PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II]
Staatengeſchichte der neueſten Zeit.
Fünfundzwanzigſter Band.
Deutſche Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert Zweiter Theil.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1882.
[III]
Deutſche Geſchichte im Neunzehnten Jahrhundert
Zweiter Theil. Bis zu den Karlsbader Beſchlüſſen.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1882.
[IV]
[V]

Vorwort.

Den Fachgenoſſen bietet dieſer Band mehr Ergebniſſe neuer For - ſchung als der erſte. Ungelehrte Leſer werden leider einiger Selbſtüber - windung bedürfen um ſich in den ſpröden Stoff zu finden.

In einer Epoche weltbewegender Ereigniſſe, wie ſie der erſte Band zu ſchildern hatte, läßt ſich die bunte Mannichfaltigkeit der deutſchen Ge - ſchichte noch einigermaßen überſichtlich zuſammenfaſſen. Sobald es aber gilt, in einer ſtillen Friedenszeit die unſcheinbaren Keime neuer Entwick - lungen aufzuweiſen, dann empfindet der Hiſtoriker am eigenen Leibe den Fluch eines zerſplitterten nationalen Lebens. Streng nach der Zeitfolge zu berichten, was ſich auf zwanzig und mehr kleinen Bühnen zugleich ereignete, iſt ſchlechthin unmöglich. Ich habe alſo die geſammtdeutſchen und die preußiſchen Zuſtände wieder in den Mittelpunkt der Erzählung geſtellt und die Geſchichte der kleinen Bundesſtaaten überall da angereiht, wo ſie für die Schickſale des geſammten Vaterlandes bedeutſam wird. Daher ſind in dieſem Bande die ſüddeutſchen Verfaſſungskämpfe und die literariſch-politiſche Bewegung in Thüringen ausführlich behandelt. Für die Betrachtung der kleinen norddeutſchen Staaten wird ſich im dritten Buche die rechte Stelle finden, wenn die Frage zu beantworten iſt: warum der Süden früher als der Norden in die preußiſche Zollgemein - ſchaft eintrat? Daß ich die erſten Verhandlungen des Bundestags, trotz ihrer Nichtigkeit, gründlich beſprochen habe, bedarf kaum der Recht - fertigung. Ohne ein lebendiges Bild von dem Charakter der neuen Bundesgewalt bliebe der weitere Verlauf der Ereigniſſe unverſtändlich.

In den Anmerkungen ſind zumeiſt nur ungedruckte Aktenſtücke an - gegeben, da literariſche Nachweiſungen den Umfang des Buches allzu ſehr angeſchwellt hätten. Er iſt ohnehin ſtärker geworden als ich wünſchte. Eine ſo verworrene, durch Parteimärchen entſtellte Geſchichte kann nurVI in einer eingehenden Darſtellung bewältigt werden, und ich habe mich entſchließen müſſen, die Ereigniſſe bis zum Jahre 1830 auf zwei Bände zu vertheilen.

Dieſe Blätter enthalten der ſchmerzlichen Erinnerungen viel. Wollte ich den Stimmungen des Augenblicks nachgeben und als ein Parteimann Geſchichte ſchreiben, ſo würde ich über manche alte Sünden Oeſterreichs und der deutſchen Kronen gern einen Schleier werfen; denn in der heutigen Ordnung der deutſchen Dinge zeigt ſich unſer hoher Adel ein - ſichtiger, opferwilliger als ein großer Theil des Bürgerthums, und an der Freundſchaft, welche unſeren Staat mit Oeſterreich verbindet, wird nur ein Thor rütteln wollen. Meine Aufgabe war das Geſchehene getreu zu erzählen. Es kann dem Beſtande der Monarchie in unſerem Vaterlande nur förderlich ſein, wenn Deutſchlands Fürſten der trüben Tage nicht vergeſſen, da ihre Ahnen nahe daran waren ſich dem Leben der Nation ganz zu entfremden; unſer freier Bund mit Oeſterreich aber wird um ſo feſter ſtehen, je unbefangener man hüben und drüben aner - kennt, daß Deutſchland berechtigt war die Herrſchaft des Wiener Hofes nicht länger mehr zu ertragen.

Mit allen ihren Irrthümern und Enttäuſchungen war die verrufene Zeit, welche dieſer Band ſchildert, nicht blos reich an wiſſenſchaftlichem Ruhm, ſondern auch fruchtbar für unſer politiſches Leben. Habe ich den Ton nicht ganz verfehlt, ſo wird den Leſern der Eindruck bleiben, daß ſie die Geſchichte eines aufſteigenden Volkes vor ſich ſehen.

Rom, 20. Oktober 1882.

Heinrich von Treitſchke.

[VII]

Inhalt.

Zweites Buch. Die Anfänge des Deutſchen Bundes. 1814 1819. (Schluß.)

  • Seite
  • 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre3
  • Literariſcher Charakter des Zeitalters3
  • Dichtung und bildende Künſte16
  • Die Wiſſenſchaft58
  • 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages118
  • Europäiſche Lage118
  • Die Frankfurter Verhandlungen131
  • 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates181
  • Perſonen und Parteien am Hofe181
  • Die Reorganiſation der Verwaltung193
  • Die Provinzen244
  • Der Beginn des Verfaſſungsſtreites278
  • 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe295
  • Das gute alte Recht in Schwaben297
  • Baiern323
  • Baden354
  • Naſſau und Darmſtadt375
  • 7. Die Burſchenſchaft383
  • Jahn und die Turner383
  • Thüringen. Weimar und Jena395
  • Das Wartburgfeſt424
  • 8. Der Aachener Congreß444
  • Wachſende Macht des öſterreichiſchen Hofes444
  • Räumung Frankreichs. Erneuerung des Vierbundes467
  • Deutſche Angelegenheiten auf dem Congreſſe479
  • 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe491
  • Schwankungen in Berlin. Erſte conſtitutionelle Erfahrungen im Süden491
  • Kotzebues Ermordung. Die Demagogenverfolgung519
  • Teplitz und Karlsbad550
  • 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe573
  • Die Karlsbader Beſchlüſſe und das Ausland573
  • Der Verfaſſungsplan Hardenbergs. Humboldts Entlaſſung588
  • Der erſte preußiſche Zollvertrag607
VIII

Beilagen zu den erſten zwei Bänden.

  • Seite
  • I. E. M. Arndt und Wrede629
  • II. Blücher über die Lütticher Meuterei632
  • III. Die Teplitzer Punktation632
  • IV. Hardenbergs Verfaſſungsplan635
  • V. Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819637

Berichtigungen.

  • Seite 10, Zeile 15 v. o. lies: längere oder kürzere.
  • 31, 3 v. u. lies: Oeſterberge.
  • 40, 6 v. o. ſtatt Großinquiſitor lies: Ketzerrichter.
  • 43, 8 v. u. lies: Niemand wirken kann.
  • 127, 19 v. u. lies: unbequeme.
  • 208, 17 v. u. lies: befürwortete.
  • 338, 6 v. o. lies: aller.
  • 390, 19 v. u. lies: Karl Theodor.
  • 407, 13 v. u. lies: verbreiteten.
  • 456, 8 v. u. lies: zurechtgewieſen.
[1]

Zweites Buch. Die Anfänge des Deutſchen Bundes. 1814 1819. (Schluß.)

[2][3]

Dritter Abſchnitt. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Nicht jede Zeit erkennt ihr eigenes Weſen. Namentlich in jenen müden Epochen, welche den Entſcheidungsſtunden des Völkerlebens zu folgen pfle - gen, täuſchen ſich die Muthigen und Hochherzigen oft vollſtändig über die treibenden Kräfte des Zeitalters. Vor dem Kriege hatte Niemand geahnt, wie viel Tapferkeit und Bürgerſinn, wie viel Opfermuth und edle Leiden - ſchaft in dem Volke des deutſchen Nordens ſchlummerte; jetzt, da alle dieſe verborgenen Tugenden ſich ſo herrlich bewährt hatten, wollten die erregten Wortführer der Patrioten ſchlechterdings nicht glauben, daß die hohe Begeiſterung der Befreiungskriege, nachdem ihr Ziel erreicht war, wieder verrauchen könnte. Die Bundesakte und der Friedensſchluß wer hätte das beſtritten? waren ja doch nur darum mißrathen, weil das Volk an den Verhandlungen der Diplomaten nicht theilnehmen durfte; um ſo gewiſſer mußte die Nation, ſobald ſie nur die verheißenen land - ſtändiſchen Verfaſſungen erhalten hatte, ſich mit Eifer und Verſtändniß ihrer Angelegenheiten ſelbſt bemächtigen und die irrenden Cabinette in die Bahnen nationaler Staatskunſt zurückführen. In ſolchem Sinne ſchrieb Arndt beim Anbruch des erſten Friedensjahres: noch in dieſem Jahre 1816 ſoll zwiſchen den Herrſchern und den Völkern das Band der Liebe und des Gehorſams unauflöslich gebunden werden. Er ſah die Thore eines neuen Zeitalters weit geöffnet: wenn erſt die ſchöne Neugeborene dieſes Jahres, die verfaſſungsmäßige Freiheit, in alle deutſchen Staaten einzieht, dann jauchzen die Gefallenen, dann weinen die einſamen Bräute und Wittwen ſüßere Thränen!

Der Hoffnungsvolle ſollte nur zu bald erfahren, wie gründlich er Charakter und Geſinnung ſeines Volkes verkannt hatte. Die Nation ſtand erſt auf der Schwelle einer langen, an Irrthum und Enttäuſchung reichen politiſchen Lehrzeit; die öffentliche Meinung, welche Arndt als die ge - waltigſte Königin des Lebens pries, zeigte für die Fragen des Verfaſſungs - weſens nur geringes Verſtändniß, kaum noch ernſtliche Theilnahme. Den einſamen Wittwen und Bräuten, den heimgekehrten Kriegern, die jetzt1*4II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.das Schwert mit dem Pfluge und dem Hobel vertauſchten, brannte die Noth auf den Nägeln; ſie ſorgten, wie ſie ſich nur das arme Leben friſten, wie ſie nur wieder Hütten bauen ſollten auf dem ausgeplünderten Schlacht - felde des Völkerkrieges. Deutſchland war wieder das ärmſte von allen Ländern Weſteuropas; in manchen Strichen der Mark Brandenburg be - gann zum fünften male das ſchwere Ringen um die erſten Anfänge bür - gerlichen Wohlſtandes. Mit ruhigem Gottvertrauen gingen die kleinen Leute wieder an ihr ſchweres Tagewerk und trugen geduldig das Loos der Entbehrung, das ihnen als Lohn ſo vieler Siege zufiel. Jener Geiſt der Unruhe und Verwilderung, der gemeinhin nach großen Kämpfen noch eine Zeit lang im Gemüthe der Maſſen nachzuzittern pflegt, zeigte ſich nirgends unter den frommen und genügſamen Menſchen, die dieſen heiligen Krieg geſchlagen hatten. Aber in dem Gedränge der wirthſchaftlichen Sorgen blieb auch kein Raum für die politiſche Leidenſchaft. Sogar die Erinne - rung an alle die Wunder der jüngſten drei Jahre fand ſelten lauten Aus - druck, obwohl ſie in den treuen Herzen ſtill fortlebte. Zwei, dreimal noch flammten am Abend des achtzehnten Oktobers die Freudenfeuer auf den Bergen; dann verſtummte die Feier, hier vor den Verboten der Polizei, dort vor der Gleichgiltigkeit der Menge. Auffällig gering blieb in dieſem ſchreibluſtigen Geſchlechte die Zahl der Volksbücher und Holzſchnitte, welche der Nation von der ſchönſten Zeit ihrer neuen Geſchichte erzählten. Ein geſpreiztes Bild, die Rückkehr des jungen Helden , ſah man zuweilen an den Wänden guter Bürgerhäuſer, die ihre Söhne unter die freiwilligen Jäger geſchickt hatten; auf den Jahrmärkten und in den Dorfſchenken war ſelbſt das Bildniß Blüchers, des volksthümlichen Helden, faſt nirgends zu finden.

Auch unter den Gebildeten waren es im Grunde nur drei ſcharf getrennte Kreiſe, welche ſich die gehobene Stimmung, die ſtolzen vater - ländiſchen Hoffnungen der Kriegsjahre noch im Frieden lange bewahrten: das preußiſche Offiziercorps, die akademiſche Jugend, endlich eine mäßige Anzahl von patriotiſchen Schriftſtellern und Gelehrten, die man jetzt mit dem neuen ſpaniſchen Parteinamen der Liberalen zu bezeichnen anfing. Die preußiſchen Offiziere lebten und webten in den Erinnerungen der Feldzüge; ſie blickten mit ſtarkem Selbſtgefühl auf den wiederhergeſtellten Glanz ihrer Fahnen, mit Unmuth auf den gebrechlichen Bau des deut - ſchen Bundes und das traurige Ergebniß der Friedensverhandlungen. Während des Kampfes hatten ſie die kriegeriſche Kraft des Bürgerthums achten gelernt, manchen tapferen Kameraden aus den Reihen der Frei - willigen in ihren Kreis aufgenommen. Nun wurde ihnen durch das neue Wehrgeſetz die Erziehung der geſammten wehrhaften Jugend anvertraut, ſie traten mit allen Klaſſen des Volkes in Verkehr und bewahrten ſich auch den freien, einſt durch Scharnhorſt geweckten wiſſenſchaftlichen Sinn; der Kaſtenhochmuth der alten Zeit kehrte nur in vereinzelten Rückfällen5Politiſche Ermüdung.wieder. Aber obſchon die fremden Mächte und die kleinen deutſchen Höfe alleſammt den nationalen Stolz und das friſche geiſtige Leben dieſes Volks - heeres voll Argwohns beobachteten, ſo blieb die ſtreng monarchiſche Geſin - nung der Offiziere doch allen Parteibeſtrebungen völlig unzugänglich. Ihre Kameraden von der ruſſiſchen Garde hatten in Frankreich zum erſten male die Ideen der Revolution kennen gelernt und von dort radikale Anſchau - ungen mit heim genommen, welche nachher in thörichten Verſchwörungen ihre Früchte trugen. Auf die preußiſchen Offiziere dagegen wirkte der Anblick des allgemeinen Eidbruchs und der wilden Parteikämpfe der Fran - zoſen nur abſchreckend; ſie fühlten ſich wieder, wie in den neunziger Jah - ren, ſtolz als Gegner der Revolution, ſie rühmten ſich der alten preußi - ſchen Königstreue und ſchätzten die neue conſtitutionelle Doktrin ſchon darum gering, weil ſie aus Frankreich ſtammte. Selbſt Gneiſenau, der noch vor’m Jahre die ſchleunige Vollendung der preußiſchen Verfaſſung gefordert hatte, kehrte mit veränderter Geſinnung heim und rieth drin - gend, die Ausführung ſolcher Entwürfe nur langſam reifen zu laſſen. *)Gneiſenau an Müffling, 25. März 1816.Der einzige politiſche Gedanke, der in den Briefen und Geſprächen dieſes Heeres mit Leidenſchaft erörtert wurde, war die Hoffnung auf einen dritten puniſchen Krieg, der den Deutſchen endlich ihre alte Weſtgrenze und eine angeſehene Stellung unter den Völkern zurückbringen ſollte.

Ungleich erregter zeigte ſich die Stimmung der jungen Freiwilligen, die jetzt von den Regimentern zu den Hörſälen der Hochſchulen zurück - kehrten. Vaterländiſche Begeiſterung und religiöſe Schwärmerei, Groll über den faulen Frieden und unklare Vorſtellungen von Freiheit und Gleichheit, die man unbewußt zumeiſt von den verachteten Franzoſen ent - lehnt hatte, das Alles brodelte in den Köpfen dieſer teutoniſchen Jugend wirr durch einander und erzeugte eine edle Barbarei, die nur noch die Tugenden des Bürgers gelten ließ und ſich zu dem Ausſpruch Fichtes bekannte: beſſer ein Leben ohne Wiſſenſchaft, als eine Wiſſenſchaft ohne Leben. Indeß der überſpannte Nationalſtolz des Teutonenthums wider - ſprach allzuſehr der freien Weitherzigkeit unſeres weltbürgerlichen Volkes, das gar nicht vermag, auf die Dauer gegen fremdes Weſen ungerecht zu ſein; die zur Schau getragene Verachtung aller Anmuth und feinen Bil - dung war allzu undeutſch, das ganze halb kindlich rührende, halb lächer - liche Gebahren dieſes anmaßlichen Studentenſtaates trug allzu ſehr den Charakter des Sektenweſens, als daß ſein politiſcher Fanatismus hätte auf weite Kreiſe wirken können. Es blieb bei der alten Regel, daß die Fünfzig - und Sechzigjährigen die Welt regieren. Unter den älteren Män - nern aber fanden die politiſchen Wächterrufe der patriotiſchen Schrift - ſteller zwar vereinzelte Zuſtimmung; die ſtarke Leidenſchaft, welche die That gebiert, erweckten ſie nicht.

6II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Sicherer als Arndt durchſchaute Hegel den Geiſt der Zeit, da er ſagte: die Nation hat ſich aus dem Gröbſten herausgehauen, ſie kann ſich nun wieder nach Innen, zum Reiche Gottes wenden. Die mächtigen Akkorde, welche das Zeitalter unſerer claſſiſchen Dichtung angeſchlagen, hallten noch fort; noch waren die reichen Schachte, die ſich ſeit zwei Men - ſchenaltern der geiſtigen Arbeit der Nation erſchloſſen hatten, keineswegs erſchöpft. Der Ehrgeiz dieſes durchaus unpolitiſchen Geſchlechts trachtete noch immer, unbekümmert um alle Proſa des äußeren Lebens, faſt allein nach den Kränzen des Reiches der Geiſter. Seinen beſten Männern er - ſchien die Zeit der napoleoniſchen Kriege bald nur wie eine Epiſode, wie ein Hagelſchauer, der über den blühenden Garten deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft dahingebrauſt war. Wie die kleinen Leute wieder zur Pflug - ſchaar griffen, ſo nahmen die Gebildeten die Feder wieder auf, doch nicht wie Jene mit ſtiller Entſagung, ſondern mit dem frohen Bewußtſein, ſich ſelber und ihrem eigenſten Leben wieder anzugehören. Wunderbar grell trat jener innere Widerſpruch hervor, der ſich ſeit dem Aufblühen der neuen Literatur in dem Charakter unſeres Volkes herausgebildet hatte: dieſe tapferen Germanen, die ſchon in den Sagen ihrer heidniſchen Urzeit beſtändig von Krieg und Sieg geträumt und ſeitdem in jedem Jahrhun - dert die Welt mit dem Schalle ihrer Schwerter erfüllt hatten, ſchätzten den kriegeriſchen Ruhm niedriger als irgend ein anderes Volk; ſie lebten des Glaubens, Deutſchlands ſchärfſte Waffen ſeien ſeine Gedanken.

Das Jahrzehnt nach Napoleons Sturz wurde für den ganzen Welt - theil eine Blüthezeit der Wiſſenſchaften und Künſte. Die Völker, die ſoeben noch mit den Waffen aufeinander geſchlagen, tauſchten in ſchönem Wetteifer die Früchte ihres geiſtigen Schaffens aus; nie zuvor war Europa dem Ideale einer freien Weltliteratur, wovon Goethe träumte, ſo nahe gekommen. Und in dieſem friedlichen Wettkampfe ſtand Deutſchland allen voran. Welch eine Wandlung der Zeiten ſeit jenen Tagen Ludwigs XIV., da die Cultur unſeres Volkes bei allen anderen Nationen des Abendlandes demüthig in die Schule gehen mußte! Jetzt huldigte die weite Welt dem Namen Goethes. Die winkligen Gaſtzimmer im Erbprinzen und im Adler zu Weimar wurden nicht leer von vornehmen Engländern, die den Fürſten der neuen Dichtung beſuchen wollten. In Paris genoß Alexander Hum - boldt eines Anſehens, wie kaum ein einheimiſcher Gelehrter; wenn ein Fremder in den Miethwagen ſtieg und die Hausnummer des großen Rei - ſenden nannte, dann griff der Kutſcher achtungsvoll an den Hut und ſagte: ah chez Mr. de Humboldt! Und da Niebuhr als preußiſcher Geſandter nach Rom kam, wagte ihm Niemand in der Weltſtadt den Ruhm des erſten Gelehrten zu beſtreiten.

Von unſerem Staate, von ſeinen Waffenthaten ſprach das Ausland wenig. Allen fremden Mächten kam das plötzliche Wiedererſtarken der Mitte des Welttheils ungelegen, ſie alle bemühten ſich wetteifernd den7Literariſcher Charakter des Zeitalters.Antheil Preußens an der Befreiung Europas der Vergeſſenheit zu über - geben. Keiner der ausländiſchen Kriegsſchriftſteller, welche in dieſen Jahren die Geſchichte der jüngſten Feldzüge darſtellten, ward den Verdienſten des Blücherſchen Hauptquartiers irgend gerecht. Das alte Anſehen der preu - ßiſchen Armee, die in Friedrichs Tagen Jedermann als die erſte der Welt gefürchtet hatte, war durch die Siege von Dennewitz und Belle Alliance keineswegs wiederhergeſtellt. Da der wirkliche Verlauf eines Coalitions - krieges ſich nur ſchwer überſehen läßt, ſo beruhigte ſich die öffentliche Mei - nung Europas gern bei dem einfachen Schluſſe: als die Preußen bei Jena allein fochten, wurden ſie geſchlagen, nur fremde Hilfe hat ſie gerettet. Daher kümmerte ſich auch Niemand im Auslande um die politiſchen In - ſtitutionen, denen Preußen ſeine Freiheit verdankte. Preußen blieb nach wie vor der am Wenigſten bekannte und am Gründlichſten verkannte Staat Europas. Vollends der neue Regensburger Reichstag, der jetzt in Frankfurt zuſammentrat, erregte durch ſein unfruchtbares Gezänk den Spott des Auslandes; und bald nach der wunderbaren Erhebung unſeres Volkes ſtand bei allen Nachbarn wieder die alte bequeme Meinung feſt: die deutſche Nation ſei durch den weiſen Rathſchluß der Natur zu ewiger Ohnmacht und Zwietracht beſtimmt. Um ſo bereitwilliger erkannte man nunmehr die geiſtige Größe dieſes machtloſen Volkes an; allein ihren Künſtlern und Gelehrten verdankten die Deutſchen, daß ſie von den alten Culturvölkern des Weſtens wieder zu den großen Nationen gerechnet wur - den. Sie hießen jetzt im Auslande das Volk der Dichter und der Den - ker; nur ſollten ſie auch bei der Theilung der Erde zufrieden ſein mit dem Poetenlooſe, das ihnen Schiller geſchildert, und ſich begnügen, be - rauſcht vom göttlichen Lichte das Irdiſche zu verlieren.

Zum erſten male ſeit den Zeiten Martin Luthers machten Deutſch - lands Gedanken wieder die Runde durch die Welt, und ſie fanden willi - gere Aufnahme als vormals die Ideen der Reformation. Deutſchland allein hatte die Weltanſchauung des achtzehnten Jahrhunderts ſchon gänz - lich überwunden. Der Senſualismus der Aufklärung war längſt ver - drängt durch eine idealiſtiſche Philoſophie, die Herrſchaft der Verſtandes durch ein tiefes religiöſes Gefühl, das Weltbürgerthum durch die Freude an nationaler Eigenart, das Naturrecht durch die Erkenntniß des leben - digen Werdens der Völker, die Regeln der korrekten Kunſt durch eine freie, naturwüchſige, aus den Tiefen des Herzens aufſchäumende Poeſie, das Uebergewicht der exakten Wiſſenſchaften durch die neue hiſtoriſch-äſthe - tiſche Bildung. Dieſe Welt von neuen Gedanken war in Deutſchland durch die Arbeit dreier Generationen, der claſſiſchen und der romanti - ſchen Dichter, langſam herangereift, ſie hatte unter den Nachbarvölkern bisher nur vereinzelte Jünger gefunden und drang jetzt endlich ſiegreich über alle Lande.

Mit wunderbarer Spannkraft nahm Frankreich nach dem langen8II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.dumpfen Schlummer der Kaiſerzeit ſeine geiſtige Arbeit wieder auf. Das Buch der Frau von Staël über Deutſchland, das die napoleoniſchen Cenſoren als eine Beleidigung des nationalen Stolzes zurückgewieſen hat - ten, kam jetzt in Jedermanns Hände, warb überall Anhänger für die deutſchen Ideen, die man hier in Bauſch und Bogen als Romantik be - zeichnete. Die Herrſchaft der ſenſualiſtiſchen Philoſophie brach zuſam - men vor der Kritik der Doktrinäre; ein dichter Kreis bedeutender Ta - lente, Mignet, Guizot, die Thierrys eröffneten den Franzoſen das Ver - ſtändniß der hiſtoriſchen Welt. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ſelbſt den radikalen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts noch als die Epoche claſſiſcher Formenſchönheit gegolten hatte, begann ſein Anſehen zu ver - lieren, und bald erhob ſich eine neue Dichterſchule, welche Frankreich von dem Banne der akademiſchen Regeln befreite, alſo daß Victor Hugo von ſeinem Volke mit einiger Wahrheit ſagen konnte: die Romantik iſt in der Literatur, was der Liberalismus in der Politik. Noch ſtärker und unmittelbarer war der Gedankenaustauſch zwiſchen Deutſchland und Eng - land; die Deutſchen zahlten jetzt den Briten heim, was ſie einſt von Shakeſpeare und Sterne empfangen. Walter Scott, der fruchtbarſte und beliebteſte Dichter des Zeitalters, ging bei Bürger und Goethe in die Schule und ſchöpfte aus dem tiefen Borne der Sagen und Volkslieder, welchen die Deutſchen der Welt erſchloſſen hatten; durch ſeine hiſtoriſchen Romane wurden die breiten Maſſen der europäiſchen Leſewelt erſt für die romantiſchen Ideale gewonnen. Auch einige Italiener, Manzoni vor Allen, lenkten in die Bahn der neuen Dichtung ein; zur unbeſtrittenen Herrſchaft freilich konnte die romantiſche Poeſie in dieſem halb-antiken Volke ebenſo wenig gelangen, wie einſt die nordiſche Kunſtform der Gothik.

Ueberall erwachten die Geiſter. In Deutſchland ſelbſt erſchien der Reichthum dieſer fruchtbaren Epoche minder auffällig, als in den Nachbar - landen; denn die claſſiſche Zeit unſerer Dichtung war kaum erſt vorüber, die große Mehrzahl der jungen Poeten nahm ſich neben den Heroen jener großen Tage wie ein Geſchlecht von Epigonen aus. Um ſo mächtiger und fruchtbarer entfaltete ſich die ſchöpferiſche Kraft des deutſchen Genius auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft. Faſt gleichzeitig ließen Savigny, die Grimms, Boeckh, Lachmann, Bopp, Diez, Ritter ihre grundlegenden Schriften er - ſcheinen, während Niebuhr, die Humboldts, Eichhorn, Creuzer, Gottfried Hermann auf ihren eingeſchlagenen Wegen rüſtig weiterſchritten. Unauf - haltſam fluthete der Strom neuer Gedanken dahin. Es war ein Gedränge von reichen Talenten wie einſt, da Klopſtock den jungen Tag der deutſchen Dichtung heraufführte. Und wie vormals die Bahnbrecher unſerer Poeſie, ſo erſchien auch dies neue Gelehrtengeſchlecht ganz durchglüht von un - ſchuldiger jugendlicher Begeiſterung, von einem lauteren Ehrgeiz, der auf der Welt nichts ſuchte als die Seligkeit der Erkenntniß und die Mehrung deutſchen Ruhmes durch die Thaten der freien Forſchung.

9Verbindung von Kunſt und Wiſſenſchaft.

Der trockene Staub, der ſo lange auf den Werken der deutſchen Ge - lehrſamkeit gelegen, war wie weggeweht; die neue Wiſſenſchaft fühlte ſich als die Schweſter der Kunſt. Ihre Jünger hatten alleſammt aus dem Becher der Schönheit getrunken, manche ſogar in den Kreiſen der Poeten die beſtimmenden Eindrücke ihres Lebens empfangen. Diez bewahrte noch nach vielen Jahren das Blatt, worauf ihm einſt Goethe den Titel von Reynouards provenzaliſchen Forſchungen aufgeſchrieben und alſo dem jun - gen Manne den Weg gewieſen hatte für die Arbeit ſeines Lebens. Boeckh und Creuzer hatten ſo manche Nacht auf dem Faulen Pelz mit den Schwarmgeiſtern der Heidelberger Romantik durchzecht und durchjubelt, J. Bekker mit Uhland gemeinſam in den Schätzen der Pariſer Bibliothek geforſcht; in den Studirſtuben Savignys und der Brüder Grimm trieb der Kobold Bettina Arnim zu Zeiten ſein neckiſches Weſen. Sie ſchauten alle voll Ehrfurcht zu dem alten Goethe empor und ſchaarten ſich wie eine unſichtbare Kirche um dieſen centralen Geiſt, der aus der Hand der Wahr - heit den Schleier der Dichtung empfangen hatte und das Ideal der Zeit, die lebendige Einheit von Kunſt und Wiſſenſchaft, in ſeinem Leben wie in ſeinen Werken verkörperte. Sie alle bemühten ſich die Ergebniſſe ihrer Forſchung in edler würdiger Form auszuſprechen; die keuſche Einfachheit der Schriften Savignys, die mächtige Empfindung und die Fülle unge - ſuchter, lebendig angeſchauter Bilder in Jakob Grimms markigem Stile beſchämten die ſüßliche Künſtelei mancher der neueren Poeten. An allen Werken dieſer Forſcher hatten das warme Herz und die ſchöpferiſche, das hiſtoriſche Leben nachdichtende Phantaſie ebenſo großen Antheil, wie der Sammlerfleiß und der kritiſche Scharfſinn.

Und wie die Dichtung, ſo war auch die ſpeculative Arbeit des voran - gegangenen Geſchlechts der neuen Wiſſenſchaft in Fleiſch und Blut ge - drungen. Nur weil der deutſche Geiſt ſich ſo lange vertieft hatte in das Problem der Einheit von Sein und Denken, konnte er jetzt ſich ausbreiten über die hiſtoriſche Welt ohne zu verflachen oder in der Maſſe der Ein - zelheiten unterzugehen. Nicht umſonſt hatten alle dieſe jungen Juriſten, Philologen und Hiſtoriker zu den Füßen der Philoſophen geſeſſen. Sie wollten durch die Geſchichte in das Geheimniß des menſchlichen Geiſtes ſelber eindringen; ſie ſtrebten, wie W. Humboldt von ſich geſtand, eine Anſchauung von dem Werden der Menſchheit und dadurch eine Ahnung deſſen, was ſie ſein kann und ſoll, zu gewinnen, den letzten Fragen alles Seins näher zu treten. Daher der weite Geſichtskreis, die großartige Vielſeitigkeit dieſes Gelehrtengeſchlechts. Noch hatte man die weite Feld - flur der hiſtoriſchen Welt kaum erſt in Beſitz genommen; wer durch die - ſen jungfräulichen Boden ſeine Pflugſchaar trieb, ſtreute mit freigebigem Wurfe ſeine Samenkörner auch über den Acker des Nachbars aus. Faſt alle bedeutenden Gelehrten gehörten mehreren Fächern zugleich an, und Jeder hielt, indem er ſich in das Einzelne verſenkte, den Blick immer feſt10II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.auf den großen Zuſammenhang der Wiſſenſchaften gerichtet. Es war der Stolz dieſes fruchtbaren Geſchlechts, durch die Aufſtellung genialer Hy - potheſen und großer Geſichtspunkte die Wege zu weiſen, welche nachher die gewiſſenhafte Einzelforſchung zweier Generationen für alle Welt gang - bar gemacht hat.

Durch das Aufblühen der Wiſſenſchaft traten die Univerſitäten in den Vordergrund des geiſtigen Lebens der Nation. Zu allen Zeiten hatten ſie an den Kämpfen und Wandlungen der deutſchen Gedankenarbeit ihren reichen Antheil genommen; jetzt aber übernahmen ſie wieder die führende Stellung im Reiche des Geiſtes, wie einſt zur Zeit des Humanismus und der Anfänge der Reformation. Das Profeſſorenthum erlangte nach und nach einen beſtimmenden Einfluß auf die Sitten und Anſchauungen unſeres Volkes, wie in keinem anderen Lande; unter den hervorragenden Schriftſtellern der folgenden Jahrzehnte fanden ſich nur wenige, die nicht auf längere und kürzere Zeit ein akademiſches Lehramt bekleideten. Die Berliner Univerſität überflügelte bald alle anderen; von ihr gingen in dieſen Jahren die meiſten der ſchöpferiſchen Thaten der deutſchen Wiſſen - ſchaft aus; doch war ſie nie mehr als die erſte unter Gleichen, für eine Centraliſation der Bildung bot dies Land keinen Boden. Niemals ſind unſere Hochſchulen ſo wahrhaft frei, ſo tief innerlich glücklich geweſen wie in jenen ſtillen Friedensjahren. Die ſtreitbare Jugend brachte neben ihren teutoniſchen Unarten, ihren anmaßlichen politiſchen Träumen doch auch einen ſchönen Enthuſiasmus, eine warme Empfänglichkeit für die Ideale mit von den Schlachtfeldern heim; die wüſte Roheit und Völlerei der alten Zeiten kehrte ſo nicht wieder. Der Unterricht blieb von zünfti - gem Zwange und zünftiger Abrichtung frei; denn Jeder fühlte, daß in der Wiſſenſchaft ſelber Alles noch in jugendlichem Werden war. Niemand verwunderte ſich, wenn ein Gelehrter noch in reifen Jahren von einem Fache zum andern überſprang oder wenn ein Philolog, wie Dahlmann, der nie eine hiſtoriſche Vorleſung gehört, auf den Lehrſtuhl der Geſchichte berufen wurde. Wer das Zeug hatte, ſelber ein Meiſter zu werden, den fragte Niemand: weſſen Schüler er ſei? Die meiſten Docenten betrieben ihr Lehramt mit liebevollem Eifer; aber wenn ein heller Frühlingstag in’s nahe Gebirge hinauslockte, dann ſchrieb auch der Fleißige ohne Um - ſtände ſein hodie non legitur an die Thüre des Hörſaals.

Um bedeutende Lehrer der Philoſophie, der Geſchichte, der Philologie drängten ſich die Studenten aus allen Facultäten, und mancher lebte Jahre lang in ſolchen Studien bevor er an ſein Berufsfach dachte. Denn noch verſtanden die Gymnaſien, weil ſie die geiſttödende Vielwiſſerei ver - mieden, die dauernde Freude am claſſiſchen Alterthume und den Drang nach freier menſchlicher Bildung in ihren Schülern zu erwecken. Und noch war die Krankheit der heutigen Univerſitäten, die Examen-Angſt faſt gänzlich unbekannt. Die altberühmten Heimſtätten der claſſiſchen Ge -11Die Univerſitäten.lehrſamkeit, die ſächſiſchen Fürſtenſchulen und die württembergiſchen Klo - ſterſchulen, entließen ihre Primaner zur Univerſität ſobald die Lehrer die Zeit gekommen glaubten, und der Staat meiſterte ſie nicht. Auch zum Eintritt in den Staats - und Kirchendienſt der Kleinſtaaten wurden die jungen Männer, wenn ſie von der Hochſchule heimkehrten, meiſt noch nach der alten patriarchaliſchen Weiſe, durch Gunſt und Empfehlung zu - gelaſſen. Nur in Preußen hatte ſich ſchon ſeit der Verwaltungsorgani - ſation Friedrich Wilhelms I. ein Syſtem geregelter Staatsprüfungen aus - gebildet, und von hier drang dieſe mechaniſche Ordnung, die allerdings gerechter und durch die mannichfaltigen Verhältniſſe eines Großſtaates geboten war, allmählich in die kleineren Staaten hinüber. Doch wurden auch hier noch mäßige Anforderungen geſtellt, da der Staat für ſeine neuen Provinzen viele junge Beamte brauchte. Der idealiſtiſche Zug der Zeit ließ das ängſtliche Brotſtudium nicht aufkommen. Die Jugend ge - noß noch der ungetrübten akademiſchen Freiheit; Jeder hörte und lernte wozu der Geiſt ihn trieb, wenn er nicht vorzog die goldenen Burſchen - tage ganz und gar in unbändigem Genuſſe zu durchſchwelgen.

So lebten die kleinen gelehrten Republiken dahin, glückliche Frei - ſtätten der vollkommenen geſelligen Gleichheit und Ungebundenheit, wie emporgehoben über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Große Talente, die in jedem anderen Lande eine weite Bühne für ihr Wirken verlangt hätten, fühlten ſich glücklich in der Armuth und Enge dieſer kleinen Uni - verſitätsſtädte mit ihren alten Schlöſſern und winkligen Gaſſen, wo jedes Haus an einen luſtigen Burſchenwitz oder an einen berühmten Gelehrten erinnerte. Hier war die Wiſſenſchaft Alles; umgeben von der Verehrung dankbarer Zuhörer blickte der Gelehrte mit naivem Selbſtgefühl um ſich. Oft platzten die Geiſter rechthaberiſch, nach deutſcher Weiſe, aufeinander; der wiſſenſchaftliche Gegner ward leicht wie ein Tempelſchänder angeſehen, da Jeder mit ganzem Herzen an ſeiner Forſchung hing. Jedoch der ge - meine Ehrgeiz ergriff dieſe ſchlichten, genügſamen Menſchen wenig. Sie rechneten ſich’s zur Ehre den Glanz und das Behagen des äußeren Da - ſeins zu verachten; ſie glaubten noch alle an den ſtolzen Ausſpruch Schil - lers: und am Ende ſind wir ja Idealiſten und würden uns ſchämen uns nachſagen zu laſſen, daß uns die Dinge formten und nicht wir die Dinge.

Noch nach Jahrzehnten erzählte man in Tübingen von dem reichen Buchhändler Cotta, der zuerſt den unerhörten Luxus eines Sophas in die anſpruchsloſe Muſenſtadt eingeführt hatte. Die jugendliche Unfertig - keit unſerer Cultur, die von vielſeitiger großſtädtiſcher Geſelligkeit noch nichts wußte, kam der Andacht, der friedlichen Sammlung des wiſſen - ſchaftlichen Arbeitens zu gute. Wie einſt die claſſiſche Dichtung ſo blieb auch die neue Forſchung in ſtolzer Freiheit, faſt unberührt von Hofgunſt und amtlichem Einfluß; ſelbſt die hereinbrechende Demagogenverfolgung12II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.vermochte das innere Leben der Wiſſenſchaft nicht zu ſtören. Obgleich jetzt faſt alle deutſchen Staaten in rühmlichem Wetteifer tüchtige Lehrkräfte an ihre Landesuniverſitäten zu berufen ſuchten, ſo war doch in den Augen der Höfe und der Bureaukratie ſelbſt ein Gelehrter von europäiſchem Rufe nichts weiter als ein Profeſſor ohne Hofrang. Die Männer der Wiſſenſchaft dagegen ſahen mit dem ganzen Stolze des Idealismus auf die endlichen Zwecke des handelnden Lebens hernieder. Jeder Lehrer rieth den guten Köpfen unter ſeinen Schülern, ſich ganz der Wiſſenſchaft zu widmen; für die Handwerksarbeit des Soldaten und des Beamten, nun gar für die gründlich verachtete bürgerliche Geſchäftswelt ſchien der Mittel - ſchlag gut genug. Ein unverhältnißmäßig großer Theil der geiſtigen Kräfte der Nation wendete ſich der gelehrten Thätigkeit zu, und es bleibt ein ſchönes Zeugniß für die Fruchtbarkeit dieſes Geſchlechts, daß gleichwohl das Beamtenthum eben jetzt eine überraſchende Fülle von Talenten in ſeinen Reihen zählte.

Es ſtand noch immer wie vor ſiebzig Jahren: das politiſche Leben der Nation floß in unzähligen Strömen und Bächen zertheilt dahin; allein die Schriftſteller und Gelehrten redeten unmittelbar zu der ge - ſammten Nation. Darum fühlten ſie ſich auch als die berufenen Vertreter des Volkes und ſeiner höchſten Güter; nur ſehr langſam gelangten neben ihnen einzelne politiſche Männer zu allgemeinem Anſehen. Das ganze Zeitalter trug noch in Art und Unart den Charakter einer literariſchen Epoche. Auch jetzt noch erregte ein Gedicht von Goethe, eine ſcharfe Recen - ſion oder eine gelehrte Fehde, wie ſie zwiſchen den Symbolikern und den kritiſchen Philologen ausbrach, weit tiefere Theilnahme bei den führenden Geiſtern der Nation als irgend ein politiſches Ereigniß. Recht aus dem Herzen der romantiſchen Zeit heraus geſtand Karl Immermann: er ver - möge nicht einer parlamentariſchen Debatte aufmerkſam zu folgen, weil er ſich von ſolchen Abſtraktionen kein Bild machen könne. Die völlige Hingebung der freien Perſönlichkeit in den Dienſt des Staates blieb die - ſem Geſchlechte ebenſo widerwärtig wie das politiſche Parteileben mit ſei - ner freiwilligen Beſchränktheit, ſeinem grundſätzlich ungerechten Haſſe. Als höchſter Lebenszweck galt dem Deutſchen noch immer: ſich ſelber aus - zuleben, ſein Ich nach allen Seiten hin in freier Eigenart zu entfalten und, wie W. Humboldt ſagte, mehr auf das Thun als auf die That zu ſehen.

Obſchon die herrſchende Strömung der Zeit dem aufgeklärten Welt - bürgerthume der Jahre vor der Revolution geradeswegs zuwiderlief, ſo hatte ſich doch dies romantiſche Geſchlecht viele der menſchlich liebenswür - digen Tugenden des philoſophiſchen Jahrhunderts noch bewahrt. Mochten die jungen Teutonen prahleriſch wider den wälſchen Tand eifern: die Häupter der Wiſſenſchaft und Kunſt begrüßten noch, nach der echten alten deutſchen Art, dankbar und empfänglich jedes ſchöne Werk der Dichtung13Die literariſche Geſelligkeit.und der Forſchung, und wenn es auch aus dem geſcholtenen Frankreich kam. Trotz der myſtiſchen Schwärmerei der Zeit bewahrte man ſich die alte weitherzige Duldſamkeit. Die Gegenſätze des religiöſen Lebens hatten ſich noch nicht verhärtet; ſie griffen noch nicht, wie heutzutage, verfälſchend und verbitternd in die politiſche Parteiung ein. Niemand verwunderte ſich, wenn ein Liberaler zugleich ein ſtreng kirchlicher Chriſt war. Jeder - mann fand es in der Ordnung, daß die katholiſche Geiſtlichkeit der Ein - weihung einer evangeliſchen Kirche mit beiwohnte; ſelbſt eifrige Convertiten wie F. Schlegel, Stolberg, Klinckowſtröm blieben mit einem Theile ihrer alten proteſtantiſchen Freunde in herzlichem Verkehr. Der Kampf der literariſchen Parteien ſchloß die Anerkennung des menſchlichen Werthes der Gegner, die herzliche Freude über jeden glücklichen Fund nicht aus. Die lärmende Jugend brüſtete ſich mit ihrer germaniſchen Sittenſtrenge; die reifen Männer zeigten in ihrem ſittlichen Urtheile eine vornehme, frei - ſinnige Milde, die in Wahrheit weit deutſcher war. Nachſichtig gegen die menſchliche Schwäche, legten ſie geringen Werth auf den korrekten Lebens - wandel, der dem prüden Sinne der Gegenwart als das einzige Kenn - zeichen der Sittlichkeit gilt, und ließen einen heißblutigen Freund gern gewähren, wenn er nur mithalf bei der Arbeit freier Menſchenbildung und den Glauben an die göttliche Beſtimmung unſeres Geſchlechts nicht verlor.

Nicht ohne Grund ſahen die Poeten und Gelehrten mit Ironie auf die Proſa des Philiſterthums hernieder; ſie lebten in der That inmitten einer freien geiſtvollen Geſelligkeit, welche das Leben durch das heitere Spiel der Kunſt zu adeln wußte und das Schillerſche Ideal der äſtheti - ſchen Menſchen-Erziehung annähernd verwirklichte. Briefwechſel und Ge - ſpräch, die natürlichen Vermittler der Tageseindrücke, waren noch nicht durch die Zeitungen verdrängt. Noch beſtand die Grundlage aller ge - ſelligen Anmuth, der zwangloſe und häufige Verkehr zwiſchen den beiden Geſchlechtern, da die Frau den Gedanken des Mannes noch ganz zu folgen vermochte. Keine Stadt im Reiche, die nicht ihre Kunſtkenner, Sammler und Kritiker, ihre Liebhabertheater und äſthetiſchen Kränzchen beſaß. Wenn das muntere kleinſtädtiſche Völkchen ſich beim trüben Schim - mer der Talglichter zum einfachen Mahle verſammelte, dann ſteuerten Alle bei was ſie vermochten an Räthſeln und guten Einfällen, an Liedern und gereimten Trinkſprüchen denn für den poetiſchen Hausbedarf wußte jeder gebildete Deutſche längſt ſelber zu ſorgen. Eine heitere Sinnlichkeit erwärmte das geſellige Leben; beim Pfänderſpiele war noch ein Kuß in Ehren erlaubt; die frei und doch gut häuslich erzogenen jungen Mädchen geſtanden noch arglos ein, daß ihnen das Käthchen von Heilbronn ſo recht im Herzen wohlgefiel. Und wie viel Geiſt und Witz, wie viel übermüthige Laune und ſchwärmeriſche Begeiſterung regte ſich in den engeren Kreiſen der Eingeweihten: wenn Ludwig Devrient und Callot-Hoffmann in der14II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Weinſtube von Lutter und Wegner die ganze Nacht hindurch ihre tollen Bacchanale feierten, oder wenn Lobeck und die Königsberger Philologen mit Roſenkränzen im Haar beim Griechenweine zuſammenlagen und in helleniſcher Sprache von den Helden Homers, von dem glücklichen Eiland der Phäaken redeten. Der geſellige Verkehr bot, bei aller Ziererei und Ueberſchwänglichkeit, die mit unterlief, doch eine Fülle edler geiſtiger Ge - nüſſe, von denen in der Langeweile und dem öden Prunk der heutigen Geſellſchaft faſt allein die Muſik übrig geblieben iſt. Die Frauen, die in jenen Jahren jung geweſen, erſchienen noch im hohen Alter dem nach - wachſenden nüchterneren Geſchlechte wie verklärt durch einen poetiſchen Zauber, ſie gewannen alle Herzen mit ihrer unverwüſtlichen Liebenswür - digkeit, ihrem feinſinnigen Verſtändniß für alles Menſchliche.

Freilich verriethen ſich auch ſchon die Spuren des beginnenden Ver - falls. Die Literatur war längſt ins Kraut geſchoſſen; ſie bot ſich den Leſern an, während einſt die claſſiſchen Dichter immer nur herausgeſagt hatten, was der Nation ſchon halb bewußt in der Seele lag. Eine Maſſe trivialer Unterhaltungsſchriften ſuchte die Neugier und die Sinnlichkeit der Leſewelt auszubeuten; tiefere Naturen verfielen, da ſich in keinem Zweige der Dichtung ein nationaler Stil ausgebildet hatte, leicht auf will - kürliche, gewaltſame Experimente, ſo daß Goethe dieſe Jahre als die Epoche der forcirten Talente bezeichnete. Die modiſche Vermiſchung von Poeſie und Kritik erleichterte dem unfruchtbaren Dilettantismus ſich anmaßlich vorzudrängen. Wer in den Kreiſen der Romantik verkehrte, die Schlag - wörter der Schule nachſprach und zuweilen an dem Plane eines Dramas oder eines Epos grübelte, der hielt ſich für einen Dichter und vergaß das Bewußtſein ſeines Unvermögens über dem beliebten Troſte: das Dichten und Trachten mache den Künſtler, und Rafael wäre, auch ohne Hände geboren, der größte aller Maler geweſen. Das frevelhaft miß - brauchte Wort Genie ward ein Freibrief für jede Narrheit, jeden Ueber - muth. Bei dem geiſtreichen Spielen mit neuen Ideen und überraſchenden Geſichtspunkten ging der ſchlichte Menſchenverſtand leicht zu Grunde. Der Glaube an das ſchrankenloſe Recht der ſouveränen Perſönlichkeit, der all - gemeine Drang, nur ja den anderen Menſchen nicht zu gleichen, ver - führte die Einen zu ſittlicher Willkür, Andere zur eitlen Selbſtbeſpiegelung. Man belauſchte mit nervöſer Empfindſamkeit jeden Athemzug der eigenen ſchönen Seele. In den Briefen von Gentz und den Aufzeichnungen der Rahel Varnhagen ſpielt das Barometer die Rolle des geheimnißvollen Dämons, der dem Genie die finſtern und die lichten Stunden ſchenkt.

Die Literatur beherrſchte die Gedanken der Nation noch ſo vollſtändig, daß ſogar die großen Gegenſätze des politiſchen und des kirchlichen Lebens oft in gelehrten Streitigkeiten ihren Ausdruck fanden. So in den Kämpfen von Savigny und Thibaut, Voß und Stolberg. Wenn Gottfried Her - mann gegen Creuzer und die Symboliker zu Felde zog, ſo fühlte er ſich15Literatur und Politik.als einen Vorkämpfer der Freiheit gegen die tenebriones, die Dunkel - männer in Staat und Kirche. Auch die rein politiſchen Parteien, deren ſchwache Anfänge ſich endlich bildeten, gingen gradeswegs aus dem litera - riſchen Leben hervor. Das unmittelbare Eingreifen der politiſchen Theorie in die Geſchicke der Staaten, das die moderne Geſchichte ſo auffällig von den naiveren Zeiten des Alterthums und des Mittelalters unterſcheidet, zeigte ſich nirgends ſtärker als hier in dem Lande der Gelehrſamkeit. Nicht aus den Klaſſen-Intereſſen eines reichen und ſelbſtbewußten Bürgerthums entſprang der deutſche Liberalismus, ſondern aus den Schulbegriffen der Gelehrten. Mit jener unbeſtimmten hiſtoriſchen Sehnſucht nach den gro - ßen Tagen des alten Kaiſerthums, die zur Zeit der Fremdherrſchaft zu - erſt in den literariſchen Kreiſen entſtanden war, vermiſchten ſich allmählich die Lehren der neuen Philoſophie über das natürliche Recht der freien Perſönlichkeit, ſodann einige Sätze aus Montesquieu und Rouſſeau, end - lich auch ein gutes Theil unbewußter gelehrter Standesvorurtheile. So entſtand ein Syſtem von vernunftrechtlichen Begriffen, welche unſer Volk durch die Freiheit zu ſeiner alten Macht emporführen ſollten. Die Doktrin trat ſogleich, in Rottecks Schriften, fertig ausgearbeitet hervor wie das Lehrgebäude eines Philoſophen und erhob auch wie ein philoſophiſches Syſtem den Anſpruch, ſich in der Welt durchzuſetzen durch die Macht der Gründe, der theoretiſchen Unwiderleglichkeit. Der Sturz des napoleoni - ſchen Weltreichs daran beſtand unter den literariſchen Politikern kein Zweifel war allein gelungen durch die Macht der Ideen, die, in den Kreiſen der Wiſſenden geboren, dann das Volk ergriffen und endlich ſelbſt die widerſtrebenden Kronen mit fortgeriſſen hatten zum heiligen Kampfe. So ſchien auch Deutſchlands innere Befreiung wohlgeſichert, wenn ſich nur alle Patrioten die Heilswahrheiten der neuen conſtitutionellen Doktrin ganz zu eigen machten und an dieſem Bekenntniß mit der Ueberzeugungs - treue des Gelehrten oder des kirchlichen Märtyrers unerſchütterlich feſt - hielten. Daß der Staat Macht iſt und der Welt des Willens angehört, blieb dieſem Geſchlechte wohlmeinender Gelehrter noch ganz verborgen. Erſt nach Jahrzehnten voll ſchwerer Verirrungen und Enttäuſchungen ſollte das deutſche Parteileben der Wiege der Doktrin entwachſen und von der Politik des Bekenntniſſes ſich erheben zu der Politik der That.

In den romaniſchen Ländern hatte die Poeſie überall, wenn ſie ſich einmal zu claſſiſcher Vollendung erhob, dem Geiſte der Nation auf lange hinaus Form und Richtung gegeben. Der unbändige Trotz der Deut - ſchen wollte ſich ſelbſt während der goldenen Tage von Weimar niemals der Herrſchaft einer Regel beugen; noch als Schiller und Goethe auf der Höhe ihres Schaffens ſtanden, begann die Romantik bereits den Sturm - lauf gegen das claſſiſche Ideal. Während der Befreiungskriege verſtummte der literariſche Kampf; die Sorge um das Vaterland drängte alle anderen Gedanken zurück; die wenigen Schriften, die ſich in der wilden Zeit heraus -16II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.wagten, ſchienen alle einig in chriſtlich-vaterländiſcher Begeiſterung. Doch kaum war der Friede geſchloſſen, ſo brachen alle die ſchroffen Gegenſätze, welche das vielgeſtaltige deutſche Leben umſchloß, mit einem male wieder hervor. Selbſt halbverſchollene Gedanken aus den erſten Jahren der Revolution, Ideen die man längſt überwunden glaubte, traten wieder an das Tageslicht; denn es iſt das Loos jeder Literatur, die nicht mehr in der erſten Jugend ſteht, daß die Vergangenheit zuweilen wieder lebendig wird und die Schatten der Todten ſich in den Kampf der Lebendigen miſchen. Rationalismus und religiöſes Gefühl, Kritik und Myſtik, Na - turrecht und hiſtoriſche Staatslehre, nazareniſche und helleniſche Ideale, Volksthum und Weltbürgerthum, liberale und feudale Beſtrebungen be - kämpften und durchkreuzten ſich in ewigem Wechſel.

Nicht blos der ängſtliche Gentz klagte erſchrocken, die erſehnte Frie - denszeit habe den Deutſchen den Krieg Aller gegen Alle gebracht. Auch Arndt, der allezeit hoffnungsvolle, konnte ſein Entſetzen nicht verbergen, wenn er etwa an dem Hofe des jungen preußiſchen Kronprinzen Alexan - der Humboldt, den Vertreter der rein wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung, und daneben die Gebrüder Gerlach, die Heißſporne der chriſtlich-germa - niſchen Glaubensinbrunſt verkehren ſah; er fragte beſorgt, wie dies Volk bei ſo unermeßlichem Abſtande der Geſinnungen zum inneren Frieden, zur feſten Entſchließung gelangen ſolle. Auf die Dauer fand der geſunde Sinn der Nation freilich heraus was in dieſem anarchiſchen Durcheinander echt und lebensfähig war. Doch manches empfängliche Talent ging in dem Gewirr der Meinungen rathlos unter, und wer den Muth fand an den Kämpfen des deutſchen Geiſtes theilzunehmen, mußte auf ein entſagungs - volles Loos gefaßt ſein. Denn jeder bedeutende Kopf ward, auch wenn er hoch über dem Sektengeiſte ſtand, willig oder nicht, in den Streit der literariſchen Parteien hineingeriſſen, von den Einen auf den Schild ge - hoben, von den Anderen mit der ganzen Zügelloſigkeit deutſcher Tadel - ſucht mißhandelt; und nur wenn ihm ein hohes Alter beſchieden war, konnte er hoffen, wie Savigny und Uhland, auch bei den Gegnern ver - ſpätete Anerkennung zu finden.

Schon in den heiteren Jugendtagen der claſſiſchen Literatur hatte die Uebermacht der Kritik den freien Naturwuchs der Dichtung oft ge - hemmt. Vollends jetzt, nachdem Deutſchland ſiebzig Jahre lang faſt alle erdenklichen Kunſtſtile und noch mannichfachere äſthetiſche Theorien ver - ſucht hatte, zeigte ſich das künſtleriſche Schaffen von gelehrter Ueberbil - dung angekränkelt. Kein Zweig der Dichtung litt darunter ſchwerer als das Drama, das der Volksgunſt bedarf wie die Blume der Sonne. Goethe wußte wohl, warum er die anmaßenden Wortführer der Romantik17Dramatiſche Dichtung. ſehnſuchtsvolle Hungerleider nach dem Unerreichlichen nannte; ihnen fehlte, trotz ihrer geiſtreichen Einfälle und großen Abſichten, gänzlich die Gabe der Architektonik, die aufbauende und überzeugende Kraft des ſchöpfe - riſchen Genius. Obgleich ſie ſich vermaßen das claſſiſche Ideal durch eine volksthümliche Dichtung zu verdrängen, ſo blieben ihre Werke doch dem Volke fremd, das Eigenthum eines kleinen Kreiſes bewundernder Kenner. Die Kunſt galt ihnen als ein Zaubertrank, der, dem Philiſter ungenieß - bar, allein den Gottbegnadeten berauſchte, ſo daß der Trunkene der Wirk - lichkeit vergaß und das Leben wie ein tolles Maskenſpiel belächelte. Dieſe ſouveräne Ironie, die ſich rühmte den Scherz als Ernſt zu treiben, Ernſt als Spaß nur zu behandeln, widerte den geſunden Sinn der Menge an; denn das Volk will im Gewiſſen gepackt ſein und läßt mit ſeinen Gefühlen nicht ſpielen.

Unter den älteren deutſchen Dramatikern ließen die romantiſchen Kunſtrichter eigentlich nur Goethe gelten, und er hatte bei ſeinen reifſten Werken an die Bühne kaum gedacht; die ſtille, ſinnige Schönheit der Iphigenie und des Taſſo war nur der Andacht des Leſers völlig faßbar, ſie konnte durch die Aufführung wenig gewinnen. Leſſing wurde gar nicht mehr zu den Dichtern gerechnet, Schillers tragiſche Leidenſchaft als hohle Rhetorik verſpottet; auch der einzige geniale Dramatiker, der den roman - tiſchen Anſchauungen nahe ſtand, Heinrich von Kleiſt, blieb von der Kritik der Schule lange unbeachtet. Nun gar die beiden wirkſamſten Bühnen - ſchriftſteller der Zeit, die noch ein Jahrzehnt nach ihrem Tode das Theater beherrſchten, Iffland und Kotzebue, überſchüttete der romantiſche Hoch - muth mit einer ungerechten Geringſchätzung, welche die jungen Talente von der Bühne zurückſchrecken mußte. Man wollte an Jenem nur die ehrbare ſpießbürgerliche Empfindſamkeit, an Dieſem nur die Plattheit und die gemeine Geſinnung bemerken, doch weder ihr ungemeines techniſches Talent, noch die glückliche Gabe der leichten Erfindung, wodurch ſie Beide ihre dünkelhaften Tadler beſchämten. Von den dramatiſchen Verſuchen der eigentlichen Romantiker traten nur wenige vor die Lampen und ſie beſtanden alleſammt die Probe auf den Brettern ſchlecht. Die Führer der Schule kehrten bald der Bühne den Rücken, ſprachen mit Hohn von der gemeinen Proſa des theatraliſchen Erfolgs. Ganz unbekümmert um die Lebensbedingungen des modernen Theaters, das an fünf oder ſieben Abenden der Woche eine von des Lebens Plagen ermüdete Hörerſchaft befriedigen ſollte, baute ſich die dramaturgiſche Theorie ihre ſtolzen Wol - kengebilde und ſtellte überſpannte Anforderungen, denen ſogar die feſtliche Bühne der Hellenen nicht hätte genügen können.

So vertraulich wie einſt Shakeſpeare oder Moliere hatten ſelbſt die Heroen unſerer claſſiſchen Dichtung niemals zu der Bühne geſtanden. Jetzt aber ward der perſönliche Verkehr zwiſchen Dichtern und Schau - ſpielern immer ſeltener. Die dramatiſche Kunſt vergaß, daß ſie vor allenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 218II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.anderen den ſchönen Beruf hat ein Band der Einheit zu bilden zwiſchen den Höhen und den Niederungen der Geſellſchaft. In unſerem Volke entſtand nach und nach eine verhängnißvolle Spaltung, die bis zum heu - tigen Tage ein arges Gebrechen der deutſchen Geſittung geblieben iſt: von dem ſchauenden und hörenden ſonderte ſich das leſende Publicum vor - nehm ab. Das Theater mußte ſich einen guten Theil ſeines täglichen Bedarfs durch literariſche Handwerker liefern laſſen; Schauerdramen und ſchlechte Ueberſetzungen aus dem Franzöſiſchen lockten die Schauluſt der Menge. Wer ſich zu dem auserwählten Kreiſe der wahren Dichter zählte, trug meiſt allzu ſchwer an dem Gepäck der äſthetiſchen Doktrin, um noch ſo dreiſt zugreifen, ſo herzlich lachen zu können wie es die Bühne von ihren Beherrſchern fordert, und legte ſeine dramatiſchen Gedanken in Bücherdramen nieder. Dieſe Zwittergattung der Poeſie, deren die über - reiche moderne Bildung allerdings nicht gänzlich entbehren kann, gedieh in Deutſchland üppiger als in irgend einem anderen Volke. Hier, auf dem geduldigen Papiere fanden alle die verzwickten Theoreme und phan - taſtiſchen Einfälle der eigenſinnigen deutſchen Köpfe freien Raum: Tragi - komödien und Märchendramen, in denen alle erdenklichen Versmaße und Arienmelodien wirr durcheinander klangen; geheimnißvolle Anſpielungen, die nur der Dichter ſelbſt mit ſeinen Vertrauten verſtand; literariſche Satiren, die ſtatt des Weltenbildes nur ein Bild des Bilds der Welt gaben; endlich exotiſche Dichtungen aller Art, die ſich wie Ueberſetzungen leſen ſollten.

Unter den ausländiſchen Vorbildern ſtand Calderon nach dem Ur - theil der Eingeweihten obenan. Die deutſchen Weltbürger wollten nicht ſehen, daß dieſer rein nationale Dichter eben darum zu den Claſſikern zählt, weil er die Ideale ſeiner Zeit und ſeines Volkes künſtleriſch ge - ſtaltet hat; ſie ahmten ſklaviſch ſeine ſüdländiſchen Formen nach, die in unſerer nordiſchen Sprache einen opernhaften, ſchlechthin undramatiſchen Klang annahmen, und trugen die conventionellen Ehrbegriffe des katholi - ſchen Ritterthums in die freie proteſtantiſche Welt hinüber. Viel Geiſt und Kraft ward an ſolche Künſteleien vergeudet; am letzten Ende bewirkte das anſpruchsvolle Treiben nichts als die Zerſtörung aller überlieferten dramatiſchen Kunſtformen. Die Poeten aber gewöhnten ſich mit ſtolzer Bitterkeit in die undankbare Welt zu blicken. Deutſchland wurde das claſſiſche Land der verkannten Talente. Die Ueberzahl der unbefriedigten Schriftſteller bildete eine Macht des Unfriedens in der Geſellſchaft, ſie nährte den nationalen Fehler der tadelſüchtigen, hoffnungsloſen Verdroſſen - heit und hat ſpäterhin, als die politiſchen Leidenſchaften erwachten, viel zur Verbitterung des Parteikampfes beigetragen.

Bis zum Fratzenhaften geſteigert erſchienen die ſittlichen und äſtheti - ſchen Schwächen der romantiſchen Epigonen in dem zerfahrenen Leben Zacharias Werners; ſein dramatiſches Talent ging ruhmlos unter, weil19Die Schickſalstragödie.die männliche Kunſt der Dramatik einen ganzen Mann verlangt. Sein Leben lang ſchwankte er friedlos hin und her zwiſchen wüſten Begierden und überſchwänglicher Verzückung, zwiſchen cyniſcher Gemeinheit und einer weinerlichen Gefühlsſchwelgerei, die ſich’s nicht verſagen konnte am Grabe eines Hundes für den Seelenfrieden des Entſchlafenen zu beten. Da ſein zerriſſenes Gemüth bei Gott und dem heiligen Rouſſeau keinen Troſt fand, ſo flüchtete er ſich endlich zu Rom in den Schooß der alten Kirche und klammerte ſich in krampfhafter Angſt an den Felſen Petri an. Wenn der kritiſche Verſtand des Oſtpreußen zuweilen erwachte, wenn ihm das Blutfeſt des heiligen Januarius wie ein peruaniſcher Götzendienſt vorkam, ſo betäubte er die Zweifel durch das Getöſe ekſtatiſcher Aus - rufungen. Dann kam er nach Wien, in den Tagen da der rührige Pater Hoffbauer in der lebensluſtigen Stadt zum erſten male wieder eine ſtreng kirchliche Partei begründet und eine Schaar von Convertiten um ſich ge - ſammelt hatte; er ging auf alle Anſchauungen dieſer clericalen Kreiſe freudig ein und trat den Freiheitsgeſängen der norddeutſchen Jugend ent - gegen mit dem Liede: das Feldgeſchrei ſei: alte Zeit wird neu! Zur Zeit des Congreſſes ward er der Modeprediger der vornehmen Welt. Halb zerknirſcht, halb ergötzt lauſchte das elegante Wien, wenn der lange hagere Prieſter mit den unheimlichen dunklen Augen ſeine gewaltige Baßſtimme erſchallen ließ und bald in glühenden Farben den Schwefelpfuhl der ewigen Verdammniß, bald mit gründlicher Sachkenntniß und ſchlecht ver - hehltem Behagen die Verirrungen der Sinnlichkeit ſchilderte. Wie ſeinem Leben ſo fehlte auch ſeinem dichteriſchen Schaffen die Entwicklung und Läuterung. Seine Jugenddramen bekundeten ein ſtarkes realiſtiſches Ta - lent und lebendigen Sinn für hiſtoriſche Größe; in einzelnen Scenen der Weihe der Kraft trat die mächtige Geſtalt Martin Luthers, das hoch - gemuthe, farbenreiche Leben unſeres ſechzehnten Jahrhunderts markig und anſchaulich heraus. Dicht daneben lag freilich eine krankhafte Luſt am Spukhaften, Scheußlichen und Wilden; jene räthſelhafte Verbindung von Glaubenswuth, Wolluſt und Blutdurſt, die uns in den Naturreligionen unreifer Völker anwidert, ſchien in dem unſeligen Menſchen wieder lebendig zu werden. Nach ſeinem Uebertritte nahm er mit bußfertigem Eifer ſein beſtes Werk zurück und ſchrieb eine klägliche Weihe der Unkraft . In ſeinem letzten Drama die Mutter der Makkabäer verrieth ſich ſchon die Gewiſſenloſigkeit eines halb umnachteten Geiſtes, der hinter ſchwülſtigen Hymnen und grell gemalten Märtyrerbildern die Armuth ſeines religiöſen Gefühles zu verbergen ſuchte.

Wirkſamer als Werners hiſtoriſche Trauerſpiele wurde ſeine im Jahre 1815 veröffentlichte Schickſalstragödie der vierundzwanzigſte Februar , ein auf die Erregung körperlichen Schauders berechnetes Virtuoſenſtück. Das tragiſche Schickſal ergab ſich hier nicht mit innerer Nothwendigkeit aus dem Charakter der Handelnden, ſondern aus dem räthſelhaften Zauber2*20II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.eines verhängnißvollen Jahrestags, und der verwunderte Leſer trug, ſtatt der erhebenden Einſicht in die Vernunft der ſittlichen Welt, nur ein Ge - fühl rathloſen Entſetzens davon. Da die Neuheit dieſes tollen Einfalls Aufſehen erregte und die romantiſche Welt ohnehin geneigt war, im Aber - witze den tiefſten Sinn zu ſuchen, ſo fand ſich bald ein geſchickter Macher, der die Schrulle nach deutſcher Unart in ein Syſtem brachte. Der Wei - ßenfelſer Advocat Adolf Müllner verfertigte ein Drama die Schuld und entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick - ſalstragödie: eine höhere Weltordnung, räthſelhafter noch als das blinde Schickſal der Alten, ſollte in das irdiſche Leben hineinragen und durch den albernen Zufall, durch eine zerſpringende Saite, einen unheilvollen Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben ſtürzen. So ward denn Alles, was die proteſtantiſche Welt je über tragiſche Schuld und Zurechnung gedacht, durch die zügelloſe Neuerungsluſt der romanti - ſchen Doktrin wieder in Frage geſtellt, und es ſchien, als ſollte unſere tragiſche Kunſt geradezu in Selbſtvernichtung enden. Müllner richtete ſich in drei literariſchen Zeitſchriften zugleich häuslich ein, pries mit lau - tem Marktgeſchrei die lange Reihe ſeiner eigenen Werke und erſchreckte die Gegner durch unfläthige Grobheit, ſo daß Goethe zürnte: Der Edle mault nur um das Maul den Andern zu verbieten. Einige Jahre lang behauptete der grundproſaiſche Menſch den angemaßten Thron; und ſo feſt ſtand noch das Anſehen der deutſchen Dichtung in der Welt, daß ſelbſt ausländiſche Blätter gläubig von der neuen dramatiſchen Offen - barung ſprachen. Dann verfiel auch die Schickſalstragödie dem unab - wendbaren Looſe der geſpreizten Nichtigkeit: das Publikum begann ſich zu langweilen und wendete ſich anderen Moden zu.

Unter dem Verfalle der dramatiſchen Dichtung litt auch die Schau - ſpielkunſt. Wie viele geiſtvolle Abhandlungen über das Theater als natio - nale Erziehungsanſtalt waren nun ſchon erſchienen, und doch hatte bisher unter allen deutſchen Staatsmännern nur Stein ſich dieſen Gedanken angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der Bühne verpflichtet ſei. Er ſtellte, als er bei ſeinem Abgange die veränderte Organiſation der preußiſchen Behörden vorzeichnete, die Theater gleich der Akademie der Künſte unter das Departement des Cultus und des Unter - richts; doch kaum zwei Jahre ſpäter wurden ſie durch Hardenberg wieder in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanſtalten verwieſen und, mit Ausnahme der Hoftheater, der Aufſicht der Polizei unterworfen. Die Unterſtützung der großen Bühnen in den Reſidenzſtädten galt allgemein als perſönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es zeigte ſich bald, daß dieſe Theater von der Freigebigkeit kunſtfreundlicher Fürſten immerhin noch mehr zu erwarten hatten, als von der ſparſamen Kleinbürgergeſin - nung der neuen Landtage. Kaum war die Stuttgarter Bühne im Jahre 1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwieſen21Die Schauſpielkunſt.worden, ſo begannen die Landſtände bereits über Verſchwendung zu klagen und willigten ſchon nach drei Jahren freudig ein, als der König ſich be - reit erklärte die Unterhaltung des Hoftheaters wieder aus der Civilliſte zu beſtreiten. Die Monarchen ſorgten meiſt mit rühmlichem Eifer für die äußere Ausſtattung ihrer Theater ſowie für die Berufung einzelner bedeutender Kräfte; die alten ſocialen Vorurtheile gegen den Schauſpieler - ſtand begannen ſich zu mildern ſeit man die Bühne in ſo nahem Verkehre mit den Höfen ſah.

Gleichwohl hat die Schauſpielkunſt durch die Hoftheater wenig ge - wonnen. Nach Ifflands Tode betraute König Friedrich Wilhelm den Grafen Brühl mit der Leitung der Berliner Hofbühnen, einen liebens - würdigen, feingebildeten Mann, der aber weder dramatiſcher Dichter noch Schauſpieler war und ſich nur mit dem Eifer des geiſtreichen Kenners die ſtrengen claſſiſchen Grundſätze der Weimariſchen Theaterſchule ange - eignet hatte. Das gefährliche Beiſpiel fand raſche Nachfolge; bald wurde an allen Höfen das Amt des Theater-Intendanten zu den hohen Hof - würden gezählt, die Leitung der größten deutſchen Theater ging den ge - ſchulten Fachmännern verloren und fiel in die Hände hochgeborener Dilet - tanten.

Wohl hielten die guten Ueberlieferungen aus der alten Zeit noch eine Weile vor. Der Mangel an ſchönen neuen Stücken ward noch nicht allzu fühlbar, da die Dramen der claſſiſchen Epoche noch auf allgemeine Theilnahme rechnen konnten und Shakeſpeares Werke jetzt erſt auf der deutſchen Bühne ſich völlig einbürgerten. Die Hoftheater von Berlin, München, Karlsruhe, Braunſchweig zeichneten ſich durch manche tüchtige Leiſtungen aus, ebenſo das altberühmte Hamburger und das neue Leipziger Stadttheater. In Berlin fand die realiſtiſche Richtung, die hier einſt durch Fleck die Herrſchaft erlangt hatte, an Ludwig Devrient einen ge - nialen Vertreter. Welche grauenhafte, diaboliſche Kraft lag in ſeinem Richard III., welcher Uebermuth naturwüchſigen Humors in ſeinem Fal - ſtaff! Faſt erſtaunlicher noch, wie er ſelbſt kleine Nebenrollen zu heben wußte; als Knecht Gottſchalk im Käthchen von Heilbronn traf er den Ton der einfältigen Treue und Wahrhaftigkeit ſo wunderbar glücklich, daß den Hörern die ganze unverſtümmelte Kraft und Größe des alten deutſchen Lebens mit einem male vor die Seele trat. Jedoch die feſte künſtleriſche Zucht der Bühne lockerte ſich nach und nach. Die neue romantiſche Sit - tenlehre ermuthigte jedes Talent ſich rückſichtslos vorzudrängen und ſeine Eigenart durchzuſetzen; die vornehmen Intendanten aber beſaßen weder die Sachkenntniß um durch das eigene Beiſpiel die Einheit des Stiles in der Truppe aufrechtzuhalten, noch das Anſehen um die Mitglieder in ihre Schranken zurückzuweiſen. Ein ſo gleichmäßig durchgebildetes und abge - rundetes Zuſammenſpiel, wie es einſt die Hamburger zu Ekhofs, die Berliner zu Ifflands Zeiten entzückt hatte, brachten die glänzenden neuen22II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Hoftheater nicht mehr zu Stande. Zudem hatte ſich die Theaterkritik ſchon längſt wie ein ſchädlicher Schwamm an den geſunden Baum der dramatiſchen Kunſt angeſetzt. Schon ward es zur Regel, daß der ſtreb - ſame Gymnaſiaſt oder Student ſich durch Theaterbeſprechungen ſeine lite - rariſchen Sporen verdiente; faſt jeder gebildete Mann übte ſich gelegentlich in dem traurigen Handwerke des kritiſchen Spielverderbers. Weitaus die meiſten dieſer Recenſenten verfolgten lediglich den Zweck, durch hoch - müthigen Tadel ſich ſelber ein Anſehen zu geben oder auch auf dem Theater Parteikämpfe anzuzetteln, an denen das kleinſtädtiſche Publikum mit leidenſchaftlichem Eifer theilnahm. Das Unweſen wuchs noch als die politiſchen Verfolgungen hereinbrachen. Seitdem blieb die Theaterkritik das einzige Gebiet, auf dem ſich die Federn der Tagesſchriftſteller frei ergehen durften; denn, ſo ſagte der Miniſter Graf Bernſtorff, einen Knochen muß man den biſſigen Hunden doch laſſen!

Nur zwei Dichtern dieſes Zeitraums iſt es gelungen, das Theater durch bühnengerechte Werke von bleibendem Kunſtwerthe zu bereichern. Es waren die beiden erſten Oeſterreicher ſeit dem dreißigjährigen Kriege, die ſich in der Geſchichte der deutſchen Poeſie einen ehrenvollen Platz er - warben. Wie einſt im dreizehnten Jahrhundert dieſe entlegenen Donau - lande zu unſerem Heile das alte deutſche Volksepos bewahrten, während das übrige Deutſchland ſich längſt ſchon der ritterlichen Dichtung zuge - wendet hatte, ſo waren ſie jetzt wieder faſt unberührt geblieben von dem Gedankenreichthum, aber auch von den Irrthümern und der doktrinären Ueberbildung unſerer literariſchen Revolution. Als nun endlich einzelne gute Köpfe in Oeſterreich auf die Welt von neuen Ideen, welche den Deutſchen aufgegangen war, aufmerkſam wurden, da ſtanden ſie den Schlagworten unſerer literariſchen Parteien in glücklicher Freiheit gegen - über. Sie konnten in der Ferne, unbefangener als die Deutſchen im Reiche, das Echte und Große aus der gewaltigen Bewegung herausfinden. Sie hatten vor ſich ein ſchauluſtiges, dankbar empfängliches Publikum, deſſen naive, kräftige Sinnlichkeit noch nicht durch gelehrte Kritik ver - dorben war, und dazu das ſchöne Beiſpiel der großen Muſiker Oeſter - reichs, die ja alleſammt den goldenen Boden des Handwerks in Ehren hielten und ſich nicht zu gut dünkten ſchlicht und recht für die Bühne zu arbeiten.

Eben jetzt begann das Burgtheater unter Schreyvogels kundiger Lei - tung alle deutſchen Bühnen zu überflügeln. Hier lernten die Wiener, in künſtleriſch durchgebildeter und doch einfacher Darſtellung, die ſchön - ſten Dramen Deutſchlands kennen; ſelbſt ausländiſche Werke wußte der treffliche Dramaturg durch geſchickte Bearbeitung dem deutſchen Gefühle ſo nahe zu bringen, daß Moretos Donna Diana den Zuſchauern bei - nah ſo vertraut erſchien wie ein heimiſches Luſtſpiel. Hier war kein Boden für grübelnde Künſtelei. So iſt denn auch Franz Grillparzer von23Grillparzer. Raimund.der theoretiſchen Ueberklugheit der deutſchen Romantik nur einmal ange - ſteckt worden. Sein Erſtlingswerk, die Ahnfrau, war eine Schickſals - tragödie; nicht die freie That des Helden ſondern tief verhüllte finſtre Mächte führten das tragiſche Verhängniß herauf. Jedoch die Pracht der Sprache und die Gluth der Leidenſchaft, das ſtürmiſche Fortſchreiten der Handlung und die merkwürdig frühreife Sicherheit der Technik ließen den verſchrobenen Grundgedanken faſt vergeſſen. Und alsbald riß ſich der geſunde Sinn des Dichters aus den Feſſeln der Müllnerſchen Kunſt - theorien völlig los. In ſeinen Trauerſpielen Sappho und das goldene Vließ zeigten ſich reine Form und ſcharfe Charakterzeichnung, deutſcher Ernſt und die ſchöne warme Sinnlichkeit des Altöſterreichers, claſſiſche und romantiſche Ideale glücklich verſchmolzen. Goethe blieb ihm fortan der mit kindlicher Andacht geliebte Meiſter, Weimar der geweihte Heerd des deutſchen Lebens. Größeres als den dämoniſchen Charakter der Medea hat Grillparzer in den hiſtoriſchen Dramen ſeiner ſpäteren Zeit nicht mehr geſchaffen; eine ſtetige Entwicklung blieb ihm trotz des höchſten Künſtler - fleißes verſagt. Er war nicht einer jener mächtigen Geiſter, die in un - aufhaltſamem Aufſteigen nach und nach immer weitere Kreiſe der Welt mit dem Lichte ihrer Ideen beſtrahlen, aber eine gemüthvolle, ſchamhafte Künſtlernatur, ein echter Dichter, der auch in den Zeiten des Verfalls die bewährten alten Grundſätze des dramatiſchen Idealismus mit unbe - irrter Treue bewahrte, der würdige Herold der neuen deutſchen Poeſie in Oeſterreich.

Bald nachher eroberte ein anderer Oeſterreicher, Ferdinand Raimund der deutſchen dramatiſchen Kunſt ein neues Gebiet. Der hatte ſeit Jahren als Komiker auf dem Leopoldſtädter Theater ſein harmloſes Publikum durch meiſterhaftes Spiel entzückt, und als er nun in aller Beſcheiden - heit ſich anſchickte ſeine kleine Bühne ſelber mit neuen Stoffen zu ver - ſorgen, da ſchuf er nicht, wie die meiſten dichtenden Schauſpieler, klug berechnete Zugſtücke mit dankbaren Rollen, ſondern volksthümliche Kunſt - werke. Er wurde der Schöpfer der neuen Zauberpoſſe, ſeit Hans Sach - ſens Zeiten der erſte deutſche Poet, der in Wahrheit das ganze Volk an die Bühne zu feſſeln verſtand und die Maſſen ergötzte durch Dichtungen, an denen auch der gebildete Sinn ſich eine Weile erfreuen und erwärmen konnte. Die Luſt am Fabuliren war dieſem Wiener Kinde angeboren; gradeswegs aus dem Getümmel des Volkslebens griff er ſich ſeine luſtigen Geſtalten heraus, unerſchöpflich in jenen gutmüthigen Schwänken und dämiſchen Späßen, die der Oeſterreicher und der Oberſachſe mit dem glückſeligen Ausrufe: nein, das iſt zu dumm! zu begrüßen pflegt. Aber hinter dem ausgelaſſenen, neckiſchen Treiben verrieth ſich der unter Thrä - nen lächelnde Humor eines tiefen Gemüthes. Und wie feſt ſtand noch der alte deutſche ſittliche Idealismus in jenen unſchuldigen Tagen des ſocialen Friedens! Immer wieder kam Raimund auf die Frage nach dem24II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.wahren Glücke des Lebens zurück, die dem beladenen kleinen Manne die höchſte aller ſittlichen Fragen bleibt; und immer wieder, mochte er nun den Verſchwender, den Menſchenfeind oder den Bauer als Millionär vor - führen, ließ er ſeine Hörer empfinden, daß alles Glück in dem Frieden der Seele liegt. Und die Maſſe glaubte ihm; die alten deutſchen Volks - lieder zum Preiſe der fröhlichen Armuth waren noch nicht vergeſſen. Unter den zahlreichen Nachahmern des anſpruchsloſen Volksdichters kam keiner dem Meiſter gleich. Das Volksluſtſpiel verwilderte ſchnell; die ſaftige Derbheit ſank zur Liederlichkeit, der gemüthliche Scherz zum öden Wortwitze, die kindliche Einfalt zur Plattheit herab. Weit ſpäter erſt, in einer Zeit erbitterter politiſcher und ſocialer Kämpfe, iſt in Norddeutſch - land eine neue Form der Poſſe entſtanden, die an Witz und Schärfe jene unſchuldigen Zaubermärchen ebenſo weit übertraf, wie ſie an Humor und poetiſchem Gehalt hinter ihnen zurückblieb.

Für die erzählende Dichtung wurde die unerſättliche Schreib - und Leſeſucht des Zeitalters zu einer Quelle ſchwerer Verſuchungen. Niemals früher hatte ſich eine ſolche Unzahl betriebſamer Federn auf allen Ge - bieten der Literatur zugleich getummelt. Der Meßkatalog der Leipziger Buchhändler ſchwoll zu einem unförmlichen Bande an. In jedem Städt - chen ſorgte eine Leihbibliothek für die Unterhaltung der Leſewelt. Die Anſtandsgewohnheiten des altbegründeten Wohlſtandes konnten ſich in dem verarmten Lande noch nicht ausbilden; die Deutſchen fanden kein Arg daran, daß ſie mehr laſen und weniger Bücher kauften als irgend ein anderes Volk. Indeß erzielten einzelne Werke bereits einen ſtarken, nach den Begriffen der alten Zeit unerhörten Abſatz: ſo Rottecks Welt - geſchichte, Zſchokkes Stunden der Andacht und die Ueberſetzung von Walter Scotts Romanen. Im Jahre 1817 kehrte Friedrich König, der Erfinder der Schnellpreſſe, in die Heimath zurück und begründete dann in Oberzell bei Würzburg ſeine große Fabrik, welche dem Buchhandel ermöglichte für das Maſſenbedürfniß zu arbeiten. Und da man ſich allgemach gewöhnte alles Neue aus dem ganzen Bereiche der Wiſſenſchaft und Kunſt gierig herunterzuſchlingen, ſo ward man bald unzufrieden mit dem einfachen claſſiſchen Unterrichte, auf deſſen fruchtbarem Boden die neue deutſche Cultur emporgeblüht war. Es genügte nicht mehr, dem Geiſte eine ſtrenge formale Bildung zu geben, ſo daß er fähig ward aus einem engen Kreiſe wohlgeſicherter Kenntniſſe nach und nach frei und ſtetig hinauszuwachſen, neues Wiſſen ſich durch ſelbſtändige Arbeit anzueignen. Man forderte unter dem wohllautenden Namen der realiſtiſchen Bildung das Anſam - meln einer bunten Fülle unzuſammenhängender Notizen, ſo daß Jeder über Jedes mitreden konnte. Das einfache Bekenntniß der Unwiſſenheit galt für beſchämend; Niemand wollte zurückſtehen, wenn das Geſpräch in raſchem Wechſel von der Schickſalstragödie auf die ſpaniſche Verfaſſung, von der Phrenologie auf die neuen engliſchen Dampfmaſchinen hinüberſprang.

25Schreib - und Leſeſucht.

Mit dem ſicheren Blicke des erfahrenen Buchhändlers erſpähte der rührige F. A. Brockhaus dieſen mächtigen Zug der Zeit und ließ ſeit dem Jahre 1818 ein älteres, bisher wenig beachtetes Sammelwerk zu einem großen Converſationslexikon umarbeiten, das in angenehmer alpha - betiſcher Reihenfolge dem gebildeten Deutſchen alles Wiſſenswerthe hand - lich vorlegte. Es war der Anfang jener maſſenhaften Eſelsbrücken-Lite - ratur, welche das neunzehnte Jahrhundert nicht zu ſeinem Vortheil aus - zeichnet. Das Unternehmen, ſo undeutſch wie ſein Name, fand doch Anklang in weiten Kreiſen und bald zahlreiche Nachahmer; ganz ohne ſolche Krücken konnte ſich dies mit der Erbſchaft ſo vieler Jahrhunderte belaſtete Geſchlecht nicht mehr behelfen. Niebuhr aber beobachtete mit unverhohlenem Entſetzen die Wandlung, die ſich in der Geſittung der Nation allmählich vorbereitete; er ſah voraus, wie friedlos, leer und zer - fahren, wie unſelbſtändig in ihrem Denken die moderne Welt werden mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb - und Vielwiſſens, das Verlangen nach immer wechſelnden Eindrücken überhandnahm. Auch Goethe wußte, daß hier die ſchlimmſte Gefahr für die Cultur des neuen Jahrhunderts lag, und ſchrieb die ernſte Warnung:

Daß nur immer in Erneuung
Jeder täglich Neues höre,
Und zugleich auch die Zerſtreuung
Jeden in ſich ſelbſt zerſtöre!

In einer ſo leſeluſtigen Welt ſtumpfte ſich der feine Formenſinn ſchnell ab. Man trachtete vor Allem nach ſtofflichem Reiz, und da jede Zeit die Schriftſteller hat, welche ſie verlangt und verdient, ſo fand ſich auch ein Heer von rührigen Romanſchreibern, die ſich begnügten für den Zeit - vertreib zu ſorgen und einige Jahre lang in den kritiſchen Blättern ge - nannt zu werden. Es blieb fortan ein unterſcheidender Charakterzug des neuen Jahrhunderts, daß die Werke der Poeſie wie vereinzelte Goldkörner in einem ungeheueren Schutthaufen werthloſer Unterhaltungsſchriften ver - ſteckt lagen und immer erſt nach längerer Zeit aus der Maſſe des tauben Geſteins herausgefunden wurden. Nur war es in jenen anſpruchsloſen Tagen nicht wie heute die induſtrielle Betriebſamkeit, was ſo viele Un - berufene auf den deutſchen Parnaß führte, ſondern in der Regel die Eitelkeit und die literariſche Mode. Wie in der dramatiſchen ſo zeigten auch in der Roman - und Novellendichtung die poetiſchen Naturen ſelten das Talent der Compoſition, während die Virtuoſen der ſpannenden und feſſelnden Erzählung ebenſo ſelten die geſtaltende Kraft des Dichters be - währten.

Durch die ſtrenge Wahrhaftigkeit des Krieges war jene weinerliche Gefühlsſeligkeit, die ſich einſt vornehmlich an Jean Pauls Schriften ge - nährt hatte, auf kurze Zeit zurückgedrängt worden. Jetzt gewann ſie wieder Raum; in vielen Häuſern Norddeutſchlands herrſchte ein abge -26II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſchmackt ſüßlicher Ton. Manche kräftige Männer des heutigen Geſchlechts, welche einſt in dieſer ſentimentalen Luft aufwuchſen, wurden dadurch mit einem ſolchen Ekel erfüllt, daß ſie ihr Leben lang jeden Ausdruck erregter Empfindung vermieden. Der weichliche Vielſchreiber H. Clauren ſagte dem Geſchmacke der großen Leſewelt am Beſten zu. Die eleganten Damen erfreuten ſich an den verhimmelten Stahlſtichen und den rührenden No - vellen der modiſchen Taſchenbücher; Urania, Aurora, Alpenroſen, Ver - gißmeinnicht oder Immergrün ſtand auf den Titelblättern der zierlichen goldgeränderten Bändchen zu leſen. Oberſachſen, das vormals ſo oft durch ſtarke reformatoriſche Geiſter entſcheidend in den Gedankengang der Nation eingegriffen hatte, wurde für einige Jahrzehnte der Hauptſitz dieſer Unterhaltungsliteratur; es war, als ob die einſt von dem jungen Goethe verſpottete Gottſched-Weiße-Gellertſche Waſſerfluth wieder über das ſchöne Land hereinbräche. In Dresden kamen Friedrich Kind und Theodor Hell mit einigen anderen ebenſo ſanftmüthigen Poeten allwöchentlich zum Dich - terthee zuſammen und bewunderten mit unwandelbarer Höflichkeit wechſel - ſeitig ihre faden, des chineſiſchen Getränkes würdigen Novellen, die ſodann in der vielgeleſenen Abendzeitung veröffentlicht wurden. Friedrich Böt - tiger aber, der unaufhaltſamſte der Recenſenten, beeilte ſich, wie Goethe ſagte, den Lumpenbrei der Pfuſcher und der Schmierer zum Meiſterwerk zu ſtempeln.

Ludwig Tieck, der ebenfalls in die liebliche Elbeſtadt übergeſiedelt war, zog ſich von dieſem leeren Treiben vornehm zurück. An ihm ward offenbar, daß die geheimnißvolle Poeſie der Poeſie , deren die Roman - tiker ſich rühmten, im Grunde nur geiſtreiche Kennerſchaft war. Er zählte, obwohl ihn ſeine Bewunderer dicht hinter Goethe ſtellten, doch zu den Naturen, die mehr ſind als ſie leiſten. Da er von dem über - mächtigen ſchöpferiſchen Drange des Dichters jetzt nur noch ſelten ergriffen ward, ſo warf er ſich mit ſchönem Eifer, mit ſeiner geprieſenen ſchnellen Fühlbarkeit auf die Erforſchung der Shakeſpeariſchen Dramatik. Was er in Wort und Schrift für die Erklärung und Nachbildung des großen Briten that ward in Wahrheit fruchtbarer für das deutſche Leben als die formloſen Romane und die literariſch-ſatiriſchen Märchendramen ſeiner Jugend, die eben darum nicht als naive Kinder der Phantaſie erſchienen, weil ſie mit bewußter Abſichtlichkeit ſelber ſagten, daß ihnen der Ver - ſtand ſo gänzlich fehle . Wie vielen jungen Poeten und Schauſpielern iſt in dem alten Hauſe am Altmarkte die erſte Ahnung von dem eigent - lichen Weſen der Kunſt aufgegangen, wenn der Dichter an ſeinen vielge - rühmten Leſeabenden mit wahrhaft congenialer Kraft die ganze Welt der Shakeſpeariſchen Geſtalten in der Fülle ihres Lebens den Hörern vor die Seele führte. Der junge Graf Wolf Baudiſſin fand es bald unbegreif - lich, wie er nur hätte leben können bevor er dieſen Mann gekannt. Tieck war früh berühmt geworden und erſchien ſchon im Mannesalter wie ein27C. Brentano.Patriarch der deutſchen Poeſie. Gütig, mit theilnehmendem Verſtändniß nahm der gichtbrüchige Mann mit den hellen Dichteraugen die Jungen auf, die zu ihm wallfahrteten, und wenngleich in ſeinen geiſtvollen Worten mancher ſeltſame Einfall mit unterlief, ſo blieb ſein Blick doch auf die Höhen der Menſchheit gerichtet; immer wieder verwies er die Jugend an die heil’gen Vier, die Meiſter der neuen Kunſt, Dante, Cervantes, Shakeſpeare und Goethe. Erſt nach Jahren kehrte er wieder ſelbſt zur Dichtung zurück. Noch mehr als Tieck hatten ſich die Brüder Schlegel dem poetiſchen Schaffen entfremdet. Friedrich verſank ganz in dem Ge - triebe der ultramontanen Politik. Auguſt Wilhelm lebte in Bonn ſeinen literarhiſtoriſchen und philologiſchen Studien, eine Zierde der neuen rhei - niſchen Hochſchule; den Studenten blieb der kleine ſtutzerhafte alte Herr doch immer ehrwürdig als der Vertreter einer reichen Epoche, auf deren Schultern die neue Wiſſenſchaft ſtand.

Nur jenen jüngeren Poeten, die ſich einſt in Heidelberg zuſammen - gefunden hatten, verſiegte die dichteriſche Ader nicht. Tiefer als Clemens Brentano war Niemand in die Irrgärten des romantiſchen Spiel - und Traumlebens hineingerathen. Halb Schalk halb Schwärmer, heute über - müthig bis zur Tollheit, morgen zerknirſcht und bußfertig, ſich ſelber und der Welt ein Räthſel, trieb ſich der Ruheloſe bald in den katholiſchen Städten des Südens umher, bald tauchte er in Berlin auf um den Ge - brüdern Gerlach und den anderen chriſtlich-germaniſchen Genoſſen der Maikäfer-Geſellſchaft ſeine Abhandlung über die Philiſter, die kecke Kriegs - erklärung der Romantik wider die Welt der Wirklichkeit, vorzuleſen. Den Befreiungskrieg begrüßte er mit lautem Jubel, doch konnte er ſo wenig wie Z. Werner ſich in den norddeutſch-proteſtantiſchen Ton der Bewegung recht finden; wie ſeltſam gezwungen und gemacht erſchienen ſeine zumeiſt zur Verherrlichung Oeſterreichs gedichteten Kriegslieder: durch Gott und Dich ward wahr, o Franz: was Oeſtreich will das kann’s! Nachher führte ihn ſein myſtiſcher Hang bis zum gemeinen Aberglauben herab; er verbrachte mehrere Jahre am Krankenlager der ſtigmatiſirten Nonne von Dülmen und legte ſeine Betrachtungen über das Wunderweib in verzückten Schriften nieder. Und doch drang das lautere Himmelslicht der Poeſie immer wieder durch die Nebel, welche dieſen kranken Geiſt umnachteten. Kaum hatte er in dem tollen Hexenſpuk der Gründung Prags , einer verunglückten Nachahmung von Kleiſts Pentheſilea, allen ſeinen verſchrobenen Launen die Zügel ſchießen laſſen, ſo ſammelte er ſich wieder, und ihm gelang wirklich was die Gelehrten der Romantik immer nur gefordert hatten: einen volksthümlichen Stoff in volksthüm - liche Form zu gießen. Er ſchuf ſein Meiſterſtück, die Erzählung vom braven Kasperl und vom ſchönen Annerl, das Vorbild der deutſchen Dorf - geſchichten. Mit vollem Rechte rühmte ſpäterhin Freiligrath ihm nach: der wußt es wohl wie nied’re Herzen ſchlagen; denn ſo naiv und treu28II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.hat Keiner wieder geſchildert was dem Seelenleben der kleinen Leute ſeine einfältige Größe giebt: die verhaltene Kraft der naturwüchſigen Leiden - ſchaft, die vergeblich nach einem Ausdruck ringt und dann plötzlich in verzehrenden Flammen durchbricht. Ebenſo ungleich blieb ſein Schaffen noch in ſpäteren Jahren. Die romantiſchen Feinſchmecker bewunderten ſeine Hühnergeſchichte Hinkel und Gockeleia; ſie konnten nicht genug prei - ſen, wie hier ein geſuchter Einfall zu Tode gehetzt, Hühnerleben und Menſchenleben in kindiſchem Spiele durcheinander geworfen wurde. Unter - deſſen ſchrieb er in allen guten Stunden ſeine Märchen ſtill für ſich hin, köſtliche Erzählungen vom Vater Rhein, von den Nixen und dem kriſtallenen Schloſſe drunten in den grünen Wellen, Bilder voll ſchalk - hafter Anmuth, traumhaft lieblich wie die rheiniſchen Sommernächte.

Der ungleich ſtärkere und klarere Geiſt ſeines Freundes Achim v. Ar - nim fand in der Märchenwelt kein Genügen. Der hatte ſchon früher in der Gräfin Dolores ein großes realiſtiſches Talent bekundet; nun wagte er ſich mit dem Romane die Kronenwächter auf die hohe See des hiſto - riſchen Lebens hinaus und rückte mit ſeiner kräftigen, unumwundenen Wahrhaftigkeit den Geſtalten unſerer Vorzeit herzhaft auf den Leib, bis ſie ihm Rede ſtanden und der markige Freimuth, die derbe Sinnlichkeit des alten Deutſchlands, die wüſte Roheit ſeiner Lagerſitten, der recht - haberiſche Trotz ſeines reichsſtädtiſchen Bürgerthums den Leſern hart und grell, wie die Geſtalten Dürerſcher Holzſchnitte, vor die Augen traten. Der ordnende, die Fülle des Stoffes beherrſchende Künſtlerſinn bleibt freilich ſelbſt dieſem liebenswürdigſten Jünger der romantiſchen Schule verſagt. Unvermittelt wie im Leben liegt das Einfache und das Seltſame in dem Romane neben einander; ein dichtes Geſtrüpp von krauſen Epi - ſoden umwuchert die Erzählung; zuweilen verliert der Dichter die Luſt und läßt ſich wie ein unmuthiger Schachſpieler die Figuren vom Brette herunterſchlagen. Der großgedachten, tiefſinnigen Dichtung fehlt der Ab - ſchluß, die Einheit des Kunſtwerks.

Weit größeren Anklang fand Amadeus Hoffmann bei der Maſſe der Leſewelt, der einzige Novellendichter, der es durch Fruchtbarkeit und Ge - ſchick mit dem betriebſamen Völkchen der Taſchenbuchsſchriftſteller auf - nehmen konnte. In ſeinem wunderlichen Doppelleben verkörperte ſich die widerſpruchsvolle romantiſche Moral, die muthwillig jede Brücke zwiſchen dem Ideale und der Wirklichkeit abbrach und grundſätzlich verſchmähte das Leben durch die Kunſt zu verklären. Wenn er den Tag über die gefan - genen Demagogen verhört und in den Criminalakten des Kammergerichts gewiſſenhaft und gründlich gearbeitet hatte, dann ging ihm erſt die Sonne ſeiner Traumwelt auf. Dann durfte ihn kein Wort mehr an das Schat - tenſpiel des Lebens erinnern, dann zechte er mit ausgelaſſenen Freunden oder phantaſirte in Liebhaberconcerten; und alſo begeiſtert ſchrieb er die Phantaſieſtücke in Callots Manier, die Elixire des Teufels, die Nacht -29A. v. Arnim. Callot-Hoffmann.ſtücke: phantaſtiſche Geſchichten von Dämonen und Geſpenſtern, von Träu - men und Wundern, von Wahnſinn und Verbrechen, das Ungeheuerlichſte was je ein überreiztes Hirn erſann. Es war als ob die Teufelsfratzen von den Dachtraufen unſerer alten Dome herunterſtiegen. Der wüſte Spuk drängte ſich ſo nahe, ſo ſinnlich greifbar auf, daß der Leſer, wie vom Alpdruck gelähmt, ſtill halten mußte und dem kecken Humor, der diaboliſchen Grazie des meiſterhaften Erzählers Alles glaubte. Zuletzt blieb von dem tollen Spiele freilich nichts zurück als die dumpfe Betäubung des phyſiſchen Schreckens.

Derweil in Drama und Roman ſo viele Irrwiſche ihr unſtetes Weſen trieben, erreichte die lyriſche Dichtung der Romantik durch Ludwig Uhland ihre Vollendung. Die Kritiker der Schule ſahen den proſaiſchen Menſchen über die Achſeln an, als ſeine Gedichte im Jahre 1814 zuerſt herauskamen. Recht als das Gegenbild romantiſcher Genieſucht erſchien dieſer ehrenfeſte Kleinbürger: wie er in Paris den Tag hindurch treu - fleißig in den Manuſcripten der altfranzöſiſchen Dichtung forſchte und Abends ſchweigſam in Geſellſchaft des ebenſo ſchweigſamen Immanuel Bekker die Boulevards entlang ging, mit offenem Munde und geſchloſſenen Augen, ganz unberührt von dem lockenden Glanz und den Verſuchungen ringsum; wie er dann in dem heimathlichen Neckarſtädtchen ſeinen be - häbigen wohlgeordneten Haushalt führte und ſich nicht zu gut dünkte an den proſaiſchen Verfaſſungskämpfen Württembergs mit Wort und That theilzunehmen. Und doch war es gerade dieſe geſunde Natürlichkeit und bürgerliche Tüchtigkeit, was den ſchwäbiſchen Dichter befähigte die Schran - ken der Kunſtformen weiſe einzuhalten und den romantiſchen Idealen eine lebendige, dem Bewußtſein der Zeit entſprechende Geſtaltung zu geben. Ein denkender Künſtler, blieb er doch völlig gleichgiltig gegen das literariſche Gezänk und die äſthetiſchen Doktrinen der Schule und harrte geduldig bis die Zeit der Dichterwonne kam, die ihm des Liedes Segen brachte. Dann wendete er die kritiſche Schärfe, welche andere Poeten in den Literaturzeitungen vergeudeten, unerbittlich gegen ſeine eigenen Werke; kein anderer deutſcher Dichter hat mit ſo ſprödem Künſtlerſtolze alles Halbfertige und Halbgelungene im Pulte zurückbehalten. Die Heldenge - ſtalten unſerer alten Dichtung, des Waltherliedes und der Nibelungen, erweckten zuerſt ſeine poetiſche Kraft; an den Gedichten des Alterthums vermißte er den tiefen, die Phantaſie in die Weite lockenden Hintergrund; doch ein angeborener, ſtreng geſchulter Formenſinn bewahrte ihn vor der unklaren Ueberſchwänglichkeit der mittelalterlichen Poeſie. In feſten, ſiche - ren Umriſſen traten dieſem Claſſiker der Romantik ſeine Geſtalten vor die Seele.

Während die älteren Romantiker meiſt durch den phantaſtiſchen Reiz des Fremdartigen und Alterthümlichen in die deutſche Vorzeit hinüber - gezogen wurden, ſuchte Uhland in der Vergangenheit das rein Menſch -30II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.liche, das zu jeder Zeit Lebendige und vor Allem das Heimathliche, die einfältige Kraft und Herzenswärme des unverbildeten germaniſchen We - ſens; das Forſchen in den Sagen und Liedern unſeres Alterthums galt ihm als ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutſchen Volks - lebens . Er fühlte, daß der Dichter, auch wenn er entlegene Stoffe be - handelt, nur ſolche Empfindungen ausſprechen darf, die in der Seele der Lebenden widerklingen, und blieb ſich des weiten Abſtandes der Zeiten klar bewußt. Niemals hat ihn die Freude an der Farbenpracht des Mit - telalters den proteſtantiſchen und demokratiſchen Gedanken des neuen Jahr - hunderts entfremdet. Derſelbe Dichter, der ſo rührend von den Gottes - ſtreitern der Kreuzzüge ſang, pries auch den Baum von Wittenberg, der mit Rieſenäſten, dem Strahle des Lichtes entgegen, zum Klauſendach hinaus - wuchs, und geſellte ſich freudig zu den ſtreitbaren Sängern des Befreiungs - krieges und beugte ſich demüthig vor der Heldengröße des neuerſtandenen Vaterlandes:

Nach ſolchen Opfern heilig großen
Was gälten dieſe Lieder Dir?

Mit kräftigem Spotte kehrte er der Aftermuſe der romantiſch ſüßen Herren, der Aſſonanzen - und Sonettenſchmiede den Rücken zu und hielt ſich an den Wahlſpruch der Altvorderen: ſchlicht Wort und gut Gemüth ſind das echte deutſche Lied. Die anſchaulichen, volksthümlichen Aus - drücke ſtrömten dem Sprachgewaltigen von ſelber zu. So leicht erklangen ſeine ungekünſtelten Verſe, ſo friſch und heiter ſchwebten ſeine Geſtalten dahin, daß die Leſer gar nicht bemerkten, wie viel Künſtlerfleiß ſich hinter der tadelloſen Reinheit dieſer einfachen Formen verbarg, wie tief der Dichter in die Schachte der Wiſſenſchaft hatte hinabſteigen müſſen bis ihm Klein Roland und Taillefer, Eberhard der Rauſchebart und der Schenk von Limburg ſo vertraut und lebendig wurden. Für ſeine Er - zählungen wählte er mit Vorliebe die dem leidenſchaftlichen germaniſchen Weſen zuſagende Form der dramatiſch bewegten Ballade, nur ſelten, wo es die Natur des Stoffes gebot, die ruhig berichtende, ausführlich ſchil - dernde ſüdländiſche Romanze. Nicht die Begebenheit war ihm das Weſent - liche, ſondern ihr Widerſchein in dem erregten Menſchenherzen. Jede Falte des deutſchen Gemüthes lag ihm offen, und wunderbar glücklich wußte er zuweilen mit wenigen anſpruchsloſen Worten ein Herzensge - heimniß unſeres Volkes zu offenbaren. Einfacher als in dem Gedichte von dem treuen Kameraden iſt nie geſagt worden, wie den ſtreitbaren Ger - manen ſeit der Cimbernſchlacht bis zu den Franzoſenkriegen im Schlacht - getümmel immer zu Muthe war: ſo kampfluſtig und fromm ergeben, ſo liebevoll und ſo treu.

Die Kraft der Empfindung drängte ſich auch in ſeinen erzählenden Dichtungen ſo ſtark hervor, daß manche Gedichte, die er ſelber Balladen nannte, bald als Lieder in den Volksmund übergingen. Denn ſeinen31Uhland.Liedern vornehmlich verdankte er die Liebe des Volkes, die ihm zuerſt in der ſchwäbiſchen Heimath, dann auch im übrigen Deutſchland frohlockend entgegenkam bis er endlich der volksthümlichſte aller unſerer großen Dichter wurde. In den ſchlichten, tief empfundenen Worten von Liebes Leid und Freude, von Wanderglück und Abſchiedsſchmerz, von der Luſt des Weines und der Waffen fanden Alle, Vornehm und Gering, die Erinnerungen ihres eigenen Lebens wieder. Zumal die Oberdeutſchen fühlten ſich an - geheimelt, wenn ihnen zwiſchen den Zeilen des Dichters ſtets die ſchwäbi - ſche Landſchaft mit ihren Rebenhügeln und ſonnigen Flüſſen, mit ihrem heiteren ſangesluſtigen Völkchen entgegenwinkte. Die einfachen, dem Volks - liede nachgebildeten Weiſen forderten unwillkürlich zum Singen auf; bald wetteiferten die Tonſetzer ſich ihrer zu bemächtigen. Die ganze Jugend ſtimmte mit ein. Uhlands Lieder erklangen wo immer deutſche Soldaten über Land marſchirten, wo Studenten, Sänger und Turner ſich zum fröhlichen Feſte zuſammenfanden; ſie wurden eine Macht des Segens für das friſch aufblühende kräftige Volksleben des neuen Jahrhunderts. Das junge im Kriege geſtählte Geſchlecht drängte überall aus der Stubenluft der guten alten Zeit hinaus ins Freie, die deutſche Wanderluſt forderte ihr Recht, alte halbvergeſſene Volksfeſte gelangten wieder zu Ehren. Der neue Volksgeſang ſchlug eine Brücke über die tiefe Kluft, welche die Ge - bildeten von den Ungebildeten trennte, führte die Maſſen, die nichts laſen, zuerſt in die Kunſtdichtung der Gegenwart ein; und wenngleich jene köſtliche ungebrochene Einheit der nationalen Geſittung, wie ſie einſt in den Tagen der Staufer beſtanden, für die gelehrte Bildung der moder - nen Welt immer unerreichbar blieb, ſo war es doch eine heilſame Rückkehr zur Natur, daß allmählich mindeſtens ein Theil der ſchönſten deutſchen Gedichte der ganzen Nation lieb und verſtändlich wurde. Wie ſchlug dem ſchwäbiſchen Dichter das Herz, als er die neu erwachende Liederfreude ſeines Volkes ſah; voll Zuverſicht rief er den Genoſſen die nur allzu treu - lich beherzigte Mahnung zu:

Singe wem Geſang gegeben
In dem deutſchen Dichterwald!
Das iſt Freude, das iſt Leben,
Wenn’s von allen Zweigen ſchallt!

Der ſchlichte Mann konnte ſich nicht ſatt ſehen an dem lärmenden Gewimmel der Volksfeſte, und das waren ihm die Augenblicke des höch - ſten Dichterlohnes, wenn er einmal auf einer Rheinreiſe irgendwo im Walde junges Volk mit friſchen Stimmen ſeine eigenen Lieder ſingen hörte, oder wenn ein Tübinger bemooſtes Haupt in feſtlichem Comitat über die Neckarbrücke hinauszog und das Abſchiedslied es ziehet der Burſch in die Weite bis in den Rebgarten des Dichterhauſes am Oſter - berge hinüberklang.

Wohl umſpannten ſeine Gedichte nur einen ziemlich engen Kreis von32II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Gedanken; er ſang, wie einſt die ritterlichen Dichter mit den Goldharfen, faſt allein von Gottesminne, von kühner Helden Muth, von lindem Liebesſinne, von ſüßer Maienbluth . Auch in ſeinen Tragödien verherr - lichte er mit Vorliebe die zähe Treue altdeutſcher Freundſchaft; ihnen fehlte die fortreißende Macht der dramatiſchen Leidenſchaft. An das mäch - tige politiſche Pathos ſeines Lieblings Walther von der Vogelweide reichten ſeine vaterländiſchen Gedichte nicht heran; der prometheiſche Drang, die höchſten Räthſel des Daſeins, das Woher und Wohin der Menſchheit zu ergründen, berührte ſein ruhiges Gemüth ſelten. Darum wollte Goethe von den Roſen und Gelbveigelein, den blonden Mädchen und trauernden Rittern des ſchwäbiſchen Sängers nichts hören; er verkannte, daß ihm ſelber in der Lieder - und Balladendichtung Niemand ſonſt ſo nahe ge - kommen war wie Uhland, und meinte herbe, in Alledem liege nichts das Menſchengeſchick Bezwingendes. Die Deutſchen aber hatten ſich längſt im Stillen verſchworen, den Altmeiſter zu behandeln nach ſeinem eigenen Worte: wenn ich Dich liebe, was gehts Dich an? Der treue Schwabe wußte, wie unmöglich es iſt einen Meiſter ſeines Irrthums zu überführen. Er ließ ſich durch die Ungerechtigkeit des Alten in ſeiner Liebe nicht be - irren; er ward nicht müde dem Greiſe ſeine Sängergrüße zu ſenden und der Nation zu erzählen, wie dieſer Königsſohn einſt in goldner Frühe das ſchlummernde Dornröschen, die deutſche Poeſie erweckte, und wie das ſteinerne Laub am Straßburger Münſter rauſchte, als der Dichterjüng - ling die Thurmſchnecken hinaufſtieg, dem nun ein halb Jahrhundert die Welt des Schönen tönt .

Obwohl der Schweigſame nach ſeinem dreißigſten Jahre nur noch einzelne Gedichte veröffentlichte und ſich begnügte als geiſtvoller Forſcher und Sammler an der großen Arbeit der Wiederentdeckung unſerer Vor - zeit theilzunehmen, ſo wuchs ſein Dichterruhm doch von Jahr zu Jahr. Die Lieder ſeiner Jugend konnten nicht veralten. Hochgebildet und doch bürgerlich unſcheinbar; begeiſtert für die alte Herrlichkeit des Reichs und das öſterreichiſche Kaiſergeſchlecht, und doch ein Demokrat, dem die Für - ſtenräth und Hofmarſchälle mit trübem Stern auf kalter Bruſt immer verdächtig blieben; im politiſchen Kampfe furchtlos und treu, wie es der Wappenſpruch des Landes fordert, bis zum trotzigen Eigenſinne ſo erſchien er den Schwaben als der rechte Vertreter der Landesart, als der beſte der Stammgenoſſen. Sie hoben ihn auf den Schild und rühmten: jedes Wort, das der Uhland geſprochen, iſt uns gerecht geweſen.

Eine Schaar von jungen Poeten folgte dem Meiſter nach und nannte ſich bald ſelbſt die ſchwäbiſche Dichterſchule. Hier zuerſt in der Geſchichte der neuen deutſchen Dichtung ward der Verſuch einer landſchaftlichen Sonderbildung gewagt, doch es war ein durchaus harmloſer Partikula - rismus. Nichts lag dieſen Dichtern ferner als die Abſicht ſich loszureißen von der gemeinſamen Arbeit der Nation; ſie fühlten ſich nur recht von33Die ſchwäbiſche Dichterſchule.Herzen froh und ſtolz, dieſem heiteren Lande des Weines und der Lieder anzugehören, dieſem Stamme, der einſt des heiligen Reiches Sturmfahne getragen hatte und feſt wie kein anderer mit den großen Erinnerungen unſeres Mittelalters verwachſen war. Liebenswürdige Heiterkeit und natür - liche Friſche war allen den ungezählten Balladen und Liedern dieſer Poeten eigen; ſie blieben deutſch und züchtig und bewahrten die reinen Formen der lyriſchen Dichtung auch in ſpäteren Tagen, als der neue weltbür - gerliche Radikalismus, den Adel der Kunſtform und die Unſchuld des Herzens zerſtörend, über die deutſche Poeſie hereinbrach. Aber die wun - derbare poetiſche Stimmung der Lieder Uhlands ließ ſich ebenſo wenig nachahmen wie ſeine ſchalkhafte Laune, die den reckenhaften Trotz der deutſchen Heldenzeit ſo glücklich zu verklären wußte. Manche der ſchwäbi - ſchen Balladenſänger verfielen allmählich in die gereimte Proſa des Mei - ſterſanges; ihre platte Gemüthlichkeit wußte dem neuen Jahrhundert keine Gedanken zu bieten.

Weitaus der eigenthümlichſte Geiſt aus dieſem Kreiſe war Juſtinus Kerner, eine durch und durch poetiſche Natur voll drolligen Humors und tiefen Gefühles. Sein gaſtfreies Haus in den Rebgärten dicht neben der alten ſagenberühmten Burg Weibertreu bei Weinsberg blieb viele Jahre hindurch die Herberge für alle guten Köpfe aus dem Oberlande. Wer dort von dem Dichter und ſeinem Rickele herzlich aufgenommen ward und ihn dann beim Neckarwein tolle Schnurren erzählen oder ſeine geiſt - vollen, warm empfundenen Lieder vortragen hörte, der fand es kaum an - ſtößig, daß auch dieſer im Grunde der Seele proteſtantiſche und moderne Menſch von dem myſtiſchen Hange der Romantik nicht unberührt ge - blieben war. Wie Brentano die wunderthätige Katharina Emmerich, ſo feierte Kerner die Seherin von Prevorſt, eine kranke Bäuerin aus der Nachbarſchaft, und meinte durch ſie den Einklang zweier Welten zu be - lauſchen; was ihn in dieſe nächtigen Regionen trieb war nicht die Ge - wiſſensangſt einer unfreien, haltloſen Seele, ſondern die poetiſche Schwär - merei eines kindlichen Gemüthes, das in der Verſtandesdürre der Auf - klärung ſeinen Frieden nicht finden konnte. Dankbar rief ein Genoſſe der Tafelrunde dem glücklichen Dichterhauſe zu:

Es weicht die Geiſterſchwüle
Vor jener Abendkühle,
Die von des Genius Schwingen thaut!

Unterdeſſen begann die Nation erſt ganz zu verſtehen was ſie an ihrem größten Dichter beſaß. Immer mächtiger und gebieteriſcher hob ſich die Geſtalt Goethes vor ihren Augen, als die Aufregung der Kriegs - zeit ſich legte und die während der Jahre 1811 14 erſchienenen drei erſten Theile von Dichtung und Wahrheit allmählich in größere Kreiſe drangen. Das Buch ſtand in der langen Reihe der Bekenntniſſe bedeu - tender Männer ebenſo einzig da wie der Fauſt in der Dichtung. SeitTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 334II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.den Confeſſionen des Auguſtinus hatte Niemand mehr das allerſchönſte Geheimniß des Menſchenlebens, das Werden des Genius, ſo tief, wahr und mächtig geſchildert. Jenem ſtrengen Heiligen verſchwanden die Ge - ſtalten des Dieſſeits gänzlich neben dem zermalmenden Gedanken der Sündhaftigkeit aller Creatur und der Sehnſucht nach dem lebendigen Gotte; hier aber redete ein weltfreudiger Dichtergeiſt, der in der Lebens - fülle der Schöpfung die ewige Liebe anzuſchauen ſuchte und von den höch - ſten Flügen des Gedankens immer wieder zurückkehrte zu dem einfältigen Künſtlerglauben: wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Pla - neten und Monden, von Sternen und Milchſtraßen, von Kometen und Nebelflecken, von gewordenen und werdenden Welten, wenn ſich nicht zu - letzt ein glücklicher Menſch unbewußt ſeines Daſeins erfreut? Ebenſo ehrlich wie einſt Rouſſeau bekannte Goethe die Fehler und Irrgänge ſeiner Jugend; doch bewahrte ihn ſein ſicheres Stilgefühl vor jener gewaltſamen, geſuchten Offenheit, die zur Schamloſigkeit führt. Er legte nicht wie der Genfer auch jene halb unbewußten widerſpruchsvollen Aufwallungen des Gefühles blos, welche allein durch ihre Flüchtigkeit erträglich werden und in der ausführlichen Darſtellung fratzenhaft erſcheinen, ſondern gab nur das Weſentliche ſeines Lebens: er erzählte wie er zum Dichter geworden war.

Wenn aus Rouſſeaus Geſtändniſſen zuletzt doch nichts übrig blieb als die wehmüthige Erkenntniß der Gebrechlichkeit des Menſchen, der zwiſchen ſeinem Urbild und ſeinem Zerrbild, zwiſchen dem Gott und dem Thiere haltlos dahinſchwankt, ſo überkam die Leſer von Dichtung und Wahrheit das frohe Gefühl, daß dem deutſchen Dichter in zweifachem Sinne gelungen war was Milton einſt von dem Poeten verlangte: ſein Leben ſelbſt zu einem wahren Kunſtwerke zu geſtalten. Wie er das Ta - lent von der Mutter, den Charakter von dem Vater ererbt hatte und nun nach und nach mit ungeheuerer Beharrlichkeit ſich ausbreitete über den ganzen Bereich menſchlichen Schauens, Dichtens und Erkennens auf jeder Stufe ſeiner Entwicklung erſchien dieſer Geiſt geſund, vorbild - lich, der Natur gemäß und darum ſo einfach in allen ſeinen wunderbaren Wandlungen. Die geiſtreiche Fanny Mendelsſohn ſprach nur die Em - pfindungen aller Leſer aus, als ſie weiſſagte: dieſen Mann werde Gott nicht vor der Zeit heimrufen; der müſſe auf Erden bleiben bis zum höch - ſten Alter und ſeinem Volke zeigen was es heiße zu leben. Die Ver - ehrung für Goethe ward ein Band der Einheit zwiſchen den beſten Män - nern dieſes zerriſſenen Volkes; je höher ein Deutſcher in ſeiner Bildung ſtand, um ſo tiefer beugte er ſich vor dem Dichter. Wohl hörte man aus dem Tone des Buches heraus, daß Goethe einſt ſelber von ſeinen Jugendtagen geſagt hatte: man hätte mir eine Krone auf das Haupt ſetzen können, und ich würde mich nicht gewundert haben. Und doch ſtand er viel zu hoch um auch nur berührt zu werden von jenen unwillkürlichen Regungen der Selbſtgefälligkeit, die ſich faſt in allen Confeſſionen zeigen. 35Dichtung und Wahrheit.Das mächtige Selbſtbewußtſein, das ſich in dieſen Blättern ausſprach, war die heitere Ruhe eines ganz mit ſich einigen Geiſtes, die glückliche Unbefangenheit eines Dichters, der ſein Leben lang nur Bekenntniſſe ge - ſchrieben hatte und längſt gewohnt war den Tadlern und den Neidern gelaſſen zu antworten: ich habe mich nicht ſelbſt gemacht.

Immer wenn er in das deutſche Leben hineingriff hatte er ſein Höch - ſtes geleiſtet; ſo waren denn auch die Geſtalten, die er jetzt aus der Er - innerung heraufbeſchwor, von einer Seelenwärme durchleuchtet wie nur die ſchönſten ſeiner freien Dichtergebilde. Aus dem Pfarrhauſe von Seſen - heim drang ein Strahl der Liebe in die Jugendträume jedes deutſchen Herzens, und wenn ein Deutſcher an die ſeligen Tage ſeiner eigenen Kindheit zurückdachte, ſo ſtand mit einem male das winklige alte Haus am Hirſchgraben und der fließende Brunnen im Hofe vor ihm und er ſchaute der glücklichen Frau Rath in die tiefen lachenden Augen. Der Dichter ſagte mit ſeinen Alten: in der Geſtalt wie der Menſch die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten. Ihm ſelber fiel ein anderes Loos; denn ſo mächtig war der Zauber dieſes Buches, daß noch heute, wenn Goethes Name genannt wird, faſt Jedermann zuerſt an den könig - lichen Jüngling denkt; ſeine Mannesjahre, die er ſelbſt nicht mehr ge - ſchildert hat, ſcheinen neben dem ſonnigen Glanze dieſer Jugendgeſchichte wie im Schatten zu liegen.

Wie Rouſſeau die Zeitgeſchichte mit der Erzählung ſeines Lebens verwoben hatte, ſo gab auch Goethe, nur ungleich tiefſinniger und gründ - licher, ein umfaſſendes Geſchichtsbild von dem geiſtigen Leben der fride - ricianiſchen Zeit. Noch einmal aufflammend in jugendlichem Feuer ſchil - derte der Greis jene hoffnungsfrohen Frühlingstage der deutſchen Kunſt: wie Alles keimte und drängte, wie der friſche Duft des Erdreichs aus den neu umgebrochenen Aeckern die Luft erfüllte, wie der eine Baum noch kahl ſtand und andere ſchon Blätter trugen. Wie oft hatten Nie - buhr und andere Zeitgenoſſen dem Dichter den hiſtoriſchen Sinn abge - ſprochen, weil er ſich ſo gern in die Natur verſenkte. Er aber löſte jetzt die beiden höchſten Aufgaben des Geſchichtſchreibers, die künſtleriſche und die wiſſenſchaftliche, und zeigte durch die That, daß beide in Eines zu - ſammenfallen: indem er die Vergangenheit den Leſern ſo lebendig ver - gegenwärtigte, daß ſie Alles mitzuerleben glaubten, ließ er ſie zugleich das Geſchehene verſtehen, die Nothwendigkeit der Thatſachen erkennen. Das Werk war entſtanden in den Tagen der napoleoniſchen Weltherr - ſchaft, da der Dichter ſelbſt an der politiſchen Auferſtehung ſeines Vater - landes zu verzweifeln ſchien, und gleichwohl ſprach aus jedem Satze die zuverſichtliche, hoffnungsfrohe Stimmung des fridericianiſchen Zeitalters. Kein Wort ließ errathen, daß der Dichter nach den jüngſten Niederlagen den Glauben an Deutſchlands große Zukunft aufgegeben hätte. Eben jetzt, da alle Welt den preußiſchen Staat verloren gab und ſelbſt die3*36II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.teutoniſchen Schwarmgeiſter ſich gleichgiltig von dem Bilde Friedrichs ab - wendeten, zeigte Goethe zuerſt in ergreifenden Worten, wie feſt die neue Kunſt mit dem preußiſchen Heldenruhme verwachſen war: an Talenten war in Deutſchland niemals Mangel, doch der nationale Gehalt, der eigentliche Lebensinhalt kam unſerer Dichtung erſt durch Friedrichs Thaten. So wenig war der Dichter ſeinem Volke innerlich untreu geworden. Heute giebt es nur noch eine heilige Sache: ſo äußerte er einſt in jenen ſchweren Tagen im Geiſte zuſammenzuhalten und in dem allgemeinen Ruin das Palladium unſerer Literatur zu bewahren!

Ein qualvoller, ungeſunder Zuſtand blieb es doch, daß er zu dem erwachenden politiſchen Leben ſeines Volkes ſo gar kein Vertrauen faſſen konnte. Schmerzlich genug erprobte er die Wahrheit ſeines eigenen Aus - ſpruchs: der Dichter ſei ſeiner Natur nach unparteiiſch und könne in Zeiten politiſcher Leidenſchaft einem tragiſchen Schickſal kaum entgehen. Auf Augenblicke überkam ihn wohl die Ahnung einer glücklicheren Zukunft. Als die große Armee nach Rußland zog und die Verzagten meinten, nun - mehr ſei das Weltreich vollendet, da erwiderte er: wartet ab, wie Viele wiederkommen werden! Aber als nun wirklich nur armſelige Trümmer jener endloſen Züge zurückkehrten und das preußiſche Volk ſich wie ein Mann erhob, da graute dem Dichter doch vor dem aufgeregten Weſen der unartigen Freiwilligen . Er vergaß es nie, wie wenig die Deut - ſchen einſt den hohen patriotiſchen Sinn von Hermann und Dorothea verſtanden hatten, und traute ſeinem Volke die nachhaltige Kraft des politiſchen Willens nicht zu; er hatte von jeher mit der alten Cultur des Weſtens ſeine Gedanken ausgetauſcht und ſah jetzt mit unheimlichen Ahnungen, wie die Völker des Oſtens Koſaken, Kroaten, Kaſſuben und Samländer, braune und andere Huſaren über das friedliche Mitteldeutſch - land dahinfegten. Seinem Sohne verbot er ſtreng, in das Heer der Ver - bündeten einzutreten und mußte dann noch erleben, wie der leidenſchaft - liche Jüngling, beſchämt und verzweifelt, plötzlich umſchlug und im Hauſe des Vaters eine abgöttiſche Verehrung für Napoleon zur Schau trug.

Erſt die Friedensbotſchaft erlöſte den Dichter aus ſeiner dumpfen Ver - ſtimmung; er athmete erleichtert auf und ſchrieb zur Friedensfeier das Feſt - ſpiel des Epimenides Erwachen um nach ſeiner Weiſe durch ein poetiſches Bekenntniß ſeine Bruſt vollends zu befreien. Die Maſſe, die mit Recht bei ſolchem Anlaß ein volksthümliches, gemeinverſtändliches Werk erwartete, wußte mit den ſymboliſchen Geſtalten nichts anzufangen; zwer aber den Sinn der Fabel zu enträthſeln vermochte, hörte tief erſchüttert mit an, wie der träumeriſche Weiſe, der dieſe Nacht des Jammers überſchlief , den ſiegreichen Kämpfern bekannte: er ſchäme ſich ſeiner Ruheſtunden, denn für den Schmerz, den ihr empfunden, ſeid ihr auch größer als ich bin! Es war ein Geſtändniß, das jeden Tadel beſchämte; doch kei - neswegs eine Demüthigung, denn zugleich dankte Epimenides den Göttern,37Des Epimenides Erwachen.die ihm in dieſen ſtürmiſchen Jahren die Reinheit der Empfindung bewahrt hatten. Freier, heiterer blickte Goethe fortan auf den Befreiungskrieg zurück, und für das Standbild, das die Stände Mecklenburgs in Roſtock ihrem Blücher errichteten, ſchrieb er die Zeilen:

In Harren und Krieg,
In Sturz und Sieg
Bewußt und groß,
So riß er uns
Vom Feinde los!

Sobald die Waffen ſchwiegen machte er ſich auf zu des Rheins geſtreckten Hügeln, hochgeſegneten Gebreiten . Zwei glückliche Sommer, 1814 und 1815 verbrachte er in den befreiten rheiniſchen Landen, die ihn mit ihrem ſonnenhellen Leben immer vor allen anderen deutſchen Gauen anheimelten. Das Herz ging ihm auf, da er überall den alten rheinländiſchen Frohſinn, den freundnachbarlichen Verkehr zwiſchen den beiden Ufern wiedererwachen ſah, und droben auf dem Rochusberge bei Bingen, wo die franzöſiſchen Vorpoſten ſo lange ihren Lugaus gehalten, das Volk wieder zum heiteren Kirchenfeſte zuſammenſtrömte. In den Blät - tern, die er zum Gedächtniß dieſer frohen Tage ſchrieb, erſchien der Greis wieder ganz ſo lebensfroh und weinſelig wie einſt der Straßburger Stu - dent. Auch die Forſchungen jener Straßburger Zeit nahm er jetzt im freundlichen Verkehre mit Bertram und den Gebrüdern Boiſſeree wieder auf. Er freute ſich an dem Kölner Dome, beſuchte alle die alten Bau - werke am Main und Rhein und verweilte lange in Heidelberg: dort ſtand jetzt die altdeutſche Gemäldeſammlung der Gebrüder Boiſſeree mit den Dürerſchen Apoſteln und dem gewaltigen Bilde des heiligen Chriſtophorus, ein Wanderziel für alle jungen Teutonen, die Wiege unſerer neuen Kunſt - forſchung. Die Geſtalten Dürers, ihr feſtes Leben und Männlichkeit, ihre innere Kraft und Ständigkeit hatten den Dichter ſchon in ſeiner Jugend mächtig angezogen; wie that es ihm wohl, jetzt auch an den Werken der altniederländiſchen und der kölniſchen Malerſchule den Fleiß, die Bedeut - ſamkeit, die Einfalt der deutſchen Altvordern zu bewundern. Ach Kinder, rief er aus, was ſind wir dumm: wir bilden uns ein, unſere Großmütter ſeien nicht auch ſchön geweſen! Auch der Nibelungen nahm er ſich nach - drücklich an, gegen Kotzebue und die anderen platten Geſellen, die über die reckenhafte Großheit des germaniſchen Alterthums ihre Witze riſſen. Den Drillingsfreunden in Köln, den Boiſſerees und ihrem Genoſſen Ber - tram, die zum Vergangenen muthig ſich kehren , ſendete er zum An - denken ſein Bild mit freundlichen Verſen. Die chriſtlich-germaniſchen Schwarmgeiſter frohlockten, nun ſei dieſer Berg zu Thal gekommen, nun habe der alte Heidenkönig dem deutſchen Feſtkinde, dem Kölner Dome huldigen müſſen; ſie rechneten den Dichter bereits zu den Ihren und hofften demnächſt eine chriſtliche Iphigenie erſcheinen zu ſehen.

38II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.

Wie wenig kannten ſie dieſen allſeitigen Geiſt, der eben damals mit ruhigem Selbſtgefühle ſagte: Wer nicht von dreitauſend Jahren ſich weiß Rechenſchaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben! Wenn Goethe den berechtigten Kern der deutſchen Romantik unbefangen anerkannte, ſo war er doch mit nichten gemeint im hohen Alter zu dem Gedankenkreiſe ſeines Götz von Berlichingen zurückzukehren. Er blieb der Claſſiker, der den Benvenuto Cellini überſetzt und in ſeiner Schrift über Winckelmann das Evangelium der deutſchen Renaiſſance ver - kündet hatte; war ihm doch Dürer nur darum ſo lieb, weil dieſer heitere Genius gleich ihm ſelber germaniſchen Gedankenreichthum mit ſüdländi - ſcher Formenſchönheit verband. Der Welterfahrene, der ſich ſelbſt oft - mals demüthig ein bornirtes Individuum nannte, wußte nur zu wohl, wie leicht die Anforderungen des Lebens den Handelnden zur unwillkür - lichen Einſeitigkeit verführen, und ſah daher mit Entrüſtung, wie die bewußte und gewollte Einſeitigkeit des Teutonenthums den Deutſchen ihr beſtes Gut, die freie Weltanſicht, die unbefangene Empfänglichkeit zu verküm - mern drohte. Wenn das junge Volk ſich gar unterſtand, ihm ſeine ge - liebte Sprache durch anmaßliche Reinigung zu verderben, ſie des befruch - tenden Verkehres mit fremder Cultur zu berauben, dann brauſte er auf in hellem Titanenzorne. Die malcontente, determinirte, zuſchreitende Art des neuen Geſchlechts widerte ihn an, dies plumpe, ungekämmte Weſen, dieſe aus natürlicher Germanenderbheit und gemachtem Jacobinertrotz ſo ſeltſam gemiſchte Formloſigkeit. Namentlich an den jungen Malern, die in dem Kloſter auf dem Quirinal ihre Werkſtatt aufgeſchlagen hatten, bemerkte Goethe bald jene Dürftigkeit, die allem Fanatismus eigen iſt. Die fruchtbaren erſten Jahre der mittelalterlichen Schwärmerei waren vorüber. Jetzt hieß die Loſung Frömmigkeit und Genie! ; der Fleiß ward mißachtet, und manche Werke der Nazarener erſchienen ſo leer und kahl wie die Kloſterzellen von S. Iſidoro ſelber. Scharf abwehrend trat der Dichter dieſer Richtung entgegen; ſogar die Widmung der Cornelius - ſchen Zeichnungen zum Fauſt würdigte er keiner Antwort; denn er fühlte, daß der große Maler nur die eine Seite des Gedichtes verſtanden, die claſſiſchen Ideen aber, die nachher im zweiten Theile ihre Entfaltung finden ſollten, noch kaum bemerkt hatte.

Vor Allem entſetzte den freien Geiſt des alten Claſſikers die Kin - derpäpſtelei , das erkünſtelte neukatholiſche Weſen der verfallenden Ro - mantik. Es wurde verhängnißvoll für den ganzen Verlauf der deutſchen Geſittung bis zum heutigen Tage, daß Goethe eine freie, geiſtvolle Form des poſitiven chriſtlichen Glaubens eigentlich niemals kennen lernte. In ſeiner Jugend verkehrte er eine Zeit lang mit den ſchönen Seelen des Pietismus, jedoch der enge Geſichtskreis dieſer Stillen im Lande ver - mochte den Genius nicht zu feſſeln. Im Alter trat er mit den Beken - nern jenes tiefſinnigen, weitherzigen und hochgebildeten Chriſtenthums,39Goethe und die neue Generation.das während der ſchweren Jahre des Leidens und des Kampfes allmäh - lich herangereift war, niemals in nahe Berührung; ſonſt wäre ſeinem ſcharfen Blicke ſchwerlich entgangen, daß Männer wie Stein und Arndt ihre unerſchütterliche Hoffnungsfreudigkeit, ihre ſittliche Ueberlegenheit, einem Hardenberg oder Gentz gegenüber, zu allermeiſt der Kraft des lebendigen Glaubens verdankten. So geſchah es, daß auch der letzte und größte Vertreter unſerer claſſiſchen Epoche von dem wieder erwachenden religiöſen Leben der Nation wenig bemerkte, und noch auf Jahrzehnte hinaus die Geringſchätzung kirchlicher Dinge in den Kreiſen der reichſten Bildung faſt als ein nothwendiges Zeichen freier Geſinnung erſchien. Die ſpin - deldürren Geſtalten der Nazarener mit ihrer geſuchten Einfalt, die bald ſüßlichen bald überſchwänglichen Reden der romantiſchen Apoſtaten mußten Goethes großen Sinn empören; und als er gar die Frau von Krüdener auf ihre alten Tage die Erweckte, die gottbegeiſterte Seherin ſpielen ſah, da wallte ſein proteſtantiſches Blut hoch auf und er ſchrieb kurzab: Hu - renpack, zuletzt Propheten! Auch die Verfälſchung der Wiſſenſchaft durch religiöſe Gefühle und myſtiſche Ahnungen blieb ihm immerdar ein Gräuel, und mit hellem Jubel begrüßte er Gottfried Hermanns kritiſch-helleniſch - patriotiſche Feldzüge wider Creuzers Symbolik. Er fühlte lebhaft, daß alles deutſche Weſen zu Grunde gehen müßte, wenn wir jemals unſeren Weltbürgerſinn völlig aufgäben; er ward nicht müde von der Nothwendig - keit einer Weltliteratur zu ſprechen, das Echte und Gute aus den Werken der Nachbarvölker zu empfehlen, und fand ſogar Worte des Beifalls als der geiſtreiche Ruſſe Uwarow vorſchlug, jede Wiſſenſchaft nur in einer conge - nialen Sprache darzuſtellen, alſo die Alterthumskunde nur in der deutſchen.

Ebenſo wenig wie das überſpannte Teutonenthum konnten dem Dichter die neuen conſtitutionellen Doktrinen zuſagen. In den einfachen gemüth - lichen Verhältniſſen des Lebens bewährte er ſtets eine rührende Güte und Nachſicht gegen den geringen Mann, tiefe Ehrfurcht vor den ſtarken und ſicheren Inſtinkten des Volksgefühls. Oft wiederholte er: die wir die niederſte Klaſſe nennen ſind vor Gott gewiß die höchſte Menſchenklaſſe. Selbſt während er an der Iphigenie ſchrieb, vermochte ſein menſchen - freundliches Herz den Gedanken an die hungernden Apoldaer Strumpf - wirker nicht los zu werden. Doch im Staate, in Kunſt und Wiſſenſchaft zeigte er die ariſtokratiſche Geſinnung, die jedem bedeutenden Kopfe natür - lich iſt, und wahrte ſtreng abweiſend das natürliche Vorrecht der Bil - dung. Schon in den Volksſcenen ſeines Egmont hatte er ſein Urtheil über die politiſche Befähigung der Maſſe unverblümt ausgeſprochen. Verwir - rend iſts wenn man die Menge höret ſo lautete ſeine Antwort, wenn die Wortführer des Liberalismus zuverſichtlich betheuerten, die untrügliche Weisheit des Volks werde alle Schäden des deutſchen Staatslebens zu heilen wiſſen. Das undeutſche Weſen der liberalen Tagesſchriftſteller, ihre Abhängigkeit von den Doktrinen der Franzoſen war ſeiner deutſchen40II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Geſinnung verächtlich; ihre verſtändige Waſſerklarheit erinnerte ihn an den alten Nicolai und erfüllte ihn zugleich mit Beſorgniß, denn er lebte des Glaubens, die reine Verſtandesbildung führe zur Anarchie, da dem Verſtande keine Autorität innewohne. Bald bemerkte er auch mit Ekel, wie der junge Liberalismus in denſelben unduldſam gehäſſigen Ton ver - fiel wie einſt der Großinquiſitor der Berliner Aufklärung und alle An - dersdenkende als Fürſten - oder Pfaffenknechte verfolgte. Dieſen Sklaven der Parteimeinung hielt er entgegen: es gebe nur einen wahren Libera - lismus, die Liberalität der Geſinnungen, des lebendigen Gemüths.

Mit unüberwindlichem Abſcheu erfüllte ihn das aufblühende Zeitungs - weſen; ihm entging nicht, wie verflachend und verſandend dies Haſchen nach den Tagesneuigkeiten, dieſe ungeſunde Vermiſchung von ödem Klatſch und politiſcher Belehrung auf die allgemeine Bildung wirken, welche Frechheit und Nichtigkeit unter allen dieſen unverantwortlichen Namenloſen, die hier über Menſchen und Dinge zu Gericht ſaßen, aufwuchern mußte. Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung ſchien ihm der einzige Gewinn aus der belobten Preßfreiheit. Achſelzuckend wendete er ſich ab von den Götzen des Tages: wer in der Weltgeſchichte lebt, dem Augenblick ſollt er ſich richten? Wie war es doch ſo ſtill geworden um den Alten! Auch Herder und Wieland waren dahingegangen, und das ſchöne Verhältniß zu ſeinem fürſtlichen Freunde wurde durch eine unwürdige Kränkung ge - trübt. Der Dichter wollte nicht dulden, daß ein abgerichteter Hund dort ſeine Künſte zeigte wo der bekränzte Liebling der Kamönen der inn’ren Welt geweihte Gluth ergoß . Der Großherzog aber beſtand auf ſeiner Laune; Goethe mußte vor dem Hunde des Aubry weichen und zog ſich von der Leitung der Weimariſchen Bühne zurück.

Die freie Heiterkeit ſeines Weſens blieb von Alledem unberührt. Mit jugendlichem Eifer vertheidigte er in ſeiner neuen Zeitſchrift Kunſt und Alterthum , wie vormals in den Propyläen, die claſſiſchen Ideale. Der Kunſt-Meyer und die anderen unter dem gefürchteten Zeichen W. K. F. verſteckten Weimariſchen Kunſtfreunde unterſtützten ihn im Kampfe wider die neue frömmelnde Unkunſt . Freilich ſtand der Dichter an der Schwelle zweier Zeitalter, und hinter dem ſtolzen, zuverſichtlichen Tone ſeiner Polemik verbarg ſich zuweilen ein Gefühl der Unſicherheit. Wie vormals Winckelmann zugleich für die antiken Bildwerke der Villa Albani und für die froſtige Eleganz eines Raphael Mengs ſich begeiſterte, ſo kam auch Goethe von ſeinem alten Genoſſen Tiſchbein nicht ganz los und ſchmückte ein ſteifes Bild des Freundes, das von natürlicher Wahrheit wenig oder nichts enthielt, mit den Verſen: heute noch im Paradieſe wandern Lämmer auf der Wieſe, und Natur iſt’s nach wie vor! Dabei behielt er doch Fühlung mit allen frei aufſtrebenden Talenten der deutſchen Kunſt und begrüßte mit warmem Lobe die erſten kühnen Schritte Chriſtian Rauchs.

41Italieniſche Reiſe.

Wirkſamer als dieſe kritiſche Thätigkeit ward das Erſcheinen der Ita - lieniſchen Reiſe im Jahre 1817. Seit Langem waren dieſe Erinnerungs - blätter in den Kreiſen der Freunde verbreitet; nun gab ſie der Dichter geſammelt heraus in einer neuen Bearbeitung, welche abſichtlich alles Licht auf Rom, auf die Werke des Alterthums und der Renaiſſance fallen ließ. Die Deutſchen ſollten ihm nachfühlen, wie ihn einſt die übermächtige Sehnſucht unaufhaltſam nach der ewigen Stadt drängte, wie ſelbſt in Florenz ſeines Bleibens nicht war, wie er in Aſſiſi nur Augen hatte für die ſchlanken Säulen des Minerventempels und den triſten Dom des heiligen Franciscus, die geweihte Stätte, wo einſt Giottos Kunſt erwachte, keines Blickes würdigen wollte, bis er ſchließlich unter der Porta del Popolo ſich gewiß war Rom zu haben. Und nun mußten die Leſer ihm folgen durch alle jene reichen Tage, die ſchönſten und fruchtbarſten ſeines Lebens hindurch: wenn Morgens die Sonne über den zackigen Gipfeln des Sabinergebirges emporſtieg und der Dichter den einſamen Weg am Tiber entlang hinauszog zu dem Brunnen in der Campagna; wenn er unter den Trümmern des Forums als ein Mitgenoſſe der Rathſchläge des Schickſals die Geſchichte von innen heraus leſen lernte, wenn ihn im einſamen kühlen Saale die ganze Seligkeit des Schaffens überkam, die Geſtalten der Iphigenie, des Egmont, des Taſſo, des Meiſter mächtig auf ihn eindrängten; wenn er endlich unter den Orangenbäumen am ſonnigen Strande von Taormina die Nauſikaa und den Dulder Odyſſeus leibhaftig vor ſich wandeln ſah. Und dann immer wieder das demüthige Geſtändniß des Mannes, der längſt ſchon den Götz und den Werther gedichtet hatte: hier ſei er wiedergeboren worden, hier ſei ihm erſt die Klarheit und die Ruhe des Künſtlers aufgegangen, hier habe er erſt ge - lernt aus ganzem Holze zu ſchneiden. Die alte Germanenſehnſucht nach dem Süden, die Dankbarkeit der Nordländer gegen die ſchönen Heimath - lande aller Geſittung hatte niemals wärmere Worte gefunden. Der Ein - druck war tief und nachhaltig. Dem Dichter wurde die Freude, daß mehrere der begabteſten jungen Künſtler ſich bald nachher wieder dem Alterthum zuwendeten. Aber nicht blos die Nazarener grollten dem heid - niſchen Buche, auch Niebuhr und manche andere weltlich freie Köpfe fühlten ſich befremdet. Dieſe rein äſthetiſche, dem politiſchen Leben grund - ſätzlich abgewendete Weltanſchauung entſprach den Geſinnungen der acht - ziger Jahre; dem Geſchlechte, das bei Leipzig und Belle-Alliance geſchlagen hatte, konnte ſie nicht mehr ganz genügen, wie mächtig auch die literari - ſchen Neigungen wieder überhandnahmen.

Vor wenigen Jahren erſt hatte Goethe einige ſeiner jugendlichſten geſelligen Lieder geſchrieben, ſo das ausgelaſſene Burſchenlied Ergo biba - mus. Nach und nach, da er hoch in die Sechzig hinaufkam, regten ſich ihm doch die Gefühle des Alters, die milde Beſchaulichkeit, die gefaßte Ergebung, die Neigung zum Lehrhaften, Symboliſchen und Geheimniß -42II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.vollen; und nach ſeiner Gewohnheit ließ er die Natur frei gewähren. In ſolcher Stimmung las er die Ueberſetzung des Hafis von Hammer. Jener Drang in die Ferne, den die Weltfahrten der Romantik unter den Deutſchen erweckt hatten, ergriff auch ihn; er fühlte, wie die ruhige, hei - tere Lebensweisheit des Orients ſeinen Jahren, die perſiſche Naturreligion ſeiner eigenen Erdfreundſchaft zuſagte. Doch etwas Unmittelbares in ſeine Arbeiten aufzunehmen war ihm unmöglich; er wollte und konnte nicht, wie Schiller, ſich eines fremden Stoffs gewaltſam bemächtigen um ihn zu geſtalten. Gemächlich lebte er ſich nach und nach ein in die For - men und Bilder der perſiſchen Poeſie, bis ſeine eigenen Gedanken un - willkürlich etwas von dem Dufte des Morgenlandes annahmen.

Da führte ihn ein freundliches Geſchick, auf jener Reiſe in die rhei - niſche Heimath, mit Marianne von Willemer zuſammen; es war, als ſollte ihm allein das ernſte Wort nicht gelten, das er zwei Jahre zuvor geſchrieben: der Menſch erfährt, er ſei auch wer er mag, ein letztes Glück und einen letzten Tag. Wie ward ihm wieder ſo jugendlich zu Muthe in jenen ſonnigen Herbſttagen, da er mit der ſchönen jungen Frau in den Baumgängen der Heidelberger Schloßterraſſe luſtwandelte und den ara - biſchen Namenszug ſeiner Suleika in den Rand der Brunnenſchale einritzte: und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnenbrand. Was ihn dort beglückte war nicht eine übermächtige Leidenſchaft, wie er ſie einſt für Frau von Stein empfunden, ſondern eine warme und tiefe Herzens - neigung für ein holdes Weib, das durch die Liebe des Dichters ſelber zur Künſtlerin wurde. Gelehrig ging ſie auf das orientaliſche Formen - ſpiel des Freundes ein; im Wechſelgeſange mit Hatem dichtete Suleika jene melodiſchen Lieder voll ſüßer Sehnſucht und hingebender Demuth, die während eines halben Jahrhunderts zu Goethes ſchönſten Gedichten gerechnet worden ſind. Er aber erwiderte bald geiſtreich ſpielend, bald leidenſchaftlich erregt; in gluthvollen, myſtiſchen Verſen beſang er den liebſten von allen Gottesgedanken, die Macht der zwiſchen zweien Welten ſchwebenden Liebe, die zuſammenführt was ſich angehört: Allah braucht nicht mehr zu ſchaffen, wir erſchaffen ſeine Welt!

Dergeſtalt entſtand nach und nach das letzte große lyriſche Werk des Dichters, der Weſtöſtliche Divan, ein bunter, nur durch das Band der morgenländiſchen Form zuſammengehaltener Strauß von Liebes - und Schenkenliedern, von Sprüchen und Betrachtungen, von alten und neuen Bekenntniſſen. Es fehlte nicht an ſtreitbaren Worten; nicht umſonſt geſtand der alte Meiſter: denn ich bin ein Menſch geweſen, und das heißt ein Kämpfer ſein. Mit ſchonungsloſen Worten ſchilderte er die Macht des Niederträchtigen unter den Menſchen, und im ſcharfen Gegenſatze zu der Liederſeligkeit der ſchwäbiſchen Dichter ſah er ſchon voraus, wie das Ueber - maß der Sangesluſt das deutſche Leben zuletzt ernüchtern werde: wer treibt die Dichtkunſt aus der Welt? die Poeten! Den Grundton der43Weſtöſtlicher Divan.Sammlung bildete doch eine ſtille, das irdiſche Treiben frei überſchauende Heiterkeit: mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe. Die kunſtvolle, in bisher unerhörten Freiheiten ſich ergehende Proſodie des Divans diente den gedankenreicheren Lyrikern des folgenden Geſchlechts zum Vorbilde. Wohl fehlte dann und wann jener Zauber der unmittelbaren Eingebung, der allen Jugendwerken Goethes ihre hinreißende Macht gab; einzelne ſteife und geſuchte Wendungen erſchienen mehr gedichtet und gedacht als empfunden, manche künſtliche Arabesken nur eingefügt um den fremd - artigen Reiz des Geſammtbildes zu erhöhen. Dafür erſchloß der Greis im Divan, in den Orphiſchen Urworten, in den unzähligen Sprüchen ſeiner letzten Jahre einen Schatz der Weisheit, der faſt für jede Lebens - frage des Gemüths und der Bildung das rechte Wort bot und erſt von dem heutigen Geſchlechte allmählich verſtanden wird. Viele Dichtungen ſeines Alters gemahnten an jene räthſelhaften Runen unſeres Alterthums, vor denen der germaniſche Held ſinnen und träumen konnte bis an ſei - nen Tod. Zuweilen wagte er ſich bis in die letzten geheimnißvollen Tiefen des Daſeins, bis dicht an die Grenzen des Sagbaren, wo das Wort ver - ſtummt und die Muſik einſetzt: ſo in jenem wunderbaren Liede, das immer leiſe in der Seele widerklingt ſo oft ein Strahl himmliſcher Glückſeligkeit in unſer armes Leben fällt:

Und ſo lang Du das nicht haſt,
Dieſes: Stirb und werde!
Biſt Du nur ein trüber Gaſt
Auf der dunklen Erde.

So lebte er dahin in ſeiner einſamen Größe, unabläſſig ſchauend, ſammelnd, forſchend, dichtend, in’s Endliche nach allen Seiten ſchreitend um das Unendliche ahnungsvoll zu ermeſſen, beglückt durch jeden Son - nentag des Frühlings und jede Gabe des reichlichen Herbſtes, wie durch jedes gelungene Werk der Kunſt und jeden neuen Fund im weiten Be - reiche menſchlichen Wiſſens. Schillers zarter Körper hatte ſich vor der Zeit aufgerieben im harten Dienſte der Kantiſchen Pflichtenlehre; bei die - ſem Glücklichen und Kerngeſunden erſchien die ungeheure, allſeitige Thätig - keit nur wie die natürliche, müheloſe Entfaltung angeborener Kräfte. Die ihm ferne ſtanden ahnten kaum, wie ernſt er es ſelber nahm mit ſeinem ſtrengen Worte: nur wer immer wirkt vermag zu wirken; bald kommt die Nacht wo Niemand kann! Sie ahnten noch weniger, welch ein feſtes Gottvertrauen den verrufenen Heiden durch ſein reiches Alter geleitete: wie er ſich in frommer Scheu hütete der Vorſehung vorzugreifen und in jeder zufälligen Fügung des Tages das unmittelbare Eingreifen Gottes erkannte denn nur ſo erſchien dem Künſtler die göttliche Weltregierung denkbar. Und da er ſelber noch mit jedem Tage wuchs als ob dies Leben nie ein Ende finden könnte, ſo blieb auch die Jugend immer ſein Lieb - ling. Mochte ihn die anmaßende Derbheit des jungen Geſchlechts zuweilen44II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.beläſtigen: zuletzt konnte er den ſtrahlenden Augen der begeiſterten Brauſe - köpfe doch nicht zürnen und meinte gütig: es wäre thöricht zu verlangen: komm, ältle Du mit mir! Jungen Dichtern aber wußte er nur zu rathen was ihn ſelber die Natur gelehrt hatte: ſie ſollten ſich vorerſt be - mühen Männer zu werden, reich im Herzen wie im Kopfe, und ihre Seele offen halten jedem Hauche der Zeit: poetiſcher Gehalt iſt Gehalt des eignen Lebens; man halte ſich an’s fortſchreitende Leben und prüfe ſich von Zeit zu Zeit, ob man lebendig iſt!

Einzelne eifrige Renegaten, wie Friedrich Schlegel, unterſtanden ſich wohl, von dem abgetakelten alten Herrgott zu reden; die Edleren wußten, daß man dieſen Mann nicht antaſten konnte ohne die Nation ſelber zu beſchimpfen. Wenn der Freiherr vom Stein die Zurückhaltung Goethes in den napoleoniſchen Tagen beklagte, ſo fügte er beſcheiden hinzu: Aber er iſt doch zu groß! Nirgends fand der Dichter wärmere Bewunderer als in den Kennerkreiſen Berlins. Hier wurde die Goethe-Verehrung wie ein Geheimdienſt getrieben; die ewig ſchwärmende Hoheprieſterin Rahel Varnhagen verkündete von ihrem Dreifuß herunter unermüdlich in ora - kelhaften Reden den Ruhm des Vergötterten. Der alte Herr ſah ſich die Weihrauchswolken, die vor ſeinem Altar an der Spree emporſtiegen, aus der Ferne gelaſſen an und gab gelegentlich in ſeinem umſtändlichen Ge - heimraths-Stile eine höfliche Antwort. Doch näher auf den Leib durften ihm dieſe Huldigenden nicht heranrücken; er fühlte, daß bei ihnen zur anſpruchsvollen Doktrin wurde was ihm ſelber die Natur in die Wiege gelegt hatte. Der nixenhaften kleinen Rahel ſchlug ein dankbares, from - mes, menſchenfreundliches Herz im Buſen; mitten in der gemachten Ek - ſtaſe dieſer tief eingeweihten Dilettanten und Halbkünſtler bewahrte ſie ſich das ſichere Gefühl des Weibes für das Große und Starke: war doch Fichte einſt viele Jahre lang neben Goethe ihr Abgott geweſen. Aber dicht neben ſolchen liebenswürdigen Zügen lag eine halb unbewußte und eben darum unermeßliche Eitelkeit, die in der Bewunderung des erſten deutſchen Dichters die Größe des eigenen Ichs genoß und ſich über das ſtille Gefühl der Unfruchtbarkeit tröſtete mit dem erhabenen Gedanken: der im Unendlichen ſchwebende Geiſt verſchmähe ſich einzubannen in die Kreiſe der Sprachkunſt! Warum ſollte ich nicht natürlich ſein? ſagte ſie arglos ich wüßte doch nichts Beſſeres und Mannichfaltigeres zu affektiren! Und wie wenig Inhalt lag doch in allen den gebildeten Redens - arten dieſer äſthetiſchen Theecirkel. Vieles was man dort Geiſt nannte lief im Grunde hinaus auf die Mißhandlung der deutſchen Sprache, auf das verblüffende Zuſammenſtellen ungehöriger Wörter. Wenn Rahel ein edel und feurig vorgetragenes Muſikſtück einen gebildeten Sturmwind nannte, dann jauchzte die Prieſterſchaar der höheren Bildung, und der eunuchenhafte Gatte trug die Albernheit mit ſeinen zierlichſten Schrift - zügen in ſeine Tagebücher ein. Der alte Heros in Weimar aber kannte45Die Gothik.den weiten Abſtand zwiſchen dem Kennen und dem Können. Wo ihm unter ſeinen Verehrern ſchöpferiſche Begabung begegnete, da thaute er auf; wie väterlich kam er dem Wunderkinde Felix Mendelsſohn-Bartholdy entgegen und freute ſich mit den glücklichen Eltern des ſchönen Vereines von feiner Bildung und echtem Talent.

Als die Dichtung ſchon in den Herbſt eintrat, begann für die bil - denden Künſte erſt die Zeit der Blüthe. So lange die Begeiſterung der Kriegsjahre anhielt wurde die gothiſche Kunſt allgemein als die wahr - haft deutſche geprieſen. Die Jugend ſchien ſich für immer von den antiken Idealen abzuwenden, und Schenkendorf rief gebieteriſch: man ſoll an keiner deutſchen Wand mehr Heidenbilder ſehn! Viele der Freiwilligen aus dem Oſten lernten auf den Märſchen am Rhein zuerſt den Formen - reichthum unſerer Vorzeit kennen; ſie meinten in dieſen alten Domen die allein giltigen Muſterbilder für die vaterländiſche Kunſt zu finden und bemerkten kaum, daß ihnen in den Kirchen des verhaßten Frankreichs überall der nämliche altdeutſche Stil begegnete. Wenn ſie zu dem alten Krahn droben auf dem unvollendeten Thurme des Kölner Domes empor - ſchauten, dann dachten ſie mit ihrem ritterlichen Sänger: daß das Werk verſchoben bis die rechten Meiſter nah’n! Der Kronprinz fühlte ſich ganz überwältigt von dem Anblick der majeſtätiſchen Ruine; auf ſeinen Betrieb wurde Schinkel nach Köln geſendet und erklärte in ſeinem Gut - achten: einen ſolchen Bau erhalten, das heiße ihn vollenden.

Von dieſer Stimmung der Zeit ward auch König Friedrich Wilhelm berührt, als er nach dem erſten Pariſer Frieden beſchloß, das Gedächtniß der deutſchen Siege durch die Erbauung eines prächtigen altdeutſchen Do - mes in Berlin zu verherrlichen. In Altpreußen erklang bald nachher von allen Seiten der Ruf: das herrliche Hochmeiſterſchloß, die von der Roheit der Polen und dem proſaiſchen Kaltſinn des fridericianiſchen Beamtenthums ſo ſchändlich verſtümmelte Marienburg müſſe in ihrer alten Pracht wieder aufgerichtet werden, ein Siegesdenkmal für das alte Ordensland, das ſich ſo gern rühmte die anderen Deutſchen zum heiligen Kampfe erweckt zu haben. Schön, der eifrige Wortführer des altpreußiſchen Provinzial - ſtolzes, trat an die Spitze des Unternehmens; er dachte dies ſchönſte welt - liche Bauwerk unſeres Mittelalters zu einem preußiſchen Weſtminſter zu erheben, woran Jeder aus dem Volke ſeinen Antheil nähme. Der König übernahm den Wiederaufbau; die dünnen Zwiſchenwände, die ein phili - ſterhaftes Geſchlecht mitten durch die ungeheuren Säle gezogen hatte, fielen zuſammen; über den ſchlanken Pfeilern der Remter erhoben ſich wieder leicht und frei gleich den Fächern der Palmen die alten gothiſchen Ge - wölbe. Die Ausſchmückung des Ordensſchloſſes überließ man der Nation. Geld wurde nicht angenommen: wer mithelfen wollte mußte ſelber einen Theil des Bauwerks künſtleriſch ausſtatten. Der Adel, die Städte, die Corporationen der verarmten Provinz wetteiferten in Geſchenken, Patrioten46II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.aus allen Landestheilen des Staates ſchloſſen ſich an; York ſtiftete die ſchweren Zinnen über Meiſters Morgenhellem Gemach, Stein hing ſein Wappenſchild an einem Pfeiler des oberen Burggangs auf. Bald prang - ten an den bunten Fenſtern die Bilder aus Preußens alter und neuer Geſchichte; denn grade in dieſen Jahren erwachte die alte Kunſt der Glas - malerei, die mit ſo vielen anderen Segnungen der Cultur in den Stür - men des dreißigjährigen Krieges untergegangen war, wieder zu friſchem Leben. Da ſtanden unter dem ſchwarzundweißen Banner der Ritter vom deutſchen Hauſe und der Landwehrmann des Befreiungskrieges; die Gym - naſien des tapferen Grenzlandes ſchenkten ein Fenſter mit Davids Schwert und Harfe und der Inſchrift: wer kein Krieger iſt ſoll auch kein Hirte ſein! Alle Herzensgeheimniſſe des romantiſchen Geſchlechts traten bei dieſen Spenden an den Tag; wie fühlten die Deutſchen ſich glücklich, daß ſie wieder ein Recht hatten den Helden ihrer großen Vorzeit frei ins Ge - ſicht zu ſehen. Alles jubelte, als der junge Kronprinz in den mächtigen Hallen der alten Burg ein Feſtmahl hielt und nach ſeiner enthuſiaſtiſchen Weiſe den Trinkſpruch ausbrachte: Alles Große und Würdige erſtehe wie dieſer Bau!

Gleichwohl vermochte die gothiſche Richtung in der Kunſt ebenſo wenig die Oberhand zu erlangen wie die ſchwäbiſchen Dichter in der Poeſie. Die Ideen Winckelmanns und Goethes behaupteten noch ihre Macht, nir - gends kräftiger als in Berlin. Hier ſtanden noch die beſten Werke der deutſchen Spätrenaiſſance, das Schloß, das Zeughaus und Schlüters Kurfürſtenſtandbild, die Denkmäler einer claſſiſch gebildeten und doch na - tionalen Kunſtweiſe, verſtändlicher für das moderne Gefühl als die Bauten des Mittelalters. Hier in dem Mittelpunkte einer großen, aber jungen Geſchichte mußte die Rückkehr zu den Bauformen des vierzehnten Jahr - hunderts als willkürliche Künſtelei erſcheinen. Und jetzt erſt begann man mit den echten Werken der Hellenen vertraut zu werden. Winckelmann hatte einſt faſt nur die römiſchen Nachbildungen der griechiſchen Kunſt kennen gelernt und noch gar nicht bemerkt, welchen weiten Weg das Alter - thum von den doriſchen Zeiten und den goldenen Tagen des Perikles bis herab zu der Epoche der hadrianiſchen Nachblüthe durchlaufen hatte. Seit dem Anfang des neuen Jahrhunderts wurde der Boden Griechen - lands ſelbſt durchforſcht; die Elginſchen Marmorwerke wanderten nach London, die Aegineten im Jahre 1816 nach München. Mit der Erkennt - niß wuchs die Bewunderung für die Antike. Zugleich trat in Rom jener nachgeborene Hellene auf, der wie kein anderer moderner Menſch in der claſſiſchen Formenwelt lebte und nur durch ein räthſelhaftes Spiel des Schickſals in dieſe neuen Jahrhunderte verſchlagen ſchien. Eine ſtarke germaniſche Ader lag doch in Thorwaldſens mächtiger Natur. Den Deut - ſchen ſprach ſeine Kunſt unmittelbar zum Herzen, ſie zählten den Islän - der halb zu den Ihren; hatte er doch an dem Nachlaß des Deutſchen47Rauch.Asmus Carſtens, des kühnen Rebellen gegen die akademiſche Kunſt, ſich zuerſt gebildet und von ihm gelernt, was in den Werken des Alterthums wahrhaft lebendig und für alle Zeiten giltig ſei.

Derweil alſo die altdeutſche und die claſſiſche Richtung noch in un - entſchiedenem Kampfe lagen, geſchah in Berlin eine folgenreiche Wendung. Während der harten Jahre, da der preußiſche Staat am Rande des Bankerotts ſtand, verbot ſich die Errichtung monumentaler Kunſtwerke von ſelbſt. Nur einen künſtleriſchen Plan mochte der unglückliche König nicht aufgeben: er wollte ſeiner Gemahlin ein würdiges Grabmal errich - ten, und ſein geſundes natürliches Gefühl führte ihn auch hier auf den rechten Weg, obwohl er ſich ſelber beſcheiden nur einen Laien in Kunſt - ſachen nannte. Sein Herz ſehnte ſich nach einem verklärten Bilde der Geliebten; und da er dunkel empfand, daß die Gothik, die ſeinem nüch - ternen Weſen ohnehin zu phantaſtiſch vorkam, den Adel der menſchlichen Geſtalt nicht zur vollen Geltung gelangen läßt, ſo wollte er von einer altdeutſchen Grabkapelle nichts hören. Umſonſt betheuerte ihm Schinkel, der während jener Kriegsjahre noch ganz in teutoniſchen Anſchauungen befangen war: die Architektur des Heidenthums ſei für uns kalt, die harte Schickſalsreligion der Alten könne den Gedanken des Todes nicht mit der liebevollen, tröſtenden Heiterkeit des Chriſtenthums darſtellen. Friedrich Wilhelm ließ inmitten der düſteren Fichten des Charlottenburger Parkes einen kleinen doriſchen Tempel erbauen, der nur die einfach ernſte Hülle für das Grab der Königin bilden ſollte; mit der Ausführung des Denk - mals ſelbſt wurde Chriſtian Rauch beauftragt, der einſt im Dienſte der Verſtorbenen aufgewachſen, durch ſie in die Kunſt eingeführt, jetzt mit der ganzen Wärme künſtleriſcher Begeiſterung und perſönlicher Verehrung ſein Werk begann. Tauſende ſtrömten herbei, als dies Mauſoleum im Frühjahr 1815 eröffnet wurde, die Meiſten zuerſt nur um das Angeſicht der geliebten Fürſtin noch einmal zu ſehen. Aber wie ſie ſo dalag, die liebliche Geſtalt in ihrer ſtillen Hoheit, lebensvoll als ob ſie athme, ſchön wie ein helleniſches Weib, fromm und friedlich wie eine Chriſtin, jede Ader der Hände und jede Falte des weißen Marmorgewandes mit der höchſten techniſchen Sicherheit und Sorgfalt behandelt, da verſpürten ſelbſt dieſe nordiſchen Maſſen, denen die Sculptur unter allen Künſten am fernſten liegt, einen Hauch vom Geiſte der Antike. Der Zug der Wall - fahrer währte fort, jahraus, jahrein; Jedermann fühlte, die deutſche Kunſt hatte einen ihrer großen Schritte gethan. Rauchs claſſiſch geſchulter, for - menſtrenger Realismus errang einen durchſchlagenden Erfolg. Die gothi - ſche Kunſtſchwärmerei verſchwand bald aus der Berliner Geſellſchaft, ſelbſt der romantiſche Kronprinz wendete ſich allmählich den claſſiſchen Idealen zu.

Mittlerweile waren die Staatsmänner aus Paris heimgekehrt, Har - denberg noch ganz erfüllt von den mächtigen Eindrücken der Louvre - Gallerie; Altenſtein und Eichhorn hatten unterwegs auch die Sammlung48II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.der Boiſſerees in Heidelberg beſucht. Sie Alle verhehlten nicht, wie dürftig ihnen das Berliner Kunſtleben neben dem Reichthum des Weſtens er - ſchien, und waren mit dem König einig in dem Entſchluſſe, daß der Staat nimmermehr in das banauſiſche Weſen des alten Jahrhunderts zurückſinken dürfe. Als Altenſtein bald darauf an die Spitze des Unter - richtsweſens trat, nahm er ſich vor, das mit der Berliner Univerſität be - gonnene Werk Wilhelm Humboldts fortzuführen und die preußiſche Haupt - ſtadt auch zu einer Heimſtätte deutſcher Kunſt zu erheben. Das Mäce - natenthum König Friedrichs I. hatte immer zunächſt an den Glanz des Hofes gedacht; jetzt da die preußiſche Krone ſich zum zweiten male der bildenden Künſte mit Eifer annahm war ſie ſich der großen Culturauf - gaben des Staates endlich bewußt geworden. Die Pflege der Kunſt er - ſchien ihr nunmehr als eine Pflicht der ſittlichen Volkserziehung, damit aus dem Publikum etwas werde , wie Schinkel zu ſagen pflegte; ſie dachte groß von der Freiheit des Künſtlers und begnügte ſich, den ſchöpferiſchen Köpfen würdige Aufgaben zu ſtellen ohne ſie in ihrer Eigenart zu mei - ſtern. Aber dieſer vornehmen Geſinnung des Königs entſprachen die Kräfte des erſchöpften Staatshaushalts keineswegs. Preußen mußte wieder ein - mal, wie ſchon ſo oft, verſuchen mit armſeligen Mitteln Großes zu ſchaffen, und zur rechten Zeit erſchien der rechte Mann.

Ein univerſaler Geiſt, wie die deutſche Kunſt ſeit Dürers Tagen keinen mehr geſehen, zugleich Baumeiſter, Bildhauer, Maler, Muſiker und, wenn er ſchrieb, immer des edelſten, wirkſamſten Wortes ſicher, hielt Karl Friedrich Schinkel ſeine Augen unverwandt auf die höchſten Ziele der Kunſt gerichtet: das Kunſtwerk war ihm ein Bild der ſittlichen Ideale der Zeit . Thätig, ſchöpferiſch in jedem Augenblicke, ein Verächter der Trägheit, nannte er das Phlegma einen ſündhaften Zuſtand in Zeiten der Bildung, einen thieriſchen in den Zeiten der Barbarei. Mit gan - zem Herzen hing er an ſeiner märkiſchen Heimath. Nun er dieſen Staat im Glanze ſiegreicher Waffen ſtrahlen und den Kampf des Lichtes gegen die Finſterniß, der ihn ſelbſt ſo oft in ſeinen Künſtlerträumen beſchäftigte, glorreich beendigt ſah, ſchien ihm die Zeit gekommen auch die Anmuth und die Fülle einer gereiften Cultur in das preußiſche Leben einzuführen und Berlin in einen heiteren Sitz der Muſen zu verwandeln. Wie einſt Palladio ſeinem Vicenza ſo dachte er der preußiſchen Hauptſtadt den Stempel ſeines Geiſtes aufzuprägen: in der Mitte das Schloß, die Uni - verſität, die Theater und Muſeen, ringsumher ſtatt der eintönigen Zeilen niederer Häuſer ſtattliche Palazzi und freundliche Villen mit fließenden Brunnen, Alles im friſchen Grün der Gebüſche verſteckt, an der Stadt - mauer prächtige Thore und draußen vor dem Leipziger Platze ein hoher gothiſcher Dom, das Siegesdenkmal des Befreiungskrieges. Aber wäh - rend jenem glücklichen Vicentiner ein Geſchlecht reicher Signoren uner - ſchöpfliche Mittel darbot und ihm die Vaterſtadt wie einen Haufen weichen49Schinkel.Thones zu beliebiger Formung in die Hand gab, hatte der preußiſche Künſtler ſein Leben lang mit der nothgedrungenen Sparſamkeit des Mon - archen und ſeiner Beamten zu kämpfen. Dem muß man einen Zaum anlegen! ſagte der König lächelnd, ſo oft der Unerſchöpfliche wieder mit einem neuen Vorſchlage herantrat. Kaum der zwanzigſte Theil ſeiner kühnen Pläne gelangte zur Ausführung. Wie viel Mühe hat es ihn ge - koſtet, auch nur die baufälligen Statuen auf dem Dache des Schloſſes, die das Beamtenthum abbrechen wollte, vor der Vernichtung zu retten. Statt des edlen Hauſteins, der ihn in Italien entzückt hatte, mußte er ſich zumeiſt mit verputztem Backſtein, ſtatt des Erzes mit Zinkguß be - helfen. Gleichwohl genügte dieſer armſelige Bruchtheil ſeiner Entwürfe, neben den Werken der Schlüterſchen Epoche, um der Baukunſt Berlins für immer ihren Charakter aufzuprägen.

Schinkel befreite ſich bald von dem teutoniſchen Rauſche der Kriegs - jahre. Er erkannte, daß die vielgeſtaltige moderne Bildung ſich nicht auf Einen Bauſtil beſchränken darf, und ließ die Kunſtformen des Mittel - alters gelten, wo ſie durch Lage und Bedeutung des Bauwerks bedingt ſchienen. Für ſeine eigenſten Ideale aber fand er jetzt den rechten Aus - druck in einer neuen Form der Renaiſſance, die ſich enger als die Kunſt des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts an die Werke der Alten, vornehmlich der Hellenen, anſchloß und doch immer verſtand dem Sinn und Zweck moderner Bauten gerecht zu werden. Gleich an ſeinem erſten größeren Werke, der neuen Hauptwache, ſprach die kriegeriſche Beſtimmung des Gebäudes ſo mächtig und trutzig aus den ſtrengen, gedrungenen dori - ſchen Formen, daß der Beſchauer den überaus beſcheidenen Umfang faſt vergaß und ſich an Sanmichelis majeſtätiſche Feſtungswerke gemahnt fühlte. Als bald darauf, im Jahre 1817, das Schauſpielhaus abbrannte und das kargende Beamtenthum die Benutzung der alten Brandmauern für den Neubau forderte, da wußte er wieder aus der Noth eine Tugend zu machen; und bald erhob ſich zwiſchen den beiden prächtigen Kuppeln der Gensdarmenkirchen über einer hohen Freitreppe ein feſtlich heiterer ioni - ſcher Tempel, die Giebel und Treppenwangen mit reichem Bildnerwerk geſchmückt denn auf das Zuſammenwirken aller Künſte ging jeder ſeiner Pläne aus der ganze Bau ein getreues Bild dieſer geiſtig ſo reichen, wirthſchaftlich ſo armen Epoche, genial im Entwurfe, aber in der Ausführung vielfach eng und dürftig.

Seitdem ſtand Schinkel feſt in der Gunſt des Königs und übernahm die Leitung alles künſtleriſchen Schaffens in Preußen, nur daß ihm die leidige Geldnoth immer wieder die Fittiche ſeines Genius beſchnitt. In ganz Norddeutſchland und bis nach Skandinavien hinüber gelangte ſeine claſſiſche Richtung zur Herrſchaft. Die Pläne für den Berliner Dom wurden aufgegeben, weil die Mittel fehlten. Statt deſſen entſtand das ſchöne Siegesdenkmal auf dem Kreuzberge. Das Denkmal ſelbſt hatteTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 450II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Schinkel in den gothiſchen Formen, die noch immer als die nationalen galten, entworfen; nur in den Sculpturwerken, womit Rauch und Tieck die Säule ſchmückten, entfaltete ſich die Freiheit des neuen claſſiſchen Stiles. Auf allen den Schlachtfeldern aber, wo Preußens Heere ge - ſchlagen hatten, auf dem Windmühlenberge von Großbeeren wie auf dem hohen Todtenhügel bei Plancenoit in der brabantiſchen Ebene errichtete der verarmte Staat überall die nämliche kümmerliche gothiſche Spitzſäule mit der Inſchrift: Die gefallenen Helden ehrt dankbar König und Vater - land. Sie ruhen in Frieden. Schinkel wußte, daß die monumentale Kunſt ein Treibhausleben führt ſo lange das Alltagstreiben des Volkes ſchmucklos und häßlich bleibt. Er ſah mit Schmerz den nüchternen Ka - ſernenſtil der Bürgerhäuſer, den armſeligen Hausrath der engen Zimmer. Wie kläglich lag das deutſche Kunſtgewerbe darnieder, das einſt ſo rühm - lich mit den Italienern gewetteifert hatte; zu jeder größeren künſtleriſchen Unternehmung mußte man Arbeiter aus der Fremde herbeirufen, Stein - metzen aus Carrara, Kupferſtecher aus Mailand, Erzgießer aus Frank - reich. Er aber fühlte ſich ſtolz als der Apoſtel der Schönheit unter den nordiſchen Völkern und gab daher, nachdem im Jahre 1821 das Berliner Gewerbe-Inſtitut gegründet war, im Verein mit dem genialen Techniker Beuth die Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker heraus, eine Samm - lung von Muſterblättern für häusliches Geräth, die in unzähligen Nach - bildungen allmählich bis in jede Werkſtatt drangen und zuerſt den For - menſinn im deutſchen Handwerk wieder erweckten, mochten immerhin ein - zelne Muſter dem maleriſch geſtimmten modernen Auge allzu kahl und einfach erſcheinen.

Unterdeſſen hatte Rauch in dem alten Markgrafenſchloſſe, dem Lager - hauſe, ſeine Werkſtatt aufgeſchlagen und erzog dort, ein geſtrenger Lehrer, einen Stamm von treuen Schülern und geübten Kunſthandwerkern, alſo daß die deutſche Kunſt allmählich der fremden Hilfe entrathen lernte. Wie er ſelber ohne wiſſenſchaftliche Vorbildung erſt durch das künſtleriſche Schaffen ſelbſt in die Welt der Ideen hineingewachſen war, ſo ſah er auch bei ſeinen Schülern allein auf das Können; tüchtige Klempner, Stein - metzen, Holzſchneider von ſicherem Blick und geſchickter Hand waren ihm willkommener als junge Gelehrte. Vor jener Ueberbildung, die unſere Dichter nicht ſelten auf Abwege führte, blieb die Bildnerkunſt bewahrt.

Feſt und ſicher ſchritt Rauch in dem angehobenen Gange fort; die teu - toniſchen Träume beirrten ihn nie. Er fühlte ſich eins mit dem preußiſchen Staate und ſeinem Herrſcherhauſe, und ihm wurde das ſeltene Glück, in ſeinen Kunſtwerken zugleich ſeine politiſchen Ideale, Alles was ſeinem Herzen theuer war zu verkörpern. Welch ein Segen doch, daß die ganze Nation ſich endlich wieder gemeinſam eines großen Erfolges freuen durfte. Wäh - rend früherhin nur die Landesherren zuweilen ein Denkmal errichtet hatten, erwachte jetzt im Volke ſelber der Wunſch ſeine Helden zu ehren. Zuerſt51Kunſtpflege in Preußen.traten die Mecklenburger zuſammen und ließen durch Gottfried Schadow ihrem Landsmanne Blücher ein Standbild errichten, das erſte größere Werk der neu erſtandenen deutſchen Erzgießerei. Nachher wurde in Schle - ſien geſammelt und Rauch aufgefordert, dem Feldherrn des ſchleſiſchen Heeres dort neben dem Breslauer Ringe, wo ſich einſt die Freiwilligen zuſammengeſchaart hatten, ein Denkmal zu ſetzen. Dann verlangte auch der König Monumente für ſeine Generale, zunächſt für die früh Verſtorbenen, Scharnhorſt und Bülow. Ein weites Gebiet großer, lohnender Aufgaben erſchloß ſich dem Künſtler, der zugleich für den bildneriſchen Schmuck der Schinkelſchen Bauten mit zu ſorgen hatte und das Erz wie den Marmor gleich glücklich zu bewältigen verſtand. Ernſt,[mannhaft] und edel, natur - getreu und doch in hohem Stile gehalten, ſo erſchienen die Bilder ſeiner Helden; und ſelbſt jenen leiſen Zug der Steifheit, der ihnen anhaftete, durfte man nicht ſchelten, weil er dem Charakter des preußiſchen Heeres entſprach. In ſeinen mächtigſten Werken, den Reliefs für die Denkmäler Scharnhorſts und Bülows erhob ſich Rauch zu einem heroiſchen Schwunge, den unſere Bildnerkunſt nicht wieder überboten hat, und ſchilderte mit den einfachſten Mitteln, in wenigen majeſtätiſchen Geſtalten den ganzen Verlauf des Kampfes von den Tagen an, da Preußens Jünglinge ſich aus Fichtenſtämmen ihre Lanzen ſchnitzten bis zu dem ſtolzen Siegesfluge ihres Adlers hoch über die Feſtungen Niederlands und Frankreichs da - hin. Rauch wurde der Hiſtoriker des deutſchen Befreiungskrieges gleich - wie einſt Rembrandt und Bol, van der Helſt und Flinck den Geiſt und Sinn des achtzigjährigen Krieges der Niederländer der Nachwelt über - liefert hatten.

Zugleich geſchahen die erſten Schritte um den Plan eines großen Muſeums in der Hauptſtadt zu verwirklichen. Der Gedanke war ſchon in den erſten Regierungsjahren Friedrich Wilhelms aufgetaucht und nachher, als W. Humboldt das Unterrichtsweſen leitete, ernſtlicher erwogen wor - den. Nunmehr erwarb der König, um die Staatskaſſen zu ſchonen, die beiden großen Gemäldeſammlungen von Giuſtiniani und Solly aus den Mitteln ſeiner Schatulle und überließ ſie dem Staate. Er befahl den Beamten über die Verhandlungen mit Solly ſtreng zu ſchweigen; denn die kunſtfreundlichen Abſichten ſeiner Regierung fanden vorerſt nur in einem kleinen Kennerkreiſe verſtändige Würdigung; man fürchtete, daß die verſtimmte öffentliche Meinung, die mit peſſimiſtiſchem Behagen den Zuſtand des Staates in den finſterſten Farben darzuſtellen liebte, den Monarchen der Verſchwendung anklagen würde ſtatt ihm für ſeine Hoch - herzigkeit zu danken. Der ebenfalls beabſichtigte Ankauf der Boiſſeree - ſchen Gallerie mußte freilich unterbleiben, da der Brand des Schau - ſpielhauſes alle noch verfügbaren Mittel verſchlang. Doch wurden die beſten Stücke der Sammlung durch die neue, kürzlich von Sennefelder erfundene Kunſt des Steindrucks nachgebildet und weithin verbreitet, ſie4*52II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.bildeten den erſten künſtleriſchen Zimmerſchmuck des verarmten deutſchen Hauſes.

Die deutſchen Maler in Rom hatten indeſſen an Bartholdy, einem Verwandten des kunſtſinnigen Mendelsſohnſchen Hauſes, einen unter - nehmenden Gönner gefunden. Der ſtellte ihnen die breiten Wände ſeines Palaſtes in der Via Siſtina zur Verfügung, damit ſie ſich in der Kunſt des Fresco, die ſeit Raphael Mengs völlig eingeſchlafen war, wieder ver - ſuchen könnten. In fröhlichem Wetteifer malten nun Cornelius, Over - beck, Veit und Wilhelm Schadow, durch Niebuhrs Beifall ermuthigt, die großgedachten Bilder aus der Geſchichte Joſephs. Cornelius begrüßte jubelnd die Fresco-Malerei als ein Flammenzeichen auf den Bergen zu einem neuen edlen Aufruhr in der Kunſt , weil ſie den Malern endlich wieder ein Feld für monumentale Werke eröffne und in ihrer herben Strenge die Gedankenarmuth wie die Pfuſcherei unnachſichtlich ausſchließe. Die Kunſt ſo rief er in dem eigenthümlichen terroriſtiſchen Tone der jungen Teutonen die Kunſt ſoll endlich aufhören eine feile Dienerin üppiger Großen, eine Krämerin und niedere Modezofe zu ſein. Gleich Schinkel ſah er die Zeit kommen, da die Kunſt an den Mauern unſerer Städte von innen und außen wiederglänzend das ganze Daſein des Volks umgeſtalten und heiligen werde. Mit dem ſicheren Stolze eines Refor - mators der nationalen Geſittung kehrte er über die Alpen zurück, als ihn nunmehr der junge Kronprinz Ludwig von Baiern nach München berief.

Der Erbe der reichen und allezeit bauluſtigen Wittelsbacher meinte ſich berufen, in dem bairiſchen Lande, das ſoeben erſt in das geiſtige Leben der Nation wieder eingetreten war, einen glänzenden Muſenhof zu gründen. Eine lautere Begeiſterung für die Kunſt wie für den Ruhm ſeines vergötterten deutſchen Vaterlandes beſeelte den geiſtreichen, phan - taſtiſchen Fürſten. Die diplomatiſche Welt erzählte ſich kopfſchüttelnd, wie er zu Rom in altdeutſchem Rocke, Arm in Arm mit dem verdächtigen demagogiſchen Dichter Friedrich Rückert, die Muſeen und Kirchen durch - wandert, wie er die deutſchen Maler zutraulich mit ſeinen holprigen Verſen begrüßt, bei ihren Künſtlerfeſten auf die Vernichtung der Philiſterei und die Einheit Teutſchlands lärmend mit angeſtoßen hatte. Bei allen ſeinen künſtleriſchen Plänen wirkte zugleich ein unſteter dynaſtiſcher Ehrgeiz mit: er hoffte die gründlich verachteten preußiſchen Hungerleider und Empor - kömmlinge zu überbieten, dem bairiſchen Hauſe durch ein großartiges Mäcenatenthum die führende Stellung in Deutſchland zu verſchaffen. Welch ein Gegenſatz zu der Kunſtthätigkeit in Berlin! Dort geſchah nur was ſich aus der Geſchichte und den Lebensbedürfniſſen eines mächtigen, an geiſtigen Kräften reichen Staates unabweisbar ergab, die von großen Künſtlern in ungeſtörter Freiheit geſchaffenen Werke trugen das Gepräge des Nothwendigen. In München baute man um zu bauen, auf einem Boden, der von großen Erinnerungen wenig darbot; die von auswärts berufenen53Kronprinz Ludwig. Cornelius.Künſtler genoſſen einer königlichen Freigebigkeit, welche von der preußiſchen Sparſamkeit glänzend abſtach, doch ſie fühlten ſich in der Fremde und hatten noch lange unter dem Mißtrauen der einheimiſchen Bevölkerung zu leiden; über Allem ſchaltete der launiſche, unberechenbare Wille Eines Mannes, der in ungeduldiger Haſt von Entwurf zu Entwurf hinüber - ſprang und was er bezahlte ganz unbefangen als ſein eignes Werk be - trachtete. Der friedliche Wettkampf der beiden Städte beförderte die viel - ſeitige Entwicklung unſerer Kunſt. Er führte zuletzt zu dem natürlichen Ergebniß, daß die weſentlich monumentalen Künſte der Architektur und Bildhauerei auf dem hiſtoriſchen Boden Berlins ihre größten Erfolge er - rangen, während die freiere, von der Gunſt der Umgebung minder ab - hängige Malerei in München ihre Heimath fand.

Kronprinz Ludwig hatte ſchon ſeit Jahren Ausgrabungen in Grie - chenland veranſtaltet, dann in Italien zuſammengebracht was von den beſten Werken der antiken Bildhauerkunſt nur irgend aufzukaufen war, und ließ nun für dieſe Sculpturenſammlung, die ſchönſte dieſſeits der Alpen, draußen vor den Thoren des alten Münchens durch Klenze einen würdigen Tempel errichten, die Glyptothek, ganz aus edlem Marmor, mit der ge - diegenen Pracht ſüdländiſcher Bauten. Das Gebäude ſelbſt reichte an die geniale Eigenthümlichkeit der Werke Schinkels nicht heran, jedoch an den Wänden und Decken der prächtigen Säle offenbarte Cornelius zum erſten male den ganzen Umfang ſeiner Begabung. Hier ſchuf er, als ein Epiker in Farben, den erſten jener großen Gemälde-Cyklen, in denen der Ideen - reichthum ſeines raſtlos erfindenden Geiſtes allein den angemeſſenen Raum fand: die grandioſen Bilder aus der helleniſchen Sagenwelt. Die Maſſe der Münchener ſpottete über das verrückte Kronprinzenhaus, ſie wußte nichts anzufangen mit der tiefſinnigen Symbolik dieſer Gedankenmalerei, die ihre Werke meiſt ſchon im Carton vollendete und auf den Reiz der Farbe faſt gänzlich verzichtete. Ernſtere Naturen bewunderten, wie der verwegene Idealiſt die keuſche Hoheit der Antike ſo getreu wiedergab und doch zugleich eine den Alten unfaßbare Macht der Leidenſchaft aus ſeinen Gemälden ſprach; denn niemals hatte ein Künſtler des Alterthums eine ſo ganz von Seelenſchmerz zerwühlte Geſtalt geſchaffen wie dieſe trauernde Hecuba. Die chriſtlich-germaniſchen Heißſporne des römiſchen Künſtlerkreiſes bemerkten mit Entſetzen, daß ihr erſter Mann ſich den ge - haßten Heiden Winckelmann und Goethe wieder näherte und die von Berlin ausgehende neuclaſſiſche Richtung überall den Sieg davon trug. Die einſt ſo fruchtbare Schule von S. Iſidoro ging allmählich auseinander; ihre Genoſſen kehrten heim, die Meiſten widmeten ſich einer ſtreng kirchlichen Kunſt, die nur in Anachronismen lebte. Von den Namhaften hielt nur Overbeck am Tiber aus, ein treuer Bekenner der alten nazareniſchen Grundſätze. Er aber wußte die enge Welt von chriſtlichen Geſtalten, die ihm die einzige war, durch den Tiefſinn und die Wärme ſeines gläubigen54II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Gemüths alſo zu verklären, daß ſelbſt die Italiener ihn endlich wie einen neuen Fra Angelico ehrten und dem frommen Convertiten noch die Freude ward das Bethaus des heiligen Franciscus in der Portiuncula-Kirche zu Aſſiſi mit ſeinen ernſten Bildern zu ſchmücken. Wie Berlin ſo ſollte auch München ſeine große Gemäldegalerie erhalten. Die Boiſſereeſche Sammlung, die den Preußen zu theuer geweſen, wurde nach Jahren endlich für Baiern erworben. Ihre Hauptwerke bildeten mit denen der Düſſeldorfer Galerie, die man während der Revolutionskriege widerrecht - lich dem bergiſchen Lande entfremdet hatte, den Stamm für die Mün - chener Pinakothek.

Dergeſtalt war binnen weniger Jahre ein vielgeſtaltiges neues Leben in der bildenden Kunſt erwacht, und nach und nach begannen faſt alle deutſchen Höfe dieſe jungen Kräfte ſorgſam zu pflegen; man fühlte ſich verpflichtet die Nation für ihre ſo bitterlich getäuſchten politiſchen Hoff - nungen irgendwie zu entſchädigen. Auch die ehrwürdigen Ueberreſte alt - heimiſcher Kunſt, die unter dem Aufklärungswahne des vergangenen Jahr - hunderts ſo ſchwer hatten leiden müſſen, fanden jetzt allenthalben treue Beſchützer, und es galt ſchon als ein unerhörtes Zeichen vandaliſcher Roheit, daß die Stadt Goslar ihren Dom, den erinnerungsreichſten der Sachſenlande, noch im Jahre 1820 abtragen ließ.

Keine andere Kunſt aber hat in der Epoche der deutſchen Romantik ſo reife und durchweg geſunde Früchte gezeitigt wie die Muſik. Sie ſtand dem deutſchen Genius von jeher am nächſten; in ihr bethätigte ſich der Formenſinn der Germanen immer mit naiver Urſprünglichkeit, ganz un - getrübt durch jene leidige Kritik, die ihn ſonſt ſo oft im freien Schaffen ſtörte. Sie blieb den Deutſchen treu auch als unſer geiſtiges Leben faſt erſtorben ſchien; ſelbſt das öde Jahrhundert, das dem Weſtphäliſchen Frie - den voranging, erhob ſich das Herz an den ſeelenvollen Klängen des lutheriſchen Kirchenlieds. Nachher, in einer Zeit da die neue Bildung der Nation kaum im Entſtehen war, ſchufen Händel und Bach ihre claſſi - ſchen Werke, bis endlich während der Blüthezeit unſerer Dichtung die deutſche Muſik durch Gluck, Haydn, Mozart zu einer Höhe emporge - hoben wurde, die kein anderes Volk je erreicht hat. Dem vielſeitigſten der Dichter trat der vielſeitigſte aller Tonſetzer an die Seite. Beide dank - ten der geheimnißvollen Kraft der unmittelbaren Eingebung eine wunder - bare Leichtigkeit des Schaffens; aber wie viel einfacher und natürlicher war Mozarts Loos! Er ſchuf für eine Hörerſchaft, die ihm mit dankbarer Empfänglichkeit folgte, und lebte in traulichem Verkehre mit den Sängern und Muſikern, denen er ſeine Rollen auf den Leib ſchrieb. So ward jedes ſeiner Werke ein abgerundetes Ganzes; alle die fragmentariſchen Verſuche und halben Anläufe, welche Goethe in ſeiner Einſamkeit nicht vermeiden konnte, blieben ihm erſpart. Die Muſik vereinigte, mehr noch als die Literatur, Alles was deutſchen Blutes war zu gemeinſamer Freude;55K. M. v. Weber.die Mehrzahl der großen Tonſetzer gehörte durch die Geburt oder durch langen Aufenthalt den öſterreichiſchen Landen an, die an der Arbeit unſerer Dichtung ſo wenig Antheil nahmen, und fand grade dort das freudigſte Verſtändniß.

Noch bei Mozarts Lebzeiten trat jener Gegenſatz des Naiven und des Sentimentalen hervor, der, im Weſen aller Künſte begründet, in den Zeiten ihrer reichſten Entfaltung ſich unfehlbar offenbaren muß. Wie einſt Michel Angelo neben Raphael, Schiller neben Goethe, ſo erſchien Beethoven neben Mozart, ein pathetiſcher Genius, der mit dämoniſcher Kraft faſt über die Schranken ſeiner Kunſt hinaus in’s Unendliche ſtrebte, ein Sänger der Freiheit, des männlichen Stolzes, ganz erfüllt von den Ideen der Menſchenrechte. Die Widmung ſeiner Eroica, die er dem Erben der Revolution, Bonaparte zugedacht hatte, zerriß er und trat ſie mit Füßen als er von den Gewaltthaten des Despoten erfuhr. Nie ſchuf er Größeres als wenn er den uralten Lieblingsgedanken der freien Ger - manen, den Sieg des hellen Geiſtes über das dumpfe Verhängniß ſchil - derte, wie in der C moll Symphonie. War er doch ſelber, der taube Beherrſcher der Töne, ein lebendiger Zeuge für die Wunderkraft des gott - begeiſterten Willens. Selbſt die blaſirte Geſellſchaft des Wiener Con - greſſes riß er hin durch das hohe Lied der Treue, den Fidelio; dem ver - wegenen Fluge ſeiner ſymphoniſchen Tondichtungen aber vermochte erſt ein ſpäteres Geſchlecht ganz zu folgen.

Die Entwicklung unſerer Muſik trug von Haus aus einen rein nationalen Charakter, ſie konnte daher auch von den romantiſchen Stim - mungen und den großen Ereigniſſen der Zeit nicht unberührt bleiben. Gleich nach dem Kriege gab Karl Maria v. Weber dem Schwertliede, dem Liede von Lützows wilder Jagd und anderen Geſängen Körners die muſikaliſche Geſtaltung, die ihnen erſt die Unvergänglichkeit ſicherte und in tauſenden junger Herzen die Begeiſterung des Befreiungskrieges wach hielt. Ein bewußter Vorkämpfer vaterländiſcher Geſinnung und Bildung, übernahm er ſodann die Leitung der neugegründeten deutſchen Opernge - ſellſchaft in Dresden, und ihm gelang, die italieniſche Opernbühne, die der Hof nach der Gewohnheit des alten Jahrhunderts noch als die vor - nehmere begünſtigte, gänzlich in den Schatten zu ſtellen; ſelbſt die Preſſe rief er zu Hilfe um ſeine Landsleute in das Verſtändniß der heimiſchen Kunſt einzuweihen. Der gemüthvolle Holſte war auf weiten Wander - fahrten faſt in jedem Winkel deutſcher Erde mit Land und Leuten wohl vertraut geworden; und recht aus dem Herzen ſeines Volkes heraus ſchuf er die erſte deutſche romantiſche Oper, den Freiſchütz, ein Werk voll jugendlicher Friſche, das alle Luſt und allen Spuk des deutſchen Waldes ſo naiv und treu ſchilderte, daß die Nachwelt ſich heute kaum vorſtellen kann, es hätte jemals eine Zeit gegeben, da der deutſche Waidmann noch nicht zu den Klängen des Waldhorns ſang: was gleicht wohl auf Erden56II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.dem Jägervergnügen? Zur ſelben Zeit erhielt das deutſche Lied durch einen fromm beſcheidenen Wiener Künſtler, Franz Schubert, ſeine höchſte Ausbildung; die ganze Tonleiter der geheimſten Seelenſtimmungen ſtand ihm zu Gebote, namentlich die milde Schönheit der Goethiſchen Dichtung zog ihn an. Bald nachher fanden Uhlands Lieder an dem Schwaben Konradin Kreutzer einen congenialen Componiſten.

Von jenem katholiſirenden Weſen, das ſo viele Poeten der Romantik ankränkelte, hielt ſich die romantiſche Muſik völlig frei, obgleich die mei - ſten unſerer namhaften Tonſetzer der katholiſchen Kirche angehörten. Sie ſprach ſchlicht und recht das Allen Gemeinſame aus, ſie verwirklichte durch die That das von den romantiſchen Dichtern ſo oft geprieſene, aber nur von Uhland wirklich erreichte Ideal der volksthümlichen Kunſt; und da der Dilettantismus in keiner Kunſt ein ſo gutes Recht hat wie in der Muſik, ſo zog ſie auch bald das Volk ſelber zu freier Mitwirkung heran. Schon in den neunziger Jahren waren Berliner Muſikfreunde zu der Singakademie zuſammengetreten um bei der Aufführung Händelſcher Ora - torien und ähnlicher Werke den Chorgeſang zu übernehmen. Zelter, der derbe, warmherzige Freund Goethes ſtiftete dann im Jahre 1808 zu Berlin die erſte deutſche Liedertafel, einen kleinen Kreis von Dichtern, Sängern und Componiſten zur Pflege des Geſanges. Mehrere andere norddeutſche Städte folgten nach. In dem preußiſchen Volksheere nahm während der Kriege das fröhliche Singen kein Ende; die Lützowſche Frei - ſchaar beſaß bereits einen geſchulten Sängerchor, und ihr Beiſpiel fand nach dem Frieden in vielen preußiſchen Regimentern Nachahmung.

Da gab zur rechten Stunde (1817) der Schweizer Nägeli die Geſang - bildungslehre für Männerchor heraus; er nannte den Chorgeſang das eine, allgemein mögliche Volksleben im Reiche der höheren Kunſt und for - derte die ganze Nation zur Theilnahme auf. Sieben Jahre ſpäter entſtand dann der Stuttgarter Liederkranz, das Vorbild für die zahlreichen Lieder - kränze Süd - und Mitteldeutſchlands, die nach der zwangloſen, demokra - tiſchen Weiſe des Oberlandes von vornherein auf eine größere Mitglieder - zahl berechnet waren, als die mehr häuslich eingerichteten Liedertafeln des Nordens, und ſich nicht ſcheuten mit öffentlichen Aufführungen und Sän - gerfeſten vor das Volk hinauszutreten. Die Muſik wurde die geſellige Kunſt des neuen Jahrhunderts, wie die Beredſamkeit im Zeitalter des Cinquecento, ein unentbehrlicher Schmuck für jedes deutſche Feſt, recht eigentlich ein Stolz der Nation. In allen Gauen erwachte die Sanges - luſt, wie nie mehr ſeit den Tagen der Meiſterſinger. Man empfand lebhaft, wie mit dieſer neuen edleren Geſelligkeit ein freierer Luftzug in das Volksleben kam, und rühmte gern, daß vor des Geſanges Macht der Stände lächerliche Schranken fielen . Unzählige kleine Leute empfingen allein durch den Geſang die Ahnung einer reinen, über dem Staub und Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben dieſem reichen57Der Männergeſang.Segen kam kaum in Betracht, daß der unbeſtimmte Enthuſiasmus, wel - chen die geſtaltloſe Muſik erweckt, manchen deutſchen Träumer in der verſchwommenen Schwärmerei ſeiner Gemüthspolitik beſtärkte.

Das neue Geſchlecht hatte doch nicht umſonſt ſeine Kraft in einem Volkskriege geſtählt, und nicht umſonſt war während zweier Menſchen - alter, auf jeder Entwicklungsſtufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur Natur, zum einfach Menſchlichen gepredigt worden. Allenthalben began - nen die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und, ohne daß ſie es ſelber noch recht bemerkte, demokratiſcher zu werden; die Zeit des Stubenhockens, der ängſtlich abgeſchloſſenen Caſinos und Kränz - chens neigte ſich zum Ende. Seit dem Frieden ward auch das lang ent - behrte Reiſen wieder möglich. Während die reichen Ausländer die große Tour durch Europa einſchlugen, deren romantiſche Hauptſtationen Lord Byron im Childe Harold vorgezeichnet hatte, ſuchten die genügſamen Deutſchen mit Vorliebe die beſcheidene Anmuth ihrer heimiſchen Mittel - gebirge auf. Die Felſen des Meißner Hochlands, die der Pfarrer - tzinger vor Kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der Sächſiſchen Schweiz geprieſen; Gottſchalcks Führer durch den Harz gab zuerſt Rathſchläge für Gebirgswanderungen, und ſeit Reichard ſeinen Paſſagier veröffentlichte nahm die Zahl der Reiſehandbücher allmählich zu. Die Reiſenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menſchen - werk aufgeſucht, all das Seltſame und Abſonderliche, was im Curieuſen Antiquarius verzeichnet ſtand; die neue Zeit bevorzugte die romantiſchen Reize der maleriſchen Landſchaften und die ſagenreichen Erinnerungsſtätten der vaterländiſchen Geſchichte. Das früherhin ſo beliebte Reiſen zu Pferde kam allmählich ab, in Folge der allgemeinen Verarmung. Als Arndt in ſeinen jungen Jahren die deutſchen Lande zu Fuß durchſtreifte, fand er faſt überall nur Handwerksburſchen als Reiſegefährten; jetzt kam die Poeſie des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein rechter Turner war mußte ſich auf den Dauerlauf verſtehen. Eine neue Welt unſchuldiger Freuden ging der deutſchen Jugend auf, ſeit überall in Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Schaaren von Studenten oder Künſtlern ſingend ihres Weges zogen. Jede verfallene Burg und jeder ausſichtsreiche Berggipfel ward erklettert; Nachts nahmen die munteren Geſellen gern mit der Streu im Bauernwirthshauſe vorlieb oder ſie onkelten bei einem gaſtfreien Pfarrherrn. Mit der Guitarre über der Schulter wanderte Auguſt v. Binzer, der Stolz der Jenenſer Bur - ſchenſchaft, glückſelig durch ganz Deutſchland, und in allen Dörfern ſtrömte das junge Volk zuſammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou - badours zu lauſchen.

Auch die politiſche Geſinnung des heranwachſenden Geſchlechts ward durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet. Die Jugend erlebte ſich den Gedanken der nationalen. Einheit, ſie fühlte ſich überall58II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.auf deutſchem Boden heimiſch; ſie lernte, daß der Kern unſeres Volks - thums trotz der Mannichfaltigkeit der Lebensformen in allen deutſchen Gauen derſelbe iſt, und ſah mit wachſendem Unwillen auf die künſtlichen trennenden Schranken, welche die Politik mitten durch dies einige Volk gezogen hatte. Leider wurden faſt nur die Norddeutſchen dieſer Erkennt - niß theilhaftig. Da Niederdeutſchland von den romantiſchen Herrlichkeiten, welche dieſem Geſchlechte allein als ſehenswerth galten, nur wenig bot, ſo kamen die Süddeutſchen ſelten aus ihren ſchönen heimiſchen Bergen her - aus. Während im Norden bald kaum ein gebildeter Mann mehr lebte, der nicht etwas von Land und Leuten des Südens geſehen, blühte im Oberlande die particulariſtiſche Selbſtgefälligkeit, das Kind der Unkennt - niß. Süddeutſchland blieb noch auf lange hinaus die Hochburg der ge - häſſigen Stammesvorurtheile. Im Norden fanden ſich, außerhalb Ber - lins, immer nur einzelne Thoren, die den Süddeutſchen Verſtand und Bildung abſprachen. Weit häufiger hörte man im Süden die Läſterrede, den Norddeutſchen fehle das Gemüth; mancher wackere Oberländer ſtellte ſich die Landſchaften nördlich des Mains wie eine endloſe traurige Ebene vor und meinte, unter dieſem winterlichen Himmel gedeihe nur noch Sand und äſthetiſcher Thee, Kritik und Junkerthum.

Der mächtige Umſchwung der geſammten Weltanſchauung, der ſich innerhalb der deutſchen Wiſſenſchaft, ſeit ihrer Einkehr in das hiſtoriſche Leben, zu vollziehen begann, der ganze Gegenſatz des alten und neuen Jahrhunderts fand ſchon zur Zeit des Wiener Congreſſes einen denk - würdigen Ausdruck in einem gelehrten Streite, deſſen tiefer Sinn im Ausland noch gar nicht, in Deutſchland ſelbſt nur von Wenigen ganz begriffen wurde. Die erſehnte Wiederaufrichtung des deutſchen Reichs war durch den raſchen Verlauf des Krieges vereitelt worden. Um ſo lei - denſchaftlicher hielten die enttäuſchten Patrioten an den Hoffnungen feſt, deren Erfüllung man auch unter dem Deutſchen Bunde noch als möglich anſah; und von dieſen erſchien keine ſo billig, ſo beſcheiden wie das Ver - langen nach Einheit des nationalen Rechts. Ueber die nothwendige Be - ſeitigung des aufgedrungenen Code Napoleon waren Regierungen und Regierte in jenem Augenblicke einig. Sollte man nun ſtatt der franzö - ſiſchen Geſetzbücher das alte gemeine Recht wieder einführen, jenes Recht der römiſchen Juriſten, das die teutoniſchen Eiferer als den Todfeind germaniſcher Gemeinfreiheit betrachteten? und dazu jenen Wuſt von Lokal - Rechten, deſſen buntſcheckige Mannichfaltigkeit den Patrioten wie den Phi - loſophen gleich anſtößig war? Die Stunde ſchien gekommen, durch ein nationales Geſetzbuch das fremdländiſche Weſen und den Particularis - mus zugleich zu überwinden. Waren doch die großen Grundgedanken des59Thibaut. Hugo.Naturrechts durch die Rechtsphiloſophen des alten Jahrhunderts längſt feſtgeſtellt; wenn ſich nur ein weiſer, thatkräftiger Geſetzgeber fand, ſo konnte es nicht ſchwer halten dieſe Ideen auf Deutſchland anzuwenden. Von ſolchen Anſchauungen war die öffentliche Meinung beherrſcht, als Thibaut, der berühmte Lehrer der Pandekten zu Heidelberg, in einer kleinen Schrift voll patriotiſcher Wärme die heilloſen Folgen der beſtehen - den Zerſplitterung und die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutſchland darlegte; das Geſetzbuch des künftigen deutſchen Rechts dachte der geiſtreiche Mann wie einen Staatsvertrag unter die Ge - ſammtbürgſchaft der verbündeten Mächte zu ſtellen. Faſt die geſammte patriotiſche Preſſe erklärte ſich einverſtanden.

Da erſchien im Herbſt 1814 die Gegenſchrift Karl Friedrich von Sa - vignys über den Beruf unſerer Zeit zur Geſetzgebung , das wiſſenſchaft - liche Programm der hiſtoriſchen Rechtsſchule. Sie wirkte um ſo mächtiger, da auch die Gegner insgeheim fühlten, daß hier nicht blos die Meinung eines Mannes zu Tage kam, ſondern das wohlgeſicherte Ergebniß jener tieferen und freieren Auffaſſung des Staatslebens, welche einſt in Her - ders und Möſers genialen Ahnungen, in Gentzs und Wilhelm Hum - boldts antirevolutionären Jugendſchriften ſich zuerſt angekündigt, nachher durch Niebuhr und Eichhorn ihre wiſſenſchaftliche Durchbildung, in den Geſetzen Steins und Scharnhorſts ihre praktiſche Bewährung gefunden hatte. Unter den Lehrern des Civilrechts war zuerſt der Göttinger Guſtav Hugo den Doktrinen des alten Jahrhunderts entſchloſſen entgegengetreten. Sein ſcharfer Verſtand konnte ſich bei dem unlösbaren Dualismus der Naturrechtslehre nicht beruhigen; er erkannte als undenkbar, daß ein un - wandelbares natürliches Recht dem beweglichen poſitiven Rechte gegenüber - ſtehen ſollte. Daher wies er Recht und Staat als Erſcheinungen der hiſtoriſchen Welt kurzerhand aus dem Gebiete der Speculation hinaus und ſtellte der Rechtslehre die Aufgabe, das poſitive Recht in ſeinem Werdegange bis zu ſeinen letzten Wurzeln hinauf zu verfolgen und alſo hiſtoriſch zu verſtehen. Geſtützt auf eine gründliche Quellenforſchung, welche der erſtarrten deutſchen Rechtswiſſenſchaft längſt abhanden gekom - men war, begann er zunächſt die Entwicklung der römiſchen Rechtsge - ſchichte darzulegen und gelangte bereits zu der Einſicht, daß die vielbe - klagte Aufnahme des römiſchen Rechts in Deutſchland nicht als Zufall oder Verirrung, ſondern als eine nationale That des deutſchen Geiſtes, als ein natürliches Ergebniß der Cultur der deutſchen Renaiſſance be - trachtet werden müſſe. Die tiefere Frage: warum die Geſtaltung des poſitiven Rechts ſo mannichfaltig und ſo beweglich ſei? wurde von dem Kantianer Hugo noch nicht aufgeworfen.

Hier ſetzte Savigny ein, der den weiteren Geſichtskreis der roman - tiſchen Geſchichtsphiloſophie beherrſchte, und bewies mit ſeiner überlegenen Ruhe, die das Dunkelſte durchſichtig erſcheinen ließ: die Entwicklung des60II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Rechts werde nicht durch ſubjective Ideen beſtimmt, ſondern durch den Geiſt der Völker, der in der Weltgeſchichte ſich offenbare; das Recht führe kein Daſein für ſich, ſondern es werde und wachſe, gleich der Sprache, mit den Völkern, mit ihrem Glauben, ihren Sitten, ihrem ganzen gei - ſtigen Vermögen. Darum erfolge auch die Rechtsbildung nicht, wie die beiden letzten Jahrhunderte glaubten, allein oder überwiegend durch die Geſetzgebung, ſondern unter beſtändiger Mitwirkung des Volkes ſelber, die ſich in dem Gewohnheitsrechte und, bei reiferer Bildung, in der be - wußten Arbeit der Rechtswiſſenſchaft bethätige; grade in jugendlichen Völ - kern erſcheine die rechtsbildende Kraft am ſtärkſten, die beſchränkte aber lebensvolle Individualität des Rechts noch nicht verkümmert durch jene un - beſtimmte Allgemeinheit, die dem Rechte alternder Nationen eigenthümlich ſcheine. Dann ward an dem Beiſpiele der Kunſtgeſchichte erwieſen, daß nicht jede Zeit zu jedem Werke berufen ſei, und darauf der völlig unreife Zuſtand der deutſchen Rechtswiſſenſchaft dargethan; wie weit war ſie doch, in ihrem Ideengehalte wie in der Ausbildung ihrer Sprache, zurückge - blieben hinter dem Aufſchwung der allgemeinen Literatur, und wie ſtüm - perhaft mußte ein mit ſo mangelhaften Kräften unternommenes Geſetz - buch ausfallen! Was wir brauchen ſo lautete der Schluß iſt eine der ganzen Nation gemeinſame, organiſch fortſchreitende Rechtswiſſenſchaft, die das vorhandene Recht bis in ſeine erſten Quellen ergründet um der - geſtalt zu zeigen, was in ihm noch heute lebendig iſt und was einer überwundenen Vergangenheit angehört; in ihr iſt die vorläufig erreichbare Einheit des deutſchen Rechts gegeben; hat ſie ſich erſt ſo ſelbſtändig ent - wickelt, daß ſie das gegebene Recht geiſtig beherrſcht, dann wird das Ver - langen nach einer Codification, das bei den Römern erſt in den Tagen des Verfalles ſich äußerte, von ſelber verſchwinden.

Dieſer Schrift verdankte die Wiſſenſchaft des poſitiven Rechts, daß ſie ſich den anderen Geiſteswiſſenſchaften wieder ebenbürtig an die Seite ſtellen durfte. Das alte Jahrhundert hatte nur die Gedanken der Phi - loſophen über das Recht geachtet, die Erforſchung des wirklichen Rechts geringſchätzig dem formalen Scharfſinn juriſtiſcher Handwerker überlaſſen. Jetzt erkannte die poſitive Rechtswiſſenſchaft, daß ihr ſelber eine philoſo - phiſche Aufgabe obliege, daß ſie berufen ſei zu lehren wie ſich die Ver - nunft der Geſchichte in dem Entwicklungsgange der Rechtsbildung offen - bart und entfaltet, und alſo theilzunehmen an der beſten Gedankenarbeit des Zeitalters, das ſeinen Ruhm darin ſuchte der Menſchheit das Be - wußtſein ihres Werdens und alſo ihres Weſens zu erwecken. In weiter Ferne zeigte ſich endlich eine noch höhere Aufgabe, welche Savigny nur andeutete und kommenden Geſchlechtern zur Löſung überließ: wenn es gelang, die innere Nothwendigkeit der Geſtaltung des Rechts, ſeine Ver - kettung mit der Volkswirthſchaft und der geſammten Cultur der Völker in jedem einzelnen Falle nachzuweiſen, dann mußten zuletzt auch die Ge -61Savigny, Beruf unſerer Zeit.ſetze der Rechtsbildung ſelber aufgefunden werden. Auf viele der ſchwie - rigſten Probleme der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft, die dem philoſophiſchen Jahrhundert noch ganz unfaßbar geweſen, warf die kleine Schrift ein überraſchendes Licht. Noch Niemand hatte ſo anſchaulich gezeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt in der Gegenwart ſelbſt wider Wiſſen und Willen der Lebenden, wie Kraft und Wille des Einzelnen gebunden ſind an das Maß der Begabung ſeines Zeitalters, wie jedes Anwachſen der Cultur nothwendig einen Verluſt in ſich ſchließt, und darum die ſtolze, dem Zeit - alter der Revolution ſo geläufige Lehre von dem ewigen Fortſchritt der Menſchheit nur den Werth einer unerwieſenen Behauptung beſitzt. Roch Niemand hatte den Lieblingswahn der Zeit, der die Freiheit in der Staats - form ſuchte, ſo ſiegreich widerlegt: Freiheit und Despotismus, ſo führte Savigny aus, ſind in jeder Staatsverfaſſung möglich; jene beſteht überall wo die Staatsgewalt die Natur und Geſchichte in den lebendigen Kräften des Volkes achtet, dieſer überall wo die Regierung nach ſubjectiver Will - kür verfährt.

Schon elf Jahre früher hatte Savigny in ſeiner Erſtlingsſchrift über das Recht des Beſitzes ein Werk geſchaffen, das den beſten Leiſtungen der großen franzöſiſchen Civiliſten des ſechzehnten Jahrhunderts gleichkam. Nunmehr betrat er mit ſeiner Geſchichte des römiſchen Rechts im Mit - telalter ein noch völlig unbebautes Gebiet und deckte den inneren Zu - ſammenhang des antiken und des modernen Rechts zum erſten male auf. Eine räthſelhafte Gunſt des Schickſals, die ſich nicht mehr Zufall nennen läßt, pflegt immer, ſobald die ſichere Ahnung einer großen neuen Erkennt - niß in der Wiſſenſchaft erwacht iſt, den Suchenden zu Hilfe zu kommen. So fand jetzt Niebuhr im Jahre 1816 zu Verona die Handſchrift des Gaius; das claſſiſche Zeitalter der römiſchen Rechtswiſſenſchaft, das man bisher faſt allein aus den dürftigen Fragmenten der Pandekten kannte, trat mit einem male den Ueberraſchten leibhaftig vor die Augen. Die römiſche Rechtsgeſchichte ward durch eine lange Reihe gründlicher Einzel - forſchungen völlig neu geſtaltet, während gleichzeitig Eichhorn ſeine deutſche Rechtsgeſchichte weiter führte, Jakob Grimm und viele andere jüngere Talente ſich in die Quellen des germaniſchen Rechts vertieften. Die von Savigny und Eichhorn herausgegebene Zeitſchrift für geſchichtliche Rechts - wiſſenſchaft bildete den Sprechſaal für die ſtetig wachſende hiſtoriſche Rechts - ſchule; Savigny aber blieb ihr anerkanntes Haupt und ihr wirkſamſter Lehrer. Die eindringliche Kraft der akademiſchen Beredſamkeit und das ſchöpferiſche Genie, die ſo ſelten zuſammen gehen, fanden ſich in ihm glücklich vereinigt. Mochte ſeine vornehme Haltung zuerſt Manche zurück - ſchrecken, wer ihm näher trat fühlte ſich bald ermuthigt durch die liebe - volle Milde ſeines Urtheils und lernte, daß in der Wiſſenſchaft auch die beſcheidene Begabung ihr gutes Recht hat wenn ſie gewiſſenhaft in ihren Schranken bleibt. Auf Savignys Wegen weiter ſchreitend ward die62II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.deutſche Rechtswiſſenſchaft allmählich wieder heimiſch in dem wirklichen Rechte, und nach zwei Menſchenaltern fühlte ſie ſich ſtark genug den Mei - ſter ſelbſt zu widerlegen, den Beruf der Zeit zur Geſetzgebung durch die That zu erweiſen.

Den vorherrſchenden Meinungen des Tages lief die hiſtoriſche Rechts - lehre ſchnurſtracks zuwider. Die Patrioten grollten weil ihnen ein Lieb - lingstraum zerſtört war; auch das Selbſtgefühl der Philoſophen fühlte ſich tief beleidigt. Hegel nannte Savignys Schrift eine dem Zeitalter ange - thane Schmach, und Schön, der liberale Kantianer wollte in der mächtigen Gedankenarbeit der geſchichtlichen Rechtswiſſenſchaft ſein Lebelang nichts weiter ſehen als Notizen aus Chroniken . Aber auch die Bureaukratie des Rheinbundes hörte mit Abſcheu von der rechtsbildenden Kraft des Volksgeiſtes, die der Weisheit des grünen Tiſches ſo wenig Raum ließ; der bairiſche Staatsrath Gönner beſchuldigte in einer gehäſſigen Schmähſchrift die Anhänger der hiſtoriſchen Schule gradezu der demagogiſchen Geſinnung. In Wahrheit ſtanden die Grundgedanken der neuen Lehre hoch über dem Streite der Parteien. Blieb ſie ſich ſelber treu, ſo mußte ſie das ſtarre Feſthalten an der beſtehenden Ordnung ebenſo entſchieden verurtheilen wie den Leichtſinn revolutionärer Geſetzgebungskunſt; vollends mit den myſti - ſchen Träumen der neukatholiſchen Romantiker hatte ihre kritiſche Strenge und Nüchternheit nichts gemein. Trotzdem konnte Savigny den Geſin - nungsgenoſſen der Romantik nicht verleugnen. Wie die geſammte Wiſſen - ſchaft jener Tage die Epochen der hellen, bewußten Bildung geringſchätzte neben dem dunkelklaren Jugendleben der Völker, wie die Brüder Grimm das Volkslied vor der Kunſtdichtung bevorzugten und Arnim ihnen prei - ſend zurief: ihr achtet was Keinem eigen, was ſich ſelbſt erfunden, ſo verweilte auch der Meiſter der hiſtoriſchen Rechtslehre mit Vorliebe bei den Zeiten der halb bewußtloſen Rechtsbildung, da Geſetz und Sitte noch ungeſchieden beiſammen liegen und das Recht gleich der Sprache ſich ſelber zu erfinden ſcheint. Wie die ganze Zeit noch von der äſthetiſchen Welt - anſchauung beherrſcht ward, ſo legte auch Savigny unwillkürlich den Maß - ſtab der Kunſt an das Recht und verlangte von dem Geſetzgeber, was die Dichter der Xenien einſt mit Recht von dem Künſtler gefordert hatten: daß er ſchweige wenn er nicht vermöge das Ideal zu verwirklichen. Er überſah, daß im politiſchen Leben das harte Gebot der Noth entſcheidet, daß der Staatsmann nicht das Vollkommene zu ſchaffen hat, ſondern das Unentbehrliche; mit gutem Grunde hielt ihm Dahlmann entgegen: bricht das Dach über meinem Haupte zuſammen, ſo iſt mein Beruf zum Neubau dargethan.

Wie alle Romantiker hatte ſich auch Savigny im Kampfe mit den Ideen der Revolution ſeine Bildung erworben; und obſchon er als Staats - mann niemals einer extremen Richtung angehörte, ſo vermochte er gleich - wohl nicht dieſer neueſten Zeit, die doch auch Geſchichte war, ihr hiſto -63Vernunftrecht und hiſtoriſches Recht.riſches Recht zu geben und urtheilte offenbar ungerecht über den Code Napoleon. Voll Abſcheus gegen die ſeichte Neuerungsluſt der modernen Welt, verkannte er, daß das Recht am letzten Ende nicht durch den Volksgeiſt, ſondern durch den Volkswillen beſtimmt wird, der in Zeiten höherer Geſittung nur durch den Mund des Staates ſich ausſprechen kann. Er bemerkte nicht immer, daß die großen Wandlungen des Völ - kerlebens, die dem rückſchauenden Geſchichtsforſcher als unabwendbare Nothwendigkeiten erſcheinen, doch nur durch das Wollen der Handelnden, durch die Wahl und Qual des freien Entſchluſſes möglich werden. Wer ihm blindlings folgte konnte leicht einem dumpfen Fatalismus verfallen und ſich verſucht fühlen, die köſtlichſte Kraft der hiſtoriſchen Welt, die Macht des Willens ganz aus der Geſchichte zu ſtreichen. Der Ausſpruch eine Verfaſſung kann nicht gemacht werden, ſie muß werden, das viel - deutige Lob der organiſchen Entwicklung und ähnliche Lieblingsſätze der hiſtoriſchen Schule dienten der gedankenloſen Ruheſeligkeit zum willkom - menen Lotterbette. So geſchah es, daß eine That der deutſchen Wiſſen - ſchaft, welche die geſammte Nation mit Stolz hätte erfüllen ſollen, als - bald in den kleinen Zank des Tages herabgeriſſen wurde. Die Maſſe der Liberalen hielt noch lange an den überwundenen Lehren des Natur - rechts feſt und zeigte trotzdem in einzelnen Fällen mehr hiſtoriſchen Sinn, mehr Verſtändniß für die Zeichen der Zeit als die Gegner. Die conſer - vativen Parteien eigneten ſich mehr oder minder ehrlich die Ideen der hiſtoriſchen Schule an und ſchauten mit dem Bewußtſein wiſſenſchaftlicher Ueberlegenheit auf die Flachheit der liberalen Doktrinen hernieder. Ver - nunftrecht und hiſtoriſches Recht! ſo lauteten die Loſungsworte eines im Grunde ſinnloſen Streites, der durch Jahrzehnte hinausgezogen die Verbitterung unſeres öffentlichen Lebens ſteigerte und zuweilen zu völliger Sprachverwirrung führte. Es bedurfte erſt der bitteren Erfahrungen des Jahres 1848, bis die Einen die Geſchichte als ein ewiges Werden begreifen lernten und die Anderen erkannten, daß im Staatsleben nur das hiſto - riſch Begründete vernünftig iſt. Seitdem erſt verlor der Name der hiſto - riſchen Schule den gehäſſigen Sinn einer Parteibezeichnung, und der un - zerſtörbare Kern ihrer Lehren ward allmählich ein Gemeingut aller ge - mäßigten Politiker.

Unter den Bahnbrechern der neuen hiſtoriſchen Bildung beherrſchte doch Keiner einen ſo weiten Geſichtskreis wie Barthold Niebuhr. Niemand trat dem literariſchen Dünkel der alten, dem Leben entfremdeten Buch - gelehrſamkeit ſo ſcharf, ſo verächtlich entgegen, wie dieſer Mann des uni - verſalen Wiſſens, der jeder Bewegung der Politik, der Wiſſenſchaft und der Kunſt im Welttheil mit hellem Verſtändniß folgte. Das unpolitiſche Geſchlecht der letzten Jahrzehnte hatte Schillers äſthetiſche Geſchichtser - zählungen und die geſchichtsphiloſophiſchen Verſuche Herders und Schle - gels höher geſchätzt als Spittlers ſachlich politiſche Darſtellung; Niebuhr64II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.wurde nicht nur der Begründer der neuen kritiſchen Geſchichtſchreibung durch die geniale Selbſtändigkeit ſeiner Forſchung, die überall bis zu den letzten Quellen der Ueberlieferung vordrang, er ſtellte auch den Staat wieder, wie ihm gebührt, breit in die Mitte der hiſtoriſchen Bühne und bewährte durch die That die Anſicht der Griechen, daß der Hiſtoriker vor Allem ein politiſcher Kopf ſein ſoll. Er wußte, wie raſch die Cultur und die ſittliche Kraft der Völker dahinwelkt, wenn ihnen die Macht fehlt ſich die Achtung der Welt zu erzwingen, und ſchilderte mit ſchonungsloſer Härte die Verkümmerung des deutſchen Charakters durch das leere Scheinleben der Kleinſtaaterei: wie kleinlich, afterredneriſch, verunglimpfend ſei dies Geſchlecht geworden, Ehren iſt ihm ein entſetzlich drückendes Gefühl. In der engen Welt des Alterthums und des Mittelalters konnten kleine Staaten ſich als Träger der Geſittung behaupten; heutzutage iſt nur noch in großen Staaten, die das Gleichartige zuſammenfaſſen, volles Leben möglich . Seine Anſicht vom Staate hatte er ſich durch das Leben gebildet, durch das Anſchauen der uralten Bauernfreiheit ſeiner Heimath Ditmarſchen, durch Reiſen in England und Holland, durch lange Thätig - keit als Bankdirektor und Verwaltungsbeamter. So ward er wie Stein ein abgeſagter Feind aller politiſchen Syſtemſucht und fand wie Jener den Eckſtein der Freiheit in der Selbſtverwaltung, die den Bürger ge - wöhne mannhaft auf eigenen Füßen zu ſtehen und das Regieren, nach der Weiſe der Alten, handanlegend zu lernen. Es kommt, ſo ſchloß er, mehr darauf an, ob die Unterthanen in den einzelnen Gemeinden ſich unmündig befinden, als darauf, ob die Grenzen zwiſchen der Gewalt der Regierung und der Repräſentation etwas weiter vorwärts oder zurück ge - zogen ſind. Daher erkannte er ſogleich, daß Frankreich trotz der Charte der Bourbonen noch immer ein Land des Despotismus war, da die napoleoniſche Verwaltungsordnung unverändert fortbeſtand. Um ſeine Landsleute vor der einſeitigen Ueberſchätzung der conſtitutionellen Staats - formen zu warnen und ſie wieder an die geſunden Grundgedanken des Steinſchen Reformwerks zu erinnern, gab er gleich nach dem Frieden jene Abhandlung Vinckes über die engliſche Verwaltung, die einſt unter Steins Augen entſtanden war*)I. 274., heraus und ſagte in ſeinem Vorwort, zum Entſetzen der liberalen Welt, rundweg: die Freiheit beruht ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfaſſung.

Auch ſeine Römiſche Geſchichte war ebenſo ſehr ein erlebtes Werk als ein Erzeugniß der gelehrten Forſchung; darum zählten ſie ſchon die Zeitgenoſſen zu jenen claſſiſchen Büchern, welche niemals überwunden werden auch wenn ſie in jedem einzelnen Satze widerlegt ſind. Indem er das Verſchwundene ins Daſein zurückrief genoß er die Seligkeit des Schaffens; und wie er niemals nur mit einer Kraft ſeiner Seele thätig ſein konnte, ſo legte er auch die ganze Innigkeit ſeiner leidenſchaftlichen65Niebuhr.Empfindung, den ganzen Ernſt ſeines ſittlichen Urtheils in die Darſtel - lung jener Römerkämpfe, die den meiſten ſeiner Vorgänger nur trockener Wiſſensſtoff geweſen waren; jede Wendung des oftmals harten, immer edlen und urſprünglichen Stiles ſpiegelte die tiefe Bewegung einer großen Seele wieder. Den erſten Band, ſo geſtand er ſelbſt, hätte er niemals ſchreiben können ohne eine lebendige Anſchauung vom engliſchen Staate; ſeitdem hatte er, im Innerſten erſchüttert, die Stürme einer ungeheueren Zeit über den Staat ſeiner Wahl dahinbrauſen ſehen; er fühlte, wie ihm durch ſolche Erlebniſſe das Verſtändniß wuchs für die Geſchichte Roms, welche einſt, wie die See die Ströme, die Geſchichte aller Völker in ſich auf - genommen. Dann führte ihn ſein diplomatiſcher Beruf nach Rom ſelbſt. Jahrelang wohnte er dort in dem Palaſte, der auf hohem Schuttberge mitten aus den grandioſen Trümmern des Marcellustheaters empor - ſteigt, und obwohl er die Sehnſucht nach der Heimath niemals überwand, ſo fand ſich doch ſeine hiſtoriſche Phantaſie, die das Ferne und Fremde aus dem Nahen und Vertrauten zu erklären liebte, auf Schritt und Tritt mächtig angeregt. Die alte Welt trat ihm ſinnlich nahe; in der Geſtalt der Aecker auf der Feldflur erkannte er noch die Kunſtfertigkeit der alten Agrimenſoren, in dem Elend der modernen Halbpächter ſah er den Fluch des römiſchen Latifundienweſens fortwirken; und wenn er im Vatikan den alten Sarkophag mit dem rührenden Bilde des treuen Ehepaars beſchaute, dann war ihm zu Muthe, als ſähe er ſich ſelber und ſeine verklärte erſte Frau.

So erhielt die langſam gereifte Umarbeitung und Fortſetzung des Werkes jenen eigenthümlich warmen Ton, der ſelbſt trockenen Zahlenreihen und umſtändlichen kritiſchen Excurſen den Reiz des Lebens gab. Das Alterthum hatte bisher als eine von der unſeren völlig abgetrennte Welt gegolten; hier aber erſchien Alles vertraut und verſtändlich, der Hiſtoriker ſchilderte das Schickſal des C. Pontius und des Pyrrhus ebenſo einfach menſchlich wie er vor Kurzem, in einer meiſterhaften Skizze, das Leben ſeines Vaters, des großen Reiſenden Carſten Niebuhr erzählt hatte. Den recht - gläubigen Philologen der alten Schule war der kühne Kritiker, der die Ueber - lieferungen der römiſchen Königsgeſchichte zerſtört hatte, längſt ein Dorn im Auge. Welches Entſetzen vollends, da er nunmehr mit ſtaatsmänniſcher Einſicht die Nothwendigkeit jener langſamen Revolution, welche die Plebes zur Herrſchaft führte, und ſogar die Berechtigung der verrufenen Acker - geſetze darlegte; ja er ſcheute ſich nicht, die neue Lehre der Romantiker, daß nur die nationale Dichtung wahrhaft lebe, ſelbſt auf die Claſſiker Roms anzuwenden und ſagte rundheraus: wenn Form überhaupt tödet, ſo noch mehr die fremde; daher war die römiſche Literatur in einem ge - wiſſen Sinne todtgeboren!

Und doch lag ſelbſt in dieſem freien Geiſte ein Zug krankhafter, ſchwarzſichtiger Aengſtlichkeit, der ihn zuweilen die lebendigen Kräfte der Zeit völlig verkennen ließ. In finſteren Augenblicken beklagte der Leiden -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 566II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſchaftliche ſogar, daß der epikuräiſche Zeitgeiſt dieſer genügſamen Tage jede wiſſenſchaftliche Arbeit untergrabe! Sein zartbeſaitetes Gemüth empfand ein Grauen vor den bildungsfeindlichen Mächten der Revolution; ſchon als Student hatte er beim Durchleſen von Fichtes Vertheidigung der Revo - lution ausgerufen: was bleibe noch übrig als der Tod wenn ſolche Grund - ſätze zur Herrſchaft gelangten! Der Sohn eines berühmten Vaters, und zudem eines jener ſeltenen Wunderkinder, die als Männer halten was ihre Frühreife zu verheißen ſchien, ward er von Kindesbeinen an ver - wöhnt durch die Bewunderung ſeiner Umgebungen und ſelber ſchon be - rühmt bevor er noch etwas geſchrieben hatte; dann ſtand der Liebevolle ſein Lebelang in vertrauter, zärtlicher Freundſchaft mit geiſtvollen Män - nern wie Graf Moltke, Dahlmann, Graf Deſerre; das Platte und Niedrige ließ er nicht an ſich heran. Was Wunder, daß dieſem Ariſto - kraten des Geiſtes nichts entſetzlicher vorkam als jene Macht der breiten Mittelmäßigkeit, die in demokratiſchen Epochen immer das große Wort führt.

Wenn er die politiſche Unreife ſeines Volks und die Trivialität der landläufigen conſtitutionellen Doktrinen betrachtete, dann ſchien ihm mit Steins Verwaltungsreformen vorläufig genug geſchehen, und er mußte von dem beherzteren Dahlmann den Einwurf hören: Verfaſſung und Verwaltung bilden keine Parallelen, es kommt der Punkt, auf welchem ſie unfehlbar zuſammenlaufen um nicht wieder aus einander zu weichen. Obgleich er die Nichtswürdigkeit der italieniſchen Regierungen durchſchaute und offen ausſprach, Rom ſei unter Napoleon weit glücklicher geweſen als unter dem wiederhergeſtellten Papſtthum, ſo übermannte ihn doch der Todhaß wider die Revolution ſobald der erſte Aufſtand von dem miß - handelten Volke gewagt ward, und zornig rief er, nur ein Narr oder ein Böſewicht könne in dieſem Lande von Freiheit reden! Der weitblickende Denker, der ſchon damals mit wunderbarer Sicherheit den Krieg zwiſchen dem Süden und dem Norden der amerikaniſchen Union vorausſah, be - wies doch durch ſeinen niederländiſchen Verfaſſungsplan, daß die gründ - lichſte Kenntniß der Vergangenheit das gänzliche Mißverſtehen der Gegen - wart keineswegs ausſchließt. Er kannte das wunderliche Staatsgebäude der Republik der ſieben Provinzen bis in ſeine letzten Ecken und Winkel und wußte, warum es morſch zuſammengebrochen war. Als ihn aber im November 1813 der Prinz von Oranien aufforderte ſeine Vorſchläge für den Neubau niederzuſchreiben, da konnte ſich der Feind der Revolution doch nicht entſchließen, den gewaltigen Umſturz, der ſeit dem Jahre 1794 über das Land gekommen war, mindeſtens als eine Thatſache anzuerken - nen. Der durch Frankreichs Waffen geſchaffene, aber durch die Geſchichte des Landes längſt vorbereitete Einheitsſtaat galt ihm als revolutionäre Einerleiheit; alles Ernſtes dachte er den gänzlich vernichteten Foederalismus wieder zu beleben und forderte die Wiederherſtellung des alten Staa - tenbundes. Die hiſtoriſche Pietät verführte ihn alſo zu einem Entwurfe,67Mittelalterliche Forſchungen.der trotz ſeiner ſtaunenswerthen Gelehrſamkeit ebenſo unmöglich und im Grunde ebenſo unhiſtoriſch war wie die leichtfertigſten Verfaſſungsgebilde jakobiniſcher Volksbeglücker.

Durch Niebuhrs Forſchungen verlor die urtheilsloſe, unbedingte Ver - ehrung des Alterthums den Boden unter den Füßen; die antike Welt ward wieder in den Fluß der Zeit geſtellt. Gleichzeitig begann auch eine neue Auffaſſung der mittelalterlichen Geſchichte durchzudringen. Die Cultur des Mittelalters war von dem philoſophiſchen Jahrhundert leidenſchaftlich bekämpft, von der jugendlichen Romantik blindlings bewundert worden; jetzt verſuchte man ſie zu verſtehen. Der öffentlichen Meinung freilich lag der alte Rationalismus noch tief im Blute; ſie bedurfte noch einer guten Weile bis ſie ein wiſſenſchaftliches Urtheil über das verhaßte finſtere Mittelalter ertragen lernte. Als der junge Johannes Voigt ſeine Geſchichte Gregors VII. herausgab, ward er von der Preſſe hart angelaſſen; der treue Proteſtant mußte den Vorwurf katholiſcher Geſinnung hören, weil er die perſönliche Größe Hildebrands ehrlich anerkannt hatte. Indeſſen betrieb Friedrich v. Raumer die Vorarbeiten für ſeine Geſchichte der Hohen - ſtaufen; und wie Schön für den Wiederaufbau der Marienburg ſorgte, ſo ſetzte Stein die beſte Kraft ſeiner alten Tage an die Sammlung der Geſchichtsquellen unſerer Vorzeit. Zu Neujahr 1819 ſtiftete er die Geſell - ſchaft zur Herausgabe der Monumenta Germaniae. Sanctus amor pa - triae dat animum ſo lautete der bezeichnende Wahlſpruch des großen Unternehmens, das nach und nach einen Stamm hiſtoriſcher Forſcher heranbilden und für die Kenntniß des deutſchen Mittelalters erſt den ſicheren Grund legen ſollte. Das Alles war noch im Werden; die poli - tiſche Geſchichtſchreibung fand während der erſten Friedensjahre allein in Niebuhr einen claſſiſchen Vertreter.

Um ſo reichere Erfolge errangen die Philologen, die ſich jetzt erſt ihrer hiſtoriſchen Aufgabe klar bewußt wurden. Der Ausſpruch Boeckhs es giebt keine Philologie, die nicht Geſchichte iſt war in Aller Munde. Die Sprachforſcher erfüllten was die Poeten der Romantik verſprochen hatten. Nun kam ſie wirklich, die Zeit, die einſt Novalis geweiſſagt,

wo man in Märchen und Gedichten
erkennt die ew’gen Weltgeſchichten.

Und auch jenes ſtolze Wort Friedrich Schlegels, das den Hiſtoriker einen rückwärts gewandten Propheten nannte, fand jetzt ſeine Bewährung, da plötzlich die ferne, bisher aller Unterſuchung unzugängliche Jugendzeit der indogermaniſchen Völker durch die Strahlen der Forſchung erhellt ward und von ihr wieder ein erklärendes Licht auf die Grundlagen der heutigen europäiſchen Cultur zurückfiel. Derſelbe Zug der Zeit, der die Ideen der hiſtoriſchen Staats - und Rechtslehre beherrſchte, trieb auch die Philologen die Sprache als ein ewig Werdendes zu begreifen. Auch ſie führten, wie Niebuhr und Savigny, den Kampf gegen die Abſtraktionen5*68II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.des alten Jahrhunderts; auch ſie ebneten die Bahn für eine beſcheidenere und eben darum freiere Weltanſchauung. Jener hochmüthige Wahn, der die großen objektiven Ordnungen des hiſtoriſchen Lebens aus dem freien Belieben der einzelnen Menſchen herleitete, der Glaube an das Natur - recht und die allgemein giltige Vernunftreligion brach unrettbar zuſam - men, ſobald die Philologie darlegte, was an der Geſchichte der Sprache am Handgreiflichſten erwieſen werden kann: daß der Menſch nur in und mit ſeinem Volke lebt. Schon Wilhelm Humboldt hatte in einer ſeiner geiſtvollen kleinen Abhandlungen den fruchtbaren Gedanken ausgeſprochen: die Sprachbildung wie die Volksdichtung vollziehe ſich durch die Einzelnen und gehe gleichwohl ſtets vom Ganzen aus. Auf dieſe Wahrheit, die in ihren letzten Tiefen allerdings ein ewig unlösbares Räthſel einſchloß, kam Jakob Grimm immer von Neuem zurück. Er zeigte, wie die Kunſtdich - tung hervorgeht aus dem Volksliede, das ſich ſelber dichtet , und fand in dem alten Volksepos weder rein mythiſchen noch rein hiſtoriſchen Ge - halt, ſondern göttliche und menſchliche Geſchichte in eines verwachſen.

Da trat ihm, ſeltſam genug, A. W. Schlegel entgegen. Der alte Romantiker konnte ſich doch nicht ganz losreißen von dem Rationalismus des vergangenen Jahrhunderts, das überall in der Geſchichte Berechnung und Abſicht ſuchte. Wie er Niebuhrs kritiſche Kühnheit bekämpfte, ſo be - hauptete er wider Grimm: das Volksepos ſei das bewußte Werk von Dichtern, die im künſtleriſchen Wettkampfe einander durch wunderbare Erfindungen zu überbieten ſuchten. In der That lief die junge germa - niſtiſche Wiſſenſchaft Gefahr, jenem myſtiſchen Hange, der die jüngere Romantik beherrſchte, zu verfallen. Beglückt durch die große Entdeckung der ſchöpferiſchen Kraft des Volksgeiſtes, verfolgte Grimm mit ſolcher Freude das Walten des Unbewußten, des Naturwüchſigen in der Dichtung, daß er die freie That des künſtleriſchen Genius faſt aus den Augen ver - lor. Schwächere Köpfe verſanken bereits tief in phantaſtiſche Thorheit; v. d. Hagen meinte in den Nibelungen die Mythen von der Schöpfung und dem Sündenfalle wiederzufinden.

Jedoch der klare, im innerſten Kerne proteſtantiſche Geiſt Jakob Grimms verweilte nicht lange in den traumhaften Grenzgebieten der Wiſſenſchaft, ſondern wendete ſich bald einem Bereiche der Forſchung zu, das ungleich feſtere Ergebniſſe verhieß. Im Jahre 1819 begründete er durch ſeine Deutſche Grammatik die Wiſſenſchaft der hiſtoriſchen Grammatik. Andere hatten über die Sprache philoſophirt oder ihr Geſetze aufzuerlegen verſucht; er beſchied ſich ihrem Werden und Wachſen ſchrittweis nachzugehen, und da er die urſprüngliche Einheit der germaniſchen Sprachen ſchon erkannt hatte, ſo zog er alle Zweige dieſes Sprachſtammes zur Vergleichung heran. Auch diesmal angeregt durch eine geniale Ahnung Wilhelm Humboldts, erwies er ſodann den wichtigen Unterſchied zwiſchen den betonten Wurzel - ſilben, die den Sinn der Wörter enthalten, und den blos formalen Be -69Die Gebrüder Grimm.ſtandtheilen des Wortſchatzes. So kam alsbald Geſetz und Leben in den Werdegang unſerer Sprache, der bisher ſo räthſelhaft und zufällig ſchien. In dem unſchuldigen, poetiſchen, leiblich friſchen Jugendleben der Völker ſo führte Grimm mit künſtleriſcher Lebendigkeit aus zeigt auch die Sprache ſinnliche Kraft und Anſchaulichkeit, ſie liebt die Form um der Form willen, ſchwelgt in dem Wohlklang volltönender Flexionen; bei rei - fender Cultur wird auch ſie geiſtiger, abſtrakter, auf Klarheit und Kürze bedacht, das ſtumpfere Ohr verliert die Freude an der Form, der nüch - terne Verſtand kümmert ſich nicht mehr um die ſinnlichen Bilder, welche den Wörtern zu Grunde liegen, und nach und nach wird Alles ausge - ſtoßen oder abgeſchliffen was nicht unmittelbar zur Verdeutlichung des Sinnes dient. Begreiflich genug, daß Grimms poetiſches Gemüth der formenreichen alten Sprache durchaus den Vorzug gab, wie auch ſeine eigene Redeweiſe mit den Jahren immer ſinnlicher und bilderreicher wurde. Doch er verkannte nicht, daß die vollzogene Entwicklung nicht wieder rückgängig werden durfte, und verwarf darum ſtrenge jene vorwitzigen Sprachreinigungsverſuche, die bei den teutoniſchen Eiferern für patriotiſch galten: das heiße unſere alte Sprache wie ein zufälliges Gebilde von heute behandeln.

Ein Jahr nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ſeiner Grammatik entdeckte Grimm das Geſetz der Lautverſchiebung und gab damit der Ety - mologie, die ſich bisher unſicher taſtend an die Aehnlichkeit des Klanges der Wörter gehalten hatte, endlich einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden. Unterdeſſen hatte ſein raſtlos combinirender Kopf auch ſchon die uran - fängliche Verwandtſchaft aller indogermaniſchen Sprachen erkannt; ent - zückt verweilte er vor der unendlichen Fernſicht, die ſich auf dieſer Höhe aufthat. Ließ ſich das nämliche Wort im Sanskrit und in allen den jüngeren Sprachen der verwandten Völker auffinden, dann war bereits bewieſen, daß auch die Sache, die durch jenes Wort bezeichnet ward, dem räthſelhaften Urvolke der Indogermanen ſchon bekannt geweſen ſein mußte. Und ſo konnte nach und nach die geheimnißvolle Völkerwiege Indiens aus ihrem Dunkel heraustreten; es konnte erforſcht werden, welche Stufe der Geſittung die Völker Europas ſchon erreicht hatten bevor ſie ſich trennten und die Wanderung gen Weſten antraten, was ihnen gemein war von Anbeginn und was ſie ſich erſt erwarben ein jedes auf ſeinem eigenen Wege. Die hiſtoriſchen Wiſſenſchaften ſtanden mit einem male vor einer unüberſehbaren Reihe neuer Aufgaben, die das innerſte Seelen - leben aller Völker und Zeiten berührten und in den zwei Menſchenaltern ſeitdem erſt zum kleinſten Theile ihre Löſung gefunden haben.

Während Jakob Grimm alſo, ein glücklicher Finder, von Entdeckung zu Entdeckung fortſchritt, gefiel ſich ſein Bruder Wilhelm im ruhigen Ge - ſtalten. Seine Freude war, die Werke unſerer alten Dichtung in ſauberen Ausgaben, mit ſinniger Erklärung dem neuen Geſchlechte darzubieten; er70II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.liebte nach Dichterart ſich zuweilen ſehnſuchtsvoll in ſelige Träume zu ver - lieren; durch ſeine weichere Feder erhielten auch die Hausmärchen ihre liebliche Form. Zwei gleichberechtigte Richtungen der Wiſſenſchaft ver - körperten ſich in den beiden Brüdern. Des Aelteren Spruch hieß: beſſer gelernt als gelehrt, er achtete nur das Lernen und Forſchen als ſchöpfe - riſche Thätigkeit; der Jüngere verſchmähte nicht, als Lehrer für das nähere Bedürfniß der Wiſſensdurſtigen zu ſorgen. Die Beiden verdankten ihrer Märchenſammlung die Liebe des Volks, die dem ſtrengen Forſcher faſt niemals zu theil wird. Ueberall im Lande wußte man gemüthliche kleine Ge - ſchichten von dem Brüderpaare, das nur mit der Wünſchelruthe in den Boden zu ſchlagen brauchte um den reichen Hort der alten Sagen an den Tag zu bringen. Man erzählte von der tiefen ſtillen Herzenstreue ihrer Lebensgemeinſchaft: wie ſie ſelbander ſo fromm und heiter durchs Leben ſchritten und trotz der glühenden Liebe zum großen Vaterlande doch von der traulichen heſſiſchen Heimath, von den rothen Bergen des Fulda - thales ſich nimmermehr trennen wollten; Beide ſo kindlich anſpruchslos und doch ſo ſtreng gegen die Modegötzen des Tages, ſo ſicher im Urtheil über alles Hohle, Gemachte, Unwahre; wie ihre Arbeitstiſche im näm - lichen Zimmer ſtanden, und wie ſie jeden neuen Fund mit harmloſer Freude einander mittheilten. Kein Kinderräthſel, kein Baſengeſchwätz und kein Ammenlied war ihnen zu gering, Alles gewann Leben vor ihren Augen was aus dem Heiligthum der deutſchen Sprache ſtammte, beim Anblick eines alten Bruchſtücks konnte Jakob das Mitleid nicht verwinden. Und neben der ſchweren Arbeit brach auch der herzliche Verkehr mit guten Menſchen niemals ab; nie beirrte ein Gegenſatz der Meinungen die Beiden in der Treue ihrer Freundſchaft; wie anmuthig wußte Wilhelm in ſeinen Briefen an die ſtrengkatholiſchen Haxthauſens zu plaudern, und zuweilen fiel auch Jakob mit ſeinen tieferen Tönen ein. Es war ein rührendes Bild einfältiger Größe, das auch den Rohen etwas ahnen ließ von der ſittlichen Macht der lebendigen Wiſſenſchaft.

Jakob Grimm ſchätzte die Worte nur um der Sachen willen; ſein Wirken fand eine glückliche Ergänzung in den Arbeiten des Braunſchwei - gers Karl Lachmann, des claſſiſch geſchulten, geſtrengen Vertreters der formalen Philologie, der die Sachen um der Worte willen trieb und die noch unſtet ſchweifende junge Wiſſenſchaft in die harte Zucht der Methode nahm. Gleich heimiſch in den alten wie in den germaniſchen Sprachen wurde er der Begründer der altdeutſchen Textkritik und Metrik, ein Her - ausgeber von unübertroffener Schärfe und Sicherheit. Was einſt F. A. Wolf über die Entſtehung der homeriſchen Gedichte gelehrt, wendete Lachmann auf das deutſche Epos an und verſuchte, nicht ohne Gewaltſamkeit, das Nibelungenlied in eine Reihenfolge ſelbſtändiger Lieder aufzulöſen. Seit Auguſt Zeune den Freiwilligen von 1815 ſeine Zelt - und Feldausgabe der Nibelungen mitgegeben hatte, begann die ſpielende Beſchäftigung mit71Lachmann. Bopp.der altdeutſchen Dichtung zu einer Liebhaberei der teutoniſchen Jugend zu werden. Ein Glück für die Wiſſenſchaft, daß Lachmann durch den Ernſt ſeines unnachſichtlichen Tadels die Unreifen zurückſchreckte und den Dilet - tantismus bald gänzlich aus dem Bereiche der deutſchen Sprachkunde hinaus - fegte. Währenddem unternahm Benecke ſeine lexikographiſchen Arbeiten, und der anſpruchsloſe Friedrich Diez trug in aller Stille die erſten Werk - ſtücke zuſammen für das mächtige Gebäude ſeiner romaniſchen Grammatik. Auch er war wie Lachmann als Freiwilliger mit dem deutſchen Heere in Frankreich eingezogen, er hatte in Gießen mit Follen und den wildeſten Hitzköpfen des Teutonenthums an lauter Tafelrunde geſeſſen und blieb doch im Geiſte ſo frei, daß er wie ein geborener Provenzale der ſchönen Sprache der Troubadours bis in die Tiefen des Herzens blicken konnte.

Die ungleiche Begabung der Generationen wird durch die ungleiche Gunſt der äußeren Umſtände allein nicht erklärt; die Zeit erzieht nur den Genius, ſie ſchafft ihn nicht. Immer ſobald eine große Wandlung des geiſtigen Lebens ſich in der Stille vorbereitet hat, läßt eine geheimnißvolle Waltung, deren Rathſchluß kein menſchlicher Blick durchdringt, ein reich - begabtes Geſchlecht entſtehen. Zur rechten Zeit erſcheinen die rechten Männer, Fund folgt auf Fund, ein heller Kopf arbeitet dem andern in die Hände ohne von ihm zu wiſſen. So jetzt, da eine große Stunde für die philologiſch-hiſtoriſchen Wiſſenſchaften geſchlagen hatte.

Derweil die Brüder Grimm noch in unbeſtimmten Vermuthungen über die gemeinſame Abſtammung der Sprachen Europas ſich ergingen, hatte der Mainzer Franz Bopp, ganz unabhängig von ihnen, bereits den Grund - ſtein gelegt für die neue Wiſſenſchaft der Sprachvergleichung. Seit vielen Jahren ſchon lebte Wilhelm Humboldt des Glaubens, daß Sprachphilo - ſophie und Geſchichtsphiloſophie in den letzten Tiefen der Menſchheit ſich begegnen müßten. Wie oft hatte er in ſeinen Briefen an Schiller aus - geführt, die Sprache ſei ein lebendiger Organismus, mit der Perſönlich - keit des Sprechenden eng verwachſen. Er wußte längſt, daß der eigen - thümliche Charakter der einzelnen Sprachen ſich vornehmlich an ihrem grammatiſchen Bau erkennen laſſe; nur die Geſchäftslaſt ſeines diplomati - ſchen Berufs verhinderte ihn noch dieſe Ideen weiter auszuſpinnen. Von ähnlichen Ahnungen erfüllt hatte der junge Bopp ſich ſchon früh die Kenntniß der claſſiſchen und der meiſten neu-europäiſchen Sprachen ange - eignet; er hoffte die in dem Sprachenreichthum unſeres Geſchlechts ver - borgene Harmonie zu entdecken. Es galt zunächſt den genealogiſchen Zu - ſammenhang mehrerer Sprachen unzweifelhaft ſicherzuſtellen, und dies ließ ſich nur nachweiſen durch genaue Prüfung einer ſehr alten Sprache, welche den Charakter der verlorenen Urſprache ziemlich rein bewahrt hatte, alſo zur Noth ſtatt der Urſprache ſelbſt gelten konnte.

Bopp beſchloß daher von dem Sanskrit auszugehen; denn das hohe Alter der indiſchen Literatur ſtand außer Zweifel, und ſeit Friedrich72II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Schlegels geiſtreicher Dilettantenarbeit über die Weisheit der Inder wurde auch die Verwandtſchaft des Sanskrit mit dem Perſiſchen, den claſſiſchen und den germaniſchen Sprachen faſt allgemein als ſicher an - genommen, wenngleich der Beweis noch fehlte. Schon im Jahre 1816 erſchien Bopps kleine Schrift über das Conjugationsſyſtem des Sanskrit; ſie betrachtete den grammatiſchen Bau dieſer älteſten Sprache im Ein - zelnen, ſie zeigte, wie das Futurum durch die Zuſammenſetzung eines Hilfszeitworts mit einer Wurzelſilbe gebildet werde u. ſ. f., und erwies ſodann unanfechtbar die weſentliche Gleichheit der Formen und Wurzeln des Zeitworts Sein im Sanskrit und in den alten germaniſchen Sprachen. Der glückliche Entdecker erkannte die gothiſche Sprache als das Mittel - glied zwiſchen dem Altindiſchen und dem Deutſchen: wenn ich den ehr - würdigen Ulfilas las, ſo glaubte ich Sanskrit vor mir zu haben. Da - mit kam die Kugel in’s Rollen, denn bei Fragen ſolcher Art entſcheidet der erſte Schlag. Nunmehr war ein feſter Anhalt gewonnen um die Grenzen der indogermaniſchen Sprachengruppe abzuſtecken, jeder einzelnen dieſer Sprachen ihren Platz näher oder ferner neben der älteſten Schweſter anzuweiſen und dergeſtalt den hiſtoriſchen Stammbaum der Völker ſelbſt feſtzuſtellen. So durfte ſich die vergleichende Sprachforſchung in dem Kreiſe der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften allmählich eine ähnliche Stellung erobern wie die vergleichende Anatomie unter den Naturwiſſenſchaften; fuhr ſie dann fort noch andere Sprachenfamilien zur Vergleichung herbei - zuziehen und die Wörter überall in ihre einfachſten Elemente zu zerlegen, ſo mochte ſie dereinſt auf einem unabſehbaren Wege, mit Hilfe der Natur - forſchung, noch höher aufſteigen bis zu dem großen Probleme der Ent - ſtehung der menſchlichen Sprache überhaupt, bis dicht an jene Schranken, welche die Weisheit der Natur allem menſchlichen Forſchen geſetzt hat.

In der claſſiſchen Philologie war ſchon ſeit dem Jahre 1795 ein freieres Leben erwacht. Damals erwies Friedrich Auguſt Wolf durch die Prolegomena zum Homer, daß die homeriſchen Gedichte aus Rhapſodien entſtanden ſeien, aus Werken der Volksdichtung, die der Volksmund durch die Jahrhunderte fortgetragen und fortgebildet habe; und Goethe jubelte: das homeriſche Licht geht uns neu wieder auf. Wolfs bleibende Bedeu - tung lag aber nicht ſowohl in dieſer Hypotheſe ſelbſt denn ſie ließ noch Vieles im Dunkeln und veranlaßte ſpäterhin manche geſchmackloſe Ver - irrungen des überfeinen gelehrten Scharfſinns ſondern in ſeinen völlig neuen Anſichten über Weſen und Ziele der Philologie. Er entriß die claſſiſche Literatur den Händen der Aeſthetiker und überwies ſie der hiſto - riſchen Kritik; er forderte von der Philologie, daß ſie ſich zur Alterthums - wiſſenſchaft erweitere, daß ſie das geſammte antike Leben nach allen Seiten hin zu vergegenwärtigen ſuche, Sprache und Literatur nur als einzelne Erſcheinungen dieſes Geſammtlebens auffaſſe, und zeigte durch ſeine mei - ſterhaften Vorträge in Halle, wie die Aufgabe zu löſen ſei.

73Boeckh. G. Hermann.

Unter den Jüngeren, welche ſich dieſe hiſtoriſche Auffaſſung aneigneten, ſtand der Karlsruher Auguſt Boeckh obenan, der allbeliebte freimüthige Lehrer der Berliner Studenten; der hatte in den Bacchanalien der Hei - delberger Romantiker ſeinen gründlichen Fleiß nicht eingebüßt, nur ſeinen Geſichtskreis erweitert, ſein Verſtändniß für alles Menſchliche freier aus - gebildet. Viele Jahre hindurch trug er ſich mit dem Plane, in einem umfaſſenden Werke Hellen die Einheit des griechiſchen Lebens in allen ſeinen Erſcheinungen darzuſtellen. Der großgedachte Bau kam leider nie - mals unter Dach. Nur ein Bruchſtück erſchien im Jahre 1817: die Staatshaushaltung der Athener ein erſter gelungener Verſuch, auch die griechiſche Geſchichte, nach Niebuhrs Vorbild, als ein wirklich Ge - ſchehenes und Erlebtes zu verſtehen. Die Hiſtoriker frohlockten, da ihnen hier aus vergeſſenen und überſehenen Quellen das verſchlungene Getriebe der attiſchen Volks - und Staatswirthſchaft in ſeinem inneren Zuſammen - hange gezeigt wurde; die Nationalökonomen dagegen verſtanden noch nicht, von der induktiven Methode des geiſtvollen Philologen Vortheil zu ziehen. Denn unter allen hiſtoriſchen Wiſſenſchaften war die Volkswirthſchafts - lehre am Weiteſten zurückgeblieben; ſie ruhte noch aus auf der mißver - ſtandenen Doktrin Adam Smiths und wähnte noch nach der Weiſe des Naturrechts das hiſtoriſche Leben der Völker in das Joch ewig giltiger abſtrakter Regeln ſpannen zu können.

Wie Lachmann neben Jakob Grimm ſo ſtand neben Boeckhs ſachlich hiſtoriſcher Richtung die Schule der formalen claſſiſchen Philologie, die in Gottfried Hermanns Griechiſcher Geſellſchaft zu Leipzig faſt ein halbes Jahrhundert hindurch ihre fruchtbare Pflanzſtätte behielt. Hier blühten Grammatik, Metrik, ſtreng methodiſche Textkritik. In ihrem gefeierten Lehrer vereinigte ſich Alles, was die alte oberſächſiſche Gelehrſamkeit aus - zeichnete: gründliches Wiſſen und tief eindringender Scharfſinn, eiſerner Fleiß und urbane Duldſamkeit, aber auch ein nüchterner Rationalismus, der von der geheimnißvollen Nachtſeite des hiſtoriſchen Lebens grundſätzlich nichts ſehen wollte. Beide Schulen hatten von Wolf gelernt und Vieles blieb ihnen gemeinſam; war doch auch der Berliner Immanuel Bekker unter Wolfs Augen groß geworden, der wortkarge Meiſter der Kritik, der mit ſicherer Hand ſo viele griechiſche Texte auf diplomatiſcher Grund - lage herſtellte ohne ſich je zu einer Erläuterung herabzulaſſen.

Selbſtändig neben beiden ging die hochromantiſche Schule der Sym - boliker, von Friedrich Creuzer geführt, ihre wunderlichen Wege. Creuzers rege Phantaſie fühlte ſich von frühauf mächtig hingezogen zu der Welt des Ueberſinnlichen und Geheimnißvollen. Schon zu Anfang der achtziger Jahre, lange bevor die Romantik erwachte, begeiſterte ſich dieſer geborne Romantiker daheim in Marburg an dem Anblick der himmelanſtrebenden gothiſchen Pfeiler der Eliſabethkirche; dann ſchloß er Freundſchaft mit Novalis, mit Görres, mit dem Heidelberger Dichterkreiſe, aber auch mit74II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Savigny und Boeckh, und drang in die Traumwelt der Naturphiloſophie tiefer ein als irgend einer der Fachgelehrten. Wie Schelling trotzte er auf die angeborene Wundergabe der unmittelbaren Anſchauung, die man weder lehren noch erſitzen könne; durch ſie dachte er jene Naturſprache zu enträthſeln, welche ſich bei allen Völkern in geheimnißvollen religiöſen Sym - bolen äußere, und alſo ein Band der Einheit zwiſchen den Mythen aller Zeiten zu finden. Seine Symbolik bot eine Fülle geiſtreicher Winke für künf - tige Forſchungen; ſelbſt die Theologen mußten ihm danken, weil er ſie auf die Bedeutung der vergeſſenen Neuplatoniker hinwies. Er errieth zuerſt, welch eine Welt des Elends und des Grauens hinter den ſchönen Mythen des Alterthums verborgen liegt, und verſenkte ſich mit ſolchem Eifer in dieſe unheimlichen Myſterien, daß ihm von der hellen Weltfreudigkeit, dem vorherrſchenden Charakterzuge des griechiſchen Volksglaubens, wenig mehr übrig blieb. Auch bemerkte er zuerſt die Spuren altorientaliſcher Prieſter - weisheit in den Anfängen der helleniſchen Cultur; doch die luftige Brücke zwiſchen dem Morgenlande und dem Abendlande ward aufgerichtet bevor noch der Boden auf beiden Ufern unterſucht und befeſtigt war. Trotz ſeiner reichen Gelehrſamkeit gelangte der geiſtvolle Enthuſiaſt nirgends zu geſicherten Ergebniſſen, weil er mit vorgefaßter Meinung an die hiſto - riſchen Thatſachen herantrat; am Liebſten verweilte er bei den Pelasgern und anderen unbekannten Urvölkern, hier fand die genialiſche Willkür der unmittelbaren Anſchauung offenes Feld.

Durch den Myſticismus ſeiner Lehre erregte er den Unwillen der aufgeklärten Welt. Zunächſt bekämpfte Gottfried Hermann die Symbolik mit ſeiner gewohnten würdigen Ruhe; nachher erhob ſich der greiſe Jo - hann Heinrich Voß, und ſein grimmiger Schlachtruf klang wie eine Stimme aus dem Grabe. Wie wunderbar ſchnell hatte dieſes Geſchlecht gelebt, wie fern lag ſchon die Zeit, da einſt die Voſſiſche Homer-Ueber - ſetzung mit vollem Recht als eine bahnbrechende That gefeiert ward! Alle die neuen Ideen, welche ſeitdem dem deutſchen Genius entſtiegen, waren an dem eingefleiſchten alten Rationaliſten ſpurlos vorübergerauſcht. Seine Bildung wurzelte noch in der Wolffiſchen Philoſophie, die mit dem Satze vom zureichenden Grunde das All zu begreifen dachte. Schon gegen Herder und Wolf hatte er ſich ereifert; ja ſelbſt bei Kant ward ihm nicht ganz geheuer, da der Königsberger Weiſe doch dem ahnenden Glauben ſein gutes Recht ließ und gelaſſen zugab, daß die wiſſenſchaftliche Welt - erklärung am letzten Ende nichts erklärt. Nun gar in Heidelberg, in - mitten der romantiſchen Schwärmer fühlte ſich dieſer hausbackene Ver - ſtand wie verrathen und verkauft. All das Gerede von den unbewußt ſchaffenden Kräften des Volksgeiſtes war ihm eitel Phantaſterei; und wer durfte ihm von Dogmen und Symbolen ſprechen, da doch erwieſenermaßen die Moral allein den Kern aller Religion enthielt? Er ließ ſich’s nicht nehmen, daß Deutſchland durch eine große Verſchwörung von Pfaffen75Die Symboliker.und Junkern bedroht war, die beiden rothhaarigen Schurken Görres und Creuzer das Volk Luthers nach Rom zurückführen wollten. Alles, was ſich aufgeklärt und liberal nannte, jubelte dem Zornmuthigen zu, als er ſeine groben Streitſchriften wider die Symboliker hinausſandte; Voß ge - wöhnte die Liberalen zuerſt an den gehäſſigen Ton eines Geſinnungs - terrorismus, der hinter abweichenden Meinungen ſtets verworfene Abſichten ſuchte. Recht und Unrecht erſchienen in dieſem Streite ebenſo ſeltſam ge - miſcht, wie in den gleichzeitigen Kämpfen der politiſchen Parteien. Wenn Voß und Hermann ſich der Klarheit und Beſtimmtheit rühmen durften, ſo zeigte Creuzer unzweifelhaft mehr Geiſt; wenn jene ſich als die ſchär - feren Kritiker erwieſen, ſo bewährte dieſer ein ungleich tieferes Verſtänd - niß für die Religion, für das verborgene Gemüthsleben der Völker. Auf manchem der Wege, welche der Symboliker zuerſt in phantaſtiſchen Sprüngen durcheilte, wandelt heute die beſſer ausgerüſtete Wiſſenſchaft mit ſicherem Schritt.

So haderten die Philologen unter einander und bemerkten noch kaum, wie ihnen allen ein gemeinſamer Feind heranwuchs, die banauſiſche Geſinnung der Geſchäftswelt. Da der ausſchließlich claſſiſche Unterricht der Gymnaſien den wachſenden Anſprüchen des wirthſchaftlichen Lebens allerdings nicht mehr genügen konnte, ſo erhob ſich ſchon bald nach den Kriegen der Ruf nach Reformen. Den Fanatikern der Nützlichkeit erſchien nur lernenswerth was ſich in Geſchäft und Unterhaltung unmittelbar gebrauchen ließ; die moderne Vorliebe für oberflächliche Vielwiſſerei und der Haß der Aufklärung gegen alles Altüberlieferte thaten das Ihre hinzu. In Baden wurde das Verlangen nach Beſchränkung des claſſiſchen Un - terrichts bald unter die Hauptſätze des liberalen Parteiprogramms auf - genommen; in Preußen war Schön der eifrige Gönner dieſer Beſtre - bungen, welche den tiefſten Grund der deutſchen Bildung bedrohten und erſt nach langen Jahren ſich etwas abklären ſollten.

Die Fruchtbarkeit der neuen Gelehrtengeneration ſchien unerſchöpflich; faſt im nämlichen Augenblicke, da die hiſtoriſche Rechtslehre, die hiſtoriſche Grammatik und die vergleichende Sprachforſchung entſtanden, ſchuf Karl Ritter die neue Wiſſenſchaft der vergleichenden Erdkunde. Trotz der großen Entdeckungen des ſechzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts war die Geographie bisher doch nur eine reichhaltige Sammlung von ſtatiſtiſchen, hiſtoriſchen, phyſikaliſchen Notizen ohne innere Einheit geblieben. Niemand fragte mehr, was wohl einſt Strabo gemeint haben mochte als er für die Geographie eine philoſophiſche Behandlung forderte und das vielgeſtaltige Europa glücklich pries neben Aſiens einförmiger Küſtenbildung. Erſt in dieſen Tagen des erſtarkenden hiſtoriſchen Sinnes erwachte auch die Ein - ſicht, daß die Erde das Erziehungshaus der Menſchheit und der Schau - platz ihrer Thaten iſt, und die Erdkunde mithin zunächſt zu erforſchen hat, wie die Geſtaltung der Erde bedingend und beſtimmend auf die76II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Geſchichte des Menſchengeſchlechts einwirkt. Als Ritter im Jahre 1817 dieſen neuen Gedanken in dem erſten Bande ſeiner Vergleichenden Erd - kunde zuerſt ausſprach, erhob er die Geographie zu einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. In ihm arbeitete der nämliche Drang nach Erkenntniß der geſetzmäßigen Nothwendigkeit des hiſtoriſchen Lebens, der aus Savignys und Bopps Werken ſprach, und wie dieſe Beiden erinnerte er ſich bei ſeinen Unternehmungen oft an das Vorbild der vergleichenden Anatomie. Die Formen der Erde beſeelten ſich vor ſeinen Augen wie die Wortformen vor Jakob Grimms Forſcherblick. Er ſah in den Welttheilen die großen Individuen der Erde und lehrte, jedes Land vertrete eine ſittliche Kraft, übernehme die Erziehung ſeiner Bewohner, erlebe ſeine nothwendige Ge - ſchichte. Mit ungeheurem Fleiße trug er Alles zuſammen was jemals Naturforſcher, Reiſende, Hiſtoriker über Land und Leute berichtet hatten, um zunächſt an Aſien die ewige Wechſelwirkung von Natur und Geſchichte zu erweiſen. Kam ſein Werk zum Ziele und er ſelber nannte noch im hohen Alter die Geographie beſcheiden eine erſt werdende Wiſſenſchaft ſo war der ganze Entwicklungsgang der Menſchheit als eine örtlich bedingte Naturerſcheinung dargethan. Schwächere Köpfe konnten auf ſo ſchwierigem Wege leicht in eine materialiſtiſche Geſchichtsanſchauung hinein - gerathen; für Ritter war dieſe Verſuchung nicht vorhanden. Denn er blieb noch als Mann in ſeinem Herzen ein einfältiges frommes Kind, wie vormals da er in Schnepfenthal zu den Füßen des guten Salzmann ſaß. Nicht blinde Naturgeſetze, ſondern den Willen des lebendigen Gottes hoffte er durch ſein Forſchen zu erkennen; heilige Andacht durchſchauerte ihn ſo oft ihm eine Ahnung von dem tiefen Sinne der unbegreiflich hohen Werke aufging, und oft nannte er ſein Buch mein Lobgeſang des Herrn .

Wenige Wiſſenſchaften hängen mit der Macht und dem Reichthum der Völker ſo innig zuſammen, wie die Erdkunde; ſie folgt in den An - fängen der Geſchichte immer den Spuren des Eroberers und des wagenden Kaufmanns, auch in geſitteten Zeiten bedarf ſie königlicher Mittel um Neues zu finden. Nur den Deutſchen iſt es gelungen, ſich zweimal allein durch die Kraft ihres Geiſtes eine führende Stellung in der geo - graphiſchen Wiſſenſchaft zu erzwingen. Als die Spanier und Portugieſen ſich in die Herrſchaft beider Indien theilten und Deutſchlands alte Han - delsgröße zuſammenbrach, da trat Copernicus dem Columbus ebenbürtig an die Seite. Wie viele Weltumſegler und Entdecker hatten ſeitdem bei den Staatsgewalten Englands, Frankreichs, ja ſelbſt Rußlands freigebige Unterſtützung gefunden. In Deutſchland, dem Lande ohne Colonien und faſt ohne Welthandel, geſchah nichts dergleichen; die Nation und ihre Re - gierungen blickten noch kaum hinaus über die armſelige Beſchränktheit ihres binnenländiſchen Stilllebens. Auf eigene Koſten mußten Alexander v. Humboldt und Leopold v. Buch ihre kühnen Reiſen unternehmen. 77Karl Ritter.Als Adalbert v. Chamiſſo in jenen Tagen von ſeiner Weltumſeglung heim - kehrte und beim Anblick des Swinemünder Leuchtthurms im tiefſten Herzen erſchüttert fühlte, er ſei ein Deutſcher geworden und hier grüße ihn die liebe Heimath, da wehte die ruſſiſche, nicht die preußiſche Flagge über ſeinem Haupte. Und doch war es ein Sohn dieſes Binnenvolkes, der jetzt die Erdkunde in ihren Grundlagen neu geſtaltete; einen erſtaunlicheren Erfolg hat der deutſche Idealismus ſelten errungen.

So weit Deutſchlands hiſtoriſche Wiſſenſchaften den Nachbarvölkern vorauseilten, ebenſo tief blieb der allgemeine Stand unſerer Naturfor - ſchung hinter den Leiſtungen der Franzoſen und Engländer zurück. Paris galt noch lange mit Recht als die Heimath der exakten Wiſſenſchaften. Einzelne große Köpfe wurden freilich durch die reiche poetiſch-philoſophiſche Bildung der letzten Generation in den Stand geſetzt, geradeswegs die höchſten Ziele der Naturforſchung in’s Auge zu faſſen, die Natur als Einheit, als Kosmos zu begreifen; hatte doch Goethe in ſeiner Metamor - phoſe der Pflanzen durch die That bewieſen, daß die Idee die Erſchei - nungen der Natur ganz und gar durchdringen und verklären kann ohne ſie willkürlich zu entſtellen. Alexander Humboldt geſtand immer dankbar, durch Goethe ſei er erſt mit neuen Organen für das Verſtändniß der Natur ausgeſtattet worden; nur weil er einſt aus dem Quell, der in Jena und Weimar floß, mit vollen Zügen getrunken hatte, konnte er ſich die ſtaunenswerthe Vielſeitigkeit ſeiner Naturkenntniß erwerben. Auch Ritter wäre ohne die Naturphiloſophie niemals auf den Gedanken ge - rathen, in ſeiner Erdkunde alle Zweige der hiſtoriſchen und der exakten Forſchung zu gemeinſamem Schaffen zu vereinigen. Der Maſſe der Min - derbegabten aber gereichte die Kühnheit der Philoſophie zum Verderben.

Nicht umſonſt hatte Schelling den übermüthigen Ausſpruch gethan: ſeit man die Idee des Lichtes kenne, ſei Newtons blos empiriſche Far - benlehre überwunden. Nicht umſonſt hatte der fahrige Hendrik Steffens, noch dreiſter, gefordert, die Naturforſchung müſſe ſich ſteigern zur Spe - culation und in allem Sinnlichen ſchlechterdings nur noch das Geiſtige erkennen. Jeder junge Fant, dem eine neue Idee im Kopfe gährte, meinte ſich nun berechtigt, die Welt der Erſcheinungen nach einem vorgefaßten Plane zurechtzurücken; Lorenz Oken ſtand im vierten Semeſter des medi - ciniſchen Studiums, als er ſchon den Grundriß ſeines Syſtems der Na - turphiloſophie veröffentlichte. Man verlor die Ehrfurcht vor dem Wirk - lichen, der Chemiker mochte ſich die Hände nicht beſchmutzen, der Phyſiker verſchmähte die Ergebniſſe ſeiner Apperception durch Experimente zu prüfen. Verworrene Bilder verdrängten die klaren Begriffe. Im Tone des Propheten ſprach Schelling von den beiden Principien der Finſterniß und des Lichtes, deren Angel das Feuer ſei. Der Diamant war der zum Bewußtſein gekommene Kieſel, die Wälder die Haare des Erdthiers, und am Aequator zeigte ſich die angeſchwollene Bauchſeite der Natur. 78II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Zwar der ehrliche Oken bewahrte ſich inmitten dieſer Saturnalien immer noch die Freude am Beobachten und Vergleichen und bereicherte die Wiſ - ſenſchaft durch gründliche Unterſuchungen über die Entwicklungsgeſchichte der Säugethiere; doch manches ſchöne Talent ging in dem phantaſtiſchen Spiele völlig unter. Wie viele gute Kraft mußte der junge Juſtus Liebig verſchwenden, bis er des romantiſchen Hochmuths endlich Herr ward und ſich entſchloß, ſchlichtweg als ein Unwiſſender an die wirkliche Welt heran - zutreten.

Die Naturphiloſophie ſah in der Natur den unbewußten Geiſt, in den Naturkräften die Organe dunkler Willensmächte und ſuchte daher überall nachzuweiſen, wie bewußtes und unbewußtes Leben in einander ſpielen. Hier, auf dem räthſelreichen Grenzgebiete der Naturwiſſenſchaft, berührte ſie ſich mit der religiöſen Schwärmerei der Zeit und mit den Ge - heimlehren jener Zauberer und Schwindler, die ſeit Swedenborgs Tagen das ganze alte Jahrhundert hindurch an den Höfen ihr Weſen getrieben hatten. Bis zum Jahre 1815 lebte noch in der Schweiz der alte Mes - mer, der Wundermann, deſſen Lehren einſt Lavater in den Kreiſen der Erweckten verbreitet hatte; der kannte die geheime Naturkraft der mag - netiſchen Allfluth, das eigentliche Lebensprincip, das alle Krankheiten heilen, ja ſelbſt verhüten ſollte. Dies halbverſchollene Evangelium der Natur brachte der Berliner Wohlfart jetzt wieder in Umlauf. Ueberall tauchten ſchlafwandelnde Frauen und magnetiſche Heilkünſtler auf; überall in den eleganten Salons bildeten verzückte Herren und Damen die magnetiſche Kette. Hufeland und mehrere andere bedeutende Aerzte befreundeten ſich mit der neuen Offenbarung; jedoch die Mode des Tages ſtürmte blind - lings über dieſe Gemäßigten hinweg.

Das Körnlein Wahrheit, das in den Doctrinen des Magnetismns lag, verſchwand bald in dem trüben Schlamme des gemeinen Aberglau - bens. Ein krankhafter Drang nach dem Unerforſchlichen bethörte die Wiſſenſchaft bevor ſie noch in der erforſchbaren Welt recht heimiſch ge - worden; phantaſtiſche Bücher erzählten von dem Geheimniß der Lebens - kraft , die man ſich als eine beſondere Subſtanz vorſtellte. Auch Galls Schädellehre gewann wieder zahlreiche Gläubige, zumal ſeit der höfiſche Naturphiloſoph Carus ſie der vornehmen Welt mundgerecht zu machen wußte. General Müffling ließ den jungen Offizieren, wenn ſie in die Berliner Kriegsſchule eintraten, regelmäßig durch einen Phrenologen die Köpfe betaſten, um die Talente herauszufinden; und ſtand ein Porträt - maler auf der Höhe der Zeit, ſo ſchmückte er ſeine Geſtalten mit unna - türlich hohen Stirnen, den Kennzeichen der Genialität. Dem alten Goethe ſendete einſt ein engliſcher Verehrer eine Büſte, die einem Waſſerkopfe ſehr ähnlich ſah; ſie ſtellte den Dichter ſelber vor, der Bildhauer hatte nach den Grundſätzen der Schädellehre a priori erkannt, wie der Fürſt der Dichtung unfehlbar ausſehen mußte. Männer aller Parteien verſanken in dies79Naturphiloſophiſche Träume.Traumleben. Den alternden preußiſchen Staatskanzler lockte der gewandte jüdiſche Arzt Koreff in die Netze des Mesmerismus, aber auch Wangen - heim, der Führer der Liberalen am Bundestage, ſtand unter den Hohen - prieſtern der Naturphiloſophie. Doch überwog der Rationalismus in der liberalen Welt; die Mehrzahl ſeiner Jünger fand der Wunderglaube in den Reihen der conſervativen Parteien. Auch in Frankreich zählten die beiden eifrigſten Apoſtel des Somnambulismus, Bergaſſe und Puyſegur zu den Heißſpornen der Legitimität. Die akademiſchen Lehrkörper konnten das Mißtrauen gegen die phantaſtiſche Willkür der Naturphiloſophen nie - mals ganz überwinden; die Berliner Univerſität weigerte ſich hartnäckig den geiſtreichen Schwärmer Steffens zu berufen, und zum erſten male entbrannte ein ernſter Streit zwiſchen der Staatsgewalt und der jungen Hochſchule, als Hardenberg durch ein Machtgebot ſeine Günſtlinge Koreff und Wohlfart zu ordentlichen Profeſſoren ernannte. Ganz unbekümmert um den Beifall der großen Welt ging indeſſen Heinrich Schubert ſeinen beſcheidenen Gang, der liebenswürdigſte und harmloſeſte der philoſophiſchen Naturforſcher, altväteriſch fromm wie es daheim im Pfarrhauſe des Erzge - birges der Brauch war, ein ehrwürdiges Vorbild chriſtlicher Liebe und Duldſamkeit; wenn er in ſeiner ſinnigen gemüthvollen Weiſe von der Symbolik des Traumes und den Nachtſeiten der Naturwiſſenſchaft ſprach, dann erbauten ſich die Stillen im Lande.

Wie ein Berggipfel ragte aus dem Nebelmeere der romantiſchen Na - turwiſſenſchaft Alexander v. Humboldt empor; ihn beſtrahlte ſchon die Sonne eines neuen Tages. Bereits in ſeinen Jugendjahren war er, der Zeit weit vorauseilend, ganz aus eigener Kraft von der äſthetiſchen zur wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung vorgeſchritten. Die treue Sorgfalt der induktiven Forſchung, die der Naturwiſſenſchaft ganz abhanden gekommen war und den Hiſtorikern erſt durch Savigny und Niebuhr wieder ge - wonnen wurde, lag dieſem Manne im Blute. Sein Drang nach objek - tiver Erkenntniß ließ von jeher ſchlechterdings nur die Thatſachen gelten, ſchied das Erwieſene ſtreng von dem Vermutheten ab, und nichts verletzte ihn tiefer als jener Dünkel der Speculation, der niemals ſeine Unkenntniß eingeſtehen, niemals beſcheiden eine Erſcheinung unerklärt laſſen wollte. Darum erſchien er in den Kreiſen der äſthetiſchen Idealiſten, wo man die Wirklichkeit als eine läſtige Schranke des freien Geiſtes verachtete, zuerſt wie ein Fremdling aus einer anderen Welt. Schiller hielt den Bruder ſeines geliebten Wilhelm für einen ideenloſen Sammler und klagte: dieſer nackte, ſchneidende, von der Einbildungskraft ganz verlaſſene Verſtand wolle die Natur ſchamlos ausgemeſſen haben. Seitdem hatten die Deutſchen längſt erfahren, welche Macht der Phantaſie in dieſem Genius des empiriſchen Wiſſens lebte; ſie vermaß ſich freilich nicht, den Gang der Forſchung mei - ſternd vorherzubeſtimmen, aber ſie verband die tauſend und tauſend ſorgſam erforſchten Einzelheiten zur lebendigen Einheit, und mit brüderlichem Stolze80II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.rief Wilhelm dem Jüngeren zu: Du wobſt aus dem was geiſtvoll Du erſpähet ein reiches, Weltenall umſchlingend Band! Auch dem Idealismus des Bruders ſtand Alexander weit näher als Schiller glaubte; denn wie Jener fand er den einzigen wirklichen Inhalt der Weltgeſchichte in der Ent - wicklung des Menſchengeiſtes, nur daß nach ſeiner Schätzung das Schauen, Bilden und Dichten hinter dem Forſchen zurückſtand. Und wie Jener durfte er ſich des freien, von der Gegenwart nie beſchränkten Sinnes rühmen, der Alles groß behandelte und in der peinlichen Einzelforſchung immer den Blick auf das All gerichtet hielt. Er ſucht ſo ſagte ſein Bruder wirklich nur Alles zu umfaſſen, um Eines zu erforſchen, dem man nur von allen Seiten zugleich beikommen kann. Die Erkenntniß galt ihm als das höchſte der Güter; alle Kräfte ſeiner Seele erſchienen beherrſcht, faſt aufgeſogen von dem einen allumfaſſenden Wiſſensdrange. Niemals ſtörte ihm die Liebe oder irgend eine andere ſtarke perſönliche Leidenſchaft die Bahnen ſeiner Forſchung; Keinen wählte er zum Freunde, der nicht mitbauen half an dem großen Werke ſeines Lebens.

