PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II]
Staatengeſchichte der neueſten Zeit.
Siebenundzwanzigſter Band.
Deutſche Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert Vierter Theil.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1889.
[III]
Deutſche Geſchichte im Neunzehnten Jahrhundert
Vierter Theil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1889.
[IV]
[V]

Vorwort.

Um die Geſchichte der dreißiger Jahre hat ſich ein vierfacher Sagen - kreis gelagert. Die franzöſiſch-polniſchen und die nahe verwandten parti - culariſtiſch-liberalen Märchen gerathen zwar allmählich in Vergeſſenheit; die engliſch-coburgiſche Legende aber und die Legende des Literatenthums behaupten noch einen Theil ihrer alten Macht. Leicht iſt es nicht, durch dieſe Fabelwelt zu einer unbefangenen, ſchlicht deutſchen Auffaſſung der Ereigniſſe hindurchzudringen; noch ſchwieriger, die unendliche Bedingtheit alles hiſtoriſchen Lebens auch in den verworrenen Parteikämpfen dieſes Jahrzehntes zu erkennen und getreu zu ſchildern, wie Deutſchlands Ein - heit gewiß nicht durch den Liberalismus, doch ebenſo gewiß nicht ohne ihn möglich wurde, wie bald die Kronen bald die Oppoſition das nationale Leben gehemmt oder gefördert haben. So weit mein Scharfſinn reichte habe ich mich bemüht Licht und Schatten gerecht zu vertheilen.

Eine unerwartete Fülle dankenswerther vertraulicher Mittheilungen von Landsleuten aus Nord und Süd erleichterte mir die Arbeit. Außer den ſchon früher benutzten Archiven hat mir diesmal auch das Staats - archiv in Hannover mannichfache Belehrung geboten.

Die Vorwürfe, die mir in zahlreichen Briefen zukamen, habe ich ernſtlich erwogen, ohne ſie immer beherzigen zu können. Die meiſten dieſer Zuſchriften liefen darauf hinaus, daß wohl alles Uebrige zu billigen, aber die Heimath des Tadelnden ſchlecht behandelt ſei. Jakob Grimm ſagte über ſein Kurheſſen, keine deutſche Landſchaft würde von ihren Söhnen ſo leidenſchaftlich geliebt. Das Gleiche behauptet auch der Oſt - preuße und der Schleſier, der Baier und der Schwabe, der Weſtphale und der Kurſachſe von ſeinem Heimathlande. Den hohen Anſprüchen dieſer Heimathliebe kann eine Darſtellung, welche das Leben der geſammten Nation zu würdigen ſucht, wohl niemals völlig genügen.

VIVorwort.

Bei ausländiſchen Kritikern, freundlichen und feindſeligen, hat der ganze Ton meines Buchs Befremden erregt, und ich konnte nichts anders erwarten. Ich ſchreibe für Deutſche. Es mag noch viel Waſſer unſeren Rhein hinabfließen, bis die Fremden uns erlauben, von unſerem Vater - lande mit demſelben Stolze zu reden, der die nationalen Geſchichtswerke der Engländer und Franzoſen von jeher ausgezeichnet hat. Einmal doch wird man ſich im Auslande an die Geſinnungen des neuen Deutſchlands gewöhnen müſſen.

Dieſer Band ſchildert im Eingang mehrere rühmliche Erfolge, am Schluſſe zwei verhängnißvolle Fehler der preußiſchen Politik. Gleichwohl wird der Leſer, wie ich hoffe, die Erkenntniß gewinnen, daß zu Ende des Jahrzehnts die Wirrniß der deutſchen Dinge ſich zu lichten beginnt: Preußen tritt fortan ganz in den Vordergrund der vaterländiſchen Ge - ſchichte, ſein Thun und Laſſen beſtimmt die Schickſale der Nation.

Berlin, 30. November 1889.

Heinrich von Treitſchke.

[VII]

Inhalt.

Viertes Buch.

Das Eindringen des franzöſiſchen Liberalismus 1830 1840.

  • Seite
  • 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede3
  • Der Umſchwung in Frankreich, England, Belgien7
  • Anerkennung des Julikönigthums. Die Londoner Conferenzen35
  • Revolution in Polen und Italien56
  • Beſchwichtigung der Gegenſätze. Warſchaus Fall70
  • Antwerpen und Ancona91
  • 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland98
  • Der Aufruhr in Braunſchweig99
  • Verfaſſung und Mitregentſchaft in Kurheſſen126
  • Die ſächſiſche Verfaſſung142
  • Das hannoverſche Staatsgrundgeſetz153
  • Lornſen und die Provinzialſtände Schleswigholſteins169
  • 3. Preußens Mittelſtellung179
  • Innerer Friede. Die polniſchen Grenzwirren179
  • Die Verhandlungen über das Bundeskriegsweſen211
  • 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland221
  • Oberheſſiſche Unruhen. Der badiſche Landtag von 1831221
  • Gährung in Naſſau, Württemberg, Baiern238
  • Das Hambacher Feſt247
  • 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten267
  • Die Sechs Artikel267
  • Der Frankfurter Wachenſturm293
  • Theilung Luxemburgs311
  • Zuſammenkunft von Münchengrätz322
  • Neue Wiener Miniſter-Conferenzen 1834336
  • 6. Der deutſche Zollverein350
  • Kurheſſens Beitritt. Die Sponheimer Händel351
  • Beitritt des ſüddeutſchen Zollvereins364
  • Anſchluß von Sachſen und Thüringen. Die Neujahrsnacht 1834371
  • Kampf mit Oeſterreich und Hannover. Der hannöverſche Steuerverein379
  • Die Nachzügler: Baden, Naſſau, Frankfurt393
  • VIII
  • Seite
  • 7. Das Junge Deutſchland407
  • Goethe’s Tod408
  • Das ſouveräne Feuilleton419
  • Redende und bildende Künſte443
  • Hiſtoriker und Naturforſcher464
  • Die Junghegelianer. Strauß481
  • 8. Stille Jahre498
  • Die Quadrupel-Allianz und die Oſtmächte498
  • Preußiſche Zuſtände. Rheinland. Poſen541
  • Der Zollverein und die Eiſenbahnen569
  • Demagogen und Flüchtlinge598
  • Landtagsnöthe der Mittelſtaaten616
  • 9. Der welfiſche Staatsſtreich643
  • Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes. Die Göttinger Sieben643
  • Die Selbſtvernichtung des Bundestages668
  • 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit683
  • Erzbiſchof Droſte-Viſchering684
  • Die ultramontane Partei704
  • Tod Friedrich Wilhelm’s des Dritten727
  • Beilagen. XVI. Baierns Politik in den Jahren 1819 f. 731
  • XVII. Canning und Deutſchland732
  • XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz733
  • XIX. Prinz Wilhelm von Preußen und Prinzeſſin Eliſe Radziwill738
  • XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831740
  • XXI. König Wilhelm von Württemberg an Miniſter Wangenheim745
  • XXII. Das Frankfurter Attentat745
  • XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838749
  • XXIV. Handſchreiben König Ernſt Auguſt’s752
  • XXV. Aus den Aufzeichnungen König Friedrich Wilhelm’s753

Berichtigungen.

  • S. 34, Z. 7 v. u. lies: Gent ſtatt Brügge. 68, 17 v. o. lies: eingehen ſtatt übernehmen.
  • 81, 23 v. o. lies: der Silleria ſtatt des Retablo.
  • 87, 3 v. u. lies: Russkaja Starina.
  • 103, 20 v. o. lies: Garde-Dragonern.
  • 215, 12 v. u. hinter überraſchte iſt einzuſchalten: im Jannar.
  • 245, 5 v. u. lies: bewundern.
  • 287, 6 v. o. lies: Cartwright.
  • 327. 4 v. u. iſt endlich zu ſtreichen.
  • 345, 19 v. u. lies: fehlte.
  • 393, 15 v. o. lies: ein Drittel ſtatt ein Fünftel.
  • 395, 10 v. o. lies: Baden ſtatt Baiern.
  • 557, 5 v. o. lies: Statthalters.
  • 633, 8 v. u. lies: Uebungslager.
[1]

Viertes Buch. Das Eindringen des franzöſiſchen Liberalismus. 1830 1840.

[2][3]

Erſter Abſchnitt. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart bewährt ſich unerbittlich auch in den Geſchicken ſolcher Völker, welche an dies hiſtoriſche Geſetz nicht glauben wollen. Durch die erſte Revolution hatten die Fran - zoſen mit ihrer Geſchichte gebrochen; ſie wähnten ihrer Vorzeit ledig zu ſein und ſahen nicht, daß Napoleon nur in vereinfachten, demokratiſchen Formen den alten centraliſirten Beamtenſtaat Richelieu’s wieder herſtellte als er dem neuen Frankreich ſeine dauernde Verfaſſung gab. Noch weniger wollten ſie im Jahre 1830 erkennen, daß die Juli-Revolution ihre welt - erſchütternden Folgen großentheils der Nachwirkung der Vergangenheit verdankte. Seit den Wiener Verträgen beſaß Frankreich weder die kriege - riſche Macht noch die geiſtigen Kräfte mehr um die Führerſtellung unter den Völkern zu beanſpruchen; der Tag von Belle Alliance hatte die Ueber - legenheit der deutſchen Waffen erwieſen, in Kunſt und Wiſſenſchaft war Deutſchland längſt zu neuen, eigenen Idealen gelangt, auch die prunkenden Redekämpfe der franzöſiſchen Volkstribunen und Tagesſchriften bewegten ſich immer noch in den ausgefahrenen Geleiſen der Ideen von 89, ſie warfen keinen ſchöpferiſchen politiſchen Gedanken in die Zeit. Aber die Erinnerungen an die hundertjährige Weltherrſchaft der franzöſiſchen Bildung, an die Propaganda der Jacobiner, an das napoleoniſche Reich blieben noch überall lebendig; auf das Heimathland der Revolution richtete ſich unverwandt die Beſorgniß der Höfe, die Hoffnung aller Unzufriedenen.

Als dort das wiederhergeſtellte legitime Königthum zuſammenſtürzte, urplötzlich, wie durch eine unabwendbare Naturgewalt, da ſchien die ge - ſammte neue Ordnung der Staatengeſellſchaft zu wanken. Ermuthigt durch Frankreichs Vorbild erhoben ſich faſt in allen Nachbarlanden die Mächte der Revolution, die Schlagworte der Menſchenrechte waren in Aller Munde. Selbſt die ſonſt fremdem Einfluß ſo unzugänglichen Briten ver - ſpürten den Zauber der demokratiſchen Ideen Frankreichs und begannen durch die Reformbill den ehrwürdigen Bau ihrer parlamentariſchen Ariſtokratie zu zerſtören. Die Franzoſen nannten ſich wieder die große Nation und wähnten, ihre Tricolore halte von Neuem den Rundgang1*4IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.um den Erdkreis. Achtzehn Jahre darauf ſollten ſie dann nochmals durch einen Straßenkampf den Anſtoß geben zu einer europäiſchen Be - wegung, aber auch nur den Anſtoß von außen her: Frankreichs Gedanken beherrſchten die Welt nicht mehr, die nationale Bewegung in Deutſchland und Italien verfolgte Ziele, welche mit den weltbürgerlichen Lehren der Revolution wenig gemein hatten. Nach vierzig Jahren war endlich die nachwirkende Kraft der alten Größe gänzlich gebrochen; die ernüchterte Welt ſah in dieſem Volke nicht mehr den Lichtbringer, ſondern den Friedensſtörer der Staatengeſellſchaft, die republikaniſche Schilderhebung der Pariſer im September 1870 weckte in Europa kaum noch ein Echo. Ebenſo langſam und unaufhaltſam war zwei Jahrhunderte zuvor die ſpaniſche Weltmacht von ihrer Höhe herabgeſunken. Hier wie dort wirkten die großen Erinnerungen noch gewaltig fort als die Pfeiler der Macht ſchon längſt vermorſcht waren, hier wie dort hielt ſich die Nation noch für die erſte der Welt, als mit einem Schlage, hier durch die Schlacht von Sedan, dort durch den Pyrenäiſchen Frieden die Verſchiebung der Machtverhältniſſe offenbar wurde.

Im Sommer 1830 konnten freilich nur vereinzelte ſcharfblickende Staatsmänner den beginnenden Verfall Frankreichs erkennen. Die große Woche der Pariſer veränderte die ganze Lage der Welt; ſie erſchütterte das politiſche Syſtem der legitimen Großmächte weit ſtärker als zehn Jahre früher die Revolutionen Südeuropas; ſie beſchleunigte überall die längſt ſchon begonnene Zerſtörung der alten Ständeherrſchaft. Der Unter - gang des Adels und die Herrſchaft der Bourgeoiſie in Frankreich entflammten das erſtarkte Selbſtgefühl der bürgerlichen Klaſſen zu neuen Hoffnungen und Anſprüchen. Unterdeſſen begann das zweite große Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen zu tagen, Wohlſtand und Verkehr nahmen einen unerhörten Aufſchwung. Die neuen Weltmächte der Großinduſtrie, der Börſe, des Judenthums traten ihre Herrſchaft an, und zugleich regte ſich ſchon der Klaſſengegenſatz von Capital und Arbeit. Die Zeit der Reſtauration ſtand mit ihrer feinen Sitte, ihren romantiſchen Träumen und ihrer andächtigen geiſtigen Arbeit, mit ihren Diplomatencongreſſen und höfiſchen Feſten dem ariſtokratiſchen alten Jahrhundert noch ſehr nahe. Erſt ſeit der Juli-Revolution, vollſtändig erſt ſeit dem Jahre 1848 zeigt die Geſittung des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes Gepräge. Ein neues Geſchlecht kommt herauf, demokratiſch in Sitten und Gedanken, formlos und kurz angebunden, unerſättlich in ſeinen Anſprüchen, tief überzeugt von ſeiner eigenen Güte und noch tiefer von der Verworfenheit ſeiner Gegner, unternehmend und arbeitſam, kühn und erfinderiſch im Kampfe mit den Elementen, durch die Weite ſeines Geſichtskreiſes und die Vielſeitigkeit ſeiner Intereſſen allen früheren Zeiten überlegen, aber auch haſtig, unſtät, ohne Sammlung des Geiſtes, ohne Sicherheit der Weltanſchauung. Alles Leben der Völker drängt ſich auf den Markt5Charakter des neuen Zeitalters.hinaus. Die Wahlen und die Redeſchlachten der Parlamente, die Bera - thungen der Vereine, die großen neuen wirthſchaftlichen Unternehmungen nehmen die Kraft des Mannes in Anſpruch, im Kaffehaus und bei der Cigarre ſucht er ſeine Erholung. Der häusliche Verkehr verödet, die Frauen behaupten nicht mehr die unbeſtrittene Herrſchaft im geſelligen Leben und verſuchen dafür ſchon zuweilen mit der Männerarbeit den ungleichen Wett - kampf aufzunehmen. Die Zeitungen und die raſch ins Kraut ſchießende populäre Literatur wecken in weiten Kreiſen den Sinn für das öffentliche Leben, aber auch eine begehrliche, glaubenloſe, dünkelhafte Halbbildung; manches ſchöne Talent verflüchtigt ſich in Eintagswerken, nur wenige ſtarke Geiſter vermögen noch ſich hinauszuretten aus der unmuthigen Haſt der Zeit, in Kunſt und Forſchung Dauerndes zu ſchaffen. Der demokratiſche Charakter der Epoche ſpiegelt ſich treulich wieder in ihrer Männerkleidung, der häßlichſten, aber auch der zweckmäßigſten und be - quemſten, welche je in Europa getragen wurde. Haar - und Barttracht bleiben dem perſönlichen Belieben überlaſſen, im Uebrigen herrſcht unver - brüchlich das demokratiſche Anſtandsgeſetz, das Keinem erlaubt ſich von den Anderen zu unterſcheiden; Jedermann trägt den nämlichen ſchmutz - und miſchfarbigen, taſchenreichen Sackrock, der dem beſchäftigten Manne ſo viel Zeit erſpart; das lange Beinkleid und die Stiefeln dringen jetzt bis in den Salon, der demokratiſche Frack läßt auch hier Alle, Gäſte und Diener, vollkommen gleich erſcheinen.

Das verarmte Deutſchland vermochte dem Umſchwunge des Verkehres und der Lebensgewohnheiten nur langſam zu folgen. Um ſo mächtiger ſtrömten die politiſchen Gedanken der Franzoſen in unſer Leben ein, war ihnen doch längſt der Boden bereitet durch die radicale Literatur der zwanziger Jahre. Unabhängig von den Franzoſen, zumeiſt im Kampfe mit ihnen, hatte der deutſche Genius in den Jahren der claſſiſchen Dichtung, in den Befreiungskriegen, in den ſchönen Jugendtagen der hiſtoriſchen Wiſſen - ſchaft ſich in Wort und That ſeine Wege gefunden. Nun erfolgte ein ungeheuerer Rückſchritt; die alte Aufklärung, die ſeit Herder’s Zeiten über - wunden ſchien, kam wieder empor, und ſie trug franzöſiſche Gewänder. Jene tiefſinnige hiſtoriſche Anſchauung vom Staate, die ſich in der deutſchen Wiſſenſchaft ſtill vorbereitet, aber noch nicht durchgebildet hatte, trat in den Hintergrund. Die alte Naturrechtslehre von dem vernunftgemäßen Staate der Gleichheit, von der Unfehlbarkeit der öffentlichen Meinung, von der Staatsgewalt, die nicht regieren ſondern der Mehrheit dienen ſollte, führte das große Wort und verfiel bald in leere Phraſen, da ſie nichts Neues mehr zu ſagen wußte. Die vaterländiſche Begeiſterung der Befreiungs - kriege ward verdrängt durch einen liberalen Weltbürgerſinn, der im Namen der Freiheit die Feinde Deutſchlands im Oſten wie im Weſten verherr - lichte und das eigene Volk mit Schimpf überhäufte. Auf das geiſtvolle Kunſtverſtändniß der Romantiker folgte wieder ein flacher, mit Freiheits -6IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.worten prunkender Rationalismus, der, ganz in Nicolai’s Weiſe, an alle Werke des Genius den Zollſtock der Nützlichkeit, diesmal des politiſchen Nutzens, legte und die Lehrer der Nation nur nach ihrer zeitgemäßen Ge - ſinnung beurtheilte. Wüſter Radicalismus, zuchtloſe Leidenſchaft, hohler Wortſchwall und dann wieder harte Verfolgung ſchändeten das deutſche Leben.

Gleichwohl hat ſelbſt in dieſem Jahrzehnte widerwärtiger Verirrungen die ſtill wirkende Macht des nationalen Gedankens, die unſer Volk zur Einheit drängte, unwiderſtehlich gewaltet. Nach dem tiefen Schlummer der letzten Jahre war eine Aufrüttelung doch nothwendig, wenn die zähe Maſſe der deutſchen Politik wieder in Fluß kommen ſollte; und wer durfte die unerfahrenen Deutſchen ſchelten, wenn ſie, gleich allen anderen Völkern, das Land überſchätzten, das ihnen das Signal gegeben hatte? Die kleinen Volksaufläufe und Straßenkämpfe in den Reſidenzen unſeres Nordens mochten den Fremden nur wie ein kindiſches Nachſpiel der großen Woche erſcheinen; doch ihr Ergebniß war dauerhafter als das Julikönigthum der Franzoſen. Sie führten die wichtigſten der norddeutſchen Kleinſtaaten in das conſtitutionelle Lager hinüber; ſo ward der Gegenſatz von Nord und Süd gemildert, ein gemeinſamer Boden gewonnen für die politiſche Arbeit der Nation. Alle dieſe winzigen Umwälzungen waren durch ört - liche Beſchwerden veranlaßt, ſie verfolgten nur den Zweck, die altſtändiſche oder höfiſche Willkürherrſchaft in dem heimiſchen Kleinſtaate durch ein liberaleres Regiment zu verdrängen; aber die reife Frucht der partikula - riſtiſchen Revolutionen fiel der Einheitspolitik der Krone Preußen zu. Als Sachſen und Kurheſſen die in Preußen und Süddeutſchland längſt ver - wirklichten modernen Grundſätze der Staatseinheit und des gemeinen Rechtes anerkennen mußten, da wurden ſie erſt fähig mit den deutſchen Nachbarn in Zollgemeinſchaft zu treten, und nun erſt ſchloß ſich der Ring, welchen Preußens Handelsverträge um Deutſchland geſchlungen hatten. Die Siege der liberalen Parteien ermöglichten erſt die Gründung des großen Deutſchen Zollvereins, den die Mehrzahl der Liberalen leidenſchaft - lich bekämpfte; und ſeitdem blieb es ein Menſchenalter hindurch das ſelt - ſame Schickſal des deutſchen Liberalismus, daß alle großen Erfolge unſerer nationalen Politik nicht durch ihn, aber auch nicht ohne ihn errungen wurden. Der Zollverein war die größte politiſche That des Jahrzehnts, folgenreicher für Europas Zukunft als alle die vielbewunderten Partei - kämpfe in den Nachbarlanden, das letzte köſtliche Vermächtniß des alten unbeſchränkten preußiſchen Königthums an die deutſche Nation.

Auch das zerfahrene deutſche Parteileben ward durch den ſcharfen Luftzug dieſer Jahre etwas gekräftigt. Klarer, bewußter denn zuvor traten die Gegenſätze auseinander ſeit in Frankreich das Banner der Volks - ſouveränität erhoben wurde. Die Conſervativen hatten bisher, vertrauend auf ihre Machtſtellung in den Landtagen und auf die Gunſt der Höfe, den Federkrieg gegen die liberale Preſſe ſorglos den Regierungsblättern7Der Umſchwung in Deutſchland.überlaſſen; jetzt ſchaarten ſie ſich feſter zuſammen und bekämpften die Lehren der Revolution in unabhängigen Zeitſchriften. Bald darauf trat die ultramontane Partei, eine geſchloſſene, weithin über Deutſchland verzweigte Macht, mit einem Schlage auf den Kampfplatz. In der liberalen Welt wogten die Wünſche und Gedanken noch wirr durch ein - ander, aber einzelne Sätze der Parteidoctrin wurden allmählich zum Gemeingut Aller, und ſelbſt dem noch völlig unklaren Einheitsdrange der Nation zeigte ſich in weiter Ferne endlich ein erkennbares Ziel ſeit ſüddeutſche Liberale zuerſt von einem deutſchen Parlamente und von der preußiſchen Hegemonie zu reden wagten.

In ſo krankhaft erregter Zeit mußte die Dichtung verwildern. Der geſpreizte, grelle und dennoch kraftloſe Feuilletonſtil verdrängte den Adel der Form, die rohe Tendenz den künſtleriſchen Gedanken, Alles was deutſchen Herzen heilig, wurde von den literariſchen Helden des Tages beſchmutzt und verhöhnt. Doch bis zu den Höhen der deutſchen Bildung ſchlugen die ſchlammigen Wellen dieſes Radicalismus nicht empor. Eben jetzt erſchien Goethe’s letzte und tiefſinnigſte Dichtung; unbeirrt durch das Ge - ſchrei des Marktes ſchritten Böckh und Ritter, die Brüderpaare Grimm und Humboldt ihre Bahn; in Ranke’s Werken bewährte die Kunſt der Geſchichtſchreibung ihre Meiſterſchaft; Dahlmann vertiefte die liberale Parteidoctrin und befruchtete ſie mit den Ideen der hiſtoriſchen Rechts - ſchule; die Theologie wurde durch einen leidenſchaftlichen Parteikampf aufgerüttelt und gezwungen, den hiſtoriſchen Unterbau ihrer Lehren einer ſchonungsloſen Kritik zu unterwerfen; auch in den exacten Wiſſenſchaften traten junge Talente auf, den Wettlauf mit dem Auslande zu wagen. Alſo blieben auch in dieſem Jahrzehnt, das ſelber friedlos ſo viel Un - frieden ſäte, die ſchöpferiſchen Kräfte unſerer Geſchichte noch immer wirkſam.

Das Nahen einer großen Umwälzung war von einſichtigen Be - obachtern der franzöſiſchen Zuſtände längſt vorausgeſehen. Sobald König Karl X. das gemäßigte Miniſterium Martignac hatte berufen müſſen, erlangte der Liberalismus wieder die Herrſchaft über die öffentliche Meinung, und er griff um ſich mit unwiderſtehlicher Gewalt; denn eine gänzlich demokratiſirte Geſellſchaft gleicht einer Heerde, die beiden lebendigſten Kräfte des modernen franzöſiſchen Charakters, der Nationalſtolz und die ſittliche Feigheit, führen jeder augenblicklich obenauf kommenden Partei täglich neue Anhänger zu. Damals ſchon ſchrieb der preußiſche Geſandte v. Werther: Jetzt die ultramontane Partei zur Macht berufen, das heißt Frankreich einen unverzeihlichen und ungeheueren Schritt zur Re - volution hin machen laſſen; denn dieſe Partei würde, verabſcheut von der Nation und unfähig ſich am Ruder zu halten, bald gezwungen ſein, ent - weder einem ultraliberalen Miniſterium zu weichen oder dem Könige den Umſturz der gegenwärtigen Verfaſſung anzurathen. Eine ſolche That8IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.muß aber unfehlbar die Regierung des Königs, die Bourbonen und Frankreich ſelbſt in den Abgrund reißen. *)Werther’s Bericht, 5. Juni 1828.Jener unverzeihliche Schritt zur Revolution geſchah, und die Verblendung der liberalen Parteien trug die Schuld daran.

Großes hatte Frankreich der Herrſchaft ſeines wiederhergeſtellten Königthums zu verdanken. Wunderbar leicht wurden die Leiden der Kriegsjahre überwunden, der Volkswohlſtand und das geiſtige Leben blühten fröhlich auf, Heer und Haushalt ſtanden wieder in guter Ord - nung; die Charte blieb unangetaſtet, die conſtitutionellen Ideen ſchienen ſchon ſo feſt mit dem Volke verwachſen, daß Niebuhr noch im Sommer 1829 ſagen konnte, bei dem gegenwärtigen Zuſtande der Dinge ſei an keine Revolution mehr zu denken. Vor Kurzem noch hatte das Land drei Jahre lang die polizeiliche Aufſicht der europäiſchen Occupationstruppen ertragen müſſen, noch auf dem Aachener Congreſſe wurde ſein Miniſter von den vier Mächten wie ein Schulknabe zum Wohlverhalten ermahnt. Jetzt behauptete der Tuilerienhof wieder eine würdige, ſeiner Macht ent - ſprechende Stellung in der Staatengeſellſchaft, um ſeine Freundſchaft be - mühten ſich alle Großmächte, unter ſeiner Mitwirkung wurde die Schlacht von Navarin geſchlagen und ſchließlich, durch den Zug nach Morea, die Unabhängigkeit Griechenlands geſichert. Der Verfaſſung treu und dem königlichen Hauſe ritterlich ergeben, durfte Graf Martignac wohl auf den Beiſtand aller gemäßigten Parteien zählen, als er der Charte durch eine freiere Gemeindeverfaſſung einen feſten Unterbau zu ſchaffen unter - nahm; denn Jedermann wußte, daß König Karl ſchon dies Miniſterium nur ungern ertrug und nimmermehr den Liberalen noch weiter entgegen - kommen würde.

Trotzdem wurde das Cabinet bei den Verhandlungen über die Ge - meinderathswahlen von ſeinen natürlichen Freunden verlaſſen und zum Rücktritt genöthigt. Der letzte ehrliche Verſuch, das conſtitutionelle Frank - reich mit dem alten Herrſcherhauſe zu verſöhnen, war geſcheitert. Der Eigenſinn der Parteien trug den Sieg davon über die Gebote der Pflicht und der Klugheit. Auch die Ränkeſucht ſpielte mit, jene alte franzöſiſche Sünde, die in den höfiſchen Cabalen des alten Jahrhunderts zur Meiſter - ſchaft ausgebildet, längſt ſchon in die parlamentariſchen Sitten der neuen Zeit eingedrungen war: Graf Molé und der Vertraute des Herzogs von Orleans, General Sebaſtiani ſchürten den Widerſtand gegen Martignac, weil ſie ſelber ſeine Erbſchaft anzutreten hofften. **)Werther’s Bericht, 6. December 1828.König Karl meinte befriedigt: ich ſagte es ja, mit dieſen Leuten iſt nichts anzufangen, und betraute ſeinen Günſtling, den Fürſten Polignac, mit der Bildung des neuen Cabinets.

9Letzte Zeiten der Reſtauration.

Von Stund an änderte ſich die Lage. Der König war in den erſten Jahren ſeiner Regierung nicht unbeliebt geweſen; jetzt ſah er ſich von allen Seiten her mit Schmähungen und Verwünſchungen überhäuft. Der Schatten der Emigration ſtellte ſich trennend zwiſchen Thron und Volk. Man entſann ſich wieder, daß dieſer König und die Polignacs einſt, gleich nach dem Baſtilleſturme, zuerſt das böſe Beiſpiel der Aus - wanderung gegeben, daß ſie jahrelang gegen ihr Vaterland gekämpft, daß die Sendboten des Pavillons Marſan noch lange nach der Reſtau - ration die fremden Mächte beſtändig zur Einmiſchung in Frankreichs innere Händel aufgeſtachelt hatten. Eine furchtbare Vergeltung ſollte die beiden erſten Emigranten noch einmal für den alten Frevel des Landes - verraths züchtigen. Vergeblich verwahrte ſich Polignac in der Kammer dawider, daß man zwei feindliche Völker in der einen Nation ſchaffen, das neue Frankreich von dem alten trennen wolle. Dieſe Trennung be - ſtand ſchon längſt. Die Kluft zwiſchen der alten und der neuen Zeit that ſich ſofort wieder gähnend auf, als dieſer Mann an’s Ruder trat, der beſchränkte, ehrliche, bigotte Ultra, der einſt ſeine Verſchwörungen gegen Bonaparte mit langer Haft gebüßt und in der Einſamkeit des Kerkers ſeine hart reactionäre Geſinnung bis zum religiöſen Fanatismus geſteigert hatte. Die Blätter der Oppoſition übertrieben ſtark, als ſie nach der Juli-Revolution höhniſch bekannten, Frankreich habe fünfzehn Jahre lang Komödie geſpielt; wahr blieb doch, daß die belebende Kraft der Monarchie, die Geſinnung angeſtammter Treue, trotz aller Huldigungen für die unbeſtrittene Familie , der ungeheueren Mehrzahl der Franzoſen verloren gegangen war. Ueber den Wohlthaten der Reſtauration ver - gaß dies Volk doch nicht, daß ſein Königshaus die entſcheidenden Tage der nationalen Geſchichte im Auslande, im Lager der Feinde verlebt hatte. Den Bourbonen fehlte Alles was das Weſen der wirklichen Legitimität ausmacht: ſie konnten ſich weder auf eine große, dem ganzen Volke heilige Vergangenheit ſtützen noch mit Gelaſſenheit in die Zukunft blicken. Zudem war jetzt, da das Land ſich neu gekräftigt fühlte und die Wirren im Orient die Ausſicht auf eine europäiſche Verwicklung zu eröffnen ſchienen, die übermüthige keltiſche Kriegsluſt wieder erwacht. Vernichtung der Verträge von 1815 ſo lautete der Ruf des Tages, und die Schuld dieſer Verträge ſchrieb die von allen Parteien umſchmei - chelte und verwöhnte Nation nicht ſich ſelber und ihrer eigenen Ver - blendung zu, ſondern den Bourbonen, den Schützlingen des Auslands.

Angeſichts der allgemeinen Erbitterung war das Miniſterium Po - lignac von Haus aus unhaltbar. In dieſem Lande der Volksſouveränität konnte ſich keine Regierung mehr gegen den beſtimmten Willen der Nation auf die Dauer behaupten; ſelbſt Napoleon blieb nur ſo lange am Ruder als er glücklich war, als ſeine Siege die Eitelkeit des Volks befriedigten. Der berechtigte Haß gegen das Cabinet ward aber noch verſchärft durch10IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.die Macht der Doctrin. Die Selbſtgefälligkeit des neuen Jahrhunderts rühmte ſich gern, in dieſen hellen Tagen ſei die Parteibildung grund - ſätzlich geworden und darum klarer, bewußter denn je zuvor; und doch blieb der Parteikampf jetzt wie zu allen Zeiten ein Kampf um die Macht, die moderne Sitte der Aufſtellung theoretiſcher Programme erhöhte nur den Dünkel, die Unverſöhnlichkeit der Fractionen. Und ſelten hat eine hohle Doctrin ſo verderblich gewirkt wie jetzt in Frankreich die neue Lehre von dem allein wahren conſtitutionellen Staate.

In den Anfängen der Reſtauration hatten nur vereinzelte Stimmen, zumeiſt aus dem Lager der Ultras, dem Könige die verfaſſungsmäßige freie Ernennung der Miniſter zu beſtreiten gewagt. *)ſ. o. II. 120.Damals erklärte Royer-Collard, der verehrte Führer der Doctrinäre: das Königthum hört auf an dem Tage wo die Kammer ihm die Miniſter aufdrängt. Aber bald wendeten die Liberalen ihre Blicke nach England und bildeten ſich die Meinung, die Parlamentsherrſchaft der engliſchen Ariſtokratie müſſe in das demokratiſirte Frankreich übertragen werden. Thiers, der klügſte Kopf unter den Urhebern der Juli-Revolution faßte die neue Lehre zuſammen in dem Schlagworte: der König herrſcht nur, aber er regiert nicht. Nach dem Siege geſtand er unumwunden: in dem Augenblicke, da das Miniſterium Polignac gebildet wurde, erhob ſich die große Frage des Repräſentativſyſtems, die Frage, worin ſein ganzes Weſen enthalten iſt, die Frage, die über ſein Daſein oder Nichtſein entſcheidet; es war die Frage: iſt der König von der Mehrheit der Kammern unabhängig oder nicht? kann er die Miniſter außerhalb dieſer Mehrheit wählen? Und noch deutlicher fuhr er fort: Was wollten wir vor dem Juli? Die conſtitutionelle Monarchie mit einem Herrſcherhauſe, das ihre Be - dingungen anerkennen und deshalb uns den Thron verdanken ſoll.

Damit war der zweite doctrinäre Glaubensſatz der Zeit ausge - ſprochen. Die Verehrung für das todte Datum liegt in dem ſchablonen - haften Charakter der neufranzöſiſchen Bildung tief begründet. Wie die Liberalen längſt glaubten, in dem wunderbaren Jahre 1789 ſei ihre neue Freiheit urplötzlich geboren worden, und mitleidig auf jede andere Nation herabſahen, wenn ſie nicht auch ein 89 in ihren Annalen aufweiſen konnte, ſo berauſchten ſie ſich nunmehr an der neuen Heilswahrheit: Englands Freiheit ſei erſt durch die zweite Revolution von 1688 geſichert worden, folglich müſſe auch Frankreich das Zeitalter ſeiner Revolution durch ein anderes 88 abſchließen. Die Vergleichung hinkte auf beiden Füßen, denn wo war in Frankreich ein Schreckensregiment, das den Unthaten des Blutrichters Jeffreys glich? wo ein mächtiger parlamentariſcher Adel, der das Erbe des vertriebenen Königshauſes antreten konnte? Dem ober - flächlichen Doctrinarismus der Zeit genügten indeß einige äußerliche Aehn -11Der Kampf um die Parlamentsherrſchaft.lichkeiten, die allerdings in die Sinne fielen: in England wie in Frank - reich war auf die Zeit der Bürgerkriege die Herrſchaft eines genialen Tyrannen und dann, gegen den Willen des ruhmreichen Heeres, die Herſtellung des rechtmäßigen Königshauſes gefolgt; hier wie dort ward der alten, dem Erlöſchen nahen Dynaſtie unerwartet noch ein Erbe ge - boren, hier wie dort ſtand ein unzufriedener Prinz lauernd neben dem Throne. Warum ſollte nicht auch Frankreich ſich die Freuden einer zweiten Revolution gönnen? ſie hatte ja, wie Thiers gemüthlich bemerkte, nichts zu zerſtören außer der Dynaſtie!

Die Erbitterten wollten nicht ſehen, daß allein in dem unbeſtreit - baren Erbrechte des königlichen Hauſes der Ehrgeiz der Parteien ſeine letzte Schranke, die geſetzliche Freiheit ihre letzte Bürgſchaft finden konnte. Für das leichtſinnige junge Geſchlecht, das in den Schulen der neuen Univerſität herangewachſen war, hatte das Zeitalter der Revolution keine Schrecken mehr. Wie verführeriſch erſchienen die Gräuel jener Tage in Thiers gefeiertem Geſchichtswerke; ſelbſt in Mignet’s ruhiger ge - haltenem Buche über die Geſchichte der Revolution, einem Meiſterwerke gedrängter, klarer, lebendiger Erzählung, ſchwieg die Stimme des Ge - wiſſens gänzlich; Beide redeten, als ob eine räthſelhafte Schickſalsmacht die ewigen ſittlichen Geſetze des Völkerlebens fünfundzwanzig Jahre hindurch für die Franzoſen außer Kraft geſetzt hätte. So verloren ſich die liberalen Parteien in die Traumwelt einer Doctrin, die für unwiderleglich galt, ob - gleich ſie von Widerſprüchen ſtrotzte, die ſich monarchiſch nannte, obgleich ſie auf dem republikaniſchen Gedanken der Volksſouveränität ruhte. Man wähnte die Charte zu vertheidigen und beſtritt der Krone ein Recht, das ihr die Charte unzweifelhaft gewährte; man ſprach von der Unverantwort - lichkeit des Monarchen, von der Regierung ſeiner allein verantwortlichen Räthe und behielt dem Volke doch die Befugniß vor, den König zu ent - thronen falls er dem Willen der Kammern ſich nicht beugte.

Dieſer Doctrin der rechtmäßigen Revolution trat aber, ebenſo leicht - fertig und ebenſo dünkelhaft, die Doctrin der rechtmäßigen Staatsſtreiche gegenüber. Auch König Karl ſteifte ſich auf ſein natürliches Recht: er wolle, ſo vermaß er ſich, lieber Holz ſchlagen als ſeine Krone eben ſo tief wie die engliſche erniedrigen laſſen. Für den ärgſten Fall hielt ſein Polignac eine Rechtslehre bereit, die erſichtlich der jakobitiſchen Königskunſt des Hauſes Stuart nachgebildet war: da die Charte ein freies Geſchenk der königlichen Gnade ſei, ſo dürfe der Monarch jederzeit ſeine urſprüngliche Vollgewalt wieder an ſich nehmen und einzelne Sätze der Verfaſſung beſeitigen, um nachher wieder in den Weg des Geſetzes einzulenken; die Charte beſtimmte ja ſelbſt im Art. 14, daß der König die zur Sicher - heit des Staates erforderlichen Verordnungen erlaſſen ſolle; und ſchon einmal, im Jahre 1816, war das Wahlgeſetz, zur Befriedigung des Lan - des, durch eine königliche Ordonnanz einſeitig abgeändert worden. Sicher12IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.wie ein Nachtwandler ſchritt Polignac ſeines Weges. Bernſtorff und ſelbſt Metternich bezweifelten längſt, ob er die Ueberlegenheit des Charak - ters und des Talentes beſitze, um den ungleichen Kampf zu beſtehen; er aber meinte wirklich, nur eine Hand voll Schreier gegen ſich zu haben und betheuerte den fremden Geſandten: einer Mehrheit in der Kammer bedarf ich nicht, der Wille des Königs vermag in Frankreich Alles. *)Bernſtorff an Maltzahn, 1. Februar 1830. Berichte von Maltzahn, 26. Januar 1830, von Werther 12. Auguſt 1829 ff.So ſtand Princip gegen Princip. Der verſöhnliche Sinn, der die ſchwerfälligen conſtitutionellen Formen allein zu beleben vermag, fehlte hüben wie drüben; beide Theile verfuhren nach franzöſiſchem Herkommen ohne Offenheit und verbargen ihre letzten Abſichten.

Monatelang konnten die Miniſter unter Polignac’s unfähiger Leitung zu keinem Entſchluſſe gelangen, ſie beſorgten gemächlich ihre Verwaltungs - geſchäfte und wagten ſchlechterdings keinen tadelnswerthen Schritt. Trotz - dem verſchworen ſich die Blätter der Oppoſition, dieſem Cabinet das Re - gieren unmöglich zu machen, und ſchwelgten in wüthenden Beſchimpfungen, die von der amtlichen Zeitung ebenſo heftig erwidert wurden. Der Streit ward täglich giftiger, eben weil die Regierung noch nichts verſchuldet hatte. Bereits ſpürte man überall den Einfluß der Geſellſchaft Aide-toi, die aus Republikanern und Doctrinären gemiſcht, ſeit drei Jahren ſchon den Sturz der Bourbonen vorbereitete. In den Provinzen bildeten ſich Ver - eine, um zur Steuerverweigerung aufzufordern für den möglichen Fall, daß der König die Charte verletzen ſollte. Seit Neujahr 1830 gab dann Thiers mit einigen anderen jungen Talenten die Zeitung Le National heraus und entfaltete hier ungeſcheut das Banner der Tricolore. Eine Zeit lang hoffte Fürſt Polignac, durch Erfolge der auswärtigen Politik die Aufmerkſamkeit von den inneren Händeln abzulenken. Kaum ins Amt eingetreten legte er dem Könige einen großen Entwurf für die Neugeſtal - tung Europas vor: darnach ſollte die Türkei getheilt, der König der Nie - derlande in Konſtantinopel, der König von Sachſen in Aachen unterge - bracht, Preußen durch Sachſen und Holland vergrößert werden, Frankreich endlich ohne Schwertſtreich in den Beſitz von Belgien gelangen. Aber der Friede von Adrianopel zerſtörte die phantaſtiſchen Pläne noch bevor ſie den großen Mächten mitgetheilt waren. Nachher erhob ſich ein Streit mit dem Dey von Algier; ein freundliches Geſchick beſchied den Bourbonen, noch wenige Tage vor ihrem Sturze durch einen kühnen und geſchickten Angriff dem neuen Frankreich ſeine wichtigſte Kolonie zu erobern. Doch ſelbſt dieſer ſchöne Erfolg brachte die Nation nicht ab von dem einen Ge - danken, der ſich ihres Geiſtes bemächtigt hatte.

Als der König am 2. März die Tagung der Kammern eröffnete, er - klärte er in der Thronrede feierlich: er werde die geheiligten Rechte ſeiner13Die Juli-Ordonnanzen.Krone ungeſchmälert ſeinen Nachfolgern vermachen und ſtrafbare Umtriebe zu unterdrücken wiſſen. Er ſagte nichts was ihm nicht zuſtand, jedoch den erregten Hörern klangen ſeine Worte wie eine Drohung. Die Kammer antwortete durch eine unehrerbietige Adreſſe; ſie beſchwerte ſich über das Mißtrauen der Monarchen und ſtellte den Grundſatz auf: die fortwäh - rende Uebereinſtimmung der Anſichten der Regierung mit den Wünſchen des Volks iſt die unerläßliche Bedingung des regelmäßigen Ganges der öffentlichen Angelegenheiten. Derſelbe Royer-Collard, der vormals das parlamentariſche Regierungsſyſtem als den Tod der Monarchie bezeichnet hatte, verlas jetzt vor König Karl die Adreſſe, welche dies Syſtem für allein zuläſſig erklärte. Sofort befahl der König die Vertagung der Kam - mern. Welch ein wüſter, unaufrichtiger, gegenſtandsloſer Zank brodelte wieder einmal aus dem Hexenkeſſel der keltiſchen Leidenſchaften empor! Die Kammer verlangte von der Krone die Entlaſſung eines Cabinets, das noch nichts gethan, und der König trieb die Volksvertreter auseinander bevor ſie noch irgend einen Vorſchlag der Regierung verworfen hatten! Eben in dieſen Tagen banger Spannung ſchritt Victor Hugo’s Hernani zum erſten male über die Bretter, die formloſe Ausgeburt einer überhitzten Phantaſie; der jubelnde Beifall der Zuſchauer bekundete, daß die Nation ihrer claſſiſchen Ideale müde und auch eine literariſche Revolution im Anzug war. Im Mai erfolgte die Auflöſung der Kammer. Aus einem heftigen Wahlkampfe ging die bisherige Mehrheit, erheblich verſtärkt, als Siegerin hervor, was außer dem Könige und ſeinen Vertrauten Jeder - mann vorausgeſehen hatte. Der Miniſter aber ließ ſich nicht beirren, feſter denn je war er von ſeinem Rechte überzeugt. Er ſagte: der König würde wie ſein Bruder das Schaffot beſteigen, wenn er uns entließe! und betrieb nun erſt ernſtlich den Plan eines Staatsſtreichs. *)Werther’s Bericht, 27. Juni 1830.

Von den fremden Geſandten hielt nur noch der Nuntius Lambruschini bei dem Freunde aus. Selbſt Graf Apponyi, der bisher der apoſtoliſchen Partei ſehr nahe geſtanden, zog ſich als die Entſcheidung nahte behutſam zurück, wie vorher ſchon Lord Stewart; Werther dagegen und Pozzo di Borgo hatten ſich von vornherein zu dieſem Cabinet kein Herz faſſen wollen. Die großen Mächte verdammten alle die Haltung der Kammern, aber alle warnten auch vor der vermeſſenen Thorheit eines Verfaſſungsbruchs. **)Bernſtorff an Werther 14. Mai, Werther’s Berichte 22. Mai, 10. Juni 1830.Es war vergeblich. Am 25. Juli unterzeichnete der König die verhäng - nißvollen Ordonnanzen, die auf Grund des vieldeutigen Art. 14 der Charte das Wahlgeſetz abänderten, die Preßfreiheit ſuspendirten, die neu - gewählte Kammer auflöſten. Die Krone ſetzte ſich ſelber ins Unrecht, gab ihren Feinden den erwünſchten Vorwand als unſchuldige Vertheidiger der Verfaſſung aufzutreten. Am übernächſten Tage brach der Aufruhr14IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.in der Hauptſtadt los. Während die Beſitzenden, nach der unverbrüch - lichen Gewohnheit der Pariſer Bourgeoiſie, ſich in ihren Häuſern ver - ſteckten, eilten die napoleoniſchen Veteranen und die republikaniſche Jugend aus den Schulen, den Fabriken, den Werkſtätten alleſammt geſchwo - rene Feinde der Dynaſtie freudig auf die Barrikaden. Dies alte Kampfmittel aus den Straßenſchlachten der Hugenotten und der Fronde war vor drei Jahren wieder in Gebrauch gelangt und wurde wie alle die anderen Wunder neufranzöſiſcher Freiheit von den Nachbarvölkern gelehrig aufgenommen, ſo daß in den nächſten zwei Jahrzehnten faſt jede Hauptſtadt des Feſtlandes ſich einmal mindeſtens den Genuß eines Barrikadenkampfes vergönnte.

Am erſten Tage des Aufſtandes erklang noch der Ruf: es lebe die Charte; am zweiten hieß es ſchon: nieder mit den Bourbonen, es lebe die Freiheit, die Republik oder auch Napoleon II. ; dreifarbige Fahnen wehten überall, und zugleich begann der dem franzöſiſchen Gemüthe ſo wohlthuende Kampf gegen Stein und Erz, die königlichen Lilien wurden wo ſie ſich nur zeigten herausgehauen, abgeriſſen, beſudelt, verbrannt. Nach drei Tagen gaben die ſchlecht geführten und nicht ganz zuverläſſigen Truppen das Spiel verloren. Ein maßloſes Selbſtgefühl ſchwellte den Siegern die Herzen. Wie überſchwänglich war, alle dieſe Jahre hindurch, die Heldenthat der Baſtilleſtürmer geprieſen worden, die feige Nieder - metzelung einer Handvoll Invaliden durch eine Pöbelmaſſe. Diesmal hatte das Pariſer Volk wirklich einen ſchweren Kampf ſiegreich durchgefochten, mit Muth und Ausdauer, und nicht ohne ritterliche Hochherzigkeit; denn die Ausbrüche grauſamer Wuth, an denen ſich beſonders die Verwilderung der Gaſſenjugend offenbarte, blieben doch vereinzelt. Nun war dies Frank - reich wieder das gelobte Land der Freiheit, berechtigt, durch die Propaganda ſeiner Revolution die dankbaren Völker zu beherrſchen und zu beglücken. Irgend einen beſtimmten Plan für die Zukunft hegten die Sieger der Juliſchlacht freilich eben ſo wenig wie der greiſe Lafayette, der zum Be - fehlshaber der wiederhergeſtellten Nationalgarde erhoben, ſich wieder ſelbſt - gefällig auf den Wellen der Volksgunſt wiegte und wieder lediglich die hohlen Kraftworte ſeiner alten Menſchenrechte zu wiederholen wußte. Nur der Haß gegen die Bourbonen, nur eine unklare revolutionäre Leidenſchaft hatte dieſe jungen Radicalen auf die Barrikaden geführt.

Sofort nach der Entſcheidung traten aber die Führer der parlamen - tariſchen Oppoſition aus ihren Schlupfwinkeln hervor; die aufgelöſte Kam - mer verſammelte ſich eigenmächtig, um den Straßenkämpfern die Frucht ihres Sieges zu entwinden. Der König verweilte unterdeſſen auf den Schlöſſern in der Umgegend der Hauptſtadt; völlig entmuthigt nahm er nunmehr (30. Juli) die Ordonnanzen zurück und verſuchte ein gemäßigtes Cabinet zu bilden. Wenn unter den monarchiſchen Parteien noch einige Treue und Entſchloſſenheit lebte, ſo konnte nach dieſem Eingeſtändniß des15Die große Woche der Pariſer.begangenen Unrechts die legitime und conſtitutionelle Ordnung auf lange hinaus geſichert werden. Aber Treue fand ſich nirgends, klarer Entſchluß nur bei den Männern, welche die Revolution von 1688 zu wiederholen gedachten. Das vergoſſene Blut ſchrie um Sühne, der wilden Rachgier ſchien die Regierung dieſes Königs fortan unmöglich. Da wagten Thiers, Mignet und ihre Freunde zuerſt, in Flugblättern die Krone für den Herzog Ludwig Philipp von Orleans zu verlangen. Hinter ihnen ſtand ein Un - heil verkündender Name, der alte, von den Bourbonen undankbar zurück - geſetzte Talleyrand; mit ſeiner untrüglichen Spürkraft ahnte er ſchon den Umſchlag des Wetters und ſtand unbedenklich bereit, ſeine Segel wieder von günſtigem Fahrwinde ſchwellen zu laſſen.

Herzog Ludwig Philipp hatte ſich ſo lange die Wage noch ſchwankte im Parke von Neuilly verborgen gehalten und nur durch ſeine Schweſter Madame Adelaide, den einzigen Mann der Familie Orleans, mit den Sendboten ſeiner Anhänger unterhandeln laſſen. Schwankend zwiſchen Angſt und Begehrlichkeit ließ er ſich endlich bereden in die Stadt zu kom - men. Dort übernahm er das Reichsverweſeramt, das ihm die Kammern antrugen und erſchien mit der dreifarbigen Fahne in der Hand auf der alten Heimſtätte der Pariſer Aufſtände, auf dem Altane des Rathhauſes, wo er den General Lafayette vor allem Volk umarmte. Nachher gab der Held zweier Welten dem neuen Gewalthaber ſeinen Segen mit dem großen Worte: nunmehr iſt der Thron von republikaniſchen Einrichtungen um - geben. Dem Könige gingen nun endlich die Augen auf; er ernannte den Herzog von Orleans auch ſeinerſeits zum Generalſtatthalter des König - reichs. Schon Tags darauf, am 2. Auguſt, verzichtete er für ſich und den Dauphin auf die Krone; zugleich befahl er dem Generalſtatthalter, die Thronbeſteigung ſeines Enkels Heinrich V. zu verkündigen und die erforderlichen Anordnungen für die Zeit der Minderjährigkeit des jungen Königs zu treffen. Ludwig Philipp aber unterſchlug dieſen Befehl; er theilte der Kammer nur die Abdankung des Königs und des Dauphins mit. Von Heinrich V. ſagte er kein Wort; die harmloſen Leute ſollten glauben, daß die Bourbonen ihr Thronrecht aufgegeben hätten.

So erſchlich er ſich die Krone durch ſchlechte Künſte und verrieth ſeine Vettern, minder ruchlos vielleicht aber ganz ebenſo unritterlich wie einſt ſein Vater den ſechzehnten Ludwig verrathen hatte. Furcht und Ehrgeiz, die beiden beherrſchenden Kräfte ſeines Charakters, wirkten diesmal zu - ſammen; denn übernahm er nach ſeiner Fürſtenpflicht die Statthalter - ſchaft für den jungen König Heinrich V., ſo konnte der Haß, der auf dem Namen der Bourbonen laſtete, leicht auch ihn ſelber und das Haus Orleans vernichten.

Mit reißender Schnelligkeit eilte nun das Ränkeſpiel dem Schluſſe zu; ſchon am 7. Auguſt wurde das Bürgerkönigthum Ludwig Philipp’s förmlich eingeſetzt. Währenddem führte der entthronte König ſelber den16IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Leichenzug der alten Monarchie feierlich zum Lande hinaus; langſam, in kurzen Tagereiſen zog er, umgeben von dem königlichen Hauſe und einer Schaar getreuer Truppen, nach Cherbourg, um dann in England eine Zuflucht zu ſuchen. Unbekümmert um ihre Eide traten Heer und Be - amtenthum ſofort in das Lager der Sieger über. Nur in der Vendee flammte die alte legitimiſtiſche Kampfluſt noch einmal auf. Die anderen Provinzen fügten ſich ohne Widerſtand; ſie waren längſt an die Dictatur der Hauptſtadt gewöhnt, und ſie fühlten, daß die Revolution in Wahr - heit lediglich die Spitze des Staates umgeſtaltet hatte. Sein Weſen, das napoleoniſche Präfecturſyſtem blieb unverändert; nur die Kurbel der un - geheuren Verwaltungsmaſchine wurde jetzt von anderen Händen bewegt: von den Händen der wohlhabenden Mittelklaſſe, die ihr Uebergewicht in der Kammer gewandt ausbeutete um eine bürgerliche Klaſſenherrſchaft zu begründen, wie ſie ſo unbeſchränkt noch in keinem Großſtaate der Geſchichte beſtanden hatte. Die goldenen Tage der Bourgeoiſie brachen an. Die Demokratiſirung der Geſellſchaft brachte den Franzoſen nicht, wie ihre Doc - trinäre ſo oft geweiſſagt, die Herrſchaft des Talents, ſondern die Herrſchaft des Geldbeutels. Die Charte wurde ſofort zum Vortheil der neuen herr - ſchenden Klaſſe umgeſtaltet, obgleich die Liberalen doch behaupteten für die Aufrechterhaltung der Charte gefochten zu haben. Mit der legitimen Krone fiel auch die adliche Pairskammer hinweg; jedes politiſche Recht ward an einen hohen Cenſus geknüpft und damit jeder Unzufriedene gezwungen ſeinen Widerſpruch zuletzt gegen das Eigenthum ſelber zu richten. Dank dem Wahlgeſetze, Dank der Dreiſtigkeit amtlicher Wahlbeſtechung und Wahl - beherrſchung gelangten fortan faſt nur noch die Mitglieder der herrſchen - den Klaſſe in die Kammer; das parlamentariſche Leben verflachte ſich, die Beredſamkeit ward matter; der Parteikampf verlor Sinn und Inhalt, er bewegte ſich nur noch um die Frage, welchen der ehrgeizigen Fractions - führer die Miniſterſeſſel zufallen ſollten. Ebenſo hart und hochmüthig wie einſt der alte Ritteradel ſchaute dies pays légal des neuen Geldadels auf die breiten Maſſen des Volks hernieder und ſchmähte ſie als die gefähr - lichen Klaſſen.

Der vierte Stand aber hatte ſchon einmal, in den Tagen des Con - vents, Frankreich beherrſcht und jetzt wieder durch ſeinen Barrikadenkampf das alte Königthum geſtürzt; er hegte ein frühreifes Selbſtgefühl und unauslöſchlichen Groll gegen die escamoteurs de juillet, gegen die Reichen, die ihm das Heft aus der Hand gewunden hatten. Bedrückt und ver - wahrloſt konnte er nichts hoffen von einer Klaſſenherrſchaft, die das Elend der kleinen Leute nicht einmal bemerken wollte, und erwartete ſein Heil von den hochtönenden Verheißungen der neuen ſocialiſtiſchen und com - muniſtiſchen Lehren. Blutige Arbeiteraufſtände in Paris und Lyon bekun - deten bald, welche Fülle des Jammers und des Haſſes in dieſen Niede - rungen der Geſellſchaft angeſammelt lag.

17Das Bürgerkönigthum.

Die Regierung der Bourgeoiſie war wie jede Geldherrſchaft friedfertig, und ſie entſtammte doch einer Revolution, deren treibende Kraft in dem ſtreitbaren Radicalismus lag. Erſt unter dieſem friedlichen Bürgerkönig - thum hat der kriegeriſche Uebermuth der Franzoſen ſeine höchſte Ausbildung und auch, nach einem glücklichen Luſtſpiel Scribe’s, den neuen Namen des Chauvinismus empfangen. Alle Völker der Welt brachten dem Helden - volke der großen Woche wetteifernd ihre Huldigungen dar; ſo einſtimmig war ſelbſt der Baſtilleſturm nie geprieſen worden. Wie hätten dieſe Weihrauchswolken den Franzoſen nicht das Hirn bethören ſollen? Die große Mehrheit der Nation glaubte im Ernſt, daß ihr als dem aus - erwählten Volke nicht blos das Recht des Aufſtands, ſondern auch das Recht des Krieges ohne jede Beſchränkung zuſtehe; denn rings an ihren Grenzen wohnten Sklaven, die von ihr die Befreiung erhofften; Frank - reichs Eroberungszüge galten immer nur dem Siege der Idee, ſie ließen, wie der Nil den befruchtenden Schlamm, überall den Segen der Geſittung und der Freiheit zurück; der junge Stamm des revolutionären Königs - hauſes mußte mit Blut gedüngt werden damit er feſtwurzele, und jedes Volk ſollte es als eine Wohlthat dankbar hinnehmen, wenn die Franzoſen ihm ſein Herzblut für einen ſo erhabenen Zweck abzapften. So klang es tauſendſtimmig durch die Preſſe, in ehrlicher Begeiſterung.

Das neue künſtliche Königthum aber, das alle dieſe gefährlichen Lei - denſchaften und ſocialen Gegenſätze bändigen ſollte, war von Haus aus mit dem Fluche der Halbheit, der Unwahrheit geſchlagen. Der Bürger - könig verdankte ſeinen Thron weder dem hiſtoriſchen Rechte, noch wie Napoleon der gewaltigen demokratiſchen Macht der allgemeinen Volksab - ſtimmung, ſondern dem Beſchluſſe einer Kammer von zweifelhafter Geſetz - lichkeit. Als rechtmäßiger Statthalter König Heinrich’s V. konnte Ludwig Philipp gegen die fremden Mächte eine ſtolze, Frankreichs würdige Sprache führen; als König mußte er den Makel des Kronenraubes beſtändig ent - ſchuldigen und verſtecken, ohne doch den revolutionären Urſprung ſeiner Gewalt geradeswegs zu verleugnen. Er nannte ſich nicht Philipp VII., denn er war nicht ein rechtmäßiger Nachfolger König Philipp’s VI. ; aber auch nicht Philipp I., denn er wollte nicht ſchlechthin als Uſurpator er - ſcheinen; alſo Ludwig Philipp, und nicht König von Frankreich, ſondern König der Franzoſen. Dieſer Titel wurde von der geſammten liberalen Welt als ein abſonderliches Kennzeichen conſtitutioneller Glückſeligkeit be - wundert, obwohl ſich auch Friedrich der Große auf ſeinen Münzen ſtets Borussorum rex genannt hatte; ſelbſt den Ausdruck Unterthan , der doch genau das Nämliche bedeutete wie der allein erlaubte Name des Staats - bürgers, wollte der revolutionäre Hochmuth nicht mehr hören.

Die Orleans mußten ſich den Schein der Legitimität zu wahren ſuchen; ihre Hofblätter verſicherten nicht ohne Grund, Ludwig Philipp habe den Thron beſtiegen weil er ein Bourbone ſei. Aber ebenſo hart -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 218IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.näckig betheuerten die Radicalen, die Vertreter des ſouveränen Volks hätten den König frei gewählt obgleich er ein Bourbone ſei; und in der That hatte er die Volksſouveränität anerkannt und feierlich ausgeſprochen, daß er einen Vertrag, un pacte d’alliance mit der Nation geſchloſſen habe. Die neu - geſtaltete Verfaſſung redete nach altem Brauche noch von der Erblichkeit der Krone; doch nachdem von den vier letzten Monarchen Frankreichs nur einer friedlich auf ſeinem Throne geſtorben war, hatte dieſe Vorſchrift blos noch den Werth einer Redensart, und zum Ueberfluß wurde die Charte ausdrücklich dem Muthe und der Vaterlandsliebe der Nationalgarde und aller franzöſiſchen Bürger anvertraut das will ſagen: dieſer König war verantwortlich und konnte von Rechtswegen entthront werden falls das ſouveräne Volk die Charte für verletzt hielt. Er beſaß die höchſte Gewalt nur auf Wohlverhalten, trotz des monarchiſchen Prunkes der ihn umgab; darum nannte Odilon Barrot den Bürgerkönig die beſte der Republiken.

In ſo ſchiefer Stellung konnte ſelbſt ein Fürſt von ſchlichtem Grad - ſinn und reinem Namen dem Rufe der Zweizüngigkeit kaum entgehen; wie viel weniger dieſer vielgewandte Orleans, an deſſen Hauſe noch der ſchlimme Leumund des nichtswürdigen Regenten und des Bürgers Philipp Egalité haftete. Ludwig Philipp war in den Grundſätzen der wiſſens - ſtolzen Aufklärung erzogen und hatte nachher als General der Republik an der Schlacht von Jemappes theilgenommen. Als er dann auswanderte, da fügte es ſein gutes Glück, daß er trotz wiederholter Bemühungen doch keinen Einlaß in die Heere der Verbündeten erhielt; ſo konnte er ſich mit einigem Scheine ſpäterhin rühmen niemals im Lager der Feinde Frank - reichs gefochten zu haben. In den Jahren der Verbannung ſammelte er auf weiten Wanderfahrten eine mannichfaltige Welt - und Menſchenkennt - niß, aber er entwuchs auch gänzlich den Ueberlieferungen des königlichen Hauſes. Der Stolz des franzöſiſchen Prinzen blieb ihm ebenſo fremd wie das dynaſtiſche Pflichtgefühl; die Macht der Geſchichte, das tauſend - jährige Recht der Capetinger erweckte in dieſer trockenen Seele gar keine Ehrfurcht. Sobald die Stunde der Rückkehr ſchlug, war er als ſorgſamer Hausvater zunächſt darauf bedacht, das ungeheuere Hausvermögen der Orleans, das gutentheils aus den Miethen der Spielhöllen im Palais Royal entſtanden war, zurückzugewinnen und ſeiner Familie auf alle Fälle ein ruhiges Hausweſen zu ſichern. Darum wendete er ſich im Jahre 1821 insgeheim an Eugen Beauharnais und ließ ihm einen gegenſeitigen Ver - trag vorſchlagen, kraft deſſen Jeder von Beiden, falls ihn bei einer neuen Revolution das Glück begünſtigte, dem Anderen ungeſtörten Aufenthalt in Frankreich verſprechen ſollte; der Napoleonide zeigte ſich jedoch ritter - licher als der Bourbone, er lehnte ab, weil er gegebenen Falls nur die Herrſchaft Napoleon’s II. ausrufen, alſo keine bindende Zuſage geben könne. *)An dieſen Vorfall, deſſen auch Du Caſſe (Mémoires du prince Eugène, X, 285)

19Ludwig Philipp.

Da der Herzog mit ſeiner ganzen Weltanſchauung dem neuen Frank - reich angehörte, ſo täuſchte er ſich nicht über die gefährdete Lage der alten Dynaſtie, und ſchon nach den hundert Tagen erwog man in diplomati - ſchen Kreiſen die Möglichkeit ſeiner Thronbeſteigung. Die jüngere Linie des königlichen Hauſes bildete wieder den Mittelpunkt der Oppoſition, wie es im Geſchlechte der Capetinger ſeit Jahrhunderten üblich war; liberale Börſenmänner, Abgeordnete, Schriftſteller verkehrten im Palais Royal, und P. L. Courier feierte den Herzog als den einzigen nationalen und liberalen Prinzen von Geblüt. In weitere Kreiſe drang ſein Ruhm erſt, als er ſeine Söhne gut bürgerlich in einem Pariſer Lyceum unterrichten ließ. So lange es Monarchien gab war die Welt bisher der Meinung geweſen, daß Fürſten einer anderen Erziehung bedürfen als Unterthanen, weil ſie im Leben Anderes leiſten ſollen. Der Gleichheitseifer des libe - ralen Bürgerthums ſetzte ſich indeß über die Lehren der Erfahrung leicht - füßig hinweg und pries den volksfreundlichen Sinn des Herzogs, obgleich ſeine Prinzen den beſten Segen der öffentlichen Erziehung, den vollkom - men freien Wetteifer der jugendlichen Köpfe und Fäuſte, ſelbſtverſtändlich niemals kennen lernten und an Hochmuth ihren Standesgenoſſen nichts nachgaben. Als Ludwig Philipp zagend die Krone an ſich nahm, da be - drückte ihn die frevelhafte Rechtsverletzung nur wenig; dem aufgeklärten, durchaus ungläubigen Sohne Philipp Egalité’s fiel es nicht allzu ſchwer, die Linie der königlichen Vorurtheile zu durchbrechen , wie ſein getreuer Thiers ſagte. Um ſo ernſtlicher beunruhigte ihn die Sorge um die Zu - kunft ſeiner Familie. Sein Eigenthum mußte, nach dem alten, ſtets un - verbrüchlich eingehaltenen Hausgeſetze der Capetinger, im Augenblicke der Thronbeſteigung von Rechtswegen an die Krone fallen. Der Bürgerkönig aber bekundete ſogleich den kaufmänniſchen Charakter ſeines Regiments, indem er dieſen ſtolzen königlichen Rechtsſatz mit der Gewandtheit eines Börſenſpielers umging: unmittelbar bevor er die Königswürde annahm, trat er ſein Vermögen ſeinen Kindern ab und behielt ſich nur die Nutz - nießung vor, die er denn auch mit Hilfe der befreundeten Bankfirmen ſehr wirkſam handhabte. Gleichwohl empfand er täglich den Fluch der Uſurpation; ich ſage Ihnen, wiederholte er beſtändig, meine Kinder wer - den kein Brot zum Eſſen haben.

