zu den Füßen der Philoſophen geſeſſen. Sie wollten durch die Geſchichte in das Geheimniß des menſchlichen Geiſtes ſelber eindringen; ſie ſtrebten, wie W. Humboldt von ſich geſtand, eine Anſchauung von dem Werden der Menſchheit und dadurch eine Ahnung deſſen, was ſie ſein kann und ſoll, zu gewinnen, den letzten Fragen alles Seins näher zu treten. Daher der weite Geſichtskreis, die großartige Vielſeitigkeit dieſes Gelehrtengeſchlechts. Noch hatte man die weite Feld - flur der hiſtoriſchen Welt kaum erſt in Beſitz genommen; wer durch die - ſen jungfräulichen Boden ſeine Pflugſchaar trieb, ſtreute mit freigebigem Wurfe ſeine Samenkörner auch über den Acker des Nachbars aus. Faſt alle bedeutenden Gelehrten gehörten mehreren Fächern zugleich an, und Jeder hielt, indem er ſich in das Einzelne verſenkte, den Blick immer feſt10II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.auf den großen Zuſammenhang der Wiſſenſchaften gerichtet. Es war der Stolz dieſes fruchtbaren Geſchlechts, durch die Aufſtellung genialer Hy - potheſen und großer Geſichtspunkte die Wege zu weiſen, welche nachher die gewiſſenhafte Einzelforſchung zweier Generationen für alle Welt gang - bar gemacht hat.

Durch das Aufblühen der Wiſſenſchaft traten die Univerſitäten in den Vordergrund des geiſtigen Lebens der Nation. Zu allen Zeiten hatten ſie an den Kämpfen und Wandlungen der deutſchen Gedankenarbeit ihren reichen Antheil genommen; jetzt aber übernahmen ſie wieder die führende Stellung im Reiche des Geiſtes, wie einſt zur Zeit des Humanismus und der Anfänge der Reformation. Das Profeſſorenthum erlangte nach und nach einen beſtimmenden Einfluß auf die Sitten und Anſchauungen unſeres Volkes, wie in keinem anderen Lande; unter den hervorragenden Schriftſtellern der folgenden Jahrzehnte fanden ſich nur wenige, die nicht auf längere und kürzere Zeit ein akademiſches Lehramt bekleideten. Die Berliner Univerſität überflügelte bald alle anderen; von ihr gingen in dieſen Jahren die meiſten der ſchöpferiſchen Thaten der deutſchen Wiſſen - ſchaft aus; doch war ſie nie mehr als die erſte unter Gleichen, für eine Centraliſation der Bildung bot dies Land keinen Boden. Niemals ſind unſere Hochſchulen ſo wahrhaft frei, ſo tief innerlich glücklich geweſen wie in jenen ſtillen Friedensjahren. Die ſtreitbare Jugend brachte neben ihren teutoniſchen Unarten, ihren anmaßlichen politiſchen Träumen doch auch einen ſchönen Enthuſiasmus, eine warme Empfänglichkeit für die Ideale mit von den Schlachtfeldern heim; die wüſte Roheit und Völlerei der alten Zeiten kehrte ſo nicht wieder. Der Unterricht blieb von zünfti - gem Zwange und zünftiger Abrichtung frei; denn Jeder fühlte, daß in der Wiſſenſchaft ſelber Alles noch in jugendlichem Werden war. Niemand verwunderte ſich, wenn ein Gelehrter noch in reifen Jahren von einem Fache zum andern überſprang oder wenn ein Philolog, wie Dahlmann, der nie eine hiſtoriſche Vorleſung gehört, auf den Lehrſtuhl der Geſchichte berufen wurde. Wer das Zeug hatte, ſelber ein Meiſter zu werden, den fragte Niemand: weſſen Schüler er ſei? Die meiſten Docenten betrieben ihr Lehramt mit liebevollem Eifer; aber wenn ein heller Frühlingstag in’s nahe Gebirge hinauslockte, dann ſchrieb auch der Fleißige ohne Um - ſtände ſein hodie non legitur an die Thüre des Hörſaals.

Um bedeutende Lehrer der Philoſophie, der Geſchichte, der Philologie drängten ſich die Studenten aus allen Facultäten, und mancher lebte Jahre lang in ſolchen Studien bevor er an ſein Berufsfach dachte. Denn noch verſtanden die Gymnaſien, weil ſie die geiſttödende Vielwiſſerei ver - mieden, die dauernde Freude am claſſiſchen Alterthume und den Drang nach freier menſchlicher Bildung in ihren Schülern zu erwecken. Und noch war die Krankheit der heutigen Univerſitäten, die Examen-Angſt faſt gänzlich unbekannt. Die altberühmten Heimſtätten der claſſiſchen Ge -11Die Univerſitäten.lehrſamkeit, die ſächſiſchen Fürſtenſchulen und die württembergiſchen Klo - ſterſchulen, entließen ihre Primaner zur Univerſität ſobald die Lehrer die Zeit gekommen glaubten, und der Staat meiſterte ſie nicht. Auch zum Eintritt in den Staats - und Kirchendienſt der Kleinſtaaten wurden die jungen Männer, wenn ſie von der Hochſchule heimkehrten, meiſt noch nach der alten patriarchaliſchen Weiſe, durch Gunſt und Empfehlung zu - gelaſſen. Nur in Preußen hatte ſich ſchon ſeit der Verwaltungsorgani - ſation Friedrich Wilhelms I. ein Syſtem geregelter Staatsprüfungen aus - gebildet, und von hier drang dieſe mechaniſche Ordnung, die allerdings gerechter und durch die mannichfaltigen Verhältniſſe eines Großſtaates geboten war, allmählich in die kleineren Staaten hinüber. Doch wurden auch hier noch mäßige Anforderungen geſtellt, da der Staat für ſeine neuen Provinzen viele junge Beamte brauchte. Der idealiſtiſche Zug der Zeit ließ das ängſtliche Brotſtudium nicht aufkommen. Die Jugend ge - noß noch der ungetrübten akademiſchen Freiheit; Jeder hörte und lernte wozu der Geiſt ihn trieb, wenn er nicht vorzog die goldenen Burſchen - tage ganz und gar in unbändigem Genuſſe zu durchſchwelgen.

So lebten die kleinen gelehrten Republiken dahin, glückliche Frei - ſtätten der vollkommenen geſelligen Gleichheit und Ungebundenheit, wie emporgehoben über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Große Talente, die in jedem anderen Lande eine weite Bühne für ihr Wirken verlangt hätten, fühlten ſich glücklich in der Armuth und Enge dieſer kleinen Uni - verſitätsſtädte mit ihren alten Schlöſſern und winkligen Gaſſen, wo jedes Haus an einen luſtigen Burſchenwitz oder an einen berühmten Gelehrten erinnerte. Hier war die Wiſſenſchaft Alles; umgeben von der Verehrung dankbarer Zuhörer blickte der Gelehrte mit naivem Selbſtgefühl um ſich. Oft platzten die Geiſter rechthaberiſch, nach deutſcher Weiſe, aufeinander; der wiſſenſchaftliche Gegner ward leicht wie ein Tempelſchänder angeſehen, da Jeder mit ganzem Herzen an ſeiner Forſchung hing. Jedoch der ge - meine Ehrgeiz ergriff dieſe ſchlichten, genügſamen Menſchen wenig. Sie rechneten ſich’s zur Ehre den Glanz und das Behagen des äußeren Da - ſeins zu verachten; ſie glaubten noch alle an den ſtolzen Ausſpruch Schil - lers: und am Ende ſind wir ja Idealiſten und würden uns ſchämen uns nachſagen zu laſſen, daß uns die Dinge formten und nicht wir die Dinge.

Noch nach Jahrzehnten erzählte man in Tübingen von dem reichen Buchhändler Cotta, der zuerſt den unerhörten Luxus eines Sophas in die anſpruchsloſe Muſenſtadt eingeführt hatte. Die jugendliche Unfertig - keit unſerer Cultur, die von vielſeitiger großſtädtiſcher Geſelligkeit noch nichts wußte, kam der Andacht, der friedlichen Sammlung des wiſſen - ſchaftlichen Arbeitens zu gute. Wie einſt die claſſiſche Dichtung ſo blieb auch die neue Forſchung in ſtolzer Freiheit, faſt unberührt von Hofgunſt und amtlichem Einfluß; ſelbſt die hereinbrechende Demagogenverfolgung12II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.vermochte das innere Leben der Wiſſenſchaft nicht zu ſtören. Obgleich jetzt faſt alle deutſchen Staaten in rühmlichem Wetteifer tüchtige Lehrkräfte an ihre Landesuniverſitäten zu berufen ſuchten, ſo war doch in den Augen der Höfe und der Bureaukratie ſelbſt ein Gelehrter von europäiſchem Rufe nichts weiter als ein Profeſſor ohne Hofrang. Die Männer der Wiſſenſchaft dagegen ſahen mit dem ganzen Stolze des Idealismus auf die endlichen Zwecke des handelnden Lebens hernieder. Jeder Lehrer rieth den guten Köpfen unter ſeinen Schülern, ſich ganz der Wiſſenſchaft zu widmen; für die Handwerksarbeit des Soldaten und des Beamten, nun gar für die gründlich verachtete bürgerliche Geſchäftswelt ſchien der Mittel - ſchlag gut genug. Ein unverhältnißmäßig großer Theil der geiſtigen Kräfte der Nation wendete ſich der gelehrten Thätigkeit zu, und es bleibt ein ſchönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit dieſes Geſchlechts, daß gleichwohl das Beamtenthum eben jetzt eine überraſchende Fülle von Talenten in ſeinen Reihen zählte.

Es ſtand noch immer wie vor ſiebzig Jahren: das politiſche Leben der Nation floß in unzähligen Strömen und Bächen zertheilt dahin; allein die Schriftſteller und Gelehrten redeten unmittelbar zu der ge - ſammten Nation. Darum fühlten ſie ſich auch als die berufenen Vertreter des Volkes und ſeiner höchſten Güter; nur ſehr langſam gelangten neben ihnen einzelne politiſche Männer zu allgemeinem Anſehen. Das ganze Zeitalter trug noch in Art und Unart den Charakter einer literariſchen Epoche. Auch jetzt noch erregte ein Gedicht von Goethe, eine ſcharfe Recen - ſion oder eine gelehrte Fehde, wie ſie zwiſchen den Symbolikern und den kritiſchen Philologen ausbrach, weit tiefere Theilnahme bei den führenden Geiſtern der Nation als irgend ein politiſches Ereigniß. Recht aus dem Herzen der romantiſchen Zeit heraus geſtand Karl Immermann: er ver - möge nicht einer parlamentariſchen Debatte aufmerkſam zu folgen, weil er ſich von ſolchen Abſtraktionen kein Bild machen könne. Die völlige Hingebung der freien Perſönlichkeit in den Dienſt des Staates blieb die - ſem Geſchlechte ebenſo widerwärtig wie das politiſche Parteileben mit ſei - ner freiwilligen Beſchränktheit, ſeinem grundſätzlich ungerechten Haſſe. Als höchſter Lebenszweck galt dem Deutſchen noch immer: ſich ſelber aus - zuleben, ſein Ich nach allen Seiten hin in freier Eigenart zu entfalten und, wie W. Humboldt ſagte, mehr auf das Thun als auf die That zu ſehen.

Obſchon die herrſchende Strömung der Zeit dem aufgeklärten Welt - bürgerthume der Jahre vor der Revolution geradeswegs zuwiderlief, ſo hatte ſich doch dies romantiſche Geſchlecht viele der menſchlich liebenswür - digen Tugenden des philoſophiſchen Jahrhunderts noch bewahrt. Mochten die jungen Teutonen prahleriſch wider den wälſchen Tand eifern: die Häupter der Wiſſenſchaft und Kunſt begrüßten noch, nach der echten alten deutſchen Art, dankbar und empfänglich jedes ſchöne Werk der Dichtung13Die literariſche Geſelligkeit.und der Forſchung, und wenn es auch aus dem geſcholtenen Frankreich kam. Trotz der myſtiſchen Schwärmerei der Zeit bewahrte man ſich die alte weitherzige Duldſamkeit. Die Gegenſätze des religiöſen Lebens hatten ſich noch nicht verhärtet; ſie griffen noch nicht, wie heutzutage, verfälſchend und verbitternd in die politiſche Parteiung ein. Niemand verwunderte ſich, wenn ein Liberaler zugleich ein ſtreng kirchlicher Chriſt war. Jeder - mann fand es in der Ordnung, daß die katholiſche Geiſtlichkeit der Ein - weihung einer evangeliſchen Kirche mit beiwohnte; ſelbſt eifrige Convertiten wie F. Schlegel, Stolberg, Klinckowſtröm blieben mit einem Theile ihrer alten proteſtantiſchen Freunde in herzlichem Verkehr. Der Kampf der literariſchen Parteien ſchloß die Anerkennung des menſchlichen Werthes der Gegner, die herzliche Freude über jeden glücklichen Fund nicht aus. Die lärmende Jugend brüſtete ſich mit ihrer germaniſchen Sittenſtrenge; die reifen Männer zeigten in ihrem ſittlichen Urtheile eine vornehme, frei - ſinnige Milde, die in Wahrheit weit deutſcher war. Nachſichtig gegen die menſchliche Schwäche, legten ſie geringen Werth auf den korrekten Lebens - wandel, der dem prüden Sinne der Gegenwart als das einzige Kenn - zeichen der Sittlichkeit gilt, und ließen einen heißblutigen Freund gern gewähren, wenn er nur mithalf bei der Arbeit freier Menſchenbildung und den Glauben an die göttliche Beſtimmung unſeres Geſchlechts nicht verlor.

Nicht ohne Grund ſahen die Poeten und Gelehrten mit Ironie auf die Proſa des Philiſterthums hernieder; ſie lebten in der That inmitten einer freien geiſtvollen Geſelligkeit, welche das Leben durch das heitere Spiel der Kunſt zu adeln wußte und das Schillerſche Ideal der äſtheti - ſchen Menſchen-Erziehung annähernd verwirklichte. Briefwechſel und Ge - ſpräch, die natürlichen Vermittler der Tageseindrücke, waren noch nicht durch die Zeitungen verdrängt. Noch beſtand die Grundlage aller ge - ſelligen Anmuth, der zwangloſe und häufige Verkehr zwiſchen den beiden Geſchlechtern, da die Frau den Gedanken des Mannes noch ganz zu folgen vermochte. Keine Stadt im Reiche, die nicht ihre Kunſtkenner, Sammler und Kritiker, ihre Liebhabertheater und äſthetiſchen Kränzchen beſaß. Wenn das muntere kleinſtädtiſche Völkchen ſich beim trüben Schim - mer der Talglichter zum einfachen Mahle verſammelte, dann ſteuerten Alle bei was ſie vermochten an Räthſeln und guten Einfällen, an Liedern und gereimten Trinkſprüchen denn für den poetiſchen Hausbedarf wußte jeder gebildete Deutſche längſt ſelber zu ſorgen. Eine heitere Sinnlichkeit erwärmte das geſellige Leben; beim Pfänderſpiele war noch ein Kuß in Ehren erlaubt; die frei und doch gut häuslich erzogenen jungen Mädchen geſtanden noch arglos ein, daß ihnen das Käthchen von Heilbronn ſo recht im Herzen wohlgefiel. Und wie viel Geiſt und Witz, wie viel übermüthige Laune und ſchwärmeriſche Begeiſterung regte ſich in den engeren Kreiſen der Eingeweihten: wenn Ludwig Devrient und Callot-Hoffmann in der14II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Weinſtube von Lutter und Wegner die ganze Nacht hindurch ihre tollen Bacchanale feierten, oder wenn Lobeck und die Königsberger Philologen mit Roſenkränzen im Haar beim Griechenweine zuſammenlagen und in helleniſcher Sprache von den Helden Homers, von dem glücklichen Eiland der Phäaken redeten. Der geſellige Verkehr bot, bei aller Ziererei und Ueberſchwänglichkeit, die mit unterlief, doch eine Fülle edler geiſtiger Ge - nüſſe, von denen in der Langeweile und dem öden Prunk der heutigen Geſellſchaft faſt allein die Muſik übrig geblieben iſt. Die Frauen, die in jenen Jahren jung geweſen, erſchienen noch im hohen Alter dem nach - wachſenden nüchterneren Geſchlechte wie verklärt durch einen poetiſchen Zauber, ſie gewannen alle Herzen mit ihrer unverwüſtlichen Liebenswür - digkeit, ihrem feinſinnigen Verſtändniß für alles Menſchliche.

Freilich verriethen ſich auch ſchon die Spuren des beginnenden Ver - falls. Die Literatur war längſt ins Kraut geſchoſſen; ſie bot ſich den Leſern an, während einſt die claſſiſchen Dichter immer nur herausgeſagt hatten, was der Nation ſchon halb bewußt in der Seele lag. Eine Maſſe trivialer Unterhaltungsſchriften ſuchte die Neugier und die Sinnlichkeit der Leſewelt auszubeuten; tiefere Naturen verfielen, da ſich in keinem Zweige der Dichtung ein nationaler Stil ausgebildet hatte, leicht auf will - kürliche, gewaltſame Experimente, ſo daß Goethe dieſe Jahre als die Epoche der forcirten Talente bezeichnete. Die modiſche Vermiſchung von Poeſie und Kritik erleichterte dem unfruchtbaren Dilettantismus ſich anmaßlich vorzudrängen. Wer in den Kreiſen der Romantik verkehrte, die Schlag - wörter der Schule nachſprach und zuweilen an dem Plane eines Dramas oder eines Epos grübelte, der hielt ſich für einen Dichter und vergaß das Bewußtſein ſeines Unvermögens über dem beliebten Troſte: das Dichten und Trachten mache den Künſtler, und Rafael wäre, auch ohne Hände geboren, der größte aller Maler geweſen. Das frevelhaft miß - brauchte Wort Genie ward ein Freibrief für jede Narrheit, jeden Ueber - muth. Bei dem geiſtreichen Spielen mit neuen Ideen und überraſchenden Geſichtspunkten ging der ſchlichte Menſchenverſtand leicht zu Grunde. Der Glaube an das ſchrankenloſe Recht der ſouveränen Perſönlichkeit, der all - gemeine Drang, nur ja den anderen Menſchen nicht zu gleichen, ver - führte die Einen zu ſittlicher Willkür, Andere zur eitlen Selbſtbeſpiegelung. Man belauſchte mit nervöſer Empfindſamkeit jeden Athemzug der eigenen ſchönen Seele. In den Briefen von Gentz und den Aufzeichnungen der Rahel Varnhagen ſpielt das Barometer die Rolle des geheimnißvollen Dämons, der dem Genie die finſtern und die lichten Stunden ſchenkt.

Die Literatur beherrſchte die Gedanken der Nation noch ſo vollſtändig, daß ſogar die großen Gegenſätze des politiſchen und des kirchlichen Lebens oft in gelehrten Streitigkeiten ihren Ausdruck fanden. So in den Kämpfen von Savigny und Thibaut, Voß und Stolberg. Wenn Gottfried Her - mann gegen Creuzer und die Symboliker zu Felde zog, ſo fühlte er ſich15Literatur und Politik.als einen Vorkämpfer der Freiheit gegen die tenebriones, die Dunkel - männer in Staat und Kirche. Auch die rein politiſchen Parteien, deren ſchwache Anfänge ſich endlich bildeten, gingen gradeswegs aus dem litera - riſchen Leben hervor. Das unmittelbare Eingreifen der politiſchen Theorie in die Geſchicke der Staaten, das die moderne Geſchichte ſo auffällig von den naiveren Zeiten des Alterthums und des Mittelalters unterſcheidet, zeigte ſich nirgends ſtärker als hier in dem Lande der Gelehrſamkeit. Nicht aus den Klaſſen-Intereſſen eines reichen und ſelbſtbewußten Bürgerthums entſprang der deutſche Liberalismus, ſondern aus den Schulbegriffen der Gelehrten. Mit jener unbeſtimmten hiſtoriſchen Sehnſucht nach den gro - ßen Tagen des alten Kaiſerthums, die zur Zeit der Fremdherrſchaft zu - erſt in den literariſchen Kreiſen entſtanden war, vermiſchten ſich allmählich die Lehren der neuen Philoſophie über das natürliche Recht der freien Perſönlichkeit, ſodann einige Sätze aus Montesquieu und Rouſſeau, end - lich auch ein gutes Theil unbewußter gelehrter Standesvorurtheile. So entſtand ein Syſtem von vernunftrechtlichen Begriffen, welche unſer Volk durch die Freiheit zu ſeiner alten Macht emporführen ſollten. Die Doktrin trat ſogleich, in Rottecks Schriften, fertig ausgearbeitet hervor wie das Lehrgebäude eines Philoſophen und erhob auch wie ein philoſophiſches Syſtem den Anſpruch, ſich in der Welt durchzuſetzen durch die Macht der Gründe, der theoretiſchen Unwiderleglichkeit. Der Sturz des napoleoni - ſchen Weltreichs daran beſtand unter den literariſchen Politikern kein Zweifel war allein gelungen durch die Macht der Ideen, die, in den Kreiſen der Wiſſenden geboren, dann das Volk ergriffen und endlich ſelbſt die widerſtrebenden Kronen mit fortgeriſſen hatten zum heiligen Kampfe. So ſchien auch Deutſchlands innere Befreiung wohlgeſichert, wenn ſich nur alle Patrioten die Heilswahrheiten der neuen conſtitutionellen Doktrin ganz zu eigen machten und an dieſem Bekenntniß mit der Ueberzeugungs - treue des Gelehrten oder des kirchlichen Märtyrers unerſchütterlich feſt - hielten. Daß der Staat Macht iſt und der Welt des Willens angehört, blieb dieſem Geſchlechte wohlmeinender Gelehrter noch ganz verborgen. Erſt nach Jahrzehnten voll ſchwerer Verirrungen und Enttäuſchungen ſollte das deutſche Parteileben der Wiege der Doktrin entwachſen und von der Politik des Bekenntniſſes ſich erheben zu der Politik der That.

In den romaniſchen Ländern hatte die Poeſie überall, wenn ſie ſich einmal zu claſſiſcher Vollendung erhob, dem Geiſte der Nation auf lange hinaus Form und Richtung gegeben. Der unbändige Trotz der Deut - ſchen wollte ſich ſelbſt während der goldenen Tage von Weimar niemals der Herrſchaft einer Regel beugen; noch als Schiller und Goethe auf der Höhe ihres Schaffens ſtanden, begann die Romantik bereits den Sturm - lauf gegen das claſſiſche Ideal. Während der Befreiungskriege verſtummte der literariſche Kampf; die Sorge um das Vaterland drängte alle anderen Gedanken zurück; die wenigen Schriften, die ſich in der wilden Zeit heraus -16II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.wagten, ſchienen alle einig in chriſtlich-vaterländiſcher Begeiſterung. Doch kaum war der Friede geſchloſſen, ſo brachen alle die ſchroffen Gegenſätze, welche das vielgeſtaltige deutſche Leben umſchloß, mit einem male wieder hervor. Selbſt halbverſchollene Gedanken aus den erſten Jahren der Revolution, Ideen die man längſt überwunden glaubte, traten wieder an das Tageslicht; denn es iſt das Loos jeder Literatur, die nicht mehr in der erſten Jugend ſteht, daß die Vergangenheit zuweilen wieder lebendig wird und die Schatten der Todten ſich in den Kampf der Lebendigen miſchen. Rationalismus und religiöſes Gefühl, Kritik und Myſtik, Na - turrecht und hiſtoriſche Staatslehre, nazareniſche und helleniſche Ideale, Volksthum und Weltbürgerthum, liberale und feudale Beſtrebungen be - kämpften und durchkreuzten ſich in ewigem Wechſel.

Nicht blos der ängſtliche Gentz klagte erſchrocken, die erſehnte Frie - denszeit habe den Deutſchen den Krieg Aller gegen Alle gebracht. Auch Arndt, der allezeit hoffnungsvolle, konnte ſein Entſetzen nicht verbergen, wenn er etwa an dem Hofe des jungen preußiſchen Kronprinzen Alexan - der Humboldt, den Vertreter der rein wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung, und daneben die Gebrüder Gerlach, die Heißſporne der chriſtlich-germa - niſchen Glaubensinbrunſt verkehren ſah; er fragte beſorgt, wie dies Volk bei ſo unermeßlichem Abſtande der Geſinnungen zum inneren Frieden, zur feſten Entſchließung gelangen ſolle. Auf die Dauer fand der geſunde Sinn der Nation freilich heraus was in dieſem anarchiſchen Durcheinander echt und lebensfähig war. Doch manches empfängliche Talent ging in dem Gewirr der Meinungen rathlos unter, und wer den Muth fand an den Kämpfen des deutſchen Geiſtes theilzunehmen, mußte auf ein entſagungs - volles Loos gefaßt ſein. Denn jeder bedeutende Kopf ward, auch wenn er hoch über dem Sektengeiſte ſtand, willig oder nicht, in den Streit der literariſchen Parteien hineingeriſſen, von den Einen auf den Schild ge - hoben, von den Anderen mit der ganzen Zügelloſigkeit deutſcher Tadel - ſucht mißhandelt; und nur wenn ihm ein hohes Alter beſchieden war, konnte er hoffen, wie Savigny und Uhland, auch bei den Gegnern ver - ſpätete Anerkennung zu finden.

Schon in den heiteren Jugendtagen der claſſiſchen Literatur hatte die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge - hemmt. Vollends jetzt, nachdem Deutſchland ſiebzig Jahre lang faſt alle erdenklichen Kunſtſtile und noch mannichfachere äſthetiſche Theorien ver - ſucht hatte, zeigte ſich das künſtleriſche Schaffen von gelehrter Ueberbil - dung angekränkelt. Kein Zweig der Dichtung litt darunter ſchwerer als das Drama, das der Volksgunſt bedarf wie die Blume der Sonne. Goethe wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik17Dramatiſche Dichtung. ſehnſuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen nannte; ihnen fehlte, trotz ihrer geiſtreichen Einfälle und großen Abſichten, gänzlich die Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des ſchöpfe - riſchen Genius. Obgleich ſie ſich vermaßen das claſſiſche Ideal durch eine volksthümliche Dichtung zu verdrängen, ſo blieben ihre Werke doch dem Volke fremd, das Eigenthum eines kleinen Kreiſes bewundernder Kenner. Die Kunſt galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philiſter ungenieß - bar, allein den Gottbegnadeten berauſchte, ſo daß der Trunkene der Wirk - lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenſpiel belächelte. Dieſe ſouveräne Ironie, die ſich rühmte den Scherz als Ernſt zu treiben, Ernſt als Spaß nur zu behandeln, widerte den geſunden Sinn der Menge an; denn das Volk will im Gewiſſen gepackt ſein und läßt mit ſeinen Gefühlen nicht ſpielen.

Unter den älteren deutſchen Dramatikern ließen die romantiſchen Kunſtrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei ſeinen reifſten Werken an die Bühne kaum gedacht; die ſtille, ſinnige Schönheit der Iphigenie und des Taſſo war nur der Andacht des Leſers völlig faßbar, ſie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Leſſing wurde gar nicht mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragiſche Leidenſchaft als hohle Rhetorik verſpottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman - tiſchen Anſchauungen nahe ſtand, Heinrich von Kleiſt, blieb von der Kritik der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirkſamſten Bühnen - ſchriftſteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater beherrſchten, Iffland und Kotzebue, überſchüttete der romantiſche Hoch - muth mit einer ungerechten Geringſchätzung, welche die jungen Talente von der Bühne zurückſchrecken mußte. Man wollte an Jenem nur die ehrbare ſpießbürgerliche Empfindſamkeit, an Dieſem nur die Plattheit und die gemeine Geſinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines techniſches Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch ſie Beide ihre dünkelhaften Tadler beſchämten. Von den dramatiſchen Verſuchen der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und ſie beſtanden alleſammt die Probe auf den Brettern ſchlecht. Die Führer der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, ſprachen mit Hohn von der gemeinen Proſa des theatraliſchen Erfolgs. Ganz unbekümmert um die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder ſieben Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerſchaft befriedigen ſollte, baute ſich die dramaturgiſche Theorie ihre ſtolzen Wol - kengebilde und ſtellte überſpannte Anforderungen, denen ſogar die feſtliche Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können.

So vertraulich wie einſt Shakeſpeare oder Moliere hatten ſelbſt die Heroen unſerer claſſiſchen Dichtung niemals zu der Bühne geſtanden. Jetzt aber ward der perſönliche Verkehr zwiſchen Dichtern und Schau - ſpielern immer ſeltener. Die dramatiſche Kunſt vergaß, daß ſie vor allenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 218II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.anderen den ſchönen Beruf hat ein Band der Einheit zu bilden zwiſchen den Höhen und den Niederungen der Geſellſchaft. In unſerem Volke entſtand nach und nach eine verhängnißvolle Spaltung, die bis zum heu - tigen Tage ein arges Gebrechen der deutſchen Geſittung geblieben iſt: von dem ſchauenden und hörenden ſonderte ſich das leſende Publicum vor - nehm ab. Das Theater mußte ſich einen guten Theil ſeines täglichen Bedarfs durch literariſche Handwerker liefern laſſen; Schauerdramen und ſchlechte Ueberſetzungen aus dem Franzöſiſchen lockten die Schauluſt der Menge. Wer ſich zu dem auserwählten Kreiſe der wahren Dichter zählte, trug meiſt allzu ſchwer an dem Gepäck der äſthetiſchen Doktrin, um noch ſo dreiſt zugreifen, ſo herzlich lachen zu können wie es die Bühne von ihren Beherrſchern fordert, und legte ſeine dramatiſchen Gedanken in Bücherdramen nieder. Dieſe Zwittergattung der Poeſie, deren die über - reiche moderne Bildung allerdings nicht gänzlich entbehren kann, gedieh in Deutſchland üppiger als in irgend einem anderen Volke. Hier, auf dem geduldigen Papiere fanden alle die verzwickten Theoreme und phan - taſtiſchen Einfälle der eigenſinnigen deutſchen Köpfe freien Raum: Tragi - komödien und Märchendramen, in denen alle erdenklichen Versmaße und Arienmelodien wirr durcheinander klangen; geheimnißvolle Anſpielungen, die nur der Dichter ſelbſt mit ſeinen Vertrauten verſtand; literariſche Satiren, die ſtatt des Weltenbildes nur ein Bild des Bilds der Welt gaben; endlich exotiſche Dichtungen aller Art, die ſich wie Ueberſetzungen leſen ſollten.

Unter den ausländiſchen Vorbildern ſtand Calderon nach dem Ur - theil der Eingeweihten obenan. Die deutſchen Weltbürger wollten nicht ſehen, daß dieſer rein nationale Dichter eben darum zu den Claſſikern zählt, weil er die Ideale ſeiner Zeit und ſeines Volkes künſtleriſch ge - ſtaltet hat; ſie ahmten ſklaviſch ſeine ſüdländiſchen Formen nach, die in unſerer nordiſchen Sprache einen opernhaften, ſchlechthin undramatiſchen Klang annahmen, und trugen die conventionellen Ehrbegriffe des katholi - ſchen Ritterthums in die freie proteſtantiſche Welt hinüber. Viel Geiſt und Kraft ward an ſolche Künſteleien vergeudet; am letzten Ende bewirkte das anſpruchsvolle Treiben nichts als die Zerſtörung aller überlieferten dramatiſchen Kunſtformen. Die Poeten aber gewöhnten ſich mit ſtolzer Bitterkeit in die undankbare Welt zu blicken. Deutſchland wurde das claſſiſche Land der verkannten Talente. Die Ueberzahl der unbefriedigten Schriftſteller bildete eine Macht des Unfriedens in der Geſellſchaft, ſie nährte den nationalen Fehler der tadelſüchtigen, hoffnungsloſen Verdroſſen - heit und hat ſpäterhin, als die politiſchen Leidenſchaften erwachten, viel zur Verbitterung des Parteikampfes beigetragen.

Bis zum Fratzenhaften geſteigert erſchienen die ſittlichen und äſtheti - ſchen Schwächen der romantiſchen Epigonen in dem zerfahrenen Leben Zacharias Werners; ſein dramatiſches Talent ging ruhmlos unter, weil19Die Schickſalstragödie.die männliche Kunſt der Dramatik einen ganzen Mann verlangt. Sein Leben lang ſchwankte er friedlos hin und her zwiſchen wüſten Begierden und überſchwänglicher Verzückung, zwiſchen cyniſcher Gemeinheit und einer weinerlichen Gefühlsſchwelgerei, die ſich’s nicht verſagen konnte am Grabe eines Hundes für den Seelenfrieden des Entſchlafenen zu beten. Da ſein zerriſſenes Gemüth bei Gott und dem heiligen Rouſſeau keinen Troſt fand, ſo flüchtete er ſich endlich zu Rom in den Schooß der alten Kirche und klammerte ſich in krampfhafter Angſt an den Felſen Petri an. Wenn der kritiſche Verſtand des Oſtpreußen zuweilen erwachte, wenn ihm das Blutfeſt des heiligen Januarius wie ein peruaniſcher Götzendienſt vorkam, ſo betäubte er die Zweifel durch das Getöſe ekſtatiſcher Aus - rufungen. Dann kam er nach Wien, in den Tagen da der rührige Pater Hoffbauer in der lebensluſtigen Stadt zum erſten male wieder eine ſtreng kirchliche Partei begründet und eine Schaar von Convertiten um ſich ge - ſammelt hatte; er ging auf alle Anſchauungen dieſer clericalen Kreiſe freudig ein und trat den Freiheitsgeſängen der norddeutſchen Jugend ent - gegen mit dem Liede: das Feldgeſchrei ſei: alte Zeit wird neu! Zur Zeit des Congreſſes ward er der Modeprediger der vornehmen Welt. Halb zerknirſcht, halb ergötzt lauſchte das elegante Wien, wenn der lange hagere Prieſter mit den unheimlichen dunklen Augen ſeine gewaltige Baßſtimme erſchallen ließ und bald in glühenden Farben den Schwefelpfuhl der ewigen Verdammniß, bald mit gründlicher Sachkenntniß und ſchlecht ver - hehltem Behagen die Verirrungen der Sinnlichkeit ſchilderte. Wie ſeinem Leben ſo fehlte auch ſeinem dichteriſchen Schaffen die Entwicklung und Läuterung. Seine Jugenddramen bekundeten ein ſtarkes realiſtiſches Ta - lent und lebendigen Sinn für hiſtoriſche Größe; in einzelnen Scenen der Weihe der Kraft trat die mächtige Geſtalt Martin Luthers, das hoch - gemuthe, farbenreiche Leben unſeres ſechzehnten Jahrhunderts markig und anſchaulich heraus. Dicht daneben lag freilich eine krankhafte Luſt am Spukhaften, Scheußlichen und Wilden; jene räthſelhafte Verbindung von Glaubenswuth, Wolluſt und Blutdurſt, die uns in den Naturreligionen unreifer Völker anwidert, ſchien in dem unſeligen Menſchen wieder lebendig zu werden. Nach ſeinem Uebertritte nahm er mit bußfertigem Eifer ſein beſtes Werk zurück und ſchrieb eine klägliche Weihe der Unkraft . In ſeinem letzten Drama die Mutter der Makkabäer verrieth ſich ſchon die Gewiſſenloſigkeit eines halb umnachteten Geiſtes, der hinter ſchwülſtigen Hymnen und grell gemalten Märtyrerbildern die Armuth ſeines religiöſen Gefühles zu verbergen ſuchte.

Wirkſamer als Werners hiſtoriſche Trauerſpiele wurde ſeine im Jahre 1815 veröffentlichte Schickſalstragödie der vierundzwanzigſte Februar , ein auf die Erregung körperlichen Schauders berechnetes Virtuoſenſtück. Das tragiſche Schickſal ergab ſich hier nicht mit innerer Nothwendigkeit aus dem Charakter der Handelnden, ſondern aus dem räthſelhaften Zauber2*20II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.eines verhängnißvollen Jahrestags, und der verwunderte Leſer trug, ſtatt der erhebenden Einſicht in die Vernunft der ſittlichen Welt, nur ein Ge - fühl rathloſen Entſetzens davon. Da die Neuheit dieſes tollen Einfalls Aufſehen erregte und die romantiſche Welt ohnehin geneigt war, im Aber - witze den tiefſten Sinn zu ſuchen, ſo fand ſich bald ein geſchickter Macher, der die Schrulle nach deutſcher Unart in ein Syſtem brachte. Der Wei - ßenfelſer Advocat Adolf Müllner verfertigte ein Drama die Schuld und entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick - ſalstragödie: eine höhere Weltordnung, räthſelhafter noch als das blinde Schickſal der Alten, ſollte in das irdiſche Leben hineinragen und durch den albernen Zufall, durch eine zerſpringende Saite, einen unheilvollen Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben ſtürzen. So ward denn Alles, was die proteſtantiſche Welt je über tragiſche Schuld und Zurechnung gedacht, durch die zügelloſe Neuerungsluſt der romanti - ſchen Doktrin wieder in Frage geſtellt, und es ſchien, als ſollte unſere tragiſche Kunſt geradezu in Selbſtvernichtung enden. Müllner richtete ſich in drei literariſchen Zeitſchriften zugleich häuslich ein, pries mit lau - tem Marktgeſchrei die lange Reihe ſeiner eigenen Werke und erſchreckte die Gegner durch unfläthige Grobheit, ſo daß Goethe zürnte: Der Edle mault nur um das Maul den Andern zu verbieten. Einige Jahre lang behauptete der grundproſaiſche Menſch den angemaßten Thron; und ſo feſt ſtand noch das Anſehen der deutſchen Dichtung in der Welt, daß ſelbſt ausländiſche Blätter gläubig von der neuen dramatiſchen Offen - barung ſprachen. Dann verfiel auch die Schickſalstragödie dem unab - wendbaren Looſe der geſpreizten Nichtigkeit: das Publikum begann ſich zu langweilen und wendete ſich anderen Moden zu.

Unter dem Verfalle der dramatiſchen Dichtung litt auch die Schau - ſpielkunſt. Wie viele geiſtvolle Abhandlungen über das Theater als natio - nale Erziehungsanſtalt waren nun ſchon erſchienen, und doch hatte bisher unter allen deutſchen Staatsmännern nur Stein ſich dieſen Gedanken angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der Bühne verpflichtet ſei. Er ſtellte, als er bei ſeinem Abgange die veränderte Organiſation der preußiſchen Behörden vorzeichnete, die Theater gleich der Akademie der Künſte unter das Departement des Cultus und des Unter - richts; doch kaum zwei Jahre ſpäter wurden ſie durch Hardenberg wieder in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanſtalten verwieſen und, mit Ausnahme der Hoftheater, der Aufſicht der Polizei unterworfen. Die Unterſtützung der großen Bühnen in den Reſidenzſtädten galt allgemein als perſönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es zeigte ſich bald, daß dieſe Theater von der Freigebigkeit kunſtfreundlicher Fürſten immerhin noch mehr zu erwarten hatten, als von der ſparſamen Kleinbürgergeſin - nung der neuen Landtage. Kaum war die Stuttgarter Bühne im Jahre 1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwieſen21Die Schauſpielkunſt.worden, ſo begannen die Landſtände bereits über Verſchwendung zu klagen und willigten ſchon nach drei Jahren freudig ein, als der König ſich be - reit erklärte die Unterhaltung des Hoftheaters wieder aus der Civilliſte zu beſtreiten. Die Monarchen ſorgten meiſt mit rühmlichem Eifer für die äußere Ausſtattung ihrer Theater ſowie für die Berufung einzelner bedeutender Kräfte; die alten ſocialen Vorurtheile gegen den Schauſpieler - ſtand begannen ſich zu mildern ſeit man die Bühne in ſo nahem Verkehre mit den Höfen ſah.

Gleichwohl hat die Schauſpielkunſt durch die Hoftheater wenig ge - wonnen. Nach Ifflands Tode betraute König Friedrich Wilhelm den Grafen Brühl mit der Leitung der Berliner Hofbühnen, einen liebens - würdigen, feingebildeten Mann, der aber weder dramatiſcher Dichter noch Schauſpieler war und ſich nur mit dem Eifer des geiſtreichen Kenners die ſtrengen claſſiſchen Grundſätze der Weimariſchen Theaterſchule ange - eignet hatte. Das gefährliche Beiſpiel fand raſche Nachfolge; bald wurde an allen Höfen das Amt des Theater-Intendanten zu den hohen Hof - würden gezählt, die Leitung der größten deutſchen Theater ging den ge - ſchulten Fachmännern verloren und fiel in die Hände hochgeborener Dilet - tanten.

Wohl hielten die guten Ueberlieferungen aus der alten Zeit noch eine Weile vor. Der Mangel an ſchönen neuen Stücken ward noch nicht allzu fühlbar, da die Dramen der claſſiſchen Epoche noch auf allgemeine Theilnahme rechnen konnten und Shakeſpeares Werke jetzt erſt auf der deutſchen Bühne ſich völlig einbürgerten. Die Hoftheater von Berlin, München, Karlsruhe, Braunſchweig zeichneten ſich durch manche tüchtige Leiſtungen aus, ebenſo das altberühmte Hamburger und das neue Leipziger Stadttheater. In Berlin fand die realiſtiſche Richtung, die hier einſt durch Fleck die Herrſchaft erlangt hatte, an Ludwig Devrient einen ge - nialen Vertreter. Welche grauenhafte, diaboliſche Kraft lag in ſeinem Richard III., welcher Uebermuth naturwüchſigen Humors in ſeinem Fal - ſtaff! Faſt erſtaunlicher noch, wie er ſelbſt kleine Nebenrollen zu heben wußte; als Knecht Gottſchalk im Käthchen von Heilbronn traf er den Ton der einfältigen Treue und Wahrhaftigkeit ſo wunderbar glücklich, daß den Hörern die ganze unverſtümmelte Kraft und Größe des alten deutſchen Lebens mit einem male vor die Seele trat. Jedoch die feſte künſtleriſche Zucht der Bühne lockerte ſich nach und nach. Die neue romantiſche Sit - tenlehre ermuthigte jedes Talent ſich rückſichtslos vorzudrängen und ſeine Eigenart durchzuſetzen; die vornehmen Intendanten aber beſaßen weder die Sachkenntniß um durch das eigene Beiſpiel die Einheit des Stiles in der Truppe aufrechtzuhalten, noch das Anſehen um die Mitglieder in ihre Schranken zurückzuweiſen. Ein ſo gleichmäßig durchgebildetes und abge - rundetes Zuſammenſpiel, wie es einſt die Hamburger zu Ekhofs, die Berliner zu Ifflands Zeiten entzückt hatte, brachten die glänzenden neuen22II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Hoftheater nicht mehr zu Stande. Zudem hatte ſich die Theaterkritik ſchon längſt wie ein ſchädlicher Schwamm an den geſunden Baum der dramatiſchen Kunſt angeſetzt. Schon ward es zur Regel, daß der ſtreb - ſame Gymnaſiaſt oder Student ſich durch Theaterbeſprechungen ſeine lite - rariſchen Sporen verdiente; faſt jeder gebildete Mann übte ſich gelegentlich in dem traurigen Handwerke des kritiſchen Spielverderbers. Weitaus die meiſten dieſer Recenſenten verfolgten lediglich den Zweck, durch hoch - müthigen Tadel ſich ſelber ein Anſehen zu geben oder auch auf dem Theater Parteikämpfe anzuzetteln, an denen das kleinſtädtiſche Publikum mit leidenſchaftlichem Eifer theilnahm. Das Unweſen wuchs noch als die politiſchen Verfolgungen hereinbrachen. Seitdem blieb die Theaterkritik das einzige Gebiet, auf dem ſich die Federn der Tagesſchriftſteller frei ergehen durften; denn, ſo ſagte der Miniſter Graf Bernſtorff, einen Knochen muß man den biſſigen Hunden doch laſſen!

Nur zwei Dichtern dieſes Zeitraums iſt es gelungen, das Theater durch bühnengerechte Werke von bleibendem Kunſtwerthe zu bereichern. Es waren die beiden erſten Oeſterreicher ſeit dem dreißigjährigen Kriege, die ſich in der Geſchichte der deutſchen Poeſie einen ehrenvollen Platz er - warben. Wie einſt im dreizehnten Jahrhundert dieſe entlegenen Donau - lande zu unſerem Heile das alte deutſche Volksepos bewahrten, während das übrige Deutſchland ſich längſt ſchon der ritterlichen Dichtung zuge - wendet hatte, ſo waren ſie jetzt wieder faſt unberührt geblieben von dem Gedankenreichthum, aber auch von den Irrthümern und der doktrinären Ueberbildung unſerer literariſchen Revolution. Als nun endlich einzelne gute Köpfe in Oeſterreich auf die Welt von neuen Ideen, welche den Deutſchen aufgegangen war, aufmerkſam wurden, da ſtanden ſie den Schlagworten unſerer literariſchen Parteien in glücklicher Freiheit gegen - über. Sie konnten in der Ferne, unbefangener als die Deutſchen im Reiche, das Echte und Große aus der gewaltigen Bewegung herausfinden. Sie hatten vor ſich ein ſchauluſtiges, dankbar empfängliches Publikum, deſſen naive, kräftige Sinnlichkeit noch nicht durch gelehrte Kritik ver - dorben war, und dazu das ſchöne Beiſpiel der großen Muſiker Oeſter - reichs, die ja alleſammt den goldenen Boden des Handwerks in Ehren hielten und ſich nicht zu gut dünkten ſchlicht und recht für die Bühne zu arbeiten.

Eben jetzt begann das Burgtheater unter Schreyvogels kundiger Lei - tung alle deutſchen Bühnen zu überflügeln. Hier lernten die Wiener, in künſtleriſch durchgebildeter und doch einfacher Darſtellung, die ſchön - ſten Dramen Deutſchlands kennen; ſelbſt ausländiſche Werke wußte der treffliche Dramaturg durch geſchickte Bearbeitung dem deutſchen Gefühle ſo nahe zu bringen, daß Moretos Donna Diana den Zuſchauern bei - nah ſo vertraut erſchien wie ein heimiſches Luſtſpiel. Hier war kein Boden für grübelnde Künſtelei. So iſt denn auch Franz Grillparzer von23Grillparzer. Raimund.der theoretiſchen Ueberklugheit der deutſchen Romantik nur einmal ange - ſteckt worden. Sein Erſtlingswerk, die Ahnfrau, war eine Schickſals - tragödie; nicht die freie That des Helden ſondern tief verhüllte finſtre Mächte führten das tragiſche Verhängniß herauf. Jedoch die Pracht der Sprache und die Gluth der Leidenſchaft, das ſtürmiſche Fortſchreiten der Handlung und die merkwürdig frühreife Sicherheit der Technik ließen den verſchrobenen Grundgedanken faſt vergeſſen. Und alsbald riß ſich der geſunde Sinn des Dichters aus den Feſſeln der Müllnerſchen Kunſt - theorien völlig los. In ſeinen Trauerſpielen Sappho und das goldene Vließ zeigten ſich reine Form und ſcharfe Charakterzeichnung, deutſcher Ernſt und die ſchöne warme Sinnlichkeit des Altöſterreichers, claſſiſche und romantiſche Ideale glücklich verſchmolzen. Goethe blieb ihm fortan der mit kindlicher Andacht geliebte Meiſter, Weimar der geweihte Heerd des deutſchen Lebens. Größeres als den dämoniſchen Charakter der Medea hat Grillparzer in den hiſtoriſchen Dramen ſeiner ſpäteren Zeit nicht mehr geſchaffen; eine ſtetige Entwicklung blieb ihm trotz des höchſten Künſtler - fleißes verſagt. Er war nicht einer jener mächtigen Geiſter, die in un - aufhaltſamem Aufſteigen nach und nach immer weitere Kreiſe der Welt mit dem Lichte ihrer Ideen beſtrahlen, aber eine gemüthvolle, ſchamhafte Künſtlernatur, ein echter Dichter, der auch in den Zeiten des Verfalls die bewährten alten Grundſätze des dramatiſchen Idealismus mit unbe - irrter Treue bewahrte, der würdige Herold der neuen deutſchen Poeſie in Oeſterreich.

Bald nachher eroberte ein anderer Oeſterreicher, Ferdinand Raimund der deutſchen dramatiſchen Kunſt ein neues Gebiet. Der hatte ſeit Jahren als Komiker auf dem Leopoldſtädter Theater ſein harmloſes Publikum durch meiſterhaftes Spiel entzückt, und als er nun in aller Beſcheiden - heit ſich anſchickte ſeine kleine Bühne ſelber mit neuen Stoffen zu ver - ſorgen, da ſchuf er nicht, wie die meiſten dichtenden Schauſpieler, klug berechnete Zugſtücke mit dankbaren Rollen, ſondern volksthümliche Kunſt - werke. Er wurde der Schöpfer der neuen Zauberpoſſe, ſeit Hans Sach - ſens Zeiten der erſte deutſche Poet, der in Wahrheit das ganze Volk an die Bühne zu feſſeln verſtand und die Maſſen ergötzte durch Dichtungen, an denen auch der gebildete Sinn ſich eine Weile erfreuen und erwärmen konnte. Die Luſt am Fabuliren war dieſem Wiener Kinde angeboren; gradeswegs aus dem Getümmel des Volkslebens griff er ſich ſeine luſtigen Geſtalten heraus, unerſchöpflich in jenen gutmüthigen Schwänken und dämiſchen Späßen, die der Oeſterreicher und der Oberſachſe mit dem glückſeligen Ausrufe: nein, das iſt zu dumm! zu begrüßen pflegt. Aber hinter dem ausgelaſſenen, neckiſchen Treiben verrieth ſich der unter Thrä - nen lächelnde Humor eines tiefen Gemüthes. Und wie feſt ſtand noch der alte deutſche ſittliche Idealismus in jenen unſchuldigen Tagen des ſocialen Friedens! Immer wieder kam Raimund auf die Frage nach dem24II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.wahren Glücke des Lebens zurück, die dem beladenen kleinen Manne die höchſte aller ſittlichen Fragen bleibt; und immer wieder, mochte er nun den Verſchwender, den Menſchenfeind oder den Bauer als Millionär vor - führen, ließ er ſeine Hörer empfinden, daß alles Glück in dem Frieden der Seele liegt. Und die Maſſe glaubte ihm; die alten deutſchen Volks - lieder zum Preiſe der fröhlichen Armuth waren noch nicht vergeſſen. Unter den zahlreichen Nachahmern des anſpruchsloſen Volksdichters kam keiner dem Meiſter gleich. Das Volksluſtſpiel verwilderte ſchnell; die ſaftige Derbheit ſank zur Liederlichkeit, der gemüthliche Scherz zum öden Wortwitze, die kindliche Einfalt zur Plattheit herab. Weit ſpäter erſt, in einer Zeit erbitterter politiſcher und ſocialer Kämpfe, iſt in Norddeutſch - land eine neue Form der Poſſe entſtanden, die an Witz und Schärfe jene unſchuldigen Zaubermärchen ebenſo weit übertraf, wie ſie an Humor und poetiſchem Gehalt hinter ihnen zurückblieb.

Für die erzählende Dichtung wurde die unerſättliche Schreib - und Leſeſucht des Zeitalters zu einer Quelle ſchwerer Verſuchungen. Niemals früher hatte ſich eine ſolche Unzahl betriebſamer Federn auf allen Ge - bieten der Literatur zugleich getummelt. Der Meßkatalog der Leipziger Buchhändler ſchwoll zu einem unförmlichen Bande an. In jedem Städt - chen ſorgte eine Leihbibliothek für die Unterhaltung der Leſewelt. Die Anſtandsgewohnheiten des altbegründeten Wohlſtandes konnten ſich in dem verarmten Lande noch nicht ausbilden; die Deutſchen fanden kein Arg daran, daß ſie mehr laſen und weniger Bücher kauften als irgend ein anderes Volk. Indeß erzielten einzelne Werke bereits einen ſtarken, nach den Begriffen der alten Zeit unerhörten Abſatz: ſo Rottecks Welt - geſchichte, Zſchokkes Stunden der Andacht und die Ueberſetzung von Walter Scotts Romanen. Im Jahre 1817 kehrte Friedrich König, der Erfinder der Schnellpreſſe, in die Heimath zurück und begründete dann in Oberzell bei Würzburg ſeine große Fabrik, welche dem Buchhandel ermöglichte für das Maſſenbedürfniß zu arbeiten. Und da man ſich allgemach gewöhnte alles Neue aus dem ganzen Bereiche der Wiſſenſchaft und Kunſt gierig herunterzuſchlingen, ſo ward man bald unzufrieden mit dem einfachen claſſiſchen Unterrichte, auf deſſen fruchtbarem Boden die neue deutſche Cultur emporgeblüht war. Es genügte nicht mehr, dem Geiſte eine ſtrenge formale Bildung zu geben, ſo daß er fähig ward aus einem engen Kreiſe wohlgeſicherter Kenntniſſe nach und nach frei und ſtetig hinauszuwachſen, neues Wiſſen ſich durch ſelbſtändige Arbeit anzueignen. Man forderte unter dem wohllautenden Namen der realiſtiſchen Bildung das Anſam - meln einer bunten Fülle unzuſammenhängender Notizen, ſo daß Jeder über Jedes mitreden konnte. Das einfache Bekenntniß der Unwiſſenheit galt für beſchämend; Niemand wollte zurückſtehen, wenn das Geſpräch in raſchem Wechſel von der Schickſalstragödie auf die ſpaniſche Verfaſſung, von der Phrenologie auf die neuen engliſchen Dampfmaſchinen hinüberſprang.

25Schreib - und Leſeſucht.

Mit dem ſicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erſpähte der rührige F. A. Brockhaus dieſen mächtigen Zug der Zeit und ließ ſeit dem Jahre 1818 ein älteres, bisher wenig beachtetes Sammelwerk zu einem großen Converſationslexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha - betiſcher Reihenfolge dem gebildeten Deutſchen alles Wiſſenswerthe hand - lich vorlegte. Es war der Anfang jener maſſenhaften Eſelsbrücken-Lite - ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu ſeinem Vortheil aus - zeichnet. Das Unternehmen, ſo undeutſch wie ſein Name, fand doch Anklang in weiten Kreiſen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz ohne ſolche Krücken konnte ſich dies mit der Erbſchaft ſo vieler Jahrhunderte belaſtete Geſchlecht nicht mehr behelfen. Niebuhr aber beobachtete mit unverhohlenem Entſetzen die Wandlung, die ſich in der Geſittung der Nation allmählich vorbereitete; er ſah voraus, wie friedlos, leer und zer - fahren, wie unſelbſtändig in ihrem Denken die moderne Welt werden mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb - und Vielwiſſens, das Verlangen nach immer wechſelnden Eindrücken überhandnahm. Auch Goethe wußte, daß hier die ſchlimmſte Gefahr für die Cultur des neuen Jahrhunderts lag, und ſchrieb die ernſte Warnung:

Daß nur immer in Erneuung
Jeder täglich Neues höre,
Und zugleich auch die Zerſtreuung
Jeden in ſich ſelbſt zerſtöre!

In einer ſo leſeluſtigen Welt ſtumpfte ſich der feine Formenſinn ſchnell ab. Man trachtete vor Allem nach ſtofflichem Reiz, und da jede Zeit die Schriftſteller hat, welche ſie verlangt und verdient, ſo fand ſich auch ein Heer von rührigen Romanſchreibern, die ſich begnügten für den Zeit - vertreib zu ſorgen und einige Jahre lang in den kritiſchen Blättern ge - nannt zu werden. Es blieb fortan ein unterſcheidender Charakterzug des neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poeſie wie vereinzelte Goldkörner in einem ungeheueren Schutthaufen werthloſer Unterhaltungsſchriften ver - ſteckt lagen und immer erſt nach längerer Zeit aus der Maſſe des tauben Geſteins herausgefunden wurden. Nur war es in jenen anſpruchsloſen Tagen nicht wie heute die induſtrielle Betriebſamkeit, was ſo viele Un - berufene auf den deutſchen Parnaß führte, ſondern in der Regel die Eitelkeit und die literariſche Mode. Wie in der dramatiſchen ſo zeigten auch in der Roman - und Novellendichtung die poetiſchen Naturen ſelten das Talent der Compoſition, während die Virtuoſen der ſpannenden und feſſelnden Erzählung ebenſo ſelten die geſtaltende Kraft des Dichters be - währten.

Durch die ſtrenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche Gefühlsſeligkeit, die ſich einſt vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge - nährt hatte, auf kurze Zeit zurückgedrängt worden. Jetzt gewann ſie wieder Raum; in vielen Häuſern Norddeutſchlands herrſchte ein abge -26II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſchmackt ſüßlicher Ton. Manche kräftige Männer des heutigen Geſchlechts, welche einſt in dieſer ſentimentalen Luft aufwuchſen, wurden dadurch mit einem ſolchen Ekel erfüllt, daß ſie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter Empfindung vermieden. Der weichliche Vielſchreiber H. Clauren ſagte dem Geſchmacke der großen Leſewelt am Beſten zu. Die eleganten Damen erfreuten ſich an den verhimmelten Stahlſtichen und den rührenden No - vellen der modiſchen Taſchenbücher; Urania, Aurora, Alpenroſen, Ver - gißmeinnicht oder Immergrün ſtand auf den Titelblättern der zierlichen goldgeränderten Bändchen zu leſen. Oberſachſen, das vormals ſo oft durch ſtarke reformatoriſche Geiſter entſcheidend in den Gedankengang der Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptſitz dieſer Unterhaltungsliteratur; es war, als ob die einſt von dem jungen Goethe verſpottete Gottſched-Weiße-Gellertſche Waſſerfluth wieder über das ſchöne Land hereinbräche. In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor Hell mit einigen anderen ebenſo ſanftmüthigen Poeten allwöchentlich zum Dich - terthee zuſammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit wechſel - ſeitig ihre faden, des chineſiſchen Getränkes würdigen Novellen, die ſodann in der vielgeleſenen Abendzeitung veröffentlicht wurden. Friedrich Böt - tiger aber, der unaufhaltſamſte der Recenſenten, beeilte ſich, wie Goethe ſagte, den Lumpenbrei der Pfuſcher und der Schmierer zum Meiſterwerk zu ſtempeln.

Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbeſtadt übergeſiedelt war, zog ſich von dieſem leeren Treiben vornehm zurück. An ihm ward offenbar, daß die geheimnißvolle Poeſie der Poeſie , deren die Roman - tiker ſich rühmten, im Grunde nur geiſtreiche Kennerſchaft war. Er zählte, obwohl ihn ſeine Bewunderer dicht hinter Goethe ſtellten, doch zu den Naturen, die mehr ſind als ſie leiſten. Da er von dem über - mächtigen ſchöpferiſchen Drange des Dichters jetzt nur noch ſelten ergriffen ward, ſo warf er ſich mit ſchönem Eifer, mit ſeiner geprieſenen ſchnellen Fühlbarkeit auf die Erforſchung der Shakeſpeariſchen Dramatik. Was er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen Briten that ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutſche Leben als die formloſen Romane und die literariſch-ſatiriſchen Märchendramen ſeiner Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantaſie erſchienen, weil ſie mit bewußter Abſichtlichkeit ſelber ſagten, daß ihnen der Ver - ſtand ſo gänzlich fehle . Wie vielen jungen Poeten und Schauſpielern iſt in dem alten Hauſe am Altmarkte die erſte Ahnung von dem eigent - lichen Weſen der Kunſt aufgegangen, wenn der Dichter an ſeinen vielge - rühmten Leſeabenden mit wahrhaft congenialer Kraft die ganze Welt der Shakeſpeariſchen Geſtalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die Seele führte. Der junge Graf Wolf Baudiſſin fand es bald unbegreif - lich, wie er nur hätte leben können bevor er dieſen Mann gekannt. Tieck war früh berühmt geworden und erſchien ſchon im Mannesalter wie ein27C. Brentano.Patriarch der deutſchen Poeſie. Gütig, mit theilnehmendem Verſtändniß nahm der gichtbrüchige Mann mit den hellen Dichteraugen die Jungen auf, die zu ihm wallfahrteten, und wenngleich in ſeinen geiſtvollen Worten mancher ſeltſame Einfall mit unterlief, ſo blieb ſein Blick doch auf die Höhen der Menſchheit gerichtet; immer wieder verwies er die Jugend an die heil’gen Vier, die Meiſter der neuen Kunſt, Dante, Cervantes, Shakeſpeare und Goethe. Erſt nach Jahren kehrte er wieder ſelbſt zur Dichtung zurück. Noch mehr als Tieck hatten ſich die Brüder Schlegel dem poetiſchen Schaffen entfremdet. Friedrich verſank ganz in dem Ge - triebe der ultramontanen Politik. Auguſt Wilhelm lebte in Bonn ſeinen literarhiſtoriſchen und philologiſchen Studien, eine Zierde der neuen rhei - niſchen Hochſchule; den Studenten blieb der kleine ſtutzerhafte alte Herr doch immer ehrwürdig als der Vertreter einer reichen Epoche, auf deren Schultern die neue Wiſſenſchaft ſtand.

Nur jenen jüngeren Poeten, die ſich einſt in Heidelberg zuſammen - gefunden hatten, verſiegte die dichteriſche Ader nicht. Tiefer als Clemens Brentano war Niemand in die Irrgärten des romantiſchen Spiel - und Traumlebens hineingerathen. Halb Schalk halb Schwärmer, heute über - müthig bis zur Tollheit, morgen zerknirſcht und bußfertig, ſich ſelber und der Welt ein Räthſel, trieb ſich der Ruheloſe bald in den katholiſchen Städten des Südens umher, bald tauchte er in Berlin auf um den Ge - brüdern Gerlach und den anderen chriſtlich-germaniſchen Genoſſen der Maikäfer-Geſellſchaft ſeine Abhandlung über die Philiſter, die kecke Kriegs - erklärung der Romantik wider die Welt der Wirklichkeit, vorzuleſen. Den Befreiungskrieg begrüßte er mit lautem Jubel, doch konnte er ſo wenig wie Z. Werner ſich in den norddeutſch-proteſtantiſchen Ton der Bewegung recht finden; wie ſeltſam gezwungen und gemacht erſchienen ſeine zumeiſt zur Verherrlichung Oeſterreichs gedichteten Kriegslieder: durch Gott und Dich ward wahr, o Franz: was Oeſtreich will das kann’s! Nachher führte ihn ſein myſtiſcher Hang bis zum gemeinen Aberglauben herab; er verbrachte mehrere Jahre am Krankenlager der ſtigmatiſirten Nonne von Dülmen und legte ſeine Betrachtungen über das Wunderweib in verzückten Schriften nieder. Und doch drang das lautere Himmelslicht der Poeſie immer wieder durch die Nebel, welche dieſen kranken Geiſt umnachteten. Kaum hatte er in dem tollen Hexenſpuk der Gründung Prags , einer verunglückten Nachahmung von Kleiſts Pentheſilea, allen ſeinen verſchrobenen Launen die Zügel ſchießen laſſen, ſo ſammelte er ſich wieder, und ihm gelang wirklich was die Gelehrten der Romantik immer nur gefordert hatten: einen volksthümlichen Stoff in volksthüm - liche Form zu gießen. Er ſchuf ſein Meiſterſtück, die Erzählung vom braven Kasperl und vom ſchönen Annerl, das Vorbild der deutſchen Dorf - geſchichten. Mit vollem Rechte rühmte ſpäterhin Freiligrath ihm nach: der wußt es wohl wie nied’re Herzen ſchlagen; denn ſo naiv und treu28II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.hat Keiner wieder geſchildert was dem Seelenleben der kleinen Leute ſeine einfältige Größe giebt: die verhaltene Kraft der naturwüchſigen Leiden - ſchaft, die vergeblich nach einem Ausdruck ringt und dann plötzlich in verzehrenden Flammen durchbricht. Ebenſo ungleich blieb ſein Schaffen noch in ſpäteren Jahren. Die romantiſchen Feinſchmecker bewunderten ſeine Hühnergeſchichte Hinkel und Gockeleia; ſie konnten nicht genug prei - ſen, wie hier ein geſuchter Einfall zu Tode gehetzt, Hühnerleben und Menſchenleben in kindiſchem Spiele durcheinander geworfen wurde. Unter - deſſen ſchrieb er in allen guten Stunden ſeine Märchen ſtill für ſich hin, köſtliche Erzählungen vom Vater Rhein, von den Nixen und dem kriſtallenen Schloſſe drunten in den grünen Wellen, Bilder voll ſchalk - hafter Anmuth, traumhaft lieblich wie die rheiniſchen Sommernächte.

Der ungleich ſtärkere und klarere Geiſt ſeines Freundes Achim v. Ar - nim fand in der Märchenwelt kein Genügen. Der hatte ſchon früher in der Gräfin Dolores ein großes realiſtiſches Talent bekundet; nun wagte er ſich mit dem Romane die Kronenwächter auf die hohe See des hiſto - riſchen Lebens hinaus und rückte mit ſeiner kräftigen, unumwundenen Wahrhaftigkeit den Geſtalten unſerer Vorzeit herzhaft auf den Leib, bis ſie ihm Rede ſtanden und der markige Freimuth, die derbe Sinnlichkeit des alten Deutſchlands, die wüſte Roheit ſeiner Lagerſitten, der recht - haberiſche Trotz ſeines reichsſtädtiſchen Bürgerthums den Leſern hart und grell, wie die Geſtalten Dürerſcher Holzſchnitte, vor die Augen traten. Der ordnende, die Fülle des Stoffes beherrſchende Künſtlerſinn bleibt freilich ſelbſt dieſem liebenswürdigſten Jünger der romantiſchen Schule verſagt. Unvermittelt wie im Leben liegt das Einfache und das Seltſame in dem Romane neben einander; ein dichtes Geſtrüpp von krauſen Epi - ſoden umwuchert die Erzählung; zuweilen verliert der Dichter die Luſt und läßt ſich wie ein unmuthiger Schachſpieler die Figuren vom Brette herunterſchlagen. Der großgedachten, tiefſinnigen Dichtung fehlt der Ab - ſchluß, die Einheit des Kunſtwerks.

Weit größeren Anklang fand Amadeus Hoffmann bei der Maſſe der Leſewelt, der einzige Novellendichter, der es durch Fruchtbarkeit und Ge - ſchick mit dem betriebſamen Völkchen der Taſchenbuchsſchriftſteller auf - nehmen konnte. In ſeinem wunderlichen Doppelleben verkörperte ſich die widerſpruchsvolle romantiſche Moral, die muthwillig jede Brücke zwiſchen dem Ideale und der Wirklichkeit abbrach und grundſätzlich verſchmähte das Leben durch die Kunſt zu verklären. Wenn er den Tag über die gefan - genen Demagogen verhört und in den Criminalakten des Kammergerichts gewiſſenhaft und gründlich gearbeitet hatte, dann ging ihm erſt die Sonne ſeiner Traumwelt auf. Dann durfte ihn kein Wort mehr an das Schat - tenſpiel des Lebens erinnern, dann zechte er mit ausgelaſſenen Freunden oder phantaſirte in Liebhaberconcerten; und alſo begeiſtert ſchrieb er die Phantaſieſtücke in Callots Manier, die Elixire des Teufels, die Nacht -29A. v. Arnim. Callot-Hoffmann.ſtücke: phantaſtiſche Geſchichten von Dämonen und Geſpenſtern, von Träu - men und Wundern, von Wahnſinn und Verbrechen, das Ungeheuerlichſte was je ein überreiztes Hirn erſann. Es war als ob die Teufelsfratzen von den Dachtraufen unſerer alten Dome herunterſtiegen. Der wüſte Spuk drängte ſich ſo nahe, ſo ſinnlich greifbar auf, daß der Leſer, wie vom Alpdruck gelähmt, ſtill halten mußte und dem kecken Humor, der diaboliſchen Grazie des meiſterhaften Erzählers Alles glaubte. Zuletzt blieb von dem tollen Spiele freilich nichts zurück als die dumpfe Betäubung des phyſiſchen Schreckens.

Derweil in Drama und Roman ſo viele Irrwiſche ihr unſtetes Weſen trieben, erreichte die lyriſche Dichtung der Romantik durch Ludwig Uhland ihre Vollendung. Die Kritiker der Schule ſahen den proſaiſchen Menſchen über die Achſeln an, als ſeine Gedichte im Jahre 1814 zuerſt herauskamen. Recht als das Gegenbild romantiſcher Genieſucht erſchien dieſer ehrenfeſte Kleinbürger: wie er in Paris den Tag hindurch treu - fleißig in den Manuſcripten der altfranzöſiſchen Dichtung forſchte und Abends ſchweigſam in Geſellſchaft des ebenſo ſchweigſamen Immanuel Bekker die Boulevards entlang ging, mit offenem Munde und geſchloſſenen Augen, ganz unberührt von dem lockenden Glanz und den Verſuchungen ringsum; wie er dann in dem heimathlichen Neckarſtädtchen ſeinen be - häbigen wohlgeordneten Haushalt führte und ſich nicht zu gut dünkte an den proſaiſchen Verfaſſungskämpfen Württembergs mit Wort und That theilzunehmen. Und doch war es gerade dieſe geſunde Natürlichkeit und bürgerliche Tüchtigkeit, was den ſchwäbiſchen Dichter befähigte die Schran - ken der Kunſtformen weiſe einzuhalten und den romantiſchen Idealen eine lebendige, dem Bewußtſein der Zeit entſprechende Geſtaltung zu geben. Ein denkender Künſtler, blieb er doch völlig gleichgiltig gegen das literariſche Gezänk und die äſthetiſchen Doktrinen der Schule und harrte geduldig bis die Zeit der Dichterwonne kam, die ihm des Liedes Segen brachte. Dann wendete er die kritiſche Schärfe, welche andere Poeten in den Literaturzeitungen vergeudeten, unerbittlich gegen ſeine eigenen Werke; kein anderer deutſcher Dichter hat mit ſo ſprödem Künſtlerſtolze alles Halbfertige und Halbgelungene im Pulte zurückbehalten. Die Heldenge - ſtalten unſerer alten Dichtung, des Waltherliedes und der Nibelungen, erweckten zuerſt ſeine poetiſche Kraft; an den Gedichten des Alterthums vermißte er den tiefen, die Phantaſie in die Weite lockenden Hintergrund; doch ein angeborener, ſtreng geſchulter Formenſinn bewahrte ihn vor der unklaren Ueberſchwänglichkeit der mittelalterlichen Poeſie. In feſten, ſiche - ren Umriſſen traten dieſem Claſſiker der Romantik ſeine Geſtalten vor die Seele.

Während die älteren Romantiker meiſt durch den phantaſtiſchen Reiz des Fremdartigen und Alterthümlichen in die deutſche Vorzeit hinüber - gezogen wurden, ſuchte Uhland in der Vergangenheit das rein Menſch -30II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.liche, das zu jeder Zeit Lebendige und vor Allem das Heimathliche, die einfältige Kraft und Herzenswärme des unverbildeten germaniſchen We - ſens; das Forſchen in den Sagen und Liedern unſeres Alterthums galt ihm als ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutſchen Volks - lebens . Er fühlte, daß der Dichter, auch wenn er entlegene Stoffe be - handelt, nur ſolche Empfindungen ausſprechen darf, die in der Seele der Lebenden widerklingen, und blieb ſich des weiten Abſtandes der Zeiten klar bewußt. Niemals hat ihn die Freude an der Farbenpracht des Mit - telalters den proteſtantiſchen und demokratiſchen Gedanken des neuen Jahr - hunderts entfremdet. Derſelbe Dichter, der ſo rührend von den Gottes - ſtreitern der Kreuzzüge ſang, pries auch den Baum von Wittenberg, der mit Rieſenäſten, dem Strahle des Lichtes entgegen, zum Klauſendach hinaus - wuchs, und geſellte ſich freudig zu den ſtreitbaren Sängern des Befreiungs - krieges und beugte ſich demüthig vor der Heldengröße des neuerſtandenen Vaterlandes:

Nach ſolchen Opfern heilig großen
Was gälten dieſe Lieder Dir?

Mit kräftigem Spotte kehrte er der Aftermuſe der romantiſch ſüßen Herren, der Aſſonanzen - und Sonettenſchmiede den Rücken zu und hielt ſich an den Wahlſpruch der Altvorderen: ſchlicht Wort und gut Gemüth ſind das echte deutſche Lied. Die anſchaulichen, volksthümlichen Aus - drücke ſtrömten dem Sprachgewaltigen von ſelber zu. So leicht erklangen ſeine ungekünſtelten Verſe, ſo friſch und heiter ſchwebten ſeine Geſtalten dahin, daß die Leſer gar nicht bemerkten, wie viel Künſtlerfleiß ſich hinter der tadelloſen Reinheit dieſer einfachen Formen verbarg, wie tief der Dichter in die Schachte der Wiſſenſchaft hatte hinabſteigen müſſen bis ihm Klein Roland und Taillefer, Eberhard der Rauſchebart und der Schenk von Limburg ſo vertraut und lebendig wurden. Für ſeine Er - zählungen wählte er mit Vorliebe die dem leidenſchaftlichen germaniſchen Weſen zuſagende Form der dramatiſch bewegten Ballade, nur ſelten, wo es die Natur des Stoffes gebot, die ruhig berichtende, ausführlich ſchil - dernde ſüdländiſche Romanze. Nicht die Begebenheit war ihm das Weſent - liche, ſondern ihr Widerſchein in dem erregten Menſchenherzen. Jede Falte des deutſchen Gemüthes lag ihm offen, und wunderbar glücklich wußte er zuweilen mit wenigen anſpruchsloſen Worten ein Herzensge - heimniß unſeres Volkes zu offenbaren. Einfacher als in dem Gedichte von dem treuen Kameraden iſt nie geſagt worden, wie den ſtreitbaren Ger - manen ſeit der Cimbernſchlacht bis zu den Franzoſenkriegen im Schlacht - getümmel immer zu Muthe war: ſo kampfluſtig und fromm ergeben, ſo liebevoll und ſo treu.

Die Kraft der Empfindung drängte ſich auch in ſeinen erzählenden Dichtungen ſo ſtark hervor, daß manche Gedichte, die er ſelber Balladen nannte, bald als Lieder in den Volksmund übergingen. Denn ſeinen31Uhland.Liedern vornehmlich verdankte er die Liebe des Volkes, die ihm zuerſt in der ſchwäbiſchen Heimath, dann auch im übrigen Deutſchland frohlockend entgegenkam bis er endlich der volksthümlichſte aller unſerer großen Dichter wurde. In den ſchlichten, tief empfundenen Worten von Liebes Leid und Freude, von Wanderglück und Abſchiedsſchmerz, von der Luſt des Weines und der Waffen fanden Alle, Vornehm und Gering, die Erinnerungen ihres eigenen Lebens wieder. Zumal die Oberdeutſchen fühlten ſich an - geheimelt, wenn ihnen zwiſchen den Zeilen des Dichters ſtets die ſchwäbi - ſche Landſchaft mit ihren Rebenhügeln und ſonnigen Flüſſen, mit ihrem heiteren ſangesluſtigen Völkchen entgegenwinkte. Die einfachen, dem Volks - liede nachgebildeten Weiſen forderten unwillkürlich zum Singen auf; bald wetteiferten die Tonſetzer ſich ihrer zu bemächtigen. Die ganze Jugend ſtimmte mit ein. Uhlands Lieder erklangen wo immer deutſche Soldaten über Land marſchirten, wo Studenten, Sänger und Turner ſich zum fröhlichen Feſte zuſammenfanden; ſie wurden eine Macht des Segens für das friſch aufblühende kräftige Volksleben des neuen Jahrhunderts. Das junge im Kriege geſtählte Geſchlecht drängte überall aus der Stubenluft der guten alten Zeit hinaus ins Freie, die deutſche Wanderluſt forderte ihr Recht, alte halbvergeſſene Volksfeſte gelangten wieder zu Ehren. Der neue Volksgeſang ſchlug eine Brücke über die tiefe Kluft, welche die Ge - bildeten von den Ungebildeten trennte, führte die Maſſen, die nichts laſen, zuerſt in die Kunſtdichtung der Gegenwart ein; und wenngleich jene köſtliche ungebrochene Einheit der nationalen Geſittung, wie ſie einſt in den Tagen der Staufer beſtanden, für die gelehrte Bildung der moder - nen Welt immer unerreichbar blieb, ſo war es doch eine heilſame Rückkehr zur Natur, daß allmählich mindeſtens ein Theil der ſchönſten deutſchen Gedichte der ganzen Nation lieb und verſtändlich wurde. Wie ſchlug dem ſchwäbiſchen Dichter das Herz, als er die neu erwachende Liederfreude ſeines Volkes ſah; voll Zuverſicht rief er den Genoſſen die nur allzu treu - lich beherzigte Mahnung zu:

Singe wem Geſang gegeben
In dem deutſchen Dichterwald!
Das iſt Freude, das iſt Leben,
Wenn’s von allen Zweigen ſchallt!

Der ſchlichte Mann konnte ſich nicht ſatt ſehen an dem lärmenden Gewimmel der Volksfeſte, und das waren ihm die Augenblicke des höch - ſten Dichterlohnes, wenn er einmal auf einer Rheinreiſe irgendwo im Walde junges Volk mit friſchen Stimmen ſeine eigenen Lieder ſingen hörte, oder wenn ein Tübinger bemooſtes Haupt in feſtlichem Comitat über die Neckarbrücke hinauszog und das Abſchiedslied es ziehet der Burſch in die Weite bis in den Rebgarten des Dichterhauſes am Oſter - berge hinüberklang.

Wohl umſpannten ſeine Gedichte nur einen ziemlich engen Kreis von32II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Gedanken; er ſang, wie einſt die ritterlichen Dichter mit den Goldharfen, faſt allein von Gottesminne, von kühner Helden Muth, von lindem Liebesſinne, von ſüßer Maienbluth . Auch in ſeinen Tragödien verherr - lichte er mit Vorliebe die zähe Treue altdeutſcher Freundſchaft; ihnen fehlte die fortreißende Macht der dramatiſchen Leidenſchaft. An das mäch - tige politiſche Pathos ſeines Lieblings Walther von der Vogelweide reichten ſeine vaterländiſchen Gedichte nicht heran; der prometheiſche Drang, die höchſten Räthſel des Daſeins, das Woher und Wohin der Menſchheit zu ergründen, berührte ſein ruhiges Gemüth ſelten. Darum wollte Goethe von den Roſen und Gelbveigelein, den blonden Mädchen und trauernden Rittern des ſchwäbiſchen Sängers nichts hören; er verkannte, daß ihm ſelber in der Lieder - und Balladendichtung Niemand ſonſt ſo nahe ge - kommen war wie Uhland, und meinte herbe, in Alledem liege nichts das Menſchengeſchick Bezwingendes. Die Deutſchen aber hatten ſich längſt im Stillen verſchworen, den Altmeiſter zu behandeln nach ſeinem eigenen Worte: wenn ich Dich liebe, was gehts Dich an? Der treue Schwabe wußte, wie unmöglich es iſt einen Meiſter ſeines Irrthums zu überführen. Er ließ ſich durch die Ungerechtigkeit des Alten in ſeiner Liebe nicht be - irren; er ward nicht müde dem Greiſe ſeine Sängergrüße zu ſenden und der Nation zu erzählen, wie dieſer Königsſohn einſt in goldner Frühe das ſchlummernde Dornröschen, die deutſche Poeſie erweckte, und wie das ſteinerne Laub am Straßburger Münſter rauſchte, als der Dichterjüng - ling die Thurmſchnecken hinaufſtieg, dem nun ein halb Jahrhundert die Welt des Schönen tönt .

Obwohl der Schweigſame nach ſeinem dreißigſten Jahre nur noch einzelne Gedichte veröffentlichte und ſich begnügte als geiſtvoller Forſcher und Sammler an der großen Arbeit der Wiederentdeckung unſerer Vor - zeit theilzunehmen, ſo wuchs ſein Dichterruhm doch von Jahr zu Jahr. Die Lieder ſeiner Jugend konnten nicht veralten. Hochgebildet und doch bürgerlich unſcheinbar; begeiſtert für die alte Herrlichkeit des Reichs und das öſterreichiſche Kaiſergeſchlecht, und doch ein Demokrat, dem die Für - ſtenräth und Hofmarſchälle mit trübem Stern auf kalter Bruſt immer verdächtig blieben; im politiſchen Kampfe furchtlos und treu, wie es der Wappenſpruch des Landes fordert, bis zum trotzigen Eigenſinne ſo erſchien er den Schwaben als der rechte Vertreter der Landesart, als der beſte der Stammgenoſſen. Sie hoben ihn auf den Schild und rühmten: jedes Wort, das der Uhland geſprochen, iſt uns gerecht geweſen.