So blieb auch das ſchöne, innige Verhältniß zwiſchen den beiden Brüdern mehr eine Gemeinſchaft der Geiſter als ein Herzensbündniß; ihre Vertraulichkeit wuchs mit den Jahren, je mehr Wilhelm von ſeinen äſthe - tiſchen Arbeiten zu der vergleichenden Sprachforſchung hinüberging und alſo dem Gedankenkreiſe des Bruders ſich näherte. In dem Freundes - bunde dieſes Bruderpaares gewann die Idee der universitas literarum Fleiſch und Blut; er bewies der Welt die unzerſtörbare Einheit der exak - ten und der hiſtoriſchen Wiſſenſchaften, von deren Feindſchaft kleine Geiſter fabeln. Alexander vermochte weder ſo tief wie Wilhelms ſchwerer und ſtärker angelegter Genius in die verborgenen Abgründe des Seelenlebens hinabzublicken, noch ſo kühn wie Jener zu den Höhen der Speculation emporzuſteigen, auch die reine Mathematik lag der Richtung ſeines Den - kens fern. Dafür überbot er den Bruder wie alle anderen Zeitgenoſſen durch die wunderbare Beweglichkeit und Empfänglichkeit eines raſtloſen Kopfes, der Alles, was Menſchen je geforſcht und gedacht in ſich aufzu - nehmen und mit ſich zu verſchmelzen wußte.

In ihm fand der weltbürgerliche Zug des deutſchen Geiſtes einen ſo vollkommenen Ausdruck wie vordem nur in Leibniz. Er hielt ſich be - rufen, die ganze geiſtige Habe des Zeitalters aufzuſpeichern und zu be - herrſchen, allen Völkern als ein Vermittler der modernen Bildung, als ein Lehrer der Humanität zu dienen. Niemand verſtand wie er, Talente aufzufinden und zu ermuthigen; mit unermüdlich liebenswürdigem Eifer theilte er Allen mit aus der Fülle ſeines immer lebendigen und immer bereiten Wiſſens. Goethe verglich ihn einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerſchöpflich entgegenſtrömt. Selbſt die Schwächen des Charakters, die er mit Leibniz theilte, kamen ſeinem Vermittlerberufe zu81A. v. Humboldt.ſtatten. Wenn er als ein ſchmiegſamer Hofmann Jedem nach dem Munde redete und Jeden ohne Unterſchied mit einem Schwalle ſchmeichleriſchen Lobes überſchüttete, ſo warb er dadurch immer neue Gönner und Ge - hilfen für die Sache der univerſalen Bildung, welche doch nur durch die Arbeit Aller gedeihen konnte; wenn er ſeinen eigenen Weltruhm mit unver - hohlener Eitelkeit genoß und förderte, ſo diente ihm ſein glänzender Name zugleich als ein Mittel um die Großen der Erde auf den Werth der unzäh - ligen wiſſenſchaftlichen Unternehmungen, die er mit warmem Fürwort unter - ſtützte, nachdrücklich hinzuweiſen. Wo es noth that trat er für die be - drohte Freiheit der Forſchung weit muthiger ein als vormals Leibniz, und während die weite Welt ihm ihre Huldigungen darbrachte, blieb er in ſeinem Herzen doch ein Deutſcher: er kannte wie Niemand ſonſt die Ge - brechen unſerer jungen Geſittung, unſerer Armuth und Kleinmeiſterei, und beobachtete mit ſtiller Freude, wie die Deutſchen Schritt für Schritt an die alte Cultur der Nachbarvölker näher heranrückten.

Gleich allen großen Reiſenden hatte er ſchon im Kindesalter ſich hinausgeſehnt in die ungemeſſene Ferne; wenn er im Palmenhauſe der Potsdamer Pfaueninſel zu den zierlichen Blätterfächern emporſchaute, dann ſtieg die Wunderwelt der Tropen lockend und glänzend vor ſeinem Geiſte auf. Was der Knabe geträumt, ging dem Manne herrlich in Erfüllung. Während fünf reicher Jahre durchwanderte er mit ſeinem treuen Bonpland das Innere Süd - und Mittelamerikas; die Freunde beſtiegen den Chimborazo, weilten viele Monate, von der Welt abgeſchie - den, in den nie betretenen Urwäldern am Orinoco. Als Humboldt zu - rückkehrte, war er der einzige deutſche Mann, der ſich in jenen napoleo - niſchen Tagen die ungetheilte Bewunderung des Auslandes errang. Sein Ruhm hielt die Ehre des deutſchen Namens ſelbſt unter den franzöſiſchen Siegern aufrecht; für Bonpland wußten ſeine Landsleute kein höheres Lob, als daß er der Mitarbeiter des deutſchen Forſchers geweſen. Hum - boldt ſiedelte ſich nun in Paris an; hier bot ihm der Umgang mit La - place, Arago, Cuvier, Gay-Luſſac einen fruchtbaren Gedankenaustauſch, wie ihn ein Naturforſcher in Deutſchland noch nirgends finden konnte. Alles drängte ſich um den bezaubernden Cauſeur, ſobald er nach arbeits - reichem Tage Abends in den Salons erſchien und durch geiſtvolle Be - merkungen, Reiſeerinnerungen, Tagesneuigkeiten und boshafte Scherze bis in die tiefe Nacht hinein die Geſellſchaft in Athem hielt.

Sein Anſehen ſtieg noch, als der Verkehr zwiſchen den beiden Nachbar - völkern nach dem Kriege wieder lebendiger wurde; ſeitdem galt er bei den Pariſern als der natürliche Vertreter der deutſchen Wiſſenſchaft, alle Lands - leute an der Seine ſuchten ſeinen Schutz, und ſein Wort wog oft ſchwerer als die Fürſprache der Diplomaten. In neunundzwanzig großen Bänden theilte er der Welt nach und nach die Ergebniſſe ſeiner amerikaniſchen Fahr - ten mit. Sein Reiſebericht war das unübertroffene Muſter ſtreng wiſſen -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 682II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſchaftlicher Länderbeſchreibung. Hier zeigte er zuerſt den geognoſtiſchen Un - terſchied der beiden Erdhälften, lehrte zuerſt Länderprofile zu zeichnen und die mittlere Höhe der Continente zu beſtimmen und bewies den über - raſchten Leſern, wie niedrig die Gebirge ſind im Vergleich mit der Ge - ſammterhebung des feſten Landes. Er ſchuf die Lehre der Pflanzengeo - graphie und öffnete durch die Auffindung der Iſothermen (1817) den Weg für die neue Wiſſenſchaft der Meteorologie. Im Entdecken und Erfinden kamen ihm einzelne ſeiner Pariſer Freunde gleich; doch keiner beherrſchte einen ſo weiten Geſichtskreis. Derſelbe Mann, der die Fach - genoſſen durch die peinliche Genauigkeit ſeiner barometriſchen Höhenmeſ - ſungen in Erſtaunen ſetzte, gab den Hiſtorikern zuerſt eine Vorſtellung von der Cultur der Urvölker Amerikas, ein klares Bild von der ſpaniſchen Colonialpolitik, und beſchämte, gleichwie Boeckh, die Nationalökonomen durch ein Meiſterſtück der vergleichenden Statiſtik, die Unterſuchungen über den vorhandenen Vorrath an edlen Metallen. Durch Humboldts Vorbild und perſönliche Belehrung empfing auch Ritter die erſten Aufſchlüſſe über die eigentliche Aufgabe der Geographie.

Gleich Humboldt hatte ſich ſein Landsmann Leopold v. Buch in dem philoſophiſchen Rauſche der Zeit die Luſt und Kraft zum Beob - achten des Wirklichen gerettet: auch er ein Ariſtokrat, durch reichen Be - ſitz vor der Kleinlichkeit des deutſchen Gelehrtenlebens bewahrt, und doch ſo ganz anders geartet als jener glänzende Redekünſtler der Pariſer Sa - lons: ein naturwüchſiges Genie, offenherzig, derb, geradezu, ein frei - müthiger märkiſcher Landjunker. In allen Bergwinkeln Europas, von Lappland bis zu den Abruzzen war der rüſtige Fußwanderer zu Hauſe; die feinen Veräſtelungen des Hochgebirges am buchtenreichen Fjord von Chriſtiania ſtanden ſo klar vor ſeinen Augen, wie die beſcheidenen Sand - hügel ſeines heimiſchen Flämings. Durch ihn und Humboldt wurde die Geologie von Grund aus umgeſtaltet: ſie widerlegten die neptuniſtiſche Doktrin ihres gemeinſamen Lehrers Werner und erwieſen die vulka - niſche Entſtehung der höchſten Gebirge. Mit Kummer ſah Goethe, wie ſein geliebtes poſeidaoniſches Reich alſo durch die tollen Strudeleien des Plutonismus zerſtört wurde. Die Erdfreundſchaft des Dichters wur - zelte im Gemüthe. So hoch er auch über der Phantaſterei des großen Haufens der Naturphiloſophen ſtand: es war doch ſeine poetiſche Welt - anſchauung, die ihn zur Erforſchung der Natur trieb. Ganz voraus - ſetzungslos ging er weder an die Farbenlehre noch an die Geologie heran; und wie treu er auch jede Erſcheinung der Natur beobachtete, ſchließlich nahm er doch nichts als erwieſen an, was den Grundanſchauungen ſeiner gelaſſenen Lebensweisheit widerſprach. Die Lehre des Plutonismus blieb ihm unheimlich; denn ſein Gefühl verlangte, daß die Beſte der Erde ſich langſam, ohne plötzliche Erſchütterungen, aus der Lebensfeuchte herausge - bildet haben mußte.

83Schelling.

Wenn der deutſchen Naturforſchung gelang, die Philoſophie in ihre Schranken zurückzuweiſen, dann durfte ſie wohl hoffen die Nachbarvölker dereinſt noch einzuholen. An Talenten gebrach es ihr ſchon jetzt nicht. Der Hallenſer Meckel war in der vergleichenden Anatomie ſchon weit über Cuvier hinausgegangen; Soemmering in München hatte bereits im Jahre 1810 die Möglichkeit des elektriſchen Telegraphen behauptet; und in Göt - tingen lebte ſchon, das Lehren verachtend, ganz in die letzten Probleme der reinen Theorie verſunken, der Mathematiker Gauß, zu deſſen Größe ſelbſt Humboldt mit ſcheuer Ehrfurcht aufblickte einer jener zeitloſen Denker, deren Wirkſamkeit erſt in dem Leben der kommenden Geſchlechter ganz empfunden wird. Er wußte, die Mathematik ſei die Königin der Wiſſenſchaften, und ſeine Zahlentheorie die Königin der Mathematik.

Wenn Hegel in jenen Tagen den Ausſpruch that: die Philoſophie iſt ihre Zeit in Gedanken gefaßt, ſo hatte er mindeſtens den Charakter ſeines Zeitalters recht verſtanden. Faſt in der geſammten geiſtigen Ar - beit der Epoche, in den phantaſtiſchen Verirrungen der Naturwiſſenſchaft wie in den fruchtbaren Entdeckungen der Hiſtoriker verrieth ſich der mäch - tige Einfluß der Ideen Schellings. Seine philoſophiſche Lehre beherrſchte noch die deutſchen Gedanken, bis ſie erſt in den zwanziger Jahren durch Hegels Syſtem vom Throne geſtoßen wurde; ſelbſt die eigenthümlich vor - nehme Haltung dieſer Gelehrtengeneration erinnert überall an das Vor - bild des ſtolzen Philoſophen, der alle unheiligen Sohlen ſo herriſch von der Schwelle ſeines Tempels abwies. In der That konnte dem Denkerſtolze der Deutſchen kaum eine größere Genugthuung bereitet werden als durch die Lehre dieſes unendlich empfänglichen Geiſtes, der die Einheit des Realen und Idealen behauptete, die Natur als den ſichtbaren Geiſt, den Geiſt als die unſichtbare Natur erklärte. Das große Problem der deutſchen Philoſophie ſchien gelöſt, die Identität von Sein und Denken endlich er - wieſen. Fichte hatte in der Natur nur die Bühne für das Ich geſehen, ohne ihr ſelbſtändiges Leben zu erklären; Schelling unternahm zu zeigen, wie ſich Gott zweifach offenbare in den gleichlaufenden Sphären der Na - tur und der Geſchichte. So ward ihm Alles was da war und iſt und ſein wird zu einer lebendigen Einheit; in der unendlichen Stufenfolge der Erſcheinungen entfaltete ſich das eine göttliche Selbſtbewußtſein: vom erſten Ringen dunkler Kräfte bis zum Erguß der höchſten Lebensſäfte iſt eine Kraft, ein Wechſelſpiel und Weben, ein Trieb und Drang nach immer höh’rem Leben. Neben Fichtes einſeitigem Idealismus erſchien dies all - umfaſſende Syſtem ebenſo großartig und überlegen, wie Goethe neben Schiller ſo lange man noch nicht bemerkte, daß der mächtige Gedanken - bau nicht auf ſicheren Beweiſen, ſondern nur auf den kühnen Behaup - tungen eines genialen Kopfes ruhte.

Mit Schelling begann jene krankhafte Ueberhebung der Speculation, die nachher durch Hegel auf die Spitze getrieben und der Strenge unſerer6*84II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlich werden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver - ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen, wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt - lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. Wer ſich zu der Idee des Univerſums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweiſe, welche der atomiſtiſche Gelehrte mühſam aus den Schachten der empiriſchen Welt emporgrub; er gewann aus der Anſchauung jener Idee ſelbſt unmittelbar die Kraft, die Natur zu ſchaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben.

Während ſeines Aufenthalts in Jena hatte ſich Schelling lange allein dem Ausbau ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems gewidmet. Erſt in den geiſtvollen Vorleſungen über das akademiſche Studium (1803) wandte er ſich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geſchichte zu. Ein glücklicher Inſtinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung der Zeit. Er erkannte jetzt, daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Le - ben im Staate der Punkt ſei, um welchen ſich Alles bewegt , und arbeitete dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung ſeiner ge - ſchichtlichen Philoſophie . Die Naturphiloſophie blieb fortan ſeinen Schü - lern überlaſſen und verfiel bald gänzlich in myſtiſche und magiſche Spielerei; der Wundermann Ennemoſer ſah ſchon die Zeit kommen, da die Prieſter, im glücklichen Alleinbeſitze der magnetiſchen Heilkunde, wieder Leib und Seele der Völker beherrſchen würden. Der Meiſter ſelbſt aber gelangte, da er in die hiſtoriſche Welt einkehrte, zu den fruchtbarſten und geſundeſten Gedanken ſeines Lebens; ſeinem Künſtlergeiſte kamen wirklich Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Weſen der Dinge unmittelbar vor die Augen führten.

Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens ergab ſich ihm mit Beſtimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verſtehen ſeien. Die voll - endete Welt der Geſchichte fand er in dem Staate, dem großen Kunſtwerke, das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menſchen, ſich ſelber Zweck ſei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem äußeren Leben der Menſchheit verwirkliche. Manche köſtliche Ausſprüche ließen erkennen, wie tief er in das innerſte Leben der Geſchichte einge - drungen war; ſeinem bildungsſtolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu: ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöſt, verliert mit dem Dunkel auch die Stärke und jenes barbariſche Princip, das die Grundlage aller Größe und Schönheit iſt. Jedoch zum Abſchluß gelangte ſeine Ge - ſchichtsphiloſophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng -85F. Baader.ling einſtmals oft zu übereiltem Schaffen verführt und ſtimmte jetzt den Mann ſchweigſam. Nur durch ein vollkommenes Werk meinte der Hochmü - thige noch ſich ſelber und der ſtaunenden Welt genügen zu können. Immer wieder verhieß er unter dem Hohngeſchrei ſeiner liberalen Gegner: wie ich jetzt reden werde, wird man ſehen; immer wieder ward ſein großes Werk über die Weltalter angekündigt, nie vollendet. Denn ſeiner un - ruhigen Phantaſie wurden die harten Thatſachen der Geſchichte auf die Dauer doch unbequem. Von ſeinen Weltaltern zog ihn die künftige Welt , die ſo viel zu ahnen und zu weiſſagen gab, ungleich ſtärker an als die Welt der wirklichen Geſchichte. Am Liebſten aber verweilte er bei der Betrachtung der Urzeit und ſchilderte, im ſcharfen Gegenſatze zu dem unbedingten Fortſchrittsglauben der Aufklärung, wie die glückliche Menſchheit in jenem Zeitalter urſprünglicher Unſchuld durch den Unter - richt höherer Geiſter die Geheimniſſe der Religion empfangen habe. Bald kehrte der Vielbewegliche auch der Hiſtorie wieder den Rücken und verlor ſich in die theoſophiſchen Probleme der Offenbarungsphiloſophie; ſeine ge - ſchichtsphiloſophiſchen Ideen aber lebten fort in den Werken von Savigny, Ritter und Creuzer.

Schelling konnte, ſelbſt wenn ſeine Phantaſie in’s Ungemeſſene ſchweifte, den proteſtantiſchen Schwaben niemals ganz verleugnen. In der chriſt - lichen Philoſophie des Baiern Franz Baader hingegen lebte die ganze Unfreiheit der mittelalterlichen Scholaſtik wieder auf. Der geiſtreiche Sonderling nahm die katholiſche Dogmatik zur Vorausſetzung wie zum Ziele ſeines Denkens, und bekämpfte gleichwohl das Papſtthum und die Jeſuiten ebenſo leidenſchaftlich wie den Liberalismus, die Aufklärung und die Staatsallmacht; in der Vereinigung der römiſchen, der griechiſchen und der evangeliſchen Kirche meinte er das myſtiſche Dreieck, den wahren Katholicismus gefunden zu haben. Statt der angeblich mechaniſchen Sy - ſteme ſeiner Vorgänger dachte er eine dynamiſche Philoſophie, ſtatt der heilandloſen und darum heilloſen Moral Kants eine neue, auf Phyſik und Religion begründete Ethik zu ſchaffen und gerieth dabei, obwohl er manche Verirrungen liberaler Verſtandesflachheit mit treffenden Worten widerlegte, ſelber in ein ſo krauſes Gewirr magiſcher Vorſtellungen, daß ſo - gar der ewig aufgeregte romantiſche Enthuſiaſt Steffens das fratzenhafte Treiben des Münchener Myſtagogen nicht mehr mit anſehen mochte. Wie er einſt den Czaren Alexander zur Stiftung der heiligen Allianz ange - regt hatte, ſo ſuchte er ſein Leben lang das Heil der Völker in einer un - klaren Vermiſchung religiöſer und politiſcher Ideen; ſein Staatsideal blieb die wahre Theokratie . Von Kant, dem deutſcheſten der Philoſophen, wendete ſich die romantiſche Ueberſchwänglichkeit erſchreckt ab. Statt ſeiner ward jetzt Jakob Böhme wieder als der philosophus teutonicus gefeiert, der tiefſinnige ſchwärmeriſche Theoſoph, der einſt dem wüſten Geſchlechte des dreißigjährigen Krieges ſein geheimnißvolles Ueberall ſieheſt Du Gott! 86II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.gepredigt hatte. Als Fouqués Regiment im Frühjahrsfeldzuge 1813 nahe der Landskrone ein Gefecht beſtand, da rief der romantiſche Poet in ſeliger Verzückung: hier ſei es ſchön zu ſterben, im Angeſichte des hei - ligen Berges, auf deſſen Gipfel der Herrgott zuerſt dem Schuſter von Görlitz erſchienen!

Wo waren ſie hin, jene Tage der allmächtigen Aufklärung, da der Gegenſatz der Glaubensbekenntniſſe ganz verbleicht, alles kirchliche Leben durch die weltliche Bildung überwuchert ſchien und der mögliche Unter - gang des Chriſtenthums von Freund und Feind ſchon mit philoſophiſcher Gelaſſenheit beſprochen wurde! Die erſchütternden Erfahrungen des Zeit - alters der Revolution hatten in allen Völkern das ſchlummernde religiöſe Gefühl mächtig aufgeregt; aber mit dem lebendigen Glauben erwachten auch hierarchiſche Beſtrebungen, die man längſt erſtorben wähnte, und die finſteren Leidenſchaften des Glaubenshaſſes, des Fanatismus, des Aberglaubens. Das neue Jahrhundert erwies ſich mit jedem Jahre mehr, im ſcharfen Gegenſatze zu ſeinem Vorgänger, als ein Zeitalter endloſen kirchlichen Unfriedens, ſo zerklüftet und verworren wie kaum ein zweites Jahrhundert der Kirchengeſchichte: reich an geſundem religiöſen Leben, doch ebenſo reich an Unglauben, Weltſinn, Gleichgiltigkeit, Verzweiflung; voll ſtiller Sehnſucht nach einer reineren Form des Chriſtenthums und doch unfähig zur Verſöhnung der erbitterten kirchlichen und kirchenfeindlichen Parteien, die immer nur durch das Gefühl der eigenen Schwäche und durch das gebieteriſche Ruhebedürfniß des bürgerlichen Lebens in Schran - ken gehalten wurden. Nirgends erſchien das Gewirr dieſer kirchlichen Ge - genſätze ſo bunt und vielgeſtaltig wie in dem Heimathlande der Refor - mation, das von jeher gewohnt war, die Fragen des Glaubens mit ſchwe - rem Ernſt zu behandeln, die Ueberzeugung des Gewiſſens freimüthig aus - zuſprechen. Die deutſche Nation zerfiel in ehrliche Gläubige und ehrliche Freidenker; die Zahl der Heuchler blieb hier immer gering.

Da die Durchſchnittsbildung ſtets um einige Schritte hinter dem Stande der Wiſſenſchaft zurückbleibt, ſo herrſchte in der Maſſe der evan - geliſchen Geiſtlichkeit und in der gebildeten Laienwelt noch immer jener bequeme, menſchenfreundliche Rationalismus, der mit ſeinem harten Ver - ſtande kurzerhand alles Unvernünftige von den Dogmen losſchälte und in ſeiner Selbſtzufriedenheit gar nicht bemerkte, daß er mit der Schale auch den Kern des chriſtlichen Glaubens verloren hatte: auch die tief - ſinnigen Lehren von der Sünde und der Erlöſung, welche dem germaniſchen Gemüthe allezeit die theuerſten waren. Durch dieſe Heilslehre hatte einſt das Chriſtenthum zuerſt den Weg gefunden zu den Herzen der Ger - manen, die allein unter allen Heidenvölkern ſchon an die dereinſtige Wie - dergeburt der ſündigen Welt glaubten; von dem zerknirſchenden Bewußt - ſein der eigenen Sünde war Luther ausgegangen, als er die Reinigung der verweltlichten Kirche unternahm; und wie nachdrücklich hatte noch87Der Rationalismus.Kant von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchengeſchlechts geſprochen. Der gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine ſchwache Erinne - rung an dieſe chriſtlichen Grundgedanken, ſondern glaubte harmlos an die Güte der menſchlichen Natur und beruhigte ſich bei einer weltlichen Werk - heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtſchaffenheit des Wandels genügte ihm zur Seligkeit. Gleichwohl beſaß er weder den Muth noch die wiſſenſchaft - liche Kraft um den ſteilen Weg, welchen einſt Leſſing und der Wolfen - bütteler Fragmentiſt gewieſen, weiter zu verfolgen und ſich die kritiſche Methode der neuen philologiſchen Sagenforſchung anzueignen; er wagte nicht den hiſtoriſchen Urſprung des Neuen Teſtaments ernſthaft zu unter - ſuchen, ſondern nahm die Bibel als ein Gegebenes hin und begnügte ſich ihre Ausſprüche ſo lange umzudeuteln, bis ſie mit den Naturgeſetzen im Einklang zu ſtehen ſchienen.

Der lauteſte und unduldſamſte Vorkämpfer dieſer Richtung war Paulus in Heidelberg, einige Jahre vor Schelling in dem nämlichen Pfarrhauſe zu Leonberg in Schwaben geboren, der Todfeind dieſes ſeines Lands - mannes und aller Lehren, welche irgend über den platten Verſtand hinaus - reichten. Wie fühlte er ſich glücklich in ſeinem Freiſinn, wenn er die Auf - erſtehung für ein Erwachen vom Scheintode, das Wunder von Kana für den gelungenen Spaß eines vergnügten Hochzeitsgaſtes erklärte. Mancher rationaliſtiſche Lehrer rief ſogar die Geheimlehren der Naturphiloſophen zu Hilfe und ſchilderte den Heiland als einen magnetiſchen Arzt; das natür - liche Wunder erſchien dieſen Köpfen immerhin noch erträglicher als das übernatürliche. Die glaubensfreudigen alten Kirchenlieder erſchreckten die nüchterne Mattherzigkeit; ſie wurden durch läppiſche Aenderungen verdünnt oder gänzlich aus den Geſangbüchern entfernt. Wie viel ſittſamer als das gewaltige O Ewigkeit, Du Donnerwort klang doch das neue wohlerzogene Rationaliſtenlied: ich ſterb im Tode nicht, mich überzeugen Gründe! Von jeher hatte die evangeliſche Kirche den Cultus neben der Lehre vernachläſſigt. Unter der Herrſchaft des Rationalismus verſchwand aus dem Gottes - dienſte vollends Alles was das Gemüth erquickte und die Phantaſie er - regte; die geiſtliche Lehre aber ſank zur weltlichen Belehrung herab. Die Kanzelredner verſtanden nicht mehr die beladenen Gewiſſen zu erbauen und zu erheben, ihnen Troſt zu ſpenden aus der Fülle der Verheißung; ſie ergingen ſich in breiten moraliſchen Betrachtungen, ſie erläuterten was ſich der vernünftige Chriſt bei den einzelnen Dogmen zu denken habe, und verſchmähten ſogar nicht an geweihter Stätte wohlgemeinte Anwei - ſungen für den Kartoffelbau und die Schafzucht zu geben. Ihre Gottes - häuſer verödeten, die guten Köpfe vermochten in dieſer dünnen Luft nicht mehr zu athmen. Die Pflichten der Seelſorge wurden vernachläſſigt; jeder nichtige Vorwand reichte aus um die Erlaubniß zur Eheſcheidung bei den aufgeklärten Pfarrern und Conſiſtorien zu erlangen. Auch der alte offen - barungsgläubige Supranaturalismus, der namentlich in Württemberg unter88II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.der Leitung des Prälaten Bengel blühte, war von der trockenen Verſtän - digkeit der Rationaliſten angekränkelt. Beide Schulen lebten in einem unwahren Scheinfrieden mit der Wiſſenſchaft, ſie ſetzten die nothwendige Uebereinſtimmung von Glauben und Wiſſen ſtillſchweigend voraus. Beide bewegten ſich noch in einem Gedankenkreiſe, welchen die lebendigen Kräfte der Literatur längſt verlaſſen hatten. Der unfruchtbare Streit über die Vernünftigkeit der einzelnen Dogmen berührte nur das Aeußere der Re - ligion, nicht ihr Weſen.

Unterdeſſen erzog Schleiermacher eine neue Theologenſchule, die von dem Meiſter lernte mit dem jungen wiſſenſchaftlichen Leben der Nation wieder Schritt zu halten. Er hatte einſt das weckende Wort geſprochen, das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurück - rief und das Gottesbewußtſein über das Gebiet des Wiſſens und des Han - delns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er jetzt dieſen fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften ſowie in ſeinen meiſter - haften Berliner Kathedervorträgen wiſſenſchaftlich ausgeſtaltete, wurde er der Erneuerer unſerer Theologie, der größte aller unſerer Theologen ſeit dem Jahrhundert der Reformation; und noch heute gelangt kein deutſcher Theo - log zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers Ideen abgerechnet hat.

Das Geheimniß langanhaltender geiſtiger Wirkſamkeit liegt zumeiſt in der harmoniſchen Verbindung ſcheinbar entgegengeſetzter Gaben; und ſelten war ein ſchöpferiſcher Kopf zugleich ſo vielgeſtaltig und ſo harmoniſch, wie dieſer Proteus, der in drei grundverſchiedenen Zeiten, in der äſthetiſchen, der patriotiſchen und der wiſſenſchaftlichen Epoche alle Wandlungen des Berliner Lebens treu wie ein Spiegel wiedergab und doch nie ſich ſelbſt verlor. Unter den beſchaulichen Schwärmern der herrnhuter Brüdergemeinde hatte er ſeine erſten beſtimmenden Eindrücke empfangen, und bis zum Ende beſeligte ihn das Bewußtſein perſönlicher Gemeinſchaft mit ſeinem Erlöſer; aber die Innigkeit ſeines religiöſen Gefühls ward in Schranken gehalten durch einen ſchneidigen Verſtand, der aller dialektiſchen Künſte Meiſter war und ſich gern in beißendem Witze erging. Er hatte einſt, als er die Briefe über Schlegels Lucinde ſchrieb, ſich ſehr weit in die unwahre Ge - fühlsſchwelgerei der Romantik verirrt und trotzdem eine Reinheit des Her - zens bewahrt, die mit den Jahren allmählich ſein ganzes Weſen ver - klärte und den unſcheinbaren kleinen Mann wie einen Patriarchen er - ſcheinen ließ. Der Ueberſetzer Platons war heimiſch in allen Tiefen der Speculation und darum im Stande die Philoſophie mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, ſobald ſie ſich erdreiſtete, das Abgeleitete an die Stelle des Urſprünglichen zu ſetzen und die Welt der Empfindung aus dem Begriffe zu erklären. Er ſuchte alles Menſchliche religiös zu behandeln und das ganze gelehrte Wiſſen der Zeit für die Theologie nutzbar zu machen; und doch konnte er nicht leben ohne die volksthümliche Thätigkeit des Predigers. 89Schleiermacher.Um ſeine Kanzel verſammelte ſich noch immer die beſte Geſellſchaft Ber - lins, aber auch die Armen im Geiſt erbaute ſeine herzliche Rede; wie unver - geßlich ehrwürdig erſchien er Allen, da er vor dem Sarge ſeines Söhn - leins Nathanael ſelber die Leichenrede hielt, ſo ganz in Schmerz verloren um das Stück eigenen Lebens, das da vor ihm lag, und doch ſo ſtark in dem Troſte, der allein tröſtet. Wer ſeine tiefgemüthlichen Briefe an den wackeren Breslauer Theologen Gaß las oder ihn im perſönlichen Verkehre mit den zahlreichen Freunden ſo liebevoll auf die Eigenart eines Jeden ein - gehen ſah, der mochte leicht glauben, dieſe empfängliche Natur verlange nur ſich hinzugeben in innigem Gedankenaustauſch; und doch konnte Schleier - macher nur im öffentlichen Leben ſich ganz genug thun, ſeine Staatsge - ſinnung blieb in den Tagen der politiſchen Ermattung ebenſo lebendig wie einſt in den Zeiten des patriotiſchen Zornes. Die Unkundigen und die Gegner ſchalten, er ſchillere in allen Farben, und doch ſtand er mit ſeinem beſonnenen Freimuth immer muthig auf dem Plane, ſobald er ein heiliges Gut ſeines Volkes bedroht ſah, ein ſtahlharter, ganz mit ſich einiger Charakter.

Jener Grundgedanke der Reden über die Religion berührte ſich nahe mit den Ideen der neuen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft. War die Wurzel der Religion im Gemüthe zu ſuchen, ſo ergab ſich von ſelbſt der Schluß, daß die Aeußerungen des Gottesbewußtſeins verſchieden ſein müſſen. Die Dogmen erſchienen demnach als ſubjective Gemüthswahrheiten, als Aus - ſagen des frommen Gefühls über ſeine Vorſtellungen von Gott. Der Theologie aber erwuchs die neue Aufgabe, dieſe Geſtaltungen des chriſt - lichen Gefühls in ihrer geſchichtlichen Nothwendigkeit zu begreifen. Sie ſollte nicht mehr in gehäſſiger Polemik die einzelnen Bekenntniſſe des Chriſtenthums bekämpfen und verdammen, ſondern ſie alle als höhere oder niedere Formen des chriſtlichen Selbſtbewußtſeins zu verſtehen ſuchen; denn auch Schleiermacher hatte ſich in ſeiner Weiſe, unabhängig von Schelling und Savigny, die Erkenntniß der hiſtoriſchen Entwicklung erworben und unterſchied ſcharf zwiſchen dem was durch die menſchliche Natur werde und dem was der Menſch mache.

Damit vollführte er auf dem theologiſchen Gebiete eine ähnliche Grenz - berichtigung, wie einſt Kant im Bereiche der Philoſophie; er ſicherte der Theologie einen Boden, auf dem ſie ebenſo unzweifelhafte wiſſenſchaftliche Ergebniſſe gewinnen konnte, wie alle anderen hiſtoriſchen Fächer. Die Frei - heit des Chriſtenmenſchen faßte er ganz ſo weitherzig auf wie einſt Luther in ſeinen erſten Schriften: das lebendige Gottesbewußtſein hatte von der freien hiſtoriſchen und philoſophiſchen Forſchung nichts zu fürchten. Die chriſtliche Geſinnung war ihm nichts anderes als die Menſchlichkeit in ihrer Vollendung und konnte daher mit keinem berechtigten Streben des Menſchen in Streit gerathen. Doch ebenſo nachdrücklich hob er die Wahr - heit hervor, daß alle Religion poſitiv iſt, und das fromme Abhängigkeits -90II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.gefühl nur in der Gemeinſchaft der Gläubigen wach erhalten werden kann. In der Moral ließ er, freier als Kant, die Perſönlichkeit zu ihrem vollen Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, ſondern ihre Ver - klärung durch den lebendigen Geiſt hieß ihm ſittlich; auch verhehlte er nicht, daß die Tugenden der chriſtlichen Selbſtverneinung an den antiken Tugenden der Selbſtbehauptung ihre Ergänzung finden müſſen. Die Schwächen ſeiner Lehre verriethen ſich freilich ſobald er verſuchte nachzu - weiſen, welche Thatſachen der heiligen Geſchichte nothwendig im chriſtlichen Bewußtſein enthalten ſeien; dann gerieth er in’s Künſteln und mußte er - fahren, wie unmöglich es iſt, die poſitiven Dogmen unmittelbar aus der Idee abzuleiten. Aber wie wenig bedeuteten ihm die Dogmen und die Formen des Cultus neben dem Segen der religiöſen Gemeinſchaft! Als die Kämpfe um die evangeliſche Union entbrannten, ward er der tapferſte Vertheidiger der freien Kirchenverfaſſung und der Vereinigung der prote - ſtantiſchen Bekenntniſſe.

Auch unter den Laien bekundeten ſich überall die Anzeichen eines regeren chriſtlichen Lebens, das der Herrſchaft des Rationalismus ent - wuchs. Es ließ ſich doch nicht vergeſſen, wie andächtig einſt in den Ta - gen der großen Siegesbotſchaften das deutſche Heer den Worten des Dich - ters gelauſcht hatte: kannſt faſſen Du den reichen Segen von nah und fern? biſt Du nicht faſt davor erlegen, Du Volk des Herrn? Selbſt die Weltkinder hatten damals die alte einfältige Wahrheit, daß nur fromme Völker frei und tapfer ſind, in tiefſter Seele empfunden. Aus den ſchwungvollen Liedern vom alten deutſchen Gott ſprach zwar nirgends eine beſtimmte confeſſionelle Parteigeſinnung, aber eine innige Freudigkeit des Gottesbewußtſeins, die mit der Gemüthsarmuth des Rationalismus nichts gemein hatte. Den meiſten der Männer, welche jene Zeit des Gottesgerichts mit klarem Bewußtſein durchlebt, blieb allezeit eine geho - bene religiöſe Stimmung, mochten ſie nun, wie Stein, Arndt, Savigny, Aſter, in dem Glauben der Väter ihren Frieden finden oder, wie Niebuhr, ſehnſüchtig nach dem Glauben ſuchen. Die ſtreitbare Jugend vollends trug Silberkreuze auf den teutoniſchen Mützen und erging ſich in chriſtlicher Begeiſterung; ſeit dem Zeitalter der Reformation hatten die deutſchen Univerſitäten nicht mehr ein Studentengeſchlecht geſehen, das die reli - giöſen Fragen ſo ernſt nahm. Wohl hielt ſich die Chriſtlichkeit der feu - rigen Teutonen nicht frei von widerwärtiger Prahlerei noch von purita - niſcher Geſchmackloſigkeit: das Gebet bei der Eröffnung des Kneipabends hinderte nicht immer, daß die weihevoll begonnene Verſammlung zuletzt in ein wildes Zechgelage ausartete; und mit vollem Rechte ſchritt das Ber - liner Publikum handgreiflich gegen die jungen Barbaren ein, als die Stu - denten, bei der Aufführung von Zacharias Werners Weihe der Kraft, den auftretenden Martin Luther mit dem Drohrufe der Reformator von der Bühne! begrüßten. Manchem der lärmenden Chriſto-Germanen diente91Erwachen des religiöſen Gefühls.die Religion nur als ein politiſches Schlagwort, da nun einmal Deutſch - thum und Chriſtenthum für gleichbedeutend galten, Einzelnen gar nur als ein Deckmantel für den Judenhaß, der zum guten Tone gehörte.

Gleichwohl lag ein geſunder Kern in der religiöſen Schwärmerei des jungen Geſchlechts. Die Deutſchen erkannten endlich wieder, wie feſt ihre ganze Geſittung mit dem Chriſtenthum verwachſen war, und dieſe Erkennt - niß griff ſo unaufhaltſam um ſich, daß eine unbefangen heidniſche Geſin - nung, wie ſie einſt Winckelmann hegte, für die Söhne des neuen Zeitalters bald zur Unmöglichkeit wurde. Die Jugend drängte ſich mit Vorliebe zu den Lehrern, welche für die Sehnſucht des gläubigen Gemüths ein Ver - ſtändniß zeigten. In Heidelberg fand der mit Creuzer eng befreundete ehrwürdige Daub, ein frommer geiſtvoller Myſtiker, der das Dogma durch die Speculation wiederherzuſtellen ſuchte, bei den Studenten ungleich mehr Anklang, als die Rationaliſten. Seine Anhänger verglichen ihn mit Ha - mann, nannten ihn den Magus des Südens. In Jena gewann Fries, ein Philoſoph ohne Schärfe und Tiefſinn, trotzdem die Herzen der Jugend, weil er mit ehrlichem Patriotismus und wiſſenſchaftlichem Ernſt eine ebenſo aufrichtige Frömmigkeit verband. Seine Dialoge Julius und Euagoras blieben einige Jahre lang das beliebte Erbauungsbuch der teutoniſchen Stu - denten, denn hier lag die Kantiſche Philoſophie ganz ebenſo harmlos und unvermittelt neben der herrnhutiſchen Glaubensinbrunſt wie in den Köpfen der jungen Leſer ſelber.

Faſt in jeder deutſchen Landſchaft beſtanden noch einzelne ſtreng alt - gläubige Gemeinden, die mit zäher Treue an ihrem bibelfeſten Geiſtlichen hingen und der Mißgunſt der rationaliſtiſchen Conſiſtorien einen ſtillen, unüberwindlichen Widerſtand entgegenſtemmten. So namentlich im Wup - perthale und unter den grübleriſchen Schwaben, aber auch in Sachſen, in Pommern, in Altpreußen. In Breslau ſammelten ſich die Streng - gläubigen um Hendrik Steffens, den ehrlichen unſteten Schwärmer, der das harte Lutherthum ſeiner norwegiſchen Heimath mit den Phantaſie - gebilden der deutſchen romantiſchen Philoſophie zu verſchmelzen wußte. In der Berliner vornehmen Geſellſchaft bildeten einige begabte junge Männer, die einſt als Offiziere im Kriege zum Herrn geführt wurden , einen gläubigen Freundeskreis: die Gebrüder Gerlach, Lancizolle, Le Coq, Thadden, Senfft-Pilſach, Goetze, Karl v. Röder u. A. Hier verlebte der Kronprinz erbauliche Stunden, die für ſeine kirchliche und politiſche Geſinnung verhängnißvoll werden ſollten; hier empfing er Hilfe für ſeine unermüdliche Wohlthätigkeit, hier ward auch der Plan für die Begrün - dung des Berliner Miſſionsvereins zuerſt beſprochen. In allen Werken chriſtlicher Barmherzigkeit zeigte ſich die ſtreng kirchliche Richtung dem erſchlafften Rationalismus weit überlegen; zu ihr gehörte der Elſaſſer Oberlin, der unvergeßliche Wohlthäter des Steinthals, zu ihr Falk in Weimar, der zuerſt eine Rettungsanſtalt für verwahrloſte Kinder eröffnete. 92II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.Auch an hochbegabten Kanzelrednern gebrach es ihr nicht; in Holſtein blieb es noch nach Jahrzehnten unvergeſſen, mit welcher gewaltigen Beredſamkeit Claus Harms, der feurige lutheriſche Eiferer, im volksthümlichen Platt zu ſeinen Bauern ſprach. Im Norden galt der Wandsbecker Bote, der ge - müthvolle alte Claudius, am Oberrhein der fromme Jung Stilling als der Führer der Stillen im Lande. Beide ſtarben ſchon zu Anfang der Friedensjahre, doch ihr Wort und Vorbild wirkte mächtig fort. Der Pietis - mus und die ſtreng confeſſionellen Parteien gewannen mehr und mehr Boden, zumal auf dem flachen Lande, bis ſich endlich das Kirchenregiment ſelber genöthigt ſah mit dieſen neuen Mächten zu rechnen.

Der natürliche Rückſchlag gegen die rationaliſtiſche Flachheit war ein - getreten; aber ſchon in dieſen erſten Anfängen eines kräftigen kirchlichen Lebens verriethen ſich krankhafte Beſtrebungen, die dem confeſſionellen Frieden unſeres paritätiſchen Volkes verderblich werden mußten. Während manche der Rechtgläubigen den freieren Richtungen des Proteſtantismus mit unchriſtlicher Härte begegneten und die evangeliſche Union leiden - ſchaftlich bekämpften, fühlten ſie ſich, bewußt oder unbewußt, zur römiſchen Kirche hingezogen. Einer der namhafteſten lutheriſchen Pietiſten, der bern - burgiſche Prinzenerzieher Beckedorff veröffentlichte im Jahre 1818 Briefe über die Wiedervereinigung der chriſtlichen Kirche und fand, obgleich die römiſche Geſinnung aus jeder Zeile ſprach, den warmen Beifall ſeiner Glaubensgenoſſen bis er einige Jahre ſpäter ſelber zur römiſchen Kirche übertrat. Die chriſtliche Religionsgeſchichte des Convertiten Friedrich Stol - berg, ein durch und durch katholiſches Buch, ward in den Conventikeln der evangeliſchen Pietiſten laut geprieſen, und der Schwiegerſohn des Wandsbecker Boten, der wackere Buchhändler Perthes, ein treuer Prote - ſtant, verbreitete die Schrift mit heiligem Eifer. Ein Herzensfreund Jung Stillings, Max v. Schenkendorf, der tapfere Dichter des Befreiungs - krieges, ſang ſogar ſchwärmeriſche Lieder auf Maria, ſüße Königin und feierte den fanatiſchen Führer der katholiſchen Liga: feſter treuer Max von Baiern . Und dazu der Zauberſpuk, die Geiſterſeherei, die weiſſa - gende Verzückung aller der Schwarmgeiſter, welche bald hier bald dort das Volk beunruhigten. Die meiſten von ihnen ſtanden mit den böhmiſchen Brüdern irgendwie in Verbindung; ihr Weizen blühte da am üppigſten, wo der Boden durch den Rationalismus am Tiefſten umgepflügt war. Jene unbeſtimmte Aufregung, die ſich immer in Zeiten großen Schickſals - wechſels der Volksmaſſen bemächtigt, wirkte zuſammen mit den Thorheiten der Naturphiloſophen. Wie einſt nach Luthers Auftreten die Bauern von dem tauſendjährigen Reiche träumten, ſo ſprachen die Erweckten nach Na - poleons Sturz von dem Falle des ſchwarzen Engels und des Thieres mit den ſieben Hörnern. In allen Ländern deutſcher Zunge, vom Oberrhein bis nach Livland, tauchten einzelne geheimnißvolle Teufelsbanner und fromme Schlafwandler auf; die Schwärmerei ſteigerte ſich oft bis zum Wahnſinn. 93Schwarmgeiſterei.Frau v. Krüdener durchzog die Schweiz, das Elſaß und das badiſche Land um überall zur Buße zu mahnen und die Armen zu ſpeiſen. Obwohl ihre Predigten ebenſo hohl und weinerlich ausfielen wie einſt ihr Roman Va - lerie, ſo fand ſie doch Anklang bei den Maſſen; Metternich verklagte ſie wegen Ruheſtörung bei ihrem Freunde, dem Czaren Alexander*)Kruſemarks Bericht, Wien 4. Oktbr. 1817., und die badiſche Polizei mußte ſchließlich die Demagogin ausweiſen. Die Luſt am Wunderbaren lag in der Luft; die ſinnigſten Naturen widerſtanden ihr am Wenigſten. Selbſt Schleiermachers treffliche Frau mochte den erbau - lichen Verkehr mit einer geſegneten Somnambule nicht entbehren, und ihr Gatte verhielt ſich nicht ſchlechthin ablehnend.

Ebenſo reich an Gegenſätzen erſchien das Leben der katholiſchen Kirche. Die meiſten Proteſtanten wähnten die Macht des Papſtthums ſchon völlig gebrochen. Wie ſollte auch dieſer römiſche Stuhl jemals ſeine Weltherr - ſchaftspläne wieder aufnehmen? war doch erſt vor wenigen Jahren die katholiſche Kirche in Frankreich allein durch ein Machtgebot der Staats - gewalt wiederhergeſtellt, und ſoeben erſt der Pontifex durch die Gnade der Verbündeten in das Stammgut Petri zurückgeführt worden! Den viel - geprüften Papſt Pius betrachtete man mit einem gemüthlichen Mitleid, das von Geringſchätzung nicht frei war; die conſervativen Parteien be - grüßten ihn als einen brauchbaren Bundesgenoſſen im Kampfe wider die Revolution. Selbſt der Proteſt der Curie gegen die Beſchlüſſe des Wiener Congreſſes ſtörte die Regierungen nicht in ihrer argloſen Sicherheit. In vollem Ernſt erörterte man ſchon die Frage, ob wohl nach dem Tode Pius VII. noch ein neuer Papſt gewählt werden würde.

In der That lebte die weltmänniſche Milde der vornehmen Prälaten des alten Jahrhunderts noch in einem Theile des Clerus fort; wer in ſolchen Kreiſen verkehrte, mochte leicht zu dem Wahne gelangen, der Hader der Bekenntniſſe werde ſich nach und nach von ſelbſt verlieren. Die Bibel - geſellſchaften zu Kreuznach und Neuwied wurden von vielen katholiſchen Geiſtlichen des Bisthums Trier lebhaft unterſtützt. **)Bericht des Oberpräſidenten v. Ingersleben über die Zuſtände im Großherzog - thum Niederrhein, 26. Juli 1817.In Breslau pflegten die beiden theologiſchen Facultäten wechſelſeitig den Disputationen der Schweſterkirche beizuwohnen, und in Tübingen geſchah es noch im Jahre 1828, daß eine Preisaufgabe der katholiſchen Facultät von dem evangeli - ſchen Theologen David Strauß gelöſt wurde. Unter Geiſtlichen und Laien fand der Febronianiſche Traum von der deutſchen Nationalkirche noch immer zahlreiche Anhänger; ſehr häufig vernahm man das Verlangen nach Ein - führung einer deutſchen Liturgie und Abſchaffung des Coelibats. Manche Vertheidiger der Staatsallmacht wollten das Territorialſyſtem des Tho - maſius auf die katholiſche Kirche übertragen und die Geiſtlichen nur noch als höchſt ehrwürdige Staatsdiener behandeln. Der Wortführer der94II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.nationalkirchlichen Beſtrebungen Heinrich Weſſenberg hatte bereits deutſchen Kirchengeſang in ſeiner Conſtanzer Diöceſe eingebürgert; die Proteſtanten betrachtete er duldſam als die Kirche linker Seite . Behutſamer trat Sailer dem römiſchen Stuhle gegenüber, der ehrwürdige Prälat, der durch Beiſpiel und Lehre die lebendige Frömmigkeit in der katholiſchen Kirche Baierns wieder wach rief. Aber auch er trug kein Bedenken, ſich öffentlich auf die Schriften proteſtantiſcher Theologen zu berufen; er lebte in herzlicher Freundſchaft mit vielen gläubigen Proteſtanten und theilte mit ihnen die Verehrung für Thomas a Kempis, der erſt durch Sailers Ueberſetzung den katholiſchen Gemeinden wieder bekannt wurde. Auch Overberg, der ſtreng katholiſche Erzieher des Lehrerſtandes im Münſterlande, gewann ſich durch ſeine apoſtoliſche Milde die Verehrung Steins; und die nicht minder kirchlich geſinnten Boiſſerees, denen die Kunſt nur als die Tochter der Religion erſchien, behielten doch immer Fühlung mit den Arbeiten der proteſtan - tiſchen Wiſſenſchaft. Wie dieſe Männer den Anſchauungen der evange - liſchen Pietiſten nahe ſtanden, ſo hatte andererſeits der Bonner Theolog Hermes ſich die Methode des proteſtantiſchen Rationalismus angeeignet und unternahm den unmöglichen Verſuch, das katholiſche Dogma auf die Vernunftbeweiſe der Kantiſchen Philoſophie zu ſtützen. Seine Anhänger beherrſchten die Unterrichtsanſtalten am Rhein und bemühten ſich redlich den confeſſionellen Frieden zu wahren.

Welch ein Abſtand zwiſchen den Gedanken dieſer Friedfertigen und den herrſchſüchtigen Plänen des römiſchen Stuhls! Kaum war Pius VII. in die ewige Stadt zurückgekehrt, ſo ſtellte er am 7. Auguſt 1814 durch die Bulle Sollicitudo omnium ecclesiarum den Jeſuitenorden wieder her und las ſelber die Meſſe im Geſù, vor dem Altar des heiligen Ignatius, dort wo der Meißel Le Gros den Triumph der Kirche über die Ketzerei in prahleriſchen Bildwerken verherrlicht hat. Als ihn Czar Alexander nach - träglich einlud der Heiligen Allianz beizutreten, wies der Papſt die ſchwer - lich ernſthaft gemeinte Zumuthung mit dem ganzen Stolze des rechtmä - ßigen Weltherrſchers zurück. Bald nachher wurden auch die Inquiſition und der Index der verbotenen Bücher wieder eingeführt, die Bibelgeſell - ſchaften für Teufelswerk erklärt. Die alte Kirche hatte in den Tagen der revolutionären Bedrängniß bewunderungswürdigen ſittlichen Muth bewährt und abermals erfahren, daß ihr aus dem Leiden die größte Kraft erwuchs. Jetzt ſtand ſie ſtrahlend in der Glorie des Martyriums; die romantiſche Sehnſucht der öffentlichen Meinung und die Furcht der Höfe vor der Revolution kamen ihr zu ſtatten. Selbſt in dem antipapiſtiſchen England durfte, zum erſten male ſeit Jakob II., wieder ein Cardinal in ſeiner geiſt - lichen Tracht erſcheinen. Der ſelbſtgefällige Wahn jener aufgeklärten Leute, welche das neue Jahrhundert den Leidenſchaften der Religionskriege ent - wachſen glaubten, war ſoeben erſt durch den Freiheitskampf der Spanier handgreiflich widerlegt worden; und nun brach, noch während die Monarchen95Die ultramontane Partei.in Paris weilten, über Südfrankreich die Raſerei des weißen Schreckens herein: der katholiſche Pöbel ſtürmte die Häuſer der Proteſtanten und mordete die Ketzer unter dem Rufe: laßt uns Würſte machen aus Cal - vins Blute!

Bei ſo günſtigem Winde fuhr das Schifflein Petri wieder mit vollen Segeln daher. Die Natur der Dinge zwang den römiſchen Stuhl, trotz der Sanftmuth des Papſtes und trotz der Klugheit ſeines Staatsſekretärs Conſalvi, Schritt für Schritt zu den Gedanken des Zeitalters der Gegen - reformation zurückzukehren. In Deutſchland niſteten ſich in aller Stille die erſten Jeſuiten wieder ein, und bald ward auch die zweiſchneidige Wir - kung der Seculariſationen fühlbar. Der heranwachſende plebejiſche Clerus war beſitz - und heimathlos, nicht mehr, wie die reichen adlichen Domkapitel der alten Zeit, durch politiſche Intereſſen mit dem Vaterlande verbunden. Als Helfferich und die beiden anderen Oratoren der katholiſchen Kirche auf dem Wiener Congreſſe ihre ultramontanen Anſichten ausſprachen, fanden ſie noch wenig Anklang beim deutſchen Clerus; doch ſeitdem wuchs die clericale Partei von Jahr zu Jahr unmerklich an. Sie trat noch ſehr behutſam auf, da das Beamtenthum in allen deutſchen Staaten ſie mit Mißtrauen betrachtete; ſelbſt Kaiſer Franz und Metternich ſchätzten zwar den ſtreitbaren Katholicismus als den natürlichen Bundesgenoſſen der öſterreichiſchen Partei draußen im Reiche, jedoch von der Selbſtändigkeit der Kirche wollten ſie als ſtrenge Abſolutiſten nichts wiſſen. Um ſich bei den Höfen einzuſchmeicheln, friſchte der Jeſuitismus zunächſt jene jakobitiſchen Lehren wieder auf, welche einſt das Haus Stuart in’s Verderben geſtürzt hatten: die Reformation ſei der letzte Quell aller Revolutionen, die Kirche der Hort und Halt des Königthums, denn ſie predige den leidenden Ge - horſam, ſie entbinde durch ihre myſtiſche Weihe den König von Gottes Gnaden aller Pflichten gegen ſeine Unterthanen.

Die eifrigſten Anhänger der ultramontanen Partei waren die zahl - reichen Proſelyten, welche die Romantik in das römiſche Lager hinüber - geführt hatte: ſo die geiſtreichen Gebrüder Schloſſer in Frankfurt, ſo die Grafen Stolberg in Holſtein, die mit den Clericalen des Münſterlandes in enger Verbindung ſtanden, ſo vor Allen jene mächtige Convertitenſchaar, die von Wien ihre rührigen Sendboten in’s Reich ausſchickte. Welch ein klägliches Bild geiſtigen Verfalles bot jetzt Friedrich Schlegel! In ſeinem äſthetiſchen Hochmuth hatte er ſich einſt vermeſſen: ich denke eine neue Religion zu ſtiften, es iſt an der Zeit! Derſelbe äſthetiſche Rauſch hatte ihn ſodann, als die neue Religion ſich nicht finden wollte, mitſammt ſeiner geiſtreichen Frau Dorothea Mendelsſohn und ihrem Sohne dem naza - reniſchen Maler Veit, in die Arme der römiſchen Kirche getrieben; nun war er längſt ſchon eingeroſtet in den Angeln eines fertigen Syſtems, das auf jede Frage eine Antwort bereit hielt. Wilhelm Humboldt ſah mit Entſetzen, wie in dieſem einſt ſo beweglichen Geiſte jetzt Alles abgeſchloſſen96II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.war, wie er nur noch Ketzer oder Jünger kannte und nicht mehr ver - mochte, ein freies, beſcheiden nach der Wahrheit ſuchendes Geſpräch zu führen. Dank ſeiner zunehmenden Bequemlichkeit nützte Schlegel der ultra - montanen Propaganda nur wenig. Weit fruchtbarer wirkte der Pommer Klinckowſtröm, ein liebenswürdiger romantiſcher Schwärmer; ſeine Er - ziehungsanſtalt in Wien wurde die Pflanzſchule des clericalen öſterreichi - ſchen Adels. Sein Schwager, der Augsburger Pilat, geborner Katholik und Gatte einer Proſelytin, leitete den Oeſterreichiſchen Beobachter, das amtliche Blatt Metternichs. Alle Anderen aber übertraf Adam Müller an Talent, Rührigkeit, Fanatismus; es war, als wollte der geiſtreiche, von Grund aus verlogene Sophiſt durch wüthenden Ketzerhaß den Makel ſeiner Berliner Abſtammung auslöſchen; überall wo im deutſchen Norden Um - triebe der Jeſuiten ſich zeigten, hatte er die Hände mit im Spiele. Die meiſten der Federn, welche die deutſche Politik der Hofburg vertheidigten, gehörten dieſem Convertitenkreiſe an. Nur Gentz ſelber konnte ſich zum Uebertritte nicht entſchließen, obgleich ſein Abſcheu gegen den Erzrevolu - tionär Luther immer heftiger wurde; der Kern ſeiner Bildung war doch zu feſt mit der Kantiſchen Philoſophie verwachſen.

Die aufgeklärten Proteſtanten hatten ſich längſt an die zahlreichen Converſionen gewöhnt; ſie wurden erſt aus ihrer gedankenloſen Gleich - giltigkeit aufgeſchreckt, als man von der Bekehrung des Berners K. L. v. Haller vernahm. Wer durfte dem ſtreitbaren Publiciſten, dem leidenſchaft - lichen Feinde der Revolution verargen, daß er durch die Conſequenz ſeiner politiſchen Geſinnung zum Glaubenswechſel gezwungen wurde? Aber Haller hielt ſeinen Uebertritt geheim, mit Genehmigung des Biſchofs von Frei - burg; nachher leiſtete er noch als Mitglied des Berner Rathes den Amts - eid, der ihn zur Beſchützung der reformirten Kirche verpflichtete, und da das unſaubere Geheimniß endlich durch Andere enthüllt wurde, geſtand er in einem offenen Briefe an ſeine Familie (1821) ganz unbefangen: er habe aus guten Gründen geſchwiegen, damit ſeine neue Schrift über die geiſtlichen Staaten, weil ſie ſcheinbar aus der Feder eines Prote - ſtanten hervorgegangen , um ſo ſtärker auf die Leſer wirkte! Frecher waren die ſittlichen Grundſätze des Jeſuitismus ſelten verkündigt worden. Und welche Ausſichten eröffneten ſich dem Frieden der Confeſſionen, da der Apoſtat, unter dem lauten Beifall der legitimiſtiſchen Preſſe Frankreichs, triumphirend erkärte: die Welt ſei heute nur noch zwiſchen Katholiken und Gottloſen getheilt, dieſem einen Uebertritte würden tauſende folgen, bis die Menſchheit gänzlich den Mächten der kirchlichen und der politiſchen Revolution entriſſen ſei. Eine Fluth von Streitſchriften erſchien. Der milde Leipziger Kanzelredner Tzſchirner, der rationaliſtiſche Philoſoph Krug und andere Proteſtanten ſprachen in treuherzigen Worten ihre naive Ver - wunderung aus. Man begann zu fühlen, auf wie ſchwachen Füßen doch die Herrſchaft des belobten vernünftigen Chriſtenthums ſtand.

97Voß und Stolberg.

Gleich der evangeliſchen ward auch die katholiſche Kirche durch die Ausſchweifungen rohen Aberglaubens heimgeſucht. In München ſtand die Hochburg der katholiſchen Magier. Dort in Baiern waren die Teufel - austreibungen des verſtorbenen Gaßner noch unvergeſſen; jetzt rühmte ſich Baader einer vom Teufel beſeſſenen Tochter. In Franken zog ein Bauerncardinal mit einer Dirne, die den Heiland unter dem Herzen trug, durch die Dörfer; droben im Schwarzwälder Alpgau unter den groben Hotzen wurde die Schwarmgeiſterei der alten Salpeterer wieder rege; aus Oeſterreich kam die fanatiſche Sekte der Pöſchelianer nach Baiern hinüber, ein wüſtes Geſindel, das ſelbſt vor dem religiöſen Morde nicht zurückſchrak und nur durch harte Strafen gebändigt werden konnte. Unter den zahl - loſen frommen Zauberern that ſich ein vornehmer Prieſter, Fürſt Ale - xander Hohenlohe durch kecke Zuverſicht hervor. Papſt Pius, der ſeinen Mann kannte, meinte achſelzuckend: questo far dei miracoli! als er vernahm, wie der Fürſt durch die Kraft des Gebetes ſogar aus der Ferne Todkranke heilte, und das fränkiſche Landvolk ihm in Schaaren zu - ſtrömte. In einem ſtolzen Aufrufe redete der Wunderthäter die Fürſten des heiligen Bundes an: nicht mehr durch Waffen würde die Revolution beſiegt, die Erziehung müſſe verwandelt, die Jugend zurückgeführt werden in den Schooß der Kirche. Der fromme Wahn wirkte hier ebenſo unwider - ſtehlich anſteckend, wie unter den Proteſtanten: ſogar Sailer betete einmal gläubig an dem Bette der Wunder-Nonne von Dülmen.

Die unverſöhnliche Härte der kirchlichen Gegenſätze, die ganze Fried - loſigkeit unſeres religiöſen Lebens trat mit erſchreckender Klarheit zu Tage, als auf dem heißen Boden Heidelbergs wieder einmal ein literariſcher Zank ausbrach. In der kleinen Stadt hauſten ſo viele namhafte Vertreter grund - verſchiedener Richtungen eng bei einander; der Kampf der Meinungen ward dort ſtets mit gehäſſiger Bitterkeit geführt. Um ſeinen Gegnern Daub und Creuzer die Stange zu halten, hatte Paulus die Zeitſchrift Sophro - nizon gegründet; geſchickt redigirt gewann ſie bald Anſehen durch frei - müthigen Tadel mancher Mißſtände in Staat und Kirche. Der kleinſtaatliche Liberalismus, der von den Bedingungen der Macht des Staates nichts ahnte, und der Rationalismus, der von dem religiöſen Gefühle des gläubigen Ge - müths nichts wiſſen wollte, fanden da ſelbander ihren Sprechſaal. Als nun Graf Friedrich Stolberg in Adam Müllers hochconſervativem Staats - anzeiger einen ſcharfen Aufſatz über die Verirrungen des Zeitgeiſtes ver - öffentlicht hatte, brach Voß im Sophronizon (1819) gegen den Jugendgenoſſen los. Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier? fragte er grimmig. Ein Greis gegen den Greis wollte er Zeugniß ablegen, weil er bald jenſeits wo kein Ritter noch Pfaff ſchaltet , ſich verantworten müſſe. Darum meinte er ſich jeder Treue, jeder Anſtandsrückſicht gegen den alten Frennd entbunden, dem er vor vierzig Jahren ſeine Odyſſee gewidmet hatte und ſchilderte mit herzloſer Roheit, ſelbſt das häusliche Leben ſchamlos auf -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 798II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.deckend: wie der Graf ſchon als ſie im Göttinger Hainbunde zuſammen jugendlich ſchwärmten im Stillen ſich der hierarchiſchen und ariſtokratiſchen Zwangsherrſchaft zugeneigt habe, bis ihn dann Adelsſtolz und Phantaſterei in die Nacht hildebrandiniſcher Verunreinigung getrieben hätten; denn - thender als jemals der Türk droht jetzt der Junker den erleuchteten Völkern finſtere Barbarei . Einige treffende Bemerkungen über die Hohlheit des Convertitenthums und die fromme Selbſtbeſpiegelung des Stolbergiſchen Kreiſes verſchwanden in einem Meere unwahrer Beſchuldigungen. Denn unzweifelhaft war Stolberg nicht wie Haller durch ſeine politiſche Geſinnung zur römiſchen Kirche geführt worden, ſondern durch den religiöſen Drang eines ſchwachen Gemüths, das ſich nie auf ſich ſelber ſtützen konnte; Goethes ſcharfer Blick hatte den Weichmüthigen von jeher als einen unbewußten Katholiken betrachtet.

Gleich den meiſten ſeiner Altersgenoſſen hatte Voß ſich einſt für die Menſchenrechte der Revolution begeiſtert; jetzt nach dem Sturze der Fremd - herrſchaft flammte die radikale Geſinnung des alten Herrn, die ſich wäh - rend des Befreiungskrieges nicht recht herausgewagt, wieder in wilder Hef - tigkeit auf. Höhnend nannte er Napoleon den Würgengel der Hochgeborenen und rief dem alten Jugendfreunde zu: Edlere nennſt Du die Söhne Gewappneter, die in der Vorzeit Tugend des Doggen vielleicht adelte oder des Wolfs? Zu dieſem fanatiſchen Adelshaſſe geſellten ſich das Mißtrauen des Ratio - naliſten gegen jede nicht ganz waſſerklare Form des kirchlichen Lebens; der Großinquiſitor des Rationalismus konnte ſich das Wiedererwachen des religiöſen Sinnes nur aus der ruchloſen Wühlerei eines pfäffiſch-ritter - lichen Geheimbundes erklären. Heftige Erwiderungen der Freunde des Angegriffenen und neue polternde Streitſchriften von Voß, Paulus und Schott bewieſen nur, wie unmöglich jede Verſöhnung in dieſem wüſten Ge - zänke war. Goethe traf wieder das rechte Wort, da er ſagte:

Mir wird unfrei, mir wird unfroh,
Wie zwiſchen Gluth und Welle,
Als läſ ich ein Capitolo
Aus Dantes grauſer Hölle.

Die widerwärtige Fehde wirkte auf die Stimmung des deutſchen Libera - lismus tief und verderblich ein. Voß und die Gelehrten des Sophronizon ſtellten zuerſt die Behauptung auf: der Glaube an eine religiöſe Ueber - lieferung hänge mit dem Glauben an das erbliche Verdienſt des Adels im Innerſten zuſammen, der freie Mann achte nur die ſelbſtanerkannte Geiſteswahrheit und die ſelbſterworbene Verdienſtlichkeit . Obwohl die Thor - heit dieſer Sätze Jedem einleuchten mußte, der die confeſſionelle Hart - gläubigkeit der nordamerikaniſchen Demokratie kannte, ſo fanden ſie doch Anklang bei der Syſtemſucht der Deutſchen, und allmählich entſtand eine krankhafte Sprachverwirrung, die bis zum heutigen Tage das deutſche Par -99K. v. Rotteck.teileben verfälſcht. Man begann zu glauben, was unmittelbar nach dem heiligen Kriege noch Niemand zu behaupten gewagt hatte: daß rationaliſtiſche oder gar kirchenfeindliche Geſinnung das untrügliche Kennzeichen des poli - tiſchen Liberalismus ſei; man bezeichnete Beides mit dem wohllautenden Namen der Freiſinnigkeit und zwang alſo die conſervativen Regierungen ſich den ſtreng kirchlichen Parteien zu nähern. Noch verderblicher wirkte das arge Beiſpiel eines aufgeklärten Geſinnungsterrorismus, der überall nur Pfaffenherrſchſucht, Adelsſtolz oder Liebedienerei ſuchte und nachher in der Gehäſſigkeit der Demagogenverfolgungen die natürliche Erwiderung fand.

Dieſelbe engherzige Unduldſamkeit beſeelte auch den einflußreichſten Publiciſten jener Tage. Karl v. Rotteck blieb zwei Jahrzehnte hindurch der hoch angeſehene politiſche Lehrer des ſüddeutſchen Bürgerthums, weil er weder die Kraft noch die Neigung beſaß ſich irgendwie über die Durch - ſchnittsanſicht der Mittelklaſſen zu erheben. Obgleich der Rechtſchaffene niemals um Volksgunſt buhlte, ſo ſtanden ſeine Anſchauungen doch immer von ſelbſt im Einklang mit dem gebietenden Zeitgeiſt . Er nahm den wohlhabenden Kleinſtädtern und Bauern des Südens das Wort von den Lippen und verkündete was Alle dunkel empfanden mit unerſchütterlichem Muthe, mit der warmen Beredſamkeit eines ehrlichen Herzens. Dem fran - zöſiſchen Blute ſeiner Mutter verdankte er eine unter den deutſchen Ge - lehrten damals noch ſeltene Leichtigkeit des Ausdrucks; unermüdlich wen - dete er den überaus beſcheidenen Vorrath ſeiner Gedanken hin und her, bis den Leſern Alles waſſerklar und unanfechtbar erſchien. Die demokra - tiſchen Ideen, welche einſt zur Zeit des Baſtilleſturmes in Oberdeutſchland eingedrungen, hatten ſich unterdeſſen in der Stille verſtärkt und weithin ver - breitet; durch die Fürſtenrevolutionen der napoleoniſchen Zeit war die ge - ſammte altgeſchichtliche Staatsordnung völlig zerſtört, in den Mittelklaſſen aber wuchs von Jahr zu Jahr der Groll gegen die Willkür des rheinbün - diſchen Beamtenthums. Aus ſolchen Gedanken und Wünſchen formte Rotteck, merkwürdig früh, ſchon unmittelbar nach dem Friedensſchluſſe, das fertige Idealbild ſeines conſtitutionellen Muſterſtaates. Er rühmte ſich ganz auf der Höhe der Zeit zu ſtehen und ahnte nicht, wie ſtark die altſtändiſchen Vorſtellungen, die in der Nation mit wunderbarer Zähigkeit fortlebten, auch auf ſeine Doktrin einwirkten: ganz wie die Herren Stände der guten alten Zeit betrachtete er die Staatsgewalt als den natürlichen Feind der Freiheit. Wer ihm nicht glaubte, dem war ein Lächeln vom Miniſtertiſche, ein Kreuz und ein Band oder eine Anſtellung lieber als das Gemeinwohl . Neben Savigny und Niebuhr erſchien Rotteck als ein wiſſenſchaftlicher Reaktionär, da die Grundgedanken ſeiner Theorie durchaus dem achtzehnten Jahrhun - dert angehörten; nur zog er mit großer Gewandtheit aus dieſen veralteten Sätzen einige Folgerungen, welche dem praktiſchen Bedürfniß der Gegen - wart in der That entſprachen. Ein Parteimann vom Wirbel bis zur Zehe, von jeher gewohnt, die Menſchen und die Dinge lediglich mit dem Zollſtock7*100II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.der politiſchen Doktrin zu meſſen, hatte er die große Zeit unſerer Literatur ohne jedes tiefere Verſtändniß durchlebt: die Freiheitsbegeiſterung des Mar - quis Poſa blieb ihm die Krone der deutſchen Dichtung, was konnte der Fürſtendiener Goethe daneben aufweiſen?

Gleichwohl vermochte ſelbſt dieſer politiſche Eiferer den literariſchen Ur - ſprung des deutſchen Liberalismus nicht zu verleugnen; denn auch er fühlte ſich unwiderſtehlich hingezogen zu jenem Franzoſen, der unter den Vorläufern der Revolution der ſchwächſte politiſche Kopf, aber auch der gemüthvollſte Künſtler und deshalb der deutſchen Bildung am vertrauteſten war. Von Rouſſeau lernte er die Lehren der Volksſouveränität und der allgemeinen Gleichheit, ſowie den kindlichen Glauben an die natürliche Unſchuld des Menſchen. Dieſe Ideen verſuchte er dann mit Hilfe des Kantiſchen Natur - rechts, das ja ſelbſt den Anſchauungen des Genfer Philoſophen nahe ſtand, in ein Syſtem zu bringen, obgleich er die Philoſophie nur als die Auslegerin des geſunden Menſchenverſtandes ſchätzte. Die dritte Quelle ſeiner Doktrin war das Buch des Hontheim-Febronius über die geſetzliche Gewalt des Papſtes. Hier fand Rotteck ein eigenthümliches Gemiſch von Aufklärungs - eifer und katholiſcher Glaubenstreue, das ſeiner eigenen Geſinnung ent - ſprach; hier auch das Vorbild für die Methode ſeiner künſtlichen politiſchen Beweisführung. Wie jener wohlmeinende Vorkämpfer des nationalkirch - lichen Gedankens die letzten Jahrhunderte der Kirchengeſchichte kurzerhand ausſtrich, dem Papſte nur einige beſcheidene Ehrenrechte zuwies und dabei doch keineswegs gemeint war das Papſtthum ſelber anzugreifen, ſo ent - kleidete Rotteck das Königthum aller ſeiner weſentlichen Befugniſſe und glaubte doch nicht antimonarchiſch geſinnt zu ſein. In aller Unſchuld, ohne jeden revolutionären Hintergedanken predigte er eine radikale Theorie, welche mit dem Beſtande des deutſchen Staatsweſens ſich ſchlechterdings nicht vereinigen ließ.

Der Sohn eines ehrenfeſten Altöſterreichers war er im ſchönen Breis - gau aufgewachſen, zu der Zeit, da die Reformen Joſephs II. die Begei - ſterung der aufgeklärten Vorderöſterreicher erweckten. Jenes Syſtem gewalt - ſamer Völkerbeglückung galt ihm immer als wahrhaft liberale Politik. Dann hatte er voll Schmerz mit angeſehen, wie ſein Heimathland mit Baden vereinigt wurde, und lebte nun unter einer Regierung, die er noch lange mißtrauiſch als eine halbfremde betrachtete, in einem Staate ohne Geſchichte, deſſen Inſtitutionen allerdings wie Werke des Zufalls oder der bewußten Willkür erſchienen. Seine ehrliche Liebe zum deutſchen Vater - lande ſprach er ſelbſt unter dem Drucke der napoleoniſchen Cenſur mann - haft aus, und als die Befreier in Baden einzogen, übernahm er ſofort die Leitung der Teutſchen Blätter und ſtellte ſie dem Hauptquartiere der Ver - bündeten zur Verfügung. Ganz wohl ward ihm dennoch nur inmitten ſeiner alemanniſchen Landsleute; ihnen zuerſt galt all ſein Thun und Reden, mit rechter Herzensfreude ſchrieb er auf eines ſeiner Bücher die101Rottecks Weltgeſchichte.Widmung: allen edlen Bürgern Freiburgs anſpruchslos und liebend der Verfaſſer. Wenn der kleine ſchlichte Mann des Nachmittags nach den Collegien rüſtig auf die Vorhöhen des Schwarzwaldes zu ſeinem kleinen Rebgute, dem Schönehof hinaufſtieg und von droben die liebliche Thal - bucht mit dem ſtolzen Münſterthurme überblickte, dann meinte er die Perle Deutſchlands zu ſchauen; und als dies herrliche Land nun gar noch mit der erſehnten vernunftgemäßen Verfaſſung geſegnet wurde, da konnte er nur noch mit Geringſchätzung an den fernen Norden denken, den er nach Landesart natürlich nie betreten hatte, und fragte ſtolz: ob ſich wohl das lichte Rheinland bei politiſchen Rechten beruhigen könne, die allenfalls für das finſtere Pommern genügten? Wie die Schwaben in Uhland, ſo er - kannten die badiſchen Alemannen in ihrem Rotteck alle Züge ihres eigenen Weſens wieder: ihren tapfern Freimuth, ihren demokratiſchen Trotz, ihre joſephiniſche Aufklärung, aber auch ihre kleinſtädtiſche Beſchränktheit, ihre naive Unkenntniß aller politiſchen Machtverhältniſſe und die Selbſtgefäl - ligkeit ihres harmloſen Particularismus. Dann gehen wir eben zum Rotteck hieß es unter den Schwarzwälder Bauern, wenn die Be - ſchwerden bei den Beamten nichts halfen.

Rottecks Anſehen bei den Mittelklaſſen ward zuerſt durch ſeine Welt - geſchichte begründet. Das Buch erſchien ſeit dem Jahre 1812, und mit jedem neuen Bande ſtieg der Abſatz; in manchem kleinſtädtiſchen Bürger - hauſe des Südens beſtand der ganze Bücherſchatz aus der Bibel, dem Gebetbuch und dem Rotteck. Was konnte auch dem tief verſtimmten und doch politiſch völlig rathloſen Völkchen der Kleinſtaaten willkommener klingen als die ſelbſtgefällige Trivialität dieſer Geſchichtsweisheit, die von dem nothwendigen Werden des hiſtoriſchen Lebens gar nichts ahnte, ſondern alles Mißgeſchick der Völker einfach aus der Bosheit und der Verblen - dung der Regierenden ableitete und geradezu ausſprach, ihr höchſtes Ziel ſei der jetzt mit Macht ſich erhebenden und durch ſolche Erhebung Heil verheißenden öffentlichen Meinung zu entſprechen . Der dürre Ratio - nalismus der Geſchichtſchreibung des alten Jahrhunderts verſchmolz ſich mit den Parteileidenſchaften des neuen Zeitalters. Rotteck betrachtete den Staat er wußte es nicht anders grundſätzlich nur von unten, mit den Augen der Regierten; niemals verfiel er auf die Frage, wie ſich die menſchlichen Dinge von oben her ausnehmen, welche Gedanken die Thä - tigkeit der Regierenden beſtimmten und welche Hemmniſſe ſie zu über - winden hatte. Jeder Fürſt, jeder Machthaber ſchien ihm verdächtig. Selbſt im perſönlichen Verkehr mochte der eingefleiſchte Bürgersmann die vor - nehmen Leute nicht leiden, der Anblick einer Uniform oder eines Ordens - kreuzes war ihm unbehaglich; ſogar Blücher gefiel ihm nicht mehr ſeit der alte Held den Fürſtentitel führte.

Noch niemals hatte ein deutſches Buch die ſchlimmſte Schwäche der modernen Demokratie, den neidiſchen Abſcheu gegen Alles was über die ge -102II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. Sehr nach - drücklich wies der volksthümliche Hiſtoriker Alexander den Großen zurecht, weil dieſer Menſch von Staub und Erde zerſchmetterte Völker zum Fuß - geſtell ſeines Ruhmes machte ; den Helden der Kreuzzüge hielt er die zornige Frage entgegen: mit welchem Rechte wurde Paläſtina erobert? Der ganze Verlauf der Weltgeſchichte zeigte ihm in entſetzlicher Eintönig - keit ſtets das nämliche traurige Schauſpiel: wie die allezeit unſchuldigen Völker die Jahrtauſende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen mißhandelt und zu gemeinſchädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann gar mit dem Mittelalter zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit und der Finſterniß ein weder erfreuliches noch ſehr intereſſantes Zeit - alter über die unglückliche Menſchheit hereinbrachen, bis darauf end - lich durch die Volksmänner der amerikaniſchen und der franzöſiſchen Re - volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeiſt zu ſeinem Rechte kam.

Die naive Selbſtverliebtheit des philoſophiſchen Jahrhunderts lebte hier wieder auf, nur daß ſie jetzt ein politiſches Gewand anlegte. Durch Rottecks Weltgeſchichte wurde das republikaniſche Staatsideal zum erſten male den deutſchen Mittelklaſſen gepredigt. Die Begeiſterung für die junge Republik des Weſtens hatte ſich zur Zeit des amerikaniſchen Unabhängig - keitskrieges doch nur auf die engen Kreiſe der gebildeten Jugend beſchränkt und war dann während der Stürme der napoleoniſchen Tage ganz in Vergeſſenheit gerathen. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verſtimmten wieder abendwärts. Im Weſten, rief er aus, in der jugendlichen neuen Welt erbaut ſich das natürliche, das vernünftige Recht ſein erleſenes Reich. Zwar fügte er als ein geſetzliebender Staatsbürger beſchwichtigend hinzu: nicht eben die republikaniſche Form iſt’s, die wir die Sonne dieſes Tages nennen, nein, nur der republikaniſche Geiſt. Indeß blieb den Leſern doch der Eindruck, daß die Republik der allein vernünftige Staat, der Freiſtaat ſchlechthin ſei: beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleich - bedeutend. Dieſe Lehre fand um ſo leichter Anklang, da Jedermann ſchon auf der Schulbank die Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der Republiken des Alterthums gelernt hatte.

Ebenſo verführeriſch erſchien den Leſern die parteiiſch gefärbte Dar - ſtellung der jüngſten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch die ſagenbildende Kraft des Volksgeiſtes noch in dieſem bildungsſtolzen Jahrhundert! Das Bild der ſelbſterlebten allerneueſten Ereigniſſe ver - ſchob und verwirrte ſich in dem Gedächtniß der Völker, ſofort nach dem Friedensſchluſſe. Wie die Franzoſen alleſammt glaubten, ſie ſeien nur der zehnfachen Uebermacht erlegen, ſo entſtand auch unter den deutſchen Un - zufriedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck ſprach allen Liberalen des Südens aus der Seele, wenn er zuverſichtlich behauptete, von ſämmtlichen europäiſchen Mächten hätten allein die beiden103Der Liberalismus und das Heerweſen.Verfaſſungsſtaaten England und Spanien, wunderbar geſtärkt durch die Kraft der conſtitutionellen Freiheit, dem napoleoniſchen Weltreiche wider - ſtanden. Daß auch Rußland die nämliche Widerſtandskraft gezeigt hatte, überging man mit Stillſchweigen; denn dieſer vor Kurzem noch ſo laut gefeierte Staat verfiel nach der Stiftung der heiligen Allianz dem leiden - ſchaftlichen Haſſe des Liberalismus, und mahnend wies Rotteck dem preu - ßiſchen Staate die Aufgabe zu, der Freiheit Europas als eine Vormauer gegen die moskowitiſche Knechtſchaft zu dienen. Um ſo überſchwänglicher ward die Cortesverfaſſung von 1812 geprieſen, welche das ſpaniſche Volk zu ſeinem Heldenkampfe begeiſtert haben ſollte; ſie blieb während eines Jahr - zehntes das Schooßkind der Liberalen, da ſie, in Abweſenheit des Monarchen entſtanden, die Macht der Krone auf’s Aeußerſte beſchränkte und mithin dem höchſten Ideale, der Freiheit Amerikas nahe zu kommen ſchien.

Ueber den deutſchen Befreiungskrieg kam bald eine noch wunder - ſamere Erzählung in Umlauf: die verbündeten Fürſten hatten das deutſche Volk durch den Kaliſcher Aufruf und die Verheißung einer preußiſchen Verfaſſung mit trügeriſchen Hoffnungen erfüllt; gelockt durch ſo ſchmei - chelnde Töne ſo erzählte Rotteck waren dann die Hunderttauſende zu den Waffen geeilt! Die Unwahrheit dieſer Behauptung ließ ſich freilich ſchon aus dem Kalender nachweiſen. Die Verordnung über die künftige Verfaſſung Preußens war am 22. Mai 1815 unterzeichnet und erſt am 8. Juli veröffentlicht, als der letzte Krieg gegen Napoleon bereits zu Ende ging; von dem Kaliſcher Aufruf aber hatte die Maſſe der preußiſchen Landwehrmänner wenig oder nichts erfahren. Und doch fand das Partei - märchen Glauben, zuerſt im Süden, nachher, als die Stimmung ſich immer mehr verbitterte, auch in Preußen ſelbſt. Man fühlte ſich wie verrathen und verkauft, man konnte ſich den kläglichen Zuſtand Deutſchlands nach ſo ungeheuern Opfern nicht anders erklären, als aus einem großen Be - truge; und bald ward Jeder als ein Reaktionär angeſehen, der noch der Wahrheit gemäß bekannte, daß die Preußen ſich ſchlicht und recht auf den Ruf ihres Königs erhoben hatten um den heimiſchen Boden vom Landes - feinde zu ſäubern und die Ehre ihrer alten königlichen Fahnen wiederherzu - ſtellen. Die Verblendeten bemerkten nicht mehr, welche Beleidigung ſie dem preußiſchen Volke durch ihre Erfindungen zufügten.

Die Leiſtungen der Landwehr wurden ſelbſt in Preußen überſchätzt; die Liberalen des Oberlandes vollends erzählten ſich bald Wunderdinge von den Lützowern und den anderen Freiſchaaren, die doch zu den Siegen der Verbün - deten nur ſehr wenig beigetragen hatten. Wer den ſchweren Ernſt des Waffen - handwerks kannte, urtheilte freilich anders. Speckbacher, der tapfere Ty - roler Bandenführer von 1809, geſtand dem Adjutanten Yorks Karl v. Roeder: bei uns Bauern war friſches Herz, aber keine Ordnung, bei unſeren kai - ſerlichen Soldaten ſtand es umgekehrt, bei dem Blücher und dem York aber war Beides, die Ordnung und das friſche Herz; das hätt ich wohl ſehen104II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.mögen! Für dieſe Sprache des geraden Menſchenverſtandes hatte die ver - biſſene Parteigeſinnung der Liberalen kein Ohr; der Name Freiſchaar klang ihnen ſo unwiderſtehlich wie das Wort Freiſtaat. Man dachte ſich jene unbedeutenden preußiſchen Freicorps den ſpaniſchen Guerillas ähnlich und betrachtete die heiligen Schaaren als die eigentlichen Beſieger Na - poleons. Die feurigen Verſe von Lützows wilder Jagd, welche der junge Dichter einſt arglos aus der Fülle ſeines begeiſterten Herzens heraus ge - ſchaffen hatte, erhielten allmählich den Sinn eines Parteigeſanges. Man wiederholte das Lied herausfordernd wie um die Linientruppen zu verhöhnen, und König Friedrich Wilhelm mochte bald die friſchen Klänge gar nicht mehr hören weil ſie ihm wie eine Kränkung ſeines tapferen Heeres er - ſchienen. Dies verſtimmte Geſchlecht ſchien gar nicht mehr im Stande, ſich der Großthaten der vaterländiſchen Geſchichte unſchuldig zu erfreuen.

Die ganze Verbitterung des Liberalismus entlud ſich in Rottecks Schrift über ſtehende Heere und Nationalmiliz (1816). Welch ein Gegenſatz zu jenem patriotiſchen Buche Rühle von Lilienſterns vom Kriege ! Der preu - ßiſche Offizier dachte mit ſtaatsmänniſcher Mäßigung die Heere zu natio - naliſiren und die Völker zu militariſiren; der Parteimann Rotteck ſtellte ſogleich ſein radikales Entweder oder: wollen wir die Nation ſelbſt zum Heer oder die Soldaten zu Bürgern machen? Das ſei die große Frage dieſes verhängnißſchweren Augenblicks. Mit fanatiſchem Grimme wendete er ſich gegen das preußiſche Wehrgeſetz und erklärte, kaum ein Jahr nach - dem Linie und Landwehr bei Belle Alliance ſo ruhmvoll zuſammengewirkt, voll dreiſter Zuverſicht: welcher Staat durch ein ſtehendes Heer ſtark ſein will, derſelbe thut Verzicht auf eine kräftige Landwehr. Er ſchilderte das ſtehende Heer als die Stütze des Despotismus; er behauptete: wenn alle Jünglinge zum Heere berufen werden, ſo wird die ganze Nation von den Geſinnungen des Miethlings durchdrungen ſein; er forderte endlich kurz - weg Abſchaffung der ſtehenden Heere, dergeſtalt daß im Frieden nur eine kleine geworbene Truppe unterhalten, die Landwehr aber einige Wochen lang nothdürftig ausgebildet würde. Während er alſo in radikalen Schlag - worten ſchwelgte, verlangte er zugleich mit naiver Standesſelbſtſucht die Ein - führung der Stellvertretung bei ſeiner Landwehr; ganze Klaſſen, namentlich die Studenten ſollten befreit ſein. Den Schluß bildete die ſtolze Weiſſagung: welcher Fürſt das vollbringt, der wird in ganz eigener Glorie glänzen und, wäre er ein Deutſcher, der erſte ſein!

Mit ſolcher Verblendung äußerte ſich die Selbſtüberhebung des klein - ſtaatlichen Liberalismus ſchon in ſeinen erſten Anfängen: Deutſchlands Fürſten ſollten ſich, wetteifernd in liberalen Thaten, bei den alleinigen Vertretern des gebietenden Zeitgeiſtes demüthig um die Krone des künf - tigen Reiches bewerben. Als faſt zur ſelben Zeit Herzog Karl Auguſt das weimariſche Kriegsheer auflöſte und ſich mit einigen Wachmannſchaften begnügte, ward er mit Lobſprüchen überhäuft, und die Allgemeine Zeitung105Der Liberalismus und der Adel.ſchrieb entzückt: auf die ſchönſte Weiſe entſtand hier die That, dort der Lobpreis derſelben, eines unbewußt dem andern. Wohl trat ein anderer Führer des badiſchen Liberalismus, der Freiherr v. Liebenſtein, in einer verſtändigen Schrift ſeinem Freiburger Genoſſen entgegen; jedoch der großen Mehrheit der Partei hatte Rotteck wie immer aus der Seele geſprochen. Das Friedensbedürfniß und die wirthſchaftliche Noth, die kleinſtädtiſche Unkenntniß der europäiſchen Machtverhältniſſe, das Mißtrauen gegen die Höfe und nicht zuletzt der ſtille Zweifel an der Kriegstüchtigkeit der ver - einzelten kleinen Contingente das Alles vereinigte ſich um den Libera - lismus der kleinen Staaten tief und tiefer gegen die Armee zu verſtimmen. Rottecks Zornreden wider den Miethlingsgeiſt der Soldaten weckten lauten Widerhall, obgleich Jedermann wiſſen wußte, daß der deutſche Soldat nur durch die geſetzliche Zwangsaushebung auf kurze Zeit dem bürgerlichen Leben entriſſen wurde und ſich ungern genug mit ſeinen armen zwei Groſchen Sold begnügte. Das Eifern und Schelten wider die Söldlinge galt ein Menſchenalter hindurch als ein ſicheres Kennzeichen liberaler Geſinnungstüchtigkeit und bewirkte nur, daß die Offizierscorps ſich mehr und mehr den ſtreng conſervativen Anſchauungen zuwendeten.

Dies Mißtrauen des Liberalismus gegen das Heer hing eng zuſammen mit dem ingrimmigen Adelshaſſe, der ſich in allen Zeitungen und Flug - ſchriften der Oppoſitionsparteien ausſprach. Der Sondergeiſt der Land - ſchaften und Stände war Deutſchlands alter Fluch; alle Klaſſen, und keineswegs der Adel allein, hatten an dieſen alten nationalen Sünden ihren reichen Antheil. Wie einſt der Trotz der großen Communen am Ausgang des Mittelalters das Anſehen der Reichsgewalt mit zerſtören, die Reichsreformverſuche des ſechzehnten Jahrhunderts mit vereiteln half, ſo trug auch jetzt das Bürgerthum an dem neu erwachenden widerwär - tigen Klaſſengezänk mindeſtens eben ſo viel Schuld wie der Adel. Auch hier rächte ſich der literariſche Urſprung unſeres Liberalismus. Da bei dem Aufſchwunge der neuen Kunſt und Wiſſenſchaft nur wenige Edel - leute mitgewirkt hatten, ſo entſtand in den gebildeten Mittelklaſſen neben einem wohlberechtigten Selbſtgefühle zugleich eine gehäſſige Verachtung gegen den Adel: man redete, als ſei der Verſtand dem Edelmanne von Natur verſagt. Viele der literariſchen Führer der Nation hatten in den demü - thigenden Verhältniſſen einer entbehrungsreichen Jugend, manche als Hof - meiſter adlicher Häuſer, den Kaſtenhochmuth kennen und haſſen gelernt. Vernehmlich ſprach der Groll gegen die Hochgeborenen aus vieleṅ Wer - ken der neuen Dichtung, ſo aus Emilia Galotti, aus Kabale und Liebe. Namentlich unter den Genoſſen des Hainbundes war dieſe Geſinnung tief eingewurzelt. Wer des Pfarrers Tochter von Taubenheim und ähn - liche Gedichte Bürgers las, der mochte glauben, daß die Verführung armer Mädchen die Hauptbeſchäftigung des deutſchen Edelmanns bilde; Voß aber, der Nachkomme mecklenburgiſcher Leibeigener, hegte von Kindesbeinen an106II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.unauslöſchlichen Haß gegen die Junker und ließ mit unverhohlenem Be - hagen ſeinen Bauer Michel über die Adlichen ſagen: Schelme ſind ſie und werth am höchſten Galgen zu bummeln!

Mit Frohlocken wurde die Nacht des vierten Auguſt und alle die an - deren Schläge, welche die Revolution gegen den Adel führte, in unſeren lite - rariſchen Kreiſen begrüßt. Seitdem war auch die Macht des deutſchen Adels tief erſchüttert worden; er hatte durch den Reichsdeputationshaupt - ſchluß ſeinen Antheil an der Reichsregierung vollſtändig, durch die Stein - Hardenbergiſchen Reformen und die Geſetze des Rheinbundes ſeine Herren - ſtellung auf dem flachen Lande größtentheils eingebüßt. Noch blieben ihm manche Vorrechte, welche das Selbſtgefühl des Bürgerthums verletzten. In den altſtändiſchen Kleinſtaaten des Nordens, Sachſen, Hannover, Meck - lenburg beherrſchte er noch Regierung und Landtag; hier beſtanden zumeiſt noch die adlichen Bänke der oberſten Gerichtshöfe; auch in den alten preu - ßiſchen Provinzen kamen die Patrimonialgerichte und die gutsherrliche Po - lizei weſentlich der Macht des Adels zu gute, da die bürgerlichen Ritter - gutsbeſitzer noch die Minderheit bildeten. Im Heere und im Civildienſt wurde der Adel noch überall thatſächlich bevorzugt; die perſönliche Um - gebung der Fürſten bildete er allein, und höhnend rief Voß: der Edel - mann iſt ja geborener Curator des Marſtalls, der Jagd, des Schenk - tiſchs, der Vergnügungen. Nach dem Sturze des gekrönten Plebejers trat der Adelshochmuth oft ſehr herausfordernd auf; ſogar Niebuhr klagte, noch nie ſeit vierzig Jahren habe der Edelmann den Bürgerlichen ſo abgünſtig behandelt. Hartnäckig hielt der amtliche Sprachgebrauch den abgeſchmackten Titel Demoiſelle für die bürgerlichen Mädchen feſt. Auch aus den Hofrang - ordnungen der kleinen Höfe ſprach ein lächerlicher Kaſtenhochmuth. Selbſt der höchſte Staatsbeamte durfte ſeine bürgerliche Frau nicht zu Hofe führen; in Heſſen konnten die Miniſter nur durch die Vewendung des adlichen Flügeladjutanten Gehör beim Landesherrn erlangen. Das Theater in Weimar hatte ſeine adlichen Logen, und im Speiſeſaale des Pillnitzer Schloſſes ſahen die Adlichen und die Bürgerlichen von zwei geſonderten Tribünen den Gaſtmählern des Königs zu. In den Augen der Voll - blut-Junker galten nur die Berufe des Offiziers, des Kammerherrn, des Stallmeiſters, des Forſtmanns und allenfalls noch der Verwaltungsdienſt für ſtandesgemäß. Die Wiſſenſchaften und Künſte durfte der Edelmann nur als Liebhaberei treiben; ganz Breslau gerieth in Aufregung, als ein gnädiger Herr unter die Komödianten ging und auf dem Stadttheater auftrat. Heirathen zwiſchen Edelleuten und wohlhabenden bürgerlichen Mädchen kamen häufig vor; doch nur ſelten, und niemals ohne lebhaften Widerſpruch der Standesgenoſſen, entſchloß ſich ein adliches Mädchen ſich an einen bürgerlichen Mann wegzuwerfen.

Dieſe Ueberreſte einer überwundenen Geſellſchaftsordnung mußten das Bürgerthum erbittern; aber nur der Undank konnte vergeſſen, wie107Adel und Bürgerthum.glänzend das Talent, die Treue, die Tapferkeit des preußiſchen Adels während der letzten ſchweren Jahre ſich wieder bewährt hatten. Die große Mehrzahl der Feldherren und Staatsmänner, denen Deutſchland ſeine Befreiung verdankte, gehörte ja dem Adel an. Während die franzöſiſchen Edelleute, erboſt über den Verluſt ihrer Standesvorrechte, mit dem Lan - desfeinde vereint gegen ihr Vaterland in den Krieg gezogen waren, hatte der preußiſche Adel zwar den Geſetzen Hardenbergs lebhaft widerſprochen, aber ſobald der Ruf des Königs erklang, ſofort ſeinen Groll hochherzig vergeſſen und ſein Alles geopfert für die Rettung des Landes; ohne die Hingebung des Landadels wäre die Beſetzung der Landwehr-Offiziersſtellen, die Verwendung der Landwehr im freien Felde ſchlechthin unmöglich ge - weſen. Und gleichwohl wurden dieſe patriotiſchen Soldatengeſchlechter von der liberalen Preſſe mit den Emigranten verglichen; Berangers hämiſche Verſe je suis vilain et très-vilain fanden ein Echo dieſſeits des Rheins als gälten ſie auch für Deutſchland. Der preußiſche Staat vor 1806 erſchien in den Reden und Schriften der Liberalen ſtets als das Urbild aller politiſchen Sünden, und bald erzählte man allerorten: durch die Junker ſei Preußen ins Verderben geſtürzt, durch das Volk ſieben Jahre ſpäter gerettet worden. Nach dem Kriege verſuchte der Adel überall einen Theil ſeiner alten Macht zurückzugewinnen. Die Mediatiſirten beſtürmten den Bundestag und die Höfe mit ihren Beſchwerden; in Preußen ſchaarte ſich die altſtändiſche Partei geſchloſſen zuſammen. Allerhand Vorſchläge für die Neugeſtaltung des Standes tauchten auf. Während des Wiener Con - greſſes wurde der Plan einer Adelskette viel beſprochen, einer großen Genoſſenſchaft, welche überall in Deutſchland die Standesintereſſen wahren und den Sinn ritterlicher Ehre wach halten ſollte; jedoch der Entwurf blieb liegen, wie ſpäterhin ein ähnlicher Plan oſtpreußiſcher Edelleute. Auch viele der romantiſchen Schriftſteller ergingen ſich in überſchwänglichen Lobpreiſungen des Adels. Friedrich Schlegel feierte ihn als die Grund - kraft der bürgerlichen Geſellſchaft: an ihm hätten ſich alle anderen Stände erſt gebildet. Ein trutziges Verslein Schlegels mahnte den Edelmann, bei dem Schwerte und dem Pfluge zu bleiben und das Geſchwätz der Städte zu fliehen: das iſt Adels alte Sitt und Recht!

Solche Beſtrebungen und dazu das thörichte Treiben der heimgekehrten Emigranten Frankreichs ſteigerten den Groll der Mittelklaſſen. Man fiel wieder zurück in jene Anſchauungen des platten Standesneides, welche zur Zeit des Tilſiter Friedens der Bonapartiſt Friedrich Buchholz in ſeinen Unterſuchungen über den Geburtsadel verkündigt hatte. Wie klang es doch ſo unwiderleglich, wenn dieſer politiſche Nicolai erwies: die Tugend vererbe ſich nicht, ein Verdienſtadel gleich der franzöſiſchen Ehrenlegion bleibe die allein vernünftige Form des Adels: man kann nicht zugleich Patriot und Feudalariſtokrat ſein. Ein alter fridericianiſcher General v. Dierecke nahm ſich in aller Beſcheidenheit ſeiner Standesgenoſſen an und zeigte in108II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.ſeinem Wort über den preußiſchen Adel (1818), wie viele Söhne des ge - ſchmähten Junkerthums im Lager und im Rath die Größe Preußens mit - begründet hatten. Allgemeine Entrüſtung empfing ihn, weil man ihn nicht widerlegen konnte. In manchen gelehrten Kreiſen trat der kindiſche Adelshaß ſo auffällig hervor, daß die Schüler ſelbſt darauf rechneten: als der junge Karl v. Holtei in Breslau ſeine Prüfungsarbeit zu ſchreiben hatte und ſich nicht ganz ſattelfeſt fühlte, ließ er weislich das von aus der Unter - ſchrift hinweg und beobachtete dann ergötzt, wie die Lehrer die Köpfe zu - ſammenſteckten und einander dies köſtliche Probſtück jugendlichen Bürger - muthes mit befriedigtem Lächeln vorwieſen. Die beſonnenen Worte, welche Perthes in ſeinen Briefen über den Adel dem ritterlichen Schwärmer Fouqué entgegenhielt, genügten der verſtimmten öffentlichen Meinung jetzt ebenſo wenig, wie früher ſchon die Schriften des bürgerfreundlichen, aber conſervativen Rehberg.

Es ſteht nicht anders, das deutſche Bürgerthum wurde durch ſeine großen literariſchen Erfolge zu einer ähnlichen Selbſtüberhebung verleitet wie einſt der franzöſiſche Dritte Stand, nur daß ſich bei uns der bürgerliche Dünkel noch ganz auf den Boden der Doktrin beſchränkte. Leichten Herzens ſtellten liberale Zeitungen die Frage: wo ſei denn das Unglück, wenn etwa der geſammte Adel durch einen allgemeinen Bankrott ſeinen Grundbeſitz ver - löre und durch neue Eigenthümer verdrängt würde? Für die ſittliche Kraft einer unabhängigen, mit der Landesgeſchichte feſt verwachſenen Ariſtokratie hatte der Rationalismus kein Verſtändniß. Voß und Rotteck ſprachen dieſe radikalen Geſinnungen am Aufrichtigſten aus. Bewußt oder unbe - wußt verbarg ſich dahinter der particulariſtiſche Groll gegen Preußen; denn kaum hatte dieſer Staat durch ſein Volksheer das Vaterland befreit, ſo ward er in Süddeutſchland ſchon wieder als das claſſiſche Land des Junkerthums und des Corporalſtocks verrufen.

Von ſolchen Anſchauungen erfüllt ſchrieb Rotteck im Jahre 1819 zur Eröffnung des badiſchen Landtags ſeine Ideen über Landſtände , das wiſſenſchaftliche Programm des neuen Liberalismus. Aus der Natur und Geſchichte des gegebenen Staates die Forderungen für die Zukunft abzu - leiten lag den Liberalen um ſo ferner, da ihre Bildung noch vollſtändig von der Philoſophie beherrſcht war und jeder Publiciſt ſich ſtolz als ein Volks - tribun des geſammten Deutſchlands fühlte. Von dem gemeinen deutſchen Staatsrechte war in der Anarchie des deutſchen Bundes wenig mehr übrig, mit der Betrachtung eines der neununddreißig ſouveränen Einzelſtaaten mochte ſich Niemand begnügen, alſo verfielen alle politiſchen Schriftſteller unwillkürlich in die Abſtraktionen des ſogenannten allgemeinen conſtitutio - nellen Staatsrechts. So dreiſt wie Rotteck trat doch Keiner die hiſtoriſche Welt mit Füßen. Der aufgeklärte Mann unterſchied ein dreifaches Recht: das vergangene, das heute geltende und das Recht, das gelten ſollte ; das letztere ward ohne Federleſen als das edelſte, ja im Grunde das109Der conſtitutionelle Muſterſtaat.alleinige Recht geprieſen, das hiſtoriſche Recht als hiſtoriſches Unrecht ab - gefertigt. Als einzige Regel für den Staat galt mithin das Vernunftrecht, das will ſagen: das perſönliche Belieben des Freiburger Profeſſors und ſeiner franzöſiſchen Lehrer; allerdings, fügte er beſcheiden hinzu, könne die Wirklichkeit der philoſophiſchen Theorie immer nur annähernd entſprechen.

Wie einſt Sieyes das Feuer der Rouſſeau’ſchen Volksſouveränität mit dem Waſſer der Montesquieu’ſchen Gewaltentheilung verſchmolzen hatte, ſo ſuchte Rotteck die Doktrin des Contrat ſocial durch einige Begriffe des monarchiſchen Staatsrechts zu verdünnen; nur ſtand er noch weit mehr als jener franzöſiſche Verfaſſungskünſtler unter dem Einfluß des Genfer Philoſophen. Kurz und gut, ganz in Rouſſeau’s Weiſe, erklärte er das Volk für den natürlichen Inhaber der Staatsgewalt, die Regierung für das künſtliche Organ des Geſammtwillens, das alle ſeine Rechte allein der Uebertragung verdanke. Darum gebührt dem Volke unter allen Um - ſtänden die geſetzgebende Gewalt, ſonſt geht ſeine Perſönlichkeit verloren; die Landſtände aber können alle die Rechte ausüben, welche ſich das Volk bei der Uebertragung der Regierungsgewalt, nach vernünftiger Muthma - ßung, ſtillſchweigend vorbehalten hat. Darum iſt auch das Zweikammer - ſyſtem ein Unrecht, es ſei denn daß die erſte Kammer ebenſo viele Staats - actien, an Capital und Grundvermögen, vertritt wie die zweite. Das Volk, natürlich, weiß immer was es will und will ſtets das Beſte; wo der Volkswille herrſcht, da können Verhältniſſe, die gegen das natürliche Recht ſtreiten, gar nicht aufkommen. Mit dieſen republikaniſchen Ideen verbanden ſich dann einige altſtändiſche Vorſtellungen: ſo ſoll der Abgeord - nete nur ſeinen eigenen Wahlbezirk vertreten, da er ja von den anderen keinen Auftrag empfangen hat. Alle ſolche Widerſprüche erklären ſich aus dem einen beherrſchenden Gedanken: aus der Abſicht, den Schwerpunkt des Staatslebens überall nach unten zu verlegen. Einen Unterſchied zwi - ſchen Saſſen und Hinterſaſſen wollte Rotteck, getreu der Weltanſchauung ſeiner Breisgauer Bauern, zur Noth zugeben; doch führte ſeine Lehre folgerecht unzweifelhaft zum allgemeinen Stimmrecht. Und in der That hatte der Berliner Hiſtoriker Woltmann ſchon im Jahre 1810 in ſeinem Geiſt der neuen preußiſchen Staatsorganiſation dieſe letzte Forderung ausgeſprochen.

So mächtig wirkte die abſtrakte Doktrin auf dieſes treu gehorſame, von revolutionären Begierden noch völlig unberührte Volk: kaum der Wiege entwachſen, verfocht der ſüddeutſche Liberalismus ſchon dieſelben Gedanken, welche einſt in Frankreich die Eintagsverfaſſung von 1791 geſchaffen und bald darauf das Königthum ſelbſt zerſtört hatten! Eigenthümlich war dem gutmüthigen Freiburger, im Gegenſatze zu ſeinen franzöſiſchen Vorgängern, nur jene philiſterhafte Harmloſigkeit, die von den Folgen ihrer Lehren gar nichts ahnte, und ein helleres Verſtändniß für den communalen Unterbau der Staatsverfaſſung. Aus den Tiefen des germaniſchen Geiſtes empor -110II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.geſtiegen, hatten die Gedanken der preußiſchen Städteordnung in der Stille ſchon längſt die Runde durch Deutſchland gemacht: ſelbſt Rotteck konnte ſich ſeine conſtitutionelle Herrlichkeit nur auf dem Boden der Selbſtver - waltung denken. Gleichwohl ließ ſich der franzöſiſche Urſprung ſeiner Doktrin nirgends verkennen. Auch ihm ging das ganze Leben des Staates allein in den Verfaſſungsformen auf; auch er betrachtete die Gleichheit, nicht die Freiheit als das höchſte der politiſchen Güter und urtheilte daher über die Scheinverfaſſung des Königreichs Weſtphalen weit milder als über das alte deutſche Ständeweſen.

Darum fand ſeine Lehre auch die Zuſtimmung der harten Bonapar - tiſten in München. Dort predigte die Alemannia von Aretin und Hörmann noch immer den ſchamloſen Particularismus. Sie betheuerte: eher werden Löwen und Adler mit einander Hochzeit machen als Süd - und Nordländer ſich vereinigen; ſie brachte Geſpräche zwiſchen einem kern - haften Baiermanne und einem geckenhaften pommerſchen Landwehrmanne, der nicht einmal der deutſchen Sprache mächtig war; ſie verhöhnte und verleumdete alles norddeutſche Weſen und erklärte kurzab, bei dem Namen deutſch laſſe ſich gar nichts denken. Aber der alte bajuvariſche Son - dergeiſt ſchmückte ſich jetzt mit neuen Federn. Wahres und Falſches ge - ſchickt vermiſchend, ſchilderte Aretin die Alemannen ſo nannte er alle Süddeutſchen als die alleinigen Vertreter der conſtitutionellen Freiheit, den Norden als das Land des Feudalismus, und dies ſchon im Jahre 1816, lange bevor die neuen ſüddeutſchen Verfaſſungen erſchienen waren. Nachher ſchrieb er ſelbſt ein Lehrbuch des conſtitutionellen Staatsrechts, das die Grundſätze des neuen Vernunftrechts mit den Anſchauungen der rheinbündiſchen Bureaukratie zu verſchmelzen ſuchte; und als Aretin dar - über ſtarb, führte Rotteck das Buch des alten Bonapartiſten zu Ende.

In einer ganz anderen Gedankenwelt bewegten ſich die Anfänge des norddeutſchen Liberalismus. Hier war die Kette der Zeiten nicht ganz zerriſſen, von den alten ſtändiſchen Inſtitutionen noch Vieles erhalten, ein warmes Gefühl hiſtoriſcher Pietät faſt überall im Volke lebendig. Die Ideen der Revolution hatten hier niemals ſo tiefe Wurzeln geſchlagen; die Liberalen vermaßen ſich nicht den Staat nach den Abſtraktionen des Ver - nunftrechts völlig neu zu geſtalten, ſondern verlangten nur die Wiederbele - bung und Fortbildung des alten Ständeweſens. Das Organ dieſer gemä - ßigten Richtung bildeten die Kieler Blätter. Wohl nirgends zeigte ſich die innere Verwandtſchaft zwiſchen dem neuen Liberalismus und der idealiſti - ſchen Begeiſterung unſerer claſſiſchen Literatur ſo ſchön und rein wie in dem Kreiſe feingebildeter und liebenswürdiger Menſchen, der ſich um dieſe ge - diegenſte Zeitſchrift des deutſchen Nordens ſchaarte. An dem gaſtlichen Tiſche der Gräfin Reventlow auf der Seeburg und der Frau Schleiden am Aſcheberger See fanden ſich die beſten Männer der Kieler Univerſität, Dahlmann, Falck, Tweſten, C. T. Welcker, mit dem Arzte Franz Hege -111Dahlmann. Haller.wiſch, dem geiſtſprühenden Heißſporn, und den Führern des ſchleswig - holſteiniſchen Adels, den Reventlow, Rumohr, Baudiſſin, Moltke in hei - terer Geſelligkeit zuſammen. Sie Alle ſchwärmten für Goethe, ſie Alle fühlten ſich ſtolz, das deutſche Weſen hier in der äußerſten Nordmark gegen den wachſenden Uebermuth der däniſchen Krone zu vertheidigen, und wenn ſie für conſtitutionelle Rechte ſich begeiſterten, ſo meinten ſie damit nur das Ideal freier Menſchenbildung, das einſt in Weimar verkündet ward, zu verwirklichen.

Aus dieſer kleinen Welt voll Geiſt und Anmuth gingen Dahlmanns Aufſätze ein Wort über Verfaſſung (1815) hervor, in Form und In - halt das genaue Gegentheil der Schriften Rottecks. Der Kieler Gelehrte ſchrieb ebenſo gedankenreich, kurz und markig wie der Freiburger dünn und breit. Wenn dieſer das hiſtoriſche Recht bekämpfte, ſo mahnte Dahl - mann die Deutſchen, ſich das vollſtändige Daſein ihrer Väter zu vergegen - wärtigen, um alſo ſittlich zu geneſen. Wollte Rotteck das Königthum nur vorläufig dulden, ſo bekannte Dahlmann unumwunden ſeine ſtreng mon - archiſche Geſinnung und ſagte zum Entſetzen der Philologen: die Grie - chen und Römer mißkannten den Zeitpunkt, wo es nützlich war zur Mon - archie überzugehen. Nicht in Frankreich, ſondern in England ſuchte er ſein Staatsideal: hier ſind die Grundlagen der Verfaſſung, zu welcher alle neu-europäiſchen Völker ſtreben, am reinſten ausgebildet und aufbe - wahrt. Seit Montequieus Geiſt der Geſetze in Deutſchland Eingang gefunden, hatte es zwar an unbeſtimmten Lobpreiſungen der engliſchen Freiheit nie gefehlt; eben jetzt ließ Rückert die rückkehrende Freiheit ſagen:

O baut mir einen Tempel
Nach Albions Exempel!

Doch unter den Publiciſten war Dahlmann der erſte, der mit gründ - licher Sachkenntniß und frei von blinder Nachahmungsſucht das engliſche Parlament als ein Muſter für Deutſchland hinſtellte, wie Vincke kurz zuvor die britiſche Selbſtverwaltung. Männer wie Niebuhr, Schleier - macher und Thibaut ſprachen dem Kieler Hiſtoriker ihre freudige Zuſtim - mung aus; aber erſt nach vielen Jahren fanden ſeine Gedanken in weiteren Kreiſen Anklang. Die Kieler Blätter drangen nicht weit über Schleswig - Holſtein hinaus; denn die Maſſe des Volkes im Norden ging in wirthſchaft - lichen Sorgen unter, und wer in Süddeutſchland für die conſtitutionellen Ideen empfänglich war, hielt ſich lieber an den bequemeren Katechismus des Rotteck’ſchen Vernunftrechts.

Beiden Richtungen des Liberalismus ſtand, durch eines Himmels Weite getrennt, der gefürchtete Reſtaurator der Staatswiſſenſchaft Karl Ludwig v. Haller gegenüber. Der Berner Ariſtokrat hatte die Macht ſeiner Stan - desgenoſſen vor den Gewaltſtreichen der Revolution zuſammenbrechen ſehen und dann in der Verbannung, im öſterreichiſchen Dienſte, ſich das poli - tiſche Syſtem gebildet, das die Monarchie wieder auf ihrem wahren Grunde112II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.erbauen, die anmaßende revolutionäre Wiſſenſchaft des gottloſen acht - zehnten Jahrhunderts zu Schanden machen und die katholiſche Kirche mit einem neuen Glanze erleuchten ſollte. Mit dem ſtolzen Bewußtſein eines welthiſtoriſchen Berufes verkündete er ſeine Lehre, erſt in der Allgemeinen Staatskunde (1808), dann, ſeit 1816, in der Reſtauration der Staats - wiſſenſchaft; es ſchien ihm wie eine übernatürliche Fügung, daß gerade ihm, dem geborenen Republikaner und Proteſtanten, die antirevolutionäre Heilswahrheit aufgegangen ſei. Und allerdings mit zermalmender Wucht fielen die dialektiſchen Keulenſchläge ſeines harten Menſchenverſtandes auf die Phantaſiegebilde der Naturrechtslehre. Erſt die handfeſten Beweis - gründe dieſes polternden Naturaliſten erſchütterten den Glauben an den Naturzuſtand, an den Staatsvertrag und die urſprüngliche Volksſouverä - nität auch in den Kreiſen jener Ungelehrten, welche den feinen Gedanken der hiſtoriſchen Rechtsſchule nicht folgen konnten. Was er freilich ſelber an die Stelle dieſer überwundenen Doktrin ſetzte war nur eine grobe Verallgemeinerung der patrimonialen Rechtsgrundſätze der alten Berner Ariſtokratie. Wie einſt die Herren von Bern ihre eroberten Unterthanen - lande im Aaargau und im Waadtland kurzweg als das Eigenthum ihrer ſiegreichen Republik behandelt hatten, ſo begründete Haller den Staat ſchlechthin auf das Recht des Stärkeren. Das Land gehört einem Fürſten, einer Corporation oder einer Kirche; auf dieſem Eigenthum des Landes - herrn und unter ſeinem Schutze ſiedelt ſich das Volk an; verſchwände das Volk, ſo wäre der Staat immer noch vorhanden in der Perſon des Für - ſten, der leicht neue Unterthanen finden kann. Der Staat erſcheint mit - hin als eine privatrechtliche Genoſſenſchaft wie andere auch, nur mächtiger, ſelbſtändiger als ſie alle, der Fürſt als ein begüterter, vollkommen unab - hängiger Menſch ; er beherrſcht das Volk durch ſeine perſönlichen Diener, iſt berechtigt wie verpflichtet ſich ſelber und ſein Haus als den Haupt - zweck des Staates zu betrachten, muß aber auch den Aufwand aus ſeinem eigenen Vermögen beſtreiten und die Unterthanen durch ſeine eigenen Sol - daten beſchützen. Ein Zerrbild des alten ſtändiſchen Staates, wie es in ſolcher Roheit ſelbſt im vierzehnten Jahrhundert nirgends beſtanden hatte, ward alſo mit der gleichen Unfehlbarkeit, wie einſt die Muſterverfaſſungen der Revolution, als das allgemeingiltige Staatsideal hingeſtellt; die ſtaats - rechtliche Unterordnung des Bürgers ſank zur privatrechtlichon Dienſtbar - keit herab. Der Reſtaurator hob in Wahrheit den Staat ſelber auf.

Nirgends erſchien ſeine Doktrin ſo bodenlos, ſo allen Thatſachen wider - ſprechend wie in Preußen; denn kein anderer Staat hatte die Majeſtät des Staatsgedankens ſo hoch gehalten, wie dieſer, deſſen Fürſten immer die erſten Diener des Staates waren. Daher auch Hallers wilder Haß gegen Friedrich den Großen, gegen den aufgeklärten preußiſchen Abſolutismus, der die haſſenswürdige Conſcription erfunden habe, und gegen das Allge - meine Landrecht: außer auf dem Titelblatte ſieht man nirgends, ob es113Adam Müller.eher für Japan und China als für den preußiſchen Staat gegeben ſei. Gleichwohl fand Haller gerade in Preußen zahlreiche und mächtige An - hänger. Der Kronprinz und ſeine romantiſchen Freunde meinten in dem grundherrlichen Staate die Farbenpracht des Mittelalters wiederzuerkennen; Marwitz und die Feudalen von der märkiſchen Ritterſchaft begrüßten mit Jubel den entſchloſſenen Denker, der den Monarchen wieder in die Reihe der Grundbeſitzer hinabſtieß, die Geſellſchaft wieder in Lehr -, Wehr - und Nährſtand theilte und den Freieren des Landes ſo werthvolle Privi - legien zugeſtand; den Abſolutiſten behagte, daß im Haller’ſchen Staate der Fürſt vor dem Volke war; die Ultramontanen freuten ſich des Lobes der Theokratie, welche dem Convertiten als die freieſte und wohlthätigſte aller Staatsformen erſchien; die ängſtlichen Gemüther fanden ihre eigenen ban - gen Befürchtungen beſtätigt durch die Anklagen des Berner Fanatikers, der die ganze Welt von der großen Verſchwörung der Freimaurer, der Illu - minaten, der Revolutionäre bedroht wähnte. Alle Gegner der Revolution hießen die ſiegreiche Polemik gegen das Naturrecht willkommen. Während in den einfacheren und größeren Verhältniſſen des franzöſiſchen Staats - lebens die Partei der Feudalen und Clericalen ſchon offen als die Feindin des bureaukratiſchen Abſolutismus auftrat, wogten in Deutſchland alle dieſe Richtungen der Gegenrevolution noch ungeſchieden durcheinander.

Ungleich geringeren Anklang fand die rein ultramontane Staatslehre des vielgewandten Sophiſten Adam Müller. Das römiſche Weſen wollte in dem Heimathlande der Ketzerei nicht recht gedeihen; keiner unſerer cle - ricalen Schriftſteller konnte ſich dem Grafen de Maiſtre vergleichen, dem ritterlichen Savoyarden, der mit der ganzen Gluth romaniſchen Glaubens - eifers, bald witzig ſpottend, bald pathetiſch zürnend, die Unterwerfung der ſündigen Welt unter das Papſtthum forderte und die verthierende Wiſſen - ſchaft des Jahrhunderts der Narrheit bekämpfte. Solcher Schwung der Seele, ſolche Gluth begeiſterter Kreuzfahrergeſinnung war dem geiſtreichen deutſchen Convertiten nicht gegeben. Adam Müller erkannte zwar ſcharf - ſinnig manche Schwächen des Liberalismus, namentlich ſeiner wirthſchaft - lichen Doktrinen; er zeigte ſchlagend, wie wenig das Syſtem des Gehen - laſſens in dem Kampfe der ſocialen Intereſſen genüge, wie unmöglich die vollſtändige internationale Arbeitstheilung zwiſchen unabhängigen Völkern ſei, und ſagte warnend vorher, aus der modernen Volkswirthſchaft werde ein neuer Geldadel hervorgehen, ſchnöder, gefährlicher als der alte Ge - burtsadel. Aber in ſeiner Theologiſchen Grundlegung der Staatswiſſen - ſchaft wurde doch nur die Haller’ſche Doktrin wiederholt und mit einigen theologiſchen oder naturphiloſophiſchen Flittern neu ausgeſchmückt. Noch willkürlicher als Haller erkünſtelte er ſich eine natürliche Gliederung der Geſellſchaft und unterſchied bald den Lehr -, Wehr - und Nährſtand als die Vertreter von Glaube, Liebe, Hoffnung, bald nach der Formel Trau, ſchau, wem den Adel, die Bürger, die Regierenden. Wie Haller leugneteTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 8114II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.er den Unterſchied von Staats - und Privatrecht und verſicherte, jeder Staat ſetze ſich in’s Unendliche aus Staaten zuſammen. Sein Ideal war der vernünftige Feudalismus; den Widerſpruch zwiſchen Politik und Recht dachte er zu löſen durch die Macht des Glaubens, der zugleich Geſetz ſei.

So ward denn Alles wieder in Frage geſtellt, was die deutſche Staats - wiſſenſchaft ſeit anderthalb Jahrhunderten gedacht hatte, ſeit Pufendorf ſie von dem Joche der Theologen erlöſte; die politiſche Doktrin ſank zurück in die theokratiſchen Vorſtellungen des Mittelalters. Friedrich Schlegel feierte die Kirche als die erſte aller Innungen, nach ihrem Vorbilde ſollten ſich alle anderen Corporationen der bürgerlichen Geſellſchaft neu geſtalten. Baader nannte den Lehr -, Wehr - und Nährſtand die drei Staaten jeder Nation und verwarf den Ausdruck der Staat als eine ſündliche moderne Erfindung. Corporation, nicht Aſſociation ſo lautete das Schlagwort der politiſchen Romantiker; die meiſten verbanden damit nur die unbeſtimmte Vorſtellung einer ſchwachen Staatsgewalt, welche durch Zünfte, ritterliche Landtage, autonome Gemeinden eingeſchränkt, durch die Kirche geiſtig be - herrſcht werden ſollte. Der nüchterne Gentz fühlte ſich wildfremd und un - heimlich in dieſer Traumwelt der theologiſirenden Politik und geſtand ſeinem Freunde Müller: hier vermiſſe er Alles, was die Wiſſenſchaft ausmache, Klarheit, Methode, Zuſammenhang. Sein weltlicher Sinn empörte ſich, wenn ihm der Freund betheuerte, der Weltfriede hänge von der Erkenntniß der Menſchwerdung Gottes ab. Erſt als er die Vorboten der nahenden Revo - lution zu erkennen glaubte, da ſchrieb er in einem Anfall nervöſer Angſt: Sie haben vollkommen Recht, Alles iſt verloren, wenn nicht die Religion pas seulement comme foi mais comme loi hergeſtellt wird. Aber die Zerknirſchung hielt nicht vor; der erſte der deutſchen Publiciſten ſtand doch zu hoch um die Erkenntniß der weltlichen Natur des Staates auf die Dauer aufzugeben.

Eine Kluft von Jahrhunderten ſchien zwiſchen den romantiſchen Staatslehren und den liberalen Doktrinen zu liegen. Auf Seite der Con - ſervativen ſtand noch die große Mehrzahl der literariſchen Talente, die Ueberlegenheit wiſſenſchaftlicher Bildung; der Liberalismus zeigte trotz ſeiner jugendlichen Unreife doch mehr Sinn für die Bedürfniſſe der Gegenwart, für die berechtigten Anſprüche der erſtarkenden Mittelklaſſen. Wer zwi - ſchen dieſen ſchroffen Gegenſätzen zu vermitteln ſuchte, erregte nur Verdacht. Selbſt der ehrliche Steffens kam in den Ruf reaktionärer Geſinnung, weil er in ſeinen geiſtreich verſchwommenen politiſchen Schriften zwar land - ſtändiſche Verfaſſungen forderte, aber nach ſeiner phantaſtiſchen Art die Gemeinſchaft der Heiligen für die Idee des Staates erklärte und den Vorzug des Adels in der myſtiſchen Tiefe aller irdiſchen Geburt begründet fand. Den Patrioten klang es wie Hohn, wenn der vertrauensvolle Mann die charakterloſe Buntheit des zerriſſenen deutſchen Staatslebens geradezu als einen Vorzug pries: jede Verfaſſung ſei mangelhaft, erſt die Vielheit115F. Schlegel. Steffens. Ancillon.der Verfaſſungen gebe eine höhere geiſtige Einheit! Noch weniger ver - mochte Ancillon die erbitterten Gemüther zu beſchwichtigen. Seine zahlrei - chen ſtaatswiſſenſchaftlichen Bücher blickten mit vornehmer Geringſchätzung auf die ſeichten Vergötterer des Zeitgeiſtes hernieder und offenbarten doch eine Gedankenarmuth, woneben Rottecks Waſſerklarheit wie ſprudelnde Genialität erſchien, dazu eine ſchillernde Unbeſtimmtheit des Ausdrucks und der Ideen, die ſich überall eine Hinterthür offen hielt. Wenn er in tiefer Unterthänigkeit die Heilige Allianz als die Verſöhnung von Politik und Mo - ral feierte oder mit ſalbungsvoller Breite bewies, zwiſchen berathenden und beſchließenden Landſtänden beſtehe eigentlich kein Unterſchied, dann zürnten die Liberalen um ſo heftiger, da ſie wußten, daß der behutſam vermit - telnde Schriftſteller am preußiſchen Hofe ſtets die Beſtrebungen der ſtreng reaktionären Partei unterſtützte.

Noch bevor die ſiegreichen Heere heimkehrten, hatte ein an ſich gering - fügiger häßlicher Vorfall den Gegenſatz der politiſchen Meinungen krank - haft verſchärft, das kaum erwachende Parteileben auf lange hinaus ver - giftet. Seit Jahren waren die napoleoniſchen Märchen von dem Tugend - bunde und den jacobiniſchen Umtrieben der preußiſchen Patrioten in der Hofburg wie in den rheinbündiſchen Cabinetten geſchäftig umhergetragen worden; auch die wohlmeinenden kleinen Höfe erſchraken über die lär - mende terroriſtiſche Sprache der teutoniſchen Wortführer; alle Regierungen fühlten ſich unſicher, ſie empfanden ſelber, wie wenig der Friedensſchluß und die Bundesakte den Wünſchen der Nation genügen konnten. Auch in Preußen begannen die alten Gegner Steins und des ſchleſiſchen Haupt - quartiers ſich wieder zu rühren. Schon während des Wiener Congreſſes verdächtigte ein Hofrath Janke das wilde Freiheitsgeſchrei von Arndt und Görres bei dem Staatskanzler. Als die Monarchen zum zweiten male in Paris verſammelt waren, veröffentlichte der Berliner Profeſſor Schmalz eine Flugſchrift: Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Ven - turiniſchen Chronik vom Jahre 1808. Jene Stelle war ſchon vor Jahren auf Schmalz’s Verlangen von dem Herausgeber ſelbſt berichtigt worden; Schmalz benutzte nur den Vorwand um, anknüpfend an die Geſchichte des alten Tugendbundes, von dem unterirdiſchen Treiben der geheimen Ver - eine, welche vielleicht aus jenem Bunde hervorgegangen ſeien, ein unheim - liches Schreckensbild zu entwerfen. Er war ein Schwager Scharnhorſts, hatte mit dem General ſtets in gutem Einvernehmen gelebt, in der Zeit der franzöſiſchen Herrſchaft ſeinen patriotiſchen Muth bewährt, auch an der Begründung der Berliner Univerſität rührig mitgearbeitet. In der Unzahl ſeiner ſtaatswiſſenſchaftlichen Schriften zeigte ſich ein beſchränkter, harter Kopf, der die Ideen der Revolution haßte, ohne doch ihre Grundlage, die Lehre des Naturrechts wiſſenſchaftlich überwinden zu können; an ſeinem Rufe haftete bisher kein Makel. Welch ein Aergerniß nun, als dieſer ge - achtete Patriot plötzlich eine lange Reihe wüthender Anklagen gegen das8*116II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.neue Deutſchthum erhob: wie die Jacobiner einſt die Menſchheit ſo ſpiegeln dieſe verſchworenen Volksverführer die Teutſchheit vor um uns der Eide ver - geſſen zu machen und den tollen Gedanken Einer deutſchen Regierung zu verwirklichen! Gerade gegen den beſcheidenſten und maßvollſten der teuto - niſchen Redner, gegen Arndt richtete Schmalz ſeine gehäſſigſten Schmähun - gen. Arndt hatte in dem köſtlichen Katechismus für den deutſchen Land - wehrmann die bibliſche Redewendung gebraucht: ſchonet der Wehrloſen und der Weiber und Kinder brauchet chriſtlich und menſchlich! Daraus ſchloß Schmalz, dieſe Ruchloſen hätten Mord, Plünderung, Nothzucht, letztere gar klärlich gepredigt . Ohne Zweifel, ſelbſt ſeine Gegner gaben das zu, handelte der unſelige Mann in gutem Glauben.

Zum erſten male ſeit drei Jahrhunderten war über das ſtille Nord - deutſchland eine wirkliche Volksbewegung dahingebrauſt; der Anblick aller der elementariſchen Kräfte, die in ſolchen Zeiten des Sturmes ſich ent - feſſeln, hatte manches ſchwache Gemüth betäubt und verwirrt. Wie in England zur Zeit Karls II. tauſende ehrlicher Leute von dem Daſein der eingebildeten Papiſtenverſchwörung überzeugt waren, ſo griff jetzt in Deutſch - land ein finſterer Wahn gleich einer verheerenden Seuche um ſich; nicht blos ſchlechte Geſellen glaubten an die geheime Wühlerei demagogiſcher Bünde. Noch verletzender als der offenbare Unſinn berührten die bos - haften Halbwahrheiten der Schmalziſchen Schrift. Dem literariſchen Selbſt - gefühle hielt er entgegen: die Maſſe des Volkes habe von den Schriften der Publiciſten nie ein Wort erfahren. Aus jener ſchönen Anſpruchsloſig - keit des preußiſchen Volks, die das Ungeheure that als verſtände ſich’s von ſelber, zog der Denunciant den Schluß, eine ungewöhnliche Begeiſterung habe ſich nirgends gezeigt, die Preußen ſeien zu den Fahnen geeilt wie beim Brande die Nachbarn zum Löſchen. Wenn Arndts Schrift über Preu - ßens rheiniſche Mark ſagte: Preußen muß allenthalben ſein und Preußens Deutſchland allenthalben, und den Staat der Hohenzollern das einzige deutſche Land nannte, das Deutſchlands Nichtigkeit zur Herrlichkeit er - heben könne ſo genügten dem Ankläger ſolche unbeſtimmte Weiſſagungen um die beabſichtigte Entthronung aller deutſchen Kleinfürſten zu erweiſen.

Die beſten Männer der Nation fühlten ſich in den Tiefen der Seele empört, da ſie das Andenken der ſchönſten Zeit der neuen deutſchen Ge - ſchichte ſo ſchmählich beſudelt ſahen. Eine Fluth von Gegenſchriften über - ſchwemmte den Büchermarkt, der ärgerliche Handel hielt während der letzten Monate des Jahres 1815 faſt die geſammte gebildete deutſche Welt in Athem. Auch das Ausland miſchte ſich ein; die Times unterſtand ſich, den unruhigen Preußen das gehorſame Hannover als ein Muſterbild vor - zuhalten. Niebuhr und Schleiermacher wieſen den armſeligen Ankläger zurück, Jener mit tiefem Ernſt, Dieſer mit ſchonungsloſem Spott. In anderen Gegenſchriften zeigte ſich freilich die verblendete Selbſtüberhebung des jungen Liberalismus. Ludwig Wieland, der Sohn des Dichters, er -117Schmalz der Denunciant.widerte dem Vertheidiger des abſoluten Königthums kurzab: das Re - präſentativſyſtem iſt das wahre und auch das einzige, wozu rechtliche und vaterländiſche Menſchen ſich öffentlich bekennen dürfen! Rath Koppe in Aachen, ein ausgezeichneter preußiſcher Beamter, behauptete zuverſichtlich: durch das talismanartige Wort Verfaſſung wird die deutſche Einheit ge - ſichert; denn überall ſtrebt der Nationalwille nach dieſer Einheit; alle Ab - weichungen davon hatten ihren Grund in dem Uebergewichte der Regie - rungsgewalt über den Volkswillen!

Um Neujahr 1816 machte eine würdig und freundlich gehaltene Ver - ordnung des Königs dem Zanke ein Ende. Der Monarch erkannte offen an: dieſelben Geſinnungen, welche die Stiftung des alten Tugendbundes veranlaßt, hätten im Jahre 1813 die Mehrheit des preußiſchen Volkes beſeelt und die Rettung des Vaterlandes herbeigeführt, jetzt aber, im Frie - den, könnten geheime Verbindungen nur ſchädlich werden. Das alte Ver - bot der heimlichen Geſellſchaften ward erneuert, die Fortſetzung des lite - rariſchen Streites unterſagt, eine Unterſuchung, welche Niebuhr und ſeine Freunde zu ihrer eigenen Rechtfertigung beantragt hatten, als überflüſſig abgelehnt. Nun verſtummte der Lärm; aber Jedermann fühlte, daß die arge Saat des Anklägers, der eben jetzt durch einen preußiſchen und einen württembergiſchen Orden ausgezeichnet wurde, doch nicht auf ganz undank - baren Boden gefallen war. Mit ſolchen Geſinnungen ſchritten Deutſch - lands Fürſten und Stämme in die erſehnte Friedenszeit hinein. Dort ein ſtiller, gegenſtandsloſer Argwohn; hier ein blinder Glaube an die zau - beriſche Wirkung der conſtitutionellen Staatsformen, ein kindliches Ver - trauen zu der untrüglichen Weisheit des Volks; in den Maſſen endlich tiefe Sehnſucht nach Ruhe und friedlicher Arbeit.

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Vierter Abſchnitt. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Das Weltreich war gefallen, über ſeinen Trümmern erhob ſich wieder eine friedliche Staatengeſellſchaft. Aber jenes alte Syſtem der europäiſchen Politik, das durch wechſelnde Bündniſſe und Gegenbündniſſe die fünf Groß - mächte im Gleichgewicht zu erhalten ſuchte, kehrte vorerſt nicht wieder. Alle Staaten des Welttheils bildeten jetzt, wie Gentz ſagte, eine große Union unter der Aufſicht der vier Mächte, welche den Krieg gegen Na - poleon geführt und ihren Bund ſoeben in Paris erneuert hatten. So viele Jahre hindurch, in der argen Zeit des Harrens und des Leidens, war an dieſem rettenden Bunde gearbeitet worden; nun hatte er in drei ſchweren Kriegsjahren ſeine Probe beſtanden. Während ihres langen Zu - ſammenlebens hatten ſich die Monarchen und die leitenden Staatsmänner an einen vertrauten perſönlichen Verkehr gewöhnt, wie er vordem unter gekrönten Häuptern unerhört geweſen; ſie beſchloſſen, auch in Zukunft alle großen Fragen der europäiſchen Politik in perſönlichen Zuſammenkünften zu beſprechen. Der Bund der vier Mächte betrachtete ſich als den oberſten Gerichtshof Europas; er hielt für ſeine nächſte Pflicht, die neue Ordnung der Staatengeſellſchaft vor einem Friedensbruche zu bewahren und darum das unberechenbare Frankreich, den Heerd der Revolutionen und der Kriege, gemeinſam zu überwachen. Während das europäiſche Occupationsheer unter Wellingtons Oberbefehl die Ruhe in Frankreich aufrecht zu erhalten hatte, ſollten die vier Geſandten zu Paris in regelmäßigen Conferenzen die lau - fenden Geſchäfte der großen Allianz erledigen und den Tuilerienhof mit ihren Rathſchlägen unterſtützen; in einzelnen Fällen luden die Vier auch den Herzog von Richelieu ſelbſt zur Berathung ein. Alle Streitfragen, die ſich aus den Wiener und Pariſer Verträgen ergaben, wurden dieſer Geſandtenconferenz zugewieſen; nur die Abwicklung der verworrenen deut - ſchen Gebietsfragen blieb einer beſonderen Verhandlung in Frankfurt vor - behalten.

Noch niemals hatte das Staatenſyſtem eine ſo feſtgeordnete bündiſche Gemeinſchaft gebildet. Das Protectorat der vier Mächte beherrſchte den119Die Pariſer Geſandtenconferenz.Welttheil minder gewaltſam, aber ebenſo unumſchränkt wie einſt der Wille Napoleons. Die Staaten zweiten Ranges les Sous-Alliés nannte man ſie ſpöttiſch in den diplomatiſchen Kreiſen des Vierbundes ſahen ſich von allen Geſchäften der großen Politik völlig ausgeſchloſſen; als der hochmüthige ſpaniſche Hof, der die Zeiten Philipps II. nicht vergeſſen konnte, Zutritt zu der Pariſer Geſandtenconferenz verlangte, ward er ſcharf zurück - gewieſen, am ſchärfſten von Preußen. Nirgends aber ward das Ueberge - wicht der vier Mächte ſchwerer empfunden, als in Frankreich. Obwohl die Franzoſen von den außerordentlichen Machtbefugniſſen der Geſandten - conferenz nichts Sicheres wußten, ſo pflegt doch in Fragen der nationalen Ehre der Inſtinkt der Maſſen ſelten ganz zu irren. Die Nation ahnte dunkel, daß ihre Regierung durch das Ausland beaufſichtigt wurde, und ver - folgte mit überſtrömendem Haſſe den Lord Proconſul Wellington. Die Herrſchaft des alten Königthums konnte ſchon darum nicht wieder feſte Wurzeln ſchlagen, weil ſie dem Volke als eine Fremdherrſchaft erſchien. Nur zu bald bewährte ſich die Warnung, welche Humboldt dem Pariſer Friedenscongreſſe zugerufen hatte: die Revolution werde niemals endigen, wenn Europa die Franzoſen unter ſeine Vormundſchaft nehme.

Die vier Mächte betrachteten ſämmtlich den Beſtand der legitimen Dynaſtie als einen Grundpfeiler der neugeordneten Staatengeſellſchaft und behandelten daher den franzöſiſchen Hof mit aufrichtigem, beſorgtem Wohl - wollen. Kaum hatte der Pariſer Congreß die Frage der Landabtretung in’s Reine gebracht, ſo begann Gneiſenau ſofort, noch im Oktober 1815, eine tief geheime Verhandlung mit den Tuilerien. Rückſichtslos wie auf dem Schlachtfelde pflegte der kühne Mann auch in der Politik ſeine Mittel zu wählen; hatte er doch zur Zeit der ſächſiſchen Händel alles Ernſtes er - wogen, ob Preußen nicht mit Hilfe des zurückgekehrten Napoleon ſeine An - ſprüche durchſetzen ſolle. So ſchien ihm jetzt ſelbſt ein abenteuerlicher Weg erlaubt, wenn nur das Ziel, die Befeſtigung des neuen Staatenſyſtems, erreicht wurde. Seine Unterhändler, Major v. Royer, ein Legitimiſt in preußiſchen Dienſten, bot dem Herzog von Richelieu, mit Hardenbergs Ge - nehmigung, geradezu ein geheimes Bündniß an: Preußen als der nächſte Nachbar ſollte ſich verpflichten, den Bourbonen im Falle einer Revolution mit ſeiner geſammten Kriegsmacht Beiſtand zu leiſten. Die Verhandlung führte zu keinem Ergebniß, offenbar weil König Friedrich Wilhelm ſchließ - lich Bedenken trug ſo weitausſehende, gefährliche Verpflichtungen zu über - nehmen; doch ſie bewies genugſam, daß Preußens Regierung entſchloſſen war, die Ränke Talleyrands ſowie alle die anderen Proben bourboniſcher Undankbarkeit gänzlich zu vergeſſen und mit dem weſtlichen Nachbarn in guter Freundſchaft zu leben. *)Nach den Briefen Royers an Gneiſenau v. 3. Oktbr. 1815 ff., die mir Herr Dr. H. Delbrück freundlich mitgetheilt hat. Der Grund des Scheiterns der Verhandlung

120II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Der wilde Kampf der franzöſiſchen Parteien erregte in der Geſandtencon - ferenz um ſo ſchwerere Beſorgniß, da das reiche Land ſich von ſeinen wirth - ſchaftlichen Leiden wunderbar ſchnell erholte und bald wieder zu einem neuen Kriege fähig ſchien. Frankreich zerfiel, ſo ſagte die unverſöhnliche Oppoſition, in zwei Völker, die Sieger und die Beſiegten von Waterloo. Wo war noch ein gemeinſamer Boden für die demokratiſchen Maſſen, denen die Glorie der weltherrſchenden Tricolore das Hirn berauſchte, und für die Emigranten, dieſe Pilger des Grabes , die von der Oriflamme und dem heiligen Ludwig träumten? Höhnend hielt Beranger dem alten Adel das Bild des Marquis von Carabas entgegen; ſein Spottlied c’est le roi, le roi, le roi gab das Königthum der Verachtung preis. Das ganze Land war von einem Netze geheimer Geſellſchaften überſpannt; jeder Veteran der großen Armee, der in ſein heimathliches Dorf zurückkehrte, predigte die napoleoniſche Legende. Auch die geiſtreichen Doktrinäre, die in der Minerva ihre liberalen An - ſchauungen ausſprachen, untergruben das Anſehen der Krone durch gehäſſiges Mißtrauen. Gefährlicher als die Leidenſchaften der Oppoſition erſchien je - doch vorerſt die fanatiſche Verblendung der royaliſtiſchen Ultras, welche die Kammer der Abgeordneten beherrſchten. Die Heißſporne der Chambre introuvable ſtrebten geradeswegs zurück zu der alten feudalen Geſellſchafts - ordnung, ſie verlangten blutige Rache an den Königsmördern und den Gottesmördern. Als König Ludwig den wilden Eifer der Emigranten zu mäßigen verſuchte, wendeten ſie ſich gegen das Anſehen der Krone ſelber, ganz ſo trotzig wie jene polniſchen Magnaten, die einſt ihrem König Sigismund zuriefen: rege sed non impera! Die altſtändiſchen Ideen der zügelloſen Adelslibertät tauchten wieder auf und ſchmückten ſich mit den Schlagwörtern der neuen parlamentariſchen Doktrin. Im Namen der conſtitutionellen Freiheit forderte Chateaubriand die Unterwerfung der Krone unter den Willen der Kammern und verfocht in ſeinen Schriften bereits jene radi - kale Theorie des Parlamentarismus, welche ſpäterhin die Liberalen ſich aneigneten und zu dem Satze le roi règne mais il ne gouverne pas zuſpitzten.

Sämmtliche Mitglieder der Geſandtenconferenz, Pozzo di Borgo voran, unterſtützten den König in ſeinem Widerſtande gegen die Ultras. Sogar die hochconſervativen engliſchen Staatsmänner mißbilligten die Parteiwuth der Emigranten, obgleich ihnen der liberale Eifer des jakobiniſchen Czaren und ſeines vordringlichen Geſandten immer verdächtig blieb. Wenn Wel - lington das thörichte Treiben der Ultras betrachtete, die ſich im Pavillon Marſan bei dem Grafen von Artois ihre Weiſungen holten, dann meinte*)wird in den Briefen nicht ausdrücklich angegeben; er kann aber kaum ein anderer ſein als der im Text angeführte. Denn am 9. Novbr. berichtet Royer: nunmehr müſſe König Friedrich Wilhelm in das Geheimniß eingeweiht werden, von deſſen Entſcheidung hänge jetzt Alles ab; und wenige Tage ſpäter verſchwindet die ganze Angelegenheit aus dem Briefwechſel.121Frankreich und die vier Mächte.er beſorgt: die Nachkommen Ludwigs XV. werden Frankreich nicht regieren, und Artois trägt die Schuld! Metternich ſchrieb warnend: die Rückkehr zu einer vergangenen Ordnung der Dinge bildet eine der größten Gefahren für einen Staat, der aus einer Revolution hervorgeht; nachher entfuhr ihm ſogar der ſchmerzliche Ausruf: die Legitimiſten legitimiren die Re - volution. Der preußiſche Geſandte, General Graf v. d. Goltz, ein alter Genoſſe des Blücher’ſchen Hauptquartiers, bewährte ſich als ein Diplomat von würdiger Haltung und geſundem Urtheil; er ward nicht müde ſeinen Hof vor der ſelbſtmörderiſchen Parteiwuth der Royaliſten zu warnen. So geſchah es, daß Hardenberg ſchon im März 1816 ausſprach: die geſetzliche Ordnung in Frankreich ſei nur noch durch die Auflöſung der unfindbaren Kammer zu retten. Die drei anderen Mächte trugen vorerſt noch Bedenken, den Tuilerien ein ſo kühnes Mittel zu empfehlen. Aber als die Verblendung der Ultras unheilbar blieb, faßte König Ludwig endlich einen muthigen Ent - ſchluß. Am 5. Septbr. erfolgte die Auflöſung unter dem Jubel des Landes; die Wahlen brachten den gemäßigten Parteien die Mehrheit, und das Miniſterium Richelieu-Decazes vermochte mit der neuen Kammer leidlich auszukommen. Seitdem erſt begannen die vier Mächte mit etwas beſſerer Zuverſicht in die Zukunft Frankreichs zu ſchauen. In einer Note vom 10. Februar 1817 eröffneten ſie dem Herzog von Richelieu: ſeine oft wieder - holte Bitte um Verminderung der Beſatzungslaſt ſei nunmehr erhört, das Heer Wellingtons ſolle um ein Fünftel, 30,000 Mann, vermindert werden; doch verſäumten ſie nicht hinzuzufügen, daß die löblichen Grundſätze des Her - zogs und ſeiner Amtsgenoſſen viel zu dieſem Entſchluſſe beigetragen hätten. So tief war das ſtolze Frankreich gedemüthigt: ſein erſter Miniſter mußte eine förmliche Belobung von dem hohen Rathe Europas hinnehmen.

Indeſſen zeigte ſich bald, daß die Selbſtändigkeit der modernen Staa - ten eine ſo innige Gemeinſchaft, wie ſie der Vierbund begründet hatte, auf die Dauer nicht ertragen konnte. Der alte Gegenſatz der ruſſiſchen und der öſterreichiſch-engliſchen Politik trat immer wieder zu Tage, und Czar Alexander that das Seine um den Argwohn des Wiener und des Lon - doner Hofes zu verſchärfen. Ohne ſeine Verbündeten zu befragen, ließ er im Februar 1816 die Urkunde der Heiligen Allianz veröffentlichen: die Welt ſollte ihn, ihn allein als den Heiland und den Führer des verbün - deten Europas bewundern. Während die anderen Mächte abrüſteten, wurde das ruſſiſche Heer verſtärkt und in dichten Maſſen nahe der Grenze zu - ſammengezogen. Der Czar gefiel ſich in übertreibenden Schilderungen der ruſſiſchen Kriegsmacht, und ſie wurde in der That, trotz der Erfahrungen der letzten Feldzüge, von aller Welt unbegreiflich überſchätzt; ſelbſt Gneiſenau glaubte, daß Rußland über eine Million Soldaten gebiete und ſogleich mit 500,000 Mann einen Angriffskrieg beginnen könne. Metternich erklärte beſorgt, die Wucht dieſer Rüſtungen und die orthodoxe Schwärmerei könnten den Czaren leicht zu kriegeriſchen Abenteuern verleiten; überall, in Frank -122II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.reich und Spanien, in Italien und der Türkei meinte er den geheimen Umtrieben ruſſiſcher Agenten auf der Spur zu ſein. *)Kruſemarks Berichte v. 24. Febr. 1816, 1. Febr. und 23. März 1817, 7. März und 9. April 1818.Und dieſe ruhe - los ehrgeizige Politik ſegelte unter der liberalen Flagge dahin! Die ruſ - ſiſchen Geſandten ſprachen ſich an allen Höfen für ein Syſtem weiſer Freiheit aus, während die engliſchen ebenſo eifrig vor dem gefährlichen Unſinn liberaler Verfaſſungsverſuche warnten. In ſeinem Polen ließ Alexander ſchon zu Weihnachten 1815 eine Verfaſſung verkündigen. Ob - gleich dies Grundgeſetz an dem Krebsſchaden der polniſchen Zuſtände, an der Unfreiheit des Landvolks nichts Weſentliches änderte und alle politiſche Macht in die Hände des Adels legte, ſo übte doch der Name Conſtitution ſeinen mächtigen Zauber; triumphirend begrüßte der urtheilsloſe Libera - lismus das Gnadengeſchenk des Kaiſers und fragte ungeduldig: wann endlich würden Deutſchlands Fürſten dem Beiſpiele des aufgeklärten Selbſt - herrſchers folgen, der insgeheim ſchon eine Charte für Rußland ſelbſt vor - bereitete? Von den beiden Staatsmännern, welche der Czar in den aus - wärtigen Geſchäften zu Rathe zog, blieb der unbedeutende Neſſelrode ſeinem Freunde Metternich treu ergeben; um ſo verdächtiger erſchien dem Wiener Hofe der liberale Philhellene Kapodiſtrias. Der öſterreichiſche General Stei - genteſch befand ſich zu Petersburg bald in ebenſo peinlicher Lage wie der ruſſiſche Geſandte Stackelberg zu Wien. Caveat consul! hieß es beſtändig in Stackelbergs Berichten; in erregten Worten warnte er ſeinen kaiſerlichen Herrn vor der Tücke dieſes Wiener Dalai-Lamas . Der geheime Ver - trag vom 3. Januar 1815 blieb in Petersburg unvergeſſen, und alle ruſ - ſiſchen Staatsmänner ſchrieben dem Fürſten Metternich die Hauptſchuld daran zu.

Das tiefe Mißtrauen des Tory-Cabinets gegen den Czaren verrieth ſich deutlich in einem Vorſchlage, welchen Lord Cathcart im Auguſt 1816 dem Petersburger Hofe überreichte: eine Conferenz von Offizieren ſollte zuſammentreten um über die gleichzeitige Abrüſtung aller Mächte zu be - rathen und jedem Staate die Stärke ſeines Friedensheeres vorzuſchreiben. Unverkennbar richtete dieſer friedfertige Antrag ſeine Spitze gegen die ruſ - ſiſchen Rüſtungen. Darum ging Metternich mit Eifer auf den Gedanken ein und erwiderte mit freundlichem Seitenblick auf die preußiſche Armee: die Verminderung der Heere ſei beſonders wünſchenswerth in einer Zeit, wo die Revolutionäre ſelbſt ſich mit der militäriſchen Maske bedecken . Kaiſer Alexander gab eine freundliche aber unklare Antwort. Der eng - liſche Vorſchlag blieb liegen, da man bald fühlte, daß eine ſo unnatür - liche Beſchränkung des wichtigſten Hoheitsrechtes ſelbſtändiger Staaten ſich im Ernſt nicht durchſetzen ließ; zumal Preußen konnte den Beſtand ſeines volksthümlichen Heerweſens nimmermehr dem Belieben übermächtiger Nach -123Rußland und England.barn preisgeben. *)Denkſchrift der engliſchen Regierung über die Lage Europas; Metternichs Aperçu sur le mémoire anglais (im Auguſt und Oktober 1816 von Kruſemark an Hardenberg geſendet).Inzwiſchen wuchſen die Beſorgniſſe des öſterreichiſchen Hofes von Monat zu Monat, und um Neujahr 1818 ſtellte Metternich dem Vertrauten Hardenbergs, Geh. Rath v. Jordan, der wegen der deut - ſchen Bundesangelegenheiten in Wien verweilte, geradezu den Antrag: Preußen möge mit Oeſterreich ein geheimes Vertheidigungsbündniß für den Fall eines ruſſiſchen Angriffs abſchließen. Hardenberg fand ſich ſofort dazu bereit, da ihm die Freundſchaft Oeſterreichs über allen anderen Rück - ſichten ſtand. Der König aber widerſprach: warum ſollte Preußen, den unbeſtimmten Befürchtungen der Hofburg zu Lieb, ſeinen alten Bundes - genoſſen verlaſſen, der überdies die geheimen Pläne Metternichs bereits durchſchaut hatte? Mit bitterem Unmuth nahm der Staatskanzler dieſe abſchlägige Antwort entgegen; er meinte nach ſeiner eigenrichtigen Art, Friedrich Wilhelm ſpiele wieder eine ähnliche Rolle wie in der traurigen Epoche von 1805. Umſonſt rief er den Fürſten Wittgenſtein, den unbe - dingten Anhänger Oeſterreichs, zu Hilfe; umſonſt beſchwerte er ſich, daß ihm ſein königlicher Herr ſo wenig Vertrauen zeige. Der Monarch blieb feſt, und am 2. Mai mußte Hardenberg das öſterreichiſche Anerbieten ab - lehnen. **)Hardenbergs Tagebuch 14. Jan., 12. März, 2. Mai 1818.

Dem engliſchen Hofe blieb namentlich das vielgeſchäftige Treiben der ruſſiſchen Diplomatie in Spanien hochbedenklich. Hier wie in Frankreich bemühten ſich die vier Mächte ernſtlich, das wiederhergeſtellte alte König - thum in den Schranken der Mäßigung zu halten, ſoweit die Scheu vor dem reizbaren ſpaniſchen Nationalſtolze dies geſtattete. Sie fühlten alle, wie ſchwer die gemeinſame Sache der europäiſchen Reſtauration durch die Sün - den König Ferdinands geſchädigt wurde. Die ganze liberale Welt gerieth in Aufruhr und Lord Byron ſang flammende Verſe wider den katholiſchen Mo - loch, als der verworfenſte der europäiſchen Fürſten ſogleich nach ſeiner Rück - kehr die Inquiſition wiederherſtellte, als er die Helden jenes Volkskrieges, der den Bourbonen ihren Thron zurückgegeben, mit grauſamen Strafen ver - folgte, als aus den Reihen ſeiner mönchiſchen Anhänger der wahnwitzige Ruf erklang: es leben die Ketten, es lebe der Druck, es lebe König Fer - dinand, es ſterbe die Nation! Aber während alle Mächte in der Verur - theilung dieſer Regierung einig waren, verſuchte Rußland zugleich die Machtſtellung zu untergraben, welche England während des Unabhängig - keitskrieges auf der Halbinſel errungen hatte. Der Geſandte des Czaren Tatiſchtſchew gewann in Madrid allmählich noch größeren Einfluß als Pozzo di Borgo in Paris. Man bemerkte bald, daß Rußland die Erneuerung des alten bourboniſchen Familienvertrags wünſchte um dereinſt die See - macht der beiden Kronen gegen England verwenden zu können. Der uner -124II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.müdliche ruſſiſche Gönner verkaufte endlich ſogar einen Theil ſeiner eigenen Flotte an Spanien und verlangte, daß Europa durch gemeinſame Inter - vention die aufſtändiſchen Kolonien Südamerikas mit dem ſpaniſchen Mutter - lande verſöhnen ſolle. Alle Mächte widerſprachen dieſem abenteuerlichen Vorſchlage; England und Oeſterreich verfolgten die mediterraniſche Politik des Czaren mit um ſo lebhafterer Beſorgniß, da inzwiſchen die Zuſtände der Balkanhalbinſel erſichtlich einer neuen Erſchütterung entgegenreiften.

Wie oft beklagte Metternich, daß ſein beſter und ſicherſter Bundes - genoſſe , die Türkei, der einzige Staat Europas blieb, der ſich nicht auf die Anerkennung der großen Mächte berufen konnte. Die Pforte hatte aus trägem Hochmuth verſäumt, die Bürgſchaft Europas für ihren Länder - beſtand in Anſpruch zu nehmen; nun ſah ſie ſich durch den Abſchluß der Heiligen Allianz aus der Gemeinſchaft der europäiſchen Staaten förmlich ausgeſchloſſen. Der Haß der Muhamedaner gegen die Giaurs flammte wieder mächtig auf; Sultan Machmud ließ abſichtlich einige Beſtimmungen des Bukareſter Friedens unausgeführt und erwartete mit Zuverſicht den Wiederausbruch des ruſſiſchen Krieges. *)Kruſemarks Bericht 8. Jan. 1817.Unterdeſſen hatte die unaufhalt - ſame Erhebung der unglücklichen Rajah-Völker bereits begonnen. Die Serben legten die Waffen nicht mehr aus der Hand und errichteten unter der Leitung ihres Miloſch ein halb-unabhängiges chriſtlich-nationales Ge - meinweſen, deſſen Daſein ſchon den Grundgedanken des ottomaniſchen Reichs widerſprach; Sendboten der unzufriedenen Griechen verkehrten in Petersburg und fanden bei Kapodiſtrias freundliche Aufnahme. Für die Nothwendigkeit der Befreiungskämpfe, die ſich hier vorbereiteten, fehlte in London wie in Wien jedes Verſtändniß. In den Kreiſen der Hochtorys galt die Erhaltung der Türkei kurzweg als ein politiſcher Glaubensſatz, zumal ſeit das engliſche Intereſſe im Oſten durch die Erwerbung der ioniſchen Inſeln gewahrt ſchien; ſtatt aller Gründe berief man ſich auf den Ausſpruch Pitts: mit einem Menſchen, der den Beſtand der Pforte nicht für nöthig hält, ſpreche ich kein Wort mehr über Politik. Metternich aber wendete ſeine Doktrin von dem unantaſtbaren Rechte jeder legitimen Obrigkeit unbedenklich auf die Fremdherrſchaft der Türken an und verab - ſcheute die verzweifelnden chriſtlichen Völker der Halbinſel nicht bloß als Schützlinge Rußlands, ſondern auch als frevelhafte Rebellen. In ſeiner Angſt bemerkte er nicht, daß der unſtete Ehrgeiz des liberalen Selbſtherr - ſchers wohl zuweilen mit hochfliegenden Entwürfen ſpielte, doch den Muth des Vollbringens nicht beſaß. Der Czar erwiderte auf die beſorgten Fragen des Generals Steigenteſch verächtlich: es ſei eine Gewiſſensſache, das Blut eines einzigen Soldaten zu vergießen im Kampfe gegen dieſe türkiſchen Schweine. **)Kruſemarks Bericht, 17. April, 13. Mai 1816.Und ſeinem Geſandten in Wien ließ er ſchreiben: die euro -125Oeſterreich und Rußland.päiſchen Miniſter hätten ſich noch nicht genugſam von ihren veralteten, kleinmüthigen Ideen befreit, weil die gereinigte Moral des Evangeliums nicht zu ihren Herzen ſpräche. Daher ihr Mißtrauen gegen Rußland; heute aber beſtehe, nach dem Rathſchluß der göttlichen Vorſehung, die Herr - ſchaft der öffentlichen Meinung, begründet auf Wahrheit und Gerechtigkeit.

Derweil die Hofburg alſo vor den geheimen Plänen des Czaren zitterte, war ſie ſelber von aufrichtiger Friedensliebe beſeelt. Wie wunder - bar war doch dies alte Oeſterreich nach ſo vielen Niederlagen und Ver - luſten wieder zu einer Machtfülle aufgeſtiegen, die an die Tage Wallen - ſteins erinnerte; ſelten hatte ein Staat beim Ausgange eines Weltkrieges ſich ſo ganz am Ziele aller ſeiner Wünſche befunden. Metternich durfte ſich rühmen, wie viel er ſelbſt durch kluges Aufſparen und rechtzeitiges Einſetzen der Kräfte des Reichs zu dieſem glänzenden Erfolge beigetragen; und da er ſchon in ſeinen jungen Jahren ſtets Alles vorausgeſehen und vorausgeſagt haben wollte, ſo ſteigerte ſich jetzt ſein Selbſtgefühl zu uner - meßlichem Dünkel. Die ganze neue Ordnung der europäiſchen Dinge er - ſchien ihm als ſein perſönliches Werk, die Erhaltung dieſer Ordnung als die einzige Aufgabe ſeines Lebens, da er ſelbſt wie ſein Staat bei jeder Aenderung nur verlieren konnte. Die tiefe Unwahrhaftigkeit ſeines Geiſtes erleichterte ihm, ſich die Thatſachen zurecht zu legen; die Bilder der Ver - gangenheit verſchoben ſich vor ſeinen Blicken, und bald ſah er in der Ge - ſchichte des letzten Menſchenalters ein ungeheures Gewirr von Thorheit und Verbrechen: nur er, er allein war inmitten der allgemeinen Bethö - rung immerdar frei geblieben von Leidenſchaft, frei von Irrthum und vor Allem, wie er gern hervorhob, ganz frei von Eigenliebe. Voll Verachtung ſprach er über die Politiker von dem Schlage eines Richelieu und Mazarin .

Die fremden Diplomaten bemerkten jetzt ſchon, wie ſchwer es hielt ein geſchäftliches Geſpräch mit ihm zu führen; in langen lehrhaften Vorträgen pflegte er den andächtig Lauſchenden ſeine untrügliche Meinung zu ent - wickeln. Eintönig, ſalbungsvoll, breit und hochtrabend verkündeten ſeine Briefe und Depeſchen in unzähligen Umſchreibungen immer nur den einen Gedanken der Erhaltung des Beſtehenden. Und doch verbarg ſich hinter der ſtolzen Zuverſicht die ſtille Angſt: Metternich fürchtete den Krieg, weil er die Schwäche des vernachläſſigten öſterreichiſchen Heerweſens kannte, er fürchtete mehr noch die Revolution. Nicht als ob er jemals die Vortreff - lichkeit des Syſtemes, das den beiden großen Völkern Mitteleuropas die Adern unterband, irgend bezweifelt hätte; aber er ſah die Partei des Um - ſturzes, die ihn ſein Lebelang geängſtigt, noch immer im Dunkeln ſchleichen, er ſah ſie bereit den Feuerbrand in ſein kunſtvolles Gebäude zu ſchleudern; und wie er immer des Glaubens blieb, daß der Tugendbund das preußiſche Heer von langer Hand her aufgewiegelt habe, ſo beobachtete er ſchwer be - ſorgt die Parteikämpfe in Frankreich, die krampfhaften Regungen des Na - tionalgefühls in Deutſchland und Italien; er vernahm mit Entſetzen, wie126II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ſelbſt in England, der feſten Burg der Gegenrevolution, der Gedanke der Parlamentsreform wieder erwachte, wie der feurige Demagog Cobbet ſeine Zweipfennig-Regiſter unter die Maſſen warf und die lange verwahrloſten niederen Klaſſen an ihre Menſchenrechte erinnerte. Um die Fragen der Verfaſſung und Verwaltung hatte ſich der Meiſter der Diplomatie bisher ebenſo wenig gekümmert wie um die großen Culturzwecke des Völkerlebens, deren Förderung der echte Staatsmann als ſeine höchſte Aufgabe betrachtet; ſelbſt dem inneren Leben ſeines Oeſterreichs ſtand er ſo fern, daß er ſein Urtheil über den Charakter dieſer Monarchie in der Phraſe zuſammenfaßte: ſie trage, ohne ein Foederativſtaat zu ſein, doch die Vortheile wie die Nach - theile der Foederativgeſtaltungen. Jedes ſchöpferiſchen Gedankens baar lebte ſeine Politik aus der Hand in den Mund; ſie meinte genug zu thun, wenn ſie ſich bereit hielt jederzeit mit dem Löſcheimer herbeizueilen ſobald irgendwo die Flammen der Revolution aus dem Boden aufſchlugen; ſie ſchwor auf den Gedanken der Stabilität ſo unbedingt wie der junge Libe - ralismus auf die Abſtraktionen ſeines Vernunftrechts, und der Feind der Doktrinäre verfiel ſchließlich ſelbſt in einen Doktrinarismus, der noch um Vieles unfruchtbarer war als die Lehren Rottecks. Je klarer jedes neue Jahr bewies, daß die lebendigen Kräfte der Geſchichte vor den Schranken der Wiener Verträge nicht ſtillſtehen konnten, um ſo krampfhafter ward die Furcht des Ruheſeligen vor der Revolution, bis endlich faſt in allen ſeinen Sendſchreiben das ſorgfältig ausgemalte Schreckbild des drohenden allgemeinen Weltbrandes wie die fixe Idee eines Geiſteskranken wieder - kehrte.

Nur an einer Stelle ſeines Machtgebietes hatte Oeſterreich nicht alle ſeine Abſichten erreicht: der Plan des italieniſchen Bundes war in Wien an dem Widerſpruche Piemonts geſcheitert. Um den Turiner Hof doch noch für dieſen Gedanken zu gewinnen, erhob die Hofburg jetzt Anſprüche auf das weſtliche Ufer des Langenſees und die wichtige Simplonſtraße; doch da Rußland und Preußen ſich der bedrängten Piemonteſen annahmen,*)Kruſemarks Bericht 10. April 1816. ſo ließ Metternich ſeine Abſicht vorläufig fallen und begnügte ſich mit der thatſächlichen Beherrſchung Italiens, die einſtweilen leidlich geſichert ſchien. Wohl war der Jubel, welcher einſt die einziehenden Oeſterreicher in der Lombardei begrüßt hatte, längſt verrauſcht; das Volk murrte über die rück - ſichtsloſe Abſetzung ſo vieler alter Beamten, über die harte, der Landesart völlig unkundige Verwaltung, über die ſchlechten Künſte der geheimen Polizei und die Roheit des bastone tedesco. Als Kaiſer Franz im Februar 1816 ſeine Huldigungsreiſe durch das neue lombardiſch-venetianiſche Königreich antrat, wurde er überall mit unverhohlener Kälte empfangen; ſelbſt der preußiſche Geſandte, General v. Kruſemark, ein warmer Freund Oeſter - reichs, mußte ſeinem Könige berichten: die k. k. Beamten und Offiziere ſeien127Metternichs deutſche Politik.ſammt und ſonders verhaßt, alle Italiener, denen der Gedanke einer ſelbſtändigen Nation anzugehören lieb war , grollten der neuen Regierung. Aber die Ruhe war noch nirgends geſtört, und Metternich erwiderte zu - verſichtlich, als Hardenberg ihm die Namen einiger verdächtigen italieniſchen Patrioten mittheilen ließ: den Italienern fehle, trotz ihrer ſchlechten Ge - ſinnung, der Muth zu Verſchwörungen. *)Kruſemarks Bericht aus Mailand, 28. Febr., 8. März 1816; aus Wien, 4. Jan. 1817.Was ſchien auch zu befürchten? An allen Höfen der Halbinſel herrſchte ein hart abſolutiſtiſcher Geiſt, der den Grundſätzen der Hofburg entſprach; die Bourbonen von Neapel hatten ſich überdies am 12. Juli 1815 durch einen geheimen Vertrag verpflichtet, die alten monarchiſchen Inſtitutionen aufrecht zu halten und dem Wiener Hofe Alles mitzutheilen, was der Ruhe Italiens bedrohlich ſcheine.

Den deutſchen Angelegenheiten ſtand die Hofburg zunächſt noch ganz planlos und gedankenlos gegenüber: genug wenn der Deutſche Bund noth - dürftig zuſammenhielt und im Kriegsfalle dem Hauſe Oeſterreich Heeres - folge leiſtete; dann mochten die Berathungen des Frankfurter Bundes - tages wieder ebenſo leer und nichtig verlaufen, wie einſt die des Regens - burger Reichstags. Metternich verachtete die kleinen deutſchen Höfe aus Herzensgrunde und rief ſtets unbedenklich den Czaren zu Hilfe, wenn einige deutſche Fürſten, die einen Seelenhandel zu machen haben , ſich über die Abwicklung ihrer Gebietsſtreitigkeiten nicht einigen konnten. Aber er wußte auch, daß dieſe kleinen Herren ſich nur darum zur[öſterreichiſchen] Partei hielten, weil ſie die Hofburg als den wohlwollenden Beſchützer ihrer Souveränität verehrten. Daher dachte er ſie möglichſt frei gewähren zu laſſen; ſelbſt der unbequemen Artikel 13 der Bundesakte, das Verſprechen der Landſtände, ſchien vorerſt nicht allzu gefährlich, da die Mehrzahl der deutſchen Höfe über jeden Verdacht liberaler Geſinnung erhaben war. Die Nüchternheit des öſterreichiſchen Staatsmannes hatte ſich nie darüber ge - täuſcht, daß ſein Kaiſerhaus an dem politiſchen Leben der deutſchen Nation nicht theilnehmen, für die Förderung deutſchen Rechts und deutſcher Wohl - fahrt nichts leiſten konnte. Noch in ſeinen Denkwürdigkeiten ſchrieb er unbefangen: in Bezug auf Oeſterreich hatte der Ausdruck: deutſcher Sinn insbeſondere in der Bedeutung, wie ſich derſelbe ſeit der Kataſtrophe Preußens und der nördlichen Gebiete Deutſchlands in den höheren Schich - ten der dortigen Bevölkerung manifeſtirte lediglich den Werth einer Mythe. Jede Regung nationaler Gedanken in Deutſchland war ihm alſo eine Gefahr für Oeſterreichs Herrſchaft. Kaiſer Franz vollends bearg - wöhnte den Patriotismus ſchlechthin als eine gefährliche revolutionäre Lei - denſchaft und wollte nicht einmal von einem öſterreichiſchen Vaterlande hören, da doch alle ſtaatliche Ordnung lediglich in dem Gehorſam der Unter - thanen gegen die Perſon des Herrſchers beſtand; als man ihm den Ent - wurf eines Dankſchreibens an Schwarzenberg und das Heer vorlegte, ſtrich128II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.er ſorgfältig das Wort Vaterland aus und ſchrieb dafür Meine Völker und Mein Staat .

Sollten die Deutſchen dergeſtalt in einem lockeren Vertheidigungsbünd - niß beiſammen bleiben, ohne jemals zu einem ſtarken nationalen Leben zu erwachen, ſo war ein gutes Einvernehmen mit Preußen unerläßlich. Metter - nich verkannte dies nicht, doch wie anders als Hardenberg verſtand er den Gedanken des friedlichen Dualismus! Er hatte ſich einſt ſeine Anſicht über den preußiſchen Staat nach den geringſchätzigen und feindſeligen Ur - theilen, die in den Kreiſen des katholiſchen Reichsadels umliefen, ge - bildet und nachher als Geſandter zu Berlin, in den Jahren vor 1805, die ſchwächſten Zeiten der fridericianiſchen Monarchie aus der Nähe beob - achtet. Niemals konnte er die widerwärtigen Eindrücke jener Tage ver - winden; der preußiſche Staat blieb ihm immer nur ein zuſammengewür - felter Haufe verſchiedener Nationen , ein Gebilde des Zufalls: Alles ſcheint Widerſpruch in der Geſchichte Preußens, und dieſe Jahrbücher um - faſſen kaum ein Jahrhundert! Darum glaubte er ſein Lebelang, das Weltreich Napoleons würde gedauert haben, wenn der Imperator nur den Staat Friedrichs etwas glimpflicher behandelt und als einen beſcheidenen Mittelſtaat in die Reihen des Rheinbundes aufgenommen hätte. Im Jahre 1811 rechnete er beſtimmt auf Preußens Untergang und hoffte mit Na - poleons Hilfe Schleſien für das Haus Oeſterreich zurückzugewinnen.

Auch als dieſe Rechnung trog und Preußen ſich glorreich wiedererhob, ahnte Metternich noch immer nichts von den ſittlichen Kräften, welche den gedemüthigten Staat zu dem ungleichen Kampfe befähigten; er gefiel ſich darin, die preußiſchen Dinge im trübſten Lichte zu ſehen, ſprach wegwerfend von dem beſchränkten, unentſchloſſenen Könige wie von Hardenbergs leicht - gläubiger Schwäche; er redete ſich ein, die preußiſche Armee habe zur Zeit des Waffenſtillſtandes nur dem Namen nach exiſtirt ; ſelbſt den Ruhm Blüchers, Gneiſenaus, Yorks meinte er durch einige fade Späße über die grammatiſchen Schnitzer des Marſchalls Vorwärts abzuthun. Daran be - ſtand in der Hofburg gar kein Zweifel, daß Preußen nur durch Oeſter - reich vor der Vernichtung gerettet worden war; mehr als drei Großmächte auf dem Feſtlande hatte Metternich niemals anerkannt. Das wiederher - geſtellte Preußen ſollte immerdar die erſte Hilfsmacht des Hauſes Oeſter - reich bleiben; nach der Anſchauung des Wiener Hofes bedeutete der deutſche Dualismus die Herrſchaft Oeſterreichs unter Preußens freiwilliger Mit - wirkung. Metternich verſtand jedoch meiſterhaft, den preußiſchen Staats - kanzler über ſeine Herzensmeinung zu täuſchen; er wahrte die Formen ſo ſorgfältig, daß die Berliner Staatsmänner feſt überzeugt blieben, Preußen werde in Wien als eine durchaus gleichberechtigte befreundete Großmacht angeſehen. In zwanzig Jahren geſchah es nur ein einziges mal, und bei einem ziemlich geringfügigen Anlaß, daß Metternich dem preußiſchen Ge - ſandten gegenüber, ſich eine Bemerkung über eine innere Angelegenheit des129Preußens Verhältniß zum Deutſchen Bunde.verbündeten Staates erlaubte. Solche Fragen wurden ſtets nur in ver - traulichen Briefen an den zuverläſſigſten der Berliner Freunde, den Fürſten Wittgenſtein, oder auch bei den perſönlichen Zuſammenkünften der Monar - chen in freundſchaftlichen Geſprächen behutſam berührt.

Dieſe wohlberechnete Zurückhaltung fiel dem klugen Manne nicht leicht; denn im Grunde des Herzens beunruhigten ihn die inneren Zuſtände Preußens noch weit mehr als die Lage Frankreichs. Er konnte ſich nicht verhehlen, daß Preußen mit der bitteren Erinnerung an eine unverdiente diplomatiſche Niederlage die Waffen niederlegte, und ſich mit der lächer - lichen Zerriſſenheit ſeines Gebietes auf die Dauer nicht begnügen durfte. Er glaubte feſt, daß die Centralverwaltung ſeines Todfeindes Stein die preußiſche Jugend mit gefährlichen Gedanken revolutionärer Eroberungsluſt erfüllt habe, und fand ſeinen Verdacht durch die Schriften Arndts und Görres beſtätigt. Am unheimlichſten blieb ihm doch die unerhörte Er - ſcheinung des preußiſchen Volksheeres; keiner der Staatsmänner der alten Schule wollte glauben, daß ſo viel rückſichtsloſer Freimuth, ſo viel lär - mende vaterländiſche Begeiſterung mit unverbrüchlicher Königstreue Hand in Hand gehen könne. Und allerdings verbargen die preußiſchen Offiziere ihr abſchätziges Urtheil über Oeſterreichs Heer und Heeresführung keines - wegs, und mancher dachte ſchon wie der tapfere General Steinmetz vom York’ſchen Corps, der zur Zeit des zweiten Pariſer Friedens rundweg ſchrieb: Oeſterreich ſei kein deutſches Haus mehr, die Oberherrſchaft in Deutſchland gebühre den Preußen. Während der erſten zwei Jahre nach dem Friedens - ſchluſſe quälte alle Höfe des Vierbundes beſtändig die Sorge, Preußen könne durch ſein fanatiſirtes Heer zu revolutionären Abenteuern fortge - riſſen werden. Wellington äußerte, dieſer Staat ſei ſchlimmer daran als Frankreich, hier beſtehe gar keine Autorität mehr. Czar Alexander ent - ſchuldigte ſeine Rüſtungen mit der Nothwendigkeit, Deutſchland gegen die Revolution zu beſchützen; Preußen insbeſondere iſt krank, ſagte er zu Steigenteſch, und der König von Preußen wird der Erſte ſein, dem ich Beiſtand werde leiſten müſſen. *)Kruſemarks Bericht 17. April 1816.

In Wahrheit lag dem Berliner Hofe nichts ferner als der Ehrgeiz revolutionärer Kriegspolitik. Jedermann im Lande wußte, daß der König feſt entſchloſſen war, wenn irgend möglich nie wieder das Schwert zu ziehen. Wohl fehlte es unter den jüngeren Beamten und Offizieren nicht an einzelnen weitſchauenden Köpfen, welche die Unhaltbarkeit der Geſtal - tung des Staatsgebietes erkannten und ſchleunige Abhilfe forderten. Der Präſident v. Motz in Erfurt führte in einer geiſtvollen Denkſchrift aus: die von Hardenberg erſtrebte Führerſtellung im Norden könne nur dann geſichert werden, wenn Preußen für einige Striche ſeiner rheiniſch-weſt - phäliſchen Provinzen Oberheſſen und Fulda eintauſche und alſo am Unter -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 9130II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.main wiedergewinne, was am Obermain, in Ansbach-Baireuth verloren worden; dann erſt ſei ganz Norddeutſchland durch preußiſches Gebiet um - klammert und die wichtige militäriſche Poſition der Kinzig-Päſſe nebſt der Haupthandelsſtraße Deutſchlands, der Frankfurt-Leipziger, komme in preu - ßiſchen Beſitz. Warnend verwies er auf die feindſelige Geſinnung der rhein - bündiſchen Staaten des Südens: ſcheint ſie doch in Abſicht Deutſchlands mit Frankreich faſt einerlei Intereſſe zu beſeelen, nämlich Zerſplitterung und Iſolirung der deutſchen Volkskraft, Verhinderung aller Einheit; darum beſchwor er den Staatskanzler, ein Stück preußiſchen Gebiets als tren - nenden Keil zwiſchen Heſſen und Baiern einzuſchieben, damit die norddeut - ſchen Mittelſtaaten nicht dem Drucke aus Süden bloßgeſtellt würden. *)Motz, Denkſchrift Ueber die geographiſche Verbindung der Oſt - mit der Weſt - hälfte des preußiſchen Staates 1817. Humboldts Antwort 18. März 1819.Aber wie ſollten ſo kühne Pläne ohne einen Krieg verwirklicht werden? Die Regierung lehnte den Vorſchlag ab; ſie war ehrlich entſchloſſen ſich mit dem neuen Beſitzſtande zu begnügen, zumal da der König jeden Gebietsaus - tauſch als eine Verletzung ſeiner Regentenpflicht verſchmähte. Hardenbergs deutſche Politik begnügte ſich mit der beſcheideneren Aufgabe, den zu Wien verheißenen Ausbau der Bundesverfaſſung zu fördern und vor Allem das Bundesheerweſen feſt zu begründen.

Zur Durchführung dieſer friedlichen Pläne ſchien die Freundſchaft der Oſtmächte dem Könige wie dem Staatskanzler unentbehrlich; nur betrachtete Friedrich Wilhelm nach wie vor den Czaren als ſeinen vertrauteſten Bun - desgenoſſen, während Hardenberg ſich zunächſt an Oeſterreich anſchloß. Die Verbindung des königlichen Hauſes mit dem ruſſiſchen Hofe geſtaltete ſich noch inniger, als Alexanders Bruder Großfürſt Nikolaus um die Hand der liebenswürdigen Prinzeſſin Charlotte anhielt. Zwei Jahre darauf, im Juni 1817 ward die Heirath vollzogen, und die Preußen vernahmen mit gerechtem Befremden, daß die Prinzeſſin zur griechiſchen Kirche überge - treten war. Das weiche Gemüth des Königs vermochte der tiefen Herzens - neigung ſeiner ſchönen Lieblingstochter nicht zu widerſprechen; aus väter - licher Zärtlichkeit brachte der gläubige Proteſtant dem ruſſiſchen Hochmuthe ein Opfer, das freilich an den kleinen proteſtantiſchen Höfen längſt für unbedenklich galt, aber im Hauſe der Hohenzollern ohne[Beiſpiel] war und dem Stolze einer Großmacht übel anſtand. Trotz der Freundſchaft der Höfe ſtanden die beiden Völker bald nach dem Kriege wieder fremd, faſt feindſelig einander gegenüber. Die Koſakenſchwärmerei des Frühjahres 1813 war längſt verflogen, auch die lange Waffenbrüderſchaft der beiden Heere blieb ohne dauernde Folgen. Die preußiſchen Liberalen ſchenkten den pathetiſchen Aeußerungen des freiſinnigen Selbſtherrſchers wenig Glauben und verabſcheuten das Moskowiterthum als eine Macht der Finſterniß; in den Grenzprovinzen aber verwünſchte Jedermann die kleinliche und unred - liche Gehäſſigkeit der ruſſiſchen Zollbeamten.

131Der Streit um Salzburg.

So lagen die Verhältniſſe zwiſchen den großen Mächten, als die erſten Bundestagsgeſandten in der alten Krönungsſtadt anlangten. Aber jener Fluch der Lächerlichkeit, welcher die Bundesverſammlung durch ihr geſammtes Wirken begleiten ſollte, verfolgte ſie ſchon bei ihrer Geburt. Die auf den 1. Septbr. 1815 angekündigte Eröffnung wurde zunächſt, in Folge des Pariſer Congreſſes, um ein Vierteljahr verſchoben. Darauf mußten die Ge - ſandten, die ſich im Laufe des Novembers einfanden, noch ein Jahr lang, unter dem Spotte der Frankfurter, auf den Beginn der Verhandlungen warten; denn die beiden Großmächte wünſchten vorher erſt die noch ſchwe - benden deutſchen Gebietsſtreitigkeiten zu beſeitigen, vor allen den hoffnungs - los verfahrenen bairiſch-öſterreichiſchen Länderhandel.

Der Münchener Hof hatte auf dem Wiener Congreſſe den verheißenen ununterbrochenen Gebietszuſammenhang nicht erlangt und behielt daher Salzburg nebſt den Landſtrichen am Inn, die an Oeſterreich ausgeliefert werden ſollten, vorläufig noch in ſeinem Beſitz. Um ſich eine günſtige Ausgleichung des Streites zu ſichern, ſchloß er ſich ſeitdem eng an die Po - litik der Hofburg an; ſein Miniſter Rechberg unterſtützte in Paris die For - derungen Preußens und der kleinen deutſchen Staaten nur lau, da Oeſter - reich die Verkleinerung Frankreichs nicht wünſchte. Zum Danke ließ ſich Metternich, in der Sitzung des Pariſer Congreſſes vom 3. Novbr., von den großen Mächten den dereinſtigen Heimfall des Breisgaus und der badi - ſchen Jungpfalz zuſichern. Ohne das Karlsruher Cabinet einer Mitthei - lung zu würdigen, verfügten die vier Mächte alſo völlig willkürlich über die Zukunft badiſcher Landſchaften. Der Rückfall der badiſchen Pfalz war ſchlechthin rechtswidrig, und für den Heimfall des Breisgaus ſprach auch nur ein künſtlicher Scheingrund. Der Großherzog von Baden beſaß den Breisgau kraft des Preßburger Friedens in derſelben Weiſe und mit den - ſelben Rechten wie vordem der Herzog von Modena; da nun das Kaiſer - haus der nächſte Erbe ſeiner modeneſiſchen Vettern war, ſo ſtellte der Wiener Hof die ungeheuerliche Behauptung auf, er könne nicht nur nach dem Ausſterben des Hauſes Modena deſſen italieniſche Beſitzungen, ſon - dern auch nach dem Ableben der Zähringer Hauptlinie den Heimfall des Breisgaus fordern. Die großen Mächte erkannten dieſen bodenloſen An - ſpruch an, weil den Staatsmännern Englands und Rußlands jede Kennt - niß der deutſchen Verhältniſſe fehlte, Hardenberg aber noch immer hoffte, Oeſterreich werde das Wächteramt am Oberrhein übernehmen.

Mit dieſem Unterhandlungsmittel in den Händen, forderte Metternich nunmehr den ſofortigen Austauſch von Salzburg gegen die linksrheiniſche Pfalz. Als Baiern abermals zögerte, verlor er endlich die Geduld und ſendete im December den General Vacquant nach München um die Her - ausgabe unter allen Umſtänden zu erzwingen; gleichzeitig rückte General Bianchi mit einem öſterreichiſchen Heere dicht an die bairiſche Grenze. Zu ſpät erkannte jetzt der Münchener Hof, welche Thorheit Wrede begangen9*132II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.hatte, als er durch ſein gehäſſiges Auftreten in den ſächſiſchen Händeln den ſo oft erprobten Beiſtand Preußens verſcherzte. König Max Joſeph und Montgelas beſchworen den preußiſchen Geſandten Küſter, der Wiener Strei - tigkeiten zu vergeſſen. Der Staatskanzler erwiderte kühl: die Zeit wird darüber entſcheiden; zeigt der bairiſche Hof in Zukunft freundſchaftliche Geſinnungen, ſo wird der König unſer Herr nicht unverſöhnlich ſein. Dann befahl er dem Geſandten, im Verein mit England und Rußland den öſter - reichiſchen Unterhändler zu unterſtützen. *)Küſters Bericht 2. Sept. Weiſungen Hardenbergs v. 5. Okt. u. 1. Dec. 1815.

In Altbaiern erregte die Nachricht von Oeſterreichs Forderungen lei - denſchaftlichen Zorn. Das Innviertel war ſeit Jahrhunderten, bis auf eine kurze Unterbrechung, immer wittelsbachiſch geweſen, Salzburg hatte ſtets zum bairiſchen Reichskreiſe gehört und mit den Nachbarn im Kur - fürſtenthume freundlichen Verkehr unterhalten. Und dieſe beiden Land - ſchaften mit ihrer rein bairiſchen Bevölkerung ſollte man dahingeben für die entlegene überrheiniſche Pfalz, deren bewegliches, leichtlebiges Volk dem ſchweren altbairiſchen Weſen von Altersher widerwärtig war! Der alte Stammeshaß gegen die Oeſterreicher regte ſich wieder, die Erinnerungen an die Kämpfe von 1705 und den ſagenhaften Schmied von Kochel waren in Jedermanns Munde. Den Salzburgern ward bei ſchwerer Strafe ver - boten, von der Abtretung des Landes auch nur zu reden. Marſchall Wrede polterte und drohte, und in den Kreiſen der Offiziere vernahm man die bittere Klage: uns fehlt der Schutz Napoleons. Am Lauteſten zürnte Kronprinz Ludwig; der empfand es als eine Entehrung der neuen Königs - krone, daß der Tauſch ſeinem Hauſe nicht durch freien Vertrag, ſondern durch den Befehl der vier Mächte aufgezwungen werden ſollte. Auch die literariſchen Mordbrenner der Wittelsbacher rückten wieder in’s Feuer. Eine grimmige Flugſchrift Entweder oder , von Aretin verfaßt und durch den Prinzen Karl maſſenhaft verbreitet, forderte alle treuen Baiern brüllend auf, jede Pflugſchaar in ein Schwert zu verwandeln, die Zwei - herrſchaft Oeſterreichs und Preußens zu bekämpfen. Im Salzburgiſchen wurde durch die bairiſchen Beamten eine Petition umhergetragen, welche dem Hofe hunderttauſende von Bajonetten freiwilliger Salzburger zur Verfügung ſtellte: das Volk iſt es, das durch keine Ueberbildung ent - nervt, mit üppiger Fülle des Jugendalters gerüſtet iſt; und das Fürſten - haus iſt es, das älter als alle anderen! Sollten wir dieſes von Oeſterreich zu befürchten haben, welches noch kürzlich, als es ſich den Abſichten Preu - ßens auf Sachſen widerſetzte, die edelſten und gerechteſten Grundſätze aner - kannte? Während das Bajuvarenthum dergeſtalt den alten Groll gegen die norddeutſche Großmacht von Neuem ausſchüttete, ſagte König Max Joſeph zu Küſter: er hoffe auf einen nahen Krieg zwiſchen Oeſterreich und Preußen, dann werde Baiern treu auf Preußens Seite ſtehen! **)Küſters Bericht 25. Januar 1816.

133Gebietsverhandlungen zwiſchen Oeſterreich und Baiern.

Faſt ſchien es, als ſollte die Geſchichte des deutſchen Bundes mit einem Bürgerkriege beginnen. Aber das bairiſche Heer befand ſich in einem kläglichen Zuſtande, und Metternich hielt ſeine Forderungen unerſchütterlich feſt. Er erklärte trocken, die verheißene Contiguität des bairiſchen Ge - biets ſei durch den Widerſpruch der ſüddeutſchen Nachbarſtaaten unmöglich geworden, und geſtand alſo mit gewohnter Gewiſſensruhe ein, daß er zu Ried und Paris ſeine bairiſchen Freunde durch unerfüllbare Verſprechungen betrogen hatte. Die Wittelsbacher wagten noch einen letzten Verſuch. Der König ſchrieb an Kaiſer Alexander, der ihn aus Rückſicht auf die Ruhe des Deutſchen Bundes dringend zur Nachgiebigkeit ermahnt hatte, und ſchämte ſich nicht, den Czaren zu preiſen, weil er das Elſaß den Fran - zoſen bewahrt hatte: Den großmüthigen, beſtändigen und anhaltenden Be - mühungen Eurer Majeſtät verdankt Europa vornehmlich ſeine Befreiung; Ihre Vorausſicht vor Allem hat Frankreich dem politiſchen Syſteme Euro - pas erhalten, gegen die Sophismen des Ehrgeizes und gegen das Geſchrei der Uebertreibung. Sie werden nicht einem Bundesgenoſſen, der nur ſeine Erhaltung verlangt, den gleichen Schutz verſagen wollen. *)Kaiſer Alexander an Max Joſeph 24. December 1815. Antwort des Königs 6. Jan. 1816.Bald darauf, im Februar 1816, ging Kronprinz Ludwig nach Mailand um den Kaiſer Franz perſönlich zu gewinnen. Doch zur ſelben Zeit traf auch der Freiherr v. Berckheim im Auftrage des badiſchen Hofes dort ein, da man in Karlsruhe unterdeſſen erfahren hatte, was in Paris über die Zukunft des Breisgaus und der Jungpfalz beſchloſſen war; und nunmehr gerieth der öſterreichiſche Hof zwiſchen zwei Feuer. Der badiſche Miniſter ver - wahrte ſich feierlich gegen jede Verletzung der Rechte ſeines Fürſten; der bairiſche Kronprinz mahnte den Kaiſer Franz in ſeiner aufgeregten Weiſe an das gegebene Wort und forderte ſtürmiſch das verheißene zuſammen - hängende Gebiet; der treuherzige Kaiſer aber erwiderte den Streitenden achſelzuckend: ich bin ein Körper und eine Seele mit meinen Alliirten und kann nichts ohne ſie. Auch Metternich berief ſich gelaſſen auf die Entſcheidung der großen Mächte, und wenngleich er dem badiſchen Staats - manne den gereizten Ton ſeines Proteſtes ſcharf verwies, ſo bemerkte Berck - heim doch bald, daß Oeſterreich nur die Auslieferung Salzburgs erzwingen wollte und keineswegs ernſtlich beabſichtigte den Breisgau und die Jung - pfalz in Baierns Hände zu bringen. **)Berckheims Bericht an das bad. Miniſterium, Mailand 14. Febr. Berckheims Proteſt 10. Febr. Metternichs Antwort 22. Febr. 1816.

Unverrichteter Dinge kehrte Kronprinz Ludwig heim. Da alle vier Mächte dringend die endliche Beilegung dieſer ſchmutzigen Händel forderten, bei denen die Zweizüngigkeit der Hofburg eine kaum weniger häßliche Rolle ſpielte, als Baierns gierige Anmaßung, ſo wich der Münchener Hof einen134II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Schritt zurück und gab durch den Vertrag vom 14. April 1816 Salz - burg nebſt dem Innviertel dahin gegen die linksrheiniſche Pfalz und einige noch herrenloſe Gebiete im Odenwalde. Die ſalzburgiſchen Baiern traten ſehr ungern unter das Scepter Oeſterreichs. Aber ein großer Theil des Landes war Kammergut, Wohl und Wehe der Bevölkerung hing gänzlich von der neuen Landesherrſchaft ab, die ihre Macht ohne Härte gebrauchte; ſo geſchah es, daß die Aufregung ſich nach und nach legte, und die unna - türliche Trennung von den Stammgenoſſen dem Völkchen bald ſelbſtver - ſtändlich erſchien.

Da der bairiſche Staat durch den Tauſchvertrag einen Zuwachs von 85,000 Einwohnern gewonnen hatte, ſo lag ein Anlaß zu berechtigten Beſchwerden nicht mehr vor. Gleichwohl vermochte der Münchener Hof nicht den ununterbrochenen Gebietszuſammenhang zu verſchmerzen; er forderte, daß ihm in den geheimen Artikeln des Vertrags noch weitere Ent - ſchädigungen zugeſtanden würden. Metternich aber trug kein Bedenken, ſich auf Koſten Badens freigebig zu erweiſen, weil er vorausſah, welchem unüberwindlichen Widerſtande ſeine Verſprechungen begegnen würden. In den geheimen Artikeln ward ausbedungen: die badiſche Pfalz ſolle nach dem Ausſterben der Zähringer Hauptlinie an Baiern zurückfallen; Baiern ſolle ferner, zum Erſatz für die verlorene Contiguität, ſo bald als möglich den badiſchen Main-Tauberkreis und, bis dieſe Abtretung bewirkt ſei, von Seiten Oeſterreichs eine jährliche Rente von 100,000 fl. erhalten. Alſo abermals ein Schritt frivoler Willkür; und Baiern ſäumte nicht ſeine angeblichen Anſprüche mit jedem Mittel zu verfechten. Während ſein Ge - ſandter bei den Frankfurter Gebietsverhandlungen die Auslieferung des Main-Tauberkreiſes als ein unbeſtreitbares Recht forderte, warb Graf Bray um die Gnade des Czaren. Der geängſtete badiſche Hof wehrte ſich mit den nämlichen Waffen. Miniſter Berſtett eilte hilfeſuchend nach London; nach Petersburg war ſchon früher ein Prinz der neuen Nebenlinie, Graf Wilhelm von Hochberg geſendet worden. Nachher verdiente ſich der brauch - barſte Mann des badiſchen Cabinets, der junge Freiherr v. Blittersdorff an der Newa ſeine diplomatiſchen Sporen und ſuchte mit Hilfe der Kai - ſerin Eliſabeth den bairiſchen Geſandten aus der Gunſt Alexanders zu verdrängen. So währte der ſchimpfliche Wettkampf der beiden deutſchen Höfe um den Schutz des Auslandes viele Monate hindurch, und Kapo - diſtrias rief dem badiſchen Geſandten verächtlich zu: Ihr liegt immer vor der Thür der großen Mächte! *)Blittersdorffs Berichte aus Petersburg 5. Juni ff. 4. September 1818.Unterdeſſen hatte die bairiſche Regierung ihre Forderungen noch höher geſpannt, auf Betrieb des Kronprinzen, der den Einzug in das Heidelberger Pfalzgrafenſchloß gar nicht erwarten konnte; im Februar 1817 verlangte ſie von den großen Mächten geradezu die Uebergabe der badiſchen Pfalz.

135Der Streit zwiſchen Baiern und Baden.

Dieſe neue Anmaßung Baierns trieb den preußiſchen Staatskanzler endlich aus ſeiner Zurückhaltung heraus. Hardenberg war bisher ſehr be - hutſam verfahren, da er Oeſterreich nicht verletzen wollte und ſich ſelbſt durch die Vereinbarungen von Ried und Paris etwas gebunden fühlte. Ein ſolcher Anſpruch rechtswidriger Ländergier aber ſchien ihm dem Zwecke des Deutſchen Bundes geradeswegs zuwiderzulaufen ; niemals wollte er zugeben, daß Baiern die ſüddeutſchen Kleinſtaaten von dem Norden ab - trenne. Er änderte daher ſofort den Ton, ließ in Wien und München entſchieden erklären, Preußen werde ſchlechterdings keine Gewaltmaßregeln gegen Baden dulden, und blieb fortan ein treuer Beſchützer des Karls - ruher Hofes. Der König von Württemberg erkannte die veränderte Hal - tung des Berliner Cabinets dankbar an, und auch die Hofburg war insge - heim über Preußens Auftreten erfreut, denn Metternich verkannte nicht, daß die Uebermacht Baierns im deutſchen Süden dem öſterreichiſchen Intereſſe zuwiderlief; er konnte nur von ſeinen eigenen unredlichen Verſprechungen ſich nicht förmlich losſagen. *)Kruſemarks Bericht v. 5. März. Küſters Bericht v. 14. März. Hardenbergs Weiſungen v. 28. Febr., 4. März, 12. April 1817.Indeß die letzte Entſcheidung aller Gebiets - fragen lag bei der Geſammtheit der vier Mächte, und da Kaiſer Alexander noch keinen klaren Entſchluß gefaßt hatte, ja eine Zeit lang ſich ſogar den bairiſchen Anſprüchen günſtig zeigte, ſo blieben die widerwärtigen Händel noch immer in der Schwebe; ſie verbitterten ſich von Monat zu Monat und wirkten auf das nachbarliche Verhältniß der ſüddeutſchen Staaten wie auf den Gang ihres Verfaſſungslebens tief und nachhaltig ein. Die beiden deutſchen Großmächte aber hatten ſchon im September 1816 eingeſehen, daß der Bundestag nun doch eröffnet werden mußte bevor die Gebietsſtrei - tigkeiten ihren Austrag gefunden hatten.

Zum allgemeinen Erſtaunen der diplomatiſchen Welt ließ der Wiener Hof dem Freiherrn v. Stein zweimal die Stelle des öſterreichiſchen Bun - desgeſandten antragen. Wie niedrig mußte Metternich noch von der Be - deutung des Bundestags denken, wenn er dem Manne, den er als das Haupt der deutſchen Jakobiner verabſcheute und zudem wegen ſeiner über - ſpannten Ideen verachtete, die Leitung dieſer Verſammlung anbieten konnte! Stein lehnte ab, ſchwerlich zur Ueberraſchung der Hofburg; er wußte, daß er als Metternichs Untergebener eine ſeiner würdige Wirkſamkeit nicht finden würde. Dann fiel die Wahl des Wiener Cabinets auf den greiſen Miniſter Albini, den letzten kurmainziſchen Directorialgeſandten am alten Reichstage. Das Regensburger Treiben ſollte in Frankfurt gemächlich fort - geſetzt werden; der das alte Reich zum Grabe geleitet hatte, war der rechte Mann um den neuen Bund aus der Taufe zu heben. Aber der alters - ſchwache Herr ſtarb ſchon im Januar 1816 noch bevor er ſein Amt an - getreten hatte; und nunmehr wurde der öſterreichiſche Geſandte in Caſſel,136II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Graf Buol auf die erledigte Stelle berufen, ein mittelmäßiger Kopf ohne Urtheil und Haltung, doch immerhin ſchlau genug um in aller Gemüth - lichkeit ein kleines Ränkeſpiel anzuſpinnen oder die unterthänigen Diplo - maten der Kleinſtaaten durch überſtrömende Schmeichelei und gelegentliche Lügen zu gewinnen.

Auch Hardenberg dachte für den preußiſchen Geſandtſchaftspoſten zu - nächſt an Stein. An dieſer Stelle ſchien der gefürchtete Nebenbuhler unge - fährlich; ſein großer Name ſollte der Nation für die deutſche Geſinnung der preußiſchen Regierung bürgen. Der Freiherr zeigte ſich anfangs be - reitwillig, aber nach dem zweiten Pariſer Frieden lehnte er verſtimmt den Antrag ab: ſein altes Mißtrauen gegen den Staatskanzler hatte ſich in den letzten Monaten bis zu ungerechter Verachtung geſteigert, und von dem Bundestage erwartete er jetzt kein Heil mehr. Nach längerem Schwanken wendete ſich Hardenberg endlich an den Geſandten in Caſſel, v. Hänlein, einen älteren Diplomaten aus der fränkiſchen Beamtenſchule, der ſich wie Albini ſeine Kenntniß der deutſchen Dinge am Regensburger Reichstage erworben hatte. Die unglückliche Wahl rächte ſich ſchnell. Der neue Ge - ſandte bereitete ſeinem Staate noch vor der Eröffnung des Bundestags eine empfindliche Niederlage, welche die ohnehin ſchwierige Stellung Preu - ßens am Bunde auf lange hinaus verdarb ein würdiges Vorſpiel und Vorbild für den geſammten Verlauf der Bundesgeſchichte.

Am 23. Januar 1816 erklärte ſich Hänlein bereit die Stelle anzu - nehmen. Obgleich er an den Beſtand und die ſegensreiche Wirkſamkeit des Bundestags noch keineswegs glauben wollte, ſo verließ er ſich doch auf ſeine reichen Regensburger Erfahrungen, ſowie auf die Freundſchaft des Grafen Buol, ſeines allezeit verbindlichen und vertrauensvollen Caſ - ſeler Amtsgenoſſen, und überſandte dem Staatskanzler ſogleich eine Denk - ſchrift: Was iſt von dem Deutſchen Bundestage zu Frankfurt zu erwarten? Dem Kenner der alten Reichsverfaſſung entging nicht, daß Oeſterreich, das doch nur ein halbes Intereſſe an Deutſchland nehmen könne , eine für Preußen ganz unerträgliche Führerſtellung gewonnen hatte: die neue Präſidialmacht mußte, da ſie die Geſchäfte allein leitete, am Bundestage bald ungleich mächtiger werden als vordem der Kaiſer auf dem Reichs - tage. Er hob ſodann hervor, wie durch die Bedingung der Einſtimmigkeit bei allen organiſchen Einrichtungen jede friedliche Fortbildung des Bundes verhindert werde, als ob man deſſen Leben und thätiges Wirken in der Geburt erſticken wollte. Angeſichts ſolcher Zuſtände könne das verzwei - felnde norddeutſche Volk leicht zu dem Entſchluſſe gelangen, dem preu - ßiſchen Staate durch eine Revolution die Oberherrſchaft in Deutſchland zu erringen. Um dieſe Gefahr abzuwenden, bleibe nur noch ein Mittel: die Theilung der Herrſchaft zwiſchen den beiden Großmächten. Oeſterreich nimmt die Kaiſerwürde wieder an, Preußen erhält den Titel des deutſchen Königs; dann übernehmen beide Staaten feſt verbunden und völlig gleich -137Hänleins dualiſtiſcher Plan.berechtigt, mit der Macht und dem Anſehen eines wirklichen Oberhauptes die gemeinſame Leitung des Bundes. *)Hänleins Bericht und Denkſchrift an den Staatskanzler, 23. Januar 1816.

Als Hänlein im März auf kurze Zeit nach Frankfurt kam, ward er von Buol mit offenen Armen aufgenommen und legte ſeine Denkſchrift ſofort dem treuen Freunde, nachher auch dem älteren Weſſenberg vor, der als Mitglied der Territorialcommiſſion in Frankfurt weilte. Buol er - klärte mündlich mit gewohnter Ueberſchwänglichkeit ſein herzliches Einver - ſtändniß; Weſſenberg dankte in einem verbindlichen Billet für das vor - treffliche Memoire und ſchloß: Kommen Ew. Exc. bald mit Inſtruktionen zurück, die Ihren Anſichten entſprechen, und es wird ſchon viel gewonnen ſein! Solcher Erfolge froh eilte Hänlein jetzt nach Berlin, entwickelte ſeinen großen Plan nochmals in einer ausführlicheren Denkſchrift**)Weſſenberg an Hänlein, 11. März. Hänleins Bericht und Denkſchrift an Har - denberg 24. März 1816., be - theuerte heilig, der Zuſtimmung des Wiener Hofes gewiß zu ſein. Harden - berg aber nahm die unwahrſcheinliche Verſicherung für baare Münze; den öſterreichiſchen Freunden gegenüber blieb der Vielerfahrene immer kindlich arglos, er wollte nicht glauben, daß Metternichs ſo oft wiederholte vertrau - liche Aeußerungen über die Nothwendigkeit der deutſchen Zweiherrſchaft nur leere Worte waren. Er ließ alſo durch Hänlein einen förmlichen Staatsvertrag ausarbeiten, der zwiſchen den beiden Großmächten ſofort vereinbart und dann den vertrauten kleinen Höfen als vollendete That - ſache vorgelegt werden ſollte. Da der Staatskanzler, ſeiner alten Anſicht getreu, die Beſtimmungen über den deutſchen Kaiſer - und Königstitel ſtrich, ſo beſchränkte ſich der Entwurf auf zwei Hauptforderungen: Gleichſtellung der beiden Großmächte am Bundestage, dergeſtalt, daß Oeſterreich den Vorſitz übernimmt, Preußen aber, wie vormals Kurmainz, das Protokoll führt und die Beſchlüſſe ausfertigt; ſodann Unterordnung der ganz kleinen norddeutſchen Contingente unter Preußens, der ſüddeutſchen unter Oeſter - reichs Oberbefehl. Den letzteren Vorſchlag führte eine Denkſchrift des Kriegsminiſters Boyen näher aus. Sie vermied ſorgſam jede Kränkung des Selbſtgefühls der Mittelſtaaten und verlangte nur was ſchlechthin unerläßlich war um das deutſche Bundesheer vor der baaren Anarchie zu bewahren: Mecklenburg, Kurheſſen, Anhalt, Naſſau und ein Theil der thüringiſchen Staaten ſollten ſich an Preußen anſchließen, Baden, Darm - ſtadt, Lichtenſtein an das öſterreichiſche Heer; die übrigen winzigen Con - tingente wurden theils den vier kleinen Königreichen, theils einem beſon - deren niederdeutſchen Corps zugewieſen. ***)Boyen, Gedanken über die Militär-Verfaſſung von Deutſchland.Mit dieſen Aufträgen kehrte Hänlein gegen Ende Juni nach Frankfurt zurück; ſo lange währte es bis Hardenberg inmitten der maſſenhaften Verwaltungsgeſchäfte dieſer Ueber - gangszeit einen freien Augenblick für die Bundesangelegenheiten fand.

138II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Mittlerweile hatte Graf Buol die Abweſenheit ſeines preußiſchen Amts - genoſſen geſchickt benutzt und den Samen der k. k. Bundesgeſinnung auf dem dankbaren Frankfurter Boden reichlich ausgeſtreut. Die kleinen Ge - ſandten berichteten mit Entzücken, wie herablaſſend der Oeſterreicher auf - trat: nicht einmal ein primus inter pares wollte er heißen, nur ein ser - vus servorum! Noch erfreulicher war die beglückende Gewißheit, daß Oeſterreich an eine Umgeſtaltung und Erweiterung des übereilten Ver - faſſungswerkes nicht im Entfernteſten dachte. Die Bundesakte iſt wie die Bibel, meinte Buol, man darf ſie nur auslegen, nie verändern. Der ba - diſche Geſandte Berſtett, ein behäbiger Herr, der ſich aus dem Frankfurter Frohndienſte oftmals nach Paris und dem üppigen Tiſche der Frères Pro - vençaux zurückſehnte, ſchrieb befriedigt nach Hauſe: Niemand wagt mehr an dies Meiſterwerk zu rühren; die Bundesakte wird als ein Heiligthum betrachtet, namentlich von den kleineren Staaten. *)Berſtetts Berichte 16., 18. December 1815.Mehrere der Mittel - ſtaaten zeigten ſich von Haus aus entſchloſſen, dem Bundestage niemals eine ernſthafte Wirkſamkeit zu geſtatten. Der König von Württemberg er - klärte jetzt nachträglich ſeinen Beitritt zum Bunde mit der ausdrücklichen Bemerkung, die letzte Hälfte der Bundesakte ſcheine für den Zweck des Bundes nicht erforderlich. Aehnliche Geſinnungen hegte der heſſiſche Kur - fürſt; ihn vertrat in Frankfurt ſein Günſtling Buderus von Carlshauſen, ein anrüchiger Geizhals, der ſich das Vertrauen ſeines Herrn durch kunſt - volle Ausnutzung der Heller-Brüche in den Rechnungen der kurfürſtlichen Kriegskaſſe erworben hatte. Auch von den meiſten andern Geſandten konnte Berſtett mit Genugthuung melden, ſie ſeien alleſammt darin einig, nicht einmal den Schein eines gefährlichen Einfluſſes zu dulden; wenn Oeſter - reich und Preußen mit Plänen für das Bundesheerweſen hervorträten, ſo ſolle man nur ſogleich irgend ein Gegenprojekt aufſtellen, denn deſſen Unausführbarkeit muß erſt bewieſen werden, bevor man es verwerfen kann . **)Berſtetts Bericht 12. November 1816.Niemand aber verſtand die Gedanken des verſtockten Particula - rismus ſo urkräftig auszuſprechen wie der naſſauiſche Geſandte Freiherr v. Marſchall; der ſchaltete daheim als allmächtiger Miniſter mit rhein - bündiſcher Beamtenwillkür und kam gelegentlich auf ſeinen Frankfurter Poſten herüber um die ſchwachen Gemüther durch ſein despotiſches Ge - bahren und plumpes Schelten wider die deutſchthümelnden Demagogen aufzurichten.

Die Hintergedanken dieſer Höfe verriethen ſich ſogleich, als man er - fuhr, daß England und Rußland beabſichtigten, ihre bei der Territorial - commiſſion beſchäftigten Diplomaten als Geſandte beim Bundestage zu beglaubigen. Alle Welt wußte, daß dieſer Bund ohne Haupt keine auswär - tige Politik treiben, höchſtens in Nothfällen einmal einen Geſandten in139Die Particulariſten am Bundestage.das Ausland ſenden konnte; ſollte er gleichwohl die regelmäßige Anweſen - heit fremder Diplomaten ertragen? Unterdeſſen war bereits Graf Rein - hard als franzöſiſcher Geſandter bei dem noch uneröffneten Bundestage eingetroffen. Der geiſtreiche Deutſch-Franzoſe zählte zu jenen ſeltſamen, aus Idealismus und halb unbewußter Verlogenheit gemiſchten Charakteren, wie ſie das heimathloſe Leben der alten deutſchen Kleinſtaaterei ſo häufig erzog. Im Grunde des Herzens blieb er immer der gelehrte ſchwäbiſche Theolog und folgte mit freudigem Verſtändniß den kühnen Flügen des deutſchen Genius; er glaubte wirklich als ein guter Deutſcher zu handeln, da er einſt im Dienſte Napoleons die Rheinbundsſtaaten überwachte, und trug jetzt wieder kein Bedenken, im Namen des Allerchriſtlichen Königs gegen das ſiegreiche Deutſchland eine Sprache zu führen, die an die Zeiten Ludwigs XIV. erinnerte. In einer an die Bundestagsgeſandten ver - theilten Denkſchrift fragte er höhniſch: ob der Deutſche Bund etwa auf alle auswärtigen Beziehungen verzichten wolle, wie einſt die Türkei oder der Convent unter Robespierre? Welch ein unbilliges Vorrecht für die fremden Mächte Oeſterreich, Preußen, England, Niederland, Dänemark, wenn ſie am Bundestage vertreten ſein ſollten und die übrigen Mächte nicht! Ein deutſcher Bund ohne regelmäßigen Verkehr mit dem Aus - lande wäre nichts anders als ein neuer Rheinbund, da dann Deutſchlands auswärtige Politik allein in Wien und Berlin entſchieden werden müßte. Die Anweſenheit der fremden Geſandten in Frankfurt wird dazu bei - tragen, daß der Bund in dem wahren Geiſte der Bundesakte gehandhabt wird. Zuletzt forderte Reinhard ſeine Zulaſſung kurzweg als ein Recht; denn ſollte man in Frankfurt dereinſt beſchließen die Bundesakte durch eine beſſere Ordnung der Dinge zu erſetzen , ſo wären alle europäiſchen Mächte befugt bei dieſer Aenderung der Wiener Verträge mitzuwirken!

Der Franzoſe wußte wohl, was er ſich gegen die kleinen deutſchen Fürſten erlauben durfte; ſie alle fanden die Forderung des Tuilerienhofes ſelbſtverſtändlich. Der badiſche Miniſter v. Hacke ſchrieb ſofort an Berſtett: die Geſandten von Frankreich, Rußland und England müſſen durchaus in Frankfurt bleiben, da dieſe Mächte immer ein Schutz und eine Stütze für die deutſchen Souveräne gegen Oeſterreich und Preußen ſind . *)Reinhard, mémoire sur les légations à Francfort. Hacke, Weiſung an Ber - ſtett, 6. März 1816.Was der badiſche Hof in einer geheimen Inſtruktion verbarg, das ſprach Aretin in ſeiner Alemannia offen aus. Auch der Gießener Statiſtiker Crome, ein alter Bonapartiſt, der jetzt den Mantel des deutſchen Patrioten um - hing, erwies in ſeiner Schrift Deutſchlands und Europas Staats - und Nationalintereſſe : die Einheit Europas und Deutſchlands erſcheine dann erſt geſichert, wenn jede europäiſche Macht von Rechtswegen bei dem deut - ſchen Bundestage mitreden könne!

140II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Nur der Berliner Hof trat den Anſprüchen des Auslandes entſchieden entgegen und ſtellte jetzt ſchon eine, leider keineswegs unanfechtbare, Rechts - anſicht auf, welcher Preußen ſeitdem immer treu geblieben iſt: die Be - hauptung nämlich, daß die europäiſchen Mächte, als ſie die erſten Artikel der Bundesakte in die Wiener Schlußakte aufnahmen, zwar den Beſtand des Deutſchen Bundes anerkannt, doch mit nichten eine Bürgſchaft für ſeine Verfaſſung übernommen hätten. Schon im Februar erinnerte eine preußiſche Denkſchrift an die troſtloſen letzten Regensburger Erfahrungen: der Deutſche Bund ſei nun einmal nur ein Staatenbund ohne wirkliche Cen - tralgewalt; das Leben dieſes Bundes als ſolchen muß gegen das Ausland in dem Begriff von Ruhe liegen. Dem Wiener Hofe ſtellte Hardenberg dringend vor: ſtehende auswärtige Geſandtſchaften könnten bei einer ſolchen Bundesverſammlung nur gefährliche Einmiſchungsverſuche hervorrufen. *)Hardenberg, Denkſchrift über die fremden Geſandtſchaften, Februar 1816. Wei - ſung an Kruſemark 11. Mai 1816.Aber Czar Alexander ſtand auf Frankreichs Seite und ließ, um die Be - ſorgniſſe des preußiſchen Hofes zu beſchwichtigen, die oſtenſible Weiſung, welche dem Geſandten Anſtett nach Frankfurt geſchickt wurde, in Berlin vorlegen. Sie lautete kindlich unſchuldig: Als Miniſter des Kaiſers haben Sie keine Meinung über die inneren Angelegenheiten des Deutſchen Bun - des. Es iſt nützlich, es iſt nothwendig, daß Sie auch perſönlich keine Mei - nung darüber haben. Der Kaiſer wünſcht es. **)Miniſterialſchreiben an Anſtett, Petersburg 9. Auguſt 1816.Damit war die voll - kommene Harmloſigkeit der auswärtigen Geſandtſchaften für die Patrioten des Bundestags erwieſen. Es ließ ſich jetzt ſchon vorherſehen, daß Preu - ßens Widerſpruch erfolglos bleiben und der Bundestag auch in der aus - wärtigen Politik der würdige Erbe des Regensburger Reichstages werden ſollte: ſelber unvertreten im Auslande und dem geheimen Ränkeſpiele der fremden Mächte wehrlos ausgeſetzt.

Neben jenen Vertretern des ungeſchminkten Particularismus hatte ſich auch eine lange Reihe wohlmeinender, patriotiſcher Staatsmänner aus den kleinen Staaten eingefunden: ſo die Hanſeaten Smidt und Hach, der Mecklenburger Pleſſen, der ſchon von Wien her als ein ſachkundiger und redlicher Geſchäftsmann bekannt war, der Holſteiner Eyben und, nicht zu - letzt, der unvermeidliche Gagern. Wie glückſelig fühlte ſich der Raſtloſe in dieſen erſten Monaten, da noch keine Geſchäfte vorlagen und Jeder noch nach Belieben dem ungeborenen Bundestage den Weg zur Hölle mit guten Vorſätzen pflaſtern konnte! Mit gewohnter Selbſtgefälligkeit legte er, ungeſchreckt durch die kühlen Erwiderungen, den Wiener und den Ber - liner Staatsmännern die endloſe Liſte ſeiner Wünſche vor. Peſt, Skla - verei, Judenthum, Fanatismus, Handelsſperre, Coloniſation, Literatur, Künſte und Handwerke, Lob unſerer großen Männer alle dieſe und141Die ehrlichen Foederaliſten.unzählige andere Angelegenheiten ſollten den Bundestag beſchäftigen, auf deſſen Tiſche der entzückte Luxemburger ſchon Krone und Scepter liegen ſah. *)Gagern an Metternich und Hardenberg, 3. Mai. Hardenbergs Antwort 18. Juni 1816.Aber auch die Ruhigen in dieſem kleinſtaatlichen Kreiſe erfüllte ein unermeßlicher Dünkel. Der alte Wahn der deutſchen Libertät ſchmückte ſich mit neuen Federn. Durch die ſchrankenloſe Souveränität waren Lippe, Lübeck und Preußen einander völlig gleichgeſtellt; kein Zweifel alſo, daß dies Nebeneinander von neununddreißig vollkommen gleichen und vollkommen ſelbſtändigen Staaten ganz von ſelbſt, allein durch die Wunderkraft der Einigkeit, eine großartige politiſche Wirkſamkeit entfalten mußte, wenn man nur jedem einzelnen Bundesgliede ſorgſam verbot einen gefährlichen über - mächtigen Einfluß auszuüben!

Selbſt der nüchterne Republikaner Smidt, der in allen Angelegen - heiten ſeines geliebten Bremens ſtets den ſicheren und weiten Blick des echten Staatsmannes bewährte, ſelbſt dieſer bedeutendſte Kopf der Frank - furter Verſammlung lebte ſich bald ein in die Traumwelt des Foederalismus und ſetzte den redlichen patriotiſchen Eifer, der ihn ſelber beſeelte, arglos auch bei ſeinen Genoſſen voraus. Wie herrlich, daß nunmehr ganz Deutſch - land eine große Staatenrepublik bildete und die Souveränität von den Einzelnen ausging! Nur ſollten dieſe ſouveränen Einzelnen auch nach re - publikaniſcher Art durchaus als Gleiche behandelt werden; denn warum konnte nicht auch in Deutſchland das Heil ſo gut von Nazareth wie von Jeruſalem kommen ? Die ſouveränen Hanſeſtädte mußten endlich aus der Roture heraus , ſie durften ſich nicht mehr mit ſo beſcheidenen Um - gangsformen begnügen, wie einſt da ſie noch den kaiſerlichen Adler auf ihren Münzen führten; das ging doch nimmermehr an, daß der olden - burgiſche Nachbar einen Hohen Bremer Senat auch fürderhin im Reſcrip - tenſtile mit ſeinem unehrerbietigen Wir Peter anredete! Der Hoffnungs - volle ſah in dieſem Bunde der Gleichen das Mittel die deutſchen Groß - mächte zur Gerechtigkeit zu erziehen und behauptete: große Staaten bringen Kraft und Stärke in den Bund, die kleineren Liebe zur Gerechtigkeit und Conſtitutionsfähigkeit. Doch hütete er ſich wohl, näher anzugeben, warum Mecklenburg conſtitutionsfähiger war als Preußen? und welche Art von Gerechtigkeit der König von Preußen bei dem heſſiſchen Kurfüſten, dem hannoverſchen Prinzregenten oder dem württembergiſchen Könige lernen ſollte?

Ihren literariſchen Widerhall fanden die Meinungen dieſer wohlge - ſinnten Foederaliſten in der Schrift von Heeren Der Deutſche Bund in ſeinem Verhältniß zu dem europäiſchen Staatenſyſteme . Der Göttinger Hiſtoriker, ein achtungswerther Vertreter der alten, dem Leben entfrem - deten Stubengelehrſamkeit, hatte ſich kürzlich eine Weile in Frankfurt auf - gehalten, mit Smidt und den anderen Bundesgeſandten viel verkehrt und142II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.entwarf nun ein bezauberndes Bild von der großen Zukunft des Deutſchen Bundes, das freilich in der verſtimmten Nation nur noch wenige Gläu - bige fand. Soeben erſt war ein Menſchenalter voll Blut und Gräueln über die Welt dahin gegangen, weil Deutſchland in ſeiner Zerſplitterung ſich nicht vertheidigen konnte. Und Angeſichts ſolcher Erfahrungen erklärte Heeren wieder, faſt mit den nämlichen Worten wie einſt Johannes Müller zur Zeit des Fürſtenbundes: die Freiheit Europas beruhe auf der lockeren Ordnung Deutſchlands, denn welche fremde Macht könnte ſich ihres Be - ſitzes ruhig freuen, wenn Deutſchland zu einer großen Monarchie ver - einigt wäre? Auch die Buntheit unſerer inneren Zuſtände fand er ſehr heilſam; wenn der Deutſche auch Proben einer anderen Staatsordnung ſtets vor Augen habe, ſo bleibe er vor einſeitiger Beſchränktheit bewahrt. Dieſe reichhaltige, für die Profeſſoren des Staatsrechts allerdings unſchätz - bare, politiſche Naturalienſammlung mußte aber dies ſchien dem Göt - tinger gar keines Beweiſes zu bedürfen von allen großen Mächten als die gebietende Centralmacht des Welttheils, als der Friedensſtaat von Europa anerkannt werden; noch eine kurze Friſt, und Frankfurt ward, wie einſt der Haag, der Mittelpunkt des Staatenſyſtems , der Bundes - tag erweiterte ſich zu einem europäiſchen Senate!

In der That hatte ſich ſchon jetzt an den großen Höfen eine be - ſtimmte Meinung über die Frankfurter Verſammlung ausgebildet; nur lautete ſie minder ſchmeichelhaft als Heeren wähnte. Der Bundestag galt bereits, wie ſeitdem immer bis zu ſeiner Auflöſung, als die große Börſe für den ſubalternen diplomatiſchen Klatſch Europas. Seit vielen Monaten trieb ſich dieſer Schwarm von kleinen Diplomaten beſchäftigungslos in Frankfurt umher. Was blieb den Armen zu thun als kleine Kabalen zu ſchmieden, Geſchichten umherzutragen und die Bevollmächtigten des Vierbundes, die in der großen Territorialcommiſſion beſchäftigt waren, Weſſenberg, Hum - boldt, Clancarty und Anſtett, wetteifernd auszuhorchen? Wer in dieſem ge - ſchäftigen Müßiggange obenauf bleiben wollte, mußte ſich durch pikante Neuigkeiten oder durch ausgeſuchte Tafelgenüſſe unentbehrlich machen; wie oft hat der Bremer Senat dem getreuen Smidt eine Spende aus ſeinem weltberühmten Rathskeller geſendet, damit Graf Buol die Schildkröten, die Neunaugen und die anderen Herrlichkeiten des hanſeatiſchen Tiſches um ſo ſchmackhafter fände. Von den Geheimniſſen der großen Höfe er - fuhren die Kleinen freilich ſo wenig, daß ihnen ſelbſt der wirkliche Sach - verhalt der unglücklichen Unternehmung Hänleins immer verborgen blieb.

Um ſo üppiger blühte die Mythenbildung, und ſie richtete unaus - bleiblich ihre Spitze gegen den Staat, der mit ſeinem Volksheere und ſeinem leuchtenden kriegeriſchen Ruhme Allen als der geborene Todfeind der neu hergeſtellten Regensburger Herrlichkeit erſchien. Zudem verſtand Humboldt unter allen den Geſandten der vier Mächte am Wenigſten, die Eitelkeit der kleinen Diplomaten zu ſchonen; nur zu oft ließ er ſie ſeine Ueber -143Hänleins Sturz.legenheit durch ſchneidende Sarkasmen und abweiſende Kälte empfinden. Die meiſten ſtanden vor ihm mit ähnlichen Gefühlen wie der Hund vor einem Glaſe Wein. Man wußte, daß Humboldt das Miniſterium des Auswärtigen zu übernehmen hoffte, aber bei Hardenbergs unverſöhnlichem Mißtrauen ſeinen Wunſch nicht durchſetzen konnte. Natürlich, daß die rein perſönliche Gegnerſchaft der beiden Staatsmänner ſofort als politiſche Feind - ſchaft gedeutet und Humboldt als der geheime Führer der preußiſchen Um - ſturzpartei verrufen wurde. Keine radikale Tollheit, die man ihm nicht zutraute. Die Diplomaten in Weſſenbergs Hauſe wußten ganz ſicher, daß Preußen einen Krieg auf Leben und Tod gegen die Mittelſtaaten vorbereitete; ſchon habe Humboldt einen Verfaſſungsplan von beiſpiel - loſer Liberalität ausgearbeitet; ſobald Blücher nach Berlin zurückkomme, wolle dieſe exaltirte Armee dem Könige eine Bittſchrift überreichen und fordern, daß das Heer, wie einſt Cromwells Dragoner, durch Armeede - putirte in dem preußiſchen Reichstage vertreten werde. *)Berſtetts Berichte 16. December 1815, 6. März 1816.Mit Begierde verſchlangen die Bundesgeſandten einen Brief, welchen der liberale würt - tembergiſche Miniſter Wangenheim zur Empfehlung ſeines Verfaſſungsent - wurfs an ſeinen König gerichtet und ſofort veröffentlicht hatte. Darin ward Preußen als ein durch Geheimbünde völlig zerrütteter Staat geſchildert und dann dem Stuttgarter Despoten die Lockung vorgehalten: wenn in Preußen eine Revolution ausbräche und zugleich im Süden ein deutſcher Staat mit einer freien Verfaſſung beſtände, ſo wäre ein Umſchwung der Dinge mög - lich, wie ihn die kühnſte Phantaſie kaum erſinnen könnte!

So war die Stimmung am Bundestage, als Hänlein mit ſeinen vertraulichen Aufträgen zurückkehrte. Graf Buol beſaß ein unfehlbares Mittel um die preußiſchen Vorſchläge ſofort zu beſeitigen; er brauchte ſie nur den kleinen Genoſſen mitzutheilen und er ſtand nicht an dieſe Waffe zu gebrauchen. Der zärtliche Freund, der im Winter der erſten Anfrage ſo freundlich entgegengekommen war, nahm jetzt, wie Hänlein klagte, die neue Eröffnung ſehr tragiſch auf (30. Juni); er hielt ſich verpflichtet ſo - gleich mit den andern Geſandten Rückſprache zu nehmen und zwang da - durch den Preußen, auch ſeinerſeits das Geheimniß zu brechen. Der Er - folg war augenblicklich und vollkommen. Ein Aufſchrei der Entrüſtung ging durch den geſammten Bundestag. Wie, dieſer revolutionäre Staat unterſtand ſich, die kaum erſt abgeſchloſſene Bundesakte, die Bibel Buols, anzutaſten und forderte ſogar den Oberbefehl über die Kriegsmacht einiger Souveräne! Jedermann überhäufte den ungeſchickteſten aller preußiſchen Diplomaten mit Vorwürfen; ſelbſt der ruhige Pleſſen ſagte ihm in’s Ge - ſicht: der Bund kann auch ohne Preußen beſtehen. Der Staatskanzler war auf das Peinlichſte überraſcht, als er in Karlsbad von dieſen Frank - furter Auftritten hörte und gleichzeitig unmittelbar aus Wien erfuhr, daß144II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Metternich die preußiſchen Vorſchläge nicht annehmen wollte. Was blieb übrig als den begangenen Fehler, an dem Hardenbergs Leichtgläubigkeit kaum weniger Schuld trug, als Hänleins Ungeſchick, ſogleich zurückzu - nehmen? Am 9. Auguſt wurde Hänlein abberufen. Sein erzürnter Chef warf ihm vor, daß er durch irrige Berichte ſeinen Hof zu falſchen Schritten verleitet und dann durch öffentliche Behandlung der Sache ein höchſt nach - theiliges Aufſehen erregt habe: der gute Erfolg des Bundes hängt von dem vollkommenſten Einverſtändniß zwiſchen Preußen und Oeſterreich ab; Nie - mand darf eine Divergenz der Meinungen zwiſchen beiden für das Wohl Europas und Deutſchlands eng verbündeten Höfen auch nur ahnen. *)Hänleins Bericht 2. Juli. Hardenbergs Antwort 9. Auguſt. Berſtetts Bericht 1. Juli 1816.Gleichzeitig ward Humboldt mit der vorläufigen Vertretung der Bundes - geſandtſchaft beauftragt, und ihm gelang durch entſchloſſene Haltung das erſchütterte Anſehen Preußens ſo weit wieder herzuſtellen, daß Graf Buol in den vorbereitenden Sitzungen des Bundestages keinen Schritt ohne ſeine Zuſtimmung wagte. Aber die böſen Folgen der erlittenen Nieder - lage wirkten lange nach. Preußen und das ländergierige Baiern wurden noch drei Jahre lang allgemein als die ehrgeizigen Störenfriede des Bun - des beargwöhnt; von einer preußiſchen Partei, die doch in Regensburg niemals ganz gefehlt hatte, war in Frankfurt vorderhand keine Spur zu finden, und der Einfluß der norddeutſchen Großmacht auf die Bundes - verhandlungen blieb ſo beſcheiden, daß die ſüddeutſchen Staatsmänner ſpä - terhin dieſe erſten Jahre als die goldene Zeit des Bundestages zu be - zeichnen pflegten. **)So Blittersdorff in ſeiner Denkſchrift über die Bundespolitik v. 18. Febr. 1822.

Humboldt aber bildete ſich ſchon aus den Erfahrungen dieſer erſten Wochen eine hoffnungsloſe, und leider vollkommen richtige Anſicht von dem Deutſchen Bunde und entwickelte ſie in einer großen Denkſchrift vom 30. September 1816, welche nachher der Inſtruktion des preußiſchen Bun - desgeſandten zu Grunde gelegt wurde. ***)Veröffentlicht von C. Rößler, Zeitſchrift für preußiſche Geſchichte 1872.Hier ward das höchſt unförm - liche, auf Nichts mit einiger Sicherheit ruhende Gebäude der Bundes - verfaſſung draſtiſch geſchildert, dazu die ungeheure Erſchwerung aller Beſchlüſſe, alſo daß man kaum begreift, wie über einige Punkte ein Be - ſchluß möglich ſei . Daraus folgt, daß Preußen zwar mit Oeſterreich ein gutes Verſtändniß bewahren, aber ſich begnügen muß, am Bundestage nur eine allgemeine Sprache zu führen. Die wirkliche Ausführung gemein - nütziger Inſtitutionen läßt ſich nur erreichen in dem einzelnen Verkehre mit den deutſchen Staaten ſelbſt. Es muß in der Politik Preußens liegen, dieſe Nachbarſtaaten in ſein politiſches und ſelbſt adminiſtratives Syſtem bis zu einem gewiſſen Punkt zu verweben. Das ganze Programm der preußiſchen Bundespolitik lag in dieſen Worten. Noch bevor der Bundestag145Humboldts Denkſchrift über den Deutſchen Bund.in’s Leben getreten war ſprach Humboldt aus, was die Erfahrung eines halben Jahrhunderts beſtätigen ſollte: daß in Frankfurt nur die Phraſe der deutſchen Politik gedeihen konnte, alle Geſchäfte der nationalen Staats - kunſt von Berlin aus durch Verhandlungen mit den Einzelſtaaten betrieben werden mußten.

Am 5. Novbr. 1816 wurde die Bundesverſammlung endlich eröffnet. Nach Hänleins Niederlage hatte Buol ſchon in den vorbereitenden Sitzungen die geſammte formelle Leitung ohne Widerſpruch an ſich genommen. Die Führung des Protokolls ward, auf Humboldts Verlangen, nicht dem eitlen Friedrich Schlegel anvertraut, der ſchon auf dem Wiener Congreſſe durch ſeinen clericalen Eifer und durch ſeine Knittelverſe wider die Nord - und Morddeutſchen den Zorn der Preußen erregt hatte, ſondern einem harm - loſen k. k. Hofrath v. Handel, deſſen entſetzliches Deutſch den dürftigen Inhalt der Verhandlungen noch lächerlicher erſcheinen ließ. Der hohe Rath der deutſchen Nation verſammelte ſich in dem Thurn - und Taxis’ſchen Palaſte auf der Eſchenheimer Gaſſe, wo die k. k. Geſandtſchaft zur Miethe wohnte, und blieb fortan durch ein halbes Jahrhundert der beſcheidene Miether des Taxis’ſchen Fürſtenhauſes. Da die Mittelſtaaten von dem Wiederaufleben des alten Reichsadlers nichts hören wollten, ſo trugen die veröffentlichten Protokolle auf ihrem Titelblatte das öſterreichiſche Wappen mit der Umſchrift Kaiſerlich Oeſterreichiſche Bundeskanzley . Es ſchien, als tage hier wirklich nur eine k. k. Provinzialbehörde. Die Präſidialmacht verſchuldete auch, daß beim Anbruch dieſer neuen Epoche deutſcher Geſchichte nicht einmal der Segen Gottes angerufen wurde. Buol weigerte ſich an einem evangeliſchen Gottesdienſte theilzunehmen, er verlangte ein Hochamt in dem alten Kaiſerdome, obgleich fünf Sechſtel der Souveräne des neuen Deutſchlands proteſtantiſch waren, und wollte dann ſtatt der unterbliebenen kirchlichen Feier eine Feſtvorſtellung im Theater veranſtalten, was Hum - boldts guter Takt noch glücklich vereitelte.

Als die Mitglieder des Bundestags alleſammt, von der Wache mit präſentirtem Gewehr und geſchwenkter Fahne begrüßt, vor dem k. k. Ge - ſandtſchaftshotel vorgefahren waren, las Graf Buol eine Rede ab, deren ſinnloſer Wortſchwall gebildeten Hörern geradezu als eine Beleidigung erſcheinen mußte: ſie zeigte anſchaulich, welcher Barbarei herz - und ideen - loſe Politiker verfallen, ſobald ſie verſuchen pathetiſch zu werden. Der Vortrag war dem Geſandten von Metternich ſelbſt zugeſchickt worden, der es nicht der Mühe werth gehalten hatte die claſſiſche Feder ſeines Gentz zu benutzen; Buol ſelbſt fand ihn unpaſſend und verlas aus Schonung nur einen Theil. *)Humboldts Berichte 1. und 8. November 1816.Hohlere Phraſen hatten doch ſelbſt die unreifſten teu - toniſchen Studenten noch nie gebraucht, als hier der Wiener Hof, da er anhub: Im Deutſchen als Menſchen, auch ohne alle willkürlichen Staats -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 10146II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.formen, liegt ſchon das Gepräge und der Grundcharakter deſſelben als Volk. Das Nationalbedürfniß ſei die Schöpferin und der Leitſtern bei allen nationellen Formen, und alsdann geht man verbürgt zum wahren, zum höchſten Ziel! Die Rede ſchilderte darauf den Verfall Deutſchlands während der letzten Jahrhunderte: ich fahre fort den Weg zu verfolgen, wohin mich der berührte neigende Gipfel geſchwächter Nationalität führt. Sie rühmte darauf, Dank dem Deutſchen Bunde erſcheine Deutſchland jetzt wieder als Macht in der Reihe der Völker. In dieſer Art halten wir uns feſt auf dem Gipfel, wo ein großes Volk in der Mannichfaltigkeit ſeiner bürgerlichen Formen der großen Beſtimmung der Menſchheit und ſeiner Entwickelung frei entgegengeht, zugleich aber ein einziges Ganzes in nationeller Beziehung ausmacht! Zum Schluß betheuerte der Ge - ſandte inbrünſtig die Deutſchheit ſeiner Geſinnungen ; er verſicherte noch - mals, ſein Kaiſer betrachte ſich als vollkommen gleiches Bundesglied , und erinnerte mit einem freundſchaftlichen Seitenhiebe gegen Preußen, der ſogleich von allen Seiten verſtanden wurde an jene glückliche, zum gegenſeitigen Vertrauen berechtigende Lage, daß Oeſterreich auf deutſchem Boden ebenſowenig eine Eroberung als eine eigenmächtige Erweiterung ſeines Standpunktes im Deutſchen Bunde beabſichtigen will oder auch nur beabſichtigen kann !

Hierauf erwiderte Humboldt kurz und würdig. Die meiſten anderen Geſandten empfahlen ſich lediglich der Gewogenheit der Anweſenden oder ſie ſprachen die kühne Hoffnung aus, daß der heutige Tag ſchon über’s Jahr und bis in ſpäte Zeiten den für das Geſammtvaterland erfreulichſten möge beigezählt werden . Nur Gagern konnte ſich nicht enthalten, in längerer Rede die deutſche Geſinnung des oraniſchen Hauſes zu feiern und zu verſprechen, daß Luxemburg immerdar der natürliche Vermittler in Deutſchland ſein werde. Auch hielt er für angemeſſen, in dieſem er - lauchten deutſchen Senate, faſt nach Art jenes merkwürdigen alten Volkes, ein Todtengericht zu halten ; ſo ſprach er denn in ſchwungvollen Worten von dem Fürſten von Naſſau-Weilburg, von den für Deutſchland gefallenen Welfen und damit man mir nicht vorwerfe, daß ich der Fürſtlichkeit allein huldige , auch von Andreas Hofer und Palm. Zum Schluſſe rief er be - geiſtert ſein unvermeidliches: Je maintiendray! Es war eine unbe - ſchreiblich abgeſchmackte Feier, die würdige Eröffnung eines politiſchen Poſſen - ſpiels, von dem ſich bald die geſammte Nation mit Abſcheu abwenden ſollte.

Sechs Tage nachher hielt Graf Buol ſeinen erſten Präſidialvortrag und zählte pathetiſch alle die Wohlthaten auf, welche den Deutſchen aus der Verwirklichung der unbeſtimmten Zuſagen der Bundesakte erwachſen könnten. Von dem Artikel 19, der die Regelung der nationalen Verkehrs - verhältniſſe verſprach, rühmte der Oeſterreicher in ſeinem wunderbaren Deutſch: dieſer Artikel bezweckt, die deutſchen Bundesſtaaten ſelbſt in Hin - ſicht des Handels und Verkehrs ſowie der Schifffahrt einander zu ent -147Erſte Sitzungen des Bundestages.fremden ein unfreiwilliger Seherſpruch, der ſich vollſtändig verwirk - lichen ſollte. Politiſch bedeutſam war an den leeren Worten nur die be - ſtimmte Erklärung: der Deutſche Bund ſei kein Bundesſtaat, ſondern ein Staatenbund; denn Erſteres würde dem unaufhaltbar nach höheren Rich - tungen rollenden Laufe der Zeit widerſtreiten ! Die Schlagwörter: Staa - tenbund und Bundesſtaat begannen eben jetzt in der Preſſe aufzutauchen, ohne daß man noch einen beſtimmten ſtaatsrechtlichen Sinn damit ver - bunden hätte. Wie weit war doch die politiſche Bildung der Nation hinter dem Aufſchwung der anderen Wiſſenſchaften zurückgeblieben! Ueber die Grundlagen des öffentlichen Rechts der Foederativſtaaten hatte faſt noch Nie - mand ernſtlich nachgedacht; das claſſiſche Buch der Amerikaner, das ſchon vor einem Menſchenalter dieſe Fragen geiſtvoll und ſachkundig beleuchtet hatte, der Foederaliſt von Hamilton, Madiſon und Jay, blieb in dem gelehrten Deutſch - land ſo gut wie unbekannt. Selbſt der wackere freimüthige J. L. Klüber, der alsbald nach dem Zuſammentritt des Bundestages ſein Oeffentliches Recht des Deutſchen Bundes erſcheinen ließ, wußte über den politiſchen Charakter der verſchiedenen Formen des bündiſchen Lebens wenig zu ſagen. Man dachte ſich unter dem Bundesſtaate irgend eine ſtarke, hochange - ſehene Bundesgewalt, die dem deutſchen Namen zur Ehre gereichen ſollte; die jungen Teutonen ſtimmten ihrem Lehrer Fries begeiſtert zu, als er in ſeiner Schrift Vom Deutſchen Bunde und deutſcher Staatsverfaſſung mit der Dreiſtigkeit des wohlmeinenden Dilettanten kurzerhand ausſprach: wir wünſchen keinen ſchlaffen Staatenbund, ſondern einen feſt vereinigten Bundesſtaat. Allen ſolchen unbeſtimmten Wünſchen trat der öſterreichiſche Geſandte jetzt offen entgegen, und er hatte Sinn und Wortlaut der Bun - desakte auf ſeiner Seite. Da für jede Abänderung der Bundesakte Ein - ſtimmigkeit erfordert wurde, ſo war die Weiterbildung der Bundesverfaſſung von Haus aus unmöglich, und bereits vor der Eröffnung des Bundes - tages begannen die Geſandten, die guten wie die ſchlechten, im Stillen einzuſehen, daß ſogar die Abfaſſung der Grundgeſetze des Bundes, welche nach Art. 10 der Bundesakte das erſte Geſchäft des Bundestages ſein ſollte, an dieſer Klippe nothwendig ſcheitern mußte.

Schon nach der erſten Sitzung verließ Humboldt den Bundestag und begab ſich tief verſtimmt erſt nach Berlin zu den Sitzungen des Staatsraths, dann als Geſandter nach London; der Pariſer Poſten, den er ſich gewünſcht, mußte ihm verſagt werden, da der ſcharfe Preuße ſeit dem letzten Congreſſe bei den Bourbonen in üblem Rufe ſtand. An ſeine Stelle trat in Frankfurt der Miniſter Graf v. d. Goltz, derſelbe der im Frühjahr 1813 an der Spitze jener unglücklichen Berliner Regie - rungscommiſſion geſtanden hatte, ein pflichtgetreuer Beamter, freundlich und gutmüthig, aber aller ſelbſtändigen Gedanken baar. Die Wahl be - wies, wie wenig Hardenberg von der Scheinthätigkeit der Frankfurter Ver - ſammlung erwartete. Der perſönliche Verkehr zwiſchen den Geſandten10*148II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.der beiden Großmächte bewegte ſich ſtets in den verbindlichſten Formen, ſie theilten ſich ſogar wechſelſeitig ihre Inſtruktionen mit. *)Oeſterreichiſche Inſtruktion v. 24. Oktober, Preußiſche v. 30. November 1816.Dabei zeigte ſich freilich, wie weit die Abſichten der beiden Höfe in zwei weſentlichen Fragen auseinandergingen. In der öſterreichiſchen Inſtruktion wurde die Bundesakte kurzab für heilig und unverletzlich erklärt; Hardenberg dagegen bedauerte lebhaft, daß es in Wien nicht gelungen ſei dem Bunde mehr die Natur eines Bundesſtaates zuzueignen , und erbot ſich zu jeder noch möglichen Reform. Und während Graf Buol den kleinen Geſandten, auf Metternichs Befehl, betheuerte, ſein Hof werde ſich in Bundesangelegen - heiten niemals auf Sonderverhandlungen einlaſſen, wiederholte der preu - ßiſche Staatskanzler ſeinem Wiener Freunde unabläſſig: nur durch unmittel - bare Verſtändigung zwiſchen Oeſterreich und Preußen könne der Bund zur Conſiſtenz gelangen und der Parteigeiſt vernichtet werden . **)Metternich an Buol 2. Auguſt. Hardenberg an Metternich 30. Novbr. 1816.

Dieſe geheime Meinungsverſchiedenheit zwiſchen den beiden führenden Höfen ward zunächſt noch wenig bemerkbar, da die Thätigkeit der Bundes - verſammlung lange Zeit faſt gänzlich in der Erledigung von Penſionsan - ſprüchen und anderen Privat-Angelegenheiten aufging. Eine Fluth von Bitten und Beſchwerden überſchwemmte den Bundestag; alle die Unglück - lichen, welche die wilde Kriegszeit in ihren Rechten gekränkt hatte, ſuchten Hilfe in Frankfurt. Da kamen die Biſchöfe und Geiſtlichen vom linken Rheinufer und forderten ihre Penſionen auf Grund des Reichsdeputations - hauptſchluſſes; desgleichen die Herren vom Deutſchen Orden und die Mit - glieder der aufgelöſten Domkapitel; alsdann die Advocaten und Procura - toren des Reichskammergerichts; dann Joſeph Fahrenkopf in Mainz, der im Jahre 1796 für die Reichsfeſtung Mainz unbezahlte Bauarbeiten ge - liefert hatte, und mit ihm eine ganze Schaar von Gläubigern der letzten Reichsoperationskaſſe, jener böſen Zahlerin, die während des Revolutions - krieges niemals aus der Geldnoth herausgekommen war; dann die Be - ſitzer der kurpfälziſchen Obligationen Lit. D., eines berüchtigten Staats - papiers, über deſſen Verzinſung Baiern und Baden, die Rechtsnachfolger von Kurpfalz, ſich ein Menſchenalter hindurch in grimmigen Noten ſtritten; und ſo weiter eine unendliche Reihe von Bittſtellern, bis herab zu kleinen Handwerkern, denen ihre durchlauchtigen Landesherren die Bezahlung ihrer Schuſterrechnungen hartnäckig vorenthielten.

Mit löblichem Eifer nahm ſich der Bundestag dieſes Jammers an. Aber wie konnte eine Diplomatenverſammlung alle die verwickelten Rechts - fragen, die ſich hier ergaben, mit Sicherheit entſcheiden? Ein Glück nur, daß ſich mindeſtens einige tüchtige Juriſten in ihren Reihen fanden, ſo namentlich der hannoverſche Geſandte Martens, der bekannte Völkerrechts - lehrer. Dazu die immer wieder auftauchenden Zweifel an der Zuſtändigkeit der Bundesverſammlung; ſie hörten auch dann nicht auf, als die Ver -149Privat-Eingaben an den Bundestag.ſammlung endlich im Juni 1817 einige proviſoriſche Beſtimmungen über ihre Competenz angenommen hatte. Und woher ſollte der Bundestag in ſchwierigen Fällen die nöthigen thatſächlichen Mittheilungen erlangen? Da er keine Executivgewalt beſaß, ſo blieb er immer nur auf den guten Willen der betheiligten Regierungen angewieſen. Zu alledem endlich die lächerlich ſchwerfällige Geſchäftsordnung. In ſeiner Inſtruktion hatte Hardenberg noch den Vorſchlag gewagt: nach Ablauf einer billigen Friſt ſolle die Verſamm - lung kurzweg ihre Beſchlüſſe faſſen, ohne Rückſicht auf abweſende oder nicht - inſtruirte Mitglieder. Goltz mußte aber bald einſehen, wie unannehmbar dieſer Gedanke dem Souveränitätsdünkel der kleinen Höfe ſchien; der würt - tembergiſche Geſandte v. Linden erklärte ſogar rund heraus, ein einſtimmiger Beſchluß ſei unmöglich ſobald auch nur ein einziger Geſandter fehle. Die nachläſſige Geſchäftsführung der Wiener Behörden und Metternichs Gleich - giltigkeit gegen den Bund bewirkten, daß der öſterreichiſche Geſandte faſt regelmäßig am Längſten auf ſeine Inſtruktionen warten mußte. Da der Prä - ſidialhof alſo mit ſchlechtem Beiſpiele voranging, ſo gewöhnte man ſich bald die Abſtimmungen zu verſchieben und wieder zu verſchieben bis auch die letzte Inſtruktion eingetroffen war, und das Schickſal der Bundesbeſchlüſſe lag am letzten Ende in der Hand der trägſten und böswilligſten Souveräne.

So geſchah es, daß ſelbſt dieſe Privat-Eingaben, denen die Mehrzahl der Bundesgeſandten ein ehrliches Wohlwollen entgegenbrachte, mit ſchimpf - licher Langſamkeit erledigt wurden. Die überrheiniſchen Cleriker, deren Anſprüche nach der Bundesakte binnen Jahresfriſt befriedigt werden ſollten, erhielten erſt im Jahre 1824 ihren Beſcheid; die Procuratoren des Kammer - gerichts mußten bis 1831 warten; die glücklichen Enkel der Gläubiger der Reichsoperationskaſſe empfingen im Jahre 1843 die Entſchädigung für die Arbeiten ihrer Großväter aus den Jahren 1793 96; das kur - und ober - rheiniſche Schuldenweſen endlich ward erſt im Jahre 1844 geordnet, durch Vermittlung der Krone Preußen, welche für dieſe ſchleunige Hilfsleiſtung den warmen Dank des Bundestags empfing. Viele der Geſandten lebten ſich gemüthlich in dies ſubalterne Treiben ein, und bald entwickelte ſich im Schooße der Bundesverſammlung die eigenthümliche Menſchenklaſſe der Bundesbureaukraten treufleißige, gewiegte Geſchäftsmänner, deren Geiſt niemals durch einen politiſchen Gedanken beunruhigt wurde, aber dafür in Sachen des Joſeph Fahrenkopf und der Lit. D. um ſo genauer Be - ſcheid wußte. Das Muſterbild dieſer Bundestagsphiliſter war der Ver - treter der ſechzehnten Stimme, v. Leonhardi. Auch der gute Goltz ſchrieb nach Schluß der erſten Seſſion hoch befriedigt heim: die verheißene Feſt - ſtellung der Grundgeſetze des Bundes ſei freilich unmöglich geweſen; dafür habe die Bundesverſammlung ihr Daſein und ihre Wirkſamkeit in den inneren Verhältniſſen gezeigt und ſo auf die innere Beruhigung eingewirkt. *)Goltz, Rückblick auf die erſte Seſſion der Bundesverſammlung, 5. Auguſt 1817.

150II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

Angeſichts dieſer ſtillvergnügten Nichtigkeit fielen manche politiſche Be - ſorgniſſe, welche Hardenberg anfangs gehegt hatte, von ſelbſt hinweg. Der Staatskanzler gab ſeinen Widerſpruch gegen die Anweſenheit auswärtiger Diplomaten bald auf, als er den Charakter des Bundestages kennen ge - lernt hatte; denn was ſtand von den Agenten des Auslandes bei einer ſo ohnmächtigen Verſammlung zu befürchten? und was ſollte man den großen Mächten antworten, als ſie zur Abwendung möglicher Kriegsge - fahren die Zulaſſung ihrer Geſandten forderten, da die Bundesakte denn doch dem Bundestage das Recht der Kriegserklärung gewährt hatte? In der That fanden die Geſandten der Großmächte in Frankfurt vorderhand gar nichts zu thun. Was verſchlug es, wenn die kleinen Diplomaten in dem Rothen Hauſe, dem Malepartus des ſchlauen Ruſſen Anſtett, viel - geſchäftig aus - und eingingen? Ernſthafte Fragen, bei denen der Einfluß des Auslandes ſchädlich wirken konnte, traten in dieſen ſtillen erſten zwei Jahren noch nicht an den Bundestag heran. Auch die anfangs allgemein verbreitete Furcht vor einem geheimen Sonderbunde der alten rheinbün - diſchen Kernlande erwies ſich noch als verfrüht. Wohl war König Friedrich von Württemberg, auf die Nachricht von Hänleins Auftreten, alsbald nach Karlsruhe hinübergereiſt, um den Großherzog von Baden und den König von Baiern, der in Baden weilte, für eine gemeinſame ſüddeutſche Politik, zum Schutze der ungeſchmälerten Souveränität, zu gewinnen; aber Baiern und Baden lebten in bitterer Feindſchaft, und Beide mißtrauten dem würt - tembergiſchen Nachbarn. Der Verſuch mißlang vollſtändig*)Jouffroys Bericht, Stuttgart, 20. Juli. Küſters Bericht, Baden, 25. Juli 1816., und als König Friedrich bald nachher ſtarb, war von dieſen rheinbündiſchen Plänen eine Zeit lang nicht mehr die Rede. Auch der ſächſiſche Bundestagsgeſandte, der ſteife alte Graf Görtz bewährte durchweg eine untadelhafte Harmloſigkeit, da ſein König dem Hauſe Oeſterreich nie zu widerſprechen wagte.

Der Bundestag konnte indeſſen ſelbſt jene unſchuldigen Reclamations - Angelegenheiten nicht erledigen, ohne mit dem Dünkel der kleinfürſtlichen Souveränität heftig zuſammenzuſtoßen. Schon beim Beginn der Ver - handlungen ſprach Baiern das Bedenken aus, ob die Bundesverſammlung überhaupt befugt ſei, Beſchwerden deutſcher Unterthanen gegen ihre Lan - desherren anzunehmen; doch wurde das bairiſche Votum vorläufig in einem geheimen Protokolle vergraben. Als aber der Bundestag ſich bald nach - her unterſtand, eine Beſchwerde ſolcher Art vor ſein Forum zu ziehen, ward ihm ungeſtraft eine ſchnöde Beleidigung geboten. Aus keinem Lande waren ſo viele Klagen und Bitten eingelaufen, wie aus dem unglücklichen Kurheſſen, das unter ſeinem heiß erſehnten alten Kurfürſten ein Regiment ſchamloſer Willkür und Habſucht ertragen mußte. Unter den Unzähligen, denen der Kurfürſt ihr gutes Recht vorenthielt, befand ſich auch ein Guts - beſitzer Hofmann. Der Mann hatte von der Kronkaſſe einige ſeculariſirte151Streit mit dem Kurfürſten von Heſſen.Deutſch-Ordensgüter gekauft; der Kauf wurde im Auguſt 1815, zwei Jahre nach der Rückkehr des alten Landesherrn, durch die kurfürſtlichen Behörden in die Kataſterrolle eingetragen. Gleichwohl erhielt der Käufer ein halbes Jahr ſpäter den Befehl zur Wiederauslieferung der Güter, die er unter - deſſen zerſchlagen und an zwanzig Andere veräußert hatte; der Kurfürſt, ſo hieß es kurzab, wolle nicht dulden, daß Staatsgüter in den Händen von Privaten blieben. Die Bundesverſammlung faßte den mildeſten Be - ſchluß, der in einem ſolchen Falle möglich war: ſie verwies den Kläger an den Kurfürſten und forderte ihn auf, wenn er dort, gegen alle beſſere Erwartung der Bundesverſammlung, nicht erhört werden ſollte , ſeine Be - ſchwerde nochmals beim Bunde einzureichen. Der Kurfürſt aber tobte, als er von dieſer frevelhaften Verletzung ſeiner Kronrechte erfuhr, und ließ in Frankfurt eine Erwiderung verleſen, welche ſofort in dem öffentlichen Pro - tokolle abgedruckt werden mußte (17. März 1817): er nannte darin den letzten Beſchluß ſehr auffallend , gab den Geſandten ſeine Verwunderung über ein Benehmen zu erkennen, welches die Billigung ihrer Committenten unmöglich erhalten könne , und ſchloß drohend: er verbitte ſich jede Ein - miſchung in ſeine inneren Landesangelegenheiten.

Eine ſolche Sprache ſchien doch ſelbſt der Geduld des Bundestages unerträglich. Alle Geſandten brachen den geſelligen Verkehr mit dem Ver - treter des Kurfürſten ab; man erwartete beſtimmt, die beiden Großmächte würden ihre Geſandtſchaften aus Kaſſel abberufen und dem Bunde eine glänzende Genugthuung für die erlittene Beleidung verſchaffen. *)Berſtetts Bericht 16. März 1817.Graf Buol erwiderte in geharniſchter Rede: die Stellung des Bundestags würde auf die gemeinſchädlichſte Weiſe verändert werden, wenn er ſich gefallen laſſen müßte, daß ein unzufriedenes Bundesglied in verweiſendem Tone zu ihm ſpräche: die Bundesverſammlung iſt nie und nirgends unter einem Gliede des Bundes. Zuletzt verſicherte er ſogar mit einer in dieſem Kreiſe unerhörten Begeiſterung: der Bundestag werde den bedrängten Unter - thanen die Ueberzeugung verſchaffen, daß Deutſchland nur darum mit dem Blute der Völker von fremdem Joche befreit wurde, damit überall ein rechtlicher Zuſtand an die Stelle der Willkür treten möge . Graf Goltz erklärte die unbedingte Zuſtimmung ſeines Königs zu dem gefaßten Be - ſchluſſe; auch Gagern verſicherte in einer hochpathetiſchen, verworrenen Rede: das von dem Kurfürſten angetaſtete Eigenthumsrecht enthalte ein beinah jungfräuliches noli me tangere . Mit Ausnahme der beiden heſ - ſiſchen Bevollmächtigten ſchien der geſammte Bundestag einig.

Doch leider hatte Graf Buol auf eigene Fauſt gehandelt; ſeine Inſtruk - tionen waren, nach der Gewohnheit der Hofburg, wieder einmal ausge - blieben. Er reiſte daher zu Anfang April ſelbſt nach Hauſe um dem Bundestage den Beiſtand des Wiener Hofes zu ſichern. Aber welch ein152II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Empfang ward dem Unglücklichen! Der Kurfürſt hatte ſich ſogleich bei Kaiſer Franz beſchwert, und Metternich überhäufte den Präſidialgeſandten mit Vorwürfen: wie er ſich habe unterſtehen können, die Würde eines Souveräns in ſolcher Weiſe anzutaſten! Er drohte ihm mit Abberufung, mit förmlicher Mißbilligung des Bundesbeſchluſſes. Dies Aeußerſte wurde freilich durch Hardenbergs Vermittlung abgewendet. Der Staatskanzler hielt ſeinem Wiener Freunde eindringlich vor, der Bundestag ſei im Rechte und dürfe nicht öffentlich bloßgeſtellt werden. *)Hardenberg an Metternich, 12. April 1817.Metternich begnügte ſich daher mit einer ſtrengen Verwarnung, und tief niedergeſchlagen kehrte Buol auf ſeinen Poſten zurück. Darauf beſtätigte der Bundestag ſeine frühere Entſchließung durch einen neuen, überaus behutſam gehaltenen Beſchluß, und die Hofmann’ſche Beſchwerde wurde durch den Kurfürſten in der Stille beigelegt. Aber von einer Sühne für die erlittene Beſchimpfung war keine Rede; die deutſchen Souveräne wußten jetzt was ſie ſich gegen den Bund herausnehmen durften. Die Geſandten fühlten ſich alleſammt beſchämt und eingeſchüchtert, ſie gewöhnten ſich fortan, bei jeder noch ſo ge - ringfügigen Frage beſondere Inſtruktionen einzuholen, ſo daß alle Ent - ſcheidungen ſich in’s Unabſehbare hinauszogen.

Der Hofmann’ſche Fall bildete nur ein Glied in einer langen Kette von Rechtsverletzungen, welche den Bundestag noch durch viele Jahre in Athem hielten und dem deutſchen Namen im Auslande, namentlich in Frankreich, einen üblen Ruf verſchafften. Es rächte ſich ſchwer, daß die große Allianz nach der Auflöſung des Königreichs Weſtphalen die alten Landes - herren vertrauensvoll ohne jede Bedingung zurückgeführt hatte. Die Krone Preußen freilich verfuhr in ihren vormals weſtphäliſchen Provinzen ſtreng nach dem Rechte; ſie hatte das Königreich Weſtphalen im Tilſiter Frieden anerkannt und betrachtete mithin alle verfaſſungsmäßigen Hand - lungen der weſtphäliſchen Regierung als rechtsgiltig. Die Fürſten von Hannover, Braunſchweig und Kurheſſen hingegen waren nur thatſächlich, ohne Friedensſchluß, ihrer Länder verluſtig gegangen und ſahen in König Jerome nur einen Uſurpator. Vergeblich ſtellte ihnen der Berliner Hof vor, daß ſie doch nicht durch eigene Kraft, ſondern durch die Waffen der Verbündeten wiederhergeſtellt worden ſeien und demnach jenes napoleoniſche Königreich, das einſt die Anerkennung aller großen Mächte gefunden hatte, nicht kurzweg als eine widerrechtliche Ordnung behandeln dürften. Preu - ßen wünſchte, durch freundſchaftliche Verhandlungen zwiſchen den bethei - ligten vier Staaten gemeinſame Rechtsgrundſätze über die Anerkennung der weſtphäliſchen Geſetze und Verordnungen zu vereinbaren. **)Goltz’s Bericht 19. Juli; Denkſchrift des Staatskanzlers über das Königreich Weſtphalen, 18. Nov. 1817.Aber keiner der drei anderen Höfe ging auf den billigen Vorſchlag ein. In Hannover153Die weſtphäliſchen Domänenkäufer.und Braunſchweig wurden die weſtphäliſchen Geſetze alleſammt für nichtig erklärt, nur die wohlerworbenen Rechte der Unterthanen behandelte man mit Schonung.

Um ſo dreiſter griff der heſſiſche Kurfürſt zu. Alles und Jedes in ſeinem Lande ſollte auf den Stand vom Herbſte 1806 zurückgebracht werden, und der geizige Herr verfuhr bei dieſem ungeheuerlichen Unternehmen nicht, wie gleichzeitig der König von Sardinien, mit der naiven Ehrlichkeit des legitimiſtiſchen Fanatikers, ſondern mit offenbarer Gaunerei. Was ſein Verwalter Jerome für die Kronkaſſe erworben hatte, ward als recht - mäßige Kriegsbeute behalten, was er veräußert als Raub zurückgefordert; die Handwerker, die dem luſtigen Napoleoniden ſeine Gemächer ausge - ſchmückt, empfingen keine Bezahlung, aber die gelieferten Möbel verblieben den kurfürſtlichen Schlöſſern. Selbſt in den Zeiten der polniſchen Auguſte hatte das geduldige Deutſchland ſo freche Willkür kaum geſehen. Am Schwerſten litten die Käufer der zahlreichen durch König Jerome ver - äußerten Domänen; ſie wurden aus ihrem Eigenthum vertrieben und be - ſtürmten den Bund mit Klagen. Als dieſe Beſchwerden in Frankfurt zur Verhandlung kamen, ſtimmte der kurheſſiſche Geſandte wieder den gewohnten Ton an und warf mit frechſten Lügen um ſich. Martens, der Ver - treter Braunſchweigs, hatte die Stirn, dem treuen Volke dieſer welfiſch - heſſiſchen Lande, das ſo unſäglich viel für ſeine angeſtammten Fürſten ge - opfert und gelitten hatte, drohend zuzurufen: man müſſe durch Aufſtel - lung ſtreng legitimiſtiſcher Grundſätze zum Voraus den deutſchen Unter - thanen die Luſt benehmen, dem eindringenden Feinde behilflich zu ſein! Die Mehrheit des Bundestages, gewitzigt durch die bitteren Erfahrungen in der Hofmann’ſchen Sache, begnügte ſich diesmal, die Klagenden dem Wohlwollen des Kurfürſten zu empfehlen (17. Juli 1817). Damit ward die Entſcheidung der unſauberen Händel nur vertagt; denn alsbald mel - deten ſich andere Opfer der kurfürſtlichen Tyrannei.

Derweil der Bundestag alſo ſeine Zeit verdarb, bemühte ſich Harden - berg redlich, den einzigen politiſch bedeutſamen Artikel der Bundesakte, der bei gutem Willen noch der Verwirklichung fähig ſchien, auszuführen: jenen Art. 11, welcher den Bundesſtaaten gemeinſamen Schutz gegen feindlichen Angriff verſprach. Die Hoffnungen Preußens für das deutſche Bundes - heerweſen blieben vom Wiener Congreſſe bis zur Auflöſung des Bundes immer die gleichen: der Berliner Hof wünſchte die Zweitheilung des Bun - desheeres, und nur wenn ſich der Widerſtand der deutſchen Höfe nicht anders beſiegen ließ war er bereit den Mittelſtaaten die Bildung ſelb - ſtändiger Armeecorps zuzugeſtehen. Ungeſchreckt durch Hänleins Erfahrun - gen begann der Staatskanzler ſogleich mit dem Wiener Hofe vertraulich zu unterhandeln, obgleich er doch aus den Inſtruktionen des Präſidialge - ſandten wiſſen mußte, daß die Hofburg keineswegs geneigt war, durch Son - derverhandlungen das Wohlwollen der kleinen Souveräne zu verſcherzen. 154II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Gleich zu Anfang dieſer Berathungen erhob ſich eine Vorfrage, welche die ganze heilloſe Unwahrheit der Bundesverfaſſung an den Tag brachte. Be - vor man die militäriſchen Leiſtungen der Bundesglieder feſtſetzte, mußte man doch wiſſen, wo die Grenzen des Bundesgebietes lagen. Die Bun - desakte hatte ſich begnügt mit der unklaren Beſtimmung, daß die Herrſcher von Oeſterreich und Preußen für ihre geſammten, vormals zum Deut - ſchen Reiche gehörigen Beſitzungen dem Bunde beiträten. Da Metternich von Haus aus entſchloſſen war dem Bundestage niemals eine Einwirkung auf die inneren Verhältniſſe der Kronlande zu erlauben, ſo hatte für ihn die Angelegenheit keinen Werth; er erklärte unbedenklich, ſein Kaiſer beabſichtige ein Gebiet von etwa 8 Mill. Einwohnern die Lande der Krone Böhmen, das Erzherzogthum, Tyrol und Salzburg, die Steyermark, Kärnten und Krain dem Bunde zu überweiſen. Hardenberg hielt ſich an ſeinen Lieblingsgedanken, die vollkommene Gleichheit der beiden Großmächte, und beantragte darum bei ſeinem Monarchen die Aufnahme eines preußiſchen Gebietes von etwa gleicher Bevölkerung: außer den unzweifelhaften alten Reichslanden der hohenzollern’ſchen Krone ſollten auch Geldern, das zwei - hundert Jahre lang dem Reiche entfremdet geweſen, und das ſouveräne Herzogthum Schleſien nebſt der Lauſitz für Bundesland erklärt werden.

König Friedrich Wilhelm aber nahm die Frage ſehr ernſt und über - raſchte den Staatskanzler durch die beſtimmte Erwiderung, daß er mit ſeinem geſammten Staatsgebiete dem Deutſchen Bunde beizutreten denke. Er kannte die unberechenbaren Wechſelfälle der europäiſchen Politik und behielt, trotz ſeiner Freundſchaft für den Czaren, auch die Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland wachſam im Auge. Da er ſich ſelber ſchlechtweg als deutſcher Fürſt fühlte und ehrlich entſchloſſen war jede Verletzung des Bundesgebiets mit der geſammten Kraft ſeiner Monarchie zurückzuweiſen, ſo ſchien es ihm nur billig, daß auch der Bund ſich verpflichtete den preußiſchen Staat gegen jeden Angriff zu vertheidigen; er dachte dabei zu - nächſt an Poſen und die unverhohlene Begehrlichkeit der Polen in War - ſchau. Für den Fall, daß die förmliche Aufnahme des ganzen Staats - gebietes in den Bund ſich nicht durchſetzen ließ, verlangte der König min - deſtens den Abſchluß eines dauernden Vertheidigungsbündniſſes zwiſchen Preußen und dem Bunde. Schon im Herbſt 1816 wurde dieſe Abſicht des Monarchen in der Inſtruktion für die Bundesgeſandtſchaft ausge - ſprochen und ſeitdem zu Hardenbergs Verzweiflung anderthalb Jahre lang hartnäckig feſtgehalten. Die deutſchen Dinge lagen indeß noch ſo verſchroben, daß gerade die einfachſten, die beſtgemeinten politiſchen Gedanken verfrüht, ja gefährlich erſchienen. So gewiß die europäiſchen Intereſſen Preußens mit denen des übrigen Deutſchlands zuſammenfielen, ebenſo gewiß durfte die preußiſche Krone nicht zu Gunſten dieſes Bundestages auf die Selb - ſtändigkeit ihrer auswärtigen Politik verzichten. Und ſo unzweifelhaft das treue deutſche Ordensland durch Stammesart und Geſchichte dem großen155Verhandlungen über den Eintritt des preußiſchen Geſammtſtaats.Vaterlande angehörte, ebenſo ſicher ließ ſich doch vorausſehen, daß weder Oeſterreich noch die Mittelſtaaten dieſe Oſtmark jemals freiwillig in den Deutſchen Bund aufnehmen würden, da ſie ja ſammt und ſonders die Be - ſchränkung der preußiſchen Macht als den Hauptzweck der Bundespolitik be - trachteten.

Der Staatskanzler beſchwor daher ſeinen königlichen Herrn, nicht durch einen ſolchen Antrag allgemeines, peinliches Aufſehen zu erregen und aus der Reihe der europäiſchen Mächte gleichſam herauszutreten ; er verſchmähte ſogar nicht die perfide Frage: würde man dadurch nicht der Idee von Deutſchheit noch mehr Nahrung geben, die in den Schwindelköpfen der Zeit liegt? *)Hardenberg an den König, 23. Febr. 1817.Humboldt ſchloß ſich dem Staatskanzler an und erinnerte nachdrücklich an die ſchwer errungene Stellung Preußens innerhalb der europäiſchen Pentarchie. Auch Goltz berichtete aus Frankfurt: alle Klein - ſtaaten wünſchten, daß der Bund nur eine paſſive Rolle in der europäi - ſchen Politik ſpiele, und würden mithin nimmermehr den Eintritt des preu - ßiſchen Geſammtſtaates genehmigen. Nochmals ſtellte Hardenberg dem Könige vor, welches Mißtrauen der Plan in Petersburg und an den kleinen Höfen erwecken müſſe. **)Humboldts Votum 12. Juli, Hardenbergs Denkſchrift 1. Decbr., Goltz’s Denk - ſchrift 30. Decbr. 1817.Die Möglichkeit aber, daß Preußen dereinſt durch eine öſterreichiſch geſinnte Bundestagsmehrheit wider Willen in einen italieniſchen Krieg der Habsburger hineingeriſſen werden könnte, fand noch in keiner dieſer Denkſchriften Erwähnung; ein ſolcher Fall lag noch weit außerhalb des Geſichtskreiſes der Zeit. Wurde Oeſterreich in der Lom - bardei angegriffen, ſo war Preußen, nach der einſtimmigen Anſicht der Ber - liner Staatsmänner, unzweifelhaft verpflichtet, den Bundesgenoſſen zu unterſtützen; denn wer anders als Frankreich konnte den Angriff unter - nehmen? an eine Schilderhebung der Piemonteſen wagte noch Niemand zu denken.

Der König blieb unerſchütterlich: Ich kann, erwiderte er dem Staats - kanzler (1. Decbr. 1817), in dieſer ſo überaus wichtigen Sache durchaus keine anderen Beſchlüſſe faſſen, indem ich zu ſehr von der Gefahr durch - drungen bin, in die der Staat kommen kann. ***)König Friedrich Wilhelm an Hardenberg 1. Decbr. 1817.Hardenberg mußte alſo ſchweren Herzens den Plan des Monarchen, nebſt einer ausführlichen Denk - ſchrift Ancillons, durch Geh. Rath Jordan der Hofburg mittheilen laſſen. Metternich aber war über ſeine Antwort nicht im Zweifel. Nichts lag ihm ferner als der Gedanke, den preußiſchen Antrag etwa durch das Anerbieten des Eintritts von Geſammt-Oeſterreich zu überbieten; ſo verwegene Ent - würfe galten damals noch allgemein als unausführbar, ſie widerſprachen den Grundanſchauungen der Stabilitätspolitik und erſchienen dem Wiener Hofe um ſo thörichter, da man ja den Plan der Bildung eines italieni -156II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ſchen Bundes noch nicht aufgegeben hatte. Der öſterreichiſche Staatsmann ſendete ſeinem preußiſchen Freunde einen zärtlichen, hochpathetiſchen Brief (9. Jan. 1818), der für Jedermann allein den König und den Staats - kanzler ausgenommen ein ewiges Geheimniß bleiben ſollte. Er ſchil - derte beweglich, wie die glückliche Eintracht der beiden Mächte allein auf der vollkommenen Gleichheit ihrer Stellung beruhe. Dieſe Gleichheit be - ſeitigen hieße das ganze Gebäude umſtoßen. Hüten wir uns, mein Fürſt, an dieſer glücklichen Lage irgend etwas zu verändern! Eine beigefügte Denkſchrift behauptete mit ſtolzer Zuverſicht: Würde einer der Bundes - ſtaaten in ſeinem nicht-deutſchen Gebiete unrechtmäßig angegriffen, ſo würde es kaum einmal einer Defenſiv-Allianz bedürfen um den Bund in Thätigkeit zu verſetzen; ſein eigenes Intereſſe würde ihn dazu bewegen. Der Fall, daß Oeſterreich oder Preußen getrennt von Rußland angegriffen würde, ohne daß die eine oder andere Macht für ihren Bundesgenoſſen Partei nähme, liegt ſo ſehr außer aller Möglichkeit, daß es überflüſſig wäre dabei zu verweilen. Der König jedoch ward weder durch die Mah - nungen Oeſterreichs noch durch eine neue Denkſchrift ſeines Staatskanzlers überzeugt und verlangte, obgleich Hardenberg dringend abrieth, ein Gut - achten der auswärtigen Abtheilung ſeines Staatsraths. *)Ancillons Denkſchrift für den Wiener Hof, 5. Decbr. 1817. Metternichs Brief und Denkſchrift an Hardenberg, 9. Januar 1818. Hardenbergs Denkſchrift, Engers 22. Februar 1818.Hier ſtimmten nach lebhaften Verhandlungen ſchließlich Alle darin überein, daß der Vor - ſchlag des Königs angeſichts der Geſinnung der deutſchen Bundesſtaaten vorläufig unausführbar ſei. Selbſt der Vertraute des Monarchen, der wackere Oberſt Witzleben, der anfangs für die Anſicht ſeines königlichen Freundes aufgetreten, ward durch die überlegenen Gründe der Gegner ge - wonnen. Nun endlich gab der König nach und genehmigte (24. April), daß außer den alten Reichslanden nur noch Geldern, Schleſien und die Lauſitz dem Bunde beitraten. Unmuthig fügte er hinzu, dies geſchehe gegen ſeine Ueberzeugung. **)Die zwei Gutachten Witzlebens bei Dorow, J. v. Witzleben S. 115 ff. Har - denbergs Tagebuch 24. April 1818.Alſo wurde die Abſicht König Friedrich Wil - helms, das alte Pflanzungsland des deutſchen Mittelalters wieder in den Staatsverband der Nation zurückzuführen, für diesmal vereitelt. Erſt ein Menſchenalter darauf, unter den Stürmen der Revolution, ſollte der Plan wieder aufleben, und erſt nach abermals achtzehn Jahren, als die Herr - ſchaft Oeſterreichs zuſammenbrach, ward er für die Dauer verwirklicht.

Ebenſo unglücklich verliefen die Verhandlungen über das Bundesheer. König Friedrich Wilhelm betrieb ſie mit unermüdlichem Eifer, denn da Preußen ſelbſt fünf Procent der Bevölkerung zum Heer ſtellte, ſo hielt er ſich berechtigt von den Bundesgenoſſen mindeſtens annähernd gleiche Lei - ſtungen zu fordern. Metternich dagegen legte auf die Organiſation der kleinen157Die Bundeskriegsverfaſſung.deutſchen Armeen wenig Gewicht, weil er des preußiſchen Bündniſſes ſicher war. Die Frage ſchien nicht erheblich genug um deßhalb den Argwohn der Mittelſtaaten zu erregen; brach ein Krieg aus, ſo mußten ſich die kleinen Contingente doch, wie in den letzten Feldzügen, irgendwie an die größeren Maſſen anſchließen. Ohnehin fehlte dem Wiener Hofe gänzlich der militäriſche Sinn, das Verſtändniß für die ſittliche Bedeutung der Heeresverfaſſung. Obgleich die Mängel des ſchwerfälligen öſterreichiſchen Heerweſens während der jüngſten Kriege grell genug hervorgetreten waren, ſo unterblieb doch im Frieden jede Verbeſſerung; der mißtrauiſche Kaiſer ſprach als Grundſatz aus, daß man niemals einem Offizier, der ſich im Kriege her - vorgethan, im Frieden eine einflußreiche Stellung anvertrauen dürfe, und ließ den fähigſten ſeiner Generale, Radetzky, zehn Jahre lang auf dem Feſtungscommando zu Olmütz. Die Maſchine verroſtete mehr und mehr. Die jungen Offiziere ſpotteten laut über das militäriſche Philiſterthum und ergötzten ſich an einer boshaften Satire, die im Jahre 1816 erſchien, dem Standhaften Kriegs-Dienſt - und Exercirreglement der Reichsſtadt Riblingen denn wie oft hatte nicht das tapfere kaiſerliche Heer, gleich der Riblinger Armada, einen Feldherrn aus dem Geſchlechte derer von Kraftlos ertragen müſſen! Zu Alledem kam noch der dringende Wunſch des Kaiſers, alle erregten Verhandlungen in Frankfurt zu vermeiden. Als ihm der Bundestag zum erſten male zum Geburtstage Glück wünſchte, ließ er durch Metternich (2. März 1817) ſeinen Dank ausſprechen, und die Auguren der Eſchenheimer Gaſſe vernahmen mit befriedigtem Lächeln, wie der gute Kaiſer ſie ermahnte: ſie ſollten nicht vergeſſen, daß ſie als eine permanente Verſammlung keinen Grund zu übereilter Arbeit hätten; nimmer - mehr dürfe durch übertriebenes Drängen der Geſchäfte ein nachtheiliger Ausbruch am Bundestage herbeigeführt werden.

Während Kaiſer Franz alſo ſeine Beſorgniß vor dem heißblütigen Ungeſtüm des jugendlichen Bundestages ausſprach, zeigten ſich die Mittel - ſtaaten ſämmtlich entſchloſſen, Alles zu verwerfen, was der Einheit eines wirklichen Heeres auch nur nahe kam. In keiner andern Frage wagte ſich die noch ungebrochene rheinbündiſche Geſinnung dieſer Höfe ſo ſchamlos hervor. Nicht die Vertheidigung des Vaterlandes gegen den auswärtigen Feind, ſondern die Sicherung der kleinköniglichen Souveränität gegen die Uebermacht der großen Bundesgenoſſen wurde ungeſcheut als der Zweck der Bundeskriegsverfaſſung bezeichnet. Alle Mittel - und Kleinſtaaten, ſo berichtete Berſtett zufrieden ſeinem Hofe, wünſchten die Bildung eines reinen Bundesheeres von mehreren Corps aus den kleinen Contingenten unter einem gewählten Bundesfeldherrn; daneben mochten noch ein öſter - reichiſches und ein preußiſches Corps als ſelbſtändige Hilfstruppen geduldet werden. *)Berſtetts Bericht 29. Januar 1817.Das deutſche Heer ſollte abſichtlich geſchwächt werden, damit158II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.die Ueberzahl der Oeſterreicher und der Preußen die Kleinen nicht erdrückte. Ließ ſich dies höchſte Ziel nicht erreichen, ſo mußten die Kleinſtaaten min - deſtens vor jeder Unterordnung unter die Großmächte bewahrt bleiben. Die - ſelben Höfe, welche ſoeben, als die Zulaſſung der fremden Geſandten in Frage ſtand, die europäiſche Macht des Deutſchen Bundes verherrlicht hatten, ſagten jetzt demüthig: die Aufgabe ſei nicht eine gebietende Stellung im europäiſchen Staatenſyſteme einzunehmen, ſondern nur eine vertheidi - gende mit Würde zu behaupten ſo lautete der erſte Commiſſionsbericht des Bundestages in Sachen des Heerweſens. Baden und Darmſtadt gingen noch weiter und erklärten geradezu, gegen Sinn und Wortlaut der Bundesakte: Neutralität ſei das einzige Princip des Bundes. Da die kleinen Höfe alleſammt feſt auf eine lange Zeit ungeſtörten Friedens hofften, ſo wollten ſie ihren ermüdeten Völkern, ihren zerrütteten Finanzen nur geringe Kriegsleiſtungen zumuthen. Die Landwehr, welche die meiſten Kleinſtaaten während des Krieges nach preußiſchem Muſter gebildet hatten, wurde von dem Zunftſtolze der rheinbündiſchen Offiziere mit Verachtung angeſehen, zumal da ſie, mit Ausnahme der hannöverſchen, nur ſelten in’s Gefecht gekommen war. Auch an Verdächtigungen fehlte es nicht; hatte doch Steins verhaßte Centralverwaltung die Volksbewaffnung geleitet! Nach dem Frieden hob man überall in den Kleinſtaaten die Landwehr auf oder man ließ ſie verfallen, ſo daß ſie nur zuweilen, wie die vielbe - lachten bairiſchen Frohnleichnamsſoldaten , an Feſttagen auf einige Stun - den zum Vorſchein kam; und bald war Preußen der einzige deutſche Staat, der noch eine kriegstüchtige Landwehr beſaß.

In dem Verlangen nach Abrüſtung vereinigten ſich die gedankenloſe Selbſtſucht der kleinen Höfe und der Soldatenhaß des Liberalismus. Auch darin ſtimmten alle Mittelſtaaten überein, daß man allenfalls für Kriegs - zeiten eine mäßige Leiſtung verſprechen, doch nimmermehr im Frieden eine Aufſicht von Bundeswegen ertragen dürfe. An den Höfen von Darm - ſtadt und Karlsruhe fragte man unverhohlen: warum Opfer bringen für ein Bundesheer, das dem engeren Vaterlande doch nichts nützen könne? be - vor die Oeſterreicher und Preußen dem Südweſten zu Hilfe kämen, wür - den die franzöſiſchen Heere längſt die deutſchen Grenzlande überſchwemmt haben. So ſchnell waren die ſtrahlenden Siege der jüngſten Jahre wieder vergeſſen; ſo lähmend wirkte die Nachbarſchaft jener elſaſſiſchen Feſtungen, welche der faule Friede in Frankreichs Hand gelaſſen, auf den deutſchen Stolz! Der Kurfürſt von Heſſen bewährte auch diesmal ſeine Anhäng - lichkeit an die gute alte Zeit und ſchärfte ſeinem Geſandten ein, Heſſen habe zu dem Reichsheere niemals mehr als 800 Mann geſtellt; doch wollte er aus beſonderer Hingebung dem Deutſchen Bunde äußerſten Falles 2500 Mann gewähren, nur möge man ihn mit den Hauskriegen Oeſter - reichs und Preußens nicht behelligen. Dieſe Abſichten der kleinen Höfe wurden ſchon bei den einleitenden Verhandlungen über das Heerweſen159Verhandlungen über das Bundesheer.mit cyniſcher Offenheit ausgeſprochen. Baiern fragte kurzab: wozu über - haupt eine Vorſchrift über die Friedensſtärke der Contingente? genug, wenn der Bund für den Kriegsfall das Verhältniß zwiſchen den Leiſtungen der Bundesglieder feſtſtellt; ſind dieſe Simpla vereinbart, ſo kann alles Weitere den Umſtänden und der freien Uebereinkunft der Staaten überlaſſen werden. In der That gelangte der Bundestag am 29. Mai 1817 nur zu dem Beſchluſſe, einen Ausſchuß mit der Aufſtellung einer proviſoriſchen Matrikel zu beauftragen. Aber ſollte die Bevölkerung allein den Maßſtab für die Matrikel bilden? Oder auch der Gebietsumfang und die Höhe der Staats - einkünfte? Selbſt hierüber war man noch nicht einig. Die reichen Hanſe - ſtädte empfahlen lebhaft den Bevölkerungsmaßſtab, der ihnen ein gutes Ge - ſchäft verhieß; das dichtbevölkerte Württemberg ſprach ebenſo eifrig dawider.