Um ſich zu halten durfte er anfangs perſönliche Demüthigungen und demagogiſche Schliche nicht verſchmähen. Er verſtand ſich dazu, die Lilien ſelbſt aus ſeinem Familienwappen zu entfernen, er ließ den Wortſchwall ſeiner ſüßen Reden unaufhaltſam ſpielen und verbeugte ſich auf den Pa - raden verbindlich vor dem ſouveränen Volke. Bei zweifelhaftem Wetter*)gedenkt, erinnerte Hortenſia Bonaparte die Höfe, als Ludwig Philipp den Nachkommen Eugen’s den belgiſchen Thron ſtreitig machte (Schreiben Hortenſia’s an die Herzogin Auguſte v. Leuchtenberg, Rom 27. Jan. 1831, den Cabinetten von Wien und Berlin mit - getheilt Febr. 1831).2*20IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ging er zu Fuß durch die Straßen, in ſauberer Bürgerkleidung, den Cylin - der über dem feiſten birnenförmigen Bankiersgeſichte und der wohlgebürſteten Lockenperrücke, und ſpannte, wenn der Regen eintrat, höflich ſeinen Schirm auf um einen überraſchten Bourgeois am Arme nach Hauſe zu geleiten. Nachher, da er ſich auf dem Throne ſicherer fühlte, mußte er die ehr - geizigen Parteiführer der Kammer gegen einander ausſpielen, damit unter dem Scheine der Parlamentsherrſchaft ſein perſönliches Regiment gewahrt blieb. Er bemühte ſich eifrig, ſeinem Hauſe die Gleichberechtigung mit den legitimen Höfen zu verſchaffen, und zügelte den kriegeriſchen Ueber - muth der Nation weil jeder Krieg die Revolution von Neuem zu entfeſſeln drohte; doch zugleich benutzte er die Gefahr der Revolution als ein Schreck - mittel um auf die großen Mächte zu drücken und allerhand kleine anmaß - liche Anſprüche Frankreichs durchzuſetzen. So hielt er ſich lange obenauf, ſeiner Mäßigung verdankten die Franzoſen viele Jahre blühenden Wohl - ſtandes; aber ſeine Regierung blieb immer nur ein unfruchtbarer Kampf ums Daſein, ſie brachte dem Lande niemals einen neuen politiſchen Ge - danken, ſie bereitete durch die ſündliche Vernachläſſigung der arbeitenden Maſſen die ſchweren ſocialen Kämpfe der Zukunft vor.

An dieſer Revolution war nichts zu bewundern außer dem perſönlichen Muthe der Barrikadenkämpfer. Mindeſtens ebenſo ſchwer wie die Ver - meſſenheit König Karl’s wog die Schuld der liberalen Parteien. Sie hatten das gemäßigte Miniſterium Martignac geſtürzt und durch eine gehäſſige Oppoſition den König in eine ſolche Lage gebracht, daß er nur noch wählen konnte zwiſchen dem Staatsſtreiche und der förmlichen Anerkennung der Parlamentsherrſchaft. Als dann der Verfaſſungsbruch durch die Abdan - kung des Königs geſühnt war, da wagten ſie nicht einmal den Verſuch das Thronrecht der Dynaſtie zu retten. Die Briten beriefen ſich, als ſie die Stuarts vertrieben, auf den unanfechtbaren Rechtsſatz, daß ein Papiſt nicht König von England, nicht Oberhaupt der anglikaniſchen Staatskirche ſein durfte. Gegen die Regierung Heinrich’s V. ſprach ſchlech - terdings kein Rechtsgrund, ſondern nur der blinde Haß der Nation und die modiſche leichtfertige Doctrin, welche Mignet zuſammenfaßte in dem Satze: nach einer Revolution muß auch der Thron ebenſo neu werden wie alle übrigen Inſtitutionen. Alſo ward das letzte ſchwache Band, das noch das neue mit dem alten Frankreich verkettete, unbedachtſam zerriſſen. Die Juli-Revolution ſchloß nicht das Zeitalter der Revolutionen, wie ihre Urheber frohlockten, ſie eröffnete vielmehr die Bahn für eine unab - ſehbare Reihe neuer bürgerlicher Kämpfe; darum war ſie, menſchlich in Vielem entſchuldbar, durch ihre politiſche Wirkung die verderblichſte der franzöſiſchen Revolutionen unſeres Jahrhunderts. Doch wie hätten die Zeitgenoſſen alle dieſe Folgen ahnen können? Am richtigſten urtheilten vielleicht die preußiſchen Generale und eine kleine Anzahl von beſonnenen Conſervativen in Deutſchland. Die Liberalen aller Länder hielten ſich21Katholiken-Emancipation in England.an den Augenſchein, ſie ſahen in dem Pariſer Straßenkampfe nur die hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfaſſungsbruch, und da der Name: Verfaſſung zur Zeit überall einen unwiderſtehlichen Zauber auf die Gemüther ausübte, das hiſtoriſche Recht der Dynaſtien aber von der herrſchenden Doctrin ſehr geringſchätzig behandelt wurde, ſo bemerkte man die ſchwere Rechtsverletzung kaum und freute ſich unbefangen des Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrſchaft der franzöſiſchen Bourgeoiſie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel - klaſſen ſchon längſt gegen die Ueberreſte der feudalen Geſellſchaftsordnung führten, eine mächtige Unterſtützung; und ſo geſchah es, daß eine Be - wegung, die in Frankreich ſelbſt faſt nur Unheil zeitigte, mittelbar in anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutſchland, einen nothwendigen, heilſamen Umſchwung des politiſchen Lebens förderte.

Einen überraſchend ſtarken Widerhall fanden die Pariſer Ereigniſſe in dem Lande, das vordem der erſten franzöſiſchen Revolution am zäheſten widerſtanden hatte. Seit Canning ſich von dem Bunde der Oſt - mächte losgeſagt, war auch Englands parlamentariſches Leben wieder in friſcheren Zug gekommen: durch Huskiſſon wurden die harten Zollgeſetze etwas gemildert, Canning ſelbſt näherte ſich kurz vor ſeinem Tode der erſtarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete ſich wieder jenen Reformplänen zu, welche einſt Pitt in ſeinen hoffnungsvollen erſten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Feſtlands durch den aufgeklärten Abſolutismus oder durch die Revolution neu ge - ſtaltet wurden, hatte England ſeine beſte Kraft verbraucht für die Begrün - dung ſeines Kolonialreichs und ſeine innere Geſetzgebung faſt ganz ins Stocken gerathen laſſen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver - ſäumt war, und ſo übermächtig drängte ſich das Bedürfniß der Neuerung auf, daß mehrere der kühnſten Reformen der nächſten Jahrzehnte durch ſtreng conſervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erſte, die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington’s und Peel’s (1829). Selbſt dieſe Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg, vielleicht der Abfall des ſchändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der uralte, ſoeben durch O’Connell’s flammende Reden wieder mächtig ange - fachte Haß der katholiſchen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be - ſchwichtigt werden mußte.

Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutſchland ſchon längſt, die übrigen Staaten des Feſtlands ſeit den napoleoniſchen Tagen er - reicht hatten. Die Herrſchaft der Ariſtokratie war aber mit den Vor - rechten der Staatskirche feſt verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert der Streit mit der römiſchen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige zuerſt geſchwächt und der reichsſtändiſchen Bewegung des folgenden Jahr - hunderts die Bahn gebrochen hatte, ſo erſchütterte jetzt der erſte Stoß22IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.gegen die anglikaniſche Kirche zugleich die Machtſtellung des parlamenta - riſchen Adels und öffnete die Breſche für den Einzug eines demokratiſchen Zeitalters. Laut und lauter erklang ſofort der Ruf nach Reform des Parlaments. Noch einmal, aber in völlig veränderter Geſtalt zeigte ſich der für Englands Geſchichte ſo folgenreiche landſchaftliche Gegenſatz des Südoſtens und des Nordweſtens. Wie oft hatten in früheren Jahrhun - derten die Mächte der Bewegung in den Ebenen des Südoſtens ihr Lager aufgeſchlagen; ſeitdem war das Bergland des Nordweſtens längſt aus ſeiner Abgeſchiedenheit herausgetreten, hier lagen die Bergwerke und die Fabrik - ſtädte des neuen Englands, hier begannen ſich die alten ſocialen Macht - verhältniſſe gänzlich zu verſchieben, da das Landvolk unaufhaltſam in die Städte ſtrömte, und gebieteriſch forderten die mächtig aufblühenden großen Gewerbsplätze ihren Antheil am Parlamente, während die verfaulten Wahl - flecken des Südoſtens mehr und mehr verödeten. Als im Sommer 1830 die Neuwahlen begannen, hatte ſoeben Wilhelm IV. den Thron beſtiegen, der Matroſenkönig, wie das Volk ihn nannte, ein wohlwollender, derb gemüthlicher Herr, beſchränkten Geiſtes, aber ehrlich und der Zeit nicht ſo ganz entfremdet wie vordem ſein Bruder Georg IV.

Mitten hinein in die Stürme des Wahlkampfs fielen nun zündend die Nachrichten aus Paris. Der alte Nationalhaß war mit einem male verſchwunden, Zeitungen und Volksredner wetteiferten im Lobe der großen Nation, mancher Heißſporn ſchwenkte ſeinen Hut mit den drei Farben, in Schaaren eilten die Beſitzenden nach Paris, um ſich dort mit den Nationalgardiſten zu verbrüdern und den wahrheitsgetreuen Berichten dieſer Bürgerhelden über die Wunder der großen Woche andächtig zu lauſchen. Die weltbürgerlichen Lehren des feſtländiſchen Radicalismus, die zur Zeit der erſten Revolution nur in den vereinzelten demokratiſchen Clubs der Hauptſtadt Anklang gefunden hatten, drangen nun zuerſt bis in die Maſſen des Volks; in den Arbeiterverſammlungen ward der Bruder - bund der befreiten Völker beſungen: Seht, frei iſt Frankreich ſchon! Italiens Helden droh’n. Deutſchland wird mit uns gehn, Polen ſoll auferſtehn! Radicale und Liberale fanden ſich zuſammen im Kampfe gegen die Ariſtokratie. Während Cobbet durch die fanatiſchen Aufſätze ſeines Regiſters die Maſſen aufwiegelte und ſelbſt in den Vereinen wohlhabender Londoner ſchon radicale Wünſche, ſogar die Forderung des Zwangsmandats für die Abgeordneten, laut wurden, vertraten Brougham und Jeffrey in der whiggiſtiſchen Edinburgh Review behutſamer die An - ſprüche der erſtarkten Mittelklaſſen.

Unterdeſſen erfanden die gelehrten Radicalen der Weſtminſter Review die wiſſenſchaftlichen Formeln für die Weltanſchauung des herannahenden demokratiſchen Zeitalters. Es waren die Schüler Jeremias Bentham’s, der jetzt noch am ſpäten Abend eines arbeitsreichen Lebens ſeine Saaten aufgehen ſah. Der alte Einſiedler ſtand noch immer feſt auf dem Boden23Engliſcher Radicalismus.jener alten engliſchen Aufklärungsphiloſophie, welche dann von den Fran - zoſen weitergebildet, in den Menſchenrechten des Jahres 89 ihre Vollen - dung gefunden hatte. Während die Radicalen des Feſtlandes ſelbſtgefällig wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu ſtehen, erklärte Bentham’s be - gabteſter Schüler, der frühreife, ehrlich begeiſterte John Stuart Mill mit der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert ſei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die hiſtoriſchen Rechtslehren der Deutſchen ſei der freiheitsmörderiſche Wahn verbreitet worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß die Verfaſſung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menſchen und dem gegebenen Machtverhältniß der ſocialen Kräfte. Darum zurück zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen Niemand ſo un - erſchrocken ausgeſprochen hat wie Bentham: der Staat beſteht aus Einzel - weſen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, ſondern dient nur als Mittel um der größten Zahl von Menſchen das größte Wohlſein zu verſchaffen; wird er gänzlich demokratiſirt, ſo muß ſchließlich die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künſtlichen, nur durch äußere Umſtände bedingten Unterſchied zwiſchen den Perſonen, den Raſſen, den Geſchlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der Allmacht einer demokratiſchen Geſetzgebung liefen freilich den politiſchen Ueberlieferungen der geſammten germaniſchen Welt ſchnurſtracks zuwider; die materialiſtiſche Weltanſchauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war in England noch niemals wiſſenſchaftlich überwunden worden, da dieſem Volke der Baconianer der ſpeculative Tiefſinn fehlte. Ganz unvermittelt ſtand hier noch neben dem ſtrengen Kirchenglauben die Moral des platten Verſtandes, der alle ſittlichen Güter nach dem Maßſtabe der Nützlichkeit abſchätzte; und wie verlockend, wie großartig erſchien die Ausſicht auf den unendlichen Fortſchritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirth - ſchaft begann. Eben in dieſen Tagen wurde die erſte größere Eiſenbahn, zwiſchen Mancheſter und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher der neuen Zeit, Huskiſſon, ſeinen tragiſchen Tod fand. Die Leiſtungen der Dampfmaſchinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Maſſen - elend der Großinduſtrie bekundete ſich ſchon in ſtürmiſchen Arbeitsein - ſtellungen.

Das ganze Land gerieth in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe ging die Oppoſition ſiegreich hervor. Schon im November trat Wellington, der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Cabinet aus Whigs und einigen Freunden Canning’s. Nunmehr brachte der junge Lord John Ruſſell ſeine Reformbill ein.

Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Preſſe und den Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenſchaftlicher Kampf, bis24IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.endlich das Unterhaus, nochmals aufgelöſt und neu gewählt, ſeine Zu - ſtimmung gab; den Widerſtand der Lords brach der König ſelbſt, indem er die Gegner perſönlich auffordern ließ, der entſcheidenden Sitzung fern zu bleiben, denn durch einen Pairſchub fürchtete er das tief herabge - würdigte Anſehen des Oberhauſes ganz zu zerſtören. Alſo ward durch eine unwiderſtehliche Volksbewegung die Neugeſtaltung des Unterhauſes durchgeſetzt (1832). Die Reformbill gewährte blos das Unerläßliche: ſie verdoppelte die Zahl der Wähler, was nach den Unterlaſſungsſünden ſo vieler Jahre nicht unbeſcheiden ſchien, ſie beſeitigte nur die gänzlich verrotteten Wahlflecken und gab den neuen Gewerbs - und Handelsplätzen eine den wirklichen Machtverhältniſſen noch keineswegs entſprechende Ver - tretung.

Was Wunder, daß dieſe friedliche Neuerung gerade von den ge - mäßigten Liberalen des Feſtlandes als ein neuer Beweis engliſcher Erbweisheit geprieſen wurde; ſelbſt Dahlmann ſah in der Reform ledig - lich eine heilſame Reinigung der beſtehenden Verfaſſungsorgane, da er mit ſeinem Montesquieu das Unterhaus für das demokratiſche Gegen - gewicht des Oberhauſes hielt. Nur einzelne ſcharfblickende Conſervative unterſchätzten nicht die Bedeutung des großen Umſchwungs. In einem geiſtvollen Aufſatze der Preußiſchen Staatszeitung ſagte Hegel voraus, dieſe Reform werde die Macht der alten parlamentariſchen Ariſtokratie in ihren Grundfeſten erſchüttern, und der Erfolg gab ihm Recht. Bis - her wurde nur ein Viertel der Commoners frei gewählt, die andern ver - dankten ihre Sitze alleſammt der Gunſt der Grundherren und des Cabi - nets. Von nun an gaben in der Hälfte der Wahlbezirke die Mittelklaſſen den Ausſchlag, und obwohl der Adel die gewohnten Künſte der Wahl - beherrſchung auch jetzt noch in zeitgemäßen Formen und mit großem Erfolge ſpielen ließ, ſo wurde doch das Haus der Gemeinen allmählich, was es unter den Welfen nie geweſen war, eine Volksvertretung. Un - aufhaltſam aber ſank die Macht des Oberhauſes, denn die Lords hatten bisher einen großen Theil ihres Einfluſſes unmerklich, durch die Be - herrſchung der Volkswahlen und der Abſtimmungen des Unterhauſes ausgeübt. Den verrotteten Wahlflecken verdankte das alte Haus der Gemeinen den friſchen Nachwuchs ſeiner jugendlichen Staatsmänner; fortan war der Eintritt erſchwert; an der Seltenheit der Talente, an dem Sinken der Beredſamkeit ließ ſich bald erkennen, daß die großen Tage des engliſchen Parlamentarismus zu Ende gingen.

Neben den altgeſchichtlichen Namen der Whigs und Torys kamen bereits die unbeſtimmten feſtländiſchen Bezeichnungen: Liberale und Con - ſervative in Gebrauch; denn die beiden alten erblichen Adelsparteien zer - ſplitterten ſich bald nach franzöſiſcher Weiſe in ſechs Fractionen, kleine Meinungs - und Intereſſengruppen, die nur mühſam unter einen Hut gebracht wurden. Der Führer dieſes neuen Unterhauſes gebot nicht mehr25Die Reformbill.wie einſt die beiden Pitt mit dem Anſehen des Feldherrn über eine ge - ſchloſſene Phalanx befreundeter und verſchwägerter Standesgenoſſen; er mußte die neue Gentry der Kaufherren und Fabrikanten, der Bank - und Eiſenbahndirektoren, die ſich jetzt neben den alten Grundadel drängte, durch Schmeichelei gewinnen, jedem wirthſchaftlichen, kirchlichen, örtlichen Anſpruch eine Befriedigung, jedem Wunſche eine Erfüllung verheißen, er mußte bald ſich leiten laſſen, bald unter dem Scheine der Nachgiebigkeit ſelber leiten. Hatte das Unterhaus früherhin in ſeinem Standesſtolze ſich der Nation oft entfremdet, ſo war nunmehr jedem Einfall, jeder Laune der öffentlichen Meinung Thür und Thor geöffnet; die namenloſen frei - willigen Staatsmänner der Zeitungen, zumal der Times, erlangten eine ungeheure Macht, und nicht ſelten geſchah es ſchon, daß die Commoners, eingeſchüchtert durch den Lärm der Preſſe, für Maßregeln, die ſie miß - billigten, ſtimmten. Die vordem ſo träge Geſetzgebung arbeitete ſchnell, oft leichtfertig. Raſch nach einander wurde die Civilliſte der Krone von den Staatsausgaben abgeſondert, das Handelsmonopol der oſtindiſchen Compagnie aufgehoben, die Sklaverei in den Kolonien beſeitigt, die neue Londoner Univerſität neben den beiden alten ariſtokratiſchen Hochſchulen als Corporation anerkannt, die verfallene ſtädtiſche Verwaltung durch eine liberale, aber gedankenloſe Städteordnung umgeſtaltet. Und ſo ſtark war der demokratiſche Zug der Zeit, daß ſelbſt dies Haus, das noch immer faſt ausſchließlich aus Reichen und Hochgeborenen beſtand, den miß - handelten Maſſen des Volkes ſeine Sorgfalt zuwenden mußte: im Jahre 1833 erſchien das erſte, noch ſehr zahme Geſetz zur Regelung des Fabrik - weſens, auch für den ſündlich verwahrloſten Volksunterricht ward ein kleiner Staatsbeitrag ausgeworfen.

Der Lärm der Gaſſen verſtummte, ſeit die Reformbill geſiegt hatte, doch die Arbeiter ſammelten ſich in der Stille um das neue Banner der Socialreform; zugleich erhob ſich der Ruf nach Befreiung des Handels. Die politiſchen Radicalen hingegen forderten Erweiterung des Stimmrechts, weil die Reformbill die Grenzen des Wahlrechts willkürlich gezogen hatte, und die geheime Abſtimmung, das Ballot. Die altengliſche Rechtsanſicht, die in dem Wahlrechte ſtets eine ernſte Bürgerpflicht, nicht eine Befugniß des ſouveränen Einzelmenſchen geſehen hatte, gerieth in Vergeſſenheit; die Todſünde demokratiſcher Zeiten, die Furcht vor perſönlicher Verantwortung, ſchmückte ſich mit dem Namen des Freiſinns. Mit den demokratiſchen Ideen drangen aber auch die bureaukratiſchen Verwaltungsformen des Feſtlands in den Inſelſtaat hinüber. Da die ſchwerfälligen Formen der alten Selbſtverwaltung der Friedensrichter und Lordlieutenants für den verwickelten Verkehr der modernen Geſellſchaft nicht mehr ausreichten und der Geldadel der neuen Gentry die ſchweren Pflichten des perſönlichen Dienſtes für Staat und Gemeinde verabſcheute, ſo wurde das vernach - läſſigte Armenweſen des Landes einem großen, ſtreng bureaukratiſch ein -26IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.gerichteten Armenamte untergeordnet; die neue Armenverwaltung übertraf die alte durch techniſche Geſchicklichkeit, jedoch ſie lag ausſchließlich in der Hand beſoldeter Beamten, den Ortsausſchüſſen blieb nur das bequeme Recht des Wählens. Zum Jubel der Radicalen ward alſo der erſte, entſcheidende Stoß geführt wider den alten feſten Unterbau der parlamen - tariſchen Ariſtokratie, das Selfgovernment der Grafſchaften, und bald be - mächtigte ſich die neue Bureaukratie auch anderer Zweige der Verwaltung.

An beiden Ufern des Canals rühmte man ſich ſeines Bürgerkönigs und der gemeinſamen Freiheit. In der That begannen die Briten aus ihrem ſtolzen ariſtokratiſchen Sonderleben herauszutreten, ihr neues Unterhaus wurde von allen Kinderkrankheiten des jungen feſtländiſchen Parlamentarismus heimgeſucht. In dem unberechenbaren Spiele der Frac - tionen gaben die geſchworenen Feinde der Reichseinheit, die Iren ſchon zuweilen den Ausſchlag; die Miniſterwechſel, dreizehn in fünfunddreißig Jahren, folgten ſich faſt ſo ſchnell wie in Frankreich. Freilich beſtand in England, da das Erbrecht und die Unverantwortlichkeit ſeiner macht - loſen Krone unbeſtritten blieb, noch immer eine ehrliche parlamentariſche Regierung, während der illegitime König der Franzoſen mit ſeinem Kopfe einſtehen mußte und folglich auch trotz der conſtitutionellen Formen ein perſönliches Regiment führte.

Das innerſte Weſen dieſer Uebergangszeit verkörperte ſich in dem Talleyrand des Parlamentarismus, dem vielgewandten Staatsmanne, der, Ariſtokrat durch Geburt und Neigung, fortan mit demagogiſcher Meiſter - ſchaft die auswärtige Politik Englands leitete. Lord Palmerſton ſtammte aus einem uralten angelſächſiſchen Geſchlechte, das ſchon lange vor der normanniſchen Eroberung geglänzt hatte; in neuerer Zeit war das Haus der Temple immer eine Zierde der Whigpartei geweſen. Der junge Viscount Henry aber trat unbedenklich zu den Torys über, weil die Whigs in jenen napoleoniſchen Tagen nicht auf die Macht hoffen konnten. Mit zweiundzwanzig Jahren war er Lord der Admiralität, zwei Jahre darauf ſchon Sekretär für den Krieg, und lebte ſich mit ſeiner eifrigen, wenn auch unpünktlichen Arbeitſamkeit bald ſo ganz in die Geſchäfte ein, daß er die Amtsthätigkeit nicht mehr miſſen konnte. Er wurde der dauer - hafteſte aller engliſchen Miniſter; von den achtundfünfzig Lebensjahren, die ihm nach ſeinem Eintritt ins Amt noch beſchieden waren, hat er achtund - vierzig auf den Miniſterbänken zugebracht. In den Jahren, da er die Heere gegen Napoleon ausrüſten half, ſammelte er früh eine reiche diplo - matiſche Erfahrung, und ſchon in ſeiner erſten größeren Parlamentsrede verkündete er dreiſt den leitenden Gedanken ſeines politiſchen Lebens: er rechtfertigte den Zug der Flotte gegen Kopenhagen mit den einfachen Worten, in dieſem Falle ſei das Naturrecht ſtärker als das Völkerrecht , folglich dürfe England um ſeiner Selbſterhaltung willen mitten im Frieden einen kleinen Nachbarſtaat räuberiſch überfallen. Der augenblickliche27Palmerſton.Vortheil, das expedient, wie er es gern nannte, entſchuldigte jeden Bruch der Treue und des Rechts. Durch und durch Politiker, ohne Sinn für die Kunſt und die idealen Mächte des Menſchenlebens, aber auch frei von Selbſtüberſchätzung und Gefühlsſeligkeit, folgte er ſtets ſeinem an - geborenen praktiſchen Inſtinkte; Grundſätze und Doctrinen beirrten ihn ſo wenig wie Gewiſſensbedenken. Er wußte, daß er ſeinen Weg machen würde, wenn er nur immer im Sattel bliebe; ruhig ſchlug er ein hohes Amt aus, dem er ſich noch nicht gewachſen fühlte, und ohne Murren nahm er nachher lange vorlieb mit einer Stellung zweiten Ranges, ob - gleich er ſchon Größeres erwartet hatte.

Auf die Dauer konnte ihm der Erfolg doch nicht fehlen; denn von frühauf war er der Liebling der Salons, die Geſchäfte hinderten ihn nicht fröhlich zu leben und leben zu laſſen, an jedem Sport der vornehmen Geſellſchaft eifrig theilzunehmen. Er verlachte das ſcheinheilige Weſen ſeiner Standesgenoſſen und geſtand mit wohlthuender Aufrichtigkeit zu, wie ſehr ihm die Weiber und alle Freuden dieſer Welt wohlgefielen; noch im Alter hörte er ſich gern bei ſeinem Schmeichelnamen Lord Cupid rufen. Wenn er in tiefer Nacht elaſtiſchen Schrittes aus einer langen Sitzung des Unterhauſes heim wanderte, immer mit einer Blume im Munde oder im Knopfloch, den Regenſchirm geſchultert, den hohen Hut weit auf den Hinterkopf hinaufgeſchoben, dann freuten ſich ſeine Lands - leute dieſes Bildes altengliſcher Lebensfriſche. Sein ganzes Weſen athmete fröhliches Behagen; der ſtarke viereckige angelſächſiſche Kopf mit den ver - ſchmitzten, weit vom Naſenbein abſtehenden Augen erinnerte zugleich an die Kraft der Dogge und an die Liſt des Fuchſes. Seinen Hinterſaſſen war er ein gütiger Grundherr, die Vettern und Freunde verſorgte er nach engliſchem Adelsbrauche mit fetten Pfründen, doch niemals hat er einem Unfähigen abſichtlich ein wichtiges Amt anvertraut. Wenn ihm ein Gegner den Weg kreuzte, ſo nahm Palmerſton unfehlbar früher oder ſpäter ſeine Vergeltung; dann aber vergaß er ſchnell, nachtragender Haß blieb dem Leichtlebigen fremd. Ihm fehlte die Größe und die Tiefe einer urſprüng - lichen, gedankenmächtigen Natur. Seine Stärke lag in dem feinen Spürſinn, der jeden Wechſel der Volksſtimmung vorauswitterte, und je länger er am Ruder ſtand um ſo genauer lernten er und ſeine Briten einander verſtehen, bis er ihnen ſchließlich als der vollkommene Vertreter des nationalen Geiſtes erſchien.

Fremde Völker kannte er nicht und er wollte ſie nicht kennen; nur für Italien, wo er einige Jugendjahre verlebt hatte, und für den leichten Ton der Pariſer Salons hegte er einige Vorliebe. Ueber die Deutſchen urtheilte er ſo, wie es die Torys alle aus Canning’s giftigen Schmäh - gedichten in der Antijacobiniſchen Review gelernt hatten,*)ſ. Beilage 17. er ſah in ihnen28IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ein Sklavenvolk von politiſchen Kindern, von zuchtloſen Freigeiſtern und gelehrten Narren. Um ſo unbefangener konnte er alſo in ſeinen Parla - mentsreden die lockenden Töne der nationalen Selbſtverherrlichung an - ſchlagen, und er lernte bald, daß britiſche Hörer dieſe Kunſt demago - giſcher Schmeichelei ſelten zu plump finden. Im Sommer 1813, während in Preußen das Volk in Waffen aufſtand, pries Palmerſton die unver - gleichlichen Vorzüge des engliſchen Söldnerweſens und verſicherte den befrie - digten Gemeinen: auf ein ſolches Heer von geworbenen Freiwilligen könne der Feldherr ſicherer zählen, als auf eine Bande von Sklaven, die mit Gewalt aus ihren Häuſern geriſſen werden. Späterhin verherrlichte er ſogar die neunſchwänzige Katze als ein Kleinod britiſcher Freiheit: der ganze Unterſchied zwiſchen dem engliſchen und den feſtländiſchen Heeren laufe doch lediglich darauf hinaus, daß hier ohne Unterſuchung, in Alt - England aber nach einem Spruche des Kriegsgerichts geprügelt werde!

Die reactionären Doctrinen des Wiener Hofes konnten dem Realiſten nicht zuſagen, obwohl er ſich hütete deßhalb mit Lord Caſtlereagh zu brechen. Mit aufrichtiger Freude ſchloß er ſich dann an Canning an, als dieſer die alte engliſche Intereſſenpolitik wieder zu Ehren brachte. Aus dem Miniſterium Wellington trat er mit den anderen Canningiten bald wieder aus; er fühlte, dies Cabinet müſſe an dem Felſen der öffentlichen Meinung ſcheitern , und täuſchte ſich auch nicht über den nahenden Zu - ſammenbruch des bourboniſchen Thrones. Zwei Jahre lang blieb er nunmehr in den Reihen der Oppoſition und bereitete durch freiſinnige Gemeinplätze die kühne Schwenkung vor, die ihn zu den Whigs hinüber - führen ſollte. In der Natur ſo ließ er ſich vernehmen giebt es nur eine bewegende Kraft, den Geiſt; in menſchlichen Dingen iſt dieſe Kraft die Meinung, in politiſchen Dingen iſt es die öffentliche Meinung und jene Staatsmänner, welche es verſtehen, ſich der Leidenſchaften, der Intereſſen, der Meinungen der Menſchen zu bemächtigen, erlangen eine unverhältnißmäßige Macht. Ob der Staatsmann nicht auch verpflichtet ſei, die irrende öffentliche Meinung zu belehren, den Vorurtheilen der Volksvertretung mit zornigen Brauen zu trotzen? ſolche Fragen hat er ſich niemals vorgelegt. Als er nun nach der Juli-Revolution in das Reformcabinet der Whigs eintrat und das auswärtige Amt aus Lord Aberdeen’s zaghaften Händen übernahm, lenkte er ſofort wieder in die Bahnen der Handelspolitik Canning’s ein. Er konnte nicht wie die beiden Pitt durch den Schwung einer großen Seele, nicht wie Canning durch das getragene Pathos kunſtvoller Rede das Haus begeiſtern; der neue Par - lamentarismus verlangte nach einem Virtuoſen der Mittelmäßigkeit. Palmerſton wirkte durch das unfehlbare Mittel des nationalen Selbſt - lobes, durch kleine dialektiſche Taſchenſpielerkünſte, durch Zeitungsredens - arten, die einem Jeden einleuchteten und Jedem das Nachdenken erſparten; die Gegner fertigte er mit ſchnöden Witzen ab, nach Umſtänden auch durch29Die liberalen Weſtmächte.eine wohl angebrachte Grobheit, die den unſchuldigen Leuten wie der unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermannes klang, und immer blieb den Hörern der Eindruck, als ob ſie tief in die Falten ſeines treuen Herzens hineingeblickt hätten.

Schon auf den Bänken der Oppoſition hatte er mit dem Lächeln des Augurs die ſchmeichelhafte Behauptung ausgeſprochen, jedes Mitglied des Unterhauſes könne ſich ein ſachverſtändiges Urtheil über die aus - wärtige Politik bilden, wenn dieſe nur ganz ehrlich und offen verfahre. Demgemäß betrieb er als Miniſter eifrig die Anfertigung kunſtvoller Blaubücher, die von Allem etwas, von dem Weſentlichen nichts erzählten, ſo daß jeder Leſer der Times ſich fortan rühmen durfte die europäiſche Politik des volksthümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen. Gleich Canning wollte Palmerſton den Weltfrieden erhalten, um den britiſchen Handel nicht zu verderben; doch gleich ſeinem Meiſter wünſchte er ebenſo aufrichtig, daß immer eine ſanfte Kriegsgefahr über dem Feſt - lande ſchwebte, damit England freie Hand behielt ſein Kolonialreich zu erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu beſetzen. Vor Allem galt es, die beiden gefährlichſten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus - einander zu halten, und der Geſchäftsverſtand des bekehrten Torys ent - deckte ſogleich, wie leicht ſich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die politiſchen Leidenſchaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet konnte die liberale Phraſe für Alt-England ein ebenſo nützlicher und zu - dem weniger koſtſpieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eiſen und Kattun. Wenn England ſich an den neuen franzöſiſchen Gewalthaber anſchloß, um ihn zu ſtützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn dieſe entente cordiale der Weſtmächte der aufgeregten Zeit beſtändig als ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die Finſterniß angeprieſen wurde, ſo war eine ehrliche Verſtändigung zwiſchen Frankreich und den conſervativen Oſtmächten unmöglich.

Dank der Tendenzpolitik Metternich’s beſtand in der Welt ſchon ſeit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengeſellſchaft nicht durch die Weltſtellung und die auswärtigen Intereſſen der Mächte be - ſtimmt würde, ſondern, wie einſt im Zeitalter der Religionskriege, allein durch ihre inneren Zuſtände. Palmerſton’s Nüchternheit hat an dies Märchen der Parteileidenſchaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die Verfaſſungskämpfe der Gegenwart bei Weitem nicht ſo tief in die Macht - verhältniſſe Europas eingriffen wie einſt die kirchlichen Gegenſätze. Jedoch er bemächtigte ſich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete ungeſcheut: dies ſelbſtgenügſame Inſelreich, das ſich in Jahrhunderten niemals um die Verfaſſung der Nachbarlande gekümmert hatte, ſei der natürliche Bundesgenoſſe aller conſtitutionellen Staaten. Mit dem Rede - ſchwall eines Marktſchreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver - gängliche Dauer dieſes auf die beſten Grundſätze der menſchlichen Natur,30IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.auf die aufgeklärteſten Grundſätze der Staatskunſt begründeten Bundes der Weſtmächte, und die alleinſeligmachende Kraft jener constitutional rights, die ein Segen ſind für die Völker und ein Aergerniß für ihre Nachbarn: wenn nur erſt die Formen da ſind, findet ſich allmählich der Geiſt hinein! Die hohlſten Schlagworte des feſtländiſchen Libera - lismus waren ihm willkommen, wenn ſie ihm zur Verleumdung der abſoluten Kronen dienen konnten. Er war einſt im Miniſterrathe ſelber bei den diplomatiſchen Verhandlungen des Jahres 1813 thätig geweſen und ſchämte ſich doch nicht dem Parlamente das Zeitungsmärchen zu wiederholen: damals ſeien die Völker, aufgeweckt durch den Zauberklang conſtitutio - neller Rechte, freiwillig unter die Waffen getreten und dann von ihren Despoten betrogen worden. Palmerſton hatte ſich das Loos der Schau - ſpieler Samuel Johnſon’s erwählt: er lebte, um zu gefallen und mußte gefallen, um zu leben; und ſchwer war es nicht, die tiefe Unkenntniß feſtländiſcher Dinge, welche die Briten jederzeit auszeichnete, nach Be - lieben zu mißbrauchen. Das Unterhaus lauſchte entzückt, wenn der liebenswürdige Schalk ihm erzählte, wie weit Preußen und das geknechtete Oſteuropa hinter den freien Spaniern und Portugieſen zurückſtänden; denn die große ſpaniſche Nation verſucht, wenn auch nur von fern (though at a distance), dem ſtolzen Beiſpiel dieſes Landes nachzu - eifern!

So trat denn dem legitimiſtiſchen Doctrinarismus der Hofburg eine demagogiſche Tendenzpolitik entgegen, die ebenſo gemeinſchädlich und noch um Vieles unredlicher war; denn Metternich fürchtete ſich wirklich vor der Revolution, während Palmerſton mit ſeinen conſtitutionellen Kraft - worten nur argliſtig ſpielte. Die erſten Erfolge dieſer ſeltſamen Staats - kunſt waren glänzend. Es gelang ihr in der That, den Continent der - maßen in Unruhe zu halten, daß England unterdeſſen ſein Weltreich ungeſtört ausbauen konnte. Es gelang ihr auch, die Parteien des Feſt - landes durch das beharrlich wiederholte dünkelhafte Selbſtlob der libe - ralen Weſtmächte völlig zu bethören; Europa zerfiel, zu ſeinem Unheil aber zu Englands Vortheil, zehn Jahre hindurch in die zwei Heerlager der conſtitutionellen und der abſoluten Kronen, die Liberalen begrüßten ihren old Pam und das wiedergeborene Frankreich als die Schirmherren der Freiheit, während die Staatsmänner der Oſtmächte das diplomatiſche Allerweltsſchwefelholz, den Lord Feuerbrand, verwünſchten.

Den Staaten wie den Männern wird die Mitwelt ſelten gerecht; immer ſind einzelne Staaten beſſer, andere ſchlechter als ihr Ruf. Zu jenen zählen die jungen Mächte, welche die öffentliche Meinung Europas noch nicht beherrſchen und das Recht ihres Daſeins erſt zu erweiſen haben; zu dieſen die alten Mächte, vornehmlich England, das bei der Enthüllung ſeiner diplomatiſchen Geſchichte nur verlieren kann und darum auch die Schätze ſeiner Archive ängſtlicher als irgend ein anderer Staat31Die Vereinigten Niederlande.behütet. Ein wunderbares Glück geſtattete dieſer Inſel, ihren großartigen Kampf um die Beherrſchung der Meere unter ſo günſtigen Umſtänden zu führen, daß ſie erſt das europäiſche Gleichgewicht, dann die allgemeine Völkerfreiheit zu vertheidigen ſchien. Der von Palmerſton angekündigte Bund Englands und aller freien Völker blieb viele Jahre lang ein unum - ſtößlicher Glaubensſatz des Liberalismus. Nach und nach begann die Welt doch zu bemerken, daß dieſe Politik, die ſo gern mit ihren unüberwindlichen Flotten prahlte, nur gegen die Schwachen und Willenloſen Muth zeigte, vor den Starken behutſam die Segel ſtrich. Dann fühlte man auch, wie wenig Ernſt hinter den Freiheitsreden des Briten lag, wie unfähig er war gerade die friſcheſte Kraft des neuen Völkerlebens, das erſtarkende Deutſchland zu verſtehen, wie kleinſinnig er das natürliche Wachsthum der Mitte Europas zu hemmen ſuchte. Endlich ward der maßloſe engliſche Hochmuth dem Stolze aller Nachbarn unerträglich, ſeit Palmerſton den Briten ſein civis Romanus sum zurief und damit alle anderen Nationen als Barbaren neben dem einzigen Culturvolke bezeichnete; ein ungeheurer Haß ſammelte ſich allmählich auf dem Feſtlande an, Englands einſt hochgefeierte Staatskunſt verfiel dem allgemeinen Mißtrauen, zuletzt der Verachtung. Als Palmerſton ſtarb kurz bevor die Sieger von König - grätz die ganze Rechnung ſeines Lebens mit einem bluthrothen Zuge durchſtrichen da war ſein England kaum mehr eine europäiſche Groß - macht; der Staat war hinausgewachſen aus dem alten Welttheil, er wahrte nur noch ſeine orientaliſchen und transatlantiſchen Intereſſen, in den Händeln des Feſtlands zählte ſeine Stimme nicht mit.

So langſam nahte die Vergeltung. In jenen Tagen, da Lord Palmerſton in das auswärtige Amt eintrat, voll Thatkraft und Lebens - luſt, unermüdlich und unergründlich, treu ſeinem Wappenſpruche flecti non frangi, gehoben von der Gunſt der liberalen Tagesmeinung, da er - ſchien er dem Wiener Hofe mit Recht als ein gewaltiger Feind. Mit den diplomatiſchen Schreckbildern der liberalen Peſt, des jacobiniſchen Krebſes und der revolutionären Feuersbrunſt war dieſem Meiſter der parlamentariſchen Redensart nicht beizukommen.

Unter allen den Erſchütterungen, welche der Juli-Revolution folgten, bedrohte keine den Weltfrieden ſo unmittelbar wie die Erhebung der Bel - gier gegen die holländiſche Herrſchaft. Bisher war trotz ſo mancher Wirren doch mindeſtens der Länderbeſtand der neuen Staatengeſellſchaft unverändert geblieben denn für Griechenland und die Türkei galten die Wiener Verträge nicht: jetzt ward er plötzlich an ſeiner verwund - barſten Stelle zerſtört. Das vielgerühmte, von den Diplomaten der großen Allianz im Wetteifer gehegte und verſtärkte Bollwerk des euro - päiſchen Gleichgewichts, das neue Königreich der Vereinigten Niederlande brach bei der erſten Prüfung morſch zuſammen, nicht ohne die Mitſchuld ſeiner Regierung, doch vornehmlich durch die unheilbare Schwäche einer32IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. Ihrer ſtolzen Geſchichte froh, konnten die Holländer in dem belgiſchen Lande, das ſeit den Tagen Philipp’s II. immer fremden Herrſchern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres wiederhergeſtellten nationalen Staates ſehen, wie es die europäiſchen Ver - träge auch ausdrücklich ausſprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauſes Oranien und ſeiner engliſchen Gönner war aber der Zuwachs ſtärker ge - worden als das Hauptland ſelber: drei und eine Viertel Million Belgier ſtanden zwei Millionen Holländern gegenüber, und ſie wußten wohl, daß einſt Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiſer Karl’s V. den Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war ihnen nachher, ſeit die ſieben Provinzen des Nordens ſich aus der Ge - meinſchaft des alten Geſammtſtaates losriſſen, von dieſen feindlichen Brü - dern Alles geboten worden: erſt maßen ſie ſich mit den nordiſchen Nachbarn in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol - länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwiſchen den beiden Hälften Niederlands; endlich beſiegt, mußten ſie dann ertragen, wie ihnen die Schelde geſperrt, der indiſche Handel verboten, die Feſtungen durch hol - ländiſche Garniſonen beſetzt wurden.

Ungleich ſtärker als dieſe bitteren politiſchen Erinnerungen wirkte der Glaubenshaß. Nicht umſonſt führten die belgiſchen Landſchaften im Volksmunde den Namen der katholiſchen Niederlande, nicht umſonſt waren ihre Geiſtlichen zwei Jahrhunderte hindurch mit Spaniens fanatiſcher Cleriſei eng verbündet geweſen. Hier auf dem claſſiſchen Boden der Reli - gionskriege walteten die kirchlichen Gegenſätze ſtets ſo mächtig, daß die Stammesunterſchiede daneben faſt verſchwanden. Wie ſcharf ſich auch die ſchweren Flamen von den heißblütigen Wallonen unterſchieden, den holländiſchen Ketzern gegenüber hielten ſie doch zuſammen als eine gläubige Heerde. In Frankreich wie in England waren Liberale und Radicale die Urheber der Umgeſtaltung; in den Niederlanden ging die Revolution von den Ultramontanen aus, denen der Liberalismus nur das Hilfs - heer ſtellte. Kaum hatte Frankreich, unter Verwünſchungen wider die Jeſuiten, ſein ſtreng kirchliches altes Königshaus entthront, ſo erhob ſich in Belgien ein Aufruhr, der, den Pariſer Julikämpfen zugleich ver - wandt und feindlich, die Straßenſchlachten wie die liberalen Schlagworte der Franzoſen ſich zum Muſter nahm um am letzten Ende der römiſchen Kirche einen glänzenden Triumph zu bereiten. Ganz ebenſo ſeltſam hatte einſt die Empörung der brabantiſchen Patrioten gegen Kaiſer Joſeph II. ſich mit der erſten franzöſiſchen Revolution verflochten.

Ein Gefühl der Gemeinſchaft konnte ſich zwiſchen den beiden feind - lichen Landeshälften von vornherein nicht bilden. Schon die Verfaſſung des neuen Königreichs wurde, weil ſie die Gleichberechtigung der Be - kenntniſſe vorſchrieb, von der großen Mehrheit der belgiſchen Notabeln verworfen und nur durch einen häßlichen Betrug von der holländiſchen33Holländer und Belgier.Krone eigenmächtig eingeführt. Da beide Landestheile durch die gleiche Stimmenzahl in den Generalſtaaten vertreten waren, die Holländer mit dem Stolze des Herrenvolkes einmüthig zuſammenhielten, unter den bel - giſchen Stimmen aber immer einzelne den Winken der Regierung folgten, ſo wurde die belgiſche Mehrheit von der holländiſchen Minderheit regel - mäßig überſtimmt. Holländer bekleideten weitaus die meiſten wichtigen Stellen im Staatsdienſt; alle Oberbehörden, ſogar die Verwaltung der den Holländern ganz unbekannten Bergwerke erhielten ihren Sitz in Holland. Durch rückſichtsloſe Einführung der holländiſchen Staatsſprache verdarb man ſich ſogar unbedachtſam die köſtliche Gelegenheit, dies Land der ewigen Sprachenkämpfe friedlich zu germaniſiren, den flamiſchen Dialekt, der dem holländiſchen ſo nahe ſtand, zur Würde einer Schriftſprache zu erheben. Den alten ſtürmiſchen Freiheitstrotz der Genter und der Brüggelinge hatten die Jahrhunderte der Fremdherrſchaft längſt gezähmt; aber ge - blieben war den Belgiern ein ſtörriſches Mißtrauen gegen jede Regierung. Wie ſollten ſie ſich auch ein Herz faſſen zu dieſem Könige Wilhelm I., der, vom Wirbel bis zur Zehe ein proteſtantiſcher Holländer, mit dem Dünkel ſeines harten Verſtandes auf den Aberglauben ſeiner katholiſchen Unterthanen herabſchaute und zudem, unbekümmert um die moderne Lehre von der Verantwortlichkeit der Miniſter, nach der Weiſe ſeiner oraniſchen Vorfahren perſönlich regierte?

Das wohlhabende Bürgerthum hielt ſich lange ſtill, da der Wohl - ſtand wuchs und der belgiſche Gewerbfleiß in den holländiſchen Kolonien lohnenden Abſatz fand. Zuerſt regte ſich der Widerſtand unter dem Adel und den Geiſtlichen; dann folgten die von ihren Pfarrherren geleiteten Maſſen. Die Führer der Clericalen blickten hoffend nach Frankreich hinüber, nach der Congregation des Pavillons Marſan. Der König aber führte, wenig wähleriſch in den Mitteln, einen geheimen Krieg gegen die Bourbonen, er begünſtigte unter der Hand die Anſchläge der franzöſiſchen Unzufriedenen, er gewährte ihren Flüchtlingen jahrelang in Brüſſel eine Freiſtatt und bewirkte alſo, daß der belgiſche Liberalismus durch dieſe Gäſte ganz mit franzöſiſchen Gedanken durchtränkt wurde. Der Haß gegen die Holländer beförderte zugleich die franzöſiſche Bildung und die Macht der Kirche. Der ſcharf bureaukratiſchen Kirchenpolitik des Königs trat der Clerus mit offenbarer Unbotmäßigkeit entgegen; wieder wie in Kaiſer Joſeph’s Tagen klagte er über Glaubensdruck weil die Staatsge - walt ein geiſtliches Seminar in Löwen errichtet hatte. Den maßloſen Anklagen der Ultramontanen antworteten in der amtlichen Preſſe der berüchtigte Libry-Bagnano und ſeine Genoſſen mit einer Roheit, die ein katholiſches Volk empören mußte.

Endlich, in denſelben verhängnißſchweren Tagen, da das Miniſterium Martignac zuſammenſtürzte, ſprach der O’Connell Belgiens, Louis de Potter das entſcheidende Wort: Union der Liberalen und der Katholiken. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 334IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Der hatte bisher joſephiniſchen Grundſätzen gehuldigt und die Regierung nur mit politiſchen Flugſchriften bekämpft, aber bald einſehen müſſen, daß ſein letzter Zweck, die Unabhängigkeit Belgiens, nur mit Hilfe der Kirche erreicht werden konnte. Preßfreiheit, Schwurgerichte, Verantwort - lichkeit der Miniſter, freier Gebrauch der franzöſiſchen Sprache, aber auch Freiheit des Unterrichts das will ſagen: Unterwerfung der Volksſchule unter die Kirche ſo lautete das Programm der Neuverbündeten. Ein Sturm von Petitionen rüttelte an den Thoren der Generalſtaaten. Als der König über den monſtröſen Bund der beiden Parteien und ihr infames Betragen ſchalt, verſchworen ſich die Heißſporne nach altem Geuſenbrauche, treu bis zur Infamie bei ihrem Banner auszuharren.

In ſolcher Gährung ward das Land von der Juli-Revolution über - raſcht. Am 25. Auguſt erklangen die feurigen Aufruhrlieder der Stummen von Portici im Brüſſeler Theater, in der nämlichen Nacht brach die Em - pörung aus, eine rohe, noch zielloſe Pöbelbewegung; aber nicht lange, ſo flatterte auf dem gothiſchen Thurme des Rathhauſes ſchon die dreifarbige Fahne von Brabant. Ueberall im Lande züngelte der Aufruhr empor; franzöſiſche Agenten, Offiziere, Soldaten ſchloſſen ſich den Aufſtändiſchen an. Dem holländiſchen Heere fehlte die feſte Leitung; der König ſelber begann zu fühlen, daß die Verwaltung der beiden Landeshälften getrennt werden mußte, und verhandelte darüber mit den Generalſtaaten. Da wurden ſeine Truppen, vier Wochen nach dem erſten Aufruhr, durch einen dreitägigen wilden Straßenkampf von den Brüſſelern gezwungen, die Hauptſtadt zu räumen. Seitdem riß im Heere die Fahnenflucht ein, die Belgier verließen ihre Regimenter, hüben und drüben flammte der alte Stammeshaß furchtbar auf. Die Vermittlungsverſuche des ehrgeizigen Prinzen von Oranien verfingen nicht mehr, und als am 27. Oktober die Holländer in der Antwerpener Citadelle die Scheldeſtadt, zur Strafe für einen verrätheriſchen Angriff, mit ihren Bomben einäſcherten, da war die Trennung entſchieden. Unter den Trümmern von Antwerpen ward das Vereinigte Königreich begraben. In den Regierungsausſchüſſen der Aufſtändiſchen ſaßen die Führer der beiden verbündeten Parteien, der ultramontane Fanatiker Felix von Merode ſo gut wie der geiſtreiche junge liberale Staatsmann van de Weyer. Doch wie wirr auch die Meinungen noch durcheinander flutheten, ein ſtarkes Selbſtgefühl war in beiden Par - teien lebendig. Im Rauſche des Sieges entſann man ſich wieder jener ſtolzen Tage, da die Rolandsglocke von Brügge Victorie in Vlaander - land geläutet hatte; der einſt von Mirabeau ausgeſprochene Gedanke eines ſelbſtändigen belgiſchen Staates gewann von Tag zu Tag neue Anhänger.

Die zur Hilfe herbeigeeilten Franzoſen und ihr Anhang erwarteten zuverſichtlich den Anſchluß Belgiens an das freie Frankreich. Die geſammte radicale Preſſe von Paris blies in daſſelbe Horn, und der gefeierte Redner des Chauvinismus, General Lamarque erklärte kurzab: das Geſetz des35Revolution in Brüſſel.Convents vom Jahre IV der Republik, das die belgiſchen Departements mit Frankreich vereinigt hat, beſteht noch immer zu Recht. Die Mehr - heit der Belgier wies dieſe Anſchläge weit von ſich. Darum wurden auch die republikaniſchen Pläne, mit denen de Potter ſich trug, kurzerhand abgelehnt; denn nur mit Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg konnte ſich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer monarchiſchen Verfaſſung durften die Belgier auf die Zuſtimmung der großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube - rufene nationale Congreß die verſtändigen, durch die Lage der Dinge ge - botenen Beſchlüſſe: Unabhängigkeit, Monarchie, Losſagung vom Hauſe Oranien.

So errang ſich dies mehr durch die kirchliche Geſinnung als durch das Bewußtſein politiſcher Gemeinſchaft zuſammengehaltene kleine Volk das Recht der Selbſtbeſtimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem Aufſtande mißtrauiſch zugeſehen, da ſein Urſprung unklar war und der belgiſche Pöbel ſich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen Brüſſeler Straßenkampfe ſchlug das Urtheil gänzlich um. Auch Brüſſel hat ſeine drei Tage und ſeine drei Farben! ſchrieb frohlockend Ed. Gans, und ſeine Geſinnungsgenoſſen in der liberalen deutſchen Preſſe entdeckten mit wachſender Bewunderung Zug für Zug immer neue Aehnlichkeiten zwiſchen Belgien und dem Muſterlande der Freiheit: ſie nannten de Potter den belgiſchen Lafayette, Jouvenel’s Brabançonne die belgiſche Marſeillaiſe. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marſeillaiſe was brauchte ein Volk mehr um glücklich zu ſein? und wer außer den entmenſchten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch beſtreiten, daß die Sonne über Europa im Weſten aufging?

Die ſo lange niedergehaltenen Parteien der deutſchen Oppoſition athmeten fröhlich auf, als die erſte Kunde von der großen Woche über den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radicalen Jugend das Wort von den Lippen, da er in übermüthigem Jubel die Pariſer Zeitungen als in Papier gewickelte Sonnenſtrahlen begrüßte: Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marſeillaiſe fort iſt meine Sehnſucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich ſoll, was ich muß. Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zauberſegen ausgeſprochen. Blumen, Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und Geſang, ganz Schwert und Flamme! Mächtig wie die Freude im libe - ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachſender Be - ſorgniß waren ſie ſämmtlich den vermeſſenen Unternehmungen Polignac’s gefolgt; eine ſo furchtbare Erſchütterung, die das ganze mühſame Friedens - werk der Wiener Verträge wieder in Frage ſtellte, kam ihnen doch allen3*36IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.unerwartet. König Friedrich Wilhelm hatte nach ſeiner Gewohnheit den Juli im Bade zu Teplitz verbracht und dort Metternich’s Beſuch empfangen. Trotz der Reibungen am Bundestage und trotz des geheimen Krieges der Hofburg wider die preußiſchen Zollvereinspläne hegte er keinen Groll gegen Oeſterreich; nach wie vor ſah er in der großen Allianz die Bürg - ſchaft des Völkerfriedens, er hoffte dies ſeit dem orientaliſchen Kriege ganz aus den Fugen gegangene Bündniß von Neuem zu befeſtigen und nament - lich das gute Einvernehmen zwiſchen den beiden verfeindeten Kaiſermächten wieder herzuſtellen. Da auch Metternich ſehnlich wünſchte aus ſeiner ſelbſtverſchuldeten Vereinſamung herauszugelangen, ſo ergab ſich eine vollkommene Uebereinſtimmung der Anſichten, und der Oeſterreicher geſtand nachher: bei dieſer Unterredung hätte er zuweilen glauben können, daß er ſich im Cabinet des Kaiſers Franz befände. *)Brockhauſen’s Bericht, 11. Auguſt 1830.

Als der König, von Teplitz heimkehrend, an ſeinem Geburtstage (3. Auguſt) den ſächſiſchen Hof in Pillnitz beſuchen wollte, ereilte ihn der Feldjäger mit den erſten Nachrichten aus Paris. Am ſelben Abend noch hielt er in dem nahen Landhauſe ſeines Geſandten Jordan eine erſte Berathung mit Wittgenſtein und Witzleben, und erklärte hier ſchon nachdrücklich, daß er zwar jeden Angriff der Franzoſen kräftig zurückweiſen, aber in Frankreichs innere Händel ſich nicht einmiſchen werde. So auf - richtig er auch den Sturz des legitimen Bourbonenhauſes beklagte, ſeine Friedensliebe, ſein nüchterner Verſtand, ſein landesväterliches Pflichtgefühl ſträubten ſich wider den Gedanken eines Weltkrieges, deſſen Gefahren unzweifelhaft zunächſt auf Preußen fallen mußten. Schon in Troppau und Laibach hatte er behutſam Alles was ſeinen Staat belaſten konnte von der Hand gewieſen;**)ſ. o. III. 181. wie ſollte er ſich jetzt in die Abenteuer eines neuen Champagnefeldzugs ſtürzen? Ich habe, ſo ſagte er oft, in meiner Jugend die Gräuel der Revolution geſehen und will mein Alter in ehren - vollem Frieden verleben. Die unberechenbare Macht der neuen Revolution hoffte er dann am ſicherſten in Schranken zu halten, wenn der große Vierbund ihr mit einmüthigen Beſchlüſſen gegenüberträte.

Damit die vier Mächte freie Hand und genügende Zeit für ihre Ver - abredungen behielten, wollte er alſo den diplomatiſchen Verkehr mit Frank - reich vorläufig einſtellen und beauftragte ſeinen Geſandten Werther (7. Aug.), nach Verſtändigung mit den Bevollmächtigten der drei anderen Großmächte Paris zu verlaſſen. Als aber Werther ſeine Amtsgenoſſen zur Berathung verſammelte, da zeigte ſich ſofort, daß der Vierbund nicht mehr beſtand. England ging ſeines eigenen Weges; ſein Geſandter erklärte, er habe Be - fehl unter allen Umſtänden zu bleiben. Alle drei riethen dem Preußen, zunächſt weitere Weiſungen abzuwarten, da die letzte durch die Ereigniſſe37Preußens friedliche Haltung.überholt worden ſei. *)Werther’s Bericht 17. Auguſt 1830 nebſt Protokoll über die Berathung der vier Geſandten.Mittlerweile hatte die Revolution ihr Ziel erreicht, der neue Thron war aufgerichtet, und die Geſandten ſchilderten in ihren Berichten das Geſchehene übereinſtimmend als eine unabwendbare Noth - wendigkeit. Sie waren zumeiſt auch perſönlich erbittert gegen Polignac, der über ſeinen Staatsſtreichsplänen die Geſchäfte des Auswärtigen Amts ganz vernachläſſigt, nur mit Apponyi und dem Nuntius Lambruschini Umgang gepflogen hatte. Alle aber beugten ſich vor der vollendeten That - ſache; der anſteckenden Kraft jenes allgemeinen, urplötzlichen Geſinnungs - wechſels, welcher die Revolutionen in Frankreich ſo furchtbar macht, konnte ſich Niemand ganz entziehen. Alle Monarchiſten, ſchrieb Werther ſchon am 5. Auguſt, wünſchen dringend, daß die vier Mächte ſich zu der neuen Krone freundlich ſtellen; ſonſt bricht die Republik, die Anarchie herein. **)Werther’s Bericht, 5. Auguſt 1830.

Ueber den großen Rechtsbruch tröſtete man ſich mit der Erwägung, daß die Orleans doch dem alten Capetingerhauſe angehörten und mithin ſo lautete der neue Verlegenheitsausdruck ſich mindeſtens einer Quaſi-Legitimität rühmen dürften; die Unterſchlagung, welche dem neuen Herrſcher zum Throne verhalf, ward in der ſtürmiſchen Unruhe dieſer erſten Tage kaum bemerkt. Ludwig Philipp aber erging ſich in brünſti - gen, unzweifelhaft aufrichtigen Betheuerungen ſeiner Liebe zum Frieden, zur bürgerlichen Ordnung: der Krieg, wiederholte er beſtändig, wäre die Republik, die Propaganda, der allgemeine Umſturz. Sein Miniſter des Auswärtigen, Graf Molé ſchrieb an Werther: Wir mußten Frankreich retten und, ich darf es hinzufügen, Europa vor einer großen Erſchütterung bewahren. Inmitten des Kampfes wurde die dreifarbige Fahne aufge - zogen. Aber ſeit ſie wieder das Banner Frankreichs geworden, entfaltet ſich dieſe glorreiche Fahne nur noch als ein Sinnbild der Mäßigung und Vertheidigung, der Erhaltung und des Friedens. Ihre Regierung wird anerkennen, welche Ueberwindung es S. Majeſtät gekoſtet hat Sich zur Beſteigung eines Thrones zu entſchließen, der doch um des allge - meinen Wohles willen nur von Ihm eingenommen werden durfte. ***)Molé an Werther, 12. Auguſt 1830.Nach Alledem ließ König Friedrich Wilhelm in Wien erklären, er ſei ſeinen Unterthanen ſchuldig das peinliche Opfer ſeiner Grundſätze und Gefühle zu bringen ; indeß hoffte er noch immer auf ein gemeinſames Vorgehen des Vierbundes und ſchlug daher den drei befreundeten Mächten vor, daß ſie durch gleichlautende Erklärungen die neue franzöſiſche Regierung anerkennen, aber zugleich von ihr die Aufrechterhaltung der Verträge, des Beſitzſtandes, des Friedens förmlich verlangen ſollten. †)Brockhauſen’s Berichte 11. 18. 23. Auguſt. Ancillon, Weiſung an die Geſandt - ſchaften 14. Auguſt 1830.

38IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Die Hofburg zeigte ſich kaum weniger friedfertig als das preußiſche Cabinet; ihre Nachgiebigkeit entſprang dem Bewußtſein der Schwäche. Welche ſchweren Enttäuſchungen brachte dies wilde Jahr dem alternden Staatskanzler! Am 4. Februar hatten die drei Schutzmächte auf der Londoner Conferenz beſchloſſen, das meuteriſche Griechenland ſolle ein unabhängiges, tributfreies Königreich werden. Und nun die Nachricht von dem Sturze der bourboniſchen Regierung, deren guten und äußerſt kräftig erwieſenen Willen Metternich noch zwei Tage zuvor warm belobt hatte! Der in dem Pariſer Bundesvertrage und dem geheimen Aachener Protokoll*)ſ. o. II. 471. vorhergeſehene Kriegsfall war nunmehr unzweifelhaft gegeben, wenn anders man die Verträge ſtreng auslegte. Wollte Metternich nicht Alles verleugnen, was er ſeit fünfzehn Jahren unabläſſig der Welt gepre - digt hatte, ſo mußte er jetzt die legitimen Mächte auffordern zum Kampfe gegen die Revolution, die ſich in Frankreich drohender, gefährlicher erhob als weiland in Neapel, in Piemont, in Spanien. Und doch wagte er nicht einmal ſich auf jene Verträge zu berufen. Die Geſchichte war dar - über hinweggeſchritten; der Hochmuth, der ſich erdreiſtet hatte dem ewigen Werden der Menſchheit ein Halt zuzurufen, zeigte ſich in ſeiner ganzen Blöße. Unter allen großen Mächten war Oeſterreich am wenigſten auf einen Krieg vorbereitet. Selbſt die beſchämenden Erfahrungen des orien - taliſchen Krieges hatten dieſen Hof nicht aus ſeiner Trägheit aufgerüttelt. Das Heer befand ſich noch immer in ebenſo elendem Zuſtande wie der Staatshaushalt. Die Zahl der Mannſchaften unter der Fahne blieb weit hinter dem Friedensfuße zurück; die Artillerie brauchte zwei Monate um auszurücken, denn von den Geſchützen waren kaum fünfzig beſpannt; nur die Reiterei, etwa 40000 Pferde ſtark, behauptete noch ihren alten Ruf. Dazu viele überalte Generale und Stabsoffiziere; ſogar ſiebzigjährige Hauptleute waren nicht ſelten, da der ſparſame Kaiſer Franz Abſchieds - geſuche faſt ebenſo ungern bewilligte wie ſein bairiſcher Schwager. Die Offiziere fühlten ſich gedrückt durch den geiſtlos pedantiſchen Dienſt und auch in der Geſellſchaft zurückgeſetzt, denn bei Hofe wie in den Kreiſen des hohen Adels galten ſie nichts; der einzige Feldherr, dem ſie vertrauten, Erzherzog Karl blieb Dank der Eiferſucht ſeines kaiſerlichen Bruders allen Geſchäften fern. **)Nach General Tettenborn’s Berichten (durch Otterſtedt an Bernſtorff mitgetheilt 1. März 1830).

Mit einer ſolchen Kriegsmacht ließ ſich ein europäiſcher Kreuzzug für das legitime Recht nicht führen; genug ſchon, wenn ſie nur in Oeſterreichs nächſtem Machtgebiete, in Italien, die täglich wachſende revolutionäre Er - regung niederzuhalten vermochte. Rückhaltlos äußerte ſich Gentz zu dem badiſchen Geſandten, dem kriegsluſtigen alten Koſakenführer General Tetten -39Oeſterreichs Schwäche. Gentz.born über die Ohnmacht des alten Syſtems. Wir ſind gezwungen, ſchrieb er ſchon am 24. Auguſt, wir ſind nothgedrungen, Ludwig Philipp’s Er - haltung zu wünſchen, car après lui le déluge. Nehmen Sie hinzu, daß der Stand der Dinge ein ganz anderer als im Jahre 1815, daß keine der großen Mächte zum Kriege gehörig vorbereitet iſt, und Sie werden Sich nicht wundern, wenn le maintien de la paix von allen Seiten als das große Loſungswort erſchallt. Heute müſſen Sie Ihr tapferes Schwert noch in der Scheide halten; gebe Gott, daß Sie es nicht allzu früh in das Blut der Weltverderber tauchen müſſen. *)Gentz an Tettenborn, 24. Auguſt 1830.Was war doch aus jener ſtreitbaren Feder geworden, die einſt die gebieteriſchen Rundſchreiben der großen Congreſſe verfaßte! Gentz ſtand in ſeinem ſiebenundſechzigſten Jahre. Die Mattigkeit des Alters kam über ihn, die Friſche des Willens und die Luſt am Kampfe ſchwanden ſichtlich, doch zugleich erwachten auch wieder die zarten künſtleriſchen Triebe dieſes reichen Geiſtes. Er verlebte Augenblicke dithyrambiſcher Verzückung wie vor Zeiten, da er mit ſeinem Friedrich Schlegel für die Lucinde geſchwärmt hatte: Wie, wenn Alles vernünftig wäre! Gott bewahre uns. Alle Blüthen des Genuſſes fielen plötzlich vom Baume des Lebens herab. Wer bei einem Buche nicht wahn - ſinnig, bei der Geliebten nicht ein Narr, im Kampfe nicht toll und unter Pedanten und Philiſtern nicht blödſinnig zu ſein verſteht, der kennt die Kunſt des Lebens nicht. Die romantiſche Liebe zu der ſchönen Tänzerin Fanny Elsler und der kaum minder phantaſtiſche Freundſchaftsbund mit dem jungen Prokeſch v. Oſten nahmen ſeine Seele ganz dahin, und zu - gleich träumte er über Heine’s Gedichten, bald tief gerührt, bald wollüſtig ſchaudernd, bald hoch entrüſtet. Dieſe beſtändige, halb greiſenhafte halb jugendliche Erregung der Gefühle rieb ſeine Lebenskräfte auf, wie der nüch - terne Metternich bald bemerkte.

Noch immer beobachtete er den Wandel der politiſchen Dinge mit dem alten wunderbaren Scharfblick. Schon im letzten Jahre hatte er vorausgeſagt, die wilde Leidenſchaft des ſataniſchen Geſchlechts der jakobi - niſchen Mütz-Cujons , der doctrinäre Eigenſinn der Liberalen und der geheime Ehrgeiz des Bonapartismus müßten unfehlbar ſehr bald einen neuen Umſturz in Frankreich herbeiführen. Er wußte wohl, dieſe neueſte Revolution war die entſcheidendſte und vollſtändigſte, die Frankreich erlebt, weil ſie das hiſtoriſche Recht endgiltig zerſtörte. Allein unter den Zeit - genoſſen erkannte er auch ſchon, daß die abermalige Erhebung der Fran - zoſen bei Weitem nicht ſo viel bedeutete wie der Einbruch der Demokratie in das altariſtokratiſche Staatsleben Englands; in dieſem Umſchwung der engliſchen Verhältniſſe ſah er das eigentlich Neue, das Verhängniß des Jahres 1830; immer wieder beſchäftigte ihn die Sorge was aus dieſer Nation geworden iſt und nächſtens werden wird. Aber den Kampf40IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.gegen die ſiegreichen Mächte der Revolution wollte er nicht mehr aufnehmen; er ſtand nicht an, die Niederlage der alten Gewalten ehrlich einzugeſtehen: das lebhafte Gefühl, daß wir geſchlagen ſind, raubt uns die letzten Kräfte zur Rettung. Frieden! hieß jetzt die Loſung aller ſeiner Briefe. Unermüdlich, und nicht immer ganz der Wahrheit getreu, verſicherte er dem Vertrauten Samuel Rothſchild, zur Mittheilung an die Pariſer Freunde, daß keine der drei Oſtmächte an einen Krieg denke; mit warmem, faſt überſchwänglichem Lobe pries er die Friedfertigkeit der franzöſiſchen Regierung. Nicht lange, ſo entdeckte er ſogar, daß die Volksſouveränität, Dank der Mäßigung des Bürgerkönigs, unvermerkt in eine neue Legiti - mität übergehe: warum könnten dieſe beiden großen Staatsgrundſätze nicht friedlich, wie Proteſtantismus und Katholicismus in der Staaten - geſellſchaft neben einander beſtehen? warum ſollte Europa wieder wie im ſechzehnten Jahrhundert einen Meinungskampf durch die Waffen zu ent - ſcheiden ſuchen? Das Syſtem der Erhaltung und das Syſtem des ruhigen Fortſchritts widerſprechen ſich ja nicht unbedingt. Alſo ward er, nicht durch freie Ueberzeugung, ſondern durch die Uebermacht der Ereigniſſe und durch die entſagende Verſöhnlichkeit des Alters am Abend ſeines Lebens wieder zurückgeführt zu den gemäßigten Grundſätzen, mit denen er einſt ſeine politiſche Laufbahn begonnen hatte.