Eine Schaar von jungen Poeten folgte dem Meiſter nach und nannte ſich bald ſelbſt die ſchwäbiſche Dichterſchule. Hier zuerſt in der Geſchichte der neuen deutſchen Dichtung ward der Verſuch einer landſchaftlichen Sonderbildung gewagt, doch es war ein durchaus harmloſer Partikula - rismus. Nichts lag dieſen Dichtern ferner als die Abſicht ſich loszureißen von der gemeinſamen Arbeit der Nation; ſie fühlten ſich nur recht von33Die ſchwäbiſche Dichterſchule.Herzen froh und ſtolz, dieſem heiteren Lande des Weines und der Lieder anzugehören, dieſem Stamme, der einſt des heiligen Reiches Sturmfahne getragen hatte und feſt wie kein anderer mit den großen Erinnerungen unſeres Mittelalters verwachſen war. Liebenswürdige Heiterkeit und natür - liche Friſche war allen den ungezählten Balladen und Liedern dieſer Poeten eigen; ſie blieben deutſch und züchtig und bewahrten die reinen Formen der lyriſchen Dichtung auch in ſpäteren Tagen, als der neue weltbür - gerliche Radikalismus, den Adel der Kunſtform und die Unſchuld des Herzens zerſtörend, über die deutſche Poeſie hereinbrach. Aber die wun - derbare poetiſche Stimmung der Lieder Uhlands ließ ſich ebenſo wenig nachahmen wie ſeine ſchalkhafte Laune, die den reckenhaften Trotz der deutſchen Heldenzeit ſo glücklich zu verklären wußte. Manche der ſchwäbi - ſchen Balladenſänger verfielen allmählich in die gereimte Proſa des Mei - ſterſanges; ihre platte Gemüthlichkeit wußte dem neuen Jahrhundert keine Gedanken zu bieten.

Weitaus der eigenthümlichſte Geiſt aus dieſem Kreiſe war Juſtinus Kerner, eine durch und durch poetiſche Natur voll drolligen Humors und tiefen Gefühles. Sein gaſtfreies Haus in den Rebgärten dicht neben der alten ſagenberühmten Burg Weibertreu bei Weinsberg blieb viele Jahre hindurch die Herberge für alle guten Köpfe aus dem Oberlande. Wer dort von dem Dichter und ſeinem Rickele herzlich aufgenommen ward und ihn dann beim Neckarwein tolle Schnurren erzählen oder ſeine geiſt - vollen, warm empfundenen Lieder vortragen hörte, der fand es kaum an - ſtößig, daß auch dieſer im Grunde der Seele proteſtantiſche und moderne Menſch von dem myſtiſchen Hange der Romantik nicht unberührt ge - blieben war. Wie Brentano die wunderthätige Katharina Emmerich, ſo feierte Kerner die Seherin von Prevorſt, eine kranke Bäuerin aus der Nachbarſchaft, und meinte durch ſie den Einklang zweier Welten zu be - lauſchen; was ihn in dieſe nächtigen Regionen trieb war nicht die Ge - wiſſensangſt einer unfreien, haltloſen Seele, ſondern die poetiſche Schwär - merei eines kindlichen Gemüthes, das in der Verſtandesdürre der Auf - klärung ſeinen Frieden nicht finden konnte. Dankbar rief ein Genoſſe der Tafelrunde dem glücklichen Dichterhauſe zu:

Es weicht die Geiſterſchwüle
Vor jener Abendkühle,
Die von des Genius Schwingen thaut!

Unterdeſſen begann die Nation erſt ganz zu verſtehen was ſie an ihrem größten Dichter beſaß. Immer mächtiger und gebieteriſcher hob ſich die Geſtalt Goethes vor ihren Augen, als die Aufregung der Kriegs - zeit ſich legte und die während der Jahre 1811 14 erſchienenen drei erſten Theile von Dichtung und Wahrheit allmählich in größere Kreiſe drangen. Das Buch ſtand in der langen Reihe der Bekenntniſſe bedeu - tender Männer ebenſo einzig da wie der Fauſt in der Dichtung. SeitTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 334II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.den Confeſſionen des Auguſtinus hatte Niemand mehr das allerſchönſte Geheimniß des Menſchenlebens, das Werden des Genius, ſo tief, wahr und mächtig geſchildert. Jenem ſtrengen Heiligen verſchwanden die Ge - ſtalten des Dieſſeits gänzlich neben dem zermalmenden Gedanken der Sündhaftigkeit aller Creatur und der Sehnſucht nach dem lebendigen Gotte; hier aber redete ein weltfreudiger Dichtergeiſt, der in der Lebens - fülle der Schöpfung die ewige Liebe anzuſchauen ſuchte und von den höch - ſten Flügen des Gedankens immer wieder zurückkehrte zu dem einfältigen Künſtlerglauben: wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Pla - neten und Monden, von Sternen und Milchſtraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn ſich nicht zu - letzt ein glücklicher Menſch unbewußt ſeines Daſeins erfreut? Ebenſo ehrlich wie einſt Rouſſeau bekannte Goethe die Fehler und Irrgänge ſeiner Jugend; doch bewahrte ihn ſein ſicheres Stilgefühl vor jener gewaltſamen, geſuchten Offenheit, die zur Schamloſigkeit führt. Er legte nicht wie der Genfer auch jene halb unbewußten widerſpruchsvollen Aufwallungen des Gefühles blos, welche allein durch ihre Flüchtigkeit erträglich werden und in der ausführlichen Darſtellung fratzenhaft erſcheinen, ſondern gab nur das Weſentliche ſeines Lebens: er erzählte wie er zum Dichter geworden war.

Wenn aus Rouſſeaus Geſtändniſſen zuletzt doch nichts übrig blieb als die wehmüthige Erkenntniß der Gebrechlichkeit des Menſchen, der zwiſchen ſeinem Urbild und ſeinem Zerrbild, zwiſchen dem Gott und dem Thiere haltlos dahinſchwankt, ſo überkam die Leſer von Dichtung und Wahrheit das frohe Gefühl, daß dem deutſchen Dichter in zweifachem Sinne gelungen war was Milton einſt von dem Poeten verlangte: ſein Leben ſelbſt zu einem wahren Kunſtwerke zu geſtalten. Wie er das Ta - lent von der Mutter, den Charakter von dem Vater ererbt hatte und nun nach und nach mit ungeheuerer Beharrlichkeit ſich ausbreitete über den ganzen Bereich menſchlichen Schauens, Dichtens und Erkennens auf jeder Stufe ſeiner Entwicklung erſchien dieſer Geiſt geſund, vorbild - lich, der Natur gemäß und darum ſo einfach in allen ſeinen wunderbaren Wandlungen. Die geiſtreiche Fanny Mendelsſohn ſprach nur die Em - pfindungen aller Leſer aus, als ſie weiſſagte: dieſen Mann werde Gott nicht vor der Zeit heimrufen; der müſſe auf Erden bleiben bis zum höch - ſten Alter und ſeinem Volke zeigen was es heiße zu leben. Die Ver - ehrung für Goethe ward ein Band der Einheit zwiſchen den beſten Män - nern dieſes zerriſſenen Volkes; je höher ein Deutſcher in ſeiner Bildung ſtand, um ſo tiefer beugte er ſich vor dem Dichter. Wohl hörte man aus dem Tone des Buches heraus, daß Goethe einſt ſelber von ſeinen Jugendtagen geſagt hatte: man hätte mir eine Krone auf das Haupt ſetzen können, und ich würde mich nicht gewundert haben. Und doch ſtand er viel zu hoch um auch nur berührt zu werden von jenen unwillkürlichen Regungen der Selbſtgefälligkeit, die ſich faſt in allen Confeſſionen zeigen. 35Dichtung und Wahrheit.Das mächtige Selbſtbewußtſein, das ſich in dieſen Blättern ausſprach, war die heitere Ruhe eines ganz mit ſich einigen Geiſtes, die glückliche Unbefangenheit eines Dichters, der ſein Leben lang nur Bekenntniſſe ge - ſchrieben hatte und längſt gewohnt war den Tadlern und den Neidern gelaſſen zu antworten: ich habe mich nicht ſelbſt gemacht.

Immer wenn er in das deutſche Leben hineingriff hatte er ſein Höch - ſtes geleiſtet; ſo waren denn auch die Geſtalten, die er jetzt aus der Er - innerung heraufbeſchwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur die ſchönſten ſeiner freien Dichtergebilde. Aus dem Pfarrhauſe von Seſen - heim drang ein Strahl der Liebe in die Jugendträume jedes deutſchen Herzens, und wenn ein Deutſcher an die ſeligen Tage ſeiner eigenen Kindheit zurückdachte, ſo ſtand mit einem male das winklige alte Haus am Hirſchgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er ſchaute der glücklichen Frau Rath in die tiefen lachenden Augen. Der Dichter ſagte mit ſeinen Alten: in der Geſtalt wie der Menſch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten. Ihm ſelber fiel ein anderes Loos; denn ſo mächtig war der Zauber dieſes Buches, daß noch heute, wenn Goethes Name genannt wird, faſt Jedermann zuerſt an den könig - lichen Jüngling denkt; ſeine Mannesjahre, die er ſelbſt nicht mehr ge - ſchildert hat, ſcheinen neben dem ſonnigen Glanze dieſer Jugendgeſchichte wie im Schatten zu liegen.

Wie Rouſſeau die Zeitgeſchichte mit der Erzählung ſeines Lebens verwoben hatte, ſo gab auch Goethe, nur ungleich tiefſinniger und gründ - licher, ein umfaſſendes Geſchichtsbild von dem geiſtigen Leben der fride - ricianiſchen Zeit. Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer ſchil - derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutſchen Kunſt: wie Alles keimte und drängte, wie der friſche Duft des Erdreichs aus den neu umgebrochenen Aeckern die Luft erfüllte, wie der eine Baum noch kahl ſtand und andere ſchon Blätter trugen. Wie oft hatten Nie - buhr und andere Zeitgenoſſen dem Dichter den hiſtoriſchen Sinn abge - ſprochen, weil er ſich ſo gern in die Natur verſenkte. Er aber löſte jetzt die beiden höchſten Aufgaben des Geſchichtſchreibers, die künſtleriſche und die wiſſenſchaftliche, und zeigte durch die That, daß beide in Eines zu - ſammenfallen: indem er die Vergangenheit den Leſern ſo lebendig ver - gegenwärtigte, daß ſie Alles mitzuerleben glaubten, ließ er ſie zugleich das Geſchehene verſtehen, die Nothwendigkeit der Thatſachen erkennen. Das Werk war entſtanden in den Tagen der napoleoniſchen Weltherr - ſchaft, da der Dichter ſelbſt an der politiſchen Auferſtehung ſeines Vater - landes zu verzweifeln ſchien, und gleichwohl ſprach aus jedem Satze die zuverſichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianiſchen Zeitalters. Kein Wort ließ errathen, daß der Dichter nach den jüngſten Niederlagen den Glauben an Deutſchlands große Zukunft aufgegeben hätte. Eben jetzt, da alle Welt den preußiſchen Staat verloren gab und ſelbſt die3*36II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.teutoniſchen Schwarmgeiſter ſich gleichgiltig von dem Bilde Friedrichs ab - wendeten, zeigte Goethe zuerſt in ergreifenden Worten, wie feſt die neue Kunſt mit dem preußiſchen Heldenruhme verwachſen war: an Talenten war in Deutſchland niemals Mangel, doch der nationale Gehalt, der eigentliche Lebensinhalt kam unſerer Dichtung erſt durch Friedrichs Thaten. So wenig war der Dichter ſeinem Volke innerlich untreu geworden. Heute giebt es nur noch eine heilige Sache: ſo äußerte er einſt in jenen ſchweren Tagen im Geiſte zuſammenzuhalten und in dem allgemeinen Ruin das Palladium unſerer Literatur zu bewahren!

Ein qualvoller, ungeſunder Zuſtand blieb es doch, daß er zu dem erwachenden politiſchen Leben ſeines Volkes ſo gar kein Vertrauen faſſen konnte. Schmerzlich genug erprobte er die Wahrheit ſeines eigenen Aus - ſpruchs: der Dichter ſei ſeiner Natur nach unparteiiſch und könne in Zeiten politiſcher Leidenſchaft einem tragiſchen Schickſal kaum entgehen. Auf Augenblicke überkam ihn wohl die Ahnung einer glücklicheren Zukunft. Als die große Armee nach Rußland zog und die Verzagten meinten, nun - mehr ſei das Weltreich vollendet, da erwiderte er: wartet ab, wie Viele wiederkommen werden! Aber als nun wirklich nur armſelige Trümmer jener endloſen Züge zurückkehrten und das preußiſche Volk ſich wie ein Mann erhob, da graute dem Dichter doch vor dem aufgeregten Weſen der unartigen Freiwilligen . Er vergaß es nie, wie wenig die Deut - ſchen einſt den hohen patriotiſchen Sinn von Hermann und Dorothea verſtanden hatten, und traute ſeinem Volke die nachhaltige Kraft des politiſchen Willens nicht zu; er hatte von jeher mit der alten Cultur des Weſtens ſeine Gedanken ausgetauſcht und ſah jetzt mit unheimlichen Ahnungen, wie die Völker des Oſtens Koſaken, Kroaten, Kaſſuben und Samländer, braune und andere Huſaren über das friedliche Mitteldeutſch - land dahinfegten. Seinem Sohne verbot er ſtreng, in das Heer der Ver - bündeten einzutreten und mußte dann noch erleben, wie der leidenſchaft - liche Jüngling, beſchämt und verzweifelt, plötzlich umſchlug und im Hauſe des Vaters eine abgöttiſche Verehrung für Napoleon zur Schau trug.

Erſt die Friedensbotſchaft erlöſte den Dichter aus ſeiner dumpfen Ver - ſtimmung; er athmete erleichtert auf und ſchrieb zur Friedensfeier das Feſt - ſpiel des Epimenides Erwachen um nach ſeiner Weiſe durch ein poetiſches Bekenntniß ſeine Bruſt vollends zu befreien. Die Maſſe, die mit Recht bei ſolchem Anlaß ein volksthümliches, gemeinverſtändliches Werk erwartete, wußte mit den ſymboliſchen Geſtalten nichts anzufangen; zwer aber den Sinn der Fabel zu enträthſeln vermochte, hörte tief erſchüttert mit an, wie der träumeriſche Weiſe, der dieſe Nacht des Jammers überſchlief , den ſiegreichen Kämpfern bekannte: er ſchäme ſich ſeiner Ruheſtunden, denn für den Schmerz, den ihr empfunden, ſeid ihr auch größer als ich bin! Es war ein Geſtändniß, das jeden Tadel beſchämte; doch kei - neswegs eine Demüthigung, denn zugleich dankte Epimenides den Göttern,37Des Epimenides Erwachen.die ihm in dieſen ſtürmiſchen Jahren die Reinheit der Empfindung bewahrt hatten. Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungskrieg zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in Roſtock ihrem Blücher errichteten, ſchrieb er die Zeilen:

In Harren und Krieg,
In Sturz und Sieg
Bewußt und groß,
So riß er uns
Vom Feinde los!

Sobald die Waffen ſchwiegen machte er ſich auf zu des Rheins geſtreckten Hügeln, hochgeſegneten Gebreiten . Zwei glückliche Sommer, 1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheiniſchen Landen, die ihn mit ihrem ſonnenhellen Leben immer vor allen anderen deutſchen Gauen anheimelten. Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten rheinländiſchen Frohſinn, den freundnachbarlichen Verkehr zwiſchen den beiden Ufern wiedererwachen ſah, und droben auf dem Rochusberge bei Bingen, wo die franzöſiſchen Vorpoſten ſo lange ihren Lugaus gehalten, das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeſte zuſammenſtrömte. In den Blät - tern, die er zum Gedächtniß dieſer frohen Tage ſchrieb, erſchien der Greis wieder ganz ſo lebensfroh und weinſelig wie einſt der Straßburger Stu - dent. Auch die Forſchungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Boiſſeree wieder auf. Er freute ſich an dem Kölner Dome, beſuchte alle die alten Bau - werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort ſtand jetzt die altdeutſche Gemäldeſammlung der Gebrüder Boiſſeree mit den Dürerſchen Apoſteln und dem gewaltigen Bilde des heiligen Chriſtophorus, ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unſerer neuen Kunſt - forſchung. Die Geſtalten Dürers, ihr feſtes Leben und Männlichkeit, ihre innere Kraft und Ständigkeit hatten den Dichter ſchon in ſeiner Jugend mächtig angezogen; wie that es ihm wohl, jetzt auch an den Werken der altniederländiſchen und der kölniſchen Malerſchule den Fleiß, die Bedeut - ſamkeit, die Einfalt der deutſchen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder, rief er aus, was ſind wir dumm: wir bilden uns ein, unſere Großmütter ſeien nicht auch ſchön geweſen! Auch der Nibelungen nahm er ſich nach - drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Geſellen, die über die reckenhafte Großheit des germaniſchen Alterthums ihre Witze riſſen. Den Drillingsfreunden in Köln, den Boiſſerees und ihrem Genoſſen Ber - tram, die zum Vergangenen muthig ſich kehren , ſendete er zum An - denken ſein Bild mit freundlichen Verſen. Die chriſtlich-germaniſchen Schwarmgeiſter frohlockten, nun ſei dieſer Berg zu Thal gekommen, nun habe der alte Heidenkönig dem deutſchen Feſtkinde, dem Kölner Dome huldigen müſſen; ſie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und hofften demnächſt eine chriſtliche Iphigenie erſcheinen zu ſehen.

38II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Wie wenig kannten ſie dieſen allſeitigen Geiſt, der eben damals mit ruhigem Selbſtgefühle ſagte: Wer nicht von dreitauſend Jahren ſich weiß Rechenſchaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben! Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutſchen Romantik unbefangen anerkannte, ſo war er doch mit nichten gemeint im hohen Alter zu dem Gedankenkreiſe ſeines Götz von Berlichingen zurückzukehren. Er blieb der Claſſiker, der den Benvenuto Cellini überſetzt und in ſeiner Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutſchen Renaiſſance ver - kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum ſo lieb, weil dieſer heitere Genius gleich ihm ſelber germaniſchen Gedankenreichthum mit ſüdländi - ſcher Formenſchönheit verband. Der Welterfahrene, der ſich ſelbſt oft - mals demüthig ein bornirtes Individuum nannte, wußte nur zu wohl, wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür - lichen Einſeitigkeit verführen, und ſah daher mit Entrüſtung, wie die bewußte und gewollte Einſeitigkeit des Teutonenthums den Deutſchen ihr beſtes Gut, die freie Weltanſicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu verküm - mern drohte. Wenn das junge Volk ſich gar unterſtand, ihm ſeine ge - liebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, ſie des befruch - tenden Verkehres mit fremder Cultur zu berauben, dann brauſte er auf in hellem Titanenzorne. Die malcontente, determinirte, zuſchreitende Art des neuen Geſchlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Weſen, dieſe aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jacobinertrotz ſo ſeltſam gemiſchte Formloſigkeit. Namentlich an den jungen Malern, die in dem Kloſter auf dem Quirinal ihre Werkſtatt aufgeſchlagen hatten, bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen iſt. Die fruchtbaren erſten Jahre der mittelalterlichen Schwärmerei waren vorüber. Jetzt hieß die Loſung Frömmigkeit und Genie! ; der Fleiß ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erſchienen ſo leer und kahl wie die Kloſterzellen von S. Iſidoro ſelber. Scharf abwehrend trat der Dichter dieſer Richtung entgegen; ſogar die Widmung der Cornelius - ſchen Zeichnungen zum Fauſt würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte, daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verſtanden, die claſſiſchen Ideen aber, die nachher im zweiten Theile ihre Entfaltung finden ſollten, noch kaum bemerkt hatte.

Vor Allem entſetzte den freien Geiſt des alten Claſſikers die Kin - derpäpſtelei , das erkünſtelte neukatholiſche Weſen der verfallenden Ro - mantik. Es wurde verhängnißvoll für den ganzen Verlauf der deutſchen Geſittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geiſtvolle Form des poſitiven chriſtlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte. In ſeiner Jugend verkehrte er eine Zeit lang mit den ſchönen Seelen des Pietismus, jedoch der enge Geſichtskreis dieſer Stillen im Lande ver - mochte den Genius nicht zu feſſeln. Im Alter trat er mit den Beken - nern jenes tiefſinnigen, weitherzigen und hochgebildeten Chriſtenthums,39Goethe und die neue Generation.das während der ſchweren Jahre des Leidens und des Kampfes allmäh - lich herangereift war, niemals in nahe Berührung; ſonſt wäre ſeinem ſcharfen Blicke ſchwerlich entgangen, daß Männer wie Stein und Arndt ihre unerſchütterliche Hoffnungsfreudigkeit, ihre ſittliche Ueberlegenheit, einem Hardenberg oder Gentz gegenüber, zu allermeiſt der Kraft des lebendigen Glaubens verdankten. So geſchah es, daß auch der letzte und größte Vertreter unſerer claſſiſchen Epoche von dem wieder erwachenden religiöſen Leben der Nation wenig bemerkte, und noch auf Jahrzehnte hinaus die Geringſchätzung kirchlicher Dinge in den Kreiſen der reichſten Bildung faſt als ein nothwendiges Zeichen freier Geſinnung erſchien. Die ſpin - deldürren Geſtalten der Nazarener mit ihrer geſuchten Einfalt, die bald ſüßlichen bald überſchwänglichen Reden der romantiſchen Apoſtaten mußten Goethes großen Sinn empören; und als er gar die Frau von Krüdener auf ihre alten Tage die Erweckte, die gottbegeiſterte Seherin ſpielen ſah, da wallte ſein proteſtantiſches Blut hoch auf und er ſchrieb kurzab: Hu - renpack, zuletzt Propheten! Auch die Verfälſchung der Wiſſenſchaft durch religiöſe Gefühle und myſtiſche Ahnungen blieb ihm immerdar ein Gräuel, und mit hellem Jubel begrüßte er Gottfried Hermanns kritiſch-helleniſch - patriotiſche Feldzüge wider Creuzers Symbolik. Er fühlte lebhaft, daß alles deutſche Weſen zu Grunde gehen müßte, wenn wir jemals unſeren Weltbürgerſinn völlig aufgäben; er ward nicht müde von der Nothwendig - keit einer Weltliteratur zu ſprechen, das Echte und Gute aus den Werken der Nachbarvölker zu empfehlen, und fand ſogar Worte des Beifalls als der geiſtreiche Ruſſe Uwarow vorſchlug, jede Wiſſenſchaft nur in einer conge - nialen Sprache darzuſtellen, alſo die Alterthumskunde nur in der deutſchen.

Ebenſo wenig wie das überſpannte Teutonenthum konnten dem Dichter die neuen conſtitutionellen Doktrinen zuſagen. In den einfachen gemüth - lichen Verhältniſſen des Lebens bewährte er ſtets eine rührende Güte und Nachſicht gegen den geringen Mann, tiefe Ehrfurcht vor den ſtarken und ſicheren Inſtinkten des Volksgefühls. Oft wiederholte er: die wir die niederſte Klaſſe nennen ſind vor Gott gewiß die höchſte Menſchenklaſſe. Selbſt während er an der Iphigenie ſchrieb, vermochte ſein menſchen - freundliches Herz den Gedanken an die hungernden Apoldaer Strumpf - wirker nicht los zu werden. Doch im Staate, in Kunſt und Wiſſenſchaft zeigte er die ariſtokratiſche Geſinnung, die jedem bedeutenden Kopfe natür - lich iſt, und wahrte ſtreng abweiſend das natürliche Vorrecht der Bil - dung. Schon in den Volksſcenen ſeines Egmont hatte er ſein Urtheil über die politiſche Befähigung der Maſſe unverblümt ausgeſprochen. Verwir - rend iſts wenn man die Menge höret ſo lautete ſeine Antwort, wenn die Wortführer des Liberalismus zuverſichtlich betheuerten, die untrügliche Weisheit des Volks werde alle Schäden des deutſchen Staatslebens zu heilen wiſſen. Das undeutſche Weſen der liberalen Tagesſchriftſteller, ihre Abhängigkeit von den Doktrinen der Franzoſen war ſeiner deutſchen40II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Geſinnung verächtlich; ihre verſtändige Waſſerklarheit erinnerte ihn an den alten Nicolai und erfüllte ihn zugleich mit Beſorgniß, denn er lebte des Glaubens, die reine Verſtandesbildung führe zur Anarchie, da dem Verſtande keine Autorität innewohne. Bald bemerkte er auch mit Ekel, wie der junge Liberalismus in denſelben unduldſam gehäſſigen Ton ver - fiel wie einſt der Großinquiſitor der Berliner Aufklärung und alle An - dersdenkende als Fürſten - oder Pfaffenknechte verfolgte. Dieſen Sklaven der Parteimeinung hielt er entgegen: es gebe nur einen wahren Libera - lismus, die Liberalität der Geſinnungen, des lebendigen Gemüths.

Mit unüberwindlichem Abſcheu erfüllte ihn das aufblühende Zeitungs - weſen; ihm entging nicht, wie verflachend und verſandend dies Haſchen nach den Tagesneuigkeiten, dieſe ungeſunde Vermiſchung von ödem Klatſch und politiſcher Belehrung auf die allgemeine Bildung wirken, welche Frechheit und Nichtigkeit unter allen dieſen unverantwortlichen Namenloſen, die hier über Menſchen und Dinge zu Gericht ſaßen, aufwuchern mußte. Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung ſchien ihm der einzige Gewinn aus der belobten Preßfreiheit. Achſelzuckend wendete er ſich ab von den Götzen des Tages: wer in der Weltgeſchichte lebt, dem Augenblick ſollt er ſich richten? Wie war es doch ſo ſtill geworden um den Alten! Auch Herder und Wieland waren dahingegangen, und das ſchöne Verhältniß zu ſeinem fürſtlichen Freunde wurde durch eine unwürdige Kränkung ge - trübt. Der Dichter wollte nicht dulden, daß ein abgerichteter Hund dort ſeine Künſte zeigte wo der bekränzte Liebling der Kamönen der inn’ren Welt geweihte Gluth ergoß . Der Großherzog aber beſtand auf ſeiner Laune; Goethe mußte vor dem Hunde des Aubry weichen und zog ſich von der Leitung der Weimariſchen Bühne zurück.

Die freie Heiterkeit ſeines Weſens blieb von Alledem unberührt. Mit jugendlichem Eifer vertheidigte er in ſeiner neuen Zeitſchrift Kunſt und Alterthum , wie vormals in den Propyläen, die claſſiſchen Ideale. Der Kunſt-Meyer und die anderen unter dem gefürchteten Zeichen W. K. F. verſteckten Weimariſchen Kunſtfreunde unterſtützten ihn im Kampfe wider die neue frömmelnde Unkunſt . Freilich ſtand der Dichter an der Schwelle zweier Zeitalter, und hinter dem ſtolzen, zuverſichtlichen Tone ſeiner Polemik verbarg ſich zuweilen ein Gefühl der Unſicherheit. Wie vormals Winckelmann zugleich für die antiken Bildwerke der Villa Albani und für die froſtige Eleganz eines Raphael Mengs ſich begeiſterte, ſo kam auch Goethe von ſeinem alten Genoſſen Tiſchbein nicht ganz los und ſchmückte ein ſteifes Bild des Freundes, das von natürlicher Wahrheit wenig oder nichts enthielt, mit den Verſen: heute noch im Paradieſe wandern Lämmer auf der Wieſe, und Natur iſt’s nach wie vor! Dabei behielt er doch Fühlung mit allen frei aufſtrebenden Talenten der deutſchen Kunſt und begrüßte mit warmem Lobe die erſten kühnen Schritte Chriſtian Rauchs.

41Italieniſche Reiſe.

Wirkſamer als dieſe kritiſche Thätigkeit ward das Erſcheinen der Ita - lieniſchen Reiſe im Jahre 1817. Seit Langem waren dieſe Erinnerungs - blätter in den Kreiſen der Freunde verbreitet; nun gab ſie der Dichter geſammelt heraus in einer neuen Bearbeitung, welche abſichtlich alles Licht auf Rom, auf die Werke des Alterthums und der Renaiſſance fallen ließ. Die Deutſchen ſollten ihm nachfühlen, wie ihn einſt die übermächtige Sehnſucht unaufhaltſam nach der ewigen Stadt drängte, wie ſelbſt in Florenz ſeines Bleibens nicht war, wie er in Aſſiſi nur Augen hatte für die ſchlanken Säulen des Minerventempels und den triſten Dom des heiligen Franciscus, die geweihte Stätte, wo einſt Giottos Kunſt erwachte, keines Blickes würdigen wollte, bis er ſchließlich unter der Porta del Popolo ſich gewiß war Rom zu haben. Und nun mußten die Leſer ihm folgen durch alle jene reichen Tage, die ſchönſten und fruchtbarſten ſeines Lebens hindurch: wenn Morgens die Sonne über den zackigen Gipfeln des Sabinergebirges emporſtieg und der Dichter den einſamen Weg am Tiber entlang hinauszog zu dem Brunnen in der Campagna; wenn er unter den Trümmern des Forums als ein Mitgenoſſe der Rathſchläge des Schickſals die Geſchichte von innen heraus leſen lernte, wenn ihn im einſamen kühlen Saale die ganze Seligkeit des Schaffens überkam, die Geſtalten der Iphigenie, des Egmont, des Taſſo, des Meiſter mächtig auf ihn eindrängten; wenn er endlich unter den Orangenbäumen am ſonnigen Strande von Taormina die Nauſikaa und den Dulder Odyſſeus leibhaftig vor ſich wandeln ſah. Und dann immer wieder das demüthige Geſtändniß des Mannes, der längſt ſchon den Götz und den Werther gedichtet hatte: hier ſei er wiedergeboren worden, hier ſei ihm erſt die Klarheit und die Ruhe des Künſtlers aufgegangen, hier habe er erſt ge - lernt aus ganzem Holze zu ſchneiden. Die alte Germanenſehnſucht nach dem Süden, die Dankbarkeit der Nordländer gegen die ſchönen Heimath - lande aller Geſittung hatte niemals wärmere Worte gefunden. Der Ein - druck war tief und nachhaltig. Dem Dichter wurde die Freude, daß mehrere der begabteſten jungen Künſtler ſich bald nachher wieder dem Alterthum zuwendeten. Aber nicht blos die Nazarener grollten dem heid - niſchen Buche, auch Niebuhr und manche andere weltlich freie Köpfe fühlten ſich befremdet. Dieſe rein äſthetiſche, dem politiſchen Leben grund - ſätzlich abgewendete Weltanſchauung entſprach den Geſinnungen der acht - ziger Jahre; dem Geſchlechte, das bei Leipzig und Belle-Alliance geſchlagen hatte, konnte ſie nicht mehr ganz genügen, wie mächtig auch die literari - ſchen Neigungen wieder überhandnahmen.

Vor wenigen Jahren erſt hatte Goethe einige ſeiner jugendlichſten geſelligen Lieder geſchrieben, ſo das ausgelaſſene Burſchenlied Ergo biba - mus. Nach und nach, da er hoch in die Sechzig hinaufkam, regten ſich ihm doch die Gefühle des Alters, die milde Beſchaulichkeit, die gefaßte Ergebung, die Neigung zum Lehrhaften, Symboliſchen und Geheimniß -42II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.vollen; und nach ſeiner Gewohnheit ließ er die Natur frei gewähren. In ſolcher Stimmung las er die Ueberſetzung des Hafis von Hammer. Jener Drang in die Ferne, den die Weltfahrten der Romantik unter den Deutſchen erweckt hatten, ergriff auch ihn; er fühlte, wie die ruhige, hei - tere Lebensweisheit des Orients ſeinen Jahren, die perſiſche Naturreligion ſeiner eigenen Erdfreundſchaft zuſagte. Doch etwas Unmittelbares in ſeine Arbeiten aufzunehmen war ihm unmöglich; er wollte und konnte nicht, wie Schiller, ſich eines fremden Stoffs gewaltſam bemächtigen um ihn zu geſtalten. Gemächlich lebte er ſich nach und nach ein in die For - men und Bilder der perſiſchen Poeſie, bis ſeine eigenen Gedanken un - willkürlich etwas von dem Dufte des Morgenlandes annahmen.

Da führte ihn ein freundliches Geſchick, auf jener Reiſe in die rhei - niſche Heimath, mit Marianne von Willemer zuſammen; es war, als ſollte ihm allein das ernſte Wort nicht gelten, das er zwei Jahre zuvor geſchrieben: der Menſch erfährt, er ſei auch wer er mag, ein letztes Glück und einen letzten Tag. Wie ward ihm wieder ſo jugendlich zu Muthe in jenen ſonnigen Herbſttagen, da er mit der ſchönen jungen Frau in den Baumgängen der Heidelberger Schloßterraſſe luſtwandelte und den ara - biſchen Namenszug ſeiner Suleika in den Rand der Brunnenſchale einritzte: und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnenbrand. Was ihn dort beglückte war nicht eine übermächtige Leidenſchaft, wie er ſie einſt für Frau von Stein empfunden, ſondern eine warme und tiefe Herzens - neigung für ein holdes Weib, das durch die Liebe des Dichters ſelber zur Künſtlerin wurde. Gelehrig ging ſie auf das orientaliſche Formen - ſpiel des Freundes ein; im Wechſelgeſange mit Hatem dichtete Suleika jene melodiſchen Lieder voll ſüßer Sehnſucht und hingebender Demuth, die während eines halben Jahrhunderts zu Goethes ſchönſten Gedichten gerechnet worden ſind. Er aber erwiderte bald geiſtreich ſpielend, bald leidenſchaftlich erregt; in gluthvollen, myſtiſchen Verſen beſang er den liebſten von allen Gottesgedanken, die Macht der zwiſchen zweien Welten ſchwebenden Liebe, die zuſammenführt was ſich angehört: Allah braucht nicht mehr zu ſchaffen, wir erſchaffen ſeine Welt!

Dergeſtalt entſtand nach und nach das letzte große lyriſche Werk des Dichters, der Weſtöſtliche Divan, ein bunter, nur durch das Band der morgenländiſchen Form zuſammengehaltener Strauß von Liebes - und Schenkenliedern, von Sprüchen und Betrachtungen, von alten und neuen Bekenntniſſen. Es fehlte nicht an ſtreitbaren Worten; nicht umſonſt geſtand der alte Meiſter: denn ich bin ein Menſch geweſen, und das heißt ein Kämpfer ſein. Mit ſchonungsloſen Worten ſchilderte er die Macht des Niederträchtigen unter den Menſchen, und im ſcharfen Gegenſatze zu der Liederſeligkeit der ſchwäbiſchen Dichter ſah er ſchon voraus, wie das Ueber - maß der Sangesluſt das deutſche Leben zuletzt ernüchtern werde: wer treibt die Dichtkunſt aus der Welt? die Poeten! Den Grundton der43Weſtöſtlicher Divan.Sammlung bildete doch eine ſtille, das irdiſche Treiben frei überſchauende Heiterkeit: mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe. Die kunſtvolle, in bisher unerhörten Freiheiten ſich ergehende Proſodie des Divans diente den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geſchlechts zum Vorbilde. Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung, der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne ſteife und geſuchte Wendungen erſchienen mehr gedichtet und gedacht als empfunden, manche künſtliche Arabesken nur eingefügt um den fremd - artigen Reiz des Geſammtbildes zu erhöhen. Dafür erſchloß der Greis im Divan, in den Orphiſchen Urworten, in den unzähligen Sprüchen ſeiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der faſt für jede Lebens - frage des Gemüths und der Bildung das rechte Wort bot und erſt von dem heutigen Geſchlechte allmählich verſtanden wird. Viele Dichtungen ſeines Alters gemahnten an jene räthſelhaften Runen unſeres Alterthums, vor denen der germaniſche Held ſinnen und träumen konnte bis an ſei - nen Tod. Zuweilen wagte er ſich bis in die letzten geheimnißvollen Tiefen des Daſeins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das Wort ver - ſtummt und die Muſik einſetzt: ſo in jenem wunderbaren Liede, das immer leiſe in der Seele widerklingt ſo oft ein Strahl himmliſcher Glückſeligkeit in unſer armes Leben fällt:

Und ſo lang Du das nicht haſt,
Dieſes: Stirb und werde!
Biſt Du nur ein trüber Gaſt
Auf der dunklen Erde.

So lebte er dahin in ſeiner einſamen Größe, unabläſſig ſchauend, ſammelnd, forſchend, dichtend, in’s Endliche nach allen Seiten ſchreitend um das Unendliche ahnungsvoll zu ermeſſen, beglückt durch jeden Son - nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbſtes, wie durch jedes gelungene Werk der Kunſt und jeden neuen Fund im weiten Be - reiche menſchlichen Wiſſens. Schillers zarter Körper hatte ſich vor der Zeit aufgerieben im harten Dienſte der Kantiſchen Pflichtenlehre; bei die - ſem Glücklichen und Kerngeſunden erſchien die ungeheure, allſeitige Thätig - keit nur wie die natürliche, müheloſe Entfaltung angeborener Kräfte. Die ihm ferne ſtanden ahnten kaum, wie ernſt er es ſelber nahm mit ſeinem ſtrengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt die Nacht wo Niemand kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein feſtes Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch ſein reiches Alter geleitete: wie er ſich in frommer Scheu hütete der Vorſehung vorzugreifen und in jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen Gottes erkannte denn nur ſo erſchien dem Künſtler die göttliche Weltregierung denkbar. Und da er ſelber noch mit jedem Tage wuchs als ob dies Leben nie ein Ende finden könnte, ſo blieb auch die Jugend immer ſein Lieb - ling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geſchlechts zuweilen44II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.beläſtigen: zuletzt konnte er den ſtrahlenden Augen der begeiſterten Brauſe - köpfe doch nicht zürnen und meinte gütig: es wäre thöricht zu verlangen: komm, ältle Du mit mir! Jungen Dichtern aber wußte er nur zu rathen was ihn ſelber die Natur gelehrt hatte: ſie ſollten ſich vorerſt be - mühen Männer zu werden, reich im Herzen wie im Kopfe, und ihre Seele offen halten jedem Hauche der Zeit: poetiſcher Gehalt iſt Gehalt des eignen Lebens; man halte ſich an’s fortſchreitende Leben und prüfe ſich von Zeit zu Zeit, ob man lebendig iſt!

Einzelne eifrige Renegaten, wie Friedrich Schlegel, unterſtanden ſich wohl, von dem abgetakelten alten Herrgott zu reden; die Edleren wußten, daß man dieſen Mann nicht antaſten konnte ohne die Nation ſelber zu beſchimpfen. Wenn der Freiherr vom Stein die Zurückhaltung Goethes in den napoleoniſchen Tagen beklagte, ſo fügte er beſcheiden hinzu: Aber er iſt doch zu groß! Nirgends fand der Dichter wärmere Bewunderer als in den Kennerkreiſen Berlins. Hier wurde die Goethe-Verehrung wie ein Geheimdienſt getrieben; die ewig ſchwärmende Hoheprieſterin Rahel Varnhagen verkündete von ihrem Dreifuß herunter unermüdlich in ora - kelhaften Reden den Ruhm des Vergötterten. Der alte Herr ſah ſich die Weihrauchswolken, die vor ſeinem Altar an der Spree emporſtiegen, aus der Ferne gelaſſen an und gab gelegentlich in ſeinem umſtändlichen Ge - heimraths-Stile eine höfliche Antwort. Doch näher auf den Leib durften ihm dieſe Huldigenden nicht heranrücken; er fühlte, daß bei ihnen zur anſpruchsvollen Doktrin wurde was ihm ſelber die Natur in die Wiege gelegt hatte. Der nixenhaften kleinen Rahel ſchlug ein dankbares, from - mes, menſchenfreundliches Herz im Buſen; mitten in der gemachten Ek - ſtaſe dieſer tief eingeweihten Dilettanten und Halbkünſtler bewahrte ſie ſich das ſichere Gefühl des Weibes für das Große und Starke: war doch Fichte einſt viele Jahre lang neben Goethe ihr Abgott geweſen. Aber dicht neben ſolchen liebenswürdigen Zügen lag eine halb unbewußte und eben darum unermeßliche Eitelkeit, die in der Bewunderung des erſten deutſchen Dichters die Größe des eigenen Ichs genoß und ſich über das ſtille Gefühl der Unfruchtbarkeit tröſtete mit dem erhabenen Gedanken: der im Unendlichen ſchwebende Geiſt verſchmähe ſich einzubannen in die Kreiſe der Sprachkunſt! Warum ſollte ich nicht natürlich ſein? ſagte ſie arglos ich wüßte doch nichts Beſſeres und Mannichfaltigeres zu affektiren! Und wie wenig Inhalt lag doch in allen den gebildeten Redens - arten dieſer äſthetiſchen Theecirkel. Vieles was man dort Geiſt nannte lief im Grunde hinaus auf die Mißhandlung der deutſchen Sprache, auf das verblüffende Zuſammenſtellen ungehöriger Wörter. Wenn Rahel ein edel und feurig vorgetragenes Muſikſtück einen gebildeten Sturmwind nannte, dann jauchzte die Prieſterſchaar der höheren Bildung, und der eunuchenhafte Gatte trug die Albernheit mit ſeinen zierlichſten Schrift - zügen in ſeine Tagebücher ein. Der alte Heros in Weimar aber kannte45Die Gothik.den weiten Abſtand zwiſchen dem Kennen und dem Können. Wo ihm unter ſeinen Verehrern ſchöpferiſche Begabung begegnete, da thaute er auf; wie väterlich kam er dem Wunderkinde Felix Mendelsſohn-Bartholdy entgegen und freute ſich mit den glücklichen Eltern des ſchönen Vereines von feiner Bildung und echtem Talent.

Als die Dichtung ſchon in den Herbſt eintrat, begann für die bil - denden Künſte erſt die Zeit der Blüthe. So lange die Begeiſterung der Kriegsjahre anhielt wurde die gothiſche Kunſt allgemein als die wahr - haft deutſche geprieſen. Die Jugend ſchien ſich für immer von den antiken Idealen abzuwenden, und Schenkendorf rief gebieteriſch: man ſoll an keiner deutſchen Wand mehr Heidenbilder ſehn! Viele der Freiwilligen aus dem Oſten lernten auf den Märſchen am Rhein zuerſt den Formen - reichthum unſerer Vorzeit kennen; ſie meinten in dieſen alten Domen die allein giltigen Muſterbilder für die vaterländiſche Kunſt zu finden und bemerkten kaum, daß ihnen in den Kirchen des verhaßten Frankreichs überall der nämliche altdeutſche Stil begegnete. Wenn ſie zu dem alten Krahn droben auf dem unvollendeten Thurme des Kölner Domes empor - ſchauten, dann dachten ſie mit ihrem ritterlichen Sänger: daß das Werk verſchoben bis die rechten Meiſter nah’n! Der Kronprinz fühlte ſich ganz überwältigt von dem Anblick der majeſtätiſchen Ruine; auf ſeinen Betrieb wurde Schinkel nach Köln geſendet und erklärte in ſeinem Gut - achten: einen ſolchen Bau erhalten, das heiße ihn vollenden.

Von dieſer Stimmung der Zeit ward auch König Friedrich Wilhelm berührt, als er nach dem erſten Pariſer Frieden beſchloß, das Gedächtniß der deutſchen Siege durch die Erbauung eines prächtigen altdeutſchen Do - mes in Berlin zu verherrlichen. In Altpreußen erklang bald nachher von allen Seiten der Ruf: das herrliche Hochmeiſterſchloß, die von der Roheit der Polen und dem proſaiſchen Kaltſinn des fridericianiſchen Beamtenthums ſo ſchändlich verſtümmelte Marienburg müſſe in ihrer alten Pracht wieder aufgerichtet werden, ein Siegesdenkmal für das alte Ordensland, das ſich ſo gern rühmte die anderen Deutſchen zum heiligen Kampfe erweckt zu haben. Schön, der eifrige Wortführer des altpreußiſchen Provinzial - ſtolzes, trat an die Spitze des Unternehmens; er dachte dies ſchönſte welt - liche Bauwerk unſeres Mittelalters zu einem preußiſchen Weſtminſter zu erheben, woran Jeder aus dem Volke ſeinen Antheil nähme. Der König übernahm den Wiederaufbau; die dünnen Zwiſchenwände, die ein phili - ſterhaftes Geſchlecht mitten durch die ungeheuren Säle gezogen hatte, fielen zuſammen; über den ſchlanken Pfeilern der Remter erhoben ſich wieder leicht und frei gleich den Fächern der Palmen die alten gothiſchen Ge - wölbe. Die Ausſchmückung des Ordensſchloſſes überließ man der Nation. Geld wurde nicht angenommen: wer mithelfen wollte mußte ſelber einen Theil des Bauwerks künſtleriſch ausſtatten. Der Adel, die Städte, die Corporationen der verarmten Provinz wetteiferten in Geſchenken, Patrioten46II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.aus allen Landestheilen des Staates ſchloſſen ſich an; York ſtiftete die ſchweren Zinnen über Meiſters Morgenhellem Gemach, Stein hing ſein Wappenſchild an einem Pfeiler des oberen Burggangs auf. Bald prang - ten an den bunten Fenſtern die Bilder aus Preußens alter und neuer Geſchichte; denn grade in dieſen Jahren erwachte die alte Kunſt der Glas - malerei, die mit ſo vielen anderen Segnungen der Cultur in den Stür - men des dreißigjährigen Krieges untergegangen war, wieder zu friſchem Leben. Da ſtanden unter dem ſchwarzundweißen Banner der Ritter vom deutſchen Hauſe und der Landwehrmann des Befreiungskrieges; die Gym - naſien des tapferen Grenzlandes ſchenkten ein Fenſter mit Davids Schwert und Harfe und der Inſchrift: wer kein Krieger iſt ſoll auch kein Hirte ſein! Alle Herzensgeheimniſſe des romantiſchen Geſchlechts traten bei dieſen Spenden an den Tag; wie fühlten die Deutſchen ſich glücklich, daß ſie wieder ein Recht hatten den Helden ihrer großen Vorzeit frei ins Ge - ſicht zu ſehen. Alles jubelte, als der junge Kronprinz in den mächtigen Hallen der alten Burg ein Feſtmahl hielt und nach ſeiner enthuſiaſtiſchen Weiſe den Trinkſpruch ausbrachte: Alles Große und Würdige erſtehe wie dieſer Bau!

Gleichwohl vermochte die gothiſche Richtung in der Kunſt ebenſo wenig die Oberhand zu erlangen wie die ſchwäbiſchen Dichter in der Poeſie. Die Ideen Winckelmanns und Goethes behaupteten noch ihre Macht, nir - gends kräftiger als in Berlin. Hier ſtanden noch die beſten Werke der deutſchen Spätrenaiſſance, das Schloß, das Zeughaus und Schlüters Kurfürſtenſtandbild, die Denkmäler einer claſſiſch gebildeten und doch na - tionalen Kunſtweiſe, verſtändlicher für das moderne Gefühl als die Bauten des Mittelalters. Hier in dem Mittelpunkte einer großen, aber jungen Geſchichte mußte die Rückkehr zu den Bauformen des vierzehnten Jahr - hunderts als willkürliche Künſtelei erſcheinen. Und jetzt erſt begann man mit den echten Werken der Hellenen vertraut zu werden. Winckelmann hatte einſt faſt nur die römiſchen Nachbildungen der griechiſchen Kunſt kennen gelernt und noch gar nicht bemerkt, welchen weiten Weg das Alter - thum von den doriſchen Zeiten und den goldenen Tagen des Perikles bis herab zu der Epoche der hadrianiſchen Nachblüthe durchlaufen hatte. Seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts wurde der Boden Griechen - lands ſelbſt durchforſcht; die Elginſchen Marmorwerke wanderten nach London, die Aegineten im Jahre 1816 nach München. Mit der Erkennt - niß wuchs die Bewunderung für die Antike. Zugleich trat in Rom jener nachgeborene Hellene auf, der wie kein anderer moderner Menſch in der claſſiſchen Formenwelt lebte und nur durch ein räthſelhaftes Spiel des Schickſals in dieſe neuen Jahrhunderte verſchlagen ſchien. Eine ſtarke germaniſche Ader lag doch in Thorwaldſens mächtiger Natur. Den Deut - ſchen ſprach ſeine Kunſt unmittelbar zum Herzen, ſie zählten den Islän - der halb zu den Ihren; hatte er doch an dem Nachlaß des Deutſchen47Rauch.Asmus Carſtens, des kühnen Rebellen gegen die akademiſche Kunſt, ſich zuerſt gebildet und von ihm gelernt, was in den Werken des Alterthums wahrhaft lebendig und für alle Zeiten giltig ſei.

Derweil alſo die altdeutſche und die claſſiſche Richtung noch in un - entſchiedenem Kampfe lagen, geſchah in Berlin eine folgenreiche Wendung. Während der harten Jahre, da der preußiſche Staat am Rande des Bankerotts ſtand, verbot ſich die Errichtung monumentaler Kunſtwerke von ſelbſt. Nur einen künſtleriſchen Plan mochte der unglückliche König nicht aufgeben: er wollte ſeiner Gemahlin ein würdiges Grabmal errich - ten, und ſein geſundes natürliches Gefühl führte ihn auch hier auf den rechten Weg, obwohl er ſich ſelber beſcheiden nur einen Laien in Kunſt - ſachen nannte. Sein Herz ſehnte ſich nach einem verklärten Bilde der Geliebten; und da er dunkel empfand, daß die Gothik, die ſeinem nüch - ternen Weſen ohnehin zu phantaſtiſch vorkam, den Adel der menſchlichen Geſtalt nicht zur vollen Geltung gelangen läßt, ſo wollte er von einer altdeutſchen Grabkapelle nichts hören. Umſonſt betheuerte ihm Schinkel, der während jener Kriegsjahre noch ganz in teutoniſchen Anſchauungen befangen war: die Architektur des Heidenthums ſei für uns kalt, die harte Schickſalsreligion der Alten könne den Gedanken des Todes nicht mit der liebevollen, tröſtenden Heiterkeit des Chriſtenthums darſtellen. Friedrich Wilhelm ließ inmitten der düſteren Fichten des Charlottenburger Parkes einen kleinen doriſchen Tempel erbauen, der nur die einfach ernſte Hülle für das Grab der Königin bilden ſollte; mit der Ausführung des Denk - mals ſelbſt wurde Chriſtian Rauch beauftragt, der einſt im Dienſte der Verſtorbenen aufgewachſen, durch ſie in die Kunſt eingeführt, jetzt mit der ganzen Wärme künſtleriſcher Begeiſterung und perſönlicher Verehrung ſein Werk begann. Tauſende ſtrömten herbei, als dies Mauſoleum im Frühjahr 1815 eröffnet wurde, die Meiſten zuerſt nur um das Angeſicht der geliebten Fürſtin noch einmal zu ſehen. Aber wie ſie ſo dalag, die liebliche Geſtalt in ihrer ſtillen Hoheit, lebensvoll als ob ſie athme, ſchön wie ein helleniſches Weib, fromm und friedlich wie eine Chriſtin, jede Ader der Hände und jede Falte des weißen Marmorgewandes mit der höchſten techniſchen Sicherheit und Sorgfalt behandelt, da verſpürten ſelbſt dieſe nordiſchen Maſſen, denen die Sculptur unter allen Künſten am fernſten liegt, einen Hauch vom Geiſte der Antike. Der Zug der Wall - fahrer währte fort, jahraus, jahrein; Jedermann fühlte, die deutſche Kunſt hatte einen ihrer großen Schritte gethan. Rauchs claſſiſch geſchulter, for - menſtrenger Realismus errang einen durchſchlagenden Erfolg. Die gothi - ſche Kunſtſchwärmerei verſchwand bald aus der Berliner Geſellſchaft, ſelbſt der romantiſche Kronprinz wendete ſich allmählich den claſſiſchen Idealen zu.

Mittlerweile waren die Staatsmänner aus Paris heimgekehrt, Har - denberg noch ganz erfüllt von den mächtigen Eindrücken der Louvre - Gallerie; Altenſtein und Eichhorn hatten unterwegs auch die Sammlung48II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.der Boiſſerees in Heidelberg beſucht. Sie Alle verhehlten nicht, wie dürftig ihnen das Berliner Kunſtleben neben dem Reichthum des Weſtens er - ſchien, und waren mit dem König einig in dem Entſchluſſe, daß der Staat nimmermehr in das banauſiſche Weſen des alten Jahrhunderts zurückſinken dürfe. Als Altenſtein bald darauf an die Spitze des Unter - richtsweſens trat, nahm er ſich vor, das mit der Berliner Univerſität be - gonnene Werk Wilhelm Humboldts fortzuführen und die preußiſche Haupt - ſtadt auch zu einer Heimſtätte deutſcher Kunſt zu erheben. Das Mäce - natenthum König Friedrichs I. hatte immer zunächſt an den Glanz des Hofes gedacht; jetzt da die preußiſche Krone ſich zum zweiten male der bildenden Künſte mit Eifer annahm war ſie ſich der großen Culturauf - gaben des Staates endlich bewußt geworden. Die Pflege der Kunſt er - ſchien ihr nunmehr als eine Pflicht der ſittlichen Volkserziehung, damit aus dem Publikum etwas werde , wie Schinkel zu ſagen pflegte; ſie dachte groß von der Freiheit des Künſtlers und begnügte ſich, den ſchöpferiſchen Köpfen würdige Aufgaben zu ſtellen ohne ſie in ihrer Eigenart zu mei - ſtern. Aber dieſer vornehmen Geſinnung des Königs entſprachen die Kräfte des erſchöpften Staatshaushalts keineswegs. Preußen mußte wieder ein - mal, wie ſchon ſo oft, verſuchen mit armſeligen Mitteln Großes zu ſchaffen, und zur rechten Zeit erſchien der rechte Mann.

Ein univerſaler Geiſt, wie die deutſche Kunſt ſeit Dürers Tagen keinen mehr geſehen, zugleich Baumeiſter, Bildhauer, Maler, Muſiker und, wenn er ſchrieb, immer des edelſten, wirkſamſten Wortes ſicher, hielt Karl Friedrich Schinkel ſeine Augen unverwandt auf die höchſten Ziele der Kunſt gerichtet: das Kunſtwerk war ihm ein Bild der ſittlichen Ideale der Zeit . Thätig, ſchöpferiſch in jedem Augenblicke, ein Verächter der Trägheit, nannte er das Phlegma einen ſündhaften Zuſtand in Zeiten der Bildung, einen thieriſchen in den Zeiten der Barbarei. Mit gan - zem Herzen hing er an ſeiner märkiſchen Heimath. Nun er dieſen Staat im Glanze ſiegreicher Waffen ſtrahlen und den Kampf des Lichtes gegen die Finſterniß, der ihn ſelbſt ſo oft in ſeinen Künſtlerträumen beſchäftigte, glorreich beendigt ſah, ſchien ihm die Zeit gekommen auch die Anmuth und die Fülle einer gereiften Cultur in das preußiſche Leben einzuführen und Berlin in einen heiteren Sitz der Muſen zu verwandeln. Wie einſt Palladio ſeinem Vicenza ſo dachte er der preußiſchen Hauptſtadt den Stempel ſeines Geiſtes aufzuprägen: in der Mitte das Schloß, die Uni - verſität, die Theater und Muſeen, ringsumher ſtatt der eintönigen Zeilen niederer Häuſer ſtattliche Palazzi und freundliche Villen mit fließenden Brunnen, Alles im friſchen Grün der Gebüſche verſteckt, an der Stadt - mauer prächtige Thore und draußen vor dem Leipziger Platze ein hoher gothiſcher Dom, das Siegesdenkmal des Befreiungskrieges. Aber wäh - rend jenem glücklichen Vicentiner ein Geſchlecht reicher Signoren uner - ſchöpfliche Mittel darbot und ihm die Vaterſtadt wie einen Haufen weichen49Schinkel.Thones zu beliebiger Formung in die Hand gab, hatte der preußiſche Künſtler ſein Leben lang mit der nothgedrungenen Sparſamkeit des Mon - archen und ſeiner Beamten zu kämpfen. Dem muß man einen Zaum anlegen! ſagte der König lächelnd, ſo oft der Unerſchöpfliche wieder mit einem neuen Vorſchlage herantrat. Kaum der zwanzigſte Theil ſeiner kühnen Pläne gelangte zur Ausführung. Wie viel Mühe hat es ihn ge - koſtet, auch nur die baufälligen Statuen auf dem Dache des Schloſſes, die das Beamtenthum abbrechen wollte, vor der Vernichtung zu retten. Statt des edlen Hauſteins, der ihn in Italien entzückt hatte, mußte er ſich zumeiſt mit verputztem Backſtein, ſtatt des Erzes mit Zinkguß be - helfen. Gleichwohl genügte dieſer armſelige Bruchtheil ſeiner Entwürfe, neben den Werken der Schlüterſchen Epoche, um der Baukunſt Berlins für immer ihren Charakter aufzuprägen.

Schinkel befreite ſich bald von dem teutoniſchen Rauſche der Kriegs - jahre. Er erkannte, daß die vielgeſtaltige moderne Bildung ſich nicht auf Einen Bauſtil beſchränken darf, und ließ die Kunſtformen des Mittel - alters gelten, wo ſie durch Lage und Bedeutung des Bauwerks bedingt ſchienen. Für ſeine eigenſten Ideale aber fand er jetzt den rechten Aus - druck in einer neuen Form der Renaiſſance, die ſich enger als die Kunſt des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts an die Werke der Alten, vornehmlich der Hellenen, anſchloß und doch immer verſtand dem Sinn und Zweck moderner Bauten gerecht zu werden. Gleich an ſeinem erſten größeren Werke, der neuen Hauptwache, ſprach die kriegeriſche Beſtimmung des Gebäudes ſo mächtig und trutzig aus den ſtrengen, gedrungenen dori - ſchen Formen, daß der Beſchauer den überaus beſcheidenen Umfang faſt vergaß und ſich an Sanmichelis majeſtätiſche Feſtungswerke gemahnt fühlte. Als bald darauf, im Jahre 1817, das Schauſpielhaus abbrannte und das kargende Beamtenthum die Benutzung der alten Brandmauern für den Neubau forderte, da wußte er wieder aus der Noth eine Tugend zu machen; und bald erhob ſich zwiſchen den beiden prächtigen Kuppeln der Gensdarmenkirchen über einer hohen Freitreppe ein feſtlich heiterer ioni - ſcher Tempel, die Giebel und Treppenwangen mit reichem Bildnerwerk geſchmückt denn auf das Zuſammenwirken aller Künſte ging jeder ſeiner Pläne aus der ganze Bau ein getreues Bild dieſer geiſtig ſo reichen, wirthſchaftlich ſo armen Epoche, genial im Entwurfe, aber in der Ausführung vielfach eng und dürftig.

Seitdem ſtand Schinkel feſt in der Gunſt des Königs und übernahm die Leitung alles künſtleriſchen Schaffens in Preußen, nur daß ihm die leidige Geldnoth immer wieder die Fittiche ſeines Genius beſchnitt. In ganz Norddeutſchland und bis nach Skandinavien hinüber gelangte ſeine claſſiſche Richtung zur Herrſchaft. Die Pläne für den Berliner Dom wurden aufgegeben, weil die Mittel fehlten. Statt deſſen entſtand das ſchöne Siegesdenkmal auf dem Kreuzberge. Das Denkmal ſelbſt hatteTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 450II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Schinkel in den gothiſchen Formen, die noch immer als die nationalen galten, entworfen; nur in den Sculpturwerken, womit Rauch und Tieck die Säule ſchmückten, entfaltete ſich die Freiheit des neuen claſſiſchen Stiles. Auf allen den Schlachtfeldern aber, wo Preußens Heere ge - ſchlagen hatten, auf dem Windmühlenberge von Großbeeren wie auf dem hohen Todtenhügel bei Plancenoit in der brabantiſchen Ebene errichtete der verarmte Staat überall die nämliche kümmerliche gothiſche Spitzſäule mit der Inſchrift: Die gefallenen Helden ehrt dankbar König und Vater - land. Sie ruhen in Frieden. Schinkel wußte, daß die monumentale Kunſt ein Treibhausleben führt ſo lange das Alltagstreiben des Volkes ſchmucklos und häßlich bleibt. Er ſah mit Schmerz den nüchternen Ka - ſernenſtil der Bürgerhäuſer, den armſeligen Hausrath der engen Zimmer. Wie kläglich lag das deutſche Kunſtgewerbe darnieder, das einſt ſo rühm - lich mit den Italienern gewetteifert hatte; zu jeder größeren künſtleriſchen Unternehmung mußte man Arbeiter aus der Fremde herbeirufen, Stein - metzen aus Carrara, Kupferſtecher aus Mailand, Erzgießer aus Frank - reich. Er aber fühlte ſich ſtolz als der Apoſtel der Schönheit unter den nordiſchen Völkern und gab daher, nachdem im Jahre 1821 das Berliner Gewerbe-Inſtitut gegründet war, im Verein mit dem genialen Techniker Beuth die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker heraus, eine Samm - lung von Muſterblättern für häusliches Geräth, die in unzähligen Nach - bildungen allmählich bis in jede Werkſtatt drangen und zuerſt den For - menſinn im deutſchen Handwerk wieder erweckten, mochten immerhin ein - zelne Muſter dem maleriſch geſtimmten modernen Auge allzu kahl und einfach erſcheinen.

Unterdeſſen hatte Rauch in dem alten Markgrafenſchloſſe, dem Lager - hauſe, ſeine Werkſtatt aufgeſchlagen und erzog dort, ein geſtrenger Lehrer, einen Stamm von treuen Schülern und geübten Kunſthandwerkern, alſo daß die deutſche Kunſt allmählich der fremden Hilfe entrathen lernte. Wie er ſelber ohne wiſſenſchaftliche Vorbildung erſt durch das künſtleriſche Schaffen ſelbſt in die Welt der Ideen hineingewachſen war, ſo ſah er auch bei ſeinen Schülern allein auf das Können; tüchtige Klempner, Stein - metzen, Holzſchneider von ſicherem Blick und geſchickter Hand waren ihm willkommener als junge Gelehrte. Vor jener Ueberbildung, die unſere Dichter nicht ſelten auf Abwege führte, blieb die Bildnerkunſt bewahrt.

Feſt und ſicher ſchritt Rauch in dem angehobenen Gange fort; die teu - toniſchen Träume beirrten ihn nie. Er fühlte ſich eins mit dem preußiſchen Staate und ſeinem Herrſcherhauſe, und ihm wurde das ſeltene Glück, in ſeinen Kunſtwerken zugleich ſeine politiſchen Ideale, Alles was ſeinem Herzen theuer war zu verkörpern. Welch ein Segen doch, daß die ganze Nation ſich endlich wieder gemeinſam eines großen Erfolges freuen durfte. Wäh - rend früherhin nur die Landesherren zuweilen ein Denkmal errichtet hatten, erwachte jetzt im Volke ſelber der Wunſch ſeine Helden zu ehren. Zuerſt51Kunſtpflege in Preußen.traten die Mecklenburger zuſammen und ließen durch Gottfried Schadow ihrem Landsmanne Blücher ein Standbild errichten, das erſte größere Werk der neu erſtandenen deutſchen Erzgießerei. Nachher wurde in Schle - ſien geſammelt und Rauch aufgefordert, dem Feldherrn des ſchleſiſchen Heeres dort neben dem Breslauer Ringe, wo ſich einſt die Freiwilligen zuſammengeſchaart hatten, ein Denkmal zu ſetzen. Dann verlangte auch der König Monumente für ſeine Generale, zunächſt für die früh Verſtorbenen, Scharnhorſt und Bülow. Ein weites Gebiet großer, lohnender Aufgaben erſchloß ſich dem Künſtler, der zugleich für den bildneriſchen Schmuck der Schinkelſchen Bauten mit zu ſorgen hatte und das Erz wie den Marmor gleich glücklich zu bewältigen verſtand. Ernſt,[mannhaft] und edel, natur - getreu und doch in hohem Stile gehalten, ſo erſchienen die Bilder ſeiner Helden; und ſelbſt jenen leiſen Zug der Steifheit, der ihnen anhaftete, durfte man nicht ſchelten, weil er dem Charakter des preußiſchen Heeres entſprach. In ſeinen mächtigſten Werken, den Reliefs für die Denkmäler Scharnhorſts und Bülows erhob ſich Rauch zu einem heroiſchen Schwunge, den unſere Bildnerkunſt nicht wieder überboten hat, und ſchilderte mit den einfachſten Mitteln, in wenigen majeſtätiſchen Geſtalten den ganzen Verlauf des Kampfes von den Tagen an, da Preußens Jünglinge ſich aus Fichtenſtämmen ihre Lanzen ſchnitzten bis zu dem ſtolzen Siegesfluge ihres Adlers hoch über die Feſtungen Niederlands und Frankreichs da - hin. Rauch wurde der Hiſtoriker des deutſchen Befreiungskrieges gleich - wie einſt Rembrandt und Bol, van der Helſt und Flinck den Geiſt und Sinn des achtzigjährigen Krieges der Niederländer der Nachwelt über - liefert hatten.

Zugleich geſchahen die erſten Schritte um den Plan eines großen Muſeums in der Hauptſtadt zu verwirklichen. Der Gedanke war ſchon in den erſten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms aufgetaucht und nachher, als W. Humboldt das Unterrichtsweſen leitete, ernſtlicher erwogen wor - den. Nunmehr erwarb der König, um die Staatskaſſen zu ſchonen, die beiden großen Gemäldeſammlungen von Giuſtiniani und Solly aus den Mitteln ſeiner Schatulle und überließ ſie dem Staate. Er befahl den Beamten über die Verhandlungen mit Solly ſtreng zu ſchweigen; denn die kunſtfreundlichen Abſichten ſeiner Regierung fanden vorerſt nur in einem kleinen Kennerkreiſe verſtändige Würdigung; man fürchtete, daß die verſtimmte öffentliche Meinung, die mit peſſimiſtiſchem Behagen den Zuſtand des Staates in den finſterſten Farben darzuſtellen liebte, den Monarchen der Verſchwendung anklagen würde ſtatt ihm für ſeine Hoch - herzigkeit zu danken. Der ebenfalls beabſichtigte Ankauf der Boiſſeree - ſchen Gallerie mußte freilich unterbleiben, da der Brand des Schau - ſpielhauſes alle noch verfügbaren Mittel verſchlang. Doch wurden die beſten Stücke der Sammlung durch die neue, kürzlich von Sennefelder erfundene Kunſt des Steindrucks nachgebildet und weithin verbreitet, ſie4*52II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.bildeten den erſten künſtleriſchen Zimmerſchmuck des verarmten deutſchen Hauſes.

Die deutſchen Maler in Rom hatten indeſſen an Bartholdy, einem Verwandten des kunſtſinnigen Mendelsſohnſchen Hauſes, einen unter - nehmenden Gönner gefunden. Der ſtellte ihnen die breiten Wände ſeines Palaſtes in der Via Siſtina zur Verfügung, damit ſie ſich in der Kunſt des Fresco, die ſeit Raphael Mengs völlig eingeſchlafen war, wieder ver - ſuchen könnten. In fröhlichem Wetteifer malten nun Cornelius, Over - beck, Veit und Wilhelm Schadow, durch Niebuhrs Beifall ermuthigt, die großgedachten Bilder aus der Geſchichte Joſephs. Cornelius begrüßte jubelnd die Fresco-Malerei als ein Flammenzeichen auf den Bergen zu einem neuen edlen Aufruhr in der Kunſt , weil ſie den Malern endlich wieder ein Feld für monumentale Werke eröffne und in ihrer herben Strenge die Gedankenarmuth wie die Pfuſcherei unnachſichtlich ausſchließe. Die Kunſt ſo rief er in dem eigenthümlichen terroriſtiſchen Tone der jungen Teutonen die Kunſt ſoll endlich aufhören eine feile Dienerin üppiger Großen, eine Krämerin und niedere Modezofe zu ſein. Gleich Schinkel ſah er die Zeit kommen, da die Kunſt an den Mauern unſerer Städte von innen und außen wiederglänzend das ganze Daſein des Volks umgeſtalten und heiligen werde. Mit dem ſicheren Stolze eines Refor - mators der nationalen Geſittung kehrte er über die Alpen zurück, als ihn nunmehr der junge Kronprinz Ludwig von Baiern nach München berief.

Der Erbe der reichen und allezeit bauluſtigen Wittelsbacher meinte ſich berufen, in dem bairiſchen Lande, das ſoeben erſt in das geiſtige Leben der Nation wieder eingetreten war, einen glänzenden Muſenhof zu gründen. Eine lautere Begeiſterung für die Kunſt wie für den Ruhm ſeines vergötterten deutſchen Vaterlandes beſeelte den geiſtreichen, phan - taſtiſchen Fürſten. Die diplomatiſche Welt erzählte ſich kopfſchüttelnd, wie er zu Rom in altdeutſchem Rocke, Arm in Arm mit dem verdächtigen demagogiſchen Dichter Friedrich Rückert, die Muſeen und Kirchen durch - wandert, wie er die deutſchen Maler zutraulich mit ſeinen holprigen Verſen begrüßt, bei ihren Künſtlerfeſten auf die Vernichtung der Philiſterei und die Einheit Teutſchlands lärmend mit angeſtoßen hatte. Bei allen ſeinen künſtleriſchen Plänen wirkte zugleich ein unſteter dynaſtiſcher Ehrgeiz mit: er hoffte die gründlich verachteten preußiſchen Hungerleider und Empor - kömmlinge zu überbieten, dem bairiſchen Hauſe durch ein großartiges Mäcenatenthum die führende Stellung in Deutſchland zu verſchaffen. Welch ein Gegenſatz zu der Kunſtthätigkeit in Berlin! Dort geſchah nur was ſich aus der Geſchichte und den Lebensbedürfniſſen eines mächtigen, an geiſtigen Kräften reichen Staates unabweisbar ergab, die von großen Künſtlern in ungeſtörter Freiheit geſchaffenen Werke trugen das Gepräge des Nothwendigen. In München baute man um zu bauen, auf einem Boden, der von großen Erinnerungen wenig darbot; die von auswärts berufenen53Kronprinz Ludwig. Cornelius.Künſtler genoſſen einer königlichen Freigebigkeit, welche von der preußiſchen Sparſamkeit glänzend abſtach, doch ſie fühlten ſich in der Fremde und hatten noch lange unter dem Mißtrauen der einheimiſchen Bevölkerung zu leiden; über Allem ſchaltete der launiſche, unberechenbare Wille Eines Mannes, der in ungeduldiger Haſt von Entwurf zu Entwurf hinüber - ſprang und was er bezahlte ganz unbefangen als ſein eignes Werk be - trachtete. Der friedliche Wettkampf der beiden Städte beförderte die viel - ſeitige Entwicklung unſerer Kunſt. Er führte zuletzt zu dem natürlichen Ergebniß, daß die weſentlich monumentalen Künſte der Architektur und Bildhauerei auf dem hiſtoriſchen Boden Berlins ihre größten Erfolge er - rangen, während die freiere, von der Gunſt der Umgebung minder ab - hängige Malerei in München ihre Heimath fand.

Kronprinz Ludwig hatte ſchon ſeit Jahren Ausgrabungen in Grie - chenland veranſtaltet, dann in Italien zuſammengebracht was von den beſten Werken der antiken Bildhauerkunſt nur irgend aufzukaufen war, und ließ nun für dieſe Sculpturenſammlung, die ſchönſte dieſſeits der Alpen, draußen vor den Thoren des alten Münchens durch Klenze einen würdigen Tempel errichten, die Glyptothek, ganz aus edlem Marmor, mit der ge - diegenen Pracht ſüdländiſcher Bauten. Das Gebäude ſelbſt reichte an die geniale Eigenthümlichkeit der Werke Schinkels nicht heran, jedoch an den Wänden und Decken der prächtigen Säle offenbarte Cornelius zum erſten male den ganzen Umfang ſeiner Begabung. Hier ſchuf er, als ein Epiker in Farben, den erſten jener großen Gemälde-Cyklen, in denen der Ideen - reichthum ſeines raſtlos erfindenden Geiſtes allein den angemeſſenen Raum fand: die grandioſen Bilder aus der helleniſchen Sagenwelt. Die Maſſe der Münchener ſpottete über das verrückte Kronprinzenhaus, ſie wußte nichts anzufangen mit der tiefſinnigen Symbolik dieſer Gedankenmalerei, die ihre Werke meiſt ſchon im Carton vollendete und auf den Reiz der Farbe faſt gänzlich verzichtete. Ernſtere Naturen bewunderten, wie der verwegene Idealiſt die keuſche Hoheit der Antike ſo getreu wiedergab und doch zugleich eine den Alten unfaßbare Macht der Leidenſchaft aus ſeinen Gemälden ſprach; denn niemals hatte ein Künſtler des Alterthums eine ſo ganz von Seelenſchmerz zerwühlte Geſtalt geſchaffen wie dieſe trauernde Hecuba. Die chriſtlich-germaniſchen Heißſporne des römiſchen Künſtlerkreiſes bemerkten mit Entſetzen, daß ihr erſter Mann ſich den ge - haßten Heiden Winckelmann und Goethe wieder näherte und die von Berlin ausgehende neuclaſſiſche Richtung überall den Sieg davon trug. Die einſt ſo fruchtbare Schule von S. Iſidoro ging allmählich auseinander; ihre Genoſſen kehrten heim, die Meiſten widmeten ſich einer ſtreng kirchlichen Kunſt, die nur in Anachronismen lebte. Von den Namhaften hielt nur Overbeck am Tiber aus, ein treuer Bekenner der alten nazareniſchen Grundſätze. Er aber wußte die enge Welt von chriſtlichen Geſtalten, die ihm die einzige war, durch den Tiefſinn und die Wärme ſeines gläubigen54II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Gemüths alſo zu verklären, daß ſelbſt die Italiener ihn endlich wie einen neuen Fra Angelico ehrten und dem frommen Convertiten noch die Freude ward das Bethaus des heiligen Franciscus in der Portiuncula-Kirche zu Aſſiſi mit ſeinen ernſten Bildern zu ſchmücken. Wie Berlin ſo ſollte auch München ſeine große Gemäldegalerie erhalten. Die Boiſſereeſche Sammlung, die den Preußen zu theuer geweſen, wurde nach Jahren endlich für Baiern erworben. Ihre Hauptwerke bildeten mit denen der Düſſeldorfer Galerie, die man während der Revolutionskriege widerrecht - lich dem bergiſchen Lande entfremdet hatte, den Stamm für die Mün - chener Pinakothek.

Dergeſtalt war binnen weniger Jahre ein vielgeſtaltiges neues Leben in der bildenden Kunſt erwacht, und nach und nach begannen faſt alle deutſchen Höfe dieſe jungen Kräfte ſorgſam zu pflegen; man fühlte ſich verpflichtet die Nation für ihre ſo bitterlich getäuſchten politiſchen Hoff - nungen irgendwie zu entſchädigen. Auch die ehrwürdigen Ueberreſte alt - heimiſcher Kunſt, die unter dem Aufklärungswahne des vergangenen Jahr - hunderts ſo ſchwer hatten leiden müſſen, fanden jetzt allenthalben treue Beſchützer, und es galt ſchon als ein unerhörtes Zeichen vandaliſcher Roheit, daß die Stadt Goslar ihren Dom, den erinnerungsreichſten der Sachſenlande, noch im Jahre 1820 abtragen ließ.

Keine andere Kunſt aber hat in der Epoche der deutſchen Romantik ſo reife und durchweg geſunde Früchte gezeitigt wie die Muſik. Sie ſtand dem deutſchen Genius von jeher am nächſten; in ihr bethätigte ſich der Formenſinn der Germanen immer mit naiver Urſprünglichkeit, ganz un - getrübt durch jene leidige Kritik, die ihn ſonſt ſo oft im freien Schaffen ſtörte. Sie blieb den Deutſchen treu auch als unſer geiſtiges Leben faſt erſtorben ſchien; ſelbſt das öde Jahrhundert, das dem Weſtphäliſchen Frie - den voranging, erhob ſich das Herz an den ſeelenvollen Klängen des lutheriſchen Kirchenlieds. Nachher, in einer Zeit da die neue Bildung der Nation kaum im Entſtehen war, ſchufen Händel und Bach ihre claſſi - ſchen Werke, bis endlich während der Blüthezeit unſerer Dichtung die deutſche Muſik durch Gluck, Haydn, Mozart zu einer Höhe emporge - hoben wurde, die kein anderes Volk je erreicht hat. Dem vielſeitigſten der Dichter trat der vielſeitigſte aller Tonſetzer an die Seite. Beide dank - ten der geheimnißvollen Kraft der unmittelbaren Eingebung eine wunder - bare Leichtigkeit des Schaffens; aber wie viel einfacher und natürlicher war Mozarts Loos! Er ſchuf für eine Hörerſchaft, die ihm mit dankbarer Empfänglichkeit folgte, und lebte in traulichem Verkehre mit den Sängern und Muſikern, denen er ſeine Rollen auf den Leib ſchrieb. So ward jedes ſeiner Werke ein abgerundetes Ganzes; alle die fragmentariſchen Verſuche und halben Anläufe, welche Goethe in ſeiner Einſamkeit nicht vermeiden konnte, blieben ihm erſpart. Die Muſik vereinigte, mehr noch als die Literatur, Alles was deutſchen Blutes war zu gemeinſamer Freude;55K. M. v. Weber.die Mehrzahl der großen Tonſetzer gehörte durch die Geburt oder durch langen Aufenthalt den öſterreichiſchen Landen an, die an der Arbeit unſerer Dichtung ſo wenig Antheil nahmen, und fand grade dort das freudigſte Verſtändniß.

Noch bei Mozarts Lebzeiten trat jener Gegenſatz des Naiven und des Sentimentalen hervor, der, im Weſen aller Künſte begründet, in den Zeiten ihrer reichſten Entfaltung ſich unfehlbar offenbaren muß. Wie einſt Michel Angelo neben Raphael, Schiller neben Goethe, ſo erſchien Beethoven neben Mozart, ein pathetiſcher Genius, der mit dämoniſcher Kraft faſt über die Schranken ſeiner Kunſt hinaus in’s Unendliche ſtrebte, ein Sänger der Freiheit, des männlichen Stolzes, ganz erfüllt von den Ideen der Menſchenrechte. Die Widmung ſeiner Eroica, die er dem Erben der Revolution, Bonaparte zugedacht hatte, zerriß er und trat ſie mit Füßen als er von den Gewaltthaten des Despoten erfuhr. Nie ſchuf er Größeres als wenn er den uralten Lieblingsgedanken der freien Ger - manen, den Sieg des hellen Geiſtes über das dumpfe Verhängniß ſchil - derte, wie in der C moll Symphonie. War er doch ſelber, der taube Beherrſcher der Töne, ein lebendiger Zeuge für die Wunderkraft des gott - begeiſterten Willens. Selbſt die blaſirte Geſellſchaft des Wiener Con - greſſes riß er hin durch das hohe Lied der Treue, den Fidelio; dem ver - wegenen Fluge ſeiner ſymphoniſchen Tondichtungen aber vermochte erſt ein ſpäteres Geſchlecht ganz zu folgen.