Angeſichts ſolcher Erfahrungen ſetzte Hardenberg ſeine letzte Hoffnung auf die Verſtändigung mit Oeſterreich. Schon um Mitte Mai 1817 ließ er den Wiener Hof zu Sonderverhandlungen auffordern*)Hardenbergs Inſtruktion an Kruſemark, 13. Mai 1817., aber erſt im Juli beauftragte Metternich, ſichtlich ungern, den General Steigenteſch, in Karlsbad mit Boyen und dem General Wolzogen zuſammenzutreffen. Dort geriethen die beiden alten Freunde Steigenteſch und Wolzogen hart an einander, und nur Boyens ruhige Ueberlegenheit ſetzte endlich eine halbe Verſtändigung durch. Sobald man den Dingen näher trat, kam ſofort zu Tage, wie vollſtändig Hardenberg ſich über die Abſichten der Hof - burg getäuſcht hatte. Der preußiſche Vorſchlag der Zweitheilung des Bun - desheeres erſchien den Wiener Staatsmännern ſchlechthin unannehmbar. Er bot zwar dem preußiſchen Staate die Ausſicht auf die militäriſche Beherr - ſchung der dichten Wolke der norddeutſchen Kleinſtaaten; aber was hatte Oeſterreich dabei zu gewinnen, da doch die Unterwerfung der bairiſchen und der württembergiſchen Königskrone unter den kaiſerlichen Oberbefehl ganz undenkbar war? Der Plan entſprang der Politik des friedlichen Dualismus; doch er konnte, wie die Dinge lagen, nur die Machtſtellung Preußens zum Nachtheil Oeſterreichs verſtärken. Darum ward er auch von dem einzigen namhaften preußiſchen Staatsmanne, welcher damals ſchon die Trennung von Oeſterreich erſtrebte, warm befürwortet. Präſident v. Motz ſendete um die nämliche Zeit dem Staatskanzler eine Denkſchrift, die mit genialer Kühnheit die große Lüge des deutſchen Bundesrechts beleuchtete. Hier ward der Bund kurzerhand als ein politiſcher Nothbehelf bezeichnet, den die Eiferſucht der deutſchen Fürſten im Verein mit Oeſterreich, Ruß - land und Frankreich geſchaffen habe um Deutſchland in ewiger Kraft - zerſplitterung zu erhalten . Preußen aber müſſe ſchon jetzt den Zeitpunkt in’s Auge faſſen, wo das unhaltbare Bundeswerk wieder in ſich ſelbſt zer - fallen werde , und daher vorläufig, ſo lange ein einiges deutſches Heer noch nicht möglich ſei, die norddeutſchen Contingente durch Militärcon -160II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ventionen mit ſeiner Armee zu verbinden ſuchen. *)Motz, Gedanken über die Militärverfaſſung des Deutſchen Bundes, insbeſondere über Verträge mit den kleinen norddeutſchen Staaten, 24. Septbr. 1817.Wie durfte Oeſter - reich auf einen Vorſchlag eingehen, der zu ſolchen Hoffnungen Anlaß gab?

Nach lebhaftem Widerſtreben unterzeichnete der öſterreichiſche Bevoll - mächtigte zu Karlsbad endlich (10. Auguſt) eine Convention über die Bun - desfeſtung Mainz: die beiden Großmächte ſollten je die Hälfte der Gar - niſon ſtellen und aller fünf Jahre abwechſelnd den Gouverneur oder den Commandanten ernennen. Mit dieſer rechtlichen Gleichheit ward freilich die Eintracht in der deutſchen Hauptfeſtung nicht hergeſtellt; denn da Oeſter - reich von vornherein, dem Geiſte der Bundesakte zuwider, nichtdeutſche Regimenter in den rheiniſchen Platz ſendete, ſo brachen bald Händel aus zwiſchen den deutſchen und den fremden Truppen, und ſo lange der Deutſche Bund beſtand bildeten die unabläſſigen Raufereien der Mainzer Garniſon das erfreuliche Gegenſtück zu dem unblutigen Gezänk in Frankfurt. Schon vorher (12. März) war mit den Niederlanden ein Vertrag zu Stande ge - kommen, kraft deſſen König Friedrich Wilhelm ſich verpflichtete, für die zweite Bundesfeſtung Luxemburg drei Viertel der Garniſon, den Gouverneur und den Commandanten zu ſtellen. Zugleich begann Preußen, unter Aſters genialer Leitung, den Ausbau ſeiner rheiniſchen Feſtungen Coblenz, Köln, Weſel, Jülich, Saarlouis und verwendete dazu nach und nach, außer den 20 Mill. Fr., welche der Pariſer Vertrag angewieſen, noch eine beträchtliche Summe aus ſeinen eigenen Mitteln. Der Ehrenbreitſtein ward wieder her - geſtellt, und bald krönte die lieblichen Höhen an der Moſelmündung jener mächtige Kranz von vorgeſchobenen Werken, der die Bewunderung des alten Feſtungsſtürmers Wellington erregte und die zurückgebliebene, noch in Vau - bans Ideen befangene Befeſtigungskunſt der Franzoſen beſchämte. Während Preußen dergeſtalt, weit über ſeine Bundespflichten hinaus, für die Sicher - heit des Niederrheins ſorgte, lag der Südweſten noch völlig ſchutzlos vor den Ausfallsthoren der elſaſſiſchen Feſtungen. Zu Paris hatte man verab - redet, Landau als dritte Bundesfeſtung dem Bunde zu überweiſen, doch das Verſprechen blieb noch immer unausgeführt. Für eine vierte Bun - desfeſtung am Oberrhein waren 20 Millionen aus der franzöſiſchen Con - tribution beſtimmt; aber die ſüddeutſchen Höfe ſtritten ſich über den Platz. Baden und Württemberg verlangten zum Schutze ihres eigenen Gebietes eine Feſtung dicht am Rhein, etwa in Raſtatt; Oeſterreich dagegen wünſchte durch die Befeſtigung von Ulm die Donauſtraße zu ſperren und die Wieder - kehr des Auſterlitzer Feldzugs zu verhindern. Da ſich die Lage von Ulm zur Errichtung eines großen oberdeutſchen Waffenplatzes eignete und Oeſter - reich um keinen anderen Preis die Gleichberechtigung der beiden Groß - mächte in der Mainzer Feſtung zugeben wollte, ſo verſprach Boyen, Preu - ßen werde am Bundestage für Ulm ſtimmen.

161Die Karlsbader Convention.

Ueber die Eintheilung des Bundesheeres vermochten die Unterhändler in Karlsbad ſich nicht zu einigen. Nur eine ganz allgemein gehaltene Uebereinkunft, nur der Entwurf eines Entwurfs kam zu Stande: die Bun - desſtaaten verpflichten ſich, in Kriegszeiten zwei Procent der Bevölkerung zum Bundesheere, und außerdem ein Procent Erſatztruppen zu ſtellen; wird der Bundeskrieg erklärt, ſo legen die Contingente der Bundesſtaaten ein gemeinſames Abzeichen an und der Bundestag wählt einen Staat, der ſeinerſeits den Bundesfeldherrn ernennt. Dieſer Staat konnte nur Oeſter - reich ſein. Boyen gewährte das Zugeſtändniß, weil er vorausſah, daß die Natur der Dinge trotzdem wieder, wie im letzten Kriege, die Theilung des Kriegstheaters erzwingen würde. Um das kümmerliche Ergebniß der Karls - bader Conferenz durch einige beſtimmtere Abreden zu ergänzen und über - haupt ein gemeinſames Vorgehen der beiden Großmächte am Bundestage zu vereinbaren, wurde im December noch Geh. Rath Jordan nach Wien ge - ſendet; aber auch er erlangte nur unſichere Zuſagen.

Unterdeſſen hatten die öſterreichiſchen Diplomaten das Geheimniß der Karlsbader Uebereinkunft ſchon längſt den kleinen Höfen verrathen. Schon vierzehn Tage nach dem Abſchluß, lange bevor der preußiſche Bundesge - ſandte ſelbſt von den Karlsbader Verhandlungen etwas ahnte, waren die ſüddeutſchen Kabinette bereits unterrichtet. Ein jäher Schrecken ergriff die Souveräne, das Geſpenſt der deutſchen Zweiherrſchaft ſtand drohend vor den Thoren. Der Kurfürſt von Heſſen eilte ſofort nach Darmſtadt, der Großherzog von Baden nach Homburg zum Könige von Württemberg; die vier Fürſten verſchworen ſich, jedem Uebergriffe der Großmächte vereint entgegenzutreten. Als der Bundestag im Herbſt nach ſeinen erſten Ferien wieder zuſammentrat, fand Graf Goltz, der noch immer von nichts wußte, die Stimmung der Verſammlung wunderbar aufgeregt und verbittert. *)Goltz’s Bericht 8. Oktbr. 1817; deſſen Ueberſicht über die Bundesverhandlungen v. 13. April 1819.Erſt am 15. Januar 1818 wagte Buol die Karlsbader Convention als einen Präſidialantrag dem Bundestage vorzulegen. Um die entrüſteten Hörer zu beſchwichtigen, betheuerte er, daß er damit nur das Feld für die freie Berathung eröffnen wolle; zwei Geſichtspunkte müßten bei der Ver - handlung feſtgehalten werden: die vollkommene Würdigung der Souve - ränität der deutſchen Staaten und die Rückſicht auf ein wirkſames Ver - theidigungsſyſtem. Dann überreichte er noch einen ungeheuerlichen Ent - wurf für die Eintheilung des Bundesheeres, der eine Friedensſtärke von nur 120,000 Mann verlangte und den beiden Großmächten je ein Armeecorps von 41,500 Mann zuwies; die übrigen 37,000 Mann ſollten in neun Corps zerfallen, alſo daß jeder Mittelſtaat von Baiern bis auf Luxemburg herab ſich den Hochgenuß eines commandirenden Generals gönnen konnte. Die Perle dieſer elf Corps war das elfte, das 2606 Luxemburger, Naſ -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 11162II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ſauer und Hanſeaten unter der Führung eines niederländiſchen Generals umfaſſen ſollte. Preußen gab dem wunderſamen Vorſchlage nur darum vorläufig ſeine Zuſtimmung, weil dieſe winzigen Corps im Kriegsfalle unmöglich neben den Heeren der beiden Großmächte ihre Selbſtändigkeit behaupten konnten, und man doch nicht wagen durfte die Zweitheilung des Heeres geradeswegs zu beantragen.

Aber wie ſorgſam Oeſterreich auch die Souveränität der Kleinen ge - ſchont hatte, wie beſcheiden auch ſeine Anträge klangen, den Erben des Rheinbundes ſchien ſelbſt dies Nichts unerträglich drückend. Umſonſt ſendete Hardenberg im Januar den General Wolzogen nach Stuttgart um dem neuen Könige auseinanderzuſetzen, daß nur ein Heer von min - deſtens zwei Procent der Bevölkerung einem Angriffe Frankreichs gewachſen ſei; die Selbſtſucht König Wilhelms war ſtärker als ſein Soldatenverſtand. Als am 16. Februar die Abſtimmung begann, ſtanden Baiern, Sachſen, Württemberg, Baden und die beiden Heſſen einhellig gegen die Großmächte. Sie forderten ziemlich übereinſtimmend: Herabſetzung der Kriegsſtärke auf die Hälfte; mehr als 1 % für das Heer und ½ % für den Erſatz ſei uner - ſchwinglich. Ferner Erwählung des Bundesfeldherrn durch den Bundestag ſelbſt; dann blieb die Ausſicht, den Marſchall Wrede oder einen kleinkönig - lichen Prinzen an die Spitze des deutſchen Heeres zu ſtellen. Selbſtver - ſtändlich durfte dieſer deutſche Feldmarſchall auch im Kriege die Einthei - lung der Corps nicht verändern, auch ſollte er ſich eines parlamentariſchen Hauptquartiers erfreuen, einer Verſammlung von Offizieren aus allen Contingenten, welche das Intereſſe ihrer Souveräne bei dem Feldherrn zu vertreten hätten. Schlechterdings keine Inſpektion von Bundeswegen in Friedenszeiten, auch keine Vorſchriften über die Landwehr; überhaupt ſollte die Ausführung des künftigen Bundesgeſetzes ausſchließlich den Ein - zelſtaaten überlaſſen bleiben. Dieſe Ausſicht war um ſo erfreulicher, da der Kurfürſt von Heſſen ausdrücklich hinzufügte, man dürfe ihm nicht zu - muthen, die Stämme und die Ausrüſtung für die Kriegsſtärke ſchon im Frieden bereit zu halten. Ein gemeinſames Abzeichen wollte man im Kriege allenfalls ertragen, nur durfte es bloß ein Erkennungszeichen ſein wie die weiße Armbinde, welche die Kriegsvölker des verbündeten Europas in Frankreich, unbeſchadet ihrer nationalen Selbſtändigkeit, einſt geführt hatten. Für die Eintheilung des Bundesheeres ward als unverbrüchliche Regel gefordert, daß kein Staat, der ein vollſtändiges Armeecorps ſtelle, andere Truppen mit den ſeinen vereinigen dürfe; die gemiſchten Corps ſollten nach den geographiſchen und verwandtſchaftlichen Verhältniſſen gebildet werden. Der Kurfürſt von Heſſen zeigte zugleich an, er habe mit dem Vetter in Darmſtadt verabredet eine Diviſion gemeinſam den Feinden des gemeinſchaftlichen und des beſonderen Vaterlandes entgegenzuſtellen ; und Jedermann wußte, daß mit den Feinden des beſonderen Vaterlandes nur Preußen gemeint war.

163Die Hauptpunkte der Bundeskriegsverfaſſung.

Hardenberg wollte im erſten Zorne Genugthuung von dem Heſſen fordern;*)Hardenberg an Goltz, 21. Februar 1818. der Wohlmeinende ſtand völlig rathlos vor den Kraftleiſtungen eines Particularismus, der ſo unbefangen eingeſtand, daß er ohne jede ernſthafte Gegenleiſtung nur den Schutz der beiden Großmächte bean - ſpruchte und im Nothfalle auch den Uebergang zum Landesfeinde nicht ſcheute. Und dazu die häßliche Verlogenheit der ganzen Berathung: keiner der Bundesgenoſſen konnte ſich darüber täuſchen, daß weder Oeſterreich noch Preußen jemals ſein Heer in zwei Stücke zerreißen würde, und mit - hin alles Streiten über die Bundescontingente der beiden Großmächte ſinn - los war. Metternich aber fand das Auftreten der Mittelſtaaten keines - wegs anſtößig, ſondern verhandelte in der Stille mit den ſüddeutſchen Höfen und verſprach dem Könige von Württemberg: neben den geſchloſſenen Maſſen der öſterreichiſchen, preußiſchen und bairiſchen Armee ſollten noch zwei oder drei gemiſchte Corps gebildet werden, ſo daß Württemberg, Han - nover und vielleicht auch Sachſen ein Corpscommando zu beſetzen hätten. Währenddem ward auch Buol von den ſüddeutſchen Geſandten bearbeitet; der Badener Berckheim fragte ihn vorwurfsvoll, warum Oeſterreich in Preußens Schlepptau gehe. **)Berckheims Bericht 8. April. Boyen an Hardenberg 31. März 1818.In der Sitzung vom 9. April 1818 trat der Präſidialgeſandte endlich offen zu den Mittelſtaaten über und legte dem Bundestage einige Hauptpunkte für die Bundeskriegsverfaſſung vor, welche in allem Weſentlichen den Anträgen der ſüddeutſchen Höfe ent - ſprachen. Die Verſammlung ging freudig darauf ein; Preußen fand ſich gänzlich vereinſamt und genehmigte was nicht mehr zu ändern war.

Der Staatskanzler ward aber ſelbſt durch dieſe Erfahrung nicht über die Zuverläſſigkeit der öſterreichiſchen Freundſchaft aufgeklärt, obwohl ihn Boyen, Wolzogen und ſogar der harmloſe Goltz wiederholt auf die offen - bare Zweizüngigkeit der Wiener Politik aufmerkſam machten. Noch immer hielt er Metternich für einen treuen, nur allzu nachgiebigen Freund, während dieſer in Wahrheit zäh und verſchlagen, wie die Mittelſtaaten, nur das eine Ziel verfolgte: jede militäriſche Verſtärkung Preußens zu verhindern. Zur Durchführung jener Hauptpunkte ward ein Ausſchuß des Bundestages eingeſetzt und außerdem noch eine aus Offizieren der größeren Staaten gebildete Militär-Commiſſion, ſo daß die militäriſchen Angelegenheiten ſtets drei Inſtanzen zu durchlaufen hatten. Ein neuer Zank begann, als Preußen ſich bereit erklärte, ebenſo viel Truppen zum Bundesheere zu ſtellen wie Oeſterreich, obwohl die Volkszahl ſeiner Bun - deslande etwas ſchwächer war. Der König hatte in ſeiner argloſen Ehr - lichkeit gehofft, der Bund werde ihm für dies patriotiſche Opfer danken, und fühlte ſich ſchwer enttäuſcht, als Metternich dem preußiſchen Geſandten mit freundſchaftlichem Bedauern antwortete: die Annahme dieſes groß -11*164II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.müthigen Anerbietens ſei am Bundestage leider wenig wahrſcheinlich, am wenigſten, wenn das gefürchtete Oeſterreich ſich dafür ausſpräche. In der That erklärten die Bundesgeſandten, der Hannoveraner Martens voran, ihr gerechtes Befremden über die unerhörte Zumuthung ſobald Goltz ſich im Sommer mit dem Antrage hervorwagte. *)Weiſung an Kruſemark, 20. Mai. Kruſemarks Bericht v. 10. Juni. Goltz’s Be - richt v. 21. Auguſt 1818.

Noch länger währte der Streit über die Eintheilung des Bundes - heeres. Die Hauptpunkte hatten nur beſtimmt, daß die kleinen Con - tingente vor jeder Berührung mit den Heeren der drei größten Staaten geſichert bleiben müßten. Preußen forderte nun, Kurheſſen ſolle, ſeiner geographiſchen Lage gemäß, einem norddeutſchen Corps beitreten; der Kur - fürſt dagegen hielt die verwandtſchaftlichen Verhältniſſe für wichtiger und wollte mitſammt dem Darmſtädter Vetter ſich an Württemberg an - ſchließen. Die Zänkerei ward völlig unerträglich, ſeit der neue Vertreter Oeſterreichs in der Militärcommiſſion, General Langenau insgeheim das Feuer ſchürte; der gewandte Sachſe hatte ſchon in Schwarzenbergs Haupt - quartier und auf dem Wiener Congreſſe ſeinen Haß gegen Preußen be - währt und zeigte ſich in allen den kleinen Künſten, welche am Bundes - tage entſchieden, dem gelehrten Preußen Wolzogen weitaus überlegen. Im Auguſt ward man endlich noch darüber einig, daß die Bevölkerung den Maßſtab für die proviſoriſche Bundesmatrikel bilden ſollte; denn zu einer definitiven Matrikel iſt der Deutſche Bund in einem halben Jahrhundert niemals gelangt. Aber nun begann wieder das Feilſchen der Kleinen: Hildburghauſen berechnete ſeine Bevölkerung nach einer Zählung vom Jahre 1807, Gotha und Altenburg wurden überführt, ihre Reiche um 12000 Seelen zu niedrig geſchätzt zu haben und was des Schmutzes mehr war. **)Goltz’s Bericht 28. April 1818.

Als der Deutſche Bund ſein drittes Jahr begann, war weder die Kriegsverfaſſung beſchloſſen, noch die Karlsbader Convention über die Feſtung Mainz vom Bundestage genehmigt, noch Luxemburg und Landau dem Bunde überwieſen, noch über die vierte Bundesfeſtung irgend etwas vereinbart. Mittlerweile lagen die mit dem Blute der Waterloo-Kämpfer erkauften franzöſiſchen Millionen gegen mäßigen Zins bei Rothſchild und bereicherten dies Haus, das zuerſt durch die Blutgelder des heſſiſchen Kur - fürſten ſeine Größe begründet, dann ſeit dem Jahre 1813 ſich raſch zu der Stellung einer Weltmacht aufgeſchwungen und in wenigen Jahren mehr denn 1200 Mill. Gulden an Subſidienzahlungen und Anleihen für die tief verſchuldeten Höfe Europas übernommen hatte. Die deutſche Volks - wirthſchaft zog aus den Schätzen der Rothſchilds wenig Gewinn; denn die Firma war nicht deutſch, wie einſt die Fugger und die Welſer, ſondern zeigte165Verhandlungen über die Landſtände.von vornherein den weltbürgerlichen Charakter des modernen Judenthums. Die fünf, durch den dankbaren Kaiſer Franz baroniſirten Söhne des alten Amſchel ſiedelten ſich in allen Hauptplätzen Weſteuropas an und befolgten alleſammt jenen einfachen Grundſatz, welchen einſt ihr Vater gegen den Kurfürſten von Heſſen ausgeſprochen hatte: wer mir mein Geld nimmt, nimmt mir meine Ehre, und meine Ehre iſt mein Leben. Der Frank - furter Zweig des Hauſes blieb der Hofburg ein treuer Helfer in ihrer ewigen Finanznoth und ein mächtiger Bundesgenoſſe ihrer deutſchen Politik; in Berlin war wenig zu gewinnen, da der preußiſche Staatshaushalt zehn Jahre nach dem Frieden bereits wieder in Ordnung kam. Friedrich Gentz aber ſchrieb voll uneigennütziger Begeiſterung einen langen Aufſatz für das Converſationslexikon, der die unvergleichliche Weisheit und Tugend der Gebrüder Rothſchild in vollendetem Bedientenſtile feierte.

Wenn der Bundestag die nächſte und wichtigſte ſeiner Pflichten ſo ſchimpflich verabſäumte, um wie viel weniger konnte er den zahlreichen anderen Aufgaben gerecht werden, welche ihm die vieldeutigen Worte der Bundesakte zuwieſen. Schleunige Erfüllung des Art. 13, der die Ein - führung von Landſtänden verhieß ſo lautete der einſtimmige Ruf aller Parteien der Oppoſition, und nichts wollte man dem Bundestage weniger verzeihen, als daß er ſich um jene Zuſage ſo wenig kümmerte. Und doch war die Bundesverſammlung keineswegs berechtigt, ſich auf Grund jener unbeſtimmten Weiſſagung in die Verfaſſungskämpfe der Einzelſtaaten ein - zumiſchen. Obſchon Hardenberg dem Grafen Goltz in ſeiner Inſtruktion einſchärfte, das Ausbleiben der verheißenen Verfaſſungen könne nach allen den Drangſalen der Kriegsjahre hochgefährlich werden, ſo fanden ſich doch die Bundesgeſandten bald zuſammen in dem ſtillſchweigenden Entſchluſſe dieſe heikliche Frage nicht zu berühren. Alle Kabinette erfuhren bald, daß die Verwirklichung jenes Verſprechens doch weit ſchwieriger war als die liberale Ungeduld wähnte, alle bewachten eiferſüchtig ihre Souveränität gegen den Bund, manche dachten auch ſchon im Stillen ſich der unbe - quemen Verpflichtung ganz zu entziehen, zumal ſeit in Württemberg ein leidenſchaftlicher Kampf zwiſchen der Krone und den Landſtänden ausge - brochen war, der die Höfe mit Schrecken erfüllte.

Gleichwohl ward der Bundestag gezwungen ſich mit der Angelegenheit zu befaſſen. Karl Auguſt von Weimar hatte ſchon im Mai 1816, der Erſte unter ſeinen Genoſſen, eine Verfaſſung für ſein Ländchen verkündigt und verlangte im December die Bürgſchaft des Bundes für dies Grundgeſetz. Der gradſinnige Fürſt ſprach offen aus, er ſei gewillt die für Deutſchland aufgegangenen Hoffnungen in ſeinem Lande zu verwirklichen, und mit brau - ſendem Jubel feierte die liberale Preſſe den einzigen deutſchen Fürſten, der ſein Wort gehalten . Die Mehrheit des Bundestages empfing den wei - mariſchen Antrag mit unverhohlenem Aerger; warum mußte dieſer kleine Herr ſich ſo anmaßlich vordrängen und, um die Volksgunſt buhlend, die166II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.anderen Souveräne in den Schatten ſtellen? Es kam zu heftigen Auf - tritten. Als Baiern die Competenz des Bundestages bezweifelte, erwiderte der Geſandte der erneſtiniſchen Höfe ſcharf: durch ſolche Behauptungen be - ſtätige man nur den weitverbreiteten grundloſen Vorwurf, als ob der Bund lediglich die neuen Souveränitätsrechte wahren, den Unterthanen aber ihre vormals durch die Reichsverfaſſung geſicherten Rechte vorenthalten wolle. Der argloſe Gagern vermehrte noch die Verſtimmung, da er dem Groß - herzog treuherzig ſeinen Dank ausſprach für dieſen Vorgang, der eine Trieb - feder mehr für andere Fürſten ſein würde. In Wien war man peinlich überraſcht, da man weder dem fürſtlichen Demagogen in Weimar eine Aner - kennung gönnte noch dem Bundestage eine ſchiedsrichterliche Gewalt ein - räumen wollte. Hardenberg dagegen, der noch zuverſichtlich an das Ge - lingen ſeiner eigenen Verfaſſungspläne glaubte, nahm ſich des Großherzogs an, lobte die patriotiſche Geſinnung, die ſich in dem weimariſchen Antrage bekundete, und beſchwichtigte durch einen vertraulichen Brief vorläufig die Bedenken Metternichs. Mit der üblichen feierlichen Langſamkeit that der Bundestag endlich was er nicht laſſen durfte und bewilligte, nach reichlich vier Monaten, in den trockenſten Worten die erbetene Bürgſchaft; doch fügte der öſterreichiſche Geſandte nachdrücklich hinzu: in ſolchen Fragen müſſe grundſätzlich Alles der freien Vereinigung der Fürſten und der Stände überlaſſen bleiben.

Um die nämliche Zeit hatte ein Löwenſtein’ſcher Juſtizrath Beck im Odenwalde eine unſchuldige Petition angefertigt, die den Bundestag um ſchleunige Ausführung des geliebten Art. 13 bat; einige Heißſporne aus der Jenenſer und Heidelberger Studentenſchaft trugen das Schriftſtück auf weiten Fußwanderungen von Ort zu Ort. Der Mann kam ſelbſt nach Frankfurt, beſuchte einige der Geſandten und führte, wie die Erſchreckten heim berichteten, eine höchſt revolutionäre Sprache. Trotz des Eifers der Studenten und des Beifalls der liberalen Preſſe fand die Bittſchrift in ganz Deutſchland kaum tauſend Unterzeichner; aber es war ſeit unvordenklichen Zeiten das erſte Beiſpiel einer über mehrere deutſche Staaten verzweigten politiſchen Agitation, und der Beamtenſtaat hing noch überall an der alten unverbrüchlichen Regel: jede Bitte iſt erlaubt, nur nicht das Sammeln von Unterſchriften. Daher erregte dies ſchüchterne Erwachen des Partei - lebens allgemeine Beſtürzung an den Höfen; ſelbſt Hardenberg befahl dem Geſandten in Frankfurt lebhaft erregt, dies gefährliche demagogiſche Treiben ſcharf im Auge zu behalten. *)Weiſung an Goltz, 8. December 1818.

Nach wie vor blieb Metternich entſchloſſen den Bundestag von dieſen ſchwierigen Fragen fern zu halten. Er ſah mit Befriedigung, daß in den öſterreichiſchen Kronländern die Verheißung der Bundesakte längſt herrlich erfüllt war; hier beſtanden ja noch jene mumienhaften Poſtulatenlandtage,167Metternichs Manifeſt über den Art. 13.deren beſchaulicher Lebenslauf ſich gemeinhin in drei Akten abſpielte: Auf - fahrt der Herren Stände in ihren Staatskaroſſen, Vorleſung und ein - ſtimmige Annahme der landesherrlichen Poſtulate, endlich Wiederabfahrt der Herren Stände in den nämlichen Staatskaroſſen. Nur einmal, im Herbſt 1817, verfiel Metternich auf den Plan, einige Abgeordnete dieſer Landtage nebſt den Spitzen des Beamtenthums zu einem Reichsrathe zu verſammeln; doch da Kaiſer Franz den verwegenen Neuerungsvorſchlag achtzehn Jahre lang, bis zu ſeinem Tode, in ſeinem Pulte liegen ließ, ſo verfolgte der Miniſter den Gedanken nicht weiter und verharrte bei dem bewährten Grundſatze der Stabilität. Wie hätte er alſo den Argwohn der deutſchen Souveräne erwecken mögen wegen dieſes Art. 13, der doch nur durch die Ideologen Hardenberg und Humboldt in die Bundesakte gelangt war! Sobald ihm der bairiſche Miniſter Rechberg, erſchreckt durch jene Ab - ſtimmung über den weimariſchen Antrag, lebhafte Beſorgniſſe vor mög - lichen Uebergriffen der Bundesverſammlung ausſprach, benutzte Metternich gern die Gelegenheit, um die kleinen Höfe über die Unſchädlichkeit des Bun - destags zu beruhigen und ſendete an den Geſandten Hruby in München eine lange Denkſchrift (11. Decbr. 1817), die unter dem Titel eines Mani - feſtes auch den anderen Kabinetten mitgetheilt wurde. Sie erwies nach einer pathetiſchen Schilderung der unvergleichlichen Vorzüge des deut - ſchen Foederativſtaates : der Bundestag könnte nur dann eine ſelb - ſtändige Gewalt ausüben, wenn alle Fürſten perſönlich daran theilnähmen; gegenwärtig genüge die Zurückberufung eines einzigen aufwiegelnden, daher untreuen Geſandten um allen Uebeln vorzubeugen. Der Kaiſer iſt überzeugt, daß der kleine weimariſche Staat bis zur Stunde mehr Unheil über Deutſchland zu verbreiten berufen iſt, als die Bundesverſammlung in ihrer geſetzlichen Lage, ſelbſt in kaum denkbaren Fällen zu thun ver - möchte. Am Wenigſten dürfe ſich der Bund um die Ausführung des Art. 13 kümmern. Die natürliche und höchſt einfache Berückſichtigung der Umtriebe, welche ſich heute Ruheſtörer jeder Art, in der Abſicht den Zeit - geiſt aufzuregen, erlauben, fordert unbedingt, daß die Bundesverſammlung ſich der Initiative enthält. Das Geſetz beſteht; dieſes muß für den Augen - blick genügen; die Anwendung des Geſetzes muß der Weisheit jeder ein - zelnen Regierung überlaſſen bleiben. *)Metternich an Hruby, 11. December 1817.

So fern lag dem Wiener Hofe noch der Plan, durch Bundesbeſchlüſſe die conſtitutionelle Bewegung zu hemmen. Die erſte Anregung zu einer reak - tionären Bundespolitik kam vielmehr von dem Monarchen, welcher damals neben Karl Auguſt in der Volksgunſt am höchſten ſtand. Der ehrgeizige junge König Wilhelm von Württemberg hatte ſich ſeit ſeiner Thronbeſteigung redlich bemüht, den ärgerlichen Verfaſſungsſtreit, den er von ſeinem böſen Vater überkommen, abzuſchließen und ſeinen Ständen ſchon zweimal ver -168II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.geblich liberale Verfaſſungsentwürfe vorgelegt. Da überfiel ihn im Herbſt 1817 die Reue, und er beſchloß beim Bunde Hilfe zu ſuchen gegen ſeinen eigenen Liberalismus. Seine Geſandten Wangenheim in Frankfurt und Wintzingerode in Wien erhielten den Auftrag, um authentiſche Interpre - tation des Art. 13 von Bundeswegen zu bitten, damit allen übertriebenen Anforderungen eine feſte und unerſchütterliche Schranke geſetzt werde. Natürlich durften die Beiden den wahren Grund der Bitte nicht verrathen. Der König, ſo verſicherten ſie, ſei durch ſein Wort gebunden, jedoch die unruhige Stimmung in Preußen und den Nachbarlanden Württembergs bedürfe eines Zügels, und fügte der plauderhafte Wangenheim harm - los hinzu die württembergiſchen Verfaſſungspläne drohten für ganz Deutſchland ein verhängnißvolles Beiſpiel zu werden. *)Berckheims Berichte v. 18., 23., 30. Novbr., 13., 29. Decbr. 1817, vollſtändig übereinſtimmend mit den Mittheilungen, welche Graf W. Wintzingerode (Graf E. L. Wintzingerode, ein württembergiſcher Staatsmann, Gotha 1866, S. 31 ff. ) aus würt - tembergiſchen Aktenſtücken gibt.Der Vorſchlag fand aber bei den Bundesgeſandten eine ſo kühle Aufnahme, daß Wangen - heim ſich dazu verſtehen mußte, ſeinen Antrag, den er in einer vertrau - lichen Sitzung (18. Dec.) geſtellt, nicht zu Protokoll zu geben. In Wien war Wintzingerode nicht glücklicher. Metternich äußerte zwar in vertrau - licher Unterredung, die landſtändiſchen Verfaſſungen des Art. 13 hätten nichts gemein mit der revolutionären Idee einer allgemeinen Volksver - tretung, und verrieth alſo ſchon jetzt einen Lieblingsgedanken ſeiner Politik, der in der deutſchen Politik noch argen Unfrieden ſtiften ſollte; aber eine Einwirkung des Bundes auf die ſtändiſchen Angelegenheiten ſchien ihm unmöglich, ſchon aus Rückſicht auf Preußen und Baiern. Der Anſchlag König Wilhelms war mißlungen, doch er blieb in Wien unvergeſſen. Metter - nich hatte erfahren, wie wenig nachhaltiger Widerſtand von den kleinen Kronen zu erwarten war, falls man ſich einmal entſchlöſſe die Macht des Bundes gegen die Landtage zu wenden. Der conſtitutionelle König, den die unſchuldige Preſſe als den Helden des Liberalismus feierte, wies der Hofburg ſelber zuerſt den Weg zur Unterdrückung deutſcher Freiheit.

Inzwiſchen kam der leidige Art. 13 in Frankfurt doch noch einmal zur Sprache, da auch die mecklenburgiſchen Herzöge die Bürgſchaft des Bundes verlangten für ein Verfaſſungsgeſetz, das zur Ergänzung ihres altehrwürdigen Erbvergleichs dienen ſollte. Bei dieſer Verhandlung be - richtete Graf Goltz, auf Hardenbergs Befehl, ausführlich, was in Preußen bisher geſchehen war um das Verfaſſungsverſprechen zu erfüllen; er wider - rieth die Regelung der ſtändiſchen Angelegenheiten durch die Bundesver - ſammlung, welche doch nur allgemeine Sätze aufſtellen könne, beantragte jedoch, daß die Einzelſtaaten dem Bundestag über den Stand ihrer Ver - faſſungsarbeiten binnen Jahresfriſt wieder Bericht erſtatten ſollten. König169Verhandlungen über die Preßfreiheit.Friedrich Wilhelm war über dies Vorgehen ſeines Staatskanzlers anfangs ſehr ungehalten, weil er vorausſah, daß die preußiſche Verfaſſung über’s Jahr unmöglich vollendet ſein konnte; und welches Recht habe der Bund über dieſe Dinge Rechenſchaft zu fordern? Indeß beruhigte ſich der König, da Hardenberg ihm vorſtellte, die Einführung neuer ſtändiſcher Inſtitu - tionen, an der Stelle der verlebten alten Provinziallandtage ſei doch be - ſchloſſene Sache: Heute kann nicht Geſtern werden. *)Kabinetsordre v. 18. Februar. Antwort Hardenbergs 10. März. Erwiderung des Königs 21. März 1818.Der Bundestag ertheilte nunmehr den Mecklenburgern die gewünſchte Garantie und nahm den preußiſchen Antrag an. Die Krone Württemberg aber verſagte ſich’s nicht, vor der Nation nochmals das Licht ihres unvergleichlichen Liberalismus leuchten zu laſſen. Derſelbe Wangenheim, der ſoeben insgeheim eine be - ſchränkende Interpretation des Art. 13 gefordert hatte, betheuerte in dem veröffentlichten Protokoll vom 6. April: die regeſte Sorgfalt Sr. Ma - jeſtät ſei auf eine den liberalſten Grundſätzen entſprechende Repräſentativ - verfaſſung gerichtet. Es war das erſte Probſtück jener heuchleriſchen, treulos zwiſchen dem Bundestage und den heimiſchen Landſtänden hin und her ſchwankenden Politik, welche fortan ein Menſchenalter hindurch von den conſtitutionellen Mittelſtaaten befolgt wurde.

Nächſt der landſtändiſchen Verfaſſung war die Preßfreiheit der Lieb - lingswunſch der Liberalen; ſie hofften um ſo ſicherer auf die Erfüllung dieſes Verlangens, da der Art. 18 der Bundesakte dem Bundestage vor - ſchrieb, bei ſeiner erſten Zuſammenkunft gleichförmige Verfügungen über Preßfreiheit und Nachdruck abzufaſſen. Aber auch dieſe Hoffnung ſollte trügen. Die wenig beſchränkte Freiheit, deren ſich die deutſche Literatur in ihren claſſiſchen Tagen erfreute, beruhte auf der Vorausſetzung, daß die Schriftſteller der Politik immerdar fern bleiben müßten. Als dann ſeit dem Jahre 1813 plötzlich eine politiſche Preſſe aufſchoß, ehrlich und warm - herzig, aber auch unklar, lärmend, jugendlich ungezogen, da ſtand der alte Beamtenſtaat dem ungewohnten Treiben noch eine Weile erſchrocken und rathlos gegenüber; kein Diplomat, der nicht in ſeinen vertrauten Briefen über die zügelloſe Frechheit der politiſchen Scribler jammerte. Zu den Wenigen, die in der allgemeinen Beſtürzung ihren Gleichmuth nicht ganz verloren, gehörte Hardenberg. Schon von Paris aus ſchrieb er dem Juſtiz - miniſter: er wünſche die Bewilligung einer geregelten Preßfreiheit, aber auch Beſchränkung der überhandnehmenden Zügelloſigkeit; die Reviſion der zahlreichen veralteten Cenſurgeſetze, welche in den verſchiedenen Landes - theilen Preußens noch galten, ſcheine dringend geboten. Leider fand er in - mitten der maſſenhaften Verwaltungsgeſchäfte jener Uebergangszeit nicht die Muße den Plan weiter zu verfolgen. Indeſſen wurde die Cenſur in Preußen ohne Härte gehandhabt und der Nachdruck, der auf dem linken Rhein -170II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.ufer ſein Unweſen trieb, ſtreng unterdrückt, obgleich die kleinen Nachbarn dem guten Beiſpiele nicht folgten und namentlich in Reutlingen, unter dem Schutze der württembergiſchen Krone, eine ſchamloſe literariſche Frei - beuterei blühte. Nur einmal ließ ſich der Staatskanzler, ſehr ungern, zu einer Ungerechtigkeit beſtimmen, die dem Rufe Preußens eine ſchwere Wunde ſchlug. Der Rheiniſche Merkur war ſeit dem Kriege raſch von ſeiner Höhe herabgeſunken; für die nüchternen Arbeiten der Friedenszeit reichte das feurige patriotiſche Pathos nicht mehr aus. Da Görres über die Geſchäftsfragen der Verfaſſung und Verwaltung nichts zu ſagen wußte, ſo verfiel er bald in ein zielloſes, terroriſtiſches Poltern. Von allen Höfen, den deutſchen wie den fremden, kamen Klagen wider den unverbeſſerlichen gazettier de Coblence. Wenn er höhnend ſchrieb, die Furcht der Re - gierungen vor der Preßfreiheit ſei nichts anderes als der Haß der öffent - lichen Dirnen gegen die Straßenbeleuchtung; wenn er nach dem Erſcheinen der Schmalziſchen Schrift mit ungeheuerlicher Uebertreibung, in ekelhaften Bildern ausführte: jetzt hätten ſich die ſieben Geſtänke des preußiſchen Staates zu dem einen Schmalz-Geſtank vereinigt, und die allgemeine Re - aktion breche herein ſo war dieſer Ton dem reizbaren Gehör der Zeit zu ſtark. Nach wiederholten vertraulichen Warnungen entſchloß ſich Harden - berg im Januar 1816 den Rheiniſchen Merkur zu unterdrücken, wenige Tage nachdem Görres den Neujahrstag mit der zuverſichtlichen Weiſſagung begrüßt hatte: der Merkur werde das herrſchende Geſtirn dieſes Jahres ſein. Das Verbot erregte allenthalben peinliches Aufſehen. Welch ein Dank für das Blatt, das in großer Zeit die deutſche Sache ſo muthig vertreten hatte; und welche Thorheit, den unberechenbaren, leidenſchaftlichen Publi - ciſten, der noch treu zu der preußiſchen Fahne hielt aber nach ſeiner phan - taſtiſchen Art jederzeit umſchlagen konnte, alſo zu kränken! Im Uebrigen blieb die preußiſche Preſſe ziemlich unbeläſtigt.

Erſt im Frühjahr 1817 erinnerte ſich der Bundestag der Verheißung des Art. 18 und beauftragte zunächſt den oldenburgiſchen Geſandten v. Berg mit einer ſtatiſtiſchen Zuſammenſtellung der deutſchen Preßgeſetze. Der ſchwergelehrte Herr ging mit der ganzen Umſtändlichkeit eines alten Göt - tinger Profeſſors an ſeine mühſame Arbeit. Hardenberg aber ſah ein, daß man auf dieſem Wege nie zum Ziele gelangen konnte, und da die Klagen wider die zügelloſe Preſſe, namentlich wider den burſchikoſen Ton der Jenenſer Zeitungen ſich täglich mehrten, ſo beſchloß er im Sommer 1817, durch ge - meinſame Vorſchläge der beiden Großmächte ein Bundes-Preßgeſetz zu Stande zu bringen. Er ließ alſo durch Geh. Rath v. Raumer eine Denkſchrift über die Preßfreiheit ausarbeiten und befahl ſeinem Vertrauten Jordan als dieſer im Winter nach Wien ging, ſich darüber mit Metternich zu verſtändigen. Die Denkſchrift verrieth bereits einige Aengſtlichkeit, doch überſchritt ſie auch noch nicht das Maß des Zwanges, das den meiſten Regierungen jener Zeit unentbehrlich ſchien: ſie forderte gänzliche Freiheit für alle grö -171Die Hungersnoth von 1816 / 17.ßeren wiſſenſchaftlichen Werke, ſtrenge Cenſur für die Zeitungen. *)Hardenberg an Kruſemark 12. Juni; Raumers Denkſchrift über den Art. 18, mit Anmerkungen des Staatskanzlers v. 18. Novbr. 1817.Aber auch hier zeigte ſich, wie weit die Anſichten der beiden Großmächte aus - einandergingen. Metternich trug wieder Bedenken in die Souveränität der Einzelſtaaten ſo tief einzugreifen, und Jordan brachte nichts heim als einige unverbindliche Zuſagen. Dann verſuchte Großherzog Karl Auguſt (April 1818) die Thätigkeit des Bundestages zu beſchleunigen und bat dringend um die Aufſtellung gleichförmiger Grundſätze für die deutſche Preſſe, weil er oft mit Schmerz erfahren habe, daß die verfaſſungsmäßige Preßfreiheit ſeines Landes von den Nachbarn mit Unwillen betrachtet würde. Vergebliche Mahnung. Erſt im Oktober 1818, nach reichlich anderthalb Jahren, brachte Berg ſeine Ueberſicht zu Stande, und nun ermannte ſich der Bundestag zu dem Beſchluſſe, eine Commiſſion zur Vorbereitung weiterer Berathungen einzuſetzen. So ging die Zeit, da ein leidlich verſtändiges deutſches Preß - geſetz noch möglich war, durch ſchimpfliche Saumſeligkeit verloren.

Den Maſſen des Volks ward die hilfloſe Nichtigkeit des Bundestages erſt fühlbar, als er an den Art. 19 der Bundesakte, der die Regelung der Verkehrsverhältniſſe verhieß, endlich herantrat. Eine ſo anarchiſche Verwirrung, wie ſie dies verarmte, ausgeſogene Volk jetzt in ſeinem Han - del und Wandel ertragen mußte, hatte ſelbſt die jammerreiche deutſche Geſchichte noch nie geſehen. Die verhaßten Douanen und droits réunis der Franzoſen waren ſofort nach dem Sturze der Fremdherrſchaft überall beſeitigt worden und noch nicht durch ein neues Syſtem indirekter Steuern erſetzt. So lag denn ein großer Theil Deutſchlands der übermächtigen Mitwerbung des reicheren Auslandes ſchutzlos offen. Die Fabriken des Rheinlandes, kaum erſt aufgeblüht unter dem napoleoniſchen Merkantil - ſyſtem, verloren plötzlich ihren Markt in Frankreich, Holland, Italien und ſahen ſich von ihren Landsleuten abgeſperrt durch die zahlreichen Staats - und Provinzial-Zolllinien, welche das deutſche Land durchſchnitten. Es war ein Stück verkehrter Welt. Sobald die Continentalſperre fiel, wurden die ſeit Jahren aufgeſpeicherten engliſchen Waaren in Maſſen auf das Feſt - land geworfen; Schaaren engliſcher Muſterreiter durchzogen die deutſchen Städte. Die engliſche Induſtrie ſendete in einem Jahre für 388 Mill. Gulden Fabrikwaaren nach dem Continente, nach Deutſchland allein für 129 Mill. Gulden. Dann ſchritt das Parlament zur Wiederherſtellung des Baargeld-Umlaufs. Die geſammten Silbermünzen des Reichs wurden umgeprägt, Maſſen neuer Goldmünzen ausgegeben, die Bank zur allmäh - lichen Wiederaufnahme der Baarzahlungen verpflichtet. England bedurfte um jeden Preis der edlen Metalle und ſuchte den Bedarf durch gehäufte Waarenausfuhr zu decken, alſo daß die britiſchen Baumwollenzeuge auf dem deutſchen Markte oft zu 30 bis 40 Procent unter den Erzeugungs -172II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.koſten angeboten wurden. Zudem hinderten die hohen Kornzölle Englands die Ausfuhr deutſchen Getreides, und in den Hungerjahren von 1816 und 17 ging dem deutſchen Fabrikanten auch der einzige Vortheil verloren, den er vor dem engliſchen Concurrenten voraus hatte, der niedrige Arbeitslohn.

Erbittert durch ſo heilloſe Zuſtände warf ſich die öffentliche Meinung in unreife extreme Anſichten. Beſorgte Fabrikanten verlangten ein hartes Prohibitivſyſtem zum Schutze der deutſchen Arbeit, und das überſpannte Teutonenthum ſtimmte mit ein. In Berlin verſchworen ſich die Stadt - verordneten mit einer großen Zahl angeſehener Bürger, nur noch deutſche Kleider und Geräthe zu kaufen; ähnliche Vereine entſtanden in Schleſien und Sachſen. Auf der anderen Seite lärmten die radikalen Freihändler, welche wie der Baier Brunner alle Zölle als einen Eingriff in die natürliche Freiheit verdammten; eine wiſſenſchaftlich durchgebildete freihändleriſche Ueberzeugung beſtand erſt in einem kleinen Kreiſe von Gelehrten und unter den beſten Köpfen des preußiſchen Beamtenthums. Beſeitigung oder doch Beſchränkung der Binnenmauthen war der allgemeine Wunſch; ſchon im Jahre 1816 berief E. Weber auf der Leipziger Meſſe eine Verſamm - lung von Fabrikanten und Kaufleuten um dem Bundestage dieſe Bitte vorzutragen. Aber Wenige verbanden einen klaren Begriff mit den großen Worten; Wenige ahnten, welche ungeheueren Schwierigkeiten die Natur ſelbſt der wirthſchaftlichen Einheit Deutſchlands entgegenſtellte. Kein an - deres Culturvolk war in Gemüth und Charakter ſo gleichartig, aber auch keines umſchloß in ſeinen Grenzen eine ſolche Verſchiedenheit der klima - tiſchen Verhältniſſe, der Verzehrungs - und Arbeitsgewohnheiten. Welch ein Abſtand von der Großinduſtrie des Niederrheins bis hinüber zu den halb - polniſchen Provinzen, wo mit den ſteigenden Getreidepreiſen der Arbeitslohn zu ſinken pflegte weil nur der Hunger das träge Volk zur Arbeit zwang; und wieder von dem nordiſchen Klima Oſtpreußens, wo das Elennthier in den Forſten hauſte, bis zu den geſegneten Weingeländen des Rheines. Noch war der ſchöpferiſche Kopf nicht aufgetreten, der es vermochte ſo grundver - ſchiedenen Intereſſen gerecht zu werden.

Am Wenigſten der Bundestag durfte ſich zu einer ſolchen Arbeit er - dreiſten. Aber mindeſtens einen, ſchlechthin empörenden Uebelſtand der deutſchen Verkehrsverhältniſſe konnte und mußte die Bundesverſammlung beſeitigen, als im Sommer 1816 eine Hungersnoth über das verarmte Land hereinbrach, deren gleichen man ſeit dem böſen Jahre 1772 nicht mehr erlebt hatte. Monatelang ſtrömte der Landregen vom Himmel, alle Flüſſe traten aus ihren Betten, in Mittel - und Weſtdeutſchland ging faſt die geſammte Ernte zu Grunde; noch im Frühjahr 1817 ſah man am Rhein blaſſe, jammernde Menſchen die Felder durchſtreifen und die verfaulten Kartoffeln vom vorigen Jahre ausgraben. Die wenigen Landſtraßen hatte der Krieg ſo gänzlich verwüſtet, daß die Getreidezufuhr zu Lande auf weitere Entfernungen unmöglich war; konnten doch ſelbſt die Poſtwagen im Winter173Die Getreideſperre.mit ſechzehn, zwanzig Pferden Vorſpann oft kaum durchkommen. Daher ſtand im Jahre 1818 der Preis des Scheffels Weizen am Rhein um 2 Thlr. 9 Sgr. 6 Pfg. höher als in Poſen, während in den fünfziger Jahren der höchſte Preisunterſchied innerhalb der preußiſchen Monarchie nur 10 Sgr. 7 Pfg. betrug. Und dieſer ohnehin kümmerliche Verkehr ward jetzt vollends zerſtört durch die thörichte Bosheit des Particularismus. Oeſterreich verbot, ſeinen altväteriſchen volkswirthſchaftlichen Grundſätzen gemäß, ſofort nach Eintritt der Theuerung die Ausfuhr des Getreides und gab damit das Signal zu einem allgemeinen Zollkriege in Süddeutſchland. Auch Baiern, Württemberg, Baden, Darmſtadt ſperrten ihre Grenzen; der Getreidehandel im Oberlande ſtockte gänzlich. In Frankfurt ging das Futter aus, die Bundesgeſandten zitterten für ihre Wagenpferde, und Graf Buol mußte im Namen ſeiner Genoſſen eine Bittſchrift an die Krone Baiern ſchicken, damit eine Haferſendung, die bei Wertheim auf dem Maine lag, von der bairiſchen Mauth endlich durchgelaſſen wurde. *)Berſtetts Bericht, 20. Mai 1817.Auch im Norden geſchahen manche arge Mißgriffe. Miniſter Bülow verwendete die zwei Millionen Thlr., welche der König zum Ankauf baltiſchen Getreides bewilligt hatte, ſo leichtſinnig, daß den ſchwer heimgeſuchten Rheinlanden wenig davon zu gute kam. Immerhin zeigte ſich die Mehrzahl der norddeutſchen Re - gierungen ehrlich bemüht, durch Erleichterung des Verkehrs den Nothſtand zu bekämpfen. Nachdem die ſüddeutſchen Höfe einander mehrere Monate hindurch mit widerwärtigen Vorwürfen überſchüttet und ihre Länder wechſel - ſeitig ausgehungert hatten, wendete ſich Württemberg endlich an den Bund und beantragte ſchleunige Aufhebung der Sperre durch Bundesbeſchluß (19. Mai 1817). Offenbar in der Abſicht Alles zu vereiteln ſtellte Baiern darauf den Gegenantrag: die Maßregel müſſe auch auf die nichtdeutſchen Provinzen Oeſterreichs, Preußens und der Niederlande ausgedehnt werden. Preußen und die Mehrheit der übrigen Staaten ſtimmten dem Vorſchlage Württembergs zu; die Hofburg aber ließ, nach ihrer Gewohnheit, den Prä - ſidialgeſandten acht Wochen lang ohne Inſtruktion.

Da kam die Güte der Natur dem Bundestage zu Hilfe; die Felder prangten in reichem Aehrenſchmucke, die Preiſe fielen, und befriedigt konnte Buol am 14. Juli in ſeinem claſſiſchen Deutſch der Verſammlung ver - künden: er kenne zwar noch immer nicht die Abſichten ſeines Hofes, dies ſchade aber wenig, da die Ausſicht zu einer ſo geſegneten reichen Ernte die Sperre von ſelbſt aufhebt . Im folgenden Jahre berieth man noch - mals über gemeinſame Maßregeln für die Zukunft, und nochmals zeigte Baiern ſeinen böſen Willen, bis endlich der Präſidialgeſandte (9. Juli 1818) dies Schauſpiel bundesgenöſſiſcher Eintracht mit den Worten ſchloß: die Verhandlungen hätten allerdings zu keinem Ergebniß geführt; er nähre jedoch die Hoffnung, daß demnächſt dieſer Gegenſtand wieder in erneuerte174II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Anregung gebracht würde . So glänzend beſtätigte ſich jene Weiſſagung Oeſterreichs: der Art. 19 ſolle die Bundesſtaaten einander entfremden! Auch ein Nachſpiel fehlte nicht, das nur auf deutſchem Boden möglich war; denn es gibt eine Naivität der Dummheit und der Nichtswürdigkeit, welche allein in der Enge der Kleinſtaaterei gedeihen kann. Der Kurfürſt von Heſſen hatte während der Hungersnoth durch den getreuen Rothſchild baltiſches Getreide beſtellt; die Sendung langte aber zu ſpät an, als die Preiſe ſchon wieder gefallen waren. Damit ſeine Kammerkaſſe keinen Schaden litte, zwang nun der reiche Fürſt die Kaſſeler Bäcker, ihm das Oſtſeegetreide zu 12 Thlr. 2 Gr. für das Kaſſeler Viertel abzunehmen, während der Marktpreis im Lande nur auf 7 Thlr. ſtand. Alſo ward das Nothjahr den Bürgern der heſſiſchen Hauptſtadt durch den liebevollen Landesvater noch um einige Monate künſtlich verlängert.

Was konnte vollends der auswärtige Handel der Nation von dem Bundestage erwarten in einer peinlichen Angelegenheit, welche ſelbſt von den Seemächten ſehr ſchlaff behandelt wurde? Wie die Türkei ſelber ſo ver - dankten auch ihre Schutzſtaaten, die Barbaresken, ihren Beſtand zumeiſt der Uneinigkeit der europäiſchen Mächte; die Ueberfülle von Gegenſätzen, welche die vielgeſtaltige Cultur des Abendlandes umſchloß, kam der Bar - barei des Islam zu ſtatten. Da keine europäiſche Macht der anderen ein rückſichtsloſes Vorgehen gegen die Pforte geſtatten wollte, ſo hatte man ſich längſt gewöhnt die Raubfahrten der Barbaresken im Mittelmeere als rechtmäßige Kriegszüge zu betrachten; jede Seemacht ſchützte ſich dawider durch die Waffen oder auch durch Tributzahlungen. Als der Seehandel nach dem Frieden wieder aufzublühen begann, wagten ſich die Piraten auch in andere Meere hinaus; ſelbſt in der Oſtſee, im Angeſicht der deut - ſchen Küſte wurden deutſche Schiffe ausgeplündert und die Mannſchaft in die Sklaverei hinweggeführt, und zu alledem drohte die Gefahr der Anſteckung aus den verpeſteten Landen Nordafrikas. Die Schiffe aus Han - nover und Schleswig-Holſtein genoſſen noch einiger Sicherheit unter dem Schutze der engliſchen und der däniſchen Flagge, da eine britiſche Flotte ſoeben den Dey von Algier in ſeiner Hauptſtadt bedroht und zur Aus - lieferung der chriſtlichen Sklaven gezwungen hatte. Um ſo ſchwerer litten die Hanſeſtädte und die preußiſchen Häfen; ein großer Theil ihrer Schiffe mußte unter fremder Flagge ſegeln. Da verlangte endlich Czar Alexander in London die Bildung eines europäiſchen Seebundes zur gemeinſamen Be - kämpfung der Seeräuber (Sept. 1816); die engliſche Regierung aber wit - terte wieder arge Hintergedanken und wollte das Erſcheinen ruſſiſcher Kriegs - ſchiffe im Mittelmeer nicht dulden. Die langwierigen Verhandlungen führten zu keinem Ergebniß, obſchon Preußen die ruſſiſchen Vorſchläge unterſtützte und ſich bereit erklärte einige Fregatten für die europäiſche Flotte zu ſtellen. Oeſterreich zeigte, wie in allen Fragen der Handels - politik, eine unerſchütterliche Gleichgiltigkeit; als die Corſaren des Sultans175Die Barbaresken.von Marokko wieder einmal ein preußiſches Schiff genommen hatten, ſchrieb Gentz höhnend: ſollte denn dieſer gute Mann nicht wie andere Souveräne das Recht haben, Feindſeligkeiten auszuüben wenn er beleidigt wird?

Währenddem riefen die Hanſeſtädte die Hilfe des Bundes an (16. Juni 1817), und der Bundestag erkühnte ſich zur Einſetzung einer Commiſſion. Graf Goltz hielt für nöthig dieſe unerhörte Verwegenheit zu entſchuldigen und betheuerte ſeinem Könige, daß es die Abſicht der Verſammlung weder jetzt noch künftig ſein kann und wird, ſich unberufen in Beziehungen der europäiſchen Politik zu miſchen; ſie handelt nicht aus Anmaßung, ſondern in der Ueberzeugung, daß Ew. K. Maj. und die Großmächte Europas dies durch den Zweck ihrer Beſtimmung und ihren guten Willen, demſelben treu zu entſprechen, zu entſchuldigen geneigt ſein werden. *)Goltz’s Bericht an den König 17. Juni 1817.Und wahrlich, demüthig wie dieſe Entſchuldigung lautete auch der Antrag der Commiſſion: der Bundestag möge Oeſterreich und Preußen erſuchen, daß ſie ihrerſeits mit Hilfe Frankreichs, Rußlands und der anderen Seemächte den engliſchen Hof bewögen, gemeinſamen Maßregeln gegen die Barbaresken beizutreten. Unter allen deutſchen Höfen fand ſich nur einer, der die ganze Schmach eines ſolchen Antrags empfand. Vermuthlich war dem Württemberger Mandelsloh, der die Stimme Badens führte, von Nebenius oder einem andern der zahlreichen fähigen jungen Beamten in Karlsruhe ein Gutachten zugeſendet worden; genug, im Namen Badens regte Mandelsloh zuerſt den Gedanken einer deutſchen Flotte an, freilich noch in ſehr unbeſtimmten Umriſſen. Er fragte: ob man den Seemächten mit Anſtand zumuthen könne, den deutſchen Handel auf ihre Koſten zu beſchützen? ob das Volk, das einſt den gewaltigen Seeräuberbund der Vitalienbrüder vernichtete, nicht im Stande ſei einige Fregatten in See zu ſtellen und ein paar elende Raubſchiffe aus den deutſchen Meeren zu vertreiben? Verſtand doch ſelbſt das kleine Portugal ſich ſeiner Haut zu wehren gegen die Barbaresken! Der binnen - ländiſche Stumpfſinn der deutſchen Bundespolitik fand auf ſolche Fragen keine Antwort. Nach einem halben Jahre (22. Decbr. ) erſuchte der Bun - destag ſeine Commiſſion in ihren Bemühungen fortzufahren, und damit war die Sache für den Bund erledigt. Die Barbaresken raubten fröhlich weiter. Umſonſt beſtürmte der antipiratiſche Verein, der in den Seeplätzen zuſammengetreten war, noch drei Jahre ſpäter die Wiener Miniſterconfe - renzen mit ſeinen Bitten. Nach wiederholten ſchweren Verluſten ſchrieben die Hanſeſtädte endlich im Jahre 1829 unterthänigſt an den erhabenen und ruhmwürdigen Monarchen, den mächtigen und ſehr edlen Fürſten, Seine Kaiſerliche Majeſtät Sultan Abderrhaman von Marokko und er - boten ſich, unter Englands Vermittlung wegen einer Tributzahlung zu ver - handeln. Bevor dieſe Unterhandlung zum Ziele gelangt war, zogen jedoch die franzöſiſchen Eroberer in Algier ein, erzwangen den Frieden an den176II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.Küſten Nordafrikas und beendigten die häßlichſte Epiſode aus der häß - lichen Geſchichte der orientaliſchen Frage.

Auch den zahlreichen Beſchwerden und Bitten der mediatiſirten Reichs - ſtände begegnete der Bundestag mit unverwüſtlicher Trägheit. Schon auf dem Wiener Congreſſe hatte Preußen vorgeſchlagen, den Mediatiſirten einige Curiatſtimmen am Bundestage zu gewähren, damit der ſchwer miß - handelte hohe Adel ſich mit der neuen Ordnung der deutſchen Dinge ver - ſöhnen und aus ſeiner unnatürlichen Sonderſtellung wieder heraustreten könne. Aber der Antrag ſcheiterte an der Eiferſucht der rheinbündiſchen Höfe. Die Bundesakte verhieß den Mediatiſirten (Art. 14) eine lange Reihe von Vorrechten in Sachen der Beſteuerung, des Gerichtsſtandes u. ſ. w. Privilegien, die den modernen Vorſtellungen von Staatseinheit und Rechtsgleichheit widerſprachen und alſo die öffentliche Meinung auch gegen die gerechten Anſprüche der alten Reichsſtände verſtimmten. Ueber die Curiatſtimmen ſagte der Art. 6 der Bundesakte nur, die Bundesver - ſammlung ſolle dieſe Frage bei Berathung der organiſchen Geſetze in Er - wägung nehmen. Die Verheißungen des Art. 14 wurden in den größeren Staaten, begreiflich genug, weit bereitwilliger ausgeführt als von den kleinen Fürſten, denen die Mediatiſirten als gefährliche Nebenbuhler erſchienen. In Oeſterreich, dem claſſiſchen Lande der Adelsprivilegien, ſtand der hohe Reichsadel von jeher in Gnaden, ſchon weil er vor Alters immer zur kai - ſerlichen Partei gehört hatte. Auch der König von Preußen betrachtete es als fürſtliche Ehrenpflicht, das den Entthronten widerfahrene Unrecht zu ſühnen und erließ ſchon am 21. Juli 1815 eine Verordnung, welche weit über die Verheißungen der Bundesakte hinausging und den Mediatiſirten, faſt allzu großmüthig, ſehr bedeutende Vorrechte, ſogar die Befreiung von allen direkten Steuern gewährte. Peinlicher war ihre Lage in Baiern. Mont - gelas und ſeine Bureaukratie konnten ſich’s nicht verſagen, dieſe erlauchten Geſchlechter zuweilen das Halsband der Unterthänigkeit fühlen zu laſſen; man zwang ſie ihre Adelsbriefe gegen hohe Gebühren bei dem Heroldsamte eintragen zu laſſen und ſprach amtlich nur noch von Herrn Waldburg, als der Fürſt von Waldburg-Zeil die Zahlung verweigerte. Immerhin beſaßen die bairiſchen Standesherren noch einen leidlich feſten Rechtsboden an einer königlichen Verordnung v. J. 1807, die den Vorſchriften der Bundesakte zum Muſter gedient hatte.

In Württemberg dagegen, in Baden, Naſſau und beiden Heſſen nahm der Hader kein Ende; alle dieſe Höfe ahnten, daß die Fürſtenberg, Lei - ningen, Löwenſtein und Hohenlohe ſich niemals ſchlichtweg als badiſche oder württembergiſche Unterthanen fühlen konnten. Mit brutaler Grobheit ver - wies König Friedrich von Württemberg die Fürſten und Grafen von Wald - burg, Königsegg u. A. zur Ruhe, da ſie ſich unterſtanden, ihn in einer Adreſſe an den glorreichen Vorgang des Königs von Preußen zu erinnern. Darauf ſchloſſen die als ſchuldloſe Staatsopfer niedergebeugten Reichs -177Die Mediatiſirten.ſtände des württembergiſchen Landes unter der Führung des Fürſten Waldburg-Zeil einen Verein zur gemeinſamen Wahrung der Standes - rechte; ſie wendeten ſich an ihr vormaliges allgemein beglückendes Reichs - oberhaupt , den Kaiſer Franz, auch an viele andere Souveräne, und ver - langten, daß der Bund ihnen die Curiatſtimmen gewähre und Vorſchriften für die Ausführung des Art. 14 erlaſſe. Einzelne ihrer Wünſche überſchritten unleugbar das Maß der Rechte, welche ein geordneter Staat ſeinen Unter - thanen gewähren konnte. Aber der ſchwäbiſche Despot hatte ſeine Ohren überall; er erfuhr die Umtriebe ſeines hohen Adels durch ſeinen Bundes - tagsbevollmächtigten v. Linden, einen berüchtigten Kundſchafter der napo - leoniſchen Polizei, der vor Kurzem in Berlin als Geſandter erſchienen und von Hardenberg ohne Weiteres zurückgeſchickt worden war. Sofort griff der König mit einem Dehortatorium ein, ließ den Fürſten Waldburg in den roheſten Formen verhören und verbot dann den Verein der Mediatiſirten als null und verrätheriſch . Zugleich ſchlug er Lärm an den Nachbar - höfen, und der badiſche Miniſter Hacke erklärte ihm mit Freuden ſeine Be - reitwilligkeit zu gemeinſamen Maßregeln gegen den Geiſt des Aufruhrs und der Widerſetzlichkeit, der bei einem großen Theile des Adels an die Tagesordnung tritt . Hatte doch Fürſt Waldburg ſich ſogar erdreiſtet den ſouveränen Fürſten von Bückeburg mit Hochzuverehrender Herr Vetter! anzureden! *)Eingaben des Fürſten v. Waldburg-Zeil an den König v. Württemberg 29. Sept. 1815; an Kaiſer Franz 2. April 1816; an den Fürſten v. Bückeburg 23. März; Miniſter v. Hacke an Graf Wintzingerode 8. April 1816.

Als der Bundestag eröffnet wurde, zeigte ſich die große Mehrzahl der Bundesſtaaten ſo argwöhniſch gegen die Rebellen vom hohen Adel, daß Hardenberg ſeinem Geſandten befahl, den Antrag auf Gewährung der Curiatſtimmen als völlig ausſichtslos vorläufig ruhen zu laſſen. Die Ein - gaben der Mediatiſirten wurden zu den Akten gelegt. Erſt im Januar 1818 begannen die Geſandten dem Bundestage über die Ausführung des Art. 14 in ihren Heimathlanden Bericht zu erſtatten, und darauf wurde am 1. Oktober zur Aufſtellung gemeinſamer Grundſätze wieder die unver - meidliche Commiſſion eingeſetzt. Von den Curiatſtimmen war nicht mehr die Rede, und da auch jene gemeinſamen Grundſätze nie zu Stande kamen, ſo blieb das Recht der Mediatiſirten den Geſetzen der Einzelſtaaten an - heimgegeben, obgleich die meiſten der alten reichsſtändiſchen Häuſer in mehreren Bundesſtaaten zugleich angeſeſſen waren. Der Particularismus, der ſo viele köſtliche Kräfte unſerer Nation zerſtörte, wußte auch nichts an - zufangen mit einer Ariſtokratie, welche nur dem ganzen Deutſchland ange - hören konnte und für die Armſeligkeit der Kleinſtaaterei zu hoch ſtand. Er zwang ſie, von dem politiſchen Leben ſich ſchmollend zurückzuziehen, ſo daß ſie nur zuweilen noch, durch Klagen über verletzte Privilegien, das deutſche Volk unliebſam an ihr vergeſſenes Daſein erinnerte.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 12178II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.

In den zwei erſten Jahren ſeines Beſtandes brachte der Bundestag überhaupt nur ein einziges einigermaßen brauchbares Geſetz zu Stande: die Austrägalordnung vom 16. Juni 1817. Auch dieſer Beſchluß trug allerdings das Gepräge des lockerſten Foederalismus; auf den Gedanken eines ſtehenden Bundesgerichts, welchen Preußen in Wien ſo hartnäckig vertheidigt hatte, wagte Niemand mehr zurückzukommen. Immerhin war es ſchon ein Gewinn, daß die Bundesglieder ſich verpflichteten, ihre gegen - ſeitigen Streitigkeiten zunächſt der Vermittlung des Bundestages zu über - geben; ſchlug dieſe Vermittlung fehl, ſo ſollte der oberſte Gerichtshof eines von den beiden Parteien gewählten Bundesſtaates die Entſcheidung fällen. Auf ſolche Weiſe ſind in der That manche kleine Händel zwiſchen den Bundesſtaaten friedlich, und ſchneller als weiland durch die Reichsgerichte, beigelegt worden. Aber freilich nur Streitfragen von geringer Bedeutung. Denn Preußen ſtellte ſchon bei den erſten Berathungen den Grundſatz auf, der ſeitdem in Berlin immer feſtgehalten wurde: die Austrägalinſtanz dürfe nur über eigentliche Rechtsfragen, nicht über politiſche Intereſſen - fragen entſcheiden. Dieſer von den Kleinſtaaten mit lebhaftem Widerſpruche aufgenommene Vorbehalt war rechtlich anfechtbar, aber politiſch nothwendig; denn nimmermehr konnte eine europäiſche Macht geſtatten, daß die großen Machtfragen ihrer Politik etwa von dem Zerbſter oder dem Jenaer Appel - lationsgerichte nach den Grundſätzen des Civilproceſſes erledigt würden.

Wenn eine Geſandtenconferenz ernſte Zwecke verfolgt, ſo wird die Parteiſtellung der Mitglieder auf die Dauer ſtets durch die Geſinnungen ihrer Auftraggeber beſtimmt; am Bundestage aber fand die Perſönlichkeit der einzelnen Geſandten freieren Spielraum, da die Höfe ſich um die Frankfurter Nichtigkeiten wenig bekümmerten. So entſtand nach und nach eine höchſt unnatürliche Parteibildung, die allein auf den perſönlichen An - ſichten der Geſandten beruhte. Smidt und Berg wurden in Wien als die beiden ganz ſchlechten Kerls bezeichnet, obſchon weder der Bremer Senat, noch der Großherzog von Oldenburg den Vorwurf liberaler Ge - ſinnung verdiente. Zu ihnen geſellten ſich Pleſſen, Eyben, Martens, Wangenheim; auch der neue bairiſche Geſandte Aretin ſtand den An - ſchauungen des Liberalismus nahe. Am meiſten Kummer bereitete dem Präſidialgeſandten doch die unerſchöpfliche Beredſamkeit des wackeren Gagern. Dieſer wunderliche Legitimiſt des alten Reichsrechts wollte nur eine kai - ſerliche Abdication, nicht die des Reiches kennen, forderte harmlos für den Deutſchen Bund die ganze Machtvollkommenheit der kaiſerlichen Ma - jeſtät. Alles was deutſch iſt ſollte der Befugniß der Bundesverſammlung anheimfallen; ſogar die Auswanderung dachte er der Aufſicht des Bundes - tages zu unterwerfen und ſendete pflichteifrig im Dienſte der menſchlichen Gattung einen Agenten nach Amerika zur Beobachtung dieſer neuen ſo - cialen Erſcheinung, deren Bedeutung der geiſtreiche Mann früher durch - ſchaut hatte, als die meiſten der Zeitgenoſſen. Oft konnten die Hörer179Gagerns Abberufung.nur mühſam ihren Ernſt behaupten, wenn er in ſeinen gelehrten, von Citaten und Anſpielungen ſtrotzenden Reden alle die reichspatriotiſchen Phraſen der Regensburger Tage wieder ausſpielte, alle die Schnirkel und Schnörkel des heiligen Reichsrechts, bis herab zu dem großen gebratenen Ochſen des Krönungsfeſtes, zur Schau ſtellte. Kein Mißerfolg ſtörte den Gutmüthigen in der Zuverſicht ſeiner patriotiſchen Hoffnungen. Als der Bundestag im Sommer 1817 zum erſten male ſeine Ferien begann, hielt der luxemburgiſche Geſandte eine hochpathetiſche Schlußrede zum Preiſe der Bundesverfaſſung und rief begeiſtert: Dieſer Bund iſt minder fürch - tend als furchtbar! Den unzufriedenen Liberalen hielt er die Frage ent - gegen: Was wir gewonnen haben? Daß die Mutter das Kind heiterer unter ihrem Herzen trägt, der Sorge und Angſt enthoben einen Sklaven zu erziehen, ſondern im Vorgefühle, daß ſie einen freien Mann dem Vater - lande darbringen wird! Ludens Nemeſis aber antwortete mit der bitteren Gegenfrage: Was wir verloren haben? Den Glauben an die Redlichkeit aller Häupter und Führer!

Es konnte nicht fehlen, daß die nebelhafte Begeiſterung des Reichs - patrioten zuweilen mit der handfeſten Wirklichkeit des deutſchen Particu - larismus hart zuſammenſtieß. So bei der Beſprechung des Art. 18 der Bundesakte. Der Artikel verhieß den deutſchen Unterthanen die Frei - zügigkeit, vorausgeſetzt, daß ein anderer Bundesſtaat ſie erweislich zu Unterthanen annehmen wolle . Von dieſer leeren Phraſe, die in der That wie Hohn klang, behauptete Gagern, ſie begründe ein allgemeines deutſches Bürgerrecht; dies Bürgerrecht ſei aber nur dann geſichert, wenn alle Deutſchen ihrer Wehrpflicht in dieſem oder jenem Bundesſtaate genügen dürften: das Vaterland wird hier wie dort vertheidigt! Welch eine Zumuthung an Preußen, ſo lange hier allgemeine Wehrpflicht, dort Stell - vertretung oder Werbung, hier neunzehnjährige, dort ſechsjährige Dienſt - zeit galt! Da Goltz dieſe Bedenken hervorhob, erwiderte Gagern harmlos: warum ſolle der Bund nicht beſtimmen, daß etwa mit dem vollendeten ſiebenundzwanzigſten Jahre die Hauptkriegspflicht jedes Deutſchen als er - füllt zu betrachten ſei? und fügte dann mit dem ganzen Stolze eines Luxemburgers hinzu: die Abänderung dieſer oder jener Special-Muſter - rolle ſteht fürwahr in keiner Vergleichung mit den weſentlichſten National - berechtigungen! Natürlich blieb Goltz ſtandhaft, und der in kindlicher Unſchuld unternommene Angriff auf die Grundfeſten der preußiſchen Heeres - verfaſſung ward abgeſchlagen. Trotz Alledem betrachtete Hardenberg ſeinen alten Wiener Genoſſen noch immer mit behaglicher Ironie und befahl dem Grafen Goltz mehrmals, den ehrlichen Patrioten ſchonend zu be - handeln, da er doch keinen ernſten Schaden ſtifte. *)Weiſungen an Goltz, 21. April, 12. Juli 1817.

Die anderen Höfe dachten weniger vornehm. Als Gagern wiederholt12*180II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.an die verheißenen landſtändiſchen Verfaſſungen erinnerte, als er den empfindlichen neuen König von Württemberg durch ſcharfe Bemerkungen über den ſchwäbiſchen Verfaſſungskampf reizte, als er gar von der kind - lichen Unwiſſenheit der liberalen Preſſe wie ein Volkstribun verherrlicht wurde, da kam der treue Vorkämpfer des Foederalismus, der Lebensretter des Kleinfürſtenſtandes bald in den Geruch eines Jakobiners, und Metter - nich beſchloß den gefährlichen Demagogen zu beſeitigen. Ein Wink am niederländiſchen Hofe genügte. Der König der Niederlande befand ſich ſeit Kurzem in argem Gedränge; denn ſoeben war an den Tag gekommen, daß der ehrgeizige Prinz von Oranien, ſchwerlich ganz ohne Vorwiſſen ſeines königlichen Vaters, mit den franzöſiſchen Flüchtlingen zu Brüſſel eine revo - lutionäre Verſchwörung gegen den Thron der Bourbonen angezettelt hatte. Um ſo bereitwilliger ergriff der Monarch die Gelegenheit den großen Mächten ſeine conſervative Geſinnung zu beweiſen; unbedenklich ließ er den Staats - mann fallen, der ſo viel zur Bildung des neuen niederländiſchen Geſammt - ſtaates beigetragen hatte. Was frug er auch nach dem Bundestage und den Träumen deutſcher Reichspatrioten? Im April 1818 ward Gagern abberufen und verabſchiedete ſich mit dem naiven Geſtändniß: der Grund meiner Entlaſſung iſt mehr eine zu hohe Würdigung von meiner Seite als ein Verſchmähen meines Amtes . An ſeiner Statt erſchien Graf Grünne, ein Holländer, der die deutſchen Dinge ſo gründlich kannte, daß er alles Ernſtes vorſchlug Frankreich für das Elſaß mit in den Deutſchen Bund aufzunehmen. An dem fand die Hofburg nichts auszuſetzen. Alſo war jene Drohung Metternichs vom December 1817 zum erſten male in Erfüllung gegangen. Der Bundestag wußte nunmehr, daß jedem auf - wiegelnden Worte die Abberufung des ungetreuen Geſandten auf dem Fuße folgte.

Alsbald nach ſeinem Ausſcheiden veröffentlichte Gagern in ſeiner un - wandelbaren Gutmüthigkeit eine Schrift Ueber Deutſchlands Zuſtand und Bundesverfaſſung um die Deutſchen mit ihrem Bundestage zu ver - ſöhnen. Als Motto ſtand darauf: Ut ameris amabilis esto! Die Nation aber nahm den vertrauensvollen Zuruf mit grimmigem Spotte auf. Selbſt die Gemäßigten hatten ſich längſt voll Ekels von dem Geſpenſterſpuk der Eſchenheimer Gaſſe abgewendet; und ſchon kam die Zeit, da dieſem treuen, geſetzliebenden Volke kein Hohn zu frech, kein Schimpfwort zu roh ſchien für die einzige Behörde, deren Name noch an Deutſchlands Einheit er - innerte.

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Fünfter Abſchnitt. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Nach dem Friedensſchluſſe begann für Preußen wieder, wie einſt in den Tagen Friedrich Wilhelms I., ein Zeitalter ſtiller Sammlung, reizlos und nüchtern, arm an großen Ereigniſſen, reich an Arbeit und ſtillem Gedeihen, eine Zeit, da das geſammte politiſche Leben in der Thätigkeit der Ver - waltung aufging und das königliche Beamtenthum noch einmal ſeine alte ſtaatsbildende Kraft bewährte. Trotz ſeiner diplomatiſchen Niederlagen war der preußiſche Staat jetzt enger als jemals mit dem Leben der geſammten Nation verbunden. Er beherrſchte nur noch etwa zwei Millionen Slaven; er ſah, mit Ausnahme der Baiern und der Schwaben, bereits alle deutſchen Stämme in ſeinen Grenzen vertreten und ward auch von den Gegen - ſätzen des religiöſen Lebens der Nation ſtärker als ſonſt berührt, da nun - mehr zwei Fünftel ſeiner Bevölkerung der katholiſchen Kirche angehörten; er empfing endlich in den großen Communen der Oſtſeegeſtade und des Rhein - lands ein neues Culturelement, das ihn den deutſchen Nachbarlanden näher brachte und gewaltig anwachſend nach und nach auf den geſammten Cha - rakter des Staatslebens umbildend einwirken ſollte. Aber welch eine Ar - beit, dieſe neuen Gebiete, die faſt alleſammt nur widerwillig unter die neue Herrſchaft traten, mit den alten Provinzen zu verſchmelzen. Nie - mals in der neuen Geſchichte hatte eine Großmacht ſo ſchwierige Aufgaben der Verwaltung zu löſen; ſelbſt die Lage des Königreichs Italien nach den Annexionen von 1860 war unvergleichlich leichter.

Zu den fünf Millionen Einwohnern, die der Monarchie um das Jahr 1814 übrig geblieben, trat plötzlich eine Bevölkerung von Millionen hinzu ein Gewirr von Ländertrümmern, zerſtreut von der Prosna bis zur Maas, vor kurzem noch zu mehr als hundert Territorien gehörig, ſeitdem regiert durch die Geſetze von Frankreich, Schweden, Sachſen, Weſt - phalen, Berg, Danzig, Darmſtadt, Naſſau. Dazu noch eine Unzahl kleinerer Landſtriche, die man zur Abrundung von den Nachbarn eingetauſcht hatte; der kleinſte der neuen Regierungsbezirke, der Erfurter, umfaßte allein die Bruchſtücke von acht verſchiedenen Staaten. Auch die altpreußiſchen Provinzen, welche jetzt zu dem Staate zurückkehrten, hatten unter der napoleoniſchen182II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Herrſchaft ihre alten Inſtitutionen faſt bis auf die letzte Spur verloren. Schon bei der Beſitznahme der neuen Provinzen entſpann ſich überall Streit mit mißgünſtigen Nachbarn. Das ruſſiſche Gouvernement in War - ſchau befahl noch im Früjahr 1815 umfaſſende Domänenverkäufe in Poſen; ebenſo Darmſtadt im Herzogthum Weſtphalen; auch die öſterreichiſch-bai - riſche Verwaltung in den Ländern an der Moſel und Nahe erhob zum Abſchied Renten und Steuern im Voraus und ließ die Wälder bei Boppard niederhauen. Naſſau weigerte ſich den Verträgen zuwider, das Siegenſche zu räumen, bis Hardenberg drohte das Land ohne Uebergabe beſetzen zu laſſen. Die Ruſſen hatten ſelbſt Danzig nur ungern ausgeliefert; in Thorn blieb ihre Garniſon, trotz dringender Mahnungen, bis zum 19. September 1815 ſtehen. Dann vergingen noch Jahre, bis der neue Beſitzſtand durch Verträge mit den grollenden Nachbarſtaaten rechtlich geſichert wurde. Erſt im Jahre 1816 wurde mit den Niederlanden, 1817 mit Rußland ein Grenzvertrag geſchloſſen; mit dem tief gekränkten Dresdner Hofe mußten bis in das Jahr 1819 hinein kleinliche und peinliche Verhandlungen wegen der neuen Grenze geführt werden, und erſt im Jahre 1825 war die Aus - einanderſetzung über alle zwiſchen den beiden Nachbarn ſtreitigen Ver - mögensobjecte vollendet.

Nun erhob ſich die Aufgabe, das alſo dem Neide Europas mühſam entrungene Gebiet einer gleichmäßigen Verwaltung zu unterwerfen; es galt, die Ausländerei im Inlande, die Kleinſtaaterei im Großſtaate zu über - winden, alle dieſe Trümmerſtücke der deutſchen Nation, die mit einander noch nicht viel mehr als die Sprache gemein hatten, mit einer lebendigen Staatsgeſinnung zu erfüllen. Gelang das Werk der politiſchen Verſchmel - zung in dieſer Hälfte Deutſchlands, ſo war die Nichtigkeit des Particularis - mus durch die That erwieſen und der Boden bereitet für den Neubau des deutſchen Geſammtſtaates; die Vollendung des preußiſchen Einheitsſtaates gab dieſer Epoche unſerer politiſchen Geſchichte ihren eigentlichen Inhalt. Die Aufgabe war um ſo ſchwieriger, da die Monarchie, als ſie die neuen Provinzen erwarb, ſich ſchon mitten in einem gefährlichen Uebergangszu - ſtande befand: faſt auf allen Gebieten der Geſetzgebung waren umfaſſende Reformen erſt halb vollendet, und doch fehlte die in Wahrheit leitende Hand, ſtark genug, jene Ueberfülle von Talenten, die dem Staate diente, unter einen Willen zu beugen. Kein anderer Staat jener Tage zählte in den Reihen ſeiner Beamten eine ſolche Schaar ungewöhnlicher Menſchen: Verwaltungstalente wie Vincke, Schön, Merckel, Sack, Hippel, Baſſewitz; Finanzmänner wie Maaſſen und Hoffmann; Techniker wie Beuth und Hartig; Juriſten wie Daniels und Sethe; unter den Diplomaten Hum - boldt, Eichhorn, Niebuhr; dazu die Generale des Befreiungskrieges und die Größen der Kunſt und Wiſſenſchaft. Sie alle waren gewohnt an den Thaten der Staatsregierung eine rückſichtslos freimüthige Kritik zu üben, die als ein Vorrecht des hohen Beamtenthums, als ein Erſatz gleichſam183Der König und die Parteien.für Volksvertretung und Preßfreiheit betrachtet wurde, und nahmen jetzt den alten Parteiſtreit, der während des Krieges nie ganz geruht hatte, eine Maſſe perſönlichen Haſſes und ſachlicher Gegenſätze als eine böſe Erbſchaft in die Tage des Friedens hinüber. Aus dieſen Kreiſen drang Tadelſucht und Klatſcherei in alle Klaſſen der Geſellſchaft; der Staat, der bei allen Gebrechen ſeiner Unfertigkeit doch die beſte und ſparſamſte Verwaltung Europas beſaß, ward in den Briefen und Geſprächen ſeiner eigenen treuen Diener ſo maßlos geſcholten, als eilte er, geleitet durch eine Rotte von Betrügern und Thoren, rettungslos dem Verderben entgegen.

Vier keineswegs klar geſchiedene Parteien bekämpften einander innerhalb der Regierung. Die alte Schule der abſolutiſtiſchen Hofleute und Be - amten zählte nur noch wenige Anhänger, doch ſie gewann jetzt mächtige Bundesgenoſſen an Hardenbergs alten Gegnern, den Feudalen, die in dem Adel der Kurmark ihre Stütze, in Marwitz und dem vormaligen Miniſter Voß-Buch ihre Führer fanden. Die jungen Beamten dagegen und faſt alle Geheimen Räthe der Miniſterien bekannten ſich zu dem bureaukratiſchen Liberalismus Hardenbergs, was freilich nicht ausſchloß, daß ihrer viele den Staatskanzler perſönlich heftig bekämpften. Wieder eines anderen Wegs ging die kleine Schaar der ariſtokratiſchen Reformer, die noch an Steins Gedanken feſthielten. Die Schwarmgeiſterei der teutoniſchen Jugend fand unter den gewiegten Geſchäftsmännern des hohen Beamtenthums zwar manchen nach - ſichtigen Richter, doch keinen einzigen Anhänger. Gleichwohl wirkte jener finſtere Argwohn, welchen alle Höfe des In - und Auslandes gegen Preußens Volk und Heer hegten, unausbleiblich auf Preußen ſelbſt zurück. Seit Schmalz ſeinen Unheilsruf erhoben hatte, nahmen die Verleumdungen und giftigen Flüſterreden kein Ende. Nicht blos Stein, der erklärte Gönner Arndts, ſondern auch der Staatskanzler ſelbſt ward des geheimen Einver - ſtändniſſes mit den Deutſchthümlern beſchuldigt, obgleich Hardenberg die jugendlichen Einheitsſchwärmer als unbequeme Störer ſeiner dualiſtiſchen Politik anſah und ſie ſelbſt in ſeinem verſchwiegenen Tagebuche immer nur mit ärgerlichem Tadel behandelte.

So ſcharfe Gegenſätze in feſter Zucht zu halten, war der ſchonenden Gutherzigkeit König Friedrich Wilhelms nicht gegeben. Allzu rückſichtsvoll gegen ſeine Räthe ließ er den Parteikampf am Hofe lange gewähren und fuhr nur zuweilen mit einer Mahnung dazwiſchen. Wurde eine neue Kraft in die Regierung berufen, ſo pflegte man ein Miniſterialdepartement in zwei Theile zu zerlegen, nur um den alten Miniſter nicht zu kränken, der oft ein Gegner des neuen war. Vollſtändige Uebereinſtimmung unter den Miniſtern galt noch für entbehrlich, da der Monarch am letzten Ende ſtets nach ſeinem freien Ermeſſen entſchied. Wie viele Stürme waren über das Land dahingebrauſt in den kurzen zwei Jahrzehnten ſeit Friedrich Wilhelm die Krone trug; den Rückſchauenden war, als ob die Anfänge ſeiner Regierung um mehrere Menſchenalter zurücklägen. Das treue Volk184II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.der alten Provinzen nannte den König jetzt ſchon, da er noch in der Kraft der Mannesjahre ſtand, kurzweg den alten Herrn und wußte tauſend Ge - ſchichten von ſeiner verlegenen und doch ſo herzlich wohlthuenden Leut - ſeligkeit. Seine Berliner lebten mit ihm und erwarteten als ihr gutes Recht, daß er häufig in ſeinem einfachen Soldatenüberrocke durch den Thiergarten ging, daß er Mittags, wenn die Wachparade aufzog, an dem allbekannten Eckfenſter ſeines unſcheinbaren Palaſtes ſich zeigte und Abends halb verſteckt in ſeiner Loge einem Luſtſpiel, einer Oper oder einem Ballet zuſah denn die Tragödie liebte er wenig, weil das Leben ſelbſt des Traurigen genug biete.

Die Erfahrungen einer großen Zeit hatten ſein Selbſtgefühl etwas ge - kräftigt; er erſchien feſter und ſicherer, aber auch noch ernſter und ſchweig - ſamer als vor Jahren. Eine ſtille Trauer lag auf ſeinen freundlichen Zügen und ſchwand nur ſelten, wenn er etwa ſeinen lebensfrohen Kindern und dem Großfürſten Nikolaus auf der Pfaueninſel ein ländliches Feſt gab. Der be - queme Rationalismus ſeiner Jugendbildung genügte ihm längſt nicht mehr; ſchon während der ſchweren Tage in Königsberg hatte er in einem feſten Bibelglauben ſeinen Troſt gefunden und ſich mit dem ehrwürdigen Biſchof Borowsky befreundet. Jetzt wuchs in ihm von Jahr zu Jahr die Sehn - ſucht nach dem Ewigen, fromme Betrachtungen und theologiſche Studien füllten einen guten Theil ſeiner freien Stunden aus. Obſchon er den Gram um ſeine verlorene Gemahlin nie verwinden konnte, ſo widerfuhr ihm doch was gerade den tief gebeugten Wittwern häufig geſchieht: die Einſamkeit des eheloſen Lebens ward ihm unerträglich. Er faßte eine lebhafte Neigung für eine liebenswürdige junge Franzöſin, die Gräfin Dillon, die ſeine Liebe leiden - ſchaftlich erwiderte, und dachte eine Zeit lang ernſtlich an eine Ehe zur linken Hand denn für ſein Volk ſollte Königin Luiſe immer die Königin bleiben. Aber er wollte nicht, daß ſeine Preußen an ihrem Könige irr würden, und da er in Gewiſſensfragen dem Rathe ſeines leichtlebigen Staatskanzlers nicht traute, ſo ließ er zwei Männer, von denen er eine rückhaltslos freimüthige Antwort erwartete, Gneiſenau und Schön ver - traulich befragen, wie man im Heer und im Volke die Heirath mit der katholiſchen Franzöſin aufnehmen würde. Als Beide übereinſtimmend ab - riethen, gab der König tief erſchüttert ſeine Pläne auf. Trüb und ein - tönig verfloſſen ihm die Tage. Er erledigte jede Eingabe mit der alten Pünktlichkeit, nach gewiſſenhafter Prüfung, und behielt das Ruder immer in der Hand, jedoch der perſönliche Verkehr mit ſeinen höchſten Beamten blieb dem Schüchternen unbequem; den Staatskanzler ſah er ſelten, noch ſeltener die Miniſter.

Weit näher ſtand dem Könige ſein täglicher Begleiter, der Oberſt Job v. Witzleben, der im Jahre 1816 kaum dreiunddreißig Jahre alt die Lei - tung des Militärkabinets erhielt, zwei Jahre darauf zum Generalmajor und Generaladjutanten ernannt wurde. Welch ein Abſtand zwiſchen der185General Witzleben.gediegenen Tüchtigkeit dieſes Mannes und jenem ſchläfrigen Pedanten Köckeritz, der vor 1806 das Vertrauen des Monarchen genoſſen hatte; ſchon an der Wahl ſeiner Freunde ließ ſich erkennen, wie Friedrich Wilhelm gewachſen war mit der wachſenden Zeit. Der König war zuerſt auf Witz - lebens militäriſche Begabung aufmerkſam geworden und erfuhr erſt all - mählich, welche vielſeitige Bildung der junge Gardeoffizier beſaß, wie er mit Wilhelm Humboldt und anderen Größen der Wiſſenſchaft freund - ſchaftlich verkehrte, als Muſiker ein ungewöhnliches Talent bewährte, auch in der Theologie, die dem Herzen des Königs ſo nahe ſtand, wohlbewandert war und bei Alledem ſo anſpruchslos blieb, ganz frei von Selbſtſucht, fromm ohne Wortprunk, ein glücklicher Familienvater. Der neue General - adjutant erwarb ſich bald das unverbrüchliche Vertrauen Friedrich Wilhelms; er durfte dem Monarchen Alles ſagen, weil er die natürliche Lebhaftigkeit, die aus ſeinen dunklen Augen blitzte, immer zu beherrſchen verſtand und bei ſeinem ehrlichen Freimuth niemals die herzliche Verehrung für ſeinen königlichen Freund vergaß. Er diente als Vermittler zwiſchen dem Könige und den Miniſtern, ward bei allen großen Staatsgeſchäften zu Rathe ge - zogen und bewältigte Tag für Tag im Tabaksrauche ſeines einfachen Zim - mers ungeheure Arbeitslaſten mit einem raſtloſen Fleiße, der ſeinen Körper ſchon nach zwei Jahrzehnten vor der Zeit aufrieb. Im Drange der Ge - ſchäfte hat er nur ſelten die Muße gefunden, die Erlebniſſe des Tages aufzuzeichnen; ſeine Tagebücher enthalten oft viele Monate lang nur weiße Blätter, oft nur kurze Reiſenotizen; wo ſie aber über Politik reden, da zeigt ſich ſtets ein gerader Soldatenverſtand, gründliche Sachkenntniß und unbedingte Aufrichtigkeit. Obwohl er ſich ſelber nicht zu den ſtaatsmän - niſchen Köpfen rechnete und den Parteien des Hofes behutſam fern blieb, ſo hielt er doch mit ſeinen geſunden politiſchen Urtheilen nicht hinter dem Berge: er betrachtete die neue Heeresverfaſſung als das feſte Band der Staatseinheit, hielt die Vollendung der Stein-Hardenbergiſchen Reformen für unerläßlich und was in dieſen Tagen der geheimen Einflüſterungen am Schwerſten wog er kannte und liebte das preußiſche Volk. Nichts ſchien ihm verächtlicher als der Verſuch in des Königs reiner Seele einen Argwohn zu erwecken ; nichts brachte ihn ab von dem zuverſichtlichen Glauben: es giebt keine gediegenere Treue als die bei uns wohnt.

Das ſtille Wirken dieſes treuen Vermittlers war um ſo heilſamer, da der König ſeit den Mißerfolgen des Wiener Congreſſes den Staats - kanzler nicht mehr mit dem alten Vertrauen behandelte und den Uner - ſetzlichen doch nicht entlaſſen konnte. Als Hardenberg ſeinen ſiebzigſten Geburtstag feierte, rief Goethe dem alten Univerſitätsgenoſſen zu:

Auch vergehn uns die Gedanken
Wenn wir in Dein Leben ſchauen,
Freien Geiſt in Erdenſchranken,
Feſtes Handeln und Vertrauen.
186II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Und der freie Geiſt allerdings blieb dem Greiſe bis zum Ende. Wie er einſt unter dem Drucke der Fremdherrſchaft den Gedanken der Be - freiung des Vaterlandes unwandelbar feſtgehalten hatte, ſo verfolgte er nunmehr unausgeſetzt den Plan, das Werk der innern Reform durch die verheißene reichsſtändiſche Verfaſſung zu krönen; dies ſollte ſein politiſches Vermächtniß, der Abſchluß ſeiner langen Laufbahn werden. Im perſön - lichen Verkehre bewährte er noch immer ſeine beſtrickende Liebenswürdigkeit und zeigte eine ſo jugendliche Begeiſterung für alles Schöne und Große, ging ſo geiſtreich und liebevoll auf jeden neuen Gedanken ein, daß ſelbſt ſtrenge Richter, wie Gneiſenau und Clauſewitz trotz mancher Mißhellig - keiten dem hochverdienten Manne nicht gram werden konnten. Das feſte Handeln aber war ihm ſchon in rüſtigeren Tagen nicht immer gelungen; jetzt da er alternd ſich feſtklammerte an ſein hohes Amt, fand er nur noch ſelten den Muth ſeinen Feinden die freie Stirn zu zeigen und glaubte oft ſelber zu leiten wenn die Gegner ihn mißbrauchten. Die dictatoriſche Macht des Staatskanzlers hatte wohlthätig gewirkt, ſo lange er ſelbſt noch alle Miniſterien bis auf zwei in ſeiner Hand vereinigte; ſeit er nur noch die auswärtigen Angelegenheiten unmittelbar leitete und fünf Fachminiſter unter ihm ſtanden, gerieth er allmählich in eine ebenſo unhaltbare Mittel - ſtellung wie einſt die vortragenden Kabinetsräthe. Streitigkeiten mit den Miniſtern, Klagen über die Verſchleppung der Geſchäfte konnten nicht aus - bleiben, da außer Boyen, Witzleben und dem Kabinetsrath Albrecht der Staatskanzler allein dem Monarchen regelmäßig Vortrag hielt und gleichwohl von den Miniſtern forderte, daß ſie die volle Verantwortlichkeit für ihre Verwaltung übernähmen.

Nur Unkenntniß und Tadelſucht beſchuldigten den greiſen Staats - mann der Trägheit; alle Eingeweihten wußten, welche Unzahl von Denk - ſchriften und Randbemerkungen, Verfügungen und Berichten dieſe raſche Feder, immer geiſtreich und gewandt, auf das Papier warf. Aber auf pünktliche Ordnung hatte er ſich nie verſtanden, und die Laſt dieſer das geſammte Staatsleben umfaſſenden Thätigkeit ward nach der Ver - größerung des Staatsgebiets auch ſeinen Schultern zu ſchwer. Drin - gende Arbeiten blieben oft monatelang liegen, wenn der Fürſt ſich in ſeinem Schloſſe zu Glienicke vergrub und dann ruckweiſe, nach Zufall und Laune, dies oder jenes Stück von ſeinen Aktenbergen abhob. Wer dort am träu - meriſchen Havelſee den ſchönen Park durchwanderte oder auf dem Dota - tionsgute Neuhardenberg in der Neumark die gewählte Kunſtſammlung und die neue von Schinkel erbaute Kirche betrachtete, der fühlte wohl, daß ein edler, hochgebildeter Geiſt hier waltete. Aber welch ein Aergerniß, wenn man die freche Geſellſchaft muſterte, die ſich in dieſen vornehmen Räumen umhertrieb und den großmüthigen Hausherrn an ſeinem eigenen reichen Tiſche verhöhnte: die klatſchſüchtigen Literaten Schöll und Dorow, die magnetiſchen Aerzte Koreff und Wohlfart, die Somnambüle Friederike187Hardenberg und die Miniſter.Hähnel, ſpäterhin Frau v. Kimsky genannt. Dieſe abgefeimte Gaunerin war dem Fürſten zuerſt auf einem Zauberabend bei Wohlfart begegnet und hatte durch ihre krampfhaften Verzückungen ſein weiches Herz im Sturme erobert. *)Hardenbergs Tagebuch, Februar 1816.Seitdem ließ ſie ihn nicht mehr los; ſie wurde der Fluch ſeiner alten Tage. Unerſchöpflich in geheimnißvollen Krankheitserſcheinungen und in den Künſten ſanfter Plünderung begleitete ſie ihn überall, ſelbſt zu den Congreſſen der Monarchen, und ruhte nicht bis auch ſeine dritte Ehe, gleich den beiden erſten, getrennt wurde. Um dieſelbe Zeit vermählte ſich des Staatskanzlers einzige Tochter, die geſchiedene Gräfin Pappenheim in überreifem Alter mit dem Virtuoſen der eleganten Liederlichkeit, dem jungen Fürſten Pückler-Muskau. Der ſchlechte Ruf des Hardenbergiſchen Hauſes bot den zahlreichen Spähern, welche Metternich in Berlin unterhielt, reichen Stoff, allen Feinden des Staatskanzlers eine gefährliche Waffe. Sie bemerkten ſchadenfroh, wie der König dem Staatsmanne, der ſeine weißen Haare ſo wenig achtete, kälter und fremder begegnete; und da der betrieb - ſame Koreff zuweilen auch als liberaler Schriftſteller auftrat, ſo bildete ſich am Hofe nach und nach das Parteimärchen, Hardenbergs Verfaſſungs - pläne ſeien das Werk ſeiner anrüchigen plebejiſchen Umgebung. Wenn ein Freund den Fürſten vor dieſem Geſindel warnte, dann erwiderte er lächelnd: und wenn ich auch oft betrogen worden bin, es iſt ein ſo herrliches Gefühl Vertrauen zu erweiſen.

Unter den Miniſtern beſaß Hardenberg nur einen erklärten Geſin - nungsgenoſſen, Boyen, und auch dieſer dachte zu ſelbſtändig um der Führung des Fürſten unbedingt zu folgen. Kircheiſen bewährte ſich bei der Orga - niſation der Gerichte in den neuen Provinzen als trefflicher Fachmann und blieb der großen Politik fern. Schuckmann dagegen, der Miniſter des Innern, ein ſtraffer Bureaukrat, thätig, ſachkundig, herrſchſüchtig, der Philiſter der alten Zeit, wie W. Humboldt ihn nannte, ſtand allen Re - formplänen ebenſo argwöhniſch gegenüber wie der Polizeiminiſter Fürſt Wittgenſtein, der Vertraute Metternichs. Wie viele Jahre hat der argloſe Hardenberg gebraucht, bis er dieſen glatten Hofmann endlich durchſchaute, der einſt, durch den Sturz des Miniſteriums Dohna, ihm ſelber den Weg zur Macht geöffnet hatte und darum ſchon der treueſten Freundſchaft würdig ſchien. Dem Monarchen war Wittgenſtein als geſchickter Ver - walter des königlichen Hausvermögens unentbehrlich; auch an den andern deutſchen Höfen ſtand er in hohem Anſehen, bei allen fürſtlichen Familien - angelegenheiten zog man ihn zu Rathe, und ſogar der eigenwillige Kur - fürſt von Heſſen hörte zuweilen auf ſeine Rathſchläge. Argloſen Beob - achtern erſchien der verbindliche alte Herr mit ſeinen trivialen Späßchen ſehr unſchädlich; ſelbſt ein ſo gewiegter Menſchenkenner wie der alte Heim, der volksbeliebte erſte Arzt Berlins, ließ ſich durch die gemüthlichen Formen188II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.des Fürſten völlig täuſchen und liebte ihn zärtlich. Aber nichts entging den lauernden Blicken dieſer falſchen grauen Augen; mit unverſöhnlichem ſtillem Haſſe verfolgte Wittgenſtein Alles was an Stein und die ſtürmiſche nationale Bewegung der Kriegsjahre erinnerte, und nicht lange ſo fand er auch den Staatskanzler ſelbſt des teutoniſchen Jakobinerthums verdächtig und begann ihn unmerklich Schritt für Schritt zur Seite zu drängen. Die verrufene höhere Polizei, welche einſt Juſtus Gruner zur Nothwehr gegen die napoleoniſchen Späher eingerichtet hatte, wurde zwar nach dem Frieden aufgehoben; doch blieben mehrere ihrer geheimen Agenten noch in Thätigkeit, und nach ihren Berichten bildete ſich Wittgenſtein ſein Urtheil über die Geſinnung der Nation.

Ganz einſam ſtand der junge Finanzminiſter Graf Bülow unter den Genoſſen, der Vetter Hardenbergs, ein ſchöner blonder Mann, der mit ſeiner vornehmen, weltmänniſchen Anmuth, ſeiner leichten, oft leichtfertigen Geſchäftsgewandtheit den Staatskanzler an ſeine eigene Jugend erinnerte und von ihm wie ein Sohn geliebt wurde. Er war nach dem Tilſiter Frieden, gleich vielen anderen wackeren Beamten des Magdeburger Landes, widerwillig in den Dienſt des Königs Jerome getreten, da die alte Heimath ihn nicht unterbringen konnte, und hatte dann als weſtphäliſcher Miniſter für die Entfeſſelung des inneren Verkehrs, für die Durchführung ver - ſtändiger handelspolitiſcher Grundſätze viel gethan, bis er endlich wegen ſeiner deutſchen Geſinnung und ſeines unabhängigen Auftretens entlaſſen wurde. Trotzdem ward er von den altpreußiſchen Beamten wie ein Ver - räther angeſehen; der Stolz der Preußen vergab es nicht, daß Hardenberg noch während des Krieges gegen Napoleon einen Diener Jeromes in das Miniſterium einführte. In der That war Bülow von den Anſchauungen der franzöſiſchen Bureaukratie nicht unberührt geblieben; er bewunderte das napoleoniſche Steuerſyſtem und hatte ſich unter den weſtphäliſchen Präfekten an einen herriſchen Ton und eine durchfahrende Eigenmächtigkeit gewöhnt, die dem preußiſchen Beamtenthum unerträglich ſchienen. Als - bald überwarf er ſich mit mehreren Oberpräſidenten; auch mit ſeinem Vetter und Gönner gerieth er in Streit, da ein geordneter Staatshaus - halt allerdings unmöglich war, ſo lange der Staatskanzler ohne den Finanz - miniſter zu befragen über beliebige Summen frei verfügen durfte. Die ewigen Händel verbitterten den Heftigen, und bald erkannte man in ſeinem reizbaren, zänkiſchen Weſen die alte Liebenswürdigkeit kaum noch wieder.

Die reaktionäre Partei des Miniſteriums fand bei Hofe eine mächtige Stütze an dem Commandeur der Garde, dem Herzog Karl von Mecklen - burg. Der Bruder der Königin Luiſe hatte ſich auf dem Schlachtfelde und dem Exercierplatz ſtets als tüchtiger Offizier bewährt, aber für die refor - matoriſchen Ideen der Freunde ſeiner Schweſter hegte er kein Verſtändniß. Eine ſchöne ritterliche Erſcheinung, ein angenehmer unterrichteter Geſell - ſchafter, auf den Hoffeſten als begabter Poet und Schauſpieler viel bewundert,189Wittgenſtein. Karl v. Mecklenburg. Ancillon.ſehr thätig im Staatsrathe wie in ſeinem militäriſchen Berufe, war er doch bei der Mehrzahl der Offiziere nicht beliebt, in der gebildeten Geſellſchaft der Hauptſtadt gründlich verhaßt. Denn er nährte in ſeinem Gardecorps ein dünkelhaftes Weſen, das dem Civil wie den Linientruppen gleich anſtößig ward, und blieb trotz ſeiner Jugend ein Berufsſoldat der alten Schule, ein entſchiedener Gegner der neuen Heeresverfaſſung. In der Politik ſchloß er ſich eng an Wittgenſtein an und bekämpfte wie dieſer jede Neuerung, die dem Wiener Hofe mißfallen konnte.

Noch mächtiger war der ſtille Einfluß Ancillons. Der in alle Sättel gerechte Theolog wurde im Jahre 1814 als Geheimer Rath im Auswärtigen Amte angeſtellt und ſchwamm jetzt wieder ſelbſtgefällig obenauf, obgleich der Erfolg des Krieges alle ſeine kleinmüthigen Warnungen Lügen geſtraft hatte. Hardenberg glaubte durch dieſe Ernennung eine Brücke zwiſchen der Wiſſen - ſchaft und der Politik zu ſchlagen; denn Ancillon verdankte ſeiner ſeichten, aber vielſeitigen und immer für die Unterhaltung der Salons bereiten Ge - lehrſamkeit ein hohes Anſehen, das auch reichere Geiſter beſtach. Die Diplo - maten rühmten die ſokratiſche Gelaſſenheit, die urbane Milde ſeiner Um - gangsformen; ſelbſt Schön, der Alles tadelte, ließ ihn gelten, und noch in ſpäteren Jahren ſchaute der junge Leopold Ranke bewundernd zu ihm auf. Er hatte am Ausgang des alten Jahrhunderts als eleganter Prediger an der franzöſiſchen Gemeinde den weichlichen Geſchmack der Zeit glücklich ge - troffen und dann als Lehrer der Staatswiſſenſchaft an der Kriegsſchule ſeine Gemeinplätze mit ſo feierlicher Geſpreiztheit, mit einem ſo überlegenen ſtaats - männiſchen Lächeln vorgetragen, daß ſein Zuhörer, der junge Neſſelrode ſich ganz bezaubert fühlte. Bei Hofe verſtand er durch unterthänige Befliſſen - heit ſeinen Platz unter den vornehmen Herren zu behaupten. Es ward verhängnißvoll für eine ſpäte Zukunft, daß auch Königin Luiſe und der Freiherr v. Stein ſich durch den erſchlichenen Ruhm des glatten Halb - franzoſen blenden ließen und ihm die Erziehung des jungen Thronfolgers anvertrauten. So gerieth der verſchwenderiſch begabte, aber phantaſtiſche und eigenwillige Geiſt des Prinzen, der vor Allem einer ſtrengen Zucht und der Belehrung über die harte Wirklichkeit des Lebens bedurfte, unter die Leitung eines charakterloſen Schönredners, der ſelber kaum fühlte, wie viel von ſeinem Thun der angeborenen Furchtſamkeit, wie viel der welt - klugen Berechnung entſprang. Seitdem wurde Ancillon auch zu den po - litiſchen Berathungen öfters zugezogen und ſchrieb nun unermüdlich mit ſeiner ſchwungloſen, verkniffenen kleinen Gelehrtenhand eine Maſſe von Denkſchriften breite Betrachtungen ohne Kraft und Schneide, die alle - ſammt ebenſo leer wie ſeine Bücher doch immer den Eindruck erregten, als ob ſich ein tiefer Sinn hinter dem Wortſchwall verbärge. Durch ihn ward die Kunſt, hohle Worte zu einem glitzernden Gewebe zu verknüpfen, zuerſt in die preußiſche Politik eingeführt eine Kunſt, die unter dem ge - ſtrengen alten Abſolutismus ganz unbekannt geweſen war und erſt ſpäter -190II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.hin, in der parlamentariſchen Epoche, ihre üppigſten Blüthen entfalten ſollte. Von Haus aus ein Freund der Ruhe und der überlieferten Ordnung hatte er im Juni 1789 zu Verſailles ſelber mit angeſehen, wie die Vertreter des Dritten Standes ſich die Rechte einer Nationalverſammlung anmaßten und alſo den Sturz des Königthums vorbereiteten. Seit jenem Tage lag ihm die Angſt vor der Revolution in allen Gliedern, und als das revo - lutionäre Weltreich endlich gefallen war, wahrlich ohne Ancillons Zuthun, da wendete ſich der Zaghafte den Anſichten Metternichs zu und folgte ge - lehrig jedem Winke der Hofburg. Geſchäftig trug er die Anſchuldigungen der Schmalziſchen Schrift in der Hofgeſellſchaft umher, und obwohl er ſich noch hütete den Staatskanzler offen zu bekämpfen, ſo ſprach er doch jetzt ſchon mit verdächtigem Eifer von den unermeßlichen Schwierigkeiten, welche dem Verfaſſungsplane entgegenſtänden, und wer den Mann kannte mußte errathen, daß er insgeheim zu Wittgenſteins Partei gehörte.

Das Volk begann den geheimen Parteikampf am Hofe zuerſt zu be - merken, als bald nach dem Frieden einige unerwartete Veränderungen in den rheiniſchen Provinzen erfolgten. Dort am Rhein war die feſtliche Stim - mung der Kriegsjahre ſo ſchnell nicht verflogen. Die preußiſchen Offiziere und Beamten, die das theuer erkaufte Grenzland jetzt dem deutſchen Staats - leben einfügen ſollten, ſchauten mit dem Hochgefühle des Siegers um ſich; ſie ſchwelgten in den Reizen der ſchönen Landſchaft und in der hellen Lebensluſt der rheiniſchen Geſelligkeit. Ihnen war, als ob die Heldenkraft des Nordens hier mit der Anmuth des reichen Südens fröhlich Hochzeit hielte. Um Gneiſenau, der in Coblenz befehligte, ſammelte ſich ein froher Kreis von bedeutenden Männern und ſchönen Frauen, der ſelbſt die leicht - lebigen Bewohner der alten Biſchofsſtadt zu dem Geſtändniß zwang, daß ihre neue Landesherrſchaft doch über ganz andere geiſtige Kräfte gebot als weiland der kurtrierſche Hof und der Präfekt Napoleons. Da waren Clauſe - witz und Bärſch, einer von Schills Gefährten; der tollkühne Huſar Hellwig und der hünenhafte Graf Karl v. d. Gröben, der einſt als Gneiſenaus Vertrauter, faſt ſo abenteuerlich wie ſein Ahn, der afrikaniſche Held des großen Kurfürſten, von Land zu Land gezogen war um den heiligen Krieg vorzubereiten; dann die romantiſchen Schwärmer Max v. Schenkendorf, Werner v. Haxthauſen, Sixt v. Armin, der Pädagog Johannes Schulze und der gelehrte Sammler Meuſebach. Wenn Gneiſenau Abends die Damen in dem Wagen Napoleons, dem Beuteſtücke von Belle Alliance, zu einem Feſte abholen ließ und nun in ſeiner heitern Hoheit, gebieteriſch und doch beſcheiden, erröthend vor dem eigenen Ruhm, inmitten der lauten Tafel - runde ſaß, wenn die Lieder Arndts und Körners erklangen, die Kriegs - männer von ihren Fahrten erzählten und Meuſebach durch den urkräftigen Humor ſeiner geiſtreichen Verſe Alles zu ſtürmiſchem Gelächter hinriß, dann meinte Schenkendorf glückſelig:

So hab ich wohl im Knabentraume
Die alte Ritterſchaft geſehn.
191Gneiſenau. Sack. Gruner.

Auch im Lande hatte ſich der freimüthige Held bald alle Herzen gewonnen; als er die Moſel hinauf fuhr, kamen aus jedem Dorfe ſingende Landleute herangerudert und reichten ihm den Ehrenwein.

Das fröhliche Nachſpiel der großen Kriegszeit ſollte nicht lange währen. Gneiſenau hatte ſchon als die Schmalziſche Schrift erſchien den Staats - kanzler gewarnt, dieſem erſten Schlage würden ſchwerere folgen, und mußte nun erfahren, daß man bei Hofe ihn ſelber als das Haupt des Tugend - bundes anſchwärzte, ſeine heitere Tafelrunde Wallenſteins Lager nannte. Die Verleumdung verſtimmte ihn um ſo tiefer, da er eben jetzt von jener krankhaften Abſpannung befallen wurde, welche die Männer der That beim Eintritt ruhiger Zeiten ſo häufig heimſucht; er fühlte ſich im Friedens - dienſte wie der Fiſch auf dem Sande und legte ſchon im Sommer 1816 ſein rheiniſches Commando nieder, theils ſeiner Geſundheit wegen, theils um den Gegnern zu beweiſen, daß er keine ehrgeizigen Abſichten hege. *)Gneiſenau an Hardenberg, 26. März und 21. April 1816, 6. Febr. 1821.Auch dann noch hörten die Afterreden am Hofe nicht auf; der König aber blieb den Einflüſterungen unzugänglich, und kaum zwei Jahre ſpäter übernahm Gneiſenau, nachdem ſein Körper ſich in den ſchleſiſchen Bergen wieder er - holt hatte, die Stelle des Gouverneurs von Berlin.

In denſelben Tagen wurde der Oberpräſident Sack vom Rheine nach Stettin verſetzt. Anderthalb Jahre lang hatte er die proviſoriſche Ver - waltung in ſeiner rheiniſchen Heimath mit Geſchick und Umſicht geleitet; aber wie er einſt als brandenburgiſcher Oberpräſident mit dem feudalen Adel zuſammengerathen war, ſo konnte es dem derben, durchgreifenden Beamten auch jetzt nicht an Feinden fehlen. Die Miniſter Wittgenſtein, Schuckmann, Bülow beſchwerten ſich über ſeine Unbotmäßigkeit; mit dem Militärgouverneur General Dobſchütz lebte er in offener Fehde. Freiherr v. Mirbach und Andere aus dem ſtolzen niederrheiniſchen Adel verklagten ihn wegen bureaukratiſcher Härte und Zurückſetzung der Edelleute; ſelbſt ſeine Freunde konnten nicht leugnen, daß er ſich in den Zeitungen mehr als für einen preußiſchen Beamten ſchicklich war loben ließ und ſeine zahlreiche Vetterſchaft, die Säcke , doch gar zu ſorgſam in der rheiniſchen Verwaltung untergebracht hatte. Nach ſo zahlreichen Klagen fand es Har - denberg gerathen, dem verdienten Manne einen andern Wirkungskreis an - zuweiſen; er blieb bei ſeinem Entſchluſſe, obgleich Sack ſich ſchwer beleidigt fühlte, die große Mehrzahl der Rheinländer ihren Landsmann ungern ziehen ſah, und zahlreiche Gemeinden der Provinz dringend um Zurück - nahme der Verſetzung baten. **)Kircheiſen an Hardenberg 5. Juni; Kabinetsordres an Sack 15. Januar und 13. März; Sack an den König 24. März, an Hardenberg 24. März und 16. Mai 1816. Mirbach an Hardenberg 29. Novbr. 1815.

Auch der feurige Patriot Juſtus Gruner, der bisher im Namen der verbündeten Mächte das bergiſche Land verwaltet hatte, fand eine laue192II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Aufnahme, als er jetzt, durch Gneiſenau lebhaft empfohlen, wieder in den preußiſchen Staatsdienſt einzutreten verlangte. Sonderbares Schick - ſal, daß gerade der Begründer der preußiſchen geheimen Polizei unter den Berichten der geheimen Agenten am Schwerſten leiden mußte. In der Hofburg galt er, neben Stein und Görres, als das Haupt der deutſchen Jakobiner. Im Sommer 1812 war er auf Metternichs Befehl nach Peter - wardein auf die Feſtung gebracht worden, weil er von Prag aus eine Schild - erhebung gegen Napoleon vorbereitete und mit Jahns Deutſchem Bunde insgeheim verkehrte. *)Gruner an Hardenberg 27. Novbr. 1819.Erſt im Oktober 1813 freigelaſſen, hatte er dann als Gouverneur von Berg die Oeſterreicher und die Rheinbündner durch die leidenſchaftliche Sprache ſeiner Reden und Manifeſte aufs Neue er - ſchreckt und beim Ausbruche des Krieges von 1815 gar einen geheimen Bund geſtiftet, der zwar niemals zu einer Thätigkeit gelangte und alsbald nach dem Frieden wieder einging, aber ſchon durch ſeinen Wahlſpruch Deutſchlands Einheit unter Preußen! alle ängſtlichen Gemüther mit Entſetzen erfüllte. Nach alledem hielt es der Staatskanzler für unmöglich, dem Vielverleumdeten ein einflußreiches Verwaltungsamt anzuvertrauen, und Gruner wurde mit dem beſcheidenen Geſandtſchaftspoſten in Bern ab - gefunden. Alle dieſe Vorfälle berührten die öffentliche Meinung ſehr pein - lich, zumal da ſie faſt gleichzeitig mit der Unterdrückung des Rheiniſchen Merkurs und bald nach dem Erſcheinen der Schmalziſchen Schrift er - folgten. Die argwöhniſche Welt ſuchte nach einem geheimen Zuſammen - hange, obgleich Gneiſenau das Verbot des Görres’ſchen Blattes ganz in der Ordnung fand und Sack ein erklärter Gegner Gruners war. Die Luft ward täglich ſchwüler. Derweil man bei Hofe von den geheimen Umtrieben der Demagogen erzählte, klagten die Liberalen über den Anbruch der Reaktion.

Trotz dieſer Reibungen innerhalb der Regierung ging die unſchein - bare und doch ſo folgenreiche Arbeit der Neuordnung der Verwaltung ſtetig und ſicher vorwärts. Sobald ſich der Umfang der neugewonnenen Landſchaften einigermaßen überſehen ließ, genehmigte der König, noch in Wien, am 30. April 1815 die Verordnung über die verbeſſerte Einrichtung der Provinzialbehörden, welche das Staatsgebiet in zehn Provinzen und fünf - undzwanzig Regierungsbezirke eintheilte. Zwei dieſer Provinzen, Niederrhein und Weſtpreußen, wurden ſpäter mit den Nachbarprovinzen Jülich-Cleve - Berg und Oſtpreußen vereinigt: die ſechs anderen, Brandenburg, Pommern, Schleſien, Poſen, Sachſen, Weſtphalen, beſtehen noch heute unverändert. Es war das Werk des Königs, daß die im Jahre 1810 durch Hardenberg aufgehobenen Aemter der Oberpräſidenten wiederhergeſtellt wurden. Friedrich193Die neuen Provinzialbehörden.Wilhelm wünſchte, in großen, lebensfähigen Provinzen die Eigenart der Stämme und Landſchaften ſich frei entfalten zu laſſen; er wollte, daß die be - dachtſame Unparteilichkeit der collegialiſchen Regierungen an der Thatkraft und dem perſönlichen Anſehen der vorgeſetzten Einzelbeamten ihre Ergän - zung fände und die Verwaltung dergeſtalt die Vorzüge des collegialiſchen und des bureaukratiſchen Syſtems vereinigte. Zugleich hegte er jetzt ſchon die Abſicht, neben jeden Oberpräſidenten einen commandirenden General zu ſtellen und alſo, nach dem Vorbilde Oeſterreichs und Rußlands, die militäriſche Eintheilung des Landes der Civilverwaltung anzupaſſen. Den Vorſchlag Bülows, die Regierungscollegien durch Präfekten zu erſetzen, lehnte der König rundweg ab und verwarf auch den Plan, ihnen ſelb - ſtändige Finanzcollegien an die Seite zu ſtellen. *)Entwurf einer Verordnung wegen Einrichtung der Provinzialregierungen und Finanzcollegien , Frühjahr 1815.Sie behielten ihre colle - gialiſche Form, zerfielen aber fortan in zwei Abtheilungen, deren eine unter der Aufſicht des Miniſters des Innern die Hoheitsſachen, die Polizei und das Gemeindeweſen bearbeitete, während die zweite, dem Finanzminiſter untergeordnet, das Finanzweſen und die Gewerbeangelegenheiten übernahm, ſo daß jeder Miniſter ſo weit möglich ſeine eigenen, von ihm allein ab - hängigen Organe erhielt.

Bei der Abgrenzung der neuen Verwaltungsbezirke verfuhr die Re - gierung mit höchſter Schonung, mit jener Pietät für das hiſtoriſch Ge - gebene, die von Altersher im Charakter der preußiſchen Staatskunſt lag. Sobald ein Dorf aus ſeinem alten Kreisverbande ausgeſchieden werden ſollte, mußten zwei Miniſterien ihr Gutachten abgeben; der König ſelbſt entſchied und, wo irgend möglich, rückſichtsvoll nach dem Wunſche der Einwohner. Gleichwohl ließ ſich die Störung mancher altgewohnten Ver - hältniſſe nicht vermeiden, da die neuerworbenen Länderfetzen unter ein - ander und mit den alten Gebietstheilen in krauſem Gemenge lagen. Keine von den alten Provinzen konnte ihre alten Grenzen unverändert behalten. Sofort begann denn ein allgemeines Sturmlaufen gegen die Regierung. Die ungeheure Macht des Particularismus, in Preußen um nichts ſchwächer als in den kleinen deutſchen Staaten, erhob ſich aufgeſcheucht; die tauſend und tauſend zähen Intereſſen des örtlichen Kleinlebens, an denen der Sturm einer ungeheuern Zeit unbemerkt vorübergerauſcht war, riefen um Hilfe. Aus unzähligen Eingaben erklang überall dieſelbe ſtarr conſervative Ge - ſinnung, überall derſelbe Jammerruf: wir wollen uns nicht trennen von unſeren Brüdern, die mit uns Freud und Leid in ſchwerer Zeit getheilt. Als man den Sitz der Kreisbehörde des Freyſtädter Kreiſes nach Neuſalz verlegen wollte, da häuften ſich die Petitionen, eine Geſandtſchaft drang bis zum Könige; der alte Kalkreuth ſchrieb an Hardenberg, er müſſe zu Grunde gehen, wenn die Behörde nicht mehr in der Nachbarſchaft ſeinesTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 13194II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Gutes hauſe, die Strolche würden ihm den Kohl und die Kartoffeln von den Feldern ſtehlen; der paſſive Widerſtand war unüberwindlich. Die Monarchie erfuhr in hundert Fällen, was ſie ſpäterhin bei allen Reformen der Communalverwaltung abermals erfahren ſollte, daß es in Deutſchland ungleich leichter iſt, zwei Staaten zu verſchmelzen als zwei Kreiſe oder Gemeinden.

Ueberall, im Volke wie auf den Thronen, überſchätze man noch un - endlich den Gegenſatz der Landſchaften und Stämme. Wenn ſogar die königlichen Beamten in Pommern ſich nur bis zu der beſcheidenen Hoff - nung verſtiegen, es werde im Verlaufe langer Jahre die allmähliche An - näherung zwiſchen den beiden Nationen der ſchwediſchen Pommern und der Altpommern möglich werden; wenn ſelbſt Sack in ſeinen Verwaltungs - berichten verſicherte, der Jülicher, der Aachener, der Kölner und der Moſel - länder wichen in ihrem Charakter dermaßen von einander ab als ob es ganz verſchiedene Nationen wären : ſo zeigte ſich vollends im Volke die nachbarliche Abneigung oft bis zur leidenſchaftlichen Gehäſſigkeit geſteigert.

Alle altpreußiſchen Landestheile betrachteten es als eine Schande, wenn man ſie den neuen Provinzen einfügen wollte. Als die Regierung den Plan faßte, die Niederlauſitz ſammt der altbrandenburgiſchen Herrſchaft Beeskow der Provinz Sachſen zuzutheilen, da wendeten ſich die Stände des Beeskow-Storkower Kreiſes an den König und klagten, ganz ſo laut und ſtürmiſch, wie ſie einſt unter Marwitz’s Führung gegen Hardenbergs Agrargeſetze geeifert hatten: Wir fangen mit demjenigen an, was uns das Heiligſte und Wichtigſte ſein muß, von Ew. Majeſtät Beamten aber ganz unbeachtet gelaſſen, vielleicht als ein leeres Vorurtheil angeſehen wird, weil ſie nicht gewohnt ſind die Geſinnungen der Völker zu beachten: wir ſollen aufhören Brandenburger und Preußen zu ſein! Sollen wir Bran - denburger bleiben und unſere Volksthümlichkeit erhalten? Dann wird es uns auf eine ähnliche Weiſe ergehen, wie es einſt erging und noch er - geht dem Ueberreſt des wendiſchen Volks in unſerer Nachbarſchaft, das in einem beſtändigen Mißtrauen, in einer beſtändigen Abſonderung von ſeinen Nachbarn und in einer beſtändigen Anfeindung ſeitens Letzterer ſeine Exiſtenz noch jetzt fortſchleppt. Sollen wir aber den ſächſiſchen Volkscharakter an - nehmen? Das werden wir nicht können, nicht weil wir ihn für unwürdig anerkennen, ſondern weil wir einmal Brandenburger ſind! *)Eingabe der Kreisſtände von Beeskow-Storkow an den König, 31. Oktbr. 1815.Da auch die Stände des wieder gewonnenen Cottbuſer Landes ſich ebenſo ungeſtüm gegen jede Gemeinſchaft mit den Sachſen verwahrten, ſo gab der Staats - kanzler nach und ließ die Grenze der Provinz Brandenburg weiter nach Süden verlegen. Minder glücklich fuhren die Altmärker. Auch ſie ver - langten ihre Wiedervereinigung mit der Kurmark als ein unbeſtreitbares Recht. Die Regierung aber beharrte bei dem Entſchluſſe, die Wiege des195Abgrenzung der Verwaltungsbezirke.brandenburgiſchen Staates der Provinz Sachſen einzuverleiben; denn die Landſchaft war durch ihre Lage auf Magdeburg angewieſen und hatte ſeit der weſtphäliſchen Herrſchaft nichts mehr gemein mit der für die Kurmark ſo wichtigen Schuldenverwaltung, auch ihr Communalweſen ſtimmte nicht mehr zu dem brandenburgiſchen Brauche.

Im Herzogthum Preußen war noch unvergeſſen, daß einſt die Städte des Weichſelthals zuerſt das Banner des Aufruhrs gegen den Deutſchen Orden erhoben und den Polen ins Land gerufen hatten; das tapfere Volk war gewohnt auf die weſtpreußiſchen Nachbarn wie auf Verräther herab - zuſehen und fühlte ſich ſchwer gekränkt, als einige Striche Oſtpreußens der Weichſelprovinz zugewieſen wurden. Durch flehentliche Bitten beim Könige erlangten mindeſtens die Kreiſe Mohrungen und Neidenburg, daß ſie bei Oſtpreußen verblieben. Dagegen verlangte eine Petition des pol - niſchen Adels in Michelau und dem Kulmerlande, daß dies alte Stamm - land der deutſchen Ordensmacht zum Großherzogthum Poſen geſchlagen würde. Die treuen deutſchen Städte aber widerſprachen lebhaft, und die Regierung wies den verdächtigen Vorſchlag ab. *)Bericht des Regierungspräſidenten v. Hippel an den Staatskanzler, Marienwerder 21. Juni 1815.Die Neuvorpommern ſteiften ſich auf ihre Rechte, Privilegien und Freiheiten , welche der König in den Verträgen mit Schweden und Dänemark aufrecht zu halten ver - ſprochen hatte; ſie verſtanden darunter, nach deutſcher Weiſe, kurzweg alle beſtehenden Inſtitutionen, das ſchwediſche Zollweſen und die alte Münze ſo gut wie das alte Beamtenthum, und vertheidigten ihre Unabhängigkeit ſo hartnäckig, daß der Staatskanzler erſt im Jahre 1818 wagte den kleinen Regierungsbezirk Stralſund mit der Provinz Pommern zu vereinigen. Darauf beſchwerten ſich die Deputirten der Kreiſe und Städte bei dem Könige bitter über die Verletzung ihrer Privilegien; ſie erklärten die ſchwe - diſche Gouvernements-Canzleiordnung von 1669 für unantaſtbar und ver - ſtummten erſt, als der König ihnen nachdrücklich erwidern ließ, keine Pro - vinz dürfe unter dem Vorwand beſonderer Gerechtſame eine Ausnahme von der allgemeinen Verwaltungsordnung des Staates für ſich verlangen. **)Kingabe der Kreiſe und Städte an den König, 9. Januar 1819. Cabinetsordre vom 24. Mai 1819.In den weſtlichen Provinzen ſtieß die Einführung der neuen Verwaltungs - bezirke auf geringeren Widerſtand, da der Sondergeiſt der Städte und der Landſchaften hier ſchon längſt durch die harte Fauſt des napoleoniſchen Beamtenthums gebeugt war; doch ward auch hier um die Sitze der Be - hörden leidenſchaftlich gekämpft, zuweilen auch verſucht, längſt vergeſſene altſtändiſche Anſprüche aus dem Staube der Jahrhunderte hervorzuholen. Die Grafſchaft Werden wollte nicht von der Grafſchaft Mark getrennt werden; die Stadt Herford erklärte dem Staatskanzler in einer pomp - haften Zuſchrift: ſie könne und werde keinem Kreiſe beitreten, ſie beſitze13*196II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ein Recht auf fernere Selbſtändigkeit und Immedialität ; nur unter dieſem Vorbehalte habe Herford einſt dem großen Kurfürſten gehuldigt. *)Eingabe der Stadt Herford an Hardenberg, 6. Novbr. 1816.

Die weitaus größten Schwierigkeiten bot doch die Neuordnung der vor - mals ſächſiſchen Gebiete, welche ohnehin der neuen Landesherrſchaft anfangs faſt ebenſo feindſelig wie die Polen gegenüberſtanden. Alles wehklagte über den Untergang der ſächſiſchen Nation; in Naumburg riß der Pöbel die ſchwarzen Adler in den Koth, ſelbſt die Ruhigen bezeichneten ſich weh - müthig als Mußpreußen ein Ausdruck, der in manchen Landſtrichen noch viele Jahre im Schwange blieb. So lange die Erwerbung des ge - ſammten Königreichs Sachſen in Ausſicht ſtand, hatte Hardenberg nur an eine Perſonal-Union zu denken gewagt. Jetzt, da man ſich mit der Hälfte des Landes begnügen mußte, ergab ſich ſofort, daß dieſe Trümmer nicht einmal in einer Provinz zuſammenbleiben konnten. Kaum die Anfänge der Staatseinheit, gleichmäßiger moderner Staatsordnung waren durch das ſchläfrige altſtändiſche Regiment Kurſachſens geſchaffen; die Lande, die man das Herzogthum Sachſen nannte, beſtanden in Wahrheit aus ſieben loſe verbundenen Territorien: aus den Markgrafſchaften Ober - und Nieder - lauſitz, den beiden Stiftern Merſeburg und Naumburg, dem Fürſtenthum Querfurt, der Grafſchaft Henneberg und einem Stücke der ſächſiſchen Erb - lande. Trotzdem baten die Vertreter des Adels, als im Herbſt 1815 eine ſächſiſche Deputation in Berlin erſchien, um Erhaltung der Integrität und Nationalität des Herzogthums Sachſen ; Andere, darunter die Bürger - meiſter, verwahrten ſich dawider und erklärten, ſie hegten volles Zutrauen zu der bürgerfreundlichen Regierung Preußens. **)Schuckmanns Bericht an Hardenberg, 15. Novbr. 1815.Zur ſelben Zeit ſprachen die Niederlauſitzer Stände für die Erhaltung ihrer Privilegien; die Stände der Oberlauſitz aber verlangten, daß die Provinz Lauſitz mit keinem anderen Theile der Monarchie verbunden werde : die beiden Lauſitzen ſollten ein ſelbſtändiges Geſammtreich bilden mit der Hauptſtadt Görlitz. ***)Eingabe der Oberlauſitzer Stände an den Staatskanzler, 28. Juni 1815.

Wie war es möglich, allen ſolchen particulariſtiſchen Begehren, die ein - ander ins Geſicht ſchlugen, gerecht zu werden? Zudem lagen dieſe Land - ſchaften weithin zerſtreut von Görlitz bis Langenſalza, abgetrennt von ihrem natürlichen Mittelpunkte, dem Meißnerlande, das bei Sachſen geblieben war. Die Regierung beſchloß daher nach längerem Schwanken, die weit nach Oſten abgelegene Niederlauſitz mit Brandenburg, die Oberlauſitz mit Schleſien zu verbinden und vereinigte die übrigen Stücke des Herzogthums Sachſen mit der Altmark, dem Herzogthum Magdeburg und dem kurmainzi - ſchen Eichsfelde zu einer neuen Provinz. So kamen die vormals ſächſiſchen Landestheile an drei Provinzen und ſechs Regierungsbezirke. Was Wunder, daß ſie laut klagten und den ganzen Schmerz der Theilung ihres Heimath - landes noch einmal zu erleben glaubten. Die Bitten und Beſchwerden197Der Staatsrath.währten noch lange fort. Der dicht bei Potsdam gelegene ſächſiſche Amts - bezirk Belzig verlangte ſtürmiſch, beim Wittenberger Kreiſe zu bleiben; ſämmtliche Grundbeſitzer des Eichsfeldes forderten als ein verbrieftes Recht, daß ein eichsfeldiſches Oberlandesgericht in Heiligenſtadt gegründet werde. Noch drei Jahre ſpäter ſprach einer der erſten Grundbeſitzer des Landes, Graf Schulenburg gegen den Miniſter Klewiz die Erwartung aus, daß die altſächſiſchen Gebiete ſämmtlich zu einer Provinz vereinigt würden, ſonſt werde dieſe Wunde ewig bluten ; und bis zum heutigen Tage fühlt ſich die Stadt Görlitz als eine oberlauſitziſche, nicht als eine ſchleſiſche Stadt. In der That war die Provinz Sachſen der einzige völlig künſt - liche unter den neuen großen Verwaltungsbezirken. Während bei der Bildung aller anderen Provinzen umſichtige Schonung der Intereſſen und Erinnerungen waltete und jede von ihnen einen ausgeprägten Stammes - charakter zeigte, wurde hier, Dank der unglücklichen Halbheit der Wiener Congreßbeſchlüſſe, manches althiſtoriſche Band gewaltſam zerriſſen, thürin - giſche, ober - und niederſächſiſche Stammesart willkürlich zuſammengezwängt. Und doch ward auch hier durch die ausdauernde Geduld, die Pflichttreue und Gerechtigkeit des Beamtenthums die Wildniß allmählich gerodet, die feindſelige Bevölkerung zu einem geſunden Gemeingeiſt erzogen. Es war die Idee der praktiſchen deutſchen Einheit, die in einem täglich und ſtündlich er - neuerten Kampfe ſich durchſetzte gegen die Trümmer des Particularismus.

Sobald die Verwaltung der Provinzen ſich etwas befeſtigt hatte nahm Hardenberg die ſo lange unterbrochene Arbeit der Geſetzgebung wieder auf. Durch die Verordnung vom 20. März 1817 wurde die ſeit dem Jahre 1808 wiederholt verheißene höchſte berathende Behörde der Monarchie, der Staats - rath, endlich eingerichtet, allerdings mit geringeren Befugniſſen, als Stein ihr einſt zugedacht hatte. Der Berathung des Staatsraths unterlagen alle Geſetzentwürfe ſowie die allgemeinen Verwaltungsgrundſätze, desgleichen die Streitigkeiten über den Wirkungskreis der Miniſterien, die Entſetzung der Beamten, und alle die Beſchwerden der Unterthanen, welche der König ihm zuwies, ſo daß die leicht zu mißbrauchende Macht der neuen Fach - miniſter jetzt eine wirkſame Schranke fand. Den Vorſitz übernahm der König ſelbſt oder der Staatskanzler, die formelle Leitung der Geſchäfte der neue Miniſter-Staatsſekretär v. Klewiz. Mitglieder waren: die königlichen Prinzen, die Miniſter und die Chefs der anderen ſelbſtändigen Central - behörden, die Feldmarſchälle, die commandirenden Generale und die Ober - präſidenten, endlich vierunddreißig durch das Vertrauen des Königs be - rufene Männer aus allen Zweigen des öffentlichen Dienſtes die beſten Kräfte des Beamtenthums, ſehr Wenige darunter, die nicht irgendwie über die Mittelmäßigkeit herausragten. Von den namhaften Staatsmännern hatte man nur zwei übergangen, deren Schroffheit dem Staatskanzler be - drohlich ſchien: Stein und den hochconſervativen alten Miniſter Voß - Buch. Die beiden Kirchen waren durch die Biſchöfe Sack und Spiegel,198II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.die Wiſſenſchaft durch Savigny vertreten. So lebte der alte Geheime Staatsrath, der ſeit dem Kurfürſten Joachim Friedrich bis zu den Tagen Steins, zuletzt nur noch als ein Schatten beſtanden hatte, jetzt wieder auf, in neuen Formen, welche den geſetzlichen Gang der Verwaltung ſicherten, ohne ihre raſche Schlagkraft zu lähmen. Dem neuen Staatsrathe ver - dankte Preußen, daß die Geſetze der letzten Jahre Friedrich Wilhelms III. gründlicher, brauchbarer, gediegener ausfielen als die zuweilen überhaſteten Arbeiten der großen Reformperiode und doch, trotz der reiflichen Berathung, nicht wie ſpäterhin die Geſetze der parlamentariſchen Zeit den widerſpruchs - vollen Charakter mühſeliger Partei-Compromiſſe trugen. Es war die letzte glänzende Vertretung der alten abſoluten Monarchie, eine Vereinigung von Talent, Sachkenntniß und unerſchrockenem Freimuth, wie ſie außer England kein anderer Staat jener Tage aufweiſen konnte, eine Körper - ſchaft, deren Wirkſamkeit allein ſchon genügte, alle die gehäſſigen Urtheile über den preußiſchen Staat, die jetzt wieder in den deutſchen Kleinſtaaten umhergetragen wurden, zu widerlegen. Aber ſie tagte geheim, in Preußen ſelbſt wußte das Volk kaum etwas von ihrem Daſein.

Am 30. März 1817 eröffnete Hardenberg die Sitzungen des Staats - raths mit einer Rede, die noch einmal den zuverſichtlichen Ton früherer Jahre anſchlug. Er ſagte: die Aufgabe ſei, das Beſtandene in die gegenwärtigen Verhältniſſe des Staats, in die Bildung des Volks und in die Forderungen der Zeit verſtändig einzufügen. Der preußiſche Staat ſo ſchloß er muß der Welt beweiſen, daß wahre Freiheit und geſetzliche Ordnung, daß Gleich - heit vor dem Geſetze und perſönliche Sicherheit, daß Wohlſtand des Ein - zelnen ſowie des Ganzen, daß Wiſſenſchaft und Kunſt, daß endlich, wenn’s unvermeidlich iſt, Tapferkeit und Ausdauer im Kampfe fürs Vaterland am beſten und ſicherſten gedeihen unter einem gerechten Monarchen. *)Protokolle des Staatsraths, erſte Sitzung.Darauf wurden die neuen Steuergeſetz-Entwürfe des Finanzminiſters einer Commiſſion übergeben.

Währenddem beſprachen ſich die im Staatsrathe verſammelten Ober - präſidenten vertraulich über die Ergebniſſe der neuen Verwaltungsordnung. Das Werk Steins, die Einheit der oberſten Verwaltung galt noch keines - wegs allgemein als eine unwiderrufliche Thatſache; die rechte Grenze zwi - ſchen den unveräußerlichen Rechten der Staatsgewalt und dem Uebermaße der centrifugalen Kräfte war ſo ſchwer zu finden, daß im Schooße der Regierung ſelber noch lebhaft darüber geſtritten wurde. Vor Kurzem erſt hatte der Staatsſekretär Klewiz, ein wohlmeinender, in der Provinzial - verwaltung ſeiner magdeburgiſchen Heimath gründlich erfahrener Beamter der alten Schule, dem Staatskanzler im beſten Glauben einen ungeheuren Rückſchritt, die Wiederherſtellung der Provinzialminiſter vorgeſchlagen: eine ſtraffere Centraliſation ertrage der ſo bunt zuſammengeſetzte Staat nicht,199Schön und die Oberpräſidenten.und wie leicht könne die Macht der neuen Fachminiſter in einen gefähr - lichen Despotismus ausarten! *)Klewiz’s Denkſchriften an Hardenberg vom 24. Sept. 1816 und 20. Febr. 1817.Der Ruf nach Herſtellung der Pro - vinzialminiſterien ward bald ein Loſungswort für den Particularismus der altſtändiſchen Adelspartei und fand auch Anklang bei einem Theile der Oberpräſidenten. Dieſe hohen Beamten fühlten ſich alleſammt unbe - haglich in ihrer ſchwierigen, noch nirgends klar begrenzten Mittelſtellung zwiſchen den Miniſterien und den Bezirksregierungen; ſtolz auf ihre be - währte Kraft ſtanden ſie ihren Vorgeſetzten mit jener trotzigen Amtseifer - ſucht gegenüber, die dem preußiſchen Beamtenthum von jeher eigen war, und da ſie in ihren Provinzen faſt nur Klagen über die ungewohnten neuen Verhältniſſe vernommen hatten, ſo überboten ſie einander in düſteren Berichten, ſie beſtärkten ſich wechſelſeitig in ihrem Mißmuth und geriethen allmählich unter die Leitung Schöns, des Mannes, in dem ſich die ganze unfruchtbare Verdrießlichkeit dieſer Uebergangstage verkörperte.

In den erſten Zeiten der Hardenbergiſchen Verwaltung hatte Schön, gleich Sack und vielen anderen tüchtigen Beamten, zur Einführung des Prä - fektenſyſtems gerathen; ſeit er ſelbſt Oberpräſident von Weſtpreußen geworden, empfahl er ebenſo lebhaft eine faſt unbeſchränkte Selbſtändigkeit der Pro - vinzialbehörden. Welche Lebensſtellung hätte auch dem ewig Unbefriedigten je genügen können? Die Abhängigkeit von den Miniſtern fiel ſeinem über - ſpannten Selbſtgefühle um ſo läſtiger, da er ſich bereits ein Idealbild von der Geſchichte der letzten Jahre zurecht gelegt hatte, in deſſen Vordergrunde er ſelber inmitten ſeiner altpreußiſchen Freunde glänzte. Eine unruhige Einbil - dungskraft verband ſich in ſeinem Geiſte ſeltſam mit dialektiſchem Scharfſinn. Wenn er erzählte oft viele Stunden lang mit unaufhaltſamer Lebendig - keit und ſtarker Leidenſchaft dann überkam die Zuhörer ſchnell das Ge - fühl, daß die Phantaſie mit ihm durchging: durch ihn waren dem ideen - loſen Stein die leitenden Gedanken des geſammten Reformwerks geſchenkt worden, während er in Wahrheit nur an einem einzigen jener grundlegenden Geſetze, an dem Edikte über die Aufhebung der Erbunterthänigkeit, wirkſam theilgenommen hatte; er allein hatte im Frühjahr 1813 die Provinz Preußen vor Steins moskowitiſchen Eroberungsplänen gerettet; durch ſeine Freunde, die Führer des Königsberger Landtags, war der große Linienſoldat Scharn - horſt wider Willen zur Bildung der Landwehr genöthigt worden. Solche Märchen wiederholte er beharrlich in Wort und Schrift, bis er endlich ſelbſt daran glaubte; er fühlte kaum noch, wie ſchwer er ſich an dem Ruhm größerer Männer verſündigte, und bekannte ſich, derweil er in eitlem Selbſt - lob ſchwelgte, ganz unbefangen zu dem Wahlſpruch: thue das Gute und wirf es ins Meer; ſieht es der Fiſch nicht, ſieht es der Herr! Geiſtreich, beredt, vielſeitig gebildet, ein Schüler Kants und Freund von Fichte und Niebuhr, unterhielt er mit der gelehrten Welt einen regen Verkehr, ſo daß200II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ſein Name auch draußen in den Kleinſtaaten, wo man ſich ſonſt um Preu - ßens Männer und Dinge wenig kümmerte, überall mit Achtung genannt wurde, und blieb dabei doch ein Mann der Geſchäfte, ein gründlicher Kenner des Landbaus und der Gewerbe, ein thatkräftiger Beamter, der die gute Schule des trefflichen alten Provinzialminiſters v. Schrötter nicht verleugnete und, wenn es galt, rückſichtslos, ja despotiſch durchgriff. Faſt ſeine geſammte Dienſtzeit hatte er in der Verwaltung ſeiner altpreußiſchen Heimath zuge - bracht, kein Bauernhof der Salzburger Exulanten in Litthauen und keine Fiſcherhütte auf den Dünen der kuriſchen Nehrung war ihm unbekannt. So, mit dem zweifachen Stolze des Kantianers und des gewiegten Prak - tikers ſchaute er verächtlich auf die ſtaubige Weisheit des grünen Tiſches nieder, und da er die preußiſchen Staatsmänner ſämmtlich, Stein ſo gut wie Wittgenſtein, auf der Wage ſeines kategoriſchen Imperativs allzu leicht befand, ſo überſchüttete er ſie alle, ſehr wenige ausgenommen, mit der ätzenden Lauge eines grauſamen Tadels, der zu Kants menſchenfreund - licher Weisheit wenig ſtimmte. Männer thuen uns noth, ſo wiederholte er beſtändig, die von der Macht der Ideen ergriffen ſind, Männer, die vor dem Volke ſtehen und mit ihm leben! Die religiöſe Erregung der Kriegsjahre ließ ſeinen durchaus kritiſchen Geiſt ebenſo kalt wie die vater - ländiſche Schwärmerei der Teutonen, denn in der Nationalität wollte er niemals mehr ſehen als eine blinde Naturgewalt, die von der Idee des[Staates] gebändigt werden müſſe.

Sein Programm hatte er ſchon vor Jahren in dem ſogenannten Poli - tiſchen Teſtamente Steins niedergelegt. Dieſe bisher nur einigen hohen Be - amten bekannte Denkſchrift wurde eben jetzt (1817) von unbekannter Hand, ſchwerlich ohne Vorwiſſen des Verfaſſers, im Weimariſchen Oppoſitions - blatte veröffentlicht und fand den lauten Beifall der ſüddeutſchen Liberalen. Ein abgeſagter Feind aller Adelsvorrechte, hielt Schön für unzweifelhaft, daß die Verheißungen jenes Teſtaments Volksvertretung für alle aktiven Staatsbürger, Aufhebung der gutsherrlichen Polizei und der Patrimonial - gerichte den Wünſchen der geſammten Nation entſprächen, und ſchloß ſeine heftigen Ausfälle gegen die Menſchen, die das Volk in den Maſchinen - dienſt vor dem Jahre 1806 zurückzwingen wollen, gern mit dem Ausruf: vox populi vox Dei. Auch ſein fanatiſcher Haß gegen Rußland kam ſeinem Rufe in der liberalen Welt zu ſtatten. Wie oft wünſchte er ſich, in ſeinen Briefen an Hardenberg, einen fröhlichen Krieg wider dieſe Barbaren, die auf der unterſten Stufe der Entwicklung, nur bei den Prolegomenen ſtehen ; als er dem Staatskanzler einſt das Gerücht von einem Mord - anſchlage gegen den Czaren meldete, ſprach er triumphirend ſeine Freude aus, daß dieſes Volk ſich ſelbſt ſo tief läſtert und von ſich Dinge ver - breitet, die die höchſte Schande jedes Volks ausdrücken. Gott ſei gelobt! *)Schön an Hardenberg, 14. Febr. 1816, 26. Sept. 1818, 1. Nov. 1819.Bei ſeinen altpreußiſchen Landsleuten ſtand er in hohem Anſehen, obwohl201Verhandlungen über den Wirkungskreis der Provinzialbehörden.ſeine Schroffheit nirgends Liebe erweckte; der rationaliſtiſche Zug ſeines Geiſtes entſprach der Geſinnung, die in der Stadt der reinen Vernunft ſeit Langem vorherrſchte, und Alle wußten, wie glühend er ſeine Heimath liebte, wie einſichtig und unerſchrocken er ſich aller ihrer Intereſſen vor dem Throne annahm. Das Beiſpiel ſeiner abſprechenden Tadelſucht wirkte verderblich auf das ohnehin zu ſcharfem Urtheil geneigte Volk; durch Schöns langjährige Verwaltung wurde die Uebermacht der extremen Parteien in unſerer Oſtmark zuerſt begründet. In Berlin ſpottete man insgeheim über ſeinen unermeßlichen Dünkel und erzählte ſich lächelnd, wie er einmal, unmittelbar vor der Heimreiſe, eine Einladung Hardenbergs mit den Worten ausgeſchlagen hatte: meine Provinz kann meiner nicht eine Stunde länger entbehren; doch mochte Niemand gern dem ſtreitbaren Manne mit den ſtrengen, ſtrafenden Augen offen entgegentreten. Witzleben, Klewiz, Vincke ſchätzten ihn hoch; auch der König nahm von ihm manches herbe Wort hin, da er ſeine Ergebenheit kannte.

Als Schön aus den Verhandlungen des Staatsraths die Uneinigkeit der Miniſter kennen lernte, hielt er die Lage des Staates alsbald für ebenſo verzweifelt wie ſie vor der Schlacht von Jena geweſen, und rieth dem Staatskanzler dringend zur Bildung eines neuen Miniſteriums, das nur aus Geſinnungsgenoſſen beſtände und, gleich dem engliſchen Kabinet, durch die Achtung des Volks getragen würde: dies England blieb ihm nun einmal der liberale Muſterſtaat, obgleich dem Hochtory-Kabinet jener Tage wahrlich nichts gleichgiltiger war als die Achtung des Volks. Um ſeinen Vorſchlägen Nachdruck zu geben, überreichte Schön ſodann den verſammelten Oberpräſidenten den Entwurf einer gemeinſamen Beſchwerdeſchrift, die den Monarchen über den bekümmernden Zuſtand der Verwaltung aufklären ſollte. Dies ſonderbare, an draſtiſchen Wendungen überreiche Schriftſtück ſchilderte mit grellen Farben, Wahres und Falſches willkürlich vermiſchend: wie der ſo bunt zuſammengeſetzte Staat allein durch den Geiſt zuſammen - gehalten werden könne, und dieſer Geiſt jetzt unterdrückt werde; die Polizei bekunde ſich als Druck, die allgemeine Wehrpflicht arte in eine Laſt des Landes aus, die Juſtiz ſei nur noch eine leidende Maſchine in der Hand des Miniſters, für Kirche und Schule geſchehe gar nichts. Daran ſchloſſen ſich ſcharfe Anklagen wider die eigenmächtige und nachläſſige Amtsführung des Finanzminiſters und wohlberechtigte Beſchwerden über das ungebundene Ziehen aller Geſchäfte der Provinzialverwaltung, in franzöſiſcher Art, nach der Mitte . So mächtig war die grämliche Verſtimmung der Zeit, daß ſieben von den zehn Oberpräſidenten ſich entſchloſſen, dies lange Regiſter unbeſtimmter und zum Theil grundloſer Klagen zu unterzeichnen (30. Juni). Nur Zerboni, ein perſönlicher Freund Hardenbergs, und der hochconſer - vative Heydebreck verweigerten die Unterſchrift; der Oberpräſident von Sachſen war als Bruder des Finanzminiſters von vornherein aus dem Spiele geblieben.

202II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Der Staatskanzler nahm die Oppoſition der höchſten Provinzialbe - amten zuerſt ſehr unwillig auf und nannte im vertrauten Kreiſe ihr Unter - fangen geradezu eine Verſchwörung. Doch überwand er ſich bald, erkannte einige der Beſchwerden als berechtigt an und forderte für andere genaueren Beweis, worauf die Klagenden ſelber mehrere ihrer Vorwürfe zurücknehmen mußten. Auch der König begnügte ſich mit einem milden Tadel gegen die Uebertreibungen der Denkſchrift, dankte den Unterzeichnern für dieſen neuen Beweis ihres Dienſteifers und kündigte ihnen an, daß er den Klagen über die allzu ſtraffe Centraliſation ſoeben abgeholfen habe. *)Denkſchrift der Oberpräſidenten vom 30. Juni 1817, mit Randbemerkungen des Staatskanzlers. Rechtfertigungsſchreiben von Ingersleben 14. Sept., von Auerswald 15. Oktbr. 1818 u. ſ. w. Kabinetsordre an die Oberpräſidenten, 3. Nov. 1817.In der That erließ der Monarch, um den Wirkungskreis der Provinzialbehörden endlich klar abzugrenzen, am 23. Oktober 1817 die Inſtruktionen für die Ober - präſidenten und die Regierungen, zwei ſeit Langem vorbereitete treffliche Geſetze, welche den Neubau der oberen Verwaltung zum Abſchluß brachten und die Grundſätze des Verwaltungsrechts auf ein halbes Jahrhundert hinaus feſtſtellten. Geheilt von ſeiner Vorliebe für die napoleoniſche Ver - waltung kehrte Hardenberg jetzt zu den Gedanken Steins zurück. Das neue Verwaltungsrecht ſchloß ſich eng, oft wörtlich an die Geſetzgebung des Jahres 1808 an. Die Oberpräſidenten ſollten mindeſtens einmal jähr - lich die ganze Provinz bereiſen, überall aus eigener Anſchauung den Mängeln und Beſchwerden abhelfen; ſie erhielten ein ſo weites Gebiet ſelbſtändiger Thätigkeit angewieſen, daß Vincke in Weſtphalen, Merckel in Schleſien, Sack in Pommern bald faſt wie Landesväter verehrt wurden und in dem geſammten öffentlichen Leben ihrer Provinzen die dauernden Spuren ihres Wirkens hinterlaſſen konnten. Als Hardenberg aber im Juni 1818 die hohen Verwaltungsbeamten der Provinzen zu freimüthigen Gutachten über die Wirkung der neuen Inſtruktionen aufforderte, da gingen die Erwiderungen noch nach allen Richtungen der Windroſe auseinander. Schön ſchalt nach ſeiner Weiſe über die bureaukratiſche Mißgeburt; er und Vincke ſahen nur noch Rettung in der Wiederherſtellung der Provinzialminiſter. Motz da - gegen empfahl den Uebergang zu einem gemäßigten Präfekturſyſtem; die collegialiſche Verwaltung paſſe nur für rein monarchiſche Staaten, Preußen aber ſtehe im Begriff ſich in einen conſtitutionellen Staat zu verwandeln. **)Motz, Denkſchrift über die Regierungen (an den Staatskanzler), Nov. 1818.Die Aufgabe, den künſtlichen Staat durch eine Verwaltung, die doch nicht unfrei ſein durfte, zuſammenzuhalten, erſchien dieſer Generation bis zur Unlösbarkeit ſchwierig. Lange Jahre ſollten noch vergehen, bis das Be - amtenthum ſelber anerkannte, daß der greiſe Staatskanzler noch einmal ſeinen ſicheren politiſchen Blick bewährt und die feine Mittellinie zwiſchen dem bureaukratiſchen und dem Collegial-Syſtem glücklich getroffen hatte.

Unterdeſſen ward in dem Ausſchuß und im Plenum des Staatsraths203Das Deficit.ein Kampf durchgefochten, ernſter, folgenreicher als manche vielbewunderte Parlamentsverhandlung jener Tage. Auch die Leidenſchaft und der redne - riſche Reiz parlamentariſcher Debatten fehlten ihm nicht; wie erſtaunte Gneiſenau, als er die kunſtvolle und doch ſtreng ſachliche Beredſamkeit Humboldts, Maaſſens, Eichhorns, Ferbers kennen lernte und das allge - meine Vorurtheil der Zeit, das den ſchüchternen Deutſchen die Gabe der freien Rede abſprach, ſo ſchlagend widerlegt ſah. Gleich nach dem Frieden hatte der König den Finanzminiſter aufgefordert, einen umfaſſenden Steuer - reformplan vorzulegen; die neuen Unterthanen, ſo ſchrieb er, ſollen es fühlen, daß ſie mir angehören. Sobald man der Aufgabe näher trat, zeigte ſich ſchnell, daß nur eine billigere Vertheilung, nicht eine Erleich - terung der Steuerlaſt möglich war. Der außerordentliche Aufwand des Staates für Kriegszwecke betrug, wie ſich ſpäterhin herausſtellte, 206 Mill. Thlr. für die Jahre 1806 15, in den nächſten vier Jahren kamen noch weitere 81 Mill. hinzu. Die Staatsſchuld war ſchon im Jahre 1812 auf 132 Mill. geſtiegen und ſeitdem durch den Befreiungskrieg und die 45 Mill. fremder Schulden, die man mit den neuen Provinzen übernehmen mußte, bis auf 217 Mill. (1818) angewachſen. Der Credit lag ſo tief darnieder, daß Hardenberg ſich im Jahre 1817 glücklich ſchätzen mußte, eine fünfprocentige Anleihe in England zum Kurſe von kaum 72 abzuſchließen; zur ſelben Zeit ſtanden die vierprocentigen Staatsſchuldſcheine an der Berliner Börſe auf 71 73, ein Jahr darauf noch niedriger, bis auf 65. Und welch ein Wagniß, dieſem erſchöpften Volke, das nach deutſcher Art fiscaliſchen Druck ſtets ungeduldiger trug als polizeilichen Zwang, jetzt inmitten der allge - meinen Verarmung neue Laſten aufzulegen. Der Kaufwerth der großen Landgüter ſtand in den alten Provinzen kaum mehr halb ſo hoch als vor dem Jahre 1806, in einzelnen Landestheilen war er auf ein Viertel herab - geſunken. Als der König im Juni 1816 den für die Kriegsjahre gewährten Indult endlich aufhob, mußte er gleichwohl den verſchuldeten Grundbeſitzern in den öſtlichen Provinzen noch bis zum Jahre 1819, in Altpreußen ſogar bis 1822, einige außerordentliche Zahlungserleichterungen bewilligen.

Das Aergſte blieb doch, daß Niemand die Lage des Staatshaushalts überſah. Die Maſſen der Rückſtände, der Kriegsleiſtungen, der mannich - fachen mit den neuen Provinzen übernommenen Verpflichtungen entzogen ſich noch jeder Berechnung; noch drei Jahre ſpäter lagen allein bei der Regierung des kleinen Bezirks Erfurt 2141 unbezahlte Rechnungen aus der Kriegszeit. *)Motz, Denkſchrift über die Vereinfachung der Verwaltung. Erfurt 29. Juni 1820.Graf Bülow erklärte ſich daher außer Stande, dem Staatsrathe eine ins Einzelne gehende Veranſchlagung zu übergeben und ſchätzte, ohne nähere Berechnung, das Deficit für das Jahr 1817 auf 1,9 Mill. Thlr. Die an das peinlich genaue altpreußiſche Rechnungsweſen gewöhnten Commiſſionsmitglieder wollten der unwillkommenen Mittheilung204II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.keinen Glauben ſchenken; ſie ſuchten den Grund des Deficits allein in - lows Nachläſſigkeit und ſtellten eine Gegenrechnung auf, welche einen Ueber - ſchuß von reichlich 4 Mill. an ordentlichen und 2 Mill. an außerordentlichen Einnahmen ergab. Bei einem Budget von etwa 50 Mill. wichen alſo die Schätzungen der tüchtigſten Finanzmänner um volle 8 Mill. von einander ab. *)Schuckmanns Bericht an Hardenberg, 11. Juli 1817.Der in der Polemik immer maßloſe Schön wollte ſogar einen Ueber - ſchuß von 21 Mill. nachweiſen. Die Folge lehrte, daß Bülow, der nur von Schuckmann unterſtützt wurde, die Lage richtiger beurtheilt hatte als ſeine zuverſichtlichen Gegner. Aber er vermochte ſeine Behauptungen nicht zu beweiſen, und als nun der Referent der Commiſſion, Staatsrath Frieſe, den Staatshaushalt im Einzelnen mit eindringender Sachkenntniß prüfte, da ſtellte ſich in allen Zweigen der Finanzverwaltung eine arge Unordnung heraus, die mit den Wirren der Kriegsjahre allein nicht mehr entſchuldigt werden konnte. Von Humboldt geführt nahm die geſammte Commiſſion wie ein Mann gegen den Finanzminiſter Partei und überhäufte ihn mit Vorwürfen. Der wies die Anklagen in leidenſchaftlicher Rede zurück, warf alle Schuld auf die unerſchwinglichen Koſten des neuen Heerweſens und ließ in ſeinem Zorne auch einige ſcharfe Worte wider die verſchwenderiſche Sorgloſigkeit ſeines Vetters fallen. Seltſame Verſchiebung der Parteien! Mit einem male ſah ſich Hardenberg von ſeinem Liebling Bülow ange - griffen, von ſeinem Nebenbuhler Humboldt vertheidigt.

Der Kriegsminiſter nahm ſofort den Handſchuh auf. Er bemerkte mit Beſorgniß, daß jener geheime Kampf des Civilbeamtenthums gegen die Armee, der in dem Jahrzehnt vor 1806 ſo viel Unheil angerichtet, jetzt da die Waffen ruhten von Neuem zu entbrennen drohte; er wußte auch, daß ſich Bülow bereits bei dem General Lingelsheim ein Gutachten über die Wiederherſtellung der fridericianiſchen Heeresverfaſſung beſtellt hatte. Um ſolchen Beſtrebungen einen Riegel vorzuſchieben und den Staatsrath ein - für allemal über die ſtaatswirthſchaftlichen Vorzüge des neuen Heerweſens aufzuklären, verfaßte Boyen eine geiſtvolle Denkſchrift Darſtellung der Grundſätze der alten und der gegenwärtigen preußiſchen Kriegsverfaſſung (Mai 1817), die mit überzeugender Klarheit erwies, daß Preußen noch nie ein ſo ſtarkes und zugleich ſo wohlfeiles Heer beſeſſen hatte. Der Staat war doch allmählich ausgewachſen; mit jeder Vermehrung ſeines Gebiets verringerte ſich die krampfhafte Ueberſpannung ſeiner phyſiſchen Kräfte. Das Heer hatte unter Friedrich Wilhelm I. fünfmal, unter Friedrich dem Großen faſt dreimal mehr gekoſtet als die geſammte übrige Verwaltung; jetzt zum erſten male nahm der Civildienſt, allerdings mit Einſchluß der koſtſpieligen Staats - ſchuldenverwaltung, die größere Hälfte der Staatseinnahmen in Anſpruch. Boyen berechnete die Koſten des Heerweſens, etwas zu niedrig, auf 21 Mill. und zeigte, daß der Staat jetzt 238000 Mann mehr ins Feld ſtellen könne205Bülows Steuerreformplan.als im Jahre 1806 und trotzdem in Friedenszeiten, wenn man die zahl - reichen Naturalleiſtungen der alten Zeit zu Geld veranſchlage, 2 Mill. Thlr. weniger für die Armee aufwende. Er ſchloß mit der energiſchen Erklärung: die Stärke des Heeres könne nicht allein durch finanzielle Rückſichten be - ſtimmt werden, ſie ergebe ſich aus der Weltſtellung des Staates, aus der Macht und der Geſinnung ſeiner Nachbarn.

Auch der Staatskanzler fühlte ſich durch Bülows Vorwürfe gekränkt als Chef, Freund und naher Verwandter und ſtellte den Ankläger ernſtlich zur Rede. Da der erſchreckte Finanzminiſter alſo ſeine letzte Stütze wanken ſah, ſo lenkte er behutſam ein und weigerte ſich, ſeine keineswegs grund - loſen Klagen über Hardenbergs Nachläſſigkeit bis vor den Thron zu bringen: eher möge der König ſeine Ungnade auf mich werfen, eher will ich Alles in dieſer Welt verlieren, als meine Seele mit Undank beladen und mit Ew. Durchlaucht in einen öffentlichen Streit gehen. *)Bülow an Hardenberg, 10., 13., 14., 16. Juli; Hardenberg an Bülow, 12., 17. Juli 1817.Aber das freund - liche Verhältniß zwiſchen den beiden Vettern blieb geſtört, Bülows Stel - lung ward täglich unhaltbarer.

Gleichzeitig führte der Staatsrath eine nicht minder ſtürmiſche Ver - handlung über die Steuerreform. Von den zwei Geſetzentwürfen, welche der Finanzminiſter vorlegte, fand der eine, das Zollgeſetz, faſt auf allen Seiten Anerkennung, während der zweite, das Geſetz über die Beſteuerung im Innern des Staates, ſofort mit Unwillen aufgenommen wurde. Bülow dachte außer der Gewerbe - und Stempelſteuer auch die beſtehenden Grund - ſteuern vorläufig, bis zur Einberufung der Provinzialſtände, aufrecht zu halten; die drückende alte Acciſe hingegen, die ſich nach Einführung der Gewerbefreiheit und des Zollgeſetzes ohnehin nicht mehr halten ließ, wollte er beſeitigen und an ihrer Stelle eine Mahl - und Fleiſchſteuer für Stadt und Land, ferner Steuern auf Tabak, Bier und Branntwein einführen. Seine Vorſchläge entfernten ſich nicht weit von dem fridericianiſchen Steuer - ſyſteme, das 70 Procent des geſammten Abgabenertrags durch indirekte Steuern aufgebracht hatte. Sie verriethen die Hand eines gewandten Prak - tikers, der ohne eigene reformatoriſche Gedanken lediglich die Staatskaſſen in der gewohnten Weiſe zu füllen trachtete, und erſchienen der Oppoſition, deren Führung wieder Humboldt übernahm, um ſo verdächtiger, da ſie von einem napoleoniſchen Miniſter herrührten und faſt wörtlich mit den Anſichten übereinſtimmten, welche Bülows früherer Amtsgenoſſe Malchus ſoeben in ſeiner Schrift über die weſtphäliſche Finanzverwaltung ausge - ſprochen hatte.

Unter den preußiſchen Beamten, die faſt alleſammt bei A. Smith und Kraus in die Schule gegangen waren, ſtanden die indirekten Steuern des Bonapartismus in üblem Rufe: hatte doch Smith die Mahlſteuer kurzweg206II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.für die verderblichſte aller Abgaben erklärt. Die Commiſſion griff daher die Conſumtionsſteuern nachdrücklich an und tadelte vornehmlich, daß der Finanzminiſter nicht auch ein Geſetz über die direkten Abgaben vorgelegt habe; denn um eine gerechte Vertheilung der Steuerlaſt zu finden, müſſe zunächſt die Ungleichheit der Grundſteuern beſeitigt oder doch den einzelnen Provinzen angerechnet werden. Sie ſprach damit nur aus, was die große Mehrzahl des Bürgerthums wünſchte. Die bunte Mannichfaltigkeit der Grundſteuern war eine alte Klage im Lande. An ihr zeigte ſich auf das Grellſte, wie mühſam dieſer Staat aus einem Gewirr ſelbſtändiger Terri - torien emporgewachſen war; je ſtrenger ſeine Könige den Gedanken der Staatseinheit in der oberen Verwaltung durchgeführt hatten, um ſo nach - ſichtiger war auf dem flachen Lande das altſtändiſche Weſen geduldet worden. In der Monarchie beſtanden 33 verſchiedene, meiſt uralte Grundſteuer - verfaſſungen, in der Provinz Sachſen allein acht, deren jede wieder mannich - fache örtliche Verſchiedenheiten und Privilegien aufwies. Oſt - und Weſt - preußen zahlten auf der Geviertmeile 639 Thlr. Grundſteuer, die Rhein - lande, allerdings auf weit werthvollerem Boden, 4969 Thlr. Kein Wunder, daß die Rheinländer über die Steuerfreiheit des Oſtens laut murrten und auch Schleſien, das durch Friedrich II. ein Kataſter erhalten hatte, ſich gegen die anderen, nicht kataſtrirten, alten Provinzen benachtheiligt glaubte. Und doch blieb eine Reform für jetzt noch unmöglich. Da die alte Grund - ſteuer im Verlaufe der Jahrhunderte den Charakter einer Rente ange - nommen hatte, ſo ließ ſich die Ausgleichung nur nach Entſchädigung der Befreiten durchführen. Und woher jetzt die Mittel dazu nehmen? woher die techniſchen Kräfte zur Kataſtrirung des geſammten Landes? Und war es billig, den Landadel, der in den öſtlichen Provinzen noch faſt allein die Koſten der gutsherrlichen Polizei, der Patrimonialgerichte und des Kirchenpatronats trug, mit neuen Laſten zu beſchweren in einem Augen - blicke, da er, durch harte patriotiſche Opfer erſchöpft, ſich kaum noch im Beſitz ſeiner Güter zu behaupten vermochte? Von allen dieſen ernſten Be - denken wollte Humboldt nichts hören; er begnügte ſich mit einer ſchonungs - loſen Kritik und ſchilderte die Ungleichheit der beſtehenden Grundſteuern, die Gebrechen aller indirekten Abgaben nicht ohne doktrinäre Uebertreibung.

Auch von particulariſtiſchen Hintergedanken war die Oppoſition nicht frei. In Sachſen, Poſen und am Rhein hoffte das Volk auf eine Quoti - ſirung der Steuern, dergeſtalt daß die Stände jeder Provinz ihren An - theil an dem Staatsbedarfe nach eigenem Ermeſſen aufbringen und ver - theilen ſollten. Dieſer ungeheuerliche Vorſchlag, der die Monarchie in einen lockeren Staatenbund zu verwandeln drohte, ward von mehreren Ober - präſidenten befürwortet, am eifrigſten von dem wackeren Grafen Solms - Laubach in Jülich-Cleve-Berg. *)Solms-Laubach, Denkſchrift über das Abgabenweſen am Rhein, Januar 1817.Indeß erlangte er im Staatsrathe nicht207Die Notabeln-Verſammlungen.die Mehrheit, da Bülow lebhaft für die gefährdete Staatseinheit eintrat, und Schuckmann in einer langen Denkſchrift ausführte: wenn der preu - ßiſche Staat dieſe Lebensfrage dem Gutdünken von zehn Provinzialland - tagen anheimgebe, ſo werde er bald in eine ähnliche Lage gerathen wie Frankreich in den Tagen Calonnes. *)Schuckmann, Denkſchrift an das Staatsminiſterium, 4. Juni 1817.Die Commiſſion wagte auch nicht, wie Humboldt vorſchlug, geradezu die Mitwirkung der Landſtände bei der Feſtſtellung des neuen Steuerſyſtems zu fordern. Sie fühlte, daß die Krone noch immer hoch über der politiſchen Einſicht des Volkes ſtand, und eine durchgreifende Steuerreform nur durch ein königliches Machtgebot gelingen konnte; zudem beſtanden die verheißenen neuen Landtage noch gar nicht, und mit den alten Ständen von Neuvorpommern und Sachſen, die ſich trotzig auf ihre verbriefte Steuerfreiheit beriefen, war jede Verhand - lung ausſichtslos. Daher wurde dem Commiſſionsberichte nur die viel - deutige Schlußwendung hinzugefügt: zur Beruhigung des Volkes ſcheine es nothwendig den neuen Steuerplan mit den Maßregeln wegen der Stände in Zuſammenhang zu ſetzen . Am 20. Juni ging der Bericht an den Monarchen ab; er beantragte Annahme des Zollgeſetzes und Vorlegung eines umfaſſenden neuen Planes für die geſammte innere Beſteuerung.

Der König verhehlte der Commiſſion nicht, daß er nicht blos ſcharfe Kritik, ſondern beſtimmte Gegenvorſchläge erwartet habe; doch genehmigte er ihre Anträge und befahl den Oberpräſidenten, zunächſt angeſehene Ein - wohner aus ihren Provinzen zu berufen, damit die öffentliche Meinung ſich über den Steuerplan äußern könne. Im Auguſt und September wurden dieſe Notabelnverſammlungen in allen zehn Provinzen abgehalten, und ſie ſprachen ſich alleſammt gegen die Mahl - und Fleiſchſteuer aus. Es fehlte nicht an ſtürmiſchen Auftritten. Die Notabeln des Großher - zogthums Poſen, neun polniſche Edelleute und drei bürgerliche Deutſche, behaupteten mit ſarmatiſcher Ueberſchwänglichkeit: dieſe Steuer vernichte die gänzliche Civil - oder Menſchenfreiheit; der Angriff auf ſolches Heilig - thum löſet alle Bande der menſchlichen Geſellſchaft auf. Darauf ver - ſicherten ſie dreiſt die grobe Unwahrheit, daß der Steuerertrag Poſens zur Bereicherung der alten Provinzen verwendet werde: das Gewehr iſt nieder - gelegt, die Hand gedrückt; ſoll denn das Herzogthum keinen Antheil an den Vortheilen des Friedens haben? Die ſchleſiſchen Notabeln fügten ihrem Gutachten ſogar eine bedeutſame Rechtsverwahrung hinzu. Sie erklärten, auf den Antrag des Grafen Dyhrn, daß ſie nur ihre perſön - liche Meinung abgäben; die Mitwirkung bei dem neuen Steuergeſetze müſſe den künftigen Ständen vorbehalten bleiben. **)Eingabe der Poſener Notabeln an den Staatskanzler, 17. Auguſt 1817. Die Verhandlungen der ſchleſiſchen Notabeln bei Wuttke, Die ſchleſiſchen Stände. S. 219 f.Es war ein Schatten kom - mender Ereigniſſe, ein erſtes böſes Anzeichen der ſtaatsrechtlichen Ver -208II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.wirrung, welche durch das übereilte Verfaſſungsverſprechen hervorgerufen wurde.

Bei Alledem zeigte ſich viel geſunder Menſchenverſtand und ſchließlich, obgleich jede Provinz ihre beſonderen Beſchwerden vorbrachte, doch eine überraſchende Uebereinſtimmung. Die Notabeln fanden zuerſt eine Ant - wort auf die ſchwierige Frage, was an die Stelle der verworfenen in - direkten Steuern treten ſolle. Während der letzten Jahre hatte der Ge - danke einer allgemeinen, in wenige große Klaſſen abgeſtuften Perſonen - ſteuer in der Stille ſeinen Weg gemacht, ein Gedanke, der bereits in der erſten Zeit der Hardenbergiſchen Verwaltung von dem Finanzrath v. Prittwitz - Quilitz, einem landeskundigen, angeſehenen Landwirth aufgebracht worden war. Er entſprach der herrſchenden volkswirthſchaftlichen Theorie wie dem allgemeinen Abſcheu gegen das indirekte Steuerſyſtem der Franzoſen und ſchien leicht durchführbar, da die Maſſe des Volks noch ſeßhaft, unbeweg - lich in patriarchaliſchen Lebensverhältniſſen verharrte. An eine Einkommen - ſteuer wagte man noch nicht zu denken; ſie war ſchon durch den vergötterten A. Smith, neuerdings auch durch F. v. Raumer als tyranniſch gebrandmarkt und vollends in Verruf gekommen, ſeit der Verſuch ihrer Einführung in der bitteren Noth des Jahres 1812 mit einem Mißerfolge geendet hatte. Im Staatsrathe trat der gelehrte Statiſtiker J. G. Hoffmann zuerſt nach - drücklich für die Klaſſenſteuer ein und fand Anklang bei der Mehrzahl der Oberpräſidenten. Als nun die Notabeln rathlos nach einem Erſatze für die Mahl - und Fleiſchſteuer ſuchten, wurden ſie von ihren Vorſitzenden auf dieſen Ausweg hingewieſen. So geſchah es, daß die Mehrheit der Notabelnverſammlungen die Einführung einer abgeſtuften Perſonenſteuer einer fixirten Conſumtionsſteuer , wie die Schleſier ſich ausdrückten bei dem Staatskanzler befürworteten. Auf dieſe Gutachten geſtützt entwarf dann Hoffmann (27. Okt.) eine große Denkſchrift über die Klaſſenſteuer und wies damit der preußiſchen Steuerpolitik einen neuen Weg, der freilich erſt nach abermals zwei Jahren ſchwieriger Verhandlungen zögernd be - treten wurde. Während alle anderen Großmächte in verſchiedenen Formen das Syſtem der überwiegenden indirekten Abgaben beibehielten, wendete ſich Preußen mehr und mehr der Ausbildung ſeiner direkten Steuern zu. Die neue Steuerpolitik, welche ſich hier ankündigte, war die Politik eines tief verarmten Staates, der das Geld nehmen mußte wo er es fand, eines wohlwollenden Abſolutismus, der zwar die Anfänge der Selbſtverwaltung bereits geſchaffen hatte, aber von den Geldbedürfniſſen großer Städte noch keine klare Vorſtellung beſaß, einer friedfertigen Regierung, die auf lange Jahre ungeſtörter Ruhe rechnete und darum ſich nicht ſcheute den Noth - pfennig der Kriegszeiten, die direkten Steuern, ſchon im Frieden ſcharf anzugreifen.

Der lange Kampf im Staatsrathe war, zu Schuckmanns Kummer, den Horchern an der Thür mit den Schreiberklauen nicht unbekannt209Bülows Entwurf vor dem Staatsrathe.geblieben. Die Berliner höhnten laut über den unglücklichen Finanz - miniſter, der die Hälfte ſeiner Steuerpläne beſeitigt, ſeine geſammte Amts - führung unbarmherzig bloßgeſtellt ſah und durch die Schroffheit ſeines Auf - tretens, durch ſeine Ausfälle auf die neue Heeresverfaſſung den Unwillen der Oppoſition bis zum Haſſe geſteigert hatte. Die Partei Humboldts verhehlte längſt nicht mehr, daß nur die Entlaſſung Bülows ihr noch genügen konnte. In ſolchem Sinne ſchrieben Schön und Klewiz mehrmals an den Staats - kanzler, Sack forderte mindeſtens die Beſchränkung der Willkür des Finanz - miniſters durch eine beigeordnete Commiſſion. Auch Schuckmann, der während des ganzen Streites auf Bülows Seite geſtanden, ward in die Niederlage ſeines Genoſſen mit hineingeriſſen. Und da ſich nun plötzlich die Ausſicht auf einen vollſtändigen Miniſterwechſel zu eröffnen ſchien, ſo richtete Schön, der Heißſporn der Oppoſition, einen leidenſchaftlichen Angriff auch gegen Wittgenſtein, der an den Verhandlungen des Staatsraths kaum theilgenommen hatte. Abermals maßlos übertreibend warf er dem Fürſten nicht blos die ſchlechten Künſte der geheimen Polizei vor, ſondern auch den Fortbeſtand der im Jahre 1812 errichteten Gensdarmerie, die ſich überall gut bewährte: ſie ſei eine Waffe zur Bekriegung des Volks und gänzlich überflüſſig neben der zahlreichen Armee.

Sobald Hardenberg einſah, daß ein Zugeſtändniß an den allgemeinen Unmuth des hohen Beamtenthums unvermeidlich war, ſuchte er zunächſt ſeinen alten Gegner Humboldt zum Eintritt in die Regierung zu bewegen. Der aber erwiderte ſcharf (14. Juli): mit Bülow und Schuckmann könne er niemals übereinſtimmen, ja ſich nicht einmal verſtändigen, durch den Einen würden die materiellen, durch den Anderen die moraliſchen Kräfte des Staates gefährdet; nur Hardenberg ſelbſt und Boyen beſäßen noch das Vertrauen des Volks, nur in der Kriegsverwaltung zeige ſich noch Ernſt, Ordnung, vaterländiſche Geſinnung; dem Miniſterium fehle die innere Einheit wie die Selbſtändigkeit dem Staatskanzler gegenüber. Noch dringender mahnte Boyen: der Zeitgeiſt fordert in den höheren Poſten Männer des Vertrauens; man darf nicht warten bis die Nation ſelber die Entlaſſung Bülows verlangt; eine ſolche Verwaltung, ein ſolcher Mann kann bei längerer Fortdauer nur dem Vaterlande namenloſes Verderben bereiten. *)Humboldt an Hardenberg 14. Juli. Boyens Gutachten über die Finanzver - waltung, 10. Auguſt 1817.

Hardenberg aber wollte weder auf die Rechte ſeines Staatskanzleramts verzichten noch ſeinen Vetter und den bei Hofe unentbehrlichen Wittgen - ſtein, dem er noch immer volles Vertrauen ſchenkte, kurzerhand preisgeben. Noch weniger wünſchte der König eine durchgreifende Umgeſtaltung; bei Veränderungen von Perſonen, ſo äußerte er ſich, iſt große Vorſicht nöthig, man läuft Gefahr ungerecht zu ſein. Im September erhielt HumboldtTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 14210II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.zu ſeiner Ueberraſchung den Befehl, ſich auf ſeinen Londoner Geſandt - ſchaftspoſten zu begeben. Am 3. November und 2. December erfolgte ſo - dann eine Neubildung des Miniſteriums, welche allein die Departements des Krieges und der Polizei unberührt ließ und gleichwohl den Wünſchen der Oppoſition nur halb entſprach. Bülow trat das Finanzweſen an Klewiz ab und behielt unter dem Titel eines Handelsminiſters nur noch die Leitung der Handelspolitik eine Aufgabe, die ſeinem Talent und ſeinem Bildungsgange beſſer entſprach. Das unter Schuckmanns Verwaltung gänzlich vernachläſſigte Unterrichtsdepartement wurde als Miniſterium der geiſtlichen und Unterrichts-Angelegenheiten von dem Miniſterium des Innern abgezweigt und unter Altenſteins Leitung geſtellt. Ebenſo wurde von dem Juſtizminiſterium ein Miniſterium für die Reviſion der Geſetze und die Juſtizorganiſation der neuen Provinzen abgetrennt; an ſeine Spitze trat der Kanzler Beyme, der noch von den alten Zeiten her, da er Kabinets - rath geweſen, das Vertrauen des Königs beſaß und jetzt allgemein für einen entſchiedenen Liberalen galt. Um die Einheit des Willens bei der Reform des Staatshaushalts zu ſichern, errichtete Hardenberg endlich noch eine Generalcontrole zur Prüfung ſämmtlicher Staatsausgaben ſowie ein Schatzminiſterium für den Schatz, die Schuld, die außerordentlichen Aus - gaben und behielt ſich die oberſte Leitung beider Departements ſelber vor.

So war denn keiner der Miniſter gänzlich beſeitigt. Die Männer, die einander mit den härteſten Vorwürfen überhäuft, verſtanden ſich alle - ſammt zum Bleiben, weil der Staatskanzler doch ohne Rückſicht auf die Stimmenmehrheit ſelbſtändig zu entſcheiden hatte. In der Staatsrathscom - miſſion, welche die Reform des Steuerſyſtems vollenden ſollte, führten die beiden Gegner Bülow und Klewiz gemeinſam den Vorſitz. Der Zwie - ſpalt in der Regierung ward eher verſchärft als gemildert; namentlich die Zerſplitterung des Finanzminiſteriums in drei gleichberechtigte Departe - ments erwies ſich ſogleich als ein ſchwerer Mißgriff. Da die Kräfte des Staatskanzlers für dies Uebermaß der Arbeit nicht ausreichten, ſo über - ließ er die Staatsſchuldenverwaltung gänzlich ſeinem Vertrauten Rother, einem ſehr tüchtigen Finanzmanne, der ſich durch ſein rühriges Talent vom gelben Reiter zu den höchſten Staatsämtern emporgearbeitet hatte. In der Generalcontrole aber herrſchte bald unumſchränkt der Direktor Geh. Rath v. Ladenberg, ein Beamter der alten Schule von eiſernem Fleiß und ſteifem Selbſtgefühle, der die Steuerreform hartnäckig bekämpfte und zu dem alten Acciſeſyſtem zurückſtrebte. Deutſcher Eigenſinn und deutſcher Pflichteifer hatten jederzeit heftige Reibungen zwiſchen den preu - ßiſchen Behörden hervorgerufen. Jetzt vollends, da der natürliche Zuſam - menhang des Staatshaushalts willkürlich zerriſſen war, konnten erbitterte Händel nicht ausbleiben. Der Finanzminiſter Klewiz entbehrte des noth - wendigen Anſehens bei den anderen Miniſtern, weil ſie nicht von ihm die Bewilligung ihrer Ausgaben zu erwarten hatten, und ſah ſich darum außer211Der Miniſterwechſel vom November 1817.Stande, auch nur einen genauen Voranſchlag für das geſammte Budget zu entwerfen. Uebellaunig und mißtrauiſch wie die Zeit war, ſchenkte die öffentliche Meinung jedem gehäſſigen Märchen Glauben, das über die geheimnißvolle Lage der Finanzen ausgeſprengt wurde.

Gleichwohl gelang unter dieſer wunderlich zerſplitterten Verwaltung der große Umſchwung der preußiſchen Handelspolitik, die folgenreichſte politiſche That der Epoche. Das Verdienſt des neuen Finanzminiſters wurde nur in dem Kreiſe ſeiner vertrauten Räthe ganz gewürdigt; der häßliche kleine Mann mit dem gutmüthigen Philiſtergeſichte wußte ſich nicht recht zur Geltung zu bringen, diente dem jungen Kronprinzen oft zur Zielſcheibe für ſeine ausgelaſſenen Witze. Eine conſervative Natur, langſam im Urtheil, nicht reich an eigenen Gedanken, verſtand Klewiz doch die reformatoriſchen Ideen Anderer beſonnen und gründlich zu verarbeiten, und was er ſich einmal angeeignet, das hielt er feſt mit zäher Geduld und unerſchütterlichem Gleichmuth. Wie er einſt in Königsberg bei der Aufhebung der Erbunterthänigkeit freudig mitgewirkt hatte, ſo rettete er jetzt aus dem Schiffbruch der Bülow’ſchen Entwürfe den werthvollſten Theil, das Zollgeſetz, und führte die radikale Neuerung gelaſſen durch unter dem leidenſchaftlichen Widerſtande des In - und Auslandes. *)Ich benutze hier u. A. einen handſchriftlichen Aufſatz von L. Kühne, Wer iſt der Stifter des Zollvereins? (1841). Aus den Papieren des Herrn v. Motz.

In dem Sturm und Drang der großen Reformperiode war für die Umgeſtaltung des alten Acciſeweſens wenig geſchehen; man hatte ſich be - gnügt, dem flachen Lande mehrere ſtädtiſche Steuern aufzulegen und in Altpreußen die Einfuhr fremder Fabrikwaaren gegen eine Acciſe von 8⅓ Procent des Werthes zu geſtatten. Daneben beſtanden in den alten Pro - vinzen noch ſiebenundſechzig verſchiedene Tarife, nahezu 3000 Waaren - klaſſen umfaſſend; außerdem die kurſächſiſche Generalacciſe im Herzogthum Sachſen, das ſchwediſche Zollweſen in Neuvorpommern, in den Rhein - landen endlich ſeit Aufhebung der napoleoniſchen Douanen ein ſchlechter - dings anarchiſcher Zuſtand. Und dieſe unerträgliche Beläſtigung des Ver - kehrs gewährte doch, da eine geordnete Grenzbewachung noch fehlte, keinen Schutz gegen das Ausland. Auch in dem chaotiſchen Geldweſen zeigte ſich die Abhängigkeit des verarmten Staates von den Fremden: in Poſen und Pommern mußten 48, in den Provinzen links der Elbe 71 fremde Geld - ſorten amtlich anerkannt und tarifirt werden. Schon längſt bemerkte der König mit Beſorgniß, wie ſchwer der geſetzliche Sinn des Volkes durch die Fortdauer des überlebten Prohibitivſyſtems geſchädigt wurde. Seit die bürgerlichen Gewerbe auf dem platten Lande ſich anſiedelten, nahm der Schmuggel einen ungeheuren Aufſchwung. Im Jahre 1815 verſteuerte jeder Materialwaarenladen der alten Provinzen täglich nur zwei Pfund Kaffee.

14*212II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Auch die unhaltbaren Verhältniſſe an der Oſtgrenze mahnten zu raſcher That. Sobald Preußen, Polen und Rußland im März 1816 zu Warſchau wegen der Ausführung des Wiener Vertrags vom 3. Mai 1815 zu verhandeln begannen, ſtellte ſich bald heraus, daß Hardenberg in Wien von dem Fürſten Czartoryski überliſtet worden war. Die ſcheinbar ſo harm - loſen Beſtimmungen des Vertrags über die freie Durchfuhr und den freien Verkehr mit den Landeserzeugniſſen aller vormals polniſchen Landſchaften legten dem preußiſchen Staate faſt nur Pflichten auf, da ſein Gebiet das Durchfuhrland bildete. Um der Abrede buchſtäblich zu genügen hätte Preußen ſeine polniſchen Provinzen von dem übrigen Staatsgebiete durch eine Zolllinie trennen müſſen, während Rußland, dem Vertrage zuwider, ſeine alte Zollgrenze, die das polniſche Litthauen von Warſchau abſchied, unverändert ließ und auch Oeſterreich ſich keineswegs geneigt zeigte, ſeinen polniſchen Kronlanden handelspolitiſche Selbſtändigkeit zuzugeſtehen. Die polniſchen Unterhändler ſahen in dem Vertrage ein willkommenes Mittel, um durch die Anſiedlung von Handelsagenten und Commiſſionären ihre nationale Propaganda in Preußens polniſche Gebiete hineinzutragen. Sie erdreiſteten ſich der Krone Preußen geradezu die unbeſchränkte Souveränität über Danzig zu beſtreiten und ſtellten ſo übermüthige Forderungen, daß der König mit einer entſchiedenen Ablehnung antwortete, als Czar Alexan - der nach ſeiner Gewohnheit verſuchte die Anſprüche der Polen durch einen zärtlichen Freundesbrief zu unterſtützen. Der unerquickliche Verlauf dieſer Verhandlungen zwang zu dem Entſchluſſe, die polniſchen Landſchaften den übrigen Provinzen des Oſtens völlig gleichzuſtellen. Auf der anderen Seite lehrten die Frankfurter Erfahrungen, daß ein Bundeszollgeſetz ganz unmöglich war und Preußen mithin zunächſt im eigenen Hauſe Ordnung ſchaffen mußte.

Im Jahre 1816 erfolgten die erſten vorbereitenden Schritte. Das Verbot der Geldausfuhr ward aufgehoben, das Salzregal in allen Pro - vinzen gleichmäßig eingeführt; dann ſprach die Verordnung vom 11. Juni die Aufhebung der Waſſer -, Binnen - und Provinzialzölle als Grundſatz aus und verhieß die Einführung eines allgemeinen und einfachen Grenz - zollſyſtems. Zu Anfang des folgenden Jahres war der Entwurf für das neue Zollgeſetz beendigt. Sobald aber von den reformatoriſchen Abſichten des Entwurfes Einiges ruchbar ward, erſcholl der Nothſchrei der geängſteten Producenten weithin durch das Land. Leidenſchaftliche Eingaben der Baum - woll - und Kattunfabrikanten aus Schleſien und Berlin, die doch alle - ſammt unter der beſtehenden Unordnung ſchwer litten, beſtätigten die alte Wahrheit, daß die Selbſtſucht der Menſchen der ſchlimmſte Feind ihres eigenen Intereſſes iſt. Der Lärm ward ſo bedrohlich, daß der König für nöthig hielt, zunächſt eine Specialcommiſſion mit der Prüfung dieſer Vor - ſtellungen zu beauftragen. Hier errang die alte fridericianiſche Schule noch einmal die Oberhand. Der Vorſitzende, Oberpräſident v. Heydebreck,213Maaſſen.betrachtete als höchſte Aufgabe der Handelspolitik das Numeraire dem Lande zu conſerviren ; die Mehrheit beſchloß, der Krone die Wiederher - ſtellung des Verbotſyſtems, wie es bis zum Jahre 1806 beſtanden, anzu - rathen. Aber zugleich mit dieſem Berichte ging auch ein geharniſchtes Minderheitsgutachten ein, verfaßt von Staatsrath Kunth, dem Erzieher der Gebrüder Humboldt, einem ſelbſtbewußten Vertreter des altpreußiſchen Beamtenſtolzes, der das gute Recht der Bureaukratie oftmals gegen die ariſtokratiſche Geringſchätzung ſeines Freundes Stein vertheidigte. Mit den Zuſtänden des Fabrikweſens aus eigener Anſchauung gründlich ver - traut, lebte und webte er in den Gedanken der neuen Volkswirthſchaftslehre. Eigenthum und Freiheit, darin liegt Alles; es giebt nichts Anderes ſo lautete ſein Kernſpruch. Als das ärgſte Gebrechen der preußiſchen Induſtrie erſchien ihm die erſtaunlich mangelhafte Bildung der meiſten Fabrikanten, eine ſchlimme Frucht des Uebergewichts der gelehrten Klaſſen, welche nur durch den Einfluß des auswärtigen Wettbewerbs allmählich be - ſeitigt werden konnte; waren doch ſelbſt unter den erſten Fabrikherren Berlins Viele, die kaum nothdürftig ihren Namen zu ſchreiben vermochten.

Kunths Gutachten fand im Staatsrathe faſt ungetheilte Zuſtimmung; es ließ ſich nicht mehr verkennen, daß die Aufhebung der Handelsverbote nur die nothwendige Ergänzung der Reformen von 1808 bildete. Als das Plenum des Staatsraths am 3. Juli über das Zollgeſetz berieth, ſprachen die politiſchen Gegner Gneiſenau und Schuckmann einmüthig für die Befreiung des Verkehrs. Oberpräſident Merckel und Geh. Rath Ferber, ein aus dem ſächſiſchen Dienſte herübergekommener trefflicher Nationalökonom, führten aus, daß dem Nothſtande des Gewerbefleißes in Schleſien und Sachſen nur durch die Freiheit zu begegnen ſei; und zuletzt ſtimmten von 56 An - weſenden nur drei gegen das Geſetz: Heydebreck, Ladenberg und Geh. Rath Beguelin. *)Protokolle des Staatsraths. 4. Sitzung vom 3. Juli 1817.Am 1. Auguſt genehmigte der König von Karlsbad aus das Princip der freien Einfuhr für alle Zukunft . Nun folgten neue peinliche Verhandlungen, da es anfangs unmöglich ſchien die neue Ordnung gleich - zeitig in den beiden Hälften des Staatsgebiets einzuführen. Endlich am 26. Mai 1818 kam das Zollgeſetz für die geſammte Monarchie zu Stande.

Sein Verfaſſer war der Generaldirektor Karl Georg Maaſſen, ein Beamter von umfaſſenden Kenntniſſen, mit Leib und Seele in den Ge - ſchäften lebend, ein Mann, der hinter kindlich anſpruchsloſen Umgangs - formen den kühnen Muth des Reformers, eine tiefe und freie Auffaſſung des ſocialen Lebens verbarg. Aus Cleve gebürtig, hatte er zuerſt als preu - ßiſcher Beamter in ſeiner Heimath, dann eine Zeit lang im bergiſchen Staatsdienſte die Großinduſtrie des Niederrheines, nachher bei der Pots - damer Regierung die Volkswirthſchaft des Nordoſtens kennen und alſo die Theorien Adam Smith’s, denen er von früh auf huldigte, durch viel -214II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ſeitige praktiſche Erfahrung zu ergänzen gelernt. So ging er auch beim Entwerfen des Zollgeſetzes nicht von einer fertigen Doktrin aus, ſondern von drei Geſichtspunkten der praktiſchen Staatskunſt. Die Aufgabe war: zunächſt in der geſammten Monarchie durch Befreiung des innern Ver - kehrs eine lebendige Gemeinſchaft der Intereſſen zu begründen, ſodann dem Staate neue Einnahmequellen zu eröffnen, endlich dem heimiſchen Ge - werbfleiß einen mächtigen Schutz gegen die engliſche Uebermacht zu ge - währen und ihm doch den heilſamen Stachel des ausländiſchen Wettbe - werbs nicht gänzlich zu nehmen. Wo die Wünſche der Induſtrie den An - ſprüchen der Staatskaſſen widerſprachen, da mußte das Intereſſe der Finanzen vorgehen; dies gebot die Bedrängniß des Staatshaushalts.

Die beiden erſten Paragraphen des Geſetzes verkündigten die Freiheit der Ein -, Aus - und Durchfuhr für den ganzen Umfang des Staates. Damit wurde die volle Hälfte des nicht-öſterreichiſchen Deutſchlands zu einem freien Marktgebiete vereinigt, zu einer wirthſchaftlichen Gemeinſchaft, welche, wenn ſie die Probe beſtand, ſich auch über die andere Hälfte der der Nation erweitern konnte. Denn die ſchroffſten Gegenſätze unſeres viel - geſtaltigen ſocialen Lebens lagen innerhalb der preußiſchen Grenzen. War es möglich, Poſen und das Rheinland ohne Schädigung ihrer wirthſchaft - lichen Eigenart derſelben wirthſchaftlichen Geſetzgebung zu unterwerfen, ſo war ſchon erwieſen, daß dieſe Geſetze mit einigen Aenderungen auch für Baden und Hannover genügen mußten. Preußen hatte ſich ſo ſagte Maaſſen oftmals genau die nämlichen Fragen vorzulegen wie alle die anderen deutſchen Staaten, welche ernſtlich nach Zolleinheit verlangten, und konnte, wegen der Mannichfaltigkeit ſeiner wirthſchaftlichen Intereſſen, leichter als jene die richtige Antwort finden. Aber die Ausführung des Gedankens, die Verlegung der Zölle an die Grenzen des Staats war in Preußen ſchwieriger, als in irgend einem anderen Reiche; ſie erſchien zuerſt Vielen ganz unausführbar. Man ſollte eine Zolllinie von 1073 Meilen bewachen, je eine Grenzmeile auf kaum fünf Geviertmeilen des Staatsgebiets, und zwar unter den denkbar ungünſtigſten Verhältniſſen, da die kleinen deutſchen Staaten, die mit dem preußiſchen Gebiete im Ge - menge lagen, zumeiſt noch kein geordnetes Zollweſen beſaßen, ja ſogar den Schmuggel grundſätzlich begünſtigten. Solche Bedrängniß veranlaßte die preußiſchen Finanzmänner zur Aufſtellung eines einfachen überſichtlichen Tarifs, der die Waaren in wenige große Klaſſen einordnete. Eine um - fängliche, verwickelte Zollrolle, wie ſie in England oder Frankreich beſtand, erforderte ein zahlreiches Beamtenperſonal, das in Preußen den Ertrag der Zölle verſchlungen hätte. Durch denſelben Grund wurde Maaſſen be - wogen, die Erhebung der Zölle nach dem Gewichte der Waaren vorzu - ſchlagen, während in allen anderen Staaten das von der herrſchenden Theorie allein gebilligte Syſtem der Werthzölle galt. Die Abſtufung der Zölle nach dem Werthe würde die Koſten der Zollverwaltung unverhält -215Das Zollgeſetz.nißmäßig erhöht haben; zudem lag in der hohen Beſteuerung koſtbarer Waaren eine ſtarke Verſuchung zum Schmuggelhandel, welche ein Staat von ſo ſchwer zu bewachenden Grenzen nicht ertragen konnte.

Auch in der großen Principienfrage der Handelspolitik gab die Rück - ſicht auf die Finanzen den Ausſchlag. Der Staat hatte die Wahl zwiſchen zwei Wegen. *)So ſchilderte Eichhorn ſpäterhin rückblickend die Lage in einem Miniſterialſchreiben vom 7. Febr. 1834.Man konnte entweder nach Englands und Frankreichs Bei - ſpiel Prohibitivzölle einführen, um dieſe ſodann als Unterhandlungsmittel gegen die Weſtmächte zu benutzen und alſo Zug um Zug durch Differential - zölle zur Erleichterung des Verkehrs zu gelangen; oder man wagte ſogleich in Preußen ein Syſtem mäßiger Zölle zu gründen, in der Hoffnung, daß die Natur der Dinge die großen Nachbarreiche dereinſt in dieſelbe Bahn drängen werde. Maaſſen fand den Muth den letzteren Weg zu wählen, vornehmlich weil der zweifelhafte Ertrag aus hohen Schutzzöllen dem Be - dürfniß der Staatskaſſen nicht genügen konnte. Verboten wurde allein die Einfuhr von Salz und Spielkarten; die Rohſtoffe blieben in der Regel abgabenfrei oder einem ganz niedrigen Zolle unterworfen. Von den Ma - nufakturwaaren ſollte ein mäßiger Schutzzoll erhoben werden, nicht über 10 Proc., ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entſprechend. Die Ko - lonialwaaren dagegen unterlagen einem ergiebigen Finanzzolle, bis zu 20 Proc., da Preußen an ſeiner leicht zu bewachenden Seegrenze die Mittel beſaß, dieſe Produkte wirkſam zu beſteuern.

Dies freieſte und reifſte ſtaatswirthſchaftliche Geſetz des Zeitraums wich von den herrſchenden Vorurtheilen ſo weit ab, daß man im Aus - lande anfangs über die gutmüthige Schwäche der preußiſchen Doktrinäre ſpottete. Den Staatsmännern der abſoluten Monarchie fällt ein undank - bares entſagungsvolles Loos. Wie laut preiſt England heute ſeinen William Huskiſſon, one of the world’s great spirits; alle geſitteten Völker be - wundern die Freihandelsreden des großen Britten. Der Name Maaſſens aber iſt bis zur Stunde in ſeinem eigenen Vaterlande nur einem engen Gelehrtenkreiſe vertraut. Und doch hat die große Freihandelsbewegung unſeres Jahrhunderts nicht in England, ſondern in Preußen ihren erſten bahnbrechenden Erfolg errungen. Das wiederhergeſtellte franzöſiſche König - thum hielt in dem Tarife von 1816 die ſtrengen napoleoniſchen Prohibitiv - zölle gegen fremde Fabrikwaaren hartnäckig feſt. Die Selbſtſucht der Emigranten fügte noch ſchwere Zölle auf die Erzeugniſſe des Landbaus, namentlich auf Schlachtvieh und Wolle, hinzu. Auch in England war nur ein Theil des Handelsſtandes für die Lehren der Verkehrsfreiheit ge - wonnen. Noch ſtand der Grundherr treu zu den hohen Kornzöllen, der Rhe - der zu Cromwell’s Navigationsakte, der Fabrikant zu dem harten Prohibitiv - ſyſteme; noch urtheilte die Mehrzahl der Gebildeten wie einſt Burke über216II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Adam Smith: ſolche abſtrakte Theorien ſind gut genug für das ſtille Ka - theder von Glasgow. Erſt das kühne Vorgehen der Berliner Staats - männer ermuthigte die engliſchen Freihändler mit ihrer Meinung heraus - zurücken. Auf das glänzende Beiſpiel, welches Preußen der Welt gegeben , berief ſich die freihändleriſche Petition der Londoner City, welche Baring im Mai 1820 dem Parlamente übergab. An Preußen dachte Huskiſſon, als er ſeinen berühmten Satz aufſtellte: der Handel iſt nicht Zweck, er iſt das Mittel, Wohlſtand und Behagen unter den Völkern zu verbreiten und ſeinem Volke zurief: dies Land kann nicht ſtill ſtehen, während andere Länder vorſchreiten in Bildung und Gewerbefleiß.

Den freihändleriſchen Anſichten der preußiſchen Staatsmänner genügte das neue Geſetz nicht völlig. Man ahnte im Finanzminiſterium wohl J. G. Hoffmann hat es oft geſtanden daß der weitaus größte Theil des Zollertrags allein von den gangbarſten Kolonialwaaren aufgebracht werden und die Staatskaſſe von anderen Zöllen nur geringen Vortheil ziehen würde. Aber man ſah auch, daß jedem Steuerſyſteme durch die Geſinnung der Steuerpflichtigen feſte Schranken gezogen ſind; die öffent - liche Meinung jener Tage würde der Regierung nie verziehen haben, wenn ſie den Kaffee beſteuert, den Thee frei gelaſſen hätte. Maaſſen verwarf jede einſeitige Begünſtigung eines Zweiges der Produktion, er rechnete auf das Ineinandergreifen von Ackerbau, Gewerbe und Handel und betrachtete die Schutzzölle nur als einen Nothbehelf um die deutſche Induſtrie all - mählich zu Kräften kommen zu laſſen. Schon bei der erſten Reviſion des Tarifs im Jahre 1821 that man einen Schritt weiter im Sinne des Freihandels, vereinfachte den Tarif und ſetzte mehrere Zölle herab. Wäh - rend das Geſetz von 1818 für die weſtlichen Provinzen einen eigenen Tarif mit etwas niedrigeren Sätzen aufgeſtellt hatte, fiel jetzt jeder Unterſchied zwiſchen den Provinzen hinweg; die Zollrolle von 1821 bildete in Form und Einrichtung die Grundlage für alle ſpäteren Tarife des Zollvereins.

Derweil der Staatsrath dieſe Reform zum Abſchluß brachte, erging ſich die unreife nationalökonomiſche Bildung der Zeit in widerſprechenden Klagen. Die Maſſen meinten die Vertheuerung des Lebensunterhalts nicht ertragen zu können, die Fabrikanten ſahen dem engliſchen Handels - despotismus Thür und Thor geöffnet und beſtürmten den Thron aber - mals mit ſo verzweifelten Bittſchriften, daß der König, obwohl ſelbſt mit Maaſſens Plänen ganz einverſtanden, doch eine nochmalige Prüfung des ſchon unterſchriebenen Geſetzes befahl. Erſt am 1. Sept. 1818 wurde das Zollgeſetz veröffentlicht, erſt zu Neujahr 1819 traten die neuen Grenz - zollämter in Thätigkeit. Am 8. Febr. 1819 erſchien das ergänzende Geſetz über die Beſteuerung des Conſums inländiſcher Erzeugniſſe, wonach nur Wein, Bier, Branntwein und Tabaksblätter einer Steuer unterlagen, die ohne unmittelbare Beläſtigung der Verzehrer von den Producenten zu er - heben war.

217Grundgedanken des Zollgeſetzes.

Die neue Geſetzgebung hielt im Ganzen ſehr glücklich die Mitte zwi - ſchen Handelsfreiheit und Zollſchutz. Nur nach einer Richtung hin wich ſie auffällig ab von den Grundſätzen des gemäßigten Freihandels: ſie be - laſtete den Durchfuhrhandel unverhältnißmäßig ſchwer. Der Centner Tranſitgut zahlte im Durchſchnitt einen halben Thaler Zoll, auf einzelnen wichtigen Handelsſtraßen noch weit mehr ſicherlich eine ſehr drückende Laſt für ordinäre Güter, zumal wenn ſie das preußiſche Gebiet mehrmals berührten. Die nächſte Veranlaſſung zu dieſer Härte lag in dem Be - dürfniß der Finanzen. Preußen beherrſchte einige der wichtigſten Handels - ſtraßen Mitteleuropas: die Verbindung Hollands mit dem Oberlande, die alten Abſatzwege des polniſchen Getreides, den Verkehr Leipzigs mit der See, mit Polen, mit Frankfurt. Man berechnete, daß die volle Hälfte der in Preußen eingehenden Waaren dem Durchfuhrhandel angehörte. Die erſchöpfte Staatskaſſe war nicht in der Lage, dieſen einzigen Vortheil, den ihr die unglückliche langgeſtreckte Geſtalt des Gebietes gewährte, aus der Hand zu geben. Ueberdies ſtimmten alle Kenner des Mauthweſens überein in der für jene Zeit wohlbegründeten Meinung, daß nur durch Beſteuerung der Durchfuhr der finanzielle Ertrag des Grenzzollſyſtems ge - ſichert werden könne. Gab man den Tranſit völlig frei, ſo wurde dem Unterſchleif Thür und Thor geöffnet, ein ungeheurer Schmuggelhandel von Hamburg, Frankfurt, Leipzig her geradezu herausgefordert, das ganze Gelingen der Reform in Frage geſtellt. Die unbillige Höhe der Durch - fuhrzölle aber und das zähe Feſthalten der Regierung an dieſen für die deutſchen Nachbarlande unleidlichen Sätzen erklärt ſich nur aus politiſchen Gründen. Der Tranſitzoll diente dem Berliner Cabinet als ein wirkſames Unterhandlungsmittel, um die deutſchen Kleinſtaaten zum Anſchluß an die preußiſche Handelspolitik zu bewegen.

Von jenem Traumbilde einer geſammtdeutſchen Handelspolitik, das während des Wiener Congreſſes den preußiſchen Bevollmächtigten vorge - ſchwebt hatte, war man in Berlin längſt zurückgekommen. Die Unmög - lichkeit ſolcher Pläne ergab ſich nicht blos aus der Nichtigkeit der Bundes - verfaſſung, ſondern auch aus den inneren Verhältniſſen der Bundes - ſtaaten. Hardenberg wußte, daß der Wiener Hof an ſeinem altväteriſchen Provinzialzollſyſtem nichts ändern wollte und ſeine nichtdeutſchen Kron - länder einem Bundeszollweſen ſchlechterdings nicht unterordnen konnte. Aber auch das übrige Deutſchland bewahrte noch viele Trümmer aus der ſchmählichen kosmopolitiſchen Epoche unſerer Vergangenheit. Noch war Hannover von England, Schleswigholſtein von Dänemark abhängig, noch ſtand Luxemburg in unmittelbarer geographiſcher Verbindung mit dem niederländiſchen Geſammtſtaate. Wie war ein geſammtdeutſches Zoll - weſen denkbar, ſo lange dieſe Fremdherrſchaft währte? Auch die Verfaſ - ſung mehrerer Bundesſtaaten bot unüberſteigliche Hinderniſſe. Die preu - ßiſche Zollreform ruhte auf dem Gedanken des gemeinen Rechts. Wer218II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.durfte erwarten, daß der mecklenburgiſche Adel auf ſeine Zollfreiheit, der ſächſiſche auf die mit den ſtändiſchen Privilegien feſt verkettete General - acciſe verzichten würde, ſo lange die ſtändiſche Oligarchie in dieſen Landen ungeſtört herrſchte? Wie war es möglich, die preußiſchen Zölle, welche die Einheit des Staatshaushaltes vorausſetzten, in Hannover einzuführen, wo noch die königliche Domänenkaſſe und die ſtändiſche Steuerkaſſe ſelb - ſtändig neben einander ſtanden? Das Zollweſen hing überdies eng zu - ſammen mit der Beſteuerung des inländiſchen Conſums; nur wenn die Kleinſtaaten ſich entſchloſſen das Syſtem ihrer indirekten Steuern auf preußiſchen Fuß zu ſetzen oder doch dem preußiſchen Muſter anzunähern, war eine ehrliche Gegenſeitigkeit, eine dauernde Zollgemeinſchaft zwiſchen ihnen möglich. Und ließ ſich ſolche Opferwilligkeit erwarten in jenem Augenblicke, da der Rheinbund und das Ränkeſpiel des Wiener Congreſſes den ſelbſt - ſüchtigen Dünkel der Dynaſtien krankhaft aufgeregt und jeder Scham entwöhnt hatten? Selbſt jene Staaten, denen redlicher Wille nicht fehlte, konnten gar nicht ſofort auf die harten Zumuthungen eingehen, welche Preußen ihnen ſtellen mußte, um ſich den Ertrag ſeiner Zölle zu ſichern. Man mußte, ſo geſtand Eichhorn ſpäterhin, ſich erſt orientiren in der ver - änderten Lage, die nationalökonomiſchen Bedürfniſſe des eigenen Landes und die zur Deckung der Staatsausgaben nothwendigen Opfer überſchlagen; bevor man hierüber ins Klare gekommen, konnte man ſich von einer gemein - ſamen Berathung keinen Erfolg verſprechen, am wenigſten von einer Be - rathung für ganz Deutſchland am Bundestage. *)Eichhorn, Inſtruktion für die Geſandten an den deutſchen Höfen, 25. März 1828.

Wie die Dinge lagen mußte Preußen ſelbſtändig vorgehen ohne jede ſchonende Rückſicht für die deutſchen Nachbarn. Unter den gemüthlichen Leuten herrſchte die Anſicht vor, Preußen ſolle die Binnengrenzen gegen Deutſchland offen halten und allein an den Grenzen gegen das Ausland Zölle zu erheben. Der kindiſche Vorſchlag hätte, ausgeführt, jede Grenz - bewachung unmöglich gemacht, die finanziellen wie die volkswirthſchaftlichen Zwecke der Zollreform völlig vereitelt. Selbſt eine mildere Beſteuerung deutſcher Produkte war unausführbar. Gerade die deutſchen Kleinſtaaten mit ihren verzwickten, mangelhaft oder gar nicht bewachten Grenzen mußten der preußiſchen Staatskaſſe als die gefährlichſten Gegner erſcheinen. Ur - ſprungszeugniſſe, von ſolchen Behörden ausgeſtellt, boten den genauen Rechnern der Berliner Bureaus keine genügende Sicherheit. Jede Er - leichterung, die an dieſen Grenzen eintrat, ermuthigte den Unterſchleif, ſo lange nicht eine geordnete Zollverwaltung in den kleinen Nachbarſtaaten beſtand. Noch mehr: gewährte Preußen den deutſchen Staaten Begün - ſtigungen, ſo griff das Ausland unfehlbar zu Retorſionen, und der Staat wurde allmählich in ein Differentialzollſyſtem hineingetrieben, das den Ab - ſichten ſeiner Staatsmänner ſchnurſtracks zuwiderlief. Differentialzölle er -219Beabſichtigte Erweiterung des Zollgebiets.ſchienen dem Finanzminiſterium noch weit bedenklicher als Schutzzölle, da dieſe den Verkehr belaſteten zu Gunſten der einheimiſchen, jene zum Vortheil der ausländiſchen Producenten.

Es war nicht anders, ſollte das neue Zollſyſtem überhaupt ins Leben treten, ſo mußten alle nicht-preußiſchen Waaren zuvörderſt auf gleichem Fuß behandelt werden. Allerdings wurden dadurch die deutſchen Nachbarn ſehr hart getroffen. Sie waren gewohnt einen ſchwunghaften Schmuggel - handel nach Preußen hinüber zu führen; jetzt trat die ſtrenge Grenzbe - wachung dazwiſchen. Die Zolllinien an den Grenzen der neuen Pro - vinzen ſtörten vielfach altgewohnten Verkehr. Das Königreich Sachſen litt ſchwer, als die preußiſchen Zollſchranken dicht vor den Thoren Leip - zigs aufgerichtet wurden. Die kleinen rheiniſchen Lande ſahen nahe vor Augen das beginnende Erſtarken der preußiſchen Volkswirthſchaft; was drüben ein Segen, ward hüben zur Laſt. Begreiflich genug, daß gerade in der unmittelbaren Nachbarſchaft Preußens die Mißſtimmung überhand nahm. Auch die Einrichtung der Gewichtszölle war für die deutſchen Nach - barſtaaten unverhältnißmäßig läſtig, da das Ausland zumeiſt feinere, Deutſchland gröbere Waaren in Preußen einzuführen pflegte.

Indeß wenn es nicht anging, den Kleinſtaaten ſofort Begünſtigungen zu gewähren, ſo war doch die Zollreform von Haus aus darauf berechnet, die deutſchen Nachbarn nach und nach in den preußiſchen Zollverband hineinzuziehen. Die Unmöglichkeit einer Vereinigung für den ganzen Bund erkennend, ſuchte Preußen durch Separatverträge ſich dieſem Ziele zu nähern mit dieſen kurzen und erſchöpfenden Worten hat Eichhorn zehn Jahre ſpäter den Grundgedanken der preußiſchen Handelspolitik be - zeichnet. Die Zerſtückelung ſeines Gebietes zwang den Staat, deutſche Politik zu treiben, machte ihm auf die Dauer unmöglich, ſich ſelbſtgenüg - ſam abzuſchließen, ſeine Verwaltung zu ordnen ohne Verſtändigung mit den deutſchen Nachbarlanden. Ein großer Theil der thüringiſchen Be - ſitzungen Preußens, 41 Geviertmeilen mußten vorderhand aus der Zoll - linie ausgeſchloſſen bleiben. Es war eine unabweisbare Nothwendigkeit, die Zollſchranken mindeſtens ſo weit hinauszuſchieben, daß das geſammte Staatsgebiet gleichmäßig beſteuert werden konnte. In dem Zollgeſetze ſelber (§ 5) war die Abſicht erklärt, durch Handelsverträge den wechſel - ſeitigen Verkehr zu befördern. Die harte Beſteuerung der Durchfuhr gab dieſem Winke fühlbaren Nachdruck. Noch beſtimmter ſprach ſich Harden - berg über die Abſicht des Geſetzes aus, ſchon ehe es in Kraft trat. Als die Fabrikanten von Rheidt und anderen rheiniſchen Plätzen den Staats - kanzler um Beſeitigung der deutſchen Binnenzölle baten, gab er die Ant - wort (3. Juni 1818): die Vortheile, welche aus der Vereinigung mehrerer deutſcher Staaten zu einem gemeinſchaftlichen Fabrik - und Handelsſyſtem hervorgehen können, ſeien der Regierung nicht unbekannt; mit ſteter Rück - ſicht hierauf ſei der Plan des Königs zur Reife gediehen. Es liegt ganz220II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.im Geiſte dieſes Planes, ebenſowohl auswärtige Beſchränkungen des Han - dels zu erwidern als Willfährigkeit zu vergelten und nachbarliches An - ſchließen an ein gemeinſames Intereſſe zu befördern. Ebenſo erklärte er den Elberfeldern: die preußiſchen Zolllinien ſollten dazu dienen eine allge - meine Ausdehnung oder ſonſtige Vereinigung vorzubereiten .

Damit wurde deutlich angekündigt, daß der Staat, der ſeit Langem das Schwert des alten Kaiſerthums führte, jetzt auch die handelspolitiſchen Reformgedanken der Reichspolitik des ſechzehnten Jahrhunderts wieder auf - nahm und bereit war, der Nation nach und nach die Einheit des wirth - ſchaftlichen Lebens zu ſchaffen, welche ihr im ganzen Verlaufe ihrer Geſchichte immer gefehlt hatte. Er dachte dies Ziel, das ſich nicht mit einem Sprunge erjagen ließ, ſchrittweis, in bedachtſamer Annäherung, durch Verträge von Staat zu Staat zu erreichen. Mars und Mercur ſind die Geſtirne, welche in dieſem Jahrhundert der Arbeit das Geſchick der Staaten vor - nehmlich beſtimmen. Das Heerweſen und die Handelspolitik der Hohen - zollern bildeten fortan die beiden Rechtstitel, auf denen Preußens Führer - ſtellung in Deutſchland ruhte. Und dieſe Handelspolitik war ausſchließlich das Werk der Krone und ihres Beamtenthums. Sie begegnete, auch als ihre letzten Ziele ſich ſpäterhin völlig enthüllten, regelmäßig dem verblendeten Widerſtande der Nation. Im Zeitalter der Reformation war die wirthſchaft - liche Einigung unſeres Vaterlandes an dem Widerſtande der Reichsſtädte geſcheitert; im neunzehnten Jahrhundert ward ſie recht eigentlich gegen den Willen der Mehrzahl der Deutſchen von Neuem begonnen und vollendet.

Im Kampfe gegen das preußiſche Zollgeſetz hielten alle deutſchen Par - teien zuſammen, Kotzebues Wochenblatt ſo gut wie Ludens Nemeſis. Ver - geblich widerlegte J. G. Hoffmann in der Preußiſchen Staatszeitung mit überlegener Sachkenntniß das faſt durchweg werthloſe nationalökonomiſche Gerede der Preſſe. Dieſelben Schutzzöllner, die um Hilfe riefen für die deutſche Induſtrie, ſchalten zugleich über die unerſchwinglichen Sätze des preußiſchen Tarifs, der doch jenen Schutz gewährte. Dieſelben Liberalen, die den Bundestag als einen völlig unbrauchbaren Körper verſpotteten, forderten von dieſer Behörde eine ſchöpferiſche handelspolitiſche That. Wenn Hoffmann nachwies, daß das neue Geſetz eine Wohlthat für Deutſchland ſei, ſo erwiderten Pölitz, Krug und andere ſächſiſche Publiciſten, kein Staat habe das Recht, ſeinen Nachbarn Wohlthaten aufzudrängen. Alberne Jagdgeſchichten wurden mit der höchſten Beſtimmtheit wiederholt und von der Unwiſſenheit der Leſer begierig geglaubt. Da hatte ein armer Höker aus dem Reußiſchen, als er ſeinen Schubkarren voll Gemüſe zum Leip - ziger Wochenmarkt fuhr, einen Thaler Durchfuhrzoll an die preußiſche Mauth zahlen müſſen nur ſchade, daß Preußen von ſolchen Waaren gar keinen Zoll erhob. Auch die Sentimentalität ward gegen Preußen ins Feld geführt; ſie findet ſich ja bei den Deutſchen immer ein, wenn ihnen die Gedanken ausgehen. Da war gleich am erſten Tage, als das221Rechtspflege. Beyme.unſelige Geſetz in Kraft trat, ein Zollbeamter zu Langenſalza von einem gothaiſchen Patrioten im Rauſche heiligen Zornes erſtochen worden; der Mann hatte ſich aber ſelbſt entleibt. Da hieß es wehmüthig, König Friedrich Wilhelm hege wohl menſchenfreundliche Abſichten, aber finanzielle Rück - ſichten vergiften die beſten Maßregeln ; für die harte Nothwendigkeit dieſer finanziellen Rückſichten hatte man kein Auge. Die erſehnte Einheit des deutſchen Marktes darüber beſtand unter den liberalen Patrioten kein Streit konnte nur gelingen, wenn die bereits vollzogene Einigung der Hälfte Deutſchlands wieder zerſtört wurde.

Unbekümmert um die allgemeine Entrüſtung hielt Klewiz die Zoll - reform aufrecht. In der Gewerbepolitik dagegen zeigte die Regierung ge - ringere Feſtigkeit gegen die hochconſervativen Vorurtheile der Zeit. Immer wieder mußten kundige Beamte in der Staatszeitung die Vorzüge des freien Gewerbes ungläubigen Leſern ſchildern. Dennoch wagte man nicht, das Gewerbegeſetz von 1811 in den neuen Provinzen einzuführen, ſondern ließ einen widerſpruchsvollen Zuſtand, der ſich mit der Einheit des Markt - gebietes kaum vertrug, während eines vollen Menſchenalters unangetaſtet: in Sachſen blieb das alte Zunftweſen beſtehen, in den rheiniſch-weſtphä - liſchen Landen und in den alten Provinzen herrſchte die Gewerbefreiheit, hier nach preußiſchem, dort nach franzöſiſchem Geſetze.

Die letzte Epoche König Friedrich Wilhelms III. zeigte ſich der Re - gierung des erſten Friedrich Wilhelm auch darin ähnlich, daß die Rechts - pflege von der reformatoriſchen Thätigkeit der Staatsgewalt am Wenigſten berührt wurde. Es blieb bei der alten Regel, daß dieſer Staat niemals im Stande war, auf allen Gebieten des Lebens zugleich rüſtig fortzu - ſchreiten. Savigny hatte doch recht geſehen als er ſeiner Zeit den Beruf zur Geſetzgebung für das bürgerliche Recht abſprach. Die große Codi - fication des Allgemeinen Landrechts lag erſt um ein Menſchenalter zurück und wurde von der Mehrzahl des altpreußiſchen Richterſtandes noch mit begreiflichem Stolze als ein Meiſterwerk geſchätzt, während die Wiſſenſchaft zwar den Anſchauungen Suarez’s längſt entwachſen aber noch nicht zu ſicheren neuen Ergebniſſen gelangt war. Der geſunde Sinn des Königs verkannte nicht, daß die alte Gliederung der Stände, welche dem Landrechte zu Grunde lag, durch die Reformen von 1807 längſt beſeitigt war; und da auch der Civilproceß ſowie das Strafrecht dringend der Neugeſtaltung bedurfte, ſo wurde Beyme mit der Reviſion der fridericianiſchen Geſetz - bücher beauftragt. Der aber erwies ſich, trotz ſeines liberalen Rufs, aber - mals ebenſo unfruchtbar, wie einſt im Miniſterium Dohna-Altenſtein, da ihn der König ſo oft vergeblich an die Aufhebung der Patrimonialgerichte gemahnt hatte, und brachte in den zwei Jahren ſeiner Amtsführung nichts Weſentliches zu Stande. Für eine durchgreifende Umgeſtaltung der fride - ricianiſchen Geſetzbücher war die Zeit noch nicht gekommen, und doch ging es auch nicht an, dieſe halb veraltete Geſetzgebung, deren Mängel die222II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Krone ſelber nicht leugnete, dem geſammten Staatsgebiete aufzuerlegen. Daher wurde zwar in den zurückgewonnenen alten Provinzen das Land - recht nebſt der altländiſchen Gerichtsverfaſſung ſogleich wieder eingeführt, doch nicht ohne mannichfache Ausnahmen. In Weſtphalen ſollten die Patri - monialgerichte nur da wiederhergeſtellt werden, wo die Berechtigten aus - drücklich darauf antrugen, und dies geſchah nur in vier Fällen. In Poſen verzichtete man gänzlich auf die Herſtellung dieſer Gerichte wegen der Unzuverläſſigkeit des polniſchen Adels, und geſtattete außerdem noch das mündliche Verfahren für einfache Rechtsſtreitigkeiten. In Sachſen dagegen, dem gelobten Lande der endloſen Proceſſe, war Jedermann zufrieden, als die Rechtspflege ſchlechthin auf altpreußiſchen Fuß gebracht wurde; nur die zahlreichen Advocaten klagten laut über den Untergang ihres Gewerbes. Neuvorpommern endlich behielt ſein gemeines Recht und das altberühmte Greifswalder Appellationsgericht, weil das Volk dieſe Inſtitutionen zu ſeinen alten, im Kieler Frieden beſtätigten Landesfreiheiten rechnete.

Große und unerwartete Schwierigkeiten ergaben ſich bei der Neuge - ſtaltung der Rechtspflege am Rhein. Mit der vorläufigen Organiſation der rheiniſchen Gerichte wurde der Präſident Sethe beauftragt, ein treuer preußiſcher Patriot aus dem cleviſchen Lande, der einſt ſchweren Herzens in den bergiſchen Staatsdienſt übergetreten war und dort das franzöſiſche Recht gründlich kennen gelernt hatte. Er entledigte ſich ſeiner Aufgabe mit Einſicht und Unparteilichkeit, unbeſorgt um den Zorn der feudalen Partei, die ihn des Bonapartismus beſchuldigte, wie um die endloſen Klagen des rheiniſchen Volks, das noch von den Zeiten des Kölniſchen Klüngels her gewöhnt war überall vetterſchaftliche Durchſtecherei zu arg - wöhnen. *)Kircheiſen an Hardenberg, 7. December 1815, an Sethe 5. Januar 1816.Bald nachher, im Juni 1816, trat in Köln unter Sethes Vorſitz eine Immediatcommiſſion zuſammen, der auch ein altländiſcher Richter, Simon, angehörte. Sie ſollte prüfen, ob es möglich ſei, das rhei - niſche Recht mit dem preußiſchen in Einklang zu bringen, und erhielt von dem König die ausdrückliche Weiſung, das Gute überall wo es ſich finde zu benutzen .

In den erſten Zeiten des Siegesrauſches war die Abſchaffung des Code Napoleon von allen Patrioten, auch von den deutſchgeſinnten Rhein - ländern ſelbſt als ein unabweisbares Gebot der nationalen Ehre betrachtet worden; alle Welt hatte Savigny zugeſtimmt, als er die fünf Codes eine überſtandene politiſche Krankheit nannte. Selbſt das altgermaniſche öffent - lich-mündliche Verfahren, das in der franzöſiſchen Geſetzgebung wieder aufgelebt war, galt den eifrigen Teutonen als eine willkürliche revolu - tionäre Neuerung; ſo vollſtändig war die vaterländiſche Rechtsgeſchichte in Vergeſſenheit gerathen. Mittlerweile ſchlug die Stimmung im Lande gänzlich um. Der Provinzialgeiſt erwachte und begann alles Beſtehende als be -223Das rheiniſche Recht.rechtigte Eigenthümlichkeit der Heimath zu verherrlichen; der Code war das rheiniſche Recht und darum ſchon vortrefflich, wenn er nur nicht die Proceßkoſten gar zu hoch berechnet hätte. Sprach Einer vom preußiſchen Rechte, ſo dachte das Volk ſogleich an jene ungeheuerliche Gerichtsver - faſſung, welche einſt in Kurköln und Kurtrier beſtanden hatte; nimmermehr durfte das Rheinland in dies Chaos zurückſinken. Vor Allem die Oeffent - lichkeit des Verfahrens erſchien als ein Bollwerk der Landesfreiheit; denn in dem raſtloſen Wechſel ſeiner politiſchen Schickſale hatte dies Volk längſt gelernt, jeder Regierung, weil ſie regierte, zu mißtrauen. Als nun die Krone, wie einſt vor der Veröffentlichung des Allgemeinen Landrechts, alle Sachverſtändigen zur Einreichung von Gutachten auffordern ließ, da ſprach ſich die große Mehrheit für die Erhaltung der Codes aus. Die Stadträthe von Köln, Trier, Koblenz, Cleve wendeten ſich unmittelbar an den König, und auch der Oberpräſident Solms-Laubach, ein Gegner der franzöſiſchen Geſetzgebung, erklärte nachdrücklich, bei ſolcher Stimmung der Provinz ſei zum Mindeſten die Beſeitigung des öffentlichen Verfahrens unmöglich. *)Solms-Laubach, Darſtellung der Zuſtände in Jülich-Cleve-Berg, 18. Aug. 1819.Sethe ſelbſt wünſchte zwar lebhaft die Rechtseinheit für den geſammten Staat; doch er ſah auch, wie fern dies Ziel noch lag, und erkannte die großen Vorzüge des neufranzöſiſchen Rechts willig an. Hervorgegangen aus der Verſchmelzung des römiſchen Rechts mit den großentheils ger - maniſchen Coutumes konnte der Code Napoleon auf deutſchem Boden nicht ſchlechthin als fremdes Recht betrachtet werden, da das römiſche Recht auch bei uns längſt heimiſch war; ſeine Beſtimmtheit und Kürze, ſeine Schärfe und folgerichtige Klarheit hielten den Vergleich mit der caſuiſtiſchen Weitſchweifigkeit des Preußiſchen Landrechts wahrlich aus, und wo war in dieſen ganz bürgerlichen rheiniſchen Landen noch ein Boden für die Patri - monialgerichte oder für das ſtrenge Ständerecht der fridericianiſchen Geſetz - gebung?

Nach zweijähriger Berathung legte die Commiſſion dem Monarchen die Reſultate ihrer Verhandlungen vor: ſie empfahl, das rheiniſche Recht vorläufig, bis zur Reviſion der preußiſchen Geſetzbücher, aufrechtzuerhalten und ſchilderte in einem ausführlichen Gutachten, wie das Schwurgericht die Rechtsidee im Volke lebendig erhalte, das Geſetz beliebt mache, die Beamtenwillkür beſchränke, die Einſeitigkeit der juriſtiſchen Fachbildung durch die freie Welt - und Menſchenkenntniß der Laien ergänze. Miniſter Kirch - eiſen, der in den Gedanken des altländiſchen Richterſtandes lebte und webte, ward durch dieſe Denkſchrift lebhaft beunruhigt. Er befürchtete vornehmlich, daß in den alten Provinzen das Vertrauen des Volks zu den Gerichten ſinken würde wenn die Schwurgerichte am Rhein fortbeſtünden, und wies in einer Entgegnungsſchrift die gehäſſige Unterſcheidung von öffentlichem und geheimem Verfahren entrüſtet zurück: auch in den alten Provinzen blieben224II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.die Erkenntniſſe nicht geheim; dem alten deutſchen Satze und wo Ge - richte iſt da ſollen di beſtin ſin werde in Preußen, wo man die Richter ſo ſorgfältig wähle, vollſtändiger genügt als in Frankreich; in jeder Thatfrage ſei zugleich eine Rechtsfrage enthalten, die nur der Rechtsgelehrte ganz verſtehe; nimmermehr dürfe dem Richter geſtattet werden, die Geſetze will - kürlich abzuſchwächen falls ſie der Meinung des Volks zu widerſprechen ſchienen; und wie könne der Staat auf das Recht verzichten, einen Ange - klagten bei unvollſtändigem Beweiſe mit außerordentlichen Strafen zu be - legen? *)Kircheiſen, Votum betr. die Organiſation der Juſtiz in den Rheinprovinzen, Juli 1818.Alle die berechtigten und unberechtigten techniſchen Bedenken gegen das Schwurgericht, welche in der alten, an beſtimmte Beweisregeln gewöhnten Juriſtenſchule vorherrſchten, ſtellte der Miniſter ſorgfältig zu - ſammen. Politiſche Beſorgniſſe hegte er nicht; denn noch war die Jury nicht in das Programm der liberalen Partei aufgenommen.

Beyme aber trat auf die Seite der Commiſſion und gewann die Zu - ſtimmung des Königs. Das franzöſiſche Recht blieb auf dem linken Rhein - ufer und in Berg vorläufig beſtehen, und am 21. Juni 1819 ward in Berlin ein Kaſſationshof für die rheiniſchen Lande unter Sethes Vorſitz gebildet. An die Spitze des Appellhofes zu Köln trat der als Richter wie als Gelehrter gleich ausgezeichnete Daniels. Jedermann am Rhein wußte von dem geiſt - reichen Manne mit dem Sokrateskopfe, von ſeinem ungeheuren Gedächtniß und ſeinem ulpianiſchen Scharfſinn zu erzählen. In ihm verkörperte ſich jene eigenthümliche Vermittlerrolle zwiſchen deutſcher und franzöſiſcher Bil - dung, welche die Rheinländer damals noch für ſich in Anſpruch nahmen. Die Franzoſen ſelbſt bewunderten ihn als den gründlichſten Kenner ihrer Geſetz - bücher, und doch blieb er ein deutſcher Juriſt, denn wer ſich in dem Laby - rinthe des alten kurkölniſchen Rechts zurechtfinden wollte, griff zu Daniels vergilbten Collegienheften. Unter ſeiner Leitung wuchs allmählich der moderne rheiniſche Juriſtenſtand heran, reich an Talenten, ſtolz auf ſein heimiſches Recht und auf die Kunſt der forenſiſchen Beredſamkeit, die hier allein eine Bühne fand, aber auch ſehr empfänglich für die formale Staatsweisheit der Franzoſen, ohne Sinn für die berechtigte Eigenart des deutſchen Nord - oſtens eine ganz neue Kraft im preußiſchen Staatsleben, deren Macht mit den Jahren ſtieg ſeit der Liberalismus anfing die Schwurgerichte als ein Palladium der Volksfreiheit zu feiern.

Ueber allen den anderen drängenden Sorgen der preußiſchen Politik ſtand die Frage, ob das vermeſſene Wagniß einer hochbegeiſterten kriege - riſchen Zeit, das Wehrgeſetz von 1814, jetzt in den Tagen der Abſpannung und der Armuth die Probe beſtehen würde. Die große Mehrzahl der Gene - rale hielt an den Gedanken Scharnhorſts und Boyens unerſchütterlich feſt. Gneiſenau vornehmlich ward nicht müde die Landwehr als die Heil-Anſtalt 225Heerweſen.zu rühmen, die allein den Staat inmitten überlegener Nachbarn aufrecht halten könne; keine andere Macht vermöge ſich dieſen Vorzug Preußens anzueignen, weil keine ein ſo treues, ſo opferwilliges und gebildetes Volk beſitze. Die fremden Geſandten dagegen äußerten alleſammt ihre Be - denken gegen die neue Wehrverfaſſung die einen, weil ſie den demo - kratiſchen Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht und die unberechenbare Kraft dieſes Volksheeres insgeheim fürchteten, die anderen, weil ſie die kühne Neuerung wirklich für einen idealiſtiſchen Traum hielten. Denn noch hatten Scharnhorſts Ideen nirgends im Auslande Anklang gefunden. Die alten Berufsſoldaten Frankreichs ſahen, uneingedenk der empfangenen Schläge, das preußiſche Kinderheer über die Achſel an; und Czar Alex - ander ſprach in gutem Glauben, wenn er immer wieder die preußiſchen Generale warnte: mit ſolchen Halbſoldaten laſſe ſich weder ein Krieg führen noch ein Aufſtand niederſchlagen.

Sogar die hohen Beamten waren durch jene beredte Denkſchrift Boyens noch keineswegs ganz gewonnen. Während Bülow und Beyme offen die Rückkehr zu dem alten Heerweſen verlangten, ergingen ſich Andere, ohne Unterſchied der Partei, in naiven Vorſchlägen zur Erleichterung der höheren Stände. Schuckmann hielt für unzweifelhaft, daß ein gebildeter junger Mann in höchſtens ſechs Wochen zum brauchbaren Infanteriſten erzogen werden könne, Solms-Laubach rieth, die akademiſche Jugend von Bonn und Düſſeldorf nur zu einigen Sonntagsübungen einzuberufen. Schön blickte mit philoſophiſchem Hochmuth auf die Paradekünſte der Kriegshandwerker nieder; er wollte alle Offiziere der Landwehr bis zum Oberſten hinauf durch die Kreisſtände wählen laſſen und meinte, drei Tage Uebungen im Jahre ge - nügten vollauf zur Schulung eines Freiwilligen. *)Eingaben an Hardenberg: von Schuckmann 11. Juli 1817, von Schön 21. Juni, von Solms-Laubach 21. Sept. 1818. Schön an General Borſtell 29. Juni 1818.So tief war jene Ge - ringſchätzung der ſtreng militäriſchen Ausbildung, die aus Rottecks Schriften ſprach, bis in die Kreiſe der Staatsmänner hineingedrungen. Unter den namhaften Publiciſten Preußens fand ſich kaum einer, der ein Verſtändniß zeigte für die Vorausſetzungen eines kriegstüchtigen Heerweſens. Selbſt der verſtändige rheiniſche Patriot Benzenberg ſchrieb ſeinem Gönner Gneiſenau kurzab, bei Belle Alliance habe das Volk gelernt, wie unnöthig die Quälerei des Drillplatzes ſei. Arndt wollte ſich in Friedenszeiten wo - möglich mit einem ſtehenden Generalſtabe begnügen; das Uebrige werde die Landwehr thun. Der nicht minder patriotiſche Verfaſſer der vielgeleſenen Schrift Preußen über Alles wenn es will (1817) hielt ebenfalls das ſtehende Heer für überflüſſig und dachte mit einer von den Gemeinden unterhaltenen Landwehr auszukommen. Auch die Particulariſten, die für die Quotiſirung der Steuern ſchwärmten, ſuchten das Volksheer für ihre Zwecke auszubeuten und empfahlen die Bildung von zehn ſelbſtändigenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 15226II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Provinzial-Landwehrcorps unter der Aufſicht der Provinzialſtände. Mit verdächtigem Eifer griff namentlich der polniſche Adel dieſen Gedanken auf. Ohne Nationalität iſt die Landwehr unausführbar ſo hieß es in wiederholten Eingaben des Herrn v. Bojanowsky und anderer Grundherren Poſens; gewähre der König dem Großherzogthum eine ſelbſtändige Land - wehr, ſo würden die polniſchen Edelleute freudig zu den Fahnen eilen. *)Klewiz, Bericht aus Poſen 24. Sept. 1817.

Als man mit der Ausführung des Wehrgeſetzes begann, zeigte ſich wider Erwarten am Rhein der geringſte Widerſtand: die kleinen Leute dort begrüßten die kurze Dienſtzeit als eine Erleichterung nach der harten napoleoniſchen Conſcription, auch die höheren Stände ertrugen die Wehr - pflicht ohne Murren, weil ſie der Idee der allgemeinen Rechtsgleichheit entſprach. Um ſo lauter lärmten die vormals bevorrechteten Klaſſen im Oſten: die cantonfreien großen Städte, der ſtolze Adel von Neuvorpommern und Sachſen. Dreimal baten die Stadtverordneten von Berlin trotzig um Wiederherſtellung der alten Militärfreiheit ihrer Commune, bis der König drohte die Namen der Unterzeichner in den Zeitungen zu veröffentlichen; und als im Sommer 1817 die Breslauer Landwehr den Fahneneid ſchwören ſollte, da brachen gar Straßenunruhen aus, an denen freilich das Ungeſchick einzelner Beamten und die altberüchtigte Raufluſt des Breslauer Pöbels mehr Antheil hatten als die Widerſetzlichkeit der Wehrmänner. Nur die Macht der abſoluten Krone konnte ſich durch dies Geſtrüpp des Wider - ſpruchs einen Weg bahnen und die Grundlagen der neuen Heeresver - faſſung für Deutſchland retten; ein allgemeiner preußiſcher Landtag, in ſolchem Augenblicke berufen, hätte ohne Zweifel ſofort den Kampf gegen die allgemeine Wehrpflicht begonnen.

Beim Fortſchreiten des Werks ergaben ſich indeß ernſte techniſche Schwierigkeiten, welche alle Zweifel und Bedenken des Auslandes zu be - ſtätigen ſchienen. Schon die Anſchaffung der Waffenvorräthe für die Land - wehr konnte bei dem troſtloſen Zuſtande der Finanzen nur langſam ge - lingen. Für das erſte Aufgebot hatte Boyen in beſtändigem Kampfe mit dem Finanzminiſter endlich die nöthigen Mittel gewonnen, ſo daß im December 1819 an dem vorgeſchriebenen Waffenbeſtande nur noch 8415 Gewehre fehlten; viele Kreiſe ſtatteten ihre Wehrmänner freiwillig mit Seitengewehren und Uhlanen-Czapkas aus. Aber für das zweite Aufge - bot war noch faſt gar nichts geſchehen, ihm fehlten von 174,080 Gewehren noch 135,559. **)Waffenrapport der Landwehr vom December 1819.

Dieſelbe Noth verſchuldete auch, daß die Stärke des ſtehenden Heeres von vornherein zu niedrig bemeſſen wurde. Das Wehrgeſetz hatte verſpro - chen, die Zahl der Linientruppen werde ſich nach den jedesmaligen Staats - verhältniſſen richten. Die ergänzende neue Landwehrordnung vom 21. Nov. 227Die Landwehr-Ordnung.1815 ſagte noch beſcheidener: an den mäßigen Umfang des ſtehenden Heeres ſchließt ſich künftig die Landwehr. Die Friedensſtärke des Heeres ward dem - nach vorläufig auf kaum ein Procent der Bevölkerung feſtgeſtellt; ſie betrug, mit Einſchluß des Armeecorps in Frankreich, 115,000 Mann, nicht mehr als im Jahre 1806. Allerdings erhielt die eingeſtellte Mannſchaft jetzt in dreijährigem ununterbrochenem Dienſte eine weit ſorgfältigere Schulung als einſt in den letzten Zeiten der alten Heeresverfaſſung, wo die Beur - laubungen ſo ſehr überhand nahmen, daß die Mehrzahl der Soldaten trotz der zwanzigjährigen Dienſtpflicht nur etwa 22 Monate unter den Fahnen blieb. Auch die Vereinigung des Heeres in den Feſtungen und größeren Städten kam der Ausbildung der Truppen zu ſtatten und blieb aufrecht, obwohl die verlaſſenen kleinen Garniſonen den Thron mit Bitten beſtürmten. Aber für die militäriſche Erziehung der geſammten wehr - fähigen Jugend reichte dieſe ſchwache Friedensarmee mit ihren 38 (ſpäter 44) Infanterie-Regimentern nicht entfernt aus. Sie konnte ihrer Auf - gabe um ſo weniger genügen, da die Bevölkerung ſehr ſchnell zunahm, wie dies bei kräftigen Nationen nach dem Abſchluß verheerender Kriege regelmäßig geſchieht. Ueberdies beſtand noch ein volles Drittel des ſtehenden Heeres aus Capitulanten, die freiwillig über drei Jahre hinaus dienten; die alten Gewohnheiten des Berufsſoldatenthums wirkten noch nach, und in der erwerbloſen Zeit erſchien der Militärdienſt Vielen als eine leidliche Verſorgung. Ein ſehr großer Theil der Wehrfähigen mußte alſo zurück - geſtellt werden, wobei denn anfangs manche erbitternde Willkür mit unter - lief: hier wurden die Ueberzähligen durch eine gutmüthige Erſatzcommiſſion ganz von der Dienſtpflicht entbunden, dort wählte ein Offizier, dem die altpreußiſche Vorliebe für die langen Kerle noch in den Gliedern lag, die Mannſchaften nach der Größe aus. Endlich führte man das Looſen ein und ließ die Freigelooſten als Landwehrrekruten drei Monate lang durch abcommandirte Offiziere der Linie nothdürftig einüben, um ſie dann der Landwehr zuzuweiſen.

Die Landwehr beſtand mithin zum Theil aus alten Soldaten, zum Theil aus wenig geübten Krümpern, und ihr Offiziercorps, das noch ganz ſelbſtändig neben der Linie ſtand, verſchlechterte ſich von Jahr zu Jahr: die Kriegskundigen ſchieden allmählich aus, die jungen Freiwilligen aber, welche nunmehr nach einjährigem Dienſte und einigen kurzen Uebungen in die Offiziersſtellen einrückten, zeigten ſich zuweilen noch unerfahrener als die Mannſchaft ſelbſt. Das einzige verbindende Glied zwiſchen der Linie und der Landwehr bildeten die den commandirenden Generalen der Linie untergeordneten Landwehrinſpecteure, je einer in jedem Regierungsbezirk. Der König that das Seine um das militäriſche Selbſtgefühl der Land - wehr zu heben; er verlieh ihr Fahnen, bildete eine Gardelandwehr, er - nannte die königlichen Prinzen zu Chefs der Gardelandwehr-Schwadronen. Die Generale gewöhnten ſich die Landwehr nach den Uebungen mit reichen15*228II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Lobſprüchen zu überhäufen, die von der ſtrengen Zucht der Linie ſeltſam abſtachen. Im Volke hatten ſich die alten Märchen von den Landwehr - ſchlachten des Befreiungskrieges allmählich feſt eingeniſtet; die Landwehr galt als das eigentliche Volksheer, als die feſte Säule der preußiſchen Macht; alle Welt ſtrömte in feſtlichem Jubel zuſammen wenn ſie ihre Uebungen hielt, und die Bureaukratie theilte dieſe Vorliebe, da ein großer Theil der Landwehroffiziere aus dem Beamtenthum hervorging.

Dem ſicheren Soldatenblicke des Königs entging gleichwohl nicht, wie viel dieſer volksthümlichen Truppe noch zur vollen Kriegstüchtigkeit fehlte; ſelbſt General Kleiſt und andere Freunde der Landwehr konnten dem Kriegs - herrn nicht verhehlen, daß die Reiterei wenig genügte und auch das Fuß - volk bei größeren Uebungen nur unter der Leitung abcommandirter Linien - offiziere Tüchtiges leiſtete. *)Kleiſts Bericht an den König über die Landwehrübungen in Sachſen, 24. Nov. 1817.Und doch mußte dieſe Reſervearmee, wegen der Kleinheit des Linienheeres, beim Ausbruch eines Krieges ſofort gegen den Feind geführt werden. Was im Sommer 1813 nur die äußerſte Noth erzwungen hatte, ſollte jetzt die Regel bilden. Trat die Mobilmachung ein, ſo ward die Feldarmee ſofort auf 298,000 Mann verſtärkt, wovon die größere Hälfte (ſieben Jahrgänge unter zwölf) aus Landwehren erſten Aufgebotes beſtand; ſelbſt wenn nur eine diplomatiſch-militäriſche Drohung beabſichtigt war, ſah ſich der Staat gezwungen ſogleich alle Wehrpflichtigen bis zum zweiunddreißigſten Lebensjahre hinauf unter die Fahnen zu rufen, tauſende von Familien ihrer Ernährer zu berauben, das geſammte bürger - liche Leben ſchwer zu ſchädigen. Zwar mußte, bei dem ſchwerfälligen Verkehre jener Zeit, der größte Theil des Heeres volle fünf Wochen auf dem Marſche verbringen bevor er den Feind erreichen konnte; aber genügte dieſe kurze Friſt um die mangelhafte Ausbildung der Landwehrrekruten zu ergänzen? Und wie viel ungünſtiger hatte ſich doch die militäriſche Lage des Staatsgebietes geſtaltet; der Staat war nicht mehr durch ſeine alten Vorlande, Polen und das Rheingebiet, gegen den erſten Anſturm der Feinde gedeckt, er grenzte jetzt unmittelbar an drei Großmächte. Grundes genug zu ſchweren Bedenken. Unabläſſig, in tiefer Beſorgniß, ſuchte der König nach der rechten Antwort auf alle die militäriſchen, politiſchen und volkswirthſchaftlichen Fragen, welche das große Problem der allgemeinen Wehrpflicht umfaßte, und beſprach ſich darüber mit dem getreuen Witz - leben. An dem häßlichſten Mangel des neuen Syſtems, an der Unmög - lichkeit, die geſammte Jugend durch die Schule des Heeres gehen zu laſſen, ließ ſich leider für jetzt nichts ändern; eine ſo beträchtliche Vermehrung der Linie konnte weder der Staatshaushalt noch der Volkswohlſtand er - tragen. Aber gab es kein Mittel um die Landwehr ſchon im Frieden ſo feſt mit der Linie zu verbinden, daß die Feldarmee nicht mehr in zwei ganz ungleichartige Hälften zerfiel? Die Organiſatoren des preußiſchen229Linie und Landwehr.Heeres ſtanden wieder vor der nämlichen Aufgabe, welche einſt Carnot in ſeiner Weiſe gelöſt hatte als er aus den weißen Linienregimentern der Bourbonen und den blauen Nationalgarden der Republik ſeine neuen Halbbrigaden zuſammenſchmolz.

Bei dieſen Berathungen ergab ſich bald eine Meinungsverſchieden - heit zwiſchen dem König und dem Kriegsminiſter. Boyen überſchätzte doch die Kriegstüchtigkeit ſeiner Landwehr, obſchon er natürlich die volksthüm - lichen Fabeln nicht glaubte. Er urtheilte nach ſeinen Erfahrungen beim Bülow’ſchen Corps; hier war die Landwehr immer gut beiſammen ge - blieben, da ſie erſt unter Bernadottes ſchlaffer Führung, dann auf dem bequemen holländiſchen Feldzuge nur ſelten zu Gewaltmärſchen und außer - ordentlichen Strapazen gezwungen wurde. Dem Könige dagegen ſtand noch in friſcher Erinnerung, wie haltlos die Landwehr des Kleiſt’ſchen Corps während der furchtbaren Regentage nach der Dresdner Schlacht ſich gezeigt; er wußte auch, daß im Feldzuge von 1815 drei Viertel der Verſprengten der Landwehr angehört hatten. Um die Wiederkehr ſolchen Unheils zu verhüten, wollte der König die Landwehr ſtets mit der Linie vereinigt ihre Uebungen abhalten laſſen, je eine Brigade der Linie und der Landwehr zu einer Diviſion verbinden, zahlreiche Offiziere der Linie zur Landwehr abcommandiren und die höheren Stellen regelmäßig nur Linienoffizieren anvertrauen, während Boyen die vollſtändige Trennung der beiden Offiziercorps beizubehalten rieth, damit Reibungen zwiſchen Militär und Civil verhütet würden und der eigenthümliche Geiſt der Land - wehr ungeſtört bliebe.

Mittlerweile wagte Herzog Karl von Mecklenburg den erſten offenen Angriff gegen die Grundlagen des neuen Heerweſens. Er überreichte um Neujahr 1818 ſeinem königlichen Schwager eine lange Denkſchrift, welche ohne eigene Vorſchläge aufzuſtellen mit düſteren Farben die ſchweren den Thron bedrohenden Gefahren ſchilderte, die Zügelloſigkeit der Preſſe, den Uebermuth der Studenten und vor Allem die Boyen’ſche Heeresverfaſſung: ſie drücke den Aufrührern die Waffen in die Hände; ſelbſt der Landwehr - zeughäuſer war nicht vergeſſen, die ſo leicht einem meuternden Haufen zur Beute fallen könnten. *)Der weſentliche Inhalt dieſer Denkſchrift erhellt aus Witzlebens Entgegnungsſchrift vom 25. Januar 1818 (bei Dorow, Witzleben, S. 93). Die Perſon ihres Verfaſſers ergiebt ſich aus einer Bemerkung in Witzlebens Tagebuch, Mai 1819.Die reactionäre Partei wagte ſich endlich mit ihren Herzenswünſchen heraus. Auch Kneſebeck ſtimmte dem Herzog bei, und ſogar dem tapferen Prinzen Auguſt, der einſt unter den Erſten den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht vertheidigt hatte, erſchienen jetzt die unleugbaren Mängel der Landwehrordnung ſo bedenklich, daß er die Umkehr zu dem alten Beurlaubungsſyſteme empfahl. Mit dem ganzen Unwillen ſeines ehrlichen Herzens wendete ſich Witzleben gegen die Männer, welche den Regenten vom Volke, das Haupt vom Rumpfe zu trennen230II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.beabſichtigen . Die allgemeine Dienſtpflicht ſo ſchrieb er in einer beredten Entgegnung iſt ein Band, welches das ganze Volk umſchließt, und deſſen Enden ſich in den Händen des Monarchen befinden . Der König ließ ſich durch die Warnungen ſeines Schwagers nicht beirren, obwohl er in Augenblicken der Verſtimmung allerdings geſtand, ganz unbedenklich ſei es nicht, Alle zu Soldaten zu machen. Die Verantwortlichkeit für den ſchwie - rigen Verſuch, der ihm als die weitaus wichtigſte Aufgabe der preußiſchen Politik erſchien, laſtete drückend auf ſeinem Gewiſſen. Kein anderer Staat, ſagte er zu Witzleben, legt ſeinem Volke ſo harte Laſten auf, und dabei dennoch keine Möglichkeit, ganz gerecht zu verfahren, alle Wehrfähigen ein - zuſtellen! *)Witzlebens Tagebuch, 9. Mai 1819.Am Ende gab er doch zu, daß die neue Ordnung mit allen ihren Mängeln eine leidliche Mittelſtellung einnehme zwiſchen dem alten Syſteme und den Volksbewaffnungsträumen der Dilettanten. Niemals ward er den Gedanken Scharnhorſts untreu. Nur eine engere Verbin - dung zwiſchen Landwehr und Linie hielt er für unerläßlich, und da Boyen dieſem wohlberechtigten Plane hartnäckig widerſtrebte, ſo entſtand allmäh - lich eine Entfremdung zwiſchen dem Könige und dem Kriegsminiſter, welche ſchließlich zu Boyens Sturz führen ſollte.

Ueberraſchend ſchnell, nach wenigen Jahren ſchon ſöhnte ſich das Volk mit der zuerſt ſo widerwillig aufgenommenen neuen Heeresverfaſſung völlig aus. Die Gerechtigkeit des Grundſatzes der allgemeinen Wehrpflicht ſprang in die Augen; die mannhafte Anſicht, daß der Waffendienſt eine Ehre ſei, entſprach dem natürlichen Gefühle einer tapferen Nation; und ſo ſchwer die Laſt drückte, zerſtörend wirkte ſie nicht, da die Preußen bei der Eheſchließung und Niederlaſſung, im Handel und Gewerbe ſich einer Frei - heit erfreuten, die den deutſchen Kleinſtaaten noch faſt unbekannt war. Wie verwundert hatten die alten Berliner Bürger anfangs den Kopf geſchüttelt, wenn ſie einen gemeinen Soldaten im eleganten Wagen daherfahren ſahen; bald ward der Einjährige eine gewohnte Erſcheinung, und ganz von ſelber ſtellte ſich die Regel her, daß die Freiwilligen nicht, wie der Geſetzgeber erwartete, bei den Jägern und Schützen, ſondern bei dem nächſtgelegenen Truppentheile eintraten und alſo die gebildete Jugend ſich über das ganze Heer vertheilte. Die allgemeine Wehrpflicht bewährte ſich als das wirk - ſamſte Werkzeug zur Verſchmelzung der alten und der neuen Provinzen. Die zahlreichen ſächſiſchen, weſtphäliſchen, franzöſiſchen, polniſchen, ſchwe - diſchen Offiziere, welche namentlich den Reiterregimentern zuſtrömten, ver - wuchſen in gemeinſamer ernſter Arbeit raſch mit dem alten preußiſchen Stamme; denn ſeit alljährlich faſt ein Drittel der Mannſchaft neu eintrat, war der Friedensdienſt der Offiziere nicht mehr wie einſt ein beſchäftigter Müßiggang. In der Schule des Heeres wurden die verwahrloſten Söhne der polniſchen Landestheile zur Ordnung, Sauberkeit, Haltung erzogen,231Wirkungen der allgemeinen Wehrpflicht.ihrer viele auch erſt in die deutſche Sprache eingeführt. Mochte der rheiniſche Bauer immerhin von ſeinem im Heere dienenden Sohne be - dauernd ſagen: er iſt bei de Prüß , und mancher Soldat aus der Pro - vinz Sachſen wehmüthig über den fremden Dienſt klagen die mili - täriſche Mannszucht ſchlug den Jungen doch gut an. Arndts völkerkun - diger Blick bemerkte bald, wie auffällig ſich die Jugend dieſer Provinzen von den Stammgenoſſen in den Kleinſtaaten zu unterſcheiden begann. Hier noch ein gemüthliches bequemes Philiſterthum, dort das bei den Nach - barn übel berufene ſtramme preußiſche Weſen , eine kurz angebundene, dreiſte Entſchloſſenheit, die zuweilen ſehr unliebenswürdig werden konnte, aber dem Charakter eines edlen Volkes beſſer anſtand als die gedrückte Schüchternheit der alten Zeit des ungeſtörten häuslichen Lebens. Durch ihr Heer gewannen die Preußen wieder, was keine große Nation auf die Dauer entbehren kann, den nationalen Stil, die ſtolze Sicherheit des Auftretens. Und der Stolz dieſes Volkes in Waffen war deutſch von Grund aus; er wurzelte in dem Bewußtſein, daß am letzten Ende Deutſchlands Schickſal an den ſchwarzundweißen Fahnen hing.

Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht entſprang einem politiſchen Idealismus, der an die Energie des antiken Staatsbegriffs erinnerte. Die - ſelbe freie und weitherzige Auffaſſung der Pflichten des Staates bekundete ſich auch in der Unterrichtsverwaltung. Bei Allen, welche dieſe letzten Jahre mit Bewußtſein durchlebt hatten, ſtand die Ueberzeugung feſt, daß die endlich vollzogene Verſöhnung des preußiſchen Staates mit der neuen Bildung der Nation für immer dauern müſſe. Es galt, das mit der Stiftung der Berliner Hochſchule begonnene Werk weiter zu führen, die altpreußiſche Idee der allgemeinen Schulpflicht vollſtändig zu verwirklichen, auch die niederen und mittleren Lehranſtalten mit dem Geiſte der neuen Wiſſen - ſchaft zu erfüllen und alſo dem Staate Friedrichs in dem geiſtigen Leben der Nation eine ſeines Waffenruhmes würdige Stellung zu gewinnen. In den dreiundzwanzig Jahren der Verwaltung des Freiherrn v. Alten - ſtein iſt dieſe Aufgabe im Weſentlichen gelöſt worden. Der Staat, der ſo lange in ſeinen harten Daſeinskämpfen die Wiſſenſchaft hatte darben laſſen, gelangte allmählich dahin, daß er nach Verhältniß ſeiner Mittel für die Volksbildung mehr als irgend eine andere Großmacht aufwendete und ſeine Unterrichtsanſtalten den beſten Europas vergleichen durfte; er wider - legte durch die That das wunderliche, aus den krankhaften Erfahrungen der heimiſchen Geſchichte entſproſſene deutſche Vorurtheil, als ob der Reich - thum des geiſtigen Lebens nur in der Enge kleiner Staaten gedeihe. Ein geborner Franke und von Haus aus den liberalen Anſichten der Harden - bergiſchen Beamtenſchule zugethan, verſtand Altenſtein doch immer ſich den Ideen überlegener Köpfe anzuſchmiegen, ſo daß ſelbſt Stein, der mit den fränkiſchen Anſchauungen ſo wenig gemein hatte, den geiſtreichen Beamten gern zum Entwerfen ſeiner Geſetze benützte und ſtets ſicher war ſeine232II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.eigenen Gedanken in den Arbeiten dieſer gewandten Feder treu wie in einem Spiegel wiederzufinden. Als er freilich nach Steins Sturz ſelber an das Ruder des Staates trat, da litt er kläglich Schiffbruch; ſein feiner Kopf täuſchte ſich niemals über die Gefahren der Lage, aber die Spannkraft des Entſchluſſes blieb dem Aengſtlichen verſagt. Wenn er ſtundenlang ſeine Bedenken und Gegenbedenken vortrug, ohne je ein Ende zu finden, ſo erſtaunten die Hörer zugleich über die Hellſichtigkeit und die Unfruchtbarkeit ſeines Geiſtes. Späterhin, beim zweiten Pariſer Frieden leitete er die Zu - rücknahme der geraubten Bücher - und Kunſtſchätze mit gründlicher Sach - kenntniß und erregte durch ſeine reiche gelehrte Bildung zuerſt wieder die Aufmerkſamkeit des Königs, der ihm den kleinmüthigen Vorſchlag der Abtretung Schleſiens lange nachgetragen hatte. So geſchah es, daß er bei dem Miniſterwechſel von 1817 endlich den rechten Wirkungskreis für ſeine Begabung angewieſen erhielt; ein freundliches Geſchick vergönnte ihm, durch die Thätigkeit ſeines Alters das Andenken an die traurige Politik von 1809 ſchon bei der Mitwelt faſt zu verwiſchen.

In allen Fächern der Wiſſenſchaft war er zu Hauſe, und nie fühlte er ſich glücklicher als wenn er draußen in Werder unter den blühenden Bäumen ſeines Weinbergs am Havelufer beſchaulich ſeinen Gedanken nach - gehen durfte. Die Philoſophie erſchien ihm als die Königin der Wiſſen - ſchaften, aber ſelbſt in dieſem ſeinem Lieblingsfache zeigte er mehr weiche Empfänglichkeit als ſelbſtändige Gedanken; unwillkürlich folgte er den Strö - mungen der Zeit und wendete ſich von Fichtes Lehren bald dem auf - ſteigenden Geſtirne Hegels zu. Er dachte groß von ſeinem neuen Amte, dem das Höchſte der Menſchheit anvertraut ſei, und ſtellte ſich die Auf - gabe, dieſen Staat im Sinne Hegels zum Staate der Intelligenz aus - zugeſtalten. Jahraus jahrein kämpfte er unverdroſſen mit dem ſparſamen Ladenberg um die Geldmittel; blieb die königliche Generalcontrole uner - bittlich, dann half er wohl aus eigenen Mitteln nach und zahlte aus ſeiner Taſche Penſionen an Predigerwittwen, Reiſeſtipendien an junge Gelehrte und Künſtler. Auch die Freiheit der Forſchung fand an dem milden Gelehrten einen treuen Beſchützer; wenn ihn die Eiferer der Re - aktion mit ihren Klagen und Anzeigen beſtürmten, ſo beſchwichtigte er ſie gelaſſen durch ſeinen Lieblingsſpruch: viele Uebel der Zeit heilt die Zeit ſelbſt.

Für das neu erwachende religiöſe Leben zeigte Altenſteins weltliche Geſinnung wenig Verſtändniß, das Verlangen nach einer freien evangeli - ſchen Gemeindeverfaſſung ſchien ihm kaum minder ſtaatsgefährlich als die Herrſchſucht der Ultramontanen: hatte doch ſein Hegel ſo klar erwieſen, daß die Kirche, das Reich der Vorſtellungen, ſich dem Reiche des Begriffs, dem Staate ſchlechthin unterordnen müſſe. Darum hielt er ſich in der Kirchen - politik an das gemäßigte Territorialſyſtem des Landrechts: das Staatsober - haupt ſollte die evangeliſche Kirche nach evangeliſchen, die katholiſche nach233Altenſtein.katholiſchen Grundſätzen auch in ihrem inneren Leben unmittelbar leiten und beide dem Charakter des Staates anzupaſſen ſuchen. Jedoch er handhabte ſein Syſtem mit kluger Schonung, in der ehrlichen Abſicht, daß die Kirche ſelbſt unter der wohlwollenden Vormundſchaft des Staates ſich befriedigt fühlen ſollte, und erreichte in der That, daß der kirchliche Frieden unter ſchwierigen Verhältniſſen zwei Jahrzehnte hindurch faſt ungeſtört blieb. Im Staatsrathe führte Altenſtein als Stellvertreter des Staats - kanzlers den Vorſitz, und die heftigen Parteikämpfe brachten den behut - ſamen Mann oft in Verlegenheit; mußte er ſich entſcheiden, dann nahm er immer Partei für Hardenberg, dem er noch von Franken her eine faſt unterthänige Ergebenheit bewahrte. Zudem bedurfte er einer mächtigen Stütze, da Schuckmann die Zertheilung ſeines Departements nicht ver - ſchmerzen konnte und ſich alsbald mit den Geheimen Räthen Kamptz und Schultz zur Bekämpfung des demagogenfreundlichen neuen Cultusminiſters verſchwor.

Als dieſer in ſeinem Amte ſich etwas umgeſehen hatte, ſchrieb er dem Staatskanzler: mein ganzes Departement iſt beinahe verholzt und ein - geſchrumpft, es muß erſt wieder belebt und in Bewegung geſetzt werden. *)Altenſtein an Hardenberg, 26. December 1817.Und allerdings hatte Schuckmann ſelbſt ſich um die Fragen des höheren Unterrichts, die ſo weit über ſeinen Geſichtskreis hinauslagen, wenig be - kümmert. Unter den Räthen dagegen war der Geiſt Humboldts noch nicht ausgeſtorben. In der Unterrichtsabtheilung wirkte Humboldts Ver - trauter, der geiſtvolle Süvern aus dem Teutoburger Walde, ein claſſiſch gebildeter Philolog, der einſt mit Schiller in Briefwechſel geſtanden und ſich den Idealismus der großen Tage von Weimar treu bewahrt hatte. An der Spitze der geiſtlichen Abtheilung ſtand der Schüler und Lands - mann Hamanns, Nicolovius, ein bibelgläubiger kindlich frommer Proteſtant. Er lebte in dem Gedanken der Einheit des Chriſtenthums und verſtand, Dank ſeinem freundſchaftlichen Verkehre mit dem Kreiſe der Fürſtin Galitzin, auch die ſittlichen Kräfte der katholiſchen Kirche gerecht zu würdigen. Viele Jahre lang mit Goethe befreundet folgte er dem literariſchen Schaffen der Zeit mit freudiger Empfänglichkeit; für die politiſche Reform war er ſelbſt in Königsberg unter Steins Leitung thätig geweſen. Allen Geiſt - lichen im Lande blieben die ſchönen Worte in guter Erinnerung, mit denen er beim Beginne des Befreiungskriegs die chriſtlichen Seelſorger an ihre vaterländiſche Pflicht gemahnt hatte.

Bei ſeinem Eintritt fand Altenſtein eine ſchwere Arbeit bereits dem Ab - ſchluß nahe, die Neugründung zweier Hochſchulen. Die Friedrichs-Univerſität in dem treuen Halle war während der Fremdherrſchaft zweimal geſchloſſen und ſofort nach dem Einzuge der Preußen wieder eröffnet worden; ſie bedurfte nach den Verwüſtungen der Kriegsjahre einer gründlichen Um -234II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.geſtaltung, zumal da ſie jetzt auch den thüringiſchen Landestheilen einen Erſatz für die längſt aufgehobene Erfurter Hochſchule bieten ſollte. Mit dieſer Aufgabe verkettete ſich die peinliche Frage, ob neben der Heimſtätte des reformatoriſchen Pietismus noch ihre alte Feindin, die kurſächſiſche Fridericiana im nahen Wittenberg fortbeſtehen könne. Der Pietät des Königs lag nichts ferner als die Abſicht die Cultur der Provinzen zum Vortheil Berlins zu verkümmern; er hoffte womöglich in jeder Provinz eine blühende Hochſchule als den geiſtigen Mittelpunkt des landſchaftlichen Sonderlebens erſtehen zu ſehen, und am Wenigſten die Wiege der Re - formation wollte der treue Proteſtant ohne dringende Noth antaſten. Aber in dem unglücklichen Wittenberg war nichts mehr zu zerſtören. Zwei - hundert Jahre lang war die weiland glorreichſte aller deutſchen Univer - ſitäten nur ein Zerrbild alter Größe geweſen, die Hochburg eines geiſtloſen Buchſtabenglaubens, der ex cathedra Lutheri ſeine Bannſtrahlen ſchleu - derte und die Religion durch die Theologie ertödete. Als gegen Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts endlich ein freierer Geiſt in den entweihten Hörſaal des Reformators einzog, war der Verfall der Hochſchule nicht mehr aufzuhalten. Die Belagerung von 1813 gab der Univerſität den Todesſtoß: die Studenten ſtoben auseinander, die Bibliothek ward geflüchtet, die akademiſchen Gebäude gingen in Flammen auf, und das kleine Häuflein der Profeſſoren, das ſich nach Schmiedeberg gerettet hatte, legte dem ſäch - ſiſchen Hofe ſelber die Frage vor, ob nicht die Vereinigung mit Leipzig ge - boten ſei.

Sollte Preußen jetzt auf dieſer Trümmerſtätte einen Neubau aufführen, in einer zur Grenzfeſtung beſtimmten Stadt, ſo nahe bei den drei anderen ſächſiſchen Univerſitäten, die einander ohnehin ſchon oft das Licht ver - traten? Die lebendige Gegenwart forderte ihr Recht vor der ruhmvollen Vergangenheit; Halle beſaß, trotz ſchwerer Verluſte, doch noch einen leid - lich vollſtändigen Lehrkörper, zahlreiche Inſtitute und eine raſch wieder anwachſende Studentenſchaft. Schweren Herzens befahl der König noch von Wien aus, im April 1815, die Vereinigung der beiden Friedrichs - Univerſitäten in Halle. Die Wittenberger Profeſſoren ſelbſt verſuchten keinen Widerſpruch, ihrer ſieben traten im Frühjahr 1817 in die neue Univerſität Halle-Wittenberg ein; das war Alles was von der glänzenden Stiftung Friedrichs des Weiſen noch übrig blieb. Das Volk aber im Herzogthum Sachſen klagte laut, als gerade im Jubeljahre der Refor - mation die Hochſchule der alten Lutherſtadt in das Magdeburgiſche über - ſiedeln mußte: jetzt haben die Preußen dem Sachſenlande das Herz aus - gebrochen, ſagte man zornig. Erſt nach Jahren, als die neue Doppel - Univerſität unter Altenſteins ſorglicher Pflege kräftig aufgeblüht war, begann man einzuſehen, daß der König das Nothwendige gethan und die Provinz durch den Untergang von zwei verlebten Univerſitäten an geiſtigen Kräften nichts verloren hatte. Nur die Stadt Wittenberg ließ ſich durch235Halle-Wittenberg. Bonn.das Predigerſeminar, das ihr zur Entſchädigung dienen ſollte, nicht tröſten und forderte noch ein Menſchenalter ſpäter, im Jahre 1848, von der Ber - liner Nationalverſammlung die Wiederherſtellung der alten akademiſchen Herrlichkeit.

Den weſtlichen Provinzen hatte der König ſchon bei der Beſitzergreifung eine Univerſität verſprochen. Sie ſollte paritätiſch ſein und ſowohl das gänzlich verfallene reformirte Duisburg wie die aufgehobenen katholiſchen Hochſchulen Köln, Bonn, Trier erſetzen, während dem Münſterlande ſeine katholiſche Akademie als theologiſche Fachſchule erhalten blieb. Um den Sitz der rheiniſchen Univerſität entſpann ſich nun ein hitziger Streit, der die geheimen Wünſche der clerikalen Partei des Weſtens zum erſten male an den Tag brachte. Köln war ſo lange im Beſitze der größten Univerſität am Rheine geweſen und überſtrahlte alle anderen Städte des Landes ſo weit durch ſeinen hiſtoriſchen Ruhm und durch die Fülle ſeiner Kunſt - denkmäler, daß auch Unbefangene, wie Niebuhr, Schenkendorf und der wackere kölniſche Sammler Wallraf meinten, nur hier könne das geiſtige Leben der Rheinlande ſeinen Brennpunkt finden. Friedrich Schlegel aber und ſeine ultramontanen Freunde benutzten den romantiſchen Zauber, welcher die ehrwürdige Stadt umſchwebte, als willkommenen Vorwand für tiefere Pläne. Das heilige Köln war von Altersher das Bollwerk der römiſchen Partei im Reiche, ſeine Bevölkerung, die noch zu einem vollen Drittel aus Bettlern beſtand, durch dumpfe Unduldſamkeit übel berüchtigt. Hier hatten die obscuri viri des ſechzehnten Jahrhunderts, nachher die päpſtlichen Legaten und die Jeſuiten ihr Weſen getrieben; hier im Schatten der erzbiſchöflichen Curie konnte eine evangeliſche Facultät ſo wenig ge - deihen wie die weltlich freie Wiſſenſchaft; hier war nur Raum für eine rheiniſche Provinzialuniverſität, die den tiefen Schlummer der Geiſter in der alten Pfaffengaſſe des Reichs nicht geſtört, die Verſöhnung der Weſt - mark mit dem proteſtantiſchen Norden nicht gefördert hätte. Diejenigen ſchrieb ein einſichtiger Rheinländer an Hardenberg welche ſo ent - ſchieden für Köln reden, verhehlen es gar nicht in vertraulicher Mitthei - lung, daß ſie dadurch den Mittelpunkt einer Oppoſition bilden möchten. Und welcher Oppoſition? Des katholiſchen Princips gegen das prote - ſtantiſche. Je näher die Regierung die Rheingegenden kennen lernen wird, deſto weiter wird ſie ſich von dem Gedanken entfernen, nach Köln die rheiniſche Univerſität zu verlegen. *)Denkſchrift über die Rheiniſche Univerſität, dem Staatskanzler überreicht durch Miniſter Klewiz 20. Febr. 1817. Andere Aktenſtücke bei H. v. Sybel, Die Gründung der Univerſität Bonn (Kleine hiſtor. Schriften II 433).Auch Arndt, der an ſeinem deut - ſchen Strome raſch heimiſch geworden war, und Süvern, der ſoeben die neuen Unterrichtsanſtalten am Rhein einrichtete, warnten den Staats - kanzler vor dem pfäffiſchen Geiſte der Biſchofsſtadt und empfahlen dafür das liebliche Bonn mit ſeinen verödeten prächtigen Schlöſſern.

236II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Dort in der reichen Thalbucht, dicht vor dem Eingangsthore des rhei - niſchen Wunderlandes konnte vielleicht ein anderes Heidelberg entſtehen, eine Stätte freier Forſchung und froher Burſchenluſt, ein Sammelplatz für die deutſche Jugend aus allen Gauen. Selbſt der trockene Schuck - mann fühlte ſich von einem Hauche der Jugend angeweht, als er einſt auf der Höhe des Coblenzer Thores zu dem Standbilde des heiligen Michael hinaustrat und über dem grünen Strome und der üppigen Ebene die ſteilen Gipfel der Sieben Berge erblickte; hier iſt unſer Ort! rief er entzückt. In der kleinen Stadt war die Univerſität die Herrin und einer unge - ſtörten Freiheit ſicher; hatte doch ſchon in den letzten kurfürſtlichen Zeiten zehn Jahre lang in Bonn eine rührige Hochſchule beſtanden, die den freieren Geiſt der joſephiniſchen Aufklärung gegen den kölniſchen Clerus vertrat. Dieſe Erwägungen ſchlugen durch, und am 26. Mai 1818, an demſelben Tage, da das neue Zollgeſetz unterzeichnet wurde, beſtimmte der König die Stadt Bonn zum Sitze der rheiniſchen Hochſchule.

Es war bereits die vierte Univerſität, die unter der Regierung dieſes Fürſten gegründet oder gänzlich neu geſtaltet wurde von allen Wohlthaten, welche das Rheinland der Krone Preußen verdankte, vielleicht die größte. Hier wieder bewährte ſich die alte Wahrheit, daß die Bildung des Volks am letzten Ende durch den Zuſtand der höchſten Unterrichtsanſtalten beſtimmt wird. Bonn erhielt in dem geiſtreichen Schwaben Rehfues einen thätigen, geſchäfts - und menſchenkundigen Curator; Hüllmann, Sack, Nöggerath, Harleß und die beiden Welcker traten gleich zu Anfang ein, auch Arndt wurde durch einen herzlichen Brief Hardenbergs berufen der Jugend den Grundton für die Geſinnung des Lebens zu geben , und wenige Jahre ſpäter, als Niebuhr den Lehrſtuhl beſtieg, ſtand die neue Univerſität be - reits in voller Blüthe. So wunderbar hatten ſich Deutſchlands Geſchicke verſchlungen: erſt der preußiſche Staat, der in dem jungen Colonialboden des Nordoſtens wurzelte, führte dieſe Heimathlande der älteſten deutſchen Cultur zu der modernen Bildung der Nation zurück. In Bonn und in den anderen Lehranſtalten, die ſich der Hochſchule anſchloſſen, entſtand zuerſt wieder ein freies Nebeneinanderleben der Glaubensbekenntniſſe; die Mehrzahl der Rheinländer empfing jetzt erſt Kunde von den Werken unſerer claſſiſchen Literatur, und das reichbegabte Volk lebte ſich in dieſe neue Welt ſo ſchnell ein, daß der Spott der Nachbarn über die Unwiſſenheit der alten Krummſtabslande bald ganz verſtummte.

Die rheiniſche Hochſchule erforderte während der erſten Jahre mehr Aufwand als alle anderen Univerſitäten insgeſammt. Für die mittleren Lehranſtalten blieben nur ſehr beſcheidene Geldmittel übrig. Aber der unermüdliche Johannes Schulze, den ſich Altenſtein vom Rheine herbei - gerufen hatte, wußte immer wieder Rath zu ſchaffen. Dem lachte die Freude aus den Augen ſo oft ein tüchtiger Lehrer für Preußen gewonnen war, und wer ihn ſo mit heiligem Eifer für die Wiſſenſchaft ſorgen ſah,237Unterrichtsweſen.verzieh dem feurigen Manne gern ſeine blinde Vorliebe für die neue Hegel’ſche Lehre. Eine ganze Reihe neuer Gymnaſien ward gegründet, vornehmlich in Poſen und am Rhein, im Jahre 1825 beſtanden ihrer bereits 133, und während man anfangs die Philologen von auswärts hatte herbeirufen müſſen, gewann der Name der preußiſchen Lehramts - candidaten bald überall ein gutes Anſehen und Preußen konnte den Nach - barn von ſeinem eigenen Ueberfluß abgeben. Auch für den Elementar - unterricht ſorgte Altenſtein zunächſt durch die Erziehung tüchtiger Schul - lehrer. In den zahlreichen neuen Seminarien wuchs ein Schulmeiſter - ſtand heran, der die abgedankten Unteroffiziere der fridericianiſchen Zeit an Kenntniſſen weit übertraf, aber auch ſchon zuweilen die Unarten der vor - lauten Halbbildung zeigte. Namentlich die oſtpreußiſchen Lehrer, welche der friſche, heitere, volksthümlich derbe Oberſachſe Dinter heranzog, zeichneten ſich durch flachen Rationalismus aus. Ebenſo rührig, doch minder ein - ſeitig wirkte Dieſterweg am Niederrhein. Nach einigen Jahren ſchon konnte Altenſtein nachweiſen, daß in Preußen mehr Kinder die Schule beſuchten als in irgend einem andern Großſtaate; gleichwohl blieben die Elementar - ſchulen noch weit hinter ſeinen Wünſchen zurück. Im Weſten ſetzte die niedere Geiſtlichkeit den Schulbehörden einen zähen ſtillen Widerſtand ent - gegen, der ſich kaum leichter überwinden ließ als der Stumpfſinn der Eltern in den polniſchen Landestheilen. In den deutſchen Provinzen des Oſtens erſchwerte die Armuth der vielen kleinen Landgemeinden jede Verbeſſerung.

Dem hochfliegenden Idealismus Süverns genügte die reiche Thätigkeit der Unterrichtsverwaltung nicht. Der treffliche Mann überſchätzte, gleich der Mehrzahl der Zeitgenoſſen, den Werth jener allgemeinen politiſchen Programme, welche Hardenberg während der erſten Jahre ſeiner Staats - kanzlerſchaft in die preußiſche Geſetzgebung eingeführt hatte. Er hielt für nöthig, daß die leitenden Grundſätze des Unterrichtsweſens in ihrem innern Zuſammenhange dem Volke dargelegt würden, und beantragte im Auguſt 1817 die Abfaſſung eines Schulgeſetzes, das dem geſammten Deutſchland zum Muſter dienen ſollte. Hochbegeiſtert, mit einer Staatsgeſinnung, die den Einfluß platoniſcher Ideen nicht verkennen ließ, trat er an die Arbeit heran. Der Staat, ſo führte ſeine Denkſchrift aus, erſcheint ſelber als eine Erziehungsanſtalt im Großen, giebt ſeinen Genoſſen ein eigenthümliches Gepräge des Geiſtes wie der Geſinnung; nicht auf die todten Kräfte der Natur iſt der preußiſche Staat gegründet, ſondern auf die lebendigen, unendlicher Erhöhung und Entwicklung fähigen des Menſchen - geiſtes. Auch Altenſtein verlangte als methodiſcher Philoſoph vor Allem einen großen, allgemeinen Plan , damit Preußen durch einen eigen - thümlichen Charakter von Ernſt und Reife mit den gebildetſten Völkern Europas um den Vorrang buhlen könne. Dem Könige entging nicht, daß die Unterrichtsfrage, in ſo hohem Sinne aufgefaßt, die Grundlagen des geſammten Staatslebens berührte; darum wurde die Commiſſion, welche das238II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Schulgeſetz entwerfen ſollte, aus Mitgliedern aller Miniſterien zuſammen - geſetzt; auch das Kriegsminiſterium war durch General Wolzogen ver - treten.