Gentz’s Meinung fiel kaum mehr ins Gewicht, da er an den Geſchäften nur noch geringen Antheil nahm und, wie Metternich ſagte, nur noch Phantaſie-Dienſte leiſtete. Aber auch der Staatskanzler ſelbſt war tief durchdrungen von dem Gefühle ſeiner Hilfloſigkeit, obgleich er dem preußi - ſchen Geſandten gegenüber prahlte, Oeſterreichs Heer laſſe ſich ſchnell und leicht auf einen Beſtand von 400000 Mann bringen. *)Berichte von Brockhauſen 11. 18. Aug., von Blittersdorff 4. Sept. 1830.Wie hart es ihm auch ankam, ſo erklärte er ſich doch mit den preußiſchen Anträgen einverſtanden; indeß dachte er die Möglichkeit einer gemeinſamen Inter - vention noch nicht ganz aus der Hand zu geben und ſchlug daher vor, die vier Mächte ſollten zu einem Congreſſe zuſammentreten oder mindeſtens in Berlin zur Beobachtung Frankreichs ein centre d’entente bilden. Auf eine ſolche unnütze Herausforderung der Franzoſen wollte ſich jedoch der preußiſche Hof nicht einlaſſen; die böſe Erinnerung an den verhängniß - vollen Pillnitzer Congreß lag gar zu nahe. Für den ſchlimmſten Fall hielt Metternich noch eine furchtbare Waffe bereit: den Herzog von Reichſtadt. Er kannte die Furcht der Orleans vor dem großen Namen der Bonapartes; mehrmals gab er den befreundeten Geſandten, ſchließlich auch dem Tuilerienhofe ſelbſt zu verſtehen: wenn Frankreich die Verträge nicht achte, dann würde der Vierbund den Erben des Imperators zurück - führen. **)Maltzahn’s Berichte 5. September 1830. 11. 16. Februar 1831.Und wahrlich, der junge Napoleon hätte es an ſich nicht fehlen laſſen. Der Abgott aller Weiber, bildſchön, frühreif, hochbegabt fühlte er41Ruſſiſche Kriegspläne.ſich ganz als den Sohn des Bändigers der Revolution. Nicht als ein Verſchwörer dachte er ſich die Krone ſeines Vaters zu erſchleichen; als ein Fürſt der Ordnung wollte er in Frankreich einziehen, gerufen von dem altkaiſerlichen Heere, um den Sohn des Bürgers Egalité zu zer - malmen, den verächtlichen Thronräuber, der weder das legitime Recht noch den Volkswillen hinter ſich hatte. In vollem Ernſt hat Metternich ſo verwegene Gedanken nie gehegt; er ſpielte damit, wie ein Verzweifeln - der halb ſehnſüchtig halb entſetzt die Giftflaſche betrachtet, denn unmöglich konnte er glauben, daß ein Napoleon je ein zuverläſſiger Wächter der Wiener Verträge werden würde. Vorderhand war er ehrlich für den Frieden und bat den König von Preußen, er möge den Czaren für eine gemeinſame Erklärung der Mächte gewinnen, da Kaiſer Franz leider das Vertrauen des ruſſiſchen Selbſtherrſchers nicht beſitze. *)Brockhauſen’s Bericht, 23. Auguſt.

Dort in Petersburg ſtieß die Friedenspolitik der beiden deutſchen Mächte auf harten Widerſtand. Czar Nikolaus war noch wie berauſcht von den Erfolgen des Türkenkrieges, unüberwindlich erſchien ihm ſein Heer. Er wähnte ſich ſtark genug ſogleich gegen die Revolution einzu - ſchreiten, ſtand doch ſeine polniſche Armee wohlgerüſtet dicht an der Grenze. Die peinliche Frage, ob dieſe Polen ſich auch gegen das revolutionäre Frankreich ſchlagen würden, kam ihm gar nicht in den Sinn. Obwohl er den Verfaſſungsbruch Karl’s X. ſcharf verurtheilte, ſo wollte er doch mit dem fluchwürdigen Uſurpator nichts gemein haben. **)K. Nikolaus an Großfürſt Conſtantin (mitgetheilt in dem Berichte des Gen. Conſuls Schmidt, Warſchau 25. Auguſt 1830).Im erſten Zorne rief er alle Ruſſen aus Frankreich zurück, verbot den Franzoſen den Eintritt in ſein Reich, verſchloß der dreifarbigen Flagge die ruſſiſchen Häfen. Neſſelrode, der ſich ſoeben in Karlsbad mit Metternich, dann in Berlin mit Bernſtorff beſprochen und die friedlichen Abſichten der deutſchen Höfe gebilligt hatte, fand daheim ungnädige Aufnahme; auch Pozzo di Borgo verlor das Vertrauen ſeines Monarchen weil er ſich freundlich zu den Orleans ſtellte. Jene unbedachten feindſeligen Maßregeln gegen Frankreich nahm der Czar freilich ſchon nach einigen Tagen zurück. ***)Lieven an Bourgoing 13 / 25. Auguſt; Kaiſer Nikolaus an Großfürſt Conſtantin 29. Auguſt 1830.Aber die preußiſchen Vorſchläge genügten ihm nicht: die Volksſouveränität anerkennen, das heiße das ganze Syſtem der Mächte untergraben; und was nütze es, von Ludwig Philipp die Anerkennung der Verträge zu fordern, wenn man ſich auf ſein Wort nicht verlaſſen könne? Endlich entſchloß er ſich ſeinem königlichen Schwiegervater einen glänzenden Be - weis ſeines guten Willens zu geben und ſendete den Feldmarſchall Die - bitſch zu weiteren Verhandlungen nach Berlin. †)Galen’s Berichte, Petersburg 24. 26. Auguſt 1830.

42IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Während die Oſtmächte alſo noch ohne Ergebniß unter ſich verhan - delten, hatte England bereits ſeinen Entſchluß gefaßt und abermals unzweideutig bewieſen, daß der alte Vierbund zerſprengt war. Wellington ſtand noch am Ruder. Derſelbe Staatsmann, der vor fünfzehn Jahren die Wiederherſtellung der Bourbonen am eifrigſten gefördert hatte, zog jetzt zuerſt ſeine Hand von ihnen ab. Ganz ebenſo unbedenklich hatte er vor Kurzem zwei andere Freunde, den Sultan und den Dey von Algier preisgegeben. Es war die alte Treue Albions. Selbſt die Torys durften eine Regierung, welche ſich auf die Grundſätze der engliſchen Revolution von 1688 berief, nicht als unrechtmäßig bekämpfen; ihr Cabinet, das längſt ſchon im Sattel wankte, war ſofort verloren, wenn es ſich dem einmüthigen Verlangen der öffentlichen Meinung widerſetzte. Schon am 27. Auguſt wurde die Regierung der Orleans von dem eng - liſchen Hofe ohne jede Bedingung anerkannt, und Wellington erklärte den Oſtmächten in einem Rundſchreiben, die Lage ſeines Landes habe ihm nicht erlaubt die Beſchlüſſe der Alliirten abzuwarten.

So ſcheiterte Preußens Plan, durch eine gemeinſame Antwort der Großmächte dem Juli-Königthum zugleich die Anerkennung zu gewähren und ihm feſte Schranken vorzuzeichnen. Nunmehr ſchien es dem Berliner Hofe rathſam, daß auch die anderen Mächte jede für ſich ihr Anerkennungs - ſchreiben nach Paris ſendeten, damit der Zwieſpalt zwiſchen England und den Oſtmächten nicht zu auffällig hervorträte; denn nach wie vor blieben der König und Graf Bernſtorff der Meinung, dieſe große Kriſis müſſe benutzt werden um die große Allianz neu zu beleben. *)Bernſtorff an Neſſelrode, 26. Auguſt. Bernſtorff, Denkſchrift über die An - erkennung Ludwig Philipp’s, Sept. 1830 (abgedruckt bei Natzmer, Unter den Hohen - zollern I. 293).Ludwig Philipp hatte allen mächtigeren Fürſten durch außerordentliche Bevollmächtigte eigenhändige Briefe geſendet, deren demüthige Haltung einem Beherrſcher Frankreichs übel anſtand. Im bittenden Tone des Schuldbewußten ent - ſchuldigte er ſeinen Thronraub. Ich ſeufze über das Unglück des älteren Zweiges meiner Familie, ſchrieb er an König Ludwig von Baiern. Mein einziger Ehrgeiz wäre geweſen, ihm vorzubeugen und auf dem Platze, wohin mich die Vorſehung geſtellt, zu bleiben. Aber die Umſtände waren gebieteriſch, ich habe mich opfern müſſen. Die geringſte Zögerung meiner - ſeits konnte das Königreich in Wirren ſtürzen, deren Ende ſich nicht ab - ſehen ließ und die vielleicht die Fortdauer des für das Glück aller Staaten ſo unentbehrlichen Friedens gefährdet hätten. **)K. Ludwig Philipp an K. Ludwig 22. Auguſt 1830.Mit einem ähnlichen Briefe erſchien General Lobau in Berlin. Am 9. Septbr. antwortete Friedrich Wilhelm durch ein freundliches Schreiben, worin ſich freilich die unverblümte Bemerkung befand: es iſt nicht meines Amtes (il ne m’appartient pas) über das Geſchehene zu urtheilen. Nachdem er den43Anerkennung Ludwig Philipp’s.ſchweren Schritt gethan, wollte er auch ohne Groll mit dem neuen Nach - barfürſten verkehren, der ihm ſofort mit überſchwänglichen Worten ſeine ewige Dankbarkeit verſicherte. Alexander v. Humboldt, der alte Freund des Hauſes Orleans, erhielt daher vertrauliche Aufträge, als er in dieſen Tagen ſeine gewohnte Herbſtreiſe nach Paris antrat, und er that das Seine um ein leidliches Verhältniß zwiſchen den beiden Höfen herzuſtellen. Unterdeſſen hatte auch Kaiſer Franz ſein Anerkennungsſchreiben nach Paris geſendet. Die kleinen Fürſten und der Bundestag folgten dem Beiſpiele. Nur Czar Nikolaus zögerte noch einige Wochen, und als er endlich das Unvermeidliche that, konnte er ſeine Verſtimmung doch nicht bemeiſtern; jahrelang gefiel er ſich darin, durch allerhand diplomatiſche Ungezogenheiten den Orleans ſeine Verachtung zu zeigen.

Die Frage der Anerkennung Ludwig Philipp’s gefährdete, wie die Dinge ſtanden, den Weltfrieden nicht unmittelbar; bedrohlich ward die Lage erſt, als der belgiſche Aufſtand ſich mit der Juli-Revolution ver - kettete. Der Bürgerkönig ſelber ſah in dem Aufruhr der Belgier nur eine unwillkommene Verlegenheit. Anders dachte ſein Volk. Zu Tauſenden ſtrömten die franzöſiſchen Freiwilligen und Aufwiegler nach Brabant; wie ein Mann forderte die radicale Preſſe die Einverleibung Belgiens zur Sühne für Leipzig und Belle-Alliance; ſelbſt gemäßigte Blätter be - haupteten, mit jener naiven Geringſchätzung fremden Rechtes, welche die Franzoſen von jeher ausgezeichnet hat, nur durch Eroberungen könne das neue Herrſcherhaus die Herzen ſeines Volks gewinnen. Allem An - ſchein nach mußte Belgien der Herrſchaft oder doch dem übermächtigen Einfluſſe Frankreichs anheimfallen, wenn der niederländiſche Geſammt - ſtaat zerfiel. Und dies Vereinigte Königreich war das eigenſte Werk des Vierbundes, vor Allem doch das Geſchöpf der engliſchen Staatskunſt; denn nur damit England die Hälfte der holländiſchen Kolonien behalten könne, hatten die Verbündeten einſt den feſtländiſchen Beſitz der Oranier ſo übermäßig vergrößert; vor Kurzem erſt waren unter Wellington’s Oberleitung jene Feſtungen an der belgiſchen Südgrenze vollendet worden, welche der Vierbund von den franzöſiſchen Contributionsgeldern hatte er - bauen laſſen. Wo nicht der Buchſtabe, ſo doch ſicherlich der Geiſt der Verträge und mehr noch der politiſche Anſtand verpflichteten den engliſchen Staat, dies ſein Schooßkind nicht kurzerhand preiszugeben. Und welch ein gefährliches Beiſpiel gab dieſer Aufſtand der Prieſter den grollenden Iren; ſchon verkündete O’Connell frohlockend: wenn das katholiſche Belgien ſich befreie, dann müſſe auch Irland das Joch ſeiner proteſtantiſchen Herren abſchütteln. Darum empfing Wellington die Nachrichten aus Brüſſel mit aufrichtigem Bedauern; er wünſchte zum mindeſten, Belgien als ein ſelbſtändiges Land dem Hauſe Oranien zu erhalten, und trug ſich einige Tage lang ſogar mit dem Plane, engliſche Truppen in jene belgiſchen Feſtungen zu werfen. Aber die britiſche Handelspolitik hatte44IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.bei dem niederländiſchen Geſammtſtaate ihre Rechnung nicht gefunden; er war keineswegs, wie Caſtlereagh einſt gehofft, ihr demüthiger Client geworden, ſondern ihr mit ſeinen Zöllen und Rheinſchifffahrtsgeſetzen ſehr rückſichtslos entgegengetreten. Die alte Freundſchaft beſtand längſt nicht mehr, und niemals hätte die aufgeregte öffentliche Meinung dem Cabinet geſtattet, um dieſes ungeliebten Nachbarn willen einen Krieg gegen das hochgeprieſene Volk der Juli-Revolution heraufzubeſchwören. Der eiſerne Herzog mußte ſich fügen. Schon um Mitte Septembers wußte man in Berlin genau, daß England auf keinen Fall zur Ver - theidigung ſeines alten Bollwerks die Waffen ziehen werde. *)Bernſtorff’s Bericht an den König über die Lage der Niederlande, 17. Sep - tember 1830.

Ebenſo vorſichtig verfuhr der Wiener Hof. Bei der erſten ernſt - lichen Gefährdung unſeres Rheinlands ward ſogleich offenbar, wie gänz - lich dies neue Oeſterreich ſeit dem Verluſte ſeiner weſtlichen Provinzen aus Deutſchland hinausgewachſen war. Metternich klagte zwar nach ſeiner Gewohnheit über den neuen Krater des raſtlos arbeitenden Vulkans der Revolution; ſogar eine ſelbſtändige Verwaltung für Belgien, die er früher - hin ſelber dem Könige der Niederlande angerathen, fand er jetzt hochbe - denklich, da ſie durch einen Aufruhr ertrotzt würde. **)Maltzahn’s Bericht, 12. September 1830.Doch er erklärte auch von vornherein ſehr nachdrücklich, Kaiſer Franz ſtehe in dieſem Streite nur in zweiter Reihe; für einen rheiniſchen Feldzug hatte Oeſter - reich nur ein Hilfsheer übrig, ſeine beſte Kraft mußte ſich gegen den Süden, gegen die drohende Erhebung der Italiener wenden. Verſtimmt und entmuthigt, wie er jetzt war, ſah Metternich die belgiſchen Dinge im trübſten Lichte und geſtand ſeinem Kaiſer ſchon am 11. October: der Proceß in den Niederlanden iſt rein verloren.

Um ſo ſchwieriger war die Lage Preußens, das den belgiſchen Wirren faſt ebenſo nahe ſtand wie England. Perſönliche Theilnahme konnte der König der Niederlande von Deutſchland nicht verlangen; denn unter den vielen unleidlichen Nachbarn Preußens war er ſicherlich der böſeſte, und unter allen deutſchen Fürſten hatte keiner ſeine Bundespflichten ſo ſcham - los mit Füßen getreten. Welche lange Reihe häßlicher Händel, von den erſten Grenzſtreitigkeiten an bis zu der Sperrung der Rheinſchifffahrt und dem dreiſten Verſuche, die Bundesfeſtung Luxemburg den deutſchen Truppen zu verſchließen! Und wie hochmüthig hatte er nach dem Aachener Congreſſe den preußiſchen Nachbarn abgewieſen, als dieſer ſich erbot zum Schutze Belgiens ein ſtehendes Beobachtungsheer am Niederrhein aufzu - ſtellen! ***)ſ. o. II. 472.Trotz alledem war Friedrich Wilhelm’s Gutherzigkeit an den Oraniern nicht irr geworden, man behandelte ſie in Berlin noch immer faſt wie Glieder des königlichen Hauſes. König Wilhelm war der Schwager45Preußen und die Niederlande.und Vetter des Königs von Preußen; zärtliche Freundſchaft verband die beiden Kronprinzen, obgleich ſie in ihren politiſchen Grundſätzen gar nichts mit einander gemein hatten; und eben in dieſen Tagen wurde die alte Blutsverwandtſchaft durch die Vermählung des Prinzen Albrecht von Preußen mit einer niederländiſchen Prinzeſſin abermals befeſtigt. Die Niederlage, welche Prinz Friedrich der Niederlande im Straßenkampfe zu Brüſſel erlitten hatte, wirkte am Berliner Hofe wie ein Donnerſchlag. Der Kronprinz konnte dieſe Erinnerungen nie ganz verwinden; nach langen Jahren noch, in den Fieberträumen ſeiner letzten Krankheit ſprach er wehmüthig von dem guten Freunde, der die Hälfte ſeiner Kinder ver - loren habe.

Ueber die Unhaltbarkeit des künſtlichen niederländiſchen Geſammt - ſtaates waren die preußiſchen Staatsmänner noch keineswegs einig. Wohl hatte Hardenberg, als es zu ſpät war, ein Jahr nach dem Wiener Con - greſſe, ärgerlich geäußert: Bataver und Belgier würden ſich doch nie vertragen; wie viel klüger, wenn man Belgien an die Welfen und dafür Hannover an Preußen gegeben hätte. Aber ſolche Anſichten ſtanden ver - einzelt; die Mehrzahl am Hofe betrachtete es als eine Ehrenpflicht, die wichtige Poſition an der Maas und Schelde dem befreundeten Fürſten - hauſe zu erhalten. Die alten Helden des Befreiungskrieges ſahen den längſt erwarteten dritten puniſchen Krieg jetzt unaufhaltſam herannahen; und mußte er kommen, war es dann nicht würdiger, das Schwert ſo - gleich zu ziehen zur Wahrung der Rechte eines alten Bundesgenoſſen? So dachte Clauſewitz; ſo Gneiſenau, obwohl er zuweilen friedlicheren Stimmungen nachgab. Auch Stein ahnte tief erſchüttert, die ganze Arbeit ſeines Lebens müſſe von Neuem beginnen; er wußte, die Eitelkeit der Franzoſen werde nicht ruhen, bis ſie dereinſt Rache genommen hätten an den Siegern des Befreiungskrieges.

In dieſem Gewoge kriegeriſcher Leidenſchaften ſtand der König, minder weitſichtig und ebendeßhalb nüchtern die Lage des Augenblicks erwägend. Auch er hielt den Krieg für nahezu ſicher; aber die Schuld daran wollte er nicht auf ſein Gewiſſen nehmen. Durfte er ſeinem Volke, das die Nöthe des letzten Krieges noch kaum verwunden hatte, jetzt zumuthen, im Auslande einen Aufſtand niederzuſchlagen, der diesmal beſiegt, nach einigen Jahren unfehlbar abermals ausbrechen mußte? Schon begann das Nach - ſpiel der Juli-Revolution auf deutſchem Boden; in Braunſchweig, in Kaſſel, in Dresden erhob ſich der Aufruhr; wer konnte vorherſehen, ob Preußen nicht bald gezwungen ſein würde, hier in ſeinem nächſten Machtgebiete mit den Waffen die Ruhe herzuſtellen? Auf die Treue ſeines Heeres verließ er ſich unbedingt, doch die freudige Begeiſterung der Befreiungs - kriege das ward in den Denkſchriften des Auswärtigen Amts beſtändig wiederholt konnte nur dann wiederkehren, wenn er ſein Volk in einen gerechten, Allen verſtändlichen Vertheidigungskampf führte; und den Ein -46IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.marſch in Belgien hätten mindeſtens die geſinnungstüchtigen Liberalen der Kleinſtaaten kurzerhand als einen Rückfall in die alte Troppauer Inter - ventionspolitik verdammt. Die Feſtungen, auf deren Schutz der Vierbund einſt gerechnet, waren mit wenigen Ausnahmen ſchon in den Händen der belgiſchen Aufſtändiſchen. Von England ſtand keine, von Oeſterreich nur ſpäte und geringe Hilfe zu erwarten. Frankreich hingegen war entſchloſſen, falls Preußen in das öſtliche Belgien einrückte, ſogleich den weſtlichen Theil des Landes zu beſetzen. Dieſe Abſicht kündigte Graf Molé ſchon am 31. Auguſt dem preußiſchen Geſandten Werther vertraulich an. Er ſprach durchaus verſöhnlich, entſchuldigte ſich wie gewöhnlich mit der kritiſchen Lage ſeiner Regierung, verſicherte heilig, Frankreich beabſichtige keine Feindſeligkeiten; nur müßten die beiden Nachbarmächte Belgiens in vollkommen gleicher Stellung bleiben bis ein europäiſcher Congreß die Frage friedlich löſe. *)Die gegen d’Hauſſonville gerichteten Bemerkungen K. Hillebrand’s (Geſch. Frank - reichs I. 144) über Zeit und Inhalt dieſes Geſprächs ſind durchaus richtig, wie ſich aus der nachfolgenden Darſtellung ergeben wird.An der Aufrichtigkeit ſeiner Betheuerungen war nicht zu zweifeln. Aber wie nun, wenn das zuchtloſe, durch die Re - volution mächtig aufgeregte franzöſiſche Heer ſo nahe dem Schlachtfelde von Belle-Alliance den verhaßten preußiſchen Siegern dicht gegenübertrat? Ein Zufall konnte dann leicht das Signal geben zu jenem Weltkriege, welchen die Anerkennung des Julikönigthums ſoeben erſt glücklich abge - wendet hatte.

Die Entſcheidung dieſer ernſten Fragen behielt ſich Friedrich Wilhelm ſelber vor; nur Witzleben und Bernſtorff, der trotz der Schmerzen einer ſchweren Krankheit immer klar und ruhig blieb, genoſſen ſein Vertrauen. Und es war dringend nöthig, daß der Monarch die Leitung der aus - wärtigen Politik in ſeine Hand nahm; denn die Kriegspartei am Hofe gewann an Feldmarſchall Diebitſch einen kräftigen Bundesgenoſſen. Der König hatte ſoeben nach Petersburg die Weiſung geſchickt: Dieſer Sen - dung iſt nach Möglichkeit entgegenzuarbeiten, **)Randbemerkung des Königs zu Galen’s Bericht v. 26. Aug. 1830. und war peinlich über - raſcht, als der Ruſſe am 9. September nun doch eintraf; er wußte, daß der Feldmarſchall und ſein Stellvertreter Czernitſchew die beiden einzigen namhaften Männer des ruſſiſchen Hofes waren, welche die Kriegsluſt des Czaren theilten. Glänzende Feſte und Paraden wurden zu Ehren des Türkenbeſiegers veranſtaltet. Zur Zeit des orientaliſchen Krieges hatten Bernſtorff und die freieren Köpfe unter den preußiſchen Staatsmännern auf Rußlands Seite geſtanden; jetzt verſchob ſich die Parteiſtellung, alle ſtrengen Legitimiſten prieſen den Czaren als den Hort des göttlichen Königsrechts und erwieſen ſeinem Abgeſandten ihre befliſſene Verehrung. Der dicke kleine rothhaarige Herr, der übrigens von ſeinen Kriegsthaten47Diebitſch in Berlin.mit Beſcheidenheit ſprach, machte nicht den Eindruck eines ungewöhnlichen Geiſtes; doch an Eifer ließ er es nicht fehlen. Er war gekommen um die Anerkennung des Bürgerkönigs zu verhindern; nun er ſich in dieſer Hoffnung getäuſcht ſah, ſuchte er die belgiſche Frage für ſeine kriegeriſchen Pläne auszubeuten.

Zwei Monate blieb er in Berlin, um immer wieder in Vorträgen und Denkſchriften zu erweiſen, wie leicht der Krieg gegen die Revolution ſei, ſelbſt ohne Englands Mitwirkung. Dem Könige begann die leiden - ſchaftliche Haltung ſeines Schwiegerſohnes ſehr läſtig zu werden. In den Formen zeigte ſich der Czar ſtets überaus verbindlich. Seine Briefe an den Schwiegervater waren mit Verſicherungen dankbarer Ergebenheit dermaßen überladen, daß Witzleben einſt bei Bernſtorff ganz verlegen anfragte: wie denn der König antworten ſolle ohne die gebotene Gegen - ſeitigkeit zu verletzen oder ſeine Würde bloßzuſtellen;*)Briefwechſel zwiſchen Bernſtorff und Witzleben a. d. J. 1829. bei ſeinem letzten Beſuche in Schleſien führte er ſein Küraſſierregiment zweimal mit ge - ſenktem Degen vor General Zieten vorüber, ſo daß ſelbſt die preußiſchen Offiziere meinten: das ſei zu viel. Dieſe gottorpiſchen Schauſpielerkünſte verhinderten ihn aber keineswegs, in ſeinen politiſchen Zumuthungen an Preußen die plumpe Anmaßung des Moskowiters zu zeigen. Wohlgeborgen in ſeinem fernen Oſten, verſuchte er, wie vormals ſeine Großmutter im Jahre 1792, den preußiſchen Nachbarn in einen zielloſen Krieg gegen den Weſten hineinzudrängen. Wenngleich er in ſeinem wilden Haſſe gegen die Revolution durchaus ehrlich war und nicht wie Katharina argliſtige Hintergedanken hegte, ſo forderte er doch ganz ſo dreiſt wie jene, daß Preußen ſich für den Petersburger Hof opfern müſſe. In einer ſeiner Denkſchriften berechnete Diebitſch die Streitkräfte für den rheiniſchen Feldzug alſo: 210000 Mann Preußen, 120000 Mann deutſcher Bundes - truppen, 30000 Holländer, dazu 60000 Oeſterreicher, endlich an letzter Stelle 180000 Ruſſen. **)Diebitſch’s Denkſchrift v. 1. / 13. Okt. 1830.So ward in aller Freundſchaft faſt die ganze Laſt des Krieges auf Preußen abgewälzt; über die ſtolze Zahl der kleinen deutſchen Contingente konnte man in Berlin nur lächeln, und ſeit den Erfahrungen des Jahres 1813 wußte man auch, wie kühn die Phantaſie der Ruſſen bei der Abſchätzung ihrer eigenen Heeresmacht zu verfahren pflegte. Selbſt General Schöler, der Geſandte in Petersburg, der früherhin die ruſſiſche Macht ſtark überſchätzt hatte, war jetzt durch lang - jährige Beobachtung eines Beſſeren belehrt; er warnte, der Czar täuſche ſich über das Maß ſeiner Kräfte, mehr als 150000 Mann könne Ruß - land nicht gegen Frankreich aufbieten, und dieſe brauchten drei Monate um, vielleicht erſt nach gefallener Entſcheidung, die Maas zu erreichen. ***)Schöler’s Bericht, 21. Nov. 1830.

48IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Während der Czar alſo den preußiſchen Hof mit ſeinen Kriegsplänen beſtürmte, ließ Kaiſer Franz ſeinen armen Kronprinzen Ferdinand in Preßburg zum Rex junior Hungariae krönen, damit die nur zu wohl begründeten Gerüchte über deſſen Regierungs-Unfähigkeit durch die That widerlegt würden. Dieſen Anlaß benutzte Nikolaus, um den Grafen Orlow nach Preßburg zu ſenden. Metternich empfing den Vertrauten des Czaren mit offenen Armen, betheuerte lebhaft ſeine reine Geſinnung: was die revolutionäre Regierung fürchtet, das müſſen wir lieben; was ſie ablehnt, das müſſen wir annehmen. Um ſich bei dem Selbſtherrſcher einzu - ſchmeicheln verleumdete er freundnachbarlich den preußiſchen Hof: nur Bernſtorff’s Feigheit und der revolutionäre Geiſt des preußiſchen Beamten - thums trügen die Schuld, wenn der Krieg für das legitime Recht nicht zu Stande komme. Indeß hütete er ſich wohl, irgend eine feſte Zuſage zu geben. Die Oſtmächte ſollten die Geſammtbürgſchaft für die Verträge von 1815 aufrechthalten und für den Nothfall in der Stille rüſten ſolche unbeſtimmte Rathſchläge waren Alles was der Ruſſe aus Preßburg heimbrachte.

Schon am 28. Auguſt, gleich nach dem erſten Brüſſeler Aufſtande, ſendete der König der Niederlande durch den Adjutanten de notre Albert einen Hilferuf an den König von Preußen: die Folgen des Aufruhrs ſeien nicht zu berechnen; er bitte daher, daß der Gouverneur der Rheinlande, Prinz Wilhelm der Aeltere, und ſeine Generale ange - wieſen würden, gemäß den beſtehenden Verträgen ihm Beiſtand zu leiſten, ſobald er es verlange. Das Alles, als verſtünde ſich’s von ſelber. Friedrich Wilhelm las den Brief mit Befremden; von ſolchen Vertrags - pflichten war ihm nichts bekannt. Er ließ ſogleich im Auswärtigen Amte Nachforſchungen anſtellen, und da ſich ergab, daß Preußen keine beſon - deren Verpflichtungen gegen die Niederlande übernommen hatte, ſondern nur ebenſo wie die anderen Mächte des Vierbundes an die Verträge von 1815 gebunden war, ſo erwiderte er am 9. September ſeinem königlichen Schwager: er betrachte die Intereſſen der beiden Kronen als unzertrennlich und wolle ſich mit ſeinen Verbündeten verſtändigen; er werde auch Truppen an den Rhein ſenden und Alles thun, um Frankreich an der Unterſtützung des Aufſtands zu verhindern; aber große Vorſicht ſei nöthig, da der fran - zöſiſche Hof erklärt habe, daß auch ſeine Truppen einrücken würden, falls ein fremdes Heer Belgien beſetze. *)König Wilhelm der Niederlande an König Friedrich Wilhelm 28. Aug. Antwort, 9. Sept. Bernſtorff, Protokoll der Berathung über das niederl. Schreiben, 1. Sept. 1830, nebſt Denkſchrift über die tractatmäßige Verpflichtung Preußens .In der That wurde das vierte Armee - corps ſofort aus Sachſen an den Rhein geſendet und das rheiniſche ver - ſtärkt. Schon dieſe erſten ſchwachen Rüſtungen Preußens genügten, um die Staatsmänner des Palais Royal mit Beſorgniß zu erfüllen. Guizot,49Belgien und die Großmächte.der Miniſter des Innern, hielt für ſicher, daß der Anblick des preußiſchen Beobachtungsheeres die Kriegsluſt der Franzoſen ſteigern müſſe: Dieſe unglückliche belgiſche Sache verwickelt unſere Geſchäfte ſchrecklich und ſtellt uns auf einen Vulkan. Mit der kommenden jungen Kammer und bei der Aufregung, welche die Möglichkeit eines Krieges hervorrufen kann, werden wir ein neues 1793 erleben. Ich kann Ihnen verſichern, daß der König in dieſer Hinſicht die Meinungen und Beſorgniſſe ſeines Miniſterrathes theilt. *)Schreiben Guizot’s (September), durch Bernſtorff an Bülow mitgetheilt 3. Oct. 1830.

Mittlerweile hatten ſich die Brüſſeler zum zweiten male ſiegreich erhoben, ganz Belgien war im Aufruhr, die Verſöhnung zwiſchen den beiden verfeindeten Nachbarſtämmen erſchien ausſichtslos. Es ward hohe Zeit, daß die Großmächte ſich ins Mittel legten. Nachdem das niederlän - diſche Cabinet ſchon am 7. September die vier Mächte gebeten hatte, eine Geſandten-Conferenz nach dem Haag zu berufen, richtete Bernſtorff jetzt (3. Oktober) die dringende Anfrage nach London: ob England nun endlich den rechten Augenblick zum gemeinſamen Einſchreiten gekommen glaube? Er fragte ferner: ob es nicht vortheilhaft ſei, wenn auch der Hof des Palais Royal mittelbar oder unmittelbar bei den Unterhandlungen mitwirkte? **)Verſtolk van Soelen an Perponcher, Haag 7. Sept. Bernſtorff, Weiſung an Bülow 3. Oct. 1830.Obgleich Frankreich an der Begründung der Vereinigten Niederlande nicht theilgenommen, ſo war es doch auf dem Aachener Congreß förmlich in die große Allianz eingetreten; ohne ſeine Zuſtimmung, das lag auf der Hand, ließ ſich die belgiſche Frage nicht im Frieden beilegen. Zur Rechtfertigung ſeiner Anſicht berief ſich Bernſtorff auf die kriegeriſchen Leidenſchaften der Franzoſen, welche der Regierung ſelber über den Kopf zu wachſen drohten: man muß ihr die Mittel gewähren, um ſich ohne Demüthigung und ohne Gefahr für ſich ſelber aus einer ſehr ernſten Verlegenheit zu ziehen. ***)Bernſtorff, Weiſung an Bülow 20. Oct. 1830.

Unterdeſſen war das engliſche Cabinet bereits auf denſelben Ge - danken verfallen. Seit einigen Tagen weilte Talleyrand als franzöſiſcher Botſchafter in London, und der alte Meiſter der Diplomatie, dem die Orleans ihre Krone verdankten, ſollte ihnen jetzt auch noch eine leidliche Stellung in der Staatengeſellſchaft verſchaffen, ſein wechſelvolles Leben mit einem erfolgreichen Spiele abſchließen. Seiner nie verſiegenden Bered - ſamkeit konnte weder Wellington noch der Miniſter des Auswärtigen, der beſchränkte ängſtliche Lord Aberdeen, widerſtehen; er ward nicht müde zu betheuern, daß ſein König weder Belgien einverleiben noch dort einen Heerd des Aufruhrs unterhalten wolle. Der eiſerne Herzog war ent - zückt und lobte Talleyrand’s Redlichkeit ebenſo warm wie er vor’m JahreTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 450IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Polignac’s Geiſt geprieſen hatte. Schon am 2. October, noch bevor jene Anfrage Bernſtorff’s eingetroffen war, beſchloß das Cabinet, alle Groß - mächte, auch Frankreich, zu einer europäiſchen Conferenz einzuladen. Preußen und Oeſterreich ſtimmten zu. Der franzöſiſche Hof erhob noch allerhand Schwierigkeiten; er verlangte die Sicherheit, daß auf keinen Fall eine bewaffnete Einmiſchung erfolgen dürfe, er ſchlug Paris zum Sitze der Conferenz vor; doch er fügte ſich, als ſeine Zumuthungen einmüthig abgewieſen wurden, und man ward einig die Verſammlung nach London zu berufen.

In ſolcher Lage kam das neue Hilfegeſuch, das der König der Nieder - lande, diesmal an alle vier Mächte, abgehen ließ, offenbar zu ſpät. Der König verlangte ſofortiges Einſchreiten mit den Waffen und verſicherte dem Czaren, dies ſei mit dem europäiſchen Frieden vielleicht nicht unver - einbar. Preußen und England aber verwieſen ihn auf die Verhandlungen der Conferenzen; und in gleichem Sinne ward geantwortet, als der Oranier ſich bald nachher zum dritten male an Preußen wendete, um mindeſtens die Beſetzung einiger Feſtungen zu erreichen. *)König Wilhelm der Niederlande an Kaiſer Nikolaus 2. October. Perponcher an Bernſtorff 6. Oct. Antwort 15. Oct. Cabinetsordre an Bernſtorff 1. Nov. 1830.Sein Geſandter Graf Perponcher hatte einen harten Stand; der war in Berlin ganz heimiſch geworden, wurde vom Könige und den Prinzen als alter Freund behan - delt und mußte nun doch beſtändig Abweiſungen erfahren; würdig und taktvoll behauptete er ſich zwiſchen Bernſtorff und Diebitſch, zwiſchen den liberalen Beamten und den kriegsluſtigen Offizieren.

Und nun zeigte ſich, was Friedrich Wilhelm’s feſte und offene Hal - tung für den Weltfrieden bedeutete. Mit gutem Grunde ſagte Lord Heytesbury in Petersburg zu General Schöler: Ihre Regierung iſt die vernünftigſte von allen, und desgleichen Neſſelrode: die beſonnene Politik Ihres Königs iſt das Einzige, worauf Europa noch ſeine Hoffnung bauen kann. Durch Preußen allein wurden die kriegeriſchen Pläne des Czaren in Schach gehalten. Nikolaus fand es entſetzlich, daß der König der Barri - kaden in den hohen Rath Europas eintreten ſolle; ſein Diebitſch machte in Berlin den naiven Vorſchlag, Frankreich dürfe nur zugelaſſen werden, wenn es ſich verpflichte, die Verhältniſſe Belgiens, wie ſie vor der Revo - lution beſtanden, aufrechtzuerhalten worauf Friedrich Wilhelm kurzab erwiderte: dies wird niemals erreicht werden können. Aber ohne Preußen vermochte Rußland in dieſem Handel nichts. Wie hart es ihm auch ankam, am 25. October erwiderte Nikolaus dem Oranier: er ſelbſt ſei bereit die verlangte Waffenhilfe zu leiſten, doch ſein vereinzeltes Auftreten würde nur ſchaden, die Verſtändigung mit den Großmächten könne allein noch retten. Sichtlich erleichtert ſchrieb Neſſelrode, den die leidenſchaft - lichen Vorſätze des Czaren ſchwer beängſtigt hatten, nach Berlin: wenn alle51Die Londoner Conferenzen.Mächte dem Vorſchlage Wellington’s zuſtimmten, dann ſtehe zu hoffen, daß England bei dem Vierbunde verbleibe und nicht mit Frankreich ge - meinſame Sache mache. *)König Friedrich Wilhelm, Randbemerkungen zu Diebitſch’s Denkſchrift vom 1. / 13. Oct. Kaiſer Nikolaus an König Wilhelm der Niederl. 13. / 25. Oct. Neſſelrode an Alopeus 19. Oct. (a. St.) 1830.

So konnte denn am 4. November die Londoner Conferenz zuſammen - treten. Die Trennung der Niederlande erwies ſich inzwiſchen mit jedem Tage deutlicher als eine vollendete Thatſache. Auch die Widerſtrebenden begannen einzuſehen, daß der Beſtand zweier ſelbſtändiger, in ſich einiger Mittelſtaaten hier auf der wichtigſten militäriſchen Poſition Mitteleuropas immerhin mehr Dauer verſprach und den Weltfrieden weniger bedrohte, als die künſtliche Wiederherſtellung des von inneren Gegenſätzen zerriſſenen Vereinigten Königreichs. Schon am Tage der Eröffnung der Berathungen ſchrieb Bernſtorff: auf keinen Fall dürfe Belgien unter Frankreichs Ein - fluß gerathen; dies ſei das Weſentliche; daneben erſcheine es als eine untergeordnete Frage, ob ein Statthalter, ein Vicekönig oder ein ſelb - ſtändiger Herzog in Brüſſel gebiete. **)Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 4. Nov. 1830.Der Geſandte in London, Wilhelm Humboldt’s Schwiegerſohn Heinrich von Bülow befolgte dieſe verſöhn - lichen Weiſungen mit Freuden. Auf den Conferenzen zeigte er ſich als feiner Kopf und gewandter Unterhändler; die liberalen Vorurtheile des Tages beirrten ihn nicht, nur jener Verſuchung, welcher die lange im Auslande lebenden Diplomaten ſo leicht unterliegen, entging er nicht immer: er ſah zuweilen unwillkürlich durch fremde Brillen und folgte den Anſichten der engliſchen Staatsmänner allzu weit. Auch Metternich war bereits zu der Einſicht gelangt, daß es nur noch gelte die Herrſchaft Frankreichs über Belgien zu verhindern. Zum Bevollmächtigten für die Conferenz ernannte er neben dem Geſandten Eſterhazy den Freiherrn v. Weſſenberg, den Verfaſſer der deutſchen Bundesakte, der im alten Oeſterreich als liberal verrufen und deßhalb lange den Geſchäften fern geblieben war; die Wiederberufung dieſes unbequemen Talents galt in der diplomatiſchen Welt als ein Beweis für die Verlegenheit des Wiener Hofes. ***)Blittersdorff’s Bericht, 6. Oct. 1830.Selbſt die ruſſiſchen Bevollmächtigten, Lieven und Matuszewic, traten ſo verſöhnlich auf, als es die Furcht vor dem grollenden Czaren nur irgend erlaubte.

Die Hoffnung der Oſtmächte, der alte Vierbund werde ſich nun - mehr von Neuem befeſtigen, ging gleichwohl nicht in Erfüllung. Noch im November kam das Tory-Cabinet zu Falle, und ſobald Lord Palmerſton in die Conferenz eintrat, ward die längſt vorbereitete Verſchiebung der Allianzen ſogleich offenbar: die beiden Seemächte ſo lautete der diplo - matiſche Ausdruck der Zeit ſtellten ſich in herzlichem Einverſtändniß4*52IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.den drei Feſtlandsmächten gegenüber. Palmerſton hatte einſt als Mit - glied des Tory-Cabinets Liverpool ſelber mit theilgenommen an der Schöpfung des Vereinigten Königreichs; aber noch gleichmüthiger als Wellington ließ er den alten Schützling fallen um deſſen Feinde zu er - muthigen. Sofort trat er in vertraulichen Verkehr mit dem jungen van de Weyer, den die Belgier nach London geſendet hatten, einem klugen und beſonnenen Staatsmanne. Belgien ſollte für England werden, was man von den Vereinigten Niederlanden vergeblich erwartet hatte, ein abhängiger, ergebener Bundesgenoſſe. Darum wetteiferte Palmerſton mit Talleyrand in Gunſtbeweiſen gegen die aufſtändiſchen Belgier. Obgleich der Franzoſe anfangs die Rolle der uneigennützigen Tugend mit gewohnter Kunſtfertig - keit ſpielte, ſo mußte doch die Stunde kommen, da er ſeine Karten auf - deckte; und dann konnte dieſer freundſchaftliche Wettkampf der beiden wahlverwandten Geiſter nur mit dem Siege des Britten endigen, da England nicht in der Lage war belgiſches Gebiet für ſich zu fordern und mithin den Oſtmächten minder gefährlich erſchien.

Gleich der erſte Beſchluß der Conferenz gereichte den Belgiern zum Vortheil. Ein Waffenſtillſtand ward verkündigt und von beiden kämpfen - den Theilen willig angenommen. Darin lag, obwohl man den Namen noch vermied, ſchon die Anerkennung der Aufſtändiſchen als einer krieg - führenden Macht. Ganz auf die gleiche Weiſe, durch das Gebot der Waffenruhe, hatten England, Frankreich und Rußland vor drei Jahren die Errichtung des griechiſchen Staates diplomatiſch eingeleitet. *)S. o. III. 731.Am 20. December ward ſodann die Selbſtändigkeit der ſüdlichen Niederlande bis zu der alten Nordgrenze vom Jahre 1790 als Grundſatz ange - nommen, allerdings mit Vorbehalt der Rechte des Königs; denn alle Mächte, auch Frankreich, mißbilligten die in Brüſſel verkündigte Ent - thronung des königlichen Hauſes und wünſchten noch, den Oraniern den Beſitz Belgiens, mindeſtens als eine Secundogenitur zu erhalten. Auf Preußens Verlangen wurden auch die Rechte des Deutſchen Bundes auf Luxemburg ausdrücklich vorbehalten und dem Bundestage die Erledigung dieſer Streitfrage zugewieſen. Immerhin waren die Grundſteine für den künftigen belgiſchen Staat bereits gelegt, und in Berlin erwog man ſchon die Frage: was nunmehr aus den Feſtungen an der Südgrenze werden ſolle, da man den Belgiern weder die Macht noch den guten Willen zutraute, ſie gegen Frankreich zu vertheidigen. Feldmarſchall Diebitſch meinte, dann bleibe nur übrig, einen Theil der neuen Feſtungen wieder zu ſchleifen, und der preußiſche wie der ruſſiſche Hof ſchloß ſich dieſer Anſicht an. **)Diebitſch, Denkſchrift über die belgiſchen Feſtungen 12. / 24. Oct. Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 4. Nov. Neſſelrode, Weiſung an Alopeus 12. Nov. (a. St.) 1830.Um den Niederlanden doch einen Schutz gegen einen53Die Politik der Nicht-Einmiſchung.neuen Friedensbruch der Franzoſen zu gewähren, gerieth nachher Bülow zuerſt auf den Gedanken, Belgien ſolle wie die Schweiz für neutral erklärt und ſeine Neutralität unter die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte ge - ſtellt werden. Es war ein Nothbehelf, aber ein unvermeidlicher. Für eine große Entſcheidung, welche den tauſendjährigen Erbfolgeſtreit der Gallier und Germanen um die Trümmer des alten lotharingiſchen Zwiſchen - reiches endgiltig erledigt hätte, fehlten zur Zeit noch alle Vorbedingungen. Nach den jüngſten Proben britiſcher Vertragstreue blieb es freilich ſehr zweifelhaft, ob England ſeinen neuen Schützling nicht dereinſt ebenſo ge - müthsruhig preisgeben würde, wie jetzt den alten; aber für zwei oder drei Jahrzehnte vielleicht bot die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte immerhin einige Sicherheit.

Wie friedlich auch die Londoner Conferenzen ſich anließen, die Gefahr eines allgemeinen Krieges war noch mit nichten verſchwunden. Ueber Talleyrand’s Redlichkeit wußten die Oſtmächte beſſer Beſcheid als Wel - lington; die glatten Worte des Botſchafters widerſprachen doch gar zu auffällig den Thaten ſeiner Regierung. Frankreich rüſtete unaufhörlich; im September wurden 128000 Mann, im December nochmals 80000 Mann einberufen, und dies zu einer Zeit, da Preußen zwar einige Truppen an den Rhein vorgeſchoben, aber noch kein Regiment auf Kriegs - fuß geſtellt hatte. Das Kriegsgeſchrei der Pariſer Preſſe ward täglich frecher; in Belgien, in Deutſchland, in Italien, überall trieben fran - zöſiſche Aufwiegler ihr Weſen, an den kleinen deutſchen Höfen ſprachen die Geſandten des Bürgerkönigs gern von den glücklichen Zeiten des Rheinbundes; und als im November, faſt gleichzeitig mit dem Sturze der Torys, das Miniſterium der Bewegung ins Amt trat, ſchlug auch die Regierung ſelber einen höheren Ton an. Der neue Miniſterpräſi - dent Laffitte, einer jener liberalen Börſenmänner, welche den Bürger - thron aufrichten halfen, glaubte an die welterobernde Macht der Ideen von 1789 mit der ganzen Unſchuld, deren die Seele eines lebensluſtigen Millionärs fähig iſt, und der Miniſter des Auswärtigen, der Corſe Sebaſtiani, hatte auch als Vertrauter der friedfertigen Orleans die an - maßliche Ruhmredigkeit des napoleoniſchen Generals noch nicht verlernt.

Unter den Schlagwörtern, mit denen dieſe Regierung die kriegsluſtigen Radicalen halb zu gewinnen, halb zu beſchwichtigen ſuchte, war keines wirkſamer als der prahleriſch verkündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Erſt in halbamtlichen Zeitungsaufſätzen, dann in Talleyrand’s Begrüßungs - worten an den König von England, nachher in verſchiedenen Depeſchen an die Großmächte, endlich in einer feierlichen Kammerrede Laffitte’s wurde die Behauptung aufgeſtellt, jedes Volk ſei befugt ſeine Regierung nach Gutdünken zu verändern, und keine fremde Macht dürfe ſich anmaßen in ſolche Händel einzugreifen. Die harte legitimiſtiſche Doctrin der Inter - ventionspolitik hatte die Selbſtändigkeit aller Staaten gefährdet; nun trat54IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ihr, durch einen nothwendigen Rückſchlag, eine ganz ebenſo doctrinäre radicale Lehre entgegen, welche die Gemeinſchaft des Staatenſyſtems zu zerſprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker - freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt ſei, jede Einmiſchung der Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen abzuweiſen. Hatten die Oſtmächte einſt in Troppau ſich angemaßt, jede Revolution in der Welt zu unterdrücken, ſo erhob jetzt das Juli-König - thum den noch weit gefährlicheren Anſpruch, jeden Aufruhr zu unter - ſtützen. Es war der alte Grundſatz der revolutionären Propaganda: Krieg den Paläſten, Friede den Hütten; nur erſchien er jetzt nicht mehr in ſeiner nackten Roheit, ſondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit ſchönen Worten vom Selbſtbeſtimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerſton ſäumte nicht, ſich die Lehre der Nicht-Einmiſchung zu nutze zu machen; kaum am Ruder, verkündigte er ſie ſofort als ſein Glaubensbekenntniß dem ruſſiſchen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtſam, um ſich im Ernſt durch eine doctrinäre Formel beſtimmen zu laſſen; jedoch die Politik der Orleans bedurfte, da ſie nur aus der Hand in den Mund lebte, des Aushängeſchildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich Alles willkommen, was den Unfrieden auf dem Feſtlande nährte. In Wahrheit ſagte der neue Grund - ſatz nur, daß die Weſtmächte ſich vorbehielten, nach den Umſtänden zu han - deln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenſchaften für ihr Intereſſe zu verwerthen. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf, als er einer wißbegierigen engliſchen Dame mit ſeinem fauniſchen Lächeln er - widerte: Nicht-Intervention iſt ein geheimnißvolles diplomatiſches Wort, es bedeutet ungefähr daſſelbe wie Intervention.

Den Oſtmächten mußte dieſe neue Völkerrechtslehre als ein unge - heuerlicher Frevel erſcheinen; denn ſie ſchlug allen Anſchauungen des vergangenen Jahrzehnts ins Geſicht und drohte die ſo lange behauptete vormundſchaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte Syſtem der europäiſchen Pentarchie zu vernichten. Metternich ſagte entrüſtet: Die Räuber weiſen die Polizei zurück, die Brandſtifter verwahren ſich gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anſpruch anerkennen, der ſo jede Ordnung der Geſellſchaft zerſtört. Nüchterner blieb Bernſtorff; er ertheilte an Bülow die Weiſung, den doctrinären Streit auf der Lon - doner Conferenz nicht ohne Noth anzuregen. Aber auch er fand, in dem neu erfundenen Syſteme der Nicht-Einmiſchung ſei der Grundſatz der anmaßlichſten, übermüthigſten und unzuläſſigſten Einmiſchung aus - geſprochen ; und in ſeinem Auftrage ſchrieb Ancillon nach Wien: Gewiß, durch den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung und durch den Anſpruch, den Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer Grenzen zu unterſagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit jeder Regierung verloren. Czar Nikolaus dagegen brauſte in wildem Zorne55Ruſſiſche Rüſtungen.auf, ſeine Kriegsluſt war kaum mehr zu bändigen. Ich habe , ſagte er heftig, von vornherein für die Legitimität kämpfen wollen und mich nur, weil ich der Jüngere bin, der reiferen Erfahrung des Königs gefügt. Jetzt aber glaubte er zu wiſſen, daß nicht bloß die königlichen Prinzen, ſondern auch ſein Schwiegervater ſelber ſeine Anſicht theile und allein Bernſtorff mit den anderen Miniſtern die lauen Maßregeln Preußens veranlaßt habe. *)Schöler’s Bericht 21. Nov. 1830.Nur ſchwer gab er dieſen Verdacht auf, den wahr - ſcheinlich Metternich’s Mittheilungen an Orlow hervorgerufen hatten.

Schon längſt hatte er zu rüſten begonnen; nun befahl er neue Aus - hebungen und ließ ſie, um die Revolution zu ſchrecken , ganz gegen den ruſſiſchen Brauch in den Zeitungen veröffentlichen. Erſt auf Schöler’s dringende Vorſtellungen geſtattete er endlich, daß Neſſelrode in einem beſchwichtigenden Rundſchreiben an die Geſandtſchaften den Ernſt dieſer Drohungen etwas abſchwächte: die angeordneten Vorbereitungen, hieß es da, verfolgten nur die Abſicht, den Frieden und die vertragsmäßige Ord - nung Europas aufrechtzuerhalten; hoffentlich werde ſchon die Ankündigung genügen, um dieſen Zweck der Erhaltung zu erreichen. **)Schöler, Verbalnote an Neſſelrode, 8. November / 27. October 1830; Neſſelrode, Circular - Depeſche 29. October a. St., nebſt Begleitſchreiben an Schöler.Unterdeſſen erſchöpfte Diebitſch in Berlin ſeine ganze Beredſamkeit, um immer wieder zu beweiſen, wie nothwendig der große Krieg und wie leicht er zu führen ſei. Doch ſeine diplomatiſchen Künſte, die ſich vor’m Jahre in Adrianopel ſo glänzend bewährt hatten, verſagten diesmal. Friedrich Wilhelm blieb feſt, und als der Feldmarſchall endlich in den erſten Decembertagen heim - kehrte, gab man ihm eine große, ſorgfältig vorbereitete Denkſchrift mit auf den Weg, welche dem Czaren noch einmal die leitenden Gedanken der preußiſchen Friedenspolitik vor die Augen führen ſollte. ***)Bernſtorff, Mémoire sur la position de la grande alliance relativement à la France et à l’Europe, 24. November 1830. Entwurf dazu v. 9. Nov., nebſt Fragen und Anweiſungen des Königs.

Nichts lag dem Könige ferner als der Gedanke einer Annäherung an den liberalen Weſten. Auf dem Bunde der Oſtmächte fußten alle ſeine Pläne, und auch der alten übermäßigen Vorliebe für die Ruſſen hatte er keineswegs entſagt. Rußland , ſo ſagte er, iſt und bleibt die kräftigſte Stütze der Allianz, ſowohl wegen des hochherzigen Charakters ſeines Souve - räns, als wegen der Trefflichkeit ſeiner Heere. Er wollte nicht den Frieden um jeden Preis, ſondern verlangte, die großen Mächte ſollten dem Hofe des Palais Royal gemeinſam erklären, daß ſie die Politik der revolutio - nären Propaganda nicht dulden würden. Bei offenbarer Feindſeligkeit Frankreichs war er bereit, den Krieg ſogar ohne Englands Mitwirkung zu beginnen, während man in Petersburg ſelbſt noch immer an die Fort -56IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.dauer des Vierbundes glaubte. Aber er ließ zugleich dem Czaren vor - halten, daß dieſer ſchwere Krieg die öffentliche Meinung der Deutſchen entſchieden gegen ſich habe, vielleicht ſogar Aufſtände in Deutſchland und Polen hervorrufen würde. Auf die alte Freudigkeit der Preußen ſei nur zu rechnen, wenn das Volk wiſſe, daß man alle friedlichen Mittel erſchöpft habe. Darum verlangte er eine genaue, unzweideutige Verabredung: wann der Kriegsfall gegeben ſei?

Es war die Sprache des ruhigen Verſtandes; aber wie konnte ſie den blinden Haß überzeugen? Hier der prahleriſche Hochmuth des Selbſt - herrſchers, dort die freche Begehrlichkeit der Revolution, hüben und drüben die wachſende Wucht der Rüſtungen wer konnte dieſen Mächten des Verderbens noch Einhalt gebieten auf ihrer abſchüſſigen Bahn? Gegen Ende Novembers war die Luft mit Zündſtoff überladen; mit der einzigen Ausnahme des allezeit hoffnungsvollen Gentz glaubten gerade die ein - ſichtigſten und beſtunterrichteten Staatsmänner alleſammt, daß der Welt - friede nur noch an einem Faden hänge.

Da trat ein Ereigniß ein, das die Leidenſchaften der Parteien über - all in Europa von Neuem aufſtachelte und doch zugleich der Erhaltung des Friedens zu ſtatten kam. Die in aller Welt verbreiteten überſpannten Vorſtellungen von Rußlands kriegeriſcher Macht hatten ſchon durch die Erfahrungen des Türkenkrieges einen erſten Stoß erlitten; ſie ſchwächten ſich noch mehr ab, ſeit in Europa etwas ruchbar ward von den Ver - heerungen der aſiatiſchen Cholera. Die furchtbare Seuche, die erſt im Jahre 1817 in ihrem uralten Heimathslande Oſtindien von engliſchen Aerzten beobachtet worden war, drang ſeit dem Sommer 1829, zumeiſt den Waſſerläufen folgend, im Innern Rußlands unaufhaltſam vor. Da die Heilkunde noch rathlos vor der geheimnißvollen Krankheit ſtand, ſo griff der Staat zu den härteſten Vorſichtsmaßregeln: ganze Provinzen wurden abgeſperrt, alle Briefe durchſtochen, die Reiſenden durchräuchert und in Quarantäne gehalten; aber die Roheit des Volks und die Un - zuverläſſigkeit der Beamten brach allen Vorſchriften die Spitze ab. Im September 1830 kam die Cholera nach Moskau; der Pöbel wüthete gegen die Polen und die anderen Fremden, die den Giftſtoff eingeſchleppt haben ſollten; nur das perſönliche Eingreifen des furchtloſen Czaren ſtellte die Ruhe wieder her. In manchen Theilen des ungeheueren Reiches war alle bürgerliche Ordnung ſo aufgelöſt wie einſt in Weſteuropa, als der ſchwarze Tod durch die Lande raſte. Freund und Feind begannen ſchon zu ahnen, ein alſo heimgeſuchter Staat werde ſchwerlich ein großes Heer über ſeine Grenzen hinausſenden können. Und dieſe Vermuthung ward zur Gewißheit, als am 29. November plötzlich der Aufruhr in Warſchau ausbrach.

57Rußland und Polen.

Auch Polen erlebte ſeine große Woche. Nach wenigen Tagen war der letzte Ruſſe aus den Landen des weißen Adlers vertrieben, und der Czar durch einen furchtbaren Feind vom Weſten abgetrennt. Wieder wie in den Niederlanden brach eine der willkürlichen Staatsbildungen der Wiener Verträge plötzlich zuſammen; hier lag die Schuld jedoch mehr an den Menſchen als an den künſtlichen Inſtitutionen. Der wohlge - meinte Verſuch Kaiſer Alexander’s, die Unabhängigkeit Polens unter ruſſiſchem Schutze theilweiſe wiederherzuſtellen, ſcheiterte an der unheil - baren Zuchtloſigkeit des polniſchen Adels. Seit fünfzehn Jahren beſaß das Königreich ſein eigenes, durch die napoleoniſchen Veteranen wohl ge - ſchultes Heer und eine nationale Verwaltung, die faſt ebenſo wohlthätig wirkte wie einſt die preußiſche: ſie brachte den Staatshaushalt in treff - liche Ordnung, gründete eine Univerſität, eine Bank, eine Pfandbriefs - Anſtalt, ein gutes Poſtweſen, einige Kunſtſtraßen und Kanäle. Das ſchwerſte Leiden des Landes, die Rechtloſigkeit der mißhandelten Bauern, erſchien dem Adel, der hier allein das Wort führte, keineswegs als ein Uebel. Wohl unterlag die Preſſe einer harten Cenſur, doch erſt ſeit ſie ihre Freiheit maßlos mißbraucht hatte; auch die Oeffentlichkeit der Reichs - tagsverhandlungen wurde beſeitigt, doch erſt ſeit das Geſchrei der radicalen Jugend auf den Gallerien die Berathungen faſt unmöglich machte. Im Uebrigen beſtand die Verfaſſung unangetaſtet; unter den rohen Wuth - ausbrüchen des Statthalters Großfürſten Conſtantin litten nur Einzelne, meiſt Offiziere, da der Statthalter lediglich militäriſche Befugniſſe beſaß.

Wie ungern immerhin der herriſche Nikolaus die Erbſchaft ſeines völkerbeglückenden Bruders antreten mochte: er beſchwor die Verfaſſung, und den Buchſtaben des Rechts zu verletzen war ſeine Weiſe nicht. Zwar verſchob er anfangs die Berufung des Reichstags über die geſetzliche Friſt hinaus was ſich durch die Kriege und die inneren Wirren ſeiner erſten Regierungsjahre zur Noth entſchuldigen ließ aber im Frühjahr 1830 kam er ſelbſt nach Warſchau, um den Reichstag zu eröffnen. Es hängt von Euch ſelber ab, rief er der Verſammlung zu, das Werk des Wiederherſtellers Eures Vaterlandes zu befeſtigen, indem Ihr die Befugniſſe und Vorrechte, welche er Euch auferlegt hat, mit Weisheit und Mäßigung gebraucht. Mit ſchauſpieleriſchem Geſchick zeigte er ſich in Warſchau nur als König von Polen und verſäumte keine Gelegenheit den nationalen Erinnerungen ſeine Huldigung zu erweiſen; er errichtete ein Denkmal für den Volkshelden Sobiesky, als ſeinen Vorgänger auf dem Throne, vertheilte reiche Geſchenke, gab glänzende Feſte, denen auch einige der jungen preußiſchen Prinzen beiwohnten, und mit der Geduld eines conſtitutionellen Fürſten ertrug er ſchweigend die Ausfälle der ra - dicalen Mehrheit der Landboten. Als der Reichstag nach ſtürmiſcher Tagung wieder nur ein einziges, unerhebliches Geſetz zu Stande brachte, ſprach Nikolaus kalt und hochmüthig ſein Bedauern aus: auch in der58IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Ferne , ſo ſchloß er, werde ich nicht aufhören für Euer wahres Glück zu ſorgen. Feindſeliger Worte enthielt er ſich, weil ihm Neſſelrode vor - ſtellte, welchen üblen Eindruck ein öffentlicher Tadel in Europa hinter - laſſen würde. *)Schmidt’s Bericht, 29. Juni 1830.

Was man auch zu klagen hatte, eine unerträgliche Willkürherrſchaft laſtete nicht auf dem Lande. Durchaus der Wahrheit gemäß geſtanden ſpäterhin Mochnacki und andere Führer der radicalen Emigranten: nicht gegen ruſſiſchen Druck hätten die Polen ſich erhoben, ſondern um ihre alte Unabhängigkeit und die Grenzen von 1772 zurückzugewinnen. Von dem Tage an, da dies halb ſelbſtändige Königreich aufgerichtet wurde, waren alle namhaften Männer des Adels einig in der Hoffnung auf völlige Wiederherſtellung, auf Wiedervereinigung mit den verlorenen Brü - dern in Poſen und Weſtpreußen, in Litthauen und Podolien. Redlich, ohne Hintergedanken ſchloß ſich faſt Niemand der neuen Herrſchaft an.

In den langen Jahrhunderten, da die Nachbarn zu ſagen pflegten: Polen beſteht nur durch Unordnung, waren dieſem unſeligen Volke die ſchlichten Tugenden des Bürgers ganz verloren gegangen; der pol - niſche Edelmann verſtand nur für ſein Vaterland zu kämpfen, zu leiden und Verſchwörungen zu ſchmieden, nicht ihm zu dienen in nüchterner Arbeit. Sogar Alexander’s Freund Fürſt Adam Czartoryski wiederholte dem Kaiſer unabläſſig: dies Königreich, das um ein Drittel kleiner ſei als das Herzogthum Warſchau, könne nur als eine Abſchlagszahlung, eine pierre d’attente gelten; und er handelte nach ſeinen Worten, er mißbrauchte ſein Amt als Curator der Univerſität Wilna um ſeinen Lehrbezirk zu poloniſiren und für die Einverleibung vorzubereiten bis ſein nachſichtiger Gönner ihm endlich doch das gefährliche Handwerk legen mußte. Die ganze Geſchichte dieſer anderthalb Jahrzehnte war nur eine Kette von Verſchwörungen. Erſt der nationale Freimaurerbund, nachher die Patriotiſche Geſellſchaft beherrſchte das Königreich ſowie die Nachbargebiete durch Sendboten und geheime Vereine. Bald waren die geſammte gebildete Jugend, der Landadel und der größte Theil der Offiziere für die Verſchwörung gewonnen; nur die Bauern hielten ſich fern, desgleichen das neue Bürgerthum, deſſen erſte Keime jetzt unter dem Schutze einer geordneten Verwaltung aufzuſprießen begannen. Ver - geblich ſuchte ſich die Krone durch eine ſpüreifrige geheime Polizei zu decken. Als es im Jahre 1827 endlich gelang, einige der Häupter, Mit - wiſſer der ruſſiſchen Dekabriſten, aufzugreifen, da wurden ſie trotz erwie - ſener Schuld von dem höchſten Staatsgerichtshofe, dem Senate theils frei - geſprochen, theils zu lächerlich geringen Strafen verurtheilt; und Adam Czartoryski ſelbſt, der liebenswürdige, feingebildete Führer der gemäßigten ariſtokratiſchen Partei verfaßte dies Urtheil, das jedem Rechte ins Ge -59Die große Woche in Warſchau.ſicht ſchlug, jedem Hochverrath einen Freipaß ausſtellte. Der Adel froh - lockte, er war längſt gewohnt alle Staatsverbrecher als Patrioten zu verherrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerſtand hin, und ſeitdem führten die Polen mit wachſender Dreiſtigkeit jenen kleinen Krieg gegen die Behörden, deſſen Neckereien ihnen ebenſo ge - läufig waren wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzu - fangen mit der Obrigkeit und dann den Märtyrer zu ſpielen gehörte zum guten Tone unter den jungen Männern.

Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Koſciuszko’s, die geliebte Tricolore wieder ſchwenkte, da wirbelte die Begeiſterung hoch auf. In der Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo - leoniſchen Erinnerungen wieder lebendig; Niemand in dieſen Adelskreiſen bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geſchlagen habe. Sendboten der franzöſiſchen Radicalen mahnten zu raſcher That, aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Czar Nikolaus gegen Frank - reich kämpfen, das polniſche Heer als Vorhut vorausſenden wolle. Noch beſtand kein feſter Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un - treue genügte ein Funke den Brand zu wecken. Die Entſcheidung fiel, als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord - verſuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuchlings niederſtieß und den Warſchauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürſt Conſtantin verlor Muth und Faſſung; er hatte die Polen auf ſeine Weiſe lieb gewonnen und ſcheute ſich in ihre Händel einzugreifen. Ich und die Meinen, wir wollen rein aus dieſen Wirren hervorgehen ſo entſchuldigte er ſeine Schwäche. *)Schmidt’s Bericht, 14. December 1830.Ohne einen Widerſtand zu wagen, zog er mit ſeinen ruſſiſchen Regimentern heimwärts und überließ das Land ſeinem Schickſale. Das ganze Königreich mitſammt den ſtarken Feſtungen des Weichſelthals ſchloß ſich ſofort der Sache der Sieger an. Das war kein Aufſtand mehr. Ein ſelbſtändiger Staat mit geordneten Behörden, mit vollem Schatze und wohlgerüſtetem Heere trat Macht gegen Macht dem Czarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen werden.