Die Entwicklung unſerer Muſik trug von Haus aus einen rein nationalen Charakter, ſie konnte daher auch von den romantiſchen Stim - mungen und den großen Ereigniſſen der Zeit nicht unberührt bleiben. Gleich nach dem Kriege gab Karl Maria v. Weber dem Schwertliede, dem Liede von Lützows wilder Jagd und anderen Geſängen Körners die muſikaliſche Geſtaltung, die ihnen erſt die Unvergänglichkeit ſicherte und in tauſenden junger Herzen die Begeiſterung des Befreiungskrieges wach hielt. Ein bewußter Vorkämpfer vaterländiſcher Geſinnung und Bildung, übernahm er ſodann die Leitung der neugegründeten deutſchen Opernge - ſellſchaft in Dresden, und ihm gelang, die italieniſche Opernbühne, die der Hof nach der Gewohnheit des alten Jahrhunderts noch als die vor - nehmere begünſtigte, gänzlich in den Schatten zu ſtellen; ſelbſt die Preſſe rief er zu Hilfe um ſeine Landsleute in das Verſtändniß der heimiſchen Kunſt einzuweihen. Der gemüthvolle Holſte war auf weiten Wander - fahrten faſt in jedem Winkel deutſcher Erde mit Land und Leuten wohl vertraut geworden; und recht aus dem Herzen ſeines Volkes heraus ſchuf er die erſte deutſche romantiſche Oper, den Freiſchütz, ein Werk voll jugendlicher Friſche, das alle Luſt und allen Spuk des deutſchen Waldes ſo naiv und treu ſchilderte, daß die Nachwelt ſich heute kaum vorſtellen kann, es hätte jemals eine Zeit gegeben, da der deutſche Waidmann noch nicht zu den Klängen des Waldhorns ſang: was gleicht wohl auf Erden56II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.dem Jägervergnügen? Zur ſelben Zeit erhielt das deutſche Lied durch einen fromm beſcheidenen Wiener Künſtler, Franz Schubert, ſeine höchſte Ausbildung; die ganze Tonleiter der geheimſten Seelenſtimmungen ſtand ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethiſchen Dichtung zog ihn an. Bald nachher fanden Uhlands Lieder an dem Schwaben Konradin Kreutzer einen congenialen Componiſten.

Von jenem katholiſirenden Weſen, das ſo viele Poeten der Romantik ankränkelte, hielt ſich die romantiſche Muſik völlig frei, obgleich die mei - ſten unſerer namhaften Tonſetzer der katholiſchen Kirche angehörten. Sie ſprach ſchlicht und recht das Allen Gemeinſame aus, ſie verwirklichte durch die That das von den romantiſchen Dichtern ſo oft geprieſene, aber nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunſt; und da der Dilettantismus in keiner Kunſt ein ſo gutes Recht hat wie in der Muſik, ſo zog ſie auch bald das Volk ſelber zu freier Mitwirkung heran. Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Muſikfreunde zu der Singakademie zuſammengetreten um bei der Aufführung Händelſcher Ora - torien und ähnlicher Werke den Chorgeſang zu übernehmen. Zelter, der derbe, warmherzige Freund Goethes ſtiftete dann im Jahre 1808 zu Berlin die erſte deutſche Liedertafel, einen kleinen Kreis von Dichtern, Sängern und Componiſten zur Pflege des Geſanges. Mehrere andere norddeutſche Städte folgten nach. In dem preußiſchen Volksheere nahm während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende; die Lützowſche Frei - ſchaar beſaß bereits einen geſchulten Sängerchor, und ihr Beiſpiel fand nach dem Frieden in vielen preußiſchen Regimentern Nachahmung.

Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nägeli die Geſang - bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgeſang das eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunſt und for - derte die ganze Nation zur Theilnahme auf. Sieben Jahre ſpäter entſtand dann der Stuttgarter Liederkranz, das Vorbild für die zahlreichen Lieder - kränze Süd - und Mitteldeutſchlands, die nach der zwangloſen, demokra - tiſchen Weiſe des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder - zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des Nordens, und ſich nicht ſcheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän - gerfeſten vor das Volk hinauszutreten. Die Muſik wurde die geſellige Kunſt des neuen Jahrhunderts, wie die Beredſamkeit im Zeitalter des Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutſche Feſt, recht eigentlich ein Stolz der Nation. In allen Gauen erwachte die Sanges - luſt, wie nie mehr ſeit den Tagen der Meiſterſinger. Man empfand lebhaft, wie mit dieſer neuen edleren Geſelligkeit ein freierer Luftzug in das Volksleben kam, und rühmte gern, daß vor des Geſanges Macht der Stände lächerliche Schranken fielen . Unzählige kleine Leute empfingen allein durch den Geſang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben dieſem reichen57Der Männergeſang.Segen kam kaum in Betracht, daß der unbeſtimmte Enthuſiasmus, wel - chen die geſtaltloſe Muſik erweckt, manchen deutſchen Träumer in der verſchwommenen Schwärmerei ſeiner Gemüthspolitik beſtärkte.

Das neue Geſchlecht hatte doch nicht umſonſt ſeine Kraft in einem Volkskriege geſtählt, und nicht umſonſt war während zweier Menſchen - alter, auf jeder Entwicklungsſtufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur Natur, zum einfach Menſchlichen gepredigt worden. Allenthalben began - nen die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und, ohne daß ſie es ſelber noch recht bemerkte, demokratiſcher zu werden; die Zeit des Stubenhockens, der ängſtlich abgeſchloſſenen Caſinos und Kränz - chens neigte ſich zum Ende. Seit dem Frieden ward auch das lang ent - behrte Reiſen wieder möglich. Während die reichen Ausländer die große Tour durch Europa einſchlugen, deren romantiſche Hauptſtationen Lord Byron im Childe Harold vorgezeichnet hatte, ſuchten die genügſamen Deutſchen mit Vorliebe die beſcheidene Anmuth ihrer heimiſchen Mittel - gebirge auf. Die Felſen des Meißner Hochlands, die der Pfarrer - tzinger vor Kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der Sächſiſchen Schweiz geprieſen; Gottſchalcks Führer durch den Harz gab zuerſt Rathſchläge für Gebirgswanderungen, und ſeit Reichard ſeinen Paſſagier veröffentlichte nahm die Zahl der Reiſehandbücher allmählich zu. Die Reiſenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menſchen - werk aufgeſucht, all das Seltſame und Abſonderliche, was im Curieuſen Antiquarius verzeichnet ſtand; die neue Zeit bevorzugte die romantiſchen Reize der maleriſchen Landſchaften und die ſagenreichen Erinnerungsſtätten der vaterländiſchen Geſchichte. Das früherhin ſo beliebte Reiſen zu Pferde kam allmählich ab, in Folge der allgemeinen Verarmung. Als Arndt in ſeinen jungen Jahren die deutſchen Lande zu Fuß durchſtreifte, fand er faſt überall nur Handwerksburſchen als Reiſegefährten; jetzt kam die Poeſie des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein rechter Turner war mußte ſich auf den Dauerlauf verſtehen. Eine neue Welt unſchuldiger Freuden ging der deutſchen Jugend auf, ſeit überall in Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Schaaren von Studenten oder Künſtlern ſingend ihres Weges zogen. Jede verfallene Burg und jeder ausſichtsreiche Berggipfel ward erklettert; Nachts nahmen die munteren Geſellen gern mit der Streu im Bauernwirthshauſe vorlieb oder ſie onkelten bei einem gaſtfreien Pfarrherrn. Mit der Guitarre über der Schulter wanderte Auguſt v. Binzer, der Stolz der Jenenſer Bur - ſchenſchaft, glückſelig durch ganz Deutſchland, und in allen Dörfern ſtrömte das junge Volk zuſammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou - badours zu lauſchen.

Auch die politiſche Geſinnung des heranwachſenden Geſchlechts ward durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet. Die Jugend erlebte ſich den Gedanken der nationalen. Einheit, ſie fühlte ſich überall58II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.auf deutſchem Boden heimiſch; ſie lernte, daß der Kern unſeres Volks - thums trotz der Mannichfaltigkeit der Lebensformen in allen deutſchen Gauen derſelbe iſt, und ſah mit wachſendem Unwillen auf die künſtlichen trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk gezogen hatte. Leider wurden faſt nur die Norddeutſchen dieſer Erkennt - niß theilhaftig. Da Niederdeutſchland von den romantiſchen Herrlichkeiten, welche dieſem Geſchlechte allein als ſehenswerth galten, nur wenig bot, ſo kamen die Süddeutſchen ſelten aus ihren ſchönen heimiſchen Bergen her - aus. Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte, der nicht etwas von Land und Leuten des Südens geſehen, blühte im Oberlande die particulariſtiſche Selbſtgefälligkeit, das Kind der Unkennt - niß. Süddeutſchland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge - häſſigen Stammesvorurtheile. Im Norden fanden ſich, außerhalb Ber - lins, immer nur einzelne Thoren, die den Süddeutſchen Verſtand und Bildung abſprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Läſterrede, den Norddeutſchen fehle das Gemüth; mancher wackere Oberländer ſtellte ſich die Landſchaften nördlich des Mains wie eine endloſe traurige Ebene vor und meinte, unter dieſem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand und äſthetiſcher Thee, Kritik und Junkerthum.

Der mächtige Umſchwung der geſammten Weltanſchauung, der ſich innerhalb der deutſchen Wiſſenſchaft, ſeit ihrer Einkehr in das hiſtoriſche Leben, zu vollziehen begann, der ganze Gegenſatz des alten und neuen Jahrhunderts fand ſchon zur Zeit des Wiener Congreſſes einen denk - würdigen Ausdruck in einem gelehrten Streite, deſſen tiefer Sinn im Ausland noch gar nicht, in Deutſchland ſelbſt nur von Wenigen ganz begriffen wurde. Die erſehnte Wiederaufrichtung des deutſchen Reichs war durch den raſchen Verlauf des Krieges vereitelt worden. Um ſo lei - denſchaftlicher hielten die enttäuſchten Patrioten an den Hoffnungen feſt, deren Erfüllung man auch unter dem Deutſchen Bunde noch als möglich anſah; und von dieſen erſchien keine ſo billig, ſo beſcheiden wie das Ver - langen nach Einheit des nationalen Rechts. Ueber die nothwendige Be - ſeitigung des aufgedrungenen Code Napoleon waren Regierungen und Regierte in jenem Augenblicke einig. Sollte man nun ſtatt der franzö - ſiſchen Geſetzbücher das alte gemeine Recht wieder einführen, jenes Recht der römiſchen Juriſten, das die teutoniſchen Eiferer als den Todfeind germaniſcher Gemeinfreiheit betrachteten? und dazu jenen Wuſt von Lokal - Rechten, deſſen buntſcheckige Mannichfaltigkeit den Patrioten wie den Phi - loſophen gleich anſtößig war? Die Stunde ſchien gekommen, durch ein nationales Geſetzbuch das fremdländiſche Weſen und den Particularis - mus zugleich zu überwinden. Waren doch die großen Grundgedanken des59Thibaut. Hugo.Naturrechts durch die Rechtsphiloſophen des alten Jahrhunderts längſt feſtgeſtellt; wenn ſich nur ein weiſer, thatkräftiger Geſetzgeber fand, ſo konnte es nicht ſchwer halten dieſe Ideen auf Deutſchland anzuwenden. Von ſolchen Anſchauungen war die öffentliche Meinung beherrſcht, als Thibaut, der berühmte Lehrer der Pandekten zu Heidelberg, in einer kleinen Schrift voll patriotiſcher Wärme die heilloſen Folgen der beſtehen - den Zerſplitterung und die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutſchland darlegte; das Geſetzbuch des künftigen deutſchen Rechts dachte der geiſtreiche Mann wie einen Staatsvertrag unter die Ge - ſammtbürgſchaft der verbündeten Mächte zu ſtellen. Faſt die geſammte patriotiſche Preſſe erklärte ſich einverſtanden.

Da erſchien im Herbſt 1814 die Gegenſchrift Karl Friedrich von Sa - vignys über den Beruf unſerer Zeit zur Geſetzgebung , das wiſſenſchaft - liche Programm der hiſtoriſchen Rechtsſchule. Sie wirkte um ſo mächtiger, da auch die Gegner insgeheim fühlten, daß hier nicht blos die Meinung eines Mannes zu Tage kam, ſondern das wohlgeſicherte Ergebniß jener tieferen und freieren Auffaſſung des Staatslebens, welche einſt in Her - ders und Möſers genialen Ahnungen, in Gentzs und Wilhelm Hum - boldts antirevolutionären Jugendſchriften ſich zuerſt angekündigt, nachher durch Niebuhr und Eichhorn ihre wiſſenſchaftliche Durchbildung, in den Geſetzen Steins und Scharnhorſts ihre praktiſche Bewährung gefunden hatte. Unter den Lehrern des Civilrechts war zuerſt der Göttinger Guſtav Hugo den Doktrinen des alten Jahrhunderts entſchloſſen entgegengetreten. Sein ſcharfer Verſtand konnte ſich bei dem unlösbaren Dualismus der Naturrechtslehre nicht beruhigen; er erkannte als undenkbar, daß ein un - wandelbares natürliches Recht dem beweglichen poſitiven Rechte gegenüber - ſtehen ſollte. Daher wies er Recht und Staat als Erſcheinungen der hiſtoriſchen Welt kurzerhand aus dem Gebiete der Speculation hinaus und ſtellte der Rechtslehre die Aufgabe, das poſitive Recht in ſeinem Werdegange bis zu ſeinen letzten Wurzeln hinauf zu verfolgen und alſo hiſtoriſch zu verſtehen. Geſtützt auf eine gründliche Quellenforſchung, welche der erſtarrten deutſchen Rechtswiſſenſchaft längſt abhanden gekom - men war, begann er zunächſt die Entwicklung der römiſchen Rechtsge - ſchichte darzulegen und gelangte bereits zu der Einſicht, daß die vielbe - klagte Aufnahme des römiſchen Rechts in Deutſchland nicht als Zufall oder Verirrung, ſondern als eine nationale That des deutſchen Geiſtes, als ein natürliches Ergebniß der Cultur der deutſchen Renaiſſance be - trachtet werden müſſe. Die tiefere Frage: warum die Geſtaltung des poſitiven Rechts ſo mannichfaltig und ſo beweglich ſei? wurde von dem Kantianer Hugo noch nicht aufgeworfen.

Hier ſetzte Savigny ein, der den weiteren Geſichtskreis der roman - tiſchen Geſchichtsphiloſophie beherrſchte, und bewies mit ſeiner überlegenen Ruhe, die das Dunkelſte durchſichtig erſcheinen ließ: die Entwicklung des60II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Rechts werde nicht durch ſubjective Ideen beſtimmt, ſondern durch den Geiſt der Völker, der in der Weltgeſchichte ſich offenbare; das Recht führe kein Daſein für ſich, ſondern es werde und wachſe, gleich der Sprache, mit den Völkern, mit ihrem Glauben, ihren Sitten, ihrem ganzen gei - ſtigen Vermögen. Darum erfolge auch die Rechtsbildung nicht, wie die beiden letzten Jahrhunderte glaubten, allein oder überwiegend durch die Geſetzgebung, ſondern unter beſtändiger Mitwirkung des Volkes ſelber, die ſich in dem Gewohnheitsrechte und, bei reiferer Bildung, in der be - wußten Arbeit der Rechtswiſſenſchaft bethätige; grade in jugendlichen Völ - kern erſcheine die rechtsbildende Kraft am ſtärkſten, die beſchränkte aber lebensvolle Individualität des Rechts noch nicht verkümmert durch jene un - beſtimmte Allgemeinheit, die dem Rechte alternder Nationen eigenthümlich ſcheine. Dann ward an dem Beiſpiele der Kunſtgeſchichte erwieſen, daß nicht jede Zeit zu jedem Werke berufen ſei, und darauf der völlig unreife Zuſtand der deutſchen Rechtswiſſenſchaft dargethan; wie weit war ſie doch, in ihrem Ideengehalte wie in der Ausbildung ihrer Sprache, zurückge - blieben hinter dem Aufſchwung der allgemeinen Literatur, und wie ſtüm - perhaft mußte ein mit ſo mangelhaften Kräften unternommenes Geſetz - buch ausfallen! Was wir brauchen ſo lautete der Schluß iſt eine der ganzen Nation gemeinſame, organiſch fortſchreitende Rechtswiſſenſchaft, die das vorhandene Recht bis in ſeine erſten Quellen ergründet um der - geſtalt zu zeigen, was in ihm noch heute lebendig iſt und was einer überwundenen Vergangenheit angehört; in ihr iſt die vorläufig erreichbare Einheit des deutſchen Rechts gegeben; hat ſie ſich erſt ſo ſelbſtändig ent - wickelt, daß ſie das gegebene Recht geiſtig beherrſcht, dann wird das Ver - langen nach einer Codification, das bei den Römern erſt in den Tagen des Verfalles ſich äußerte, von ſelber verſchwinden.

Dieſer Schrift verdankte die Wiſſenſchaft des poſitiven Rechts, daß ſie ſich den anderen Geiſteswiſſenſchaften wieder ebenbürtig an die Seite ſtellen durfte. Das alte Jahrhundert hatte nur die Gedanken der Phi - loſophen über das Recht geachtet, die Erforſchung des wirklichen Rechts geringſchätzig dem formalen Scharfſinn juriſtiſcher Handwerker überlaſſen. Jetzt erkannte die poſitive Rechtswiſſenſchaft, daß ihr ſelber eine philoſo - phiſche Aufgabe obliege, daß ſie berufen ſei zu lehren wie ſich die Ver - nunft der Geſchichte in dem Entwicklungsgange der Rechtsbildung offen - bart und entfaltet, und alſo theilzunehmen an der beſten Gedankenarbeit des Zeitalters, das ſeinen Ruhm darin ſuchte der Menſchheit das Be - wußtſein ihres Werdens und alſo ihres Weſens zu erwecken. In weiter Ferne zeigte ſich endlich eine noch höhere Aufgabe, welche Savigny nur andeutete und kommenden Geſchlechtern zur Löſung überließ: wenn es gelang, die innere Nothwendigkeit der Geſtaltung des Rechts, ſeine Ver - kettung mit der Volkswirthſchaft und der geſammten Cultur der Völker in jedem einzelnen Falle nachzuweiſen, dann mußten zuletzt auch die Ge -61Savigny, Beruf unſerer Zeit.ſetze der Rechtsbildung ſelber aufgefunden werden. Auf viele der ſchwie - rigſten Probleme der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft, die dem philoſophiſchen Jahrhundert noch ganz unfaßbar geweſen, warf die kleine Schrift ein überraſchendes Licht. Noch Niemand hatte ſo anſchaulich gezeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart ſelbſt wider Wiſſen und Willen der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden ſind an das Maß der Begabung ſeines Zeitalters, wie jedes Anwachſen der Cultur nothwendig einen Verluſt in ſich ſchließt, und darum die ſtolze, dem Zeit - alter der Revolution ſo geläufige Lehre von dem ewigen Fortſchritt der Menſchheit nur den Werth einer unerwieſenen Behauptung beſitzt. Roch Niemand hatte den Lieblingswahn der Zeit, der die Freiheit in der Staats - form ſuchte, ſo ſiegreich widerlegt: Freiheit und Despotismus, ſo führte Savigny aus, ſind in jeder Staatsverfaſſung möglich; jene beſteht überall wo die Staatsgewalt die Natur und Geſchichte in den lebendigen Kräften des Volkes achtet, dieſer überall wo die Regierung nach ſubjectiver Will - kür verfährt.

Schon elf Jahre früher hatte Savigny in ſeiner Erſtlingsſchrift über das Recht des Beſitzes ein Werk geſchaffen, das den beſten Leiſtungen der großen franzöſiſchen Civiliſten des ſechzehnten Jahrhunderts gleichkam. Nunmehr betrat er mit ſeiner Geſchichte des römiſchen Rechts im Mit - telalter ein noch völlig unbebautes Gebiet und deckte den inneren Zu - ſammenhang des antiken und des modernen Rechts zum erſten male auf. Eine räthſelhafte Gunſt des Schickſals, die ſich nicht mehr Zufall nennen läßt, pflegt immer, ſobald die ſichere Ahnung einer großen neuen Erkennt - niß in der Wiſſenſchaft erwacht iſt, den Suchenden zu Hilfe zu kommen. So fand jetzt Niebuhr im Jahre 1816 zu Verona die Handſchrift des Gaius; das claſſiſche Zeitalter der römiſchen Rechtswiſſenſchaft, das man bisher faſt allein aus den dürftigen Fragmenten der Pandekten kannte, trat mit einem male den Ueberraſchten leibhaftig vor die Augen. Die römiſche Rechtsgeſchichte ward durch eine lange Reihe gründlicher Einzel - forſchungen völlig neu geſtaltet, während gleichzeitig Eichhorn ſeine deutſche Rechtsgeſchichte weiter führte, Jakob Grimm und viele andere jüngere Talente ſich in die Quellen des germaniſchen Rechts vertieften. Die von Savigny und Eichhorn herausgegebene Zeitſchrift für geſchichtliche Rechts - wiſſenſchaft bildete den Sprechſaal für die ſtetig wachſende hiſtoriſche Rechts - ſchule; Savigny aber blieb ihr anerkanntes Haupt und ihr wirkſamſter Lehrer. Die eindringliche Kraft der akademiſchen Beredſamkeit und das ſchöpferiſche Genie, die ſo ſelten zuſammen gehen, fanden ſich in ihm glücklich vereinigt. Mochte ſeine vornehme Haltung zuerſt Manche zurück - ſchrecken, wer ihm näher trat fühlte ſich bald ermuthigt durch die liebe - volle Milde ſeines Urtheils und lernte, daß in der Wiſſenſchaft auch die beſcheidene Begabung ihr gutes Recht hat wenn ſie gewiſſenhaft in ihren Schranken bleibt. Auf Savignys Wegen weiter ſchreitend ward die62II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.deutſche Rechtswiſſenſchaft allmählich wieder heimiſch in dem wirklichen Rechte, und nach zwei Menſchenaltern fühlte ſie ſich ſtark genug den Mei - ſter ſelbſt zu widerlegen, den Beruf der Zeit zur Geſetzgebung durch die That zu erweiſen.

Den vorherrſchenden Meinungen des Tages lief die hiſtoriſche Rechts - lehre ſchnurſtracks zuwider. Die Patrioten grollten weil ihnen ein Lieb - lingstraum zerſtört war; auch das Selbſtgefühl der Philoſophen fühlte ſich tief beleidigt. Hegel nannte Savignys Schrift eine dem Zeitalter ange - thane Schmach, und Schön, der liberale Kantianer wollte in der mächtigen Gedankenarbeit der geſchichtlichen Rechtswiſſenſchaft ſein Lebelang nichts weiter ſehen als Notizen aus Chroniken . Aber auch die Bureaukratie des Rheinbundes hörte mit Abſcheu von der rechtsbildenden Kraft des Volksgeiſtes, die der Weisheit des grünen Tiſches ſo wenig Raum ließ; der bairiſche Staatsrath Gönner beſchuldigte in einer gehäſſigen Schmähſchrift die Anhänger der hiſtoriſchen Schule gradezu der demagogiſchen Geſinnung. In Wahrheit ſtanden die Grundgedanken der neuen Lehre hoch über dem Streite der Parteien. Blieb ſie ſich ſelber treu, ſo mußte ſie das ſtarre Feſthalten an der beſtehenden Ordnung ebenſo entſchieden verurtheilen wie den Leichtſinn revolutionärer Geſetzgebungskunſt; vollends mit den myſti - ſchen Träumen der neukatholiſchen Romantiker hatte ihre kritiſche Strenge und Nüchternheit nichts gemein. Trotzdem konnte Savigny den Geſin - nungsgenoſſen der Romantik nicht verleugnen. Wie die geſammte Wiſſen - ſchaft jener Tage die Epochen der hellen, bewußten Bildung geringſchätzte neben dem dunkelklaren Jugendleben der Völker, wie die Brüder Grimm das Volkslied vor der Kunſtdichtung bevorzugten und Arnim ihnen prei - ſend zurief: ihr achtet was Keinem eigen, was ſich ſelbſt erfunden, ſo verweilte auch der Meiſter der hiſtoriſchen Rechtslehre mit Vorliebe bei den Zeiten der halb bewußtloſen Rechtsbildung, da Geſetz und Sitte noch ungeſchieden beiſammen liegen und das Recht gleich der Sprache ſich ſelber zu erfinden ſcheint. Wie die ganze Zeit noch von der äſthetiſchen Welt - anſchauung beherrſcht ward, ſo legte auch Savigny unwillkürlich den Maß - ſtab der Kunſt an das Recht und verlangte von dem Geſetzgeber, was die Dichter der Xenien einſt mit Recht von dem Künſtler gefordert hatten: daß er ſchweige wenn er nicht vermöge das Ideal zu verwirklichen. Er überſah, daß im politiſchen Leben das harte Gebot der Noth entſcheidet, daß der Staatsmann nicht das Vollkommene zu ſchaffen hat, ſondern das Unentbehrliche; mit gutem Grunde hielt ihm Dahlmann entgegen: bricht das Dach über meinem Haupte zuſammen, ſo iſt mein Beruf zum Neubau dargethan.

Wie alle Romantiker hatte ſich auch Savigny im Kampfe mit den Ideen der Revolution ſeine Bildung erworben; und obſchon er als Staats - mann niemals einer extremen Richtung angehörte, ſo vermochte er gleich - wohl nicht dieſer neueſten Zeit, die doch auch Geſchichte war, ihr hiſto -63Vernunftrecht und hiſtoriſches Recht.riſches Recht zu geben und urtheilte offenbar ungerecht über den Code Napoleon. Voll Abſcheus gegen die ſeichte Neuerungsluſt der modernen Welt, verkannte er, daß das Recht am letzten Ende nicht durch den Volksgeiſt, ſondern durch den Volkswillen beſtimmt wird, der in Zeiten höherer Geſittung nur durch den Mund des Staates ſich ausſprechen kann. Er bemerkte nicht immer, daß die großen Wandlungen des Völ - kerlebens, die dem rückſchauenden Geſchichtsforſcher als unabwendbare Nothwendigkeiten erſcheinen, doch nur durch das Wollen der Handelnden, durch die Wahl und Qual des freien Entſchluſſes möglich werden. Wer ihm blindlings folgte konnte leicht einem dumpfen Fatalismus verfallen und ſich verſucht fühlen, die köſtlichſte Kraft der hiſtoriſchen Welt, die Macht des Willens ganz aus der Geſchichte zu ſtreichen. Der Ausſpruch eine Verfaſſung kann nicht gemacht werden, ſie muß werden, das viel - deutige Lob der organiſchen Entwicklung und ähnliche Lieblingsſätze der hiſtoriſchen Schule dienten der gedankenloſen Ruheſeligkeit zum willkom - menen Lotterbette. So geſchah es, daß eine That der deutſchen Wiſſen - ſchaft, welche die geſammte Nation mit Stolz hätte erfüllen ſollen, als - bald in den kleinen Zank des Tages herabgeriſſen wurde. Die Maſſe der Liberalen hielt noch lange an den überwundenen Lehren des Natur - rechts feſt und zeigte trotzdem in einzelnen Fällen mehr hiſtoriſchen Sinn, mehr Verſtändniß für die Zeichen der Zeit als die Gegner. Die conſer - vativen Parteien eigneten ſich mehr oder minder ehrlich die Ideen der hiſtoriſchen Schule an und ſchauten mit dem Bewußtſein wiſſenſchaftlicher Ueberlegenheit auf die Flachheit der liberalen Doktrinen hernieder. Ver - nunftrecht und hiſtoriſches Recht! ſo lauteten die Loſungsworte eines im Grunde ſinnloſen Streites, der durch Jahrzehnte hinausgezogen die Verbitterung unſeres öffentlichen Lebens ſteigerte und zuweilen zu völliger Sprachverwirrung führte. Es bedurfte erſt der bitteren Erfahrungen des Jahres 1848, bis die Einen die Geſchichte als ein ewiges Werden begreifen lernten und die Anderen erkannten, daß im Staatsleben nur das hiſto - riſch Begründete vernünftig iſt. Seitdem erſt verlor der Name der hiſto - riſchen Schule den gehäſſigen Sinn einer Parteibezeichnung, und der un - zerſtörbare Kern ihrer Lehren ward allmählich ein Gemeingut aller ge - mäßigten Politiker.

Unter den Bahnbrechern der neuen hiſtoriſchen Bildung beherrſchte doch Keiner einen ſo weiten Geſichtskreis wie Barthold Niebuhr. Niemand trat dem literariſchen Dünkel der alten, dem Leben entfremdeten Buch - gelehrſamkeit ſo ſcharf, ſo verächtlich entgegen, wie dieſer Mann des uni - verſalen Wiſſens, der jeder Bewegung der Politik, der Wiſſenſchaft und der Kunſt im Welttheil mit hellem Verſtändniß folgte. Das unpolitiſche Geſchlecht der letzten Jahrzehnte hatte Schillers äſthetiſche Geſchichtser - zählungen und die geſchichtsphiloſophiſchen Verſuche Herders und Schle - gels höher geſchätzt als Spittlers ſachlich politiſche Darſtellung; Niebuhr64II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.wurde nicht nur der Begründer der neuen kritiſchen Geſchichtſchreibung durch die geniale Selbſtändigkeit ſeiner Forſchung, die überall bis zu den letzten Quellen der Ueberlieferung vordrang, er ſtellte auch den Staat wieder, wie ihm gebührt, breit in die Mitte der hiſtoriſchen Bühne und bewährte durch die That die Anſicht der Griechen, daß der Hiſtoriker vor Allem ein politiſcher Kopf ſein ſoll. Er wußte, wie raſch die Cultur und die ſittliche Kraft der Völker dahinwelkt, wenn ihnen die Macht fehlt ſich die Achtung der Welt zu erzwingen, und ſchilderte mit ſchonungsloſer Härte die Verkümmerung des deutſchen Charakters durch das leere Scheinleben der Kleinſtaaterei: wie kleinlich, afterredneriſch, verunglimpfend ſei dies Geſchlecht geworden, Ehren iſt ihm ein entſetzlich drückendes Gefühl. In der engen Welt des Alterthums und des Mittelalters konnten kleine Staaten ſich als Träger der Geſittung behaupten; heutzutage iſt nur noch in großen Staaten, die das Gleichartige zuſammenfaſſen, volles Leben möglich . Seine Anſicht vom Staate hatte er ſich durch das Leben gebildet, durch das Anſchauen der uralten Bauernfreiheit ſeiner Heimath Ditmarſchen, durch Reiſen in England und Holland, durch lange Thätig - keit als Bankdirektor und Verwaltungsbeamter. So ward er wie Stein ein abgeſagter Feind aller politiſchen Syſtemſucht und fand wie Jener den Eckſtein der Freiheit in der Selbſtverwaltung, die den Bürger ge - wöhne mannhaft auf eigenen Füßen zu ſtehen und das Regieren, nach der Weiſe der Alten, handanlegend zu lernen. Es kommt, ſo ſchloß er, mehr darauf an, ob die Unterthanen in den einzelnen Gemeinden ſich unmündig befinden, als darauf, ob die Grenzen zwiſchen der Gewalt der Regierung und der Repräſentation etwas weiter vorwärts oder zurück ge - zogen ſind. Daher erkannte er ſogleich, daß Frankreich trotz der Charte der Bourbonen noch immer ein Land des Despotismus war, da die napoleoniſche Verwaltungsordnung unverändert fortbeſtand. Um ſeine Landsleute vor der einſeitigen Ueberſchätzung der conſtitutionellen Staats - formen zu warnen und ſie wieder an die geſunden Grundgedanken des Steinſchen Reformwerks zu erinnern, gab er gleich nach dem Frieden jene Abhandlung Vinckes über die engliſche Verwaltung, die einſt unter Steins Augen entſtanden war*)I. 274., heraus und ſagte in ſeinem Vorwort, zum Entſetzen der liberalen Welt, rundweg: die Freiheit beruht ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfaſſung.

Auch ſeine Römiſche Geſchichte war ebenſo ſehr ein erlebtes Werk als ein Erzeugniß der gelehrten Forſchung; darum zählten ſie ſchon die Zeitgenoſſen zu jenen claſſiſchen Büchern, welche niemals überwunden werden auch wenn ſie in jedem einzelnen Satze widerlegt ſind. Indem er das Verſchwundene ins Daſein zurückrief genoß er die Seligkeit des Schaffens; und wie er niemals nur mit einer Kraft ſeiner Seele thätig ſein konnte, ſo legte er auch die ganze Innigkeit ſeiner leidenſchaftlichen65Niebuhr.Empfindung, den ganzen Ernſt ſeines ſittlichen Urtheils in die Darſtel - lung jener Römerkämpfe, die den meiſten ſeiner Vorgänger nur trockener Wiſſensſtoff geweſen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer edlen und urſprünglichen Stiles ſpiegelte die tiefe Bewegung einer großen Seele wieder. Den erſten Band, ſo geſtand er ſelbſt, hätte er niemals ſchreiben können ohne eine lebendige Anſchauung vom engliſchen Staate; ſeitdem hatte er, im Innerſten erſchüttert, die Stürme einer ungeheueren Zeit über den Staat ſeiner Wahl dahinbrauſen ſehen; er fühlte, wie ihm durch ſolche Erlebniſſe das Verſtändniß wuchs für die Geſchichte Roms, welche einſt, wie die See die Ströme, die Geſchichte aller Völker in ſich auf - genommen. Dann führte ihn ſein diplomatiſcher Beruf nach Rom ſelbſt. Jahrelang wohnte er dort in dem Palaſte, der auf hohem Schuttberge mitten aus den grandioſen Trümmern des Marcellustheaters empor - ſteigt, und obwohl er die Sehnſucht nach der Heimath niemals überwand, ſo fand ſich doch ſeine hiſtoriſche Phantaſie, die das Ferne und Fremde aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm ſinnlich nahe; in der Geſtalt der Aecker auf der Feldflur erkannte er noch die Kunſtfertigkeit der alten Agrimenſoren, in dem Elend der modernen Halbpächter ſah er den Fluch des römiſchen Latifundienweſens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaars beſchaute, dann war ihm zu Muthe, als ſähe er ſich ſelber und ſeine verklärte erſte Frau.

So erhielt die langſam gereifte Umarbeitung und Fortſetzung des Werkes jenen eigenthümlich warmen Ton, der ſelbſt trockenen Zahlenreihen und umſtändlichen kritiſchen Excurſen den Reiz des Lebens gab. Das Alterthum hatte bisher als eine von der unſeren völlig abgetrennte Welt gegolten; hier aber erſchien Alles vertraut und verſtändlich, der Hiſtoriker ſchilderte das Schickſal des C. Pontius und des Pyrrhus ebenſo einfach menſchlich wie er vor Kurzem, in einer meiſterhaften Skizze, das Leben ſeines Vaters, des großen Reiſenden Carſten Niebuhr erzählt hatte. Den recht - gläubigen Philologen der alten Schule war der kühne Kritiker, der die Ueber - lieferungen der römiſchen Königsgeſchichte zerſtört hatte, längſt ein Dorn im Auge. Welches Entſetzen vollends, da er nunmehr mit ſtaatsmänniſcher Einſicht die Nothwendigkeit jener langſamen Revolution, welche die Plebes zur Herrſchaft führte, und ſogar die Berechtigung der verrufenen Acker - geſetze darlegte; ja er ſcheute ſich nicht, die neue Lehre der Romantiker, daß nur die nationale Dichtung wahrhaft lebe, ſelbſt auf die Claſſiker Roms anzuwenden und ſagte rundheraus: wenn Form überhaupt tödet, ſo noch mehr die fremde; daher war die römiſche Literatur in einem ge - wiſſen Sinne todtgeboren!

Und doch lag ſelbſt in dieſem freien Geiſte ein Zug krankhafter, ſchwarzſichtiger Aengſtlichkeit, der ihn zuweilen die lebendigen Kräfte der Zeit völlig verkennen ließ. In finſteren Augenblicken beklagte der Leiden -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 566II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſchaftliche ſogar, daß der epikuräiſche Zeitgeiſt dieſer genügſamen Tage jede wiſſenſchaftliche Arbeit untergrabe! Sein zartbeſaitetes Gemüth empfand ein Grauen vor den bildungsfeindlichen Mächten der Revolution; ſchon als Student hatte er beim Durchleſen von Fichtes Vertheidigung der Revo - lution ausgerufen: was bleibe noch übrig als der Tod wenn ſolche Grund - ſätze zur Herrſchaft gelangten! Der Sohn eines berühmten Vaters, und zudem eines jener ſeltenen Wunderkinder, die als Männer halten was ihre Frühreife zu verheißen ſchien, ward er von Kindesbeinen an ver - wöhnt durch die Bewunderung ſeiner Umgebungen und ſelber ſchon be - rühmt bevor er noch etwas geſchrieben hatte; dann ſtand der Liebevolle ſein Lebelang in vertrauter, zärtlicher Freundſchaft mit geiſtvollen Män - nern wie Graf Moltke, Dahlmann, Graf Deſerre; das Platte und Niedrige ließ er nicht an ſich heran. Was Wunder, daß dieſem Ariſto - kraten des Geiſtes nichts entſetzlicher vorkam als jene Macht der breiten Mittelmäßigkeit, die in demokratiſchen Epochen immer das große Wort führt.

Wenn er die politiſche Unreife ſeines Volks und die Trivialität der landläufigen conſtitutionellen Doktrinen betrachtete, dann ſchien ihm mit Steins Verwaltungsreformen vorläufig genug geſchehen, und er mußte von dem beherzteren Dahlmann den Einwurf hören: Verfaſſung und Verwaltung bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt, auf welchem ſie unfehlbar zuſammenlaufen um nicht wieder aus einander zu weichen. Obgleich er die Nichtswürdigkeit der italieniſchen Regierungen durchſchaute und offen ausſprach, Rom ſei unter Napoleon weit glücklicher geweſen als unter dem wiederhergeſtellten Papſtthum, ſo übermannte ihn doch der Todhaß wider die Revolution ſobald der erſte Aufſtand von dem miß - handelten Volke gewagt ward, und zornig rief er, nur ein Narr oder ein Böſewicht könne in dieſem Lande von Freiheit reden! Der weitblickende Denker, der ſchon damals mit wunderbarer Sicherheit den Krieg zwiſchen dem Süden und dem Norden der amerikaniſchen Union vorausſah, be - wies doch durch ſeinen niederländiſchen Verfaſſungsplan, daß die gründ - lichſte Kenntniß der Vergangenheit das gänzliche Mißverſtehen der Gegen - wart keineswegs ausſchließt. Er kannte das wunderliche Staatsgebäude der Republik der ſieben Provinzen bis in ſeine letzten Ecken und Winkel und wußte, warum es morſch zuſammengebrochen war. Als ihn aber im November 1813 der Prinz von Oranien aufforderte ſeine Vorſchläge für den Neubau niederzuſchreiben, da konnte ſich der Feind der Revolution doch nicht entſchließen, den gewaltigen Umſturz, der ſeit dem Jahre 1794 über das Land gekommen war, mindeſtens als eine Thatſache anzuerken - nen. Der durch Frankreichs Waffen geſchaffene, aber durch die Geſchichte des Landes längſt vorbereitete Einheitsſtaat galt ihm als revolutionäre Einerleiheit; alles Ernſtes dachte er den gänzlich vernichteten Foederalismus wieder zu beleben und forderte die Wiederherſtellung des alten Staa - tenbundes. Die hiſtoriſche Pietät verführte ihn alſo zu einem Entwurfe,67Mittelalterliche Forſchungen.der trotz ſeiner ſtaunenswerthen Gelehrſamkeit ebenſo unmöglich und im Grunde ebenſo unhiſtoriſch war wie die leichtfertigſten Verfaſſungsgebilde jakobiniſcher Volksbeglücker.

Durch Niebuhrs Forſchungen verlor die urtheilsloſe, unbedingte Ver - ehrung des Alterthums den Boden unter den Füßen; die antike Welt ward wieder in den Fluß der Zeit geſtellt. Gleichzeitig begann auch eine neue Auffaſſung der mittelalterlichen Geſchichte durchzudringen. Die Cultur des Mittelalters war von dem philoſophiſchen Jahrhundert leidenſchaftlich bekämpft, von der jugendlichen Romantik blindlings bewundert worden; jetzt verſuchte man ſie zu verſtehen. Der öffentlichen Meinung freilich lag der alte Rationalismus noch tief im Blute; ſie bedurfte noch einer guten Weile bis ſie ein wiſſenſchaftliches Urtheil über das verhaßte finſtere Mittelalter ertragen lernte. Als der junge Johannes Voigt ſeine Geſchichte Gregors VII. herausgab, ward er von der Preſſe hart angelaſſen; der treue Proteſtant mußte den Vorwurf katholiſcher Geſinnung hören, weil er die perſönliche Größe Hildebrands ehrlich anerkannt hatte. Indeſſen betrieb Friedrich v. Raumer die Vorarbeiten für ſeine Geſchichte der Hohen - ſtaufen; und wie Schön für den Wiederaufbau der Marienburg ſorgte, ſo ſetzte Stein die beſte Kraft ſeiner alten Tage an die Sammlung der Geſchichtsquellen unſerer Vorzeit. Zu Neujahr 1819 ſtiftete er die Geſell - ſchaft zur Herausgabe der Monumenta Germaniae. Sanctus amor pa - triae dat animum ſo lautete der bezeichnende Wahlſpruch des großen Unternehmens, das nach und nach einen Stamm hiſtoriſcher Forſcher heranbilden und für die Kenntniß des deutſchen Mittelalters erſt den ſicheren Grund legen ſollte. Das Alles war noch im Werden; die poli - tiſche Geſchichtſchreibung fand während der erſten Friedensjahre allein in Niebuhr einen claſſiſchen Vertreter.

Um ſo reichere Erfolge errangen die Philologen, die ſich jetzt erſt ihrer hiſtoriſchen Aufgabe klar bewußt wurden. Der Ausſpruch Boeckhs es giebt keine Philologie, die nicht Geſchichte iſt war in Aller Munde. Die Sprachforſcher erfüllten was die Poeten der Romantik verſprochen hatten. Nun kam ſie wirklich, die Zeit, die einſt Novalis geweiſſagt,

wo man in Märchen und Gedichten
erkennt die ew’gen Weltgeſchichten.

Und auch jenes ſtolze Wort Friedrich Schlegels, das den Hiſtoriker einen rückwärts gewandten Propheten nannte, fand jetzt ſeine Bewährung, da plötzlich die ferne, bisher aller Unterſuchung unzugängliche Jugendzeit der indogermaniſchen Völker durch die Strahlen der Forſchung erhellt ward und von ihr wieder ein erklärendes Licht auf die Grundlagen der heutigen europäiſchen Cultur zurückfiel. Derſelbe Zug der Zeit, der die Ideen der hiſtoriſchen Staats - und Rechtslehre beherrſchte, trieb auch die Philologen die Sprache als ein ewig Werdendes zu begreifen. Auch ſie führten, wie Niebuhr und Savigny, den Kampf gegen die Abſtraktionen5*68II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.des alten Jahrhunderts; auch ſie ebneten die Bahn für eine beſcheidenere und eben darum freiere Weltanſchauung. Jener hochmüthige Wahn, der die großen objektiven Ordnungen des hiſtoriſchen Lebens aus dem freien Belieben der einzelnen Menſchen herleitete, der Glaube an das Natur - recht und die allgemein giltige Vernunftreligion brach unrettbar zuſam - men, ſobald die Philologie darlegte, was an der Geſchichte der Sprache am Handgreiflichſten erwieſen werden kann: daß der Menſch nur in und mit ſeinem Volke lebt. Schon Wilhelm Humboldt hatte in einer ſeiner geiſtvollen kleinen Abhandlungen den fruchtbaren Gedanken ausgeſprochen: die Sprachbildung wie die Volksdichtung vollziehe ſich durch die Einzelnen und gehe gleichwohl ſtets vom Ganzen aus. Auf dieſe Wahrheit, die in ihren letzten Tiefen allerdings ein ewig unlösbares Räthſel einſchloß, kam Jakob Grimm immer von Neuem zurück. Er zeigte, wie die Kunſtdich - tung hervorgeht aus dem Volksliede, das ſich ſelber dichtet , und fand in dem alten Volksepos weder rein mythiſchen noch rein hiſtoriſchen Ge - halt, ſondern göttliche und menſchliche Geſchichte in eines verwachſen.

Da trat ihm, ſeltſam genug, A. W. Schlegel entgegen. Der alte Romantiker konnte ſich doch nicht ganz losreißen von dem Rationalismus des vergangenen Jahrhunderts, das überall in der Geſchichte Berechnung und Abſicht ſuchte. Wie er Niebuhrs kritiſche Kühnheit bekämpfte, ſo be - hauptete er wider Grimm: das Volksepos ſei das bewußte Werk von Dichtern, die im künſtleriſchen Wettkampfe einander durch wunderbare Erfindungen zu überbieten ſuchten. In der That lief die junge germa - niſtiſche Wiſſenſchaft Gefahr, jenem myſtiſchen Hange, der die jüngere Romantik beherrſchte, zu verfallen. Beglückt durch die große Entdeckung der ſchöpferiſchen Kraft des Volksgeiſtes, verfolgte Grimm mit ſolcher Freude das Walten des Unbewußten, des Naturwüchſigen in der Dichtung, daß er die freie That des künſtleriſchen Genius faſt aus den Augen ver - lor. Schwächere Köpfe verſanken bereits tief in phantaſtiſche Thorheit; v. d. Hagen meinte in den Nibelungen die Mythen von der Schöpfung und dem Sündenfalle wiederzufinden.

Jedoch der klare, im innerſten Kerne proteſtantiſche Geiſt Jakob Grimms verweilte nicht lange in den traumhaften Grenzgebieten der Wiſſenſchaft, ſondern wendete ſich bald einem Bereiche der Forſchung zu, das ungleich feſtere Ergebniſſe verhieß. Im Jahre 1819 begründete er durch ſeine Deutſche Grammatik die Wiſſenſchaft der hiſtoriſchen Grammatik. Andere hatten über die Sprache philoſophirt oder ihr Geſetze aufzuerlegen verſucht; er beſchied ſich ihrem Werden und Wachſen ſchrittweis nachzugehen, und da er die urſprüngliche Einheit der germaniſchen Sprachen ſchon erkannt hatte, ſo zog er alle Zweige dieſes Sprachſtammes zur Vergleichung heran. Auch diesmal angeregt durch eine geniale Ahnung Wilhelm Humboldts, erwies er ſodann den wichtigen Unterſchied zwiſchen den betonten Wurzel - ſilben, die den Sinn der Wörter enthalten, und den blos formalen Be -69Die Gebrüder Grimm.ſtandtheilen des Wortſchatzes. So kam alsbald Geſetz und Leben in den Werdegang unſerer Sprache, der bisher ſo räthſelhaft und zufällig ſchien. In dem unſchuldigen, poetiſchen, leiblich friſchen Jugendleben der Völker ſo führte Grimm mit künſtleriſcher Lebendigkeit aus zeigt auch die Sprache ſinnliche Kraft und Anſchaulichkeit, ſie liebt die Form um der Form willen, ſchwelgt in dem Wohlklang volltönender Flexionen; bei rei - fender Cultur wird auch ſie geiſtiger, abſtrakter, auf Klarheit und Kürze bedacht, das ſtumpfere Ohr verliert die Freude an der Form, der nüch - terne Verſtand kümmert ſich nicht mehr um die ſinnlichen Bilder, welche den Wörtern zu Grunde liegen, und nach und nach wird Alles ausge - ſtoßen oder abgeſchliffen was nicht unmittelbar zur Verdeutlichung des Sinnes dient. Begreiflich genug, daß Grimms poetiſches Gemüth der formenreichen alten Sprache durchaus den Vorzug gab, wie auch ſeine eigene Redeweiſe mit den Jahren immer ſinnlicher und bilderreicher wurde. Doch er verkannte nicht, daß die vollzogene Entwicklung nicht wieder rückgängig werden durfte, und verwarf darum ſtrenge jene vorwitzigen Sprachreinigungsverſuche, die bei den teutoniſchen Eiferern für patriotiſch galten: das heiße unſere alte Sprache wie ein zufälliges Gebilde von heute behandeln.

Ein Jahr nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ſeiner Grammatik entdeckte Grimm das Geſetz der Lautverſchiebung und gab damit der Ety - mologie, die ſich bisher unſicher taſtend an die Aehnlichkeit des Klanges der Wörter gehalten hatte, endlich einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden. Unterdeſſen hatte ſein raſtlos combinirender Kopf auch ſchon die uran - fängliche Verwandtſchaft aller indogermaniſchen Sprachen erkannt; ent - zückt verweilte er vor der unendlichen Fernſicht, die ſich auf dieſer Höhe aufthat. Ließ ſich das nämliche Wort im Sanskrit und in allen den jüngeren Sprachen der verwandten Völker auffinden, dann war bereits bewieſen, daß auch die Sache, die durch jenes Wort bezeichnet ward, dem räthſelhaften Urvolke der Indogermanen ſchon bekannt geweſen ſein mußte. Und ſo konnte nach und nach die geheimnißvolle Völkerwiege Indiens aus ihrem Dunkel heraustreten; es konnte erforſcht werden, welche Stufe der Geſittung die Völker Europas ſchon erreicht hatten bevor ſie ſich trennten und die Wanderung gen Weſten antraten, was ihnen gemein war von Anbeginn und was ſie ſich erſt erwarben ein jedes auf ſeinem eigenen Wege. Die hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ſtanden mit einem male vor einer unüberſehbaren Reihe neuer Aufgaben, die das innerſte Seelen - leben aller Völker und Zeiten berührten und in den zwei Menſchenaltern ſeitdem erſt zum kleinſten Theile ihre Löſung gefunden haben.

Während Jakob Grimm alſo, ein glücklicher Finder, von Entdeckung zu Entdeckung fortſchritt, gefiel ſich ſein Bruder Wilhelm im ruhigen Ge - ſtalten. Seine Freude war, die Werke unſerer alten Dichtung in ſauberen Ausgaben, mit ſinniger Erklärung dem neuen Geſchlechte darzubieten; er70II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.liebte nach Dichterart ſich zuweilen ſehnſuchtsvoll in ſelige Träume zu ver - lieren; durch ſeine weichere Feder erhielten auch die Hausmärchen ihre liebliche Form. Zwei gleichberechtigte Richtungen der Wiſſenſchaft ver - körperten ſich in den beiden Brüdern. Des Aelteren Spruch hieß: beſſer gelernt als gelehrt, er achtete nur das Lernen und Forſchen als ſchöpfe - riſche Thätigkeit; der Jüngere verſchmähte nicht, als Lehrer für das nähere Bedürfniß der Wiſſensdurſtigen zu ſorgen. Die Beiden verdankten ihrer Märchenſammlung die Liebe des Volks, die dem ſtrengen Forſcher faſt niemals zu theil wird. Ueberall im Lande wußte man gemüthliche kleine Ge - ſchichten von dem Brüderpaare, das nur mit der Wünſchelruthe in den Boden zu ſchlagen brauchte um den reichen Hort der alten Sagen an den Tag zu bringen. Man erzählte von der tiefen ſtillen Herzenstreue ihrer Lebensgemeinſchaft: wie ſie ſelbander ſo fromm und heiter durchs Leben ſchritten und trotz der glühenden Liebe zum großen Vaterlande doch von der traulichen heſſiſchen Heimath, von den rothen Bergen des Fulda - thales ſich nimmermehr trennen wollten; Beide ſo kindlich anſpruchslos und doch ſo ſtreng gegen die Modegötzen des Tages, ſo ſicher im Urtheil über alles Hohle, Gemachte, Unwahre; wie ihre Arbeitstiſche im näm - lichen Zimmer ſtanden, und wie ſie jeden neuen Fund mit harmloſer Freude einander mittheilten. Kein Kinderräthſel, kein Baſengeſchwätz und kein Ammenlied war ihnen zu gering, Alles gewann Leben vor ihren Augen was aus dem Heiligthum der deutſchen Sprache ſtammte, beim Anblick eines alten Bruchſtücks konnte Jakob das Mitleid nicht verwinden. Und neben der ſchweren Arbeit brach auch der herzliche Verkehr mit guten Menſchen niemals ab; nie beirrte ein Gegenſatz der Meinungen die Beiden in der Treue ihrer Freundſchaft; wie anmuthig wußte Wilhelm in ſeinen Briefen an die ſtrengkatholiſchen Haxthauſens zu plaudern, und zuweilen fiel auch Jakob mit ſeinen tieferen Tönen ein. Es war ein rührendes Bild einfältiger Größe, das auch den Rohen etwas ahnen ließ von der ſittlichen Macht der lebendigen Wiſſenſchaft.

Jakob Grimm ſchätzte die Worte nur um der Sachen willen; ſein Wirken fand eine glückliche Ergänzung in den Arbeiten des Braunſchwei - gers Karl Lachmann, des claſſiſch geſchulten, geſtrengen Vertreters der formalen Philologie, der die Sachen um der Worte willen trieb und die noch unſtet ſchweifende junge Wiſſenſchaft in die harte Zucht der Methode nahm. Gleich heimiſch in den alten wie in den germaniſchen Sprachen wurde er der Begründer der altdeutſchen Textkritik und Metrik, ein Her - ausgeber von unübertroffener Schärfe und Sicherheit. Was einſt F. A. Wolf über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte gelehrt, wendete Lachmann auf das deutſche Epos an und verſuchte, nicht ohne Gewaltſamkeit, das Nibelungenlied in eine Reihenfolge ſelbſtändiger Lieder aufzulöſen. Seit Auguſt Zeune den Freiwilligen von 1815 ſeine Zelt - und Feldausgabe der Nibelungen mitgegeben hatte, begann die ſpielende Beſchäftigung mit71Lachmann. Bopp.der altdeutſchen Dichtung zu einer Liebhaberei der teutoniſchen Jugend zu werden. Ein Glück für die Wiſſenſchaft, daß Lachmann durch den Ernſt ſeines unnachſichtlichen Tadels die Unreifen zurückſchreckte und den Dilet - tantismus bald gänzlich aus dem Bereiche der deutſchen Sprachkunde hinaus - fegte. Währenddem unternahm Benecke ſeine lexikographiſchen Arbeiten, und der anſpruchsloſe Friedrich Diez trug in aller Stille die erſten Werk - ſtücke zuſammen für das mächtige Gebäude ſeiner romaniſchen Grammatik. Auch er war wie Lachmann als Freiwilliger mit dem deutſchen Heere in Frankreich eingezogen, er hatte in Gießen mit Follen und den wildeſten Hitzköpfen des Teutonenthums an lauter Tafelrunde geſeſſen und blieb doch im Geiſte ſo frei, daß er wie ein geborener Provenzale der ſchönen Sprache der Troubadours bis in die Tiefen des Herzens blicken konnte.

Die ungleiche Begabung der Generationen wird durch die ungleiche Gunſt der äußeren Umſtände allein nicht erklärt; die Zeit erzieht nur den Genius, ſie ſchafft ihn nicht. Immer ſobald eine große Wandlung des geiſtigen Lebens ſich in der Stille vorbereitet hat, läßt eine geheimnißvolle Waltung, deren Rathſchluß kein menſchlicher Blick durchdringt, ein reich - begabtes Geſchlecht entſtehen. Zur rechten Zeit erſcheinen die rechten Männer, Fund folgt auf Fund, ein heller Kopf arbeitet dem andern in die Hände ohne von ihm zu wiſſen. So jetzt, da eine große Stunde für die philologiſch-hiſtoriſchen Wiſſenſchaften geſchlagen hatte.

Derweil die Brüder Grimm noch in unbeſtimmten Vermuthungen über die gemeinſame Abſtammung der Sprachen Europas ſich ergingen, hatte der Mainzer Franz Bopp, ganz unabhängig von ihnen, bereits den Grund - ſtein gelegt für die neue Wiſſenſchaft der Sprachvergleichung. Seit vielen Jahren ſchon lebte Wilhelm Humboldt des Glaubens, daß Sprachphilo - ſophie und Geſchichtsphiloſophie in den letzten Tiefen der Menſchheit ſich begegnen müßten. Wie oft hatte er in ſeinen Briefen an Schiller aus - geführt, die Sprache ſei ein lebendiger Organismus, mit der Perſönlich - keit des Sprechenden eng verwachſen. Er wußte längſt, daß der eigen - thümliche Charakter der einzelnen Sprachen ſich vornehmlich an ihrem grammatiſchen Bau erkennen laſſe; nur die Geſchäftslaſt ſeines diplomati - ſchen Berufs verhinderte ihn noch dieſe Ideen weiter auszuſpinnen. Von ähnlichen Ahnungen erfüllt hatte der junge Bopp ſich ſchon früh die Kenntniß der claſſiſchen und der meiſten neu-europäiſchen Sprachen ange - eignet; er hoffte die in dem Sprachenreichthum unſeres Geſchlechts ver - borgene Harmonie zu entdecken. Es galt zunächſt den genealogiſchen Zu - ſammenhang mehrerer Sprachen unzweifelhaft ſicherzuſtellen, und dies ließ ſich nur nachweiſen durch genaue Prüfung einer ſehr alten Sprache, welche den Charakter der verlorenen Urſprache ziemlich rein bewahrt hatte, alſo zur Noth ſtatt der Urſprache ſelbſt gelten konnte.

Bopp beſchloß daher von dem Sanskrit auszugehen; denn das hohe Alter der indiſchen Literatur ſtand außer Zweifel, und ſeit Friedrich72II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Schlegels geiſtreicher Dilettantenarbeit über die Weisheit der Inder wurde auch die Verwandtſchaft des Sanskrit mit dem Perſiſchen, den claſſiſchen und den germaniſchen Sprachen faſt allgemein als ſicher an - genommen, wenngleich der Beweis noch fehlte. Schon im Jahre 1816 erſchien Bopps kleine Schrift über das Conjugationsſyſtem des Sanskrit; ſie betrachtete den grammatiſchen Bau dieſer älteſten Sprache im Ein - zelnen, ſie zeigte, wie das Futurum durch die Zuſammenſetzung eines Hilfszeitworts mit einer Wurzelſilbe gebildet werde u. ſ. f., und erwies ſodann unanfechtbar die weſentliche Gleichheit der Formen und Wurzeln des Zeitworts Sein im Sanskrit und in den alten germaniſchen Sprachen. Der glückliche Entdecker erkannte die gothiſche Sprache als das Mittel - glied zwiſchen dem Altindiſchen und dem Deutſchen: wenn ich den ehr - würdigen Ulfilas las, ſo glaubte ich Sanskrit vor mir zu haben. Da - mit kam die Kugel in’s Rollen, denn bei Fragen ſolcher Art entſcheidet der erſte Schlag. Nunmehr war ein feſter Anhalt gewonnen um die Grenzen der indogermaniſchen Sprachengruppe abzuſtecken, jeder einzelnen dieſer Sprachen ihren Platz näher oder ferner neben der älteſten Schweſter anzuweiſen und dergeſtalt den hiſtoriſchen Stammbaum der Völker ſelbſt feſtzuſtellen. So durfte ſich die vergleichende Sprachforſchung in dem Kreiſe der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften allmählich eine ähnliche Stellung erobern wie die vergleichende Anatomie unter den Naturwiſſenſchaften; fuhr ſie dann fort noch andere Sprachenfamilien zur Vergleichung herbei - zuziehen und die Wörter überall in ihre einfachſten Elemente zu zerlegen, ſo mochte ſie dereinſt auf einem unabſehbaren Wege, mit Hilfe der Natur - forſchung, noch höher aufſteigen bis zu dem großen Probleme der Ent - ſtehung der menſchlichen Sprache überhaupt, bis dicht an jene Schranken, welche die Weisheit der Natur allem menſchlichen Forſchen geſetzt hat.

In der claſſiſchen Philologie war ſchon ſeit dem Jahre 1795 ein freieres Leben erwacht. Damals erwies Friedrich Auguſt Wolf durch die Prolegomena zum Homer, daß die homeriſchen Gedichte aus Rhapſodien entſtanden ſeien, aus Werken der Volksdichtung, die der Volksmund durch die Jahrhunderte fortgetragen und fortgebildet habe; und Goethe jubelte: das homeriſche Licht geht uns neu wieder auf. Wolfs bleibende Bedeu - tung lag aber nicht ſowohl in dieſer Hypotheſe ſelbſt denn ſie ließ noch Vieles im Dunkeln und veranlaßte ſpäterhin manche geſchmackloſe Ver - irrungen des überfeinen gelehrten Scharfſinns ſondern in ſeinen völlig neuen Anſichten über Weſen und Ziele der Philologie. Er entriß die claſſiſche Literatur den Händen der Aeſthetiker und überwies ſie der hiſto - riſchen Kritik; er forderte von der Philologie, daß ſie ſich zur Alterthums - wiſſenſchaft erweitere, daß ſie das geſammte antike Leben nach allen Seiten hin zu vergegenwärtigen ſuche, Sprache und Literatur nur als einzelne Erſcheinungen dieſes Geſammtlebens auffaſſe, und zeigte durch ſeine mei - ſterhaften Vorträge in Halle, wie die Aufgabe zu löſen ſei.

73Boeckh. G. Hermann.

Unter den Jüngeren, welche ſich dieſe hiſtoriſche Auffaſſung aneigneten, ſtand der Karlsruher Auguſt Boeckh obenan, der allbeliebte freimüthige Lehrer der Berliner Studenten; der hatte in den Bacchanalien der Hei - delberger Romantiker ſeinen gründlichen Fleiß nicht eingebüßt, nur ſeinen Geſichtskreis erweitert, ſein Verſtändniß für alles Menſchliche freier aus - gebildet. Viele Jahre hindurch trug er ſich mit dem Plane, in einem umfaſſenden Werke Hellen die Einheit des griechiſchen Lebens in allen ſeinen Erſcheinungen darzuſtellen. Der großgedachte Bau kam leider nie - mals unter Dach. Nur ein Bruchſtück erſchien im Jahre 1817: die Staatshaushaltung der Athener ein erſter gelungener Verſuch, auch die griechiſche Geſchichte, nach Niebuhrs Vorbild, als ein wirklich Ge - ſchehenes und Erlebtes zu verſtehen. Die Hiſtoriker frohlockten, da ihnen hier aus vergeſſenen und überſehenen Quellen das verſchlungene Getriebe der attiſchen Volks - und Staatswirthſchaft in ſeinem inneren Zuſammen - hange gezeigt wurde; die Nationalökonomen dagegen verſtanden noch nicht, von der induktiven Methode des geiſtvollen Philologen Vortheil zu ziehen. Denn unter allen hiſtoriſchen Wiſſenſchaften war die Volkswirthſchafts - lehre am Weiteſten zurückgeblieben; ſie ruhte noch aus auf der mißver - ſtandenen Doktrin Adam Smiths und wähnte noch nach der Weiſe des Naturrechts das hiſtoriſche Leben der Völker in das Joch ewig giltiger abſtrakter Regeln ſpannen zu können.

Wie Lachmann neben Jakob Grimm ſo ſtand neben Boeckhs ſachlich hiſtoriſcher Richtung die Schule der formalen claſſiſchen Philologie, die in Gottfried Hermanns Griechiſcher Geſellſchaft zu Leipzig faſt ein halbes Jahrhundert hindurch ihre fruchtbare Pflanzſtätte behielt. Hier blühten Grammatik, Metrik, ſtreng methodiſche Textkritik. In ihrem gefeierten Lehrer vereinigte ſich Alles, was die alte oberſächſiſche Gelehrſamkeit aus - zeichnete: gründliches Wiſſen und tief eindringender Scharfſinn, eiſerner Fleiß und urbane Duldſamkeit, aber auch ein nüchterner Rationalismus, der von der geheimnißvollen Nachtſeite des hiſtoriſchen Lebens grundſätzlich nichts ſehen wollte. Beide Schulen hatten von Wolf gelernt und Vieles blieb ihnen gemeinſam; war doch auch der Berliner Immanuel Bekker unter Wolfs Augen groß geworden, der wortkarge Meiſter der Kritik, der mit ſicherer Hand ſo viele griechiſche Texte auf diplomatiſcher Grund - lage herſtellte ohne ſich je zu einer Erläuterung herabzulaſſen.

Selbſtändig neben beiden ging die hochromantiſche Schule der Sym - boliker, von Friedrich Creuzer geführt, ihre wunderlichen Wege. Creuzers rege Phantaſie fühlte ſich von frühauf mächtig hingezogen zu der Welt des Ueberſinnlichen und Geheimnißvollen. Schon zu Anfang der achtziger Jahre, lange bevor die Romantik erwachte, begeiſterte ſich dieſer geborne Romantiker daheim in Marburg an dem Anblick der himmelanſtrebenden gothiſchen Pfeiler der Eliſabethkirche; dann ſchloß er Freundſchaft mit Novalis, mit Görres, mit dem Heidelberger Dichterkreiſe, aber auch mit74II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Savigny und Boeckh, und drang in die Traumwelt der Naturphiloſophie tiefer ein als irgend einer der Fachgelehrten. Wie Schelling trotzte er auf die angeborene Wundergabe der unmittelbaren Anſchauung, die man weder lehren noch erſitzen könne; durch ſie dachte er jene Naturſprache zu enträthſeln, welche ſich bei allen Völkern in geheimnißvollen religiöſen Sym - bolen äußere, und alſo ein Band der Einheit zwiſchen den Mythen aller Zeiten zu finden. Seine Symbolik bot eine Fülle geiſtreicher Winke für künf - tige Forſchungen; ſelbſt die Theologen mußten ihm danken, weil er ſie auf die Bedeutung der vergeſſenen Neuplatoniker hinwies. Er errieth zuerſt, welch eine Welt des Elends und des Grauens hinter den ſchönen Mythen des Alterthums verborgen liegt, und verſenkte ſich mit ſolchem Eifer in dieſe unheimlichen Myſterien, daß ihm von der hellen Weltfreudigkeit, dem vorherrſchenden Charakterzuge des griechiſchen Volksglaubens, wenig mehr übrig blieb. Auch bemerkte er zuerſt die Spuren altorientaliſcher Prieſter - weisheit in den Anfängen der helleniſchen Cultur; doch die luftige Brücke zwiſchen dem Morgenlande und dem Abendlande ward aufgerichtet bevor noch der Boden auf beiden Ufern unterſucht und befeſtigt war. Trotz ſeiner reichen Gelehrſamkeit gelangte der geiſtvolle Enthuſiaſt nirgends zu geſicherten Ergebniſſen, weil er mit vorgefaßter Meinung an die hiſto - riſchen Thatſachen herantrat; am Liebſten verweilte er bei den Pelasgern und anderen unbekannten Urvölkern, hier fand die genialiſche Willkür der unmittelbaren Anſchauung offenes Feld.

Durch den Myſticismus ſeiner Lehre erregte er den Unwillen der aufgeklärten Welt. Zunächſt bekämpfte Gottfried Hermann die Symbolik mit ſeiner gewohnten würdigen Ruhe; nachher erhob ſich der greiſe Jo - hann Heinrich Voß, und ſein grimmiger Schlachtruf klang wie eine Stimme aus dem Grabe. Wie wunderbar ſchnell hatte dieſes Geſchlecht gelebt, wie fern lag ſchon die Zeit, da einſt die Voſſiſche Homer-Ueber - ſetzung mit vollem Recht als eine bahnbrechende That gefeiert ward! Alle die neuen Ideen, welche ſeitdem dem deutſchen Genius entſtiegen, waren an dem eingefleiſchten alten Rationaliſten ſpurlos vorübergerauſcht. Seine Bildung wurzelte noch in der Wolffiſchen Philoſophie, die mit dem Satze vom zureichenden Grunde das All zu begreifen dachte. Schon gegen Herder und Wolf hatte er ſich ereifert; ja ſelbſt bei Kant ward ihm nicht ganz geheuer, da der Königsberger Weiſe doch dem ahnenden Glauben ſein gutes Recht ließ und gelaſſen zugab, daß die wiſſenſchaftliche Welt - erklärung am letzten Ende nichts erklärt. Nun gar in Heidelberg, in - mitten der romantiſchen Schwärmer fühlte ſich dieſer hausbackene Ver - ſtand wie verrathen und verkauft. All das Gerede von den unbewußt ſchaffenden Kräften des Volksgeiſtes war ihm eitel Phantaſterei; und wer durfte ihm von Dogmen und Symbolen ſprechen, da doch erwieſenermaßen die Moral allein den Kern aller Religion enthielt? Er ließ ſich’s nicht nehmen, daß Deutſchland durch eine große Verſchwörung von Pfaffen75Die Symboliker.und Junkern bedroht war, die beiden rothhaarigen Schurken Görres und Creuzer das Volk Luthers nach Rom zurückführen wollten. Alles, was ſich aufgeklärt und liberal nannte, jubelte dem Zornmuthigen zu, als er ſeine groben Streitſchriften wider die Symboliker hinausſandte; Voß ge - wöhnte die Liberalen zuerſt an den gehäſſigen Ton eines Geſinnungs - terrorismus, der hinter abweichenden Meinungen ſtets verworfene Abſichten ſuchte. Recht und Unrecht erſchienen in dieſem Streite ebenſo ſeltſam ge - miſcht, wie in den gleichzeitigen Kämpfen der politiſchen Parteien. Wenn Voß und Hermann ſich der Klarheit und Beſtimmtheit rühmen durften, ſo zeigte Creuzer unzweifelhaft mehr Geiſt; wenn jene ſich als die ſchär - feren Kritiker erwieſen, ſo bewährte dieſer ein ungleich tieferes Verſtänd - niß für die Religion, für das verborgene Gemüthsleben der Völker. Auf manchem der Wege, welche der Symboliker zuerſt in phantaſtiſchen Sprüngen durcheilte, wandelt heute die beſſer ausgerüſtete Wiſſenſchaft mit ſicherem Schritt.

So haderten die Philologen unter einander und bemerkten noch kaum, wie ihnen allen ein gemeinſamer Feind heranwuchs, die banauſiſche Geſinnung der Geſchäftswelt. Da der ausſchließlich claſſiſche Unterricht der Gymnaſien den wachſenden Anſprüchen des wirthſchaftlichen Lebens allerdings nicht mehr genügen konnte, ſo erhob ſich ſchon bald nach den Kriegen der Ruf nach Reformen. Den Fanatikern der Nützlichkeit erſchien nur lernenswerth was ſich in Geſchäft und Unterhaltung unmittelbar gebrauchen ließ; die moderne Vorliebe für oberflächliche Vielwiſſerei und der Haß der Aufklärung gegen alles Altüberlieferte thaten das Ihre hinzu. In Baden wurde das Verlangen nach Beſchränkung des claſſiſchen Un - terrichts bald unter die Hauptſätze des liberalen Parteiprogramms auf - genommen; in Preußen war Schön der eifrige Gönner dieſer Beſtre - bungen, welche den tiefſten Grund der deutſchen Bildung bedrohten und erſt nach langen Jahren ſich etwas abklären ſollten.

Die Fruchtbarkeit der neuen Gelehrtengeneration ſchien unerſchöpflich; faſt im nämlichen Augenblicke, da die hiſtoriſche Rechtslehre, die hiſtoriſche Grammatik und die vergleichende Sprachforſchung entſtanden, ſchuf Karl Ritter die neue Wiſſenſchaft der vergleichenden Erdkunde. Trotz der großen Entdeckungen des ſechzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts war die Geographie bisher doch nur eine reichhaltige Sammlung von ſtatiſtiſchen, hiſtoriſchen, phyſikaliſchen Notizen ohne innere Einheit geblieben. Niemand fragte mehr, was wohl einſt Strabo gemeint haben mochte als er für die Geographie eine philoſophiſche Behandlung forderte und das vielgeſtaltige Europa glücklich pries neben Aſiens einförmiger Küſtenbildung. Erſt in dieſen Tagen des erſtarkenden hiſtoriſchen Sinnes erwachte auch die Ein - ſicht, daß die Erde das Erziehungshaus der Menſchheit und der Schau - platz ihrer Thaten iſt, und die Erdkunde mithin zunächſt zu erforſchen hat, wie die Geſtaltung der Erde bedingend und beſtimmend auf die76II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Geſchichte des Menſchengeſchlechts einwirkt. Als Ritter im Jahre 1817 dieſen neuen Gedanken in dem erſten Bande ſeiner Vergleichenden Erd - kunde zuerſt ausſprach, erhob er die Geographie zu einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. In ihm arbeitete der nämliche Drang nach Erkenntniß der geſetzmäßigen Nothwendigkeit des hiſtoriſchen Lebens, der aus Savignys und Bopps Werken ſprach, und wie dieſe Beiden erinnerte er ſich bei ſeinen Unternehmungen oft an das Vorbild der vergleichenden Anatomie. Die Formen der Erde beſeelten ſich vor ſeinen Augen wie die Wortformen vor Jakob Grimms Forſcherblick. Er ſah in den Welttheilen die großen Individuen der Erde und lehrte, jedes Land vertrete eine ſittliche Kraft, übernehme die Erziehung ſeiner Bewohner, erlebe ſeine nothwendige Ge - ſchichte. Mit ungeheurem Fleiße trug er Alles zuſammen was jemals Naturforſcher, Reiſende, Hiſtoriker über Land und Leute berichtet hatten, um zunächſt an Aſien die ewige Wechſelwirkung von Natur und Geſchichte zu erweiſen. Kam ſein Werk zum Ziele und er ſelber nannte noch im hohen Alter die Geographie beſcheiden eine erſt werdende Wiſſenſchaft ſo war der ganze Entwicklungsgang der Menſchheit als eine örtlich bedingte Naturerſcheinung dargethan. Schwächere Köpfe konnten auf ſo ſchwierigem Wege leicht in eine materialiſtiſche Geſchichtsanſchauung hinein - gerathen; für Ritter war dieſe Verſuchung nicht vorhanden. Denn er blieb noch als Mann in ſeinem Herzen ein einfältiges frommes Kind, wie vormals da er in Schnepfenthal zu den Füßen des guten Salzmann ſaß. Nicht blinde Naturgeſetze, ſondern den Willen des lebendigen Gottes hoffte er durch ſein Forſchen zu erkennen; heilige Andacht durchſchauerte ihn ſo oft ihm eine Ahnung von dem tiefen Sinne der unbegreiflich hohen Werke aufging, und oft nannte er ſein Buch mein Lobgeſang des Herrn .

Wenige Wiſſenſchaften hängen mit der Macht und dem Reichthum der Völker ſo innig zuſammen, wie die Erdkunde; ſie folgt in den An - fängen der Geſchichte immer den Spuren des Eroberers und des wagenden Kaufmanns, auch in geſitteten Zeiten bedarf ſie königlicher Mittel um Neues zu finden. Nur den Deutſchen iſt es gelungen, ſich zweimal allein durch die Kraft ihres Geiſtes eine führende Stellung in der geo - graphiſchen Wiſſenſchaft zu erzwingen. Als die Spanier und Portugieſen ſich in die Herrſchaft beider Indien theilten und Deutſchlands alte Han - delsgröße zuſammenbrach, da trat Copernicus dem Columbus ebenbürtig an die Seite. Wie viele Weltumſegler und Entdecker hatten ſeitdem bei den Staatsgewalten Englands, Frankreichs, ja ſelbſt Rußlands freigebige Unterſtützung gefunden. In Deutſchland, dem Lande ohne Colonien und faſt ohne Welthandel, geſchah nichts dergleichen; die Nation und ihre Re - gierungen blickten noch kaum hinaus über die armſelige Beſchränktheit ihres binnenländiſchen Stilllebens. Auf eigene Koſten mußten Alexander v. Humboldt und Leopold v. Buch ihre kühnen Reiſen unternehmen. 77Karl Ritter.Als Adalbert v. Chamiſſo in jenen Tagen von ſeiner Weltumſeglung heim - kehrte und beim Anblick des Swinemünder Leuchtthurms im tiefſten Herzen erſchüttert fühlte, er ſei ein Deutſcher geworden und hier grüße ihn die liebe Heimath, da wehte die ruſſiſche, nicht die preußiſche Flagge über ſeinem Haupte. Und doch war es ein Sohn dieſes Binnenvolkes, der jetzt die Erdkunde in ihren Grundlagen neu geſtaltete; einen erſtaunlicheren Erfolg hat der deutſche Idealismus ſelten errungen.

So weit Deutſchlands hiſtoriſche Wiſſenſchaften den Nachbarvölkern vorauseilten, ebenſo tief blieb der allgemeine Stand unſerer Naturfor - ſchung hinter den Leiſtungen der Franzoſen und Engländer zurück. Paris galt noch lange mit Recht als die Heimath der exakten Wiſſenſchaften. Einzelne große Köpfe wurden freilich durch die reiche poetiſch-philoſophiſche Bildung der letzten Generation in den Stand geſetzt, geradeswegs die höchſten Ziele der Naturforſchung in’s Auge zu faſſen, die Natur als Einheit, als Kosmos zu begreifen; hatte doch Goethe in ſeiner Metamor - phoſe der Pflanzen durch die That bewieſen, daß die Idee die Erſchei - nungen der Natur ganz und gar durchdringen und verklären kann ohne ſie willkürlich zu entſtellen. Alexander Humboldt geſtand immer dankbar, durch Goethe ſei er erſt mit neuen Organen für das Verſtändniß der Natur ausgeſtattet worden; nur weil er einſt aus dem Quell, der in Jena und Weimar floß, mit vollen Zügen getrunken hatte, konnte er ſich die ſtaunenswerthe Vielſeitigkeit ſeiner Naturkenntniß erwerben. Auch Ritter wäre ohne die Naturphiloſophie niemals auf den Gedanken ge - rathen, in ſeiner Erdkunde alle Zweige der hiſtoriſchen und der exakten Forſchung zu gemeinſamem Schaffen zu vereinigen. Der Maſſe der Min - derbegabten aber gereichte die Kühnheit der Philoſophie zum Verderben.

Nicht umſonſt hatte Schelling den übermüthigen Ausſpruch gethan: ſeit man die Idee des Lichtes kenne, ſei Newtons blos empiriſche Far - benlehre überwunden. Nicht umſonſt hatte der fahrige Hendrik Steffens, noch dreiſter, gefordert, die Naturforſchung müſſe ſich ſteigern zur Spe - culation und in allem Sinnlichen ſchlechterdings nur noch das Geiſtige erkennen. Jeder junge Fant, dem eine neue Idee im Kopfe gährte, meinte ſich nun berechtigt, die Welt der Erſcheinungen nach einem vorgefaßten Plane zurechtzurücken; Lorenz Oken ſtand im vierten Semeſter des medi - ciniſchen Studiums, als er ſchon den Grundriß ſeines Syſtems der Na - turphiloſophie veröffentlichte. Man verlor die Ehrfurcht vor dem Wirk - lichen, der Chemiker mochte ſich die Hände nicht beſchmutzen, der Phyſiker verſchmähte die Ergebniſſe ſeiner Apperception durch Experimente zu prüfen. Verworrene Bilder verdrängten die klaren Begriffe. Im Tone des Propheten ſprach Schelling von den beiden Principien der Finſterniß und des Lichtes, deren Angel das Feuer ſei. Der Diamant war der zum Bewußtſein gekommene Kieſel, die Wälder die Haare des Erdthiers, und am Aequator zeigte ſich die angeſchwollene Bauchſeite der Natur. 78II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Zwar der ehrliche Oken bewahrte ſich inmitten dieſer Saturnalien immer noch die Freude am Beobachten und Vergleichen und bereicherte die Wiſ - ſenſchaft durch gründliche Unterſuchungen über die Entwicklungsgeſchichte der Säugethiere; doch manches ſchöne Talent ging in dem phantaſtiſchen Spiele völlig unter. Wie viele gute Kraft mußte der junge Juſtus Liebig verſchwenden, bis er des romantiſchen Hochmuths endlich Herr ward und ſich entſchloß, ſchlichtweg als ein Unwiſſender an die wirkliche Welt heran - zutreten.

Die Naturphiloſophie ſah in der Natur den unbewußten Geiſt, in den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und ſuchte daher überall nachzuweiſen, wie bewußtes und unbewußtes Leben in einander ſpielen. Hier, auf dem räthſelreichen Grenzgebiete der Naturwiſſenſchaft, berührte ſie ſich mit der religiöſen Schwärmerei der Zeit und mit den Ge - heimlehren jener Zauberer und Schwindler, die ſeit Swedenborgs Tagen das ganze alte Jahrhundert hindurch an den Höfen ihr Weſen getrieben hatten. Bis zum Jahre 1815 lebte noch in der Schweiz der alte Mes - mer, der Wundermann, deſſen Lehren einſt Lavater in den Kreiſen der Erweckten verbreitet hatte; der kannte die geheime Naturkraft der mag - netiſchen Allfluth, das eigentliche Lebensprincip, das alle Krankheiten heilen, ja ſelbſt verhüten ſollte. Dies halbverſchollene Evangelium der Natur brachte der Berliner Wohlfart jetzt wieder in Umlauf. Ueberall tauchten ſchlafwandelnde Frauen und magnetiſche Heilkünſtler auf; überall in den eleganten Salons bildeten verzückte Herren und Damen die magnetiſche Kette. Hufeland und mehrere andere bedeutende Aerzte befreundeten ſich mit der neuen Offenbarung; jedoch die Mode des Tages ſtürmte blind - lings über dieſe Gemäßigten hinweg.