Nach zwanzig Monaten, am 27. Juni 1819 kam ein reiflich durch - dachter Entwurf zu Stande das erſte jener zahlreichen Unterrichts - geſetze, an denen der preußiſche Staat ſich bis zum heutigen Tage ver - geblich abgemüht hat. Aber als der Miniſter nunmehr die Gutachten der Oberpräſidenten und der Biſchöfe einforderte, da mußte er erfahren, daß auf dem ſtreitigen Grenzgebiete zwiſchen Staat und Kirche eine wohl - wollende Praxis leichter zum Ziele gelangt als die unanfechtbare Doctrin. Die vielen allgemeinen Sätze des Entwurfs erregten einen Sturm wider - ſprechender Anſichten. Ueber die Theilnahme der Kirche am Schulweſen konnte man ſich theoretiſch nicht verſtändigen, da die Biſchöfe den Volks - unterricht als causa ecclesiastica betrachteten, die Oberpräſidenten über unbillige Begünſtigung der Kirche klagten. Und zudem die heiklige Frage, wie die winzigen Dörfer des Oſtens die ſchwere Schullaſt aufbringen ſollten. So blieb der Entwurf liegen, und Altenſtein erklärte dem Monarchen, er werde vorläufig die Schulordnung gewiſſermaßen vorbereitend ins Leben ſetzen . Und dieſe thatſächliche Ausführung entſprach im Weſent - lichen den Bedürfniſſen der Zeit. Der Miniſter behandelte die Schulen gemäß der Vorſchrift des Allgemeinen Landrechts (Thl. II. Tit. 12) durch - aus als Veranſtaltungen des Staates und hielt unverbrüchlich die drei Grundgedanken der fridericianiſchen Unterrichtspolitik feſt: den allgemeinen Schulzwang, die Parität der Bekenntniſſe, die Vertheilung der Schul - laſten auf alle Hausväter des Schulverbandes. Der Religionsunterricht blieb nach wie vor die erſte Pflicht der Elementarſchule, und er ſollte ſich ſtreng an das kirchliche Bekenntniß der Mehrheit der Schulgemeinde an - ſchließen; der Ortsgeiſtliche gehörte regelmäßig dem Schulvorſtande an und war befugt die Mängel zu rügen, aber die Entſcheidung ſtand dem Staate allein zu. Die Simultanſchulen begünſtigte der philoſophiſche Miniſter nicht; er wußte, wie oft ſie den kirchlichen Frieden ſtören, die Klarheit und Einheit des Unterrichts ſchädigen, und geſtattete ſie nur wenn eine gemiſchte Gemeinde nicht im Stande war für jedes Bekenntniß eine beſondere Schule zu errichten. Auch die Lehrer der höheren Schulen gehörten in der Regel einem Bekenntniß an; doch band ſich Altenſtein nicht die Hände und berief, ſo lange noch an katholiſchen Lehrern Mangel war, manche Proteſtanten an die katholiſchen Gymnaſien des Rheinlands. Die Juden blieben von den Lehrſtellen der chriſtlichen Unterrichtsanſtalten geſetzlich ausgeſchloſſen. Alſo gelang es die Souveränität des Staates zu wahren ohne das gute. Recht der Kirche zu verletzen. Reibungen mit den kirchlichen Behörden kamen ſelten vor, da die Folgen der Freizügigkeit ſich erſt allmählich zeigten und die Zahl der gemiſchten Schulgemeinden noch nicht ſehr groß war.

239Lutheraner und Reformirte.

Auch für das innere Leben der deutſchen proteſtantiſchen Kirche wurden dieſe Friedensjahre eine Zeit der Verjüngung und Erneuerung, weſent - lich durch das Verdienſt der preußiſchen Krone. Der König erkannte, gleich ſeinem ruſſiſchen Freunde, in den Siegen der letzten Jahre die Hand des lebendigen Gottes, ihm wollte er ſich beugen; aber während Czar Alexanders phantaſtiſcher Sinn durch die andächtige Stimmung der Kriegszeit zu dem anſpruchsvollen und doch leeren Plane der Heiligen Allianz begeiſtert wurde, ging der nüchterne Friedrich Wilhelm an ein unſcheinbares und doch weit fruchtbareres Werk: er entſchloß ſich, die reife Frucht einer zweihundertjährigen friedlichen Gedankenarbeit endlich zu brechen, den frommen Lieblingsgedanken ſeiner Ahnen, die Union der evan - geliſchen Kirchen Deutſchlands zu verwirklichen. Der alte unſelige Haß der beiden Schweſterkirchen des Proteſtantismus, der einſt die Siege der Gegenreformation, die große Verwüſtung des dreißigjährigen Krieges ſo mächtig gefördert hatte, erſchien dem neuen Geſchlechte ſchon längſt fremd, faſt unbegreiflich. Im bürgerlichen Leben ward der Gegenſatz kaum noch bemerkt; die Miſchehen zwiſchen Lutheranern und Reformirten, die noch in den Tagen des Thomaſius ſo viele Stürme theologiſcher Entrüſtung hervorgerufen, galten jetzt ſelbſt in den Pfarrerfamilien für unbedenklich. Die Rationaliſten meinten allem Dogmenſtreite entwachſen zu ſein; die Ausläufer des Pietismus betrachteten die ewige Liebe als den großen Mittelpunkt des chriſtlichen Glaubens, wie es einſt der junge Goethe in dem rührenden Briefe eines Landgeiſtlichen ausgeſprochen hatte; auch in den Kreiſen der ſtrengen Bibelgläubigen ward oft die Frage laut, ob der Proteſtantismus nicht wieder zurückkehren könne zu jener ungebro - chenen Einheit, die in den Jugendtagen der Reformation ſein Glück und ſein Stolz geweſen war. Neuerdings, ſchon ſeit dem Jahre 1802, war Schleiermacher als der wiſſenſchaftliche Wortführer der Union aufgetreten. Was den freieſten Köpfen des ſiebzehnten Jahrhunderts, Calixt und Pufen - dorf, Spener und Leibniz noch halb verhüllt geblieben, war dem Jünger der neuen Philoſophie geläufig; er wußte, daß alles Wiſſen von der über - ſinnlichen Welt nur ein annäherndes Erkennen iſt und mithin verſchiedene Annäherungsverſuche im Frieden neben einander beſtehen können falls ſie nur den Boden der evangeliſchen Freiheit nicht verlaſſen. Die reformirte Kirche, der er angehörte, ſuchte das Weſen des Chriſtenthums in der ſitt - lichen Geſtaltung des Lebens und war darum dem Gedanken der Ein - heit des evangeliſchen Namens von jeher zugänglicher geweſen als der gemüthvolle dogmatiſche Tiefſinn des Lutherthums.

In Preußen hatte die Kirchenpolitik des Herrſcherhauſes ſeit Langem bedachtſam die Wiedervereinigung vorbereitet. Die Hohenzollern rechneten ſich auch nach Johann Sigismunds Uebertritt immer zu den Augsburgi - ſchen Confeſſionsverwandten und gaben das Kirchenregiment über die lutheriſche Landeskirche nicht aus der Hand; blieb doch auch das Corpus240II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Evangelicorum des Reichstags beiden proteſtantiſchen Kirchen gemeinſam. Sie unterdrückten das Läſtern und Schelten der lutheriſchen Kanzelredner durch ſtrenge Strafen und durch das Beiſpiel ihrer eigenen Duldſamkeit; ſie ſuchten aus der Dogmatik der beiden Kirchen Alles zu entfernen was der Schweſterkirche Anſtoß geben konnte, und wie ſie die harte Lehre von der Gnadenwahl in das Bekenntniß ihrer reformirten Landeskirche niemals auf - nahmen, ſo ſetzten ſie auch nach ſchweren Kämpfen durch, daß die Lutheraner auf die Austreibung des Teufels verzichteten. Schon Friedrich Wilhelm I. wollte einen Unterſchied zwiſchen Lutheranern und Reformirten überhaupt nicht mehr anerkennen; das ſeien dumme Poſſen, meinte er kurzab. Das Landrecht verpflichtete beide Kirchen, ihre Genoſſen im Nothfall wechſel - ſeitig zum Sacramente zuzulaſſen. Bei der Neuordnung der Verwaltungs - behörden im Jahre 1808 wurden ſodann die ſämmtlichen lutheriſchen Conſiſtorien ſowie das reformirte Kirchendirectorium aufgehoben und die Kirchenangelegenheiten aller drei Confeſſionen einer beſondern Abtheilung der Bezirksregierungen überwieſen. Rückſichten der Sparſamkeit gaben damals den Ausſchlag. Indeß erkannte der König bald, daß das Kirchen - regiment ſelbſtändiger Organe nicht entbehren konnte, und ſtellte daher durch die Kabinetsordre vom 30. April 1815 die Provinzialconſiſtorien wieder her, aber als gemeinſame Behörden für beide evangeliſche Kirchen. Auch die am 2. Januar 1817 neu gebildeten Synoden beſtanden aus Geiſtlichen beider Bekenntniſſe. Schritt für Schritt näherte man ſich alſo der Bil - dung einer großen evangeliſchen Landeskirche.

Von Jugend auf, Dank ſeinem Lehrer Sack, hatte Friedrich Wilhelm den Gedanken der Union mit Liebe ergriffen. Tief gemüthlich wie er ſein Verhältniß zu ſeinen Unterthanen auffaßte, empfand er es als ein ſchweres Unglück, daß er trotz dem gemeinſamen evangeliſchen Glauben doch nicht der Kirche der Mehrheit ſeines Volkes angehörte, daß die Kirche Luthers, den er unter allen Reformatoren am höchſten ſtellte, nicht die ſeine war. Und dies Gefühl ward nur mächtiger, ſeit er in Königsberg ſich dem Rationalismus abgewendet hatte. Die evangeliſche Weiſſagung auf daß ſie Alle eins ſeien gleich wie Du, Vater in mir erſchütterte ihn bis in die Tiefen des Herzens. Nach meiner einfältigen Meinung, ſo ſagte er oft im Geſpräche mit geiſtlichen Herren, iſt der Abendmahlsſtreit nur eine unfruchtbare theologiſche Spitzfindigkeit neben dem ſchlichten Bibelglauben des urſprünglichen Chriſtenthums. Er betrachtete die Union als die Rück - kehr zu dem Geiſte des Evangeliums und erfuhr mit Freude, daß ſein geliebter Biſchof Borowsky, der fromme, glaubensſtarke Lutheraner, dieſer Anſicht ebenſo günſtig war wie ſein reformirter Lehrer Sack. Der bibel - feſte Greis, deſſen freudiger Zuruf dem Menſchen geſchieht wie er glaubt den gebeugten Fürſten ſo oft in kummervollen Stunden getröſtet hatte, war auch Kants Freund geweſen und ſtand der modernen Wiſſenſchaft nahe genug um zu erkennen, daß die Unterſcheidungslehren der beiden proteſtantiſchen241Die evangeliſche Union.Kirchen für das chriſtliche Bewußtſein der Gegenwart nicht mehr die alte Bedeutung beſaßen. An ſeinem Berufe zur Begründung der Union zweifelte der König niemals. Denn er dachte hoch von den Pflichten des landes - herrlichen Kirchenregiments, er wußte, daß die proteſtantiſche Kirche Deutſch - lands manche der Tugenden, die ſie vor dem harten Sektengeiſte der Nach - barlande voraus hatte, ihre weitherzige Duldſamkeit und ihren freieren Weltſinn zum guten Theile ihrer Verbindung mit der Staatsgewalt ver - dankte; die unabhängige Gemeindeverfaſſung des Calvinismus kannte und liebte er wenig.

Schon nach dem erſten Pariſer Frieden wurde eine theologiſche Com - miſſion beauftragt, eine gemeinſame Liturgie für die Proteſtanten Preußens feſtzuſtellen; nicht würdiger als durch die Verſöhnung des alten Bruder - zwiſtes glaubte der fromme Fürſt ſeinen Dank für die Wunder dieſes Krieges erweiſen zu können. Nun kam das dritte Jubeljahr der Refor - mation. Marheinekes Reformationsgeſchichte und zahlreiche andre Schriften erinnerten die freudig erregte proteſtantiſche Welt wieder an die erſten, beiden Kirchen gleich theuren Thaten Martin Luthers; in Naſſau, wo die großen Ueberlieferungen des duldſamen oraniſchen Heldengeſchlechts noch fortlebten, traten die Gemeinden beider Bekenntniſſe zu einer Landeskirche zuſammen. Jetzt ſchien auch dem Könige die Stunde der Entſcheidung ge - kommen. Er ſelber wollte als vornehmſtes Glied der Kirche zu ſeinem Volke ſprechen denn er wiſſe, daß der Bürger, der Bauer und die Armee auf das Wort ihres Königs noch etwas gäben und begnügte ſich mit den einfachen praktiſchen Vorſchlägen, welche Biſchof Sack ſchon vor fünf Jahren in ſeiner Schrift über die Vereinigung der proteſtanti - ſchen Kirchenparteien empfohlen hatte. Genug, wenn das Abendmahl in ſämmtlichen evangeliſchen Kirchen gleichmäßig nach dem alten bibliſchen Ritus allen Proteſtanten geſpendet und die Geiſtlichen beider Bekenntniſſe ohne Unterſchied zu allen Predigerſtellen zugelaſſen wurden; aus dieſer äußeren Vereinigung, die den Gewiſſen keine Gewalt anthat, konnte dann im Laufe der Jahre die lebendige Gemeinſchaft der Gemüther er - wachſen.

Bei den Vorarbeiten ging dem Monarchen ſein Hofbiſchof Eylert an die Hand, eine jener ſchmiegſamen Prälatennaturen, welche der Kirche freilich nicht durch den Muth des Bekenners voranleuchten, doch zuweilen, wie Thomas Cranmer, bei einem Werke der Vermittlung ihr unentbehr - lich werden. Der gewandte Hofmann hatte ſchon daheim in der Graf - ſchaft Mark, wo die beiden Confeſſionen bunt durch einander wohnten, den Boden für die Union wohl vorbereitet gefunden und ſtand den Ge - danken der Presbyterialverfaſſung näher als der König; in ſeinen dogma - tiſchen Anſchauungen kam er niemals weit über den alten Rationalismus hinaus. Er entwarf nunmehr eine Anſprache des Monarchen an die Conſiſtorien, die den erſten Theologen Berlins zur Prüfung vorgelegt undTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 16242II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.darauf am 27. Septbr. 1817 veröffentlicht wurde. In ſchlichten Worten verkündigte der König ſeinen Entſchluß, am Reformationsfeſte gemeinſam mit den Lutheranern zum Abendmahl zu gehen; er denke damit im Geiſte des Proteſtantismus, nach den Abſichten ſeiner Vorfahren und der Re - formatoren ſelbſt zu handeln. Nicht der Uebergang der einen Kirche zu der andern ſei beabſichtigt, ſondern beide ſollten eine neu belebte evangeliſch - chriſtliche Kirche werden; aus der Freiheit eigener Ueberzeugung, nicht aus Ueberredung oder Indifferentismus müſſe die Wiedervereinigung hervor - gehn. Sein Beiſpiel, ſo hoffe er, werde wohlthuend auf alle proteſtanti - ſchen Gemeinden im Lande wirken und eine allgemeine Nachfolge im Geiſte und in der Wahrheit finden. Der Eindruck der herzlichen Anſprache war tief und nachhaltig. Die unter Schleiermachers Vorſitze verſammelte bran - denburgiſche Synode erklärte ſofort ihre Zuſtimmung, und der ehrwürdige Sack, der während dieſer bewegten Tage ſtarb, ſchied von der Erde mit der frohen Ahnung, daß die Saat ſeines Lebens jetzt aufging.

Am 30. Oktober ſtrömte überall im Lande das proteſtantiſche Volk zu den feſtlich geſchmückten Kirchen. In Berlin reichte Schleiermacher nach dem gemeinſamen Abendmahle dem Lutheraner Marheineke vor dem Altar die Hand. In der Potsdamer Garniſonkirche empfing der König mit ſeinem Hauſe und unzähligen Genoſſen beider Bekenntniſſe das Sacra - ment; Tags[darauf] legte er in Wittenberg den Grundſtein für das Stand - bild des Reformators. Welch ein Gegenſatz zu den beiden erſten Jubel - feſten der Reformation! Vor zweihundert Jahren ſtand das Unwetter des großen Krieges drohend am Himmel, hundert Jahre darauf war die Kirche völlig verarmt an geiſtiger Kraft, und jetzt gelang ihr wieder eine ſchöpferiſche That, eine That der Verſöhnung. Das Erwachen des hiſtoriſchen Sinnes hatte auch auf das kirchliche Leben ſegensreich zurückgewirkt. Luther er - ſchien ſeinem Volke nicht mehr, wie in den Tagen des alten Rationalismus, blos als der Bekämpfer Roms; das neue Geſchlecht begann auch die auf - bauende Thätigkeit der Reformation wieder dankbar zu würdigen. Ein frommer Sinn beſeelte unverkennbar die meiſten der Feſtſchriften des Tages. Das katholiſche Volk nahm an der friedlichen Feier wenig Aergerniß, ob - gleich es an Hader nicht ganz fehlte und die Streitſchrift des katholiſchen Pfarrers van eine Reihe gereizter Erwiderungen hervorrief. Der Ge - danke der Union ergab ſich ſo nothwendig aus der Geſchichte des deutſchen Proteſtantismus, daß Friedrich Wilhelms Beiſpiel bald faſt in ſämmtlichen Gemeinden ſeines Landes und dann auch in andern deutſchen Staaten freiwillige Nachfolge fand. Schon im Auguſt 1818 wurde in der Stifts - kirche zu Kaiſerslautern feierlich verkündigt, daß die Union für die bairiſche Pfalz durch Abſtimmung aller Gemeinden angenommen ſei, und hier aller - dings hatte die kirchliche Gleichgiltigkeit einigen Antheil an dem Gelingen; viele der aufgeklärten Pfälzer fragten einfach, ob die Union die Kirchen - ſteuern erhöhen werde, und ſtimmten zu ſobald man ſie darüber be -243Das Jubelfeſt der Reformation.ruhigte. *)Nach den ſchon im 1. Bande erwähnten Aufzeichnungen des bairiſchen Obercon - ſiſtorialraths v. Schmitt.Dann folgten Baden und einige heſſiſche Provinzen, kurz, alle die deutſchen Landſchaften, in denen die beiden Kirchen zahlreich vertreten waren.

Dem glücklichen Beginne entſprach der Fortgang des großen Unter - nehmens nicht ganz. Die Ehrlichkeit des Königs hatte verſchmäht, den Streit der Bekenntniſſe durch eine künſtliche Eintrachtsformel ſcheinbar zu ſchlichten; die Union beruhte auf der Hoffnung, daß der Geiſt chriſt - licher Liebe über die alten Unterſcheidungslehren hinwegſehen und ſie nicht mehr als ein Hinderniß der kirchlichen Gemeinſchaft betrachten werde. Aber dieſe Erwartung erwies ſich überall dort als irrig, wo die Lutheraner noch faſt ungemiſcht zuſammen hauſten, wo der Name der reformirten Saker - menter noch als ein Schimpfwort galt und die Union nicht als ein prak - tiſches Bedürfniß empfunden wurde: ſo in Sachſen, in Mecklenburg, in Holſtein. Den ſtrengen Lutheranern erſchien das fromme Werk des Königs wie eine Empörung der Vernunft gegen die Offenbarung; denn das religiöſe Gefühl verlangt, gleich dem künſtleriſchen, überall nach der allerbeſtimmteſten Geſtaltung ſeiner Ideale und fürchtet leicht die Heils - wahrheit ſelber zu verlieren wenn auch nur ein Buchſtabe der Schrift als unweſentlich betrachtet wird. Mit leidenſchaftlichem Ungeſtüm vertrat Klaus Harms dieſe Anſicht in den 95 neuen Theſen, die er zum Refor - mationsfeſte hinausſandte. Dem glaubenseifrigen Holſten ſtand das Bild Luthers vor der Seele, wie er bei dem Marburger Religionsgeſpräche ſich die Worte das iſt mein Leib groß auf den Tiſch geſchrieben hatte und auf alle Einwände ſtarr erwiderte: ich kann nicht wider die Schrift. War damals ſo erklärte Harms Chriſti Leib und Blut im Brot und Wein, ſo iſt es auch noch heute ſo. Triumphirend empfahl der ſächſiſche Oberhofprediger Ammon die neuen Theſen als eine bittere Arznei für die Glaubensſchwäche der Zeit. Der Dresdner Rationaliſt, der nur welt - klug das Intereſſe der größten lutheriſchen Landeskirche zu wahren ſuchte, wurde freilich durch eine geharniſchte Entgegnung Schleiermachers raſch abgethan; doch der tiefe Glaubensernſt des Kieler Predigers war durch wiſſenſchaftliche Ueberlegenheit nicht zu beſiegen. Auch der wackere Superin - tendent Heubner in Wittenberg verſagte ſich der Union, und bald erwachte dort in den Lutherlanden ein zäher, ſtiller Widerſtand, der, entſprungen aus den geheimnißvollen Tiefen des Gemüthslebens, mit ſchonender Zart - heit behandelt werden mußte.

Von ſolcher Milde beſaß das preußiſche Kirchenregiment nur wenig. Nimmermehr freilich wollte der König die Gewiſſen bedrücken; doch je feſter er von ſeiner eigenen Glaubenstreue überzeugt war, um ſo weniger konnte er die ehrliche Geſinnung der Widerſtrebenden verſtehen. Er durfte16*244II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ſich ſagen, daß nur ſein perſönliches Eingreifen die Union ermöglicht hatte, und war ſchmerzlich überraſcht, als jetzt auch die alten Heimathlande der deutſchen Synodalverfaſſung, die reformirten Gemeinden am Niederrhein ſich zu regen begannen. Sie hießen die Union willkommen, nur die oberſt - biſchöfliche Gewalt des Königs wollten ſie nicht anerkennen zum Ent - ſetzen der Beamten, die alleſammt noch an den Lehren des Territorial - ſyſtems feſthielten; ſelbſt der wohlmeinende Solms-Laubach ſchrieb warnend: dieſe Synodalen von Jülich-Cleve-Berg ſeien nicht minder gefährlich als die Ultramontanen, Beide greifen dem Könige an Kron und Scepter. *)Solms-Laubach, Bericht über die Zuſtände in Jülich-Cleve-Berg, Auguſt 1819.Die ungeahnte Stärke dieſer zweifachen Oppoſition ward erſt offenbar, als der König nunmehr unternahm ſeiner Landeskirche eine gemeinſame Agende zu geben. Die junge Union ſollte noch ſchwere Jahre voll bitterer Kämpfe und häßlicher Verirrungen überſtehen bis ſie ſich wirklich, nach dem Sinne ihres Stifters, als ein Friedenswerk bewährte.

So ſchaltete faſt auf allen Gebieten des Staatslebens eine reiche, heil - ſame Thätigkeit. An dem mächtigen Aufſteigen des Wohlſtandes und der Bildung während dieſer langen Friedenszeit hatte das einſichtige Schaffen des Beamtenthums in Preußen wie im übrigen Deutſchland ein großes, vielleicht das größte Verdienſt, und nichts bekundet ſo deutlich die kindliche politiſche Unreife der Oppoſition jener Tage, als der Vorwurf der Un - fruchtbarkeit, welchen die liberale Preſſe gegen Hardenberg zu erheben pflegte. Während der Staatsrath über die Steuerreform verhandelte, begann in den Provinzen, überall unter der unmittelbaren Aufſicht des Staatskanz - lers, die neue Verwaltung ihr Werk eine Arbeit der Wiederherſtellung, ſchwerer und mannichfaltiger als die Aufgaben, welche einſt König Friedrich nach dem ſiebenjährigen Kriege gelöſt hatte.

Nirgends mußte die Pflichttreue des Beamtenthums ſo harte Proben beſtehen wie in der Provinz Poſen. So lange man noch auf die Er - werbung von Warſchau hoffte, war Hardenberg gewillt den polniſchen Provinzen eine gewiſſe nationale Selbſtändigkeit zu gewähren. Dieſe ge - fährlichen Pläne fielen von ſelbſt hinweg, als lediglich der ſchmale Land - ſtrich bis zur Prosna, ein ſchon faſt zu zwei Fünfteln von Deutſchen be - wohntes Gebiet, an Preußen zurückkam. Da die Wiener Verträge die Krone nur ganz im Allgemeinen zur Schonung des polniſchen Volksthums verpflichteten, ſo wurden die von Warſchau abgetretenen Landſchaften durch - aus in derſelben Weiſe wie die anderen Erwerbungen dem preußiſchen Staate eingefügt und leiſteten denſelben Huldigungseid. Man erkannte dies Ge - biet nicht als untheilbar an, ſondern vereinigte die Landſtriche um Thorn245Provinz Poſen.wieder mit ihrer alten Heimath, dem Ordenslande, und bildete aus der Hauptmaſſe, nebſt einigen weſtpreußiſchen Gebietstheilen, eine neue Pro - vinz; ſie erhielt den Namen des Großherzogthums Poſen, der ſtaatsrechtlich ebenſo bedeutungslos war wie die neuen Titel des Großherzogthums Nie - derrhein und des Herzogthums Sachſen. Noch von Wien aus erließ der König eine Proclamation an die Einwohner, worin es hieß: Auch Ihr habt ein Vaterland und mit ihm einen Beweis meiner Achtung für Eure Anhänglichkeit an daſſelbe erhalten. Ihr werdet meiner Monarchie ein - verleibt ohne Eure Nationalität verleugnen zu dürfen. Auch dieſe Worte enthielten, wie in der Vorberathung beim Staatskanzler ausdrücklich zu Protokoll erklärt wurde, in keiner Weiſe die Anerkennung einer Sonder - ſtellung der Provinz. Um die beſiegte Nation zu ehren gewährte der König dem Großherzogthum als einzige Auszeichnung vor den andern Pro - vinzen ein beſonderes Wappen, den weißen Adler im Herzſchilde des preußiſchen, und einen Statthalter aus jagelloniſchem Blute, den Fürſten Anton Radziwill. Die Leitung der Verwaltung blieb jedoch wie in den übrigen Provinzen ausſchließlich dem Oberpräſidenten vorbehalten; der Statthalter war nur befugt über den Gang der Geſchäfte Auskunft zu verlangen, die Wünſche der Einwohner entgegenzunehmen und ſie über die Abſichten des Monarchen aufzuklären. Bei der Huldigung am 3. Aug. 1815 warnte Fürſt Radziwill ſeine Landsleute nachdrücklich vor gefährlichen Täuſchungen und verſprach ihnen vollen Antheil an der bürgerlichen Frei - heit, welche Preußen allen ſeinen Unterthanen gewähre, auch Schonung ihrer Eigenthümlichkeiten in Sprache, Sitte und Gewohnheit, aber keinerlei Sonderrechte.

Die neue Provinz umfaßte die Kernlande des alten Großpolens. Hier in der vielbeſungenen Siebenhügelſtadt Gneſen hatte einſt der weiße Adler gehorſtet, hier lagen mehrere der theuerſten Heiligthümer der polniſchen Geſchichte, das Adalbertsgrab in Gneſen und die Wallfahrtskirche von Tremeſſen, und von jeher war der Adel Großpolens durch die Wärme ſeines Nationalſtolzes berühmt. Die Polen hatten unter allen Vaſallen Frankreichs am Längſten, bis zu der Schlacht auf dem Montmartre bei Napoleon ausgehalten. Während der hundert Tage eilten die Deutſchen der Provinz mit hellem Jubel zu den Fahnen, der Poſener Adel aber trat ſofort in geheimen Verkehr mit den Tuilerien, und die Behörden mußten daran erinnern, daß das Geſetz den Landesverrath mit dem Tode bedrohe. *)Zerbonis Bericht an den Staatskanzler, 21. Juni 1815.Nach dem zweiten Sturze des Imperators richteten die Unzu - friedenen ihre hoffenden Blicke auf das nahe Königreich Polen und ſeine neue Verfaſſung; die geheimen Sendboten der Warſchauer Patrioten ſchürten die Flamme der nationalen Propaganda um ſo eifriger, da ſie die Ueberlegenheit der preußiſchen Verwaltung kannten und ernſtlich be -246II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.fürchteten, die Provinz könne durch ihren aufblühenden Wohlſtand dem Mutterlande entfremdet werden. Nach Jahren noch tauchte immer wieder das Gerücht auf, der König denke die Provinz freiwillig an Polen zurückzu - geben; immer wieder ſchwebte ein glückverheißender Glorienſchein um das Haupt der Mutter Polens, der heiligen Jungfrau in der Poſener Karme - literkirche. Die Treue der polniſchen Beamten erſchien, nach dem großen Abfall von 1806, überaus zweifelhaft, und der Oberpräſident Zerboni rieth dem Staatskanzler alles Ernſtes, ihnen einen Revers abzufordern, kraft deſſen ſie ſich ſelber für Verräther an ihrer Nation erklären ſollten falls ſie ihren Dienſteid brächen. Hardenberg aber lehnte den Vorſchlag ab, weil die zweifache Verpflichtung den Gewiſſenloſen doch nicht zurück - halten würde.

Nach kurzer Zeit ſchon fühlte ſich der Statthalter ſehr unglücklich in ſeinem glänzenden und doch wenig einflußreichen Amte. Ein ſchöner Mann, geiſtreich, hochherzig, ritterlich, vereinigte er mit jener leichten geſelligen An - muth, die den polniſchen Edelmann auszeichnet, die gediegene deutſche Bil - dung; ſein gaſtfreies Haus war faſt das einzige des hohen Adels in Berlin, wo ſich die vornehme Welt mit den Künſtlern und Gelehrten zuſammen - fand, die Muſiker bewunderten ſein geiſtreiches Spiel und die ſinnige Ro - mantik ſeiner Compoſitionen. Die Radziwills waren ſeit zwei Jahrhun - derten mit den Hohenzollern mehrfach verſchwägert, Fürſt Anton ſelbſt hatte ſich mit der liebenswürdigen Prinzeſſin Luiſe von Preußen vermählt und ſtand dem Könige perſönlich nahe. Doch er blieb Pole und ſetzte die Treue, die ihn ſelbſt erfüllte, arglos bei ſeinem Volke voraus. Ich ſtehe Ihnen dafür ſchrieb er nach der Huldigung an Hardenberg daß dieſe Provinz mit denen, welche ſeit Jahrhunderten dem Scepter Sr. Majeſtät unterworfen ſind, in Liebe wetteifern wird. Hatte doch der Canonicus Kawiecki in ſeiner Feſtpredigt ſo rührſam von dem Jagellonenblute der Hohenzollern geſprochen und der Adel ſo brünſtig verſichert: ſchwere Er - fahrungen haben uns gereift! Durch ein Syſtem der Nationalität , durch liebevolles Eingehen auf alle Wünſche der Polen hoffte der Fürſt die Provinz am ſicherſten für Preußen zu gewinnen; indeß ward er bald irr an dieſen Plänen, als Gneiſenau ihn warnte und er allmählich ſelbſt bemerkte, wie mißtrauiſch und hinterhaltig ſeine eigenen Landsleute ihm begegneten. *)Radziwill an Hardenberg, 9. Aug. 1815. Rover an Gneiſenau, 10. Mai 1817.Auch der Oberpräſident Zerboni di Spoſetti gelangte nie - mals zu einer feſten Haltung den Polen gegenüber. Der geiſtreiche, leicht erregte Feuerkopf hatte in ſeinen jungen Tagen mit Hans v. Held und Kneſebeck für die Ideale der Revolution geſchwärmt; er war noch immer ein erklärter Liberaler, dem Staatskanzler unbedingt ergeben, und meinte ſich verpflichtet die von der liberalen Welt gebrandmarkte Theilung Polens durch nachſichtige Milde zu ſühnen. Zuweilen ward er freilich, gleich dem247Fürſt A. Radziwill. Zerboni.Statthalter, ſelber beſorgt über die Folgen ſeines Syſtems, da er den Charakter der Polen ſchon vor Jahren bei der Verwaltung Südpreußens gründlich kennen gelernt hatte.

Unbefangene konnten über die Hintergedanken des polniſchen Adels nicht im Zweifel ſein. Mit unerhörter Dreiſtigkeit erklärten ſeine Führer der Regierung ins Geſicht, daß ihr Land einen Staat im Staate bilden ſolle bis zur dereinſtigen Wiedervereinigung mit Warſchau. Selbſt einer der Gemäßigten, General v. Koſinsky, der jetzt preußiſche Uniform trug und mit dem Statthalter viel verkehrte, forderte von ſeinem fürſtlichen Freunde die Bildung einer rein nationalen Armee mit ausſchließlich polniſchen Offizieren, da die deutſchen von den Polen doch nur als Agenten der geheimen Polizei betrachtet würden. Ein anderer Gemäßigter, Morawsky ſendete der Staatskanzlei eine lange Denkſchrift über die pol - niſche Nation. Er hob an mit der Verſicherung: wer die jetzigen Polen mit denen von 1806 vergleicht, irrt um ein ganzes Jahrhundert. Zur Beſtätigung dieſes Ausſpruchs führte er ſodann aus: die polniſche Cultur ſei älter als die deutſche, wenngleich neuerdings die That das Wort ver - drängt und die Fruchtbarkeit der polniſchen Literatur ſich vermindert habe. Darauf warf er der Krone Preußen das Syſtem des Verdeutſchens und Vernationaliſirens vor und beklagte namentlich, daß die polniſche Ge - ſchichte in den Schulen nicht mehr als beſonderer Lehrſtoff behandelt würde: ſeitdem fangen die Mütter an, ihren Säuglingen die National - geſchichte einzuprägen. Zum Schluß verlangte er Bürgſchaften für den Beſtand der polniſchen Nationalität, vornehmlich folgende vier Punkte: einen Statthalter aus dem königlichen Hauſe oder aus polniſchem Ge - ſchlecht; einen Provinziallandtag, der durch einen ſtehenden Ausſchuß die Rechte der Polen vertheidigen und eine Commiſſion zur Leitung des Schul - weſens wählen ſollte; alle Aemter, auch die geiſtlichen und Schulſtellen, ausnahmslos durch Eingeborene, auf Vorſchlag der Provinzialſtände be - ſetzt; endlich zwei polniſche Räthe, einen Civilbeamten und einen katho - liſchen Geiſtlichen, die dem Könige, dem Staatsrathe und dem Staats - kanzler über die Poſener Angelegenheiten Vortrag halten müßten. Ein dritter polniſcher Edelmann übergab dem Vertrauten des Statthalters, Major v. Royer eine Denkſchrift, worin kurzweg erklärt ward: dieſe Land - ſchaft werde nicht eher eine preußiſche Provinz als bis ſie von Polen förmlich abgetreten ſei; bis dahin müſſe ſie als polniſches Land behandelt werden. Alſo dürfe man von den Polen keinen Eid fordern denn dieſen verbrecheriſchen Eid zu halten wäre ein zweites Verbrechen auch Keinen von ihnen irgend auszeichnen, da die Decorirten ſich im Kampfe gegen die Fremdherrſchaft immer beſonders hervorgethan hätten. *)Joſeph v. Morawsky, Denkſchrift über die polniſche Nation, 29. December 1817. Mémoire sur les affaires polonaises, von Royer an Gneiſenau überſendet 6. April 1817.

248II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Nicht lange, und den frechen Worten folgte die verrätheriſche That. Im Jahre 1818 entwarf General Dombrowsky den Plan zu einer ge - heimen polniſchen Verbrüderung, die ein Jahr darauf unter dem Namen der nationalen Freimaurerei ins Leben trat. Die Behörden ſahen dem geſetzwidrigen Treiben gelaſſen zu und ſchritten erſt ein, als die Ver - ſchworenen, aus dem Dunkel ihrer Logen heraustretend, unter den Bauern Freiſchaaren zu bilden verſuchten, welche den unzweideutigen Namen Sen - ſenmänner (Koſiniery) erhielten.

Die Abſicht der Vernichtung des Deutſchthums, die ſich in jenen Denkſchriften des polniſchen Adels unverhohlen bekundete, fand bei dem Statthalter allerdings kein Gehör, aber auch für die Förderung deutſcher Cultur that die Verwaltung unmittelbar nichts. Mit peinlicher Gewiſſen - haftigkeit erfüllte die Regierung ihre den Polen gegebenen Verheißungen. Die alten Erinnerungen und Hoheitszeichen des Landes blieben, nach der großmüthigen preußiſchen Art, unberührt; noch heute prangt am Ringe zu Poſen das große polniſche Wappen mit dem Herzſchilde der Poniatowskys dicht über dem Schilderhauſe der preußiſchen Wache. Die polniſchen Offi - ziere wurden penſionirt oder in das preußiſche Heer eingereiht; auch von den Warſchauer Beamten nahm man eine große Zahl in den preußiſchen Dienſt auf, obgleich viele des Schreibens, die meiſten des Deutſchen un - kundig waren und faſt alle ſich unzuverläſſig zeigten. Die Kreisverwal - tung lag in den Händen gewählter Landräthe, die zumeiſt dem polniſchen Adel angehörten; nur die gutsherrliche Polizei wurde, zur großen Freude der Bauern, nicht wiederhergeſtellt. Die Geſchäftsſprache der Behörden war deutſch, aber alle für das Publicum beſtimmten Verhandlungen und Bekanntmachungen erfolgten in der Sprache, die den Betheiligten ver - ſtändlich war; ſo ward auch in den Volksſchulen der polniſchen Ortſchaften nur polniſcher Unterricht ertheilt.

Gleichwohl ſchritt das Deutſchthum ſelbſt unter dieſer bis zur Schwäche langmüthigen Verwaltung unaufhaltſam vor. Sobald die bürgerliche Ord - nung wiederhergeſtellt war, öffneten ſich von ſelber die Schleuſen dem Strome der deutſchen Einwanderung, der ſchon im Mittelalter dies ver - wahrloſte Land befruchtet hatte. Die Ueberlegenheit deutſchen Fleißes und Capitals zeigte ſich überall, vornehmlich im Landbau. Der Morgen mitt - leren Bodens wurde zur Zeit der Beſitzergreifung für Thlr. verkauft etwa ebenſo hoch wie die Urwaldländereien im fernen Weſten Nord - amerikas. Welch eine Wandlung in dieſen barbariſchen Zuſtänden, als jetzt die preußiſchen Agrargeſetze vom Jahre 1811 eingeführt wurden. Um - ſonſt ſendete der Adel, auf die Schreckenskunde von dieſer Güterconfis - cation , eine klagende Adreſſe an den König, welche in naiven Worten den wahren Charakter der gerühmten ſarmatiſchen Junkerfreiheit enthüllte: in den zügelloſen Ausſchweifungen des finſtern rohen Landvolks hieß es da werden ſich die Keime eines praktiſchen Jakobinismus ent -249Das Deutſchthum in Poſen.wickeln. *)Adreſſe des Adels im Großherzogthum Poſen an den König, dem Miniſter v. Klewiz übergeben Sept. 1817.Die Regulirung der bäuerlichen Laſten ward durchgeführt, zum Vortheil des Adels ſelber, der ſich jetzt genöthigt ſah aus ſeiner rohen Naturalwirthſchaft zur Geldwirthſchaft überzugehen und dabei durch die neue landwirthſchaftliche Creditanſtalt (1817) eine wirkſame Hilfe erhielt.

Von einem kräftigen Bürgerthum fanden ſich kaum Spuren in dieſer ſtädtereichſten Provinz der Monarchie; ſelbſt die Stadt Poſen war ein öder ungepflaſterter Ort, ein Gewirr von niederen ſchindelgedeckten Häuschen, wie ſie heute nur noch die Walliſchei-Vorſtadt zieren, mitten darunter ver - fallene Kirchen und unſaubere Adelspaläſte. Auch dies begann ſich zu ändern, ſeit die deutſchen Bürger ſich von Jahr zu Jahr vermehrten und in den zahlreichen neugegründeten Unterrichtsanſtalten eine Stütze ihres Volksthums fanden. Das polniſche Gneſen wurde nach einem furchtbaren Brande großentheils auf Koſten des Staates ſtattlicher wieder aufgebaut und ehrte ſeinen königlichen Reſtaurator durch eine Denkmünze; noch ſchneller hob ſich das deutſche Bromberg ſeit der Verkehr auf dem Netze - Canal wieder frei ward. Während die Deutſchen andern Nachbarvölkern gegenüber nur zu oft eine haltloſe Empfänglichkeit zeigten, fühlten ſie ſich hier im Slavenlande alleſammt ſtolz als Herrſcher und Lehrer, als Träger einer überlegenen Geſittung; kein Deutſcher lernte polniſch wenn er nicht mußte, denn was hatte dieſe arme Literatur ihm zu bieten? Auch der verblendete Trotz der Polen arbeitete den Deutſchen in die Hände. Der Statthalter hatte verſprochen, daß den Eingebornen bei gleicher Befähigung der nächſte Anſpruch auf die Aemter der Provinz zuſtehen ſolle. Statt dieſe unbedachte Zuſage auszunutzen und ſich in Breslau, der Landes - univerſität der neuen Provinz, für den Staatsdienſt vorzubereiten, ver - geudete die polniſche Jugend ihre Kraft in den ſchlechen Künſten der Ge - heimbünde. So geſchah es, daß der Nachwuchs der Behörden faſt allein aus Deutſchen beſtand und die unfähigen Warſchauer Beamten allmählich zur Seite geſchoben wurden.

Die Maſſe des Volkes nahm an den Umtrieben des Adels geringen Antheil. Der polniſche Bauer wußte wohl, daß ſein Stand noch niemals ſeit es ein Polen gab glücklichere Tage geſehen hatte; dem adlichen Pan traute er nicht, der grauſame Vogt der alten Zeit und die Karbatſche mit dem eingeknoteten Blei blieben ihm unvergeſſen. Nur der confeſſionelle Haß entfremdete das gutmüthig harmloſe Volk den preußiſchen Beamten. Denn der Clerus begegnete der ketzeriſchen Regierung von Haus aus mit ſtillem Groll; er verzieh ihr nicht, daß ſie die Klöſter den ſtrengen Vor - ſchriften des Landrechts unterwarf, daß ſie überall Volksſchulen anlegte, die in den katholiſchen Dörfern bisher faſt unbekannt geweſen, und für die Bildung der jungen Prieſter durch neue Lehranſtalten ſorgte. Die Ein -250II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.flüſterungen der Kapläne ließen die Dankbarkeit für die Wohlthaten der preußiſchen Herrſchaft nicht aufkommen, und bald galten bei den Bauern die Namen: katholiſch und polniſch, evangeliſch und deutſch als gleichbe - deutend. Das Feuer des Aufruhrs glimmte unter der Aſche, aber erſt nach wiederholtem Verrath der Polen entſchloß ſich die Krone zu der ein - zigen Politik, welche dies bedrohte Grenzland dem Staate ſichern konnte, zur unverhohlenen Begünſtigung der deutſchen Cultur.

Einfacher lagen die Dinge in Preußen. Wohl beſtand auch in Weſt - preußen eine Adelspartei, welche ſehnſüchtig nach dem Restitutor Poloniae hinüberblickte. Die polniſchen Edelleute in den zurückgewonnenen Gebieten Michelau und Kulmerland verhielten ſich ſo zweideutig, daß der geiſtreiche Prä - ſident Hippel kurz vor der Huldigung in Thorn dem Staatskanzler ſchreiben mußte: leider kann ich eigentlich Keinen als würdig nennen, wenn nicht durch Gnadenbezeigungen Verirrte bekehrt und gewonnen werden ſollen. *)Hippel, Bericht an den Staatskanzler, 19. Juli 1815.Auch Danzig, furchtbar heimgeſucht von den Nöthen des Krieges, ſtand noch lange ſtörriſch dem Staate gegenüber, der ihm Frieden und Wohl - ſtand wiederbrachte. Wie hatte ſich doch dieſe ſchönſte unſerer alten Städte, faſt den Holländern gleich, ſo ganz hinausgelebt aus der Gemeinſchaft ihres Volkes. Der dreißigjährige Krieg, für uns die Zeit des tiefſten Verfalls, war für Danzig wie für Holland das Zeitalter der Blüthe. Trotzig wie nirgends auf deutſchem Boden war hier, im beſtändigen Kampfe mit dem polniſchen Adel, der reichsſtädtiſche Geiſt aufgeblüht; an dem Artus - hofe und den hochgiebligen Patricierhäuſern prangten überall die Bilder der republikaniſchen Helden Maccabäus, Camillus, Scipio. Obwohl von den alten kriegeriſchen Stadtjunkergeſchlechtern des nordiſchen Venedig nur wenige die Stürme der napoleoniſchen Kriege überſtanden hatten, ſo ge - wöhnte ſich die rührige Handelsſtadt doch ſchwer an die Formen des mo - dernen Beamtenſtaats, und nach einem Menſchenalter rechnete ſich der Danziger von altem Schrot und Korn noch nicht zu den Preußen . Die Hauptmaſſe der Provinz dagegen gehörte nun ſchon ſeit vierzig Jahren dem deutſchen Staate an und hatte das polniſche Landvolk nicht aus - geſchloſſen in ſchwerer Zeit eine muſterhafte Treue bewährt. Vollends in Oſtpreußen gedachten Deutſche, Litthauer und Maſuren alle mit gleichem Stolze des Königsberger Landtags und ihrer tapfern Heurichs.

Beide Provinzen hatten unſäglich gelitten. Der König bewilligte den Grundbeſitzern bedeutende Mittel zur Wiederherſtellung ihrer Güter, für Oſtpreußen allein 3,7 Mill. Thlr., und ließ den Oberpräſidenten mit den Provinzialſtänden über die Vertheilung verhandeln. Aber was wollten dieſe Summen bedeuten, da der Geſammtverluſt der beiden Provinzen an Kriegsſchäden und Leiſtungen ſeit 1806 von den Landſtänden auf 152 Mill. Thlr. geſchätzt wurde? Manche Irrthümer und Mißgriffe liefen dabei mit251Oſt - und Weſtpreußen.unter, zumal in Weſtpreußen, wo Schön nach ſeiner despotiſchen Art rückſichtslos ſeinem eigenen Kopfe folgte. Die großen Grundherren zer - ſpalteten ſich in zwei Lager; die Einen beſchuldigten den liberalen Ober - präſidenten, daß er aus Haß gegen den Adel die alten Familien zu Grunde gerichtet habe, während die Andern ihn ebenſo leidenſchaftlich als den Er - retter des Adels feierten und unbedingt auf die Worte des großen alt - preußiſchen Staatsmannes ſchwuren. Da der verarmte Staat ſchlechter - dings nicht allen Provinzen gleichmäßig gerecht werden konnte, ſo gebot ihm die Pflicht der Selbſterhaltung, ſeine Hilfe zumeiſt den noch ungeſicherten neuen Gebieten zuzuwenden und die alten getreuen darben zu laſſen. Den grollenden Danzigern ward daher ein großer Theil ihrer Kriegs - ſchulden vom Staate abgenommen, das ſeiner Schuldenlaſt faſt erliegende Königsberg rief vergeblich um Hilfe. In Oſtpreußen ſtand bereits ſeit Anfang des Jahrhunderts der Landhofmeiſter v. Auerswald an der Spitze der Verwaltung, ein warmer Freund der Bauern, der ſchon vor dem Ge - ſetze von 1807 auf ſeinen Gütern die Erbunterthänigkeit aufgehoben hatte und unbefangen ausſprach: der große Grundbeſitz habe nicht das Ver - trauen der Nation, er ſei ärmer an Bildung als der Mittelſtand. Unter ſeiner Leitung wurde die Auseinanderſetzung zwiſchen den Grundherren und den Bauern während der nächſten Jahre durchgeführt. Schön dagegen beförderte in Weſtpreußen vornehmlich das Schulweſen und den Wegebau; darin erkannte er die beiden wirkſamſten Mittel zur Hebung des Deutſch - thums. Vierhundert Volksſchulen wurden unter ſeiner Verwaltung von den Gemeinden und den Grundherren geſtiftet. Den polniſchen Adel wußte er in Zucht zu halten; dem Clerus gegenüber vertrat er ſtreng, nicht ohne Härte die Grundſätze des Landrechts und wahrte den öffent - lichen Frieden um ſo erfolgreicher, da auch der Biſchof Prinz von Hohen - zollern, der noch heute unter dem Namen des guten Prinzen im Ge - dächtniß des ſtrenggläubigen ermeländiſchen Volkes fortlebt, den nationalen Träumen der polniſchen Kapläne nicht hold war. Trotz der umſichtigen Verwaltung vernarbten die Wunden des Krieges hier in der Oſtmark nur ſehr allmählich; abgetrennt von ihrem Hinterlande konnten die entlegenen Küſtenſtriche ſchwer geſunden. Wenn der deutſche Grundherr in Litthauen von den Höhen des Memelthals die wenigen armſeligen Flöße der pol - niſchen Szimken drunten auf dem mächtigen Strome erblickte, dann klagte er, dies ſchöne Land gelte den Berliner Bureaus nur als der große Remontemarkt für die Reiterregimenter. Mit bitteren Gefühlen dachten die Altpreußen an die bevorzugten weſtlichen Provinzen und fragten, ob ſie denn wieder, wie in König Friedrichs Tagen, die Stiefkinder der preu - ßiſchen Krone ſeien.

In Pommern gewann der neue Oberpräſident Sack das Vertrauen der Bevölkerung bald noch vollſtändiger als vordem am Rhein; ſelbſt das unzufriedene Neuvorpommern verſöhnte ſich nach und nach mit dem deut -252II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ſchen Staate. Als die Preußen in Greifswald einzogen, ſang der Poet des Landes, Koſegarten wehmüthig:

Ja, unter den drei Kronen
Ließ es ſich ruhig wohnen

und allerdings die Strenge der monarchiſchen Gerechtigkeit war dieſer Kornkammer des armen Schwedenreichs, die nur 60,296 Thaler Gold an direkten Steuern zahlte, bisher ganz unbekannt geweſen. Während im preu - ßiſchen Pommern der Bauer durch die ſtarke Hand des Königthums geſchützt wurde, hatten hier die Krone, der Adel, die Univerſität und die Patriciate der reichen Städte faſt die geſammte Bauerſchaft ausgekauft und, ähnlich wie im nahen Mecklenburg, ein bequemes oligarchiſches Regiment eingerichtet. Als im Weſtphäliſchen Frieden die Mündungen der Weſer, Elbe und Oder an die Krone Schweden kamen, errichtete ſie in Pommern die höchſten Aemter für ihre ſämmtlichen deutſchen Provinzen, und die fetten Pfründen dieſer für eine Million Unterthanen beſtimmten Behörden, ein willkom - mener Unterſchlupf für die Söhne der guten Familien, beſtanden nach anderthalb Jahrhunderten unverändert fort, als nur noch die hundert - tauſend Deutſchen zwiſchen der Peene und der Oſtſee zu Schweden ge - hörten. Geringſchätzig blickte der Adel auf ſeine preußiſchen Standesge - noſſen herab; hingen doch ſeine Wappen im Ritterhauſe zu Stockholm neben den Schildern der Torſtenſon und Oxenſtierna. Breit und behäbig lebte die Univerſität Greifswald der Verwaltung ihrer großen Güter, nur aller zwanzig Jahre einmal durch eine königliche Viſitation geſtört; von den akademiſchen Inſtituten der reichſten deutſchen Hochſchule ſtand freilich nur eines, die Reitbahn, in gutem Rufe. Das ſtolze Stralſund hatte ſich mit der Pracht ſeiner Kirchen, Rathhäuſer und Beginenhöfe auch die alte han - ſiſche Freiheit treu bewahrt und beherrſchte unumſchränkt ein Gebiet von mehr als hundert Ortſchaften. Behutſam traten die preußiſchen Behörden an dies zähe Sonderleben heran. Die meiſten der alten Aemter wurden trotz der Proteſte des Adels beſeitigt, nur das Greifswalder Hohe Tribunal blieb als beſcheidenes Appellationsgericht beſtehen; Stralſund und die anderen größeren Städte behielten ihre alte Verfaſſung, doch mußten ſie, nach wie - derholter Verwahrung, dem preußiſchen Kreisverbande ſich einfügen. Nach zweijährigem Zögern wagte man auch das neue Zollgeſetz einzuführen. Sicher und ſtetig vollzog ſich die Verſchmelzung. Die Mehrzahl der Pächter und Gutsunterthanen, namentlich auf Rügen, hatte von Haus aus das Mißtrauen der privilegirten Klaſſen nicht getheilt und freute ſich bei den neuen Behörden einigen Schutz gegen die Willkür der Grundherren zu finden. *)Promemoria über die Reorganiſation von Neuvorpommern, von Karl Schneider in Bergen, 3. Dec. 1815. Eingabe der Abgeordneten des Bauernſtandes, Pächter Arndt und Schulze Lüders, an den König, 20. Juli 1816. Bittſchrift von Bürgermeiſter und Rath von Stralſund an den Staatskanzler, 12. Septbr. 1816.

253Pommern.

Weit härter als dies ſchwediſche Land war das preußiſche Pommern durch den Krieg heimgeſucht. Die Ruinen der Häfen von Leba, Stolp - münde, Rügenwalde, Colberg erinnerten noch an die behaglichen Zeiten des Baſeler Friedens. Stettin, das damals ſchon mit Hamburg gewett - eifert, mußte ſich jetzt ſeinen Platz auf dem Weltmarkte von Neuem erobern; aber viele der reichen alten Firmen beſtanden nicht mehr, der Hafen von Swinemünde wurde erſt wieder neu gebaut, und zudem lähmte der Sundzoll den Aufſchwung der pommerſchen Plätze. Auf dem platten Lande erregten die junge Cultur und die patriarchaliſchen Lebens - verhältniſſe das Erſtaunen des Oberpräſidenten: hier im Kreiſe Neu - Stettin nur 710 Einwohner auf der Geviertmeile, und daheim im Regie - rungsbezirk Düſſeldorf ihrer 8537; und gleichwohl ſucht der gute Pommer noch immer ſeinen Reichthum im vielen Landbeſitz . Sack bat den Staats - kanzler dringend, ihm die Anſiedlung von tüchtigen Neubauern zu ge - ſtatten, die dem guten Pommern das Beiſpiel intenſiver Wirthſchaft geben und ihm den Segen der neuen wirthſchaftlichen Freiheit zum Bewußtſein bringen ſollten. *)Sack, kurzer Bericht über die Verwaltung Pommerns, Schlawe, 28. Juli 1818.Aber wo waren die Mittel für eine Coloniſation im fridericianiſchen Stile? Die Provinz erholte ſich von den Leiden der Kriegsjahre faſt ebenſo ſchwer wie die anderen baltiſchen Lande, nur daß die ruhigen Pommern die harte freudloſe Zeit gleichmüthiger ertrugen als die leidenſchaftlichen Preußen.

Der Oberpräſident von Schleſien, Merckel, war ſchon während des Krieges als Civilgouverneur ſeinen Landsleuten theuer geworden. Sie ver - gaßen ihm nicht, daß er einſt in einem verhängnißſchweren Augenblicke durch ſein feſtes Vertrauen auf ihre Opferwilligkeit die Fortſetzung des Rück - zugs verhindert hatte; denn als die Monarchen zur Zeit des Waffen - ſtillſtandes über die Räumung des ausgeſogenen Landes berathſchlagten, da hatte er ſein Wort dafür verpfändet, daß Schleſien die verbündeten Heere ein ganzes Jahr hindurch unterhalten werde. Und wie glücklich war nachher durch die kräftige Hilfe des Civilgouverneurs das Werk Gneiſenaus, die Bildung der ſchleſiſchen Landwehr gelungen. Der Sohn eines angeſehenen Breslauer Kaufmannshauſes, von Kindesbeinen an heimiſch in allen Schichten der vielgeſtaltigen ſchleſiſchen Geſellſchaft, er - ſchien Merckel ſeinem Lande als der natürliche Führer. Seine ruhige, ernſthafte, ſtreng ſachliche Weiſe die Geſchäfte zu behandeln flößte Jedem Zutrauen ein, und wer mit einem dringenden Anliegen kam, konnte noch in ſpäter Nachtſtunde den rüſtigen kleinen Mann, dem der Schlaf ent - behrlich ſchien, an ſeinem Schreibtiſch finden. Er gehörte von jeher zu den eifrigen Förderern der Hardenbergiſchen Reformen, war ein Schüler der Kantiſchen Philoſophie, reich gebildet, faſt gelehrt und von dem Segen254II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.der freien Forſchung tief überzeugt. Dem kirchlichen Leben ſtand der ſtrenge Rationaliſt nicht ohne bureaukratiſches Mißtrauen gegenüber, ein wachſamer Vertreter der Souveränität des Staates. Bei Hofe galt er neben Schön für den radikalſten der Oberpräſidenten,*)Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819. obwohl er die biſſige Kritik des Oſtpreußen verſchmähte und in Wahrheit niemals weit über die Gedanken des aufgeklärten Abſolutismus hinausging.

Die Schleſier hatten in großer Zeit bewieſen, wie feſt ſie an ihrem Staate hingen; auch die verwahrloſten Waſſerpolen Oberſchleſiens zeigten ſich der Krone treu ergeben, wenngleich die Begeiſterung des Befreiungs - krieges ſie nur wenig berührte, und blieben völlig unempfänglich für die natio - nale Propaganda der Polen. Hier allein ward König Friedrich wahrhaft ge - liebt; von der vorpreußiſchen Zeit ſprach das Volk ſelten und ohne Freude, ſelbſt der Adel dachte nicht mehr an ſeine altſtändiſche Herrlichkeit. Gleich - wohl lebte hier noch ein zäher Particularismus, der in der Schleſiſchen Geſellſchaft für vaterländiſche Cultur zu Breslau eifrige Pflege fand. Die Provinz nannte ſich gern das Kleinod in Preußens Krone, ſie war bis zum Jahre 1808 immer durch eigene Provinzialminiſter, unabhängig von dem alten Generaldirektorium, verwaltet worden und fand ſich ſchwer darein, daß man ſie jetzt mit allen andern Provinzen auf einen Fuß ſtellte. Die alte Hauptſtadt, die nunmehr, der Feſtungsmauern entledigt, das male - riſche Gewirr ihrer finſtern Gaſſen mit einem Kranze lieblicher Baumgänge zu umgürten begann, bildete den bewegten Sammelplatz eines reichen und mannichfaltigen landſchaftlichen Sonderlebens. Sie war Kopf und Herz der Provinz, wie keine der anderen Provinzialhauptſtädte, ſelbſt Königs - berg nicht ausgenommen. Hier lag die aufblühende Hochſchule neben der Reſidenz des einzigen Fürſtbiſchofs der Monarchie, der Schmutz der Juden - gaſſen neben den Paläſten des lebensluſtigen Adels; deutſches und pol - niſches Volksthum, proteſtantiſche und katholiſche Bildung, Beamtenthum und Bürgerthum, Großinduſtrie und Landbau ſtießen hier auf einander. Ueber dies bunte Treiben blickten die Schleſier noch wenig hinaus; ſelten verließ Einer die geliebte Heimath, wo Alles ſo traulich verſchwägert und vervettert war, jede Hochzeit und jeder Geburtstag unfehlbar von ſang - luſtigen Oder - und Boberſchwänen in behaglichen Reimen gefeiert wurde. Der ſtolze katholiſche Adel, der noch bis zum Jahre 1811 ſeine jüngeren Söhne in den Domherrenpfründen des reichen Bisthums untergebracht hatte, war in der Armee wie im Beamtenthum nur ſpärlich vertreten; er ſonderte ſich von den kleinen Soldatengeſchlechtern der pommerſchen und märkiſchen Ritterſchaft vornehm ab und verkehrte faſt häufiger in Wien als in Berlin. Die Städteordnung, die Gewerbefreiheit und die neuen agrariſchen Geſetze hatten hier bisher mit einem ſtarken Wider - willen kämpfen müſſen, und Merckel bedurfte ſeiner ganzen Klugheit und255Schleſien.Landeskenntniß um die Einführung der Reformen nach und nach, unter behutſamer Schonung der eigenartigen Verhältniſſe durchzuſetzen.

Und wie kläglich lag der Wohlſtand des Landes, der ſich einſt nach dem Einzuge der Preußen ſo erſtaunlich raſch gehoben, jetzt darnieder. Wo waren ſie hin, die glücklichen Zeiten, da John Quincy Adams das Land bereiſte um die Wunder der fridericianiſchen Verwaltung kennen zu lernen, da die Fürſten und Grafen in den Bädern von Warmbrunn und Salz - brunn ihr ſchwelgeriſches Sommerleben führten, faſt in jedem Landhauſe des Waldenburger Thales ein reicher Fabrikant wohnte und droben auf dem rauhen Kamme des Gebirges, in Landeshut, bei den Amerikanern , den großen nach Amerika und Spanien handelnden Kaufherren, der Ungar - wein in Strömen floß? Die Leinwandausfuhr erreichte nie mehr ihre alte Höhe, in den Weberdörfern des Gebirges herrſchte ein Nothſtand, der endlich ſelbſt der heitern Genügſamkeit dieſes leichtlebigen Völkchens uner - träglich ſchien; auch der Handel mit Polen, die Nahrungsquelle Breslaus, ward durch die neuen ruſſiſchen Schlagbäume vielfach geſchädigt. Indeß hob ſich die Baumwollmanufaktur, und die Wollmärkte gewannen an Be - deutung ſeit Thaer ſeine Stammſchäferei in Panten einrichtete. Die unter Friedrich II. gegründeten Fürſtenthums-Landſchaften nahmen im Jahre 1814 ſofort ihre Zinszahlungen wieder auf und retteten den Credit des großen Grundbeſitzes, ſo weit dies bei der Entwerthung der Güter möglich war. Die Königshütte in Oberſchleſien ſtellte ihren großartigen Betrieb bald wieder her, und allmählich entſtand dort, trotz der bedrohlichen Nähe der Zoll - grenzen Oeſterreichs und Rußlands, eine ſtattliche Zahl neuer Berg - und Hüttenwerke. Das Alles vollzog ſich ſehr langſam. Die kühne Unterneh - mungsluſt aufſtrebender Zeiten war dieſem ermüdeten Volke nicht gegeben; in bedächtiger Arbeit und ſtiller Entſagung ging ihm das Leben auf.

Daß die neuen Formen der Provinzialverwaltung ſo ſchnell feſte Wurzeln ſchlugen, war vor Allem das perſönliche Verdienſt der Ober - präſidenten. Mit glücklicher Hand hatte Hardenberg faſt durchweg be - deutende, und zumeiſt ziemlich junge Männer für dieſen ſchwierigen Poſten ausgewählt. Am Wenigſten vielleicht genügte ihm der brandenburgiſche Oberpräſident v. Heydebreck. Der war in den collegialiſchen Berathungen der alten Kriegs - und Domänenkammern aufgewachſen und wollte zuerſt die ſogenannte Oberpräſidentenſtelle nicht annehmen, bis ihn der Staats - kanzler belehrte, wie wichtig und ehrenvoll das Amt ſei. *)Hardenberg an Heydebreck, 29. Juni 1815.Aber unter ihm wirkte einer der fähigſten Beamten, der Potsdamer Regierungspräſi - dent v. Baſſewitz, ein Mann von erſtaunlichem praktiſchem Wiſſen, der jede Flurkarte der Kurmark im Kopfe trug, über jeden Thaler der Kriegs - contributionen Beſcheid wußte und eine ganze Schule tüchtiger Verwal - tungsbeamten heranzog, ſo daß die Potsdamer Regierung ihren einſt unter256II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Sacks Führung erworbenen guten Ruf behauptete. Baſſewitz hielt die Grundſätze der neuen Geſetzgebung unverbrüchlich feſt, verſtand jedoch mit Jedermann ſo ſchonend und freundlich umzugehen, daß ſelbſt die feudalen Edelleute dem Reformer nicht ernſtlich gram wurden.

Auf dem flachen Lande blieb die Ritterſchaft hier noch ſo mächtig wie in Pommern, obgleich die Rittergüter der Kurmark nur einen Werth von 27 Mill. Thlr. darſtellten und mit 21 Mill. Hypothekenſchulden belaſtet waren, während der Bauernſtand bereits einen Bodenwerth von 31 Mill. mit einer Schuldenlaſt von Mill. beſaß. Gewaltig war noch das An - ſehen des Landraths, zumal wenn er ſein Amt ſo tüchtig verwaltete, wie der Sohn des alten Zieten, der berühmte Muſterlandrath in der Grafſchaft Ruppin. Altväteriſch einfach blieben die Sitten des Landvolks ſelbſt dicht vor den Thoren Berlins, die alte kunſtloſe Dreifelderwirthſchaft herrſchte noch überall vor. Doch begann jetzt allmählich die Thätigkeit Albrecht Thaers ihre reichen Früchte zu tragen. Seine Schule zu Möglin im Oderbruch, ſoeben zur königlichen landwirthſchaftlichen Lehranſtalt erhoben, lockte eine ſtetig wachſende Zahl von alten und jungen Landwirthen an, die hier unter den alten Erlen am Teiche die freundlichen Rathſchläge des gelehrten und doch ſo ſchlicht praktiſchen Mannes empfingen und draußen auf den Feldern lernten, wie die Brache durch geregelten Fruchtwechſel entbehrlich werden könne. Seit die weichen Vließe des Mögliner Wollmarktskönigs alle andere Wolle aus dem Felde ſchlugen, war der Ruf der veredelten Schafzucht feſt begründet, die großen Grundbeſitzer begannen nach und nach ihren Betrieb nach den Grundſätzen der neuen rationellen Land - wirthſchaft umzugeſtalten, und Goethe rief dem Reformator des deutſchen Landbaues ermunternd zu: nicht ruhen ſoll der Erdenkloß, am wenigſten der Mann!

Wie eine Inſel lag die ſo raſch aufgeſtiegene Hauptſtadt inmitten dieſer ackerbauenden Provinz, ganz abgetrennt von den Intereſſen des platten Landes. Der Charakter des Berliner Lebens ward trotz ſeiner 188,000 Einwohner noch weſentlich durch den Hof und die Garniſon, die Beamten und die Univerſität beſtimmt. Nirgends in Deutſchland konnte man feinere Urtheile über Theater und Muſik, Philoſophie und Geſchichte hören als in den einfachen Theegeſellſchaften der Berliner literariſchen Kreiſe. Wie viele geiſtvolle Männer dachten noch nach Jahren ſehnſüchtig des gaſtfreien Mendelsſohn’ſchen Hauſes in der Leipziger Straße; dort in dem ſtillen Parke, nahe dem Potsdamer Thore, wo für den Berliner die Welt aufhörte, fanden ſich die Künſtler, die Gelehrten und Kritiker fröhlich zuſammen. Aber die Geſellſchaft ſonderte ſich noch ſtreng nach den Be - rufsſtänden. Selbſt Gneiſenau, der neue Gouverneur, verkehrte faſt aus - ſchließlich mit Offizieren, und alle Welt verwunderte ſich über die uner - hörte Neuerung, als der König im Jahre 1817 im Concertſaale des Opern - hauſes einige Subſcriptionsbälle für Jedermann veranſtalten ließ und257Brandenburg. Berlin.ſelber mit dem Hofe einen Rundgang durch die bunte Geſellſchaft hielt; der Eintrittspreis, 1 Thlr. 16 Gr., war allerdings der großen Mehrzahl ganz unerſchwinglich. Von Politik ward außerhalb der Kreiſe der Stu - denten und Turner ſelten geſprochen. Die wenigen politiſchen Schriften, welche nach dem Verſtummen der Schmalziſchen Fehde noch in Berlin erſchienen, bekundeten nur zu deutlich, daß weder die Begeiſterung des Krieges noch die ſchöpferiſche Wiſſenſchaft der neuen Univerſität den Geiſt Nicolais von dieſem ſeinem Heimathboden ganz hatten verdrängen können. Buchholz tummelte ſich noch mit gewohnter Selbſtgefälligkeit auf den Ge - meinplätzen der liberalen Aufklärung, und J. v. Voß erregte die gerechte Erbitterung der neuen Provinzen durch das Sendſchreiben eines Branden - burgers an die Rheinländer . Hier ſprach es wieder, das vorlaute an - maßende Berlinerthum von 1806. Von oben herab ertheilte der im Herzen des Landes Geborene den Rheinländern ſeine Rathſchläge und kündigte ihnen an, das gebildete Berlin werde mit ihrem ungemeinen Aberglauben ſchon fertig werden bis Rehfues in Bonn ſeine ſchon oft im Kampfe gegen den Bonapartismus bewährte Feder einſetzte und unter dem Jubel der Rheinländer der Berliner Weisheit heimleuchtete.

Erſt ſeit Giovanoli im Jahre 1818 ſeine Conditorei eröffnete, Sparg - napani und andere Engadiner dem Beiſpiele folgten, gewöhnte ſich die ge - bildete Welt an die Zeitungen. Dort in den dunklen Leſezimmern ent - ſpannen ſich zuweilen politiſche Debatten, freilich erſchienen die aufgeregten auswärtigen Blätter noch weit anziehender als die zahme Langeweile der preußiſchen. Großſtädtiſches Gedränge zeigte ſich faſt allein in den engen Gaſſen der inneren Stadt; die grünen Gensdarmen behielten voll - auf Zeit, jeden Frevler, der auf der Straße rauchte, unerbittlich einzu - fangen, und wenn der heiße Sommermittag auf die ſtillen geraden Häuſer - zeilen der Friedrichsſtadt herniederbrannte, dann meinte man ſie ſchnar - chen zu hören ſo hieß es draußen im Reiche, wo der Spott über Berlin immer willige Hörer fand. Nach dem zweiten Frieden ſtellte ein verwegener Unternehmer 32 echte Warſchauer Droſchken auf den öffent - lichen Plätzen auf, und die Gelehrten von Voß und Spener ſtritten ſich lebhaft über die Frage, woher die vielen Menſchen zur Benutzung dieſes Wagenparks kommen ſollten; vor Kurzem erſt war ein ähnliches Unternehmen geſcheitert, diesmal aber gelang das Wagniß. Den Brief - verkehr in der Stadt vermittelte die löbliche Kaufmannsgilde von der Materialhandlung ; in ihren Kramläden wurden die Stadtbriefe geſammelt, mit mächtigen Klingeln in der Hand zogen ihre Boten durch die Straßen. Die Maſſe der Bürgerſchaft nahm an dem regen geiſtigen Leben der höheren Geſellſchaft wenig Antheil, ſie blickte mit Mißtrauen auf die Neuerungen der Geſetzgebung und verharrte zähe bei ihren ſchlichten klein - ſtädtiſchen Sitten. Sehr langſam, erſt nach dem Kriege, verwiſchte ſich derTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 17258II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Unterſchied zwiſchen den derben Niederdeutſchen und den feiner geſitteten Familien der franzöſiſchen Colonie.

Im Hochſommer ſtrömte Alt und Jung hinaus um ſich beim Stra - lauer Fiſchzuge an den Nationalgerichten, Aal, Gurken und Weißbier zu erlaben. Das Königsſchießen der Schützengilde ſtand noch in hohen Ehren, und das neue Reglement von 1813 hielt für nöthig ausdrücklich zu be - merken: auf Steuerfreiheit würden der Schützenkönig und ſeine beiden Ritter als gutgeſinnte Bürger wohl ſelber keinen Anſpruch erheben. Die Kaufleute zerfielen in die zwei ſcharf getrennten Gilden der Material - und der Tuch - und Seidenhändler. Zweimal wöchentlich veröffentlichten die Makler einen Kurszettel, der nur wenige fremde Papiere aufzählte; der kleine Bürger aber rechnete nur nach Dreiern. Alle Maſſengüter langten zu Waſſer an, da ſelbſt mit Hamburg noch keine ununterbrochene Chauſſee - verbindung beſtand; im Winter ſtockte das Geſchäft, im Frühjahr und Herbſt drängten ſich die Kähne auf der Spree, doch genügte ſelbſt dann der eine Krahn im königlichen Packhofe um die Waaren der ſämmtlichen Fuhrleute und Schiffer abzuladen. Inmitten dieſer beſchränkten Verhält - niſſe verriethen ſich doch ſchon die Anfänge eines reicheren Verkehrs. Die Gaſtwirthe der großen Höfe, wo die Fuhrleute einkehrten und auf Ladung warteten, begannen ſelber die Vermittlung des Frachtverkehrs zu über - nehmen; aus dieſen Fuhrmannsherbergen entſtanden ſeit 1816 die großen Speditionsgeſchäfte, welche, begünſtigt durch die glückliche Lage der Stadt, nach kurzer Zeit den beſten Theil des nordoſtdeutſchen Handels an ſich zogen. Welch ein Aufſehen, als Cockerill im Jahre des Friedensſchluſſes auf der Neuen Friedrichsſtraße eine Fabrik erbaute, die der Woll - manufactur alle Werkzeuge und Maſchinen liefern ſollte; dort arbeitete eine Dampfmaſchine von beinahe dreißig Pferdekräften, und nicht lange, ſo erleuchtete man die Werkräume gar mit Kohlengas. Ein Jahr ſpäter ward der erſte Jacquard’ſche Webſtuhl in die Berliner Seidenwirkerei ein - geführt. Zwar die Wollinduſtrie, die im Jahre 1803 ſchon 1465 Stühle beſchäftigt hatte, war jetzt auf 420 Stühle herabgekommen; auch die Garn - ſpinner konnten nach der Aufhebung der Continentalſperre kaum noch be - ſtehen, da die Engländer das Geheimniß ihrer Spinnmaſchine wohl be - wahrten. Aber die Baumwoll-Weber und - Drucker, die Tuchwalker und viele andere Gewerbe ſchritten rüſtig vorwärts. So ward durch die harte Arbeit eines genügſamen, ſorgenvollen Geſchlechts langſam der Grund ge - legt für die Macht der erſten deutſchen Fabrikſtadt.

In allen dieſen Provinzen waren nur kleine Stücke neuerworbenen Landes einem feſten Kerne altpreußiſchen Gebiets anzuſchließen; hingegen das wunderliche Gewirr von zweiunddreißig großen und ungezählten kleinen Herrſchaften, das man jetzt die Provinz Sachſen nannte, bedurfte eines vollſtändigen Neubaus. Mittel - und niederdeutſches, altgermaniſches und wendiſches Land ſtießen hier auf einander; die alte Grenze zwiſchen dem259Provinz Sachſen.mainziſchen und dem magdeburgiſchen Kirchenſprengel, die ſo lange den Weſten und den Oſten Deutſchlands geſchieden hatte, lief mitten durch dies Gebiet. Dazu die ſchärfſten Gegenſätze des wirthſchaftlichen und des kirchlichen Lebens. Hier die üppigen Niederungen der Goldenen Aue und des Magdeburger Landes, dort auf den rauhen Hochebenen und in den feuchten Thalgründen des Eichsfeldes die armen, unter der ſchlaffen Herrſchaft des Krummſtabs ganz verwahrloſten Weberdörfer mit ihren zahlloſen winzigen Feldſtreifen. In dem neuen Regierungsbezirke Merſe - burg beſtand nur eine einzige katholiſche Kirche; das Geburtsland von Luther, Paul Gerhard, Rinckart, die Heimath der Reformation lebte und webte in proteſtantiſchen Erinnerungen. Auf dem Eichsfelde war den Jeſuiten des Mainzer Kurfürſten die Arbeit der Gegenreformation, bis auf wenige Dörfer, vollſtändig gelungen, erſt die Preußen hatten im Jahre 1804 in Heiligenſtadt evangeliſchen Gottesdienſt wieder eingeführt. Und bei Alledem nicht einmal ein wohlabgerundetes Gebiet. Die Elbe bildete nur für einen kleinen Theil der Provinz, und bei Weitem nicht in gleichem Maße wie der Rhein und die Oder, die gemeinſame Verkehrs - ader. Die neue Hauptſtadt Magdeburg war herabgekommen wie ihr halb verfallener Dom, ſie zählte mitſammt den Vororten nur 31,000 Ein - wohner, ſie lebte dem Handel und konnte niemals den Mittelpunkt für das geſammte Culturleben der Provinz bilden, denn die Zeit war längſt vorüber, da hier einſt die freie Preſſe der Proteſtanten ihre letzte Zuflucht gefunden hatte.

Die treuen Magdeburger und Altmärker verhehlten kaum, wie wenig ihnen an der Gemeinſchaft mit den kurſächſiſchen Rheinbündnern lag, und dieſe leiſteten die Huldigung mit ſchwerem Herzen, obwohl manche be - fliſſene Polizeibeamte dem Staatskanzler von lautem Volksjubel berichteten. In jedem Schloſſe und jeder Kirche des Kurkreiſes erinnerte das Wappen - ſchild mit dem Rautenkranze an die alte Geſchichte eines Staates, der einſt die ſtolze Vormacht des deutſchen Proteſtantismus geweſen. Hier war man gewohnt aus dem Behagen einer älteren Cultur und höheren Wohl - ſtands auf die brandenburgiſchen Emporkömmlinge herabzuſchauen; nun mußte man die Theilung des Königreichs und darauf noch die Abtrennung der Lauſitzen erleben; dann wurden die Univerſität und die oberſten Be - hörden der Provinz in das Magdeburgiſche verlegt, obgleich die Merſe - burger ihre Stadt doch ſo dringend dem Könige als die einzig geeignete Hauptſtadt empfohlen hatten;*)Eingabe der Stadt Merſeburg an den König, 3. Oktbr. 1815. und dazu noch die neue königlich preu - ßiſche Religion, die das alte Lutherthum zu verdrängen drohte. Der Groll äußerte ſich anfangs ſo lebhaft, daß ſelbſt in den Schulen die Söhne der preußiſchen Beamten beſtändig mit den Eingebornen zu raufen hatten. Am Heftigſten zürnte der Adel; denn obwohl die neue Herrſchaft ſeine Intereſſen17*260II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.behutſam ſchonte und ihm auch die Pfründen der reichen Domſtifter Naum - burg und Merſeburg beließ, ſo fühlte er doch, daß er in Sachſen der Herr geweſen und jetzt lernen mußte in den Kreis der Unterthanen hinab - zuſteigen. Er gewöhnte ſich ſo ſchwer an das monarchiſche Regiment, daß der Oberpräſident Bülow im Staatsrathe dringend rieth die neuen Steuer - geſetze nicht ohne Genehmigung der ſächſiſchen Stände zu erlaſſen: ſonſt würde vielleicht auf immer das leider noch wenig begründete Vertrauen der Bewohner verſcherzt. Auch die Beamten klagten bitterlich über den ſtrengen preußiſchen Dienſt, zumal die Richter, die bisher in allen ſchwie - rigen Fällen die bequeme Hinterthür der Aktenverſendung benutzt hatten und jetzt gezwungen wurden ſelber Recht zu ſprechen; manche, die ſich be - einträchtigt glaubten, kehrten wieder in die behagliche alte Heimath zurück. *)Bülows Votum über die Steuervorlagen im Staatsrathe, 23. Mai 1817. Bülow an Hardenberg 9. März, Kircheiſen an Hardenberg 2. Juni 1816.Selbſt die Einſichtigen zeigten überall jene gemüthliche Vorliebe für das Althergebrachte, welche trotz allem Lärm der liberalen Schriftſteller die eigentliche Geſinnung der Deutſchen blieb. Wie viele Kämpfe mußte Johannes Schulze mit dem Rector von Schulpforta, dem trefflichen Ilgen beſtehen bis er endlich durchſetzte, daß die alte Fürſtenſchule ſich der preußiſchen Prüfungsordnung fügte und die ſtädtiſchen Freiſtellen nicht mehr nach Gunſt und Laune der berechtigten Stadträthe beſetzt wurden.

Der Oberpräſident Friedrich v. Bülow war für dies Land der Adels - herrlichkeit auserſehen worden, weil er ähnliche Verhältniſſe noch von ſeiner hannöverſchen Dienſtzeit her kannte und ſchon vor Jahren in einer ſcharfen Schrift wider ſeinen Landsmann Rehberg bewieſen hatte, wie richtig er die Ueberlegenheit der monarchiſchen Verwaltung gegenüber der altſtän - diſchen zu ſchätzen wußte. In ſeiner neuen Heimath hatte er ſich die An - ſchauungen des fridericianiſchen Beamtenthums ſo gänzlich angeeignet, daß er beim Beginn der Unionsbewegung für nöthig hielt nochmals als Schrift - ſteller aufzutreten und die Krone vor den Gefahren einer unabhängigen Synodalkirche zu warnen. Doch verfuhr er ſtets wohlwollend und be - dachtſam und kam ſelbſt mit dem ſächſiſchen Adel leidlich aus. Rückſichts - loſer trat der Merſeburger Regierungspräſident Schönberg auf, ein ſäch - ſiſcher Edelmann, der ſeit Jahren voll Unmuths die Mißbräuche der adlichen Vetternherrſchaft beobachtet hatte und jetzt mit Freuden daran ging, die Grundſätze moderner Rechtsgleichheit in dies Chaos einzuführen. Eine liebenswürdige Natur von ſprudelnder Laune und derber Lebensluſt genoß er im Volke allgemeiner Gunſt; ſeine Standesgenoſſen haßten ihn als den Vertreter des demokratiſchen Beamtengeiſtes . Weitaus der tüchtigſte unter den Organiſatoren der neuen Provinz war doch der Vice - präſident Motz, der, wenig beläſtigt von ſeinem Vorgeſetzten, einem alten Diplomaten Grafen Keller, den neuen Regierungsbezirk Erfurt verwaltete. 261Beruhigung der Kurſachſen.Zu dieſem Bezirke gehörten jene ausgeſogenen Striche Thüringens, welche einſt unmittelbar unter Napoleons Verwaltung geſtanden und, als ein unſicheres Beſitzthum, die härteſte Mißhandlung erfahren hatten. Hier ward denn rückſichtslos aufgeräumt was der Schlendrianismus der ſächſiſchen, die Gewaltthätigkeit der franzöſiſchen Behörden geſündigt hatte, der Unter - richt der Gymnaſien wie der Volksſchulen durch den wackeren Schulrath Hahn neu geſtaltet, die Thätigkeit gemeinnütziger Vereine, auch der Turn - plätze, erweckt und gepflegt, das arme Volk des Eichsfeldes inſoweit unter - ſtützt, daß die Hungerjahre von 1816 und 17 erträglich vorübergingen und Staatsrath Kunth auf ſeiner Dienſtreiſe die einſt ſo vernachläſſigten Feldfluren kaum mehr wiedererkannte.

Ueberall freilich hemmte der unfertige Zuſtand der altpreußiſchen Ge - ſetzgebung. Da die dringend nöthige Reviſion der Stein’ſchen Städte - ordnung noch immer ausblieb, ſo half man ſich mit vorläufigen Maß - regeln, führte die Stadtverordnetenwahlen nach preußiſchem Muſter und die genaue Prüfung der ſtädtiſchen Rechnungen ein, bewog die Stadt Naumburg, ſich endlich mit ihrem Domhofe und ihren vier Vorſtädten über eine gemeinſame Polizeiverwaltung zu verſtändigen, und als der kleine Jammer dieſer mühſeligen Verhandlungen überſtanden war, begann das Volk allmählich zu fühlen, daß eine beſſere Zeit in das Land ein - zog. Die Provinz holte mit einem Sprunge nach was das kurſächſiſche Adelsregiment zwei Jahrhunderte hindurch verſäumt hatte. Zuerſt die Bürger und die Bauern, dann auch die Edelleute gewöhnten ſich an die neuen Zuſtände und übertrugen die patriarchaliſche Verehrung, die ſie bis - her für König Friedrich Auguſt gehegt, auf den neuen Fürſten. Und wie viel einfacher und zugänglicher als der alte erſchien der neue Herr, der den grollenden Merſeburgern beim erſten Einzuge mahnend zurief: wir ſind ja doch Alle Deutſche. Das Mißtrauen der vormaligen Kurſachſen gegen ihre altmärkiſchen und magdeburgiſchen Mitbürger verſchwand nach und nach; aber da der Deutſche nicht ohne nachbarlichen Haß leben konnte, ſo begannen jetzt die Sachſen im Königreiche die zufriedenen Torgauer und Eilenburger des Verrathes zu bezichtigen und die preußiſchen Sachſen als den Auswurf des preußiſchen Stammes zu verwünſchen. Wenige Jahre nach der ſo ſchmerzlich beweinten Theilung ſah man ſchon in manchen Grenzdörfern einen Sächſiſchen Hof und einen Preußiſchen Hof, beide in den Landesfarben prunkend, trutzig neben einander liegen. Die gewaltige Anziehungskraft des preußiſchen Staates fand, wie die Kenner des Landes ſchon auf dem Wiener Congreſſe vorausgeſagt, nirgends leichteres Spiel als bei dem bildſamen oberſächſiſchen Stamme.

Ebenſo mannichfaltige und doch einfachere Verhältniſſe traten der neuen Verwaltung in der Provinz Weſtphalen entgegen. Trotz der Ver - ſchiedenheit ihrer politiſchen Schickſale hatten ſich die Heimathlande des weißen Sachſenroſſes zu allen Zeiten einen ſtarken gemeinſamen Stammes -262II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ſtolz erhalten. Die uralte Völkerſcheide auf den Höhen über Barmen, welche einſt die Sachſen von den Franken trennte, blieb nachher Jahr - hunderte lang die Grenze zwiſchen der Grafſchaft Mark und dem Herzog - thum Berg; mit einer Abneigung, die von drüben ebenſo herzlich erwidert ward, blickte der ernſte, verſchloſſene Niederſachſe auf die leichtlebigen, red - ſeligen Rheinfranken und ſpottete über den bergiſchen Wind . Auf den Hochſchulen ſtanden die Weſtphälinger ſtets unter dem grünweißſchwarzen Banner ihrer Landsmannſchaft zuſammen, hochberühmt als unerſättliche Zecher und Schläger, und alle kehrten regelmäßig in die Heimath zurück. Auch die mächtigen Geſchlechter der Droſte, Spiegel, Galen, Fürſtenberg hielten ſich dem abenteuerlichen Reislaufen des deutſchen Adels fern und blieben zumeiſt ſeßhaft daheim; nur jene Nebenzweige der alten Familien, die einſt mit dem Deutſchen Orden an die Düna gezogen waren, die Ketteler, die Plettenberg, erwarben ſich außerhalb der Landesgrenzen Macht und Ruhm. Als nunmehr faſt die geſammte rothe Erde unter die preußiſche Krone kam, da ward die Wiedervereinigung der Lande Wittekinds doch ſelbſt in den Krummſtabsgebieten, die dem proteſtantiſchen Königthum mißtrauten, mit Freude begrüßt, und man beklagte nur, daß Osnabrück, die Heimath des vaterländiſchen Claſſikers Juſtus Möſer nebſt einigen Strichen des Münſterlandes bei Hannover und Oldenburg verblieb.

Niemand empfand dieſe Freude lebhafter als der Oberpräſident Frei - herr Ludwig v. Vincke, der ſchon während des Krieges die proviſoriſche Verwaltung geführt hatte und von allen Seiten als das einzig mögliche Oberhaupt der Provinz angeſehen wurde. Ein Verwaltungstalent großen Stiles, durch Reiſen und Studien mit dem Staatsleben und der Volks - wirthſchaft des Auslandes gründlich vertraut, war er doch vor Allem ein weſtphäliſcher Edelmann geblieben, derb, formlos, geradezu, ſo feſt ver - wachſen mit dem Boden der Heimath, wie jener alte Soeſter Maler, der ſich ſelbſt das Abendmahl des Heilands nicht ohne einen ſaftigen weſt - phäliſchen Schinken denken konnte. Wohin ihn auch der Staatsdienſt führte, in Aurich wie in Potsdam hatte er ſtets das Ziel im Auge be - halten, das ihm ſchon in jungen Jahren als höchſter Lebenszweck erſchienen war: mein Vaterland Weſtphalen ſoll dereinſt das Bild der vollkom - menſten Einrichtungen abgeben.

Welch ein Glück, als er nun mit der Verwaltung des wiedervereinigten Landes betraut wurde; nur die unerträgliche Briefträgerei , die Ab - hängigkeit von den Miniſtern in Berlin fiel ſeinem trotzigen Sinne ſchwer. Von Jugend auf hatte er faſt mit allen den ungewöhnlichen Männern, welche dies claſſiſche Zeitalter des preußiſchen Beamtenthums zierten, in enger Freundſchaft gelebt und zwiſchen den beiden Reformparteien immer eine Mittelſtellung eingenommen. Da er wie Stein die politiſche Frei - heit vornehmlich in der Selbſtverwaltung eines kräftigen, ſelbſtändigen Bürger - und Bauernſtandes ſuchte, ſo bekämpfte er wie Jener die unbe -263L. v. Vincke.ſchränkte Theilbarkeit der Landgüter und die radikale Aufhebung der Zünfte. Aber ſeinen ariſtokratiſchen Neigungen hielt die ſtreng monarchiſche Ge - ſinnung des Beamten ſtets die Wage; von altſtändiſchen Rechten, welche die Einheit des Staatswillens gefährden könnten, wollte er nichts hören. Die Patrimonialgerichte verwarf er als ein großes Aergerniß , die ge - plagten Unterthanen der Mediatiſirten fanden bei ihm und ſeinem Re - gierungsdirektor Keßler, einem erklärten Liberalen, jederzeit treuen Schutz, und obgleich er in Berlin oft zu ſchonender Behandlung der Katholiken mahnte, ſo trat er doch jeder Ueberhebung der Hierarchie mit rückſichts - loſer Strenge entgegen. Wenn der König mit jungen Referendaren ſprach, ſo pflegte er ihnen den weſtphäliſchen Oberpräſidenten als das Muſter der Pflichttreue vorzuhalten; denn unter allen den unermüdlichen Arbeitern dieſes Beamtenthums war Vincke der fleißigſte. Wie oft ſahen ihn die Münſterer um Mittag im Sturmſchritt nach Hauſe eilen, wo er dann raſch ſein einfaches Mahl verzehrte und ſogleich wieder in die geliebten Akten verſank. Und doch verachtete dieſer gefürchtete Nummerntöder aus Herzensgrunde die Weisheit des grünen Tiſches. All ſein Wiſſen war erwandert und erlebt; überall im Lande war er zu Haus, in den Hau - bergen und Wieſengründen des Siegener Landes, in den Eiſenwerken der Grafſchaft Mark und den einſamen Bauernhöfen der münſterſchen Heiden. Im blauen Kittel, die Pfeife im Munde, den Knotenſtock in der Hand, zog der ungeſtüme kleine Mann mit dem klugen Kindergeſichte oft meilen - weit über Land um bei ſeinen lieben Bauern nach dem Rechten zu ſehen. In der erſten Zeit widerfuhr es ihm einmal, daß eine Bauerfrau, die er am Butterfaſſe traf, dat Jüngesken derweilen weiter buttern hieß, bis ſie den Schulzen draußen zwiſchen den Wallhecken auf dem Felde auf - gefunden hätte; in ſpäteren Jahren kannte jedes Kind den Vater Weſt - phalens.

Das Rheinland ausgenommen iſt keine andere deutſche Landſchaft durch die Volkswirthſchaft des neuen Jahrhunderts ſo von Grund aus neu geſtaltet worden, wie dies Weſtphalen, das beim Beginne der Friedens - jahre noch übel berüchtigt war als ein ödes, unwirthliches Land von großen Erinnerungen und armſeliger Gegenwart. In dem mächtigen Soeſt, das einſt ſeine herriſchen Aldermänner bis nach Gotland geſendet und den meiſten Städten Niederdeutſchlands ſein Stadtrecht geſchenkt hatte, hauſte jetzt ein armes Völkchen kleiner Ackerbürger zwiſchen den Trümmern der alten Prachtbauten. Stadtberge, die ehrwürdige Sachſenfeſte Eresburg, war faſt verſchwunden, nur die Rolandsſäule, der Pranger und zwei verfallene Kirchen ſchauten noch vom hohen Bergkegel auf das Diemelthal herab; und dicht vor dem Thore der ſtolzen Hanſeſtadt Dortmund lag der Freiſtuhl des Vehmgerichts unter den alten Linden ſo einſam und weltverlaſſen, daß der Freigraf jetzt am hellen Tage das nackte Schwert und die Weiden - ſchlinge auf den Steintiſch hätte legen können. Nur in den altpreußiſchen264II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Landſtrichen der Provinz, in den überwiegend proteſtantiſchen Grafſchaften Ravensberg und Mark regte ſich ſchon ein ſchwunghafter Verkehr. Die Bielefelder hatten ihre altberühmte Leinenweberei ſelbſt durch die Con - tinentalſperre nicht ganz zerſtören laſſen und eroberten ſich gleich nach dem Frieden den amerikaniſchen Markt für ihre Segeltuche. Den Kohlen - werken und Eiſenhämmern des märkiſchen Sauerlandes war ein wichtiger neuer Abſatzweg eröffnet ſeit Stein die Ruhr ſchiffbar gemacht, und be - reits gingen jährlich an Mill. Ctr. Steinkohlen thalwärts. Vincke aber ſah in Alledem nur die vielverheißenden Anfänge einer neuen Ent - wickelung; er wußte, welcher Reichthum in den Bodenſchätzen ſeiner Hei - math, in der zähen Kraft ihrer Bewohner verborgen lag, und wiederholte ſeinen Landsleuten gern den alten Lobſpruch des Erasmus: kein Volk der Welt iſt ausdauernder in der Arbeit. Er fühlte ſich als Steins Erbe und wollte für ganz Weſtphalen vollenden was dieſer in der Grafſchaft Mark begonnen hatte. Als das untere Ruhrthal mit der benachbarten rheiniſchen Provinz vereinigt wurde, erbat er ſich von dem Könige die Gnade, daß ihm die Aufſicht über den geſammten Stromlauf verblieb, und ruhte nicht, bis er die Mittel erhielt zum Bau des Ruhrorter Hafens, des großen Ausgangsthores der weſtphäliſchen Bergwerke. Zugleich traf er die erſten Anſtalten um auch die Lippe bis nach Lippſtadt hinauf der Schifffahrt zu erſchließen.

Schwerere Aufgaben erwarteten den Unermüdlichen in den neuen Gebieten. Das Herzogthum Weſtphalen hatte Jahrhunderte lang unter dem trägen Regimente des kölniſchen Bisthums dahingeträumt, dann als darmſtädtiſche Provinz die Willkür von fünf coordinirten Oberbe - hörden und zahlloſen Unterbeamten ertragen; hier galt es den Stall des Augias zu ſäubern . Unbekümmert um die Klagen der Grafſchaft Mark ſetzte Vincke durch, daß die Hauptſtadt des weſtlichen Regierungsbezirks nicht in das rührige Hamm, ſondern mitten in das rauhe Bergland des Oberruhrthals auf den abgelegenen Felsriegel von Arnsberg verlegt wurde: Ihr Markaner, meinte er, helft Euch ſelbſt, hier im Herzogthum müſſen wir erſt das Leben erwecken. *)Vincke, allgemeine Darſtellung des Zuſtandes vom Herzogthum Weſtphalen, 9. Mai 1817. Vincke an Hardenberg, 17. Juli 1815, 15. Juli, 14. Auguſt 1816.Um die neue Beamtenſtadt mit der Welt zu verbinden, wurde das Straßennetz, deſſen Anfänge Stein in der Grafſchaft Mark begründet hatte, rüſtig ausgebaut, und ſchon im Jahre 1817 konnte Vincke nach Berlin berichten, daß der Arnsberger Re - gierungsbezirk 50 Meilen Chauſſeen und Kohlenwege zähle, während der geſammte Staat erſt 523 Meilen Chauſſee, die Provinz Pommern noch keine einzige Steinſtraße beſaß. Freilich pflegten die Straßen dieſer Zeit noch grundſätzlich die gerade Linie zu vermeiden, dicht neben dem be - quemen Thale in weiten Windungen bergauf bergab zu klimmen, damit265Weſtphalen.die Dörfer droben doch auch ihren Verdienſt hätten von Fuhrmanns - zehrung und Vorſpann. Da der Oberpräſident die Dürftigkeit des Staats - haushalts genugſam kannte, ſo verſuchte er auch das Capital aus dem Lande ſelbſt für den Straßenbau zu gewinnen und belehrte ſeine Weſt - phalen in einer Provinzialzeitung: wie die Engländer, wenn ein neuer Verkehrsweg, eine Brücke, ein Canal nothwendig ſcheine, zuerſt alle Be - theiligten zu einer Verſammlung einlüden, dann einen Ausſchuß wählten und Gelder zeichneten. Aber der kühne Aufruf erſchien zu früh. Für ſolche Wagniſſe war dies gedrückte Geſchlecht verarmter Kleinbürger noch nicht zu gewinnen; es galt ſchon als ein großer Erfolg, daß doch eine Brücke, auf der Altenaer Straße, durch Actienzeichnung zu Stande kam.

Noch ärger als die kölniſchen Kurfürſten hatten die letzten Biſchöfe von Paderborn ihr Land vernachläſſigt. Mit Entſetzen lernte Vincke dies Irland Weſtphalens kennen: überall kümmerliche Zwergwirthſchaft und baufällige Hütten, wunderbar verſchieden von den ſtattlichen Bauernhöfen am Hell - weg; das Volk gutartig, aber trunkſüchtig, verwildert, in ewigem Kriege mit dem Geſetze, ſo daß oft große Banden mit langen Wagenzügen in die Forſten einbrachen, ganze Waldſtrecken in einer Nacht entblößten; und zu Alledem die Peſt des Landes , die Wucherjuden in jedem Dorfe. *)Vincke, Ueberſicht über die Verwaltung Weſtphalens, Auguſt 1817.Auch hier erwarb ſich der Oberpräſident nach einiger Zeit ſtillen Kampfes das all - gemeine Vertrauen, als er mit feſter Hand die bürgerliche Ordnung wieder - herſtellte, neue Schulen anlegte, den alten Lehrern, die oft nur 30 Thlr. Gehalt bezogen, Zuſchüſſe verſchaffte, die Anſiedlung der Juden erſchwerte und der Hausinduſtrie neue Abſatzwege eröffnete. Seit im Jahre 1817 die große Irrenanſtalt zu Nieder-Marsberg für die Provinz erworben ward, entſtanden in langer Reihe jene ſtattlichen Pflegehäuſer für Arme, Kranke, Taubſtumme, Blinde, die den Neid der Nachbarländer erregten.

Nur der Adel des Münſterlandes wollte die ſtolze Geſchichte ſeines reichsunmittelbaren Hochſtifts nicht vergeſſen und bewahrte unverſöhnt den alten Groll gegen die preußiſche Herrſchaft. Man gab wohl zu, daß Weſt - phalen geringere Steuerlaſten trug als der Oſten, und die einzige drückende Abgabe, die von den napoleoniſchen Beamten ſehr ungerecht vertheilte Grundſteuer, erſt nach einer langwierigen Kataſtrirungsarbeit umgeſtaltet werden konnte; auch über den proteſtantiſchen Hochmuth der Beamten und Offiziere, der in der böſen Zeit vor 1806 zuweilen verletzend hervorgetreten war, konnte man jetzt nicht mehr klagen. Gleichwohl blieb der Charakter dieſes paritätiſchen Staates den clericalen Edelleuten des Münſterlandes ebenſo widerwärtig wie dem polniſchen Adel. In dem munteren, ſchau - luſtigen und ſchönheitsfrohen Volke der rheiniſchen und ſüddeutſchen Lande hat ſich die katholiſche Bildung ſtets einen gemüthlichen Zug naiver, harm - loſer Heiterkeit bewahrt; unter den ſchweren, grübleriſchen Nordländern266II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.erſchien ſie oft hart, verbiſſen, fanatiſch, und zu allermeiſt hier in Münſter, wo die eiſernen Käfige mit den Gebeinen der Wiedertäufer noch am Lam - bertithurme hingen und das bekehrte Volk täglich an die gräulichſten Sünden der Ketzerei erinnerten. Grollend rechnete man nach: unter den Miniſtern ſei kein einziger Katholik, unter den Oberpräſidenten nur Einer, Zerboni, unter den Generalen höchſtens zwei oder drei, wo bleibe da die Parität? Das Mißverhältniß erklärte ſich leicht, da von den höheren Beamten, welche der Eroberer in den neuen Provinzen vorgefunden, nur ſehr wenige in den preußiſchen Dienſt übergetreten waren. Aber auch ſpäterhin blieb die Zahl der Katholiken im Civildienſt und vornehmlich im Offizierscorps unverhältnißmäßig gering; denn die Polen hielten ſich dem Beamtenſtande fern, das gebildete Bürgerthum der gewerbfleißigen Weſtprovinzen erzog ſeine Kinder häufiger als im Oſten üblich war für die wirthſchaftlichen Berufe, auch der katholiſche Adel des Weſtens ging ſelten in den Staatsdienſt. Am ſeltenſten ſicherlich die alten Geſchlechter des Münſterlandes, denen der öſterreichiſche Kriegsdienſt noch immer vor - nehmer ſchien als der heimiſche; ſie ſaßen ſchmollend auf ihren Gütern, nur unter ſich und mit dem Clerus verkehrend, und auch wenn ſie zur Winterszeit in die Provinzialhauptſtadt Münſter zogen, blieben ihre Pa - läſte den Offizieren und den Beamten faſt unzugänglich.

Große Schwierigkeiten bot auch das anſpruchsvolle Weſen der zahl - reichen mediatiſirten Fürſten, die allein im Regierungsbezirk Münſter die volle Hälfte des Bodens beſaßen. Manche von ihnen, die Arenberg, die Looz, die Croy, waren Belgier und erwieſen dem deutſchen Staate eine geſuchte Mißachtung; aber auch die deutſchen zeigten ſich oft als harte Herren. Jahre lang ſtritt ſich die Arnsberger Regierung mit den Fürſten des Hauſes Sayn um dem armen Wittgenſteiner Völkchen die Laſten ſeiner zweifachen Unterthanenſchaft etwas zu erleichtern; denn die Regierungen fühlten ſich alle ſtolz als Beſchützer der kleinen Leute, ſie rühmten, wie der wackere Keßler einſt gegen Beyme ausſprach, daß ihnen durch die freie collegialiſche Berathung eine Art von volksthümlichem Charakter gegeben ſei. *)Keßler, Denkſchrift die Einführung einer ſtändiſchen Verfaſſung betreffend, Münſter 12. April 1818.Dieſem Beamtenthum war es auch zu verdanken, daß einige heilſame Neuerungen der Fremdherrſchaft, die mit dem preußiſchen Landrecht nicht im Einklang ſtanden, dem Lande zum Theil erhalten blieben. Die guts - herrliche Polizei wurde blos in den Gebieten der Mediatiſirten und des reichsunmittelbaren Adels wieder eingeführt, und die Grundherren ver - mißten ſie nicht. So gründlich war die feudale Geſellſchaftsordnung hier im Weſten ſchon zerſtört.

Unter allen Arbeiten der preußiſchen Verwaltung ward keine für die Nation ſo fruchtbar wie die ſtille mühevolle Thätigkeit, welche die beiden rheiniſchen Provinzen dem deutſchen Leben zurückgewann. Wie zuverſicht -267Berg. Cleve.lich hatten noch auf dem Wiener Congreſſe alle Gegner Preußens die Hoff - nung ausgeſprochen: an dieſem deutſchfranzöſiſchen Sonderleben müſſe ſich der norddeutſche Staat die Stirn einrennen. Der König verbarg ſich die gefahrvolle Lage der entlegenen Weſtmark nicht und erklärte bei der Beſitzergeifung offen: die höhere Rückſicht auf das geſammte deutſche Vaterland entſchied meinen Entſchluß; dieſe deutſchen Urländer müſſen mit Deutſchland vereinigt bleiben, ſie ſind die Vormauer der Freiheit und Unabhängigkeit Deutſchlands. Das Rheinland wurde für ein Menſchen - alter das Schooßkind der preußiſchen Krone, aus dem nämlichen Grunde wie einſt Schleſien unter Friedrich II. Auch die Mehrzahl der in den Weſten berufenen altſtändiſchen Beamten ging voll Beſorgniß ans Werk und erkannte erſt allmählich, wie dünn der galliſche Firniß war, der über dieſen kernhaften deutſchen Stämmen lag.

Am ſprödeſten hatten die niederrheiniſchen Landſchaften abwärts von Köln ihre deutſche Eigenart behauptet. Auf dem rechten Ufer in dem freien Lande der Berge erſchienen die Preußen nicht als Fremde; hatte doch ſeine proteſtantiſche Kirche mehr denn hundert Jahre lang unter dem Schutze der preußiſchen Krone, ſein Landtag mit dem benachbarten märkiſchen in ſtändiſcher Union gelebt. Der vaterländiſche Geiſt, den die bergiſchen Landſtürmer im Jahre 1814 bewährt, ſtammte nicht von geſtern. Noch erzählte man ſich gern, wie der bergiſche Held Stücker und ſeine tapferen Bauern einſt beim erſten Einfall der Ohnehoſen, gegen den Willen des bairiſchen Landesherrn, den kleinen Krieg geführt hatten; noch kannte jedes Kind im Lande das Schelmen-Vaterunſer, das ſchon während der fridericianiſchen Kriege den franzöſiſchen Plünderern zum Schimpf entſtanden war. Der rührige, ſchon längſt an die überſeeiſche Ausfuhr gewöhnte Gewerbefleiß und die bunte Mannichfaltigkeit der kirch - lichen Gegenſätze gaben hier dem Leben einen freien, großſtädtiſchen Zug. Die Fabrikanten des Wupperthales nannten ihre Doppelſtadt Elberfeld - Barmen bereits das deutſche Mancheſter, die Solinger ſprachen mit Selbſtgefühl von dem Weltruhm ihrer Klingen, Alle fühlten ſich ſtolz ihren Wohlſtand allein ſich ſelber zu verdanken und traten gutes Muths in die großen Verhältniſſe des preußiſchen Staats hinüber, der ihrer rüſtigen Kraft ein weites Arbeitsfeld eröffnete. Wohl keine andere Land - ſchaft des Nordens beſaß ſo viele volksthümliche Männer, die auf eigene Fauſt für das gemeine Wohl, für die Erweckung deutſchen Geiſtes arbeiteten. Da war der allbekannte Eremit von Gauting, Freiherr v. Hallberg, ein wüthender Franzoſenfeind, während des Krieges Feldhaupt - mann des Landſturms an der Sieg und jetzt ſtets bei der Hand wenn es galt die franzöſiſche Partei zu bekämpfen; dann der Herr Rath zu Opladen, Deycks, der allgemeine Rechtsbeiſtand für die Wupperlande, der Pfleger des Gartenbaus und der Ackerbauſchulen; dann Zuccalmaglio, der Doctor zu Schlebuſch: der hatte noch unter der Fremdherrſchaft die268II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.erſten Muſikvereine geſtiftet, immer in der ſtillen Hoffnung dereinſt den Franzoſen zum Tanz aufzuſpielen; dann der Burſcheider Paſtor Löh, der bei allen Religionsparteien gleich angeſehen, allen Duldung und Frieden predigte; dann der Prediger Aſcheberg, Herausgeber der auch in Weſt - phalen weit verbreiteten und durch Vincke eifrig unterſtützten Zeitſchrift Hermann. Ueber die Grenzen der Landſchaft hinaus reichte die Wirk - ſamkeit des ſchlagfertigen Polyhiſtors Benzenberg. Der wackere Patriot hatte ſich in ſeiner gewerbfleißigen Heimath eine volkswirthſchaftliche Bil - dung erworben, die den übrigen deutſchen Publiciſten noch fehlte, und dann im Verkehr mit Hardenberg und Gneiſenau gelernt, wie ſich die politiſchen Dinge von oben betrachtet ausnehmen; er lieh dem Staats - kanzler freiwillig ſeine unabhängige Feder und bekämpfte unverdroſſen mit fröhlichem bergiſchem Freimuth die Vorurtheile der Rheinländer wider den preußiſchen Staat.

Noch williger als Berg fanden ſich die altpreußiſchen Lande Cleve, Mörs und Geldern in die neue Ordnung: nicht blos Weſel und Duis - burg, die alten Burgen des ſtreitbaren Calvinismus, ſondern auch die ſtrengkatholiſchen Landleute des linken Ufers, die bei der gnadenreichen Mutter Gottes von Kevelaer ihren Troſt ſuchten. Das Volk dachte mit Stolz an die lange Reihe glänzender Talente, welche der Staat der Hohen - zollern dieſem entlegenen Winkel verdankte; eben jetzt hatte die kleine Stadt Cleve dem preußiſchen Beamtenthum wieder vier ſeiner beſten Männer geſchenkt: Maaſſen, Beuth, Sack und Sethe. In dem treuen Krefeld trat die preußiſche Geſinnung ſo trotzig auf, daß die heimkehrenden franzö - ſiſchen Gefangenen auf dem Durchmarſch kaum ihres Lebens ſicher waren; die Seidenfabriken der rührigen Stadt erlitten durch die Trennung von Frankreich zunächſt ſchwere Verluſte, aber ſo große Firmen wie das Haus v. d. Leyen, ſo thätige, königliche Kaufleute wie de Greiff trauten ſich’s ſchon zu, daß ſie die unvermeidlichen Leiden der Uebergangsjahre über - ſtehen würden.

Weiter aufwärts am linken Ufer ward den preußiſchen Beamten der alte Gegenſatz der weltlichen und der geiſtlichen Landſchaften bald fühlbar. Die Grafſchafter in dem Saarbrückener Kohlenbecken gedachten noch immer mit Liebe des naſſauiſchen Hauſes, das ſo lange unter ihnen geherrſcht und in der alten Kirche von St. Arnual ſeine Ruheſtatt gefunden hatte; die Pfälzer auf dem Hunsrücken und im Nahethale vergaßen der glän - zenden Tage nicht, da das kleine Simmern der Stammſitz des mächtigſten rheiniſchen Fürſtengeſchlechts geweſen; ſie alle, Katholiken wie Proteſtanten, kannten die Wohlthaten deutſchen Fürſtenregiments und begrüßten mit Freuden die preußiſche Herrſchaft, da die Rückkehr zu den alten Dynaſtien doch unmöglich war. In den alten Krummſtabslanden dagegen, auch in Aachen und in Jülich regte ſich überall eine mißtrauiſche ſtörriſche Unzu - friedenheit. Hier fehlten gänzlich die monarchiſchen Ueberlieferungen, in269Das linke Rheinufer.denen die Staatsgeſinnung der Deutſchen wurzelte; denn auch Jülich, das der Düſſeldorfer Hof immer als ein Nebenland behandelt hatte, kannte die dynaſtiſche Treue kaum. Bereits verſtimmt durch die lange wirrenreiche proviſoriſche Verwaltung, traten dieſe ſtaatloſen Menſchen jetzt unter ein völlig fremdes Herrſcherhaus, das hier noch von den Zeiten des Krummſtabs her als der arge Störenfried im Reiche galt und neuerdings durch das Geſpött der Franzoſen in den übelſten Ruf gekommen war. So viele politiſche Stürme waren in kurzen Jahren über den Rhein dahin - gebrauſt; warum ſollte nicht auch dies ſo plötzlich ins Land geſchneite Preußenthum wieder verſchwinden? Das Volk glaubte noch nicht an die Dauer der neuen Herrſchaft, lauſchte begierig auf das immer wieder auf - tauchende Gerücht, daß die Provinz gegen das Königreich Sachſen ausge - tauſcht werden ſolle, und betrachtete das rückſichtsvolle Vorgehen der preu - ßiſchen Regierung, das von dem herriſchen Gebahren der napoleoniſchen Präfekten ſo ſeltſam abſtach, als ein Zeichen der Schwäche.

Was hier von nationalen Erinnerungen noch lebte wies auf die Habs - burger und das heilige Reich zurück. Wie dürftig erſchien den Bürgern von Aachen das Huldigungsfeſt der beiden rheiniſchen Provinzen, nach allen den Kaiſerkrönungen, welche die ſtolze Stadt einſt geſehen. Im Kölner Lande meinte man die Preußen zu kränken durch den alten Spruch: halt feſt am Reich du kölniſcher Bauer, mag es fallen ſüß oder ſauer; wie lange noch, bis man erkannte, daß Preußen der Erbe des alten Reiches war! Obgleich das geiſtloſe Regiment des Bonapartismus auch das kirchliche Leben ver - flacht hatte und der Clerus des Rheinlands zu Anfang der Friedens - jahre an Bildung weit ärmer war als die Geiſtlichkeit Weſtphalens oder Baierns, ſo behauptete die Kirche noch immer ihr altes Anſehen. Es war doch nicht blos das ſinnliche Behagen der Krummſtabsherrſchaft und die reiche Pracht ihrer Hof - und Kirchenfeſte, was die Kurkölner und Kurtrierer an ihre alte Kirche kettete. Der katholiſche Glaube wurzelte feſt in den Gemüthern, er galt hier wie bei den Romanen als die einzig mögliche Form des Chriſtenthums; der Geiſtliche war und blieb der ver - ehrte Rathgeber des Volkes in allen Fragen des Lebens. Das hatten ſchon die Jakobiner erfahren da ſie einſt, unter dem drohenden Murren der Rheinländer, die Göttin der Vernunft auf den Altar ſetzten und das Marienbild vom Bonner Schloſſe herabzureißen verſuchten. Als nun die neuen proteſtantiſchen Beamten und Lehrer ins Land kamen, als die pari - tätiſche Hochſchule eröffnet wurde, als in dem heiligen Trier am Jubel - tage der Reformation wieder die evangeliſche Predigt erklang, zum erſten male ſeit den Tagen des Erzketzers Olevianus, da begann das katholiſche Volk zu klagen nicht eigentlich aus Unduldſamkeit, ſondern weil dies neue Weſen dem heimiſchen Brauche widerſprach. Der Provinzialgeiſt hüllte ſich in kirchliche Gewänder: wir ſind Rheinländer, hieß es jetzt, und darum gut katholiſch.

270II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.

Mit gewandten Händen ſchürte die kleine, aber im Stillen wachſende ultramontane Partei das Feuer des rheiniſchen Particularismus; ſie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dieſe Kernlande der Prieſterherrſchaft dereinſt der weltlichen Gewalt wieder zu entreißen. Wenn der Biſchof von Trier jetzt zur Firmung ſeinen Sprengel bereiſte, dann gaben ihm berittene Bauerburſchen, mit kurtrieriſchen Fahnen in der Hand, das Geleite, was ſie unter franzöſiſcher Herrſchaft nie gewagt hatten. Nicht minder laut als die Polen klagten die Rheinländer in den Biſchofs - landen über die Unmaſſe der fremden Eindringlinge, die ihre Heimath überſchwemmten. Die Beſchwerde ward ſo hartnäckig wiederholt, daß ſie endlich auch in den freundlich geſinnten niederrheiniſchen Landſchaften Anklang fand und ſogar Benzenberg pathetiſch verſicherte: das Indigenat ſei das natürliche Recht jedes Volkes, ſchon der große Kurfürſt habe den cleviſchen Landſtänden verſprochen, nur Landeskinder bei ihnen an - zuſtellen. In der That war eine gründliche Säuberung des rheiniſchen Beamtenthums erfolgt. Die Präfekten, alleſammt Franzoſen, hatten das Land verlaſſen, desgleichen die Unterpräfekten, mit Ausnahme der drei oder vier deutſchen; die Gemeindeverwaltung war völlig verwahrloſt, da die Maires zumeiſt kein Franzöſiſch verſtanden und ihre Geſchäfte un - wiſſenden Schreibern überließen. Dennoch verfuhr der König bei der unvermeidlichen Neugeſtaltung ſehr ſchonend; er ſprach es als ſeinen un - abänderlichen Willen aus, daß Niemand am Rhein ſeine Stelle ver - lieren dürfe, außer im Falle erwieſener Unfähigkeit. Vielen der kaiſerlichen Beamten hielt man noch jahrelang ihre Stellen offen bis ſie ſich in Bonn die wiſſenſchaftliche Bildung erworben hatten, welche das Geſetz von den preußiſchen Staatsdienern verlangte. Im Jahre 1816 waren an den ſechs rheiniſchen Regierungen angeſtellt: 207 Rheinländer, 23 Nichtpreußen, 159 aus den anderen Provinzen, die Letzteren zumeiſt in den ſubalternen Aemtern, welche den ausgedienten Soldaten vorbehalten blieben: ſicherlich ein billiges Verhältniß, zumal da die große Mehrzahl der rheiniſchen Juriſten ſich dem Juſtizfache zugewendet hatte und die Gerichte auch fernerhin faſt ausſchließlich aus Landeskindern beſtanden. *)Kabinetsordre vom 8. November 1816. Ueberſicht des Perſonals der rheiniſchen Regierungen, 20. Februar 1817.

Aber die einmal erregte Erbitterung wider das kalte, ſtarre Preußen - thum fragte nichts nach Zahlen. Froh ihres geſegneten Landes, ihrer um tauſend Jahre älteren Cultur, noch gänzlich unbekannt mit der deutſchen Welt, die ihnen bei Frankfurt aufhörte, meinten die Rheinländer den Alt - preußen in Allem überlegen zu ſein; Litthauer ſeid Ihr rief einmal Görres ſeinen altländiſchen Freunden zu, und alle Coblenzer dachten wie er. Beſonders anſtößig erſchien dieſem ganz bürgerlichen Volke, daß ſich unter den altländiſchen Beamten auch einige Edelleute befanden. Eine Denk -271Klagen der Rheinländer.ſchrift des liberalen Publiciſten J. Weitzel erklärte dem Staatskanzler mit naivem Selbſtgefühl: die Gerechtigkeit fordert, daß Jeder von Seines - gleichen gerichtet werde; am Rhein iſt dieſe Wahrheit bereits allgemein anerkannt, weil es hier eine öffentliche Meinung unter aufgeklärten Men - ſchen giebt , daher dürfen im Rheinlande nur bürgerliche Beamte wirken. Gleichwohl kamen Fälle der Widerſetzlichkeit gegen die Obrigkeit jetzt un - gleich ſeltener vor als unter der franzöſiſchen Regierung, die doch den Ungehorſam weit ſtrenger beſtrafte als das preußiſche Geſetz. Mochte man beim Schoppen über die ſteifen Preußen klagen, denen die liebens - würdige rheiniſche Kunſt des Lebens und Lebenlaſſens noch ſo fremd war: die Natur forderte doch ihr Recht, im Stillen that es dieſen deutſchen Menſchen doch wohl, daß ſie mit ihren Beamten wieder in der Mutter - ſprache reden konnten. Unter dem Krummſtabe wie unter den Präfekten glaubte alle Welt, jedes Geſetz könne durch Liſt oder Gunſt umgangen werden. Bequem war es nicht, daß die Rheinländer dieſe Meinung jetzt aufgeben und der Majeſtät des Rechtes ſich beugen mußten; aber die makelloſe Rechtſchaffenheit des Beamtenthums und ſeine trotz vereinzelter Mißgriffe unbeſtreitbare Einſicht erzwangen ſich endlich die Achtung des Volks. Unter vier Augen hörte man ſchon zuweilen das halb widerwillige Geſtändniß: herb iſt der Preuß, aber gerecht. Oeffentlich durfte der Preuße freilich nicht gelobt werden.

Die Unzufriedenheit galt gleichſam als das Stammesvorrecht des echten Rheinländers, und ſie ward beſtändig genährt durch die Klagen über den unerhörten Steuerdruck. Die Kirchenzehnten hatte das gläubige Volk der Krummſtabslande willig entrichtet, weil Jeder dadurch mit dem Himmel abrechnete; die franzöſiſchen Steuern galten als Kriegslaſten, man zahlte ſchweigend weil man mußte. Dem proteſtantiſchen Könige aber zählte man jeden Biſſen am Munde nach, und den Meiſten erſchien es noch wie eine Ueberhebung, daß der weltliche Arm in Friedenszeiten Abgaben forderte. Als nun gar unbeſtimmte Gerüchte von der Grundſteuerfreiheit der altländiſchen Rittergüter an den Rhein drangen, da wuchs der Groll, und ein Menſchen - alter hindurch glaubten faſt alle Rheinländer unerſchütterlich, ihr Land werde zum Vortheil des Oſtens ausgebeutet. In Wahrheit befolgte Harden - berg den Grundſatz, die ſchwierige Provinz durch Milde zu gewinnen. In ſcharfen Worten befahl der König den Behörden, bei der Eintreibung rück - ſtändiger Zahlungen Nachſicht zu zeigen, damit nicht um eines Geldge - winnes willen die vertrauende Anhänglichkeit des Volks verſcherzt werde. *)Kabinetsordre an Sack, 14. Septbr. 1815.Während der erſten Jahre erfreuten ſich die Rheinländer im Steuerweſen offenbarer Begünſtigung; denn ſtand die Grundſteuer hier etwas höher als im Oſten, ſo blieb man dafür, nach Aufhebung der droits réunis, von indirekten Abgaben faſt ganz befreit. Auch als die neuen Zoll - und272II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.Steuergeſetze erſchienen, wurden ſie im Weſten ſo mild gehandhabt, daß Benzenberg zu dem Schluſſe kam: außer Poſen und Weſtphalen ſei keine andere Provinz der Monarchie niedriger beſteuert. Mochten die Zahlen - reihen des beredten Publiciſten immerhin der Kritik manche Blößen bieten: unbeſtreitbar blieb doch, daß die Steuerlaſt ſeit der napoleoniſchen Herr - ſchaft ſich erheblich gemindert hatte. Der Regierungsbezirk Aachen zahlte im Jahre 1813 an Steuern 5 Thlr. 2 Sgr. 8 Pf. auf den Kopf, neun Jahre darauf nur 4 Thlr. 8 Sgr. 6 Pf. worunter 14 Sgr. Communal - abgaben. An der beſcheidenen Höhe der Gemeindeabgaben hatte die neue Regierung auch ein Verdienſt; denn ſie half den rheiniſchen Städten bei der Neuordnung ihres verwickelten Schuldenweſens und erließ ihnen die bis zum Jahre 1815 rückſtändigen Zinſen, ſo daß die Mehrzahl der Com - munen am Rhein ſich ungleich beſſer befand als die Städte des Oſtens mit ihrer drückenden Kriegsſchuldenmaſſe. Trotz alledem kamen die Klagen über die Steuerlaſt nie zur Ruhe; man redete, als ſei Preußen verpflichtet die Rheinländer für die Befreiung vom fremden Joche beſonders zu belohnen.

Schon bei ihrem Einzuge waren die Verbündeten in den alten Krumm - ſtabslanden nicht mit ſo ungetheilter Freude aufgenommen worden wie in Berg; die Abgeordneten des linken Ufers verblieben damals alleſammt in dem Pariſer Geſetzgebenden Körper um den Tyrannen deſto ſicher zu ſtürzen, wie ſie nachher behaupteten. Vollends jetzt, da man über die Preußen murrte, gerieth der furchtbare Druck der napoleoniſchen Herrſchaft bald in Vergeſſenheit; man dachte nur noch an ihre Wohlthaten, man ſchwärmte wieder für die glorreichen Ideen von 89, man las mit Vorliebe franzöſiſche oder belgiſche Zeitungen denn die heimiſche Preſſe bot noch wenig, ſelbſt die Kölniſche Zeitung war noch ein kleines Blatt mit kaum 2000 Abonnenten und ſchwor auf die neue Lehre, daß die Sonne über Europa im Weſten aufgehe. Und doch bewies dies neu erwachende Franzoſenthum der Rhein - länder nur, wie kerndeutſch das Volk empfand; der rheiniſche Liberalismus entſprang derſelben conſervativ-particulariſtiſchen Geſinnung, welche ſich in allen anderen preußiſchen Provinzen jeder Veränderung des alten Landes - brauchs entgegenſtemmte. Das Volk liebte das Beſtehende weil es beſtand, und die Regierung kam dieſen Wünſchen ſo weit als möglich entgegen. Die geſammte wirthſchaftliche Geſetzgebung der Revolution, die ja im Weſent - lichen den Gedanken der Stein-Hardenbergiſchen Geſetze entſprach, blieb un - verändert; desgleichen vorläufig die franzöſiſche Gemeindeverfaſſung. Nur die Präfekten und Unterpräfekten mußten den Regierungen und den Land - räthen weichen; und ſelbſt dieſe heilſame Neuerung erregte lauten Tadel. Da ſehe man doch, hieß es bitter, daß Preußen nur darauf ausgehe, das Be - amtenheer ins Unendliche zu vermehren; ſo Großes wie der eine Lezay - Marneſia, der unvergeßliche Präfekt des Rhein-Moſel-Departements, werde das geſammte neue Coblenzer Regierungscollegium nicht ausrichten. Immer wieder erzählte man ſich von finſteren Anſchlägen der Preußen gegen die273Der rheiniſche Adel.rheiniſche Freiheit, und wer nur auf die loſen Worte der Schoppenſtecher hörte mochte leicht an dem Lande verzweifeln. Als der treffliche Land - wirth Schwerz im Auftrage der Regierung die rheiniſchen Landgüter be - reiſte, vernahm er in ſeiner Vaterſtadt Coblenz eine ſolche Fülle von Zornreden, daß er dem Staatskanzler geſtand: kein Menſch iſt mehr hier, der nicht Gott auf den Knien danken würde, wenn das Land wieder unter franzöſiſcher Botmäßigkeit ſtünde. Andere wohlmeinende Beobachter verglichen die Provinz einem Vulkane, der jederzeit ausbrechen könne. *)Regierungsrath Schwerz an Hardenberg, Coblenz Auguſt 1816. Bericht eines kölniſchen Grundbeſitzers an Klewiz, Januar 1817. Oberſtltnt, v. Romberg an den Staatskanzler 24. Auguſt 1817 u. ſ. w.

Erſchreckt durch ſo düſtere Berichte glaubte Hardenberg eine Zeit lang ernſtlich an einen möglichen Abfall. In Wahrheit wurde die Wiederver - einigung mit Frankreich nur von einer kleinen Minderheit am Rhein auf - richtig gewünſcht. Die Rheinländer wußten wohl wie kräftig ihr Wohlſtand jetzt wieder aufwuchs, und dies Band der wirthſchaftlichen Intereſſen erwies ſich ſtärker als die franzöſiſchen Sympathien. Von geheimen Verſchwö - rungen ſtand hier ohnehin nichts zu fürchten; dafür bürgte die beſte Tugend des rheinfränkiſchen Volks, ſein offenherziger Gradſinn. Das Tadeln und Schelten freilich über die Revolution , wie man den neuen Herr - ſchaftswechſel nannte, nahm in den nächſten Jahren ſtets zu. Denn das ältere Geſchlecht kannte noch aus Erfahrung die Plünderungen der republi - kaniſchen Löffelgarde; die Jungen aber, die jetzt heranwuchſen, hatten einſt im Lyceum am Napoleonstage und am Auſterlitztage die Feſtreden auf die Glorie der weltbeherrſchenden Tricolore mit angehört, ſie hatten in den Jahren, welche der Mehrzahl der Menſchen das Leben beſtimmen, den großen Kaiſer geſehen, wie er in der Poppelsdorfer Allee ſeine präch - tigen Küraſſiere muſterte. Und da nun der Liberalismus überall die fran - zöſiſche Freiheit wieder zu bewundern begann, ſo prunkte gerade dies Ge - ſchlecht, das in den zwanziger und dreißiger Jahren die Stimmung am Rhein beherrſchte, gern mit ſeiner franzöſiſchen Bildung; der wälſche Befehl Dutzwitt klang ihm vornehmer als das deutſche raſch , die Landsmannſchaften der Rhenanen auf den weſtdeutſchen Univerſitäten trugen alleſammt die franzöſiſchen Farben, und die alten landläufigen Ge - ſchichten von den Schandthaten der Sansculotten wurden jetzt den Ko - ſaken nachgeſagt.

Das Mißtrauen der Provinz gegen die Regierung fand ſtets neue Nahrung an den Sonderbeſtrebungen der rheiniſchen Ritterſchaft. Nir - gends im Reiche hatte der Adel ſchwerere Einbußen erlitten. Vor einem Menſchenalter beherrſchte er noch das Land durch ſeine Domcapitel, faſt zwei Drittel des Bodens gehörten der Ritterſchaft und der Kirche. Jetzt war der Großgrundbeſitz ſo vollſtändig vernichtet, daß ein Gut von 50 Morgen ſchon zu den großen Gütern gerechnet wurde. Im trier’ſchen Regierungs -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 18274II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.bezirke zählte man nur 102 Grundeigenthümer mit mehr als 300 Morgen Beſitz, im Aachener nur 80, im Düſſeldorfer nur einen einzigen. Von den alten landtagsfähigen Geſchlechtern waren in Berg noch 24, in Cleve gar nur fünf, darunter blos zwei begüterte, übrig. Ein ſcharfer Unter - ſchied von Stadt und Land, von Grundherren, Bürgern und Bauern be - ſtand nicht mehr, und dieſe radikale Zerſtörung der alten ſtändiſchen Glie - derung war eine unwiderrufliche Thatſache, denn hier an Deutſchlands belebteſter Handelsſtraße war ſtädtiſches Weſen ſchon im Mittelalter auf das flache Land hinausgedrungen, die Revolution vollendete hier nur mit einem Gewaltſtreiche, was durch die intenſive Wirthſchaft der dichten Bevölkerung längſt vorbereitet war. Die wenigen Ritterbürtigen, welche den Untergang der rheiniſchen Adelsmacht überlebt hatten, die Wylich, Mirbach, Spee, Neſſelrode konnten ſich in den Umſchwung der Dinge nicht finden; ſie erwarteten von den Befreiern die Wiederkehr der guten alten Zeit und verlangten ſofort im Namen deutſchen Rechtes und deutſcher Ehre die Herſtellung der Zehnten, der Jagdrechte, der Fideicommiſſe. Die Beamten aber, die eingebornen wie die altländiſchen, warnten den Staats - kanzler; denn ſie wußten, daß der Gedanke der ſocialen Gleichheit den Rheinländern der theuerſte aller politiſchen Grundſätze war; und wäh - rend Vincke auf Grund ſeiner weſtphäliſchen Erfahrungen die gebundene Erbfolge vertheidigte, erklärten die rheiniſchen Präſidenten und Landräthe wie aus einem Munde: auf der freien Theilbarkeit des Bodens beruhe die wirthſchaftliche Blüthe des Rheinlandes. *)Freiherr v. Wylich an Hardenberg 16. Febr., an Schuckmann 15. Mai 1816. Berichte vom Reg. -Präſidenten v. Schmitz-Grollenburg, Coblenz 9. Okt., Reg. -Präſidenten v. Erdmannsdorff, Cleve 31. Okt. 1817, Landrath Bitter, Hartung u. A.Daher wurden die Ritter - bürtigen höflich abgewieſen, und ſeit dieſer Enttäuſchung begannen ſie dem preußiſchen Staate zu grollen; nur die von Altersher durch Bildung und freien Sinn ausgezeichneten Fürſtenhäuſer von Wied und Solms traten zu der Krone in ein würdiges Verhältniß. Das Volk aber ließ ſich’s nicht ausreden, daß der Preuße mit dem Adel unter einer Decke liege. Vier Jahre nach der Huldigung ſchilderte Solms-Laubach die Geſinnungen der Provinz alſo: So lange nicht das Unmögliche geſchieht kann eine voll - kommen gute Stimmung nicht bewirkt werden: wenn nicht der Adel ſeine Zehnten zurückerhält, der Bauer aber nicht mehr zehntet. **)Solms-Laubach, Bericht an Prinz Wilhelm 18. Auguſt 1819.

Trotz alledem verwuchs dies bunte, aus altgeiſtlichem und neufran - zöſiſchem Weſen ſo eigenthümlich gemiſchte landſchaftliche Sonderleben un - merklich und ſicher mit dem neuen Staate. Von den beiden Oberpräſi - denten hatte der eine, Miniſter v. Ingersleben in Coblenz, während des Krieges an der Spitze der pommerſchen Verwaltung geſtanden und die Rüſtung der Landwehr mit Umſicht geleitet; den Rheinländern gefiel der alte Herr durch Wohlwollen und gaſtfreundliche Heiterkeit. Der Andere,275Ingersleben. Solms-Laubach.Graf Solms-Laubach in Köln, Steins Freund und Gehilfe bei der deut - ſchen Centralverwaltung, übernahm ſein Amt aus patriotiſchem Pflichtge - fühl, arbeitete ſich mit großem Fleiß in die Verwaltungsgeſchäfte ein und vergaß den mediatiſirten Herrn ſo völlig über dem monarchiſchen Beamten, daß die begehrlichen Ritterbürtigen ihn bald als einen Abtrünnigen be - trachteten; er kannte ſeine rheiniſchen Landsleute und verbot ſeinen Unter - gebenen den herriſchen altpreußiſchen Ton, den das Selbſtgefühl der Rhein - franken nicht erträgt. Keiner von Beiden beſaß die Selbſtändigkeit Vinckes; aber ſie fanden kräftige Hilfe bei der Geſammtheit des Beamtenthums, das faſt durchweg aus tüchtigen Männern beſtand und, von dem geiſt - reichen trier’ſchen Regierungspräſidenten Delius an bis herab zum letzten Gensdarmen, inmitten der argwöhniſchen Bevölkerung feſt zuſammenhielt.

Wer nur offenen Auges um ſich ſchaute, konnte überall auf Märkten und Gaſſen bemerken, wie dieſem Lande mit der Befreiung vom fremden Joche auch die bürgerliche Freiheit und die alten vaterländiſchen Bräuche zurück - kehrten. Die Schmuggler und die Deſerteure, die Landplage der napo - leoniſchen Zeit, verſchwanden ſofort, mit ihnen das unſelige Häſcher - und Späherweſen. Die Städte ſchmückten ſich wieder mit ihren ſtolzen Wappen, die bisher als Symbole des Foederalismus verfehmt waren; auch die alten, von den Franzoſen abgeſchafften Kirmeſſen und Schützenfeſte lebten wieder auf, freilich ſah man in dem Fahnenſchmucke der Feſtplätze faſt nie - mals die Adlerfahne, der das Volk doch das Wiedererwachen der rhei - niſchen Luſtigkeit verdankte. Der Kölner Carneval hatte ſich unter Napoleon ſchüchtern in die Häuſer zurückgezogen; jetzt klangen die fröhlichen Rufe: Alaaf Köln! und Geck loß Geck elans! wieder auf den Gaſſen, die köl - niſchen Funken hielten ihre närriſche Parade, und damit den Preußen doch der Dank nicht fehle wurde wohl einmal ein großer, mit einem Lorbeer - kranz geſchmückter Stockfiſch auf hoher Stange plötzlich über die Volks - menge emporgehoben und mit einem ſtürmiſchen Heil Dir im Sieger - kranz begrüßt; der ſchweigſame König mißfiel den Rheinländern gründlich, wie viel beſſer lebte ſich’s doch mit der ausgelaſſenen Munterkeit des witzigen Kronprinzen. Im Jahre 1822 trat dann ein Verein zuſammen, der die Leitung des ſchönen Volksfeſtes in die Hand nahm und in ſeinen glän - zenden Maskenzügen den Reichthum und das Behagen der neu auf - blühenden rheiniſchen Hauptſtadt mit jedem Jahre deutlicher bekundete. Um dem Rheinlande ihre Duldſamkeit zu zeigen, geſtattete die Regierung auch, gegen das napoleoniſche Geſetz, den öffentlichen Umzug kirchlicher Proceſſionen; ſeit dem Jahre 1818 wurde das Frohnleichnamsfeſt in Köln wieder mit dem alten Pomp unter freiem Himmel gefeiert. Wunderbar, wie die romantiſchen Ideen, die bisher nur in dem engen Kreiſe der Boiſſerees gelebt hatten, jetzt mit einem male ins Volk drangen, wie die Rheinländer anfingen ſich ihrer großen Geſchichte wieder zu erinnern. Als die Franzoſen die Kunſtwerke aus Köln und Aachen entführten, hatte Nie -18*276II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.mand viel darnach gefragt; jetzt da die Preußen den Raub zurückbrachten, veranſtalteten beide Städte Freudenfeſte. Drei Jahre ſpäter legte Cano - nicus Wallraf durch eine großartige Schenkung den Grund für die Kunſt - ſammlungen Kölns. Mit Eifer nahm ſich die Regierung der alten Bau - werke des Landes an; als der König und der Kronprinz zum erſten male nach Trier kamen, hielten ſie ihren Einzug durch die Porta Nigra, die ſoeben wieder frei gelegte Thorburg der Caeſaren. Ihr Beiſpiel wirkte heilſam auf die Geiſtlichkeit, und endlich kam die Zeit, da der bisher ſo über berufene rheiniſche Clerus ſich durch Kunſtſinn und hiſtoriſche Bil - dung vor allen ſeinen deutſchen Standesgenoſſen auszeichnete.

Im Rheinthal begannen ſofort mächtige Strombauten; der Leinpfad war unter franzöſiſcher Herrſchaft faſt zerſtört, das Strombett arg vernach - läſſigt, und es währte noch ſechzehn Jahre bis die Rheinſchiffer bei Binger - brück dem Könige ein Denkmal errichteten, weil er die berüchtigte Durchfahrt durch das Bingerloch auf das Zehnfache hatte erweitern laſſen. Etwas beſſer hatten die Präfekten für den Wegebau geſorgt; doch iſt ſelbſt die wichtigſte Landſtraße der Provinz, die Köln-Coblenzer erſt durch Preußen vollendet worden. Von Jahr zu Jahr ward es lebendiger auf dem Hafendamme am Baienthurm zu Köln, wo vor Kurzem noch Gras wuchs. Das ver - armte Köln ſchickte ſich ſchon an das reiche Straßburg zu überflügeln, in dem einſt ſo ſchmutzigen Coblenz ſahen die Rheinſchiffer jetzt eine lange Zeile ſtattlicher Häuſer über die neue Feſtungsmauer aufragen; alle preu - ßiſchen Städte in den Rheinlanden nahmen raſcher zu als die franzöſiſchen und die kleinfürſtlichen. Der niederrheiniſche Gewerbfleiß erholte ſich ſo ſchnell, daß die Wupperthaler ſchon im Jahre 1821 ihre rheiniſch-weſt - indiſche Compagnie gründen konnten, und zu dieſen altberühmten Induſtrie - plätzen trat jetzt ein neuer hinzu: das Kohlenbecken von Saarbrücken. Die Staatsbergwerke dort förderten im Jahre 1815 mit 500 Arbeitern 1 Mill. Ctr. Kohlen und ſteigerten ihren Ertrag in kurzer Zeit auf das Zweifache zur großen Befriedigung des wackeren Bergmeiſters Bleibtreu, der einſt zuerſt dem Staatskanzler erklärt hatte, wie unentbehrlich dies zukunftsreiche Gebiet für Preußen ſei. Dem rheiniſchen Weinbau war die Verbindung mit dem rebenreichen Frankreich nicht günſtig geweſen; jetzt erſchloß ſich ihm der große norddeutſche Markt, und ſobald die beiden fröhlichen Wein - jahre 18 und 19 den Winzern nach ſchweren Mißernten wieder Mittel und Muth verſchafft hatten, ſchritt man überall, vornehmlich an der Moſel, zum Anbau neuer Reben, ſo daß das Weinland in manchen Gemeinden ſich verdoppelte und Trevir metropolis jetzt mit beſſerem Rechte denn je ſeinen geiſtlichen Ehrennamen Baccho gratissima führte.

Eine nahezu hoffnungsloſe Aufgabe erwuchs der neuen Regierung aus jener gräulichen Waldverwüſtung, welche der waldesfrohe Germane den Wälſchen unter allen ihren Sünden am wenigſten verzieh. Der bergiſche Bauer ballte die Fauſt, wenn ihm Einer von dem alten Stolze277Fortſchritte des Deutſchthums am Rhein.des Landes, dem Königsforſt und dem Frankenforſt ſprach. Von allen den hundertjährigen Eichen und Buchen ſtand keine einzige mehr; und was die Entwaldung der rauhen Höhen des Hunsrücks und der Eifel für das Klima und den Bodenbau bedeutete, das lernte man erſt jetzt mit Schrecken kennen, wenn plötzlich nach einem Gewitter die Gießbäche vom Gebirg ins Moſelthal herunterſtürzten und in wenigen Augenblicken die Fruchterde hinwegſchwemmten, welche der arme Winzer in monatelanger Arbeit die ſteilen Schieferfelſen hinauf getragen. Und welche Maſſen von Raubzeug hatte die läſſige Jägerei der Wälſchen aufwachſen laſſen. Dicht hinter Bonn, im Kottenforſt ſchoß man noch Wölfe; noch 1817 wurden ihrer 159 im Regierungsbezirk Trier erlegt. Der erſte deutſche Forſtmann jener Tage, Landforſtmeiſter Hartig, kam ſelber von Berlin herüber; er hatte ſich einſt, in den Zeiten der großen Domänenverkäufe, ein bleibendes Verdienſt um die alten Provinzen erworben, als er durch - ſetzte, daß die Wälder nicht mit veräußert wurden. Hier im Weſten ver - ſuchte er zu retten was noch zu retten war; manche Aufforſtung ward be - gonnen, eine ſtrenge Forſtpolizei eingeführt, die unter den Bauern viel Groll erregte; aber wer konnte den Winden wehren, die über das kahle Schiffelland der Eifel ſtrichen? Die ungeheure Verwüſtung war nie wieder ganz zu heilen.

Beſſere Früchte trug die Umgeſtaltung des Unterrichtsweſens. Als die Preußen einzogen, fand Joh. Schulze die Schule ruchlos vernach - läſſigt. *)J. Schulze, Denkſchrift über die Kirche und Schule am Rhein, 31. Decbr. 1816.Da der franzöſiſche Staat den Volksſchulen niemals eine Unter - ſtützung gewährte, ſo beſaß mehr als ein Drittel der Gemeinden gar keine Schule, viele Bauerſchaften meinten genug zu thun, wenn ſie einem Wan - derlehrer im Winter vier Monate lang einen Platz auf einer Tenne ein - räumten. Drei Fünftel der Kinder wuchſen ohne jeden Unterricht auf. Auch die niederen Lehranſtalten der Städte erhoben ſich ſelten über die Leiſtungen jener berufenen altbiſchöflichen Schulen, welche den bezeichnenden Namen Silentium führten; nur da und dort hatte ein tapferer Pädagog, wie der Kreuznacher Rector Weinmann, in ſchwerem Kampfe mit den franzöſiſchen Behörden, deutſchen Geiſt unter ſeinen Schülern wach er - halten. Welch eine Arbeit, bis hier der preußiſche Grundſatz der allge - meinen Schulpflicht zur Wahrheit wurde. Die Wohlthat kam vor Allen den Katholiken zu gute, deren Schulen am tiefſten darniederlagen; aber die neuen Lehrer aus dem Seminar zu Trier hatten oft einen harten Stand, da viele der rheiniſchen Pfarrer einſt Mönche geweſen und den Anſchauungen des Kloſters nicht entwachſen waren.

Unhemmbar fluthete der Strom deutſcher Bildung wieder über das be - freite Grenzland herein. Bis vor Kurzem war das geſammte Rheinland, ſelbſt das rechte Ufer, für den deutſchen Buchhandel noch ein todtes Gebiet,278II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ſogar das reiche Wupperthal beſaß zu Anfang des Jahrhunderts keine einzige Buchhandlung; jetzt bildete ſich in Bonn ein neuer Mittelpunkt für den literariſchen Verkehr, und der rührige Perthes knüpfte ſogleich ſeine Geſchäftsfreundſchaften an. Die alten Kölner Patricier ſprachen, wie die Straßburger heute, in Geſellſchaft franzöſiſch, unter ſich im Dialekt; die jungen mußten nun doch ein verſtändliches Hochdeutſch lernen. Manches Jahr ernſten Kampfes und gehäſſiger gegenſeitiger Verkennung ſollte noch dahingehen, bis die neue Provinz ihres Staates froh wurde. Wer aber die geiſtreichen, erregbaren, bildſamen, für alles Fremde empfänglichen Rheinfranken ſo gründlich kannte wie der treue Arndt, der bezweifelte ſchon jetzt nicht, daß dieſem Volke die Berührung mit dem ſcharfen altpreußiſchen Weſen zum Heile gereichen mußte. Nur die Fäulniß ſeines Staates, nur die Unnatur der Theokratie und der Fremdherrſchaft hatte dieſen hoch - begabten Stamm ſo tief herabgebracht; nur ein ſtarker Staat konnte ihn emporheben, und das ſchönſte und älteſte aller deutſchen Lande wieder mit der rüſtigen Kraft des neuen nationalen Lebens befruchten.

Dergeſtalt befand ſich das halbe, oder im Grunde das geſammte Staatsgebiet in einem Zuſtande der Umbildung. Der Staat bedurfte für einige Jahre der monarchiſchen Dictatur. Gewiß konnte das Werk der Verwaltungsreform ſeinen Abſchluß nur in der Reichsverfaſſung finden, deren Nothwendigkeit der König ſelbſt in ſo vielen Kabinetsordres aner - kannt hatte; gewiß konnten die unzähligen widerſtrebenden Elemente des Staates nur durch die anhaltende Gemeinſchaft politiſcher Arbeit und Parteiung zu lebendiger Staatsgeſinnung erzogen werden; aber die Grund - lagen der Verwaltung mußten doch erſt feſtſtehen, ehe man die Krone mit parlamentariſchen Formen umgab. Dieſe Millionen ſchwediſcher und pol - niſcher, ſächſiſcher und franzöſiſcher Herzen bedurften der Zeit, um ihren Kummer auszuweinen, in die neuen Verhältniſſe ſich zu finden. Wer durfte es verantworten, die particulariſtiſchen Vorurtheile, die tauſend ver - letzten örtlichen Intereſſen eines politiſch noch gänzlich ungeſchulten Volkes ſogleich im parlamentariſchen Kampfe auf einander platzen zu laſſen? die allgemeine Wehrpflicht, die Steuergeſetze, die Eintheilung der Provinzen jetzt ſchon den Angriffen einer Oppoſition auszuſetzen, die von den Lebens - bedingungen eines großen Staates nichts ahnte und zum Theil offenbar landesverrätheriſche Abſichten hegte?

Zu Preußens Unheil war der König nicht mehr in der Lage, den Zeitpunkt für die Begründung der Verfaſſung frei zu wählen. Er ſelber hatte ſich der Freiheit beraubt, als er jene unſelige Verordnung vom 22. Mai 1815 unterſchrieb, welche die Berufung einer aus den Pro - vinzialſtänden gewählten Repräſentation des Volkes verhieß. Im ſelben279Das Verfaſſungs-Verſprechen.Sinne verſprachen ſodann die Beſitzergreifungspatente den Schwediſch - Pommern und, im Weſentlichen gleichlautend, den Sachſen: die ſtändiſche Verfaſſung werden Wir erhalten und ſie der allgemeinen Verfaſſung an - ſchließen, welche Wir Unſerem geſammten Staate zu gewähren beabſich - tigen. Auch den übrigen neuen Provinzen wurden Provinzialſtände und Theilnahme an den Reichsſtänden zugeſagt. Das königliche Wort war verpfändet, und ſtürmiſch forderte die patriotiſche Preſſe, deren Gedanken ſich allein um das conſtitutionelle Ideal bewegten, die Einlöſung des Ver - ſprechens. Raſches Handeln ſchien den Ungeduldigen um ſo mehr ge - boten, da die interimiſtiſche Nationalrepräſentation, welche den alten Pro - vinzen die letzten Jahre über als gemeinſames ſtändiſches Organ gedient, im Sommer 1815 endlich aufgelöſt wurde. Dieſe Verſammlung ſelbſt hatte noch kurz vor ihrem Ende, am 7. April, auf den Antrag des ober - ſchleſiſchen Deputirten Elsner v. Gronow beſchloſſen, den König um ſchleunige Einführung einer definitiven Landesrepräſentation und Wieder - belebung der Provinzialſtände zu bitten. *)Protokolle der Interimiſtiſchen Landesrepräſentation, 7. April 1815.

Als Hardenberg den König in Wien zur Gewährung jener verhäng - nißvollen Zuſage bewog, ſtellte man ſich die Erfüllung noch ſehr leicht vor; der erſte Vorſchlag ging dahin, daß ſchon am 1. Juni unter dem Vorſitz des Staatskanzlers eine aus Beamten und aus Eingeſeſſenen der Provinzen gebildete Commiſſion zuſammentreten und bis zum 1. Sept. die preußiſche Verfaſſung zu Stande bringen ſollte. Dies Aeußerſte des Leichtſinns wurde noch glücklich abgewendet, da der Krieg vor der Thür ſtand; die Verordnung ſchob den Zuſammentritt der Verfaſſungscommiſſion auf den 1. September hinaus. Aber auch dieſer Zeitpunkt konnte nicht eingehalten werden, weil der König und ſeine Räthe den Pariſer Congreß nicht verlaſſen durften. Als ſie endlich heimkehrten, da mußten ſie nicht nur die Verfaſſungsarbeit abermals vertagen wegen der unaufſchieblichen Verwaltungsorganiſation; es zeigte ſich auch bald, daß jene von den Libe - ralen ſo hoch geprieſene Verordnung nichts anders war als eine unver - antwortliche Leichtfertigkeit Hardenbergs, der ſchwerſte von allen ſeinen poli - tiſchen Fehlern. Im Jahre 1808 hatten allerdings auf Steins Veran - laſſung Vincke, Schön und Staatsrath Rhediger einige Entwürfe und Vorſchläge für die künftige Verfaſſung niedergeſchrieben; doch von Alledem war wenig mehr zu gebrauchen ſeit das Staatsgebiet ſich verdoppelt hatte. Die neue Verordnung ſelber bot auch keinen feſten Anhalt, ja ſie erwies ſich, ſobald man ſchärfer zuſah, als eine Kette von Räthſeln und Widerſprüchen. Die Provinzialſtände, ſo befahl ſie, ſollten hergeſtellt und aus ihnen der allgemeine Landtag gewählt werden. Aber beſtanden denn wirklich noch Stände, welche als eine Vertretung der ſoeben erſt neugebildeten Pro - vinzen gelten konnten? Beſaßen ſie noch unbeſtrittene Rechte? Wie ſollte280II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.man die ſtändiſche Verfaſſung der neuen Provinzen erhalten und ſie der allgemeinen Verfaſſung anſchließen? Hieß das nicht, dieſe Provinzen als unabhängige Staaten anerkennen und ſie zugleich einem neuen Staate einfügen? Und erhielt man ihre Verfaſſung, durften ſie dann nicht for - dern, daß die allgemeine Verfaſſung nur mit Zuſtimmung ihrer Stände geſchaffen werde? Ein Gewirr verwickelter, unlösbarer Rechtsfragen erhob ſich hier; der Staat ſelber forderte den ſtändiſchen Particularismus ſeiner Landſchaften heraus, die unbedachte Zuſage der Krone gab das Signal zu einem Verfaſſungskampfe, der die Grundfeſten der ſchwer errungenen Staatseinheit bedrohte.

So unglücklich die Form der Verordnung vom 22. Mai, ebenſo um - faſſend war der Plan, der ihr zu Grunde lag. Hardenberg nahm die weitgreifenden Reformgedanken aus Steins kräftigſten Tagen wieder auf; er beabſichtigte eine neue Kreis - und Gemeindeordnung für den geſammten Staat, aus den Kreisſtänden ſollten dann die Provinzialſtände, aus dieſen die Reichsſtände hervorgehen. Nichts lag ſeinen Anſichten ferner als eine geiſtloſe Nachahmung der franzöſiſchen Charte von 1814; vielmehr ver - ſuchte er die Formen der alten deutſchen Landſtände umzubilden für die Zwecke des modernen Repräſentativſyſtems. Die königliche Verordnung ge - brauchte die Worte Repräſentation des Volks und Stände abwechſelnd als gleichbedeutende Ausdrücke; die Abſicht war, einen in drei Stände ge - gliederten Reichstag zu bilden, der aber gänzlich auf dem Boden des Staats - rechtes ſtehen, nicht die wohlerworbenen Rechte einzelner privilegirter Klaſſen, ſondern die Intereſſen des geſammten Volks vertreten ſollte. Der Plan ſtimmte zu den Anſchauungen der Zeit; denn obwohl die Eintheilung der Nation in Ritterſchaft, Bürger und Bauern den Zuſtänden der modernen Geſellſchaft, namentlich im Weſten, längſt nicht mehr entſprach, ſo war doch die öffentliche Meinung noch daran gewöhnt. Auch die neuen ſüd - deutſchen Verfaſſungen gingen von ähnlichen Grundſätzen aus: die erſte Kammer war überall eine altſtändiſche Körperſchaft, im Weſentlichen eine Adelsvertretung, die zweite Kammer in der Regel in mehrere ſtändiſche Gruppen gegliedert. In Preußen beſtanden die neuen Kreisverſamm - lungen, wie die Nationalrepräſentation von 1811, aus den Vertretern der drei Stände; und obgleich der Staatskanzler für ſociale Unterſchiede keine Vorliebe hegte, ſo erkannte er doch die Nothwendigkeit, die Neuerungen an das Gewohnte und Hergebrachte anzuſchließen.

Aber ſelbſt eine ſolche zwiſchen dem Alten und dem Neuen vermittelnde Verfaſſung begegnete in Preußen einem Widerſtande, den die Staaten des Südens nicht zu überwinden hatten; er entſprang den großen, mannich - faltigen Verhältniſſen dieſes Staats und jener klugen Schonung, welche die Hohenzollern in dem langen Kampfe gegen die ſtändiſche Libertät immer bewieſen. In den Staaten des Rheinbundes waren die alten Land - tage durch die rohen Fäuſte eines despotiſchen Beamtenthums längſt be -281Die Verordnung vom 22. Mai 1815.ſeitigt, der Bau der neuen Verfaſſungen erhob ſich hier auf einer kahlen Fläche; nur in Württemberg verſuchten die aufgehobenen Stände ihre Rechte wiederzuerlangen. In Preußen aber hatten ſich faſt überall noch ſchwache Reſte der alten Territoriallandtage erhalten. Da rief plötzlich die vieldeutige königliche Verheißung uralte längſtvergeſſene Anſprüche in den kraftloſen Körpern wach; der Schutt und Moder der Jahrhunderte ſtäubte durch die Luft. Der Kampf der Staatseinheit gegen die Klein - ſtaaterei, nahezu ausgefochten auf dem Gebiete der Verwaltung erneuerte ſich in der Verfaſſungsfrage. Während die Maſſe des Volkes in tiefer Abſpannung verharrte, fanden allein die altſtändiſchen Anſprüche rührige, thatkräftige Vertheidiger, und da den Völkern nur geſchenkt wird, was ſie ſich ſelbſt verdienen, ſo erſchienen die alten Landſtände mächtiger als ſie waren und errangen ſchließlich noch einen halben Erfolg.

Welch ein Abſtand, wenn man hinüberblickte von der monarchiſchen Ver - waltung Preußens zu ſeinen Landſtänden! Dort Alles Einheit, Ordnung, Klarheit, hier ein unüberſehbares Durcheinander, faſt jedes Recht beſtritten. Die ſtändiſchen Landſchaften deckten ſich nirgends mit den Verwaltungs - bezirken des Staats; ihre Verfaſſung ruhte durchgängig auf den privat - rechtlichen Gedanken des Patrimonialſtaats, war von den Rechtsbegriffen des modernen Staats durch eine weite Kluft getrennt; nirgends beſtand eine Vertretung aller Klaſſen. Die Befugniſſe der Stände beſchränkten ſich zumeiſt auf die Verwaltung der ritterſchaftlichen Creditanſtalten und Feuerſocietäten, auf die Repartition einiger Steuern u. dgl. Weitaus am kräftigſten hatte ſich das alte Ständeweſen in Oſtpreußen behauptet, weil hier doch ein Theil der Bauern, die Kölmer, im Landtage vertreten war. Noch im Frühjahr 1813 hatte der Königsberger Landtag ſeine Tüchtigkeit erprobt, und recht aus dem Herzen ihrer Landsleute erklärten die Stände des Mohrunger Kreiſes dem Staatskanzler: dieſe alte von den Vorfahren ererbte Verfaſſung ſei allein dem deutſchen Nationalgeiſt angemeſſen. *)Eingabe der Mohrunger Kreisſtände, 4. Sept. 1816.In Weſtpreußen dagegen waren alle ſtändiſchen Befugniſſe zweifelhaft. Nachdem Friedrich der Große die alten polniſchen Stände aufgehoben, hatte ſein Nachfolger in ſeinem Gnadenjahre eine Verordnung über die ſtän - diſchen Rechte erlaſſen. Sie blieb unausgeführt. Während der Kriegs - jahre berief die Regierung mehrmals ſtändiſche Verſammlungen, deren Zuſammenſetzung ſie ſelber beſtimmte. Was in Wahrheit zu Recht be - ſtehe, wußte Niemand zu ſagen, noch weniger, ob Danzig und die War - ſchauer Landestheile, die jetzt zu der Provinz hinzutraten, einen Antheil an den ſtändiſchen Rechten beanſpruchen durften.

In Pommern beſtanden noch dem Namen nach die hinterpommerſche und die vorpommerſche Landſtube, eine Vertretung der Prälaten, der Ritter - ſchaft und der Immediatſtädte, ohne jede Theilnahme der Bauern und282II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.der kleinen Städte. Aber der vormals übermächtige Landtag war ſeit 1810 nicht mehr verſammelt worden; ſeit der Bauernſtand mit Eifer die neuen Kreisverſammlungen beſchickte, gerieth die alte Oligarchie dermaßen in Vergeſſenheit, daß die Stargarder Regierung in Berlin anfragte, ob die Landſtuben noch beſtünden. Der Beſcheid lautete, das werde ſich erſt entſcheiden, wenn über die Herſtellung der Provinzialſtände beſchloſſen ſei. *)Eingabe der Regierung zu Stargard, 29. April 1814.In Schleſien hatte Friedrich der Große die Fürſtentage der kaiſer - lichen Zeit bis auf die letzte Spur beſeitigt.

Um ſo lauter redeten Hardenbergs alte Gegner, die kurmärkiſchen Stände. Eigenthümlich war dieſem Landtage, der wie in Pommern nur die Prälaten, die Ritterſchaft und die Immediatſtädte vertrat, eine alte überaus verwickelte Schuldenverwaltung, die kurmärkiſche Landſchaft . Die Stände hatten im ſechzehnten Jahrhundert bedeutende landesherrliche Schulden übernommen und verwalteten ſeitdem zu deren Verzinſung den Ertrag einiger Auflagen, welche aber nicht von ihnen ſelbſt, ſondern von dem vielgeplagten contribuablen Stande bezahlt wurden. Es war das Muſterbild einer feudalen Verwaltung, die ja überall, gleich dem feudalen Heerweſen, durch unerreichte Koſtſpieligkeit ſich auszeichnete. Eine Ein - nahme von 300,000 Thlr. jährlich wurde erhoben mit einem Aufwande von 50,000 Thlr. an Gehalten und Diäten. **)Bericht der Potsdamer Regierung, 6. Decbr. 1809.Nachdem die Krone ſchon in den erſten Jahren der Hardenbergiſchen Verwaltung die Marſch - und Moleſtienkaſſe nebſt einigen anderen Eigenthümlichkeiten des ſtändiſchen Aus - ſchuſſes aufgehoben hatte, ſtand jetzt ein neuer Schlag unausbleiblich be - vor. Da der Staat ſein Schuldenweſen ordnete, ſo mußte er auch jene märkiſche Schuld wieder auf ſeine eigenen Schultern nehmen; die Tage der kurmärkiſchen Landſchaft waren gezählt. Alſo begann die kräftigſte Stütze der altſtändiſchen Macht zu verſinken, und ſchwer beſorgt baten einige Deputirte der Ritterſchaft den König um Wiederherſtellung der alten Ver - faſſung und Anhörung der Stände wegen etwa nöthiger Aenderungen. ***)Eingabe der kurmärkiſchen ritterſchaftlichen Deputirten 13. Auguſt 1814.Auch die Neumark beſaß ihren Ober - und Unterſtand , die Altmark und das Cottbuſer Land verlangten wieder einzutreten in die Stände Branden - burgs. Die unglückliche Verordnung vom 22. Mai gab allen dieſen Beſtre - bungen neue Kraft und einen Schein des Rechts. Und ſo zauberiſch wirkte das Wort Verfaſſung auf dies unerfahrene Geſchlecht der Ver - treter des wohlweiſen Berlinerthums, der Bonapartiſt Fr. Buchholz nahm eifrig Partei für den feudalen Adel; er wurde der literariſche Wortführer der Altſtändiſchen, pries in ſeinem Journal für Deutſchland die alte kurmärkiſche Verfaſſung und ſchloß zufrieden: ſo war eine Conſtitution wirklich vorhanden.

283Die alten Provinzialſtände.

Das Ständeweſen der alten Provinzen erſchien immerhin noch wohl geordnet neben den chaotiſchen Zuſtänden der neu erworbenen Landes - theile. Wie war Schwediſch-Pommern ſtolz auf unſere alte Verfaſſung ; nur ſchade, daß Niemand wußte, was darunter zu verſtehen ſei. Die alte Landſchaft der Kreiſe und Städte Vorpommerns war ſchon 1806 durch König Guſtav IV. Adolf aufgehoben und an ihrer Statt die ſchwediſche Verfaſſung mit ihren vier Ständen eingeführt worden unter dem Jubel der Bauern, die jetzt endlich eine Vertretung fanden. Vier Jahre darauf brachte ein abermaliger Gewaltſtreich der Krone Schweden eine neue Verfaſſung, die aber niemals ins Leben trat. Der vorpommerſche Patriot konnte alſo nach Belieben für drei verſchiedene vaterländiſche Ver - faſſungen ſich begeiſtern. In der That gebärdeten ſich Kreiſe und Städte , als ſei gar nichts vorgefallen in dieſen neun Jahren, ſie traten als die rechtmäßige Vertretung des Landes auf und beſtürmten den König mit ihren Beſchwerden. Die Bauern und Pächter aber an ihrer Spitze die beiden unermüdlichen Ludwig Arndt und Chriſt. Lüders verwahrten ſich dawider: ſie hätten die Verfaſſung von 1806 beſchworen, könnten nur dieſe als zu Recht beſtehend anſehen. *)Eingabe vom 20. Juli 1816.

In Poſen beſtand noch ein Deputirtenrath, das will ſagen: ein Ge - neralrath im napoleoniſchen Stile. Da dieſe Verſammlung von der War - ſchauer Regierung ernannt war und überdies nur einen Beſtandtheil des aufgehobenen Präfekturſyſtems bildete, ſo wurde ſie von Preußen, mit vollem Rechte, nicht als ein ſtändiſcher Körper angeſehen und am 26. Aug. 1818 aufgehoben.

Eine unglaubliche Verwilderung ſtändiſcher Anarchie ſtellte ſich in Sachſen heraus ein Zuſtand, wovon Hardenberg offenbar gar nichts ahnte, als er die Verordnung vom 22. Mai entwarf. Jeder der ſieben Theile des Herzogthums Sachſen beſaß ſeine eigene Ständeverſammlung, und da das Stillleben des Junkerthums hier niemals durch die ſtrenge Hand eines ſtarken Königthums geſtört wurde, ſo ſchloß ſich die ſtändiſche Oligarchie durch peinliche Ahnenproben von dem Pöbel ab; noch unlängſt hatte König Friedrich Auguſt einen Grafen von jungem Adel zurückge - wieſen von der heiligen Schwelle der Lauſitzer Stände. Man hielt in dieſen Kreiſen für ſelbſtverſtändlich, daß den an Preußen gekommenen Stücken der ſächſiſchen Erblande noch alle die Rechte zuſtänden, welche der Landtag des Königreichs Sachſen beſeſſen, und verlangte ſogar ein abge - ſondertes Staatsſchuldenweſen zu behalten. Als der Staatskanzler in der Niederlauſitz, die jetzt nur noch einen Bruchtheil der neuen Provinz Bran - denburg bildete, den alten Landtag vorderhand nicht einberufen wollte, da erwiderten die Stände der Landſchaft: Der Inhalt dieſer Verord - nung, die mit wenigen inhaltsſchweren Worten uns Alles nimmt, was284II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.uns bisher das Theuerſte geweſen: unſere wohlbegründete Gerechtſame, unſere verfaſſungsmäßige Wirkſamkeit, unſere gerechten Hoffnungen und unſeren kindlichen Glauben hat uns tief erſchüttert. Sie forderten ſodann, als Repräſentanten des Volks, als bisherige Theilhaber an der Verwaltung und Geſetzgebung , gehört zu werden bei der Berathung der neuen Verfaſſung. Die Stände des Fürſtenthums Querfurt verſuchten zweimal eigenmächtig ſich als Kreisſtände zu conſtituiren, was verboten wurde. Als die preußiſchen Stempelgeſetze in Sachſen eingeführt wurden, richteten die Stände des thüringiſchen Kreiſes eine leidenſchaftliche Be - ſchwerdeſchrift an den König, worin ſie drohend erklärten, dieſer Schritt habe alte Erinnerungen geweckt . Die Bürger und Bauern hingegen er - hoben hier wie in Vorpommern laute Einſprache wider das Gebahren der adlichen Repräſentanten des Volks . Bürgerliche Gutsbeſitzer der Gör - litzer Gegend verlangten, indem ſie den gerechten Sinn der neuen Regie - rung dankend anerkannten, gänzliche Umgeſtaltung der Landſtände, da der gegenwärtige Zuſtand nur auf den doch wohl ſchwachen Anker der Anti - quität zu ſtützen ſei . Die gleiche Bitte ſtellten die Stadtverordneten von Naumburg, denn die alten Stände vertraten nur ihr eigenes Intereſſe, die ſtändiſche Verfaſſung verbarg unter dem Scheine der Geſetzmäßigkeit die ärgſte Tücke . Präſident v. Schönberg aber ſendete dies Schriftſtück nach Berlin mit der Verſicherung, darin ſei das Urtheil aller Gebildeten der Provinz ausgeſprochen. *)Eingabe der Stände der Niederlauſitz 4. Decbr. 1816. Berichte der Merſeburger Regierung, 8. Auguſt 1817, 24. Oktbr. 1819. Eingabe von bürgerlichen Gutsbeſitzern der Oberlauſitz 1. März 1818. Eingabe der Naumburger Stadtverordneten 31. Debr. 1817.

Da die Verordnung vom 22. Mai die Wiederherſtellung der Pro - vinzialſtände, wo ſie mit mehr oder minder Wirkſamkeit noch vorhanden ſind , anbefahl, ſo gedachten auch die alten Stände in den Provinzen weſtlich der Elbe von dem vieldeutigen königlichen Worte Vortheil zu ziehen. Sie waren zwar alleſammt durch Frankreich, Weſtphalen, Berg und Darm - ſtadt aufgehoben. Doch irgend ein verwittertes Trümmerſtück aus den altſtändiſchen Inſtitutionen war faſt überall noch ſtehen geblieben; über - dies berief man ſich auf den Artikel 24 des Tilſiter Friedens, kraft deſſen die neuen Landesherren alle die Verpflichtungen zu erfüllen hatten, welche bisher dem König von Preußen obgelegen, und ſchloß daraus, die von den Rheinbundsregierungen beſeitigten ſtändiſchen Rechte träten jetzt ohne Wei - teres wieder in Kraft. Am früheſten regte ſich der Adel der Grafſchaft Mark, der ſchon während des Krieges um Herſtellung der alten guten Verfaſſung gebeten hatte. Bei der Huldigung erneuerten die Stände ihre Forderung: wir ſind Markaner und lieben als ſolche unſer beſon - deres Vaterland. Seitdem wurde dies Verlangen von dem Wortführer der Stände, Freiherrn v. Bodelſchwingh-Plettenberg, in unzähligen Ein -285Beginn der altſtändiſchen Bewegung.gaben wiederholt: Unſere Verfaſſung hat wohlthätig beſtanden, ehe der preußiſche Staat eine Verfaſſung hatte. Daß der Entwurf dieſer noch nicht vollendet iſt, kann daher kein Hinderniß ſein die unſerige in ihren Grenzen zu laſſen. Nach wiederholten Beſchwichtigungsverſuchen verbot endlich Hardenberg dem unermüdlichen Kläger, den ſtändiſchen Titel zu führen und ſtellte ſpäter (10. Mai 1820) den allgemeinen Grundſatz auf: wo die alten Stände durch die von Preußen im Tilſiter Frieden aner - kannte Fremdherrſchaft aufgehoben ſind, da bleiben ſie aufgehoben bis zur Einführung der neuen Provinzialſtände. *)Vorſtellung der Huldigungsdeputirten der Grafſchaft Mark-an Miniſter v. d. Reck 20. Oktbr. 1815. Eingaben der Stände an den Staatskanzler 20. März, 2. Juni 1817 u. ſ. w. Erwiderungen Hardenbergs 18. Mai 1817, 10. Mai 1820.Der Grundſatz war rechtlich unanfechtbar, da die preußiſche Regierung für die Gewaltſtreiche der Fremd - herrſchaft nicht einzuſtehen hatte, und eine politiſche Nothwendigkeit, denn in dem Augenblicke, da man das Alte neugeſtalten wollte, konnte der alte Zuſtand doch nicht einfach wieder hergeſtellt werden.

Jene Beſtrebungen der markaniſchen Stände bildeten nur ein Glied in der Kette einer weitverzweigten Adelsbewegung, welche die geſammten weſtphäliſch-niederrheiniſchen Lande durchzog und zunächſt darauf ausging, die alte ſtändiſche Union von Jülich, Cleve, Berg und Mark wiederher - zuſtellen. Leider ſchloß ſich auch Stein dieſem Adel an. Der große Staats - mann erkannte zwar, daß die neue Verfaſſung unmöglich mit den alten Ständen vereinbart werden konnte; er wollte freie Hand für den König mit Berathung derer, die er zum Berathen beruft , und warnte ſeine Landsleute vor den ausſchweifenden Forderungen des kurmärkiſchen Adels - hochmuths. Aber voll leidenſchaftlichen Haſſes gegen Hardenberg, erbittert über den zögernden Gang der Regierung, begünſtigte er doch die künſt - lichen und rechtswidrigen Wiederbelebungsverſuche der rheiniſch-weſtphä - liſchen Stände; er ſah darin einen heilſamen Stachel für die Regierung, während ſie in Wahrheit ein Hemmſchuh waren für jede durchgreifende Reform. Sein ariſtokratiſcher Sinn ward härter und ſchroffer, da er alterte; ſein Eigenthümerparlament verſtand er jetzt als eine Vertretung des Grundeigenthums allein; nicht der große Grundbeſitz, ſondern der Adel ſollte den erſten Stand bilden. Und mit welcher ſeltſamen Geſell - ſchaft trat der Freiherr jetzt in Verbindung. Da war im Jülichſchen jener Mirbach, der die Ahnenprobe für die adlichen Landſtände wünſchte. Und im Münſterlande Graf Merveldt, der für jedes der alten Territorien Weſtphalens eine beſondere Ständeverſammlung forderte; aus ihnen ſollten dann die Abgeordneten zum Provinziallandtage gewählt werden: Dieſe Monarchie bildet ſich aus Ländern und Staaten, welche Verfaſſungen hatten, die, dem Himmel ſei Dank, durch keine Revolution aufgelöſt ſind . Nun wandten ſich auch die Stände des Fürſtenthums Paderborn an den286II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.König, baten um ihre Wiederherſtellung. Noch weiter gingen die Land - räthe v. d. Horſt und v. Borries als Deputirte der Mindener Stände; ſie verlangten Wiederaufrichtung der alten Verfaſſung, mindeſtens inſoweit, daß die Mindener Nation ihre Steuern ſelbſt bewillige und die Landes - bewaffnung von ihren Ständen geleitet werde. *)Graf Merveldt, Eingabe an Miniſter Altenſtein 20. Auguſt 1817. Bittſchrift der Paderborner Stände an den König 31. Auguſt 1816. Eingabe der Stände des Fürſten - thums Minden an Hardenberg, 10. April 1815.Die altſtändiſche Be - wegung griff täglich weiter um ſich. Selbſt im Herzogthum Magdeburg, deſſen Stände ſchon lange vor den Tagen des Königs Jerome gar nichts mehr gegolten hatten, auch in der Grafſchaft Hohenſtein und im Eichs - felde wurden Stimmen laut, welche die alten Landtage zurückverlangten.

Solchen Anſprüchen gegenüber konnte die Staatseinheit nur dann gewahrt werden, wenn das Verfaſſungswerk allein von der Krone ausging. Die Nachrichten aus Württemberg, wo der König ſoeben mit einer alt - ſtändiſchen Verſammlung ſich vergeblich über eine neue Verfaſſung zu ver - ſtändigen verſuchte, hinterließen in Berlin tiefen Eindruck. Wer durfte nach dieſen Erfahrungen auch nur daran denken, die preußiſche Verfaſſung mit zwanzig oder mehr altſtändiſchen Landtagen zu vereinbaren? Man bedurfte eines Neubaues. Die neuen Provinzialſtände mußten ſich an - ſchließen an die modernen Provinzen, nicht an die alten Territorien, und neben dem Adel auch den Städten und dem kleinen Grundbeſitze eine an - gemeſſene Vertretung bieten. Zugleich lehrte das Wiedererwachen des ſtän - diſchen Particularismus, wie ſtark die centrifugalen Kräfte noch waren; darum ſchien unerläßlich, den Provinzialſtänden den Reichstag auf dem Fuße folgen zu laſſen.

Dies Alles hatte Hardenberg klar erkannt. Unter den Miniſtern aber herrſchte vollſtändige Rathloſigkeit. Sie ſtanden einem durchaus neuen Probleme gegenüber und betrachteten den zähen Widerſtand der neuen Provinzen, den Lärm der alten Stände mit ſchwerer Beſorgniß. Wäh - rend Ancillon in vertraulichen Geſprächen ſich ſchon der Wünſche der Alt - ſtändiſchen annahm, war Klewiz der Erſte, der ihnen offen entgegenkam. Ein ehrlicher Gegner der feudalen Partei, hatte der wackere Mann doch von jeher die Berechtigung der particulariſtiſchen Kräfte des Staats über - ſchätzt und daher ſchon in jener Denkſchrift, welche die Wiederherſtellung der Provinzialminiſter empfahl, dem Staatskanzler vorgeſchlagen: man möge vorläufig nur Provinzialſtände bilden, dann werde die Nation die Reichsverfaſſung ruhig abwarten. Ein halbes Jahr darauf, im Frühjahr 1817, that er noch einen Schritt weiter nach der altſtändiſchen Seite hinüber. Er ſchrieb eine neue Denkſchrift Was erwarten die preußiſchen Länder von ihrem König und was kann der König ihnen gewähren? und be - antwortete ſeine Frage dahin: Mehr nicht erwarten dieſe Länder, alte287Die erſte Verfaſſungscommiſſion.ſowohl wie neue, als woran ſie gewöhnt ſind und was jemals ſie hatten, ſo weit es mit der Gegenwart noch verträglich iſt. *)Klewiz Denkſchrift vom 28. April 1817, dem Staatskanzler eingereicht am 1. Juni.Er verlangt alſo Herſtellung der Provinzialſtände und erhebliche Erweiterung ihrer Rechte, nicht etwa, weil der Zeitgeiſt es gebietet, ſondern weil der König will, daß die Wohlfahrt ſeines Staates und nach deſſen Beiſpiel Deutſchland und Europa vorſchreite. Durch dieſes Mehr wird zugleich eine Ausgleichung oder allgemeine Verfaſſung für die verſchiedenen Länder oder Provinzen ſich bilden laſſen. Dergeſtalt bleibe die Selbſtändigkeit des Landesherrn geſichert, die durch einen allgemeinen Landtag leicht geſchädigt werden könne. So war denn zum erſten male in einem amtlichen Aktenſtücke die Anſicht ausgeſprochen, daß eine Verfaſſung für den Geſammtſtaat über - flüſſig, ja gefährlich ſei; die reactionäre Partei am Hofe wie die Altſtän - diſchen ſäumten nicht, die Aeußerungen des ängſtlichen Miniſters für ſich zu benutzen. Hardenberg aber widerſprach lebhaft; auch der König war noch nicht gewonnen.

Klewiz ſchlug ferner vor: Zuerſt müßte das Jemals-Beſtandene einzeln ausgemittelt werden; Abgeſandte des Staatsraths ſollten die ein - zelnen Provinzen bereiſen, um die altſtändiſchen Verhältniſſe kennen zu lernen und an Ort und Stelle mit den Eingeſeſſenen über die Verfaſſungs - wünſche der Provinzen ſich zu beſprechen; die Einberufung von Notabeln in die Verfaſſungscommiſſion ſelbſt, wie ſie in der Verordnung vom 22. Mai befohlen war, erſcheine hochbedenklich Angeſichts der württembergiſchen Er - eigniſſe. Der Rathſchlag war wohlgemeint; denn allerdings konnte bei der zerfahrenen Unſicherheit der öffentlichen Meinung eine Notabelnverſamm - lung in Berlin leicht zum Tummelplatze ſocialer Leidenſchaften und parti - culariſtiſcher Gelüſte werden. Da aber das Miniſterium ſich noch nicht einmal über die Grundzüge der Verfaſſung verſtändigt hatte, ſo erwuchs aus der vorgeſchlagenen Bereiſung der Provinzen eine andere kaum geringere Gefahr. Aus den Debatten einer Notabelnverſammlung mußte doch irgend eine Durchſchnittsmeinung hervorgehen; befragte man dagegen einige hundert Notabeln einzeln in ihrer Heimath, ſo ergab ſich nothwendig ein Durch - einander grundverſchiedener ſubjectiver Anſichten, das den ſchwankenden Entſchluß der Krone zu verwirren und zu lähmen drohte. Dieſe Gefahr wurde nicht erkannt, es überwog die Sorge vor den Wirren einer conſti - tuirenden Verſammlung. Der König genehmigte die Bereiſung der Pro - vinzen.

Unter ſolchen Umſtänden wurde am 7. Juli 1817 die Verfaſſungs - commiſſion zum erſten und einzigen male verſammelt. Sie bildete, wie ſich von ſelbſt verſtand, eine Abtheilung des Staatsraths und beſtand aus zwei - undzwanzig Mitgliedern deſſelben. Hardenberg theilte ihr mit, der König halte für einfacher und ſicherer, ſtatt die Eingeſeſſenen nach Berlin zu be -288II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.rufen, vielmehr drei Commiſſäre in die Provinzen zu ſenden. Altenſtein war für die weſtlichen Provinzen beſtimmt, Beyme für Pommern und Preußen, Klewiz für Brandenburg, Sachſen, Schleſien, Poſen. Erſt wenn die Be - richte der drei Abgeſandten vorlägen, ſollte die Commiſſion ihr Gutachten abgeben. Der Staatskanzler erklärte zugleich in einer längeren Anſprache: die älteren Landſtände ſeien wahre Hemmräder in der Staatsmaſchine geweſen; ſeine Verbeſſerungen und ſeinen Flor verdanke der Staat dem Genie ſeiner Regenten; aber da der jetzige Zuſtand nicht ohne großen Nach - theil fortdauern könne, da die Nation reif und würdig ſei, eine dauernde Verfaſſung und Repräſentation zu erhalten, da ſie durch die tapfere Ver - theidung des Vaterlandes und die Erkämpfung der Selbſtändigkeit deſſelben ein ſeltenes Beiſpiel ſtaatsbürgerlicher Tugend und Treue gegen den König gegeben habe, ſo ſei der König zu dem freiwilligen Entſchluſſe gekommen, eine repräſentative Verfaſſung zu geben. Daran ſchloß ſich die beſtimmte Angabe der Schranken, welche der Monarch ſeiner Gewährung geſetzt habe: S. Maj. wollen die künftigen Stände gern über die zu gebenden Geſetze hören, aber Höchſt Ihr beſtimmter Wille iſt, ihnen nur eine berathende Stimme einzuräumen, mit ausdrücklicher Ausſchließung von aller Ein - miſchung in die Verwaltung.

Im Spätſommer und Herbſt vollzogen die drei Miniſter ihre Rund - reiſe. Sie waren beauftragt ſich über alle ſtändiſchen Inſtitutionen, die jemals in den Territorien beſtanden, genau zu unterrichten und für die Zukunft vornehmlich zwei Fragen zu ſtellen: ob eine Vertretung des Bauern - ſtandes neben Adel und Städten möglich und nützlich ſei? und ob man Reichsſtände wünſche oder blos Provinzialſtände? Im Ganzen wurden gegen 300 Perſonen um ihre Anſicht befragt (in Schleſien 57 Notable). Die weitaus größere Hälfte gehörte dem Landadel an, was ſich aus den bis - herigen ſtändiſchen Verhältniſſen nothwendig ergab; doch gaben auch Kauf - leute und Gewerbtreibende, Bürgermeiſter und Geiſtliche in großer Zahl ihre Meinung ab, in den Küſtenprovinzen wendete ſich Beyme mit Vor - liebe an die bürgerlichen Klaſſen. Dagegen wurden aus dem Bauern - ſtande nur Wenige gehört, die Meiſten in Schleſien und Magdeburg, kein Einziger in den vormals ſächſiſchen Landestheilen, wo der Bauer kaum erſt begann ſich von dem Drucke der Adelsherrſchaft zu erholen.

Zieht man die Summe aus dem Gewirr der zumeiſt treuherzig, mit deutſchem Freimuth vorgetragenen Anſichten, ſo erhellt unwiderſprechlich: eine durchgebildete öffentliche Meinung oder gar ein leidenſchaftlicher Volks - wille, der auf die Krone hätte drücken können, beſtand noch nicht, die alt - ſtändiſche Bewegung fand nicht nur kein Gegengewicht im Volke, ſondern eine ſtarke Unterſtützung an dem naiven Particularismus der Provinzen. Provinzialſtände wünſchte man faſt überall; ſehr vereinzelt ſtand der Prä - ſident v. Motz, der um der Staatseinheit willen lediglich einen Reichstag verlangte. Dagegen erklärten ſich zahlreiche Stimmen für Provinzialſtände289Die Bereiſung der Provinzen.ohne Reichsſtände, die Einen aus Particularismus, Andere aus Furcht vor der Erſchütterung des Thrones. Daß die Provinzialſtände an die neugebildeten Provinzen ſich anſchließen müſſen, leuchtet den Meiſten ein; jedoch werden mehrfach Landtage für die Regierungsbezirke, öfter noch Stände für die althiſtoriſchen Territorien gefordert. Desgleichen von der Form der Reichsſtände hegt man grundverſchiedene Vorſtellungen. Manche denken an ein Parlament, Andere an eine kleine Körperſchaft von 40 Köpfen, die zu den Sitzungen des Staatsraths hinzugezogen werden ſoll. Die Frage: ob Ein - oder Zweikammerſyſtem? wird ſelten aufgeworfen. Auch über die Vertretung des Bauernſtandes iſt man nicht einig. Die Mehr - zahl ſpricht dafür, aber viele Edelleute und Bürger bezweifeln, ob ſich eine genügende Anzahl tauglicher Subjecte (ſo lautet der ſtehende Aus - druck) in dem jungen Stande finden laſſe. Dem Landadel graut beſonders vor Bauernadvocaten; er verlangt durchaus, daß die Bauerſchaft nur durch Bauern vertreten werde. Eine keineswegs unbeträchtliche Minder - heit, Männer aus allen Ständen erklären kurzab, das Volk ſei noch nicht reif für ſtändiſche Vertretung, eine geordnete Verwaltung genüge. Sehr häufig wird als einziger Grund für die Verfaſſung mit kindlicher Harm - loſigkeit angegeben: der König hat ſein Wort verpfändet, er muß es ein - löſen, im Uebrigen erwarten wir Alles von ſeiner Gnade. Am Erfreu - lichſten erſcheint in dieſem Chaos unreifer Anſichten das inſtinctive Ver - ſtändniß für den Zuſammenhang von Verfaſſung und Verwaltung, das die Preußen vor den Süddeutſchen jener Tage auszeichnete. Dank den alten Traditionen des Staats und vornehmlich den Stein-Hardenbergiſchen Reformen verſtand hier faſt Jedermann die Bedeutung der Verwaltungs - fragen zu ſchätzen; man ſah in der Verfaſſung nicht den Beginn eines neuen Staatslebens, ſondern die Ergänzung, den Abſchluß der in der Gemeinde - und Kreisverwaltung begonnenen Reformen. Der Einfluß franzöſiſcher Theorien zeigte ſich noch faſt nirgends, ſtändiſche Gliederung galt als ſelbſtverſtändlich.

Nur die Poſener Notabeln ſtanden ſchon auf der Höhe neufranzöſiſcher Bildung. Wie nach einer ſtillen Verſchwörung ſtimmten die polniſchen Edelleute, welche Klewiz befragte, faſt alleſammt überein in dem Verlangen nach einem unabhängigen Provinziallandtage, der das Schulweſen leiten, die Beamten vorſchlagen und ein geſondertes Budget unter der Controle einer Provinzial-Rechenkammer verwalten ſollte. Der unvermeidliche Ge - neral v. Koſinsky überreicht den Entwurf einer auf dem Gleichgewicht der Gewalten beruhenden preußiſchen Foederativverfaſſung : C’est la Prusse qui doit faire l’époque dans le siècle constitutionnel. Preußen hat bisher zu ſeinen Völkern geſagt: Ihr ſollt Heloten ſein, zuſammen - gehalten durch Soldaten und eine herrſchende Beamtenkaſte; jetzt muß der Staat ſeine Pflicht erkennen, eine um ſo zärtlichere Mutter zu ſein,Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 19290II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.da er das Unrecht Europas gegen die unter ſeinem Adler vereinigten Völker anerkennen muß. Alſo Umwandlung Preußens in eine Foede - ration unabhängiger Provinzen mit Provinzialſtänden und Provinzial - truppen! Herr v. Bojanowsky verlangt eine Erklärung der Menſchen - rechte ; Herr v. Morawsky findet die Menſchenwürde nur da vollkommen gewahrt, wo ein Obermenſch regiert, beſchränkt durch einen Sénat conservateur und eine Deputirtenkammer. Auch einzelne Deutſche zeigen ſich angeſteckt von der dieſe Landſchaft beherrſchenden franzöſiſchen Bil - dung. Der Regierungsdirector v. Leipziger bringt einen vollſtändigen Conſtitutionsentwurf nach der wohlbekannten Pariſer Schablone (§ 1. Das Haus Hohenzollern regiert in ununterbrochener Linie nach den be - ſtehenden Hausgeſetzen. § 16. Die chriſtliche Religion iſt die Religion der Nation u. ſ. w.). Offenbar waren ſolche Anſichten des polniſchen Adels, mit ihren kaum verſteckten Hintergedanken, wenig geeignet, die Krone für die Nachahmung franzöſiſcher Inſtitutionen zu gewinnen; doch ſie lehrten noch eindringlicher, wie gefährlich es ſei, ſich mit Provinzialſtänden zu be - gnügen. Auf dieſen letzteren Punkt legte der Oberpräſident Zerboni großes Gewicht; er fragte warnend: wollen wir eine Cantonalverfaſſung wie in der Schweiz einführen? Noch ſind wir keine Nation ſagt ſein Votum. Wir exiſtiren nur in der Idee und erlöſchen mit ihr. Es liegen große Ereigniſſe im Schooße der Zukunft. Sie wird ſie an Preußen anknüpfen. Wir haben keinen Nebenbuhler, wenn wir die Rolle begreifen, die uns zugefallen iſt. Darum Reichsſtände für den Geſammtſtaat, beſchließend, nicht blos berathend. *)Klewiz, Bericht über die Bereiſung von Poſen u. ſ. w. Zerboni, Votum vom 28. Novbr. 1817.

Im Rheinland ſtanden ſich die Anſichten ſehr ſchroff gegenüber. Auf der einen Seite die altſtändiſche Agitation der niederrheiniſchen Adelichen; zu ihnen geſellte ſich jetzt der Freiherr v. Nagel mit einem unerlaubt gründ - lichen Werke über die jülich-cleve-bergiſchen Stände, und der alte kur - trierſche Syndicus Hommer, der den trierſchen Landtag mitſammt ſeiner geiſtlichen Curie wiederherſtellen wollte. Dem gegenüber die demokratiſchen Anſchauungen einer ganz modernen bürgerlichen Geſellſchaft und, namentlich unter den eingebornen Beamten, vereinzelte conſtitutionelle Ideen, die an Frankreichs Nachbarſchaft gemahnten. Zwar die Stadräthe von Köln und Trier erinnerten nur in allgemeinen Sätzen an die verheißene Verfaſſung, als der König in jenem Sommer die Provinz bereiſte, und auch Benzen - berg, der ſich mit den Gutsbeſitzern des Crefelder Kreiſes an den Monarchen wendete, bat nur um berathende Stände. Präſident Sethe dagegen über - reichte dem Miniſter Altenſtein eine Denkſchrift, welche den Reichstag allein aus Wahlen hervorgehen ließ, allen ſelbſtändigen Staatsbürgern das Wahlrecht gab, nur die Mediatiſirten, als nicht ſteuerpflichtig, ausſchloß. 291Aeußerungen der Notabeln.Ueber die altſtändiſche Verfaſſung ſagte er kurzab: ſie war nur ein Schattenbild und Blendwerk von Repräſentation. Gleichen Sinnes forderte ein Düſſeldorfer Richter eine Intereſſenvertretung für die ſocialen Klaſſen, mit Ausſchluß des Adels. Eine andere rheiniſche Denkſchrift ver - langt eine erſte Kammer von lebenslänglich Berufenen aus den Reihen des Grundbeſitzes, des Großkapitals, der Intelligenz, und eine zweite Kammer, die von allen ſelbſtändigen Staatsbürgern in indirekten Wahlen gewählt wird und das geſammte Volk vertritt. Das ſei die nothwendige Ergänzung der allgemeinen Wehrpflicht. Alſo kündigten ſich hier bereits Gedanken an, welche erſt das Jahr 1848 zur Reife bringen ſollte. Mächtig waren ſie noch nicht; denn die Maſſe der Rheinländer lebte allein den Sorgen des Handels und Wandels, weder die conſtitutionelle Bewegung noch die teutoniſche Schwärmerei der Jugend fand bei ihnen ſtarken Wider - hall. In Weſtphalen ſcheint Altenſtein vornehmlich mit dem Adel ge - ſprochen zu haben; von einer Unterredung mit Stein ſchieden beide Theile gleich befriedigt. *)Commiſſionsakten, die Bereiſung der weſtlichen Provinzen betreffend.

In den öſtlichen Provinzen ſtritt man ſich vornehmlich über die Frage, ob der kaum erſt befreite Bauernſtand ſchon fähig ſei zur landſtändiſchen Wirkſamkeit. Den Adel Vorpommerns fand Beyme noch ganz und gar erfüllt von altſtändiſchen Anſchauungen; nur wenige Edelleute wünſchten Reformen, vor Allen Fürſt Putbus, ein wahrer Bauernfreund . Mit geringem Erfolge verſuchte der Greifswalder Profeſſor Schildener in einer Flugſchrift den privilegirten Klaſſen zu erweiſen, daß kein anderer Stand den pommerſchen Geiſt ſo treu bewahre wie die mißachteten Bauern. Unter den Notabeln von Hinterpommern überwog ebenfalls der Wunſch nach Her - ſtellung der alten Verfaſſung; indeß hielt man die Aufnahme der Bauern für unvermeidlich. Der gute und rührige Geiſt, den das Jahr 1813 in Oſtpreußen erweckt hatte, berührte den Miniſter wohlthuend. Hier galt die Vertretung des Bauernſtandes überall als nothwendig. In Weſt - preußen wurde Beyme überraſcht durch die allgemeine politiſche Gleich - giltigkeit: die Städte klagten lebhaft über die ungewohnten Laſten der Städteordnung, der Adel ſprach zumeiſt gegen die Landſtandſchaft der bürgerlichen Rittergutsbeſitzer. **)Beymes Bericht über die Bereiſung von Pommern und Preußen.

Die Mehrzahl der ſchleſiſchen Notabeln war für die Vertretung aller drei Stände in Niederſchleſien; doch wurde faſt allgemein bezweifelt, ob der oberſchleſiſche Bauer für politiſche Thätigkeit reif ſei. Selbſt der hoch - conſervative Feldmarſchall York erklärte ſo ſtark war der Eindruck des königlichen Worts geweſen: Die monarchiſche Verfaſſung und Ver - waltung, ſo wie ſie unter Friedrich dem Großen war, iſt mir die liebſte und beſte. Indeß iſt dem Lande Conſtitution und Repräſentation ver -19*292II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.ſprochen, und das Wort muß gelöſt werden. Auch ſo bald als möglich, weil die Fortdauer großer Laſten doch Unzufriedenheit nährt und bei den Waffen in der Hand des Volks gar zu leicht gefährlich werden kann. *)Yorks Votum, Klein-Oels 12. Sept. 1817.

In den Marken viel Klagen, weil die alte Verfaſſung unter die Füße getreten ſei , viel Angſt vor der drohenden Uebermacht der Bürger und Bauern. Am freiſinnigſten zeigte ſich der Adel der Altmark; er hatte unter der weſtphäliſchen Herrſchaft manches alte Vorurtheil verlernt und ſprach zumeiſt für die Vertretung des Bauernſtandes. Die Bauern der Kurmark aber, ſtolz auf die neuen Kreisverſammlungen, bezweifelten gar nicht, daß ſie auch in den Ständen ihren Mann ſtehen würden. Der Führer der Feudalen, Miniſter v. Voß-Buch, hielt ſich noch behutſam zurück: eine Conſtitution nach dem Geiſte der Zeit ſei faſt unvermeidlich, man könne aber vorerſt nur mit einer ſtändiſchen Verfaſſung beginnen; alſo Provinzialſtände nach Anhörung der alten Stände. Nirgends er - ſchien der alte Klaſſenhaß ſo ſchroff wie in Sachſen. Hier wurde die Reife der Bauern von den Meiſten bezweifelt, von Allen aber das Steuerbe - willigungsrecht für die Provinz verlangt. Man erinnerte wehmüthig an die Verſchwendung der polniſchen Auguſte; ein tüchtiger Mann, v. Berlepſch, erklärte, dieſe Geldſorge ſei in Sachſen der einzige politiſche Gedanke. Wie ſchwierig das Verfaſſungswerk auch weltkundigen Männern erſchien, das lehrt ein Votum des Grafen Wintzingerode-Bodenſtein. Der hatte einſt mitgeholfen, als Friedrich von Württemberg die ſchwäbiſchen Territorien zu einem Reiche zuſammenſchlug; doch in einem Großſtaate ſei ein ſolches Verfahren nicht anwendbar, hier müßten die alten Landſchaften her - geſtellt, die kurmainziſche Landtagsordnung für das Eichsfeld mit einigen Verbeſſerungen wieder aufgerichtet werden.

Nur einer der drei Miniſter, Beyme, fügte den Reiſeberichten eine Darlegung ſeiner eigenen Anſicht hinzu. Er ſpricht in Hardenbergs Sinne, bekämpft die alten Stände als eine Geburt der finſteren Zeiten des Mittelalters, welche das helle Tageslicht nicht vertragen könnte. Er ſieht in Amerika das Ideal einer Verfaſſung , fordert für Preußen eine Ver - tretung der drei Stände, vorläufig in einer Kammer, bis ſich dereinſt ein lebensfähiger Adel bilde, rühmt die Bauern als den jugendlichſten und geſündeſten der Stände, das Rheinland als die aufgeklärteſte Provinz. Volle Oeffentlichkeit für Reichstag, Provinzialſtände und Kreistage. Dazu Grundrechte, den heute beſtehenden faſt gleich, auch Schwurgerichte für Preßvergehen. Gewiſſenhaft wurde von allen drei Abgeſandten die Auf - gabe gelöſt, das Jemals-Beſtandene zu erforſchen. Altenſtein ließ ſich’s nicht verdrießen, in den zahlreichen Territorien, welche die neuen weſtlichen Provinzen bildeten, die Syndici und andere Würdenträger der alten Land - tage aufzuſuchen. Es waren zumeiſt ehrwürdige Herren, hoch in den293Ergebniß der Rundreiſe.Siebzig, mit gutem Gedächtniß , wie der Miniſter verſicherte; jeden Knopf und jeden Schnörkel von dem altfränkiſchen Hausrath verſchollener Tage hatten ſie doch nicht in der Erinnerung behalten. So kam denn mit red - lichem Bemühen eine lange Reihe hiſtoriſcher Ueberſichten zu Stande. Da ſtanden ſorgſam verzeichnet das liberum veto der Polen und die precariae annuae der kurtrierſchen Stände, die ſchleſiſchen Fürſtentage und die Unterherrentage von Jülich, der advocatus patriae des Herzogthums Weſtphalen und die Bleicheroder Steuerſtube der Grafſchaft Hohenſtein, das Veſt Recklingshauſen und der Landtag des Fürſtenthums Corvey mit ſeinen fünf Köpfen und drei Ständen und am Ende war aus dem ganzen Wuſt nur das Eine zu lernen, daß ſich nichts daraus lernen ließ für die lebendige Gegenwart.

Die Bereiſung der Provinzen brachte ein dürftiges Ergebniß: ein unfruchtbares Gewirr von alten Erinnerungen und unſicheren Wünſchen. Auch die wenigen Publiciſten, welche ſich mit der Verfaſſungsfrage be - ſchäftigten, wußten keinen Rath. Der liberale Grävell ſtellte in ſeiner Schrift: Bedarf Preußen einer Conſtitution? die unſchuldige Forderung, daß die geſammte Geſetzgebung ſeit 1806 den Reichsſtänden zur Prüfung vorgelegt werden ſolle; er bedachte nicht, wie leicht dieſer freiſinnige Wunſch zur Zerſtörung der Stein-Hardenbergiſchen Reformen führen konnte. Benzenbergs Buch über Verfaſſung , das König Friedrich Wilhelm freund - lich aufnahm, immerhin eine der reifſten politiſchen Schriften der Epoche, hebt alſo an: In einer Entfernung von 21 Millionen Meilen fliegt eine kleine Kugel um die Sonne, deren Durchmeſſer 1718 Meilen iſt und alſo vom Ei des Ei’s beginnend wälzt die Darſtellung ſich weiter, bis der aufſtöhnende Leſer endlich auf Seite 504 bei Deutſchland anlangt und über Preußen nahezu Nichts erfährt!

Die ernſte Frage: ob dieſe ſtolze abſolute Krone, die ſoeben wieder durch die Neugeſtaltung des Heeres, der Verwaltung, der Steuern ihre unge - brochene Lebenskraft bewährte, ihre Vollgewalt ohne Gefahr mit einer Ständeverſammlung theilen dürfe dies große Räthſel erſchien nach Vernehmung der Stimmen aus dem Volke faſt noch dunkler denn zuvor. Die ſcheltenden liberalen Schriftſteller draußen im Reich, welche über dem Einen, was Hardenberg nicht zu Stande brachte, das Größere vergaßen was er leiſtete, ſie ahnten nicht, welche Sorgen den Staatskanzler be - ſtürmten. Denn trauriger als alle die anderen Beweiſe kindlicher poli - tiſcher Unreife, welche dieſe Rundreiſe an den Tag brachte, war doch die Erfahrung, daß mindeſtens die Hälfte des preußiſchen Volks noch gar nicht über die Grenzen der heimiſchen Provinz hinausblickte. Durchaus richtig ſchilderte Graf Edmund Keſſelſtadt, einer der einſichtigſten Patrioten am Rhein, die Stimmung der neuen Provinzen alſo: der Gedanke einem großen Staate anzugehören iſt einem großen Theile der preußiſchen Unter - thanen fremd, da der Gedanke Deutſche zu ſein ihnen gewiſſermaßen immer294II. 5. Die Wiederherſtellung des preußiſchen Staates.fremd war. *)Keſſelſtadts Votum in Altenſteins Reiſe-Akten.Wenn einem Geſchlechte von ſolcher Bildung das Reprä - ſentativſyſtem gegeben wurde, ſo ſtand freilich zu hoffen, daß die Pflicht - treue des gewiſſenhaften, verſtändigen Volkes ſich mit der Zeit einleben würde in die neue Staatsform. Doch eine Verfaſſung, jetzt verliehen, wäre nicht das Werk der Nation geweſen, ſondern, wie einſt die Städte - ordnung, ein freies Geſchenk des dem Volke voranſchreitenden königlichen Willens.

Der König aber begann eben jetzt, beunruhigt durch die Nachrichten aus dem Süden, ſich den conſtitutionellen Plänen ſeines Staatskanzlers zu entfremden.

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Sechſter Abſchnitt. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.

Die mühſelige Arbeit der Wiederherſtellung, welche in Preußen alle Kräfte der Staatsmänner auf Jahre hinaus in Anſpruch nahm, blieb den ſüddeutſchen Mittelſtaaten faſt ganz erſpart. Dieſe Kronen hatten ſich in allen Kriegen des letzten Jahrzehnts immer rechtzeitig auf die Seite des Siegers geſchlagen und darum bei der großen Abrechnung ihren Beſitzſtand mit geringfügigen Aenderungen behauptet. Ihre Länder waren durch die Nöthe der Feldzüge weit weniger heimgeſucht als der Norden, und nichts hinderte hier ſogleich an das Verfaſſungswerk heranzutreten. Mit dem Sturze des Protectors brach auch die harte Dictatur, welche zehn Jahre lang dieſe jungen Staatsgebilde gewaltſam aufrecht erhalten hatte, unrettbar zuſammen. Die Höfe ſelber fühlten, daß die künſtliche Einheit ihrer Staaten jetzt neuer Stützen bedurfte. Sie hofften, durch die Gewährung einiger unſchädlichen landſtändiſchen Rechte ihre grollenden Unterthanen mit dem Heimathſtaate zu verſöhnen und den Sinn des Volks dem furchtbaren Gedanken der deutſchen Einheit zu entfremden; ſie dachten zugleich durch ſchleunige Erfüllung des Art. 13 der Bundesakte ihre Souveränität gegen jeden Eingriff des Bundestags zu ſichern.

Alſo geſchah es, daß die Kernlande des Rheinbunds um ein Men - ſchenalter früher als Preußen die ſchweren erſten Lehrjahre des conſtitu - tionellen Lebens durchmaßen; und wie dürftig auch das politiſche Er - gebniß dieſer Lehrzeit blieb, ſo hat ſie doch die ſchlummernden Kräfte des Südens geweckt und der Welt nach langer Zeit zum erſten male wieder gezeigt, welchen Schatz Deutſchland an der alten Cultur, an der ſchlicht bürgerlichen Bildung und dem warmherzigen Gemeinſinn ſeines Ober - landes beſaß. Dieſe oberdeutſchen Stämme, die an den politiſchen Kämpfen des achtzehnten Jahrhunderts faſt nur leidend theilgenommen hatten, traten mit einem male in den Vordergrund der deutſchen Geſchichte, und wer die deutſchen Dinge nur nach den Zeitungen oder den Schlagwörtern der Parteien beurtheilte, mochte leicht zu dem Irrthum gelangen, als ob die Führung der Nation von dem Staate Friedrichs nunmehr auf die Baiern, Schwaben und Franken übergegangen ſei.

296II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.

Wie einſt das Zeitalter unſerer claſſiſchen Dichtung ſeine Bühne außerhalb Preußens aufgeſchlagen hatte, ſo fanden jetzt die neuen politiſchen Ideale, welche die Wortführer der öffentlichen Meinung als den eigentlichen Inhalt der Epoche prieſen, in Preußen keinen Boden, und der Staat, deſſen gutes Schwert den Deutſchen ſoeben erſt die Thore einer neuen Zeit geöffnet hatte, erſchien der liberalen Welt wie eine erſtarrte Maſſe, wie ein Blei - gewicht, das die freien Glieder der Nation in ihrer Bewegung hemmte. Befangen in dem Glauben, daß alles Heil der Völker in den conſtitutio - nellen Formen enthalten ſei, hatte man kein Auge mehr für Preußens Heerweſen und Handelspolitik, für die ſtille Arbeit, welche dort den Neu - bau des deutſchen Staates vorbereitete, und während jede Verhandlung der ſchwäbiſchen Kammern in der Preſſe mit leidenſchaftlicher Theilnahme erörtert wurde, blieben die Zuſtände Preußens draußen im Reiche ſo un - bekannt, daß jedes lächerliche Märchen auf gläubige Hörer rechnen konnte. Die ſüddeutſchen Verfaſſungen wurden wirklich, wie die Höfe von München und Stuttgart von vornherein gehofft, eine Stütze des Particularismus. Die Redner der kleinen Landtage führten zwar die deutſche Einheit im Munde, aber der Ernſt ihrer politiſchen Arbeit blieb auf die heimiſchen Grenzpfähle beſchränkt, und da am Bundestage die Politik des Abſolutis - mus die Oberhand behielt, ſo begannen ſie bald die Heimath als den conſtitutionellen Muſterſtaat, als die Hochburg deutſcher Freiheit und Auf - klärung zu preiſen und gelangten ſchließlich zu der naiven Anſicht, ihre Landesverfaſſung ſtehe über den Bundesgeſetzen.

Welch ein Unglück für unſere politiſche Bildung, daß dieſe ſo lang - ſam der Vereinzelung entwachſende Nation ihre erſten conſtitutionellen Erfahrungen in dem Scheinleben ohnmächtiger, unſelbſtändiger Staaten ſammelte. In dieſer Enge erhielt der deutſche Parlamentarismus von Haus aus das Gepräge kleinſtädtiſcher und kleinmeiſterlicher Beſchränktheit. Die ſchwere Schickſalsfrage des feſtländiſchen conſtitutionellen Staatslebens die Frage, wie ſich die parlamentariſchen Formen mit der Macht eines ſtreitbaren Heeres und dem ſtetigen Gange einer großen europäiſchen Politik vereinigen laſſen konnte in ſo abhängigen Gemeinweſen gar nicht aufgeworfen werden. Jeder politiſche Streit ward hier zum per - ſönlichen Zanke, und da der Beſtand des Königthums von Napoleons Gnaden weder Ehrfurcht noch Schonung gebot, ſo entſtand aus dem Un - ſegen der Kleinſtaaterei eine krankhafte Gehäſſigkeit des Parteikampfes, die weder dem gutherzigen Charakter noch den leidlich geſunden ſocialen Zuſtänden unſeres Volkes entſprach. Am letzten Ende ward die Haltung der kleinen Höfe durch den Willen Oeſterreichs und Preußens beſtimmt; ſo lange dieſe führenden Mächte ſich dem conſtitutionellen Syſteme ver - ſagten, blieben die Oppoſitionsparteien der neuen Ständeverſammlungen ohne jede Ausſicht jemals ſelber an das Ruder zu gelangen. In ſolcher Stellung ohne ernſte Verantwortlichkeit gewöhnten ſie ſich an alle Sünden297Alt-Württemberg.des politiſchen Dilettantismus; ſie meinten ihrem ſtaatsmänniſchen Be - rufe zu genügen, wenn ſie nur die Kernſätze der conſtitutionellen Doctrin mit geſinnungstüchtiger Entrüſtung beharrlich wiederholten, und ſuchten was ihnen an Macht fehlte durch prahlende Selbſtüberhebung zu erſetzen. An die Namen: Verfaſſung, Volksvertretung, Volksmann heftete ſich eine faſt abgöttiſche Verehrung; wer zu den Kronen hielt ward als feiler Stellenjäger verdächtigt. Die ſchlechten Künſte der polizeilichen Verfolgung ſteigerten dann mit der Erbitterung auch den Hochmuth der Oppoſition und warben immer neue Anhänger für jene Rotteck’ſche Lehre, welche das Mißgeſchick der unſchuldigen Völker allein aus der Bosheit der Regie - renden herleitete. In der ſchlimmen Schule der bündiſchen Anarchie und des conſtitutionellen Kleinlebens wurden die Deutſchen allmählich das un - zufriedenſte und zugleich das gehorſamſte aller europäiſchen Völker.

Gleich der erſte Landtag dieſer Friedensjahre, der württembergiſche, wirkte verwirrend und verbitternd auf die öffentliche Meinung. Denn hier entlud ſich der lang verhaltene berechtigte Groll wider den rhein - bündiſchen Despotismus mit einer ungeſtümen Heftigkeit, die alle Höfe mit Angſt erfüllte; die demokratiſchen Ideen des neuen Jahrhunderts ver - bündeten ſich mit dem Trotze der altſtändiſchen Libertät; Recht und Un - recht lagen auf beiden Seiten unzertrennlich vermiſcht. Der Kampf um die Neubildung der Verfaſſungsformen erſchien hier zugleich als ein Rechts - ſtreit um wohlerworbene vertragsmäßige Freiheiten, die Machtfragen des conſtitutionellen Lebens wurden nach den Regeln des Civilproceſſes be - urtheilt, und die formaliſtiſche Staatsanſchauung der am Privatrechte ge - ſchulten Juriſten erlangte ſchon in dieſem erſten Verfaſſungskampfe des neuen Deutſchlands ein Anſehen, das der freien Entwicklung des deutſchen Parlamentarismus verderblich wurde.

Unter allen weltlichen Territorien des Reichs hatten Württemberg und Mecklenburg ſich das altſtändiſche Staatsweſen am längſten und treueſten bewahrt; noch um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, in der Blüthezeit des Abſolutismus, wurde in beiden Ländern die ſtändiſche Verfaſſung durch einen Erbvergleich feierlich beſtätigt. Während die Maſſen überall ſonſt die Vielherrſchaft der Herren Stände haßten und die auf - ſtrebende Fürſtenmacht als den Schirmherrn der Schwachen verehrten, war in Württemberg das alte gute Recht dem geſammten Volke ein Heilig - thum. Jeder Altwürttemberger wiederholte mit Selbſtgefühl den Aus - ſpruch von Fox: es giebt in Europa nur zwei Verfaſſungen, die den Namen verdienen, die engliſche und die württembergiſche. In der Ver - theidigung des Landesrechts ging dreihundert Jahre lang alle politiſche Willenskraft dieſes Volkes auf, an ihr ſchulte ſich jener trotzige ſchwäbiſche Rechtsſinn, der in dem Wahlſpruche parta tueri ſeinen Ausdruck fand. Männer, Weiber und Kinder eilten dem alten J. J. Moſer, dem Mär - tyrer des guten alten Rechts, feſtlich entgegen, als er auf die Verwendung298II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Friedrichs des Großen vom Hohentwiel wieder in die Freiheit zurückkehrte; ſelbſt dem groß angelegten politiſchen Kopfe Spittlers waren die Gedanken des heimiſchen Staatsrechts dermaßen in Fleiſch und Blut gedrungen, daß er alle Verfaſſungen der Geſchichte unwillkürlich nach dem Maße der ſchwäbiſchen Freiheit beurtheilte. Dieſe Liebe des Volks verdankte der alt - württembergiſche Staat vornehmlich ſeinem ſtrengbürgerlichen Charakter.

Hier in dem Lande der Städtebünde und der Bauernkriege, auf dem üppigſten Boden des deutſchen Sondergeiſtes ging auch der Adel von jeher ſeines eigenen Weges. Er erwarb ſich die reichsunmittelbare Freiheit und verſchmähte die Theilnahme, als das Land Württemberg im Jahre 1514 mit Herzog Ulrich ſein ſtändiſches Grundgeſetz, den Tübinger Vertrag, vereinbarte; nur in dem Hof - und Staatsdienſte des Hauſes Württem - berg erſchienen die ſchwäbiſchen Reichsritter häufig als bevorzugte Gäſte. Den Landtag des Herzogthums bildeten allein die Prälaten der lutheri - ſchen Landeskirche und die von den Stadträthen erwählten Vertreter der Städte und Aemter eine bürgerliche Oligarchie, im Kleinen ebenſo mächtig wie die Generalſtaaten der niederländiſchen Republik und wie dieſe beſtändig im Kampfe mit einer unfertigen monarchiſchen Gewalt. Der Herzog ſchaltete als abſoluter Herr über ſeinem großen Kammergute, deſſen reicher Ertrag in ruhiger Zeit die Ausgaben des Hofes und der Regierung vollauf deckte. Gerieth er durch Verſchwendung oder Kriegs - nöthe in Schulden, ſo erbat er von dem Landtage die Bewilligung von Steuern und erlangte ſie nur wenn die ſtändiſchen Freiheiten in einem vertragsmäßigen Landtagsſchluſſe abermals beſtätigt und erweitert wurden. In den meiſten anderen altſtändiſchen Territorien benutzte die aufſtrebende monarchiſche Gewalt die Ausſchüſſe der Landſtände um die Macht des Landtags von innen heraus zu zerſtören. Auch der württembergiſche Landtag wurde im achtzehnten Jahrhundert nur noch ſelten berufen; aber ſeine Macht ging nicht auf den Herzog über, ſondern auf die beiden Aus - ſchüſſe der Stände. Der kleine Ausſchuß in Stuttgart war in Wahr - heit der Landesherr. Er tagte beſtändig und ergänzte ſich ſelbſt, er erhob und verwendete die Einnahmen der landſchaftlichen Steuerkaſſe nach freiem Ermeſſen, verſorgte die Kinder und Vettern des bürgerlichen Herren - ſtandes , die Stockmaier, Pfaff und Teuffel in den ſtändiſchen und ſtädti - ſchen Aemtern. Erſchienen dann die dem Herzog und der Landſchaft zu - gleich verpflichteten Geheimen Räthe um die Rechnungen der Steuerkaſſe abzuhören, ſo wurde der rothe Eilfinger Wein nicht geſpart; im Nothfalle that man auch einen Griff in die berüchtigte geheime Truhe des Aus - ſchuſſes. Sie diente zu allen den Künſten der Corruption, deren die Oligarchie nie entbehren kann, zur wohlmeinenden Entfernung eines ungebärdigen, alle Mißbräuche rügenden Beamten oder auch zum Kampfe wider den Landesfürſten. Unerſchütterlich vertheidigte der Ausſchuß die ver - briefte Landesfreiheit gegen jede Regung monarchiſchen Eigenwillens und299Die Landſtände und der Kirchenkaſten.fand Hilfe bald beim Reichshofrath, bald bei dem Hauſe Oeſterreich, das ſich ſeinen Erbanſpruch auf Württemberg nicht verſcherzen wollte, bis endlich England, Preußen und Dänemark die förmliche Bürgſchaft für den letzten großen Freiheitsbrief des Landes, den Erbvergleich von 1770 übernahmen.

Auch die Kirche verwaltete völlig ſelbſtändig ihren reichen Kirchen - kaſten, der über die Einkünfte von 450 Ortſchaften gebot; ſie allein unter allen den lutheriſchen Landeskirchen Deutſchlands hatte ſich das geſammte Beſitzthum der alten Kirche ungeſchmälert erhalten. Und nicht blos darum hieß Württemberg unter den lutheriſchen Theologen der Aug - apfel Gottes. Das kleine Land war der lebendige Mittelpunkt des Pro - teſtantismus in Oberdeutſchland. Mit der ganzen Innigkeit ſeines tiefen Gemüths hatte das Volk ſich einſt freiwillig dem evangeliſchen Glauben zugewendet und ihn dann unter ſchweren Prüfungen ſtandhaft behauptet, während die Heere der Habsburger dreimal das Land überſchwemmten und ſeine Selbſtändigkeit zu vernichten drohten. Die alſo in Kampf und Leiden bewährte Kirche beſtimmte die geſammte Bildung des Volks, ſie ſchenkte dem Lande früh ein leidlich geordnetes Volksſchulweſen und hielt unter den Erwachſenen durch die gefürchteten Vermahnungen ab der Kanzel eine puritaniſche Sittenzucht aufrecht. Die drei hochberühmten Kloſterſchulen in den ſtillen Waldthälern von Urach, Blaubeuren, Maul - bronn, wo die Söhne des Herrenſtandes ihre Bildung empfingen, trugen noch ganz das Gepräge geiſtlicher Lehranſtalten. Auch an der Tübinger Univerſität gab das theologiſche Stift den Ton an; der Stiftler, ſo hieß es, war zu jedem Amte zu gebrauchen. Die Prälatengeſchlechter der Andreä, Oſiander, Bidenbach theilten ſich mit den Bürgermeiſterfamilien in die Beherrſchung des Landtags.

Die großen Tage dieſer bürgerlich-theologiſchen Oligarchie fielen in die ſtille Zeit nach dem Augsburger Frieden, da das geſammte deutſche Leben von der Theologie beherrſcht wurde. Damals, unter dem guten Herzog Chriſtoph und dem frommen Ludwig, der ſeine Zeit ſo ſtillver - gnügt zwiſchen dem Bierkrug und den ſymboliſchen Büchern theilte, galt Württemberg als das Muſterbild eines lutheriſchen Territoriums. Aber ſobald die aufkommenden ſtehenden Heere der modernen Politik neue Aufgaben ſtellten, offenbarte ſich auch hier wie überall die Unfruchtbar - keit des altſtändiſchen Staates. Der kunſtvolle Bau dieſer wohlgeſicher - ten Ständeherrſchaft war auf den ewigen Stillſtand der menſchlichen Dinge berechnet, die Macht des Landesherrn ſo unnatürlich eingeengt, daß Altwürttemberg nur die Sünden, niemals die ſchöpferiſche Kraft der Monarchie kennen lernte. Dem Volke erſchien der Herzog nur als ein läſtiger Dränger und Heiſcher, da er von dem murrenden Ausſchuß beſtändig neue Steuern und Rekruten forderte. Das überſpannte fürſtliche Selbſtgefühl, das im achtzehnten Jahrhundert auch dieſe Dynaſtie ergriff, konnte ſich300II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.hier nicht in der Stiftung gemeinnütziger Anſtalten, in der Pflege des Wohlſtandes und der Bildung bethätigen, ſondern allein in höfiſchem Prunk und gelegentlichen Gewaltſtreichen. Die üppigen Schlöſſer des kleinen Hauſes Württemberg wetteiferten mit den Prachtbauten der pol - niſchen Auguſte, wie der Hohentwiel und der Hohenaſperg mit den Kerkern des Königſteins; die alte Landeshauptſtadt verarmte, weil es der Dirne Eberhard Ludwigs, der Gräfin Grävenitz beliebt hatte, drei Stunden von dem lieblichen Thalkeſſel des Neſenbachs ein Trutz-Stuttgart zu erbauen, das öde Ludwigsburg, die pomphafteſte und häßlichſte unter den zahl - reichen künſtlichen Reſidenzſtädten Süddeutſchlands. Unwürdige Günſt - linge, der Jude Süß, Wittleder und Montmartin trieben ihr gieriges Unweſen am Hofe. Der ungeheure Wildſtand der herzoglichen Forſten verwüſtete die Felder des dichtbevölkerten, geſegneten Gaues; denn der Herzog war nur der Grundherr ſeines Kammergutes, was kümmerten ihn Wohl und Wehe des Landes , das ſich durch ſeinen Ausſchuß, ſeine Stadtſchreiber und Amtleute ſelbſt regierte?

Unter ſolchen Erfahrungen entſtand im württembergiſchen Volke jene eigenthümliche, aus dynaſtiſcher Anhänglichkeit und grollendem Miß - trauen gemiſchte Staatsgeſinnung, deren Spuren noch heute nicht ver - ſchwunden ſind. Wie oft hatte dies Land in ſchwerer Kriegsnoth dem flüchtigen Herzog unerſchütterliche Treue bewährt; zahlloſe Geſänge verherr - lichten den Ruhm des alten Fürſtenhauſes und das Wappenſchild mit den Hirſchhörnern, von jenen Volksliedern an, welche einſt dem ver - bannten wilden Ulrich zuriefen: du biſt der recht natürlich Herr über’s württembergiſche Land , bis herab zu dem echt ſchwäbiſchen Gedichte des jungen Schiller, das Euch dort außen in der Welt drohend aufforderte, vor dem Ruhme Eberhard des Greiners die Naſen einzuſpannen. Dabei hallte das Land doch beſtändig wider von berechtigten und unberechtigten Klagen gegen den Hof, und allgemein herrſchte die Anſicht, daß die ſchwä - biſche Freiheit nur dann beſtehen könne, wenn der Herzog wie ein gefähr - liches Raubthier ſorgſam im Käfig bewacht würde. Auf dem feſten Grunde der Wehrpflicht und der Steuerpflicht erhob ſich in Preußen der moderne deutſche Staat. In Württemberg aber beſtand noch ungebrochen die Staatsgeſinnung des Mittelalters: alle Abgaben wurden nur als außer - ordentliche Laſten für Zeiten der Noth betrachtet und die Befreiung vom Waffendienſte galt als das koſtbarſte aller Landesprivilegien. Der un - kriegeriſche Sinn, der dem Stillleben des altſtändiſchen deutſchen Staates überall eigen war, trat kaum irgendwo unbefangener auf als unter den friedlichen Prälaten und Bürgermeiſtern des Stuttgarter Landtags. Mit zäher Beharrlichkeit verhinderten die Stände die Bildung einer ſtehenden Truppenmacht, ſo daß ſchon der geduldige Herzog Chriſtoph klagte: ſoll mein Land ein Fürſtenthum ſein, ſo gehört dazu wie einen Fürſten mich zu halten.

301Schwäche der landesfürſtlichen Gewalt.

Der Einzige des Hauſes, der einigen Sinn für monarchiſche Größe zeigte, Herzog Friedrich I., erzwang ſich durch einen Verfaſſungsbruch das Recht der Truppenwerbung, weil er mit ſcharfem Blick die Wirren des dreißigjährigen Krieges voraus ſah; aber er ſtarb bevor der Erfolg geſichert war, und ſofort entlud ſich die Rache des Herrenſtandes auf das Haupt ſeines klugen Rathgebers Enslin. Der Hochverräther, der auf dem Uracher Markte unter Henkershänden fiel, blieb fortan das Schreckbild, das die Herzöge vor kriegeriſchem Ehrgeiz warnte. Hatte die Noth der Zeit die Aufſtellung eines kleinen Heeres erzwungen, ſo konnte es den Ständen niemals ſchnell genug entlaſſen werden, ſie ließen ſich’s nicht verdrießen, dem Herzog Eberhard III. noch 1500 Fl. mehr zu bewilligen, damit er nur außer dem entlaſſenen Fußvolk auch ſeine 170 Reiter abdankte; wenige Jahre darauf brach dann ein gräß - licher Raubzug der Franzoſen über das ungerüſtete Land herein. So ward Altwürttemberg wehrlos. Bei jedem feindlichen Einfall floh der Hof aus dem Lande, um von fremder Hilfe ſeine Herſtellung zu er - warten. Auch im achtzehnten Jahrhundert blieb das Heerweſen kläglich; die kräftigen Söhne des herzoglichen Hauſes zogen in auswärtige Dienſte, und der erſte Kriegsheld unter ihnen, Friedrich Eugen kämpfte unter den Fahnen Friedrichs des Großen gegen ſeine ſchwäbiſchen Landsleute. Der tapfere Stamm, der im Mittelalter allen Deutſchen durch kriegeriſchen Ruhm voranleuchtete, verſchwand aus den Annalen unſerer neuen Kriegs - geſchichte; die einzige leidlich befeſtigte Territorialmacht, welche ſeit dem Untergange der Staufer aus dem ſchwäbiſchen Ländergewirr emporge - ſtiegen war, blieb zweihundert Jahre lang ohne jeden Einfluß auf Deutſch - lands Geſchicke.

Gleich dem Heerweſen verkümmerte auch das Beamtenthum unter der ſtändiſchen Herrſchaft. Die geſammte Verwaltung lag in der Hand der übelberüchtigten Schreiber, die ohne akademiſche Vorbildung als In - cipienten bei einem Stadt - oder Amtsſchreiber eintraten und von da durch die Gunſt der Vetterſchaft zu den Stellen der Stadtſchultheißen und Amtleute emporſtiegen. Für ſtaatsmänniſche Köpfe, für neue po - litiſche Gedanken bot dies in Formen erſtarrte Gemeinweſen nirgends Raum; durch lange Jahrzehnte hat die Geſchichte Altwürttembergs nur zwei diplomatiſche Talente aufzuweiſen: jene wackeren Unterhändler Burk - hardt und Varnbüler, die im Weſtphäliſchen Frieden die Wiederherſtellung des Herzogthums durchſetzten.

Auf die Dauer litt auch das geiſtige Leben des Landes unter der Unbeweglichkeit ſeines Staates. Mit gerechter Freude zählten die Schwaben die ſtolze Reihe ihrer Dichter und Denker und fragten, welcher andere Stamm außer den Oberſachſen der Nation ſo viele Helden des Geiſtes geſchenkt habe? Feurige Phantaſie und forſchender Tiefſinn verbanden ſich glücklich in der ſchwäbiſchen Natur, und grade die eigenſten Züge des302II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.germaniſchen Genius waren ihr gegeben: die oft ins Grenzenloſe ſchwei - fende Vielſeitigkeit und jene ſchöpferiſche, urſprüngliche Macht des Denkens, die ſich wohl in Unklarheit und Grübelei verlieren, aber niemals platt und leer werden kann. Dem Lande ſelbſt kam von dieſer Fülle geiſtiger Kräfte nur wenig zu gute. Da ein gelehrtes Beamtenthum faſt gänz - lich fehlte, ſo blieben die Prälaten und die Helfer nahezu die einzigen amtlichen Vertreter der höheren Bildung. Ihnen genügte es, daß der ſchwäbiſche Candidat, neben dem kurſächſiſchen, noch überall in der Welt als der beſte Hauslehrer geſucht wurde. Die Zeit war dahin, da die Prinzen aller lutheriſchen Fürſtenhäuſer nach Tübingen in das Collegium illuſtre zogen; jetzt klagte die Univerſität bitterlich, daß ſie in einem Winkel Deutſchlands verkümmern müſſe. Die freien Gedanken des neuen Jahr - hunderts fanden bei den geiſtlichen Leitern des württembergiſchen Schul - weſens ſo wenig Verſtändniß, daß ſich endlich Herzog Karl Eugen ent - ſchloß, der ſtarren Theologie des Tübinger Stifts ein Gegengewicht zu ſchaffen und in ſeiner Karlsſchule der verweltlichten Wiſſenſchaft eine Freiſtätte eröffnete, die in der kurzen Zeit ihres Beſtandes den Ruhm der alten Hochſchule ganz verdunkelte. Alle die großen Schwaben, welche an der Arbeit der neuen Literatur theilnahmen, von Schiller bis auf Schel - ling und Hegel, mußten ſich ihren Wirkungskreis außerhalb des Landes ſuchen, manche erſt nach ſchwerem Kampfe mit den kleinlichen Vorur - theilen der Heimath. Jener tragiſche Gegenſatz geiſtigen Reichthums und politiſcher Armſeligkeit, die Krankheit unſeres achtzehnten Jahrhunderts, zeigte ſich nirgends häßlicher als hier.

Die Abgelegenheit des Landes, das ſeine alten Welthandelſtraßen längſt verloren hatte; die Mannichfaltigkeit der Bodengeſtaltung mit ihrem bunten Wechſel von rauhen Hochebenen, waldreichen Alpthälern und lachenden Rebengeländen; das Elend der ſtaatlichen Vielherrſchaft und die angeborene unzähmbare Eigenart des Volkes, dem nichts un - leidlicher ſchien als die politiſche Mannszucht dies Alles im Verein rief in Schwaben eine kleinlebige Zerſplitterung und Vereinzelung hervor, wie ſie ſelbſt in Deutſchland ohne Gleichen daſtand. Die kleinen Städte des Herzogthums lebten unter ihren freund-vetterlichen Stadtſchultheißen ganz ebenſo ſtill und abgeſchloſſen für ſich hin wie die benachbarten Reichsſtädte; das unwandelbare gute alte Recht ließ den Gedanken der Staatseinheit, das Bewußtſein gemeinſamer politiſcher Aufgaben nicht aufkommen. Ganz Schwaben Württemberg ſo gut wie die wunderbaren Staatsgebilde der Reichsſtädte, der gefürſteten Propſteien und der reichs - ritterlichen Condominate galt in Deutſchland als das Paradies klein - bürgerlicher Wunderlichkeit: nahe dem Hohenſtaufen lag Krähwinkel, und in Biberach ſammelte Wieland den Stoff für ſeine Abderiten. Was Wunder, daß inmitten dieſer engen Welt die reiche vielgeſchäftige Phan - taſie der Schwaben oft auf ſeltſame Schrullen gerieth; nirgends in303Die Revolution in Schwaben.Deutſchland waren die ſchwachen Köpfe ſeltener, nirgends die Querköpfe häufiger. Kein ſchwäbiſches Städtchen, wo nicht irgend ein verkanntes Genie Abends im Herrenſtüble des Löwen oder des Ochſen ſeine wunder - baren Hirngeſpinſte über Welt und Zeit den eifrig disputirenden Ge - noſſen vortrug. Selbſt das unermeßlich ſtarke Selbſtgefühl des ſchwä - biſchen Stammes trug ein abſonderliches Gepräge. Der Particularismus äußerte ſich nicht, wie bei den Baiern, den Sachſen, den Hannoveranern, in politiſchem Stolz und Ehrgeiz denn wer hätte hier von politiſcher Macht träumen ſollen? ſondern in ſocialen Untugenden: mit gemüth - licher Selbſtgefälligkeit wurden unermüdlich alle Herrlichkeiten der Heimath, von Friedrich Rothbart und Kepler an bis herab zu den trefflichen Knöpfle und Kratzete der ſchwäbiſchen Küche, preiſend aufgezählt, mit dünkelhaftem Mißtrauen alles Ausheimiſche abgewieſen. Im Bewußt - ſein ſeines reichen inneren Lebens betrachtete der blöde, unbeholfene Schwabe die anderen Deutſchen, die ihn durch redefertige Gewandtheit ſo leicht in Schatten ſtellen konnten, halb mit Argwohn, halb mit Ver - achtung, und niemals zeigte ſich Altwürttemberg ungebärdiger, als wenn der Herzog wieder ſo einen Ausländer , der den Landeskindern das Brot wegnahm, an ſeinen Hof berufen hatte.

Sobald die Revolutionskriege über dies verrottete Gemeinweſen her - einbrachen, gerieth ſofort Alles in Gährung. In einem Lande, das ſo lange mit ſeinen Fürſten gehadert hatte, mußten die neuen Freiheits - lehren einen wohlvorbereiteten Boden finden. Zum erſten male nach Jahrzehnten ward der Landtag ſelber wieder verſammelt. Mehr denn anderthalb hundert Flugſchriften erſchienen und forderten Beſeitigung der alten Mißbräuche, Erweiterung des Wahlrechts, regelmäßige Land - tage; freilich wußte keiner dieſer Publiciſten, auch Spittler nicht, das Räthſel zu löſen, wie aus dem Dualismus des altſtändiſchen Vertrags - rechts ohne einen Gewaltſtreich die moderne Staatseinheit hervorgehen ſolle. Inmitten dieſer Wirren beſtieg Herzog Friedrich II. den Thron, der böſeſte und begabteſte Sohn des Hauſes Württemberg, der Neugründer des kleinen Staates, ein durchaus unſchwäbiſcher Charakter, dem Volke gleich widerwärtig durch ſeine Vorzüge wie durch ſeine Sünden, hart, ge - waltthätig, gewiſſenlos, aber auch ſtaatsklug, raſch entſchloſſen und frei von Kleinlichkeit. Wie abgeſchmackt erſchien die ſchwäbiſche Kleinmeiſterei dem Erbprinzen, als er nach weiten Reiſen, nach einem bewegten Dienſt - leben in Preußen und Rußland endlich wie ein Fremdling in die Hei - math zurückkehrte, reich an Erfahrung, vertraut mit allem Glanze und allen Laſtern der großen Welt. Die Vollgewalt der abſoluten Herrſcher - macht, wie er ſie einſt an Friedrich II. und Katharina bewundert hatte, blieb ſein Ideal, und ſeit er gar eine engliſche Prinzeſſin heimgeführt, wuchs ſeine Selbſtüberhebung über alles Maß. Mit brennendem Ehrgeiz zählte er die Stunden, bis ſeine greiſen Oheime und endlich auch ſein304II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Vater die Augen ſchloſſen. Als er zur Regierung gelangte, ſtand er ſchon im dreiundvierzigſten Jahre, da war keine Zeit zu verlieren.

Es galt zunächſt, dem Hauſe Württemberg eine anſehnliche Beute zu ſichern bei dem Raubzuge des deutſchen Fürſtenſtandes gegen ſeine kleinen Genoſſen. Aber auf Schritt und Tritt fand ſich der Herzog durch ſeinen Landtag gehemmt. Während er ſelbſt, als ein geſchworener Feind der Revolution, auf Oeſterreichs Seite trat, verlangten die Stände Neutralität oder Anſchluß an das freie Frankreich und ſchickten ihre eigenen Ge - ſandten nach Raſtatt, Wien, Paris um die Politik des Landesherrn zu durchkreuzen. Wiederholte Vermahnungen des Reichshofraths an die Aus - ſchüſſe, harte Gewaltthaten des Herzogs gegen die Führer der Stände ſteigerten die gegenſeitige Erbitterung. Als in den letzten Zeiten des Directoriums die Heere Moreaus den Südweſten überſchwemmten und die Agenten Frankreichs an dem Plane einer ſüddeutſchen Republik arbeiteten, da entſtanden in Schwaben wie in Baiern geheime jakobiniſche Vereine. Eine Flugſchrift warf bereits die Frage auf: was gewonnen wird, wenn Schwaben eine Republik wird? Inzwiſchen erkannte der Herzog, daß er die erſehnte Gebietsvergrößerung nicht ohne Frankreichs Gunſt erlangen konnte. Er näherte ſich den Franzoſen und brachte durch den Reichs - deputationshauptſchluß ſeine Beute in Sicherheit, bis er dann endlich, überwältigt durch Napoleons dämoniſche Beredſamkeit, offen unter Frank - reichs Fahnen trat, das heilige Reich vernichten half, die ſouveräne Königs - krone errang und den ehrwürdigen Bau der alten Landesverfaſſung mit einem Fußtritt über den Haufen warf. Der Schlag fiel ſo plötzlich und wirkte ſo betäubend, daß im ganzen Lande nur zwei Beamte, Georgii und Sartorius, dem neuen Selbſtherrſcher den Schwur verweigerten; einige Andere erklärten, daß ſie nur der Gewalt gewichen ſeien; alle Uebrigen ſagten ſich ohne Widerſtand von ihrem alten Verfaſſungseide los. Bei der gewaltſamen Abrundung ſeines Staatsgebiets verfuhr König Friedrich mit der ganzen Unbefangenheit eines Wegelagerers und gab den Occu - pationscommiſſären, die er mit ſeinen gefürchteten ſchwarzen Jägern und Chevauxlegers den kleinen Nachbarn über den Hals ſchickte, kurzab die Weiſung: wer unter Ihnen am häufigſten von fremden Regierungen bei mir verklagt wird, der ſoll mir am willkommenſten ſein. Und wie der Herr ſo die Diener. Welch ein Genuß für den groben, ungebildeten altwürttembergiſchen Schreiber, wenn er als königlich württembergiſcher ſouveräner Stabsſchultheiß in ein erobertes Gebiet einziehen oder den ſtolzen Reutlinger Bürgern durch brutale Willkür den ſakermentſchen reichsſtädtiſchen Hochmuth austreiben konnte.

Faſt auf das Dreifache vergrößert blieb das Reich des neuen Schwa - benkönigs noch immer ein ſehr beſcheidener Mittelſtaat, das winzigſte unter den Kleinkönigreichen des Rheinbunds. Es umfaßte nicht einmal das ge - ſammte Gebiet des oſtſchwäbiſchen Stammes und ragte im Norden nur305Das neue Königreich Württemberg.wenige Meilen weit in das fränkiſche Land hinein; das ganze ſchwäbiſche Alpenland, der ſchöne Allgau, kam an Baiern, desgleichen Augsburg, die größte und ruhmreichſte aller ſchwäbiſchen Städte. Aber auf dieſem engen Raume begegneten ſich die ſchärfſten politiſchen, kirchlichen, wirthſchaft - lichen Gegenſätze. Zu dem harten asketiſchen Lutherthum Altwürttem - bergs trat der weltlich heitere Katholicismus Oberſchwabens mit ſeiner joſephiniſchen Aufklärung hinzu; zu der Kleinwirthſchaft der Neckar - und Remslande die großen adlichen Güter und die geſchloſſenen Bauernhöfe des Schuſſenthals; zu dem bürgerlichen Herrenſtande des Herzogthums eine dichte Schaar von Fürſten, Grafen und Reichsrittern und mindeſtens im Hohenlohiſchen bewahrte das Volk ſeinem wohlwollenden alten Fürſten - geſchlechte ein ſtarkes Gefühl dynaſtiſcher Treue. Die Vorderöſterreicher betrachteten den Eintritt in den Kleinſtaat von Haus aus als eine Demü - thigung, auch die geiſtlichen Gebiete hielten feſt zu dem Kaiſerhauſe, dem alten Gegner der württembergiſchen Proteſtanten. Unter den Reichs - ſtädten beſaß nur noch Heilbronn ein kräftiges bürgerliches Leben, ſelbſt das reiche Ulm war verarmt und verdumpft; aber alle, bis auf Bop - fingen und Aalen herab, empfanden bitter den Verluſt der alten Frei - heit, am bitterſten wohl die demokratiſchen Reutlinger, die noch auf ihrem Rathhauſe die alten Siegeszeichen aus den Fehden gegen die Württem - berger Grafen bewahrten.

Ein Verkehr zwiſchen den alten und den neuen Landestheilen hatte bisher kaum beſtanden; man kannte einander faſt nur aus dem land - läufigen freundnachbarlichen Spottgerede. Offene Widerſetzlichkeit wagte ſich nicht mehr heraus ſeit die unglücklichen Mergentheimer ihren Auf - ſtandsverſuch blutig gebüßt hatten. Aber grollend mieden die Unterworfenen den Umgang mit den königlichen Beamten, ſelbſt auf der Univerſität lebten die neuen Landsmannſchaften der Ulmer und der Hohenloher in ewigen Raufhändeln mit den Altwürttembergern. Dieſe bunte kleine Welt in die bürgerlich-proteſtantiſche Verfaſſung des alten Herzogthums aufzu - nehmen war eine offenbare politiſche Unmöglichkeit und auch rechtlich nicht geboten; denn ein großer Theil der neuen Erwerbungen galt als Erſatz für Mömpelgard, das im Stuttgarter Landtage niemals vertreten war. Einige Jahre lang begnügte man ſich mit einem Nothbehelf und behandelte das neue Gebiet, das mit dem alten überall im Gemenge lag, als einen ſelbſtändigen Staat; das ſtille Pfaffenſtädtchen Ellwangen wurde die Haupt - ſtadt dieſes wunderbaren Reiches Neu-Württemberg, weil die Behörden dort in den ſtattlichen Paläſten der alten Pröpſte ein bequemes Unter - kommen fanden. Auf die Dauer ließ ſich die unnatürliche Trennung der beiden Landeshälften nicht halten, ihre Vereinigung aber blieb undurch - führbar ſo lange die Verfaſſung Altwürttembergs beſtand.

Jener Staatsſtreich vom 30. Dec. 1805, der das gute alte Recht be - ſeitigte, entſprang nicht blos der Herrſchſucht eines übermüthigen Tyrannen,Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 20306II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.ſondern auch einem unleugbaren politiſchen Nothſtande. Ueber das ver - einigte Alt - und Neu-Württemberg ſtürzten nun alle Schrecken des Des - potismus herein; aber die Selbſtherrſchaft ſchenkte dem Lande neben un - zähligen Thaten empörender Willkür doch auch die unentbehrlichen In - ſtitutionen des modernen Staates. Das Religionsedikt, König Friedrichs beſtes Werk, zerſtörte die Herrſchaft der lutheriſchen Kirche, gab beiden Be - kenntniſſen gleiche Rechte. Durch die Seculariſation des Kirchenkaſtens und die Aufhebung der ſtändiſchen Kaſſe wurde die Einheit des Staats - haushalts gegründet und die regelmäßige Steuerpflicht durchgeführt, freilich mit ſolcher Härte, daß der Grundbeſitz faſt vier Fünftel ſeines Reinertrags an Abgaben zu zahlen hatte. Das waffenloſe Land erhielt endlich wieder ein kriegstüchtiges kleines Heer, das, wie der König prahlte, mit den Truppen anderer Monarchen in gleicher Linie ſtand; und wenngleich der alte Unfug des Schreiberweſens nicht gänzlich beſeitigt wurde, ſo ent - ſtanden doch durch die neuen Gerichte und Verwaltungsſtellen die erſten Anfänge eines monarchiſchen, akademiſch gebildeten Beamtenthums, und jede Begünſtigung des alten Herrenſtandes fiel hinweg. Selbſt das Unter - richtsweſen, das der König mit roher Geringſchätzung behandelte, gewann mindeſtens die Möglichkeit einer freieren Entwicklung ſeit die Leitung in die Hände weltlicher Behörden kam.

Der ganze Umſchwung vollzog ſich gewaltſam, ſtoßweiſe und darum unvollſtändig: die Patrimonialgerichte fielen, die drückenden Grundlaſten und Frohnden, das Jagdrecht und das gänzlich verrottete Zunftweſen blieben beſtehen. Immerhin brachte dies Schreckensregiment einige Ord - nung in ein Chaos verlebter Territorien und ebnete den Boden, auf dem ſich vielleicht dereinſt ein geſünderes Staatsleben erheben konnte. Der Feind der Revolution begründete ſelber in ſeinem Staate mit revolu - tionärem Ungeſtüm die moderne Rechtsgleichheit, nur daß ſie hier, wie im napoleoniſchen Frankreich, zunächſt als die gleiche Knechtſchaft Aller erſchien. Merkwürdig doch, wie viel Lebens - und Arbeitskraft der böſe dicke König mitten im Schmutze ſeiner Ausſchweifungen ſich bewahrte. Er ſelber war die Seele ſeines Reichs und zeigte ſich unerſchöpflich in neuen Entwürfen: die Hafenſtadt Friedrichshafen am Bodenſee, das Eiſenwerk Friedrichsthal, die Saline Friedrichshall ſollten den Caeſarenruhm des erſten Schwaben - königs der Nachwelt überliefern. Alle ſeine Räthe, die er mit Vorliebe dem deutſchen Anslande entnahm, dienten ihm als willenloſe Werkzeuge, wohl nur Graf Wintzingerode verſtieg ſich zuweilen zu einem eigenen Gedanken. Auch dem Protector gegenüber wußte König Friedrich, bei aller Ergeben - heit, den fürſtlichen Stolz beſſer zu wahren als die anderen Könige des Rheinbunds; er weigerte ſich ſeine Truppen nach Spanien zu ſenden, und Napoleon rief einſt erboſt: wenn dieſer Mann hunderttauſend Sol - daten hätte, ſo würde ich ihm den Krieg erklären.

Die Maſſe des Volks konnte für die berechtigten politiſchen Gedanken,307König Friedrich I. welche bei dem Umſturz der alten Ordnung mitwirkten, unmöglich ein Verſtändniß haben. Sie ſah ringsum nur die Zerſtörung verbriefter Rechte, Beamtenwillkür und Steuerdruck, Unterſchleif und Angeberei. Da - zu die alte Plage der landesfürſtlichen Jagden bis zum Frevelhaften ge - ſteigert; dazu das widerwärtige Schauſpiel eines Hofes, der durch ge - ſchmackloſe Verſchwendung, durch die prunkenden Titel ſeiner Reichs - kammerherren, Reichsmarſchälle und Reichsherolde mit dem Glanze des Weltherrſchers zu wetteifern ſtrebte. Dem ehrenfeſten Stuttgarter Bürger ſtieg das Blut in die Wangen, wenn er von der voltairianiſchen Religions - ſpötterei ſeines Landesvaters hörte; nun gar die Frechheit der verwor - fenen königlichen Lieblinge erinnerte an die Mignons Heinrichs III. von Valois. Soeben wieder erregte ein widerwärtiges Familiendrama im königlichen Hauſe die Entrüſtung der ganzen Welt. Der König hatte einſt ſeine Tochter Katharina zur Ehe mit Jerome Napoleon gezwungen und verlangte jetzt, nach dem Sturze des Kaiſerreichs, daß ſie ſich von ihrem Gatten trennen ſolle. Die edle Frau erwiderte ſtolz: ich habe ſein Glück mit ihm getheilt, er gehört mir an in ſeinem Unglück. Darauf ließ der Vater die Tochter gewaltſam aus Oeſterreich nach Württemberg entführen und hielt dann die beiden Gatten ein Jahr lang im Schloſſe von Ell - wangen feſt, um ſie durch Drohungen und Mißhandlungen zur Heraus - gabe ihres Vermögens zu zwingen. Im Lande ſtieg die Noth und die Erbitterung von Jahr zu Jahr; mancher Verzweifelnde ward nur durch das ſtrenge Verbot der Auswanderung daheim zurückgehalten. Sobald nach dem Tode des Despoten dies Verbot aufgehoben wurde, verließen Viele die Heimath. Die erſten Wellenſchläge des großen Stromes der ameri - kaniſchen Auswanderung zeigten ſich ſchon 1817 in Württemberg; die ab - ziehenden armen Leute aus dem Heilbronner Lande erklärten laut, daß allein die Härte der Beamten und die Laſt der Abgaben ſie vertreibe.

Nach ſiebzehnjähriger Regierung war der König ſeinem Volke noch immer völlig fremd. Wie hätte er ſonſt glauben können, daß dieſe treuen ſteifnackigen Schwaben den Untergang ihres guten alten Rechts ſo ſchnell verſchmerzen würden? Voll Zuverſicht rechnete er auf den unterthänigen Dank ſeines Volkes, als er aus Wien heimgekehrt ſich entſchloß, durch die Verleihung einer Verfaſſung den Beſchlüſſen des Congreſſes zuvorzu - kommen. Er ſollte bald erfahren, daß der gefährlichſte Augenblick für eine verderbte Regierung immer dann eintritt, wenn ſie ſelber zu Reformen ſchreitet. Ein königliches Manifeſt berief einen ungetheilten Landtag für das neue Reich: fünfzig Vertreter des Adels, vier Geiſtliche, je einen Ab - geordneten aus den 64 Oberämtern und den ſieben Städten, welche den napoleoniſchen Titel der guten Städte führten. Noch bevor dieſe Ver - ſammlung zuſammentrat, wußte Jedermann in Stuttgart, ſelbſt das diplomatiſche Corps, daß ein großer Schlag gegen den König im Werke ſei. Das unglückliche Volk gewann das ſo lange unterdrückte Recht der20*308II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.freien Rede endlich wieder, und alsbald regten ſich Alle, welche die Nacken - ſchläge des Despotismus erfahren hatten: die altwürttembergiſchen Land - ſtände und ihr mächtiger Familienanhang, die unvergeßlich beleidigten Fürſten und Reichsritter, die Reichsſtädte und die Prälaten. Der Haß gegen den König erweckte in den alten und den neuen Landestheilen zum erſten male ein Gefühl der Gemeinſchaft. Die Alt-Württemberger zeigten ſich ſofort entſchloſſen ihre geliebte Verfaſſung zurückzufordern, die doch in den neuen Gebieten niemals zu Recht beſtanden hatte. Die Neu - Württemberger gingen auf den Vorſchlag ein, weil die umſtändlichen Formen des guten alten Rechts ein ganzes Arſenal voll ſcharfer Waffen zur Abwehr fürſtlicher Uebergriffe darboten und die Bändigung der monrachi - ſchen Eigenmacht, dieſem Könige gegenüber, Allen als die wichtigſte Auf - gabe erſchien; man dachte ſich’s nicht allzu ſchwer, durch einige Zuſätze über die Gleichberechtigung der Katholiken und die ſtändiſche Vertretung des Adels das unförmliche Verfaſſungsgebäude auch für die Neuwürttem - berger wohnlich einzurichten.

Nur König Friedrich ahnte nichts von dieſen Plänen. Am 15. März 1815 eröffnete er ſelbſt den Landtag und verkündete, daß er heute den Schlußſtein zu dem Gebäude des Staates legen wolle. Darauf ward die neue Verfaſſung verleſen, der König gelobte feierlich ſie zu halten und erklärte, daß ſie hiermit ſofort für alle ſeine Unterthanen verbindlich werde. Jeder Satz dieſes Grundgeſetzes ſchien darauf angelegt dem Könige für ſeine Lebenszeit die ungeſtörte Fortdauer der Selbſtherrſchaft zu ſichern. Ein Landtag, nach denſelben Grundſätzen gebildet wie der gegenwärtige, ſollte in Zukunft aller drei Jahre zuſammentreten um auf den Vorſchlag der Krone über neue Steuern und neue Geſetze zu berath - ſchlagen; er durfte alſo weder die gegenwärtige unerträgliche Steuerlaſt vermindern, noch jene tauſende königlicher Reſcripte, welche in den letzten Jahren das Land zur Verzweiflung gebracht hatten, ſeiner Durch - ſicht unterwerfen. Um ganz ſicher zu gehen hatte der König überdies erſt in den jüngſten Tagen einige neue harte Geſetze über die Militär - pflicht und die Landesmiliz erlaſſen. Damit ſchwand jede Ausſicht auf friedliche Beſſerung der Landesnoth. Der preußiſche Geſandte v. Küſter, ein verſtändiger Mann, der den Aufenthalt an dieſem Hofe kaum zu er - tragen vermochte, ſchrieb tief entrüſtet ſeinem Monarchen: Ew. Majeſtät werden ſelbſt leicht beurtheilen, ob eine ſolche Verfaſſung den Wünſchen der Mächte entſpricht. *)Küſters Bericht, Stuttgart, 16. März 1815.Der König übergab die Urkunde in goldener Kapſel den Präſidenten des Landtags. Aber kaum hatte er das Haus verlaſſen, ſo erhob ſich der Heißſporn der Mediatiſirten, Graf Georg von Waldeck und verlas eine längſt vorbereitete Adreſſe, die in unterthänigen Worten das königliche Geſchenk zurückwies und rundweg erklärte: das309Eröffnung des Landtags.Volk habe ſeine Vertreter nur in der Vorausſetzung gewählt, daß keine andere Baſis als die von den Voreltern ererbte und von allen Regenten beſchworene Conſtitution Württembergs den Verhandlungen zu Grunde gelegt würde. Einſtimmig, in leidenſchaftlicher Erregung genehmigte der Landtag die Adreſſe. Die neue Verfaſſung blieb unbeachtet auf dem Tiſche des Hauſes liegen, ſie ward in wenigen Augenblicken ein werthloſes Stück Papier.

Das ſchroffe Auftreten der Stände gab das Signal für den Losbruch der Volksleidenſchaften. Der ſtändiſche Trotz der guten alten Zeit, die radikalen Stimmungen der neunziger Jahre, der verhaltene Ingrimm der rheinbündiſchen Tage und die neuen Freiheitswünſche, welche der Kampf gegen Napoleon erregt hatte, brauſten durcheinander. Wie viel näher als die nebelhaften Fragen der deutſchen Politik lagen doch dieſem Geſchlechte die handgreiflichen Nöthe der Heimath! Die Petition an den Bundestag um Erfüllung des Art. 13 fand in Schwaben kaum vereinzelte Unterzeichner; der Stuttgarter Landtag aber ward mit Bittſchriften, Beſchwerden und Zu - ſtimmungserklärungen überſchüttet. Eine Unzahl ſtreitbarer Flugſchriften trat für die Stände in die Schranken, manche mit jakobiniſcher Wildheit. Eine Appellation an die hohen Befreier Deutſchlands trug auf dem Titel die drohende Bemerkung Imprimatur kraft der Cenſurfreiheit der württembergiſchen Landſchaft und ſtellte die Frage: Was koſtet dieſe Krone? Die Antwort lautete: Einen himmelſchreienden Eidbruch, viele tauſende erzwungener Meineide, Gewaltthaten ohne Zahl, Erpreſſungen der Willkür und des Uebermuths, und dazu in den Kauf das Menſchen - blut von 30 40,000 aus der hoffnungsvollen Jugend der Landeskinder! Das Blut ſo vieler tauſend Geopferter walle, ſprudle, glühe um den Stuhl des Despoten! Eine zweite Appellation verlangte eine Eidver - brüderung aller rechtlichen Männer für Recht und nichts als Recht aber auch für altes gutes Recht, mit der Loſung: Gott und unſere Rechte! Rechtlich frei, ſo rechtlich treu! Alſo flog der heilige, deutſchen Herzen ſo unwiderſtehliche Name des Rechtes in hundertfachem Widerhall hin und her; mit einigen ſophiſtiſchen Scheingründen halfen ſich die Aufge - regten hinweg über die unbeſtreitbare Thatſache, daß jenes alte Recht in der größeren Hälfte des Landes niemals beſtanden hatte. Begeiſtert nahm die geſammte deutſche Preſſe Partei für den Landtag, weil er die beiden hei - ligſten Empfindungen der Zeit, die treue Liebe zum heimathlichen Brauche und die unbeſtimmte Freiheitsehnſucht zugleich vertrat. Nur die Mün - chener Allemannia verfocht wie immer die Sache des rheinbündiſchen Abſolutismus.

Auf die Adreſſe der Stände folgten ſcharfe Rechtsverwahrungen der Mediatiſirten, der katholiſchen und lutheriſchen Prälaten. Sogar die Agnaten des königlichen Hauſes proteſtirten gegen das neue harte Hausgeſetz, an ihrer Spitze Herzog Paul, ein wüſter Menſch von un -310II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.gezügeltem Ehrgeiz, der gern die Rolle eines ſchwäbiſchen Philipp Egalité geſpielt hätte. Der König fühlte ſich dem ungeheuren Haſſe, der von allen Seiten her über ihn hereinſtürzte, nicht gewachſen, und da auch ſein Kronprinz ihm vorſtellte, wie wenig auf eine Sinnesänderung der Stände zu rechnen ſei, ſo that er klüglich einen Schritt zurück und erklärte ſich am 16. April bereit, durch ſeine Commiſſäre mit vier ſtändiſchen Bevollmächtigten zu verhandeln: dieſe ſollten dann angeben, welche Be - ſtimmungen des alten Landesrechts der Landtag noch in das neue Grund - geſetz aufzunehmen wünſche. Damit war die ſoeben erſt feierlich verkün - digte Verbindlichkeit der neuen Verfaſſung beſeitigt. Jetzt aber zeigte ſich, daß der Landtag nichts Geringeres erſtrebte als die Wiederherſtellung des alten Zuſtandes mit einigen unweſentlichen Aenderungen.

Die Wahlen der Städte und Oberämter waren, mit Ausnahme von neun Kaufleuten, durchweg auf Juriſten, Bürgermeiſter, Schultheißen und Schreiber gefallen. Begreiflich, daß in einer ſolchen Verſammlung die ge - wiegten Kenner des hiſtoriſchen Rechts die Oberhand behaupteten: ſo Weis - haar, Bolley und Georgii, tüchtige, von den Ideen des neuen Liberalismus lebhaft ergriffene Rechtsgelehrte, denen die oligarchiſche alte Verfaſſung als das ſicherſte Bollwerk der Volksrechte erſchien, dann der wackere Bürger - meiſter Klüpfel von Stuttgart, endlich Zahn und Feuerlein, zwei Vir - tuoſen der altwürttembergiſchen Schreibſtube, unvergleichlich in allen Künſten kleinlicher Wortſpalterei. Im Namen der Mediatiſirten führte Graf Waldeck das große Wort, ein unruhiger Kopf, immer bei der Hand wenn der ſüddeutſche Adel ſich zur Wahrung ſeiner Standesrechte ver - ſammelte. Er brachte es über ſich, in einem Athem für unbeſchränkte Volksfreiheit zu ſchwärmen und die Privilegien ſeines Hauſes zu ver - theidigen: das hochgräfliche Haus Limburg, ſo ließ er ſich vernehmen, habe bisher weder den Deutſchen Bund noch das Königreich Württem - berg anerkannt und könne ſich dazu nur herbeilaſſen, wenn ihm ein freier Vertrag angeboten würde. Unter dem niederen Adel that ſich Freiherr v. Varnbüler hervor, ein echter Reichsritter, tapfer, freimüthig, überaus hartnäckig. Späterhin trat auch Oberſt Maſſenbach in die Reihen der Ritterſchaft ein, derſelbe, an deſſen Namen der Fluch von Jena und Prenzlau haftete; der hatte bereits durch die Herausgabe unſauberer Denkwürdigkeiten ſich gerächt für die wohlverdiente Entlaſſung aus dem preußiſchen Heere und entfaltete jetzt in der Politik die nämliche phan - taſtiſche Vielgeſchäftigkeit wie einſt als Soldat. In wüſten, ſchreienden demagogiſchen Schriften forderte er den Adel auf ſich bürgerlich taufen zu laſſen, und verkündete: jetzt haben alle Fürſten mit ihren Völkern neue Verträge zu ſchließen; ſo weit muß es kommen, daß jeder Staats - bürger ſeinen Beitrag zur Staatshaushaltung ſelbſt berechnen kann.

Vorläufig hielt die aus ſo grundverſchiedenen Elementen gemiſchte Oppoſition noch feſt zuſammen; nur fünf vom Adel zogen nachträglich311Die Stände für das alte gute Recht.ihre Zuſtimmung zu der Adreſſe zurück, und ein Theil der Mediatiſirten trat aus, um zunächſt die Entſcheidung des Wiener Congreſſes über die Rechte der vormaligen Reichsſtände abzuwarten. Die Form der Bera - thungen entſprach noch ganz dem altväteriſchen Brauche: die Abgeordneten verlaſen zumeiſt lange ſchriftliche Vota und verſtiegen ſich nur ſelten, beim Austauſch perſönlicher Gehäſſigkeiten, zur freien Rede. Seinen vier Bevoll - mächtigten ſtellte der Landtag einen Ausſchuß von 25 Mitgliedern an die Seite, der die Stelle des alten großen Ausſchuſſes vertreten ſollte und auf jeden Vorſchlag der Regierung ein umſtändliches Gegenbedenken folgen ließ. Und doch konnte ſelbſt die langweilige Förmlichkeit des ſchriftlichen Ver - fahrens nicht verhindern, daß die furchtbare Erbitterung gegen den König ſich oft in ſtürmiſchen Auftritten entlud. Die Stände beantworteten das Entgegenkommen des Monarchen durch eine Zuſammenſtellung der Lan - desbeſchwerden. Welch ein Eindruck, als dies endloſe Schriftſtück verleſen wurde und die unglaubliche Willkür der Landvögte, die frevelhafte Ver - ſchwendung des Königs ſelbſt an den Tag kam: fünf Millionen Gulden, ein volles Drittel der Landeseinkünfte, hatte der Hofhalt jährlich ver - ſchlungen. Alles ſchwieg erſchüttert, Manchem ſtürzten die Thränen aus den Augen; es war, als ob das tief beleidigte Gewiſſen des Volks zu Gericht ſäße über die Sünden dieſer neun Jahre. Unterdeſſen rückte das Verfaſſungswerk nicht von der Stelle. In den ſchärfſten Worten erinnerten die Stände den König an ſeinen gebrochenen Eid; ſie wiederholten un - abläſſig, daß all das namenloſe Elend der letzten Jahre allein von der Verachtung des geprüften Alten komme, und erklärten für den werth - vollſten Beſtandtheil der alten Verfaſſung grade jene beiden Inſtitutionen, welche ſich mit der Einheit der modernen Monarchie am wenigſten ver - trugen: den ſtehenden Ausſchuß und die landſtändiſche Kaſſe. Getreu der altſtändiſchen Ueberlieferung betrachteten ſie das Verhältniß zwiſchen Fürſt und Volk als einen natürlichen Kriegszuſtand und ſcheuten ſich nicht dem Könige ins Geſicht zu ſagen: für den Fall eines neuen Streites müſſe der Landtag eigene Geldmittel beſitzen um verfolgte Beamte zu unterſtützen.

Nach einem halben Jahre unfruchtbaren Streites riß dem Könige endlich die Geduld. Er beſchloß die Verſammlung zu vertagen, forderte ſie auf, einige Bevollmächtigte zur Fortſetzung der Verhandlungen über das Grundgeſetz zurückzulaſſen und verſprach in der Zwiſchenzeit die Landes - beſchwerden ſtreng zu unterſuchen. Die Mehrheit des Landtags aber kam von den Formeln des altwürttembergiſchen Staatsrechts nicht los; ſie be - ſtand darauf, daß ein großer Ausſchuß als Vertreter der Rechte des Landes zurückbleiben müſſe, und als der Monarch dieſe ſtändiſche Neben - regierung zurückwies, gingen die Stände trotzig auseinander ohne Bevoll - mächtigte für die Verfaſſungsarbeit zu ernennen. Bevor der Landtag ſich trennte ſpielte er noch ſeinen höchſten Trumpf aus und wendete ſich (26. Juli) an die Bürgen des alten Erbvergleichs, Dänemark, England312II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.und Preußen mit der Bitte um Vermittlung, denn die Annahme des königlichen Entwurfs würde dem Volke als ein Verrath erſcheinen. So ſtand es noch um den Nationalſtolz des Südens: der vielgefeierte erſte Landtag dieſer Friedensjahre ſchloß mit dem Verſuche, im Namen der Volksrechte zwei fremde Mächte zur Einmiſchung in Deutſchlands innere Händel zu bewegen.

Mit wachſender Spannung war das Land dieſen Kämpfen gefolgt. Der Landtag konnte ſich während der letzten entſcheidenden Sitzungen nur mit Mühe der Ständchen und Hochrufe des Stuttgarter Volks erwehren. Nach der Vertagung ſtrömte das Landvolk in dichten Schaaren gen Lud - wigsburg, und der König ließ ſeine Reiter vor den Thoren ſtreifen um die einſame Reſidenz vor dem Getöſe der Sturmpetitionen zu ſichern. Die rückkehrenden Männer des Volkes aber empfing daheim ein Sturm überſchwänglicher Huldigungen, der den Eigenſinn und das ſtarre Selbſt - gefühl der Altrechtler bedenklich ſteigerte. Und wie hätte inmitten dieſer brauſenden Volksbewegung der edle Dichter ſchweigen ſollen, der für die Herzensgeheimniſſe des ſchwäbiſchen Volks allezeit das rechte Wort fand und überdies durch ſeinen demokratiſchen Bürgertrotz, durch ſeine juriſtiſche Bildung, durch die Ueberlieferungen ſeiner Familie zu der altwürttem - bergiſchen Rechtspartei geführt wurde? Ludwig Uhland begleitete jeden Auftritt des wirrenreichen Kampfes mit den ſchlichten, volksthümlichen Klängen ſeiner Vaterländiſchen Gedichte und wendete nach dem Rechte der Wiederholung, das dem politiſchen Dichter wie dem Publiciſten zu - ſteht in mannichfachen Weiſen immer nur den einen Gedanken hin und her:

Du Land des Korns und Weines,
Du ſegenreich Geſchlecht,
Was fehlt Dir? All und Eines:
Das alte gute Recht!

Die kräftigen Lieder ſchollen weit über Schwabens Grenzen hinaus und ſchürten mächtig die unklare Aufregung der Zeit. So würdig und maß - voll die Form war, aus allen ſprach doch die radikale Lehre Alles oder Nichts , aus allen der ſcharfe Vorwurf, daß die Bosheit ruchloſer Ge - walthaber die Völker um ihre verbrieften Rechte betrüge. Befangen in dem Geſichtskreiſe der Heimath übertrug der ſchwäbiſche Dichter den Groll, der in der dumpfen Luft des württembergiſchen Despotismus nicht unbe - rechtigt war, auch auf die Zuſtände des geſammten Vaterlandes und ſchil - derte ſchon am dritten Jahrestage der Leipziger Schlacht in dem ſchönſten und radikalſten ſeiner politiſchen Gedichte die Lage Deutſchlands als völlig hoffnungslos. In einem Augenblicke, da Preußens Staatsmänner, kaum erſt aus Paris heimgekehrt, mit der Einrichtung der neuen Verwaltung noch alle Hände voll zu thun hatten, beſchwor Uhland ſchon den Geiſt Theodor Körners herauf und ließ ihn zürnend ſagen: untröſtlich iſt’s313Wangenheim.noch allerwärts! Der ungerechte Ausſpruch drang der teutoniſchen Jugend bis ins Mark und wurde von den Parteien der Oppoſition in Vers und Proſa ſo lange nachgeſprochen, bis nach abermals drei Jahren die Un - tröſtlichkeit wirklich hereinbrach.

Die Anrufung der drei Garanten hatte, wie jeder Unbefangene vor - ausſehen konnte, nur die eine Folge den König von Neuem zu reizen. Keiner der drei Höfe glaubte ſich berechtigt, für eine längſt aufgehobene Verfaſſung, deren Beſtand nur auf dem Boden des alten Reichsrechts möglich geweſen war, jetzt noch nachträglich einzutreten. Preußen insbe - ſondere hielt ſich behutſam zurück, obgleich Hardenberg die Verſöhnung zwiſchen Fürſt und Volk aufrichtig wünſchte; denn König Friedrich, der ſich in der jüngſten Zeit eng an Rußland angeſchloſſen hatte, bekundete ſeinen alten Groll gegen die norddeutſche Großmacht ſo gehäſſig und heraus - fordernd, daß der Geſandte Küſter mehrmals daran dachte ſofort abzu - reiſen. Unter ſolchen Umſtänden konnte ein Einmiſchungsverſuch des Ber - liner Cabinets nur ſchaden. Aber auch König Friedrich fand auswärts keine Hilfe. Bei allen Höfen ſtand er im übelſten Rufe; alle ohne Aus - nahme verlangten, daß der europäiſche Skandal des ſchwäbiſchen Willkür - regiments ein Ende nehmen müſſe. Fürſt Metternich ſprach ſich ſogar offen für die Sache des Landtags aus, da ſein eigenes Geſchlecht zu den württem - bergiſchen Mediatiſirten gehörte und in den letzten Jahren ſchwere Unbill erfahren hatte. *)Küſters Berichte 1. Nov. 1815 ff.

Der einſt allmächtige kleine Herr war völlig vereinſamt; unaufhaltſam wuchs die Aufregung im Lande, aus mehreren Oberämtern kamen ſchon Proteſte gegen die neue Steuerausſchreibung. Nach ſeiner entſchloſſenen Art fand ſich der König raſch in die veränderte Lage und berief in ſeiner Noth den Freiherrn K. A. v. Wangenheim in das Cabinet, einen Thüringer, deſſen Name ſchon für einen ehrlichen Syſtemwechſel bürgte. Wangen - heim war bereits in jungen Jahren als coburgiſcher Beamter dem unred - lichen Regimente des Miniſters Kretſchmann mit unerſchrockenem Freimuth entgegengetreten und zur Strafe des Landes verwieſen worden. Er hatte dann in Franken eine Zuflucht gefunden bei dem ritterlichen Freiherrn v. Truchſeß, den die romantiſche Welt als einen zweiten Sickingen feierte, und dort auf der Bettenburg, in der neuen Herberge der Gerechtigkeit mit dem jungen Dichter Friedrich Rückert Freundſchaft fürs Leben ge - ſchloſſen. Als er einige Jahre nachher im Auftrage eines kleinen thüringi - ſchen Hofes nach Stuttgart kam, da gewannen ihm ſeine geiſtvollen, von übermüthigen Einfällen ſprudelnden Geſpräche, ſeine glänzende Erſcheinung und ſeine unverwüſtliche Ausdauer beim Zechgelage das Wohlgefallen des Königs, der ihn ſofort in ſeine Dienſte nahm. Die Gnade währte nicht lange; mein Student , wie der König ihn nannte, erregte bald Anſtoß314II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.durch das offenherzige Ausſprechen ſeiner deutſchen Geſinnung, und man war endlich froh ihn als Curator der Univerſität nach Tübingen zu ent - fernen. Hier verkehrte er, ein treuer, einſichtiger Förderer der Wiſſen - ſchaft, freundlich mit allen namhaften Gelehrten der Hochſchule, am Liebſten doch mit dem Myſtiker Eſchenmaier, der den erregbaren, für alle Spiele der Phantaſie empfänglichen Dilettanten in die kabbaliſtiſchen Formeln ſeiner naturphiloſophiſchen Staatslehre einweihte. Als der Verfaſſungs - kampf ſich verſchärfte, trat Wangenheim plötzlich mit einer Schrift die Idee der Staatsverfaſſung hervor. Das wunderliche Buch zeigte ſchlagend, wie unvereinbar das alte gute Recht mit dem modernen Staatsbegriffe ſei, und entwickelte ſodann mit feierlichem Pathos das Programm einer un - fehlbaren, allen Anſprüchen der Idee genügenden Muſterverfaſſung. Es war die alte Montesquieu’ſche Doctrin in phantaſtiſchem Aufputz: die heilige Dreizahl der Naturphiloſophie ſollte ſich in dem Gleichgewicht der drei Gewalten offenbaren; die Volksmaſſe erſchien als die Vorſtellungs - kraft, die Gemeinde als die Einbildungskraft, der Landtag als das Be - gehrungsvermögen des Staates. Immerhin verbargen ſich hinter der doctrinären Hülle einige gute, ausführbare Vorſchläge, und da dem Könige ſich nirgends ſonſt ein Helfer darbot, ſo beauftragte er dieſen literariſchen Vermittler mit der Beilegung des Verfaſſungsſtreites.

Voll ſtolzer Zuverſicht folgte Wangenheim dem Rufe. Er krankte bereits an jener maßloſen Selbſtüberſchätzung, welcher begabte Köpfe in engen Verhältniſſen ſo leicht verfallen, und meinte ſich berufen, dem ganzen Deutſchland durch eine Verfaſſung ohne Gleichen ein glänzendes Vorbild zu bieten. Obgleich er den Rheinbund aufrichtig haßte, ſo konnte er ſich doch nicht enthalten, ſeine geliebte myſtiſche Dreizahl auch auf die geſammt - deutſche Politik zu übertragen und hatte ſich längſt ſchon das Syſtem einer deutſchen Trias ausgeklügelt, das der ſchmachvollen Dreitheilung der napo - leoniſchen Tage leider ſehr ähnlich ſah. Oeſterreich und Preußen erſchienen ihm beide als halbfremde Mächte, Preußen insbeſondere als der unerſättlich habgierige Feind der angeſtammten Fürſtenhäuſer; die Geſammtheit der Kleinſtaaten, das reine Deutſchland ſollte dieſe Mächte in Schranken halten, das Gleichgewicht zwiſchen beiden herſtellen, ihnen in Freiheit und Geſittung immerdar voranleuchten, der Kernſtamm aber unter den rein - deutſchen Kernſtämmen blieben die Schwaben. Wangenheim liebte ſeine neue Heimath bis zur Vergötterung und hing an dem königlichen Hauſe mit einer ritterlichen Treue, die ſich ſelbſt in Augenblicken gerechten Unmuths nie verleugnete. *)Ich benutze hier u. A. eine Sammlung von Briefen Wangenheims an ſeinen Freund Geh. Rath v. Hartmann, die mir Herr Prof. Hartmann in Stuttgart mit - getheilt hat.Aber er kannte die Landesverhältniſſe nur oberflächlich und verſtand die eigenrichtigen Köpfe nicht zu behandeln. Schlimm genug315Nachgiebigkeit des Königs.ſchon, daß er ein Ausländer war und durch ſein reines Hochdeutſch die ſchwäbiſchen Ohren beleidigte; doch als er ſich gar in burſchikoſen Witzen über die Bocksbeuteleien der alten Verfaſſung erging und über die altwürttembergiſchen Schreiber ſagte: ſolche Subjecte wüßten von Himmel und Erde nichts als Rechnungen zu machen, die Niemand ver - ſtehe als wieder ein Schreiber da erſchien er dem Lande wie ein Heilig - thumsſchänder. Eine Fluth von Spottreden ergoß ſich über das Staats - begehrungsvermögen und die anderen naturphiloſophiſchen Schrullen des württembergiſchen Solon .

Im Oktober 1815 wieder einberufen hatte der Landtag abermals in einer zwanzig Bogen langen Adreſſe die alte Verfaſſung für das ganze Land gefordert und drohend hinzugefügt: das Volk fängt an, an der Zu - kunft zu verzweifeln. Da endlich, in einem Miniſterrathe am 11. Novbr., gewann Wangenheim den König für den Vorſchlag, daß man den Alt - rechtlern ihr theures Princip zugeben müſſe. *)Küſters Bericht 11. Nov. 1815.Zwei Tage darauf über - raſchte der Monarch die Stände durch eine Botſchaft, welche den auswär - tigen Diplomaten faſt wie ein Wunder erſchien. Er erklärte darin, daß er die innere Giltigkeit der alten Landesverträge nicht beſtreite, ſon - dern nur ihre Anwendbarkeit, und bot ſodann in vierzehn Artikeln das unbeſchränkte Steuerbewilligungsrecht, die Verantwortlichkeit aller Staats - diener, endlich und vor Allem die gemeinſame Reviſion aller ſeit 1806 erlaſſenen Geſetze. Die Artikel enthielten in der That Alles was von den altſtändiſchen Einrichtungen noch irgend lebensfähig erſchien und außerdem noch eine lange Reihe neuer, werthvoller Rechte. Der König ſchloß mit der Verſicherung: würden auch dieſe Vorſchläge verworfen, dann bleibe ihm nichts übrig als in Altwürttemberg das alte Recht wiederherzuſtellen und den neuen Gebieten eine ſelbſtändige neue Ver - faſſung zu geben.

Nach dieſen großen Zugeſtändniſſen der Krone begann die öffent - liche Meinung außerhalb des Ländchens umzuſchlagen; Stein, Gagern und viele andere Wohlmeinende, die bisher auf der Seite der Stände geſtanden, riethen jetzt dringend, die Hand der Verſöhnung zu ergreifen. Der Landtag dagegen hatte ſich bereits zu tief in den Kampf verbiſſen, der Streit war längſt perſönlich geworden, die erbitterten Gemüther ſpotteten aller Vernunftgründe. Die Stände ließen ſich zwar herbei, abermals durch einen Ausſchuß mit der Krone zu verhandeln; der Aus - ſchuß aber ſchritt ſogleich, unbekümmert um die vierzehn Artikel, an die Ausarbeitung eines unförmlichen Verfaſſungsentwurfs, der in 25 Capiteln und vielen hunderten von Paragraphen alle die ſtaubigen Kleinodien des alten Rechts, vornehmlich den ſtehenden Ausſchuß und die Steuer - kaſſe, wieder aufzählte.

316II. 6. Süddentſche Verfaſſungskämpfe.

Monatelang ward darüber hin - und hergeſtritten, und um die Ver - wirrung zu vollenden, griff Wangenheims doctrinärer Eifer auch noch das Einzige an, worüber bisher beide Theile einig waren: das im bürger - lichen Württemberg althergebrachte Einkammerſyſtem. Ohne zwei Kammern konnte die Idee der heiligen Dreizahl ſich doch nimmermehr verwirk - lichen; das ariſtokratiſche Element mußte durchaus das Hypomochlion bilden, das zwiſchen der Demokratie und der Autokratie ein oscillirendes Gleichgewicht herſtellt ! Der König ging auf dieſe theoretiſchen Grillen, welche Wangenheim in einer neuen Druckſchrift ausführlich entwickelte, um ſo williger ein, weil ſie mit den Berechnungen ſeiner nüchternen Real - politik übereinſtimmten. Gleich den meiſten Rheinbundsfürſten beargwöhnte er den Adel als den gefährlichſten Feind der Krone und hielt für nöthig, die vornehmen Demagogen in einer erſten Kammer abzuſperren damit ſie den Bürger und Bauer nicht verführten. Aus ſo wunderlichen Beweg - gründen entſtand der Plan, in einem Kleinſtaate, der für eine kräftige Pairie offenbar keinen Raum bot, gleichwohl eine Adelskammer zu bilden. Die Altrechtler widerſprachen lebhaft; ſie trauten ihren ariſtokratiſchen Genoſſen wenig, aber ſie glaubten ſich der adlichen Sonderbeſtrebungen am ſicherſten, wie bisher, in einer ungetheilten Ständeverſammlung er - wehren zu können. Leichter verſtändigte man ſich über eine andere deutſche Eigenthümlichkeit, welche die Macht unſerer kleinen Landtage noch ſchwer ſchädigen ſollte, über die Diäten. Daß der Volksvertreter für ſein Ehren - amt bezahlt werden müſſe, ſchien Allen ſelbſtverſtändlich. Die Rückſicht auf die bittere Armuth der gebildeten Klaſſen wirkte zuſammen mit der Standesanſchauung der Beamten; ohne Tagegelder konnte ſich der Bureau - krat der alten Schule eine außerordentliche Mühewaltung nicht vorſtellen. Währenddem brach die despotiſche Natur des Königs immer von Neuem durch: bald wurden die Unterzeichner einer Adreſſe an den Landtag, bald ein hitzköpfiger Abgeordneter vor das Strafgericht geladen. Aber auch die Stände erlaubten ſich gewaltſame Uebergriffe. Sie behaupteten alle die Befugniſſe, welche ihnen die künftige Verfaſſung erſt zugeſtehen ſollte, ſchon jetzt zu beſitzen und verwahrten feierlich ihre Rechte, als der König abermals Steuern ausſchreiben ließ, ja ſie drohten im Falle der Wieder - holung die Unterthanen zur Steuerverweigerung aufzufordern.

So zog ſich der Streit, mit jedem neuen Tage langweiliger und unfruchtbarer, abermals durch ein volles Jahr. Im Auguſt 1816 richtete Graf Waldeck auf eigene Fauſt eine zweite Zuſchrift an die drei Garanten und an Kaiſer Franz als das vormalige Reichsoberhaupt ein Akten - ſtück, das in claſſiſchen Worten den unbelehrbaren Trotz der Götzendiener des alten Rechts ausſprach. Die altwürttembergiſche Verfaſſung, hieß es da, iſt durch den Ausſpruch des deutſchen Kaiſerhofs und der hohen Garanten, durch die einhellige Stimme Deutſchlands und die Segnungen dreier Jahrhunderte ſo bündig als ein Werk menſchlicher Vollkommen -317Verhandlungen über Wangenheims Vorſchläge.heit bewährt, daß die Vernichtung auch nur eines ihrer Beſtandtheile eben ihrer künſtleriſch zarten Zuſammenfügung wegen ihr Ganzes und ſomit das Wohl des Volks gefährden würde. *)Graf Waldeck, Vorſtellung an die Höfe von Oeſterreich, Preußen, Dänemark und England, 31. Auguſt 1816.Das ganze Land hallte wider von jenem ungeheuren Geſchrei, das ſeitdem faſt alle Kämpfe des deutſchen Parlamentarismus begleitete und keineswegs dazu beitrug die Achtung des Auslands für dieſe Stürme im Waſſerglaſe zu erhöhen. Ein wildes Pamphlet bedrohte den König bereits mit dem Schickſal ſeines Ahnherrn, des landflüchtigen Herzogs Ulrich, und als ein anonymer Schriftſteller für die Vorſchläge der Krone aufzutreten wagte, ward ſeine Schrift in Stuttgart an den Schnappgalgen genagelt.

Jedermann mußte Partei ergreifen. Auch die vielen berühmten Schwaben außerhalb des Landes ſendeten in Briefen oder Druckſchriften ihr Urtheil in die Heimath, und es bezeichnet die heilloſe Verworrenheit des Streites, daß die Todfeinde Schelling und Paulus ſich Beide für die alte Verfaſſung ausſprachen, Jener weil ihm das hiſtoriſche Recht ehrwürdig war, Dieſer weil er in der altſtändiſchen Libertät die conſtitutionelle Frei - heit zu erkennen glaubte. Hegel dagegen kämpfte mit ſophiſtiſcher Ge - wandtheit für Wangenheim als den Vertreter der modernen Staatsidee und erwies, ganz im Geiſte der rheinbündiſchen Bureaukratie, daß erſt durch den Untergang des verlebten deutſchen Reichs wirkliche deutſche Reiche , die neuen Königreiche, entſtanden ſeien. Mit rührenden Worten beſchwor der Neuwürttemberger Juſtinus Kerner ſeinen Herzensbruder Uhland, abzulaſſen von dem Kaſſen - und Kaſtenweſen der Schreiber und Rechts - herren . Es war vergeblich. Als Wangenheims Freund Rückert ſodann den Poeten der Altrechtler zu einem Dichterwettſtreit herausforderte, da war der Schwabe in der vortheilhaften Lage die warmen Gefühle der Gemüthspolitik gegen die nüchternen Erwägungen der Staatsklugheit zu vertheidigen und bereitete dem Franken eine poetiſche Niederlage, die in Württemberg als ein politiſcher Triumph gefeiert wurde. Was half es, daß die beiden beſten politiſchen Köpfe aus der Jugend des Landes, Friedrich Liſt und Schlayer, den Miniſter eifrig unterſtützten? Im Land - tage zählte Wangenheim nur zwei Anhänger, den Juriſten Grieſinger und den Buchhändler Cotta, der ſeinen kleinſtädtiſchen Landsleuten bald verdächtig ward, weil er als ein Geſchäftsmann großen Stils über ihren engen Geſichtskreis hinausblickte. Das ſchwerſte Hinderniß der Verſtän - digung blieb doch der König ſelber. Kein Zweifel, daß er jetzt ehrlich den Frieden ſuchte; aber wer wollte ihm trauen?

Da räumte ein freundliches Geſchick dies Hemmniß plötzlich aus dem Wege. Am 30. Oktober 1816 ſtarb der König, von Niemand be - weint. Den Nachfolger König Wilhelm empfing das Frohlocken des ganzen318II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Landes. Schon ſeit Jahren pflegte ihn das treue Volk mit dem guten Herzog Chriſtoph zu vergleichen, weil er gleich dieſem unter einem ty - ranniſchen Vater eine freudloſe Jugend verleben mußte. Von der Gut - müthigkeit jenes alten Herzogs lag freilich gar nichts in der herzloſen, kalt verſtändigen Natur des neuen Königs. Zu Lüben in der preußi - ſchen Garniſon geboren war der Prinz in ſeiner Jugend ſo gut preußiſch geſinnt wie ſein Großvater Karl Eugen; damals ſchrieb er ſich noch Friedrich Wilhelm. Als er nach der Jenaer Schlacht die Preußen miß - achten lernte, blieb er doch noch immer ein ſtolzer deutſcher Offizier und widerſetzte ſich entſchieden der franzöſiſchen Politik ſeines Vaters; der heftige Zwiſt im königlichen Hauſe wurde bald landkundig und warb dem Kronprinzen viele geheime Verehrer, obſchon der Trotz des liebloſen Sohnes an dieſen Händeln ebenſo viel Schuld trug als die bonapar - tiſtiſche Geſinnung des harten Vaters. Da der König dem Protector zu Liebe die Hand der anmuthigen Stephanie Beauharnais für ſeinen Sohn zu erlangen wünſchte, ſchloß der Prinz plötzlich mit der bairi - ſchen Prinzeſſin Karoline Auguſte eine Ehe, die für beide Theile unſelig wurde. Die Lorbeeren der napoleoniſchen Siegeszüge reizten ihn nicht; erſt als Württemberg zu den Verbündeten übergegangen war, nahm er am Kampfe theil und bewährte ſich in dem franzöſiſchen Winterfeldzuge, namentlich in dem blutigen Treffen von Montereau, als ein tüchtiger Corpsführer, ſo daß der ſchwäbiſche Dichter Wilhelm Hauff den Heim - kehrenden als Prinz Wilhelm, den edlen Ritter feierte. Auf ſeinen Charakter wirkten dieſe militäriſchen Erfolge nicht günſtig; ſie verſchärften den Zug menſchenverachtender Ueberhebung, den er mit ſeinem Vater theilte, und da er die kleinſtädtiſchen Vorurtheile ſeiner Landsleute weit überſah, ſo ward er auch durch die Erfahrungen des heimiſchen Ver - faſſungskampfes nur beſtärkt in dem Wahne, daß er ſelber Alles am Beſten verſtehe.