Inzwiſchen nahmen die Dinge in Warſchau den herkömmlichen Verlauf aller polniſchen Revolutionen: Kampfluſt und Opfermuth im Ueberſchwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde Prieſter und hochſinnige ſchöne Frauen, dazu Punſch und Mazurka ſo - viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit, wüthende Anklagen herüber und hinüber, und in dieſem Gewoge tapferer begeiſterter Männer kein einziger ſtaatsmänniſcher Kopf, kein einziger großer Charakter. Für die Maſſen des Volks und ihre Leiden hatten die Freiheitsredner dieſer Adelsverſchwörung kein Auge; der Antrag die60IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Frohnden abzulöſen, den Bauern Grundeigenthum zu geben, ward vom Reichstage verworfen. Eine Zeitlang wiegte man ſich noch in dem kind - lichen Wahne, der Czar könne durch friedliche Verhandlungen beſchwichtigt, ja ſogar zur Einverleibung von Litthauen und Podolien bewogen werden. Bald aber errang ſich der Radicalismus das Herrenrecht, das ihm bei Aufſtänden gebührt. Adam Czartoryski und ſein gemäßigter Anhang mußte ſich den Geboten Lelewel’s, Mochnacki’s und der Jacobinerpartei fügen. Am 25. Januar 1831 beſchloß der Reichstag die Entthronung des Hauſes Romanow.

Die große Woche der Polen ward von der geſammten liberalen Welt Europas kaum minder freudig begrüßt als die Juli-Revolution ſelber. Der alte Haß gegen die ruſſiſche Selbſtherrſchaft, der ſchon in den erſten Friedensjahren ſich geregt und erſt während des Türkenkrieges ſich etwas vorloren hatte, flammte wieder auf; Niemand wollte bemerken, daß der römiſche Clerus in Polen faſt ebenſo eifrig wie in Belgien die Sache des Aufſtandes gefördert hatte. Der ſarmatiſche Adel erſchien den er - hitzten Köpfen wie ein Vorkämpfer der Freiheit. Auch die menſchliche Theilnahme aller weichen Herzen war ihm ſicher, da man dies Volk noch überall nach den landläufigen Märchen der franzöſiſchen Hiſtoriker als unſchuldiges Opfer einer gewiſſenloſen Cabinetspolitik bemitleidete. Ein unbefangenes Geſchichtswerk über die Theilungen Polens war noch nicht erſchienen; ſelbſt Dahlmann wollte in dem ſelbſtverſchuldeten Untergange der alten Adelsrepublik nichts ſehen als den kalt berechneten Volksmord. Die Polen theilten mit dem römiſchen Stuhle das Schickſal, daß die ihnen gewidmete Verehrung mit der räumlichen Entfernung wuchs. Ihre Nachbarn in den preußiſchen Grenzlanden wußten wohl, wie tief der polniſche Bauer unter dem ruſſiſchen ſtand; im Weſten aber, wo Niemand je ein polniſches Dorf betreten hatte, hielt man ſich an die herkömmlichen Begriffe von lateiniſcher und byzantiniſcher Cultur, und glaubte treuherzig, dieſe willenloſe, von Junkern, Pfaffen, Juden getretene Maſſe bilde ein ſtarkes Bollwerk gegen die aſiatiſche Barbarei. Die Freiheit der Völker und die Geſittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen Adlers ſo lautete das allgemeine Urtheil.

Der Czar aber ließ ſich in ſeinen vermeſſenen Entwürfen nicht beirren. Die Warſchauer Revolution, ſo ſchrieb Neſſelrode ſtolz nach London, ändert nichts an der Haltung, welche S. Majeſtät von Anfang an gegenüber den allgemeinen Angelegenheiten Europas eingenommen hat. *)Neſſelrode an Lieven, 4. December (a. St.) 1830.Nikolaus verachtete die Polen, wie jeder echte Moskowiter; auf dem Durch - marſch, in wenigen Wochen ſollte ſein unbeſiegliches Heer dieſe Empörer zermalmen um dann hinauszufluthen über das rebelliſche Weſteuropa. Auch Diebitſch beharrte in ſeiner Verblendung. Der meinte ſelbſtzufrie -61Krieg in Polen.den: wäre man in Berlin meinem Rathe gefolgt, ſo ſtänden heute das polniſche Heer am Rhein, das ruſſiſche an der Weichſel; und einem Ab - geſandten der Warſchauer Regierung erwiderte er ſpöttiſch: Ihr habt die Zeit ſchlecht gewählt, die Kriegsmacht des Kaiſers rückt bereits nach dem Weſten vor! Der Feldmarſchall erhielt den Oberbefehl und hoffte ſchon im Februar unter den polniſchen Empörern aufzuräumen; war dort die Revolution gebändigt, ſo ſollte Preußen in den großen Kreuzzug für die Legitimität hineingeriſſen werden und im Mai das Heer des Türken - beſiegers am Rheine eintreffen. Darum erging Marſchbefehl an die Garden, die erſt im März, alſo nach der erhofften Unterwerfung, in Polen anlangen konnten, auch die kaiſerliche Feld-Equipage war ſchon unterwegs. Die Ruſſen zogen freudig in den Kampf gegen die alten Feinde ihrer Nation; überall ging die Rede: den einzigen Lohn, den Rußland aus ſeinem ſiegreichen Kriege wider ganz Europa davongetragen hat, laſſen wir uns nicht rauben. Sie grollten längſt, weil dies eroberte Land größerer Rechte genoß als die Eroberer ſelber; jetzt forderten ſie laut die völlige Einverleibung des meuteriſchen Nebenreiches. *)Schöler’s Bericht, 29. Januar 1831.Nach - haltigen Widerſtand befürchtete Niemand; die meiſten Offiziere der Garde erwarteten gleich dem Feldmarſchall einen raſchen Siegeszug bis zur Seine, und mancher ſagte beim Abſchied, erſt aus Paris werde er heimſchreiben. Der Uebermuth der Moskowiter ſollte ſich hart beſtrafen.

Durch die europäiſchen Kreuzzugspläne des Czaren wurde der polniſche Feldzug ſchon in ſeiner Anlage verdorben, wie General Schöler warnend vor - herſagte. Diebitſch begann den Krieg zu früh, mit ungenügenden Mitteln; um nur raſch fertig zu werden führte er ſogar die litthauiſchen Truppen, deren Treue längſt verdächtig war, gegen ihre polniſchen Landsleute ins Feuer. **)Schöler’s Berichte, 16. Januar, 22. März, 2. Mai 1831.Das herriſche Manifeſt, das vor ihm herging, verſchärfte lediglich den Haß; auf dem Schlachtfelde vergaßen die Polen ihrer Zwietracht und bewährten überall den alten Muth. Als Diebitſch gradeswegs gegen Warſchau vorgedrungen, bei Grochow auf dem alten Schlachtenboden des rechten Weichſelufers die Polen geſchlagen hatte (25. Februar), da fühlte er ſich nicht mehr ſtark genug den Sieg zu benutzen, ganz wie einſt König Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1794; er wagte nicht, nach dem Rathe ſeines kühnen Generalſtabschefs Toll, den Brückenkopf der Hauptſtadt, Praga zu ſtürmen und alſo mit einem Schlage den Krieg zu beendigen. Und ganz wie damals wendete ſich das Blatt ſobald der günſtige Augen - blick verſäumt war. Das ruſſiſche Heer mußte den Rückzug antreten, durch wegloſe Gelände, bei unerwartet frühem Thauwetter; die Cholera wüthete in ſeinen Reihen. Zu Ende März brachen die Polen, jetzt von dem tapferen Skrzynecki geführt, aus den Wällen Pragas hervor, ſchlugen62IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.das unzuverläſſige litthauiſche Corps des Generals Roſen, und bald ſah ſich Diebitſch genöthigt noch weiter oſtwärts zurückzugehen. Die Garden trafen auf ihrem Pariſer Siegeszuge grade noch rechtzeitig ein um in Polen das Verderben aufzuhalten. Ein langer und ſchwerer Krieg ſtand bevor; mit heller Schadenfreude verkündeten die europäiſchen Zeitungen, wie ſchwach der gefürchtete nordiſche Koloß ſich erwieſen habe. Auf viele Monate hinaus war Rußland außer Stande in die Händel Weſteuropas thätig einzugreifen.

Aber auch die beiden anderen Theilungsmächte wurden durch die polniſche Revolution gelähmt. Wieder wie einſt beim Beginne des erſten Revolutionskrieges ſtand Preußen in Gefahr zwiſchen zwei Feuer zu ge - rathen; kein preußiſcher Staatsmann durfte verkennen, was die Pflicht der Selbſterhaltung gebot. Blieb der Aufſtand in Warſchau ſiegreich, ſo waren Poſen und Weſtpreußen ſchwer gefährdet, und in Frankreich gelangte vorausſichtlich die Partei der revolutionären Propaganda ans Ruder. An dieſer handgreiflichen Wahrheit konnten die glatten Worte der Polen nichts ändern. Graf Titus Dzialynski, das Oberhaupt der Poſener Verſchwörer, eilte ſobald die Revolution ausgebrochen war, nach Warſchau, um anzufragen, ob eine Schilderhebung in Poſen rathſam ſei. Die proviſoriſche Regierung aber, die noch unter Czartoryski’s behutſamer Leitung ſtand, wies ihn ab und beeilte ſich, in einem um einen Tag vordatirten Briefe dem preußiſchen Conſul Schmidt unaufgefordert zu erklären: ſie hege die feſte Abſicht, gewiſſenhaft die Grenzen aller Staaten Sr. Maj. des Königs von Preußen zu achten. Zum Ueberfluß kam der harmloſe Poſener Graf ſelber zu dem Conſul und verſicherte gemüth - lich, er ſei nur nach Warſchau gereiſt um ſeine Mutter zu beſuchen. *)Schreiben der Proviſoriſchen Regierung an Schmidt, 4. December. Schmidt’s Berichte, 5. 9. December 1830.Wen ſollten ſolche Künſte täuſchen? Während Tag für Tag Ueberläufer aus Preußen in das polniſche Heer eintraten darunter auch der aus Glogau entflohene General Uminski und ſogar eine Poſener Reitertruppe ge - bildet wurde, rechneten die Warſchauer Gewalthaber noch immer auf die deutſche Gutherzigkeit und ließen den König durch General Kniaziewicz um ſeine Vermittlung bitten. Friedrich Wilhelm lehnte das Geſuch ſchroff ab und gab den Aufſtändiſchen den Rath, ſich ihrem Könige zu unter - werfen. **)Schmidt’s Bericht, 27. December 1830. Ancillon’s Weiſung an Schöler 19. Ja - nuar 1831.Er durfte in ihnen nur Feinde ſeines eigenen Staates ſehen, rief ſeinen Conſul aus Warſchau zurück und ſtellte die in Berlin verwahrten Gelder der polniſchen Bank dem rechtmäßigen Könige zur Verfügung.

Als die Dinge ernſter wurden, ließ er die 130 Meilen lange Grenz - linie durch Truppen der vier öſtlichen Armeecorps beſetzen. Gneiſenau63Beſetzung der deutſchen Oſtgrenze.übernahm den Oberbefehl über dieſe vier verſtärkten Corps und er ent - ledigte ſich des peinlichen Auftrags nach ſeiner großen Weiſe. Selbſt die grollenden Edelleute in Poſen beugten ſich vor der milden Hoheit des alten Helden. Er begegnete ihnen nicht ohne geringſchätzige Ironie, da er ihre unausrottbare Vorliebe für krumme Wege kannte. In Kleinig - keiten nachſichtig hielt er doch ſtreng darauf, daß der Zuzug zu den Aufſtändiſchen aufhörte; und es ward hohe Zeit, denn unbekümmert um die Friedensmahnungen ihres Erzbiſchofs Dunin hatten ſich ſchon an 12000 Mann aus der Provinz den Polen angeſchloſſen. Der Feld - marſchall war angewieſen, dem ruſſiſchen Heere die Verpflegung zu er - leichtern, aber nur im äußerſten Nothfall in den Kampf einzugreifen, da die Ruſſen ſelbſt, um ihres Anſehens willen, dies Einſchreiten nicht wünſchten. Von Diebitſch’s Feldherrngaben dachte er nicht hoch, dieſer ganze polniſche Krieg erſchien ihm nur als eine geringfügige Epiſode; ſein Blick blieb nach Weſten gerichtet, ſeine letzten Gedanken galten dem nahen Kampfe gegen das Karthago an der Seine.

Alſo mußte faſt die Hälfte des preußiſchen Heeres zur Sicherung der Oſtgrenze verwendet werden. Nicht ganz ſo ſchwer hatte Oeſterreich unter den polniſchen Wirren zu leiden. Für Galizien ſtand wenig zu befürchten, weil die rutheniſche Bauernſchaft ihre ſarmatiſchen Herren ver - abſcheute und auch die polniſchen Edelleute dieſes Landſtrichs bei Weitem weniger Eifer für den Aufſtand zeigten als die preußiſchen Polen. Von jeher war das katholiſche Oeſterreich den Polen minder verhaßt geweſen als die beiden anderen Theilungsmächte, und da nun der mächtige ma - gyariſche Adel jede Niederlage ſeiner ruſſiſchen Todfeinde mit ſtürmiſcher, faſt drohender Freude begrüßte, da der Statthalter von Galizien, Fürſt Lobkowitz ſeine polniſche Geſinnung kaum verbarg und ſelbſt das ſtille Wien für die ſarmatiſchen Helden ſich begeiſterte, ſo verfielen die Polen in leichtſinnige Selbſttäuſchungen. In der argen Schule ihres Verſchwörer - lebens hatten ſie längſt gelernt, Hoffnung für Wirklichkeit, leere Worte für Thaten zu nehmen; an allen Höfen arbeiteten ihre Sendboten, und jede hingeworfene Aeußerung menſchlichen Mitgefühls klang ihnen wie ein Verſprechen kriegeriſcher Hilfe. Adam Czartoryski warf unter ſeinen ariſtokratiſchen Freunden die Frage auf, ob man nicht den Erzherzog Karl zum Könige von Polen wählen und alſo Oeſterreichs Beiſtand ge - winnen ſolle; und doch mußte er wiſſen, daß grade dieſer Name den mißtrauiſchen Kaiſer Franz nur abſchrecken konnte. Er ließ durch ſeinen Bruder Conſtantin die Vermittelung der Hofburg erbitten und ſchrieb dann ſelbſt an Metternich um wegen der Wahl des Erzherzogs anzu - fragen. Nachher ward Graf Clam, der Vertraute des Staatskanzlers in tiefem Geheimniß nach Mähren eingeladen, wo ihn polniſche Unter - händler erwarteten. Als der Aufſtand ſchon im Erlöſchen war kam Czartoryski’s Neffe Graf Zamoiski nach Wien, bat nochmals um Oeſter -64IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.reichs Hilfe und erbot ſich, die Krone der Jagellonen irgend einem Erz - herzoge, welcher es auch ſei, zu verſchaffen. *)Maltzahn’s Berichte, 18. 28. Januar, 21. Februar, 4. September 1831.

Das Alles war verlorene Mühe, obwohl die polniſchen Blätter be - ſtändig von der günſtigen Geſinnung des Wiener Hofes fabelten. Andert - halb Jahre früher, zur Zeit des Türkenkrieges, hätte Metternich die pol - niſche Revolution vielleicht willkommen geheißen; jetzt da er den Bund der Oſtmächte wieder feſter zu ſchließen ſuchte, war ſie ihm nur eine Revolution wie alle anderen . Eine Hinterthür hielt er ſich freilich offen, indem er den k. k. Conſul Oechsner, zum Befremden des Czaren, während des Krieges in Warſchau bleiben ließ; jedoch die Erwählung eines Erz - herzogs wies er als einen abſurden Gedanken kurzweg ab. Um ſeinen Abſcheu kräftig zu bekunden, bereicherte er ſogar das Wörterbuch ſeiner Angſt-Sprache um eine ſechſte Metapher und nannte dies Polen ein Pulvermagazin , das alle Nachbarn in die Luft zu ſprengen drohe. Auch Gentz, der alte Gegner Rußlands, mußte zugeſtehen, daß Oeſterreich jetzt nicht viel anders handeln durfte als Preußen. In der That gab Kaiſer Franz den Polen faſt dieſelbe Antwort wie König Friedrich Wilhelm; nur dem Fürſten Czartoryski, der bei Hofe wohlgelitten war, und einigen ſeiner Standesgenoſſen verſprach man unter der Hand ein Aſyl in Oeſterreich. Die galiziſche Grenze wurde ſtark beſetzt und dem ruſſiſchen Heere die Zufuhr von Lebensmitteln freundnachbarlich geſtattet.

Da die Oſtmächte feſt zuſammenſtanden, ſo konnte Czar Nikolaus ſich jede Einmiſchung Frankreichs von Haus aus ſcharf verbitten. In hoffärtigem Tone ſchrieb Neſſelrode nach Paris: Wenn die Regierung des Königs Ludwig Philipp bisher ſcheinbar mit Ungeduld den rechten Augenblick erwartet hat um Europa eine Bürgſchaft der Sicherheit zu geben und ſich das Vertrauen des Kaiſers zu erwerben, ſo darf ſie nicht verſäumen, die gegenwärtige Gelegenheit weiſe zu benutzen. Ihre Würde wie ihr Intereſſe gebieten ihr dies zu thun. **)Neſſelrode, Weiſung an Pozzo di Borgo, 28. Nov. (a. St.) 1830.Die herriſche Mahnung fand willige Hörer. Ludwig Philipp wußte wohl, daß der völlig aus - ſichtsloſe Verſuch in die polniſchen Händel einzugreifen, nur den Feinden ſeines Hauſes zu gute kommen konnte. Denn obwohl alle Parteien Frankreichs für dies Belgien des Oſtens, dies liberale und katholiſche Volk, den natürlichen Bundesgenoſſen der Franzoſen ſchwärmten, ſo zeichneten ſich doch die Republikaner und die verkappten Bonapartiſten durch verdächtigen Eifer aus. Dieſelben Blätter, welche den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung als die Heilswahrheit neu-franzöſiſcher Freiheit prieſen, forderten mit der unbefangenen Logik des Radicalismus die Einmiſchung zu Gunſten der Polen. Der greiſe Lafayette erhob in einer ſchwülſtigen Erklärung feierlichen Einſpruch gegen das Vorgehen der65Revolution in Italien.Ruſſen; Caſimir de la Vigne ſchilderte rührſam den weißen Adler, wie er hoffend auf Frankreichs Regenbogen blickte, und als dieſer Regenbogen dem Adler nicht half, ſang Barthelemy wüthend: Cachons-nous, cachons - nous! Nous sommes des infâmes! Solchen Freunden wollte der Bürger - könig das gebrechliche Schifflein der Orleans nicht anvertrauen. Um die maßlos erregte öffentliche Meinung etwas zu beſchwichtigen, ließ er nur bei den großen Höfen behutſam anfragen, ob vielleicht eine gemein - ſame Vermittlung der Mächte möglich ſei; doch in Berlin wie in Wien ward das Anerbieten rundweg abgelehnt. *)Maltzahn’s Bericht, 23. März 1831.

Desgleichen in London. Den Griechen hatte Canning einſt unbe - denklich Beiſtand geleiſtet, weil der engliſche Handel im ägeiſchen Meere durch den helleniſchen Krieg zu Grunde gerichtet wurde. Sein Schüler Palmerſton handelte nur im Geiſte des Meiſters, als er den Polen jede Hilfe abſchlug; denn ein Zerwürfniß mit Rußland war der Untergang des einträglichen Oſtſeehandels. Der Lord empfing daher den Abgeſandten der Warſchauer Regierung, den geiſtreichen jungen Marquis Wielopolski ſehr kühl und redete würdevoll von der Heiligkeit der europäiſchen Ver - träge, die er doch ſelber in dem belgiſchen Streite leichtherzig preisge - geben hatte. Er ward ſogar durch die polniſchen Wirren näher an die Oſtmächte herangedrängt und ließ nach Paris ſehr nachdrückliche War - nungen ergehen. Mißtrauiſch wie er gegen alle Ausländer war, be - fürchtete er immer, Ludwig Philipp könne durch die Schmeicheleien der polniſchen Agenten, durch die Brandreden der radicalen Propaganda doch noch in einen Krieg hineingeriſſen werden, der die Intereſſen der britiſchen Handelspolitik ſchädigte. Und wie nahe lag doch die Gefahr, daß die unglücklichen Iren, die von ihren fremden Zwingherren unvergleichlich härter mißhandelt wurden als die Polen, dann auch die Hilfe des frei - heitſpendenden Frankreichs anriefen! Nur in der Stille und ohne jeden Erfolg bekundete er den deutſchen Mächten zuweilen ſeinen Unmuth über die allzu harte Behandlung der Polen.**)Maltzahn’s Berichte 30. März, 3. Juli 1831.

Um die Verwirrung der europäiſchen Lage zu vollenden, brach end - lich im Februar 1831 auch in Italien der längſt erwartete Aufruhr aus. Nirgends zeigte ſich die unberechenbare, zwiſchen Furcht und Begehrlichkeit ſchwankende Politik der Orleans ſo gewiſſenlos; ſie führte hier den alten, durch Frankreichs Ueberlieferungen gebotenen Kampf gegen Oeſterreichs Herrſchaft mit ſchlechten demagogiſchen Waffen fort und reizte die unglück - lichen Italiener zu thörichten Aufſtänden, die ſie doch nicht ernſtlich zu unterſtützen wagte. Da wurden zuerſt die nach Frankreich geflüchteten piemonteſiſchen Unzufriedenen durch die franzöſiſchen Behörden dermaßen begünſtigt und aufgeſtachelt, daß der geängſtigte Turiner Hof ein Schutz -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 566IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.bündniß mit Oeſterreich ſchloß und der neue König Karl Albert von Carignan derſelbe, der einſt vor der Rache des Wiener Hofes bei den franzöſiſchen Bourbonen Schutz geſucht hatte ſich in tödlichem Haſſe von Frankreich abwendete. Dann warf ſich die franzöſiſche Pro - paganda auf Mittelitalien. Sendboten der Pariſer Geheimbünde über - ſchwemmten das Land, Ludwig Philipp ſelber zahlte Geld an die Ver - ſchwörer freilich nur eine bettelhafte Summe, nach der geizigen Weiſe der Orleans; und noch bethörender wirkte der in Paris ſo prahleriſch ver - kündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Die Verſchworenen glaubten feſt, Oeſterreich könne keine Einmiſchung wagen, weil Frankreich die Re - volution mit ſeinen Waffen ſchirmen würde dies verſicherte ihnen der alte Unheilſtifter Lafayette heilig und mit den elenden Truppen ihrer Kleinfürſten und Prieſter meinten ſie leicht fertig zu werden.

Alſo auf Frankreichs Schutz vertrauend wagten ſie den Kampf. Im Laufe des Februar wurden die kleinen Despoten von Modena und Parma verjagt; die Romagna, Umbrien, die Marken, volle vier Fünftel des Kirchenſtaates ſchüttelten das unerträgliche Joch des Papſtthums ab. In Bologna wie in Modena trat eine revolutionäre Regierung zuſammen, und aus den wirr durch einander fluthenden Hoffnungen und Entwürfen der Patrioten ließ ſich doch ſchon erkennen, daß der nationale Gedanke in dieſem edlen Volke klarer, greifbarer, beſtimmter wurde, ſeit er aus dem aufgeregten Süden nach dem ruhigeren Norden hinüberdrang. Keine Rede mehr von den Parteifarben der Carboneria, die vor zehn Jahren in Neapel geprangt hatten. Das nationale Banner des Königreichs Italien wehte überall in den befreiten Landen, die ſich ſtolz die Vereinigten Pro - vinzen Italiens nannten; der Name des großen Stifters jenes König - reichs war in Aller Munde. Zwei ſeiner Neffen, die jungen Söhne Ludwig Napoleon’s, bemerkte man inmitten der Aufſtändiſchen, zu Roſſe, auf grünweißrothen Schabracken; manche der Verſchworenen vermaßen ſich ſchon den König von Rom aus Wien herbeizurufen.

Wunderbar, wie nun plötzlich dem Wiener Hofe die Schwingen wuchſen. Bei den Wirren der letzten Monate hatte er faſt nur die Rolle des Chors in der Tragödie geſpielt; jetzt zeigte ſich Oeſterreich ganz als italieniſche Macht. In der Beherrſchung der Halbinſel ſah Kaiſer Franz die ſtärkſte Stütze ſeines Reichs, aus den italieniſchen Beſitzungen floß ſeinen Erzherzogen der größte Theil ihrer Reichthümer zu. Metternich ſuchte, da er für die Leiden Italiens nie ein Auge hatte, den einzigen Grund der Bewegung in der heilloſen Doctrin der Nicht-Einmiſchung; er wollte, indem er die Revolution niederſchlug, zugleich dieſe neue Völker - rechtslehre durch die That widerlegen, und als ihm ſein Schlag gelungen war, rief er ſtolz: Das erſte öſterreichiſche Bataillon in Italien hat die Lehre der Nicht-Einmiſchung zu Boden geſchmettert. *)Metternich an Ficquelmont, 29. April 1831.Wohl war das67Die Oeſterreicher im Kirchenſtaate.Heer, trotz der Rüſtungen der jüngſten Zeit, noch immer in üblem Zu - ſtande,*)Maltzahn’s Bericht, 9. Januar 1831. und die Geldmittel konnten nur durch den mehr bereitwilligen als wohlfeilen Beiſtand des getreuen Hauſes Rothſchild aufgebracht werden; doch zu einem Kampfe gegen italieniſche Freiſchaaren fühlte ſich die alte Kaiſer - macht noch ſtark genug. Sobald der Papſt und die vertriebenen Fürſten ihren Hilferuf nach Wien erſchallen ließen, rückten die Oeſterreicher ein, und ehe der März zu Ende ging war das geſammte aufſtändiſche Gebiet wieder unterworfen. Franz von Modena verherrlichte ſeine Rückkehr nach ſeiner Gewohnheit durch Hinrichtungen und Einkerkerungen; der Papſt aber begrüßte dankbar die auserleſene Schaar der Weißröcke, welche die Tempelſchänder aus dem Levitengebiete vertrieben habe.

Den Hof des Palais Royal hielt Metternich durch einen diplo - matiſchen Meiſterzug in Schach. Er ſendete nach Paris eine aus Wahr - heit und Dichtung kunſtvoll zuſammengewobene Darſtellung von dem Weſen und Ziele der italieniſchen Revolution (15. Februar). Danach ſollte die Bewegung allein von dem Pariſer Comité directeur ausgehen und den beſtimmten Zweck verfolgen, den Sohn Napoleon’s zum conſti - tutionellen Könige von Italien zu erheben. Einige Beweisſtücke, welche die weitverzweigten geheimen Umtriebe der Bonapartiſten aufdeckten, legte er bei; dagegen verſchwieg er weislich, daß der herriſche König von Rom keineswegs geſonnen war, den italieniſchen Patrioten als Werkzeug zu dienen, ſondern vielmehr zornglühend ſich erboten hatte, mit ſeinem guten Degen ſeiner Mutter Marie Luiſe das verlorene Herzogthum Parma wieder zu erobern. Zwiſchen den Zeilen ward dann noch ange - deutet, der Großvater Napoleon’s II. könne vielleicht doch in die Lage kommen, ſich ſeines Enkels zu bedienen. Zum Schluß die unverblümte Drohung: Unſer Bekenntniß muß von denen verſtanden werden, welche bei Strafe ihrer eigenen Vernichtung die Freunde unſerer Sache ſein müſſen; denn unſere Sache iſt im Grunde ihre eigene. Das Mittel wirkte. Die Orleans zitterten vor dem Bonapartismus, der ſelbſt in Ludwig Philipp’s nächſter militäriſcher Umgebung geheime Anhänger zählte, und der Gedanke der Einheit Italiens war der neidiſchen Politik des Bürger - königthums ganz ebenſo unheimlich wie dem Wiener Hofe. Frankreich regte ſich nicht. Erſt als der Aufſtand gebändigt war erließ das Pariſer Cabinet eine Verwahrung gegen die Beſetzung des Kirchenſtaates; von den kleinen Herzogthümern ſprach man nicht, ſie galten allgemein als ein unantaſtbares Familienbeſitzthum des Hauſes Oeſterreich. Metternich aber baute dem geſchlagenen Feinde goldene Brücken. Ganz wie vor zehn Jahren verſicherte er feierlich, Oeſterreich ſei nicht um ſeinetwillen, ſondern um der europäiſchen Ruhe willen eingeſchritten. Darum wider - ſprach er auch nicht, als auf Frankreichs Wunſch die Geſandten der fünf5*68IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Mächte in Rom zuſammentraten um über die nothwendigen Reformen im Kirchenſtaate zu berathen.

Am Berliner Hofe erregte das italieniſche Ränkeſpiel des Palais Royal lebhaften Argwohn. Ancillon, der für den erkrankten Bernſtorff jetzt das Auswärtige Amt leitete, verhehlte dem franzöſiſchen Geſandten nicht, daß der König Oeſterreichs Verhalten in Italien durchaus billige. Mit dem ganzen Wortſchwall ſeines wohlgeſalbten Predigerſtiles tadelte er den zweideutigen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung: Man kann nicht oft und nicht mannichfach genug dieſe revolutionäre Doctrin bekämpfen, welche darauf hinausläuft, daß die Empörung die heiligſte der Pflichten und Niemand berechtigt iſt deren Ausübung zu ſtören; ſie untergräbt die Unabhängigkeit der Souveräne in ihren Grundlagen, indem ſie ihnen die Möglichkeit nimmt ihre Verbündeten zu Hilfe zu rufen; ſie würde die Maßregeln, welche die Regierungen im Intereſſe ihres Daſeins und ihrer Selbſterhaltung für nöthig halten, von der Genehmigung Frankreichs abhängig machen. *)Ancillon, Weiſung an Maltzahn, 20. März 1831.Weitausſehende Verbindlichkeiten wollte der König, ſeinem alten Grundſatze gemäß, um Italiens willen nicht übernehmen; er lehnte ab, als der Turiner Hof ihn bitten ließ, gemeinſam mit Oeſter - reich die Bürgſchaft für Piemonts Sicherheit zu übernehmen. Nur zu wohlwollender Vermittlung war er gern bereit.

Unter den Geſandten der Conferenz in Rom zeigte der preußiſche den größten Eifer. Bunſen hatte ſeit er in Rom heimiſch geworden ſeine Vorurtheile gegen das italieniſche Volk längſt überwunden, er legte den Geſandten eine Denkſchrift vor (21. Mai), welche von allen gebilligt und ſeitdem durch ein Menſchenalter dem römiſchen Stuhle immer wieder als wohlgemeinte Mahnung ſeiner Beſchützer vorgehalten wurde. Ueber die Nichtswürdigkeit dieſes Prieſterregiments, das ſich ſeit dem Tode des milden Cardinals Conſalvi nur verſchlechtert hatte, war Jedermann einig. Selbſt Prokeſch v. Oſten, der abgeſagte Feind der Revolution, der in Metternich’s Auftrag die Zuſtände der Romagna beobachten ſollte, fand die Lage des Volks ganz entſetzlich. Alle Höfe, auch der Wiener, wünſchten auf - richtig das Gelingen der Reform; denn alle betrachteten den Kirchenſtaat als eine europäiſche Nothwendigkeit und hielten das Papſtthum ſelber für verloren falls ſeine weltliche Herrſchaft unterginge. Bunſen’s Vor - ſchläge lauteten verſtändig und maßvoll: er verlangte Zulaſſung der Laien zu allen obrigkeitlichen Aemtern, gewählte Räthe für die Gemeinden und die Provinzen, dazu einen Rechnungshof, der durch Laien verſtärkt den Unterſchleifen der Prieſter endlich ſteuern ſollte, und vielleicht noch einen Staatsrath. Aber wie konnte man hoffen, bei dem Papſte auch nur dieſe beſcheidenen Wünſche durchzuſetzen? Der heilige Stuhl gab halbe Zuſagen, und hielt ſie nicht, weil er ſie nicht halten konnte. Jede reine69Bunſen’s Denkſchrift über den Kirchenſtaat.Theokratie iſt Kaſtenherrſchaft; die unerläßliche Vorbedingung aller Re - formen, die Gleichſtellung der Laien durfte der gekrönte Prieſter nicht im Ernſt zugeſtehen.

Unterdeſſen forderte Frankreich, im Namen der heiligen Nicht-Ein - miſchungslehre, laut und lauter die Räumung des Kirchenſtaates, obgleich der Papſt ſelber das längere Verweilen der Beſatzungstruppen dringend wünſchte und Jedermann in Bälde einen zweiten Aufſtand erwartete. Ueber den langwierigen gereizten Verhandlungen rückte endlich der Tag heran, da die Pariſer Kammern wieder zuſammentreten ſollten. Da ſpielte Ludwig Philipp den letzten Trumpf aus, der ihm fortan immer zu ſeinen Schein-Erfolgen verhelfen mußte; er erklärte: wenn Oeſterreich nicht rechtzeitig die Romagna räume, dann könne er die Leidenſchaften ſeiner Volksvertreter nicht mehr zurückhalten, und der Krieg werde un - vermeidlich. Nunmehr gab Metternich in der Form nach, da er doch ſeinen weſentlichen Zweck erreicht hatte. Die kaiſerlichen Truppen zogen im Juli ab, aber zugleich ſchloß Graf Lützow mit der dankbaren Curie einen geheimen Vertrag, kraft deſſen Oeſterreich ſich verpflichtete, die Sou - veränität des Papſtes unter allen Umſtänden aufrechtzuerhalten, alſo beim nächſten Aufſtande den Kirchenſtaat ſogleich wieder zu beſetzen. Für dieſen Fall erbat ſich Metternich jetzt ſchon vorſorglich Preußens und Rußlands Unterſtützung. *)Metternich an Trauttmansdorff, 5. Sept. 1831.Siegesfroh erzählten die Miniſter des Bürgerkönigs der tiefen Unwiſſenheit ihrer Abgeordneten das Märchen, daß Frankreich den Papſt von dem kaiſerlichen Joche befreit habe. In Wahrheit ſtemmte der Kaiſerſtaat feſter denn jemals ſeinen Fuß auf Italiens Nacken. Das buh - leriſche Spiel der Orleans mit den Geheimbünden der Revolution trieb alle Fürſten der Halbinſel, auch den unberechenbaren Karl Albert dem Wiener Hofe in die Arme; in den nächſten Jahren blieb Oeſterreich unbeſtritten die Vormacht Italiens. Unter der Jugend des Landes aber wendeten ſich ſchon einzelne helle Köpfe, wie Graf Camillo Cavour, den conſtitutionellen Ideen des neuen Frankreichs zu; und ebenſo folgenreich ward es für eine ferne Zukunft, daß Ludwig Napoleon hier zuerſt in die Geſellſchaft der Dema - gogen eintrat. Der Prinz verlor während jener Wirren in der Romagna ſeinen älteren Bruder durch den Tod, und als bald darauf (Juli 1832) auch der Herzog von Reichſtadt ſtarb, da gingen die Erbanſprüche des napoleoniſchen Hauſes auf dieſen jungen Schweiger über. Der kriegeriſche Bonapartismus war mit dem ſtolzen König von Rom ins Grab geſunken; der neue Prätendent ging die ſtillen Wege des Verſchwörers.

Auch in der Schweiz fand die Juli-Revolution ein Nachſpiel. Nicht umſonſt hatten die Eidgenoſſen während der müden Jahre der Reſtaura - tion ein von außen her ungeſtörtes Stillleben geführt; ſie zeigten ſich jetzt bei Weitem weniger abhängig von den Pariſer Ideen als einſt, da70IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ſie die helvetiſche Republik dem franzöſiſchen Einheitsſtaate nachbildeten und dann die Mediationsakte aus Bonaparte’s Hand entgegennahmen. Obwohl ermuthigt durch das Beiſpiel der Franzoſen bewahrte die Revo - lution hier ihren ſchweizeriſchen Charakter und darum nachhaltige Lebens - kraft; ſie erſtrebte das Ziel der reinen Volksherrſchaft, das ſich aus der neueren Geſchichte der Eidgenoſſenſchaft mit Nothwendigkeit ergab. Nicht ohne Roheit und Gewaltthat, aber auch ohne ſchweren Bürgerkrieg, wurden in mehreren Cantonen, zumal in den größten und reichſten, die Herr - ſchaft der Hauptſtädte ſowie die Vorrechte der Patricier gebrochen und demokratiſche Staatsformen eingeführt, deren Schwerpunkt in der erwählten Volksvertretung, dem Großen Rathe lag. Mit den demokratiſchen Ge - danken verband ſich das Verlangen nach Reform der lockeren Bundes - verfaſſung. Indeß vermochte der Einheitsdrang in dieſem claſſiſchen Lande des Föderalismus niemals ſo übermächtig zu werden, wie in Deutſchland oder Italien. Die alten kleinen Händel der Landſchaften währten fort; in Schwyz ward der Verſuch gewagt den Canton in zwei Hälften zu zer - ſchlagen, und das radicale Baſelland riß ſich als ſouveräner Halbcanton von der conſervativen Stadt Baſel los. Da die Tagſatzung ſich zu ſchwach fühlte alle dieſe Parteikämpfe zu beherrſchen, ſo nahm ſie den modiſchen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung an. Ein ſolcher Beſchluß augenblick - licher Verlegenheit konnte auf die Dauer nicht vorhalten; früher oder ſpäter mußten die Verfaſſungs-Aenderungen der Cantone auf den Bund zurückwirken. Dies erkannte auch Metternich mit dem Scharfblicke des Haſſes. Er wußte, wie eifrig der Pariſer Hof, der allein bei der Tag - ſatzung einen Botſchafter unterhielt, ſich wieder um die ſchweizeriſche Schirmherrſchaft bemühte;*)Otterſtedt’s Bericht, Bern 12. Juli 1830. auch fürchtete er, die Einheitsbewegung der Eidgenoſſen könne den Deutſchen ein übles Beiſpiel geben. In ſeiner Angſt ſah er die Schweiz ſchon wieder dem Einheitsſtaate der helvetiſchen Republik zutreiben und gab den Oſtmächten zu erwägen, ob man eine ſolche Aenderung dulden könne, da doch jeder Canton ein wohlerworbens Recht auf Erhaltung der alten Verfaſſung beſitze und die Schweiz nur als Staatenbund von den großen Mächten anerkannt worden ſei. **)Metternicht, Memorandum sur les affaires de la Suisse 23. Nov 1831.

In der Menge dieſer Gegenſätze, welche den Welttheil erfüllten, lag doch einige Gewähr für den allgemeinen Frieden. Nur die Selbſtüber - hebung des Czaren Nikolaus mochte ſich’s zutrauen alle dieſe Knoten zugleich mit dem Schwerte zu durchhauen. Vorderhand waren die Oſt - mächte durch Polen und Italien beengt, die Weſtmächte durch innere Ver - legenheiten. So konnte denn die Vermittlungsarbeit der Londoner Con - ferenz ſtätig voranſchreiten, freilich nur unter wiederholten gefährlichen Rückſchlägen, die zumeiſt durch Frankreichs Doppelſpiel verſchuldet wurden.

71Neutralität Belgiens.

Am 20. Januar 1831 einigte ſich die Conferenz über die Grundlagen der Trennung der Niederlande: auf Bülow’s Antrag wurde die Neutralität des künftigen belgiſchen Staates angenommen, der alle Landſchaften ſüdlich der alten holländiſchen Grenze, mit Ausnahme des deutſchen Bundeslandes Luxemburg, umfaſſen ſollte. Aber während dieſer Verhandlungen rückte plötzlich Talleyrand mit ſeinen Herzenswünſchen heraus: er verlangte für Frankreich die im Jahre 1815 an die Niederlande abgetretenen Grenz - ſtriche um Philippeville und Marienburg. Jener wunderlichen Traum - welt, welche die Franzoſen ſeit ihrer großen Woche umfing, konnte ſich ſelbſt der Neſtor der Diplomatie nicht entziehen. Man war an der Seine ſo ſehr daran gewöhnt, jede Pariſer Thorheit von der geſammten libe - ralen Welt Europas nachgeſprochen zu ſehen, daß man im Ernſt glaubte, auch das Verlangen nach der Rheingrenze werde von allen freien Köpfen des Welttheils gebilligt. Die beſonneneren Franzoſen meinten ſchon einen Beweis hoher Mäßigung zu geben, wenn ſie dieſe große Grenze für jetzt noch nicht verlangten, ſondern ſich zunächſt mit der in Paris ſoge - nannten kleinen Grenze begnügten mit der Rückforderung jener ſchmalen Grenzſtreifen, welche der milde zweite Pariſer Friede von Frank - reich abgetrennt hatte. Lord Palmerſton aber erkannte ſofort, daß keine der Oſtmächte auf eine ſolche Zumuthung eingehen konnte; von allen übrigen Bevollmächtigten unterſtützt erklärte er ſich ſcharf dawider. Nun - mehr verſuchte Ludwig Philipp durch geheime Sendungen den engliſchen Hof für dieſe kleine Grenze zu gewinnen. Zugleich forderte er die Neu - tralität für Luxemburg, worauf Preußen nachdrücklich erwiderte: der Deutſche Bund, dem Luxemburg angehöre, ſei zwar nur zur Vertheidigung beſtimmt, aber keineswegs neutral. *)Bericht des Auswärtigen Amtes an K. Friedrich Wilhelm 15. Febr. Weiſung an Bülow 15. Febr. 1831.

Der König der Niederlande erklärte ſich mit den Vorſchlägen der Con - ferenz einverſtanden. Der Brüſſeler Congreß hingegen erließ, verwöhnt durch die ſeltene Gunſt des Glücks, eine leidenſchaftliche Verwahrung und berief ſich zum Schluß auf den großen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Schon dieſe Wendung ließ erkennen, daß die Belgier auf franzöſiſchen Beiſtand rechneten, und in der That erhob Frankreich plötzlich Bedenken gegen die Genehmigung der Conferenzbeſchlüſſe. Währenddem wurden große Truppenmaſſen in Lothringen, dicht an der Grenze, angehäuft, und am 28. Januar meldete der Commandirende des rheiniſchen Armeecorps, General Borſtell, er müſſe jederzeit einen plötzlichen Einfall in die Moſel - und Saarlande erwarten. Nach einer Berathung Bernſtorff’s mit den höchſten Führern des Heeres befahl der König nunmehr, das rheiniſche, das ſächſiſche und einen Theil des weſtphäliſchen Armeecorps auf Kriegs - fuß zu ſetzen, ſo daß jetzt volle zwei Drittel des preußiſchen Heeres zur72IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Bewachung der Grenzen im Oſten und im Weſten aufgeboten waren. Mit großer Offenheit ließ das Auswärtige Amt dieſe Vorſichtsmaßregeln dem Pariſer Hofe mittheilen; ſelbſt der Schein einer Herausforderung ſollte vermieden werden. *)Protokoll der Conferenz von Bernſtorff, Gneiſenau u. A. 7. Febr. Cabinets - ordre an Prinz Wilhelm d. Aelt. 16. Febr. 1831.

Die Kriegsgefahr rückte noch näher, als der Brüſſeler Congreß zur Königswahl für den neuen Staat ſchritt. Nachdem er ſchon im No - vember die Entthronung der Oranier ausgeſprochen hatte, war er jetzt keineswegs geſonnen ſeinen Beſchluß zurückzunehmen. Geſichert durch das Spiel und Gegenſpiel der großen Mächte hielten die Belgier ſich für unangreifbar. Auf dem Namen König Wilhelm’s laſtete ſeit der Be - ſchießung von Antwerpen ein furchtbarer Haß, und der ehrgeizige Prinz von Oranien hatte in jüngſter Zeit eine ſo zweideutige Rolle zwiſchen den Parteien geſpielt, daß ſein eigener Vater ihm die belgiſche Krone kaum noch wünſchte. Die Oſtmächte begannen daher bereits an den Ausſichten des Hauſes Oranien zu verzweifeln. Bernſtorff bekannte dies ſchon um Mitte Decembers; kaum vier Wochen ſpäter ließ Metternich in Petersburg die gleiche Meinung ausſprechen und fügte betrübt hinzu: was nicht Frank - reich und England mit Wärme unterſtützen kann nicht durchgeſetzt werden. Selbſt Czar Nikolaus konnte ſich der hoffnungsloſen Stimmung ſeiner Bundesgenoſſen nicht ganz erwehren; er befahl ſeinen Bevollmächtigten in London, die belgiſche Krone für den Prinzen von Oranien zu fordern; würden ſie jedoch überſtimmt, dann behalte ſich der Kaiſer vor zu ent - ſcheiden, ob ihm ein anderer Thronbewerber ungefährlich erſcheine. **)Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 17. December 1830. Metternich an Ficquel - mont, 10. Januar. Weiſung an Lieven, 19. Januar (a. St.) 1831.

Deſto kecker ſchritt der belgiſche Congreß vorwärts. Obgleich ſeine Mehrheit die Einverleibung in Frankreich nicht wünſchte, ſo meinte ſie doch, daß ihr Land nur von den Franzoſen Hilfe zu erwarten habe. Um ſich dieſen Beiſtand zu ſichern und das Intereſſe des furchtſamen Bürgerkönigs für immer an Belgien anzuketten wollte man ſeinem zweiten Sohne, dem Herzog von Nemours, den neuen Thron anbieten. Welch eine Dreiſtig - keit revolutionärer Selbſtüberhebung! Wie konnte man glauben, daß die großen Mächte dieſem Orleans, der kürzlich erſt demüthig um ſeine eigene Anerkennung gebettelt hatte, jemals geſtatten würden ſich noch eine zweite Krone für ſein Haus zu erſchleichen? Und welch ein Hohn auf die ſo - eben beſchloſſene, von den Belgiern ſelbſt freudig begrüßte Neutralität des neuen Staates, wenn man hier eine franzöſiſche Nebenkrone gründete! Ludwig Philipp erkannte auch ſofort, daß ſeine übermüthigen belgiſchen Freunde gradeswegs auf einen allgemeinen Krieg losſteuerten, und ließ in Brüſſel wie in London erklären, an die Annahme dieſer Krone ſei nicht zu denken. Doch mittlerweile tauchte ein neuer Throncandidat auf, der73Die Königswahl in Brüſſel.junge Herzog von Leuchtenberg, und augenblicklich änderte ſich die Haltung des franzöſiſchen Hofes. Sobald es galt den furchtbaren Namen der Napoleons aus dem Wege zu ſchaffen, war den Orleans kein Mittel zu verächtlich. Breſſon und Lawoeſtine, Ludwig Philipp’s Bevollmächtigte in Brüſſel, gaben nunmehr unter der Hand die heilige Verſicherung, der König werde ſeinem Sohne die Thronbeſteigung geſtatten; ſo gewannen ſie van de Weyer, Nothomb und mehrere andere der fähigſten Mitglieder des Hauſes. Am 3. Februar wählte der Congreß mit einer Mehrheit von zwei Stimmen den Herzog von Nemours zum König der Belgier.

Das Gaukelſpiel der Orleans hatte ſeinen Zweck erreicht, der Napoleonide war beſeitigt; und da überdies die Londoner Conferenz mittlerweile den verſtändigen Beſchluß gefaßt hatte, daß kein Mitglied eines der fünf großen Herrſcherhäuſer die Krone des neutralen Staates tragen dürfe, ſo empfingen die Abgeſandten des belgiſchen Congreſſes im Palais Royal eine runde Abſage. Der Bürgerkönig hielt ihnen eine von tugendhaften Gemeinplätzen ſtrotzende Rede und betheuerte den Tief - gerührten, dem Beiſpiele Ludwig’s XIV. und Napoleon’s wolle er nicht folgen.

Begreiflich genug, daß nach ſolchen Proben franzöſiſcher Recht - ſchaffenheit die Kriegspartei in Berlin immer wieder ihre Stimme erhob. Mit allen hochkirchlichen Schlagworten der Haller’ſchen Staatslehre beſchwor Herzog Karl von Mecklenburg ſeinen königlichen Schwager, die Monarchie von Gottes Gnaden zu vertheidigen wider den treuloſen Aufruhr: Wie ein Vater ſeine Kinder regieret und leitet, die ihm die Gnade Gottes ge - geben hat, ſo ſoll ein König der Vater ſeiner Völker ſein, ein Gott auf Erden, verantwortlich dem Allerhöchſten, der ihm die Macht verlieh und die Völker anvertraute. Solche Stilübungen konnten Bernſtorff’s Nüch - ternheit nicht beirren; ſie ärgerten ſelbſt den Fürſten Wittgenſtein, der überhaupt in dieſer Kriſis den Parteimann ganz verleugnete und die Friedenspolitik des Königs treulich unterſtützte. *)Herzog Karl von Mecklenburg, Denkſchrift über die Kriegsfrage, März 1831. Wittgenſtein an Bernſtorff, 27. März 1831.Noch weniger fiel die Stimme des alten Hans von Gagern ins Gewicht, als er in den Vater - ländiſchen Briefen der Allgemeinen Zeitung das unantaſtbare Recht des Hauſes Oranien vertheidigte; der wunderliche Reichspatriot hatte einſt bei der Gründung des niederländiſchen Geſammtſtaates nur zu eifrig mit - geholfen und betrachtete jetzt den Zerfall ſeines kunſtvollen Gebildes wie eine perſönliche Demüthigung. Bedenklicher war, daß die Bewohner des linken Rheinufers für ihre Sicherheit beſorgt wurden. Eine geſchloſſene franzöſiſche Partei beſtand im preußiſchen Rheinlande längſt nicht mehr, Dank den unverkennbaren Wohlthaten der neuen Verwaltung. Jedoch das Zutrauen zu der Dauer der deutſchen Herrſchaft hatte ſich noch nicht74IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.befeſtigt und es ward abermals ſchwer erſchüttert, als die Franzoſen alle - ſammt die verhüllte oder unverhüllte Einverleibung Belgiens verlangten; überall hörte man die Frage, ob der König nicht durch übermäßige Geduld den galliſchen Hochmuth gradezu herausfordere. Unter den Eindrücken dieſer rheiniſchen Befürchtungen verfaßte Arndt zu Anfang des Jahres ſeine Flugſchrift: Die Frage über die Niederlande und die Rheinlande ein Büchlein, das allein ſchon hätte genügen ſollen den treuen Mann von dem Verdachte des Demagogenthums zu reinigen. Wir hatten das Füchslein vor ſechzehn Jahren in den Eiſen, und es war mit Schwanz und Klauen feſt ſo begann er ſeine grelle Schilderung der insge - heim bohrenden und wühlenden franzöſiſchen Politik; freimüthig hielt er den deutſchen Liberalen ihre wälſche Verbildung vor. Königlicher als ſein König wollte er in der belgiſchen Erhebung nichts weiter ſehen als ein von Frankreich angezetteltes hölliſches Gaukelſpiel und verlangte durch - aus, daß die Narren und Narrengenoſſen in Brüſſel zu dem Hauſe Oranien zurückkehren müßten, ſonſt verfalle Belgien rettungslos der Herrſchaft Frankreichs.

Da erfolgte in Paris eine friedliche Wendung, welche deutlich zeigte, daß die Dinge ſo verzweifelt doch nicht ſtanden. Das Juli-Königthum begann ſich im Innern zu befeſtigen. Bereits war Lafayette von ſeiner ge - fährlichen Stellung an der Spitze der Nationalgarde verdrängt. Im März wurde das Miniſterium der Bewegungspartei geſtürzt, und der Führer des Juste milieu, Caſimir Perier, trat ans Ruder, ein reicher Kaufherr, der aus Erfahrung wußte, daß große Geſchäfte durch kleine Schliche nicht gefördert werden, ein Mann der ſtrengen geſetzlichen Ordnung, ſtolz und unbiegſam, herriſch genug um zugleich die Ränke des Monarchen und die Leidenſchaften der Radicalen niederzuzwingen, friedliebend von Grund aus, aber auch feſt entſchloſſen der Würde ſeines Landes nichts zu vergeben Alles in Allem der größte politiſche Charakter unter den Staatsmännern des Juli-Königthums. Die wüſten Träume der revolu - tionären Propaganda wies er weit von ſich: die Freiheit ſoll ſtets national ſein, Frankreichs Blut gehört nur Frankreich an. Den großen Mächten gegenüber ſprach er ſich beſtimmt und offen aus ſo weit ein Miniſter dieſes zwitterhaften Königthums aufrichtig ſein konnte. Bald gewann er Werther’s Freundſchaft, und der Berliner Hof bekannte, daß Frankreich durch ſeine Haltung und ſeine Grundſätze jetzt Vertrauen zu verdienen beginne. Selbſt in Wien und Petersburg wurde die Friedenspolitik des ehrlichen Bourgeois anerkannt, obgleich bei Metternich immer wieder der ſtille Groll gegen das Syſtem des Juste milieu durchbrach gegen dieſe rechte Mitte, die ſtets dem Guten feindlich iſt und, wenn ſie das Böſe nicht offen begünſtigt, ihm doch zu ſchmeicheln ſucht. *)Ancillon, Weiſungen an Schöler 5. Mai, an Maltzahn 30. Mai; Metternich an Trauttmansdorff 9. Auguſt 1831.Eine von75C. Perier.Wien aus eingeleitete langwierige Verhandlung wegen gleichzeitiger Ab - rüſtung aller Mächte führte zwar nicht zum Ziele, da ſolche Vorſchläge an dem natürlichen Selbſtgefühle ſouveräner Staaten nothwendig ſcheitern müſſen; immerhin bewies ſie, daß die Spannung etwas nachließ. *)Alopeus an Ancillon, 2. Mai; Antwort 26. Mai 1831 u. ſ. w.Völlig ehrenhaft und zuverläſſig verfuhr das franzöſiſche Cabinet auch unter Caſimir Perier’s Leitung nicht, da Talleyrand in London, hinter dem Rücken des Miniſters doch ſchwerlich ohne Vorwiſſen Ludwig Philipp’s, auf eigene Fauſt Politik trieb und in geheimnißvollen Andeutungen die Theilung Belgiens empfahl.

Nachdem die Trennung des niederländiſchen Geſammtſtaates entſchie - den war, lag es in Preußens Intereſſe, die neue Ordnung der Dinge rück - haltlos anzuerkennen, den Belgiern raſch zu einem Oberhaupte zu ver - helfen und alſo dem preußiſchen Staate den entſcheidenden Einfluß in Brüſſel zu ſichern. Jedoch zu einer ſo kühnen Schwenkung, wie ſie Lord Palmerſton leichten Herzens vollzogen hatte, konnte ſich König Friedrich Wilhelm in ſeiner gewiſſenhaften Bedachtſamkeit nicht entſchließen. Er wollte weder das legitime Recht der oraniſchen Verwandten kurzerhand bekämpfen, noch mit dem Brüſſeler Congreſſe, der ſeine franzöſiſchen Nei - gungen ſo unverhohlen bekundet hatte, in Verkehr treten, und am aller - wenigſten den Bund der Oſtmächte auflockern, deſſen Preußen jetzt mehr denn je bedurfte. Czar Nikolaus hoffte, trotz Allem was mit ſeiner eigenen Zuſtimmung geſchehen war, noch immer auf die Wiederherſtellung der oraniſchen Herrſchaft, und Metternich wagte nicht dem Gefürchteten offen zu widerſprechen. So geriethen die Oſtmächte alleſammt in eine ſchiefe Stellung; ſie überließen den Weſtmächten die Vorhand in dem nieder - ländiſchen Spiele und begnügten ſich, widerwillig, ſchmollend hinzunehmen was nicht mehr zu ändern war. Während Palmerſton mit van de Weyer ſich immer enger befreundete, der Bürgerkönig durch ſeine Agenten den Brüſſeler Congreß bearbeiten ließ, wurde in Berlin der Bevollmächtigte der belgiſchen Regierung, Baron Behr, durch den Bureaudirector des Auswärtigen Amts kurzweg abgewieſen, weil zwiſchen Preußen und Bel - gien keine Beziehungen beſtänden, außer denen, welche die Londoner Conferenz erſt herzuſtellen ſuche. **)Bureau-Director Zahn an Baron Behr, 23. April 1831.

Nach der vergeblichen Königswahl vom Februar verſuchte Ludwig Philipp unter der Hand, ſeinem Neffen, dem blutjungen Prinzen Karl von Neapel, die belgiſche Krone zu verſchaffen, ſtand aber ſogleich davon ab als er den Unwillen der Oſtmächte bemerkte. ***)Alopeus an Ancillon, 8. März 1831.Inzwiſchen übernahm der Baron Surlet de Chokier die Regentſchaft, ein alter Clericaler, der ſeit Jahren mit den Oraniern verfeindet, ſich doch zu der belgiſchen Er - hebung kein Herz faſſen wollte; er hatte in ſeiner Jugend die brabantiſche76IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Revolution erlebt und befürchtete, auch dieſer neue Aufſtand werde wieder mit der Einverleibung in Frankreich endigen. Seine Räthe Lebeau, Devaux und der junge Nothomb dachten muthiger; ſie verfielen auf den glücklichen Gedanken, dem Wittwer der Prinzeſſin von Wales, dem Prinzen Leopold von Coburg die Krone anzubieten. Es konnte nicht fehlen, daß der engliſche Hof dieſer Candidatur zuſtimmte. Den Oſtmächten erſchien der deutſche Prinz nicht unannehmbar; auch Ludwig Philipp ſtimmte bald zu und benutzte die Gelegenheit zu einem vortheilhaften Geſchäfte, indem er dem Coburger die Hand ſeiner Tochter Luiſe verſprach. Der kluge, ehrgeizige Prinz war bereit dem Rufe zu folgen und bewährte ſogleich ſeine diplomatiſche Meiſterſchaft. Er ſah ein, daß Belgien ohne Verſtän - digung mit der Londoner Conferenz ſeine Unabhängigkeit nicht behaupten konnte. Es gelang ihm, erſt Palmerſton, dann auch die anderen Bevoll - mächtigten zu überreden, und am 27. Juni entſchloß ſich die Conferenz, ihre früheren Beſchlüſſe über die Theilung des Gebiets und der Staats - ſchuld zu Gunſten Belgiens etwas abzuändern. Die neuen Vorſchläge für die Friedenspräliminarien wurden in Achtzehn Artikeln zuſammen - gefaßt und von dem belgiſchen Congreſſe angenommen. Nunmehr durfte Leopold mit einiger Sicherheit auf die Anerkennung der großen Mächte hoffen; am 21. Juli zog er als König in Brüſſel ein.

König Wilhelm empfand das Alles wie eine perſönliche Beſchimpfung. Die Achtzehn Artikel waren ohne Vorwiſſen der holländiſchen Bevollmächtig - ten zwiſchen Palmerſton, Leopold und den Belgiern verabredet und von den Geſandten der Oſtmächte nur darum gutgeheißen worden, weil dieſe immer noch vertrauensvoll auf Englands Freundſchaft bauten, den britiſchen Miniſter nicht ganz in Frankreichs Arme treiben wollten. Um die Zu - ſtimmung des Oraniers nachträglich zu erwirken, ſendete die Conferenz den Freiherrn von Weſſenberg nach dem Haag. Widerwillig unterzog ſich der Oeſterreicher dem peinlichen Auftrage; er wußte, daß Kaiſer Franz und Metternich dies neue Zugeſtändniß an den belgiſchen Aufruhr ſehr ungern ſahen, und ſchrieb entſchuldigend: Wir haben gegen uns die Zeit, die Ereigniſſe, Frankreich und ſelbſt England. Die Sendung blieb erfolglos, wie Metternich vorausgeſehen. *)Weſſenberg an Metternich, 27. Juni. Metternich an Eſterhazy, 6. Juli, an Trauttmansdorff 8. Juli Maltzahn’s Berichte, 16. 20. Auguſt 1831.König Wilhelm verwarf nicht nur die Achtzehn Artikel, er entſchloß ſich auch zu einem neuen Waffen - gange um ſchlimmſten Falles die Ehre ſeiner Fahnen wiederherzuſtellen. Am 1. Auguſt ließ er den Waffenſtillſtand kündigen. In einem Feldzuge von zehn Tagen warf ſein tapferes Heer, unter der Führung des Prinzen von Oranien und des Herzogs Bernhard von Weimar, die erbärmlichen belgiſchen Milizen gänzlich über den Haufen; nach dem Gefechte von Haſſelt war der neue König ſelbſt in Gefahr gefangen zu werden. Da77Feldzug der Holländer in Belgien.kam Hilfe aus Frankreich. Leopold hatte ſich alsbald nach London und Paris gewendet und von Ludwig Philipp die Antwort erhalten: die Fran - zoſen würden ſogleich zur Stelle ſein um Belgiens Neutralität und den durch den König der Niederlande ſo thöricht geſtörten Frieden zu ſichern; meine beiden älteſten Söhne, auch jener, für den ich die Krone, welche Sie tragen, nicht angenommen habe, werden das Heer begleiten. *)König Ludwig Philipp an König Leopold, 4. Auguſt 1831.

So gab der Staat, der den Grundſatz der Nicht-Intervention aufge - ſtellt, ſelber das Beiſpiel einſeitiger Einmiſchung. Die Phraſe ward zu Schanden vor der Macht der Thatſachen; denn duldete Ludwig Philipp die militäriſche Ueberwältigung Belgiens, die doch nicht mehr zu einer dauernden Unterwerfung führen konnte, ſo war der Thron der Orleans unzweifelhaft verloren, der Radicalismus kam in Paris obenauf und entfeſſelte den allgemeinen Krieg. Während die engliſche Flotte ſich bei Dover verſammelte, rückte Marſchall Gerard mit 40000 Mann in Belgien ein. Am 12. Auguſt erſchien der Herzog von Orleans in Brüſſel. Auf die erſte Aufforderung der Franzoſen hielten die Holländer in ihrem Siegeszuge inne und räumten das belgiſche Gebiet. Zugleich ließ Perier nach allen Seiten hin beſchwichtigende Erklärungen ergehen: Frankreich handle ohne Hintergedanken, nur im Namen der fünf Mächte, da die Zeit nicht erlaubt habe die Londoner Conferenz ſelber zu befragen; das möge peinlich ſein für die großmüthige Seele des Königs von Preußen , aber in Paris wie in Berlin wolle man daſſelbe: die Neutralität Belgiens und den allgemeinen Frieden; auch werde das franzöſiſche Heer weder holländiſches Gebiet betreten noch ſich der preußiſchen Grenze nähern. **)Sebaſtiani an Graf Flahault, 5. Auguſt. Bülow an Nagler, 6. Auguſt 1831.Die Verſicherungen des Miniſters waren ehrlich gemeint; doch anders dachten die franzöſiſchen Truppen. Hier träumte man nur von einem großen Kriege; General Lawoeſtine trat gegen die Holländer, als er die Einſtellung der Feindſeligkeiten verlangte, anmaßend und höhniſch auf;***)Bericht des Oberſtleutnants v. Scharnhorſt an den König, Tirlemont 14. Au - guſt 1831. ſeine Offiziere meinten in den Reihen der Holländer ſchon preußiſche Bataillone zu bemerken und forderten laut Vergeltung für Waterloo.

Das preußiſche Cabinet ward durch den Friedensbruch der Holländer peinlich überraſcht. König Wilhelm ſetzte ſich dadurch offenbar ins Un - recht, da er ja ſelber die Vermittlung der Londoner Conferenz angerufen und den Waffenſtillſtand angenommen hatte. Darum konnte Preußen ein Unternehmen, das die ganze mühſame Friedensarbeit der Conferenz wieder in Frage ſtellte, nicht unterſtützen; ſein Militärbevollmächtigter, Oberſtleutnant v. Scharnhorſt, der im Hauptquartiere des Prinzen von Oranien dem kurzen Feldzuge zuſah, hatte einen ſchweren Stand, er durfte den klagenden Holländern durchaus keine Hilfe in Ausſicht ſtellen. 78IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Aber noch weit weniger wollte Preußen durch bewaffnetes Einſchreiten dem Friedensbrecher Halt gebieten; dieſe Frage ward in Berlin nicht einmal aufgeworfen, denn der geſammte Hof ſtand mit ſeinen Herzens - wünſchen auf der Seite des Oraniers. So ließ man denn unwillig die franzöſiſche Einmiſchung geſchehen, zumal da ſie überraſchend ſchnell er - folgte und rechtzeitig nicht mehr zu verhindern war. Ancillon klagte ent - rüſtet: Frankreich hat ohne Scham und ohne Rückhalt eine empörende Parteilichkeit für Belgien gezeigt. Sobald die Waffenruhe wieder her - geſtellt war, forderte König Friedrich Wilhelm auf der Londoner Con - ferenz ſehr nachdrücklich den ungeſäumten Abmarſch der Franzoſen; er drohte nöthigenfalls ſeine rheiniſchen Regimenter einrücken zu laſſen. Da alle Mächte das Verlangen Preußens unterſtützten, ſo ſah ſich Frank - reich gezwungen diesmal Wort zu halten. *)Ancillon an Maltzahn 11. Auguſt, an Schöler 17. September 1831.Wenige Tage nach dem Einmarſch begann ſchon der Rückzug der franzöſiſchen Truppen, zu Ende Septembers war Belgien wieder geräumt. Die Pariſer tobten über die erlittene Schmach; alleſammt waren ſie der beſcheidenen Meinung, daß Belgien durch einen leichten Handſtreich mit Frankreich hätte vereinigt werden müſſen. Marſchall Gerard wurde daheim wie ein Landesverräther empfangen; er hatte, als ſeine Tapferen auf dem Schlachtfelde von Belle Alliance dem niederländiſchen Löwendenkmal den Schwanz abzuhacken begannen, dies löbliche Unternehmen verboten, und nun jammerte die Preſſe des Volkes, das an der Spitze der Civiliſation zu marſchiren wähnte, wie aus einem Munde: nicht einmal der Löwe von Waterloo iſt zerſtört!

In Wahrheit hatte Perier’s ruhige Entſchloſſenheit den Oſtmächten eine empfindliche Schlappe beigebracht. Frankreich allein war, ohne daß die anderen Mächte zu widerſtehen wagten, thatkräftig für den Frieden eingetreten, ſein Bürgerkönig erſchien, für den Augenblick mindeſtens, als der mächtige Schirmherr Belgiens. Und was für Ränke ſpann dieſer Orleans wieder hinter dem Rücken ſeines Miniſters. In demſelben Augenblicke, da er zu Belgiens Gunſten die heilige Nichteinmiſchungslehre mit Füßen trat, holte er ſchon aus zum Todesſtoße wider ſeinen eigenen Schützling. Beſtimmter, zudringlicher als zuvor enthüllte Talleyrand jetzt dem preußiſchen Geſandten ſeine begehrlichen Anſchläge: der klägliche Ver - lauf dieſes Feldzugs habe doch zur Genüge bewieſen, daß Belgien nicht durch eigene Kraft beſtehen könne; am einfachſten alſo, wenn das Land zwiſchen Preußen, Holland und Frankreich aufgetheilt würde; England ſei leicht zu gewinnen, wenn man in Antwerpen und Oſtende Freihäfen einrichte. Palmerſton, der Andere ſtets nach ſeinem eigenen Charakter beurtheilte, argwöhnte Anfangs, daß Bülow dieſen Lockungen ein williges Ohr leihe. Der Preuße aber lehnte Alles rundweg ab; wie hätte er79Die 24 Artikel der Londoner Conferenz.ſich unterſtehen dürfen, ſeinen König zur Beraubung des Hauſes Oranien zu verleiten!

Durch alle dieſe Zettelungen wurde die Kriegsgefahr wieder näher gerückt. Czar Nikolaus knirſchte vor Zorn, als er den Einmarſch der Franzoſen erfuhr. Er ließ den deutſchen Mächten feierlich verſichern dies ſeine ſeine eigenen Worte : augenblicklich werde ſein Reich noch durch innere Verlegenheiten, durch den polniſchen Krieg und die Cholera gehemmt; aber wenn ihm auch nur ein einziges Regiment zur Verfügung bliebe, ſo würde er es ſenden um in den Reihen des öſterreichiſchen und preußiſchen Heeres zu kämpfen, damit im Angeſichte Europas die unzer - trennliche Verbindung der drei Mächte des Feſtlandes ſich bewähre. *)Neſſelrode an Tatiſtſchew, in Berlin überreicht 30. Aug. 1831.Als Rußland bald darauf durch den Fall von Warſchau wieder freie Hand erhielt, ſchlug Metternich den Oſtmächten vor, ihr altes Bündniß enger zu ſchließen, einen ſtändigen diplomatiſchen Ausſchuß, ein centre d’entente zur Leitung der gemeinſamen Politik einzuſetzen, da auf Eng - land doch nicht mehr zu rechnen ſei. **)Ancillon an Maltzahn, 23. Sept. 18. Oct., Neſſelrode an Tatiſtſchew, 7. Oct. 1831.Der Plan gelangte jedoch nicht zur Reife. Das Friedensbedürfniß war überall zu ſtark; alle Mächte wünſchten den leidigen belgiſchen Handel endlich aus der Welt zu ſchaffen.