Das Körnlein Wahrheit, das in den Doctrinen des Magnetismns lag, verſchwand bald in dem trüben Schlamme des gemeinen Aberglau - bens. Ein krankhafter Drang nach dem Unerforſchlichen bethörte die Wiſſenſchaft bevor ſie noch in der erforſchbaren Welt recht heimiſch ge - worden; phantaſtiſche Bücher erzählten von dem Geheimniß der Lebens - kraft , die man ſich als eine beſondere Subſtanz vorſtellte. Auch Galls Schädellehre gewann wieder zahlreiche Gläubige, zumal ſeit der höfiſche Naturphiloſoph Carus ſie der vornehmen Welt mundgerecht zu machen wußte. General Müffling ließ den jungen Offizieren, wenn ſie in die Berliner Kriegsſchule eintraten, regelmäßig durch einen Phrenologen die Köpfe betaſten, um die Talente herauszufinden; und ſtand ein Porträt - maler auf der Höhe der Zeit, ſo ſchmückte er ſeine Geſtalten mit unna - türlich hohen Stirnen, den Kennzeichen der Genialität. Dem alten Goethe ſendete einſt ein engliſcher Verehrer eine Büſte, die einem Waſſerkopfe ſehr ähnlich ſah; ſie ſtellte den Dichter ſelber vor, der Bildhauer hatte nach den Grundſätzen der Schädellehre a priori erkannt, wie der Fürſt der Dichtung unfehlbar ausſehen mußte. Männer aller Parteien verſanken in dies79Naturphiloſophiſche Träume.Traumleben. Den alternden preußiſchen Staatskanzler lockte der gewandte jüdiſche Arzt Koreff in die Netze des Mesmerismus, aber auch Wangen - heim, der Führer der Liberalen am Bundestage, ſtand unter den Hohen - prieſtern der Naturphiloſophie. Doch überwog der Rationalismus in der liberalen Welt; die Mehrzahl ſeiner Jünger fand der Wunderglaube in den Reihen der conſervativen Parteien. Auch in Frankreich zählten die beiden eifrigſten Apoſtel des Somnambulismus, Bergaſſe und Puyſegur zu den Heißſpornen der Legitimität. Die akademiſchen Lehrkörper konnten das Mißtrauen gegen die phantaſtiſche Willkür der Naturphiloſophen nie - mals ganz überwinden; die Berliner Univerſität weigerte ſich hartnäckig den geiſtreichen Schwärmer Steffens zu berufen, und zum erſten male entbrannte ein ernſter Streit zwiſchen der Staatsgewalt und der jungen Hochſchule, als Hardenberg durch ein Machtgebot ſeine Günſtlinge Koreff und Wohlfart zu ordentlichen Profeſſoren ernannte. Ganz unbekümmert um den Beifall der großen Welt ging indeſſen Heinrich Schubert ſeinen beſcheidenen Gang, der liebenswürdigſte und harmloſeſte der philoſophiſchen Naturforſcher, altväteriſch fromm wie es daheim im Pfarrhauſe des Erzge - birges der Brauch war, ein ehrwürdiges Vorbild chriſtlicher Liebe und Duldſamkeit; wenn er in ſeiner ſinnigen gemüthvollen Weiſe von der Symbolik des Traumes und den Nachtſeiten der Naturwiſſenſchaft ſprach, dann erbauten ſich die Stillen im Lande.

Wie ein Berggipfel ragte aus dem Nebelmeere der romantiſchen Na - turwiſſenſchaft Alexander v. Humboldt empor; ihn beſtrahlte ſchon die Sonne eines neuen Tages. Bereits in ſeinen Jugendjahren war er, der Zeit weit vorauseilend, ganz aus eigener Kraft von der äſthetiſchen zur wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung vorgeſchritten. Die treue Sorgfalt der induktiven Forſchung, die der Naturwiſſenſchaft ganz abhanden gekommen war und den Hiſtorikern erſt durch Savigny und Niebuhr wieder ge - wonnen wurde, lag dieſem Manne im Blute. Sein Drang nach objek - tiver Erkenntniß ließ von jeher ſchlechterdings nur die Thatſachen gelten, ſchied das Erwieſene ſtreng von dem Vermutheten ab, und nichts verletzte ihn tiefer als jener Dünkel der Speculation, der niemals ſeine Unkenntniß eingeſtehen, niemals beſcheiden eine Erſcheinung unerklärt laſſen wollte. Darum erſchien er in den Kreiſen der äſthetiſchen Idealiſten, wo man die Wirklichkeit als eine läſtige Schranke des freien Geiſtes verachtete, zuerſt wie ein Fremdling aus einer anderen Welt. Schiller hielt den Bruder ſeines geliebten Wilhelm für einen ideenloſen Sammler und klagte: dieſer nackte, ſchneidende, von der Einbildungskraft ganz verlaſſene Verſtand wolle die Natur ſchamlos ausgemeſſen haben. Seitdem hatten die Deutſchen längſt erfahren, welche Macht der Phantaſie in dieſem Genius des empiriſchen Wiſſens lebte; ſie vermaß ſich freilich nicht, den Gang der Forſchung mei - ſternd vorherzubeſtimmen, aber ſie verband die tauſend und tauſend ſorgſam erforſchten Einzelheiten zur lebendigen Einheit, und mit brüderlichem Stolze80II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.rief Wilhelm dem Jüngeren zu: Du wobſt aus dem was geiſtvoll Du erſpähet ein reiches, Weltenall umſchlingend Band! Auch dem Idealismus des Bruders ſtand Alexander weit näher als Schiller glaubte; denn wie Jener fand er den einzigen wirklichen Inhalt der Weltgeſchichte in der Ent - wicklung des Menſchengeiſtes, nur daß nach ſeiner Schätzung das Schauen, Bilden und Dichten hinter dem Forſchen zurückſtand. Und wie Jener durfte er ſich des freien, von der Gegenwart nie beſchränkten Sinnes rühmen, der Alles groß behandelte und in der peinlichen Einzelforſchung immer den Blick auf das All gerichtet hielt. Er ſucht ſo ſagte ſein Bruder wirklich nur Alles zu umfaſſen, um Eines zu erforſchen, dem man nur von allen Seiten zugleich beikommen kann. Die Erkenntniß galt ihm als das höchſte der Güter; alle Kräfte ſeiner Seele erſchienen beherrſcht, faſt aufgeſogen von dem einen allumfaſſenden Wiſſensdrange. Niemals ſtörte ihm die Liebe oder irgend eine andere ſtarke perſönliche Leidenſchaft die Bahnen ſeiner Forſchung; Keinen wählte er zum Freunde, der nicht mitbauen half an dem großen Werke ſeines Lebens.

So blieb auch das ſchöne, innige Verhältniß zwiſchen den beiden Brüdern mehr eine Gemeinſchaft der Geiſter als ein Herzensbündniß; ihre Vertraulichkeit wuchs mit den Jahren, je mehr Wilhelm von ſeinen äſthe - tiſchen Arbeiten zu der vergleichenden Sprachforſchung hinüberging und alſo dem Gedankenkreiſe des Bruders ſich näherte. In dem Freundes - bunde dieſes Bruderpaares gewann die Idee der universitas literarum Fleiſch und Blut; er bewies der Welt die unzerſtörbare Einheit der exak - ten und der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften, von deren Feindſchaft kleine Geiſter fabeln. Alexander vermochte weder ſo tief wie Wilhelms ſchwerer und ſtärker angelegter Genius in die verborgenen Abgründe des Seelenlebens hinabzublicken, noch ſo kühn wie Jener zu den Höhen der Speculation emporzuſteigen, auch die reine Mathematik lag der Richtung ſeines Den - kens fern. Dafür überbot er den Bruder wie alle anderen Zeitgenoſſen durch die wunderbare Beweglichkeit und Empfänglichkeit eines raſtloſen Kopfes, der Alles, was Menſchen je geforſcht und gedacht in ſich aufzu - nehmen und mit ſich zu verſchmelzen wußte.

In ihm fand der weltbürgerliche Zug des deutſchen Geiſtes einen ſo vollkommenen Ausdruck wie vordem nur in Leibniz. Er hielt ſich be - rufen, die ganze geiſtige Habe des Zeitalters aufzuſpeichern und zu be - herrſchen, allen Völkern als ein Vermittler der modernen Bildung, als ein Lehrer der Humanität zu dienen. Niemand verſtand wie er, Talente aufzufinden und zu ermuthigen; mit unermüdlich liebenswürdigem Eifer theilte er Allen mit aus der Fülle ſeines immer lebendigen und immer bereiten Wiſſens. Goethe verglich ihn einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerſchöpflich entgegenſtrömt. Selbſt die Schwächen des Charakters, die er mit Leibniz theilte, kamen ſeinem Vermittlerberufe zu81A. v. Humboldt.ſtatten. Wenn er als ein ſchmiegſamer Hofmann Jedem nach dem Munde redete und Jeden ohne Unterſchied mit einem Schwalle ſchmeichleriſchen Lobes überſchüttete, ſo warb er dadurch immer neue Gönner und Ge - hilfen für die Sache der univerſalen Bildung, welche doch nur durch die Arbeit Aller gedeihen konnte; wenn er ſeinen eigenen Weltruhm mit unver - hohlener Eitelkeit genoß und förderte, ſo diente ihm ſein glänzender Name zugleich als ein Mittel um die Großen der Erde auf den Werth der unzäh - ligen wiſſenſchaftlichen Unternehmungen, die er mit warmem Fürwort unter - ſtützte, nachdrücklich hinzuweiſen. Wo es noth that trat er für die be - drohte Freiheit der Forſchung weit muthiger ein als vormals Leibniz, und während die weite Welt ihm ihre Huldigungen darbrachte, blieb er in ſeinem Herzen doch ein Deutſcher: er kannte wie Niemand ſonſt die Ge - brechen unſerer jungen Geſittung, unſerer Armuth und Kleinmeiſterei, und beobachtete mit ſtiller Freude, wie die Deutſchen Schritt für Schritt an die alte Cultur der Nachbarvölker näher heranrückten.

Gleich allen großen Reiſenden hatte er ſchon im Kindesalter ſich hinausgeſehnt in die ungemeſſene Ferne; wenn er im Palmenhauſe der Potsdamer Pfaueninſel zu den zierlichen Blätterfächern emporſchaute, dann ſtieg die Wunderwelt der Tropen lockend und glänzend vor ſeinem Geiſte auf. Was der Knabe geträumt, ging dem Manne herrlich in Erfüllung. Während fünf reicher Jahre durchwanderte er mit ſeinem treuen Bonpland das Innere Süd - und Mittelamerikas; die Freunde beſtiegen den Chimborazo, weilten viele Monate, von der Welt abgeſchie - den, in den nie betretenen Urwäldern am Orinoco. Als Humboldt zu - rückkehrte, war er der einzige deutſche Mann, der ſich in jenen napoleo - niſchen Tagen die ungetheilte Bewunderung des Auslandes errang. Sein Ruhm hielt die Ehre des deutſchen Namens ſelbſt unter den franzöſiſchen Siegern aufrecht; für Bonpland wußten ſeine Landsleute kein höheres Lob, als daß er der Mitarbeiter des deutſchen Forſchers geweſen. Hum - boldt ſiedelte ſich nun in Paris an; hier bot ihm der Umgang mit La - place, Arago, Cuvier, Gay-Luſſac einen fruchtbaren Gedankenaustauſch, wie ihn ein Naturforſcher in Deutſchland noch nirgends finden konnte. Alles drängte ſich um den bezaubernden Cauſeur, ſobald er nach arbeits - reichem Tage Abends in den Salons erſchien und durch geiſtvolle Be - merkungen, Reiſeerinnerungen, Tagesneuigkeiten und boshafte Scherze bis in die tiefe Nacht hinein die Geſellſchaft in Athem hielt.

Sein Anſehen ſtieg noch, als der Verkehr zwiſchen den beiden Nachbar - völkern nach dem Kriege wieder lebendiger wurde; ſeitdem galt er bei den Pariſern als der natürliche Vertreter der deutſchen Wiſſenſchaft, alle Lands - leute an der Seine ſuchten ſeinen Schutz, und ſein Wort wog oft ſchwerer als die Fürſprache der Diplomaten. In neunundzwanzig großen Bänden theilte er der Welt nach und nach die Ergebniſſe ſeiner amerikaniſchen Fahr - ten mit. Sein Reiſebericht war das unübertroffene Muſter ſtreng wiſſen -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 682II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſchaftlicher Länderbeſchreibung. Hier zeigte er zuerſt den geognoſtiſchen Un - terſchied der beiden Erdhälften, lehrte zuerſt Länderprofile zu zeichnen und die mittlere Höhe der Continente zu beſtimmen und bewies den über - raſchten Leſern, wie niedrig die Gebirge ſind im Vergleich mit der Ge - ſammterhebung des feſten Landes. Er ſchuf die Lehre der Pflanzengeo - graphie und öffnete durch die Auffindung der Iſothermen (1817) den Weg für die neue Wiſſenſchaft der Meteorologie. Im Entdecken und Erfinden kamen ihm einzelne ſeiner Pariſer Freunde gleich; doch keiner beherrſchte einen ſo weiten Geſichtskreis. Derſelbe Mann, der die Fach - genoſſen durch die peinliche Genauigkeit ſeiner barometriſchen Höhenmeſ - ſungen in Erſtaunen ſetzte, gab den Hiſtorikern zuerſt eine Vorſtellung von der Cultur der Urvölker Amerikas, ein klares Bild von der ſpaniſchen Colonialpolitik, und beſchämte, gleichwie Boeckh, die Nationalökonomen durch ein Meiſterſtück der vergleichenden Statiſtik, die Unterſuchungen über den vorhandenen Vorrath an edlen Metallen. Durch Humboldts Vorbild und perſönliche Belehrung empfing auch Ritter die erſten Aufſchlüſſe über die eigentliche Aufgabe der Geographie.

Gleich Humboldt hatte ſich ſein Landsmann Leopold v. Buch in dem philoſophiſchen Rauſche der Zeit die Luſt und Kraft zum Beob - achten des Wirklichen gerettet: auch er ein Ariſtokrat, durch reichen Be - ſitz vor der Kleinlichkeit des deutſchen Gelehrtenlebens bewahrt, und doch ſo ganz anders geartet als jener glänzende Redekünſtler der Pariſer Sa - lons: ein naturwüchſiges Genie, offenherzig, derb, geradezu, ein frei - müthiger märkiſcher Landjunker. In allen Bergwinkeln Europas, von Lappland bis zu den Abruzzen war der rüſtige Fußwanderer zu Hauſe; die feinen Veräſtelungen des Hochgebirges am buchtenreichen Fjord von Chriſtiania ſtanden ſo klar vor ſeinen Augen, wie die beſcheidenen Sand - hügel ſeines heimiſchen Flämings. Durch ihn und Humboldt wurde die Geologie von Grund aus umgeſtaltet: ſie widerlegten die neptuniſtiſche Doktrin ihres gemeinſamen Lehrers Werner und erwieſen die vulka - niſche Entſtehung der höchſten Gebirge. Mit Kummer ſah Goethe, wie ſein geliebtes poſeidaoniſches Reich alſo durch die tollen Strudeleien des Plutonismus zerſtört wurde. Die Erdfreundſchaft des Dichters wur - zelte im Gemüthe. So hoch er auch über der Phantaſterei des großen Haufens der Naturphiloſophen ſtand: es war doch ſeine poetiſche Welt - anſchauung, die ihn zur Erforſchung der Natur trieb. Ganz voraus - ſetzungslos ging er weder an die Farbenlehre noch an die Geologie heran; und wie treu er auch jede Erſcheinung der Natur beobachtete, ſchließlich nahm er doch nichts als erwieſen an, was den Grundanſchauungen ſeiner gelaſſenen Lebensweisheit widerſprach. Die Lehre des Plutonismus blieb ihm unheimlich; denn ſein Gefühl verlangte, daß die Beſte der Erde ſich langſam, ohne plötzliche Erſchütterungen, aus der Lebensfeuchte herausge - bildet haben mußte.

83Schelling.

Wenn der deutſchen Naturforſchung gelang, die Philoſophie in ihre Schranken zurückzuweiſen, dann durfte ſie wohl hoffen die Nachbarvölker dereinſt noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr ſchon jetzt nicht. Der Hallenſer Meckel war in der vergleichenden Anatomie ſchon weit über Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre 1810 die Möglichkeit des elektriſchen Telegraphen behauptet; und in Göt - tingen lebte ſchon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme der reinen Theorie verſunken, der Mathematiker Gauß, zu deſſen Größe ſelbſt Humboldt mit ſcheuer Ehrfurcht aufblickte einer jener zeitloſen Denker, deren Wirkſamkeit erſt in dem Leben der kommenden Geſchlechter ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik ſei die Königin der Wiſſenſchaften, und ſeine Zahlentheorie die Königin der Mathematik.

Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausſpruch that: die Philoſophie iſt ihre Zeit in Gedanken gefaßt, ſo hatte er mindeſtens den Charakter ſeines Zeitalters recht verſtanden. Faſt in der geſammten geiſtigen Ar - beit der Epoche, in den phantaſtiſchen Verirrungen der Naturwiſſenſchaft wie in den fruchtbaren Entdeckungen der Hiſtoriker verrieth ſich der mäch - tige Einfluß der Ideen Schellings. Seine philoſophiſche Lehre beherrſchte noch die deutſchen Gedanken, bis ſie erſt in den zwanziger Jahren durch Hegels Syſtem vom Throne geſtoßen wurde; ſelbſt die eigenthümlich vor - nehme Haltung dieſer Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor - bild des ſtolzen Philoſophen, der alle unheiligen Sohlen ſo herriſch von der Schwelle ſeines Tempels abwies. In der That konnte dem Denkerſtolze der Deutſchen kaum eine größere Genugthuung bereitet werden als durch die Lehre dieſes unendlich empfänglichen Geiſtes, der die Einheit des Realen und Idealen behauptete, die Natur als den ſichtbaren Geiſt, den Geiſt als die unſichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutſchen Philoſophie ſchien gelöſt, die Identität von Sein und Denken endlich er - wieſen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich geſehen, ohne ihr ſelbſtändiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen, wie ſich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na - tur und der Geſchichte. So ward ihm Alles was da war und iſt und ſein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge der Erſcheinungen entfaltete ſich das eine göttliche Selbſtbewußtſein: vom erſten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchſten Lebensſäfte iſt eine Kraft, ein Wechſelſpiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer höh’rem Leben. Neben Fichtes einſeitigem Idealismus erſchien dies all - umfaſſende Syſtem ebenſo großartig und überlegen, wie Goethe neben Schiller ſo lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken - bau nicht auf ſicheren Beweiſen, ſondern nur auf den kühnen Behaup - tungen eines genialen Kopfes ruhte.

Mit Schelling begann jene krankhafte Ueberhebung der Speculation, die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unſerer6*84II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlich werden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver - ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen, wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt - lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. Wer ſich zu der Idee des Univerſums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweiſe, welche der atomiſtiſche Gelehrte mühſam aus den Schachten der empiriſchen Welt emporgrub; er gewann aus der Anſchauung jener Idee ſelbſt unmittelbar die Kraft, die Natur zu ſchaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben.

Während ſeines Aufenthalts in Jena hatte ſich Schelling lange allein dem Ausbau ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems gewidmet. Erſt in den geiſtvollen Vorleſungen über das akademiſche Studium (1803) wandte er ſich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geſchichte zu. Ein glücklicher Inſtinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung der Zeit. Er erkannte jetzt, daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Le - ben im Staate der Punkt ſei, um welchen ſich Alles bewegt , und arbeitete dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung ſeiner ge - ſchichtlichen Philoſophie . Die Naturphiloſophie blieb fortan ſeinen Schü - lern überlaſſen und verfiel bald gänzlich in myſtiſche und magiſche Spielerei; der Wundermann Ennemoſer ſah ſchon die Zeit kommen, da die Prieſter, im glücklichen Alleinbeſitze der magnetiſchen Heilkunde, wieder Leib und Seele der Völker beherrſchen würden. Der Meiſter ſelbſt aber gelangte, da er in die hiſtoriſche Welt einkehrte, zu den fruchtbarſten und geſundeſten Gedanken ſeines Lebens; ſeinem Künſtlergeiſte kamen wirklich Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Weſen der Dinge unmittelbar vor die Augen führten.

Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens ergab ſich ihm mit Beſtimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verſtehen ſeien. Die voll - endete Welt der Geſchichte fand er in dem Staate, dem großen Kunſtwerke, das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menſchen, ſich ſelber Zweck ſei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem äußeren Leben der Menſchheit verwirkliche. Manche köſtliche Ausſprüche ließen erkennen, wie tief er in das innerſte Leben der Geſchichte einge - drungen war; ſeinem bildungsſtolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu: ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöſt, verliert mit dem Dunkel auch die Stärke und jenes barbariſche Princip, das die Grundlage aller Größe und Schönheit iſt. Jedoch zum Abſchluß gelangte ſeine Ge - ſchichtsphiloſophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng -85F. Baader.ling einſtmals oft zu übereiltem Schaffen verführt und ſtimmte jetzt den Mann ſchweigſam. Nur durch ein vollkommenes Werk meinte der Hochmü - thige noch ſich ſelber und der ſtaunenden Welt genügen zu können. Immer wieder verhieß er unter dem Hohngeſchrei ſeiner liberalen Gegner: wie ich jetzt reden werde, wird man ſehen; immer wieder ward ſein großes Werk über die Weltalter angekündigt, nie vollendet. Denn ſeiner un - ruhigen Phantaſie wurden die harten Thatſachen der Geſchichte auf die Dauer doch unbequem. Von ſeinen Weltaltern zog ihn die künftige Welt , die ſo viel zu ahnen und zu weiſſagen gab, ungleich ſtärker an als die Welt der wirklichen Geſchichte. Am Liebſten aber verweilte er bei der Betrachtung der Urzeit und ſchilderte, im ſcharfen Gegenſatze zu dem unbedingten Fortſchrittsglauben der Aufklärung, wie die glückliche Menſchheit in jenem Zeitalter urſprünglicher Unſchuld durch den Unter - richt höherer Geiſter die Geheimniſſe der Religion empfangen habe. Bald kehrte der Vielbewegliche auch der Hiſtorie wieder den Rücken und verlor ſich in die theoſophiſchen Probleme der Offenbarungsphiloſophie; ſeine ge - ſchichtsphiloſophiſchen Ideen aber lebten fort in den Werken von Savigny, Ritter und Creuzer.

Schelling konnte, ſelbſt wenn ſeine Phantaſie in’s Ungemeſſene ſchweifte, den proteſtantiſchen Schwaben niemals ganz verleugnen. In der chriſt - lichen Philoſophie des Baiern Franz Baader hingegen lebte die ganze Unfreiheit der mittelalterlichen Scholaſtik wieder auf. Der geiſtreiche Sonderling nahm die katholiſche Dogmatik zur Vorausſetzung wie zum Ziele ſeines Denkens, und bekämpfte gleichwohl das Papſtthum und die Jeſuiten ebenſo leidenſchaftlich wie den Liberalismus, die Aufklärung und die Staatsallmacht; in der Vereinigung der römiſchen, der griechiſchen und der evangeliſchen Kirche meinte er das myſtiſche Dreieck, den wahren Katholicismus gefunden zu haben. Statt der angeblich mechaniſchen Sy - ſteme ſeiner Vorgänger dachte er eine dynamiſche Philoſophie, ſtatt der heilandloſen und darum heilloſen Moral Kants eine neue, auf Phyſik und Religion begründete Ethik zu ſchaffen und gerieth dabei, obwohl er manche Verirrungen liberaler Verſtandesflachheit mit treffenden Worten widerlegte, ſelber in ein ſo krauſes Gewirr magiſcher Vorſtellungen, daß ſo - gar der ewig aufgeregte romantiſche Enthuſiaſt Steffens das fratzenhafte Treiben des Münchener Myſtagogen nicht mehr mit anſehen mochte. Wie er einſt den Czaren Alexander zur Stiftung der heiligen Allianz ange - regt hatte, ſo ſuchte er ſein Leben lang das Heil der Völker in einer un - klaren Vermiſchung religiöſer und politiſcher Ideen; ſein Staatsideal blieb die wahre Theokratie . Von Kant, dem deutſcheſten der Philoſophen, wendete ſich die romantiſche Ueberſchwänglichkeit erſchreckt ab. Statt ſeiner ward jetzt Jakob Böhme wieder als der philosophus teutonicus gefeiert, der tiefſinnige ſchwärmeriſche Theoſoph, der einſt dem wüſten Geſchlechte des dreißigjährigen Krieges ſein geheimnißvolles Ueberall ſieheſt Du Gott! 86II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.gepredigt hatte. Als Fouqués Regiment im Frühjahrsfeldzuge 1813 nahe der Landskrone ein Gefecht beſtand, da rief der romantiſche Poet in ſeliger Verzückung: hier ſei es ſchön zu ſterben, im Angeſichte des hei - ligen Berges, auf deſſen Gipfel der Herrgott zuerſt dem Schuſter von Görlitz erſchienen!

Wo waren ſie hin, jene Tage der allmächtigen Aufklärung, da der Gegenſatz der Glaubensbekenntniſſe ganz verbleicht, alles kirchliche Leben durch die weltliche Bildung überwuchert ſchien und der mögliche Unter - gang des Chriſtenthums von Freund und Feind ſchon mit philoſophiſcher Gelaſſenheit beſprochen wurde! Die erſchütternden Erfahrungen des Zeit - alters der Revolution hatten in allen Völkern das ſchlummernde religiöſe Gefühl mächtig aufgeregt; aber mit dem lebendigen Glauben erwachten auch hierarchiſche Beſtrebungen, die man längſt erſtorben wähnte, und die finſteren Leidenſchaften des Glaubenshaſſes, des Fanatismus, des Aberglaubens. Das neue Jahrhundert erwies ſich mit jedem Jahre mehr, im ſcharfen Gegenſatze zu ſeinem Vorgänger, als ein Zeitalter endloſen kirchlichen Unfriedens, ſo zerklüftet und verworren wie kaum ein zweites Jahrhundert der Kirchengeſchichte: reich an geſundem religiöſen Leben, doch ebenſo reich an Unglauben, Weltſinn, Gleichgiltigkeit, Verzweiflung; voll ſtiller Sehnſucht nach einer reineren Form des Chriſtenthums und doch unfähig zur Verſöhnung der erbitterten kirchlichen und kirchenfeindlichen Parteien, die immer nur durch das Gefühl der eigenen Schwäche und durch das gebieteriſche Ruhebedürfniß des bürgerlichen Lebens in Schran - ken gehalten wurden. Nirgends erſchien das Gewirr dieſer kirchlichen Ge - genſätze ſo bunt und vielgeſtaltig wie in dem Heimathlande der Refor - mation, das von jeher gewohnt war, die Fragen des Glaubens mit ſchwe - rem Ernſt zu behandeln, die Ueberzeugung des Gewiſſens freimüthig aus - zuſprechen. Die deutſche Nation zerfiel in ehrliche Gläubige und ehrliche Freidenker; die Zahl der Heuchler blieb hier immer gering.

Da die Durchſchnittsbildung ſtets um einige Schritte hinter dem Stande der Wiſſenſchaft zurückbleibt, ſo herrſchte in der Maſſe der evan - geliſchen Geiſtlichkeit und in der gebildeten Laienwelt noch immer jener bequeme, menſchenfreundliche Rationalismus, der mit ſeinem harten Ver - ſtande kurzerhand alles Unvernünftige von den Dogmen losſchälte und in ſeiner Selbſtzufriedenheit gar nicht bemerkte, daß er mit der Schale auch den Kern des chriſtlichen Glaubens verloren hatte: auch die tief - ſinnigen Lehren von der Sünde und der Erlöſung, welche dem germaniſchen Gemüthe allezeit die theuerſten waren. Durch dieſe Heilslehre hatte einſt das Chriſtenthum zuerſt den Weg gefunden zu den Herzen der Ger - manen, die allein unter allen Heidenvölkern ſchon an die dereinſtige Wie - dergeburt der ſündigen Welt glaubten; von dem zerknirſchenden Bewußt - ſein der eigenen Sünde war Luther ausgegangen, als er die Reinigung der verweltlichten Kirche unternahm; und wie nachdrücklich hatte noch87Der Rationalismus.Kant von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchengeſchlechts geſprochen. Der gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine ſchwache Erinne - rung an dieſe chriſtlichen Grundgedanken, ſondern glaubte harmlos an die Güte der menſchlichen Natur und beruhigte ſich bei einer weltlichen Werk - heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtſchaffenheit des Wandels genügte ihm zur Seligkeit. Gleichwohl beſaß er weder den Muth noch die wiſſenſchaft - liche Kraft um den ſteilen Weg, welchen einſt Leſſing und der Wolfen - bütteler Fragmentiſt gewieſen, weiter zu verfolgen und ſich die kritiſche Methode der neuen philologiſchen Sagenforſchung anzueignen; er wagte nicht den hiſtoriſchen Urſprung des Neuen Teſtaments ernſthaft zu unter - ſuchen, ſondern nahm die Bibel als ein Gegebenes hin und begnügte ſich ihre Ausſprüche ſo lange umzudeuteln, bis ſie mit den Naturgeſetzen im Einklang zu ſtehen ſchienen.

Der lauteſte und unduldſamſte Vorkämpfer dieſer Richtung war Paulus in Heidelberg, einige Jahre vor Schelling in dem nämlichen Pfarrhauſe zu Leonberg in Schwaben geboren, der Todfeind dieſes ſeines Lands - mannes und aller Lehren, welche irgend über den platten Verſtand hinaus - reichten. Wie fühlte er ſich glücklich in ſeinem Freiſinn, wenn er die Auf - erſtehung für ein Erwachen vom Scheintode, das Wunder von Kana für den gelungenen Spaß eines vergnügten Hochzeitsgaſtes erklärte. Mancher rationaliſtiſche Lehrer rief ſogar die Geheimlehren der Naturphiloſophen zu Hilfe und ſchilderte den Heiland als einen magnetiſchen Arzt; das natür - liche Wunder erſchien dieſen Köpfen immerhin noch erträglicher als das übernatürliche. Die glaubensfreudigen alten Kirchenlieder erſchreckten die nüchterne Mattherzigkeit; ſie wurden durch läppiſche Aenderungen verdünnt oder gänzlich aus den Geſangbüchern entfernt. Wie viel ſittſamer als das gewaltige O Ewigkeit, Du Donnerwort klang doch das neue wohlerzogene Rationaliſtenlied: ich ſterb im Tode nicht, mich überzeugen Gründe! Von jeher hatte die evangeliſche Kirche den Cultus neben der Lehre vernachläſſigt. Unter der Herrſchaft des Rationalismus verſchwand aus dem Gottes - dienſte vollends Alles was das Gemüth erquickte und die Phantaſie er - regte; die geiſtliche Lehre aber ſank zur weltlichen Belehrung herab. Die Kanzelredner verſtanden nicht mehr die beladenen Gewiſſen zu erbauen und zu erheben, ihnen Troſt zu ſpenden aus der Fülle der Verheißung; ſie ergingen ſich in breiten moraliſchen Betrachtungen, ſie erläuterten was ſich der vernünftige Chriſt bei den einzelnen Dogmen zu denken habe, und verſchmähten ſogar nicht an geweihter Stätte wohlgemeinte Anwei - ſungen für den Kartoffelbau und die Schafzucht zu geben. Ihre Gottes - häuſer verödeten, die guten Köpfe vermochten in dieſer dünnen Luft nicht mehr zu athmen. Die Pflichten der Seelſorge wurden vernachläſſigt; jeder nichtige Vorwand reichte aus um die Erlaubniß zur Eheſcheidung bei den aufgeklärten Pfarrern und Conſiſtorien zu erlangen. Auch der alte offen - barungsgläubige Supranaturalismus, der namentlich in Württemberg unter88II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.der Leitung des Prälaten Bengel blühte, war von der trockenen Verſtän - digkeit der Rationaliſten angekränkelt. Beide Schulen lebten in einem unwahren Scheinfrieden mit der Wiſſenſchaft, ſie ſetzten die nothwendige Uebereinſtimmung von Glauben und Wiſſen ſtillſchweigend voraus. Beide bewegten ſich noch in einem Gedankenkreiſe, welchen die lebendigen Kräfte der Literatur längſt verlaſſen hatten. Der unfruchtbare Streit über die Vernünftigkeit der einzelnen Dogmen berührte nur das Aeußere der Re - ligion, nicht ihr Weſen.

Unterdeſſen erzog Schleiermacher eine neue Theologenſchule, die von dem Meiſter lernte mit dem jungen wiſſenſchaftlichen Leben der Nation wieder Schritt zu halten. Er hatte einſt das weckende Wort geſprochen, das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurück - rief und das Gottesbewußtſein über das Gebiet des Wiſſens und des Han - delns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er jetzt dieſen fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften ſowie in ſeinen meiſter - haften Berliner Kathedervorträgen wiſſenſchaftlich ausgeſtaltete, wurde er der Erneuerer unſerer Theologie, der größte aller unſerer Theologen ſeit dem Jahrhundert der Reformation; und noch heute gelangt kein deutſcher Theo - log zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers Ideen abgerechnet hat.

Das Geheimniß langanhaltender geiſtiger Wirkſamkeit liegt zumeiſt in der harmoniſchen Verbindung ſcheinbar entgegengeſetzter Gaben; und ſelten war ein ſchöpferiſcher Kopf zugleich ſo vielgeſtaltig und ſo harmoniſch, wie dieſer Proteus, der in drei grundverſchiedenen Zeiten, in der äſthetiſchen, der patriotiſchen und der wiſſenſchaftlichen Epoche alle Wandlungen des Berliner Lebens treu wie ein Spiegel wiedergab und doch nie ſich ſelbſt verlor. Unter den beſchaulichen Schwärmern der herrnhuter Brüdergemeinde hatte er ſeine erſten beſtimmenden Eindrücke empfangen, und bis zum Ende beſeligte ihn das Bewußtſein perſönlicher Gemeinſchaft mit ſeinem Erlöſer; aber die Innigkeit ſeines religiöſen Gefühls ward in Schranken gehalten durch einen ſchneidigen Verſtand, der aller dialektiſchen Künſte Meiſter war und ſich gern in beißendem Witze erging. Er hatte einſt, als er die Briefe über Schlegels Lucinde ſchrieb, ſich ſehr weit in die unwahre Ge - fühlsſchwelgerei der Romantik verirrt und trotzdem eine Reinheit des Her - zens bewahrt, die mit den Jahren allmählich ſein ganzes Weſen ver - klärte und den unſcheinbaren kleinen Mann wie einen Patriarchen er - ſcheinen ließ. Der Ueberſetzer Platons war heimiſch in allen Tiefen der Speculation und darum im Stande die Philoſophie mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, ſobald ſie ſich erdreiſtete, das Abgeleitete an die Stelle des Urſprünglichen zu ſetzen und die Welt der Empfindung aus dem Begriffe zu erklären. Er ſuchte alles Menſchliche religiös zu behandeln und das ganze gelehrte Wiſſen der Zeit für die Theologie nutzbar zu machen; und doch konnte er nicht leben ohne die volksthümliche Thätigkeit des Predigers. 89Schleiermacher.Um ſeine Kanzel verſammelte ſich noch immer die beſte Geſellſchaft Ber - lins, aber auch die Armen im Geiſt erbaute ſeine herzliche Rede; wie unver - geßlich ehrwürdig erſchien er Allen, da er vor dem Sarge ſeines Söhn - leins Nathanael ſelber die Leichenrede hielt, ſo ganz in Schmerz verloren um das Stück eigenen Lebens, das da vor ihm lag, und doch ſo ſtark in dem Troſte, der allein tröſtet. Wer ſeine tiefgemüthlichen Briefe an den wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im perſönlichen Verkehre mit den zahlreichen Freunden ſo liebevoll auf die Eigenart eines Jeden ein - gehen ſah, der mochte leicht glauben, dieſe empfängliche Natur verlange nur ſich hinzugeben in innigem Gedankenaustauſch; und doch konnte Schleier - macher nur im öffentlichen Leben ſich ganz genug thun, ſeine Staatsge - ſinnung blieb in den Tagen der politiſchen Ermattung ebenſo lebendig wie einſt in den Zeiten des patriotiſchen Zornes. Die Unkundigen und die Gegner ſchalten, er ſchillere in allen Farben, und doch ſtand er mit ſeinem beſonnenen Freimuth immer muthig auf dem Plane, ſobald er ein heiliges Gut ſeines Volkes bedroht ſah, ein ſtahlharter, ganz mit ſich einiger Charakter.

Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte ſich nahe mit den Ideen der neuen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft. War die Wurzel der Religion im Gemüthe zu ſuchen, ſo ergab ſich von ſelbſt der Schluß, daß die Aeußerungen des Gottesbewußtſeins verſchieden ſein müſſen. Die Dogmen erſchienen demnach als ſubjective Gemüthswahrheiten, als Aus - ſagen des frommen Gefühls über ſeine Vorſtellungen von Gott. Der Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, dieſe Geſtaltungen des chriſt - lichen Gefühls in ihrer geſchichtlichen Nothwendigkeit zu begreifen. Sie ſollte nicht mehr in gehäſſiger Polemik die einzelnen Bekenntniſſe des Chriſtenthums bekämpfen und verdammen, ſondern ſie alle als höhere oder niedere Formen des chriſtlichen Selbſtbewußtſeins zu verſtehen ſuchen; denn auch Schleiermacher hatte ſich in ſeiner Weiſe, unabhängig von Schelling und Savigny, die Erkenntniß der hiſtoriſchen Entwicklung erworben und unterſchied ſcharf zwiſchen dem was durch die menſchliche Natur werde und dem was der Menſch mache.

Damit vollführte er auf dem theologiſchen Gebiete eine ähnliche Grenz - berichtigung, wie einſt Kant im Bereiche der Philoſophie; er ſicherte der Theologie einen Boden, auf dem ſie ebenſo unzweifelhafte wiſſenſchaftliche Ergebniſſe gewinnen konnte, wie alle anderen hiſtoriſchen Fächer. Die Frei - heit des Chriſtenmenſchen faßte er ganz ſo weitherzig auf wie einſt Luther in ſeinen erſten Schriften: das lebendige Gottesbewußtſein hatte von der freien hiſtoriſchen und philoſophiſchen Forſchung nichts zu fürchten. Die chriſtliche Geſinnung war ihm nichts anderes als die Menſchlichkeit in ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des Menſchen in Streit gerathen. Doch ebenſo nachdrücklich hob er die Wahr - heit hervor, daß alle Religion poſitiv iſt, und das fromme Abhängigkeits -90II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.gefühl nur in der Gemeinſchaft der Gläubigen wach erhalten werden kann. In der Moral ließ er, freier als Kant, die Perſönlichkeit zu ihrem vollen Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, ſondern ihre Ver - klärung durch den lebendigen Geiſt hieß ihm ſittlich; auch verhehlte er nicht, daß die Tugenden der chriſtlichen Selbſtverneinung an den antiken Tugenden der Selbſtbehauptung ihre Ergänzung finden müſſen. Die Schwächen ſeiner Lehre verriethen ſich freilich ſobald er verſuchte nachzu - weiſen, welche Thatſachen der heiligen Geſchichte nothwendig im chriſtlichen Bewußtſein enthalten ſeien; dann gerieth er in’s Künſteln und mußte er - fahren, wie unmöglich es iſt, die poſitiven Dogmen unmittelbar aus der Idee abzuleiten. Aber wie wenig bedeuteten ihm die Dogmen und die Formen des Cultus neben dem Segen der religiöſen Gemeinſchaft! Als die Kämpfe um die evangeliſche Union entbrannten, ward er der tapferſte Vertheidiger der freien Kirchenverfaſſung und der Vereinigung der prote - ſtantiſchen Bekenntniſſe.

Auch unter den Laien bekundeten ſich überall die Anzeichen eines regeren chriſtlichen Lebens, das der Herrſchaft des Rationalismus ent - wuchs. Es ließ ſich doch nicht vergeſſen, wie andächtig einſt in den Ta - gen der großen Siegesbotſchaften das deutſche Heer den Worten des Dich - ters gelauſcht hatte: kannſt faſſen Du den reichen Segen von nah und fern? biſt Du nicht faſt davor erlegen, Du Volk des Herrn? Selbſt die Weltkinder hatten damals die alte einfältige Wahrheit, daß nur fromme Völker frei und tapfer ſind, in tiefſter Seele empfunden. Aus den ſchwungvollen Liedern vom alten deutſchen Gott ſprach zwar nirgends eine beſtimmte confeſſionelle Parteigeſinnung, aber eine innige Freudigkeit des Gottesbewußtſeins, die mit der Gemüthsarmuth des Rationalismus nichts gemein hatte. Den meiſten der Männer, welche jene Zeit des Gottesgerichts mit klarem Bewußtſein durchlebt, blieb allezeit eine geho - bene religiöſe Stimmung, mochten ſie nun, wie Stein, Arndt, Savigny, Aſter, in dem Glauben der Väter ihren Frieden finden oder, wie Niebuhr, ſehnſüchtig nach dem Glauben ſuchen. Die ſtreitbare Jugend vollends trug Silberkreuze auf den teutoniſchen Mützen und erging ſich in chriſtlicher Begeiſterung; ſeit dem Zeitalter der Reformation hatten die deutſchen Univerſitäten nicht mehr ein Studentengeſchlecht geſehen, das die reli - giöſen Fragen ſo ernſt nahm. Wohl hielt ſich die Chriſtlichkeit der feu - rigen Teutonen nicht frei von widerwärtiger Prahlerei noch von purita - niſcher Geſchmackloſigkeit: das Gebet bei der Eröffnung des Kneipabends hinderte nicht immer, daß die weihevoll begonnene Verſammlung zuletzt in ein wildes Zechgelage ausartete; und mit vollem Rechte ſchritt das Ber - liner Publikum handgreiflich gegen die jungen Barbaren ein, als die Stu - denten, bei der Aufführung von Zacharias Werners Weihe der Kraft, den auftretenden Martin Luther mit dem Drohrufe der Reformator von der Bühne! begrüßten. Manchem der lärmenden Chriſto-Germanen diente91Erwachen des religiöſen Gefühls.die Religion nur als ein politiſches Schlagwort, da nun einmal Deutſch - thum und Chriſtenthum für gleichbedeutend galten, Einzelnen gar nur als ein Deckmantel für den Judenhaß, der zum guten Tone gehörte.

Gleichwohl lag ein geſunder Kern in der religiöſen Schwärmerei des jungen Geſchlechts. Die Deutſchen erkannten endlich wieder, wie feſt ihre ganze Geſittung mit dem Chriſtenthum verwachſen war, und dieſe Erkennt - niß griff ſo unaufhaltſam um ſich, daß eine unbefangen heidniſche Geſin - nung, wie ſie einſt Winckelmann hegte, für die Söhne des neuen Zeitalters bald zur Unmöglichkeit wurde. Die Jugend drängte ſich mit Vorliebe zu den Lehrern, welche für die Sehnſucht des gläubigen Gemüths ein Ver - ſtändniß zeigten. In Heidelberg fand der mit Creuzer eng befreundete ehrwürdige Daub, ein frommer geiſtvoller Myſtiker, der das Dogma durch die Speculation wiederherzuſtellen ſuchte, bei den Studenten ungleich mehr Anklang, als die Rationaliſten. Seine Anhänger verglichen ihn mit Ha - mann, nannten ihn den Magus des Südens. In Jena gewann Fries, ein Philoſoph ohne Schärfe und Tiefſinn, trotzdem die Herzen der Jugend, weil er mit ehrlichem Patriotismus und wiſſenſchaftlichem Ernſt eine ebenſo aufrichtige Frömmigkeit verband. Seine Dialoge Julius und Euagoras blieben einige Jahre lang das beliebte Erbauungsbuch der teutoniſchen Stu - denten, denn hier lag die Kantiſche Philoſophie ganz ebenſo harmlos und unvermittelt neben der herrnhutiſchen Glaubensinbrunſt wie in den Köpfen der jungen Leſer ſelber.

Faſt in jeder deutſchen Landſchaft beſtanden noch einzelne ſtreng alt - gläubige Gemeinden, die mit zäher Treue an ihrem bibelfeſten Geiſtlichen hingen und der Mißgunſt der rationaliſtiſchen Conſiſtorien einen ſtillen, unüberwindlichen Widerſtand entgegenſtemmten. So namentlich im Wup - perthale und unter den grübleriſchen Schwaben, aber auch in Sachſen, in Pommern, in Altpreußen. In Breslau ſammelten ſich die Streng - gläubigen um Hendrik Steffens, den ehrlichen unſteten Schwärmer, der das harte Lutherthum ſeiner norwegiſchen Heimath mit den Phantaſie - gebilden der deutſchen romantiſchen Philoſophie zu verſchmelzen wußte. In der Berliner vornehmen Geſellſchaft bildeten einige begabte junge Männer, die einſt als Offiziere im Kriege zum Herrn geführt wurden , einen gläubigen Freundeskreis: die Gebrüder Gerlach, Lancizolle, Le Coq, Thadden, Senfft-Pilſach, Goetze, Karl v. Röder u. A. Hier verlebte der Kronprinz erbauliche Stunden, die für ſeine kirchliche und politiſche Geſinnung verhängnißvoll werden ſollten; hier empfing er Hilfe für ſeine unermüdliche Wohlthätigkeit, hier ward auch der Plan für die Begrün - dung des Berliner Miſſionsvereins zuerſt beſprochen. In allen Werken chriſtlicher Barmherzigkeit zeigte ſich die ſtreng kirchliche Richtung dem erſchlafften Rationalismus weit überlegen; zu ihr gehörte der Elſaſſer Oberlin, der unvergeßliche Wohlthäter des Steinthals, zu ihr Falk in Weimar, der zuerſt eine Rettungsanſtalt für verwahrloſte Kinder eröffnete. 92II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Auch an hochbegabten Kanzelrednern gebrach es ihr nicht; in Holſtein blieb es noch nach Jahrzehnten unvergeſſen, mit welcher gewaltigen Beredſamkeit Claus Harms, der feurige lutheriſche Eiferer, im volksthümlichen Platt zu ſeinen Bauern ſprach. Im Norden galt der Wandsbecker Bote, der ge - müthvolle alte Claudius, am Oberrhein der fromme Jung Stilling als der Führer der Stillen im Lande. Beide ſtarben ſchon zu Anfang der Friedensjahre, doch ihr Wort und Vorbild wirkte mächtig fort. Der Pietis - mus und die ſtreng confeſſionellen Parteien gewannen mehr und mehr Boden, zumal auf dem flachen Lande, bis ſich endlich das Kirchenregiment ſelber genöthigt ſah mit dieſen neuen Mächten zu rechnen.

Der natürliche Rückſchlag gegen die rationaliſtiſche Flachheit war ein - getreten; aber ſchon in dieſen erſten Anfängen eines kräftigen kirchlichen Lebens verriethen ſich krankhafte Beſtrebungen, die dem confeſſionellen Frieden unſeres paritätiſchen Volkes verderblich werden mußten. Während manche der Rechtgläubigen den freieren Richtungen des Proteſtantismus mit unchriſtlicher Härte begegneten und die evangeliſche Union leiden - ſchaftlich bekämpften, fühlten ſie ſich, bewußt oder unbewußt, zur römiſchen Kirche hingezogen. Einer der namhafteſten lutheriſchen Pietiſten, der bern - burgiſche Prinzenerzieher Beckedorff veröffentlichte im Jahre 1818 Briefe über die Wiedervereinigung der chriſtlichen Kirche und fand, obgleich die römiſche Geſinnung aus jeder Zeile ſprach, den warmen Beifall ſeiner Glaubensgenoſſen bis er einige Jahre ſpäter ſelber zur römiſchen Kirche übertrat. Die chriſtliche Religionsgeſchichte des Convertiten Friedrich Stol - berg, ein durch und durch katholiſches Buch, ward in den Conventikeln der evangeliſchen Pietiſten laut geprieſen, und der Schwiegerſohn des Wandsbecker Boten, der wackere Buchhändler Perthes, ein treuer Prote - ſtant, verbreitete die Schrift mit heiligem Eifer. Ein Herzensfreund Jung Stillings, Max v. Schenkendorf, der tapfere Dichter des Befreiungs - krieges, ſang ſogar ſchwärmeriſche Lieder auf Maria, ſüße Königin und feierte den fanatiſchen Führer der katholiſchen Liga: feſter treuer Max von Baiern . Und dazu der Zauberſpuk, die Geiſterſeherei, die weiſſa - gende Verzückung aller der Schwarmgeiſter, welche bald hier bald dort das Volk beunruhigten. Die meiſten von ihnen ſtanden mit den böhmiſchen Brüdern irgendwie in Verbindung; ihr Weizen blühte da am üppigſten, wo der Boden durch den Rationalismus am Tiefſten umgepflügt war. Jene unbeſtimmte Aufregung, die ſich immer in Zeiten großen Schickſals - wechſels der Volksmaſſen bemächtigt, wirkte zuſammen mit den Thorheiten der Naturphiloſophen. Wie einſt nach Luthers Auftreten die Bauern von dem tauſendjährigen Reiche träumten, ſo ſprachen die Erweckten nach Na - poleons Sturz von dem Falle des ſchwarzen Engels und des Thieres mit den ſieben Hörnern. In allen Ländern deutſcher Zunge, vom Oberrhein bis nach Livland, tauchten einzelne geheimnißvolle Teufelsbanner und fromme Schlafwandler auf; die Schwärmerei ſteigerte ſich oft bis zum Wahnſinn. 93Schwarmgeiſterei.Frau v. Krüdener durchzog die Schweiz, das Elſaß und das badiſche Land um überall zur Buße zu mahnen und die Armen zu ſpeiſen. Obwohl ihre Predigten ebenſo hohl und weinerlich ausfielen wie einſt ihr Roman Va - lerie, ſo fand ſie doch Anklang bei den Maſſen; Metternich verklagte ſie wegen Ruheſtörung bei ihrem Freunde, dem Czaren Alexander*)Kruſemarks Bericht, Wien 4. Oktbr. 1817., und die badiſche Polizei mußte ſchließlich die Demagogin ausweiſen. Die Luſt am Wunderbaren lag in der Luft; die ſinnigſten Naturen widerſtanden ihr am Wenigſten. Selbſt Schleiermachers treffliche Frau mochte den erbau - lichen Verkehr mit einer geſegneten Somnambule nicht entbehren, und ihr Gatte verhielt ſich nicht ſchlechthin ablehnend.

Ebenſo reich an Gegenſätzen erſchien das Leben der katholiſchen Kirche. Die meiſten Proteſtanten wähnten die Macht des Papſtthums ſchon völlig gebrochen. Wie ſollte auch dieſer römiſche Stuhl jemals ſeine Weltherr - ſchaftspläne wieder aufnehmen? war doch erſt vor wenigen Jahren die katholiſche Kirche in Frankreich allein durch ein Machtgebot der Staats - gewalt wiederhergeſtellt, und ſoeben erſt der Pontifex durch die Gnade der Verbündeten in das Stammgut Petri zurückgeführt worden! Den viel - geprüften Papſt Pius betrachtete man mit einem gemüthlichen Mitleid, das von Geringſchätzung nicht frei war; die conſervativen Parteien be - grüßten ihn als einen brauchbaren Bundesgenoſſen im Kampfe wider die Revolution. Selbſt der Proteſt der Curie gegen die Beſchlüſſe des Wiener Congreſſes ſtörte die Regierungen nicht in ihrer argloſen Sicherheit. In vollem Ernſt erörterte man ſchon die Frage, ob wohl nach dem Tode Pius VII. noch ein neuer Papſt gewählt werden würde.

In der That lebte die weltmänniſche Milde der vornehmen Prälaten des alten Jahrhunderts noch in einem Theile des Clerus fort; wer in ſolchen Kreiſen verkehrte, mochte leicht zu dem Wahne gelangen, der Hader der Bekenntniſſe werde ſich nach und nach von ſelbſt verlieren. Die Bibel - geſellſchaften zu Kreuznach und Neuwied wurden von vielen katholiſchen Geiſtlichen des Bisthums Trier lebhaft unterſtützt. **)Bericht des Oberpräſidenten v. Ingersleben über die Zuſtände im Großherzog - thum Niederrhein, 26. Juli 1817.In Breslau pflegten die beiden theologiſchen Facultäten wechſelſeitig den Disputationen der Schweſterkirche beizuwohnen, und in Tübingen geſchah es noch im Jahre 1828, daß eine Preisaufgabe der katholiſchen Facultät von dem evangeli - ſchen Theologen David Strauß gelöſt wurde. Unter Geiſtlichen und Laien fand der Febronianiſche Traum von der deutſchen Nationalkirche noch immer zahlreiche Anhänger; ſehr häufig vernahm man das Verlangen nach Ein - führung einer deutſchen Liturgie und Abſchaffung des Coelibats. Manche Vertheidiger der Staatsallmacht wollten das Territorialſyſtem des Tho - maſius auf die katholiſche Kirche übertragen und die Geiſtlichen nur noch als höchſt ehrwürdige Staatsdiener behandeln. Der Wortführer der94II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.nationalkirchlichen Beſtrebungen Heinrich Weſſenberg hatte bereits deutſchen Kirchengeſang in ſeiner Conſtanzer Diöceſe eingebürgert; die Proteſtanten betrachtete er duldſam als die Kirche linker Seite . Behutſamer trat Sailer dem römiſchen Stuhle gegenüber, der ehrwürdige Prälat, der durch Beiſpiel und Lehre die lebendige Frömmigkeit in der katholiſchen Kirche Baierns wieder wach rief. Aber auch er trug kein Bedenken, ſich öffentlich auf die Schriften proteſtantiſcher Theologen zu berufen; er lebte in herzlicher Freundſchaft mit vielen gläubigen Proteſtanten und theilte mit ihnen die Verehrung für Thomas a Kempis, der erſt durch Sailers Ueberſetzung den katholiſchen Gemeinden wieder bekannt wurde. Auch Overberg, der ſtreng katholiſche Erzieher des Lehrerſtandes im Münſterlande, gewann ſich durch ſeine apoſtoliſche Milde die Verehrung Steins; und die nicht minder kirchlich geſinnten Boiſſerees, denen die Kunſt nur als die Tochter der Religion erſchien, behielten doch immer Fühlung mit den Arbeiten der proteſtan - tiſchen Wiſſenſchaft. Wie dieſe Männer den Anſchauungen der evange - liſchen Pietiſten nahe ſtanden, ſo hatte andererſeits der Bonner Theolog Hermes ſich die Methode des proteſtantiſchen Rationalismus angeeignet und unternahm den unmöglichen Verſuch, das katholiſche Dogma auf die Vernunftbeweiſe der Kantiſchen Philoſophie zu ſtützen. Seine Anhänger beherrſchten die Unterrichtsanſtalten am Rhein und bemühten ſich redlich den confeſſionellen Frieden zu wahren.

Welch ein Abſtand zwiſchen den Gedanken dieſer Friedfertigen und den herrſchſüchtigen Plänen des römiſchen Stuhls! Kaum war Pius VII. in die ewige Stadt zurückgekehrt, ſo ſtellte er am 7. Auguſt 1814 durch die Bulle Sollicitudo omnium ecclesiarum den Jeſuitenorden wieder her und las ſelber die Meſſe im Geſù, vor dem Altar des heiligen Ignatius, dort wo der Meißel Le Gros den Triumph der Kirche über die Ketzerei in prahleriſchen Bildwerken verherrlicht hat. Als ihn Czar Alexander nach - träglich einlud der Heiligen Allianz beizutreten, wies der Papſt die ſchwer - lich ernſthaft gemeinte Zumuthung mit dem ganzen Stolze des rechtmä - ßigen Weltherrſchers zurück. Bald nachher wurden auch die Inquiſition und der Index der verbotenen Bücher wieder eingeführt, die Bibelgeſell - ſchaften für Teufelswerk erklärt. Die alte Kirche hatte in den Tagen der revolutionären Bedrängniß bewunderungswürdigen ſittlichen Muth bewährt und abermals erfahren, daß ihr aus dem Leiden die größte Kraft erwuchs. Jetzt ſtand ſie ſtrahlend in der Glorie des Martyriums; die romantiſche Sehnſucht der öffentlichen Meinung und die Furcht der Höfe vor der Revolution kamen ihr zu ſtatten. Selbſt in dem antipapiſtiſchen England durfte, zum erſten male ſeit Jakob II., wieder ein Cardinal in ſeiner geiſt - lichen Tracht erſcheinen. Der ſelbſtgefällige Wahn jener aufgeklärten Leute, welche das neue Jahrhundert den Leidenſchaften der Religionskriege ent - wachſen glaubten, war ſoeben erſt durch den Freiheitskampf der Spanier handgreiflich widerlegt worden; und nun brach, noch während die Monarchen95Die ultramontane Partei.in Paris weilten, über Südfrankreich die Raſerei des weißen Schreckens herein: der katholiſche Pöbel ſtürmte die Häuſer der Proteſtanten und mordete die Ketzer unter dem Rufe: laßt uns Würſte machen aus Cal - vins Blute!

Bei ſo günſtigem Winde fuhr das Schifflein Petri wieder mit vollen Segeln daher. Die Natur der Dinge zwang den römiſchen Stuhl, trotz der Sanftmuth des Papſtes und trotz der Klugheit ſeines Staatsſekretärs Conſalvi, Schritt für Schritt zu den Gedanken des Zeitalters der Gegen - reformation zurückzukehren. In Deutſchland niſteten ſich in aller Stille die erſten Jeſuiten wieder ein, und bald ward auch die zweiſchneidige Wir - kung der Seculariſationen fühlbar. Der heranwachſende plebejiſche Clerus war beſitz - und heimathlos, nicht mehr, wie die reichen adlichen Domkapitel der alten Zeit, durch politiſche Intereſſen mit dem Vaterlande verbunden. Als Helfferich und die beiden anderen Oratoren der katholiſchen Kirche auf dem Wiener Congreſſe ihre ultramontanen Anſichten ausſprachen, fanden ſie noch wenig Anklang beim deutſchen Clerus; doch ſeitdem wuchs die clericale Partei von Jahr zu Jahr unmerklich an. Sie trat noch ſehr behutſam auf, da das Beamtenthum in allen deutſchen Staaten ſie mit Mißtrauen betrachtete; ſelbſt Kaiſer Franz und Metternich ſchätzten zwar den ſtreitbaren Katholicismus als den natürlichen Bundesgenoſſen der öſterreichiſchen Partei draußen im Reiche, jedoch von der Selbſtändigkeit der Kirche wollten ſie als ſtrenge Abſolutiſten nichts wiſſen. Um ſich bei den Höfen einzuſchmeicheln, friſchte der Jeſuitismus zunächſt jene jakobitiſchen Lehren wieder auf, welche einſt das Haus Stuart in’s Verderben geſtürzt hatten: die Reformation ſei der letzte Quell aller Revolutionen, die Kirche der Hort und Halt des Königthums, denn ſie predige den leidenden Ge - horſam, ſie entbinde durch ihre myſtiſche Weihe den König von Gottes Gnaden aller Pflichten gegen ſeine Unterthanen.

Die eifrigſten Anhänger der ultramontanen Partei waren die zahl - reichen Proſelyten, welche die Romantik in das römiſche Lager hinüber - geführt hatte: ſo die geiſtreichen Gebrüder Schloſſer in Frankfurt, ſo die Grafen Stolberg in Holſtein, die mit den Clericalen des Münſterlandes in enger Verbindung ſtanden, ſo vor Allen jene mächtige Convertitenſchaar, die von Wien ihre rührigen Sendboten in’s Reich ausſchickte. Welch ein klägliches Bild geiſtigen Verfalles bot jetzt Friedrich Schlegel! In ſeinem äſthetiſchen Hochmuth hatte er ſich einſt vermeſſen: ich denke eine neue Religion zu ſtiften, es iſt an der Zeit! Derſelbe äſthetiſche Rauſch hatte ihn ſodann, als die neue Religion ſich nicht finden wollte, mitſammt ſeiner geiſtreichen Frau Dorothea Mendelsſohn und ihrem Sohne dem naza - reniſchen Maler Veit, in die Arme der römiſchen Kirche getrieben; nun war er längſt ſchon eingeroſtet in den Angeln eines fertigen Syſtems, das auf jede Frage eine Antwort bereit hielt. Wilhelm Humboldt ſah mit Entſetzen, wie in dieſem einſt ſo beweglichen Geiſte jetzt Alles abgeſchloſſen96II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.war, wie er nur noch Ketzer oder Jünger kannte und nicht mehr ver - mochte, ein freies, beſcheiden nach der Wahrheit ſuchendes Geſpräch zu führen. Dank ſeiner zunehmenden Bequemlichkeit nützte Schlegel der ultra - montanen Propaganda nur wenig. Weit fruchtbarer wirkte der Pommer Klinckowſtröm, ein liebenswürdiger romantiſcher Schwärmer; ſeine Er - ziehungsanſtalt in Wien wurde die Pflanzſchule des clericalen öſterreichi - ſchen Adels. Sein Schwager, der Augsburger Pilat, geborner Katholik und Gatte einer Proſelytin, leitete den Oeſterreichiſchen Beobachter, das amtliche Blatt Metternichs. Alle Anderen aber übertraf Adam Müller an Talent, Rührigkeit, Fanatismus; es war, als wollte der geiſtreiche, von Grund aus verlogene Sophiſt durch wüthenden Ketzerhaß den Makel ſeiner Berliner Abſtammung auslöſchen; überall wo im deutſchen Norden Um - triebe der Jeſuiten ſich zeigten, hatte er die Hände mit im Spiele. Die meiſten der Federn, welche die deutſche Politik der Hofburg vertheidigten, gehörten dieſem Convertitenkreiſe an. Nur Gentz ſelber konnte ſich zum Uebertritte nicht entſchließen, obgleich ſein Abſcheu gegen den Erzrevolu - tionär Luther immer heftiger wurde; der Kern ſeiner Bildung war doch zu feſt mit der Kantiſchen Philoſophie verwachſen.

Die aufgeklärten Proteſtanten hatten ſich längſt an die zahlreichen Converſionen gewöhnt; ſie wurden erſt aus ihrer gedankenloſen Gleich - giltigkeit aufgeſchreckt, als man von der Bekehrung des Berners K. L. v. Haller vernahm. Wer durfte dem ſtreitbaren Publiciſten, dem leidenſchaft - lichen Feinde der Revolution verargen, daß er durch die Conſequenz ſeiner politiſchen Geſinnung zum Glaubenswechſel gezwungen wurde? Aber Haller hielt ſeinen Uebertritt geheim, mit Genehmigung des Biſchofs von Frei - burg; nachher leiſtete er noch als Mitglied des Berner Rathes den Amts - eid, der ihn zur Beſchützung der reformirten Kirche verpflichtete, und da das unſaubere Geheimniß endlich durch Andere enthüllt wurde, geſtand er in einem offenen Briefe an ſeine Familie (1821) ganz unbefangen: er habe aus guten Gründen geſchwiegen, damit ſeine neue Schrift über die geiſtlichen Staaten, weil ſie ſcheinbar aus der Feder eines Prote - ſtanten hervorgegangen , um ſo ſtärker auf die Leſer wirkte! Frecher waren die ſittlichen Grundſätze des Jeſuitismus ſelten verkündigt worden. Und welche Ausſichten eröffneten ſich dem Frieden der Confeſſionen, da der Apoſtat, unter dem lauten Beifall der legitimiſtiſchen Preſſe Frankreichs, triumphirend erkärte: die Welt ſei heute nur noch zwiſchen Katholiken und Gottloſen getheilt, dieſem einen Uebertritte würden tauſende folgen, bis die Menſchheit gänzlich den Mächten der kirchlichen und der politiſchen Revolution entriſſen ſei. Eine Fluth von Streitſchriften erſchien. Der milde Leipziger Kanzelredner Tzſchirner, der rationaliſtiſche Philoſoph Krug und andere Proteſtanten ſprachen in treuherzigen Worten ihre naive Ver - wunderung aus. Man begann zu fühlen, auf wie ſchwachen Füßen doch die Herrſchaft des belobten vernünftigen Chriſtenthums ſtand.

97Voß und Stolberg.

Gleich der evangeliſchen ward auch die katholiſche Kirche durch die Ausſchweifungen rohen Aberglaubens heimgeſucht. In München ſtand die Hochburg der katholiſchen Magier. Dort in Baiern waren die Teufel - austreibungen des verſtorbenen Gaßner noch unvergeſſen; jetzt rühmte ſich Baader einer vom Teufel beſeſſenen Tochter. In Franken zog ein Bauerncardinal mit einer Dirne, die den Heiland unter dem Herzen trug, durch die Dörfer; droben im Schwarzwälder Alpgau unter den groben Hotzen wurde die Schwarmgeiſterei der alten Salpeterer wieder rege; aus Oeſterreich kam die fanatiſche Sekte der Pöſchelianer nach Baiern hinüber, ein wüſtes Geſindel, das ſelbſt vor dem religiöſen Morde nicht zurückſchrak und nur durch harte Strafen gebändigt werden konnte. Unter den zahl - loſen frommen Zauberern that ſich ein vornehmer Prieſter, Fürſt Ale - xander Hohenlohe durch kecke Zuverſicht hervor. Papſt Pius, der ſeinen Mann kannte, meinte achſelzuckend: questo far dei miracoli! als er vernahm, wie der Fürſt durch die Kraft des Gebetes ſogar aus der Ferne Todkranke heilte, und das fränkiſche Landvolk ihm in Schaaren zu - ſtrömte. In einem ſtolzen Aufrufe redete der Wunderthäter die Fürſten des heiligen Bundes an: nicht mehr durch Waffen würde die Revolution beſiegt, die Erziehung müſſe verwandelt, die Jugend zurückgeführt werden in den Schooß der Kirche. Der fromme Wahn wirkte hier ebenſo unwider - ſtehlich anſteckend, wie unter den Proteſtanten: ſogar Sailer betete einmal gläubig an dem Bette der Wunder-Nonne von Dülmen.

Die unverſöhnliche Härte der kirchlichen Gegenſätze, die ganze Fried - loſigkeit unſeres religiöſen Lebens trat mit erſchreckender Klarheit zu Tage, als auf dem heißen Boden Heidelbergs wieder einmal ein literariſcher Zank ausbrach. In der kleinen Stadt hauſten ſo viele namhafte Vertreter grund - verſchiedener Richtungen eng bei einander; der Kampf der Meinungen ward dort ſtets mit gehäſſiger Bitterkeit geführt. Um ſeinen Gegnern Daub und Creuzer die Stange zu halten, hatte Paulus die Zeitſchrift Sophro - nizon gegründet; geſchickt redigirt gewann ſie bald Anſehen durch frei - müthigen Tadel mancher Mißſtände in Staat und Kirche. Der kleinſtaatliche Liberalismus, der von den Bedingungen der Macht des Staates nichts ahnte, und der Rationalismus, der von dem religiöſen Gefühle des gläubigen Ge - müths nichts wiſſen wollte, fanden da ſelbander ihren Sprechſaal. Als nun Graf Friedrich Stolberg in Adam Müllers hochconſervativem Staats - anzeiger einen ſcharfen Aufſatz über die Verirrungen des Zeitgeiſtes ver - öffentlicht hatte, brach Voß im Sophronizon (1819) gegen den Jugendgenoſſen los. Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier? fragte er grimmig. Ein Greis gegen den Greis wollte er Zeugniß ablegen, weil er bald jenſeits wo kein Ritter noch Pfaff ſchaltet , ſich verantworten müſſe. Darum meinte er ſich jeder Treue, jeder Anſtandsrückſicht gegen den alten Frennd entbunden, dem er vor vierzig Jahren ſeine Odyſſee gewidmet hatte und ſchilderte mit herzloſer Roheit, ſelbſt das häusliche Leben ſchamlos auf -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 798II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.deckend: wie der Graf ſchon als ſie im Göttinger Hainbunde zuſammen jugendlich ſchwärmten im Stillen ſich der hierarchiſchen und ariſtokratiſchen Zwangsherrſchaft zugeneigt habe, bis ihn dann Adelsſtolz und Phantaſterei in die Nacht hildebrandiniſcher Verunreinigung getrieben hätten; denn - thender als jemals der Türk droht jetzt der Junker den erleuchteten Völkern finſtere Barbarei . Einige treffende Bemerkungen über die Hohlheit des Convertitenthums und die fromme Selbſtbeſpiegelung des Stolbergiſchen Kreiſes verſchwanden in einem Meere unwahrer Beſchuldigungen. Denn unzweifelhaft war Stolberg nicht wie Haller durch ſeine politiſche Geſinnung zur römiſchen Kirche geführt worden, ſondern durch den religiöſen Drang eines ſchwachen Gemüths, das ſich nie auf ſich ſelber ſtützen konnte; Goethes ſcharfer Blick hatte den Weichmüthigen von jeher als einen unbewußten Katholiken betrachtet.

Gleich den meiſten ſeiner Altersgenoſſen hatte Voß ſich einſt für die Menſchenrechte der Revolution begeiſtert; jetzt nach dem Sturze der Fremd - herrſchaft flammte die radikale Geſinnung des alten Herrn, die ſich wäh - rend des Befreiungskrieges nicht recht herausgewagt, wieder in wilder Hef - tigkeit auf. Höhnend nannte er Napoleon den Würgengel der Hochgeborenen und rief dem alten Jugendfreunde zu: Edlere nennſt Du die Söhne Gewappneter, die in der Vorzeit Tugend des Doggen vielleicht adelte oder des Wolfs? Zu dieſem fanatiſchen Adelshaſſe geſellten ſich das Mißtrauen des Ratio - naliſten gegen jede nicht ganz waſſerklare Form des kirchlichen Lebens; der Großinquiſitor des Rationalismus konnte ſich das Wiedererwachen des religiöſen Sinnes nur aus der ruchloſen Wühlerei eines pfäffiſch-ritter - lichen Geheimbundes erklären. Heftige Erwiderungen der Freunde des Angegriffenen und neue polternde Streitſchriften von Voß, Paulus und Schott bewieſen nur, wie unmöglich jede Verſöhnung in dieſem wüſten Ge - zänke war. Goethe traf wieder das rechte Wort, da er ſagte:

Mir wird unfrei, mir wird unfroh,
Wie zwiſchen Gluth und Welle,
Als läſ ich ein Capitolo
Aus Dantes grauſer Hölle.

Die widerwärtige Fehde wirkte auf die Stimmung des deutſchen Libera - lismus tief und verderblich ein. Voß und die Gelehrten des Sophronizon ſtellten zuerſt die Behauptung auf: der Glaube an eine religiöſe Ueber - lieferung hänge mit dem Glauben an das erbliche Verdienſt des Adels im Innerſten zuſammen, der freie Mann achte nur die ſelbſtanerkannte Geiſteswahrheit und die ſelbſterworbene Verdienſtlichkeit . Obwohl die Thor - heit dieſer Sätze Jedem einleuchten mußte, der die confeſſionelle Hart - gläubigkeit der nordamerikaniſchen Demokratie kannte, ſo fanden ſie doch Anklang bei der Syſtemſucht der Deutſchen, und allmählich entſtand eine krankhafte Sprachverwirrung, die bis zum heutigen Tage das deutſche Par -99K. v. Rotteck.teileben verfälſcht. Man begann zu glauben, was unmittelbar nach dem heiligen Kriege noch Niemand zu behaupten gewagt hatte: daß rationaliſtiſche oder gar kirchenfeindliche Geſinnung das untrügliche Kennzeichen des poli - tiſchen Liberalismus ſei; man bezeichnete Beides mit dem wohllautenden Namen der Freiſinnigkeit und zwang alſo die conſervativen Regierungen ſich den ſtreng kirchlichen Parteien zu nähern. Noch verderblicher wirkte das arge Beiſpiel eines aufgeklärten Geſinnungsterrorismus, der überall nur Pfaffenherrſchſucht, Adelsſtolz oder Liebedienerei ſuchte und nachher in der Gehäſſigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand.

Dieſelbe engherzige Unduldſamkeit beſeelte auch den einflußreichſten Publiciſten jener Tage. Karl v. Rotteck blieb zwei Jahrzehnte hindurch der hoch angeſehene politiſche Lehrer des ſüddeutſchen Bürgerthums, weil er weder die Kraft noch die Neigung beſaß ſich irgendwie über die Durch - ſchnittsanſicht der Mittelklaſſen zu erheben. Obgleich der Rechtſchaffene niemals um Volksgunſt buhlte, ſo ſtanden ſeine Anſchauungen doch immer von ſelbſt im Einklang mit dem gebietenden Zeitgeiſt . Er nahm den wohlhabenden Kleinſtädtern und Bauern des Südens das Wort von den Lippen und verkündete was Alle dunkel empfanden mit unerſchütterlichem Muthe, mit der warmen Beredſamkeit eines ehrlichen Herzens. Dem fran - zöſiſchen Blute ſeiner Mutter verdankte er eine unter den deutſchen Ge - lehrten damals noch ſeltene Leichtigkeit des Ausdrucks; unermüdlich wen - dete er den überaus beſcheidenen Vorrath ſeiner Gedanken hin und her, bis den Leſern Alles waſſerklar und unanfechtbar erſchien. Die demokra - tiſchen Ideen, welche einſt zur Zeit des Baſtilleſturmes in Oberdeutſchland eingedrungen, hatten ſich unterdeſſen in der Stille verſtärkt und weithin ver - breitet; durch die Fürſtenrevolutionen der napoleoniſchen Zeit war die ge - ſammte altgeſchichtliche Staatsordnung völlig zerſtört, in den Mittelklaſſen aber wuchs von Jahr zu Jahr der Groll gegen die Willkür des rheinbün - diſchen Beamtenthums. Aus ſolchen Gedanken und Wünſchen formte Rotteck, merkwürdig früh, ſchon unmittelbar nach dem Friedensſchluſſe, das fertige Idealbild ſeines conſtitutionellen Muſterſtaates. Er rühmte ſich ganz auf der Höhe der Zeit zu ſtehen und ahnte nicht, wie ſtark die altſtändiſchen Vorſtellungen, die in der Nation mit wunderbarer Zähigkeit fortlebten, auch auf ſeine Doktrin einwirkten: ganz wie die Herren Stände der guten alten Zeit betrachtete er die Staatsgewalt als den natürlichen Feind der Freiheit. Wer ihm nicht glaubte, dem war ein Lächeln vom Miniſtertiſche, ein Kreuz und ein Band oder eine Anſtellung lieber als das Gemeinwohl . Neben Savigny und Niebuhr erſchien Rotteck als ein wiſſenſchaftlicher Reaktionär, da die Grundgedanken ſeiner Theorie durchaus dem achtzehnten Jahrhun - dert angehörten; nur zog er mit großer Gewandtheit aus dieſen veralteten Sätzen einige Folgerungen, welche dem praktiſchen Bedürfniß der Gegen - wart in der That entſprachen. Ein Parteimann vom Wirbel bis zur Zehe, von jeher gewohnt, die Menſchen und die Dinge lediglich mit dem Zollſtock7*100II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.der politiſchen Doktrin zu meſſen, hatte er die große Zeit unſerer Literatur ohne jedes tiefere Verſtändniß durchlebt: die Freiheitsbegeiſterung des Mar - quis Poſa blieb ihm die Krone der deutſchen Dichtung, was konnte der Fürſtendiener Goethe daneben aufweiſen?

Gleichwohl vermochte ſelbſt dieſer politiſche Eiferer den literariſchen Ur - ſprung des deutſchen Liberalismus nicht zu verleugnen; denn auch er fühlte ſich unwiderſtehlich hingezogen zu jenem Franzoſen, der unter den Vorläufern der Revolution der ſchwächſte politiſche Kopf, aber auch der gemüthvollſte Künſtler und deshalb der deutſchen Bildung am vertrauteſten war. Von Rouſſeau lernte er die Lehren der Volksſouveränität und der allgemeinen Gleichheit, ſowie den kindlichen Glauben an die natürliche Unſchuld des Menſchen. Dieſe Ideen verſuchte er dann mit Hilfe des Kantiſchen Natur - rechts, das ja ſelbſt den Anſchauungen des Genfer Philoſophen nahe ſtand, in ein Syſtem zu bringen, obgleich er die Philoſophie nur als die Auslegerin des geſunden Menſchenverſtandes ſchätzte. Die dritte Quelle ſeiner Doktrin war das Buch des Hontheim-Febronius über die geſetzliche Gewalt des Papſtes. Hier fand Rotteck ein eigenthümliches Gemiſch von Aufklärungs - eifer und katholiſcher Glaubenstreue, das ſeiner eigenen Geſinnung ent - ſprach; hier auch das Vorbild für die Methode ſeiner künſtlichen politiſchen Beweisführung. Wie jener wohlmeinende Vorkämpfer des nationalkirch - lichen Gedankens die letzten Jahrhunderte der Kirchengeſchichte kurzerhand ausſtrich, dem Papſte nur einige beſcheidene Ehrenrechte zuwies und dabei doch keineswegs gemeint war das Papſtthum ſelber anzugreifen, ſo ent - kleidete Rotteck das Königthum aller ſeiner weſentlichen Befugniſſe und glaubte doch nicht antimonarchiſch geſinnt zu ſein. In aller Unſchuld, ohne jeden revolutionären Hintergedanken predigte er eine radikale Theorie, welche mit dem Beſtande des deutſchen Staatsweſens ſich ſchlechterdings nicht vereinigen ließ.

Der Sohn eines ehrenfeſten Altöſterreichers war er im ſchönen Breis - gau aufgewachſen, zu der Zeit, da die Reformen Joſephs II. die Begei - ſterung der aufgeklärten Vorderöſterreicher erweckten. Jenes Syſtem gewalt - ſamer Völkerbeglückung galt ihm immer als wahrhaft liberale Politik. Dann hatte er voll Schmerz mit angeſehen, wie ſein Heimathland mit Baden vereinigt wurde, und lebte nun unter einer Regierung, die er noch lange mißtrauiſch als eine halbfremde betrachtete, in einem Staate ohne Geſchichte, deſſen Inſtitutionen allerdings wie Werke des Zufalls oder der bewußten Willkür erſchienen. Seine ehrliche Liebe zum deutſchen Vater - lande ſprach er ſelbſt unter dem Drucke der napoleoniſchen Cenſur mann - haft aus, und als die Befreier in Baden einzogen, übernahm er ſofort die Leitung der Teutſchen Blätter und ſtellte ſie dem Hauptquartiere der Ver - bündeten zur Verfügung. Ganz wohl ward ihm dennoch nur inmitten ſeiner alemanniſchen Landsleute; ihnen zuerſt galt all ſein Thun und Reden, mit rechter Herzensfreude ſchrieb er auf eines ſeiner Bücher die101Rottecks Weltgeſchichte.Widmung: allen edlen Bürgern Freiburgs anſpruchslos und liebend der Verfaſſer. Wenn der kleine ſchlichte Mann des Nachmittags nach den Collegien rüſtig auf die Vorhöhen des Schwarzwaldes zu ſeinem kleinen Rebgute, dem Schönehof hinaufſtieg und von droben die liebliche Thal - bucht mit dem ſtolzen Münſterthurme überblickte, dann meinte er die Perle Deutſchlands zu ſchauen; und als dies herrliche Land nun gar noch mit der erſehnten vernunftgemäßen Verfaſſung geſegnet wurde, da konnte er nur noch mit Geringſchätzung an den fernen Norden denken, den er nach Landesart natürlich nie betreten hatte, und fragte ſtolz: ob ſich wohl das lichte Rheinland bei politiſchen Rechten beruhigen könne, die allenfalls für das finſtere Pommern genügten? Wie die Schwaben in Uhland, ſo er - kannten die badiſchen Alemannen in ihrem Rotteck alle Züge ihres eigenen Weſens wieder: ihren tapfern Freimuth, ihren demokratiſchen Trotz, ihre joſephiniſche Aufklärung, aber auch ihre kleinſtädtiſche Beſchränktheit, ihre naive Unkenntniß aller politiſchen Machtverhältniſſe und die Selbſtgefäl - ligkeit ihres harmloſen Particularismus. Dann gehen wir eben zum Rotteck hieß es unter den Schwarzwälder Bauern, wenn die Be - ſchwerden bei den Beamten nichts halfen.