Ein unbändiger Ehrgeiz nagte raſtlos an ſeiner Seele; allen deut - ſchen Fürſten glaubte er überlegen zu ſein. Längſt war das Schwaben - land ſeinen Plänen zu klein; ſchon auf dem Wiener und dem Pariſer Congreſſe wurde die diplomatiſche Welt mehrmals durch wunderſame Ent - würfe überraſcht, welche dem Helden von Montereau eine glänzende Ehren - ſtellung, das Feldherrnamt des Deutſchen Bundes in Mainz oder die Landesherrſchaft im Elſaß zudachten. Die Träume des Prinzen nahmen einen noch höheren Flug, als er, nach Auflöſung der Ehe mit der Baierin, die Schweſter des Czaren, Großfürſtin Katharina heimführte, eine geiſtreiche, lebhafte, unternehmende Frau, die einſt während des ruſſiſchen Krieges gleich den tapferſten Männern an der Rüſtung des Heeres gearbeitet hatte und ſich ungern in die kleinen Verhältniſſe der neuen Heimath fand. Wie ſollen, ſchrieb damals Küſter, drei ſo bedeutende, energiſche und lebhafte Menſchen wie Friedrich, Wilhelm und Katharina ſich ver -319König Wilhelm.tragen? Seitdem entſpann ſich zwiſchen dem ſchwäbiſchen Thronfolger und dem Prinzen von Oranien ein geheimer Verkehr, zur lebhaften Beunruhigung der conſervativen Höfe; man wußte, daß beide Prinzen in radikalen Plänen ſchwelgten und der Württemberger ſich lebhaft ge - ſchmeichelt fühlte wenn ihn da und dort ein Politiker der Bierbank als den künftigen deutſchen Kaiſer feierte. Obwohl der Eine wie der Andere im Grunde der Seele die neuen liberalen Ideen geringſchätzte, ſo erhofften doch Beide als machiavelliſtiſche Politiker von einem großen Umſturz ein unbeſtimmtes Glück für ſich ſelber. Wo der Ehrgeiz ins Spiel kam, da hielt die Nüchternheit des Prinzen Wilhelm nicht mehr Stand, und die luftigſten Phantaſiegebilde erſchienen ihm möglich. Jahrelang brütete er über dem Gedanken eines deutſchen Südbundes, und doch hatte er ſelber Alles gethan um dieſen Triasplänen jeden Boden zu entziehen. Denn hochmüthig gegen den badiſchen Hof, war er mit dem bairiſchen tief verfeindet. Der Haß des geſtrengen Friedrich gegen den gutmüthigen Max Joſeph vererbte ſich auf die Söhne. Die phantaſtiſche Ueberſchwäng - lichkeit des bairiſchen Kronprinzen Ludwig war dem trockenen, verſchloſſenen Weſen des Prinzen Wilhelm unausſtehlich; die Freundſchaft ward auch nicht inniger als Beide zugleich um die Hand Katharinas warben und der Wittelsbacher den Kürzeren zog.

Die lautere patriotiſche Begeiſterung der Befreiungskriege ließ dieſen engherzigen Charakter kalt. Dynaſtiſcher Dünkel und perſönliche Herrſch - ſucht beſtimmten ſeine deutſche Politik; wie er Napoleon haßte, weil ihm die Herrſchaft des Fremdlings über das Haus Württemberg ſchimpflich ſchien, ſo wollte er auch ſein ſouveränes Haus keiner mächtigen deutſchen Centralgewalt unterordnen, es ſei denn, daß ihm ſelber die Leitung Deutſchlands zufiele, und ſelbſt der gutmüthige Küſter errieth, daß der Kronprinz im Herzen ganz ebenſo partikulariſtiſch denke wie ſein Vater. *)Küſters Berichte, 24. Okt., 11. Nov. 1815.Mit den beiden führenden Mächten des Deutſchen Bundes ſtand er von Haus aus auf ſchlechtem Fuße. Die Politik des Dualismus lief ſeinen Triasplänen ſchnurſtracks zuwider; auch konnte er nach ſeiner kleinlich reizbaren Art ein Gefühl perſönlicher Empfindlichkeit gegen die beiden Monarchen nicht unterdrücken. Bald nach ſeiner Thronbeſteigung ließ er dem König von Preußen die Hand einer württembergiſchen Prinzeſſin für den jungen Kronprinzen anbieten und empfing die gelaſſene Antwort, Friedrich Wilhelm wolle den Neigungen ſeiner Kinder keinen Zwang an - thun. **)Küſter an Hardenberg, Stuttgart 18. Januar; Weiſung des Staatskanzlers 24. Februar 1817.Das verzieh er nie. Kaiſer Franz aber erwählte ſich um die nämliche Zeit die geſchiedene Gemahlin des Württembergers für ſeine vierte Ehe; ſeitdem wuchs ſein altes Mißtrauen gegen den unberechen - baren Pläneſchmied in Stuttgart und ward von drüben herzlich erwidert.

320II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.

Ueberaus eifrig als Soldat, ein Verwaltungsmann von ſicherem Blick und großer Arbeitſamkeit, ein trefflicher Landwirth und ausge - zeichneter Pferdezüchter, in ſeinen Lebensgewohnheiten einfach, geregelt und, obwohl keineswegs ſittenſtreng, doch frei von der Schamloſigkeit des Vaters ſo war der neue König allen den praktiſchen Geſchäften des Lebens, welche durch Klugheit und Energie bewältigt werden können, vollauf ge - wachſen. Was darüber hinaus liegt war ſeinem Geiſte verſchloſſen. Die Kirche betrachtete er gleich ſeinem Vater mit dem Spotte des Voltairianers, nur daß ihm die Religion unentbehrlich ſchien um den dummen Haufen in Zucht zu halten; die Ideologie der freien Wiſſenſchaft blieb ihm ein unbequemes Räthſel, halb lächerlich, halb furchtbar, wie er denn auch als ein echter rheinbündiſcher Berufsſoldat den freien Geiſt des preußiſchen Heeres nie verſtehen lernte; ſeine Kunſtliebe endlich erhob ſich, gleich dem Mäcenatenthum vieler anderen Kleinfürſten, niemals über jene Bildungs - ſtufe, welche das Ideal allein in nackten Weibergeſtalten findet. Ein ſolcher Mann, zu unruhig für das Stillleben eines Kleinſtaats und doch zu ſelbſtiſch um die Hohlheit einer Souveränität ohne Macht einzuſehen, konnte in die verſchlungenen Fäden der deutſchen Bundespolitik nur einige hemmende Knoten mehr einknüpfen; dem gemüthvollen Tiefſinn der ſchwä - biſchen Volksnatur blieb er innerlich ebenſo fremd wie einſt König Friedrich. Der herkömmliche Jubel der erſten Wochen verrauſchte ſchnell. In einer langen Regierung wurde der König, trotz ſeiner unbeſtreitbaren Ver - dienſte um den Wohlſtand des Landes, nie wieder wahrhaft volksbeliebt; man konnte ſich kein Herz zu ihm faſſen und lernte auch bald den häß - lichſten Zug ſeines Charakters fürchten, die nachtragende Unverſöhnlichkeit.

Das neue Regiment begann ſofort mit dankenswerthen Reformen: der tolle Prunk und der Jagdunfug des Hofes wurden beſeitigt, mehrere Steuern herabgeſetzt, zahlreiche Gefangene begnadigt, einige Günſtlinge des verſtorbenen Fürſten in der Stille entfernt. Während der Hungers - noth der nächſten Monate bewährte die Königin ihre männliche Willens - kraft im weiblichſten Berufe; treu ihrem Ausſpruch: helfen iſt der hohe Beruf des Weibes in der Geſellſchaft überſpannte ſie das ganze Land mit einem Netze von Frauenvereinen, Sparkaſſen, gemeinnützigen Stif - tungen aller Art und zeigte ſich bei dieſem Liebeswerke ſo menſchlich groß, daß bald nachher ihr früher Tod in jedem Dorfe Schwabens wie ein Landesunglück beweint wurde. Selbſt Uhland, der Verächter der Höfe, legte der Volksmutter einen duftigen Kranz auf den Sarg, und Kerner klagte:

Wie ſie früh von Gott erleſen,
Eine Heil’ge, uns verſchwand.

Auf der Höhe, wo einſt die Stammburg des Fürſtenhauſes geſtanden hatte, fand die hochherzige Fürſtin ihr Grab, und die Württemberger wallfahrteten zu der Kapelle des Rothenbergs mit ähnlichen Empfin - dungen wie die Preußen zu dem Charlottenburger Tempel.

321König Wilhelms Verfaſſungspläne.

Seinem Landtage trat der König mit ungeheuchelter Verſöhnlichkeit entgegen. Alle geheimen Pläne ſeines Ehrgeizes beruhten ja zunächſt auf der Hoffnung, daß die Nation ihn als den liberalſten aller deutſchen Fürſten feiern ſollte. Mochten die landſtändiſchen Formen immerhin läſtig ſein, er fühlte ſich ſtark genug mit dieſen Schreibern fertig zu werden und auch als conſtitutioneller Fürſt am letzten Ende ſeinen Willen durchzuſetzen. Darum beließ er auch Wangenheim an der Spitze der Geſchäfte, obwohl dieſe beiden grundverſchiedenen Naturen eigentlich nur Eins gemein hatten, die Träume der Triaspolitik, und der Miniſter bald bemerkte, daß der König ihn mit ſtillem Groll, nicht immer ganz ehrlich behandelte. *)Wangenheim an Hartmann, 3. Februar 1832.Sofort wurde mit Benutzung des ſtändiſchen Ent - wurfs ein neuer Verfaſſungsplan ausgearbeitet es war bereits der dritte in dieſem endloſen Streite und dem Landtage am 3. März 1817 übergeben. Die Erbietungen des Sohnes gingen noch weit über die letzten Vorſchläge des Vaters hinaus. Gleichwohl entbrannte von Neuem der hartnäckige Kampf um die alten Streitfragen: Einkammerſyſtem, Steuer - kaſſe, ſtehende Ausſchüſſe; und nochmals bekundete der Stuttgarter Pöbel in lärmenden Aufläufen ſeine Theilnahme für die Altrechtler.

Als dies Treiben wieder ein Vierteljahr gewährt hatte, konnte der König ſeine ſoldatiſche Barſchheit nicht mehr bemeiſtern. Er berieth ſich hinter dem Rücken der Miniſter mit ſeinem Freunde, dem Freiherrn v. Maucler, dem Führer der einheimiſchen Bureaukratie, und legte den Ständen ein binnen acht Tagen anzunehmendes und in der That annehmbares Ul - timatum vor. Neue ſtürmiſche Entrüſtung über dies kurz angebundene Verfahren. Am 2. Juni verwarf der Landtag auch dies letzte Aner - bieten; die Altwürttemberger, der größte Theil des Adels und eine kleine klerikale Partei bildeten die Mehrheit. Während faſt alle beſonnenen Politiker außerhalb des Landes jetzt auf die Seite des Königs traten, war die Erbitterung der Landtagsmehrheit von Tag zu Tag geſtiegen. Die Altwürttemberger beanſpruchten gradezu die itio in partes, ſo daß ſie ſich ihre alten Sonderrechte ſelbſt gegen den Willen der neuen Lan - destheile vorbehalten dürften. Freiherr v. Varnbüler verſicherte bei der Schlußabſtimmung kurzab: er wolle das Volk unter der gegenwärtigen Regierung lieber ohne Verfaſſung ſehen, als ihm für die Zukunft den Anſpruch auf ſeine alte Verfaſſung vergeben. Mit dem konnte der Hof nicht fertig werden; als man ihm den Kammerherrnſchlüſſel abforderte, ſendete er das Kleinod durch die Poſt zurück und ſchrieb auf den Um - ſchlag: Sachen ohne Werth. Unter allen Zeichen königlicher Ungnade wurde der Landtag aufgelöſt und den auswärtigen Mitgliedern ſogar der Aufenthalt in der Hauptſtadt verboten. Ein Verſuch, den königlichen Ent - wurf durch eine Volksabſtimmung durchzuſetzen, mißlang gänzlich, undTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 21322II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.hierauf erklärte der Monarch, daß er zunächſt die Beſchlüſſe des Bundes - tags über die Rechte der deutſchen Landſtände abwarten und inzwiſchen alle die übrigen Verheißungen ſeines Entwurfs in Kraft ſetzen werde.

Zwei Jahre lang ſchaltete der König nun wieder als unumſchränkter Herr und gab dem Lande in raſcher Folge eine Reihe wohlthätiger Ge - ſetze, welche die beiden Reformminiſter Wangenheim und Kerner, der Bruder des Dichters, ſeit Langem vorbereitet hatten. Die Leibeigen - ſchaft fiel endlich hinweg, auch ein Theil freilich nur ein Theil der grundherrlichen Abgaben ward für ablösbar erklärt, die Auswanderung wurde frei gegeben, die bisher völlig unſelbſtändigen Communen erhielten das alte Inſtitut der Gemeindedeputirten in verbeſſerter Geſtalt wieder, und an die Stelle der Landvögte traten vier Kreisregierungen. Die katholiſch-theologiſche Facultät in Ellwangen wurde nach Tübingen ver - legt, ſo daß die hartlutheriſche alte Landesuniverſität jetzt in die Reihe der paritätiſchen Hochſchulen eintrat; um für einen Theil der bisher mit Schreibern beſetzten Verwaltungsſtellen brauchbare Beamte auszubilden unternahm man auch die wenig glückliche Einrichtung einer beſonderen Facultät für die Staatswirthſchaft. Da ſich während der Nothjahre faſt überall in dem fruchtbaren Lande ein ſehr mangelhafter Zuſtand des Landbaus herausſtellte und die ganz ohne Capital wirthſchaftenden kleinen Bauern ſchaarenweiſe den Wucherjuden verfielen, ſo griff der König mit ſeinem ſcharfen Geſchäftsverſtande kräftig ein. Er bildete einen großen landwirthſchaftlichen Verein, zur Belehrung und Unterſtützung der Grund - beſitzer, gründete Geſtüte und Muſterwirthſchaften auf ſeinen Kammer - gütern, errichtete in Hohenheim eine landwirthſchaftliche Lehranſtalt, die unter der Leitung des rüſtigen Rheinländers Schwerz bald mit Möglin wetteiferte. Es war ſein perſönliches Verdienſt, daß unter den ſchwä - biſchen Landwirthen wieder ein friſcher Unternehmungsgeiſt erwachte; all - jährlich drängten ſich die Bauern zu dem luſtigen landwirthſchaftlichen Feſte, das ſeit 1818 in Canſtatt abgehalten wurde, und warben mit ihren Roſſen und Stieren um die königlichen Preiſe.

Währenddem blieb die politiſche Stimmung des Landes noch lange ſo gereizt, daß ſelbſt Wangenheim noch im Frühjahr 1818 vor der Be - rufung eines neuen Landtags dringend warnte. *)Wangenheim an Hartmann, 1. April 1818.Nach und nach kehrte doch die ruhige Beſinnung zurück. Namentlich die Neuwürttemberger be - gannen den Eigenſinn der Stände zu bereuen, und der Volksfreund Friedrich Liſts, der die neuen Ideale der allgemeinen Volksvertretung, der Selbſtverwaltung, der öffentlichen Rechtspflege mit Geiſt und Lei - denſchaft verherrlichte, fand unter der Jugend wachſenden Anhang. Aber auch der König bereute ſeine vergeblichen Anerbietungen; er hatte er - fahren, daß der Ruhm des liberalſten deutſchen Fürſten doch nicht ſo323Dictatur des Königs.leicht zu erwerben ſei, und kehrte nun verſtimmt zu den Gedanken des bureaukratiſchen Abſolutismus zurück, die ſeiner natürlichen Neigung entſprachen. Wieder hinter dem Rücken ſeiner Räthe berief der Monarch den Finanzminiſter König Jeromes, Malchus in ſein Cabinet; Wangen - heim und Kerner erkannten bald, daß ſie mit dieſem Vertreter des Prä - fektenſyſtems ſich nicht verſtändigen konnten, und nahmen noch im No - vember 1817 ihre Entlaſſung.

Seitdem begann der Stuttgarter Hof durch ein häßliches Doppelſpiel die öffentliche Meinung zu täuſchen und zu verwirren. Während Wangen - heims Ernennung zum Bundesgeſandten für die unveränderte liberale Geſinnung des Königs zu bürgen ſchien, arbeiteten die württembergiſchen Diplomaten insgeheim für den Erlaß eines Bundesgeſetzes, das die Rechte der deutſchen Landtage ſcharf begrenzen und der Krone die Zurücknahme ihrer eigenen Zuſagen erleichtern ſollte. *)S. o. S. 167.Noch verderblicher wirkte der unfruchtbare ſchwäbiſche Verfaſſungskampf auf die Stimmung der übrigen Höfe. Frohlockend wieſen alle Reaktionäre auf das Uebermaß ſtürmiſcher Leidenſchaft in dieſen Verhandlungen: nun ſei es doch erwieſen, daß man in Deutſchland mit einem Landtage nicht regieren könne; war doch ſogar eine Adreſſe an die Armee einmal von den Altrechtlern geplant worden! Die ſchwäbiſchen Stände blieben auf lange hinaus eine Warnung für jeden deutſchen Fürſten, der an den Art. 13 der Bundesakte erinnert wurde, und Metternich ſchrieb an Steigenteſch nach Petersburg: Würt - temberg durch ſeine unklugen Discuſſionen mit dem Landtage nützt der Sache der Revolution mehr als der Tugendbund ſelbſt.

Schneller als Württemberg, aber auch nicht ohne ernſte Kämpfe, ge - langte Baiern zum Abſchluß ſeiner Verfaſſung; wie dort die Krone ſich durch den Trotz der alten Landſtände gehemmt ſah, ſo hier durch die An - ſprüche des römiſchen Stuhls. Ein gütiges Geſchick hat es gefügt, daß die ſchroffſten Gegenſätze unſeres Volkslebens ſich immer bei den nahe be - nachbarten Stämmen zeigen; nur darum blieb der Sondergeiſt der deut - ſchen Stämme außer Stande das Band der nationalen Einheit gänzlich zu zerſprengen, weil die centrifugalen Kräfte ſtets durch die nachbarliche Eifer - ſucht aufgewogen wurden. Wie im Norden Weſtphalen und Rheinländer, Pommern und Altpreußen, Märker und Oberſachſen durch Stammesart und Geſchichte ſcharf geſchieden dicht neben einander hauſten, ſo im Süden die Baiern und die Schwaben. Während Schwaben, längſt aller politiſchen Größe verluſtig, allein durch die Fülle ſeiner Talente ſeinen Platz im Leben der Nation behauptete, war Baiern der älteſte aller deutſchen Staaten, der einzige, der ſich mit den Kernlanden ſeiner alten Macht noch21*324II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.den ehrwürdigen Stammesnamen bewahrte, und darum die Heimath eines zugleich politiſchen und ſocialen Partikularismus, deſſen naturwüchſige Kraft noch heute beweiſt, daß die Zertrümmerung der vier großen Stammes - herzogthümer eine rettende That unſeres alten Königthums war. Der bairiſche Stamm ſchenkte der Nation einſt einen Wolfram von Eſchen - bach und Aventinus, erſt die Gegenreformation drückte ihn in geiſtige Dumpfheit hinab; doch war er niemals ſehr reich an glänzenden Per - ſönlichkeiten, ſondern verdankte ſeine hiſtoriſche Bedeutung weſentlich der politiſchen Macht ſeines leidlich abgerundeten Gebietes und der kriegeriſchen Tüchtigkeit eines rüſtigen Menſchenſchlags, der ſeine nahe Verwandtſchaft mit den alten oſtgermaniſchen Welteroberern nicht verleugnen konnte. Von Baiern aus beherrſchten Ludwig der Deutſche und ſeine karolingiſchen Nachfolger das deutſche Reich; auch unter den Sachſen, den Saliern, den Staufern behauptete Baiern mehrmals eine bevorzugte Stellung im Reiche, bis endlich Kaiſer Ludwig der Baier ſein Stammland zur ſtärkſten aller deutſchen Territorialmächte erhob.

Aber jenes finſtere Verhängniß, das überall den Verſuchen deutſcher Staatenbildung auf halbem Wege Stillſtand gebot, waltete auch über der bairiſchen Geſchichte. Seit Tyrol an die Habsburger verloren ging (1363), trat Baiern in die Stellung einer Binnenmacht zurück. Die junge einſt von Baiern aus beſiedelte Mark Oeſterreich übernahm fortan den Vorkampf gegen die ſüdöſtlichen Nachbarvölker, welchen einſt Baiern ge - führt, und überflügelte das Mutterland alſo, daß die beiden ſtamm - verwandten Lande bald in demſelben Verhältniß zu einander ſtanden wie Kurſachſen und Brandenburg: hier die ältere, vornehmere aber zurückge - bliebene Macht, dort der ehrgeizige, glückliche Emporkömmling. Die Wittels - bachiſche Erbſünde des häuslichen Zwiſtes und wiederholte Theilungen ſchwächten die Macht des Fürſtengeſchlechts. Abgetrennt von den Landen der pfälziſchen Vettern gebot Baiern nicht mehr über ausreichende wirthſchaft - liche Kräfte, denn der Reichthum der niederbairiſchen Ebene ward durch die Armuth des Gebirgs und des ſteinigen Alpenvorlands aufgewogen.

Gleichwohl gab das Haus Baiern noch einmal den deutſchen Ge - ſchicken eine entſcheidende Wendung. Die Wittelsbacher verſagten ſich zuerſt der gemeinſamen Sache der Nation und vertrieben, den Beſchlüſſen des Reichs zuwider, die evangeliſche Lehre aus dem bairiſchen Lande ſchon in jenen hoffnungsvollen erſten Jahren des Reformationszeitalters, da die friedliche Ausbreitung der neuen Lehre über das ganze Deutſchland noch möglich war; ſie verſchuldeten, neben den Habsburgern, die halbe Nieder - lage der Reformation in Deutſchland. Der Falkenthurm in München, wo die erſten evangeliſchen Märtyrer ſchmachteten, war die Wiege der deutſchen Gegenreformation; und noch im Jahre 1800 pries der Papſt den alten Ruhm des Landes, das ſich wie kein anderes auf der Welt, von der Ketzerei immerdar freigehalten habe. Nachher verwendete der größte Sohn des325Altbaiern.bairiſchen Hauſes, der gewaltige Maximilian I. eine ſeltene ſtaatsmänniſche Begabung um den Jammer des Glaubenskrieges über ſein Vaterland heraufzubeſchwören; er ſtiftete die katholiſche Liga, er verfolgte, noch un - verſöhnlicher als der Kaiſer ſelbſt, die proteſtantiſchen pfälziſchen Vettern und führte noch nach dem Weſtphäliſchen Frieden, wider das Geſetz des Reichs, ſeine Siegesbeute, die Oberpfalz gewaltſam zur katholiſchen Kirche zurück. Kein Ketzer durfte dies Land der Glaubenseinheit bewohnen; allen bairiſchen Unterthanen war der Aufenthalt in proteſtantiſchen Gebieten unterſagt. Der Bund des Fürſtenhauſes mit dem römiſchen Stuhle ſtand um ſo feſter, da das Herzogthum keinen eigenen Biſchof beſaß und die Landesherren der Hilfe des Papſtes bedurften um ſich der herriſchen An - ſprüche von ſieben benachbarten reichsunmittelbaren Biſchöfen zu erwehren. Dem Glanze des Hofes kam dieſe hart katholiſche Politik zu gute; ſie er - warb ihm die Kurfürſtenwürde und verſchaffte ſeinen nachgeborenen Prinzen reiche Verſorgung in den großen Stiftern des Reichs, ſo daß Kurköln faſt zweihundert Jahre lang von bairiſchen Fürſten regiert wurde und drei, zuweilen vier Kurſtimmen dem Hauſe Wittelsbach angehörten. Aber zu der ſelbſtbewußten Haltung einer unabhängigen Macht vermochte die Dynaſtie ſeit dem Tode des großen Max nicht mehr zu gelangen; bedroht durch die Eroberungsluſt des öſterreichiſchen Nachbarn ſchloß ſie immer wieder den verhängnißvollen Bund mit dem Verſailler Hofe, in München wie in Köln gab der franzöſiſche Geſandte den Ausſchlag.

Unterdeſſen verſank das altbairiſche Volk in den Seelenſchlaf eines behäbigen Sonderlebens. Während Franken und Alemannen ſich überall leicht zuſammenfanden, ſtand der conſervativſte aller oberdeutſchen Stämme dem ſchweren niederſächſiſchen Volksthum innerlich näher als den ober - ländiſchen Nachbarn. Nur die nördlichſten Ausläufer des bairiſchen Stammes hatten ſich etwas mit den Franken vermiſcht; von dem ſtamm - verwandten Oeſterreicher war der Baier durch alten politiſchen Haß ge - trennt, und gegen Schwaben hin bildete der Lech von Altersher eine ſtarke natürliche Grenze, die den nachbarlichen Verkehr faſt gänzlich ab - ſchnitt. Neben der unüberſehbaren Mannichfaltigkeit des ſchwäbiſchen Lebens erſchien Altbaiern als eine geſchloſſene Maſſe; kaum daß ſich in der Oberpfalz ein leiſer Unterſchied des Dialekts zeigte. Wohl trug der reiche niederbairiſche Waizengraf ſeinen Bauernſtolz, ſeine urwüchſige Kraft weit ungeſchlachter zur Schau als der beweglichere, ſangesluſtige Jäger der Alpen oder der ſchlichte Wäldler aus dem armen Bairiſchen Walde; im Grunde waren doch alle Baiern wie aus einem Holze ge - ſchnitzt. Ueberall dieſelben Charakterzüge rüſtiger Tapferkeit, unverwüſt - licher Lebensluſt und gemüthlicher Schlauheit; überall der gleiche naive Stammesſtolz, der das Deutſchland zur Noth noch als ein Nebenland Baierns gelten ließ, und dieſelbe unverbrüchliche dynaſtiſche Treue. Wäh - rend Schwaben eine lange Reihe glorreicher Fürſtengeſchlechter, die Zäh -326II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.ringer, die Staufer, die Hohenzollern in die weite Welt hinausſendete, kam in Baiern frühe ſchon ein einziges Geſchlecht über alle anderen Dynaſtien empor. Das uralte Haus der Schyren hatte bereits in den Tagen der Karolinger mehrmals den Herzogshut getragen und behauptete jetzt ſeit mehr denn ſiebenhundert Jahren ununterbrochen die Landes - herrſchaft. In Strömen war bairiſches Blut für das alte blauweiße Rautenſchild gefloſſen; am Feſttag flatterte die Landesfahne ſelbſt auf dem Einbaum, der, noch ganz ſo plump wie zur Zeit der Pfahlbauer, die ſtillen Alpengewäſſer des Chiemſees und des Walchenſees durchfurchte.

Das ſtädtiſche Leben war nie mehr zu kräftiger Entwicklung gelangt, ſeit die alte Hauptſtadt Regensburg ſich dem Lande entfremdet hatte. Selbſt München mit ſeinen prächtigen Kirchen und Schlöſſern, mit ſeinen ſiebzehn Klöſtern und ſiebzehn wunderthätigen Bildern beſaß um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts an bürgerlicher Bildung und Gewerbthätig - keit nicht viel mehr als die Mirakelſtadt Deggendorf und die anderen Land - ſtädte, die den Bauern als Schrannenplätze und Wallfahrtsſtätten dienten. Die Kraft des Landes lag in den Bauern und einigen angeſehenen Adels - geſchlechtern; für das Landvolk aber blieb die Kirche der Mittelpunkt des Lebens und die ſelber aus dem Bauernſtande hervorgegangene Pfarrgeiſt - lichkeit der allmächtige Berather in allen zeitlichen und weltlichen Nöthen. Das Kirchenjahr mit der endloſen Reihe ſeiner Feiertage beſtimmte jeden Brauch des bäuerlichen Hauſes; an dem Schmucke der Gotteshäuſer und dem Glanze der Proceſſionen zeigte ſich, wie viel friſchen Farben - und Formenſinn dies Volk hinter rauher Hülle barg. Mit athemloſer Span - nung harrte die Gemeinde zur Pfingſtzeit, bis der heilige Geiſt aus dem Loche in der Kirchendecke herniederſchwebte, mit eiſerner Ausdauer hielt ſie am Schauerfreitag viele Stunden lang ihren Gebetsumgang, um die Felder vor Hagelſchlag zu ſchützen; an jedes Feſt der Kirche ſchloß ſich die landesübliche unerſättliche Schmauſerei. Nirgends in der Welt, ſo ſagte das bairiſche Sprichwort, war die Religion ſo bequem und die An - dacht ſo luſtig.

Unter dem letzten der bairiſchen Wittelsbacher, Max III. drang zum erſten male ein Lichtſtrahl in dieſe dicke Finſterniß. Der Rheinländer Ickſtatt und einige andere muthige Schüler der neuen Aufklärung be - gannen eine Reform des Unterrichtsweſens und ſetzten durch, daß akatho - liſche Bücher bei den weltlichen Facultäten der Jeſuitenhochſchule Ingolſtadt zugelaſſen wurden. Auf dem Boden dieſer freieren weltlichen Bil - dung ſind dann viele der Männer aufgewachſen, welche ein Menſchen - alter ſpäter die Neugeſtaltung des erſtarrten Staates vollführten: ſo auch der geiſtvolle Humoriſt Anton Bucher, der, ſelbſt ein Geiſtlicher, mit derber, volksthümlicher Laune den rohen Aberglauben ſeiner Landsleute geißelte. Aber wie die Jeſuitenherrſchaft in den romaniſchen Ländern überall durch einen natürlichen Rückſchlag den frivolen Unglauben förderte,327Das Haus Pfalz-Zweibrücken.ſo erwachte auch in Baiern, ſobald das geiſtliche Regiment ins Wanken kam, der fanatiſche Kirchenhaß einer unreifen Freigeiſterei. Der neue, nach dem Muſter der Geſellſchaft Jeſu geſtiftete Geheimbund der Illuminaten kämpfte wider die Obſcuranten des Kirchenglaubens ebenſo unduldſam und ebenſo gewiſſenlos wie die Jeſuiten wider die Ketzerei und fand trotz ſtrenger Verbote zahlreiche Anhänger unter den höheren Ständen. Die Reformen Maximilians III. geriethen ſogleich ins Stocken, als Karl Theodor von der Pfalz den Thron beſtieg. Der Clerus nahm von Neuem die Herrſchaft an ſich, und in der Verwaltung riß ein ſchamloſer Nepo - tismus ein; das pfalzbairiſche Beamtenthum zählte ſogar eine Mademoiſelle Grenzhauptmauthnerin und eine Frau Oberforſtmeiſterin unter ſeinen Mit - gliedern. Als die Leiche Karl Theodors durch die Straßen geführt wurde, warf das Volk mit Steinen nach dem Sarge, weil der Pfälzer, der den Baiern immer ein Fremdling blieb, das Land an Oeſterreich hatte ver - kaufen wollen. Der Groll wider dieſe elende Regierung und das geheime Fortwirken der Illuminaten ebneten den Boden für die Lehren der Revo - lution. Nach dem Einrücken Moreaus ſchoß in München eine Schmutz - literatur auf, deren jakobiniſche Roheit die gleichzeitigen Schriften der unzufriedenen Schwaben noch überbot; wüthende Gedichte verkündeten Krieg und ewige Bataille jeder heuchelnden Canaille .

In ſolcher Lage, während die Maſſen in dumpfem Schlummer ver - harrten, ein Theil der Gebildeten mit revolutionären Gedanken kindiſch ſpielte, hielt Max Joſeph von Zweibrücken ſeinen Einzug und mit ihm die neue Zeit. Die neue Dynaſtie vereinigte endlich wieder die ſo lange getrennten Lande des Hauſes der Schyren und hegte den Ehrgeiz, auch die Traditionen der bairiſchen und der pfälziſchen Wittelsbacher zugleich in ihre Staatskunſt aufzunehmen. Eine berechtigte Politik, aber ſehr ſchwierig durchzuführen; denn die bairiſchen Erinnerungen wieſen auf Max und die Liga, die pfälziſchen auf den Reformator Otto Heinrich und den Schwedenkönig Karl Guſtav!

Durch die Länderſchenkungen Napoleons ward eine ganz neue ſociale Kraft in das bairiſche Staatsleben eingeführt: ein ſtrahlender Kranz von ſchönen hochberühmten Städten geſellte ſich zu den altbairiſchen Bauern - landen. Die meiſten dieſer ſtolzen Communen erſchienen freilich nur als maleriſche Trümmerſtätten alter Herrlichkeit. Die Veränderung der Welt - handelsſtraßen hatte die Stapelplätze Lindau und Paſſau verödet; auch dem alten Regensburg konnten einzelne große Geſchäfte, wie die Waffen - fabrik von Kuchenreuter, den verlorenen Verkehr nicht wiederſchaffen. Die gewaltigen Mauerthürme von Nördlingen umſchloſſen nur noch eine ſtille Landſtadt, wohin der Bauer aus dem Ries zur Schranne fuhr; der ſtädtiſche Gewerbfleiß von Bamberg bedeutete nichts mehr neben der Be - triebſamkeit der kleinen Gärtner vor den Thoren. Rothenburg mit ſeinen prangenden Kirchen und Rathhäuſern lag wie eine Todtenſtadt auf der Höhe328II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.über dem vereinſamten Taubergrunde. Selbſt Nürnberg war mit Schulden überlaſtet und unter der Vetternherrſchaft der neunzehn genießenden Familien vom Kleinen Rathe ganz verknöchert. In Augsburg allein hatte ſich, Dank den unerſchöpflichen Waſſerkräften des Lechfelds, die alt - berühmte Weberei ſeit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wieder etwas gehoben. Die bairiſche Regierung verſtand es nicht, dies ſchlum - mernde Bürgerthum durch Befreiung des Gewerbes neu zu beleben. Während München, mit königlicher Gunſt überhäuft, beſtändig wuchs, verharrten faſt alle anderen bairiſchen Städte noch bis zur Mitte der dreißiger Jahre in Stillſtand und Siechthum, ſo daß die Rührigkeit der norddeutſchen Communen einen weiten Vorſprung gewann.

Eben ſo langſam verlor ſich die alte Abneigung zwiſchen den Baiern, Schwaben und Franken. Keiner der drei oberdeutſchen Stämme war in dem neuen Königreiche ſtark genug vertreten um die anderen zu beherr - ſchen, ein politiſches Gemeingefühl aber konnte in dem künſtlichen Staate nicht leicht entſtehen. Seit der Abtretung von Salzburg und Tyrol be - ſtand nur noch die Hälfte der Bevölkerung aus Baiern. Ganz fremd ſtand neben dieſer glaubenseinigen bairiſchen Maſſe das öſtliche Schwaben, eine der claſſiſchen Stätten deutſchen Glaubenszwiſtes. Hier konnte der Wanderer ſchon aus den Hauben der Mädchen und aus den Bräuchen der Ackerbeſtellung die Confeſſion jeder Ortſchaft erkennen. Hier wohnten die Bauern der Fugger’ſchen Herrſchaften und der Stiftslande Kempten und Kaufbeuern, ein ſtrengkatholiſches Volk, das noch im Jahre 1809 nahe daran geweſen war mit den Tyroler Glaubenskämpfern gemeinſame Sache zu machen. Nahebei lag Memmingen, eine der Bekennerſtädte des Proteſtantismus, und das ſeit Jahrhunderten von kirchlichem Streite heimgeſuchte paritätiſche Augsburg, wo man ſelbſt die Stadtleutnantsſtellen und Kaffeehaus-Gerechtigkeiten gewiſſenhaft zwiſchen beiden Bekenntniſſen vertheilte. Der Ruf der Duldſamkeit des Hauſes Zweibrücken ſtand freilich ſo feſt, daß in Augsburg die Proteſtanten williger als die Katho - liken unter das Wittelsbachiſche Scepter traten; doch währte es lange, bis die feingebildeten Patricier der ſtolzen Schwabenſtadt ſich an das bairiſche Weſen gewöhnten.

Noch zäher widerſtand das proteſtantiſche Franken, die werthvollſte Erwerbung des jungen Königreichs. Zwar auf die Herſtellung ihrer alten Freiheit hofften die Nürnberger längſt nicht mehr; die politiſche Lebenskraft des ehrwürdigen Gemeinweſens war erloſchen, ſchon im Jahre 1796 hatte die Bürgerſchaft einmal mit großer Mehrheit die Unterwerfung unter die Krone Preußen beſchloſſen. Die Baiern aber galten hier noch von den Zeiten Guſtav Adolfs her als Feinde; wie oft hatte die ſchalkhafte Laune der Reichsſtädter, die eben jetzt wieder in den Dialektdichtungen Konrad Grübels hell auflachte, an dieſen böſen Nachbarn ihren Uebermuth ausgelaſſen. Argwöhniſch behütete die Stadt329Schwaben und Franken.ihre alten proteſtantiſchen Traditionen; da ihre Univerſität Altdorf durch den neuen Landesherrn geſchloſſen wurde, ſo ſollte mindeſtens das Nürn - berger Gymnaſium den Geiſt ſeines Stifters Melanchthon treu bewahren und gleich der nahen brandenburgiſchen Hochſchule Erlangen eine Pflanz - ſtätte evangeliſcher Bildung in dem neuen paritätiſchen Staate bleiben. Dieſe rührige kleine Univerſität hatte mit der literariſchen Bewegung des Nordens immer rüſtig Schritt gehalten und ihre treue deutſche Geſin - nung auch unter dem Lärm der franzöſiſchen Waffen nie verleugnet. Das geſammte brandenburgiſche Frankenland dachte noch immer mit Sehnſucht an das kurze Glück der preußiſchen Herrſchaft. In Ansbach konnte ſich das bairiſche Regiment erſt dann befeſtigen als auch Baireuth mit Baiern vereinigt war; und auch dann noch wollte das treue Volk die Hoffnung auf die Wiedervereinigung nicht aufgeben. Als König Friedrich Wilhelm ſeine Preußen endlich zu den Fahnen rief, ſtanden auch die Franken des Fichtelgebirges bereit zum Kampfe, und nur die Ungunſt des Kriegsglücks verhinderte den Aufſtand.

Die katholiſchen Nachbarn in den reichen fränkiſchen Biſchofslanden hatten ſo theuere Erinnerungen nicht zu überwinden; die Würzburger be - grüßten ſogar mit Freude die Abreiſe ihres Großherzogs Ferdinand von Toscana, der ſein deutſches Land als ein unſicheres Beſitzthum immer ver - nachläſſigt hatte. Aber die bairiſche Herrſchaft ward auch hier ungern auf - genommen. Froh ſeiner Weinknochen ſah der aufgeweckte, witzige Main - franke aus der heiteren Anmuth ſeines halbrheiniſchen Lebens verächtlich auf das derbe Bajuvarenthum herab; die Reichsritterſchaft fühlte ſich entwürdigt, ſie wollte höchſtens einem Habsburger gehorchen. Indeß gelang es der klugen Milde des Generalcommiſſärs Lerchenfeld die Murrenden zu beſchwichtigen. Die Krone wußte, daß ſie das unſchätzbare Tyrol, dies altbairiſche, mit ſeinem geſammten Verkehr auf Baiern angewieſene Land, allein durch die zufahrende Roheit ihrer Beamten verloren hatte, und verfuhr daher jetzt bei der Beſitznahme neuer Gebiete ſehr behutſam.

Am Behutſamſten in ihrer jüngſten Provinz, der überrheiniſchen Pfalz; denn hier begegnete ihr ein tiefer Widerwille, der noch länger anhielt als die Abneigung der Rheinländer gegen die Altpreußen. Seit den fernen Zeiten, da die Salier und die Staufer auf der Limburg und dem Trifels Hof hielten, war in dieſer gefährdeten Mark niemals wieder eine kräftige Staatsgewalt erſtanden. Speyer und Worms, Sickingen und Leiningen, Naſſau, Baden, Heſſen und Wittelsbach hauſten hier neben einander, alleſammt beſeelt von jener freundnachbarlichen Geſinnung, die ſich in den Namen der Grenzthürme Murr mir nicht viel und Kehr dich nicht dran bekundete. Der Spielball zweier feindlicher Nationen hatte das anſtellige, unermüdlich betriebſame Volk den Unſegen kleinfürſt - licher Willkür, wiederholter Religionsverfolgungen, gräßlicher Verwüſtungen mit erſtaunlicher Lebenskraft überſtanden und erſt unter den Präfekten330II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.des Kaiſerreichs wieder eine geſicherte bürgerliche Ordnung erlangt. Nir - gends auf deutſchem Boden zog die Revolution tiefere Furchen. Was über die Tage der Franzoſenherrſchaft hinauslag galt den Pfälzern als finſteres Mittelalter, ſelbſt die vormals Wittelsbachiſchen Landestheile dachten kaum noch ihres alten Fürſtenhauſes. Der Adel war verſchwun - den, die alte Gliederung der Stände völlig vernichtet; auch die neuen Reichen, die Flaſchenbarone, die beim Verkaufe der Nationalgüter in den Beſitz der geſegneten Weingelände der Hardt gelangt waren, mußten ſich dem bürgerlichen Brauche dieſes durch und durch modernen Landes fügen.

Die franzöſiſchen Grundſätze der ſocialen Gleichheit und des freien wirthſchaftlichen Wettbewerbs waren den Pfälzern in Fleiſch und Blut gedrungen. In den ſtädtiſchen Dörfern an der Hardt gedieh eine ſpecu - lative Kleinwirthſchaft, die jeden Winkel Landes verwerthete und der freien Theilbarkeit des Bodens nicht entbehren konnte; der gewitzte pfälziſche Bauer trug das ſtädtiſche Kamiſol und rühmte ſich, daß ihm ſelbſt der Ochs kalben müſſe. Alle Confeſſionen wohnten bunt durch einander, und über allen lag ein Hauch von calviniſcher Nüchternheit und nachſichtiger Aufklärung; nach ſo vielen Glaubenswechſeln hatte man endlich gelernt einander zu ertragen. Nachdem die Stürme der neunziger Jahre verrauſcht waren, erfuhr die Pfalz wenig mehr von den Schrecken des kriegeriſchen Zeitalters. Das fleißige Völkchen verſtand von dem großen franzöſiſchen Markte ſeinen Vortheil zu ziehen; die Gaſtwirthe und Poſthalter ſahen nie wieder ſo fette Zeiten wie damals, da alle Potentaten der Welt jahraus jahrein auf der Reiſe nach Paris dies Durchgangsland beſuchten. Der Münchener Hof wußte wohl, wie ungern die Pfalz ſich von Frankreich trennte, und da er ſelbſt noch lange hoffte dieſe entlegene Provinz gegen die rechtsrheiniſche Pfalz zu vertau - ſchen, ſo ließ der neue Gouverneur Zwackh faſt alle Inſtitutionen des Landes vorläufig unberührt. Auch als jene Hoffnung endlich aufgegeben werden mußte, zeigte ſich die Regierung zu furchtſam und zu arm an ſchöpferiſcher Kraft um noch etwas Weſentliches zu ändern. Nicht blos der Code Napoleon blieb der Provinz erhalten, ſondern auch das ge - ſammte Syſtem der franzöſiſchen Verwaltung; jede Warnungstafel auf der Landſtraße erinnerte den Fuhrmann an das Geſetz über die voieries publiques. Was hatte auch Altbaiern dieſem Lande zu bieten? Neben der rein bureaukratiſchen und doch ſchwerfälligen Verwaltung der alten Provinzen erſchien die ſchlagfertige Ordnung des Präfekturſyſtems immer - hin als ein Glück.

So blühte denn ein deutſch-franzöſiſches Sonderleben ungeſtört in einem Lande, wo jede Burgruine an die Unthaten der Franzoſen er - innerte. Noch lebhafter als in den preußiſchen Rheinlanden begeiſterte ſich der Partikularismus hier für die fremden Geſetze. Alles Franzö - ſiſche galt für unantaſtbar, weil es pfälziſch war und als ein Kleinod331Die Pfalz.heimathlicher Eigenart verehrt wurde. Man nahm es hin wie eine Schickung der Natur, daß die wälſche Wuth von allen den alten Kirchen und Kaiſerpfalzen des Landes keine einzige unzerſtört gelaſſen hatte; aber die rothe Jacobinermütze wagte Niemand von dem Landauer Kirchthurme zu entfernen, und an den Mauern der Grenzfeſtung prang - ten noch immer die Bilder, welche die Franzoſen einſt zur Verhöhnung Deutſchlands dort angebracht: über dem Franzöſiſchen Thore die lächelnde, über dem Deutſchen Thore die ſtirnrunzelnde Sonne des großen Ludwig. Den Altbaiern wußte das Volk für ihre nachſichtige Schonung wenig Dank. Anlage, Geſchichte und Bildung der beiden Stämme gingen allzu weit auseinander. Mit grenzenloſer Verachtung ſprach der aufgeklärte Pfälzer von der Finſterniß dieſer bairiſchen Köpfe, obgleich doch ſein eigenes Land an dem literariſchen Schaffen der Nation auch nur geringen An - theil nahm; ſeit der Abtrennung von Heidelberg und Mannheim war das geiſtige Leben der überrheiniſchen Pfalz unverkennbar geſunken, und die reiche Begabung des geiſtreichen Völkchens zeigte ſich faſt allein im Ge - ſchäftsleben. Wenn zwei pfälziſche Kriſcher nach der landesüblichen forſchen Art einander die Wahrheit ſagten, dann ſchloß der Gedankenaustauſch unfehlbar mit dem höchſten Schimpfwort: Du Altbaier! Mit verſchwin - denden Ausnahmen verſchmähten alle Pfälzer den Staatsdienſt in den alten Provinzen; grollend ſah das durchaus unmilitäriſche Volk ſeine Söhne zur Erfüllung der Wehrpflicht unter die Baiern gehen . In ſo unnatürlicher Lage, beſtändig aufgeregt durch die Parteikämpfe im nahen Frankreich, halb ſelbſtändig und doch angekettet an eine ungeliebte, wenig leiſtende deutſche Regierung verfiel das Land nach und nach einem zungen - fertigen vaterlandsloſen Radicalismus, der überall in Deutſchland die hiſtoriſchen Ueberlieferungen ebenſo worzweg auszurotten dachte, wie dies in der fröhlichen Pfalz durch die glorreiche Revolution bereits ge - ſchehen war.

Ein Glück nur, daß keine dieſer zahlreichen centrifugalen Kräfte für ſich allein ſtark genug war den bairiſchen Staat zu zerſprengen und keine ſich mit den andern verbinden wollte. Ein Glück auch, daß der gutherzige König ſich die perſönliche Anhänglichkeit ſeiner Unterthanen ſo raſch zu erwerben verſtand. Max Joſeph hatte die glücklichſten Tage ſeiner Jugend als franzöſiſcher Oberſt zu Straßburg verlebt, in einer Stellung, welcher ſeine Fähigkeiten genügten, und die Vorliebe für Frank - reich blieb ihm für ſein ganzes Leben, obgleich ihn die Revolution aus dem Elſaß vertrieb. Bald nach ſeiner Thronbeſteigung in Baiern bat er den franzöſiſchen Geſchäftsträger Alquier rundweg, er möge ihn als einen Franzoſen betrachten: ſo oft ich von den Erfolgen der Heere der Republik hörte, fühlte ich an meiner Freude, daß ich ein Franzoſe bin. *)Alquiers Bericht an Talleyrand, München 6. Ventoſe VII, mir mitgetheilt durch Herrn Dr. P. Bailleu.332II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Die rheinbündiſche Politik entſprach nicht blos ſeinem dynaſtiſchen Inter - eſſe, ſondern auch ſeiner perſönlichen Neigung, und nur ungern gab er ſie wieder auf, obſchon ihm längſt das Herz blutete über alle die Opfer, welche der Protector dem bairiſchen Lande abforderte. Die Frage, ob er nicht auch politiſche Pflichten gegen Deutſchland habe, kam ihm niemals in den Sinn; die Erhebung von 1813 war ihm ein Räthſel, und willig lieh er den Anklägern der preußiſchen Jacobiner ſein Ohr. Dabei blieb er doch, gleich vielen anderen Rheinbundsfürſten, auf ſeine Weiſe eine deutſcher Landesvater, ehrlich gewillt ſein Volk zu beglücken und mit ihm in Frieden zu leben. Ueberall wo er erſchien gewann er durch ſeine zu - thuliche Gutmüthigkeit die Herzen der Menge; ſelbſt in Berg, das ihm nur wenige Jahre angehörte, blieb ſein Andenken geſegnet. In Altbaiern ward er als Retter des Landes ſofort mit überſtrömender Freude em - pfangen und fühlte ſich bald von Herzen glücklich. Er lebte ſich ein in den gemüthlichen Landesbrauch, der ſeiner eigenen derben Natürlichkeit zuſagte, trug große Ohrringe gleich einem echten Bajuvaren und liebte die rüſtigen Mannen des Hochgebirgs, auch die Tyroler Rebellen, wie ſeine Kinder: das konnte er den Franzoſen lange nicht vergeben, daß ſie ihm ſeinen Andree Hofer erſchoſſen hatten. In ſeinen letzten Jahren pflegte er ſein Sommerlager in Tegernſee aufzuſchlagen, in der alten Abtei am ſtillen Waldſee, wo Alles was altbairiſche Herzen liebten unter einem Dache vereinigt lag: ein Königsſchloß, eine Kirche und ein Bräu; da war weitum, bis hinauf zu dem einſamen Wildbade Kreuth, kein Bauernhof, wo Vater Max nicht einmal mit ſeinen anmuthigen Töchtern zum Beſuch erſchien oder Gevatter ſtand oder überreichliche Wohlthaten ſpendete.

Wäre nur dies unerſchöpfliche Wohlwollen nicht mit ſo viel ge - dankenloſer Schwäche gepaart geweſen! Der Hof ward nicht leer von Gaunern und Bettlern, ganz München kannte die Vorliebe des Königs für liebenswürdige Schuldenmacher; ein Heer von Schmarotzern, darunter ſogar ein königlicher Hofnarr, empfing ſtattliche Penſionen. Die Geldver - legenheiten der Krone nahmen kein Ende, und der Hofbankier Selig - mann-Eichthal ward immer reicher, obwohl der König für ſich ſelbſt kaum mehr brauchte als vor Jahren, da er aus Straßburg geflüchtet zu Rohrbach an der Bergſtraße ſeinen bürgerlichen Haushalt führte. Wenn die Furcht dieſen weichen Gemüthsmenſchen überkam, dann ver - leugnete er Mannesſtolz und Fürſtenwürde und ſcheute ſich nicht zu kriechen und zu lügen. Alle die Unwürdigkeiten der jüngſten Jahre, alle die Erniedrigungen des Hauſes Wittelsbach, die von dem prahleriſchen Dünkel des neuen Königthums ſo häßlich abſtachen, gingen von dem Monarchen unmittelbar aus. Baierns zweizüngige Politik beim Ausbruch des Krieges von 1805 ließ ſich durch die Noth entſchuldigen; verächtlich ward ſie erſt als König Max dem Kaiſer Franz ſein Ehrenwort für eine333König Max Joſeph.bewußte Unwahrheit verpfändete. *)S. I. 221.Der rege Verkehr mit dem Protector des Rheinbunds war durch die Umſtände geboten; ſchimpflich ward er erſt durch die Liebedienerei des Königs, der, oftmals ohne einer Antwort ge - würdigt zu werden, den Imperator mit unterthänigen Briefen überſchüttete, ihm weit öfter als nöthig war perſönlich aufwartete, ihn ſogar bei den Heirathsangelegenheiten der königlichen Prinzen um ſeine Befehle bat und den Werkzeugen Napoleons, den Herzögen von Baſſano und Cadore jedes geforderte Trinkgeld unweigerlich gewährte. Dieſelbe unkönigliche Haltung zeigte der furchtſame Fürſt ſpäterhin, als der Streit um die badiſche Pfalz begann, gegenüber dem Czaren Alexander.

Den Regierungsgeſchäften widmete er ſich mit achtungswerthem Fleiße; man hielt ihn für müſſiger als er war, weil er ſeine freien Stunden ſo gern auf der Straße verbrachte. Aber alle Ordnung war ihm läſtig, und da er nur die oberflächliche Bildung eines altfranzöſiſchen Offiziers beſaß, ſo ward er bald abhängig von der überlegenen Sachkenntniß der Miniſter und des gewandten Cabinetsſekretärs Ringel. Selbſt vom Heer - weſen verſtand er wenig, am Abend ſeines Lebens erſchien er nur noch ſelten unter ſeinen Truppen und ließ die Kriegstüchtigkeit des Heeres, das ſich unter Napoleons Führung ſo trefflich bewährt hatte, im Frieden raſch verfallen. Dieſer unmilitäriſche Sinn blieb ſeitdem ein Erbtheil aller bairiſchen Könige und ſollte dem Staate dereinſt noch verhängnißvoll werden. Leicht beſtimmbar, abhängig von den Eindrücken des Augenblicks hielt Max Joſeph doch zwei politiſche Grundſätze unverbrüchlich feſt: er war als geborener Pfälzer ſo tief überzeugt von der Unhaltbarkeit der alt - bairiſchen Zuſtände, daß er im Nothfall auch vor radicalen Reformen nicht zurückſchrak, und er haßte aus Herzensgrund die Herrſchſucht des Pfaffenthums. Hier lag ſeine Stärke: wenn er die norddeutſchen Ge - lehrten in München gegen den bigotten Pöbelwahn beſchützte, dann zeigte er eine ganz ungewohnte Feſtigkeit. Er wußte, was es bedeutete, daß ſein Haus jetzt 1,200,000 proteſtantiſche Unterthanen beherrſchte; ſie ſollten fühlen, daß ſie einem gerechten Staate angehörten. Er freute ſich in ge - miſchter Ehe zu leben, und es bleibt ſein hiſtoriſcher Ruhm, daß er dieſen Geiſt duldſamer Milde ſeinen Kindern und Enkeln vermachte. In drei Generationen hat das Land ſeitdem nur proteſtantiſche Königinnen geſehen, und trotz wiederholter Kämpfe und Rückſchläge iſt der deutſche Gedanke der kirchlichen Parität, den der gute König Max ſeinem wider - ſtrebenden Volke auferlegte, dem bairiſchen Staate nicht wieder verloren gegangen.

Seit dem Rieder Vertrage war die Stellung des allmächtigen Mi - niſters Montgelas etwas erſchüttert. Die verbündeten Monarchen be - trachteten den erſten Staatsmann des Rheinbunds mit begreiflichem Miß -334II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.trauen und empfingen ihn, als er nach der Hanauer Schlacht in Frank - furt erſchien, ſo unfreundlich, daß er nachher ſelber Bedenken trug per - ſönlich auf dem Wiener Congreſſe zu erſcheinen. Aber er verwaltete noch immer die drei wichtigſten Miniſterien, das Auswärtige, das Innere, die Finanzen, und durfte wohl auf ſeine Unentbehrlichkeit trotzen; denn nicht umſonſt führte er die Königskrone in ſeinem Grafenwappen. Er war der Schöpfer des neuen bairiſchen Staates; ſeit dem Kurfürſten Moritz von Sachſen hatte die Politik des nackten folgerechten Partikularismus auf deutſchem Boden nicht mehr einen ſo klugen und glücklichen Vertreter gefunden. Obwohl er dem altbairiſchen Lande durch die Geburt ange - hörte, zählte Montgelas doch zu jenen diplomatiſchen Landsknechten, die in der Geſchichte der deutſchen Mittelſtaaten ſo häufig auftauchen, zu jenen Heimathloſen, die aller politiſchen Traditionen ledig die Stätte ihres Schaffens überall ſuchen wo ſich dem Ehrgeiz ein freies Feld bietet. Die Freundſchaft für den König, dem er ſchon in der Pfalz nahe getreten war, bildete das einzige gemüthliche Band, das ihn an ſeine Heimath kettete; Land und Leute blieben ihm verächtlich. Er verzieh es nie, daß er in ſeiner Jugend als Mitglied des Illuminatenordens das gläubige Baierland hatte verlaſſen müſſen, und urtheilte noch im Alter über cette nation bornée mit der ſchneidenden Liebloſigkeit des Fremdlings. Aber die Laune des Glücks hatte ihn in das ungeliebte Land zurückgeführt, ein reicher Wirkungskreis that ſich ihm auf; im Bewußtſein ſeiner Kraft hielt er ſich berufen dieſen Staat zu der Stellung einer ſelbſtändigen europäi - ſchen Macht emporzuheben. Die Macht war ihm Selbſtzweck, und nichts lag ihm ferner als die Frage, wie ſie zum Heile Deutſchlands zu ver - werthen ſei; was irgend an die Gemeinſchaft des großen Vaterlandes er - innerte, erſchien ihm nur als eine läſtige Feſſel für die Selbſtändigkeit Baierns. Ein kaltblütiger Spieler, durch ſittliche Bedenken niemals, durch Haß und Liebe ſelten beirrt, rechnete er unbefangen mit der Gunſt des Augenblicks und nahm die Freunde wo er ſie fand. Sein getreuer Ritter Lang ſchilderte, als er im Jahre 1814 den Miniſter wider die leiden - ſchaftlichen Angriffe der Freunde Steins vertheidigen mußte, die Herzens - geheimniſſe dieſer ideenloſen Schlauheit alſo: die einzige echte Maxime der bairiſchen Politik iſt die Selbſterhaltung des Staats; diejenige äußere Macht, welche dieſes Princip anerkennt und mit ihrer eigenen Macht verſtärkt, iſt als die wahrhaft befreundete zu halten.

Darum ſtand Montgelas, trotz ſeines halbfranzöſiſchen Blutes und trotz ſeiner durchaus franzöſiſchen Bildung, dem Protector des Rhein - bunds freier, feſter gegenüber als der König. Nicht aus Vorliebe für Frankreich hatte er einſt das alte Bündniß mit Preußen aufgegeben, ſon - dern weil er einſah, daß die bairiſche Vergrößerungsluſt vorläufig von Preußens Schwäche nichts, von Bonapartes Thatkraft Alles erwarten konnte. An den Kriegen Napoleons gegen Oeſterreich und Preußen nahm335Montgelas.er mit befliſſenem Eifer theil, weil die Stärke Baierns, wie er ſie ver - ſtand, durch die Schwäche der deutſchen Großmächte bedingt war; aber die Vernichtung der beiden Staaten wünſchte er nie, denn auch die All - macht Frankreichs konnte der bairiſchen Selbſtändigkeit bedrohlich werden. Zweimal verhinderte er und er rühmte ſich deſſen den Ausbau der Verfaſſung des Rheinbunds; immer wieder beſchwor er ſeinen königlichen Freund, nicht durch würdeloſe Unterthänigkeit gegen den Protector die Freiheit des Staates zu gefährden.

Die Erhebung Deutſchlands war dem nüchternen Rechner unwill - kommen, da ſie ihm jede Hoffnung auf weitere Gebietserwerbungen ab - ſchnitt, und nur zögernd entſchloß er ſich das ſinkende Schiff des Bona - partismus zu verlaſſen. Eine Zeit lang ſchmeichelte er ſich dann noch mit der Hoffnung, daß Baiern innerhalb der großen Allianz den Kern einer ſüddeutſchen Liga bilden und Wrede die Rolle eines anderen Tilly ſpielen werde. *)Montgelas an Wrede, 21. Okt. 1813, bei Heilmann, Fürſt Wrede, S. 268.Als dieſe Hoffnung trog, ſuchte er zunächſt die Souverä - nität der Wittelsbacher gegen Hardenbergs dualiſtiſche Pläne ſicherzuſtellen und ſchürte insgeheim den Unfrieden zwiſchen den beiden Großmächten. Daher Baierns Eifer für die Wiederherſtellung der Krone Sachſen. Zur Zeit des zweiten Pariſer Friedenscongreſſes konnte Montgelas ſogar vor dem preußiſchen Geſandten Küſter ſeine Schadenfreude kaum verbergen: welch ein Glück, wenn der Streit um Elſaß-Lothringen ein dauerndes Zerwürfniß zwiſchen Oeſterreich und Preußen herbeiführte! **)Küſters Bericht, München 28. Auguſt 1815.Auch dieſe Erwartung erwies ſich als irrig, und nunmehr blieb ihm vorderhand nur übrig, die Thätigkeit des deutſchen Bundes zu lähmen und das bai - riſche Volk vor den gefährlichen Lehren der norddeutſchen Jacobiner ſorg - lich zu bewahren. Mit Genugthuung bemerkte er bald, wie wenig von der Ohnmacht des Bundestags zu fürchten war; die Handvoll Patrioten im Lande aber hielt er mit rückſichtsloſer Strenge nieder. Selbſt ein Liebling des Königs, Anſelm Feuerbach ward als preußiſcher Emiſſär angeſchwärzt und in die Provinz verſetzt, weil er in ſeiner Schrift über teutſche Freiheit den Sturz der Fremdherrſchaft verherrlicht und die For - derung aufgeſtellt hatte: durch die Freiheit des Repräſentativſyſtems müſſe das Blut ſo vieler Edlen bezahlt werden. Ueber die Unhaltbarkeit der neuen deutſchen Zuſtände täuſchte ſich der weltkundige Miniſter nicht; bei der nächſten europäiſchen Kriſis dies blieb noch im ſpäten Alter ſeine Hoffnung konnten vielleicht mit Hilfe einer auswärtigen Macht die kleinſten deutſchen Fürſten mediatiſirt, Baden und Württemberg in Italien abgefunden und der ganze Südweſten dem Hauſe Wittelsbach unter - worfen werden; mochte dann Preußen immerhin ſich im Norden ver - größern, wenn nur das Eine verhindert ward was dem bairiſchen Staats -336II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.manne immer als das Schrecklichſte erſchien: die Einheit Deutſchlands. Bis dahin galt es zu lauern und zu laviren. Die phantaſtiſchen Einfälle bajuvariſcher Selbſtüberſchätzung bethörten ſeinen kühlen Kopf nur auf Augenblicke. Nichts ſchien ihm kindiſcher als der Wahn, daß ein Verein von Ohnmächtigen jemals eine Macht bilden könne; darum wies er alle die Entwürfe für einen Sonderbund der deutſchen oder der europäiſchen Mittelſtaaten, wie ſie in Stuttgart ausgebrütet wurden, lächelnd zurück. Auch die pfälziſchen Pläne des Kronprinzen bekämpfte er von vornherein als ausſichtslos.

Ein ſeltſames Freundespaar: der behäbige, aufgeknöpfte, volksthüm - lich ſchlichte König, und neben ihm die höfiſche Geſtalt des klugen Miniſters eine ganz altfranzöſiſche Erſcheinung, mit gepudertem Haar, in ge - ſticktem rothem Galakleid und langen ſeidenen Strümpfen; ſcharfe und doch unſtete braune Augen, eine überhängende mächtige Naſe über dem großen, fauniſchen Munde, in allen Zügen der Ausdruck durchdringenden Verſtandes. An dem frivolen Tone, der die Münchener vornehme Welt beherrſchte, trugen Montgelas und ſeine Gemahlin reichliche Mitſchuld; ſein kleines Schloß in Bogenhauſen am Engliſchen Garten bot den Skandalſüchtigen unerſchöpflichen Stoff. Für die Thaten der neuen deut - ſchen Literatur und Kunſt konnte ſich der alte Illuminat niemals recht erwärmen; jedoch er wußte, daß die Wiſſenſchaft für die Reform des Staates unentbehrlich war, und mochte auch bei ſeinen Tafelfreuden das belebende Geſpräch geiſtreicher Gelehrten nicht miſſen. Wohl ward er herrſchſüchtig durch den langen Genuß der Macht, aber kleinliche Eitelkeit lag ihm fern; neben dem verlogenen Selbſtlobe der Aufzeichnungen Metter - nichs hinterläßt das gehaltene Selbſtgefühl, das aus Montgelas Denk - würdigkeiten ſpricht, einen wohlthuenden Eindruck.

Auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens hatte der despotiſche Volksbeglücker einen radicalen Umſturz vollzogen; aber die neue Ord - nung zeigte noch überall Lücken und Widerſprüche, überall die Spuren überhaſteter Arbeit. Noch am glücklichſten war die Reform des Unter - richtsweſens gelungen. Die Volksſchule war der Herrſchaft der römiſchen Kirche entriſſen, die ſeit 1802 eingeführte allgemeine Schulpflicht begann ſich langſam einzubürgern. Die mittleren Unterrichtsanſtalten ſtanden unter der Leitung Niethammers, eines wackeren Vorkämpfers der ſtreng - claſſiſchen Bildung; auf dem Münchener philologiſchen Seminar erzog der Thüringer Friedrich Thierſch in vieljähriger treuer Arbeit einen Stamm von tüchtigen Lehrern, ſo daß ein Hauch von dem idealiſtiſchen Geiſte dieſes praeceptor Bavariae allmählich in die meiſten Gymnaſien des Landes drang. Zu den Univerſitäten Landshut und Erlangen trat jetzt noch Würzburg mit dem reichen fürſtbiſchöflichen Juliushospital hinzu, eine wich - tige Pflanzſtätte der mediciniſchen Wiſſenſchaft. Der dumpfe Schlummer der alten Zeiten der Glaubenseinheit war für immer überwunden.

337Montgelas Reformen.

Weit unfertiger erſchien die Neugeſtaltung der Rechtspflege und der Verwaltung. Allerdings ward das Gewirr der alten Territorien zu na - poleoniſchen Departements zuſammengeballt, und die Beamten erhielten durch eine verſtändige Dienſtpragmatik eine ebenſo geſicherte Stellung wie die preußiſchen; doch in der unterſten Inſtanz blieben Juſtiz und Verwaltung vereinigt, und der Schrecken der Bauern, Gnaden Herr Landrichter hauſte auf dem flachen Lande mit ſchrankenloſer Gewalt. Auf den großen Landgütern beſtanden noch die Patrimonialgerichte, und nicht ſelten geſchah es, daß der Staat ſeine eigenen Grundholden an begünſtigte Edelleute abtrat um dieſen die Bildung ſelbſtändiger Gerichts - bezirke zu ermöglichen. Das Evangelium der Bureaukratie, das Straf - geſetzbuch von 1813, gereichte dem juriſtiſchen Scharfſinn ſeines Verfaſſers Feuerbach zur Ehre; aber das heimliche Verfahren und die überſtrengen Strafen nährten den Geiſt herrſchſüchtiger Härte, der dies Beamtenthum auszeichnete; vornehmlich die barbariſchen Zwangsmittel gegen hartnäckig leugnende Angeklagte wurden von den Landrichtern oft mit empörender Roheit gehandhabt. Dazu die Späherkünſte und die Brieferbrechungen der ganz nach napoleoniſchem Muſter geſchulten geheimen Polizei. Der Druck der Beamten laſtete um ſo ſchwerer, da Montgelas die Selbſtän - digkeit der Gemeinden noch vollſtändiger vernichtet hatte als der erſte Conſul. Welch ein Abſtand zwiſchen der Städteordnung Steins und dem faſt gleichzeitig verkündigten bairiſchen Gemeindegeſetze: hier war den Municipalitäten ſogar die Verwaltung ihres Vermögens genommen, ſchlechterdings nichts durften ſie beſchließen ohne Genehmigung des - niglichen Polizeibeamten. Obgleich die neuen Steuergeſetze ſich gut be - währten, ſo herrſchten doch in der Finanzverwaltung Verwirrung und Unterſchleif; der Miniſter ſelbſt arbeitete viel aber mit der Unregelmäßig - keit des großen Herrn. Für die Jahre 1812 17 ergab ſich ein Deficit von 8,8 Millionen Fl., und den wirklichen Betrag der hohen Staatsſchuld kannte Niemand.

Dies Alles war für die Maſſen des Volks noch erträglicher als die völlig verunglückten wirthſchaftlichen Reformverſuche des Miniſters. Hier zeigte ſich erſt, wie weit die Begabung Montgelas hinter der ſtaats - männiſchen Kraft Steins und Hardenbergs zurückſtand. Die ſociale Freiheit hatte durch alle die gewaltſamen Neuerungen und pomphaften Verheißungen dieſer fünfzehn Jahre nahezu nichts gewonnen. Nur die Leibeigenſchaft war beſeitigt, aber die lückenhaften Geſetze über die Ab - löſung der Zinſen und Zehnten gelangten nicht zur Ausführung, neun Zehntel der Bauern blieben noch zinspflichtige Grundholden. Das alte Zunftweſen, das nirgendwo ärger entartet war, als in Altbaiern, ſollte durch die Einführung polizeilicher Gewerbſcheine verdrängt werden, und mit der landesüblichen Ruhmredigkeit verkündete der Geſetzgeber, daß er den alten deutſchen Grundſatz Kunſt erbt nicht wieder zu Ehren bringenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 22338II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.wolle. Trotzdem wurden die theuer erkauften realen Gewerbegerechtigkeiten nicht aufgehoben; jede Zunft verfolgte nach wie vor die Arbeit der Pfuſcher, die Bortenmacher und die Poſamentirer lebten noch immer in ewigem Grenzſtreite, und wer das Glück hatte in den ſtreng geſchloſſenen kleinen Kreis der bürgerlichen Eſſenkehrermeiſter Münchens hineinzuheirathen war all irdiſchen Sorgen ledig. Die Reform blieb Stückwerk und erregte nur den Groll der Handwerker. Von der Erlaubniß zu ſelbſtändigem Ge - werbebetriebe hing aber in den Städten das Recht der Eheſchließung ab; da nun überdies auf dem Lande die Grundherren befugt waren jede Heirath zu unterſagen und die Untheilbarkeit der Bauernhöfe die Ver - ſorgung der jüngeren Söhne erſchwerte, ſo geſchah es, daß dies derb - ſinnliche, doch keineswegs unſittliche Volk ſich durch die Maſſe ſeiner un - ehelichen Kinder vor allen Völkern Europas traurig auszeichnete. In Niederbaiern kam faſt ein Viertel aller Kinder außer der Ehe zur Welt. In der Pfalz dagegen blieb die Zahl der unehelichen Geburten faſt dreimal geringer, denn hier beſtand die ſociale Freiheit der franzöſiſchen Geſetz - gebung und das harte, aber heilſame Verbot der Vaterſchaftsklage.

Für die Lebenszeit des Königs glaubte Montgelas der Herrſchaft ſicher zu ſein. Die große Mehrzahl des Beamtenthums war von dem Geiſte des napoleoniſchen Despotismus durchdrungen, und in der Haupt - ſtadt beſtanden nur zwei ſtarke Parteien, beide gleich undeutſch, beide gleich particulariſtiſch: hier die Clericalen, die unter Max Joſeph nie - mals an’s Ruder gelangen konnten, dort die Anhänger des aufgeklärten Miniſters. Die kleine Kolonie von norddeutſchen und ſchwäbiſchen Ge - lehrten, welche in München noch faſt allein die politiſchen Ideale des Be - freiungskrieges feſthielt, beſaß keinen Einfluß und durfte den Miniſter nicht offen bekämpfen, da er ihr doch einen Rückhalt bot gegen den Fremdenhaß der fanatiſchen Altbaiern; einer der Beſten aus dieſem Kreiſe, der Philolog Jacobs war ſchon wieder nach Thüringen heimgezogen, der feinfühlende Mann konnte es nicht ertragen beſtändig geſchmäht zu werden als ein nordiſcher, im bairiſchen Kanaan gemäſteter Bettler. Stärker war die Unzufriedenheit in Franken; hier zitterte die Begeiſterung der Kriegs - jahre noch lange nach, die Gemeinden grollten über den Verluſt ihrer ſelbſtändigen Verwaltung, und eine pathetiſche Schrift des Bambergers Hornthal, die an den Art. 13 der Bundesakte erinnerte, fand lebhaften Anklang. Doch auch dieſe Oppoſition ſchien ungefährlich. Voll Zuver - ſicht ſangen die unbekehrten Rheinbündler in Aretins Alemannia noch immer das Lob des großen Miniſters, unter wüthenden Schimpfreden gegen die Deutſch-Michelei, den Boruſſismus und die Anglomanie. Als in Franken der Jahrestag der Leipziger Schlacht gefeiert wurde, erzählten dieſe Alemannen in einem Feſtberichte: die ſchöne Feier habe mit einer Thierſchau geendet und der beſte Ochſe ſei mit dem Orden des eiſernen Kreuzes geſchmückt worden.

339Eugen Beauharnais. Kronprinz Ludwig.

In der Hofgeſellſchaft, die noch mit Vorliebe franzöſiſch ſprach, gewann der Bonapartismus neuen Anhang, ſeit der Schwiegerſohn Max Joſephs, Eugen Beauharnais als königlicher Prinz und Herzog von Leuchtenberg in München Hof hielt und eine Schaar unzufriedener Franzoſen um ſich verſammelte. Der Liebenswürdigſte der Napoleoniden gewann ſich bald die Herzen der Bürgerſchaft und arbeitete in emſiger geheimer Thätigkeit für die Herſtellung des Kaiſerreichs. Sein Adjutant General Bataille unterhielt den Verkehr mit den Bonapartiſten in Mai - land. *)Küſters Berichte, München 17. Mai, 20. Auguſt 1815 ff.Der Polizeidirector aber drückte beide Augen zu, auch viele Poſt - beamte zählten zu den Vertrauten des Leuchtenbergiſchen Palaſtes. Nachher fand auch Eugens Schweſter Hortenſe, die vormalige Königin von Holland, mit ihren beiden Söhnen in Augsburg eine Zuflucht, ſpielte mit bezau - bernder Anmuth die Rolle der bürgerfreundlichen Fürſtin und wob noch eifriger als der Bruder an den Fäden der napoleoniſchen Verſchwörung. Unbekümmert um die dringenden Warnungen der beiden deutſchen Groß - mächte ließ der König ſeinen Liebling Eugen gewähren. Baiern blieb noch jahrelang das Neſt des deutſchen Bonapartismus.

Niemand litt unter dieſen unwahren Verhältniſſen ſchwerer als die hochherzige Königin Karoline und ihr Stiefſohn der Thronfolger. Beide hatten im Jahre 1813 bei der glücklichen Wendung der Münchener Po - litik redlich mitgeholfen und ſahen nun mit Beſorgniß, daß ein ehrliches Verhältniß zu dem neuen Deutſchen Bunde unmöglich blieb, ſo lange dieſer Unberechenbare am Steuer ſtand. In dem erregbaren Gemüthe des Kronprinzen lag eine grundehrliche Schwärmerei für Deutſchlands Größe unvermittelt neben einem ebenſo phantaſtiſchen großbairiſchen Macht - dünkel. Zu Straßburg geboren hatte der Prinz nachher im Exil viel mit elſaſſiſchen Emigranten verkehrt, die Franzoſen und ihre Revolution ſchon in jungen Jahren haſſen gelernt. Sein ganzes Leben ſeitdem war ein beſtändiger Kampf gegen die franzöſiſche Politik des Vaters. Nach der Auſterlitzer Schlacht mußte er in ſeiner Geburtsſtadt die Sieges - feſte der Kaiſerin Joſephine mit anſehen und ſagte mit ſeiner gewohnten ehrlichen Rückſichtsloſigkeit: das ſollte mir die liebſte Siegesfeier ſein, wenn meine Heimath wieder eine deutſche Stadt würde. Als er ein Jahr darauf an der Weichſel gegen die Preußen und Ruſſen focht, faßte er ſchon den Plan, den großen Männern ſeines Vaterlandes eine prächtige Walhalla zu errichten und forderte die Teutſchen in ſtolpernden Verſen auf, die Ketten des Corſen zu ſprengen. Niemals, ſelbſt nicht im An - geſicht des Imperators, hatte er ſeinen deutſchen Stolz verleugnet. In Montgelas ſah er nur den Frohnvogt des fremden Zwingherrn; er hatte ſeines Widerwillens kein Hehl, behandelte ſeinen Schwager Eugen Beau - harnais öffentlich mit der äußerſten Geringſchätzung und erſehnte den22*340II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Sturz des Miniſters um ſo ungeduldiger, da ſein eigner Lieblingsplan, der Anſchlag auf die badiſche Pfalz, ohne das Wohlwollen der deutſchen Großmächte nie gelingen konnte.

Für dieſe Beſtrebungen fand er einen mächtigen Bundesgenoſſen an dem gefeierten neuen Feldmarſchall des bairiſchen Reichs. Wrede haßte die norddeutſchen Patrioten noch ingrimmiger als der Miniſter ſelbſt; dieſen Narren, dieſen Teufel von Stein wollte er im Feldzuge von 1814 ſo ſchrieb er an Montgelas am Liebſten in eine Haubitze laden um ihn als Geſchenk an Napoleon hinüberzuſenden. Vornehmlich aus ge - kränkter Eitelkeit war der tapfere Landsknecht im Jahre 1812 aus einem ergebenen Diener ein Feind Bonapartes geworden, weil ihm der Im - perator den großen Adler der Ehrenlegion verſagte. Aber er durfte ſich rühmen, daß er raſcher als Montgelas den rechten Zeitpunkt für den Abfall erkannt und den Rieder Vertrag halb gegen den Willen des zau - dernden Miniſters zu Stande gebracht hatte. Seitdem hielt er ſich nicht nur für den Feldherrn, ſondern auch für den diplomatiſchen Retter der bairiſchen Nation. Sein Praetorianertrotz ſprach allem Anſtande, ja ſelbſt den Staatsgeſetzen Hohn. Völlig eigenmächtig verhieß er im Feldzuge von 1815 den Offizieren der vier Reiterregimenter und achtzehn Legionen, die nur für den Krieg gebildet waren, ſie ſollten im Frieden nicht ent - laſſen werden; als Montgelas nachher wegen der verzweifelten Finanzlage die dringend gebotene Verminderung des Heeres verlangte, trat der Feld - marſchall im Miniſterrathe als Repräſentant der Armee auf und ſetzte bei dem Monarchen ſeinen herriſchen Einſpruch durch. Was Wunder, daß ihn Montgelas den bairiſchen Friedländer nannte und den neuen Fürſtentitel dieſes Schooßkindes der Fortuna mit ſchelen Augen betrachtete. Seit dem Wiener Congreſſe war Wrede ganz für Oeſterreich gewonnen, daſſelbe Oeſterreich, das er noch kürzlich ſo oft in ſeinen donnernden Proclamationen als unſeren ewigen Feind gebrandmarkt hatte; auch er hielt, als geborener Pfälzer, ſeine begehrlichen Blicke auf Heidelberg und Mannheim gerichtet und wußte, daß dies Ziel nur durch die Gunſt der Hofburg erreicht werden konnte.

Der Haß dieſer beiden mächtigen Gegner verſchärfte ſich noch durch das Verhalten des Miniſters in der Verfaſſungsſache. Obwohl der Kron - prinz wie der Feldmarſchall mit ihrem ſtarken despotiſchen Eigenwillen ſich Beide gleich wenig für das conſtitutionelle Staatsleben eigneten, ſo verkannten ſie doch nicht, daß nach ſo vielen feierlichen Verheißungen die Verfaſſung endlich zu Stande kommen müſſe. Montgelas dagegen ward mit den Jahren immer ſtarrer in ſeiner bureaukratiſchen Geſinnung. Er ließ die traurige Conſtitution von 1808 unausgeführt, und der Mann, der durch ein Syſtem unerbittlicher Centraliſation jedes ſelbſtändige Leben in den Provinzen vernichtet hatte, gelangte allmählich zu derſelben An - ſicht, wie die feudale Partei in Preußen: er meinte, zunächſt müßte durch341Der Verfaſſungsplan von 1815.Provinzialſtände die politiſche Bildung erweckt werden, da der Deutſche das Repräſentativſyſtem nicht verſtehe. Der Miniſter konnte nicht hindern, daß der König, um den Beſchlüſſen des Wiener Congreſſes zuvorzukommen, eine Commiſſion zur Durchſicht jenes papiernen Grundgeſetzes einberief; er gab jedoch den Einberufenen unzweideutig zu verſtehen, daß die bairiſchen Landſtände nicht mehr bedeuten dürften als die parlamentariſchen Inſtitu - tionen Napoleons. Wagte ſich einmal eine freiere Meinung in der Com - miſſion heraus, dann hieß es kurzab: der König und ſeine Beamten ſeien als die eigentlichen Repräſentanten der Nation zu betrachten; unbegreiflich, wie man von der Erweiterung der ſtändiſchen Rechte auch nur reden könne, da doch der König nur aus beſonderer Gnade auf einige ſeiner Souveränitätsrechte verzichtet habe.

Die Commiſſion, die zum größten Theile aus ergebenen Dienern des Miniſters ſowie aus einigen hochconſervativen altbairiſchen Edelleuten beſtand, nahm ſich dieſe Winke zu Herzen und brachte einen wunder - baren Entwurf zu Stande, der allen Wünſchen der Bureaukratie und des Junkerthums gleichmäßig entſprach. Ein Oberhaus, mit dem be - ſcheidenen Namen Kammer der Reichsräthe geſchmückt, und eine De - putirtenkammer bilden zuſammen die bairiſche Nationalrepräſentation. Für die Deputirtenſtellen werden durch indirekte Wahl je drei Candi - daten vorgeſchlagen, aus denen der König, nach dem bewährten napo - leoniſchen Brauche, einen ernennt; die Grundholden aber, die Maſſe der Bauernſchaft, bleiben von der Repräſentation gänzlich ausgeſchloſſen, weil ſie ſchon durch ihre Grundherren vertreten ſind. Der Zuſammenſetzung dieſer Volksvertretung entſpricht auch das Maß ihrer Rechte: unter dringenden Umſtänden darf die Krone ſogar direkte Steuern einſeitig ausſchreiben, die Staatsgüter kann ſie jederzeit veräußern ohne die Kammer auch nur zu benachrichtigen. Eine ſolche Verfaſſung erſchien wie Spott. Der Kronprinz fühlte es und bewog den König ſeine Zu - ſtimmung zu verſagen als der unglückliche Entwurf im Februar 1815 in Wien anlangte. Die Commiſſion ward aufgelöſt. Montgelas aber ſah dem Schiffbruch mit ſtiller Schadenfreude zu und ließ fortan zwei Jahre hindurch die leidige Sache gänzlich ruhen. Daß der verhaßte preußiſche Nebenbuhler ſein Verfaſſungswerk früher beendigen würde, ſtand ja nicht mehr zu befürchten; auch der Bundestag drängte nicht, und von einer altſtändiſchen Bewegung zeigte ſich in Baiern keine Spur. Die ſtolze Macht der altbairiſchen Landtage, die einſt in den ſtürmiſchen Tagen des Löwlerbundes ſo oft das Recht des bewaffneten Widerſtandes geübt hatten, war ſchon ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert gebrochen; bei ſeiner Thronbeſteigung hatte Max Joſeph nur noch einen lebloſen Land - tags-Ausſchuß, die Verordnung, vorgefunden und dies letzte Trümmerſtück faſt ohne Kampf beſeitigt. Vergeblich verſuchte jetzt der Würzburger Pro - feſſor Rudhart, durch ſeine gelehrte Geſchichte der bairiſchen Landſtände342II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.das Andenken der alten ſtändiſchen Freiheit wieder zu beleben; er erwarb ſich nur den Dank der Wiſſenſchaft, auf die politiſche Stimmung des Landes wirkte ſein Buch nicht ein.

Unterdeſſen richtete Montgelas ſeine Aufmerkſamkeit vornehmlich auf die Verhandlungen mit dem römiſchen Stuhle, eine Unterhandlung, die für das geſammte Deutſchland folgenreich werden und auch auf die bairiſche Verfaſſungsarbeit ganz unerwartet zurückwirken ſollte. Trotz ihrer ſtreng römiſchen Geſinnung hatten die alten Wittelsbacher doch jederzeit, gleich den Allerchriſtlichſten Königen Frankreichs, die Kirchenhoheit ihres Staates kräftig behauptet. Die Bildung einer bairiſchen Landeskirche ſo weit dies unbeſchadet der katholiſchen Glaubenseinheit möglich war blieb durch Jahrhunderte das Ziel der wittelsbachiſchen Kirchenpolitik; zu der - ſelben Zeit, da Baiern die Proteſtanten austrieb, ward in München der Geiſtliche Rath eingeſetzt, eine vom Landesherrn ernannte oberſte Kirchen - behörde, ähnlich den Conſiſtorien der Lutheraner. Sobald der Reichs - deputationshauptſchluß die benachbarten reichsunmittelbaren Biſchöfe, die alten Gegner des landesfürſtlichen Kirchenregiments, der bairiſchen Landes - hoheit unterworfen hatte, nahm der Münchener Hof jene altwittelsbachi - ſchen Pläne mit neuem Eifer auf. Er traute ſich’s zu, mit dem Papſt ein ebenſo vortheilhaftes Concordat abzuſchließen, wie kurz zuvor der erſte Conſul, und hoffte auf die Errichtung von Landesbisthümern, deren Grenzen mit denen des Staatsgebietes zuſammenfallen ſollten. Bald genug mußte er erfahren, wie unerſchütterlich der heilige Stuhl ſelbſt in jenen Tagen ſeiner Demüthigung die alten herriſchen Grundſätze feſthielt. Der päpſtliche Unterhändler Cardinal della Genga, derſelbe, der ſpäterhin als Leo XII. den Thron beſtieg, forderte nichts Geringeres als die Rück - kehr zu dem alten Syſteme der Glaubenseinheit: die Gleichberechtigung der Proteſtanten, die Anerkennung der gemiſchten Ehen, die Aufſicht des Staates über die Schulen, alle die ſegensreichen Reformen, auf denen die Rechtsordnung des paritätiſchen neuen Königreichs ruhte, ſollten wieder verſchwinden. Im Jahre 1809 wurden die Verhandlungen abgebrochen. Gleichwohl gab man in München die Hoffnung nicht auf: wie konnte die Curie einem Hofe widerſtehen, der ſich ſo gern rühmte nach Oeſterreich die erſte katholiſche Macht in Deutſchland zu ſein? Als der Fürſtprimas Dalberg in jenen rheinbündiſchen Tagen unermüdlich luftige Pläne für eine deutſche oder rheinbündiſche Nationalkirche entwarf, fand er an Montgelas ſeinen entſchiedenſten Gegner. Auch auf dem Wiener Congreſſe bewährte Baiern ſeine ſtolze Selbſtgenügſamkeit und erlangte, daß die kirchlichen Angelegenheiten der Competenz des Deutſchen Bundes entzogen wurden.

Eine Aenderung dieſes entſcheidenden Beſchluſſes war, bei der Schwäche der neuen Bundesgewalt, weder erreichbar noch wünſchenswerth; denn wer mochte die ſchwierigen Unterhandlungen mit der Curie dieſem Bundestage anvertrauen? Der Particularismus hatte auch in dieſer343Landeskirchliche Beſtrebungen.Frage, wie überall, einen vollſtändigen Sieg davon getragen. Alle deut - ſchen Staaten ſahen ſich nunmehr auf denſelben Weg gedrängt, welchen Baiern und Württemberg ſchon unter dem Rheinbunde eingeſchlagen hatten: ſie mußten, einzeln oder in Gruppen, mit dem römiſchen Hofe verhandeln um die Errichtung neuer Landesbisthümer durchzuſetzen. In dieſem wohl - berechtigten Wunſche waren die Höfe alleſammt einig. Denn nach den zahlloſen Grenzverſchiebungen der letzten Jahre konnten die Diöceſen des heiligen Reichs ſchlechterdings nicht mehr unverändert bleiben; die alten Bisthümer waren überdies ſämmtlich, bis auf fünf, verwaiſt und befanden ſich, da die Seculariſationen der katholiſchen Kirche Deutſchlands ein jähr - liches Einkommen von mindeſtens 21 Mill. Fl. entriſſen hatten, durchweg in einer wirthſchaftlichen Noth, welche allein durch die Hilfe der Staats - gewalt geheilt werden konnte.

Auch die preußiſchen Staatsmänner, die auf dem Wiener Congreſſe ſo lebhaft für eine gemeinſame deutſche Kirchenpolitik eingetreten waren, mußten jetzt dieſen Gedanken, gleich den Bundeszollplänen und ſo manchen anderen patriotiſchen Entwürfen jener hoffnungsvollen Tage, als unaus - führbar fallen laſſen. Die preußiſche Bundesgeſandtſchaft wurde ange - wieſen, keine Einmiſchung des Bundes in kirchliche Dinge zu dulden, ſchon weil Preußen nimmermehr die Anweſenheit eines Nuntius in Frankfurt geſtatten dürfe; der König denke vielmehr ſelbſtändig vorzugehen und durch freiſinnige Gewährungen den anderen deutſchen Staaten ein Muſter zu geben. *)Inſtruction für die Bundesgeſandtſchaft 30. Nov. 1816, § 31.Humboldt ſchlug dann noch vor, der preußiſche Staat ſolle die Rechte, welche er der römiſchen Kirche zu gewähren gedenke, förmlich unter den Schutz des Bundes ſtellen und dafür fordern, daß auch die Rechte der Proteſtanten in den katholiſchen Staaten durch die Bürgſchaft des Bundes geſichert würden. Der Staatskanzler aber lehnte den Vorſchlag ab; er ſah voraus, daß weder Oeſterreich noch Baiern jemals auf einen Plan eingehen konnten, welcher der Krone Preußen die Stellung des Protectors der deutſchen Proteſtanten verſchafft hätte. Da Baiern nun doch ſeines eigenen Weges zog und Oeſterreich von vornherein aus dem Spiele blieb, ſo konnte Hardenberg auch von einer gemeinſamen Ver - handlung mit den Kleinſtaaten ſich keinen Erfolg verſprechen; die Ab - ſichten der verſchiedenen Höfe gingen allzu weit auseinander. Der preu - ßiſche Staat beherrſchte allein mehr katholiſche Unterthanen als Baiern und die kleinen Staaten zuſammen; er allein hatte ſchon unter dem alten Reiche Landesbiſchöfe gehabt und ſich in der Schule einer reichen Er - fahrung feſte kirchenpolitiſche Grundſätze gebildet, die mit einigen Aende - rungen auch dem Bedürfniß der Gegenwart genügen konnten. Die kleinen proteſtantiſchen Dynaſtien des Weſtens dagegen, Württemberg, Baden, Heſſen, Naſſau waren mit einem male in den Beſitz ausgedehnter katho -344II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.liſcher Gebiete gelangt und ſtanden den neuen Aufgaben, die ſich hier ergaben, noch ziemlich rathlos gegenüber. Sie wußten wohl, daß die altproteſtantiſche Kirchengewalt der Landesherren unter den neuen Ver - hältniſſen ſich nicht mehr halten ließ, und waren ehrlich gewillt der - miſchen Kirche etwas größere Freiheit als bisher zu gewähren; jedoch ſie hegten noch immer ſehr überſpannte Begriffe von den Rechten der Staats - gewalt, eine Selbſttäuſchung, welche Hardenberg nicht theilte. Daher erhielt Niebuhr ſchon von Paris aus die Weiſung, daß er beſtimmt ſei für Preußen allein mit Rom zu verhandeln und vor Allem die Wieder - herſtellung der unentbehrlichen Landesbisthümer herbeizuführen.

Nur Heinrich von Weſſenberg gab den Gedanken einer deutſchen Nationalkirche, den er auf dem Wiener Congreß ſo nachdrücklich vertreten hatte, auch jetzt noch nicht auf. Bei den Höfen galt der vielgeſchäftige Conſtanzer Generalvicar zugleich als ein willkommener Bundesgenoſſe und als ein läſtiger Störenfried; denn ſie wünſchten gleich ihm die Macht des Papſtes über die deutſchen Prälaten möglichſt zu beſchränken, aber der Kern ſeiner Pläne konnte nüchternen Staatsmännern nur als ein unmöglicher Anachronismus erſcheinen. Weſſenberg verkannte, wie gründlich der politiſche Charakter der katholiſchen Kirche Deutſchlands durch die Seculariſationen und die Beſeitigung der adlichen Pfründen ſich ver - ändert hatte. Er träumte von einem deutſchen Kirchenſtaate, der unter dem Schutze des Bundes, geleitet von einem Fürſten-Primas, wohlaus - gerüſtet mit adlichen Prälaten, National - und Diöceſan-Synoden, dem Papſtthum wie den Landesherren gleich unabhängig gegenüberſtehen ſollte. Und dieſe ariſtokratiſche Kirchenverfaſſung nannte er mit naiver Anmaßung die deutſche Kirche , obgleich die große Mehrheit der Deutſchen außer - halb Oeſterreichs dem Proteſtantismus angehörte. Von Landesbisthümern, deren die moderne Staatseinheit doch nicht entrathen konnte, wollte er nichts hören; ſeine vornehmen Biſchöfe ſollten in mehreren Staatsgebie - ten zugleich ihre geiſtliche Gewalt ausüben. Welch eine Ausſicht auf ewigen Streit zwiſchen dem Papſte, dem Primas, dem Bundestage, den Einzelſtaaten und dieſen halbſouveränen, keiner Landeshoheit ausſchließ - lich unterworfenen Biſchöfen!

Und woher ſollte ein deutſcher Primas jetzt noch die ſeiner Würde unentbehrliche landesfürſtliche Selbſtändigkeit gewinnen? Dalberg ſelbſt, der Fürſtprimas des Rheinbunds, hatte den patriotiſchen Entwürfen ſeines Freundes Weſſenberg bereits den Boden unter den Füßen hinweg - gezogen, als er im Oktober 1813 zu Gunſten Eugen Beauharnais auf das Großherzogthum Frankfurt verzichtete. Der Unwille der Verbün - deten wider den bonapartiſtiſchen Kirchenfürſten ward durch dieſen ſchimpf - lichen politiſchen Selbſtmord nur verſtärkt und milderte ſich auch nicht, als der wetterwendiſche Enthuſiaſt ſchon im nächſten Jahre wieder um - ſchlug und dem rächenden Erzengel Europas, dem Czaren Alexander345Dalberg und Weſſenberg.ſeine Huldigung darbrachte. Der Entthronte zog ſich ſodann in ſein Bisthum Regensburg zurück und verbrachte dort noch die zwei Jahre bis zu ſeinem Tode (Febr. 1817) in apoſtoliſcher Einfachheit, ganz den Pflichten des geiſtlichen Amts und der chriſtlichen Barmherzigkeit dahin - gegeben. Manchen politiſchen Gegner verſöhnte der heitere Gleichmuth des freundlichen Alten; die eigenthümliche Anmuth dieſes aus Begeiſterung, Eitelkeit und Zagheit ſo ſeltſam gemiſchten Geiſtes erſchien am Abend ſeines Lebens faſt noch unwiderſtehlicher als vor Jahren, da Schiller und W. Humboldt ſich ſeines Umgangs gefreut hatten. Aber mit ſeiner Landeshoheit war auch ſein Primat unrettbar verloren; einem bairiſchen Unterthan und Landesbiſchof wollte kein deutſcher Staat die Rechte eines deutſchen Oberhirten zugeſtehen, am wenigſten Preußen, das den rhein - bündiſchen Primas-Titel ohnehin nicht für rechtsgiltig anſah. Daher fand Weſſenberg faſt überall kühle Aufnahme, als er im Jahre 1815 einige Höfe bereiſte und die Diplomaten in Frankfurt für ſeine national - kirchlichen Pläne zu gewinnen ſuchte. Noch nicht entmuthigt, forderte er im December die deutſchen Regierungen auf, ſich vor Beginn der - miſchen Verhandlungen mindeſtens über gemeinſame Grundſätze zu ver - einigen und den Bundestag als oberſten Richter in allen Streitfragen zwiſchen Staat und Kirche anzuerkennen. Dem Vetter Metternichs und Bruder des k. k. Geheimen Rathes Weſſenberg mochte es wohl unbedenk - lich erſcheinen, wenn die Angelegenheiten preußiſcher Biſchöfe der Mit - entſcheidung des Kaiſers von Oeſterreich anheimgegeben würden. In Berlin dachte man anders.

Am Unfreundlichſten aber wurde Weſſenberg in München aufge - nommen: Baiern ſei ſich ſelbſt genug, hieß es hier kurzab, und werde keinen weiteren Eingriff in ſeine Souveränität dulden. Montgelas war bei ſeinen kirchenpolitiſchen Neuerungen in dem bigotten altbairiſchen Volke nur ſchwachem Widerſtande begegnet und ſchloß daraus mit dem Hochmuthe des glaubenloſen Weltkindes, daß auch die römiſche Kirche wenig Lebenskraft mehr beſitze. Die Hoffart der Aufklärung verleitete den klugen Mann zu einem Irrthum, der allerdings von den meiſten Staatsmännern jener Zeit getheilt wurde, aber dieſem geharniſchten Vertreter der Staatsallmacht am übelſten anſtand. Er hoffte von dem Papſte nicht blos eine Circumſcriptionsbulle zu erlangen, welche die Grenzen der neuen bairiſchen Landesbisthümer feſtſtellen ſollte. Er hielt es auch für unbedenklich, das Rechtsverhältniß zwiſchen Staat und Kirche durch ein Concordat vertragsmäßig zu ordnen und erkannte nicht, wie ſchwer die Souveränität des Staates ſchon durch den Abſchluß eines Concordats gefährdet wird; denn jeder Staat iſt befugt den Umfang ſeiner eigenen Hoheitsrechte ſelbſt zu beſtimmen und kann ſich dies unveräußerliche Recht nicht durch Verträge mit auswärtigen Mächten ſchmälern laſſen, am wenigſten durch einen Vertrag mit der Curie, die von jeher alle Zu -346II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.geſtändniſſe an die weltliche Gewalt nur als Indulgenzen, als wider - rufliche Gnaden betrachtet hat. Aber die Hoffnung das napoleoniſche Concordat noch zu überbieten ſchmeichelte dem bairiſchen Stolze, und ſchlimmſten Falls blieb ja die Krone der Wittelsbacher ſtark genug das Concordat eigenmächtig abzuändern, ſich über die Beſchwerden des Papſtes hinwegzuſetzen. Verfehlt wie der Grundgedanke des ganzen Unterneh - mens war auch die Wahl des Unterhändlers. Das ſchwierige Geſchäft wurde in die Hände des achtzigjährigen Biſchofs Häffelin gelegt. Mont - gelas wähnte an dem weichmüthigen Prälaten ein ganz abhängiges Werkzeug zu beſitzen und überſah, daß der ſchwache Greis mit ſeiner Eitelkeit und ſeinen vierzehn unehelichen Kindern auch den Lockungen wie den Drohungen des Vatikans gleich zugänglich war.

Unter ſolchen Umſtänden ſchöpfte die ultramontane Partei friſchen Muth; ſie hatte ſich ſchon ſeit dem Jahre 1812 in ganz Süddeutſchland feſter zuſammengeſchloſſen und, ungeſchreckt durch Montgelas harte Ver - bote, rührende Bilder und Erzählungen von der Gefangenſchaft des Papſtes unter dem gläubigen Volke verbreitet. Ihr Heerd war die Curie des Biſchofs von Eichſtädt, Grafen Stubenberg; von hier em - pfingen während des Wiener Congreſſes die Oratoren der katholiſchen Kirche ihre Weiſungen. Ihr literariſcher Wortführer, der Würzburger Weihbiſchof Zirkel zog gegen Weſſenberg zu Felde und forderte als ein begeiſterter Romantiker unter dem hochtönenden Namen der Kirchenfrei - heit die unbeſchränkte Herrſchaft des Papſtes über die deutſche Kirche. Bei Hofe beſaßen die Clericalen noch immer mächtige Freunde; auch auf den Thronfolger glaubten ſie rechnen zu können, da der Prinz durch den Hofpfarrer Sambuga ſtreng kirchlich erzogen und ein ſchwärmeriſcher Jünger der romantiſchen Schule war.

Der Uebermuth des Miniſters beſtrafte ſich ſchnell. Biſchof Häffelin ſpielte im Vatican eine klägliche Rolle und überſendete endlich im Herbſt 1816 einen römiſchen Concordats-Entwurf, worin der katholiſchen Kirche alle die Rechte, die ihr nach den kanoniſchen Vorſchriften gebühren, vorbehalten wurden. Das hieß, wenn man die Worte ehrlich verſtand, Zurücknahme der Gleichberechtigung der Proteſtanten, Aufhebung der ſämmtlichen kirchenpolitiſchen Geſetze des letzten Jahrzehnts. Für dieſe unerhörte Forderung gewährte die Curie nur ein wichtiges Zugeſtändniß, deſſen Folgen ſie glücklicherweiſe ſelber nicht ganz überſah: ſie wollte ge - ſtatten, daß das Concordat als bairiſches Staatsgeſetz verkündet würde. Die klugen Monſignoren hofften offenbar, dem Vertrage durch eine ſolche Verkündigung größere Sicherheit zu geben und bedachten nicht, daß der König ein Staatsgeſetz jederzeit einſeitig ändern durfte. In Montgelas rückſichtsloſen Händen konnte dieſe unvorſichtige Gewährung zu einer ſcharfen Waffe werden; ſo lange er am Ruder blieb, ſtand eine Demü - thigung der Krone vor dem Papſte nicht zu befürchten.

347Montgelas Sturz.

Da erfolgte plötzlich, zur allgemeinen Ueberraſchung des Landes, der Sturz des Miniſters. Im November 1816 war der König nach Wien gereiſt um ſeine ſoeben mit dem Kaiſer Franz vermählte Tochter Karoline Auguſte zu beſuchen und auch die politiſche Freundſchaft, die ſeit den Salzburger Händeln arg geſtört war, wiederherzuſtellen. Er blieb dort faſt ein Vierteljahr und ward mit Ehren überhäuft; aber ſobald er politiſche Fragen berührte, ſtieß er auf eine wohlberechnete Zu - rückhaltung und mußte endlich einſehen, daß der Groll der Hofburg gegen ſeinen Montgelas unverſöhnlich blieb. Dieſer Haß ward eben jetzt aufs Neue entfacht, da eine Depeſche des franzöſiſchen Geſandten Mercy, die über Montgelas Verhalten im Herbſt 1813 unerfreuliche Aufſchlüſſe bot, in die Hände des Wiener Hofs gerathen war. Vor dem preußiſchen Ge - ſandten gab ſich Metternich freilich den Anſchein, als ob er ſich um dieſe bairiſchen Dinge nie bekümmert hätte. Als der König ſeine Anſchläge gegen Baden enthüllte, empfing er von dem Kaiſer wie von Metternich nur die trockene Zuſage, ſie würden ſeinen Abſichten nicht entgegen ſein. Und ſelbſt dieſe Verheißung war nicht ehrlich gemeint; denn gleichzeitig ließ Metternich den preußiſchen Staatskanzler wiſſen, das Verſprechen ſei nur als eine Abfindung (par manière d’acquit) gegeben und in der Ueber - zeugung, daß die bairiſchen Pläne bald auf allen Seiten mächtigen Wider - ſpruch finden würden. *)Kruſemarks Bericht, Wien 8. Febr. Hardenbergs Weiſung an Küſter 25. März 1817.Unterdeſſen erging ſich die neue Kaiſerin, eine erklärte Freundin der Jeſuiten, in lebhaften Anklagen wider den kirchen - feindlichen Miniſter, der allein noch der guten Freundſchaft der beiden Höfe im Wege ſtand; die Diplomaten der Curie halfen getreulich nach, auch aus München liefen wiederholte Beſchwerden von Seiten des Kron - prinzen und des Feldmarſchalls Wrede ein.

Verſtimmt, aber noch keineswegs entſchloſſen kehrte der König am 1. Februar 1817 nach München zurück und ließ dem Miniſter auf den nächſten Vormittag ſeinen Beſuch ankündigen. Der Wagen war bereits beſtellt, die Unterredung konnte, nach früheren Erfahrungen, nur mit einer neuen Verſöhnung der beiden Freunde endigen. Da ſetzte der Kron - prinz im letzten Augenblicke alle Hebel ein. Er war nach einer ſchweren Krankheit noch an das Zimmer gefeſſelt und durfte grade jetzt auf freund - liches Gehör bei dem zärtlichen Vater rechnen. In einem beweglichen Briefe ſtellte er noch einmal alle ſeine Klagen gegen den Hochmuth und die nachläſſige Amtsführung des Miniſters zuſammen und erbat ſich als einen Beweis königlicher Gnade die Entlaſſung des unheilvollen Mannes. Mit dieſem Schreiben erſchien Wrede am Vormittag des 2. Februar bei dem Monarchen. Zitternd, in höchſter Angſt, genehmigte der König endlich die Bitte des Thronfolgers. Der gutmüthige Schwächling verfällt faſt immer in Härte wenn er ſich ſtark zeigen will; ſo entließ auch Max Joſeph348II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.den Staatsmann, der ihm die Königskrone errungen hatte, in den ſchnö - deſten Formen, ganz nach dem Brauche jener launiſchen altwürttember - giſchen Despoten, die ihre Günſtlinge mit einem theatraliſchen Fußtritt zu beſeitigen pflegten. Um Mittag empfing der Miniſter ſtatt des er - warteten königlichen Beſuchs ein Handſchreiben, das ihm mit dürren Worten den Abſchied gab. Der Schlag fiel ſo unvermuthet, daß die Münchener anfangs meinten, der allmächtige Miniſter müſſe ein Staats - verbrechen begangen haben. Der Kronprinz aber triumphirte laut und ſagte zu dem preußiſchen Geſandten: ſo iſt meine Krankheit doch zu etwas gut geweſen. Das ganze Land athmete auf bei dem Sturze des verhaßten Bureaukraten. Auch die beiden Großmächte verbargen ihre Freude nicht; auf Befehl Hardenbergs mußte Küſter die lebhafte Be - friedigung ſeines Hofes ausſprechen. *)Küſters Berichte, 12., 16. Febr.; Hardenbergs Weiſung 4. März 1817.

Der Erfolg der Kataſtrophe war zweiſchneidig: ſie beſeitigte das ſchwerſte Hinderniß des Verfaſſungswerks, aber auch die einzige Kraft, welche den unſeligen Concordatsverhandlungen noch eine leidliche Wen - dung geben konnte. Die Clericalen ſahen ſich eines furchtbaren Feindes entledigt, jedoch zur Herrſchaft gelangten ſie nicht. Noch am nächſten ſtand ihnen der neue Miniſter des Auswärtigen, Graf Aloys Rechberg; für das Finanzweſen dagegen ward Frhr. v. Lerchenfeld berufen, ein offener Gegner der römiſchen Anſprüche und eifriger Förderer der Verfaſſungs - arbeit; der Miniſter des Innern Graf Thürheim, ein bekehrter Illu - minat, zeigte ſich ſchwach und unfähig. Zudem erhielten die General - directoren der Miniſterien jetzt erweiterte Befugniſſe, ſo daß ſie faſt wie Mitglieder des Cabinets erſchienen; auch Wrede und der Generalſekretär Kobell miſchten ſich beſtändig ein. Kein Wunder, daß der alte Häffelin in Rom unter dieſer ſteuerloſen Regierung ſich nicht mehr zu helfen wußte. Wohl erhielt er von Thürheim eine ſcharfe, noch unter Mont - gelas verfaßte Inſtruction, welche das Recht des Staates die äußeren Rechtsverhältniſſe der Kirche ſelbſtändig zu ordnen nachdrücklich verwahrte; aber er meinte an dieſe Weiſung nicht ernſtlich gebunden zu ſein ſeit der Wind in München umgeſchlagen war. Schritt für Schritt ließ er ſich in die Enge treiben; der Günſtling der Bourbonen, Graf Blacas, der ebenfalls in Rom wegen eines Concordats unterhandelte, ermahnte den Baiern zur Nachgiebigkeit. Am 5. Juni unterzeichnete Häffelin, ſeinen Inſtructionen zuwider, ein Concordat, das allen Hoffnungen der Ultramontanen genügte; gleich im Eingang war die übermüthigſte For - derung des Vaticans zugeſtanden: die römiſche Kirche ſollte aller der Rechte theilhaftig werden, welche ihr nach Gottes Ordnung und den ka - noniſchen Vorſchriften gebühren.

Als die unbegreifliche Nachricht in München eintraf, wollten die349Das Concordat.Miniſter anfangs kaum daran glauben; der König polterte wider den hundsföttiſchen Vertrag. Aber die einzige Antwort, die in ſolcher Lage einer ſtolzen Krone geziemte, unterblieb: der pflichtvergeſſene Unterhänd - ler wurde nicht abberufen. Vergeblich forderte Lerchenfeld, daß ohne ausdrücklichen Vorbehalt der Rechte des Staates kein Abkommen ge - ſchloſſen werden dürfe. Graf Rechberg war bei früheren Verhandlungen mit dem Cardinal della Genga zu der entgegengeſetzten Ueberzeugung gelangt; er meinte, ein ſtillſchweigender Vorbehalt genüge auch, da die Curie es mit der Ausführung der Verträge ſo genau nicht nehme. Man beſchloß endlich, den in Eichſtädt wohlbeliebten Bruder des Miniſters, Xaver Rechberg nach Rom zu ſenden, und dieſer brachte mit Blacas Beihilfe ein Concordat zu Stande, das bis auf wenige unweſentliche Punkte mit dem Vertrage vom 5. Juni vollſtändig übereinſtimmte. Der neue Vertrag ward am 24. Oktbr. vom Könige genehmigt. Er enthielt außer jener grundſätzlichen Anerkennung des kanoniſchen Rechts noch die Zuſage, daß alle nicht im Concordate ſelbſt erwähnten kirchlichen Ange - legenheiten nach der vigens ecclesiae disciplina behandelt werden und in zweifelhaften Fällen ſtets eine neue Vereinbarung zwiſchen dem Papſte und dem Könige erfolgen ſolle. Im Art. 17 war ſogar die Aufhebung aller dem Concordate widerſprechenden Geſetze und Verordnungen angekündigt. Die Biſchöfe ſollten über die Reinheit des Glaubens und der Sitten in den öffentlichen Schulen wachen und durften von der Staatsgewalt die Unterdrückung gefährlicher Bücher verlangen. Auch die Einrichtung neuer Klöſter und die unbeſchränkte Befugniß zum Gütererwerb ward der Kirche zugeſichert. Um ſolchen Preis bewilligte der Papſt die Gründung der ſo lange erſtrebten bairiſchen Landeskirche mit zwei Erzbiſchöfen und ſechs Biſchöfen; die beantragte Bildung eines einzigen Erzbisthums für das ganze Königreich wurde in Rom abgelehnt, denn wie leicht konnte nicht ein ſolcher Metropolitan die Rolle eines Primas ſpielen! Als katholiſcher Souverän erhielt der König das Recht, drei ſeiner Landesbiſchöfe unbe - dingt, die fünf anderen auf Grund einer Candidatenliſte zu ernennen. Hierin und in der ſtillſchweigenden Anerkennung des landesherrlichen Patronats über die Pfarrſtellen lag die einzige Sicherung der Rechte der Staatsgewalt. Wollte man unredlich verfahren, ſo blieb als letzte Waffe freilich noch der Art. 18, der in einem Athem verſprach, das Concordat ſolle unverbrüchlich gehalten und als Staatsgeſetz verkündigt werden.

So der Inhalt dieſes erſten Probſtücks der Münchener europäiſchen Politik. Es war die ſchimpflichſte Demüthigung, welche jemals ein mo - derner Staat von dem heiligen Stuhle dahin genommen, die wohlver - diente Strafe für den particulariſtiſchen Dünkel, der ſich zuerſt von den übrigen deutſchen Staaten abgeſondert hatte und nun ihnen um jeden Preis zuvorkommen wollte. Selbſt Küſters Nachfolger, der hochconſer - vative alte General Zaſtrow erſchrak über den vollſtändigen Sieg Roms 350II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.und ſchrieb dem Staatskanzler, der alle kirchlichen Händel mit geſpann - ter Aufmerkſamkeit verfolgte: der Clerus wird die dieſem Boden erſt ſeit ganz neuer Zeit zu theil gewordene Aufklärung wieder in das Dunkel und Verderben des Aberglaubens herunterſtürzen. *)Zaſtrows Bericht 10. Decbr. 1817.Die Curie froh - lockte und ſprach dem Könige gebührendes Lob aus. Max Joſeph aber vergaß ſeiner Würde ſo gänzlich, daß er brieflich beim Papſte den Car - dinalshut für den ungetreuen Geſandten Häffelin erbat. Die Bitte ward erfüllt, unter dem Unwillen aller guten Baiern; ſelbſt die Cardinäle klagten, auf ſolchen Schultern werde der Purpur entweiht.

Einen ſo glänzenden Triumph konnte der Vatican der Welt nicht lange vorenthalten. Schon im December wurde das Concordat durch die Curie einſeitig veröffentlicht, und ſofort veranlaßte der Eichſtädter Bund die höchſten geiſtlichen Behörden, der Krone ihren Dank auszu - ſprechen. Das Generalvicariat in Bamberg verlangte das Einſchreiten der Behörden gegen eine fränkiſche Zeitung, die ſich der Sache Weſſen - bergs annahm; unter den Heißſpornen der clericalen Partei vernahm man bereits die Forderung: alle Kinder gemiſchter Ehen und alle Find - linge ſollten der römiſchen Kirche überwieſen und der Uebertritt zum Katholicismus Jedem ohne Unterſchied des Alters freigeſtellt werden. Unerhörte Anſprüche, die ſich doch mit gutem Grunde auf die Eingangs - worte des Concordats berufen konnten! Die Proteſtanten ſahen das Daſein ihrer Kirche ſelbſt bedroht; welches Recht der Evangeliſchen ſtand denn noch feſt, wenn wirklich die kanoniſchen Vorſchriften allen bairiſchen Staats - geſetzen vorgingen? Die Conſiſtorien und viele proteſtantiſche Städte be - ſchworen den König in beweglichen Bittſchriften um Aufrechterhaltung der paritätiſchen Grundſätze des Religionsedikts von 1809; auch der Hof - prediger der Königin Schmitt erhob ſeine mächtige Stimme, Niemand aber ſchürte die Bewegung eifriger als Anſelm Feuerbach, der ſeinem Beinamen Veſuvius wieder einmal Ehre machte. Unter den Katholiken trat Ignaz Rudhart mit gewohntem Freimuth für die bedrohte Parität auf; ſelbſt viele Geiſtliche verhehlten ihre Beſorgniſſe nicht.

Die Aufregung hielt an und wuchs, da gleichzeitig in Frankreich ein Sturm gegen das neue von Blacas abgeſchloſſene Concordat losbrach, und die Süddeutſchen bereits anfingen jedem Wellenſchlage der öffentlichen Meinung im Nachbarlande gelehrig zu folgen. Auch der Kronprinz begann, trotz ſeiner romantiſchen Phantaſien, doch bedenklich zu werden und er - innerte den Vater an das Vorbild ſeines Ahnherrn Ludwigs des Baiern. Max Joſeph ſelbſt ſchämte ſich ſeiner Schwäche; er konnte es nicht leugnen, dies Concordat war ein Abfall nicht blos von den Grundſätzen ſeiner eigenen Kirchenpolitik, ſondern auch von allen guten Traditionen der alten Wittelsbacher. Aber nachdem er ſein königliches Wort feierlich ver -351Wiederaufnahme der Verfaſſungsarbeit.pfändet hatte, blieb ihm nur noch eine Hinterthür offen: jener Art. 18 nämlich, kraft deſſen das Concordat als Staatsgeſetz verkündigt werden ſollte. Die Regierung beſchloß ſo geſtand der Miniſter Rechberg dem preußiſchen Geſandten im tiefſten Vertrauen den Vertrag nach Mög - lichkeit zu interpretiren; ſie dachte das Concordat als Geſetz für das Königreich zu veröffentlichen, aber gleichzeitig auch ein zweites Geſetz, das den Gewährungen des Concordats die Spitze abbrechen und die Proteſtanten beruhigen ſollte. *)Zaſtrows Berichte, 15. Febr., 15. April 1818.Ein kläglicher Ausweg aus einer ſelbſtverſchuldeten kläglichen Lage, aber nach Allem was geſchehen immerhin noch das einzige Mittel um die preisgegebenen Rechte der Staatsgewalt zurückzuerlangen.

Den bequemſten Anlaß zur Ausführung dieſes Vorhabens bot die Einlöſung des Verfaſſungsverſprechens. Am 11. Februar 1818 beſchloß das Staatsminiſterium auf den Antrag des Generaldirectors v. Zentner, der Verfaſſung ein Edict über die Rechtsverhältniſſe der chriſtlichen Reli - gionsgemeinſchaften beizulegen. So hatte die Nachgiebigkeit gegen den römiſchen Stuhl doch die eine günſtige Folge, daß die ſtockende Ver - faſſungsarbeit wieder in Fluß gerieth. Auch die Finanznoth kam den Wünſchen der Verfaſſungsfreunde zu ſtatten; ſie war unter dieſem viel - köpfigen Regimente ſo hoch geſtiegen, daß der Kronprinz kurzweg erklärte, nur die Berufung der Landſtände könne den zerrütteten Staatscredit wiederherſtellen. **)Zaſtrows Bericht 15. März 1818.Stärker als alle dieſe Rückſichten wirkte der dynaſtiſche Ehrgeiz. Die Erwerbung der badiſchen Pfalz blieb nach wie vor der lei - tende Gedanke der bairiſchen Staatskunſt, und da der Schiedsſpruch der großen Mächte noch ausſtand, ſo begannen im Frühjahr 1818 die beiden Höfe von München und Karlsruhe einen wunderlichen Wettlauf um die Gunſt der öffentlichen Meinung, die doch ſehr wenig bedeutete. Beide Gegner betrieben mit fieberiſchem Eifer ihre Verfaſſungsberathungen, um den Beiſtand der Tagespreſſe für die Entſcheidung der Gebietsfrage zu gewinnen. Darum vornehmlich hielten der Kronprinz und der Feldmar - ſchall ſtandhaft zu der conſtitutionellen Partei.

Seit dem Februar 1818 wurde die Durchſicht der Conſtitutions - Entwürfe von 1808 und 1814 wieder aufgenommen. Im Verlaufe dieſer Berathungen gewann Zentner täglich an Anſehen, neben Lerchenfeld der beſte Kopf des Münchener Cabinets, vormals Profeſſor in Erlangen, aber frei von jenem doctrinären Eigenſinn, welcher die deutſchen Gelehrten in der praktiſchen Politik faſt immer Schiffbruch leiden läßt; Bureau - krat durch und durch, beredt, klug, ſachkundig, ganz erfüllt von dem Ge - danken der Allmacht des Staates, im perſönlichen Verkehre geiſtreich und liebenswürdig, wenngleich das geckenhafte Weſen des alten Junggeſellen zuweilen ein Lächeln erregte. Als Generaldirector im Miniſterium des352II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Innern nahm er dem Grafen Thürheim bald alle Arbeitslaſt und damit die Herrſchaft aus den Händen. Er wurde der Neuordner des bairiſchen Beamtenthums, brachte zuerſt wieder einige Zucht und Pünktlichkeit in den verwahrloſten Dienſt und erwies Allen, die den hellblauen Amts - frack trugen, nachdrücklich, daß ſie Gunſt und Ehre allein von ihm zu erwarten hatten. Einem ſolchen Manne konnte das parlamentariſche Leben nicht verlockend erſcheinen; doch er begriff, daß die junge Krone der Volks - gunſt, die unfertige Staatseinheit einer neuen Klammer bedurfte, und traute ſich die Kraft zu, den Geiſt des Abſolutismus auch unter den conſtitutionellen Formen aufrecht zu erhalten. Durch ihn ward die Ver - faſſungsarbeit überraſchend ſchnell gefördert, ſo daß man den badiſchen Mitbewerber um mehrere Monate überholte.

Am 26. Mai ritt der blauweiße Reichsherold durch die Straßen Münchens um ſiebenmal ein königliches Manifeſt zu verleſen, das die Verleihung des neuen Grundgeſetzes verkündigte und die dankbare An - erkennung dieſer landesväterlichen Handlung von den Herzen aller Baiern beanſpruchte. So war denn Baiern der erſte größere Bundesſtaat, der die Verheißung der Bundesakte im Geiſte der herrſchenden conſtitutionellen Doctrin erfüllte. Mit kindlicher Freude nahm das Land die Gabe ſeines Königs auf; ſelbſt das brandenburgiſche Franken zeigte jetzt zum erſten male eine Anwandlung wittelsbachiſcher Geſinnung. Ein allegoriſches Bild, das die Vertreter des Wehr -, Lehr - und Nährſtandes in zärtlichem Reigen die Königskrone umtanzend darſtellte, gab den Gefühlen des Volkes einen angemeſſenen Ausdruck. Wenn ſich nur mit dieſer erklärlichen Be - friedigung nicht ein ſo widerwärtiger particulariſtiſcher Hochmuth vermiſcht hätte! Bei jedem Erfolge der conſtitutionellen Bewegung im Süden ergoß ſich eine Fluth des Hohnes auf das zurückgebliebene Preußen, und die alten Rheinbundsgedanken tauchten in liberalem Gewande wieder auf. Kaum waren nach Montgelas Fall die Hoffnungen der bairiſchen Ver - faſſungsfreunde wieder erwacht, ſo übergab Feuerbach dem Miniſter Rech - berg ſchon eine Denkſchrift über einen Fürſtenbund aller Kleinſtaaten, der, auf England, Dänemark, Holland geſtützt, ſeinen natürlichen Feind Preußen in der Mitte zerſpalten und das freundlich große Bild freier Ver - faſſungen den Völkern der beiden Großmächte als Gegenſtand der Sehn - ſucht, ihren Regierungen als Meduſenhaupt vor die Augen halten ſollte.

Das freundlich große Bild der bairiſchen Verfaſſung entſprach in der That billigen Erwartungen. Sie gewährte die Gleichheit vor dem Geſetze und eine nicht allzu ängſtlich beſchränkte Preßfreiheit. Bei der Zu - ſammenſetzung der beiden Kammern war die altgewohnte ſtändiſche Gliede - rung ſchonend berückſichtigt: die Kammer der Reichsräthe ſollte aus den Großwürdenträgern des Reichs, aus erbberechtigten adlichen Grundherren und einer Minderzahl von der Krone ernannter Mitglieder beſtehen, die Abgeordnetenkammer zu einem Viertel von dem kleinen Grundadel und353Die Verfaſſung und das Religions-Edikt.der niederen Geiſtlichkeit, zu einem Viertel von den Städten, zur Hälfte von den Bauern erwählt werden; die alſo Gewählten vertraten aber nicht die Rechte ihres Standes, ſondern die Intereſſen des geſammten Landes. Die beſte Gewähr für ein leidliches Gedeihen dieſer conſtitutionellen Formen bot das neue, der Städteordnung Steins nachgebildete Gemeinde-Edict, das einige Tage vor der Verfaſſung veröffentlicht wurde. Wohl ſtand dies Geſetz weit hinter ſeinem preußiſchen Vorbilde zurück; ein großer Theil der ſtädtiſchen Geſchäfte ward noch immer nicht von der Bürgerſchaft ſondern von bezahlten Gemeindeſchreibern beſorgt, die Landgemeinden blieben auch fernerhin ſehr abhängig von den Schreibern der Landgerichte, und viele der tüchtigſten Bauern weigerten ſich darum das Amt des Ge - meindevorſtehers zu übernehmen. Aber mindeſtens der Grundſatz der com - munalen Selbſtverwaltung wurde anerkannt, die Gemeinden erhielten die Verfügung über ihr Vermögen, die freie Wahl der Magiſtrate und Ge - meindebevollmächtigten. Ein Boden praktiſcher Volksfreiheit war doch endlich gewonnen, ein Boden, in dem die neue Verfaſſung vielleicht feſte Wurzeln ſchlagen konnte.

Als Anhang der Verfaſſung erſchien neben neun anderen organiſchen Geſetzen ein Religionsedikt, das dem Concordate die erſehnte Interpre - tation gab. Darin wurden die bewährten Grundſätze der neuen bai - riſchen Kirchenpolitik noch einmal zuſammengeſtellt, die Parität der Be - kenntniſſe unumwunden anerkannt, bei gemiſchten Ehen die Trennung der Kinder nach dem Geſchlechte vorgeſchrieben und der Krone das altbairiſche Recht des Placet gewahrt. Kein Satz darin, der nicht den leitenden Gedanken des Concordats gradezu widerſprach. Der Curie erſchien es wie Hohn, daß nunmehr auch das Concordat, ſelbſtverſtändlich unter Vorbehalt der Rechtsgrundſätze des Religionsedikts, als Staatsgeſetz ver - kündigt wurde. Sie klagte heftig über den offenkundigen Vertragsbruch und ließ ſich auch nicht beſchwichtigen, als der König den Canonicus Helfferich, einen der ultramontanen Oratoren des Wiener Congreſſes, mit beruhigenden Verſicherungen nach Rom ſendete. Da wagte der alte Häffelin, der jetzt im glücklichen Genuſſe des Cardinalspurpurs alle Scham verlor, eine neue grobe Pflichtverletzung. Er verſicherte, wieder eigenmäch - tig und ohne Helfferichs Vorwiſſen: das Religionsedikt gelte nur für die Akatholiken; und der Papſt ſäumte nicht, dieſe ſchimpfliche Erklärung in einer triumphirenden Allocution der Welt zu verkündigen.

Zum zweiten male war die Ehre der bairiſchen Krone durch den un - getreuen Geſandten öffentlich bloßgeſtellt; einige der Miniſter forderten dringend die Beſtrafung des Staatsverbrechers . Aber auch diesmal war Max Joſephs gutmüthige Schlaffheit unbezwinglich. Er begnügte ſich, ſeinen Kreisregierungen durch ein Reſcript einzuſchärfen, daß das Religionsedikt für Jedermann im Königreiche gelte, und mußte nunmehr neuen beſchämen - den Händeln mit dem erbitterten Papſte entgegenſehen. Solche WinkelzügeTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 23354II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.konnten das Anſehen des bairiſchen Hofs bei den großen Mächten, das ohnehin ſeit dem Hervortreten der pfälziſchen Eroberungspläne tief ge - ſunken war, nicht erhöhen; jedoch dem Papſte gegenüber ſtand Baiern im Vortheil. Die Curie war in ihren eigenen Netzen gefangen; ſie hatte ſelber gehofft, die Veröffentlichung des Concordats als eines Staatsge - ſetzes könne ihr zum Nutzen gereichen, und ſah ſich nun faſt wehrlos, als dies Staatsgeſetz durch ein anderes Geſetz von Rechtswegen einge - ſchränkt wurde. Das große Publikum blieb ohne nähere Kenntniß von allen den häßlichen Wendungen dieſer verworrenen Händel und freute ſich unbefangen des Sieges der weltlichen Gewalt. Einige Monate lang genoß Baiern die wohlfeile Freude, von der geſammten deutſchen Preſſe als der liberalſte aller deutſchen Staaten verherrlicht zu werden.

In Baiern befreite die Erfüllung des Art. 13 den weltlichen Arm von der Laſt des Concordats, in Baden rettete ſie den Beſtand des Staates ſelber. Schon ſeit einigen Jahren befand ſich das junge Groß - herzogthum in einem gefährlichen Zuſtande arger Zerrüttung, und faſt ſchien es als ſollte dies künſtliche Staatsgebilde ebenſo ſchnell wie es entſtanden war wieder verſchwinden. Das alte Haus der Zähringer hatte einſt weithin am Oberrhein bis in das ſchweizeriſche Uechtland hinauf geherrſcht und mit den Staufern um die ſchwäbiſche Herzogs - würde gerungen; ſeine Städtegründungen Bern und die beiden Frei - burg erzählten von ſeinem Ruhme. Aber ſchon im dreizehnten Jahr - hundert begann der Verfall, die Zähringer ſanken zurück in die Reihe der kleinen Dynaſten. Als Markgraf Karl Friedrich von Baden-Durlach um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Herrſchaft antrat, gebot er über ein Ländchen von kaum dreißig Geviertmeilen, das von der Schweizer Grenze bis über Karlsruhe hinab in mehreren Stücken zer - ſtreut lag und zum Reichsheere ein Simplum von 95 Mann ſtellte. Als ſeine zweiundſechzigjährige Regierung im Jahre 1811 zu Ende ging, hatte ſich das Gebiet faſt verzehnfacht. Zuerſt wurde das katholiſche Baden-Baden mit dem lutheriſchen Durlach vereinigt; dann ſchüttete Napoleon das buntſcheckige rechtsrheiniſche Ufergelände von Conſtanz bis Mannheim zu einem ſeltſamen Staate zuſammen, der ſechzig Meilen lang am Rheine hingedehnt, an ſeiner ſchmalſten Stelle nur zwei Meilen breit, faſt allein aus Grenzbezirken beſtand. Die vorderöſterreichiſchen Landſchaften Nellenburg, Breisgau, Ortenau, die rechtsrheiniſche Jung - pfalz und Bruchſtücke der Bisthümer Conſtanz, Straßburg, Speier wurden mit zahlloſen kleineren Gebieten von Fürſten, Grafen, Reichsrittern und Reichsſtädten zuſammengeworfen. Zwei Drittel der Unterthanen der pro - teſtantiſchen Dynaſtie waren katholiſch, faſt ein Drittel des Landes gehörte355Das oberrheiniſche Land.den unzufriedenen mediatiſirten Häuſern der Fürſtenberg, Leiningen, Löwenſtein. Von lebendigen hiſtoriſchen Erinnerungen war dieſem Länder - gewirr nahezu nichts gemeinſam; auch im Breisgau, wo der Stammſitz des Fürſtenhauſes lag, dachte Niemand mehr an die alten zähringiſchen Zeiten.

Und doch war dieſe ganz moderne Territorialbildung gar ſo un - natürlich nicht. Auf dem Kamme des Schwarzwalds, faſt auf den näm - lichen Stellen, wo jetzt badiſches und württembergiſches Land aneinander ſtieß, ſtanden einſt in den Anfängen der chriſtlichen Zeitrechnung die Grenzzeichen der Kelten und der Germanen, und auch als nachher die Alemannen weſtwärts bis zu den Vogeſen vordrangen, blieb der Schwarz - wald noch immer eine natürliche Grenze. Auf der Oſtſeite erhielt ſich das ſchwäbiſche Volksthum, abgeſchieden von der Welt, in ſeiner ur - ſprünglichen Kraft und Schwere. Die weſtlichen Thäler des Schwarz - walds und die reiche Ebene davor wurden früh in die Regſamkeit des rheiniſchen Lebens hineingezogen; durch das oberrheiniſche Land ging die große Heerſtraße zwiſchen dem Süden und dem Norden, während nach Schwaben nur wenige ſtille Gebirgswege hinüberführten und auch der Verkehr mit dem Elſaß durch das ungebändigte Wildwaſſer des Rheins erſchwert wurde. Von Alters her, ſeit die Römer im Thale von Baden und auf der Höhe von Badenweiler ihre üppigen Bäder errichteten, war der ſorgloſe Genuß in dieſem geſegneten Lande zu Haus; nirgends in Deutſchland lebte man beſſer, und der ſchwerfällige Schwabe verläſterte ſeine alemanniſchen Stammgenoſſen am Oberrhein, in deren Adern aller - dings viel keltiſches und römiſches Blut floß, als windige Franzoſen. Ungleich empfänglicher und beweglicher als die ſchwäbiſchen Nachbarn, aber auch ärmer an ſchöpferiſchen Köpfen hatte ſich das oberrheiniſche Volk zu allen Zeiten den neuen Ideen, welche die Welt entzündeten, mit lärmender Begeiſterung zugewendet. So lange die Kirche durch die demagogiſchen Mittel der Kreuzpredigten und der Bettelorden die Maſſen zu erregen verſtand, war kein deutſches Land kirchlicher geſinnt als der Oberrhein. Mit dem gleichen Ungeſtüm ſtürzte ſich das Volk nachher in die Kämpfe der Reformationszeit, aber nur die Minderheit beſaß die Kraft, in den Tagen der Prüfung beim evangeliſchen Glauben auszu - halten. Und wieder als die alamodiſche Bildung der Franzoſen eindrang, fand ſie nirgends in Deutſchland eifrigere Schüler.

Die Verſtandesweisheit der neuen Aufklärung, die alles hiſtoriſch Gewordene nur als Willkür betrachtete, mußte unwiderſtehlich auf dies erregbare Völkchen wirken, das drei Glaubensbekenntniſſe und eine Un - zahl kraftloſer, zufälliger Territorialgebilde auf engem Raume durchein - ander gewürfelt ſah. Sie blieb hier obenauf, auch nachdem die claſſiſche und die romantiſche Dichtung im übrigen Deutſchland längſt ſchon den hiſtoriſchen Sinn geweckt hatten; und als nun fremde Willkür alle dieſe23*356II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.alten Zufallsſtaaten zu einem neuen, der aus dem Nichts entſtand, zu - ſammenballte, da ward dies Land die natürliche Heimath eines ſtaat - und geſchichtsloſen Liberalismus, der ſich das politiſche wie das kirchliche Leben ſchnellfertig nach den untrüglichen Grundſätzen des ſogenannten Vernunftrechts zurecht legte und durch die aufregende Nachbarſchaft Frank - reichs und der Schweiz zu immer kühneren Forderungen ermuthigt wurde.

Wohl hatten ſich auf den geſchloſſenen großen Bauernhöfen des Schwarzwalds noch manche altväteriſche Sitten und Trachten erhalten; weniger freilich als nahebei im Elſaß, wo die Fremdherrſchaft das Volk von der neuen deutſchen Bildung abſperrte. Auch die ſtreng kirchliche Geſinnung behauptete ſich noch in einigen Schlupfwinkeln. Einzelne alt - lutheriſche Gemeinden ſaßen da und dort zerſtreut, vornehmlich bei Pforz - heim; ein Theil der Seeſchwaben blieb immer clerical; die Franken aus den entlegenen Thälern des hinteren Odenwalds wallfahrteten fleißig zum heiligen Blut nach Walldürn und ſtanden in ihrem katholiſchen Glaubenseifer kaum hinter den Münſterländern zurück, denn wie in Weſtphalen die Wiedertäufer, ſo hatten hier im maleriſchen Taubergrunde die Mordbanden des Bauernkriegs ihre blutige Spur zurückgelaſſen, das Bauernſchlachtfeld von Königshofen und die ſchändlich verſtümmelte Herr - gottskirche von Creglingen erzählten noch von den Saturnalien der lu - theriſchen Gecken. Aber die vorherrſchende Geſinnung des Landes war durchaus modern, ſtädtiſch, weltlich aufgeklärt. Im Breisgau und den anderen vorderöſterreichiſchen Gebieten ſchlugen die kirchlichen und politi - ſchen Grundſätze Joſephs II. weit tiefere Wurzeln als in den öſtlichen Kronlanden des Hauſes Lothringen; der philoſophiſche Kaiſer ward hier allgemein als das Fürſtenideal gefeiert. Die Pfälzer andererſeits wollten nach allen den gräßlichen Glaubenskriegen, die ihre ſchöne Heimath ver - wüſtet, nun endlich des confeſſionellen Friedens genießen, und er war nirgends unentbehrlicher als hier wo faſt in jedem Städtchen eine Simul - tankirche ſtand; ſie rühmten ſich ihres Karl Ludwig, des duldſamen Kur - fürſten, der in Mannheim die Friedenskirche für alle drei Bekenntniſſe er - richtet hatte. In Heidelberg gaben Paulus und Voß, in Freiburg Rotteck den Ton an. Der proteſtantiſche Rationalismus des Unterlandes reichte dem joſephiniſchen Katholicismus des Oberlandes die Hand, und was die Köpfe der gebildeten Klaſſen erfüllte drang tief in die Maſſen des Volks hinab; denn die ungebundene oberrheiniſche Lebensluſt ließ eine ſo ſcharfe Tren - nung der Stände, wie ſie im Norden noch beſtand, nicht aufkommen; in den zahlloſen kleinen Städten fand ſich überall ein behagliches Wirths - haus, wo der Bauer am Markttag mit den ſtudirten Leuten verkehrte.

Es war kein Zufall, daß grade in dieſem Lande der demokrati - ſchen Sitten die erſten wirklichen Volksbücher unſerer neuen Literatur er - ſchienen. Seit dem Verfaſſer des Simpliciſſimus, Grimmelshauſen, hatte der Oberrhein keinen bedeutenden Dichter mehr geſehen; jetzt freute ſich357Alemannen und Pfälzer.Hoch und Niedrig an den köſtlichen Kalendergeſchichten des Rheiniſchen Hausfreunds und an den alemanniſchen Gedichten Hebels, die in der treuherzigen Volksſprache von dem Glücke des gemüthlichen Oberlandes erzählten, von ſeinen dunklen Wäldern und plaudernden Bächen, von den Käſtenbäumen und dem Markgräflerweine, von dem Frohſinn, der Schelmerei, dem kräftigen Verſtande ſeiner aufrechten Mannen und ſchönen Dirnen. Sonne und Mond, Tages - und Jahreszeiten, alle Schickſalsmächte, die das Leben des Landvolks beſtimmen, nahmen in dieſen lieblichen Idyllen die Geſtalt und Sprache alemanniſcher Bauern an, ſo daß Goethe rühmte, der oberländiſche Poet verbauere auf die naivſte, anmuthigſte Weiſe durchaus das Univerſum. Und auch darum erſchien Hebel als ein echter Volksdichter, weil er ganz erfüllt war von dem Geiſte der Aufklärung, der hier zu Lande in der Luft lag. Ein kind - lich frommer Rationaliſt ſah er über den Streit der Bekenntniſſe mit einer Milde hinweg, die den kirchlichen Eiferern faſt bedenklich vorkam, und verſäumte ſelten den luſtigen Geſchichten ſeines Hausfreundes eine hausbackene moraliſche Nutzanwendung, die doch immer in den Schranken der Kunſt blieb, anzuhängen.

Der Schwerpunkt des neuen Staates lag in dem überwiegend katho - liſchen Oberlande. Wohl währte es lange, bis die Breisgauer ſich über die Trennung von dem geliebten Kaiſerhauſe tröſteten. Der Adel vergaß die Schließung ſeines Freiburger Ständehauſes nicht und unterhielt erſt mit den franzöſiſchen Emigranten, dann mit dem Wiener Hofe einen ver - dächtigen Verkehr; die Bürger beklagten, daß die Altbadener im Staats - dienſte bevorzugt würden, die alten Markgrafenlande immer die tüchtigſten Amtleute erhielten. Am Ende mußten die vorderöſterreichiſchen Alemannen die Verbindung mit den badiſchen Stammgenoſſen doch natürlich finden.

Weit langſamer gewöhnten ſich die pfälziſchen Franken des Unterlandes an den neuen Landesherrn. Was konnte Badens beſcheidene Geſchichte aufweiſen gegen die ſtolzen Erinnerungen des älteſten rheiniſchen Kur - fürſtenthums, das ſo lange den Reichsapfel des Kaiſers getragen und, ein gefürchteter Störenfried der geiſtlichen Nachbarn ringsum, der ſtreitbaren reformirten Kirche dort am Unterlaufe des Neckars eine feſte Burg er - richtet hatte? Trotz allem Jammer der letzten kurfürſtlichen Zeiten blieb das Volk noch bei dem alten Spruche: fröhlich Pfalz, Gott erhalt’s. Man ſprach noch gern von den alten Tagen, da es ſo hoch herging am großen Faß zu Heidelberg; und die glückliche Mutter ſagte ſtolz von ihrer ſchönen Tochter: ſie ſchaut aus wie eine Pfalzgräfin. Die freieren Köpfe wendeten ſich, als ſie ihr geliebtes altes Gemeinweſen zuſammenbrechen ſahen, den nationalen Ideen zu. Keine Landſchaft im Süden war ſo gut deutſch geſinnt. Die rechtsrheiniſchen Pfälzer hatten ſich vor ihren über - rheiniſchen Mitbürgern immer durch ein regeres geiſtiges Leben ausgezeichnet und auch als das linke Rheinufer der Fremdherrſchaft verfiel, die Fühlung358II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.mit der norddeutſchen Bildung nie verloren; wie ſollte das Franzoſenthum des Ueberrheins hier Wurzeln ſchlagen, wo man die Hunde mit den Namen der galliſchen Mordbrenner Duras und Melac rief? Von badiſcher Staats - geſinnung aber zeigte ſich noch keine Spur; auch die alte Hochſchule wollte immer nur dem ganzen Vaterlande angehören, obgleich ſie ihre neue Blüthe dem badiſchen Fürſtenhauſe verdankte. In Mannheim, der Re - ſidenz der letzten Kurfürſten, beſtand noch eine ſtarke Wittelsbachiſche Partei, die den begehrlichen Plänen des Münchener Hofes willig entgegenkam. Die alten pfalzbairiſchen Beamten und der ſittenloſe Adel ſehnten ſich zurück nach dem frivolen Hofe Karl Theodors; auch die Bürgerſchaft hatte in jenen luſtigen Tagen viel verdient und beklagte überdies den Verfall ihres Theaters, das einſt unter Dalbergs und Ifflands Leitung mit den beſten Bühnen Deutſchlands gewetteifert und Schillers Räuber zuerſt aufgeführt hatte. Die neue Landeshauptſtadt Karlsruhe wollte in der Pfalz Niemand gelten laſſen. Der langweilige Ort, hundert Jahre zuvor durch die Laune des Markgrafen Karl Wilhelm gerade an der häßlichſten Stelle des ſchönen Landes gegründet, wuchs noch immer ſehr langſam aus den Alleen des Hardtwaldes heraus; die eintönigen Häuſerzeilen des regelrechten Straßenfächers erſchienen nur noch öder, ſeit Weinbrenner ſie mit ſeinen Tempelbauten ſchmückte und den Beweis führte, daß unter allen Formen des Zopfſtils keine ſo geiſtlos iſt wie der claſſiſche Zopf.

So ſtarke widerſtrebende Kräfte im Frieden einem neuen Gemein - weſen einzufügen konnte nur dem perſönlichen Anſehen des ehrwürdigen alten Karl Friedrich gelingen. Der greiſe Herr galt ſeit Langem als das Muſter eines kleinen Landesvaters. Durchaus aufgeklärt und duldſam, ein Freund Karl Auguſts von Weimar, hielt er doch ſeinen altväteriſchen Chriſtenglauben feſt und begünſtigte unter den Talenten der neuen Lite - ratur vornehmlich jene, die ein warmes religiöſes Gefühl zeigten, Klopſtock, Herder, Lavater, Jung Stilling; empfänglich für die Ideen des neuen Frankreichs, ein Bewunderer der phyſiokratiſchen Wirthſchaftslehre, blieb er doch ein kerndeutſcher Mann, immer darauf bedacht, wie durch einen Fürſtenbund dem wankenden alten Reiche neues Leben gebracht, durch eine deutſche Akademie der Allgemeingeiſt der Nation geweckt werden könne, und es war wahrlich ein unverdientes, grauſames Schickſal, daß dieſer treue Patriot am Abend ſeines Lebens den Fluch der Kleinſtaaterei erfahren und ſchweren Herzens die Feſſeln des Fremdlings tragen mußte. Er förderte die Bildung und den Wohlſtand ſeines Landes durch eine umſichtige Geſetzgebung, die in Süddeutſchland ohne Gleichen daſtand, und verſtand ſich auch auf jene Sprache des Herzens, welche dem patriar - chaliſchen Völkchen unſerer Kleinſtaaten von jeher noch werthvoller war als das politiſche Verdienſt. In jedem altbadiſchen Wirthshauſe hing die Badiſche Landestafel : das Bild des Fürſten und darunter ſeine väterliche Antwort auf die Dankſagungen, welche ihm ſein Land nach der359Karl Friedrich und Karl von Baden.Aufhebung der Leibeigenſchaft geſendet. Und welch ein Jubel vollends, als Karl Friedrich dem wackeren Holzhändler Anton Rindeſchwender, dem Wohlthäter des Murgthals, der Landesherr dem Unterthan, ein Denkmal errichtete. Herder meinte, das ſei der erſte Fürſt ganz ohne Fürſtenmiene.

Daher fand die Propaganda der Franzoſen, als ſie von Baſel aus die Verfaſſungsurkunde der Deutſchen Republik im Oberlande verbreiteten, in den zufriedenen Markgrafenlanden nur vereinzelte Anhänger, ungleich weniger als in Württemberg und Baiern. Auch in den neuen Landes - theilen verfuhr der Organiſator der badiſchen Verwaltung Geh. Rath Brauer weit ſchonender als die harten Bureaukraten der Nachbarſtaaten; nur der Clerus beklagte, daß ſelbſt dieſer fromme Chriſt das Mißtrauen gegen die katholiſche Kirche, das allen altbadiſchen Beamten eigen war, nicht überwinden konnte. Da der Adel in der Pfalz und im Breisgau den neuen Staat mit ſtillem Grolle anſah, ſo bewahrte ſich das Be - amtenthum ſeinen überwiegend bürgerlichen Charakter; auch die thörichte rheinbündiſche Erfindung des Perſonaladels für Ordensritter, die in Baiern und Württemberg manchen eitlen Kopf verdrehte, blieb hier un - bekannt. Die neue Ordnung fand ihren Abſchluß durch die Einführung des badiſchen Landrechts, einer geſchickten Bearbeitung des Code Napoleon. Alles in dieſem Staate war modern.

Erſt nach Karl Friedrichs Ableben traten die Mächte des Zerfalls, welche der neue Staat umſchloß, drohend hervor. Sein Enkel, der junge Großherzog Karl war durch eine herrſchſüchtige Mutter aller ernſten Arbeit entfremdet worden und hatte ſich früh in Ausſchweifungen ge - ſtürzt, in der Blüthe der Jahre die Lebenskraft verloren. Begabt und liebenswürdig von Natur verſank er bald in ein dumpfes, träges Brüten; ganze Zimmer ſeines Schloſſes lagen angefüllt mit Akten, Briefen, Zu - ſendungen aller Art, die er weder ſelbſt erledigen noch irgend einem Menſchen anvertrauen wollte. So lebte der arme Kranke dahin, freund - los, verſchloſſen, unergründlich, immer mit ſeinen ſchönen ſchlauen Augen um ſich ſpähend, wer ihn wohl betrügen wolle; nur ſeine Gemahlin Stephanie Beauharnais, die er einſt auf Napoleons Befehl widerwillig geheirathet hatte, trat ihm jetzt näher, da er einem frühen Tode entgegen - welkte, und beglückte ihn durch den Reichthum ihres fröhlichen Herzens.

Unter einem ſolchen Fürſten ward Alles unberechenbar. Unter - ſtützt durch den franzöſiſchen Geſandten Bignon gelangte eine bonapar - tiſtiſche Partei ans Ruder, und unternahm, den kleinen Staat ſofort nach dem Pariſer Muſter umzugeſtalten; durch Härte und Willkür ging alles Vertrauen, das ſich die neue Landesherrſchaft mühſam erworben hatte, wieder verloren. Die Beamten verwilderten erſtaunlich ſchnell; ſie hatten ſich ſchon in der guten alten Zeit durch ihren bureaukratiſchen Bevor - mundungseifer ausgezeichnet, jetzt wurde Baden neben Darmſtadt und Naſſau das claſſiſche Land des unnützen Vielregierens. Auf mancher360II. 6. Süddeutſche Berfaſſungskämpfe.Landſtraße konnte der Wanderer die numerirten Obſtbäume bewundern, und am Eingange eines breiten Feldwegs begrüßte ihn zuweilen die In - ſchrift: Dieſer Weg iſt erlaubt. An beſtimmten Terminen hielt der Amt - mann den berüchtigten Unzuchtstag zur Abſtrafung aller der Schwanger - ſchaft verdächtigen Mädchen, und für die abgeſchaffte Tortur wußte er ſich genügenden Erſatz zu ſchaffen, indem er jeden Angeklagten, der im Verhör eine Unwahrheit ſagte, von Rechtswegen ausprügeln ließ. Und bei all ihrer Vielgeſchäftigkeit zeigten ſich dieſe kleinen Despoten gewiſſenlos, ſaumſelig im Dienſt ſeit ſie das Auge des Herrn ſo hieß der Groß - herzog ſchlechtweg nicht mehr zu fürchten hatten. Die Finanzen ge - riethen bald in arge Bedrängniß, durch die Kriegsnöthe und durch die Schuld der leichtfertigen Verwaltung; für das Jahr 1816 berechnete man ein Deficit von 1,1 Mill. Fl. In den letzten Jahren des napoleoniſchen Zeitalters wurde durch zwei treffliche junge Finanzmänner, Böckh und Nebenius, ein gleichmäßiges Steuerſyſtem eingeführt, das ſich ſpäterhin gut bewährte und im Weſentlichen noch heute beſteht; doch Jahre ver - gingen, bis ſich das Volk an die neuen Laſten gewöhnte. Die Mißſtim - mung ſtieg unaufhaltſam; überall erklang der Ruf: nur ein Landtag könne den Sultanismus dieſes Beamtenthums noch in Schranken halten. Den Mediatiſirten und den Reichsrittern war ſogar die grundherrliche Gerichtsbarkeit, den Verheißungen der Rheinbundsakte zuwider, genom - men worden; ſie äußerten ihren Groll mit der höchſten Erbitterung und verhehlten nicht, daß ſie an die Zukunft dieſes Staates von geſtern nicht mehr glaubten. Das Werk Karl Friedrichs krachte in allen Fugen, und zu den inneren Nöthen geſellte ſich noch die Bedrängniß von außen: die Begehrlichkeit der Wittelsbacher. Sie mußte den Großherzog um ſo tiefer verletzen, da König Max Joſeph ſeine pfälziſchen Pläne immer nur den großen Mächten vortrug und den Schwager in Karlsruhe nicht ein - mal einer Nachricht würdigte.

Der Münchener Hof ſtützte ſeine vorgeblichen Anſprüche nicht blos auf die Verſprechungen des Rieder Vertrags, ſondern auch auf die Be - hauptung, daß die Dynaſtie der Zähringer dem Erlöſchen nahe ſei. Mark - graf Karl Friedrich hatte nämlich im hohen Alter eine zweite Heirath mit der Freiin von Geyersberg, die er zur Gräfin von Hochberg erhob, geſchloſſen und gleich bei der Hochzeit den Sprößlingen dieſer Ehe das Thronfolgerecht ausdrücklich vorbehalten für den Fall des Ausſterbens ſeiner übrigen Nachkommen. Da die ſämmtlichen Agnaten dieſen Vor - behalt anerkannten und andere Anwärter nicht vorhanden waren, ſo ließ ſich der Anſpruch der Grafen von Hochberg auf die Thronfolge nicht beſtreiten; überdies war das Haus Baden ſeit dem Untergange des Reichs ſouverän und mithin befugt ſeine Hausgeſetze ſelbſtändig zu ordnen. Aber das Capitel von der Ebenbürtigkeit gehört bekanntlich zu den jedem menſchlichen Scharfſinne unlösbaren Controverſen, woran das361Baierns Erbanſprüche.deutſche Fürſtenrecht ſo reich iſt; die Thronbeſteigung des Sohnes einer unebenbürtigen Mutter war in den größeren deutſchen Fürſtenhäuſern immer nur als ein ſeltener Ausnahmefall vorgekommen, und obgleich ſowohl die Zähringer als die Wittelsbacher ſelbſt Frauen vom niederen Adel zu ihren Stammmüttern zählten, ſo ergriff doch das bairiſche Cabinet begierig den willkommenen Vorwand und ließ an allen Höfen verſichern, von einem Erbfolgerechte der Hochberge könne nicht die Rede ſein. Die Hofburg ſchenkte der dreiſten Betheuerung willig Glauben; alle die ge - heimen Verträge über den Rückfall der Pfalz beruhten auf der Voraus - ſetzung des bevorſtehenden Ausſterbens der Zähringer.

Für dieſen Fall hielten die bairiſchen Kronjuriſten noch einen zweiten, ebenſo erſtaunlichen Rechtsanſpruch bereit. Die Grafſchaft Sponheim an der Nahe hatte einſt durch vier Jahrhunderte den Häuſern Pfalz und Baden gemeinſam gehört, und nach dem Beinheimer Entſcheide vom Jahre 1425 ſollte beim Erlöſchen des einen Hauſes die geſammte Grafſchaft an das überlebende Geſchlecht fallen. Unzweifelhaft war der alte Erbvertrag längſt erloſchen, da beide Beſitzer die Grafſchaft im Luneviller Frieden an Frankreich abgetreten und für ihren Verluſt fünffache Entſchädigung er - halten hatten. Gleichwohl verlangte Baiern jetzt nochmals Entſchädigung für den Fall, daß der letzte Nachkomme aus der erſten Ehe Karl Friedrichs ſtürbe. Der erloſchene Erbanſpruch auf Sponheim ſollte dem bairiſchen Kronprinzen die erſehnte Wiege ſeiner Väter, das Heidelberger Schloß nebſt Mannheim und dem herrlichen Lobdengau zurückbringen: welch ein Erſatz für das arme Ländchen auf dem Hunsrücken, für ein Gebiet von 23,000 Einwohnern! Es war ein Gewebe ſchlechter Advokatenkünſte, das noch einmal zeigte, wie gründlich die rheinbündiſche Politik alle Scham und alles Rechtsgefühl an den kleinen Höfen verwüſtet hatte.

Die Lage des Karlsruher Hofs ward mit jedem Tage unheimlicher. Noch ſchwächer als zuvor war der Großherzog vom Wiener Congreſſe heimgekehrt. Er betrachtete ſeinen Neffen, den Kronprinzen von Baiern als ſeinen geſchworenen Feind und ſcherzte bitter: das ſei doch unerhört, daß ein erwachſener Mann ſich ſo lebhaft nach ſeiner Wiege ſehne. In Augenblicken krankhafter Erregung argwöhnte er ſogar, daß ihm die Baiern in Wien Gift unter die Speiſen gemiſcht hätten. Im Jahre 1812 hatte er ſeinen Erbprinzen bald nach der Geburt verloren; da ward ihm im April 1817 wieder ein Erbe geboren, aber auch dieſer Sohn ſtarb nach wenigen Tagen plötzlich dahin. Finſtere Gerüchte durchſchwirr - ten die Stadt: warum mußte der Tod grade die beiden Söhne des Fürſten treffen, während die Prinzeſſinnen ſämmtlich am Leben blieben? konnten die raſtloſen Wittelsbachiſchen Erbſchleicher nicht auch hier die Hand im Spiele haben? Der bairiſche Geſandte beförderte ſelber den thörichten Verdacht, da er mit ſchadenfrohem Behagen das Unglück überall be - ſprach und bedeutſam hinzufügte, an ſolchen Heimſuchungen erkenne man362II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.das Verhängniß eines untergehenden Staats. *)Varnhagens Bericht, Karlsruhe 11. Mai 1817.Nunmehr war aus der älteren Linie der Zähringer nur noch ein Erbe am Leben, der unverhei - rathete Oheim des Großherzogs, Markgraf Ludwig; ſtarb auch dieſer, ſo kam die Krone an den Grafen Leopold von Hochberg, dem der Münchener Hof die Thronfolge beſtritt.

Nur der Schutz der großen Mächte vermochte die Dynaſtie vor dem Untergange zu bewahren; gleichwohl konnte der Großherzog ſich nicht zur Entlaſſung des elenden Miniſters entſchließen, der an der verzweifelten Lage des Landes die Hauptſchuld trug und bei allen Höfen im ſchlech - teſten Rufe ſtand. Freiherr von Hacke, ein roher, frivoler Schlemmer aus der Schule des alten Mannheimer Hofs, war dem Imperator ein williger Scherge geweſen und trieb auch jetzt noch, ſoweit ſeine unver - beſſerliche Trägheit dies vermochte, rheinbündiſche Politik: ſchon auf dem Pariſer Friedenscongreſſe hatte er verſucht einen Sonderbund der Mittel - ſtaaten zu ſtiften, dem Bundestage gegenüber verfuhr er als verſtockter Partikulariſt. Die bairiſchen Anſprüche behandelte er mit unverantwort - lichem Leichtſinn, ſelbſt die Abtretung der Pfalz gegen ein Stück Geldes ſchien ihm nicht unannehmbar, und der preußiſche Geſchäftsträger Varn - hagen ſchrieb dem Staatskanzler: ſoll das Großherzogthum Baden be - ſtehen, ſo muß es gleichſam dazu gezwungen werden. **)Varnhagens Bericht 4. Januar 1817.

Auch die Verfaſſungsangelegenheit rückte nicht von der Stelle. Auf die dringenden Vorſtellungen Steins und des Czaren Alexander hatte der Großherzog noch von Wien aus eine Commiſſion zur Berathung des neuen Grundgeſetzes einberufen, und dieſe brachte im Frühjahr 1815 eine Verfaſſung zu Stande, auf Grund eines Entwurfes, den ihr der Freiherr v. Marſchall, ein wackerer Patriot aus Karl Friedrichs guter Zeit, vorgelegt. Aber der Kriegslärm des folgenden Sommers warf Alles wieder über den Haufen. Darauf regte ſich der Adel des Unterlandes und forderte in wiederholten drohenden Eingaben die Erfüllung des Art. 13, ganz ſo trutzig wie einſt die Landſchaden von Steinach und die anderen ritterlichen Genoſſen des Sickingers zu ihren Nachbarfürſten geredet hatten; Maſſenbach und Graf Waldeck, die ſtändiſchen Demagogen aus Württemberg, halfen eifrig mit; auch aus bürgerlichen Kreiſen liefen mahnende Bittſchriften ein. Die Regierung aber ſuchte, nach altem Rhein - bundsbrauche, die klagenden Ritter mit harten Strafen heim, und der Heidelberger Strafrechtslehrer Martin mußte ſeinen Lehrſtuhl verlaſſen. Indeß kam die Verfaſſungsarbeit doch wieder in Gang; im März 1816 verhieß der Großherzog ſeinem Volke feierlich die Einberufung einer Ständeverſammlung auf den 1. Auguſt, und im Laufe des Sommers wurde in der That ein dritter und ein vierter Entwurf ausgearbeitet. 363Vertagung der Verfaſſung.Aber auch diesmal gelangte man zu keiner Entſcheidung. Während der ehrlich conſtitutionelle Marſchall dringend rieth, die unzufriedene Ritter - ſchaft durch die Bildung einer erſten Kammer zu verſöhnen, ſprachen ſich die bonapartiſtiſchen Beamten, die geheimen Gegner der Verfaſſung, ent - ſchieden für das Einkammerſyſtem aus, weil ſie den Adel als den ge - borenen Feind des grünen Tiſches beargwöhnten, und der doctrinäre Adelshaß des preußiſchen Geſchäftsträgers arbeitete ihnen vielgeſchäftig in die Hände. Gänzlich unberufen, ohne in Berlin auch nur anzufragen, ertheilte Varnhagen dem Karlsruher Hofe ſeine Rathſchläge, die alleſammt mit dem unfehlbaren Vernunftrechte ſeines Freundes Rotteck merkwürdig übereinſtimmten. Eine Adelskammer wird nur allzu leicht dem Throne auf Koſten des Volks gefährlich. Wer führte in Württemberg zuerſt eine wahrhaft aufrühreriſche Sprache? Will man durchaus eine erſte Kammer, ſo berufe man Männer, die durch ihr Alter oder ihr Amt aus - gezeichnet ſind. Dieſe Sätze, ſo ſchloß er mit der ganzen Selbſtgefällig - keit des jungen Liberalismus, ſind triviale Wahrheiten, von denen die Nachwelt nicht wird begreifen können, wie ſo nicht Alles darin überein - ſtimmte. *)Varnhagen an Berſtett, 8. Mai 1816.

Ueber dieſen und anderen Streitigkeiten verging wieder eine geraume Zeit, bis es den Gegnern der Reform endlich gelang den unentſchloſſenen Fürſten zu einem neuen Aufſchube zu bereden. Am 29. Juli, gerade in dem Augenblicke da Jedermann die verſprochene Einberufung des Land - tags erwartete, wurde das Land durch ein Reſcript überraſcht, das die Verkündigung der Conſtitution für jetzt vertagte; erſt müſſe der Bundes - tag die leitenden Grundſätze für die deutſchen Landesverfaſſungen aufſtellen. Und dies aus dem Munde deſſelben Fürſten, der ſich mit den Verfaſſungs - plänen nur darum befaßt hatte, weil er ſeine Souveränität gegen die Eingriffe des Bundes ſichern wollte! Allgemein war die Enttäuſchung, die Entrüſtung. Die Thorheit der unbedachten Verſprechungen beſtrafte ſich hier, wo ſo viel Grund zum Klagen vorlag, noch härter als in Preußen. Eine giftige Schmähſchrift Gemälde des Großherzogthums Baden verhöhnte den ſchlemmenden Miniſter Hacke, der das ganze Land in Spanferkel und Spargel verwandeln wolle. Dazu die Noth des Hunger - jahres, der wachſende Steuerdruck, und im Oberlande lauter Unwille, als plötzlich bekannt wurde, daß die Regierung aus Rückſichten der Sparſam - keit die Freiburger Univerſität mit der Heidelberger zu vereinigen gedenke. Alle Breisgauer verwünſchten dieſen Plan als einen Eingriff in ihr altes Landesrecht; Rotteck nahm ſich ſeiner Landsleute kräftig an, er wußte wohl, daß ſeine joſephiniſche Geſinnung in der proteſtantiſchen Luft der Pfalz auf die Dauer nicht gedeihen konnte. Dieſem erbitterten Wider - ſpruche fühlte ſich die Regierung nicht gewachſen; ſie gab den unglücklichen364II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Gedanken auf, und die ehrwürdige Albertina blieb erhalten, eine be - ſcheidene aber fruchtbare Bildungsſtätte für das Oberland, noch immer ein Brunnen des Lebens, wie es ihr Stifter Erzherzog Albrecht ihr einſt gewünſcht hatte.

Mittlerweile ward das geplagte Land auch durch kirchliche Wirren heimgeſucht: durch einen Streit mit der Curie, der für die deutſche Kirchen - politik faſt ebenſo folgenreich werden ſollte wie der Kampf um das bairiſche Concordat, denn er vollendete die Niederlage der nationalkirchlichen Beſtre - bungen. Seit Jahren verwaltete Heinrich von Weſſenberg als Generalvicar das Bisthum Conſtanz. Geiſtliche und Laien rühmten ſeine Milde, ſeine ge - wiſſenhafte Thätigkeit, die apoſtoliſche Reinheit ſeines Wandels und nahmen aus der Hand des allbeliebten Oberhirten willig einige Neuerungen hin, welche der joſephiniſchen Aufklärung des Oberlandes entſprachen, aber mit der ſtrengen Einheit der römiſchen Kirche ſich kaum noch vertrugen. Weſſen - berg führte deutſche Andachtsbücher in den Gemeinden ein, ließ die Bibel, die er gern das Buch der befreiten Menſchheit nannte, in deutſcher Ueber - ſetzung unter ſeiner Heerde verbreiten; er verminderte die Ueberzahl der Feiertage und geſtattete die Einſegnung gemiſchter Ehen, wenn nur die Kinder nach dem Geſchlechte zwiſchen beiden Bekenntniſſen getheilt würden. Beim Gottesdienſt ſuchte er die Formenſchönheit des katholiſchen Cultus mit der eindringlichen Lehre der Proteſtanten zu verbinden; noch heute erzählen die alten Leute am Bodenſee gern, wie erbaulich es damals in der Kirche geweſen, da die Predigt noch neben dem Meßopfer zur vollen Geltung kam. Sein Meersburger Prieſterſeminar gab den jungen Geiſt - lichen tüchtigen wiſſenſchaftlichen Unterricht und erzog ſie in den Grund - ſätzen einer friedfertigen, weitherzigen Duldung, welche freilich zuweilen zu unkirchlicher Verſchwommenheit führte. Nicht lange, ſo begann die kleine clericale Partei des Bisthums ſich über den ketzeriſchen Neuerer in Rom zu beſchweren; die Curie ſprach ihm mehrmals ihr Mißfallen aus, der Nuntius in Luzern lebte mit ihm in offener Fehde.

Er aber ahnte nicht, daß die grandioſe Conſequenz der römiſchen Kirche dem Chriſten nur die Wahl läßt zwiſchen der Unterwerfung und dem Abfall; er wähnte den Mahnungen des Papſtes widerſtehen und doch ein katholiſcher Kirchenfürſt bleiben zu können. Dieſer frommen, liebreichen Natur war es nicht gegeben, die großen Gegenſätze des kirchlichen Lebens in ihrer unerbittlichen Schärfe zu erkennen. Durch eifriges Leſen und im Verkehre mit den gelehrten Prälaten der alten Zeit erwarb er ſich eine Fülle mannichfaltiger Kenntniſſe und gelangte doch nicht über den wiſſenſchaftlichen Dilettantismus hinaus. Die zahlreichen poetiſchen, philo - ſophiſchen, politiſchen und kirchengeſchichtlichen Schriften, die er zur Er - bauung chriſtlich geſinnter Menſchenfreunde herausgab, verliefen zuletzt alleſammt in wohlgemeinten moraliſchen Betrachtungen; ganz flach wurden ſie niemals, aber auch niemals tief, mächtig, eigenthümlich; keines ſeiner365Weſſenberg und das Bisthum Conſtanz.Bücher errang ſich einen Platz in der Literatur. Von Kindesbeinen an aufgewachſen in der Verehrung Joſephs II., hatte er ſich einſt an Sailers mildem Katholicismus begeiſtert, ohne doch in die geiſtvolle Myſtik des bairiſchen Prälaten einzudringen, und lebte nun in dem ehrlichen Glauben, daß es möglich ſei das Rad der Zeit zurückzuſchrauben, die feſt centraliſirte Kirche der Gegenreformation kurzerhand zu den Reformgedanken des fünf - zehnten Jahrhunderts zurückzuführen.

Gleichwohl blieb er ein tief überzeugter Katholik und verwarf, bei aller Duldſamkeit, die maßloſe Subjectivität des Proteſtantismus. Wenn er die Evangeliſchen, zum Entſetzen der Clericalen, als eine Partei inner - halb der Kirche anſah, ſo bewies er auch damit nur, wie feſt er an die Einheit der ſichtbaren Kirche, an die dereinſtige Rückkehr ihrer abge - fallenen Kinder glaubte. Seine Geiſtlichen, die er häufig in Pfarrer - verſammlungen um ſich zu vereinigen pflegte, verehrten ihn wie einen Heiligen; dem plebejiſchen neuen Clerus, der jetzt heranwuchs, fühlte er ſich überlegen als weltkundiger vornehmer Herr, ſeinen adlichen Standes - genoſſen galt er als ein Wunder von Gelehrſamkeit. So gelangte er doch allmählich zu ſtarker Selbſtüberſchätzung, obgleich der Hochmuth ſeiner weichen Seele urſprünglich fremd war. Er ſah die Jeſuiten im Begriff ein Gemiſch von geſetzlichem Judenthum und neuem ſelbſtgeſchaffenem Heidenthum an die Stelle der Religion des Geiſtes, der Liebe, der Wahr - heit zu ſetzen und hielt ſich berufen dieſen Schlag von der Kirche abzu - wehren. Als die Geſellſchaft Jeſu wiederhergeſtellt wurde, erkannte er ſo - gleich den Ernſt dieſer folgenſchweren That und ſchrieb warnend an ſeinen Vetter Metternich: auf das Andringen der katholiſchen Höfe ſei dieſer Orden einſt beſeitigt worden; jetzt erdreiſte ſich die Curie ihn ohne jede Rückſprache mit den Mächten zu erneuern; welch eine Ausſicht für die Zukunft! Metternich aber erwiderte gleichmüthig, ſein Kaiſer habe nichts zu fürchten, in Oeſterreich würden die Jeſuiten niemals Aufnahme finden.

Um dieſelbe Zeit ernannte Dalberg als Biſchof von Conſtanz eigen - mächtig ſeinen Generalvicar zum Coadjutor mit dem Rechte der Nach - folge. Sofort empfing er aus Rom einen ſcharfen Verweis und zugleich den Befehl, dieſen berüchtigten Weſſenberg auch ſeines Generalvicariats zu entſetzen (2. Nov. 1814). Der ängſtliche Primas hielt die Bulle ſorg - fältig geheim, wagte aber auch nicht die Ernennung durchzuführen. In dieſem ſonderbaren Zuſtande verblieb die Diöceſe bis Dalberg ſtarb und das Domcapitel nunmehr einſtimmig den Generalvicar zum Bisthums - verweſer erwählte. Abermals erklärte der Vatican die Wahl für nichtig. In einem Breve vom 21. Mai 1817 ſetzte der Papſt ſodann dem Groß - herzog auseinander, warum er ſich bewogen finde, dieſen Mann, den alle Guten verabſcheuen, der Unſeren Beifall ganz und gar nicht hat , zurück - zuweiſen. Der Großherzog, der die Wahl bereits genehmigt hatte, wollte ſeinem Prälaten wohl, deſſen allezeit verſtändigen Rath er auch in poli -366II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.tiſchen Angelegenheiten öfters einzuholen pflegte, und fühlte ſich zudem in ſeiner fürſtlichen Ehre gekränkt; denn nach der joſephiniſchen Doctrin des badiſchen Beamtenthums gehörte die Ernennung der Biſchöfe zu den un - veräußerlichen Hoheitsrechten des Landesherrn. Obwohl der träge Hacke von dem Streite abrieth, ſo entſchloß ſich der Fürſt doch auf Marſchalls Rath,*)Varnhagens Bericht, 1. Juli 1817. in einem ſcharfen Antwortſchreiben ſeine vermeintlichen Rechte zu verwahren und den Angeſchuldigten zu vertheidigen (16. Juni).

Weſſenberg aber meinte jetzt den Augenblick einer großen Ent - ſcheidung gekommen. Ausgerüſtet mit einem Empfehlungsbriefe ſeines Hofes ging er ſelbſt nach Rom; er hoffte, wie er offen ausſprach, ent - weder den Papſt durch die Macht ſeiner perſönlichen Erſcheinung umzu - ſtimmen oder durch ſeinen Mißerfolg die öffentliche Meinung der Nation zu einem tapferen Entſchluſſe aufzurütteln. Seine ungeſchickten Lobredner, deren er in der Preſſe nur allzu viele beſaß, verſäumten auch nicht, dieſe Romfahrt mit der Wormſer Reiſe Martin Luthers zu vergleichen, obgleich dieſer neue Luther unter dem mächtigen Schutze der öſterreichi - ſchen Geſandtſchaft ſtand und im Palazzo di Venezia jederzeit ein ſicheres Obdach finden konnte. Im Vatican empfing man den deutſchen Idea - liſten mit der geringſchätzigen Ruhe einer alten Weltmacht, die längſt daran gewöhnt iſt, immer einige ihrer zahlloſen Diöceſen in Unordnung zu ſehen. Bei dem Papſte ward er nicht vorgelaſſen. Cardinal Conſalvi führte die Verhandlung, kühl und klug wie immer, und legte dem Prä - laten einen Widerruf vor, der nach römiſcher Anſchauung ſehr mild ge - halten war: Weſſenberg ſollte einfach mißbilligen was Se. Heiligkeit miß - billigt habe. Einige Monate hindurch wurden dann noch Anklagen und Vertheidigungsſchriften zwiſchen den Beiden gewechſelt. Conſalvi blieb unerſchütterlich. Weſſenberg hatte ſein Spiel verloren, denn er wollte weder dem Beiſpiele ſeines geliebten Fenelon folgen und einen Widerruf leiſten, der ihn zur Knechtſchaft gegen die römiſche Curie verpflichtet hätte, noch ſich losſagen von ſeiner heiligen Kirche. Am 16. Dec. theilte er dem Cardinal mit, er gehe jetzt nach Baden zurück und überlaſſe das Weitere ſeinem Landesherrn.

Daheim empfingen ihn manche Zeichen warmer Zuſtimmung. Faſt ſein geſammter Clerus blieb ihm treu ergeben; die Beamten, denen die Kirchenpolitik der ſüddeutſchen Kleinſtaaten anvertraut war, ſtanden alle auf ſeiner Seite, ſo Werkmeiſter in Württemberg, Koch in Naſſau, des - gleichen Klübers ſtreitbare Feder und die große Mehrzahl der Zeitungs - artikel und Flugſchriften, die ſich des Falles bemächtigten. Aber von einer ſtürmiſchen Volksbewegung zeigte ſich keine Spur; wie ſollte die weichmüthige Halbheit ſtarke Leidenſchaften erwecken? Die badiſche Re - gierung ließ den Verfolgten die Verwaltung ſeiner Diöceſe unangefochten367Weſſenbergs Romfahrt.weiter führen, und die Curie war klug genug vorläufig zu ſchweigen. Rom konnte warten, denn der Großherzog wünſchte dringend die Errichtung eines badiſchen Landesbisthums, und dieſe war unmöglich ohne den Papſt. Noch blieb eine Hoffnung: der Bundestag. In einer ausführlichen Denkſchrift (v. 17. Mai 1818) legte der Karlsruher Hof dem Deutſchen Bunde den Hergang dar und erklärte ſchließlich, er halte den Conſtanzer Streit nunmehr für eine allgemeine Kirchenangelegenheit der deutſchen Nation . Aber da die Kirchenſachen unzweifelhaft nicht zu dem Geſchäfts - kreiſe des Bundes gehörten, ſo wagte Baden nicht einmal einen Antrag in Frankfurt zu ſtellen, und der Bundestag vermied jede Beſprechung. Die Denkſchrift wurde faſt in alle Sprachen Europas überſetzt, an den Höfen und unter dem Clerus weit verbreitet; Rotteck und ſeine Freunde redeten noch eine Weile in den Zeitungen hochpathetiſch von dem großen deutſchen Kirchenſtreite . Dann erloſch die Bewegung, die niemals tief in die Maſſen des Volks gedrungen war. Nur an den kleinen Höfen des Südweſtens behauptete Weſſenberg noch einigen Einfluß. Sie hatten einſt aus partikulariſtiſcher Angſt ſeine nationalkirchlichen Pläne bekämpft; jetzt aber erſchien er ihnen als ein brauchbarer Kampfgenoſſe gegen den römiſchen Stuhl. Auch er ſelber begann nunmehr die Unausführbarkeit ſeiner früheren Träume einzuſehen und veröffentlichte bald nach ſeiner Heimkehr eine anonyme Schrift Betrachtungen über die Verhältniſſe der katholiſchen Kirche Deutſchlands , worin er die Errichtung von Landesbis - thümern empfahl, aber zugleich verlangte, daß die deutſchen Regierungen, ſo viele ſich freiwillig dazu bereit fänden, zuſammentreten ſollten um gemeinſam mit der Curie zu verhandeln und ihre Landesbiſchöfe einem gemeinſamen Erzbiſchof unterzuordnen. So ſchrumpfte die deutſche Na - tionalkirche zu einem kirchenpolitiſchen Sonderbunde deutſcher Einzel - ſtaaten zuſammen.

Eben dieſen Gedanken hatten die Höfe von Karlsruhe und Stutt - gart ſchon ſeit einiger Zeit ergriffen. Nachdem Baiern in Rom eine ſo ſchimpfliche Niederlage erlitten, trauten ſie ſich doch nicht mehr die Kraft zu, einzeln bei der Curie etwas auszurichten; wenn aber Mächte wie Baden, Württemberg und Naſſau ſich zuſammenthaten, dann mußte der Papſt unfehlbar nachgeben. Mit Feuereifer betrieb Wangenheim in Frankfurt dieſe Pläne. Hier bot ſich ihm endlich die Gelegenheit, den er - ſehnten Bund im Bunde, die deutſche Trias zu begründen und durch die Demüthigung Roms die Macht des reinen Deutſchlands vor aller Welt zu erweiſen. Wunderliche Widerſprüche vertrugen ſich friedlich in dieſem vielſeitigen Kopfe; wie er trotz ſeiner naturphiloſophiſchen Schwärmerei ein doctrinärer Liberaler blieb, ſo auch ein Vorkämpfer der joſephiniſchen Staatsallmacht. Von der Lebenskraft des römiſchen Stuhls dachte er ſehr niedrig; er wähnte ſchon die Anzeichen eines Schismas in Deutſch - land zu bemerken, obgleich die ungeheure Mehrheit der deutſchen Katho -368II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.liken in unverbrüchlicher Treue an ihrer alten Kirche hing, und hoffte zuverſichtlich, die Curie werde ſchon aus Furcht Alles was man ihr vorlege annehmen. Im December 1817 wendete ſich Wangenheim an die Bundes - geſandten von Baden, Naſſau, beiden Heſſen, Hannover, Oldenburg, Luxemburg und lud dieſe Höfe ein, durch Bevollmächtigte in Frankfurt die Grundſätze eines gemeinſamen Concordats zu vereinbaren. Der bei - gelegte Vertrags-Entwurf ſtimmte mit den Gedanken Weſſenbergs nahezu überein: er verlangte als unerläßlich das Placet und die Ernennung der Biſchöfe durch die Landesherren, desgleichen die Erziehung der Geiſtlichen durch den Staat. Dies Alles dachte der phantaſiereiche Staatsmann durch ein Ultimatum bei dem heiligen Stuhle alsbald durchzuſetzen, obſchon Jedermann wußte, daß der Papſt die Ernennung der Biſchöfe noch nie - mals einem akatholiſchen Fürſten förmlich zugeſtanden hatte. Baden, Naſſau und die beiden Heſſen entſprachen der Einladung, und im März 1818 begannen unter Wangenheims Vorſitz die Frankfurter Conferenzen. Einige norddeutſche Kleinſtaaten, die ſich anfangs angeſchloſſen, traten bald zurück. Das ſo ruhmredig angekündigte Unternehmen beſchränkte ſich ſchließlich auf den Plan der Errichtung einer kleinen gemeinſamen Erzdiöceſe für die Landesbisthümer der oberrheiniſchen Kleinſtaaten.

Auch den preußiſchen Bundesgeſandten hatte Wangenheim einer Einladung gewürdigt. Unterwarf ſich der Berliner Hof der kirchenpoli - tiſchen Führung Württembergs, ſo mochte er theilnehmen; wo nicht, ſo war das reine Deutſchland ſich ſelbſt genug. Selbſt der gutmüthige Goltz fand es doch befremdlich, daß Preußen ſo beiläufig als ein Neben - land der zukünftigen oberrheiniſchen Kirchenprovinz behandelt wurde, und konnte nicht begreifen ſo ſchrieb er dem Staatskanzler warum grade Württemberg immer und überall ſich vordrängen müſſe. *)Wangenheim an Goltz 13. Decbr. Goltz’s Bericht 18. Decbr. 1817.Hardenberg aber verſchmähte einen Notenwechſel und begnügte ſich ſeinen deutſchen Geſandtſchaften mitzutheilen: Preußen bleibe den Conventikeln der kleinen Höfe fern, da die eigenthümlichen kirchlichen Intereſſen der Monarchie keine Vermiſchung vertrügen , und der herriſche Ton der Kleinſtaaten bei dem römiſchen Stuhle gar nichts erreichen würde. Auch Metternich hielt die Unternehmung der Frankfurter Verbündeten für ausſichtlos. **)Kruſemarks Bericht, Wien 22. April. Weiſung an Kruſemark 20. Mai 1818.Beide Großmächte wußten, daß man nicht mehr der gefügigen Curie des acht - zehnten Jahrhunderts gegenüberſtand; ſie wußten auch, daß Conſalvi die Frankfurter Conferenzen als ein Werk Weſſenbergs und darum von vorn herein mit Argwohn betrachtete. Wohl war es ein Unheil, fort - wirkend bis zum heutigen Tage, daß auch dieſe große gemeinſame An - gelegenheit dem Partikularismus anheimfiel. Aber ſo lange Deutſchland des nationalen Staates entbehrte, blieb die deutſche Nationalkirche ein unmögliches Traumbild.

369Miniſterium Reitzenſtein-Berſtett.

Inzwiſchen war am Karlsruher Hofe ein glücklicher Umſchwung er - folgt. Hacke wurde entlaſſen, die Freiherren von Reitzenſtein und Berſtett traten in das Miniſterium ein: Dieſer ein unbedeutender Mann, nicht beſſer unterrichtet als der Durchſchnitt ſeiner alten Kameraden von der öſterreichiſchen Reiterei, aber pflichteifrig, pünktlich, dem fürſtlichen Hauſe unbedingt ergeben und trotz ſeiner hochconſervativen Geſinnung doch nicht ſo ängſtlich, daß er ſich vor einem Karlsruher Landtage gefürchtet hätte; Jener dagegen ein ſtaatsmänniſcher Kopf, wohl würdig eines größeren Wirkungskreiſes, der vertraute Rathgeber Karl Friedrichs in deſſen letzten Jahren. Den Franzoſen als deutſcher Patriot verdächtig hatte Reitzen - ſtein bei allen Reformen jener ſchweren Zeit mitgewirkt. Die Wieder - belebung der Heidelberger Univerſität war vornehmlich ihm zu verdanken; ſelbſt der Zunftſtolz der Profeſſoren ließ den geiſtreichen, gelehrten, durch - aus freiſinnigen Curator als einen Ebenbürtigen gelten. Er erkannte ſogleich, daß nach dem Tode des Erbprinzen vor Allem eine endgiltige Entſcheidung der Erbfolgefrage geboten war, und bewog den Großherzog, am 4. Okt. 1817 ein Hausgeſetz zu veröffentlichen, das die Untheilbar - keit des Landes feſtſetzte und das Thronfolgerecht der Grafen von Hoch - berg nochmals anerkannte. Der bairiſche Hof war entrüſtet, der diplo - matiſche Verkehr wurde ſtillſchweigend abgebrochen. Auch Metternich, der die Baiern noch immer mit halben Worten hinhielt, zeigte ſich verletzt. Ein ſo eigenmächtiger Schritt, ſagte er zu Kruſemark, ſei nur aus dem Schwindelgeiſte, der die kleinen Fürſten jetzt beherrſche, zu erklären; das Hausgeſetz gemahne doch ſtark an die eine und untheilbare Republik der Franzoſen. *)Kruſemarks Bericht, 18. Okt. 1817.

Der unerſchrockene Miniſter in Karlsruhe ließ ſich nicht beirren. Auf Reitzenſteins Rath entſchloß ſich der Großherzog den Stier bei den Hörnern zu packen, dem Gegner, der das kleine Land ſeit Jahren aus dem Dunkeln heraus bedrohte, offen entgegenzutreten. In einem Briefe an König Max Joſeph (12. März 1818) verwahrte ſich der bedrängte Fürſt dawider, daß Oeſterreich ſeine Schulden mit Provinzen, die mir gehören, abzutragen ſuche. In ſo ernſter Lage, fuhr er fort, iſt es mir unmöglich, die bairiſche Regierung von ihrem Monarchen zu trennen, in dieſem noch meinen Schwager und Freund zu ſehen, während jene ſich als mein blutigſter Feind zeigt. Will Baiern Gewalt brauchen, dann werde ich die öffentliche Meinung zu Hilfe rufen, und Ew. Maj. wird ſchwer einen mächtigeren Bundesgenoſſen finden. Sichtlich verlegen wußte Max Joſeph der ſcharfen Anklage nach ſeiner Gewohnheit wieder nur eine furchtſame Unwahrheit entgegenzuſtellen: niemals, ſo betheuerte er, habe die bairiſche Regierung feindſelige Pläne gegen Baden gehegt; ſie begnüge ſich ſchweigend die Entſcheidung der großen Mächte abzuwarten. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 24370II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Dieſe beiden Briefe wurden einigen befreundeten Höfen im tiefſten Ver - trauen mitgetheilt; bald darauf erſchienen ſie gedruckt in einer Hamburger liberalen Zeitung, zur Freude aller Läſterzungen, der Radikalen daheim und der Feinde Deutſchlands im Auslande.

Der Verräther war Varnhagen von Enſe, der eitelſte und unzuver - läſſigſte aller Diplomaten Preußens. Der jugendliche Gatte der gefeierten Rahel brannte vor Begier, durch ſtaatsmänniſche Thaten ſich des Ruhmes ſeiner Frau würdig zu zeigen. Er hatte während des Wiener Congreſſes der Sache Preußens ſeine Feder gewidmet und dann von dem dank - baren Staatskanzler, der ſich durch geiſtreiches Geſpräch und vielſeitige Bildung leicht blenden ließ, den ſchwierigen Karlsruher Poſten angewieſen erhalten. Mit der ganzen Unbefangenheit des literariſchen Schöngeiſts begann er hier ſogleich Politik auf eigene Fauſt zu treiben, überſchüttete den badiſchen Hof mit unerbetenen Rathſchlägen, vertheidigte radikale Doktrinen, welche der Meinung Hardenbergs gradeswegs zuwider liefen, und trat mit der liberalen Partei in einen vertrauten Verkehr, der ſich mit ſeiner Amtspflicht nicht vertrug. Dieſer kühne Freiſinn hinderte ihn jedoch keineswegs, vor dem Staatskanzler in byzantiniſcher Ergebenheit unterthänigſt zu erſterben, beſtändig um eine Rangerhöhung zu bitten und mit umſtändlichem Behagen zu erzählen, wie lange Großherzog und Großherzogin ſich mit ihm zu unterhalten geruht hätten. Nichts ſüßlicher als ſeine Briefe an den Miniſter Berſtett, den er haßte und nachher in ſeinen Denkwürdigkeiten verleumdete; eine wohlgedrechſelte Rieſenperiode von zwanzig Zeilen genügt ihm kaum um auszudrücken, wie inbrünſtig er den erwünſchten und, ich darf ſagen, mit ſteigendem Antheil in mir zum Voraus belebten Zeitpunkt der Rückkehr aus dem Urlaube und des erneuten Verkehrs mit dem hochverehrten Manne erwarten und be - ſchleunigen mag . *)Varnhagen an Berſtett, 8. Okt. 1817.In endloſen Berichten theilte er dem Staatskanzler ſeine Urtheile über die große Politik und ſeine tiefgeheimen Nachrichten mit, faſt durchweg werthloſe Klatſchereien, ganz im Stile ſeiner ſpäteren Tagebücher. Zuverläſſige Nachrichten über die geheimen Vorgänge am Karlsruher Hofe erhielt er nur ſelten, da Niemand der Katzenfreundlich - keit des glatten Mannes recht traute; als die Conſtitution endlich zu Stande kam, wußte Varnhagen nicht einmal wer ihr Verfaſſer war und nannte dem Staatskanzler zuverſichtlich zwei falſche Namen. **)Varnhagens Bericht, 26. Auguſt 1816.

Sein Verhalten in den bairiſch-badiſchen Händeln war ihm von Berlin aus genau vorgeſchrieben: er ſollte dem Großherzog verſichern, daß Preußen keine Gewaltthat gegen Baden dulden werde, doch im Uebrigen ſich zurückhalten und vor Allem verhindern, daß der häßliche Streit in einen offenbaren Skandal ausarte. Demgemäß berichtete er zuerſt über371Varnhagen v. Enſe.den Brief des Großherzogs: das Schreiben werde allgemein getadelt als ein unangemeſſenes, im beſten Falle überflüſſiges Vortreten, bei welchem man nichts anders als eine Zurückweiſung erwarten kann. Gleich nach - her brach er das Amtsgeheimniß und ſendete den tadelnswerthen Brief an jene Hamburger Zeitung. Der Schlag gelang; faſt die geſammte Preſſe ſprach ſich für das gute Recht Badens aus, ſelbſt die Augsburger Allge - meine Zeitung nahm Partei gegen Baiern, da der kluge Cotta die Gunſt des Königs von Württemberg nicht verlieren wollte. Und nun ſchrieb Varnhagen unſchuldsvoll: die unbefugte Veröffentlichung errege großes Aufſehen, der Erfolg ſcheine aber dem badiſchen Hofe günſtig; die Be - rufung auf die öffentliche Meinung in dem Schreiben des Großherzogs neigt deren Gunſt mit Macht auf die Seite, wo ſie ſich geſchmeichelt fühlt. *)Varnhagens Berichte, 18. März, 6. Mai 1818.

Sollte dieſe Gunſt der öffentlichen Meinung der badiſchen Sache erhalten bleiben, ſo mußte man entſchloſſen in das Fahrwaſſer der con - ſtitutionellen Politik einlenken. Reitzenſtein täuſchte ſich nicht darüber; er ſah auch ein, daß die Verkündigung der Verfaſſung das einzige Mittel war um dem murrenden Volke wieder Vertrauen auf die Zukunft des Staates einzuflößen und zugleich dem Hauſe Zähringen die Gnade des Kaiſers Alexander wiederzugewinnen. Der Czar zeigte ſich ſehr kühl gegen das Recht ſeiner badiſchen Vettern; er war es ſogar, der auf dem Wiener Congreſſe den unglücklichen Gedanken des Rückfalls der Pfalz zuerſt angeregt hatte ſo verſicherte wenigſtens Wrede dem General Zaſtrow. **)Zaſtrows Bericht, München 2. Nov. 1818.Von München aus ward nichts verſäumt um den ruſſiſchen Gönner bei guter Stimmung zu halten; der Geſandte Graf Bray legte alle die neuen Verfaſſungsgeſetze, die für Baiern geplant wurden, dem Czaren zur Genehmigung vor, und dieſem war niemals ein Vorſchlag freiſinnig genug. ***)Blittersdorffs Bericht, Petersburg 17. Auguſt 1818.Die chriſtlich-liberale Begeiſterung des Selbſtherrſchers erreichte eben in dieſen Tagen ihren Siedepunkt. Für die beſorgten Briefe Metternichs, der ſeinem Freunde Neſſelrode beſtändig die ſchwere Krank - heit Europas ſchilderte, hatte Alexander nur ein überlegenes Lächeln; wie viel ſtolzer klang es doch, wenn der bewegliche Kapodiſtrias, jetzt ſein nächſter Vertrauter, in feuriger Rede den Kernſatz ausführte: Inſtitu - tionen ſind die große Forderung des Jahrhunderts! Am 27. März 1818 eröffnete der Kaiſer den erſten Reichstag des neuen Königreichs Polen mit einer ſchwungvollen Thronrede, die in ganz Europa mächtig wider - hallte. Sie forderte die Polen auf, den Zeitgenoſſen zu beweiſen, daß die liberalen Inſtitutionen mit der Ordnung vereint das wahre Glück der Völker begründen, und verſprach den Ruſſen, auch ſie ſollten in einiger Zeit des gleichen Glückes theilhaftig werden.

24*372II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.

Zwei Tage darauf unternahm Kapodiſtrias den kühnen Verſuch, in einer Denkſchrift über die Akte vom 26. Sept. 1815 den europäiſchen Höfen darzulegen, daß die neue conſtitutionelle Herrlichkeit nichts anderes ſei als das nothwendige Ergebniß der Ideen der Heiligen Allianz. Die von dem Heiligen Bunde anerkannten Grundſätze der chriſtlichen Sitten - lehre ſo betheuerte er ſalbungsvoll hätten jetzt in Polen ihre An - wendung gefunden; möge nun die hohe Weisheit der Verbündeten Sr. Majeſtät den Werth dieſes Beiſpiels würdigen. Dies Beiſpiel wird den Staaten, welche ſich bereits liberaler Inſtitutionen erfreuen, zeigen, daß allein die väterliche Gewalt der Fürſten berechtigt iſt Verfaſſungen zu verleihen, und daß dieſe Inſtitutionen, alſo zum Zwecke des allgemeinen Wohles angewendet, nicht nur mit der Ordnung ſich vertragen, ſondern ſogar deren ſtärkſte Bürgſchaft werden. Polens Beiſpiel wird endlich den Völkern beweiſen, daß die Laufbahn der bürgerlichen Freiheit fortan allen Nationen eröffnet iſt. Vielleicht, hieß es zum Schluß, wird man dieſe Betrachtungen auch jetzt noch in das Reich der Träume verweiſen wollen. Gleichviel. Seien wir nur ſelber verſichert, daß ſie keine Träume ſind, und ſuchen wir denen, die uns Ergebenheit beweiſen, dieſelbe Ueberzeugung beizubringen. *)Kapodiſtrias, Mémoire sur l’Acte du 26 Septembre. Warſchau 29. März 1818.So ſtellte ſich Rußland feierlich an die Spitze der libe - ralen Bewegung Europas. Die deutſchen Cabinette aber wußten wohl, warum ſie dies wunderſame Programm des chriſtlichen Liberalismus tief geheim hielten. Schon die Thronrede des Czaren hatte die ungeduldigen Conſtitutionellen lebhaft erregt; die geſammte liberale Preſſe erging ſich in Vergleichungen zwiſchen der polniſchen Freiheit und der deutſchen Knechtſchaft. Metternich, Wellington, Richelieu verhehlten ihre Beſorg - niſſe nicht. Gentz beklagte bitter die Rückſichtsloſigkeit des Czaren gegen ſeine Nachbarn; auch muthigere Männer fragten verwundert: warum man alſo mit dem Feuer ſpiele inmitten der Polen, die ſich bereits wieder in Geheimbünden gegen das ruſſiſche Joch verſchworen?

Dem badiſchen Hofe blieb jetzt keine Wahl mehr. Immer wieder meldete Blittersdorff, wie dringend ihn Kapodiſtrias an die verheißenen Inſtitutionen erinnere. Auch Hardenberg ließ wiederholt dieſelbe Mah - nung ausſprechen und empfahl zugleich den gerechten Wünſchen der Media - tiſirten entgegenzukommen; dann würde man Baierns Bemühungen ganz neutraliſiren . **)Weiſung an Varnhagen, 11. Juli 1818.Bereits im April war die Verfaſſungscommiſſion wieder zuſammengetreten; der wackere Finanzrath Nebenius, der gelehrteſte Kenner der Volkswirthſchaft in Deutſchland, arbeitete mit treuem Fleiße einen fünften Entwurf aus und nahm ſich dabei das Meiſterwerk des ruſſiſchen Gönners, die glorreiche polniſche Verfaſſung zum Muſter. Da kam die Schreckensnachricht aus München: Baiern hatte ſeine Conſtitution voll -373Czar Alexander als Führer des Liberalismus.endet, den Nebenbuhler in dem großen Wettlaufe um eine Kopflänge über - holt! Aengſtlichen Gemüthern klang der dröhnende Beifallsruf der libe - ralen Welt ſchon wie das Grabgeläute des Hauſes Zähringen. Max Joſeph aber hielt es nicht für unköniglich, eben jetzt zur Kur nach Baden - Baden zu reiſen, wo er dann nach ſeiner luſtigen Art gegen Jedermann äußerte: wie ſchön, daß Baiern mit ſeiner Verfaſſung früher fertig ge - worden! Großherzog Karl verließ, als ihm der freundnachbarliche Beſuch angekündigt wurde, ſofort ſein Schloß in Baden und ging in das ſtille Schwarzwaldbad Griesbach; auch die geſammte Hofgeſellſchaft zog ſich aus Baden zurück. Nur Einer blieb natürlich Varnhagen. Der konnte ſich’s nicht verſagen, ſein politiſches Licht auch vor dem bairiſchen Könige, bei dem er gar nicht beglaubigt war, leuchten zu laſſen; er drängte ſich an Max Joſeph heran und gab ihm, abermals eigenmächtig, ſo taktloſe und unrichtige Erklärungen über die Abſichten des preußiſchen Hofes, daß ein großer diplomatiſcher Streit entſtand; ein ſcharfer Verweis aus Ber - lin brachte die böſe Zunge endlich zur Ruhe. *)Weiſungen an Varnhagen, 22. Juli, 22. Auguſt 1818.

Mittlerweile hatte der Großherzog am Abend ſeines traurigen Lebens noch einen perſönlichen Freund gefunden, den kecken ruſſiſchen Reiterführer aus dem Befreiungskriege, General Tettenborn, ein badiſches Landeskind. Der lebensluſtige Landsknecht wurde der tägliche Begleiter des Kranken und verwendete ſeinen Einfluß zum Heile des Landes; durchaus kein Freund der Liberalen beſaß er doch den ſicheren Soldatenblick für das Nothwendige. Ihm und dem treuen Reitzenſtein war es zu verdanken, daß der Fürſt den Nebenius’ſchen Entwurf ernſtlich prüfte und ihn ſchließlich, bis auf einen einzigen Paragraphen, gänzlich unverändert annahm. **)F. v. Weech, Geſchichte der badiſchen Verfaſſung. S. 93 f.Noch in den letzten Wochen fehlte es nicht an peinlichen Zwiſchenfällen. Das neue Wahlgeſetz mußte der geplagte Nebenius zweimal ausarbeiten, weil der Großherzog das Aktenſtück verſchloſſen hatte und ſich nicht entſchließen konnte die Kiſte öffnen zu laſſen.

Genug, am 22. Auguſt 1818 wurde die Verfaſſung unterzeichnet, und die Wirkung dieſes Entſchluſſes war hier faſt noch ſtärker als kurz zuvor in Baiern. Die Unzufriedenen in den neuen Landestheilen verſtummten augenblicklich; an das Krankenlager des ſterbenden Fürſten drangen noch die Freudenrufe eines dankbaren Völkchens, das ſich von der neuen Frei - heit ein unbeſtimmtes, wunderbares Glück verſprach. Die untrügliche Richterin aber, die öffentliche Meinung Deutſchlands, das will ſagen die liberale Preſſe, gab ihren Wahrſpruch über den beendeten Wettkampf dahin ab: Baiern habe ſich zwar flinker gezeigt in der Erfüllung der Volkswünſche, doch der Preis gebühre dem freiſinnigen Baden. Allerdings trug das badiſche Grundgeſetz, dem Charakter des Landes gemäß, einen modernen Anſtrich. 374II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Während der bairiſche Landtag überwiegend aus Grundbeſitzern beſtand, ging Nebenius, als echter Sohn eines literariſchen Geſchlechts, von der Anſicht aus, daß vornehmlich die Bildung vertreten werden müſſe, und da er wie alle Liberalen die Bildung in den Städten ſuchte, ſo gab das badiſche Wahlgeſetz vierzehn Städten 22 Abgeordnete, den weit ſtärker be - völkerten ländlichen Wahlbezirken nur 41 Vertreter. Im Uebrigen ge - reichte das Werk dem praktiſchen Sinne des gelehrten Verfaſſers zur Ehre. Das Grundgeſetz war nicht mit Einzelbeſtimmungen überladen, ſo daß noch Raum blieb für die Lehren der conſtitutionellen Erfahrung, und lehnte ſich nur äußerlich, in der formellen Anordnung, an das traurige polniſche Vorbild an. Der Adel wurde durch die Errichtung einer erſten Kammer zufriedengeſtellt; der Landtag erhielt ein wirkſames Recht der Controle, da ihm aller zwei Jahre das geſammte Budget vorgelegt werden ſollte. Selbſt Haller, der Reſtaurator, mußte das deutſche Rechtsgefühl, das aus dieſer Verfaſſung ſprach, anerkennen, obſchon ſie den Haupt - fehler hat eine Conſtitution zu ſein .

Mit alledem war die Pfalz noch immer nicht geſichert. Die vier Mächte, denen die Entſcheidung zuſtand, hatten ſich verabredet, auf dem Congreſſe, der noch in dieſem Herbſt ſtattfinden ſollte, den Handel endlich aus der Welt zu ſchaffen. Die Ungeduld des Münchener Hofs war jedoch kaum mehr zu bändigen, ſeit der Zuſtand des kranken Großherzogs ſich täglich verſchlimmerte. Max Joſeph und ſein Miniſter Rechberg erklärten Beide dem preußiſchen Geſandten: ſie ſeien bereit zu einem Vergleiche; ſollte aber der Großherzog vor ausgemachter Sache ſterben, dann werde Baiern die Pfalz als heimgefallen betrachten und ſeine Rechte geltend machen. *)Zaſtrows Berichte, 5., 30. Auguſt 1818.Bald nachher liefen in Karlsruhe von allen Seiten Warnun - gen ein: Baiern rüſte und ziehe ſeine Truppen an der pfälziſchen Grenze zuſammen. Der Großherzog befahl nunmehr die Beurlaubten einzuberufen. Auch der König von Württemberg fühlte ſich ſchwer bedroht; ſein Lieb - lingsplan, die rein deutſche Trias zerſchmolz ihm unter den Händen. Sein Geſandter Gremp mußte den bairiſchen Miniſter (25. September) ſchriftlich befragen: ob es denn wirklich wahr ſei, daß der König beim Ableben ſeines Schwagers einen Handſtreich auszuführen denke; ein ſolcher Schritt müſſe den faktiſchen Austritt Baierns aus dem Deutſchen Bunde zur gewiſſen Folge haben ; eine beſtimmte Widerlegung des Gerüchts ſcheine dringend geboten grade im gegenwärtigen Augenblicke, wo ein aufrichtiges Verſtändniß der rein-deutſchen Bundesſtaaten ſo wichtig iſt. In einer ſchnöden und herriſchen Erwiderung ſprach darauf Rechberg ſein äußerſtes Befremden aus: S. Maj. haben bisher den Gedanken an ein in belobter Note vorhergeſehenes Ereigniß, welches Allerhöchſt - dieſelben mit dem tiefſten Kummer erfüllen müßte, noch keinen Augenblick375Badiſche Verfaſſung. Naſſau.Raum gegeben. *)Note des Geſandten v. Gremp 25. Sept., Antwort Rechbergs 29. Sept. 1818.Die grobe Unredlichkeit dieſer Betheuerung bewies genugſam, daß der Verdacht des Karlsruher Hofes nicht grundlos war. Zum zweiten male binnen zwei Jahren drohte der Ehrgeiz der Wittels - bacher einen Bürgerkrieg über Deutſchland heraufzuführen. Die Preſſe des Auslandes bemächtigte ſich bereits der neuen querelle Allemande; Badens gute Sache fand einen zweifelhaften Anwalt an dem napoleoni - ſchen Diplomaten Bignon, der fortan bei allen deutſchen Händeln regel - mäßig ſeine gewandte Feder für die Rechte bedrängter Kleinfürſten ein - ſetzte. Indeß das ſchwache Lebenslicht des Großherzogs erloſch ſo ſchnell noch nicht; die vier Mächte behielten Zeit den bairiſchen Uebermuth in ſeine Schranken zurückzuweiſen.

Auch in Naſſau verliefen die Anfänge des conſtitutionellen Lebens nicht ohne Stürme. Dort war ſchon vor dem Wiener Congreſſe, am 1. Sept. 1814 eine Verfaſſung verkündigt worden, und der allmächtige Miniſter Marſchall rühmte ſich dem geſammten Deutſchland vorange - ſchritten zu ſein. Aber die liberale Welt ließ ihrem Liebling Karl Auguſt von Weimar den Ruhm des erſten conſtitutionellen Fürſten nicht ab - ſtreiten, und ſie war im Rechte. Denn obwohl alle Beamten bereis auf die Verfaſſung beeidigt waren, ſo währte es doch noch viertehalb Jahre bis man den Landtag einberief, und Marſchall benutzte dieſe Friſt um ein Füll - horn organiſcher Geſetze über das Ländchen auszuſchütten und eine neue Größe in die deutſche Geſchichte einzuführen: den centraliſirten naſſauiſchen Einheitsſtaat. Während die gewaltigen Naſſau-Oranier in den Nieder - landen die Welt mit ihrem Kriegsruhm füllten, wußte die Geſchichte der letzten Jahrhunderte von den deutſchen Naſſauern kaum mehr zu erzählen, als daß ſie ſich beharrlich und immer von Neuem in Linien theilten. Sie betrieben dieſe dem deutſchen Kleinfürſtenſtande eingeborene Liebhaberei mit einer Ausdauer, die ſelbſt von den Wettinern nicht überboten wurde; eine Zeit lang hauſten ſogar in der kleinen Stadt Siegen zwei Linien Naſſau-Siegen, die eine katholiſch, die andere reformirt, jede in ihrem eigenen Schloſſe, die beiden Hälften der Stadt durch eine hohe Mauer und wüthenden Nationalhaß getrennt. Aber das Glück war dem treu - fleißigen Bemühen nicht hold; die mit ſo großer Sorgfalt angepflanzten neuen Linien ſtarben immer wieder aus. Im Jahre 1816 ſtarb auch der letzte Uſinger, und nunmehr trat die Linie Weilburg in den alleinigen Beſitz jener Länderbrocken, welche einſt Gagerns plaſtiſche Hand wie Stein ſpottete in Paris und Wien für das Geſammthaus Naſſau zu - ſammengebracht hatte. So prahleriſch wie Marſchall verſtand kein anderer376II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.deutſcher Miniſter die Legitimität des angeſtammten Fürſtenhauſes zu preiſen, und doch klang dies Selbſtlob nirgends lächerlicher als hier, in einem Ländchen von 85 Geviertmeilen, das vor wenigen Jahren noch unter ſiebenundzwanzig verſchiedenen Landesherren vertheilt geweſen.

Nach der Abtretung von Saarbrücken, Lahr, Siegen blieb von dem alten naſſauiſchen Hausbeſitze wenig übrig. Auch die altoraniſchen Land - ſchaften hatten mit dem deutſchen Herzogshauſe nicht viel mehr als den Namen gemein. Was konnte ein Kleinſtaat dieſem tapferen Volke bieten, über dem einſt der Sonnenſchein weltgeſchichtlichen Ruhmes geleuchtet hatte? Dort auf den rauhen Bergen des Weſterwaldes und in dem ab - gelegenen Winkel des Dillthals erzählte ſich jedes Haus von den Hollands - fahrten der Väter; dort ſtand noch die Linde, unter deren Schatten Wil - helm der Schweiger die Geſandten der niederländiſchen Rebellen empfangen hatte; dort lag Herborn, vor Zeiten die kampfluſtige Hochſchule des Calvinis - mus, jetzt zogen ſtatt ſtreitbarer Theologen friedliche Ackerbürger durch die Chaldäergaſſe des ſtillen Landſtädtchens. Noch gleichgiltiger ſtanden die pfälziſchen, trierſchen, heſſiſchen Aemter des Rheinthals dem neuen Fürſten - hauſe gegenüber. Den bigotten Kurtrierern kam es hart an, daß ſie mit den proteſtantiſchen Katzenellenbogenern unter einen Hut geriethen und die trutzigen Grenzfeſten der beiden feindlichen Nachbarvölker, die Katz und die Maus nun in Trümmern lagen; aber noch härter, daß die wunder - reiche Wallfahrtskirche zur ſchmerzhaften Mutter Gottes von Bornhofen durch den naſſauiſchen Amtmann ſofort geſchloſſen wurde. Am Aller - wenigſten wollte ſich der kurmainziſche Rheingau mit dem neuen Regimente befreunden, das Paradies der rheiniſchen Lebensluſt, das wonnige Land, wo die Poeſie des Weines ſelbſt die Armuth froh erhält. Hier in den verkehrsreichen Flecken und ſtädtiſchen Dörfern, die ſich dichtgedrängt wie eine einzige Stadt im Strome wiederſpiegeln, lag der radicale Uebermuth in der Luft, und der Miniſter that das Seine um dem Geſpött des luſtigen Völkchens täglich neuen Stoff zu bieten.

Da ein Staatsminiſterium und daneben noch ein Staatsrath, ein Armee-Commando und eine Rechenkammer für die Glückſeligkeit von 300,000 Seelen offenbar nicht ausreichten, ſo ſetzte der naſſauiſche Organiſator noch eine Landesregierung darunter, die mit dem Miniſterium unter einem Dache wohnte aber nur ſchriftlich mit der vorgeſetzten Behörde verkehren durfte; darunter wieder 25 Aemter, unter dieſen die Gemeinden, deren Schultheißen die Regierung ernannte. Dazu außer den Untergerichten zwei Appellationsgerichte und ein Oberappellationsgericht. Dies mächtige uniformirte Beamtenheer war für ſich und ſeine Kinder von der Militär - pflicht befreit, genoß eines privilegirten Gerichtsſtandes und wetteiferte mit dem Miniſter in despotiſcher Grobheit. Der wackere Präſident Ibell, ein ſtrenger, aber wohlmeinender und geſcheidter Beamter, der an der neuen Geſetzgebung das Beſte gethan, kam gegen Marſchalls übles Beiſpiel377Naſſauiſcher Domänenſtreit.nicht auf. Die preußiſchen Behörden hatten beſtändig über die händel - ſüchtige Anmaßung dieſer Nachbarn zu klagen; den bereits vereinbarten Vertrag über eine preußiſche Etappenſtraße wollte Marſchall nachträglich noch abändern, und erſt als ihn General Wolzogen mit einer Piſtolen - forderung bedrohte, gab er die verſprochene Unterſchrift. Zwecklos erging ſich der bureaukratiſche Aktenfleiß im reinen Genuſſe ſeines Daſeins. Als das neue Herzogthum nach einem halben Jahrhundert wieder verſchwand, war noch nicht einmal die Landſtraße durch das dichtbevölkerte Rheinthal vollendet; wer fahren wollte, mochte drüben auf dem linken Ufer die preu - ßiſche Chauſſee benutzen.

Alſo wurde die neue Organiſation der Behörden und der Gemeinden ohne den Landtag begründet, obgleich die Verfaſſung den Landſtänden die Mitwirkung bei neuen Geſetzen verſprach. Daran ſchloß ſich die Trennung der Domänen - und der Steuerkaſſe, eine ſcheinbar harmloſe Maßregel, die einen argen Gewaltſtreich vorbereiten ſollte. Die Kaſſentrennung war kaum vollzogen, ſo überraſchte Marſchall das Land durch die Behauptung, daß die geſammten Domänen dem Landesherrn allein gehörten, und eröffnete damit die endloſe Reihe jener Kämpfe um das Kammergut, welche ſeitdem durch viele Jahrzehnte eine ekelhafte Eigenthümlichkeit der deutſchen Klein - ſtaaterei blieben und den monarchiſchen Sinn dieſer gutmüthigen Bevöl - kerung zu untergraben halfen. Die Frage, ob das Kammergut dem Staate oder dem fürſtlichen Hauſe gehöre, war allerdings nicht leicht und nicht überall auf die gleiche Weiſe zu beantworten, da die meiſten der kleinen Territorien noch bis zum Anfang des neuen Jahrhunderts nach den Grundſätzen des Patrimonialſtaats regiert wurden und mithin den Unter - ſchied von Staats - und Privatrecht kaum kannten. Das politiſche König - thum der Hohenzollern hatte ſchon hundert Jahre zuvor die Domänen für Staatsgut erklärt; Baiern und einige andere größere Fürſtenhäuſer folgten jetzt dieſem Beiſpiele. Den kleinen Fürſten dagegen lag die Ver - ſuchung nahe, das Land nur als ein Rittergut, die Herrſchaft nur als ein nutzbares Recht zu betrachten; ſie fühlten, daß ihre Macht weſentlich auf ihrem Reichthum ruhte, und beeilten ſich ihr Haus gegen die Wechſel - fälle der Zukunft zu ſichern, da ihnen das Schickſal der Mediatiſirten vor den Augen ſtand. So fand der Großherzog von Baden an dem Nebenius’ſchen Verfaſſungsentwurfe nur einen Punkt bedenklich: er beſtand darauf, daß die Domänen ſeinem Hauſe als Patrimonialgut zugewieſen würden. In Naſſau war mindeſtens ein Theil der Anſprüche des Landes - herrn durchaus unberechtigt; denn die kurmainziſchen Kammergüter, jene herrlichen Rebgärten des Rheingaus, deren Weine in dem berühmten Eber - bacher Kloſterkeller lagerten, hatten unzweifelhaft dem Erzſtifte, dem Staate gehört.

Eine neue, noch erſtaunlichere Forderung des Herzogs Wilhelm brachte endlich das ganze Land in Harniſch. Im Jahre 1808 waren die378II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.Leibeigenſchaftsgefälle aufgehoben und die Grundherren dafür entſchädigt worden, eine Denkmünze erinnerte noch an dieſe befreiende That des Hauſes Naſſau; und jetzt trat der Herzog, der willenlos ſeinem herriſchen Miniſter folgte, plötzlich mit dem Verlangen hervor: die Landeskaſſe ſolle ihm 140,000 Fl. jährlich bezahlen für die längſt aufgehobenen Leibeigen - ſchaftsgefälle des Kammerguts, das er ſich ſoeben erſt durch einen Macht - ſpruch angeeignet hatte! Der Freiherr vom Stein, der von ſeinem Schloſſe Naſſau an der Lahn dies Treiben aus der Nähe betrachten konnte, fand kaum Worte genug um ſeine Verachtung auszudrücken: die Zeit wird kommen, wo dieſer Frevel beſtraft wird und die Vorſehung ein ſtrenges Ge - richt über die Frevler hält; ich habe daran nicht den mindeſten Zweifel.

Im März 1818 wurde der Landtag endlich einberufen, und er be - gann ſogleich mit einem Auftritt, der die ganze Armſeligkeit dieſes Be - amtenthums an den Tag brachte: mit der Ausſchließung Steins. Als preußiſcher Unterthan konnte der Freiherr den Eid, welcher den Mit - gliedern der erſten Kammer abverlangt wurde, nicht ohne Vorbehalt leiſten; die Regierung aber rührte keine Hand um durch ein geringfügiges Zugeſtändniß dies Formbedenken zu beſeitigen, ſie ließ es geſchehen, daß der erſte Mann des Landes aus der Kammer ausſchied. Was hätte er auch hier leiſten können, in dem widerlichen Gezänk um die Domänen und den unerſättlichen Geldbeutel des Landesvaters? Die Stände folgten bald dem Beiſpiel der Altwürttemberger und verbiſſen ſich in einen un - fruchtbaren Rechtsſtreit; wie jene ſetzten ſie Unrecht gegen Unrecht, indem ſie alle Domänen für Staatsgut erklären wollten. So währte es noch faſt zwanzig Jahre, bis der Landtag dem Herzog einen Theil ſeiner Geld - forderung bewilligte; die Rechtsfrage aber iſt niemals, ſo lange dies Herzog - thum beſtand, vollſtändig erledigt worden. Inzwiſchen regierte Marſchall nach ſeiner alten Weiſe wohlgemuth weiter und entſchied Alles was ihm beliebte durch Verordnungen; bis zum Jahre 1848 wurden dem Landtage nur ſechs einigermaßen wichtige Geſetze vorgelegt. Gleichwohl blickte der Naſſauer im Hochgefühle ſeiner conſtitutionellen Freiheit mitleidig auf die preußiſche Knechtſchaft hernieder.

Später als die übrigen ſüddeutſchen Territorien gelangte Heſſen - Darmſtadt zum Abſchluß ſeiner Verfaſſung, das künſtlichſte unter den Staatsgebilden des Rheinbunds. Das buntgemiſchte Naſſauer Land bildete immerhin ein zuſammenhängendes Gebiet; die Landſchaften aber, welche jetzt den Namen des Großherzogthums Heſſen und bei Rhein empfingen, lagen in zwei größeren und einer nur wenigen Eingeweihten bekannten Anzahl kleiner Stücke zerſtreut vom württembergiſchen Neckarthale bis hinein ins weſtphäliſche Gebirge. Zumal in der Frankfurter Gegend, wo das Großherzogthum mit vier anderen Staaten zuſammenſtieß, ent - faltete ſich eine reiche Mannichfaltigkeit abenteuerlicher Grenzlinien, welche der Bundesſtadt die Gunſt aller Strolche Mitteldeutſchlands verſchaffte:379Heſſen-Darmſtadt.wer über die Darmſtädter Grenze zur Stadt hinausgeſchoben wurde, zog nach einem kurzen Spaziergange durch Homburg oder Naſſau fröhlich zu einem anderen Thore wieder ein. Im Odenwald lag gar ein badiſch - heſſiſches Condominat, deſſen Grenzen ſich immer von Neuem veränderten ſobald ein Bauer eine Parcelle verkaufte. Und dieſe Zierden der deutſchen Landkarte waren nicht wie die ebenſo zerhackten Gebietstrümmer Thü - ringens ein Vermächtniß des heiligen Reichs, ſondern ein Werk der aller - neueſten deutſchen Politik.

In den zwei Jahrhunderten ſeit ihrer Trennung von dem Hauptzweige hatte die jüngere Linie des heſſiſchen Hauſes ihren Beſitzſtand ſehr häufig verändert. Die Darmſtädter Landgrafen geboten anfangs nur über die obere Grafſchaft Katzenellenbogen am Odenwalde und einige Striche der Wetterau. Nach deutſchem Fürſtenbrauche bewieſen ſie ihre Selbſtändigkeit durch beſtändige Händel mit den Stammesvettern und hielten als glau - bensſtarke Lutheraner immer zu Oeſterreich, während Kaſſel ſich dem reformirten Bekenntniß näherte und mit Schweden, nachher mit Preußen verbündet war; der reformirten Marburger Hochſchule trat das lutheriſche Gießen entgegen. Nachher wurde die Grafſchaft Hanau-Lichtenberg er - worben, und bereits begann ſich der Schwerpunkt des Territoriums nach dem linken Rheinufer hinüberzuſchieben: der Hof wohnte mit Vorliebe in dem ſchönen Schloſſe von Buchsweiler und ſchuf ſich in Pirmaſenz ein ſüddeutſches Potsdam für ſeine weltberühmte Rieſengarde. Selbſt die Freundin Friedrichs des Großen, die große Landgräfin Karoline Henriette vermochte die geiſtloſe Langeweile aus dieſem Lande der Sol - datenſpielerei nicht zu verbannen; auch der Miniſter Karl Friedrich von Moſer mußte aus ſeiner ſchimpflichen Entlaſſung lernen, daß hier kein Raum war für einen Feuergeiſt, der den Deutſchen die Hundedemuth ab - gewöhnen wollte . Nur durch Merk und ſeinen Freundeskreis unterhielt das ſtille Darmſtadt einigen Verkehr mit der neuen deutſchen Bildung. Während der Revolutionskriege gingen die überrheiniſchen Beſitzungen wieder verloren, und die Dynaſtie empfing zur Entſchädigung unter An - derem das weit entlegene Herzogthum Weſtphalen. Nach Napoleons Sturz wurde auch dieſe unnatürliche Erwerbung wieder aufgegeben und dafür der ſchmale linksrheiniſche Uferſaum von Worms bis Bingen ein - getauſcht. So erhielt das neue Großherzogthum erſt durch die Wiener Verträge, ſpäter als die anderen oberdeutſchen Staaten, ſeinen politiſchen Charakter; die Kämpfe zwiſchen dem linken und dem rechten Ufer machten fortan ſeine Geſchichte aus.

Bis auf einige weſtphäliſche Gebietstheile war das ganze Land ſüd - deutſch, fränkiſch; die Grenze zwiſchen nord - und ſüddeutſcher Sitte lief ſeit alten Zeiten quer durch das obere Lahnthal zwiſchen Gießen und Marburg. Aber welche Gegenſätze innerhalb dieſer Bruchſtücke des frän - kiſchen Stammes. Von den beiden rechtsrheiniſchen Provinzen war Ober -380II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.heſſen ganz auf den Verkehr mit dem Norden angewieſen, Starkenburg mehr auf den Süden. In beiden Landſchaften hatte ſich das ſtädtiſche Leben wenig entwickelt; weder die Reichsſtädte Friedberg und Wimpfen noch die lieblichen Städtchen an den Rebenhängen der Bergſtraße be - ſaßen ein ſtarkes Bürgerthum, das dem Beamtenheere des Großherzogs mit Selbſtgefühl begegnen konnte. In den einſamen Waldthälern des Odenwalds und auf den unwirthlichen Höhen des Vogelsbergs, ja ſelbſt in der reichen Ebene der Wetterau bewahrten ſich die Bauern noch manchen ehrenfeſten altväteriſchen Brauch. Die Unterthanen der zahlreichen Media - tiſirten, der Erbach, Iſenburg, Solms, Leiningen hielten noch in alter Treue zu den angeſtammten kleinen Dynaſten. Namentlich die Graf - ſchaft Erbach blieb noch eine kleine Welt für ſich. Wenn die Odenwälder alljährlich zu dem beliebten Volksfeſte, dem Eulbacher Markte zuſammen - ſtrömten, dann ſprachen ſie nur von dem Stifter des Feſtes, dem kunſt - ſinnigen Grafen Franz, deſſen Sammlungen im Erbacher Schloſſe das Darmſtädter Muſeum weit überboten; die heſſiſche Herrſchaft verwünſchte Jedermann, weil ſie zunächſt nur doppelte Steuerlaſt gebracht hatte.

Wie ſollte ſich der neugewonnene überrheiniſche Landſtrich, der nun den abgeſchmackten Namen Rheinheſſen erhielt, an dieſe patriarchaliſchen Zuſtände gewöhnen? Dort war der Bauer faſt noch ſtädtiſcher als in der bairiſchen Pfalz, faſt noch eifriger auf das Profitiren bedacht, der Bürger durch den Weltverkehr ſeines Stromes an große Verhältniſſe gewöhnt. Verächtlich blickte der Mainzer auf die traurige neue Haupt - ſtadt in der Sandebene am Darmfluß und ſpottete über ihre bedienten - hafte Bevölkerung, über den einen Referendar, der Mittags in ihrer Rheinſtraße wimmelte. Von den großen Tagen der Vorzeit, von der Macht der alten Reichserzkanzler, von der Bürgergröße der Walpoden und der Gensfleiſch war freilich im goldenen Mainz kaum noch die Rede. Die Biſchofsſtadt des heiligen Bonifacius, die ſich einſt ſo gern die eigent - liche Tochter der römiſchen Kirche genannt, blieb ein Menſchenalter hin - durch die radicalſte und die am eifrigſten franzöſiſch geſinnte Stadt des Rheinlands. Das Illuminatenthum und die Sittenloſigkeit der letzten kurfürſtlichen Zeiten hatten hier einen leichtſinnigen, zungenfertigen Ueber - muth groß gezogen, der in dem wüſten Treiben der republikaniſchen Clubiſten ſeinen Faſching feierte und erſt während der geſtrengen napo - leoniſchen Herrſchaft verſtummte. Jetzt aber, unter einer zugleich ſchwachen und verhaßten Regierung, trat er wieder keck hervor. Vor Kurzem erſt hatte die Bürgerſchaft die deutſchen Eroberer als Befreier begrüßt und die abziehenden Franzoſen verwünſcht, die in dem geſchändeten Dome und faſt auf jeder Gaſſe die Spuren ihrer Roheit zurückließen. Bald war das Alles vergeſſen. Man dachte nur noch an die Verdienſte des trefflichen Präfekten Jean Bon St. André, an die mannichfache Gunſt, welche der Imperator ſeiner deutſchen Lieblingsſtadt erwieſen, und betrachtete den381Rheinheſſen.Code Napoleon als das Bollwerk rheinheſſiſcher Freiheit. Der neue Landes - herr verbürgte der Provinz in der That den ungeſtörten Genuß ihrer franzöſiſchen Inſtitutionen, aber die Mainzer wußten wohl, wie unwillig das altheſſiſche Beamtenthum dieſe Zuſage aufnahm, und witterten hinter jedem Erlaß des Miniſteriums einen Angriff auf ihre Landesfreiheit. Die widerwärtigen Händel zwiſchen den Truppen der Bundesgarniſon konnten das Anſehen der deutſchen Herrſchaft nicht verſtärken; der Bundes - tag vollends ward ſchon darum verſpottet, weil er in Frankfurt tagte und jedes Mainzer Kind den Haß gegen die Nachbarſtadt mit der Muttermilch einſog. Von den Segnungen des Friedens bekam das heſſiſche Rheinland auch nur wenig zu ſpüren. Vor Zeiten, ſo lange die Thalfahrt über - wog, hatte Mainz den vornehmſten Platz unter den Rheinſtädten behauptet. Seit der Kolonialhandel emporwuchs und die Bergfahrt in den Vorder - grund trat, mußte der Schwerpunkt des rheiniſchen Verkehrs nothwendig der Mündung näher rücken. Die unfreie Geſetzgebung der kurfürſtlichen und der napoleoniſchen Tage griff noch eine Zeit lang hemmend ein, ließ die holländiſchen Häfen auf Koſten Kölns gedeihen; erſt unter dem Schutze der preußiſchen Geſetze trat die Natur der Dinge in ihr Recht, und Köln wurde der erſte Handelsplatz am Rheine. Die Mainzer aber ſchrieben dies natürliche Wachsthum ihrer alten Nebenbuhlerin zumeiſt den Unter - laſſungsſünden der Darmſtädter Regierung zu.

Der franzöſiſche Partikularismus der Rheinländer wurde für Heſſen ungleich gefährlicher als für Preußen oder Baiern, da Rheinheſſen faſt ein Drittel der Bevölkerung des Großherzogthums umfaßte und in ſeiner wirthſchaftlichen Entwicklung den rechtsrheiniſchen Landestheilen weit voran - ſtand. In ſolcher Bedrängniß wußte ſich Großherzog Ludwig I. vorerſt nur durch ein ſcharfes bureaukratiſches Regiment zu helfen, eine Politik, welche ohnehin ſeinen Neigungen und Gewohnheiten entſprach. Er war der Neugründer dieſes Staates, blieb ſeit 1790 vierzig Jahre lang am Ruder und wurde von unterthänigen Darmſtädtern gern mit Karl Friedrich von Baden verglichen. An den Geiſt und die Hochherzigkeit des Zähringers reichte er freilich nicht heran, aber ſeinen ehrlichen Willen bewährte er ſchon beim Antritt ſeiner Regierung, als er dem mißhandelten K. F. v. Moſer die gebührende Genugthuung gab. Dem Imperator gegenüber zeigte er ſich nicht knechtiſcher als die Mehrzahl der Rheinbundsfürſten; die Liebe - dienerei ward dem Prinzen Emil überlaſſen, der ſich die beſondere Gnade Napoleons erwarb und nach dem Frieden noch lange die bonapartiſtiſche Geſinnung in der tüchtigen kleinen Armee wach hielt. Dem Lande brachten die ſchweren Zeiten des Rheinbunds ein napoleoniſches Präfektenſyſtem, die Vernichtung aller Gemeindefreiheit und die unvermeidliche Aufhebung der alten ſtändiſchen Verfaſſungen, aber auch manche heilſame Re - formen, ſo die Beſeitigung der Leibeigenſchaft und die Anfänge jener verſtändigen agrariſchen Geſetzgebung, welche fortan der Stolz des darm -382II. 6. Süddeutſche Verfaſſungskämpfe.ſtädtiſchen Beamtenthums blieb. Die Hauptſtadt verdankte dem kunſt - ſinnigen Fürſten das Theater, die Bibliothek, das Muſeum, das Erwachen eines regeren geiſtigen Lebens; auf dem anmuthigen Luſtſchloß ihres patriarchaliſchen Herrn, auf dem Fürſtenlager im Odenwalde, hielten die guten Familien Darmſtadts alljährlich ihre Sommerfriſche.

Gleich den anderen ſüddeutſchen Fürſten hatte der Großherzog auf dem Wiener Congreſſe eingeſehen, daß eine ſtändiſche Verfaſſung unver - meidlich war. Aber als er nun heimkehrte und mit der ſchwierigen Einver - leibung Rheinheſſens vollauf zu thun fand, da verſchob er den entſcheiden - den Beſchluß von Jahr zu Jahr. Unterdeſſen begann das von den Hunger - jahren ſchwer heimgeſuchte Land unruhig zu werden; der Steuerdruck und die Willkür des Beamtenthums war nicht mehr zu ertragen. Unehrerbietige, drohende Bittſchriften mahnten den Großherzog an ſein Verſprechen, radi - cale Flugblätter vertröſteten das Landvolk auf die nahende Revolution. Auf der Gießener Hochſchule ſtießen die Parteien hart aneinander; der geiſtvolle Philolog F. G. Welcker mußte ſeinen Lehrſtuhl verlaſſen, weil er ſich mit dem berüchtigten Bonapartiſten Crome nicht vertragen konnte. Endlich wagte man gar große Landesverſammlungen abzuhalten, die den Fürſten um die erſehnte Conſtitution, das ſichere Heilmittel aller irdiſchen Nöthe baten. Noch immer vergeblich.

So war die Lage des Südens im Herbſt 1818. In Württemberg und Heſſen bedenkliche Gährung; in Baiern und Baden lautes Frohlocken über die glücklich errungene neue Verfaſſung und kindliche Träume von der wunderbaren Freiheit, die da kommen ſollte. Und dazu in der akademi - ſchen Jugend eine brauſende Bewegung, die den geängſteten Regierungen das Nahen eines allgemeinen Umſturzes zu verkünden ſchien.

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Siebenter Abſchnitt. Die Burſchenſchaft.

Zu allen Zeiten hat die Jugend radikaler gedacht als das Alter, weil ſie mehr in der Zukunft als in der Gegenwart lebt und die Mächte des Beharrens in der hiſtoriſchen Welt noch wenig zu würdigen weiß. Es bleibt aber immer ein Zeichen krankhafter Zuſtände, wenn die Kluft zwiſchen den Gedanken der Alten und der Jungen ſich allzu ſehr er - weitert und die ſchwärmende Begeiſterung der Jünglinge mit der nüch - ternen Thätigkeit der Männer gar nichts mehr gemein hat. Ein ſolcher innerer Zwieſpalt begann ſich nach dem Frieden in Norddeutſchland zu zeigen. Die jungen Männer, die im Waffenſchmucke den Anbruch ihres eigenen bewußten Lebens und den Anbruch ihres Vaterlandes zugleich ge - noſſen oder auf der Schulbank klopfenden Herzens die Kunde von den Wundern des heiligen Krieges vernommen hatten, waren noch trunken von den Erinnerungen jener einzigen Tage; ſie führten den Kampf gegen das Wälſchthum und die Zwingherrſchaft im Geiſte weiter und fühlten ſich wie verrathen und verkauft, da nun die Proſa der ſtillen Friedens - arbeit von Neuem begann. Wie ſollten ſie verſtehen, welche quälenden wirthſchaftlichen Sorgen den Aelteren die Seele belaſteten? In alten Zeiten ſo etwa lautete die ſummariſche Geſchichtsphiloſophie des jungen Volks in den Tagen der Völkerwanderung und des Kaiſerthums war Deutſchland das Herrenland der Erde geweſen; dann waren die langen Jahrhunderte der Ohnmacht und der Knechtſchaft, der Verbildung und Verwälſchung hereingebrochen, bis endlich Lützows wilde verwegene Jagd durch die germaniſchen Wälder brauſte und die heiligen Schaaren der ſtreit - baren Jugend das deutſche Volk ſich ſelber zurückgaben. Und was war der Dank? Statt der Einheit des Vaterlandes entſtand das deutſche Bunt , wie Vater Jahn zu ſagen pflegte; die Alten aber, denen der Hel - denmuth der Jungen das fremde Joch vom Nacken genommen, verſanken wieder in das Philiſterthum, ſaßen am Schreibtiſch und in der Werkſtatt als ſei nichts geſchehen.

Hatte Fichte nicht recht geſehen, als er einſt weiſſagte: dies in Selbſt - ſucht verkommene alte Geſchlecht müſſe erſt verſchwinden bis auf den letzten384II. 7. Die Burſchenſchaft.Mann ehe die Zeit der Freiheit und der Klarheit den Deutſchen tagen könne? Und war es nicht an der Jugend, den erſchlafften Alten ein Vorbild wahrer Deutſchheit und damit aller echten menſchlichen Tugend zu geben? Sie allein beſaß ja ſchon das durchaus neue Selbſt , das der Philoſoph ſeinem Volke erwecken wollte, und verſtand den Sinn ſeines ſtolzen Ausſpruchs: Charakter haben und deutſch ſein iſt ohne Zweifel gleichbedeutend. Nicht umſonſt hatte der Redner an die deutſche Nation gelehrt: die Jugend ſoll nicht lachen und ſcherzen, ſie ſoll ernſthaft und erhaben ſein. Stolz wie er ſelber, mit erhobenem Nacken und trotzig gekräuſelten Lippen ſchritt dies kriegeriſche junge Geſchlecht einher, durch - glüht von dem Bewußtſein einer großen Beſtimmung, gleich dem Meiſter entſchloſſen, nicht ſich der Welt anzupaſſen, ſondern die Anderen für ſich zurechtzulegen. Seine Sehnſucht war die That, die aus freier Selbſt - beſtimmung entſprießende That, wie ſie Fichte geprieſen, und jeder Blick der ſtrafenden Augen ſchien zu ſagen: was kommen ſoll muß von uns kommen! Niemals vielleicht iſt ein ſo warmes religiöſes Gefühl, ſo viel ſittlicher Ernſt und vaterländiſche Begeiſterung in der deutſchen Jugend lebendig geweſen; aber mit dieſem lauteren Idealismus verband ſich von Haus aus eine grenzenloſe Ueberhebung, ein unjugendlicher altkluger Tugendſtolz, der alle Stille, alle Schönheit und Anmuth aus dem deut - ſchen Leben zu verdrängen drohte. Die rauhen Sitten des jungen Ge - ſchlechts erinnerten nur zu lebhaft an den Ausſpruch des Meiſters: eine Liebenswürdigkeitslehre iſt vom Teufel. Wenn dieſe Spartaner auf Ab - wege geriethen, dann konnten die Verirrungen des überſpannten ſitt - lichen Selbſtgefühls leicht verderblicher wirken als die holde Thorheit des gedankenloſen jugendlichen Leichtſinns.

Wer darf ſagen, ob Fichte bei längerem Leben verſucht haben würde dieſe thatendurſtige Jugend in den Schranken der Beſcheidenheit zu halten oder ob die Enttäuſchungen der Friedenszeit den radikalen Idealiſten ſelber verbittert hätten? Er ſtarb ſchon im Januar 1814, vom Lazareth - fieber dahingerafft, ein Opfer des Krieges, deſſen Sinn und Ziele er ſo groß und rein verſtanden hatte; und nun gerieth die Jugend, die immer nach einer Führung verlangt, unter den Einfluß anderer Lehrer, von denen keiner hoch genug ſtand um den Uebermuth des jungen Geſchlechts zu mäßigen. Unter den Lützow’ſchen Jägern hatte der Turnvater Jahn wenig gegolten, der unbändige Polterer paßte nicht in die ſtrenge Ordnung des militäriſchen Dienſtes. Erſt während der Friedensverhandlungen machte er wieder von ſich reden, als er zum Entzücken der Gaſſenbuben in den Straßen von Paris umherzog, den Knotenſtock in der Hand, beſtändig ſcheltend und wetternd gegen die geilen Wälſchen. Das lange Haar, das dem treuen Manne einſt nach der Jenaer Schlacht in einem Tage er - graut war, hing ungekämmt auf die Schultern hernieder; der Hals war entblößt denn das knechtiſche Halstuch ziemte dem freien Deutſchen385Fichte und Jahn.ſo wenig wie die weichliche Weſte; ein breiter Hemdkragen überdeckte den niederen Stehkragen des ſchmutzigen Rockes. Und dieſen fragwürdigen Anzug pries er wohlgefällig als die wahre altdeutſche Tracht. Welch ein Feſt, als die Oeſterreicher eines Tages die ehernen Roſſe des Lyſippos von dem Triumphbogen des Carrouſelplatzes herabnahmen um ſie nach Venedig zurückzuführen; mit einem male ſtand der rieſige Recke neben dem Erzbilde der Victoria droben auf dem Bogen, hielt den deutſchen Soldaten eine donnernde Rede und ſchlug der Siegesgöttin mit wuch - tigen Fäuſten auf ihren verlogenen Mund und ihre prahleriſche Trompete. Seitdem kannte ihn die ganze Stadt; das Herz lachte ihm im Leibe, ſo oft ihn die Pariſer mit feindſeligen Blicken maßen und einander zu - flüſterten: Le voilà! Celui-ci!

Nach der Heimkehr eröffnete er wieder ſeine Turnſchule: Friſch, frei, fröhlich, fromm iſt der Turngemein Willkomm! In hellen Haufen eilte die Berliner Jugend auf den Turnplatz in der Haſenhaide und zu der Schwimmſchule des Oberſten Pfuel am Oberbaum. Von den Studenten kam freilich nur ein Theil, den meiſten ging es wider die Ehre, daß unter den Turnern vollkommene Gleichheit herrſchen und man ſich mit den Gnoten duzen ſollte; auch bei den niederen Klaſſen fand die neue Kunſt zunächſt nur wenig Anklang, denn wer beſtändig mit dem Körper arbeitet, glaubt der Schulung des Leibes nicht erſt zu bedürfen. Um ſo eifriger betheiligte ſich das kleine Volk aus der Plamann’ſchen Lehranſtalt, wo Jahn einſt Lehrer geweſen, aus den Gymnaſien und den anderen Schulen der höheren Stände. Dieſe jungen Teutonen hatten dem hei - ligen Kriege fern bleiben müſſen und brannten vor Begier, jetzt das Ver - ſäumte nachzuholen, durch trutzigen Muth und rüſtige Fäuſte ihre Deutſch - heit zu erweiſen; ihre Augen leuchteten, wenn ihnen Jahn in ſeinen wunderlichen Stabreimen das Bild des echten Turners ſchilderte: Tu - gendſam und tüchtig, keuſch und kühn, rein und ringfertig, wehrhaft und wahrhaft! Sie ließen ſich’s nicht zweimal ſagen, daß ſie nicht als müßige Eckner mit dem Bahgeſichte daſtehen dürften, wie die gründlich ver - achteten Kuchenbäcker dort, die Bürger, die vom Grenzgraben der Haſen - haide den Kraftproben der Jugend verwundert zuſchauten. Nicht Quaas und Fraß, meinte Jahn, Leben und Weben ſoll beim Volksfeſte vor - walten; und wie lebte und webte es auf dem Turnplatze, wenn die Jungen, alleſammt in grauen Jacken von ungebleichter Leinwand, mit nacktem Halſe und langem Haar gleich dem Meiſter, ihre unerhörten Künſte übten: den Kiebitzlauf und den Bratenwender, das Kippen und das Wippen, das Neſt und den Schwebehang, die Affen -, Froſch - und Karpfenſprünge, die Bein -, Bauch - und Rückenwellen und die Krone von Allem, die Rieſenwelle. Entzückt rühmte das Turnlied:

Als der Turnermeiſter der alte Jahn
Für des Volks urheilige Rechte
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 25386II. 7. Die Burſchenſchaft.
Vortrat zu der Freiheit Rennlaufbahn,
Da folgt ihm ein wehrlich Geſchlechte.
Hei wie ſchwungen ſich die Jungen
Friſch, froh, fromm, frei!
Hei wie ſungen da die Jungen:
Juchhei!

Wenn die Ferienzeit nahte, dann nahm Jahn gern ſeine Axt auf die Schulter und brach mit einer kleinen Schaar von Getreuen zu einer weiten Turnfahrt auf; über Stock und Stein ging es dann vorwärts bei Wind und Wetter, in gewaltigen Märſchen, bis nach Rügen oder ins ſchleſiſche Gebirge. Nachts lagerten ſich die Graujacken gern beim Wach - feuer unter freiem Himmel, Alles zur Mehrung der frommen Deutſch - heit, und ſtolz erklang das Turnwanderlied des biderben Maßmann:

Stubenwacht, Ofenpacht,
hat die Herzen weich gemacht.
Wanderfahrt, Turnerart
Macht ſie frank und hart.

Zur Nahrung diente oft nur trockenes Brot, und ſelten ward etwas Anderes als Milch oder Waſſer getrunken; denn auch die Mäßigkeit rechnete der Turnvater zu den eigenthümlichen Tugenden der Deutſchen, was vor ihm noch nie ein Sterblicher behauptet hatte. Langſame Köpfe durften nicht murren, wenn ihnen der jähzornige Meiſter durch Verab - reichung einer Dachtel die Gedankenarbeit beſchleunigte; das war keine gemeine Ohrfeige, ſondern hing, nach Jahns Etymologie, mit Denken zuſammen. Verging ſich aber Einer gar zu gröblich gegen die Grund - ſätze des Deutſchthums oder begegnete der waidlichen Schaar ſonſt etwas Anſtößiges, etwa eine franzöſiſche Inſchrift oder ein geputzter Modegeck, ein Schnürling , dann wurde Entſatz gemacht , dann kauerten ſich die jungen Unholde im Kreiſe um den Gegenſtand des Entſetzens, reckten die Zeigefinger vor und brüllten: äh äh!

In tapferen Völkern müſſen alle ſchulmäßigen Leibesübungen kriege - riſchen Zwecken dienen, wenn ſie nicht zu läppiſcher Spielerei ausarten ſollen. Eingefügt in den regelmäßigen Schulunterricht konnte das Turnen der überfeinerten Bildung der Zeit ein heilſames Gegengewicht bieten und die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht erleichtern. In dieſem Sinne hatte Gneiſenau ſchon vor Jahren die kriegeriſche Ausbildung der geſammten Jugend empfohlen; ähnlich, wenngleich etwas überſchwänglich, äußerte ſich noch jetzt ein Breslauer Turnfreund, Hauptmann v. Schme - ling in ſeiner Schrift Turnen und Landwehr . Jener wunderliche Heilige aber, der ſich ſchon bei Lebzeiten durch ſeine Eulenſpiegeleien zu einer ſagenhaften Perſon erhoben ſah, konnte auch das Vernünftige nur auf närriſche Weiſe betreiben. Er war aufgewachſen im Haſſe gegen den Kamaſchendienſt des alten Heeres und beſaß weder die Bildung noch die387Turnplätze und Turnfahrten.Beweglichkeit des Geiſtes um die Bedeutung des neuen Wehrgeſetzes zu verſtehen. Da nach dem Frieden manche unnütze Paradekünſte wieder aufkamen und die eleganten Gardeoffiziere Berlins die langhaarigen Rüpel der Haſenhaide erſichtlich nur mit mäßigem Wohlgefallen be - trachteten, ſo meinte Jahn, die Armee ſei wieder in den Zuſtand von 1806 zurückgeſunken, und polterte nach ſeiner alten Weiſe wider die ge - worbenen Söldnerſchaaren, die auf dem Prahlplatze gedrillt werden . Die gedankenloſe Jugend verfiel natürlich nicht auf die einfache Frage: wo denn in Preußen die geworbenen Söldnerſchaaren ſein ſollten? ſon - dern ging gelehrig auf den Hohn ein und ſang jubelnd:

Es hat der Held - und Kraft-Uhlan
Sich einen Schnürleib angethan,
Damit das Herz dem braven Mann
Nicht in die Hoſen fallen kann.

Die Turnplätze wurden die fruchtbaren Heimathſtätten jener Partei - legenden, welche dem Volke die Geſchichte ſeines Befreiungskrieges ver - fälſchten: nicht die Künſte der Männer des Corporalſtocks, ſondern die Begei - ſterung der Landwehr, des Landſturmes und vornehmlich der Freiſchaaren hatte den Sieg errungen. Alle die Großthaten, welche Jahn mit ſeinen Lützowern vorgehabt aber leider nicht zu Stande gebracht hatte, vollendeten ſich jetzt nachträglich in den prahleriſchen Geſprächen ſeiner Turngenoſſen. Wer dieſen Kraftmenſchen glaubte, mußte die Ueberzeugung gewinnen, daß beim nächſten Einfall der Franzoſen die deutſche Turnerſchaft nur eine einzige ungeheure Bauchwelle zu ſchlagen brauchte um den Feind zu zermalmen. Wir Sturmerprobten, verſicherte das Turnlied, wir zittern vor Söldnerſchlachten nicht und wieder:

Sold mag hinaus ſenden zum Strauß
Buntes Gewürme:
Thürme und Stürme
Sind wir, die Zügel und Flügel im Strauß!

Wie mit dem Heere, ſo wollte Jahn auch mit den Schulen nichts gemein haben: ſeine Turnplätze ſollten eine Welt für ſich bleiben, die Pflegeſtätten der Deutſchheit, durchaus von ſeinem Geiſte erfüllt. So fromm und ehrlich er war, die unmäßige Bewunderung, die ihm von ſo vielen begabteren Männern geſpendet ward, brachte ihn doch aus dem Gleich - gewichte. Mußte er ſich nicht endlich ſelber für den Schutzheiligen der deutſchen Jugend halten, ſeit Schenkendorf über das ſchöne Lied: Wenn Alle untreu werden, ſo bleiben wir doch treu die Aufſchrift geſetzt hatte: Erneuter Schwur an den Jahn! Da ſtand es ja klärlich zu leſen, daß wenn Alle falſchen Götzen trauen, der Jahn allein und ſeine Ge - treuen noch predigen und ſprechen vom heiligen deutſchen Reich . Zwei Univerſitäten, Jena und Kiel, ſendeten ihm faſt gleichzeitig ihr Doctor - diplom und feierten mit dem ganzen Pompe akademiſcher Amtsberedſamkeit25*388II. 7. Die Burſchenſchaft.den Begründer der ars tornaria, den Erwecker der Jugend, den Retter deut - ſcher Sprache, den anderen Martin Luther. Friedrich Thierſch widmete ihm ſeine Ausgabe des Pindar und ſchilderte in einem ſchwungvollen Vorwort, wie die Gymnaſtik bei den Hellenen und den Deutſchen mit allen idealen Beſtreben der Menſchheit verſchwiſtert ſei; und doch erinnerten leider die ſtämmigen Geſtalten der Vorturner von der Haſenhaide weit öfter an die Gladiatorenbilder aus den Thermen des Caracalla als an die lorbeer - geſchmückten Sieger von Olympia.

Wenn geiſtreiche Gelehrte den handfeſten Priegnitzer Bauer ſo ſeltſam überſchätzten, wie hätten die Jünglinge ihn nicht vergöttern ſollen? Alles ahmten ſie ihm nach, am gelehrigſten ſeine Untugenden: die barbariſche Sprache, die Grobheit und Unflätherei. Seine Luſt an kräftigen, volks - thümlichen Redewendungen wurde bald zur Manier, da ihm jede Selbſt - kritik fehlte; die jungen Turner und die wüthenden Franzoſenfeinde der Berliner Geſellſchaft für deutſche Sprache überboten noch die Thor - heiten des Meiſters, veranſtalteten unter dem Vorwande der Sprach - reinigung eine gewerbmäßige Jagd auf alle Fremdwörter, nannten die Univerſitäten Vernunftturnplätze, ſprachen im Concertſaale vom Einklangs - wettſtreite des Klangwerks, von den Tiefknüppeln und Tiefgeigen und ge - langten alſo zu einem ſchwülſtigen Kauderwälſch, das ebenſo undeutſch und um Vieles geiſtloſer war als die mit ausländiſchen Brocken geſpickte Sprache des ſiebzehnten Jahrhunderts. Jahns Sitten aber blieben noch immer ebenſo ungeſchlacht wie einſt in den Tagen ſeiner akademiſchen Heldenthaten, da er ſeinen Gegnern Kuhfladen ins Geſicht warf und ſich am Abhange des Giebichenſteins in einer Höhle verſchanzte um auf die anſtürmenden Hallenſer Landsmannſchafter Felsblöcke herabzuſchleudern.

Die Jugend verwilderte unter der Führung eines Banauſen, dem die Kunſt und das Alterthum, die ganze Welt des Schönen verſchloſſen blieb. Mit Muth und Rüſtigkeit war das neue Deutſchthum überreich geſegnet; aber andere nicht minder deutſche Tugenden, die Beſcheidenheit, der wiſſen - ſchaftliche Sinn, der entſagende Fleiß, die Ehrfurcht vor dem Alter und dem Geſetze geriethen in Mißachtung. Der ſittenpredigende Eifer ſteht Keinem wohl an, im Munde unreifer Burſchen klang er ebenſo ab - geſchmackt wie das Prahlen mit der Keuſchheit, die doch nur Werth hat, wenn ſie ſchamhaft und verſchwiegen bleibt. Alle verſtändigen Lehrer be - gannen zu klagen, wie patzig und unlenkſam ihre Schüler würden und wie das Küchlein ſtets klüger ſein wollte als die Henne. Wie oft hatten die Ausländer ſchon gelächelt über den ſeltſamen Widerſpruch, daß die Deutſchen von der Würde der Frauen vielleicht höher dachten als irgend ein anderes Volk und doch in ihren Umgangsformen dies Gefühl ſo wenig zeigten; erſt durch die Anmuth der neuen Literatur war dies män - niſche Weſen etwas gebändigt und die Frau in der deutſchen Geſellſchaft wieder zu ihrem guten Rechte gelangt; und nun reckte ſich der ungeleckte389Turnſtaat und Turnlieder.germaniſche Bär wieder brummend aus, die jungen Männer ſetzten ihren Stolz darein, den Weibern unausſtehlich zu erſcheinen. Auch hinter der gerühmten teutoniſchen Wahrhaftigkeit verbarg ſich viel Selbſtbetrug; der biderbe Ton war eine Mode wie andere auch, die Roheit oft ebenſo er - künſtelt wie bei anderen Nationen die Höflichkeit. Unter dem Terroris - mus deutſchthümelnder Kraftworte und Kraftſitten verkümmerte was den Kern alles deutſchen Weſens bildet, die ſtolze Freiheit der perſönlichen Eigenart. Die geſpreizte Unnatur dieſes bewußten und gewollten Ber - ſerkerthums bewies nur, daß die menſchlich heitere Tugend der Athener dem deutſchen Geiſte näher ſteht als die gemüthloſe Sittenſtrenge der Spartaner.

Das Wunderlichſte blieb doch, daß dieſe neue das ganze Vaterland mit ihren Träumen umfaſſende Deutſchheit ſofort in den unausrott - baren alten kleinſtädtiſchen Zunftgeiſt zurückfiel und gleich damit begann eine ſtreng geſchloſſene Sekte mit eigenem Brauch und eigener Sprache zu bilden. Hier war der Turnſtaat, das Turnleben, das Turnbekenntniß, hier allein blühte die wahre Freiheit und Gleichheit:

So hegen wir ein freies Reich,
An Rang und Stand ſind Alle gleich.
Freies Reich! Alle gleich! Heiſa juchhe!

In den Turnliedern erklingen nur ſelten die hellen Töne unbefangener jugendlicher Fröhlichkeit; die meiſten der jungen Poeten werfen ſich in Fechterſtellung, fahren herausfordernd, drohend, ſcheltend auf die Feinde der löblichen Turnkunſt los: rührt’s auch den Aar, wenn ihn verlacht ein Sper - ling auf dem Miſt? Und wie thöricht nährte Jahn ſelber dieſen Sekten - geiſt. Wer dem geweihten Kreiſe fern blieb war ein Meindeutſcher, ein Sie - männlein, ein Zwingherrnknecht und wurde von den Zunftgenoſſen ganz wie ein Bönhaſe mit der gröbſten Unduldſamkeit behandelt. In ſeinem ſiebenten Turngeſetze befahl Jahn geradezu: jeder Turner ſolle ihm ſogleich eine Anzeige machen, wenn er etwas erführe was für und wider die Turnkunſt derſelben Freund oder Feind ſprechen, ſchreiben oder wirken, damit zu ſeiner Zeit und an ſeinem Orte aller ſolcher Kunden mit Glimpf oder Schimpf könne gedacht werden! So wuchs allmählich in aller Unſchuld ein kleiner Staat im Staate empor; die harmloſe Turnerei nahm Vieles von den Unarten des politiſchen Parteifanatismus an, und manches ängſtliche Gemüth fühlte ſich durch das Puritanerthum der deut - ſchen Langhaare an die engliſchen Rundköpfe erinnert oder verglich die teutoniſchen Sanscravatten gar mit den Sansculotten der Revolution.

An den Thorheiten der Jugend ſind die Erwachſenen immer mit - ſchuldig. Die Anmaßung des jungen Volks wäre nie ſo hoch geſtiegen, wenn nicht die Alten das kindiſche Spiel in Lob und Tadel mit einer Ueberſchätzung behandelt hätten, die uns heute im Gedränge unſerer ernſten Parteikämpfe ſchon unbegreiflich vorkommt. Das öffentliche Leben in Preußen390II. 7. Die Burſchenſchaft.ſchien ganz erſtorben, die große Arbeit der Wiederherſtellung des Staates ſpielte ſich in der Stille der Amtsſtuben ab. Die Zeitungen wieſen dem Vaterlande nur ein beſcheidenes Plätzchen am Ende des Blattes, hinter den ausländiſchen Nachrichten an und wußten oft wochenlang aus der Heimath von nichts zu berichten, als von fürſtlichen Beſuchen und Ma - növern oder von dem gewiß ſeltenen Feſte eines Amts-Jubiläums, wo - bei der Jubelgreis den rothen Adlerorden empfangen und über dieſen gewiß ſeltenen Beweis Allerhöchſter Gnade Thränen der Rührung ver - goſſen hatte. Nur die Turnplätze gaben noch Stoff zum Erzählen: die Blätter wurden nicht müde zu ſchildern wie tief gemüthlich und kindlich fromm, wie ſtarkmüthig und voll ſinniger Tiefe dieſe ſtreitbare Jugend ſei, obgleich die Mehrzahl ihrer ruheſeligen Leſer im Stillen die unge - bleichten Racker verwünſchte. Der prahleriſche Lärm der Turnfahrten erinnerte ſtark an das aufgeregte Treiben der Geißlerſchaaren des Mittel - alters; in manchem kleinen Orte empfing der geſammte Stadtrath die Turnerſchaar wie ein ſiegreiches Heer am Thore, und als Jahn ſeine Ge - treuen zum erſten male nach Breslau hinüberführte, war ihm die halbe Stadt auf der Landſtraße entgegengezogen, ſtundenweit ſchritten die ſchweiß - triefenden, durch den langen Dauerlauf keineswegs verſchönerten jungen Helden zwiſchen dem Spalier der gaffenden Bürger dahin.

Neben ſolchen Philiſtern mußten ſie ſich wohl ſelber als auserwählte Vorkämpfer der guten Sache fühlen. Wohl gab es auch unter den Alten noch Einzelne, die nicht Geiſteskrüppel waren und den Turnern gleich das wälſche Weſen, die franzöſiſche Schmutz - und Giftſprache tapfer bekämpften. So der Juriſt Theodor Welcker in ſeiner Schrift: warum muß das Franzöſiſche weichen? So Willemer in Frankfurt, der Gatte von Goethes Suleika; der ſchrieb ein Wort an Deutſchlands Frauen um die Pariſer Tracht zu verdrängen. Denſelben Gedanken führte dann Hofrath Becker in Gotha weiter aus, unter heftigen Ausfällen wider die Putzpüppchen und die läppiſche Geſetzgeberin Mode ; das ſauber gemalte Muſterbild des deutſchen Feyerkleides , das er ſeinem Buche beigab, war nur leider nichts anderes als eine Nachbildung der ſchwarzen ſpaniſchen Tracht des ſiebzehnten Jahrhunderts. Die deutſchen Frauen aber wollten die bunten Farben nicht aufgeben, die Männer den Gedankenaustauſch mit der franzöſiſchen Cultur nicht miſſen. Da die Alten alſo ſich im Wälſchthum verſtockten, ſo blieb die Deutſchheit allein auf die Jugend angewieſen, und hier ward ſie täglich hochmüthiger. Mancher Vater ſendete ſeine Söhne nur darum auf den Turnplatz, weil er ſie vor dem Hohne der Genoſſen bewahren wollte. Wo immer ein junger Mann einen andern traf, der gleich ihm ſelber einen Dolch an ſtählerner Kette über dem ſchä - bigen altdeutſchen Rocke trug, da fanden ſich die Beiden raſch zuſammen wie die Mitglieder einer unſichtbaren Kirche und ſchwärmten ſelbander für ihre Ueberzeugung . Dieſer Ausdruck hatte ſonſt nur die von außenher,391Jahn als Politiker.durch das Zeugniß Anderer gewonnene Erkenntniß bezeichnet, jetzt erhielt er einen neuen pathetiſchen Sinn, der ihm bis heute geblieben iſt. Ueber - zeugung war die Stimme des Gewiſſens, das wahre Ich des Deutſchen, Ueberzeugungstreue die höchſte aller Tugenden, ſeine Ueberzeugung ändern hieß ſich ſelber und die Deutſchheit verrathen. Im Hochgenuſſe der ge - meinſamen Ueberzeugung fühlte ſich das junge Volk der Zukunft ſicher, und der Gießener Sartorius, genannt der Bauer, ſang in ſeinem Turn - leben :

Ueber jede Schickſalsbeugung
Schwingt uns unſre Ueberzeugung.
Dieſe macht uns Alle gleich,
Stiftet unſer neues Reich.

Worin dieſe heilige Ueberzeugung eigentlich beſtehe? das wußte freilich von den jungen Schwärmern Niemand zu ſagen. Am wenigſten vielleicht der Turnvater ſelber. Nichts lächerlicher als der Vorwurf ge - heimer Verſchwörungskünſte gegen ihn, der ſich nur wohl fühlte wo ge - ſchrien und gepoltert ward. Jahns Königstreue ſtand außer jedem Zweifel; wie oft hat er noch in ſpäteren Jahren ſeine jungen Freunde belehrt, daß alles Heil Deutſchlands nur von Preußen kommen könne. Sein Traum blieb die Einheit des Vaterlandes. Er fühlte, und ſprach es oft in kräftigen Worten aus, daß ein Coalitionskrieg mit verkümmertem Erfolge nicht ge - nügte um den ſchlummernden Nationalſtolz zu wecken: Deutſchland braucht einen Krieg auf eigene Fauſt um ſich in ganzer Fülle ſeiner Volksthümlichkeit zu entfalten. In ſeinen Runenblättern (1814) ſchil - derte er, noch nachdrücklicher aber auch noch wunderlicher als einſt in ſeinem Deutſchen Volksthum, wie die Seele des Volkes in der Kleinſtaaterei verkümmert: Das Vaterland muß Hochgefühle wecken, Hochgedanken er - zeugen, ein Heiligthum ſein und Heldenthum werden. Erbärmlichkeit iſt das Grab alles Großen und Guten. Rhein und Rinnſtein, Berlin und Berlinchen, Wien und Winzig, Leipzig und Lauſig. Er hoffte wie Fichte auf einen Zwingherrn zur Deutſchheit: den Waltſchöpfer und Einheits - ſchaffer verehrt jedes Volk als Heiland und hat Vergebung für alle ſeine Sünden. Doch über die Formen und die Mittel der deutſchen Einheit hatte er niemals irgend nachgedacht; ihm galt es gleich, ob das Kaiſer - thum einem Hauſe erblich übertragen würde oder zwiſchen den deutſchen Fürſten reihum ginge wie die Braugerechtigkeit in manchen Städten .

Vor der Maſſe ſeiner Turner ſprach er ſelten über Politik, und manche ſtrengconſervative junge Männer, wie die Gebrüder Ranke nahmen an den Uebungen theil ohne irgend ein Aergerniß zu bemerken. Um ſo ſchwerer verſündigte ſich Jahn durch unnütze Reden im Kreiſe ſeiner ver - trauten Genoſſen: da ſchimpfte er unbändig auf Menſchen und Dinge, welche weit über ſeinen Geſichtskreis hinausragten, da prunkte er mit nahenden Kämpfen gegen unbekannte Feinde. Was ſollte ſich der junge392II. 7. Die Burſchenſchaft.Heißſporn Heinrich Leo dabei denken, wenn ihn der Turnvater ausführ - lich belehrte: mit dem Dolche müſſe man zuerſt nach den Augen zielen und dann, wenn das Opfer die Arme vor den Kopf halte, nach der unge - deckten Bruſt ſtoßen ? Franz Lieber aber, der geiſtvollſte und aufge - regteſte unter den jungen Schwarmgeiſtern, trug alle Goldſprüchlein aus Vater Jahns Munde gewiſſenhaft in ſein Taſchenbuch ein und ver - ſchönerte ſie zuweilen noch durch die Weisheit ſeines eigenen achtzehnjäh - rigen Kopfes; wenn der Meiſter die gewichtigen Worte ſprach: Wort gegen Wort, Feder gegen Feder, Dolch gegen Dolch ſo fügte der Schüler auf eigene Fauſt den Schluß hinzu: nehmen ſie mich feſt, wohlan! und das ſinnloſe Bramarbaſiren klang wie das Loſungswort einer Ver - ſchwörung. Mit der Vertreibung der Franzoſen war Jahns politiſcher Gedankenvorrath erſchöpft; die öffentlichen Vorleſungen über das Deutſch - thum, die er im Jahre 1817 hielt, brachten außer einzelnen guten Ein - fällen nur noch hohle Schlagworte. Am Liebſten wollte er zwiſchen Deutſch - land und Frankreich eine große Hamme einrichten, eine von Bären und Auerochſen bewohnte Wildniß; da dies leider nicht mehr anging, ſo mußte mindeſtens jeder Verkehr mit den Wälſchen aufhören: wer ſeine Tochter franzöſiſch lernen läßt thut nichts Beſſeres als wer ſie die Hurerei lehrt. Dazwiſchenhinein heftige Angriffe auf die geheime Rechtspflege der Schmier - gerichte mit ihrem Förſchlerverfahren , und ein ganzes Wörterbuch von Schimpfreden wider die Hofleute und Staatsmänner, dieſe Vorgemachs - haſen, Steigemänner, Schürzenkrebſe, Kuppelpelze, Wettergänſe. Zum Schluß rief er: Gott ſegne den König, mehre die Deutſchheit und ver - leihe gnädig und bald das Eine was noth thut, eine weiſe Verfaſſung.

Was er ſich unter der weiſen Verfaſſung dachte, blieb ihm ſelber dunkel. Das junge Volk aber ſäumte nicht, im thörichten Abſprechen über unverſtandene Fragen den Meiſter noch zu überbieten. Der Cynismus der Turnerei, ihr Haß gegen allen Glanz und allen Adel wurzelte freilich in unausrottbaren Eigenheiten des deutſchen Charakters; die Sehnſucht nach der formloſen Einfachheit urſprünglichen Menſchenlebens war unſerem Volke immer geblieben und hatte ſich ſchon oft, ſobald das germaniſche Blut in Wallung gerieth, in ungeſtümer Roheit Luft gemacht, ſo in den grobianiſchen Schriften des ſechzehnten Jahrhunderts und neuerdings wieder in der Zeit der poetiſchen Stürmer und Dränger. Doch auch der politiſche Gleichheitsfanatismus der verabſcheuten Jakobiner wirkte unbewußt auf die Gedanken der Turner ein. Wenn Buri’s Turnruf die Eitlen vom Ringplatze hinwegwies mit den Worten: fort aus der Gleichheit Heilig - thum, das Knecht und Herren haßt, ſo konnte es nicht ausbleiben, daß junge Hitzköpfe dies Evangelium der Gleichheit kurzerhand auf das politiſche Leben übertrugen. Waidliche Scheltworte wider die Schmarotzer, Komö - dianten, Huren, Pferde und Hunde der praſſenden Höfe gehörten zum Turnerbrauche, und in den Schulſtuben vergnügte man ſich an einer393Der Breslauer Turnſtreit.Rechenaufgabe, die ein geſinnungstüchtiger teutoniſcher Lehrer aufgebracht hatte: wenn ein fürſtlicher Hof zwei Millionen Thaler koſtet, wie viel koſten dreiunddreißig? Manche der ſchönen Lieder des Befreiungskrieges erhielten jetzt im Frieden einen anderen Sinn; der Volkszorn, den ſie aufriefen, wendete ſich, nun der fremde Zwingherr geſtürzt war, unwillkürlich wider die heimiſchen Feinde; und bald tauchten neue Geſänge auf, welche offen den Kampf der freien Turnerſchaft gegen die Kronen verherrlichten:

Noch ficht mit der Wahrheit gekrönter Wahn,
Noch kämpft mit dem Teufel die Tugend
Der Freiheit Wiege, dein Sarg, Drängerei,
Wird gezimmert aus dem Baume der Turnerei!

So ward der lautere Enthuſiasmus der Jugend für die Einheit des Vaterlandes nach und nach durch radicale Phraſen getrübt. Für die bürgerliche Ordnung ſtand von ſolchem Wortſchwall wenig zu fürchten; aber die Rechtſchaffenheit des heranwachſenden Geſchlechts ward gefährdet, wenn das junge Volk alſo in hochmüthigen Drohungen zu ſchwelgen be - gann und ganz verlernte, daß Worte einen Sinn haben.

Den ſtreng militäriſchen Anſchauungen des Königs war die Roheit der Turner von Haus aus verhaßt. Hardenberg dagegen, dankbar und wohlwollend wie er war, vergaß der Verdienſte nicht, die ſich Jahn in der Zeit der geheimen Rüſtungen erworben hatte, und behandelte ſeine Schrullen mit großer Nachſicht. Eine freundliche Verwarnung konnte er ihm freilich nicht erſparen, als ein Hausvater, der ſeine Tochter fran - zöſiſch lernen ließ, ſich über Jahns Schmähungen beſchwerte. Die Wie - derholung jener öffentlichen Vorleſungen wurde unterſagt; im Uebrigen blieb Jahn unbeläſtigt und bezog Gehalt aus der Staatskaſſe. Auch Altenſtein erkannte den Nutzen der Turnübungen unbefangen an und be - ſchäftigte ſich mit dem Plane ihrer Einführung in die Schulen. Beide Staatsmänner waren bereit, dem Turnvater eine Verſorgung, etwa als Landwirth, zu verſchaffen; nur für das akademiſche Amt eines Lektors der deutſchen Sprache, das er ſich wünſchte, fanden ſie ihn nicht befähigt. *)Hardenberg an Altenſtein, 8. Dec. 1817. Altenſteins Antwort, 19. Jan. 1818.

Der erſte ernſte Angriff auf die Turnerſchaft ging von literariſchen Kreiſen aus. Nach dem Berliner Vorbilde wurden zuerſt in Breslau, dann in vielen anderen Städten Turnplätze eingerichtet; Jahns Buch über die deutſche Turnkunſt, das er mit ſeinem Schüler Eiſelen herausgab, diente beim Unterricht überall als Leitfaden. Da erhob Steffens ſeine warnende Stimme gegen die Ausartung der Turnerei, zuerſt 1817 in dem Buche: die gegenwärtige Zeit und wie ſie geworden , nachher in den Caricaturen des Heiligſten und anderen Schriften, und nun begann unter allgemeiner Theilnahme der große Breslauer Turnſtreit, einer jener mehr literari - ſchen als politiſchen Kämpfe, in denen ſich die patriotiſche Leidenſchaft394II. 7. Die Burſchenſchaft.dieſer Uebergangszeit zu entladen pflegte. Steffens urtheilte über die fratzenhaften Unarten der Turner allzu hart; ſeine feine äſthetiſche Natur verkannte, wie ſelten ein echter Germane ohne ein vollgerütteltes Maß jugendlicher Roheit zu männlicher Kraft und Haltung gelangt; auch fehlte ihm der behagliche Humor, der doch nöthig war um den ehrenwerthen Kern hinter Jahns Wunderlichkeit herauszufinden. Aber das ſchwere ſittliche Gebrechen der Turnplätze, den heilloſen Hochmuth des jungen Geſchlechts erkannte er richtig, und die ehrliche Geſinnung des feurigen Redners, der im Frühjahr 1813 die Breslauer Jugend durch Wort und Beiſpiel begeiſtert hatte, ließ ſich nicht in Abrede ſtellen. Wackere Männer ſtanden hüben und drüben, Freunde und Brüder gingen im Zorne aus - einander. Karl v. Raumer trennte ſich von ſeinem Schwager und Waffen - gefährten Steffens; ſein Bruder Friedrich und deſſen Fachgenoſſe der Hiſtoriker Karl Adolf Menzel hielten die Partei des Anklägers. Unter den Vertheidigern der Turnplätze that ſich außer dem Pädagogen Harniſch namentlich Paſſow hervor, der gelehrte Lexikograph. Seine freimüthige aber auch ſehr leidenſchaftliche Schrift Turnziel ſtellte der Turnkunſt gradeswegs die Aufgabe der allmählichen Entwicklung zu den höchſten Zielen der Menſchheit ; dies ſei ein edlerer Zweck als die Ausbildung von Söldnern und Miethlingen für die Blutbank der Willkür . Wenn die Alten mit ſo feierlichem Ernſt von der culturfördernden Macht des Recks und des Barrens redeten, dann konnte die Jugend allerdings nicht mehr bezweifeln, daß ſich die Welt um ſie drehe.

Durch Steffens Auftreten wurden einige ängſtliche Leute in Berlin, welche ſchon längſt unheimliche demagogiſche Zwecke hinter der Turnerei gewittert hatten, zu neuen Angriffen ermuthigt: der Oberlehrer Wadzeck, der Schriftſteller Scheerer und nicht zuletzt der berüchtigte Cölln, deſſen Schmähſchrift die Feuerbrände noch von den Zeiten des Tilſiter Friedens her in üblem Andenken ſtand. Die Gehäſſigkeit ſolcher Denunciationen vergiftete nun vollends den unbefangenen Sinn der Jugend. Jahn polterte wider dieſe vielköpfige Otter, dies Gezücht, das ſich mit Recht Schriftſteller nennt, weil es wirklich Anderer Schriften nachſtellt . Seine Jungen ſangen ein Trutzlied mit dem eleganten Wortſpiele nicht zecken und nicht ſcheeren ſoll uns ein fauler Bauch und nannten die Holz - köpfe, die ſie auf der Haſenhaide mit dem Ger herunterſchoſſen, Wadzecks. Eine krankhafte, völlig zielloſe politiſche Aufregung nahm auf den Turn - plätzen mehr und mehr überhand. Mit Bedauern ſah Altenſtein dieſe Wendung. Er wußte, daß der Unwille des Königs täglich zunahm, und ſchrieb dem Staatskanzler beſorgt: wenn ſchon das Turnen ſo mißbraucht und ſo falſch aufgefaßt wird, ſo verliert man die Hoffnung auf Größeres, auf die Verfaſſung u. A. *)Jahn an Schuckmann, Nov. 1819. Altenſtein an Hardenberg, 15. Sept. 1818.So lange als möglich bewahrte er ſeine395Thüringen.wohlwollende Haltung; erſt als das lärmende Treiben der akademiſchen Jugend die Reaktion entfeſſelt hatte, brach die Verfolgung auch über die Turnplätze herein.

Die Turnerei ging von Berlin aus, die Wiege der Burſchenſchaft ſtand in Thüringen. Und wo hätte auch dieſer romantiſche Studenten - ſtaat ſo zuverſichtlich, ſo ſelbſtgefällig, ſo ganz unbekümmert um die harten Thatſachen der Wirklichkeit ſein naives Traumleben führen können, wie hier inmitten der gemüthlichen Anarchie eines patriarchaliſchen Völkchens, das den Ernſt des Staates nie gekannt hatte? Unter allen den Unheils - mächten, welche unſerem Volke den Weg zur ſtaatlichen Größe erſchwerten, ſteht die durchaus unpolitiſche Geſchichte dieſer Mitte Deutſchlands viel - leicht obenan. Faſt alle anderen deutſchen Stämme nahmen doch irgend einmal einen Anlauf nach dem Ziele politiſcher Macht, die Thüringer niemals. Unſere Cultur verdankt ihnen unſäglich viel, unſer Staat gar nichts. Schon in den älteſten Zeiten vermochten ſie nicht ſich ein eigenes Stammesherzogthum zu ſchaffen. Späterhin unter der Herrſchaft ſeiner Landgrafen errang ſich Thüringen zum erſten male einen glänzenden Platz in dem geiſtigen Leben der Nation, nicht durch die Fülle ſeiner eigenen Talente, ſondern durch eine weitherzige, verſtändnißvolle Gaſt - freundſchaft, wie ſie der centralen Lage des Landes entſprach. Frau Aventiure hielt auf der Wartburg ihren heiteren Hof, und die ritterlichen Sänger aus allen Gauen des Reichs warben mit dem Wohllaut ihrer Reime um die Gunſt Hermanns des Milden. Aber an den großen Machtkämpfen jener ſtaufiſchen Zeiten nahm das liederfrohe Land nur geringen Antheil. Auch als nachher die Wettiner die Herrſchaft antraten, blieb Thüringen immer ein Nebenland; der ſächſiſche Rautenkranz ver - drängte den alten geſtreiften Landgrafenlöwen. Der politiſche Schwerpunkt der wettiniſchen Hausmacht lag in der Mark Meißen, im Kurkreiſe und im Oſterlande, und nicht lange, ſo ward der aufblühende mitteldeutſche Staat wieder zerſtört durch jene verhängnißvolle Theilung, welcher die ſelbſtmör - deriſchen Bruderkämpfe der Erneſtiner und der Albertiner entſprangen.

Zum zweiten male ſtieg ein lichter Tag geiſtigen Ruhmes über Thüringens Bergen empor, als der größte Sohn des Landes unter dem Schutze ſeiner frommen Fürſten den Kampf für das Evangelium begann und die Burg des ritterlichen Minneſanges die Geburtsſtätte der deut - ſchen Bibel wurde. Doch eben dieſe reiche Zeit entſchied auch den poli - tiſchen Verfall des Landes. Die deutſche Geſchichte kennt nur wenige ſo tragiſche Schickſalswechſel wie den jähen Zuſammenbruch der Erneſtini - ſchen Macht; kein anderes unſerer fürſtlichen Geſchlechter hat die Verſäum - niß großer Stunden ſo bitter, und die alte Wahrheit, daß die politiſche Welt dem kühnen Wollen gehört, ſo ſchmerzlich empfinden müſſen. Als Kaiſer396II. 7. Die Burſchenſchaft.Max die Augen ſchloß, war Kurfürſt Friedrich der Weiſe das Haupt unſeres Fürſtenſtandes, der Führer der Reformpartei im Reiche, und es lag in ſeiner Hand, der Nation ein deutſches, ein evangeliſches Kaiſer - thum zu ſchaffen; er aber wies die Krone zurück, denn die Raben wollen einen Geier haben . Seinen beiden Nachfolgern bot eine ſeltene Gunſt des Glückes wieder und wieder die Gelegenheit das Verſäumte nachzu - holen. Auf jedem Reichstage blickte das Volk erwartungsvoll nach dem Pfauenfederhelmbuſch der Erneſtiner. Bei dem Proteſt von Speyer, bei der Uebergabe der Augsburger Confeſſion, überall wo es nur gilt ein Zeugniß abzulegen für das Wort Gottes, da ſtehen ſie wohl auf dem Plan und bewähren ihren ehrenfeſten Wahlſpruch: gradaus giebt einen guten Renner. In ihrem Lande bildet ſich die erſte evangeliſche Landes - kirche, unzertrennlich verwächſt ihr Name mit allen großen Erinnerungen des Proteſtantismus. Doch über die paſſiven Tugenden der Standhaf - tigkeit und Treue reicht ihre Begabung nicht hinaus. Der einzige Ent - ſchluß, der retten kann, der Entſchluß zum offenen Kampfe wider die ſpaniſche Fremdherrſchaft wird in gewiſſenhafter Bedachtſamkeit und träger Thatenſcheu verſchoben und verſchoben, bis endlich die beiſpielloſe poli - tiſche Unfähigkeit des phlegmatiſchen Zauderers Johann Friedrich der über - legenen Staatskunſt der Habsburger und der Albertiniſchen Vettern kläg - lich erliegt.

Kaum ein Menſchenalter nach jener kleinmüthigen Entſagung Kur - fürſt Friedrichs bekommen ſeine Enkel ſelber die ſcharfen Fänge des his - paniſchen Geiers zu ſpüren; der Kurhut mitſammt den alten wettiniſchen Stammlanden geht an die Albertiner verloren, und die Vormacht der deut - ſchen Proteſtanten trägt aus dem ſchmalkaldiſchen Kriege ſtatt der Lorbeeren des Helden nur die Märtyrerkrone des Bekenners davon. Ein unheim - licher Anblick, wie die gedemüthigte glorreiche Dynaſtie nunmehr, nach einem ſchwächlichen Verſuche der Wiedererhebung, ſich ſo gelaſſen in die neuen kümmerlichen Verhältniſſe findet und, jedes politiſchen Gedankens baar, ganz befangen in kleinbürgerlichen Hausvaterſorgen, die geretteten Trümmer ihrer alten Macht durch eine endloſe Reihe von Theilungen und Mutſchirungen ſo lange zerſtückelt, bis ſie ſchließlich auf die unterſte Stufe des deutſchen Fürſtenſtandes hinabſinkt. Auch die in Thüringen abge - fundenen Nebenlinien der Albertiner verfallen der gleichen Verblendung. Immer neue Linien entſtehen und verſchwinden wieder, die thüringiſchen Lande ſind in ewiger Bewegung wie die walzenden Grundſtücke einer Dorfflur; in anderthalb Jahrhunderten wechſelt die Herrſchaft Römhild fünfmal ihren Herrn, mit jeder neuen Theilung verwirren und verfitzen ſich die Grenzen, in Ruhla ſcheidet ein Bach mitten in der Dorfſtraße weimariſches und gothaiſches Gebiet, und der Jenenſer Student kann auf einer kurzen Nachmittagswanderung leicht mit der Polizei von drei oder vier Landesherren in Händel gerathen.

397Die Erneſtiner.

So ward Thüringen neben Schwaben das gelobte Land des deut - ſchen Kleinlebens. Als der moderne Staatsgedanke endlich auch in dieſen Hausherrſchaften erwachte, als Ernſt Auguſt von Weimar die Primo - genitur-Ordnung einführte und die Erneſtiniſchen Vettern allmählich, Mei - ningen erſt im Jahre 1801, dem guten Beiſpiele folgten, da war die Zertrümmerung ſchon vollendet, und die Kleinſtaaterei zeigte ſich hier lebenskräftiger als im Südweſten, weil ſie ausſchließlich in den Formen weltlicher Fürſtenherrſchaft erſchien. Zur Zeit des Friedensſchluſſes ver - theilten ſich die 700,000 Menſchen, welche das kleinfürſtliche Thüringen mit Ausſchluß der preußiſchen und heſſiſchen Gebiete bewohnten, unter fünf ſächſiſche Häuſer, zwei Schwarzburg und drei Linien Reuß, von denen die Bundesakte leider nur zwei anerkannte. Und dieſe neun oder zehn Staaten ſtanden einander als ſouveräne Mächte, völlig ſelbſtändig gegenüber; an gemeinſamen Inſtitutionen beſaßen ſie nichts als die Uni - verſität, die von den fünf ſächſiſchen durchlauchtigſten Nutritoren unter - halten wurde, und das neue Jenenſer Oberappellationsgericht. Dem Volke kam wohl zuweilen eine Ahnung von der Jämmerlichkeit dieſer Zuſtände. In der Gegend von Roth, zwei Stunden von Hildburghauſen, ſang man das Lied:

Hildburghäuſer Gebot
Langt bis Roth;
Da hat’s a Krümm
Und kehrt wieder üm.

Im Grunde fühlte man ſich doch glücklich in dieſer traulichen Enge, wo Fürſtengnade und Vetterngunſt jedem halbwegs brauchbaren Menſchen den Lebensweg ſo behaglich ebneten; die häusliche Tugend der wackeren Erneſtiniſchen Betefürſten ſtand dem Volke näher als die dämoniſche Ge - ſtalt jenes Bernhard von Weimar, der einmal doch mit dem Schmettern ſeines Schwertes die eintönige Idylle dieſer Landesgeſchichte unterbrach. Niemals, auch nicht in der Fieberhitze des Jahres 1848, haben die Thü - ringer ernſtlich an die Mediatiſirung ihrer kleinen Herren gedacht.

Wie überall in Mitteldeutſchland drängte ſich auch hier eine bunte Mannichfaltigkeit volksthümlicher Sitten und Bräuche auf engem Raume zuſammen. Der einſame Rennſteg auf dem Kamme des Thüringer Waldes, vor Zeiten der Grenzweg zwiſchen Thüringen und Franken, bildete noch immer eine ſcharfe Stammesſcheide: ſüdwärts der ſtark fränkiſch gefärbte hennebergiſche Dialekt und das rein ſüddeutſche Volk im Coburgiſchen, nördlich das eigentliche Thüringen zwiſchen Saale und Werra, und von dieſem wieder verſchieden das mit ſlaviſchen Elementen gemiſchte Volksthum öſtlich der Saale. Auch in den neuen, ſo ſpät und zufällig entſtandenen dynaſtiſchen Gebieten bildete ſich bald ein zäher Partikularismus aus, harmlos und philiſterhaft, doch immerhin ſtark genug um jede Aenderung zu erſchweren. Alle guten Meininger398II. 7. Die Burſchenſchaft.fühlten ſich beglückt, als ihr händelſüchtiger Herzog Anton Ulrich, um den Vettern in Weimar und Gotha das erhoffte Erbe zu entziehen, noch in ſeinen ſechziger Jahren eine zweite Ehe ſchloß und dann aus eitel Bosheit noch acht Kinder erzeugte. Gotha und Altenburg, lange unter einem Herzogshute vereinigt, behaupteten ſich unerſchütterlich als zwei ſelbſtändige Staaten, erkannten nicht einmal gegenſeitig ihre Münzen an; und nur der Willenskraft Karl Auguſts gelang es nach ſchweren Kämpfen die drei Fürſtenthümer Weimar, Jena und Eiſenach zu einem Geſammt - ſtaate zu vereinigen. Die natürliche Hauptſtadt des Landes, Erfurt, hatte unter der Herrſchaft des Mainzer Krummſtabs immer eine Sonder - ſtellung in ihrer proteſtantiſchen Umgebung eingenommen und führte nachher, ſeit dem Untergange ihrer Univerſität das ſtille Daſein einer Feſtungs - und Beamtenſtadt.

So rieſelte das politiſche und geiſtige Leben in dünnen Bächlein zertheilt dahin. Unter den größeren Städten fand ſich faſt keine, die nicht einmal einem fürſtlichen Hauſe zum Wohnſitz gedient hätte; aber keine dieſer winzigen Reſidenzen kam aus der Dürftigkeit lakaienhafter Kleinſtädterei hinaus. Ueberall die Anſätze eines reicheren geiſtigen Schaffens, kleine Sammlungen und gemeinnützige Anſtalten, ſieben öffent - liche Bibliotheken nahe bei einander, nirgends etwas Ganzes und Großes. Das Land war mit Schlöſſern, Parks und Wildgehegen überſäet wie kein anderer Gau im ſchlöſſerreichen Deutſchland. Manche dieſer Fürſten - ſitze blieben dem Volke durch bedeutſame Erinnerungen theuer, ſo die Wartburg und der vielumkämpfte Friedenſtein, ſo Altenburg, die Stätte des Prinzenraubes, ſo die Feſte Coburg, wo Luther ſein Aſyl gefunden, und die Fröhliche Wiederkunft, wo Johann Friedrich beim edlen Waidwerk ſich von den Aengſten der ſpaniſchen Haft erholt hatte. Viele andere aber erzählten nur von den poſſirlichen Schrullen eines unbeſchäftigten Klein - fürſtenſtandes, der mit ſeiner Zeit und Kraft nichts anzufangen wußte: hier hatte einer der Schwarzburgiſchen Günther ſeiner Gemahlin zum Poſſen in den Waldbergen der Hainleite das Jagdſchloß der Poſſen erbaut, dort Chriſtian von Weißenfels zur Verewigung ſeiner Cäſaren - größe ſein eigenes Conterfei erſt dreimal in rieſigen Reliefs an den rothen Felsmauern der Weinberge des Unſtrutthals, umgeben von Vater Noah und herbſtenden Winzern, dann noch einmal als vergoldetes Reiterſtandbild auf dem Freiburger Markte aushauen laſſen.