Die Londoner Conferenz nahm ihre Verſöhnungsverſuche wieder auf, jetzt aber mit etwas veränderter Geſinnung. Die Kriegsthaten des hollän - diſchen Heeres übten doch ihre Wirkung, Belgien war durch ſeine offen - barte Schwäche tief in der allgemeinen Achtung geſunken, die Oſtmächte beſtanden darauf, daß der unbeugſame Oranier nicht allzu hart behandelt würde. ***)Neſſelrode an Lieven, 17. Nov. 1831.Am 14. October ſtellte die Conferenz in Vierundzwanzig Artikeln neue Friedenspräliminarien feſt, welche für Holland günſtiger lauteten als die Achtzehn Artikel: der Streit über die Grenzen ſollte da - durch geſchlichtet werden, daß Belgien einen Theil der Provinz Limburg abtrat und dafür die weſtliche Hälfte von Luxemburg eintauſchte immer mit Vorbehalt der Rechte des Deutſchen Bundes. Die Belgier murrten; ihr König aber ſah weiter, er verkannte nicht, daß ſein ungerüſteter Staat keinen Widerſtand wagen durfte, und nahm die Vierundzwanzig Artikel an. König Wilhelm hingegen hatte aus den Erfolgen ſeines Heeres neuen Muth geſchöpft und ließ in Berlin durch Prinz Albrecht von Preußen ſchroff erklären, den ſchmachvollen Untergang Hollands könne er nimmer - mehr genehmigen. Dabei blieb er, auch als die preußiſche Regierung ihm in einer ausführlichen Denkſchrift vorhielt, daß Holland nach den Vier - undzwanzig Artikeln noch immer ein größeres Gebiet behalte als zu den Zeiten der Republik. †)Witzleben an Ancillon, 22. Oct. Eichhorn’s Denkſchrift über die niederländiſche Frage, 25. Oct. 1831.Der kluge Coburger hatte alſo nochmals die großen80IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Mächte auf ſeiner Seite. Am 15. November ward ihm der Triumph, daß die Bevollmächtigten der Londoner Conferenz mit ſeinem Geſandten van de Weyer einen Vertrag ſchloſſen und das Königreich Belgien, auf Grund der Vierundzwanzig Artikel, förmlich anerkannten. Im nächſten Monat verſtändigte er ſich ſodann mit den Mächten des alten Vierbundes über die längſt beabſichtigte Schleifung von fünf feſten Plätzen an der Südgrenze. Frankreich wurde von dieſer Verhandlung ausgeſchloſſen und ſeine lärmenden Klagen über den infamen Feſtungsvertrag blieben ohne Folgen.

Alſo trat, von den großen Mächten mittelbar anerkannt, die belgiſche Verfaſſung in Wirkſamkeit. Sie beruhte, wie es nicht anders ſein konnte, auf dem Grundſatze der Volksſouveränität, da der neue Staat ſein Daſein einer Revolution verdankte und zudem die alten Freiheiten der Joyeuses entrées, welche den Brabantern ſogar das Recht des Widerſtandes ge - währt hatten, noch in friſcher Erinnerung ſtanden. Alle Gewalten gehen von der Nation aus, ſo beſtimmte ihr wichtigſter Artikel. Jedes hiſto - riſchen Rechtes baar regierte der König nur kraft Vertrages, durch den Willen des Volks, er mußte ſich alljährlich ſämmtliche Steuern ſowie den ganzen Beſtand des Heeres von den Kammern neu bewilligen laſſen und er konnte ſolche Abhängigkeit ertragen, weil in dieſem neutralen Mittel - ſtaate weder eine große auswärtige Politik noch ein ernſthaftes Heerweſen möglich war. Jene republikaniſche Doctrin Rotteck’s und ſeiner Schüler, welche den conſtitutionellen König aller ſelbſtändigen Gewalt entkleidete, war hier mithin noch folgerichtiger durchgeführt als in Frankreichs neuer Charte. Obgleich das conſtitutionelle Leben in dem fruchtbaren Erdreich altniederländiſcher Gemeindefreiheit tiefere Wurzeln ſchlagen konnte als auf dem ſteinigen Boden des napoleoniſchen Verwaltungsdespotismus, ſo ſchuf die Revolution doch in Belgien wie in Frankreich nur die Claſſen - herrſchaft des reichen Bürgerthums. Ein hoher Cenſus ſchloß die Maſſen vom Wahlrechte aus, ſo daß in den Dörfern erſt auf 104 Einwohner ein Wähler kam; die erſte Kammer, der Senat, vertrat ausſchließlich das Groß-Capital, im ganzen Lande waren nur 403 Männer für dieſe oligar - chiſche Körperſchaft wählbar.

Mit der Bourgeoiſie aber theilte ſich der römiſche Clerus in die Beherrſchung des Staates und hierin lag die europäiſche Bedeutung des neuen Gemeinweſens. Wenn Richelieu einſt gehofft hatte, aus den ſpaniſchen Niederlanden eine katholiſche Republik zu bilden, die dem ſtreit - baren Calvinismus der Holländer die Wage halten ſollte, ſo ging der Traum des Cardinals jetzt herrlich in Erfüllung. Seit dem Herbſt 1830 ließ Lamennais zu Paris im Verein mit Pater Lacordaire und dem Grafen Montalembert die Zeitſchrift l’Avenir erſcheinen, ein Blatt, das mit feuriger Beredſamkeit zugleich die römiſche Weltherrſchaft und eine faſt ſchrankenloſe politiſche Freiheit vertheidigte. Die Leitartikel des Avenir81Die belgiſche Verfaſſung.fanden nirgends eifrigere Leſer als in den Reihen des Brüſſeler Con - greſſes; genau nach den Weiſungen dieſes neufranzöſiſchen kirchlichen Radi - calismus wurde der Kirche in Belgien eine Macht eingeräumt, wie ſie ihr noch nie ein europäiſcher Staat zugeſtanden hatte. Nothomb und ſeine liberalen Freunde wähnten damit nur dem gerühmten Vorbilde des amerikaniſchen voluntary system zu folgen. In Wahrheit begnügte ſich die Kirche in Belgien keineswegs wie in Nordamerika mit der beſcheidenen Stellung eines Privatvereines; ſie blieb vielmehr im Beſitze faſt aller der Ehren und Vorrechte, welche ſie den ſpaniſchen Königen verdankte, und ließ ſich vom Staate die Gehalte ihrer Prieſter bezahlen. Der Staat aber verzichtete auf jedes Recht der Kirchenhoheit, ſelbſt auf die Mitwirkung bei Biſchofswahlen. Als zwei gleichberechtigte Souveräne, in ungelöſtem Dualismus, ſtanden weltliche und geiſtliche Gewalt nebeneinander; und da ein völlig religionsloſer Staat in Europa ſich nicht zu halten vermag, ſo begann der Clerus alsbald in das politiſche Gebiet überzugreifen. Ge - deckt durch das modiſche Schlagwort der Unterrichtsfreiheit bemächtigte er ſich faſt des geſammten Volksſchulweſens, und mit ſolchem Erfolge, daß in dieſem Lande uralter Cultur die Kunſtfertigkeit des Leſens und Schrei - bens von Jahr zu Jahr ſeltener wurde. Die ſchwache Staatsgewalt ſtörte ihn wenig; ein evangeliſcher König mußte, wie der kluge Nuntius Capaccini ſogleich vorausſagte, inmitten eines rein katholiſchen Volkes jeden Streit mit der Curie ängſtlich vermeiden. Der belgiſche Staat glich einem jener ſpaniſchen Dome, wo die Cleriſei, durch die hohe Wand des Retablo von den Laien abgetrennt, das Mittelſchiff ſammt dem hohen Chore allein beſetzt hält, die Gemeinde nur aus den Seitenſchiffen einen Blick nach dem fernen Altar werfen darf.

Sobald die Folgen der neuen Kirchenfreiheit offenbar wurden, begann die Union, welche den belgiſchen Staat geſchaffen hatte, ſich aufzulöſen. Clericale und Liberale traten in zwei feindliche Lager auseinander, beide Parteien faſt gleich ſtark, die eine mächtig durch das gläubige Landvolk und eine Unzahl kirchlicher Vereine, die andere vorherrſchend in den Städten und unterſtützt durch die Freimaurerei, die hier noch weit mehr als in anderen katholiſchen Ländern eine politiſche Färbung annahm. Das ewige Auf und Ab dieſer beiden Parteien, der Streit zwiſchen der Loge und dem Beichtſtuhl füllte fortan die Geſchichte Belgiens aus. Un - kirchlich, einſeitig politiſch wie die Bildung der Zeit war, erregte dieſer krankhafte, unverſöhnliche Parteikampf bei den Nachbarvölkern kein Be - fremden. Man hielt den Gegenſatz für harmlos, weil die Belgier alle - ſammt treu zu der Verfaſſung ſtanden, und bemerkte nicht, daß die beiden Parteien in ihrer ſittlichen Weltanſchauung ſo weit von einander abwichen wie das neunzehnte vom dreizehnten Jahrhundert. Dies Land der Prieſtermacht wurde bald überall als der Muſterſtaat conſtitutioneller Freiheit geprieſen, da ſein Grundgeſetz alle Kernſätze des VernunftrechtsTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 682IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.enthielt und die Parteien in erfriſchendem Wechſel ſo lautete der be - liebte Zeitungsausdruck ſich im Genuſſe der Herrſchaft ablöſten. Unter dem Schutze einer klugen Handelspolitik nahm der Gewerbfleiß einen mächtigen Aufſchwung. Die beiden führenden Stände, Bourgeoiſie und Clerus, hatten ihr Ziel vorläufig erreicht, die hart bedrückten Arbeiter aber in den Bergwerken und Fabriken waren noch nicht zum Bewußtſein ihrer elenden Lage gelangt. So verlebte der junge Staat lange Jahre in un - geſtörter Ruhe, und alle Welt glaubte, daß er dies Glück allein den Wunderkräften ſeiner Muſterverfaſſung verdanke. Vornehmlich auf den ehrgeizigen Clerus und das erſtarkende Bürgerthum der preußiſchen Rheinlande übten die Zuſtände des Nachbarlandes einen verführeriſchen Zauber, und ſo ſtark war der weltbürgerliche Zug der Zeit, ſo ſchwach ihr Verſtändniß für die hiſtoriſche Eigenart der Staaten zuweilen hörte man hier ſchon die naive Frage: ob das waffengewaltige paritätiſche Preußen nicht in den Verfaſſungsformen des neutralen katholiſchen Bel - giens ſein Heil ſuchen ſolle?

Daß in Belgiens demokratiſcher Verfaſſung die Krone noch einiges Anſehen behauptete, war allein das Verdienſt des neuen Königs. Leopold ſtand noch in der Blüthe des Mannesalters, und wie viele ſeltſame Wandlungen lagen ſchon hinter ihm! Gewandter, raſtloſer, liſtiger als in dem Leben dieſes coburgiſchen Ulyſſes hat ſich der alte abenteuernde Weltbürgerſinn des deutſchen Kleinfürſtenſtandes nie gezeigt. Viermal wechſelte er wohlgemuth ſein Vaterland; aus einem Deutſchen ward er ein Ruſſe, dann Engländer, dann Grieche, ſchließlich ein Belgier, und es lag nur an den Umſtänden, daß er nicht auch noch zum Spanier oder Braſilianer wurde. Selbſt ſeine Mutterſprache verlernte er nach und nach, ſo daß er im Alter nur noch ein mit engliſchen und fran - zöſiſchen Brocken verſetztes Deutſch ſchreiben konnte. Als ruſſiſcher General nahm er rühmlichen Antheil an den Schlachten des Befreiungskrieges und beſorgte ſodann auf dem Wiener Congreſſe umſichtig die Geſchäfte des Coburgiſchen Hauſes. Nachher errang er die Hand der Prinzeſſin von Wales und dachte dereinſt als Prinz-Gemahl die britiſche Politik zu leiten; als dieſe ſtolzen Träume durch den Tod ſeiner Gemahlin zerſtört wurden, behauptete er ſich am engliſchen Hofe in geachteter Stellung trotz der Ungunſt Georg’s IV. Da beriefen ihn die Griechen auf ihren Thron; ſofort war er bereit und begann ſchon ſich in die neue Rolle einzuleben. Nach längerem Zaudern zog er jedoch ſein Ver - ſprechen zurück, weil er vorausſah, daß Griechenland in ſeinen engen Grenzen ſich nicht kräftig entwickeln konnte, und weil er insgeheim hoffte, in England als Rathgeber ſeiner Nichte Victoria einſt noch größere Erfolge zu erringen. Auch dieſe immerhin unſicheren Hoffnungen wurden wieder aufgegeben, als der Ruf aus Belgien kam, der in der That den rechten Mann an die rechte Stelle führte. Noch bevor Leopold den Thron83König Leopold.beſtieg, rettete er durch ſeine kluge Fügſamkeit gegen die Londoner Con - ferenzen den belgiſchen Staat vom ſicheren Verderben, und mit der gleichen diplomatiſchen Meiſterſchaft verſtand er während eines Menſchen - alters zwiſchen den beiden großen Parteien hindurchzuſteuern, ſo daß er ſich nicht nur perſönlich den Dank der Belgier verdiente, ſondern ſogar ein ſchwaches Gefühl dynaſtiſcher Anhänglichkeit in dieſem Staate von geſtern wachrief. Als Freimaurer und alter Freund der Whigs den Liberalen willkommen, gewann er auch das Vertrauen der Clericalen und nahm ſelbſt den eifernden Papſt Gregor XVI. für ſich ein. Obwohl er die Verfaſſung gewiſſenhaft einhielt und ſeine Miniſterien je nach den wechſelnden Abſtimmungen der Kammern bereitwillig veränderte, blieb er ſich doch ſeiner Ueberlegenheit ſtets bewußt und ſagte zu Vertrauten: für Belgien wie es gegenwärtig iſt, bin ich der Staat.

Alle Fäden der auswärtigen wie der inneren Politik des Landes liefen zuſammen im Schloſſe von Laeken, wo dieſer Stille bedachtſam ſeine Netze wob eine hohe, ſchlanke Geſtalt mit blaſſen, vornehmen Zügen, dunklen ſchwermüthigen Augen und glatt anliegender ſchwarzer Perrücke, leiſe im Sprechen, langſam, müde in den Bewegungen, ver - ſchwiegen in Allem, im Geſchäft ſo gut wie in der Liederlichkeit. In England nannte man ihn den Monſieur Peu-à-peu, den Marquis Tout - doucement; an den deutſchen Höfen, die ihm allerdings nicht wohlwollten, hieß er Leopold Schleicher. Stundenlang konnte er, ſtumm über ſeinen Plänen brütend, vor ſeinem Schildpattkäſtchen Goldfäden drieſeln, derweil man dem gewiegten Kenner Sonaten vorſpielte oder aus gelehrten Werken, aus Memoiren, aus Romanen vorlas. Eine höhere Sittlichkeit als den klug rechnenden Weltſinn kannte er nicht; als einer ſeiner Neffen ein - geſegnet wurde, warnte er ihn vor dem Egoismus alſo: es iſt im In - tereſſe vieler Leute, dieſe höchſt unliebenswürdige Eigenſchaft bei einem jungen Fürſten auszubilden und ſpäterhin als eine ergiebige Mine zu exploitiren. Tapfer auf dem Schlachtfelde, aber im täglichen Leben ängſtlich auf ſein Leibeswohl bedacht, verſtand er auch die Kunſt des Kaufmanns aus dem Grunde. Um politiſche Freunde zu gewinnen, bezwang er zuweilen ſeine Sparſamkeit und ſpendete mit vollen Händen; durch ſeine Verbindung mit der Börſe brachte er dann die Verluſte wie - der ein und ſammelte das große Vermögen an, deſſen die demokratiſche Krone in dieſem gewerbfleißigen Volke bedurfte. Dergeſtalt kam mit den beiden Bürgerkönigen der Juli-Revolution, mit den Häuſern Orleans und Coburg ein neuer Menſchenſchlag in die Reihen des europäiſchen hohen Adels: geriebene Geſchäftsleute mit dem Kurszettel in der Taſche, ſchlicht und unſcheinbar in ihrem Auftreten, Günſtlinge der Fortuna gleich den Tyrannen des Cinquecento, durchaus unempfänglich für die Gefühle der Ritterlichkeit und der hiſtoriſchen Pietät, aber im Grunde des Herzens ganz ebenſo hochmüthig wie der ariſtokratiſche Fürſtenſtand der alten Zeit.

6*84IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Als Leopold gen Brüſſel aufbrach, gedachte er Wilhelm’s III. von Oranien und ſeiner kühnen Fahrt nach England. Gleich jenem gefeierten großen Patrioten der Welt hoffte er als ein europäiſcher Staatsmann zugleich den Parlamentarismus zu retten und das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten. Freilich blieb er hinter ſeinem genialen Vorbilde eben - ſo weit zurück, wie das kleine Belgien hinter den verbündeten Seemächten der wilhelminiſchen Tage. Brüſſel ward wie einſt der Haag eine Stern - warte der Diplomatie; eine Menge amtlicher und perſönlicher Agenten unterichtete den Coburger über den Wandel der großen Geſtirne am europäiſchen Himmel. Doch eine wahrhaft ſelbſtändige Politik wie einſt der große Oranier konnte der König von Belgien nicht führen. Er ſah ſich auf den Schutz der Weſtmächte angewieſen und ward darum die Klammer, die ihren Bund zuſammenhielt; wie viele kleine Mißverſtänd - niſſe zwiſchen den beiden ihm gleich nahe verwandten Höfen hat er be - hutſam vermittelnd in der Stille beigelegt. Da er indeß von Frankreich Alles, von England nichts zu fürchten hatte, auch ſeine Neigung ihn mehr zu dem Heimathlande ſeiner erſten Gemahlin hinzog, ſo entſprach ſeine Haltung in der Regel dem engliſchen Intereſſe. Es war Leopold’s Werk, daß Belgien nicht unter den beherrſchenden Einfluß Frankreichs gerieth. Späterhin trat er auch zu Deutſchland in freundlichere Be - ziehungen, weil die in der Revolution zurückgedrängten Vlamen wieder erſtarkten und der ſchwunghafte Handelsverkehr mit dem Oſten nicht vernachläſſigt werden durfte. Mit der natürlichen Selbſtüberſchätzung ſchwacher Völker rühmten ſich die Belgier fortan, daß ihr Land den Mittelpunkt der Staatengeſellſchaft bilde. Wie vormals die Holländer, pflegten ſie die Theorie des europäiſchen Völkerrechts, gleichſam als eine nationale Wiſſenſchaft, mit löblichem Eifer, aber auch mit einer philan - thropiſchen Einſeitigkeit, welche deutlich zeigte, daß waffenloſe Nationen die harten Machtfragen des Völkerverkehrs nicht unbefangen würdigen können. Im Grunde war der belgiſche Staat, ſo lange ſein erſter König regierte, nicht wahrhaft neutral wie die Schweiz, ſondern, ſeiner Beſtim - mung zuwider, der parteiiſche Bundesgenoſſe Englands, und mit gutem Rechte ſagte Lord Palmerſton: Belgien iſt meine Tochter.

Die kleine Krone genügte dem Ehrgeiz Leopold’s mit nichten; er benutzte ſie zugleich als ein Mittel für die weltumfaſſenden Pläne ſeiner Familienpolitik. Dieſer kühle Kopf, der ſo gleichmüthig über das legitime Recht anderer Fürſten hinwegſah und weder durch religiöſe noch durch nationale Empfindungen je beunruhigt wurde, kannte nur ein einziges Vorurtheil: den Aberglauben an den hiſtoriſchen Beruf des Coburgiſchen Hauſes; und in dieſer fataliſtiſchen Zuverſicht lag eine Kraft, welche große Erfolge verbürgte. Ganz ſo blind wie einſt die habsburgiſchen Ferdinande und Leopolde baute er auf den beſonderen Schutz der Vorſehung für ſein auserwähltes Geſchlecht. Obgleich die Dynaſtie außer ihm ſelber nur85Coburgiſche Hauspolitik.noch ein politiſches Talent beſaß den jungen Prinzen Albert ſo bezweifelte er doch niemals, daß jedes Volk ſich glücklich ſchätzen müſſe von einem Coburger beherrſcht zu werden. Daß ſein Haus jemals Unrecht haben könne, kam ihm ebenſo wenig in den Sinn wie jenen alten Habs - burgern. Wer das Unglück hatte die Wege der Coburger zu durchkreuzen galt ihm einfach als ein Böſewicht ſo Hardenberg, weil dieſer Treu - loſe die Abtretung des preußiſchen Henneberg, welche ihm der Herzog von Coburg ohne jeden haltbaren Rechtsgrund zumuthete, gebührender - maßen verweigerte. *)ſ. o. II. 480.

Der erſte Grund zu der neuen Herrlichkeit des erneſtiniſchen Hauſes wurde ſchon während Leopold’s Kinderjahren gelegt, als ſeine Mutter auf einen Wink der Czarin Katharina ihre drei lieblichen Töchter zur gefälligen Auswahl nach Petersburg brachte und der rohe Großfürſt Con - ſtantin der jüngſten Schweſter ſein Schnupftuch zuwarf. Die friedloſe Ehe mußte zwar bald wieder getrennt werden, doch ſie bahnte dem Bruder Leopold den Weg in die große Welt. Und als er nun ſelber erſt die engliſche, dann die franzöſiſche Prinzeſſin freite, da hieß es an den Höfen, das ſprichwörtliche Hochzeitsglück der Habsburger ſei jetzt auf das Cobur - giſche Haus übergegangen. Unterdeſſen heirathete ſein Bruder Ferdinand die reiche Erbtochter des Hauſes Kohary; ohne Bedenken ließ dieſer Sohn des erlauchten Bekennergeſchlechtes der Proteſtanten ſeine Kinder katholiſch taufen, wie auch Leopold’s Kinder in Belgien im römiſchen Glauben erzogen werden mußten. Damit eröffnete ſich die tröſtliche Ausſicht, auch die bigotten iberiſchen Völker nach Bedarf mit Coburgern zu verſorgen. In England aber gelang dem unermüdlichen Eheſtifter ſein glücklichſter Griff. Seine Schweſter Victoria, die gute und liebenswürdige Fürſtin Wittwe von Leiningen ver - mählte ſich mit dem Herzoge von Kent und wurde die Mutter der Thron - folgerin von Großbritannien; ſo blieb noch möglich, daß die Stellung eines engliſchen Prinz-Gemahls, welche Leopold einſt für ſich ſelbſt erhofft, vielleicht doch einem Coburger zufallen konnte. Von großen Gedanken war in dieſer Familienpolitik nichts zu ſpüren; gut bürgerlich ging ſie nur darauf aus, die Angehörigen vortheilhaft unterzubringen, obgleich es natürlich nicht an feilen Federn fehlte, welche in Zeitungen und Büchern bewieſen, daß die wahre conſtitutionelle Freiheit am ſicherſten unter coburgiſchem Scepter gedeihe. Zum Heile Europas konnte die große ſächſiſche Hausmacht, welche jetzt ſo plötzlich wie einſt die habsbur - giſche in die Höhe ſchoß, ſich nicht wie jene zu einem geſchloſſenen Welt - reiche ausgeſtalten. Indeß ward die geheime Wirkſamkeit der weitver - zweigten coburgiſchen Zettelungen und Klitterungen von Jahr zu Jahr ſtärker, zumal an unſeren kleinen Höfen, und ſie brachte dem deutſchen Volke ſelten Segen. Dem unſicheren Selbſtgefühle der Nation gereichte86IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.es auch nicht zur Kräftigung, daß die conſtitutionellen Doctrinäre ſich gewöhnten, zu dem vaterlandloſen Leopold wie zu einem Fürſten-Ideal emporzuſchauen.

In allen ſeinen Wandlungen ſtand dem Führer der Coburger zuerſt als vertrauter Arzt, dann als diplomatiſcher Rathgeber ſein Landsmann C. F. v. Stockmar zur Seite, ein hochbegabter Staatsmann, klar, be - ſtimmt, weit vorausſchauend, kühner und gedankenreicher als Leopold ſelber. Während der Londoner Conferenzen führte er die entſcheidenden Verhandlungen mit den Belgiern, und immer gab er den Ausſchlag, wenn ſein bedenklicher königlicher Freund einen raſchen Entſchluß nicht finden konnte. Seine politiſchen Anſichten hatte er ſich in langjährigem Verkehre mit den Whigs und den engliſchen Radicalen gebildet; reich und unabhängig, fragte er nicht nach Gunſt und ſparte ſobald es noth that die freimüthigen Vorwürfe nicht. Sein Ehrgeiz war in der Stille zu wirken; der ſchmächtige Mann mit den ſchönen, klugen dunklen Augen begnügte ſich gern mit einer Stelle hinter den Kuliſſen und hörte mit dem überlegenen Lächeln des Eingeweihten zu, wenn Andere ſich ſeiner eigenen Gedanken rühmten. In ſcharfem Gegenſatze zu ſeinem weltbürger - lichen Herrn blieb er in der Fremde ſtets ein deutſcher Patriot, warm begeiſtert für die Idee der nationalen Einheit; die Erbärmlichkeit unſerer Kleinſtaaterei verachtete er gründlich, kein Mittel ſchien ihm zu ſcharf, um dies Elend zu beendigen. Seine Freunde daheim übertraf er alle durch eine umfaſſende diplomatiſche Sachkenntniß, die ſich die deutſchen Liberalen in ihren engen Verhältniſſen nicht erwerben konnten, und durch die Nüchternheit ſeines politiſchen Urtheils. Die Ueberſchätzung der parla - mentariſchen Mehrheitsherrſchaft war wohl der einzige doctrinäre Zug in dieſem durchaus praktiſchen Geiſte. Aber welch ein tragiſcher Widerſpruch blieb es doch, daß ein ſolcher Mann im Dienſte des Vaterlandes keinen Platz finden konnte und ſeine reichen Kräfte verſchwendete für die Geſchäfte des großen internationalen Heirathsbureaus in Brüſſel, Geſchäfte, die mit dem Wohle Deutſchlands wenig oder nichts gemein hatten!

Derweil der belgiſche Staat ſich zu befeſtigen begann, nahm die Re - volution im Oſten ein jammervolles Ende. Beim Ausbruch des polni - ſchen Krieges hatte Nikolaus beſchloſſen, nach der erhofften raſchen Unter - werfung die polniſche Verfaſſung aufzuheben, die großen Schuldigen, Czartoryski, Lelewel und andere ähnliche Schufte (faquins) furchtbar zu beſtrafen, die Warſchauer Studenten und die andere Canaille zur Zwangsarbeit zu verurtheilen. Als die Polen zu unterhandeln ver - ſuchten und ihm die Wiedereinſetzung der Romanows anboten, ſchrieb er höhniſch: ich bin ſehr gerührt und dankbar! Wie anders war nun Alles gekommen. Nach dem unbenutzten Siege von Grochow befand ſich Die - bitſch in peinlicher Bedrängniß. In ſeinem ſchlecht verpflegten Heere wüthete die Cholera, derweil die Zuverſicht der Polen durch Skrzynecki’s87Stockmar. Diebitſch’s Tod.unerwartete Erfolge und den begeiſterten Beifall Europas geſteigert wurde. Die Ungunſt des Wetters erſchwerte jede Bewegung in dem unwegſamen Lande; und kaum minder beläſtigte den Feldherrn die pedantiſche Klein - meiſterei des Selbſtherrſchers, der ihn aus ſeinem Cabinet heraus bald mit herriſchen Befehlen, bald mit freundſchaftlichen Vorwürfen über - ſchüttete, ihm die Schonung der glänzenden Garderegimenter, die richtige Verwendung ſeiner neuerfundenen Dragoner, einer wenig brauchbaren Infanterie zu Pferd , anempfahl. *)Nikolaus an Diebitſch, 4. 21. Febr., 4. 10. März a. St. 1831, abgedruckt nebſt anderen Briefen des Czaren an den Feldmarſchall in der Russka Starina, Jahrgang 1884 u. 85.Im Mai brach Skrzynecki wieder aus Praga hervor, um ſich über den Bug nordwärts gegen die ruſſiſchen Garden zu wenden. Diebitſch eilte ihm nach und ſchlug ihn unter ſchweren Verluſten bei Oſtrolenka (26. Mai). Doch abermals wagte der Sieger nicht ſeinen Erfolg auszubeuten; abermals geſtattete er dem zer - rütteten polniſchen Heere hinter den ſchützenden Wällen von Praga zu verſchwinden und ſich dort von Neuem zu verſtärken. Da riß dem Czaren die Geduld, er beſchloß den unglücklichen Heerführer abzurufen.

Der ſchleppende Gang des Feldzugs hatte das Anſehen der ruſſiſchen Waffen überall in der Welt erſchüttert, und da faſt alle höheren Be - fehlshaber in dieſem erfolgloſen Kriege gleich dem Feldherrn ſelber Deutſche waren, ſo brach der alte Haß der Moskowiter gegen die Deutſchen wieder übermächtig aus. Die Nation forderte ſtürmiſch die Züchtigung der ver - achteten Polen, aber nur ein Ruſſe durfte dieſen nationalen Krieg führen. **)Schöler’s Bericht, 3. Juni 1831.Die polniſche Revolution ward ein Wendepunkt der ruſſiſchen Politik. Die Begünſtigung des alten Moskowiterthums, die ſich ſchon in Nikolaus erſten Jahren zuweilen gezeigt hatte, blieb fortan der leitende Grundſatz ſeiner Regierung. In ſchneidendem Gegenſatze zu ſeinem Bruder Alexander, dem Gönner der Deutſchen und der Polen, wies er alles weſtländiſche Weſen feindſelig ab. So ſtellte ſich die alte Regel wieder her, die ſich aus der nur halb gelungenen Verſchmelzung abendländiſcher und morgen - ländiſcher Geſittung nothwendig ergab und darum in der Geſchichte Ruß - lands mit der Stätigkeit eines Naturgeſetzes wiederkehrte: die Regel, daß jeder Czar gegenüber der europäiſchen Cultur genau das Gegentheil deſſen that, was ſein Vorgänger für geboten hielt.

Noch bevor ihn die Nachricht ſeiner Abberufung ereilte, ſtarb Die - bitſch plötzlich an der Cholera; die Lorbeeren ſeiner Türkenkämpfe waren verwelkt. Mittlerweile bereitete General Toll, der kühnſte und einſich - tigſte Kopf des Hauptquartiers, ſchon die entſcheidende Bewegung vor: das ruſſiſche Heer ſollte in einem weiten Flankenmarſche nach Nordweſten, bis dicht an die preußiſche Grenze zurückgehen, dort den ſo oft geplanten Uebergang über die Weichſel vollführen, um dann auf dem linken Ufer88IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.des Stromes wieder ſüdoſtwärts gegen Warſchau vorzurücken. Nun erſt ward offenkundig, was Preußens Freundſchaft für Rußland bedeutete; ohne die Mitwirkung der Nachbarmacht konnte der Plan nicht gelingen. Der König geſtattete, daß auf der preußiſchen Weichſel die Kähne und was ſonſt noch für den Brückenbau der Ruſſen nöthig war herbeigeſchafft wurden; er ließ an der Grenze entlang Märkte anlegen, mit Vorräthen jeder Art für die ruſſiſchen Einkäufer, und obwohl der Oberpräſident Schön gleich der Mehrzahl ſeiner liberalen Beamten die Ruſſen verab - ſcheute, ſo wurden doch die erhaltenen Befehle mit altpreußiſcher Pünkt - lichkeit ausgeführt. Im Juli ſchloß General Valentini mit dem Ruſſen Manſurow einen Vertrag, kraft deſſen Preußen ſich bereit erklärte, die nach Deutſchland übertretenden Polen zu entwaffnen und, gegen eine verein - barte Entſchädigung, vorläufig zu verpflegen; ſo ſollte zugleich unnützes Blutvergießen verhindert und die Unterdrückung des Aufſtandes be - ſchleunigt werden. *)Schöler’s Bericht, 20. Oct. 1831.Im Bewußtſein ſeines guten Rechtes verfuhr der König mit der größten Offenheit. Auf die wiederholten Vorſtellungen der Weſtmächte ließ er rundweg erwidern: er werde die polniſchen Em - pörer nimmer als eine kriegführende Macht anerkennen; von Pflichten der Neutralität könne gar nicht die Rede ſein bei einem Aufruhr, der Preußens eigene Sicherheit bedrohe.

Zu Diebitſch’s Nachfolger wurde der Held des letzten kleinaſiatiſchen Feldzugs Paskiewitſch ernannt ein echter Moskowiter, erſchreckend roh, hart, hochmüthig, als Feldherr zäh ausdauernd, doch überaus vorſichtig. Er durfte ernten was Andere geſäet. Durch die nahe preußiſche Grenze in ſeiner rechten Flanke gedeckt, überſchritt er die Weichſel bei Oſſiek, wenige Stunden oberhalb von Thorn (17. Juli) und zog dann, da die Cholera im Erlöſchen war, mit ſeinen geſunden, durch die preußiſchen Zufuhren wohlverſorgten Truppen langſam der Hauptſtadt entgegen, während die Polen ſchon durch Diebitſch’s Siege den Kern ihres Heeres verloren hatten und der beſtändige Wechſel im Oberbefehle ihre zu - nehmende Rathloſigkeit bekundete. Er hoffte die Unterwerfung ohne Schlacht zu erzwingen und vermied den Kampf, trotz der Mahnungen Toll’s, auch als er die Polen bei Bolimow in einer ganz unhaltbaren Stellung antraf. Noch am 4. September ließ er, endlich vor Warſchau angelangt, den Aufſtändiſchen überraſchend günſtige Bedingungen anbieten: eine wenig beſchränkte Amneſtie, Wiederherſtellung der Verfaſſung, Abzug der ruſſiſchen Garniſonen, ja die polniſchen Offiziere ſollten ſogar ihre im Kampfe gegen Rußland erworbenen neuen Grade behalten! So tief war der Hochmuth des Czaren durch dieſen langen Krieg gebeugt. In dem unglücklichen Warſchau aber hatte der wilde Radicalismus ſoeben durch einen gräßlichen Aufruhr des Pöbels die Herrſchaft wieder an ſich89Fall von Warſchau.geriſſen; Fürſt Czartoryski war entflohen, die Gemäßigten wagten ſich nicht mehr zu regen, die ſiegreiche Partei beſchloß den ausſichtsloſen Kampf fortzuſetzen. Am 6. September begann Paskiewitſch den Angriff auf dem weiten Blachfelde von Wola, wo einſt die Hunderttauſende des polniſchen Adels zur Königswahl ſich zu verſammeln pflegten; am folgenden Tage erſtürmten die Ruſſen unter Toll’s Führung nach wüthendem Kampfe die Thore der Hauptſtadt. Warſchau ergab ſich, die Trümmer des pol - niſchen Heeres flüchteten nach Preußen, ein kleiner Theil nach Galizien.

Alsbald ließ Nikolaus die verſöhnlichen Gedanken der letzten Monate fallen und nahm die Rachepläne wieder auf, mit denen er den Krieg begonnen hatte. Auch Preußen mußte erfahren, daß Rußland in der That, wie General Schöler dem Könige oft wiederholte, die nationale Eigenthümlichkeit beſaß, internationale Verträge ſchlecht zu erfüllen und namentlich von Preußen viel zu fordern ohne ſeinerſeits das gleiche Ent - gegenkommen zu beweiſen . *)Schöler’s Berichte, 7. Mai, 17. Nov. 1831.Ein Ukas des Czaren verkündete zwar eine allgemeine Amneſtie, unterſagte jedoch allen den Offizieren, welche erſt nach dem Falle von Warſchau ins Ausland übergetreten waren mithin der großen Mehrzahl des polniſchen Offizierscorps die Rückkehr für immer. Zum Danke für ihre freundnachbarliche Hilfe ſollten alſo Preußen und Oeſterreich mit einigen tauſend verzweifelten Heimathloſen belaſtet werden. Beſchlüſſe ſolcher Art, ſchrieb Schöler warnend, gehen von dem Kaiſer ſelber aus, ſie laſſen auf Eigenheiten ſeines Charakters ſchließen, die durch Zeit und Erfahrung nicht gemildert ſind. **)Schöler’s Bericht, 7. Oct. 1831.Beide Mächte erhoben Einſpruch: wie könne Rußland es verantworten, durch eine Maſſenverbannung in ganz Europa einen wandernden Heerd der Auf - hetzung und der Brandſtiftung zu gründen ? ***)Ancillon an Maltzahn 25. Oct. 1831.

Erſt nach langen Verhandlungen entſchloß ſich der Czar, ſeinen Ukas nach und nach zu mildern, ſo daß ſchließlich nur noch die gemeinen Ver - brecher und die politiſchen Hauptſchuldigen von der Amneſtie ausgeſchloſſen blieben. †)Ancillon, Weiſung an Schöler 10. Nov. Schöler’s Berichte, 16. 20. Nov. 21. Dec. 1831.Wie König Friedrich Wilhelm dergeſtalt die ehrliche Aus - legung des mit Rußland abgeſchloſſenen Auslieferungsvertrags durchſetzte, ſo war er auch keineswegs geſonnen, aus Gefälligkeit gegen ſeinen Schwiegerſohn den Weſtmächten einen Kriegsvorwand zu geben. Da die Republik Krakau den Aufſtand ihrer Stammgenoſſen mannichfach unter - ſtützt hatte, ſo wünſchte der Czar, daß die drei Schutzmächte das Gebiet des Freiſtaats gemeinſam beſetzen ſollten. Der Berliner Hof aber wider - ſprach, er wollte keinen Schritt über den Boden der Verträge hinaus - gehen und überließ die militäriſche Beſetzung den Ruſſen als dem allein90IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.angegriffenen Theile; nachher wurde unter der Oberaufſicht von Commiſ - ſären der Schutzmächte die völlig zerrüttete bürgerliche Ordnung in dem kleinen Staate nothdürftig wiederhergeſtellt. *)Metternich an Maltzahn, 14. Sept. Protokoll über die Verhandlung zwiſchen Metternich, Maltzahn, Tatiſtſchew 6. October. Weiſungen an Maltzahn 27. September, 13. October 1831.

Der verblendete Trotz der Polen bewirkte indeſſen, daß die erweiterte Amneſtie ihnen wenig Vortheil brachte. Die Einen wollten den Ver - heißungen des erzürnten Czaren keinen Glauben ſchenken, Andere bauten noch immer auf die leeren Verheißungen Lafayette’s und hofften über kurz oder lang mit Hilfe der franzöſiſchen Radicalen den allgemeinen Umſturz herbeizuführen. Dieſe Fanatiker, Allen voran der nach Dresden geflüchtete tapfere General Bem, übten die Künſte des allen Polen ge - läufigen Parteiterrorismus mit ſolchem Erfolge, daß die Mehrzahl der Harmloſen eingeſchüchtert und die Heimkehr von den Offizieren bald als Verrath angeſehen wurde. Tauſende freiwilliger Auswanderer, die ſich fälſchlich für Verbannte ausgaben, überſchwemmten Weſteuropa; ſie ver - ſchmähten daheim friedlich für ihr Vaterland zu arbeiten, was den Meiſten ſtraflos geſtattet war, und verfielen dem ſchlechten Handwerke der Ver - ſchwörer. Die tragiſche Schuld der Theilungen Polens ſuchte den Welt - theil mit immer neuen Leiden heim. Die polniſche Emigration ward ein Fluch Europas, ein Heerd des Unfriedens, wie die preußiſche Regierung vorausgeſagt. Zwei Jahrzehnte hindurch bildeten die polniſchen Flüchtlinge die verbindende Kette zwiſchen den radicalen Parteien aller Länder; ſie ſchürten jeden Aufruhr und fochten auf jeder Barrikade.

Czar Nikolaus aber blieb fortan neben Metternich der verhaßteſte Mann Europas. Er verdankte dieſen Ruf zum Theil den ungeheuer - lichen Märchen der polniſchen Flüchtlinge, mehr noch dem harten Straf - gerichte, das er über die Unterworfenen verhängte. Nach ſeiner Ueber - zeugung waren alle Freiheiten der Polen durch die Empörung verwirkt, und ihm allein ſtand es zu, einen neuen Rechtszuſtand anzubefehlen. Einige der Aufſtändiſchen mußten am Galgen, viele in Sibirien büßen; die Verfaſſung ward vernichtet, das Heer und die Univerſität aufgehoben, das herrliche Schloß der Czartoryskis in Pulawy ſeiner Kunſtſchätze beraubt. Polniſche Orden belohnten die Sieger für die Vernichtung der polniſchen Unabhängigkeit; auf dem Hauptplatze Warſchaus erhob ſich ein Obelisk zu Ehren der im November ermordeten Generale. Seit dem Organiſchen Statut vom Februar 1832 war das Land nur noch eine ruſſiſche Provinz mit eigener Verwaltung und Rechtspflege. Hatten die Polen ihre conſtitutionellen Rechte nur zu Ränken und Verſchwörungen mißbraucht, ſo erwies ſich die neue Ordnung faſt noch unheilvoller, ſie konnte allein durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand aufrecht erhalten91Die polniſchen Flüchtlinge.werden. In der Hauptſtadt gebot der zum Fürſten von Warſchau er - hobene Paskiewitſch mit eiſerner Strenge; er verhöhnte die Geſchlagenen ins Angeſicht, feierte ſeine Siege in prunkenden Feſten, und als ihm der Czar das von Thorwaldſen ſoeben vollendete Reiterſtandbild des polniſchen Nationalhelden Poniatowski ſchenkte, ließ er der Bildſäule den Kopf ab - ſchlagen, ſeinen eigenen Kopf darauf ſetzen und dann dies unvergleichliche Denkmal moskowitiſcher Barbarei vor einem ſeiner Schlöſſer aufſtellen.

Bei alledem ſpielten die Weſtmächte eine klägliche Rolle. Mehrmals erhoben ſie ſchüchternen Einſpruch und beriefen ſich auf die Wiener Ver - träge, die ſie doch ſelber beſtändig verletzten. Alle dieſe Verſuche wurden von den drei Theilungsmächten kurzerhand abgewieſen; denn die Wiener Congreßacte verhieß den Polen nur im Allgemeinen nationale Inſtitu - tionen , und eine nationale Verwaltung blieb dem Lande auch jetzt noch erhalten. *)Maltzahn’s Berichte, 9. Nov. 1831 ff.Jahraus jahrein ergingen ſich die Parlamente von England und Frankreich fortan in Kundgebungen einer unfruchtbaren Entrüſtung. Der furchtſame Bürgerkönig nahm die polniſchen Flüchtlinge gaſtlich bei ſich auf. Im Stillen fühlte er ſich doch erleichtert durch die Unterdrückung eines Aufſtandes, der ihm nur Verlegenheiten bereitet hatte. Sein Ver - trauter Sebaſtiani plauderte dies Herzensgeheimniß unvorſichtig aus, als er in der Kammer die Aeußerung fallen ließ: die Ordnung herrſcht in Warſchau ein Wort, das von den Liberalen aller Länder begierig auf - gegriffen und jahrelang beſtändig wiederholt wurde, um die Ruchloſigkeit der Kronen zu brandmarken.

Durch den Fall von Warſchau gewann die Politik der Oſtmächte wieder freiere Bewegung; indeß war Rußland durch den polniſchen Kampf ſo erſchöpft und das Friedensbedürfniß an den beiden deutſchen Höfen ſo ſtark, daß eine ernſte Kriegsgefahr kaum noch hereinbrechen konnte. Die belgiſche Frage ſchritt der Löſung entgegen, ſehr langſam allerdings und unter mannichfaltigen Verwicklungen. Der am 15. November mit Belgien abgeſchloſſene Vertrag erregte in Berlin wie in Wien und Petersburg gerechtes Befremden; denn die Geſandten der drei Mächte hatten ihn ohne Vollmacht unterzeichnet, und ohne die Mitwirkung Hollands, wäh - rend die Londoner Conferenz doch berufen war zwiſchen den ſtreitenden Parteien zu vermitteln. Dennoch war König Friedrich Wilhelm zur Genehmigung bereit, da er den Inhalt des Vertrags billigte; nur wollte er die Ratification erſt dann ausſprechen, wenn alle Großmächte und wo möglich auch Holland beiſtimmten und dadurch eine endgiltige Ent - ſcheidung geſichert war. Den ganzen Winter hindurch mühte Preußen ſich ab, dieſe allgemeine Uebereinſtimmung herbeizuführen. Oeſterreich92IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.wurde leicht gewonnen. Der Hartnäckigkeit des Königs der Niederlande aber ließ ſich mit Ueberredung nicht beikommen. Obwohl er in die Thei - lung ſeines Königreichs längſt gewilligt hatte und nur noch gegen einzelne Artikel des Vertrages ſachliche Einwände erhob, ſo fühlte er ſich doch durch das rückſichtsloſe Verfahren der Conferenz tief beleidigt. Er wollte dem Coburgiſchen Thronräuber nicht verzeihen und hoffte insgeheim auf einen allgemeinen Krieg, der Hollands Entwürdigung noch abwenden ſollte. Nach Allem was geſchehen , ſchrieb er ſeinem Schwager, iſt es mir unmöglich, in Leopold nicht nach wie vor meinen Feind zu ſehen. Meine Sache iſt nicht meine eigene, ſie iſt allen rechtmäßigen Regie - rungen gemeinſam. Vergeblich hielt ihm Friedrich Wilhelm vor, daß Holland ſich durch ſeine Unverſöhnlichkeit den Beiſtand ſeiner Verbün - deten ſelbſt verſcherze. *)Oberſt Scharnhorſt’s Bericht an den König, 28. Aug. Witzleben an Ancillon 22. Oct. Eichhorn’s Denkſchrift für Prinz Albrecht 25. Oct. K. Wilhelm d. Niederl. an K. Friedrich Wilhelm 5. Dec. Antwort 24. Dec. 1831.

Der Oranier nahm dieſe Drohung nicht für Ernſt; er zählte auf Rußlands Beiſtand, denn Nikolaus wiederholte beſtändig: ich ratificire nicht eher, als bis der rechtmäßige König die Belgier aus dem Unterthanen - verbande entlaſſen hat. So drehte man ſich im Kreiſe; die beiden Legi - timiſten in Petersburg und im Haag verſteckten ſich einer hinter dem andern. Da Ancillon’s Denkſchriften auf den Czaren keinen Eindruck machten, ſo ſchrieb König Friedrich Wilhelm ſelbſt: er achte, ja er theile die Gefühle ſeines Schwiegerſohnes, aber ich habe meinem Herzen Schweigen auferlegt um den Geboten der politiſchen Vernunft zu ge - horchen ; nicht um der Oranier ſondern um Europas willen ſei Belgien einſt mit Holland vereinigt worden, alſo dürfe man auch bei der Tren - nung nur das allgemeine Intereſſe im Auge haben; bei einem allge - meinen Kriege bilde Rußland doch nur die Nachhut, die Laſt des Kampfes falle auf Deutſchland, darum ſei es Pflicht der drei Oſtmächte, im Haag gemeinſam zu erklären, daß ihre Geduld Grenzen habe. **)Ancillon, Rundſchreiben an die Geſandtſchaften, 18. Dec. 1831. K. Friedrich Wilhelm an K. Nikolaus, nebſt Memorandum, 12. Jan. 1832.

Nach langem Widerſtreben und mehrfachen Rückfällen ließ ſich der Czar überzeugen und ſendete im Februar 1832 ſeinen Vertrauten Orlow nach dem Haag, um dort noch einen letzten Verſuch zu wagen. Als Orlow, wie zu erwarten ſtand, bei dem Oranier nichts ausrichtete, erklärte er ihm am 22. März rundweg, ſein Kaiſer könne nunmehr die Ratifi - cation nicht länger verſchieben und überlaſſe alle Verantwortung dem Könige. ***)K. Nikolaus an K. Wilhelm der Niederl. 18. Jan. a. St. Ruſſiſche Denk - ſchrift, zur Beantwortung des preußiſchen Memorandums, Febr. Neſſelrode, Weiſung an Lieven, Ende März 1832.Bei allen dieſen Verhandlungen wähnte Nikolaus noch immer,93Anerkennung Belgiens.es werde ihm gelingen, England von Frankreich zu trennen und bei dem alten Vierbunde feſtzuhalten, während die ruſſiſche Politik doch nur das Gegentheil bewirken konnte. *)Neſſelrode, Weiſung an Lieven 19. Januar a. St., an Maltitz 17. Februar a. St. 1832.Je weiter die Oſtmächte ihre Genehmigung hinausſchoben, um ſo feſter ſchloſſen ſich die beiden Schutz - mächte Belgiens an einander. Lord Palmerſton hatte längſt die Geduld verloren und ſchon im December, zum Danke für Friedrich Wilhelm’s ehrliche Verſöhnungsverſuche, ein grobes Schreiben an Ancillon gerichtet, worin er die preußiſche Regierung beſchuldigte, ſie verſtecke ihre Zögerungen hinter einer Phraſe . Er ſchlug hier bereits jenen anmaßenden Ton an, der ihm bald zur anderen Natur wurde und viel dazu beitrug den engliſchen Namen bei allen Völkern in Verruf zu bringen. Offenbar hoffte er Preußen einzuſchüchtern, doch der Streich mißlang. Es blieb dabei, daß Bülow die preußiſche Ratification, die er ſchon ſeit Anfang Januar in der Taſche trug, erſt nach der Einigung aller Großmächte übergeben durfte. **)Palmerſton an Ancillon, 30. Dec. 1831. Bernſtorff, Bericht an den König 6. Jan. Ancillon an den Geſandten Chad 7. Jan., an Bülow 8. Jan. 1832.

Nachdem nun endlich der Widerſtand des Czaren gebrochen war, ſprachen Oeſterreich und Preußen am 18. April, Rußland am 4. Mai 1832 ihre förmliche Genehmigung aus. Die beiden deutſchen Mächte verwahrten wieder ausdrücklich das Recht des Bundes auf Luxemburg; der Czar verwies, noch immer grollend, in einem vieldeutigen Vorbehalte auf die künftige Verſtändigung der beiden Könige Niederlands. Im Spätſommer wurden dann Leopold’s Geſandte in Berlin und Wien empfangen, während Nikolaus und nach ſeinem Beiſpiele auch König Ludwig von Baiern ſowie mehrere andere ſtreng legitimiſtiſche deutſche Fürſten den diplomatiſchen Verkehr mit dem neuen Brüſſeler Hofe vor - läufig noch verſchmähten.

Das lange Zaudern hatte die Kluft zwiſchen dem Weſten und dem Oſten ſichtlich erweitert. Palmerſton’s zunehmende Ungezogenheit zeigte ſelbſt dem Czaren, daß Europa in zwei feindliche Heerlager zerfiel, und Metternich meinte ingrimmig: den drei Verbündeten treten die beiden Spießgeſellen (complices) gegenüber. Unverkennbar ſtanden die Spieß - geſellen im Vortheil, denn ſie wußten was ſie wollten. Sie verlangten, daß König Wilhelm, der noch die Citadelle von Antwerpen ſowie zwei kleine Feſten an der Schelde beſetzt hielt, mindeſtens das belgiſche Gebiet räumen müſſe, und waren bereit, ſelbſt durch die Waffen ſeinen Trotz zu brechen, während die Oſtmächte ſolchen Zwang gegen den alten Ver - bündeten weder billigen noch verhindern mochten. Als der Sommer wieder über fruchtloſen Verhandlungen mit dem Haag vergangen war,94IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.beantragten England und Frankreich auf der Londoner Conferenz ge - meinſame Gewaltmaßregeln gegen Holland. Man ſtritt hinüber und herüber, die Conferenz wußte ſich aus ihrer Rathloſigkeit nur dadurch zu retten, daß ſie gar nicht mehr zuſammentrat. Der europäiſche Areopag löſte ſich auf und überließ es den Weſtmächten, ihre heilige Nichtein - miſchungs-Lehre zum zweiten male gröblich zu verletzen. Sie beſchloſſen am 22. October, daß England die holländiſchen Schiffe in Beſchlag nehmen, Frankreich die Citadelle von Antwerpen für Belgien erobern ſolle.

Diesmal verfuhr der Hof des Palais Royal ohne Hintergedanken, anders als im vorigen Jahre; denn König Leopold hatte mittlerweile die ſo lange umworbene Tochter Ludwig Philipp’s geehelicht, und ſeit der Coburger mit zur Familie gehörte, ſtand der alte Plan der Theilung Belgiens nicht mehr im Einklang mit den kaufmänniſchen Geſchäftsregeln des Hauſes Orleans. Im Mai war Caſimir Perier geſtorben, auch er ein Opfer der Cholera. Im October übernahm der Herzog von Broglie das Auswärtige Amt, der Führer der Doctrinäre, hochgebildet, ſteif, tugendſtolz, unausſtehlich wie ſeine geſammte Partei, aber unbeſtreitbar ein Mann des Friedens. Er verſprach den großen Mächten ſofort, daß die franzöſiſchen Truppen alsbald nach der Einnahme der Citadelle Bel - gien wieder verlaſſen würden, und fragte ſogar an, ob nicht Preußen unterdeſſen das öſtliche Belgien beſetzen wolle. *)Witzleben an Maltzahn, 16. Oct. Weiſungen an Maltzahn, 20. 30. Oct. 6. Nov. 1832.König Friedrich Wilhelm aber wollte an der Vergewaltigung ſeines Schwagers auch nicht mittelbar theilnehmen; er verſtärkte nur die Truppen am Rhein durch das weſt - phäliſche Armeecorps und zog ſie dicht an der Grenze, bei Aachen zuſammen um gegen einen Wortbruch Frankreichs ſofort einſchreiten zu können. In Paris mußte Werther den ſtärkſten moraliſchen Widerſtand leiſten , wie Ancillon ſalbungsvoll ſagte**)Ancillon an Maltzahn 20. Oct. 1832.; auch Oeſterreich und Rußland zeigten dem franzöſiſchen Hofe die üble Laune, die im Leben der Einzelnen wie in der Politik immer den Schmollenden ſelber ſchädigt. Gleichwohl wagten die Oſtmächte nicht einmal eine öffentliche Verwahrung; ſchon im Früh - jahr waren ſie dahin übereingekommen, daß ein ſolcher Schritt entweder ihr Anſehen bloßſtellen oder die Gefahr des allgemeinen Kriegs wieder heraufbeſchwören müſſe. ***)Preußiſches Memorandum für Graf Orlow, 13. Febr. 1832.Der Bürgerkönig wußte dies nur zu wohl und ließ den kleinen deutſchen Höfen zuverſichtlich ankündigen: Obwohl wir die Zuſtimmung der Nordmächte zu unſeren Maßregeln nicht erlangt haben, ſo ſind wir nichtsdeſtoweniger ſicher, keinem Widerſtande ihrerſeits zu begegnen. †)Broglie, Circular-Depeſche über den Vertrag v. 22. Oct. 1832.Kein Wunder wahrhaftig, daß der Oranier über den abermaligen Einmiſchungsverſuch der gleißneriſchen Nicht-Einmiſchungs -95Der Zug nach Antwerpen.Politiker auf’s Aeußerſte empört war. Trotz aller Warnungen, die ihm ſelbſt aus Petersburg zukamen, hatte er doch nicht für möglich gehalten, daß ſeine alten Freunde ihn hilflos den Mißhandlungen der Weſtmächte preisgeben würden und warum? weil er einem Vertrage widerſprach, der gleich dem Utrechter Frieden ohne, über und gegen Holland abge - ſchloſſen war! Lord Palmerſton aber weidete ſich ſchadenfroh an der Ver - legenheit der Oſtmächte. Luſtiger denn je pries er dem Parlamente die Expediency des Zuges nach Antwerpen und rühmte zugleich die Ehr - lichkeit der engliſchen Politik was doch ſelbſt vielen ſeiner britiſchen Hörer wie ein frecher Witz klang.

Ungeſtört konnte alſo das wunderbare Schauſpiel eines Krieges ohne Friedensbruch über die Bretter gehen. Am 22. November begann Mar - ſchall Gerard mit 60000 Franzoſen die von 5000 Holländern vertheidigte Antwerpener Citadelle zu belagern. Jede Mitwirkung der Belgier wies er zurück, da ſeine Regimenter durchaus nur als Executionstruppen Europas auftreten ſollten. Nach vier Wochen tapferen Widerſtandes ergab ſich die Feſtung, und ſofort kehrte das franzöſiſche Heer in die Heimath zurück. Am 22. März 1833 ward dann eine neue Waffenruhe vereinbart: die Holländer blieben noch in den Scheldefeſtungen Lillo und Liefkenshoeck, die Belgier hielten einen Theil des holländiſchen Luxemburg und Limburg beſetzt. In dieſem ſeltſamen Zuſtande verblieben die Nieder - lande ſechs Jahre lang bis der Oranier endlich nachgab. Sechs Jahre hindurch ſtand das holländiſche Heer an der Südgrenze verſammelt, willig brachte das treue Volk dem Starrſinn ſeines Königs ſchwere Opfer, derweil die klugen Belgier ſich die Verzinſung ihres Antheils an der alten Staatsſchuld erſparten.

So endete dies Nachſpiel der Juli-Revolution mit einem Triumphe des Bürgerkönigthums, der dem franzöſiſchen Staate allerdings weder wahren Kriegsruhm noch eine dauernde Machterweiterung brachte, aber ſo blendend in die Augen ſtach, daß ſelbſt der nüchterne Guizot mit der glänzenden franzöſiſchen Löſung der belgiſchen Frage prahlen konnte. Die Oſtmächte empfanden die erlittene Niederlage ſehr lebhaft. Metternich wußte nur den einen Troſt, daß der Tag der Gerechtigkeit noch nicht gekommen ſei. Bald nach dem Falle von Antwerpen meinte er weh - müthig: die praktiſche, die einzige auf die Lage des Tages anwendbare Wahrheit iſt die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Ereigniſſe abzu - warten.

In Oeſterreichs unmittelbarem Machtgebiete ließ er dieſe Wahrheit freilich nicht gelten; ſeine italieniſche Politik blieb feſt, herriſch, zugreifend. Im Kirchenſtaate kam Alles wie er es vorhergeſehen: die Unruhen brachen ſofort wieder aus, als die Oeſterreicher auf Frankreichs Wunſch abgezogen waren. Der Papſt konnte und wollte die verheißenen Reformen nicht ernſtlich durchführen, obwohl ihn Metternich mehrmals mahnte und ſchon96IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.daran dachte die großen Mächte zur Mitwirkung aufzurufen:*)Metternich, Mémoire sur l’affaire des Légations romaines, Nov. 1831. die Laien blieben von der Regierung ausgeſchloſſen, die neuen Provinzial - und Ge - meinderäthe völlig machtlos. Als nun im Januar 1832 päpſtliche Truppen in die Romagna einrückten, rotteten ſich die Bürgerwehren und Frei - ſchaaren zuſammen; die Aufſtändiſchen unterlagen, und furchtbar hauſte das wüſte Geſindel der Schlüſſelſoldaten in den unterworfenen Städten. Die Curie aber zitterte vor ihrem eigenen Heere und rief nochmals die Hilfe des öſterreichiſchen Nachbarn an. Am 28. Januar erſchien Mar - ſchall Radetzky mit ſeinen Weißröcken in Bologna; die Romagnolen ſelber empfingen ihn mit Freude, weil er ihnen doch Schutz gewährte gegen die wüthenden Papalini.

Nach Völkerrecht war Oeſterreichs Verfahren unanfechtbar, ſicherlich beſſer gerechtfertigt als der belgiſche Zug der Franzoſen vom vorigen Sommer. Caſimir Perier aber hatte ſich vor den Kammern vermeſſen, daß er eine neue Einmiſchung der Oeſterreicher nicht dulden werde; er war gerichtet, wenn er ſein Wort nicht hielt. Die Parteiwuth der Fran - zoſen zwang ſelbſt dieſen ernſten Staatsmann ſich vor der Phraſe der Nichteinmiſchungs-Lehre zu beugen und ſeine kurze rühmliche Laufbahn mit einem unwürdigen Poſſenſpiele zu ſchließen. Perier ließ durch Marſchall Maiſon in Wien ankündigen, daß nunmehr auch Frankreich einſchreiten müſſe Alles im Namen der Nichteinmiſchung! Metternich antwortete mit überlegenem Hohne: Wollen Sie, daß wir im Kirchenſtaate bleiben? Dann wählen Sie das rechte Mittel; denn ſicherlich werden wir ſo lange bleiben, bis Ihr wieder fortgeht! In tiefem Geheimniß ſegelte unter - deſſen ein kleines Geſchwader aus Toulon ab, fünfzehnhundert Franzoſen landeten am 22. Februar in Ancona und bemächtigten ſich der Stadt; ein pomphaftes Manifeſt verkündete den Italienern, daß Frankreich überall die Freiheit der Völker gegen den Despotismus beſchütze.

Die Pariſer Preſſe und viele der liberalen deutſchen Zeitungen froh - lockten über die neue Wunderthat des freien Frankreichs. Caſimir Perier ſelber war trotz ſeiner Verſtandesklarheit doch wie alle Franzoſen zur politiſchen Selbſttäuſchung geneigt; er redete ſich ein, daß er das öffent - liche Recht Europas vertheidigt habe, und die Haltung der anderen Mächte beſtärkte ihn in dieſem Wahne. Während Oeſterreich und Ruß - land ihre Entrüſtung über dies politiſche Verbrechen laut ausſprachen, konnte ſelbſt Palmerſton ſeine Unzufriedenheit kaum verbergen, ſo daß Ludwig Philipp für gerathen hielt den fremden Geſandten allerhand feige Entſchuldigungen zu ſagen. Ancillon aber klagte rührſam: Die Winde haben eine Seefahrt, welche keine Gunſt verdiente, ſeltſam begünſtigt. Die Geſchichte bietet wenig Beiſpiele einer ſo offenbaren Verletzung aller Grundſätze. Dies verhängnißvolle Abenteuer würde ein Räthſel ſein,97Beſetzung von Ancona.wenn man nicht daran gewöhnt wäre, daß das franzöſiſche wie das eng - liſche Miniſterium Alles den Rückſichten der parlamentariſchen Lage unter - ordnet, Alles der nationalen Eitelkeit opfert. *)Ancillon an Maltzahn, 5. März 1832.

Nach kurzer Friſt beruhigten ſich die Mächte wieder; ſie erkannten bald, daß die Beſetzung von Ancona wirklich nur den Dünkel der franzöſiſchen Parteien beſchwichtigte und ſonſt ohne jede Wirkung blieb. Die fünfzehn - hundert Mann auf der halbzerfallenen Citadelle durften, da der Papſt Einſpruch erhob, weder Verſtärkungen herbeiziehen noch die Feſtungswerke herſtellen, ſie mußten die päpſtliche Flagge hiſſen, ſie vertrieben ſogar die Liberalen aus der Stadt und leiſteten der Polizei des Vaticans willig Schergendienſte. Faſt ſieben Jahre lang hielten ſie in dieſer lächerlichen Lage aus, bis ſie endlich im December 1838, gleichzeitig mit den Oeſter - reichern das Land verließen. Inzwiſchen hatte ſich das Prieſterregiment unter dem Schutze der kaiſerlichen Waffen behaglich wieder eingerichtet. Von ernſten Reformen war ſo wenig mehr die Rede, daß England ſchon nach einigen Monaten ſeinen Bevollmächtigten von der nutzloſen römiſchen Geſandtenconferenz abberief. Metternich freute ſich des Starrſinns der Curie keineswegs und erſparte ihr ernſte Mahnungen nicht. Doch er wußte auch, daß dieſer Prieſterſtaat, den er ſelber bereits vor Jahren ein nur zu veraltetes, morſches Gebäude genannt hatte,**)Metternich an Bernſtorff, 17. Aug. 1820. durchgreifende Neuerungen kaum noch ertragen konnte, und ſchon um dem Bürger - königthum keinen Triumph zu bereiten, wollte er den Papſt nicht allzu lebhaft bedrängen. Die Beſetzung von Ancona brachte der Freiheit Italiens keinen Gewinn; ſie verhinderte ſogar die beſcheidenen Reformen, welche unter der Herrſchaft des gekrönten Prieſters vielleicht noch möglich waren. Der feine politiſche Inſtinkt der Italiener täuſchte ſich darüber nicht: die Oeſterreicher fürchtete man als harte, tapfere Feinde; der lärmende, an - maßende, furchtſame franzöſiſche Freund ward verachtet. Noch auf lange hinaus ſchien die Herrſchaft des Kaiſerhauſes auf der Halbinſel geſichert.

Das alſo war das Ergebniß dieſer wirrenreichen Kämpfe. England hatte die Wege des Liberalismus betreten, in Frankreich und Belgien war die Revolution zum Siege gelangt, in Polen und Italien war ſie unter - legen. Das alte und das neue Europa hielten einander das Gleich - gewicht. Welchem der beiden Lager würde Deutſchland ſich zuwenden? an dieſer Frage hing die nächſte Zukunft der Staatengeſellſchaft.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 7[98]

Zweiter Abſchnitt. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Kleine Staaten erſcheinen leicht lächerlich; denn der Staat iſt Macht, und die Ohnmacht widerſpricht ſich ſelber ſobald ſie als Macht auftreten will. Wo aber die Thatkraft einer großen Nation ſich nur in den arm - ſeligen Händeln kleiner Gemeinweſen zu äußern vermag, da werden folgen - ſchwere Wandlungen des Völkerlebens oft vorbereitet durch unſcheinbare particulariſtiſche Bewegungen die für ſich allein wenig, insgeſammt viel bedeuten. Neue politiſche Gedanken können ihre Nothwendigkeit nicht über - zeugender erweiſen, als wenn ſie in einem zerſplitterten Volke, zur ſelben Zeit an verſchiedenen Stellen auftreten und durch mannichfaltige Hemmniſſe hindurch ſich ihre Bahn brechen; der gleiche Erfolg, die ungewollte und doch unverkennbare innere Verwandtſchaft ſolcher Einzelkämpfe bekunden dann zugleich die ſchöpferiſche Naturgewalt der nationalen Einheit. Der - weil Europa die Pariſer Barrikadenhelden mit Huldigungen überſchüttete, wurden die Straßenunruhen der kleinen norddeutſchen Hauptſtädte im Auslande nur mit ſpöttiſchem Lächeln angeſehen, ja manche der Führer dieſer winzigen Revolutionen betrachteten ſich ſelber nur als beſcheidene Schüler der unerreichbaren Franzoſen. Und doch war dieſe verzettelte deutſche Bewegung mit aller ihrer kleinſtädtiſchen Abgeſchmacktheit beſſer berechtigt und in ihrer letzten Nachwirkung fruchtbarer als ihr vielbe - wundertes Vorbild. Durch die Juli-Revolution nur gefördert, keineswegs verurſacht, entſprang ſie naturgemäß aus einer veralteten Geſellſchafts - ordnung, die weit ſchwerer drückte als die politiſchen Mißgriffe der Bour - bonen, und verwirklichte in den altſtändiſchen Gemeinweſen des Nordens die Ideen der Rechtsgleichheit und des Staatsbürgerthums, welche im übrigen Deutſchland ſich ſchon längſt durchgeſetzt hatten, ſo daß jetzt erſt eine allen Deutſchen gemeinſame Staatsgeſinnung, ein über die Grenzen der Einzelſtaaten hinausreichendes Parteileben, ein bewußter Kampf um die Reform des nationalen Geſammtſtaates nach und nach möglich wurde.