Rottecks Anſehen bei den Mittelklaſſen ward zuerſt durch ſeine Welt - geſchichte begründet. Das Buch erſchien ſeit dem Jahre 1812, und mit jedem neuen Bande ſtieg der Abſatz; in manchem kleinſtädtiſchen Bürger - hauſe des Südens beſtand der ganze Bücherſchatz aus der Bibel, dem Gebetbuch und dem Rotteck. Was konnte auch dem tief verſtimmten und doch politiſch völlig rathloſen Völkchen der Kleinſtaaten willkommener klingen als die ſelbſtgefällige Trivialität dieſer Geſchichtsweisheit, die von dem nothwendigen Werden des hiſtoriſchen Lebens gar nichts ahnte, ſondern alles Mißgeſchick der Völker einfach aus der Bosheit und der Verblen - dung der Regierenden ableitete und geradezu ausſprach, ihr höchſtes Ziel ſei der jetzt mit Macht ſich erhebenden und durch ſolche Erhebung Heil verheißenden öffentlichen Meinung zu entſprechen . Der dürre Ratio - nalismus der Geſchichtſchreibung des alten Jahrhunderts verſchmolz ſich mit den Parteileidenſchaften des neuen Zeitalters. Rotteck betrachtete den Staat er wußte es nicht anders grundſätzlich nur von unten, mit den Augen der Regierten; niemals verfiel er auf die Frage, wie ſich die menſchlichen Dinge von oben her ausnehmen, welche Gedanken die Thä - tigkeit der Regierenden beſtimmten und welche Hemmniſſe ſie zu über - winden hatte. Jeder Fürſt, jeder Machthaber ſchien ihm verdächtig. Selbſt im perſönlichen Verkehr mochte der eingefleiſchte Bürgersmann die vor - nehmen Leute nicht leiden, der Anblick einer Uniform oder eines Ordens - kreuzes war ihm unbehaglich; ſogar Blücher gefiel ihm nicht mehr ſeit der alte Held den Fürſtentitel führte.

Noch niemals hatte ein deutſches Buch die ſchlimmſte Schwäche der modernen Demokratie, den neidiſchen Abſcheu gegen Alles was über die ge -102II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. Sehr nach - drücklich wies der volksthümliche Hiſtoriker Alexander den Großen zurecht, weil dieſer Menſch von Staub und Erde zerſchmetterte Völker zum Fuß - geſtell ſeines Ruhmes machte ; den Helden der Kreuzzüge hielt er die zornige Frage entgegen: mit welchem Rechte wurde Paläſtina erobert? Der ganze Verlauf der Weltgeſchichte zeigte ihm in entſetzlicher Eintönig - keit ſtets das nämliche traurige Schauſpiel: wie die allezeit unſchuldigen Völker die Jahrtauſende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen mißhandelt und zu gemeinſchädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann gar mit dem Mittelalter zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit und der Finſterniß ein weder erfreuliches noch ſehr intereſſantes Zeit - alter über die unglückliche Menſchheit hereinbrachen, bis darauf end - lich durch die Volksmänner der amerikaniſchen und der franzöſiſchen Re - volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeiſt zu ſeinem Rechte kam.

Die naive Selbſtverliebtheit des philoſophiſchen Jahrhunderts lebte hier wieder auf, nur daß ſie jetzt ein politiſches Gewand anlegte. Durch Rottecks Weltgeſchichte wurde das republikaniſche Staatsideal zum erſten male den deutſchen Mittelklaſſen gepredigt. Die Begeiſterung für die junge Republik des Weſtens hatte ſich zur Zeit des amerikaniſchen Unabhängig - keitskrieges doch nur auf die engen Kreiſe der gebildeten Jugend beſchränkt und war dann während der Stürme der napoleoniſchen Tage ganz in Vergeſſenheit gerathen. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verſtimmten wieder abendwärts. Im Weſten, rief er aus, in der jugendlichen neuen Welt erbaut ſich das natürliche, das vernünftige Recht ſein erleſenes Reich. Zwar fügte er als ein geſetzliebender Staatsbürger beſchwichtigend hinzu: nicht eben die republikaniſche Form iſt’s, die wir die Sonne dieſes Tages nennen, nein, nur der republikaniſche Geiſt. Indeß blieb den Leſern doch der Eindruck, daß die Republik der allein vernünftige Staat, der Freiſtaat ſchlechthin ſei: beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleich - bedeutend. Dieſe Lehre fand um ſo leichter Anklang, da Jedermann ſchon auf der Schulbank die Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der Republiken des Alterthums gelernt hatte.

Ebenſo verführeriſch erſchien den Leſern die parteiiſch gefärbte Dar - ſtellung der jüngſten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch die ſagenbildende Kraft des Volksgeiſtes noch in dieſem bildungsſtolzen Jahrhundert! Das Bild der ſelbſterlebten allerneueſten Ereigniſſe ver - ſchob und verwirrte ſich in dem Gedächtniß der Völker, ſofort nach dem Friedensſchluſſe. Wie die Franzoſen alleſammt glaubten, ſie ſeien nur der zehnfachen Uebermacht erlegen, ſo entſtand auch unter den deutſchen Un - zufriedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck ſprach allen Liberalen des Südens aus der Seele, wenn er zuverſichtlich behauptete, von ſämmtlichen europäiſchen Mächten hätten allein die beiden103Der Liberalismus und das Heerweſen.Verfaſſungsſtaaten England und Spanien, wunderbar geſtärkt durch die Kraft der conſtitutionellen Freiheit, dem napoleoniſchen Weltreiche wider - ſtanden. Daß auch Rußland die nämliche Widerſtandskraft gezeigt hatte, überging man mit Stillſchweigen; denn dieſer vor Kurzem noch ſo laut gefeierte Staat verfiel nach der Stiftung der heiligen Allianz dem leiden - ſchaftlichen Haſſe des Liberalismus, und mahnend wies Rotteck dem preu - ßiſchen Staate die Aufgabe zu, der Freiheit Europas als eine Vormauer gegen die moskowitiſche Knechtſchaft zu dienen. Um ſo überſchwänglicher ward die Cortesverfaſſung von 1812 geprieſen, welche das ſpaniſche Volk zu ſeinem Heldenkampfe begeiſtert haben ſollte; ſie blieb während eines Jahr - zehntes das Schooßkind der Liberalen, da ſie, in Abweſenheit des Monarchen entſtanden, die Macht der Krone auf’s Aeußerſte beſchränkte und mithin dem höchſten Ideale, der Freiheit Amerikas nahe zu kommen ſchien.

Ueber den deutſchen Befreiungskrieg kam bald eine noch wunder - ſamere Erzählung in Umlauf: die verbündeten Fürſten hatten das deutſche Volk durch den Kaliſcher Aufruf und die Verheißung einer preußiſchen Verfaſſung mit trügeriſchen Hoffnungen erfüllt; gelockt durch ſo ſchmei - chelnde Töne ſo erzählte Rotteck waren dann die Hunderttauſende zu den Waffen geeilt! Die Unwahrheit dieſer Behauptung ließ ſich freilich ſchon aus dem Kalender nachweiſen. Die Verordnung über die künftige Verfaſſung Preußens war am 22. Mai 1815 unterzeichnet und erſt am 8. Juli veröffentlicht, als der letzte Krieg gegen Napoleon bereits zu Ende ging; von dem Kaliſcher Aufruf aber hatte die Maſſe der preußiſchen Landwehrmänner wenig oder nichts erfahren. Und doch fand das Partei - märchen Glauben, zuerſt im Süden, nachher, als die Stimmung ſich immer mehr verbitterte, auch in Preußen ſelbſt. Man fühlte ſich wie verrathen und verkauft, man konnte ſich den kläglichen Zuſtand Deutſchlands nach ſo ungeheuern Opfern nicht anders erklären, als aus einem großen Be - truge; und bald ward Jeder als ein Reaktionär angeſehen, der noch der Wahrheit gemäß bekannte, daß die Preußen ſich ſchlicht und recht auf den Ruf ihres Königs erhoben hatten um den heimiſchen Boden vom Landes - feinde zu ſäubern und die Ehre ihrer alten königlichen Fahnen wiederherzu - ſtellen. Die Verblendeten bemerkten nicht mehr, welche Beleidigung ſie dem preußiſchen Volke durch ihre Erfindungen zufügten.

Die Leiſtungen der Landwehr wurden ſelbſt in Preußen überſchätzt; die Liberalen des Oberlandes vollends erzählten ſich bald Wunderdinge von den Lützowern und den anderen Freiſchaaren, die doch zu den Siegen der Verbün - deten nur ſehr wenig beigetragen hatten. Wer den ſchweren Ernſt des Waffen - handwerks kannte, urtheilte freilich anders. Speckbacher, der tapfere Ty - roler Bandenführer von 1809, geſtand dem Adjutanten Yorks Karl v. Roeder: bei uns Bauern war friſches Herz, aber keine Ordnung, bei unſeren kai - ſerlichen Soldaten ſtand es umgekehrt, bei dem Blücher und dem York aber war Beides, die Ordnung und das friſche Herz; das hätt ich wohl ſehen104II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.mögen! Für dieſe Sprache des geraden Menſchenverſtandes hatte die ver - biſſene Parteigeſinnung der Liberalen kein Ohr; der Name Freiſchaar klang ihnen ſo unwiderſtehlich wie das Wort Freiſtaat. Man dachte ſich jene unbedeutenden preußiſchen Freicorps den ſpaniſchen Guerillas ähnlich und betrachtete die heiligen Schaaren als die eigentlichen Beſieger Na - poleons. Die feurigen Verſe von Lützows wilder Jagd, welche der junge Dichter einſt arglos aus der Fülle ſeines begeiſterten Herzens heraus ge - ſchaffen hatte, erhielten allmählich den Sinn eines Parteigeſanges. Man wiederholte das Lied herausfordernd wie um die Linientruppen zu verhöhnen, und König Friedrich Wilhelm mochte bald die friſchen Klänge gar nicht mehr hören weil ſie ihm wie eine Kränkung ſeines tapferen Heeres er - ſchienen. Dies verſtimmte Geſchlecht ſchien gar nicht mehr im Stande, ſich der Großthaten der vaterländiſchen Geſchichte unſchuldig zu erfreuen.

Die ganze Verbitterung des Liberalismus entlud ſich in Rottecks Schrift über ſtehende Heere und Nationalmiliz (1816). Welch ein Gegenſatz zu jenem patriotiſchen Buche Rühle von Lilienſterns vom Kriege ! Der preu - ßiſche Offizier dachte mit ſtaatsmänniſcher Mäßigung die Heere zu natio - naliſiren und die Völker zu militariſiren; der Parteimann Rotteck ſtellte ſogleich ſein radikales Entweder oder: wollen wir die Nation ſelbſt zum Heer oder die Soldaten zu Bürgern machen? Das ſei die große Frage dieſes verhängnißſchweren Augenblicks. Mit fanatiſchem Grimme wendete er ſich gegen das preußiſche Wehrgeſetz und erklärte, kaum ein Jahr nach - dem Linie und Landwehr bei Belle Alliance ſo ruhmvoll zuſammengewirkt, voll dreiſter Zuverſicht: welcher Staat durch ein ſtehendes Heer ſtark ſein will, derſelbe thut Verzicht auf eine kräftige Landwehr. Er ſchilderte das ſtehende Heer als die Stütze des Despotismus; er behauptete: wenn alle Jünglinge zum Heere berufen werden, ſo wird die ganze Nation von den Geſinnungen des Miethlings durchdrungen ſein; er forderte endlich kurz - weg Abſchaffung der ſtehenden Heere, dergeſtalt daß im Frieden nur eine kleine geworbene Truppe unterhalten, die Landwehr aber einige Wochen lang nothdürftig ausgebildet würde. Während er alſo in radikalen Schlag - worten ſchwelgte, verlangte er zugleich mit naiver Standesſelbſtſucht die Ein - führung der Stellvertretung bei ſeiner Landwehr; ganze Klaſſen, namentlich die Studenten ſollten befreit ſein. Den Schluß bildete die ſtolze Weiſſagung: welcher Fürſt das vollbringt, der wird in ganz eigener Glorie glänzen und, wäre er ein Deutſcher, der erſte ſein!

Mit ſolcher Verblendung äußerte ſich die Selbſtüberhebung des klein - ſtaatlichen Liberalismus ſchon in ſeinen erſten Anfängen: Deutſchlands Fürſten ſollten ſich, wetteifernd in liberalen Thaten, bei den alleinigen Vertretern des gebietenden Zeitgeiſtes demüthig um die Krone des künf - tigen Reiches bewerben. Als faſt zur ſelben Zeit Herzog Karl Auguſt das weimariſche Kriegsheer auflöſte und ſich mit einigen Wachmannſchaften begnügte, ward er mit Lobſprüchen überhäuft, und die Allgemeine Zeitung105Der Liberalismus und der Adel.ſchrieb entzückt: auf die ſchönſte Weiſe entſtand hier die That, dort der Lobpreis derſelben, eines unbewußt dem andern. Wohl trat ein anderer Führer des badiſchen Liberalismus, der Freiherr v. Liebenſtein, in einer verſtändigen Schrift ſeinem Freiburger Genoſſen entgegen; jedoch der großen Mehrheit der Partei hatte Rotteck wie immer aus der Seele geſprochen. Das Friedensbedürfniß und die wirthſchaftliche Noth, die kleinſtädtiſche Unkenntniß der europäiſchen Machtverhältniſſe, das Mißtrauen gegen die Höfe und nicht zuletzt der ſtille Zweifel an der Kriegstüchtigkeit der ver - einzelten kleinen Contingente das Alles vereinigte ſich um den Libera - lismus der kleinen Staaten tief und tiefer gegen die Armee zu verſtimmen. Rottecks Zornreden wider den Miethlingsgeiſt der Soldaten weckten lauten Widerhall, obgleich Jedermann wiſſen wußte, daß der deutſche Soldat nur durch die geſetzliche Zwangsaushebung auf kurze Zeit dem bürgerlichen Leben entriſſen wurde und ſich ungern genug mit ſeinen armen zwei Groſchen Sold begnügte. Das Eifern und Schelten wider die Söldlinge galt ein Menſchenalter hindurch als ein ſicheres Kennzeichen liberaler Geſinnungstüchtigkeit und bewirkte nur, daß die Offizierscorps ſich mehr und mehr den ſtreng conſervativen Anſchauungen zuwendeten.

Dies Mißtrauen des Liberalismus gegen das Heer hing eng zuſammen mit dem ingrimmigen Adelshaſſe, der ſich in allen Zeitungen und Flug - ſchriften der Oppoſitionsparteien ausſprach. Der Sondergeiſt der Land - ſchaften und Stände war Deutſchlands alter Fluch; alle Klaſſen, und keineswegs der Adel allein, hatten an dieſen alten nationalen Sünden ihren reichen Antheil. Wie einſt der Trotz der großen Communen am Ausgang des Mittelalters das Anſehen der Reichsgewalt mit zerſtören, die Reichsreformverſuche des ſechzehnten Jahrhunderts mit vereiteln half, ſo trug auch jetzt das Bürgerthum an dem neu erwachenden widerwär - tigen Klaſſengezänk mindeſtens eben ſo viel Schuld wie der Adel. Auch hier rächte ſich der literariſche Urſprung unſeres Liberalismus. Da bei dem Aufſchwunge der neuen Kunſt und Wiſſenſchaft nur wenige Edel - leute mitgewirkt hatten, ſo entſtand in den gebildeten Mittelklaſſen neben einem wohlberechtigten Selbſtgefühle zugleich eine gehäſſige Verachtung gegen den Adel: man redete, als ſei der Verſtand dem Edelmanne von Natur verſagt. Viele der literariſchen Führer der Nation hatten in den demü - thigenden Verhältniſſen einer entbehrungsreichen Jugend, manche als Hof - meiſter adlicher Häuſer, den Kaſtenhochmuth kennen und haſſen gelernt. Vernehmlich ſprach der Groll gegen die Hochgeborenen aus vieleṅ Wer - ken der neuen Dichtung, ſo aus Emilia Galotti, aus Kabale und Liebe. Namentlich unter den Genoſſen des Hainbundes war dieſe Geſinnung tief eingewurzelt. Wer des Pfarrers Tochter von Taubenheim und ähn - liche Gedichte Bürgers las, der mochte glauben, daß die Verführung armer Mädchen die Hauptbeſchäftigung des deutſchen Edelmanns bilde; Voß aber, der Nachkomme mecklenburgiſcher Leibeigener, hegte von Kindesbeinen an106II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.unauslöſchlichen Haß gegen die Junker und ließ mit unverhohlenem Be - hagen ſeinen Bauer Michel über die Adlichen ſagen: Schelme ſind ſie und werth am höchſten Galgen zu bummeln!

Mit Frohlocken wurde die Nacht des vierten Auguſt und alle die an - deren Schläge, welche die Revolution gegen den Adel führte, in unſeren lite - rariſchen Kreiſen begrüßt. Seitdem war auch die Macht des deutſchen Adels tief erſchüttert worden; er hatte durch den Reichsdeputationshaupt - ſchluß ſeinen Antheil an der Reichsregierung vollſtändig, durch die Stein - Hardenbergiſchen Reformen und die Geſetze des Rheinbundes ſeine Herren - ſtellung auf dem flachen Lande größtentheils eingebüßt. Noch blieben ihm manche Vorrechte, welche das Selbſtgefühl des Bürgerthums verletzten. In den altſtändiſchen Kleinſtaaten des Nordens, Sachſen, Hannover, Meck - lenburg beherrſchte er noch Regierung und Landtag; hier beſtanden zumeiſt noch die adlichen Bänke der oberſten Gerichtshöfe; auch in den alten preu - ßiſchen Provinzen kamen die Patrimonialgerichte und die gutsherrliche Po - lizei weſentlich der Macht des Adels zu gute, da die bürgerlichen Ritter - gutsbeſitzer noch die Minderheit bildeten. Im Heere und im Civildienſt wurde der Adel noch überall thatſächlich bevorzugt; die perſönliche Um - gebung der Fürſten bildete er allein, und höhnend rief Voß: der Edel - mann iſt ja geborener Curator des Marſtalls, der Jagd, des Schenk - tiſchs, der Vergnügungen. Nach dem Sturze des gekrönten Plebejers trat der Adelshochmuth oft ſehr herausfordernd auf; ſogar Niebuhr klagte, noch nie ſeit vierzig Jahren habe der Edelmann den Bürgerlichen ſo abgünſtig behandelt. Hartnäckig hielt der amtliche Sprachgebrauch den abgeſchmackten Titel Demoiſelle für die bürgerlichen Mädchen feſt. Auch aus den Hofrang - ordnungen der kleinen Höfe ſprach ein lächerlicher Kaſtenhochmuth. Selbſt der höchſte Staatsbeamte durfte ſeine bürgerliche Frau nicht zu Hofe führen; in Heſſen konnten die Miniſter nur durch die Vewendung des adlichen Flügeladjutanten Gehör beim Landesherrn erlangen. Das Theater in Weimar hatte ſeine adlichen Logen, und im Speiſeſaale des Pillnitzer Schloſſes ſahen die Adlichen und die Bürgerlichen von zwei geſonderten Tribünen den Gaſtmählern des Königs zu. In den Augen der Voll - blut-Junker galten nur die Berufe des Offiziers, des Kammerherrn, des Stallmeiſters, des Forſtmanns und allenfalls noch der Verwaltungsdienſt für ſtandesgemäß. Die Wiſſenſchaften und Künſte durfte der Edelmann nur als Liebhaberei treiben; ganz Breslau gerieth in Aufregung, als ein gnädiger Herr unter die Komödianten ging und auf dem Stadttheater auftrat. Heirathen zwiſchen Edelleuten und wohlhabenden bürgerlichen Mädchen kamen häufig vor; doch nur ſelten, und niemals ohne lebhaften Widerſpruch der Standesgenoſſen, entſchloß ſich ein adliches Mädchen ſich an einen bürgerlichen Mann wegzuwerfen.

Dieſe Ueberreſte einer überwundenen Geſellſchaftsordnung mußten das Bürgerthum erbittern; aber nur der Undank konnte vergeſſen, wie107Adel und Bürgerthum.glänzend das Talent, die Treue, die Tapferkeit des preußiſchen Adels während der letzten ſchweren Jahre ſich wieder bewährt hatten. Die große Mehrzahl der Feldherren und Staatsmänner, denen Deutſchland ſeine Befreiung verdankte, gehörte ja dem Adel an. Während die franzöſiſchen Edelleute, erboſt über den Verluſt ihrer Standesvorrechte, mit dem Lan - desfeinde vereint gegen ihr Vaterland in den Krieg gezogen waren, hatte der preußiſche Adel zwar den Geſetzen Hardenbergs lebhaft widerſprochen, aber ſobald der Ruf des Königs erklang, ſofort ſeinen Groll hochherzig vergeſſen und ſein Alles geopfert für die Rettung des Landes; ohne die Hingebung des Landadels wäre die Beſetzung der Landwehr-Offiziersſtellen, die Verwendung der Landwehr im freien Felde ſchlechthin unmöglich ge - weſen. Und gleichwohl wurden dieſe patriotiſchen Soldatengeſchlechter von der liberalen Preſſe mit den Emigranten verglichen; Berangers hämiſche Verſe je suis vilain et très-vilain fanden ein Echo dieſſeits des Rheins als gälten ſie auch für Deutſchland. Der preußiſche Staat vor 1806 erſchien in den Reden und Schriften der Liberalen ſtets als das Urbild aller politiſchen Sünden, und bald erzählte man allerorten: durch die Junker ſei Preußen ins Verderben geſtürzt, durch das Volk ſieben Jahre ſpäter gerettet worden. Nach dem Kriege verſuchte der Adel überall einen Theil ſeiner alten Macht zurückzugewinnen. Die Mediatiſirten beſtürmten den Bundestag und die Höfe mit ihren Beſchwerden; in Preußen ſchaarte ſich die altſtändiſche Partei geſchloſſen zuſammen. Allerhand Vorſchläge für die Neugeſtaltung des Standes tauchten auf. Während des Wiener Con - greſſes wurde der Plan einer Adelskette viel beſprochen, einer großen Genoſſenſchaft, welche überall in Deutſchland die Standesintereſſen wahren und den Sinn ritterlicher Ehre wach halten ſollte; jedoch der Entwurf blieb liegen, wie ſpäterhin ein ähnlicher Plan oſtpreußiſcher Edelleute. Auch viele der romantiſchen Schriftſteller ergingen ſich in überſchwänglichen Lobpreiſungen des Adels. Friedrich Schlegel feierte ihn als die Grund - kraft der bürgerlichen Geſellſchaft: an ihm hätten ſich alle anderen Stände erſt gebildet. Ein trutziges Verslein Schlegels mahnte den Edelmann, bei dem Schwerte und dem Pfluge zu bleiben und das Geſchwätz der Städte zu fliehen: das iſt Adels alte Sitt und Recht!

Solche Beſtrebungen und dazu das thörichte Treiben der heimgekehrten Emigranten Frankreichs ſteigerten den Groll der Mittelklaſſen. Man fiel wieder zurück in jene Anſchauungen des platten Standesneides, welche zur Zeit des Tilſiter Friedens der Bonapartiſt Friedrich Buchholz in ſeinen Unterſuchungen über den Geburtsadel verkündigt hatte. Wie klang es doch ſo unwiderleglich, wenn dieſer politiſche Nicolai erwies: die Tugend vererbe ſich nicht, ein Verdienſtadel gleich der franzöſiſchen Ehrenlegion bleibe die allein vernünftige Form des Adels: man kann nicht zugleich Patriot und Feudalariſtokrat ſein. Ein alter fridericianiſcher General v. Dierecke nahm ſich in aller Beſcheidenheit ſeiner Standesgenoſſen an und zeigte in108II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſeinem Wort über den preußiſchen Adel (1818), wie viele Söhne des ge - ſchmähten Junkerthums im Lager und im Rath die Größe Preußens mit - begründet hatten. Allgemeine Entrüſtung empfing ihn, weil man ihn nicht widerlegen konnte. In manchen gelehrten Kreiſen trat der kindiſche Adelshaß ſo auffällig hervor, daß die Schüler ſelbſt darauf rechneten: als der junge Karl v. Holtei in Breslau ſeine Prüfungsarbeit zu ſchreiben hatte und ſich nicht ganz ſattelfeſt fühlte, ließ er weislich das von aus der Unter - ſchrift hinweg und beobachtete dann ergötzt, wie die Lehrer die Köpfe zu - ſammenſteckten und einander dies köſtliche Probſtück jugendlichen Bürger - muthes mit befriedigtem Lächeln vorwieſen. Die beſonnenen Worte, welche Perthes in ſeinen Briefen über den Adel dem ritterlichen Schwärmer Fouqué entgegenhielt, genügten der verſtimmten öffentlichen Meinung jetzt ebenſo wenig, wie früher ſchon die Schriften des bürgerfreundlichen, aber conſervativen Rehberg.

Es ſteht nicht anders, das deutſche Bürgerthum wurde durch ſeine großen literariſchen Erfolge zu einer ähnlichen Selbſtüberhebung verleitet wie einſt der franzöſiſche Dritte Stand, nur daß ſich bei uns der bürgerliche Dünkel noch ganz auf den Boden der Doktrin beſchränkte. Leichten Herzens ſtellten liberale Zeitungen die Frage: wo ſei denn das Unglück, wenn etwa der geſammte Adel durch einen allgemeinen Bankrott ſeinen Grundbeſitz ver - löre und durch neue Eigenthümer verdrängt würde? Für die ſittliche Kraft einer unabhängigen, mit der Landesgeſchichte feſt verwachſenen Ariſtokratie hatte der Rationalismus kein Verſtändniß. Voß und Rotteck ſprachen dieſe radikalen Geſinnungen am Aufrichtigſten aus. Bewußt oder unbe - wußt verbarg ſich dahinter der particulariſtiſche Groll gegen Preußen; denn kaum hatte dieſer Staat durch ſein Volksheer das Vaterland befreit, ſo ward er in Süddeutſchland ſchon wieder als das claſſiſche Land des Junkerthums und des Corporalſtocks verrufen.

Von ſolchen Anſchauungen erfüllt ſchrieb Rotteck im Jahre 1819 zur Eröffnung des badiſchen Landtags ſeine Ideen über Landſtände , das wiſſenſchaftliche Programm des neuen Liberalismus. Aus der Natur und Geſchichte des gegebenen Staates die Forderungen für die Zukunft abzu - leiten lag den Liberalen um ſo ferner, da ihre Bildung noch vollſtändig von der Philoſophie beherrſcht war und jeder Publiciſt ſich ſtolz als ein Volks - tribun des geſammten Deutſchlands fühlte. Von dem gemeinen deutſchen Staatsrechte war in der Anarchie des deutſchen Bundes wenig mehr übrig, mit der Betrachtung eines der neununddreißig ſouveränen Einzelſtaaten mochte ſich Niemand begnügen, alſo verfielen alle politiſchen Schriftſteller unwillkürlich in die Abſtraktionen des ſogenannten allgemeinen conſtitutio - nellen Staatsrechts. So dreiſt wie Rotteck trat doch Keiner die hiſtoriſche Welt mit Füßen. Der aufgeklärte Mann unterſchied ein dreifaches Recht: das vergangene, das heute geltende und das Recht, das gelten ſollte ; das letztere ward ohne Federleſen als das edelſte, ja im Grunde das109Der conſtitutionelle Muſterſtaat.alleinige Recht geprieſen, das hiſtoriſche Recht als hiſtoriſches Unrecht ab - gefertigt. Als einzige Regel für den Staat galt mithin das Vernunftrecht, das will ſagen: das perſönliche Belieben des Freiburger Profeſſors und ſeiner franzöſiſchen Lehrer; allerdings, fügte er beſcheiden hinzu, könne die Wirklichkeit der philoſophiſchen Theorie immer nur annähernd entſprechen.

Wie einſt Sieyes das Feuer der Rouſſeau’ſchen Volksſouveränität mit dem Waſſer der Montesquieu’ſchen Gewaltentheilung verſchmolzen hatte, ſo ſuchte Rotteck die Doktrin des Contrat ſocial durch einige Begriffe des monarchiſchen Staatsrechts zu verdünnen; nur ſtand er noch weit mehr als jener franzöſiſche Verfaſſungskünſtler unter dem Einfluß des Genfer Philoſophen. Kurz und gut, ganz in Rouſſeau’s Weiſe, erklärte er das Volk für den natürlichen Inhaber der Staatsgewalt, die Regierung für das künſtliche Organ des Geſammtwillens, das alle ſeine Rechte allein der Uebertragung verdanke. Darum gebührt dem Volke unter allen Um - ſtänden die geſetzgebende Gewalt, ſonſt geht ſeine Perſönlichkeit verloren; die Landſtände aber können alle die Rechte ausüben, welche ſich das Volk bei der Uebertragung der Regierungsgewalt, nach vernünftiger Muthma - ßung, ſtillſchweigend vorbehalten hat. Darum iſt auch das Zweikammer - ſyſtem ein Unrecht, es ſei denn daß die erſte Kammer ebenſo viele Staats - actien, an Capital und Grundvermögen, vertritt wie die zweite. Das Volk, natürlich, weiß immer was es will und will ſtets das Beſte; wo der Volkswille herrſcht, da können Verhältniſſe, die gegen das natürliche Recht ſtreiten, gar nicht aufkommen. Mit dieſen republikaniſchen Ideen verbanden ſich dann einige altſtändiſche Vorſtellungen: ſo ſoll der Abgeord - nete nur ſeinen eigenen Wahlbezirk vertreten, da er ja von den anderen keinen Auftrag empfangen hat. Alle ſolche Widerſprüche erklären ſich aus dem einen beherrſchenden Gedanken: aus der Abſicht, den Schwerpunkt des Staatslebens überall nach unten zu verlegen. Einen Unterſchied zwi - ſchen Saſſen und Hinterſaſſen wollte Rotteck, getreu der Weltanſchauung ſeiner Breisgauer Bauern, zur Noth zugeben; doch führte ſeine Lehre folgerecht unzweifelhaft zum allgemeinen Stimmrecht. Und in der That hatte der Berliner Hiſtoriker Woltmann ſchon im Jahre 1810 in ſeinem Geiſt der neuen preußiſchen Staatsorganiſation dieſe letzte Forderung ausgeſprochen.

So mächtig wirkte die abſtrakte Doktrin auf dieſes treu gehorſame, von revolutionären Begierden noch völlig unberührte Volk: kaum der Wiege entwachſen, verfocht der ſüddeutſche Liberalismus ſchon dieſelben Gedanken, welche einſt in Frankreich die Eintagsverfaſſung von 1791 geſchaffen und bald darauf das Königthum ſelbſt zerſtört hatten! Eigenthümlich war dem gutmüthigen Freiburger, im Gegenſatze zu ſeinen franzöſiſchen Vorgängern, nur jene philiſterhafte Harmloſigkeit, die von den Folgen ihrer Lehren gar nichts ahnte, und ein helleres Verſtändniß für den communalen Unterbau der Staatsverfaſſung. Aus den Tiefen des germaniſchen Geiſtes empor -110II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.geſtiegen, hatten die Gedanken der preußiſchen Städteordnung in der Stille ſchon längſt die Runde durch Deutſchland gemacht: ſelbſt Rotteck konnte ſich ſeine conſtitutionelle Herrlichkeit nur auf dem Boden der Selbſtver - waltung denken. Gleichwohl ließ ſich der franzöſiſche Urſprung ſeiner Doktrin nirgends verkennen. Auch ihm ging das ganze Leben des Staates allein in den Verfaſſungsformen auf; auch er betrachtete die Gleichheit, nicht die Freiheit als das höchſte der politiſchen Güter und urtheilte daher über die Scheinverfaſſung des Königreichs Weſtphalen weit milder als über das alte deutſche Ständeweſen.

Darum fand ſeine Lehre auch die Zuſtimmung der harten Bonapar - tiſten in München. Dort predigte die Alemannia von Aretin und Hörmann noch immer den ſchamloſen Particularismus. Sie betheuerte: eher werden Löwen und Adler mit einander Hochzeit machen als Süd - und Nordländer ſich vereinigen; ſie brachte Geſpräche zwiſchen einem kern - haften Baiermanne und einem geckenhaften pommerſchen Landwehrmanne, der nicht einmal der deutſchen Sprache mächtig war; ſie verhöhnte und verleumdete alles norddeutſche Weſen und erklärte kurzab, bei dem Namen deutſch laſſe ſich gar nichts denken. Aber der alte bajuvariſche Son - dergeiſt ſchmückte ſich jetzt mit neuen Federn. Wahres und Falſches ge - ſchickt vermiſchend, ſchilderte Aretin die Alemannen ſo nannte er alle Süddeutſchen als die alleinigen Vertreter der conſtitutionellen Freiheit, den Norden als das Land des Feudalismus, und dies ſchon im Jahre 1816, lange bevor die neuen ſüddeutſchen Verfaſſungen erſchienen waren. Nachher ſchrieb er ſelbſt ein Lehrbuch des conſtitutionellen Staatsrechts, das die Grundſätze des neuen Vernunftrechts mit den Anſchauungen der rheinbündiſchen Bureaukratie zu verſchmelzen ſuchte; und als Aretin dar - über ſtarb, führte Rotteck das Buch des alten Bonapartiſten zu Ende.

In einer ganz anderen Gedankenwelt bewegten ſich die Anfänge des norddeutſchen Liberalismus. Hier war die Kette der Zeiten nicht ganz zerriſſen, von den alten ſtändiſchen Inſtitutionen noch Vieles erhalten, ein warmes Gefühl hiſtoriſcher Pietät faſt überall im Volke lebendig. Die Ideen der Revolution hatten hier niemals ſo tiefe Wurzeln geſchlagen; die Liberalen vermaßen ſich nicht den Staat nach den Abſtraktionen des Ver - nunftrechts völlig neu zu geſtalten, ſondern verlangten nur die Wiederbele - bung und Fortbildung des alten Ständeweſens. Das Organ dieſer gemä - ßigten Richtung bildeten die Kieler Blätter. Wohl nirgends zeigte ſich die innere Verwandtſchaft zwiſchen dem neuen Liberalismus und der idealiſti - ſchen Begeiſterung unſerer claſſiſchen Literatur ſo ſchön und rein wie in dem Kreiſe feingebildeter und liebenswürdiger Menſchen, der ſich um dieſe ge - diegenſte Zeitſchrift des deutſchen Nordens ſchaarte. An dem gaſtlichen Tiſche der Gräfin Reventlow auf der Seeburg und der Frau Schleiden am Aſcheberger See fanden ſich die beſten Männer der Kieler Univerſität, Dahlmann, Falck, Tweſten, C. T. Welcker, mit dem Arzte Franz Hege -111Dahlmann. Haller.wiſch, dem geiſtſprühenden Heißſporn, und den Führern des ſchleswig - holſteiniſchen Adels, den Reventlow, Rumohr, Baudiſſin, Moltke in hei - terer Geſelligkeit zuſammen. Sie Alle ſchwärmten für Goethe, ſie Alle fühlten ſich ſtolz, das deutſche Weſen hier in der äußerſten Nordmark gegen den wachſenden Uebermuth der däniſchen Krone zu vertheidigen, und wenn ſie für conſtitutionelle Rechte ſich begeiſterten, ſo meinten ſie damit nur das Ideal freier Menſchenbildung, das einſt in Weimar verkündet ward, zu verwirklichen.

Aus dieſer kleinen Welt voll Geiſt und Anmuth gingen Dahlmanns Aufſätze ein Wort über Verfaſſung (1815) hervor, in Form und In - halt das genaue Gegentheil der Schriften Rottecks. Der Kieler Gelehrte ſchrieb ebenſo gedankenreich, kurz und markig wie der Freiburger dünn und breit. Wenn dieſer das hiſtoriſche Recht bekämpfte, ſo mahnte Dahl - mann die Deutſchen, ſich das vollſtändige Daſein ihrer Väter zu vergegen - wärtigen, um alſo ſittlich zu geneſen. Wollte Rotteck das Königthum nur vorläufig dulden, ſo bekannte Dahlmann unumwunden ſeine ſtreng mon - archiſche Geſinnung und ſagte zum Entſetzen der Philologen: die Grie - chen und Römer mißkannten den Zeitpunkt, wo es nützlich war zur Mon - archie überzugehen. Nicht in Frankreich, ſondern in England ſuchte er ſein Staatsideal: hier ſind die Grundlagen der Verfaſſung, zu welcher alle neu-europäiſchen Völker ſtreben, am reinſten ausgebildet und aufbe - wahrt. Seit Montequieus Geiſt der Geſetze in Deutſchland Eingang gefunden, hatte es zwar an unbeſtimmten Lobpreiſungen der engliſchen Freiheit nie gefehlt; eben jetzt ließ Rückert die rückkehrende Freiheit ſagen:

O baut mir einen Tempel
Nach Albions Exempel!

Doch unter den Publiciſten war Dahlmann der erſte, der mit gründ - licher Sachkenntniß und frei von blinder Nachahmungsſucht das engliſche Parlament als ein Muſter für Deutſchland hinſtellte, wie Vincke kurz zuvor die britiſche Selbſtverwaltung. Männer wie Niebuhr, Schleier - macher und Thibaut ſprachen dem Kieler Hiſtoriker ihre freudige Zuſtim - mung aus; aber erſt nach vielen Jahren fanden ſeine Gedanken in weiteren Kreiſen Anklang. Die Kieler Blätter drangen nicht weit über Schleswig - Holſtein hinaus; denn die Maſſe des Volkes im Norden ging in wirthſchaft - lichen Sorgen unter, und wer in Süddeutſchland für die conſtitutionellen Ideen empfänglich war, hielt ſich lieber an den bequemeren Katechismus des Rotteck’ſchen Vernunftrechts.

Beiden Richtungen des Liberalismus ſtand, durch eines Himmels Weite getrennt, der gefürchtete Reſtaurator der Staatswiſſenſchaft Karl Ludwig v. Haller gegenüber. Der Berner Ariſtokrat hatte die Macht ſeiner Stan - desgenoſſen vor den Gewaltſtreichen der Revolution zuſammenbrechen ſehen und dann in der Verbannung, im öſterreichiſchen Dienſte, ſich das poli - tiſche Syſtem gebildet, das die Monarchie wieder auf ihrem wahren Grunde112II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.erbauen, die anmaßende revolutionäre Wiſſenſchaft des gottloſen acht - zehnten Jahrhunderts zu Schanden machen und die katholiſche Kirche mit einem neuen Glanze erleuchten ſollte. Mit dem ſtolzen Bewußtſein eines welthiſtoriſchen Berufes verkündete er ſeine Lehre, erſt in der Allgemeinen Staatskunde (1808), dann, ſeit 1816, in der Reſtauration der Staats - wiſſenſchaft; es ſchien ihm wie eine übernatürliche Fügung, daß gerade ihm, dem geborenen Republikaner und Proteſtanten, die antirevolutionäre Heilswahrheit aufgegangen ſei. Und allerdings mit zermalmender Wucht fielen die dialektiſchen Keulenſchläge ſeines harten Menſchenverſtandes auf die Phantaſiegebilde der Naturrechtslehre. Erſt die handfeſten Beweis - gründe dieſes polternden Naturaliſten erſchütterten den Glauben an den Naturzuſtand, an den Staatsvertrag und die urſprüngliche Volksſouverä - nität auch in den Kreiſen jener Ungelehrten, welche den feinen Gedanken der hiſtoriſchen Rechtsſchule nicht folgen konnten. Was er freilich ſelber an die Stelle dieſer überwundenen Doktrin ſetzte war nur eine grobe Verallgemeinerung der patrimonialen Rechtsgrundſätze der alten Berner Ariſtokratie. Wie einſt die Herren von Bern ihre eroberten Unterthanen - lande im Aaargau und im Waadtland kurzweg als das Eigenthum ihrer ſiegreichen Republik behandelt hatten, ſo begründete Haller den Staat ſchlechthin auf das Recht des Stärkeren. Das Land gehört einem Fürſten, einer Corporation oder einer Kirche; auf dieſem Eigenthum des Landes - herrn und unter ſeinem Schutze ſiedelt ſich das Volk an; verſchwände das Volk, ſo wäre der Staat immer noch vorhanden in der Perſon des Für - ſten, der leicht neue Unterthanen finden kann. Der Staat erſcheint mit - hin als eine privatrechtliche Genoſſenſchaft wie andere auch, nur mächtiger, ſelbſtändiger als ſie alle, der Fürſt als ein begüterter, vollkommen unab - hängiger Menſch ; er beherrſcht das Volk durch ſeine perſönlichen Diener, iſt berechtigt wie verpflichtet ſich ſelber und ſein Haus als den Haupt - zweck des Staates zu betrachten, muß aber auch den Aufwand aus ſeinem eigenen Vermögen beſtreiten und die Unterthanen durch ſeine eigenen Sol - daten beſchützen. Ein Zerrbild des alten ſtändiſchen Staates, wie es in ſolcher Roheit ſelbſt im vierzehnten Jahrhundert nirgends beſtanden hatte, ward alſo mit der gleichen Unfehlbarkeit, wie einſt die Muſterverfaſſungen der Revolution, als das allgemeingiltige Staatsideal hingeſtellt; die ſtaats - rechtliche Unterordnung des Bürgers ſank zur privatrechtlichon Dienſtbar - keit herab. Der Reſtaurator hob in Wahrheit den Staat ſelber auf.

Nirgends erſchien ſeine Doktrin ſo bodenlos, ſo allen Thatſachen wider - ſprechend wie in Preußen; denn kein anderer Staat hatte die Majeſtät des Staatsgedankens ſo hoch gehalten, wie dieſer, deſſen Fürſten immer die erſten Diener des Staates waren. Daher auch Hallers wilder Haß gegen Friedrich den Großen, gegen den aufgeklärten preußiſchen Abſolutismus, der die haſſenswürdige Conſcription erfunden habe, und gegen das Allge - meine Landrecht: außer auf dem Titelblatte ſieht man nirgends, ob es113Adam Müller.eher für Japan und China als für den preußiſchen Staat gegeben ſei. Gleichwohl fand Haller gerade in Preußen zahlreiche und mächtige An - hänger. Der Kronprinz und ſeine romantiſchen Freunde meinten in dem grundherrlichen Staate die Farbenpracht des Mittelalters wiederzuerkennen; Marwitz und die Feudalen von der märkiſchen Ritterſchaft begrüßten mit Jubel den entſchloſſenen Denker, der den Monarchen wieder in die Reihe der Grundbeſitzer hinabſtieß, die Geſellſchaft wieder in Lehr -, Wehr - und Nährſtand theilte und den Freieren des Landes ſo werthvolle Privi - legien zugeſtand; den Abſolutiſten behagte, daß im Haller’ſchen Staate der Fürſt vor dem Volke war; die Ultramontanen freuten ſich des Lobes der Theokratie, welche dem Convertiten als die freieſte und wohlthätigſte aller Staatsformen erſchien; die ängſtlichen Gemüther fanden ihre eigenen ban - gen Befürchtungen beſtätigt durch die Anklagen des Berner Fanatikers, der die ganze Welt von der großen Verſchwörung der Freimaurer, der Illu - minaten, der Revolutionäre bedroht wähnte. Alle Gegner der Revolution hießen die ſiegreiche Polemik gegen das Naturrecht willkommen. Während in den einfacheren und größeren Verhältniſſen des franzöſiſchen Staats - lebens die Partei der Feudalen und Clericalen ſchon offen als die Feindin des bureaukratiſchen Abſolutismus auftrat, wogten in Deutſchland alle dieſe Richtungen der Gegenrevolution noch ungeſchieden durcheinander.

Ungleich geringeren Anklang fand die rein ultramontane Staatslehre des vielgewandten Sophiſten Adam Müller. Das römiſche Weſen wollte in dem Heimathlande der Ketzerei nicht recht gedeihen; keiner unſerer cle - ricalen Schriftſteller konnte ſich dem Grafen de Maiſtre vergleichen, dem ritterlichen Savoyarden, der mit der ganzen Gluth romaniſchen Glaubens - eifers, bald witzig ſpottend, bald pathetiſch zürnend, die Unterwerfung der ſündigen Welt unter das Papſtthum forderte und die verthierende Wiſſen - ſchaft des Jahrhunderts der Narrheit bekämpfte. Solcher Schwung der Seele, ſolche Gluth begeiſterter Kreuzfahrergeſinnung war dem geiſtreichen deutſchen Convertiten nicht gegeben. Adam Müller erkannte zwar ſcharf - ſinnig manche Schwächen des Liberalismus, namentlich ſeiner wirthſchaft - lichen Doktrinen; er zeigte ſchlagend, wie wenig das Syſtem des Gehen - laſſens in dem Kampfe der ſocialen Intereſſen genüge, wie unmöglich die vollſtändige internationale Arbeitstheilung zwiſchen unabhängigen Völkern ſei, und ſagte warnend vorher, aus der modernen Volkswirthſchaft werde ein neuer Geldadel hervorgehen, ſchnöder, gefährlicher als der alte Ge - burtsadel. Aber in ſeiner Theologiſchen Grundlegung der Staatswiſſen - ſchaft wurde doch nur die Haller’ſche Doktrin wiederholt und mit einigen theologiſchen oder naturphiloſophiſchen Flittern neu ausgeſchmückt. Noch willkürlicher als Haller erkünſtelte er ſich eine natürliche Gliederung der Geſellſchaft und unterſchied bald den Lehr -, Wehr - und Nährſtand als die Vertreter von Glaube, Liebe, Hoffnung, bald nach der Formel Trau, ſchau, wem den Adel, die Bürger, die Regierenden. Wie Haller leugneteTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 8114II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.er den Unterſchied von Staats - und Privatrecht und verſicherte, jeder Staat ſetze ſich in’s Unendliche aus Staaten zuſammen. Sein Ideal war der vernünftige Feudalismus; den Widerſpruch zwiſchen Politik und Recht dachte er zu löſen durch die Macht des Glaubens, der zugleich Geſetz ſei.

So ward denn Alles wieder in Frage geſtellt, was die deutſche Staats - wiſſenſchaft ſeit anderthalb Jahrhunderten gedacht hatte, ſeit Pufendorf ſie von dem Joche der Theologen erlöſte; die politiſche Doktrin ſank zurück in die theokratiſchen Vorſtellungen des Mittelalters. Friedrich Schlegel feierte die Kirche als die erſte aller Innungen, nach ihrem Vorbilde ſollten ſich alle anderen Corporationen der bürgerlichen Geſellſchaft neu geſtalten. Baader nannte den Lehr -, Wehr - und Nährſtand die drei Staaten jeder Nation und verwarf den Ausdruck der Staat als eine ſündliche moderne Erfindung. Corporation, nicht Aſſociation ſo lautete das Schlagwort der politiſchen Romantiker; die meiſten verbanden damit nur die unbeſtimmte Vorſtellung einer ſchwachen Staatsgewalt, welche durch Zünfte, ritterliche Landtage, autonome Gemeinden eingeſchränkt, durch die Kirche geiſtig be - herrſcht werden ſollte. Der nüchterne Gentz fühlte ſich wildfremd und un - heimlich in dieſer Traumwelt der theologiſirenden Politik und geſtand ſeinem Freunde Müller: hier vermiſſe er Alles, was die Wiſſenſchaft ausmache, Klarheit, Methode, Zuſammenhang. Sein weltlicher Sinn empörte ſich, wenn ihm der Freund betheuerte, der Weltfriede hänge von der Erkenntniß der Menſchwerdung Gottes ab. Erſt als er die Vorboten der nahenden Revo - lution zu erkennen glaubte, da ſchrieb er in einem Anfall nervöſer Angſt: Sie haben vollkommen Recht, Alles iſt verloren, wenn nicht die Religion pas seulement comme foi mais comme loi hergeſtellt wird. Aber die Zerknirſchung hielt nicht vor; der erſte der deutſchen Publiciſten ſtand doch zu hoch um die Erkenntniß der weltlichen Natur des Staates auf die Dauer aufzugeben.

Eine Kluft von Jahrhunderten ſchien zwiſchen den romantiſchen Staatslehren und den liberalen Doktrinen zu liegen. Auf Seite der Con - ſervativen ſtand noch die große Mehrzahl der literariſchen Talente, die Ueberlegenheit wiſſenſchaftlicher Bildung; der Liberalismus zeigte trotz ſeiner jugendlichen Unreife doch mehr Sinn für die Bedürfniſſe der Gegenwart, für die berechtigten Anſprüche der erſtarkenden Mittelklaſſen. Wer zwi - ſchen dieſen ſchroffen Gegenſätzen zu vermitteln ſuchte, erregte nur Verdacht. Selbſt der ehrliche Steffens kam in den Ruf reaktionärer Geſinnung, weil er in ſeinen geiſtreich verſchwommenen politiſchen Schriften zwar land - ſtändiſche Verfaſſungen forderte, aber nach ſeiner phantaſtiſchen Art die Gemeinſchaft der Heiligen für die Idee des Staates erklärte und den Vorzug des Adels in der myſtiſchen Tiefe aller irdiſchen Geburt begründet fand. Den Patrioten klang es wie Hohn, wenn der vertrauensvolle Mann die charakterloſe Buntheit des zerriſſenen deutſchen Staatslebens geradezu als einen Vorzug pries: jede Verfaſſung ſei mangelhaft, erſt die Vielheit115F. Schlegel. Steffens. Ancillon.der Verfaſſungen gebe eine höhere geiſtige Einheit! Noch weniger ver - mochte Ancillon die erbitterten Gemüther zu beſchwichtigen. Seine zahlrei - chen ſtaatswiſſenſchaftlichen Bücher blickten mit vornehmer Geringſchätzung auf die ſeichten Vergötterer des Zeitgeiſtes hernieder und offenbarten doch eine Gedankenarmuth, woneben Rottecks Waſſerklarheit wie ſprudelnde Genialität erſchien, dazu eine ſchillernde Unbeſtimmtheit des Ausdrucks und der Ideen, die ſich überall eine Hinterthür offen hielt. Wenn er in tiefer Unterthänigkeit die Heilige Allianz als die Verſöhnung von Politik und Mo - ral feierte oder mit ſalbungsvoller Breite bewies, zwiſchen berathenden und beſchließenden Landſtänden beſtehe eigentlich kein Unterſchied, dann zürnten die Liberalen um ſo heftiger, da ſie wußten, daß der behutſam vermit - telnde Schriftſteller am preußiſchen Hofe ſtets die Beſtrebungen der ſtreng reaktionären Partei unterſtützte.

Noch bevor die ſiegreichen Heere heimkehrten, hatte ein an ſich gering - fügiger häßlicher Vorfall den Gegenſatz der politiſchen Meinungen krank - haft verſchärft, das kaum erwachende Parteileben auf lange hinaus ver - giftet. Seit Jahren waren die napoleoniſchen Märchen von dem Tugend - bunde und den jacobiniſchen Umtrieben der preußiſchen Patrioten in der Hofburg wie in den rheinbündiſchen Cabinetten geſchäftig umhergetragen worden; auch die wohlmeinenden kleinen Höfe erſchraken über die lär - mende terroriſtiſche Sprache der teutoniſchen Wortführer; alle Regierungen fühlten ſich unſicher, ſie empfanden ſelber, wie wenig der Friedensſchluß und die Bundesakte den Wünſchen der Nation genügen konnten. Auch in Preußen begannen die alten Gegner Steins und des ſchleſiſchen Haupt - quartiers ſich wieder zu rühren. Schon während des Wiener Congreſſes verdächtigte ein Hofrath Janke das wilde Freiheitsgeſchrei von Arndt und Görres bei dem Staatskanzler. Als die Monarchen zum zweiten male in Paris verſammelt waren, veröffentlichte der Berliner Profeſſor Schmalz eine Flugſchrift: Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Ven - turiniſchen Chronik vom Jahre 1808. Jene Stelle war ſchon vor Jahren auf Schmalz’s Verlangen von dem Herausgeber ſelbſt berichtigt worden; Schmalz benutzte nur den Vorwand um, anknüpfend an die Geſchichte des alten Tugendbundes, von dem unterirdiſchen Treiben der geheimen Ver - eine, welche vielleicht aus jenem Bunde hervorgegangen ſeien, ein unheim - liches Schreckensbild zu entwerfen. Er war ein Schwager Scharnhorſts, hatte mit dem General ſtets in gutem Einvernehmen gelebt, in der Zeit der franzöſiſchen Herrſchaft ſeinen patriotiſchen Muth bewährt, auch an der Begründung der Berliner Univerſität rührig mitgearbeitet. In der Unzahl ſeiner ſtaatswiſſenſchaftlichen Schriften zeigte ſich ein beſchränkter, harter Kopf, der die Ideen der Revolution haßte, ohne doch ihre Grundlage, die Lehre des Naturrechts wiſſenſchaftlich überwinden zu können; an ſeinem Rufe haftete bisher kein Makel. Welch ein Aergerniß nun, als dieſer ge - achtete Patriot plötzlich eine lange Reihe wüthender Anklagen gegen das8*116II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.neue Deutſchthum erhob: wie die Jacobiner einſt die Menſchheit ſo ſpiegeln dieſe verſchworenen Volksverführer die Teutſchheit vor um uns der Eide ver - geſſen zu machen und den tollen Gedanken Einer deutſchen Regierung zu verwirklichen! Gerade gegen den beſcheidenſten und maßvollſten der teuto - niſchen Redner, gegen Arndt richtete Schmalz ſeine gehäſſigſten Schmähun - gen. Arndt hatte in dem köſtlichen Katechismus für den deutſchen Land - wehrmann die bibliſche Redewendung gebraucht: ſchonet der Wehrloſen und der Weiber und Kinder brauchet chriſtlich und menſchlich! Daraus ſchloß Schmalz, dieſe Ruchloſen hätten Mord, Plünderung, Nothzucht, letztere gar klärlich gepredigt . Ohne Zweifel, ſelbſt ſeine Gegner gaben das zu, handelte der unſelige Mann in gutem Glauben.

Zum erſten male ſeit drei Jahrhunderten war über das ſtille Nord - deutſchland eine wirkliche Volksbewegung dahingebrauſt; der Anblick aller der elementariſchen Kräfte, die in ſolchen Zeiten des Sturmes ſich ent - feſſeln, hatte manches ſchwache Gemüth betäubt und verwirrt. Wie in England zur Zeit Karls II. tauſende ehrlicher Leute von dem Daſein der eingebildeten Papiſtenverſchwörung überzeugt waren, ſo griff jetzt in Deutſch - land ein finſterer Wahn gleich einer verheerenden Seuche um ſich; nicht blos ſchlechte Geſellen glaubten an die geheime Wühlerei demagogiſcher Bünde. Noch verletzender als der offenbare Unſinn berührten die bos - haften Halbwahrheiten der Schmalziſchen Schrift. Dem literariſchen Selbſt - gefühle hielt er entgegen: die Maſſe des Volkes habe von den Schriften der Publiciſten nie ein Wort erfahren. Aus jener ſchönen Anſpruchsloſig - keit des preußiſchen Volks, die das Ungeheure that als verſtände ſich’s von ſelber, zog der Denunciant den Schluß, eine ungewöhnliche Begeiſterung habe ſich nirgends gezeigt, die Preußen ſeien zu den Fahnen geeilt wie beim Brande die Nachbarn zum Löſchen. Wenn Arndts Schrift über Preu - ßens rheiniſche Mark ſagte: Preußen muß allenthalben ſein und Preußens Deutſchland allenthalben, und den Staat der Hohenzollern das einzige deutſche Land nannte, das Deutſchlands Nichtigkeit zur Herrlichkeit er - heben könne ſo genügten dem Ankläger ſolche unbeſtimmte Weiſſagungen um die beabſichtigte Entthronung aller deutſchen Kleinfürſten zu erweiſen.

Die beſten Männer der Nation fühlten ſich in den Tiefen der Seele empört, da ſie das Andenken der ſchönſten Zeit der neuen deutſchen Ge - ſchichte ſo ſchmählich beſudelt ſahen. Eine Fluth von Gegenſchriften über - ſchwemmte den Büchermarkt, der ärgerliche Handel hielt während der letzten Monate des Jahres 1815 faſt die geſammte gebildete deutſche Welt in Athem. Auch das Ausland miſchte ſich ein; die Times unterſtand ſich, den unruhigen Preußen das gehorſame Hannover als ein Muſterbild vor - zuhalten. Niebuhr und Schleiermacher wieſen den armſeligen Ankläger zurück, Jener mit tiefem Ernſt, Dieſer mit ſchonungsloſem Spott. In anderen Gegenſchriften zeigte ſich freilich die verblendete Selbſtüberhebung des jungen Liberalismus. Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters, er -117Schmalz der Denunciant.widerte dem Vertheidiger des abſoluten Königthums kurzab: das Re - präſentativſyſtem iſt das wahre und auch das einzige, wozu rechtliche und vaterländiſche Menſchen ſich öffentlich bekennen dürfen! Rath Koppe in Aachen, ein ausgezeichneter preußiſcher Beamter, behauptete zuverſichtlich: durch das talismanartige Wort Verfaſſung wird die deutſche Einheit ge - ſichert; denn überall ſtrebt der Nationalwille nach dieſer Einheit; alle Ab - weichungen davon hatten ihren Grund in dem Uebergewichte der Regie - rungsgewalt über den Volkswillen!

Um Neujahr 1816 machte eine würdig und freundlich gehaltene Ver - ordnung des Königs dem Zanke ein Ende. Der Monarch erkannte offen an: dieſelben Geſinnungen, welche die Stiftung des alten Tugendbundes veranlaßt, hätten im Jahre 1813 die Mehrheit des preußiſchen Volkes beſeelt und die Rettung des Vaterlandes herbeigeführt, jetzt aber, im Frie - den, könnten geheime Verbindungen nur ſchädlich werden. Das alte Ver - bot der heimlichen Geſellſchaften ward erneuert, die Fortſetzung des lite - rariſchen Streites unterſagt, eine Unterſuchung, welche Niebuhr und ſeine Freunde zu ihrer eigenen Rechtfertigung beantragt hatten, als überflüſſig abgelehnt. Nun verſtummte der Lärm; aber Jedermann fühlte, daß die arge Saat des Anklägers, der eben jetzt durch einen preußiſchen und einen württembergiſchen Orden ausgezeichnet wurde, doch nicht auf ganz undank - baren Boden gefallen war. Mit ſolchen Geſinnungen ſchritten Deutſch - lands Fürſten und Stämme in die erſehnte Friedenszeit hinein. Dort ein ſtiller, gegenſtandsloſer Argwohn; hier ein blinder Glaube an die zau - beriſche Wirkung der conſtitutionellen Staatsformen, ein kindliches Ver - trauen zu der untrüglichen Weisheit des Volks; in den Maſſen endlich tiefe Sehnſucht nach Ruhe und friedlicher Arbeit.

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Vierter Abſchnitt. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Das Weltreich war gefallen, über ſeinen Trümmern erhob ſich wieder eine friedliche Staatengeſellſchaft. Aber jenes alte Syſtem der europäiſchen Politik, das durch wechſelnde Bündniſſe und Gegenbündniſſe die fünf Groß - mächte im Gleichgewicht zu erhalten ſuchte, kehrte vorerſt nicht wieder. Alle Staaten des Welttheils bildeten jetzt, wie Gentz ſagte, eine große Union unter der Aufſicht der vier Mächte, welche den Krieg gegen Na - poleon geführt und ihren Bund ſoeben in Paris erneuert hatten. So viele Jahre hindurch, in der argen Zeit des Harrens und des Leidens, war an dieſem rettenden Bunde gearbeitet worden; nun hatte er in drei ſchweren Kriegsjahren ſeine Probe beſtanden. Während ihres langen Zu - ſammenlebens hatten ſich die Monarchen und die leitenden Staatsmänner an einen vertrauten perſönlichen Verkehr gewöhnt, wie er vordem unter gekrönten Häuptern unerhört geweſen; ſie beſchloſſen, auch in Zukunft alle großen Fragen der europäiſchen Politik in perſönlichen Zuſammenkünften zu beſprechen. Der Bund der vier Mächte betrachtete ſich als den oberſten Gerichtshof Europas; er hielt für ſeine nächſte Pflicht, die neue Ordnung der Staatengeſellſchaft vor einem Friedensbruche zu bewahren und darum das unberechenbare Frankreich, den Heerd der Revolutionen und der Kriege, gemeinſam zu überwachen. Während das europäiſche Occupationsheer unter Wellingtons Oberbefehl die Ruhe in Frankreich aufrecht zu erhalten hatte, ſollten die vier Geſandten zu Paris in regelmäßigen Conferenzen die lau - fenden Geſchäfte der großen Allianz erledigen und den Tuilerienhof mit ihren Rathſchlägen unterſtützen; in einzelnen Fällen luden die Vier auch den Herzog von Richelieu ſelbſt zur Berathung ein. Alle Streitfragen, die ſich aus den Wiener und Pariſer Verträgen ergaben, wurden dieſer Geſandtenconferenz zugewieſen; nur die Abwicklung der verworrenen deut - ſchen Gebietsfragen blieb einer beſonderen Verhandlung in Frankfurt vor - behalten.

Noch niemals hatte das Staatenſyſtem eine ſo feſtgeordnete bündiſche Gemeinſchaft gebildet. Das Protectorat der vier Mächte beherrſchte den119Die Pariſer Geſandtenconferenz.Welttheil minder gewaltſam, aber ebenſo unumſchränkt wie einſt der Wille Napoleons. Die Staaten zweiten Ranges les Sous-Alliés nannte man ſie ſpöttiſch in den diplomatiſchen Kreiſen des Vierbundes ſahen ſich von allen Geſchäften der großen Politik völlig ausgeſchloſſen; als der hochmüthige ſpaniſche Hof, der die Zeiten Philipps II. nicht vergeſſen konnte, Zutritt zu der Pariſer Geſandtenconferenz verlangte, ward er ſcharf zurück - gewieſen, am ſchärfſten von Preußen. Nirgends aber ward das Ueberge - wicht der vier Mächte ſchwerer empfunden, als in Frankreich. Obwohl die Franzoſen von den außerordentlichen Machtbefugniſſen der Geſandten - conferenz nichts Sicheres wußten, ſo pflegt doch in Fragen der nationalen Ehre der Inſtinkt der Maſſen ſelten ganz zu irren. Die Nation ahnte dunkel, daß ihre Regierung durch das Ausland beaufſichtigt wurde, und ver - folgte mit überſtrömendem Haſſe den Lord Proconſul Wellington. Die Herrſchaft des alten Königthums konnte ſchon darum nicht wieder feſte Wurzeln ſchlagen, weil ſie dem Volke als eine Fremdherrſchaft erſchien. Nur zu bald bewährte ſich die Warnung, welche Humboldt dem Pariſer Friedenscongreſſe zugerufen hatte: die Revolution werde niemals endigen, wenn Europa die Franzoſen unter ſeine Vormundſchaft nehme.

Die vier Mächte betrachteten ſämmtlich den Beſtand der legitimen Dynaſtie als einen Grundpfeiler der neugeordneten Staatengeſellſchaft und behandelten daher den franzöſiſchen Hof mit aufrichtigem, beſorgtem Wohl - wollen. Kaum hatte der Pariſer Congreß die Frage der Landabtretung in’s Reine gebracht, ſo begann Gneiſenau ſofort, noch im Oktober 1815, eine tief geheime Verhandlung mit den Tuilerien. Rückſichtslos wie auf dem Schlachtfelde pflegte der kühne Mann auch in der Politik ſeine Mittel zu wählen; hatte er doch zur Zeit der ſächſiſchen Händel alles Ernſtes er - wogen, ob Preußen nicht mit Hilfe des zurückgekehrten Napoleon ſeine An - ſprüche durchſetzen ſolle. So ſchien ihm jetzt ſelbſt ein abenteuerlicher Weg erlaubt, wenn nur das Ziel, die Befeſtigung des neuen Staatenſyſtems, erreicht wurde. Seine Unterhändler, Major v. Royer, ein Legitimiſt in preußiſchen Dienſten, bot dem Herzog von Richelieu, mit Hardenbergs Ge - nehmigung, geradezu ein geheimes Bündniß an: Preußen als der nächſte Nachbar ſollte ſich verpflichten, den Bourbonen im Falle einer Revolution mit ſeiner geſammten Kriegsmacht Beiſtand zu leiſten. Die Verhandlung führte zu keinem Ergebniß, offenbar weil König Friedrich Wilhelm ſchließ - lich Bedenken trug ſo weitausſehende, gefährliche Verpflichtungen zu über - nehmen; doch ſie bewies genugſam, daß Preußens Regierung entſchloſſen war, die Ränke Talleyrands ſowie alle die anderen Proben bourboniſcher Undankbarkeit gänzlich zu vergeſſen und mit dem weſtlichen Nachbarn in guter Freundſchaft zu leben. *)Nach den Briefen Royers an Gneiſenau v. 3. Oktbr. 1815 ff., die mir Herr Dr. H. Delbrück freundlich mitgetheilt hat. Der Grund des Scheiterns der Verhandlung

120II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Der wilde Kampf der franzöſiſchen Parteien erregte in der Geſandtencon - ferenz um ſo ſchwerere Beſorgniß, da das reiche Land ſich von ſeinen wirth - ſchaftlichen Leiden wunderbar ſchnell erholte und bald wieder zu einem neuen Kriege fähig ſchien. Frankreich zerfiel, ſo ſagte die unverſöhnliche Oppoſition, in zwei Völker, die Sieger und die Beſiegten von Waterloo. Wo war noch ein gemeinſamer Boden für die demokratiſchen Maſſen, denen die Glorie der weltherrſchenden Tricolore das Hirn berauſchte, und für die Emigranten, dieſe Pilger des Grabes , die von der Oriflamme und dem heiligen Ludwig träumten? Höhnend hielt Beranger dem alten Adel das Bild des Marquis von Carabas entgegen; ſein Spottlied c’est le roi, le roi, le roi gab das Königthum der Verachtung preis. Das ganze Land war von einem Netze geheimer Geſellſchaften überſpannt; jeder Veteran der großen Armee, der in ſein heimathliches Dorf zurückkehrte, predigte die napoleoniſche Legende. Auch die geiſtreichen Doktrinäre, die in der Minerva ihre liberalen An - ſchauungen ausſprachen, untergruben das Anſehen der Krone durch gehäſſiges Mißtrauen. Gefährlicher als die Leidenſchaften der Oppoſition erſchien je - doch vorerſt die fanatiſche Verblendung der royaliſtiſchen Ultras, welche die Kammer der Abgeordneten beherrſchten. Die Heißſporne der Chambre introuvable ſtrebten geradeswegs zurück zu der alten feudalen Geſellſchafts - ordnung, ſie verlangten blutige Rache an den Königsmördern und den Gottesmördern. Als König Ludwig den wilden Eifer der Emigranten zu mäßigen verſuchte, wendeten ſie ſich gegen das Anſehen der Krone ſelber, ganz ſo trotzig wie jene polniſchen Magnaten, die einſt ihrem König Sigismund zuriefen: rege sed non impera! Die altſtändiſchen Ideen der zügelloſen Adelslibertät tauchten wieder auf und ſchmückten ſich mit den Schlagwörtern der neuen parlamentariſchen Doktrin. Im Namen der conſtitutionellen Freiheit forderte Chateaubriand die Unterwerfung der Krone unter den Willen der Kammern und verfocht in ſeinen Schriften bereits jene radi - kale Theorie des Parlamentarismus, welche ſpäterhin die Liberalen ſich aneigneten und zu dem Satze le roi règne mais il ne gouverne pas zuſpitzten.

Sämmtliche Mitglieder der Geſandtenconferenz, Pozzo di Borgo voran, unterſtützten den König in ſeinem Widerſtande gegen die Ultras. Sogar die hochconſervativen engliſchen Staatsmänner mißbilligten die Parteiwuth der Emigranten, obgleich ihnen der liberale Eifer des jakobiniſchen Czaren und ſeines vordringlichen Geſandten immer verdächtig blieb. Wenn Wel - lington das thörichte Treiben der Ultras betrachtete, die ſich im Pavillon Marſan bei dem Grafen von Artois ihre Weiſungen holten, dann meinte*)wird in den Briefen nicht ausdrücklich angegeben; er kann aber kaum ein anderer ſein als der im Text angeführte. Denn am 9. Novbr. berichtet Royer: nunmehr müſſe König Friedrich Wilhelm in das Geheimniß eingeweiht werden, von deſſen Entſcheidung hänge jetzt Alles ab; und wenige Tage ſpäter verſchwindet die ganze Angelegenheit aus dem Briefwechſel.121Frankreich und die vier Mächte.er beſorgt: die Nachkommen Ludwigs XV. werden Frankreich nicht regieren, und Artois trägt die Schuld! Metternich ſchrieb warnend: die Rückkehr zu einer vergangenen Ordnung der Dinge bildet eine der größten Gefahren für einen Staat, der aus einer Revolution hervorgeht; nachher entfuhr ihm ſogar der ſchmerzliche Ausruf: die Legitimiſten legitimiren die Re - volution. Der preußiſche Geſandte, General Graf v. d. Goltz, ein alter Genoſſe des Blücher’ſchen Hauptquartiers, bewährte ſich als ein Diplomat von würdiger Haltung und geſundem Urtheil; er ward nicht müde ſeinen Hof vor der ſelbſtmörderiſchen Parteiwuth der Royaliſten zu warnen. So geſchah es, daß Hardenberg ſchon im März 1816 ausſprach: die geſetzliche Ordnung in Frankreich ſei nur noch durch die Auflöſung der unfindbaren Kammer zu retten. Die drei anderen Mächte trugen vorerſt noch Bedenken, den Tuilerien ein ſo kühnes Mittel zu empfehlen. Aber als die Verblendung der Ultras unheilbar blieb, faßte König Ludwig endlich einen muthigen Ent - ſchluß. Am 5. Septbr. erfolgte die Auflöſung unter dem Jubel des Landes; die Wahlen brachten den gemäßigten Parteien die Mehrheit, und das Miniſterium Richelieu-Decazes vermochte mit der neuen Kammer leidlich auszukommen. Seitdem erſt begannen die vier Mächte mit etwas beſſerer Zuverſicht in die Zukunft Frankreichs zu ſchauen. In einer Note vom 10. Februar 1817 eröffneten ſie dem Herzog von Richelieu: ſeine oft wieder - holte Bitte um Verminderung der Beſatzungslaſt ſei nunmehr erhört, das Heer Wellingtons ſolle um ein Fünftel, 30,000 Mann, vermindert werden; doch verſäumten ſie nicht hinzuzufügen, daß die löblichen Grundſätze des Her - zogs und ſeiner Amtsgenoſſen viel zu dieſem Entſchluſſe beigetragen hätten. So tief war das ſtolze Frankreich gedemüthigt: ſein erſter Miniſter mußte eine förmliche Belobung von dem hohen Rathe Europas hinnehmen.

Indeſſen zeigte ſich bald, daß die Selbſtändigkeit der modernen Staa - ten eine ſo innige Gemeinſchaft, wie ſie der Vierbund begründet hatte, auf die Dauer nicht ertragen konnte. Der alte Gegenſatz der ruſſiſchen und der öſterreichiſch-engliſchen Politik trat immer wieder zu Tage, und Czar Alexander that das Seine um den Argwohn des Wiener und des Lon - doner Hofes zu verſchärfen. Ohne ſeine Verbündeten zu befragen, ließ er im Februar 1816 die Urkunde der Heiligen Allianz veröffentlichen: die Welt ſollte ihn, ihn allein als den Heiland und den Führer des verbün - deten Europas bewundern. Während die anderen Mächte abrüſteten, wurde das ruſſiſche Heer verſtärkt und in dichten Maſſen nahe der Grenze zu - ſammengezogen. Der Czar gefiel ſich in übertreibenden Schilderungen der ruſſiſchen Kriegsmacht, und ſie wurde in der That, trotz der Erfahrungen der letzten Feldzüge, von aller Welt unbegreiflich überſchätzt; ſelbſt Gneiſenau glaubte, daß Rußland über eine Million Soldaten gebiete und ſogleich mit 500,000 Mann einen Angriffskrieg beginnen könne. Metternich erklärte beſorgt, die Wucht dieſer Rüſtungen und die orthodoxe Schwärmerei könnten den Czaren leicht zu kriegeriſchen Abenteuern verleiten; überall, in Frank -122II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.reich und Spanien, in Italien und der Türkei meinte er den geheimen Umtrieben ruſſiſcher Agenten auf der Spur zu ſein. *)Kruſemarks Berichte v. 24. Febr. 1816, 1. Febr. und 23. März 1817, 7. März und 9. April 1818.Und dieſe ruhe - los ehrgeizige Politik ſegelte unter der liberalen Flagge dahin! Die ruſ - ſiſchen Geſandten ſprachen ſich an allen Höfen für ein Syſtem weiſer Freiheit aus, während die engliſchen ebenſo eifrig vor dem gefährlichen Unſinn liberaler Verfaſſungsverſuche warnten. In ſeinem Polen ließ Alexander ſchon zu Weihnachten 1815 eine Verfaſſung verkündigen. Ob - gleich dies Grundgeſetz an dem Krebsſchaden der polniſchen Zuſtände, an der Unfreiheit des Landvolks nichts Weſentliches änderte und alle politiſche Macht in die Hände des Adels legte, ſo übte doch der Name Conſtitution ſeinen mächtigen Zauber; triumphirend begrüßte der urtheilsloſe Libera - lismus das Gnadengeſchenk des Kaiſers und fragte ungeduldig: wann endlich würden Deutſchlands Fürſten dem Beiſpiele des aufgeklärten Selbſt - herrſchers folgen, der insgeheim ſchon eine Charte für Rußland ſelbſt vor - bereitete? Von den beiden Staatsmännern, welche der Czar in den aus - wärtigen Geſchäften zu Rathe zog, blieb der unbedeutende Neſſelrode ſeinem Freunde Metternich treu ergeben; um ſo verdächtiger erſchien dem Wiener Hofe der liberale Philhellene Kapodiſtrias. Der öſterreichiſche General Stei - genteſch befand ſich zu Petersburg bald in ebenſo peinlicher Lage wie der ruſſiſche Geſandte Stackelberg zu Wien. Caveat consul! hieß es beſtändig in Stackelbergs Berichten; in erregten Worten warnte er ſeinen kaiſerlichen Herrn vor der Tücke dieſes Wiener Dalai-Lamas . Der geheime Ver - trag vom 3. Januar 1815 blieb in Petersburg unvergeſſen, und alle ruſ - ſiſchen Staatsmänner ſchrieben dem Fürſten Metternich die Hauptſchuld daran zu.

Das tiefe Mißtrauen des Tory-Cabinets gegen den Czaren verrieth ſich deutlich in einem Vorſchlage, welchen Lord Cathcart im Auguſt 1816 dem Petersburger Hofe überreichte: eine Conferenz von Offizieren ſollte zuſammentreten um über die gleichzeitige Abrüſtung aller Mächte zu be - rathen und jedem Staate die Stärke ſeines Friedensheeres vorzuſchreiben. Unverkennbar richtete dieſer friedfertige Antrag ſeine Spitze gegen die ruſ - ſiſchen Rüſtungen. Darum ging Metternich mit Eifer auf den Gedanken ein und erwiderte mit freundlichem Seitenblick auf die preußiſche Armee: die Verminderung der Heere ſei beſonders wünſchenswerth in einer Zeit, wo die Revolutionäre ſelbſt ſich mit der militäriſchen Maske bedecken . Kaiſer Alexander gab eine freundliche aber unklare Antwort. Der eng - liſche Vorſchlag blieb liegen, da man bald fühlte, daß eine ſo unnatür - liche Beſchränkung des wichtigſten Hoheitsrechtes ſelbſtändiger Staaten ſich im Ernſt nicht durchſetzen ließ; zumal Preußen konnte den Beſtand ſeines volksthümlichen Heerweſens nimmermehr dem Belieben übermächtiger Nach -123Rußland und England.barn preisgeben. *)Denkſchrift der engliſchen Regierung über die Lage Europas; Metternichs Aperçu sur le mémoire anglais (im Auguſt und Oktober 1816 von Kruſemark an Hardenberg geſendet).Inzwiſchen wuchſen die Beſorgniſſe des öſterreichiſchen Hofes von Monat zu Monat, und um Neujahr 1818 ſtellte Metternich dem Vertrauten Hardenbergs, Geh. Rath v. Jordan, der wegen der deut - ſchen Bundesangelegenheiten in Wien verweilte, geradezu den Antrag: Preußen möge mit Oeſterreich ein geheimes Vertheidigungsbündniß für den Fall eines ruſſiſchen Angriffs abſchließen. Hardenberg fand ſich ſofort dazu bereit, da ihm die Freundſchaft Oeſterreichs über allen anderen Rück - ſichten ſtand. Der König aber widerſprach: warum ſollte Preußen, den unbeſtimmten Befürchtungen der Hofburg zu Lieb, ſeinen alten Bundes - genoſſen verlaſſen, der überdies die geheimen Pläne Metternichs bereits durchſchaut hatte? Mit bitterem Unmuth nahm der Staatskanzler dieſe abſchlägige Antwort entgegen; er meinte nach ſeiner eigenrichtigen Art, Friedrich Wilhelm ſpiele wieder eine ähnliche Rolle wie in der traurigen Epoche von 1805. Umſonſt rief er den Fürſten Wittgenſtein, den unbe - dingten Anhänger Oeſterreichs, zu Hilfe; umſonſt beſchwerte er ſich, daß ihm ſein königlicher Herr ſo wenig Vertrauen zeige. Der Monarch blieb feſt, und am 2. Mai mußte Hardenberg das öſterreichiſche Anerbieten ab - lehnen. **)Hardenbergs Tagebuch 14. Jan., 12. März, 2. Mai 1818.

Dem engliſchen Hofe blieb namentlich das vielgeſchäftige Treiben der ruſſiſchen Diplomatie in Spanien hochbedenklich. Hier wie in Frankreich bemühten ſich die vier Mächte ernſtlich, das wiederhergeſtellte alte König - thum in den Schranken der Mäßigung zu halten, ſoweit die Scheu vor dem reizbaren ſpaniſchen Nationalſtolze dies geſtattete. Sie fühlten alle, wie ſchwer die gemeinſame Sache der europäiſchen Reſtauration durch die Sün - den König Ferdinands geſchädigt wurde. Die ganze liberale Welt gerieth in Aufruhr und Lord Byron ſang flammende Verſe wider den katholiſchen Mo - loch, als der verworfenſte der europäiſchen Fürſten ſogleich nach ſeiner Rück - kehr die Inquiſition wiederherſtellte, als er die Helden jenes Volkskrieges, der den Bourbonen ihren Thron zurückgegeben, mit grauſamen Strafen ver - folgte, als aus den Reihen ſeiner mönchiſchen Anhänger der wahnwitzige Ruf erklang: es leben die Ketten, es lebe der Druck, es lebe König Fer - dinand, es ſterbe die Nation! Aber während alle Mächte in der Verur - theilung dieſer Regierung einig waren, verſuchte Rußland zugleich die Machtſtellung zu untergraben, welche England während des Unabhängig - keitskrieges auf der Halbinſel errungen hatte. Der Geſandte des Czaren Tatiſchtſchew gewann in Madrid allmählich noch größeren Einfluß als Pozzo di Borgo in Paris. Man bemerkte bald, daß Rußland die Erneuerung des alten bourboniſchen Familienvertrags wünſchte um dereinſt die See - macht der beiden Kronen gegen England verwenden zu können. Der uner -124II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.müdliche ruſſiſche Gönner verkaufte endlich ſogar einen Theil ſeiner eigenen Flotte an Spanien und verlangte, daß Europa durch gemeinſame Inter - vention die aufſtändiſchen Kolonien Südamerikas mit dem ſpaniſchen Mutter - lande verſöhnen ſolle. Alle Mächte widerſprachen dieſem abenteuerlichen Vorſchlage; England und Oeſterreich verfolgten die mediterraniſche Politik des Czaren mit um ſo lebhafterer Beſorgniß, da inzwiſchen die Zuſtände der Balkanhalbinſel erſichtlich einer neuen Erſchütterung entgegenreiften.