Unterthänige Federn nannten das anmuthige Land einen von Fürſten - händen gepflegten Garten Gottes; in Wahrheit blieb die treufleißige Sorgſamkeit der kleinen Landesväter bis tief in das achtzehnte Jahr - hundert hinein ſehr unfruchtbar. Die Geiſter verknöcherten unter der langjährigen Herrſchaft des harten Lutherthums. Einzelne Fürſten, wie Ernſt der Fromme von Gotha, verſtanden wohl ein kräftiges kirchliches Leben zu wecken, den meiſten war die Theologie nur ein geiſtloſer Zeit -399Thüringiſche Kleinſtaaterei.vertreib; glücklich der Hof, der unter ſeinen Prinzen einen durch - lauchtigen achtjährigen Prediger , wie Wilhelm Ernſt von Weimar, auf - weiſen konnte. Späterhin drangen mit der weltlichen Bildung auch viele Sünden des höfiſchen Abſolutismus ein. Grobe Sittenloſigkeit war unter den ehrbaren Erneſtinern ſelten, aber die Soldatenſpielerei und der Menſchenverkauf nahmen arg überhand, und der allwiſſende Bevormundungseifer der neuen fürſtlichen Vollgewalt verſtieg ſich in dieſer kleinen Welt oft bis zum Aberwitz. Noch im fridericianiſchen Zeit - alter erfand Ernſt Auguſt von Weimar die berühmten mit kabbaliſtiſchen Zeichen bemalten Feuerteller, welche in die Flammen geworfen jeden Brand ſofort erſticken ſollten, und zwang alle ſeine Gemeinden zur An - ſchaffung dieſes Löſchgeräths.

Erſt durch Karl Auguſt kam wieder ein freierer Zug in das thürin - giſche Leben. Zum dritten male ward die Mitte Deutſchlands der warme Heerd unſerer nationalen Cultur. Wieder wie in den Tagen Hermanns des Milden rief eine hochherzige Gaſtfreundſchaft die Helden deutſcher Dichtkunſt aus Nord und Süd herbei, und herrlicher als einſt der Ruhm der Wartburg leuchtete jetzt der Name der kleinen Stadt an der Ilm:

O Weimar, dir fiel ein beſonder Loos,
Wie Bethlehem in Juda klein und groß!

Und es war wirklich vortheilhaft, den Genius bewirthen , wie Goethe ſeinem fürſtlichen Freunde geſagt. Denn obwohl die großen Gäſte Thü - ringens der ganzen Nation angehörten und in ihrer kleinen Umgebung niemals völlig heimiſch wurden, ſo ließen ſie doch der Landſchaft, die ſie ſo traulich aufgenommen, das Gaſtgeſchenk des Genius zurück. In der kurzen Blüthezeit der Univerſität Jena wuchs eine neue Generation von tüchtigen Lehrern und Beamten auf. Die meiſten der kleinen Höfe und ein großer Theil des Adels ſuchten nach dem Maße ihrer Kräfte mit der jungen Literatur Schritt zu halten; wie oft iſt Goethe zu dem gothaiſchen Miniſter Frankenberg hinübergefahren um ſich in der guten Schmiede zu Siebeleben an geiſtreicher Geſelligkeit zu erfreuen. In Gotha lehrten zur Zeit des Wiener Congreſſes Döring, Roſt und Wüſtemann am Gym - naſium, Stieler begann ſeine kartographiſchen Arbeiten und bald nach - her ſchlug Perthes dort ſeine große Buchhandlung auf. Auch dem An - ſehen des Erneſtiniſchen Hauſes in der Welt brachte die Wirkſamkeit des großen menſchlichen Fürſten, wie Humboldt ihn nannte, bleibenden Ge - winn; die halbvergeſſene ruhmreiche Dynaſtie gewann ſich von Neuem die dankbare Liebe der Nation und ſühnte in der edelſten Weiſe die noch immer nicht verſchmerzten Schläge des ſchmalkaldiſchen Krieges.

Die unausrottbaren Gebrechen der Kleinſtaaterei konnten freilich durch den literariſchen Ruhm nicht geheilt werden. Ueber die altſtändiſchen Verfaſſungen dieſer kleinen Territorien gingen die Stürme der napoleo - niſchen Kriege ſpurlos dahin; ſelbſt Herzog Auguſt von Gotha, der ein -400II. 7. Die Burſchenſchaft.gefleiſchte Bonapartiſt, wagte ſeine Herren Stände nicht anzutaſten. Der Adel war von dem Bürgerthum durch Kaſtenſtolz und mannichfache Pri - vilegien ſcharf getrennt, obwohl er ſich weder durch reichen Beſitz noch durch hiſtoriſchen Ruhm auszeichnete. Im Gothaiſchen Landtage ſpielten die beiden Bürgermeiſter eine traurige Rolle neben der ſtolzen Grafencurie, die aus dem einen Vertreter des Hohenlohiſchen Hauſes beſtand, und der dichten Schaar der Ritterſchaft: wer einen Antheil an einem Ritterlehen beſaß war Landſtand, ſo daß einſt zweiundzwanzig Wangenheime auf ein - mal erſchienen. Auch der ſprichwörtliche Jammer des thüringiſchen Heer - weſens war unverändert geblieben. Noch erzählte ſich das Volk gern von den Schrecken des Waſunger Kriegs: wie damals die Gothaer und die Meininger in dem thüringiſchen Abdera Waſungen feindlich auf einander geſtoßen und beide Kriegsheere mehr vorſichtig als heldenmüthig von dem wichtigen Platze wieder abgezogen waren. Aber auch in den ernſten Kriegen der jüngſten Zeit hatte ſich die Hilfloſigkeit dieſer Kleinſtaaterei ebenſo tragikomiſch gezeigt. Im ſiebenjährigen Kriege ſtellte der Herzog von Gotha einige Bataillone gegen engliſche Subſidien in das Heer Ferdinands von Braunſchweig, während ſein Reichscontingent gegen Preußen focht; im Jahr 1813 ſtand ein Theil der Weimariſchen Truppen beim Yorkſchen Corps, ein anderer unter Napoleons Fahnen. Durch das Machtgebot des Imperators war endlich einige Ordnung in das Gewirr dieſer win - zigen Contingente gekommen; mehrere der allerkleinſten hatte er, ohne alle Ehrerbietung für den Unterſchied des Rudolſtädter und des Sondershäuſener Nationalcharakters, in einem anonymen Bataillon des Princes untergeſteckt. Nach dem Kriege aber wurde der größte Theil der Truppen zur Freude des Volks wieder entlaſſen. Für den Schutz des Landes mochte Preußen ſorgen. Die friedfertigen Thüringer erfreuten ſich lieber an dem herr - lichen Anblick der gothaiſchen Gardereiter, die mit breiten Schlachtſchwertern, mit hohen Reiterſtiefeln und klirrenden Sporen einherſtolzirten; es waren biedere Handwerker, die gegen billigen Tagelohn das Waffenhandwerk als Reihedienſt beſorgten und bei der Ablöſung die Uniformen der Abmar - ſchirenden anzogen; Pferde waren dieſer Reiterei ebenſo unbekannt wie den gleich prächtigen weimariſchen Huſaren. Zum Ueberfluß beſaß Gotha eine Feſtung auf dem Gipfel des einen der Drei Gleichen; drohend blickten die vier Feuerſchlünde der Wachſenburg nach den beiden anderen Gleichen hinüber, welche ihr neuer Landesherr, der König von Preußen, leicht - ſinnigerweiſe unbefeſtigt ließ.

Auch für die Förderung des Verkehrs reichten die dürftigen Mittel nirgends aus, da der Ertrag des reichen Kammerguts großentheils für den Unterhalt der Höfe verwendet wurde. Alle Welt lachte über den ſcheußlichen Zuſtand der gothaiſchen Landſtraßen, Niemand herzlicher als die preußiſchen Zollbeamten bei Langenſalza; denn regelmäßig pflegten die Frachtwagen dicht vor dem preußiſchen Schlagbaum in dem berüchtigten401Thüringiſche Gemüthlichkeit.Henningslebener Loche ſtecken zu bleiben oder umzuwerfen, alſo daß das Zollgeſchäft mit Sicherheit und Gemüthsruhe beſorgt werden konnte. Auf der Leipzig-Frankfurter Straße erhob der weimariſche Geleitsreiter uner - bittlich das Geleitsgeld, obgleich die Fuhrleute ſeit unvordenklicher Zeit nicht mehr von geharniſchten Reiſigen begleitet wurden. Die mit grund - herrlichen Gefällen ſtark belaſteten Bauern führten ihre Wirthſchaft noch ganz nach der Urväter Weiſe; nur des heiligen Reiches Gärtner, die Er - furter, behaupteten den alten Ruhm ihrer kunſtvollen Blumenzucht. Ueberall trieb der Gemeindehirt noch das geſammte Vieh des Dorfes, Pferde, Rinder, Ziegen und Gänſe bunt durch einander, auf die unver - theilte Gemeinheit. Der Gewerbfleiß arbeitete ausſchließlich. für den be - ſcheidenen Bedarf der nachbarlichen Kundſchaft; faſt allein die Strümpfe von Apolda und die Sonneberger Waaren, die niedlichen Spielſachen der Hausinduſtrie der Walddörfer, gelangten in den großen Weltverkehr. In harmloſer Fröhlichkeit, liederluſtig wie die Singvögel, die in keinem Hauſe droben auf dem Walde fehlen durften, unendlich genügſam trieben die kleinen Leute ihr beſcheidenes Tagewerk, zufrieden wenn ſie ſich dann und wann auf dem Tanzboden bei dünnem Bier oder ſauerem Naumburger Weine erholen konnten. Der gutmüthige Rationalismus, der in den ge - bildeten Ständen vorherrſchte und an dem Gothaer Superintendenten Bretſchneider einen gewandten Wortführer fand, ſtörte das Volk wenig in ſeinen naiven religiöſen Gefühlen; Bonifacius, der Apoſtel Thüringens war noch unvergeſſen, das Bild Luthers mit dem Schwane hing in un - zähligen Kirchen, einzelne abgelegene Gemeinden auf dem Walde hatten ſich auch noch die feierliche alte lutheriſche Liturgie mit ihren Chorknaben und weißen Prieſtergewändern bewahrt.

Von ſeinen Fürſten verlangte das Volk vor allem Leutſeligkeit. Wie fühlte man ſich geehrt, als der Meininger Herzog bei der Taufe ſeines Erbprinzen ſein ganzes Land zu Gevatter bat und dem Kleinen die ver - heißungsvollen Namen Bernhard Erich Freund beilegte; als aus dieſem Prinzen ein ſehr wackerer kleiner Landesherr geworden war, da pflegte er am Geburtstage ſeiner Gemahlin in den anmuthigen Gärten des Alten - ſteins ein Volksfeſt zu veranſtalten, wobei jeder Mann die Herzogin um einen Tanz bitten durfte. Dafür ertrug man auch in Demuth die Narrenſtreiche der Kleinſtaaterei. Im Jahre 1822 ſtarb der letzte regie - rungsfähige Sproß des Hauſes Gotha-Altenburg, und die Stammesvettern rüſteten ſich ſchon auf die neue Theilung. Da holte der Miniſter Lindenau plötzlich den unzweifelhaft blödſinnigen Prinzen Friedrich herbei und ließ ihm als Herzog huldigen, obgleich es ſchwer fiel den armen Kranken wäh - rend der feierlichen Handlung ruhig auf dem Throne feſtzuhalten. So wurde dem Reiche Gotha-Altenburg ſein Daſein noch um vier Jahre ver - längert; die Gothaer aber freuten ſich ihres blödſinnigen Landesvaters und mehr noch des Aergers der enttäuſchten Nachbarhöfe.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 26402II. 7. Die Burſchenſchaft.

An der lächerlichen Großmannsſucht ſeiner freundlichen Dynaſten nahm das kleinlebige Volk keinen Anſtoß. Im Gothaer Wappen prangten die Schilde von dreiundzwanzig Herzogthümern, Fürſtenthümern und Graf - ſchaften; die Schwarzburger führten ſogar den Doppeladler, noch von den Zeiten des Gegenkaiſers Günther her, und ließen ſelbſt die Warnungstafeln in dem herrlichen Wildpark des Schwarzathals mit blauen Lettern auf weißem Papier bedrucken, damit der Unterthan ſeiner Landesfarben nicht vergäße. Wie dort Alles blauweiß, ſo prangte in den Landen der Reußiſchen Fürſten Alles ſchwarzrothgelb. Auch dieſes kleine vogtländiſche Herrenge - ſchlecht hatte einſt auf den Höhen der Geſchichte geſtanden, als die beiden ge - waltigen Heinrich von Plauen, die finſteren Helden des Deutſchen Ordens, die Verzweiflungskämpfe gegen die Polen führten; in der langen Zeit ſeit - dem war ſein Daſein der Welt freilich nur ſelten bemerkbar geworden. Alle dieſe kleinen Dynaſten dünkten ſich im Vollgenuſſe der neuen Sou - veränität jedem Könige der Erde gleich; in Wahrheit blieb ihre Stellung unter den deutſchen Fürſten recht beſcheiden. Als einer von ihnen einſt ſeine Blicke zu der Tochter eines größeren Fürſtengeſchlechts zu erheben wagte, erbat er ſich erſt von König Friedrich Wilhelm den rothen Adlerorden, um am großherzoglichen Hofe einen günſtigeren Eindruck zu machen , und ließ ſodann durch General Leſtocq, den gemeinſamen Vertreter der kleinen Thüringer in Berlin einen kühn entworfenen diplomatiſchen Feld - zug beginnen; aber obwohl der Geſandte ſein Beſtes that, erlangte ſein junger Souverän ſchließlich doch nur den Orden, nicht die Hand der Prinzeſſin.*)Frankenbergs Berichte, Berlin 13. Nov. 1827 ff.

Seltſame Laune des Schickſals, daß grade Karl Auguſt in dieſe Welt der Kleinheit, wo alle Geſchichte ſich in Anekdoten auflöſte, verſchlagen wurde. Wie ſtürmiſch hatte es einſt in ihm gekocht und getobt, als er in früher Jugend ſchon die Herrſchaft antrat und nun ſogleich Goethe und Herder berief, die franzöſiſchen Formen des Hoflebens ſprengte, mit fridericianiſchem Eifer in die Rechtspflege, das Schulweſen, den Landbau fördernd eingriff, alle die Keime einer freieren Bildung, welche ſeine edle Mutter Anna Amalia in ihrer langen vormundſchaftlichen Regierung ge - legt, zur fröhlichen Entfaltung brachte und bei Alledem doch nicht ſeinen Frieden fand. Verwundert blickte das Volk auf den genialiſchen Ueber - muth des Weimariſchen Muſenhofes, und alle die Läſterzungen des deut - ſchen Parnaſſes, die ihre großen Genoſſen um das warme Neſt beneideten, wußten nicht genug zu erzählen von dem unſteten Treiben des jungen Herzogs, wie er bald auf wilden Gelagen und glänzenden Maskenfeſten die Nächte durchraſte, bald auf der Ettersburg vor den Laub-Couliſſen des Gartentheaters ſaß und den Dramen ſeines Freundes lauſchte, bald wieder hinausjagte in tollem Ritt über Gräben und Hecken oder mit den403Karl Auguſt von Weimar.Bauerdirnen auf der Dorfkirchweih mieſelte und dann wieder tagelang in der Borkenhütte ſeines Parks ſich vergrub, allein mit der unendlichen Sehnſucht ſeines Herzens. Was ihn damals ſo raſtlos umhertrieb war nicht blos die natürliche Ungeduld vollſaftiger Jugend, ſondern der unbe - friedigte Ehrgeiz eines thatenfrohen Geiſtes, dem das Schwerſte grade leicht genug ſchien, der die Unwahrheit einer Fürſtenwürde ohne Macht bitter empfand

und was ihm das Geſchick durch die Geburt geſchenkt,
mit Müh und Schweiß erſt zu erringen denkt.

Mit Hilfe Goethes und des guten Glücks hatte er dann doch gelernt ſich in ſein enges Schickſal zu fügen und im kleinſten Punkte die höchſte Kraft zu ſammeln.

Seit vierzig Jahren verehrte ihn die Nation als den menſchlich größten unter den Mäcenaten der neuen Geſchichte. Jene berechnende Klugheit kaufmänniſcher Dynaſtenpolitik, die bei der Kunſtliebe Lorenzos von Medici doch mitwirkte, war dem Erben des alten ſtolzen Erneſtiner - hauſes völlig fremd. Wenn er mit ſicherer Menſchenkenntniß aus den Talenten der deutſchen Literatur die beſten und größten um ſich verſam - melte, ſo leiteten ihn allein der lautere Idealismus eines unendlich em - pfänglichen Geiſtes, der das ganze Gebiet menſchlichen Erkennens und Bildens mit freudigem Verſtändniß umfaßte, und eine glühende Begeiſte - rung für den Ruhm der Nation. Sein Ehrgeiz war, wie er noch im Alter bei der Erneuerung ſeines Hausordens ausſprach, daß auf eine gründ - liche und des Ernſtes des deutſchen Nationalcharakters würdige Weiſe ſich Licht und Wahrheit verbreite . Sein lebendiges, durch ernſte Studien geſchultes Naturgefühl ſchätzte in der Kunſt nur das Naive, das Einfache, das Vaterländiſche; alle Myſtik, alle geſuchte Künſtelei war ihm verhaßt, und wenn ſie auch mit ſo prächtigen Gewändern auftrat wie in Schillers Braut von Meſſina. Aber niemals hätte er ſich vermeſſen den Genius zu gängeln; frei und unbekümmert ſollte die deutſche Kunſt ſich ihre Wege finden, ſo wie er ſelber durchs Leben ging, freimüthig, derb, form - los, kräftig in Allem, ſelbſt in den Verirrungen ſeiner ungebändigten Sinn - lichkeit, ein raſtlos ſtrebender Geiſt, der jeden mißlungenen Verſuch hoch - herzig vergaß um ſogleich wieder an ein neues Unternehmen zu ſchreiten. Nur eine ſo urſprüngliche Natur konnte ſich fünfzig Jahre lang neben Goethe in ſorgloſer Selbſtändigkeit behaupten. Er wußte wohl, was er dem Freunde dankte, wenngleich Augenblicke der Entfremdung kamen, und blickte bewundernd zu ihm auf; doch er fand es poſſirlich wie dieſer Menſch immer feierlicher wurde und ließ ſich durch das umſtändliche Weſen des Alternden in ſeiner eigenen fröhlichen Ungebundenheit nicht ſtören. Auf den erſten Blick mochte man den ſtämmigen Mann wohl für einen ſchlichten Jäger halten, wenn er in ſeiner alten grünen Pikeſche und der Soldatenmütze, die Cigarre im Munde, mit ſeinen Hunden durch26*404II. 7. Die Burſchenſchaft.den Park ſchritt; doch über der hohen Stirn, den großen Augen und den breiten Erneſtiniſchen Kinnladen lag ein eigenthümlicher Ausdruck ſelbſtbe - wußter Hoheit, und wer ihm näher trat fühlte bald, daß hier ein ge - borener Fürſt ſtand, der ſich durch eigene Kraft auf den Höhen der Menſch - heit behauptete. Als er im Alter ſich eine Zeit lang in Mailand auf - hielt, da erinnerte er die Italiener lebhaft an die großen Fürſtengeſtalten ihres Cinquecento und ſie nannten ihn il principe uomo.

Aber pflichtgetreuer als die Visconti und die Sforza wußte er mit der Luſt am Schönen den ſtillen Fleiß des ſorgſamen Landesherrn zu verbinden; kein Geſchäft der Verwaltung war ihm zu gering, und nie - mals hat ſein kleines Land unter dem Glanze des kunſtſinnigen Hofes gelitten. Es iſt ſeine hiſtoriſche Größe, daß er die vorherrſchende Rich - tung zweier Zeitalter, den literariſchen Idealismus des achtzehnten, den politiſchen des neunzehnten Jahrhunderts mit freiem Sinne erkannte und, wie Niemand ſonſt unter den Zeitgenoſſen, beiden gerecht zu werden ver - ſtand. Das Verſtändniß für den Staat hatten ihm ſchon in der Jugend ſeine Lehrer geweckt, erſt Graf Görtz, der eifrige diplomatiſche Gehilfe Friedrichs des Großen, dann Wieland, der einzige unter unſeren Claſſikern, der den Wendungen der Tagespolitik mit reger Theilnahme folgte; und mit derſelben glücklichen Sicherheit des Urtheils, die ihn die echten Helden deutſcher Kunſt erkennen ließ, wendete er ſich auch in der Politik dem Wahren, dem Lebendigen zu. Auf Preußen ſtanden alle ſeine Hoffnungen, als er ſeine kühnen Pläne für den Fürſtenbund ſchmiedete; mit Preußen dachte er im Jahre 1806 zu ſtehen oder zu fallen. Auf dem Rückzuge nach der Jenaer Schlacht ſagte er einmal, am Wachefeuer auf einer Trommel ſitzend, gelaſſen zu den Kameraden: Herzog von Weimar und Eiſenach wären wir nun einſtweilen geweſen. Erſt auf das ausdrück - liche Verlangen des Königs verließ er die Armee und ſchloß ſeinen Frieden mit dem Imperator. Jahre lang war er dann im Stillen thätig um den Befreiungskampf vorzubereiten.

Als er nun auf dem niederländiſchen Kriegsſchauplatz nochmals ſeine Kriegerpflicht erfüllt hatte und endlich tief verſtimmt von den Enttäu - ſchungen des Wiener Congreſſes heimkehrte, da erſchien ihm die Ausführung des Art. 13 als ein Gebot der Ehre und der Klugheit. Nicht als ob er eine Vorliebe für die neuen liberalen Theorien gehegt hätte. Die fran - zöſiſche Revolution ließ ihn von Haus aus kalt, weil die Unſittlichkeit dieſer Klaſſenkämpfe ſein geſundes Gefühl abſtieß: die Unterdrücker unterdrücken ihre alten Beherrſcher, nicht das mindeſte Moraliſche liegt dabei zu Grunde. Aber er verſtand die Zeit, er wußte, daß ſie der conſtitutionellen Formen nicht mehr entbehren konnte, und was konnte er, der die Furcht nie ge - kannt, von einem kleinen Landtage beſorgen? Wohl mochte er hoffen, durch ſein Beiſpiel einzelne Aengſtliche unter den kleinen Fürſten zu einem nothwendigen Entſchluſſe zu ermuthigen; doch nichts lag ſeinem klaren405Die Weimariſche Verfaſſung.Kopfe ferner als die Selbſtüberhebung der Kleinſtaaterei. Selbſt die Hul - digungen der erſten Dichter der Epoche hatten einſt ſeinen ruhigen Stolz nicht zur Eitelkeit verführt; wie ſollte er jetzt ſich bethören laſſen von den überſchwänglichen Lobſprüchen der liberalen Zeitungen, welche ſein Weimar als die Wiege deutſcher Kunſt und Freiheit zugleich feierten? Schlicht und recht, aus Pflichtgefühl und ehrlichem Vertrauen gewährte er ſeinem Völk - chen was er für unvermeidlich hielt.

In ſein Staatsminiſterium hatte er eine ganze Reihe tüchtiger Männer berufen, faſt zu viel Talente für den kleinen Staat. Da ſaß neben Goethes Stuhl, der ſchon ſeit Jahren leer blieb, des Dichters Freund, der alte Voigt, ein edler, fein gebildeter Mann, der gleich ſeinem Freunde die Fremdherrſchaft lange als eine unentrinnbare Nothwendigkeit betrachtet hatte, jetzt aber, glücklicher als jener, ſich hoffnungsvoll der neuen Frei - heit freute; dann Fritſch, ſchon der Dritte aus der langen Reihe treff - licher Geſchäftsmänner, welche dieſe Leipziger Juriſtenfamilie in den Dienſt der ſächſiſchen Häuſer ſtellte, auch er ein Stück Poet, wohl angeſehen in der literariſchen Welt; dann der neuberufene geiſtreiche Deutſch-Ruſſe Graf Edling; endlich der beſte politiſche Kopf unter Allen, der Lauſitzer Gersdorff, der ſchon auf dem Wiener Congreſſe immer an Humboldts Seite geſtanden hatte und dann während einer langen politiſchen Lauf - bahn keinen Augenblick irre ward an dem Glauben, daß Preußen die deutſche Nationalität wiedergeboren habe und der Grundſtein ſei zu einem künftigen Deutſchland . Auf Gersdorffs Rath entſchloß ſich der Groß - herzog die Verfaſſungsarbeit unverzüglich in Angriff zu nehmen.

Im April 1816 traten die alten Stände mit einigen Abgeordneten der neu erworbenen Landestheile zu einem Landtage zuſammen; ſchon am 5. Mai wurde das neue, von dem Jenenſer Profeſſor Schweitzer redigirte Grundgeſetz unterzeichnet, und der Präſident des Landtags feierte in herz - licher Dankrede die beſte Tugend des deutſchen Kleinfürſtenſtandes: noch immer fanden wir in dieſem hohen Hauſe das altfürſtliche Gemüth, das Jedem wohl will, auch den Geringſten nicht unwerth achtet. Die liberale Preſſe frohlockte und erging ſich in behaglichem Selbſtlobe: wenn der fürſtliche Freund Schillers und Goethes als der Bahnbrecher verfaſſungsmäßiger Frei - heit auftrat, dann war doch ſonnenklar erwieſen, daß nur rohe Naturen der conſtitutionellen Heilswahrheit widerſteben konnten. Ein Jahr nachher tagte der erſte conſtitutionelle Landtag der deutſchen Geſchichte in einem der drei Dornburger Schlöſſer, die von ſteiler Felswand über Rebenhänge und Gar - tenterraſſen auf das maleriſche Saalethal herabſchauen. Hier in der länd - lichen Stille, wo Goethe ſo oft das Glück der Dichtereinſamkeit geſucht hatte, ſpielte ſich die erſte parlamentariſche Idylle der Kleinſtaaterei gemüthlich ab. Der Großherzog hatte mit glücklichem Takt zwiſchen dem alten Stände - weſen und dem neuen Repräſentativſyſteme einen Mittelweg eingeſchlagen und der Ritterſchaft, den Städten, den Landgemeinden beſondere Vertreter406II. 7. Die Burſchenſchaft.gewährt, aber die ſämmtlichen 31 Abgeordneten bildeten eine einzige Ver - ſammlung und galten als Vertreter des ganzen Landes. Die Verhand - lungen verliefen keineswegs leicht, Schritt für Schritt mußte die Regie - rung mit der Topfguckerei und der naiven Unerfahrenheit der Volksver - treter ringen; endlich verſtändigte man ſich doch, und da Alles hinter verſchloſſenen Thüren vorging, ſo konnten die Zeitungen ihren Leſern un - geſcheut Wunder erzählen von der unbegreiflichen politiſchen Weisheit dieſes Muſtervölkchens, das unter je 1500 erwachſenen Männern einen ſtaats - männiſch gebildeten Abgeordneten beſaß. Manche glückliche Reform, die ohne den Landtag unmöglich geweſen, kam jetzt zu Stande; ſo wurde (1821) an der Stelle von 49 wunderlichen alten Steuern eine Einkommenſteuer mit Faſſion eingeführt, eine in Deutſchland noch unerhörte Neuerung. Mancher andere heilſame Vorſchlag ſcheiterte freilich, weil die philiſterhafte Aengſtlichkeit der Landſtände den freien Gedanken ihres Fürſten nicht zu folgen vermochte; die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen konnte Karl Auguſt ſchlechterdings nicht durchſetzen. Im Ganzen fühlte ſich das Land wohl, und ſchon 1818 erhielt auch Hildburghauſen eine Verfaſſung nach weimariſchem Muſter.

Nur Goethe betrachtete die neuen Inſtitutionen mit ſtillem Mißbe - hagen und ſah darin nichts als das vorwitzige Dreinreden Unberufener; der Abſcheu gegen jeglichen Dilettantismus lag dem Meiſter zu tief im Blute. Als er einmal einen Trinkſpruch zum Landtagsfeſte nicht um - gehen konnte, erinnerte er die Volksvertreter patriarchaliſch an ihre Fa - milienpflichten:

Ein Jeder ſei in ſeinem Hauſe Vater,
So wird der Fürſt auch Landesvater ſein.

Und als ſie gar ihm ſelber Rechenſchaft abverlangten wegen der 11,000 Thaler, die er ſeit einem Menſchenalter alljährlich für Kunſt und Wiſſen - ſchaft auszugeben hatte, da beſchloß der alte Herr ein Exempel zu ſtatuiren, diktirte ſeinem Schreiber drei Worte und drei Zahlen Einnahme, Aus - gabe, Kaſſenbeſtand ſetzte majeſtätiſch ſeinen Namen darunter und ſendete den Zettel dem Landtage. Die Entrüſtung war groß. Bei ruhiger Ueberlegung kam es den wackeren Vertretern von Neuſtadt, Kaltennord - heim, Gerſtungen doch ſelbſt ſonderbar vor, daß ſie die Antiken - und Bücher-Einkäufe Goethes im Einzelnen prüfen ſollten, und ſo ent - ſchloſſen ſie ſich zu einer That conſtitutioneller Selbſtverleugnung, welche in der pedantiſchen Geſchichte des deutſchen Parlamentarismus einzig daſteht: der Buchſtabe der Verfaſſung ward der Pietät geopfert, die dreizeilige Rechnung ſtillſchweigend genehmigt.

Im Schatten der neuen Preßfreiheit wuchs nun in Weimar und Jena urplötzlich ein ganzes Heer politiſcher Zeitſchriften auf, eine ſchlecht - hin bodenloſe Publiciſtik, wie ſie nur in dieſem gelehrten Volke entſtehen konnte, und doch eine Macht, denn mit ihr begann der verhängnißvolle407Die Weimariſche Preſſe.Einbruch des Profeſſorenthums in die deutſche Politik. Luden hatte ſchon während des Krieges ſeine Nemeſis gegründet, zunächſt zur Bekämpfung der Fremdherrſchaft, und fügte jetzt noch ein Staatsverfaſſungs-Archiv hinzu; dann folgten Okens Iſis und das Weimariſche Oppoſitionsblatt; Bran begann die Fortſetzung der alten Archenholtziſchen Minerva; der aus Heidelberg vertriebene Juriſt Martin brachte ſeinen Neuen rheiniſchen Merkur mit nach Jena; Ludwig Wieland, der warmherzige, federgewandte Sohn des Dichters, gab einen Volksfreund heraus, der zur Beruhigung der polizeilichen Seelenangſt ſeinen ſtaatsgefährlichen Namen bald ablegte und als Patriot weiter erſchien. Und dieſe Ueberfülle journaliſtiſcher Thätigkeit drängte ſich in zwei kleinen Städten zuſammen, in einer rein literariſchen Luft, wo ſchlechterdings nichts an den Ernſt des Staatslebens erinnerte, wo die Preſſe weder zuverläſſige Nachrichten über den inneren Zuſammenhang der Tagesereigniſſe erhielt, noch an einer politiſchen Partei oder einem wirthſchaftlichen Intereſſe irgend einen Rückhalt fand. In glücklicher Unkenntniß der wirklichen Welt konnte hier der reine Doctri - narismus ſich ſeiner Ueberzeugung erfreuen und mit der Miene der Unfehlbarkeit ſeine Kathedermonologe halten. Alle dieſe Blätter erhoben den Anſpruch, der ganzen Nation als Lehrer zu dienen, denn es war der Stolz des Profeſſors, daß die praktiſche deutſche Einheit allein in den Univerſitäten ſich zeigte; und da nun das freie Wort, das an der Ilm und Saale erklang, den Argwohn der Höfe erweckte, die geſammte reaktionäre Partei, wie Luden ſagte, ihre Blicke angſtvoll auf die Höhen des ſchönen Thüringens richtete, ſo ſchwoll das Selbſtgefühl der akade - miſchen Publiciſten bald bedenklich an, und ſie meinten alles Ernſtes, ihr deutſches Athen bilde den Mittelpunkt der nationalen Staatskunſt. Von dem gründlichen Fleiße deutſcher Gelehrſamkeit war in dieſen poli - tiſchen Schriften nichts zu ſpüren. In der Wiſſenſchaft ward alle Pfuſcher - arbeit verachtet, über die Staatsmänner durfte Jeder zu Gericht ſitzen, wenn er gelegentlich in einer verlorenen Stunde die Zeitungen las.

Ludens Nemeſis ſtand tief unter den weit weniger verbreiten Kieler Blättern. Während Dahlmanns Zeitſchrift in gediegenen hiſtoriſchen und ſtaatsrechtlichen Erörterungen ihren Leſern die ſachliche Belehrung bot, deren dies unreife Geſchlecht vor Allem bedurfte, brachte Luden faſt durch - weg nur leere Allgemeinheiten oder oberflächliche kritiſche Bemerkungen über kleine Tagesereigniſſe; und obwohl er ſelbſt nicht zu den Bekennern des Rotteck’ſchen Vernunftsrechts gehörte, ſondern den Staat hiſtoriſch zu verſtehen ſuchte, ſo lief doch die ganze Weisheit der Nemeſis immer wieder auf den Art. 13 der Bundesakte hinaus, der ihr als das einzige Mittel um eine Revolution von Deutſchland abzuwenden erſchien: Nur gehalten was ſo heilig verſprochen wurde! O Ihr Fürſten, wolltet Ihr dieſe, nur dieſe Ausübung ganz gewöhnlicher Tugenden! Seit Jahren galt Luden als der beliebteſte Docent in Jena; ſeine Vorleſungen über deutſche Ge -408II. 7. Die Burſchenſchaft.ſchichte wurden, wie vordem Fichtes und Schellings Collegien, der Sam - melplatz für die Maſſe der Studentenſchaft; der liebenswürdige Idealis - mus, der aus ſeinem ganzen Weſen ſprach, die patriotiſche Wärme und der leichte Redefluß ſeiner Vorträge erwarben ihm bei der Jugend ein Anſehen, das vierzig Jahre lang unerſchüttert blieb. Wer den wohl - meinenden Mann nur nach ſeinen Büchern beurtheilte, konnte ſich dieſe glänzenden Lehrer-Erfolge kaum erklären; ſeine hiſtoriſchen Schriften waren arm an neuen Gedanken, noch ärmer an ſelbſtändiger Forſchung, und von der ſtrengen Gedankenarbeit, welche die politiſche Wiſſenſchaft ihren Jüngern auferlegt, ahnte er ſo wenig, daß er ſchon in ſeinem einund - dreißigſten Jahre (1811) wohlgemuth ein an harmloſen Gemeinplätzen überreiches Handbuch der Staatsweisheit herausgeben konnte.

Wie anders als die ehrbar langweilige Nemeſis ging die Iſis ins Zeug, wohl die ſonderbarſte politiſche Zeitſchrift unſerer Geſchichte, ein unvergleichliches Probſtück gelehrter Narrheit. Als Naturforſcher hatte ſich Oken trotz mancher Wunderlichkeiten einen wohlverdienten Ruhm er - worben; in den politiſchen Kampf brachte er kein anderes Rüſtzeug mit, als eine grundehrliche vaterländiſche Begeiſterung, einige unklare demo - kratiſche Begriffe, eine unerſättliche Raufluſt und den kindlichen Wahn, daß die freie Preſſe alle Wunden, die ſie geſchlagen, auch wieder heilen werde. Die Geſchichte, ſo rief er in ſeiner Ankündigung, ſchreitet daher als ein ſchauerlicher Rieſe über Strom und Felſen, über Loco sigilli und Schlagbäume, lachend über ſolche Anſtalten, welche Geiſt und Sinn fangen wollen und im Fang überpurzeln. Alles iſt gut und Alles muß zugelaſſen werden. Seine Leſer ſollten den Sinn und den Unſinn der Zeit, die Würde wie die Petulanz kennen lernen; ſelbſt die Grobheit, die Lüge und Verleumdung ſchloß er nicht aus und befahl den Ange - griffenen im Voraus, ſich nur literariſch zu rächen. Der burſchikoſe Auf - ruf fand nur zu willige Hörer. Alle Hitzköpfe der gelehrten Welt gaben ſich ein Stelldichein auf dem großen Fechtboden dieſer Encyclopädiſchen Zeitung . Da ſtanden neben zoologiſchen Bildern und Abhandlungen dem einzigen Guten, was die Zeitſchrift brachte akademiſche Skandal - geſchichten und literariſche Klopffechtereien jeder Art; ſelbſt ein hämiſcher Artikel der Edinburgh Review gegen Goethes Wahrheit und Dichtung ward mit unverhohlenem Behagen abgedruckt; und dann wieder politiſche Ab - handlungen ſowie zahlloſe Schmerzensrufe und Anklagen wider angebliche Behördenwillkür. Das Alles im Tone des Bierhauſes, im Oken’ſchen Tone , wie man bald zu ſagen pflegte frech, geſchmacklos, höhniſch; faſt jede neue Nummer der Iſis rief neuen Zank hervor. Da der reiche Vorrath der deutſchen Superlative ſchon nicht mehr ausreichte, ſo zog Oken die Holzſchneider zu Hilfe und ließ Eſelsköpfe, Gänſe, Kannibalen, Juden - und Pfaffengeſichter oder auch eine Knute, einen Stock, ein zum Fußtritt erhobenes Bein neben die Namen ſeiner Gegner ſetzen, ſo daß409Iſis und Nemeſis.der politiſche Text zuweilen faſt ſo bunt ausſah wie die Kupfertafeln mit den Bildern der Quallen und Knorpelfiſche daneben. Aus den politiſchen Aufſätzen ſprach ein ſchrullenhafter Radikalismus und zugleich ein naiver Gelehrtendünkel: die Weimariſche Verfaſſung verdiente gar nicht den Namen einer Verfaſſung, weil ſie von den dreiundzwanzig unentbehrlichen Grundrechten jeder wahren Charte nur ein einziges, die Preßfreiheit ge - währte und weil ſie den Nährſtand, die dummen von den Pandek - tenhengſten gereitelten Bürger und Bauern, ſo unbillig vor dem Wehr - und Lehrſtande, dem Adel und den Profeſſoren, bevorzugte! Kein einziger politiſcher Artikel in dieſem ungeheuerlichen Gepolter, der die Leſer belehrt oder ihren Willen auf ein beſtimmtes Ziel gerichtet hätte. Immer nur fanatiſche Anklagen gegen die Fürſten und Diplomaten, welche unſer Ge - ſammtvolk zu einem Provinzialvölkleins-Schober gemacht haben; immer nur Hohn über die unverbeſſerliche Faulheit des lebenden Geſchlechts: nur von der Jugend iſt noch etwas zu erwarten.

Das beſte publiciſtiſche Talent in dieſem Kreiſe war der Kurländer Lindner, der das Oppoſitionsblatt mit Gewandtheit leitete und die poli - tiſche Arbeit als ernſten Lebensberuf betrieb. Aber grade in ſeinen Auf - ſätzen bekundete ſich am deutlichſten jene politiſche Thorheit, welche den deutſchen Liberalismus nunmehr von einem Fehler zum andern treiben ſollte: die ſchnöde Undankbarkeit gegen Preußen. Es iſt nicht wahr, was die Parteihiſtoriker erzählen, daß die Verunglimpfung des preußiſchen Staats erſt ſeit der Demagogenverfolgung im liberalen Lager üblich ge - worden ſei. Sogleich nach dem Frieden, als der Degen von Belle-Alliance kaum erſt wieder in die Scheide fuhr, ſetzten dieſe Kleinen den Staat, dem ſie ihre Freiheit, ihr Alles dankten, auf die Anklagebank und überſchütteten ihn mit Vorwürfen, in einem Augenblicke, da er durch ſein Wehrgeſetz und ſein Zollgeſetz den feſten Grund legte für die Einheit des Vaterlandes.

Luden hatte bereits in dem Handbuche der Staatsweisheit die preußiſche Monarchie immer als abſchreckendes Beiſpiel aufgeführt und mit dem be - kannten Freiheitsdünkel des engliſchen Hannoveraners über den Militär - ſtaat abgeurtheilt. Jetzt brachte ſeine Nemeſis Gedichte zum Preiſe des Hauſes Wittelsbach und Artikel zur Vertheidigung der ſächſiſchen Politik von 1813; für Preußen hatte ſie nur Tadel und eine prahleriſche Ge - ringſchätzung, die in jedem anderen Volke allgemeines Gelächter erregt hätte: vor den Muſen in Thüringen, meinte ſie ſtolz, haben die Muſen der Mark niemals beſtehen mögen, nun wollen wir doch ſehen, ob die preußiſche Politik ebenſo Großes leiſtet wie die thüringiſche! Darum ward auch der ehrliche Liberale Benzenberg als der Finſterling unter den deut - ſchen Publiciſten verläſtert; man konnte ihm nicht verzeihen, daß er ein treuer Preuße war und über die Geſetze dieſes Staates, welche der Je - nenſer Profeſſor niemals eines Blickes würdigte, mit Sachkenntniß ſchrieb. Nun gar Oken, ein Vorderöſterreicher aus der Ortenau, betrachtete die410II. 7. Die Burſchenſchaft.Verhöhnung Preußens als das ſicherſte Kennzeichen der Freiſinnigkeit. Während er dem Kaiſer Franz ſchonende Ehrfurcht erwies und ſogar die lächerliche Frankfurter Eröffnungsrede des Grafen Buol mit Lob bedachte, öffnete er die Spalten ſeiner Iſis ſchadenfroh allen Feinden Preußens. Heute begann ein Rheinländer ein ſchluchzendes Rheinweinen wegen der vielen Proteſtanten in den preußiſchen Behörden: man will nur dem Lande ſchaden, es ſoll nur unſer Selbſtgefühl gedemüthigt werden. Morgen bejammerte ein guter Schwede aus Greifswald die Verpreußung ſeines Vaterlandes. Dann wieder klagten einige Aerzte aus der Provinz Sachſen über brutale Beleidigung ihrer gelehrten Standesehre, weil ſie jetzt, ſo gut wie ihre Apotheker, ja wie gemeine Handwerker, die preußiſche Ge - werbeſteuer bezahlen mußten. Napoleon ſelbſt hatte nie etwas ſo Em - pörendes gethan wie Preußen mit dem Verbote des Rheiniſchen Merkurs; was wollte, fragte die Iſis, die Ermordung Palms daneben bedeuten? Ueber die Univerſität Bonn, die den Glanz von Jena ſo bald überſtrahlen ſollte, urtheilte Oken noch bevor ſie eröffnet war: Alles iſt ſchon ſo gut als verdorben durch die Stückelgeſchäfte und Stückelkenntniſſe preußiſcher Regierungs-Individuen. Der eigentliche Heerd aller preußiſchen Nichts - würdigkeiten aber blieb das Heer mit ſeiner allgemeinen Wehrpflicht: war es nicht unerhört, ſo führte die Nemeſis aus, daß der Leutnant ſo viel früher ins Brot kam als der Referendar? und war es nicht barbariſch, ſo fragte Oken, daß man in Preußen geiſtige Kräfte als gemeine Sol - daten zu Pulverfutter verwendete?

Jeder Nichtswürdige, der den Ernſt des preußiſchen Geſetzes zu fühlen bekam, konnte auf den Beiſtand dieſer gelehrten Publiciſten zählen, wenn er ſich nur als politiſcher Märtyrer gebärdete. Im Jahre 1817 bot Maſſenbach die Handſchrift eines neuen Bandes ſeiner verlogenen Denk - würdigkeiten, bei denen er viele amtliche Papiere widerrechtlich benutzt hatte, der preußiſchen Regierung für 11,500 Friedrichsdor zum Kaufe an; er wurde darauf mit Genehmigung des Senats in Frankfurt verhaftet und, nach einem ſorgfältigen Berichte des Generals Grolman, auf Beſchluß des Staatsraths als ein ohne Abſchied entlaſſener Offizier vor ein Kriegs - gericht geſtellt, das ihn wegen verſuchter Erpreſſung und Verletzung der Dienſttreue zur Feſtungsſtrafe verurtheilte. *)Protokolle des Staatsraths, 7. Juli 1817.Und in dieſem ſchmutzigen Handel, deſſen Verlauf der Staatskanzler ſogleich veröffentlichen ließ, er - griff Ludens Nemeſis die Partei des Helden von Prenzlau: wer einem Throne gegenüber ſo frei rede, wie Maſſenbach in Württemberg, könne doch keiner Schlechtigkeit fähig ſein! Der Frankfurter Senat aber ward von den Apoſteln der deutſchen Einheit hart angelaſſen, weil er unein - gedenk der Souveränität ſeines Staates einen gemeinen Verbrecher einem anderen Bundesſtaate ausgeliefert hatte!

411Univerſität Jena.

Der alte Goethe fühlte ſich wie in der verkehrten Welt, als ſein friedlicher Muſenſitz ſich ſo plötzlich in ein lärmendes Forum verwandelte, und die akademiſchen Publiciſten in der Preſſe gleichſam als die Erben der Dichter-Dioskuren gefeiert wurden. Er ahnte ſchlimme Folgen und warnte Luden: wir verfügen nicht über 100,000 Bajonette um Euch zu beſchützen! Als die Regierung ſodann mit einer Verwarnung gegen Oken vorgehen wollte, da rieth Goethe dem Herzog ab: ſolche Ermahnungen ſeien nutzlos und, einem ſo verdienten Manne gegenüber, unziemlich; beſſer daher ſo fuhr er mit ſouveräner Geringſchätzung der neuen Ver - faſſung fort man laſſe den gelehrten Hitzkopf ganz aus dem Spiele und verbiete einfach dem Drucker die Fortſetzung des catilinariſchen Unternehmens. So ernſt wollte der herzhafte Karl Auguſt die politiſchen Saturnalien ſeiner Gelehrten doch nicht nehmen. Er ließ es bei einigen gelegentlichen Warnungen und Beſchlagnahmen bewenden; aber auch er ſah immer mit Unmuth einer neuen Niederkunft Monſieur Okens ent - gegen, denn die Beſchwerden der in der Iſis Mißhandelten nahmen kein Ende. Am Lauteſten klagte Geh. Rath v. Kamptz in Berlin, ein ausge - zeichneter Juriſt und brauchbarer Beamter, allbekannt als fanatiſcher Re - aktionär. Der wurde von Oken zu den abgedroſchenen Leuten gerechnet und verwahrte ſich drohend wider dieſen Blauen-Montags-Ton . Wer den harten Mann kannte, mußte wiſſen, daß er ſich mit Worten nicht begnügen würde.

Wie konnte die akademiſche Jugend ruhig bleiben in dieſer wunder - lich erregten kleinen Welt? Die großen Tage der Jenenſer Hochſchule waren ſchon um das Jahr 1803 zu Ende gegangen, mit den wiſſenſchaft - lichen Kräften von Heidelberg oder Berlin vermochte ſie ſich längſt nicht mehr zu vergleichen; doch der Glanz jener reichen Zeit haftete noch an ihrem Namen und von jeher ſtand die ungebundene Freiheit ihres Stu - dentenlebens bei der deutſchen Jugend in gutem Rufe. Und in Jena lebt ſich’s bene ſagte ein altes Studentenlied. In keiner anderen Univerſitäts - ſtadt herrſchte der Student ſo unumſchränkt; noch in den neunziger Jahren war das junge Volk einmal in hellen Haufen ausgezogen um nöthigen - falls nach Erfurt überzuſiedeln, und erſt als ihm die geängſteten Behör - den alle ſeine Wünſche erfüllten, triumphirend zurückgekehrt. In ſcharfem Gegenſatze zu dem galanten Leipzig behielt das Jenenſer Leben immer einen derben, naturwüchſigen, jugendlichen Ton, der den einfachen Sitten des Landes entſprach. Wie der Ziegenhainer Knotenſtock, damals noch der unzertrennliche Begleiter des deutſchen Studenten, nur im Saalethal echt zu finden war, ſo ſtand auch der reichhaltige Jenenſer Comment auf allen Kneipen und Fechtböden Deutſchlands in hohem Anſehen; manche uralte Burſchenbräuche, wie das Blutbrüderſchaft-Trinken, erhielten ſich hier noch bis in das neue Jahrhundert hinein. Trotz aller Roheit lag doch ein idealiſtiſcher Hauch über dem lauten Treiben, ein romantiſcher412II. 7. Die Burſchenſchaft.Reiz, welcher der hagebüchenen Grobheit des Berliner Turnplatzes gänzlich fehlte. Wie manchem jungen Niederdeutſchen iſt auf den Burſchenfahrten zum Fuchsthurm und zur Leuchtenburg die Poeſie des deutſchen Berg - landes zum erſten male aufgegangen. Wie dankbar und froh begeiſtert empfingen die Jenenſer Studenten einſt im Theater zu Weimar die Dramen Schillers aus erſter Hand. Unter der Fremdherrſchaft zeigte die Univerſität ihre deutſche Geſinnung ſo unerſchrocken, daß Napoleon einmal nahe daran war, dies verhaßte Neſt der Ideologen und Radoteurs verbrennen zu laſſen.

Es konnte nicht fehlen, daß dieſe vaterländiſche Begeiſterung nur noch heißer aufflammte, als jetzt die jungen Krieger in die Hörſäle zurückkehrten, Mancher mit dem eiſernen Kreuze geſchmückt, faſt Alle noch wie berauſcht von dem Heldenzorne des großen Kampfes, voll glühenden Haſſes gegen die äußeren und inneren Unterdrücker des Vaterlandes weitaus die beſte Studenten-Generation ſeit langen Jahren, aber leider ſchon zu ernſt für die harmloſe Träumerei und die überſchwängliche Freundſchaft, welche dem Studentenleben ſeinen eigenthümlichen Zauber geben. Die dringend nöthige Reform der verwilderten akademiſchen Sitten konnte nur von einem Geſchlechte ausgehen, das ſo viel reifer war als der Durchſchnitt der Stu - denten vordem; und doch hatte dieſe ritterliche Jugend in zwei ſchweren Kriegen ſchon zu viel erlebt um ſich wieder in die beſcheidene Rolle des Schülers finden zu können; die Gefahr hochmüthiger Ueberhebung, die ohnehin in der Zeit lag, war für ſie faſt unentrinnbar. Aehnliche Re - gungen chriſtlich-germaniſcher Schwärmerei waren ſchon einmal auf den Univerſitäten aufgetaucht, in den Tagen des literariſchen Sturmes und Dranges, als die jungen Poeten des Hainbundes für Klopſtocks Meſſias und die Helden des Teutoburger Waldes ſich begeiſterten und den Sänger des Polſters, Wieland feierlich im Bilde verbrannten. Was damals nur engere Kreiſe bewegte, war jetzt ein Gemeingut von Tauſenden.

Wie verächtlich mußte das verrottete Verbindungsweſen der Univer - ſitäten dem abgehärteten, ſittenſtrengen neuen Geſchlechte erſcheinen. Von der Barbarei der alten Renommiſten war nur zu Vieles noch übrig, obwohl die Humanität der neuen literariſchen Bildung auch die akade - miſchen Sitten etwas verfeinert hatte. Die Völlerei und die Unzucht zeigten ſich oft mit einer Frechheit, die uns heute ſchon unmöglich ſcheint, das Hazardſpiel ward überall, ſelbſt auf offner Straße getrieben, und die unausrottbare deutſche Raufluſt ging ſo weit über alles erlaubte Maß hinaus, daß die 350 Mann ſtarke Jenenſer Studentenſchaft im Sommer 1815 in einer einzigen Woche 147 Duelle ausfocht. Die friſchen volks - thümlichen Trink - und Wanderlieder der ſangesluſtigen alten Zeiten waren faſt verſchollen; man ſang zumeiſt ſchmutzige Zoten oder die weinerlichen Ergüſſe einer platten Sentimentalität, die einer längſt überwundenen literariſchen Epoche angehörte. Mit den Roſenkreutzern und den anderen413Arndt und die Jugend.Geheimbünden des alten Jahrhunderts verſchwanden auch ihre Geiſtes - verwandten, die Orden der Studenten. Die Landsmannſchaften, die ſeit - dem wieder auflebten, bewachten eiferſüchtig ihre geſchloſſenen Werbebe - zirke, pflegten einen kleinlichen partikulariſtiſchen Sinn, der alles Aushei - miſche dünkelhaft abwies, und ertödeten jedes kräftige Selbſtgefühl durch einen brutalen Pennalismus. Der Fuchs durfte nicht klagen, wenn ein heruntergekommenes altes Haus ihm ein Smollis anbot und darauf mit ihm hutſchte: dann mußte er Alles, was er auf dem Leibe trug, Kleider, Uhr und Geld gegen die dürftigen Lumpen ſeines Gönners vertauſchen. Wer in dieſer Schule aufwuchs lernte die Kunſt nach oben zu ducken, nach unten zu drucken.

Wie oft hatte Fichte einſt in Jena und in Berlin gegen dies Unweſen geeifert. Unter ſeinen Getreuen entſtand bereits im Jahre 1811 der Plan einer Burſchenſchaft oder Deutſch-Jüngerſchaft; der Philoſoph billigte das Unternehmen und fügte nur, da er ſeine Leute kannte, die beſonnene Mahnung hinzu: die Burſchen ſollten ſich hüten, mittelalterlich und deutſch zu verwechſeln, und das Mittel, die Verbindung, nicht höher ſtellen als den Zweck, die Belebung deutſchen Sinnes. An dieſe Berliner Entwürfe knüpften jetzt die Jenenſer wieder an. Sie kannten den Ernſt des Waffen - handwerks und wollten durch Ehrengerichte die rohe Raufluſt bändigen; ſie hatten im Kriege als eines Volkes Söhne Schulter an Schulter ge - kämpft und forderten völlige Gleichheit aller Studenten, Abſchaffung des Pennalismus und aller der Vorrechte, welche der Grafenbank noch auf manchen Univerſitäten zuſtanden. Ihr letzter und höchſter Gedanke aber blieb die Einheit Deutſchlands: in einem einzigen großen Jugendbunde, der alle landsmannſchaftliche Sonderbünde vernichtete, ſollte ſich die Macht und Herrlichkeit des Vaterlandes verkörpern.

Arndts Vaterlandslied bildete das eigentliche Programm der Bur - ſchenſchaft, Freund und Feind betrachteten den Dichter als den Führer der teutoniſchen Jugend, obgleich er an den Entwürfen des jungen Volks unmittelbar gar keinen Antheil nahm. Nach einem langen be - wegten Wanderleben war er jetzt endlich in Bonn zur Ruhe gekommen und baute für ſich und ſeine junge Frau, die Schweſter Schleiermachers, ein beſcheidenes Gartenhaus auf der Höhe dicht am Rhein; hier dachte er die Herrlichkeit des Siebengebirges grade aufs Korn zu nehmen und in ſtillem Glück ſich zu ſammeln für die Arbeit des Katheders. Wohl ſchwärmte er ſo treuherzig wie der jüngſte Burſch für die goldene akade - miſche Freiheit, die uralte und herrlichſte Ritterſchaft der Germanen ; aber als ihn ein Heidelberger Student über die Reform des akademiſchen Lebens befragte, da warnte er ſeine jungen Freunde, in der Schrift über den deutſchen Studentenſtaat, nachdrücklich vor radikalen Thorheiten: lieber das Beſtehende walten laſſen als das unerreichbare Vollkommene erſtreben. Längſt hatte er ſich in treuer Liebe an Preußen und ſein414II. 7. Die Burſchenſchaft.Königshaus angeſchloſſen, nur die alte Abneigung gegen das fridericia - niſche Zeitalter konnte er nicht überwinden. Seit er einſt tapfer für die Aufhebung der Leibeigenſchaft in ſeiner vorpommerſchen Heimath einge - treten war, ſtand er bei der reaktionären Partei im Rufe eines Gleich - heitspredigers. Durchaus mit Unrecht. Arndts Wünſche gingen niemals über die Ideen ſeines Gönners Stein hinaus; er wollte eine lebendige Gliederung der Stände, einen angeſehenen Adel, freie Bauerſchaften, ein kräftiges in Zünfte geordnetes Bürgerthum und betrachtete ſelbſt Harden - bergs Agrargeſetze nicht ohne romantiſchen Widerwillen.

In dieſem liebreichen Herzen, das dem Ueberſchwang ſeiner Gefühle nur durch gehäufte Superlative zu genügen wußte, in dieſer offenen, heiteren Natur fand der politiſche Fanatismus keine Stätte. Nur die Urtheilsloſigkeit der Jugend konnte Vater Jahn und Vater Arndt wie zwei Brüder feiern, und nur Arndts rührende Beſcheidenheit konnte ſich dieſe Vergleichung ge - fallen laſſen. In Wahrheit gehörten die Beiden ganz verſchiedenen Schichten der geiſtigen und der ſittlichen Cultur an. Arndt gebot über einen uner - ſchöpflichen Schatz gediegenen Wiſſens, obwohl er die ſtrenge Methode der Fachgelehrten niemals lernte, und bewegte ſich frei auf den Höhen menſch - licher Bildung, zu denen Jahn kaum emporblicken konnte. Er nannte ſich ſelber oft einen Bauern und nahm es als Fußwanderer mit dem beſten Turner auf; im Sommer ſah man ihn täglich den Rhein durch - ſchwimmen oder mit dem blauen Kittel angethan in ſeinem Garten harken. Aber auch in der vornehmen Geſellſchaft fühlte er ſich heimiſch und ſicher; Aller Blicke hingen an dem ſtämmigen kleinen Manne mit den ſtrahlenden blauen Augen, wenn er zu erzählen begann, ein unwiderſtehlich liebens - würdiger Plauderer, immer natürlich und kräftig, immer geiſtreich und edel. Einem ſo kerngeſunden Geiſte konnte das cyniſche Weſen der Turner wenig behagen. Mahnend hielt er der Jugend vor: nicht in der Rauheit der Spartaner oder der Römer dürften Deutſche ihr Vorbild ſuchen; fraget Euch doch: waren ſie glücklich? machten ſie glücklich?

Unter den Jenenſer Profeſſoren ſtand Fries den Studenten am nächſten; dieſe Jugend, die an Fichtes Ideen ſich begeiſterte, ſaß arglos zu den Füßen eines Lehrers, der immer zu Fichtes Widerſachern gehört hatte. Die neue Lehre Hegels galt in Jena noch als reaktionär; ſie war, wie Fries behauptete, nicht in den Gärten der Wiſſenſchaft, ſondern auf dem Miſthaufen der Kriecherei erwachſen. Auch Fries zeigte ſich wie Luden als Lehrer ungleich wirkſamer denn als Schriftſteller. Der ſchwärmeri - ſchen Jugend gefiel, daß der gutmüthige, aber unklare Philoſoph Be - griffe und Gefühle vermengte und alſo die ſittliche Welt in einen Brei des Herzens auflöſte, wie Hegel ihm hart und treffend vorwarf; ſie fühlte ſich in ihrer ſubjectiven Willkür beſtärkt, wenn ihr argloſer Lehrer in viel - deutigen Worten immer wieder ausführte: der Menſch ſoll ſeiner Ueber - zeugung treu bleiben, ob er ſich auch die ganze Welt zum Feinde mache. 415Fries und die Jenenſer.Beſonders zeitgemäß erſchien den jungen Leuten ſeine Geſchichtsphiloſophie; er verſtand den Reichthum der hiſtoriſchen Welt in das Schema einer dürftigen Doctrin einzupreſſen, welche ſeitdem von unzähligen gelehrten Publiciſten, bis auf Gervinus herab, in mannichfachen Formen nachge - ſprochen worden iſt: darnach ſollte im Orient die Religion das Leben der Menſchheit beherrſcht haben, im claſſiſchen Alterthum die Schönheit, in der chriſtlichen Welt die Erkenntniß, neuerdings aber, ſeit der Revolution, ſtand die Ausbildung des öffentlichen Rechts im Mittelpunkte der Ge - ſchichte, womit denn freilich allem Vorwitz der politiſirenden Dilettanten Thür und Thor geöffnet ward. Obwohl Fries die ehrliche Abſicht hegte das junge Volk vor leidenſchaftlichen Verirrungen zu bewahren, ſo ließ er ſich doch zu manchen unvorſichtigen Aeußerungen hinreißen, und ſchließ - lich widerfuhr ihm was bei einem allzu nahen Verkehre zwiſchen Pro - feſſoren und Studenten faſt unvermeidlich eintritt: er verlor die Fühlung mit ſeinen jungen Freunden, da ſie dem Lehrer doch nicht Alles anver - trauten, und bemerkte nicht, wie der Radikalismus allmählich in den Reihen der Jugend überhandnahm.

Urſprünglich war eine unbeſtimmte patriotiſche Sehnſucht der einzige politiſche Gedanke der Jenenſer Burſchen. Sie ſchwärmten für ein ab - ſtraktes Deutſchthum, ſo wie es einſt in den Reden an die deutſche Nation verherrlicht worden; von der lebendigen preußiſchen Staatsgeſinnung, welche ſich Fichte am Abend ſeines Lebens gebildet hatte, ahnten ſie nichts. Jeder Unterſchied von Preußen, Baiern und Sachſen ſollte ver - ſchwinden in dem einen Begriffe der Deutſchheit; und da nun unter allen deutſchen Einzelſtaaten keiner ein ſo handfeſtes Leben beſaß wie der preußiſche, ſo geriethen dieſe jungen Träumer, die doch beſtändig von der Herrlichkeit des Befreiungskrieges redeten, unmerklich auf denſelben Ab - weg wie die Nemeſis und die Iſis: ſie begannen den Staat, der jenen Krieg faſt allein geführt hatte, mit Anklagen zu überhäufen.

Unter den Begründern der Burſchenſchaft befand ſich ein einziger Preuße: der Berliner Maßmann, ein ehrlicher, ſehr mäßig begabter junger Schwärmer, der unklarſte Kopf von allen den Berſerkern aus Jahns engerem Kreiſe. Die Anderen waren ſämmtlich Thüringer, Mecklenburger, Kurländer, Heſſen, bairiſche Franken, und ihnen allerdings fiel es nicht ſchwer ihren heimathlichen Staat in einer allgemeinen Deutſchheit einfach untergehen zu laſſen. Auf den preußiſchen Univerſitäten ſchlug die Bur - ſchenſchaft nur langſam Wurzeln, zunächſt in Berlin. In Breslau wen - deten ſich ihr zuerſt die neupreußiſchen Lauſitzer zu; den Schleſiern wollte es lange nicht in den Sinn, daß der Staat Friedrichs des Großen einem geſinnungstüchtigen Teutonen nicht mehr gelten ſollte als Bückeburg oder Darmſtadt. Die Jenenſer dagegen und die radikalen Gießener, die ſich der burſchenſchaftlichen Bewegung am früheſten anſchloſſen, bekämpften nicht nur jede berechtigte Regung preußiſchen Selbſtgefühls als undeut -416II. 7. Die Burſchenſchaft.ſches Preußenthum , ſie ſcheuten ſich auch nicht, aus der Geſchichte des Befreiungskrieges alles Preußiſche, alles was ihr Farbe und Leben gab, auszuſtreichen. Das Liederbuch der Burſchenſchaft, A. Follens Freie Stimmen friſcher Jugend , gab alle die ſchönen Kriegslieder, welche von Preußens Ruhm erzählten, verſtümmelt wieder, der Name Preußens kam in der ganzen Sammlung gar nicht vor. In Arndts Huſarenliede ſchwur Blücher nicht mehr dem Franzmann zu weiſen die preußiſche Art , wie der Dichter geſungen hatte; jetzt hieß es die altdeutſche oder gar die deutſcheſte Art . Ueberdies hatten die Führer der Burſchenſchaft zumeiſt unter den Lützowern gedient und ſich dort gewöhnt, als Mitglieder einer rein-deutſchen Freiſchaar mit Geringſchätzung auf die preußiſche Linie herabzuſehen, die im Kriege ſo viel glücklicher war als ſie ſelber. So geſchah es, daß dieſe Enthuſiaſten des Deutſchthums der lebendigſten Kraft unſerer nationalen Einheit von Haus aus faſt ebenſo unfreundlich gegen - überſtanden wie die Turner. Begreiflich, daß der kindliche Glaube an die unfehlbare Weisheit des Volks und eine platoniſche Vorliebe für republikaniſche Formen ſich unter den Burſchen noch häufiger fand als unter den Männern. Die landſtändiſchen Verfaſſungen ſchienen der Jugend vor - nehmlich darum nöthig, weil ſie, gleich der Mehrzahl der älteren Liberalen, den Partikularismus allein in den Kabinetten ſuchte: wenn nur erſt in jedem deutſchen Lande eine Verfaſſung beſteht, meinte Karl Sand, dann wird es nur noch Deutſche, keine Baiern und Hannoveraner mehr geben!

Immerhin war in dieſen erſten Jahren von krankhafter Aufregung unter den jungen Leuten noch wenig zu ſpüren. Anmaßlich genug zogen ſie freilich daher, in ihrer wunderlichen chriſtlich-germaniſchen Tracht, im Barett, dunklen Rock und Weiberkragen, und der neue Turnerbrauch, der auch nach Jena bald hinüberdrang, ließ ſie nicht liebenswürdiger er - ſcheinen. Aber unter der rauhen Schale lag ein geſunder Kern. Die Behörden ſelbſt waren verwundert, als der beſtändige Krieg gegen die akademiſchen Geſetze, worin die Landsmannſchaften ihren Ruhm geſucht hatten, jetzt plötzlich aufhörte; und wie viel edler ward der ganze Ton des akademiſchen Lebens ſeit die Geſänge Arndts und Schenkendorfs auf den Commerſen erklangen und eine ganze Schaar junger Poeten, der Holſteiner Binzer voran, immer neue kräftige Burſchenlieder aufbrachte. Faſt alle die ernſten Lieder, welche der deutſche Student heute zu ſingen pflegt, ſind erſt damals aufgekommen; auch das Weihelied der Studenten, der Landesvater erhielt erſt jetzt durch eine glückliche Umarbeitung ſeinen ſchönen vaterländiſchen Sinn. Die chriſtliche Frömmigkeit, die ſich aller - dings oft prahleriſch zur Schau ſtellte, war bei den Meiſten echt und innig; mancher der jungen Träumer erſchien wie verklärt durch die fromme Freude über alle die Wunder, welche Gott an dieſem Volke gethan.

Einen weſentlichen Charakterzug des neuen Teutonenthums bildete der eingefleiſchte Judenhaß. Da die gewaltige Erregung des Befreiungs -417Teutonenthum und Judenthum.krieges alle Geheimniſſe des deutſchen Gemüths an den Tag brachte, ſo ward in der allgemeinen Gährung auch der alte tiefe Widerwille gegen das orientaliſche Weſen wieder laut. Von Luther an bis herab auf Goethe, Herder, Kant und Fichte waren faſt alle großen germaniſchen Denker in dieſer Empfindung einig, Leſſing ſtand ganz vereinzelt mit ſeiner Vor - liebe für die Juden. Unmittelbar nach dem Frieden begann ein heftiger Federkampf über die Stellung der Juden, der fünf Jahre hindurch den deutſchen Büchermarkt mit einer Maſſe von Flugſchriften bedeckte und namentlich von der Jugend mit leidenſchaftlicher Theilnahme verfolgt wurde. Seit Moſes Mendelsſohns ſegensreichem Wirken hatte ſich ein Theil der deutſchen[Judenſchaft] mit gutem Erfolge bemüht, die breite Kluft, welche ihren Stamm von deutſcher Sitte und Bildung trennte, endlich zu überbrücken. Viele der angeſehenen jüdiſchen Familien in den großen Städten waren ſchon durchaus germaniſirt. In der Berliner Synagoge wurde ſeit dem Anfange des neuen Jahrhunderts deutſch ge - predigt, die Leipziger und einige andere Gemeinden folgten nach. Dann ſorgte Iſrael Jakobſohn, der Stifter der großen Seeſener Schulen, für eine würdigere Form des Gottesdienſtes, und der wackere David Fried - länder mahnte ſeine Stammgenoſſen in den Reden der Erbauung : nur wenn ſie mit ganzem Herzen ſich die deutſche Cultur aneigneten, könnten ſie ſich den Anſpruch auf vollſtändige Emancipation erwerben. Die Maſſe der deutſchen Israeliten, vornehmlich in den polniſchen Grenzprovinzen, befreundete ſich nur langſam mit dieſen Reformgedanken; ſie ſteckte noch tief im Schacher und Wucher, in dem finſteren Fanatismus des Talmud - glaubens, in allen den Sünden uralter Knechtſchaft. Als die Franzoſen einzogen bekundete ſich in manchen jüdiſchen Kreiſen eine leicht erklärliche Theilnahme für das Volk, das ihnen zuerſt die volle Gleichberechtigung geſchenkt hatte, und Napoleon verſtand dem jüdiſchen Kosmopolitismus ge - ſchickt zu ſchmeicheln; das eifrigſte Werkzeug der franzöſiſchen Polizei in Berlin war Davidſohn-Lange, der Herausgeber des berüchtigten Tele - graphen .

Auch in dem Befreiungskriege zeigte nur ein Theil der Juden patrio - tiſchen Eifer. Die Söhne jener gebildeten Häuſer, die ſich ſchon ganz als Deutſche fühlten, thaten ehrenhaft ihre Soldatenpflicht; aber viele Andere wurden durch Körperſchwäche und tiefeingewurzelte Waffenſcheu dem Heere ferngehalten, Manchen erſchreckte auch der ſtreng chriſtliche Geiſt der großen Bewegung. Von den Juden Weſtpreußens, die ſich eben erſt mühſam aus dem polniſchen Schmutze herausarbeiteten, war deutſche Geſinnung billigerweiſe noch gar nicht zu erwarten; ſie bekundeten eine ſolche Angſt vor dem Waffendienſte, daß der König ihnen (29. Mai 1813) auf ihre drin - genden Bitten den Loskauf von der Wehrpflicht geſtattete, und dies Pri - vilegium ward dann ſo maſſenhaft benutzt, daß ein großer Theil der Koſten für die Einrichtung der weſtpreußiſchen Landwehr aus den jüdiſchen Los -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 27418II. 6. Die Burſchenſchaft.kaufsgeldern beſtritten werden konnte. Die einzige vorhandene amtliche Liſte der jüdiſchen Soldaten, welche die große Mehrzahl der preußiſchen Regimenter umfaßt, weiſt für das Jahr 1813 nur 343 Juden im Heere nach; und im Jahre 1815, als das Heer ſeinen höchſten Stand erreichte, ſtanden nach der höchſten Berechnung nicht mehr als 731 Juden unter den Fahnen, eine ganz unverhältnißmäßig niedrige Ziffer. *)Militär-Wochenblatt 1843, Seite 348. Geſchichte der Organiſation der Land - wehr in Weſtpreußen (Beiheft zum M. W. Bl. 1858) Seite 120.Nach dem Kriege ſank ihre Zahl wieder auf 2 300. Was hätte ſie auch zu den Fahnen locken ſollen? Von den Offiziersſtellen waren ſie durch das Geſetz von 1812 ausgeſchloſſen, und da der König an dieſer Vorſchrift ſtreng feſthielt, ſo befand ſich während dieſer langen Friedensjahre nur ein ein - ziger jüdiſcher Offizier in der Linien-Armee, der langjährige Lehrer an der Artillerieſchule M. Burg, ein muſterhaft beſcheidener und tüchtiger Soldat. Die jungen Teutonen hatten natürlich kein Auge für die verwickelten hiſto - riſchen Thatſachen, welche den unmilitäriſchen Sinn der Juden nur zu leicht erklärten. Inzwiſchen begann die Geldmacht einiger großen jüdiſchen Firmen in Wien, Frankfurt und Berlin ſchon fühlbar zu werden und ſie zeigte ſich oft mit protzenhaftem Uebermuth; der vertraute Verkehr der Rothſchilds mit Metternich und Gentz erregte auch politiſchen Unwillen. Dann kamen die Hungerjahre; gräßliche Geſchichten, wahre und falſche, von der Grauſamkeit jüdiſcher Wucherer liefen durch das Land. Der alte Raſſenhaß regte ſich wieder; Seſſas Luſtſpiel Unſer Verkehr , eine bittere Verhöhnung jüdiſcher Sitten, hielt einen Triumphzug faſt über alle deut - ſchen Bühnen.

In dem literariſchen Kampfe, der ſich nun entſpann, offenbarte ſich auf jüdiſcher Seite nicht ſelten eine erſchreckende Verlogenheit und Ueber - hebung; ſie bewies klarer als alle Reden der Gegner, welche ernſten Be - denken der vollſtändigen Emancipation des Judenthums noch im Wege ſtanden. Saul Aſcher in Berlin bewitzelte die Germanomanie des jungen Geſchlechts in einer Reihe hämiſcher Schriften, die einen fanati - ſchen Haß gegen alles Deutſche, namentlich auch gegen Goethe bekundeten. Er rühmte von den glaubenloſen Juden, daß ſie von der Weltgeſchichte beſtimmt ſeien dereinſt allen poſitiven Glauben zu einer freieren Form zu leiten, und hatte die Stirn ſeinen Stammgenoſſen ſogar das Hauptverdienſt an den Siegen des Befreiungskrieges zuzuſchreiben: man vergißt, daß Deutſchlands Heere in dem Kampfe gegen Frankreich unterlagen ehe noch die Juden in ihrer Mitte Theil daran nahmen, und erinnert ſich nicht, wie folgenreich ſie in den Jahren 1813 und 14 kämpften als die Juden aus Rußland, Polen, Oeſterreich und Preußen mit ihnen in Reihe und Glied ſtanden. Ein anderer jüdiſcher Schriftſteller, der gegen Rühs und Fries zu Felde zog, verſicherte dreiſt, nur ein Jahr nach dem belgiſchen419Rühs und Saul Aſcher.Feldzuge, daß bei Belle Alliance allein 55 jüdiſche Offiziere gefallen ſeien, während die preußiſche Armee dort insgeſammt nur 24 Offiziere verloren hatte. Ein Dritter, der es offenbar wohl meinte, richtete ein Freund - liches Wort an die Chriſten und meinte gemüthlich: die eigenſinnigen jüdiſchen Köpfe würden doch nicht von ihren alten Bräuchen laſſen; am Klügſten alſo, wenn die Chriſten um der Eintracht willen ihren Sonntag auf den Sabbath verlegten. Der jüdiſche Lehrer Heß in Frankfurt er - klärte alle ſeine chriſtlichen Gegner einfach für Phantaſten oder für Werk - zeuge eines gemeinen Eigennutzes. *)Saul Aſcher, Germanomanie, Berlin 1815, Seite 67. Bemerkungen zu den Schriften der Prof. Rühs und Fries über die Juden, Fraukfurt 1816, Seite 4. Ein freundliches Wort an die Chriſten von einem Juden, o. O. 1816. M. Heß, Freimüthige Prüfung der Schrift von Rühs, Frankfurt 1816.

Einem ſolchen Hochmuth gegenüber konnten auch in dem anderen Lager ungerechte und gehäſſige Worte nicht ausbleiben; indeß bewahrte die große Mehrzahl der chriſtlichen Schriften eine würdige Haltung. Die Ideen Leſſings hatten doch in der Stille ihren Weg gemacht; ſo grauſam wie einſt Fichte wollte jetzt kein Deutſcher mehr über die Juden ſchreiben. Die Verſtändigeren gingen faſt alle von dem Grundſatze aus, daß der Aufent - halt im Lande allein noch keinen Anſpruch auf das Bürgerrecht gebe; ſie wollten den Israeliten wohl die Gleichheit auf dem Gebiete des Privat - rechts zugeſtehen, aber nicht oder doch jetzt noch nicht das volle Maß der ſtaatsbürgerlichen Rechte. Und ſo hart dieſe Meinung den ge - bildeten Juden erſcheinen mußte, die Maſſe ihres Stammes befand ſich damals unbeſtreitbar noch in einem verwahrloſten Zuſtande, der die vollſtändige Emancipation nicht rathſam erſcheinen ließ; richtete doch Einer von ihnen ſelber an die deutſchen Fürſten die wehmüthige Bitte, durch Verbeſſerung des jüdiſchen Schulweſens meine Nation aus der geiſtigen Trübheit zu erheben . **)Patriotiſcher Aufruf eines treuen Israeliten an die Fürſten Deutſchlands, - dingen 1816.Das preußiſche Geſetz von 1812, das den Juden, mit Ausnahme der Zulaſſung zu den Staatsämtern, alle ſtaatsbürgerlichen Rechte gewährte, ging über die engherzigen Vorſchriften der meiſten anderen deutſchen Geſetze weit hinaus und bezeichnete unge - fähr das Maß deſſen, was die Liberalen jener Zeit vorläufig für erreich - bar hielten; Hardenberg ſelbſt, der Gönner Koreffs, der ſich der Juden überall gütig annahm, wollte dieſe Grenze durchaus nicht überſchreiten.

In dieſem Sinne etwa ſprach ſich der Hiſtoriker Rühs aus, der den Reigen der antijüdiſchen Schriften eröffnete; ihm folgten Fries und Luden. Aber auch das radikale Oppoſitionsblatt ſchloß ſich der Anſicht dieſer chriſt - lich-germaniſchen Gelehrten an, desgleichen Paulus, der Führer des Ratio - nalismus, und Klüber, der weltlich liberale Publiciſt. Unter den nam -27*420II. 6. Die Burſchenſchaft.haften Schriftſtellern zeigte Kotzebue den Juden das meiſte Wohlwollen, der Todfeind der jungen Teutonen fühlte ſich durch eine innere Wahl - verwandtſchaft zu Saul Aſcher hingezogen; doch auch er meinte, erſt müßte die Cultur der Juden durch eine Art von Bekehrung gründlich umge - ſtaltet werden bevor ſie die Gleichberechtigung erlangen könnten. Die ſofortige Emancipation forderten nur einzelne wenig bekannte chriſtliche Publiciſten, ſo Lips in Erlangen, der die deutſche Nation durch die Bei - miſchung jüdiſchen Blutes beweglicher machen wollte.

Der Haß wider die Juden war ſo ſtark und allgemein, daß die öffent - liche Meinung ſelbſt in einem Falle, wo ihnen offenbare Unbill wider - fuhr, faſt einſtimmig gegen ſie Partei nahm: in dem häßlichen Frank - furter Judenſtreite. Wie ſchwer hatten ſich doch die verbündeten Mächte an unſerer alten Kaiſerſtadt verſündigt, als ſie ihr den leeren Titel einer unhaltbaren Souveränität verliehen. Frankfurt war zur Zeit des Reichs, trotz ſeines reichsſtädtiſchen Namens, immer die Stadt des Kaiſers geweſen, den Befehlen des Monarchen unmittelbar unterworfen, und zeich - nete ſich vor allen andern deutſchen Städten durch den lebendigen Ge - meinſinn eines reichen, thätigen, gebildeten Bürgerthums rühmlich aus; eben jetzt, nach den Kriegen, wurden das Senckenbergiſche Inſtitut und das Städel’ſche Muſeum eröffnet, eine Menge gemeinnütziger Vereine begann eine großartige Thätigkeit. Die ſchöne Stadt konnte unter der Hoheit einer kräftigen Staatsgewalt das Muſterbild einer deutſchen Commune werden. Nun aber erhielt ſie mitſammt den achtehalb Ortſchaften ihres Gebiets die volle Unabhängigkeit eines ſouveränen Staats, nur für Ver - faſſungsſtreitigkeiten war dem Deutſchen Bunde ein Schiedsrichteramt vor - behalten, das hinter den monarchiſchen Herrſchaftsrechten der alten Kaiſer weit zurückblieb; nun drang mit der Geſandtenſchaar des Bundestags ein höfiſches Element ein, das den ehrenfeſten bürgerlichen Geiſt verfälſchte, viele der alten Patriciergeſchlechter und die geſammte Börſenwelt in das Ränkeſpiel der Diplomatie verwickelte.

Aus ſo unnatürlichen Verhältniſſen erwuchs ein krankhafter Dünkel. Die Bürgerſchaft betrachtete die Vaterſtadt als die Hauptſtadt Deutſch - lands und mißbrauchte ihre neugewonnene Souveränität mit der ganzen Un - befangenheit jener ſocialen Selbſtſucht, welche in den Gemeinden faſt immer das große Wort führt, wenn ſie nicht durch die Gerechtigkeit einer monar - chiſchen Staatsgewalt gebändigt wird. Die neue Verfaſſung von 1816 ſicherte den eingeſeſſenen Bürger ſorgſam vor dem Wettbewerb der Aus - heimiſchen; nur wer 5000 Gulden einbrachte oder eine Frankfurterin heirathete, ſollte das Bürgerrecht erlangen. Derſelbe Sinn pfahlbürger - licher Engherzigkeit verſchuldete auch, daß die Juden des Bürgerrechts, das ſie ſich von Dalberg erkauft hatten, wieder beraubt wurden. Mit unge - heurem Geſchrei ſetzten ſie ſich ſofort zur Wehre, der junge Ludwig Börne trat mit ſeiner ſcharfen Feder für die bedrängten Stammgenoſſen ein. 421Der Frankfurter Judenſtreit.Die Rechtsfrage lag allerdings ſo einfach nicht, wie Börne mit rabuli - ſtiſcher Keckheit behauptete. Die 440,000 Gulden, welche die israelitiſche Gemeinde dem Großherzog von Frankfurt gezahlt, konnten nach ſtrengem Rechte nur als die Ablöſung des alten Judenſchoſſes von 22,000 Gulden jährlich, nicht als ein Kaufgeld für das Bürgerrecht betrachtet werden, und da die Bundesakte den Juden nur die ihnen von den deutſchen Bundesſtaaten bereits eingeräumten Rechte gewährleiſtete, ſo war recht - lich gegen das Vorgehen der Frankfurter Bürgerſchaft wenig einzuwenden. Die Klage der israelitiſchen Gemeinde wurde daher von dem Spruchcol - legium der Berliner Facultät als unbegründet abgewieſen.

Als die Juden ſich nunmehr mit einer Beſchwerde an den Bundes - tag wandten, da trat die politiſche Macht des Hauſes Rothſchild zum erſten male aus dem Dunkel heraus, und es geſchah das Unerhörte: der Bundes - tag zeigte ſich liberaler als die öffentliche Meinung. Hardenberg ließ, ge - mäß den alten Traditionen preußiſcher Duldſamkeit, von vornherein er - klären, daß den Frankfurter Juden mindeſtens ein beſchränktes Bürgerrecht gebühre, und zum Erſtaunen der Unkundigen ſchloß ſich Oeſterreich dieſer Meinung an, weil die Hofburg der Rothſchild’ſchen Gelder nicht entrathen konnte. Als Metternich und Gentz im Jahre 1818 nach Frankfurt kamen, boten ſie, wie ſchon früher auf dem Wiener Congreſſe, ihre ganze Bered - ſamkeit für ihre reichen Schützlinge auf. Mit der üblichen Langſamkeit ward nun weiter verhandelt, und im Jahre 1824 erhielten die Frank - furter Juden durch Vermittlung des Bundestags einen Theil ihrer Rechte wieder. Freilich nur einen Theil. Sie wurden als israelitiſche Bürger anerkannt, blieben jedoch von den Gemeindeämtern ausgeſchloſſen und ſtanden nur im Privatrechte den chriſtlichen Bürgern gleich, auch dies nicht ohne einige kleinliche Beſchränkungen: ſo durften ſie keinen Fruchthandel treiben, nur je ein Haus beſitzen, nur fünfzehn Ehen jährlich ſchließen. Die Preſſe aber hielt mit wenigen Ausnahmen hartnäckig die Partei des Frankfurter Pfahlbürgerthums, denn Dalbergs Geſetze ſtanden als Werke der Fremdherrſchaft in ſchlechtem Rufe, und allgemein ward gefürchtet, daß die Bundesſtadt durch das Ueberwuchern orientaliſcher Betriebſamkeit ihren deutſchen Charakter verlieren würde. Luden ſchrieb kurzab: vox populi vox Dei, die Stimme des Volkes iſt den Juden nicht günſtig.

In den Kreiſen der akademiſchen Jugend ward dieſe Stimmung der Zeit noch verſchärft durch die Romantik chriſtlicher Schwärmerei. Die Burſchen fühlten ſich als eine neue chriſtliche Ritterſchaft und zeigten ihren Judenhaß mit einer groben Unduldſamkeit, die oft ſtark an die Tage der Kreuzzüge erinnerte. Von Haus aus ſtand die Abſicht feſt, alle Nicht - Chriſten von dem neuen Jugendbunde auszuſchließen. Gelang dies, ſo waren die jüdiſchen Studenten in Wahrheit ihres akademiſchen Bürger - rechts beraubt, da die Burſchenſchaft ja der Geſammtheit der Studenten ihr Geſetz auferlegen, alle anderen Verbindungen beſeitigen wollte.

422II. 6. Die Burſchenſchaft.

Bereits im Sommer 1814 hatte ſich in Jena eine Wehrſchaft ge - bildet, die ihre Leute durch ritterliche Uebungen für den vaterländiſchen Waffendienſt vorbereitete. Im folgenden Frühjahr traten dann die Mit - glieder von zwei Landsmannſchaften, die des ſchalen alten Treibens müde waren, mit einigen Wilden zuſammen, und am 12. Juni 1815 ward die neue Burſchenſchaft, nach altem Jenenſer Brauch, durch einen feierlichen Aufzug über den Marktplatz eröffnet. An der Spitze ſtanden zwei Theologen aus Mecklenburg, Horn und Riemann, und ein begeiſterter Schüler von Fries, Scheidler aus Gotha, durchweg ſtattliche, brave junge Männer, die ſich im Kriege tapfer geſchlagen hatten. Der erſte Sprecher, Karl Horn, der ſpäterhin als Lehrer Fritz Reuters weiteren Kreiſen be - kannt wurde, blieb bis ins hohe Alter dem Enthuſiasmus ſeiner Jugend treu und ſtarb in dem frommen Glauben, daß er mit der Stiftung der Burſchenſchaft ein Werk des Herrn gethan habe. Die neue Verbin - dung brach ſofort mit allen Unſitten des Pennalismus und wurde nach rein demokratiſchen Grundſätzen durch einen freigewählten Ausſchuß und Vorſtand regiert; ihr Ehrengericht brachte die Duelle auf eine beſcheidene Zahl herab und wachte ſtreng über ehrenhafter Sitte.

Schon ein Jahr nach der Stiftung hatten ſich alle anderen Ver - bindungen in Jena aufgelöſt, und die Burſchenſchaft erſchien nunmehr wirklich, wie ſie es wollte, als ein Bund der geſammten chriſtlich-deutſchen Studentenſchaft. In dieſen erſten Tagen herrſchte noch durchaus der gute Ton einer warmen vaterländiſchen Begeiſterung. Welch ein Abſtand gegen die Roheit früherer Tage, wenn die Burſchen jetzt als Bundesge - ſang das mächtige Lied von Arndt anſtimmten:

Wem ſoll der erſte Dank erſchallen?
Dem Gott, der groß und wunderbar
Aus langer Schande Nacht uns Allen
In Flammen aufgegangen war,
Der unſrer Feinde Trotz zerblitzet,
Der unſre Kraft uns ſchön erneut
Und auf den Sternen waltend ſitzet
Von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Zum Feldzeichen ihres Bundes und der deutſchen Einheit, die er ſym - boliſch darſtellen ſollte, nahmen die Burſchen auf Jahns Vorſchlag ein ſchwarzrothgoldenes Banner an. Es waren die Uniformfarben der - tzower Freiſchaar, die auch eine goldgeſtickte ſchwarzrothe Fahne geführt hatte. Einzelne Burſchenſchafter ſtellten freilich die kühne Behauptung auf: daß ſich in dieſem Banner die ſchwarzgelben Farben des alten Reichs, verſchönt durch das Roth der Freiheit oder auch des Krieges, er - neuerten, denn Roth war einſt die Kriegsfarbe der Kaiſerlichen geweſen; die Eifrigſten aber wollten von ſolchen hiſtoriſchen Erinnerungen nichts hören und meinten kurzab: aus der Knechtſchaft Nacht durch blutigen Kampf423Die Jenenſer Burſchenſchaft.zum goldenen Tage der Freiheit. So iſt aus den Träumen der Stu - denten jene Tricolore entſtanden, die durch ein halbes Jahrhundert die Fahne der nationalen Sehnſucht blieb, die ſo viel Hoffnungen und ſo viel Thränen, ſo viel edle Gedanken und ſo viel Sünden über Deutſch - land bringen ſollte, bis ſie endlich, gleich dem ſchwarzblaurothen Banner der italieniſchen Carbonari, im Toben der Parteikämpfe entwürdigt und gleich jenem durch die Farben des nationalen Staates verdrängt wurde.

Die Abſicht der Burſchenſchaft, alle Studenten in einer Verbindung zu vereinigen, entſprang einem überſpannten Idealismus, da der ſchönſte Reiz ſolcher Jugendvereine doch in der Innigkeit der perſönlichen Freund - ſchaft liegt. Der unzähmbare perſönliche Stolz der Deutſchen wollte ſich ſo leicht nicht über einen Kamm ſcheeren laſſen. Ariſtokratiſchen Naturen war ſchon das allgemeine Duzen, das die Burſchenſchaft anbefahl, wider - wärtig; nicht blos die rohen Wüſtlinge der alten Schule, ſondern auch viele harmlos lebensluſtige junge Männer langweilten ſich bei dem alt - klugen, ernſthaften Tone des Burſchenhauſes, wo man nur durch pathe - tiſche Beredſamkeit, und allenfalls noch durch eine gute Klinge, ſich An - ſehen erwerben konnte; freie, eigenartige Köpfe, wie der junge Karl Immermann in Halle, wollten das Anſehen der Burſchenvorſteher über - haupt nicht gelten laſſen, da die berühmten akademiſchen Häuptlinge nur ſelten geiſtreiche Menſchen ſind. Wider ſolche Gegner half nur diktato - riſche Härte; die Einſeitigkeit, deren jede neue Richtung, zumal unter jungen Männern, bedarf, ſteigerte ſich in der Burſchenſchaft bald bis zum Terrorismus. In Jena gelang es, alle abweichenden Meinungen vorläufig zum Schweigen zu bringen, und nun ſchwoll das Selbſtgefühl der Burſchen unleidlich an. Gewichtig ſchritten an jedem Nachmittag die Herren des Vorſtands und des Ausſchuſſes auf dem Marktplatze auf und nieder, das Wohl des Vaterlandes und der Hochſchulen in gemeſſenem Geſpräche erwägend; ſie fühlten ſich als Herrſcher in dieſem kleinen aka - demiſchen Reiche, zumal da die meiſten Profeſſoren den jungen Herren eine ganz unbillige, aus Angſt und Wohlwollen gemiſchte Ehrerbietung erwieſen; ſie ſahen im Geiſte ſchon die Zeit, wo ganz Deutſchland von den Jüngern der Burſchenſchaft regiert würde.

Die patriotiſchen Zorn - und Prachtreden erklangen immer kräftiger und ſchloſſen ſchon zuweilen mit dem Trumpfe: unſer Urtheil hat das Gewicht der Geſchichte ſelbſt, es iſt vernichtend. Wie viele alte Burſchen - ſchafter ſind bis zur Grube in dem glücklichen Wahne geblieben, daß die Burſchenſchaft eigentlich das neue deutſche Reich gegründet habe; Arnold Ruge ſchilderte noch ein halbes Jahrhundert ſpäter den langen Einheits - und Freiheitskampf der neuen deutſchen Geſchichte wie eine einzige große Pro-patria-Paukerei zwiſchen Burſchenſchaften und Corps. Und ſicher - lich hat mancher redliche junge Mann die erſte Ahnung von der Herr - lichkeit des Vaterlandes auf der Burſchenkneipe gewonnen; aber der poli -424II. 6. Die Burſchenſchaft.tiſche Idealismus jener Tage war zu geſtaltlos, um eine beſtimmte Ge - ſinnung hervorzurufen. Der erſten Generation der Burſchenſchaft ge - hörten neben einzelnen liberalen Parteiführern, wie H. v. Gagern, auch viele Männer an, welche ſpäterhin eine ſtreng-conſervative Richtung ein - ſchlugen, ſo Leo, Stahl, W. Menzel, Jarcke, Hengſtenberg. Die wort - reiche Schwärmerei, die unklare Sehnſucht und die beſtändige Verwechs - lung von Schein und Wirklichkeit waren der Entwicklung des politiſchen Talents nicht günſtig. Im großen Durchſchnitt ſind aus der Burſchen - ſchaft mehr Gelehrte und Schriftſteller hervorgegangen, aus den Reihen ihrer ſpäteren Gegner, der Corps, mehr Staatsmänner.

Vorderhand war die Burſchenſchaft in Jena obenauf. Ihr Ruhm ward auf allen Univerſitäten verkündet und lockte neue Genoſſen herbei, ſo daß ſich die Studentenzahl in kurzer Zeit verdoppelte. Auch an an - deren Hochſchulen thaten ſich Burſchenſchaften auf, ſo in Gießen und in Tübingen, wo die Stiftler ſchon 1813 einen Tugendbund zur Bekämpfung der akademiſchen Roheit gebildet hatten; und ganz von ſelbſt erwachte der Wunſch die neue Gemeinſchaft auf einer feierlichen Zuſammenkunft aller deutſchen Burſchen zu befeſtigen. In ſolchen freien, über die Grenzen des Einzelſtaats hinausreichenden ſocialen Verbindungen findet der Ein - heitsdrang zertheilter Völker ſeinen natürlichen Ausdruck; in Deutſchland wie in Italien ſind die Congreſſe der Gelehrten, der Künſtler, der Ge - werbtreibenden wie Sturmvögel den blutigen Einheitskämpfen vorausge - zogen. Unter den Deutſchen aber ſchritten die Studenten Allen voran, und nichts bezeichnet ſo deutlich das harmloſe politiſche Stillleben jener Tage. Lange bevor die Männer auf den Gedanken kamen, ſich über ihre ernſten gemeinſamen Intereſſen zu verſtändigen, regte ſich in der Jugend der Drang, die gemeinſamen Träume und Hoffnungen auszutauſchen, in phan - taſtiſchem Spiele der idealen Einheit des Vaterlandes froh zu werden.

Das Jubelfeſt der Reformation erweckte überall unter den Prote - ſtanten ein frohes Gefühl dankbaren Stolzes; auch Goethe ſang in dieſen Tagen: ich will in Kunſt und Wiſſenſchaft wie immer proteſtiren. Die Studentenſchaft ward von dieſer Stimmung der Zeit um ſo ſtärker er - griffen, da ihr der chriſtlich-proteſtantiſche Enthuſiasmus des Befreiungs - krieges noch in der Seele nachzitterte. Als der Gedanke eines großen Verbrüderungsfeſtes der deutſchen Burſchen zuerſt in Jahns Kreiſe auf - getaucht war, beſchloß die Jenenſer Burſchenſchaft den Verſammlungstag auf den 18. des Siegesmonds 1817 zu verlegen um damit zugleich das Jubelfeſt der Reformation und die übliche Jahresfeier der Leipziger Schlacht zu verbinden. Armin, Luther, Scharnhorſt, alle die hohen Ge - ſtalten der Führer des Deutſchthums gegen das wälſche Weſen floſſen in den425Das Wartburgfeſt.Vorſtellungen der jungen Brauſeköpfe zu einem einzigen Bilde zuſammen. Den Radikaleren galt Luther als ein republikaniſcher Held, als ein Vor - kämpfer der freien Ueberzeugung ; in einer Feſtſchrift von Karl Sand, die unter die Burſchen vertheilt ward, erſchien die evangeliſche Lehre von der Freiheit des Chriſtenmenſchen mit modern-demokratiſchen Ideen phan - taſtiſch verbunden. Hauptidee unſeres Feſtes, hieß es da, iſt, daß wir allzumal durch die Taufe zu Prieſtern geweiht, Alle frei und gleich ſind; Urfeinde unſeres deutſchen Volksthums waren von jeher Drei: die Römer, Möncherei und Soldaterei. Dadurch ward freilich der geſammtdeutſche Charakter des Feſtes von vornherein getrübt. Die katholiſchen Univerſitäten des Oberlandes, die ohnehin mit den norddeutſchen noch keinen regel - mäßigen ſtudentiſchen Verkehr unterhielten, konnten keine Einladung er - halten; die Freiburger Burſchen mußten für ſich allein am 18. Oktober auf dem Wartenberge bei Donaueſchingen ihr Siegesfeuer anzünden. Von den öſterreichiſchen Hochſchulen war nicht die Rede, da ſie dem deutſchen Studentenbrauche ganz fern ſtanden, auch, mit Ausnahme der Sieben - bürger Sachſen und weniger Ungarn, noch faſt kein Oeſterreicher in Deutſchland ſtudirte. Aber auch auf den preußiſchen Univerſitäten hatte die Burſchenſchaft noch ſo wenig Anhang, daß allein Berlin der Einla - dung Folge leiſtete. So war denn bei der Feier der Völkerſchlacht grade die Studentenſchaft der beiden Staaten, welche allein ſchon bei Leipzig für die Sache der Freiheit gefochten, faſt gar nicht vertreten; und alle die wunderſamen Märchen, womit die Liberalen der rheinbündiſchen Län - der die Geſchichte des Befreiungskrieges auszuſchmücken liebten, fanden freien Paß.

Schon lange zuvor hatte die Preſſe mit mächtigen Trompetenſtößen den großen Tag angekündigt. Eine freie Zuſammenkunft von Deutſchen aller Länder allein um des Vaterlandes willen war dieſem Geſchlechte eine ſo erſtaunliche Erſcheinung, daß ſie ihm faſt wichtiger vorkam als die weltbewegenden Ereigniſſe der letzten Jahre. Im Laufe des 17. Oktobers langten an fünfhundert Burſchen in Eiſenach an, etwa die Hälfte aus Jena, dreißig aus Berlin, die übrigen aus Gießen, Marburg, Erlangen, Heidelberg und anderen Univerſitäten der Kleinſtaaten; die rüſtigen Kieler hatten nach Turnerbrauch den weiten Weg zu Fuß zurückgelegt. Auch vier der Jenenſer Profeſſoren fanden ſich ein, Fries, Oken, Schweitzer und Kieſer. Jede neu eintreffende Schaar ward ſchon am Thore mit ſtür - miſcher Freude begrüßt und dann in den Rautenkranz geleitet um dort vor den geſtrengen Herren des Ausſchuſſes auf dreitägigen Burgfrieden Urfehde zu ſchwören. Anderen Tags in der Frühe ſtieg der heilige Zug bei hellem Herbſtwetter durch den Wald hinauf zu der Burg des Refor - mators: voran der Burgvogt Scheidler mit dem Burſchenſchwerte, darauf vier Burgmänner, dann, von vier Fahnenwächtern umgeben, Graf Keller mit der neuen Burſchenfahne, welche die Jenenſer Mädchen ihren ſitten -426II. 6. Die Burſchenſchaft.ſtrengen jungen Freunden kürzlich geſtickt hatten, dann endlich die Bur - ſchen Paar an Paar, viele ſchöne germaniſche Reckengeſtalten darunter, Mancher im Vollbart, was bei ängſtlichen Gemüthern ſchon als ein Zeichen hochverrätheriſcher Geſinnung galt. Allen lachte die Freude aus den Augen, jene glückliche Selbſtvergeſſenheit der Jugend, die noch ganz im Genuſſe des Augenblicks aufzugehen vermag; ihnen war, als ob ihnen heute zum erſten male die Herrlichkeit ihres Vaterlandes leibhaftig ent - gegenträte.

Droben im Ritterſaale der Wartburg, den der Großherzog gaſtfreund - lich geöffnet hatte, wurde zuerſt unter Pauken - und Trompetenſchall Eine feſte Burg iſt unſer Gott geſungen. Darauf hielt der Lützower Riemann aus der Fülle ſeines ehrlichen Herzens heraus eine Feſtrede, die in hoch - pathetiſchen überſchwänglichen Sätzen von den Thaten Luthers und Blü - chers ſprach und dann bei den Geiſtern der erſchlagenen Helden die Bur - ſchen mahnte zum Streben nach jeglicher menſchlichen und vaterländiſchen Tugend . Einige der landläufigen Schlagwörter von den vereitelten Hoffnungen des deutſchen Volks und dem einen Fürſten, der ſein Wort gelöſt, liefen zwar mit unter; das Ganze war ein jugendlich unklarer, durchaus harmloſer Gefühlserguß, ebenſo vieldeutig und unbeſtimmt, wie die neue Loſung Volunto! welche die Burſchen gern im Munde führten. Auch was nachher noch von Profeſſoren und Studenten geredet ward ging nicht über dies Maß hinaus, ſelbſt Oken ſprach mit ungewohnter Selbſtbeherrſchung und warnte die jungen Leute vor einer verfrühten politiſchen Thätigkeit.

Nach dem Mittagsmahle gingen die Burſchen zur Stadt hinab in die Kirche, wo auch der Eiſenacher Landſturm dem Gottesdienſte beiwohnte; dann gaben noch die Kämpen des Berliner und des Jenenſer Turnplatzes den ſtaunenden Landſtürmern ihre Künſte zum Beſten. Als die Dämme - rung hereinbrach zog man mit Fackeln wieder hinauf nach dem Warten - berge, der Wartburg gegenüber, wo mehrere große Siegesfeuer brannten, die mit patriotiſchen Reden und Liedern begrüßt wurden. Bis dahin war das Feſt in glücklicher Eintracht verlaufen; hier aber ward zum erſten male offenkundig, daß ſich bereits eine kleine extreme Partei innerhalb der Burſchenſchaft gebildet hatte: jene fanatiſchen Urteutonen aus Jahns Schule, die man die Altdeutſchen nannte. Dieſe köſtliche Gelegenheit für eine fratzenhafte Eulenſpiegelei konnte ſich der Turnmeiſter doch nicht ent - gehen laſſen. Er regte zuerſt den Gedanken an, dies Lutherfeſt durch eine Nachäffung der kühnſten That des Reformators zu krönen und, wie einſt Luther die Bannbulle des Papſtes verbrannt hatte, ſo jetzt die Schriften der Feinde der guten Sache ins Feuer zu werfen. Da die Mehrheit des Feſtausſchuſſes, klüger als der Alte, den Vorſchlag ablehnte, gab Jahn gleichwohl ſeinen Berlinern ein Verzeichniß der zu verbren - nenden Bücher mit auf den Weg, und dieſe Getreuen, Maßmann voran,427Das Feuergericht auf dem Wartenberge.beſchloſſen nunmehr den Plan des Meiſters auf eigene Fauſt auszuführen, was der Ausſchuß um des Friedens willen nicht gradezu verbieten wollte. Kaum war auf dem Wartenberge das letzte ernſte Lied der die Flammen umringenden Burſchen verklungen und die eigentliche Feier beendet, ſo trat Maßmann plötzlich hervor und forderte in einer ſchwülſtigen Rede die Brüder auf, zu ſchauen, wie nach Luthers Vorbilde in zehrendem Fegefeuer Gericht gehalten werde über die Schandſchriften des Vater - landes. Jetzt ſei die heilige Stunde gekommen, daß alle deutſche Welt ſchaue was wir wollen; daß ſie wiſſe, weß ſie dereinſt ſich von uns zu verſehen habe.

Darauf trugen ſeine Geſellen einige Ballen alten Druckpapiers her - bei, die mit den Titeln der vervehmten Bücher beſchrieben waren. Auf eine Miſtgabel aufgeſpießt flogen dann die Werke der Vaterlandsverräther unter tobendem Gejohle in das hölliſche Feuer: eine wunderlich gemiſchte Geſellſchaft von etwa zwei Dutzend guten und ſchlechten Büchern, Alles was grade in jüngſter Zeit den Zorn der Iſis und ähnlicher Blätter her - vorgerufen hatte. Da brannten Wadzeck, Scherer und, der Vollſtändigkeit halber, gleich alle andern ſchreibenden, ſchreienden und ſchweigenden Feinde der löblichen Turnkunſt , desgleichen die Alemannia und alle andern das Vaterland ſchändenden und entehrenden Zeitungen ; dann natür - lich drei Schriften von dem verhaßten Schmalz ( Gänſe -, Schweine - und Hundeſchmalz brüllte der Chor) und der Codex der Gensdarmerie von ſeinem Genoſſen Kamptz. Neben dem Code Napoleon, Kotzebues Deut - ſcher Geſchichte und Saul Aſchers Germanomanie, der ein Wehe über die Juden nachgerufen ward, wanderte auch Hallers Reſtauration in die Flammen: der Geſell will keine Verfaſſung des deutſchen Vater - landes , hieß es zur Erläuterung, da doch keiner von den Burſchen das ernſte Buch geleſen hatte. Aber auch die Liberalen Benzenberg und Wangenheim mußten den Grimm der Jugend erfahren, weil die Jenenſer Publiciſten ihre Schriften nicht verſtanden. Zuletzt wurden noch ein Uhlanenſchnürleib, ein Zopf und ein Corporalſtock verbrannt, als Flügel - männer des Kamaſchendienſtes, die Schmach des ernſten heiligen Wehr - ſtandes , und mit einem dreimaligen Pere-Pereat auf die ſchuft’gen Schmalzgeſellen gingen die Vehmrichter aus einander.

Es war eine unbeſchreiblich abgeſchmackte Poſſe, an ſich nicht ärger als viele ähnliche Ausbrüche akademiſcher Roheit, bedenklich nur durch den maßloſen Hochmuth und die jakobiniſche Unduldſamkeit, die ſich in den Schimpfreden der jungen Leute ankündigten. Darum ſprach ſich Stein in den ſchärfſten Worten über die Fratze auf der Wartburg aus, und der immer ſchwarzſichtige Niebuhr ſchrieb beſorgt: Freiheit iſt ganz un - möglich, wenn die Jugend ohne Ehrerbietung und Beſcheidenheit iſt. Seine Wahrhaftigkeit fühlte ſich angeekelt von dieſer religiöſen Komödie : dort der kühne Reformator, der ſich gegen die höchſte und heiligſte Gewalt428II. 6. Die Burſchenſchaft.der Zeit empörte, und hier das ungefährliche Feuergericht großſprecheriſcher junger Burſchen über eine Reihe von Schriften, woraus ſie kaum eine Zeile kannten welche ein lächerlicher Contraſt! Auf der Burſchenver - ſammlung am nächſten Tage ſprachen die Studenten wieder ruhiger, verſtändiger mindeſtens als ihr Lehrer Fries, der ihnen eine unglaublich ge - ſchmackloſe, von myſtiſcher Bibelweisheit und ſachſen-weimariſchem Frei - heitsdünkel ſtrotzende Rede ſchriftlich zurückgelaſſen hatte: Kehret wieder zu den Eurigen und ſaget: Ihr waret im Lande deutſcher Volksfreiheit, deut - ſcher Gedankenfreiheit Hier laſten keine ſtehenden Truppen! Ein kleines Land zeigt Euch die Ziele! Aber alle deutſchen Fürſten haben daſſelbe Wort gegeben u. ſ. w. Wahrlich, Stein wußte wohl, warum er die Jenenſer Profeſſoren als faſelnde Metapolitiker verdammte, und Goethe nicht minder, warum er ſeinen Fluch ausſprach über alles deutſche poli - tiſche Gerede; denn was ließ ſich von der Jugend erwarten, wenn ihr gefeierter Lehrer die unberittenen weimariſchen Huſaren dem übrigen Deutſchland als ruhmreiches Vorbild darſtellte! Dieſelbe widerliche Ver - miſchung von Religion und Politik, die ſchon aus Fries Rede ſprach, offenbarte ſich dann noch einmal am Nachmittage, als einige der Bur - ſchen auf den Einfall kamen noch das Abendmahl zu nehmen. Der Super - intendent Nebe gab ſich in der That dazu her, den aufgeregten und zum Theil angetrunkenen jungen Männern das Sakrament ’zu ſpenden ein charakteriſtiſches Probſtück jener jämmerlichen Schlaffheit, welche die weltlichen wie die geiſtlichen Behörden der Kleinſtaaterei in unruhigen Tagen immer ausgezeichnet hat.

Trotz allen Thorheiten Einzelner war das Feſt im Ganzen doch glück - lich und unſchuldig verlaufen. Als man am Abend unter ſtrömenden Thränen ſich trennte, blieb den Meiſten eine Erinnerung für das ganze Leben, ſtrahlend wie ein Maientag der Jugend ſo geſteht Heinrich Leo; ſie hatten ſich brüderlich zuſammengefunden mit den Genoſſen aus Süd und Nord, ſie meinten die Einheit des zerriſſenen Vaterlandes ſchon mit Händen zu greifen, und wenn die öffentliche Meinung verſtändig genug war die jungen Feuerköpfe ſich ſelber und ihren Träumen zu überlaſſen, ſo konnten die guten Vorſätze, welche mancher wackere Jüngling in jenen erregten Stunden gefaßt hatte, noch heilſame Früchte bringen.

Aber in der tiefen Stille, die über dem deutſchen Norden lagerte, hallten die kecken Reden der Burſchen nur allzu laut wieder; es war als ob Freund und Feind ſich verſchworen hätten, die Todſünde der Jugend, die ihr den ehrlichen Enthuſiasmus verdarb, die krankhafte Selbſtüber - ſchätzung, bis zum Unſinn zu ſteigern, als ob Jedermann mit einſtimmte in die ruhmredige Verſicherung eines der Wartburg-Redner, Carové, der die Univerſitäten als die natürlichen Vertheidiger der Volksehre gefeiert hatte. Mit lächerlicher Ernſthaftigkeit prieſen die liberalen Zeitungen dies erſte Erwachen des öffentlichen Lebens der Nation, dieſen Silberblick unſerer429Der Federkrieg um das Wartburgfeſt.Geſchichte, dieſen Blüthendurchbruch unſerer Zeit; die alte Angſt des ge - zähmten Philiſters vor dem nachtwächter-prügelnden Studenten kleidete ſich in politiſche Gewänder. Eine ganze Literatur von Schriften und Gegenſchriften beleuchtete das wunderbare Schauſpiel von allen Seiten und erhob den Studentencommers auf die Höhe eines europäiſchen Er - eigniſſes. Natürlich daß die Helden ſelber an dieſem Federkriege mit gerechtem Stolze theilnahmen. Das treueſte Bild von der nebelhaften Begeiſterung der jungen Leute gab Maßmann in einem langen Feſtberichte, deſſen geſchraubte orakelhafte Sprache freilich auch zeigte, wie viel un - deutſches Weſen ſich in dem Jahn’ſchen Kraftmenſchenthum verbarg: Ob - ſchon nun die trübe Winternacht der Knechtſchaft ſo hob er an noch immer laſtet auf den Bergen und an den Strömen des deutſchen Landes, ſo ſind doch der Berge Gipfel vergoldet, das blutgoldene Morgen - roth zieht herauf. Der arme Junge hatte jetzt ſchon für die Narrheit des Turnmeiſters ſchwer zu büßen; da er eine Unterſuchung fürchtete und vor den Richtern doch nicht eine gar zu traurige Figur ſpielen wollte, ſo mußte er ein ganzes Winterſemeſter opfern um alle die Schandbücher, die er auf dem Wartenberge ſymboliſch verbrannt hatte, nachträglich zu leſen. Ein Anderer, vermuthlich Carové, widmete ſein Buch ſeinen rhein - ländiſchen Landsleuten mit dem Wunſche, daß die Geiſtesſonne von der Wartburg auch ſie erleuchten, ihnen Troſt und Stärkung bringen möge in ihrem Unglück. Indeß blieb die Mehrheit noch immer leidlich ruhig. Ein Antrag auf Veröffentlichung eines politiſchen Programms wurde ver - worfen mit der ausdrücklichen Erklärung, daß die Burſchenſchaft ſich nicht in die Politik zu miſchen habe; auch eine kleine Schrift über das Wart - burgsfeſt von F. J. Frommann, dem Sohne der angeſehenen Jenenſer Buchhändlerfamilie, war durchaus beſcheiden, von einem harmloſen jugendlichen Enthuſiasmus erfüllt.

Leider gebärdeten ſich mehrere der Profeſſoren, welche dem Feſte bei - gewohnt, weit thörichter als ihre Schüler. Fries nahm keinen Anſtand, in einer muſterhaft groben Zeitungserklärung das Flammengericht über die Schriften einiger Schmalzgeſellen ſchlankweg zu billigen; Oken aber hielt in der Iſis die Wartburgverſammlung Vielen die über Deutſchland Rath und Unrath halten als leuchtendes Beiſpiel vor und verſchwendete die ganze Bilderpracht ſeiner Gänſe, Eſels-Pfaffen - und Judenköpfe um die Verfaſſer der verbrannten Schriften noch einmal zu verhöhnen, worauf denn die Jenenſer Burſchen die Zerrbilder der Iſis in einem Masken - zuge auf dem Markte dramatiſch darſtellten. Kieſer endlich, der unter den Medicinern trotz ſeiner magnetiſchen Geheimlehren als geiſtreicher Kopf und tüchtiger Gelehrter geachtet war, veröffentlichte eine dem Wartburgsgeiſte der deutſchen Hochſchulen gewidmete Schrift, die in aberwitzigen Prahlereien gradezu ſchwelgte: da war die Wartburgsfeier ein Ereigniß, auf welches Deutſchlands Völker noch nach Jahrhunderten ſtolz ſein werden, das430II. 6. Die Burſchenſchaft.wie alles wahrhaft Große nie in der Geſchichte wiederkehren und in ſeinem dunklen Schooße fruchtbare, auf Jahrhunderte wirkende Keime ent - halten kann!

An dieſen Ausbrüchen akademiſchen Größenwahnſinns hatte die klein - liche Empfindlichkeit der Gegner reichliche Mitſchuld. Die Zeit war an die Gehäſſigkeit politiſcher Kämpfe noch wenig gewöhnt, faſt alle die be - ſchimpften Schriftſteller fühlten ſich durch die Narrethei der Burſchen ernſtlich beleidigt. Nur Wangenheim ertrug den Unglimpf mit guter Laune: bisher hatten ihn ſeine Genoſſen am Bundestage als Demagogen beargwöhnt, ſeit ſein Buch auf der Wartburg verbrannt worden behan - delten ſie ihn wieder freundlicher. Viele der Uebrigen beſchwerten ſich laut und ſetzten finſtere Gerüchte in Umlauf: auch die Urkunde der Heiligen Allianz und die Bundesakte ſollten die jungen Hochverräther mit verbrannt haben. Der Ungebärdigſte von Allen war Geh. Rath Kamptz; mit beiden Händen ergriff er den willkommenen Anlaß um den akademiſchen Jako - binern endlich den Garaus zu machen. Welch ein Glück auch, daß die un - wiſſenden Jungen grade ſeinen Codex der Gensdarmerie ins Feuer geworfen hatten, eine Sammlung von deutſchen Polizeigeſetzen, faſt ohne eigene Zu - thaten des Herausgebers! Alſo landesherrliche Verordnungen, darunter auch ſolche von Karl Auguſt ſelber, waren auf großherzoglich ſachſen-weimariſchem Boden öffentlich verbrannt; nach Quiſtorps Peinlichem Rechte lag der That - beſtand des Laſters der beleidigten Majeſtät unbeſtreitbar vor. In zwei drohenden Briefen an den Großherzog und dann noch in einer Flugſchrift über die öffentliche Verbrennung von Druckſchriften legte Kamptz dieſe Gedanken dar und forderte ſtürmiſch Genugthuung: der deutſche Boden ſei entweiht, das Jahrhundert entheiligt durch den Vandalismus dema - gogiſcher Intoleranz, durch die Volksdümmlichkeit der Werkzeuge ſchlechter Profeſſoren.

Am Wiener Hofe war nur eine Stimme der Angſt und der Ent - rüſtung. Durch die Nachrichten aus Eiſenach wurde Metternich zum erſten male bewogen, ſich der deutſchen Dinge, die er bisher ſo gleichgiltig behandelt hatte, ernſtlich anzunehmen; er erkannte mit Schrecken, daß ſich hinter dem phantaſtiſchen Treiben der Jugend doch der Todfeind ſeines Syſtems, der nationale Gedanke verbarg. Sofort erklärte er dem preu - ßiſchen Geſandten, jetzt ſei es an der Zeit gegen dieſen Geiſt des Jako - binismus zu wüthen (sévir), und erſuchte den Staatskanzler, gemeinſam mit Oeſterreich wider den Weimariſchen Hof vorzugehen. *)Kruſemarks Berichte, 12., 22. Nov. 1817.Im erſten Schrecken wollte er ſogar alle öſterreichiſchen Studenten ſogleich aus Jena abberufen. Im Oeſterreichiſchen Beobachter veröffentlichte Gentz eine Reihe geharniſchter Artikel über das Wartburgfeſt, ein kunſtvolles Gemiſch von Scharfſinn und Thorheit. Nur mit Zittern, rief er aus, könne ein Vater431Die Großmächte und die Studenten.heute noch ſeinen Sohn auf die Hochſchule ziehen ſehen; an ſolche Klagen nervöſer Aengſtlichkeit ſchloß ſich dann eine meiſterhafte, aus der Fülle überlegener Sachkenntniß geſchöpfte Widerlegung der ruhmredigen Burſchen - märchen von den Wunderthaten der Freicorps und der heiligen Schaaren .

In Berlin zeigte ſich der König weit beſorgter als die Miniſter. Friedrich Wilhelm hatte ſelbſt nie ſtudirt und kannte den derben Humor des Burſchenlebens nicht; das Poltern und Prahlen des jungen Volks ekelte ihn an. Er war bereits im Frühjahr gegen die Hallenſer Teutonia einge - ſchritten, als Karl Immermann ihn um Schutz gegen den Terrorismus dieſer Burſchenſchaft bat, und ließ nunmehr ſogleich auf allen preußiſchen Hochſchulen Nachfrage halten, wer an dem Wartburgfeſte theilgenommen. Die Königsberger Burſchen wurden belobt weil ſie ſich ferngehalten; der Unterrichtsminiſter aber erhielt (7. Decbr. ) den ſtrengen Befehl, ſofort alle Verbindungen bei Strafe der Relegation zu verbieten, auch das Turn - weſen ſcharf zu beaufſichtigen. Ich werde, ſchrieb ihm der König, nicht den mindeſten Anſtand nehmen, diejenige Univerſität, auf welcher der Geiſt der Zügelloſigkeit nicht zu vertilgen iſt, aufzuheben. *)Cabinetsordre an Altenſtein, 7. Dec. 1817.

Altenſtein entledigte ſich des Auftrags mit wohlwollender Schonung; er hatte das Zutrauen zu dem guten Sinne der Jugend nicht verloren, er lobte die furchtloſe Haltung des Großherzogs von Weimar und hielt die Hoffnung feſt, daß die preußiſchen Univerſitäten, ſo wie ſie an zweck - mäßiger, freigebiger Ausſtattung allen deutſchen vorangehen, dieſen auch als Muſter eines regen, aber auf das Rechte gerichteten Strebens voran - leuchten werden . **)Altenſtein an Hardenberg, 30. Nov. 1817, 25. Auguſt 1818.Hardenberg dagegen ging auf die Anſichten des Königs mit befliſſenem Eifer ein. Nicht als ob er die Beſorgniſſe des Monarchen durchaus getheilt hätte, aber die Reden der jungen Demagogen drohten ihm ſeine liebſten Pläne zu zerſtören. Das letzte Ziel ſeiner Politik blieb die Vollendung der Verfaſſung, und dies Werk konnte nie gelingen, wenn der erwachte Argwohn in der Seele des Königs ſich befeſtigte; darum mußte jede Regung demagogiſcher Geſinnung ſofort und für immer ge - bändigt werden. Als irgend ein Ohrenbläſer die ſtreng wiſſenſchaftlichen, von aller Parteigeſinnung freien Vorleſungen Schleiermachers über die Lehre vom Staate eben jetzt bei Hofe verdächtigt hatte und der König einige verdrießliche Bemerkungen fallen ließ, da fand Hardenberg nicht den Muth, durch ein ehrliches Wort dem Monarchen die Augen zu öffnen, ſondern verlangte alsbald von dem Unterrichtsminiſter das Verbot dieſer Vorträge, die, ohne einen reellen Nutzen zu gewähren, nur dazu dienen die Ge - müther zu entzweien und gab ſein Vorhaben nur auf weil ſogar Wittgen - ſtein die Ausführung bedenklich fand. ***)Hardenberg an Altenſtein und Wittgenſtein, 7. Dec., Rother an Hardenberg, 15. Dec. 1817.Ebenſo willfährig kam er den432II. 6. Die Burſchenſchaft.Vorſchlägen Metternichs entgegen; er beſchloß, da er grade die rheiniſchen Provinzen beſuchen wollte, den Weg über Weimar zu nehmen um dort, unterſtützt von dem öſterreichiſchen Geſandten Grafen Zichy, den Groß - herzog zur Rede zu ſtellen und ihm zwei mahnende Briefe des Kaiſers und des Königs zu übergeben.

Inmitten der allgemeinen Aufregung blieb allein Karl Auguſt heiter und gleichmüthig; er hatte ſelber einſt lange im Uebermuth brauſender Jugend geſchwelgt und nahm die Prahlerei der Burſchen nicht ernſter als ſie es verdiente. Die auf der Wartburg angekündigte Deutſche Burſchen - zeitung ward verboten, einige andere Zeitungen verwarnt, und gegen Oken leitete man ein Strafverfahren ein, das mit Freiſprechung endigte, da die Anklage thörichterweiſe auf Hochverrath lautete; für Injurienklagen hätte jener Artikel der Iſis allerdings überreichen Stoff geboten. Auch eine Unterſuchung gegen Fries wurde als gegenſtandslos wieder einge - ſtellt, und man begnügte ſich, ihm wegen ſeiner taktloſen Reden einen Verweis zu ertheilen. Im Uebrigen blieben die Jenenſer unbehelligt. Der preußiſchen Regierung ließ Karl Auguſt durch ſeinen Geſchäftsträger ſagen (26. November): Die gegenwärtige Aufregung iſt allgemein, ſie iſt eine natürliche Folge der Ereigniſſe; Vertrauen und Muth können ſie erſticken, Argwohn und gewaltſame Maßregeln würden Deutſchland ver - wirren. *)Weiſung Edlings an den Geſchäftsträger Müller, 26. Nov. 1817.Den Abgeſandten der beiden Großmächte trat er mit ſeinem gewohnten fröhlichen Freimuth entgegen und verſprach, bei einem Bundes - preßgeſetze mitzuhelfen. Auf den Wunſch des Großherzogs ging dann Zichy mit Edling ſelber nach Jena um dies Neſt des Aufruhrs näher zu betrachten, und da ſich dort nichts Auffälliges zeigte, ſo ſtanden die beiden Großmächte vorläufig von weiteren Schritten ab. Aber der Arg - wohn blieb lebendig; in den ſchärfſten Worten ſprach König Friedrich Wilhelm ſeine Rüge aus, da Maßmann im nächſten Sommer als Turn - lehrer nach Breslau berufen wurde. Auch die franzöſiſche Regierung, längſt ſchon beunruhigt durch die Umtriebe des Prinzen von Oranien und der Flüchtlinge in Belgien, machte dem Weimariſchen Hofe ernſte Vorſtellungen. Czar Alexander, der Vorkämpfer des chriſtlichen Libera - lismus, weigerte ſich zwar beim Deutſchen Bunde Lärm zu ſchlagen, wie Metternich von ihm verlangt hatte; doch konnte auch er eine ſtille Angſt nicht ganz bemeiſtern und mahnte den Großherzog in einem eigenhändigen Briefe zur Strenge gegen die Preſſe. **)Altenſtein an Hardenberg, 18. Aug., 15. Sept.; Bericht des bad. Geſandten General v. Stockhorn, Berlin, 7. Febr. 1818.Immer ſtärker ward die Furcht vor einer nahenden Revolution, und da die fremden Mächte wohl fühlten, was ſie alle an Deutſchland geſündigt hatten, ſo betrachteten ſie dies ſtille Land, das doch erſt an wenigen Orten die Spuren unruhiger Bewegung zeigte, als den natürlichen Mittelpunkt der europäiſchen Umſturzpartei.

433Luden und Kotzebue.

Auf die Stimmung der Studenten wirkte die Aengſtlichkeit der Ca - binette ſehr ſchädlich ein: die Burſchen meinten auf der Höhe der Weltgeſchichte zu ſtehen, ſeit alle Großmächte des Feſtlandes wider ſie auf - traten. Die demokratiſchen Ideen, die bisher unter der Decke der chriſt - lich-germaniſchen Phantaſterei geſchlummert hatten, traten jetzt keck hervor; neben Körners Liedern ward ſchon die vom alten Voß verdeutſchte Mar - ſeillaiſe häufig geſungen:

Wir nah’n, wir nah’n! Beb, Miethlingsſchwarm,
Entfliehe oder ſtirb!

und Niemand fragte mehr, welchem Volke denn dieſer Miethlingsſchwarm Rouget de Lisle’s angehört hatte. Die radikale Partei der Altdeutſchen ſonderte ſich allmählich ſchärfer von der unſchuldigen Maſſe der Burſchen ab. Während dieſe, des ewigen politiſchen Geſchwätzes müde, ſich in Lichten - hain ein luſtiges Bierherzogthum einrichtete, ſaßen jene ruhigen republi - kaniſchen Staatsmänner , wie Arnold Ruge ſie nennt, in ihrer Republik Ziegenhain feierlich beiſammen und unterſuchten in pathetiſchen Reden, ob die Einheit Deutſchlands beſſer durch Ermordung oder durch friedliche Mediatiſirung der Fürſten zu erreichen ſei. Ein neues Lied Dreißig oder dreiunddreißig, gleichviel! ſprach ſich ſehr aufrichtig für den erſteren Weg aus, doch gab es auch noch einzelne ſanfte Naturen, welche dem König von Preußen ein Gnadengeld von 300 Thlr. jährlich vergönnen wollten. Die Thorheit begann doch recht zuchtlos zu werden; und wie die Umgangsformen dieſer turnenden Jugend ſich verfeinerten, das bekam der unſchuldige Fries einſt zu ſpüren, als ihm einer ſeiner Studenten ſchrieb: Ich denke, ich ſchreibe künftig nicht mehr an den Hofrath Fries, ſondern ich ſchreibe an Dich meinen älteren Freund Fries, und Du ſchreibſt an Deinen treuen Schüler D Nun ſieh, Du alter braver Kerl, wir ſind jüngere Leute, und uns iſt ein beſſeres Leben aufgegangen als Dir in Deiner Jugend.

Bald nach dem Wartburgfeſte goß ein häßlicher literariſcher Zank abermals Oel ins Feuer. Seit Langem war Kotzebue den Burſchen ein Dorn im Auge; ſie haßten die weichliche Lüſternheit ſeiner Dramen und fürchteten ihn als einen gewandten Widerſacher. In ſeinem Literariſchen Wochenblatte, das ſich der beſonderen Gunſt Metternichs erfreute, vertrat er die Anſchauungen des aufgeklärten Abſolutismus, feierte Rußlands Ruhm mit unterthäniger Schmeichelei und bekämpfte den Idealismus der Jugend, wie Alles was über den platten Verſtand hinausging, ſo hämiſch und boshaft, daß ſelbſt Goethe ihm das Feuergericht auf der Wartburg von Herzen gönnte und ihm zurief:

Du haſt es lange genug getrieben,
Niederträchtig vom Hohen geſchrieben.
Daß Du Dein eigenes Volk geſcholten,
Die Jugend hat es Dir vergolten.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 28434II. 7. Die Burſchenſchaft.

Aber auch ſein frecher Witz und ſeine behende Feder waren dem alten Schelm treu geblieben; über den unduldſamen Hochmuth der Jugend ſagte er manches treffende Wort, für ihre Ungezogenheiten hatte er ein ſcharfes Auge, und wenn er die Iſis in ſeiner luſtigen Empfehlung der Eſelsköpfe durchhechelte, ſo blieb er der Sieger, da die aufgeblaſenen witz - loſen jungen Herren ihm nicht mit derſelben Waffe zu antworten ver - ſtanden. Kotzebue lebte als ruſſiſcher Legationsrath in Weimar, und ſchon dieſe diplomatiſche Stellung erregte Aergerniß; denn er war ein Weimarer Kind, er verdankte den Deutſchen allein ſeinen literariſchen Namen und erlaubte ſich in ſeinem Wochenblatte ganz wie ein deutſcher Staatsbürger über die vaterländiſchen Angelegenheiten mitzureden. Aber wer durfte auch von dieſem Manne das Feingefühl des nationalen Stolzes verlangen? Es war ein offenes Geheimniß, daß überall in Deutſchland geheime Agenten der Petersburger Polizei lebten; als der ruſſiſche Staats - rath Faber die Rheinlande bereiſte, hielt Graf Solms-Laubach für nöthig ihm den treuen Bärſch als Aufpaſſer nachzuſenden; das ruſſiſche Cabinet verdankte ſeine Kenntniß der europäiſchen Zuſtände vornehmlich den Mit - theilungen, welche alle im Weſten lebenden vornehmen Ruſſen ihrem Hofe zu ſenden pflegten. Auch Kotzebue ſchickte von Zeit zu Zeit Berichte nach Petersburg, doch zählte er keineswegs zu den gefährlichen Spähern, da ſeine Bulletins lediglich kritiſche Ueberſichten über die neueſten Erſcheinungen der deutſchen Literatur brachten.

Da kam eines Tages Kotzebues Schreiber zu dem Redakteur des Oppoſitionsblattes, Lindner, der mit ihm in einem Hauſe wohnte, und erſuchte ſeinen Hausgenoſſen arglos, ihm einige Stellen aus einem fran - zöſiſchen Berichte ſeines Herrn entziffern zu helfen. Lindner erkannte ſo - fort was er vor ſich hatte, bat ſich die Bogen für eine Stunde aus, ſchrieb die wichtigſten Stellen ab und hielt es nicht für unehrenhaft, das alſo entwendete Bulletin alsbald an Luden mitzutheilen. Das Blatt enthielt nichts weiter als ein paar flüchtige und ungenaue, aber dem Sinne nach richtige Auszüge aus der Nemeſis und ähnlichen Schriften, dazu einige wenig ſchmeichelhafte Urtheile über Ludens Schriftſtellerei, wie ſie von einem politiſchen Gegner ſich nicht anders erwarten ließen; die Jenenſer mindeſtens pflegten mit ihren Feinden weit gröblicher umzuſpringen. Luden aber, dem es nicht an Weltklugheit fehlte, ergriff begierig die Gelegenheit um einen gefürchteten Gegner bloßzuſtellen und zugleich ſich ſelber von dem Verdachte demagogiſcher Geſinnung zu reinigen. Er ließ das ent - wendete Blatt drucken, ſuchte durch eine kleinliche und nicht ganz redliche Wortklauberei zu erweiſen, daß Kotzebue die unſchuldigen Worte der Nemeſis gefälſcht habe, und brandmarkte ihn als lügneriſchen Anſchwärzer. Auf ihrer ganzen Linie ſchritt die liberale Preſſe nunmehr zum Angriff wider den ruſſiſchen Spion , der doch ſchlechterdings kein Geheimniß ausge - ſpäht, ſondern nur über veröffentlichte Druckſchriften berichtet hatte. Schlag435Akademiſche Unruhen.folgte auf Schlag; ein wüthender Streit begann, der beiden Theilen zur Unehre gereichte. Die Gerichte ſchritten ein und verurtheilten beide Par - teien; Lindner ward ausgewieſen und ging ins Elſaß, wo er bald, bezaubert von den Doctrinen der Franzoſen, zu einem liberaliſirenden Rheinbündler wurde. Die Studenten aber hatten jetzt endlich ein Opfer gefunden für den zielloſen, ingrimmigen Haß, der in ihren Herzen kochte; der fauniſche Kauz in Weimar erſchien ihnen wie der Ausbund aller Niedertracht, wie der böſe Dämon des Vaterlandes, und drohend erklang es auf dem Burſchenhauſe:

Noch bellt der Kamptz - und Schmalzgeſell,
Beel - und Kotzebue.

So gährte es in den Köpfen der Jugend; die Nation aber fuhr fort jeden Thorenſtreich der Studenten mit kindiſcher Neugierde zu beſprechen. Im Sommer 1818 zogen die Göttinger Studenten aus der Muſenſtadt aus, in Folge eines ganz unpolitiſchen Streites mit der Bürgerſchaft, erklärten die Georgia Auguſta in Verruf, und kneipten einige Tage lang in Witzen - hauſen, wobei dem Tode ein Pereat gebracht wurde. Solche Auszüge hatten in der alten Zeit zuweilen den Beſtand einer Hochſchule gefährden können; jetzt, da jeder Bundesſtaat von ſeinen Beamten und Geiſtlichen den Beſuch der Landesuniverſität verlangte, waren ſie nur noch lächerlich. Gleichwohl rief auch dieſe Kinderei eine ganze Schaar von Flugſchriften ins Leben. Staatsrath Dabelow, der berühmte Organiſator des Empire Anhaltin-Coethien, der auch den Zorn der Feuerrichter auf der Wart - burg hatte erfahren müſſen, beſchwor die hohen Regierungen, mit Ernſt gegen die jungen Hochverräther einzuſchreiten; zufällig wurde der brauch - bare Juriſt bald nachher nach Dorpat berufen, und nun ſchien es den Studenten klar erwieſen, daß der Czar ſie mit Spionen rings umſtellt habe. Ein anderer Schriftſteller ſchilderte das Göttinger Ereigniß in einem gründlichen Buche und ſchmückte ſein Werk mit den Bildern der Studenten im Rathe des Verrufs , unheimlichen Geſtalten, welche gradeswegs aus den böhmiſchen Wäldern von der Bande des Räubers Moor entlaufen ſchienen. Bald nachher lieferten die Tübinger Studenten die Luſtnauer Schlacht, einen Kampf um ein Dorfwirthshaus, von dem die Poeten der ſchwäbiſchen Hochſchule noch heute ſingen und ſagen; dann wurden auch die Heidelberger Burſchen von dem Geiſte der Unruhe er - griffen und ſtürmten das Bierhaus zum Großen Faß. Alle dieſe Nich - tigkeiten beſprach Deutſchlands Preſſe mit feierlicher Salbung. Der Stu - dent errang ſich an den Höfen wie im Volke ein unbegreifliches Anſehen, ward hier als geborener Tribun gefeiert, dort als gewerbmäßiger Ver - ſchwörer beargwöhnt, und der franzöſiſche Miniſter Graf de Serre ſchrieb ſeinem Freunde Niebuhr: Eure Staatsmänner thun mir leid, ſie führen Krieg mit Studenten!

Nur der beherzte Großherzog ließ ſich in ſeinem hochſinnigen Vertrauen28*436II. 7. Die Burſchenſchaft.nicht ſtören. Im Juli 1818 brachten ihm die Jenenſer Burſchen, von Heinrich v. Gagern geführt, einen Fackelzug zur Feier der Geburt ſeines Enkels; da gab er ihnen ein Gelage im Schloßhofe, erſchien ſelber jugend - lich heiter auf dem Altane und betrachtete lange freudeſtrahlend das muntere Treiben drunten. Zur Taufe des Prinzen lud er dann, nach dem patriarchaliſchen Brauche der Erneſtiner, mit allen übrigen Corpora - tionen des Landes auch drei Vertreter der Burſchenſchaft ein, und dieſe gefährlichen Geſellen wurden, wie man in der Hofburg mit tiefer Ent - rüſtung erfuhr, ſogar zur Tafel gezogen und von den neugierigen Hof - fräuleins ſichtlich ausgezeichnet. Karl Auguſt war gerichtet, er hieß in Metternichs Kreiſe nur noch der Altburſche.

Inzwiſchen gingen die auf der Wartburg ausgeſtreuten Saaten auf; an vierzehn Univerſitäten bildeten ſich Burſchenſchaften nach dem Jenenſer Muſter. Ihre Abgeſandten traten im Oktober 1818 in Jena zuſammen, und am Jahrestage des Wartburgfeſtes kam dort die Allgemeine Deutſche Burſchenſchaft zu Stande, die freie Vereinigung der geſammten deutſchen Studentenſchaft zu einem Ganzen, gegründet auf das Verhältniß der deutſchen Jugend zur werdenden Einheit des deutſchen Vaterlandes . Alljährlich ſollte im Siegesmonde ein allgemeiner Burſchentag von Abge - ordneten aller Hochſchulen ſich vereinigen. Die Beſtimmungen des Grund - geſetzes über den Zweck der Verbindung lauteten durchaus unverfänglich: Einheit, Freiheit, Gleichheit aller Burſchen unter einander, chriſtlich deutſche Ausbildung aller Kräfte zum Dienſte des Vaterlandes. Bedenklich war nur der terroriſtiſche Geiſt, der den Zutritt der geſammten Studenten - ſchaft erzwingen wollte, alle anderen Verbindungen ohne Weiteres in Verruf erklärte und doch das Unmögliche nicht durchſetzen konnte, denn auf ſämmtlichen Univerſitäten außer Jena blieben einzelne Landsmannſchaften neben der Burſchenſchaft beſtehen. Dem Partikularismus freilich und ſeinem Führer, dem Wiener Hofe, mußte ſchon das Daſein dieſes Ju - gend-Bundesſtaates , wie Fries ihn nannte, hochgefährlich erſcheinen; hier zum erſten male bildete ſich in dem gewaltſam zertheilten Volke eine allge - mein deutſche Corporation. Die Erſcheinung war ſo neu, daß ſelbſt Goethe beſorgt fragte, ob man denn über ganz Deutſchland hin eine Innung dulden könne, die dem Bundestage nicht unterworfen ſei.

Während die Burſchenſchaft alſo ſich immer weiter ausbreitete, wurde ihre innere Kraft und Einheit bereits durch ein wüſtes Parteitreiben er - ſchüttert. Für die Ideen Rouſſeaus war ein Geſchlecht, das ſich an Schillers Freiheitspathos begeiſterte, von vorn herein empfänglich, und nachdem man mehrere Jahre beſtändig in aufgeregtem politiſchem Gerede verbracht hatte mußte die demagogiſche Partei unvermeidlich an Boden gewinnen. Den Heerd des akademiſchen Radikalismus bildete die Univerſität Gießen. Dort im Weſten hatten die Doctrinen der franzöſiſchen Revolution längſt feſte Wurzeln geſchlagen; die Willkür des bonapartiſtiſchen Beamtenthums von437Die Allgemeine Deutſche Burſchenſchaft.Darmſtadt und Naſſau erbitterte die jungen Gemüther, und als endlich auch für dieſe Lande die Stunde der Befreiung ſchlug, da fügte es ein unfreundliches Schickſal, daß die Gießener Studenten, die ſich eifrig zu den Fahnen drängten, den Feind faſt niemals zu Geſicht bekamen. Sie lernten auf anſtrengenden Märſchen nur die Proſa des Krieges, nicht ſeine begeiſternden Freuden kennen, hatten viel zu leiden von der Grobheit ihrer rheinbündiſchen Offiziere, die mit gebildeten Mannſchaften nicht umzu - gehen wußten, und kehrten verſtimmt heim, voll Abſcheus gegen das Söldnerweſen , ohne jede Ahnung von der königstreuen Geſinnung des preußiſchen Volksheeres, das ſie nie geſehen hatten; ſie ſchworen darauf, daß Deutſchland den Krieg nur um der Verfaſſung willen geführt habe und alles Blut umſonſt gefloſſen ſei. Eigenthümlich war den Gießener Studentenbünden ein geheimer Verkehr mit älteren Männern, den die Jenenſer zu ihrem Glück vermieden. Zur Zeit des Krieges hatte ſich in den Lahngegenden ein Geheimbund wider die Fremdherrſchaft zuſammen - gethan, der Wetterauer Verein, der nach dem Frieden aufgehoben wurde, aber durch einzelne ſeiner Mitglieder mit den Gießener Studenten in Verbindung blieb. Da waren Juſtizrath K. Hoffmann in Rödelheim, Landgerichtsrath Snell in Dillenburg und vor Allen Conrector Weidig in Butzbach, ein beredter Apoſtel der Egalité, der ſchlechtweg jede Regie - rung für ſündhaft erklärte, weil Gottes Gebot die vollkommene Gleichheit aller Menſchen vorſchreibe. Der Einfluß dieſer Männer und die ſchwüle Luft eines durchaus ungeſunden Staatsweſens gaben dem Gießener Studentenleben bald einen ſeltſam fanatiſchen Ton. Eine Verbindung der Schwarzen that ſich auf und verſuchte ihr radikales neues Geſetz - buch, den Ehrenſpiegel , der geſammten Studentenſchaft aufzuzwingen; die Landsmannſchaften andererſeits ſpielten die Vertreter des Partikula - rismus, ſteckten die heſſiſche Kokarde auf und bewirkten durch eine An - zeige die Auflöſung der Schwarzen. Die eifrigeren Genoſſen des aufge - löſten Bundes blieben jedoch insgeheim beiſammen.

An ihrer Spitze ſtanden die Gebrüder Follen, Adolf, Karl und Paul, drei bildſchöne, hochgewachſene junge Männer voll Feuer und Leben, alle - ſammt ſtreng republikaniſch geſinnt, die Söhne eines Gießener Beamten, deſſen eine Tochter nachher die Mutter von Karl Vogt wurde. Adolf Follen beſaß ein friſches lyriſch-muſikaliſches Talent, das er ſich leider durch das unnatürliche Pathos ſeiner radikalen Kraftſprache ſelber ver - darb; ihm und ſeinen Freunden Sartorius und Buri verdankten die Turner ihre wildeſten und frechſten Lieder. Bedeutender war ſein Bruder Karl, ein Fanatiker des harten Verſtandes, im Grunde ein unfruchtbarer Kopf, aber von ſeltenem dialektiſchem Scharfſinn, ein frühreifer, ganz mit ſich einiger Charakter, der nach der Weiſe radikaler Propheten ſich den Anſchein dämoniſcher Unergründlichkeit zu geben wußte und manchen ſeiner jungen Genoſſen wie der Alte vom Berge vorkam. Er war bereits438II. 7. Die Burſchenſchaft.Docent der Rechte und bezauberte die Studenten durch jene bewußte Sicherheit, die von der unerfahrenen Jugend ſo gern als ein Zeichen genialer Begabung betrachtet wird; jedes ſeiner Worte war durchdacht, keines nahm er wieder zurück; mit unerbittlicher Logik zog er aus dem Satze der unbedingten Gleichheit Aller, vor keiner Folgerung zurück - ſchreckend, ſeine Schlüſſe. Die räthſelhafte Miſchung von Kälte und Fana - tismus in ſeinem Weſen, auch die peinliche Sauberkeit ſeiner Erſcheinung und der drohende Zug über den Augen erinnerten an Robespierre; nur war er kein Heuchler, ſondern übte wirklich die bedürfnißloſe Sittenſtrenge, die er predigte. Für die unſchuldigen Kaiſerträume der Tübinger und Jenenſer Burſchen, die ſich die Krone der Staufer gern auf dem Haupte ihres Wilhelm oder Karl Auguſt dachten, hatte Karl Follen nur ein Lächeln; auch ihr Franzoſenhaß und ihre Deutſchthümelei ſchienen ihm kindiſch, obgleich er ſich wohl hütete ſeine weltbürgerlichen Anſichten, die ihn um allen Einfluß gebracht hätten, offen einzugeſtehen. Er war Jako - biner ſchlechtweg und unterhielt wahrſcheinlich ſchon im Jahre 1818, wie die Jenenſer Burſchen argwöhnten, unzweifelhaft aber ſeit 1820 einen vertraulichen Verkehr mit den radikalen Geheimbünden, welche über ganz Frankreich verzweigt, von Lafayettes Comité directeur beherrſcht wurden. Sein leitender Gedanke war, daß Niemand einem Geſetze, dem er ſich nicht freiwillig unterworfen habe, Gehorſam ſchulde und mithin nach dem alten Rouſſeau’ſchen Trugſchluſſe nur die Mehrheitsherrſchaft zu Recht beſtehe: jeder Bürger iſt Haupt des Staates, denn der gerechte Staat iſt eine vollkommene Kugel, wo es kein Oben noch Unten giebt, weil jeder Punkt Spitze ſein kann und iſt.

So enthielt denn auch der Entwurf einer deutſchen Reichsverfaſſung, der aus Follens Kreiſe hervorgegangen, im Herbſt 1818 dem Jenenſer Burſchentage vorgelegt wurde, bis auf einige teutoniſche Redensarten nichts weiter als eine freie Nachbildung des Grundgeſetzes der franzöſiſchen Re - publik. Alle Deutſchen an Rechten vollkommen gleich; Geſetzgebung durch gleiche Abſtimmung Aller nach Mehrzahl; das eine und untheilbare Reich in Gaue von gleicher Seelenzahl gegliedert, die nach Flüſſen und Bergen benannt werden; alle Beamten gleich beſoldet und in die Hand der Volks - vertreter vereidigt; eine einzige chriſtlich-deutſche Kirche und daneben kein anderes Bekenntniß geduldet; die Schulen ſämmtlich auf dem flachen Lande, vornehmlich für den Ackerbau und das Handwerk beſtimmt; über Alledem ein gewählter König mit einem Reichsrathe. Es war als ob St. Juſt ſelber die Feder geführt hätte. Weit verderblicher als dieſe ra - dikalen Doctrinen wirkte auf die Jugend jene niederträchtige Sittenlehre, welche Karl Follen mit der Weihe des Propheten vortrug, eine völlig bodenloſe Moral, noch ſchändlicher als die Lehren von Mariana und Suarez. Die Jeſuiten hatten immerhin noch die Autorität der Kirche gelten laſſen; Follen aber entwickelte aus dem Cultus der perſönlichen439Karl Follen. Ueberzeugung , der unter der Jugend blühte, mit ſchnellfertiger Logik das Syſtem eines craſſen Subjectivismus, der ſchlechthin jede objective Regel im Menſchenleben leugnete. Dem Gerechten gilt kein Geſetz, hieß es kurzab. Was die Vernunft für wahr erkennt, muß durch den ſitt - lichen Willen verwirklicht werden, ſofort, unbedingt, ohne jede Rückſicht, bis zur Vernichtung aller Andersdenkenden; von einer Colliſion der Pflichten kann hier nicht geſprochen werden, da die Verwirklichung der Vernunft eine ſittliche Nothwendigkeit iſt. Dieſer Satz wurde ſchlechtweg als der Grundſatz bezeichnet, und nach ihm nannten ſich Follens Ver - traute die Unbedingten . Für die Volksfreiheit ſchien dieſer Sekte Alles erlaubt, die Lüge, der Mord, jedes Verbrechen, da ja Niemand ein Recht habe die Freiheit dem Volke vorzuenthalten.

Dergeſtalt hielt das Evangelium vom Umſturz aller ſittlichen und politiſchen Ordnung zum erſten male in Deutſchland ſeinen Einzug, jene furchtbare Lehre, die in mannichfacher Verkleidung wiederkehrend das Jahr - hundert ſtets von Neuem beunruhigen und ſchließlich in der Doktrin der ruſſiſchen Nihiliſten ihre höchſte Ausbildung empfangen ſollte. Follen aber hing ſeinem Nihilismus einen chriſtlichen Mantel um: Jeſus, der Märtyrer der Ueberzeugung, war der Held der Unbedingten; ihr Bundes - lied mahnte: ein Chriſtus ſollſt Du werden! Ebenſo dreiſt wurden auch die Namen der preußiſchen Helden, vornehmlich Scharnhorſts und Gneiſenaus, mißbraucht, von Einigen aus naiver Unwiſſenheit, von Follen aus Berechnung: die harmloſen Burſchen ſollten glauben, daß Deutſch - lands Krieger für die Demokratie gefochten hätten. Ein vielgeſungenes verrücktes Lied von Buri Scharnhorſts Gebet , das für den Druck den falſchen Titel Kosciuszkos Gebet erhielt, ließ den preußiſchen General ſchwören:

Ich wanke nicht, ich will, ſei’s auch in grimmen, blut’gen Waffen,
Der Menſchheit Sitz, der Gleichheit Freiſtaat ſchaffen!

Auch Karl Follen ſelbſt ſchmiedete Verſe, obgleich ſeiner harten Natur jede poetiſche Begabung abging, und der ungeheuerliche Schwulſt, die wilde blutgierige Rhetorik ſeiner Gedichte fand unter der Jugend viele Be - wunderer. Als ſein Hauptwerk galt das große Lied , das durch Weidig und Sand maſſenhaft verbreitet wurde, aber in ſeinen Hauptſtellen nur den Eingeweihten ganz verſtändlich war. Es begann mit einem Aufruf Deutſche Jugend an die deutſche Menge :

Menſchenmenge, große Menſchenwüſte,
Die umſonſt der Geiſtesfrühling grüßte,
Reiße, krache endlich, altes Eis
Sei ein Volk, ein Freiſtaat, werde heiß!
Babels Herrenthum und feile Weichheit
Bricht wie Blitz und Donner Freiheit, Gleichheit,
Gottheit aus der Menſchheit Mutterweh’n.
440II. 7. Die Burſchenſchaft.

Darauf ein kecker Gaſſenhauer, deſſen Kehrreim Brüder ſo kann’s nicht gehn! Volk in’s Gewehr! noch nach Jahren bei allen Pöbelaufläufen in Mitteldeutſchland widerhallte. Dann ein Abendmahlslied freier Brü - der, das der ew’gen Freiheit heil’gen Märt’rerorden ſchildert, wie er mit gezückten Dolchen auf die Hoſtie ſchwört:

Nur die Bürgergleichheit, der Volkswille ſei
Selbſtherrſcher von Gottes Gnaden

und der Nation gebietet:

Dann, Volk, die Molochsgeiſter würge, würge!

Noch deutlicher lautete das Neujahrslied freier Chriſten, geſungen nach einer raſchen, leichtfertigen Melodie, die den Text nur noch frecher er - ſcheinen ließ:

Freiheitsmeſſer gezückt!
Hurrah! Den Dolch durch die Kehle gedrückt!
Mit Purpurgewändern,
Mit Kronen und Bändern
Zum Rachealtar ſteht das Opfer geſchmückt!

Und ſo weiter, immer abgeſchmackter, immer wüſter, bis zu dem Schluß - verſe:

Nieder mit Kronen, Thronen, Frohnen, Drohnen und Baronen!
Sturm!

Unter den hunderten junger Männer, welche dieſe wüthenden Verſe ſangen, mochten die wenigſten ſich etwas dabei denken; dem Poeten aber war es ganzer Ernſt mit ſeinen Worten. Er hatte ſich ſchon einen Plan entworfen, den er mit den Unbedingten wiederholt beſprach: da eine Re - volution vorderhand unmöglich ſei, ſo müſſe man zunächſt einige Ver - räther ermorden um das zage Volk zugleich zu ſchrecken und anzufeuern; er ſelber wollte ſich dieſen vorbereitenden Thaten fern halten, nicht aus Furcht, ſondern weil er dereinſt bei der allgemeinen Volkserhebung als Führer aufzutreten dachte. Zugleich betrieb er raſtlos die Wühlerei im Volke. Bei jener Petition um die Ausführung des Art. 13, bei allen den Eingaben und Verſammlungen, welche den Großherzog von Heſſen zur Erfüllung des Verfaſſungsverſprechens drängen ſollten, hatte Follen die Hand im Spiele, und für ihn, den rothen Republikaner, konnte dies Alles nur ein Mittel für größere Zwecke ſein; ſein Genoſſe Leutnant Schulz in Darmſtadt predigte in einem Frage - und Antwortsbüchlein den heſſiſchen Bauern offen die Revolution.

Die Jenenſer verhielten ſich lange ablehnend gegen das demagogiſche Gebahren der Gießener und verwarfen auch Follens Reichsverfaſſungs - plan; freilich nur gegen eine ſtarke Minderheit. Nach und nach fanden die revolutionären Lehren der Schwarzen doch Eingang an der Saale, namentlich durch die Vermittlung Robert Weſſelhöfts, eines derben, kräf - tigen Thüringers von diktatoriſchem Weſen. Es bildete ſich im Schooße441Die Unbedingten.der Altdeutſchen, der Maſſe der Burſchen völlig verborgen, ein Geheim - bund von Unbedingten, der auf den unſchuldigen großen Haufen der Burſchenſchaft verächtlich herabſah und durch vertraute Boten mit den Geſinnungsgenoſſen auf anderen Hochſchulen insgeheim verkehrte. Zu ihm gehörte Jens Uwe Lornſen, ein unbändiger nordiſcher Berſerker von den frieſiſchen Inſeln, ſpäterhin berühmt als Vorkämpfer für die Rechte Schleswig-Holſteins, desgleichen der mädchenhaft ſchöne kleine Heinrich Leo aus dem Schwarzburgiſchen, ein geborener Romantiker, der droben auf dem Walde eine glühende Schwärmerei für das urwüchſige Leben der älteſten Germanen, einen tiefen Haß gegen die Formenſtrenge der claſſi - ſchen Cultur eingeſogen hatte und nur durch die unzähmbare Wildheit ſeines heißen Blutes auf kurze Zeit in eine moderne, ſeinem innerſten Weſen fremde radikale Richtung hineingetrieben wurde.

Der Ton unter dieſen Schwarzen war unbeſchreiblich frech; die Jugend, das ſtand feſt, hatte den geknechteten Völkern Anſtoß und Richtung zu geben. Ein witziger Kopf in Baiern veröffentlichte ſoeben, unter der Maske eines begeiſterten Schülers von Fries, einen offenen Brief, worin er das ganze Menſchengeſchlecht in Burſchen, Burſchinnen, Lehr -, Vor - und Nach - burſchen eintheilte. Die Satire war ſo treffend, daß viele der Burſchen ſelber, und noch heute manche Hiſtoriker, den Brief für echt hielten. Die Schwarzen begnügten ſich ſchon längſt nicht mehr mit ſolchen Aeußerungen albernen Uebermuths, wie Lornſen, der in Gegenwart des jungen Herzogs von Meiningen ein Pereat auf die Dreißig oder Dreiunddreißig aus - brachte. Sie beſprachen alltäglich und mit unheimlicher Gelaſſenheit die Frage, wer zunächſt um der Freiheit willen kalt gemacht werden ſolle; da Metternich ſo ſchwer zu erreichen und keiner der deutſchen Fürſten ungewöhnlich verhaßt war, ſo kam das wüſte Gerede immer wieder auf Kotzebue als das nächſte Opfer zurück. Als im Herbſt 1818 Czar Alexander auf der Durchreiſe in Jena erwartet wurde, beriefen die Führer der Unbedingten eine tief geheime Sitzung und fragten kurzweg, ob jetzt der Mordſtreich gegen den Despoten gewagt werden ſollte; wer bei der Antwort ſich irgendwie unſicher zeigte ward fortan von den Be - rathungen der Eingeweihten ſtillſchweigend ausgeſchloſſen. Der Czar war inzwiſchen ſchon weiter gereiſt, und man behauptete nachträglich, daß die Führer der Schwarzen dies gewußt hätten; aber wohin war es mit unſerer Jugend gekommen, wenn ſie den feigen, der deutſchen Gradheit ekelhaften Meuchelmord bereits als den Prüfſtein zuverläſſiger Geſinnungstüchtigkeit betrachtete?

Die Aufregung der jungen Leute ward durch die Angſtrufe der amt - lichen Zeitungen und leider auch durch manche unvorſichtige Aeußerung der Lehrer geſteigert. Luden pflegte in ſeinen Vorleſungen, wie ſchon früher in ſeiner Staatsweisheit , den unbeſtreitbaren Satz auszuführen, daß Macht und Freiheit des Staates ſelber unſchätzbare ſittliche Güter ſind442II. 7. Die Burſchenſchaft.und ihnen mithin unter Umſtänden andere ſittliche Güter geopfert werden müſſen; doch ſeine geiſtige Kraft reichte nicht aus um der Jugend den tiefen Ernſt dieſer leicht zu mißbrauchenden Lehre zu verdeutlichen, und mehrere ſeiner aufgeregten Hörer gewannen, wie Karl Sand, nur den Ein - druck, daß der Zweck die Mittel heilige. Auch Fries ſtand rathlos vor dem erwachenden Demagogenthum und verfehlte oft den Ton: wenn er die Studenten gewiſſenhaft vor Geheimbünden warnte, ſo meinte er die bittere Pille durch radikale Kraftreden verſüßen zu müſſen und polterte ſo gröb - lich wider die Polizeigewalt, welche die Eichen und Fichten der deutſchen Wälder an ihre Hopfenſtangen binde , wider das Regiertwerden durch hochwohlgeborene franzöſiſche Affen und das Belehrtwerden durch wohl - geborene lateiniſche Affen , daß ſeine Worte mehr aufreizend als beruhi - gend wirkten. Selbſt Arndts freie Seele blieb von der Verbitterung der Zeit nicht unberührt. Der vierte Band ſeines Geiſtes der Zeit , der im Jahre 1818 erſchien, ſtand den früheren Bänden weit nach; das ſchöne Pa - thos der Befreiungskriege genügte jetzt nicht mehr. Mußte ſich die Jugend nicht in ihrem Dünkel beſtärkt fühlen, wenn ihr Arndt den ſiebenjährigen Krieg als ein leeres Märchen, die Werke unſerer claſſiſchen Dichtung als klein und ſeelenlos, als die Kinder einer geſtaltloſen, liebeleeren und ruhmleeren Zeit ſchilderte? Er meinte unſchuldig, geheime Verſchwörungen ſeien nur dann erlaubt, wenn ein fremdes Volk oder ein tückiſcher Ty - rann dahin ſtrebt, das ganze Geſchlecht zu Hunden, Affen und Schlangen zu verthieren , und ahnte nicht, daß ſeine jungen Leſer ſchon längſt glaubten von ſolchen tückiſchen Tyrannen beherrſcht zu werden. Franzoſen und Polen, rief er aus, haben eine Verfaſſung, und uns will man in dumme Geiſtloſigkeit hinſtrecken wie die todten Klötze ; dem preußiſchen Heere aber hielt er die lockere Milizverfaſſung der ſchwediſchen Indelta-Armee, die im letzten Kriege rein nichts geleiſtet hatte, als Muſter vor. Ueber ſolchen unbedachten, aufreizenden Worten wurden die väterlichen War - nungen, welche der edle Mann an die teutſche unflügge Narrheit und Unbeſcheidenheit richtete, ganz vergeſſen. Es iſt nicht anders, der Groll über die Enttäuſchungen dieſer erſten Friedensjahre ſteigerte ſich in den Gelehrtenkreiſen allmählich bis zu krankhafter Erhitzung. Sogar Schleier - macher redete im Sommer 1818, als ob ein neues 1806 herannahe und dies in einem Augenblicke, da die preußiſche Regierung bis auf einige vereinzelte Mißgriffe noch ſchlechterdings nichts Tadelnswerthes ge - than hatte.

Im Herbſt 1818 ſiedelte Karl Follen als Docent nach Jena über. Er wurde der Todtengräber der Burſchenſchaft, er zerſtörte den unbe - fangenen jugendlichen Sinn, der über ihren Anfängen gewaltet hatte. Vergeblich ſuchte Fries dem unheilvollen Manne die Stange zu halten; in den Redekämpfen ſeines philoſophiſchen Vereins zeigte ſich der junge Docent dem Profeſſor weit überlegen, die Studenten zogen ſich mehr und443Follen in Jena.mehr von dem gemäßigten Alten zurück. Wohl blieb die Zahl der unmittel - baren Vertrauten Follens ſehr gering, da der geſunde Sinn der Jugend das Grauen vor dem Apoſtel des Meuchelmordes nicht ganz überwinden konnte; zu ſeinen Schülern gehörten vornehmlich ſein blind ergebener Sklave Karl Sand, und Wit von Dörring, ein liederlicher Abenteurer, der nachher zum Verräther wurde. Doch weit über dieſen engen Kreis hinaus reichte der verderbliche Einfluß ſeiner Lehren. Immer lauter ward über das Abhacken der Zwingherrnköpfe geredet. Im Laufe des Winters beſetzten die Schwarzen durch einen häßlichen Betrug, da den Unbedingten ja Alles erlaubt war, den Vorſtand der Burſchenſchaft mit ihren Ge - treuen; dann bildete ſich ein Geheimbund, deſſen Schwurgenoſſen nach der Art der Carbonari in Venten getheilt waren und einander ſelber zum Theil unbekannt blieben. Solche Bünde konnten zwar, da der offen - herzige Germane für die geheimen Künſte des Verſchwörers verloren iſt, nicht über einen thörichten Mummenſchanz hinaus gelangen; doch unbe - denklich war es nicht, daß ſo viele einzelne junge Männer in roher Prahlerei mit dem Gedanken des politiſchen Verbrechens ſpielten und von Follen gradezu die Weiſung empfingen: wer ſich opfern wolle müſſe die befreiende That ohne Mitwiſſer vollbringen. Als einer der älteren Schwarzen, Snell in dieſen Tagen ſeines Amtes entſetzt wurde, richteten Follen und der Advocat H. C. Hofmann in Darmſtadt an die Unbedingten einen Aufruf zur Unterſtützung des Freundes, damit die Brut zittern lernt vor der höheren Macht, welche das Racheſchwert nicht ſchwächer als jetzt den Schild ſchwingen wird wenn einſt die Sünde den Tag der Rache erweckt .

Viel Unheil ließ ſich noch verhindern, wenn Follen und der eine oder der andere ſeiner älteren Genoſſen rechtzeitig aus Deutſchland ent - fernt wurden; ſo urtheilten in ſpäterer Zeit Männer, welche einſt den Schwarzen angehört hatten. Die Regierungen aber blieben ohne nähere Kunde von dem unruhigen Treiben und ſahen ihm mit ſcheuer Be - ſorgniß zu. Jene Handvoll Demagogen führte ihr ſchlechtes Handwerk fort, und einmal doch mußte der Tag kommen, da die ſo reichlich ausge - ſtreute Saat frevelhafter Worte in Halme ſchoß und irgend ein Unſeliger mit dem Dolche in der Fauſt die Lehre des politiſchen Mordes ver - wirklichte.

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Achter Abſchnitt. Der Aachener Congreß.

In ihrem Bundesvertrage vom 20. Nov. 1815 hatten die vier Mächte ſich verabredet, von Zeit zu Zeit in perſönlichen Zuſammenkünften über die Sicherung der Ruhe Europas zu verhandeln, und ſchon im Frühjahr 1817 ſchien dem Wiener Hofe der rechte Augenblick für eine ſolche gemein - ſame Berathung gekommen zu ſein. König Friedrich Wilhelm wider - ſprach; er ſah voraus, daß eine feierliche Verſammlung des Vierbundes alle die Höfe, die an ihr nicht theilnahmen, ebenſo lebhaft beunruhigen mußte wie die mißtrauiſche öffentliche Meinung; wie viel einfacher, wenn er ſelbſt und Kaiſer Franz ihren längſt verſprochenen Beſuch in Peters - burg gemeinſam ausführten und dort mit dem Czaren ohne Aufſehen das Nöthige beſprächen. *)Cabinetsrath Albrecht an Hardenberg, 13. Mai 1817.Metternich aber verblieb bei ſeiner Meinung, Czar Alexander pflichtete ihm bei, und mittlerweile vollzog ſich in Frank - reich ein Umſchwung der Meinungen, der eine neue Verſtändigung der vier Mächte allerdings rathſam machte.

Was die Staatsmänner Preußens auf dem Pariſer Congreſſe vor - ausgeſagt, ging in Erfüllung: die Beſetzung Frankreichs durch die Truppen der Verbündeten erwies ſich mehr und mehr als eine Gefahr für den europäiſchen Frieden, den ſie doch ſichern ſollte. Wohl war das Beſatzungs - heer bereits um ein Fünftel vermindert; die Haltung der Truppen ent - ſprach durchgängig dem aufrichtigen Wohlwollen, das die vier Mächte für die hergeſtellte alte Dynaſtie hegten; die Preußen bei Bar-le-Duc und Sedan lebten mit ihren Quartierwirthen wie die Kinder vom Hauſe. Als der Befehlshaber des preußiſchen Corps, General Zieten ſich über die ſaumſelige Verproviantirung der Feſtungen beſchwerte, ermahnte ihn Har - denberg dringend zur Nachſicht: jeder Streit der Verbündeten mit den franzöſiſchen Behörden komme nur den Ultras zu gute und könne leicht den Beſtand der Regierung gefährden. **)Hardenberg an Zieten, 22. März 1816.Gleichwohl blieb ſchon die An - weſenheit der fremden Fahnen auf dem heimiſchen Boden eine ſchwere Krän -445Die Räumung Frankreichs.kung für den franzöſiſchen Stolz. Alle Parteien der Oppoſition lärmten gegen dies Königthum, das ſich auf die Bajonette des Auslands ſtützte; auch die Ultras entſannen ſich nicht mehr, wie beweglich ſie im Jahre 1815 die verbündeten Monarchen beſchworen hatten: Ihr wollt doch nicht den König allein in der Hand dieſer Mörder laſſen? und wett - eiferten mit den anderen Parteien in zornigen Klagen wider die Herr - ſchaft der Fremden.

Ohne die Befreiung des vaterländiſchen Bodens konnte Richelieu die Politik der Verſöhnung, die er mit ſo viel Klugheit und Selbſtver - leugnung begonnen hatte, nicht durchführen; dieſen letzten Dienſt wollte er ſeinem Lande noch leiſten um dann, des endloſen Parteikampfes müde, zurückzutreten. Wieder und wieder beſtürmte er die Geſandtenconferenz der Vier mit ſeinen Bitten und erinnerte ſie daran, daß die Sieger ſelbſt in dem Pariſer Vertrage ſich die Verkürzung der Beſetzungsfriſt, falls Frankreich ruhig bliebe, vorbehalten hatten. Im November 1817 ging er noch einen Schritt weiter und verkündete den Kammern bei ihrer Wiedereröffnung, daß bereits Unterhandlungen wegen der Räumung des Gebietes eingeleitet ſeien. Sämmtliche Parteien empfingen die Nachricht mit einem Sturm patriotiſcher Freude, und Jedermann fühlte: wenn Richelieu die Erwartungen, die er geweckt, nicht zu befriedigen vermochte, dann war ſeine gemäßigte Regierung, deren Fortdauer die vier Mächte ebenſo lebhaft wünſchten wie König Ludwig ſelber, unrettbar verloren. In der Geſandtenconferenz fanden Richelieus Bitten zunächſt nur bei Pozzo di Borgo Gehör; der Corſe blieb noch immer der vertraute Rathgeber der Bourbonen und hatte ſich in die Anſchauungen ſeines Geburtslandes ſo gänzlich wieder eingelebt, daß man jetzt zum zweiten male ernſtlich daran dachte ihm einen franzöſiſchen Miniſterpoſten anzubieten. Es fiel ihm nicht ſchwer, ſeinen Kaiſer, der ſo gern den hochherzigen Beſchützer Frank - reichs ſpielte, für ſeine Anſicht zu gewinnen. Unbekümmert um ſeine Verbündeten ließ der Czar in Paris ermuthigende Zuſicherungen geben, und Metternich, der anfangs jede Verkürzung der Beſetzungsfriſt weit von ſich gewieſen hatte, kam ſchon im Frühjahr 1818 zu der Einſicht, daß alles Widerſtreben vergeblich ſei. Am 9. April geſtand er dem preußi - ſchen Geſandten, er ſehe den Tod im Herzen voraus, daß nach den Kammerreden in Paris und dem einſeitigen Vorgehen Alexanders die vor - zeitige Räumung doch erfolgen werde. *)Kruſemarks Bericht, 9. April 1818.

Der Anblick der inneren Zuſtände Frankreichs konnte den ängſtlichen Staatsmann freilich nicht beruhigen. Wenngleich die Herrſchaft der Ultras endlich gebrochen war, ſo währte doch der Kampf der Parteien noch mit der alten maßloſen Gehäſſigkeit fort, und noch immer hatte nur eine kleine Minderheit der Franzoſen den Rechtsboden des neuen conſtitu -446II. 8. Der Aachener Congreß.tionellen Königthums ehrlich anerkannt. Ja wohl, ſagte ein Heißſporn der Ultras, Matthieu de Montmorency zu einem Liberalen, Ihr liebt die Legitimität ebenſo wie wir die Charte lieben! Mit jeder Waffe be - kämpfte Graf Artois die beſonnene Politik ſeines königlichen Bruders; Vitrolles, einer der Vertrauten des Pavillon Marſan, ſendete im Mai 1818 zum dritten male eine geheime Denkſchrift an die vier Mächte und beſchwor ſie, durch den Sturz des Miniſteriums Richelieu die Revolution abzuwenden. Voll blinden Haſſes gegen die gemäßigte Regierung trugen die Ultras kein Bedenken, ſich gelegentlich ſelbſt mit den Bonapartiſten und den Radikalen zu verbinden. An der Mittelpartei der Doktrinäre fand das Cabinet auch keine Stütze, obwohl ſie die Verſöhnung von Erblichkeit und Freiheit auf ihr Banner geſchrieben hatte; nach der unfehlbaren Theorie der Nachfolger Montesquieus ſollte ja das Mißtrauen gegen die Regierung die belebende Kraft jedes freien Staates ſein, und nichts er - ſchien ſchimpflicher als der Name einer miniſteriellen Partei. Im Volke wurden unheimliche Gerüchte von der bevorſtehenden Herſtellung der Zünfte, der Zehnten und Frohnden umhergetragen; die Käufer der Natio - nalgüter fühlten ſich ihrer Habe nicht ſicher, da die Emigranten ſtürmiſch ihren Familienbeſitz zurückforderten und über ihre Entſchädigung noch nichts beſchloſſen war. Dazu das unterirdiſche Treiben der geheimen Geſellſchaften und der täglich wachſende Zauber der napoleoniſchen Legende. Raſch nach einander kehrten drei der Getreuen von St. Helena, O’Meara, Las Caſes und Gourgaud nach Europa zurück. Las Caſes verweilte lange in Deutſch - land und begann mit den Beauharnais einen verdächtigen Verkehr, der für Jedermann offenkundig war, nur nicht für die bonapartiſtiſche Mün - chener Polizei. Dann erſchienen die erſten Bände jener Memoirenliteratur, welche die Rückkehr der Napoleons vorbereiten ſollte, ungeheuerliche Lügen, gigantiſch wie der Mann, dem ſie galten; und mit Entſetzen vernahm Frankreich die Schauergeſchichten von den namenloſen Leiden des Ge - fangenen, dem in Wahrheit nichts fehlte als die Freiheit, von der teuf - liſchen Grauſamkeit ſeines Wächters, des Gouverneurs Hudſon Lowe, der in Wahrheit nur etwas pedantiſch, aber ehrenhaft ſeine Soldatenpflicht erfüllte.

Seit Handel und Wandel ſich wieder erholten, waren die Opfer und die Gräuel der Kriegszeit bald vergeſſen; der Anblick der fremden Bajonette rief die Erinnerung an die Glorie der kaiſerlichen Adler wach. Neben der thörichten Hoffart des heimgekehrten alten Adels erſchien der gekrönte Plebejer wie ein demokratiſcher Held, und jetzt erfuhr man aus den rührenden Geſprächen von der Felſeninſel, wie inbrünſtig er ſein Frankreich geliebt und wie er der Nation auch die Freiheit hatte ſchenken wollen, wenn nur nicht die Feindſeligkeit boshafter Nachbarn dem Fried - fertigen immer wieder das Schwert in die Hand gezwungen hätte. Unter - deſſen warf Beranger ſeine feurigen Kaiſerlieder unter das Volk, und es447Parteiung in Frankreich.geſchah wie er weiſſagte: die Bauernhütte kannte bald keine andere Ge - ſchichte mehr, Napoleon wurde den Maſſen der Nation in Nord - und Mittelfrankreich der einzige Held des Jahrhunderts. Auch in den Staaten des Rheinbunds war der kaum erſt eingeſchlummerte Napoleonscultus bereits wieder erwacht. In jedem Wirthshauſe des deutſchen Südens hingen die Abbildungen der napoleoniſchen Schlachten, und mehrmals mußte der Geſandte König Ludwigs beim Münchener Hofe Klage führen, weil Bilder und Statuetten des Soldatenkaiſers von unbekannter Hand in der bairiſchen Armee vertheilt wurden.

So fand ſich die beſte und wohlthätigſte Regierung, welche Frank - reich ſeit der Revolution geſehen, von allen Seiten her bedroht. Die vier Mächte aber, die bis in das Jahr 1817 hinein vor Allem die Parteiwuth der Ultraroyaliſten gefürchtet hatten, begannen jetzt die geheimen Um - triebe der Radikalen und die Kriegsluſt der Bonapartiſten als die gefähr - lichſten Feinde des Bourbonenthrones zu betrachten. In der That ließ ſich der Ruf Rache für Waterloo bereits deutlich vernehmen. In dem - ſelben Augenblicke, da die franzöſiſchen Kammern die Räumung des Landes von den Verbündeten forderten, genehmigten ſie zugleich das neue Wehr - geſetz und nöthigten den Kriegsminiſter, die Linienarmee noch um 50,000 Mann über ſeine eigene Forderung hinaus, bis auf 240,000 Mann zu verſtärken. Darauf wurde eine dichte Schaar kaiſerlicher Offiziere wieder in die Linie aufgenommen und eine ſtarke Reſerve-Armee gebildet, die faſt ausſchließlich aus napoleoniſchen Veteranen beſtand. Begreiflich genug, daß alle dieſe Vorgänge in der preußiſchen Armee als Vorboten des nahenden dritten puniſchen Krieges angeſehen wurden; Gneiſenau nament - lich war und blieb der Anſicht, nur die vollſtändige Abdankung des bona - partiſtiſchen Heeres könne die neue Ordnung der Dinge einigermaßen ſicherſtellen. *)Gneiſenaus Bemerkungen zu Royers Berichten aus Paris, 28. Dec. 1819.

Weder in London noch in Wien und Berlin täuſchte man ſich über die Schwäche der bourboniſchen Herrſchaft; man erwartete ihren Sturz ſogar noch früher als er wirklich eintrat. Die Berichte Wellingtons, des Oberbefehlshabers in Frankreich, lauteten faſt hoffnungslos. Gleichwohl erkannten Alle, daß das Anſehen der legitimen Dynaſtie durch die Anweſen - heit der fremden Truppen nur noch mehr gefährdet wurde. Schon im Mai 1818 waren die vier Mächte ohne förmliche Abrede einig in dem Entſchluſſe, die Zeit der Occupation von fünf auf drei Jahre herabzu - ſetzen und das Nähere auf dem bevorſtehenden Fürſtentage zu verein - baren. Dem preußiſchen Hofe koſtete es wenig Mühe, ſich mit dieſem Gedanken zu befreunden, da Hardenberg von vornherein auf die Occu - pationsarmee geringen Werth gelegt hatte. Weil der König von Spanien ſich durch ſeine Ausſchließung gekränkt zeigte und auch andere Höfe ihre448II. 8. Der Aachener Congreß.Verſtimmung nicht verbargen, ſo beſchloß man, den Namen eines Congreſſes ſorglich zu vermeiden und ſprach nur von einer Réunion, einer Entrevue. Die Pariſer Geſandtenconferenz erklärte den Mächten zweiten Ranges (25. Mai), daß die Reunion lediglich den zweifachen Zweck habe den Vier - bund von Neuem zu befeſtigen und unter Mitwirkung des Allerchriſt - lichſten Königs über die Räumung Frankreichs zu beſchließen; die Theil - nahme anderer Souveräne oder Staatsmänner würde der Zuſammen - kunft den Anſchein eines Congreſſes geben und neue Beunruhigungen her - vorrufen. Nicht ohne Mühe gelang es den Unwillen der kleinen Höfe, deren Truppen doch auch in Frankreich ſtanden, zu beſchwichtigen. Zum Verſammlungsort ward Aachen beſtimmt, weil dieſe Stadt, wie Metter - nich ſagte, ſo wenig Reſſourcen bot: man war entſchloſſen diesmal raſch und ernſtlich zu arbeiten, jeden Widerſpruch gegen die Dictatur der vier Höfe durch die Macht der vollendeten Thatſachen zu erſticken. *)Miniſterialſchreiben an Kruſemark, 20. Mai; Arnims Bericht, München 10. Juni; Schölers Bericht, Petersburg 7. Febr. 1818.

Mittlerweile hatten die vier Mächte der bourboniſchen Krone bereits einen neuen Beweis freundlicher Geſinnung gegeben. Durch den zweiten Pariſer Frieden war König Ludwig verpflichtet, alle die auswärtigen Privat - leute, Gemeinden und Corporationen zu befriedigen, welche noch von den napoleoniſchen Tagen her Geldforderungen an die Krone Frankreich zu ſtellen hatten. Als dieſe Zuſage unterzeichnet wurde, ahnte Niemand was ſie bedeute; man dachte mit 100 Mill. Fr. Alles auszugleichen, da die Kriegslaſten und - Leiſtungen grundſätzlich unberückſichtigt bleiben ſollten. Welch ein Schreck, als ſich nun nach und nach der ganze Umfang der napoleoniſchen Plünderungen herausſtellte. Im Sommer 1817 waren außer 180 Mill. Fr. bereits anerkannter und theilweiſe befriedigter Schul - den noch neue Forderungen im Betrage von 1390 Mill. angemeldet. Einige frivole Anſprüche liefen freilich mit unter; ſo verlangte der Herzog von Bernburg den Sold für eine Reiterſchaar, welche einer ſeiner Ahnen zur Zeit der Hugenottenkriege dem Heere Heinrichs IV. zugeführt hatte. Aber weitaus die meiſten Forderungen, mindeſtens eine Milliarde, ließen ſich rechtlich nicht anfechten; und das Alles hatte Napoleon zumeiſt in befreundeten oder neutralen Ländern von Privaten erpreßt. Die Mehr - zahl der Rechnungen kam aus Spanien, aus den deutſchen Kleinſtaaten und vornehmlich aus Preußen, das unter dem Durchmarſch der großen Armee ſo ſchwer gelitten und allein über ein Viertel der Geſammtſumme zu fordern hatte; Oeſterreich und England waren unverhältnißmäßig weniger, Rußland faſt gar nicht betheiligt. Die vier Mächte konnten ſich nicht verhehlen, daß die vollſtändige Befriedigung aller dieſer Gläubiger faſt unmöglich war; jedes franzöſiſche Cabinet, das einen ſolchen Vor - ſchlag vor die Kammern gebracht hätte, wäre dem vereinten Anſturm aller449Vertrag über die franzöſiſchen Schulden.Parteien unzweifelhaft ſofort erlegen, und was ſollte werden, wenn die Ultras wieder ans Ruder kamen?

Daher erklärte ſich ſelbſt Hardenberg, auf die flehentlichen Bitten des franzöſiſchen Geſandten, endlich bereit in ein Abkommen zu willigen, wenn die betheiligten deutſchen Höfe zuſtimmten; nur dürfe die Herabſetzung der Forderungen ein billiges Maß nicht überſchreiten, weil die Unzufrieden - heit der enttäuſchten Gläubiger, namentlich in den neugewonnenen deutſchen Ländern ernſtlich zu fürchten ſei. *)Kruſemarks Bericht, 27. Sept; Weiſung Hardenbergs an Kruſemark, 23. Nov. 1817.Aber inzwiſchen hatte Czar Alexander wieder einmal auf Koſten der Bundesgenoſſen ſeine Großmuth leuchten laſſen und dem Tuilerienhofe eigenmächtig die Herabminderung der Rech - nung verſprochen. Er ſetzte durch, daß die Entſcheidung in die Hände der Pariſer Geſandtenconferenz gelegt wurde, und hier befand ſich Preußen wieder in der nämlichen ungünſtigen Lage wie auf den beiden Friedens - congreſſen: ſein Geſandter ſtand Einer gegen Drei, als der einzige Hei - ſchende unter lauter Nachgiebigen, und erreichte nur ſo viel, daß ſeine Verbündeten die Vorſchläge Richelieus, der eine Zahlung von 200 Mill. anbot, nicht ohne Weiteres annahmen. Durch Wellingtons Vermittlung kam endlich am 25. April 1818 ein Vertrag zu Stande, kraft deſſen die Krone Frankreich für alle noch unerledigten Forderungen 240,8 Mill Fr. in Rentenbriefen (eine Rente von 12,04 Mill.) binnen Jahresfriſt zahlen ſollte. Bei der Vertheilung der Summe nahm Wellington, dem alt - engliſchen Brauche getreu, für ſein Land ſofort ein Viertel der 12 Mill. Rente in Anſpruch, ſo daß die engliſchen Gläubiger faſt vollſtändig be - friedigt wurden, während die deutſchen ſich mit einem Sechſtel ihrer For - derungen begnügen mußten. Dergeſtalt ward eine feierliche Verſprechung des Pariſer Friedensvertrags durch einen Machtſpruch Englands, Rußlands und Oeſterreichs, gegen Preußens Widerſpruch und ohne jede Anfrage bei den kleinen Höfen, großentheils zurückgenommen. Frankreichs auswärtige Gläubiger erlitten eine Einbuße von 800 Mill. Die Geſchädigten klagten laut, die liberale Preſſe Deutſchlands erging ſich in bitteren Vorwürfen gegen die heilige Allianz , die man ſtets für die Thaten des Vier - bundes verantwortlich machte. Wieder und wieder mußte die deutſche Nation erfahren, daß ſie die Sicherung ihrer Rechte allein von ihrer eigenen Macht, nicht von dem guten Willen ihrer Verbündeten erwarten durfte.

Mit Alledem war die Großmuth des Czaren gegen die Bourbonen noch nicht erſchöpft. Richelieu hegte ſeit Langem den Wunſch, daß mit der Occupation auch die in der That unnatürliche, demüthigende Aus - nahmeſtellung, welche Frankreich jetzt noch unter den großen Mächten ein - nahm, ein Ende finden würde. Er hoffte, der Aachener Congreß werde die Krone Frankreich zum Eintritt in den Vierbund einladen und alſo die alte Gleichberechtigung der Großmächte wieder herſtellen. UnbedenklichTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 29450II. 8. Der Aachener Congreß.kam Alexander dieſen Anträgen entgegen; die Neigungen ſeines edlen Herzens gingen wieder wie ſo oft ſchon mit den Intereſſen der ruſſiſchen Politik einträchtig Hand in Hand. Wenn der von Pozzo die Borgo völlig beherrſchte Tuilerienhof in den hohen Rath Europas eintrat, ſo gebot der Czar in Wahrheit über zwei Stimmen und brauchte nur noch einen der drei anderen Höfe zu gewinnen, dann war ihm die Mehrheit, die Führerſchaft im Welttheil geſichert. Eben deshalb erregten die Wünſche Richelieus in Wien, in Berlin und London ernſte Bedenken, Metternich erklärte ſie im erſten Schrecken für gänzlich unannehmbar. *)Kruſemarks Bericht, 20. Juni 1818.Die drei Höfe ſahen dem Congreſſe mit lebhafter Beſorgniß entgegen; ſie wollten mindeſtens Pozzo ſelbſt von dem Congreſſe fern halten und beſchloſſen daher in der Pariſer Geſandtenconferenz, mit drei Stimmen gegen die eine Rußlands, daß die vier Geſandten während der Aachener Bera - thungen in Paris bleiben ſollten.

Da zeigte ſich plötzlich in der Politik des Czaren eine auffällige, den fremden Mächten vorerſt noch räthſelhafte Aenderung. Noch ganz be - rauſcht von ſeinen völkerbeglückenden Ideen war der erlauchte Vorkämpfer des chriſtlichen Liberalismus ſoeben aus Polen zurückgekehrt; ſelbſt die Verhandlungen des Warſchauer Reichstags, welche die unheilbare politiſche Thorheit des polniſchen Adels ſogleich wieder an den Tag brachten, hatten Alexanders frohe Zuverſicht nicht erſchüttert. Daheim erwartete ihn eine neue Freude; ſeine zärtlich geliebte Schwägerin, Großfürſtin Charlotte, die jetzt den Namen Alexandra Feodorowna führte, ſchenkte ihrem Gemahl im April 1818 einen Sohn, den Thronerben des Hauſes Gottorp, Alexander II. Einige Wochen nachher brach König Friedrich Wilhelm auf um ſein erſtes Enkelkind zu begrüßen. Er freute ſich unterwegs an dem hellen Jubel ſeiner treuen Oſtpreußen, die ihren König ſeit den ſchweren Königsberger Zeiten zum erſten male wieder ſahen, und ward in Rußland mit orien - taliſchem Prunk empfangen. Feſt folgte auf Feſt, die beiden Hauptſtädte und die reichen Bojaren wetteiferten in Glanz und Pracht, in über - ſchwänglichen Kundgebungen dynaſtiſcher Geſinnung. Und eben jetzt, mitten im Rauſche der Freuden erhielt der Czar durch unanfechtbare geheime Mittheilungen die Gewißheit, daß ſeine Gardeoffiziere während des Aufent - halts in Frankreich nicht umſonſt von den verbotenen Früchten der revo - lutionären Lehren gekoſtet hatten, daß an ſeinem eigenen Hofe ſchon ſeit 1816 einige demagogiſche Geheimbünde beſtanden, deren Anhang unauf - haltſam wuchs. Es war der entſcheidende Augenblick ſeiner letzten Lebens - jahre. Alſo er ſelbſt, der hochherzige Wohlthäter der Völker, den ſogar die beſiegten Franzoſen als den Heiland des Welttheils feierten, ſah ſich in ſeinem Hauſe von Rebellen und Verſchwörern umgeben, er wurde von derſelben liberalen Partei, die ihn als ihren Beſchützer hätte ehren ſollen,451Umſchwung der ruſſiſchen Politik.mit ſchwarzem Undank belohnt! Er fühlte ſich erſchüttert bis ins Mark; alle die gräßlichen Erlebniſſe ſeiner Jugend, die Ermordung ſeines Vaters und der freche Uebermuth der unbeſtraften Mordgeſellen kamen ihm wie - der ins Gedächtniß.

Zu ſtrafen wagte er auch diesmal nicht; ſorgfältig verbarg er ſein Geheimniß vor aller Welt, doch ſein Argwohn war geweckt, ſeine ſtolze Sicherheit gebrochen, und von der ruſſiſchen Verfaſſung, die er ſoeben noch in Warſchau dem ſtaunenden Europa angekündigt, verlautete fortan kein Wort mehr. In ſeinen jungen Tagen hatte er ſich an Speranskys liberalen Reformgedanken und an Czartoryskis polniſchen Plänen be - geiſtert; jetzt wurde Fürſt Alexander Galitzin ſein Vertrauter, ein ſanfter myſtiſcher Schwärmer, der die Bußpredigten der Frau von Krüdener auf ſeine Weiſe fortſetzte. Noch häufiger als bisher übermannte den Czaren die Schwermuth, der Ekel über die Lüge dieſes Lebens. Er hatte Stunden, da er ernſtlich daran dachte die Krone niederzulegen und ſich in beſchau - liche Einſamkeit zurückzuziehen; im Jahre 1819 kündigte er einmal dem Großfürſten Nikolaus dieſe Abſicht feierlich an und fügte hinzu, daß er ihn, den dritten Bruder, als den kräftigſten Mann des Hauſes über die Schultern des unfähigen Conſtantin hinweg auf den Thron zu erheben denke. So radikale Entſchlüſſe vermochte Alexanders weiche Natur freilich nicht feſtzuhalten. Er blieb am Ruder und auch den holden Traum der chriſtlich-liberalen Weltherrſchaft gab er nicht gänzlich auf; noch oft genug hatte der Wiener Hof über bedenkliche Rückfälle Rußlands zu klagen. Aber das Schreckensbild des drohenden revolutionären Weltbrandes, das in allen Briefen Metternichs an Neſſelrode beharrlich wiederkehrte, erſchien dem Selbſtherrſcher jetzt nicht mehr als ein Phantom; er lächelte nicht mehr, wenn der öſterreichiſche Miniſter verſicherte, Frankreich bleibe zwar der Heerd der Revolution, doch die unruhige Bewegung auf den deutſchen Univerſitäten ſei im Grunde noch bedenklicher, weil die Deutſchen Alles, auch das politiſche Verbrechen mit Ausdauer und Ehrlichkeit betrieben. Er begann die Wiener Staatsmänner, die er bisher ſo tief verachtet hatte, allmählich mit anderen Augen anzuſehen und hielt ſich überzeugt, daß nur die rückhaltloſe Eintracht der Oſtmächte die Ruhe der Welt zu ſichern vermöge.

Als er im September nach Deutſchland kam, erſchien er ſeinem preu - ßiſchen Reiſebegleiter General Borſtell wunderbar verändert. Keine Rede mehr von den liberalen Inſtitutionen, von der Verſöhnung zwiſchen Frei - heit und Ordnung; jetzt gelte es, das monarchiſche Syſtem und den Weltfrieden im Sinne der heiligen Allianz gegen die Mächte der Revo - lution zu vertheidigen; deshalb allein, betheuerte der Czar, halte ich eine Million Soldaten auf den Beinen um Jeden zu zermalmen, der mein Syſtem zu ſtören wagt. Das gewohnte Prahlen mit imaginären Zahlen konnte er alſo auch jetzt noch nicht laſſen; indeß bemühte er ſich eifrig,29*452II. 8. Der Aachener Congreß.das offen eingeſtandene Mißtrauen des Preußen gegen Rußlands ehrgeizige Pläne zu beſchwichtigen und entſchuldigte ſich ſogar vor ihm wegen des Tilſiter Friedens und der Erwerbung von Bialyſtock. *)Zehn Tage meines Lebens. Erinnerungen von General v. Borſtell. (Nordd. Allg. Ztg. 10. Aug. 1879 ff.)In Berlin be - theuerte er ſeinem königlichen Freunde, als dieſer den Grundſtein des Siegesdenkmals auf dem Kreuzberge legte, noch einmal vor allem Volke ſeine unverbrüchliche Treue und vernahm befriedigt, wie Stägemann ihn in einer pomphaften Ode als die Seele des europäiſchen Friedensbundes feierte:

Und Heil Dir dreimal, Heil dem verſöhnenden,
Dem Bundeshort! Der Könige Stirnen, oft
Berauſcht vom Lorbeer, ſind nicht allzeit
Fromme Bewahrer des milden Oelzweigs.

Auch in Weimar, in Darmſtadt, in Frankfurt, überall wohin ihn ſeine Reiſe noch führte, mahnte er die Fürſten und Staatsmänner zur Wach - ſamkeit gegen die Demagogen und erinnerte nachdrücklich an die conſer - vativen Grundſätze des heiligen Bundes.

Mittlerweile waren Metternich und Gentz mit Kapodiſtrias in Karlsbad zuſammengetroffen. Das Städtchen im Waldthale der Tepel war damals das eleganteſte Modebad Deutſchlands und wurde von Gentz als ein für uns höchſt nützlicher Ort gelobt. Hier ſtrömte alljährlich die vornehme Welt von den deutſchen Höfen zuſammen und erlabte ſich an den eigen - thümlichen Freuden des ariſtokratiſchen alten Oeſterreichs; kein einziges ſchönes Gebäude in dem ganzen Thale, aber dafür reizende Frauen und prächtige Toiletten ſo viel das Herz begehrte, Concerte, Schmäuſe und Bälle im Ueberfluß und eine Cavalier-Allee, wo jeder Reiter einen Du - caten Eintrittsgeld bezahlte. Hier trat Metternich wie der Herr vom Hauſe auf, bezauberte Jedermann bald durch geheimnißvolle Würde bald durch verbindliche Liebenswürdigkeit und lud auch wohl einzelne bevor - zugte Gäſte, vornehmlich die Preußen, nach dem nahen Königswart ein, wo er ſich ſein häßliches Schloß, nach ſeiner Art, durchaus geſchmacklos aber glänzend eingerichtet hatte. Von den Unterredungen mit Kapodiſtrias verſprach er ſich nichts Gutes, da er den Philhellenen kurzweg zu den faſelnden Staatsmännern rechnete. Wie groß war ſein Erſtaunen, als er den Griechen ganz conſervativ geſinnt fand und die Ueberzeugung ge - wann, daß Alexander mindeſtens das Grundprincip der Erhaltung der Ruhe unbedingt anerkenne. Befriedigt ſchrieb er ſeinem Monarchen, was Kaiſer Franz immer am Liebſten hörte: es werde doch wohl Alles beim Alten bleiben. Dies Rußland, das er vor Kurzem noch durch ein geheimes Schutz - und Trutzbündniß mit Preußen hatte bändigen wollen, ſchien jetzt wirklich von freien Stücken in die Bahnen der allein wahren Stabilitätspolitik einzulenken.

453Hardenberg in Engers.

Nach dem unverkennbaren Umſchwung der ruſſiſchen Politik durfte Metternich in der That hoffen, daß Oeſterreich binnen Kurzem die Stelle des Führers in dem europäiſchen Bunde erlangen würde. Auf die Freund - ſchaft des Tory-Cabinets konnte er ſich feſt verlaſſen, obſchon Lord Caſt - lereagh auf die erſtarkende Oppoſition der Whigs einige Rückſicht zu nehmen hatte und darum wo möglich jeden förmlichen Vertrag, der im Parlamente Anſtoß geben konnte, zu vermeiden wünſchte. Auch in Preußen ließ ſich die reaktionäre Strömung der Zeit ſchon in leiſen Wellenſchlägen verſpüren. Das Wartburgfeſt hatte den König tief und nachhaltig ver - ſtimmt. Nicht ohne Bangen verließ Hardenberg den Hof um die erſten Monate des Jahres 1818 auf Schloß Engers am Rhein zu verbringen und die Stimmung der ſchwierigen Provinz ſelber zu erkunden. Seine ſchwerſte Sorge galt der Verfaſſungsarbeit. Er wußte, daß dies Unternehmen allen anderen Großmächten ebenſo unheimlich war wie das preußiſche Wehrgeſetz. Ueber die Meinung des Wiener Hofes beſtand kein Zweifel, obgleich Metternich ſich noch nicht offen ausgeſprochen hatte. Aus Paris meldete Goltz ſchon im April 1817 und dann immer aufs Neue, wie dringend Wellington und Richelieu ihn vor dem unſinnigen Wagniß einer preu - ßiſchen Verfaſſung gewarnt hätten; und was das Verdächtigſte war, beide Staatsmänner vertraten genau dieſelbe Anſicht wie Ancillon und die reak - tionäre Partei in Berlin; ſie meinten, ein ſo buntgemiſchter Staat wie Preußen müſſe ſich mit Provinzalſtänden begnügen. Auch Czar Alexander that ſelbſt in den Tagen, da er der Welt das Programm des chriſtlichen Liberalismus verkündigte, durchaus nichts um die preußiſche Verfaſſung zu fördern; man erfuhr nur, daß er ſich ſchwer beſorgt über die politiſche Zuverläſſigkeit der preußiſchen Landwehr äußerte.

Hardenberg fühlte, wie leicht ihm alle dieſe Gegner über den Kopf wachſen konnten, und mahnte die Miniſter in Berlin wiederholt und nach - drücklich zur Beſchleunigung der Verfaſſungsarbeit. *)Hardenberg an Klewiz, 8. Dec. 1817, 6. Jan. 1818.Aber der Verfaſ - ſungsausſchuß des Staatsraths konnte ſeine Berathungen nicht beginnen, ſo lange ihm die Berichte der drei Miniſter, welche die Provinzen bereiſt hatten, noch nicht vorlagen; und dieſe Berichte blieben aus, da Altenſtein und Klewiz mit der Einrichtung ihrer ſoeben erſt neu gebildeten Depar - tements über und über beſchäftigt waren. Unterdeſſen wurden auch die Gutachten der Provinzialregierungen über die Provinzialſtände eingefordert; Vincke aber fügte, als er die weſtphäliſchen Akten einſendete, die treffende Bemerkung hinzu, dieſe Papiere enthielten viel unfruchtbares Gerede, da man den Regierungen nur einige ganz allgemein gehaltene Fragen ge - ſtellt habe. Der auf Klewiz’s Rath eingeſchlagene Weg erwies ſich ſchon jetzt als ein Irrweg. Nur wenn ein ausgearbeiteter Verfaſſungsplan be - reits vorlag, konnten die Gutachten der Notabeln und der Behörden ein454II. 8. Der Aachener Congreß.praktiſches Ergebniß bringen. Es hieß die Dinge auf den Kopf ſtellen, die alten ſtolzen Traditionen der Monarchie verlaſſen, wenn der Staats - kanzler, ſtatt der unerfahrenen öffentlichen Meinung die Richtung zu geben, ſelber muthlos und planlos von ſeinen Untergebenen Rath erwartete; ſo ward ihm jedes neue Gutachten zu einer neuen Verlegenheit. Er ver - zehrte ſich vor Ungeduld, klagte bitter über die Verzögerung ſeines Lieb - lingsplans, und doch hatte er bisher noch nicht einmal die Feder ange - ſetzt um mit dem Monarchen und ſich ſelber mindeſtens über die Grund - lagen des Verfaſſungsentwurfs ins Reine zu kommen. Unter den Freunden der Reform nahmen Erbitterung und Entmuthigung überhand. Vincke hielt dem Staatskanzler vor: was müſſe dies Volk empfinden, wenn andere Regenten, die nichts verheißen haben , dem unſeren voraneilen; und Zerboni ſchrieb verzweifelnd: Ich gehe jeden Abend mit dem großen Momente zu Bett, der für Preußen eingetreten iſt, und erwache jeden Morgen mit dem freſſenden Kummer, daß er ungenützt vorübergehen wird. *)Zerboni an Klewiz, 8. März 1818.

Mit den Rheinländern kam Hardenberg bald auf guten Fuß, ſein heiteres wohlwollendes Weſen gefiel allgemein; er gewann den Eindruck, daß die beiden Provinzen im Ganzen muſterhaft verwaltet wurden und bei allem Mißmuth keineswegs ernſtlich an einen Abfall dachten. Nur die üblen Folgen des unbedachten Verfaſſungsverſprechens bereiteten ihm auch am Rhein manche ſchwere Stunde. Unter den zahlreichen Depu - tationen, die er in Engers empfing, erſchienen auch Graf Neſſelrode, Freiherr v. Hövel und andere Abgeſandte des rheiniſchen Adels. Sie überreichten eine gründliche, von dem hochconſervativen Convertiten Schloſſer verfaßte Denkſchrift die Verfaſſungsverhältniſſe der Lande Jülich, Cleve, Berg und Mark betr. , der ſich ähnliche Eingaben des weſtphäli - ſchen Adels anſchloſſen. Die Schrift enthielt manche treffliche Grund - ſätze, welche deutlich erkennen ließen, daß Stein dabei mitgewirkt hatte; der Adel war bereit, ſtatt einzelner bevorzugter Städte den geſammten Bürgerſtand, ſtatt des Landadels alle landbauenden Klaſſen zur Vertretung zuzulaſſen. Doch ſtanden daneben vieldeutige Verwahrungen gegen die allverwirrende Gleichheit der franzöſiſchen Revolution und das ganz ungerechte Verlangen nach Berufung der alten Stände, um mit ihnen die Neuerungen vertragsmäßig feſtzuſtellen! Der Staatskanzler antwortete freundlich, doch ausweichend: nur aus einer gründlichen Würdigung früherer Verhältniſſe und jetziger Bedürfniſſe wünſcht unſere Regierung die Verfaſſung hervorgehen zu ſehen . **)Hardenberg an Neſſelrode, 3. März 1818.Die ſchwere Frage, wie das neue Recht zu dem alten ſich verhalten ſolle, blieb alſo noch immer ungelöſt. Am Hofe aber fand der Adel einen Freund, deſſen Einfluß bald ſtärker455Die Coblenzer Adreſſe.hervortreten ſollte: der Kronprinz ſprach dem Freiherrn v. Hövel ſein beſonderes Wohlgefallen über die Denkſchrift aus.

Noch unwillkommener als dieſe Adelsgeſandtſchaft, die immerhin die Klaſſenanſchauungen eines mächtigen Standes vertrat, erſchien dem Staats - kanzler der Beſuch einer zweiten Deputation, welche lediglich durch eine phantaſtiſche Schrulle zuſammengeſchaart war und für die Unreife der politiſchen Bildung des Rheinlands ein klägliches Zeugniß ablegte. Seit der Unterdrückung des Rheiniſchen Merkurs hatte Görres bittere Tage verlebt; die Penſion, die ihm Hardenberg verſchaffte, konnte ihn über den Müßiggang eines zweckloſen Daſeins nicht tröſten. Er bemühte ſich redlich ſein heißes Blut zu bändigen, ſprach ſtets milde und verſöhnlich wenn Abgeſandte der Burſchenſchaft ſich bei ihm Rathes erholen wollten. Zu - letzt war die Natur doch ſtärker als die guten Vorſätze. Dies Preußen, das er einſt ſo hoch geprieſen, ward ihm allmählich tödlich verhaßt, und alle jene thörichten Wünſche des rheiniſchen Partikularismus, welche die kirchliche Parität und die Staatseinheit zugleich bedrohten, erſchienen ihm jetzt berechtigt. Ganz ſo urtheilslos wie die Maſſe ſeiner Landsleute polterte er wider die fremden proteſtantiſchen Beamten und verlangte, daß die Rheinlande ihren Antheil an den Staatsausgaben nach dem Gut - dünken ihrer Provinziallandtage ſelber aufbringen ſollten. Er fand es entſetzlich, daß der König einen Lehrer, der in einer gemiſchten Schule die Reformation roh beſchimpft hatte, verdientermaßen abſetzen ließ, und be - theiligte ſich ſogar an einer Petition, welche von der Krone forderte, daß in Zukunft das Referat über das Schulweſen in der Coblenzer Regierung nur einem Katholiken übertragen würde. In wiederholten Eingaben an den König und den Staatskanzler gebärdete er ſich als der natürliche Wortführer des Rheinlands, obſchon er wiſſen mußte, daß ſein Merkur am Rheine niemals viele Leſer gefunden hatte. Ehe er es noch ſelber recht bemerkte ward er durch ſeinen rheiniſchen Provinzialſtolz zu cleri - calen Anſchauungen verleitet, die allerdings dem innerſten Weſen ſeiner phantaſtiſchen Natur entſprachen. Nicht lange, ſo begann er ſogar das verrottete Ständeweſen der geiſtlichen Kurfürſtenthümer zu bewundern, das er in ſeiner Jugend mit wohlverdientem Hohne überſchüttet hatte, und meinte in den drei Curien des kurtrieriſchen Landtags die angeblichen drei Urſtände der Germanen, Lehr -, Wehr - und Nährſtand zu erkennen.

Als die Coblenzer nunmehr den Staatskanzler an das Verfaſſungs - verſprechen zu erinnern beſchloſſen, gab Görres der Adreſſe die wunder - liche Faſſung: man bitte um Wiederherſtellung der Freiheiten der Land - ſchaft und der uralten wahrhaft deutſchen Verfaſſung . In ſolcher Ge - ſtalt wurde das übrigens beſcheidene und unverfängliche Aktenſtück von mehr als dreitauſend Bürgern und Bauern der Umgegend unterzeichnet; die meiſten dachten ſich dabei nur das Eine, daß ein Landtag von Ein - geborenen künftighin den Preußen freundlich auf die Finger klopfen ſolle. 456II. 8. Der Aachener Congreß.Mit dieſer Adreſſe erſchien Görres am 12. Januar 1818 bei Hardenberg, hinter ihm ein wunderſamer Aufzug, nicht unähnlich jenen verkleideten Chineſen und Chaldäern, welche der tolle Anacharſis Cloots einſt als Deputation des Menſchengeſchlechts der franzöſiſchen Nationalverſamm - lung vorführte. Die Coblenzer Deputation wollte eine Ständeverſamm - lung im Kleinen vorſtellen; Geiſtliche und Lehrer vertraten den Lehr - ſtand, Edelleute, Landwehrmänner und Richter den Wehrſtand, ein Landrath nebſt mehreren Bürgern und Bauern den Nährſtand. Der Staatskanzler hörte den Redner, der in pathetiſchen Worten das Lob der alten kurtrier’ſchen Landtage ſang, den merkwürdigen Nährſtands-Landrath ſowie die übrigen Mitglieder freundlich an; er verhehlte jedoch den Ab - geordneten nicht, daß er ſelber weit liberaler denke als ſie: die einfache Wiederherſtellung überwundener Zuſtände ſei nicht möglich. Nachher erzählte Görres die Geſchichte dieſer Audienz dieſes Maifeldes des Frankenſtammes in einer muſterhaft ungeſchickten Flugſchrift, und mit ſchmetternden Fanfaren feierte die liberale Preſſe den großen Tribunen: nun habe das freie Rheinland der Krone Preußen ſeine Magna Charta überreicht!

Hardenberg, der ſeinen Mann kannte, nahm die Blätter dankend an. Am Hofe aber regte ſich die reaktionäre Partei, um den Vorfall gegen den abweſenden Staatskanzler auszubeuten. Der ſchreiende Ton der Schrift mißfiel dem Könige, nicht minder die gehäſſigen Anklagen wider den preußiſchen Staat und der widerwärtige rheinländiſche Dünkel, der die alten Provinzen wegwerfend als halbbarbariſche Koloniſtenlande behandelte. Der Kronprinz ließ die Flugſchrift mit einigen tadelnden Worten ihrem Verfaſſer zurückſchicken, und auf Befehl des Monarchen wurde eine Unterſuchung eingeleitet. Es ſtellte ſich heraus, daß die Adreſſe durch die Schöffen in den Gemeinden des Regierungsbezirks ver - breitet worden war. Nur zwei der befragten Gemeinden hatten die Theilnahme verweigert: die Bürgerſchaft von Hatzenport an der Moſel, weil ſie mit der gegenwärtigen Verfaſſung zufrieden ſei, und ein Ort auf dem Hunsrücken, weil die Bauern dort mit gutem Grunde befürch - teten, daß die Adreſſe mit der alten trier’ſchen Verfaſſung auch die Zehnten zurückbringen würde. Als ein Landrath eingeſchritten war, hatte ihn die Regierung in Coblenz zurückgewieſen, da wir nicht verhindern wollen, daß Unterthanen ihre Wünſche dem Landesherrn vortragen ; ſie ſchmeichelte ſich damit wie ihre Rechtfertigungsſchrift ſagte ganz im Geiſte der liberalen Geſinnungen unſeres Gouvernements ge - handelt zu haben . *)Eingabe der Coblenzer Regierung vom 20. Mai 1818.

Der König dachte anders; er zeigte ſich ſehr aufgebracht, denn er wollte die alte fridericianiſche Vorſchrift, die nur dem Einzelnen das Recht der457Verzögerung der Verfaſſungsarbeit.Petition gewährte, aber alle Aufforderungen zu gemeinſamen Bitten ſtreng unterſagte, am wenigſten in dieſer gährenden neuen Provinz über - treten ſehen. Darum ertheilte er, obgleich Hardenberg dringend abrieth, der Coblenzer Regierung einen ſcharfen Verweis und erwiderte den Un - terzeichnern der Adreſſe in einer ungnädigen Cabinetsordre, daß er ſich allein den Zeitpunkt für die Ausführung ſeiner Zuſage vorbehalte. Die Hatzenporter wurden wegen ihrer geſetzlichen Geſinnung belobt und blieben fortan viele Jahre lang als Rheinlands Abderiten das Stichblatt für die Witze ihrer Landsleute. *)Zwei Cabinetsordres vom 21. März 1818.Erſt durch dieſe Beweiſe des königlichen Unwillens erhielt der thörichte Mummenſchanz der Coblenzer Deputation eine Bedeutung, die ihm keineswegs zukam. Die ganze Provinz murrte über die Härte des Königs, obwohl die conſtitutionelle Partei unter den Rheinländern in Wahrheit erſt ſehr wenig überzeugte Anhänger zählte. Hardenberg errieth ſogleich, daß der Zorn des gütigen Monarchen offen - bar durch boshafte Einflüſterungen veranlaßt war; er hegte Argwohn gegen Ancillon und den Herzog Karl von Mecklenburg, doch den ſchlaueſten und gefährlichſten ſeiner Feinde, den Fürſten Wittgenſtein durchſchaute er noch immer nicht und forderte ihn ſogar vertrauensvoll auf, die Ver - ſtimmung des Hofes beſchwichtigen zu helfen. Um den König ganz zu verſöhnen kehrte er ſelber ſchon zu Anfang April, früher als er gedacht, nach Berlin zurück und ließ zum Abſchied ein Deutſches Wort aus Preußen an die Rheinländer drucken eine von ſeinem Vertrauten Koreff entworfene und von ihm ſelber durchgeſehene Flugſchrift, die dem rheiniſchen Volke neben freundlichen Zuſicherungen auch einige wohlver - diente Lehren gab: die Rheinländer, hieß es da, ſollten doch nicht ver - geſſen, daß ſie ſelber zur Abſchüttelung des fremden Joches keinen Finger geregt hätten und ihre Freiheit, ihr wieder geſichertes deutſches Leben allein dem preußiſchen Staate verdankten. Seinen Briefwechſel mit Görres brach der Staatskanzler ab, denn cela mettrait du louche dans ma marche. Alles was den Argwohn des Königs erregte, wollte er aus dem Wege räumen, um nur ſeinen Hauptzweck, den Abſchluß der Verfaſſung zu erreichen. **)Hardenbergs Tagebuch, 1., 7., 12. März, 26. April 1818.

Die Verzögerung der großen Entſcheidung ward mit jedem Tage peinlicher empfunden. Von allen Seiten liefen Mahnungen ein. Die märkiſche Ritterſchaft forderte nochmals, wie ſo oft ſchon, die Verein - barung des neuen Grundgeſetzes mit den alten Ständen und ward vom Könige auf die Berathungen des Staatsraths verwieſen. Die Merſe - burger Regierung dagegen bat um ſchleunige Einrichtung mindeſtens der Kreistage; ſonſt könne man den herrſchſüchtigen Anſprüchen der alten Stände, die das Volk haſſe, nicht widerſtehen. Selbſt die ſonſt ſo ſtillen458II. 8. Der Aachener Congreß.Gemeindebehörden der Hauptſtadt wurden ungebärdig, weil Niemand aus der Reſidenz bei der Befragung der Notabeln zugezogen worden war, und mahnten in mehrfachen Eingaben an das königliche Wort, worauf ihnen der Beſcheid wurde, daß wiederholte Erinnerungen unangemeſſen erſchienen . *)Eingabe des Großen Ausſchuſſes der kur - und neumärkiſchen Ritterſchaft, 17. März; Antwort des Königs, 28. März; Bericht der Merſeburger Regierung, 28. Juni; Schreiben der Berliner Stadtverordneten, 15. Januar; Bericht der Berliner Regierung, 16. Febr. 1818.

Hardenberg konnte ſich nicht mehr verhehlen, daß er endlich ſelber Hand an’s Werk legen mußte. Aber woher die Zeit und die Kraft für die Verfaſſungsarbeit nehmen inmitten der Unmaſſe von Geſchäften, die den Alternden faſt erdrückte? Da half ihm Wittgenſtein, dem er arglos ſeine Sorgen anvertraute, mit einem freundlichen Rathe aus (6. Mai). Der Fürſt empfahl die Anſtellung von zwei neuen Miniſtern als zweiten Chefs für die beiden Departements, welche der Staatskanzler bisher noch unmittelbar leitete; für die General-Controle ſchlug er den Grafen Lottum vor, einen wohlmeinenden Mann, der politiſch wenig bedeutete, für das auswärtige Amt den däniſchen Geſandten in Berlin, Graf Chriſtian Bernſtorff. Da Hardenberg mit Bernſtorff ſeit Jahren nahe befreundet war, ſo ging er unbedenklich auf den Gedanken ein und ſchrieb am 25. Mai dem Könige: er fühle die Laſt ſeiner achtundſechzig Jahre und halte ſich auch verpflichtet vorzuſorgen für den täglichen Fall, daß Gott über mich geböte . Das Staatskanzleramt wolle er bis zu ſeinem Ende fortführen, aber einen Nachfolger für dieſen Poſten wiſſe er ſchlechter - dings nicht zu nennen; am einfachſten alſo, wenn jetzt ſchon Miniſter für ſämmtliche Departements ernannt würden, damit nach ſeinem Ab - leben Alles ungeſtört weiter gehe. Darauf folgten die Vorſchläge, die er mit ſeinem bewährten Freunde Wittgenſtein beſprochen hatte. Der König, der den Grafen Bernſtorff ebenfalls von Jugend auf kannte und ſchätzte, genehmigte den Antrag, und nachdem der anfangs lebhaft über - raſchte däniſche Geſandte die Erlaubniß ſeines Monarchen eingeholt, wurde die Aenderung am 16. September durch ein überaus gnädiges Schreiben des Königs an den Staatskanzler förmlich vollzogen. **)Hardenbergs Tagebuch, 6. Mai; Hardenberg an den König, 25. und 30. Mai; Cabinetsordre an Hardenberg, 16. Sept. 1818.

Es war ein Meiſterſtreich Wittgenſteins. Der ſchlaue Hofmann hatte einen Plan, der ſeine Spitze unzweifelhaft gegen den Staatskanzler richtete, ſo geſchickt eingefädelt, daß dem Könige wie dem Staatskanzler ſelber Alles als Hardenbergs eigenes Werk erſcheinen mußte. Die Be - ſetzung des auswärtigen Amtes bot große Schwierigkeiten; denn das diplo - matiſche Corps Preußens beſaß in jenem Augenblicke neben vielen brauch - baren Diplomaten zweiten Ranges, die faſt durchweg gute Geſandtſchafts -459Graf Bernſtorff Miniſter des Auswärtigen.berichte einſendeten, nur einen Staatsmann, der das Zeug zu einem Miniſter beſaß, und dieſer Eine, W. Humboldt, war unmöglich. Er ſtand bei ſämmtlichen Großmächten in ſo ſchlechter Nachrede, daß er in der Quadrupelallianz niemals eine erfolgreiche Rolle ſpielen konnte; bei Hofe unbeliebt war er von Hardenberg noch immer durch das alte gegenſeitige Mißtrauen getrennt und paßte nicht für ein Departement, das nach wie vor der beſonderen Aufſicht des Staatskanzlers untergeordnet bleiben ſollte; er hatte endlich erſt im letzten Herbſt den Eintritt in das Miniſterium abgelehnt und dieſe Weigerung ſoeben wiederholt, indem er aus London ſchrieb: die Miniſter beſäßen keine wahre Verantwortlichkeit, mit Männern wie Schuckmann wolle er dieſe Verantwortlichkeit auch nicht theilen. *)Humboldt an Hardenberg, 29. Mai 1818.Unter ſolchen Umſtänden war es wohl begreiflich, daß der König, der ſchon ſo viele Männer aus dem deutſchen Auslande in ſeinen Dienſt ge - zogen hatte, ſich auch diesmal um die lebhaft ausgeſprochene Empfind - lichkeit ſeiner eingeborenen Beamten nicht kümmerte und wieder die Be - rufung eines nichtpreußiſchen Deutſchen beſchloß.

Ein Deutſcher war Graf Bernſtorff auch im däniſchen Dienſte immer geblieben. Nach einer kurzen diplomatiſchen Lehrzeit bei der Berliner Ge - ſandtſchaft hatte er einſt ſchon mit ſiebenundzwanzig Jahren die Leitung des auswärtigen Amts in Kopenhagen übernommen und als letzter Ver - treter der vielhundertjährigen deutſchen Adelsherrſchaft in Dänemark manchen harten Strauß mit dem erwachenden unduldſamen National - ſtolze des Inſelvolks beſtehen müſſen; die deutſche Bernſtorffiſche Partei und die Roſenkrantziſche däniſche Nationalpartei ſtanden einander ſchroff gegenüber. An den Ruhm ſeines Großoheims und ſeines Vaters, der beiden großen Bauernbefreier Dänemarks, reichten ſeine Verdienſte nicht heran; auch das Glück war ſeiner Verwaltung nicht hold. Er konnte den Raubzug der Engländer gegen Kopenhagen nicht verhindern, und auch ſpäterhin, als er wieder in die Geſandtenlaufbahn zurückgetreten war, gelang es ihm nicht, ſeinem von allen Großmächten preisgegebenen Mon - archen auf dem Wiener Congreſſe ein beſſeres Loos zu bereiten. Trotz dieſer Mißerfolge galt er allgemein als ein ehrenhafter, muthiger und kluger Staatsmann. Im perſönlichen Verkehre zeigte er würdige und doch ſanfte Formen, wie ſie König Friedrich Wilhelm liebte, eine bezau - bernde Anmuth, die aus einem edlen Herzen kam. In dem ſchönen Park ſeiner Amtswohnung auf der Wilhelmsſtraße trafen an Sommerabenden Gneiſenau und Clauſewitz mit einem fröhlichen Kreiſe geiſtreicher Menſchen zuſammen und in der Regel kamen auch die befreundeten Nachbarn, die Radziwills, über die Treppe, welche die Gartenmauer überbrückte, hinüber - geſtiegen. Der Miniſter war durch ſeine Oheime, die Gebrüder Stolberg, früh in die Literatur eingeführt, zeigte ſelber ein liebenswürdiges poetiſches460II. 8. Der Aachener Congreß.Talent, bewährte ſich in Kunſt und Wiſſenſchaft als ein feiner Kenner. Aber von dem derben Ehrgeiz und der raſtloſen Thätigkeit des geborenen Staatsmannes beſaß er wenig.

Mit ihm begann eine neue Generation der preußiſchen Diplomatie. An der Stelle jener wetterfeſten, arbeitsharten Politiker, welche einſt mit Leib und Seele dem großen Kurfürſten und dem großen Könige gedient hat - ten, erſchienen jetzt in müder Friedenszeit immer häufiger geiſtreiche, liebens - würdige literariſche Dilettanten, denen der Staat nicht mehr Eines und Alles war. Schon beim Antritt ſeines neuen Amtes fühlte ſich Graf Bernſtorff müde und abgeſpannt, obgleich er das fünfzigſte Jahr noch nicht erreicht hatte, und bald nachher ward er von der altadlichen Stan - deskrankheit, dem Podagra, ſo anhaltend heimgeſucht, daß er nur noch ſelten einen ganz geſunden Tag verlebte. Von den inneren Zuſtänden Preußens kannte er vorläufig nur, was ein fremder Diplomat zu be - obachten vermag, und zu ſeinem Unheil war er ſchon ſeit Langem ge - wöhnt, ſich vornehmlich von Ancillon über die deutſche Politik belehren zu laſſen. Der räthſelhafte Heiligenſchein, der dieſen gelehrten Hofmann umſchwebte, blendete den neuen Miniſter noch gänzlich, und der badiſche Geſandte General Stockhorn war ſicherlich auf der rechten Fährte, wenn er ſeinem Hofe meldete, daß Ancillon und Wittgenſtein gemeinſam die Berufung Bernſtorffs veranlaßt hätten. Der Briefwechſel zwiſchen Bern - ſtorff und Ancillon iſt noch großentheils erhalten. Er zeigt deutlich, wie der neue Miniſter noch über ein Jahr lang den Lehren ſeines ſchreib - ſeligen Mentors mit gläubiger Andacht lauſchte. Erſt als es zu ſpät war, erſt gegen das Ende des Jahres 1819 hatte ſich Bernſtorff in den deutſchen Dingen zurechtgefunden und mit eigenen Augen zu ſehen gelernt; ſeit - dem entfernte er ſich Schritt für Schritt von den reaktionären Doctrinen des Meiſters und bewies, daß er nach Temperament und Geſinnung zu den gemäßigten Conſervativen gehörte. Aber während jener kritiſchen andert - halb Jahre, welche den Umſchwung der Bundespolitik herbeiführten, blieb Bernſtorff ein Genoſſe Ancillons.

Seine Berufung war ein Sieg der reaktionären Partei und förderte, ohne daß er es ſelber ahnte, die Abſichten derer, welche die conſtitutio - nellen Pläne des Staatskanzlers insgeheim zu vereiteln trachteten. Vorder - hand gerieth die Verfaſſungsarbeit gänzlich ins Stocken. Hardenberg unter - nahm im Juli auf dem neuen Dampfſchiff der Kurier von Humphreys eine Fahrt von Potsdam nach Hamburg, die als unerhörtes Wagniß be - wundert wurde, und begab ſich von da nach dem Rheine, wo er wochen - lang mit den Angelegenheiten der Provinz und diplomatiſchen Verhand - lungen beſchäftigt war. Die Ungeduld der Verfaſſungspartei wuchs von Tag zu Tag. In leidenſchaftlichem Zorne ſchrieb Boyen an Schön: Dieſe auf Thatſachen ruhende Liebe des Volks zu ſeinem Könige, Alles das was ſeit Jahrhunderten ehrwürdige Denker für den Zweck der Menſch -461Die Wiener Jahrbücher.heit erklärten, das will jetzt ein ſchwächliches Gelichter, oder alte Weiber die unglücklicher Weiſe Hoſen tragen, für unwahr erklären, um ſich ein myſtiſches Gewand aus alten verjährten Formen ſo recht bequem für ihre eigene Perſon und die liebwerthe Familie zu machen. *)Boyen an Schön, 26. Okt. 1818.

So wurden dem Wiener Hofe alle Zeichen günſtig. Noch bis gegen das Ende des vorigen Jahres hatte Metternich, aus Scheu vor der Empfindlichkeit der kleinen Höfe, jeden ſcharfen Eingriff in die deutſche Bundespolitik vermieden; jetzt ſchien ihm die Zeit gekommen für einen Feldzug wider die Demagogen. War erſt die Quadrupelallianz auf dem Congreſſe von Neuem befeſtigt, ſo ſollten die deutſche Preſſe, die Univerſi - täten, die Turnplätze und wenn möglich auch die Landtage die Strenge des Bundesrechts empfinden. Um den Kampf für das Beſtehende auch mit geiſtigen Waffen zu führen hatte Metternich ſoeben die Wiener Jahr - bücher der Literatur gründen laſſen, da der Oeſterreichiſche Beobachter, wenn nicht Gentz einmal einen Aufſatz ſendete, doch gar zu kläglich war, und Cotta in die Spalten der Augsburger Allgemeinen Zeitung außer den Zuſendungen der Hofburg auch liberale Artikel aufnahm. Matthäus von Collin, der Bruder des Dramatikers Heinrich, ein harmloſer, un - bedeutender Schriftſteller erhielt die Leitung, und es bezeichnet Metter - nichs wiſſenſchaftliche Bildungsſtufe, daß er ſelber den trivialſten aller deutſchen Recenſenten, den durch Goethe und Schiller ſo köſtlich ver - höhnten Magiſter Ubique, Karl Böttiger in Dresden aufforderte, dem in echt gelehrtem, wahrhaft weltbürgerlichem Sinne geplanten Unternehmen als Kritiker zu dienen. Die reichen Geldmittel der Zeitſchrift verſchafften ihr zwar einzelne gediegene Beiträge, doch eine literariſche Bedeutung er - langte ſie niemals; wie hätte unter dieſem geiſtloſen Regimente die leben - dige Wiſſenſchaft gedeihen können?

Gleich in den erſten Heften erſchienen, zur Vorbereitung des Kampfes gegen die deutſchen Zeitungen, zwei Abhandlungen von Gentz über die Preßfreiheit in England, die einzigen ſtreng wiſſenſchaftlich gehaltenen Arbeiten ſeiner ſpäteren Jahre. Welch eine Wandlung ſeit jenem frei - müthigen Sendſchreiben, in dem er vor zwanzig Jahren dem neuen Könige von Preußen den Segen der freien Preſſe erwieſen hatte. Wie viel reifer, erfahrener, kenntnißreicher erſchien er jetzt, aber auch wie kalt, wie einſeitig, wie glaubenlos und unredlich in ſeiner gewandten Rhetorik. Jetzt ſollte die Preßfreiheit nur noch ein relativer Begriff ſein und unter der Cenſur ebenſo ſicher ja noch ſicherer beſtehen können als unter der Gefahr nachträg - licher, gerichtlicher Beſtrafung. Nach einer meiſterhaften Darſtellung der Geſchichte der engliſchen Preſſe, wie nur er allein ſie damals geben konnte, entwickelte er die leitenden Gedanken einer Doctrin, welche während eines Menſchenalters der Grundirrthum der deutſchen Preßgeſetzgebung ge -462II. 8. Der Aachener Congreß.blieben iſt. Er behauptete, daß die Preßvergehen eine eigene Art von Delicten bildeten, die mit anderen Geſetzesverletzungen nichts gemein habe, während doch Majeſtätsbeleidigung, Gottesläſterung und ähnliche Ver - brechen durch das geſprochene Wort oder durch Thätlichkeiten ebenſowohl wie durch das Mittel der Preſſe begangen werden können und durch die Verſchiedenheit des Mittels ihr Weſen nicht verändern. Seine kecken Sophismen fanden Anklang nicht blos bei der Aengſtlichkeit der Cabinette, ſondern auch bei dem Standesgefühl der Schriftſteller, die in ihrer Eitel - keit nicht bemerkten, daß Gentz der Preſſe nur darum eine ſtolze Aus - nahmeſtellung außerhalb des gemeinen Rechtes zuwies, weil er ſie durch Ausnahmegeſetze knebeln wollte.

Den Ruhm des erſten deutſchen Publiciſten durfte ihm noch immer Niemand ſtreitig machen; mit der claſſiſchen Schönheit ſeines ſo kunſtvoll durchgebildeten und doch ſo einfachen Stiles, mit der gedrungenen Kraft ſeiner Dialektik ſchlug er jeden Nebenbuhler aus dem Felde. Aber wohin war der ſittliche Zorn und der Gedankenreichthum ſeiner großen Jahre, wohin jener weitherzige Freiſinn, der einſt die nationale Eigenart der Völker ſo mannhaft gegen den vernunftwidrigen Zwang des Weltreichs vertheidigt hatte? Nur der eine Gedanke der Erhaltung des Beſtehenden kehrte jetzt mit troſtloſer Eintönigkeit in allen ſeinen Schriften wieder. Der greiſen - hafte Wahn, als ob die ewige Bewegung der Geſchichte auf den Wink der Hofburg nun für immer aufhören müßte, brachte die ſchöpferiſche Kraft dieſes einſt ſo fruchtbaren Geiſtes zum Verſiegen und ſchlug den Mann, der einſt der Ritter Europas geheißen hatte, mit jämmerlicher Angſt, da Gentz doch zu ſcharf ſah um an jenen Widerſinn in vollem Ernſt zu glauben. Er hatte ſich nach und nach ganz in Oeſterreich eingelebt, faſt mit allen Freunden ſeiner Jugend den Verkehr abgebrochen und fand bald eine boshafte Freude daran, ſeine alte Heimath als das Land des hohlen Verſtandesdünkels zu verhöhnen, den fanatiſchen preußiſchen Renegaten Adam Müller, der ſo tief unter ihm ſelber ſtand, als Deutſchlands größten Schriftſteller zu verherrlichen.

Wie einſt Platon und ſeine politiſchen Schüler den ganzen Reich - thum attiſcher Sprache und attiſchen Geiſtes aufboten um die unmenſchliche Rauheit des Spartanerſtaats zu preiſen, ſo ſtellte Gentz das ſchwere Rüſtzeug ſeiner proteſtantiſch-norddeutſchen Bildung in den Dienſt einer undeutſchen Staatskunſt, die alle Freiheit unſerer Kultur zu vernichten drohte. Wie Jene ward auch er zunächſt durch einen politiſchen Irrthum mißleitet, da er in der Hofburg den Hort und Halt der conſervativen Sache Europas zu finden glaubte; doch auch die unerſättliche Genußſucht bannte ihn im öſterreichiſchen Lager feſt. Er zählte zu jenen geborenen Vir - tuoſen des Genuſſes, welche ihre Kraft nur in der weichen Luft eines verfeinerten ſinnlichen Daſeins entfalten können und darum berechtigt ſind ſich den Boden zu erobern, der ihrer Begabung zuſagt. Aber wie463Gentz.über alles Maß hinaus hatte er dies Recht mißbraucht; die ungeheueren Summen, die er mit unbeſchämter Stirn von den großen Höfen, von den Rothſchilds, von den Hospodaren der Wallachei bezog, genügten noch immer nicht für die unſinnige Verſchwendung des weibiſch verwöhnten, in allen erdenklichen Lüſten abgetriebenen und entnervten Mannes. Jahre - lang hatte man in der Hofburg nur ſeine Feder benutzt ohne ihn in alle Geheimniſſe einzuweihen. Erſt ſeit dem Wiener und dem zweiten Pariſer Congreſſe erlangte er bei Metternich jene Vertrauensſtellung, deren er ſich ſchon früher fälſchlich zu rühmen pflegte; für Kaiſer Franz blieb er freilich bis zu ſeinem Tode nur der ausländiſche Plebejer. Die Zeit des Aachener Congreſſes nannte er ſelbſt den Kulminationspunkt ſeines Lebens; alle Höfe überſchütteten ihn mit Auszeichnungen und Geſchenken, Freund und Feind erkannten ihn als den Publiciſten des europäiſchen Bundes an. Im Bewußtſein ſeiner umfaſſenden Sachkenntniß blickte er mit ingrimmiger Verachtung auf das dilettirende politiſche Gerede der Abgeordneten, Profeſſoren und Zeitungsſchreiber hernieder. Niemals wollte er zugeben, daß ſich aus den Anſichten ſo vieler Halbwiſſer ſchließlich doch eine öffentliche Meinung herausbildet, die ſelbſt in ihren Ver - irrungen noch eine reale Macht bleibt und zuweilen ebenſo unwider - ſtehlich wirkt, wie das auch aus den Anſichten von Nichtkennern hervor - gehende Urtheil des Publikums im Schauſpielhauſe. Wie fühlte er ſich glücklich, daß es doch endlich wieder diplomatiſche Geheimniſſe gab , daß die Cabinette beſchloſſen hatten, diesmal die Congreßverhandlungen ſorg - fältiger als es in Wien geſchehen vor den Blicken der Uneingeweihten zu behüten. Durch Zwang und Strafen ſollte der große Haufe der Unberufenen die Luſt verlieren ſich in die Arbeit der politiſchen Zunft einzumiſchen. Mit rechter Herzensfreude nahm Gentz jetzt jene preußiſche Denkſchrift über das Bundespreßgeſetz, welche Jordan im vorigen Jahre vergeblich nach Wien gebracht hatte, wieder vor und begann ſie im öſter - reichiſchen Sinne umzugeſtalten; dem Meiſter der Feder war kein Mittel hart genug, das die Zeitungen zum Schweigen bringen konnte.

Noch ſchrecklicher als die Licenz der Preſſe ſchien ihm, ſo geſteht er ſelbſt, das größte aller Uebel, das Burſchenunweſen. Jene rührende Begeiſterung für Deutſchlands Einheit, welche ſelbſt die Thorheiten der brauſenden Jugend noch entſchuldbar erſcheinen ließ, war für die Oeſter - reicher natürlich nur ein Grund mehr zur Verdammniß. Dazu der Abſcheu dieſer verweichlichten und verzärtelten ariſtokratiſchen Welt gegen die derben akademiſchen Sitten, von deren Roheit man ſich in der Hof - burg Wunderdinge erzählte: ſogar Arndt war nach Metternichs Mei - nung ein wüſter Trunkenbold. Dazu endlich und vor Allem die memmen - hafte Furcht: ſelbſt der Hahnenſchrei und das Schnattern der Gänſe, ſelbſt das Rollen des Donners und alle die andern Schreckniſſe, mit denen die grauſame Natur die reizbaren Nerven des Wiener Hofpubli -464II. 8. Der Aachener Congreß.ciſten beunruhigte, regten ihn nicht ſo fieberiſch auf wie der Anblick eines bärtigen Studenten. In Heidelberg ward ihm ſogar die Freude an der ſchönen Landſchaft, faſt das einzige jugendliche Gefühl, das er ſich in ſeinem fröſtelnden Herzen noch bewahrt hatte, ganz verdorben, denn auf den Straßen zeigten ſich die grotesken und widerlichen Figuren, die in ſchmutzigen altdeutſchen Trachten, Gott und den Menſchen ein ge - rechter Gräuel, mit Büchern unter dem Arme, die falſche Weisheit ihrer ruchloſen Profeſſoren einholen gingen. Auch dieſer Gräuel mußte jetzt ein Ende nehmen; eine große Denkſchrift über die Reform der Univer - ſitäten war bereits in Arbeit. Der Congreß bot die Mittel zur Ver - ſtändigung mit dem preußiſchen Hofe, und dann ſollte der Bundestag die vernichtenden Schläge gegen die Demagogen führen. Unterdeſſen ward das Publikum durch einen orakelhaften Artikel des Oeſterreichiſchen Beobachters nachdrücklich zum Vertrauen auf die Weisheit der verbün - deten Monarchen vermahnt: Erhaltung, nicht Auflöſung oder Umſturz wird jeden ihrer Schritte bezeichnen.

Um den Bundestag gefügig zu ſtimmen nahmen Metternich und Gentz ihren Weg über Frankfurt und fanden dort bei den bedienten - haften kleinen Diplomaten, welche Gentz im Kreiſe der Eingeweihten kurzweg als Geſindel zu bezeichnen pflegte, einen glänzenden, alle Er - wartungen überbietenden Empfang. Seinem Kaiſer meldete Metternich triumphirend: ſeit ſeinem Erſcheinen in Frankfurt habe ſich eine mora - liſche Revolution am Bundestage vollzogen; ganz unglaublich, auf welcher moraliſchen Höhe der kaiſerliche Hof jetzt ſtehe. An ſeine Gemahlin ſchrieb er noch weit prahleriſcher: Ich bin eine Art moraliſcher Macht geworden in Deutſchland und Europa; ich bin nach Frankfurt gekommen wie der Meſſias um die Sünder zu erlöſen und verſicherte dann, die zwölf Tage ſeiner Anweſenheit hätten genügt um am Bundestage Alles zu erledigen, was niemals fertig zu werden ſchien. In Wahrheit ließ ſich der Bundestag in ſeinem geſunden Schlafe durchaus nicht ſtören; die Geſandten trieben das beliebte Verſteckenſpiel mit der Einholung neuer Inſtruktionen fröhlich fort, und von allen den unerledigten Ge - ſchäften der Bundesverſammlung wurde nur ein einziges durch Metter - nichs Eingreifen um einen winzigen Schritt weiter gebracht, die Ver - handlung über das Bundesheer.

Noch immer ſtritt man ſich über die Zuſammenſetzung der gemiſch - ten Armeecorps, noch immer behaupteten die Mittelſtaaten hartnäckig, daß Kurheſſen zu Süddeutſchland gehöre, und ſoeben hatte Wangenheim den Zorn der beiden Großmächte erregt durch eine Reihe biſſiger Notamina zur Bundeskriegsverfaſſung, welche den Hintergedanken der deutſchen Trias deutlich durchſchimmern ließen. Als Metternich den Württemberger ernſtlich zur Rede ſtellte, enthüllte ihm dieſer in einer kindlich offenherzigen Antwort (16. Sept.) ſeine geheimſten Pläne. Die465Metternich am Bundestage.Bundesakte , ſchrieb Wangenheim arglos, iſt nichts, gar nichts ohne In - ſtitutionen, welche die Anwendung des Geſetzes und ſeine Vollziehung verbürgen; nur ein Bund im Bunde kann die völlige Rechtsgleichheit aller Bundesglieder ſichern und die rein deutſchen Staaten den euro - päiſchen Kriegen der beiden Großmächte fern halten. Daß dieſer Bund jemals mit dem Auslande ſich verſchwören und etliche und dreißig Staaten in Klein-Octav und Duodez über einen Eroberungsplan gegen Preußen und Oeſterreich einig werden ſollten, iſt eine läppiſche Beſorg - niß politiſcher Don Quixotes.

Metternich würdigte den unſchuldigen Briefſchreiber keiner Erwi - derung, ſondern ſuchte ſofort eine Verſtändigung mit Preußen; wenn nur die Einheit des Bundesheeres, und damit der öſterreichiſche Ober - befehl geſichert blieb, ſo kam ihm auf die Zuſammenſetzung der gemiſch - ten Armeecorps wenig an. Er begab ſich von Frankfurt nach ſeinem herrlichen Dotationsgute, dem Johannisberg, wo er die einträglichen Rebgärten der alten Fuldaer Fürſtäbte mit großer Sorgfalt pflegen, ihre Feſtſäle unanſtändig kahl und häßlich wieder herſtellen ließ. Dort hielt er am 17. Sept., von Langenau unterſtützt, eine große Berathung mit Hardenberg, Goltz und Wolzogen, welche zur Annahme der preußiſchen Vorſchläge führte: außer drei öſterreichiſchen, drei preußiſchen und einem bairiſchen Armeecorps ſollten drei gemiſchte Corps gebildet werden, ein achtes für Sachſen, Württemberg und Baden, ein neuntes für beide Heſſen, Naſſau und Thüringen, ein zehntes für Hannover und die niederdeutſchen Kleinſtaaten. Der preußiſche Staatskanzler war über - glücklich. Hundertmal getäuſcht wollte er die Traumgebilde ſeiner dua - liſtiſchen Politik auch jetzt noch nicht aufgeben und meldete ſeinem Könige, nunmehr ſei es gewiß, daß ganz Norddeutſchland außer Sachſen im Kriegsfalle unter Preußens Führung ſtehen werde. *)Hardenbergs Bericht an den König, Kreuznach 18. Sept. 1818.Und doch hatte man über eine Zweitheilung des Bundesheeres kein Wort verabredet, vielmehr war Oeſterreich feſt entſchloſſen, von dem früheren Bundesbe - ſchluſſe, welcher die Ernennung eines einzigen Bundesfeldherrn vorſchrieb, niemals abzugehen. In Frankfurt währte unterdeſſen der alte Zank unaufhaltſam fort, die beiden Heſſen wollten durchaus in das Armee - corps der ſüddeutſchen Mittelſtaaten eintreten. Aber da der König von Württemberg über das eigenmächtige, herausfordernde Gebahren ſeines heißblütigen Geſandten denn doch erſchrak**)Miniſterialſchreiben Berſtetts an Berkheim, 29. Aug. 1818. und die beiden Heſſen nur lau unterſtützte, ſo wurde endlich die Johannisberger Vereinbarung von dem militäriſchen Ausſchuß angenommen und am 12. Oktbr. der Ent - wurf der Grundzüge der Kriegsverfaſſung des Deutſchen Bundes dem Bundestage vorgelegt.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 30466II. 8. Der Aachener Congreß.

Alſo nach zwei Jahren ein Entwurf der Grundzüge welch ein ſchimpflicher Gegenſatz zu dem patriotiſchen Einmuth der franzöſiſchen Kammern, die allen Parteihader ſofort vergaßen wenn die Stärke des Heeres in Frage ſtand! Ob und wann der Bundestag den Entwurf ſeines Ausſchuſſes genehmigen würde, blieb noch völlig zweifelhaft, da nunmehr wieder der anmuthige Zeitvertreib der Inſtruktionseinholung begann; wer den Charakter dieſer Verſammlung kannte, mußte vorher wiſſen, daß die unveränderte Annahme ganz undenkbar war. Metternich aber in ſeiner unerſättlichen Eitelkeit hatte die Stirn ſeinem Kaiſer zu ſchreiben: in dem Augenblicke der Räumung Frankreichs erlebe Deutſchland die Genugthuung, daß ſeine Kriegsverfaſſung vollendet, ſeine Wehrfähigkeit geſichert ſei und empfing dafür den Dank des Monarchen, weil er die Militärangelegenheit dem erwünſchten Ende zugeführt habe . Neun Tage nachdem er dieſen Lobſpruch eingeſtrichen hatte, geſtand er dem Staatskanzler vertraulich (5. Nov.), alle Verhandlungen des Bundestags über das Heerweſen ſeien bisher nur Vorarbeiten geweſen! *)Metternich an Hardenberg, 5. Nov. 1818.

So geringfügig das unmittelbare Ergebniß ſeines Frankfurter Aufent - haltes blieb, eine Befeſtigung ſeines Anſehens hatte Metternich allerdings erreicht. Er galt jetzt allgemein als das weiſe Haupt der deutſchen Staatsmänner, ſelbſt Wangenheim nannte ihn einen Heros der Politik. Und als nun gar Kaiſer Franz ſelber den Rhein hinab reiſte, da erdröhnte in den alten Krummſtabslanden ein Jubel, der unwiderſprechlich be - wies, daß der Preußenhaß der Rheinländer nicht im Liberalismus, ſon - dern in der clericalen Geſinnung wurzelte. Stundenweit waren ihm die Kölner entgegengezogen; Franz aber ließ ſich die Huldigungen mit ſchlecht verhehlter Schadenfreude wohl gefallen und ſchrieb unter einen Bericht Metternichs, der ihm von der Kaiſertreue des Rheinlands erzählte, zu - frieden ſein: Dient zur angenehmen Wiſſenſchaft. In dem bigotten Aachen wurde der Oeſterreicher wo er ſich zeigte mit ſtürmiſchem Hochruf begrüßt, um den König und den Czaren kümmerte ſich Niemand; der Kaiſer, ſagte man laut, iſt hier in ſeinem Land, de Prüß iſt hier fremd. Als König Friedrich Wilhelm ſeinen öſterreichiſchen Gaſt in das Münſter führte, empfing die geſammte Cleriſei den Kaiſer am Portale wie der Oeſterreichiſche Beobachter in einem unverſchämten Artikel behaglich ſchil - derte und geleitete ihn zum Grabe Karls des Großen, wo ein Bet - ſtuhl für ihn bereit ſtand und ihm die berühmten Reliquien dargereicht wurden; währenddem ſtand der evangeliſche Landesherr dieſer Geiſtlichen mit ſeinem Kronprinzen unbeachtet zur Seite. Welch ein Auftritt! Dank und Ehrfurcht für dieſen Lothringer, der die Krone der Karolinger in den Koth geworfen hatte, hier am Grabe des erſten Kaiſers, in derſelben alten Krönungsſtadt, wo er vierzehn Jahre zuvor eidbrüchig dem Kaiſer -467Kaiſer Franz am Rhein.thum des Uſurpators ſeine Huldigung dargebracht; und freche Gering - ſchätzung der Unterthanen gegen den edlen deutſchen Fürſten, der dieſer Weſtmark das fremde Joch vom Nacken genommen und ihr nach viel - hundertjährigem Elend zuerſt wieder den Segen eines rechtſchaffenen deut - ſchen Staates brachte. Wahrlich, ein Geſchlecht, das ſo empfand, war noch nicht reif für die Einheit.

Ganz ohne Kämpfe ſollten die Verhandlungen des Congreſſes nicht verlaufen, doch ward der Gegenſatz der Meinungen niemals ſchroff und gefährlich, da alle Mächte einen neuen Ausbruch des Kraters der Revo - lution in Frankreich gleichmäßig fürchteten. Wohl hatte der Czar ſeinen Pozzo di Borgo eigenmächtig, dem Beſchluſſe der Pariſer Geſandtencon - ferenz zuwider, nach Aachen berufen, aber Metternich bemerkte bald, daß Alexander ſelbſt mit der franzöſiſchen Geſinnung ſeines Geſandten keines - wegs übereinſtimmte. Der Kaiſer betrachtete die inneren Zuſtände Frank - reichs mit ſchwerer Beſorgniß und ließ ſich durch Richelieus Betheuerungen nicht bekehren; bei allem Wohlwollen für die Bourbonen wollte er den Bund der vier Mächte, der ſeine Spitze gegen die Revolution in Frank - reich richtete, nicht gänzlich aufgeben. Erhaltung des Friedens, der Ord - nung, der chriſtlichen Sitte und, wenn es noth thue, gemeinſamer Kampf gegen die Hydra des Aufruhrs das war das Programm, das er, zu Metternichs Erleichterung, in ſalbungsvollen Reden wieder und wieder entwickelte. Zudem nahm Pozzo an den amtlichen Sitzungen nicht theil. Die Bevollmächtigten waren: Caſtlereagh und Wellington, Metternich, Hardenberg und Bernſtorff, Kapodiſtrias und Neſſelrode. Das Protokoll führte Gentz; der ſchwamm in einem Meere des Entzückens und fand kaum Worte genug um ſeinem Vertrauten Pilat die erfreuliche Sinnesänderung des Czaren zu ſchildern und die muſterhafte Eintracht der Cabinette und das reiche Lob, das ſeiner Feder geſpendet ward, und die 6000 Dukaten Geſchenke, die in ſeine unergründliche Taſche floſſen. Der franzöſiſche Bevollmächtigte Richelieu erſchien vorläufig nur in einzelnen Sitzungen, auf beſondere Einladung.

Ueber die Räumung Frankreichs einigte man ſich ſchon am dritten Tage des Congreſſes, am 1. Oktober, und bereits am 9. wurde mit Richelieu ein Vertrag geſchloſſen, der den Abmarſch des Beſatzungsheeres bis zum 30. November zuſagte. Ich habe genug gelebt, da ich Frankreich frei geſehen habe, ſchrieb König Ludwig dankbar ſeinem Miniſter. Für die Abzahlung des Reſtes ihrer Kriegsſchulden 265 Mill. Fr. ſetzte man den Tuilerien eine Friſt von neun Monaten. Umſonſt hatte Harden - berg ſofortige Zahlung gefordert, da das gänzlich erſchöpfte Preußen kaum noch länger warten konnte und die franzöſiſchen Rentenbriefe ſtets unver - züglich, ſobald ſie eingingen, zu ungünſtigem Kurſe verkaufen mußte. Die30*468II. 8. Der Aachener Congreß.anderen drei Mächte verwarfen den Vorſchlag, weil ſie die öffentliche Meinung in Frankreich nicht reizen wollten,*)Protokoll der 5. Sitzung vom 3. Okt. 1818. und allerdings hätten die Bourbonen der preußiſchen Forderung ſchwerlich genügen können. Die beiden neuen Anleihen von zuſammen 120 Mill., welche Frankreich zur Abtragung der erſten Raten ſeiner Schuld ausſchrieb, warfen einen pani - ſchen Schrecken unter die Geſchäftswelt, und noch während des Congreſſes brach in Paris und dann in Amſterdam eine ſo bedenkliche Börſenkriſis aus, daß die Mächte, auf Richelieus Bitten und Wellingtons Verwen - dung, noch zweimal eine Verlängerung der Zahlungsfriſt zuletzt bis zum Juni 1820 bewilligten. Beide male widerſprach Preußen vergeblich.

Schwieriger geſtalteten ſich die Verhandlungen über Frankreichs künf - tige Stellung zu den vier Mächten. Richelieu wünſchte kurzweg die Auf - nahme ſeines Staates in den Bund der Vier, dergeſtalt, daß die euro - päiſche Pentarchie, wie ſie in den drei Jahrzehnten vor der Revolution thatſächlich beſtanden, als eine rechtlich anerkannte Ordnung erneuert würde; die Fortdauer des Vierbundes, verſicherte er wiederholt, könne in Frankreich nur als eine Beſchimpfung aufgefaßt werden und den Krieg oder die Revolution herbeiführen. Eine Zeit lang ſchien es, als ob Ruß - land dieſen Wünſchen entgegenkommen wolle; im vertraulichen Geſpräche nannte Kapodiſtrias den Vierbund einen vierköpfigen Bonaparte, deſſen Tyrannei gebrochen werden müſſe. Am 8. Okt. überreichten die ruſſiſchen Bevollmächtigten eine Denkſchrift, die nach Bernſtorffs treffendem Urtheil an Ausdehnung, Dunkelheit und Schwülſtigkeit Alles übertraf, was je aus Petersburg gekommen war. **)Kapodiſtrias, Mémoire sur l’alliance générale, 26. Sept. / 8. Okt.; Bernſtorff an Lottum, 10. Okt. 1818.Sie feierte in apokalyptiſcher Sprache das neue, von der Vorſehung ſelbſt gegründete Syſtem des Friedens, das gleich der Wahrheit, einmal anerkannt und in die Herzen der Menſchen eingegraben, ſeine Macht nie wieder verlieren könne, und forderte ſodann den Eintritt Frankreichs in den Vierbund, der nur der Mittelpunkt des allgemeinen Bundes oder des europäiſchen Syſtems ſei. Aber daneben ſtanden drohende, ja feindſelige Aeußerungen gegen Frankreich: wenn dieſe Macht je wieder der Revolution anheimfiele, dann ſcheide ſie von ſelbſt aus dem allgemeinen Bunde aus.

Das ſeltſame Schriftſtück gab ein getreues Bild von den wider - ſprechenden Wünſchen, welche ſeit der großen Schwenkung des letzten Sommers den beweglichen Geiſt des Czaren beherrſchten: der Stifter der heiligen Allianz wäre erſichtlich gern das anerkannte Haupt eines allge - meinen europäiſchen Bundes geworden, aber auf den erprobten Vierbund, der die Mächte der Revolution in Schach hielt, wollte er doch auch nicht ganz verzichten. Dem gegenüber dachten die beiden hochconſervativen469Frankreichs Eintritt in die Allianz.Mächte Oeſterreich und England vor Allem das Beſtehende, den Vierbund aufrechtzuhalten, etwa mit gelegentlicher Zuziehung Frankreichs; Metternich wie Caſtlereagh konnten das Mißtrauen gegen Rußlands Ehrgeiz und die Furcht vor jeder Neuerung nicht überwinden. Ueberdies befürchtete Lord Liverpool heftige Kämpfe mit den Whigs, falls ſeine Amtsgenoſſen einen förmlichen Vertrag unterſchrieben, und verbarg ſeine Angſt hinter der hochtrabenden Mahnung: die Verbündeten mögen nicht vergeſſen, daß die allgemeine und europäiſche Erörterung dieſer Fragen im engliſchen Parlamente ſtattfinden wird. Im Schooße ſeines eigenen Cabinets erhob ſich bereits eine Stimme des Widerſpruchs; das jüngſte Mitglied des Miniſteriums, Georg Canning, vertrat ſchon die Anſicht, daß der Inſel - ſtaat den Angelegenheiten des Feſtlandes, ſoweit ſie nicht den engliſchen Handel berührten, fern bleiben ſolle. Preußen ſtand zwiſchen beiden Par - teien in der Mitte und bemühte ſich um einen Ausgleich, deſſen Be - dingungen in der That nahe lagen. Der Vierbund beſtand unzweifelhaft noch zu Recht; ihn aufzuheben war jetzt nicht rathſam, da der Zuſtand Frankreichs ſo wenig Vertrauen erweckte und in dem Königreich der Nieder - lande bereits ein Kampf zwiſchen Nord und Süd entbrannt war, der den Zerfall dieſes künſtlichen Staatsgebildes anzukündigen ſchien. Anderer - ſeits ließ ſich dem Tuilerienhofe, nachdem er alle Bedingungen des Frie - dens erfüllt hatte, die Theilnahme an den Berathungen der europäiſchen Mächte billigerweiſe nicht mehr verſagen. Gab es kein Mittel, um beide Zwecke zugleich zu erreichen, um Frankreich in das europäiſche Concert aufzunehmen und zugleich den Bund der Vier von Neuem zu befeſtigen?

Auf dies zweifache Ziel war Preußens Vermittlung gerichtet, und ſchon nach wenigen Tagen hatten ſich die beiden Parteien einander ge - nähert. Am 14. Oktober ſchlug Kapodiſtrias in einer neuen Denkſchrift vor: es ſolle durch ein geheimes Protokoll der vier Mächte der Vierbund abermals beſtätigt und die Rüſtung für den Fall des Krieges gegen Frankreich im Einzelnen verabredet werden; hierauf ſei Frankreich zum Anſchluß an die Union der Mächte einzuladen und der vollzogene Beitritt den übrigen Staaten Europas anzuzeigen als ein Beweis der Einheit, der brüderlichen und chriſtlichen Freundſchaft der Monarchen*)Mémoire sur l’application des traités de 1815 aux circonstances actuelles. 14. Okt. 1818.. Damit waren die Grundlagen für die Verſtändigung bereits gegeben. Indeß ge - riethen die Verhandlungen für einige Tage ins Stocken, weil der Czar und der König auf Richelieus dringende Bitten einen Abſtecher nach Paris unternahmen; der greiſe Bourbone wünſchte ſeiner Nation zu zeigen, daß die Verbündeten ihn als einen völlig gleichberechtigten Bundesgenoſſen be - trachteten. Unterwegs wurde bei Sedan eine Heerſchau über das preußiſche Beſatzungscorps abgehalten, auf demſelben Gefilde, das die ſchwarzen470II. 8. Der Aachener Congreß.Adler nach einem halben Jahrhundert wiederſehen ſollte. In den Tuilerien zeigte der Czar wieder ſeine ſchauſpieleriſchen Künſte; er blieb nur einen Tag und hielt, ſobald ſein preußiſcher Freund ins Theater gefahren war, mit König Ludwig eine lange feierliche Unterredung, wobei es an pathe - tiſchen Worten und gönnerhaftem Wohlwollen nicht fehlte. Aber bindende Zuſagen gab er dem Könige nicht, und als er am 31. Oktober nach Aachen zurückkehrte, fand er die Staatsmänner in einer Stimmung, welche für Frankreich nichts Gutes verhieß.

Die ſoeben vollzogenen Ergänzungswahlen für die franzöſiſchen Kam - mern hatten keinem einzigen Ultraroyaliſten ein Mandat gebracht, da - gegen waren ſelbſt in den Hochburgen der legitimiſtiſchen Partei, in der Bretagne und der Vendee erklärte Demokraten wie Lafayette und Manuel gewählt; und zudem die beunruhigenden Nachrichten von der Pariſer Börſe. Frankreichs Zukunft erſchien Allen unſicherer denn je, und mit Nachdruck hob Metternich in einer Denkſchrift vom 1. November hervor, daß dieſes Land ſich noch immer nicht in der gleichen Lage befinde wie die übrigen Mächte. Niemand wolle das ruhige und conſtitutionelle Frankreich be - drohen; aber dieſer Staat ſei aus einer Revolution hervorgegangen und von Parteien zerriſſen; es beſtehe zwiſchen den vier Mächten eine Ver - pflichtung ihn zu beobachten, ob er wieder in revolutionäre Zuckungen verfallen ſollte, eine Verpflichtung, welche gegen keinen anderen Staat beſteht ; deshalb könne Frankreich nicht in einen förmlichen Bund ein - treten, zumal da es an einem casus foederis fehle, ſondern nur zur Theilnahme an den Berathungen der vier Mächte aufgefordert werden. Dieſe Anſicht drang durch, obwohl Rußland einige mehr gegen die Form als gegen die Sache gerichtete Einwendungen erhob*)Protokoll der 22. Sitzung vom 4. Nov. Metternichs Aperçu de la situation, 1. Nov. 1818. Das in Metternichs nachgelaſſenen Papieren III. 161 abgedruckte Akten - ſtück iſt nur das erſte Concept dieſer nachher noch ſtark umgearbeiteten Denkſchrift., und hierauf wurde der Allerchriſtlichſte König durch eine ſchmeichelhafte Note der vier Mächte an Richelieu vom 4. Novbr. eingeladen, fortan ſeine Rathſchläge mit den ihrigen zu vereinigen. Am 12. erklärte der franzöſiſche Miniſter in einer Antwortsnote die lebhafte Dankbarkeit ſeines Königs für dieſen neuen Beweis von Vertrauen und Freundſchaft und verſprach, daß Frankreich ſich mit der ihm eigenthümlichen Ehrlichkeit an die Union der Mächte anſchließen werde.

Am 15. unterzeichneten ſodann die nunmehr vereinigten fünf Mächte ein Protokoll, worin ſie den Beitritt Frankreichs zu dem Syſteme des allgemeinen Friedens feierlich ausſprachen und zugleich ſich verpflichteten, von Zeit zu Zeit, nach Vereinbarung, perſönliche Zuſammenkünfte zur gemeinſamen Berathung ihrer Angelegenheiten zu halten; ſollten auf dieſen Zuſammenkünften die Intereſſen anderer Mächte zur Verhandlung471Geheime Erneuerung des Vierbunds.kommen, ſo würde dies nur auf förmliche Aufforderung und unter Mit - wirkung der betheiligten Staaten geſchehen. Dies Protokoll wurde allen europäiſchen Höfen mitgetheilt nebſt einer Declaration (v. 15. Nov.), einem Meiſterwerke Gentziſcher Stiliſtik, deſſen glänzende Form freilich den dürf - tigen Inhalt kaum verhüllen konnte. Der Zweck dieſer Verbindung, hieß es da, iſt ebenſo einfach als wohlthätig und groß. In ihrem feſten und ruhigen Gange ſtrebt ſie nach nichts als nach Aufrechthaltung des Friedens und Gewährleiſtung aller der Verhandlungen, durch welche er geſtiftet und bekräftigt worden iſt. Die Souveräne erkennen feierlich an, daß ihre Pflicht gegen Gott und gegen die Völker, welche ſie beherrſchen, ihnen gebietet, der Welt, ſo viel an ihnen iſt, das Beiſpiel der Gerechtig - keit, der Eintracht, der Mäßigung zu geben.

So war denn Frankreich ſcheinbar in den Bund der vier Mächte aufgenommen, und der wackere Richelieu, deſſen ritterliche Haltung auf dem Congreſſe allgemein gefiel, erlebte die Genugthuung, daß ihm die unwiſſende Preſſe nachrühmte, er habe nicht nur den franzöſiſchen Boden befreit, ſondern auch die europäiſche Pentarchie erneuert. In Wahrheit hatte Frankreich nichts davon getragen als einen ziemlich werthloſen Be - weis diplomatiſcher Höflichkeit. Die Bourbonen konnten fortan erwarten, daß ihre Bevollmächtigten zu den Zuſammenkünften der vier Verbündeten zugezogen würden, aber ein Vertrag war nicht geſchloſſen, der Name Fünferbund abſichtlich vermieden. Dagegen verſammelten ſich die Ver - treter der vier Mächte noch an demſelben 15. November, da ſie die Decla - ration an die europäiſchen Höfe erließen, zu einer vertraulichen Sitzung und erklärten in einem geheimen Protokolle, daß ihr in Chaumont abge - ſchloſſener, in Paris auf unbeſtimmte Zeit erneuerter Bund unverändert fortbeſtehe; nur um Frankreich und die übrigen Staaten nicht zu er - ſchrecken, ſollte der Fortbeſtand der Quadrupel-Allianz geheim gehalten werden. Die vier Mächte blieben mithin verpflichtet, einander mit je 60,000 Mann mindeſtens ſofort zu unterſtützen falls in Frankreich eine Revolution ausbräche oder die Bonapartes zurückkehrten oder ſonſt eine Kriegsgefahr ſich zeigte. Sie behielten ſich vor, nöthigenfalls in beſon - deren Zuſammenkünften (réunions spéciales) die Maßregeln zu verab - reden, welche den verhängnißvollen Folgen eines neuen Umſturzes in Frankreich zuvorkommen können . *)Geheimes Protokoll der 33. Sitzung vom 15. Nov. 1818.

In derſelben Sitzung übergab der geheime militäriſche Ausſchuß der vier Mächte, der unter Wellingtons Vorſitz tagte, ſeinen Plan für die Aufſtellung der verbündeten Streitkräfte. Nach dieſem militäriſchen Pro - tokoll ſollten, ſobald die vier Mächte ausgeſprochen hätten, daß der casus foederis et belli gegeben ſei, binnen zwei Monaten die engliſchen Truppen um Brüſſel, die Preußen um Köln, die Oeſterreicher um Stutt -472II. 8. Der Aachener Congreß.gart, die Ruſſen binnen drei Monaten um Mainz verſammelt ſein. Von den belgiſchen Feſtungen beſetzt England die weſtlichen, Oſtende, Ypern und einige der Scheldeplätze, Preußen die Plätze an der Maas und Sambre, Namur, Charleroi, Marienburg u. ſ. w. Die kleinen deutſchen Contingente dachte man wieder wie im Jahre 1815 nach der geographi - ſchen Lage unter die verſchiedenen Armeen zu vertheilen, da ein Bundes - heer noch immer nicht beſtand. Dies Protokoll ward genehmigt, und dann mußte Wellington auf Preußens Andringen auch noch die Zuſtimmung des Königs der Niederlande einholen. *)Protocole militaire vom 15. November. Bernſtorff an Lottum 9. November. Wolzogens Denkſchrift 17. Okt. Boyens Denkſchrift 15. Nov. 1818.

Den preußiſchen Generalen war mit Alledem noch nicht genug ge - ſchehen. Sie täuſchten ſich nicht über die vollkommene Unbrauchbarkeit des gerühmten niederländiſchen Polſterkiſſens , das nach der Abſicht des Wiener Congreſſes den erſten Stoß der franzöſiſchen Heere auffangen ſollte; ſie kannten den kläglichen Zuſtand der niederländiſchen Armee und wußten, daß ſie nicht ausreichte, um auch nur die Hälfte von jenen fünfzig Feſtungen und Forts zu bewachen, welche Wellington ſoeben mit Hilfe der franzöſiſchen Contributionsgelder an der belgiſchen Grenze aus - bauen ließ. Preußen beabſichtigte daher als der zunächſt bedrohte Nach - barſtaat am Niederrhein ein ſtehendes Obſervationscorps aufzuſtellen, das gegebenen Falls noch vor der Kriegserklärung gradeswegs in Belgien ein - rücken ſollte. Um mit dem niederländiſchen Hofe das Nähere zu ver - abreden, wurde General Müffling von Aachen aus nach Brüſſel geſendet; aber eine ſolche Schmälerung ſeiner Souveränität wollte König Wilhelm ſchlechterdings nicht zugeben. Schon ſeit Jahren hatte der Oranier, der ſeinen Thron den Waffen der Verbündeten verdankte, ſeine Vorliebe für Frankreich, ſeinen Haß gegen Preußen deutlich bekundet. Jetzt grollte er, weil König Friedrich Wilhelm ihn nicht von Aachen aus beſucht hatte, und mehr noch weil Preußen, den Verträgen gemäß, den Oberbefehl in der Bundesfeſtung Luxemburg beanſpruchte; und als der preußiſche Unterhändler nun gar auf die ſchwierige Stimmung der Belgier warnend hinwies, da fühlte ſich der Brüſſeler Hof tief beleidigt. Er wollte nichts wiſſen von dem furchtbaren, täglich wachſenden Grolle der katholiſchen Belgier wider die holländiſchen Ketzer und ſah ſich in ſeinem verblendeten Hochmuth beſtärkt durch den engliſchen Geſandten Lord Clancarty, der dies künſtliche Königreich, dies Meiſterwerk engliſcher Staatsweisheit nicht genug bewundern konnte. Der Hochtory fand die Zuſtände in Belgien ganz vortrefflich und rieth dem Berliner Hofe mit engliſcher Beſcheiden - heit: möge nur Preußen dem guten Beiſpiel, das die Holländer in Bel - gien geben, folgen und ſeine neuen Provinzen ebenſo muſterhaft regieren; dann wird für die preußiſchen Rheinlande nichts mehr zu fürchten ſein! 473Geheimer Kriegsplan gegen Frankreich.Solchen Köpfen vermochte Müffling allerdings nicht zu erweiſen, wie wichtig der freundnachbarliche Vorſchlag Preußens für die Erhaltung des niederländiſchen Geſammtſtaats werden konnte. Er verbrachte den ganzen Winter in unerquicklichen Verhandlungen und kehrte im Frühjahr unver - richteter Dinge heim.

So gelangten zwar nicht alle Pläne der Aachener Verbündeten zur Vollendung. Aber das Weſentliche war erreicht; die Quadrupel-Allianz blieb aufrecht, feſter, einträchtiger denn je zuvor. Frankreich dagegen unterlag noch immer der polizeilichen Aufſicht der vier Mächte, obwohl die Pariſer Geſandtenconferenz nunmehr, der Form halber, aufgelöſt wurde. *)Protokoll der 47. Sitzung vom 22. Nov. 1818.Jeden Augenblick, ſobald der Parteikampf in Frankreich bedroh - lich zu werden ſchien, konnte der Rath der Vier zuſammentreten und nach dem verabredeten Plane ſofort zur bewaffneten Intervention ſchreiten. Richelieu erhielt nur die vertrauliche Mittheilung, daß der Vierbund nicht aufgelöſt ſei, und hütete ſich wohl dies dem franzöſiſchen Selbſtgefühle ſo peinliche Geheimniß zu verrathen. Von dem Ernſt und dem Umfang der getroffenen Vorſichtsmaßregeln ahnte er gar nichts; ebenſo wenig von der veränderten Geſinnung des Czaren Alexander, dem er alle ſeine Dank - barkeit zuwendete. Entzückt ſchrieb er über den ruſſiſchen Monarchen: man ſollte die Spuren ſeiner Füße küſſen; er wußte nicht, daß grade dieſer Wohl - thäter Frankreichs den Verbündeten zuerſt die Einſetzung eines militäriſchen Ausſchuſſes vorgeſchlagen und bei den Verhandlungen über das Heerweſen der Coalition ſich neben den Preußen am Allereifrigſten gezeigt hatte.

Wie viele Demüthigungen mußte doch das ſtolze Frankreich auf dieſem Congreſſe hinnehmen. Auch nachdem der franzöſiſche Miniſter zur regel - mäßigen Mitwirkung eingeladen war, hörten die Sitzungen des Vier - bundes nicht auf; von den 47 Sitzungen des Congreſſes fanden fünfzehn, faſt ein Drittel, ohne Richelieus Theilnahme ſtatt. Am Jahrestage der Leipziger Schlacht veranſtalteten die Verbündeten ein glänzendes Feſt, dem ſich der franzöſiſche Miniſter und ſein Gefolge nur durch eine plötzliche Reiſe entziehen konnten; und welche ſonderbare Rolle ſpielte nachher der Herzog von Angouleme, als er incognito auf kurze Zeit in Aachen er - ſchien, um den Pariſer Beſuch den beiden Monarchen zurückzugeben. Die unwürdige Stellung Frankreichs im hohen Rathe Europas war die natür - liche Folge der Sünden der hundert Tage; wer durfte den vier Mächten verargen, wenn ſie einer neuen Störung des Weltfriedens, der dieſer todmüden Zeit ſchlechthin als der Güter höchſtes galt, mit jedem Mittel vorzubeugen ſuchten? Doch auf die Dauer konnte eine große Nation eine ſo beſchämende Behandlung unmöglich ertragen.

Im Verlaufe dieſer Unterhandlungen enthüllte ſich auch das letzte Ziel, welches dem Czaren bei allen den räthſelhaften Wendungen ſeiner474II. 8. Der Aachener Congreß.Politik vorſchwebte. Alexander wünſchte außer der Fortdauer des Vier - bundes, deſſen Wirkſamkeit er auf den Kriegsfall zu beſchränken dachte, auch den Abſchluß eines allgemeinen europäiſchen Garantie-Vertrages. Dieſen Einfall verdankte er einer ſchwülſtigen Denkſchrift Ancillons, einer Privat-Arbeit, welche der unterthänige Vielſchreiber dem Czaren vermuth - lich ſchon auf der Durchreiſe in Berlin überreicht hatte. Ancillon ver - herrlichte darin die heilige Allianz, dieſen Vertrag, der allein genügen würde die gegenwärtige Epoche unſterblich zu machen, und ſchilderte ſo - dann mit gewohnter Geſchwätzigkeit, wie auf die beiden Epochen des Gleichgewichts und des revolutionären Weltreichs nun endlich die glück - liche Zeit gefolgt ſei, welche die ebenſo einfache als erhabene Idee der europäiſchen Familiengeſellſchaft begriffen habe. Um dieſe Idee zu ver - wirklichen, müßten die fünf großen Mächte allen Staaten Europas ihren gegenwärtigen Beſitzſtand ſolidariſch gegen jede gewaltſame Störung ver - bürgen und auf regelmäßigen Congreſſen von Zeit zu Zeit die nothwendi - gen Aenderungen des Beſtehenden friedlich beſchließen. Es kommt darauf an, fügte Bernſtorff erklärend hinzu, der durchſichtigen Seele der heiligen Allianz einen feſten Körper zu geben oder dieſe weſenloſe Pſyche mit der wahren befruchtenden Liebe und Gerechtigkeit zu vermählen.

So ſollte denn jenes Traumbild des ewigen Friedens, das die er - mattete Welt beherrſchte, durch das gemeinſame Protectorat der Großmächte ins Leben eingeführt werden und die europäiſche Union in den regelmäßig wiederkehrenden Zuſammenkünften der fünf Monarchen eine ſtändige Centralgewalt erhalten; alſo geſtaltet hätte der Welttheil die Form eines Bundesſtaates angenommen, eine Verfaſſung, die ſich mit der berechtigten Unabhängigkeit der Einzelſtaaten nicht mehr vertrug. An dieſen bedenk - lichen Vorſchlag ſchloß Ancillon noch einen zweiten ſchlechthin verwerflichen, der das Syſtem der gemeinſamen Friedenswahrung gradezu verfälſchte und das europäiſche Protectorat zu einem Werkzeuge reaktionärer Partei - politik herabzuwürdigen drohte. Die Denkſchrift verlangte, daß die großen Mächte ſich verpflichteten überall die legitime Souveränität aufrecht zu erhalten, und erläuterte dieſen Satz dahin: die Aenderung einer Ver - faſſung durch den Souverän kann niemals eine Intervention der großen Mächte veranlaſſen, wohl aber ein Umſturz oder eine Bedrohung der legitimen Souveränität. Alſo nicht die Wahrung des Rechts und des Friedens gegen Jedermann ſollte dem großen Friedensbunde obliegen, ſondern die Vertheidigung der Throne gegen die Völker. Damit war ein verhängnißvolles Wort geſprochen, das die Politik Metternichs ſich nur zu bald gelehrig aneignete. *)Ancillon, Mémoire sur la grande alliance. Bernſtorff an Lottum, 1. Nov. 1818.

Vorderhand blieb ein ſo vollſtändiger Triumph der reaktionären Partei noch unmöglich. Oeſterreich und Preußen zeigten ſich zwar bereit auf475Plan eines allgemeinen Garantie-Vertrags.eine allgemeine gegenſeitige Gewährleiſtung des europäiſchen Beſitzſtandes einzugehen; denn der friedensſeligen Welt war jedes Mittel zur Wahrung des Beſtehenden willkommen, und Metternich hoffte insgeheim, die all - gemeine Garantie werde den beiden Ehrgeizigen, die er am meiſten fürch - tete, dem Czaren und dem preußiſchen Heere, einen Zaum anlegen. Aber Lord Caſtlereagh widerſprach entſchieden. Mit einem ſo weit ausſehenden Vertrage durfte er dem Parlamente nicht unter die Augen treten; der Plan lief auf die Befeſtigung der Heiligen Allianz hinaus und konnte alſo nur ihrem Stifter, der den Briten längſt zu mächtig war, zu gute kommen. Auch die regelmäßigen Congreſſe erſchienen der inſulariſchen Politik unannehmbar; nur auf gelegentliche Zuſammenkünfte, je nach Zeit und Umſtänden, wollte ſie ſich einlaſſen. Der Lord blieb unerſchütterlich, und da auch die beiden deutſchen Mächte ſich geſtehen mußten, daß die handfeſte Quadrupel-Allianz mit ihren klaren, greifbaren Verpflichtungen den europäiſchen Frieden ungleich wirkſamer ſicherte als der nebelhafte Heilige Bund, ſo wurde die Berathung über den Garantievertrag vor - läufig vertagt. Der Czar aber hielt die Hoffnung feſt, daß die zarte Pſyche ſeines Lieblingswerkes dereinſt noch einen Körper gewinnen ſollte, erinnerte ſeine Geſandten in einem Rundſchreiben nochmals an die Grund - ſätze der heiligen Allianz und erklärte zum Abſchied nachdrücklich: er ſei bereit ſich jedem Garantie-Vertrage anzuſchließen, welchen eine der vier Mächte auf Grund der Ancillon’ſchen Denkſchrift noch vorſchlagen würde. *)Bernſtorff an Lottum, 5., 23. Nov. 1818.

Auch bei manchen andern Fragen trat der alte Gegenſatz der eng - liſchen und der ruſſiſchen Politik wieder grell hervor. Da der Negerhandel an der braſilianiſchen Küſte nicht nachließ, ſo verlangte England das Recht, alle des Sklavenhandels verdächtigen Fahrzeuge überall durch ſeine Kriegs - ſchiffe durchſuchen zu laſſen; Rußland aber und die ſämmtlichen anderen Mächte fanden dieſen Anſpruch allzu anmaßend, und Caſtlereagh mußte zufrieden ſein, als die drei Monarchen ſich herbeiließen, den König von Portugal in eigenhändigen Briefen zur Abſtellung des Unweſens zu er - mahnen. **)König Friedrich Wilhelm an den König von Portugal, 7. Nov. Bernſtorff an Lottum, 29. Okt., 9. Nov. 1818.Andererſeits konnten Rußland und Preußen ein gemeinſames Vorgehen gegen die Barbaresken nicht durchſetzen, weil England keine ruſſiſchen Schiffe im Mittelmeere ſehen wollte. Ebenſo erfolglos blieb ein Hilferuf des Madrider Hofes. Die alten Gönner der ſpaniſchen Bourbonen, Rußland und Frankreich, wünſchten, daß England die Ver - mittlung zwiſchen dem Könige und ſeinen aufſtändiſchen Unterthanen in Südamerika übernehmen, wo möglich auch die Vereinigten Staaten von der Anerkennung der neuen creoliſchen Republiken abhalten ſollte. Wellington aber lehnte die Zumuthung ab. Er erkannte, daß König476II. 8. Der Aachener Congreß.Ferdinand nicht eine ehrliche Vermittlung wollte, ſondern einfach die Wiederherſtellung ſeiner Herrſchaft in Südamerika; und am Ende durfte doch ſelbſt dieſe Tory-Regierung, obwohl ſie von wirthſchaftlichen Fragen wenig verſtand, ſich den Traditionen der britiſchen Handelspolitik nicht ganz entziehen. England hatte durch den Abfall Südamerikas ein er - giebiges Handelsgebiet gewonnen und konnte die Wiedervereinigung der Kolonien mit dem ſpaniſchen Mutterlande unmöglich wünſchen. *)Protokoll der 18. Sitzung vom 23. Okt. Bernſtorff an Lottum, 19. Nov. 1818.

Trotz ſolcher Mißhelligkeiten, die bei der Mannichfaltigkeit der eu - ropäiſchen Intereſſen gar nicht ausbleiben konnten, war der Aachener Congreß wohl der einträchtigſte der neuen Geſchichte; das Friedensbe - dürfniß und die Furcht vor der Revolution hielt die Mächte feſt zu - ſammen. Und es war wirklich ein europäiſcher Congreß, obwohl man den Namen vermied. Stolz und ſicher ſegelte das mächtige Orlogsſchiff des Vierbundes mit der franzöſiſchen Schaluppe im Schlepptau durch die Wogen der Zeit. Wellington, der nunmehr auch von Preußen und Oeſterreich den Marſchallsſtab erhielt und alſo in allen namhaften eu - ropäiſchen Heeren, mit der einzigen Ausnahme Frankreichs, die höchſte militäriſche Würde bekleidete, erſchien gleichſam als der Generaliſſimus des verbündeten Europas. Die Monarchen hielten ſich feſt überzeugt, daß ihre Vormundſchaft dem Welttheil zum Segen gereiche. Sie zogen unbedenklich jede europäiſche Frage vor ihr Forum, obwohl ſie den Staaten zweiten Ranges ſoeben erſt verſichert hatten, daß ihre Zuſam - menkunft nur der Abwickelung der franzöſiſchen Angelegenheiten gelte; und ließen ſie einmal eine Streitfrage unerledigt, ſo geſchah dies nicht, weil ſie ſich für unbefugt gehalten hätten, ſondern weil ſie ſich nicht einigen konnten.

Da der Czar der europäiſchen Union den Charakter einer großen chriſt - lichen Familie, im Sinne der heiligen Allianz, bewahren wollte, ſo ertheilte der Congreß ſeine Weiſungen an die kleinen Staaten häufig durch väter - liche Handſchreiben der drei Monarchen. Wie der König von Portugal zur Abſchaffung des Skavenhandels, ſo wurde der König von Schweden durch ſolche Handbillets zur Erfüllung ſeiner Pflichten gegen Dänemark angehalten. König Friedrich Wilhelm erinnerte ſeinen nordiſchen Nachbar ernſtlich an die Bande chriſtlicher Brüderlichkeit, welche zwiſchen allen Fürſten und ihren Völkern beſtehen. Das neue Haus der Bernadottes aber fühlte ſich in dieſer legitimen Staatengeſellſchaft noch ſehr unſicher; Karl Johann bewarb ſich ſchon ſeit einiger Zeit bei dem bairiſchen und an - deren Höfen, immer vergeblich, um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger und wußte wohl, daß die Monarchen in Aachen ſoeben einen Dotations - fonds zum Beſten der vertriebenen Waſas gebildet hatten. Daher beeilte er ſich der Mahnung zu entſprechen und erreichte endlich nach ſchweren Kämpfen, daß der norwegiſche Storthing, wie billig, einen Theil477Dictatur des Vierbunds.der Schulden des früheren däniſchen Geſammtſtaates übernahm. Hart genug kam ihm das freilich an. Einmal verſuchte er ſogar gegen die Tyrannei des Vierbundes zu proteſtiren und ſchrieb an Kaiſer Franz (7. Jan. 1819) mit gascogniſchem Wortſchwall: Wahrlich, Sire, müßte man nicht den Abgrund des Unglücks beklagen, in welchen die Völker und die Regierungen zweiten und dritten Ranges ſtürzen würden, wenn die Macht ſich über die geheiligten Grundſätze der Vernunft und der Ge - rechtigkeit erheben und ſich befugt glauben wollte an die Stelle des Völkerrechts zu treten, ja ſogar nach Belieben einen Gerichtshof für die Streitigkeiten der Nationen zu ſchaffen, und wenn alſo ein Syſtem ent - ſtände, ſo wenig übereinſtimmend mit jenen Grundſätzen politiſchen Frei - ſinns, für welche ſo viel Blut vergoſſen worden iſt, und welche uns vor ſechs Jahren gegen den Eroberer vereinigten, der den Plan gefaßt hatte eine ſouveräne Obermacht über einer allgemeinen und vollſtändigen Knecht - ſchaft aufzurichten?! Metternich aber meinte trocken, das ſeien müſſige Discuſſionen; und da die vier Mächte als Garanten des Kieler Friedens nur verlangten was Rechtens war, ſo mußte der Schwede ſich beugen. *)König Friedrich Wilhelm an den König von Schweden, 14. Nov. 1818; König Karl XIV. Johann an Kaiſer Franz, 7. Jan. 1819; Kruſemarks Bericht, Wien Febr. 1819.Mit dem Fürſten von Monaco machte man noch weniger Umſtände; Richelieu erhielt den Auftrag, im Namen der großen Allianz dieſen nichtsnutzigen kleinen Despoten nachdrücklich zu chriſtlichem Wandel zu vermahnen. **)Protokoll der 42. Sitzung vom 21. Nov. 1818.

So ſchaltete überall die Dictatur der großen Mächte, ſchonend in der Form und für jetzt noch gerecht und friedfertig in ihren Abſichten, doch immerhin eine Dictatur, die allen Nichtgenoſſen läſtig ward. Ohne die kleinen Cabinette einer Anfrage zu würdigen, beſchloß der Congreß eine neue Rangordnung für die Diplomatie Botſchafter, Geſandte, Miniſter - reſidenten, Geſchäftsträger und die Vorſchrift ward ohne Weiteres von allen Höfen befolgt. Auch über den gefangenen Imperator ward ver - handelt, und hierbei zeigten ſich die Miniſter des Czaren unter Allen am ſchroffſten. Sie verwarfen jede Schonung gegen das Individuum, in dem ſich die Macht der Revolution verkörpert habe , erklärten die Be - ſchwerden des Gefangenen für ebenſo falſch als kindiſch was in der That zutraf , billigten unbedingt alle Maßregeln Hudſon Lowes und verlangten die Ausweiſung der Napoleoniden aus gefährlichen Orten, vornehmlich aus Rom, wo dieſe Individuen nur Unheil ſtifteten. ***)Ruſſiſche Denkſchrift über Buonaparte (Protokoll d. 31. Sitzung v. 13. Nov. 1818).So weit wollten die anderen Mächte nicht gehen; man erneuerte nur die alte Abrede ſtrenger polizeilicher Aufſicht gegen die gefährliche Familie. Zu - letzt traten auch die unvermeidlichen Juden auf den Plan. Rußland empfahl eine Denkſchrift eines chriſtlichen Geiſtlichen, welche ſich für die vollſtändige Emancipation ausſprach; doch da der Czar mit nichten geneigt478II. 8. Der Aachener Congreß.war, dieſe menſchenfreundlichen Grundſätze in ſeinem Reiche zu verwirk - lichen, ſo kam kein Beſchluß zu Stande.

Alles in Allem durfte Metternich dieſen Congreß als einen großen Erfolg betrachten. Kein Zweifel mehr, der Czar war bekehrt, und wenn er noch zuweilen ſeines eigenen Weges ging, liberale Anwandlungen zeigte er nicht mehr. Nur Kapodiſtrias blieb der Hofburg noch verdächtig und wurde, als er nach dem Congreſſe Italien bereiſte, auf Schritt und Tritt von der k. k. Polizei bewacht. Auch Richelieu hatte zum Abſchied tröſt - liche Zuſicherungen gegeben und ſogar eine Veränderung des Wahlgeſetzes verſprochen; Metternich hoffte das Beſte, da er, gleich den meiſten der Zeitgenoſſen, die Bedeutung der Wahlgeſetze weit überſchätzte. Aber der franzöſiſche Miniſter konnte ſein Wort nicht einlöſen. Sein eigener Amts - genoſſe Decazes trat ihm entgegen. Es kam zum Bruche. Gegen Weih - nachten, wenige Wochen nach ſeinen Aachener Erfolgen, trat Richelieu zurück und Herzog Decazes bildete ein neues Cabinet, das ſich mit den liberalen Parteien freundlicher zu ſtellen ſuchte. Nachdem der erſte Schrecken ver - flogen war, fand ſich Metternich raſch in die veränderte Lage, denn auch der neue Miniſter mußte wiſſen, daß er unter dem Schwerte der Quadrupel - allianz ſtand und den Independenten nicht zu weit entgegenkommen durfte. Der Vierbund aber ward durch die Nachrichten aus Paris nur von Neuem gekräftigt. Czar Alexander, der die erſte Kunde auf der Heimreiſe in Wien erhielt, eilte ſofort zornglühend zu Kaiſer Franz, ver - ſprach augenblicklich ſeine Regimenter auf den Kriegsfuß zu ſetzen, ließ ſich nur mit Mühe beſchwichtigen. *)Kruſemarks Bericht, Wien 26. Dec. 1818.Die vier Mächte einigten ſich, auf Har - denbergs Rath, zu dem Beſchluſſe, zwar jede mittelbare oder unmittel - bare Einmiſchung in Frankreichs innere Angelegenheiten zu vermeiden, aber ihren engeren Bund nur um ſo feſter zu ſchließen; dies ſei der einzige Damm gegen den wüthenden Strom, welcher die Geiſter in Frankreich von Neuem fortreiße. **)Miniſteralſchreiben an Kruſemark, 6. März 1819.In ſolcher Lage war eine revolutio - näre Schilderhebung nicht wahrſcheinlich. Frohlockend verkündete Gentz ſeinen Freunden: die Ruhe der Welt iſt auf lange, lange Zeit hinaus geſichert. Mit übermüthigem Hohne zermalmte er im Oeſterreichiſchen Beobachter die Schrift des Erzbiſchofs de Pradt über den Aachener Con - greß, allerdings ein ſehr ſeichtes Machwerk des ſchreibſeligen Liberalen; und als die Independenten der Pariſer Minerva über die Uneinigkeit der großen Mächte ſpotteten, erwiderte er ihnen (Jan. 1819) drohend was dem großen Publikum wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam: ſie mögen ſich’s geſagt ſein laſſen, die Quadrupelallianz, ſofern ſie gegen die Revo - lution gerichtet iſt, beſteht noch heute!