Unter allen dieſen kleinen Staatsumwälzungen erregte der Braun - ſchweiger Aufſtand das größte Aufſehen; denn hier allein wurde der noth - wendige Umſchwung durch revolutionäre Mittel, durch offenbaren Rechts -99Klage der Braunſchweiger Landſtände.bruch bewirkt, und hier zeigte ſich zugleich mit erſchreckender Klarheit, daß die Unſicherheit unſeres öffentlichen Rechtes in der ſchimpflichen Ohnmacht des Bundestages ihren letzten Grund hatte. Gegen die Winkeltyrannei der ſchwächſten Reichsſtände bot die alte Reichsverfaſſung immerhin einigen Schutz; mehrmals ſchritten Kaiſer und Reich zur Abſetzung unverbeſſer - licher kleiner Despoten, noch zur Zeit der franzöſiſchen Revolution erſchien zuweilen eine kaiſerliche Debit-Commiſſion in einem überſchuldeten Fürſten - thume um von Reichswegen die Ordnung herzuſtellen. Seit aber die Bundesakte dieſen kleinen Herren die Souveränität gewährt hatte, beſtand für fürſtliche Willkür keine Schranke mehr, und einmal doch mußte an einem ungerathenen Sohne des deutſchen hohen Adels offenbar werden, wie tief der Genuß einer anſpruchsvollen Würde ohne Macht ihren Träger entſittlichen kann.

Trotzend auf ſeine fürſtliche Unverantwortlichkeit war Karl von Braun - ſchweig von Stufe zu Stufe geſunken. Er wußte, daß die Deutſchen ihn verabſcheuten, und fand bald eine boshafte Freude daran, ſeinen ſelbſt - verſchuldeten ſchlechten Ruf immer aufs Neue zu rechtfertigen. Schon vier Jahre vor ſeinem Sturze ſchrieb er ſeiner gütigen Freundin, der Prinzeſſin Amalie von Sachſen, die ihm vergeblich ins Gewiſſen redete: Man hält es am Ende für einerlei etwas zu ſein, wofür man ſchon lange gegolten hat. Jung, hübſch, mächtig und ganz unabhängig mir ſelbſt überlaſſen wie konnte ich anders werden? *)H. Karl von Braunſchweig an Prinzeſſin Amalie von Sachſen, 21. Nov. 1826.Die ſchlaffe Nach - ſicht des Bundestags, der ſich in dem Streite der beiden Welfenhäuſer mit einer beinahe poſſenhaften Genugthuung zufrieden gab, mußte den dreiſten Uebermuth des verblendeten Fürſten noch erhöhen**)ſ. o. III. 565.. Schon wieder lag ſeit Jahr und Tag eine Klage gegen Herzog Karl unerledigt in Frankfurt: die Bitte des landſtändiſchen Ausſchuſſes um Aufrechter - haltung der unbeſtreitbar rechtmäßigen Landſchaftsordnung von 1820. Wieder wußte Graf Münch, trotz der ungeſtümen Mahnungen des preu - ßiſchen Geſandten, die Entſcheidung zu verzögern; daß Landſtände gegen ihren Fürſten jemals Recht behalten könnten, ſchien der Wiener Hofburg ganz unfaßbar. Auch manche der anderen Bundesgeſandten bezweifelten die Giltigkeit der neuen Verfaſſung, weil ſie unter einer vormundſchaft - lichen Regierung vereinbart worden ſei, der Vormund aber nicht über das Vermögen des Mündels verfügen dürfe. Selbſt Wangenheim und einige überfeine Köpfe unter den Liberalen theilten dieſe Zweifel; ſo mächtig war noch, Dank der privatrechtlichen Bildung unſerer Juriſten, jene alte patrimoniale Staatslehre, welche Land und Leute nur als fürſtliches Haus - gut betrachtete. Alſo unter Bedenken und Gegenbedenken ſchleppte ſich der Handel dahin, bis endlich im Spätſommer 1830 die Commiſſion des7*100IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Bundestags einen Bericht zu Stande brachte, der ſich zu Gunſten der klagenden Landſtände ausſprach.

Dieſe Nachricht aus Frankfurt beſtärkte die Braunſchweiger in dem Bewußtſein ihres guten Rechtes, und unwillkürlich regte ſich die Frage, ob man nicht endlich zur Selbſthilfe ſchreiten müſſe; wer konnte denn wiſſen, wann jemals jenem Berichte ein wirkſamer Bundesbeſchluß folgen würde? Der Herzog ſchlenderte mittlerweile ſchon ſeit Monaten auf den Pariſer Boulevards umher und verhandelte nebenbei mit dem Hauſe Rothſchild über Börſengeſchäfte. Als ihn dort der Ausbruch der Juli - Revolution überraſchte, zeigte ſich der Erbe des braunſchweigiſchen Helden - geſchlechtes als ein elender Feigling; er verlor den Kopf, obwohl ihn die Pariſer kaum beachteten, und floh unter ſeltſamen Abenteuern. Unter - wegs ſah er in Brüſſel noch jene Vorſtellung der Stummen von Portici, welche den belgiſchen Aufruhr einleitete. Zweimal warnte ihn das Schick - ſal, doch in dieſe glatte Stirne grub die ernſte Zeit keine Furchen. Mit ſeinem Völkchen daheim dachte der Welfe ſchon fertig zu werden. Als er zurückkam, brachte er einen neuen Günſtling mit, den franzöſiſchen Aben - teurer Alloard, und prahlte laut, ihm ſolle man das Schickſal Karl’s X. nicht bereiten. Eine Handvoll Unterbeamten und Hofhandwerker begrüßte den Heimgekehrten mit einem Fackelzuge. Die Bürgerſchaft aber ſah mit Unmuth der gemachten Huldigung zu und ſendete ihre Vertreter auf das Schloß um die Einberufung des Landtags zu erbitten; Bürgermeiſter Bode, ein derber, freimüthiger, ganz von althanſiſchem Bürgerſtolze erfüllter Mann, führte das Wort und warnte den Fürſten vor der unheildrohenden Stimmung des Volkes. Dahin hatte es der Herzog durch die knaben - hafte Willkürherrſchaft dieſer ſieben Jahre gebracht, daß er in ſeinem durch und durch welfiſch geſinnten Völkchen unter den gebildeten Klaſſen faſt gar keine Anhänger mehr beſaß; ſelbſt die Offiziere murrten, weil er ſie bald launiſch beleidigte bald ihnen den Gehalt beſchnitt oder erledigte Stellen unbeſetzt ließ.

Die Maſſe des Volks nahm an dem Verfaſſungskampfe der Land - ſtände geringen Antheil; doch ſie wußte genug von dem wüſten Treiben im Schloſſe um den Herzog zu haſſen, ſie litt unter dem Drucke der Binnenmauthen, ſie klagte, daß kein Fremder mehr den verrufenen Hof beſuchte, daß der geizige Fürſt die öffentlichen Bauten einſtellen ließ und alſo die Noth noch ſteigerte, die nach einer ſchlechten Ernte, einem harten Winter überall in Deutſchland empfunden wurde. Karl ahnte das nahende Unwetter und ließ in ſeiner Angſt Kanonen vor dem Schloſſe auffahren, Pulvervorräthe in die nahe Aegidienkirche ſchaffen. Während er am Abend des 6. Septembers im Theater weilte, ſammelten ſich einige Volkshaufen um die beiden Wagen, die ihn und ſeine Dirne, eine bekannte Schauſpielerin, zur Heimfahrt erwarteten; ſobald er aus dem Schauſpielhauſe heraustrat, begrüßte ihn wüſtes Geſchrei, ein Hagel von101Schloßbrand in Braunſchweig.Steinen folgte dem davoneilenden Wagen. Vor dem Schloſſe ſtand eine Schaar von Gaffern und Schreiern. Ein Offizier fragte: Kinder, was wollt Ihr denn eigentlich? Die Leute ſahen ſich verwundert an, bis endlich ein liberaler Advokat das neue Pariſer Feldgeſchrei anſtimmte: Brot und Arbeit! und einige wohlgenährte Schüler des Carolinums den Jammerruf wiederholten. *)Nach der mündlichen Erzählung eines der mitſchreienden Schüler, der in ſpä - teren Jahren ein wackerer Reichstagsabgeordneter war.Zwei Züge Huſaren vertrieben dann ohne Kampf die Menge von dem Bohlwege, gegenüber dem Schloſſe.

Am nächſten Morgen wurden die Kanonen und das Pulver hin - weggeſchafft. Auf die Bitten der Bürger verſprach der Herzog auch einen kleinen Steuererlaß ſowie einige Geldſummen für Straßenbauten und Lebensmittel; er geſtattete ſogar, daß eine mit Piken bewaffnete Bürger - wehr zuſammentrat, nur von der Berufung des Landtags wollte er nichts hören. Am Abend ſtürmte wieder ein Pöbelhaufe gegen das Schloß heran, berauſcht und heulend, höchſtens tauſend Köpfe ſtark; die Piken - männer der Bürgerwehr wurden bald zur Seite gedrängt. Der Herzog aber wagte nicht ſeine im Schloßhofe verſammelten Truppen feuern zu laſſen; er ergriff nochmals die Flucht und ließ ſich von ſeinen Huſaren zur Landesgrenze geleiten, um dann nach England zu reiſen. Mittler - weile drang der Pöbel in das Schloß ein und begann Feuer anzulegen; während die Strolche plünderten, ſah man einige offenbar verkleidete Männer geſchäftig die geheimen Papiere des Herzogs durchſuchen. Der commandirende General v. Herzberg, ein tapferer Veteran aus Wellington’s ſpaniſchen Feldzügen, verſäumte ſeine Soldatenpflicht, ſtundenlang ließ er die Truppen ruhig im Schloßgarten ſtehen. Eine einzige ohne ſeinen Befehl abgegebene Salve, die unſchädlich über die Köpfe des Haufens hinwegfuhr, genügte um den Hof zu ſäubern und ſelbſt die Räuber aus dem Schloſſe zu verjagen; aber als die Truppen dann wieder unbeweglich blieben, wagte ſich der Pöbel nochmals vor und begann ſein Werk von Neuem. Die ganze Nacht hindurch währte die rohe Verwüſtung, kein Menſchenleben fiel ihr zum Opfer; die Spritzen ließ der Haufe nicht an das Schloß heran, und als die Grenadiere noch einen ſchwachen An - griff auf die Meuterer unternahmen, verſuchten ſie nicht ihren leichten Sieg zu verfolgen. Beim Grauen des Tages lag das ſchöne Bauwerk faſt ganz in Aſche.

Unverkennbar ſtanden mehrere Männer aus dem Adel und dem Beamtenthum hinter dieſem ſeltſamen unblutigen Aufruhr; gedungene Banden und wüſtes Geſindel beſorgten die Arbeit, die erbitterte Bürger - ſchaft ſah halb ſchadenfroh halb erſchrocken der Zerſtörung zu. Die Namen der Verſchwörer ſind, obgleich einige Vermuthungen ſehr nahe liegen, bis zum heutigen Tage verborgen geblieben, da die gerichtliche Unter -102IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſuchung nachher ungründlich geführt, manche wichtige Zeugen gar nicht vernommen wurden. Der Handſtreich der Wenigen konnte offenbar nur gelingen, weil das ganze Land den Herzog verwünſchte. Die vollbrachte That erſchien Allen wie ein Gottesgericht, obwohl man ihre Roheit tadelte. Wohl hatte ſich ſeit der großen Woche der Pariſer überall in der Welt der Wahn verbreitet, daß die Maſſe im Straßenkampfe unbeſiegbar ſei; alle Zeitungen wiederholten beſtändig den Ausſpruch, welchen einſt Napoleon auf Grund der ſpaniſchen Erfahrungen ſeiner Marſchälle gethan haben ſollte: wehe dem General, der ſich in der Enge der Gaſſen auf ein Gefecht einläßt. Aber Furcht war es nicht, was den Offizieren der ruhmreichen ſchwarzen Schaar die Hände lähmte, ſondern Haß und Ver - achtung. Dürfen wir Bürgerblut vergießen um einem Elenden, der uns feige verlaſſen hat, ſein Schloß zu behüten? dies Bedenken drängte ſich Allen auf und ſtimmte ſie unſicher gegenüber einem weder muthigen noch zahlreichen Meutererhaufen. Berechneter Verrath der Offiziere iſt nie erwieſen worden, und es bedarf auch dieſes Verdachtes nicht um die ſchlechte Haltung der Truppen zu erklären.

In den Trümmern des Schloſſes das fühlte Jedermann hatte Karl’s Herrſchaft ihr Grab gefunden, und als nun gar Einiges aus den geraubten Briefſchaften und dem ſchwarzen Buche des Herzogs veröffent - licht wurde, da ward die Rückkehr des Vertriebenen ganz unmöglich. Die erbaulichen Geſtändniſſe dieſer ſchönen Seele wie Metternich ſeinen welfiſchen Liebling einmal nannte gingen von Mund zu Mund, die kleinſtädtiſche Klatſcherei ſchwelgte in gräßlichen Erfindungen, und der leere knabenhafte Thor galt bei ſeinem ergrimmten Völkchen bald für einen Wütherich und Giftmiſcher. Sobald man des Verhaßten ledig war, kehrte die Ordnung ſogleich zurück. Die Bürgerwehr prunkte in den Straßen umher, jetzt nach Pariſer Muſter mit Flinten bewaffnet, unter der Füh - rung des gefeierten Volksmannes Bankier Löbbecke, und je unſchuldiger dieſe Philiſter an dem Schloßbrande waren, um ſo kühner prahlten ſie mit ihrer Revolution. Paris, Brüſſel und Braunſchweig bildeten das Dreigeſtirn der neuen Völkerfreiheit, der Branntweinbrenner Götte, der den Herzog um die Wegführung der Pulvervorräthe gebeten hatte, hieß mindeſtens ein halber Lafa-Yette. General Herzberg wurde durch das Geſchenk eines bürgerlichen Ehrenſäbels darüber getröſtet, daß die preußiſchen Kameraden ihn mit ſehr zweifelhaften Blicken betrachteten; denn der heutige Soldat ſo verſicherte eine Braunſchweigiſche Flug - ſchrift iſt nicht mehr der durch den Stock zum blinden Gehorſam dreſſirte Vagabunde des vorigen Jahrhunderts . Ein Bürgergardiſt drohte dem Herzoge in einem offenen Briefe: 200000 Braunſchweiger würden ſich lieber unter dem Schutte ihrer Häuſer begraben, als ſich unter die Tyrannei eines zweiten Don Miguel begeben; ein anderer pries in einer Abhandlung den freiwilligen Gehorſam als den eigenthümlichen Vorzug103Herzog Wilhelm erſcheint in Braunſchweig.der Bürgergarde vor dem Heere. Mit dem Soldatenſpiele der Pariſer Bourgeoiſie drang auch die undeutſche Verachtung des ernſten Waffen - handwerks in das ſelbſtgefällige Bürgerthum dieſer Kleinſtaaten ein; die wirkliche Volksbewaffnung, die in Preußen längſt beſtand, hieß ein Werk - zeug des Despotismus .

Die Regierung wußte ſich nicht zu helfen. Von den verrufenen Räthen des Herzogs hatten mehrere das Weite geſucht, den zurückbleiben - den fehlten Kraft und Anſehen. Um ſo raſcher handelten die Landſtände; einigen ihrer Führer kam der Schloßbrand offenbar nicht unerwartet. Schon am 9. September verſammelte ſich der Große Ausſchuß und faßte noch am ſelben Tage drei entſcheidende Beſchlüſſe. Er beſchloß bis zur Einberufung des Landtages zuſammenzubleiben, er bevollmächtigte die Grafen Werner Veltheim und Oberg, in Berlin und Hannover vertrau - liche Eröffnungen zu machen und für gewiſſe Fälle Rath zu erbitten *)Veltheim an Bernſtorff 17. Sept. 1830.; er richtete endlich an den Bruder des Herzogs, den letzten noch übrigen Sproſſen des Fürſtenhauſes, eine von vielen Bürgern mitunterzeichnete Adreſſe, um ihn zu bitten, daß er die Zügel der Regierung ſchleunigſt übernehme .

Herzog Wilhelm von Braunſchweig-Oels ſtand in Berlin bei den Garde-Ulanen und galt bei den Kameraden für einen Lebemann, der ſein großes Vermögen gründlich zu genießen verſtehe; Talente hatte man an dem vierundzwanzigjährigen Prinzen bisher noch nicht bemerkt. Schon am Abend des 8. September brachte ihm der reitende Bote eines braun - ſchweigiſchen Hofbeamten die Nachricht von dem Aufruhr, und ſofort erbat er ſich durch ſeinen väterlichen Freund, den Fürſten Wittgenſtein, die Befehle des Königs. Auf Friedrich Wilhelm’s dringenden Rath**)Dieſer Thatſachen gedenkt das hannoverſche Miniſterium in ſeinem Berichte an König Wilhelm IV. vom 14. Sept., desgleichen Graf Münſter in einem Schreiben an Stralenheim vom 21. Nov. 1830. reiſte er dann eilends ab, um daheim vorläufig die Ordnung aufrechtzuhalten. Allen unerwartet, erſchien er am 10. im Schloſſe Richmond, vor den Thoren Braunſchweigs, während die Adreſſe des ſtändiſchen Ausſchuſſes noch nach Berlin unterwegs war. Wie frohlockten die friedfertigen Re - volutionshelden, als ſie nun wieder hoffen durften von einem leibhaftigen Welfen beherrſcht zu werden. Im Triumphe wurde Wilhelm der Ge - ſegnete von der Bürgerwehr und jauchzenden Volkshaufen in die Stadt ſeiner Väter eingeholt. Nichts lag ihm ferner als ehrgeizige Anſchläge auf die Krone ſeines Bruders. Hart genug kam es ihm an, daß er die fröhlichen Gelage der Berliner Garde mit den Sorgen der Regierung und der Langeweile der kleinen Hauptſtadt vertauſchen mußte; auch blieb er ſein Lebelang den ſtrengen legitimiſtiſchen Grundſätzen ſeines Hauſes ergeben und konnte den ſtillen Aerger über die Meuterei ſeiner Braun -104IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſchweiger nie ganz verwinden. Nur die Macht der Verhältniſſe riß den Widerſtrebenden vorwärts, und kein Wunder, daß der wohlmeinende, aber unerfahrene, bildungsloſe und wenig ſcharfblickende Fürſt, überwältigt durch den ſeltſamen Anblick der aufgeregten Stadt, die Stärke dieſer kleinbürgerlichen Volksbewegung überſchätzte.

Der junge Welfe fühlte, daß er eines Rückhalts bedurfte, und blieb daher mit ſeinem Gönner Wittgenſtein in ununterbrochenem Briefwechſel. Auf des Herzogs Bitten ließ der König von Preußen zwei im Braun - ſchweigiſchen wohlbekannte Grundherren aus der Nachbarſchaft, v. Wulffen und v. Alvensleben, das Ländchen bereiſen. Beide berichteten der Wahr - heit gemäß, daß der landflüchtige Fürſt von Allen aufgegeben ſei und Jedermann das Verbleiben des Herzogs Wilhelm wünſche. *)H. Wilhelm v. Braunſchweig an Wittgenſtein, 11. 15. 19. 21. Sept. Wulffen’s Bericht, 21. Sept. 1830.Unterdeſſen war Graf Veltheim in Berlin eingetroffen. Er legte jenes ſchwarze Buch vor, worin Herzog Karl ſeine frevelhaften Regierungsgrundſätze aufge - zeichnet hatte, und bat gradezu, der König möge den jüngeren Bruder zur förmlichen Uebernahme der Statthalterſchaft veranlaſſen. Bernſtorff hörte den Grafen an; jedoch auf Verhandlungen mit dem landſtändiſchen Abgeſandten, der noch dazu als perſönlicher Feind des vertriebenen Her - zogs bekannt war, wollte er ſich nicht einlaſſen. Preußen, ſo berichtete er dem Könige, müſſe ſelbſt den Schein der Nachſicht in der Beurtheilung eines Aufſtandes vermeiden und in ſo ernſter Zeit den Nachbarn, ins - beſondere dem nächſtbetheiligten hannoverſchen Hofe keinen Anlaß zum Mißtrauen geben; dem Bunde allein gebühre die Entſcheidung. Demnach wurde Nagler beauftragt, in Frankfurt die ungeſäumte Abſendung eines Bundescommiſſärs zu verlangen; dem jungen Herzog aber befahl Bernſtorff im Namen des Königs: bis der Bund geſprochen habe, ſolle er in ſeiner unbeſtimmten, aber ſehr wohlthätigen Stellung ausharren. **)Bernſtorff, Bericht an den König 20. Sept., an Herzog Wilhelm 25. Sept., Weiſung an Nagler, 27. Sept. 1830.Der König wußte, daß die Rückkehr des Vertriebenen, bei der allgemeinen Aufregung im deutſchen Norden, hochbedenklich, ja unmöglich war; doch ſo lange ſich noch hoffen ließ, daß die Bundesverſammlung ihre Pflicht erfüllen würde, wollte er den Boden des Bundesrechts nicht verlaſſen.

Faſt noch vorſichtiger verfuhren die allezeit bedachtſamen hannoverſchen Miniſter. Sie weigerten ſich, mit dem Grafen Oberg, dem Bevollmäch - tigten der braunſchweigiſchen Stände, amtliche Verhandlungen anzuknüpfen, baten den Berliner Hof um ſeinen Rath und legten zugleich in einer langen Denkſchrift ihrem Könige die Frage vor, ob er nicht als Haupt des Braun - ſchweigiſchen Hauſes verſuchen wolle, den flüchtigen Herzog zur Abdankung zu bewegen um alſo den ſchlimmen Handel in Frieden aus der Welt zu105Herzog Karl in England.ſchaffen. *)Miniſter v. Ompteda an Bernſtorff, 14. Sept. Bericht des hannov. Miniſte - riums an K. Wilhelm IV., 14. Sept. 1830.König Wilhelm IV. äußerte ſich tief entrüſtet über den Aufruhr und die dem welfiſchen Hauſe angethane Schmach. Der gutmüthige Herr theilte den Haß ſeines verſtorbenen Bruders gegen Herzog Karl durchaus nicht, ſondern empfing den Flüchtling wohlwollend, als dieſer ihn wenige Tage nach der Landung im Pavillon zu Brighton aufſuchte. Aber wie groß war ſein Befremden, da er nun den geckenhaften Uebermuth, die ſchamloſe Verlogenheit ſeines Neffen kennen lernte. Karl hatte noch immer keine Ahnung von dem Ernſt ſeiner Lage; er hoffte beſtimmt, durch die großen Mächte, deren Hilfe er angerufen, alsbald wieder eingeſetzt zu werden, und erzählte ſeinem Oheim lachend: nur aus Liebe, nur um ihn im Lande zu behalten und ſeine längſt beabſichtigte engliſche Reiſe zu ver - hindern hätten ihm die Braunſchweiger ſein Schloß angezündet. **)Bülow’s Berichte, London 16. 20. Sept. Münſter an das hannov. Miniſte - rium, 5. Oct. 1830.Durch die engliſchen Miniſter ließ er ſich indeß bereden, ſeinem Bruder, der ihm über alles Geſchehene gewiſſenhaft Bericht erſtattete, mindeſtens eine widerrufliche Vollmacht zu ertheilen (21. Sept.): Herzog Wilhelm ſollte als Generalgouverneur vorläufig die Regierung führen, jedoch nur pro - viſoriſche Ernennungen vornehmen und an den organiſchen Geſetzen nichts ändern. ***)Vollmacht Herzog Karl’s für H. Wilhelm, London 21. Sept. 1830.

Aber welch eine lächerliche Rolle ſpielte unterdeſſen der Bundestag. Die Abſtimmungen über den Bundesbeſchluß, welcher den Herzog Karl zur Anerkennung der neuen Verfaſſung nöthigen ſollte, waren noch immer nicht alle eingelaufen; da kam ſchon die Nachricht von der Vertreibung des Böſewichts. Unbeſchreiblich war der Schrecken. Alle fühlten, daß Karl’s Sturz ſelbſtverſchuldet und unwiderruflich ſei. Doch ſo leichthin wollte Oeſterreich ſeinen Schützling nicht preisgeben. Die kleinen Höfe, zumal die weitverzweigte Verwandtſchaft des Braunſchweigiſchen Hauſes, zitterten vor der Zumuthung, daß ſie die Revolution anerkennen, das legitime Fürſtenrecht verleugnen ſollten. Wirr wogten die Meinungen durch ein - ander, an raſches Handeln war gar nicht zu denken. Die rathloſe Ver - ſammlung ermannte ſich vorerſt nur zu dem Beſchluſſe, einen Bericht der braunſchweigiſchen Regierung einzufordern.

Wie hätten die Braunſchweiger in ſolcher Lage nicht die Geduld ver - lieren ſollen? Das aufgeregte Land bedurfte durchaus einer endgiltigen Ordnung. Die Landſtände verſammelten ſich und überreichten dem Herzog Wilhelm am 27. September eine Adreſſe, worin ſie, nach einer grell gefärbten Darſtellung der Landesbeſchwerden, kühnlich ausſprachen, er müſſe die Re - gierung übernehmen, weil Herzog Karl nach den Grundſätzen des allge - meinen Staatsrechts ſie unmöglich fortführen könne. Der junge Welfe106IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.war auch gern bereit, die Statthalterſchaft im Namen ſeines Bruders förm - lich anzutreten, da deſſen Vollmacht mittlerweile aus London eingetroffen war. Aber die Miniſter, die Landſtände, die Stadträthe und viele andere ungebetene Rathgeber ſtellten ihm ernſt, faſt drohend vor, nimmermehr dürfe der Name des Vertriebenen erwähnt werden, ſonſt breche der Auf - ruhr von Neuem los. Am Abend ſtrömte wieder ein Volkshaufen auf dem Burgplatze zuſammen; ein Redner kletterte auf das alte Löwendenk - mal hinauf und ließ die Verſammlung ein Pereat auf Karl, ein Hoch auf den neuen Herzog Wilhelm ausbringen.

Eingeſchüchtert durch dieſe Kundgebungen des Volkswillens, verkündigte Wilhelm am 28. September, er habe ſich veranlaßt gefunden, die Re - gierung bis auf Weiteres zu übernehmen ; von der Vollmacht ſeines Bruders ſagte er in ſeinem Patent kein Wort. Aus Furcht und jugend - licher Unerfahrenheit, keineswegs aus Ehrgeiz, that er alſo den erſten rechtswidrigen Schritt. Dem Könige von Preußen wagte er ſein Unrecht nicht einzugeſtehen, ſondern zeigte ihm nur an, daß er in Uebereinſtim - mung mit ſeinem Bruder die Regierung vorläufig übernommen habe. Seinem engliſchen Oheim gegenüber ging er freier mit der Sprache heraus: er habe, ſo ſchrieb er ihm, die Vollmacht ſeines Bruders ver - öffentlichen wollen und viele Vertrauensmänner darüber befragt; aber einmüthig ward es ausgeſprochen, daß eine ſolche Verkündigung den Zweck meiner proviſoriſchen Regierungs-Uebernahme gänzlich vereiteln, ja von Neuem eine allgemeine Gährung veranlaſſen und die gefähr - lichſten Folgen für das Wohl des Landes auch in Rückſicht meiner Perſon haben würde. *)H. Wilhelm an K. Friedrich Wilhelm 28. September, an K. Wilhelm IV. 29. Sept. 1830.Die Entſchuldigung war ſo ſchwächlich wie ſein ganzes Verfahren; denn fand er den Muth bei ſeinem erſten Entſchluſſe zu beharren, dann konnte er als unbeſtreitbar rechtmäßiger Statthalter mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Preußens, Hannovers, ja ſelbſt des Deutſchen Bundes zählen, und gegen preußiſche Bataillone hätten die Heerſchaaren des Bürgerwehr-Majors Löbbecke ihren freien Gehorſam ſchwerlich bethätigt. Den Landſtänden erwiderte Herzog Wilhelm: er werde verſuchen ſeinen Bruder zur Abdankung zu bewegen; mißlinge dies, ſo wolle er ſie nicht hindern, ſich an den wohlwollenden König von England - Hannover zu wenden. Der Wink ward ſofort verſtanden. Noch am ſelben Tage riefen die Stände die Vermittlung Wilhelm’s IV. an: wenn nur Karl erſt die Krone niedergelegt habe, dann ſei ſein Bruder recht - mäßiger Landesherr. **)Herzog Wilhelm, Schreiben an die Landſchaft, 28. Sept. Eingabe der Land - ſchaft an König Wilhelm IV., 28. Sept. 1830.

In Berlin wie in London mußte man ſich ſagen, daß Herzog Wilhelm’s eigenmächtige That nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Ohne107Herzog Wilhelm’s Regentſchaft.ihn ließ ſich die Beruhigung des Ländchens nicht erreichen, und auch die trotzige Haltung der Braunſchweiger entſprang keineswegs allein dem über - ſpannten Selbſtgefühle des revolutionären Philiſterthums: eine wider - rufliche Vollmacht bot, bei Karl’s Charakter, in der That keine Gewähr für dauernden Frieden. Darum ſahen beide Höfe über den begangenen Formfehler ſchweigend hinweg und bemühten ſich während der nächſten Wochen wetteifernd, den Flüchtling zu freiwilligem Verzicht zu bewegen. Der König von Preußen ſchrieb ihm ſelbſt, noch nachdrücklicher Fürſt Wittgenſtein. *)König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 16. October. Wittgenſtein an Herzog Karl, 20. Oct. 1830.König Wilhelm IV. aber unterhandelte, erſt durch Wel - lington und Aberdeen, nachher perſönlich mit ſeinem Neffen. Er verfuhr ſchonend und ſtreng ehrenhaft; ſelbſt Graf Münſter, des Herzogs alter Feind, bekundete eine unerwartete Mäßigung. Man ließ dem Herzog die Wahl, ob er gänzlich abdanken oder ſeinem Bruder mit unbeſchränkter und unwiderruflicher Vollmacht die lebenslängliche Statthalterſchaft über - tragen wolle. Auf jeden Fall darüber waren die beiden Könige einig ſollte Karl’s Nachkommen ihr Erbrecht vorbehalten bleiben. **)Wellington an Münſter, 4. Oct. Münſter an Herzog Wilhelm von Braun - ſchweig, 5. Oct. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 8. 13. Oct. 1830.

Endlich begann der Herzog einzulenken und rückte mit ſeinen Be - dingungen heraus. Er war bereit den Bruder zum General-Gouverneur auf Lebenszeit zu ernennen, verlangte aber für ſich, außer dem Hof - ſtaate und den Ehrenrechten eines Souveräns, eine jährliche Rente von 300000 Thalern, ohne Abzug, lediglich für ſeine perſönlichen Ausgaben und dies von einem Ländchen, deſſen geſammte Staatseinnahmen wenig mehr als eine Million betrugen. Außerdem ſollte der Landtag das Recht erhalten, den Herzog jederzeit zur Selbſtregierung zurückzurufen. Da nach engliſchen Anſtandsbegriffen ſolche kaufmänniſche Künſte nicht anſtößig ſind, ſo zeigten ſich Wellington und Aberdeen geneigt, Karl’s Vorſchläge im Weſentlichen anzunehmen; was kümmerte dieſe Torys die Finanznoth eines deutſchen Kleinſtaats? Münſter aber fand die Geldſumme viel zu hoch, den Vorbehalt einer Zurückberufung ganz unannehmbar. ***)Bülow’s Berichte, 15. 22. Oct. Eſterhazy’s Bericht, London 19. Oct. Münſter an Stralenheim, 2. Nov. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 4. Nov. 1830.Noch peinlicher war der Berliner Hof überraſcht. Tief empört ſchrieb Bernſtorff nach Wien: daß Herzog Karl ſich ſträubt, iſt nicht zu verwundern; daß er aber einen ſo hohen Preis in Gelde dafür fordert, einen Preis, welchen das Land kaum erſchwingen kann, giebt einen abermaligen Be - weis von der Härte und dem grenzenloſen Egoismus ſeines Charakters. †)Bernſtorff an Maltzahn, 9. Nov. 1830.

König Friedrich Wilhelm war indeſſen längſt zu der Erkenntniß ge - langt, daß die zaudernden engliſchen Welfen eines Spornes bedurften. 108IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Er hatte den jungen Herzog zu der Reiſe nach Braunſchweig bewogen und ſich dann zurückgehalten, um dem Deutſchen Bunde und dem wel - fiſchen Hauſe nicht vorzugreifen. Aber die von Preußen früher beabſich - tigte Abſendung eines Bundescommiſſars war durch die Ereigniſſe längſt überholt. Herzog Wilhelm’s eigenmächtige Statthalterſchaft wurde von den Revolutionären allerorten als ein Regiment der Volksſouveränität geprieſen, die unſicheren Zuſtände des Landes bedrohten die ganze Nach - barſchaft. Es ward hohe Zeit, daß der Bund die Regentſchaft anerkannte und ihr alſo einen feſten Rechtsboden verſchaffte. Der König ließ daher die preußiſche Anſicht in einer ausführlichen Denkſchrift des Auswärtigen Amtes zuſammenfaſſen (29. Oct.): Die Unruhen in Braunſchweig ſeien nicht ſchlechthin anarchiſch, ſondern lediglich gegen den Herzog gerichtet geweſen, der Haß gegen ihn aber ſo glühend, daß die Deutſchen bei ſeiner Rückkehr vielleicht ſelbſt das ſchauderhafte Beiſpiel des Fürſtenmordes erleben könnten. Verſtehe er ſich nicht zu einem Verzichte, ſo bleibe, da die Reichsgerichte nicht mehr beſtünden, nur noch das eine Mittel übrig, daß die Agnaten des welfiſchen Hauſes mit Genehmigung des Bundes - tags einen endgiltigen Rechtszuſtand herſtellten. Noch deutlicher ſchrieb Bernſtorff einige Wochen darauf nach London: ſcheitern die Verhandlungen mit Herzog Karl, dann dürfen ſie nicht von Neuem aufgenommen werden, ſondern die Agnaten müſſen den Vertriebenen für regierungsunfähig erklären und dieſen Beſchluß durch den Bundestag gutheißen laſſen. *)Denkſchrift des Auswärtigen Amtes, die gegenwärtige Lage des Herzogthums Braunſchweig betr., 29. Oct. Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 17. Nov. 1830.Die Denkſchrift wurde nach London, Hannover und Frankfurt, erſt ſpäter nach Wien geſendet. Eichhorn ſelbſt hatte ſie ſorgfältig umgearbeitet und Alles klug darauf berechnet, die hannoverſche Regierung vorwärts zu drängen, ohne doch den immer wachen Argwohn des Grafen Münſter gegen Preußens hegemoniſche Gelüſte aufzureizen. Der Streich gelang. Münſter eignete ſich die preußiſchen Anſichten vollſtändig an und wieder - holte ſie in einer Denkſchrift für den hannoverſchen Bundesgeſandten, welche das gemeinſame Vorgehen der beiden Kronen in Frankfurt vor - bereiten ſollte. **)Bülow’s Bericht, 20. Nov. Münſter an Herzog Wilhelm, 16. Nov. 1830.Herzog Wilhelm aber ſprach, ſichtlich erleichtert, dem Berliner Hofe ſeinen Dank aus; er erbat und erhielt die Erlaubniß, ſich auf die preußiſche Denkſchrift zu berufen, falls er in die Lage käme, ſein Verbleiben in Braunſchweig vor den deutſchen Fürſten zu rechtfertigen. ***)Herzog Wilhelm an Wittgenſtein, 16. November. Bernſtorff an Wittgenſtein, 21. Nov. 1830.

Zunächſt mußte der Bundestag die ſo ſchmählich verſchleppte Be - ſchwerde der Landſtände gegen Herzog Karl endlich erledigen. Bis zum letzten Augenblicke verſuchte Graf Münch unter allerhand Vorwänden dieſe Entſcheidung zu hintertreiben; grenzenlos war die Nachſicht des Hauſes109Verhandlungen mit Herzog Karl.Oeſterreich für den verächtlichſten der deutſchen Fürſten. Aber Nagler blieb ſtandhaft, und am 4. November zwei Monate nach der Flucht des Welfen beſchloß die Bundesverſammlung dem Herzog Karl zu eröffnen, daß er die Landſchaftsordnung von 1820 nur auf verfaſſungsmäßigem Wege abändern dürfe. Wie lächerlich auch dieſer Beſchluß in der gänzlich veränderten Lage klingen mochte, er war doch nothwendig, er ſicherte den unglücklichen Braunſchweigern mindeſtens ihre neue Verfaſſung. Preußens Triumph war vollſtändig, und ingrimmig nannte Metternich im vertrauten Kreiſe den einſt ſo hochgeſchätzten Nagler einen verkappten Jacobiner. Außer Oeſterreich hatten nur der unverbeſſerliche Kurfürſt von Heſſen und Münch’s getreuer Trabant, der Stimmführer der ſechzehnten Curie Leonhardi gegen den Beſchluß geſtimmt. *)Nagler’s Berichte, 26. 31. Oct. 6. Nov. 1830.Nun erſt konnte man an die Frage des Augenblicks herantreten. An die Wiedereinſetzung des Herzogs Karl glaubte eigentlich Niemand mehr, nicht einmal der ſtrengſte aller Legitimiſten Czar Nikolaus. Der antwortete auf den Hilferuf des Flüch - tigen: Wenn ich die Ereigniſſe, von denen Sie mir ſprechen, beklage, ſo beklage ich doch nicht weniger die verhängnißvollen Verirrungen, welche ſie hervorgerufen haben, und die Täuſchungen, welche Ew. Durchlaucht noch über ihre unvermeidlichen Folgen zu hegen ſcheinen. **)Kaiſer Nikolaus an Herzog Karl von Braunſchweig, 25. Nov. (a. St.) 1830.Auch Met - ternich hatte dem preußiſchen Geſandten wiederholt ausgeſprochen, daß Karl jetzt unmöglich ſei, und Kaiſer Franz ſogar einen freundlichen Brief an Herzog Wilhelm gerichtet. Aber wie zweideutig blieb bei Alledem Oeſterreichs Haltung. Als der neue k. k. Geſandte, Hruby, in Braun - ſchweig erſchien, brachte er ein Beglaubigungsſchreiben an Herzog Karl mit, und dies Schreiben ſollte er dem Bruder des Herzogs als deſſen Stellvertreter überreichen. ***)Maltzahn’s Bericht, 7. Oct. Kaiſer Franz an H. Wilhelm v. Braunſchweig, 17. Oct. 1830.Münch begann unterdeſſen wieder ſein altes Spiel gegen Nagler, und bei der ängſtlichen Zerfahrenheit der Verſamm - lung durfte er wohl hoffen die Entſcheidung abermals hinauszuzögern. Da wurde der Bundestag durch eine neue Thorheit des flüchtigen Welfen zum Handeln gezwungen.

Am 8. November hatte Karl die Verhandlungen mit den engliſchen Miniſtern plötzlich abgebrochen, am folgenden Tage war er aus England verſchwunden. Acht Tage ſpäter tauchte er in der Frankfurter Gegend wieder auf; der Jude Henrici, der ſoeben aus dem Londoner Schuldge - fängniß entlaſſene vormalige bairiſche Lieutenant Bender v. Bienenthal und einige andere Abenteurer gleichen Schlages bildeten ſein Gefolge. Er kam mit gefüllten Taſchen und war entſchloſſen, ſich mit einer Frei - ſchaar die Krone zurückzuerobern. Da Herzog Wilhelm ſeiner Vollmacht nicht öffentlich erwähnt hatte, ſo betrachtete Karl ihn fortan als Feind,110IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.nahm am 16. November die Vollmacht förmlich zurück und forderte den Bruder auf, ſich zu einer Unterredung in Fulda einzufinden. Die Braun - ſchweiger aber wollten ihren Regenten nicht ziehen laſſen; ſie fürchteten im Ernſt ſo ſtark hatten ſich die Gemüther erhitzt Karl werde den Bruder vergiften. Daß ich dergleichen Beſorgniſſe nicht hege, bedarf wohl weiter keiner Verſicherung ſchrieb Herzog Wilhelm an Wittgen - ſtein, indeß wagte er auch nicht der Einladung, die ja doch keinen Er - folg verhieß, zu entſprechen. *)H. Wilhelm an Wittgenſtein, 21. Nov. 1830.Wie fühlte er ſich wieder ſo unſicher und verlegen. Die Zurücknahme der Vollmacht zog ihm den Rechtsboden unter den Füßen hinweg; ſeine Statthalterſchaft war nunmehr nicht blos der Form ſondern auch der Sache nach eine rechtswidrige Uſurpation. Wieder wendete er ſich nach Berlin um Hilfe und geſtand ſeinem Wittgen - ſtein: Wenn ich nicht öffentlich erklären darf, daß die Könige von Preußen und Hannover mein Verbleiben wünſchen, ſo werde ich wohl nicht um - hin können mich von hier zu entfernen . Die preußiſche Antwort ver - ſtand ſich von ſelbſt. Unmöglich durfte man dem vertriebenen Welfen geſtatten, durch einen launiſchen Einfall den mühſam hergeſtellten vor - läufigen Rechtszuſtand wieder über den Haufen zu werfen. Der junge Herzog wurde aufgefordert, auch nach dem Erlöſchen der Vollmacht in ſeiner Stellung auszuharren. **)H. Wilhelm an Wittgenſtein 22. Nov. Bernſtorff’s Bericht an den König, 30. Nov., und Antwort an H. Wilhelm, 30. Nov. 1830.

Noch bevor die Erwiderung aus Berlin eintraf, hatten ſich die Braun - ſchweiger ſelber geregt. Auf die Kunde von dem Herannahen des verab - ſcheuten kleinen Tyrannen gerieth das Land wieder in fieberiſche Unruhe. Die Bürgerwehr gelobte in einer ſtürmiſchen Verſammlung feierlich, nur dem Herzog Wilhelm zu gehorchen, und das Gleiche beſchloſſen ein in Deutſchland unerhörter Fall auch die Offiziere des kleinen Heeres. Das war der Fluch der Trägheit des Deutſchen Bundes. Faſt ein Viertel - jahr lang hatte er das unglückliche Land ſich ſelber überlaſſen, und nun waren alle Rechtsbegriffe ſchon dermaßen verwirrt, daß ſelbſt der Fahnen - eid dieſer durch Muth und Treue gleich berühmten Truppe nicht mehr Stand hielt. Magiſtrat und Stadtverordnete der Hauptſtadt verſicherten dem jungen Herzog in einer pathetiſchen Adreſſe: Die Sündenſchaar wird ihr boshaftes Treiben ſo lange fortſetzen bis die dauernde Regierung unſeres neuen Landesherrn außer allem Zweifel ſteht. Und der wackere Bürgermeiſter Bode fügte in einem Begleitſchreiben hinzu: Sollten Rück - ſchritte dem alten, über alle Beſchreibung drückenden und ſchaudervollen Zuſtande wieder näher führen, ſo will ich lieber nicht leben als an der Spitze einer nach und nach entwürdigten oder zur deſperaten Wuth gereizten Bürgerſchaft ſtehen. ***)Adreſſe von Magiſtrat und Stadtverordneten Braunſchweigs, 23. November.Dem gefeierten Herzog war bei dieſen Huldigungen111Karl’s verſuchte Rückkehr.ſehr übel zu Muthe; das Betragen der Offiziere ſchmerzte ihn tief, und traurig bekannte er dem väterlichen Wittgenſtein: Die Verhältniſſe nöthigen mich, alle dieſe Dinge ſtillſchweigend gut zu heißen. *)H. Wilhelm an Wittgenſtein, 24. Nov. 1830.Aber auch diesmal ließ er ſich von der Strömung treiben und geſtand in einer Proclamation vom 26. Nov.: er habe die Regierung nicht ohne die Zuſtimmung ſeines Bruders übernommen; obgleich dieſe Zuſtimmung zu ſeinem innigſten Bedauern jetzt aufgehört habe, ſo wolle er doch auf ſeiner Stelle bleiben, da Herzog Karl außer Stande ſei ſelbſt zu regieren. Und wieder ent - ſchuldigte er ſich vor dem preußiſchen Hofe: der Schritt ſei durch die all - gemeine Gährung geboten worden. **)H. Wilhelm an König Friedrich Wilhelm 26. Nov.; an Bernſtorff 26. Nov. 1830.

Herzog Karl war unterdeſſen in dem preußiſchen Städtchen Ellrich am ſüdlichen Abhange des Harzes eingetroffen. Dort warb er einen Haufen müſſigen Volkes, ließ das Geſindel tellergroße franzöſiſche Kokar - den, die er aus Metz mitgebracht, auf die Mützen ſtecken, und führte ſeine Bande am 30. November gegen die nahe braunſchweigiſche Grenze. Er ſpielte jetzt ganz den internationalen Demagogen, verſprach ſeinem Volke in aberwitzigen Manifeſten Abſchaffung des Heeres, Ablöſung der Zehnten, Steuerfreiheit für die niederen Klaſſen, Schwurgerichte, gewählte Volksvertreter und Beamte. Auch einen gefälſchten Aufruf ſeines Bruders führte er in zahlreichen Abzügen mit ſich: darin mahnte Herzog Wilhelm die Unterthanen, ihre Gemüther nur den Verheißungen und dem guten Willen Unſeres Bruders zu öffnen. ***)Proclamation Herzog Wilhelm’s, 28. Nov. 1830, von Herzog Karl verfaßt.An der Grenze, bei Zorge ſtanden die ſchwarzen Jäger, die noch den Namenszug Karl’s auf den Tſchackos trugen; doch weder die Offiziere noch die Mannſchaft wollten dem Kriegs - herrn folgen, als dieſer halb berauſcht und weinend ſie zu überreden ſuchte. Sobald die Truppen ſich zum Feuern fertig machten, ergriff der Welfe zum dritten male die Flucht, ehe noch ein Schuß gefallen war; ſeine Bande ſtob auseinander, und die aufgefundenen blauweißrothen Kokarden wurden nachher den Depeſchen der Diplomatie beigelegt um die jacobiniſchen Pläne dieſes legitimen Fürſten handgreiflich zu erweiſen. Mit dem Stolze des Helden berichtete ſodann der Jägerhauptmann Berner von der unblutigen Schlacht, die ſich an dieſem in der Geſchichte ewig denkwürdigen Platze abgeſpielt hatte. †)Hauptmann Berner, Bericht an Oberſt v. Wachholz, 1. Dec. 1830.Karl eilte weſtwärts, und als ſich unterwegs in Oſterode drohendes Volk vor ſeinem Gaſthauſe zuſammen - rottete, ſuchte er zum vierten male ſein Heil in der Flucht, bis er end - lich die Grenzen Frankreichs erreichte.

Dieſe widerlichen Narrenſtreiche ſtießen dem Faſſe doch den Boden***)Bode, Begleitſchreiben an einen Kammerherrn (vermuthlich v. Hohnhorſt), 24. No - vember 1830.112IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.aus. Daß ein ſolcher Menſch dem deutſchen hohen Adel nicht mehr an - gehören durfte, leuchtete ſchließlich Allen ein. Karl konnte ſich auf ſein unbeſtreitbares Fürſtenrecht berufen; nun hatte er ſelber den Pöbel auf - gehetzt, den Landfrieden des preußiſchen Staates geſtört, und in Berlin war man ſchon entſchloſſen ihn aufheben zu laſſen. Jetzt erſt, nachdem Karl ſelber die gütlichen Verhandlungen abgebrochen, beantwortete der bedächtige König von England die Adreſſe des braunſchweigiſchen Stände - Ausſchuſſes vom September und verſicherte die Landſtände ſeines Schutzes. Selbſt Kaiſer Franz erklärte dem Herzog Wilhelm ſeine volle Zuſtim - mung zu den unvermeidlichen Entſchlüſſen der letzten Tage. *)K. Wilhelm IV. Antwort auf die Adreſſe des Landſtändiſchen Ausſchuſſes, 21. Nov.Am Bun - destage war Alles verwandelt; außer dem kurheſſiſchen Geſandten beſtritt Niemand mehr, daß Karl zum Regieren unfähig ſei. Münch’s Zauder - künſte hörten auf, die Anſichten Preußens und Hannovers fanden raſch Anklang, und ſchon am 3. December einigte ſich der Bundestag über einen Beſchluß, dem nur einzelne Regierungen nach altem Bundes - brauche noch einen Vorbehalt anhingen. Herzog Wilhelm wurde erſucht die Regierung bis auf Weiteres zu führen , den Agnaten aber ward anheimgegeben, die definitive Anordnung für die Zukunft zu bewirken und ſie dem Deutſchen Bunde zur Anerkennung mitzutheilen. Der junge Herzog athmete auf und beeilte ſich, den erſten Theil des Beſchluſſes ſeinem Lande mitzutheilen. Nun hatte er doch wieder einen Rückhalt: er regierte fortan im Auftrage des Deutſchen Bundes.

Freilich nur bis auf Weiteres . Und ſeine Stellung ward mit jedem Tage unhaltbarer. Karl verwahrte ſich ſogleich wider den Bundesbeſchluß; er erklärte dem Könige von Preußen: einem ſeiner ſouveränen Mit - fürſten wolle er wohl die Verwaltung des Landes anvertrauen, doch nimmermehr dieſem Bruder; und drei Wochen darauf bot er ſelber dem Bruder an, ihn zum Mitregenten oder zum proviſoriſchen Regenten zu er - nennen, aber immer mit dem Vorbehalte: niemals werde ich auf meine Lan - deshoheits - und Regierungsrechte zu Gunſten eines Dritten verzichten. **)H. Karl an K. Friedrich Wilhelm, 1. Jan., an H. Wilhelm 25. 26. Jan. 1831.Als Herzog Wilhelm auf dieſe unklaren und ſchwerlich ehrlich gemeinten Vorſchläge nicht einging, wurde er von dem Flüchtling mit Schmähungen überſchüttet. Wie durfte man ihm zumuthen, auf die Dauer die Statt - halterſchaft zu führen für einen Fürſten, der ihn ſoeben mit den Waffen anzugreifen verſucht hatte, der ihn öffentlich als Rebellen und Verräther brandmarkte? Das neue Miniſterium, das er ſich aus tüchtigen Männern gebildet und der gewandten Leitung des Frhrn. v. Schleinitz unterſtellt hatte, war ſchon längſt der Meinung, daß der Herzog die Regierung de - finitiv übernehmen müſſe. ***)Schreiben des braunſchweigiſchen Miniſteriums an den hannov. Miniſter v. Stralenheim, 4. 5. Dec. 1830.Wie ein Mann forderte das ganze Land113Die welfiſche Erbfolgefrage.den Uebergang der Herzogskrone an den jüngeren Bruder. Und nun faßte ſich auch der junge Welfe ſelbſt ein Herz und erklärte dem hanno - verſchen Miniſter Stralenheim in hellem Zorne: im Namen Karl’s könne er nicht regieren; er wolle auch nicht in die Lage kommen, etwa für einen minderjährigen Sohn ſeines Bruders die Vormundſchaft zu führen, um dann vielleicht den gleichen Undank zu erleben wie einſt König Georg IV. und ſein Alter in Elend und Sorge zu verbringen. *)Stralenheim an Münſter, Braunſchweig 5. December. Reden an Bernſtorff, 28. December 1830.Dieſe Sprache verfehlte in London ihre Wirkung nicht ganz. Legte der junge Welfe die Regentſchaft nieder, ſo mußte der König von Hannover als nächſter Agnat ſie übernehmen, und ſolche Ausſichten erſchienen ſeinen Räthen, nach den bitteren Erfahrungen früherer Jahre, ſehr unheimlich. Daher ſprach ſich Graf Münſter jetzt für Herzog Wilhelm’s Anſicht aus: der junge Herr habe auch eine Stimme und könne zur Fortführung der Regentſchaft nicht gezwungen werden. **)Münſter an Stralenheim 7. Dec., an Reden 17. Dec., an die Geſandtſchaften in Wien, Berlin, Frankfurt, 17. Dec. 1830.Nur König Wilhelm IV. wollte ſeine Rechts - bedenken nicht aufgeben; das ungeſtüme Drängen der Braunſchweiger verletzte ſeinen Welfenſtolz, und er ſchrieb dem Neffen: Die Form, ob Sie in eigenem oder in Ihres Herrn Bruders Namen regieren würden, ſchien mir von weniger Wichtigkeit zu ſein, und ich geſtehe Euer Liebden unverhohlen, daß die daſigen Unterthanen ſich zu viel herausnehmen würden, wenn ſie ſich dem Gebrauche von Formen ſich zu widerſetzen das Anſehen geben würden, welche das Völker - und Fürſten-Recht geheiligt hat. ***)König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 23. Dec. 1830.

Hinter allen dieſen Bedenken ſtand als ſchwerſtes die Frage der Erb - folge, die bei freiwilligem Verzichte des Herzogs Karl ſich leicht löſen ließ, jetzt aber ganz unentwirrbar ſchien. Wurde dem jüngeren Bruder die Herzogskrone übertragen und dennoch den Nachkommen des älteren, nach der urſprünglichen Abſicht aller Agnaten, das Erbfolgerecht vorbehalten, ſo war mit Sicherheit vorauszuſehen, daß Karl, wie vormals Anton Ulrich von Meiningen, aus Bosheit ſofort heirathete und eine furchtbare Schaar rechtmäßiger Erben erzeugte; eine ebenbürtige Gemahlin aus einem kleinen mediatiſirten Hauſe hätte ſich leicht gefunden. Sollte dann Herzog Wilhelm gehalten ſein, die Krone zu Gunſten eines Neffen niederzulegen? Faſt noch gefährlicher ſchien es, den Mannsſtamm des jüngeren Bruders kurzweg zur Thronfolge zu berufen. Die Reichsacht alter Zeiten hatte zwar regelmäßig der ungeborenen Nachkommenſchaft des Aechters ihre Erbanſprüche genommen; aber wie durften die Agnaten eines ſouveränen Bundesfürſten ſich eine ſolche Strafgewalt anmaßen? Bedenken alſo und Zweifel überall. Das Bundesrecht gab keine Antwort; ohne die MajeſtätTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 8114IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.von Kaiſer und Reich war die Frage rechtlich nicht zu löſen. Die Welfen wußten ſich wieder nicht zu helfen, und wieder mußte Preußen ſie vor - wärts treiben.

König Friedrich Wilhelm zeigte ſich in dieſem Handel überraſchend feſt und ſicher. Wie tief er auch von der Heiligkeit des monarchiſchen Rechtes durchdrungen war, ſo ſagte ihm doch ſein ehrliches Gewiſſen, daß jedem menſchlichen Rechte eine letzte Schranke geſetzt iſt. Er hielt es für eine ſittliche Pflicht, den deutſchen Fürſtenſtand von einem Unwürdigen zu befreien, und für ein Gebot der Klugheit, der Nation in dieſer Zeit der Gährung zu beweiſen, daß mindeſtens das Uebermaß fürſtlicher Will - kür in Deutſchland nicht geduldet werde. Kurz und kühl erwiderte er auf einen neuen Brief des Flüchtlings: die Agnaten und dann der Bund hätten noch einmal zu ſprechen, die deutſchen Fürſten würden Alles aus dem Geſichtspunkt fürſtlicher Ehre und Würde in ſorgfältige Erwägung ziehen . *)König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 19. Jan. 1831.Weder die legitimiſtiſchen Doctrinen ſeines Schwagers Karl von Mecklenburg noch die Bitten der braunſchweigiſchen Verwandtſchaft ver - mochten ihn umzuſtimmen. Als Karl’s Großmutter, die greiſe, halb erblindete Markgräfin Amalie von Baden und deren Tochter, die Königin - Wittwe Karoline von Baiern ihm nach Frauenart vorſtellten, der Ver - bannte werde durch ſein ſchreckliches Unglück hoffentlich gebeſſert wer - den, da antwortete der König: Zur Wiederherſtellung der Ordnung im Herzogthum und zur Sicherung der Ruhe in den Nachbarlanden giebt es nur das eine Mittel: die Regierungsunfähigkeit, wovon Herzog Karl nur zu arge Proben gegeben hat, förmlich anzuerkennen und die Staats - gewalt in den Händen ſeines Bruders geſetzlich zu befeſtigen. **)Markgr. Amalie an K. Karoline, 30. Nov. K. Karoline an K. Friedrich Wilhelm, 3. Dec. Antwort, 16. Dec. 1830.

In dieſem Sinne war auch die neue Denkſchrift gehalten, welche das Auswärtige Amt am 9. Jan. 1831 dem hannoverſchen Geſandten Reden für die Agnaten übergab. Sie führte aus: nachdem die Statthalterſchaft durch Karl’s letzte Schritte unmöglich geworden, ſollten die Agnaten nicht als Richter auftreten, ſondern lediglich die Thatſache der abſoluten Re - gierungsunfähigkeit des Herzogs feſtſtellen. Eine in Ausübung der Regierungsgewalt bewieſene Bösartigkeit, welche gerade wegen der dabei vorhandenen völligen Zurechnungsfähigkeit die Gemüther ſeiner Unter - thanen gegen ihn empört hat, macht ihn unfähig zu regieren, weil der Eindruck ſeiner Handlungen nicht ausgelöſcht zu werden vermag. Solche Pflichtverletzungen würden, von einem Privatmann begangen, nicht zur Entmündigung führen, ſondern ganz andere Folgen haben . Iſt die Thatſache der Regierungsunfähigkeit Karl’s durch die Agnaten förmlich anerkannt, ſo übernimmt Herzog Wilhelm, nicht durch Uebertragung, ſon -115Preußen treibt die Agnaten vorwärts.dern kraft ſeines eigenen Rechtes als nächſter Erbe ohne Weiteres die Krone. Die ſchwierige Frage des Erbfolgerechtes der Nachkommen wird für jetzt offen gelaſſen, da die herzoglichen Brüder beide noch unvermählt ſind, und gegebenen Falles ſpäterhin noch eine Entſcheidung getroffen werden kann.

So Preußens Rath. In einer ergänzenden Denkſchrift geſtand Eichhorn nachher ſelber: dieſe Sätze ſind wirklich als ein Extrem zu betrachten, über welches ohne Verletzung des Legitimitätsprincips nicht hinausgegangen werden könnte . *)Denkſchriften des Auswärtigen Amtes: für die Agnaten 9. Januar, für den Wiener Hof 4. März 1831.In Wahrheit enthielten Preußens Vorſchläge ſchon einen offenbaren Bruch des legitimen Rechtes; denn ſie verlangten, daß ein unverantwortlicher Souverän zur Strafe für ſeine Unthaten abgeſetzt würde. Dies ließ ſich rechtlich um ſo weniger begrün - den, da Herzog Karl nicht einmal förmlich gehört wurde, und der Rath der Agnaten nur aus den regierenden Herren der beiden welfiſchen Linien beſtand, von denen der eine, Herzog Wilhelm, unzweifelhaft ein Uſur - pator wider Willen war. Aber nach Allem, was geſchehen, war der Rechtsbruch unvermeidlich, an die Wiederherſtellung des Vertriebenen ließ ſich gar nicht mehr denken, und entſchloß man ſich einmal anzuerkennen, daß Noth kein Gebot kennt, ſo blieb es immerhin noch der leidlichſte Aus - weg, wenn der jüngere Bruder kraft Geburtsrechts in die Stelle des Entthronten eintrat. Die Vertagung der Erbfolgefrage ergab ſich von ſelbſt aus der Verlegenheit, denn aus einem Rechtsbruche laſſen ſich Rechtsgrundſätze ſchlechterdings nicht ableiten. Man ſcheute ſich die Rechts - verletzung weiter zu treiben, als es die Nothlage des Augenblicks ver - langte, und die Nachkommenſchaft Herzog Karl’s ihrer Erbanſprüche geradezu zu berauben; aber man wollte dieſe Rechte auch nicht aus - drücklich anerkennen, damit nicht Karl eine Ehe ſchlöſſe, welche die Ver - wirrung in dem Ländchen nur ſteigern konnte. Warum der Zukunft vorgreifen? War es nicht möglich, daß eine förmliche Entſcheidung der Frage ganz überflüſſig wurde? daß der ausſchweifende Karl frühzeitig kinderlos ſtarb und dann das Thronfolgerecht der Nachkommen Herzog Wilhelm’s unanfechtbar daſtand? Solche Erwägungen lagen nahe genug. Schon während der Verhandlungen der letzten Monate hatten beide wel - fiſche Höfe, zuerſt Braunſchweig, dann Hannover, die Meinung geäußert, man handle vielleicht am klügſten, wenn man die allerdings delicate Erbfolgefrage vorderhand unberührt laſſe. **)Zuerſt das braunſchweigiſche Miniſterium in ſeiner Denkſchrift für Stralenheim vom 4. December 1830.

Als nun die Vorſchläge Preußens einliefen, ergriffen die Agnaten noch - mals mit Freuden die dargebotene Hand. Der Herzog von Cambridge8*116IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.beſprach ſich im Januar perſönlich mit Herzog Wilhelm; die beiden Höfe eigneten ſich ſogar den Wortlaut der preußiſchen Denkſchrift großentheils an und ließen am 10. März im Bundestage erklären: nachdem ſie die Ueberzeugung von der abſoluten Regierungsunfähigkeit des Herzogs Karl gewonnen hätten, ſei die Regierung des Herzogthums als erledigt an - zuſehen und nunmehr definitiv auf den nächſten Agnaten Herzog Wilhelm übergegangen.

Welch ein Aufruhr am Bundestage, als dieſe Erklärung verleſen wurde! Schon auf die erſte Andeutung, daß Herzog Wilhelm die Krone für ſich verlange, hatte Metternich dem preußiſchen Geſandten in hellem Zorne zugerufen: Ich kann und will es noch nicht glauben. Sollte dies aber wider Verhoffen die eigene Anſicht dieſes jungen Fürſten ſein, ſo würde ich darin nur mit Bedauern einen Beweis finden können, daß derſelbe nicht würdig ſei, die ihm anvertraute Stellung auszufüllen. *)Maltzahn’s Bericht, 7. Jan. 1831.Sein legitimiſtiſcher Feuereifer verwickelte den Staatskanzler in die ſelt - ſamſten Widerſprüche. Die abſolute Regierungsunfähigkeit des Herzogs Karl geſtand er ausdrücklich zu, und gleichwohl verlangte er in einer Denkſchrift für den Hof von Hannover, daß Herzog Wilhelm nur die Statthalterſchaft für ſeinen Bruder führen, die Braunſchweiger ihm nicht huldigen, ſon - dern nur einen Paritions-Eid leiſten dürften. Dieſe Sophismen gefielen ihm ſelber ſo wohl, daß er ſie auch nach Berlin ſendete und mit ge - wohnter Anſpruchsloſigkeit dazu bemerkte: Wir ſchmeicheln uns, dieſe Ausführung als ſtreng correct bezeichnen zu dürfen. **)Metternich, Promemoria an den hannov. Geſandten v. Bodenhauſen 29. Jan., an Trauttmansdorff 4. Febr. 1831.Und doch war eine gegen den ausgeſprochenen Willen des legitimen Fürſten geführte Statthalterſchaft um kein Haarbreit rechtmäßiger als eine uſurpirte Her - zogswürde. Darauf entſpann ſich ein ſehr lebhafter Meinungsaustauſch zwiſchen den beiden deutſchen Großmächten. Metternich blieb hartnäckig bei ſeiner Behauptung, daß allein die illegitime Statthalterſchaft der Correctheit entſpreche; der kaiſerliche Hof müſſe freilich, um die Braun - ſchweiger nicht aufzuregen, Alles geſchehen laſſen was die Agnaten be - ſchlöſſen; doch unmöglich könne er ihrer Erklärung zuſtimmen, die auf eine ſo unnöthige, ſophiſtiſche und empörende Weiſe alle Grundſätze der Legitimität über den Haufen werfe . ***)Maltzahn’s Bericht, Wien 4. März 1831.Das Alles klang ſo räthſelhaft, daß man in Berlin anfangs an ein Mißverſtändniß glaubte. Da erfuhr man durch den öſterreichiſchen Geſandten Hruby in Hannover, daß Kaiſer Franz ſelber und ſeine dem Braunſchweiger nahe verwandte bairiſche Gemahlin hinter Metternich ſtanden. Nun war keine Hoffnung mehr; am 24. März ließ Bernſtorff nach Wien ſchreiben, er bedauere, daß eine117Anträge der Agnaten am Bundestage.Verſtändigung mit Oeſterreich unmöglich ſei. *)Graf Maltzan’s Bericht, Hannover 6. März. Weiſung an Frhrn. v. Maltzahn in Wien, 24. März 1831.Wenn die Großmächte ſich nicht einigen konnten, ſo noch weit weniger die anderen Bundes - ſtaaten. Ein kläglicher Anblick, wie die kleinen Ameiſen in dem Sand - haufen des Bundesrechts ängſtlich durch einander wimmelten, nachdem der Stecken der Revolution ſeine Furchen querdurch gezogen hatte. Wie - der begann Graf Münch ſeine alten Künſte, und wieder zog der Streit ſich unabſehbar in die Länge.

Mittlerweile geſtaltete ſich die Lage des Herzogthums täglich unleid - licher. Die Braunſchweiger nannten den jungen Welfen in Reden und Schriften unſeren rechtmäßigen, durch den Willen des Volkes erwählten Fürſten , ſie waren mit ihrer revolutionären Rechtsweisheit längſt im Reinen. Ihr Ober-Appellationsrath K. F. v. Strombeck, ein Bureau - krat aus der Schule des Königreichs Weſtphalen, hatte ihnen ſchon bald nach dem Schloßbrande in einer Flugſchrift die Frage beantwortet: Was iſt Rechtens, wenn die oberſte Staatsgewalt dem Zwecke des Staatsver - bandes entgegenhandelt? Da wurden aus der alten, von der hiſtoriſchen Rechtsſchule längſt überwundenen, Staatsvertragslehre ſchnellfertig kecke Schlüſſe gezogen, die der Halbbildung einleuchten mußten: wenn der Fürſt ſeine Vertragspflichten verletzt, ſo ſind die Unterthanen ihrerſeits berechtigt ihm den Gehorſam aufzukündigen. Die neue Regierung fühlte ſelbſt ſehr lebhaft, daß ſolche Doctrinen das Weſen der Monarchie aufheben; ſie hätte ihren unbequemen Vertheidiger gern beſtraft, aber ſie wagte es nicht weil ſie Unruhen beſorgte. **)Schreiben des braunſchw. Miniſteriums an den Bundesgeſandten v. Marſchall, 21. Nov. 1830.Ihre Furcht ſtieg noch als im März ruchbar wurde, daß die Erklärung der Agnaten im Bundestage auf Wider - ſpruch geſtoßen ſei. Länger wollte das Land die quälende Ungewißheit nicht mehr ertragen; mit wachſender Erbitterung beſprach man die Lage, und ſchon ward die Frage laut, ob man nicht durch Selbſthilfe dem zaudernden Bundestage zuvorkommen ſolle. Am 25. April ſtand das Geburtsfeſt des Herzogs Wilhelm bevor, das ganze Ländchen rüſtete ſich den Tag feſtlich zu begehen. Wie nun, wenn alle Gemeinden dann gleichzeitig dem neuen Landesherrn freiwillig den Huldigungseid leiſteten? Der Plan konnte ſehr leicht gelingen, er entſprach den allgemeinen Wünſchen und Herzog Wilhelm war nicht der Mann ihn gewaltſam zu hintertreiben; gelang er aber, ſo erlebte Deutſchland das für einen Fürſten - bund hochgefährliche Beiſpiel einer demokratiſchen Fürſtenwahl, und wer ſollte dann die vollzogene Kundgebung der Volksſouveränität rückgängig machen? ***)Berichte des Grafen Maltzan, Hannover 29. März, 1. April. Graf Veltheim an Bernſtorff, 11. April 1831.

118IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Der junge Welfe war in Verzweiflung. Das ſtand ihm feſt, daß er nur als Herzog, nicht als Statthalter ſeines erklärten Feindes regieren konnte; aber wenn die Bundesverſammlung ihm die Thronbeſteigung nicht geſtatten wollte, dann war er ſchon halb entſchloſſen die Regierung nieder - zulegen und ſofort abzureiſen. Von Hannover hatte er raſches Eingreifen nicht zu erwarten; dort war der Bedenklichkeiten abermals kein Ende und nur der eine Rath zu erlangen, daß man mit der äußerſten Vorſicht verfahren müſſe. *)Schleinitz an Stralenheim, 8. März, Antwort 14. März. Graf Bremer, Miniſterialſchreiben an das braunſchw. Miniſterium, Hannover 2. April 1831.So blieb wieder nur Preußens Hilfe übrig. Am 7. April zeigte der Herzog ſeinem Freunde Wittgenſtein an, daß er den Grafen Veltheim, den er inzwiſchen in ſein Miniſterium berufen hatte, abermals mit vertraulichen Aufträgen nach Berlin ſenden werde.

Noch ehe Veltheim eintraf, hatte der preußiſche Hof ſeinen Entſchluß gefaßt. Als Schutzmacht des deutſchen Nordens konnte Preußen es nicht verantworten, daß der unſichere Zuſtand in dem Herzogthume noch länger währte; die von den Braunſchweigern geplante eigenmächtige Huldigung mußte auf jeden Fall verhindert werden. Darum ſollte Herzog Wilhelm ſofort als rechtmäßiger Erbe des durch die Agnaten für regierungsunfähig erklärten Herzogs die Krone übernehmen und noch vor ſeinem Geburts - tage den Unterthanen die Eidesleiſtung anbefehlen. Eine richterliche Ent - ſcheidung über den Beſchluß der Agnaten ſtand dem Bundestage nicht zu; er hatte nur das Recht den neuen Herzog als Mitglied des Deutſchen Bundes anzuerkennen, und dieſe Anerkennung konnte er auch nachträglich, nach erfolgtem Regierungswechſel ausſprechen. In ſolchem Sinne ant - wortete Bernſtorff auf Veltheim’s Frage, was nun zu thun ſei; er be - dauerte, daß die Uneinigkeit des Bundestags zu ſolchen Schritten nöthige, aber Preußen habe ſeine Anſicht nie verhehlt und werde den jungen Herzog auch jetzt nicht verlaſſen. **)Eichhorn, Weiſung an Graf Maltzan, 8. Apr. Bernſtorff an Veltheim, 14. Apr. 1831.Bei den guten Rathſchlägen blieb es nicht. Eichhorn ſelbſt, der dieſen Handel ebenſo eifrig betrieb wie die Zollvereins - ſache, prüfte die von Veltheim vorgelegten Entwürfe für das Patent, das der Herzog bei ſeinem Regierungsantritt erlaſſen ſollte, und da er ſie alle ungenügend fand, ſo ſchrieb er eigenhändig ein neues Patent. ***)Eichhorn, Entwurf für das Patent des Herzogs Wilhelm, o. D., am 16. April 1831 von Graf Veltheim zurückgeſchickt.Mit einer Abſchrift davon eilte Veltheim nach Braunſchweig zurück. Alſo des preußiſchen Beiſtandes ſicher ſchöpfte der junge Herzog friſchen Muth; er nahm den Entwurf Eichhorn’s Wort für Wort an und ſendete gerührt ſeinen Dank: Ohne den kräftigen Beiſtand, welchen der königliche Hof dieſer für mich und das Land ſo hochwichtigen Angelegenheit hat ange - deihen laſſen, wäre ſie wohl nie zu dem erwünſchten Ziele gelangt. †)Herzog Wilhelm an Wittgenſtein, 16. 19. April 1831.

119Thronbeſteigung Herzog Wilhelm’s.

Am 20. April überraſchte er ſein Land durch die Veröffentlichung des Patents. Eichhorn hatte die Worte ſo gewählt, daß der Bundestag an der vollendeten Thatſache nichts mehr ändern konnte; nachdem der Herzog ſeinen Regierungsantritt verkündigt und vor dem Lande gerechtfertigt hatte, ſchloß er einfach: mit der Ableiſtung des neuen Huldigungseides werde die definitive Anordnung, wozu der Bund die Agnaten eingeladen, be - wirkt ſein , und die Bundesverſammlung davon benachrichtigt werden. Die Braunſchweiger frohlockten. Wie alle die freiheitsſtolzen Bürger der conſtitutionellen Kleinſtaaten waren ſie gewohnt auf die preußiſche Knecht - ſchaft tief herabzublicken; ſie ließen ſich’s nicht träumen, daß das Patent ihres volksfreundlichen Wilhelm’s im Berliner Auswärtigen Amte geſchrieben war. Fünf Tage darauf konnten ſie nun wirklich, wie ſie gewünſcht, den Geburtstag ihres neuen Landesherrn durch die allgemeine Huldigung feiern; aber die Eidesleiſtung erfolgte nunmehr auf Befehl des Herzogs, nicht durch Volksbeſchlüſſe. In ſchwungvoller Rede feierte Bürgermeiſter Bode den Fürſten, der wie auf Windesflügeln in ſeine furchtbar bewegte Stadt eilte . Der junge Welfe dankte dem Grafen Bernſtorff nochmals vertraulich für ſeine bleibenden Verdienſte um Braunſchweig und ſchrieb an Wittgenſtein: Auch für mich war es ein Tag der Freude, welche voll - kommen geweſen ſein würde, hätte ich des betrübenden Gedankens an meinen Bruder dabei mich erwehren können. *)Herzog Wilhelm an Bernſtorff, 26. April, an Wittgenſtein, 26. April 1831.

Dergeſtalt war die Frage ohne den Bundestag entſchieden, und in dieſer unglücklichen Verſammlung ward das Zerwürfniß täglich größer. Zu den unbeſtreitbaren ſchweren Rechtsbedenken geſellten ſich jetzt noch das Gefühl beleidigter Würde und der allezeit wache Argwohn gegen Preußen. Schon als die Agnaten ihre Erklärung einreichten, gelangte die in Frankfurt blühende Klatſcherei bald auf die rechte Fährte, und Nagler meldete: Wahrſcheinlich hat Hannover das Geheimniß wenig bewahrt, daß die von ihm aufgeſtellten Anſichten und Maximen größtentheils von Preußen ihm ſuppeditirt ſeien. Nach dem letzten Schritte Herzog Wilhelm’s ließ Bernſtorff überall, ſelbſt in Wien, offen ausſprechen, daß der preußiſche Hof dazu gerathen habe. Ueber den Verfaſſer des Patents ſagte er aller - dings nichts; dieſe Enthüllung hätten die Nerven der deutſchen Souveräne ſchwerlich vertragen. **)Nagler’s Bericht, 7. März. Weiſung an Maltzahn in Wien, 12. Mai 1831.

So war denn Oeſterreichs Ränken Thür und Thor geöffnet. Während Metternich treuherzig verſicherte, er verhalte ſich ganz leidend,***)Maltzahn’s Bericht, 25. April 1831. warben ſeine Leute in Frankfurt Tag für Tag Stimmen gegen Preußen, die gewohnte Parteiſtellung verſchob ſich gänzlich. Neben Münch und ſeinem Schatten Leonhardi ſtanden nicht nur der unwandelbare Kurheſſe und der120IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.eifrigſte Reaktionär der Verſammlung, der Holſteiner Pechlin, ſondern auch der Oldenburger Both, weil ſein braver Großherzog ſich nicht ent - ſchließen konnte, die Folgen eines Aufruhrs anzuerkennen. Andere Sou - veräne betrachteten die Frage einfach als Familienſache. In Darmſtadt neigte ſich du Thil der preußiſchen Anſicht zu, aber Prinz Emil ſetzte durch, daß man den Vetter Karl nicht im Stiche ließ. Ebenſo dachte der Dresdner Hof, der ſogar im Voraus verlangte, daß Karl’s künftige Kinder nicht von ihrem revolutionären Oheim, ſondern vom Könige von Hannover er - zogen werden ſollten. Selbſt der König von Württemberg ließ ſich, gegen den Rath ſeiner Miniſter, durch dynaſtiſche Rückſichten beſtimmen. Nicht einmal auf ihren eigenen Geſandten, den Naſſauer Marſchall konnte ſich die braunſchweigiſche Regierung unbedingt verlaſſen. Dieſer Vertraute Metternich’s erweckte allgemeinen Argwohn durch ſeine faſt übermenſchliche Unparteilichkeit, er hatte noch Vollmacht von Herzog Karl und empfing zugleich die Weiſungen Herzog Wilhelm’s; abwechſelnd Revolutionär und Legitimiſt überreichte er dem Bundestage bald die Erklärungen des jüngeren bald die des älteren Bruders und ſagte ſich ſelber die gröbſten Beleidigungen ins Geſicht. Dagegen ging Preußens alter Feind Blittersdorff diesmal mit Nagler zuſammen, desgleichen Mecklenburg, die Erneſtiner, die Hanſe - ſtädte. Bei König Ludwig von Baiern hatten die flehentlichen Bitten ſeiner Stiefſchweſtern und der Königin Wittwe nichts ausgerichtet; nach einigem Zögern entſchied er ſich für die Erklärung der beiden Welfenhöfe: von Nebenbeſtimmungen müſſe man abſehen, da ſie theils der Beur - theilung der hohen Agnaten zuſtehen, theils auf Vorausſetzungen zielen, welche noch nicht eingetreten ſind. *)K. Ludwig v. Baiern, Weiſung an Lerchenfeld, 2. Mai 1831.

Am 11. Mai, zwei volle Monate nach dem Antrage der Agnaten, erwartete man endlich den Schluß der Verhandlung. Die Stimmen ſtanden, acht gegen acht. Mit Spannung ſahen Alle der Abſtimmung Luxemburgs entgegen; ſie allein fehlte noch und mußte den Ausſchlag geben. Die Inſtruction aus dem Haag war noch immer nicht eingetroffen. Der luxemburgiſche Geſandte aber, Graf Grünne, ſtammte aus einem Geſchlechte, das im öſterreichiſchen Dienſte emporgekommen war; er zählte zu Münch’s Vertrauten und bot willig ſeine Hand zu einem jener Ueber - raſchungsſcherze, welche die k. k. Bundespolitik mit Hilfe der dehnbaren Präſidialrechte ſo meiſterhaft aufzuführen verſtand. Münch war, wie Metternich dem preußiſchen Geſandten ſelbſt geſtand, durch die Hofburg angewieſen, die ferneren Bundesbeſchlüſſe an die neueſten faktiſchen Vor - gänge anzuknüpfen, **)Maltzahn’s Bericht, Wien 2. Mai 1831. und dieſem Befehle gemäß kartete er ſein Spiel mit dem Luxemburger ab. Statt einfach anzuzeigen, daß er noch keine Weiſung habe und mithin die Schlußziehung noch vertagt werden müſſe,121Oeſterreichs Umtriebe für Herzog Karl.bemerkte Graf Grünne gemüthlich: durch Herzog Wilhelm’s Regierungs - antritt habe ſich der Stand der Sache verändert, und es ſcheine vor Allem erforderlich zu vernehmen, wie die Bundesregierungen dieſen un - erwarteten Vorſchritt beurtheilten. Die Erklärung wurde nicht nur ganz eigenmächtig abgegeben, ſie verſtieß auch offenbar gegen die Geſchäftsord - nung, da lediglich der Antrag der Agnaten zur Abſtimmung ſtand.

Gleichwohl ging der pflichtgetreue Präſidialgeſandte ſofort darauf ein und hielt einen langen, unverkennbar wohlvorbereiteten Vortrag über die Thronbeſteigung des jungen Welfen. Er verdammte dieſe höchſt bedauerns - werthe Thatſache mit ſcharfen, gradezu beleidigenden Worten; er behaup - tete, das Anſehen des Bundes ſei verletzt durch die vorgreifende, keineswegs gerechtfertigte Handlungsweiſe des Herzogs, und ſchloß mit dem Antrage: der Bundestag möge den Vorgang in ſein Protokoll verzeichnen, den Regierungen alles Weitere anheimſtellen, aber zugleich ausſprechen, daß dieſe, ohne Zuthun des Bundes vollzogene Anordnung die Rechte der Nachkommen Herzog Karl’s nicht beeinträchtigen könne. Alsbald erhob ſich Nagler um Verwahrung einzulegen wider einen Antrag, der, ohne die Regierungen auch nur zu befragen, im Voraus eine Rüge gegen das Verfahren des Herzogs ausſprechen wolle; ein ſolcher aus dem Stegreif gefaßter Beſchluß ſei null und nichtig. *)Nagler’s Berichte, 11. 21. 25. Mai 1831.Aber die öſterreichiſche Partei hielt bei ihrem Führer aus; nur zwei Stimmen vertauſchten ihre Stelle, Mecklenburg ging zu Oeſterreich, Württemberg zu Preußen über. Die k. k. Ueberrumpelung gelang vollkommen. Da über dieſen unvermutheten Vor - ſchlag Niemand inſtruirt war, ſo ſtimmte auch Graf Grünne wohlgemuth mit, und Dank dem Luxemburger wurde Münch’s Antrag mit einer Stimme Mehrheit angenommen. Welch ein Ergebniß! Nach zwei Monaten hatte der Bundestag über die Erklärung der Agnaten noch immer nichts entſchieden, wohl aber durch einen rechtlich anfechtbaren und praktiſch un - wirkſamen Beſchluß ſeinen Aerger bekundet wegen der Huldigung der Braunſchweiger.

Kaiſer Franz ſtand nicht an, dem jungen Herzoge ſelber auszuſprechen, daß er dieſen Bundesbeſchluß billige: Ich bin es den Grundſätzen, welche mir während einer neununddreißigjährigen Regierung der mir von der Vorſehung anvertrauten Staaten zur Richtſchnur dienten, ſchuldig, Ew. Liebden frei und offen zu bekennen, wie ſehr ich Ihren ſo bedenklichen Schritt bedauere. **)K. Franz an H. Wilhelm 30. März 1831.Preußen aber ſetzte alle Hebel ein um endlich die Anerkennung des Beſchluſſes der Agnaten zu erwirken. Zunächſt galt es, die luxemburgiſche Stimme, die allein noch ausſtand, für Preußen zu gewinnen. Dies gelang dem Geſandten im Haag, dem Grafen Truch - ſeß, ohne beſondere Mühe, weil der König der Niederlande alle deutſchen Angelegenheiten mit vollkommener Gleichgiltigkeit betrachtete und wegen122IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.der belgiſchen Wirren auf Preußens Freundſchaft rechnen mußte. *)Waldburg-Truchſeß’s Bericht, 9. Juni. Grünne an Nagler, 29. Mai 1831.Am 30. Juni erklärte Graf Grünne zum allgemeinen Erſtaunen, er ſei jetzt angewieſen, ſich den Anträgen der Agnaten anzuſchließen. Damit war alſo endlich die Mehrheit für Preußen geſichert, und wenn der Präſidialge - ſandte ſeiner Pflicht gemäß nunmehr einen Beſchluß faſſen ließ, ſo wurde die Regierung des Herzogs Wilhelm von Bundeswegen anerkannt. Oeſter - reich aber wollte ſeine Niederlage nicht eingeſtehen, Münch verzögerte den Beſchluß unter nichtigen Vorwänden von Woche zu Woche. Und während - dem begannen Preußens Parteigenoſſen ſelber unſicher zu werden. König Ludwig von Baiern ſchrieb ſeinem Bundesgeſandten: eine Schlußziehung ſcheine nicht mehr nöthig; genug wenn alle Regierungen einzeln den neuen Herzog anerkennten. Selbſt der hannoverſche Hof fiel wieder in ſeine ge - wohnte Bedachtſamkeit zurück. Miniſter v. Ompteda in London geſtand dem preußiſchen Geſandten, ſeine Regierung wolle mit Oeſterreich nicht brechen und darum für jetzt nichts weiter thun. **)K. Ludwig von Baiern, Weiſung an Lerchenfeld, 2. Aug. Bülow’s Bericht, London 17. Sept. Verbalnote der hannov. Geſandtſchaft an Bernſtorff, 31. Oct. 1831.So ward denn wieder zweifel - haft, ob die mühſam gewonnene Mehrheit bei der Schlußziehung noch zuſammenhalten werde. Zu Alledem kam ein ſchweres Rechtsbedenken, das ſchon früher von Preußen ausgeſprochen, aber nicht beachtet worden war. Die Frage betraf offenbar jura singulorum, nach ſtrenger Aus - legung des Bundesrechts konnte ſie nur durch einſtimmigen Beſchluß des Bundestags entſchieden werden, und dies war undenkbar.

Angeſichts dieſer Unmöglichkeit begannen beide Großmächte allmählich zu fühlen, daß ſie den unlösbaren und zweckloſen Streit in der Stille beilegen mußten; ſie bedurften einander in der deutſchen wie in der euro - päiſchen Politik. Preußen hatte in der Sache ſeinen Willen durchgeſetzt. Herzog Wilhelm’s Regierung beſtand, alle deutſchen Höfe unterhielten mit ihr amtlichen Verkehr, außer dem entthronten Fürſten wagte Niemand mehr ihre Berechtigung offen anzufechten. Wenn es noch gelang, ihr auf einem neuen Wege mindeſtens die mittelbare Anerkennung des Bun - destags zu verſchaffen, ſo war ſie rechtlich geſichert und Alles erlangt was ſich nach einem Rechtsbruche überhaupt erreichen ließ. Eben dieſen Ver - ſöhnungsantrag brachte Metternich nach langen Verhandlungen im April 1832 dem preußiſchen Hofe entgegen. Oeſterreich ſchlug vor, der braun - ſchweigiſche Geſandte ſolle beim Bundestage eine neue Vollmacht ein - bringen, und dieſe dann mit einer kurzen Erklärung, wofür zwei ver - ſchiedene Formeln beilagen, amtlich entgegengenommen werden. Preußen ging auf den Vorſchlag ein und wählte die ihm zuſagende Formel; auch die welfiſchen Höfe erklärten ſich einverſtanden. ***)Metternich, Weiſung an Trauttmansdorff, 25. April. Weiſung an Nagler, 7. Mai. Münchhauſen an Bernſtorff, 26. Mai 1832.Demnach legitimirte123Ausgleichung am Bundestage.ſich Marſchall am 12. Juli 1832 zur Fortführung der braunſchweigiſchen Stimme, indem er eine Vollmacht des Herzogs Wilhelm vorlegte. Der Bundestag aber beſchloß ſofort einſtimmig, dieſe Vollmacht anzunehmen, da nach den vorangegangenen Verhandlungen Se. Durchlaucht als ſtimm - führendes Bundesglied in der Bundesverſammlung zu betrachten iſt.

Mit dieſem Poſſenſpiele fanden die Bundesverhandlungen über die braunſchweigiſche Frage ihren würdigen Abſchluß. Der hochconſervative Marſchall nahm ſich als Geſandter eines illegitimen Fürſten ganz ebenſo ſeltſam aus wie die hohe Verſammlung insgeſammt, da ſie einen Beſchluß faßte, der einer Selbſtverhöhnung gleichkam. Sie hatte am 2. December 1830 den Herzog Wilhelm gebeten, die Regierung bis auf Weiteres zu führen, und ſodann am 11. Mai 1831 ihm ihren Unwillen über ſeine eigen - mächtige Thronbeſteigung ſehr unhöflich ausgeſprochen; über alles Andere war ſie nicht einig geworden, und gleichwohl behauptete ſie jetzt, daß der Herzog nach den vorangegangenen Verhandlungen als Bundesglied zu betrachten ſei! Zu ſolchen Widerſprüchen führte der legitimiſtiſche Trotz, der die vollendeten Thatſachen wohl verwünſchen, doch nicht ſtreichen konnte. War es zu verwundern, wenn die Liberalen mehr und mehr in das Fahr - waſſer des Partikularismus hinübertrieben? Von dieſer Centralgewalt hatte die Nation ſelbſt in dringender Nothlage nichts zu erwarten.

Die anhaltende Feindſeligkeit des vertriebenen Herzogs zwang die welfiſchen Höfe unterdeſſen neue Vorſichtsmaßregeln zu ergreifen. Am 24. October 1831 vereinbarten ſie ein Hausgeſetz, kraft deſſen fortan für alle Ehen der Welfen die Einwilligung des regierenden Herrn der Linie nachgeſucht werden mußte. Alle engliſchen Prinzen unterzeichneten das Geſetz, der hannoverſche Thronfolger Ernſt Auguſt von Cumberland frei - lich erſt nach langem Sträuben. Dieſer fanatiſche Legitimiſt wollte von dem Aufſtande der Braunſchweiger und allen ſeinen Folgen nichts hören; erſt nach Jahren verſöhnte er ſich mit dem Uſurpator Wilhelm, und ſein Leben lang hielt er feſt an der Meinung, daß den Nachkommen des älteren Bruders die Thronfolge gebühre. *)Canitz’s Bericht, Hannover 10. Jan. 1838.Karl’s Unterſchrift fehlte natürlich, und da er zudem ſich ſelber für den regierenden Herrn ſeiner Linie anſah, ſo blieb die braunſchweigiſche Erbfolgefrage auch jetzt noch unentſchieden. Durch ſeine Rüſtungen nöthigte er ſodann die Agnaten ſein Vermögen unter Curatel zu ſtellen ein hartes Verfahren, das zu widerwärtigen Proceſſen führte und von den franzöſiſchen Gerichten nicht als rechtsgiltig anerkannt wurde. Dabei ſtellte ſich heraus, daß er nahezu 350000 Thaler dem Lande entwendet hatte 118000 Thlr. engliſche Subſidien, das Uebrige durch widerrechtlichen Verkauf von Kammergütern immerhin weit weniger als ſein erbittertes Völkchen glaubte. Auch das herrliche Man - tuaniſche Onyxgefäß und andere Kleinodien des Hauſes Bevern hatte er ins Ausland mitgenommen.

124IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Da die Agnaten aus Rathloſigkeit die Frage der Thronfolge offen gelaſſen hatten, ſo ergab ſich als nothwendige, aber keineswegs beabſich - tigte Folge, daß keiner der beiden feindlichen Brüder ſich vermählen konnte. Als ſtolzer Welfe wünſchte Herzog Wilhelm eine Gemahlin aus großem Hauſe, doch alle ſeine geheimen Bemühungen blieben vergeblich, die vor - nehmeren Höfe trugen alleſammt Bedenken, die Nachkommenſchaft ihrer Töchter einer ungewiſſen Zukunft preiszugeben. *)Dieſe auch durch andere Zeugniſſe beglaubigte Thatſache wird als allen Höfen wohlbekannt und als abſchreckendes Beiſpiel angeführt von Herzog Karl v. Mecklenburg (in ſeiner Denkſchrift über die Heirath des Herzogs von Orleans 1837).Die Braunſchweiger wußten wenig von dieſen Mißerfolgen ihres Herzogs; ſie beſchworen ihn wieder und wieder, daß er den alten Heldenſtamm nicht ausſterben laſſe, die Städte Braunſchweig und Wolfenbüttel baten einmal ſogar in einer feierlichen Adreſſe um eine Landesmutter. **)Canitz’s Bericht, Hannover 28. April 1839.Alles umſonſt. Nach und nach ward das Volk mißtrauiſch. Seltſame Gerüchte liefen um, und der ver - triebene Landesherr nährte ſie gefliſſentlich durch ſeine Brandſchriften. Die böſe Welt fragte nach ihrer Gewohnheit: wem bringt das Ausſterben der braunſchweigiſchen Linie Vortheil? und da die Antwort nur lauten konnte: dem Hauſe Hannover ſo bildete ſich bald ein kunſtvolles Lügen - gewebe, das unzerſtörbar feſt erſchien, weil alle ſeine Fäden eng verknotet waren. Man glaubte allgemein, die hannoverſchen Welfen hätten Erb - ſchleicherei getrieben und dem Herzog Wilhelm gegen das Verſprechen der Eheloſigkeit zur Krone verholfen, Preußen aber ſei Hannovers ergebener Schildknappe geweſen. Es war das genaue Gegentheil der Wahrheit. Die treibenden Kräfte bei dem Handel waren einerſeits das braunſchweigiſche Volk, das ſeinen böſen Herzog für alle Zukunft beſeitigen, andererſeits die Krone Preußen, die den anarchiſchen Zuſtand an ihrer Grenze raſch und endgiltig ordnen wollte. Die Welfen wurden allein durch die Macht der Verhältniſſe gedrängt: Herzog Wilhelm etwas ſchneller, weil ihm die Noth auf den Nägeln brannte, König Wilhelm langſamer und ganz wider Willen. Vom Anfang bis zum Ende zeigten die Hannoveraner eine ſchwerfällige, aber ehrenwerthe Gewiſſenhaftigkeit; nur den Uneingeweihten erſchienen ſie fälſchlich als die Führer, weil Preußen ſie abſichtlich am Bundestage ſtets vorangehen ließ.

Zweiundvierzig Jahre lang hat Herzog Karl dann noch im Auslande gelebt, eine Schande des deutſchen Namens. Die gute Geſellſchaft zog ſich in London wie in Paris bald von ihm zurück; nur einzelne über - ſpannte Radicale, wie der ehrliche Thomas Duncombe, ſchenkten ſeinen demokratiſchen Kraftworten Glauben. Halb Geizhals halb Verſchwender vermehrte er den geretteten, ſehr anſehnlichen Theil ſeines Vermögens durch glückliches Börſenſpiel und legte ſich die ſchönſte Juwelenſammlung der Erde an; dann praßte er wieder mit einem Geſindel von Dirnen125Braunſchweigiſche Verfaſſung von 1832.und Glücksrittern. Die Engländer fanden übrigens den Vollbart des Diamantenherzogs noch weit anſtößiger als ſeinen ſittlichen Wandel. Unabläſſig arbeitete er für ſeine Rückkehr, obgleich er daheim gar keinen Boden mehr hatte und nur ein einzigesmal eine ganz unbedeutende kar - liſtiſche Verſchwörung in Braunſchweig entdeckt wurde. Er plante mit einer franzöſiſchen Freiſchaar in Deutſchland zu landen. Da die Regierung Lud - wig Philipp’s dieſe Anſchläge vereitelte, ließ er ſeine Leute wieder den ge - wohnten demagogiſchen Federkrieg beginnen und ſchilderte ſelber ſeine Erleb - niſſe nicht ohne ſchriftſtelleriſches Geſchick, aber mit ſchamloſer Verlogenheit, in den Denkwürdigkeiten Karl’s von Eſte. In London lernte er einen anderen Prätendenten kennen, von reicherem Kopfe und ärmerem Beutel, den Prinzen Ludwig Napoleon. Die Beiden fanden ſich zuſammen und verpflichteten ſich durch einen förmlichen Vertrag, einander durch Geld und Waffen zu ihren Rechten zu verhelfen; Karl verſprach außerdem, wo - möglich aus dem ganzen Deutſchland eine einige Nation zu machen und ihm eine dem Fortſchritt des Zeitalters angemeſſene Verfaſſung zu geben. *)Abgedruckt in T. H. Duncombe, the life and correspondence of T. S. Duncombe. II. 10.Als aber ſein Bundesgenoſſe den Staatsſtreich des zweiten Decembers wagte, da floh der Welfe wieder vor dem Donner der Kanonen; zurück - gekehrt fand er bei dem neuen Kaiſer nur laue Unterſtützung, weil er ihm ſelber von ſeinem Reichthum wenig abgegeben hatte. Und als nachher die Heere des geeinten Deutſchlands gegen Paris zogen, da flüchtete er ſich nochmals vor ſeinen Landsleuten und eilte nach Genf. Dieſer Stadt ver - machte er ſein ganzes Vermögen, denn ſeinem Vaterlande gönnte er nichts, und um ſein verlorenes Leben noch mit einer höhniſchen Bosheit abzu - ſchließen legte der kleine deutſche Despot den Schweizer Republikanern die Verpflichtung auf, ihm ein prächtiges Denkmal, gleich den Gräbern der Scaliger, zu errichten.

Dem Braunſchweigiſchen Lande gereichte der Thronwechſel zum Segen. Das Herzogthum blieb unter dem Miniſterium Schleinitz zwei Jahrzehnte lang einer der beſtverwalteten Kleinſtaaten; ſein Landtag beſaß an dem liberalen Juriſten Karl Steinacker einen begabten Redner und behauptete unter den kleinen deutſchen Parlamenten ein gutes Anſehen. Im Jahre 1832 wurde eine neue Verfaſſung vereinbart; ſie gab den Bürgern und Bauern eine ſtärkere Vertretung und bewies durch die That, daß der Umſchwung keineswegs, wie der flüchtige Herzog behauptete, blos durch den Adel bewirkt worden war. Eine verſtändige Agrargeſetzgebung ar - beitete dann weiter an der Befreiung des Landvolks. Die deutſchen Fürſten aber wollten ſich noch lange nicht darein finden, daß ſie jetzt in ihren Reihen einen Souverän dulden mußten, der nur gleich dem Bürgerkönige mit dem zweifelhaften Titel der Quaſi-Legitimität beehrt werden konnte. 126IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Herzog Wilhelm beſtellte ſich bei dem Heidelberger Juriſten H. Zöpfl eine Schutzſchrift über die Eröffnung der legitimen Thronfolge ; doch der ſtreb - ſame junge Mann, der wie Karl Salomo Zachariä ſeine Rechtsgutachten jedem Kunden auf den Leib zuſchnitt, fiel leider in die alte Vertragslehre zurück und gelangte zu dem lächerlichen Schluſſe: wenn der Fürſt ab - danken könne, ſo dürfe auch das Volk ihm den Gehorſam verweigern. Noch unheimlicher ward dem jungen Welfen zu Muthe, als ein radicaler Poet, Walter Berg in einem Schauſpiele Der Bürger ihn ſelber ſagen ließ:

Wir ſelbſt ſind erſter Bürger unter Euch,
Der Bürger iſt des Staates Zucht entwachſen!

Es ließ ſich doch nicht bemänteln, die Geſchichte des Deutſchen Bundes hatte zum erſten male eine kleine Revolution aufzuweiſen. Aber wie ver - ſchieden zeigte ſich dabei der Charakter der beiden Nachbarvölker. Wie leicht ſprangen die Franzoſen, ohne zwingenden Grund, über ihr hiſtori - ſches Recht hinweg, und wie ſchwer vollendete ſich in Deutſchland ein Rechtsbruch, den die unerbittliche Noth erzwang!

Nicht ganz ſo gewaltſam vollzog ſich der Umſchwung in Kurheſſen. Der Kurfürſt plündert ſein Land und ſeine Unterthanen, ſo daß es zu - letzt keine Landeskaſſen und Domänen mehr, ſondern bloße Privat - oder Cabinetskaſſen mehr geben wird alſo ſchilderte der preußiſche Geſandte Hänlein das gierige Regiment der Gräfin Reichenbach, das nachgrade ſelbſt im Auslande Befremden erregte und im Pariſer Figaro als ein deutſcher Skandal bezeichnet wurde. *)Hänlein’s Bericht, 20. Febr. 1830.Der neue Finanzminiſter Kopp wurde bei ſeiner Ernennung ausdrücklich verpflichtet, das Intereſſe des Kurfürſten beſonders wahrzunehmen, und wie erfinderiſch zeigte ſich der Landesvater ſelber in den ſchlechten Künſten des Finanzweſens. Während er mit den Ständen der Grafſchaft Schaumburg wegen rechtswidriger Steuererhöhung einen langen Streit führte, ließ er gegen die Stadt Kaſſel und andere Gemeinden unter nichtigen Vorwänden fiscaliſche Proceſſe einleiten; ſeine Bauern beglückte er durch die Verordnung, daß der Dünger der Dienſt - pferde, welche die beurlaubten Cavalleriſten mit aufs Land nahmen, zum Beſten der Kriegskaſſe verſteigert werden ſolle. Selbſt die Theuerung und die bittere Kälte der erſten Monate des Jahres 1830 mußten ihm ſeine Hofkaſſe bereichern helfen: er maßte ſich das Recht des alleinigen Holzhandels an, verbot die gewohnte Holzeinfuhr aus der hannoverſchen Nachbarſchaft und ſetzte die Preiſe ſo hoch an, daß die Kaſſeler Bäcker einmal wegen Holzmangels ihre Arbeit einſtellten.

Hier wie in Braunſchweig ſtützte ſich die Willkür des Kleinfürſten - thums auf den Beiſtand Oeſterreichs. Hruby, der k. k. Geſandte, beſaß127Kurfürſt Wilhelm in Karlsbad.das Vertrauen der Reichenbach, er hatte den Kurfürſten zum Eintritt in den mitteldeutſchen Handelsverein bewogen und konnte nun mit Befrie - digung betrachten, wie das unglückliche, zwiſchen den Zolllinien Baierns und Preußens eingeklammerte Ländchen dem Verderben ſeiner Volkswirth - ſchaft entgegenging. Und bereits ließ ſich vorausſehen, daß die zerrütteten Familienverhältniſſe dieſes Fürſtenhauſes, die ſchon ſo viel Elend über das heſſiſche Land gebracht, auch unter der künftigen Regierung fortdauern würden. Um den Anmaßungen der Reichenbach auszuweichen lebte der Kurprinz mit ſeiner Mutter jahrelang außer Landes; König Friedrich Wilhelm ließ ſeiner Schweſter große Summen vorſtrecken, da der Kurfürſt den Beiden die Unterhaltsmittel verweigerte. Als die Kurfürſtin unter dem Jubel des Volkes endlich heimkehrte um ſich in Fulda einen ſelb - ſtändigen Hofhalt einzurichten, blieb der Sohn am Rhein zurück. Der hatte in Bonn die Frau eines Rittmeiſters Lehmann liebgewonnen und führte mit ihr ein ſo anſtößiges Leben, daß ſelbſt der galante Lebemann Hänlein ſich verpflichtet hielt dem königlichen Oheim in Berlin zu melden: ganz Heſſen wünſcht, Allerhöchſtdieſelben möchten zum Wohle des hieſigen Landes den nichtswürdigen Lebenswandel des Kurprinzen gewaltſam be - ſchränken. *)Hänlein’s Bericht, 10. Aug. 1830.

Im Juli 1830 reiſte Kurfürſt Wilhelm nach Wien um der Reichenbach den öſterreichiſchen Fürſtentitel zu verſchaffen. Seine Heſſen fürchteten ſchon, er werde dann dem Beiſpiele Philipp’s des Großmüthigen folgen und das dämoniſche Weib förmlich zur Nebengemahlin erheben; die Akten über Philipp’s Doppelehe hatte er ſich bereits nach Wilhelmshöhe kommen laſſen. Metternich aber fand dieſe Zumuthung doch bedenklich und verließ die Hauptſtadt plötzlich, kurz vor der Ankunft des Gaſtes. Als der Kurfürſt einige Tage darauf in Karlsbad eintraf, von der Hitze erſchöpft, wüthend wegen der vergeblichen Reiſe, wurde er von ſeiner enttäuſchten Geliebten ſehr übel aufgenommen und verfiel in ſchwere Krankheit. Daheim ver - breiteten ſich unheimliche Gerüchte; man glaubte an den Tod des Kur - fürſten, da der Bruder der Reichenbach, Heyer v. Roſenfeld unvermuthet in Kaſſel erſchien, Juwelen und Staatspapiere haſtig einpackte und dann mitſammt den Kindern ſeiner Schweſter bei Nacht und Nebel aus dem Lande floh. Die Bürgerſchaft ſendete drei Stadträthe nach Karlsbad um ſich von dem Zuſtande des Landesherrn zu überzeugen; auch der Kur - prinz eilte herbei und verſöhnte ſich mit dem kranken Vater. Mittler - weile ward das längſt erbitterte Volk durch die Pariſer und Brüſſeler Nachrichten ſtark aufgeregt. Der Groll wider die Tyrannei und das wüſte Treiben des Hofes ließ ſich nicht mehr bändigen. Ueberall erklang ein Gaſſenhauer, der die Raubgier der Reichenbach verwünſchte: von dem Blutgeld jener Millionen wußt die Beſtie ſich zu lohnen und128IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.mit dem Kehrreime ſchloß: Alles ſeufzt zum Gott des Lichts: Ach die Hure läßt uns nichts! Schon begannen die Bauern ihre Frohndienſte einzuſtellen; die Wilddieberei nahm überhand, mehr noch der Schmuggel, denn das Zollweſen war durch die thörichte Handelspolitik des Kurfürſten gänzlich in Verruf gekommen, ein Schlagwort des Tages lautete: die Mauth iſt ein Kind der Finſterniß. In Kaſſel traten die Zunftmeiſter zuſammen um über die Landesbeſchwerden zu berathſchlagen; ein Küfer Herbold führte das große Wort und ward mit dem Namen des heſſiſchen Maſaniello geehrt, denn dieſe deutſchen Bürgerhelden fühlten ſich nur im Schmucke ausländiſcher Federn ſtolz und herrlich. Als der Pöbel dann die Bäckerläden zu ſtürmen verſuchte, bewaffneten ſich die Bürger und ſtellten die Ordnung her. Die erſchreckte Regierung ließ ſie gewähren und öffnete die kurfürſtlichen Kornmagazine; das Getreide des Landes - vaters ward aber auch jetzt noch, nach dem alten Brauche des Kurhauſes, zu erhöhten Preiſen verkauft, und erſt nachdem Abgeſandte der Bürger - ſchaft dem Finanzminiſter drohend ins Haus gerückt waren, entſchloß er ſich bis zum Marktpreiſe herabzugehen.

So aufgeſtört fand der Kurfürſt ſeine friedliche Hauptſtadt vor, als er am 12. September, abgeſpannt und kaum geneſen, endlich heimkehrte; ſeine Geliebte hatte er jenſeits der Landesgrenze zurücklaſſen müſſen, weil die Miniſter ſonſt das Aergſte befürchteten. Am 15. September ſtanden die Bürger dicht gedrängt, in banger Spannung, auf dem Fried - richsplatze, derweil die Stadträthe im Palaſte eine Adreſſe übergaben, welche den Kurfürſten beſchwor die Landſtände zu berufen und Sich als Vater mit Ihren Kindern zu berathen, wie unſerer Noth zu helfen ſei. Droben im Saale ergriff der Bürgermeiſter Karl Schomburg das Wort, ein echter Heſſe, ernſt, beſonnen, freimüthig, und ſchilderte in tief er - greifender Rede das Elend des verwahrloſten Landes. Der Kurfürſt ver - wünſchte im Herzen ſeine Bürger-Rebellen , aber er ſah auch, was die finſteren Geſichter draußen ankündigten, und gab zitternd ſeine Zuſage. Alsbald eilte der Küfer Herbold an das Geländer vor dem Schloſſe, und als er ein weißes Taſchentuch ſchwenkte, durchbrauſte ſtürmiſches Freudengeſchrei den weiten Platz. Wie oft iſt dann in Lied und Bild die Friedensbotſchaft des heſſiſchen Maſaniello verherrlicht worden; ein ſchwarzes Tuch in Herbold’s Händen das wußte Jedermann hätte dem Aufruhr das Zeichen gegeben. Mit Tanz, Geſang und feurigen Reden ging dieſer große Tag der heſſiſchen Geſchichte zu Ende; auch vor dem Hauſe des preußiſchen Geſandten erklangen jubelnde Hochrufe, denn König Friedrich Wilhelm ſtand als Bruder und Beſchützer der ge - liebten Kurfürſtin hoch in Ehren, und nicht ſelten hörte man unter den Unzufriedenen die Drohung: wir wollen preußiſch werden.

Schnell genug verflog der Rauſch der Freude. Die Caſſeler fuhren fort, dem Verbote zum Trotz, ihre Bürgerverſammlungen abzuhalten und129Die heſſiſchen Bürgergarden.offenbarten hier ſehr laut ihr Mißtrauen gegen den Kurfürſten, gegen den öſterreichiſchen Geſandten, gegen die Miniſter, die alleſammt nur für Geſchöpfe der Reichenbach galten. Die Rückkehr dieſer tödlich verhaßten Frau wollte man nimmermehr dulden; auf das Gerücht von ihrem Nahen ſtrömte eines Tages das Volk in Schaaren auf die Arolſener Landſtraße hinaus um den Weg zu ſperren, ihr Bruder Heyer mußte ſchleunigſt aus ſeinem Amte entlaſſen werden. Welch einen kläglichen Anblick bot der Kurfürſt in ſeiner ſtumpfen Verzweiflung; er verging vor Sehnſucht nach der Geliebten und rief jammernd: jetzt weiß ich erſt was ein Aufſtand iſt! Die militäriſchen Schnurrbärte der Caſſeler Bürgergarde verletzten ſein heiligſtes Gefühl; nun mußte er dieſen Unholden aus ſeinem Zeug - hauſe Waffen geben und ſogar in einem Manifeſte verkündigen, daß er den guten Geiſt und den bewährten treuen Sinn der Heſſen mit Wohl - gefallen erkennend überall im Lande die Bildung von Bürgerbataillonen geſtatten wolle. Bald ſtolzirten in jedem heſſiſchen Städtchen bewaffnete Bürger umher, alle nach dem Pariſer Muſter gekleidet, mit der weißen Bürgerbinde am Arme, und prächtig erklang das Lied zum Preiſe der bürgerlichen Waffen:

Sie ſtehen jedem freien Mann,
Sie ſtehn dem Kattenſohn wohl an!

Der vermeſſene Plan, dem Kurfürſten ſelber eine geſtickte Bürgerbinde zu ſchenken, wurde zum Glück noch vereitelt, da die Hofleute ſchaudernd an Ludwig XVI. und die ihm aufgeſtülpte Jacobinermütze erinnerten. Indeß bekundete ſich das Selbſtgefühl der Bürgergarde unzweideutiger als ihre Waffentüchtigkeit; es war der Fluch des alten Stellvertretungs - ſyſtems, daß die Kriegsſpieler ſich für beſſer hielten als die wirklichen Krieger. Sie verlangten bei den Paraden ſtets den Vortritt und ge - riethen mit den Truppen oft in Händel. Als die beliebte Sängerin Frau Roller-Schweizer ſich einige mehr ehrliche als ſchmeichelhafte Bemerkungen über die Leiſtungen der Bürgerwehr erlaubt hatte, wurde ſie ohne Gnade von der Bühne entfernt, obgleich ſie von den Brettern herunter vor Caſſels hochachtbaren Bürgern Abbitte leiſtete.

Trotz dieſer Unzahl von Sicherheitswächtern kam das Land nicht zur Ruhe, weil die Regierung Kopf und Herz verloren hatte. Das Land - volk wähnte, mit der verheißenen neuen Freiheit ſei auch die Entlaſtung des Bodens vollendet; tobende Banden ſtürmten die Schlöſſer der Grund - herren und verbrannten, meiſt ohne zu plündern, die Zehnten - und Gilten-Regiſter. Am lauteſten lärmten dieſe Papierſtürmer in dem armen Iſenburgiſchen Ländchen auf der Rhön, das ſeine doppelten Steuern, für den Kurfürſten und den Standesherrn, kaum noch erſchwingen konnte. Die geängſteten Fürſten des Hauſes Iſenburg drohten ſchon ſich unter preußiſche Landeshoheit zu ſtellen, damit ſie doch Schutz für ihre Habe fänden. In Hanau wurde das Mauthhaus von einem Volkshaufen zer -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 9130IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſtört; alle Papiere und ſelbſt die Kaſſe flogen ins Feuer, denn mit Mauth - geldern wollte ſich Niemand die Hände beflecken. Ein Demagog, der ſich General Paulſen nannte, erließ aus ſeinem Hauptquartier Neu-Brüſſel jacobiniſche Tagesbefehle. Um Frieden zu ſtiften eilte der Kurprinz ſelbſt herbei, und der furchtſame junge Herr ließ ſich durch die zuverſichtlichen Reden dieſer harmloſen Revolutionäre dermaßen einſchüchtern, daß er ihnen bis auf Weiteres Zollfreiheit verſprach. In der That ſtellten die Mauthen im Hanauer und Fuldaer Lande ihre Thätigkeit ein. Dieſe ſüdlichen Provinzen, wie man am Caſſeler Hofe ſagte, gebärdeten ſich faſt wie ein ſelbſtändiger Staat; der Thalerrechnung hatten ſie ſich immer erwehrt, nun ſagten ſich die heſſiſchen Guldenländer auch von dem Zoll - weſen des Kurſtaates los.

Es ward hohe Zeit, daß ein von allen Theilen anerkannter Rechts - zuſtand dieſe gemüthliche Anarchie verdrängte. In ſolchem Sinne ſchrieb Bernſtorff an Hänlein: Wir bedauern die jetzt maßloſe Ungebühr des Volks als die unausbleibliche Folge einer bis dahin ebenſo maßloſen Ver - fahrungsweiſe des Fürſten erkennen zu müſſen. Wohl haben die Maſſen dem Kurfürſten ſeine Verſprechungen abgetrotzt; aber dieſe Zugeſtänd - niſſe ſind ertheilt, und es iſt nicht denkbar, daß ihre Zurücknahme ohne die größte Gefahr und Zerrüttung aller noch beſtehenden Verhältniſſe erfolgen könnte. Alle Wünſche müſſen ſich vielmehr dahin vereinigen, daß die einmal betretene Bahn mit möglichſter Schnelligkeit und Ruhe zu einem Ziele feſter geſetzlicher Ordnung führe. *)Bernſtorff, Weiſung an Hänlein, 12. Oct. 1830.

Auf preußiſche Rathſchläge hörte der Kurfürſt niemals; nur die Angſt vor den beſtändig wiederholten lärmenden Kundgebungen der Caſſeler bewog ihn ſein Wort zu halten. Am 16. October traten die altheſſiſchen Stände zuſammen und verſtärkten ſich ſogleich durch Abgeordnete der übrigen Lan - destheile. Klug und rückſichtsvoll beſeitigten ſie zunächſt das Hemmniß, an dem bisher jede Verſtändigung geſcheitert war, den alten Streit um das fürſtliche Hausgut. Der Kurfürſt ließ ihnen eine Ueberſicht über den Beſtand des Landesvermögens vorlegen, deren Ziffern ſehr weit um mindeſtens 6 Millionen, Mißtrauiſche behaupteten gar um 16 Mill. Thaler hinter der allgemeinen Erwartung zurückblieben. Der ſtän - diſche Ausſchuß verſchmähte jedoch im Einzelnen zu unterſuchen, was wohl Alles in den Taſchen der Reichenbach und Amſchel Rothſchild’s verſchwun - den ſein mochte, und willigte in die Theilung der alſo angegebenen Ca - pitalien. Aus der einen Hälfte ward ein Staatsſchatz gebildet; die andere, mit einem Ertrage von wenigſtens 0,4 Mill. Thlr. jährlich, verblieb der Dynaſtie als unveräußerlicher Hausſchatz. Außerdem erhielt der Kurfürſt für ſeinen Hofhalt 392000 Thlr. jährlich aus den Einkünften der vom Staate verwalteten Domänen, und da er endlich noch ein großes Scha -131Theilung des Landesvermögens.tullvermögen beſaß, deſſen Höhe nur ihm ſelber und dem getreuen Hauſe Rothſchild bekannt war, ſo blieb er nach wie vor einer der reichſten deutſchen Fürſten. Freilich mußte er nun auch ein Legat, das er ſeiner Gemahlin unterſchlagen, und die 110000 Thaler, welche König Friedrich Wilhelm der Kurfürſtin vorgeſchoſſen hatte, endlich herausgeben; er ſträubte ſich aufs Aeußerſte, aber die Krone Preußen beſtand auf ihrem Rechte, und der Landtag hielt zu ihr. *)Schreiben des kurf. Miniſters v. Schminke an Hänlein, 7. Jan. Wittgenſtein an Bernſtorff, 10. März 1831 u. ſ. w.

Sobald man ſich über den Grundſatz der Theilung des Landes - vermögens geeinigt hatte, beantragte der kurfürſtliche Unterhändler Re - gierungsrath Eggena, ein gewandter, weltkluger Juriſt, die Stände ſollten dem Landesvater ihren Dank ausſprechen. Auch dazu ließ der Landtag ſich herbei; die bäuerlichen Abgeordneten ſagten treuherzig: die Capitalien ſind zwar heſſiſches Blutgeld und gehören eigentlich alleſammt dem Lande, aber wir müſſen dem Kurfürſten auch eine Liebe erweiſen. Wilhelm empfing die Abgeſandten auf Wilhelmshöhe, krank, zerknirſcht, unter ſtrömenden Thränen. Die getreuen Stände weinten mit und tranken nachher drunten im Gaſthofe auf das Wohl ihres gnädigen Herrn. **)Hänlein’s Bericht, 23. Nov. 1830.Allein nachdem ſie ihm großmüthig den beſten Theil ſeiner Herzenswünſche erfüllt, meinten ſie ſich um ſo mehr berechtigt, in der eigentlichen Verfaſſungsſache, die den Kurfürſten weniger bekümmerte, ihrem eigenen Kopfe zu folgen.

Eggena legte ihnen einen Entwurf vor, der im Grunde nur einige Verbeſſerungen der alten ſtändiſchen Verfaſſung entheilt. Dawider erhob ſich im Verfaſſungsausſchuſſe ſofort der Vertreter der Univerſität Marburg, Profeſſor Sylveſter Jordan, ein fröhlicher katholiſcher Tyroler, der ſchon in jungen Jahren daheim gegen die Herrſchſucht der Cleriſei gekämpft, dann in München den Verhandlungen des erſten deutſchen conſtitutionellen Land - tags als eifriger Zuhörer beigewohnt und endlich in Heidelberg ſich die Heilslehren des Rotteck-Welcker’ſchen allgemeinen Staatsrechts bis auf den letzten Buchſtaben angeeignet hatte. Den Brüdern Grimm erſchien der ehrliche Doctrinär als ein aufgeſchwemmter Liberaler, der die Formen hitzig verficht, für die Sache nicht einmal mäßige Wärme beſitzt . Unter allen den Wortführern des norddeutſchen Liberalismus ſtand er der Welt - anſchauung Rotteck’s am nächſten; und nur der wohlberechtigte Groll über die Unthaten des Kurhauſes erklärt das Räthſel, daß die gemüth - liche Flachheit dieſer joſephiniſchen Aufklärung hier im proteſtantiſchen Kurheſſen Anklang finden konnte. Jordan trat in den Ausſchuß mit dem Bewußtſein eines großen hiſtoriſchen Berufs: Kurheſſens Beiſpiel iſt für den Sieg des conſtitutionellen Syſtems in Deutſchland völlig9*132IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.entſcheidend und warf ſofort die Frage auf: Wie muß eine Ver - faſſung überhaupt beſchaffen ſein, um den durch Vernunft und Geſchichte gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entſprechen? In einem regelrechten Kathedervortrage zählte er ſodann, mit 1 und 2, mit a und b, alle die nothwendigen Garantien des verfaſſungsmäßigen Volkslebens her. Da prangten wie die aufgeſpießten Käfer einer In - ſektenſammlung neben einander: zuerſt die Volkserziehung, die ſittliche und die politiſche denn die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht ebenſo für eine Hauptſtütze des monarchiſchen Freiſtaates, wie die Un - wiſſenheit und Stüpidität des Volks für eine Grundlage der Despotie ſodann die Sprech - und Preßfreiheit, d. i. die Publicität , ferner eine unabhängige Gemeindeverfaſſung und eine kräftige Volksvertretung, endlich die Nationalbewaffnung oder Landwehr denn der Geiſt einer Soldatesca iſt ſchon an ſich von dem Geiſte des Volkes völlig verſchieden und muß, wenn das ſtehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min - deſtens durch kurze Dienſtzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden. Nach dieſen Grundſätzen wollte Jordan die Vorſchläge der Regierung be - urtheilt ſehen: richtige Principien ſind auch hier wie überall die Haupt - ſache.

Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn er verkündete mit ehrlicher Begeiſterung, mit einer Zuverſicht, als ob ein Zweifel gar nicht möglich ſei, alle die Glaubensſätze des vernunftrecht - lichen Katechismus, welche den deutſchen Liberalen heilig waren, und hinter den doctrinären Gemeinplätzen verbarg ſich ein praktiſcher, nach den trüben Erfahrungen der kurheſſiſchen Geſchichte nur allzu berechtigter Gedanke: die Abſicht beſtändiger Vertheidigung gegen fürſtliche Ueber - griffe. Jordan dachte ſeinen monarchiſchen Freiſtaat alſo einzurichten, daß die Regierung von den Vorſchriften der Verfaſſung unmöglich ab - weichen könnte, und da die Landſtände alleſammt, trotz ihrer unerſchütter - lichen dynaſtiſchen Treue, den Argwohn gegen den Kurfürſten theilten, ſo wurde der Verfaſſungsentwurf völlig umgeſtaltet. Der Marburger Profeſſor behauptete dabei die unbeſtrittene Leitung. In ſeinen Collegien - heften ſtanden alle die Paragraphen, welche ein Volk frei und glücklich machen können, längſt ſäuberlich aufgezeichnet; für jeden Herzenswunſch der öffentlichen Meinung fand er ſofort den vernunftrechtlichen Ausdruck, und dieſe Fertigkeit des haſtigen Formulirens, die in unerfahrenen Par - lamenten immer überſchätzt wird, verſchaffte ihm den Ruf ſtaatsmänniſcher Weisheit. So gelangten die Verhandlungen raſch zum Ziele; man wußte was man wollte, und für unnütze Redekünſte bot dieſer Landtag, der noch geheim tagte, keinen Raum. Schon am 5. Januar 1831 ward die neue Verfaſſung vom Kurfürſten unterzeichnet eines der denkwürdigſten deutſchen Grundgeſetze, bedeutſam nicht blos durch ſeine ſtürmiſchen Schick - ſale, ſondern auch durch ſeinen Inhalt; denn nirgends ſonſt zeigte ſich133Die kurheſſiſche Verfaſſung.ſo klar die nationale Eigenart des älteren deutſchen Repräſentativſyſtems, die ſeltſame Verquickung der noch immer fortwirkenden altſtändiſchen Rechtsüberlieferungen mit der Doctrin des modernen Naturrechts. Mit erſchöpfendem Fleiße trugen Jordan und ſeine Freunde aus den wohl - gefüllten Zeughäuſern der altſtändiſchen Verfaſſung und des neuen allge - meinen Staatsrechts alle die Netze herbei, welche den Fürſten wie ein Wild umſtellen ſollten, ſo daß er ſich nicht mehr rühren konnte. Eggena ſo gut wie die Landſtände betrachteten das neue Grundgeſetz als einen Vertrag zwiſchen Fürſt und Volk; in dieſem Urtheile ſtimmte die altſtän - diſche Rechtsanſicht mit der Lehre des Contrat social überein.

Darum wurde dem Thronfolger erſt nach geleiſtetem Verfaſſungseide gehuldigt, und jede Verbeſſerung des vereinbarten Grundvertrages aufs Aeußerſte erſchwert. Nur wenn die Stände einmüthig oder auf zwei Landtagen nach einander mit Dreiviertel-Mehrheit zuſtimmten konnte die Verfaſſung erläutert oder geändert werden; erhoben ſich Zweifel über den Sinn ihrer Vorſchriften, ſo entſchied ein Compromißgericht, zu dem Fürſt und Landtag je drei Mitglieder wählten. Den Landtag bildeten die Abgeordneten der drei alten Stände; ſie waren aber fortan alleſammt Vertreter des ganzen Volkes und ſollten in einer Kammer nach Köpfen abſtimmen, weil man einſah, daß die Ritterſchaft des Landes zu ſchwach und zu arm war um in einem Oberhauſe eine angeſehene Stellung zu behaupten. Die Stände erhielten außer dem Rechte der freien Steuer - bewilligung und der Zuſtimmung zu allen Geſetzen auch die Befugniß der Initiative, die noch keinem deutſchen Landtage unbeſchränkt zuſtand. Sobald die Mandate der Stände nach drei Jahren abliefen, erfolgte ſofort die Neuwahl auch ohne die Aufforderung der Regierung. Wenn der Landtag nicht verſammelt war, ſollte nach altſtändiſchem Brauche ein er - wählter Ausſchuß von drei bis fünf Mitgliedern mit einem lebensläng - lichen Syndicus die Rechte der Stände vertreten und nöthigenfalls auch andere Abgeordnete zu Rathe ziehen.

Den Staatsbürgern wurden einige Menſchenrechte der perſönlichen Freiheit gewährt, auch die Ablöſung der Grundlaſten ſowie andere wirth - ſchaftliche Erleichterungen verſprochen. Zur Sicherung dieſer ſtändiſchen und bürgerlichen Rechte waren Bollwerke aufgerichtet, die in Deutſchland nicht ihres gleichen fanden. Jeder männliche Heſſe ſollte in ſeinem acht - zehnten Lebensjahre das Grundgeſetz beſchwören; auch das Heer und die Bürgergarde wurden mithin auf die Verfaſſung vereidigt, die Offiziere den übrigen Staatsdienern rechtlich gleichgeſtellt, obgleich dem Kurfürſten der Name des oberſten Militärchefs blieb. Bei jeder Ausſchreibung einer Steuer mußte die ſtändiſche Zuſtimmung ausdrücklich angegeben werden; wo nicht, ſo war Niemand berechtigt die Abgabe zu erheben, Niemand verpflichtet ſie zu zahlen; nur ſechs Monate lang nach einer Auflöſung des Landtags durfte die Regierung die früher bewilligten134IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Steuern vorläufig forterheben. Im Falle des Verfaſſungsbruchs ſollten die Stände nicht blos berechtigt, ſondern verpflichtet ſein die Miniſter vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen. Dieſer § 100 erwies ſich bald als der gefährlichſte des Grundgeſetzes; er forderte die Zankluſt, die allen den kleinen Landtagen im Blute lag, gradezu heraus, da Meinungsver - ſchiedenheiten über die noch ganz unerprobte Verfaſſung kaum ausbleiben konnten, und begünſtigte die verhängnißvolle Neigung der Deutſchen, poli - tiſche Machtfragen vom Standpunkte des Civilproceſſes zu beurtheilen. Auch alle andere Beamten konnte der Landtag vor Gericht verklagen, wegen Verletzung der Verfaſſung, wegen Veruntreuung, Beſtechung und Mißbrauch der Amtsgewalt. Alſo den Landſtänden verantwortlich erlangten die Staatsdiener dem Kurfürſten gegenüber eine Unabhängigkeit, die von ihrer bisherigen völlig rechtloſen Stellung ſeltſam abſtach; ſie durften nur durch Urtheil und Recht abgeſetzt, nur wegen Altersſchwäche oder anderer Gebrechen penſionirt werden. Wurde ein Beamter in den Landtag gewählt, ſo konnte ihm die Regierung den Urlaub verweigern, doch nur aus er - heblichen Gründen, die ſie den Ständen mitzutheilen hatte.

So folgerecht war die neue Lehre, welche die belebende Kraft des con - ſtitutionellen Staates in dem Geiſte des Mißtrauens ſuchte, auf deutſchem Boden noch nie verwirklicht worden; und nach Allem was dies Land an ſeinen Fürſten erlebt, mußte ſich der heſſiſche Landtag allerdings in einem Zuſtande beſtändiger Nothwehr fühlen. Daß auch die Stände ſelber ihr Recht mißbrauchen könnten, hielt die vernunftrechtliche Doctrin für unmöglich; für dieſen Fall gab die Verfaſſung dem Kurfürſten keine Waffen. Er konnte ſelbſt in der Noth, wenn die Geſetze ſich unzu - länglich erwieſen, nur mit Zuziehung des ſtändiſchen Ausſchuſſes Ver - ordnungen erlaſſen. Zweifelhaft blieb ſogar, ob er auch nur ſein Recht, den Landtag aufzulöſen, wirklich gebrauchen durfte; denn am Schluſſe jeder Tagung mußten die Stände den Landtagsabſchied mit unterzeichnen, ihren Ausſchuß mit Weiſungen verſehen, und wie war dies möglich, wenn die Regierung den Landtag wider ſeinen Willen auflöſte? Ein großer Staat mit ſtarkem Heere und ſelbſtändiger auswärtiger Politik konnte unter einer ſolchen Verfaſſung unmöglich beſtehen, ein kleines abhängiges Gemeinweſen vielleicht wenn ſeine Fürſten eine ungewöhnliche Selbſt - verleugnung bewährten.

Da das heſſiſche Kurhaus von ſolcher Geſinnung nichts beſaß, ſo ſollten die Bekenner des Vernunftrechts bald durch eine große Enttäuſchung erfahren, wie wenig politiſche Formen allein die Freiheit ſichern: unter allen deutſchen Verfaſſungen war keine durch Rechtsſchranken jeder Art ſo wohl geſchützt wie die kurheſſiſche, und doch wurde keine ſo oft und ſo frevelhaft gebrochen. Jordan ſelbſt zeigte ſich mit dem Werke nur halb zufrieden; er klagte: das anti-conſtitutionelle Element durchdringt die ganze Verfaſſung und ſchließt ſich allenthalben klettenartig an das con -135S. Jordan.ſtitutionelle an, denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete hatten dem doctrinären Feuergeiſte zuweilen Waſſer in den Wein ge - ſchüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel gerathene Schlußſtein der Verfaſſung, die Vorſchrift über die Miniſter-Anklage: wie durfte man die Entſcheidung ſolcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen, das von der Regierung ernannt wird, und in der Reſidenz allen Künſten und Gefahren der Hofkabale ausgeſetzt iſt ? Immerhin wagte er zu hoffen, aus ſolcher Verpuppung werde ſich noch der Schmetterling der Freiheit erheben, wenn man nur ſtets dem Geiſte der Verfaſſung den Vorzug gäbe vor dem Buchſtaben. Unter dieſem Geiſte verſtand er aber kurzweg die neufranzöſiſche Parlamentsherrſchaft: das conſtitutionelle Syſtem kann nur da ſich kräftig ausbilden, wo kein Miniſterium ſich halten kann, welches die Majorität der Deputirtenkammer gegen ſich hat. Wie viel er auch ſelbſt noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit Recht, als den Vater der Verfaſſung. Für Schomburg und den Küfer Maſaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler Ueberzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein Haus geſchenkt; als er nachher von dem erſten conſtitutionellen Landtage heimkam, empfing man den ſchlichten, anſpruchsloſen Mann mit fürſt - lichen Ehren, und der junge heſſiſche Dichter Franz Dingelſtedt ſang:

Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen Schwerten,
Das mit Fahnen und Drommeten grüßte ſeinen Heimgekehrten?

Ueberall im Lande ward der Verfaſſungseid willig geleiſtet; eine Rechtsverwahrung der Fuldaer Clericalen zu Gunſten der römiſchen Kirche blieb unbeachtet. Nur einige Bauerſchaften des Fuldaer Landes nahmen Anſtoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürſten ſagte: ſeine Perſon iſt heilig und unverletzlich; ſie glaubten, mit dieſer Perſon ſei die Reichenbach gemeint, ließen ſich jedoch bald eines Beſſeren belehren. Zahlreiche Flug - ſchriften verherrlichten Kurheſſens freudige Zukunft und die Verfaſſung, dies tief durchdachte Zeugniß des fortſchreitenden Menſchengeiſtes . Ein Verfaſſungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu - gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und ſchloß mit der tröſtlichen Verſicherung: Das letzte Landesrecht iſt, daß jeder Heſſe, dem es hiernach im Lande nicht gefällt, hingehen kann wohin er will, ohne daß er gehalten wird. In Caſſel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitſchrift Der Verfaſſungsfreund , deren Artikel ſich meiſt durch kühne Allgemein - heit und durch ſorgfältiges Vermeiden aller praktiſchen Fragen auszeichneten. Der Vorabend großer Ereigniſſe oder Was haben die Kurheſſen noch mehr zu thun? ſo lauteten die Ueberſchriften beliebter Aufſätze. Auch die liberale Preſſe der deutſchen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende; ſie pflegte nunmehr, ſeit die ſpaniſche Cortes-Verfaſſung von 1812 endlich in Vergeſſenheit gerieth, Kurheſſen und Norwegen neben dem Muſterlande Belgien als die Staaten zu bezeichnen, welche dem Zeitgeiſte die ihm136IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.gebührenden Zugeſtändniſſe gemacht haben. Nur Börne bewährte ſich wieder als unerſättlichen Radicalen und witzelte in ſeinen Pariſer Briefen über das Flittergold der heſſiſchen Freiheit. Am Bundestage dagegen war Jedermann entrüſtet über dies revolutionärſte aller deutſchen Grund - geſetze und ſtimmte dem erboſten Blittersdorff zu, der ſchon beim Beginne der kurheſſiſchen Bewegung vorausgeſagt hatte: unſere gefürchteten ſüd - deutſchen Verfaſſungen werden bald die illiberalſten in Deutſchland ſein! *)Blittersdorff’s Bericht, 20. Oct. 1830.

Und doch ſollte das vielgeprüfte Land kaum einige Tage lang ſeines neuen Grundgeſetzes froh werden. Am 8. Januar 1831 verſammelte ſich der Landtag vor dem Throne. Der Kurfürſt, der ſeinen Ingrimm nur mühſam verbiß, übergab dem Erbmarſchall die Verfaſſungsurkunde und ſtammelte verlegen: ich wünſche Heſſen Glück dazu; dann baten die Stände in überſtrömender Unterthänigkeit um die Erlaubniß, dieſem Fürſten, als dem zweiten Gründer des Landesglücks ſeit Philipp dem Großmüthigen, ein Standbild errichten zu dürfen. Tags darauf zogen die Bürger mit Fackeln nach dem Schloſſe, denn die geliebte Kur - fürſtin war ſoeben zurückgekehrt; und als nun der Landesvater mit ſeiner Gemahlin am Arme auf dem Altane erſchien, da jubelte Alles, mit der neuen Freiheit ſchien auch der häusliche Friede des Kurhauſes endlich geſichert. Doch leider hatte Wilhelm ſchon dafür geſorgt, daß jenes würdige Gegenſtück zu dem Standbilde des menſchenverkaufenden pater patriae nie zu Stande kam. Noch in derſelben Nacht fuhr ein Wagen Amſchel Rothſchild’s auf Wilhelmshöhe vor, und ihm entſtieg die Gräfin Reichenbach. Augenblicklich ſchlug die Stimmung in Caſſel um, und aber - mals begann der Krawall ſo lautete der neue Ausdruck, der damals zuerſt in dieſen mitteldeutſchen Landſtrichen aufkam. Sie muß aus dem Lande hieß es überall; der Schutz des neuen Grundgeſetzes ſollte der verhaßten Frau nicht zu gute kommen, obgleich ſie Heſſin war, und die Kurfürſtin ſelber ſich jetzt bereit erklärte, ſie als Geſellſchafterin und Pflegerin ihres Gemahls neben ſich zu dulden. Bei den Unruhen dieſer Januartage hatte der Adel, ganz wie in Braunſchweig, unverkennbar die Hände mit im Spiele; doch es bedurfte der Aufſtiftung kaum. Selbſt die Soldaten, die ſonſt trotz des gefährlichen doppelten Eides gute Manns - zucht hielten, theilten den allgemeinen Abſcheu und ſagten laut: Schlagt ſie nur todt, wir laſſen Euch nicht im Stich! Nach drei Tagen wachſen - der Aufregung ſah ſich die Gräfin gezwungen Wilhelmshöhe zu verlaſſen. Maſaniello Herbold ritt ſelber hinaus um nachzuſehen ob ſie wirklich fort ſei. Wilhelm aber gebärdete ſich wie ein Raſender; alle politiſchen Wünſche hatte er ſeinem Völkchen erfüllt, und nun verwehrten ihm die Undank - baren, ſeinen perſönlichen Neigungen zu folgen. In den nächſten Tagen mußte er noch, halb gezwungen durch drohende Schreiben der Bürger -137Rückkehr und Flucht der Gräfin Reichenbach.ſchaft, ein conſtitutionelles Miniſterium berufen, deſſen Leitung Freiherr Schenk von Schweinsberg übernahm, und den Vertrauten der Reichenbach, Meyſenbug, mit dem unpolitiſchen Amte des Hausminiſters abfinden. Wie viel noch an einem geſicherten Rechtszuſtande fehlte, das fühlte man jetzt erſt, als im Landtage die unendliche Reihe der organiſchen Geſetze aufgezählt wurde, die noch nöthig waren um alle die reichen Verſprechungen des Staatsgrundgeſetzes zu erfüllen.