Wie oft beklagte Metternich, daß ſein beſter und ſicherſter Bundes - genoſſe , die Türkei, der einzige Staat Europas blieb, der ſich nicht auf die Anerkennung der großen Mächte berufen konnte. Die Pforte hatte aus trägem Hochmuth verſäumt, die Bürgſchaft Europas für ihren Länder - beſtand in Anſpruch zu nehmen; nun ſah ſie ſich durch den Abſchluß der Heiligen Allianz aus der Gemeinſchaft der europäiſchen Staaten förmlich ausgeſchloſſen. Der Haß der Muhamedaner gegen die Giaurs flammte wieder mächtig auf; Sultan Machmud ließ abſichtlich einige Beſtimmungen des Bukareſter Friedens unausgeführt und erwartete mit Zuverſicht den Wiederausbruch des ruſſiſchen Krieges. *)Kruſemarks Bericht 8. Jan. 1817.Unterdeſſen hatte die unaufhalt - ſame Erhebung der unglücklichen Rajah-Völker bereits begonnen. Die Serben legten die Waffen nicht mehr aus der Hand und errichteten unter der Leitung ihres Miloſch ein halb-unabhängiges chriſtlich-nationales Ge - meinweſen, deſſen Daſein ſchon den Grundgedanken des ottomaniſchen Reichs widerſprach; Sendboten der unzufriedenen Griechen verkehrten in Petersburg und fanden bei Kapodiſtrias freundliche Aufnahme. Für die Nothwendigkeit der Befreiungskämpfe, die ſich hier vorbereiteten, fehlte in London wie in Wien jedes Verſtändniß. In den Kreiſen der Hochtorys galt die Erhaltung der Türkei kurzweg als ein politiſcher Glaubensſatz, zumal ſeit das engliſche Intereſſe im Oſten durch die Erwerbung der ioniſchen Inſeln gewahrt ſchien; ſtatt aller Gründe berief man ſich auf den Ausſpruch Pitts: mit einem Menſchen, der den Beſtand der Pforte nicht für nöthig hält, ſpreche ich kein Wort mehr über Politik. Metternich aber wendete ſeine Doktrin von dem unantaſtbaren Rechte jeder legitimen Obrigkeit unbedenklich auf die Fremdherrſchaft der Türken an und verab - ſcheute die verzweifelnden chriſtlichen Völker der Halbinſel nicht bloß als Schützlinge Rußlands, ſondern auch als frevelhafte Rebellen. In ſeiner Angſt bemerkte er nicht, daß der unſtete Ehrgeiz des liberalen Selbſtherr - ſchers wohl zuweilen mit hochfliegenden Entwürfen ſpielte, doch den Muth des Vollbringens nicht beſaß. Der Czar erwiderte auf die beſorgten Fragen des Generals Steigenteſch verächtlich: es ſei eine Gewiſſensſache, das Blut eines einzigen Soldaten zu vergießen im Kampfe gegen dieſe türkiſchen Schweine. **)Kruſemarks Bericht, 17. April, 13. Mai 1816.Und ſeinem Geſandten in Wien ließ er ſchreiben: die euro -125Oeſterreich und Rußland.päiſchen Miniſter hätten ſich noch nicht genugſam von ihren veralteten, kleinmüthigen Ideen befreit, weil die gereinigte Moral des Evangeliums nicht zu ihren Herzen ſpräche. Daher ihr Mißtrauen gegen Rußland; heute aber beſtehe, nach dem Rathſchluß der göttlichen Vorſehung, die Herr - ſchaft der öffentlichen Meinung, begründet auf Wahrheit und Gerechtigkeit.

Derweil die Hofburg alſo vor den geheimen Plänen des Czaren zitterte, war ſie ſelber von aufrichtiger Friedensliebe beſeelt. Wie wunder - bar war doch dies alte Oeſterreich nach ſo vielen Niederlagen und Ver - luſten wieder zu einer Machtfülle aufgeſtiegen, die an die Tage Wallen - ſteins erinnerte; ſelten hatte ein Staat beim Ausgange eines Weltkrieges ſich ſo ganz am Ziele aller ſeiner Wünſche befunden. Metternich durfte ſich rühmen, wie viel er ſelbſt durch kluges Aufſparen und rechtzeitiges Einſetzen der Kräfte des Reichs zu dieſem glänzenden Erfolge beigetragen; und da er ſchon in ſeinen jungen Jahren ſtets Alles vorausgeſehen und vorausgeſagt haben wollte, ſo ſteigerte ſich jetzt ſein Selbſtgefühl zu uner - meßlichem Dünkel. Die ganze neue Ordnung der europäiſchen Dinge er - ſchien ihm als ſein perſönliches Werk, die Erhaltung dieſer Ordnung als die einzige Aufgabe ſeines Lebens, da er ſelbſt wie ſein Staat bei jeder Aenderung nur verlieren konnte. Die tiefe Unwahrhaftigkeit ſeines Geiſtes erleichterte ihm, ſich die Thatſachen zurecht zu legen; die Bilder der Ver - gangenheit verſchoben ſich vor ſeinen Blicken, und bald ſah er in der Ge - ſchichte des letzten Menſchenalters ein ungeheures Gewirr von Thorheit und Verbrechen: nur er, er allein war inmitten der allgemeinen Bethö - rung immerdar frei geblieben von Leidenſchaft, frei von Irrthum und vor Allem, wie er gern hervorhob, ganz frei von Eigenliebe. Voll Verachtung ſprach er über die Politiker von dem Schlage eines Richelieu und Mazarin .

Die fremden Diplomaten bemerkten jetzt ſchon, wie ſchwer es hielt ein geſchäftliches Geſpräch mit ihm zu führen; in langen lehrhaften Vorträgen pflegte er den andächtig Lauſchenden ſeine untrügliche Meinung zu ent - wickeln. Eintönig, ſalbungsvoll, breit und hochtrabend verkündeten ſeine Briefe und Depeſchen in unzähligen Umſchreibungen immer nur den einen Gedanken der Erhaltung des Beſtehenden. Und doch verbarg ſich hinter der ſtolzen Zuverſicht die ſtille Angſt: Metternich fürchtete den Krieg, weil er die Schwäche des vernachläſſigten öſterreichiſchen Heerweſens kannte, er fürchtete mehr noch die Revolution. Nicht als ob er jemals die Vortreff - lichkeit des Syſtemes, das den beiden großen Völkern Mitteleuropas die Adern unterband, irgend bezweifelt hätte; aber er ſah die Partei des Um - ſturzes, die ihn ſein Lebelang geängſtigt, noch immer im Dunkeln ſchleichen, er ſah ſie bereit den Feuerbrand in ſein kunſtvolles Gebäude zu ſchleudern; und wie er immer des Glaubens blieb, daß der Tugendbund das preußiſche Heer von langer Hand her aufgewiegelt habe, ſo beobachtete er ſchwer be - ſorgt die Parteikämpfe in Frankreich, die krampfhaften Regungen des Na - tionalgefühls in Deutſchland und Italien; er vernahm mit Entſetzen, wie126II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ſelbſt in England, der feſten Burg der Gegenrevolution, der Gedanke der Parlamentsreform wieder erwachte, wie der feurige Demagog Cobbet ſeine Zweipfennig-Regiſter unter die Maſſen warf und die lange verwahrloſten niederen Klaſſen an ihre Menſchenrechte erinnerte. Um die Fragen der Verfaſſung und Verwaltung hatte ſich der Meiſter der Diplomatie bisher ebenſo wenig gekümmert wie um die großen Culturzwecke des Völkerlebens, deren Förderung der echte Staatsmann als ſeine höchſte Aufgabe betrachtet; ſelbſt dem inneren Leben ſeines Oeſterreichs ſtand er ſo fern, daß er ſein Urtheil über den Charakter dieſer Monarchie in der Phraſe zuſammenfaßte: ſie trage, ohne ein Foederativſtaat zu ſein, doch die Vortheile wie die Nach - theile der Foederativgeſtaltungen. Jedes ſchöpferiſchen Gedankens baar lebte ſeine Politik aus der Hand in den Mund; ſie meinte genug zu thun, wenn ſie ſich bereit hielt jederzeit mit dem Löſcheimer herbeizueilen ſobald irgendwo die Flammen der Revolution aus dem Boden aufſchlugen; ſie ſchwor auf den Gedanken der Stabilität ſo unbedingt wie der junge Libe - ralismus auf die Abſtraktionen ſeines Vernunftrechts, und der Feind der Doktrinäre verfiel ſchließlich ſelbſt in einen Doktrinarismus, der noch um Vieles unfruchtbarer war als die Lehren Rottecks. Je klarer jedes neue Jahr bewies, daß die lebendigen Kräfte der Geſchichte vor den Schranken der Wiener Verträge nicht ſtillſtehen konnten, um ſo krampfhafter ward die Furcht des Ruheſeligen vor der Revolution, bis endlich faſt in allen ſeinen Sendſchreiben das ſorgfältig ausgemalte Schreckbild des drohenden allgemeinen Weltbrandes wie die fixe Idee eines Geiſteskranken wieder - kehrte.

Nur an einer Stelle ſeines Machtgebietes hatte Oeſterreich nicht alle ſeine Abſichten erreicht: der Plan des italieniſchen Bundes war in Wien an dem Widerſpruche Piemonts geſcheitert. Um den Turiner Hof doch noch für dieſen Gedanken zu gewinnen, erhob die Hofburg jetzt Anſprüche auf das weſtliche Ufer des Langenſees und die wichtige Simplonſtraße; doch da Rußland und Preußen ſich der bedrängten Piemonteſen annahmen,*)Kruſemarks Bericht 10. April 1816. ſo ließ Metternich ſeine Abſicht vorläufig fallen und begnügte ſich mit der thatſächlichen Beherrſchung Italiens, die einſtweilen leidlich geſichert ſchien. Wohl war der Jubel, welcher einſt die einziehenden Oeſterreicher in der Lombardei begrüßt hatte, längſt verrauſcht; das Volk murrte über die rück - ſichtsloſe Abſetzung ſo vieler alter Beamten, über die harte, der Landesart völlig unkundige Verwaltung, über die ſchlechten Künſte der geheimen Polizei und die Roheit des bastone tedesco. Als Kaiſer Franz im Februar 1816 ſeine Huldigungsreiſe durch das neue lombardiſch-venetianiſche Königreich antrat, wurde er überall mit unverhohlener Kälte empfangen; ſelbſt der preußiſche Geſandte, General v. Kruſemark, ein warmer Freund Oeſter - reichs, mußte ſeinem Könige berichten: die k. k. Beamten und Offiziere ſeien127Metternichs deutſche Politik.ſammt und ſonders verhaßt, alle Italiener, denen der Gedanke einer ſelbſtändigen Nation anzugehören lieb war , grollten der neuen Regierung. Aber die Ruhe war noch nirgends geſtört, und Metternich erwiderte zu - verſichtlich, als Hardenberg ihm die Namen einiger verdächtigen italieniſchen Patrioten mittheilen ließ: den Italienern fehle, trotz ihrer ſchlechten Ge - ſinnung, der Muth zu Verſchwörungen. *)Kruſemarks Bericht aus Mailand, 28. Febr., 8. März 1816; aus Wien, 4. Jan. 1817.Was ſchien auch zu befürchten? An allen Höfen der Halbinſel herrſchte ein hart abſolutiſtiſcher Geiſt, der den Grundſätzen der Hofburg entſprach; die Bourbonen von Neapel hatten ſich überdies am 12. Juli 1815 durch einen geheimen Vertrag verpflichtet, die alten monarchiſchen Inſtitutionen aufrecht zu halten und dem Wiener Hofe Alles mitzutheilen, was der Ruhe Italiens bedrohlich ſcheine.

Den deutſchen Angelegenheiten ſtand die Hofburg zunächſt noch ganz planlos und gedankenlos gegenüber: genug wenn der Deutſche Bund noth - dürftig zuſammenhielt und im Kriegsfalle dem Hauſe Oeſterreich Heeres - folge leiſtete; dann mochten die Berathungen des Frankfurter Bundes - tages wieder ebenſo leer und nichtig verlaufen, wie einſt die des Regens - burger Reichstags. Metternich verachtete die kleinen deutſchen Höfe aus Herzensgrunde und rief ſtets unbedenklich den Czaren zu Hilfe, wenn einige deutſche Fürſten, die einen Seelenhandel zu machen haben , ſich über die Abwicklung ihrer Gebietsſtreitigkeiten nicht einigen konnten. Aber er wußte auch, daß dieſe kleinen Herren ſich nur darum zur[öſterreichiſchen] Partei hielten, weil ſie die Hofburg als den wohlwollenden Beſchützer ihrer Souveränität verehrten. Daher dachte er ſie möglichſt frei gewähren zu laſſen; ſelbſt der unbequemen Artikel 13 der Bundesakte, das Verſprechen der Landſtände, ſchien vorerſt nicht allzu gefährlich, da die Mehrzahl der deutſchen Höfe über jeden Verdacht liberaler Geſinnung erhaben war. Die Nüchternheit des öſterreichiſchen Staatsmannes hatte ſich nie darüber ge - täuſcht, daß ſein Kaiſerhaus an dem politiſchen Leben der deutſchen Nation nicht theilnehmen, für die Förderung deutſchen Rechts und deutſcher Wohl - fahrt nichts leiſten konnte. Noch in ſeinen Denkwürdigkeiten ſchrieb er unbefangen: in Bezug auf Oeſterreich hatte der Ausdruck: deutſcher Sinn insbeſondere in der Bedeutung, wie ſich derſelbe ſeit der Kataſtrophe Preußens und der nördlichen Gebiete Deutſchlands in den höheren Schich - ten der dortigen Bevölkerung manifeſtirte lediglich den Werth einer Mythe. Jede Regung nationaler Gedanken in Deutſchland war ihm alſo eine Gefahr für Oeſterreichs Herrſchaft. Kaiſer Franz vollends bearg - wöhnte den Patriotismus ſchlechthin als eine gefährliche revolutionäre Lei - denſchaft und wollte nicht einmal von einem öſterreichiſchen Vaterlande hören, da doch alle ſtaatliche Ordnung lediglich in dem Gehorſam der Unter - thanen gegen die Perſon des Herrſchers beſtand; als man ihm den Ent - wurf eines Dankſchreibens an Schwarzenberg und das Heer vorlegte, ſtrich128II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.er ſorgfältig das Wort Vaterland aus und ſchrieb dafür Meine Völker und Mein Staat .

Sollten die Deutſchen dergeſtalt in einem lockeren Vertheidigungsbünd - niß beiſammen bleiben, ohne jemals zu einem ſtarken nationalen Leben zu erwachen, ſo war ein gutes Einvernehmen mit Preußen unerläßlich. Metter - nich verkannte dies nicht, doch wie anders als Hardenberg verſtand er den Gedanken des friedlichen Dualismus! Er hatte ſich einſt ſeine Anſicht über den preußiſchen Staat nach den geringſchätzigen und feindſeligen Ur - theilen, die in den Kreiſen des katholiſchen Reichsadels umliefen, ge - bildet und nachher als Geſandter zu Berlin, in den Jahren vor 1805, die ſchwächſten Zeiten der fridericianiſchen Monarchie aus der Nähe beob - achtet. Niemals konnte er die widerwärtigen Eindrücke jener Tage ver - winden; der preußiſche Staat blieb ihm immer nur ein zuſammengewür - felter Haufe verſchiedener Nationen , ein Gebilde des Zufalls: Alles ſcheint Widerſpruch in der Geſchichte Preußens, und dieſe Jahrbücher um - faſſen kaum ein Jahrhundert! Darum glaubte er ſein Lebelang, das Weltreich Napoleons würde gedauert haben, wenn der Imperator nur den Staat Friedrichs etwas glimpflicher behandelt und als einen beſcheidenen Mittelſtaat in die Reihen des Rheinbundes aufgenommen hätte. Im Jahre 1811 rechnete er beſtimmt auf Preußens Untergang und hoffte mit Na - poleons Hilfe Schleſien für das Haus Oeſterreich zurückzugewinnen.

Auch als dieſe Rechnung trog und Preußen ſich glorreich wiedererhob, ahnte Metternich noch immer nichts von den ſittlichen Kräften, welche den gedemüthigten Staat zu dem ungleichen Kampfe befähigten; er gefiel ſich darin, die preußiſchen Dinge im trübſten Lichte zu ſehen, ſprach wegwerfend von dem beſchränkten, unentſchloſſenen Könige wie von Hardenbergs leicht - gläubiger Schwäche; er redete ſich ein, die preußiſche Armee habe zur Zeit des Waffenſtillſtandes nur dem Namen nach exiſtirt ; ſelbſt den Ruhm Blüchers, Gneiſenaus, Yorks meinte er durch einige fade Späße über die grammatiſchen Schnitzer des Marſchalls Vorwärts abzuthun. Daran be - ſtand in der Hofburg gar kein Zweifel, daß Preußen nur durch Oeſter - reich vor der Vernichtung gerettet worden war; mehr als drei Großmächte auf dem Feſtlande hatte Metternich niemals anerkannt. Das wiederher - geſtellte Preußen ſollte immerdar die erſte Hilfsmacht des Hauſes Oeſter - reich bleiben; nach der Anſchauung des Wiener Hofes bedeutete der deutſche Dualismus die Herrſchaft Oeſterreichs unter Preußens freiwilliger Mit - wirkung. Metternich verſtand jedoch meiſterhaft, den preußiſchen Staats - kanzler über ſeine Herzensmeinung zu täuſchen; er wahrte die Formen ſo ſorgfältig, daß die Berliner Staatsmänner feſt überzeugt blieben, Preußen werde in Wien als eine durchaus gleichberechtigte befreundete Großmacht angeſehen. In zwanzig Jahren geſchah es nur ein einziges mal, und bei einem ziemlich geringfügigen Anlaß, daß Metternich dem preußiſchen Ge - ſandten gegenüber, ſich eine Bemerkung über eine innere Angelegenheit des129Preußens Verhältniß zum Deutſchen Bunde.verbündeten Staates erlaubte. Solche Fragen wurden ſtets nur in ver - traulichen Briefen an den zuverläſſigſten der Berliner Freunde, den Fürſten Wittgenſtein, oder auch bei den perſönlichen Zuſammenkünften der Monar - chen in freundſchaftlichen Geſprächen behutſam berührt.

Dieſe wohlberechnete Zurückhaltung fiel dem klugen Manne nicht leicht; denn im Grunde des Herzens beunruhigten ihn die inneren Zuſtände Preußens noch weit mehr als die Lage Frankreichs. Er konnte ſich nicht verhehlen, daß Preußen mit der bitteren Erinnerung an eine unverdiente diplomatiſche Niederlage die Waffen niederlegte, und ſich mit der lächer - lichen Zerriſſenheit ſeines Gebietes auf die Dauer nicht begnügen durfte. Er glaubte feſt, daß die Centralverwaltung ſeines Todfeindes Stein die preußiſche Jugend mit gefährlichen Gedanken revolutionärer Eroberungsluſt erfüllt habe, und fand ſeinen Verdacht durch die Schriften Arndts und Görres beſtätigt. Am unheimlichſten blieb ihm doch die unerhörte Er - ſcheinung des preußiſchen Volksheeres; keiner der Staatsmänner der alten Schule wollte glauben, daß ſo viel rückſichtsloſer Freimuth, ſo viel lär - mende vaterländiſche Begeiſterung mit unverbrüchlicher Königstreue Hand in Hand gehen könne. Und allerdings verbargen die preußiſchen Offiziere ihr abſchätziges Urtheil über Oeſterreichs Heer und Heeresführung keines - wegs, und mancher dachte ſchon wie der tapfere General Steinmetz vom York’ſchen Corps, der zur Zeit des zweiten Pariſer Friedens rundweg ſchrieb: Oeſterreich ſei kein deutſches Haus mehr, die Oberherrſchaft in Deutſchland gebühre den Preußen. Während der erſten zwei Jahre nach dem Friedens - ſchluſſe quälte alle Höfe des Vierbundes beſtändig die Sorge, Preußen könne durch ſein fanatiſirtes Heer zu revolutionären Abenteuern fortge - riſſen werden. Wellington äußerte, dieſer Staat ſei ſchlimmer daran als Frankreich, hier beſtehe gar keine Autorität mehr. Czar Alexander ent - ſchuldigte ſeine Rüſtungen mit der Nothwendigkeit, Deutſchland gegen die Revolution zu beſchützen; Preußen insbeſondere iſt krank, ſagte er zu Steigenteſch, und der König von Preußen wird der Erſte ſein, dem ich Beiſtand werde leiſten müſſen. *)Kruſemarks Bericht 17. April 1816.

In Wahrheit lag dem Berliner Hofe nichts ferner als der Ehrgeiz revolutionärer Kriegspolitik. Jedermann im Lande wußte, daß der König feſt entſchloſſen war, wenn irgend möglich nie wieder das Schwert zu ziehen. Wohl fehlte es unter den jüngeren Beamten und Offizieren nicht an einzelnen weitſchauenden Köpfen, welche die Unhaltbarkeit der Geſtal - tung des Staatsgebietes erkannten und ſchleunige Abhilfe forderten. Der Präſident v. Motz in Erfurt führte in einer geiſtvollen Denkſchrift aus: die von Hardenberg erſtrebte Führerſtellung im Norden könne nur dann geſichert werden, wenn Preußen für einige Striche ſeiner rheiniſch-weſt - phäliſchen Provinzen Oberheſſen und Fulda eintauſche und alſo am Unter -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 9130II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.main wiedergewinne, was am Obermain, in Ansbach-Baireuth verloren worden; dann erſt ſei ganz Norddeutſchland durch preußiſches Gebiet um - klammert und die wichtige militäriſche Poſition der Kinzig-Päſſe nebſt der Haupthandelsſtraße Deutſchlands, der Frankfurt-Leipziger, komme in preu - ßiſchen Beſitz. Warnend verwies er auf die feindſelige Geſinnung der rhein - bündiſchen Staaten des Südens: ſcheint ſie doch in Abſicht Deutſchlands mit Frankreich faſt einerlei Intereſſe zu beſeelen, nämlich Zerſplitterung und Iſolirung der deutſchen Volkskraft, Verhinderung aller Einheit; darum beſchwor er den Staatskanzler, ein Stück preußiſchen Gebiets als tren - nenden Keil zwiſchen Heſſen und Baiern einzuſchieben, damit die norddeut - ſchen Mittelſtaaten nicht dem Drucke aus Süden bloßgeſtellt würden. *)Motz, Denkſchrift Ueber die geographiſche Verbindung der Oſt - mit der Weſt - hälfte des preußiſchen Staates 1817. Humboldts Antwort 18. März 1819.Aber wie ſollten ſo kühne Pläne ohne einen Krieg verwirklicht werden? Die Regierung lehnte den Vorſchlag ab; ſie war ehrlich entſchloſſen ſich mit dem neuen Beſitzſtande zu begnügen, zumal da der König jeden Gebietsaus - tauſch als eine Verletzung ſeiner Regentenpflicht verſchmähte. Hardenbergs deutſche Politik begnügte ſich mit der beſcheideneren Aufgabe, den zu Wien verheißenen Ausbau der Bundesverfaſſung zu fördern und vor Allem das Bundesheerweſen feſt zu begründen.

Zur Durchführung dieſer friedlichen Pläne ſchien die Freundſchaft der Oſtmächte dem Könige wie dem Staatskanzler unentbehrlich; nur betrachtete Friedrich Wilhelm nach wie vor den Czaren als ſeinen vertrauteſten Bun - desgenoſſen, während Hardenberg ſich zunächſt an Oeſterreich anſchloß. Die Verbindung des königlichen Hauſes mit dem ruſſiſchen Hofe geſtaltete ſich noch inniger, als Alexanders Bruder Großfürſt Nikolaus um die Hand der liebenswürdigen Prinzeſſin Charlotte anhielt. Zwei Jahre darauf, im Juni 1817 ward die Heirath vollzogen, und die Preußen vernahmen mit gerechtem Befremden, daß die Prinzeſſin zur griechiſchen Kirche überge - treten war. Das weiche Gemüth des Königs vermochte der tiefen Herzens - neigung ſeiner ſchönen Lieblingstochter nicht zu widerſprechen; aus väter - licher Zärtlichkeit brachte der gläubige Proteſtant dem ruſſiſchen Hochmuthe ein Opfer, das freilich an den kleinen proteſtantiſchen Höfen längſt für unbedenklich galt, aber im Hauſe der Hohenzollern ohne[Beiſpiel] war und dem Stolze einer Großmacht übel anſtand. Trotz der Freundſchaft der Höfe ſtanden die beiden Völker bald nach dem Kriege wieder fremd, faſt feindſelig einander gegenüber. Die Koſakenſchwärmerei des Frühjahres 1813 war längſt verflogen, auch die lange Waffenbrüderſchaft der beiden Heere blieb ohne dauernde Folgen. Die preußiſchen Liberalen ſchenkten den pathetiſchen Aeußerungen des freiſinnigen Selbſtherrſchers wenig Glauben und verabſcheuten das Moskowiterthum als eine Macht der Finſterniß; in den Grenzprovinzen aber verwünſchte Jedermann die kleinliche und unred - liche Gehäſſigkeit der ruſſiſchen Zollbeamten.

131Der Streit um Salzburg.

So lagen die Verhältniſſe zwiſchen den großen Mächten, als die erſten Bundestagsgeſandten in der alten Krönungsſtadt anlangten. Aber jener Fluch der Lächerlichkeit, welcher die Bundesverſammlung durch ihr geſammtes Wirken begleiten ſollte, verfolgte ſie ſchon bei ihrer Geburt. Die auf den 1. Septbr. 1815 angekündigte Eröffnung wurde zunächſt, in Folge des Pariſer Congreſſes, um ein Vierteljahr verſchoben. Darauf mußten die Ge - ſandten, die ſich im Laufe des Novembers einfanden, noch ein Jahr lang, unter dem Spotte der Frankfurter, auf den Beginn der Verhandlungen warten; denn die beiden Großmächte wünſchten vorher erſt die noch ſchwe - benden deutſchen Gebietsſtreitigkeiten zu beſeitigen, vor allen den hoffnungs - los verfahrenen bairiſch-öſterreichiſchen Länderhandel.

Der Münchener Hof hatte auf dem Wiener Congreſſe den verheißenen ununterbrochenen Gebietszuſammenhang nicht erlangt und behielt daher Salzburg nebſt den Landſtrichen am Inn, die an Oeſterreich ausgeliefert werden ſollten, vorläufig noch in ſeinem Beſitz. Um ſich eine günſtige Ausgleichung des Streites zu ſichern, ſchloß er ſich ſeitdem eng an die Po - litik der Hofburg an; ſein Miniſter Rechberg unterſtützte in Paris die For - derungen Preußens und der kleinen deutſchen Staaten nur lau, da Oeſter - reich die Verkleinerung Frankreichs nicht wünſchte. Zum Danke ließ ſich Metternich, in der Sitzung des Pariſer Congreſſes vom 3. Novbr., von den großen Mächten den dereinſtigen Heimfall des Breisgaus und der badi - ſchen Jungpfalz zuſichern. Ohne das Karlsruher Cabinet einer Mitthei - lung zu würdigen, verfügten die vier Mächte alſo völlig willkürlich über die Zukunft badiſcher Landſchaften. Der Rückfall der badiſchen Pfalz war ſchlechthin rechtswidrig, und für den Heimfall des Breisgaus ſprach auch nur ein künſtlicher Scheingrund. Der Großherzog von Baden beſaß den Breisgau kraft des Preßburger Friedens in derſelben Weiſe und mit den - ſelben Rechten wie vordem der Herzog von Modena; da nun das Kaiſer - haus der nächſte Erbe ſeiner modeneſiſchen Vettern war, ſo ſtellte der Wiener Hof die ungeheuerliche Behauptung auf, er könne nicht nur nach dem Ausſterben des Hauſes Modena deſſen italieniſche Beſitzungen, ſon - dern auch nach dem Ableben der Zähringer Hauptlinie den Heimfall des Breisgaus fordern. Die großen Mächte erkannten dieſen bodenloſen An - ſpruch an, weil den Staatsmännern Englands und Rußlands jede Kennt - niß der deutſchen Verhältniſſe fehlte, Hardenberg aber noch immer hoffte, Oeſterreich werde das Wächteramt am Oberrhein übernehmen.

Mit dieſem Unterhandlungsmittel in den Händen, forderte Metternich nunmehr den ſofortigen Austauſch von Salzburg gegen die linksrheiniſche Pfalz. Als Baiern abermals zögerte, verlor er endlich die Geduld und ſendete im December den General Vacquant nach München um die Her - ausgabe unter allen Umſtänden zu erzwingen; gleichzeitig rückte General Bianchi mit einem öſterreichiſchen Heere dicht an die bairiſche Grenze. Zu ſpät erkannte jetzt der Münchener Hof, welche Thorheit Wrede begangen9*132II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.hatte, als er durch ſein gehäſſiges Auftreten in den ſächſiſchen Händeln den ſo oft erprobten Beiſtand Preußens verſcherzte. König Max Joſeph und Montgelas beſchworen den preußiſchen Geſandten Küſter, der Wiener Strei - tigkeiten zu vergeſſen. Der Staatskanzler erwiderte kühl: die Zeit wird darüber entſcheiden; zeigt der bairiſche Hof in Zukunft freundſchaftliche Geſinnungen, ſo wird der König unſer Herr nicht unverſöhnlich ſein. Dann befahl er dem Geſandten, im Verein mit England und Rußland den öſter - reichiſchen Unterhändler zu unterſtützen. *)Küſters Bericht 2. Sept. Weiſungen Hardenbergs v. 5. Okt. u. 1. Dec. 1815.

In Altbaiern erregte die Nachricht von Oeſterreichs Forderungen lei - denſchaftlichen Zorn. Das Innviertel war ſeit Jahrhunderten, bis auf eine kurze Unterbrechung, immer wittelsbachiſch geweſen, Salzburg hatte ſtets zum bairiſchen Reichskreiſe gehört und mit den Nachbarn im Kur - fürſtenthume freundlichen Verkehr unterhalten. Und dieſe beiden Land - ſchaften mit ihrer rein bairiſchen Bevölkerung ſollte man dahingeben für die entlegene überrheiniſche Pfalz, deren bewegliches, leichtlebiges Volk dem ſchweren altbairiſchen Weſen von Altersher widerwärtig war! Der alte Stammeshaß gegen die Oeſterreicher regte ſich wieder, die Erinnerungen an die Kämpfe von 1705 und den ſagenhaften Schmied von Kochel waren in Jedermanns Munde. Den Salzburgern ward bei ſchwerer Strafe ver - boten, von der Abtretung des Landes auch nur zu reden. Marſchall Wrede polterte und drohte, und in den Kreiſen der Offiziere vernahm man die bittere Klage: uns fehlt der Schutz Napoleons. Am Lauteſten zürnte Kronprinz Ludwig; der empfand es als eine Entehrung der neuen Königs - krone, daß der Tauſch ſeinem Hauſe nicht durch freien Vertrag, ſondern durch den Befehl der vier Mächte aufgezwungen werden ſollte. Auch die literariſchen Mordbrenner der Wittelsbacher rückten wieder in’s Feuer. Eine grimmige Flugſchrift Entweder oder , von Aretin verfaßt und durch den Prinzen Karl maſſenhaft verbreitet, forderte alle treuen Baiern brüllend auf, jede Pflugſchaar in ein Schwert zu verwandeln, die Zwei - herrſchaft Oeſterreichs und Preußens zu bekämpfen. Im Salzburgiſchen wurde durch die bairiſchen Beamten eine Petition umhergetragen, welche dem Hofe hunderttauſende von Bajonetten freiwilliger Salzburger zur Verfügung ſtellte: das Volk iſt es, das durch keine Ueberbildung ent - nervt, mit üppiger Fülle des Jugendalters gerüſtet iſt; und das Fürſten - haus iſt es, das älter als alle anderen! Sollten wir dieſes von Oeſterreich zu befürchten haben, welches noch kürzlich, als es ſich den Abſichten Preu - ßens auf Sachſen widerſetzte, die edelſten und gerechteſten Grundſätze aner - kannte? Während das Bajuvarenthum dergeſtalt den alten Groll gegen die norddeutſche Großmacht von Neuem ausſchüttete, ſagte König Max Joſeph zu Küſter: er hoffe auf einen nahen Krieg zwiſchen Oeſterreich und Preußen, dann werde Baiern treu auf Preußens Seite ſtehen! **)Küſters Bericht 25. Januar 1816.

133Gebietsverhandlungen zwiſchen Oeſterreich und Baiern.

Faſt ſchien es, als ſollte die Geſchichte des deutſchen Bundes mit einem Bürgerkriege beginnen. Aber das bairiſche Heer befand ſich in einem kläglichen Zuſtande, und Metternich hielt ſeine Forderungen unerſchütterlich feſt. Er erklärte trocken, die verheißene Contiguität des bairiſchen Ge - biets ſei durch den Widerſpruch der ſüddeutſchen Nachbarſtaaten unmöglich geworden, und geſtand alſo mit gewohnter Gewiſſensruhe ein, daß er zu Ried und Paris ſeine bairiſchen Freunde durch unerfüllbare Verſprechungen betrogen hatte. Die Wittelsbacher wagten noch einen letzten Verſuch. Der König ſchrieb an Kaiſer Alexander, der ihn aus Rückſicht auf die Ruhe des Deutſchen Bundes dringend zur Nachgiebigkeit ermahnt hatte, und ſchämte ſich nicht, den Czaren zu preiſen, weil er das Elſaß den Fran - zoſen bewahrt hatte: Den großmüthigen, beſtändigen und anhaltenden Be - mühungen Eurer Majeſtät verdankt Europa vornehmlich ſeine Befreiung; Ihre Vorausſicht vor Allem hat Frankreich dem politiſchen Syſteme Euro - pas erhalten, gegen die Sophismen des Ehrgeizes und gegen das Geſchrei der Uebertreibung. Sie werden nicht einem Bundesgenoſſen, der nur ſeine Erhaltung verlangt, den gleichen Schutz verſagen wollen. *)Kaiſer Alexander an Max Joſeph 24. December 1815. Antwort des Königs 6. Jan. 1816.Bald darauf, im Februar 1816, ging Kronprinz Ludwig nach Mailand um den Kaiſer Franz perſönlich zu gewinnen. Doch zur ſelben Zeit traf auch der Freiherr v. Berckheim im Auftrage des badiſchen Hofes dort ein, da man in Karlsruhe unterdeſſen erfahren hatte, was in Paris über die Zukunft des Breisgaus und der Jungpfalz beſchloſſen war; und nunmehr gerieth der öſterreichiſche Hof zwiſchen zwei Feuer. Der badiſche Miniſter ver - wahrte ſich feierlich gegen jede Verletzung der Rechte ſeines Fürſten; der bairiſche Kronprinz mahnte den Kaiſer Franz in ſeiner aufgeregten Weiſe an das gegebene Wort und forderte ſtürmiſch das verheißene zuſammen - hängende Gebiet; der treuherzige Kaiſer aber erwiderte den Streitenden achſelzuckend: ich bin ein Körper und eine Seele mit meinen Alliirten und kann nichts ohne ſie. Auch Metternich berief ſich gelaſſen auf die Entſcheidung der großen Mächte, und wenngleich er dem badiſchen Staats - manne den gereizten Ton ſeines Proteſtes ſcharf verwies, ſo bemerkte Berck - heim doch bald, daß Oeſterreich nur die Auslieferung Salzburgs erzwingen wollte und keineswegs ernſtlich beabſichtigte den Breisgau und die Jung - pfalz in Baierns Hände zu bringen. **)Berckheims Bericht an das bad. Miniſterium, Mailand 14. Febr. Berckheims Proteſt 10. Febr. Metternichs Antwort 22. Febr. 1816.

Unverrichteter Dinge kehrte Kronprinz Ludwig heim. Da alle vier Mächte dringend die endliche Beilegung dieſer ſchmutzigen Händel forderten, bei denen die Zweizüngigkeit der Hofburg eine kaum weniger häßliche Rolle ſpielte, als Baierns gierige Anmaßung, ſo wich der Münchener Hof einen134II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Schritt zurück und gab durch den Vertrag vom 14. April 1816 Salz - burg nebſt dem Innviertel dahin gegen die linksrheiniſche Pfalz und einige noch herrenloſe Gebiete im Odenwalde. Die ſalzburgiſchen Baiern traten ſehr ungern unter das Scepter Oeſterreichs. Aber ein großer Theil des Landes war Kammergut, Wohl und Wehe der Bevölkerung hing gänzlich von der neuen Landesherrſchaft ab, die ihre Macht ohne Härte gebrauchte; ſo geſchah es, daß die Aufregung ſich nach und nach legte, und die unna - türliche Trennung von den Stammgenoſſen dem Völkchen bald ſelbſtver - ſtändlich erſchien.

Da der bairiſche Staat durch den Tauſchvertrag einen Zuwachs von 85,000 Einwohnern gewonnen hatte, ſo lag ein Anlaß zu berechtigten Beſchwerden nicht mehr vor. Gleichwohl vermochte der Münchener Hof nicht den ununterbrochenen Gebietszuſammenhang zu verſchmerzen; er forderte, daß ihm in den geheimen Artikeln des Vertrags noch weitere Ent - ſchädigungen zugeſtanden würden. Metternich aber trug kein Bedenken, ſich auf Koſten Badens freigebig zu erweiſen, weil er vorausſah, welchem unüberwindlichen Widerſtande ſeine Verſprechungen begegnen würden. In den geheimen Artikeln ward ausbedungen: die badiſche Pfalz ſolle nach dem Ausſterben der Zähringer Hauptlinie an Baiern zurückfallen; Baiern ſolle ferner, zum Erſatz für die verlorene Contiguität, ſo bald als möglich den badiſchen Main-Tauberkreis und, bis dieſe Abtretung bewirkt ſei, von Seiten Oeſterreichs eine jährliche Rente von 100,000 fl. erhalten. Alſo abermals ein Schritt frivoler Willkür; und Baiern ſäumte nicht ſeine angeblichen Anſprüche mit jedem Mittel zu verfechten. Während ſein Ge - ſandter bei den Frankfurter Gebietsverhandlungen die Auslieferung des Main-Tauberkreiſes als ein unbeſtreitbares Recht forderte, warb Graf Bray um die Gnade des Czaren. Der geängſtete badiſche Hof wehrte ſich mit den nämlichen Waffen. Miniſter Berſtett eilte hilfeſuchend nach London; nach Petersburg war ſchon früher ein Prinz der neuen Nebenlinie, Graf Wilhelm von Hochberg geſendet worden. Nachher verdiente ſich der brauch - barſte Mann des badiſchen Cabinets, der junge Freiherr v. Blittersdorff an der Newa ſeine diplomatiſchen Sporen und ſuchte mit Hilfe der Kai - ſerin Eliſabeth den bairiſchen Geſandten aus der Gunſt Alexanders zu verdrängen. So währte der ſchimpfliche Wettkampf der beiden deutſchen Höfe um den Schutz des Auslandes viele Monate hindurch, und Kapo - diſtrias rief dem badiſchen Geſandten verächtlich zu: Ihr liegt immer vor der Thür der großen Mächte! *)Blittersdorffs Berichte aus Petersburg 5. Juni ff. 4. September 1818.Unterdeſſen hatte die bairiſche Regierung ihre Forderungen noch höher geſpannt, auf Betrieb des Kronprinzen, der den Einzug in das Heidelberger Pfalzgrafenſchloß gar nicht erwarten konnte; im Februar 1817 verlangte ſie von den großen Mächten geradezu die Uebergabe der badiſchen Pfalz.

135Der Streit zwiſchen Baiern und Baden.

Dieſe neue Anmaßung Baierns trieb den preußiſchen Staatskanzler endlich aus ſeiner Zurückhaltung heraus. Hardenberg war bisher ſehr be - hutſam verfahren, da er Oeſterreich nicht verletzen wollte und ſich ſelbſt durch die Vereinbarungen von Ried und Paris etwas gebunden fühlte. Ein ſolcher Anſpruch rechtswidriger Ländergier aber ſchien ihm dem Zwecke des Deutſchen Bundes geradeswegs zuwiderzulaufen ; niemals wollte er zugeben, daß Baiern die ſüddeutſchen Kleinſtaaten von dem Norden ab - trenne. Er änderte daher ſofort den Ton, ließ in Wien und München entſchieden erklären, Preußen werde ſchlechterdings keine Gewaltmaßregeln gegen Baden dulden, und blieb fortan ein treuer Beſchützer des Karls - ruher Hofes. Der König von Württemberg erkannte die veränderte Hal - tung des Berliner Cabinets dankbar an, und auch die Hofburg war insge - heim über Preußens Auftreten erfreut, denn Metternich verkannte nicht, daß die Uebermacht Baierns im deutſchen Süden dem öſterreichiſchen Intereſſe zuwiderlief; er konnte nur von ſeinen eigenen unredlichen Verſprechungen ſich nicht förmlich losſagen. *)Kruſemarks Bericht v. 5. März. Küſters Bericht v. 14. März. Hardenbergs Weiſungen v. 28. Febr., 4. März, 12. April 1817.Indeß die letzte Entſcheidung aller Gebiets - fragen lag bei der Geſammtheit der vier Mächte, und da Kaiſer Alexander noch keinen klaren Entſchluß gefaßt hatte, ja eine Zeit lang ſich ſogar den bairiſchen Anſprüchen günſtig zeigte, ſo blieben die widerwärtigen Händel noch immer in der Schwebe; ſie verbitterten ſich von Monat zu Monat und wirkten auf das nachbarliche Verhältniß der ſüddeutſchen Staaten wie auf den Gang ihres Verfaſſungslebens tief und nachhaltig ein. Die beiden deutſchen Großmächte aber hatten ſchon im September 1816 eingeſehen, daß der Bundestag nun doch eröffnet werden mußte bevor die Gebietsſtrei - tigkeiten ihren Austrag gefunden hatten.

Zum allgemeinen Erſtaunen der diplomatiſchen Welt ließ der Wiener Hof dem Freiherrn v. Stein zweimal die Stelle des öſterreichiſchen Bun - desgeſandten antragen. Wie niedrig mußte Metternich noch von der Be - deutung des Bundestags denken, wenn er dem Manne, den er als das Haupt der deutſchen Jakobiner verabſcheute und zudem wegen ſeiner über - ſpannten Ideen verachtete, die Leitung dieſer Verſammlung anbieten konnte! Stein lehnte ab, ſchwerlich zur Ueberraſchung der Hofburg; er wußte, daß er als Metternichs Untergebener eine ſeiner würdige Wirkſamkeit nicht finden würde. Dann fiel die Wahl des Wiener Cabinets auf den greiſen Miniſter Albini, den letzten kurmainziſchen Directorialgeſandten am alten Reichstage. Das Regensburger Treiben ſollte in Frankfurt gemächlich fort - geſetzt werden; der das alte Reich zum Grabe geleitet hatte, war der rechte Mann um den neuen Bund aus der Taufe zu heben. Aber der alters - ſchwache Herr ſtarb ſchon im Januar 1816 noch bevor er ſein Amt an - getreten hatte; und nunmehr wurde der öſterreichiſche Geſandte in Caſſel,136II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Graf Buol auf die erledigte Stelle berufen, ein mittelmäßiger Kopf ohne Urtheil und Haltung, doch immerhin ſchlau genug um in aller Gemüth - lichkeit ein kleines Ränkeſpiel anzuſpinnen oder die unterthänigen Diplo - maten der Kleinſtaaten durch überſtrömende Schmeichelei und gelegentliche Lügen zu gewinnen.

Auch Hardenberg dachte für den preußiſchen Geſandtſchaftspoſten zu - nächſt an Stein. An dieſer Stelle ſchien der gefürchtete Nebenbuhler unge - fährlich; ſein großer Name ſollte der Nation für die deutſche Geſinnung der preußiſchen Regierung bürgen. Der Freiherr zeigte ſich anfangs be - reitwillig, aber nach dem zweiten Pariſer Frieden lehnte er verſtimmt den Antrag ab: ſein altes Mißtrauen gegen den Staatskanzler hatte ſich in den letzten Monaten bis zu ungerechter Verachtung geſteigert, und von dem Bundestage erwartete er jetzt kein Heil mehr. Nach längerem Schwanken wendete ſich Hardenberg endlich an den Geſandten in Caſſel, v. Hänlein, einen älteren Diplomaten aus der fränkiſchen Beamtenſchule, der ſich wie Albini ſeine Kenntniß der deutſchen Dinge am Regensburger Reichstage erworben hatte. Die unglückliche Wahl rächte ſich ſchnell. Der neue Ge - ſandte bereitete ſeinem Staate noch vor der Eröffnung des Bundestags eine empfindliche Niederlage, welche die ohnehin ſchwierige Stellung Preu - ßens am Bunde auf lange hinaus verdarb ein würdiges Vorſpiel und Vorbild für den geſammten Verlauf der Bundesgeſchichte.

Am 23. Januar 1816 erklärte ſich Hänlein bereit die Stelle anzu - nehmen. Obgleich er an den Beſtand und die ſegensreiche Wirkſamkeit des Bundestags noch keineswegs glauben wollte, ſo verließ er ſich doch auf ſeine reichen Regensburger Erfahrungen, ſowie auf die Freundſchaft des Grafen Buol, ſeines allezeit verbindlichen und vertrauensvollen Caſ - ſeler Amtsgenoſſen, und überſandte dem Staatskanzler ſogleich eine Denk - ſchrift: Was iſt von dem Deutſchen Bundestage zu Frankfurt zu erwarten? Dem Kenner der alten Reichsverfaſſung entging nicht, daß Oeſterreich, das doch nur ein halbes Intereſſe an Deutſchland nehmen könne , eine für Preußen ganz unerträgliche Führerſtellung gewonnen hatte: die neue Präſidialmacht mußte, da ſie die Geſchäfte allein leitete, am Bundestage bald ungleich mächtiger werden als vordem der Kaiſer auf dem Reichs - tage. Er hob ſodann hervor, wie durch die Bedingung der Einſtimmigkeit bei allen organiſchen Einrichtungen jede friedliche Fortbildung des Bundes verhindert werde, als ob man deſſen Leben und thätiges Wirken in der Geburt erſticken wollte. Angeſichts ſolcher Zuſtände könne das verzwei - felnde norddeutſche Volk leicht zu dem Entſchluſſe gelangen, dem preu - ßiſchen Staate durch eine Revolution die Oberherrſchaft in Deutſchland zu erringen. Um dieſe Gefahr abzuwenden, bleibe nur noch ein Mittel: die Theilung der Herrſchaft zwiſchen den beiden Großmächten. Oeſterreich nimmt die Kaiſerwürde wieder an, Preußen erhält den Titel des deutſchen Königs; dann übernehmen beide Staaten feſt verbunden und völlig gleich -137Hänleins dualiſtiſcher Plan.berechtigt, mit der Macht und dem Anſehen eines wirklichen Oberhauptes die gemeinſame Leitung des Bundes. *)Hänleins Bericht und Denkſchrift an den Staatskanzler, 23. Januar 1816.

Als Hänlein im März auf kurze Zeit nach Frankfurt kam, ward er von Buol mit offenen Armen aufgenommen und legte ſeine Denkſchrift ſofort dem treuen Freunde, nachher auch dem älteren Weſſenberg vor, der als Mitglied der Territorialcommiſſion in Frankfurt weilte. Buol er - klärte mündlich mit gewohnter Ueberſchwänglichkeit ſein herzliches Einver - ſtändniß; Weſſenberg dankte in einem verbindlichen Billet für das vor - treffliche Memoire und ſchloß: Kommen Ew. Exc. bald mit Inſtruktionen zurück, die Ihren Anſichten entſprechen, und es wird ſchon viel gewonnen ſein! Solcher Erfolge froh eilte Hänlein jetzt nach Berlin, entwickelte ſeinen großen Plan nochmals in einer ausführlicheren Denkſchrift**)Weſſenberg an Hänlein, 11. März. Hänleins Bericht und Denkſchrift an Har - denberg 24. März 1816., be - theuerte heilig, der Zuſtimmung des Wiener Hofes gewiß zu ſein. Harden - berg aber nahm die unwahrſcheinliche Verſicherung für baare Münze; den öſterreichiſchen Freunden gegenüber blieb der Vielerfahrene immer kindlich arglos, er wollte nicht glauben, daß Metternichs ſo oft wiederholte vertrau - liche Aeußerungen über die Nothwendigkeit der deutſchen Zweiherrſchaft nur leere Worte waren. Er ließ alſo durch Hänlein einen förmlichen Staatsvertrag ausarbeiten, der zwiſchen den beiden Großmächten ſofort vereinbart und dann den vertrauten kleinen Höfen als vollendete That - ſache vorgelegt werden ſollte. Da der Staatskanzler, ſeiner alten Anſicht getreu, die Beſtimmungen über den deutſchen Kaiſer - und Königstitel ſtrich, ſo beſchränkte ſich der Entwurf auf zwei Hauptforderungen: Gleichſtellung der beiden Großmächte am Bundestage, dergeſtalt, daß Oeſterreich den Vorſitz übernimmt, Preußen aber, wie vormals Kurmainz, das Protokoll führt und die Beſchlüſſe ausfertigt; ſodann Unterordnung der ganz kleinen norddeutſchen Contingente unter Preußens, der ſüddeutſchen unter Oeſter - reichs Oberbefehl. Den letzteren Vorſchlag führte eine Denkſchrift des Kriegsminiſters Boyen näher aus. Sie vermied ſorgſam jede Kränkung des Selbſtgefühls der Mittelſtaaten und verlangte nur was ſchlechthin unerläßlich war um das deutſche Bundesheer vor der baaren Anarchie zu bewahren: Mecklenburg, Kurheſſen, Anhalt, Naſſau und ein Theil der thüringiſchen Staaten ſollten ſich an Preußen anſchließen, Baden, Darm - ſtadt, Lichtenſtein an das öſterreichiſche Heer; die übrigen winzigen Con - tingente wurden theils den vier kleinen Königreichen, theils einem beſon - deren niederdeutſchen Corps zugewieſen. ***)Boyen, Gedanken über die Militär-Verfaſſung von Deutſchland.Mit dieſen Aufträgen kehrte Hänlein gegen Ende Juni nach Frankfurt zurück; ſo lange währte es bis Hardenberg inmitten der maſſenhaften Verwaltungsgeſchäfte dieſer Ueber - gangszeit einen freien Augenblick für die Bundesangelegenheiten fand.

138II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Mittlerweile hatte Graf Buol die Abweſenheit ſeines preußiſchen Amts - genoſſen geſchickt benutzt und den Samen der k. k. Bundesgeſinnung auf dem dankbaren Frankfurter Boden reichlich ausgeſtreut. Die kleinen Ge - ſandten berichteten mit Entzücken, wie herablaſſend der Oeſterreicher auf - trat: nicht einmal ein primus inter pares wollte er heißen, nur ein ser - vus servorum! Noch erfreulicher war die beglückende Gewißheit, daß Oeſterreich an eine Umgeſtaltung und Erweiterung des übereilten Ver - faſſungswerkes nicht im Entfernteſten dachte. Die Bundesakte iſt wie die Bibel, meinte Buol, man darf ſie nur auslegen, nie verändern. Der ba - diſche Geſandte Berſtett, ein behäbiger Herr, der ſich aus dem Frankfurter Frohndienſte oftmals nach Paris und dem üppigen Tiſche der Frères Pro - vençaux zurückſehnte, ſchrieb befriedigt nach Hauſe: Niemand wagt mehr an dies Meiſterwerk zu rühren; die Bundesakte wird als ein Heiligthum betrachtet, namentlich von den kleineren Staaten. *)Berſtetts Berichte 16., 18. December 1815.Mehrere der Mittel - ſtaaten zeigten ſich von Haus aus entſchloſſen, dem Bundestage niemals eine ernſthafte Wirkſamkeit zu geſtatten. Der König von Württemberg er - klärte jetzt nachträglich ſeinen Beitritt zum Bunde mit der ausdrücklichen Bemerkung, die letzte Hälfte der Bundesakte ſcheine für den Zweck des Bundes nicht erforderlich. Aehnliche Geſinnungen hegte der heſſiſche Kur - fürſt; ihn vertrat in Frankfurt ſein Günſtling Buderus von Carlshauſen, ein anrüchiger Geizhals, der ſich das Vertrauen ſeines Herrn durch kunſt - volle Ausnutzung der Heller-Brüche in den Rechnungen der kurfürſtlichen Kriegskaſſe erworben hatte. Auch von den meiſten andern Geſandten konnte Berſtett mit Genugthuung melden, ſie ſeien alleſammt darin einig, nicht einmal den Schein eines gefährlichen Einfluſſes zu dulden; wenn Oeſter - reich und Preußen mit Plänen für das Bundesheerweſen hervorträten, ſo ſolle man nur ſogleich irgend ein Gegenprojekt aufſtellen, denn deſſen Unausführbarkeit muß erſt bewieſen werden, bevor man es verwerfen kann . **)Berſtetts Bericht 12. November 1816.Niemand aber verſtand die Gedanken des verſtockten Particula - rismus ſo urkräftig auszuſprechen wie der naſſauiſche Geſandte Freiherr v. Marſchall; der ſchaltete daheim als allmächtiger Miniſter mit rhein - bündiſcher Beamtenwillkür und kam gelegentlich auf ſeinen Frankfurter Poſten herüber um die ſchwachen Gemüther durch ſein despotiſches Ge - bahren und plumpes Schelten wider die deutſchthümelnden Demagogen aufzurichten.

Die Hintergedanken dieſer Höfe verriethen ſich ſogleich, als man er - fuhr, daß England und Rußland beabſichtigten, ihre bei der Territorial - commiſſion beſchäftigten Diplomaten als Geſandte beim Bundestage zu beglaubigen. Alle Welt wußte, daß dieſer Bund ohne Haupt keine auswär - tige Politik treiben, höchſtens in Nothfällen einmal einen Geſandten in139Die Particulariſten am Bundestage.das Ausland ſenden konnte; ſollte er gleichwohl die regelmäßige Anweſen - heit fremder Diplomaten ertragen? Unterdeſſen war bereits Graf Rein - hard als franzöſiſcher Geſandter bei dem noch uneröffneten Bundestage eingetroffen. Der geiſtreiche Deutſch-Franzoſe zählte zu jenen ſeltſamen, aus Idealismus und halb unbewußter Verlogenheit gemiſchten Charakteren, wie ſie das heimathloſe Leben der alten deutſchen Kleinſtaaterei ſo häufig erzog. Im Grunde des Herzens blieb er immer der gelehrte ſchwäbiſche Theolog und folgte mit freudigem Verſtändniß den kühnen Flügen des deutſchen Genius; er glaubte wirklich als ein guter Deutſcher zu handeln, da er einſt im Dienſte Napoleons die Rheinbundsſtaaten überwachte, und trug jetzt wieder kein Bedenken, im Namen des Allerchriſtlichen Königs gegen das ſiegreiche Deutſchland eine Sprache zu führen, die an die Zeiten Ludwigs XIV. erinnerte. In einer an die Bundestagsgeſandten ver - theilten Denkſchrift fragte er höhniſch: ob der Deutſche Bund etwa auf alle auswärtigen Beziehungen verzichten wolle, wie einſt die Türkei oder der Convent unter Robespierre? Welch ein unbilliges Vorrecht für die fremden Mächte Oeſterreich, Preußen, England, Niederland, Dänemark, wenn ſie am Bundestage vertreten ſein ſollten und die übrigen Mächte nicht! Ein deutſcher Bund ohne regelmäßigen Verkehr mit dem Aus - lande wäre nichts anders als ein neuer Rheinbund, da dann Deutſchlands auswärtige Politik allein in Wien und Berlin entſchieden werden müßte. Die Anweſenheit der fremden Geſandten in Frankfurt wird dazu bei - tragen, daß der Bund in dem wahren Geiſte der Bundesakte gehandhabt wird. Zuletzt forderte Reinhard ſeine Zulaſſung kurzweg als ein Recht; denn ſollte man in Frankfurt dereinſt beſchließen die Bundesakte durch eine beſſere Ordnung der Dinge zu erſetzen , ſo wären alle europäiſchen Mächte befugt bei dieſer Aenderung der Wiener Verträge mitzuwirken!

Der Franzoſe wußte wohl, was er ſich gegen die kleinen deutſchen Fürſten erlauben durfte; ſie alle fanden die Forderung des Tuilerienhofes ſelbſtverſtändlich. Der badiſche Miniſter v. Hacke ſchrieb ſofort an Berſtett: die Geſandten von Frankreich, Rußland und England müſſen durchaus in Frankfurt bleiben, da dieſe Mächte immer ein Schutz und eine Stütze für die deutſchen Souveräne gegen Oeſterreich und Preußen ſind . *)Reinhard, mémoire sur les légations à Francfort. Hacke, Weiſung an Ber - ſtett, 6. März 1816.Was der badiſche Hof in einer geheimen Inſtruktion verbarg, das ſprach Aretin in ſeiner Alemannia offen aus. Auch der Gießener Statiſtiker Crome, ein alter Bonapartiſt, der jetzt den Mantel des deutſchen Patrioten um - hing, erwies in ſeiner Schrift Deutſchlands und Europas Staats - und Nationalintereſſe : die Einheit Europas und Deutſchlands erſcheine dann erſt geſichert, wenn jede europäiſche Macht von Rechtswegen bei dem deut - ſchen Bundestage mitreden könne!

140II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Nur der Berliner Hof trat den Anſprüchen des Auslandes entſchieden entgegen und ſtellte jetzt ſchon eine, leider keineswegs unanfechtbare, Rechts - anſicht auf, welcher Preußen ſeitdem immer treu geblieben iſt: die Be - hauptung nämlich, daß die europäiſchen Mächte, als ſie die erſten Artikel der Bundesakte in die Wiener Schlußakte aufnahmen, zwar den Beſtand des Deutſchen Bundes anerkannt, doch mit nichten eine Bürgſchaft für ſeine Verfaſſung übernommen hätten. Schon im Februar erinnerte eine preußiſche Denkſchrift an die troſtloſen letzten Regensburger Erfahrungen: der Deutſche Bund ſei nun einmal nur ein Staatenbund ohne wirkliche Cen - tralgewalt; das Leben dieſes Bundes als ſolchen muß gegen das Ausland in dem Begriff von Ruhe liegen. Dem Wiener Hofe ſtellte Hardenberg dringend vor: ſtehende auswärtige Geſandtſchaften könnten bei einer ſolchen Bundesverſammlung nur gefährliche Einmiſchungsverſuche hervorrufen. *)Hardenberg, Denkſchrift über die fremden Geſandtſchaften, Februar 1816. Wei - ſung an Kruſemark 11. Mai 1816.Aber Czar Alexander ſtand auf Frankreichs Seite und ließ, um die Be - ſorgniſſe des preußiſchen Hofes zu beſchwichtigen, die oſtenſible Weiſung, welche dem Geſandten Anſtett nach Frankfurt geſchickt wurde, in Berlin vorlegen. Sie lautete kindlich unſchuldig: Als Miniſter des Kaiſers haben Sie keine Meinung über die inneren Angelegenheiten des Deutſchen Bun - des. Es iſt nützlich, es iſt nothwendig, daß Sie auch perſönlich keine Mei - nung darüber haben. Der Kaiſer wünſcht es. **)Miniſterialſchreiben an Anſtett, Petersburg 9. Auguſt 1816.Damit war die voll - kommene Harmloſigkeit der auswärtigen Geſandtſchaften für die Patrioten des Bundestags erwieſen. Es ließ ſich jetzt ſchon vorherſehen, daß Preu - ßens Widerſpruch erfolglos bleiben und der Bundestag auch in der aus - wärtigen Politik der würdige Erbe des Regensburger Reichstages werden ſollte: ſelber unvertreten im Auslande und dem geheimen Ränkeſpiele der fremden Mächte wehrlos ausgeſetzt.

Neben jenen Vertretern des ungeſchminkten Particularismus hatte ſich auch eine lange Reihe wohlmeinender, patriotiſcher Staatsmänner aus den kleinen Staaten eingefunden: ſo die Hanſeaten Smidt und Hach, der Mecklenburger Pleſſen, der ſchon von Wien her als ein ſachkundiger und redlicher Geſchäftsmann bekannt war, der Holſteiner Eyben und, nicht zu - letzt, der unvermeidliche Gagern. Wie glückſelig fühlte ſich der Raſtloſe in dieſen erſten Monaten, da noch keine Geſchäfte vorlagen und Jeder noch nach Belieben dem ungeborenen Bundestage den Weg zur Hölle mit guten Vorſätzen pflaſtern konnte! Mit gewohnter Selbſtgefälligkeit legte er, ungeſchreckt durch die kühlen Erwiderungen, den Wiener und den Ber - liner Staatsmännern die endloſe Liſte ſeiner Wünſche vor. Peſt, Skla - verei, Judenthum, Fanatismus, Handelsſperre, Coloniſation, Literatur, Künſte und Handwerke, Lob unſerer großen Männer alle dieſe und141Die ehrlichen Foederaliſten.unzählige andere Angelegenheiten ſollten den Bundestag beſchäftigen, auf deſſen Tiſche der entzückte Luxemburger ſchon Krone und Scepter liegen ſah. *)Gagern an Metternich und Hardenberg, 3. Mai. Hardenbergs Antwort 18. Juni 1816.Aber auch die Ruhigen in dieſem kleinſtaatlichen Kreiſe erfüllte ein unermeßlicher Dünkel. Der alte Wahn der deutſchen Libertät ſchmückte ſich mit neuen Federn. Durch die ſchrankenloſe Souveränität waren Lippe, Lübeck und Preußen einander völlig gleichgeſtellt; kein Zweifel alſo, daß dies Nebeneinander von neununddreißig vollkommen gleichen und vollkommen ſelbſtändigen Staaten ganz von ſelbſt, allein durch die Wunderkraft der Einigkeit, eine großartige politiſche Wirkſamkeit entfalten mußte, wenn man nur jedem einzelnen Bundesgliede ſorgſam verbot einen gefährlichen über - mächtigen Einfluß auszuüben!

Selbſt der nüchterne Republikaner Smidt, der in allen Angelegen - heiten ſeines geliebten Bremens ſtets den ſicheren und weiten Blick des echten Staatsmannes bewährte, ſelbſt dieſer bedeutendſte Kopf der Frank - furter Verſammlung lebte ſich bald ein in die Traumwelt des Foederalismus und ſetzte den redlichen patriotiſchen Eifer, der ihn ſelber beſeelte, arglos auch bei ſeinen Genoſſen voraus. Wie herrlich, daß nunmehr ganz Deutſch - land eine große Staatenrepublik bildete und die Souveränität von den Einzelnen ausging! Nur ſollten dieſe ſouveränen Einzelnen auch nach re - publikaniſcher Art durchaus als Gleiche behandelt werden; denn warum konnte nicht auch in Deutſchland das Heil ſo gut von Nazareth wie von Jeruſalem kommen ? Die ſouveränen Hanſeſtädte mußten endlich aus der Roture heraus , ſie durften ſich nicht mehr mit ſo beſcheidenen Um - gangsformen begnügen, wie einſt da ſie noch den kaiſerlichen Adler auf ihren Münzen führten; das ging doch nimmermehr an, daß der olden - burgiſche Nachbar einen Hohen Bremer Senat auch fürderhin im Reſcrip - tenſtile mit ſeinem unehrerbietigen Wir Peter anredete! Der Hoffnungs - volle ſah in dieſem Bunde der Gleichen das Mittel die deutſchen Groß - mächte zur Gerechtigkeit zu erziehen und behauptete: große Staaten bringen Kraft und Stärke in den Bund, die kleineren Liebe zur Gerechtigkeit und Conſtitutionsfähigkeit. Doch hütete er ſich wohl, näher anzugeben, warum Mecklenburg conſtitutionsfähiger war als Preußen? und welche Art von Gerechtigkeit der König von Preußen bei dem heſſiſchen Kurfüſten, dem hannoverſchen Prinzregenten oder dem württembergiſchen Könige lernen ſollte?

Ihren literariſchen Widerhall fanden die Meinungen dieſer wohlge - ſinnten Foederaliſten in der Schrift von Heeren Der Deutſche Bund in ſeinem Verhältniß zu dem europäiſchen Staatenſyſteme . Der Göttinger Hiſtoriker, ein achtungswerther Vertreter der alten, dem Leben entfrem - deten Stubengelehrſamkeit, hatte ſich kürzlich eine Weile in Frankfurt auf - gehalten, mit Smidt und den anderen Bundesgeſandten viel verkehrt und142II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.entwarf nun ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des Deutſchen Bundes, das freilich in der verſtimmten Nation nur noch wenige Gläu - bige fand. Soeben erſt war ein Menſchenalter voll Blut und Gräueln über die Welt dahin gegangen, weil Deutſchland in ſeiner Zerſplitterung ſich nicht vertheidigen konnte. Und Angeſichts ſolcher Erfahrungen erklärte Heeren wieder, faſt mit den nämlichen Worten wie einſt Johannes Müller zur Zeit des Fürſtenbundes: die Freiheit Europas beruhe auf der lockeren Ordnung Deutſchlands, denn welche fremde Macht könnte ſich ihres Be - ſitzes ruhig freuen, wenn Deutſchland zu einer großen Monarchie ver - einigt wäre? Auch die Buntheit unſerer inneren Zuſtände fand er ſehr heilſam; wenn der Deutſche auch Proben einer anderen Staatsordnung ſtets vor Augen habe, ſo bleibe er vor einſeitiger Beſchränktheit bewahrt. Dieſe reichhaltige, für die Profeſſoren des Staatsrechts allerdings unſchätz - bare, politiſche Naturalienſammlung mußte aber dies ſchien dem Göt - tinger gar keines Beweiſes zu bedürfen von allen großen Mächten als die gebietende Centralmacht des Welttheils, als der Friedensſtaat von Europa anerkannt werden; noch eine kurze Friſt, und Frankfurt ward, wie einſt der Haag, der Mittelpunkt des Staatenſyſtems , der Bundes - tag erweiterte ſich zu einem europäiſchen Senate!

In der That hatte ſich ſchon jetzt an den großen Höfen eine be - ſtimmte Meinung über die Frankfurter Verſammlung ausgebildet; nur lautete ſie minder ſchmeichelhaft als Heeren wähnte. Der Bundestag galt bereits, wie ſeitdem immer bis zu ſeiner Auflöſung, als die große Börſe für den ſubalternen diplomatiſchen Klatſch Europas. Seit vielen Monaten trieb ſich dieſer Schwarm von kleinen Diplomaten beſchäftigungslos in Frankfurt umher. Was blieb den Armen zu thun als kleine Kabalen zu ſchmieden, Geſchichten umherzutragen und die Bevollmächtigten des Vierbundes, die in der großen Territorialcommiſſion beſchäftigt waren, Weſſenberg, Hum - boldt, Clancarty und Anſtett, wetteifernd auszuhorchen? Wer in dieſem ge - ſchäftigen Müßiggange obenauf bleiben wollte, mußte ſich durch pikante Neuigkeiten oder durch ausgeſuchte Tafelgenüſſe unentbehrlich machen; wie oft hat der Bremer Senat dem getreuen Smidt eine Spende aus ſeinem weltberühmten Rathskeller geſendet, damit Graf Buol die Schildkröten, die Neunaugen und die anderen Herrlichkeiten des hanſeatiſchen Tiſches um ſo ſchmackhafter fände. Von den Geheimniſſen der großen Höfe er - fuhren die Kleinen freilich ſo wenig, daß ihnen ſelbſt der wirkliche Sach - verhalt der unglücklichen Unternehmung Hänleins immer verborgen blieb.

Um ſo üppiger blühte die Mythenbildung, und ſie richtete unaus - bleiblich ihre Spitze gegen den Staat, der mit ſeinem Volksheere und ſeinem leuchtenden kriegeriſchen Ruhme Allen als der geborene Todfeind der neu hergeſtellten Regensburger Herrlichkeit erſchien. Zudem verſtand Humboldt unter allen den Geſandten der vier Mächte am Wenigſten, die Eitelkeit der kleinen Diplomaten zu ſchonen; nur zu oft ließ er ſie ſeine Ueber -143Hänleins Sturz.legenheit durch ſchneidende Sarkasmen und abweiſende Kälte empfinden. Die meiſten ſtanden vor ihm mit ähnlichen Gefühlen wie der Hund vor einem Glaſe Wein. Man wußte, daß Humboldt das Miniſterium des Auswärtigen zu übernehmen hoffte, aber bei Hardenbergs unverſöhnlichem Mißtrauen ſeinen Wunſch nicht durchſetzen konnte. Natürlich, daß die rein perſönliche Gegnerſchaft der beiden Staatsmänner ſofort als politiſche Feind - ſchaft gedeutet und Humboldt als der geheime Führer der preußiſchen Um - ſturzpartei verrufen wurde. Keine radikale Tollheit, die man ihm nicht zutraute. Die Diplomaten in Weſſenbergs Hauſe wußten ganz ſicher, daß Preußen einen Krieg auf Leben und Tod gegen die Mittelſtaaten vorbereitete; ſchon habe Humboldt einen Verfaſſungsplan von beiſpiel - loſer Liberalität ausgearbeitet; ſobald Blücher nach Berlin zurückkomme, wolle dieſe exaltirte Armee dem Könige eine Bittſchrift überreichen und fordern, daß das Heer, wie einſt Cromwells Dragoner, durch Armeede - putirte in dem preußiſchen Reichstage vertreten werde. *)Berſtetts Berichte 16. December 1815, 6. März 1816.Mit Begierde verſchlangen die Bundesgeſandten einen Brief, welchen der liberale würt - tembergiſche Miniſter Wangenheim zur Empfehlung ſeines Verfaſſungsent - wurfs an ſeinen König gerichtet und ſofort veröffentlicht hatte. Darin ward Preußen als ein durch Geheimbünde völlig zerrütteter Staat geſchildert und dann dem Stuttgarter Despoten die Lockung vorgehalten: wenn in Preußen eine Revolution ausbräche und zugleich im Süden ein deutſcher Staat mit einer freien Verfaſſung beſtände, ſo wäre ein Umſchwung der Dinge mög - lich, wie ihn die kühnſte Phantaſie kaum erſinnen könnte!

So war die Stimmung am Bundestage, als Hänlein mit ſeinen vertraulichen Aufträgen zurückkehrte. Graf Buol beſaß ein unfehlbares Mittel um die preußiſchen Vorſchläge ſofort zu beſeitigen; er brauchte ſie nur den kleinen Genoſſen mitzutheilen und er ſtand nicht an dieſe Waffe zu gebrauchen. Der zärtliche Freund, der im Winter der erſten Anfrage ſo freundlich entgegengekommen war, nahm jetzt, wie Hänlein klagte, die neue Eröffnung ſehr tragiſch auf (30. Juni); er hielt ſich verpflichtet ſo - gleich mit den andern Geſandten Rückſprache zu nehmen und zwang da - durch den Preußen, auch ſeinerſeits das Geheimniß zu brechen. Der Er - folg war augenblicklich und vollkommen. Ein Aufſchrei der Entrüſtung ging durch den geſammten Bundestag. Wie, dieſer revolutionäre Staat unterſtand ſich, die kaum erſt abgeſchloſſene Bundesakte, die Bibel Buols, anzutaſten und forderte ſogar den Oberbefehl über die Kriegsmacht einiger Souveräne! Jedermann überhäufte den ungeſchickteſten aller preußiſchen Diplomaten mit Vorwürfen; ſelbſt der ruhige Pleſſen ſagte ihm in’s Ge - ſicht: der Bund kann auch ohne Preußen beſtehen. Der Staatskanzler war auf das Peinlichſte überraſcht, als er in Karlsbad von dieſen Frank - furter Auftritten hörte und gleichzeitig unmittelbar aus Wien erfuhr, daß144II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Metternich die preußiſchen Vorſchläge nicht annehmen wollte. Was blieb übrig als den begangenen Fehler, an dem Hardenbergs Leichtgläubigkeit kaum weniger Schuld trug, als Hänleins Ungeſchick, ſogleich zurückzu - nehmen? Am 9. Auguſt wurde Hänlein abberufen. Sein erzürnter Chef warf ihm vor, daß er durch irrige Berichte ſeinen Hof zu falſchen Schritten verleitet und dann durch öffentliche Behandlung der Sache ein höchſt nach - theiliges Aufſehen erregt habe: der gute Erfolg des Bundes hängt von dem vollkommenſten Einverſtändniß zwiſchen Preußen und Oeſterreich ab; Nie - mand darf eine Divergenz der Meinungen zwiſchen beiden für das Wohl Europas und Deutſchlands eng verbündeten Höfen auch nur ahnen. *)Hänleins Bericht 2. Juli. Hardenbergs Antwort 9. Auguſt. Berſtetts Bericht 1. Juli 1816.Gleichzeitig ward Humboldt mit der vorläufigen Vertretung der Bundes - geſandtſchaft beauftragt, und ihm gelang durch entſchloſſene Haltung das erſchütterte Anſehen Preußens ſo weit wieder herzuſtellen, daß Graf Buol in den vorbereitenden Sitzungen des Bundestages keinen Schritt ohne ſeine Zuſtimmung wagte. Aber die böſen Folgen der erlittenen Nieder - lage wirkten lange nach. Preußen und das ländergierige Baiern wurden noch drei Jahre lang allgemein als die ehrgeizigen Störenfriede des Bun - des beargwöhnt; von einer preußiſchen Partei, die doch in Regensburg niemals ganz gefehlt hatte, war in Frankfurt vorderhand keine Spur zu finden, und der Einfluß der norddeutſchen Großmacht auf die Bundes - verhandlungen blieb ſo beſcheiden, daß die ſüddeutſchen Staatsmänner ſpä - terhin dieſe erſten Jahre als die goldene Zeit des Bundestages zu be - zeichnen pflegten. **)So Blittersdorff in ſeiner Denkſchrift über die Bundespolitik v. 18. Febr. 1822.

Humboldt aber bildete ſich ſchon aus den Erfahrungen dieſer erſten Wochen eine hoffnungsloſe, und leider vollkommen richtige Anſicht von dem Deutſchen Bunde und entwickelte ſie in einer großen Denkſchrift vom 30. September 1816, welche nachher der Inſtruktion des preußiſchen Bun - desgeſandten zu Grunde gelegt wurde. ***)Veröffentlicht von C. Rößler, Zeitſchrift für preußiſche Geſchichte 1872.Hier ward das höchſt unförm - liche, auf Nichts mit einiger Sicherheit ruhende Gebäude der Bundes - verfaſſung draſtiſch geſchildert, dazu die ungeheure Erſchwerung aller Beſchlüſſe, alſo daß man kaum begreift, wie über einige Punkte ein Be - ſchluß möglich ſei . Daraus folgt, daß Preußen zwar mit Oeſterreich ein gutes Verſtändniß bewahren, aber ſich begnügen muß, am Bundestage nur eine allgemeine Sprache zu führen. Die wirkliche Ausführung gemein - nütziger Inſtitutionen läßt ſich nur erreichen in dem einzelnen Verkehre mit den deutſchen Staaten ſelbſt. Es muß in der Politik Preußens liegen, dieſe Nachbarſtaaten in ſein politiſches und ſelbſt adminiſtratives Syſtem bis zu einem gewiſſen Punkt zu verweben. Das ganze Programm der preußiſchen Bundespolitik lag in dieſen Worten. Noch bevor der Bundestag145Humboldts Denkſchrift über den Deutſchen Bund.in’s Leben getreten war ſprach Humboldt aus, was die Erfahrung eines halben Jahrhunderts beſtätigen ſollte: daß in Frankfurt nur die Phraſe der deutſchen Politik gedeihen konnte, alle Geſchäfte der nationalen Staats - kunſt von Berlin aus durch Verhandlungen mit den Einzelſtaaten betrieben werden mußten.

Am 5. Novbr. 1816 wurde die Bundesverſammlung endlich eröffnet. Nach Hänleins Niederlage hatte Buol ſchon in den vorbereitenden Sitzungen die geſammte formelle Leitung ohne Widerſpruch an ſich genommen. Die Führung des Protokolls ward, auf Humboldts Verlangen, nicht dem eitlen Friedrich Schlegel anvertraut, der ſchon auf dem Wiener Congreſſe durch ſeinen clericalen Eifer und durch ſeine Knittelverſe wider die Nord - und Morddeutſchen den Zorn der Preußen erregt hatte, ſondern einem harm - loſen k. k. Hofrath v. Handel, deſſen entſetzliches Deutſch den dürftigen Inhalt der Verhandlungen noch lächerlicher erſcheinen ließ. Der hohe Rath der deutſchen Nation verſammelte ſich in dem Thurn - und Taxis’ſchen Palaſte auf der Eſchenheimer Gaſſe, wo die k. k. Geſandtſchaft zur Miethe wohnte, und blieb fortan durch ein halbes Jahrhundert der beſcheidene Miether des Taxis’ſchen Fürſtenhauſes. Da die Mittelſtaaten von dem Wiederaufleben des alten Reichsadlers nichts hören wollten, ſo trugen die veröffentlichten Protokolle auf ihrem Titelblatte das öſterreichiſche Wappen mit der Umſchrift Kaiſerlich Oeſterreichiſche Bundeskanzley . Es ſchien, als tage hier wirklich nur eine k. k. Provinzialbehörde. Die Präſidialmacht verſchuldete auch, daß beim Anbruch dieſer neuen Epoche deutſcher Geſchichte nicht einmal der Segen Gottes angerufen wurde. Buol weigerte ſich an einem evangeliſchen Gottesdienſte theilzunehmen, er verlangte ein Hochamt in dem alten Kaiſerdome, obgleich fünf Sechſtel der Souveräne des neuen Deutſchlands proteſtantiſch waren, und wollte dann ſtatt der unterbliebenen kirchlichen Feier eine Feſtvorſtellung im Theater veranſtalten, was Hum - boldts guter Takt noch glücklich vereitelte.

Als die Mitglieder des Bundestags alleſammt, von der Wache mit präſentirtem Gewehr und geſchwenkter Fahne begrüßt, vor dem k. k. Ge - ſandtſchaftshotel vorgefahren waren, las Graf Buol eine Rede ab, deren ſinnloſer Wortſchwall gebildeten Hörern geradezu als eine Beleidigung erſcheinen mußte: ſie zeigte anſchaulich, welcher Barbarei herz - und ideen - loſe Politiker verfallen, ſobald ſie verſuchen pathetiſch zu werden. Der Vortrag war dem Geſandten von Metternich ſelbſt zugeſchickt worden, der es nicht der Mühe werth gehalten hatte die claſſiſche Feder ſeines Gentz zu benutzen; Buol ſelbſt fand ihn unpaſſend und verlas aus Schonung nur einen Theil. *)Humboldts Berichte 1. und 8. November 1816.Hohlere Phraſen hatten doch ſelbſt die unreifſten teu - toniſchen Studenten noch nie gebraucht, als hier der Wiener Hof, da er anhub: Im Deutſchen als Menſchen, auch ohne alle willkürlichen Staats -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 10146II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.formen, liegt ſchon das Gepräge und der Grundcharakter deſſelben als Volk. Das Nationalbedürfniß ſei die Schöpferin und der Leitſtern bei allen nationellen Formen, und alsdann geht man verbürgt zum wahren, zum höchſten Ziel! Die Rede ſchilderte darauf den Verfall Deutſchlands während der letzten Jahrhunderte: ich fahre fort den Weg zu verfolgen, wohin mich der berührte neigende Gipfel geſchwächter Nationalität führt. Sie rühmte darauf, Dank dem Deutſchen Bunde erſcheine Deutſchland jetzt wieder als Macht in der Reihe der Völker. In dieſer Art halten wir uns feſt auf dem Gipfel, wo ein großes Volk in der Mannichfaltigkeit ſeiner bürgerlichen Formen der großen Beſtimmung der Menſchheit und ſeiner Entwickelung frei entgegengeht, zugleich aber ein einziges Ganzes in nationeller Beziehung ausmacht! Zum Schluß betheuerte der Ge - ſandte inbrünſtig die Deutſchheit ſeiner Geſinnungen ; er verſicherte noch - mals, ſein Kaiſer betrachte ſich als vollkommen gleiches Bundesglied , und erinnerte mit einem freundſchaftlichen Seitenhiebe gegen Preußen, der ſogleich von allen Seiten verſtanden wurde an jene glückliche, zum gegenſeitigen Vertrauen berechtigende Lage, daß Oeſterreich auf deutſchem Boden ebenſowenig eine Eroberung als eine eigenmächtige Erweiterung ſeines Standpunktes im Deutſchen Bunde beabſichtigen will oder auch nur beabſichtigen kann !