479Die Kattenkrone.

Unter den mannichfachen Streitfragen, welche der Congreß in wenigen Wochen angeſtrengter Arbeit entſchied, befanden ſich natürlich auch viele deutſche Angelegenheiten. Manche dieſer deutſchen Händel gehörten von Rechtswegen vor das Tribunal des Vierbundes, weil ſie in den europäiſchen Verträgen der Kriegsjahre ihren Urſprung hatten, manche andere wurden nur durch die unausrottbare vaterlandsloſe Geſinnung deutſcher Klein - fürſten vor den Congreß gebracht. Preußen aber und, durch dies Vor - gehen gezwungen, auch Oeſterreich wahrten ehrenhaft die Unabhängig - keit des Deutſchen Bundes; ſie geſtatteten dem Vierbunde eine Einmiſchung in deutſche Streitigkeiten nur dann, wenn ſie auf Grund der Verträge rechtlich unabweisbar war. Gleich zum Beginn erſchien ein kurheſſiſcher Agent um den drei Monarchen eigenhändige Briefe des Kurfürſten zu überreichen und den Miniſtern der beiden anderen Großmächte mündlich mitzutheilen: ſein Souverän denke den Namen eines Königs der Katten anzunehmen, er erbitte ſich in Demuth die Anerkennung Europas. Der Kur - fürſt hatte bereits in Kaſſel den Bau einer Kattenburg begonnen, welche der neuen Kattenkrone zum Herrſcherſitze dienen ſollte, und hielt die Koſten dieſes rieſigen, nie vollendeten Bauwerks vor ſeinem unglücklichen Länd - chen ſorgfältig geheim. Doch gleichzeitig traf ein geharniſchter Proteſt aus Darmſtadt ein: ſollte der Kurfürſt den Königstitel erlangen, dann bean - ſpruchte ſein Vetter für ſich die gleiche Würde. Die Mächte wieſen das Anſinnen kurz und ſcharf zurück, da die Bitte S. K. Hoheit durch keinen irgend genügenden Grund gerechtfertigt ſei . Der tief gekränkte Heſſe aber hielt es für ſchimpflich, dem Vorbilde des verſtändigen Karl Friedrich von Baden zu folgen, den jetzt völlig ſinnloſen Kurfürſtentitel gegen den großherzoglichen Titel zu vertauſchen; er behielt den alten Namen bei und weil die Deutſchen über die verunglückte Kattenkrone nichts erfuhren, ſo fanden ſich der guten Seelen genug, welche den Kurfürſten darum be - wunderten, daß er eine ſo rührende Pietät für die ehrwürdigen Erinne - rungen des heiligen Reichs zeigte. *)Separat-Protokoll über Kurheſſen, 11. Okt. Hardenbergs Weiſung an den Geſandten v. Hänlein in Kaſſel, 14. Okt. 1818.

Die ſchroffe Form der Abfertigung war durch Preußen veranlaßt, da König Friedrich Wilhelm ſich durch die Mißregierung des Kurfürſten in ſeiner perſönlichen Ehre verletzt fühlte. Der Kurfürſt hatte während des Krieges ſein Land durch einen Vertrag mit den vier Mächten wieder - geſchenkt erhalten, die Verbündeten hatten ihm dabei leider keine förmliche Verpflichtung auferlegt, aber alleſammt als ſelbſtverſtändlich angenommen, daß er die Grundſätze des[Völkerrechts] nicht gradezu mit Füßen treten würde. Und nun die ſchändliche Betrügerei gegen die weſtphäliſchen Do - mänenkäufer! Dem Könige war zu Muthe, als ob er für einen Gauner eine Bürgſchaft übernommen hätte; ſchon unterwegs in Kaſſel war er von480II. 8. Der Aachener Congreß.den Mißhandelten mit Bitten beſtürmt worden, in Aachen liefen noch andere Beſchwerden ein. Bernſtorff erſtattete dem Congreſſe Bericht; er nannte den ſchmutzigen Handel einen europäiſchen Skandal; er verlangte, daß Kurheſſen nach Preußens gutem Beiſpiel die geſetzmäßigen Hand - lungen der weſtphäliſchen Regierung als rechtsgiltig anerkennen müſſe. Er beantragte endlich, zunächſt ſollten die vier Monarchen dem Kurfürſten ſeinen Vertragsbruch vorhalten; ſei dies vergeblich, dann müßten Preußen und Oeſterreich am Bundestage gemeinſam einſchreiten. Da England und Rußland beiſtimmten, ſo durfte Oeſterreich nicht widerſprechen. Nun ſendete König Friedrich Wilhelm ein ſcharfes Handſchreiben an den Kurfürſten: wir handeln, ſagte er darin, nur kraft einer Pflicht, welche unſerem Ge - wiſſen als gebieteriſch erſcheint. Aehnlich ſchrieb Kaiſer Franz. Trotz - dem blieb es noch ſehr zweifelhaft, ob Oeſterreich am Bundestage endlich Ernſt zeigen würde, und ganz ſicher, daß dieſer Kurfürſt nur durch Zwang zur Vernunft gebracht werden konnte. *)Protokoll der 32. Sitzung vom 14. Nov. König Friedrich Wilhelm an Kur - fürſt Wilhelm, 14. Nov. Weiſung an Hänlein, 20. Nov.

Von der unglaublichen Anmaßung der deutſchen Kleinfürſten ſollte Preußen eben jetzt einen neuen Beweis erhalten. Durch die Wiener Verträge war die Krone Preußen verpflichtet worden, 69,000 Seelen von dem vormaligen Saardepartement an Oldenburg, Strelitz, Coburg, Homburg und Pappenheim abzugeben; zugleich hatten die vier Mächte dieſen fünf Dynaſten ihre guten Dienſte zugeſagt, um einen Austauſch des linksrheiniſchen Landſtrichs oder irgend eine andere Entſchädigung, wenn die Umſtände es erlaubten, zu ermöglichen. Strelitz und Pappen - heim waren verſtändig genug geweſen, ſich von Preußen mit Geld und Domänen abfinden zu laſſen; Oldenburg aber, Coburg und Homburg hatten auf die Vergrößerung ihrer Reiche nicht verzichten wollen und in der That drei Fetzen des Saarlandes mit der vertragsmäßigen Seelen - zahl zugewieſen erhalten. So prangten denn in der reichhaltigen politi - ſchen Curioſitätenkammer des Deutſchen Bundes auch die Doppelreiche Oldenburg-Birkenfeld, Coburg-Lichtenberg und Homburg-Meiſenheim, drei Staatsgebilde, wie ſie die Phantaſie eines Tollhäuslers nicht wunderſamer erſinnen konnte. Aber der Vertrag war gewiſſenhaft erfüllt und ein Aus - tauſch nicht mehr möglich, weil in ganz Deutſchland nirgends mehr ein herrenloſer Brocken Landes übrig blieb. Nichtsdeſtoweniger ſtellten die Drei an den Aachener Congreß das Anſinnen: die Quadrupelallianz ſolle den König von Preußen bewegen, daß er ihnen ihre entlegenen Saar - landſchaften wieder abnehme und dafür einige bequemer gelegene preußiſche Gebiete ausliefere. Oldenburg verlangte ein gutes Stück vom preußi - ſchen Weſtphalen, Homburg einen Landſtrich bei Wetzlar, Coburg einen Theil der Grafſchaft Henneberg, und der Wittwer der engliſchen Kron -481Die Saarlande. Kniphauſen.prinzeſſin, Prinz Leopold von Coburg, einer jener geiſtreichen Deutſchen, welche ihr Volksthum wie einen Mantel zu wechſeln verſtehen, richtete an Lord Caſtlereagh die Aufforderung, daß England ſich der gerechten Sache ſeines armen Bruders annehmen möge. Dieſe Zumuthung war doch ſelbſt der Langmuth Hardenbergs zu arg. In einer zornigen Denkſchrift ſprach er ſein Befremden aus: Preußen ſei wahrlich ſchon zerſtückelt genug und keineswegs in der Lage, ſich ſeine Grenzen nach dem Belieben und der Bequemlichkeit ſeiner Nachbarn verändern und zernagen zu laſſen ; ſeinem Könige errege jede Trennung von treuen Unterthanen, wie den Verbündeten wohl bekannt ſei, religiöſe Gewiſſensbedenken. Selbſtver - ſtändlich wurden die Drei abgewieſen, und das Haus Coburg ſollte an den 10,000 Seelen ſeines Saarlandes Lichtenberg noch viel Herzeleid erleben. *)Hardenbergs Denkſchrift über den Art. 50 der Wiener Schlußakte. Protokoll der 27. Sitzung vom 9. Nov. 1818.

Inzwiſchen waren auch dringende Beſchwerden der Mediatiſirten ein - gelaufen und Bernſtorff erfuhr jetzt, was es bedeutete, daß Metternich die Hauptartikel der Deutſchen Bundesakte in die Wiener Schlußakte hatte einrücken laſſen. Die beiden deutſchen Großmächte konnten dem Vier - bunde die Einmiſchung in dieſen deutſchen Streit, der mit den europäi - ſchen Verträgen eng zuſammenhing, nicht gänzlich verbieten, indeß wußten ſie dieſelbe auf das geringſte Maß zu beſchränken. Man beſchloß, daß der Vierbund zunächſt die Höfe von Württemberg, Baden und beiden Heſſen, die ſich beſonders ungerecht betragen hatten, zu einem ehrenhaften Verhalten gegen die Mediatiſirten ermahnen, das Weitere dem Bundes - tage überlaſſen ſolle. Auch das Haus Thurn und Taxis, das durchaus noch ſouverän werden wollte, vertröſtete man auf den Bundestag. **)Weiſung an die preußiſchen Geſandten in Stuttgart, Karlsruhe u. ſ. w., 21. Nov.; Hardenberg an die Fürſtin von Taxis, 15. Nov. 1818.

Nun kam noch jener unglückliche Dynaſt, welchen der Wiener Congreß gleich dem Landgrafen von Homburg ſträflich vergeſſen hatte, der Graf von Bentinck, Herr der freien Herrſchaft Kniphauſen. Homburg hatte ſoeben durch die Gunſt der beiden Großmächte noch nachträglich das Stimmrecht am Bundestage erlangt, dem Kniphauſener war es übler ergangen. Er mußte erleben, daß Oldenburg ſein Land widerrechtlich beſetzte, verbarrikadirte ſein Schloß, erließ einen wüthenden Proteſt nach dem anderen als im - mediatus Imperii dynasta und erregte einen Lärm, der einer größeren Sache würdig war. Unbeſtreitbar lag hier eine europäiſche Frage vor, da über die Zugehörigkeit Kniphauſens zum Deutſchen Bunde noch nichts entſchieden war. Die freie Herrſchaft war Jahrhunderte lang reichs - unmittelbar, wenngleich ohne Reichsſtandſchaft, und ihre Schiffe ſegelten unter eigener Flagge; ſie war dann eine Zeit lang dem napoleoniſchen Kaiſer - reiche einverleibt, doch niemals einem deutſchen Staate untergeordnet wor - den, und der ſtreitluſtige kleine Herr verdiente einige Rückſicht, weil er ſeinenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 31482II. 8. Der Aachener Congreß.hitzigen Muth auch im Kampfe gegen die Franzoſen tapfer bewährt hatte. Indeß ein neuer deutſcher Bundesſtaat von etwas über dreiviertel Quadrat - meilen ſchien doch bedenklich; ſelbſt die Bewunderer der ſchönen Mannich - faltigkeit des deutſchen Staatslebens mußten zugeben, daß eine deutſche Völkerſchaft zur Entfaltung ihrer nationalen Eigenart mindeſtens ſo viel Raum brauchte, wie Lichtenſtein mit ſeinen drittehalb Quadratmeilen. Die Mächte beſchloſſen daher, daß Preußen und Rußland die Vermittlung zwiſchen Oldenburg und Kniphauſen übernehmen, den Grafen wo möglich zu einem Austauſche bewegen ſollten. *)Weiſung des Grafen v. Bentinck an Kanzleirath Mosle, Wien 5. April 1815. Bernſtorffs Bericht (41. Sitzung vom 20. Nov. 1818).Aber der Wille Kniphauſens war ſtärker als die Wünſche Europas. Nach achtjähriger Arbeit brachten die Mediatoren einen Vertrag zu Stande, der das Bundesrecht mit einer neuen Koſtbarkeit bereicherte. Kniphauſen war fortan ein beſonderes Land unter dem Schutze des deutſchen Bundes, ein halbſouveräner Staat mit eigener Flagge, der Hoheit des Herzogs von Oldenburg ganz ebenſo wie vormals dem Reiche untergeordnet. Natürlich gebar dies Abkommen ſofort neuen Zank, das beſondere Land zeigte dem oldenburgiſchen Schirm - herrn gegenüber eine ganz beſondere Händelſucht, und bald wuchs zur Augenweide aller Staatsrechtslehrer der große Bentinck’ſche Rechtsſtreit heran, ein Rattenkönig von juriſtiſchen Controverſen, der in der Keller - finſterniß des Bundestags immer fröhlicher gedieh und faſt dreißig Jahre hindurch die Frankfurter Verſammlung immer wieder mit ſeinem unge - bührlichen Gepolter ſtörte, bis endlich im Jahre 1854 das Reich der Bentincks durch einen neuen Vertrag mit Oldenburg vereinigt wurde und die Kniphauſener Flagge vom Weltmeere verſchwand.

Auch der bairiſch-badiſche Streit fand in Aachen ſeinen vorläufigen Abſchluß. Das Verhältniß zwiſchen den beiden Nachbarn hatte ſich der - maßen verbittert, daß der Großherzog einen Handſtreich befürchtete und die vier Mächte bat, den aus Frankreich zurückkehrenden bairiſchen Trup - pen den Durchzug durch ſein Land zu unterſagen. Die Mächte erwiderten, er habe nichts zu beſorgen, und ermahnten den Münchener Hof nach - drücklich, beim Durchmarſch die ſtrengſte Mannszucht zu halten. **)Hardenberg an Berſtett 15. Okt., an Rechberg 15. Okt. 1818.Schon vorher hatte Berſtett die vertragsmäßige Entſcheidung der Quadrupel - allianz über die Territorial - und die Erbfolgefrage angerufen und ſich zu einigen Entſchädigungen bereit erklärt. Er wurde darauf ſelber nach Aachen eingeladen und zugleich aufgefordert, einen Bevollmächtigten an die Frank - furter Territorialcommiſſion zu ſenden. Die Mächte waren einig, wie Bernſtorff ſchrieb, die ſo gehäſſige als ärgerliche Angelegenheit ſchnell zu be - endigen , wenn Baden irgend annehmbare Bedingungen ſtelle.***)Bernſtorff an Lottum, 19. Oktober. Hardenberg und Neſſelrode an Berſtett, 17. Okt. 1818. Berſtett483Ende des bairiſch-badiſchen Streites.eilte ſogleich herbei und erklärte, ſein Souverän ſei bereit, gegen Heraus - gabe der öſterreichiſchen Enclave Geroldseck das kleine Amt Steinfeld in der Taubergegend an Baiern abzutreten, auch dem Münchener Hofe eine Etappenſtraße nach der bairiſchen Pfalz einzuräumen und ihm eine ältere Schuld von 1⅓ Mill. Fl. zu erlaſſen. Die ruſſiſchen Miniſter fanden dieſe Anerbietungen anfangs ungenügend; Kaiſer Alexander ſchwankte noch zwiſchen ſeinen beiden ſtreitenden Schwägern. Aber Berſtett bearbeitete den Czaren in perſönlicher Unterredung, zuletzt unter ſtrömenden Thränen, und da auch der Freiherr vom Stein, der auf kurze Zeit in Aachen als Gaſt erſchien, ſich bei dem Kaiſer lebhaft für Baden verwendete, ſo trat Rußland nach einigen Tagen zu der Rechts - anſicht über, welche Hardenberg ſchon ſeit Langem für die richtige hielt. Die öſterreichiſchen Staatsmänner bewahrten ihre zweideutige Haltung, ſie erklärten ſich im Voraus einverſtanden mit Allem, was die Verbündeten vielleicht noch zu Gunſten Baierns erlangen könnten, und ließen ſich in der entſcheidenden Sitzung bereitwillig überſtimmen.

Da Preußen und Rußland alſo zuſammenſtanden, und Oeſterreich nicht offen widerſprach, ſo ſchloß ſich Lord Caſtlereagh der Mehrheit an. Er that es ungern und ließ in ſeiner Denkſchrift den alten Groll gegen Rußland deutlich durchblicken: der Großherzog, ſo ſchrieb er, hat die Großmuth der Mächte angerufen und ſich alſo in der Poſition ver - ſchanzt, welche für ſchwache Staaten immer die furchtbarſte iſt. Doch geſtand der Lord zu, daß er jetzt ſelber in der Rechtsfrage bedenklich ge - worden ſei und nicht mehr begreifen könne, woher die Mächte einſt in Wien und Paris das Recht genommen hätten dem Münchener Hofe den Heimfall der Pfalz zu verſprechen. Am 20. Nov. beſchloß der Vierbund demnach, die badiſchen Vorſchläge anzunehmen, alle früheren Verab - redungen über den Heimfall der Pfalz und des Breisgaus aufzuheben, auch das Erbfolgerecht der Hochbergs anzuerkennen; gehe Baiern hierauf nicht ein, dann ſolle Baden ſeiner Anerbietungen entbunden ſein und der obige Beſchluß gleichwohl in Kraft bleiben. Zugleich ſendeten die Monarchen, nach der patriarchaliſchen Weiſe dieſes Congreſſes, brüderliche Briefe an denKönig von Baiern um ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen. König Friedrich Wilhelm begnügte ſich nicht mit allgemeinen Ermah - nungen, wie die beiden Kaiſer, ſondern ſetzte nach ſeiner gewiſſenhaften Weiſe dem bairiſchen Könige noch einmal auseinander, daß Preußen die geheimen Artikel über den Heimfall der Pfalz niemals anerkannt habe. *)Berſtett an Kapodiſtrias, 28. Okt.; Kapodiſtrias Antwort, 29. Okt.; Ruſſiſche Denkſchrift, 10. Nov.; Separat-Protokoll über Baden, 20. Nov.; Caſtlereaghs Denk - ſchrift, 20. Nov.; König Friedrich Wilhelm an König Max Joſeph, 18. Nov. 1818.

Baden war gerettet, und wie die Franzoſen den Czaren als ihren Gönner rühmten, ebenſo und etwa mit dem gleichen Rechte feierten die31*484II. 8. Der Aachener Congreß.Badener den ruſſiſchen Monarchen als den Beſchirmer ihres Landes. In Wahrheit hatte Czar Alexander für den badiſchen Staat nicht mehr ge - than als König Friedrich Wilhelm, er hatte nur mit ſchauſpieleriſchem Geſchick verſtanden zur rechten Stunde den Ausſchlag zu geben und ver - ſäumte nicht, nach dem Congreſſe in Baden ſelbſt die Früchte ſeines Thuns in Augenſchein zu nehmen. In Frankfurt verbat er ſich bei dem badi - ſchen Geſandten alle auffälligen Demonſtrationen; nur was freier Erguß der Herzen iſt wollte er nicht unterſagen. Und dieſer Erguß der badi - ſchen Herzen erfolgte denn auch ſo reichlich, ſo ergiebig, wie es der Czar ſelbſt unter ſeinen Ruſſen kaum erlebt hatte. Triumphbogen und weiß - gekleidete Ehrenjungfrauen in jedem Städtchen, überall Kränze mit der Inſchrift Dem Retter Badens und in Karlsruhe am Abend allgemeine Erleuchtung, ſo daß Alexander doch für gerathen hielt zu Hauſe zu blei - ben. *)Berckheims Bericht, Frankfurt 24. November; Varnhagens Bericht, Karlsruhe 27. Nov. 1818.Das war der Nationalſtolz der Süddeutſchen, drei Jahre nach Belle-Alliance. In den patriotiſchen Blättern fand ſich Niemand, der dieſem Geſchlechte geſagt hätte, wie viel ihm noch zu einer Nation fehlte; die Preſſe richtete ihren Zorn allein gegen Oeſterreich und Preußen, die fortan immer an jedem Uebel ſchuld ſein ſollten: warum geſtatteten ſie dem Auslande eine ſolche Einmiſchung in deutſche Händel? Und doch war der Schiedsſpruch des Aachener Congreſſes nur die unausbleibliche Folge des Verhaltens der Rheinbundſtaaten im Jahre 1813. Weil dieſe deutſchen Staaten erſt nach dem Siege, einzeln, als ſouveräne europäiſche Mächte, durch Acceſſionsverträge ſich dem Bündniß der vier Mächte angeſchloſſen hatten, darum unterlag jetzt der bairiſch-badiſche Streit von Rechtswegen der Entſcheidung des Vierbundes.

Leidenſchaftlich wie die Freude der Badener äußerte ſich die Ent - rüſtung des Münchener Hofes. Umſonſt verſuchte Kaiſer Franz auf der Heimreiſe ſeinen Schwiegervater zu beſchwichtigen, umſonſt erboten ſich Metternich und Kapodiſtrias noch einen Fetzen badiſchen Landes in den Kauf zu geben**)Kruſemarks Berichte, 26., 30. Dec. 1818.; die Wittelsbacher verwarfen Alles, Kronprinz Ludwig klagte gleich dem König von Schweden über die Wiederkehr der napo - leoniſchen Gewaltherrſchaft, doch ſein Zorn blieb ohne Folgen. Die Be - vollmächtigten des Vierbundes bei der Frankfurter Territorialcommiſſion hatten bereits gemeſſene Weiſung, die Aachener Beſchlüſſe auszuführen. Nachdem der Stein des Anſtoßes endlich beſeitigt war, ging die Arbeit raſch vorwärts, und am 20. Juli 1819 unterzeichneten die vier Mächte den Frankfurter Territorialreceß, ein unſäglich mühevolles Werk, das nach einem Zeitalter der Kriege den Beſitzſtand der deutſchen Staaten auf lange Jahre hinaus ſicherſtellte. Der bairiſche Hof ließ ſich zwar das485Stourdza über die Univerſitäten.Amt Steinfeld wohl gefallen, legte aber Verwahrung ein, behielt ſich ſeine erloſchenen Sponheimer Erbanſprüche und ſein imaginäres pfälziſches Heimfallsrecht feierlich vor, kam bei jeder Gelegenheit darauf zurück, ſo daß Graf Bernſtorff noch viele Jahre ſpäter über cette éternelle affaire de Sponheim zu ſeufzen hatte. Indeß die Entſcheidung war unwider - ruflich gefallen.

Aus allen dieſen Beſchlüſſen ſprach unverkennbar die redliche Abſicht, durch Sicherung des Rechts überall in Europa den Frieden zu erhalten. Gleichwohl war die liberale Preſſe Deutſchlands und Frankreichs nicht ganz auf falſcher Fährte, wenn ſie ihren Leſern ſeltſame Märchen erzählte von den reaktionären Plänen der Aachener Verſammlung. In den ver - traulichen Geſprächen der Monarchen und der Staatsmänner wurden allerdings die erſten Verabredungen zum Kampfe gegen die deutſche Be - wegungspartei getroffen. Alle Ausländer zeigten ſich entſetzt über den fieberiſchen Zuſtand Deutſchlands; der ganze Bau der Wiener Verträge ruhte auf der politiſchen Nichtigkeit dieſer Nation, und die Idee der deut - ſchen Einheit, ſelbſt wenn ſie nur aus dem Thorenmunde erhitzter Studenten ſprach, erſchien Allen als ein gemeinſamer Feind. Alle Fremden ſtimmten mit Gentz darin überein, daß die Reaktion von 1813 zwar in Frank - reich die revolutionäre Bewegung zu einem augenblicklichen Stillſtande gebracht, doch in anderen Staaten, und vornehmlich in Deutſchland, dieſe dämoniſchen Mächte erſt erweckt habe. Mit lebhafter Theilnahme be - ſprach man eine Denkſchrift über den gegenwärtigen Zuſtand Deutſch - lands , welche der Czar auf dem Congreſſe vertheilen ließ. Ihr Verfaſſer Stourdza, ein ſanfter, ſchwermüthiger junger Walache, hatte dem ruſſi - ſchen Kaiſer vor Kurzem eine phantaſtiſche Schrift zur Verherrlichung der griechiſchen Kirche überreicht und ſich inzwiſchen ein wenig auf den deut - ſchen Univerſitäten umgeſehen. Der laute Freimuth unſeres akademiſchen Lebens erſchreckte den Schüchternen; er glaubte in ganz Deutſchland eine krampfhafte Unruhe, in der Studentenſchaft eine gradeswegs auf den Einheitsſtaat gerichtete revolutionäre Bewegung wahrzunehmen und for - derte im Namen der Religion und Sittlichkeit ſtrenge Maßregeln gegen die Univerſitäten: dieſe gothiſchen Trümmer , dieſe Staaten im Staate ſollten ihrer alten Verfaſſung beraubt, die Studenten einfach als minder - jährige Bürger behandelt und zum Einhalten feſter Lehrcurſe gezwungen werden; da man die Preßfreiheit leider nicht ganz unterdrücken könne, ſo müſſe man mindeſtens der Jugend die ſchlechten Bücher und Zeitſchriften entziehen. Der ehrlich gemeinte, ſehr unbedeutende Aufſatz fand, wenn auch nicht in allen Punkten, den Beifall des Czaren und der öſterreichi - ſchen Staatsmänner; die Preußen dagegen meinten, der junge Schwärmer rede wie der Blinde von den Farben.

Da wurde die geheime Denkſchrift plötzlich von einer Pariſer Buch - handlung veröffentlicht, vermuthlich durch die Schuld der unſauberen Um -486II. 8. Der Aachener Congreß.gebungen Hardenbergs, und nun brach auf den Univerſitäten ein Sturm los, noch lauter und wilder als vor’m Jahre das Wuthgeſchrei gegen Kotzebue. Alſo bereits der dritte Halbruſſe, der ſich gegen die deutſche Burſchen - herrlichkeit erhob! Der federfertige Leipziger Philoſoph Krug trat als literariſcher Gegner in die Schranken; die Jenenſer Burſchenſchaft beſchloß den Walachen zu züchtigen und ließ ihn, damit er ſich nicht hinter Stan - desrückſichten verſchanze, durch zwei junge Grafen aus ihrer Verbindung auf Piſtolen fordern. Stourdza lehnte gleichwohl ab, weil ſein Aufſatz eine amtliche Denkſchrift ſei, und beeilte ſich den ungaſtlichen Boden Deutſchlands zu verlaſſen. An den Höfen erregte dies terroriſtiſche Ge - bahren der Burſchen, das nach altem Studentenbrauch doch gar nicht ungewöhnlich war, neuen Schrecken; Gentz glaubte fortan ſteif und feſt, daß in Jena eine geheime Vehme hauſe, die ihre Aſſaſſinen durch Deutſch - land ſende. Zu allem Unheil warf Kotzebue nochmals Scheiter in die Flammen, indem er deutlich zu verſtehen gab, die Denkſchrift Stourdzas ſpräche die Anſichten des Czaren ſelber aus. Seitdem wähnten die Stu - denten alleſammt, daß die deutſche Reaktion von Petersburg ausgehe; der Haß der Burſchen gegen Rußland kannte keine Grenzen mehr, und der triviale Spötter in Weimar, dem die Jenenſer einen mächtigen Einfluß auf die moskowitiſche Politik andichteten, ward durch Schimpf und Drohungen dermaßen mißhandelt, daß er nach Mannheim überzuſiedeln beſchloß.

Der Verdacht der jungen Leute entbehrte jedes Grundes. Kaiſer Alexander enthielt ſich auf dem Congreſſe ſorgſam aller Vorſchläge für die deutſche Bundespolitik und äußerte nur gelegentlich, wie Richelieu und Wellington, ſeine Angſt vor der deutſchen Revolution. Seit ſeiner plötz - lichen Bekehrung war die Leitung der Quadrupel-Allianz thatſächlich auf die Wiener Hofburg übergegangen, obgleich die klugen öſterreichiſchen Staatsmänner dem Czaren gern geſtatteten, daß er vor der Welt noch zuweilen die Rolle des Führers ſpielte. Metternich war das Haupt der Reaktion, in Deutſchland wie in Europa, und bot noch in Aachen Alles auf, um zunächſt Preußen dem Liberalismus zu entreißen. In freund - ſchaftlichen Unterredungen ſtellte er dem Staatskanzler vor, wie bedrohlich der Geiſt des Beſſerwiſſens und der rückſichtsloſen Kritik im preußiſchen Beamtenthum überhandnehme; dazu der Uebermuth der Jugend und die Zuchtloſigkeit der Preſſe. Hardenberg beſprach ſich darauf mit Bernſtorff und Altenſtein, der nach Aachen berufen ward, und da Beide jene Miß - ſtände nicht ganz in Abrede ſtellen konnten, ſo ſagte er ſeinem öſterreichi - ſchen Freunde zu, die Krone ſelbſt werde dawider einſchreiten. *)Hardenbergs Tagebuch, 11. Jan. 1819.

Minder glücklich verlief ein ſchüchterner Verſuch Metternichs, die preußiſche Zollreform, noch bevor ſie in Kraft getreten war, zu hinter - treiben. Die zwingenden ſtaatswirthſchaftlichen Gründe, welche das neue487Metternich gegen das preußiſche Zollgeſetz.Zollgeſetz veranlaßt hatten, entzogen ſich dem Urtheil des öſterreichiſchen Staatsmannes gänzlich; ſeine Unwiſſenheit in allen nationalökonomiſchen Dingen war wahrhaft ſtaunenswerth, und er fühlte dieſen Mangel nie - mals, da nach der alten Tradition der Hofburg ſolche ſchlicht bürgerliche Geſchäfte tief unter der Würde eines öſterreichiſchen Cavaliers ſtanden. Selbſt Gentz, vor Jahren ein tiefer Kenner des Finanzweſens, hatte zu Wien, im Verlaufe einer einſeitig diplomatiſchen Thätigkeit, das ſichere Verſtändniß ſtaatswirthſchaftlicher Fragen nach und nach verloren. Wie er während der napoleoniſchen Tage heilloſe Sophismen über die Staats - ſchuld Großbritanniens in die Welt hinausſandte, weil die engliſche Allianz dem öſterreichiſchen Intereſſe entſprach, ſo ſchrieb er jetzt ebenſo verkehrte Aufſätze über die blühenden Finanzen Oeſterreichs. Da Oeſterreich an einem deutſchen Zollvereine nicht theilnehmen konnte, ſo verdammte er alle dahin zielenden Pläne als Hirngeſpinſte, als kindiſche Verſuche, den Mond in eine Sonne zu verwandeln . Von der nationalen Bedeutung des preußiſchen Zollgeſetzes ahnte man in der Hofburg gar nichts. Aber Metternich fürchtete Alles, was die Staatseinheit Preußens fördern konnte und witterte revolutionäre Abſichten hinter einer Reform, die von den verdächtigen Berliner Geheimen Räthen ausging. Auch hielt er ſein Oeſterreich wirklich für einen Muſterſtaat; dies lockere Nebeneinander halb - ſelbſtändiger Kronländer und die Kirchhofsruhe, die über dieſem Chaos lag, entſprachen ſeinen Neigungen, und es that ihm wohl zu vernehmen, wie lebhaft damals das patriarchaliſche Glück der Völker Oeſterreichs an den meiſten Höfen beneidet wurde. Die k. k. Provinzalmauthen, welche die Kronländer der Monarchie von einander abſperrten, bewunderte er um ſo aufrichtiger, da er von der Einrichtung dieſer weiſen Anſtalten nicht die mindeſte Kenntniß beſaß. Daher warnte er den Grafen Bern - ſtorff väterlich vor den Wirren, welche die Zollreform hervorrufen werde. Er erinnerte ihn an Joſephs II. verfehlte Centraliſationsverſuche, ſchilderte beredt die Vorzüge der öſterreichiſchen Binnenmauthen und meinte ge - müthlich, auch für Preußen würden Provinzialzölle am heilſamſten ſein; ſo bleibe der Staat bewahrt vor läſtigen Verhandlungen mit den Nach - barſtaaten. *)Als Metternich im Jahre 1828, nach dem Abſchluß des preußiſch-heſſiſchen Zoll - vereins, dem Geſandten v. Maltzahn dieſe Anſichten vortrug, bemerkte Graf Bernſtorff dazu: genau die nämlichen Rathſchläge habe ihm der öſterreichiſche Kanzler ſchon auf dem Aachener Congreſſe gegeben. (Maltzahns Bericht, Wien 14. April 1828.)Aber Bernſtorff und Hardenberg wieſen alle ſolche Zumu - thungen nachdrücklich zurück.

Auch Metternichs wiederholte freundliche Warnungen vor der Durch - führung des Verfaſſungswerks fielen bei dem Staatskanzler auf unfrucht - baren Boden. Der Oeſterreicher merkte bald, daß Hardenberg ſeine conſtitu - tionellen Pläne in vollem Ernſte betrieb. Um ſo eifriger ſuchte er ſich die488II. 8. Der Aachener Congreß.Gunſt des Königs zu erwerben. Friedrich Wilhelm hatte ihn bisher immer mit ſtillem Mißtrauen betrachtet; er vergaß es nicht, daß Metternich den preußiſchen Staat um Sachſen, die deutſche Nation um das Elſaß betrogen hatte. Hier in Aachen zum erſten male geſtattete er dem Verdächtigen eine vertrauliche Annäherung. Der König empfand dunkel, daß ein unheim - licher Geiſt in der deutſchen Jugend arbeitete und ſuchte, da er das Maß der Gefahr nicht überſah, nach einer zuverläſſigen Belehrung, nach einer ſicheren Stütze. Bei ſeinem ruſſiſchen Freunde konnte er keinen Rath finden, denn der Czar befand ſich ſelber in einem ähnlichen Zuſtande unbeſtimmter Beſorgniß. Der greiſe Staatskanzler aber bot ein trauriges Bild körperlichen und ſittlichen Verfalles. Hardenberg ſpielte auf dem Congreſſe eine untergeordnete Rolle, überließ die Geſchäfte meiſt an Bern - ſtorff, und der König ſah voll Unmuths, wie die Somnambüle Hänel hier vor dem hohen Rathe Europas ihr Weſen trieb und der Wunder - mann Koreff mit der ganzen Aufgeblaſenheit des jüdiſchen Emporkömm - lings politiſche Audienzen ertheilte. Nur Metternich erſchien feſt, ſicher, ganz mit ſich im Reinen, er allein wußte was er wollte; aus ſeiner Hal - tung ſprach das Bewußtſein, daß er den ruhigſten, den beſtgeſicherten Staat Europas regiere. Gern wiederholte er jetzt den Ausſpruch Talleyrands: Oeſterreich iſt das Oberhaus Europas; ſo lange es nicht aufgelöſt iſt, zwingt es die Gemeinen zur Mäßigung. Im vorigen Jahre hatte er noch, aus Scheu vor der Souveränität der deutſchen Kronen, die conſti - tutionelle Bewegung ſich ſelber überlaſſen wollen. Jetzt war von ſolchen Bedenken keine Rede mehr: die deutſchen Jakobiner hatten ſeit dem Wart - burgfeſte die Maske fallen laſſen, nun galt es offenen Kampf.

In wiederholten Geſprächen betheuerte er dem Könige: nach ſeiner heiligen Ueberzeugung habe die revolutionäre Partei ihre Hochburg in Preußen; ſie verzweige ſich bis in die höchſten Kreiſe des Heeres und des Be - amtenthums; in der Hand des Königs liege mithin das Schickſal der Welt; unfehlbar werde der Aufruhr durch ganz Europa dahinraſen, wenn Preußens Regierung dem Beiſpiel der kleinen Höfe folge und ihrem Volke eine demagogiſche Verfaſſung bairiſchen Stiles gebe. Er bemerkte wohl, daß ſeine Worte einigen Eindruck machten, doch klagte er bei ſeinem Kaiſer über Friedrich Wilhelms bedauerliche Schwäche, da der geſunde Menſchen - verſtand des Königs nicht ſogleich an alle die Wahngebilde der öſterreichi - ſchen Geſpenſterfurcht glauben wollte. Unterdeſſen ſuchte Metternich auch den Cabinetsrath Albrecht, einen treuen, fleißigen, hochconſervativen Be - amten, für ſeine Anſicht zu gewinnen und rief ſodann den zuverläſſigſten ſeiner preußiſchen Freunde, Wittgenſtein, zu Hilfe. Am 14. Nov. ſendete er dem Fürſten von Aachen aus zwei große Denkſchriften über die Lage der preußiſchen Staaten ; beide Aktenſtücke waren beſtimmt, zur guten Stunde durch Wittgenſtein dem Könige vorgelegt zu werden, doch erhielt auch Hardenberg Anſtands halber eine vertrauliche Mittheilung. Von489Metternich gegen die preußiſche Verfaſſung.Aachen, ſagte der öſterreichiſche Staatsmann ſpäterhin, wird man dereinſt die Rettung der preußiſchen Monarchie datiren!

Unter Allem was aus Metternichs Feder floß beweiſt die Denk - ſchrift über die preußiſche Verfaſſung wohl am deutlichſten die klägliche Gedankenarmuth dieſes Kopfes, der nur durch ſeine diplomatiſche Schlau - heit, durch die Gunſt des Glücks und durch die Aengſtlichkeit der anderen Höfe dahin gelangen konnte, die Welt während eines Menſchenalters über ſeine Nichtigkeit zu täuſchen. Von der fundamentalen Verſchiedenheit der politiſchen Aufgaben eines nationalen Staates wie Preußen und eines Völkergemiſches wie Oeſterreich begriff er nicht das Mindeſte. Mit der Treuherzigkeit eines beſorgten Freundes, der ſein Schickſal nimmermehr von dem Looſe Preußens trennen wollte, ſetzte er dem Könige ausein - ander, daß die innere Lage der beiden deutſchen Großmächte im Weſent - lichen dieſelbe ſei; beide Monarchien beſtänden aus unter ſich getrennten Provinzen . Daß dem nicht ſo war, daß Preußen ſchon längſt eine centraliſirte Verwaltung beſaß, war der Hofburg ganz unbekannt; ſie konnte ſich einen kräftigen Staat nur in der Form loſe verbundener Erblande vorſtellen, und Kaiſer Franz wiederholte gern ſeinen Kern - ſatz: der Beſtand einer Monarchie aus verſchiedenen Körpern macht ſie eben ſtark.

Metternich fand das öſterreichiſche Reich ſelbſt noch mehr als das preußiſche zu einem rein repräſentativen Syſtem geeignet wenn nicht die Verſchiedenheit unter den Völkern in Rückſicht auf Sprache und Sitte zu bedeutend wäre. Wie könnte das, wozu es in Oeſterreich dennoch an der Möglichkeit der Ausführung fehlt, in Preußen gedeihen? Die Einführung einer Central-Repräſentation in Preußen wäre dem - nach die reine Revolution ; ſie müßte die militäriſche Kraft des Staates zerſtören und den Zerfall des Reichs herbeiführen; ſei doch bereits zwi - ſchen Belgien und Holland, die ſo viel beſſer zuſammenpaßten als die preußiſchen Provinzen, in Folge des Repräſentativſyſtems ein gefährliches Zerwürfniß entſtanden! Darum möge ſich der König mit Provinzial - ſtänden begnügen ein Rathſchlag, der unzweifelhaft im Voraus mit Wittgenſtein verabredet war und dieſen Ständen lediglich das Recht der Bitten, der Beſchwerden, der Repartition der direkten Steuern ein - räumen. Nur im äußerſten Falle, weil es einmal öffentlich verſprochen ſei, könne in der Zukunft vielleicht noch eine Centraldeputation aus dieſen Provinzialſtänden einberufen werden, je drei Vertreter aus jeder Provinz alſo ein Vereinigter Landtag von einundzwanzig Köpfen, ein würdiges Seitenſtück zu jenem winzigen Reichsrathe, welchen Metternich kurz zuvor für ſein Oeſterreich vorgeſchlagen hatte. Aber, ſo fügte er bedeutſam hinzu, und hierin lag unzweifelhaft ſeine wahre Meinung führt dieſe be - ſchränktere Idee nicht auch zur Revolution? Dieſe Frage erwäge der König tief bevor er ſich entſcheidet!

490II. 8. Der Aachener Congreß.

Bei der Ausführung ſeiner Vorſchläge im Einzelnen verrieth der Rathgeber ein Maß ſtaatsrechtlicher Kenntniſſe, welches jedem preußiſchen Auscultator im Referendar-Examen das Genick gebrochen hätte: er kannte weder die neue Provinzialeintheilung des preußiſchen Staates noch deſſen althiſtoriſche Beſtandtheile und hatte offenbar auch das Stu - dium der Landkarte nicht für ſtandesgemäß gehalten. Daher erbaute er ſich rein aus der Phantaſie heraus ſieben preußiſche Provinzen darunter die Marken Brandenburg mit Pommern und das Herzogthum Weſt - phalen mit Berg; hinſichtlich der Provinzialverwaltung faßte er ſeine Weis - heit in dem einen Satze zuſammen: jede Provinz hat eine Obere und Untere verwaltende Behörde. Noch erſtaunlicher faſt war die Neuheit der politiſchen Erwägungen, mit denen er ſeine Vorſchläge begründete. Selbſt die ſtrengen Altconſervativen in Berlin verbargen ſich doch nicht das eine handgreifliche Bedenken, das gegen die Provinzialſtände ſprach: acht oder zehn Provinziallandtage ohne das Gegengewicht eines Reichstags konnten, wenn ſie allzu mächtig wurden, leicht die Einheit des Staates, vornehm - lich des Heeres gefährden; riefen doch die Polen ſchon längſt nach einer Provinzialarmee für das Großherzogthum Poſen. Metternich dagegen ſtellte die unglaubliche Behauptung auf, ein preußiſcher Reichstag werde die Armee in ſieben getrennte Volkshaufen auflöſen. Eine zweite Denkſchrift empfahl ſodann die Aufhebung der Burſchenſchaft, die gänz - liche Beſeitigung der Turnerei dieſer Eiterbeule, wie Gentz zu ſagen pflegte endlich gemeinſame Anträge der beiden Großmächte am Bun - destage zur Beſchränkung der Preſſe.

So arge Blößen ſich die Verfaſſungsdenkſchrift gab, ein geſchickter diplomatiſcher Schachzug war ſie doch. Metternich wußte, wie lebhaft der König für die Kriegstüchtigkeit ſeines Heeres beſorgt war, und wieder - holte daher in ſeiner Arbeit mit feierlichem Nachdruck immer und immer die ernſte, leider keineswegs grundloſe Warnung: die liberale Partei haſſe die ſtehenden Heere, ſie werde nicht ruhen, bis der preußiſche Reichs - tag die Armee in eine Volksmiliz umgewandelt habe. Er gab ſich der Hoffnung hin, daß ſeine Worte ihr Ziel nicht verfehlen würden. Har - denberg aber wähnte der Politik Metternichs eine Strecke weit folgen zu können um ſich dann von ihr nach Gutdünken wieder zu trennen. Alles was ſie nur wünſchte wollte er der Hofburg bewilligen: ſtrenge Maßregeln gegen die Turner, die Burſchen, die Preſſe, ſelbſt gegen die preußiſchen Beamten. Nur Eines ſollte ſie ihm nicht antaſten: ſein Verfaſſungswerk. Der greiſe Staatsmann ahnte nicht, daß er ſelber in Wien ſchon längſt von den Einen zum alten Eiſen geworfen, von den Anderen als Häupt - ling der preußiſchen Jakobiner verdächtigt wurde. Half er jetzt die Schleuße hinwegziehen vor den hoch aufgeſtauten Fluthen der Reaktion, dann konnten ſie leicht auch ihn ſelbſt und ſeine Verfaſſungspläne mit hinweg ſchwemmen.

[491]

Neunter Abſchnitt. Die Karlsbader Beſchlüſſe.

Als das verhängnißvolle Jahr 1819 anbrach, war die Wiener Hof - burg zum Vernichtungskampfe gegen die conſtitutionelle Bewegung feſt entſchloſſen; dieſer ſchreckliche Kaiſer Alexander , ſo ſchrieb Metternich ſeiner Gemahlin, ſtand jetzt nicht mehr im Wege. Ob ihr gelingen würde, den preußiſchen Staat und die kleinen Höfe mit ſich fortzureißen, dies blieb bei der Trägheit des Bundestages und der unüberſehbaren Man - nichfaltigkeit der deutſchen Intereſſen noch ſehr zweifelhaft. Die Liberalen thaten indeſſen das Ihre um die Pläne ihrer Feinde zu fördern. Der geſunde Sinn der Nation erlag einem jener Fieber-Anfälle galliger, Alles bekrittelnder Verdrießlichkeit, welche ſeitdem von Zeit zu Zeit regelmäßig, und immer zum Unheil für die geſunde Entwickelung unſeres Staates, wieder - gekehrt ſind. Ungeheuerliche Gerüchte liefen um und fanden allgemeinen Glauben, während doch noch Niemand einem Liberalen ein Haar ge - krümmt hatte. Die Preſſe erging ſich in unheimlichen Schilderungen von der hoffnungsloſen Knechtſchaft Deutſchlands und ward nicht müde, den Teufel der Reaktion ſo lange an die Wand zu malen, bis er leibhaftig erſchien.

Aus jedem Nichts ſchöpfte die Kleinmeiſterei der Tadler neuen Stoff für fanatiſche Anklagen: als zwei preußiſche Leutnants ſich im Zorne zu Thätlichkeiten gegen einige Landwehrmänner hinreißen ließen, und der geringfügige Exceß nachher vor dem Kriegsgerichte die gebührende Strafe fand, da heulte die Iſis: O der Schande! Winkte uns nicht eine beſſere Welt im Weſten, wer wollte länger zaudern, ſtolz dem Bei - ſpiele Cato’s zu folgen? Wer nur irgend mit den Regierungen in Ver - bindung trat, ward als Verräther verdächtigt. Um Weihnachten 1818 wurde Steffens im tiefſten Geheimniß von dem Staatskanzler nach Berlin gerufen und dort vertraulich befragt, ob er etwas von politiſchen Umtrieben der Turnplätze wiſſe; er antwortete als ehrlicher Mann, ſeine Angriffe hätten nur den ſittlichen Verirrungen der Turner, ihrem Ueber - muthe, ihrer Roheit, gegolten; politiſche Verſchwörungspläne traue er492II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.ihnen keineswegs zu. Aber kaum war ſein Beſuch bei dem Staatskanzler ruchbar geworden, ſo ſah er ſich von den Turngenoſſen mit wüthenden Vorwürfen überhäuft und ohne daß man ihn nur angehört hätte aus den Kreiſen der Patrioten ausgeſchloſſen; ſein tagelang konnte er den Makel dieſes ungerechten Verdachts nicht mehr ganz von ſich abwaſchen, ſelbſt mit ſeinem alten Freunde Schleiermacher kam er nie wieder auf guten Fuß. So drängte ſich ein finſteres, grund - und zielloſes Miß - trauen trennend zwiſchen dies Volk und dieſe Krone, die ſoeben erſt in ritterlicher Treue gemeinſam einen heiligen Kampf durchgefochten; ein neuer Krieg hätte mit ſeinem friſchen Windzuge die Wolken des Unmuths leicht zertheilen können, in der dicken Luft der trägen Friedenstage nahm die Verdroſſenheit mit jedem Tage zu.

Mittlerweile hatte der Staatskanzler ſchon den erſten Schritt gethan um die Verſprechungen einzulöſen, die er in Aachen ſeinem zweifelhaften öſterreichiſchen Freunde gegeben. Am 11. Januar 1819 überraſchte Har - denberg das Staatsminiſterium durch die Zuſendung einer königlichen Cabinetsordre, eines umfänglichen Aktenſtücks, das auf neunzehn Folio - ſeiten die wohlwollenden Abſichten des Monarchen, aber auch ſeine ſchweren Beſorgniſſe darlegte. Bisher, ſo erklärte der König, habe er ſich immer auf die ſo vorzüglich bewährte Treue und Hingebung ſeiner Nation ver - laſſen; jetzt aber erfordere ſeine Regentenpflicht kräftige Maßregeln zu ergreifen wider den Geiſt der Unruhe, der durch die lange politiſche Spannung der Kriegsjahre erweckt, noch immer fortwirke und ſich in maßoſer Unzufriedenheit, im leidenſchaftlichen Verfolgen unbeſtimmter Ziele äußere.

Die Ordre ſchilderte ſodann, wie der perſönliche und der Partei - ſtreit unter den Beamten überhandgenommen habe, das wegwerfende Ab - ſprechen über den Dienſt, ſelbſt mit Verletzung des Amtsgeheimniſſes immer häufiger werde ein wohlberechtigter Vorwurf, denn Jedermann wußte, daß viele der Zeitungsartikel, welche die Gebrechen des preußiſchen Staates mit leidenſchaftlicher Uebertreibung beſprachen, aus der Feder preußiſcher Beamten herrührten. Das Miniſterium weiß, fuhr der König fort, daß meine Abſicht iſt, eine angemeſſene ſtändiſche Verfaſſung zu geben; dazu gehört aber, daß die Verwaltung Achtung genieße. Auch das Miniſterium ſelbſt trage einige Schuld; der Miniſterrath ver - ſammle ſich zu ſelten, der Geſchäftsgang werde ſchleppend, ein Mini - ſterium muß in den Hauptgrundſätzen einig ſein. Darauf wendet ſich die Ordre zu der falſchen Richtung der öffentlichen Erziehung, welche die Jugend zu früh zur Theilnahme am öffentlichen Leben veranlaſſe. Alles was ſonſt nur Unfug junger Leute war, trägt jetzt das Gepräge der Sucht in die Welthändel einzugreifen, an ſich. Der König fordert demnach ſtrengere Ueberwachung des Unterrichtsweſens, ſorgſame Aus - wahl der Lehrer für die Univerſitäten; der Turnunterricht ſoll mit den493Die Cabinetsordre vom 11. Januar 1819.Schulen verbunden, rein auf die körperliche Abhärtung beſchränkt werden. Zum Schluß ſprach er über die Preſſe, durchaus maßvoll und ruhig: es iſt höchſt nachtheilig, wenn man den Eifer, die Verbeſſerung des Innern zu befördern, mit dem Namen der Neuerungsſucht belegt und ſolchem eine revolutionäre Tendenz unterzulegen ſucht; aber Angeſichts ſo vieler Ausſchreitungen der Zeitungen und der Unwahrſcheinlichkeit eines Bundespreßgeſetzes erſcheine ein preußiſches Preßgeſetz unentbehrlich. Ueber alle dieſe Fragen erwartete der König die Vorſchläge der Miniſter, des - gleichen den Entwurf zu einer Bekanntmachung an die Nation; jeder einzelne Miniſter ſollte ſeine Abſtimmung ſchriftlich einreichen. Am näm - lichen Tage erhielt Altenſtein als Vorſitzender des Staatsraths den Be - fehl, die Verhandlungen dieſer hohen Behörde, die eben jetzt über die neuen Steuergeſetze berieth, vor Parteiſucht und perſönlicher Gehäſſigkeit zu behüten, damit nicht die Entartung des an ſich Guten veranlaßt werde. *)Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 11. Jan.; an Altenſtein 11. Jan. 1819.

Es geſchah zum erſten male, daß der König von ſeinen Miniſteru ein Gutachten über die geſammte innere Lage einforderte; er that es unverkennbar in der guten Abſicht, eine gewaltſame Reaktion von ſeinem Volke abzuwenden. Keiner der Uebelſtände, welche er rügte, war gänzlich in Abrede zu ſtellen, keines der Heilmittel, die er andeutete, ſchlechthin zu verwerfen. Die ſo lange ſchon geplante Reform der veralteten Preß - geſetzgebung ließ ſich nicht mehr verſchieben, die Verbindung der Turn - plätze mit den Schulen bot das ſicherſte und mildeſte Mittel um den Uebermuth des Turnſtaates zu mäßigen; auch eine offene Anſprache des Monarchen an ſeine Beamten konnte mancher Verirrung der nord - deutſchen Tadelſucht ſteuern. Wollten die Miniſter die übertriebene Be - ſorgniß, welche ſich in einzelnen Sätzen der Cabinetsordre allerdings bekundete, wirkſam beſchwichtigen, ſo mußten ſie der Aufforderung des Königs und des Staatskanzlers durch beſtimmte, maßvolle, ausführbare Vorſchläge ſofort entſprechen. Ein raſcher Entſchluß war um ſo mehr geboten, da einige von ihnen wußten, wie weit die Gedanken der Cabinets - ordre noch hinter den geheimen Plänen des Wiener Hofes zurückblieben. Aber wie ſollten ſich die erklärten Gegner, Boyen und Schuckmann, Klewiz und Bülow ſchnell über einen wichtigen Beſchluß einigen?

Seit jenem unvollſtändigen Miniſterwechſel vom November 1817 hatte das collegialiſche Zuſammenwirken faſt ganz aufgehört; da der Staats - kanzler wegen ſeines Gehörleidens von dem Vorſitz im Miniſterrathe ent - bunden war, ſo pflegte jeder Miniſter nur die Geſchäfte ſeines Depar - tements zu erledigen und nöthigenfalls die Entſcheidung Hardenbergs einzuholen. Auf eine ſo umfaſſende Anfrage, wie ſie der König jetzt ſtellte, war keiner von ihnen gefaßt. Sehr langſam gingen ihre Gut -494II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.achten bei dem Staatsminiſterium ein, das letzte erſt im Mai. *)Votum von Schuckmann 20. Jan., Bernſtorff Anfang Februar, Boyen 12. Febr., Klewiz Febr., Altenſtein 1. März, Lottum 4. März, Bülow 5. März, Beyme ohne Datum, Kircheiſen 2. Mai 1819.Keine dieſer Denkſchriften verrieth krankhafte Aengſtlichkeit; ſelbſt Graf Bernſtorff, der ſich noch am beſorgteſten äußerte, geſtand beſcheiden zu, daß er die preußiſchen Verhältniſſe erſt wenig kenne. Die meiſten der Miniſter fanden das Bild, das die Cabinetsordre von den inneren Zuſtänden ent - warf, allzu düſter gefärbt, erklärten ihr feſtes Vertrauen zu der guten Geſinnung des Volks wie der Beamten und warnten vor einer öffent - lichen Bekanntmachung, die nur verſtimmend wirken könne. Die Be - ſchleunigung der Verfaſſungsarbeit hielt ſelbſt der ſtrengconſervative Schuckmann für das ſicherſte Mittel um die öffentliche Meinung zu be - ruhigen. Am freimüthigſten unter Allen ſchrieb der Kriegsminiſter: was hätte, ſo fragte er mit ſoldatiſcher Offenheit, Friedrich der Große denken ſollen, wenn er die Tiſchgeſpräche ſeiner ſo treuen, ſo herrlich bewährten Generale hätte beachten wollen? Er verlangte ein Preßgeſetz ohne Cenſur, mit Strafen für die geſchehenen Vergehen, und erklärte: Wenn der preu - ßiſche Staat mit ſeiner Geſetzgebung in dem Geiſte fortgeht, der ſich ſeit dem Jahre 1806 auf Befehl Sr. Majeſtät bei uns entwickelt hat, wenn wir jedes unnütze Zögern in der Vollendung unſerer Geſetzgebung zu ver - meiden ſuchen, dann kann ein jeder rechtliche Mann es mit ſeinem Kopfe verbürgen, daß der preußiſche Staat nicht allein den Gefahren der Zeit ruhig zuſehen darf, ſondern ſie auch ohne ängſtliche Vorſichtsmaßregeln ſiegreich überſtehen wird.

Im Einzelnen gingen die Vorſchläge natürlich weit auseinander, da Jeder nach Gutdünken dieſe oder jene Frage aus der Cabinetsordre herausgegriffen hatte. Selbſt über den Hauptgrund der langſamen Ge - ſchäftsführung des Miniſteriums, über die eigenthümliche Mittelſtellung des Staatskanzlers ſprachen ſich nur drei der Miniſter aus: Kircheiſen, Bülow und mit beſonderem Nachdruck Beyme, der entſchieden verlangte, daß der Staatskanzler das Haupt des Miniſteriums werden müſſe: ohne dieſes iſt alles Uebrige ganz vergeblich. Die neun Vota boten, trotz der achtungs - werthen Geſinnung, die aus ihnen ſprach, doch ein ebenſo verworrenes und verwirrendes Geſammtbild wie vor Kurzem die Gutachten der Notabeln über die Verfaſſung; und unter den Miniſtern fand ſich Niemand, der die anderen gezwungen hätte, dies Durcheinander ſubjectiver Anſichten in gründlicher Berathung zu ſichten, der Krone einen Beſchluß, einen ge - meinſamen Antrag vorzulegen. Die wichtige Arbeit blieb liegen, der König erhielt in ſieben Monaten keine Antwort und ſah ſeinen Vorwurf, daß dieſem Miniſterium die Einheit fehle, vollauf beſtätigt. So verſäumte die Rathloſigkeit des Miniſteriums den günſtigen Augenblick, da die Politik495Die Commiſſion für das Preßgeſetz.der Verfolgung und der Unterdrückung durch einige Maßregeln ver - ſtändiger Strenge vielleicht noch abzuwenden war.

Da die Miniſter nichts von ſich hören ließen, ſo ging Hardenberg ſelbſtändig vor. Schon am 11. Januar, an dem nämlichen Tage, da die Cabinetsordre an das Miniſterium erging, hatte Altenſtein den Befehl erhalten, dem Verfaſſer des Geiſtes der Zeit eine Verwarnung wegen des neueſten Bandes ertheilen zu laſſen. Graf Solms-Laubach vollzog den Auftrag, ſichtlich ungern und ſo ſchonend als möglich; Arndt aber geſtand in einem tapferen Briefe dem Staatskanzler zu, daß er einzelnes Un - zeitige und Ungemeſſene in ſeinem Buche bedauern müſſe; doch ſeine Abſicht ſei rein, ſeine Treue unerſchütterlich, die Verwarnung habe er allein der Angeberei ſeines Todfeindes, des Geh. Raths Kamptz zu ver - danken. Im März erfolgte ſodann die vorläufige Schließung der Turn - plätze in der ganzen Monarchie, die Turnſperre, wie Jahn ſich ausdrückte ein nach dem argen Unfug der letzten Monate unvermeidlicher Schritt, der keineswegs zur Unterdrückung des Turnens führen ſollte. Man beabſichtigte lediglich die Turnſtunden in den regelmäßigen Schulunterricht einzufügen und dann die Turnplätze wieder zu eröffnen; der Entwurf einer allgemeinen Turn-Ordnung war bereits im Unterrichtsminiſterium ausgearbeitet und lag dem Monarchen zur Unterzeichnung vor.

Am 30. März befahl Hardenberg den Miniſtern, da ſie noch immer ſchwiegen, die Ernennung einer Commiſſion für die Ausarbeitung des Preßgeſetzes; das Maß von Freiheit oder Beſchränkung, welches der preußiſche Staat ſeiner Preſſe gewähre, müſſe auf den Entſchluß der Bundesverſammlung von entſcheidendem Einfluß ſein. Der Berichter - ſtatter der Commiſſion, Geh. Rath Hagemeiſter, ein trefflicher Juriſt aus Suarez’s Schule, war ein Gegner der Cenſur, und da auch die Geh. Räthe Nicolovius und Köhler die Preßfreiheit mindeſtens als Regel an - erkennen wollten, ſo ſtand von der Commiſſion ein verſtändiger Entwurf zu erwarten, obgleich ihr Ancillon als viertes Mitglied angehörte. Ueber - haupt zeigte ſich noch nirgends ein Stillſtand in der Reformpolitik Har - denbergs. Noch im Sommer, bei der Eröffnung des Rheiniſchen Kaſſa - tionshofes zu Berlin, ſprachen Präſident Sethe und Generalprocurator Eichhorn in feierlicher Rede die Hoffnung aus: das rheiniſche, in Wahr - heit altdeutſche, mündliche Verfahren werde, wenn es hier die Probe be - ſtehe, dereinſt den Schlußſtein der fridericianiſchen Juſtizverbeſſerung bilden. Auch die Preußiſche Staatszeitung, welche Stägemann, der treue Mitarbeiter Steins, ſeit Neujahr erſcheinen ließ, bekundete überall, daß die Regierung in vieler Hinſicht freier dachte als die Nation; ſie verthei - digte die neuen wirthſchaftlichen Reformgeſetze gegen das volksthümliche Vorurtheil, und ward ſie einmal ausfällig gegen die Liberalen, ſo geſchah es zumeiſt nur um den particulariſtiſchen Dünkel zurückzuweiſen, wenn etwa Mallinckrodt in Dortmund oder ein anderer rheiniſch-weſtphäliſcher Schrift -496II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.ſteller gar zu gröblich über das Wendenthum der alten Provinzen ge - ſchimpft hatte.

Gleichzeitig mit dem Erlaß jener Cabinetsordre vom 11. Jan. wurde Wilhelm Humboldt in das Miniſterium berufen ein Entſchluß, der für den Fortgang des Verfaſſungswerkes das Beſte zu verſprechen ſchien. Humboldt war im November zum Aachener Congreſſe entboten worden, um über die bairiſch-badiſchen Händel, die er als Mitglied der Frank - furter Territorialcommiſſion genau kannte, Bericht zu erſtatten und dann ſeine Weiſungen für den Abſchluß des Territorialreceſſes zu empfangen. Man merkte ihm in Aachen den Unmuth über Bernſtoffs Ernennung deutlich an denn das Portefeuille des Auswärtigen hätte er ſicherlich nicht ausgeſchlagen, trotz ſeiner Bedenken gegen Schuckmann und Witt - genſtein. Er bat dort den König um Enthebung von ſeinem Londoner Poſten*)Humboldts Eingabe an den König, Aachen 13. Nov. 1818.; nach Erledigung der Frankfurter Geſchäfte wollte er dann in der Stille ſeines Parkes zu Tegel den Wiſſenſchaften leben und nur noch an den Verhandlungen des Staatsraths theilnehmen. Da ſtellte Witzleben dem Monarchen vor, welche unſchätzbaren Dienſte Humboldts reiche Bildung und ſein Redaktionstalent bei den Verfaſſungsberathungen leiſten könne. Der König ging auf den Gedanken ein, und auch Hardenberg hielt es für gerathen, ſeinen Nebenbuhler durch eine Stelle im Miniſterium zu be - ſchwichtigen; er fürchtete und ſagte es ihm ins Geſicht, daß Humboldt im Staatsrathe die Führung der Oppoſition übernehmen würde. So beſchloß man denn das Miniſterium des Innern in zwei Hälften zu theilen. Das Polizeiminiſterium ward aufgehoben und als eine Abtheilung mit Schuck - manns Departement vereinigt; dafür ſollte Schuckmann die Verwaltung der ſtändiſchen und der Communalangelegenheiten als ein beſonderes Miniſterium an Humboldt abtreten. Wittgenſtein blieb Mitglied des Staats - miniſteriums, verwaltete aber nur noch die Angelegenheiten des königlichen Hauſes, ſo daß er in einer unangreifbaren Stellung den weiteren Verlauf der Dinge abwarten und ſich jederzeit auf ſein unpolitiſches Amt zurück - ziehen konnte.

Humboldt ſollte, nach der Abſicht des Königs, die laufenden Geſchäfte des Communalweſens führen, mit den alten Landtagen über ihr Schulden - und Armenweſen verhandeln, endlich bei der Ausarbeitung der Gemeinde -, Provinzial - und Landesverfaſſung im Einzelnen hilfreiche Hand leiſten. Die Feſtſtellung des Entwurfes behielt ſich Hardenberg ſelber vor, nach dem Rechte und der Pflicht ſeines Staatskanzleramts; nachdem er alle die Departements, welche er früher unmittelbar verwaltet, an Fachminiſter abgetreten hatte, blieb ihm nur noch die oberſte Leitung der geſammten Verwaltung, und dieſe verflüchtigte ſich in leeren Schein, ſobald auch der Entwurf der Verfaſſung einem Fachminiſter überlaſſen wurde. Eine in497Humboldt in das Miniſterium berufen.der üblichen lakoniſchen Form gehaltene Cabinetsordre theilte dem neuen Miniſter ſeine Beſtimmung mit; denn nach dem Staatsrechte der abſoluten Monarchie war die Berufung zu einem Miniſterpoſten ein königlicher Befehl wie andere auch, ein Befehl, dem jeder aktive Staatsdiener unweiger - lich zu gehorchen hatte. In einem freundſchaftlichen Briefe fügte Harden - berg noch den deutlichen Wink hinzu, er arbeite jetzt an dem Verfaſſungs - plane und denke ſeinen Entwurf dem neuen Collegen ſpäterhin mitzu - theilen. *)Cabinetsordre an Humboldt 11. Jan. 1819 mit Begleitſchreiben des Staats - kanzlers.

Gleichwohl mißverſtand Humboldt die Abſicht des Königs vollſtändig. Er glaubte, daß er ſelber den Verfaſſungsentwurf erſt dem Miniſterium, dann dem Monarchen unterbreiten ſolle, dankte tiefgerührt für dieſen Beweis des königlichen Vertrauens, erklärte ſich bereit dieſem Geſchäfte ſein ganzes Daſein zu opfern , bat aber um die Erlaubniß zu einer Reiſe nach der Hauptſtadt: nur dort könne er die Verhältniſſe überſehen und einen Entſchluß faſſen (24. Jan.). Als dieſer Brief und ein zweiter ähn - lichen Inhalts an den Staatskanzler in Berlin eintraf, da brach Harden - bergs lange verhaltener Groll in hellen Flammen aus. Er ſah ſich an - gegriffen in den Prärogativen ſeines Amts denn Humboldt hatte in ſeinem Schreiben an den König der Rechte des Staatskanzlers nicht ein - mal gedacht und entwarf eigenhändig eine ſcharfe Cabinetsordre (31. Jan.), welche den Miniſter kurz und ſtreng über ſeinen neuen Wir - kungskreis belehrte. **)Humboldt an den König, 24. Jan., an Hardenberg 24. Jan., Cabinetsordre an Humboldt 31. Jan. 1819.

Nunmehr entſchloß ſich Humboldt zu einem zweiten, ſehr ausführ - lichen Schreiben an den König, das einer Kriegserklärung gegen Harden - berg gleichkam. Nochmals bat er um ſeine Abberufung aus Frankfurt damit er in Berlin ſich unterrichten und dann ſich erklären könne: ſein Hauptbedenken ſei die Frage, ob er die Unabhängigkeit eines verantwort - lichen Miniſters erhalten, ob er das Recht haben werde, dem Monarchen über alle Angelegenheiten ſeines Departements unmittelbar zu berichten. Hardenberg erwiderte in einigen Randbemerkungen, deren leidenſchaftlicher Ton von der gewohnten urbanen Sprache des feinfühlenden Mannes ſeltſam abſtach. Hier galt es dem Todfeinde, dem einzigen Gegner, den er unverſöhnlich haßte; was will er denn? warum dann das weitläufige Geſchreibe? fragte er wiederholt. Das Geſchrei der Zeitungen, die den neuen Miniſter ſchon im Voraus als den Vater der preußiſchen Ver - faſſung feierten, hatte den Unmuth des Staatskanzlers zum Ueberlaufen gebracht. Aber er war im Rechte; denn die Cabinetsordre vom 11. Jan. hatte den Miniſtern ſoeben erſt das Recht zugeſtanden, dem Könige in Gegenwart des Staatskanzlers über die Geſchäfte ihrer Reſſorts VortragTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 32498II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.zu halten; der Verfaſſungsentwurf dagegen konnte nimmermehr als die Angelegenheit eines Fachminiſters behandelt werden. Hier iſt, ſchrieb Hardenberg, von einer noch nicht exiſtirenden Sache die Rede, die nur nach der eignen Anſicht Sr. Maj., wenigſtens in den Grundzügen, be - ſtimmt werden kann, und bei der Se. Maj. zu Rathe ziehen kann, wen Sie wollen. Der König entſcheide, ob ich entbehrlich bin oder nicht. So lange Se. Maj. meine Dienſte für nützlich halten, werde ich meine mir verliehene Autorität aufrecht halten und bin dazu verpflichtet. Der König entſchied im Sinne des Kanzlers und befahl dem Miniſter (17. Febr.) mit wenigen, ſtrengen Worten, ſich unverzüglich zu erklären, wenn anders er noch im königlichen Dienſte verbleiben wolle. Humboldt aber unter - warf ſich (27. Febr.): es widerſpräche allen meinen Geſinnungen, nicht Allerhöchſt Ihrem Dienſte ſo lange meine Kräfte zu widmen, als dies nur auf die entfernteſte Weiſe von meinem Entſchluſſe abhängt. *)Humboldt an den König, 11. Febr., mit Randbemerkungen des Staatskanzlers. Cabinetsordre an Humboldt, 17. Febr., Antwort Humboldts, 27. Febr. 1819.

Unter ſolchen Kundgebungen des Mißtrauens, ja der Ungnade wurde Humboldt in den Rath der Krone berufen. Er fühlte ſich tief gekränkt und rechtfertigte ſeinen Entſchluß vor Freunden mit der Erklärung: als widerſetzlich wolle er ſeinem Monarchen nicht erſcheinen, auch halte er ſich verpflichtet, mindeſtens einen Verſuch zu wagen. **)Humboldt an Motz, 18. März 1819.Die ganze Wahr - heit ſagte er damit nicht. Er mußte wiſſen, daß er durch ſeine letzten Briefe für immer mit Hardenberg gebrochen hatte. Wenn er gleichwohl eine Stellung annahm, deren beſchränkte Befugniſſe ſeinem Talente, ſeinem Selbſtgefühle nicht genügten, ſo konnte er nur die Abſicht hegen, im Mi - niſterium den Kampf gegen Hardenberg fortzuſetzen, bis die Machtſtellung des Staatskanzlers gebrochen war. Es ſollte ſich bald zeigen, daß er dieſen Plan wirklich verfolgte. Vorläufig mußte er noch bis in den Sommer hinein in Frankfurt bleiben, um den Territorialreceß abzu - ſchließen; gereizt wie er war, klagte er ſeinen Freunden, man halte ihn ab - ſichtlich von Berlin fern, damit der Staatskanzler ſeine Verfaſſungspläne ohne ihn vollenden könne. Welch einen ſeltſamen Anblick bot doch die preußiſche Monarchie gerade in den verhängnißſchweren Tagen, da Oeſter - reich ſich zum entſcheidenden Schlage rüſtete. In den Provinzen überall eine muſterhafte Verwaltung, im Mittelpunkte des Staates rathloſe Ver - wirrung: ein Miniſterium, das auf die dringenden Fragen des Königs keine Antwort fand, und zwiſchen den beiden namhafteſten Staatsmännern eine unverſöhnliche Feindſchaft, die nur mit dem Sturze des Einen oder des Anderen endigen konnte.

Jener Kampf zwiſchen Hardenberg und Humboldt erſcheint um ſo unerquicklicher, da ſie Beide über die Grundſätze der Verfaſſung faſt499Humboldts Denkſchrift über die Verfaſſung.die nämliche Anſicht hegten. Noch in Frankfurt (4. Febr.) entwarf Hum - boldt für den Freiherrn vom Stein eine große Denkſchrift über den Ver - faſſungsplan, welche mit den Gedanken des Staatskanzler in allem Weſent - lichen übereinſtimmte. Wie hatte ſich doch Humboldts reicher Geiſt empor - gearbeitet aus dem ſocialen Idealismus ſeiner Jugend! Noch immer bekämpft er die fureur de gouverner, doch nicht mehr den Staat will er beſchränken, ſondern die Macht des Beamtenthums. Dem Bürger weiſt er nicht mehr die Aufgabe zu, die freie Geſelligkeit den Eingriffen der Staatsgewalt gänzlich zu entziehen, ſondern den ſittlichen Beruf, ſelbſt - thätig Theil zu nehmen an der Verwaltung; nur dann gelange die ſitt - liche Ausbildung des Mannes zur Vollendung, nur dann gewinne der Staat lebendigen Zuſammenhang mit dem Volksgeiſte und in den Tagen der Gefahr die Kraft, ſich auf ſittliche Mächte zu ſtützen. Allein die Er - kenntniß dieſer inneren Nothwendigkeit, nicht irgend eine äußere Rückſicht auf königliche Verheißungen könne das Wagniß der Beſchränkung der monarchiſchen Gewalt rechtfertigen. So hatte auch dieſer Kantianer ſich erfüllt mit jenen fruchtbaren Ideen hiſtoriſcher Staatsanſchauung, welche der Kampf gegen das napoleoniſche Weltreich erzeugte. Er wußte auch die Gegenwart mit hiſtoriſchem Sinn zu erfaſſen, in den Erſcheinungen des Augenblicks das Lebendige zu ſcheiden von dem Todten. Niemand ver - ſtand wie er die Weisheit der Hellenen, die den Staatsmann den prak - tiſchen Hiſtoriker nennt. Wie alle freien Köpfe aus dem Kreiſe Steins will er das Parlament aufrichten auf der Selbſtverwaltung der Gemein - den, Kreiſe und Provinzen. Wie ſie verlangt er die Gliederung in drei Stände, obſchon das übermächtige Anwachſen der Mittelklaſſen, die Aus - gleichung der alten Standesunterſchiede ſeinem ſcharfen Blicke nicht ent - geht. Wie ſie will er den Reichsſtänden die Geſetzgebung, den Provinzial - ſtänden auch Verwaltungsaufgaben zuweiſen.

Nach Humboldts Anſicht iſt gar nicht die Rede davon, etwas Neues willkürlich einzuführen, ſondern nur das Wiederaufleben des blos zufällig und widerrechtlich Unterdrückten möglich zu machen. Er weiß, daß alle dauerhaften Verfaſſungen in ihren Anfängen etwas Unförmliches haben, und will darum die Rechte der alten Stände, auch wo ſie das Ebenmaß des neuen Baues ſtören, behutſam ſchonen. Aber er ſieht auch, daß die altſtändiſchen Territorien ſchon um ihrer Kleinheit willen in dem Groß - ſtaate ſich nicht mehr behaupten können, und verlangt darum Provinzial - ſtände für die neuen Oberpräſidialbezirke. Provinzialſtände ohne Reichs - ſtände erſcheinen ihm als eine Gefahr für die Einheit des Staats wie für die Rechte der Stände; denn den Provinzialſtänden, ſagt er als ein Seher, kann nur eine berathende Stimme eingeräumt werden, einer wirklichen Standſchaft gebührt das Recht des Beſchließens. Die Einheit der Mon - archie ſteht ihm ſo hoch, daß er für alle ſtändiſchen Körper unmittelbare Wahlen verlangt; ein aus den Provinzialſtänden hervorgehender Reichstag32*500II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.kann den Corporationsgeiſt das will ſagen: den Particularismus nicht verleugnen. Einzelne Stellen laſſen freilich noch die unfertige poli - tiſche Bildung der Zeit erkennen: ſo der Vorſchlag, die Stadtgemeinden wieder in Corporationen zu gliedern, oder die Weiſſagung: bei der Regie - rung werde immer das Princip der Verbeſſerung, bei den Ständen das der Erhaltung vorherrſchen! Gleichwohl enthält die Denkſchrift ohne Vergleich das Reifſte und Tiefſte, was in jenem Jahrzehnt über Verfaſſungsfragen gedacht worden iſt. Von Hardenbergs Anſchauungen unterſcheidet ſich Hum - boldt vornehmlich durch den Ernſt des Willens; er ſetzte der Reform eine feſte Zeitgrenze, was der erſchlaffte Staatskanzler kaum noch wagte, wollte ſpäteſtens 1822 oder 23 die Reichsſtände verſammelt ſehen. Dagegen erwies er den alten Ständen mehr Rückſicht, als in Hardenbergs Neigungen lag, blieb mit Stein in treuer Verbindung, erkannte unbefangen den Kern des Rechts, der in der altſtändiſchen Bewegung enthalten war.

In Alledem lag doch kein Grund zu ernſtem Streite. Verſtändigten ſich die beiden Staatsmänner, ſo konnte ſich unter Humboldts Händen wohl ein lebensfähiger Verfaſſungsentwurf geſtalten; dem Befehle des Königs, der bereits für berathende Stände entſchieden, hätte der Mi - niſter unzweifelhaft gehorcht. Die Geſchäfte dauernd zu leiten, vermochte er freilich nicht, da ihm die Politik niemals das ganze Sein und Denken ausfüllte; für die Ausarbeitung des Planes hingegen fand ſich nirgends ein gedankenreicherer Kopf, nirgends eine gewandtere Feder. Leider war, nach Allem was geſchehen, das vertrauensvolle Zuſammenwirken der bei - den Nebenbuhler rein unmöglich. Ohne den Miniſter einer weiteren Mittheilung zu würdigen, arbeitete der Staatskanzler an ſeinen Plänen fort und legte dem Könige am 3. Mai den erſten Entwurf vor. *)Hardenbergs Tagebuch, 3. Mai 1819.Da Niemand von dieſen geheimen Berathungen etwas ahnte, ſo ſendeten im Laufe des Jahres noch mehrere angeſehene Patrioten ihre Verfaſſungs - vorſchläge ein. Staatsrath v. Rhediger in Schleſien, der einſt bei Steins Verfaſſungsentwürfen mitgearbeitet hatte, überreichte eine überaus doktri - näre Denkſchrift, welche, nach heftigen Ausfällen gegen das alte Stände - weſen und die Ueberſchätzung der Geſchichte, das Volk in drei ganz will - kürlich ausgeklügelte Klaſſen eintheilen wollte. **)Rhediger, über die Repräſentation im preußiſchen Staate, 8. Jan. 1819.Noch moderner war ein Entwurf von Hippel. Der Verfaſſer des Aufrufs an Mein Volk hatte an dem Sondergeiſte der Polen üble Erfahrungen gemacht, darum verwarf er alle Provinziallandtage und verlangte einen einzigen preußiſchen Landtag, welcher, dem heutigen nicht unähnlich, in zwei Kammern getheilt werden ſollte. Der ſtrenge Monarchiſt verſtieg ſich ſogar bis zu der Doctrin der reinen Parlamentsherrſchaft und meinte, ohne die Bedeutung ſeines Vor - ſchlags zu ahnen: die Nation habe dem Monarchen die Männer zu be -501Der erſte bairiſche Landtag.zeichnen, denen er ſein Vertrauen ſchenken ſolle. Das Alles blieb ver - lorene Arbeit, vergrub ſich in der Maſſe der aufgethürmten Materialien.

Während alſo das Schickſal der preußiſchen Verfaſſung noch ganz im Dunkel lag, liefen aus den neuen conſtitutionellen Staaten des Südens bedenkliche Nachrichten ein. In München wie in Karlsruhe war der Land - tag zum erſtenmale zuſammengetreten, und hier wie dort beſtand der Parlamentarismus ſeine Probe recht unglücklich. Am Münchener Hofe hielt die Entrüſtung über die Beſchlüſſe des Aachener Congreſſes noch lange an; waren die pfälziſchen Pläne der Wittelsbacher geſcheitert, ſo ſollten die großen Mächte zum Mindeſten erfahren, daß Baiern ſich ſelbſt genüge und dem ganzen Deutſchland das glänzende Beiſpiel verfaſſungs - mäßiger Freiheit gebe. Mit der Ruhmredigkeit, welche den bairiſchen Hof auszeichnete, eröffnete der König am 5. Februar den Landtag: nun ſei vollendet, was er ſchon vor der Bundesakte geplant habe; und als er die dankbare Adreſſe ſeiner Stände in Empfang nahm, nannte er dieſen Tag den glücklichſten ſeines Lebens. Die Nation blickte anfangs mit Spannung auf die unerhörten Auftritte in München, denn es war die erſte öffentliche Ständeverſammlung der deutſchen Geſchichte. Die Kammer der Reichsräthe tagte freilich geheim und nannte ſelbſt in den dürftigen veröffentlichten Protokollen die Namen nicht, ſodaß die Leſer es bald müde wurden zu enträthſeln, was ein Herr Reichsrath geſagt und ein anderer Herr Reichsrath erwidert hatte. Aber auch die Theilnahme für die zweite Kammer erkaltete ſchnell, denn die Zahl der redneriſchen Talente war gering, und die Debatten, obwohl keineswegs arm an Kundgebungen urwüchſiger Grobheit, entbehrten doch des dramatiſchen Reizes, da die ſchwerfällige Geſchäftsordnung die Redner nur nach einer feſtbeſtimmten Reihenfolge zu Worte kommen ließ.

Politiſche Parteien beſtanden noch nicht; die ſtaatsbildende Kraft dieſes Königreichs war ſo ſchwach, daß die Abgeordneten ſich zumeiſt in kleine Landsmannſchaften zerſpalteten. Selbſt die Würzburger und die Aſchaffenburger wollten einander noch kaum als Landsleute gelten laſſen, während die Ansbacher und die Baireuther als gute Brandenburger zu - ſammenhielten; vornehmlich die Pfälzer ſonderten ſich, im Vollgefühle ihrer franzöſiſchen Freiheit, mißtrauiſch von den Anderen ab. Als feu - riger Redner that ſich vor Allen der Würzburger Behr hervor, der Lieb - ling ſeiner fränkiſchen Landsleute, ein ehrlicher radikaler Doktrinär, der in ſeinen ſtaatsrechtlichen Schriften die Lehren Rottecks noch überbot und ſogar den Monarchen perſönlich der Strafgewalt der Volksvertreter unter - werfen wollte. Auch der Bamberger Bürgermeiſter v. Hornthal, ein ge - wandter Advokat jüdiſchen Stammes, war bei Sieyes und der Verfaſ - ſung von 1791 in die Schule gegangen, ein flacher Kopf von geringer Bildung, aber betriebſam, kaltblütig, nie verlegen, und reich geſegnet mit jener unaufhaltſamen Geſchwätzigkeit, welche in parlamentariſchen Ver -502II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.ſammlungen ſo oft das echte Talent verdunkelt. Neben dieſen beiden beliebten Volksmännern erſchien der liberale Vicepräſident Seuffert der öffentlichen Meinung doch gar zu gemäßigt, weil er mit den gegebenen Thatſachen politiſch zu rechnen verſtand.

Gleich bei der Eröffnung erfuhr die Krone noch einmal die üblen Folgen ihres zweizüngigen Verhaltens gegen den römiſchen Stuhl. Der Papſt verbot den geiſtlichen Mitgliedern des Landtags, den Verfaſſungs - eid zu leiſten, da der offenbare Widerſpruch zwiſchen dem Concordat und dem Religionsedikt noch immer nicht ausgeglichen war. Es kam aber - mals zu ärgerlichen Verhandlungen; der Nuntius, Herzog von Serra Caſſano, ein eleganter junger Prälat, der in den Hofkreiſen raſch feſten Fuß gefaßt hatte, drohte bereits abzureiſen. *)Zaſtrows Bericht, 29. Januar 1819.Da fand ſich ein wenig rühmlicher Ausweg: die Mehrzahl der Geiſtlichen leiſtete den Eid, aber unter der Bedingung, daß er nicht gegen die Geſetze der katholiſchen Kirche verſtoße; der Staat geſtattete dieſe reservatio mentalis, die allerdings verſchiedener Auslegungen fähig war, und nur einzelne clericale Heiß - ſporne, wie der Fürſtbiſchof von Eichſtädt, verſagten ſich dem Ausgleich.

Natürlich mußte der jugendliche Parlamentarismus, da er vor allem Volke in die Schule ging, auch ein reiches Lehrgeld zahlen, Es fehlte nicht an unnützem Gerede noch an kleinlichem Gezänk. Als die Reichsräthe in ihrer Adreſſe ausſprachen, dies Oberhaus ſei berufen, dem Anwogen der beweglichen Kräfte des Volksgeiſtes einen Damm, dem Wandelbaren Feſtig - keit entgegenzuſtellen, da fühlten ſich die Abgeordneten in ihrer Amtsehre beleidigt und machten dem modiſchen Adelshaſſe in erregten Reden Luft, begnügten ſich aber ſchließlich die Aeußerungen der Adelskammer für auf - fallend zu erklären. In unzähligen halbreifen Anträgen kamen alle die Klagen und Wünſche zu Tage, die ſich unter der Herrſchaft einer ſchranken - loſen Bureaukratie allmählich angeſammelt hatten, und nicht ſelten mußte die Kammer der Reichsräthe die Abgeordneten an die Grenzen ihrer verfaſſungsmäßigen Befugniſſe erinnern, da der Krone allein das Recht der Initiative zuſtand. Sehr auffällig zeigte ſich dabei, wie weit die poli - tiſchen Durchſchnittsanſchauungen im Norden und im Süden noch aus - einandergingen. Manche Kernſätze der neufranzöſiſchen conſtitutionellen Theorie, von denen man in Norddeutſchland noch wenig ſprach, hatten in den Staaten des Rheinbundes ſchon feſte Wurzeln geſchlagen. So baten beide Kammern um die Einführung des öffentlichen Gerichtsver - fahrens, und der Kronprinz ließ in den Zeitungen ausdrücklich berichten, daß er mit unter den zuſtimmenden Reichsräthen geweſen ſei; die zweite Kammer verlangte außerdem noch das Schwurgericht, und ſeitdem ward dieſer Satz in das Glaubensbekenntniß des deutſchen Liberalismus auf - genommen. Dagegen ſtanden die Baiern in ihrer volkswirthſchaftlichen503Verfaſſungseid des bairiſchen Heeres.Bildung hinter den Preußen noch weit zurück; die Rechtsverwahrungen der altbairiſchen realen Gewerbsmeiſter fanden bei der Kammer freund - liches Gehör, nur eine kleine Minderheit ſchloß ſich den Pfälzern an, die ihre heimiſche Gewerbefreiheit eifrig vertheidigten. Noch geringer war das Verſtändniß für die Selbſtverwaltung. Auf verwaltende Kreisver - ſammlungen, wie ſie Preußen beſaß, wagte dies an die Allmacht ſeiner Landrichter gewöhnte Volk noch gar nicht zu hoffen. Der auf unmaß - geblichen Beirath beſchränkte napoleoniſche Generalrath, der in der Pfalz unter dem Namen Landrath fortbeſtand, galt den Altbaiern ſchon als ein Ideal, und ſelbſt dieſe beſcheidene Reform vermochte man in den rechtsrheiniſchen Provinzen noch nicht durchzuſetzen.

Ueberhaupt ſtanden die praktiſchen Ergebniſſe dieſes Landtags außer allem Verhältniß zu dem Aufwand großer Worte. Das Wichtigſte blieb, daß der wackere Finanzminiſter Lerchenfeld die ſo lange verſchleierte Lage des Staatshaushalts endlich aufdeckte. Es ſtellte ſich ein Jahresdeficit von Mill. fl. heraus und eine Schuldenlaſt von mehr als 105 Mill., eine gewaltige Laſt für das verkehrsarme Land, die erſt nach harten Kämpfen mit dem Particularismus der neuen Provinzen als gemeinſame Staatsſchuld des geſammten Königreichs anerkannt wurde. Der größte Theil dieſer Summen war in Folge der Kriegsnöthe aufgenommen worden; wie viel aber die Verſchwendung der Krone hinzu geſündigt, dies erfuhr Niemand, denn die Regierung weigerte ſich über die Verwaltung der ab - ſolutiſtiſchen Epoche im Einzelnen Rechenſchaft abzulegen, da der gut - herzige Max Joſeph, der in Geldſachen immer ein Kind blieb, erſt neuerdings von den franzöſiſchen Entſchädigungsgeldern unbedenklich 3,4 Mill. Fr. an ſeine Söhne und Töchter verſchenkt hatte. *)Zaſtrows Bericht, 17. Febr. 1819.

Dem Könige war der Landtag ſchon nach wenigen Tagen verleidet; es kam ihm vor wie heller Aufruhr, daß ſeine Beamten jetzt den Unter - thanen Rede ſtehen ſollten. Sein Mißmuth ſteigerte ſich zu hellem Zorne, als Hornthal die Vereidigung des Heeres auf die Conſtitution verlangte und mit dreiſter Stirn verſicherte, dieſer offenbar verfaſſungswidrige An - trag bezwecke nur die Ausführung einer Vorſchrift des Grundgeſetzes. Damit war zum erſten male ein unbegreiflicher Irrthum ausgeſprochen, der ſeitdem während eines Menſchenalters ein Lieblingsſatz der liberalen Parteien geblieben iſt. Befangen in dem modiſchen Haſſe gegen die ſtehenden Heere wollten die Conſtitutionellen ſchlechterdings nicht einſehen, daß ein debattirendes Heer der ſchlimmſte Feind der Freiheit iſt und das Recht des Bürgers nur da geſichert beſtehen kann, wo die bewaffnete Macht keinen eigenen Willen hat. Mit der größten Zuverſicht, als verſtände ſich der Unſinn ganz von ſelbſt, ſtellte Behr die Behauptung auf: giebt es einen Stand, der ohne Willen iſt, ſo weiß ich nicht wo die verfaſſungs -504II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.mäßige Freiheit bleibt. Auch die beliebte Theorie des Mißtrauens, die Lehre von dem natürlichen Kriege zwiſchen Fürſt und Volk wirkte mit ein. In einer Flugſchrift über den bairiſchen Landtag rechtfertigte der libe - rale Publiciſt v. Spraun den Antrag Hornthals mit der freundlichen Erwägung: ſonſt könnte ja der Hof jederzeit eine Bartholomäusnacht ver - anſtalten! Das Weimariſche Oppoſitionsblatt erklärte drohend, das deutſche Volk werde alle die gewiſſenloſen Abgeordneten, welche gegen den Antrag ſtimmten, für den Tag der Abrechnung im Gedächtniß behalten. Um einem möglichen Mißbrauch der monarchiſchen Gewalt vorzubeugen, wollte man den König in aller Unſchuld ſeiner Militärhoheit berauben, die letzte Entſcheidung der Verfaſſungsſtreitigkeiten dem Gewiſſen der zumeiſt minderjährigen gemeinen Soldaten überlaſſen. Selbſt die Erfahrungen des achtzehnten Brumaire hatten den deutſchen Doctrinarismus noch nicht darüber belehrt, daß ein Staatsſtreich nur dann gelingt, wenn die Nation ihn erträgt oder billigt.

Obwohl der Antrag nicht der revolutionären Geſinnung, ſondern nur der gedankenloſen Unerfahrenheit entſprang, ſo wirkte er doch ſogleich ſehr ſchädlich. Einige aufgeregte junge Leutnants ſprachen im Sinne des Volkstribunen und wurden in der Stille beſtraft. Die große Mehrzahl der Offiziere fühlte ſich in der monarchiſchen Geſinnung, welche jedes tüchtige Heer belebt, tief verletzt und verfiel im Zorne auf ein gefähr - liches Mittel. Man verbreitete in den Garniſonen eine Bittſchrift, die den König beſchwor ein dem Sinne der Conſtitution ſo ganz entgegenes Begehren abzuweiſen; Generale, Hauptleute, Unteroffiziere unterſchrieben bunt durcheinander. Erſchreckt durch ſolche Kundgebungen brach der Landtag die Verhandlungen über den gefährlichen Antrag plötzlich ab. König Friedrich Wilhelm aber betrachtete dieſe erſten Folgen des Reprä - ſentativſyſtems mit ſchwerer Beſorgniß. Jener unruhige Landsknechtsgeiſt, welchen die Abenteuer des Imperators in allen napoleoniſchen Heeren erweckt, hatte die Franzoſen und die Sachſen ſchon einmal zu offener Empörung verführt; in Italien ſchürten die alten napoleoniſchen Offiziere überall den Haß gegen Oeſterreichs Herrſchaft, jeden Augenblick konnte dort eine militäriſche Revolution ausbrechen; ſollten jetzt auch die ſüddeutſchen Heere in die politiſchen Parteikämpfe hineingeriſſen werden? Der Wiener Hof ſah den bairiſchen Staat bereits dicht am Abhange der Revolution da - hintaumeln. Gentz ſchrieb eine donnernde Denkſchrift über die bairiſchen Stände. *)Bemerkungen über die erſten Vorgänge in der bairiſchen Ständeverſammlung. Die Denkſchrift wurde am 10. April 1819 nach Berlin geſendet, muß aber ſchon zu Anfang März geſchrieben ſein, da ſie die Verhandlungen des Landtags nur bis zum 15. Febr. verfolgt.Er klagte den Monarchen an, daß er durch ſeine Thronrede ein vollſtändig abgerundetes Syſtem von königlicher Demokratie begründet habe, und fragte, was dieſer kaum aus der Wiege hervorgegangenen505Max Joſephs Staatsſtreichspläne.Volksrepräſentation den Muth einflößen konnte, da anzufangen, wo an - dere ihresgleichen zu endigen pflegen. Noch ſei mit Hilfe der Reichs - räthe entſchiedenes Einſchreiten gegen die Abgeordneten möglich, aber was heute noch durch kräftige Maßregeln gerettet werden dürfte, wird vielleicht in wenigen Wochen unwiederbringlich verloren ſein.

Kaum minder beſorgt ſah König Max Joſeph ſelber die Lage an. Er brütete bereits über verzweifelten Plänen und berieth ſich mit ſeinen Miniſtern, ob nicht die Aufhebung der Verfaſſung nothwendig ſei, weil ſie den gehofften Zweck nicht erfüllt habe. Am 30. März überraſchte Graf Rechberg den preußiſchen Geſandten durch eine vertrauliche Mit - theilung über dieſe geheimen Pläne. Der Miniſter fügte hinzu, ſein Hof fürchte nur, durch eine Verletzung des Art. 13 mit dem Bundestage in Streit zu gerathen, und ſchloß mit der förmlichen Bitte: der König von Preußen möge durch ſein Miniſterium vertraulich mittheilen laſſen, was S. M. der König von Allerhöchſtdemſelben zu erwarten haben würden, wenn Sie Sich in der unangenehmen Nothwendigkeit befinden ſollten, den erwähnten Gewaltſchritt zu thun. Gleichzeitig ſprach Baiern auch dem k. k. Hofe ſeine Reue aus wegen des übereilten Verfaſſungs - werkes, erklärte ſich bereit, mit Eifer die Repreſſivmaßregeln anzunehmen, welche Oeſterreich und Preußen ihm vorſchlagen möchten. *)Zaſtrows Bericht, 30. März; Kruſemarks Bericht, 16. April 1819.

Die Verſuchung für König Friedrich Wilhelm war groß, doch er be - ſtand ſie ehrenhaft. Er nahm die Frage in reifliche Erwägung, ließ mehrere Wochen verſtreichen und am 11. Mai durch ein Miniſterial - ſchreiben antworten: Wären wir in dem Falle geweſen, unſere Anſicht in dem Augenblicke auszuſprechen, wo der König von Baiern den Ent - ſchluß gefaßt hatte, die Verfaſſung einzuführen, ſo würden wir, wie viel Gutes und wohl Ueberlegtes auch in dieſer Verfaſſungsurkunde enthalten iſt, doch Zweifel und Bedenken mancherlei Art offen zu bekennen uns zur Pflicht gemacht haben. Jetzt aber fuhr Bernſtorff mit unverkenn - barer Ironie fort handelt es ſich um Fragen ganz anderer Natur. Erwägen wir, daß der König von Baiern, bei Einführung dieſer Con - ſtitution, ſolche nicht nur als eine ſeinem Volke gewährte und ausgezeich - nete, aus ſeiner freien Huld hervorgegangene Wohlthat geltend gemacht, ſondern auch den gegründeten oder vermeintlichen Anſpruch der Nation auf eine ſolche Verfaſſung ausdrücklich anzuerkennen nicht geſcheut hat, und daß die Ständeverſammlung ihrerſeits die neue Verfaſſung nicht nur in demſelben Sinne angenommen und ſich, beſonders was die Rechte der Nation betrifft, denen gehuldigt zu haben dem König als Hauptver - dienſt angerechnet wird, ſo beſtimmt als kühn ausgeſprochen hat ſo können wir die großen und drohenden Gefahren nicht verkennen, welche mit der durch die eigenmächtige Aufhebung der Verfaſſungsurkunde her -506II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.beigeführten Kriſe unzertrennlich verbunden ſein würden. Der König von Baiern wird demnach gebeten, ſich über die Geſinnung ſeines Volkes und ſeines Heeres klare Rechenſchaft zu geben und vornehmlich zu erwägen, ob ihm nicht die Verfaſſung ſelber ein Mittel biete zur Befeſtigung ſeines Anſehens, z. B. die Auflöſung der Kammer. Von dem Bundestage habe er allerdings nichts zu fürchten, da der Art. 13 nur ganz im Allgemeinen die Einführung einer ſtändiſchen Verfaſſung vorſchreibe und Baiern doch keinenfalls ganz ohne Landſtände werden bleiben wollen. *)Miniſterialſchreiben an Zaſtrow, 11. Mai 1819.

Die preußiſche Antwort verſprach alſo mit keinem Worte den Beiſtand, welchen der bairiſche Hof erwartete, ſie war ein rundes Nein in diplo - matiſcher Form und ward auch in München als eine Ablehnung auf - gefaßt. Einige Tage nachdem ſie eingegangen meldete Zaſtrow, Graf Rech - berg habe ihm mit tiefer Rührung gedankt, der beabſichtigte Staatsſtreich ſei nunmehr aufgegeben, da die Kammer ſich zu mäßigen beginne. **)Zaſtrows Bericht, 19. Mai 1819.In der That hatte die Oppoſition unter der Hand Einiges von den Plänen des Hofes erfahren die volle Wahrheit blieb ihr immer verborgen und ſich beeilt durch den beredten Mund ihres Genoſſen Häcker ihre Treue gegen den Vater der Verfaſſung zu betheuern; die ſtürmiſchen Hochrufe, mit denen die Kammer und die Gallerien dieſe pathetiſche Rede aufnahmen, thaten dem Herzen Max Joſephs wohl, und der Monarch, der ſoeben einen Staats - ſtreich geplant, ſpielte ſofort wieder vergnüglich die Rolle des conſtitutionellen Muſterfürſten. Eben in dieſen Tagen, da Preußens Warnungen den bairiſchen Verfaſſungsbruch verhinderten, ward die ſchöne, zur Verherr - lichung der Conſtitution geprägte Denkmünze fertig, und der König ließ ſie ſeinen getreuen Ständen feierlich überreichen, ſchenkte auch jeder Ge - meinde des Königreichs ein Stück zur ewigen Erinnerung. Das ganze Land frohlockte über die bairiſche Freiheit und ſchimpfte auf Preußen; ohne Schmähungen gegen den Staat des Freiheitskrieges konnte ein libe - rales Jubelfeſt ſchon nicht mehr gefeiert werden. Alle bairiſchen Blätter verglichen ihren verfaſſungstreuen König wohlgefällig mit dem Despoten in Berlin. Die Allgemeine Zeitung erzählte eine alberne Jagdgeſchichte: ein Haufe von fünfzehnhundert Bürgern ſollte den Wagen König Friedrich Wilhelms am Brandenburger Thore aufgehalten und unter dem drohenden Rufe: wir haben für das Vaterland geblutet , eine Verfaſſungspetition überreicht hätten; die Landwehrmänner der Thorwache hätten ſich geweigert einzuſchreiten.

Noch kräftiger äußerte ſich das bairiſche Machtgefühl unter den Ab - geordneten. Einige Mitglieder der Oppoſition übergaben dem Miniſter Rechberg eine geheime Denkſchrift, welche den König in ſeiner conſtitu - tionellen Geſinnung beſtärken ſollte. Da hieß es, das aus der europäi -507Friedrich Wilhelm verhindert den bairiſchen Staatsſtreich.ſchen Politik hinausgeworfene Baiern habe ſich durch die moraliſche Macht ſeiner Verfaſſung wieder erhoben, ſein Monarch werde jetzt von der ge - ſammten Nation als der König der deutſchen Herzen begrüßt. Dieſes europäiſche Ereigniß macht Baiern wieder zu einer europäiſchen Macht. Wenn der König ſeinem Landtage in Allem entgegenkommt, dann wird die wittelsbachiſche Dynaſtie der Anhaltspunkt werden für alle Völker, welche ſich als reif für die repräſentative Verfaſſung bewährt haben, und dann wird ein beträchtliches Heer für Baiern erſt ſeine wahre Bedeutung erhalten. So tauchten die phantaſtiſchen Triaspläne des württembergi - ſchen Hofes jetzt in bairiſcher Färbung wieder auf; die Münchener Oppo - ſition ſtand mit den Liberalen des Nachbarlandes in regem Verkehre, die Neue Stuttgarter Zeitung diente ihnen gemeinſam zum Organ. Aber bei dem Wittelsbacher verfing der Lockruf nicht. Max Joſeph erſchrak über die radikale Sprache ſeiner Volksvertreter und ſendete den Grafen Rechberg nochmals zu General Zaſtrow um dieſem die Denkſchrift der Liberalen einzuhändigen; es war gerade an demſelben Tage (23. Mai), da die Verfaſſungsdenkmünze den Kammern überreicht wurde. Noch einmal beſchwor er den König von Preußen, mit ihm Hand in Hand zu gehen, damit dieſe demokratiſchen Grundſätze im Keime zerſtört würden. Friedrich Wilhelm antwortete kurz und würdig, er wolle ſich nicht in die inneren Angelegenheiten Baierns miſchen, und wiederholte nur den Rath, daß der König jede verfaſſungswidrige Anmaßung oder Zumuthung kräftig zurück - weiſe; dann wird die bairiſche Regierung ſich nicht bethören laſſen durch ſo gleißneriſche Vorſpiegelungen, ſo heuchleriſche Schmeicheleien, wie ſie jenes Memoire enthält. *)Zaſtrows Bericht, 23. Mai; Miniſterialſchreiben an Zaſtrow, 11. Juni 1819.

Den Schluß der Seſſion bildete eine jener Militärdebatten, bei denen die tiefe Unwahrheit der kleinſtaatlichen Souveränität ſich immer beſonders widerwärtig offenbarte: im Grunde fühlte Jedermann, daß die beträchtlichen Ausgaben für die Armeen der Mittelſtaaten faſt zwecklos aufgewendet wurden, ſo lange ein feſt geeintes deutſches Heer nicht beſtand, aber Niemand wagte dieſe dem Partikularismus unbequeme Wahrheit offen auszuſprechen. In Baiern wünſchten faſt alle Parteien ein ſtarkes ſtehendes Heer, da ſie ſämmtlich von der europäiſchen Macht des Staates der Wittelsbacher ſehr überſpannte Vorſtellungen hegten und doch zur Einführung einer kriegstüchtigen Landwehr, nach dem Vorbilde des ſo gründlich verachteten preußiſchen Staates, ſich nimmermehr entſchließen wollten. Um ſo lebhafter ſtritt man über den Aufwand, der allerdings auch nach dem Urtheil des preußiſchen Geſandten viel zu hoch war. Die von den Abgeordneten bewilligten 6,7 Mill. fl. erſchienen dem Könige ſo unzureichend, daß er in einem Handſchreiben an Wrede erklärte, lieber wolle er ſeine Hausarmen darben laſſen und 300,000 fl. aus ſeiner Chatoulle zu -508II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.ſchießen. Da erſt entſchloſſen ſich die Reichsräthe, die Bewilligung der zweiten Kammer auf 7 Mill. zu erhöhen. Auch dies genügte dem Mon - archen noch nicht, und als er am 16. Juli mit einem halb ungnädigen Ab - ſchiede den Landtag ſchloß, kündigte er unbefangen an, daß er nöthigenfalls, wenn ſeine Bundespflichten dies erheiſchten, das Militärbudget überſchreiten werde. Der Verſuch der Krone Baiern, dem deutſchen Volke auf der Bahn der Freiheit voranzuſchreiten, war, wie das preußiſche Miniſterium nach München ſchrieb, nicht eben ſehr gut gerathen ,*)Miniſterialſchreiben an Zaſtrow, 7. Auguſt 1819. kaum beſſer als die ebenſo pomphaft angekündigte Verhandlung mit dem römiſchen Stuhle. Auf Seiten der Abgeordneten, obgleich die große Mehrzahl aus harm - loſen Biedermännern beſtand, doch eine ſtarke Neigung zum Ueberſchreiten der kaum erſt verliehenen verfaſſungsmäßigen Rechte; auf Seiten der Krone eine ſchimpfliche Schwäche, die heute ſchmeichleriſch um die Volks - gunſt buhlte, morgen demüthig den Beiſtand der Nachbarn gegen das eigene Land anrief.

Ein ungleich reicheres und bedeutſameres Schauſpiel boten die Ver - handlungen des erſten badiſchen Landtags. Im December 1818 war der unglückliche Großherzog Karl von ſeinen Leiden erlöſt worden. Ihm folgte ſein Oheim Großherzog Ludwig, ein ſchon ziemlich bejahrter Herr, hoch in den Fünfzigen, der ſeine glücklichſten Jahre im fridericianiſchen Heere verbracht hatte. Er lebte und webte noch in den Erinnerungen der rhei - niſchen Feldzüge und erzählte mit Stolz, daß er einſt das berühmte Bataillon Rhodich, das ſpätere erſte Garderegiment, befehligt. Noch als Souverän trug er mit Vorliebe die preußiſche Uniform, führte bei ſeinen Truppen das preußiſche Reglement ein und bewarb ſich ſogleich um die Verleihung eines preußiſchen Regiments, die ihm auch durch Varnhagens Befliſſenheit bald zu theil ward;**)Varnhagens Berichte, 16. Dec. 1818, 4. April 1819. wenn bei der Garde eine Treſſe oder ein Knopf verändert wurde, ſo verſäumte ſein Geſandter in Berlin nie, die Modelle der neuen Zierrathen den diplomatiſchen Berichten beizulegen. Zur Zeit des Rheinbunds mußte er Napoleons Ungnade erfahren und viele Jahre auf dem einſamen Schloſſe zu Salem verbringen. Damals hatte er den Werth höfiſcher Schmeicheleien kennen gelernt und ſich mit einer harten Menſchenverachtung erfüllt. Als er jetzt wieder aus der Vergeſſenheit hervortrat, nahm er das Beamtenthum ſogleich in ſtrengere Zucht, brachte etwas Ordnung und Sparſamkeit in die zerfahrene Ver - waltung; die neue Verfaſſung aber konnte dieſer Mann der alten Schule nur als eine läſtige Feſſel betrachten.

Da Reizenſtein ſich bald verſtimmt in die gelehrte Muße nach Heidel - berg zurückzog, ſo erlangte Berſtett die entſcheidende Stimme in der Re - gierung, neben ihm der neue Finanzminiſter Fiſcher, ein guter Rechner509Großherzog Ludwig von Baden.und harter Bureaukrat. Eine kurze Zeit lang ſuchte der König von Württemberg die Freundſchaft ſeines neuen Nachbarn zu gewinnen; doch nach einer geheimen Zuſammenkunft zu Schwetzingen (April 1819) trennten ſich die beiden Fürſten tief verſtimmt. *)Varnhagens Berichte, 19., 21. April 1819.Der alte Soldat in Karlsruhe wollte von den Hirngeſpinnſten der liberalen Triaspolitik nichts hören und bemühte ſich um das Wohlwollen der Oſtmächte, deren Mißtrauen ſeinem Staate ſo ſchwer geſchadet hatte. Er dachte dabei zunächſt an ſein ge - liebtes Preußen, während Berſtett ſich mehr zu Oeſterreich neigte; Beide aber, der Souverän wie der Miniſter, blickten mit dankbarer Verehrung auf Rußland, das ihnen der Geſchäftsträger Blittersdorff beharrlich als den natürlichen Schwerpunkt für das unruhige Europa anpries, und hörten gern auf die Rathſchläge Anſtetts in Frankfurt, der nach und nach einen großen Einfluß am Karlsruher Hofe erlangte. **)Blittersdorffs Berichte, Petersburg 5. Jan. 1819 ff.Im Hauſe führte der Großherzog das Leben eines wüſten Junggeſellen; ein guter Kopf, aber ohne Sinn für edle Bildung hatte er ſich früh geſchmackloſen Ausſchweifungen ergeben. Als allbereiter Helfer ſtand ihm bei ſeinen kleinen Abenteuern wie bei den politiſchen Verhandlungen der Major Hen - nenhofer zur Seite, der Ueberall und Nirgends der Salons, der ſich durch cyniſchen Witz und einſchmeichelnde Gewandtheit vom Feldjäger zum mili - täriſchen Diplomaten aufgeſchwungen hatte, ein mit allen Hunden ge - hetzter Menſch, dem es nicht darauf ankam in amtlichen Aktenſtücken Citate aus Triſtram Shandy anzubringen, mit Jedermann bekannt, in alle Geheimniſſe eingeweiht, trotz ſeiner abſchreckenden Häßlichkeit als Ver - mittler und Zwiſchenträger immer willkommen. Durch die Schuld dieſes neuen Hofes wurde die ehrbare Stadt Karl Friedrichs auf lange Zeit hinaus neben München die ſittenloſeſte der deutſchen Reſidenzen.

Nicht ohne Selbſtüberwindung entſchloß ſich der Großherzog, auf den 22. April ſeine Landſtände zu berufen. Ein kleines Land wie das meine, ſo äußerte er oft, bedarf einer patriarchaliſchen Regierung; indeß getröſtete er ſich der Hoffnung, daß der Landtag ſich mit der unſcheinbaren Rolle eines Familienraths begnügen und nichts unternehmen werde was über unſere Sphäre hinaus liegt . ***)Berſtett an Kapodiſtrias, 10. Dec. 1819.Bei dem Feſtmahle, das er nach der Eröffnung des Landtags den Abgeordneten gab, erhob er einen großen Pokal voll alten Markgräflerweines, trank auf das Wohl ſeiner getreuen Stände und ließ dann den Humpen nach altem Brauche im Kreiſe herumgehen. Die Volksvertreter ſelber faßten ihre Aufgabe mit nichten ſo beſcheiden auf wie der Landesherr; ſie waren ſchon auf der Reiſe von dem hoff - nungsſeligen Volke überall mit fürſtlichen Ehren, mit Triumphbogen und rauſchenden Feſten begrüßt worden und empfingen von der gemüthlichen510II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.Eröffnungsfeier den erhebenden Eindruck, als ob heute ein neues Zeit - alter der deutſchen Geſchichte begänne. Varnhagen, der ſich ſogleich viel - geſchäftig unter die Abgeordneten miſchte, konnte ſeiner Regierung gar nicht genug erzählen von der nicht zu ſchildernden Größe dieſer impo - ſanten Momente . *)Varnhagens Bericht, 22. April 1819.Die Volkskammer vornehmlich glaubte die Augen der ganzen Welt auf ſich gerichtet, wie denn in der That die Karlsruher Vorgänge bis nach England und Amerika hinüber großes Auſſehen er - regten, und beſchloß ſogleich einſtimmig, alle Adels - und Amtstitel in der Kammer abzulegen, da der Ehrentitel des Abgeordneten hoch über allen anderen irdiſchen Würden ſtehe: ein ſtolzer Beſchluß, der bei den ängſtlichen Höfen ſofort die Befürchtung hervorrief, daß ihm die Ab - ſchaffung des Adels auf dem Fuße folgen werde.

Der badiſche Adel beſaß nur in der erſten Kammer eine ſtändiſche Vertretung; in der zweiten Kammer tagten nicht, wie in Baiern, die Abgeordneten von vier ſtändiſchen Gruppen, ſondern die Geſammtheit der Wahlberechtigten war, ohne Unterſchied der Stände, in ſtädtiſche und ländliche Wahlbezirke eingetheilt, deren jeder ein Steuercapital von 800,000 Gulden umfaßte. Der Karlsruher Landtag erſchien mithin, dem modernen Charakter dieſes Staates gemäß, nahezu als eine allgemeine Volksver - tretung und ſtand ſchon durch ſeine Zuſammenſetzung den demokratiſchen Ideen des neuen Jahrhunderts näher als die anderen Landſtände jener Tage; auch an Talent übertraf er den bairiſchen Landtag bei Weitem. In der erſten Kammer ſaßen für die Kirchen Weſſenberg und Hebel; für die Univerſitäten Rotteck und ſein Widerpart, der ſinnig gelehrte Thibaut; für den Adel der Fürſt von Fürſtenberg, ein Ariſtokrat im beſten Sinne, und der conſervative Freiherr v. Türckheim, ein Elſäſſer, der durch die Revolution aus ſeiner Heimath vertrieben über die particulariſtiſche Be - ſchränktheit ſeiner badiſchen Landsleute frei hinausblickte; er ſcheute ſich nicht zu bekennen, daß ihm die Einheit der Nation das Erſte, die Ver - faſſungspolitik erſt das Zweite ſei was in dem allgemeinen Rauſche der conſtitutionellen Selbſtgefälligkeit ſchon als Volksverrath betrachtet wurde. Unter den Mitgliedern der zweiten Kammer that ſich Profeſſor Duttlinger aus Freiburg, ein ſcharfſinniger Juriſt hervor. An Sach - kenntniß überragte Alle der Geh. Referendar Ludwig Winter, ein derber, freimüthiger, kurz angebundener Schwarzwälder, Monarchiſt durch und durch, das Muſterbild eines altbadiſchen Beamten, zu allen ſocialen Re - formen gern bereit, aber ein abgeſagter Feind des politiſchen Dilettantismus und der parlamentariſchen Redſeligkeit. Der eigentliche Führer des Hauſes war Frhr. v. Liebenſtein, ein junger Beamter, der ſchon 1813 die Auf - merkſamkeit des durchreiſenden preußiſchen Staatskanzler auf ſich gezogen und neuerdings durch eine ſchwungvolle Rede zur Feier der Leipziger511Der erſte badiſche Landtag.Schlacht ſich bekannt gemacht hatte. Als Redner feurig, ſchlagfertig und doch beſonnen, wohl das glänzendſte parlamentariſche Talent der badiſchen Geſchichte, in ſeinen Anſichten durchaus liberal, unterſchied er ſich von der Mehrzahl ſeiner Genoſſen durch praktiſchen Takt und ein geſundes militäriſches Urtheil; die Feſtigkeit ſeines Charakters ſtand aber weit hinter ſeiner Begabung zurück.

Faſt alle Redner der Oppoſition gehörten dem Beamtenſtande an, der überhaupt in dieſem Landtage unverhältnißmäßig ſtark vertreten war; und ſo ward denn zum erſtenmale ein ſchlimmes Gebrechen des deutſchen Parlamentarismus fühlbar, das bis zum heutigen Tage ungeheilt ge - blieben iſt. Da eine Klaſſe von Berufspolitikern dieſem verarmten Volke noch gänzlich fehlte und namentlich die juriſtiſche Bildung faſt aus - ſchließlich in den Reihen der Beamten zu finden war, ſo hatten die Ur - heber der neuen Verfaſſungen, um nicht die Sachkundigen ganz von den Kammern auszuſchließen, alleſammt den Staatsdienern die Wählbarkeit eingeräumt. Manche der kleinen Kronen ſchmeichelten ſich mit der Hoff - nung, daß die Beamten im Landtage den Eifer der Oppoſition ermäßigen würden. Das deutſche Beamtenthum war aber durch die neuen, dem preußiſchen Muſter nachgebildeten Dienſtpragmatiken unabhängiger ge - ſtellt, als irgend ein anderer Staatsdienerſtand der Welt; ſeine Mit - glieder beanſpruchten als Abgeordnete das unbeſchränkte Recht ihre Vor - geſetzten zu bekämpfen, und es bildete ſich bald die Anſicht aus, daß der Beruf des Volksvertreters hoch über der Amtspflicht ſtehe, der Dienſteid mithin für die Dauer des Landtagsmandates ſeine Kraft verliere. So entſtand die zweifache Gefahr und beide Folgen ſind in Süddeutſch - land abwechſelnd eingetreten daß entweder die Mannszucht des Staats - dienſtes zerrüttet oder die Charakterfeſtigkeit des Beamtenthums durch Gunſt und Druck von oben her gebrochen würde. Ein Mittel der Unter - drückung lag nahe zur Hand: die Verfaſſung enthielt keine Vorſchriften über die Beurlaubung der zum Landtage gewählten Staatsdiener, und ſchon während des erſten badiſchen Landtags ward im Miniſterium die Frage erwogen, ob man nicht wohl thue, in Zukunft die Führer der Oppo - ſition durch Verſagung des Urlaubs den Kammern fern zu halten ein kleinlicher und doch bei der Schwäche dieſer Regierungen leicht begreif - licher Gedanke, der noch viel Unfrieden über den Süden bringen ſollte.

Es konnte nicht ausbleiben, daß eine an aufgeweckten Köpfen ſo reiche Ver - ſammlung im erſten Hochgefühle einer großen Beſtimmung, ihre Redekünſte über alle Höhen und Tiefen des Staatslebens erſtreckte. So lange der Nation ein Reichstag fehlte, waren die kleinen Landtage faſt gezwungen, trotz der Warnungen des Großherzogs Ludwig, über ihre Sphäre hinauszu - gehen, Fragen der geſammtdeutſchen Politik in den Kreis ihrer Be - rathungen zu ziehen. Ein Menſchenalter hindurch blieb es fortan der hiſtoriſche Beruf dieſes beweglichen oberrheiniſchen Völkchens, daß hier im512II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.Lande der reinen Aufklärung die Durchſchnittsanſichten des jungen Libe - ralismus jene bequeme, gemeinverſtändliche Faſſung erhielten, welche ſie zu Vorurtheilen Aller machten. Die Initiative ſtand dem Landtage nicht zu, wohl aber das Recht, die Regierung um den Vorſchlag eines Geſetzes zu bitten, und er machte von dieſer Befugniß einen ſo umfaſſenden Ge - brauch, daß die Krone, wenn ſie ſich fügte, die Leitung der geſetzgeberiſchen Arbeit gänzlich verloren hätte.

Ein ganzes Programm liberaler Wünſche, Stoffes genug für die Geſetzgebung mehrerer Jahrzehnte, ward in kurzen drei Monaten vor - gebracht und von der Kammer, da die Antragſteller ſich zumeiſt in un - beſtimmten Allgemeinheiten bewegten, einſtimmig oder mit großer Mehr - heit angenommen, was der entzückte Varnhagen für ein merkwürdiges Zeichen politiſcher Reife erklärte. Ganz einſtimmig war das Haus, als Frhr. v. Lotzbeck, der reiche Lahrer Tabaksfabrikant, nach einer draſtiſchen und nur allzu wahren Schilderung der zunehmenden Verarmung, die all - gemeine Verkehrsfreiheit für ganz Deutſchland verlangte. Von den Wegen freilich, die zu dieſem Ziele führen ſollten, hatte Niemand einen Begriff, und daß der König von Preußen ſoeben elf Millionen Deutſchen den freien Verkehr geſchenkt, wurde nicht nur nicht gewürdigt, ſondern als ein ſchnöder Eingriff in die wahre deutſche Verkehrsfreiheit gebrandmarkt Darauf beantragte der wackere Heidelberger Buchhändler C. F. Winter die Einführung der Preßfreiheit, und Liebenſtein unterſtützte ihn mit For - derungen, welche erſt das neue deutſche Reich verwirklicht hat: er ver - langte nicht nur, wie billig, die Aufhebung der Cenſur, ſondern wollte auch die Cautionen für die Zeitungen und ſchlechthin alle vorbeugenden Maßregeln gegen die Preſſe beſeitigt wiſſen, was in der That unmöglich war, ſo lange die öffentliche Meinung ſich noch nicht einmal über die Grundlagen des deutſchen Bundesrechts geeinigt hatte. Dann bot Rotteck den Miniſtern, welche dieſer Hilfe durchaus nicht begehrten, den Beiſtand der Kammer an zum Kampfe gegen die römiſche Curie und verherrlichte die deutſche katholiſche Nationalkirche, wie immer fein und liebenswürdig in der Form, aber in der Sache ganz radikal, ganz unbekümmert um die Thatſachen der Geſchichte, welche die Unausführbarkeit der Weſſen - bergiſchen Träume bereit erwieſen hatten. Es lag eine wunderbare Kraft des Glaubens in dem warmherzigen Doktrinär, der ſich die Möglichkeit eines ſtichhaltigen Einwandes gegen das Evangelium des Vernunftrechts ſchlechter - dings nicht vorzuſtellen vermochte. Thibaut und A. Müller, ſo geſtand er beſcheiden, ſind mir an Geiſt und Gelehrſamkeit weit überlegen, aber Recht und Wahrheit ſtehen auf meiner Seite und mit ihnen iſt man un - überwindlich. Darum verdammte er jedes Compromiß als einen Ver - rath: zwiſchen Recht und Nicht-Recht kenne ich keinen Mittelweg.

Daran ſchloſſen ſich wohlberechtigte, aber noch ganz unfertige An - träge auf Beſeitigung der Frohnden und Zehnten, auf Trennung von513Liebenſtein. Winter. Rotteck.Juſtiz und Verwaltung, auf öffentliches und mündliches Verfahren. Vor Allem das Schwurgericht empfing hier unter ſchwungvollen Reden gleichſam die Weihe als ein Heiligthum des Liberalismus. Von der Nothwendig - keit, die Gerichte mit dem Gewiſſen und den Lebensgewohnheiten des Volks in Einklang zu halten, von den Bedürfniſſen der Rechtspflege war wenig die Rede; vielmehr wurden die Schwurgerichte, noch entſchiedener als kurz zuvor in der bairiſchen Kammer, für eine politiſche Inſtitution erklärt. Sie ſollten den Hauptpfeiler der politiſchen Freiheit bilden; ohne ſie, verſicherte Liebenſtein, ſei alles Andere nur Schein. Die öffent - liche Meinung ſtimmte jubelnd zu, obgleich die Erfahrungen des napo - leoniſchen Kaiſerreichs wahrlich nicht für die neue Lehre ſprachen; alle Welt grollte, und mit Recht, über die Paſcha-Willkür der badiſchen Amt - männer und gab ſich der kindlichen Hoffnung hin, durch das Volk werde jede Tyrannei ein Ende finden. So ward die rein juriſtiſche Frage zur politiſchen Parteiſache. Den Regierungen fuhr der Schrecken in alle Glieder; ſie waren bisher, zumal die preußiſche, der dringend nöthigen Reform des Strafverfahrens keineswegs abgeneigt geweſen, jetzt erſchien ihnen die Neuerung ſtaatsgefährlich.

Nach dem mächtigen Pathos dieſer Zukunftsdebatten, bei denen Varn - hagen immer die Hand mit im Spiele hatte, erſchien die pedantiſche Klein - meiſterei der Budgetberathung hochergötzlich. Allerdings bot das Budget, nach ſo vielen Jahren unordentlicher Finanzwirthſchaft, manche anfecht - bare Stellen. Da entfalteten ſich denn breit und behäbig alle jene Künſte des parlamentariſchen Mückenſeigens und Milbenſpaltens, welche den deutſchen Landtagen auf lange hinaus zum Vorbilde dienten. Um jeden aggregirten Sekretär, um jede Pferderation der Bataillonsadjutanten ward mit heiliger Entrüſtung geſtritten; das unbeliebte Militärbudget erlitt natürlich ſtarke Abſtriche, und da die Regierung, unbedachtſam genug, ver - ſäumt hatte, den Unterhalt des landesfürſtlichen Hauſes vor der Ver - kündigung des Grundgeſetzes ſicher zu ſtellen, ſo trat die unanſtändige Wißbegierde der Volksvertreter auch an die häuslichen Angelegenheiten der Dynaſtie heran. Die Civilliſte ſelbſt fand die Genehmigung der Stände, aber von den Apanagen ward faſt ein Viertel geſtrichen. Auf ihrem Wittwenſitze zu Bruchſal lebte noch die Mutter des verſtorbenen Großherzogs, die greiſe Markgräfin Amalie, eine Tochter der großen Land - gräfin von Darmſtadt. Wie oft hatte dieſe tapfere Frau einſt in den Tagen der Franzoſenherrſchaft ihr wirkſames Fürwort für den badiſchen Staat eingelegt; und nun ſtrich ihr dieſer Landtag, der ihr eigentlich ſein Daſein verdankte, 20,000 fl. von ihrem beſcheidenen Einkommen. Wie hätten dieſe Kleinbürger auch begreifen ſollen, daß der Hofhalt einer Fürſtin, deren Töchter auf den Thronen von Rußland, Schweden, Baiern, Heſſen und Braunſchweig ſaßen, nicht nach den Bedürfniſſen einer Land - pfarrerswirthſchaft beurtheilt werden durfte? Die ganze mächtige Verwandt -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 33514II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.ſchaft der Markgräfin fühlte ſich beleidigt, die Mutter des Czaren Alexan - der rief dem badiſchen Geſchäftsträger zu: ſo wenig kann man auf die Dankbarkeit der Völker zählen! *)Blittersdorffs Bericht, Petersburg 11. Aug. 1819.

Durch das Uebermaß ſeiner Wünſche und die Kleinlichkeit ſeiner Be - willigungen hatte der Landtag bereits alle Höfe tief verſtimmt. Da be - ging er noch einen letzten, unbegreiflichen Fehler: er lehnte ſich wider den Bundestag auf und leider auch wider das klare Recht. Im April 1818 hatte der badiſche Hof die Rechtsverhältniſſe der Mediatiſirten und der Reichsritterſchaft durch ein Adels-Edikt geordnet, das ganz im Geiſte der rheinbündiſchen Bureaukratie gehalten war und offenbar wider die Vor - ſchriften des Art. 14 der Bundesakte verſtieß. Das Edikt wurde nachher für einen Beſtandtheil der neuen Verfaſſung erklärt, doch der in ſeinem Rechte ſchwer verletzte hohe Adel ließ ſich nicht beſchwichtigen, und die Regierung gerieth bald in peinliche Verlegenheit. Ganz ſo großmüthig wie der König von Preußen konnte dieſe kleine Krone die Verheißungen der Bundesakte freilich nicht verwirklichen; aber wenngleich einzelne For - derungen des Adels über alles Maß hinaus gingen und das Haus Löwen - ſtein ſogar die Erhebung der Mainzölle für ſich verlangte, ſo waren die Mediatiſirten doch auf Grund der Bundesakte und zahlreicher europäiſcher Verträge unzweifelhaft berechtigt die Patrimonialgerichtsbarkeit und die Ortspolizei zu beanſpruchen. Die Regierung begann ihr Unrecht einzu - ſehen; ſie wußte auch, daß ſie die Ungunſt, die ihr auf dem Wiener Congreß zu theil geworden, zumeiſt den beſtändigen Beſchwerden des Adels zu verdanken hatte. Vergeblich berief ſie ſich, gegen den Führer der Reichs - ritter, Frhrn. v. Venningen, auf den Geiſt der Zeit, der in Süddeutſch - land dem Adel nicht günſtig ſei; **)Reizenſtein an Venningen, 22. Okt. 1818. die Mediatiſirten beſtanden auf ihrem guten Recht und erlangten, wie früher erzählt, bei dem Aachener Con - greſſe freundliches Gehör. In ernſten Schreiben mahnten die vier Mächte den Karlsruher Hof an ſeine Vertragspflicht. Wahrlich, ſchrieb Kapo - diſtrias an Berſtett, in dieſem Augenblicke, wo alle Rechte des badiſchen Hofes wieder unter eine doppelte Bürgſchaft geſtellt worden ſind, kann ein Appell an die Rechtſchaffenheit ſeiner Politik unmöglich fruchtlos bleiben! ***)Kapodiſtrias an Berſtett, Aachen Nov. 1818.

So ſtand es in der That. Die Regierung durfte ſich den recht - mäßigen Anforderungen des Vierbundes, der die ganze Zukunft dieſer Dynaſtie ſoeben erſt geſichert hatte, nicht verſagen. Nach kurzem Schwanken knüpfte ſie neue Verhandlungen mit den Mediatiſirten an, obgleich der erbitterte Feind des hohen Adels, König Wilhelm von Württemberg, ſie dringend zum Widerſtande gegen den Aachener Congreß aufforderte. †)Varnhagens Bericht, 10. Jan. 1819.515Das badiſche Adels-Edikt.So kam am 16. April 1819 ein zweites den Vorſchriften der Bundes - akte zur Noth entſprechendes Adels-Edikt zu Stande, das den vier Mäch - ten vorgelegt*)Miniſterialſchreiben an Blittersdorff, 30. April 1819. und am Bundestage für grade genügend erklärt wurde. Berſtett ließ das neue Edikt am Abend vor der Eröffnung des Landtags veröffentlichen; er rechnete, die Stände würden ſich in die unbequeme Nothwendigkeit ergeben und den Ausgleich als letztes Vermächtniß der abſoluten Monarchie ſtillſchweigend genehmigen. Wie wenig kannte er doch den Charakter ſeiner Abgeordneten! Hier erhob ſich die köſtliche Frage: wer iſt älter, die Henne oder das Ei? beſitzt ein Landtag ſchon Rechte noch bevor er exiſtirt? Fragen ſolcher Art haben auf die kleinen deutſchen Landtage jederzeit eine dämoniſche Anziehungskraft ausgeübt und ihnen den beſten Stoff für ihre großen Juriſtenfeſte geboten. So auch diesmal. Alles zürnte über den frivolen Verfaſſungsbruch. Aus dem Munde ſehr gemäßigter Männer vernahm man Doctrinen, die ganz harmlos gemeint, doch an Rouſſeaus Contrat ſocial ſtark anklangen: der Großherzog, ſo hieß es, hat durch die Verkündigung der Verfaſſung dem Volke einen urſprünglichen Vertrag angeboten, das Volk hat durch Vor - nahme der Wahlen eingewilligt, und ſeitdem iſt der Vertrag perfekt.

In der zweiten Kammer erhielt Ludwig Winter das Referat über das Adels-Edikt, und nun ſpielte ſich ein ſeltſamer Auftritt ab, wie er nur in dieſen erſten Kinderjahren des deutſchen Parlamentarismus möglich war. Winter war Abgeordneter für Durlach und zugleich Regierungscommiſſär, er hatte als ſolcher ſoeben den Entwurf einer neuen Gemeindeordnung vor den Kammern vertheidigt, und dieſer Commiſſär der Regierung erhob ſich jetzt, um das Miniſterium mit einer Heftigkeit anzugreifen, wie noch kein Abgeordneter vor ihm. Der leidenſchaftliche Mann handelte im beſten Glauben, er ſah den Großherzog durch das Adels-Edikt unver - äußerlicher Kronrechte beraubt und hielt ſich als treuer Unterthan ver - pflichtet, der Krone gegen ihre eigenen Miniſter zu Hilfe zu eilen. Aber er war Partei, er hatte das erſte, nunmehr aufgehobene Adels-Edikt ſelber verfaßt und vertheidigte ſein Werk mit allen Waffen des abſtrakten Ver - nunftrechts; für die Bundesakte, für die europäiſchen Verträge, auf denen doch der Beſtand des Großherzogthums Baden ſelber ruhte, hatte er kein Auge: wir haben, rief er aus, mit dem Bundestage nichts zu thun und wollen auch nichts mit ihm zu thun haben; das iſt Sache der Regierung. Auf dieſe naturrechtlichen Argumente folgte dann eine will - kürliche Auslegung der Bundesakte, die ſich noch bitter beſtrafen ſollte. Winter behauptete, der Art. 13 verſpreche ausdrücklich das Repräſentativ - ſyſtem, nicht eine altſtändiſche Verfaſſung, er ſetze alſo die Rechtsgleichheit aller Bürger voraus, und folglich ſeien die den Mediatiſirten im Art. 14 gewährten Privilegien unausführbar, rechtlich nichtig.

33*516II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.

Welch eine Verdrehung allbekannter Thatſachen! Zur Zeit des Wiener Congreſſes hatte noch Niemand in Deutſchland über den Gegenſatz repräſen - tativer und altſtändiſcher Verfaſſung ernſtlich nachgedacht. Nach ihrem eigenen Geſtändniß verſtanden die Urheber der Bundesakte unter landſtändiſcher Verfaſſung ganz im Allgemeinen irgend eine Vertretung, ſei es des ganzen Volks, ſei es der einzelnen Stände. Der Verſuch Preußens, dem Verfaſſungsverſprechen durch die Aufzählung landſtändiſcher Rechte einen beſtimmten Inhalt zu geben, ſcheiterte an dem Widerſpruch der Rhein - bundsſtaaten, und man wählte abſichtlich einen dehnbaren Ausdruck, da - mit die Souveränität der Kronen ja freie Hand behielte. Oeſterreich, Sachſen, Mecklenburg konnten dabei an ihre alten Stände, die ſüd - deutſchen Staaten an moderne Conſtitutionen denken. Winters Behaup - tung war rein ſophiſtiſch und, wie ſich bald zeigte, eine arge Unklugheit; denn begannen erſt die Liberalen den Art. 13 in ihrem Sinne unredlich auszulegen, ſo mußte die reaktionäre Partei Gleiches mit Gleichem ver - gelten, und ſie hatte mindeſtens den Buchſtaben für ſich, wenn ſie ihrer - ſeits behauptete: landſtändiſche Verfaſſung bedeutet Stände , und nicht das Repräſentativſyſtem. Bei ſeinen Hörern hatte Winter gewonnenes Spiel. Als er ſchließlich die Beſeitigung des Adels-Edikts beantragte, wollte der Beifall kein Ende nehmen; auch das patriotiſche Feſtmahl fehlte nicht, das fortan regelmäßig zur Belohnung verdienter Volksmänner dargeboten wurde. In den größeren Verhältniſſen Baierns blieben die Mediatiſirten, trotz ſo mancher Reibungen zwiſchen den beiden Kammern, von den Libe - ralen unangefochten; in dem kleinen badiſchen Lande wußte man mit einem hohen Adel nichts anzufangen, alle Ariſtokratie galt für volksfeind - lich. Nach Kräften ſchürte Varnhagen unter den Abgeordneten den Adels - haß, obgleich er wußte, daß ſeine Regierung das Adels-Edikt mit ver - anlaßt hatte; er ſcheute ſich nicht, ſogar in ſeinen amtlichen Berichten die Gegner des Bundestags und der Quadrupelallianz feurig zu loben. *)Varnhagens Berichte, 12. Mai, 21. Juli 1819.

Der weitere Verlauf der Debatten zeigte, wie gründlich die nationale Geſinnung durch die Nichtigkeit des Bundestags bereits zerrüttet war. Die Bundesverſammlung ward mit Beleidigungen überſchüttet, das Grund - geſetz des Bundes mit der äußerſten Geringſchätzung abgefertigt. Die - ſelben Liberalen, die ſo laut nach der Erfüllung des vieldeutigen Art. 13 riefen, erklärten die ausführlichen und unzweideutigen Vorſchriften des Art. 14 für unverbindlich. Die Ehrenpflicht der Nation gegen die ſchänd - lich mißhandelten Opfer des napoleoniſchen Gewaltſtreichs von 1806, der klare Wortlaut der Bundesakte, die ſo viel älter war als die badiſche Verfaſſung und immerhin das einzige ſtaatsrechtliche Band für dies zer - ſplitterte Volk bildete das Alles ſollte nichts gelten gegenüber einem unzweifelhaft rechtswidrigen großherzoglich badiſchen Geſetze, das noch dazu517Der badiſche Landtag gegen den Bundestag.durch die badiſche Regierung ſelber bereits aufgehoben war. Man hielt es gar nicht der Mühe werth erſt zu beweiſen, warum denn Baden ſeine Bundespflichten gegen die Mediatiſirten nicht ebenſo ehrlich erfüllen konnte wie Preußen und Baiern. Schritt man auf dieſem Wege fort, ſo wurden die letzten armen Trümmer einer nationalen Rechtsordnung, welche den Deutſchen noch blieben, durch den liberalen Particularismus zerſtört. Jene Zuchtloſigkeit der[deutſchen] Libertät, welche das alte Reich verwüſtet hatte, lebte wieder auf; nur trotzte ſie nicht mehr auf habende ſtändiſche Freiheiten, ſondern auf die naturrechtliche Phraſe der angeborenen Rechte. Liebenſtein, der ſo oft in flammender Begeiſterung von der Einheit Deutſchlands geredet hatte, ſtellte jetzt die ungeheuerliche Behauptung auf, ein Bundesbeſchluß werde überhaupt erſt rechtsgiltig durch die Zuſtim - mung der Karlsruher Kammern, obſchon die badiſche Verfaſſung ſelbſt die Verbindlichkeit der Bundesgeſetze für das Großherzogthum ausdrücklich anerkannte. Paulus beeilte ſich, in Rottecks Archiv dieſe neue Doctrin als ein Bollwerk deutſcher Freiheit zu verherrlichen. Die Liberalen wagten offenen Ungehorſam gegen den Deutſchen Bund, auf deſſen Grundgeſetz die badiſche Verfaſſung ſelber beruhte; und dies in einem Augenblicke, da der Bundestag zwar durch Trägheit ſchwer geſündigt, aber noch durch - aus keine Gewaltthat gegen die Freiheit der Nation verſucht hatte. Und bei dieſem Feldzuge gegen den Bund half der preußiſche Geſchäftsträger getreulich mit; er ſpielte die Rolle eines badiſchen Oppoſitionsführers mit ſolcher Dreiſtigkeit, daß Großherzog Ludwig ein Jahr darauf, als Varn - hagen endlich abberufen war, zu ſeinem Nachfolger Küſter offen ſagte: wir haben endlich Frieden, weil Varnhagen nicht mehr hier iſt; ſeine Anweſenheit würde heute wie vor’m Jahre Alles verderben! *)Küſters Bericht, Karlsruhe 22. Aug. 1820.

In der erſten Kammer fanden die Rechte der Mediatiſirten beſſeren Schutz. Türckheim erſtattete einen vortrefflichen, freilich ſehr ſcharfen Be - richt, wies das Unrecht der zweiten Kammer ſiegreich nach und gab ihr zu bedenken, daß ein angeſehener Adel zu allen Zeiten eine Schutzmauer gegen die Willkür des Beamtenthums geweſen ſei. Der Uebermuth der jungen liberalen Partei war aber ſchon ſo hoch geſtiegen, daß ſie ein ſtarkes Wort aus conſervativem Munde bereits wie eine Gewerbsbeein - trächtigung anſah. Die zweite Kammer wies den Bericht Türckheims mit Indignation zurück, obgleich ihre eigenen Redner wahrlich auch kein Blatt vor die Lippen genommen hatten. In ſeiner Erwiderung berief ſich Winter ſogar auf den berühmten Satz aus Steins politiſchem Teſta - ment, daß keinem Unterthan obrigkeitliche Gewalt zuſtehen dürfe; und doch war allbekannt, daß der Freiherr die vormaligen Reichsſtände keines - wegs zu den Unterthanen rechnete, ſondern ihre vertragsmäßigen Rechte lebhaft vertheidigte. Die Regierung wußte nicht aus noch ein. Vom518II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.Bundestage und von den meiſten Höfen kamen verwunderte Anfragen: ob denn in Baden Alles aus Rand und Band gehe, da der Commiſſar der Regierung ſelber die Oppoſition zum Kampfe gegen den Bund und das Miniſterium führen dürfe? *)Berkheims Bericht, Frankfurt 25. Juni; Blittersdorffs Bericht, Petersburg 14. Auguſt 1819.Graf Buol rief, auf die Nachricht von Liebenſteins Rede: ohne Zweifel liegt der Redner bereits in Ketten! Miniſter Berſtett aber war nicht der Mann dieſen Sturm zu beſchwören; er ließ ſich im Zorne zu dem Vorwurfe jakobiniſcher Geſinnung gegen die Kammer hinreißen und ſteigerte nur den Unwillen. Da verlor der Großherzog endlich die Geduld. Am 28. Juli wurden die Kammern plötzlich bis zum nächſten Jahre vertragt. Der dreimonatliche Redekampf ging ohne jedes Ergebniß zu Ende, kein einziges Geſetz war vereinbart.

Zugleich brach auch über den Mann, der ſo lange ſchon in Karls - ruhe dem preußiſchen Namen Unehre bereitet hatte, die Vergeltung her - ein. Seit zwei Jahren war Varnhagens Amtsführung nur eine Kette von Unbotmäßigkeit und Gewiſſenloſigkeit. Als Berichterſtatter unzuver - läſſig, parteiiſch, ſchlecht unterrichtet, hatte er ſeine Regierung ſogar frech belogen, als er jene Briefe der Souveräne von Baiern und Baden an die Zeitungen verrieth und ſich nachher über dieſen Verrath entrüſtet ſtellte; ſeinen Weiſungen entgegen, hatte er ſich zuerſt in die bairiſch-ba - diſchen Händel eingemiſcht, dann liberale Parteipolitik getrieben und ſchließ - lich die Rechtsanſprüche der Mediatiſirten, welche der Berliner Hof un - terſtützte, geradezu bekämpft. Es war eine Pflichtvergeſſenheit, die in der Geſchichte der preußiſchen Diplomatie wohl nur einmal ein Seitenſtück fand: an dem Verhalten des Grafen Haugwitz zur Zeit der Auſterlitzer Schlacht. Auf die wohlberechtigte Klage des badiſchen Hofes wurde Varn - hagen abberufen und hatte es nur der Gutmüthigkeit Hardenbergs und Bernſtorffs zu verdanken, daß er nicht die einfache Entlaſſung, ſondern ein ganz unverdientes Wartegeld erhielt. Er fiel als das Opfer ſeiner Eitel - keit und ſeines Ungehorſams. Doch da ſeine Abberufung zufällig mit dem Beginn der Demagogenverfolgung zuſammentraf, und die uneingeweihten Zeitungen bald von ſeiner Verhaftung, bald von ſeinen jakobiniſchen Plänen fabelten, ſo ſpielte er in Berlin den liberalen Märtyrer, und nachdem er viele Jahre hindurch bei allen Miniſtern des Auswärtigen, von Bernſtorff bis auf Manteuffel, immer vergeblich um Wiederanſtellung gebeten hatte, rächte er ſich endlich durch eine literariſche Giftmiſcherei, die ſeiner politiſchen Thaten würdig war.

In Baden arbeitete unterdeſſen Miniſter Fiſcher, wie kurz zuvor Rech - berg in München, an dem Plane eines Staatsſtreichs. Er ſchlug ſeinem Fürſten in einer Denkſchrift vor: die Krone möge die Domänen wieder an ſich nehmen und wenn der Landtag darauf nicht eingehe, die Ver -519Vertagung der Kammern. Varnhagen.faſſung für gebrochen erklären; dann könnten durch Vermittelung des Bundestags berathende Stände eingeführt werden. Der Großherzog aber wies den Plan vorderhand zurück, er hoffte mit Hilfe der Beſchlüſſe, die ſoeben in Karlsbad verabredet wurden, ſeinen Landtag zu bändigen. Das alſo war das Ergebniß der erſten Jahre unſeres conſtitutionellen Lebens. In Württemberg hatte ein harter Streit mit den Landſtänden vorläufig die Dictatur des Königs herbeigeführt; in Baiern rief die Krone den Beiſtand der Großmächte gegen ihren Landtag an; in Baden gingen Fürſt und Stände in Unfrieden auseinander, und die Volksver - treter lehnten ſich wider die Bundesakte auf. Angeſichts ſolcher Thatſachen begann der König von Preußen ernſtlich zu bezweifeln, ob ſein ſo müh - ſam zuſammenwachſender Staat dem raſch bereuten Vorgehen Baierns fol - gen dürfte. König Friedrich Wilhelm IV. ſagte die volle Wahrheit, als er bald nach ſeiner Thronbeſteigung verſicherte, ſein Vater ſei durch die conſtitutionellen Erfahrungen der deutſchen Nachbarſtaaten bewogen worden, das Verſprechen vom Mai 1815 in reifliche Erwägung zu ziehen.

Noch bevor das ungewohnte Schauſpiel dieſer parlamentariſchen Kämpfe zu Ende ging, war ein Ereigniß eingetreten, das alle Höfe mit paniſchem Schrecken betäubte und zu einem Wendepunkt in der Geſchichte des deutſchen Bundes werden ſollte. Am 23. März 1819 wurde Kotzebue durch den Jenenſer Burſchenſchafter Sand ermordet. Freund und Feind empfanden ſofort, daß in der blutigen That nicht die Ruchloſigkeit eines Einzelnen, ſondern der lang angeſammelte Parteihaß der radikalen Sekten der Studentenſchaft ſich entladen hatte. Der dämoniſche Reiz des Un - begreiflichen verführt die Welt leicht, in den Urhebern ſchwerer Verbrechen einen Zug von Größe zu ſuchen; das Leben dieſes Mörders aber bot zwar der krankhaften Züge genug und manchen Anlaß zu menſchlichen Mitleid, bewunderungswerth war nichts an ihm als jene finſtere, geſammelte Willenskraft, die den Fanatiker macht.

Karl Sand war der Sohn eines vormals preußiſchen Beamten und im Fichtelgebirge unter den treuen brandenburgiſchen Franken aufge - wachſen, in einem Lande, wo Jedermann über die neue Ordnung der deutſchen Dinge grollte. Das ſtarre Auge und die niedere, von langem, dunklem Haar umrahmte Stirn verriethen einen beſchränkten Geiſt, der bei eiſernem Fleiße nur langſam faßte und dann die ſchwer errungene Erkenntniß mit zähem Eigenſinn gegen jede Einrede behauptete. Eine tugend - ſtolze Mutter erfüllte den Sinn des Knaben ſchon frühe mit unkindlicher Selbſtgerechtigkeit. Alſo vorbereitet trat er als Student in jene teuto - niſchen Kreiſe, wo die grüne Jugend ſich ſo zuverſichtlich im Bewußtſein ihrer eignen Kraft und Keuſchheit ſonnte und wider die geile Schlaffheit520II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.des alten Geſchlechtes eiferte; allen ſeinen Genoſſen blieb es unvergeßlich, mit welchem höhniſchen Hochmuth er die Verſe zu ſingen pflegte: Du mußt dann unter ſeidenen Decken, unter Mercur und Latwergen verrecken! Der heidniſche Dünkel, der rationaliſtiſche Stolz auf die unbefleckte Würde des freien ſich ſelber behauptenden Ich vertrug ſich aber in dieſem armen Kopfe mit einer myſtiſchen Schwärmerei, die verzückt zu Jeſu Vorbild aufblickte und den Finger Gottes in jedem kleinen Tageserlebniß zu er - kennen wähnte: mit Gebet und frommen Betrachtungen bereitete er ſich ſelbſt auf die harmloſen ſtudentiſchen Duellſpiele vor, und oft lud er nach einem geringfügigen Wortwechſel ſeinen Gegner feierlich vor Gottes Gericht.

Erfahrenen Menſchenkennern hinterließ der verſchloſſene, im per - ſönlichen Verkehre freundliche und gutmüthige Jüngling doch einen un - heimlichen Eindruck; als Wangenheim, ſein alter Gönner von Tübingen her, eines Tages in Frankfurt erfuhr, Karl Sand habe ihn auf der Durch - reiſe beſuchen wollen, da überkam ihn ſofort die Ahnung, daß etwas Gräßliches im Werke ſei, er warf ſich aufs Pferd und eilte dem Wan - derer auf der Bergſtraße nach ohne ihn zu finden. Sand hatte als bairi - ſcher Freiwilliger an dem Feldzuge von 1815 theilgenommen, aber den Feind nie zu Geſicht bekommen und voll Verachtung gegen die Soldaterei alsbald nach der Heimkehr den bunten Rock wieder ausgezogen. Um ſo eifriger ſtürzte er ſich mit Leib und Seele in das Treiben der Burſchen - ſchaft; die Verbindung war ihm Staat und Kirche, Haus und Liebe, Eines und Alles, die ganze Welt ſah er zertheilt in zwei große Heerlager: hier die reinen, freien, keuſchen Burſchen, dort die feilen Schergen der Zwingherrſchaft. In Tübingen, in Erlangen, endlich in Jena war er überall mit dabei, wo feurige Teutonen Rütli-Schwüre tauſchten und von St. Georgen-Thaten ſchwärmten, ein unbeholfener Redner, wenig ange - ſehen bei den Genoſſen, nur als rüſtiger Turner wohl gelitten; aber was der laute Schwarm gedankenlos herauspolterte, das erſchütterte dieſe ſchwere Natur bis ins Mark, ihm war es kein leeres Wort, wenn die Burſchen ſangen:

Und in der Wideriſchen Herzen tauchen,
Thut’s noth, das deutſche Schwert!

Als er in Erlangen einen geliebten Freund dicht vor ſeinen Augen ertrinken ſah und die Landsmannſchaften ſich weigerten dem Todten das letzte Geleite zu geben, da ſchwand der letzte Schimmer jugendlicher Heiter - keit aus ſeinem umnachteten Gemüthe; er ſah ſich umringt von einer Welt von Feinden und kündete dieſer verrotteten Welt in ſeinem Herzen offene Fehde an: Ihr Fürſten Deutſchlands, warum mußtet Ihr mich aus meinem Frieden aufſtören? Haß, glühender Haß wider die unbe - kannten Gegner der Burſchenſchaft und des einen untheilbaren deutſchen Freiſtaats erfüllte ihm die Seele, und nun wies Luden durch ſeinen521Karl Sand.Aufſatz gegen Kotzebue dem wilden Drange ein beſtimmtes Ziel; der frivole Schalk erſchien dem tugendſtolzen Schwärmer wie das Urbild aller Sünden des alten Geſchlechts, obwohl Sand von ihm nichts kannte als ein paar Luſtſpiele und einige Wochenblatts-Artikel. In ſolcher Stimmung kam der Unglückliche nach Jena, gerieth dort ſogleich unter das Joch Karl Follens, ſog mit Begierde die Mordlehren der ſchwarzen Brüder ein. Jetzt endlich ſo ſchrieb er bald nachdem er Follen kennen ge - lernt habe er ein Ziel für ſein Leben gefunden: aus eigener Ueber - zeugung, in eigener Art leben wollen mit unbedingtem Willen, im Volke den reinen Rechtszuſtand, d. i. den einzig giltigen, den Gott geſetzt hat, gegen alle Menſchenſatzung mit Leben und Tod zu vertheidigen. Sein geiſtiges Vermögen reichte nicht aus um den ſchülerhaften Denkfehler, der dem Moralſyſteme Follens zu Grunde lag, zu durchſchauen. Er brachte es über ſich ſein Gewiſſen gleichſam zu theilen, blieb im täglichen Leben treu, wahrhaft, hilfreich, nur gegen die Tyrannen ſchien ihm Alles erlaubt. Seine theologiſchen Studien, die er über dem Verbindungsleben arg ver - nachläſſigt hatte, boten ihm doch die Mittel, um die Lehre der Gewiſſen - loſigkeit auf religiöſe Gründe zu ſtützen; aus der Bibel und dem Thomas a Kempis wähnte er den Satz herauszuleſen: wenn der Menſch die Wahrheit ſo erkannt hat, daß er vor Gott ſagen kann: das iſt wahr ſo iſt es auch Wahrheit wenn er es thut! Und als er nun täglich den Meiſter der Vaterlandserretter, Karl Follen mit beredtem Munde die ſittliche Nothwendigkeit des Meuchelmordes preiſen hörte, da kam ihm der Gedanke ſich ſelbſt zu opfern für die gute Sache und zu erproben, ob er das Volk durch den Schrecken einer heiligen Mordthat aus ſeinem Schlummer aufrütteln könne.

Kalt, ſicher, ganz mit ſich einig traf er ſeine Vorbereitungen; er hatte ſich längſt gewöhnt jeden Vertreter der gegneriſchen Anſicht als einen Todfeind zu betrachten, er lebte im Zuſtande des Krieges mit den Ge - walthabern und ihren Helfershelfern, er war berechtigt Kotzebue mit dem Dolche zu ſtrafen, weil er das Göttliche in mir, meine Ueberzeugung unterdrücken will. Die niedrige Feigheit einer Gewaltthat gegen einen wehrloſen Greis kam ihm ebenſo wenig zum Bewußtſein, wie die ſinn - loſe Thorheit eines Verbrechens, das an der beſtehenden politiſchen Ord - nung ſchlechterdings nichts beſſern konnte. Auch die Todſünde des neun - zehnten Jahrhunderts wirkte mit, jener impotente Größenwahnſinn, der faſt bei allen berufenen Verbrechen der modernen Geſchichte ſeine Rolle ſpielt. Sand war nicht blos aufgebläht durch den ſittlichen Dünkel ſeiner Sekte, ſondern auch perſönlich eitel: derweil er über ſeinen ruchloſen Ge - danken brütet, zeichnet er ſich auf ein Blatt ſein eignes Bild, wie er auf den Stufen einer Kirche knieend ſich den Dolch ins Herz drückt, an der Kirchthür aber hängt mit einem anderen Dolche angeheftet das Todes - urtheil über Kotzebue. Sicherlich hat der unſelige Menſch ſelbſt geglaubt,522II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.daß er ſeinen Entſchluß in voller Freiheit gefaßt habe, denn nur die aus eigener Ueberzeugung entſpringende That ließ er gelten; es iſt aber pſycho - logiſch unmöglich, daß der menſchenkundige Karl Follen, der mit ſeinem Baſiliskenblick den wehrloſen Schwachkopf vollkommen beherrſchte und in dieſer dürftigen Seele wie in einem offenen Buche las, den Mordplan nicht bemerkt und nicht befördert haben ſollte. So gewiß die Aehre dem Saatkorn entſprießt, ebenſo gewiß erſcheint der Prediger des politiſchen Mordes vor dem ſittlichen Urtheil der Geſchichte als der Urheber der Ermordung Kotzebues. Ob Karl Follen auch im ſtreng juriſtiſchen Sinne als Anſtifter zu betrachten ſei, dies wird wohl für immer verborgen bleiben. Ein Mitwiſſer des gefaßten Entſchluſſes war er unzweifelhaft; er verſchaffte, wie die Unterſuchung herausſtellte, dem Mörder das Reiſe - geld für die Wanderfahrt nach Mannheim. Auch Wit v. Dörring und wahrſcheinlich noch ein Dritter aus jener radikalſten Sekte der Unbe - dingten, die man die Haarſcharfen nannte, waren mit im Geheimniß; aber gewiß keine größere Anzahl, denn Karl Follen unterrichtete ſeine Getreuen in allen Schlichen und Kniffen des Criminalprozeſſes, belehrte ſie ſorgſam über ihr Verhalten vor dem Unterſuchungsrichter und ſchärfte ihnen vornehmlich ein, daß der Vaterlandserretter die Genoſſen nicht in Gefahr bringen dürfe. *)Dieſe Thatſachen mußten unglaubhaft erſcheinen, ſo lange ſie nur durch die Denk - würdigkeiten des elenden Denuncianten Wit v. Dörring bezeugt waren; heute laſſen ſie ſich nicht mehr bezweifeln, ſeit ein vertrauter Freund der Gebrüder Follen, der Deutſch - Amerikaner Friedrich Münch ſie wiederholt auf das Beſtimmteſte zugegeben hat. (Münch, Erinnerungen aus Deutſchlands trübſter Zeit. St. Louis 1873. Derſelbe in der Deut - ſchen Turnzeitung 1880. S. 403.) Münch beruft ſich auf vertrauliche Mittheilungen ſeines Freundes Paul Follen; er iſt wohl der einzige noch Ueberlebende aus dem engeren Kreiſe der Unbedingten, ein Mann von anerkannter Rechtſchaffenheit, der an den Idealen ſeiner Jugend noch heute feſthält, und ich ſehe nicht ein, warum die nachdrücklichen Ver - ſicherungen des ehrlichen Radikalen, die ohnehin nichts Unwahrſcheinliches enthalten, unglaubhaft ſein ſollen. Das zur Vertheidigung Karl Follens geſchriebene anonyme Büchlein Deutſchlands Jugend in weiland Burſchenſchaften und Turngemeinden (von R. Weſſelhöft) iſt nichts weiter als eine gewandte unaufrichtige Advokatenſchrift.

Mit der Ruhe des guten Gewiſſens trat Sand ſeine Reiſe an und betrachtete unterwegs wißbegierig alle Sehenswürdigkeiten. In Mann - heim fand er ohne Mühe Zutritt bei ſeinem argloſen Opfer, nach einigen gleichgiltigen Worten ſtieß er dem alten Manne plötzlich mit einem wilden Anruf den Dolch in die Kehle. Er war darauf gefaßt, ſich durch Selbſt - mord der Strafe zu entziehen, aber auch die Flucht hielt er ſich bis zu - letzt offen. Erſt da Kotzebue in ſeinem Blute ſchwamm und der kleine Sohn des Ermordeten zu der Leiche des Vaters heranſtürzte, überfiel den Mörder auf einen Augenblick die Scham, und mit unſicherer Hand führte er einen Dolchſtoß gegen ſeine eigene Bruſt dem Sohne gleichſam zum Erſatze , wie er nachher geſtand. Als man den Schwerverwundeten523Ermordnung Kotzebues.feſt nahm, rief er noch laut: Hoch lebe mein deutſches Vaterland und im deutſchen Volke Alle, die den Zuſtand der reinen Menſchheit zu för - dern ſtreben! Neben dem Leichnam fand ſich ein Schriftſtück Todes - ſtoß dem A. v. Kotzebue , darin die Worte: ein Zeichen muß ich Euch geben, muß mich erklären gegen dieſe Schlaffheit, weiß nichts Edleres zu thun als den Erzknecht und das Schutzbild dieſer feilen Zeit, Dich, Ver - derber und Verräther meines Volks, A. v. Kotzebue niederzuſtoßen und dann die blasphemiſchen Verſe Follens: ein Chriſtus kannſt Du werden. Der Burſchenſchaft hatte Sand in einem zu Jena zurück - gelaſſenen und erſt nach der That aufgefundenen Briefe ſeinen Austritt angekündigt, weil er jetzt ausziehen müſſe, um Volksrache zu üben. Auf ſeinem Schmerzenslager im Gefängniß zeigte er die höchſte Standhaftig - keit, unerſchütterlichen Gleichmuth, keine Spur von Reue. In den Ver - hören log er als ein treuer Schüler Follens mit eiſerner Stirn, denn gegen die Knechte der Zwingherren war Alles geſtattet; um Follen zu decken beſchuldigte er ſogar einen ſeiner beſten Freunde, Asmis fälſchlich, daß er ihm das Reiſegeld geliehen habe, und ließ ſich ſelbſt durch die flehentlichen Bitten des Unſchuldigen nicht von ſeiner Verruchtheit abbringen, bis endlich durch andere Zeugen die Wahrheit erwieſen wurde.

Die Unterſuchung wurde mit ſchonender Milde geführt, aber auch mit lächerlichem Ungeſchick, ſo daß die grundſätzliche Verlogenheit der Schwarzen den freieſten Spielraum fand. Namhafte Richter mochten ſich zu dem verhaßten Geſchäfte der Demagogenverfolgung nicht hergeben; da - her mußte man die Unterſuchung faſt überall unfähigen juriſtiſchen Hand - langern anvertrauen, und von dem Wenigen, was überhaupt erwieſen werden konnte, kam nichts an den Tag. Als Follen, der verdächtigſte aller Zeugen, mit dem Mörder confrontirt wurde, verſuchte er bei einer bedenklichen Frage eine jedem Criminaliſten wohlbekannte Liſt: er klagte über die Schwäche ſeines Gedächtniſſes, obwohl der kalte Rechner, der kein Wort unerwogen ſprach, ſicherlich auch keines wieder vergaß, und bat den Freund, ihm zunächſt den ganzen Hergang genau zu berichten, dann werde ihm wohl ſelber das Vergeſſene wieder einfallen. Die Unter - ſuchungskommiſſion ging wirklich in dieſe plumpe Falle, ſie erlaubte dem Angeklagten ſein Märchen ausführlich zu erzählen, und nunmehr wurden auch in Follens Gedächtniß die erloſchenen Erinnerungen plötzlich wieder lebendig, und er erklärte, Sands Darſtellung möge wohl richtig ſein. Die Eltern und der Bruder des Angeklagten verweigerten ihr Zeugniß, und da man in Baden von den Parteibildungen innerhalb der Jenenſer Burſchenſchaft nichts wußte, ſo wurde aus Follens engerem Kreiſe nur noch einer, R. Weſſelhöft vernommen, auch er ein kluger und vorſich - tiger junger Mann. Unter ſolchen Umſtänden konnte die Unterſuchung ihren Zweck allerdings nicht vollſtändig erreichen, wie der Vorſitzende der524II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.Commiſſion, Staatsrath v. Hohnhorſt in ſeinem ſofort veröffentlichten Berichte zugeſtand. Die Mitwiſſer blieben unentdeckt.

Die Kunde von der Beſtrafung des Mannheimer Spottbuben ward in den Kreiſen der Unbedingten mit unverhohlener Freude aufgenommen. Die jungen Leute waren fieberiſch aufgeregt und beriethen ſich insgeheim über neue Tollheiten; jetzt war es an der Zeit, die Mahnung von Karl Follens Bundeslied zu erfüllen:

Nieder reißt der Bosheit Damm,
Der Gewaltherrn ganzen Stamm!

Doch immer wenn ein beſtimmter Vorſchlag auftauchte, regte ſich auch die Stimme des Gewiſſens. Karl Follen rieth ſeinen Jenenſer Freunden, in hellen Haufen nach Mannheim zu ziehen, die Stadt anzu - zünden und den gefangenen Märtyrer zu befreien; aber die Mehrheit widerſprach. Zu Pfingſten kamen Burſchen aus Jena, Gießen, Göttingen in Fritzlar und auf dem Brocken zuſammen, um über einen zweiten Gewaltſtreich zu verhandeln. Man ward nicht einig. Die Beſſeren, wie Heinrich Leo, waren der wüſten Frechheit müde und zogen ſich angeekelt zurück. Auch den Rohen fiel jetzt, nachdem der erſte Rauſch der Schaden - freude verflogen, die kopfloſe Thorheit der Unthat Sands ſchwer auf das Herz; ſie ſahen, wie die Regierungen ſich zur Abwehr rüſteten, wie die Burſchenſchaft ſelbſt mit dem Untergange bedroht war; der alte Ueber - muth wich einer tiefen Entmuthigung.

Nur in Gießen, der Hochburg der Schwarzen, erloſchen die Flammen der revolutionären Leidenſchaft ſo ſchnell nicht. Dort führte Paul Follen, unterſtützt von den älteren Freunden Weidig und Hofmann, das ſchlechte Handwerk ſeines Bruders fort. Um zu vollenden was auf den Pfingſt - verſammlungen mißlungen war, traf er einmal Nachts in einer Dorf - ſchenke mit einem Pfarrer aus der Wetterau und einem jungen Apotheker Löning aus Naſſau zuſammen. Präſident Ibell in Wiesbaden ſollte das nächſte Opfer ſein. Was kümmerte es dieſe Wüthenden, daß Ibell der tüchtigſte und im Grunde auch der liberalſte der naſſauiſchen Beamten war? Er diente den Gewaltherren und hatte zudem ſoeben durch die Abſetzung des ſchwarzen Bruders Snell den Zorn der Unbedingten gereizt. Die drei Mordgeſellen warfen das Loos; da forderte Löning als nächſter Lands - mann Ibells die Blutthat für ſich. *)Nach Paul Follens eigenem Geſtändniß (bei Münch, Erinnerungen S. 60). Zu ergänzen durch die vorſichtigen Andeutungen H. Leo’s (Aus meiner Jugendzeit S. 227)Er war ein geiſtloſer, unwiſſender Menſch, vor Kurzem erſt in Heidelberg unter die Schwarzen gerathen, grade roh genug, um das einleuchtende Evangelium des politiſchen Mordes handgreiflich zu nehmen. Am 1. Juli ließ er ſich, ganz nach Sands Vor - bilde, bei Ibell zum Beſuch anmelden und warf ſich dann plötzlich mit raſender Wuth auf ſein Opfer. Der Stoß ging fehl, Ibell ward nur525Mordanfall auf Ibell.leicht verwundet, ſeine tapfere Frau und andere Herbeieilende retteten ihm das Leben; aber der jähe Schreck erſchütterte den kräftigen Mann der - maßen, daß er bald darauf den Abſchied nehmen mußte und erſt nach Jahren in den ſtaatsmänniſchen Beruf zurückkehren konnte. Der Mörder zeigte im Gefängniß dieſelbe dämoniſche Kraft der Selbſtbeherrſchung wie Sand; um ſeine Genoſſen zu ſichern gab er ſich ſelbſt den Tod auf die gräßlichſte Weiſe, durch verſchluckte Glasſcherben.

Unheimlicher noch als die beiden Blutthaten ſelber war der Eindruck, den ſie in der Nation zurückließen. Zwar von Löning ſprach man ſelten, da Ibell außerhalb Naſſaus wenig bekannt war; den Mörder Kotzebues aber umſtrahlte ein Glorienſchein. Uns Nachlebenden, die wir unbefangen zurückſchauen, erſcheint ein Mord, den ein heißblütiger Jüngling etwa in der Wuth der Eiferſucht oder des gekränkten Ehrgefühls unternimmt, unzweifelhaft menſchlicher, entſchuldbarer mindeſtens, als die ſcheußliche, hohle Selbſtüberhebung jenes unreifen, tief unter der Mittelmäßigkeit ſtehenden Schwärmers, der nie etwas Rühmliches gethan, nie ein geiſt - reiches Wort geſprochen, nie eine ſchwere Verſuchung beſtanden hatte und gleichwohl ſich zum Sittenrichter aufwarf über ſeine Zeit und die Ver - derbniß der Welt durch eine rohe Verletzung der einfachſten ſittlichen Geſetze zu heilen unternahm. Das Einzige, was uns den Abſcheu mildern kann, iſt das Mitleid mit dem verblendeten Thoren, der in ſeinem leeren Kopfe nicht die Waffen fand, um den Irrlehren einer verbrecheriſchen Doktrin zu widerſtehen. Den weiblichen Geiſt beherrſcht das Gefühl, den Geiſt des Mannes der Verſtand; eine unbedeutende Frau kann durch den Adel und die Tiefe ihrer Empfindung das Entzücken ihrer Umgebung werden, ein Mann ohne Verſtand vermag auch nicht fein und ſicher zu empfinden. Nur darum konnte der Unglückliche in gutem Glauben den Namen Gottes bei ſeiner Unthat anrufen, weil ſein armes Hirn nicht einzuſehen ver - mochte, daß der harte Hochmuth ſeiner ſittlichen Weltanſchauung das genaue Gegentheil chriſtlicher Liebe und Demuth war.

Die Zeitgenoſſen urtheilten anders. Die Maſſen des Volkes freilich, denen die Ideale der teutoniſchen Jugend immer fremd blieben, verhielten ſich gleichgiltig. In jenen gebildeten Kreiſen aber, die ſich als die Träger der öffentlichen Meinung fühlten, herrſchte eine Unſicherheit des ſittlichen Urtheils, die zu den traurigſten Verirrungen unſerer neuen Geſchichte zählt. Nicht blos die akademiſche Jugend begrüßte Sands That als ein Zeichen deſſen, was kommen wird und kommen muß . Selbſt reife Männer verglichen den Mörder mit Tell, mit Brutus, mit Scävola. Während die franzöſiſche Preſſe verwundert fragte, wie unter den gewiſſenhaften Deutſchen eine ſolche Banditenthat möglich geworden ſei, citirten deutſche Gelehrte das alte Griechenlied:

Verbirg den Dolch, der dem Tyrannen droht,
Im Myrthenkranze wie Harmodios
526II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.

und der Stralſunder Conrector hielt in der Schule einen Vortrag über die großen Tyrannenmörder der Hellenen. Der im Zeitalter der claſ - ſiſchen Dichtung gepflegte Cultus der freien Perſönlichkeit ſtimmte die öffentliche Meinung empfänglich für die ſophiſtiſche Ueberzeugungsmoral der Unbedingten: Sand ſollte ſchuldlos ſein, weil er wie Jeſus nach ſeiner Ueberzeugung gehandelt habe eine entſetzliche Anſicht, die ſchließlich dahin führen muß, jeden verhärteten Verbrecher frei zu ſprechen und nur den ſchwankenden, deſſen Gewiſſen noch nicht erſtorben iſt, zu verdammen. In Naſſes mediciniſcher Zeitſchrift führte der Irrenarzt Grohmann aus: Sands That hatte nur die äußere, ſcheinbare Form des Meuchelmords; es war offene ausgemachte Fehde, es war die That eines bis zum höchſten Grade der Moralität, der religiöſen Weihe erhöheten und verlebendigten Bewußtſeins.

Auch ein Theolog, der fromme, kindlich liebenswürdige de Wette in Berlin, ſprach ſich in dem gleichen Sinne aus, als ob ein denkendes Weſen nicht auch für ſeine Ueberzeugung verantwortlich ſei. Er hatte den Unglücklichen perſönlich gekannt und fühlte ſich in ſeinem guten Herzen gedrungen, der Mutter einen Troſtbrief zu ſchreiben. Darin gab er wohl zu, daß die That ihres außerordentlichen Sohnes aus Irrthum hervorgegangen und nicht ganz frei von Leidenſchaft ſei. Aber der Irr - thum wird aufgewogen durch die Lauterkeit der Ueberzeugung, die Leiden - ſchaft wird geheiligt durch die gute Quelle, aus der ſie fließt. Er hielt es für recht, und ſo hat er recht gethan; ein Jeder handle nur nach ſeiner beſten Ueberzeugung, und ſo wird er das Beſte thun. So wie die That geſchehen iſt durch dieſen reinen frommen Jüngling, mit dieſem Glauben, mit dieſer Zuverſicht, iſt ſie ein ſchönes Zeichen der Zeit. Ein Jüngling ſetzt ſein Leben daran, einen Menſchen auszurotten, den ſo Viele als einen Götzen verehren; ſollte dieſes ohne alle Wirkung ſein? Bis zu dieſem Uebermaße der Verblendung gingen freilich nur Einzelne; das vor - herrſchende Urtheil in den gebildeten Klaſſen war doch, wie Görres offen ausſprach, Mißbilligung der Handlung bei Billigung der Motive .

Eine ſolche Verwirrung aller ſittlichen Begriffe in einem ernſten Volke würde unbegreiflich ſein, wenn ſie ſich nicht aus der politiſchen Verſtimmung erklärte. Der allgemeine Mißmuth über Deutſchlands Ohnmacht hatte ſich endlich in einem gräßlichen Aufſchrei Luft gemacht; den Patrioten war, als ob der Mörder nur ausgedrückt, was in unzähligen Herzen lebte. Auf Kotzebues Namen laſtete eine ungeheuere, wohlverdiente Ver - achtung. Alle Welt wähnte zudem, daß die deutſche Reaktion von Ruß - land ausgehe, in einem Augenblicke, da der Czar in Wahrheit nur ſehr geringen Einfluß auf Deutſchlands Geſchicke ausübte. In Kotzebue ſahen die Aufgeregten den Vertreter der ruſſiſchen Macht auf deutſchem Boden, obgleich er am Petersburger Hofe gar nichts galt und, nach Kaiſer Alexan - ders beſtimmter, durchaus glaubwürdiger Verſicherung, ſich ſelbſt zur Er -527Widerhall in der Nation.ſtattung ſeiner unnützen literariſchen Berichte freiwillig angeboten hatte. *)Blittersdorffs Bericht, Petersburg 26. Mai 1819.So erſchien Sand wie der Wahrer des deutſchen Hausrechts, ſeine That wie ein feierlicher Proteſt der Nation gegen eine eingebildete Fremdherr - ſchaft. Dann ſteigerte noch die unvermeidliche humane Grauſamkeit der modernen Rechtspflege das menſchliche Mitleid mit dem Gefangenen. Unter furchtbaren Schmerzen wurde ihm durch die Kunſt der Aerzte das Leben noch über ein Jahr lang gefriſtet, bis endlich der berühmte Heidel - berger Mediciner Chelius, nach ſeiner Pflicht, aber unter den Zornrufen der teutoniſchen Jugend, den Ausſpruch that, daß Sand die Hinrichtung aushalten könne. Schon in den erſten Wochen war das Gefängniß von aufgeregten Volkshaufen umringt. **)Varnhagens Bericht, 27. März 1819.Je länger die Unterſuchung währte, um ſo lauter äußerte ſich die Theilnahme für den frommen Dulder, der unbeugſam in ſeinem Wahne, alle Qualen mit ſtoiſcher Ruhe ertrug.

Selbſt der Scharfrichter, ein warmherziger pfälziſcher Patriot, ver ehrte Sand als einen Helden der nationalen Idee, bat ihn im Voraus um Verzeihung, empfing ſeine letzten Aufträge und ſchenkte dann den Stuhl, der zur Hinrichtung gedient, einem Heidelberger Geſinnungsgenoſſen ins Haus, wo das Heiligthum als ein theueres Vermächtniß von Kindern und Kindes - kindern bewahrt wurde. Aus den Balken des Schaffots aber baute er ſich ein Weinbergshäuschen in ſeinem Rebgarten, an der ſonnigen Ecke des Rhein - und Neckarthals bei Heidelberg; noch lange Jahre nachher haben dort die Heidelberger Burſchenſchafter in Sands Schaffot, als Gäſte ſeines Henkers, ihre geheimen Zuſammenkünfte gehalten. ***)Nach einer Aufzeichnung von Hrn. Prof. G. Weber in Heidelberg.Am 20. Mai 1820 wurde die Hinrichtung auf einer Wieſe vor den Thoren Mannheims vollzogen; die Burſchen aus Heidelberg waren in Schaaren herübergekommen und ließen abends in ihrer Muſenſtadt manch kräftiges Pereat auf König Friedrich Wilhelm erſchallen. Die mit dem Blute des heiligen Sand beſpritzten Späne wurden eifrig gekauft, und die Stätte ſeines Todes hieß im Volke Sands Himmelfahrtswieſe .

Was die liberale Preſſe über die beiden Mordthaten ſagte, lief auf mehr oder minder verſteckte Anklagen gegen die Regierungen hinaus. Eine anonyme Schrift Betrachtungen über die Ermordung Kotzebues pries gradezu die heilſame Wirkung der That Sands und ſchrieb alle Schuld den Kronen zu. Görres ſchilderte in Börnes Wage mit myſtiſchem Wortſchwall die göttliche Fügung, welche die alte und die neue Zeit ein - ander habe blutig begegnen laſſen, und legte dann im Sommer, als die Demagogenverfolgung bereits begonnen hatte, die neueſten Einfälle ſeines beweglichen Kopfes in einem Buche Deutſchland und die Revolution nieder, einer Schrift, die auf die Maſſe der Leſer nur aufreizend wirken528II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.konnte. Ueber den vielen geheimen Verſchwörungen, ſo begann er, über - ſieht man die eine große, die murrend an jedem Heerde ſitzt, auf Märkten und Straßen ſich laut ausſpricht. Dann folgte ein Schauergemälde der neuen deutſchen Geſchichte: ſeit drei Jahrhunderten Alles nur ein Welken, eine Dürre; das Ganze ruht, nachdem Liebe und Vertrauen geſtorben ſind, einzig auf dem Inſtinkt des Gehorſams. Von beſtimmten Gründen des deutſchen Elends wußte er freilich nur zwei anzugeben: die Vernich - tung des alten Kaiſerthums der Habsburger und die ſtehenden Heere, dieſe Müßiggänger, die den Staat im Frieden ausſaugen, im Kriege ihn unvertheidigt laſſen. Wer ſchärfer hinſah, konnte leicht erkennen, daß der phantaſtiſche Mann, der ſich auch diesmal wieder als Wortführer der preußiſchen Rheinlande gebärdete, ſchon im Begriffe ſtand mit Sack und Pack in das ultramontane Heer einzutreten. Unter den wenigen erfreulichen Zeichen der Zeit pries er vor Allem das bairiſche Concordat, das nur den einen Fehler habe, dem Staate noch allzu große Rechte zu - zugeſtehen. Daher urtheilten Gentz und Adam Müller ſehr freundlich über das wunderliche Buch. Für die preußiſche Rheinprovinz aber war Niemand gefährlicher als ein demagogiſcher Kapuziner, und König Friedrich Wilhelm wußte wohl, warum er dieſe Schrift als einen Verſuch, die Rheinländer gegen den preußiſchen Staat aufzuwiegeln betrachtete.

Während alſo eine unklare, zielloſe, ingrimmige Erbitterung in den gebildeten Klaſſen ſich zeigte, geriethen im Verlaufe des Sommers mit einem male auch die Maſſen in Unruhe. Der alte Raſſenhaß wider die Juden und der Groll über die ſchweren Wucherſünden der jüngſten Jahre brachen furchtbar aus; in Würzburg, in Karlsruhe, Heidelberg, Darm - ſtadt, Frankfurt rottete ſich der Pöbel zuſammen, ſtürmte einzelne jüdiſche Häuſer, mißhandelte die Bewohner. Weithin durch die germaniſche Welt, bis nach Kopenhagen und Amſterdam hinauf pflanzte ſich die Bewegung fort. Es ſchien, als ob der alte Volksaberglaube Recht behielte und der große Komet, der in dieſem heißen Sommer leuchtend am Himmel ſtand, Unheil und Verwirrung über die Welt brächte. Da und dort haben ſich wohl einzelne teutoniſche Burſchen an dem Unfug betheiligt, und der Spottruf Hephep, der damals zuerſt erklang, ſcheint in gelehrten Kreiſen entſtanden zu ſein (er ſollte bedeuten: Hierosolyma est perdita). Gleich - wohl iſt ein Zuſammenhang zwiſchen den chriſtlich-germaniſchen Träumen der Burſchenſchaft und jenen wüſten Ausbrüchen einer lange verhaltenen Volksleidenſchaft weder nachweisbar noch wahrſcheinlich; die politiſchen Ideen der akademiſchen Jugend blieben den Maſſen unverſtändlich, in Heidelberg ſchaarten ſich ſogar die Studenten unter Thibauts Führung zuſammen, um die Juden mit Lebensgefahr gegen den wüthenden Pöbel zu vertheidigen. Die Regierungen aber, erſchreckt wie ſie waren, ſahen in dieſen Tumulten nur einen neuen Beweis für die geheime Wirkſam - keit einer revolutionären Partei. In höchſter Angſt befahl Metternich dem529Die Judenverfolgung.Grafen Buol, nach Verabredung mit den zu Karlsbad verſammelten Staatsmännern: nöthigenfalls müſſe der Bundestag ſelbſt aus den be - nachbarten Garniſonen Truppen herbeirufen, da der Frankfurter Senat ſich gegen die Unruhſtifter allzu ſchwach zeige.*)Metternich an Buol, 14. Aug.; Bernſtorff an Goltz, 15. Aug. 1819.

Wer die anſteckende Kraft des politiſchen Verbrechens kennt, wird nicht beſtreiten, daß die Kronen, nach Allem was geſchehen, ſo berechtigt wie verpflichtet waren, durch eine ſtrenge Unterſuchung die letzten Gründe der beiden Gewaltthaten zu erforſchen und gegen einige Schriftſteller, welche den Meuchelmord offen vertheidigten, ſcharf einzuſchreiten. Da beide Mörder den Unbedingten angehörten, ſo war auch die Schließung der Burſchenſchaft mindeſtens für einige Zeit unvermeidlich. Aber nur ein muthiges, feſtes, ruhiges Auftreten der Regierungen konnte die halt - loſe öffentliche Meinung wieder zur Beſinnung bringen, und von ſolcher ſtaatsmänniſchen Sicherheit zeigte ſich an den deutſchen Höfen keine Spur. Es giebt finſtere Zeiten, in denen ſelbſt edle Völker wie von einer epide - miſchen Geiſteskrankheit ergriffen ſcheinen. So glaubte einſt unter Karl II. ganz England ſteif und feſt an die eingebildete papiſtiſche Verſchwörung; ſo unterlagen jetzt faſt ſämmtliche deutſche Regierungen einem finſteren Verfolgungswahne. Die beiden räthſelhaften Verbrechen, die aufgeregte Sprache der Zeitungen, unter denen namentlich die Iſis und die Neue Stuttgarter Zeitung ſich ſehr thöricht äußerten, die ſtürmiſchen Verhand - lungen der beiden erſten Landtage, dies Alles im Verein ſtimmte die kleinen Höfe ängſtlich, und dazu das dunkle Gefühl, daß die Nation wahrlich keinen Grund hatte, ſich der Wiener Verträge zu freuen.

Am Beſorgteſten äußerten ſich grade die ſüddeutſchen Höfe, die in der Preſſe als Träger des conſtitutionellen Gedankens gefeiert wurden. König Wilhelm von Württemberg ſendete dem Petersburger Hofe eine ſo finſtere Schilderung von der revolutionären Geſinnung der deutſchen Jugend, daß Stourdza laut triumphirte und ſelbſt der hochconſervative Blittersdorff dieſen Hilferuf eines deutſchen Fürſten an das Ausland ver - ächtlich fand. **)Blittersdorffs Berichte, Petersburg 26., 30. April 1819.Der Münchener Hof wendete ſich ſofort an Oeſterreich und Preußen, bat dringend um gemeinſame Maßregeln gegen die Uni - verſitäten, ließ einige Lehrer, welche ihre Freude über Kotzebues Tod aus - geſprochen haben ſollten, ohne Weiteres ſuspendiren, und da Sand ſeinem Könige aus dem Kerker ſagen ließ, er habe für ſich nichts zu fürchten, ſo zog der furchtſame Max Joſeph daraus den Schluß, daß offenbar gegen andere deutſche Fürſten gottloſe Abſichten gehegt würden. ***)Kruſemarks Bericht, 21. Mai; Zaſtrows Berichte, 14. April, 4. Aug.; Mini - ſterialſchreiben an Zaſtrow, 23. April 1819.Vollends die badiſche Regierung, in deren Lande das Verbrechen geſchehen war,Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 34530II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.hegte ganz abenteuerliche Vorſtellungen von dem Umfang der demagogi - ſchen Umtriebe, wie der neu aufkommende amtliche Ausdruck lautete. Sie hatte aus der Unterſuchung einiges Halbwahre gelernt; ſie glaubte zu wiſſen, daß in der Burſchenſchaft ein geheimer Verein beſtehe, deſſen Hauptmotto Tyrannenmord ſei, und der in der Nähe von Gießen bei einem gewiſſen Follenius ſeinen Centralpunkt habe . Doch ſie erfuhr nicht, wie klein und machtlos die Schaar der Unbedingten war; ſie wähnte, die deutſchen Landtage wollten mit einander in Verbindung treten, ein deutſches Parlament neben den Bundestag ſtellen und dann die untheil - bare deutſche Republik ausrufen. Mit inbrünſtigem Danke empfing daher Miniſter Berſtett die hochgefällige Mittheilung der höchſtweiſen Anſichten Sr. Maj. des Kaiſers , als Metternich ihm ſchrieb, der öſterreichiſche Hof ſei entſchloſſen, nunmehr mit Ernſt gegen die Profeſſoren und die verworfenen Schriftſteller einzuſchreiten, welche der Jugend ihre revolu - tionären Grundſätze in jeder Art und Form täglich bis zur Trunkenheit einprägten . Sofort befahl er dem badiſchen Bundesgeſandten, ſich die Vor - ſchläge Oeſterreichs zur Richtſchnur zu nehmen, und erklärte dem Peters - burger Cabinet: wir wollen bis an die Quelle jener hölliſchen Wühlerei vordringen, die auf nichts Geringeres als auf den Umſturz aller gött - lichen und menſchlichen Einrichtungen ausgeht; wir wollen den Despo - tismus unterdrücken, welchen die Herren Profeſſoren unter der Aegide einer unerfahrenen und allzu leicht erregbaren Jugend über die politiſchen Meinungen Deutſchlands auszuüben ſuchen. *)Metternich an Berſtett, 17. April; Berſtett an Neſſelrode, 9. Mai, an Metternich, 29. Mai 1819.

Weit folgenreicher ward der Umſchwung der Meinungen am Berliner Hofe. Wie alle wichtigen Entſchlüſſe dieſer Regierung, ſo ging auch die reaktionäre Wendung des Jahres 1819 von dem Monarchen perſönlich aus. Jene Aachener Denkſchrift Metternichs begann ihre Früchte zu tragen. Der König ward täglich unzufriedener mit ſeinem Staatskanzler und deſſen kurioſer Umgebung; er ſchloß aus den thörichten Artikeln liberaler Blätter, welche ihm Wittgenſtein gefliſſentlich zutrug, auf das Daſein einer mächtigen Verſchwörung und ſprach dem Hofbiſchof Eylert ſeinen Dank aus, als dieſer beim Ordensfeſte in einer donnernden Rede den rebelliſchen Geiſt der Zeit brandmarkte. Als nun Sands That kund wurde und der Mord ſo viele verblendete Vertheidiger fand, da fühlte ſich der gewiſſenhafte Monarch in ſeinen heiligſten Empfindungen verletzt; er hielt es für Fürſtenpflicht mit unnachſichtiger Strenge einzuſchreiten, gab den Polizeibehörden außerordentliche Vollmachten (4. Mai) und ſetzte dann noch eine Miniſterial-Commiſſion ein zur Leitung der Unterſuchungen gegen die Demagogen. Den in Jena ſtudirenden Preußen befahl er dieſe Univerſität zu verlaſſen, und obgleich die jungen Leute anfangs viel von531Angſt der Regierungen.einem heroiſchen Widerſtande gegen den tyranniſchen Befehl redeten, ſo gehorchten doch als die Friſt ablief alle bis auf den letzten Mann.

Selbſt dieſe Erfahrung brachte den König nicht auf die Frage, ob der Geiſt der Widerſetzlichkeit in der akademiſchen Welt wirklich ſo mächtig ſei. Er meinte jetzt Alles durch den Erfolg beſtätigt zu ſehen, was ihm Metter - nich über die Umtriebe der im Dunkeln ſchleichenden Partei geſagt hatte; er verweigerte der neuen Turnordnung, die ihm zur Vollziehung vorlag, ſeine Unterſchrift, ließ in Weimar wie in Karlsruhe dringend zur Strenge rathen, da die unſeligen Verirrungen der Univerſitäts-Jugend einen wahrhaft furchtbaren Grad erreicht haben , und befahl dem Grafen Bernſtorff, mit dem öſterreichiſchen Geſandten Zichy, der ſofort durch Kurier Weiſung erhalten hatte, wegen außerordentlicher Bundesbeſchlüſſe zu verhandeln. *)Bernſtorff an Varnhagen, 23. April; Kruſemarks Bericht, 16. April; Weiſungen an Kruſemark, 17. Mai, 15. Juni 1819.Mit flammendem Eifer ſtürzte ſich, von Wittgenſtein unterſtützt, der neue Direktor des Polizeidepartements, Geh. Rath Kamptz, in die Unterſuchungen; als geborner Mecklenburger an ein todtenſtilles öffentliches Leben gewöhnt, ſcheint er in der That an die große Verſchwörung geglaubt zu haben, obſchon er zugleich ſeine Rachgier an ſeinen literariſchen Gegnern kühlen wollte. An ihn drängte ſich ſogleich eine Rotte verwor - fener Menſchen, wie ſie in der Sumpfluſt des Mißtrauens und des Ver - dachtes zu gedeihen pflegen: die Räthe Tzſchoppe, Grano, Dambach, ge - meine Ehrgeizige, die das Handwerk der Verfolgung mit dem Eifer eines Schweißhundes trieben.

Derweil die deutſchen Höfe alſo von blindem Schrecken überwältigt wurden, ſchwelgte Metternich im Gefühle befriedigter Eitelkeit: wieder einmal hatte er Alles vorausgewußt, die teufliſchen Pläne der Verwor - fenen, die von deutſcher Einheit träumten, waren aufgedeckt; nun galt es die Angſt der deutſchen Kronen auszubeuten, der Sache die beſte Folge zu geben, die möglichſte Partie aus ihr zu ziehen. Kaiſer Franz bereiſte in dieſem Frühjahr die italieniſchen Höfe. Metternich, der ſich nebſt dem preußiſchen Geſandten Kruſemark im Gefolge des Monarchen befand, ſendete ſeiner Gemahlin aus Rom und Neapel Reiſeberichte, welche auf unbefangene Leſer etwa den Eindruck machen, als ob ein wißbegieriger Kaufmannsdiener ſie geſchrieben und der ſelige Baron Münchhauſen einige hiſtoriſch-ſtatiſtiſche Berichtigungen hinzugefügt hätte. Seinen Kunſt - ſinn bethätigte er durch Begönnerung einiger franzöſiſcher und engliſcher Modemaler. Dagegen ward die Ausſtellung, welche die deutſchen Maler zu Ehren des Kaiſers im Palazzo Caffarelli veranſtaltet hatten, kaum eines Blickes gewürdigt; mit dem hochfliegenden Idealismus dieſer Naza - rener wußten die Wiener nichts anzufangen, auch trugen die Künſtler von S. Iſidoro lange Haare und altdeutſche Röcke; was ſie ungeachtet ihrer34*532II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.katholiſchen Geſinnung in den Augen des Kaiſers hochverdächtig erſcheinen ließ. Der politiſche Zweck der Reiſe wurde ſcheinbar erreicht. Kaiſer Franz ſah ſich überall von der höfiſchen Welt als der Protector Italiens begrüßt, wohnte im Vatikan als Gaſt des Papſtes, der den Beherrſcher der erſten katholiſchen Macht mit Ehrenbezeigungen überſchüttete und den Erzherzog Rudolf mit dem Cardinalspurpur ſchmückte. Dies genügte, um Metternichs Urtheil zu beſtimmen; warum hätte er ſich auch über die römiſchen Verhältniſſe bei dem preußiſchen Geſandten Niebuhr unter - richten ſollen, der trotz ſeinen conſervativen Neigungen, trotz ſeiner Ach - tung für die Milde des Papſtes und die Klugheit des Cardinals Con - ſalvi raſch zu der Einſicht gelangt war, daß die ewige Stadt unter Na - poleon ſich weit glücklicher befunden hatte, als unter der wiederhergeſtellten Prieſterherrſchaft? Der öſterreichiſche Staatsmann fand die Zuſtände im Kirchenſtaate ganz vortrefflich, die neapolitaniſchen Lazzaroni unter dem Segen der Bourbonenherrſchaft hundertmal civiliſirter als vor zwanzig Jahren . Daß die ſchreienden aber muthloſen Italiener jemals eine Schild - erhebung wagen könnten, erklärte er für ganz unmöglich kaum ein Jahr bevor die Revolution in Neapel und Piemont zugleich ausbrach.

Die nämliche Sicherheit ſtaatsmänniſchen Blickes bewährte er bei der Beurtheilung der deutſchen Dinge. Dies ermüdete Volk ſchien ihm längſt überreif zur Revolution; ich ſtehe dafür, ſchrieb er ſeiner Ge - mahlin, die Welt befand ſich im Jahre 1789 in voller Geſundheit, ver - glichen mit ihrem heutigen Zuſtande! Schon nach dem Wartburgfeſte hatte er mit den ſüddeutſchen Geſandten mehrfach die Frage erwogen, ob man nicht in Wien ein gemeinſames Foyer zur Beobachtung der deutſchen Revolution errichten ſolle. Jetzt kam ein Hilferuf nach dem an - deren von den kleinen Höfen; alle klagten ihre eigene Sorgloſigkeit an und bewunderten den durchbohrenden Scharfblick des großen Staatsmannes, der allein die ruchloſen Abſichten der Burſchen von vornherein durch - ſchaut hatte. Wie hätte der eitelſte der Menſchen ſich jetzt vor wahn - ſinniger Selbſtberäucherung bewahren ſollen? Seit der einzige Rieſe des achtzehnten Jahrhunderts dahingegangen war er meinte wohl Fried - rich II. fand Metternich das Menſchengeſchlecht bis zur Erbärmlich - keit klein. Mein Geiſt, ſo geſtand er, begreift nichts Enges; ich beherr - ſche ein unendlich weiteres Gebiet, als die anderen Staatsmänner ſehen oder ſehen wollen. Ich kann mich nicht enthalten, mir zwanzigmal am Tage zu ſagen: guter Gott, wie ſehr habe ich recht, und wie ſehr haben ſie unrecht! Und wie leicht iſt es doch, dies ſo klare, ſo einfache, ſo natürliche Rechte zu finden! So trat der idealiſtiſchen Anmaßung der deutſchen Jugend der kalte Dünkel eines Weltmannes entgegen, der nie - mals für eine Idee ſich erwärmt, niemals über eines der großen Cultur - intereſſen der Menſchheit nachgedacht hatte, der die gemeinſte der menſch - lichen Leidenſchaften, die Angſt als ſeinen natürlichen Bundesgenoſſen533Metternich in Italien.betrachtete und mitten in den Thorheiten polizeilicher Verfolgungsſucht ſich noch einbildete, ein weiſer Vertreter ſtaatsmänniſcher Mäßigung zu ſein: die heilige Mittellinie, auf der die Wahrheit ſteht, iſt nur Wenigen vorbehalten.

Ohne nach Beweiſen auch nur zu fragen, hielt er für ausgemacht, daß die Jenenſer Vehme ihre Mordgeſellen nach dem Looſe über Deutſch - land ausſende; gegen eine ſo furchtbare Verſchwörung reichte die Macht der einzelnen deutſchen Staaten nicht aus. Darum gab Metternich eine ausweichende Antwort, als König Max Joſeph auch den Wiener, wie den Berliner Hof wegen der Aufhebung der bairiſchen Verfaſſung befragte. Durch das gemeinſame Handeln aller Bundesſtaaten, unter Oeſterreichs Führung ſollten die Preſſe, die Univerſitäten, die Kammern geknebelt werden; mit Gottes Hilfe hoffe ich die deutſche Revolution zu ſchlagen, ganz ſo wie ich den Eroberer der Welt beſiegt habe! An ſeinem Mon - archen fand er einen feſten Rückhalt. Kaiſer Franz wollte, wie immer, Ruhe haben; nimmermehr durfte das Stillleben ſeiner Preſſe, ſeiner Poſtulatenlandtage und jener Schulen, die man im alten Oeſterreich Univerſitäten nannte, durch die Tollheiten der deutſchen Nachbarn geſtört werden. Er billigte aus ganzer Seele die Theorie ſeines Miniſters, daß jeder Bundesfürſt Felonie gegen den Bund begehe, wenn er der Preſſe Freiheiten geſtatte, die bei der Gemeinſamkeit der Sprache auch das deutſche Oeſterreich anſtecken konnten. Mit cyniſcher Offenheit ſprach er aus, daß man die Furcht dieſer ſchwachen Regierungen benutzen müſſe, und bevollmächtigte ſeine Staatsmänner, nöthigenfalls mit dem Austritt Oeſter - reichs aus dem Bunde zu drohen.

Preußen war endlich gewonnen. Auf die alten Freunde, die Hoch - torys von England-Hannover, durfte man ſich verlaſſen, da Graf Münſter zu den feſten Stützen der reaktionären Politik zählte und das engliſche Parlament ſich um Deutſchlands innere Angelegenheiten ſelten bekümmerte. Auch von Rußland ſtand kein Widerſpruch zu befürchten. Zwar Kapo - diſtrias, der gerade in einem italieniſchen Bade verweilte, erſchien den Oeſterreichern noch immer hochverdächtig, er hatte ſoeben eine Einladung Metternichs ausgeſchlagen, weil er peinliche Auseinanderſetzungen ver - meiden wollte. Aber die Anſichten des Griechen galten in jenem Augen - blicke am Petersburger Hofe wenig neben den Rathſchlägen Neſſelrodes, der immer mit Metternich übereinſtimmte und den deutſchen Geſandten beharrlich wiederholte: unbegreiflich, daß eine ſo geiſtvolle Nation die ge - fährliche Ausnahmeſtellung ihrer Univerſitäten fortbeſtehen laſſe! Um ein Uebriges zu thun, ſchrieb Kaiſer Franz perſönlich an den Czaren, ſprach ihm wegen der Ermordung Kotzebues ſein Beileid aus, und beſchwerte ſich zugleich über den Erzieher Alexanders, Laharpe, weil dieſer in Italien den Namen ſeines kaiſerlichen Zöglings mißbrauche, die römiſchen Unzu - friedenen im Namen Rußlands aufſtachele. Dieſer kaiſerlichen Denun -534II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.ciation wollte der Czar freilich keinen Glauben ſchenken; die deutſchen Zuſtände aber beurtheilte er wie Neſſelrode. Er empfand den Ruſſenhaß, der aus den Angriffen der Jenenſer gegen Kotzebue und Stourdza ſprach, wie eine perſönliche Beleidigung und tadelte lebhaft, daß Karl Auguſt die Unterſuchungen gegen die Demagogen ſo ſchlaff betreibe. *)Kruſemarks Berichte, 21. Mai, 30. Juni; Blittersdorffs Berichte, Petersburg 21. April, 30. Mai 1819.Genug, der öſterreichiſche Hof hatte völlig freie Hand für den Kampf wider die deutſche Revolution.

Eine Zeit lang ſchien es, als ob der erſte Schlag durch den Bundes - tag geführt werden ſollte. Bei allem Wohlwollen hatte Großherzog Karl Auguſt nach Sands That ſeiner Hochſchule einige harte Maßregeln nicht erſparen können. Er befahl eine ſtrengere Handhabung der Disciplin und ſchritt endlich, da die Iſis in ihrem Toben fortfuhr, auch gegen Oken ein. Der Senat mußte, nachdem er ſich vergeblich dawider verwahrt, dem ehrlichen Polterer die Wahl ſtellen, ob er auf ſein Lehramt verzichten oder die Zeitſchrift aufgeben wolle. Da Oken nach ſeiner Weiſe erwiderte, er habe darauf keine Antwort, ſo wurde er unter lebhaften Beileidsbe - zeigungen ſeiner Amtsgenoſſen entlaſſen. Sein Blatt mußte bald darauf nach Leipzig überſiedeln; er ſelbſt verſuchte ſich in Würzburg niederzu - laſſen, was auf unmittelbaren Befehl des Königs verboten wurde,**)Zaſtrows Bericht, 9. Okt. 1819. und verbrachte dann einige Zeit in gelehrten Arbeiten zu Paris, der erſte Flücht - ling der deutſchen Bewegung. Um Aergeres zu verhüten und ſein Jena gegen ungerechte Angriffe zu vertheidigen, ließ der Großherzog inzwiſchen am Bundestage eine Vereinbarung über gemeinſame Grundſätze der akade - miſchen Disciplin beantragen. Aber niemals, fügte der Geſandte v. Hendrich hinzu, dürften die Univerſitäten, welche Graf Buol ſelber in ſeiner Er - öffnungsrede ein ſtolzes Denkmal deutſcher Entwicklung genannt habe, in Schulen umgewandelt werden: auch Freiheit der Meinungen und der Lehre muß ihnen verbleiben; denn im offenen Kampfe der Mei - nungen ſoll hier das Wahre gefunden, gegen das Einſeitige, gegen das Vertrauen auf Autoritäten ſoll hier der Schüler bewahrt, zur Selbſtän - digkeit ſoll er erhoben werden. Daran ſchloß ſich eine warme Verthei - digung der Studenten: in ihrer Burſchenſchaft hätten ſie die ſchöne Idee der Einigkeit der Deutſchen verwirklichen wollen; die man im Kriege als Wehrhafte gebraucht habe dürfe man nicht ſogleich wieder als Un - mündige behandeln. Zugleich hatte der Großherzog einen eigenen Bevoll - mächtigten, Geh. -Rath Conta, nach Frankfurt geſchickt um mit den Ge - ſandten der anderen Staaten, welche Univerſitäten beſaßen, das Nähere zu verabreden. ***)Goltz’s Bericht, Frankf. 17. Mai;[Blittersdorffs] Bericht, Petersburg 8. Mai 1819.

Mit Entſetzen vernahmen Gentz und Neſſelrode die verwegene Sprache535Antrag Weimars wegen der Univerſitäten.des Fürſten, der in ſolchem Augenblicke noch wagte, den freien Kampf der Meinungen, die Einheitsträume der deutſchen Burſchen zu vertheidigen. Metternich aber meinte: Mit Verachtung ſtraft man den Altburſchen nicht, er iſt ſie gewöhnt. In ſolchem Tone wagte jetzt ein öſterreichiſcher Staatsmann von dem berühmteſten Manne des deutſchen Fürſtenſtandes zu reden; die Zeiten des Friedländers drohten ſich zu erneuern. Graf Buol erhielt demnach Befehl, ſich auf die Berathung des Weimariſchen Antrags einzulaſſen, um dann einen Gegenantrag durchzuſetzen, welchen Gentz nach Adam Müllers Ideen ausgearbeitet hatte, ein Meiſterſtück poli - zeilicher Seelenangſt. Die Reformpläne des Hauſes Oeſterreich für Deutſch - lands Hochſchulen liefen weſentlich auf zwei Vorſchläge hinaus: es ſollten die Studenten jeder Ausnahmeſtellung verluſtig gehen und auch in Dis - ciplinarſachen ausſchließlich der bürgerlichen Polizei unterworfen werden, da dieſe durch die Stiefelputzer und ähnliche Leute die Vergehen des jungen Volks am leichteſten erfahren könne; ferner ſollten alle deutſchen Regie - rungen ſich verpflichten, keinen akademiſchen Lehrer, der wegen gefähr - licher Lehren abgeſetzt worden ſei, jemals wieder anzuſtellen. Auf dieſen letzteren Punkt kam es der Hofburg vornehmlich an. Gentz leitete alle Sünden der Jugend kurzweg von den ruchloſen Lehren ihrer Profeſſoren her und verſicherte mit eiſerner Stirn, ganz unzweifelhaft ſeien Oken, Fries, Luden und Kieſer die eigentlichen Mörder Kotzebues. Kaiſer Franz, mißtrauiſch gegen Alles was über ſeinen Geſichtskreis hinauslag, war der - ſelben Anſicht; er ließ an allen Höfen die Annahme des k. k. Antrags dringend empfehlen und den König von Preußen perſönlich um ſeine freundſchaftliche Unterſtützung bitten. *)Kruſemarks Bericht, 21. Mai 1819.

Aber die Langſamkeit der regelmäßigen Bundesverhandlungen bot doch einige Gewähr gegen Ueberraſchungen. Als die übliche Inſtruktionseinho - lung begann und die Regierungen die ſchwierige Frage reiflich erwogen, da zeigte ſich wieder, wie wenig das Oeſterreich Metternichs mit der deutſchen Cultur gemein hatte. Nur die mediciniſchen Facultäten Oeſterreichs ge - noſſen der vollen Lehr - und Lernfreiheit deutſcher Hochſchulen. In Berlin dagegen empfand man lebhaft, wie leicht ein Gewaltſchritt gegen die aka - demiſche Freiheit alle Grundlagen der deutſchen Bildung zerſtören könne. Selbſt der furchtſame Ancillon mochte den deutſchen Gelehrten doch nicht ganz verleugnen und gab der Hofburg zu bedenken: dies Alles iſt für uns ſchwerer als für Oeſterreich, da wir große Univerſitäten beſitzen, die nur Lehr - nicht Erziehungs-Anſtalten ſind und nur in Freiheit gedeihen können. **)Ancillon, Weiſung an Kruſemark, 15. Juni 1819.Eichhorn, der ſeit einem Jahre den Vortrag über die deutſchen Angelegenheiten im Auswärtigen Amte erhalten hatte, verfaßte für den Bundestag eine geiſtvolle Denkſchrift (10. Juli), die ſich zwar über den536II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.Dünkel des jungen Geſchlechts nicht ganz ſo nachſichtig äußerte wie Groß - herzog Karl Auguſt, aber mit den praktiſchen Vorſchlägen des Weima - riſchen Antrags faſt vollſtändig übereinſtimmte. Er fand die weſentlichen Inſtitutionen der deutſchen Hochſchulen, wie ſie ſich hiſtoriſch entwickelt hätten, durchaus geſund; er warnte die Regierungen vor dem Verſuche, durch Drohungen und Ermahnungen in dieſe Welt der Freiheit einzu - greifen: die Aeußerung einer Regierung muß zugleich That ſein; er wagte ſogar den einfachen, in jenem Augenblicke ſehr kühnen Gedanken auszuſprechen, ob man nicht die akademiſchen Verbindungen unter gewiſſen Vorbehalten gradezu erlauben ſolle, da die zahlloſen Verbote ſeit Jahr - hunderten doch nichts geholfen hätten, und erklärte ſich endlich ſehr nach - drücklich gegen den Vorſchlag, daß ein entlaſſener Profeſſor niemals wieder angeſtellt werden dürfe: genug, wenn die Regierungen einander die Gründe ſolcher Entlaſſungen gewiſſenhaft mittheilten, einen Verderber der Jugend werde doch ſicher kein deutſcher Fürſt in ſeine Dienſte ziehen wollen. In der Commiſſion des Bundestags drang Preußen allerdings nicht mit allen ſeinen Vorſchlägen durch; der Antrag Oeſterreichs auf Nichtwieder - anſtellung der entlaſſenen Profeſſoren wurde von Baiern, Hannover und Baden gegen Preußens Widerſpruch angenommen. Im weiteren Verlauf der Verhandlungen aber begegnete Oeſterreich überall der Abneigung des Partikularismus, der nirgends ſo wohl berechtigt iſt wie auf dem Gebiete des akademiſchen Lebens. Selbſt dieſe ängſtlichen kleinen Kronen wollten ſich die Eigenart ihrer Hochſchulen nicht ganz verkümmern laſſen und verſtanden ſich nur zu wenigen gemeinſamen Vorſchriften; ihr Widerſtand war um ſo ſchwerer zu beſiegen, da das Univerſitätsweſen unzweifelhaft nicht zur Competenz des Bundes gehörte.

Metternich fühlte, daß er durch den Bundestag nie zu ſeinem Ziele gelangen konnte; ohnehin hatte der anarchiſche Zuſtand der Frankfurter Verſammlung ſchon längſt den Unwillen des Wiener Hofes hervorgerufen. Graf Buol mit ſeiner Gedankenarmuth, ſeiner taktloſen Heftigkeit ver - mochte die Verſammlung nicht zu leiten. Der gutmüthige Goltz zeigte ſich ſeiner Stellung ebenſo wenig gewachſen, er hatte ſoeben wegen einer un - geſchickten Indiskretion ſeine Abberufung erhalten und nur mit Mühe die Verzeihung ſeines Hofes wieder erlangt. *)Goltz’s Bericht an den König, 9. März 1819.So konnte es geſchehen, daß einige Geſandte der kleineren Staaten, Wangenheim, die beiden Heſſen Harnier und Lepel, der Bremer Smidt u. A., insgeheim unterſtützt durch den liſtigen Baiern Aretin, eine liberale Oppoſitionspartei bildeten, welche in einer Diplomatenverſammlung durchaus unberechtigt war, weil ſie ſich nicht auf die Inſtruktionen der Höfe, ſondern lediglich auf die perſönlichen Ueberzeugungen der Geſandten ſtützte. Nicht ohne Uebermuth pflegten dieſe Kleinen in den Commiſſionsſitzungen den Geſandten der beiden Groß -537Metternichs Plan für die Karlsbader Conferenzen.mächte die Ueberlegenheit ihrer Bildung und ihrer Redefertigkeit zu zeigen. Die Liberalen waren zugleich die Vorkämpfer des Partikularismus, un - erſchöpflich in Schlichen und Ränken um die Vollendung der Bundes - kriegsverfaſſung zu verhindern; eben jetzt zeigte Wangenheim ſeinen Ge - noſſen unter der Hand eine von ſeinem Könige eigenhändig niedergeſchrie - bene Denkſchrift, welche, ganz im Sinne des Rheinbundes, die deutſchen Souveräne gegen die militäriſche Dictatur der beiden Großmächte ſo ge - häſſig aufzuwiegeln verſuchte, daß Oeſterreich und Preußen in Stuttgart ernſte Vorſtellungen machen mußten. *)Kruſemarks Bericht, 11. Jan. 1819.

Raſche, durchgreifende Entſchlüſſe, wie ſie der Wiener Hof brauchte, waren von dieſer Verſammlung nicht zu erlangen. Daher rieth Gentz ſchon im April, man ſolle zunächſt eine vertrauliche Verſtändigung mit den größeren Höfen herbeiführen, und Metternich ging auf den Vorſchlag ein, ſobald er von dem ſchleppenden Gange der Frankfurter Univerſitäts - commiſſion Kenntniß erhielt. Seine Abſicht war, im Juli in Böhmen zu erſcheinen und zunächſt dem König von Preußen, der um dieſe Zeit das Teplitzer Bad zu gebrauchen pflegte, das Programm einiger provi - ſoriſchen Bundesgeſetze vorzulegen; denn nur Bundesgeſetze, ſo ließ er wiederholt nach Berlin ſchreiben, könnten dem ſo weit vorgeſchrittenen Uebel der revolutionären Verſchwörungen noch ſteuern, Maßregeln einzelner Bundesſtaaten genügten längſt nicht mehr. **)Kruſemarks Berichte, Rom 4. Juni, Perugia 22. Juni 1819.War man mit Preußen einig, dann ſollten die Vertreter der beiden Großmächte in Karlsbad mit den Miniſtern der größeren Bundesſtaaten die Ausnahmegeſetze verein - baren, welche der Bundestag ohne weitere Berathung anzunehmen und zu verkündigen hätte; denn wer unter den Kleinen durfte den neun mäch - tigſten deutſchen Höfen, ſobald ſie ſich ernſtlich geeinigt hatten, zu wider - ſprechen wagen? Nach Vollendung der Ausnahmegeſetze ſollten ſchließlich die Miniſter der Bundesſtaaten im Winter ſich zu Wien verſammeln, um den Grundzügen der Bundesverfaſſung die ſeit 1815 verheißene Er - gänzung, natürlich in hochconſervativem Sinne, zu geben und namentlich für die landſtändiſchen Verfaſſungen bindende Vorſchriften aufzuſtellen. Der Plan ſah einem Staatsſtreiche ſehr ähnlich, er ging geringſchätzig über alle verfaſſungsmäßigen Rechte des Bundestags hinweg und enthielt die ſchärfſte Kritik der Bundesverfaſſung; denn durch andere Mittel als durch Einſchüchterung und Eigenmacht ließ ſich dieſem Bunde allerdings kein Entſchluß entreißen.

Glückſelig, mit heiligem Eifer arbeitete nun Gentz die Vorſchläge für die Karlsbader Verſammlung aus: proviſoriſche Ausnahmegeſetze gegen die Univerſitäten, die Preſſe, die Demagogen, und dazu eine Interpre - tation des Art. 13, wozu die Thorheiten der badiſchen Kammern den538II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.hochwillkommenen Anlaß boten. Hatten die Liberalen den Art. 13 ge - wiſſenlos als eine Verheißung des Repräſentativſyſtems mißdeutet, ſo war Gentz raſch bei der Hand mit der entgegengeſetzten Sophiſterei, die min - deſtens ebenſo wohlbegründet ſchien. Die landſtändiſchen Verfaſſungen des Art. 13 bedeuteten eben Stände, nichts Anderes; wollten die deutſchen Staaten, ſo ſchrieb er dem Hospodar Soutzo, ſich dem demokratiſchen Re - präſentativſyſtem ergeben, dann gehe jede foederative Einheit in die Brüche, und Oeſterreich würde es unter ſeiner Würde finden, an einem ſolchen Bunde noch länger theilzunehmen. Im tiefſten Geheimniß wurden unterdeß, außer Preußen, die kleinen Königreiche, ſowie die für beſonders zuverläſſig geltenden Höfe von Baden, Mecklenburg und Naſſau eingeladen, ihre leitenden Miniſter im Juli nach Karlsbad zu ſenden; alle erklärten ſich mit Freuden bereit. Die übrigen Regierungen würdigte man keiner Mit - theilung, die einen weil Eile noth that und nur ein kleiner Kreis raſche Beſchlüſſe faſſen konnte, die anderen weil Kaiſer Franz ihnen mißtraute.

Für den Großherzog von Weimar war am Wiener Hofe kein Wort mehr ſchlecht genug. Der Mäcenas der deutſchen Schöngeiſter, höhnte man dort, ſei jetzt zum Protector der deutſchen Meuchelmörder geworden; ein - zelne Heißſporne erinnerten bereits an das Schickſal Johann Friedrichs. Der tapfere Fürſt hielt aus ſo lange es anging; er dachte in dieſem Frühe jahr ſogar daran, den gefürchteten Gagern zu ſeinem Bundesgeſandten zu ernennen, was ihm General Wolzogen noch glücklich ausredete. *)Goltz’s Bericht, 25. Mai 1819.Mittlerweile kamen ernſte Mahnungen aus Rußland, offenbare Drohungen aus Oeſterreich. Auf der Reiſe nach Karlsbad erklärte Metternich einem Staatsmanne der kleinen Höfe rund heraus: der einzige Rechtsgrund für den Beſtand der kleinen Bundesſtaaten ſei die Bundesakte, nur als Bundesglieder hätten ſie die Anerkennung der europäiſchen Mächte erhalten, durch Felonie gegen den Bund würden ſie ihr Daſein verwirken. So gewiß dieſe frivole Rechtsanſicht dem völkerrechtlichen Charakter des deutſchen Staatenbundes, der ſo oft und feierlich anerkannten Souveränität aller deutſchen Fürſten ins Geſicht ſchlug: Karl Auguſt wußte wohl, was er von ſeiner Souveränität zu halten hatte, er war der Thor nicht, mit dem papierenen Schwerte eines Bundesverfaſſungsparagraphen den Macht - kampf gegen den erklärten Willen aller größeren Bundesſtaaten aufzu - nehmen. Noch einmal, am Abend ſeines Lebens bekam er die Lüge der Kleinſtaaterei, die ihn ſein Tagelang gepeinigt, ſchwer zu empfinden; er mußte ſchweigend hinnehmen, was er nicht hindern konnte und behielt ſich nur im Stillen vor, die Karlsbader Beſchlüſſe ſo mild als möglich aus - zuführen. Nächſt Weimar war die Curie der freien Städte dem Wiener Hofe hochverdächtig; die ehrenfeſten altväteriſchen Senate der vier Com - munen verdankten dieſen unverdienten Ruf dem wackeren bremiſchen539Smidt über die Bundespolitik.Bundesgeſandten Smidt, der zwar für die Bundesverfaſſung und das Haus Oeſterreich eine aufrichtige Bewunderung hegte, doch immerhin die Ausführung der Verſprechen der Bundesakte ernſtlich wünſchte und durch ſeinen bürgerlichen Freimuth zuweilen Anſtoß gab.

Gleich den kleinen Höfen blieb auch der Bundestag ſelbſt ohne jede Nachricht von dem Karlsbader Unternehmen; er war, ſeit den Berathungen über die Univerſitäten, bei der Hofburg ganz in Ungnade gefallen, und Gentz ſagte jetzt ſelber was vor Kurzem noch als Hochverrath gegolten hatte: dieſe Verſammlung ſei um nichts beſſer als der Regensburger Reichstag. Sogar Graf Buol durfte nichts erfahren, und der unglück - liche Goltz mußte wieder dieſelbe Rolle ſpielen, wie einſt im Frühjahr 1813, als er mit ſeiner Regierungscommiſſion in Berlin unter den fran - zöſiſchen Truppen ſaß, derweil der König in Breslau den Krieg gegen Frankreich vorbereitete. Nur gerüchtweiſe verlautete in Frankfurt, die Badekur, welche heuer ſo viele deutſche Miniſter nach Karlsbad führte, könne vielleicht auch politiſche Beſprechungen veranlaſſen.

Noch am 31. Juli ſendete Smidt ſeinem Senate eine unſchuldige Denkſchrift über die Aufgabe, welche ſich Deutſchlands Staatsmänner auf den Karlsbader Beſprechungen ſtellen ſollten. Auch er hielt es für geboten, die aufgeregte öffentliche Meinung zu beſchwichtigen, doch er wollte die deutſchen Völker mit den beſtehenden Zuſtänden verſöhnen, damit ſie nicht immer von Neuem durch den Anblick der politiſchen und wirthſchaftlichen Wohlfahrt des beſiegten Frankreichs erbittert würden, und empfahl daher dem Bundestage eine rege gemeinnützige Thätigkeit, wie der Bund ſie bereits bei der Organiſation des Bundesheeres, das nur leider noch gar nicht beſtand, bewährt habe. Smidt hoffte, daß der Bundestag ſich der Auf - hebung der deutſchen Binnenmauthen ſchrittweiſe nähern werde, warnte aber ſorglich vor übertriebenen Hoffnungen, damit Oeſterreich, das des deutſchen Marktes kaum bedürfe, ſich uns ja nicht entfremde; er hoffte auf ein Bun - desgericht, auf eine gemeinſame, durch eine diplomatiſche Commiſſion des Bundestags geleitete auswärtige Politik, und was der frommen Wünſche mehr war. So wenig ahnte er, was Metternich im Schilde führte.

Welch ein bedeutſamer Gegenſatz! Hier die geſtaltloſen foederaliſti - ſchen Träume eines redlichen Patrioten, der, in allen bremiſchen Ange - legenheiten das Muſter eines umſichtigen praktiſchen Staatsmannes, von der unverbeſſerlichen Nichtigkeit des deutſchen Bundes mit kindlichem Ver - trauen das Unmögliche erwartete; dort der Cynismus einer undeutſchen Politik, welche die Ruhe der Völker durch polizeilichen Druck zu erzwingen dachte, aber ihr gemeines Ziel mit durchtriebener Schlauheit und klarer Berechnung verfolgte. In einem ſolchen Wettſtreit konnte der Sieg nicht zweifelhaft ſein, ſelbſt wenn die Ungleichheit der Macht weniger lächerlich geweſen wäre. Der hanſeatiſche Staatsmann ließ ſich’s nicht träumen, daß ſeine harmloſe Denkſchrift dem Wiener Hofe verrathen und dort,540II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.trotz der ſo brünſtig betheuerten Unterwürfigkeit gegen das Haus Oeſter - reich, als ein neuer Beweis demagogiſcher Geſinnung übel vermerkt wurde. Vor dieſen kleinen Genoſſen hatten die neun verſchworenen Höfe ſich nicht zu ſcheuen, und triumphirend verkündete Gentz ſeinem Freunde Pilat, als Metternich in Karlsbad anlangte: ein ungeheurer Moment in der deut - ſchen Geſchichte ſei eingetreten!

Mittlerweile, im Laufe des Juli, erfolgten in Berlin und Bonn die erſten Verhaftungen und Hausſuchungen; am 13. erſtattete Geh. Rath Kamptz dem Staatskanzler Bericht über das Ergebniß. *)Hardenbergs Tagebuch, 13. Juli 1819.Plump und roh, mit frevelhafter Leichtfertigkeit hatte er ſeine Meute gegen Alle losge - laſſen, die nur möglicherweiſe in einer entfernten Beziehung zu der Burſchen - ſchaft ſtehen konnten. Und doch blieb die Zahl der verhafteten namhaften Männer ſehr gering; denn Metternich log mit Bewußtſein, wenn er Preußen als die Brutſtätte der revolutionären Pläne bezeichnete. Gerade die preußiſchen Univerſitäten waren an der teutoniſchen Bewegung nur wenig betheiligt. Was der Oeſterreicher mit ſeinem preußiſchen Anhang verfolgte, war nicht die revolutionäre Geſinnung, ſondern der deutſche Nationalſtolz, und dieſer fand allerdings an Preußens Volk, Heer und Beamtenthum den ſtärkſten Rückhalt. In Berlin war Jahn das erſte Opfer; er wurde nach Spandau, dann nach Küſtrin auf die Feſtung ge - bracht und hatte einen ſchweren Stand, weil ſich in den Papieren der verhafteten Studenten und Schüler die Goldſprüchlein ſowie andere närriſche, für ängſtliche Subalternbeamte hochbedenkliche Herzensergüſſe des Turnvaters vorfanden.

Da der Staat in Gefahr ſein ſollte, ſo galt das Erbrechen, das Perluſtriren der Briefe, wie der amtliche Ausdruck lautete, für erlaubt. Eine ganze Schaar junger Leute ward monatelang wegen einzelner thö - richten oder auch ganz harmloſen brieflichen Aeußerungen von einem Verhör in das andere geſchleppt. So mußten die beiden Schweizer Studenten Ulrich und v. Wyß eine lange Unterſuchung aushalten, weil ſich in einem ihrer Briefe die Bemerkung fand, Sands That werde der guten Sache ſchaden. Unter der guten Sache konnte ja nur eine de - magogiſche Verſchwörung gemeint ſein; auf die Frage der Angeklagten, was man denn eigentlich unter demagogiſch verſtehe, gab der Unterſuchungs - richter, ein blutjunger Referendar, die Antwort: demagogiſch heißt jedes gewaltſame Hervorrufen einer Verfaſſung. Auch einer der angeſehenſten Bürger Berlins, der Buchhändler G. A. Reimer, ein Geſchäftsmann großen Stils, kühn im Wagen und klug im Rechnen, einer der erſten Vertreter der wiedererwachenden wirthſchaftlichen Thatkraft des deutſchen Bürgerthums, mußte eine Hausſuchung über ſich ergehen laſſen, weil er mit Niebuhr, Eichhorn, Schleiermacher nahe befreundet war und die541Demagogenverfolgung in Berlin.Turnfreunde in ſeinem gaſtlichen Hauſe viel verkehrten. Grano und Dambach betheiligten ſich perſönlich an dem wichtigen Geſchäfte. Reimer ſelbſt war grade verreiſt, und da Eichhorn als Freund des Hauſes ſich der Frau tapfer annahm, die Commiſſion zur Vorzeigung ihrer Vollmacht zwang, ſo rächten ſich dieſe Subalternen durch einen unverſchämten Be - richt, worin ſie deutlich zu verſtehen gaben, der pp. Eichhorn einer der erſten Beamten der Monarchie möchte wohl auch mit zu der Verſchwörung gehören. In Reimers Papieren fanden ſich einige Briefe Schleiermachers aus der Zeit des Tilſiter Friedens, die von einer na - henden Volkserhebung ſprachen, und dieſe gegen die Fremdherrſchaft ge - richteten Worte genügten, um auch den großen Theologen verdächtig er - ſcheinen zu laſſen. Seine Predigten wurden während der nächſten Monate polizeilich überwacht. Spione zeichneten auf, wie er von der Befreiung aller geiſtigen Kräfte des Menſchen, die wir der Lehre Chriſti verdanken, ſprach, wie die Gemeinde ſang: Lobſingt! Nun hat er ſchon Am Holz ein Fluch gehangen! und wie endlich gar vier mit Bärten verſehene Studenten nach erhaltenem Abendmahl kniend ſcheinbar inbrünſtig beteten. *)Aufzeichnung des Stud. v. Wyß über ſeine Verhaftung am 7. Juli; Bericht der Commiſſare Grano, Dambach, Eckert über die Hausſuchung bei G. A. Reimer, 11. Juli; Polizeibericht an den Polizeidirektor v. Le Coq, 14. Nov. 1819 ff. Dieſe und andere Papiere zur Geſchichte der Demagogenverfolgung verdanke ich Hrn. G. Reimer in Berlin. Einiges Nähere in den Preuß. Jahrbüchern, Juli 1879.

Kamptz trug kein Bedenken, zahlreiche, zum Theil entſtellte, Sätze aus den Briefen der Verhafteten ſofort zu veröffentlichen, obwohl er zu den eifrigſten Vertheidigern des geheimen Gerichtsverfahrens zählte; er ſchrieb in die Voſſiſche Zeitung einen ſo beleidigenden Artikel über Jahns Verhaftung, daß der Gefangene eine Verleumdungsklage anſtrengte, die nur durch die Erhebung des Competenzconflicts unterdrückt werden konnte; er ſuchte ſogar in den Jahrbüchern der Geſetzgebung die preußiſchen Richter darüber zu belehren, daß ſie, ſelbſt wenn nur verbrecheriſche Theorien vorlägen, auf Hochverrath erkennen müßten. Der ehrliche Stägemann mußte die Spalten ſeiner Staatszeitung den lächerlichſten Enthüllungen öffnen und tröſtete ſich, wie manche andere rechtſchaffene Beamte, mit der Meinung: ganz grundlos könne der Verdacht doch nicht ſein, ſonſt würden die höchſten Polizeibehörden nicht ſo beſtimmt reden. Da ſtand denn zu leſen, daß ein ſechzehnjähriger Gymnaſiaſt die gräß - liche Aeußerung gethan: o braver Sand, du wußteſt nicht, welche Heu - ochſen wir waren ; derſelbe junge Teufel, der ſich offenbar ſoeben an Schillers Räubern berauſcht, hatte auch geſchrieben: an jedem Baume zwiſchen hier und Charlottenburg ſollte mir Einer hängen; o ich wollte mir Luft machen und weiter: alle Achtunddreißig zu töden iſt ein leichtes Ding, ein Werk des Augenblicks wozu die Staatszeitung weiſe bemerkte, damit ſeien offenbar die durchlauchtigen Souveräne des542II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.Deutſchen Bundes gemeint. Und dieſe ſchimpflichen Albernheiten ſtanden in dem amtlichen Blatte der Monarchie dicht neben vortrefflichen Aufſätzen, welche die Einſicht einer wohlwollenden und gerechten Regierung bekundeten. Wenn die Affenbosheit niedriger Handlanger dieſen glorreichen Staat alſo dem allgemeinen Hohngelächter preisgeben durfte, was Wunder, daß die öffentliche Meinung zu hoffen verlernte? Der preußiſche Staat glich einem von einer fixen Idee ergriffenen, doch im Uebrigen geſunden Geiſte; in allen Zweigen der Verwaltung wurden die alten ehrenhaften Traditionen gewahrt, nur gegen die Demagogen erhielten die verworfenen Elemente des Beamtenthums freies Spiel.

Am Rhein hatte ſich Kamptz mit dem Inſtinkt der Gemeinheit grade die Männer ausgeſucht, welche den preußiſch-deutſchen Geiſt in der ſchwie - rigen Provinz vertraten. So ward in Köln der Procurator L. v. Mühlen - fels verhaftet, ein ſchwärmeriſcher Patriot, der ſeinen verwegenen Muth bei Dennewitz bewährt hatte; er war mit den Gebrüdern Follen bekannt, aber nie in ihre geheimſten Pläne eingeweiht worden. Gleichzeitig ward in Bonn bei Arndt und den Brüdern Welcker Hausſuchung gehalten. Umſonſt verbürgte ſich Humboldt für die Unſchuld ſeines jungen Freundes, des Philologen F. G. Welcker, und legte dem Staatskanzler an’s Herz, wie leicht die junge Hochſchule untergehen könne, wenn man ihre ſoeben erſt ehrenvoll berufenen neuen Lehrer ſo leichtfertig bloßſtelle. *)Humboldt an Hardenberg, 20. Juli 1819.Der vornehme, ſinnige Kunſtforſcher F. G. Welcker hatte ſchon in Gießen durch ſeine nationale Begeiſterung den Zorn der Rheinbündner erregt, er war dann als Göttinger Profeſſor durch Kamptz bei der hannoverſchen Regierung denuncirt worden und mußte jetzt noch ſechs Jahre warten, bis Miniſter Schuckmann ihm erklärte, daß die Unterſuchung gar nichts ergeben hätte.

Grauſamer war Arndts Schickſal. Wer in einem Zeitalter ano - nymer Publiciſtik den Muth hat, mit offenem Viſier ſeine politiſche Meinung zu vertheidigen, kann auf die Dauer einem ungeheuren Haſſe nicht entgehen. Sobald die Bonner Hausſuchungen ruchbar wurden, geriethen die zahlloſen Feinde, die ſich der Tapfere bei allen Parteien er - worben hatte, in geſchäftige Bewegung, ſeine Wanderfahrten im Dienſte des Vaterlandes wurden dem Monarchen als Beweiſe abenteuerlicher Unſtetigkeit verdächtigt, und der König, der noch lange von dem Daſein eines alle Ordnung der Geſellſchaft bedrohenden Geheimbundes feſt über - zeugt blieb, unterſagte ihm vorläufig die Fortſetzung ſeiner Collegien. Der Mann, der einſt zuerſt für die Wiedereroberung des deutſchen Fluſſes ſeine Stimme erhoben hatte, empfand es als eine fürchterliche Ironie , daß er hier am befreiten Rheinſtrom das Opfer eines außerordentlichen Gerichtsverfahrens werden mußte. Er ſchrieb dem Staatskanzler: als543Arndt und die Brüder Welcker.einen Schelm und Verräther, als einen feigen Knecht, der das Unrecht Recht nennt, ſollen ſie mich wahrlich nicht finden. Noch zwei Jahr - zehnte hindurch ſollte er unter einer Ungerechtigkeit leiden, die von allen Sünden dieſer Demagogenjagd die häßlichſte bleibt. Bald wagte ſich der Spüreifer der Werkzeuge Kamptz’s ſelbſt an die Vertrauten des Staats - kanzlers. Der unaufhaltſame Grano erſchien ſelber am Rhein um Dorows Papiere zu durchſuchen. Auch Juſtus Gruner, der tödlich er - krankt in Wiesbaden Heilung ſuchte, empfing den Beſuch des Spürers und ſah die letzten Tage ſeines kurzen Lebens durch eine Kränkung ge - trübt, die den leidenſchaftlichen Mann aufs Tiefſte empörte.

Daß Hardenberg an alle Märchen der Demagogenjäger geglaubt haben ſollte, ſcheint undenkbar. Der alte Herr zeigte auch jetzt noch zu - weilen ſein dankbares Herz, unterſtützte die Frau des unglücklichen Jahn, dem während ſeiner langen Haft zwei Kinder ſtarben, und ſchrieb freund - ſchaftlich an Dorow: er möge nur getroſt ſeine Geheimniſſe aufdecken, dann werde ſeine Unſchuld ſchon an den Tag kommen. Doch findet ſich ſelbſt in Hardenbergs vertrauten Briefen kein Wort des Bedauerns oder des Zweifels, vielmehr eine Menge ſcharfer Aeußerungen gegen die Ruch - loſigkeit der Demagogen. Auch er war durch Wittgenſtein, den er ja für ſeinen treuen Freund anſah, überzeugt worden, er glaubte an eine ſchwere Staatsgefahr, wenngleich er nicht jeden Schritt der Verfolger billigen mochte; und es iſt nicht richtig was ſeine Panegyriker Benzenberg und B. Conſtant ſpäterhin behaupteten, daß er ſich nur zum Scheine an die Spitze der reaktionären Partei geſtellt habe. Seine Verfaſſungspläne hielt er noch immer feſt, aber ſie konnten nur verwirklicht werden, wenn der König über die Sicherheit des Staates vollſtändig beruhigt war.

Die älteren Männer unter den Verfolgten ertrugen ihr Geſchick mit einer ruhigen Würde, welche allein ſchon den Ungrund der Verdächtigung hätte darthun können. Weder Arndt noch F. G. Welcker und Mühlen - fels ließen ſich durch die erlittene Unbill jemals in ihrer monarchiſchen Geſinnung, ihrer preußiſchen Treue beirren; mit unverwüſtlicher Tapferkeit predigte Reimer, aller Kränkungen ungeachtet, ſeinem krankhaft verſtimmten Freunde Niebuhr Muth und Vertrauen. *)Den Briefwechſel von G. A. Reimer und Niebuhr habe ich mitgetheilt in den Preuß. Jahrbüchern, Auguſt 1876.Nur der heißblütige Karl Theodor Welcker, ein unbedingter Bewunderer des Repräſentativſyſtems, der ſchon beim Zuſammentritt des Wiener Congreſſes in einer Rede über Deutſchlands Freiheit ein deutſches Parlament gefordert hatte, bildete ſich nach ſolchen Erfahrungen, menſchlich genug, ein gehäſſiges Urtheil über den preußiſchen Staat, das bei den Liberalen des Südweſtens nur zu williges Gehör fand. Von den Jüngeren dagegen wurden viele erſt durch die Verfolgung dem Radikalismus zugetrieben, manche in der Blüthe544II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.des Lebens geknickt, andere endlich dem Vaterlande gewaltſam entfremdet, ſo Franz Lieber, der nach langen Irrfahrten in Amerika eine neue Hei - math fand und dort mit dem ganzen Gedankenreichthum der deutſchen hiſtoriſchen Rechtsſchule das Ideal der Bundesrepublik verherrlichte, der geiſtvollſte unter allen Publiciſten der modernen Demokratie.

Für Preußen und ſein Verhältniß zur Nation ward der Unſinn dieſer Demagogenverfolgung wahrhaft verhängnißvoll, obwohl die Mehrheit am Bundestage die heilſame Strenge der preußiſchen Regierung mit unter - thänigem Danke anerkannte. *)Goltz’s Bericht, 20. Juli 1819.Wörtlich erfüllte ſich was Niebuhr weiſſagte: welches Leben ohne Liebe, ohne Patriotismus, ohne Freude, voll Mißmuth und Groll entſteht aus ſolchen Verhältniſſen zwiſchen Unterthanen und Regierungen! Hatten die partikulariſtiſchen Liberalen die preußiſche Monarchie bisher ſchon ohne Grund verunglimpft, ſo ſtürzten ſie ſich jetzt vollends mit urkräftigem Behagen auf die offene Wunde am Leibe des deutſchen Staats. Da die Deutſch-Oeſterreicher der nationalen Bewegung vollkommen fremd blieben und Metternich mithin wenig Gelegen - heit zu Verhaftungen fand, ſo galt Preußen nunmehr als die Macht der Finſterniß im deutſchen Leben, und in den Köpfen der ſelbſtgefälligen Conſtitutionellen des Südweſtens niſtete ſich ein Vorurtheil ein, das, wie thöricht immer, doch eine reale Macht, ein ſchweres Hinderniß unſerer politiſchen Entwickelung geworden iſt. Das völlig nichtige Ergebniß der Unterſuchungen gegen Arndt und Jahn rief nachher natürlich die Meinung hervor, als wäre überhaupt gar kein Grund zu polizeilichem Einſchreiten vorhanden geweſen. Und doch hatte man mindeſtens einen wirklichen Verſchwörer ergriffen, Adolf Follen in Elberfeld. Bei ihm fand ſich auch jener Entwurf für die Verfaſſung der deutſchen Republik; doch er ver - ſtand, während ſo viele Unſchuldige leiden mußten, ſeine Unterſuchungs - richter mit der Gewiſſenloſigkeit des Unbedingten zu täuſchen.

Immer lauter ward das Gerücht, daß die Karlsbader Verſammlung den deutſchen Landtagen feſte Formen und Schranken vorſchreiben werde. Um dieſer Gefahr vorzubeugen verſuchten noch in der zwölften Stunde zu gleicher Zeit zwei Souveräne ihre Verfaſſung ſelbſtändig zu ordnen. Die Fürſtin-Vormünderin Pauline von Lippe-Detmold, eine der geiſt - reichſten Frauen ihrer Zeit, lebte ſeit Langem in Streit mit ihren Ständen, weil ſie den alten aus 32 Rittern und 7 Städtern beſtehenden Landtag umgeſtalten und jedem der drei Stände die gleiche Stimmenzahl gewähren wollte. Sie war die Wohlthäterin ihres Ländchens, hatte die Bürger und Bauern Mann für Mann auf ihrer Seite und redete mit einer Unbe - fangenheit, die in Wien übel vermerkt ward, von dem natürlichen Rechte der Völker auf Vertretung aller Klaſſen. Mit dem poſitiven Rechte aber nahm ſie es nach Frauenart nicht genau; auch ſie war, wie weiland König545Verfaſſungskampf in Detmold.Friedrich von Württemberg, durch den Untergang des heiligen Reichs mit einem mächtigen Souveränitätsgefühle erfüllt worden und meinte, ſeit ſie die kaiſerliche Majeſtät nicht mehr zu fürchten hatte, auch an die Landes - verträge nicht länger gebunden zu ſein. Die alten Stände widerſtanden hier ebenſo zäh wie in Württemberg und wendeten ſich klagend an den Bund; Rath Schloſſer, derſelbe, der die Rechtsverwahrungen der jülich - cleviſchen Stände verfaßt hatte, führte ihnen die Feder. Als die Karls - bader Conferenzen herannahten, ahnte die Fürſtin ſogleich, daß die dor - tigen Beſchlüſſe ihren liberalen Anſichten wenig entſprechen würden, und raſch entſchloſſen verkündete ſie am 6. Juni ihrem Lande eine neue Ver - faſſung. Aber der liberale Staatsſtreich mißlang. Unterſtützt von dem Bückeburger Fürſten, der eine Mit-Landesherrſchaft behauptete, erſchienen die alten Stände alsbald wieder beim Bunde. Nach einer tiefgeheimen Berathung, wobei Wangenheim die ganze Fülle ſeiner conſtitutionellen Gelehrſamkeit entfaltete, beſchloß der Bundestag den Streitenden ſeine Vermittlung anzubieten und forderte die Fürſtin auf, die Ausführung ihres neuen Grundgeſetzes einſtweilen einzuſtellen. Dies Einſtweilen währte bis zum Jahre 1836; da kam endlich, aber ohne Mitwirkung des Bundestags, ein Vergleich zu Stande.

Glücklicher fuhr der König von Württemberg. Wer hätte auch die krummen Wege dieſes Meiſters der Falſchheit berechnen und durchkreuzen können? König Wilhelm hatte einſt zuerſt den Gedanken aufgebracht, daß der Bund den Anſprüchen der Landſtände eine feſte Schranke ſetzen ſolle; er hatte, als er die Verhandlungen mit ſeinem Landtage abbrach, ausdrücklich erklärt, zunächſt wolle er die Beſchlüſſe des Bundestags über die Rechte der deutſchen Kammern abwarten, und ſeitdem war er von dieſem Herzenswunſche nicht zurückgekommen. Sein neuer Premierminiſter v. Maucler ſchulte das Beamtenthum, ähnlich wie Zentner in Baiern, zu einer ſtreng gehorſamen, unbedingt abhängigen Garde , wie die Libe - ralen höhnten; auch der einflußreiche Geh. -Rath v. Gros, der ſich früher als Erlanger Profeſſor der beſonderen Gunſt Hardenbergs erfreut hatte, war ein geſcheidter Bureaukrat von der aufgeklärten rheinbündiſchen Art. Graf Wintzingerode endlich, der Sohn des Miniſters Friedrichs I., der ſoeben in das Auswärtige Amt berufen wurde, hatte ſich als Geſandter in Wien durch ſeine Gradheit und ſtreng monarchiſche Geſinnung das volle Vertrauen Metternichs erworben. *)Kruſemarks Bericht, 4. Juni 1819.Alles an dieſer Regierung trug das Gepräge eines ſtrengen und verſtändigen Abſolutismus. Die lärmende Freiheit der Studenten ſchien dem ſoldatiſchen Monarchen entſetzlich, und Wintzingerode erwog bereits mit ihm die Frage, ob man nicht der Tübinger Univerſität eine neue Karlsſchule mit halbmilitäriſcher Zucht an die Seite ſetzen ſolle. Daher war ihm die Einladung zu den Karlsbader ConferenzenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 35546II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.keineswegs unwillkommen. Aber andererſeits wollte er doch den Namen des liberalſten deutſchen Fürſten nicht verlieren und ſein Verfaſſungswerk als ſouveräner Herr, unbeläſtigt durch den Bund, zu Stande bringen.

Seit zwei Jahren befand er ſich wohl bei einem Doppelſpiele, das ſeiner ränkeſüchtigen Natur allmählich zum Bedürfniß wurde. Er gewährte ſeiner Preſſe volle Freiheit gegen den Bund und die Großmächte, nur wider ihn ſelber durfte ſie nichts ſagen. Er ließ in Frankfurt durch Wangenheim, den begeiſterten Verehrer des Bundesrechts, die Gedanken des liberalen Foederalismus vertreten, und wenn es der Heißſporn zu arg trieb, dann mußte Wintzingerode, der ſeinerſeits die Bundesakte für eine widerſinnige Conception hielt, ihn bei der Hofburg entſchuldigen und die hochconſervativen Anſichten des Königs betheuern. Wie erfolg - reich ließ ſich dieſe machiavelliſtiſche Politik jetzt fortführen, wenn man gleichzeitig mit den Karlsbader Conferenzen die Verfaſſungsberathungen von Neuem aufnahm. Dann konnten die Landſtände durch die Angſt vor den Karlsbader Beſchlüſſen nachgiebig geſtimmt werden; und wenn in Karlsbad ein Vorſchlag auftauchte, der den Intereſſen des Stuttgarter Hofes zuwiderlief, ſo mochte ſich der württembergiſche Bevollmächtigte hinter den Landtag verſchanzen und wehmüthig verſichern, dergleichen ſei bei den hartköpfigen Schwaben nicht durchzuſetzen. So wurde zugleich der Trotz der Altrechtler gebrochen und dem Könige ſein liberaler Ruf gerettet.

Nicht ohne Geſchick ward dieſe politiſche Falle eingerichtet. Am 10. Juni überraſchte der König ſein Land durch die Ausſchreibung neuer Wahlen, am 13. Juli trat der Landtag in Ludwigsburg zuſammen. Welch ein Umſchlag der Stimmungen ſeit zwei Jahren! Die im Ganzen wohlthätige Wirkſamkeit der königlichen Dictatur hatte manchen hitzigen Altrechtler verſöhnt, das Mißtrauen gegen die Krone gemildert. Die Thor - heit des verſtockten Widerſtandes der alten Stände war jetzt Vielen klar geworden; Alle aber beherrſchte, wie der Abgeordnete Schott offen aus - ſprach, die Furcht vor den drohenden Karlsbader Beſchlüſſen, die ſo leicht das koſtbarſte Recht des Landes, den freien Vertrag gefährden könnten. Auf dieſen Eckſtein ſchwäbiſcher Freiheit beſchränkten ſich jetzt die Hoff - nungen der Ernüchterten; wenn nur die neue Ordnung vertragsmäßig zu Stande kam, ſo war man bereit im Einzelnen nachzugeben. Ohne einen vereinbarten Grundvertrag konnten ſich die Alt-Württemberger, die ſo lange unter dem Schutze des Tübinger Vertrags und des Erbver - gleichs gelebt, die politiſche Freiheit nicht vorſtellen; recht nach dem Herzen ſeiner Landsleute hatte Schiller geſungen:

Und über jedem Hauſe, jedem Thron
Schwebt der Vertrag wie eine Chernbswache.

Mehrere Führer der alten Oppoſition, Waldeck, Maſſenbach, Bolley, erſchienen in dem neuen Landtage nicht wieder; andere, wie der welt - kluge Weishaar hatten ſich inzwiſchen der Regierung angeſchloſſen. Um547Der württembergiſche Landtag.ſeine Volksvertreter vor Verführung zu ſichern, ließ der König den eifrigen Altrechtler Paulus, der auf Beſuch in ſein Heimathland gekommen war, kurzerhand ausweiſen. Der Todfeind der württembergiſchen Schreiber, der freimüthige F. Liſt, wurde durch ein ungemein einfaches Verfahren von dem Landtage ausgeſchloſſen. Da er am Tage der Wahl ſein drei - ßigſtes Lebensjahr noch nicht ganz vollendet hatte, ſo erklärte das Oberamt Reutlingen, auf Befehl der Regierung, ſeinen Wählern kurzweg: ihre Stimmzettel ſeien ungiltig, es ſolle ihnen aber geſtattet werden am nächſten Montag friſch zu wählen . *)Erlaß des Oberamts Reutlingen an den Kupferſchmid Peter Votteler u. A., 10. Juli 1819.Als er darauf, nunmehr un - zweifelhaft wählbar, in einem anderen Bezirke gewählt werden ſollte, verwickelte man ihn in eine Unterſuchung wegen der revolutionären Sprache ſeines Wahlaufrufs, und ſo gelang es, den unbequemen Mann während des ganzen Landtags fern zu halten. Die Vorſicht war kaum nöthig; denn die Oligarchie der Altrechtler hatte bereits in der Stille ihren Frieden mit dem Miniſterium geſchloſſen. Die Verſammlung be - gann ſogleich mit Beweiſen der Ergebenheit, welche von dem alten Trotze ſeltſam abſtachen und wenig geeignet waren den Monarchen von ſeiner cyniſchen Menſchenverachtung zu heilen. Sie dankte dem Könige, weil er von Neuem den Weg des Vertrages betreten, auf dem ſich von jeher die Verfaſſung des Landes entwickelt hat, und ernannte alsbald eine Commiſſion zur Berathung der neuen Verfaſſungsvorlage, welche ſich von der letzten, verworfenen, weſentlich nur durch ihre ge - drängtere, zweckmäßigere Form unterſchied. Am 2. Sept. erſtattete die Commiſſion ihren Bericht, und hatte der alte Landtag durch pedantiſche Langſamkeit geſündigt, ſo betrieb der neue ſeine Arbeit in raſender Eile, weil er den Karlsbader Beſchlüſſen durch eine vollendete Thatſache zuvor - kommen wollte.

Schon am 18. September war die Berathung beendigt, in zwei Tagen hatte man 121 Artikel erledigt. Das früher ſo leidenſchaftlich bekämpfte Zweikammerſyſtem wurde jetzt faſt ohne Streit angenommen, weil die Frage bereits entſchieden ſei durch Verhältniſſe, deren Berück - ſichtigung unausweichlich iſt. Alle Parteien fühlten, daß man den von dieſer Krone ſo ungerecht behandelten Mediatiſirten irgend ein Zu - geſtändniß bieten müſſe um gefährliche Verhandlungen am Bundestage zu vermeiden. Von ſolcher Furcht beherrſcht, kam man dem hohen Adel ſogar allzuweit entgegen und gewährte der Krone nur das Recht, höchſtens ein Drittel der Mitglieder der erſten Kammer, die geheim tagen ſollte, zu ernennen, ſo daß unlösbare Streitigkeiten zwiſchen den beiden Kammern ſehr leicht eintreten konnten. Auch das Idol der Altrechtler, die ſtändiſche Steuerkaſſe ward nur noch von Uhland und einer kleinen Minderzahl matt35*548II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.vertheidigt. Die Mehrheit hatte inzwiſchen gelernt, daß dieſe altväteriſche Inſtitution ſich mit der modernen Staatseinheit nicht vertrug; wir wollen, meinte Schott, keine Feudal -, ſondern eine Repräſentativverfaſſung. Bei der Schlußabſtimmung widerſprach Niemand mehr, und Uhland fügte ſeinem Ja die feierlichen Worte hinzu: das Weſentliche beſteht, vor Allem jener Urfels unſeres alten Rechts, der Vertrag. Eine durch F. Liſt ent - worfene Adreſſe von Stuttgarter Bürgern, die ſich ſcharf gegen das über - eilte Verfahren der Stände ausſprach, ward erſt nach Schluß der Be - rathungen veröffentlicht. Am 24. September unterzeichnete der König den neuen Grundvertrag; die Verfaſſung kam noch glücklich unter Dach, einen Augenblick bevor die Karlsbader Beſchlüſſe im Lande bekannt wurden.

So war denn endlich verwirklicht was der ſchwäbiſche Dichter ſo oft gefordert hatte:

Daß bei dem biedern Volk in Schwaben
Das Recht beſteht und der Vertrag.

Die politiſche Brauchbarkeit der neuen Verfaſſung wurde freilich durch dieſe vertragsmäßige Entſtehung keineswegs erhöht. Statt eines Werkes aus einem Guſſe hatte man ein mühſeliges Compromiß zu Stande ge - bracht, das viele jetzt nutzloſe oder gradezu unmögliche Inſtitutionen des altwürttembergiſchen Ständeweſens mit in die neue Zeit hinübernahm. So ſollte die lutheriſche Kirche ihren alten reichen Kirchenkaſten wieder erhalten. Die unterthänige Commiſſion nannte dieſe Beſtimmung einen der ſchönſten und größten Gedanken, die je ein Regent faßte, und er - klärte: mit einer Kritik der Vorſchläge, welche von dieſer Reſtitution ab - mahnen, wollen wir den gegenwärtigen Augenblick nicht entweihen. Der große Gedanke erwies ſich aber als gänzlich unausführbar, da die Kirchen - güter ſeit Jahren eingezogen und in verſchiedene Hände gelangt waren. So ſollte ferner neben dem Miniſterium noch ein Geheimer Rath beſtehen, die Staatsſchuldenkaſſe durch ſtändiſche Beamte verwaltet werden, ein ſtehen - der Ausſchuß des Landtags in Stuttgart tagen, eine kleine ſtändiſche Kaſſe dem Landtage, aber nur für ſeinen eigenen Aufwand, zur Verfü - gung ſtehen lauter Ueberbleibſel von altwürttembergiſchen Einrichtungen, welche die moderne Verwaltung nur erſchweren konnten ohne die Macht des Landtags zu verſtärken. Für die Ohnmacht der zweiten Kammer hatte der ſchwäbiſche Kirchthurmsgeiſt geſorgt. Da keines der 64 Ober - ämter auf einen eigenen Vertreter verzichten wollte, ſo ergab ſich, mit den Vertretern der Ritterſchaft, der Geiſtlichkeit, der ſieben guten Städte, die gewaltige Zahl von vierundneunzig Abgeordneten, deren große Mehr - heit nothwendig aus harmloſen Naturen beſtehen mußte. König Wilhelm durfte ſich mithin der angenehmen Hoffnung hingeben, daß er in ſeinem ſtreng centraliſirten Staate das gewohnte ſtramm bureaukratiſche Regi - ment auch fürderhin unbeläſtigt werde fortführen können. Die Preß -549Die württembergiſche Verfaſſung.freiheit wurde verſprochen, jedoch unter Beobachtung der gegen die Mißbräuche beſtehenden oder künftig zu erlaſſenden Geſetze. Erſt aus ſchmerzlichen Erfahrungen ſollte das Volk lernen, daß mit ſolchen hoch - tönenden Verheißungen allgemeiner Grundrechte in Wahrheit gar nichts geſagt, ja ſelbſt die Cenſur nicht gradezu beſeitigt war. Zum Ueberfluß beſtimmte der Art. 3, daß alle organiſchen Beſchlüſſe des Bundestags, wie billig, auch für Württemberg gelten ſollten.

Trotz alledem ließen ſich’s die Württemberger nicht nehmen, daß ihr Grundgeſetz das freiſinnigſte Deutſchlands ſei. Die Verfaſſung ſtand, gleich der badiſchen, mitteninne zwiſchen dem altſtändiſchen und dem Re - präſentativſyſteme, da mindeſtens die Abgeordneten der Oberämter in der zweiten Kammer das geſammte Volk, mit Ausnahme des Adels und der Geiſtlichkeit, vertraten; ſie beſaß überdies in dem ſtehenden Landtags - ausſchuſſe eine eigenthümliche Inſtitution, welche ſich zwar praktiſch wenig bewährte, aber den Tagesmeinungen als ein furchtbares Bollwerk der Volksrechte erſchien. Das Volk hatte durch zahlreiche, namentlich gegen das Zweikammerſyſtem gerichtete Petitionen ſeine Theilnahme an den Arbeiten des Landtags bewieſen. Die merkwürdigſte dieſer Bittſchriften war eine Eingabe der allezeit gut deutſch geſinnten Reutlinger, welche zum erſten male in dieſer ſtillen Zeit die Einberufung eines deutſchen Parlaments forderte, weil nur ſo alle deutſche Staaten ſich einer wirklichen Repräſentativ-Verfaſſung erfreuen könnten. Unter ſtür - miſchem Jubel beſchwor der Monarch am 25. September die Verfaſſung; auch die Prägung der unvermeidlichen Denkmünze ward beſchloſſen, und als drei Tage nachher König und Landtag auf dem Canſtatter Volks - feſte erſchienen, da brach die ſchwäbiſche Freiheitsbegeiſterung in hellen Flammen aus. Was der Bevollmächtigte dieſes volksfreundlichen Königs unterdeſſen in Carlsbad getrieben hatte, blieb dem argloſen Volke zum Glück verborgen.

Der nationalen Geſinnung des ſchwäbiſchen Landes brachte die ſeltſame Entſtehungsgeſchichte des neuen Grundgeſetzes ſchweren Schaden. Die Verfaſſung war aus einem geheimen Kampfe gegen den deutſchen Bund hervorgegangen; alle Reden der Volksvertreter liefen hinaus auf die Mahnung, daß man die ſchwäbiſche Freiheit gegen die Tyrannei des Bundes ſichern müſſe. Unter ſolchen Erlebniſſen gewann der ohnehin überſtarke Stammesſtolz der Schwaben neue Kraft. Da in der deutſchen Centralgewalt nur die Kronen, in den Einzelſtaaten auch die Unterthanen vertreten waren, ſo ſchlug der junge Liberalismus faſt überall eine par - tikulariſtiſche Richtung ein, und nirgends war dieſer Sondergeiſt mäch - tiger als in Württemberg, wo ſich von vornherein die Anſicht bildete: das halb gegen den Willen des Deutſchen Bundes entſtandene Grundgeſetz ſtehe über dem Bunde.

550II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.

Am 22. Juli traf Metternich zu Karlsbad ein, in dem ſtolzen Be - wußtſein, daß von hier entweder das Heil oder die endgiltige Vernich - tung der ſocialen Ordnung ausgehen werde. Eine Bereiſung ſeines lombardiſch-venetianiſchen Königreichs hatte Kaiſer Franz aufgegeben, weil die Bändigung der deutſchen Revolution dringender ſchien. Die Vertrauten, mit denen ſich der öſterreichiſche Staatsmann zunächſt be - ſprach, waren, außer Gentz, die beiden Freunde vom Wiener Congreſſe her, die Hannoveraner Graf Münſter und Graf Hardenberg; auf die hochreaktionäre Geſinnung des Tory-Cabinets durfte Metternich in allen Fällen, wo kein Einſpruch des Parlaments zu befürchten ſtand, unbedingt rechnen, und dankbar ſchrieb er nachher dem Prinzregenten: Ew. K. Ho - heit iſt man ſicher immer auf dem Wege der wahren Grundſätze zu finden. Doch aller andere Beiſtand war werthlos ohne ein unbedingtes Einverſtändniß mit der Krone Preußens. Um dieſes zu ſichern eilte Metter - nich nach Teplitz und hielt dort am 29. Juli mit König Friedrich Wilhelm eine geheime Unterredung, welche auf Jahre hinaus den Gang der deut - ſchen Politik entſchied. Der König zeigte ſich auf’s Aeußerſte beunruhigt wegen der unheimlichen demagogiſchen Pläne, welche, nach Wittgenſteins Verſicherung, bei den jüngſten Hausſuchungen ſich enthüllt haben ſollten; er war mit Recht verſtimmt über die Rathloſigkeit des Staatskanzlers und die Zerfahrenheit ſeines Miniſteriums, das ihm ſeit ſieben Monaten noch die Antwort auf ſeine drängenden Fragen ſchuldete; er klagte: es fehlen mir Leute und gab ſich vertrauensvoll den Rathſchlägen des Oeſterrei - chers hin, der ſchon in Aachen ſo trefflichen Rath gegeben hatte. Metternich verſtand das glühende Eiſen zu ſchmieden. Für Preußen, ſo betheuerte er, ſei jetzt der Tag der Entſcheidung gekommen zwiſchen dem Princip der Erhaltung und dem politiſchen Tode; in Preußen habe die große Verſchwörung ihren Urſprung und ihren Sitz, bis in die Reihen der höchſten Beamten reiche ſie hinauf; doch könne noch Alles gerettet werden, wenn die Krone ſich entſchließe, ihrem Staate keine Volksvertretung in dem modernen demokratiſchen Sinne zu geben, ſondern ſich mit Ständen zu begnügen. Die Zuſtimmung des Königs zu dieſem Vorſchlage verſtand ſich faſt von ſelbſt, da Hardenbergs Verfaſſungspläne ſelbſt immer nur eine Vertretung der drei Stände, nicht eine Repräſentation des Volks als einer ungeſchiedenen Maſſe bezweckt hatten.

Auf Befehl des Monarchen hielten nunmehr Hardenberg, Bernſtorff und Wittgenſtein mit dem Oeſterreicher vertrauliche Berathungen. Am 1. Auguſt unterzeichneten Hardenberg und Metternich eine, unverkennbar von Letzterem verfaßte, Punktation über die gemeinſamen Grundſätze der Bundespolitik der beiden Großmächte. *)Punktation über die Grundſätze, nach welchen die Höfe von Oeſterreich und Preußen in den inneren Angelegenheiten des Deutſchen Bundes zu verfahren entſchloſſen ſind. Teplitz 1. Auguſt 1819. S. Beilage III. Die Verabredung ſollte auf551Zuſammenkunft in Teplitz.ewige Zeiten geheim bleiben, wegen der Vorurtheile, welche von vielen deutſchen Regierungen gegen die engere, ſo heilſame Vereinigung der beiden Höfe gehegt würden. Die Vertragſchließenden erinnerten zunächſt an den verfaſſungsmäßigen Zweck des durch Europa garantirten Deutſchen Bundes und erklärten ſodann (Art. II), daß ſie als europäiſche Mächte berufen ſeien über dem politiſchen Daſein des Bundes zu wachen, als deutſche Bundesſtaaten aber verpflichtet für die Befeſtigung der Bundes - verfaſſung zu ſorgen. Daher dürften im Innern des Bundes keine mit ſeiner Exiſtenz unvereinbaren Grundſätze angewendet, alle Beſchlüſſe des Bundestages müßten als Geſetze des Bundes unverbrüchlich ausgeführt, werden. Der Artikel der Bundesakte, welcher dem Bunde die Sorge für die innere Sicherheit Deutſchlands auferlegte und unzweifelhaft nur be - ſtimmt war der Gefahr des Landfriedensbruchs vorzubeugen, erhielt alſo eine ganz neue, völlig willkürliche Auslegung: er ſollte dazu dienen auch die innern Verhältniſſe der Bundesſtaaten einer gleichmäßigen Regel zu unterwerfen. Der gegenwärtige Augenblick, da die revolutionäre Partei das Daſein aller Regierungen bedrohe ſo ſagte die Punktation weiter müſſe benutzt werden, um eine engere Verbindung der deutſchen Höfe herbeizu - führen und am Bundestage die Herrſchaft der Mehrheit zu ſichern Dazu bedürfe es zunächſt einer Verabredung über den Art. 13 der Bundesakte, und hier folgte eine erſtaunliche Zuſage, welche für Metternich den Kern der Punktation bildete. Preußen, hieß es im Art. VII, iſt entſchloſſen, erſt nach völlig geregelten inneren und Finanz-Verhältniſſen den Artikel 13 in ſeinem reinen Begriffe auf ſeine eigenen Staaten anzuwenden, d. h. zur Repräſentation der Nation keine allgemeine, mit der geographi - ſchen und inneren Geſtaltung ſeines Reichs unverträgliche Volksvertretung einzuführen, ſondern ſeinen Provinzen landſtändiſche Verfaſſungen zu er - theilen und aus dieſen einen Central-Ausſchuß von Landesrepräſentanten zu bilden.

Dieſer Satz enthielt der Sache nach freilich eine gegenſeitige Ver - pflichtung, da Kaiſer Franz unzweifelhaft ebenfalls entſchloſſen war, keine allgemeine Volksvertretung einzuführen; er ſagte im Grunde auch nichts Neues, denn Hardenberg war längſt gewillt, die Verfaſſung erſt nach der Vollendung der neuen, dem Abſchluß nahen Finanzgeſetze zu verkündigen, und daß die Landesrepräſentation aus den Provinzialſtänden hervorgehen ſollte, war durch die Verordnung vom Mai 1815 ausdrücklich vorge - ſchrieben. Um ſo ſchmählicher erſchien die Form des Verſprechens. Wie ein reuiger Sünder, ohne jede förmliche Gegenleiſtung gab die Monarchie Friedrichs des Großen einer fremden Macht eine Zuſage über innere Angelegenheiten, deren Regelung jeder ſelbſtbewußte Staat ſich ſelber vor - behalten muß; und frohlockend meldete Metternich ſeinem Kaiſer das Engagement Preußens, keine Volksvertretung zu geben. Es war die ſchimpflichſte Demüthigung, welche Hardenberg jemals über Preußen ge -552II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.bracht hat; die Politik des friedlichen Dualismus beſtand jetzt ihre Probe und ſie erwies ſich als die Unterwerfung Preußens unter Oeſterreichs Leitung. Der Staatskanzler unterſchrieb, weil er kein anderes Mittel ſah um ſich das erſchütterte Vertrauen ſeines Monarchen zu erhalten, und weil das Verſprechen, wörtlich genommen, allerdings nichts enthielt, was den bisherigen Grundſätzen der preußiſchen Politik zuwiederlief. Beide Theile aber hegten bei der Abrede ihre Hintergedanken. Hardenberg verſtand unter dem Central-Ausſchuß, wie er bald durch die That beweiſen ſollte, einen mächtigen Allgemeinen Landtag, Metternich hingegen dachte, wie ſchon in Aachen, nur an einen kleinen Ausſchuß von etwa einundzwanzig Mitgliedern und hoffte insgeheim, ſelbſt dies Schattenbild einer preußi - ſchen Centralvertretung, das ſeinem Kaiſer hochbedenklich vorkam, dereinſt noch zu vereiteln. Preußen hatte ſich alſo die neue Wiener Doctrin, wonach der Art. 13. nur Stände, nicht Volksvertreter verheißen ſollte, vollſtändig angeeignet. Beide Mächte verpflichteten ſich, den Staaten welche unter dem Namen von Ständen bereits Volksvertretungen einge - führt haben, zur Rückkehr zu einem, dem Bunde mehr angemeſſenen Ver - hältniß behilflich zu ſein und deßhalb zunächſt die Anträge dieſer Re - gierungen ſelbſt abzuwarten.

Den zweiten Gegenſtand der Karlsbader Berathungen ſollte die Preſſe bilden. Die beiden Großmächte vereinigten ſich über die Grundſätze einer Gentziſchen Denkſchrift, die mit grellen Farben ſchilderte, wie bei der Gleich - heit der Cultur und dem vielfältigen Verkehre der Deutſchen kein einzelner Staat ſich vor Anſteckung ſchützen könne und mithin jeder Fürſt, welcher den Preß-Unfug in ſeinem Lande dulde, Hochverrath gegen den Bund begehe. Darum iſt ein ſtrenges Bundes-Preßgeſetz nothwendig, insbeſondere müſſen die deutſchen Regierungen ſich wechſelſeitig verbinden, keinem der heute berüchtigten Redacteurs den Eintritt in neue Zeitungs-Redactionen zu geſtatten und überhaupt die vielen Zeitungsblätter zu vermindern .

Zum Dritten ſollte ſich die Conferenz mit den Univerſitäten und Schulen beſchäftigen. Metternich dachte zwar ſehr niedrig von der poli - tiſchen Befähigung der Profeſſoren und begründete dies Urtheil, bezeichnend genug, mit der Behauptung, daß kein Gelehrter den Werth des Eigen - thums zu ſchätzen wiſſe; aber mittelbar ſchien ihm die politiſche Wirkſam - keit dieſer unpraktiſchen Leute ſehr gefährlich, da ſie die Vereinigung der Deutſchen in ein Deutſchland lehrten und das heranwachſende Geſchlecht zu dieſem verruchten Zweck erzögen. Darum lag ihm ſo viel an der ſchleunigen Abſetzung demagogiſcher Lehrer, und Hardenberg war ſchwach genug, alle die verſtändigen Grundſätze jener Eichhorn’ſchen Denkſchrift, welche Graf Bernſtorff erſt vor wenigen Tagen dem Bundestage über - ſendet hatte, ſofort über Bord zu werfen. Er verſtand ſich zu der Ab - rede, daß notoriſch ſchlechtgeſinnte und in die Umtriebe des heutigen Studenten-Unfugs verflochtene Profeſſoren alsbald von den Lehrſtühlen553Die Teplitzer Punktation.entfernt werden, und daß kein ähnliches von einer deutſchen Univerſität entferntes Individuum auf den Univerſitäten in anderen deutſchen Staaten Anſtellung erhalte . Zum Schluß ward noch ausbedungen, daß dieſe Maßregeln auch auf das Schulweſen erſtreckt werden ſollten.

So der Inhalt des unſeligen Vertrags. Es war, als ob ein finſteres Verhängniß dieſem unglücklichen, ſo mühſam aus der Zerſplitterung empor - ſteigenden Volke jede Möglichkeit der Selbſterkenntniß, jeden Weg zur poli - tiſchen Macht gewaltſam abſchneiden wollte. Manche traurige Verirrungen der deutſchen Patrioten in ſpäteren Jahren laſſen ſich nur erklären aus der vollkommenen Verwirrung aller politiſchen Begriffe, welche der un - natürliche Bund der beiden Großmächte nothwendig hervorrufen mußte. Die beiden Mächte beabſichtigten der Gewalt des Deutſchen Bundes die unzweifelhaft dringend nöthige Verſtärkung zu bringen; ſie erweiterten ſeine Befugniſſe weit über die Vorſchriften der Bundesakte hinaus; ſie geſtatteten ihm Eingriffe in das innere Leben der Einzelſtaaten, welche ſich mit dem Weſen eines völkerrechtlichen Staatenbundes nicht mehr vertrugen; ſie ſprachen ſogar von einer Felonie deutſcher Fürſten gegen den Bund, als ob die Souveränität von Napoleons Gnaden bereits ver - nichtet und die Majeſtät des alten Reichs wieder hergeſtellt wäre. Aber dieſe unitariſche Politik entſprang nicht der nationalen Geſinnung, ſondern dem öſterreichiſchen Partikularismus: nur darum ſollte der Deutſche Bund die Machtbefugniſſe einer Staatsgewalt erhalten, damit den Deutſchen die Luſt ſich in ein Deutſchland zu vereinigen für immer verginge, damit der Seelenſchlummer der Völker Oeſterreichs von der höheren Cultur, den regeren geiſtigen Kräften ihrer deutſchen Nachbarn ungeſtört bliebe. Auf das Beſtimmteſte, auf wiederholten Befehl ſeines Monarchen, ſprach Metternich aus, er wolle den Deutſchen Bund durch Oeſterreichs Mitwirkung retten oder die k. k. Staaten von Deutſchland trennen, um Oeſterreich allein zu retten; und noch fand ſich Niemand in der Nation, der das namenloſe Glück dieſer Trennung begriffen und den befreienden Ruf erhoben hätte: los von Oeſterreich!

Verderblich, undeutſch wie die Ziele dieſer Politik waren auch ihre Mittel. Der deutſche Bund beſaß noch weder ein Bundesheer, noch ein Bundesgericht, überhaupt keine gemeinſame nationale Inſtitution außer dem Bundestage; und ein ſolcher Bund, der die Deutſchen nicht einmal gegen das Ausland zu ſchützen verſtand, ſollte jetzt nach den Worten der Teplitzer Verabredung im reinen Begriffe der Foederation be - fugt ſein, das Allerheiligſte der Nation Martin Luthers, die freie Be - wegung der Gedanken durch Verbote und Verfolgungen zu ſtören. So ſank die deutſche Politik, wie ein treffendes Wort ſagt, zur deutſchen Polizei herab; Jahrzehntelang ging faſt das geſammte Leben des Bundes - tags in polizeilichen Nothmaßregeln auf. Der natürliche Gegenſatz zwiſchen der abſolutiſtiſchen Centralgewalt und den conſtitutionellen Gliederſtaaten554II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.verſchärfte ſich bis zur unverſöhnlichen Feindſchaft; wer den Glauben an die politiſche Freiheit nicht aufgab, ſah ſich fortan genöthigt den deutſchen Bundestag zu bekämpfen, und ſo ward die liberale Partei, die doch faſt allein den Gedanken der nationalen Einheit mit Begeiſterung ergriffen hatte, wider Wiſſen und Willen dem Partikularismus in die Arme getrieben. Auf dem Wiener Congreſſe hatten alle Parteien gefühlt, daß man der Nation einige Rechte der Deutſchheit , ein von Bundeswegen gewähr - leiſtetes beſcheidenes Maß politiſcher Freiheit zugeſtehen müſſe, und nur weil ſich der Dünkel der rheinbündiſchen Souveränität über dies Minimum nicht zu einigen vermochte, war die Bundesakte bei einigen allgemein gehaltenen Verſprechungen ſtehen geblieben. Jetzt ward mit einem male Alles auf den Kopf geſtellt. Nicht ein geringſtes, ſondern ein höchſtes Maß politiſcher Rechte feſtzuſetzen ſollte dem Bunde obliegen; er ſollte der Nation nicht mehr der Bürge ihrer Freiheit ſein, ſondern ihr vorſchreiben, welche Grenze die Rechte der Landtage, der Preſſe, der Univerſitäten niemals überſchreiten dürften. Und mit welcher unerhörten Frivolität dachte man kurzerhand die heute berüchtigten Redacteurs, die notoriſch ſchlecht - geſinnten Lehrer ihrer geſetzlichen Rechte zu berauben, als ob die Ge - waltſtreiche des Wohlfahrtsausſchuſſes wider die Verdächtigen auf dem friedlichen deutſchen Boden ſich erneuern ſollten!

Und warum dies finſtere Mißtrauen gegen ein treues, geſetzliebendes Volk? Die Landtage von Baiern und Baden hatten im Eifer ihrer jugendlichen Unerfahrenheit einige thörichte Anträge angenommen; und doch lehrte ſoeben die zahme Haltung der württembergiſchen Stände, daß die Regierungen nur die Zügel etwas ſtraffer anzuziehen brauchten, um den Uebermuth ihrer harmloſen Volksvertreter zu bändigen. Die Preſſe ſodann hatte durch zielloſes Poltern und Schelten ſchwer geſündigt, und es war nicht ganz unrichtig, was Gentz in ſeiner Denkſchrift über den Preß-Unfug behauptete: daß es heute nicht eine einzige als Privatunter - nehmung erſcheinende Zeitſchrift in Deutſchland giebt, welche die Wohl - geſinnten als ihr Organ betrachten könnten, ein Fall, der ſelbſt in dem Zeitpunkte der blutigſten Anarchie in Frankreich ohne Beiſpiel iſt. Aber die Preſſe war in Deutſchland unzweifelhaft nicht die öffentliche Meinung, die Maſſe der Nation nahm an der Entrüſtung der Journaliſten wenig Antheil, und wer die Tadelſucht der Deutſchen kannte, mußte furchtlos vorausſehen, daß die große Mehrheit ihrer Zeitungen zu allen Zeiten der Oppoſition angehören würde. Die ſchwächlichen Urtheile ſo vieler gebildeter Männer bewieſen freilich, daß ein Theil der höheren Stände an der beſtehenden Ordnung zu verzweifeln begann; doch eine Politik blinder und roher Verfolgung war ſicherlich das beſte Mittel, um dieſe Verzweiflung noch zu ſteigern. Die radikalen Tollheiten der akademiſchen Jugend endlich verdienten unleugbar ſtrenge Ahndung, aber ſie beſchränkten ſich auf drei oder vier Univerſitäten und auch da nur auf kleine Kreiſe,555Beginn der Karlsbader Verhandlungen.und es hieß den patriotiſchen Geiſt der jungen Leute muthwillig auf Ab - wege treiben, wenn man jetzt amtlich die Hochſchulen als die Pflanzſtätten des Hochverraths bezeichnete.

Das Entſetzlichſte blieb doch, daß der Staat, der den Deutſchen ihre Freiheit wiedergewonnen, der von der nationalen Einheit Alles zu hoffen, nichts zu fürchten hatte, jetzt zuerſt und freiwillig das Joch der öſter - reichiſchen Fremdherrſchaft auf ſeinen Nacken nahm und alſo dem Theile der Nation, der nicht über den nächſten Tag hinaus ſah, als ein ge - ſchworener Feind erſchien. Das lichte Geſtirn des fridericianiſchen Staates war verdunkelt durch das Gewölk des Argwohns; die Beſorgniß eines edlen, durch verblendete Rathgeber belogenen Monarchen und die alters - ſchwache Rathloſigkeit Hardenbergs lenkten ihn ab von den Bahnen, auf denen er zur Größe aufgeſtiegen war; und zufrieden erklärte Metter - nich dem ruſſiſchen Geſandten, nachdem Oeſterreich die Teplitzer Ernte eingeheimſt: Preußen hat uns einen Platz überlaſſen, welchen ein Theil der Deutſchen dem preußiſchen Staate zudachte!

Sobald die beiden Großmächte ſich ohne Vorbehalt geeinigt hatten, war der Sieg der öſterreichiſchen Politik entſchieden. In der Karlsbader Ver - ſammlung fand ſie keinen einzigen grundſätzlichen Gegner. Zu den beiden Hannoveranern war inzwiſchen noch der Sachſe Graf Schulenburg hin - zugekommen, gleich ihnen ein ſtrenger Anhänger des altſtändiſchen Staats - weſens; der Mecklenburger Frhr. v. Pleſſen, ein ungleich freierer, be - weglicherer Kopf mußte ſich, nach den Traditionen ſeiner Heimath, dieſer Richtung im Weſentlichen anſchließen. Auch die Vertreter der ſogenannten conſtitutionellen Staaten zeigten eine tadelloſe Gefügigkeit. Graf Rech - berg, der eigentliche Urheber der bairiſchen Staatsſtreichspläne, hegte zwar nach Münchener Brauch einiges Mißtrauen gegen Oeſterreich, aber noch weit mehr Furcht vor der Revolution. Frhr. v. Berſtett erging ſich in ſo gräßlichen Schilderungen von der Verworfenheit der Karlsruher Land - ſtände, daß Gentz meinte: ihn zu hören ſei zugleich ein Gräuel und ein Feſt. Der Naſſauer Marſchall überbot noch den reaktionären Fanatismus des Badeners, und ſelbſt Graf Wintzingerode ließ mindeſtens an Feindſelig - keit gegen die Demagogen nichts zu wünſchen übrig, wenngleich ihm die dornige Aufgabe zufiel, den Ruhm des conſtitutionellen Muſterkönigs nicht ganz bloßzuſtellen.

Die Verſammelten beſtärkten einander wechſelſeitig in ihrer Angſt vor der großen Verſchwörung, und Metternich verſtand ſie ſo geſchickt zu behandeln, daß Bernſtorff dem Staatskanzler ſchreiben konnte: Hier iſt Alles durchzuſetzen, ſpäter nichts mehr! Sie lebten ſich in die öſterreichiſche Anſchauung der deutſchen Dinge ſo gänzlich ein, daß ſie zu - letzt faſt alleſammt ein großes und gutes Werk zu verrichten glaubten und ſich der ſchönen patriotiſchen Einigkeit der deutſchen Kronen aufrichtig freuten. Der Erfolg ſteht in Gottes Hand, ſchrieb Bernſtorff nach voll -556II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.brachter Arbeit, aber immer ſcheint es ein Großes zu ſein, daß die deut - ſchen Fürſten dahin gelangt ſind in dem Sturme der Zeit ihre Grund - ſätze und Abſichten offen, beſtimmt und einmüthig auszuſprechen. *)Bernſtorff an Hardenberg, 2. Sept. 1819.Das Gefühl der Befriedigung war um ſo ſtärker, da die deutſchen Staats - männer ganz unter ſich blieben und keine auswärtige Macht auch nur verſuchte einen Einfluß auf die Karlsbader Verhandlungen zu gewinnen. Noch ließ ſich’s Niemand träumen, daß dies ſchöne Schauſpiel nationaler Selbſtändigkeit und Eintracht nichts anderes war als die Unterwerfung der deutſchen Nation unter die Fremdherrſchaft Oeſterreichs.

Dafür war freilich in der Mannichfaltigkeit des deutſchen Lebens geſorgt, daß jedes Gewicht irgendwo ein Gegengewicht finden und ſelbſt dieſer glänzende Triumph des Hauſes Oeſterreich durch einen kleinen Mißerfolg erkauft werden mußte. Die beiden Großmächte waren übereingekommen, der Karlsbader Verſammlung zunächſt nur drei Gegenſtände aus dem Programme der Teplitzer Punktation zu ſofortiger Beſchließung vorzulegen: es ſollten die Nothgeſetze wider die Preſſe, die Univerſitäten, die Dema - gogen alsbald vereinbart, dagegen die anderen Maßregeln zur Verſtär - kung der Bundesgewalt, und namentlich die Auslegung des Art. 13 bis zu den Miniſter-Conferenzen des nächſten Herbſtes verſchoben werden. In dieſem Sinne ſprach ſich Metternich aus, als er am 6. Auguſt die erſte der dreiundzwanzig Conferenzen, welche fortan bis zum 13. Auguſt faſt allabendlich gehalten wurden, mit einer langen Rede eröffnete; er legte der Verſammlung zugleich eine Punktation vor, welche mehrere Sätze der Teplitzer Verabredung wörtlich wiederholte, aber Alles, was ſich auf die beiden Großmächte allein bezog, wohlweislich verſchwieg. Alle An - weſenden erklärten mit lebhaftem Dank ihre Zuſtimmung; nur Wintzin - gerode beantragte, auch die Auslegung des Art. 13 unter die dringenden Gegenſtände der Berathung aufzunehmen. Sein König war gern bereit, eine von Bundeswegen feſtzuſtellende Grenzlinie für die Rechte der Landtage, wie er ſie früher ſelbſt in Frankfurt beantragt, auch jetzt noch anzunehmen und alſo die Anſprüche ſeines Ludwigsburger Landtags herab - zuſtimmen; nur ſollte dieſe Grenzlinie den beſonderen Intereſſen Würt - tembergs entſprechen.

Mit Freuden ging Metternich auf dieſen unerwarteten Antrag ein. Er faßte die Hoffnung, wie er ſeinem preußiſchen Freunde geſtand, wo - möglich der Abſchließung eines übereilten Vertrages zwiſchen dem König von Württemberg und den Ständen ſeines Landes vorzubeugen, und ent - wickelte ausführlich die neue öſterreichiſche Doctrin, wonach der Art. 13 nur Stände, nicht Repräſentativverfaſſungen erlauben ſollte; eigne ſich der Bund dieſe allein richtige Auslegung förmlich an, dann ſeien auch Baiern und Baden verpflichtet, ihre Verfaſſungen im ſtändiſchen Sinne557Gentz über die deutſchen Landſtände.abzuändern. Die große Mehrzahl ſtimmte eifrig zu; ſelbſt Baiern und Baden ſchienen anfangs geneigt, ſich die Wiener Auslegungskünſte gefallen zu laſſen;*)Bernſtorff an Hardenberg, 8., 13. Auguſt 1819. und im Rauſche des Sieges, in einer Art von Inſpiration , wie er ſelbſt bekennt, verfaßte Gentz am 19. Auguſt eine große Denkſchrift über den Unterſchied zwiſchen den landſtändiſchen und Repräſentativ - Verfaſſungen das Aeußerſte vielleicht, was die federgewandte Ge - wiſſenloſigkeit politiſcher Sophiſtik je geleiſtet hat.

Mit geſchickter Benutzung einiger Sätze Hallers und Adam Müllers führte er darin aus, wie die alten deutſchen Landſtände auf den von Gott ſelbſt geſtifteten Standes - und Rechtsunterſchieden beruhten, das fremd - ländiſche Repräſentativſyſtem auf dem revolutionären Wahne der Volks - ſouveränität und der allgemeinen Rechtsgleichheit; dort eine ſtarke, nur in der Ausübung einzelner Rechte beſchränkte monarchiſche Gewalt, hier die Unterwerfung der Krone unter die Willkür der Volksvertreter, eine Anarchie, die mit den Rechten des Bundes völlig unvereinbar, ſchließlich zur Bildung einer Volksdeputirten-Kammer neben dem Bundestage, mit - hin zur allgemeinen Revolution führen müſſe. Wird den deutſchen Fürſten, die bei der Bildung ihrer Verfaſſungen den einzig zuläſſigen Sinn des Art. 13 verfehlten, nicht zu einer anſtändigen Rückkehr die Hand geboten, ſo bleibt uns allen nichts übrig als dem Bunde zu entſagen. Kein Satz in dieſer Arbeit, der nicht allbekannten hiſtoriſchen Thatſachen dreiſt ins Geſicht ſchlug; denn unzweifelhaft hatte ſich die moderne deutſche Monarchie nur in beſtändigem Kampfe mit den alten Ständen ihre Stärke erworben, die Macht der Krone ſtand in den neuen conſtitutionellen Staaten ungleich höher als in den altſtändiſchen Territorien Sachſen, Hannover, Mecklenburg, wo das ganze Staatsweſen einen oligarchiſchen Charakter trug; und ebenſo gewiß waren die Landtage der ſüddeutſchen Staaten nicht allgemeine Volksvertretungen, ſondern halbſtändiſche Körper - ſchaften, höchſtens die badiſche zweite Kammer konnte als eine Repräſen - tation im neufranzöſiſchen Sinne gelten. Gleichwohl verbarg ſich hinter der ſcheinbar ſo willkürlich ausgeklügelten Doctrin eine ſehr beſtimmte politiſche Abſicht. Wenn Gentz wider das revolutionäre Repräſentativ - ſyſtem eiferte, ſo hatte er die Theorie Rottecks im Auge, der allerdings die Rechte der Volksvertretung aus dem Grundſatze der Volksſouveränität ableitete; und wenn er die alten deutſchen Landſtände feierte, ſo dachte er dabei nicht an die ſtürmiſchen Zeiten der ſtändiſchen Libertät, ſondern an die wohlgezähmten Poſtulatenlandtage des neuen Oeſterreichs; dies Stillleben der k. k. Kronlande ſollte für ganz Deutſchland das Muſter werden.

Gentz’s Denkſchrift wirkte in der Geſchichte der deutſchen Parteikämpfe lange nach; ſie bezauberte damals ſchon den erregbaren Geiſt des Kron -558II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.prinzen von Preußen, der hier endlich eine meiſterhafte Formulirung ſeiner eigenen Ideen fand, und bildete ſpäterhin, als ſie auch weiteren Kreiſen bekannt wurde, lange Zeit hindurch das große Arſenal, aus dem ſich die altſtändiſche Partei in Preußen ihre Waffen holte. In jenem Augenblicke aber war ſie ein ſchwerer politiſcher Fehler, nachtheilig für Metternichs eigene Pläne. Die Vertreter von Baiern und Baden wetteiferten mit dem Grafen Münſter in ſcharfen Anklagen wider den Uebermuth der Kammern. Wintzingerode empfahl dringend, durch ein Bundesgeſetz das Wahlrecht auf die anſehnlichen Grundbeſitzer zu beſchränken und vornehmlich die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen zu unter - ſagen, dieſe ausländiſche Erfindung, die von allen Staatsmännern in Karlsbad einſtimmig als ſchlechthin demagogiſch gebrandmarkt wurde; er beantragte dies, ſicherlich nicht ohne Ermächtigung, in demſelben Augen - blicke, da ſein König dem Landtage in Ludwigsburg die Oeffentlichkeit und ein wenig beſchränktes Wahlrecht anbieten ließ. Bei ſolcher Geſin - nung der ſüddeutſchen Höfe ließ ſich ein Bundesgeſetz, das die Rechte der Landtage zu Gunſten der Kronen beſchränkte, unfehlbar durchſetzen, wenn Oeſterreich klug verfuhr.