Hierauf erwiderte Humboldt kurz und würdig. Die meiſten anderen Geſandten empfahlen ſich lediglich der Gewogenheit der Anweſenden oder ſie ſprachen die kühne Hoffnung aus, daß der heutige Tag ſchon über’s Jahr und bis in ſpäte Zeiten den für das Geſammtvaterland erfreulichſten möge beigezählt werden . Nur Gagern konnte ſich nicht enthalten, in längerer Rede die deutſche Geſinnung des oraniſchen Hauſes zu feiern und zu verſprechen, daß Luxemburg immerdar der natürliche Vermittler in Deutſchland ſein werde. Auch hielt er für angemeſſen, in dieſem er - lauchten deutſchen Senate, faſt nach Art jenes merkwürdigen alten Volkes, ein Todtengericht zu halten ; ſo ſprach er denn in ſchwungvollen Worten von dem Fürſten von Naſſau-Weilburg, von den für Deutſchland gefallenen Welfen und damit man mir nicht vorwerfe, daß ich der Fürſtlichkeit allein huldige , auch von Andreas Hofer und Palm. Zum Schluſſe rief er be - geiſtert ſein unvermeidliches: Je maintiendray! Es war eine unbe - ſchreiblich abgeſchmackte Feier, die würdige Eröffnung eines politiſchen Poſſen - ſpiels, von dem ſich bald die geſammte Nation mit Abſcheu abwenden ſollte.

Sechs Tage nachher hielt Graf Buol ſeinen erſten Präſidialvortrag und zählte pathetiſch alle die Wohlthaten auf, welche den Deutſchen aus der Verwirklichung der unbeſtimmten Zuſagen der Bundesakte erwachſen könnten. Von dem Artikel 19, der die Regelung der nationalen Verkehrs - verhältniſſe verſprach, rühmte der Oeſterreicher in ſeinem wunderbaren Deutſch: dieſer Artikel bezweckt, die deutſchen Bundesſtaaten ſelbſt in Hin - ſicht des Handels und Verkehrs ſowie der Schifffahrt einander zu ent -147Erſte Sitzungen des Bundestages.fremden ein unfreiwilliger Seherſpruch, der ſich vollſtändig verwirk - lichen ſollte. Politiſch bedeutſam war an den leeren Worten nur die be - ſtimmte Erklärung: der Deutſche Bund ſei kein Bundesſtaat, ſondern ein Staatenbund; denn Erſteres würde dem unaufhaltbar nach höheren Rich - tungen rollenden Laufe der Zeit widerſtreiten ! Die Schlagwörter: Staa - tenbund und Bundesſtaat begannen eben jetzt in der Preſſe aufzutauchen, ohne daß man noch einen beſtimmten ſtaatsrechtlichen Sinn damit ver - bunden hätte. Wie weit war doch die politiſche Bildung der Nation hinter dem Aufſchwung der anderen Wiſſenſchaften zurückgeblieben! Ueber die Grundlagen des öffentlichen Rechts der Foederativſtaaten hatte faſt noch Nie - mand ernſtlich nachgedacht; das claſſiſche Buch der Amerikaner, das ſchon vor einem Menſchenalter dieſe Fragen geiſtvoll und ſachkundig beleuchtet hatte, der Foederaliſt von Hamilton, Madiſon und Jay, blieb in dem gelehrten Deutſch - land ſo gut wie unbekannt. Selbſt der wackere freimüthige J. L. Klüber, der alsbald nach dem Zuſammentritt des Bundestages ſein Oeffentliches Recht des Deutſchen Bundes erſcheinen ließ, wußte über den politiſchen Charakter der verſchiedenen Formen des bündiſchen Lebens wenig zu ſagen. Man dachte ſich unter dem Bundesſtaate irgend eine ſtarke, hochange - ſehene Bundesgewalt, die dem deutſchen Namen zur Ehre gereichen ſollte; die jungen Teutonen ſtimmten ihrem Lehrer Fries begeiſtert zu, als er in ſeiner Schrift Vom Deutſchen Bunde und deutſcher Staatsverfaſſung mit der Dreiſtigkeit des wohlmeinenden Dilettanten kurzerhand ausſprach: wir wünſchen keinen ſchlaffen Staatenbund, ſondern einen feſt vereinigten Bundesſtaat. Allen ſolchen unbeſtimmten Wünſchen trat der öſterreichiſche Geſandte jetzt offen entgegen, und er hatte Sinn und Wortlaut der Bun - desakte auf ſeiner Seite. Da für jede Abänderung der Bundesakte Ein - ſtimmigkeit erfordert wurde, ſo war die Weiterbildung der Bundesverfaſſung von Haus aus unmöglich, und bereits vor der Eröffnung des Bundes - tages begannen die Geſandten, die guten wie die ſchlechten, im Stillen einzuſehen, daß ſogar die Abfaſſung der Grundgeſetze des Bundes, welche nach Art. 10 der Bundesakte das erſte Geſchäft des Bundestages ſein ſollte, an dieſer Klippe nothwendig ſcheitern mußte.

Schon nach der erſten Sitzung verließ Humboldt den Bundestag und begab ſich tief verſtimmt erſt nach Berlin zu den Sitzungen des Staatsraths, dann als Geſandter nach London; der Pariſer Poſten, den er ſich gewünſcht, mußte ihm verſagt werden, da der ſcharfe Preuße ſeit dem letzten Congreſſe bei den Bourbonen in üblem Rufe ſtand. An ſeine Stelle trat in Frankfurt der Miniſter Graf v. d. Goltz, derſelbe der im Frühjahr 1813 an der Spitze jener unglücklichen Berliner Regie - rungscommiſſion geſtanden hatte, ein pflichtgetreuer Beamter, freundlich und gutmüthig, aber aller ſelbſtändigen Gedanken baar. Die Wahl be - wies, wie wenig Hardenberg von der Scheinthätigkeit der Frankfurter Ver - ſammlung erwartete. Der perſönliche Verkehr zwiſchen den Geſandten10*148II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.der beiden Großmächte bewegte ſich ſtets in den verbindlichſten Formen, ſie theilten ſich ſogar wechſelſeitig ihre Inſtruktionen mit. *)Oeſterreichiſche Inſtruktion v. 24. Oktober, Preußiſche v. 30. November 1816.Dabei zeigte ſich freilich, wie weit die Abſichten der beiden Höfe in zwei weſentlichen Fragen auseinandergingen. In der öſterreichiſchen Inſtruktion wurde die Bundesakte kurzab für heilig und unverletzlich erklärt; Hardenberg dagegen bedauerte lebhaft, daß es in Wien nicht gelungen ſei dem Bunde mehr die Natur eines Bundesſtaates zuzueignen , und erbot ſich zu jeder noch möglichen Reform. Und während Graf Buol den kleinen Geſandten, auf Metternichs Befehl, betheuerte, ſein Hof werde ſich in Bundesangelegen - heiten niemals auf Sonderverhandlungen einlaſſen, wiederholte der preu - ßiſche Staatskanzler ſeinem Wiener Freunde unabläſſig: nur durch unmittel - bare Verſtändigung zwiſchen Oeſterreich und Preußen könne der Bund zur Conſiſtenz gelangen und der Parteigeiſt vernichtet werden . **)Metternich an Buol 2. Auguſt. Hardenberg an Metternich 30. Novbr. 1816.

Dieſe geheime Meinungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden führenden Höfen ward zunächſt noch wenig bemerkbar, da die Thätigkeit der Bundes - verſammlung lange Zeit faſt gänzlich in der Erledigung von Penſionsan - ſprüchen und anderen Privat-Angelegenheiten aufging. Eine Fluth von Bitten und Beſchwerden überſchwemmte den Bundestag; alle die Unglück - lichen, welche die wilde Kriegszeit in ihren Rechten gekränkt hatte, ſuchten Hilfe in Frankfurt. Da kamen die Biſchöfe und Geiſtlichen vom linken Rheinufer und forderten ihre Penſionen auf Grund des Reichsdeputations - hauptſchluſſes; desgleichen die Herren vom Deutſchen Orden und die Mit - glieder der aufgelöſten Domkapitel; alsdann die Advocaten und Procura - toren des Reichskammergerichts; dann Joſeph Fahrenkopf in Mainz, der im Jahre 1796 für die Reichsfeſtung Mainz unbezahlte Bauarbeiten ge - liefert hatte, und mit ihm eine ganze Schaar von Gläubigern der letzten Reichsoperationskaſſe, jener böſen Zahlerin, die während des Revolutions - krieges niemals aus der Geldnoth herausgekommen war; dann die Be - ſitzer der kurpfälziſchen Obligationen Lit. D., eines berüchtigten Staats - papiers, über deſſen Verzinſung Baiern und Baden, die Rechtsnachfolger von Kurpfalz, ſich ein Menſchenalter hindurch in grimmigen Noten ſtritten; und ſo weiter eine unendliche Reihe von Bittſtellern, bis herab zu kleinen Handwerkern, denen ihre durchlauchtigen Landesherren die Bezahlung ihrer Schuſterrechnungen hartnäckig vorenthielten.

Mit löblichem Eifer nahm ſich der Bundestag dieſes Jammers an. Aber wie konnte eine Diplomatenverſammlung alle die verwickelten Rechts - fragen, die ſich hier ergaben, mit Sicherheit entſcheiden? Ein Glück nur, daß ſich mindeſtens einige tüchtige Juriſten in ihren Reihen fanden, ſo namentlich der hannoverſche Geſandte Martens, der bekannte Völkerrechts - lehrer. Dazu die immer wieder auftauchenden Zweifel an der Zuſtändigkeit der Bundesverſammlung; ſie hörten auch dann nicht auf, als die Ver -149Privat-Eingaben an den Bundestag.ſammlung endlich im Juni 1817 einige proviſoriſche Beſtimmungen über ihre Competenz angenommen hatte. Und woher ſollte der Bundestag in ſchwierigen Fällen die nöthigen thatſächlichen Mittheilungen erlangen? Da er keine Executivgewalt beſaß, ſo blieb er immer nur auf den guten Willen der betheiligten Regierungen angewieſen. Zu alledem endlich die lächerlich ſchwerfällige Geſchäftsordnung. In ſeiner Inſtruktion hatte Hardenberg noch den Vorſchlag gewagt: nach Ablauf einer billigen Friſt ſolle die Verſamm - lung kurzweg ihre Beſchlüſſe faſſen, ohne Rückſicht auf abweſende oder nicht - inſtruirte Mitglieder. Goltz mußte aber bald einſehen, wie unannehmbar dieſer Gedanke dem Souveränitätsdünkel der kleinen Höfe ſchien; der würt - tembergiſche Geſandte v. Linden erklärte ſogar rund heraus, ein einſtimmiger Beſchluß ſei unmöglich ſobald auch nur ein einziger Geſandter fehle. Die nachläſſige Geſchäftsführung der Wiener Behörden und Metternichs Gleich - giltigkeit gegen den Bund bewirkten, daß der öſterreichiſche Geſandte faſt regelmäßig am Längſten auf ſeine Inſtruktionen warten mußte. Da der Prä - ſidialhof alſo mit ſchlechtem Beiſpiele voranging, ſo gewöhnte man ſich bald die Abſtimmungen zu verſchieben und wieder zu verſchieben bis auch die letzte Inſtruktion eingetroffen war, und das Schickſal der Bundesbeſchlüſſe lag am letzten Ende in der Hand der trägſten und böswilligſten Souveräne.

So geſchah es, daß ſelbſt dieſe Privat-Eingaben, denen die Mehrzahl der Bundesgeſandten ein ehrliches Wohlwollen entgegenbrachte, mit ſchimpf - licher Langſamkeit erledigt wurden. Die überrheiniſchen Cleriker, deren Anſprüche nach der Bundesakte binnen Jahresfriſt befriedigt werden ſollten, erhielten erſt im Jahre 1824 ihren Beſcheid; die Procuratoren des Kammer - gerichts mußten bis 1831 warten; die glücklichen Enkel der Gläubiger der Reichsoperationskaſſe empfingen im Jahre 1843 die Entſchädigung für die Arbeiten ihrer Großväter aus den Jahren 1793 96; das kur - und ober - rheiniſche Schuldenweſen endlich ward erſt im Jahre 1844 geordnet, durch Vermittlung der Krone Preußen, welche für dieſe ſchleunige Hilfsleiſtung den warmen Dank des Bundestags empfing. Viele der Geſandten lebten ſich gemüthlich in dies ſubalterne Treiben ein, und bald entwickelte ſich im Schooße der Bundesverſammlung die eigenthümliche Menſchenklaſſe der Bundesbureaukraten treufleißige, gewiegte Geſchäftsmänner, deren Geiſt niemals durch einen politiſchen Gedanken beunruhigt wurde, aber dafür in Sachen des Joſeph Fahrenkopf und der Lit. D. um ſo genauer Be - ſcheid wußte. Das Muſterbild dieſer Bundestagsphiliſter war der Ver - treter der ſechzehnten Stimme, v. Leonhardi. Auch der gute Goltz ſchrieb nach Schluß der erſten Seſſion hoch befriedigt heim: die verheißene Feſt - ſtellung der Grundgeſetze des Bundes ſei freilich unmöglich geweſen; dafür habe die Bundesverſammlung ihr Daſein und ihre Wirkſamkeit in den inneren Verhältniſſen gezeigt und ſo auf die innere Beruhigung eingewirkt. *)Goltz, Rückblick auf die erſte Seſſion der Bundesverſammlung, 5. Auguſt 1817.

150II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Angeſichts dieſer ſtillvergnügten Nichtigkeit fielen manche politiſche Be - ſorgniſſe, welche Hardenberg anfangs gehegt hatte, von ſelbſt hinweg. Der Staatskanzler gab ſeinen Widerſpruch gegen die Anweſenheit auswärtiger Diplomaten bald auf, als er den Charakter des Bundestages kennen ge - lernt hatte; denn was ſtand von den Agenten des Auslandes bei einer ſo ohnmächtigen Verſammlung zu befürchten? und was ſollte man den großen Mächten antworten, als ſie zur Abwendung möglicher Kriegsge - fahren die Zulaſſung ihrer Geſandten forderten, da die Bundesakte denn doch dem Bundestage das Recht der Kriegserklärung gewährt hatte? In der That fanden die Geſandten der Großmächte in Frankfurt vorderhand gar nichts zu thun. Was verſchlug es, wenn die kleinen Diplomaten in dem Rothen Hauſe, dem Malepartus des ſchlauen Ruſſen Anſtett, viel - geſchäftig aus - und eingingen? Ernſthafte Fragen, bei denen der Einfluß des Auslandes ſchädlich wirken konnte, traten in dieſen ſtillen erſten zwei Jahren noch nicht an den Bundestag heran. Auch die anfangs allgemein verbreitete Furcht vor einem geheimen Sonderbunde der alten rheinbün - diſchen Kernlande erwies ſich noch als verfrüht. Wohl war König Friedrich von Württemberg, auf die Nachricht von Hänleins Auftreten, alsbald nach Karlsruhe hinübergereiſt, um den Großherzog von Baden und den König von Baiern, der in Baden weilte, für eine gemeinſame ſüddeutſche Politik, zum Schutze der ungeſchmälerten Souveränität, zu gewinnen; aber Baiern und Baden lebten in bitterer Feindſchaft, und Beide mißtrauten dem würt - tembergiſchen Nachbarn. Der Verſuch mißlang vollſtändig*)Jouffroys Bericht, Stuttgart, 20. Juli. Küſters Bericht, Baden, 25. Juli 1816., und als König Friedrich bald nachher ſtarb, war von dieſen rheinbündiſchen Plänen eine Zeit lang nicht mehr die Rede. Auch der ſächſiſche Bundestagsgeſandte, der ſteife alte Graf Görtz bewährte durchweg eine untadelhafte Harmloſigkeit, da ſein König dem Hauſe Oeſterreich nie zu widerſprechen wagte.

Der Bundestag konnte indeſſen ſelbſt jene unſchuldigen Reclamations - Angelegenheiten nicht erledigen, ohne mit dem Dünkel der kleinfürſtlichen Souveränität heftig zuſammenzuſtoßen. Schon beim Beginn der Ver - handlungen ſprach Baiern das Bedenken aus, ob die Bundesverſammlung überhaupt befugt ſei, Beſchwerden deutſcher Unterthanen gegen ihre Lan - desherren anzunehmen; doch wurde das bairiſche Votum vorläufig in einem geheimen Protokolle vergraben. Als aber der Bundestag ſich bald nach - her unterſtand, eine Beſchwerde ſolcher Art vor ſein Forum zu ziehen, ward ihm ungeſtraft eine ſchnöde Beleidigung geboten. Aus keinem Lande waren ſo viele Klagen und Bitten eingelaufen, wie aus dem unglücklichen Kurheſſen, das unter ſeinem heiß erſehnten alten Kurfürſten ein Regiment ſchamloſer Willkür und Habſucht ertragen mußte. Unter den Unzähligen, denen der Kurfürſt ihr gutes Recht vorenthielt, befand ſich auch ein Guts - beſitzer Hofmann. Der Mann hatte von der Kronkaſſe einige ſeculariſirte151Streit mit dem Kurfürſten von Heſſen.Deutſch-Ordensgüter gekauft; der Kauf wurde im Auguſt 1815, zwei Jahre nach der Rückkehr des alten Landesherrn, durch die kurfürſtlichen Behörden in die Kataſterrolle eingetragen. Gleichwohl erhielt der Käufer ein halbes Jahr ſpäter den Befehl zur Wiederauslieferung der Güter, die er unter - deſſen zerſchlagen und an zwanzig Andere veräußert hatte; der Kurfürſt, ſo hieß es kurzab, wolle nicht dulden, daß Staatsgüter in den Händen von Privaten blieben. Die Bundesverſammlung faßte den mildeſten Be - ſchluß, der in einem ſolchen Falle möglich war: ſie verwies den Kläger an den Kurfürſten und forderte ihn auf, wenn er dort, gegen alle beſſere Erwartung der Bundesverſammlung, nicht erhört werden ſollte , ſeine Be - ſchwerde nochmals beim Bunde einzureichen. Der Kurfürſt aber tobte, als er von dieſer frevelhaften Verletzung ſeiner Kronrechte erfuhr, und ließ in Frankfurt eine Erwiderung verleſen, welche ſofort in dem öffentlichen Pro - tokolle abgedruckt werden mußte (17. März 1817): er nannte darin den letzten Beſchluß ſehr auffallend , gab den Geſandten ſeine Verwunderung über ein Benehmen zu erkennen, welches die Billigung ihrer Committenten unmöglich erhalten könne , und ſchloß drohend: er verbitte ſich jede Ein - miſchung in ſeine inneren Landesangelegenheiten.

Eine ſolche Sprache ſchien doch ſelbſt der Geduld des Bundestages unerträglich. Alle Geſandten brachen den geſelligen Verkehr mit dem Ver - treter des Kurfürſten ab; man erwartete beſtimmt, die beiden Großmächte würden ihre Geſandtſchaften aus Kaſſel abberufen und dem Bunde eine glänzende Genugthuung für die erlittene Beleidung verſchaffen. *)Berſtetts Bericht 16. März 1817.Graf Buol erwiderte in geharniſchter Rede: die Stellung des Bundestags würde auf die gemeinſchädlichſte Weiſe verändert werden, wenn er ſich gefallen laſſen müßte, daß ein unzufriedenes Bundesglied in verweiſendem Tone zu ihm ſpräche: die Bundesverſammlung iſt nie und nirgends unter einem Gliede des Bundes. Zuletzt verſicherte er ſogar mit einer in dieſem Kreiſe unerhörten Begeiſterung: der Bundestag werde den bedrängten Unter - thanen die Ueberzeugung verſchaffen, daß Deutſchland nur darum mit dem Blute der Völker von fremdem Joche befreit wurde, damit überall ein rechtlicher Zuſtand an die Stelle der Willkür treten möge . Graf Goltz erklärte die unbedingte Zuſtimmung ſeines Königs zu dem gefaßten Be - ſchluſſe; auch Gagern verſicherte in einer hochpathetiſchen, verworrenen Rede: das von dem Kurfürſten angetaſtete Eigenthumsrecht enthalte ein beinah jungfräuliches noli me tangere . Mit Ausnahme der beiden heſ - ſiſchen Bevollmächtigten ſchien der geſammte Bundestag einig.

Doch leider hatte Graf Buol auf eigene Fauſt gehandelt; ſeine Inſtruk - tionen waren, nach der Gewohnheit der Hofburg, wieder einmal ausge - blieben. Er reiſte daher zu Anfang April ſelbſt nach Hauſe um dem Bundestage den Beiſtand des Wiener Hofes zu ſichern. Aber welch ein152II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Empfang ward dem Unglücklichen! Der Kurfürſt hatte ſich ſogleich bei Kaiſer Franz beſchwert, und Metternich überhäufte den Präſidialgeſandten mit Vorwürfen: wie er ſich habe unterſtehen können, die Würde eines Souveräns in ſolcher Weiſe anzutaſten! Er drohte ihm mit Abberufung, mit förmlicher Mißbilligung des Bundesbeſchluſſes. Dies Aeußerſte wurde freilich durch Hardenbergs Vermittlung abgewendet. Der Staatskanzler hielt ſeinem Wiener Freunde eindringlich vor, der Bundestag ſei im Rechte und dürfe nicht öffentlich bloßgeſtellt werden. *)Hardenberg an Metternich, 12. April 1817.Metternich begnügte ſich daher mit einer ſtrengen Verwarnung, und tief niedergeſchlagen kehrte Buol auf ſeinen Poſten zurück. Darauf beſtätigte der Bundestag ſeine frühere Entſchließung durch einen neuen, überaus behutſam gehaltenen Beſchluß, und die Hofmann’ſche Beſchwerde wurde durch den Kurfürſten in der Stille beigelegt. Aber von einer Sühne für die erlittene Beſchimpfung war keine Rede; die deutſchen Souveräne wußten jetzt was ſie ſich gegen den Bund herausnehmen durften. Die Geſandten fühlten ſich alleſammt beſchämt und eingeſchüchtert, ſie gewöhnten ſich fortan, bei jeder noch ſo ge - ringfügigen Frage beſondere Inſtruktionen einzuholen, ſo daß alle Ent - ſcheidungen ſich in’s Unabſehbare hinauszogen.

Der Hofmann’ſche Fall bildete nur ein Glied in einer langen Kette von Rechtsverletzungen, welche den Bundestag noch durch viele Jahre in Athem hielten und dem deutſchen Namen im Auslande, namentlich in Frankreich, einen üblen Ruf verſchafften. Es rächte ſich ſchwer, daß die große Allianz nach der Auflöſung des Königreichs Weſtphalen die alten Landes - herren vertrauensvoll ohne jede Bedingung zurückgeführt hatte. Die Krone Preußen freilich verfuhr in ihren vormals weſtphäliſchen Provinzen ſtreng nach dem Rechte; ſie hatte das Königreich Weſtphalen im Tilſiter Frieden anerkannt und betrachtete mithin alle verfaſſungsmäßigen Hand - lungen der weſtphäliſchen Regierung als rechtsgiltig. Die Fürſten von Hannover, Braunſchweig und Kurheſſen hingegen waren nur thatſächlich, ohne Friedensſchluß, ihrer Länder verluſtig gegangen und ſahen in König Jerome nur einen Uſurpator. Vergeblich ſtellte ihnen der Berliner Hof vor, daß ſie doch nicht durch eigene Kraft, ſondern durch die Waffen der Verbündeten wiederhergeſtellt worden ſeien und demnach jenes napoleoniſche Königreich, das einſt die Anerkennung aller großen Mächte gefunden hatte, nicht kurzweg als eine widerrechtliche Ordnung behandeln dürften. Preu - ßen wünſchte, durch freundſchaftliche Verhandlungen zwiſchen den bethei - ligten vier Staaten gemeinſame Rechtsgrundſätze über die Anerkennung der weſtphäliſchen Geſetze und Verordnungen zu vereinbaren. **)Goltz’s Bericht 19. Juli; Denkſchrift des Staatskanzlers über das Königreich Weſtphalen, 18. Nov. 1817.Aber keiner der drei anderen Höfe ging auf den billigen Vorſchlag ein. In Hannover153Die weſtphäliſchen Domänenkäufer.und Braunſchweig wurden die weſtphäliſchen Geſetze alleſammt für nichtig erklärt, nur die wohlerworbenen Rechte der Unterthanen behandelte man mit Schonung.

Um ſo dreiſter griff der heſſiſche Kurfürſt zu. Alles und Jedes in ſeinem Lande ſollte auf den Stand vom Herbſte 1806 zurückgebracht werden, und der geizige Herr verfuhr bei dieſem ungeheuerlichen Unternehmen nicht, wie gleichzeitig der König von Sardinien, mit der naiven Ehrlichkeit des legitimiſtiſchen Fanatikers, ſondern mit offenbarer Gaunerei. Was ſein Verwalter Jerome für die Kronkaſſe erworben hatte, ward als recht - mäßige Kriegsbeute behalten, was er veräußert als Raub zurückgefordert; die Handwerker, die dem luſtigen Napoleoniden ſeine Gemächer ausge - ſchmückt, empfingen keine Bezahlung, aber die gelieferten Möbel verblieben den kurfürſtlichen Schlöſſern. Selbſt in den Zeiten der polniſchen Auguſte hatte das geduldige Deutſchland ſo freche Willkür kaum geſehen. Am Schwerſten litten die Käufer der zahlreichen durch König Jerome ver - äußerten Domänen; ſie wurden aus ihrem Eigenthum vertrieben und be - ſtürmten den Bund mit Klagen. Als dieſe Beſchwerden in Frankfurt zur Verhandlung kamen, ſtimmte der kurheſſiſche Geſandte wieder den gewohnten Ton an und warf mit frechſten Lügen um ſich. Martens, der Ver - treter Braunſchweigs, hatte die Stirn, dem treuen Volke dieſer welfiſch - heſſiſchen Lande, das ſo unſäglich viel für ſeine angeſtammten Fürſten ge - opfert und gelitten hatte, drohend zuzurufen: man müſſe durch Aufſtel - lung ſtreng legitimiſtiſcher Grundſätze zum Voraus den deutſchen Unter - thanen die Luſt benehmen, dem eindringenden Feinde behilflich zu ſein! Die Mehrheit des Bundestages, gewitzigt durch die bitteren Erfahrungen in der Hofmann’ſchen Sache, begnügte ſich diesmal, die Klagenden dem Wohlwollen des Kurfürſten zu empfehlen (17. Juli 1817). Damit ward die Entſcheidung der unſauberen Händel nur vertagt; denn alsbald mel - deten ſich andere Opfer der kurfürſtlichen Tyrannei.

Derweil der Bundestag alſo ſeine Zeit verdarb, bemühte ſich Harden - berg redlich, den einzigen politiſch bedeutſamen Artikel der Bundesakte, der bei gutem Willen noch der Verwirklichung fähig ſchien, auszuführen: jenen Art. 11, welcher den Bundesſtaaten gemeinſamen Schutz gegen feindlichen Angriff verſprach. Die Hoffnungen Preußens für das deutſche Bundes - heerweſen blieben vom Wiener Congreſſe bis zur Auflöſung des Bundes immer die gleichen: der Berliner Hof wünſchte die Zweitheilung des Bun - desheeres, und nur wenn ſich der Widerſtand der deutſchen Höfe nicht anders beſiegen ließ war er bereit den Mittelſtaaten die Bildung ſelb - ſtändiger Armeecorps zuzugeſtehen. Ungeſchreckt durch Hänleins Erfahrun - gen begann der Staatskanzler ſogleich mit dem Wiener Hofe vertraulich zu unterhandeln, obgleich er doch aus den Inſtruktionen des Präſidialge - ſandten wiſſen mußte, daß die Hofburg keineswegs geneigt war, durch Son - derverhandlungen das Wohlwollen der kleinen Souveräne zu verſcherzen. 154II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Gleich zu Anfang dieſer Berathungen erhob ſich eine Vorfrage, welche die ganze heilloſe Unwahrheit der Bundesverfaſſung an den Tag brachte. Be - vor man die militäriſchen Leiſtungen der Bundesglieder feſtſetzte, mußte man doch wiſſen, wo die Grenzen des Bundesgebietes lagen. Die Bun - desakte hatte ſich begnügt mit der unklaren Beſtimmung, daß die Herrſcher von Oeſterreich und Preußen für ihre geſammten, vormals zum Deut - ſchen Reiche gehörigen Beſitzungen dem Bunde beiträten. Da Metternich von Haus aus entſchloſſen war dem Bundestage niemals eine Einwirkung auf die inneren Verhältniſſe der Kronlande zu erlauben, ſo hatte für ihn die Angelegenheit keinen Werth; er erklärte unbedenklich, ſein Kaiſer beabſichtige ein Gebiet von etwa 8 Mill. Einwohnern die Lande der Krone Böhmen, das Erzherzogthum, Tyrol und Salzburg, die Steyermark, Kärnten und Krain dem Bunde zu überweiſen. Hardenberg hielt ſich an ſeinen Lieblingsgedanken, die vollkommene Gleichheit der beiden Großmächte, und beantragte darum bei ſeinem Monarchen die Aufnahme eines preußiſchen Gebietes von etwa gleicher Bevölkerung: außer den unzweifelhaften alten Reichslanden der hohenzollern’ſchen Krone ſollten auch Geldern, das zwei - hundert Jahre lang dem Reiche entfremdet geweſen, und das ſouveräne Herzogthum Schleſien nebſt der Lauſitz für Bundesland erklärt werden.

König Friedrich Wilhelm aber nahm die Frage ſehr ernſt und über - raſchte den Staatskanzler durch die beſtimmte Erwiderung, daß er mit ſeinem geſammten Staatsgebiete dem Deutſchen Bunde beizutreten denke. Er kannte die unberechenbaren Wechſelfälle der europäiſchen Politik und behielt, trotz ſeiner Freundſchaft für den Czaren, auch die Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland wachſam im Auge. Da er ſich ſelber ſchlechtweg als deutſcher Fürſt fühlte und ehrlich entſchloſſen war jede Verletzung des Bundesgebiets mit der geſammten Kraft ſeiner Monarchie zurückzuweiſen, ſo ſchien es ihm nur billig, daß auch der Bund ſich verpflichtete den preußiſchen Staat gegen jeden Angriff zu vertheidigen; er dachte dabei zu - nächſt an Poſen und die unverhohlene Begehrlichkeit der Polen in War - ſchau. Für den Fall, daß die förmliche Aufnahme des ganzen Staats - gebietes in den Bund ſich nicht durchſetzen ließ, verlangte der König min - deſtens den Abſchluß eines dauernden Vertheidigungsbündniſſes zwiſchen Preußen und dem Bunde. Schon im Herbſt 1816 wurde dieſe Abſicht des Monarchen in der Inſtruktion für die Bundesgeſandtſchaft ausge - ſprochen und ſeitdem zu Hardenbergs Verzweiflung anderthalb Jahre lang hartnäckig feſtgehalten. Die deutſchen Dinge lagen indeß noch ſo verſchroben, daß gerade die einfachſten, die beſtgemeinten politiſchen Gedanken verfrüht, ja gefährlich erſchienen. So gewiß die europäiſchen Intereſſen Preußens mit denen des übrigen Deutſchlands zuſammenfielen, ebenſo gewiß durfte die preußiſche Krone nicht zu Gunſten dieſes Bundestages auf die Selb - ſtändigkeit ihrer auswärtigen Politik verzichten. Und ſo unzweifelhaft das treue deutſche Ordensland durch Stammesart und Geſchichte dem großen155Verhandlungen über den Eintritt des preußiſchen Geſammtſtaats.Vaterlande angehörte, ebenſo ſicher ließ ſich doch vorausſehen, daß weder Oeſterreich noch die Mittelſtaaten dieſe Oſtmark jemals freiwillig in den Deutſchen Bund aufnehmen würden, da ſie ja ſammt und ſonders die Be - ſchränkung der preußiſchen Macht als den Hauptzweck der Bundespolitik be - trachteten.

Der Staatskanzler beſchwor daher ſeinen königlichen Herrn, nicht durch einen ſolchen Antrag allgemeines, peinliches Aufſehen zu erregen und aus der Reihe der europäiſchen Mächte gleichſam herauszutreten ; er verſchmähte ſogar nicht die perfide Frage: würde man dadurch nicht der Idee von Deutſchheit noch mehr Nahrung geben, die in den Schwindelköpfen der Zeit liegt? *)Hardenberg an den König, 23. Febr. 1817.Humboldt ſchloß ſich dem Staatskanzler an und erinnerte nachdrücklich an die ſchwer errungene Stellung Preußens innerhalb der europäiſchen Pentarchie. Auch Goltz berichtete aus Frankfurt: alle Klein - ſtaaten wünſchten, daß der Bund nur eine paſſive Rolle in der europäi - ſchen Politik ſpiele, und würden mithin nimmermehr den Eintritt des preu - ßiſchen Geſammtſtaates genehmigen. Nochmals ſtellte Hardenberg dem Könige vor, welches Mißtrauen der Plan in Petersburg und an den kleinen Höfen erwecken müſſe. **)Humboldts Votum 12. Juli, Hardenbergs Denkſchrift 1. Decbr., Goltz’s Denk - ſchrift 30. Decbr. 1817.Die Möglichkeit aber, daß Preußen dereinſt durch eine öſterreichiſch geſinnte Bundestagsmehrheit wider Willen in einen italieniſchen Krieg der Habsburger hineingeriſſen werden könnte, fand noch in keiner dieſer Denkſchriften Erwähnung; ein ſolcher Fall lag noch weit außerhalb des Geſichtskreiſes der Zeit. Wurde Oeſterreich in der Lom - bardei angegriffen, ſo war Preußen, nach der einſtimmigen Anſicht der Ber - liner Staatsmänner, unzweifelhaft verpflichtet, den Bundesgenoſſen zu unterſtützen; denn wer anders als Frankreich konnte den Angriff unter - nehmen? an eine Schilderhebung der Piemonteſen wagte noch Niemand zu denken.

Der König blieb unerſchütterlich: Ich kann, erwiderte er dem Staats - kanzler (1. Decbr. 1817), in dieſer ſo überaus wichtigen Sache durchaus keine anderen Beſchlüſſe faſſen, indem ich zu ſehr von der Gefahr durch - drungen bin, in die der Staat kommen kann. ***)König Friedrich Wilhelm an Hardenberg 1. Decbr. 1817.Hardenberg mußte alſo ſchweren Herzens den Plan des Monarchen, nebſt einer ausführlichen Denk - ſchrift Ancillons, durch Geh. Rath Jordan der Hofburg mittheilen laſſen. Metternich aber war über ſeine Antwort nicht im Zweifel. Nichts lag ihm ferner als der Gedanke, den preußiſchen Antrag etwa durch das Anerbieten des Eintritts von Geſammt-Oeſterreich zu überbieten; ſo verwegene Ent - würfe galten damals noch allgemein als unausführbar, ſie widerſprachen den Grundanſchauungen der Stabilitätspolitik und erſchienen dem Wiener Hofe um ſo thörichter, da man ja den Plan der Bildung eines italieni -156II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ſchen Bundes noch nicht aufgegeben hatte. Der öſterreichiſche Staatsmann ſendete ſeinem preußiſchen Freunde einen zärtlichen, hochpathetiſchen Brief (9. Jan. 1818), der für Jedermann allein den König und den Staats - kanzler ausgenommen ein ewiges Geheimniß bleiben ſollte. Er ſchil - derte beweglich, wie die glückliche Eintracht der beiden Mächte allein auf der vollkommenen Gleichheit ihrer Stellung beruhe. Dieſe Gleichheit be - ſeitigen hieße das ganze Gebäude umſtoßen. Hüten wir uns, mein Fürſt, an dieſer glücklichen Lage irgend etwas zu verändern! Eine beigefügte Denkſchrift behauptete mit ſtolzer Zuverſicht: Würde einer der Bundes - ſtaaten in ſeinem nicht-deutſchen Gebiete unrechtmäßig angegriffen, ſo würde es kaum einmal einer Defenſiv-Allianz bedürfen um den Bund in Thätigkeit zu verſetzen; ſein eigenes Intereſſe würde ihn dazu bewegen. Der Fall, daß Oeſterreich oder Preußen getrennt von Rußland angegriffen würde, ohne daß die eine oder andere Macht für ihren Bundesgenoſſen Partei nähme, liegt ſo ſehr außer aller Möglichkeit, daß es überflüſſig wäre dabei zu verweilen. Der König jedoch ward weder durch die Mah - nungen Oeſterreichs noch durch eine neue Denkſchrift ſeines Staatskanzlers überzeugt und verlangte, obgleich Hardenberg dringend abrieth, ein Gut - achten der auswärtigen Abtheilung ſeines Staatsraths. *)Ancillons Denkſchrift für den Wiener Hof, 5. Decbr. 1817. Metternichs Brief und Denkſchrift an Hardenberg, 9. Januar 1818. Hardenbergs Denkſchrift, Engers 22. Februar 1818.Hier ſtimmten nach lebhaften Verhandlungen ſchließlich Alle darin überein, daß der Vor - ſchlag des Königs angeſichts der Geſinnung der deutſchen Bundesſtaaten vorläufig unausführbar ſei. Selbſt der Vertraute des Monarchen, der wackere Oberſt Witzleben, der anfangs für die Anſicht ſeines königlichen Freundes aufgetreten, ward durch die überlegenen Gründe der Gegner ge - wonnen. Nun endlich gab der König nach und genehmigte (24. April), daß außer den alten Reichslanden nur noch Geldern, Schleſien und die Lauſitz dem Bunde beitraten. Unmuthig fügte er hinzu, dies geſchehe gegen ſeine Ueberzeugung. **)Die zwei Gutachten Witzlebens bei Dorow, J. v. Witzleben S. 115 ff. Har - denbergs Tagebuch 24. April 1818.Alſo wurde die Abſicht König Friedrich Wil - helms, das alte Pflanzungsland des deutſchen Mittelalters wieder in den Staatsverband der Nation zurückzuführen, für diesmal vereitelt. Erſt ein Menſchenalter darauf, unter den Stürmen der Revolution, ſollte der Plan wieder aufleben, und erſt nach abermals achtzehn Jahren, als die Herr - ſchaft Oeſterreichs zuſammenbrach, ward er für die Dauer verwirklicht.

Ebenſo unglücklich verliefen die Verhandlungen über das Bundesheer. König Friedrich Wilhelm betrieb ſie mit unermüdlichem Eifer, denn da Preußen ſelbſt fünf Procent der Bevölkerung zum Heer ſtellte, ſo hielt er ſich berechtigt von den Bundesgenoſſen mindeſtens annähernd gleiche Lei - ſtungen zu fordern. Metternich dagegen legte auf die Organiſation der kleinen157Die Bundeskriegsverfaſſung.deutſchen Armeen wenig Gewicht, weil er des preußiſchen Bündniſſes ſicher war. Die Frage ſchien nicht erheblich genug um deßhalb den Argwohn der Mittelſtaaten zu erregen; brach ein Krieg aus, ſo mußten ſich die kleinen Contingente doch, wie in den letzten Feldzügen, irgendwie an die größeren Maſſen anſchließen. Ohnehin fehlte dem Wiener Hofe gänzlich der militäriſche Sinn, das Verſtändniß für die ſittliche Bedeutung der Heeresverfaſſung. Obgleich die Mängel des ſchwerfälligen öſterreichiſchen Heerweſens während der jüngſten Kriege grell genug hervorgetreten waren, ſo unterblieb doch im Frieden jede Verbeſſerung; der mißtrauiſche Kaiſer ſprach als Grundſatz aus, daß man niemals einem Offizier, der ſich im Kriege her - vorgethan, im Frieden eine einflußreiche Stellung anvertrauen dürfe, und ließ den fähigſten ſeiner Generale, Radetzky, zehn Jahre lang auf dem Feſtungscommando zu Olmütz. Die Maſchine verroſtete mehr und mehr. Die jungen Offiziere ſpotteten laut über das militäriſche Philiſterthum und ergötzten ſich an einer boshaften Satire, die im Jahre 1816 erſchien, dem Standhaften Kriegs-Dienſt - und Exercirreglement der Reichsſtadt Riblingen denn wie oft hatte nicht das tapfere kaiſerliche Heer, gleich der Riblinger Armada, einen Feldherrn aus dem Geſchlechte derer von Kraftlos ertragen müſſen! Zu Alledem kam noch der dringende Wunſch des Kaiſers, alle erregten Verhandlungen in Frankfurt zu vermeiden. Als ihm der Bundestag zum erſten male zum Geburtstage Glück wünſchte, ließ er durch Metternich (2. März 1817) ſeinen Dank ausſprechen, und die Auguren der Eſchenheimer Gaſſe vernahmen mit befriedigtem Lächeln, wie der gute Kaiſer ſie ermahnte: ſie ſollten nicht vergeſſen, daß ſie als eine permanente Verſammlung keinen Grund zu übereilter Arbeit hätten; nimmer - mehr dürfe durch übertriebenes Drängen der Geſchäfte ein nachtheiliger Ausbruch am Bundestage herbeigeführt werden.

Während Kaiſer Franz alſo ſeine Beſorgniß vor dem heißblütigen Ungeſtüm des jugendlichen Bundestages ausſprach, zeigten ſich die Mittel - ſtaaten ſämmtlich entſchloſſen, Alles zu verwerfen, was der Einheit eines wirklichen Heeres auch nur nahe kam. In keiner andern Frage wagte ſich die noch ungebrochene rheinbündiſche Geſinnung dieſer Höfe ſo ſchamlos hervor. Nicht die Vertheidigung des Vaterlandes gegen den auswärtigen Feind, ſondern die Sicherung der kleinköniglichen Souveränität gegen die Uebermacht der großen Bundesgenoſſen wurde ungeſcheut als der Zweck der Bundeskriegsverfaſſung bezeichnet. Alle Mittel - und Kleinſtaaten, ſo berichtete Berſtett zufrieden ſeinem Hofe, wünſchten die Bildung eines reinen Bundesheeres von mehreren Corps aus den kleinen Contingenten unter einem gewählten Bundesfeldherrn; daneben mochten noch ein öſter - reichiſches und ein preußiſches Corps als ſelbſtändige Hilfstruppen geduldet werden. *)Berſtetts Bericht 29. Januar 1817.Das deutſche Heer ſollte abſichtlich geſchwächt werden, damit158II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.die Ueberzahl der Oeſterreicher und der Preußen die Kleinen nicht erdrückte. Ließ ſich dies höchſte Ziel nicht erreichen, ſo mußten die Kleinſtaaten min - deſtens vor jeder Unterordnung unter die Großmächte bewahrt bleiben. Die - ſelben Höfe, welche ſoeben, als die Zulaſſung der fremden Geſandten in Frage ſtand, die europäiſche Macht des Deutſchen Bundes verherrlicht hatten, ſagten jetzt demüthig: die Aufgabe ſei nicht eine gebietende Stellung im europäiſchen Staatenſyſteme einzunehmen, ſondern nur eine vertheidi - gende mit Würde zu behaupten ſo lautete der erſte Commiſſionsbericht des Bundestages in Sachen des Heerweſens. Baden und Darmſtadt gingen noch weiter und erklärten geradezu, gegen Sinn und Wortlaut der Bundesakte: Neutralität ſei das einzige Princip des Bundes. Da die kleinen Höfe alleſammt feſt auf eine lange Zeit ungeſtörten Friedens hofften, ſo wollten ſie ihren ermüdeten Völkern, ihren zerrütteten Finanzen nur geringe Kriegsleiſtungen zumuthen. Die Landwehr, welche die meiſten Kleinſtaaten während des Krieges nach preußiſchem Muſter gebildet hatten, wurde von dem Zunftſtolze der rheinbündiſchen Offiziere mit Verachtung angeſehen, zumal da ſie, mit Ausnahme der hannöverſchen, nur ſelten in’s Gefecht gekommen war. Auch an Verdächtigungen fehlte es nicht; hatte doch Steins verhaßte Centralverwaltung die Volksbewaffnung geleitet! Nach dem Frieden hob man überall in den Kleinſtaaten die Landwehr auf oder man ließ ſie verfallen, ſo daß ſie nur zuweilen, wie die vielbe - lachten bairiſchen Frohnleichnamsſoldaten , an Feſttagen auf einige Stun - den zum Vorſchein kam; und bald war Preußen der einzige deutſche Staat, der noch eine kriegstüchtige Landwehr beſaß.

In dem Verlangen nach Abrüſtung vereinigten ſich die gedankenloſe Selbſtſucht der kleinen Höfe und der Soldatenhaß des Liberalismus. Auch darin ſtimmten alle Mittelſtaaten überein, daß man allenfalls für Kriegs - zeiten eine mäßige Leiſtung verſprechen, doch nimmermehr im Frieden eine Aufſicht von Bundeswegen ertragen dürfe. An den Höfen von Darm - ſtadt und Karlsruhe fragte man unverhohlen: warum Opfer bringen für ein Bundesheer, das dem engeren Vaterlande doch nichts nützen könne? be - vor die Oeſterreicher und Preußen dem Südweſten zu Hilfe kämen, wür - den die franzöſiſchen Heere längſt die deutſchen Grenzlande überſchwemmt haben. So ſchnell waren die ſtrahlenden Siege der jüngſten Jahre wieder vergeſſen; ſo lähmend wirkte die Nachbarſchaft jener elſaſſiſchen Feſtungen, welche der faule Friede in Frankreichs Hand gelaſſen, auf den deutſchen Stolz! Der Kurfürſt von Heſſen bewährte auch diesmal ſeine Anhäng - lichkeit an die gute alte Zeit und ſchärfte ſeinem Geſandten ein, Heſſen habe zu dem Reichsheere niemals mehr als 800 Mann geſtellt; doch wollte er aus beſonderer Hingebung dem Deutſchen Bunde äußerſten Falles 2500 Mann gewähren, nur möge man ihn mit den Hauskriegen Oeſter - reichs und Preußens nicht behelligen. Dieſe Abſichten der kleinen Höfe wurden ſchon bei den einleitenden Verhandlungen über das Heerweſen159Verhandlungen über das Bundesheer.mit cyniſcher Offenheit ausgeſprochen. Baiern fragte kurzab: wozu über - haupt eine Vorſchrift über die Friedensſtärke der Contingente? genug, wenn der Bund für den Kriegsfall das Verhältniß zwiſchen den Leiſtungen der Bundesglieder feſtſtellt; ſind dieſe Simpla vereinbart, ſo kann alles Weitere den Umſtänden und der freien Uebereinkunft der Staaten überlaſſen werden. In der That gelangte der Bundestag am 29. Mai 1817 nur zu dem Beſchluſſe, einen Ausſchuß mit der Aufſtellung einer proviſoriſchen Matrikel zu beauftragen. Aber ſollte die Bevölkerung allein den Maßſtab für die Matrikel bilden? Oder auch der Gebietsumfang und die Höhe der Staats - einkünfte? Selbſt hierüber war man noch nicht einig. Die reichen Hanſe - ſtädte empfahlen lebhaft den Bevölkerungsmaßſtab, der ihnen ein gutes Ge - ſchäft verhieß; das dichtbevölkerte Württemberg ſprach ebenſo eifrig dawider.

Angeſichts ſolcher Erfahrungen ſetzte Hardenberg ſeine letzte Hoffnung auf die Verſtändigung mit Oeſterreich. Schon um Mitte Mai 1817 ließ er den Wiener Hof zu Sonderverhandlungen auffordern*)Hardenbergs Inſtruktion an Kruſemark, 13. Mai 1817., aber erſt im Juli beauftragte Metternich, ſichtlich ungern, den General Steigenteſch, in Karlsbad mit Boyen und dem General Wolzogen zuſammenzutreffen. Dort geriethen die beiden alten Freunde Steigenteſch und Wolzogen hart an einander, und nur Boyens ruhige Ueberlegenheit ſetzte endlich eine halbe Verſtändigung durch. Sobald man den Dingen näher trat, kam ſofort zu Tage, wie vollſtändig Hardenberg ſich über die Abſichten der Hof - burg getäuſcht hatte. Der preußiſche Vorſchlag der Zweitheilung des Bun - desheeres erſchien den Wiener Staatsmännern ſchlechthin unannehmbar. Er bot zwar dem preußiſchen Staate die Ausſicht auf die militäriſche Beherr - ſchung der dichten Wolke der norddeutſchen Kleinſtaaten; aber was hatte Oeſterreich dabei zu gewinnen, da doch die Unterwerfung der bairiſchen und der württembergiſchen Königskrone unter den kaiſerlichen Oberbefehl ganz undenkbar war? Der Plan entſprang der Politik des friedlichen Dualismus; doch er konnte, wie die Dinge lagen, nur die Machtſtellung Preußens zum Nachtheil Oeſterreichs verſtärken. Darum ward er auch von dem einzigen namhaften preußiſchen Staatsmanne, welcher damals ſchon die Trennung von Oeſterreich erſtrebte, warm befürwortet. Präſident v. Motz ſendete um die nämliche Zeit dem Staatskanzler eine Denkſchrift, die mit genialer Kühnheit die große Lüge des deutſchen Bundesrechts beleuchtete. Hier ward der Bund kurzerhand als ein politiſcher Nothbehelf bezeichnet, den die Eiferſucht der deutſchen Fürſten im Verein mit Oeſterreich, Ruß - land und Frankreich geſchaffen habe um Deutſchland in ewiger Kraft - zerſplitterung zu erhalten . Preußen aber müſſe ſchon jetzt den Zeitpunkt in’s Auge faſſen, wo das unhaltbare Bundeswerk wieder in ſich ſelbſt zer - fallen werde , und daher vorläufig, ſo lange ein einiges deutſches Heer noch nicht möglich ſei, die norddeutſchen Contingente durch Militärcon -160II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ventionen mit ſeiner Armee zu verbinden ſuchen. *)Motz, Gedanken über die Militärverfaſſung des Deutſchen Bundes, insbeſondere über Verträge mit den kleinen norddeutſchen Staaten, 24. Septbr. 1817.Wie durfte Oeſter - reich auf einen Vorſchlag eingehen, der zu ſolchen Hoffnungen Anlaß gab?

Nach lebhaftem Widerſtreben unterzeichnete der öſterreichiſche Bevoll - mächtigte zu Karlsbad endlich (10. Auguſt) eine Convention über die Bun - desfeſtung Mainz: die beiden Großmächte ſollten je die Hälfte der Gar - niſon ſtellen und aller fünf Jahre abwechſelnd den Gouverneur oder den Commandanten ernennen. Mit dieſer rechtlichen Gleichheit ward freilich die Eintracht in der deutſchen Hauptfeſtung nicht hergeſtellt; denn da Oeſter - reich von vornherein, dem Geiſte der Bundesakte zuwider, nichtdeutſche Regimenter in den rheiniſchen Platz ſendete, ſo brachen bald Händel aus zwiſchen den deutſchen und den fremden Truppen, und ſo lange der Deutſche Bund beſtand bildeten die unabläſſigen Raufereien der Mainzer Garniſon das erfreuliche Gegenſtück zu dem unblutigen Gezänk in Frankfurt. Schon vorher (12. März) war mit den Niederlanden ein Vertrag zu Stande ge - kommen, kraft deſſen König Friedrich Wilhelm ſich verpflichtete, für die zweite Bundesfeſtung Luxemburg drei Viertel der Garniſon, den Gouverneur und den Commandanten zu ſtellen. Zugleich begann Preußen, unter Aſters genialer Leitung, den Ausbau ſeiner rheiniſchen Feſtungen Coblenz, Köln, Weſel, Jülich, Saarlouis und verwendete dazu nach und nach, außer den 20 Mill. Fr., welche der Pariſer Vertrag angewieſen, noch eine beträchtliche Summe aus ſeinen eigenen Mitteln. Der Ehrenbreitſtein ward wieder her - geſtellt, und bald krönte die lieblichen Höhen an der Moſelmündung jener mächtige Kranz von vorgeſchobenen Werken, der die Bewunderung des alten Feſtungsſtürmers Wellington erregte und die zurückgebliebene, noch in Vau - bans Ideen befangene Befeſtigungskunſt der Franzoſen beſchämte. Während Preußen dergeſtalt, weit über ſeine Bundespflichten hinaus, für die Sicher - heit des Niederrheins ſorgte, lag der Südweſten noch völlig ſchutzlos vor den Ausfallsthoren der elſaſſiſchen Feſtungen. Zu Paris hatte man verab - redet, Landau als dritte Bundesfeſtung dem Bunde zu überweiſen, doch das Verſprechen blieb noch immer unausgeführt. Für eine vierte Bun - desfeſtung am Oberrhein waren 20 Millionen aus der franzöſiſchen Con - tribution beſtimmt; aber die ſüddeutſchen Höfe ſtritten ſich über den Platz. Baden und Württemberg verlangten zum Schutze ihres eigenen Gebietes eine Feſtung dicht am Rhein, etwa in Raſtatt; Oeſterreich dagegen wünſchte durch die Befeſtigung von Ulm die Donauſtraße zu ſperren und die Wieder - kehr des Auſterlitzer Feldzugs zu verhindern. Da ſich die Lage von Ulm zur Errichtung eines großen oberdeutſchen Waffenplatzes eignete und Oeſter - reich um keinen anderen Preis die Gleichberechtigung der beiden Groß - mächte in der Mainzer Feſtung zugeben wollte, ſo verſprach Boyen, Preu - ßen werde am Bundestage für Ulm ſtimmen.

161Die Karlsbader Convention.

Ueber die Eintheilung des Bundesheeres vermochten die Unterhändler in Karlsbad ſich nicht zu einigen. Nur eine ganz allgemein gehaltene Uebereinkunft, nur der Entwurf eines Entwurfs kam zu Stande: die Bun - desſtaaten verpflichten ſich, in Kriegszeiten zwei Procent der Bevölkerung zum Bundesheere, und außerdem ein Procent Erſatztruppen zu ſtellen; wird der Bundeskrieg erklärt, ſo legen die Contingente der Bundesſtaaten ein gemeinſames Abzeichen an und der Bundestag wählt einen Staat, der ſeinerſeits den Bundesfeldherrn ernennt. Dieſer Staat konnte nur Oeſter - reich ſein. Boyen gewährte das Zugeſtändniß, weil er vorausſah, daß die Natur der Dinge trotzdem wieder, wie im letzten Kriege, die Theilung des Kriegstheaters erzwingen würde. Um das kümmerliche Ergebniß der Karls - bader Conferenz durch einige beſtimmtere Abreden zu ergänzen und über - haupt ein gemeinſames Vorgehen der beiden Großmächte am Bundestage zu vereinbaren, wurde im December noch Geh. Rath Jordan nach Wien ge - ſendet; aber auch er erlangte nur unſichere Zuſagen.

Unterdeſſen hatten die öſterreichiſchen Diplomaten das Geheimniß der Karlsbader Uebereinkunft ſchon längſt den kleinen Höfen verrathen. Schon vierzehn Tage nach dem Abſchluß, lange bevor der preußiſche Bundesge - ſandte ſelbſt von den Karlsbader Verhandlungen etwas ahnte, waren die ſüddeutſchen Kabinette bereits unterrichtet. Ein jäher Schrecken ergriff die Souveräne, das Geſpenſt der deutſchen Zweiherrſchaft ſtand drohend vor den Thoren. Der Kurfürſt von Heſſen eilte ſofort nach Darmſtadt, der Großherzog von Baden nach Homburg zum Könige von Württemberg; die vier Fürſten verſchworen ſich, jedem Uebergriffe der Großmächte vereint entgegenzutreten. Als der Bundestag im Herbſt nach ſeinen erſten Ferien wieder zuſammentrat, fand Graf Goltz, der noch immer von nichts wußte, die Stimmung der Verſammlung wunderbar aufgeregt und verbittert. *)Goltz’s Bericht 8. Oktbr. 1817; deſſen Ueberſicht über die Bundesverhandlungen v. 13. April 1819.Erſt am 15. Januar 1818 wagte Buol die Karlsbader Convention als einen Präſidialantrag dem Bundestage vorzulegen. Um die entrüſteten Hörer zu beſchwichtigen, betheuerte er, daß er damit nur das Feld für die freie Berathung eröffnen wolle; zwei Geſichtspunkte müßten bei der Ver - handlung feſtgehalten werden: die vollkommene Würdigung der Souve - ränität der deutſchen Staaten und die Rückſicht auf ein wirkſames Ver - theidigungsſyſtem. Dann überreichte er noch einen ungeheuerlichen Ent - wurf für die Eintheilung des Bundesheeres, der eine Friedensſtärke von nur 120,000 Mann verlangte und den beiden Großmächten je ein Armeecorps von 41,500 Mann zuwies; die übrigen 37,000 Mann ſollten in neun Corps zerfallen, alſo daß jeder Mittelſtaat von Baiern bis auf Luxemburg herab ſich den Hochgenuß eines commandirenden Generals gönnen konnte. Die Perle dieſer elf Corps war das elfte, das 2606 Luxemburger, Naſ -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 11162II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ſauer und Hanſeaten unter der Führung eines niederländiſchen Generals umfaſſen ſollte. Preußen gab dem wunderſamen Vorſchlage nur darum vorläufig ſeine Zuſtimmung, weil dieſe winzigen Corps im Kriegsfalle unmöglich neben den Heeren der beiden Großmächte ihre Selbſtändigkeit behaupten konnten, und man doch nicht wagen durfte die Zweitheilung des Heeres geradeswegs zu beantragen.

Aber wie ſorgſam Oeſterreich auch die Souveränität der Kleinen ge - ſchont hatte, wie beſcheiden auch ſeine Anträge klangen, den Erben des Rheinbundes ſchien ſelbſt dies Nichts unerträglich drückend. Umſonſt ſendete Hardenberg im Januar den General Wolzogen nach Stuttgart um dem neuen Könige auseinanderzuſetzen, daß nur ein Heer von min - deſtens zwei Procent der Bevölkerung einem Angriffe Frankreichs gewachſen ſei; die Selbſtſucht König Wilhelms war ſtärker als ſein Soldatenverſtand. Als am 16. Februar die Abſtimmung begann, ſtanden Baiern, Sachſen, Württemberg, Baden und die beiden Heſſen einhellig gegen die Großmächte. Sie forderten ziemlich übereinſtimmend: Herabſetzung der Kriegsſtärke auf die Hälfte; mehr als 1 % für das Heer und ½ % für den Erſatz ſei uner - ſchwinglich. Ferner Erwählung des Bundesfeldherrn durch den Bundestag ſelbſt; dann blieb die Ausſicht, den Marſchall Wrede oder einen kleinkönig - lichen Prinzen an die Spitze des deutſchen Heeres zu ſtellen. Selbſtver - ſtändlich durfte dieſer deutſche Feldmarſchall auch im Kriege die Einthei - lung der Corps nicht verändern, auch ſollte er ſich eines parlamentariſchen Hauptquartiers erfreuen, einer Verſammlung von Offizieren aus allen Contingenten, welche das Intereſſe ihrer Souveräne bei dem Feldherrn zu vertreten hätten. Schlechterdings keine Inſpektion von Bundeswegen in Friedenszeiten, auch keine Vorſchriften über die Landwehr; überhaupt ſollte die Ausführung des künftigen Bundesgeſetzes ausſchließlich den Ein - zelſtaaten überlaſſen bleiben. Dieſe Ausſicht war um ſo erfreulicher, da der Kurfürſt von Heſſen ausdrücklich hinzufügte, man dürfe ihm nicht zu - muthen, die Stämme und die Ausrüſtung für die Kriegsſtärke ſchon im Frieden bereit zu halten. Ein gemeinſames Abzeichen wollte man im Kriege allenfalls ertragen, nur durfte es bloß ein Erkennungszeichen ſein wie die weiße Armbinde, welche die Kriegsvölker des verbündeten Europas in Frankreich, unbeſchadet ihrer nationalen Selbſtändigkeit, einſt geführt hatten. Für die Eintheilung des Bundesheeres ward als unverbrüchliche Regel gefordert, daß kein Staat, der ein vollſtändiges Armeecorps ſtelle, andere Truppen mit den ſeinen vereinigen dürfe; die gemiſchten Corps ſollten nach den geographiſchen und verwandtſchaftlichen Verhältniſſen gebildet werden. Der Kurfürſt von Heſſen zeigte zugleich an, er habe mit dem Vetter in Darmſtadt verabredet eine Diviſion gemeinſam den Feinden des gemeinſchaftlichen und des beſonderen Vaterlandes entgegenzuſtellen ; und Jedermann wußte, daß mit den Feinden des beſonderen Vaterlandes nur Preußen gemeint war.

163Die Hauptpunkte der Bundeskriegsverfaſſung.

Hardenberg wollte im erſten Zorne Genugthuung von dem Heſſen fordern;*)Hardenberg an Goltz, 21. Februar 1818. der Wohlmeinende ſtand völlig rathlos vor den Kraftleiſtungen eines Particularismus, der ſo unbefangen eingeſtand, daß er ohne jede ernſthafte Gegenleiſtung nur den Schutz der beiden Großmächte bean - ſpruchte und im Nothfalle auch den Uebergang zum Landesfeinde nicht ſcheute. Und dazu die häßliche Verlogenheit der ganzen Berathung: keiner der Bundesgenoſſen konnte ſich darüber täuſchen, daß weder Oeſterreich noch Preußen jemals ſein Heer in zwei Stücke zerreißen würde, und mit - hin alles Streiten über die Bundescontingente der beiden Großmächte ſinn - los war. Metternich aber fand das Auftreten der Mittelſtaaten keines - wegs anſtößig, ſondern verhandelte in der Stille mit den ſüddeutſchen Höfen und verſprach dem Könige von Württemberg: neben den geſchloſſenen Maſſen der öſterreichiſchen, preußiſchen und bairiſchen Armee ſollten noch zwei oder drei gemiſchte Corps gebildet werden, ſo daß Württemberg, Han - nover und vielleicht auch Sachſen ein Corpscommando zu beſetzen hätten. Währenddem ward auch Buol von den ſüddeutſchen Geſandten bearbeitet; der Badener Berckheim fragte ihn vorwurfsvoll, warum Oeſterreich in Preußens Schlepptau gehe. **)Berckheims Bericht 8. April. Boyen an Hardenberg 31. März 1818.In der Sitzung vom 9. April 1818 trat der Präſidialgeſandte endlich offen zu den Mittelſtaaten über und legte dem Bundestage einige Hauptpunkte für die Bundeskriegsverfaſſung vor, welche in allem Weſentlichen den Anträgen der ſüddeutſchen Höfe ent - ſprachen. Die Verſammlung ging freudig darauf ein; Preußen fand ſich gänzlich vereinſamt und genehmigte was nicht mehr zu ändern war.

Der Staatskanzler ward aber ſelbſt durch dieſe Erfahrung nicht über die Zuverläſſigkeit der öſterreichiſchen Freundſchaft aufgeklärt, obwohl ihn Boyen, Wolzogen und ſogar der harmloſe Goltz wiederholt auf die offen - bare Zweizüngigkeit der Wiener Politik aufmerkſam machten. Noch immer hielt er Metternich für einen treuen, nur allzu nachgiebigen Freund, während dieſer in Wahrheit zäh und verſchlagen, wie die Mittelſtaaten, nur das eine Ziel verfolgte: jede militäriſche Verſtärkung Preußens zu verhindern. Zur Durchführung jener Hauptpunkte ward ein Ausſchuß des Bundestages eingeſetzt und außerdem noch eine aus Offizieren der größeren Staaten gebildete Militär-Commiſſion, ſo daß die militäriſchen Angelegenheiten ſtets drei Inſtanzen zu durchlaufen hatten. Ein neuer Zank begann, als Preußen ſich bereit erklärte, ebenſo viel Truppen zum Bundesheere zu ſtellen wie Oeſterreich, obwohl die Volkszahl ſeiner Bun - deslande etwas ſchwächer war. Der König hatte in ſeiner argloſen Ehr - lichkeit gehofft, der Bund werde ihm für dies patriotiſche Opfer danken, und fühlte ſich ſchwer enttäuſcht, als Metternich dem preußiſchen Geſandten mit freundſchaftlichem Bedauern antwortete: die Annahme dieſes groß -11*164II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.müthigen Anerbietens ſei am Bundestage leider wenig wahrſcheinlich, am wenigſten, wenn das gefürchtete Oeſterreich ſich dafür ausſpräche. In der That erklärten die Bundesgeſandten, der Hannoveraner Martens voran, ihr gerechtes Befremden über die unerhörte Zumuthung ſobald Goltz ſich im Sommer mit dem Antrage hervorwagte. *)Weiſung an Kruſemark, 20. Mai. Kruſemarks Bericht v. 10. Juni. Goltz’s Be - richt v. 21. Auguſt 1818.

Noch länger währte der Streit über die Eintheilung des Bundes - heeres. Die Hauptpunkte hatten nur beſtimmt, daß die kleinen Con - tingente vor jeder Berührung mit den Heeren der drei größten Staaten geſichert bleiben müßten. Preußen forderte nun, Kurheſſen ſolle, ſeiner geographiſchen Lage gemäß, einem norddeutſchen Corps beitreten; der Kur - fürſt dagegen hielt die verwandtſchaftlichen Verhältniſſe für wichtiger und wollte mitſammt dem Darmſtädter Vetter ſich an Württemberg an - ſchließen. Die Zänkerei ward völlig unerträglich, ſeit der neue Vertreter Oeſterreichs in der Militärcommiſſion, General Langenau insgeheim das Feuer ſchürte; der gewandte Sachſe hatte ſchon in Schwarzenbergs Haupt - quartier und auf dem Wiener Congreſſe ſeinen Haß gegen Preußen be - währt und zeigte ſich in allen den kleinen Künſten, welche am Bundes - tage entſchieden, dem gelehrten Preußen Wolzogen weitaus überlegen. Im Auguſt ward man endlich noch darüber einig, daß die Bevölkerung den Maßſtab für die proviſoriſche Bundesmatrikel bilden ſollte; denn zu einer definitiven Matrikel iſt der Deutſche Bund in einem halben Jahrhundert niemals gelangt. Aber nun begann wieder das Feilſchen der Kleinen: Hildburghauſen berechnete ſeine Bevölkerung nach einer Zählung vom Jahre 1807, Gotha und Altenburg wurden überführt, ihre Reiche um 12000 Seelen zu niedrig geſchätzt zu haben und was des Schmutzes mehr war. **)Goltz’s Bericht 28. April 1818.

Als der Deutſche Bund ſein drittes Jahr begann, war weder die Kriegsverfaſſung beſchloſſen, noch die Karlsbader Convention über die Feſtung Mainz vom Bundestage genehmigt, noch Luxemburg und Landau dem Bunde überwieſen, noch über die vierte Bundesfeſtung irgend etwas vereinbart. Mittlerweile lagen die mit dem Blute der Waterloo-Kämpfer erkauften franzöſiſchen Millionen gegen mäßigen Zins bei Rothſchild und bereicherten dies Haus, das zuerſt durch die Blutgelder des heſſiſchen Kur - fürſten ſeine Größe begründet, dann ſeit dem Jahre 1813 ſich raſch zu der Stellung einer Weltmacht aufgeſchwungen und in wenigen Jahren mehr denn 1200 Mill. Gulden an Subſidienzahlungen und Anleihen für die tief verſchuldeten Höfe Europas übernommen hatte. Die deutſche Volks - wirthſchaft zog aus den Schätzen der Rothſchilds wenig Gewinn; denn die Firma war nicht deutſch, wie einſt die Fugger und die Welſer, ſondern zeigte165Verhandlungen über die Landſtände.von vornherein den weltbürgerlichen Charakter des modernen Judenthums. Die fünf, durch den dankbaren Kaiſer Franz baroniſirten Söhne des alten Amſchel ſiedelten ſich in allen Hauptplätzen Weſteuropas an und befolgten alleſammt jenen einfachen Grundſatz, welchen einſt ihr Vater gegen den Kurfürſten von Heſſen ausgeſprochen hatte: wer mir mein Geld nimmt, nimmt mir meine Ehre, und meine Ehre iſt mein Leben. Der Frank - furter Zweig des Hauſes blieb der Hofburg ein treuer Helfer in ihrer ewigen Finanznoth und ein mächtiger Bundesgenoſſe ihrer deutſchen Politik; in Berlin war wenig zu gewinnen, da der preußiſche Staatshaushalt zehn Jahre nach dem Frieden bereits wieder in Ordnung kam. Friedrich Gentz aber ſchrieb voll uneigennütziger Begeiſterung einen langen Aufſatz für das Converſationslexikon, der die unvergleichliche Weisheit und Tugend der Gebrüder Rothſchild in vollendetem Bedientenſtile feierte.

Wenn der Bundestag die nächſte und wichtigſte ſeiner Pflichten ſo ſchimpflich verabſäumte, um wie viel weniger konnte er den zahlreichen anderen Aufgaben gerecht werden, welche ihm die vieldeutigen Worte der Bundesakte zuwieſen. Schleunige Erfüllung des Art. 13, der die Ein - führung von Landſtänden verhieß ſo lautete der einſtimmige Ruf aller Parteien der Oppoſition, und nichts wollte man dem Bundestage weniger verzeihen, als daß er ſich um jene Zuſage ſo wenig kümmerte. Und doch war die Bundesverſammlung keineswegs berechtigt, ſich auf Grund jener unbeſtimmten Weiſſagung in die Verfaſſungskämpfe der Einzelſtaaten ein - zumiſchen. Obſchon Hardenberg dem Grafen Goltz in ſeiner Inſtruktion einſchärfte, das Ausbleiben der verheißenen Verfaſſungen könne nach allen den Drangſalen der Kriegsjahre hochgefährlich werden, ſo fanden ſich doch die Bundesgeſandten bald zuſammen in dem ſtillſchweigenden Entſchluſſe dieſe heikliche Frage nicht zu berühren. Alle Kabinette erfuhren bald, daß die Verwirklichung jenes Verſprechens doch weit ſchwieriger war als die liberale Ungeduld wähnte, alle bewachten eiferſüchtig ihre Souveränität gegen den Bund, manche dachten auch ſchon im Stillen ſich der unbe - quemen Verpflichtung ganz zu entziehen, zumal ſeit in Württemberg ein leidenſchaftlicher Kampf zwiſchen der Krone und den Landſtänden ausge - brochen war, der die Höfe mit Schrecken erfüllte.

Gleichwohl ward der Bundestag gezwungen ſich mit der Angelegenheit zu befaſſen. Karl Auguſt von Weimar hatte ſchon im Mai 1816, der Erſte unter ſeinen Genoſſen, eine Verfaſſung für ſein Ländchen verkündigt und verlangte im December die Bürgſchaft des Bundes für dies Grundgeſetz. Der gradſinnige Fürſt ſprach offen aus, er ſei gewillt die für Deutſchland aufgegangenen Hoffnungen in ſeinem Lande zu verwirklichen, und mit brau - ſendem Jubel feierte die liberale Preſſe den einzigen deutſchen Fürſten, der ſein Wort gehalten . Die Mehrheit des Bundestages empfing den wei - mariſchen Antrag mit unverhohlenem Aerger; warum mußte dieſer kleine Herr ſich ſo anmaßlich vordrängen und, um die Volksgunſt buhlend, die166II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.anderen Souveräne in den Schatten ſtellen? Es kam zu heftigen Auf - tritten. Als Baiern die Competenz des Bundestages bezweifelte, erwiderte der Geſandte der erneſtiniſchen Höfe ſcharf: durch ſolche Behauptungen be - ſtätige man nur den weitverbreiteten grundloſen Vorwurf, als ob der Bund lediglich die neuen Souveränitätsrechte wahren, den Unterthanen aber ihre vormals durch die Reichsverfaſſung geſicherten Rechte vorenthalten wolle. Der argloſe Gagern vermehrte noch die Verſtimmung, da er dem Groß - herzog treuherzig ſeinen Dank ausſprach für dieſen Vorgang, der eine Trieb - feder mehr für andere Fürſten ſein würde. In Wien war man peinlich überraſcht, da man weder dem fürſtlichen Demagogen in Weimar eine Aner - kennung gönnte noch dem Bundestage eine ſchiedsrichterliche Gewalt ein - räumen wollte. Hardenberg dagegen, der noch zuverſichtlich an das Ge - lingen ſeiner eigenen Verfaſſungspläne glaubte, nahm ſich des Großherzogs an, lobte die patriotiſche Geſinnung, die ſich in dem weimariſchen Antrage bekundete, und beſchwichtigte durch einen vertraulichen Brief vorläufig die Bedenken Metternichs. Mit der üblichen feierlichen Langſamkeit that der Bundestag endlich was er nicht laſſen durfte und bewilligte, nach reichlich vier Monaten, in den trockenſten Worten die erbetene Bürgſchaft; doch fügte der öſterreichiſche Geſandte nachdrücklich hinzu: in ſolchen Fragen müſſe grundſätzlich Alles der freien Vereinigung der Fürſten und der Stände überlaſſen bleiben.

Um die nämliche Zeit hatte ein Löwenſtein’ſcher Juſtizrath Beck im Odenwalde eine unſchuldige Petition angefertigt, die den Bundestag um ſchleunige Ausführung des geliebten Art. 13 bat; einige Heißſporne aus der Jenenſer und Heidelberger Studentenſchaft trugen das Schriftſtück auf weiten Fußwanderungen von Ort zu Ort. Der Mann kam ſelbſt nach Frankfurt, beſuchte einige der Geſandten und führte, wie die Erſchreckten heim berichteten, eine höchſt revolutionäre Sprache. Trotz des Eifers der Studenten und des Beifalls der liberalen Preſſe fand die Bittſchrift in ganz Deutſchland kaum tauſend Unterzeichner; aber es war ſeit unvordenklichen Zeiten das erſte Beiſpiel einer über mehrere deutſche Staaten verzweigten politiſchen Agitation, und der Beamtenſtaat hing noch überall an der alten unverbrüchlichen Regel: jede Bitte iſt erlaubt, nur nicht das Sammeln von Unterſchriften. Daher erregte dies ſchüchterne Erwachen des Partei - lebens allgemeine Beſtürzung an den Höfen; ſelbſt Hardenberg befahl dem Geſandten in Frankfurt lebhaft erregt, dies gefährliche demagogiſche Treiben ſcharf im Auge zu behalten. *)Weiſung an Goltz, 8. December 1818.

Nach wie vor blieb Metternich entſchloſſen den Bundestag von dieſen ſchwierigen Fragen fern zu halten. Er ſah mit Befriedigung, daß in den öſterreichiſchen Kronländern die Verheißung der Bundesakte längſt herrlich erfüllt war; hier beſtanden ja noch jene mumienhaften Poſtulatenlandtage,167Metternichs Manifeſt über den Art. 13.deren beſchaulicher Lebenslauf ſich gemeinhin in drei Akten abſpielte: Auf - fahrt der Herren Stände in ihren Staatskaroſſen, Vorleſung und ein - ſtimmige Annahme der landesherrlichen Poſtulate, endlich Wiederabfahrt der Herren Stände in den nämlichen Staatskaroſſen. Nur einmal, im Herbſt 1817, verfiel Metternich auf den Plan, einige Abgeordnete dieſer Landtage nebſt den Spitzen des Beamtenthums zu einem Reichsrathe zu verſammeln; doch da Kaiſer Franz den verwegenen Neuerungsvorſchlag achtzehn Jahre lang, bis zu ſeinem Tode, in ſeinem Pulte liegen ließ, ſo verfolgte der Miniſter den Gedanken nicht weiter und verharrte bei dem bewährten Grundſatze der Stabilität. Wie hätte er alſo den Argwohn der deutſchen Souveräne erwecken mögen wegen dieſes Art. 13, der doch nur durch die Ideologen Hardenberg und Humboldt in die Bundesakte gelangt war! Sobald ihm der bairiſche Miniſter Rechberg, erſchreckt durch jene Ab - ſtimmung über den weimariſchen Antrag, lebhafte Beſorgniſſe vor mög - lichen Uebergriffen der Bundesverſammlung ausſprach, benutzte Metternich gern die Gelegenheit, um die kleinen Höfe über die Unſchädlichkeit des Bun - destags zu beruhigen und ſendete an den Geſandten Hruby in München eine lange Denkſchrift (11. Decbr. 1817), die unter dem Titel eines Mani - feſtes auch den anderen Kabinetten mitgetheilt wurde. Sie erwies nach einer pathetiſchen Schilderung der unvergleichlichen Vorzüge des deut - ſchen Foederativſtaates : der Bundestag könnte nur dann eine ſelb - ſtändige Gewalt ausüben, wenn alle Fürſten perſönlich daran theilnähmen; gegenwärtig genüge die Zurückberufung eines einzigen aufwiegelnden, daher untreuen Geſandten um allen Uebeln vorzubeugen. Der Kaiſer iſt überzeugt, daß der kleine weimariſche Staat bis zur Stunde mehr Unheil über Deutſchland zu verbreiten berufen iſt, als die Bundesverſammlung in ihrer geſetzlichen Lage, ſelbſt in kaum denkbaren Fällen zu thun ver - möchte. Am Wenigſten dürfe ſich der Bund um die Ausführung des Art. 13 kümmern. Die natürliche und höchſt einfache Berückſichtigung der Umtriebe, welche ſich heute Ruheſtörer jeder Art, in der Abſicht den Zeit - geiſt aufzuregen, erlauben, fordert unbedingt, daß die Bundesverſammlung ſich der Initiative enthält. Das Geſetz beſteht; dieſes muß für den Augen - blick genügen; die Anwendung des Geſetzes muß der Weisheit jeder ein - zelnen Regierung überlaſſen bleiben. *)Metternich an Hruby, 11. December 1817.

So fern lag dem Wiener Hofe noch der Plan, durch Bundesbeſchlüſſe die conſtitutionelle Bewegung zu hemmen. Die erſte Anregung zu einer reak - tionären Bundespolitik kam vielmehr von dem Monarchen, welcher damals neben Karl Auguſt in der Volksgunſt am höchſten ſtand. Der ehrgeizige junge König Wilhelm von Württemberg hatte ſich ſeit ſeiner Thronbeſteigung redlich bemüht, den ärgerlichen Verfaſſungsſtreit, den er von ſeinem böſen Vater überkommen, abzuſchließen und ſeinen Ständen ſchon zweimal ver -168II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.geblich liberale Verfaſſungsentwürfe vorgelegt. Da überfiel ihn im Herbſt 1817 die Reue, und er beſchloß beim Bunde Hilfe zu ſuchen gegen ſeinen eigenen Liberalismus. Seine Geſandten Wangenheim in Frankfurt und Wintzingerode in Wien erhielten den Auftrag, um authentiſche Interpre - tation des Art. 13 von Bundeswegen zu bitten, damit allen übertriebenen Anforderungen eine feſte und unerſchütterliche Schranke geſetzt werde. Natürlich durften die Beiden den wahren Grund der Bitte nicht verrathen. Der König, ſo verſicherten ſie, ſei durch ſein Wort gebunden, jedoch die unruhige Stimmung in Preußen und den Nachbarlanden Württembergs bedürfe eines Zügels, und fügte der plauderhafte Wangenheim harm - los hinzu die württembergiſchen Verfaſſungspläne drohten für ganz Deutſchland ein verhängnißvolles Beiſpiel zu werden. *)Berckheims Berichte v. 18., 23., 30. Novbr., 13., 29. Decbr. 1817, vollſtändig übereinſtimmend mit den Mittheilungen, welche Graf W. Wintzingerode (Graf E. L. Wintzingerode, ein württembergiſcher Staatsmann, Gotha 1866, S. 31 ff. ) aus würt - tembergiſchen Aktenſtücken gibt.Der Vorſchlag fand aber bei den Bundesgeſandten eine ſo kühle Aufnahme, daß Wangen - heim ſich dazu verſtehen mußte, ſeinen Antrag, den er in einer vertrau - lichen Sitzung (18. Dec.) geſtellt, nicht zu Protokoll zu geben. In Wien war Wintzingerode nicht glücklicher. Metternich äußerte zwar in vertrau - licher Unterredung, die landſtändiſchen Verfaſſungen des Art. 13 hätten nichts gemein mit der revolutionären Idee einer allgemeinen Volksver - tretung, und verrieth alſo ſchon jetzt einen Lieblingsgedanken ſeiner Politik, der in der deutſchen Politik noch argen Unfrieden ſtiften ſollte; aber eine Einwirkung des Bundes auf die ſtändiſchen Angelegenheiten ſchien ihm unmöglich, ſchon aus Rückſicht auf Preußen und Baiern. Der Anſchlag König Wilhelms war mißlungen, doch er blieb in Wien unvergeſſen. Metter - nich hatte erfahren, wie wenig nachhaltiger Widerſtand von den kleinen Kronen zu erwarten war, falls man ſich einmal entſchlöſſe die Macht des Bundes gegen die Landtage zu wenden. Der conſtitutionelle König, den die unſchuldige Preſſe als den Helden des Liberalismus feierte, wies der Hofburg ſelber zuerſt den Weg zur Unterdrückung deutſcher Freiheit.