Statt deſſen verlangte Metternich die Rückkehr zu den alten Land - ſtänden, und dies war für den Württemberger der Uebel ärgſtes , eine ſchlechthin unannehmbare Zumuthung. In ſeinem langen Streite mit den Altrechtlern hatte König Wilhelm nur zu ſchmerzlich erfahren, daß die gerühmten altdeutſchen Stände leicht gefährlicher werden konnten als eine moderne Volksvertretung. Hier blieb er feſt, nicht aus Liberalismus, ſondern weil er für die Macht ſeiner Krone fürchtete. Eine ganze Reihe württembergiſcher Denkſchriften, zweideutig, widerſpruchsvoll, in allen Farben ſchillernd, wie die Politik des Schwabenkönigs ſelber, bekämpfte den Vorſchlag Oeſterreichs. Einmal verſtieg ſich Wintzingerode zu der kühnen Behauptung: der Grundſatz der Volksſouveränität ſei bereits zu - geſtanden: die Partie iſt angefangen, die Regierungen haben dieſen Point vergeben zu können geglaubt; wie ſehr ſie es bereuen mögen, die Partie muß ausgeſpielt werden. Ein andermal wollte er umgekehrt dies gefähr - liche Princip von Bundeswegen verboten wiſſen. In allen dieſen Win - dungen und Wendungen blieb nur Eines ſicher: daß der württembergiſche Miniſter die Wiederherſtellung der alten Landſtände unter keinen Um - ſtänden zugeben durfte. Inzwiſchen war es ihm auch gelungen, die Miniſter von Baiern, Baden und Naſſau zu ſich hinüberzuziehen; alle dieſe rheinbündiſchen Höfe kannten keinen ſchlimmeren Feind ihrer monar - chiſchen Vollgewalt als den Adel, der durch die Erneuerung der alten Landſtände unvermeidlich an Macht gewinnen mußte. So trat die mo - dern-bureaukratiſche Staatsanſicht des Südens mit einem male den alt - ſtändiſchen Anſchauungen Oeſterreichs und der norddeutſchen Mittelſtaaten ſcharf und beſtimmt gegenüber. Der preußiſche Miniſter, der ſich lebhaft559Auslegung des Art. 13.gegen das Repräſentativſyſtem, dies fremde auf einen alten Stamm ge - pfropfte Reis ausgeſprochen hatte, fand es jetzt doch räthlich, um der Eintracht willen die Verlegenheiten der württembergiſchen Regierung nach Möglichkeit zu berückſichtigen . *)Bernſtorff an Hardenberg, 25. Auguſt 1819.

Man beſchloß endlich, wie Oeſterreich urſprünglich beabſichtigt hatte, die bundesgeſetzliche Auslegung des Art. 13 auf die Wiener Conferenzen zu verſchieben und ſich vorderhand mit der Aufſtellung eines allgemeinen Grundſatzes zu begnügen, welchem alle Bundesſtaaten beiſtimmen könnten. Gentz mußte ſeine Denkſchrift vorläufig zurücklegen und arbeitete nun - mehr einen Präſidialvortrag aus, der als Einleitung der Karlsbader Be - ſchlüſſe dem Bundestage vorgeleſen werden ſollte: darin ward feierlich Verwahrung eingelegt gegen die demokratiſchen Grundſätze, mit denen man das unzweideutige landſtändiſche Princip fälſchlicherweiſe verwechſelt habe, und die Erwartung ausgeſprochen, daß die deutſchen Regierungen, bis zum Erlaß eines Bundesgeſetzes, dem Art. 13 nur eine der Aufrecht - erhaltung des monarchiſchen Princips und des Bundesvereins vollkommen angemeſſene Auslegung geben würden. Dieſe neue Formel fand ein - ſtimmige Annahme und ſie entſprach auch, trotz ihrer gefährlichen Dehn - barkeit, den gegebenen Zuſtänden beſſer als die alte, da dieſer Bund mit ſeiner abſolutiſtiſchen Centralgewalt nur beſtehen konnte, wenn in ſeinen Gliederſtaaten die monarchiſche Macht lebendig blieb. Dergeſtalt ward der Verſuch einer gänzlichen[Umdeutung] des Art. 13 für diesmal vereitelt, allerdings durch den Widerſpruch der ſüddeutſchen Höfe, aber wahrlich nicht durch ihre Verfaſſungstreue, ſondern durch ihre Furcht vor den alten Ständen.

Die anderen Verhandlungen dagegen verliefen ſo leicht und ſchnell, daß Bernſtorff ſelbſt durch dies Uebermaß der Einmüthigkeit in Verlegen - heit gerieth und dem öſterreichiſchen Miniſter erklärte: ſein König ſei nur an die Teplitzer Punktation gebunden und müſſe ſich für alles Weitere die Genehmigung vorbehalten. **)Bernſtorff an Hardenberg, 13. Aug. 1819.Das Geheimniß der Berathungen blieb unverbrüchlich bewahrt. Buol und Goltz in Frankfurt empfingen nur den lakoniſchen Befehl, den Beginn der Ferien des Bundestags für jetzt noch hinauszuſchieben. Erſt am 18. Auguſt, als die Verhandlungen ſich ſchon dem Ende zuneigten, ſendeten Metternich und Bernſtorff an den König von Dänemark, als Herzog von Holſtein, eine kurze vertrau - liche Mittheilung über den Zweck der Conferenzen und baten zugleich das Kopenhagener Cabinet, ſeinen Bundesgeſandten zur unbedingten Annahme der bevorſtehenden Präſidialanträge anzuweiſen: Eile ſei nöthig, wegen der nahenden Ferien des Bundestags, desgleichen volle Einträchtigkeit, wegen des Eindrucks auf die Nation; alſo wetden Ew. Exc. Sich durch560II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.jeden Tag, um den früher Sie den k. Geſandten ermächtigen werden, ein wahres Verdienſt um Deutſchland erwerben. Beigelegt war dieſem Schreiben nichts weiter als der Entwurf des proviſoriſchen Bundes-Preß - geſetzes. *)Metternich und Bernſtorff an Miniſter Roſenkrantz in Kopenhagen, 18. Aug. 1819.Wenn ein königlicher Hof mit ſo kärglichen Nachrichten abge - ſpeiſt wurde, ſo nahm man vollends auf die kleinen Staaten gar keine Rückſicht. Den meiſten traute man den Muth des Widerſtandes nicht zu und verſagte ihnen jede Mittheilung. Andere wurden unter der Hand bedroht; gegen ungeziemende Bemerkungen der freien Städte haben wir uns vorgeſehen, meldete Bernſtorff dem Staatskanzler. **)Bernſtorff an Hardenberg, 2. Sept. 1819.Um den ſtörriſchen Kurfürſten von Heſſen nicht allzu ſehr zu reizen, lud man nachträglich deſſen Wiener Geſandten, Frhr. v. Münchhauſen ein, der ſich dann noch an den ſechs letzten Sitzungen betheiligen durfte. Miniſter v. Fritſch dagegen ward mit offenbarem Hohne behandelt, als er im Auf - trage des Großherzogs Karl Auguſt zu Karlsbad erſchien, um zu erfahren, was dort vorgehe. Metternich ließ ihn nur als Gaſt einer einzigen, wenig bedeutſamen Sitzung beiwohnen und ſchickte ihn dann ohne jede weitere Auskunft wieder heim; Gentz aber ſchrieb zufrieden in ſein Tagebuch: die unſchuldige Geſellſchaft habe jetzt Karlsbad verlaſſen.

Um die Ausführung der Nothgeſetze wider die Demagogen zu ſichern, wurde zunächſt eine proviſoriſche Executionsordnung beſchloſſen, welche den Bundestag ermächtigte, die Vollziehung aller Bundesbeſchlüſſe durch eine Commiſſion zu überwachen und nöthigenfalls gegen einen widerſetzlichen Bundesſtaat militäriſche Zwangsmittel zu gebrauchen. Bernſtorff, der eine ſo weite Ausdehnung der Rechte des Bundes bedenklich fand, erhielt aus Berlin die beſtimmte Weiſung zur Annahme des Geſetzes: ohne kräftige executive Maßregeln, ſchrieb ihm der Staatskanzler, werden wir keinen Bundesbeſchluß durchſetzen, ſonſt könnte ſelbſt ein Staat wie Bremen jede Wirkſamkeit des Bundes vereiteln. ***)Hardenberg an Bernſtorff, 17. Auguſt 1819.So erhielt denn der Bundestag eine Befugniß zugewieſen, welche ſcharf gehandhabt wohl zur Bändigung des Partikularismus führen konnte; aber ſelbſt dieſe an ſich heilſame Verſtärkung der Centralgewalt erregte im Volke nur Un - willen, weil ſie lediglich den Zwecken der Demagogenverfolgung dienen ſollte.

Darauf folgte der zweite Geſetzentwurf über die Univerſitäten. Gentz hatte dazu einen einleitenden Präſidialvortrag ausgearbeitet, der von fri - volen Anſchuldigungen überfloß. Er behauptete, die Hochſchulen ſeien ihrem urſprünglichen Charakter, ihrem in beſſeren Zeiten erworbenen Ruhme fremd geworden, und beſchuldigte einen großen Theil der akade - miſchen Lehrer , daß ſie die Köpfe der Jugend mit dem Phantom einer ſogenannten weltbürgerlichen Bildung erfüllt hätten wahrlich das561Executions-Ordnung. Univerſitäten.Letzte, was ſich den chriſtlich-germaniſchen Hitzköpfen vorwerfen ließ. Auf ſolche Erwägungen geſtützt, verlangte das Geſetz an jeder deutſchen Uni - verſität die Anſtellung eines außerordentlichen Regierungs-Bevollmäch - tigten, der die Ordnung zu überwachen, den Geiſt der Lehrer zu beobachten und ihm eine heilſame Richtung zu geben hätte. Wer wegen Pflicht - verletzung oder Verbreitung verderblicher Lehren vom Katheder entfernt würde, ſollte gemäß dem alten Lieblingsgedanken Metternichs in keinem deutſchen Staate jemals ein Lehramt erhalten. Endlich wurden die alten Geſetze gegen die akademiſchen Verbindungen wieder eingeſchärft und insbeſondere auf die Burſchenſchaft ausgedehnt, da dieſem Verein die ſchlechterdings unzuläſſige Vorausſetzung einer fortdauernden Gemeinſchaft und Correſpondenz zwiſchen den verſchiedenen Univerſitäten zum Grunde liegt . Alſo ward der naturgemäße Verkehr zwiſchen den einzigen Staats - anſtalten Deutſchlands, welche noch nicht gänzlich dem Partikularismus anheimgefallen waren, jetzt von Bundeswegen verboten. Das Geſetz war nach Form und Inhalt eine rohe Beleidigung der deutſchen Univerſitäten und würde die akademiſche Freiheit vernichtet haben, wenn ihm nicht die meiſten Regierungen, ihren guten alten Traditionen getreu, eine ziemlich milde Auslegung gegeben hätten.

Bernſtorff, neben Gentz der Beſtgebildete unter den Karlsbader Staatsmännern, wollte dieſe ſchwierige Frage nicht ſo über das Knie gebrochen ſehen; er beantragte, man ſolle hier nur einige allgemeine disciplinariſche Grundſätze vereinbaren und das Weitere den gründlicheren Berathungen des Bundestags überlaſſen. Aber alle ſeine Genoſſen er - widerten einſtimmig, daß Gefahr im Verzuge ſei, und da auch Harden - berg, der jetzt ganz in Wittgenſteins Fahrwaſſer ſegelte, die Anſicht der Mehrheit theilte, ſo konnte Bernſtorff nur noch die eine Milderung durch - ſetzen, daß die Rechte des Regierungsbevollmächtigten unter Umſtänden auch dem bisherigen Curator übertragen werden durften, alſo doch nicht alle Univerſitäten förmlich unter polizeiliche Aufſicht geſtellt wurden. Im Uebrigen nahm man die öſterreichiſchen Vorſchläge faſt unverändert an; der maßvolle und ſachkundige Bericht der Bundestagscommiſſion über die Univerſitäten, der noch während der Conferenzen dem Fürſten Metternich zuging, blieb unbeachtet liegen. *)Bernſtorff an Hardenberg, 25. Aug.; Goltz’s Bericht an Bernſtorff, Frankfurt 28. Auguſt 1819.

Die treibende Kraft der Conferenzen, die Angſt des Kaiſers Franz vor jeder Beunruhigung ſeiner Erblande, verrieth ſich am deutlichſten in dem dritten Entwurfe, dem proviſoriſchen Preßgeſetze. Auch zu dieſem Geſetze, wie zu allen übrigen, hatte Gentz einen einleitenden Präſidialvortrag aus - gearbeitet, der in grellen Farben ſchilderte, wie jeder Bundesſtaat durchTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 36562II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.die Preßfreiheit ſeiner deutſchen Nachbarlande gefährdet ſei, und wie dieſe Gefahr neuerdings durch die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen noch geſteigert werde. Noch unzweideutiger ſprach ſich Metternich in den Sitzungen aus: es liege im Weſen des Bundes, daß ſeine Glieder ein - ander ihre moraliſche und politiſche Unverletzlichkeit, auch gegen Angriffe von Seiten der Preſſe, verbürgten; die Preßfreiheit ſei aber unzweifelhaft ſchädlicher für die großen Staaten, die in Deutſchland von dreißig Mittel - punkten zugleich angegriffen werden könnten, als für die kleinen, deren Schriftſteller ſtets bereit ſein würden die heimiſche Regierung zu ſchonen, wenn ſie nur gegen die mächtigen Nachbarn freies Spiel behielten. Alſo um ſich ſelber vor den Angriffen der deutſchen Preſſe zu ſchützen, bean - tragte Oeſterreich, daß die Nothwendigkeit vorbeugender Maßregeln , die Cenſur, als Regel anerkannt würde der Sache nach eine offenbare Verletzung des Art. 18 der Bundesakte, der zwar die Cenſur nicht aus - drücklich verbot, aber die Preßfreiheit als Grundſatz aufſtellte. Alle Zeit - ſchriften und alle Bücher unter zwanzig Bogen ſollten während der nächſten fünf Jahre der Cenſur unterliegen, doch ſtand es jedem Bundes - ſtaate frei, auch größere Werke der Cenſur zu unterwerfen; auch hier wollte man nicht ein mindeſtes Maß der Freiheit, ſondern eine unüber - ſchreitbare letzte Grenze vorſchreiben.

Da mithin die Zeitungen fortan nichts ohne Genehmigung der Staatsgewalt veröffentlichen durften, ſo zog das Preßgeſetz ſofort den Schluß, daß jede deutſche Regierung dem Bunde wie den einzelnen Bundesſtaaten für das Wohlverhalten ihrer Preſſe verantwortlich ſei: auf Anrufen einer beleidigten Regierung oder nach freiem eigenen Er - meſſen ſollte der Bundestag auch ſeinerſeits Zeitſchriften und Bücher ver - bieten; der Herausgeber einer alſo unterdrückten Zeitung aber durfte gemäß der Teplitzer Abrede binnen fünf Jahren nicht wieder zu einer Redaktion zugelaſſen werden. Dieſe Verantwortlichkeit der ſouveränen deutſchen Fürſten vor einer Geſandtenconferenz war allerdings eine ſtaats - rechtliche Ungeheuerlichkeit; aber da die Karlsbader Staatsmänner alle - ſammt die Preſſe als ihren gemeinſamen Feind betrachteten, ſo nahmen ſie ſelbſt dieſen Eingriff in das Heiligthum der Souveränität ohne Wider - ſpruch hin, ſie hielten für ſelbſtverſtändlich, daß jede wohlgeſinnte Re - gierung unter allen Umſtänden die Unterdrückung einer Zeitung freudig begrüßen würde. Hardenberg zeigte auch diesmal, wie vollſtändig ihn die Partei Wittgenſteins jetzt beherrſchte. Auf ſeinen ausdrücklichen Befehl mußte Bernſtorff durchſetzen, daß die Cenſurfreiheit erſt für Schriften von mehr als zwanzig Bogen erlaubt wurde; Oeſterreich hatte ſchon die Schriften von mehr als fünfzehn Bogen frei geben wollen. *)Hardenberg an Bernſtorff, 25. Aug. 1819.

Auch für ein anderes Gebiet unſeres politiſchen Lebens wurden dieſe563Bundes-Preßgeſetz.Preßverhandlungen[folgenreich]. Unter den Gründen nämlich, welche die Nothwendigkeit der Cenſur erweiſen ſollten, hob Metternich mit beſonderem Nachdruck hervor, daß die Demagogen die Aburtheilung der Preßvergehen ganz folgerichtig den Geſchworenen anheimzugeben hofften. Das Schwur - gericht aber, ſammt dem öffentlichen und mündlichen Verfahren, ward von ſämmtlichen Mitgliedern der Conferenzen als ein Axiom der Revo - lution, wie Gentz ſich ausdrückte, unbedingt verworfen. Die thörichten Lob - preiſungen, welche der badiſche Landtag dm Palladium der Volksfreiheit geſpendet hatte, fanden jetzt die unvermeidliche Antwort. Es war der Fluch dieſer Tage des Haſſes und des Argwohns, daß beide Parteien ſich nun - mehr einen Katechismus ſtarrer politiſcher Dogmen bildeten, die von beiden Seiten mit der ganzen Verbiſſenheit deutſchen Parteihaſſes feſtge - halten, auf Jahrzehnte hinaus jede Verſtändigung verhinderten. Das ge - heime Gerichtsverfahren, das doch nur dazu diente, den im Ganzen höchſt achtungswerthen deutſchen Richterſtand unverdienten Verdächtigungen aus - zuſetzen, erſchien den Doktrinären der Reaktion als eine Stütze des mon - archiſchen Princips .

Etwas lebhafter, aber auch keineswegs unfriedlich verliefen die Ver - handlungen über das vierte Geſetz, das die Unterdrückung der demago - giſchen Umtriebe bezweckte. Obwohl bisher noch kein Anzeichen einer revolutionären Bewegung entdeckt worden war, zu deren Bändigung die beſtehenden Gerichte nicht ausgereicht hätten, ſo ſtimmten doch alle Theil - nehmer der Conferenzen überein in der Anſicht, daß die ungeheuere über ganz Deutſchland verzweigte Verſchwörung nur durch eine außerordentliche Bundes-Centralbehörde bewältigt werden könne. Zweifelhaft blieb nur, ob der Bund blos die Unterſuchungen leiten oder auch richten ſolle. Durch die Einſetzung eines außerordentlichen Bundesgerichts wäre die be - ſtehende Gerichtsverfaſſung aller Bundesſtaaten ſchwer verletzt und der allgemein anerkannte Grundſatz, daß Niemand ſeinem natürlichen Richter entzogen werden dürfe, gebrochen worden. Daher wünſchte Bernſtorff, daß man ſich mit einer Central-Unterſuchungscommiſſion begnüge. *)Bernſtorff an Hardenberg, 8. Aug. 1819.Der Staatskanzler aber fragte Kircheiſen und Kamptz um Rath, und dieſer, noch im erſten wilden Eifer der Demagogenjagd, fürchtete nichts ſo ſehr wie eine mögliche Freiſprechung der Bonner Demagogen durch die rhei - niſchen Schwurgerichte, von denen in dieſem Falle allerdings kein unpar - teiiſcher Wahrſpruch zu erwarten ſtand. Als tüchtiger Juriſt wußte Kamptz aber auch beſſere Gründe für ſeine Anſicht anzuführen. Glaubte man im Ernſt an eine ſchwere den ganzen Bund bedrohende Gefahr und dieſer Wahn beſtand leider am preußiſchen Hofe ſo war die Ein - ſetzung einer Bundes-Unterſuchungscommiſſion unbeſtreitbar eine gefähr - liche halbe Maßregel; denn bei der Mannichfaltigkeit der deutſchen Ge -36*564II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.richtsverfaſſungen konnte es gar nicht ausbleiben, daß die Urtheile der Gerichte über die Demagogen einander widerſprachen, und die Bundes - behörde, welche die Unterſuchungen leitete, alſo dem allgemeinen Haß und Spott verfiel. Darum erwiderte Hardenberg, die Bundes-Centralcom - miſſion ſei nur dann wirkſam, wenn ſie auch richten dürfe; auch im alten Reiche hätten die Reichsgerichte den Landfriedensbruch ſtets unmittelbar vor ihr Forum gezogen. *)Hardenberg an Bernſtorff, 13. Aug. 1819.Er überſendete zugleich einen Entwurf für die Errichtung eines proviſoriſchen Bundesgerichts, welchen Bernſtorff nun - mehr vertheidigen mußte.

Die meiſten der Karlsbader Staatsmänner zeigten ſich anfangs dem preußiſchen Vorſchlage geneigt, auch Metternich ſtimmte aus vollem Herzen bei. Da erhob ſich ganz unerwartet ein mächtiger Gegner: Kaiſer Franz. Es war wohl der einzige menſchlich verſöhnende Zug in der Politik dieſes ſtarren Despoten, daß er die beſtehende Ordnung gegen Hoch und Niedrig mit Ernſt zu wahren ſuchte; ſeine Schmeichler nannten Gerechtigkeit, was im Grunde nur ein pedantiſches Haften am Althergebrachten war. Wenn ſich Rebellen wieder ihn ſelber erhoben, dann ſchrak er vor Kriegs - gerichten und grauſamen Ausnahmemaßregeln keineswegs zurück; aber ſo lange ihm die Gefahr nicht nahe auf den Leib rückte, ſollte die Juſtiz ihren gewohnten Gang gehen. Dazu kam ſein altes Mißtrauen gegen die unruhigen Deutſchen draußen im Reich; auf ſeine k. k. Gerichte konnte er ſich verlaſſen, deutſchen Richtern wollte er einen öſterreichiſchen Hoch - verräther nicht anvertrauen. Dazu kam endlich und dies war der Humor der Sache daß er an die große deutſche Verſchwörung ſelber nicht recht glaubte und nur die Angſt der anderen Höfe ausbeuten wollte; darum befürchtete er, ein außerordentliches Bundesgericht werde vielleicht gar kein ernſtes Ergebniß bringen und alſo lächerlich werden. Sein oberſter Richter, Freiherr v. Gärtner, ein alter Reichsjuriſt aus Kamptz’s Schule, mußte für die Conferenzen ein Gutachten abfaſſen, das unter Berufung auf die privilegia de non evocando der Kurfürſten ausführte, die Souveränitätsrechte der deutſchen Fürſten blieben nur dann gewahrt, wenn die Bundes-Centralcommiſſion ſich auf die Leitung der Unterſu - chungen beſchränke.

Umſonſt verſuchte Kamptz ſeinen alten Schüler zu belehren. Die in Karlsbad ausgeſprochenen laudes Gaertnerianae ſchrieb er ihm mit gewohnter Aufgeblaſenheit waren mir um ſo angenehmer als ſie größtentheils mir gebühren, weil, wie Du hoffentlich noch jetzt dankbar erkennſt, Du meinem Beiſpiel und meinen guten Lehren das was Du weißt verdankſt. Dann ſetzte er ihm auseinander, wie gefährlich es ſei, wenn man das Urtheil über die Demagogen ſo vielen ſubalternen Richtern überlaſſe, ihrer Schwäche, ihrem Buhlen um die Volksgunſt, ihrer Furcht565Die Central-Unterſuchungscommiſſion.vor den Zeitungen; das heiße das coimperium der Schreier, das doch jetzt vernichtet werden ſolle, von Neuem befeſtigen. *)Kamptz an Gärtner, 31. Aug. 1819.Vergeblich ſendete Hardenberg dies Schreiben nach Karlsbad und gab den Conferenzen zu erwägen, daß man ein vom Deutſchen Bunde eingeſetztes Tribunal doch nicht als ein fremdes Gericht betrachten dürfe; eine blos unterſuchende Centralcommiſſion, das ſagte er voraus, werde ſich als völlig nutzlos erweiſen und nur böſes Blut erregen. **)Hardenberg an Bernſtorff, 25. Aug., 1. Sept. 1819.Kaiſer Franz ließ ſich nicht überzeugen. Am 28. Auguſt gab er ſeine letzte Entſcheidung: Ich werde mich nie entſchließen zu beſtimmen: wer ſoll richten? bis ich nicht genau geſehen habe: was ſoll gerichtet werden? Was wäre es, wenn die gemeinſchaftliche Commiſſion nicht ſehr erhebliche oder wenige Data von Wichtigkeit fände? Was wäre es, wenn die Glieder dieſer Com - miſſion ſelbſt nicht gleiche Anſichten hegten? ***)Allerhöchſte Entſchließung, Schönbrunn, 28. Aug. 1819.Dieſe Haltung des Kaiſers genügte, um die Mehrheit in Karlsbad umzuſtimmen. †)Bernſtorff an Hardenberg, 7. Sept. 1819.

Auch Metternich hatte, ſehr ungern, im Sinne ſeines Monarchen reden müſſen und ganz ſo cyniſch wie dieſer ausgeſprochen: man wiſſe ja noch gar nicht, wie viele Hochverräther ſich als Reſultat der Com - miſſion ergeben würden ; ein feierliches Bundesgericht mit einem kleinen Reſultate könne weit eher compromittirend als heilbringend ſein . So blieb es denn dabei, daß die Central-Commiſſion nur die Unterſuchung gegen die Demagogen leiten ſollte; doch behielt man dem Bundestage das Recht vor, ihr nöthigenfalls auch richterliche Befugniſſe beizulegen. Auf das Dringendſte bat Metternich den preußiſchen Miniſter, ſich in das Mißgeſchick zu fügen und die Streitfrage nicht am Bundestage nochmals anzuregen: ſo würden wir unſer Spiel verlieren; je nach dem Er - gebniß der Unterſuchung bleibe es ja noch immer möglich, die Central - commiſſion zu einem Bundesgerichte zu erweitern. ††)Metternich an Bernſtorff, 5. Sept. 1819, mit einer Denkſchrift über die Central - Unterſuchungscommiſſion.Vierzehn Tage nach gefaßtem Bundesbeſchluſſe ſollte die Commiſſion in Mainz zuſammen - treten, ſofort den geſammten Thatbeſtand der demagogiſchen Umtriebe feſtzuſtellen ſuchen, Weiſungen an die Unterſuchungsbehörden der Einzel - ſtaaten ertheilen, die Akten von ihnen einfordern, auch nach Gutdünken einzelne Verdächtige ſelber verhören und ſchließlich zur Aufklärung der Nation einen umfaſſenden Bericht über die Ergebniſſe erſtatten. Um die Erneſtiner und die freien Städte fern zu halten, einigte man ſich in Karlsbad zugleich über die ſieben Staaten, welche die ſieben richterlichen Mitglieder der Centralcommiſſion ernennen ſollten; man wählte Oeſter - reich, Preußen, Baiern, Hannover, Baden, Naſſau und dazu noch Darm -566II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.ſtadt, damit die von den Conferenzen ausgeſchloſſenen Höfe doch auch einen Vertreter fänden.

Dergeſtalt ward durch den Kaiſer Franz verhindert, daß dieſelben Höfe, welche auf dem Wiener Congreſſe das von Preußen vorgeſchlagene ordentliche Bundesgericht verworfen hatten, vier Jahre darauf ein außer - ordentliches Bundestribunal zur Abſtrafung der Demagogen einſetzten. Was man ſtatt deſſen beſchloß war freilich faſt noch ärger. Ein Tribual bot durch die Formen des gerichtlichen Verfahrens doch immerhin einige Sicherheit gegen die Willkür; die neue Central-Unterſuchungscommiſſion hingegen, die nur durch Anzeigen, Befehle und Verhaftungen in die regelmäßige Rechtspflege eingreifen durfte, erſchien von Haus aus als ein Werkzeug der Tyrannei, ſie erhielt im Volke ſogleich den Namen der ſchwarzen Commiſſion, wurde durch die widerſprechenden Urtheile der Landesgerichte Tag für Tag Lügen geſtraft und verfiel, wie Hardenberg vorhergeſehen, dem allgemeinen Abſcheu.

Die vier Geſetze waren alleſammt genehmigt, und was zur Aus - legung des Art. 13 noch fehlte, konnte auf den Wiener Conferenzen, zu denen man ſich im November wieder zuſammenfinden wollte, leicht nach - geholt werden, da alle Theile über die Aufrechterhaltung des monarchi - ſchen Prinzips einig waren. Selbſt eine Erweiterung der Rechte der Mehrheit am Bundestage, wie ſie die beiden Großmächte in Teplitz geplant hatten, ließ ſich in Wien vielleicht noch erreichen. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen Metternichs;*)Bernſtorff an Hardenberg, 2. Sept. 1819. niemals, ſo ließ er ſich vernehmen, hat eine muſterhaftere Eintracht und Unterwürfigkeit geherrſcht als auf unſeren Conferenzen. Als man am 1. Sept. noch einmal zum Abſchied zuſammen trat, war Alles glückſelig, und einer der Miniſter fühlte ſich ſo hoch begeiſtert, daß er den Genoſſen vorſchlug, den Ambroſianiſchen Lobgeſang anzu - ſtimmen. Natürlich ward am Schluſſe dieſer auf immer denkwürdigen Vereinigung dem Meiſter der Staatskunſt, der Alles ſo wohl geleitet, der vereinte Ausdruck unbegrenzter Verehrung und Dankbarkeit dar - gebracht und auch dem großen Talente des Hofraths v. Gentz das ver - diente Lob gezollt. Wunderbar in der That, was in wenigen Tagen gelungen war. Dieſer ſchwerfällige Bund, der zu jeder Entwickelung unfähig ſchien, riß plötzlich mit revolutionärem Ungeſtüm politiſche Rechte an ſich, welche dem alten Reiche nie zugeſtanden hatten; er maßte ſich die Herrſchaft an ſelbſt über ſolche Zweige des inneren Staatslebens, welche die kraftvolle Centralgewalt des heutigen Deutſchen Reichs den Territorien unverkümmert überläßt; er ſchritt über die Schranken ſeines Grundgeſetzes ſo rückſichtslos hinaus, daß ſcharfſinnige Staatsrechtslehrer wie Albrecht behaupten konnten, ſeit den Karlsbader Beſchlüſſen habe der deutſche Bund den Charakter eines völkerrechtlichen Staatenbundes auf -567Ergebniß der Conferenzen.gegeben und ſich in einen Bundesſtaat verwandelt eine Anſicht, welche auch von manchen Gehilfen Metternichs, namentlich von Ancillon, getheilt wurde. Und alle dieſe Beſchränkungen ihrer Souveränität ließen ſich Deutſchlands Fürſten ohne Widerſpruch durch Oeſterreich auferlegen. Triumphirend ſchrieb Metternich: Wenn der Kaiſer bezweifelt, daß er Kaiſer von Deutſchland iſt, ſo irrt er ſich ſehr.

Niemals ſeit es eine preußiſche Großmacht gab, niemals mehr ſeit den Tagen Karls V. und Wallenſteins hatte das Haus Oeſterreich der deutſchen Nation den Fuß ſo hart auf den Nacken ſetzen dürfen. Ganz ſo herriſch wie einſt Kaiſer Karl auf dem geharniſchten Reichstage den beſiegten Schmalkaldenern das Augsburger Interim aufzwang, rief jetzt Metternich einer neuen nationalen Bewegung der Deutſchen ſein Halt zu; ebenſo verächtlich wie damals Granvella über die peccata Germaniae lachte, höhnte Gentz über die Bedrängniß des Weimariſchen Altburſchen und ſeines liberalen Anhangs; und faſt ſo ergeben wie damals der ſchwache Joachim II. ſtand jetzt wieder ein Hohenzoller neben dem öſterreichiſchen Herrſcher. Und doch mußte Oeſterreich bald erfahren, daß jene Krone, welche ſich Kaiſer Franz einſt ſelber vom Haupte geriſſen hatte, durch die Gaunerkünſte einer verlogenen Diplomatie nicht wieder zu gewinnen war. Auch in früheren Zeiten war Oeſterreichs Herrſchaft für die Deutſchen immer ein Unheil geweſen; je lichter das Geſtirn der Habsburger er - glänzte, um ſo tiefer ſtets lag die deutſche Nation darnieder. Jener große Kaiſer, der einſt in Augsburg den Proteſtantismus bändigen wollte, bot den Deutſchen immerhin einen Erſatz für die verlorene Freiheit, einen mächtigen Gedanken, der einen Julius Pflugk begeiſtern konnte, die grandioſe Idee des katholiſchen Weltreichs. Was aber vermochten dieſe kleinen Seelen, die jetzt in Kaiſer Karls Fußtapfen zu treten verſuchten, der Nation zu bieten? Nichts als Druck und Zwang, nichts als eine gewiſſenloſe Ver - bildung des Bundesrechts, welche den Deutſchen ihre einzige nationale Inſtitution zum Ekel machen mußte, und in den Kauf noch die Lüge, daß Deutſchland vor einer eingebildeten Gefahr gerettet worden ſei.

Für die realen Intereſſen der Nation hatte Metternich nur ein ſpöttiſches Lächeln. Eine Mahnung der kleinen Höfe an das noch immer ungelöſte Verſprechen der deutſchen Verkehrsfreiheit fertigte der öſterrei - chiſche Staatsmann mit einigen leeren Redensarten ab. Dem preußiſchen Miniſter hatte er verſprechen müſſen, daß der widerliche Streit über die Bundesfeſtungen jetzt endlich zum Abſchluß kommen ſolle; auf Preußens Verlangen waren auch Langenau und Wolzogen bereits in Karlsbad er - ſchienen, der Letztere zum Schrecken der ſtrengen öſterreichiſchen Partei, die ihn als einen Sendling der deutſchen Revolutionäre beargwöhnte. Aber Metternich fand über ſo vielen wichtigeren Geſchäften keine Zeit, um mit den beiden Generalen die verabredete Berathung zu halten. *)Bernſtorff an Hardenberg, 25. Aug., 2. Sept. 1819.Was galt568II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.auch dieſer Staatskunſt die Sicherung der deutſchen Grenzen neben den großen Culturaufgaben der Cenſur und der Studentenverfolgung? Und wie die neuen Beherrſcher Deutſchlands unvergleichlich kleiner und nichtiger waren als weiland die habsburgiſchen Helden des Schmalkaldener und des dreißigjährigen Krieges, wie ſie ihren Erfolg nicht der Macht ſiegreicher Waffen, ſondern allein der thörichten Angſt der deutſchen Höfe verdankten, ſo trat auch der unvermeidliche Rückſchlag nicht jäh und gewaltſam ein, wie einſt in den Tagen Moritz’s und Guſtav Adolfs; er erfogte langſam, unmerklich, aber um ſo ſicherer. Oeſterreich hatte den Deutſchen einen Stein ſtatt eines Brotes gereicht. Sobald dann Preußen den Entſchluß faßte, ſich der Noth dieſes Volkes ehrlich anzunehmen und ihm die wirth - ſchaftliche Einheit zu bringen, welche allein Preußen ſchaffen konnte, von dieſem Augenblicke an verſank das Geſpenſt des deutſchen Dualismus, das jetzt noch einmal ſeine grinſenden Züge gezeigt hatte, nach und nach im Nebel, und der denkende Theil der Nation begann zu erkennen, daß der in Karlsbad ſo übermüthig angedrohte Austritt Oeſterreichs aus dem Deutſchen Bunde die einzig mögliche Rettung des Vaterlandes war.

Bis dahin war noch ein weiter Weg. Vorderhand ſchwelgte die Hofburg im Siegesjubel. In einem zärtlichen Handbillet dankte Kaiſer Franz dem Könige von Preußen für das kräftige gemeinſame Wirken gegen die Störer der Ordnung der Dinge, auf welcher der Beſtand der Throne ruht. *)Kaiſer Franz an König Friedrich Wilhelm, 29. Auguſt 1819.Gentz rühmte dieſe größte retrograde Bewegung, die ſeit dreißig Jahren in Europa ſtattgefunden, und Metternich ſprach dem Geſandten in London die Hoffnung aus, daß dieſe rettende That in ganz Europa ihren Widerhall finden würde. Und wirklich hatten die Ideen der reinen Reaktion bisher nur in Spanien einen ſo durſchlagenden Er - folg errungen. Unter den großen Culturvölkern gab Deutſchland zuerſt das Beiſpiel eines Staatsſtreichs von oben, ein Beiſpiel, das elf Jahre nachher den franzöſiſchen Juli-Ordonnanzen zum Vorbilde gedient hat. Die Politik der Mäßigung, welche der Vierbund bis zum Aachener Con - greſſe eingehalten, ging zu Ende; die Macht, welche die Führerſtelle in der europäiſchen Allianz errungen hatte, bekannte ſich fortan offen zu den Grundſätzen der Unterdrückung.

Noch blieb eine ſchwere geheime Arbeit übrig, bis nach Metternichs Worten die Bombe in Frankfurt platzen konnte. Was man in Karls - bad erreicht hatte war nur eine nach Bundesrecht ungiltige Verabredung von neun Bundesſtaaten, die allerdings über die Mehrheit des engeren Raths geboten. Zu einer Erweiterung und Veränderung der Bundesakte, wie ſie in den Karlsbader Beſchlüſſen enthalten war, bedurfte man aber der Einſtimmigkeit. Es galt alſo, dreißig Bundesſtaaten zur ſchweigenden Unterwerfung unter die Befehle der Neun zu vermögen, die zu Teplitz569Die Karlsbader Beſchlüſſe vor dem Bundestage.beabſichtigte Mehrheitsherrſchaft im engeren Rathe des Bundestags that - ſächlich zu erzwingen. Die Hebel der Angſt und der Einſchüchterung, welche in Karlsbad ſo gute Dienſte gethan, mußten in Frankfurt nochmals ange - ſetzt werden. Metternich wünſchte jede Berathung am Bundestage zu ver - hindern; eine kritiſche Beleuchtung konnten die Beſchlüſſe der Karlsbader Verſchwörung allerdings nicht ertragen. Seine kurzſichtige Schlauheit be - merkte nicht, wie thöricht es war, die deutſche Centralgewalt alſo vor allem Volke zu entwürdigen in demſelben Augenblicke, da man ihr erweiterte und der öffentlichen Meinung verhaßte Befugniſſe übertragen wollte. Noch am 1. Sept. theilte Metternich die Karlsbader Beſchlüſſe dem Präſidial - geſandten mit, befahl ihm für ſchleunige Annahme derſelben zu ſorgen und dann ſogleich die Ferien eintreten zu laſſen. Dieſelbe Weiſung erging gleichzeitig an Graf Goltz, der nunmehr endlich durch Buol, Pleſſen und Marſchall in die Karlsbader Geheimniſſe eingeweiht wurde. *)Bernſtorff an Goltz, 1. Sept.; Goltz’s Bericht, 7. Sept. 1819.Andere der Karlsbader Verſchworenen hielten nicht einmal für nöthig ihre eigenen Bundesgeſandten aufzuklären. Der Karlsruher Hof ſendete ſeinem Bun - desgeſandten erſt am 13. Sept. den lakoniſchen Befehl: da nach einge - gangenen Nachrichten in einer der nächſten Sitzungen der k. k. Geſandte über die Karlsbader Conferenzen einen Vortrag erſtatten werde , ſo ſolle der Badener der k. k. Abſtimmung ſich ohne Weiteres anſchließen und zu Mitgliedern der Central-Unterſuchungscommiſſion die ſieben in Karls - bad bezeichneten Staaten wählen. **)Miniſterialinſtruktion an den badiſchen Bundesgeſandten, 13. Sept. 1819.

Den von den Conferenzen ausgeſchloſſenen Regierungen wurde auch jetzt noch jede genaue Nachricht vorenthalten. Bernſtorff begnügte ſich, den preußiſchen Geſandtſchaften an den kleinen Höfen eine kurze Ueberſicht über die Ergebniſſe der Conferenzen zu ſchicken, die ganz ebenſo ſummariſch gehalten war wie unlängſt die vorläufige Mittheilung an den däniſchen Hof. ***)Bernſtorff, kurze Ueberſicht über die Reſultate der Karlsbader Verhandlungen (ohne Datum, vermuthlich vom 9. Sept. 1819).Unbeſehen wie einſt die Rheinbundsakte von den Getreuen Na - poleons ſollten die Karlsbader Beſchlüſſe von den Vaſallen Oeſterreichs genehmigt werden. In ſchönem Wetteifer erklärten die Diplomaten der neun Eingeweihten an allen kleinen Höfen, nur die Eintracht aller Re - gierungen könne Deutſchland aus ſeiner ſchweren Bedrängniß erretten; und wo es noth that, da ſpielte der k. k. Geſandte noch ſeinen letzten Trumpf aus und drohte mit dem Austritt Oeſterreichs. Einzig der Darm - ſtädter Hof, dem man ja einen Platz in der Central-Unterſuchungscom - miſſion zugedacht hatte, ward einer gründlicheren Mittheilung gewürdigt. Die Geſandten der beiden Großmächte, Handel und Otterſtedt, begaben ſich zu dem Großherzoge, erzählten ihm das Weſentliche und beſchworen ihn das Heil des gemeinſamen Vaterlands durch die unbedingte Ein -570II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.müthigkeit aller Bundesglieder zu ſichern. Der würdige alte Herr zeigte ſich wenig erfreut über die drohende Beſchränkung ſeiner Souveränität, aber auch er glaubte an die große Demagogengefahr und behielt ſich nur vor, bei der Verkündigung der Karlsbader Beſchlüſſe ſeinem Lande zu - gleich zu verſprechen, daß die Verfaſſung bis zum 1. Mai 1820 erſcheinen ſolle; die Regierungen, ſo warnte er, dürfen ſich nicht den Anſchein geben, als ob ſie Anderer Willkür beſchränken wollten, nur ihre eigene nicht. *)Bernſtorff, Weiſung an Otterſtedt 1. Sept.; Otterſtedts Berichte, Darmſtadt 11., 13. Sept. 1819.

Alſo war Alles für den großen Schlag vorbereitet. Am 14. Sep - tember gab Buol dem Bundestage die erſte vertrauliche Mittheilung über die Karlsbader Conferenzen. Am 16. verlas er den ihm von Metternich zugeſendeten großen Präſidialvortrag und beantragte ſodann die ſchleunige Annahme der verabredeten Bemerkungen über den Art. 13, ſowie der vier Geſetze. Die meiſten der Bundesgeſandten lernten jetzt zum erſten male den Text der Karlsbader Beſchlüſſe kennen. Es war die wichtigſte und umfangreichſte Vorlage, welche dem Bundestage je unterbreitet worden, und für die Erledigung dieſer Aufgabe ſetzte Buol, ohne daß ein Wider - ſpruch laut ward, eine Friſt von vier Tagen, eine Friſt, welche bei den Verkehrsverhältniſſen jener Zeit nicht einmal zur Einholung der Inſtruk - tion ausreichte. Am 20. September ſollte die Abſtimmung ſtattfinden, während die Geſchäftsordnung eine Friſt von mindeſtens vierzehn Tagen verlangte; die große Mehrzahl der deutſchen Regierungen war alſo von dem Wortlaut der Beſchlüſſe noch gar nicht unterrichtet, als ſie in Frank - furt durchgingen. Auch die verfaſſungsmäßige Berathung der Anträge unterblieb gänzlich, und kein Geſandter unterſtand ſich dies zu rügen.

Am Tage der Abſtimmung wagte zwar Niemand förmlich zu wider - ſprechen; aber zum Schrecken Oeſterreichs ergab ſich, daß trotz allen Dro - hungen doch nur ein Theil der Geſandten zur unbedingten Genehmigung bevollmächtigt war. Viele warteten noch auf Inſtruktionen, Andere hatten nach deutſcher Weiſe allerhand Bedenken und Wünſche kundzugeben. So fand der Dresdner Hof die Karlsbader Beſchlüſſe noch zu liberal und ließ die Hoffnung ausſprechen, daß überall in Deutſchland, wie im König - reich Sachſen, alle Druckſchriften ohne Ausnahme der Cenſur unter - worfen würden. Auch Wangenheim brachte eine ganze Reihe von Aus - ſtellungen vor ein neuer Beweis für die Treuloſigkeit des württem - bergiſchen Hofes, nachdem Wintzingerode in Karlsbad allen vier Geſetzen freudig zugeſtimmt; er hatte partikulariſtiſche Bedenken gegen die Execu - tionsordnung, er fand es zu hart, daß jeder Bundesſtaat für die Haltung ſeiner Preſſe verantwortlich ſein ſollte u. ſ. w. Desgleichen Kurheſſen konnte eine Klage über die Executionsordnung, die ſo tief in die Rechte der Souveränität einſchneide, nicht unterdrücken.

571Genehmigung der Karlsbader Beſchlüſſe.

Mit der höchſten Spannung ſah die Verſammlung darauf der Ab - ſtimmung des luxemburgiſchen Geſandten entgegen. Jedermann wußte, daß ſein königlicher Herr, der alle deutſchen Dinge mit gefliſſentlicher Gering - ſchätzung behandelte, ihn ohne Inſtruktion gelaſſen. Aber Buol und Goltz hatten ihm zugeredet, und Graf Grünne erklärte unbefangen: obwohl ohne Vollmacht wolle er ſich von einem förmlich verfaßten Beſchluß nicht länger ausſchließen worauf dann einige nichtsſagende Vorbehalte zu Gunſten der luxemburgiſchen National-Eigenthümlichkeiten folgten. Jetzt erſt war, wie Goltz ſeinem Könige meldete, das Spiel gewonnen, weil nur dadurch ſcheinbare Einſtimmigkeit erlangt und der fünfzehnten und ſechzehnten Curie ſowie den freien Städten der Vorwand zu abweichenden Aeuße - rungen benommen werden konnte. *)Goltz’s Bericht an den König, 28. Sept. 1819.Wenn der Vertreter des Königs der Niederlande ſich ſo ſanftmüthig fügte, wie ſollten die Kleinen wider - ſtehen? Die Geſandten der erneſtiniſchen Häuſer und der ſechzehnten Curie ſprachen ihr Ja, obgleich ſie geſtehen mußten, daß ſie erſt von einigen ihrer Committenten Weiſungen erhalten hätten. Unter den ausdrück - lich Zuſtimmenden war auch Weimar. Der Stimmführer der fünfzehnten Curie ſcheute ſogar eine Lüge nicht und verſicherte von Ihren Hochfürſt - lichen Durchlauchten zur Beiſtimmung angewieſen zu ſein, obwohl er nachweislich von den beiden Schwarzburg keine Inſtruktion empfangen hatte. Nach Alledem blieb auch den Geſandten der freien Städte nichts übrig als ſich in Ermangelung einer beſonderen Inſtruktion der bereits ausgeſprochenen Einſtimmigkeit anzuſchließen .

Die Stimmeneinheit war erzielt, der Bundestag hatte ſich den Be - ſchlüſſen der Neun unterworfen. Aber konnte man es wagen, dieſe ſelt - ſame Abſtimmung, wie ſie vorlag, mit allen ihren Clauſeln und Vorbe - halten, der Ordnung gemäß in den Protokollen zu veröffentlichen? Sie bewies doch nur zu deutlich Goltz ſelbſt geſtand es ſeinen Monarchen daß die Bereitwilligkeit ſich nicht überall auf Ueberzeugung, ſondern mehr auf Ergebung in die Umſtände gründete. Sollte die öffentliche Meinung, auf deren Unwillen man allerſeits gefaßt war, durch eine großartige Kund - gebung des Einmuths der deutſchen Kronen zum Schweigen gebracht werden, dann durfte Oeſterreich nach allen den Schlichen und Lügen dieſes unſauberen Handels auch vor einer letzten Fälſchung nicht mehr zurück - ſchrecken. Von Goltz und Pleſſen lebhaft unterſtützt, ſtellte Buol den Genoſſen vor, daß es zur Erhöhung des zu machenden Eindrucks unum - gänglich ſei, das öffentliche Protokoll von allen Bemerkungen frei zu halten. **)Goltz’s Berichte an den König und an Bernſtorff, 18., 22., 28. Sept. 1819.Alle fügten ſich ohne Zaudern. So ward denn die wirk - liche Abſtimmung in einer tiefgeheimen Regiſtrande vergraben, die nur als ein Beleg der Akten dienen und vielleicht bei ſpäteren Berathungen572II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.noch benutzt werden ſollte. *)Zuerſt veröffentlicht im Jahre 1861 in der Schrift von K. L. Aegidi, Aus dem Jahre 1819.Das veröffentlichte Protokoll aber erzählte von der einmüthigen Annahme der Karlsbader Beſchlüſſe und beſtimmte, daß alle vier Geſetze ſogleich in allen Bundesſtaaten in Vollziehung treten ſollten. Erſchütternd war der Eindruck, als die Deutſchen plötzlich erfuhren, daß der Bundestag, der für alle dringenden Anliegen der Nation immer taub geweſen, die zur Knebelung ihres geiſtigen Lebens beſtimmten Zwangsgeſetze in ſo würdeloſer Haſt, mit offenbarer Mißachtung der Vor - ſchriften der Bundesakte, angenommen hatte. Die kleinen Höfe ſelbſt empfanden die Vergewaltigung ſo lebhaft, daß der preußiſche Geſandte ſeiner Regierung dringend rieth, den Bogen nicht zu überſpannen und zu den Wiener Conferenzen alle Regierungen ohne Ausnahme einzuladen. Nach vollbrachtem Werke gab der Präſidialgeſandte ſeinen Genoſſen ein glänzendes Feſtmahl. Graf Goltz aber empfing Verzeihung für frühere Mißgriffe und die warme Anerkennung ſeines Hofes für die glückliche Löſung der ſchwierigen Aufgabe. **)Bernſtorff an Goltz, 9. Okt. 1819.

Unter ſolchen Anzeichen, mit einer gefälſchten Abſtimmung, begann die Herrſchaft des Hauſes Oeſterreich am Deutſchen Bundestage. Mit einer anderen gefälſchten Abſtimmung, mit der erſchlichenen Kriegserklärung gegen Preußen ſollte ſie im Jahre 1866 ihr würdiges Ende finden.

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Zehnter Abſchnitt. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.

Auf den Zorn der liberalen Parteien war Fürſt Metternich von Haus aus gefaßt, als er, nach ſeinem beſcheidenen Geſtändniß, in drei Wochen vollendet hatte, was dreißig Jahre der Revolution nicht zu Stande bringen konnten . Den Charakter des deutſchen Volkes kennen zu lernen, hatte er freilich nie der Mühe werth gehalten; er ahnte nicht, wie hoch dieſe idea - liſtiſche Nation die Freiheit des Gedankens ſchätzte und wie furchtbar ſie grade durch einen Angriff auf die Preſſe und die Hochſchulen gekränkt wer - den mußte. Die Karlsbader Beſchlüſſe verwirrten und verwüſteten die öffentliche Meinung von Grund aus. Die Hoffnung auf eine friedliche Fortbildung der deutſchen Dinge ging auch den Gemäßigten verloren. Re - publikaniſche Gedanken, denen in unſerer monarchiſchen Geſchichte jeder Boden fehlte, begannen überhand zu nehmen, ſeit Deutſchlands Fürſten als die verſchworenen Feinde der Volksfreiheit auftraten; die bisher nur theoretiſche Begeiſterung für den großen Freiſtaat Amerikas ward bei Vielen zur praktiſchen Parteigeſinnung. Das wüſte Lied der Unbedingten Fürſten zum Land hinaus! drang jetzt erſt in weitere Kreiſe.

Die Nation ward irr an ihrem Staate, an ihren ſchönſten hiſtoriſchen Erinnerungen. Die edle vaterländiſche Begeiſterung der letzten Jahre ver - rauchte. Von Aller Lippen klang die bittere Klage, das Blut von Leipzig und Belle Alliance ſei umſonſt gefloſſen. Wenn die deutſchen Liberalen vorher nur halb unbewußt einzelne jakobiniſche Grundſätze bei ſich aufge - nommen hatten, ſo zogen ſie jetzt, da man ihnen unter dem Namen des alten deutſchen Rechtes Druck und Verfolgung bot, mit fliegenden Fahnen in das franzöſiſche Lager hinüber und berauſchten ſich an einer conſtitutio - nellen Theorie, welche das republikaniſche Ideal kaum noch nothdürftig ver - barg. Die Sieger ſammelten begierig jeden Brocken politiſcher Afterweis - heit, der von dem Tiſche der Beſiegten abfiel; die deutſche liberale Politik beugte ſich vor den franzöſiſchen Ideen ſo knechtiſch wie einſt die Dichtung in den Tagen Ludwigs XIV. Die neuen, aus den Tiefen des germa - niſchen Lebens geſchöpften Gedanken der hiſtoriſchen Rechtsſchule fielen in Mißachtung, und wer die Verirrungen der entarteten conſervativen Partei574II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.bekämpfte, wendete ſich jenen revolutionären Naturrechtslehren zu, die von der deutſchen Wiſſenſchaft längſt überwunden waren. Im Zorn über das erlittene Unrecht gerieth der deutſche Liberalismus recht eigentlich außer ſich; er vergaß des unſchätzbaren Segens der Befreiungskriege, er begann die Helden jener Kämpfe als Betrogene oder Betrüger gering zu ſchätzen und verfiel nach und nach einer weltbürgerlichen, radikalen Schwärmerei, die für ein werdendes Volk ſchlechthin verderblich werden mußte.

Obwohl die Preſſe unter der Obhut der ſofort in Wirkſamkeit treten - den Cenſur nur wenig ſagen durfte, ſo konnte doch ſelbſt der Diplomatie der allgemeine Zorn nicht entgehen. In Frankfurt, in Stuttgart, in München, überall äußerte ſich die Entrüſtung der gebildeten Stände in heftigen Reden, überall verglich man die neue ſchwarze Commiſſion mit dem Wohlfahrtsausſchuſſe des Convents. *)Berichte von Goltz aus Frankfurt 22., 28. Sept., 26. Okt., von Zaſtrow aus München 9. Okt., von Küſter aus Stuttgart 12. Okt. 1819.Niemand aber empfand die Unbill ſchwerer als die Profeſſoren, die ſich wegen der Thorheiten einiger Jenenſer jetzt alleſammt von Bundeswegen geſchmäht und verleumdet ſahen. Was mußten Dahlmann und Falck, die beiden Vorkämpfer des deutſchen Rechts in Kiel empfinden, als Holſtein und zugleich auch das nicht zum Bunde gehörige Schleswig jetzt als erſtes Geſchenk von dem befreiten Deutſchland die Cenſur empfingen, nachdem ſie fünfzig Jahre lang, ſeit den Tagen Struenſees, unter der abſoluten Herrſchaft der däniſchen Allein - gewalt-Erbkönige ſich der unbeſchränkten Preßfreiheit erfreut hatten. Die Kieler Blätter gingen ein, weil ſie ſich keinem Cenſor unterwerfen wollten. Dahlmann aber, der noch ſo oft für die Empfindungen des empörten natio - nalen Gewiſſens das rechte Wort finden ſollte, nannte die deutſchen Uni - verſitäten durch jene Bundesbeſchlüſſe unvergeßlich herabgewürdigt und be - leidigt . Er kündigte dem Freiherrn vom Stein die Mitarbeiterſchaft an den Monumenta Germaniae auf, ſo lange an der Spitze des Unternehmens jene Bundesgeſandten ſtünden, welche an der Beſchimpfung des deutſchen Gelehrtenſtandes Theil genommen: Mein guter Name iſt mir mehr werth als ein wiſſenſchaftliches Unternehmen. Ich möchte nicht, daß es gelänge, auf dem mit Unterdrückung und Verfolgung und womit vielleicht bald? befleckten Boden edle Früchte der Wiſſenſchaft durch gebundene Hände zu ziehen. Zum Geburtstage des König-Herzogs trat er ſodann in akademiſcher Feſtrede unerſchrocken als Anwalt der verläumdeten Univerſitäten auf; er nannte das Majeſtätsverbrechen das einzige und eigenthümliche Verbrechen derer, welche nie ein Unrecht gethan ; er vertheidigte das Recht der neuen Zeit ſich ihre eigenen politiſchen Formen zu finden: ein Neuerer iſt auch wer das Veraltete herzuſtellen ſucht und ſagte voraus, die neuen Bundes - geſetze würden, da ſie den leeren Formen des Friedens ſein inneres Weſen opferten, nur polizeiliche Ruhe, nicht den Frieden begründen.

575Die öffentliche Meinung und die Karlsbader Beſchlüſſe.

Selbſt in den höchſten Kreiſen der Geſellſchaft fehlte es nicht an ſcharfem Tadel. Hans von Gagern richtete an ſeinen Freund Pleſſen einen warnen - den Brief, der neben vielen Wunderlichkeiten auch manche beherzigenswerthe Mahnung ausſprach: Hintergehen Sie Ihre Herren nicht, bringen Sie ihnen nicht den Glauben bei, als ob Alles das, was jetzt vorgeht, Neue - rung und Neuerungsſucht, von ihrer Seite nur Langmuth und Gnade ſei! Sogar Stein, der über die Thorheiten der Jenenſer Profeſſoren und der Karlsruher Adelsfeinde ſehr ſtreng urtheilte, verdammte die Ein - ſetzung der neuen Regierungsbevollmächtigten als eine Beleidigung der Univerſitäten; und als die Spürer der Demagogenjagd nun gar den Frei - herrn ſelber der Theilnahme an der großen Verſchwörung bezichtigten, da brach ſein Zorn furchtbar los. Vox faucibus haeret, rief er aus, über eine ſolche viehiſche Dummheit oder eine ſolche teufliſche Bosheit oder einen ſolchen nichtswürdigen und aus einem durchaus verfaulten Herzen ent - ſtehenden Leichtſinn. Auch den Fürſten, die ihr Haupt unter das Joch ge - beugt, fiel es nachher ſchwer auf die Seele, daß niemals ein deutſcher Kaiſer den geringſten ſeiner Reichsfürſten ſo ſchmählich behandelt hatte, wie jetzt der Wiener Hof den geſammten Bundestag. Dieſer Eingriff in die noch junge Conſtitution Deutſchlands, ſchrieb der Herzog von Oldenburg, hat nur die Unbefangenen erſchreckt, die öffentliche Meinung beleidigt und den Tadel gereizt. Die Verſtimmung der kleinen Höfe begann recht bedenklich zu werden; nach alledem hielt es Metternich doch für gerathen, die War - nung des preußiſchen Bundesgeſandten zu beherzigen und verabredete mit dem Berliner Kabinet, daß von den Miniſterconferenzen des Winters kein deutſcher Hof ausgeſchloſſen werden ſolle. *)Kruſemarks Bericht, Wien 16. Okt. 1819.

In der Preſſe des Auslands fand der allgemeine Groll lauten Wider - hall. Nur die franzöſiſchen Ultras frohlockten und deuteten vernehm - lich an, daß auch für Frankreich ein Karlsbader Staatsſtreich heilſam werden könne. Aber ſchon der Moniteur wagte die Thaten Oeſterreichs nicht offen zu billigen: in Frankreich, ſo ließ er ſich vernehmen, ſeien ſolche Geſetze unanwendbar, für den Despotismus biete Europa keinen Raum mehr. Die liberalen Publiciſten vollends überboten einander in ſtürmiſcher Entrüſtung. Zuerſt natürlich war der unvermeidliche Erzbiſchof de Pradt wieder zur Stelle mit einer jener umfänglichen Schriften, die man, nach Gentz’s Urtheil, beliebig von vorn, von hinten oder aus der Mitte heraus leſen konnte; ſchon im Auguſt, noch bevor er von den Verhand - lungen in Böhmen ein Wort kannte, ließ er das erſte Heft ſeiner Schrift über den Karlsbader Congreß erſcheinen und verkündete, die Zeiten von Pillnitz und Brunswic kehrten wieder. Noch lauter tobte Etienne in der Minerva, desgleichen der Cenſeur, der Independant, faſt alle liberalen Blätter Frankreichs und Englands. Die Deutſchen, hieß es da, ſeien durch576II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.eine ſchimpfliche Sklaverei aus der Menſchheit ausgeſtoßen , den Pro - ſcriptionen des Sulla, der Tyrannei des Tiberius verfallen; überall ſonſt ſuche die Willkür nach einer Verkleidung, nur in Deutſchland ſchreite ſie ſchamlos, ohne Larve einher.

Der alſo angeſchlagene Ton ward ſeitdem treulich eingehalten. Das den Nachbarn ſo unbequeme Erſtarken Mitteleuropas ſchien jetzt nicht mehr gefährlich ſeit der deutſche Bund ſich ſchweigend dem Hauſe Oeſterreich unterworfen hatte. Dreißig Jahre lang blieb Deutſchland fortan für die Preſſe des Weſtens das claſſiſche Land aller politiſchen Erbärmlichkeit, der Beachtung freier Briten und Franzoſen völlig unwerth, und die Nation, welche zweimal binnen zwei Jahren ihre ſiegreichen Fahnen auf dem Mont - martre aufgepflanzt hatte, ward von ihren beſiegten Nachbarn mit gering - ſchätzigem Wohlwollen als ein gutmüthiges Philiſtervolk behandelt, das bei Bier, Tabak und Philoſophie die Zeit verträume und in richtiger Selbſt - erkenntniß auf alle Pläne politiſcher Macht und Freiheit gemächlich ver - zichtet habe. Die Deutſchen aber hatten ſich in das Bewußtſein des hoff - nungsloſen deutſchen Elends bald ſo gründlich eingelebt, daß ſie ſolche Kundgebungen urtheilsloſen Hochmuths als Beweiſe der Ueberlegenheit weſt - europäiſcher Kultur willig hinnahmen und ſich in ihrer weltbürgerlichen Bruderliebe nicht mehr ſtören ließen.

Trotz dem Unwillen der Nation wurden die Karlsbader Beſchlüſſe überall mit einer Pünktlichkeit vollzogen, wie ſeit unvordenklichen Zeiten kein Reichs - oder Bundesgeſetz. Die Central-Unterſuchungscommiſſion trat ſofort zuſammen. Ihr bösartigſtes Mitglied war der Baier Hör - mann, jener fanatiſche Bonapartiſt, der ſeit Jahren in der Alemannia die Boruſſomanen verfolgte und nun ſie gänzlich auszurotten hoffte. Der Badener Pfiſter und der Naſſauer Muſſet gingen mit ihm Hand in Hand. Preußen hatte anfangs den elenden Grano bevollmächtigt, aber bald regte ſich in Berlin die Scham über eine ſolche Vertretung; man rief den Menſchen zurück und erſetzte ihn durch den Präſidenten v. Kaiſen - berg, einen ausgezeichneten Juriſten, der ſein widerwärtiges Amt mit großer Umſicht und Mäßigung führte, unter fortwährenden Kämpfen mit Hör - mann viel Unheil und Willkür abwendete.

Unverzüglich begannen die Cenſoren und die Univerſitätsbevollmäch - tigten überall ihre Thätigkeit. Die Jenenſer Burſchen ſprachen dem Groß - herzog in einem ruhig gehaltenen Briefe ihr Bedauern aus, daß man ſie öffentlich verkannt habe, und löſten am 26. November gehorſam ihre Ver - bindung auf. Beim Scheiden erklangen die Verſe von Binzer:

Das Band iſt zerſchnitten,
War ſchwarzrothundgold.
Und Gott hat es gelitten.
Wer weiß was er gewollt!

ſentimentale Klagen, die wahrhaftig nicht auf revolutionäre Entſchlüſſe deuteten. Einige der Getreueſten traten noch in der nämlichen Nacht zu -577Auflöſung der Burſchenſchaft.ſammen, um den aufgelöſten Bund von Neuem zu ſchließen. Dieſe neuen geheimen Burſchenſchaften, die ſich nunmehr faſt auf allen Univerſitäten zuſammenthaten, trugen, da ſie mit der Polizei in beſtändigem Kampfe lebten, von Haus aus eine radikalere Färbung als der alte allgemeine Burſchenbund und waren doch im Grunde noch ungefährlicher. Denn die ernſthaften Soldaten des Befreiungskriegs verließen jetzt alleſammt die Hochſchulen; der junge Nachwuchs beſtand wieder aus gewöhnlichen Schul - füchſen, die ſich die Freuden des Burſchenlebens nicht verkümmern ließen und die Raufhändel mit ihren Gegnern, den überall neu entſtehenden Corps und Landsmannſchaften, zumeiſt weit eifriger betrieben als die politiſche Rede - kunſt. Aber die heilſame ſittliche Wirkung der burſchenſchaftlichen Bewegung blieb den Univerſitäten unverloren; die entſetzliche Roheit der guten alten Zeit kehrte in ſolchem Maße niemals wieder. Die Jenenſer Lehrer blieben nach Okens Entlaſſung unbeläſtigt; nur Fries mußte, in Folge jenes thörichten Briefes über die hochwohlgebornen franzöſiſchen Affen, einige Jahre lang ſeine Vorleſungen einſtellen. Welch ein klägliches Ergebniß, nachdem der öſterreichiſche Präſidialgeſandte den geſammten deutſchen Pro - feſſorenſtand vor aller Welt mit Anklagen überſchüttet hatte!

Die Ausführung der neuen Bundesgeſetze erfolgte überall unter der unmittelbaren Aufſicht der Geſandten Oeſterreichs und Preußens. Dem Bundestage wollten die beiden Großmächte dieſe Ueberwachung nicht über - laſſen. Er war durch Zank und Unthätigkeit und zuletzt noch durch die erzwungene Abſtimmung vom September gänzlich entwürdigt; in Wien und an den befreundeten Höfen erwog man ſchon ſeit Monaten die Frage, ob es nicht gerathen ſei, alle wichtigen Bundesgeſchäfte unmittelbar durch die Regierungen zu erledigen und die Bundesverſammlung als eine be - ſcheidene Tagſatzung alljährlich nur auf drei Monate nach Mannheim ein - zuberufen. *)Berkheims Berichte, Frankfurt 2. April 1819 ff.Die k. k. Geſandten erhielten demnach gemeſſenen Befehl, die Handhabung der Cenſur und der akademiſchen Disciplin in den kleinen Staaten ſorgſam zu beaufſichtigen. In ſeinen eigenen Bundeslanden konnte Kaiſer Franz freilich für die Vollziehung der Karlsbader Beſchlüſſe gar nichts thun; in dieſer friedſamen öſterreichiſchen Welt war weder ein Demagog noch ein Burſchenſchafter noch eine liberale Zeitung aufzutreiben. Nur um ihren guten Willen zu beweiſen, veranſtaltete die Wiener Polizei im Oktober ein Treibjagen auf die zahlreichen Hauslehrer aus der Schweiz; doch da ſich bei den Verhafteten nur einige Briefe mit ſchlechten Grundſätzen vor - fanden, ſo mußte ſich der Kaiſer begnügen, ſie noch eine Weile gefangen zu halten und dann über die Grenze abſchieben zu laſſen. **)Kruſemarks Bericht, 30. Okt. 1819.

Faſt noch eifriger zeigte ſich der Berliner Hof. Der König war und blieb von der Nothwendigkeit der Ausnahmegeſetze tief durchdrungen, befahl allen ſeinen Geſandten in Deutſchland die Ausführung zu überwachenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 37578II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.und ließ den größeren Bundesſtaaten mittheilen, daß er feſt auf ihre thätige Mitwirkung zähle. Nur das treu verbündete England-Hannover bedurfte keiner ſolchen Mahnung. Die verdächtigen thüringiſchen Höfe dagegen wurden gleich den Hanſeſtädten blos auf die ernſte Willensmeinung des Königs verwieſen, aber ausdrücklich keines vertrauensvollen Wortes ge - würdigt. *)Weiſung an die Geſandten in Dresden, München, Stuttgart, Darmſtadt 2. Okt.; desgleichen an Gf. Keller in Erfurt und die Geſchäftsträger in Hamburg und Frankfurt, 2. Okt. 1819.An die Geſandten im Auslande erging (28. September) ein von Ancillon verfaßtes Circularſchreiben, das mit theologiſcher Salbung ſchilderte, wie die vier Mächte die Legitimität und das Eigenthum wieder hergeſtellt, Deutſchland aber dieſe Politik jetzt von Neuem befeſtigt hätte: durch ſeine geographiſche Lage iſt Deutſchland der Mittelpunkt oder, beſſer geſagt, das Herz Europas, und das Herz kann nicht ſchadhaft oder krank ſein, ohne daß man dies bald bis in die äußerſten Glieder des politiſchen Körpers fühlen müßte. Als dies Aktenſtück von Paris aus widerrechtlich veröffentlicht wurde, erſcholl durch die geſammte liberale Preſſe Europas ein Weheruf über Preußen.

Bald nachher, am Jahrestage der Leipziger Schlacht, befahl der König die Bekanntmachung der Karlsbader Beſchlüſſe. Am nämlichen Tage ge - nehmigte er das Cenſur-Edikt, das der Staatskanzler in höchſter Eile hatte ausarbeiten laſſen. Die beiden magnetiſchen Zauberer Schöll und Koreff, dieſelben nichtigen Geſellen, welche Wittgenſtein als Hardenbergs liberale Verführer zu verdächtigen pflegte, waren ihrem Gönner dabei dienſtwillig zur Hand gegangen;**)Hardenbergs Tagebuch, 4. Okt. 1819. die im Frühjahr zur Ausarbeitung des Preßgeſetzes berufene Commiſſion wurde nicht einmal befragt. Das neue Edikt, im Weſentlichen eine Umarbeitung der Wöllner’ſchen Cenſurordnung vom Jahre 1786, ging noch weit über die Karlsbader Vorſchriften hinaus und be - ſtimmte gleich im Eingang, daß alle Druckſchriften ohne Ausnahme, wie bisher, der Cenſur unterliegen ſollten; ſogar die alte Cenſurfreiheit der Akademie und der Univerſitäten ward für die fünfjährige Dauer des Edikts aufgehoben. Einige Gewähr gegen die Willkür bot nur das neu errichtete Ober-Cenſur-Collegium; aber dieſe Recurs-Inſtanz erlangte unter der ſchlaffen Leitung des Legationsraths v. Raumer niemals eine kräftige Wirk - ſamkeit. Unterdeſſen arbeiteten Ancillon, Nicolovius und Köhler, die Mit - glieder der alten Preßgeſetz-Commiſſion, unverdroſſen weiter; ſie hielten an den Grundſätzen ihres mittlerweile verſtorbenen Berichterſtatters Hagemeiſter feſt und überreichten am 9. November dem Staatsminiſterium einen Ent - wurf, der, im ſchärfſten Gegenſatze zu dem Cenſur-Edikt, die Preßfreiheit als Regel ausſprach, nur für politiſche Zeitſchriften die Cenſur vorbehielt. ***)Veröffentlicht von F. Kapp, die preuß. Preßgeſetzgebung unter Fr. Wilhelm III. (Archiv f. Geſch. d. d. Buchhandels VI. 185).579Das preußiſche Preßgeſetz. Görres.Das wohlgemeinte Werk blieb nunmehr unbeachtet liegen, ein redendes Zeugniß für den plötzlichen Umſchwung der Hardenbergiſchen Politik. Be - deutſamer noch war die Haltung Ancillons, der es über ſich gewann, gleich - zeitig dies liberale Preßgeſetz auszuarbeiten und der Diplomatie die ſtrenge Vollziehung der Karlsbader Beſchlüſſe einzuſchärfen. Auch über die Disciplin der Univerſitäten ergingen einige ſcharfe Verordnungen, denen Altenſteins Wohlwollen zum Glück durch milde Auslegung die Spitze abbrach.

Seit den Verhaftungen des Juli hatten Kamptz’s Werkzeuge im ganzen Bereiche des Staates nur noch zwei namhafte Demagogen aufſpüren können. Jener unbegreifliche Brief von de Wette an Sands Mutter wurde bekannt und dem Könige vorgelegt. Sobald der Thatbeſtand erwieſen war, ver - fügte Friedrich Wilhelm, unbeirrt durch die Bitten der Berliner Univer - ſität, die Abſetzung des Theologen: es würde, ließ er dem Entlaſſenen ſchreiben, Sr. Majeſtät Gewiſſen verletzen, wenn Sie einem Manne, der den Meuchelmord unter Bedingungen und Vorausſetzungen für gerecht - fertigt hält, den Unterricht der Jugend ferner anvertrauen wollten. De Wette ertrug die harte, aber gerechte Strafe mit einer chriſtlichen Ergebung, die nur von Neuem bewies, wie wenig revolutionäre Kraft in dem theore - tiſchen Radicalismus dieſer Gelehrtenkreiſe lag; in dem Augenblicke, da man ihn aus Preußen vertrieb, erflehte er noch Gottes Segen für dieſen König und dieſen Staat, denen er mit ſeiner beſten Kraft gedient habe.

Trotziger trat Görres auf. Von ſeinem Freunde Willemer rechtzeitig gewarnt entzog er ſich, als ſein Buch über Deutſchland und die Revolution erſchienen war, der drohenden Verhaftung durch die Flucht und forderte dann von Straßburg aus freies Geleit: nur vor den Geſchworenen ſeiner rheiniſchen Heimath wolle er Rede ſtehen. Auf ſolche Verhandlungen mit einem Angeklagten durfte die Krone ſich nicht einlaſſen; aber auch das Schwurgericht wollte ihm der König nicht bewilligen, denn nachdem die Stadt Coblenz ſich ſoeben in einer recht anmaßenden Bittſchrift für ihren Mitbürger verwendet hatte, ließ ſich unſchwer vorausſehen, daß die Rhein - länder dieſen Proceß zu einer gehäſſigen Kundgebung gegen die preußiſche Herrſchaft mißbrauchen würden. Nach den Anſchauungen des alten Abſolu - tismus hielt ſich der König berechtigt, in Fällen politiſcher Gefahr ſelber die Richter zu bezeichnen und ward auch nicht anderen Sinnes, als die rheiniſchen Staatsprocuratoren erklärten, zu einer Criminalunterſuchung liege kein Anlaß vor; er meinte ſeine Befugniſſe nicht zu überſchreiten, da er den Flüchtigen durch Hardenberg bedeuten ließ: zuerſt habe Görres dem Haftbefehle zu gehorchen und dann abzuwarten, vor welches Gericht der Monarch ihn ſtellen werde. Görres aber ſah in dem Verfahren des Königs einen Eingriff in die rheiniſche Freiheit und weigerte ſich Straßburg zu verlaſſen.

Die ohnehin verſtimmte öffentliche Meinung brauſte in hellem Zorne auf, als der Herausgeber des Rheiniſchen Merkurs dergeſtalt zwar37*580II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.nicht ohne Grund, aber doch nur wegen unbedachter Worte und unter Verletzung der Rechtsformen von dem preußiſchen Staate ausgeſtoßen und von ſeinen alten Todfeinden, den Franzoſen, denen er jetzt freilich nicht mehr ſchaden konnte, mit unverhohlener Schadenfreude großmüthig beſchützt wurde. Im Verkehr mit den Straßburger Jeſuiten ward Görres bald gänzlich für jene clericalen Beſtrebungen gewonnen, denen er ſich ſchon in Coblenz genähert hatte; der unſtete Romantiker, der einſt in mächtigen Dithyramben die Siegesflüge des ſchwarzen Adlers gefeiert, ent - warf ſich jetzt, durch kirchlichen und politiſchen Haß verblendet, ein gräß - liches Zerrbild von der preußiſchen Monarchie, dem Staate der proteſtan - tiſchen Verſtandesdürre und der todten bureaukratiſchen Regel. Dieſen ungeſtalten ſtarren Knochenmann im Namen deutſcher und katholiſcher Freiheit zu bekämpfen blieb fortan ſein Stolz.

Außer Görres hatten ſich auch C. Th. Welcker und gegen fünfzig von der Demagogenverfolgung bedrohte Schriftſteller, Studenten, Buchdrucker in Straßburg eingefunden. Dies Elſaß, das die Deutſchen vor vier Jahren vom wälſchen Joche hatten befreien wollen, bot jetzt den deutſchen Unzu - friedenen ein Aſyl, und mancher der Vertriebenen geſtand ſeinen radikalen Straßburger Freunden, ſie hätten doch recht gethan bei dem freien Frank - reich auszuhalten! Es war im Plane, dort an der Grenze eine freie deutſche Zeitung zu gründen, jedoch die hilfloſe Armuth der Flüchtlinge und ein ſtrenges von Berlin ausgehendes Verbot aller im Auslande er - ſcheinenden deutſchen Zeitſchriften vereitelten die Abſicht. Die Central - Unterſuchungscommiſſion erſtattete dem Bundestage ſofort Bericht über die gefährlichen Straßburger Umtriebe, und beide Großmächte forderten den Karlsruher Nachbarhof zu ſcharfer Wachſamkeit auf. Mit Feuereifer ent - ledigte ſich Miniſter Berſtett ſeines Auftrags; er trat mit dem legiti - miſtiſchen Maire von Straßburg in Verbindung, ließ auch de Wette, der ſoeben nach Heidelberg kam, polizeilich überwachen, betheuerte mit unter - thänigſter Begeiſterung, Baden betrachte ſich als den Vorpoſten Deutſch - lands und ſetze ſeine Ehre darein, das Vaterland vor den ſchwarzen An - ſchlägen unſerer teutoniſchen Jakobiner auf dem linken Rheinufer zu be - hüten.*)Berſtett an Metternich 2., 22. Okt., an Schuckmann 26. Nov.; Metternich an Berſtett 30. Okt.; Schuckmann an Berſtett 1. Nov. 1819.

Nur zwei deutſche Staaten, Baiern und Württemberg verſuchten eine ſchwächliche Oppoſition gegen die Bundesgeſetze; aber da beide Regierungen Allem was geſchehen ſchon unbedingt zugeſtimmt hatten, ſo waren ihre nachträglichen Widerſtandsverſuche von Haus aus unredlich, kleinlich, aus - ſichtslos. In München offenbarte ſich wieder jene ſchimpfliche Schwäche, welche dieſen Hof ſeit Montgelas Fall auszeichnete. Graf Rechberg wurde, als er aus Böhmen heimkehrte, von ſeinen Amtsgenoſſen Lerchenfeld und581Baierns Vorbehalt.Reigersberg mit Vorwürfen überhäuft. Jener befürchtete den Untergang der politiſchen Freiheit und hatte bereits in einem leidenſchaftlichen Briefe an ſeinen Freund Wangenheim ſeinen liberalen Unwillen über die Karls - bader Beſchlüſſe ausgeſprochen*)Abgedruckt bei F. v. Weech, Correſpondenzen und Aktenſtücke zur Geſchichte der Miniſterconferenzen von Karlsbad und Wien. S. 16.; dieſer zitterte für Baierns europäiſche Machtſtellung und meinte ſtolz, Baiern ſei ſich ſelbſt genug, könne des Bundes entrathen. Auch Montgelas half in der Stille nach; der alte Gegner Oeſterreichs hoffte jetzt wieder an’s Ruder zu kommen. Als die Karlsbader Beſchlüſſe dem Miniſterrathe vorgelegt wurden, beſchuldigten Lerchenfeld und Reigersberg den Miniſter des Auswärtigen, daß er ſeine Inſtructionen überſchritten habe. Und allerdings hatte Rechberg die Weiſung erhalten nichts zu bewilligen was der Souveränität und der Ver - faſſung des Königreichs zuwiderliefe; die bairiſche Conſtitution war die ein - zige unter den neuen Verfaſſungen, welche die Rechtsverbindlichkeit der Bundesgeſetze nicht förmlich ausſprach.

König Max Joſeph aber war, ſoweit er einen Entſchluß zu faſſen vermochte, durchaus erfüllt von der Furcht vor den Demagogen, und da der Einzige, der ihn vielleicht hätte bekehren können, der Kronprinz grade in Italien weilte, ſo nahm er ſich Rechbergs an. Aergerlich über den Zwieſpalt ſeiner Räthe hatte er dem Miniſterrathe nicht ſelber beiwohnen wollen und ſtatt ſeiner den getreuen Wrede entſendet. Der legte, ſobald Rechberg angegriffen wurde, raſch entſchloſſen die Hände auf die Akten und erklärte im Namen des Königs: das Vergangene ſei abgethan, nur über die Annahme der Karlsbader Beſchlüſſe dürfe jetzt noch berathen werden. **)Zaſtrows Berichte 9., 20. Okt., 23. Dec. 1819.Dergeſtalt war der Angriff auf Rechberg abgeſchlagen, und nach neuem lebhaftem Streite einigten ſich die beiden Parteien des Miniſteriums über ein kümmerliches Compromiß. Die Karlsbader Beſchlüſſe wurden veröffent - licht, aber mit dem Zuſatze: ſie ſollten gelten mit Rückſicht auf Unſere Souveränität, nach der Verfaſſung und den Geſetzen Unſeres Königreichs.

Wenn dieſer Vorbehalt überhaupt einen Sinn haben ſollte, ſo be - deutete er die Losſagung Baierns von jenen Beſchlüſſen, welchen der Münchener Hof bereits zweimal, in Karlsbad wie in Frankfurt, feierlich zugeſtimmt hatte. Sofort rüſteten ſich die beiden Großmächte zur Ab - wehr; und nach den Staatsſtreichsplänen, welche die bairiſche Krone ihnen kürzlich vorgelegt, erſchien dieſer Vorbehalt in der That unehrenhaft. Kaiſer Franz ſprach dem bairiſchen Geſandten perſönlich ſein Befremden aus***)Kruſemarks Bericht 30. Okt. 1819., ſendete ſeinem Schwiegervater einen eigenhändigen Brief um ihn vor den Umtrieben der Partei zu warnen, gab ſeinem Geſandten in München ſtrenge Weiſungen. Noch kräftiger legte ſich Bernſtorff ins Zeug. 582II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe. Wenn die bairiſche Regierung daran zurückdenkt ſo ſchrieb er am 1. November an Zaſtrow in welchem Gedränge ſie ſich noch vor wenig Monaten befand, welchen Rath ſie damals von uns begehrte, und in welchem Maße der Wunſch, ihr für die Zukunft einen feſten Standpunkt gegen unbefugte Anmaßung zu geben, bei den Karlsbader Beſchlüſſen mitgewirkt hat , ſo wird ſie unſere Verwunderung begreifen; will ſie ſich von dem Bunde trennen und ſich für künftige Fälle auf ihre eigene, vielleicht nicht immer zureichende Kraft beſchränken , ſo müſſen wir mit den gleichgeſinnten Bundesſtaaten zu Rathe gehen um dieſem erſten Abweichen von den Bundesbeſchlüſſen entgegenzutreten. Als General Zaſtrow dieſe gleich - zeitig nach Wien mitgetheilte und dort mit freudiger Dankbarkeit begrüßte Weiſung dem bairiſchen Miniſter vorlas,*)Bernſtorff, Weiſung an Zaſtrow, 1. Nov., an Kruſemark, 2. Nov.; Kruſemarks Bericht, 10. Nov. 1819. da fühlte ſich Graf Rechberg tief zerknirſcht und bat den Preußen, ihm eine Note zu übergeben, die er ſeinen Amtsgenoſſen vorlegen könne. Zaſtrow willfahrte der Bitte (8. Nov.), und nunmehr brach der bairiſche Heldenmuth jählings zuſammen. In einer demüthigen Antwort erklärte Rechberg, ſein König habe nie dem Gedanken Raum gegeben ſich von dem Bunde zu trennen und durch die Form der Bekanntmachung blos die Beruhigung der königlichen Unterthanen be - zweckt. **)Rechberg an Zaſtrow, 13. Nov. 1819.

Die Thaten entſprachen den Worten. Die Cenſur und die Beauf - ſichtigung der Univerſitäten wurde in Baiern mit der äußerſten Strenge gehandhabt, und die Abſendung Hörmanns in die Mainzer Commiſſion geſtattete vollends keinen Zweifel mehr über die Geſinnungen des Mün - chener Hofes. Eine Petition des unermüdlichen Hornthal gegen die Karls - bader Beſchlüſſe fand bei den Miniſtern eine ſcharfe Abfertigung. Einige Offiziere, die in Regensburg und Kehlheim zuſammentraten, um das bai - riſche Verfaſſungsrecht gegen die Angriffe des alten Landesfeindes Oeſter - reich zu verwahren, wurden von dem wackeren Oberſt Zoller an die Pflichten der militäriſchen Mannszucht erinnert und bald zum Schweigen gebracht. ***)Zaſtrows Bericht, 17. Nov. 1819.Zur Herzſtärkung der reuigen Sünder ſendete Ancillon dann noch (7. De - cember) eine wohlgeſalbte Denkſchrift: Die Wahrheit hat eine eigene Ge - walt, der man ſich am Ende doch unterziehen muß. Alles, was Deutſch - lands Einigkeit vermehrt, befördert ſeine Einheit. Die Souveränität hat keine andern Feinde als gerade diejenigen, die eine argwöhniſche Ehrfurcht für dieſelbe heucheln, zu bekämpfen. †)Ancillon an Zaſtrow, 7. Dec. 1819.Zugleich verſicherte Ancillon, daß ſein König die Beſeitigung der bairiſchen Verfaſſung nicht im Entfernteſten wünſche; genug, wenn ſie im ſtreng monarchiſchen Sinne gehandhabt werde. Preußen widerrieth alſo die Einführung einer bairiſchen Provincial -583Baiern unterwirft ſich.ſtände-Verfaſſung, welche der Geſandte in Petersburg, Graf Bray, auf Metternichs Rath dem Münchener Hofe ſoeben empfohlen hatte. *)Blittersdorffs Bericht, Petersburg 25. Okt. 1819.

Nunmehr fühlte ſich der ſchwankende Max Joſeph völlig beruhigt; er wußte jetzt, daß er mit dem preußiſchen Hofe Hand in Hand gehen konnte, ohne ſeinen Verfaſſungseid zu verletzen. Auch Wrede, der ſich in ſeiner fahrigen Weiſe eine Zeit lang für die bairiſche Souveränität ſehr beſorgt gezeigt hatte, wurde durch ein ſchmeichelhaftes Handſchreiben Metternichs bekehrt und betheuerte dem preußiſchen Geſandten ſeinen tiefen Abſcheu gegen die liberalen Anſichten Lerchenfelds. Dieſer ſelbſt hatte Mühe ſich auf ſeinem Poſten zu behaupten, da ſein demagogiſcher Brief an Wangen - heim dem Könige in die Hände geſpielt wurde und den äußerſten Zorn des Monarchen erregte. **)Zaſtrows Berichte, 23. Dec. 1819, 9. Januar 1820.Die Demüthigung des Münchener Hofes war vollſtändig, und um den Sieg der beiden Großmächte auch für die Zu - kunft zu ſichern, weigerte ſich Rechberg nunmehr zu den Wiener Miniſter - conferenzen zu gehen. Er wollte in München bleiben, um den unberechen - baren König nicht aus den Augen zu laſſen. In Wien ſollte Zentner die bairiſche Krone vertreten, und Rechberg ſagte mit feiner Menſchen - kenntniß voraus, dieſer des Liberalismus verdächtigte Bureaukrat werde als ein warmer Verehrer Metternichs von der Donau heimkehren. ***)Zaſtrows Bericht, 27. Okt. 1819.

Die Unredlichkeit des bairiſchen Hofes erſchien immerhin noch achtungs - werth neben dem Verhalten der Krone Württembergs. König Wilhelm ließ ſchon am 1. Oktober die Karlsbader Beſchlüſſe ohne Vorbehalt veröffent - lichen und noch am ſelben Tage die Cenſur einführen; gleichwohl hatte er wenige Tage zuvor die neue Verfaſſung beſchworen, welche die Preßfreiheit verhieß und auch ſonſt den Karlsbader Erklärungen des Miniſters Wintzin - gerode vielfach widerſprach. Mit gewundenen Verſicherungen ſuchte man dieſe Zweizüngigkeit vor den beiden Großmächten zu entſchuldigen. Nach Allem was geſchehen, betheuerte Wintzingerode dem preußiſchen Geſandten, ſei die Krone ihrem Volke einen Beweis des Vertrauens ſchuldig geweſen; dem Kaiſer Franz aber, der ihn in einem eigenhändigen Briefe an die Karlsbader Zuſagen gemahnt hatte, antwortete der König: wenn man ihm die Mittel dazu biete, ſo wolle er gern das übereilte Verfaſſungswerk wieder zurücknehmen. †)Küſters Bericht, Stuttgart 12. Okt.; Kruſemarks Berichte, Wien 22. Sept., 2. Okt. 1819.Als die Stadt Eßlingen ſich in einer Bittſchrift gegen die Karlsbader Beſchlüſſe ausſprach, ertheilte Witzingerode dem Cenſor, welcher dies gefährliche Aktenſtück durchgelaſſen hatte, einen ſcharfen Ver - weis. Derſelbe Miniſter bereitete gleichzeitig einen diplomatiſchen Feldzug für die Wiener Conferenzen vor und ließ, um ſeinem Hofe einen Anhang unter den Kleinen zu werben, zunächſt die Karlsbader Conferenzprotokolle,584II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.deren Geheimhaltung angelobt war, für mehrere der ausgeſchloſſenen kleinen Höfe abſchreiben.

Mittlerweile ſuchte König Wilhelm auch noch das Einzige zu zerſtören was in dieſer düſtern Epoche unſerer Geſchichte erfreulich war, den Ein - muth der deutſchen Kronen gegenüber dem Auslande. Im Oktober ging er nach Warſchau, um ſeinen kaiſerlichen Schwager gegen die beiden deut - ſchen Großmächte aufzuwiegeln; Metternich aber befahl ſofort dem Ge - ſandten Lebzeltern, ſich ebenfalls in der polniſchen Hauptſtadt einzufinden. *)Weiſung an Kruſemark, 1. Okt. 1819.Die Vorſicht war kaum nöthig. Czar Alexander empfing ſeinen Schwager ſehr kühl; dies Uebermaß der Falſchheit ekelte ihn doch an, obwohl er ſelber die krummen Wege nicht immer verſchmähte. Er ſcheute ſich nicht vor den fremden Diplomaten offen auszuſprechen: erſt zweimal die Karls - bader Beſchlüſſe förmlich annehmen, dann ihnen zuwiderhandeln und ſchließ - lich noch meine Hilfe anrufen, das nenne ich ein ſchlechtes Handwerk (de la mauvaise besogne); den Feinen zu ſpielen iſt immer die übelſte Politik. **)Lebzelterns Bericht aus Warſchau (in Kruſemarks Bericht, Wien 8. Dec.), Blitters - dorffs Bericht, Petersburg 7. Nov. 1819.Der Württemberger mußte unverrichteter Dinge abziehen und verſuchte dann noch einmal bei einem Beſuch in Karlsruhe, den badiſchen Hof zu einem liberalen Sonderbunde zu verleiten; aber weder der Großherzog, noch der hochconſervative Berkheim, der ihm jetzt zur Seite ſtand, wollte ſich auf dieſe Zettelungen einlaſſen. Zur ſelben Zeit ließ König Wilhelm die bai - riſche Regierung dringend bitten, daß ſie doch ja bei der Ausführung der Karlsbader Beſchlüſſe keine unnützen Bedenklichkeiten zeigen möge; denn nachdem er ſelber jene Beſchlüſſe ohne Vorbehalt bekannt gemacht, durfte kein anderer deutſcher Fürſt liberaler ſcheinen als er. ***)Berſtett an Großherzog Ludwig, Wien 12. Dec.; Zaſtrows Bericht, München 6. Nov. 1819.

Und dieſen König, der ſo würdelos zwiſchen despotiſchen Neigungen und liberaliſirendem Ehrgeiz ſchwankte, pries ſein treues Völkchen, in harm - loſer Unkenntniß, als den Hort und Halt germaniſcher Freiheit. Nie hat Württemberg eine ruhmwürdigere Stellung gehabt , ſchrieb Wangen - heim glückſelig, und wird ſie ganz begriffen und einſichtsvoll behauptet, ſo gewinnt es eine innere Stärke, die jeder äußeren gewachſen bleibt. †)Wangenheim an Hartmann, 6. Nov. 1819.Als König Wilhelm aus Warſchau heimkehrte, erwarteten ihn die Bürger Stuttgarts in hellen Haufen draußen am Thor, ſpannten ihm die Pferde aus, zogen den Wagen ſelber vor das Schloß. Dort ſtanden die Schul - kinder und ſangen Nun danket Alle Gott! Alles Volk ſtimmte mit ein, ernſte Männer vergoſſen Thränen der Rührung. Am Abend flammten die Freudenfeuer auf den Bergen, und im Theater ward Uhlands Ernſt von Schwaben aufgeführt. Das Haus erdröhnte von Beifall, als ein585Württembergiſche Ränke.ſchwunghafter Prolog den Fürſten feierte, der in wildverworrener Zeit hoch - herzig ſeinem Volk die Hand reiche: Noch ſteigen Götter auf die Erde nieder. Um dem Glanze ſchwäbiſcher Freiheit einen wirkſamen Hintergrund zu geben, ſchilderte der Dichter auch die tiefe Finſterniß der preußiſchen Zuſtände und ſagte, mit Anſpielung auf Görres:

Das iſt der Fluch des unglückſel’gen Lands,
Wo Freiheit und Geſetz darniederliegt,
Und die noch jüngſt des Landes Retter hießen
Sich flüchten müſſen an des Fremden Heerd.

So feierte ein deutſcher Stamm einen Fürſten, der ſoeben die Ruſſen auf ſeine deutſchen Bundesgenoſſen zu hetzen verſucht hatte; des gemein - ſamen Vaterlands gedachte Niemand mehr in dem Rauſche württembergiſcher Freiheitsbegeiſterung. Seit der Deutſche Bund ſich dem Volke entfremdet hatte, erhob der Partikularismus wieder frech ſein Haupt. In Ulm trat eine große Anzahl württembergiſcher Offiziere unter der Führung des Generals Hügel zuſammen und ſendete dem Könige eine von rheinbünd - leriſchem Größenwahnſinn überſtrömende Adreſſe. *)Zaſtrows Bericht, 17. Nov. 1819.Die Bittſteller verherr - lichten zunächſt ihre von dem Geiſte der Wahrheit gezeugte, von der Liebe des Rechts empfangene Verfaſſung und ergingen ſich ſodann in wüthenden Schimpfreden gegen jene fremden Regierungen, welche das Glück des würt - tembergiſchen Volkes mit Schmähſucht betrachten und ſich in thörichtem Wahne vermeſſen, den Württemberger vor eine fremde Inquiſition in das Ausland zu ſchleppen, um ihn dort nach unwürttembergiſchen Geſetzen zu richten. Sie forderten ſchließlich noch deutlicher als einige Monate zuvor die Liberalen der bairiſchen Kammer gradezu den Krieg gegen die beiden Großmächte, den rühmlichſten Kampf für die heiligſten Güter eines mün - digen Volkes: das ganze Volk wird begeiſterungsvoll unſere Reihen ver - ſtärken! Wie kindiſch auch dieſe Prahlereien klangen, in Wien und Berlin ward der Vorfall doch ſehr ernſt genommen; denn was ſollte aus dem deutſchen Bundesheere werden, wenn jener zuchtloſe politiſche Parteigeiſt, der ſich bereits im bairiſchen Heer mehrmals geäußert hatte, nun auch in andere der kleinen napoleoniſchen Contingente hinüberdrang? Beide Groß - mächte verlangten in Stuttgart ſtrenges Einſchreiten gegen die Unterzeichner der Adreſſe. König Wilhelm gehorchte, aber die Strafen fielen ſo mild aus, daß man ſeine wahre Meinung leicht errathen konnte. Eine ſolche Politik, unwahr und widerſpruchsvoll in jedem Worte, konnte den Triumph - zug Oeſterreichs wahrlich nicht aufhalten.

Die Warſchauer Reiſe König Wilhelms erſchien um ſo thörichter, da die ruſſiſche Politik jenen Zuſtand rathloſer Unſicherheit, dem ſie ſeit dem Frühjahr 1818 verfallen war, noch immer nicht überwunden hatte. Neſſel - rode zeigte ſich nach wie vor als ergebener Schüler Metternichs, billigte586II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.unbedingt Alles was in Karlsbad vorging;*)Blittersdorffs Berichte, Petersburg 14. Aug. 1819 ff. Kapodiſtrias ſprach ebenſo lebhaft dawider; der Czar ſelbſt war im Grunde mit Neſſelrode einver - ſtanden, aber nicht feſt genug um die liberalen Anſichten ſeines griechiſchen Freundes kurzweg zurückzuweiſen. Sofort nach den Karlsbader Conferenzen hatte Kaiſer Franz dem Czaren in einem Handſchreiben dargelegt, wie ſchwer die Ruhe Europas gefährdet ſei durch die ſträfliche Nachſicht der kleinen deutſchen Kronen gegen die Narren und Schreier . Beide deutſche Großmächte legten ſodann nach vollbrachter Arbeit die neuen Bundesbe - ſchlüſſe dem Czaren vor und fanden warmen Dank. Alle auswärtigen Diplomaten meldeten übereinſtimmend, wie tief Alexander von der Gefahr einer allgemeinen revolutionären Schilderhebung überzeugt ſei; nur deshalb, äußerte er wiederholt, bleibe das ruſſiſche Heer auf Kriegsfuß. **)Kruſemarks Bericht, 8. Dec. 1819. Bericht des ſchwediſchen Geſandten Löwenhjelm (Beilage zu Kruſemarks Bericht, 2. Jan. 1820).

Unterdeſſen trieb Kapodiſtrias liberale Politik auf eigne Hand. Er ſtellte die Vertreter Baierns und Badens ernſtlich zur Rede, warum ihre Höfe die Souveränität ſo leichtſinnig preisgegeben hätten? Wie nun, fragte er den Badener Blittersdorff, wenn der Bundestag einmal der Krone Baiern die Execution gegen Baden übertrüge! Die Furcht iſt immer ein ſchlechter Rathgeber, und ſie ſcheint die Karlsbader Beſchlüſſe diktirt zu haben. Sind die deutſchen Fürſten darum Souveräne um ſich irgend einer Autorität zu unterwerfen, nun wohl, ſo ſollen ſie ſich ein Oberhaupt wählen, aber eines, nicht achtunddreißig. Möge der Karlsruher Hof, ſo ſchloß er, ſich’s zweimal überlegen bevor er auf den Wiener Conferenzen neuen Beſchlüſſen zuſtimmt, welche den Deutſchen Bund in einen Bundes - ſtaat verwandeln werden! ***)Blittersdorffs Bericht, Petersburg 4. Nov. 1819.Die ruſſiſchen Geſandten an den kleinen Höfen, Anſtett in Frankfurt, Pahlen in München, Koſelowsky in Stuttgart vermochten ſich in dieſen ſeltſamen Widerſprüchen nicht zurechtzufinden: ſie hielten ſich alſo an den altmoskowitiſchen Grundſatz, daß der Unfriede in Deutſchland für Rußland heilſam ſei, und verſäumten nichts, was den Widerſtand gegen die deutſchen Großmächte ermuthigen konnte.

Am 30. November trat Kapodiſtrias endlich etwas kühner auf und verſendete gleichzeitig vier umfangreiche Denkſchriften: eine Antwort an den öſterreichiſchen Geſandten Lebzeltern, eine Verbalnote an die beiden deutſchen Großmächte, eine Circulardepeſche an die ruſſiſchen Geſandten in Deutſch - land und endlich noch ein Memoire über die Folgen der letzten Bundes - beſchlüſſe. †)Kapodiſtrias an Lebzeltern, 30. Nov. 1819. Die drei anderen Schriftſtücke bei F. v. Weech, Correſpondenzen S. 19 f.Der gewaltige Wortprunk dieſer Aktenſtücke bewies nur zu klar, daß der Grieche ſeine ganze Meinung nicht ſagen durfte. Kaiſer Alexander das war der langen Rede kurzer Sinn begrüße in den587Rathloſigkeit des ruſſiſchen Hofes.Karlsbader Beſchlüſſen einen neuen Beweis der hochherzigen Abſichten ſeiner Alliirten. Aber er vermöge dem Geſchehenen nicht ſo unbedingt ſeinen Beifall zu geben, wie der preußiſche Hof erwarte; denn er be - merke mit tiefem Schmerz, daß unter den deutſchen Regierungen ſelber kein Einmuth beſtehe; manche von ihnen mißbilligen heute durch die That was ſie geſtern im Grundſatz angenommen haben . Angeſichts dieſer Zwie - tracht und der ſchweren Krankheit Deutſchlands, die ſich auch in der be - ginnenden Auswanderung bekunde, könne der Kaiſer keine beſtimmte Mei - nung ausſprechen bevor er den Hof von St. James um Rath gefragt habe.

Alſo Rußland ſuchte Rath bei ſeinen geſchworenen Feinden, den engli - ſchen Torys, und dies England ſtand unerſchütterlich auf Oeſterreichs Seite! Graf Münſter, noch immer der einzige Rathgeber Lord Caſtlereaghs in allen deutſchen Fragen, betrieb die Karlsbader Politik faſt noch freudiger als Metternich ſelber, er hatte noch von Böhmen aus den Geheimen Räthen des Herzogthums Braunſchweig, das unter der vormundſchaftlichen Regie - rung des Prinzregenten ſtand, die neue correcte Doctrin von den deutſch - rechtlichen Landſtänden nachdrücklich eingeſchärft. Einen ſo namenlos un - geſchickten Fechterſtreich abzuſchlagen konnte den deutſchen Großmächten nicht ſchwer fallen. Hardenberg ſchrieb ſogleich an Caſtlereagh (30. Dec.), forderte ihn freundſchaftlich auf, dieſem Sophiſten Kapodiſtrias, der uns ſchon in Aachen ſoviel Noth gemacht , ernſtlich heimzuleuchten; der Czar ſelber ſei durchaus gutgeſinnt. Aehnlich ſchrieb Metternich. *)Kruſemarks Bericht, 2. Jan. 1820.Der Lord beeilte ſich natürlich ſeinen alten Freunden zu erwidern, daß er alle ihre Unterneh - mungen mit ſeinen glühenden Wünſchen begleite, und ſendete dem ruſſiſchen Hofe eine Antwort (14. Januar), welche die Viſionen des Grafen Kapo - diſtrias gründlich zerſtörte. In der Form war ſeine Erwiderung freilich ſehr vorſichtig gehalten. Er durfte die Whigs im Parlamente nicht reizen, die ihm ſoeben wieder, in einer donnernden Rede Lord Minto’s den Bund der Höfe gegen die Völker vorgeworfen hatten; daher weigerte er ſich auch mit den anderen Höfen des Vierbundes gemeinſame Maßregeln für den Fall von Ludwigs XVIII. Tode zu verabreden, wie Metternich ihm vorgeſchlagen, und gab ſeinem Schreiben an den ruſſiſchen Geſandten die Wendung, daß England den Grundſatz der Nichteinmiſchung feſthalten müſſe. **)Kruſemarks Berichte, 2. Jan., 10. April 1820.Doch in der Sache ſprach er ſich entſchieden für Oeſterreich aus, er billigte den Kampf gegen die Revolution und fand keinen Anlaß zu irgend welchen Beſchwerden. Auch die badiſche Regierung hielt ſich verpflichtet die Warnungen des Griechen ſcharf zurückzuweiſen: die Bundesakte, ſchrieb ihm Berſtett, iſt heute für Deutſchland das Geſetz und die Propheten. ***)Berſtett an Kapodiſtrias, 10. Dec. 1819.588II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.Seitdem ward Kapodiſtrias ganz ſtill, Neſſelrode gewann wieder für einige Zeit die Oberhand. *)Kruſemarks Berichte, 17. Jan., 12. Febr. 1820.Aus den Tuilerien verlautete auch kein Wort des Widerſpruchs.

Ungeſtört, in ſtolzer Sicherheit durfte Metternich ſeines Weges ziehen. Ueberall in Europa meinte er bereits die ſegensreichen Folgen ſeiner diplomatiſchen Contrerevolution zu bemerken: ſcharf wie ſeit Langem nicht mehr traten die franzöſiſchen Miniſter den Independenten entgegen, und im engliſchen Parlament erfocht das Tory-Cabinet einen Sieg nach dem andern. **)Kruſemarks Bericht, 26. Dec. 1819.Gentz hatte niemals ſtolzer, zuverſichtlicher geſchrieben als in dieſem geſegneten Winter. Auf die Angriffe der franzöſiſchen Preſſe erwiderte er höhniſch: der Augenblick iſt vielleicht nicht ferne, wo alle guten Väter in Deutſchland erkennen werden, daß das, was Verblendung oder Erbitterung den Todesſtreich der deutſchen Univerſitäten nannte, der An - fang ihrer Wiedergeburt war. Als die franzöſiſchen Abgeordneten in einem Anfall zügelloſer Parteiwuth den Königsmörder Gregoire darauf aus der Kammer verſtießen, da feierte der Oeſterreichiſche Beobachter die preis - würdige That mit dem ſtaatsmänniſchen Ausſpruch: das Reſultat muß für die Wünſche der Gutgeſinnten heilbringend ſein, weil es die Gegner in Troſtloſigkeit verſenkt hat. Adam Müller aber rief dem Freunde zu: Nunmehr beſteht diesſeits und jenſeits des Rheines eine ſolidariſch ver - bundene Gemeinde für die Sache Gottes und der Wahrheit, und ſie iſt Ihr Werk. Was man in Wien unter der Sache Gottes und der Wahr - heit verſtand, darüber wurden die Deutſchen in der Weihnachtszeit noch einmal gründlich belehrt. Eben in dieſen Tagen, da die deutſchen Dema - gogen in den Kerker wanderten, ſetzte Kaiſer Franz den General Mack, der einſt bei Ulm capitulirt hatte, in alle ſeine Ehren und Würden wieder ein. Durch ein Uebermaß kaiſerlicher Gnade wie General Kruſemark nicht umhin konnte zu bemerken wurde dem Helden auch noch der geſammte Gehalt, den man ihm ſeit dem Ulmer Ruhmestage vorenthalten, nachträglich ausbezahlt.***)Kruſemarks Bericht, 13. Dec. 1819.

Ungleich werthvoller als die freundliche Haltung der fremden Mächte wurde für die Hofburg ein Kampf im preußiſchen Miniſterium, der zwar nur mittelbar mit den Karlsbader Beſchlüſſen zuſammenhing, aber mit einem Siege der öſterreichiſchen Partei endigte. Frohen Muthes war der Staatskanzler am 5. Auguſt nach Glienicke zurückgekehrt; er meinte ſich durch den Teplitzer Vertrag das Vertrauen des Königs von Neuem ge - ſichert zu haben und ſchritt jetzt hoffnungsvoll an die Vollendung ſeiner589Der neue preußiſche Verfaſſungsausſchuß.Reformpläne. Die neuen Steuer - und Staatsſchuldengeſetze waren dem Abſchluß nahe; Hardenberg wünſchte auch Steins Urtheil darüber zu ver - nehmen, erkannte ihn in einem gewinnenden Briefe willig als ſeinen Meiſter im Finanzfache an und bat ihn freundlich: Warum können wir nicht zuſammen arbeiten? Der ſtolze Reichsfreiherr aber blieb unwandelbar in ſeinem Haſſe, überſchüttete die Hardenbergiſchen Entwürfe, die er gar nicht kannte, mit leidenſchaftlichem Tadel. Mittlerweile erhielt auch der Verfaſſungsplan ſeine endgiltige Geſtalt. Die böſen Zungen der Haupt - ſtadt erzählten freilich mit großer Zuverſicht, der Staatskanzler denke längſt nicht mehr an ſeine conſtitutionellen Pläne; man verſicherte allgemein, auf die erſte Nachricht von Kotzebues Ermordung hätte er ausgerufen: nun iſt eine Verfaſſung für Preußen unmöglich! Einen Ohrenzeugen wußte jedoch Niemand zu nennen; das geflügelte Wort war entweder er - funden oder nur ein unwillkürlicher Ausruf des erſten jähen Schreckens. Sicher bleibt, daß Hardenberg grade jetzt, unter den ungünſtigſten Ver - hältniſſen, die Verfaſſungsarbeit wieder aufnahm. Am 11. Auguſt legte er dem Könige ſeinen letzten Entwurf vor, und nach neuen vertraulichen Berathungen in Charlottenburg, zu denen auch Witzleben zugezogen wurde, befahl Friedrich Wilhelm, daß aus der Verfaſſungscommiſſion des Staats - raths ein Ausſchuß gebildet werden ſollte um die Verfaſſung nach Harden - bergs Vorſchlägen auszuarbeiten. Mitglieder waren außer dem Staats - kanzler ſelbſt: Humboldt, Schuckmann, Ancillon, Daniels, Eichhorn. *)Cabinetsordre an den Staatskanzler, 23. Aug. 1819.Wieder vergingen ſechs Wochen, da Daniels durch die Geſchäfte der rhei - niſchen Juſtiz-Organiſation daheim zurückgehalten wurde. Endlich am 12. Oktober hielt der Ausſchuß ſeine erſte Sitzung, und Hardenbergs Ent - wurf Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen trat aus dem Dunkel hervor.

Die Arbeit bewies, daß die Jahre dem greiſen Staatsmanne wohl die Kraft des Willens, doch nicht die Kühnheit und Schärfe der Gedanken hatte ſchmälern können. **)Hardenberg, Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen. S. Beilage IV. Ganz nach der gründlichen alten preußiſchen Weiſe, in ſcharfem Gegenſatze zu den improviſirten Verfaſſungen des - dens, wollte er die parlamentariſchen Rechte aufrichten auf der breiten Unterlage der Selbſtverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz. Der Siebzigjährige traute ſich noch die Kraft zu, für einen Umbau der ge - ſammten Staatsverwaltung von unten nach oben. Von jenen bureau - kratiſch-liberalen Anſichten, die er einſt beim Erlaß des Gensdarmerie - Edikts bekundet, zeigte ſich jetzt keine Spur mehr, und nichts konnte unge - rechter ſein als der Vorwurf Steins: dieſer Mann biete nur liberale Phraſen und despotiſche Realitäten, ohne Rückſicht auf das Beſtandene . Vielmehr ging Hardenberg, ganz wie Stein ſelber, von dem Grundſatze590II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.aus: Wir haben lauter freie Eigenthümer; an den freien Grundbeſitz ſollten ſich alle ſtändiſchen Rechte anſchließen. Daher ward eine Communal - Ordnung, welche den Gemeinden die Verwaltung ihrer eigenen Angelegen - heiten übertragen ſollte, als das nächſte dringende Bedürfniß bezeichnet. Aus indirekten Wahlen der ländlichen ſowie der ſtädtiſchen Gemeinden und aus direkten Wahlen der Rittergutsbeſitzer geht ſodann der Kreistag her - vor, eine Vertretung von drei (oder wo ſich Standesherren vorfinden, von vier) Ständen, die aber eine ungetheilte, nicht an Mandate gebundene Ver - ſammlung bilden. Alſo nicht der Landadel, ſondern der geſammte Großgrund - beſitz ſoll eine beſondere Vertretung erhalten; die Rittergutsbeſitzer heißen zwar Kreisſtände, doch ſie erhalten nicht Virilſtimmen, ſondern blos das Wahlrecht für die Kreistage. Wählbar iſt jeder mündige, unbeſcholtene chriſtliche Grundbefitzer. Auf den Kreistagen werden dann die Vertreter der drei Stände für den Provinziallandtag gewählt, zu denen die Standes - herren und die Biſchöfe hinzutreten; eine Vertretung der Univerſitäten hatte der König ſelbſt, ſofern ſie nicht Grundbeſitzer ſeien, für bedenklich erklärt. Alle dieſe ſtändiſchen Körperſchaften befaſſen ſich weſentlich mit der Ver - waltung ihrer Communalanſtalten, dem Schuldenweſen, der Steuerver - theilung. Dagegen ſoll der aus Provinziallandtagen gewählte Allgemeine Landtag gar keine eigene Verwaltung haben, ſondern lediglich jährliche Ueberſichten über den Gang der Verwaltung, vornehmlich über den Stand der Finanzen, von den Miniſtern erhalten und die neuen Geſetze für die geſammte Monarchie berathen.

Hier zeigte ſich’s nun, wie anders als Metternich der preußiſche Staats - kanzler die Zuſagen des Teplitzer Vertrages verſtand: er wollte im Ernſt einen angeſehenen, wenn auch nicht allzu zahlreichen preußiſchen Landtag, nicht einen kümmerlichen Centralausſchuß, und gab der Verfaſſungscom - miſſion zu erwägen, ob das Ein - oder das Zweikammerſyſtem für dieſe Geſammtvertretung der drei Stände vorzuziehen ſei. Auch die ſchwierigen Fragen der Initiative, der Oeffentlichkeit, der Verantwortlichkeit der Mi - niſter hielt er noch vorſichtig offen. Desgleichen die Frage, ob die Pro - vinziallandtage ſich an die neugebildeten Provinzen oder an die altſtändi - ſchen Territorien anſchließen ſollten. Die auswärtigen Angelegenheiten und die militäriſchen Verhältniſſe, ſoweit ſie nicht perſönliche Verpflichtungen beträfen, ſollten den Berathungen der Stände entzogen bleiben. Dann folgte noch die Aufzählung einiger Grundrechte: Gleichheit vor dem Geſetz, Gewiſſensfreiheit u. ſ. w. Auch Vorſchriften über die Preßfreiheit und die öffentliche Rechtspflege waren in Ausſicht genommen. Und Alles dies in dem nämlichen Augenblick, da Hardenberg die Karlsbader Politik förderte; in ſeinen Augen waren die neuen Bundesgeſetze nur Ausnahmegeſetze für wenige Jahre der Noth. Zum Schluß betonte der Staatskanzler nach - drücklich die Befeſtigung des monarchiſchen Princips und erinnerte an den Grundſatz: salus publica suprema lex esto.

591Hardenbergs Verfaſſungsplan.

Der Entwurf bot der anfechtbaren Stellen genug. Eine einzige Com - munalordnung für die geſammte Monarchie war bei der unendlichen Mannich - faltigkeit der ſocialen Zuſtände des flachen Landes offenbar unmöglich. Noch bedenklicher erſchien die ausſchließliche Wahlberechtigung des Grundbeſitzes, die in den Städten zu widerſinnigen Verhältniſſen führen mußte; ſodann die als möglich angenommene Wiederherſtellung der alten Territorien, deren verwickeltes Schuldenweſen allerdings nicht ohne Mühe in eine neue Pro - vinzialverfaſſung eingefügt werden konnte; endlich und zu allermeiſt das unglückliche Syſtem der vierfach indirekten Wahlen. Die Gefahr lag nahe, daß ein alſo nicht gewählter, ſondern delegirter Allgemeiner Landtag ſich der Nation entfremdete, die Monarchie den Charakter eines Föderativ - ſtaats annähme. Und dennoch, wie die Dinge lagen, kam Alles darauf an, daß ein Parlament für die geſammte Monarchie berufen wurde; an den Formen lag wenig. Hardenbergs Vorſchläge liefen im Weſentlichen hinaus auf einen Vereinigten Landtag, wie er im Jahre 1847 zuſammen - trat; unmöglich war es nicht, daß eine ähnliche Verſammlung, um das Jahr 1820 berufen, den Staat binnen eines Menſchenalters allmählich und friedlich in die Bahnen des reinen Repräſentativſyſtems hätte hinüber - führen können.

Jeder Satz der Denkſchrift verrieth den ernſten und ehrlichen Entſchluß des Staatskanzlers. Umſichtig hatte er Alles entfernt was den König be - denklich ſtimmen konnte und darum namentlich das Heerweſen ſowie die auswärtige Politik der Einwirkung der Stände entzogen. Auch den Be - gehren der altſtändiſchen Partei war er ſo weit als möglich entgegenge - kommen, und doch enthielt der Entwurf, in dem unſcheinbaren Abſchnitt über die Kreistage, eine tief einſchneidende, kühne Reform: wurde die Ritter - ſchaft ihrer Virilſtimmen auf den Kreisverſammlungen beraubt und auf eine mäßige, den wirthſchaftlichen Machtverhältniſſen der Gegenwart ent - ſprechende Stimmenzahl beſchränkt, ſo war eine der ſchwerſten und beſtbe - rechtigten Klagen der Bauern im Oſten beſeitigt, die ſtändiſche Herrſchaft des Adels auf dem flachen Lande brach zuſammen, und an ihre Stelle trat eine Intereſſenvertretung von drei ſocialen Gruppen, welche der Ritter - ſchaft zwar noch ein ſtarkes Uebergewicht, doch nicht mehr die alleinige Entſcheidung gewährte. Was Hardenberg plante war in der That der Abſchluß der Reformen von 1807 12, die Zerſtörung der letzten Trümmer des feudalen Gemeinweſens; und mit begreiflichem Zorne ſchalt die altſtän - diſche Partei am Hofe auf den alten Jakobiner: hatte er denn nicht ſelber in dem ungeſchickten Schlußwort ſeiner Ideen verrathen, daß er das salut public als das höchſte der Geſetze verehre?

Freilich, der Staatskanzler bot dem Ausſchuſſe nur den Entwurf eines Entwurfs, nur eine leichte Skizze, die ſich zu Humboldts Verfaſſungsdenk - ſchrift verhielt wie ein Skelett zu einem lebendigen Körper. Alles kam darauf an, wie der Ausſchuß dieſe Umriſſe ausfüllen würde. Ein grund -592II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.ſätzlicher Widerſpruch ſchien von keinem ſeiner Mitglieder zu erwarten. Eichhorn und Daniels ſtimmten den Hauptſätzen des Entwurfs willig zu. Humboldt fand in den kurzen Monaten ſeiner Miniſterlaufbahn nur zweimal die Gelegenheit, ſich über die Prinzipienfragen des Verfaſſungs - ſtreites auszuſprechen und bewies in beiden Fällen, daß Hardenbergs ver - mittelnde Richtung auch die ſeine war. Als zwei verfallene Landarmen - häuſer, welche der Staat vor Zeiten den kurmärkiſchen Ständen zur Benutzung überlaſſen, wieder eingezogen werden ſollten und die Stände, nach ihrer Ge - wohnheit, ſich wider die angebliche Rechtsverletzung verwahrten, da ant - wortete Humboldt: er leugne nicht, daß meinem Gefühle nach Alles, was nur entfernt mit ſtändiſcher Verfaſſung zuſammenhängt, jetzt einer ſehr großen Schwierigkeit unterliegt , und rieth dem Monarchen einen Mittel - weg einzuſchlagen: die Regierung möge die unaufſchiebliche Reform des kur - märkiſchen Landarmenweſens ſogleich ſelber vornehmen, aber den Ständen verſprechen, daß ſie nachträglich gehört werden ſollten, ſobald die neue Provinzialvertretung beſtehe. Den Ständen der Grafſchaft Mark, die noch - mals um die Herſtellung der markaniſchen Verfaſſung baten, erwiderte er feſt und freundlich: die Provinzen würden nicht ohne ſtändiſche Vertretung bleiben; aber das Bedürfniß der Staatseinheit mache es unmöglich das - jenige, was bisher unter ganz verſchiedenen Umſtänden obwaltete, auch jetzt noch einzeln und unverändert ſtehen zu laſſen. *)Humboldt an Schuckmann 24. Okt.; an Bodelſchwingh-Plettenberg 22. Sept. 1819.Es war als ob Harden - berg ſelbſt die Antwort diktirt hätte. Auch Ancillon zeigte ſich dem Plane des Staatskanzlers noch günſtig; er hatte ſoeben in ſeinem Buche über die Staatswiſſenſchaft die Vorzüge des Zweikammerſyſtems lebhaft em - pfohlen. Selbſt Schuckmann war bisher noch immer für den Verfaſſungs - plan aufgetreten.

Sobald ſich die Nachricht, daß Humboldt in einem neuen Verfaſſungs - ausſchuß thätig ſei, im Publikum verbreitete, begannen die halb erloſchenen Hoffnungen der Liberalen wieder aufzuleben. Regierungsrath Grävell, der alte unermüdliche publiciſtiſche Vorkämpfer der Verfaſſung, gab im November jenes berufene Sendſchreiben des jungen Gentz an König Friedrich Wilhelm wieder heraus und meinte in ſeinem geharniſchten Vorwort: Zwei große Tage erſcheinen im Leben der Völker: der Tag der Thronbeſteigung, wo die Zeit und der Tag der Verfaſſungsverleihung, wo die Weisheit einen neuen Bund ſchließt zwiſchen Fürſt und Volk. Friedrich Wilhelms Volk erlebt jetzt den zweiten großen Tag, das Jahr 1820 bringt ihm das Evan - gelium der Zukunft, den Tag der Gründung einer ſtändiſchen Verfaſſung. Sogar das radikale Weimariſche Oppoſitionsblatt weiſſagte noch im De - cember, daß im nächſten Jahre eine preußiſche Conſtitution den kühnſten Wünſchen entſprechend erſcheinen werde.

Die herausfordernde Sprache der alten Stände, die ſeit den Karls -593Hardenberg gegen die alten Stände.bader Beſchlüſſen immer dreiſter auftraten, beſtärkte den Staatskanzler nur in ſeinen conſtitutionellen Plänen. Durch die neueſten Beſchlüſſe der hohen deutſchen Bundesverſammlung mit Troſt und Hoffnung erfüllt , wendete ſich die weſthavelländiſche Ritterſchaft an den König (17. November), um ihre Entrüſtung über die unanſtändige Vermeſſenheit der ſogenannten Volksrepräſentanten anderer deutſchen Länder auszuſprechen. Bekannt mit der Stimmung des kräftigſten Theiles der Nation, des Landvolks, dürfen wir behaupten, daß dieſer im Allgemeinen weit davon entfernt ſei, den überall verbreiteten volksverführenden Umtrieben Gehör zu geben, ſondern vielmehr das Fortbeſtehen früherer Einrichtungen, aus denen das Günſtige ſeiner bisherigen Lage erwächſt, eifrig wünſcht. Alle deutſchen Länder ver - danken ihr Glück ſeit einem halben Jahrtauſend dem Beſtand von land - ſtändiſchen Verfaſſungen, an denen nur durch Vertrag geändert werden konnte. Darauf die Bitte um Wiederherſtellung des alten Rechts, und dazu noch ein trotziges Begleitſchreiben an Hardenberg, das die Aufhebung der ſtändiſchen Vorrechte als einen Eingriff in das Eigenthum verdammte. Bald nachher verlangten die Stände der Grafſchaft Ruppin, die Krone möge erwählte Deputirte der alten Stände aus den einzelnen Provinzen nach einander in den Verfaſſungsausſchuß berufen eine Bitte, die bald praktiſche Bedeutung erhalten ſollte. Beide Eingaben wies der Staats - kanzler ſcharf zurück. *)Eingabe der Ritterſchaft des weſthavelländiſchen und zauchiſchen Kreiſes an den König, 17. Nov.; desgl. der Stände der Grafſchaft Ruppin, 21. Dec. 1819.

Gleichwohl gewann ſeine neue Verfaſſungscommiſſion kein kräftiges Leben. Sie beſchloß zunächſt einen allgemeinen Plan für das Ganze der ſtändiſchen Einrichtungen zu entwerfen, alsdann ſchrittweiſe aufſteigend zu der Communalordnung, dann zu den Kreis -, den Provinzial - und den Reichsſtänden überzugehen. Aber ſie hielt bis zum Jahresſchluſſe nur zwei Sitzungen, und nur zwei ihrer Mitglieder, Ancillon und Eichhorn, äußerten ſich ſchriftlich über den allgemeinen Plan; Beide forderten das Zweikammer - ſyſtem und für die Reichsſtände nicht allein eine berathende, ſondern eine geſetzgebende Stimme . **)Protokolle der Verfaſſungscommiſſion, 12., 28. Okt. Ancillon und Eichhorn, Ideen zu der landſtändiſchen Verfaſſung.Die Wirkſamkeit des Ausſchuſſes ward von Haus aus gelähmt durch die Feindſchaft Hardenbergs und Humboldts, die eben jetzt in einem erbitterten Ringen ſich mit einander maßen.

Nach Beendigung ſeiner Frankfurter Geſchäfte war Humboldt erſt am 12. Auguſt in das Miniſterium eingetreten und hatte vom erſten Tage an das beleidigende Mißtrauen Hardenbergs ertragen müſſen. Der Mi - niſter für die ſtändiſchen Angelegenheiten erfuhr wochenlang kein Wort von den Ideen des Staatskanzlers und war als der Verfaſſungsplan endlich zu Tage kam ganz ebenſo überraſcht wie die übrigen Mitglieder des Ausſchuſſes. Dieſe kränkende Haltung Hardenbergs hatte freilich guteTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 38594II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.Gründe; denn ſeit dem Tage der Uebernahme ſeines Amts arbeitete Hum - boldt unabläſſig darauf hin, ſich und den übrigen Miniſtern die ſelb - ſtändige, verantwortliche Stellung zu erobern, welche nach ſeiner Ueber - zeugung nothwendig aber mit den Rechten des Staatskanzlers unvereinbar war. Sein letztes Ziel blieb der Sturz Hardenbergs; er verbarg es kaum noch, daß er den Staatskanzler für einen unheilvollen Mann hielt, und alsbald bot ſich ihm die Gelegenheit den Kampf zu eröffnen. Am 9. Auguſt hatte der König dem Miniſterium ſein berechtigtes Mißfallen kundgegeben, weil die Cabinets-Ordre vom 11. Januar noch immer nicht beantwortet war. *)Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 9. Aug. 1819.Der Miniſterrath trat zuſammen um dem königlichen Befehle endlich zu genügen, und es gelang dem neu eingetretenen Mitgliede, die weit auseinander gehenden Meinungen ſeiner Amtsgenoſſen auf einen be - ſtimmten Gedanken zu vereinigen.

Humboldt fand den tiefſten Grund der vorhandenen Mißſtände in der Machtſtellung des Staatskanzlers und gewann die Mehrheit der Mi - niſter für ſich, da Bernſtorff und Klewiz abweſend waren, Wittgenſtein den Sitzungen behutſam fern blieb. Umſonſt verſuchte Hardenberg abzu - mahnen; kaum acht Tage nach Humboldts Eintritt war die Stimmung im Miniſterium ſchon ſo ſchwierig, daß der Staatskanzler bereits die Nothwendigkeit eines Miniſterwechſels vorausſah. **)Hardenbergs Tagebuch, 19. Aug. 1819.Am 26. Auguſt unter - zeichnete das Staatsminiſterium ein von Humboldt verfaßtes Antwort - ſchreiben an den König, das von den früher abgegebenen Gutachten der einzelnen Miniſter ſeltſam abſtach. Die Hauptfragen der Cabinetsordre vom 11. Januar, hinſichtlich des Erziehungsweſens, der Preſſe, der Unbot - mäßigkeit der Beamten, berührte Humboldts Bericht nur obenhin; der Kern ſeiner Ausführungen lag in der mehrfach wiederholten Behauptung, daß in Folge der Stellung des Staatskanzlers von dem Begriff einer Centraliſirung der Verwaltung im Staatsminiſterium mit gemeinſamer Verantwortlichkeit kaum eine Spur zu erkennen ſei . Er verlangte demnach völlige Verſchmelzung des Staatskanzleramts mit dem Miniſterium, ſo daß der Staatskanzler den Vorſitz im Staatsminiſterium führen, über Alles Auskunft erhalten, in dringenden Fällen auch unmittelbar verfügen ſollte; die Protokolle des Staatsminiſteriums ſeien fortan dem Könige einzureichen, und kein Vorſchlag dürfe an den Monarchen gelangen ohne Vorwiſſen des betheiligten Miniſters.

Im Uebrigen wußten die Miniſter nur wenig poſitive Vorſchläge auf - zuſtellen. Sie deuteten leiſe an, daß Einige von uns mit noch ſtärkerer Zuverſicht als Se. Majeſtät auf den geſunden Sinn der Mehrheit der Nation vertrauen; ſie ſprachen die Hoffnung aus, über die letzten polizei - lichen Unterſuchungen noch näher unterrichtet zu werden, und wünſchten,595Humboldts Kampf gegen das Staatskanzleramt.daß die geheime Polizei in dem was ſie gethan hat das Licht nicht ſcheuen müſſe . Dazwiſchen hinein dann einige ganz unbeſtimmte Klagen über das Schwankende der Haupt-Verwaltungsgrundſätze und manche völlig ungerechte oder gradezu frivole Beſchwerden. So ward im Voraus der Stab gebrochen über die unumgängliche Steuerreform: neue Auflagen, die ſehr bedenklich ſind, ſollten vermieden werden. So ward der König gebeten die Verfaſſung nicht ohne den Rath des Staatsminiſteriums dem Lande zu verleihen; und doch gehörten ſämmtliche Miniſter zu der großen Verfaſſungscommiſſion vom Jahre 1817, welcher die Entwürfe des neuen kleinen Ausſchuſſes ſelbſtverſtändlich noch vorgelegt werden ſollten. *)Bericht des Staatsminiſteriums an den König 26. Aug., mit Randbemerkungen des Staatskanzlers vom 10. Sept. 1819.

Der Bericht mußte, falls er die Genehmigung des Monarchen fand, unvermeidlich den Rücktritt des Staatskanzlers herbeiführen, obgleich von allen Miniſtern wohl nur Humboldt ſelbſt dieſe Wirkung beabſichtigte. Da Hardenberg kein Fachminiſterium mehr bekleidete und wegen ſeiner Taubheit den Vorſitz im Staatsminiſterium ſchlechterdings nicht führen konnte, ſo wurde er durch Humboldts Vorſchläge jeder Macht beraubt, und an die Stelle der beſtehenden Einheit, deren ſchwere Gebrechen ſich allerdings nicht verkennen ließen, trat ein vielköpfiges collegialiſches Re - giment ohne Willen, ohne Leitung. Wer konnte einen ſolchen Wechſel wünſchen nach allen den kläglichen Beweiſen von Zwietracht und Rath - loſigkeit, welche dies Miniſterium in den letzten Monaten gegeben? Auch dieſer neueſte Bericht war, obgleich er ſelbſt das Gegentheil behauptete, erſt nach lebhaftem Streite zu Stande gekommen.

Hardenberg ſetzte ſich ſofort zur Wehr. Er verſicherte nochmals, daß er gern bereit ſei, auf den Befehl des Königs ſich mit dem dankbarſten Herzen in die Einſamkeit zurückzuziehen , und bat den Monarchen, dem Miniſterium alle von ihm gewünſchte Selbſtändigkeit zu geben , auch die Einſendung der Miniſterial-Protokolle zu genehmigen; aber dem Staats - kanzler müſſe der regelmäßige Vortrag bei dem Monarchen verbleiben, nach den mir zuzuſendenden Berichten der Miniſter. Sichtlich gereizt wies er ſodann darauf hin, wie der Bericht alles Uebrige leicht abfertige und die Beſchränkung der Macht des Staatskanzlers als die einzige Panacee betrachte. Die Auflegung neuer Steuern erklärte er für unver - meidlich und nothwendig zum Beſten des Staates . Mehrmals warf er den Miniſtern vor, daß ſie die Verirrungen des Zeitgeiſtes, die Gefahr einer künftigen Generation von Revolutionsmännern viel zu leicht nähmen; und mit Entrüſtung nahm er ſich ſchließlich ſeines Freundes Wittgenſtein an, welcher in den ſieben Jahren wo er die geheime Polizei leitete keinen Schritt gethan, den ich nicht genau weiß.

Das Zerwürfniß zwiſchen den beiden Nebenbuhlern war jetzt offen -38*596II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.kundig und verſchärfte ſich dermaßen, daß Bernſtorff und Wittgenſtein für nöthig hielten ſich von dem regelmäßigen Beſuche der Sitzungen des Staatsminiſteriums entbinden zu laſſen. General Witzleben, der den beiden Streitenden perſönlich nahe ſtand und beide für unentbehrlich hielt, be - mühte ſich umſonſt für einen Ausgleich. *)Zwei Cabinetsordres an Wittgenſtein und Bernſtorff 7. Okt. Witzleben, Denk - ſchrift über den Bericht des Staatsminiſteriums und die Randbemerkungen des Staats - kanzlers, Sept. 1819.Hardenberg drohte mit ſeinem Rücktritt und erreichte, nachdem der König einen allzuſcharfen Entwurf zurückgewieſen hatte, am 21. Oktober den Erlaß einer immerhin noch ſehr ungnädigen Cabinetsordre, welche dem Miniſterium das Befremden des Monarchen über die Oberflächlichkeit des letzten Berichts ausſprach und den Staatskanzler in allen ſeinen Befugniſſen beſtätigte: in Zukunft ſollten die Berichte der Miniſter zwar unmittelbar an die Krone geſendet werden, aber dem Kanzler gebühre das Recht zu beſtimmen, über welche dieſer Be - richte er ſelber Vortrag halten wolle. **)Zwei Cabinetsordres an den Staatskanzler und das Staatsminiſterium, 21. Okt. Hardenbergs Tagebuch, 12., 14. Okt. 1819.Die Miniſter verblieben mithin in einer abhängigen Stellung, welche ihnen ſelber läſtig und der raſchen Er - ledigung der Geſchäfte vielfach nachtheilig, aber ſo lange das Staatskanzleramt beſtand ſchlechthin unvermeidlich war. Zum Schluß rügte der König noch, daß ihm die Abſtimmungen der einzelnen Miniſter, ſeinem Befehle vom 11. Januar zuwider, nicht eingereicht worden ſeien. Die Ueberſendung dieſer Gutachten hatten die Miniſter bisher wohlweislich unterlaſſen; auf den wiederholten Befehl des Monarchen mußten ſie jetzt das Verſäumte nachholen,***)Bericht des Staatsminiſteriums an den König, 10. Nov. 1819. und nunmehr ergab ſich unwiderſprechlich, daß der Kampf gegen den Staatskanzler allein durch Humboldt veranlaßt war. In ihren früheren Gutachten hatten nur drei der Miniſter über Hardenbergs Vor - mundſchaft geklagt,†)S. o. S. 494. erſt ſeit Humboldts Eintritt war ihnen allen plötz - lich die Erkenntniß gekommen, daß der Urgrund des Uebels in der Macht - ſtellung des Staatskanzlers zu ſuchen ſei. In ſolcher Lage konnte ein neuer Vermittlungsverſuch des wackeren Witzleben zu keinem Ergebniß führen. ††)Witzleben, Denkſchrift über die Cabinetsordre vom 21. Okt. 1819.Humboldt mußte zurücktreten, nachdem Hardenberg zum zweiten male ſeine Angriffe abgeſchlagen hatte.

Mit dieſem Machtkampf verkettete ſich nunmehr der ungleich wichtigere Streit über die jüngſte Wendung der Bundespolitik. Am 8. September brachte Humboldt die Demagogenverfolgung zur Sprache und bewog die Miniſter, gegen den Widerſpruch Bernſtorffs und Schuckmanns, bei dem Monarchen anzufragen, ob die ergriffenen Sicherheitsmaßregeln als geſetzliche oder als außerordentliche Maßregeln zu behandeln ſeien. Eine ſtrenge Mahnung zum597Die Karlsbader Beſchlüſſe vor dem Staatsminiſterium.Gehorſam war die Antwort (16. September). Darauf wurden die neuen Bundesbeſchlüſſe dem Staatsminiſterium vorgelegt und in drei Sitzungen erwogen (5. 27. Okt., 3. Nov.). *)Protokoll der Sitzungen des Staatsminiſteriums vom 5., 27. Okt., 3. Nov. 1819 (von Humboldt).Es kam zu ſtürmiſchen Auftritten; die Berliner wollten wiſſen, daß Humboldt die Karlsbader Beſchlüſſe ſchändlich, antinational, ein denkendes Volk beleidigend genannt habe. Von ſolcher Kühnheit war in dem langen Berichts-Entwurfe, welchen er am 5. Oktober dem Miniſterium vorlegte, keine Spur zu finden. Seine Bedenken ſtützten ſich ausſchließlich auf die gefährdete Souveränität Preußens. Wir verkennen gewiß, ſo führte er aus, das wohlthätige Band nicht, welches Preußen an Deutſchland knüpft; aber das Gefühl, einer ſelbſtändigen und Deutſchland nicht einverleibten Monarchie anzugehören, iſt immer vorherr - ſchend in uns geweſen. Durch die Karlsbader Beſchlüſſe erlange der Bundes - tag das gefährliche Recht ſich in die inneren Angelegenheiten der Monarchie einzumiſchen; überdies werde Preußen, da Alles auf Oeſterreichs Antrag beſchloſſen ſei, in die ganze Reihe der ſich gewiſſermaßen leidend verhaltenden Staaten geſtellt . Der Art. 13 der Bundesakte berühre den preußiſchen Staat nicht, da der König ſchon vorher ſeiner geſammten Monarchie, auch den nichtdeutſchen Provinzen eine Verfaſſung verſprochen habe. Die Polizei - berichte über die Demagogen bewieſen, daß weder die Zahl dieſer Menſchen groß noch ihre Stellung in der bürgerlichen Geſellſchaft bedeutend ſei. Auf ſolche Erwägungen geſtützt beantragte Humboldt: es ſolle am Bundes - tage die Verkündigung der Karlsbader Beſchlüſſe als außerordentlicher Maß - regeln für zwei Jahre verlangt werden; es ſolle ferner der Miniſter des Auswärtigen die Vollmacht erhalten, über Bundesbeſchlüſſe, welche innere Angelegenheiten beträfen, mit den betheiligten Miniſtern Rückſprache zu nehmen.

Der zweite Antrag erſchien ganz müßig, da der Miniſter des Auswärtigen die gewünſchte Vollmacht bereits beſaß; aber auch der erſte Antrag war ebenſo ungeſchickt als ſchwächlich. Denn als Humboldt ſeinen Bericht vor - legte, hatte der Bundestag die Karlsbader Beſchlüſſe, mit ausdrücklicher Genehmigung des Königs, ſchon längſt angenommen, und während das Miniſterium noch berieth, wurden ſie in Preußen, abermals auf Befehl des Monarchen, förmlich verkündigt. Nach dem Staatsrechte der abſoluten Monarchie lag eine vollendete Thatſache vor; konnte man nicht den König ſelbſt zum Abfall von der öſterreichiſchen Politik bewegen und dazu reichten Humboldts gewundene Sätze wahrlich nicht aus ſo ließ ſich an dem Geſchehenen nichts mehr ändern. Die offenbare Ausſichtsloſigkeit des Kampfes ſtimmte die übrigen Miniſter bedenklich, obwohl ſie faſt alle - ſammt gegen Form und Inhalt der Karlsbader Beſchlüſſe ernſte Einwen - dungen zu erheben hatten. Nur Zwei, der Kriegsminiſter und der Groß -598II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.kanzler Beyme ſchloſſen ſich den Anträgen Humboldts an. General Boyen war in ſeinem preußiſchen Stolze den Wahngebilden des friedlichen Dua - lismus immer fremd geblieben; der gradſinnige Soldat fühlte ſich angee - kelt durch das lichtſcheue Treiben der Demagogen, die ſogar Gneiſenau und den chriſtlichen Romantiker Gröben nicht mit ihren Verdächtigungen verſchonten. Der greiſe Beyme hatte in den letzten Jahren ſeine Sympa - thien ganz dem Liberalismus zugewendet, obgleich er in ſeinem Departe - ment nie eine praktiſche Reform zu Stande brachte, und ſich neuerdings eng an Humboldt angeſchloſſen.

So brachte die Politik plötzlich drei Männer zuſammen, die im Grunde ſehr wenig mit einander gemein hatten. Beymes altmodiſche weichliche Philanthropie war das genaue Gegentheil von Humboldts helleniſcher Welt - anſchauung; auch Boyen und Humboldt liebten ſich nicht, noch auf dem Wiener Congreſſe hatten ſie ein Duell mit einander ausgefochten. Leider führten die beiden Bundesgenoſſen ihre Sache nicht glücklicher als Humboldt ſelbſt. Der Kriegsminiſter reichte ein gedankenreiches Gutachten ein, das in markigen Zügen den natürlichen Gegenſatz der beharrenden, katholiſchen Macht Oeſterreich und der frei aufſtrebenden Politik Preußens ſchilderte. Das Verhältniß zu Oeſterreich wollte Boyen womöglich auf ein einfaches Vertheidigungsbündniß beſchränken, obgleich wir wegen der Schwerfälligkeit des k. k. Staatshaushalts und Heerweſens den erſten Feldzug wahr - ſcheinlich allein tragen müßten . Die Verſtärkung der Bundesgewalt hielt er für bedenklich, ſo lange Preußen am Bundestage keinen überwiegenden Einfluß beſitze und der Bund ihm nicht einmal die Sicherheit ſeiner außer - deutſchen Provinzen verbürge; niemals richtete eines Naſſauers Stimme über den treuen oder verirrten Sinn eines Preußen. Es war das frei - müthige Glaubensbekenntniß eines fridericianiſchen Patrioten, aber zur Entſcheidung der vorliegenden Frage trugen dieſe Betrachtungen nichts bei. Auch Beyme ging von der Souveränität der Krone Preußen aus und er - örterte, wie ſtark der völkerrechtliche Charakter des Bundes durch die jüngſten Beſchlüſſe verändert werde. Den Kern der Sache berührte keiner der drei Miniſter; keiner ſagte frei heraus, daß die Karlsbader Politik einer thö - richten Angſt entſprungen war und die Kräftigung der Bundesgewalt nur darum verderblich wirkte, weil ſie nicht der nationalen Macht, ſondern der Unterjochung der Geiſter dienen ſollte.

Bernſtorff vertheidigte ſich ſehr gewandt gegen Humboldts verſteckte Angriffe. Er geſtand offen ein: daß der Bundesvertrag im Drange des Augenblicks als eine unreife Frucht aus übereilten Verhandlungen hervor - ging und ſtreitende Anſichten und Intereſſen auf eine Niemand befriedigende Weiſe ausglich, darüber war ſich ſogleich ganz Deutſchland einig. In ſolcher Lage bleibe eben nichts übrig als den unfähigen Bundestag durch eine vertrauliche Verſtändigung zwiſchen den beiden Großmächten zu leiten. Seien die Karlsbader Beſchlüſſe gerechtfertigt was Humboldt ſelbſt nicht599Die Oppoſition der drei Miniſter.gradezu beſtritten hatte ſo dürfe man auch ihre Wirkſamkeit nicht lähmen und am Wenigſten den König mit ſich ſelber in Widerſpruch bringen. Alle übrigen Miniſter erklärten ſich bedingt oder unbedingt gegen Humboldts Entwurf; Altenſtein in einem charakteriſtiſchen Gutachten, das den Unmuth des feinen Gelehrten über die Beſchimpfung der Univerſitäten ſehr deutlich verrieth. Alles was ich beſorge iſt einiger Druck ſo lautete der deutſche Troſt des wohlmeinenden Mannes allein iſt er nur nicht ganz ver - nichtend, ſo ſchadet er wohl nicht viel. Die Wiſſenſchaft erträgt ſolchen und gedeihet oft unter demſelben gleich der Palme. *)Humboldts Bericht, 5. Okt. Vota von Bernſtorff, Anfang Okt., von Beyme 20. Okt., von Boyen 26. Okt., von Altenſtein 3. Nov. 1819.

Mittlerweile war Bernſtorff zu den Wiener Conferenzen abgereiſt. Ohne ihn noch einmal zu befragen ſchritt das Miniſterium am 3. Novem - ber zur Abſtimmung. Humboldts Bericht ward verworfen, aber auch über die förmliche Billigung der Karlsbader Beſchlüſſe konnten ſich die Miniſter nicht einigen. Das klägliche nunmehr ſeit Monaten anhaltende Schauſpiel rathloſer Uneinigkeit fand endlich damit ſeinen würdigen Schluß, daß man einfach das Protokoll dieſer drei Miniſterialſitzungen nebſt einigen der vor - geleſenen Gutachten, aber ohne einen Beſchluß und ohne einen Bericht, dem Könige überſendete. Eine ſolche Regierung durfte nicht dauern, ein Wechſel, der ihr wieder Kraft und Einheit gab, war unabweisbar geboten.

Hardenberg erkannte, daß er ein Ende machen mußte. Um den König für einen ſtrengen Entſchluß zu gewinnen, rief er Ancillon zu Hilfe (11. November), ſendete ihm die Protokolle des Miniſteriums und ſchrieb: unter dem Vorwand die Souveränität der Krone und die Rechte ihrer Bürger zu vertheidigen, ſtelle ſich die Partei Humboldts thatſächlich auf die Seite der Revolutionäre; ſie verſuche die Grundlagen unſerer auswärtigen Politik umzuſtoßen, den Staatskanzler und Bernſtorff zu ſtürzen. Er ſelber ſei entſchloſſen, nicht bei halben Maßregeln ſtehen zu bleiben, denn ſchwanken wir, ſo rennen wir unzweifelhaft in unſer Verderben und wir werden Deutſchland, vielleicht Europa mit hineinreißen . Aber um nicht Richter in eigener Sache zu ſein, bitte er Ancillon um das Gutachten eines auf - geklärten und unparteiiſchen Patrioten . Alſo Ancillon als unparteiiſcher Schiedsrichter über Bernſtorff! Es war genau das Nämliche, wie wenn man Bernſtorff ſelber angerufen hätte. Mit welchem fauniſchen Lächeln mag der ſchlaue alte Staatskanzler die Antwort geleſen haben, welche ihm Ancillon nach vier Tagen unter dem Siegel der tiefſten Verſchwiegen - heit überſendete. Den Inhalt kannte er im Voraus.

Bernſtorffs Mentor gab ſich kaum die Mühe, die Maske des Unpar - teiiſchen beizubehalten. Er redete geradezu in Bernſtorffs Namen: der Graf zählt auf die Feſtigkeit des Königs und auf die Unterſtützung Ew. Durchlaucht. Vereinigt ſind Sie unbeſiegbar, und Deutſchlands böſer600II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.Genius wird beſchworen werden. Die Einwände der Oppoſition, die zugleich ein Unglück und ein Skandal iſt, fand er ſo kläglich, daß man kaum noch an die ehrliche Ueberzeugung der drei Miniſter glauben könne. Um der Sache der Wahrheit zum Triumphe zu verhelfen , hatte er über - dies noch con amore eine ungeheure Denkſchrift angefertigt und, wie gewöhnlich, das Waſſer nicht halten können. Die Arbeit war ihm unter der Feder angewachſen . Auf dreiundreißig eng beſchriebenen Seiten gab er eine gräßliche Schilderung von dem Geiſte der Beweglichkeit, der ſich erſt in Parteigeiſt, dann in revolutionären Geiſt umgeſetzt habe. Zum Glück hätten Oeſterreich und Preußen rechtzeitig jene finſteren Pläne durch - ſchaut, welche auf die Errichtung einer großen deutſchen Bundesrepublik hinausliefen. Die Karlsbader Beſchlüſſe ſind, als dauernde oder als vor - übergehende Maßregeln betrachtet, gleich weiſe. Hardenberg beendet, Bern - ſtorff beginnt damit glorreich eine große Laufbahn. *)Hardenberg an Ancillon 11. Nov., Ancillons Antwort 15. Nov. 1819, mit Bei - lage: Considérations sur les derniers décrets de la Diète. Auch der Biſchof Eylert ſendete ein Gutachten ein, ganz in Ancillons Sinne. Die Ent - ſcheidung ließ ſich nicht länger hinausſchieben, da die auswärtigen Diplo - maten bereits von dem Streite erfahren hatten und über die revolutionären Gefahren, welche den ehrwürdigen Staatskanzler bedrohten, Schreckliches zu erzählen wußten.**)Bericht des ſchwediſchen Geſandten v. Taube an Graf Engeſtröm in Stockholm, Berlin 9. Nov. 1819.

Um die Verwirrung zu vollenden, brachen jetzt noch in zwei Departe - ments Zwiſtigkeiten aus, die, an ſich ohne politiſche Bedeutung, doch auf die Miniſterkriſis zurückwirkten. Die unnatürliche Zerſpaltung des Juſtiz - miniſteriums in zwei Departements hatte ſchon längſt zu widerwärtigen Reibungen geführt. Kircheiſen leitete in den neuen Provinzen des Oſtens die Organiſation der Gerichte ganz im Geiſte eines conſervativen altländi - ſchen Juriſten, aber mit Geſchick und Erfolg. Beyme dagegen begutachtete alle Vorſchläge ſeines Amtsgenoſſen ungünſtig und verſuchte einzelne In - ſtitutionen des rheiniſchen Rechts, das ihm als ein Ideal galt, in die öſt - lichen Provinzen zu übertragen; zudem hatte er ſoeben von den rheiniſchen Staatsprocuratoren ein Votum über die Strafbarkeit von Görres neueſter Schrift eingefordert und ſich ihrem verneinenden Ausſpruch angeſchloſſen. Des ewigen Haders müde, wendete ſich Kircheiſen jetzt an den König (27. November) mit der Anfrage: ob dem Miniſter Beyme eine Controle über die Provinzen der altpreußiſchen Gerichtsverfaſſung zuſtehe? ſei dies der Fall, dann müſſe er um ſeinen Abſchied bitten. ***)Kircheiſens Bericht an den König, 27. Nov. 1819.

Auch der Kriegsminiſter fühlte ſich auf ſeinem Poſten nicht mehr ſicher. Der König beſtand jetzt auf der Durchführung jenes militäriſchen Planes, mit dem er ſich ſchon ſeit Jahren trug: er wollte die Landwehr feſter mit601Die Reform der Landwehr.der Linie verbinden, ihr ſchon im Frieden die für den Krieg beſtimmte Formation geben. Boyen aber konnte ſich mit dem zweckmäßigen, durch - aus unverfänglichen Unternehmen nicht befreunden; er meinte, dadurch werde der eigentliche Geiſt, der die Landwehr halte , verloren gehen. Auf - geregt durch die Kämpfe im Staatsminiſterium, erbittert über die ſchlechten Künſte der Demagogenverfolger, begann er den finſteren Gerüchten Glauben zu ſchenken, welche von der nahen Aufhebung der Landwehr erzählten. Im diplomatiſchen Corps glaubte man allgemein, daß der Wiener Hof insge - heim gegen die verhaßte demokratiſche Truppe arbeiten laſſe;*)Bericht des badiſchen Geſandten General v. Stockhorn, Berlin 21. Dec. 1819. und wahr - ſcheinlich hat auch Herzog Karl von Mecklenburg mit ſeinem Anhang dieſe günſtige Zeit der reaktionären Springfluth benutzt, um ſeine alten Bedenken gegen das Landwehrſyſtem noch einmal geltend zu machen. Andererſeits hatten die Parteiphraſen des Liberalismus das Ihrige gethan, um eine ſtreng ſachliche Beurtheilung der Fragen der Heeresverfaſſung zu erſchweren. Wohl lag ein kühner demokratiſcher Gedanke dem preußiſchen Wehrgeſetze zum Grunde; eine Nation mit ſolchem Heerweſen konnte nicht gegen ihren entſchiedenen Willen regiert werden, auch die unmittelbare Theilnahme an der Geſetzgebung und Verwaltung ließ ſich ihr auf die Dauer nicht ver - ſagen. Aber wie verzerrt und entſtellt erſchienen dieſe Wahrheiten in allen den thörichten Zeitungsartikeln, welche das Volksheer der Landwehr als ein Bollwerk gegen den Miethlingsgeiſt der Linienoffiziere verherrlichten. Die wohlgemeinte Schrift des Hauptmanns v. Schmeling über Landwehr und Turnkunſt erklärte die Kreisausſchüſſe, welche das Erſatzgeſchäft beſorgten, gradezu für den erſten Keim der preußiſchen Verfaſſung und veranlaßte die Gegner zu der entrüſteten Frage, ob ein großer Staat mit hunderten kleiner Kreisparlamente noch regiert werden könne.

Der König ſelbſt ließ ſich von den Verirrungen des Parteigeiſtes nicht anfechten; er hielt die Landwehr, um der Sicherheit des Staates willen, für unentbehrlich, nur auf die Erhöhung ihrer Kriegstüchtigkeit war ſein Plan berechnet. Aber in dieſen ſchwülen Tagen lag das Mißtrauen in der Luft. Die öſterreichiſche Partei hatte den Kriegsminiſter ſchon ſeit langem verdächtigt, nun übermannte ihn ſelber ein grundloſer Argwohn. Der Organiſator des preußiſchen Volksheeres befürchtete, der neuen Forma - tion der Landwehr werde die Zerſtörung ſeines großen Werkes folgen, und forderte erzürnt ſeine Entlaſſung. Er wollte, wie er dem Staatskanzler (13. Dec.) geſtand, aus Verhältniſſen heraustreten, in denen es mir zu - weilen ſchwer ſein könnte meine Grundſätze mit dem Wechſel der Begeben - heiten zu vereinigen , und beſchwor den leitenden Staatsmann zum Ab - ſchied noch einmal, bei allen Veränderungen der Landwehrverfaſſung mit der größten Behutſamkeit zu verfahren, da ſie für die beſondere Lage unſeres Staates, für die Erhaltung des Wohlſtands der Gewerbe und für602II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.das gute Einverſtändniß mit den Civilbehörden von der höchſten Wichtigkeit ſind und eigentlich das Miniſterium des Innern am mehrſten betreffen. *)Voyen an Hardenberg, 13. Dec. 1819.

Sobald Boyen die Hoffnung aufgab, ließ auch ſein Freund Grolman dem lange verhaltenen Mißmuth die Zügel ſchießen. Der Chef des Ge - neralſtabs hatte in der kurzen Zeit ſeiner Amtsführung eine großartige Thätigkeit entfaltet; er hatte den Entwurf für die Befeſtigung der öſtlichen Provinzen ausgearbeitet, im Verein mit Baurath Crelle einen Plan für den Chauſſeebau in der ganzen Monarchie feſtgeſtellt, die trigonometriſche Vermeſſung des Staatsgebietes begonnen und ſeinem Departement, das noch eine Abtheilung des Kriegsminiſteriums bildete, einen ſo bedeutſamen ſelbſtändigen Wirkungskreis geſchaffen, daß die vollſtändige Abtrennung des Generalſtabs von dem Kriegsminiſterium nur noch eine Frage der Zeit war. Inmitten dieſer mannichfaltigen Arbeiten war er dem Gange der Tagespolitik mit dem ganzen Eifer ſeiner leidenſchaftlicher Natur gefolgt. Der geniale Mann hielt ſein Lebtag alle ſeine Grundſätze mit eiſerner Strenge feſt; weder 1814 noch 1815 hatte er das wälſche Babylon, das er mit ſeinem guten Degen zu bezwingen geholfen, betreten mögen. So blieb er auch im Frieden dem idealiſtiſchen Pathos der Befreiungskriege treu und vermochte die Erſchlaffung, welche nach dem Kampfe die gewöhn - lichen Menſchen heimſuchte, ſchlechterdings nicht zu begreifen. Die ganze Zeit erſchien ihm matt, klein, erbärmlich, und als Boyen ſich zurückzog, erklärte auch er dem König (17. December), die jetzt eingetretenen Zeitum - ſtände und die traurigen Jahre, die er ſeit 1815 erlebt , nöthigten ihn um ſeine Entlaſſung zu bitten. Die ſchroffe, faſt trotzige Faſſung dieſes Schreibens mußte den König verſtimmen; er hatte das Entlaſſungsgeſuch Boyens anfangs wohlwollend aufgenommen, jetzt muthmaßte er, daß die beiden Freunde in geheimem Einverſtändniß handelten und ertheilte beiden ſichtlich unzufrieden den Abſchied. Dem Kriegsminiſter ſagte er zwar ein Wort der Anerkennung für ſeine früheren Verdienſte, dem General Grolman aber verhehlte er nicht, daß ihm ganz unklar ſei was er unter den trau - rigen Jahren ſeit 1815 verſtehen ſolle. **)Witzleben an Hardenberg 18. Dec., Grolmans Eingabe an den König 17. Dec., Cabinetsordre an Grolman 20. Dec., an Boyen 25. Dec., Boyen an Hardenberg 17., 27. Dec., Hardenberg an Boyen 25. Dec. 1819.

Welch ein Unheil, daß zwei der treueſten und einſichtigſten Diener des Königs alſo im Unmuth die Flinte ins Korn warfen, eben jetzt, da alle Guten feſt zuſammenhalten mußten. Der Wiener Hof begrüßte dieſen neuen Triumph der guten Sache mit lauter Freude; dort war Boyens fridericianiſche Geſinnung immer verrufen geweſen. ***)Bernſtorff an Hardenberg, Wien 25. Dec. 1819.In der Armee ward der ſchwere Verluſt allgemein beklagt. Clauſewitz hielt ſogar für nöthig in einer geiſtvollen Denkſchrift die politiſche Nothwendigkeit des Landwehr -603Rücktritt von Boyen und Grolman.ſyſtems darzulegen. Er zeigte, wie gering in Deutſchland die Gefahr einer Revolution ſei, wie nahe dagegen die Möglichkeit eines feindlichen Angriffs von zwei Seiten her, und verhehlte nicht, daß die Krone früher oder ſpäter die Vertreter der Nation um ſich verſammeln müſſe wenn ſie die neue Heeres - verfaſſung behaupten wolle. Nachdrücklich warnte er die Männer von 1806 vor der Zertrümmerung eines Gebäudes, auf dem unſer großartiges Schickſal in den Jahren 13, 14, 15 wie eine Siegesgöttin auf ihrem Streitwagen geruht hat .

Schon die nächſten Tage lehrten, daß alle ſolche Beſorgniſſe eitel waren und die beiden Generale voreilig gehandelt hatten. In einer Ca - binetsordre v. 22. December erkannte der König mit herzlichen Worten an, wie glücklich die Landwehr bisher gediehen ſei, wie willig das Volk die ihm auferlegten Opfer getragen habe, und befahl darauf eine neue Eintheilung der Landwehr, welche das Weſen des Inſtituts nicht im Mindeſten ändern ſollte: ſechzehn Landwehrbrigaden wurden gebildet und dem Diviſionsver - bande der Linie einverleibt. Die Diviſion (dieſen Namen führten die alten gemiſchten Brigaden ſeit 1818) beſtand fortan, außer den techniſchen Truppen, aus einer Brigade Linieninfanterie, einer Brigade Landwehrinfanterie und einer Cavalleriebrigade. Damit wurde die Formation der Landwehr ge - ſchaffen, welche im Weſentlichen bis auf die Tage des Prinzregenten be - ſtanden hat. Die beiden Hälften der Armee traten in eine etwas engere Verbindung, die nur leider noch immer nicht feſt genug war; durch die ge - meinſamen Uebungen der Diviſionen hoffte man den Unterſchied einigermaßen auszugleichen. Die unklare Vorſtellung, als ob die Landwehr ein Daſein für ſich führen könne, ward wenigſtens im Grundſatz aufgegeben. Tags darauf ſtellte eine zweite Cabinetsordre die Friedenspräſenzſtärke der Linie und ihre Cadres geſetzlich feſt; bei dem raſchen Wachsthum der Bevölke - rung eröffnete ſich mithin die Ausſicht auf ein allmähliges Sinken der Militärlaſt. Die Reform erwies ſich im Ganzen als heilſam, da die Land - wehr nunmehr ohne eine weſentliche Veränderung ihrer Formation in den Krieg geführt werden konnte. Durchgreifende Entſchlüſſe verhinderte leider die Rückſicht auf den Staatshaushalt; der gefährlichſte Uebelſtand des neuen Heerweſens, die Schwäche der Linienarmee, die nur 136,000 Mann betrug, blieb unverändert. Sparen hieß jetzt die allgemeine Loſung; die Staatsſchuld ſollte ſofort geſchloſſen werden, das Deficit für immer ver - ſchwinden.

Für dies Syſtem ängſtlicher knapper Sparſamkeit war Boyens Nach - folger General von Hake wohlgeeignet, derſelbe, der in Scharnhorſts Tagen ſchon zweimal auf kurze Zeit die Kriegsverwaltung geleitet hatte, ein fleißiger, gewiſſenhafter Arbeiter, aber pedantiſch, beſchränkt, ohne Ideen, ohne Schwung der Seele. Während ſeiner Amtsführung erlangten die Anſchauungen des Civilbeamtenthums wieder, wie in den erſten Jahren Friedrich Wilhelms III., einen ungebührlichen Einfluß auf das Heerweſen. 604II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.Manche unverkennbare Mißſtände wucherten fort weil man jedes Geld - opfer ſcheute; ein Glück nur, daß der König die Armee unter ſeine un - mittelbare Obhut nahm und durch perſönliches Eingreifen den militäriſchen Geiſt wach hielt. Auf den genialen Begründer des Wehrgeſetzes folgte ein Mann der gewöhnlichen militäriſchen Routine; kein Wunder, daß ſich die Maſſe der Unkundigen über die Gründe dieſes Wechſels täuſchte und den finſterſten Gerüchten Glauben ſchenkte. Erſt nach Jahren kam an den Tag, daß General Boyen ſich diesmal in der That geirrt und einer nothwendigen Reform widerſtrebt hatte.

Der Rücktritt des Kriegsminiſters brachte die Kugel ins Rollen, denn natürlich waren die Vorgänge im Miniſterrathe nicht ohne Einfluß auf Boyens Entſchluß geweſen. Hardenberg betrachtete den Sturz des Generals als die erſte Niederlage der Oppoſition. *)Hardenbergs Aufzeichnungen, Weihnachten 1819. S. Beilage V. Mit Ancillons unparteiiſchem Gutachten bewaffnet, hatte er ſogleich die Entlaſſung der drei Miniſter bean - tragt, und da der König, noch immer auf eine Verſöhnung hoffend, die Ent - ſcheidung über Humboldt und Beyme hinausſchob, ſo ſtellte der Staatskanzler am 28. December förmlich die Cabinetsfrage. Es war die höchſte Zeit. Denn Humboldt und Beyme waren inzwiſchen noch einen Schritt weiter gegangen; ſie hatten im Staatsminiſterium, ohne Vorwiſſen des Staatskanzlers, den Beſchluß durchgeſetzt, daß die ſämmtlichen Oberpräſidenten ſofort nach Berlin berufen werden ſollten. Gelang dies, ſo ließ ſich mit Gewißheit vorher ſehen, daß die Vorſtände der Provinzialverwaltung, geführt von dem allezeit unzufriedenen Schön, wieder wie vor zwei Jahren**)S. o. S. 201. eine Maſſe berechtigter und unberechtigter Beſchwerden vor den Thron bringen würden. Eine ſolche Oppoſition war in dieſem Augenblicke ſchlechthin ſtaatsgefährlich. Der Staat ſtand am Vorabend einer heilſamen aber höchſt unpopulären Reform, die nur einer ſtarken und einigen Regierung gelingen konnte. Hardenbergs letztes großes Werk, die Geſetze über die neuen Steuern und die Schließung der Staatsſchuld, ſollten in den nächſten Tagen im Staatsrathe beendigt werden. Nimmermehr durfte der alte welterfahrene Steuermann erlauben, daß ihm das hohe Beamtenthum ſeinen Kurs ſtörte inmitten des Sturmes allgemeiner Entrüſtung, der bei der Verkündigung der neuen Auflagen im Volke loszubrechen drohte. Humboldt hatte bereits in ſeinen beiden Miniſterialberichten eingeſtanden, daß er an das Vorhandenſein des Deficits noch immer nicht glaubte und darum die neuen Steuern für unnöthig hielt eine grundfalſche, ganz unbegreifliche Anſicht, die aber von einer großen Anzahl der kritikluſtigen hohen Beamten getheilt wurde; denn nach der guten altpreußiſchen Ueber - lieferung betrachteten ſich die Häupter des Beamtenthums als berufen, das Volk gegen fiskaliſchen Druck zu ſchützen. Durfte der Staatskanzler605Humboldts und Beymes Entlaſſung.neben ſich einen Miniſter dulden, der alſo über die Lebensfrage der nächſten Zukunft dachte?

Wie begründet immerhin der Unmuth der drei Miniſter über die Karlsbader Beſchlüſſe war, Hardenberg befand ſich doch im Zuſtande ge - rechter Nothwehr; er kämpfte nicht blos für ſeine Macht, ſondern auch für die wohldurchdachten Reformpläne, welche allein einen Erſatz für die auf - gehobene Acciſe ſchaffen und das Gleichgewicht im Staatshaushalt wieder - herſtellen konnten, wenn er jetzt dem Könige dringend vorſtellte: ein Zu - ſammenwirken mit Humboldt und Beyme ſei unmöglich. Manches ge - häſſige Wort floß dabei mit unter. Der Staatskanzler erinnerte an Beymes Parteinahme für Görres, er behauptete beſtimmt zu wiſſen, daß Humboldt im Staatsrathe den Steuergeſetzen widerſprechen, dann mit einer erſchwungenen Popularität glänzen und den Dienſt verlaſſen wolle ; den Bericht über die geplante Berufung der Oberpräſidenten verſäumte er nicht beizulegen. Feſter denn je glaubte er an die gefährlichen Umtriebe der revolutionären Partei. Auch den Oberpräſidenten von Schleſien wollte er entfernen, weil ihm Merckel zu nachſichtig gegen die Turner erſchien; auch die Militär-Bildungsanſtalten ſollten einen neuen Direktor erhalten, damit die jungen Offiziere nicht den teutoniſchen Jakobinern anheimfielen. *)Hardenberg an den König, 28. Dec. 1819; Hardenbergs Aufzeichnungen, Weih - nachten 1819. S. Beilage V. So wunderbar hatten ſich die Dinge verſchoben: die Neuordnung des preußiſchen Staatshaushalts hing in jenem Augenblicke mit der Politik der Karlsbader Beſchlüſſe unzertrennlich zuſammen.

Für den König beſtand nun keine Wahl mehr, auch wenn er nicht ſo feſt an die Heilſamkeit der Karlsbader Politik geglaubt hätte. Konnte Friedrich Wilhelm dem Rathe Humboldts folgen und in Frankfurt nach - träglich beantragen, daß die Giltigkeit des proviſoriſchen Preßgeſetzes von fünf auf zwei Jahre herabgeſetzt werde? Durfte er um einer ſolchen aus - ſichtsloſen Halbheit willen die Grundlagen ſeiner europäiſchen Politik ver - ändern? In dieſen Tagen der Tendenzpolitik der Legitimität war das Syſtem der europäiſchen Allianzen unlösbar mit den inneren Verhältniſſen der Staaten verkettet, und eine Großmacht konnte nicht, wie die Schein - ſtaaten des Rheinbundes, zwiſchen ihrem eigenen Volke und den auswär - tigen Mächten ein unredliches Spiel treiben. Ein nachträglicher Kampf gegen die Karlsbader Beſchlüſſe, das bedeutete: Trennung von Oeſterreich, Auflöſung oder doch Lockerung jenes großen Vierbundes, welchem die Mo - narchie während der letzten Jahre ihre Sicherheit, ihr europäiſches Anſehen verdankte. Getrennt von ſeinen alten Bundesgenoſſen ſtand der Staat völlig vereinſamt; er fand an dem liberaliſirenden Particularismus der deutſchen Kleinſtaaten weder mächtigen noch treuen Beiſtand, ſah ſich vielleicht bald auf die Seite Frankreichs hinübergedrängt, jedenfalls ge -606II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.zwungen zu rüſten, auf der Wacht zu ſtehen; das will ſagen: er mußte brechen mit jener Politik des Sparens, der ſtillen Sammlung der Kräfte, die ihn allein wieder erheben konnte, undſich bereit halten, die große Macht - frage der deutſchen Zukunft vor der Zeit zu löſen. Und durfte die ſo lange geplante Wiederherſtellung der Ordnung im Finanzweſen jetzt nochmals verſchoben werden aus Rückſicht auf eine Oppoſition, welche den vor - handenen Nothſtand einfach ableugnete und bisher nichts vorgebracht hatte als unfruchtbare Verneinungen?

Der König that nur das Nothwendige, als er am 31. December die beiden Miniſter mit kurzen Worten von den Geſchäften des Staatsraths und des Staatsminiſteriums dispenſirte. Schuckmann und Kircheiſen er - hielten wieder die ungetheilte Leitung der Miniſterien des Innern und der Juſtiz. Zugleich wurde General Pirch zum Direktor der Militär-Erziehungs - anſtalten ernannt. *)Drei Cabinets-Ordres v. 31. Dec. 1819 an das Staatsminiſterium, an Beyme, an Humboldt.Beyme war ſchmerzlich überraſcht und unterwarf ſich mit zerriſſenem Herzen . Humboldt ertrug den Schlag mit ſeiner ge - wohnten philoſophiſchen Ruhe, und da er nach dem Kriege eine Dotation erhalten hatte, ſo verzichtete er auf ſeinen Ruhegehalt, was der König dankbar anerkannte. Er ſchied, wie er dem Monarchen ſchrieb, mit dem Bewußtſein, immer nur des Königs und des Staates Wohl vor Augen gehabt zu haben . **)Beyme an den König 1. Jan., Humboldt an den König 1. Jan., Cabinetsordre an Humboldt 6. Jan. 1820.Und gewiß ward der Mann, der politiſche Macht und politiſchen Ruhm ſo niedrig ſchätzte, nicht allein durch perſönlichen Ehrgeiz geleitet, wie ihm Hardenberg und Gneiſenau vorwarfen. Er hielt die Macht des Staatskanzlers für verderblich und durchſchaute die Sünden der Karlsbader Politik; aber einfach, groß und kühn hat er ſich in dieſem Kampfe nicht gezeigt.

Der Staatskanzler frohlockte über das gewonnene Spiel. Humboldts Uebermuth hatte nach dem Staatskanzleramte getrachtet und war dabei zu Falle gekommen in dieſer Färbung wurde der Miniſterwechſel den aus - wärtigen Diplomaten geſchildert. Die Bahn ſchien frei. Sofort legte Hardenberg dem Könige ſeine Steuer-Entwürfe vor und nach dem erſten Vortrage ſchrieb er ſtolz in ſein Tagebuch: Nascitur novus ordo. ***)Stockhorns Bericht, 19. Febr., Bernſtorff an Hardenberg, Wien 12. Jan., Har - denbergs Tagebuch, 10. Jan. 1820.War der Staatshaushalt erſt wieder in Ordnung, dann fiel das ſchwerſte Be - denken gegen die Verfaſſung hinweg, und der Staatskanzler ſchloß eine Laufbahn, die in der Geſchichte Preußens ohne Gleichen war, mit der Eröffnung der preußiſchen Reichsſtände. Erſtaunlich, welche weitausſehenden Entwürfe der Greis noch in Angriff nahm. Und doch, wie voreilig war ſeine Siegesfreude. Mit dem Sturze der drei Miniſter verlor der Ver -607Der Kampf gegen das preußiſche Zollgeſetz.faſſungsausſchuß ſein größtes Talent, der Miniſterrath die einzigen ſeiner Mitglieder, welche den Abſchluß der Verfaſſung ernſtlich wollten. Nicht Hardenberg war der Sieger in dieſem verworrenen Kampfe, ſondern Witt - genſtein, der immer aus dem Dunkel heraus mitgeholfen hatte, und hinter ihm Metternich. Noch eine Weile, und die öſterreichiſche Partei, welche der Staatskanzler gegen ſeinen Nebenbuhler aufgerufen hatte, wendete ſich wider ihn ſelber, um ihm ſein Verfaſſungswerk zu zerſtören, das jetzt nirgends mehr am Hofe eine Stütze fand.

Alles hiſtoriſche Werden entſpringt der beſtändigen Wechſelwirkung zwiſchen dem bewußten Menſchenwillen und den gegebenen Zuſtänden. Wie die Vernunft, die in den Dingen liegt, nur durch die Willenskraft eines großen, die Zeichen der Zeit verſtehenden Mannes verwirklicht werden kann, ſo finden auch die Sünden und Irrthümer der Politiker ihre Schranke an dem Charakter der Staaten, an der Macht der Ideen, die ſich im Ver - laufe der Geſchichte angeſammelt haben. Schwer hatte die Krone Preußen gefehlt, als ſie in Karlsbad ſich den lebendigen Kräften des jungen Jahr - hunderts entgegenſtemmte; und doch war dieſer Staat modern von Grund aus, er konnte ſich der neuen Zeit nicht gänzlich entfremden und begann eben jetzt eine Reform ſeines Haushalts, welche ihn befähigte in ſeiner wirth - ſchaftlichen Entwicklung alle anderen deutſchen Staaten zu überflügeln. Nachgiebig bis zur Selbſtvergeſſenheit war Hardenberg in Teplitz allen Wünſchen Oeſterreichs entgegengekommen, der Glaube an die unbedingte Intereſſengemeinſchaft der beiden Großmächte beherrſchte ihn ganz und gar; und doch war der Gegenſatz der beiden Mächte in einer alten Geſchichte begründet und, ſo lange die Machtfrage der deutſchen Zukunft ungelöſt blieb, durch menſchlichen Willen nicht mehr beizulegen. Faſt in dem näm - lichen Augenblicke, da der Berliner Hof ſich gänzlich der Führung Oeſter - reichs zu überlaſſen ſchien, that er wieder einen Schritt vorwärts auf den Bahnen der fridericianiſchen Politik und begann die deutſchen Nachbarlande in ſeine Zollgemeinſchaft aufzunehmen. Es war ein winziger, nach dem Maße der Gegenwart faſt lächerlicher Erfolg, aber der unſcheinbare Beginn einer Staatskunſt, welche die deutſchen Staaten durch das Band wirth - ſchaftlicher Intereſſen unlösbar an Preußen ketten und die Befreiung von Oeſterreich vorbereiten ſollte.

Seit das preußiſche Zollgeſetz in Kraft geſetzt und den kleinen Nach - barn zunächſt nur durch ſeine Härten fühlbar wurde, erhob ſich überall mit erneuter Stärke der Ruf nach Aufhebung aller Binnenmauthen, und es begann eine leidenſchaftliche Agitation für die deutſche Handelseinheit, der Vorläufer und das Vorbild der ſpäteren Kämpfe um die politiſche Ein - heit. Die ganze Nation ſchien einig in einem großen Gedanken; gleich -608II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.wohl gingen die Anſichten über die Mittel und Wege nach allen Richtungen auseinander, und das Einzige was retten konnte, der Anſchluß an die ſchon vorhandene Einheit des preußiſchen Marktgebietes ward in unſeliger Ver - blendung ſo lange verſchmäht, bis ſchließlich nur die bittere Noth das Un - vermeidliche erzwang.

Gleich nach dem Frieden begann eine regelmäßige Einwanderung in das verarmte Preußen einzuſtrömen, etwa halb ſo ſtark als der Ueberſchuß der Geburten; ſie beſtand überwiegend aus jungen Leuten der deutſchen Nachbarſchaft, die in dem Lande der ſocialen Freiheit ihr Glück ſuchten. Als nunmehr die Binnenzölle in der Monarchie hinwegfielen, da ließen ſich die Vortheile, welche der preußiſche Geſchäftsmann aus ſeinem ausge - dehnten freien Markte zog, zumal an den Grenzplätzen bald mit Händen greifen: ſo ſiedelte ein Theil der Bingener Weinhändler auf das preußiſche Ufer der Nahe über, da die Preiſe in Preußen oft dreimal höher ſtanden als auf dem überfüllten heſſiſchen Markte. Das Beamtenthum der kleinen Höfe war noch gewöhnt an das Zunftweſen, an die Erſchwerung der Nieder - laſſung und der Heirathen, an die tauſend Quälereien einer kleinlichen ſocialen Geſetzgebung; von der Ueberlegenheit der preußiſchen Handelspolitik ahnte man hier noch gar nichts. Manchem wohlmeinenden Beamten in Sachſen und Thüringen erſchienen die preußiſchen Steuergeſetze als eine überflüſſige fiscaliſche Härte, weil ſein eigener Staat für das Heerweſen nur Geringes leiſtete, alſo mit beſcheidenen Einnahmen auskommen konnte. So entſtand unter dem Schutze der kleinen Höfe an den preußiſchen Binnen - grenzen ein Krieg Aller gegen Alle, ein heilloſer Zuſtand, von dem wir heute kaum noch eine Vorſtellung haben. Das Volk verwilderte durch das ſchlechte Handwerk des Schwärzens. In die zollfreien Packhöfe, welche überall dem preußiſchen Gebiete nahe lagen, traten alltäglich handfeſte braune Geſellen, die Jacken auf Rücken und Schultern ganz glatt geſcheuert, manch einem ſchaute das Meſſer aus dem Gürtel; dann packten ſie die ſchweren Waarenballen auf, ein landesfürſtlicher Mauthwächter gab ihnen das Geleite bis zur Grenze und ein Helf Gott mit auf den böſen Weg. Der kleine Mann hörte ſich nicht ſatt an den wilden Abenteuern verwegener Schmuggler, die das heutige Geſchlecht nur noch aus altmodiſchen Romanen und Jugendſchriften kennt. Alſo gewöhnte ſich unſer treues Volk die Geſetze zu mißachten. Jener wüſte Radicalismus, der allmählich in den Klein - ſtaaten überhand nahm, ward von den kleinen Höfen ſelber gepflegt: durch die Sünden der Demagogenjagd wie durch die Frivolität dieſer Handels - politik.

Als die Urheber ſolchen Unheils galten allgemein nicht die Klein - ſtaaten, die den Schmuggel begünſtigten, ſondern Preußen, das ihn ernſt - haft verfolgte; nicht jene Höfe, die an ihren unſauberen fiscaliſchen Kniffen, ihren veralteten unbrauchbaren Zollordnungen träge feſthielten, ſondern Preußen, das ſein Steuerſyſtem neugeſtaltet und gemildert hatte. Unfähig,609Benzenberg. Arnoldi.die Lebensbedingungen eines großen Staates zu verſtehen, ſtellten die kleinen Höfe alles Ernſtes die Forderung, Preußen müſſe jene reiflich erwogene, in alle Zweige des Gemeinweſens tief einſchneidende Reform ſofort wieder rückgängig machen, noch bevor ſie die Probe der Erfahrung beſtanden hatte und halb Deutſchland ſtimmte dem thörichten Anſinnen zu.

Außerhalb der preußiſchen Beamtenkreiſe wagten in dieſen erſten Jahren nur zwei namhafte Schriftſteller das Werk Maaſſens unbedingt zu ver - theidigen. Der unermüdliche Benzenberg bewährte in ſeinem Buche über Preußens Geldhaushalt und neues Steuerſyſtem wieder einmal ſeinen praktiſchen Takt. Im Verkehre mit Hardenberg hatte er gelernt, den Staatshaushalt von oben, vom Standpunkte der Regierenden zu betrachten. Er wußte, daß jede ernſthafte Kritik eines Steuerſyſtems beginnen muß mit der Frage: welche Ausgaben dem Staate unerläßlich ſeien? einer Frage, die von den meiſten Publiciſten jener Zeit gar nicht berührt wurde. So gelingt ihm nachzuweiſen, daß Preußen ſeiner Zolleinkünfte nicht ent - behren könne. Er ſcheut ſich nicht das Wehrgeſetz und die neuen Steuer - geſetze als die größten Wohlthaten der jüngſten Epoche Friedrich Wilhelms III. zu loben; er verlangt, daß man ſie gegen jeden Widerſtand aufrecht halte, fordert die Nachbarſtaaten auf, der Einladung des Königs zu folgen und mit Preußen wegen gegenſeitiger Aufhebung der Zölle zu verhandeln. Dem Traumgebilde der Bundeszölle geht er hart zu Leibe. Er richtet an F. Liſt (Auguſt 1819) einen offenen Brief und fragt, wie denn der Bundestag, der keine Art von Legislation hat , eine ſolche Reform ſchaffen oder gar die Zollverwaltung leiten ſolle? und ſei denn die Aufhebung der Binnenmauthen möglich ohne gleichmäßige Beſteuerung des inneren Con - ſums? Die Stimme des nüchternen Mannes verhallte in dem allgemeinen Toben; war er doch längſt ſchon den Liberalen verdächtig, weil er ein offenes Auge für die Eigenart des preußiſchen Staates beſaß.

Auch einer der tüchtigſten Kaufleute Deutſchlands, E. W. Arnoldi in Gotha begrüßte das preußiſche Zollgeſetz ſchon im Januar 1819 als den erſten Keim eines Vereines aller deutſchen Staaten. Nur herzhaft einge - ſchlagen in die dargebotene Hand: ſo ſprach er ſich im Allgemeinen Anzeiger aus Preußen ſtellt ja den Grundſatz der Gegenſeitigkeit an die Spitze ſeines Geſetzes und erklärt ſich bereit zu Verträgen mit den Nachbarn. Der treffliche Mann hatte einſt in Hamburg noch zu den Füßen des alten Büſch geſeſſen und ſich dort eine freie Anſicht vom Welt - handel gebildet, welche der binnenländiſchen Kleinlebigkeit der Mehrzahl ſeiner Standesgenoſſen noch ganz fremd war. Ihn wurmte die kindliche Unmündigkeit dieſer Geſchäftswelt, die ſo gar nichts that um ſich das Joch einer widerſinnigen Handelsgeſetzgebung vom Nacken zu ſchütteln. Schon ſeit Jahren trug er ſich mit dem Gedanken eines Bundes der deutſchen Fabri - kanten zur Vertretung ihrer gemeinſamen Intereſſen. Dann ſtiftete er inTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 39610II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.ſeiner Vaterſtadt unter dem Namen Innungshalle eine Handelskammer und eine raſch aufblühende Handelsſchule. Endlich fand er ein weites Gebiet fruchtbarer Thätigkeit in dem Verſicherungsweſen, das noch ganz in der Botmäßigkeit des Auslandes ſtand. Faſt an allen größeren deutſchen Plätzen unterhielt der mächtige Londoner Phönix ſeine Agenturen und beutete die Deutſchen durch unbillige Prämien aus, da die kleinen heimiſchen Ver - ſicherungsgeſellſchaften, die in einzelnen Städten des Nordens beſtanden, ihre Wirkſamkeit auf die Vaterſtadt beſchränkten. Da wendete ſich Arnoldi (1819) an die Nation mit der Frage, wie lange ſie noch ihr Geld in die engliſche Sparbüchſe legen wolle, und entwarf den Plan für eine deutſche, das geſammte Vaterland umfaſſende, auf Gegenſeitigkeit beruhende Feuer - verſicherungsbank. Zwei Jahre darauf trat dieſe Anſtalt zu Gotha ins Leben, der erſte Anfang der großartigen Entwickelung unſeres nationalen Verſicherungsweſens. Der allgemeine Haß gegen Englands Handelsherr - ſchaft kam dem kühnen Unternehmer zu ſtatten. Ueberall im Binnenlande ſchalt man auf England und die Hanſeſtädte, die den Süddeutſchen nur als engliſche Contore galten; der wiedererwachende Napoleonscultus und die franzöſiſchen Sympathien der Liberalen des Südens wurden durch ſolche erregte Stimmungen gefördert. Ueber die Waffen freilich, welche den deutſchen Gewerbfleiß vor einer erdrückenden ausländiſchen Mitwerbung ſichern konnten, hatten die Wenigſten auch nur nachgedacht. Nur ſo viel ſchien Allen unzweifelhaft, daß ſämmtliche neu eingeführte Zölle ſofort wieder aufgehoben und die im Art. 19 der Bundesakte verheißene Verkehrsfreiheit durch den Bundestag angeordnet werden müſſe.

Selbſt jener hochherzige, geiſtvolle Agitator, der mit dem ganzen Un - geſtüm ſeiner Thatkraft gegen die Binnenmauthen auftrat, auch Friedrich Liſt theilte den allgemeinen Irrthum. Wie Görres einſt im Rheiniſchen Mercur die Idee der politiſchen Macht und Einheit des Vaterlandes ver - trat, ſo verfocht Liſt die Idee der handelspolitiſchen Einheit eine ver - wandte Natur, feurig, hochbegeiſtert, ein Meiſter der bewegten Rede, voll tiefer und echter Leidenſchaft, leicht hingeriſſen zu phantaſtiſchen Verirrungen. Ein echter Reichsſtädter war er im freiheitsſtolzen Reutlingen aufgewachſen, unter ewigen Händeln mit den württembergiſchen Schreibern; er zählte zu jenen geborenen Kämpfern, denen das Schickſal immer neuen Hader ſendet auch wenn ſie den Streit nicht ſuchen. Seine Mutter, ſeinen einzigen Bruder ſah er plötzlich ſterben in Folge der Roheit brutaler Beamten; und als er dann ſelber einige Jahre in der geiſttödenden Scheinthätig - keit der württembergiſchen Schreibſtuben verbracht hatte, da ward ſein Haß gegen die Herrſchſucht des rheinbündiſchen Beamtenthums grenzenlos, und er ſetzte ſich zum Ziele ſeines Lebens den Bürger und Bauersmann zur Selbſtthätigkeit zu erwecken, ihn aufzuklären über ſeine nächſten Inter - eſſen, die Volkswirthſchaftslehre von den Formeln des Katheders zu be - freien und ſie die Sprache des Volkes reden zu laſſen. Schon durch die611F. Liſt.Geburt ein Deutſcher ſchlechtweg, gleich dem Reichsritter Stein, ging er mit ſeinen kühnen Entwürfen ſogleich über die Grenzen der ſchwäbiſchen Heimath hinaus, ſo daß er den verſchwiegerten und verſchwägerten Württem - bergern bald als ein wildfremder Störenfried verdächtig wurde: eine neue Zeit handelspolitiſcher Größe, dauerhafter als einſt die Herrlichkeit der Hanſa, ſollte dem deutſchen Vaterlande tagen. Eine ſeltene Kunſt die Maſſen zu befeuern und zu erregen ſtand ihm zu Gebote, ein agitatoriſches Talent, deſſen gleichen unſere an großen Demagogen ſo arme Geſchichte ſeit - her nur noch zweimal, in Robert Blum und Laſſalle geſehen hat. Im April 1819 ſtiftete Liſt mit mehreren Induſtriellen der Kleinſtaaten, Miller aus Immenſtadt, Schnell aus Nürnberg, E. Weber aus Gera den Verein deutſcher Kaufleute und Fabrikanten, dem ſich bald die Mehrzahl der großen Firmen in Süd - und Mitteldeutſchland anſchloß, und legte raſch entſchloſſen ſeine Tübinger Profeſſur nieder, da die württembergiſche Regierung das Amt eines Conſulenten des Handelsvereins als unverträglich mit der Be - amtenwürde betrachtete.

Der neue Handelsverein richtete ſogleich an den Bundestag eine Bitt - ſchrift um Ausführung des Art. 19, Beſeitigung aller Binnenmauthen und Erlaß eines deutſchen Zollgeſetzes, das den Zöllen des Auslands mit ſtrengen Retorſionen begegnen ſollte, bis ſich ganz Europa über allgemeine Handelsfreiheit verſtändigt hätte denn noch bekannte ſich Liſt, gleich den meiſten Süddeutſchen jener Zeit, im Grundſatz zu den Lehren des Freihandels. In Frankfurt abgewieſen, beſtürmte Liſt ſodann die Höfe, die Geſchäftsmänner und wen nicht ſonſt mit ſeinen Geſuchen, geißelte in ſeiner Zeitſchrift, dem Organ des deutſchen Handels - und Gewerbſtandes , unermüdlich und unerbittlich die Gebrechen deutſcher Handelspolitik. Alſo hat er in raſtloſer Arbeit mehr als irgend einer der Zeitgenoſſen dazu bei - getragen, daß die Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit des Beſtehenden tief in die Nation drang. Große verwegene Träume, die erſt das lebende Geſchlecht in Erfüllung gehen ſieht, regten ſich in ſeinem ſtürmiſchen Kopfe: er dachte an eine gemeinſame Gewerbegeſetzgebung, an ein deutſches Poſtweſen, an nationale Induſtrieausſtellungen, er hoffte die romantiſchen Kaiſerträume des jungen Geſchlechts durch die Arbeit der praktiſchen natio - nalen Politik zu verdrängen und ſah die Zeit voraus, da eine freie Ver - faſſung, ein deutſches Parlament aus der Handelseinheit hervorgehen würde. Als der Schöpfer des Zollvereins, wie er ſelber im Uebermaße ſeines Selbſtgefühls ſich genannt hat, kann Liſt gleichwohl keinem Unbefangenen gelten.

Ein klares Programm, einen beſtimmten, durchgebildeten politiſchen Gedanken aufzuſtellen und feſtzuhalten lag überhaupt nicht in der Weiſe der Patrioten jener Zeit. Nur im Innern der ſüddeutſchen Mittelſtaaten begann die conſtitutionelle Bewegung bereits feſte, deutlich ausgeſprochene Parteimeinungen hervorzurufen. Wer über den deutſchen Geſammtſtaat39*612II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.ſchrieb, begnügte ſich noch immer der elenden Gegenwart ein leuchtendes Idealbild gegenüberzuhalten und dann im raſchen Wechſel Einfälle und Winke für den praktiſchen Staatsmann hinzuwerfen. Wie Görres im Rheiniſchen Mercur ein ganzes Geſchwader deutſcher Verfaſſungspläne harmlos veröffentlichte, ſo eilte auch Liſt in jähen Sprüngen von einem Plane zum andern über. Bald will er die deutſchen Bundesmauthen an eine Aktiengeſellſchaft verpachten; bald ſoll Deutſchland ſich anſchließen an das öſterreichiſche Prohibitivſyſtem; dann überfällt ihn wieder die Ahnung, ob nicht Preußen den Weg zur Einheit zeigen werde. In ſeiner Eingabe an den Bundestag geſtand er: Man wird unwillkürlich auf den Ge - danken geleitet, die liberale preußiſche Regierung, die der Lage ihrer Länder nach vollkommene Handelsfreiheit vor allen andern wünſchen muß, hege die große Abſicht, durch dieſes Zollſyſtem die übrigen Staaten Deutſch - lands zu veranlaſſen, endlich einer völligen Handelsfreiheit ſich zu ver - gleichen. Dieſe Vermuthung wird faſt zur Gewißheit, wenn man die Er - klärung der preußiſchen Regierung berückſichtigt, daß ſie ſich geneigt finden laſſe, mit Nachbarſtaaten beſondere Handelsverträge zu ſchließen. Leider vermochte der Leidenſchaftliche nicht an dieſer einfach richtigen Erkenntniß feſtzuhalten. Er war ein Gegner der preußiſchen Handelspolitik, ſoweit aus ſeinem unſteten Treiben überhaupt eine vorherrſchende Anſicht erkennbar wird; denn nach allen Abſchweifungen lenkte er immer wieder auf jenen Weg zurück, welchen Preußen längſt als unmöglich erkannt hatte, auf die Idee der Bundeszölle. Von den preußiſchen Zuſtänden beſaß Liſt nur ſehr mangelhafte Kenntniß; ſein Verein ward durch die Hoffnung auf bal - dige Wiederaufhebung des preußiſchen Zollgeſetzes zuſammengehalten und beſaß Correſpondenten in allen größeren deutſchen Staaten, aber, bezeichnend genug, keinen in Preußen.

Nur der Zauber, der an dem Namen Deutſchlands haftete, erklärt das Räthſel, daß ſo viele wackere und einſichtige Männer noch immer auf eine Handelspolitik des Deutſchen Bundes hoffen konnten. Seinerſeits hatte der Bundestag Alles gethan, um die Schwärmer zu enttäuſchen. Die Berichter - ſtattung über Liſts Bittſchrift wurde dem Hannoveraner Martens übertragen, der gleich den meiſten dieſer deutſchen Großbritannier die engliſche Handelsherrſchaft auf deutſchem Boden hocherfreulich fand. Mit dem ganzen Feuereifer polizeilicher Seelenangſt fragte er zunächſt, woher dieſer Verein das Recht nehme, ſich zum Vertreter des deutſchen Handels - ſtandes aufzuwerfen, und überließ es den hohen Regierungen, auf ihre be - theiligten Unterthanen ein wachſames Auge zu richten. Zur Sache ſelbſt brachte er nicht viel mehr vor als eine draſtiſche Schilderung der unge - heueren Schwierigkeiten, welche ſich, ſeit die deutſchen Staaten ſouverän geworden, der Handelseinheit entgegenſtellten (24. Mai). Einige Bundes - geſandte wünſchten mindeſtens die Einſetzung einer Commiſſion; aber dann hätten ja die Bittſteller wähnen können, dieſer Schritt ſei auf ihre Ver -613Der Bundestag und die Verkehrsfreiheit.anlaſſung geſchehen! *)Berkheims Bericht, Frankfurt 25. Juni 1819.Um einer ſo frevelhaften Mißdeutung vorzubeugen, be - ſchloß die Bundesverſammlung nur, daß man ſich ſpäterhin einmal mit dem Art. 19 beſchäftigen wolle. Einige Wochen nachher (22. Juli) erinnerten die erneſtiniſchen Höfe den Bundestag nochmals an den unglücklichen Ar - tikel; Liſts Freund E. Weber und die Fabrikanten des Thüringer Waldes ließen ihnen keine Ruhe. Diesmal ergingen ſich Baden, Württemberg, beide Heſſen und die Erneſtiner in wohlgemeinten, aber auch ſehr wohlfeilen Reden zum Preiſe der deutſchen Verkehrsfreiheit und begeiſterten die Ver - ſammlung dermaßen, daß ſie nunmehr wirklich beſchloß, nach den Ferien, alſo 1820, ſolle eine Commiſſion eingeſetzt werden. Das war die Hilfe, welche Deutſchlands Handel in Frankfurt zu erwarten hatte. Der preußiſche Geſandte aber fand es mit Recht unbegreiflich, daß dieſe Verſammlung ſich’s zutraue, ſo ſchwierige Arbeiten auch nur in die Hand zu nehmen. **)Goltz’s Bericht, 20. Juli 1819.

Trotz ſolcher Erfahrungen ſollten noch viele Jahre vergehen, bis die Unausführbarkeit der leeren Verſprechungen des Art. 19 allgemein erkannt wurde. Mit großer Hartnäckigkeit hielt namentlich die badiſche Regierung an dem Traumbilde des Bundeszollweſens feſt; ihr langgeſtrecktes, auf die Durchfuhr angewieſenes Land litt unter dem Jammer der Binnenmauthen beſonders ſchwer, und nicht ohne Beſorgniß betrachtete Miniſter Berſtett die wachſende Erbitterung im Volke. Der beſchränkte Mann hoffte durch wirthſchaftliches Gedeihen die Nation mit ihrer ſchimpflichen Zerſplitterung zu verſöhnen, ihr einen materiellen Erſatz für den Verluſt mancher chimä - riſchen, aber liebgewordenen Ideen zu geben. Darum empfahl er auf den Karlsbader Conferenzen in einer langen Denkſchrift (15. Auguſt) die Ein - führung eines Bundes-Douanenſyſtems, das für dreißig Millionen Men - ſchen freien Verkehr ſchaffen müſſe; über die große Frage, wie es möglich ſein ſollte, Hannover, Holſtein, Luxemburg, Deutſch-Oeſterreich einem natio - nalen Zollweſen einzufügen, ging das überaus unklare, widerſpruchsvolle Schriftſtück ſchweigend hinweg. Metternich wurde durch dieſen Antrag, welchem Oeſterreich ſich ſchlechterdings nicht fügen konnte, unangenehm überraſcht und verſuchte ſogar die Competenz des Bundes in Zweifel zu ziehen. Der Handel ſo behauptete er ſeine Ausdehnung wie ſeine Beſchränkung gehört zu den erſten Befugniſſen der Souveränität. Zur Mißhandlung der Univerſitäten, von denen die Bundesakte kein Wort ſagte, war der Bund, nach der k. k. Doctrin, unzweifelhaft befugt; aber die Verkehrsfreiheit, welche der Bundesvertrag ausdrücklich in Ausſicht ſtellte, verſtieß gegen die Souveränität der Bundesſtaaten. Draſtiſcher konnte das Verhältniß der Hofburg zu den Lebensfragen der deutſchen Nation unmöglich bezeichnet werden. Auf das wiederholte Andrängen Ba - dens und Württembergs erklärte ſich der öſterreichiſche Staatsmann zuletzt614II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.doch bereit, die Zollfrage auf die Tagesordnung der bevorſtehenden Wiener Conferenzen zu ſetzen. Er wußte wohl, was von ſolchen Berathungen zu erwarten ſei.

Unterdeſſen hatte auch der beſte Kopf unter den badiſchen Finanz - männern, Nebenius ſeine Gedanken über die Bedingungen der deutſchen Verkehrsfreiheit in einer geiſtvollen Denkſchrift niedergelegt, einer Privat - arbeit, welche zwar niemals, auch nicht mittelbar, auf die Entwicklung des Zollvereins irgend einen Einfluß ausgeübt hat, aber durch Klarheit und Beſtimmtheit Alles übertraf was damals von Privatleuten über deutſche Handelspolitik geſchrieben wurde. Der gelehrte Verfaſſer der badiſchen Conſtitution errang ſich ſchon in jenen Jahren durch ſeine Schrift über die engliſche Staatswirthſchaft ein wiſſenſchaftliches Anſehen, das ſpäterhin, ſeit dem Erſcheinen ſeines Werkes der öffentliche Credit noch höher ſtieg; dies claſſiſche Buch kann niemals ganz veralten, es wird, wie Ricardos Werke, dem angehenden Nationalökonomen immer unſchätzbar bleiben als eine Schule ſtrengen methodiſchen Denkens. Auch ſeine um Neujahr 1819 verfaßte handelspolitiſche Denkſchrift verräth überall den ſicheren Blick des gewiegten Kenners. Sie wurde im April 1819 vertraulich den badiſchen Landtagsmitgliedern mitgetheilt und dann im Winter den Wiener Confe - renzen durch Berſtett als ein beachtenswerthes Privatgutachten überreicht. Maaſſen freilich, Klewiz und die anderen Urheber des preußiſchen Zollge - ſetzes konnten aus den Rathſchlägen des badiſchen Staatsmannes nichts lernen. Für ſie war das Richtige in ſeiner Denkſchrift nicht neu, das Neue nicht richtig.

Die Denkſchrift tritt, in den behutſam ſchonenden Formen, welche Nebenius liebte, entſchieden gegen das preußiſche Zollgeſetz auf. Sie hebt die Uebelſtände dieſes Syſtems ſcharf heraus, ohne die Lichtſeiten zu er - wähnen. Sie ſtellt den Satz hin: kein deutſcher Staat, Oeſterreich aus - genommen, vermag ſein Gebiet gegen überwiegende fremde Concurrenz wirkſam zu ſchützen eine Behauptung, welche Preußens Staatsmänner ſoeben durch die That zu widerlegen begannen. Die Urheber des Geſetzes vom 26. Mai gingen aus von den Bedürfniſſen des preußiſchen Staats - haushalts, Nebenius hebt an mit der Betrachtung der Leiden des deutſchen Verkehrs. Darum ſteht Jenen der finanzielle, Dieſem der ſtaatswirth - ſchaftliche Geſichtspunkt obenan. Darum wollen Jene die allmähliche Erweiterung des preußiſchen Zollweſens unter den Bedingungen, welche das Intereſſe der preußiſchen Finanzen vorſchreibt. Nebenius hingegen fordert, ganz im Sinne der Durchſchnittsmeinung der Zeit, ein Syſtem deutſcher Bundeszölle, eine vom Bundestage abhängige Zollverwaltung. Er will mithin genau das Gegentheil der Politik, welche den wirklichen Zoll - verein geſchaffen hat; der erſte Schritt auf dem von Nebenius vorgeſchla - genen Wege mußte offenbar zur Aufhebung des preußiſchen Zollgeſetzes führen, alſo grade die Grundlage des ſpäteren Zollvereins vernichten. 615Nebenius Denkſchrift.Der handelspolitiſche Kampf jener Jahre bewegte ſich um die eine Frage: ſoll das preußiſche Zollgeſetz aufrecht bleiben oder nicht? Und in dieſem Streite ſtand Nebenius auf der Seite der Irrenden. Will man eine Denkſchrift, welche alſo den leitenden politiſchen Gedanken der preußiſchen Handelspolitik bekämpft, als den bahnbrechenden Vorläufer des Zollvereins preiſen, ſo muß man, kraft derſelben Logik, auch Großdeutſche und Klein - deutſche für Geſinnungsgenoſſen erklären. Beide Parteien erſtrebten be - kanntlich die deutſche Einheit, nur leider auf entgegengeſetzten Wegen.

Der ſtaatsmänniſche Sinn des geiſtvollen Badeners ſteht keineswegs auf gleicher Höhe mit ſeiner volkswirthſchaftlichen Einſicht. Er hegt wohl Zweifel, ob Oeſterreich dem Zollvereine beitreten könne, zu einem ſicheren Schluſſe gelangt er dennoch nicht. Noch im Jahre 1835 hat er den Eintritt Oeſterreichs für möglich gehalten; dann werde der Zollverein den ſchönſten aller Märkte bilden . Die ſchwerwiegenden politiſchen Gründe, welche einen ſolchen Gedanken für Preußen unannehmbar machten, ſind ihm niemals klar geworden. Ebenſo wenig will er begreifen, warum Preußen als eine europäiſche Macht die Selbſtändigkeit ſeiner Zollverwal - tung unbedingt aufrecht halten mußte; er verlangt eine in der Hand des Bundes centraliſirte Zollverwaltung, die Mauthbeamten ſollen allein dem Bunde vereidigt werden. Auch bei der Erörterung von Nebenfragen ver - mag er nicht immer hinauszublicken über den engen Geſichtskreis ſeines heimiſchen Kleinſtaats. So will er, mit wenigen Ausnahmen, die ge - ſammte Zollerhebung allein an den Grenzen ſtattfinden laſſen, weil, nach der Anſicht des badiſchen Beamtenthums, dieſe Einrichtung dem Grenz - lande Baden beſonderen Vortheil bringen ſollte. Maaſſen dagegen ließ in allen größeren preußiſchen Plätzen Packhöfe und Zollſtellen errichten, da ohne ſolche Erleichterung ein ſchwunghafter Speditionshandel offenbar nicht gedeihen konnte.

Neben dieſen Irrthümern der Denkſchrift ſteht freilich eine lange Reihe tief durchdachter, praktiſch brauchbarer Vorſchläge, doch iſt kein ein - ziger darunter, welchen das preußiſche Cabinet nicht ſchon damals gekannt und angewendet hätte. Mit großer Klarheit entwickelt Nebenius den Satz, daß ohne Zollgemeinſchaft die Freiheit des Verkehrs nicht möglich ſei. Dieſer Gedanke, der uns heute trivial und ſelbſtverſtändlich erſcheint, war der Diplomatie der Kleinſtaaten jener Zeit völlig neu. Den Berliner Staats - männern war er wohlbekannt; denn nur jenen Staaten, die ſich dem preußiſchen Zollſyſtem einfügen wollten, hatte Preußen freien Verkehr angeboten. Ebenſo tief durchdacht waren die Grundzüge des Zolltarifs, welche Nebenius entwarf. Er will mäßige Finanzzölle, namentlich auf die Gegenſtände allgemeinen Gebrauchs, auf die Colonialwaaren, legen; die dem heimiſchen Gewerbfleiß nothwendigen Rohſtoffe giebt er frei, die Fabrik - waaren ſchützt er durch Zölle, die ungefähr der üblichen Schmuggelprämie entſprechen; feindſelige Schritte des Auslands ſollen mit Repreſſalien er -616II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.widert werden. Treffliche Gedanken, ohne Frage; aber als Nebenius ſchrieb, war bereits der preußiſche Tarif veröffentlicht, der durchaus auf denſelben Grundſätzen beruhte. Selbſtändiges Nachdenken hatte den Süddeutſchen genau auf dieſelben ſtaatswirthſchaftlichen Ideen geführt, welche Eichhorn oftmals als den Eckſtein des preußiſchen Syſtems bezeichnete: Freiheit, Reciprocität, Ausſchließung der Prohibition. War es nicht ein ſeltſames Zeichen der allgemeinen Unklarheit jener Tage, daß ein ſo ungewöhnlicher Geiſt ſo dicht heranſtreifte an die Ideen des preußiſchen Zollſyſtems und doch nicht einmal die Frage aufwarf, ob nicht der Bau der deutſchen Handelseinheit auf dem feſten Grunde dieſes Syſtems aufgerichtet werden ſolle? Nebenius ſtellt ferner den Grundſatz auf, daß die Vertheilung der Zolleinnahmen nach der Kopfzahl der Bevölkerung erfolgen ſolle. Aber als ſeine Denkſchrift in Berlin bekannt wurde, da hatte Preußen denſelben folgenſchweren Gedanken ſchon in einem Staatsvertrage praktiſch durchge - ſetzt. Er erörtert ſodann, die Zollgemeinſchaft ſei unmöglich, wenn nicht auch der innere Conſum nach gleichen Grundſätzen beſteuert werde; bis dies Ziel erreicht ſei, müſſe man ſich mit Uebergangsabgaben behelfen. Auch dieſe Einſicht beſtand in Berlin ſchon längſt; eben weil Eichhorn und Maaſſen die weit abweichenden Steuerſyſteme der Nachbarſtaaten kannten, wollten ſie nicht zu einer vorſchnellen Einigung die Hand bieten. Sie wußten desgleichen ſo gut wie Nebenius, daß es genüge einen Zoll - vertrag für einige Jahre abzuſchließen; gleich ihm hofften ſie zuverſichtlich, der unermeßliche Segen der Verkehrsfreiheit werde die Wiederaufhebung eines einmal geſchloſſenen Zollvereins verhindern.

Wenn der deutſche Durchſchnittsbiograph über den Charakter ſeines Helden nicht viel zu berichten weiß, dann pflegt er ſtets die anſpruchsloſe Beſcheidenheit des Mannes zu preiſen. Dieſe Phraſe iſt bereits aufge - nommen in das Ceremoniell der hiſtoriſchen Kunſt, ſie kehrt ebenſo unver - meidlich wieder, wie die anmuthige Behauptung, daß jeder große Plebejer von armen aber ehrlichen Eltern abſtamme. Auch Nebenius iſt mit ſolchem Lobe überſchüttet worden. Wer mit ihm Staatsgeſchäfte zu ver - handeln hatte, urtheilte anders; er galt in der Diplomatie allgemein als ein bedeutender Kopf und als ein höchſt unbequemer Unterhändler. Er zählte zu jenen ſtillen Gelehrtennaturen, die unter ſchmuckloſer Hülle ein ſehr reizbares Selbſtgefühl hegen, den Widerſpruch ungern, noch ſchwerer die Widerlegung ertragen. Weit entfernt von der lauten Prahlſucht Friedrich Liſts war er doch mit nichten geſonnen ſein Licht hinter den Scheffel zu ſtellen. Er gab wohl zu, kein einzelner Mann könne als Ur - heber des Zollvereins gelten. Doch er rühmte ſich, ſeine Denkſchrift habe den Gedanken eines allgemeinen Zollverbandes zum erſten male entwickelt, ſie habe, bis auf einen einzigen Irrthum, die Verfaſſung des ſpäteren Zollvereins im voraus richtig gezeichnet. Er überſah, daß dieſer einzige Irrthum grade die Lebensfrage der deutſchen Handelspolitik betraf; er617Eichhorn.überſah nicht minder, daß der beſte Theil ſeiner Denkſchrift lediglich als Wunſch ausſprach, was Preußen durch die That ſchon vollzogen hatte. Ihm gebührt nur das große Verdienſt, daß er, gleichzeitig mit den preußi - ſchen Staatsmännern und unabhängig von ihnen, für einige wichtige Fragen deutſcher Handelspolitik die rechte Löſung erdachte; jedoch die ent - ſcheidende Frage: Bundeszölle oder Anſchluß an das preußiſche Syſtem? wurde in Berlin richtig, von Nebenius falſch beantwortet. Nebenius kam der Wahrheit näher als Liſt. Darf man dieſen mit Görres vergleichen, ſo läßt ſich von Jenem ſagen, er habe von dem Zollvereine der Zukunft etwa ſo viel geahnt wie Paul Pfizer von dem heutigen deutſchen Reiche.

Eine klare Vorſtellung von dem Handelsbunde, der anderthalb Jahr - zehnte ſpäter ins Leben trat, hegte im Jahre 1819 noch Niemand. Die Idee hatte ſich noch gar nicht entwickelt , pflegte Eichhorn ſpäterhin zu ſagen. Der Aufzug des großen Gewebes war bereits ausgeſpannt. Es beſtand das preußiſche Zollſyſtem, es beſtand der ausgeſprochene Wille Preußens, dies Syſtem zu erweitern und den deutſchen Nachbarn ohne Kleinſinn reichlichen Antheil an den gemeinſamen Zolleinkünften zu ge - währen. Noch fehlte der Einſchlag. Es fehlte der gute Wille der Nach - barſtaaten; es fehlte hüben wie drüben ein deutlicher Begriff von den loſen und lockeren bündiſchen Formen, welche allein einen dauernden Handels - bund zwiſchen eiferſüchtigen ſouveränen Staaten dies noch niemals ge - wagte Unternehmen ermöglichen konnten. Jenen guten Willen hat nachher die Noth gezeitigt. Dieſe Verfaſſungs-Formen des Zollvereins ſind nicht von Nebenius, noch von irgend einem Denker im Voraus erſonnen worden, da die Theorie ſolche Aufgaben niemals löſen kann; ſie ſind gefunden worden auf den Wegen praktiſcher Politik, durch Verhandlungen und ge - genſeitige Zugeſtändniſſe zwiſchen den deutſchen Staaten. Der badiſche Denker ſchrieb als ein unverantwortlicher Privatmann, er durfte kühn ſofort die Einheit des ganzen Vaterlandes ins Auge faſſen. Er hat an dieſem Ideale unverbrüchlich feſtgehalten, und weil er ſo hohen Flug nahm, verfiel er auf den unmöglichen Plan der Bundeszölle. Preußens Staats - männer hatten ein köſtliches Gut zu hüten: die ſchwer errungene und noch immer hart bedrohte handelspolitiſche Einheit ihres Staates. Sie mußten ſich von den Schwärmern bald des zaghaften Kleinſinns, bald des ſelbſt - zufriedenen Dünkels zeihen laſſen, und indem ſie bedachtſam auf dem Be - ſtehenden fortbauten, erreichten ſie das hohe Ziel.

Zur rechten Stunde fanden die Urheber des preußiſchen Zollgeſetzes einen mächtigen diplomatiſchen Bundesgenoſſen an dem neuen Referenten für die deutſchen Angelegenheiten, J. A. F. Eichhorn, den ſein Chef Graf Bernſtorff auf dem Gebiete der Handelspolitik völlig frei ſchalten ließ. Unter den Helden der Arbeit, welche in müden Tagen die großen Ueber - lieferungen Preußens muthig aufrecht hielten, in friedlichem Schaffen den Grund legten für ſeine neue Größe, ſteht Eichhorn in vorderſter Reihe. 618II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.Sein ganzer Lebensgang hatte ihn vorbereitet auf die Rolle des friedlichen Bändigers der Kleinſtaaterei. Im Löwenſteiniſchen Wertheim war er auf - gewachſen, an der lieblichen Ecke des Mainthales und des Taubergrundes, ſo recht im Herzen der verkommenen Staatenwelt des alten Reichs, und ſein tagelang blieb es ihm unvergeßlich, wie er dort noch den Boten des Reichskammergerichts in ſeiner altfränkiſchen Tracht die Befehle von Kaiſer und Reich hatte vollſtrecken ſehen. Begeiſtert von den Thaten Friedrichs war er dann gen Norden gegangen, um dem Staate ſeiner Wahl zu dienen, und auch an ihm bewährte ſich, daß Preußen die wärmſte Liebe bei jenen Deutſchen findet, die ſich dies Gefühl erſt erarbeitet haben. Er mußte in Cleve den Zuſammenbruch der preußiſchen Herrſchaft, dann in Hannover 1806 die fiscaliſchen Künſte einer kleinlichen Annexionspolitik mit anſehen und ward trotz alledem nicht irr an ſeinem Staate. Dann nahm er theil an Schills abenteuerlichem Zuge und trat zu Berlin mit Stein und Gnei - ſenau, mit Humboldt, Altenſtein, Kircheiſen in vertrauten Verkehr; ſie Alle ließen den unbekannten jungen Fremdling ſofort als einen Ebenbürtigen gelten. Ein Schüler Spittlers, gründlich und vielſeitig gebildet, ward er als erſter Syndicus der Berliner Univerſität auch perſönlich mit der ge - lehrten Welt näher bekannt; mit Schleiermacher verband den tief religiöſen Mann eine treue Freundſchaft, der großen Theologenfamilie der Sack ge - hörte er durch ſeine Heirath an. Die Zeiten des Befreiungskrieges verlebte er gehobenen Herzens erſt als Offizier in Blüchers Stabe, dann als Mit - glied von Steins Centralverwaltung; hier fand er reiche Gelegenheit den kleinen deutſchen Regierungen bis in das Innerſte der Seele zu blicken. Unerſchüttert trug er die Begeiſterung jener großen Jahre hinüber in die ſtille Zeit des Friedens.

Als er in ſeinem vierzigſten Jahre die wichtige Stellung im Aus - wärtigen Amte erhielt, da beſeelte ihn die Hoffnung, eine ſolche Ver - bindung, wie ſie einſt unter der Centralverwaltung nur zeitweilig, unfertig, unbeliebt beſtanden hatte, auf die Dauer zu begründen, die deutſchen Staaten durch die Bande des Rechts, des Vertrauens, des Intereſſes für immer an die Krone Preußen anzuſchließen. Dies galt ihm als die Vollendung, als die Läuterung der Träume von 1813. Er erkannte in dem Art. 19 der Bundesakte die gutgemeinte Abſicht der deutſchen Für - ſten, daß unbeſchadet ihrer Souveränität den deutſchen Unterthanen die Wohlthat eines gemeinſamen Vaterlandes gewährt werden müſſe , und er traute ſeinem Preußen die Kraft zu, die dem Bunde fehlte, dieſe Wohlthat eines Vaterlandes den Deutſchen zu ſpenden. Neben der ſchneidigen Kühn - heit, die man oft an den großen Epochen unſerer Geſchichte bewundert hat, überſieht man leicht jene kalte, zähe, ausdauernde Geduld, welche der preußiſchen Staatskunſt in den endlos langweiligen Händeln deutſcher Kleinſtaaterei zur anderen Natur geworden war. Wohl keiner unſerer Staatsmänner hat dieſe altpreußiſche Tugend mit ſolcher Meiſterſchaft619Eichhorns deutſche Politik.geübt wie Eichhorn. Da watet der geiſtvolle Mann jahraus jahrein durch den zähen Schlamm armſeliger Verhandlungen, die ſchon beim Durchleſen körperlichen Ekel erregen. Nichts ſchwächt ihm die Friſche des Geiſtes; immer bleibt ihm der Gedanke gegenwärtig, welch großes Ziel hinter den kleinen Händeln winkt; immer wieder rafft ſich ſein gebrechlicher Körper nach ſchweren Krankheitsanfällen zu raſtloſer Thätigkeit auf. Ueberall hat er ſeine Augen; wie der Arzt am Krankenbette überwacht er die Stimmung der kleinen Höfe, ihre Bosheit, ihre Selbſtſucht, ihre rathloſe Thorheit. Zuweilen hilft er ſich mit einem ſcharfen Witze über die Langeweile hinaus. Was wohl die herzoglich ſächſiſchen Häuſer beabſichtigen? ſchreibt er einmal Ja, wenn ſie es nur ſelber wüßten! Und nach allem Jammer, den ihm die Kleinfürſten zu koſten geben, bewahrt er ihnen doch Achtung und Wohlwollen, kommt bereitwillig, mit bundesfreundlicher Geſinnung, jedem billigen Wunſche entgegen. Oftmals ſchlugen die ſchmutzigen Wellen der Demagogenverfolgung gegen ſeinen ehrlichen Namen an; er blieb ſich ſelber treu, trat tapfer ein für ſeine verfolgten Freunde und behauptete ſich doch im Vertrauen des Königs. Dann hat Fürſt Metternich viele Jahre hindurch alle ſeine ſchlechten Künſte ſpielen laſſen gegen den ver - haßten Patrioten, der in Wien als der böſe Dämon Preußens galt. Zu - gleich ſchmähte die liberale Preſſe auf den Servilen. Er aber trug gelaſſen Stein auf Stein zu dem unſcheinbaren Bau deutſcher Handelseinheit und duldete ſchweigend die Unbilden der öffentlichen Meinung, denn jeder Ver - ſuch einer lauten Rechtfertigung wäre ſein ſicherer Sturz geweſen. Nachher kam doch eine Zeit, da mindeſtens die Höfe ſein Verdienſt erkannten; ſämmtliche Orden des deutſchen Bundes, nur kein öſterreichiſcher, wurden dem anſpruchsloſen Geheimen Rathe verliehen, und die Staatsſchriften der dankbaren Zollverbündeten prieſen ihn als die Seele des preußiſchen Mi - niſteriums . Die Nation aber erfuhr niemals ganz was ſie ihm ſchuldete.

Seine Hoffnung war, das preußiſche Zollſyſtem durch Verträge mit den deutſchen Nachbarſtaaten allmählich zu erweitern. Für die Formen und Grenzen dieſer Erweiterung hat er nicht im Voraus einen feſten Plan entworfen; er ſtellte ſie, da er die Schwierigkeit des Unternehmens richtig würdigte, dem unberechenbaren Gange der Ereigniſſe anheim. Die Frage, ob Preußens Zollſchranken dereinſt am Main oder am Bodenſee ſtehen wür - den, war im Jahr 1819 noch nicht praktiſch; ſie konnte den Leiter der preußiſch-deutſchen Politik vielleicht in ſeinen Träumen, ſie durfte ihn nicht bei ſeiner Arbeit beſchäftigen. Nur das Eine war ihm ſicher, daß das neue Zollſyſtem aufrecht bleiben, den feſten Kern bilden müſſe für die Neu - geſtaltung des deutſchen Verkehrs. Er verlangte freie Hand für Preußens Handelspolitik, wies von dieſem Gebiete die Einmiſchung Oeſterreichs ent - ſchieden zurück. Aber jede Feindſeligkeit gegen die Hofburg lag ihm fern; der Gedanke, den Deutſchen Bund von Oeſterreich abzutrennen, blieb ihm, dem Conſervativen, der in den Ideen von 1813 lebte, völlig fremd. Noch620II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.als Greis hat er Radowitz’s Unionspläne als unausführbare Träume be - kämpft.

Einen widerwärtigen Uebelſtand, der ſofort beſeitigt werden mußte, bot die Lage der zahlreichen Enclaven. Die Zolllinien wurden alsbald ſoweit vorgeſchoben, daß ſie die anhaltiſchen Herzogthümer faſt ganz und auch einen Theil der kleinen thüringiſchen Gebiete, die mit Preußen im Gemenge lagen, umfaßten. Alle nach dieſen Ländern eingeführten Waaren unterlagen ohne Weiteres den preußiſchen Einfuhrzöllen. Erſt nachdem die neue Grenz - bewachung in Kraft getreten, ließ Eichhorn, zu Anfang 1819, dieſen Staaten die Einladung zugehen, mit dem Berliner Cabinet wegen des Zollweſens zu verhandeln. Der König ſei bereit, nach billiger Uebereinkunft den Landes - herren der eingeſchloſſenen Gebiete das Einkommen zu überweiſen, das ſeinen Staats-Kaſſen aus den Enclaven zufließe. Dies kurz angebundene Ver - fahren, das in den Papieren des Finanzminiſteriums als unſer Enclaven - ſyſtem bezeichnet ward, mußte allerdings die kleinen Höfe befremden; doch die Nothwendigkeit gebot, dieſen Nachbarn zu zeigen, daß ſie in ihrer Han - delspolitik von Preußen abhängig ſeien. Nur gutmüthige Schwäche konnte das Gelingen der großen Zollreform abhängen laſſen von der vorausgehenden Zuſtimmung eines Dutzends kleiner Herren, die nach deutſcher Fürſtenweiſe allein für die Beredſamkeit vollendeter Thatſachen empfänglich waren. Ledig - lich die Eitelkeit der Nachbarfürſten ward gekränkt; den wirthſchaftlichen Intereſſen der Enclaven gereichte Preußens Vorgehen offenbar zum Segen. Eine ſelbſtändige Handespolitik blieb in dieſen armſeligen Gebietstrümmern ja doch undenkbar. Das Gedeihen ihrer Volkswirthſchaft wurde ſofort ver - nichtet, wenn Preußen ſie von ſeinem Zollſyſtem ausſchloß und ſie mit ſeinen Schlagbäumen rings umſtellte; auch der Handel innerhalb der Provinz Sachſen erlitt ärgerliche Störung, wenn alle durch das Anhaltiſche oder das Schwarzburgiſche gehenden Waaren verbleit und der Controle der Zoll - ämter unterworfen werden mußten. Ebenſo wenig durfte Preußen den Ver - kehr der Enclaven völlig unbeaufſichtigt laſſen. Was dieſe Ländchen ſelbſt an Zolleinkünften aufbrachten, bildete freilich nur den achtzigſten Theil der preußiſchen Zolleinnahmen; doch durch den Schmuggel konnten ſie den Finanzen Preußens hochgefährlich werden.

Durch die heilſame Rückſichtsloſigkeit der Berliner Finanzmänner er - hielten die Enclaven freien Verkehr auf dem preußiſchen Markte, ihre Staatskaſſen die Zuſage eines geſicherten reichlichen Einkommens, das ſie aus eigener Kraft niemals erwerben konnten. Die preußiſche Regierung handelte in gutem Glauben; ſie war bereit ihr eigenes Enclavenſyſtem auch gegen preußiſches Gebiet anwenden zu laſſen; mehrmals erklärte ſie, wenn ein ſüddeutſcher Zollverein zu Stande komme, ſo müſſe der enclavirte Kreis Wetzlar ſich dieſem Zollſyſtem unterwerfen. *)So u. A. in einer Denkſchrift des Finanzminiſteriums vom 28. Dec. 1824.Ganz unhaltbar war vollends621Das Enclavenſyſtem.die von den gekränkten Kleinfürſten oft wiederholte Anklage, Preußens Enclavenſyſtem verletze das Völkerrecht. Alle nach den Enclaven beſtimmten Waaren unterlagen von Rechtswegen den preußiſchen Durchfuhrzöllen; und wenn der Berliner Hof für gut fand, die Tranſitabgaben auf gewiſſen Straßen bis zur Höhe der Einfuhrzölle hinaufzuſchrauben, ſo ließ ſich recht - lich dawider nichts einwenden.

Indem Eichhorn die Kleinſtaaten einlud zu freundnachbarlichen Ver - trägen über die Behandlung der Enclaven, erklärte er zugleich die Bereit - willigkeit des Königs, auch über den Anſchluß nicht-enclavirter Gebiete zu verhandeln. Er betonte den nationalen Charakter des Zollgeſetzes, er hob hervor, dies Geſetz ſei im Sinne des Art. 19 der Bundesacte gedacht, ſei beſtimmt, zunächſt in einem Theile von Deutſchland die Binnenmauthen aufzuheben, ſodann auch anderen Bundesſtaaten den Anſchluß zu erleichtern; der König verdiene den Dank der Bundesgenoſſen, da er begonnen habe, den deutſchen Markt von der Herrſchaft des Auslandes zu befreien. An dieſer nationalen Richtung hat Preußens Handelspolitik ſeitdem unerſchüt - terlich feſtgehalten; die in ſpäteren Jahren oft auftauchenden Vorſchläge, etwa Belgien oder die Schweiz in den Zollverein aufzunehmen, wurden in Berlin ſtets kurzerhand zurückgewieſen. Nicht kosmopolitiſche Verkehrsfrei - heit war Preußens Ziel, ſondern die Handelseinheit des Vaterlandes. Der König, ſagt eine von Bernſtorff unterzeichnete Note an das Collegium der Geheimen Räthe zu Gotha (v. 13. Juni 1819), beabſichtige durch das Geſetz vom 26. Mai hauptſächlich den Handel mit außerdeutſchen Landeserzeug - niſſen zu beſteuern und die Mitbewerbung außerdeutſcher Fabriken von Ihren Staaten und von denjenigen Ländern abzuwehren, welche ſich hierin an Ihre Maßregeln anſchließen wollen. Er hege den lebhaften Wunſch, die nur zur Beſteuerung außerdeutſcher Verbrauchsartikel und zum Schutze der preußiſchen Landesinduſtrie gegen die außerdeutſchen Fabriken ergriffenen Maßregeln bundesverwandten deutſchen Staaten, ſoweit es ihre Lage irgend geſtattet, nicht zum Nachtheil gereichen zu laſſen. Hierauf räth die Note, einen thüringiſchen Handelsverein zu bilden, der alsdann mit Preußen in Zollverbindung treten ſolle; ſie zeichnet alſo genau den Weg vor, welcher vierzehn Jahre ſpäter zu der handelspolitiſchen Vereinigung Preußens und Thüringens geführt hat.

Im ſelben Sinne verſicherte die Staatszeitung amtlich, daß Preußen ſchon ſeiner Lage wegen, mehr aber noch, weil die Vereinigung des Einzel - Intereſſes der deutſchen Bundesſtaaten zu einem Geſammt-Intereſſe für Preußen vorzüglich wünſchenswerth ſei, zu dem Plane einer völligen Han - delsfreiheit zwiſchen den Bundesſtaaten die Hand zu bieten am eheſten geneigt ſei, und daß es am liebſten die Schwierigkeiten gehoben ſehen werde, die ſich der Ausführung entgegenzuſtellen ſchienen. Und als gegen Weihnachten 1819 Abgeordnete des Liſt’ſchen Vereins nach Berlin kamen, um die Regierung für einen deutſchen Mauthverband zu gewinnen, da er -622II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.hielten ſie von Hardenberg und drei Miniſtern die Verſicherung: daß die preußiſche Regierung, weit entfernt, durch einſeitige Maßregeln den Wohl - ſtand der deutſchen Nachbarſtaaten untergraben zu wollen, ſich freuen würde, wenn alle Regierungen Deutſchlands über die Grundſätze eines gemeinſchaftlichen, die Wohlfahrt aller Theile fördernden Handelsſyſtems ſich vereinigen könnten, wozu die preußiſche Regierung ſehr gern die Hände bieten werde, um ihrerſeits mitzuwirken, daß dem ganzen Deutſchland die Wohlthat eines freien, auf Gerechtigkeit gegründeten Handels zu theil werde. Es iſt ihnen aber auch nicht verhehlt worden, daß der Zuſtand und die Verfaſſung der einzelnen deutſchen Staaten noch keineswegs zu gemeinſamen Anordnungen vorbereitet erſcheine; wozu auch beſonders ge - höre, daß die gemeinſamen Anordnungen in einem gemeinſamen Sinne von Allen gehalten würden. Die Sache ſcheine daher jetzt nur darauf zu führen, daß einzelne Staaten, welche ſich durch den jetzigen Zuſtand be - ſchwert glaubten, mit denjenigen Bundesgliedern, von denen nach ihrer Meinung die Beſchwerden veranlaßt werden, ſich zu vereinigen ſuchten und daß auf dieſem Wege übereinſtimmende Anordnungen von Grenze zu Grenze weiter geleitet würden, welche den Zweck hätten, die inneren Scheidewände mehr und mehr wegfallen zu laſſen. *)Preußiſche Staatszeitung 1819 Nr. 131. Ebendaſelbſt, 28. Dec. 1819.

Damit war rund und nett der Grundgedanke einer nationalen Handels - politik ausgeſprochen, welche bei der Nichtigkeit des Bundestags die einzig mögliche war. Deutlicher als Preußen ſprach, konnte eine Regierung über noch unfertige Entwürfe ſchlechterdings nicht reden. Aber in der epidemiſchen Verblendung, die nunmehr über die öffentliche Meinung hereinbrach, in dem donnernden Lärm der Anklagen, die auf das abſolutiſtiſche Peußen her - niederpraſſelten, wurden die offenkundigen Worte und Thaten des Berliner Cabinets völlig vergeſſen. Man redete ſich hinein in den Wahn, daß Preußen ſich ſelbſtgefällig von dem großen Vaterlande abſondere. Alles ſchalt auf den Berliner Hochmuth und Partikularismus, am Lauteſten jene kleinen Höfe, welche das Enclavenſyſtem ertragen mußten. Selbſt Karl Auguſt von Weimar betrachtete es als eine höchſt anmaßende Zumuthung, daß er ſeine rings von Preußen umſchloſſenen Aemter Allſtedt und Oldisleben dem preußiſchen Zollſyſtem einfügen ſollte, und ließ dem Berliner Hofe ſchreiben: Eine ſtrenge Durchführung des Geſetzes vom 26. Mai ſcheint mit dem Geiſte und den Grundſätzen der Bundesacte ſo wenig in Einklang zu ſtehen, daß nicht zu bezweifeln ſteht, es werde dieſe Angelegenheit Gegen - ſtand der nächſten Verhandlungen des Bundestags werden und S. K. Ma - jeſtät von Preußen als Bundesfürſt ſelbſt geruhen, conciliatoriſche Anträge deshalb an den Bund gelangen zu laſſen. **)Schreiben der Geh. -Räthe Edling und Conta an Graf Bernſtorff, Weimar 26. Januar 1819.

Auf ſo naive Vorſchläge konnte Eichhorn ſich nicht einlaſſen. Er durfte623Verhandlungen mit Sondershauſen.das Zollweſen der Provinz Sachſen nicht dem Belieben Oeſterreichs und der Bundestagsmehrheit preisgeben, ſondern gab ſich der Hoffnung hin, die Erkenntniß des eigenen Vortheils würde die kleinen thüringiſchen Dy - naſten beſtimmen auf das Anerbieten Preußens einzugehen und ihre enclavirten Gebietstheile durch Verträge dem preußiſchen Zollſyſtem anzu - ſchließen. In der That wendeten ſich die kleinen Nachbarn alleſammt ſo - gleich an den Berliner Hof, aber nur um zu fordern, daß Preußen ſein Enclavenſyſtem alsbald wieder aufhebe; wie dies möglich ſein ſollte, wußten ſie freilich nicht anzugeben. Beſonders hart fühlte ſich der wohlmeinende Fürſt Anton Günther von Schwarzburg-Sondershauſen getroffen. Die Hauptmaſſe ſeines Reiches, die Unterherrſchaft mit der Hauptſtadt, ein Land von faſt 30,000 Einwohnern, war von preußiſchem Gebiet um - ſchloſſen und dem preußiſchen Zollweſen einverleibt; da die Krone Preußen als Rechtsnachfolgerin von Kurſachſen hier überdies das Poſtregal und einige andere Hoheitsrechte ausübte, ſo blieb dem Fürſten von ſeiner theueren Souveränität allerdings wenig übrig. Mit dringenden Bitten mußten alſo erſt der vielgeplagte gemeinſame thüringiſche Geſandte General Leſtocq, dann das Sondershauſener Geheime Conſilium ſelbſt den preu - ßiſchen Hof beſtürmen um Zurücknahme einer Anordnung, in welche man ſchwarzburg-ſonderhauſenſcher Seits ſich nie zu fügen entſchloſſen iſt.

Miniſter Klewiz erwiderte verbindlich, durch einen Vertrag könne die Angelegenheit ohne Schwierigkeit geordnet werden; er gewährte auch dem Fürſten freundnachbarlich Freipäſſe für die Verzehrung ſeines Hofhalts, aber eine Abänderung des Geſetzes ſchlug er rundweg ab, da die Gefahr des Schmuggels aus den kleinen Nachbarlanden gar zu groß ſei. *)Leſtocq an Bernſtorff 22. Jan.; Schreiben des Sondershauſener Geh. Conſiliums an Bernſtorff 27. Febr., an Klewiz 9. Febr.; Klewiz an Kanzler v. Weiſe 30. Jan., an Bernſtorff 18. März 1819.In Sondershauſen wollte man den Wink nicht verſtehen. Mehrere Monate hindurch wurde die preußiſche Regierung immer von Neuem mit der An - frage beläſtigt, ob ſie nun endlich bereit ſei eine Verfügung aufzuheben, welche ſo gröblich in die Rechte der Sondershauſener Souveränität ein - greife. Der Fürſt ſelber richtete an den König die devoteſte Bitte , ihn durch einen neuen Beweis Allerhöchſtdero allgemein verehrter und geprie - ſener Liberalität und Großmuth zum unbegrenzteſten und devoteſten Danke zu verpflichten. **)Kanzler v. Weiſe an Hoffmann, 23. April; Fürſt Anton Günther an König Friedrich Wilhelm, 29. Juli 1819.Alles war vergeblich; die unterthänige Form konnte über den anmaßenden Inhalt der Bittſchriften nicht täuſchen. Dann kam der Kanzler v. Weiſe ſelbſt nach Berlin, ein wackerer alter Herr, der im Verein mit ſeinem Sohne, dem Geheimen Rath, das Sondershauſener Ländchen patriarchaliſch regierte. Auch er richtete nichts aus.

Mittlerweile hatte ſich Vicepräſident v. Motz in Erfurt des Streites624II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.angenommen. Er kannte alle Herzensgeheimniſſe der Kleinſtaaterei, da ſein Regierungsbezirk mit faſt einem Dutzend kleiner Landesherrſchaften im Gemenge lag; er war mit den beiden Weiſe als guter Nachbar vertraut geworden und erwarb ſich jetzt um Deutſchlands werdende Handelseinheit, die ihm bald noch Größeres verdanken ſollte, ſein erſtes Verdienſt, indem er den Freunden vorſtellte, wie kindiſch es ſei an einer Zollhoheit feſtzu - halten, die doch niemals in Wirkſamkeit treten konnte. *)Nach den Aufzeichnungen von Motz’s Tochter, Frau v. Brinken.Der kunſtſinnige Fürſt wünſchte längſt, im freundlichen Thale der Wipper ein Sonders - hauſener Nationaltheater zu gründen, aber die Mittel fehlten; ſchloß er ſich dem preußiſchen Zollweſen an, ſo war ihm aus der Noth geholfen. Dieſe Erwägung wirkte.

Gegen Ende September erſchien der alte Weiſe wieder in Berlin, und da er diesmal ernſtlich verhandeln wollte, ſo ward er mit großer Freund - lichkeit aufgenommen. Maaſſen und Hoffmann führten die Unterhandlung, unter beſtändiger Rückſprache mit Eichhorn. Noch unbekannt mit der Nebenius’ſchen Denkſchrift ſtellte Hoffmann zuerſt den Gedanken auf: das Einfachſte ſei doch, die gemeinſamen Zolleinnahmen ohne fiscaliſche Klein - lichkeit nach der Volkszahl zu vertheilen. **)Hoffmann an Maaſſen, 10. Okt. 1819.Damit war jener Bevölkerungs - maßſtab gefunden, der allen ſpäteren Zollverträgen Preußens zur Grund - lage gedient hat. Weiſe ging ſofort auf das günſtige Anerbieten ein, und am 25. Okt. 1819 wurde der erſte Zollanſchluß-Vertrag unterzeichnet, kraft deſſen der Fürſt von Sondershauſen unbeſchadet ſeiner landesherrlichen Hoheitsrechte ſeine Unterherrſchaft dem preußiſchen Zollgeſetz unterwarf und dafür nach dem Maßſtabe der Bevölkerung ſeinen Antheil an den Zoll - einnahmen vorläufig eine Bauſchſumme von 15,000 Thlr. erhielt. Eine Mitwirkung bei der Zollgeſetzgebung wurde dem kleinen Verbündeten nicht zugeſtanden; er mußte die Handelsverträge Preußens und alle anderen Aenderungen, welche das Finanzminiſterium beſchloß, einfach annehmen. Im Uebrigen waren ſeine Hoheitsrechte ſorgſam, faſt ängſtlich gewahrt; ſelbſt die Steuerviſitationen auf ſchwarzburgiſchem Gebiet ſollten nur durch die fürſtlichen Beamten vollzogen werden.

Im Wipperthale herrſchte laute Freude. Der Fürſt dankte tief gerührt für dies neue Zeichen königlicher Hochherzigkeit***)Weiſe jun. an Hoffmann, Nov. 1819.; nun konnte er endlich ſein berühmtes Rauchtheater eröffnen, wo er mit den Bürgern ſeiner Re - ſidenz um die Wette den Muſen des Dramas und der Rauchkunſt huldigte. Finanziell betrachtet war das Abkommen unzweifelhaft ein Löwenvertrag zu Gunſten Sondershauſens; Preußen brachte um des politiſchen Zweckes willen ein Geldopfer, denn das wenig bemittelte Thüringer Bergländchen verzehrte von den einträglichſten Zollartikeln, den Colonialwaaren weit weniger als der Durchſchnitt der öſtlichen Provinzen.

625Der erſte Zollanſchluß-Vertrag.

Um ſo berechtigter ſchien die Erwartung, daß die übrigen Kleinen dem Beiſpiel Sondershauſens folgen würden. Im Eingange des Vertrags hatte der König nochmals erklären laſſen, daß er bereit ſei ähnliche Abkommen mit anderen Bundesfürſten zu ſchließen. Rudolſtadt begann ſchon zu ver - handeln. Auch mit Braunſchweig, Weimar, Gotha dachte Hoffmann binnen Kurzem ins Reine zu kommen und bereits ging er mit ſeinen Entwürfen über die Grundſätze des Enclavenſyſtems hinaus. Die unglückliche zer - riſſene Geſtalt ſeines Gebietes zwang den preußiſchen Staat, auch wenn er auf alle Eroberungspläne verzichtete, mindeſtens zum handelspolitiſchen Ehr - geiz; er konnte ſein Steuerſyſtem kaum durchführen, wenn er nicht außer den Enclaven auch noch einige nur halb umſchloſſene Nachbarlandſchaften ſeinem Zollgeſetze unterwarf. Da lag Anhalt-Bernburg, das auf eine kleine Strecke Weges nicht an Preußen grenzte und alſo gewiſſenhaft als Aus - land behandelt wurde. Was war der Dank? Ein ungeheuerer Schmuggel, der von Monat zu Monat anwuchs und die Zolleinnahme der Provinz Sachſen zu verſchlingen drohte. Schon im Oktober wurden 4023 Centner, zumeiſt Colonialwaaren, in die anhaltiſchen Harzſtädtchen bei Ballenſtedt eingeführt um alsbald ſpurlos zu verſchwinden. Mindeſtens dies Vorland, meinte Hoffmann, müſſe ſogleich in die Zolllinie eintreten; werde der Ver - trag mit Sondershauſen nur erſt bekannt, dann könnten ſich die kleinen Nachbarn nicht länger mehr wider ihren eigenen Vortheil ſträuben. *)Leſtocq an Bernſtorff 29. Okt., Hoffmann an Bernſtorff 18. Dec. 1819.

Die Hoffnung trog. Jener Zoll-Vertrag, der uns heute ſo ſelbſtver - ſtändlich erſcheint, ſollte während mehrerer Jahre der einzige bleiben. Kaum ward er ruchbar, ſo erſcholl an allen Höfen ein Schrei des Zornes. Fürſt Anton Günther mußte von ſeinen durchlauchtigen Genoſſen ernſte Vorwürfe hören, weil er das Kleinod der Souveränität ſo würdelos preisgegeben; die anderen kleinen Nachbarn, die ſeinem Vorgange bereits folgen wollten, traten, eingeſchüchtert durch die allgemeine Entrüſtung, von den Verhand - lungen zurück. An die Spitze der Gegner Preußens ſtellte ſich der Herzog von Cöthen. Der erklärte im Namen der kleinen Fürſten: freiwillig können und werden ſie ſich nicht unterwerfen, wenn ſie nicht die heiligſten Pflichten gegen ihre Unterthanen, gegen ihre Häuſer und gegen ihre eigene Ehre verletzen wollen; dann forderte er getroſt, Preußen ſolle ihm einen fünf Stunden breiten Streifen zollfreien preußiſchen Gebietes bis zur ſächſiſchen Grenze zur Verfügung ſtellen, damit das Haus Anhalt freien Zugang zum Welthandel erlange. Gemüthlich lauernd und im Stillen ſchürend ſtand hinter den erbitterten Kleinen der treue Bundesgenoſſe Preußens, Oeſterreich. Die Höfe beſchloſſen insgeheim, auf den Wiener Conferenzen mit vereinter Kraft die Aufhebung des preußiſchen Zollgeſetzes durchzuſetzen; nur wenn der vorhandene Anfang deutſcher Zolleinheit vom Erdboden verſchwand, konnte der Bundestag die nationale Handelspolitik begründen! Und anTreitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 40626II. 10. Der Umſchwung am preußiſchen Hofe.dieſer Raſerei partikulariſtiſcher Leidenſchaft nahm die geſammte Nation außerhalb Preußens willig theil. Alle die Lieder und Reden zum Preiſe der deutſchen Einheit waren vergeſſen, ſobald Preußen ſich anſchickte, den Deutſchen die Wohlthat eines gemeinſamen Vaterlandes zu gewähren .

Preußens Staatsmänner hatten gehofft, ſchon in dem erſten Jahre, da das neue Geſetz beſtand, einige der deutſchen Nachbarn für die Politik der praktiſchen deutſchen Einheit zu gewinnen. Jetzt ſahen ſie ſich in die Vertheidigung zurückgeworfen. Der ſiegreiche Kampf um die Behauptung, dann um die Erweiterung des Zollgebietes blieb auf Jahre hinaus die wichtigſte Aufgabe der preußiſchen Staatskunſt. Durch die friedlichen Er - oberungen dieſes Kampfes hat König Friedrich Wilhelm geſühnt was in Karlsbad gefehlt war und die Markſteine geſetzt für das neue Deutſchland. Er war der rechte Mann für dies unſcheinbare und doch ſo folgenſchwere Werk deutſcher Geduld. Gleichmüthig und immer bei der Sache, treu und beharrlich, von einer Rechtſchaffenheit, die jedes Mißtrauen entwaffnete, ſtets bereit dem bekehrten Gegner mit aufrichtigem Wohlwollen entgegenzukommen ſo hat er nach und nach die Trümmer Deutſchlands befreit aus den Banden eigener Thorheit und ausländiſcher Ränke, den Weg bereitend für größere Zeiten. Die Gegenwart aber ſoll nicht undankbarer ſein als Friedrich der Große war, der von dem glanzloſen Arbeitsleben ſeines Vaters ſagte: der Kraft der Eichel danken wir den Schatten des Eichbaums, der uns deckt.

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Beilagen zu den zwei erſten Bänden.

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I. E. M. Arndt und Wrede. Zu Bd. I S. 610. (613 der 3. Aufl.)

E. M. Arndt erzählt in ſeinem bekannten Buche Meine Wanderungen und Wan - delungen mit dem Freiherrn vom Stein (S. 218) Folgendes: Steins Zorn gegen Wrede hatte noch ſeinen beſonderen Haken. Von allen deutſchen Truppen unter fran - zöſiſchem Kommando hatten in Norddeutſchland die Baiern und die Darmſtädter durch Roheit, Zuchtloſigkeit und Plünderungsſucht den ſchlechteſten Ruf hinter ſich gelaſſen. Wrede ward wohl mit Recht beſchuldigt, den Seinigen nicht nur Vieles nachgeſehen, ſondern ihnen auch ſelbſt das böſeſte Beiſpiel gegeben zu haben. Bei einem ſolchen Bei - ſpiel hatte ihn nun Stein erfaßt und zwar recht tüchtig angefaßt. Wrede war in Schloß Oels in Schleſien einquartiert, im Schloſſe des Herzogs von Braunſchweig. Hier hatte er es ganz den gierig unverſchämten franzöſiſchen Räubern nachgemacht, den Soult, Maſſena und Ihresgleichen, welche das Silber (Löffel, Teller), womit ſie von ihren Wirthen bedient wurden, nach der Tafel gewöhnlich einpacken und mit ihrem Gepäck wandern ließen. So hatte Wrede in Oels ganz nach franzöſiſcher Marſchallsweiſe bei ſeinem Ab - zuge alles herzogliche Schloßſilber mit zu ſeinem Feldgepäck legen laſſen. Der arme Schloß - vogt hatte dem nicht wehren gekonnt, hatte aber, damit er ſelbſt nicht für den Räuber und Dieb des herzoglichen Silberſchatzes gehalten würde, den Marſchall um einen Schein gebeten, daß er in Kraft des Kriegsbefehls es ſich habe ausliefern laſſen. Und wirklich hatte der Feldmarſchall ihm den genau ſpecificirten vorgelegten Schein bei ſeinem Ab - marſch in einfältiger deutſcher Ueberraſchung unterſchrieben. Dieſes Papierchen war nun im Jahre 1813 Steins Händen übergeben, und Wrede hatte den Werth des Raubs im folgenden Jahre mit einer hübſchen Summe Geld zurückzahlen müſſen.

Die Form des Berichts erweckt den Eindruck, als ob er aus Mittheilungen Steins, alſo eines unmittelbar Betheiligten, herrührte; er enthält nichts Unwahrſcheinliches und ſtammt aus der Feder eines Mannes, deſſen ſtrenge Wahrheitsliebe ebenſo anerkannt iſt, wie die erſtaunliche, bis ins hohe Alter bewahrte Friſche ſeines Gedächtniſſes. In Schleſien wurde die häßliche Geſchichte, wie ich aus beſter Quelle verſichern kann, lange bevor Arndts Buch erſchien, in den Kreiſen der älteren Männer, welche die Franzoſenzeit erlebt hatten, häufig erzählt. Es lag alſo kein Grund vor, an ihrer Wahrheit zu zweifeln.

Die Wanderungen erſchienen in der Blüthezeit jenes mittelſtaatlichen Uebermuthes, der bald nachher auf den Schlachtfeldern des Mainfeldzugs ſeine Strafe finden ſollte. Die bairiſche Regierung dachte nicht vornehm genug, um die Ereigniſſe einer längſt ab - geſchloſſenen, fünfzig Jahre zurückliegenden Vergangenheit allein der hiſtoriſchen Wiſſen - ſchaft zu überlaſſen, ſondern ließ den Verfaſſer anklagen wegen Beleidigung der bairiſchen Armee u. ſ. w. Viele meiner Leſer werden ſich noch entſinnen, welches peinliche Auf - ſehen dieſer Proceß in ganz Deutſchland erregte. Arndt konnte in der Einleitung des Strafverfahrens nur eine beabſichtigte Gehäſſigkeit ſehen; er weigerte ſich vor dem bai - riſchen Gerichte zu erſcheinen und wurde im December 1858 von dem Zweibrückener Aſſiſengerichte in contumaciam zu zwei Monaten Gefängniß verurtheilt. Das Gericht630E. M. Arndt und Wrede.that nur was ſich von ſelbſt verſtand; denn wer für eine ehrenrührige Behauptung nicht ſelber vor Gericht den Beweis der Wahrheit erbringt, muß ohne Weiteres der Verleum - dung ſchuldig erklärt werden. Für den Hiſtoriker aber, den die Formen des Strafpro - ceſſes nicht binden, war dies Urtheil werthlos.

Arndt ſelbſt hielt die Wahrheit ſeiner Erzählung unerſchütterlich aufrecht und ſtellte im Verlaufe des langen Zeitungsſtreites, der ſich an jenen Proceß anknüpfte, einmal die Vermuthung auf: die That Wredes möge vielleicht gegen Ende Februar 1807 geſchehen ſein, da um dieſe Zeit, nach neueren Mittheilungen aus Schleſien, bairiſche Truppen in Oels arg gehauſt hätten. Dieſe hingeworfene Vermuthung benutzte nun ein bairiſcher Offizier (angeblich Major Ehrhard) um in einer anonymen Schrift (Die Beſchuldigung Wredes durch E. M. Arndt. München 1860) die Schuldloſigkeit ſeines Helden zu erweiſen. Er wies nach, daß allerdings die Diviſion Wrede am 23. Februar 1807, auf dem Durch - marſch nach Polen, durch Oels gekommen iſt, Wrede ſelbſt aber zur ſelben Zeit noch krank in Baiern lag. Auch hiermit war die Erzählung Arndts offenbar noch nicht widerlegt. Denn da über den Zeitpunkt des Raubes nur unerwieſene Vermuthungen aufgeſtellt wurden, ſo blieb die Möglichkeit offen, daß Wrede die That etwas ſpäter im Jahre 1807 begangen hätte. Wrede hat ſich nachweislich zweimal während jenes Jahres in Schleſien aufgehalten. Zuerſt zu Ende März, als er, von ſeiner Krankheit geneſen, der Armee nachreiſte; nach den Aufzeichnungen eines Zeitgenoſſen, die ſich in der Breslauer Stadtbibliothek befinden, iſt er am 26. März in Breslau eingetroffen. Sodann lag er nach dem Tilſiter Frieden bis zum 2. Decbr. mehrere Monate lang mit ſeinen Truppen in Schleſien, und da die Franzoſen und ihre Bundesgenoſſen während jener friedlichen Occupation bekanntlich faſt eben ſo übermüthig auftraten, wie vorher im Kriege, ſo konnte der Raub auch wohl in dieſer Zeit ſich ereignet haben. Arndt ließ ſich daher durch die mangelhaften Argumente der Ehrhard’ſchen Schrift nicht beirren; er meinte auf ſein gutes Gedächtniß bauen zu können und wiederholte ſeine Erzählung in den ſpäteren Auf - lagen der Wanderungen unverändert. Wie ich meinen geliebten alten Lehrer kannte, hielt ich es für unzweifelhaft, daß er ſeine guten Gründe gehabt haben mußte, einen ſo lebhaft beſtrittenen Bericht ſo entſchieden feſtzuhalten, und trug mithin kein Bedenken, in einer beiläufigen Bemerkung dieſes Buches die Erzählung Arndts als unanfechtbar zu erwähnen.

Inzwiſchen hat der bairiſche Generalmajor Heilmann eine Biographie Wredes herausgegeben, ein lehrreiches, dankenswerthes Buch, das freilich einen erfreulicheren Eindruck hinterlaſſen würde, wenn der Verfaſſer nicht verſucht hätte, einen vaterlandsloſen tapferen Landsknecht mit unſeren nationalen Helden, mit Scharnhorſt, Blücher, Gneiſenau in eine Reihe zu ſtellen. General Heilmann geht auch auf dieſe Epiſode aus dem Leben ſeines Helden ausführlich ein, bringt aber nichts Neues bei, ſondern wiederholt einfach die Behauptungen Ehrhards; er nimmt, ohne irgend einen Grund dafür aufzuführen, kurzweg an, daß der Raub zwiſchen dem 23. Februar und dem 8. März geſchehen ſein müſſe, und erweiſt dann ohne Mühe das Alibi Wredes. Die Lücken dieſer ſeltſamen Beweisführung verdeckt er ſodann, indem er über den alten Arndt eine Fülle ſchmückender Beiwörter ausſchüttet, welche mit den landesüblichen Formen wiſſenſchaftlicher Polemik wenig gemein haben. Wenn Arndt ein in Fragen der hiſtoriſchen Wahrheit ſorgloſer, in ſeinen Vorurtheilen leichtgläubiger, eigenſinniger alter Mann genannt wird, dem ſeine politiſchen Gehilfen noch vollends den Kopf verdreht hätten, ſo habe ich nichts da - wider einzuwenden, daß auch ich mit einigen mehr kräftigen als anmuthigen Ausdrücken beehrt werde.

Als ich kürzlich eine neue Ausgabe des erſten Bandes vorbereitete, unterwarf ich natürlich alle von der Kritik angefochtenen Stellen einer neuen Prüfung, ſo auch jene Bemerkung über Wrede. Das Heilmann’ſche Buch gab mir keine genügende Auskunft; ich entſchloß mich daher ſelber zu thun, was der Biograph Wredes leider unterlaſſen hatte, und hielt in Schleſien Nachfrage. Nachdem ich an verſchiedenen Stellen vergeblich631E. M. Arndt und Wrede.angeklopft, erhielt ich endlich aus Breslau durch die Güte des Herrn Archivdirectors Grünhagen, und gleichzeitig aus Oels mehrere Mittheilungen, welche, im Weſentlichen übereinſtimmend, den Bericht Arndts vollſtändig widerlegen. Daß der Alte ſeine ſo zu - verſichtlich vertheidigte Erzählung nicht einfach aus der Luft gegriffen haben kann, wird jedem Unbefangenen einleuchten. Wenn irgend wer, ſo darf doch ſicherlich Arndt die Vermuthung der bona fides für ſich in Anſpruch nehmen. Man leſe nur in Heilmanns Werke die unglaublich brutalen Briefe, in denen Wrede ſeine Wuth gegen dieſen Teufel, dieſen Narren von Stein ausſpricht; ein ſo maßloſer Haß läßt ſich aus der politiſchen Gegnerſchaft der beiden Männer allein kaum erklären. Aber wie iſt Arndt zu ſeinem Irrthum gelangt? Hat Wrede an anderen Orten Gewaltthaten verübt, welche ihm den in Schleſien einſt weit verbreiteten Beinamen des Löffeldiebs verſchafften? Oder war er ganz ſchuldlos an dieſem üblen Leumund, und Arndt hätte etwa zwei verſchiedene Per - ſonen verwechſelt? Ich vermag das nicht zu entſcheiden. Genug, die gegen Wrede er - hobene Beſchuldigung iſt, wie ſie vorliegt, durchaus falſch.

Ich habe vor mir das Promemoria eines verſtorbenen herzoglich braunſchweigiſchen Beamten, der die Zeit ſeit 1806 als junger Mann im Oelſer Schloſſe verlebte und im Juli 1858, in Folge des durch Arndts Wanderungen erregten Zeitungslärms, amtlich vernommen wurde. Nach dieſem Berichte, der durch die Ausſagen anderer gleichzeitig verhörter Beamten durchweg beſtätigt wird, haben Prinz Jerome Napoleon und General Lefevre im Dezember 1806, zu der Zeit, da die Belagerung von Breslau begann, einige Tage lang im Schloſſe Oels ihr Hauptquartier gehalten; mit ihnen kamen franzöſiſche und bairiſche Truppen. In dieſen Tagen alſo nicht im Februar 1807 wurden ein Theil des Silberzeugs und der Schimmelzug des Herzogs geraubt. Die Thäter blieben unbekannt. Alle Berichte klagen übereinſtimmend über die Roheit der bairiſchen Truppen, aber keiner weiß anzugeben, ob Franzoſen oder Baiern bei dem Raube be - theiligt waren. Gewiß iſt nur, daß Wrede damals noch in Baiern weilte. Die nämliche Denkſchrift verſichert ſodann auf das Beſtimmteſte, daß ſeitdem niemals mehr ein bairiſcher General auf dem Schloſſe im Quartier gelegen hat. Damit fällt Arndts Erzählung zuſammen.

So lebhaft ich bedauere, daß der Sachverhalt erſt jetzt bekannt wird, in einem Augenblicke, da Arndt ſich über die Gründe ſeines Irrthums nicht mehr erklären kann, ebenſo willkommen iſt es mir, dem Biographen Wredes einen kleinen Beitrag für eine neue Ausgabe ſeines Buchs zu bieten. Vielleicht erkennt er jetzt, daß wir preußiſchen Wilden doch beſſere Menſchen ſind. Er ſagt nach ſeiner ſanften Weiſe, Arndts infame Lüge werde aller hiſtoriſchen Wahrheit und aller Moralität zum Hohn immer wiederholt werden. Mit Verlaub, ſie wird es nicht ſeit die Grundloſigkeit der Beſchuldigung endlich erwieſen iſt. So lange aber der Erzählung Arndts nichts weiter entgegenſtand als die willkürliche und falſche Behauptung, daß der Raub im Februar 1807 geſchehen ſein ſollte: ebenſo lange war jeder Hiſtoriker berechtigt, den Bericht eines Buches, das zu den beſten und zuverläſſigſten Werken unſerer Memoiren-Literatur zählt, für wahr zu halten. Die Schuld jener napoleoniſchen Tage iſt durch treue Waffenbrüderſchaft längſt geſühnt; wir haben die Wiederkehr der alten Bruderkämpfe nicht mehr zu fürchten. Es wird hohe Zeit, daß wir Alle eine für immer überwundene Vergangenheit mit einigem Gleichmuth betrachten. Auch die Baiern ſollten endlich lernen über die Sünden ihrer Rheinbundszeit ebenſo unbefangen zu ſprechen, wie ſchon längſt jeder verſtändige Preuße über das Jahr 1806 redet. Daran fehlt leider noch viel. Als Guſtav Freytag vor Kurzem in dem letzten Bande ſeiner Ahnen das Verhalten der Baiern in Schleſien durchaus der hiſtoriſchen Wahrheit gemäß darſtellte, da mußte er von der bairiſchen Preſſe die gröbſten Beleidigungen hinnehmen. So hat ſich auch General Heilmann durch ſeinen bairiſchen Uebereifer um einen Erfolg gebracht, den ich einem ſo tüchtigen Forſcher gern gönnen würde. Hätte er bei der Erörterung jener ſchleſiſchen Epiſode etwas weniger Entrüſtung und etwas mehr Forſcherfleiß aufgewendet, ſo konnte er ſelber den Beweis632Blücher über die Lütticher Meuterei. Die Teplitzer Punktation.erbringen, den ich nun an ſeiner Stelle erbringen mußte: daß Wrede an dem Oelſer Raube nicht betheiligt war.

II. Blücher über die Lütticher Meuterei. Zu Bd. I S. 734. (738 der 3. Aufl.)

Generalfeldmarſchall Fürſt Blücher an König Friedrich Auguſt von Sachſen.

Euere Königliche Majeſtät haben durch Ihre früher ergriffenen Maßregeln Ihre Unterthanen, einen geachteten deut - ſchen Völkerſtamm, in das tiefſte Unglück geſtürzt.

Durch Ihre ſpäteren Maßregeln kann es dahin kommen, daß er allgemein mit Schande bedeckt wird.

Die Rebellion, welche von Friedrichsfelde und Preßburg aus in der Armee orga - niſirt wurde, iſt ausgebrochen, in einer Zeit ausgebrochen, wo ganz Deutſchland gegen den allgemeinen Feind auftritt. Die Verbrecher haben Bonaparte als ihren Beſchützer öffentlich proclamirt und mich, der ich in einer fünfundfünfzigjährigen Dienſtzeit in der glücklichen Lage geweſen bin, nur das Blut meiner Feinde zu vergießen, genöthigt, zum erſten Male Hinrichtungen in meiner eigenen Armee vornehmen zu müſſen.

Aus der Anlage*)Beigelegt war die bekannte Proclamation Blüchers an die Soldaten des ſächſiſchen Armeecorps vom 6. Mai 1815. werden Ew. Maj. erſehen, wie ich es bis jetzt noch verſucht habe, die Ehre des ſächſiſchen Namens zu retten, aber es iſt der letzte Verſuch.

Wird meine Stimme nicht gehört, ſo werde ich, nicht ohne Schmerz, aber mit der Ruhe meines guten Gewiſſens und erfüllter Pflicht, die Ordnung mit Gewalt her - ſtellen, und ſollte ich genöthigt ſein, die ganze ſächſiſche Armee niederſchießen zu laſſen.

Das vergoſſene Blut wird dereinſt vor Gottes Gericht über den kommen, der es verſchuldet hat, und vor dem Allwiſſenden wird Befehle geben und Befehle dulden, als ein - und daſſelbe geachtet werden müſſen.

Ew. Maj. wiſſen, daß ein Greis von dreiundſiebzig Jahren keine anderen irdiſchen Abſichten mehr haben kann, als daß die Stimme der Wahrheit gehört werde und das Rechte geſchehe.

So haben Ew. Königl. Maj. dieſes Schreiben aufzunehmen.

Hauptquartier Lüttich, 6. Mai 1815.

Blücher.

III. Die Teplitzer Punktation. Zu Bd. II S. 550.

Einige Sätze der Teplitzer Punktation ſind, wie oben erwähnt, wörtlich aufge - nommen in die Punktation für die Hauptgegenſtände dieſer Verhandlungen , welche Fürſt Metternich in der erſten Conferenz zu Karlsbad vorlegte (abgedruckt bei Welcker - Klüber, Wichtige Urkunden für den Rechtszuſtand der deutſchen Nation, S. 185 f.). Ich gebe im Folgenden den vollſtändigen Text und bezeichne in den Noten die Abweichungen von der Karlsbader Punktation.

633Die Teplitzer Punktation.

Punktation über die Grundſätze, nach welchen die Höfe von Oeſterreich und Preußen in den inneren Angelegenheiten des Deutſchen Bundes zu verfahren entſchloſſen ſind.

Allgemeine Grundſätze.

1. Der Deutſche Bund beſteht als ein politiſcher Körper, deſſen weſentliche Be - ſtimmungen in den Art. 1 u. 2 der Bundesakte rein ausgeſprochen ſind.

Er beſteht als eine für die Erhaltung des Gleichgewichtes und der allgemeinen Ruhe weſentliche und wahrhafte europäiſche Inſtitution und er genießt die allgemeine Garantie, welche die Exiſtenz jedes europäiſchen Staates in Folge der Wiener Congreß - akte ſichert. *)Wörtlich gleichlautend mit Nr. 1 der Karlsbader Punktation

2. Oeſterreich und Preußen ſind europäiſche unabhängige Mächte und durch ihre deutſchen Länder zugleich deutſche Bundesſtaaten. In der erſten Eigenſchaft und ins - beſondere als vorzügliche Theilnehmer an dem Wiener Congreß-Werke und an den ſämmtlichen politiſchen Verhandlungen der letzten Jahre ſind ſie berufen, über die poli - tiſche Exiſtenz des Deutſchen Bundes zu wachen und auf ſelbige zu beſtehen. In der zweiten Eigenſchaft iſt es ihre Pflicht, der gehörigen Ausbildung und Befeſtigung des inneren Bundesweſens ihre beſondere Aufmerkſamkeit zu widmen. **)Fehlt in der Karlsbader Punktation.

3. Sobald der Deutſche Bund beſteht und als eine europäiſche politiſche Inſtitu - tion beſtehen muß, dürfen in ſeinem Inneren keine Grundſätze in Anwendung gebracht werden, welche mit deſſen Exiſtenz unvereinbar wären [oder ſogar im offenen Widerſpruch ſtänden]. ***)Steht als Nr. 2 in der Karlsbader Punktation, mit Ausnahme der eingeklammerten Stelle.

4. Der Deutſche Bund wird als Geſammtheit durch die Bundes-Verſammlung repräſentirt.

Die Bundes-Verſammlung iſt demnach, in Beziehung auf den Bund und deſſen inneres Weſen und mit ſpecieller Berückſichtigung auf die Art. 1 u. 2 der Bundesakte, die oberſte politiſche Behörde in Deutſchland. Ihre legalen Beſchlüſſe müſſen als Geſetze des Bundes unverbrüchlich ausgeführt und gehandhabt werden. †)Steht, bis auf einige kleine ſtiliſtiſche Aenderungen, als Nr. 3 in der Karlsbader Punktation.

Specielle Anwendung dieſer Grundſätze.

5. Die Erfahrung hat gelehrt, daß das Föderativ-Band bisher durch ein unglückliches Mißtrauen ſowohl von Seiten einiger deutſcher Regierungen, als durch manche der Föderation entgegenſtrebende Nebenabſichten nicht die Feſtigkeit erhalten hat, welche das - ſelbe im reinen Begriffe der Föderation haben ſollte. Dieſem Uebelſtande kann nur durch die enge Vereinigung der Höfe abgeholfen werden, und die Höfe von Oeſterreich und Preußen ſind entſchloſſen [den Augenblick zu benutzen, in welchem das ſyſtematiſche Treiben einer revolutionären Partei, nebſt der Auflöſung der Föderation, zugleich die Exiſtenz aller deutſchen Regierungen bedroht, um dieſe Vereinigung zu bewirken]. ††)Fehlt in der Karlsbader Punktation. Nur der eingeklammerte Satz ſteht daſelbſt, etwas ver - ändert, als Nr. 4.

6. Die Anweſenheit der Miniſter der bedeutenden deutſchen Höfe ſoll zu der näheren Uebereinkunft benutzt werden. Sollte der Verſuch zu glücklichen erſten Reſultaten führen, ſo wäre dieſe Uebereinkunft durch das Zuſammentreten der deutſchen Kabinette in der kürzeſt möglichen Zeit zu vervollſtändigen [und inſonderheit in Abſicht auf die Stimmen - mehrheit und insbeſondere auf die Fälle, wo dieſe nicht entſcheidend ſein ſoll, eine ſcharfe, möglichſt beſchränkte Beſtimmung zu geben, desgleichen eine Anordnung von kräftigen Executions-Mitteln zu geben]. †††)Steht als Nr. 5 in der Karlsbader Punktation, mit Ausnahme der eingeklammerten Stelle.

634Die Teplitzer Punktation.

7. *)Alles Nachfolgende fehlt in der Karlsbader Punktation.Die dringendſten Gegenſtände, über welche die erſte Uebereinkunft zu treffen wäre, ſind die folgenden:

A. Die Berichtigung der Begriffe in Anſehung des Art. 13 D. B. A.

Preußen iſt entſchloſſen, erſt nach völlig geregelten inneren und Finanz-Verhältniſſen dieſen Artikel in ſeinem reinen Begriff auf ſeine eigenen Staaten anzuwenden, d. h. zur Repräſentation der Nation keine allgemeine, mit der geographiſchen und inneren Ge - ſtaltung ſeines Reichs unverträgliche Volksvertretung einzuführen, ſondern ſeinen Pro - vinzen landſtändiſche Verfaſſungen zu ertheilen und aus dieſen einen Central-Ausſchuß von Landes-Repräſentanten zu bilden.

Welche Maßregeln zu ergreifen ſein dürften um den deutſchen Staaten, welche unter dem Namen von Ständen bereits Volksvertretungen eingeführt haben, zur Rückkehr zu einem, dem Bunde mehr angemeſſenen Verhältniß behilflich zu ſein, hierüber ſind vor Allem die Anträge dieſer Regierungen ſelbſt zu erwarten; welche Anträge ſodann von den beiden Höfen zu würdigen und unter Erwägung der Vielſeitigkeit der Rückſichten, welche dieſer Gegenſtand fordert, in gemeſſene Ueberlegung zu nehmen ſein werden.

B. Allgemeine Verfügungen über den Art. 18 D. B. A.

Die beiden Höfe vereinigen ihre Anſichten auf die Grundſätze des anliegenden Pro - jekts**)D. h. der in Karlsbad vorgelegten Grundlinien eines Beſchluſſes über die Preſſe (bei Welcker S. 193). und ſie werden ſelbe zur allgemeinen Annahme bei ihren Mitverbündeten und zu ihrer Anwendung auf ein Bundesgeſetz unterſtützen.

Dies Geſetz, durch die Bundes-Verſammlung ausgeſprochen, muß wo möglich noch vor Anwendung der diesjährigen Vacanzen in Anwendung gebracht werden.

Als eine zur Ausführung des Zwecks der täglichen Volks-Verführung auf möglichſt ausgiebigen Wegen Schranken zu ſetzen nöthige Maßregel müſſen die deutſchen Regierungen ſich wechſelſeitig verbinden, keinem der heute berüchtigten Redacteurs den Eintritt in neue Zeitungs-Redactionen zu geſtatten und überhaupt die vielen Zeitungs - blätter zu vermindern.

C. Maßregeln in Hinſicht auf die Univerſitäten, Gymnaſien und Schulen.

Um dieſe mit voller Rückſicht auf das Beſte der Wiſſenſchaften und die moraliſche Bildung der Jugend zu ergreifen, möchte eine eigene aus bewährten Männern derjenigen Staaten, welche Univerſitäten haben, zuſammengeſetzte Commiſſion berufen werden, einen gründlichen Vortrag über diejenigen Verfügungen auszuarbeiten, welche zu dem obge - nannten Zwecke führen könnten. Dieſe Verfügungen möchten nicht nur die Disciplin in Abſicht auf Studenten, ſondern auch ganz beſonders in Abſicht auf die Lehrer umfaſſen.

Als eine unumgängliche Maßregel werden die beiden Höfe bei ihren Verbündeten den Satz der Nothwendigkeit unterſtützen, daß notoriſch ſchlechtgeſinnte und in die Umtriebe des heutigen Studenten-Unfugs verflochtene Profeſſoren alsbald von den Lehrſtühlen ent - fernt werden, und daß kein ähnliches von einer deutſchen Univerſität entferntes Individuum auf den Univerſitäten in anderen deutſchen Staaten Anſtellung erhalte. Das Uebel muß aber auch an der Wurzel angegriffen werden, und daher dieſe Maßregeln auch auf das Schulweſen zu erſtrecken ſind.

In Berückſichtigung der Vorurtheile, welche von vielen deutſchen Regierungen gegen die engere, ſo heilſame Vereinigung der beiden bedeutendſten deutſchen Höfe gehegt werden, verſprechen ſich dieſelben wechſelſeitig, die gegenwärtige Punktation auf ewige Zeiten ge - heim zu halten und ſich dahin zu beſchränken, die unter ihnen aufgeſtellten Grundſätze nicht nur zur Richtſchnur ihres eigenen Benehmens zu erheben, ſondern denſelben durch635Hardenbergs Verfaſſungsplan.vereinte Kraft die möglichſte Ausbildung in Vereinigung mit ihren deutſchen Mitver - bündeten zu geben.

In Folge dieſes, und zur möglichſten Bekräftigung haben die Unterzeichneten die gegenwärtige Punktation eigenhändig unterfertigt.

Teplitz, 1. Auguſt 1819. C. F. v. Hardenberg.

F. v. Metternich.

IV. Hardenbergs Verfaſſungsplan. Zu Bd. II S. 589.

Ideen zu einer landſtändiſchen Verfaſſung in Preußen.

Das königliche Edict vom 22. Mai 1815 iſt die Vorſchrift, von der wir ausgehen.

Wir haben lauter freie Eigenthümer.

Das beſte Fundament der Verfaſſung iſt eine zweckmäßige Municipal - und Com - munal-Ordnung. Sie iſt alſo das nächſte dringende Bedürfniß.

Jede Commune verwaltet ihre eigenen Angelegenheiten nach derſelben.

Jedes Landkirchſpiel wählt unter Leitung einer obrigkeitlichen Perſon einen Depu - tirten aus ſeiner Mitte. Bedingungen der Wahlfähigkeit: Von einer der chriſtlichen Confeſſionen Grundbeſitz Majorennität unbeſcholtener Ruf.

Die Kirchſpielsdeputirten kommen in einem beſtimmten Orte im Kreiſe zuſammen und wählen unter der Leitung des Landraths eine kleine, näher zu beſtimmende Anzahl Deputirte zum Kreistage.

Jede kleine im Kreiſe belegene Stadt verfährt ganz wie die Kirchſpiele.

Jeder Beſitzer eines im Kreiſe belegenen Ritterguts, der Beſitzer ſei von Adel oder nicht, oder eines Gutes von näher zu beſtimmender Größe, wenn es auch bisher nicht Rittergut war, iſt Kreisſtand und kann in der Kreisſtadt erſcheinen, um dort eine An - zahl Deputirte zum Kreistage zu wählen. Dieſe müſſen ebenfalls aus der Mitte der Gutsbeſitzer ſein. Jeder Standesherr hat das Recht, perſönlich oder durch einen Bevoll - mächtigten auf dem Kreistage ſich einzufinden.

Der Kreistag beſteht alſo: unter dem Vorſitze des Landraths

  • 1. aus den Standesherren, die zum Kreiſe gehören,
  • 2. aus den Deputirten der im Kreiſe belegenen Gutsbeſitzer,
  • 3. aus den Deputirten der im Kreiſe belegenen kleinen Städte,
  • 4. aus den Deputirten der im Kreiſe belegenen Landkirchſpiele.

Die Kreistage haben zum Gegenſtande alle Communal-Angelegenheiten des Kreiſes nach der zu revidirenden Inſtruction für die Landräthe und übrigen Kreisbeamten.

Auf ſolchen werden zugleich gewählt: von den Ständen 2, 3 und 4 eine beſtimmte, möglichſt beſchränkte Anzahl von Deputirten zur Provinzial-Verſammlung oder dem Provinzial-Landtage.

Dieſer beſteht alſo: unter dem Vorſitz des Chefs der Provinz

  • 1. aus den Standesherren der Provinz,
  • 2. aus den Erzbiſchöfen, Biſchöfen, wo ſie ſind.
  • 3. Ob die Univerſitäten zu den Ständen gewählt werden ſollen, ſoll nach S. Maj. des Königs Befehl näher in Erwägung gezogen werden, da ſie als Unterrichts - anſtalten ſo wenig dazu gehören dürften, als die Gymnaſien und Schulen, und S. Maj. dafür halten, daß ſie, inſofern ſie Grundbeſitzer ſind, als ſolche erſcheinen müßten.
636Hardenbergs Verfaſſungsplan.
  • 4. Aus den großen Städten, die einen eigenen Kreis bilden,
  • 5. aus den Deputirten der Gutsbeſitzer,
  • 6. aus den Deputirten der kleinen Städte,
  • 7. aus den Deputirten der Landkirchſpiele.

Die Zahl der Deputirten ad 5, 6 und 7 muß nach der Zahl der in der Provinz vorhandenen Standesherren, Prälaten, Univerſitäten und großen Städte abgemeſſen und zweckmäßig regulirt werden.

Der Gegenſtand der Provinzial-Landtage iſt Alles, was die Provinzen beſonders betrifft, z. B. das Provinzial-Schuld - und Creditweſen, die Repartition quotiſirter Abgaben und die Verwaltung gewiſſer Inſtitute und Anſtalten, als der Armen -, Kranken - und Irrenhäuſer, Beſſerungs-Anſtalten, der Wegebau, inſofern er nicht große Landſtraßen angeht u. ſ. w.

Die Einrichtung braucht nicht in allen Provinzen gleich zu ſein und richtet ſich nach den Lokal-Umſtänden.

Geſetze und Einrichtungen, die das Ganze der Monarchie betreffen, gehören nicht vor die Provinzialſtände, ſondern können nur in der allgemeinen ſtändiſchen Verſamm - lung berathen werden. Aber der Fall kann vorkommen, daß die Provinzial-Landtage von jener zu Gutachten aufgefordert werden, oder daß dieſe ſolche unaufgefordert an den allgemeinen Landtag bringen.

Ob die Provinzen nach den älteren Verhältniſſen anzuordnen ſind oder nach der Eintheilung in Oberpräſidenturen, iſt näher zu erwägen. Erſteres ſcheint wenigſtens vorerſt in Abſicht au die Schulden räthlich zu ſein.

Die Provinzial-Verſammlungen wählen, jeder Stand aus ſeiner Mitte, die Depu - tirten zum Allgemeinen Landtag, welcher aber nie mit den Provinzial-Verſammlungen zugleich, ſondern außer dem erſten male, wo die Wahlen geſchehen müſſen vorher zuſammenkommen muß.

Der allgemeine Landtag hat gar keine Verwaltung und beſchäftigt ſich mit den allgemein, für die ganze Monarchie bindenden Gegenſtänden.

Die Deputirten zum allgemeinen Landtag ſind in möglichſt geringer Anzahl zu beſtimmen, desgleichen wäre noch zu erwägen, ob es räthlich ſei, ſie in einer Verſamm - lung oder in zwei Kammern zuſammentreten zu laſſen; Letzteres würde vielleicht eine zu große Anzahl veranlaſſen und den Geſchäftsgang erſchweren. Sollten zwei Kammern beſtimmt werden, ſo iſt zu beſtimmen, wie die erſte Kammer zuſammengeſetzt werden müſſe.

Sowohl die Deputirten der Kreis-Verſammlungen als der Provinzial-Landtage und die zum allgemeinen Landtage folgen blos ihrer eigenen Ueberzeugung und dürfen ſich an Mandate und Inſtructionen ihrer Wähler nicht halten.

Die Kreistage und Provinzial-Landtage müſſen alle Jahre wenigſtens einmal zu - ſammenkommen. Wie oft dieſes in Abſicht auf den allgemeinen Landtag der Fall ſein müſſe, wird näher zu beſtimmen ſein; desgleichen wie lange die Gewählten in Function bleiben ſollen; ob ſie bei einer neuen Wahl wieder gewählt werden können; endlich wie geſtimmt und ein Beſchluß gewonnen werden ſoll.

Wählbar ſind alle Staatsbürger ohne Unterſchied des Standes oder Gewerbes, inſofern ſie zu den obengenannten Kategorien gehören.

Soll die Initiative zu neuen Geſetzen dem König vorbehalten werden, oder können ſie auch vom allgemeinen Landtag in Antrag gebracht werden?

Vorſchläge zu ſolchen kann Jedermann, es ſei durch Druckſchriften oder ſchriftlich, dem König oder den Staatsbehörden machen; Unterbehörden bei ihren Vorgeſetzten.

Die Miniſter bearbeiten die Geſetze, entweder auf des Königs Befehl oder aus eigenem Antriebe. Nach Seinem Gutbefinden ſenden S. Maj. den Entwurf dem Staats - rath zum Gutachten, und wenn der Entwurf vollendet iſt, wird er den Ständen von dem betreffenden Miniſter vorgelegt, und die Gründe, welche das Geſetz motiviren, werden von ihm auseinandergeſetzt, doch hat er keine Stimme bei der Berathſchlagung.

637Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819.

Sind die Stände damit einverſtanden oder genehmigen ihn mit Modificationen, ſo geht er an den König zurück. Nur durch königliche Sanction kann der Entwurf zum Geſetz erhoben werden. Er kann ſie zu jeder Zeit ganz verſagen oder Aenderungen zur neuen Erwägung vorſtellen.

Wie es gehalten werden ſoll, wenn die Stände ein vorgeſchlagenes Geſetz verwerfen, iſt zu beſtimmen.

Die Kreistage und Provinzial-Landtage haben in ihren Communal-Angelegenheiten Verwaltungs-Geſchäfte; der allgemeine Landtag hat deren keine und gar keine Einmiſchung in die Adminiſtration. Dieſe bleibt der Regierung ausſchließlich vorbehalten; jedoch ſollen den allgemeinen ſtändiſchen Verſammlungen jährliche Ueberſichten der Verwaltung von den Miniſtern vorgelegt werden, beſonders die Finanzen betreffend.

Nach dem Edict vom 22. Mai 1815 erſtreckt ſich die Competenz der Stände haupt - ſächlich auf die Geſetzgebung, inſonderheit auf ſolche Geſetze, welche die perſönlichen Rechte der Staatsbürger und ihr Eigenthum, neue Auflagen u. ſ. w. angehen. Auswärtige Verhältniſſe, Polizei-Verordnungen und militäriſche Verhältniſſe gehören nicht für ſie, inſofern letztere nicht perſönliche Verpflichtungen oder das Eigenthum betreffen.

Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Geſetz; Gleichheit der chriſtlichen Confeſſionen und Duldung und Freiheit aller Religionsübungen; gleiche Pflichten gegen den König und den Staat; das Recht eines Jeden, auf einen unparteiiſchen richterlichen Urtheil - ſpruch zu provociren und binnen einer beſtimmten Zeit verhört und jenem Urtheils - ſpruche unterworfen zu werden; die in der preußiſchen Monarchie ſchon lange beſtehende Unabhängigkeit der Gerichte in Abſicht auf ihre richterlichen Ausſprüche; die Befugniß eines Jeden, ſeine Bitten und Beſchwerden in geziemenden Ausdrücken an den Thron zu bringen Alles dieſes ſind Dinge, die in die Verfaſſung aufzunehmen ſind.

Desgleichen wird näher zu prüfen ſein, was in Abſicht auf die Verantwortlichkeit der Miniſter und Staatsbeamten, auf die Preßfreiheit und ihre Mißbräuche, auf die öffentliche Erziehung, auf die Oeffentlichkeit der Gerichte und der ſtändiſchen Verſamm - lungen zu beſtimmen ſei.

Alles wird dahin gerichtet ſein müſſen, daß das monarchiſche Princip recht befeſtigt werde, mit dem wahre Freiheit und Sicherheit der Perſon und des Eigenthums ganz vereinbar ſind, und durch ſolches am Beſten und Dauerhafteſten mit Ordnung und Kraft beſtehen. Und der Grundſatz werde aufrecht erhalten:

salus publica suprema lex esto!

V. Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819. Zu Bd. II S. 604.

Hardenbergs Tagebücher ſind bekanntlich für die Jahre 1805 13 eine werthvolle, zuerſt von Duncker, dann von Ranke, Oncken, Haſſel u. A. benutzte Geſchichtsquelle. In der ſpäteren Zeit werden ſie immer lückenhafter, obgleich ſie auch dann noch dem Sach - kundigen einzelne wichtige Aufſchlüſſe gewähren. Zuweilen hat der Staatskanzler monate - lang kein Wort eingetragen oder auch ſeine Notizen erſt nachträglich niedergeſchrieben (ſo ſteht im Jahre 1815 unter dem 16. Juni Ligny, unter dem 18. Belle-Alliance ver - zeichnet). Ueber den Miniſterwechſel von 1819 ſagt das Tagebuch nahezu nichts. Da - gegen finden ſich in Hardenbergs Nachlaß auf einem loſen Blatte einige, offenbar in den Weihnachtstagen 1819 niedergeſchriebene Bemerkungen, welche klar erkennen laſſen, wie der Staatskanzler jene Kriſis auffaßte. Hier der weſentliche Inhalt.

638Hardenberg über die Miniſterkriſis vom Jahre 1819.

Partei im Miniſterium gebildet ſeitdem die Cabinets-Ordre v. 11. Jan. d. J. dem Zeitgeiſte entgegengewirkt, das Turnen, das Erziehungsweſen gerügt hat.

Boyen und Beyme. Nachher durch Humboldt Dazwiſchenkünfte ohnerachtet meiner freundſchaftlichen Warnungen.

Feſtes Zuſammenhalten dieſer Partei, beſonders bei der Unterſuchungsſache und den Karlsbader Beſchlüſſen.

Humboldts Berichtsentwurf. Votum von Bernſtorff: ditto Boyen und Beyme Protokoll ad Regem ohne Concluſum und Bericht. Bernſtorff iſt nicht wieder gehört.

Der Plan liegt tief. Die Partei will die gegenwärtige Adminiſtration ſtürzen und ſich an die Stelle ſetzen, angeblich die Finanz-Verlegenheit und Steuergeſetze dazu benutzen.

Ancillons Gutachten über die Karlsbader Sache.

Sehr ſchlimm. Es iſt die höchſte Zeit. Entweder oder. Die Beamten, viele Offiziere, Lehranſtalten angeſteckt. Oberpräſident Merckel und Schön. Die Jugend wird verdorben.

Componiren läßt ſich nicht. Eylerts Gutachten.

Der Tadel wird bekannt, wirkt demoraliſirend. Man ſehe nur auf alle Flugblätter der revolutionären Partei. Es iſt einerlei Sprache.

In der größten Gefahr ſtand ich allein mit dem königlichen Vertrauen. Nur weil ich allein konnte ich etwas leiſten. Jetzt wieder.

Der Kriegsminiſter iſt fort. Iſt viel, hilft aber nichts, wenn Beyme und Humboldt zuſammenbleiben. B. und H. müſſen dispenſirt werden.

Finanz - und Steuerpläne.

Schulweſen reformiren (die Perſonen). Merckel zu entlaſſen.

Pirch erhält die Militär-Erziehungsanſtalten.

Niederrhein Bülow.

Sachſen Schönberg.

Schleſien Ingersleben.

Druck von J. B. Hirſchfeld in Leipzig.

About this transcription

TextDeutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert
Author Heinrich von Treitschke
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDeutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert Zweiter Theil: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen Heinrich von Treitschke. . VIII, 638 S. HirzelLeipzig1882. Staatengeschichte der neuesten Zeit 25.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Qn 2501-25http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=633391352

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationFachtext; Historiographie; Wissenschaft; Historiographie; core; ready; china

Editorial statement

Editorial principles

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Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-09T17:35:19Z
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Holding LibraryStaatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
ShelfmarkSBB-PK, Qn 2501-25
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