Inzwiſchen kam der leidige Art. 13 in Frankfurt doch noch einmal zur Sprache, da auch die mecklenburgiſchen Herzöge die Bürgſchaft des Bundes verlangten für ein Verfaſſungsgeſetz, das zur Ergänzung ihres altehrwürdigen Erbvergleichs dienen ſollte. Bei dieſer Verhandlung be - richtete Graf Goltz, auf Hardenbergs Befehl, ausführlich, was in Preußen bisher geſchehen war um das Verfaſſungsverſprechen zu erfüllen; er wider - rieth die Regelung der ſtändiſchen Angelegenheiten durch die Bundesver - ſammlung, welche doch nur allgemeine Sätze aufſtellen könne, beantragte jedoch, daß die Einzelſtaaten dem Bundestag über den Stand ihrer Ver - faſſungsarbeiten binnen Jahresfriſt wieder Bericht erſtatten ſollten. König169Verhandlungen über die Preßfreiheit.Friedrich Wilhelm war über dies Vorgehen ſeines Staatskanzlers anfangs ſehr ungehalten, weil er vorausſah, daß die preußiſche Verfaſſung über’s Jahr unmöglich vollendet ſein konnte; und welches Recht habe der Bund über dieſe Dinge Rechenſchaft zu fordern? Indeß beruhigte ſich der König, da Hardenberg ihm vorſtellte, die Einführung neuer ſtändiſcher Inſtitu - tionen, an der Stelle der verlebten alten Provinziallandtage ſei doch be - ſchloſſene Sache: Heute kann nicht Geſtern werden. *)Kabinetsordre v. 18. Februar. Antwort Hardenbergs 10. März. Erwiderung des Königs 21. März 1818.Der Bundestag ertheilte nunmehr den Mecklenburgern die gewünſchte Garantie und nahm den preußiſchen Antrag an. Die Krone Württemberg aber verſagte ſich’s nicht, vor der Nation nochmals das Licht ihres unvergleichlichen Liberalismus leuchten zu laſſen. Derſelbe Wangenheim, der ſoeben insgeheim eine be - ſchränkende Interpretation des Art. 13 gefordert hatte, betheuerte in dem veröffentlichten Protokoll vom 6. April: die regeſte Sorgfalt Sr. Ma - jeſtät ſei auf eine den liberalſten Grundſätzen entſprechende Repräſentativ - verfaſſung gerichtet. Es war das erſte Probſtück jener heuchleriſchen, treulos zwiſchen dem Bundestage und den heimiſchen Landſtänden hin und her ſchwankenden Politik, welche fortan ein Menſchenalter hindurch von den conſtitutionellen Mittelſtaaten befolgt wurde.

Nächſt der landſtändiſchen Verfaſſung war die Preßfreiheit der Lieb - lingswunſch der Liberalen; ſie hofften um ſo ſicherer auf die Erfüllung dieſes Verlangens, da der Art. 18 der Bundesakte dem Bundestage vor - ſchrieb, bei ſeiner erſten Zuſammenkunft gleichförmige Verfügungen über Preßfreiheit und Nachdruck abzufaſſen. Aber auch dieſe Hoffnung ſollte trügen. Die wenig beſchränkte Freiheit, deren ſich die deutſche Literatur in ihren claſſiſchen Tagen erfreute, beruhte auf der Vorausſetzung, daß die Schriftſteller der Politik immerdar fern bleiben müßten. Als dann ſeit dem Jahre 1813 plötzlich eine politiſche Preſſe aufſchoß, ehrlich und warm - herzig, aber auch unklar, lärmend, jugendlich ungezogen, da ſtand der alte Beamtenſtaat dem ungewohnten Treiben noch eine Weile erſchrocken und rathlos gegenüber; kein Diplomat, der nicht in ſeinen vertrauten Briefen über die zügelloſe Frechheit der politiſchen Scribler jammerte. Zu den Wenigen, die in der allgemeinen Beſtürzung ihren Gleichmuth nicht ganz verloren, gehörte Hardenberg. Schon von Paris aus ſchrieb er dem Juſtiz - miniſter: er wünſche die Bewilligung einer geregelten Preßfreiheit, aber auch Beſchränkung der überhandnehmenden Zügelloſigkeit; die Reviſion der zahlreichen veralteten Cenſurgeſetze, welche in den verſchiedenen Landes - theilen Preußens noch galten, ſcheine dringend geboten. Leider fand er in - mitten der maſſenhaften Verwaltungsgeſchäfte jener Uebergangszeit nicht die Muße den Plan weiter zu verfolgen. Indeſſen wurde die Cenſur in Preußen ohne Härte gehandhabt und der Nachdruck, der auf dem linken Rhein -170II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ufer ſein Unweſen trieb, ſtreng unterdrückt, obgleich die kleinen Nachbarn dem guten Beiſpiele nicht folgten und namentlich in Reutlingen, unter dem Schutze der württembergiſchen Krone, eine ſchamloſe literariſche Frei - beuterei blühte. Nur einmal ließ ſich der Staatskanzler, ſehr ungern, zu einer Ungerechtigkeit beſtimmen, die dem Rufe Preußens eine ſchwere Wunde ſchlug. Der Rheiniſche Merkur war ſeit dem Kriege raſch von ſeiner Höhe herabgeſunken; für die nüchternen Arbeiten der Friedenszeit reichte das feurige patriotiſche Pathos nicht mehr aus. Da Görres über die Geſchäftsfragen der Verfaſſung und Verwaltung nichts zu ſagen wußte, ſo verfiel er bald in ein zielloſes, terroriſtiſches Poltern. Von allen Höfen, den deutſchen wie den fremden, kamen Klagen wider den unverbeſſerlichen gazettier de Coblence. Wenn er höhnend ſchrieb, die Furcht der Re - gierungen vor der Preßfreiheit ſei nichts anderes als der Haß der öffent - lichen Dirnen gegen die Straßenbeleuchtung; wenn er nach dem Erſcheinen der Schmalziſchen Schrift mit ungeheuerlicher Uebertreibung, in ekelhaften Bildern ausführte: jetzt hätten ſich die ſieben Geſtänke des preußiſchen Staates zu dem einen Schmalz-Geſtank vereinigt, und die allgemeine Re - aktion breche herein ſo war dieſer Ton dem reizbaren Gehör der Zeit zu ſtark. Nach wiederholten vertraulichen Warnungen entſchloß ſich Harden - berg im Januar 1816 den Rheiniſchen Merkur zu unterdrücken, wenige Tage nachdem Görres den Neujahrstag mit der zuverſichtlichen Weiſſagung begrüßt hatte: der Merkur werde das herrſchende Geſtirn dieſes Jahres ſein. Das Verbot erregte allenthalben peinliches Aufſehen. Welch ein Dank für das Blatt, das in großer Zeit die deutſche Sache ſo muthig vertreten hatte; und welche Thorheit, den unberechenbaren, leidenſchaftlichen Publi - ciſten, der noch treu zu der preußiſchen Fahne hielt aber nach ſeiner phan - taſtiſchen Art jederzeit umſchlagen konnte, alſo zu kränken! Im Uebrigen blieb die preußiſche Preſſe ziemlich unbeläſtigt.

Erſt im Frühjahr 1817 erinnerte ſich der Bundestag der Verheißung des Art. 18 und beauftragte zunächſt den oldenburgiſchen Geſandten v. Berg mit einer ſtatiſtiſchen Zuſammenſtellung der deutſchen Preßgeſetze. Der ſchwergelehrte Herr ging mit der ganzen Umſtändlichkeit eines alten Göt - tinger Profeſſors an ſeine mühſame Arbeit. Hardenberg aber ſah ein, daß man auf dieſem Wege nie zum Ziele gelangen konnte, und da die Klagen wider die zügelloſe Preſſe, namentlich wider den burſchikoſen Ton der Jenenſer Zeitungen ſich täglich mehrten, ſo beſchloß er im Sommer 1817, durch ge - meinſame Vorſchläge der beiden Großmächte ein Bundes-Preßgeſetz zu Stande zu bringen. Er ließ alſo durch Geh. Rath v. Raumer eine Denkſchrift über die Preßfreiheit ausarbeiten und befahl ſeinem Vertrauten Jordan als dieſer im Winter nach Wien ging, ſich darüber mit Metternich zu verſtändigen. Die Denkſchrift verrieth bereits einige Aengſtlichkeit, doch überſchritt ſie auch noch nicht das Maß des Zwanges, das den meiſten Regierungen jener Zeit unentbehrlich ſchien: ſie forderte gänzliche Freiheit für alle grö -171Die Hungersnoth von 1816 / 17.ßeren wiſſenſchaftlichen Werke, ſtrenge Cenſur für die Zeitungen. *)Hardenberg an Kruſemark 12. Juni; Raumers Denkſchrift über den Art. 18, mit Anmerkungen des Staatskanzlers v. 18. Novbr. 1817.Aber auch hier zeigte ſich, wie weit die Anſichten der beiden Großmächte aus - einandergingen. Metternich trug wieder Bedenken in die Souveränität der Einzelſtaaten ſo tief einzugreifen, und Jordan brachte nichts heim als einige unverbindliche Zuſagen. Dann verſuchte Großherzog Karl Auguſt (April 1818) die Thätigkeit des Bundestages zu beſchleunigen und bat dringend um die Aufſtellung gleichförmiger Grundſätze für die deutſche Preſſe, weil er oft mit Schmerz erfahren habe, daß die verfaſſungsmäßige Preßfreiheit ſeines Landes von den Nachbarn mit Unwillen betrachtet würde. Vergebliche Mahnung. Erſt im Oktober 1818, nach reichlich anderthalb Jahren, brachte Berg ſeine Ueberſicht zu Stande, und nun ermannte ſich der Bundestag zu dem Beſchluſſe, eine Commiſſion zur Vorbereitung weiterer Berathungen einzuſetzen. So ging die Zeit, da ein leidlich verſtändiges deutſches Preß - geſetz noch möglich war, durch ſchimpfliche Saumſeligkeit verloren.

Den Maſſen des Volks ward die hilfloſe Nichtigkeit des Bundestages erſt fühlbar, als er an den Art. 19 der Bundesakte, der die Regelung der Verkehrsverhältniſſe verhieß, endlich herantrat. Eine ſo anarchiſche Verwirrung, wie ſie dies verarmte, ausgeſogene Volk jetzt in ſeinem Han - del und Wandel ertragen mußte, hatte ſelbſt die jammerreiche deutſche Geſchichte noch nie geſehen. Die verhaßten Douanen und droits réunis der Franzoſen waren ſofort nach dem Sturze der Fremdherrſchaft überall beſeitigt worden und noch nicht durch ein neues Syſtem indirekter Steuern erſetzt. So lag denn ein großer Theil Deutſchlands der übermächtigen Mitwerbung des reicheren Auslandes ſchutzlos offen. Die Fabriken des Rheinlandes, kaum erſt aufgeblüht unter dem napoleoniſchen Merkantil - ſyſtem, verloren plötzlich ihren Markt in Frankreich, Holland, Italien und ſahen ſich von ihren Landsleuten abgeſperrt durch die zahlreichen Staats - und Provinzial-Zolllinien, welche das deutſche Land durchſchnitten. Es war ein Stück verkehrter Welt. Sobald die Continentalſperre fiel, wurden die ſeit Jahren aufgeſpeicherten engliſchen Waaren in Maſſen auf das Feſt - land geworfen; Schaaren engliſcher Muſterreiter durchzogen die deutſchen Städte. Die engliſche Induſtrie ſendete in einem Jahre für 388 Mill. Gulden Fabrikwaaren nach dem Continente, nach Deutſchland allein für 129 Mill. Gulden. Dann ſchritt das Parlament zur Wiederherſtellung des Baargeld-Umlaufs. Die geſammten Silbermünzen des Reichs wurden umgeprägt, Maſſen neuer Goldmünzen ausgegeben, die Bank zur allmäh - lichen Wiederaufnahme der Baarzahlungen verpflichtet. England bedurfte um jeden Preis der edlen Metalle und ſuchte den Bedarf durch gehäufte Waarenausfuhr zu decken, alſo daß die britiſchen Baumwollenzeuge auf dem deutſchen Markte oft zu 30 bis 40 Procent unter den Erzeugungs -172II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.koſten angeboten wurden. Zudem hinderten die hohen Kornzölle Englands die Ausfuhr deutſchen Getreides, und in den Hungerjahren von 1816 und 17 ging dem deutſchen Fabrikanten auch der einzige Vortheil verloren, den er vor dem engliſchen Concurrenten voraus hatte, der niedrige Arbeitslohn.

Erbittert durch ſo heilloſe Zuſtände warf ſich die öffentliche Meinung in unreife extreme Anſichten. Beſorgte Fabrikanten verlangten ein hartes Prohibitivſyſtem zum Schutze der deutſchen Arbeit, und das überſpannte Teutonenthum ſtimmte mit ein. In Berlin verſchworen ſich die Stadt - verordneten mit einer großen Zahl angeſehener Bürger, nur noch deutſche Kleider und Geräthe zu kaufen; ähnliche Vereine entſtanden in Schleſien und Sachſen. Auf der anderen Seite lärmten die radikalen Freihändler, welche wie der Baier Brunner alle Zölle als einen Eingriff in die natürliche Freiheit verdammten; eine wiſſenſchaftlich durchgebildete freihändleriſche Ueberzeugung beſtand erſt in einem kleinen Kreiſe von Gelehrten und unter den beſten Köpfen des preußiſchen Beamtenthums. Beſeitigung oder doch Beſchränkung der Binnenmauthen war der allgemeine Wunſch; ſchon im Jahre 1816 berief E. Weber auf der Leipziger Meſſe eine Verſamm - lung von Fabrikanten und Kaufleuten um dem Bundestage dieſe Bitte vorzutragen. Aber Wenige verbanden einen klaren Begriff mit den großen Worten; Wenige ahnten, welche ungeheueren Schwierigkeiten die Natur ſelbſt der wirthſchaftlichen Einheit Deutſchlands entgegenſtellte. Kein an - deres Culturvolk war in Gemüth und Charakter ſo gleichartig, aber auch keines umſchloß in ſeinen Grenzen eine ſolche Verſchiedenheit der klima - tiſchen Verhältniſſe, der Verzehrungs - und Arbeitsgewohnheiten. Welch ein Abſtand von der Großinduſtrie des Niederrheins bis hinüber zu den halb - polniſchen Provinzen, wo mit den ſteigenden Getreidepreiſen der Arbeitslohn zu ſinken pflegte weil nur der Hunger das träge Volk zur Arbeit zwang; und wieder von dem nordiſchen Klima Oſtpreußens, wo das Elennthier in den Forſten hauſte, bis zu den geſegneten Weingeländen des Rheines. Noch war der ſchöpferiſche Kopf nicht aufgetreten, der es vermochte ſo grundver - ſchiedenen Intereſſen gerecht zu werden.

Am Wenigſten der Bundestag durfte ſich zu einer ſolchen Arbeit er - dreiſten. Aber mindeſtens einen, ſchlechthin empörenden Uebelſtand der deutſchen Verkehrsverhältniſſe konnte und mußte die Bundesverſammlung beſeitigen, als im Sommer 1816 eine Hungersnoth über das verarmte Land hereinbrach, deren gleichen man ſeit dem böſen Jahre 1772 nicht mehr erlebt hatte. Monatelang ſtrömte der Landregen vom Himmel, alle Flüſſe traten aus ihren Betten, in Mittel - und Weſtdeutſchland ging faſt die geſammte Ernte zu Grunde; noch im Frühjahr 1817 ſah man am Rhein blaſſe, jammernde Menſchen die Felder durchſtreifen und die verfaulten Kartoffeln vom vorigen Jahre ausgraben. Die wenigen Landſtraßen hatte der Krieg ſo gänzlich verwüſtet, daß die Getreidezufuhr zu Lande auf weitere Entfernungen unmöglich war; konnten doch ſelbſt die Poſtwagen im Winter173Die Getreideſperre.mit ſechzehn, zwanzig Pferden Vorſpann oft kaum durchkommen. Daher ſtand im Jahre 1818 der Preis des Scheffels Weizen am Rhein um 2 Thlr. 9 Sgr. 6 Pfg. höher als in Poſen, während in den fünfziger Jahren der höchſte Preisunterſchied innerhalb der preußiſchen Monarchie nur 10 Sgr. 7 Pfg. betrug. Und dieſer ohnehin kümmerliche Verkehr ward jetzt vollends zerſtört durch die thörichte Bosheit des Particularismus. Oeſterreich verbot, ſeinen altväteriſchen volkswirthſchaftlichen Grundſätzen gemäß, ſofort nach Eintritt der Theuerung die Ausfuhr des Getreides und gab damit das Signal zu einem allgemeinen Zollkriege in Süddeutſchland. Auch Baiern, Württemberg, Baden, Darmſtadt ſperrten ihre Grenzen; der Getreidehandel im Oberlande ſtockte gänzlich. In Frankfurt ging das Futter aus, die Bundesgeſandten zitterten für ihre Wagenpferde, und Graf Buol mußte im Namen ſeiner Genoſſen eine Bittſchrift an die Krone Baiern ſchicken, damit eine Haferſendung, die bei Wertheim auf dem Maine lag, von der bairiſchen Mauth endlich durchgelaſſen wurde. *)Berſtetts Bericht, 20. Mai 1817.Auch im Norden geſchahen manche arge Mißgriffe. Miniſter Bülow verwendete die zwei Millionen Thlr., welche der König zum Ankauf baltiſchen Getreides bewilligt hatte, ſo leichtſinnig, daß den ſchwer heimgeſuchten Rheinlanden wenig davon zu gute kam. Immerhin zeigte ſich die Mehrzahl der norddeutſchen Re - gierungen ehrlich bemüht, durch Erleichterung des Verkehrs den Nothſtand zu bekämpfen. Nachdem die ſüddeutſchen Höfe einander mehrere Monate hindurch mit widerwärtigen Vorwürfen überſchüttet und ihre Länder wechſel - ſeitig ausgehungert hatten, wendete ſich Württemberg endlich an den Bund und beantragte ſchleunige Aufhebung der Sperre durch Bundesbeſchluß (19. Mai 1817). Offenbar in der Abſicht Alles zu vereiteln ſtellte Baiern darauf den Gegenantrag: die Maßregel müſſe auch auf die nichtdeutſchen Provinzen Oeſterreichs, Preußens und der Niederlande ausgedehnt werden. Preußen und die Mehrheit der übrigen Staaten ſtimmten dem Vorſchlage Württembergs zu; die Hofburg aber ließ, nach ihrer Gewohnheit, den Prä - ſidialgeſandten acht Wochen lang ohne Inſtruktion.

Da kam die Güte der Natur dem Bundestage zu Hilfe; die Felder prangten in reichem Aehrenſchmucke, die Preiſe fielen, und befriedigt konnte Buol am 14. Juli in ſeinem claſſiſchen Deutſch der Verſammlung ver - künden: er kenne zwar noch immer nicht die Abſichten ſeines Hofes, dies ſchade aber wenig, da die Ausſicht zu einer ſo geſegneten reichen Ernte die Sperre von ſelbſt aufhebt . Im folgenden Jahre berieth man noch - mals über gemeinſame Maßregeln für die Zukunft, und nochmals zeigte Baiern ſeinen böſen Willen, bis endlich der Präſidialgeſandte (9. Juli 1818) dies Schauſpiel bundesgenöſſiſcher Eintracht mit den Worten ſchloß: die Verhandlungen hätten allerdings zu keinem Ergebniß geführt; er nähre jedoch die Hoffnung, daß demnächſt dieſer Gegenſtand wieder in erneuerte174II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Anregung gebracht würde . So glänzend beſtätigte ſich jene Weiſſagung Oeſterreichs: der Art. 19 ſolle die Bundesſtaaten einander entfremden! Auch ein Nachſpiel fehlte nicht, das nur auf deutſchem Boden möglich war; denn es gibt eine Naivität der Dummheit und der Nichtswürdigkeit, welche allein in der Enge der Kleinſtaaterei gedeihen kann. Der Kurfürſt von Heſſen hatte während der Hungersnoth durch den getreuen Rothſchild baltiſches Getreide beſtellt; die Sendung langte aber zu ſpät an, als die Preiſe ſchon wieder gefallen waren. Damit ſeine Kammerkaſſe keinen Schaden litte, zwang nun der reiche Fürſt die Kaſſeler Bäcker, ihm das Oſtſeegetreide zu 12 Thlr. 2 Gr. für das Kaſſeler Viertel abzunehmen, während der Marktpreis im Lande nur auf 7 Thlr. ſtand. Alſo ward das Nothjahr den Bürgern der heſſiſchen Hauptſtadt durch den liebevollen Landesvater noch um einige Monate künſtlich verlängert.

Was konnte vollends der auswärtige Handel der Nation von dem Bundestage erwarten in einer peinlichen Angelegenheit, welche ſelbſt von den Seemächten ſehr ſchlaff behandelt wurde? Wie die Türkei ſelber ſo ver - dankten auch ihre Schutzſtaaten, die Barbaresken, ihren Beſtand zumeiſt der Uneinigkeit der europäiſchen Mächte; die Ueberfülle von Gegenſätzen, welche die vielgeſtaltige Cultur des Abendlandes umſchloß, kam der Bar - barei des Islam zu ſtatten. Da keine europäiſche Macht der anderen ein rückſichtsloſes Vorgehen gegen die Pforte geſtatten wollte, ſo hatte man ſich längſt gewöhnt die Raubfahrten der Barbaresken im Mittelmeere als rechtmäßige Kriegszüge zu betrachten; jede Seemacht ſchützte ſich dawider durch die Waffen oder auch durch Tributzahlungen. Als der Seehandel nach dem Frieden wieder aufzublühen begann, wagten ſich die Piraten auch in andere Meere hinaus; ſelbſt in der Oſtſee, im Angeſicht der deut - ſchen Küſte wurden deutſche Schiffe ausgeplündert und die Mannſchaft in die Sklaverei hinweggeführt, und zu alledem drohte die Gefahr der Anſteckung aus den verpeſteten Landen Nordafrikas. Die Schiffe aus Han - nover und Schleswig-Holſtein genoſſen noch einiger Sicherheit unter dem Schutze der engliſchen und der däniſchen Flagge, da eine britiſche Flotte ſoeben den Dey von Algier in ſeiner Hauptſtadt bedroht und zur Aus - lieferung der chriſtlichen Sklaven gezwungen hatte. Um ſo ſchwerer litten die Hanſeſtädte und die preußiſchen Häfen; ein großer Theil ihrer Schiffe mußte unter fremder Flagge ſegeln. Da verlangte endlich Czar Alexander in London die Bildung eines europäiſchen Seebundes zur gemeinſamen Be - kämpfung der Seeräuber (Sept. 1816); die engliſche Regierung aber wit - terte wieder arge Hintergedanken und wollte das Erſcheinen ruſſiſcher Kriegs - ſchiffe im Mittelmeer nicht dulden. Die langwierigen Verhandlungen führten zu keinem Ergebniß, obſchon Preußen die ruſſiſchen Vorſchläge unterſtützte und ſich bereit erklärte einige Fregatten für die europäiſche Flotte zu ſtellen. Oeſterreich zeigte, wie in allen Fragen der Handels - politik, eine unerſchütterliche Gleichgiltigkeit; als die Corſaren des Sultans175Die Barbaresken.von Marokko wieder einmal ein preußiſches Schiff genommen hatten, ſchrieb Gentz höhnend: ſollte denn dieſer gute Mann nicht wie andere Souveräne das Recht haben, Feindſeligkeiten auszuüben wenn er beleidigt wird?

Währenddem riefen die Hanſeſtädte die Hilfe des Bundes an (16. Juni 1817), und der Bundestag erkühnte ſich zur Einſetzung einer Commiſſion. Graf Goltz hielt für nöthig dieſe unerhörte Verwegenheit zu entſchuldigen und betheuerte ſeinem Könige, daß es die Abſicht der Verſammlung weder jetzt noch künftig ſein kann und wird, ſich unberufen in Beziehungen der europäiſchen Politik zu miſchen; ſie handelt nicht aus Anmaßung, ſondern in der Ueberzeugung, daß Ew. K. Maj. und die Großmächte Europas dies durch den Zweck ihrer Beſtimmung und ihren guten Willen, demſelben treu zu entſprechen, zu entſchuldigen geneigt ſein werden. *)Goltz’s Bericht an den König 17. Juni 1817.Und wahrlich, demüthig wie dieſe Entſchuldigung lautete auch der Antrag der Commiſſion: der Bundestag möge Oeſterreich und Preußen erſuchen, daß ſie ihrerſeits mit Hilfe Frankreichs, Rußlands und der anderen Seemächte den engliſchen Hof bewögen, gemeinſamen Maßregeln gegen die Barbaresken beizutreten. Unter allen deutſchen Höfen fand ſich nur einer, der die ganze Schmach eines ſolchen Antrags empfand. Vermuthlich war dem Württemberger Mandelsloh, der die Stimme Badens führte, von Nebenius oder einem andern der zahlreichen fähigen jungen Beamten in Karlsruhe ein Gutachten zugeſendet worden; genug, im Namen Badens regte Mandelsloh zuerſt den Gedanken einer deutſchen Flotte an, freilich noch in ſehr unbeſtimmten Umriſſen. Er fragte: ob man den Seemächten mit Anſtand zumuthen könne, den deutſchen Handel auf ihre Koſten zu beſchützen? ob das Volk, das einſt den gewaltigen Seeräuberbund der Vitalienbrüder vernichtete, nicht im Stande ſei einige Fregatten in See zu ſtellen und ein paar elende Raubſchiffe aus den deutſchen Meeren zu vertreiben? Verſtand doch ſelbſt das kleine Portugal ſich ſeiner Haut zu wehren gegen die Barbaresken! Der binnen - ländiſche Stumpfſinn der deutſchen Bundespolitik fand auf ſolche Fragen keine Antwort. Nach einem halben Jahre (22. Decbr. ) erſuchte der Bun - destag ſeine Commiſſion in ihren Bemühungen fortzufahren, und damit war die Sache für den Bund erledigt. Die Barbaresken raubten fröhlich weiter. Umſonſt beſtürmte der antipiratiſche Verein, der in den Seeplätzen zuſammengetreten war, noch drei Jahre ſpäter die Wiener Miniſterconfe - renzen mit ſeinen Bitten. Nach wiederholten ſchweren Verluſten ſchrieben die Hanſeſtädte endlich im Jahre 1829 unterthänigſt an den erhabenen und ruhmwürdigen Monarchen, den mächtigen und ſehr edlen Fürſten, Seine Kaiſerliche Majeſtät Sultan Abderrhaman von Marokko und er - boten ſich, unter Englands Vermittlung wegen einer Tributzahlung zu ver - handeln. Bevor dieſe Unterhandlung zum Ziele gelangt war, zogen jedoch die franzöſiſchen Eroberer in Algier ein, erzwangen den Frieden an den176II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Küſten Nordafrikas und beendigten die häßlichſte Epiſode aus der häß - lichen Geſchichte der orientaliſchen Frage.

Auch den zahlreichen Beſchwerden und Bitten der mediatiſirten Reichs - ſtände begegnete der Bundestag mit unverwüſtlicher Trägheit. Schon auf dem Wiener Congreſſe hatte Preußen vorgeſchlagen, den Mediatiſirten einige Curiatſtimmen am Bundestage zu gewähren, damit der ſchwer miß - handelte hohe Adel ſich mit der neuen Ordnung der deutſchen Dinge ver - ſöhnen und aus ſeiner unnatürlichen Sonderſtellung wieder heraustreten könne. Aber der Antrag ſcheiterte an der Eiferſucht der rheinbündiſchen Höfe. Die Bundesakte verhieß den Mediatiſirten (Art. 14) eine lange Reihe von Vorrechten in Sachen der Beſteuerung, des Gerichtsſtandes u. ſ. w. Privilegien, die den modernen Vorſtellungen von Staatseinheit und Rechtsgleichheit widerſprachen und alſo die öffentliche Meinung auch gegen die gerechten Anſprüche der alten Reichsſtände verſtimmten. Ueber die Curiatſtimmen ſagte der Art. 6 der Bundesakte nur, die Bundesver - ſammlung ſolle dieſe Frage bei Berathung der organiſchen Geſetze in Er - wägung nehmen. Die Verheißungen des Art. 14 wurden in den größeren Staaten, begreiflich genug, weit bereitwilliger ausgeführt als von den kleinen Fürſten, denen die Mediatiſirten als gefährliche Nebenbuhler erſchienen. In Oeſterreich, dem claſſiſchen Lande der Adelsprivilegien, ſtand der hohe Reichsadel von jeher in Gnaden, ſchon weil er vor Alters immer zur kai - ſerlichen Partei gehört hatte. Auch der König von Preußen betrachtete es als fürſtliche Ehrenpflicht, das den Entthronten widerfahrene Unrecht zu ſühnen und erließ ſchon am 21. Juli 1815 eine Verordnung, welche weit über die Verheißungen der Bundesakte hinausging und den Mediatiſirten, faſt allzu großmüthig, ſehr bedeutende Vorrechte, ſogar die Befreiung von allen direkten Steuern gewährte. Peinlicher war ihre Lage in Baiern. Mont - gelas und ſeine Bureaukratie konnten ſich’s nicht verſagen, dieſe erlauchten Geſchlechter zuweilen das Halsband der Unterthänigkeit fühlen zu laſſen; man zwang ſie ihre Adelsbriefe gegen hohe Gebühren bei dem Heroldsamte eintragen zu laſſen und ſprach amtlich nur noch von Herrn Waldburg, als der Fürſt von Waldburg-Zeil die Zahlung verweigerte. Immerhin beſaßen die bairiſchen Standesherren noch einen leidlich feſten Rechtsboden an einer königlichen Verordnung v. J. 1807, die den Vorſchriften der Bundesakte zum Muſter gedient hatte.

In Württemberg dagegen, in Baden, Naſſau und beiden Heſſen nahm der Hader kein Ende; alle dieſe Höfe ahnten, daß die Fürſtenberg, Lei - ningen, Löwenſtein und Hohenlohe ſich niemals ſchlichtweg als badiſche oder württembergiſche Unterthanen fühlen konnten. Mit brutaler Grobheit ver - wies König Friedrich von Württemberg die Fürſten und Grafen von Wald - burg, Königsegg u. A. zur Ruhe, da ſie ſich unterſtanden, ihn in einer Adreſſe an den glorreichen Vorgang des Königs von Preußen zu erinnern. Darauf ſchloſſen die als ſchuldloſe Staatsopfer niedergebeugten Reichs -177Die Mediatiſirten.ſtände des württembergiſchen Landes unter der Führung des Fürſten Waldburg-Zeil einen Verein zur gemeinſamen Wahrung der Standes - rechte; ſie wendeten ſich an ihr vormaliges allgemein beglückendes Reichs - oberhaupt , den Kaiſer Franz, auch an viele andere Souveräne, und ver - langten, daß der Bund ihnen die Curiatſtimmen gewähre und Vorſchriften für die Ausführung des Art. 14 erlaſſe. Einzelne ihrer Wünſche überſchritten unleugbar das Maß der Rechte, welche ein geordneter Staat ſeinen Unter - thanen gewähren konnte. Aber der ſchwäbiſche Despot hatte ſeine Ohren überall; er erfuhr die Umtriebe ſeines hohen Adels durch ſeinen Bundes - tagsbevollmächtigten v. Linden, einen berüchtigten Kundſchafter der napo - leoniſchen Polizei, der vor Kurzem in Berlin als Geſandter erſchienen und von Hardenberg ohne Weiteres zurückgeſchickt worden war. Sofort griff der König mit einem Dehortatorium ein, ließ den Fürſten Waldburg in den roheſten Formen verhören und verbot dann den Verein der Mediatiſirten als null und verrätheriſch . Zugleich ſchlug er Lärm an den Nachbar - höfen, und der badiſche Miniſter Hacke erklärte ihm mit Freuden ſeine Be - reitwilligkeit zu gemeinſamen Maßregeln gegen den Geiſt des Aufruhrs und der Widerſetzlichkeit, der bei einem großen Theile des Adels an die Tagesordnung tritt . Hatte doch Fürſt Waldburg ſich ſogar erdreiſtet den ſouveränen Fürſten von Bückeburg mit Hochzuverehrender Herr Vetter! anzureden! *)Eingaben des Fürſten v. Waldburg-Zeil an den König v. Württemberg 29. Sept. 1815; an Kaiſer Franz 2. April 1816; an den Fürſten v. Bückeburg 23. März; Miniſter v. Hacke an Graf Wintzingerode 8. April 1816.

Als der Bundestag eröffnet wurde, zeigte ſich die große Mehrzahl der Bundesſtaaten ſo argwöhniſch gegen die Rebellen vom hohen Adel, daß Hardenberg ſeinem Geſandten befahl, den Antrag auf Gewährung der Curiatſtimmen als völlig ausſichtslos vorläufig ruhen zu laſſen. Die Ein - gaben der Mediatiſirten wurden zu den Akten gelegt. Erſt im Januar 1818 begannen die Geſandten dem Bundestage über die Ausführung des Art. 14 in ihren Heimathlanden Bericht zu erſtatten, und darauf wurde am 1. Oktober zur Aufſtellung gemeinſamer Grundſätze wieder die unver - meidliche Commiſſion eingeſetzt. Von den Curiatſtimmen war nicht mehr die Rede, und da auch jene gemeinſamen Grundſätze nie zu Stande kamen, ſo blieb das Recht der Mediatiſirten den Geſetzen der Einzelſtaaten an - heimgegeben, obgleich die meiſten der alten reichsſtändiſchen Häuſer in mehreren Bundesſtaaten zugleich angeſeſſen waren. Der Particularismus, der ſo viele köſtliche Kräfte unſerer Nation zerſtörte, wußte auch nichts an - zufangen mit einer Ariſtokratie, welche nur dem ganzen Deutſchland ange - hören konnte und für die Armſeligkeit der Kleinſtaaterei zu hoch ſtand. Er zwang ſie, von dem politiſchen Leben ſich ſchmollend zurückzuziehen, ſo daß ſie nur zuweilen noch, durch Klagen über verletzte Privilegien, das deutſche Volk unliebſam an ihr vergeſſenes Daſein erinnerte.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 12178II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

In den zwei erſten Jahren ſeines Beſtandes brachte der Bundestag überhaupt nur ein einziges einigermaßen brauchbares Geſetz zu Stande: die Austrägalordnung vom 16. Juni 1817. Auch dieſer Beſchluß trug allerdings das Gepräge des lockerſten Foederalismus; auf den Gedanken eines ſtehenden Bundesgerichts, welchen Preußen in Wien ſo hartnäckig vertheidigt hatte, wagte Niemand mehr zurückzukommen. Immerhin war es ſchon ein Gewinn, daß die Bundesglieder ſich verpflichteten, ihre gegen - ſeitigen Streitigkeiten zunächſt der Vermittlung des Bundestages zu über - geben; ſchlug dieſe Vermittlung fehl, ſo ſollte der oberſte Gerichtshof eines von den beiden Parteien gewählten Bundesſtaates die Entſcheidung fällen. Auf ſolche Weiſe ſind in der That manche kleine Händel zwiſchen den Bundesſtaaten friedlich, und ſchneller als weiland durch die Reichsgerichte, beigelegt worden. Aber freilich nur Streitfragen von geringer Bedeutung. Denn Preußen ſtellte ſchon bei den erſten Berathungen den Grundſatz auf, der ſeitdem in Berlin immer feſtgehalten wurde: die Austrägalinſtanz dürfe nur über eigentliche Rechtsfragen, nicht über politiſche Intereſſen - fragen entſcheiden. Dieſer von den Kleinſtaaten mit lebhaftem Widerſpruche aufgenommene Vorbehalt war rechtlich anfechtbar, aber politiſch nothwendig; denn nimmermehr konnte eine europäiſche Macht geſtatten, daß die großen Machtfragen ihrer Politik etwa von dem Zerbſter oder dem Jenaer Appel - lationsgerichte nach den Grundſätzen des Civilproceſſes erledigt würden.

Wenn eine Geſandtenconferenz ernſte Zwecke verfolgt, ſo wird die Parteiſtellung der Mitglieder auf die Dauer ſtets durch die Geſinnungen ihrer Auftraggeber beſtimmt; am Bundestage aber fand die Perſönlichkeit der einzelnen Geſandten freieren Spielraum, da die Höfe ſich um die Frankfurter Nichtigkeiten wenig bekümmerten. So entſtand nach und nach eine höchſt unnatürliche Parteibildung, die allein auf den perſönlichen An - ſichten der Geſandten beruhte. Smidt und Berg wurden in Wien als die beiden ganz ſchlechten Kerls bezeichnet, obſchon weder der Bremer Senat, noch der Großherzog von Oldenburg den Vorwurf liberaler Ge - ſinnung verdiente. Zu ihnen geſellten ſich Pleſſen, Eyben, Martens, Wangenheim; auch der neue bairiſche Geſandte Aretin ſtand den An - ſchauungen des Liberalismus nahe. Am meiſten Kummer bereitete dem Präſidialgeſandten doch die unerſchöpfliche Beredſamkeit des wackeren Gagern. Dieſer wunderliche Legitimiſt des alten Reichsrechts wollte nur eine kai - ſerliche Abdication, nicht die des Reiches kennen, forderte harmlos für den Deutſchen Bund die ganze Machtvollkommenheit der kaiſerlichen Ma - jeſtät. Alles was deutſch iſt ſollte der Befugniß der Bundesverſammlung anheimfallen; ſogar die Auswanderung dachte er der Aufſicht des Bundes - tages zu unterwerfen und ſendete pflichteifrig im Dienſte der menſchlichen Gattung einen Agenten nach Amerika zur Beobachtung dieſer neuen ſo - cialen Erſcheinung, deren Bedeutung der geiſtreiche Mann früher durch - ſchaut hatte, als die meiſten der Zeitgenoſſen. Oft konnten die Hörer179Gagerns Abberufung.nur mühſam ihren Ernſt behaupten, wenn er in ſeinen gelehrten, von Citaten und Anſpielungen ſtrotzenden Reden alle die reichspatriotiſchen Phraſen der Regensburger Tage wieder ausſpielte, alle die Schnirkel und Schnörkel des heiligen Reichsrechts, bis herab zu dem großen gebratenen Ochſen des Krönungsfeſtes, zur Schau ſtellte. Kein Mißerfolg ſtörte den Gutmüthigen in der Zuverſicht ſeiner patriotiſchen Hoffnungen. Als der Bundestag im Sommer 1817 zum erſten male ſeine Ferien begann, hielt der luxemburgiſche Geſandte eine hochpathetiſche Schlußrede zum Preiſe der Bundesverfaſſung und rief begeiſtert: Dieſer Bund iſt minder fürch - tend als furchtbar! Den unzufriedenen Liberalen hielt er die Frage ent - gegen: Was wir gewonnen haben? Daß die Mutter das Kind heiterer unter ihrem Herzen trägt, der Sorge und Angſt enthoben einen Sklaven zu erziehen, ſondern im Vorgefühle, daß ſie einen freien Mann dem Vater - lande darbringen wird! Ludens Nemeſis aber antwortete mit der bitteren Gegenfrage: Was wir verloren haben? Den Glauben an die Redlichkeit aller Häupter und Führer!

Es konnte nicht fehlen, daß die nebelhafte Begeiſterung des Reichs - patrioten zuweilen mit der handfeſten Wirklichkeit des deutſchen Particu - larismus hart zuſammenſtieß. So bei der Beſprechung des Art. 18 der Bundesakte. Der Artikel verhieß den deutſchen Unterthanen die Frei - zügigkeit, vorausgeſetzt, daß ein anderer Bundesſtaat ſie erweislich zu Unterthanen annehmen wolle . Von dieſer leeren Phraſe, die in der That wie Hohn klang, behauptete Gagern, ſie begründe ein allgemeines deutſches Bürgerrecht; dies Bürgerrecht ſei aber nur dann geſichert, wenn alle Deutſchen ihrer Wehrpflicht in dieſem oder jenem Bundesſtaate genügen dürften: das Vaterland wird hier wie dort vertheidigt! Welch eine Zumuthung an Preußen, ſo lange hier allgemeine Wehrpflicht, dort Stell - vertretung oder Werbung, hier neunzehnjährige, dort ſechsjährige Dienſt - zeit galt! Da Goltz dieſe Bedenken hervorhob, erwiderte Gagern harmlos: warum ſolle der Bund nicht beſtimmen, daß etwa mit dem vollendeten ſiebenundzwanzigſten Jahre die Hauptkriegspflicht jedes Deutſchen als er - füllt zu betrachten ſei? und fügte dann mit dem ganzen Stolze eines Luxemburgers hinzu: die Abänderung dieſer oder jener Special-Muſter - rolle ſteht fürwahr in keiner Vergleichung mit den weſentlichſten National - berechtigungen! Natürlich blieb Goltz ſtandhaft, und der in kindlicher Unſchuld unternommene Angriff auf die Grundfeſten der preußiſchen Heeres - verfaſſung ward abgeſchlagen. Trotz Alledem betrachtete Hardenberg ſeinen alten Wiener Genoſſen noch immer mit behaglicher Ironie und befahl dem Grafen Goltz mehrmals, den ehrlichen Patrioten ſchonend zu be - handeln, da er doch keinen ernſten Schaden ſtifte. *)Weiſungen an Goltz, 21. April, 12. Juli 1817.

Die anderen Höfe dachten weniger vornehm. Als Gagern wiederholt12*180II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.an die verheißenen landſtändiſchen Verfaſſungen erinnerte, als er den empfindlichen neuen König von Württemberg durch ſcharfe Bemerkungen über den ſchwäbiſchen Verfaſſungskampf reizte, als er gar von der kind - lichen Unwiſſenheit der liberalen Preſſe wie ein Volkstribun verherrlicht wurde, da kam der treue Vorkämpfer des Foederalismus, der Lebensretter des Kleinfürſtenſtandes bald in den Geruch eines Jakobiners, und Metter - nich beſchloß den gefährlichen Demagogen zu beſeitigen. Ein Wink am niederländiſchen Hofe genügte. Der König der Niederlande befand ſich ſeit Kurzem in argem Gedränge; denn ſoeben war an den Tag gekommen, daß der ehrgeizige Prinz von Oranien, ſchwerlich ganz ohne Vorwiſſen ſeines königlichen Vaters, mit den franzöſiſchen Flüchtlingen zu Brüſſel eine revo - lutionäre Verſchwörung gegen den Thron der Bourbonen angezettelt hatte. Um ſo bereitwilliger ergriff der Monarch die Gelegenheit den großen Mächten ſeine conſervative Geſinnung zu beweiſen; unbedenklich ließ er den Staats - mann fallen, der ſo viel zur Bildung des neuen niederländiſchen Geſammt - ſtaates beigetragen hatte. Was frug er auch nach dem Bundestage und den Träumen deutſcher Reichspatrioten? Im April 1818 ward Gagern abberufen und verabſchiedete ſich mit dem naiven Geſtändniß: der Grund meiner Entlaſſung iſt mehr eine zu hohe Würdigung von meiner Seite als ein Verſchmähen meines Amtes . An ſeiner Statt erſchien Graf Grünne, ein Holländer, der die deutſchen Dinge ſo gründlich kannte, daß er alles Ernſtes vorſchlug Frankreich für das Elſaß mit in den Deutſchen Bund aufzunehmen. An dem fand die Hofburg nichts auszuſetzen. Alſo war jene Drohung Metternichs vom December 1817 zum erſten male in Erfüllung gegangen. Der Bundestag wußte nunmehr, daß jedem auf - wiegelnden Worte die Abberufung des ungetreuen Geſandten auf dem Fuße folgte.

Alsbald nach ſeinem Ausſcheiden veröffentlichte Gagern in ſeiner un - wandelbaren Gutmüthigkeit eine Schrift Ueber Deutſchlands Zuſtand und Bundesverfaſſung um die Deutſchen mit ihrem Bundestage zu ver - ſöhnen. Als Motto ſtand darauf: Ut ameris amabilis esto! Die Nation aber nahm den vertrauensvollen Zuruf mit grimmigem Spotte auf. Selbſt die Gemäßigten hatten ſich längſt voll Ekels von dem Geſpenſterſpuk der Eſchenheimer Gaſſe abgewendet; und ſchon kam die Zeit, da dieſem treuen, geſetzliebenden Volke kein Hohn zu frech, kein Schimpfwort zu roh ſchien für die einzige Behörde, deren Name noch an Deutſchlands Einheit er - innerte.

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Fünfter Abſchnitt. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Nach dem Friedensſchluſſe begann für Preußen wieder, wie einſt in den Tagen Friedrich Wilhelms I., ein Zeitalter ſtiller Sammlung, reizlos und nüchtern, arm an großen Ereigniſſen, reich an Arbeit und ſtillem Gedeihen, eine Zeit, da das geſammte politiſche Leben in der Thätigkeit der Ver - waltung aufging und das königliche Beamtenthum noch einmal ſeine alte ſtaatsbildende Kraft bewährte. Trotz ſeiner diplomatiſchen Niederlagen war der preußiſche Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der geſammten Nation verbunden. Er beherrſchte nur noch etwa zwei Millionen Slaven; er ſah, mit Ausnahme der Baiern und der Schwaben, bereits alle deutſchen Stämme in ſeinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegen - ſätzen des religiöſen Lebens der Nation ſtärker als ſonſt berührt, da nun - mehr zwei Fünftel ſeiner Bevölkerung der katholiſchen Kirche angehörten; er empfing endlich in den großen Communen der Oſtſeegeſtade und des Rhein - lands ein neues Culturelement, das ihn den deutſchen Nachbarlanden näher brachte und gewaltig anwachſend nach und nach auf den geſammten Cha - rakter des Staatslebens umbildend einwirken ſollte. Aber welch eine Ar - beit, dieſe neuen Gebiete, die faſt alleſammt nur widerwillig unter die neue Herrſchaft traten, mit den alten Provinzen zu verſchmelzen. Nie - mals in der neuen Geſchichte hatte eine Großmacht ſo ſchwierige Aufgaben der Verwaltung zu löſen; ſelbſt die Lage des Königreichs Italien nach den Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.

Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr 1814 übrig geblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von Millionen hinzu ein Gewirr von Ländertrümmern, zerſtreut von der Prosna bis zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig, ſeitdem regiert durch die Geſetze von Frankreich, Schweden, Sachſen, Weſt - phalen, Berg, Danzig, Darmſtadt, Naſſau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer Landſtriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauſcht hatte; der kleinſte der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die Bruchſtücke von acht verſchiedenen Staaten. Auch die altpreußiſchen Provinzen, welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der napoleoniſchen182II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Herrſchaft ihre alten Inſtitutionen faſt bis auf die letzte Spur verloren. Schon bei der Beſitznahme der neuen Provinzen entſpann ſich überall Streit mit mißgünſtigen Nachbarn. Das ruſſiſche Gouvernement in War - ſchau befahl noch im Früjahr 1815 umfaſſende Domänenverkäufe in Poſen; ebenſo Darmſtadt im Herzogthum Weſtphalen; auch die öſterreichiſch-bai - riſche Verwaltung in den Ländern an der Moſel und Nahe erhob zum Abſchied Renten und Steuern im Voraus und ließ die Wälder bei Boppard niederhauen. Naſſau weigerte ſich den Verträgen zuwider, das Siegenſche zu räumen, bis Hardenberg drohte das Land ohne Uebergabe beſetzen zu laſſen. Die Ruſſen hatten ſelbſt Danzig nur ungern ausgeliefert; in Thorn blieb ihre Garniſon, trotz dringender Mahnungen, bis zum 19. September 1815 ſtehen. Dann vergingen noch Jahre, bis der neue Beſitzſtand durch Verträge mit den grollenden Nachbarſtaaten rechtlich geſichert wurde. Erſt im Jahre 1816 wurde mit den Niederlanden, 1817 mit Rußland ein Grenzvertrag geſchloſſen; mit dem tief gekränkten Dresdner Hofe mußten bis in das Jahr 1819 hinein kleinliche und peinliche Verhandlungen wegen der neuen Grenze geführt werden, und erſt im Jahre 1825 war die Aus - einanderſetzung über alle zwiſchen den beiden Nachbarn ſtreitigen Ver - mögensobjecte vollendet.

Nun erhob ſich die Aufgabe, das alſo dem Neide Europas mühſam entrungene Gebiet einer gleichmäßigen Verwaltung zu unterwerfen; es galt, die Ausländerei im Inlande, die Kleinſtaaterei im Großſtaate zu über - winden, alle dieſe Trümmerſtücke der deutſchen Nation, die mit einander noch nicht viel mehr als die Sprache gemein hatten, mit einer lebendigen Staatsgeſinnung zu erfüllen. Gelang das Werk der politiſchen Verſchmel - zung in dieſer Hälfte Deutſchlands, ſo war die Nichtigkeit des Particularis - mus durch die That erwieſen und der Boden bereitet für den Neubau des deutſchen Geſammtſtaates; die Vollendung des preußiſchen Einheitsſtaates gab dieſer Epoche unſerer politiſchen Geſchichte ihren eigentlichen Inhalt. Die Aufgabe war um ſo ſchwieriger, da die Monarchie, als ſie die neuen Provinzen erwarb, ſich ſchon mitten in einem gefährlichen Uebergangszu - ſtande befand: faſt auf allen Gebieten der Geſetzgebung waren umfaſſende Reformen erſt halb vollendet, und doch fehlte die in Wahrheit leitende Hand, ſtark genug, jene Ueberfülle von Talenten, die dem Staate diente, unter einen Willen zu beugen. Kein anderer Staat jener Tage zählte in den Reihen ſeiner Beamten eine ſolche Schaar ungewöhnlicher Menſchen: Verwaltungstalente wie Vincke, Schön, Merckel, Sack, Hippel, Baſſewitz; Finanzmänner wie Maaſſen und Hoffmann; Techniker wie Beuth und Hartig; Juriſten wie Daniels und Sethe; unter den Diplomaten Hum - boldt, Eichhorn, Niebuhr; dazu die Generale des Befreiungskrieges und die Größen der Kunſt und Wiſſenſchaft. Sie alle waren gewohnt an den Thaten der Staatsregierung eine rückſichtslos freimüthige Kritik zu üben, die als ein Vorrecht des hohen Beamtenthums, als ein Erſatz gleichſam183Der König und die Parteien.für Volksvertretung und Preßfreiheit betrachtet wurde, und nahmen jetzt den alten Parteiſtreit, der während des Krieges nie ganz geruht hatte, eine Maſſe perſönlichen Haſſes und ſachlicher Gegenſätze als eine böſe Erbſchaft in die Tage des Friedens hinüber. Aus dieſen Kreiſen drang Tadelſucht und Klatſcherei in alle Klaſſen der Geſellſchaft; der Staat, der bei allen Gebrechen ſeiner Unfertigkeit doch die beſte und ſparſamſte Verwaltung Europas beſaß, ward in den Briefen und Geſprächen ſeiner eigenen treuen Diener ſo maßlos geſcholten, als eilte er, geleitet durch eine Rotte von Betrügern und Thoren, rettungslos dem Verderben entgegen.

Vier keineswegs klar geſchiedene Parteien bekämpften einander innerhalb der Regierung. Die alte Schule der abſolutiſtiſchen Hofleute und Be - amten zählte nur noch wenige Anhänger, doch ſie gewann jetzt mächtige Bundesgenoſſen an Hardenbergs alten Gegnern, den Feudalen, die in dem Adel der Kurmark ihre Stütze, in Marwitz und dem vormaligen Miniſter Voß-Buch ihre Führer fanden. Die jungen Beamten dagegen und faſt alle Geheimen Räthe der Miniſterien bekannten ſich zu dem bureaukratiſchen Liberalismus Hardenbergs, was freilich nicht ausſchloß, daß ihrer viele den Staatskanzler perſönlich heftig bekämpften. Wieder eines anderen Wegs ging die kleine Schaar der ariſtokratiſchen Reformer, die noch an Steins Gedanken feſthielten. Die Schwarmgeiſterei der teutoniſchen Jugend fand unter den gewiegten Geſchäftsmännern des hohen Beamtenthums zwar manchen nach - ſichtigen Richter, doch keinen einzigen Anhänger. Gleichwohl wirkte jener finſtere Argwohn, welchen alle Höfe des In - und Auslandes gegen Preußens Volk und Heer hegten, unausbleiblich auf Preußen ſelbſt zurück. Seit Schmalz ſeinen Unheilsruf erhoben hatte, nahmen die Verleumdungen und giftigen Flüſterreden kein Ende. Nicht blos Stein, der erklärte Gönner Arndts, ſondern auch der Staatskanzler ſelbſt ward des geheimen Einver - ſtändniſſes mit den Deutſchthümlern beſchuldigt, obgleich Hardenberg die jugendlichen Einheitsſchwärmer als unbequeme Störer ſeiner dualiſtiſchen Politik anſah und ſie ſelbſt in ſeinem verſchwiegenen Tagebuche immer nur mit ärgerlichem Tadel behandelte.

So ſcharfe Gegenſätze in feſter Zucht zu halten, war der ſchonenden Gutherzigkeit König Friedrich Wilhelms nicht gegeben. Allzu rückſichtsvoll gegen ſeine Räthe ließ er den Parteikampf am Hofe lange gewähren und fuhr nur zuweilen mit einer Mahnung dazwiſchen. Wurde eine neue Kraft in die Regierung berufen, ſo pflegte man ein Miniſterialdepartement in zwei Theile zu zerlegen, nur um den alten Miniſter nicht zu kränken, der oft ein Gegner des neuen war. Vollſtändige Uebereinſtimmung unter den Miniſtern galt noch für entbehrlich, da der Monarch am letzten Ende ſtets nach ſeinem freien Ermeſſen entſchied. Wie viele Stürme waren über das Land dahingebrauſt in den kurzen zwei Jahrzehnten ſeit Friedrich Wilhelm die Krone trug; den Rückſchauenden war, als ob die Anfänge ſeiner Regierung um mehrere Menſchenalter zurücklägen. Das treue Volk184II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.der alten Provinzen nannte den König jetzt ſchon, da er noch in der Kraft der Mannesjahre ſtand, kurzweg den alten Herrn und wußte tauſend Ge - ſchichten von ſeiner verlegenen und doch ſo herzlich wohlthuenden Leut - ſeligkeit. Seine Berliner lebten mit ihm und erwarteten als ihr gutes Recht, daß er häufig in ſeinem einfachen Soldatenüberrocke durch den Thiergarten ging, daß er Mittags, wenn die Wachparade aufzog, an dem allbekannten Eckfenſter ſeines unſcheinbaren Palaſtes ſich zeigte und Abends halb verſteckt in ſeiner Loge einem Luſtſpiel, einer Oper oder einem Ballet zuſah denn die Tragödie liebte er wenig, weil das Leben ſelbſt des Traurigen genug biete.

Die Erfahrungen einer großen Zeit hatten ſein Selbſtgefühl etwas ge - kräftigt; er erſchien feſter und ſicherer, aber auch noch ernſter und ſchweig - ſamer als vor Jahren. Eine ſtille Trauer lag auf ſeinen freundlichen Zügen und ſchwand nur ſelten, wenn er etwa ſeinen lebensfrohen Kindern und dem Großfürſten Nikolaus auf der Pfaueninſel ein ländliches Feſt gab. Der be - queme Rationalismus ſeiner Jugendbildung genügte ihm längſt nicht mehr; ſchon während der ſchweren Tage in Königsberg hatte er in einem feſten Bibelglauben ſeinen Troſt gefunden und ſich mit dem ehrwürdigen Biſchof Borowsky befreundet. Jetzt wuchs in ihm von Jahr zu Jahr die Sehn - ſucht nach dem Ewigen, fromme Betrachtungen und theologiſche Studien füllten einen guten Theil ſeiner freien Stunden aus. Obſchon er den Gram um ſeine verlorene Gemahlin nie verwinden konnte, ſo widerfuhr ihm doch was gerade den tief gebeugten Wittwern häufig geſchieht: die Einſamkeit des eheloſen Lebens ward ihm unerträglich. Er faßte eine lebhafte Neigung für eine liebenswürdige junge Franzöſin, die Gräfin Dillon, die ſeine Liebe leiden - ſchaftlich erwiderte, und dachte eine Zeit lang ernſtlich an eine Ehe zur linken Hand denn für ſein Volk ſollte Königin Luiſe immer die Königin bleiben. Aber er wollte nicht, daß ſeine Preußen an ihrem Könige irr würden, und da er in Gewiſſensfragen dem Rathe ſeines leichtlebigen Staatskanzlers nicht traute, ſo ließ er zwei Männer, von denen er eine rückhaltslos freimüthige Antwort erwartete, Gneiſenau und Schön ver - traulich befragen, wie man im Heer und im Volke die Heirath mit der katholiſchen Franzöſin aufnehmen würde. Als Beide übereinſtimmend ab - riethen, gab der König tief erſchüttert ſeine Pläne auf. Trüb und ein - tönig verfloſſen ihm die Tage. Er erledigte jede Eingabe mit der alten Pünktlichkeit, nach gewiſſenhafter Prüfung, und behielt das Ruder immer in der Hand, jedoch der perſönliche Verkehr mit ſeinen höchſten Beamten blieb dem Schüchternen unbequem; den Staatskanzler ſah er ſelten, noch ſeltener die Miniſter.

Weit näher ſtand dem Könige ſein täglicher Begleiter, der Oberſt Job v. Witzleben, der im Jahre 1816 kaum dreiunddreißig Jahre alt die Lei - tung des Militärkabinets erhielt, zwei Jahre darauf zum Generalmajor und Generaladjutanten ernannt wurde. Welch ein Abſtand zwiſchen der185General Witzleben.gediegenen Tüchtigkeit dieſes Mannes und jenem ſchläfrigen Pedanten Köckeritz, der vor 1806 das Vertrauen des Monarchen genoſſen hatte; ſchon an der Wahl ſeiner Freunde ließ ſich erkennen, wie Friedrich Wilhelm gewachſen war mit der wachſenden Zeit. Der König war zuerſt auf Witz - lebens militäriſche Begabung aufmerkſam geworden und erfuhr erſt all - mählich, welche vielſeitige Bildung der junge Gardeoffizier beſaß, wie er mit Wilhelm Humboldt und anderen Größen der Wiſſenſchaft freund - ſchaftlich verkehrte, als Muſiker ein ungewöhnliches Talent bewährte, auch in der Theologie, die dem Herzen des Königs ſo nahe ſtand, wohlbewandert war und bei Alledem ſo anſpruchslos blieb, ganz frei von Selbſtſucht, fromm ohne Wortprunk, ein glücklicher Familienvater. Der neue General - adjutant erwarb ſich bald das unverbrüchliche Vertrauen Friedrich Wilhelms; er durfte dem Monarchen Alles ſagen, weil er die natürliche Lebhaftigkeit, die aus ſeinen dunklen Augen blitzte, immer zu beherrſchen verſtand und bei ſeinem ehrlichen Freimuth niemals die herzliche Verehrung für ſeinen königlichen Freund vergaß. Er diente als Vermittler zwiſchen dem Könige und den Miniſtern, ward bei allen großen Staatsgeſchäften zu Rathe ge - zogen und bewältigte Tag für Tag im Tabaksrauche ſeines einfachen Zim - mers ungeheure Arbeitslaſten mit einem raſtloſen Fleiße, der ſeinen Körper ſchon nach zwei Jahrzehnten vor der Zeit aufrieb. Im Drange der Ge - ſchäfte hat er nur ſelten die Muße gefunden, die Erlebniſſe des Tages aufzuzeichnen; ſeine Tagebücher enthalten oft viele Monate lang nur weiße Blätter, oft nur kurze Reiſenotizen; wo ſie aber über Politik reden, da zeigt ſich ſtets ein gerader Soldatenverſtand, gründliche Sachkenntniß und unbedingte Aufrichtigkeit. Obwohl er ſich ſelber nicht zu den ſtaatsmän - niſchen Köpfen rechnete und den Parteien des Hofes behutſam fern blieb, ſo hielt er doch mit ſeinen geſunden politiſchen Urtheilen nicht hinter dem Berge: er betrachtete die neue Heeresverfaſſung als das feſte Band der Staatseinheit, hielt die Vollendung der Stein-Hardenbergiſchen Reformen für unerläßlich und was in dieſen Tagen der geheimen Einflüſterungen am Schwerſten wog er kannte und liebte das preußiſche Volk. Nichts ſchien ihm verächtlicher als der Verſuch in des Königs reiner Seele einen Argwohn zu erwecken ; nichts brachte ihn ab von dem zuverſichtlichen Glauben: es giebt keine gediegenere Treue als die bei uns wohnt.

Das ſtille Wirken dieſes treuen Vermittlers war um ſo heilſamer, da der König ſeit den Mißerfolgen des Wiener Congreſſes den Staats - kanzler nicht mehr mit dem alten Vertrauen behandelte und den Uner - ſetzlichen doch nicht entlaſſen konnte. Als Hardenberg ſeinen ſiebzigſten Geburtstag feierte, rief Goethe dem alten Univerſitätsgenoſſen zu:

Auch vergehn uns die Gedanken
Wenn wir in Dein Leben ſchauen,
Freien Geiſt in Erdenſchranken,
Feſtes Handeln und Vertrauen.
186II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Und der freie Geiſt allerdings blieb dem Greiſe bis zum Ende. Wie er einſt unter dem Drucke der Fremdherrſchaft den Gedanken der Be - freiung des Vaterlandes unwandelbar feſtgehalten hatte, ſo verfolgte er nunmehr unausgeſetzt den Plan, das Werk der innern Reform durch die verheißene reichsſtändiſche Verfaſſung zu krönen; dies ſollte ſein politiſches Vermächtniß, der Abſchluß ſeiner langen Laufbahn werden. Im perſön - lichen Verkehre bewährte er noch immer ſeine beſtrickende Liebenswürdigkeit und zeigte eine ſo jugendliche Begeiſterung für alles Schöne und Große, ging ſo geiſtreich und liebevoll auf jeden neuen Gedanken ein, daß ſelbſt ſtrenge Richter, wie Gneiſenau und Clauſewitz trotz mancher Mißhellig - keiten dem hochverdienten Manne nicht gram werden konnten. Das feſte Handeln aber war ihm ſchon in rüſtigeren Tagen nicht immer gelungen; jetzt da er alternd ſich feſtklammerte an ſein hohes Amt, fand er nur noch ſelten den Muth ſeinen Feinden die freie Stirn zu zeigen und glaubte oft ſelber zu leiten wenn die Gegner ihn mißbrauchten. Die dictatoriſche Macht des Staatskanzlers hatte wohlthätig gewirkt, ſo lange er ſelbſt noch alle Miniſterien bis auf zwei in ſeiner Hand vereinigte; ſeit er nur noch die auswärtigen Angelegenheiten unmittelbar leitete und fünf Fachminiſter unter ihm ſtanden, gerieth er allmählich in eine ebenſo unhaltbare Mittel - ſtellung wie einſt die vortragenden Kabinetsräthe. Streitigkeiten mit den Miniſtern, Klagen über die Verſchleppung der Geſchäfte konnten nicht aus - bleiben, da außer Boyen, Witzleben und dem Kabinetsrath Albrecht der Staatskanzler allein dem Monarchen regelmäßig Vortrag hielt und gleichwohl von den Miniſtern forderte, daß ſie die volle Verantwortlichkeit für ihre Verwaltung übernähmen.

Nur Unkenntniß und Tadelſucht beſchuldigten den greiſen Staats - mann der Trägheit; alle Eingeweihten wußten, welche Unzahl von Denk - ſchriften und Randbemerkungen, Verfügungen und Berichten dieſe raſche Feder, immer geiſtreich und gewandt, auf das Papier warf. Aber auf pünktliche Ordnung hatte er ſich nie verſtanden, und die Laſt dieſer das geſammte Staatsleben umfaſſenden Thätigkeit ward nach der Ver - größerung des Staatsgebiets auch ſeinen Schultern zu ſchwer. Drin - gende Arbeiten blieben oft monatelang liegen, wenn der Fürſt ſich in ſeinem Schloſſe zu Glienicke vergrub und dann ruckweiſe, nach Zufall und Laune, dies oder jenes Stück von ſeinen Aktenbergen abhob. Wer dort am träu - meriſchen Havelſee den ſchönen Park durchwanderte oder auf dem Dota - tionsgute Neuhardenberg in der Neumark die gewählte Kunſtſammlung und die neue von Schinkel erbaute Kirche betrachtete, der fühlte wohl, daß ein edler, hochgebildeter Geiſt hier waltete. Aber welch ein Aergerniß, wenn man die freche Geſellſchaft muſterte, die ſich in dieſen vornehmen Räumen umhertrieb und den großmüthigen Hausherrn an ſeinem eigenen reichen Tiſche verhöhnte: die klatſchſüchtigen Literaten Schöll und Dorow, die magnetiſchen Aerzte Koreff und Wohlfart, die Somnambüle Friederike187Hardenberg und die Miniſter.Hähnel, ſpäterhin Frau v. Kimsky genannt. Dieſe abgefeimte Gaunerin war dem Fürſten zuerſt auf einem Zauberabend bei Wohlfart begegnet und hatte durch ihre krampfhaften Verzückungen ſein weiches Herz im Sturme erobert. *)Hardenbergs Tagebuch, Februar 1816.Seitdem ließ ſie ihn nicht mehr los; ſie wurde der Fluch ſeiner alten Tage. Unerſchöpflich in geheimnißvollen Krankheitserſcheinungen und in den Künſten ſanfter Plünderung begleitete ſie ihn überall, ſelbſt zu den Congreſſen der Monarchen, und ruhte nicht bis auch ſeine dritte Ehe, gleich den beiden erſten, getrennt wurde. Um dieſelbe Zeit vermählte ſich des Staatskanzlers einzige Tochter, die geſchiedene Gräfin Pappenheim in überreifem Alter mit dem Virtuoſen der eleganten Liederlichkeit, dem jungen Fürſten Pückler-Muskau. Der ſchlechte Ruf des Hardenbergiſchen Hauſes bot den zahlreichen Spähern, welche Metternich in Berlin unterhielt, reichen Stoff, allen Feinden des Staatskanzlers eine gefährliche Waffe. Sie bemerkten ſchadenfroh, wie der König dem Staatsmanne, der ſeine weißen Haare ſo wenig achtete, kälter und fremder begegnete; und da der betrieb - ſame Koreff zuweilen auch als liberaler Schriftſteller auftrat, ſo bildete ſich am Hofe nach und nach das Parteimärchen, Hardenbergs Verfaſſungs - pläne ſeien das Werk ſeiner anrüchigen plebejiſchen Umgebung. Wenn ein Freund den Fürſten vor dieſem Geſindel warnte, dann erwiderte er lächelnd: und wenn ich auch oft betrogen worden bin, es iſt ein ſo herrliches Gefühl Vertrauen zu erweiſen.

Unter den Miniſtern beſaß Hardenberg nur einen erklärten Geſin - nungsgenoſſen, Boyen, und auch dieſer dachte zu ſelbſtändig um der Führung des Fürſten unbedingt zu folgen. Kircheiſen bewährte ſich bei der Orga - niſation der Gerichte in den neuen Provinzen als trefflicher Fachmann und blieb der großen Politik fern. Schuckmann dagegen, der Miniſter des Innern, ein ſtraffer Bureaukrat, thätig, ſachkundig, herrſchſüchtig, der Philiſter der alten Zeit, wie W. Humboldt ihn nannte, ſtand allen Re - formplänen ebenſo argwöhniſch gegenüber wie der Polizeiminiſter Fürſt Wittgenſtein, der Vertraute Metternichs. Wie viele Jahre hat der argloſe Hardenberg gebraucht, bis er dieſen glatten Hofmann endlich durchſchaute, der einſt, durch den Sturz des Miniſteriums Dohna, ihm ſelber den Weg zur Macht geöffnet hatte und darum ſchon der treueſten Freundſchaft würdig ſchien. Dem Monarchen war Wittgenſtein als geſchickter Ver - walter des königlichen Hausvermögens unentbehrlich; auch an den andern deutſchen Höfen ſtand er in hohem Anſehen, bei allen fürſtlichen Familien - angelegenheiten zog man ihn zu Rathe, und ſogar der eigenwillige Kur - fürſt von Heſſen hörte zuweilen auf ſeine Rathſchläge. Argloſen Beob - achtern erſchien der verbindliche alte Herr mit ſeinen trivialen Späßchen ſehr unſchädlich; ſelbſt ein ſo gewiegter Menſchenkenner wie der alte Heim, der volksbeliebte erſte Arzt Berlins, ließ ſich durch die gemüthlichen Formen188II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.des Fürſten völlig täuſchen und liebte ihn zärtlich. Aber nichts entging den lauernden Blicken dieſer falſchen grauen Augen; mit unverſöhnlichem ſtillem Haſſe verfolgte Wittgenſtein Alles was an Stein und die ſtürmiſche nationale Bewegung der Kriegsjahre erinnerte, und nicht lange ſo fand er auch den Staatskanzler ſelbſt des teutoniſchen Jakobinerthums verdächtig und begann ihn unmerklich Schritt für Schritt zur Seite zu drängen. Die verrufene höhere Polizei, welche einſt Juſtus Gruner zur Nothwehr gegen die napoleoniſchen Späher eingerichtet hatte, wurde zwar nach dem Frieden aufgehoben; doch blieben mehrere ihrer geheimen Agenten noch in Thätigkeit, und nach ihren Berichten bildete ſich Wittgenſtein ſein Urtheil über die Geſinnung der Nation.

Ganz einſam ſtand der junge Finanzminiſter Graf Bülow unter den Genoſſen, der Vetter Hardenbergs, ein ſchöner blonder Mann, der mit ſeiner vornehmen, weltmänniſchen Anmuth, ſeiner leichten, oft leichtfertigen Geſchäftsgewandtheit den Staatskanzler an ſeine eigene Jugend erinnerte und von ihm wie ein Sohn geliebt wurde. Er war nach dem Tilſiter Frieden, gleich vielen anderen wackeren Beamten des Magdeburger Landes, widerwillig in den Dienſt des Königs Jerome getreten, da die alte Heimath ihn nicht unterbringen konnte, und hatte dann als weſtphäliſcher Miniſter für die Entfeſſelung des inneren Verkehrs, für die Durchführung ver - ſtändiger handelspolitiſcher Grundſätze viel gethan, bis er endlich wegen ſeiner deutſchen Geſinnung und ſeines unabhängigen Auftretens entlaſſen wurde. Trotzdem ward er von den altpreußiſchen Beamten wie ein Ver - räther angeſehen; der Stolz der Preußen vergab es nicht, daß Hardenberg noch während des Krieges gegen Napoleon einen Diener Jeromes in das Miniſterium einführte. In der That war Bülow von den Anſchauungen der franzöſiſchen Bureaukratie nicht unberührt geblieben; er bewunderte das napoleoniſche Steuerſyſtem und hatte ſich unter den weſtphäliſchen Präfekten an einen herriſchen Ton und eine durchfahrende Eigenmächtigkeit gewöhnt, die dem preußiſchen Beamtenthum unerträglich ſchienen. Als - bald überwarf er ſich mit mehreren Oberpräſidenten; auch mit ſeinem Vetter und Gönner gerieth er in Streit, da ein geordneter Staatshaus - halt allerdings unmöglich war, ſo lange der Staatskanzler ohne den Finanz - miniſter zu befragen über beliebige Summen frei verfügen durfte. Die ewigen Händel verbitterten den Heftigen, und bald erkannte man in ſeinem reizbaren, zänkiſchen Weſen die alte Liebenswürdigkeit kaum noch wieder.

Die reaktionäre Partei des Miniſteriums fand bei Hofe eine mächtige Stütze an dem Commandeur der Garde, dem Herzog Karl von Mecklen - burg. Der Bruder der Königin Luiſe hatte ſich auf dem Schlachtfelde und dem Exercierplatz ſtets als tüchtiger Offizier bewährt, aber für die refor - matoriſchen Ideen der Freunde ſeiner Schweſter hegte er kein Verſtändniß. Eine ſchöne ritterliche Erſcheinung, ein angenehmer unterrichteter Geſell - ſchafter, auf den Hoffeſten als begabter Poet und Schauſpieler viel bewundert,189Wittgenſtein. Karl v. Mecklenburg. Ancillon.ſehr thätig im Staatsrathe wie in ſeinem militäriſchen Berufe, war er doch bei der Mehrzahl der Offiziere nicht beliebt, in der gebildeten Geſellſchaft der Hauptſtadt gründlich verhaßt. Denn er nährte in ſeinem Gardecorps ein dünkelhaftes Weſen, das dem Civil wie den Linientruppen gleich anſtößig ward, und blieb trotz ſeiner Jugend ein Berufsſoldat der alten Schule, ein entſchiedener Gegner der neuen Heeresverfaſſung. In der Politik ſchloß er ſich eng an Wittgenſtein an und bekämpfte wie dieſer jede Neuerung, die dem Wiener Hofe mißfallen konnte.

Noch mächtiger war der ſtille Einfluß Ancillons. Der in alle Sättel gerechte Theolog wurde im Jahre 1814 als Geheimer Rath im Auswärtigen Amte angeſtellt und ſchwamm jetzt wieder ſelbſtgefällig obenauf, obgleich der Erfolg des Krieges alle ſeine kleinmüthigen Warnungen Lügen geſtraft hatte. Hardenberg glaubte durch dieſe Ernennung eine Brücke zwiſchen der Wiſſen - ſchaft und der Politik zu ſchlagen; denn Ancillon verdankte ſeiner ſeichten, aber vielſeitigen und immer für die Unterhaltung der Salons bereiten Ge - lehrſamkeit ein hohes Anſehen, das auch reichere Geiſter beſtach. Die Diplo - maten rühmten die ſokratiſche Gelaſſenheit, die urbane Milde ſeiner Um - gangsformen; ſelbſt Schön, der Alles tadelte, ließ ihn gelten, und noch in ſpäteren Jahren ſchaute der junge Leopold Ranke bewundernd zu ihm auf. Er hatte am Ausgang des alten Jahrhunderts als eleganter Prediger an der franzöſiſchen Gemeinde den weichlichen Geſchmack der Zeit glücklich ge - troffen und dann als Lehrer der Staatswiſſenſchaft an der Kriegsſchule ſeine Gemeinplätze mit ſo feierlicher Geſpreiztheit, mit einem ſo überlegenen ſtaats - männiſchen Lächeln vorgetragen, daß ſein Zuhörer, der junge Neſſelrode ſich ganz bezaubert fühlte. Bei Hofe verſtand er durch unterthänige Befliſſen - heit ſeinen Platz unter den vornehmen Herren zu behaupten. Es ward verhängnißvoll für eine ſpäte Zukunft, daß auch Königin Luiſe und der Freiherr v. Stein ſich durch den erſchlichenen Ruhm des glatten Halb - franzoſen blenden ließen und ihm die Erziehung des jungen Thronfolgers anvertrauten. So gerieth der verſchwenderiſch begabte, aber phantaſtiſche und eigenwillige Geiſt des Prinzen, der vor Allem einer ſtrengen Zucht und der Belehrung über die harte Wirklichkeit des Lebens bedurfte, unter die Leitung eines charakterloſen Schönredners, der ſelber kaum fühlte, wie viel von ſeinem Thun der angeborenen Furchtſamkeit, wie viel der welt - klugen Berechnung entſprang. Seitdem wurde Ancillon auch zu den po - litiſchen Berathungen öfters zugezogen und ſchrieb nun unermüdlich mit ſeiner ſchwungloſen, verkniffenen kleinen Gelehrtenhand eine Maſſe von Denkſchriften breite Betrachtungen ohne Kraft und Schneide, die alle - ſammt ebenſo leer wie ſeine Bücher doch immer den Eindruck erregten, als ob ſich ein tiefer Sinn hinter dem Wortſchwall verbärge. Durch ihn ward die Kunſt, hohle Worte zu einem glitzernden Gewebe zu verknüpfen, zuerſt in die preußiſche Politik eingeführt eine Kunſt, die unter dem ge - ſtrengen alten Abſolutismus ganz unbekannt geweſen war und erſt ſpäter -190II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.hin, in der parlamentariſchen Epoche, ihre üppigſten Blüthen entfalten ſollte. Von Haus aus ein Freund der Ruhe und der überlieferten Ordnung hatte er im Juni 1789 zu Verſailles ſelber mit angeſehen, wie die Vertreter des Dritten Standes ſich die Rechte einer Nationalverſammlung anmaßten und alſo den Sturz des Königthums vorbereiteten. Seit jenem Tage lag ihm die Angſt vor der Revolution in allen Gliedern, und als das revo - lutionäre Weltreich endlich gefallen war, wahrlich ohne Ancillons Zuthun, da wendete ſich der Zaghafte den Anſichten Metternichs zu und folgte ge - lehrig jedem Winke der Hofburg. Geſchäftig trug er die Anſchuldigungen der Schmalziſchen Schrift in der Hofgeſellſchaft umher, und obwohl er ſich noch hütete den Staatskanzler offen zu bekämpfen, ſo ſprach er doch jetzt ſchon mit verdächtigem Eifer von den unermeßlichen Schwierigkeiten, welche dem Verfaſſungsplane entgegenſtänden, und wer den Mann kannte mußte errathen, daß er insgeheim zu Wittgenſteins Partei gehörte.

Das Volk begann den geheimen Parteikampf am Hofe zuerſt zu be - merken, als bald nach dem Frieden einige unerwartete Veränderungen in den rheiniſchen Provinzen erfolgten. Dort am Rhein war die feſtliche Stim - mung der Kriegsjahre ſo ſchnell nicht verflogen. Die preußiſchen Offiziere und Beamten, die das theuer erkaufte Grenzland jetzt dem deutſchen Staats - leben einfügen ſollten, ſchauten mit dem Hochgefühle des Siegers um ſich; ſie ſchwelgten in den Reizen der ſchönen Landſchaft und in der hellen Lebensluſt der rheiniſchen Geſelligkeit. Ihnen war, als ob die Heldenkraft des Nordens hier mit der Anmuth des reichen Südens fröhlich Hochzeit hielte. Um Gneiſenau, der in Coblenz befehligte, ſammelte ſich ein froher Kreis von bedeutenden Männern und ſchönen Frauen, der ſelbſt die leicht - lebigen Bewohner der alten Biſchofsſtadt zu dem Geſtändniß zwang, daß ihre neue Landesherrſchaft doch über ganz andere geiſtige Kräfte gebot als weiland der kurtrierſche Hof und der Präfekt Napoleons. Da waren Clauſe - witz und Bärſch, einer von Schills Gefährten; der tollkühne Huſar Hellwig und der hünenhafte Graf Karl v. d. Gröben, der einſt als Gneiſenaus Vertrauter, faſt ſo abenteuerlich wie ſein Ahn, der afrikaniſche Held des großen Kurfürſten, von Land zu Land gezogen war um den heiligen Krieg vorzubereiten; dann die romantiſchen Schwärmer Max v. Schenkendorf, Werner v. Haxthauſen, Sixt v. Armin, der Pädagog Johannes Schulze und der gelehrte Sammler Meuſebach. Wenn Gneiſenau Abends die Damen in dem Wagen Napoleons, dem Beuteſtücke von Belle Alliance, zu einem Feſte abholen ließ und nun in ſeiner heitern Hoheit, gebieteriſch und doch beſcheiden, erröthend vor dem eigenen Ruhm, inmitten der lauten Tafel - runde ſaß, wenn die Lieder Arndts und Körners erklangen, die Kriegs - männer von ihren Fahrten erzählten und Meuſebach durch den urkräftigen Humor ſeiner geiſtreichen Verſe Alles zu ſtürmiſchem Gelächter hinriß, dann meinte Schenkendorf glückſelig:

So hab ich wohl im Knabentraume
Die alte Ritterſchaft geſehn.
191Gneiſenau. Sack. Gruner.

Auch im Lande hatte ſich der freimüthige Held bald alle Herzen gewonnen; als er die Moſel hinauf fuhr, kamen aus jedem Dorfe ſingende Landleute herangerudert und reichten ihm den Ehrenwein.

Das fröhliche Nachſpiel der großen Kriegszeit ſollte nicht lange währen. Gneiſenau hatte ſchon als die Schmalziſche Schrift erſchien den Staats - kanzler