Die Verfaſſung ſelbſt wurde ſchon im Februar in Frankfurt einge - reicht, damit der Bundestag die Bürgſchaft dafür übernähme. Die Bun - desverſammlung aber that, wie in allen ſchwierigen Fällen, gar nichts. Metternich verlangte kurzweg die Abweiſung des Geſuchs, und als Preußen, von mehrern Mittelſtaaten unterſtützt, widerſprach, ließ er in einer Denk - ſchrift alle die Sätze der Verfaſſung zuſammenſtellen, welche dem monar - chiſchen Princip zuwiderlaufen ſollten. Ganz im Sinne der Hofburg verfaßte auch der Berichterſtatter Blittersdorff ſein Gutachten. Einen ſo rechtswidrigen Uebergriff des Bundestags konnte jedoch der Großherzog von Baden als conſtitutioneller Fürſt unmöglich gutheißen; ſeine Regie - rung ſprach ſich nachdrücklich gegen die Meinung des eigenen Geſandten aus, und nachdem man noch eine Weile vertraulich geſtritten hatte, wurde ſchließlich, nach dritthalb Jahren, im October 1833 dem Caſſeler Hofe unter der Hand mitgetheilt, daß der Bundestag in dieſer Sache keinen Beſchluß faſſen könne. Durch dieſe lächerliche Entſcheidung waren Oeſter - reichs Anſchläge vorläufig vereitelt; die kurheſſiſche Verfaſſung beſtand in anerkannter Wirkſamkeit, der Bundestag hatte ſie ohne Widerſpruch ent - gegengenommen, mithin durfte ſie, nach der Wiener Schlußakte und dem Braunſchweigiſchen Präcedenzfalle, nicht mehr einſeitig abgeändert werden.

Unterdeſſen bemerkten die Caſſeler bald, daß der Landesvater etwas im Schilde führte. Auf Wilhelmshöhe wurde unaufhörlich gepackt; Silber - zeug und Koſtbarkeiten, ſelbſt Thürſchlöſſer, Oefen und Parketböden ver - ſchwanden in großen Frachtwagen, die nach Frankfurt zu der Reichenbach ab - gingen; zugleich ließ das Hofmarſchallamt eine Menge kurfürſtlicher Pferde verſteigern. *)Hänlein’s Bericht, 19. Febr. 1831.Und wieder rotteten ſich die Krawaller zuſammen um die Abfahrt der Wagen zu verhindern. Der Kurfürſt ſelbſt war in der Stadt vor beleidigenden Zurufen nicht ſicher; ſeine Gemahlin aber erſchien auf den Bürgerbällen, wie die anderen Damen in die weißblauen Stadtfarben gekleidet, und empfing die ehrfurchtsvollen Huldigungen der Herren, die alleſammt die Conſtitutions-Schleife im Knopfloch trugen. Sobald der Landtag geſchloſſen war, am 10. März, verſchwand der Kurfürſt mit ſeinem Meyſenbug aus Wilhelmshöhe und fuhr nach ſeinen Schlöſſern im Hanauerlande, wo er mit ſeiner Geliebten zuſammentraf. Die radi - calen Hanauer wußten ſich vor Freuden kaum zu laſſen, als der Landes -138IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.vater leibhaftig in ihrer Mitte erſchien, auch gegen die Gräfin hatten ſie nichts einzuwenden; ſie hofften, ihre Stadt werde wieder wie vor Zeiten Reſidenz werden, und gewannen Wilhelm’s Herz durch unterthänige Befliſſenheit ſo gänzlich, daß er ſich ſelber zum Chef ihrer Bürgergarde ernannte. Warum ſollten dieſe ſüdlichen Provinzen, nachdem ſie ſchon das altheſſiſche Mauthweſen abgeſchüttelt, nicht einen ſelbſtändigen Klein - ſtaat unter dem alten Kurfürſten bilden? ſolche Pläne wurden bereits beim Schoppen von begeiſterten Hanauer Patrioten erörtert.

Während die Miniſter in Caſſel redlich an den neuen organiſchen Ge - ſetzen arbeiteten, bildete der Kurfürſt mit der Gräfin und ihrem Meyſenbug eine geheimnißvolle abſolutiſtiſche Gegen-Regierung im ſchönen Schloſſe Philippsruhe am Main; die Bürgerfeſte der Caſſeler wurden durch aller - hand rohen Muthwillen geſtört, und Jedermann argwöhnte, daß die Unruh - ſtifter ihre Weiſungen von der Reichenbach empfingen. Während jene den Beitritt zum preußiſchen Zollvereine vorbereiteten, ſtand der Kurfürſt in Verkehr mit der benachbarten öſterreichiſchen Bundesgeſandtſchaft und ſuchte insgeheim jede Annäherung an Preußen zu vereiteln. Nach dem Buch - ſtaben der Verfaſſung war er in ſeinem guten Rechte, denn dieſe verbot ihm nur den Sitz der Regierung außer Landes zu verlegen; auf die Dauer mußte ein ſolches Doppel-Regiment doch unerträglich werden. Die Caſſeler murrten, weil ihnen die Kundſchaft des Hofes entzogen und ſogar das unentbehrliche Hoftheater geſchloſſen wurde; umſonſt hielt Hänlein den Stadträthen vertraulich vor, nach ſo grober Verletzung der Ehrerbietung ſei die Stadt doch verpflichtet, ſich bei dem beleidigten Landesherrn zu entſchuldigen. Heißſporne meinten ſchon: da der Kurfürſt an der Aus - übung der Regierung verhindert ſei, ſo müſſe ſeine Gemahlin die Regent - ſchaft übernehmen.

Im April wurde der neue Landtag gewählt, ohne heftigen Kampf, noch nach der ſtillen Weiſe der alten Zeit. Die Abgeordneten gehörten in ihrer großen Mehrheit der liberalen Partei an; ſie beſchloſſen den Kur - fürſten durch Abgeſandte zur Rückkehr aufzufordern, weil er im Hanauer Lande des verfaſſungsmäßigen Rathes der verantwortlichen Miniſter faſt gänzlich entbehre . Der aber antwortete durch heftige Vorwürfe gegen die Undankbarkeit ſeiner Unterthanen; ſeine Caſſeler ließ er bedeuten, durch Worte könne das Andenken übler Thaten nicht verlöſcht werden. Im Landtage brach die gereizte Stimmung überall durch. Der Voran - ſchlag wies ein Deficit von faſt 0,4 Mill. Thlr. bei einer Geſammtein - nahme von kaum 2,888 Mill. auf. Allein das Heer mit ſeinen 9000 Mann erforderte eine Million, und manche neue unabweisbare Ausgaben ſtanden noch bevor; ſo ſollten die Amerikaner , jene unglücklichen einſt an England verkauften Soldaten, endlich einen beſcheidenen Ruhegehalt empfangen, aber nur die im Lande lebenden, denn gegen Ausländer, alſo beſchloß der Landtag, dürfe man bei der allgemeinen Landesnoth keine unnöthige139Der Kurfürſt im Hanauer Lande.Großmuth üben . Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus - helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ ſich aber nur dann ſichern, wenn die Anarchie des Mauthweſens durch die preußiſche Ordnung verdrängt wurde, und vor dem preußiſchen Zollvereine bebten viele der Liberalen faſt ebenſo ſcheu zurück wie der Landesherr ſelber.

Derweil man dergeſtalt rathlos verhandelte, zeigte jener § 100 der Verfaſſung ſchon ſeine verderbliche Wirkung. Der Kurfürſt hatte durch Cabinetsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache ſelbſt wie gegen die Perſonen ließ ſich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die Unterſchrift des Kriegsminiſters Loßberg, und obſchon die Vorſchriften der Verfaſſung für dieſen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, ſo meinte ſich gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der beſten Juriſten des Landes, in ſeinem Gewiſſen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem doch höchſtens ein verzeihlicher Formfehler zur Laſt fiel, wegen Verfaſſungs - bruchs angeklagt werde. In leidenſchaftlicher Rede fiel Jordan bei und rief wie gewöhnlich den Geiſt der Verfaſſung zu Hilfe gegen ihren zweifel - haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher. Die Bürgergarden von Caſſel und Marburg beriethen ſchon unter ein - ander, wie die im Finſtern ſchleichende, geifernde Brut gänzlich unter - drückt und der Kurfürſt aber ohne ſeine Gräfin in die Hauptſtadt zurückgeführt werden ſolle; eine Adreſſe von nahezu tauſend Caſſeler Ein - wohnern ſtellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch länger fern bleibe, ſo verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemüthlich - keit waren die Heſſen ſchon nahe daran, den Verſailler Zug der Pariſer vom October 1789 zu wiederholen.

Um ein Ende zu machen beſchloß der Landtag, noch einmal ſein Glück bei dem grollenden Landesherrn zu verſuchen. Gegen Ende Auguſt reiſten abermals ſtändiſche Abgeſandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen ward vorgelaſſen: Präſident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter, der an der Spitze des Obergerichts ſo viele Jahre hindurch gegen fürſt - liche Willkür angekämpft hatte. Freimüthig und doch ehrfurchtsvoll ſetzte er dem Kurfürſten jetzt auseinander, daß der Souverän in der gegen - wärtigen Lage mit den Miniſtern regelmäßig zuſammen arbeiten müſſe, die Gräfin aber in Caſſel ihres Lebens ſchwerlich ſicher ſei; ſchließlich ſtellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht auf die Regierung. Wilhelm wählte wie er mußte: er zog die Geliebte vor und ſendete den Präſidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur - prinzen, dem nach der Verfaſſung die Regentſchaft gebührte, weiter zu verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen Sitzung berufen, und mit Zuſtimmung des Landtags kam nunmehr ein Geſetz zu Stande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige Beſorgung aller Regierungsgeſchäfte übertrug, bis der Kurfürſt ſeine bleibende Reſidenz wieder in Caſſel nehmen würde.

140IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Dieſen Ausgang der Wirren hatte Niemand erwartet, Niemand ge - wünſcht. Kurprinz Friedrich Wilhelm hieß im Volke längſt der böſe Junge. Der Eintagsruhm, den er ſich durch ſeine feige Nachgiebigkeit gegen die Hanauer Mauthſtürmer erworben, war raſch wieder verflogen; man wußte, wie dringend er dem Vater von der Verfaſſung abgerathen, wie frech und lieblos er ſich ſoeben erſt in Fulda mit ſeiner Frau Lehmann gegen ſeine Mutter betragen hatte. Wie unheilvoll hatte doch Alles zuſammengewirkt um dieſen letzten Fürſten eines ruhmreichen Hauſes einem ſchmählichen Falle entgegenzuführen. Freudlos und freundlos war er aufgewachſen, in ewigem Hader erſt mit dem Vater, dann mit beiden Eltern, ſchlecht erzogen, von Ränken umringt, vom Morde bedroht, ohne Kenntniſſe, kleinlich, gewöhnlich in allen ſeinen Neigungen. So ward er zum bos - haften Menſchenverächter; der ſeltſame halb ſcheue halb ſtiere Blick ſeiner waſſerblauen Augen verrieth ſchon, daß er Alle fürchtete, Keinen ehrte, Jedem die ſchlechteſten Beweggründe unterſchob. Ein höheres ſittliches Ideal als die formale Geſetzlichkeit blieb ihm unfaßbar. Schüchtern und linkiſch im Verkehre, kaum fähig einen längeren Satz zu Ende zu ſprechen, konnte er zuweilen in raſendem Jähzorn auffahren und dann verſchlug es ihm wenig, den Beamten Fußtritte zu verſetzen, den Miniſtern ſelbſt brutale Schimpfworte, nach Umſtänden auch ein Tintenfaß an den Kopf zu werfen. Seine Staatsweisheit lief auf das einfache: Ordre pariren und nicht räſonniren! hinaus; als Abſolutiſt ohne Phraſe liebte er weder die Salbung der theologiſchen, noch die Romantik der feudalen Reactions - lehren.

Die Verfaſſung durfte er nicht brechen, ſchon weil er ihr allein die Regentſchaft verdankte und weil ſein Vater jederzeit zurückkehren konnte; doch er haßte ſie wie einen perſönlichen Feind, denn ſie verkümmerte ihm ſein Familienleben, das einzige Glück, deſſen er fähig war. Gertrud Lehmann war jetzt ſeine rechtmäßige Gemahlin; er hatte ſie vor Kurzem, nachdem ihre Ehe getrennt worden, insgeheim geheirathet und erhob ſie es war die erſte That ſeiner Regierung zur Gräfin von Schaumburg. Wie verſchwenderiſch hatten doch einſt ſeine Vorfahren ihre Dirnen und Ba - ſtarde ausgeſtattet. Er aber konnte für ſeine Gattin und ſeine ehelichen Kinder, die er auf ſeine Weiſe liebte, nur wenig thun; ſein Einkommen genügte, trotz der äußerſten Sparſamkeit und trotz der Beihilfe Amſchel Rothſchild’s, kaum für die Koſten des Hofhalts, da ſein Vater den Haus - ſchatz für ſich behielt, und an den Staatsgeldern durfte der conſtitutionelle Fürſt ſich nicht mehr vergreifen. Leider ward die Lage des Prinz-Regenten auch durch die Schuld der Mutter verſchlimmert. Wenn die Kurfürſtin ſich entſchloß über das Vergangene hochherzig einen Schleier zu werfen, wenn ſie die Gemahlin ihres Sohnes, die nunmehr ein untadelhaftes Leben führte und allen Staatsgeſchäften fern blieb, als ihre rechtmäßige Schwieger - tochter behandelte, ſo konnte vielleicht wieder ein geordnetes häusliches Leben141Mitregentſchaft des Kurprinzen.am Hofe ſich herſtellen. König Friedrich Wilhelm gab ſeiner Schweſter auch ausdrücklich Vollmacht, ſich mit der Gräfin Schaumburg zu verſtändigen. *)Hänlein’s Berichte, 12. Nov. 27. 31. Dec. 1831.Die unglückliche Fürſtin aber hatte unter dem heſſiſchen Dirnenregiment zu ſchwer gelitten, ſie konnte den Widerwillen der Frau, den Stolz der Hohenzollerin nicht überwinden, und da ihr Sohn ſich durch trotzige Roheit rächte, ſo blieb es dabei, daß dies Fürſtenhaus keine allgemein anerkannte Herrin beſaß.

Die erſten Wochen der neuen Regierung verliefen leidlich. Wiederhold übernahm die Leitung des Miniſteriums und kam dem Landtage ſo weit entgegen, daß er ſogar in die Entlaſſung des halb-ſchuldigen Kriegsminiſters willigte. Durch ſolche Nachgiebigkeit wurde freilich das Selbſtgefühl der Stände bedenklich geſteigert. Erſtaunlich, was ſie jetzt Alles aus dem Geiſte ihrer Verfaſſung heraus zu folgern wußten. Als der Kurprinz einmal einige Abgeordnete während einer Sitzung zur Tafel befohlen hatte, beantragte Jordan, die verantwortlichen Miniſter ſollten das Hofmarſchallamt erſuchen ſolche Einladungen zu unterlaſſen, denn der Regent ſei nicht berechtigt die Vertreter des Volks ihren Geſchäften zu entziehen. Bald führte das Zerwürfniß im Kurhauſe zu neuen Ruheſtörungen. Ergrimmt über die geringſchätzige Behandlung ſeiner Gemahlin ließ der Kurprinz ſeiner Mutter ihre Loge im Theater verſchließen; am nächſten Tage nahm er den Befehl zurück da er die allgemeine Entrüſtung bemerkte. Als nun die Kurfürſtin am 7. December im Theater erſchien, begrüßten ſie die Zuſchauer mit Hochrufen auf unſere rechtmäßige Landesmutter . Draußen ſtrömte das Volk zuſammen, man wollte die Kurfürſtin mit Fackeln nach Hauſe ge - leiten. Da eilten Truppen herbei, der Polizeidirektor verkündete den Kriegszuſtand, obwohl ernſte Unordnungen diesmal nicht vorgekommen waren; die Garde du Corps ſprengte in den Haufen ein und verwundete mehr als zwanzig Leute. Währenddem ging der Kurprinz auf dem Fried - richsplatze unter den Soldaten umher und rühmte ſich nach vollbrachter That, nun habe er ſich endlich Reſpekt verſchafft.

Nach wenigen Tagen verlor er wieder den Muth, da Hänlein ihm ins Gewiſſen redete, ordnete eine Unterſuchung an und bedauerte in einer Bekanntmachung, daß im nächtlichen Dunkel Unfälle geſchehen ſeien . Die Bürger bezeigten ihren Zorn durch widerwärtige Händel mit den Truppen. Der Verfaſſungsfreund ſchrieb, da der Kurprinz nur Uniform trug: ein Fürſt der immer im Soldatenkleide erſcheint, beweiſt damit, daß er das Oberhaupt nicht des Staates, ſondern des Militärs ſein will. Am Sylveſterabend wurde Jordan, zu ſeinem Namenstage, mit überſchwäng - lichen Huldigungen geehrt; bald darauf hielten die Abgeordneten der beiden Heſſen in Gießen ein feierliches Eintrachtsmahl, tranken mit einander auf die gemeinſame Freiheit, und jeder Theilnehmer erhielt zum Andenken einen142IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Abdruck der beiden Verfaſſungsurkunden. Die Kurheſſen gedachten indeſſen bereits wehmüthig der Erzählung Hippel’s von den Lebensläufen in ab - ſteigender Linie ; ſie fanden, im Hauſe Brabant gerathe der Sohn immer noch ſchlechter als der Vater, und Mancher ſehnte ſich ſchon nach dem alten Kurfürſten zurück. Der aber betrat ſeine Hauptſtadt niemals wieder, ſondern lebte als Privatmann bald in den Schlöſſern am Main, bald in Frankfurt oder an der Badener Spielbank. Sein Sohn begnadigte ſofort den wegen der Vorfälle vom 7. December verurtheilten Polizeidirektor und kränkte ſeine Caſſeler tödlich, als er den Civil-Beamten der Bürgerwehr befahl ihre Schnurrbärte abzuſchneiden. Welch eine Gelegenheit für Jordan zu ſchwungvollen Reden: die §§ 31 und 32 verbürgten die Freiheit der Perſon und des Eigenthums, folglich gebührte jedem Heſſen das unbe - ſchränkte Eigenthum an ſeinem Barthaare, und die eidvergeſſenen Miniſter mußten wegen Verfaſſungsbruchs angeklagt werden!

Zum Unheil des Landes ſtarb Miniſter Wiederhold ſchon im Februar 1832, der einzige Mann, deſſen Stimme zugleich am Hofe und im Land - tage gehört wurde. Nun trat Hans Daniel Haſſenpflug in den Miniſter - rath ein, der Sohn des Vaters, und ſprach ſofort die Abſicht aus die Strömung wieder in das verlaſſene Bette des Gehorſams zurückzu - dämmen . Mit ihm begann der lange boshafte Kampf wider die Ver - faſſung. Vorderhand trug Kurheſſen aus ſo vielen Erſchütterungen nur drei werthvolle politiſche Güter davon: die Theilung des Landesvermögens, die rechtlich geſicherte Ordnung des Beamtenthums, vor Allem aber die Verbindung mit dem Zollvereine, die im Sommer 1831 endlich zu Stande kam und, weil ſie allein dem zerrütteten Staatshaushalt aufhelfen konnte, auch die Genehmigung der Stände fand. Zu Neujahr 1832 wurde das preußiſche Zollweſen eingeführt. Wieder zogen die Hanauer in hellen Haufen hinaus um das neue Zollhaus wie einſt das alte zu ſtürmen, doch dies - mal begegneten ſie entſchloſſener Abwehr. Auch die anderen Landestheile fügten ſich anfangs nur ungern; die Gaſſenbuben verhöhnten den Preuß im Zollhauſe:

Er iſt geſchnüret wie ein Weib,
Die Sonne ſcheint ihm durch den Leib.

Sehr bald erkannte man doch den Segen des freien deutſchen Marktes. Lediglich dem Zollvereine verdankte das Land, daß ſeine wirthſchaftlichen Kräfte unter einer nichtswürdigen Regierung langſam wieder erſtarkten.

In Heſſen wie in Braunſchweig richtete ſich der Aufruhr gradeswegs gegen die Willkür pflichtvergeſſener Fürſten. Im Königreich Sachſen brach eine wohlwollende, aber altersſchwache und völlig entgeiſtete Regierung haltlos zuſammen vor den erſten Schlägen einer kleinbürgerlichen Volks - bewegung, welche ohne ein politiſches Ziel zu verfolgen ihren Unmuth143Unruhen in Leipzig.zunächſt nur an einzelnen verhaßten Behörden und örtlichen Mißſtänden ausließ. Die Unruhen begannen hier ſchon vor der großen Woche der Pariſer, als im Juni drei Tage lang das Jubelfeſt der Augsburgiſchen Confeſſion gefeiert wurde. Ein geiſtliches Lied mahnte die Sachſen, auch das kommende Jahrhundert hindurch der Kirche heilige Güter treu zu beſchirmen: dann jubeln frei wie Ihr der Enkel freie Schaaren; und manche der Feſtreden klang wie ein Proteſt des lutheriſchen Volkes gegen die jeſuitiſchen Umtriebe, die man den ausländiſchen Hofgeiſtlichen des greiſen Königs zutraute. Da die Behörden in Dresden und Leipzig ſich dem volksthümlichen Feſte unfreundlich zeigten, ſo kam es in beiden Städten zu kleinen Aufläufen und Straßenhändeln; zuweilen erklang aus der aufgeregten Menge ſogar der in Sachſen unerhörte Ruf: hoch Friedrich Wilhelm der proteſtantiſche König! Die eingeleitete Unterſuchung hüllte ſich in tiefes Geheimniß, und eine heftige Flugſchrift, die das Gebahren der wachſamen, aber groben Leipziger Polizei kurzweg als Schatten ohne Licht brandmarkte, mußte zur Beſchämung der Kurſachſen außer Landes, unter dem Schutze der ſtrengen preußiſchen Cenſur erſcheinen.

In den erſten Septembertagen brach der Groll von Neuem aus; an zwei Abenden hintereinander trieb der Leipziger Pöbel argen Unfug. Die Bürger ſahen ſchadenfroh zu, und als der geängſtete Stadtrath ſie am 4. September zur Hilfe rief, hielten ſie ihm zornig die Sünden ſeines Vettern-Regimentes vor, bis er endlich Rechenſchaft von ſeiner Verwaltung abzulegen verſprach. Die ganze nächſte Nacht hindurch tobten die Maſſen wieder in den Straßen. Da und dort zeigte ſich die franzöſiſche Tricolore, und zuweilen erklang der Ruf: Freiheit, Paris, Lafayette! Im Grunde galt der Grimm nur den kleinen Stadttyrannen, und auch der Zunftgeiſt wollte in der erwerbloſen Zeit ſein Müthchen kühlen an gefährlichen Neben - buhlern. Die Wohnungen mehrerer Rathsherren und Polizeibeamten wurden demolirt ſo lautete die ausgegebene Loſung desgleichen einige verrufene Häuſer, deren Damen ſich der geheimen Gunſt der Stadt - behörden erfreuten; die Schloſſer grollten, weil der Rath die eiſernen Bettſtellen für ein Krankenhaus auswärts beſtellt hatte, die Drucker wollten die neue Schnellpreſſe zerſtören, die ihnen das Brot vom Munde nahm, die Lohnkutſcher den Eilwagen im königlichen Poſtſtalle. Am folgenden Morgen that ſich die Bürgerſchaft zuſammen und bildete eine Commu - nalgarde; Rector Krug berief die Studenten in die Paulinerkirche und ermahnte ſie in feuriger Rede, mit den Bürgern vereint die Ordnung herzuſtellen. Dies gelang denn auch ſogleich und ohne Widerſtand. Die Communalgarde und die akademiſche Legion bezogen gemeinſam die Wachen denn kraft alter Privilegien brauchte Leipzig außer der Schloßwache der Pleißenburg keine Garniſon aufzunehmen. Die Bürger trugen die weiße Armbinde, die Studenten ihre Schläger und die bunten Verbin - dungsuniformen, die ſich nunmehr dem Verbote zum Trotz an den Tag144IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.hinauswagen durften; während die Einen patrouillirten, ſaßen die An - deren vor den Thorwachen, tranken Goſe und ſpielten Sechsundſechzig.

Wie freudig wärmte ſich der ehrliche Krug an der Sonne dieſes neuen Bürgerglückes. Der hatte ſchon vor Jahren den Deutſchen mit gewohnter Wortfülle ſeine Lebensreiſe geſchildert und darin das Jahr 1813 als den Höhepunkt ſeines Daſeins bezeichnet. Jetzt ſchrieb er ſofort einen Nachtrag über das merkwürdigſte Jahr meines Lebens denn wer durfte leugnen, daß die Leipziger Revolution doch noch mehr bedeutete als die Leipziger Völkerſchlacht? Keine ſeiner ungezählten Schriften recht - fertigte ſo glänzend den Beinamen des Waſſerkruges, welchen die bos - haften Hegelianer dieſem Philoſophen angehängt hatten. Am Schluſſe erzählte er rührſam, wie ihm für die Großthaten ſeines Rektoratsjahres der Civilverdienſt-Orden verliehen wurde; beſcheiden fügte er hinzu: Das war wieder allzuviel Ehre. Denn was hatt ich eigentlich gethan? Nichts als meine Schuldigkeit. Ueber die Höhe dieſes ſeelenvergnügten Frei - heitsmuthes ſchwangen ſich auch die zahlreichen anderen Flugſchriften, welche die ſächſiſche Revolution hervorrief, ſelten empor; nur ein Büchlein des jungen, den Demagogenverfolgern wohl bekannten Theologen Karl Haſe beſprach Sachſens Hoffnungen mit politiſcher Einſicht und Mäßigung.

Inzwiſchen hatten die Leipziger Unruhen ſchon in Dresden ihr Echo gefunden. Auch hier galt die Wuth des Volkes vorerſt nur dem all - mächtigen Stadtrathe, obgleich dann und wann im Getümmel die Mar - ſeillaiſe geſungen wurde. Ein Pöbelhaufe zerſtörte das Polizeihaus vom Fuß zum Firſt, verbrannte die Akten aus dem nahen Rathhauſe, und die Bürgerſchaft ließ ihn gewähren (9. Sept.). Die ſchwarzen Schützen, eines der beſten Regimenter des kleinen Heeres, durften auf Befehl der furchtſamen Regierung nicht in den Haufen feuern, und als ſich auch hier eine Bürgerwehr mit weißen Armbinden zuſammengeſchaart hatte, mußten die Truppen ohne Hörnerklang durch ein Spalier der Commu - nalgarde aus der Stadt abziehen, während die Maſſe den ſchwarzen Bluthunden ihre Verwünſchungen nachrief. Nun ergoß ſich auch über das ſtille Dresden ein Abglanz neufranzöſiſcher Bürgerherrlichkeit. Die Communalgardiſten grüßten einander ſtolz: Guten Morgen, Pariſer! , wenn ſie auf den Trommelruf Kamerad komm! zum Sammelplatze eilten. Bei ihren Feſten ſangen ſie die ſächſiſche Marſeillaiſe des ſanft - müthigen alten Tiedge; der Kehrreim Aux armes citoyens! lautete hier minder blutdürſtig:

Wohlauf, wohlan, ſtreut Blumen hin
Wo Zwiſt und Unheil war!

Ganz ſo kindlich wie dies Bürgerlied war die Stimmung des Landes freilich nicht. In Chemnitz und mehreren kleinen Städten rottete ſich das Volk zuſammen; ſelbſt die Freiberger Bergleute, die ſonſt ihren Rautenkranz ſo treu in Ehren hielten, zogen drohend vor das Thor der145Entlaſſung Einſiedel’s.freien Bergſtadt und wurden nur durch das Verſprechen höheren Lohnes beſchwichtigt. Hier ward das Haus eines katholiſchen Kaufmanns ge - plündert, dort ein Rathsherr wegen ſeiner Strenge, ein Fabrikant wegen ſeiner Maſchinen, ein Kirchenpatron wegen des unbilligen Preiſes der Kirchenſtühle bedroht; alle Herzensneigungen des Philiſterthums kamen an den Tag, denn die Zügel des Regiments ſchleiften am Boden.

Nach und nach wurden auch politiſche Wünſche laut, da die ver - haßte ſtädtiſche Verwaltung mit der alten Ständeverfaſſung ſo eng zu - ſammenhing. Ein bei den Mittelklaſſen hochbeliebter tüchtiger Beamter, C. G. Eiſenſtuck, der durch die Kenntniß der engliſchen Zuſtände freiere Anſchauungen gewonnen hatte, verfaßte für die Bürger der Dresdener Neuſtadt eine Adreſſe an die Krone und wagte hier zuerſt neben der Beſeitigung der ſtädtiſchen Mißbräuche auch eine dem Zeitgeiſt entſpre - chende Repräſentation , vornehmlich eine Vertretung des Bauernſtandes zu fordern.

In aller Unſchuld ward unter den Communalgardiſten der Haupt - ſtadt ſchon die Frage erwogen: ob man nicht, da ſo Vieles zu ändern ſei, den guten alten König Anton durch freundliche Bitten zur Abdankung bewegen ſolle; dann könne ſein Neffe, der junge Prinz Friedrich Auguſt, den Thron beſteigen und vielleicht auch aus Liebe zum Volke den luthe - riſchen Glauben annehmen. Solche Pläne erſchienen der aufgeregten Zeit ganz unverfänglich, war doch Ludwig Philipp von den alten Mächten ſchon thatſächlich anerkannt; die neue franzöſiſche Revolution wirkte darum ſo verführeriſch auf das gutmüthige deutſche Bürgerthum, weil ſie ſo glatt verlief und ſo viel unſchuldiger ſchien als die gräuelvolle erſte. Der deutſche Prinz aber dachte anders als der Orleans; er wies jene An - ſchläge ſobald er davon hörte entrüſtet zurück und ſagte: ich will nicht König von Rebellen ſein!

Ein feſtes Ziel gewann die unſtäte Bewegung erſt als das hohe Beamtenthum ſelber ſich der Leitung bemächtigte. Die jüngeren Mit - glieder des Geheimen Rathes empfanden ſchon längſt mit Unmuth die Uebermacht des Geheimen Cabinets, das ſie ganz von dem Monarchen abſperrte, und den ſtarren Dünkel des Cabinetsminiſters Einſiedel; ſie konnten ſich auch nicht mehr verbergen, daß der König bei dem drohenden Zuſammenbruche des alten Syſtems mindeſtens der Beihilfe einer jugend - lichen Kraft bedurfte. Dem alten Herrn waren die Unruhen ganz unbe - greiflich; ich habe ja, ſagte er traurig, Alles beim Alten gelaſſen und Keinem je etwas zu Leide gethan! Endlich begann er doch einzuſehen, wie gänzlich Graf Einſiedel ihn und ſich ſelber über die Stimmung des Volkes getäuſcht hatte. Am 13. September mußte der Graf auf die Auf - forderung des Königs ſein Abſchiedsgeſuch einreichen; unwillig räumte er den ſo lange behaupteten Poſten und ſchrieb dem preußiſchen Geſandten: S. Maj. hat es für nöthig gehalten, daß ich ihn um meine EntlaſſungTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 10146IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.bitten ſolle. *)Einſiedel an Jordan, 13. Sept. 1830.Am ſelben Tage fuhr der Geheime Rath v. Lindenau mit dreien ſeiner Amtsgenoſſen nach Pillnitz hinaus und bewog dort den König, den Prinzen Friedrich Auguſt zum Mitregenten zu ernennen. Der Vater des jungen Prinzen, der alte Prinz Max, hatte dawider nichts einzuwenden und erklärte ſogar unaufgefordert, daß er zu Gunſten ſeines Sohnes auf die Thronfolge verzichte: Ich mag gar nicht regieren meinte er gemüthlich der Fritz iſt gut, er wird ſchon nach meinem Sinne regieren.

So übernahm denn Friedrich Auguſt die Herrſchaft, die ihm nur ſelten durch eine Bedenklichkeit des alten Königs erſchwert wurde ſeit lange her der liebenswürdigſte Fürſt des albertiniſchen Hauſes, vielſeitig gebildet, gütig, leutſelig und von einer treuherzigen Aufrichtigkeit, welche die Hofleute zuweilen erſchreckte. Er nannte ſich ſelber einen Gemüths - menſchen und war in der That durch Anlage und Neigung mehr für die gelehrte Muße als für die Welt des Handelns beſtimmt; raſche Ent - ſchlüſſe fielen ihm ſchwer, durch die trockenen Geſchäfte ward er leicht ermüdet, und in großer Geſellſchaft ſprach er wenig. Heute kein Wort von Politik, ſo ſagte er oft, wenn er ſich einen guten Tag machte und mit einem Adjutanten allein hinausfuhr in die Felſengründe des Meißener Hochlandes; faſt alle Gebirge Europas hatte er durchwandert bis in ihre entlegenen Schluchten, und im vertrauten Kreiſe erzählte er von ſeinen Reiſen mit dichteriſcher Anſchaulichkeit. Am wohlſten fühlte er ſich auf ſeinem beſcheidenen Weinberge in Wachwitz, wo ihn kein Hofſtaat, nicht einmal eine Wache ſtörte. Alle Künſte waren ihm vertraut, und mit glücklichem Blicke wußte er die jungen Talente herauszufinden; von den Wiſſenſchaften trieb er mit Vorliebe die Botanik, und es geſchah wohl, daß ein Bäuerlein den ſchlichten Mann, wenn er mit ſeiner grünen Trommel die Feldraine abſuchte, für den Rattenfänger hielt. Auf ſeinen fürſtlichen Beruf hatte er ſich gewiſſenhaft vorbereitet; man wußte, daß er von der Unhaltbarkeit der alten Adelsherrſchaft längſt überzeugt war und weder mit den Beichtvätern ſeines Oheims noch mit dem Grafen Einſiedel auf gutem Fuße ſtand. Durch eine freundliche Anſprache an die Dresdener Bürgerſchaft gewann ſich der Mitregent alsbald alle Herzen; ſein Wort Vertrauen erweckt wieder Vertrauen wurde fortan in den gereimten und ungereimten Trinkſprüchen ergebener Unterthanen beharrlich wiederholt, und man verzieh ihm auch, daß er ſich zu dem angeſonnenen Glaubenswechſel doch nicht entſchließen wollte. Als treuer und arbeit - ſamer Gehilfe ging ihm ſein Bruder Johann zur Hand, auch er ein Gelehrter von umfaſſendem Wiſſen, minder liebenswürdig als Friedrich Auguſt aber auch minder weich, gründlich bewandert in dem Rechte und der Verwaltung des Landes. Prinz Johann übernahm den Oberbefehl147Prinz Friedrich Auguſt Mitregent.über die Communalgarden, die nun in allen größeren Städten zuſammen - traten und beim Anblick des Fürſten mit der weißen Bürgerbinde ihre eigene Größe erſt ganz empfanden. In überſchwänglichen Dithyramben wurde der Hochgeweihte und ſein Johannes ihm zur Seite gefeiert, und als dieſe ſächſiſchen Dioskuren im Zenithe von Leipzig erſchienen , fand Krug kaum Worte genug für ſeine liberale Begeiſterung.

Der leitende Kopf bei der Arbeit der Reform war der Geh. Rath v. Lindenau. Herzog Bernhard hieß er bei dem dankbaren thüringiſchen Volke noch von den Tagen her, da er ſein Heimathland Gotha-Altenburg während einer Zwiſchenherrſchaft allein regiert hatte; und die gleiche Liebe erwarb er ſich bald auch in Kurſachſen, zumal unter den Bauern, ob - gleich der ſchlichte Ariſtokrat alle Künſte der Volksſchmeichelei verſchmähte. Ein Hauch von Schwermuth lag über ſeinem Weſen; er hatte in der Jugend ſeine Geliebte verloren, blieb unvermählt, verwendete die Ein - künfte ſeines anſehnlichen Vermögens und vier Fünftel ſeines Gehalts für gemeinnützige Zwecke, mied die Geſellſchaft ſo ſehr, daß ihm ſelbſt die Mitglieder des diplomatiſchen Corps nicht alle bekannt wurden, und widmete ſeine freien Stunden ganz der Wiſſenſchaft. Die Aſtronomen ſchätzen ihn als einen glücklichen Forſcher, ſeiner Leitung verdankte die Sternwarte auf dem Seeberge bei Gotha zum guten Theile ihren Ruf. Zu Zeiten konnte ſich der hochherzige Idealiſt wohl in unmögliche Pläne verlieren, ſchließlich kehrte er doch immer auf den Boden des Wirklichen zurück. So entſagte er jetzt der Politik des mitteldeutſchen Handelsvereins, an den er einſt ſo viel patriotiſchen Eifer verſchwendet hatte, und geſtand dem preußiſchen Geſandten Jordan offen: Der Wiener Hof hat uns glänzende Anerbietungen für eine handelspolitiſche Verbindung gemacht, wir werden ihnen aber nicht Folge leiſten, ſondern uns dem preußiſchen Zollvereine anſchließen. *)Jordan’s Bericht, 25. Sept. 1830. Vgl. o. III. 652.Auch für die Ablöſung der bäuerlichen Laſten, für die Neugeſtaltung der Verwaltung und des Städteweſens nahm er ſich die preußiſchen Geſetze zum Muſter. Die Verfaſſung, die er plante, ſollte zwar, wie es die Meinung des Tages forderte, die Form einer Charte erhalten, aber von den altſtändiſchen Ueberlieferungen nicht allzu - weit abweichen; denn mehr ließ ſich von dem alten Landtage voraus - ſichtlich nicht erlangen, und deſſen Mitwirkung war unumgänglich, da der Prinzregent und ſeine Räthe ihren Stolz darein ſetzten, daß die neue Ordnung rechtlich unantaſtbar daſtehen müſſe. **)Jordan’s Bericht, 1. Februar 1831.

So viele Jahre daher war Sachſen der ſtillſte aller Mittelſtaaten geblieben; begreiflich genug, daß der Wiener Hof durch die ſo ganz uner - warteten jüngſten Vorfälle ſchwer beängſtigt wurde. Auch aus den be - nachbarten Kleinſtaaten liefen bedenkliche Nachrichten ein: aus Köthen10*148IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.hatte die verwittwete Herzogin, die Convertitin Julia fliehen müſſen, weil das proteſtantiſche Volk ihre Cleriſei bedrohte, in Altenburg war ein ſehr roher Pöbelaufruhr nur ſchwer und mit preußiſcher Hilfe gebändigt wor - den. Kaiſer Franz ließ ſogleich in Berlin anfragen, ob nicht ein gemein - ſames Einſchreiten der beiden Großmächte, zunächſt in Sachſen, rathſam ſei, und wenngleich ſein Schwiegerſohn, der Prinzregent Friedrich Auguſt, ſich brieflich vor ihm rechtfertigte, befahl er doch ſeinem Staatskanzler einige geſalzene Depeſchen nach Dresden zu ſenden. In hoffärtigem Tone fragte Metternich, wie es möglich ſei, daß ein Staat, der bisher ein Muſter deutſcher Sitte geweſen, der ſein gegenwärtiges Daſein allein dem Kaiſer Franz verdanke, ein ſo gefährliches Beiſpiel habe geben können, und erklärte drohend: der Kaiſer ſei feſt entſchloſſen, nicht über eine ge - wiſſe Grenze hinaus ein wohlwollender Zuſchauer dieſer Unordnungen zu bleiben. Der ſächſiſche Geſandte Graf Schulenburg, ein Mann der alten Schule, der bisher von Wien aus Sachſens deutſche Politik ganz in Metternich’s Sinne geleitet hatte, eilte ſelbſt in die Heimath um die Ermahnungen ſeines Meiſters zu unterſtützen; er wurde jedoch von dem Prinz-Regenten auf ſeinen Poſten zurück verwieſen und bald darauf abberufen. Czar Nikolaus äußerte ſich faſt ebenſo unwillig. Zärtlich beſorgt kam der Geſandte des freiheitſchirmenden Frankreichs ſchon zu Lindenau, um ſich mit verſtändlichem Winke zu erkundigen, ob wirklich der Einmarſch fremder Truppen bevorſtehe.

Bernſtorff aber wies die Anſchläge der Hofburg kühl zurück. Man urtheilte im Auswärtigen Amte ſehr hart über die ſächſiſchen Unruhen, weil ſich der geſtürzten Regierung keine Rechtsverletzung vorwerfen ließ. Im Herzogthum Braunſchweig ſagte eine Weiſung an Jordan war der Aufruhr die Folge der Unterdrückung, in Heſſen erklärt er ſich aus den gehäuften Fehlern und dem ſchweren Unrecht der Regierung, in Sachſen hat er kaum einen Vorwand, geſchweige denn einen Grund. Als der ſächſiſche Geſandte General Watzdorf, um ein freundnachbarliches Urtheil bittend, den neuen Verfaſſungsentwurf in Berlin überreichte, da ſang Ancillon wieder einmal das Lob der deutſchrechtlichen Landſtände und be - dauerte lebhaft, daß man dieſe rein germaniſche Form nicht mit einigen Verbeſſerungen beibehalten habe. Indeß erkannten die preußiſchen Staats - männer gern an, wie ſorgſam der Entwurf das monarchiſche Princip wahre; an eine Störung der ſächſiſchen Reformen dachten ſie um ſo weniger, da das Nachbarland offenbar erſt wenn ſeine Verwaltung neu - geſtaltet war dem preußiſchen Zollvereine beitreten konnte. *)Weiſung an Jordan, 22. April. Watzdorf an Bernſtorff, 2. März. Jordan’s Bericht, 1. März 1831.Alſo der preußiſchen Freundſchaft ſicher erwiderte Lindenau der Wiener Hofburg nach - drücklich, die neue Regierung werde durch eigene Kraft ihr monarchiſches149Neue Unruhen in Dresden.Anſehen behaupten. Sobald das kleine Königreich an ſeine inneren Schä - den die heilende Hand legte, lenkte auch ſeine deutſche Politik wie von ſelbſt in ihre natürlichen Bahnen ein; der Groll über die Landestheilung ſchien faſt vergeſſen, das Verhältniß zum preußiſchen Hofe geſtaltete ſich bald freundlich. Prinz Friedrich Auguſt hatte ſich kürzlich bei einem Beſuche in Berlin das beſondere Wohlwollen des Königs erworben; Prinz Johann ſchloß mit ſeinem Schwager, dem preußiſchen Kronprinzen, brüderliche Freundſchaft, die beiden gelehrteſten Fürſten des Zeitalters ergingen ſich gern im Austauſch ernſter Gedanken, obgleich der nüchterne Albertiner die romantiſche Weltanſchauung des Hohenzollern nicht theilte.

Es währte noch ein volles Jahr, bis das aufgewühlte Land ſich wieder beruhigte. Die Sachſenzeitung, der Vaterlandsfreund, die Biene des Zwickauer Bienenvaters Richter führten oft eine aufreizende Sprache, und was vor der eingeſchüchterten ſächſiſchen Cenſur doch keine Gnade fand wurde in Winkelpreſſen gedruckt oder in Altenburg, in Ilmenau unter dem kraftloſen Regimente der thüringiſchen Kleinfürſten. Späterhin wirkten auch einige der polniſchen Flüchtlinge mit, denen die Dresdener, eingedenk der alten Zeiten, eine gaſtliche Aufnahme bereiteten. Die Behörden zeigten ſich faſt überall ſchwach; faſt jede Mißtrauenserklärung der Gemeinden gegen einen Beamten, einen Geiſtlichen konnte auf Erhörung rechnen; die Polizei war durch die vielen kleinen Gaſſenprügeleien ſo in Verruf ge - kommen, daß ſie kaum noch brauchbare Leute für ihren Dienſt zu finden vermochte. In Dresden wurde die alte Nationalgarde, weil ſie neben der neuen Communalgarde nicht mehr beſtehen konnte, aufgelöſt; einige ihrer Mitglieder widerſetzten ſich, legten Verwahrung ein gegen die Beſchimpfung, die der geſammten Nationalgarde nicht blos in Europa ſondern auch in anderen Welttheilen widerfahren ſei, bildeten ſchmollend einen Bürger - verein. In dieſen Kreiſen ward eine von dem Advocaten Mosdorf ent - worfene Conſtitution wie ſie die Sachſen wollen verbreitet. Sie trug die Aufſchrift: und wird ſie nicht gewährt, ſo pochen wir mit den Flinten - kolben an, forderte Volksſouveränität, Abſchaffung des Adels und des ſtehenden Heeres; alle die verworrenen radicalen Gedanken, welche das ſtarre Adelsregiment unter den Kleinbürgern erweckt hatte, fanden hier ihren groben Ausdruck.

Als die Regierung endlich im April 1831 einige Verhaftungen vor - nahm, begann der Straßenlärm in der Hauptſtadt von Neuem; der Pöbel befreite die Gefangenen, die Communalgarde benahm ſich feig, ihr Führer Prinz Johann ward verhöhnt, und erſt am zweiten Tage trieb das Feuer der Truppen die Aufrührer auseinander. Mosdorf ward auf den König - ſtein, viele Andere ins Zuchthaus abgeführt. Dieſe Nachrichten entflammten in Leipzig wieder die alte Eiferſucht auf die Reſidenz; der Stadtrath ſendete ſogleich eine Ergebenheits-Adreſſe an den Hof und erbot ſich, im Nothfall ſeine Communalgarde gegen die meuteriſchen Dresdener auszuſenden. 150IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Leider war aber auch auf das Bürgerheer an der Pleiße kein Verlaß, die Weihrauchſpenden der liberalen Preſſe hatten den Hochmuth der be - waffneten Volksmänner bedenklich geſteigert. Im Auguſt meuterte ein Theil der Leipziger Communalgardiſten, weil ihnen ein neuer Wachſaal nicht behagte; ſelbſt die Studenten nahmen Partei gegen die Aufſäſſigen, und den ſchwarzen Schützen, die jetzt, nach Aufhebung der ſtädtiſchen Privilegien, ihr Standquartier in Leipzig hatten, fiel die undankbare Auf - gabe zu, den Aufruhr mit Waffengewalt niederzuſchlagen. Seitdem fühlte die Krone ſich wieder ſicherer.

Mittlerweile hatte der alte Landtag ſeine weitläuftigen Berathungen über das Grundgeſetz beendigt. Welch ein ſeltſamer Gegenſatz zu Kur - heſſen! Während dort der Landtag den Verfaſſungsentwurf der Miniſter in liberalem Sinne gänzlich neugeſtaltete, gingen in Sachſen alle Re - formen von der Regierung aus. Sie bewährte durchweg mehr Einſicht und Unbefangenheit als die Stände; die Ritterſchaft ſo gut wie die Städte verfochten hartnäckig nur ihr eigenes Intereſſe, und oftmals mußte Lindenau von ſeinen Standesgenoſſen Schmähungen anhören weil er die Rechte des Adels preisgebe. Auch die neue Verfaſſung ruhte auf dem Grundſatze der ſtändiſchen Gliederung. Die erſte Kammer war in Wahrheit nur ein verkleinertes Abbild des alten Landtags und ebenſo ſelbſtändig wie dieſer gegenüber der Krone, die nur zehn Grundherren auf Lebenszeit ernennen durfte; ſie beſtand aus den Prälaten, den Stan - desherren, den Vertretern des großen Grundbeſitzes und den Bürger - meiſtern von acht größeren Städten. In der zweiten Kammer behauptete der Grundbeſitz ebenfalls das Uebergewicht, weil der Landtag die kühne Behauptung aufſtellte, der wirthſchaftliche Schwerpunkt dieſes gewerb - fleißigen Landes liege, Dank dem gegenwärtigen Nothſtande des Handels, allein im Landbau; die Ritterſchaft war hier noch einmal, durch zwanzig Abgeordnete vertreten; dazu fünfundzwanzig Bauern, ebenſoviel Städter und fünf Vertreter des Gewerbfleißes. Die Kammern ſtanden mithin, obgleich ſie nicht nach Curien ſtimmten, den altſtändiſchen Inſtitutionen näher als dem neufranzöſiſchen Repräſentativſyſtem; für die großſtädtiſche Bildung boten ſie wenig Raum, da jeder Abgeordnete in ſeinem Wahl - bezirke wohnen mußte, freilich krankten ſie auch nicht an der Ueberzahl von Beamten, welche in den ſüddeutſchen Landtagen ſo viel Unfrieden erregten. Die Krone gab die freie Verfügung über das Kammergut auf und begnügte ſich fortan mit einer Civilliſte; die Stände erhielten das Recht, die Miniſter vor einem beſonderen Staatsgerichtshofe anzuklagen, ſie be - willigten das Budget für je drei Jahre und faßten Beſchluß über die Geſetzentwürfe, welche die Regierung allein vorlegen durfte. Ein Geſetz und ſelbſt ein Budget ſollte aber nur dann als abgelehnt betrachtet werden, wenn in einer der beiden Kammern mindeſtens zwei Drittel dagegen ge - ſtimmt hatten; überdies konnte die Krone nöthigenfalls die bisherigen Ab -151Die ſächſiſche Verfaſſung.gaben noch ein Jahr lang forterheben. Ebenſo behutſam war auch der Abſchnitt über die Menſchenrechte gehalten, der als ein Zugeſtändniß an den aufgeklärten Zeitgeiſt doch nicht ganz fehlen durfte.

König Anton ließ Alles geduldig über ſich ergehen. Nur durch die beiden Artikel, welche die Kirchen der Oberaufſicht des Staates unter - warfen und die Zulaſſung der Jeſuiten ſowie aller anderen geiſtlichen Orden für alle Zukunft verboten, fühlte er ſich tief verletzt, weil ihre Faſſung ein kränkendes Mißtrauen gegen den katholiſchen Hof verrieth. Erſt auf das Zureden ſeines Neffen Johann entſchloß er ſich, auch dieſe Sätze zu genehmigen. Der Prinz war ſelbſt ſtreng gläubiger Katholik und blieb in ſeiner Anſchauung der deutſchen Geſchichte den alten habs - burgiſch-albertiniſchen Traditionen immer treu; doch er wußte auch, was die Dynaſtie ihrem hart lutheriſchen Volke ſchuldig war, und behandelte die Kirchenpolitik ohne confeſſionelle Engherzigkeit. Am 4. September 1831 empfingen die alten Stände aus der Hand des Königs die Verfaſſungs - urkunde, und nach dem Vorbilde der Pariſer Julifeier wurde nunmehr alljährlich das Conſtitutionsfeſt durch Bürgerparaden, Schmäuſe und jubelnde Reden verherrlicht.

Wie lächerlich auch dieſe Großſprechereien zuweilen klangen, die erſten zehn Jahre der neuen Verfaſſung waren doch unzweifelhaft die glücklich - ſten, welche das Königreich unter dem Deutſchen Bunde verlebt hat. Das nach Fächern gegliederte Staatsminiſterium, das jetzt die Leitung der ge - ſammten Verwaltung übernahm, war ſo reich an guten Kräften wie kaum ein anderes in den deutſchen Mittelſtaaten und beſaß an dem Finanz - miniſter v. Zeſchau einen ſtaatsmänniſchen Kopf, der in den großen Ver - hältniſſen des preußiſchen Dienſtes geſchult, Lindenau’s idealiſtiſchen Schwung durch nüchternen Geſchäftsſinn ermäßigte. Auch in den anderen höheren Aemtern wirkten tüchtige Männer, wie Wietersheim, Merbach, Günther; der alte Reichthum des Landes an Talenten durfte ſich jetzt etwas freier entfalten. Wer ſchärfer zuſah konnte freilich wahrnehmen, daß die alte kurſächſiſche Adelsoligarchie in milderer Form noch immer fortbeſtand. Die Miniſter gehörten alleſammt zu dem engen Kreiſe jener alteingeſeſſenen Geſchlechter, welche ſich ſeit dreihundert Jahren in die Regierung zu theilen pflegten. Nur der Cultusminiſter Müller war bür - gerlich ein märchenhafter Fall im alten Sachſen und es blieb fortan die Regel, daß zur Beſchwichtigung der Beamten und der Liberalen von Zeit zu Zeit ein bürgerlicher Miniſter ernannt, die wichtigſten Stellen aber ſtets dem Adel vorbehalten wurden. Eine der preußiſchen nachge - bildete Städteordnung gab der neuen Volksvertretung einen feſten Unter - bau. Im ſelben Jahre (1832) erſchien das muſterhafte Geſetz über die Ablöſungen und Gemeinheitstheilungen, das mit den feudalen Laſten weit gründlicher aufräumte, als es bisher in Preußen gelungen war; nach Lindenau’s Plänen wurde eine Landrentenbank eingerichtet, welche die152IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Berechtigten durch verzinsliche Inhaberpapiere entſchädigte und damit den Pflichtigen die Ablöſung erleichterte. Nach mehrjährigen Verhandlungen trat endlich auch die Markgrafſchaft Oberlauſitz in die Verwaltungsord - nung der Erblande ein.

Der neue Landtag zeigte anfangs eine faſt kindliche Beſcheidenheit, obwohl Tiedge herausfordernd ſang: wir haben Männer wie unſern Eiſenſtuck; der abſtrakte Liberalismus der Rotteck-Welckerſchen Schule fand hier vorderhand noch gar keine Vertreter. An geſundem praktiſchem Verſtande aber war kein Mangel; einzelne Redner, wie der ehrenfeſte Ariſtokrat Albert v. Carlowitz und der Leipziger Bürgermeiſter Deutrich wagten auch ſchon über die grünweißen Grenzpfähle hinauszuſchauen. Großes Aufſehen erregte an den Höfen die parlamentariſche Thätigkeit des Prinzen Johann, der allein unter allen Prinzen der deutſchen regie - renden Häuſer ſeinen Platz in der erſten Kammer regelmäßig einnahm und durch ſeine etwas trocken juriſtiſchen, aber ſtets ſachkundigen und ver - ſtändigen Arbeiten dieſe ſchwierige Stellung würdig zu behaupten wußte. Wer durfte es Karl Böttiger dem Unaufhaltſamen verargen, daß er den gelehrten Prinzen in wohlgedrechſelten griechiſchen Diſtichen als den πύϱ - γος Σασσονίας verherrlichte? Seit das ſtarre alte Syſtem gebrochen war und der Zollverein dem gewerbfleißigen Lande ſeinen natürlichen Markt eröffnete, erwachte überall ein friſcheres Leben. Die Volkswirth - ſchaft blühte auf, das Schulweſen ward mit Einſicht verbeſſert, die Leip - ziger Kramer-Innung gründete ihre große Handelslehranſtalt; faſt in jeden Städtchen ſorgte ein thätiger Mann, wie der wackere Paſtor Böhmert in Roßwein, für Sonntagsſchulen, Sparkaſſen, Gewerbevereine. Auch der Kunſtſinn ward reger ſeit der neue Kunſtverein ſeine Ausſtellungen hielt; in die ganz verzopfte Dresdener Akademie trat der junge Ludwig Richter ein und wagte zuerſt wieder, ſeine Schüler zum Landſchaftszeichnen in die freie Luft hinaus zu führen. Der geſammten deutſchen Baukunſt aber erwies Friedrich Auguſt einen folgenreichen Dienſt, als er den frucht - barſten und gedankenreichſten der jüngeren Baumeiſter, den Holſten Gott - fried Semper nach Dresden berief um das neue Theater mitten hinein zu ſtellen zwiſchen die flimmernde Pracht des Zwingers und der Hofkirche; in ſolcher Umgebung entſtanden wie von ſelbſt die Entwürfe zu jenen reichen römiſchen Renaiſſancebauten, welche minder überladen als die Werke des Barockſtils, dem maleriſch geſtimmten modernen Auge doch wärmer, vertrauter, zweckmäßiger erſchienen als Schinkel’s helleniſche Tempel.

Gleichwohl ſammelte ſich während dieſer glücklichen Zeit in der Stille viel Groll an. Die lang anhaltende gemüthliche Unordnung des Revo - lutionsjahres hatte die niederen Stände, zumal in der Hauptſtadt, an einen rohen radicalen Ton gewöhnt. Niemand wollte eingeſtehen, daß die Regierung ſehr hoch über ihrem Volke ſtand, daß erſt Lindenau und ſeine Freunde der völlig unklaren Bewegung einen politiſchen Inhalt gegeben153Miniſterium Lindenau-Zeſchau.hatten. Man prahlte mit dem Heldenmuthe der ſächſiſchen Julikämpfer , der die widerſtrebende Krone zur Gewährung der Freiheit fortgeriſſen habe. Alle Bewohner Europas in allen Städten und Dörfern theilen gleiche politiſche Geſinnung meinte der Bienenvater Richter darum wurde die große Woche von Paris ſofort die von ganz Europa. Der neue weltbürgerliche Radicalismus, der überall in der Luft lag, drang unmerklich auch in Sachſen ein, und die ausländiſchen Schriftſteller, welche ſich nach und nach in Leipzig zuſammenfanden, nährten ihn ebenſo eifrig wie die polniſchen Flüchtlinge in Dresden. Im Erzgebirge war der Nothſtand groß, und es zeigten ſich ſchon die erſten Keime ſocialen Un - friedens; die Regierung aber that wenig um die Arbeiter vor Ausbeutung zu ſchützen, ſie ſtand noch rathlos vor der ſo plötzlich aufſchießenden Macht der Großinduſtrie. Die undeutſche Soldatenſpielerei der Communalgarden nährte den Uebermuth der Mittelklaſſen. Kleine Reibungen konnten nicht ausbleiben, da die Truppen ihre Meinung über dies Bürgerheer, das ſich gegen die Aufrührer ſo ſchlecht bewährt hatte, oft ſehr deutlich aus - ſprachen; auf den Exercirplätzen lautete der ſchlimmſte Tadel: das geht ja wie bei der Communalgarde! Boshafte Märchen kamen in Umlauf, als der unglückliche Mosdorf in ſeiner Feſtungshaft ſich erhängte, als der Bienenvater Richter ſein ganz verwildertes Blatt aufgeben mußte und nach Amerika auswanderte. Die ſchwarzen Schützen hießen die ſächſiſchen Prätorianer, und mit unbegreiflicher Gehäſſigkeit richtete ſich das Miß - trauen des lutheriſchen Volkes gegen den Prinzen Johann, der ſeine Beliebtheit raſch verlor: er ſollte durchaus ein Jeſuit ſein, obwohl man gerade ihm das Verbot des Jeſuitenordens verdankte, er ſollte am Hofe geheime Ränke ſpinnen und was der Thorheit mehr war. Die Klatſcherei der Philiſter hatte freies Feld, da eine gebildete liberale Preſſe hierzulande noch ganz fehlte, und wenn ſich dereinſt die rechten Demagogen fanden, ſo konnte die kleinliche Verſtimmung leicht in wüſten Radicalismus aus - arten.

Später als in Kurſachſen entbrannte in Hannover der Kampf gegen die Adelsherrſchaft. Bei uns bleibt Alles ruhig, wir haben ja auch keinen Grund zur Klage ſo ſprach man ſtolz in den Göttinger Pro - feſſorenkreiſen, als die erſten Nachrichten von den Kaſſeler Unruhen an - langten. Die von der letzten Mißernte ſchwer heimgeſuchten Bauern dachten anders; man ſah ſie häufig auf dem Ti zuſammentreten um über die Barſchheit der Beamten, den Hochmuth der Gutsherren, die Zehnten, die Frohnden, die Jagdrechte zu klagen; in einzelnen kleinen Amtsſtädten bildeten die Bürger ſchon im Herbſt Sicherheitswachen, weil ſie Angriffe des aufgeregten Landvolks befürchteten. Der dumpfe, unklare Groll bedurfte eines Namens, dem ſich alle Sünden des Adelsregimentes aufbürden ließen; und dieſer Feind ward ihm gewieſen, als gegen Weihnachten 1830154IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.eine Schmähſchrift Anklage des Miniſteriums Münſter vor der öffentlichen Meinung unter der Hand verbreitet wurde, bald nachher auch gedruckt erſchien ein ſchwülſtiges Machwerk aus der Feder des jungen Advo - katen König in Oſterode. Münſter, Münſter, Münſter heißt der Alp, der uns drückt darauf lief Alles hinaus. Der allmächtige Miniſter wurde mit Attila, Nero, Pizarro, mit dem Hausmeier Pipin verglichen, weil er die befreiende ſociale Geſetzgebung des Königreichs Weſtphalen aufgehoben, das Volk ſchmählicherweiſe in die Leibeigenſchaft zurückge - worfen und dies in den Jahren 1808 1813 ſchön und herrlich auf - gerichtete Staatsgebäude mit ungeweihter Hand in einem Augenblicke wieder niedergeriſſen habe. Und ſo ſtark war ſchon die Erbitterung gegen den Starrſinn der welfiſchen Reſtaurationspolitik: dies Lob der einſt tödlich verhaßten Fremdherrſchaft machte jetzt tiefen Eindruck auf die kleinen Leute, zumal da der Libelliſt nur gegen die ſchrankenloſe Ge - walt miniſterieller Willkür eiferte und ehrfurchtsvoll betheuerte: Wilhelm unſer Bürgerkönig weiß nichts davon.

Am 5. Januar 1831 unternahmen König’s Landsleute in Oſterode, einen revolutionären Gemeinderath und eine Communalgarde zu errichten; ſie wollten dann dem Bürgerkönig die unter allen nichtbeamteten Staats - bürgern herrſchende Noth nachdrücklich vorſtellen und verkündeten in einem Manifeſte neufranzöſiſchen Stiles: Möge unſeren Enkeln und Urenkeln der 5. Januar als ein heiliges Geſchenk ihrer edlen Väter und Urväter erhalten werden! Der kleine Aufruhr ward ſogleich unterdrückt. Da zeigte ſich plötzlich, daß die ſtürmiſche Zeit auch an dem gelehrten Still - leben der Georgia Auguſta nicht ſpurlos vorübergegangen war. Ein Heiß - ſporn der feudalen Partei, der in Göttingen lebte, Frhr. v. d. Kneſebeck hatte kürzlich in einer Deutſchlands erlauchten Souveränen gewidmeten Flugſchrift alle Herzensgeheimniſſe des welfiſchen Junkerthums ausge - plaudert. Die Schrift trug das napoleoniſche Motto: Wenn die Ca - naille die Oberhand gewinnt, ſo hört ſie auf Canaille zu heißen, man nennt ſie alsdann Nation; ſie erklärte den Adel für die erſte Stütze des Thrones, die durch ein Landesheroldsamt geſichert werden müſſe, ſie ver - langte ein Ordenszeichen für die Freunde der Legitimität, einen politiſchen Katechismus, der in den Schulen eingeprägt, von allen Staatsdienern beſchworen werden ſollte kurz, es war nicht wunderbar, daß die akade - miſche Jugend eines Abends ihren Unwillen an den Fenſterſcheiben des legi - timiſtiſchen Freiherrn ausließ und ihn zu ſchleuniger Abreiſe nöthigte. Neue Aufregung unter den jugendlichen Gelehrten, als der Dekan der Juriſten, der alte, den Zeitungsſchreibern ſchon längſt durch ſeine tiefe Gelehrſamkeit verdächtige Hugo, einer mehr liberalen als geiſtreichen Diſſertation des Dr. Ahrens über den Deutſchen Bund das Imprimatur verweigerte.

In den Kreiſen dieſer jungen Docenten und Advokaten entſtand nun der tolle Plan, hier auf dem denkbar ungünſtigſten Boden eine Revolution155Der Göttinger Aufſtand.zu wagen. Daß die Hofräthe des akademiſchen Körpers ſich mit wenigen Ausnahmen grundſätzlich der Politik fern hielten, war weltbekannt; auch unter den Studenten beſtand nur eine kleine radicale Partei, denn die Georgia Auguſta galt noch für die vornehmſte der deutſchen Univerſitäten, die Prinzen und die Grafen ſaßen in den Hörſälen noch immer wie zu Pütter’s Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerſchaft aber hatte ſich, ſeit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener aus Geldgier, Bedientenſinn und Durſt gemiſchte Charakter, welcher die Bewohner kleiner Badeorte und Univerſitätsſtädte gemeinhin auszeichnet, ungewöhnlich ſtark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handſtreich leicht gelingen; denn das Jägerbataillon in der Kaſerne zählte nur achtzig Mann Dank dem läſſigen Beurlaubungsſyſtem, das in allen den kleinen Bundesheeren eingeriſſen war und der Commandant ſollte nach Lan - desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte ſeine Mannſchaft, die bei rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Civil - behörden einſchreiten laſſen.

Am 8. Januar ſtürmten die Advokaten Seidenſticker und Eggeling mit einer kleinen Schaar Verſchworener in das alte Rathhaus. Der verhaßte Polizei-Commiſſär machte ſich aus dem Staube, auch die anderen Behörden ſtellten gehorſam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern, Doctoren und Studenten zuſammengeſetzter Gemeinderath übernahm die Herrſchaft. Während ein Studentenſchneider auf der ſteinernen Brüſtung der Rathhaustreppe drohend ſeinen Hirſchfänger wetzte, ſchritt der Leiter der Bewegung, der Privatdocent v. Rauſchenplatt, im Schlapphut und hohen Kanonenſtiefeln auf dem Marktplatze einher ein beherzter, ſtämmiger kleiner Mann mit ſchief geſchlitzten ſchlauen Augen, dichtem Haarwuchs und ſtruppigem blondem Vollbart; vier Piſtolen, ein Schlepp - ſäbel und ein Dolch prangten an ſeinem Gürtel. Auf den Ruf: es giebt Revolution eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück - ſelig über den ungeheueren Ulk. Eine akademiſche und eine bürgerliche Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde, viele auch die lila-grün-rothe Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben - hagenſchen Nation. Alles beugte ſich den neuen Gewalten. Die Gar - niſon zog unbeläſtigt ab, nachdem Rauſchenplatt vergeblich verſucht hatte, den Commandanten zur gefälligen Ablieferung ſeiner überzähligen Flinten zu bereden. Im akademiſchen Senat verlangte Dahlmann eine ſcharfe Abmahnung an die Studenten, aber nur der ſtreng conſervative Gauß fand den Muth ihm beizuſtimmen.

Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des Ka - ters ſo hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Thore waren verrammelt, die ſchönen Baumgänge des Walles wurden ſcharf bewacht, weil man die Beamten und Profeſſoren als Geiſel zurückhalten wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen156IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.um große Feuer, das nichtswürdige Adminiſtrations-Bier der alleinberech - tigten ſtädtiſchen Brauerei floß in Strömen, und ſtolz rauchte Jedermann auf der Straße; denn die ertrotzte Rauchfreiheit galt in allen dieſen kleinen norddeutſchen Revolutionen für das Sinnbild des neuen Völkerfrühlings. Von beſtimmten politiſchen Plänen war keine Rede. Man ſang radicale Lieder, ließ Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hoch leben; Einzelne empfahlen auch eine Republik Göttingen unter dem Schutze des Deutſchen Bundes. Die Geſandtſchaft aber, welche der neue Gemeinderath nach Hannover ſendete, vermochte ſich über die Wünſche des ſouveränen Volkes ſo wenig zu einigen, daß ſie ſchließlich zu gleicher Zeit zwei Eingaben ganz ver - ſchiedenen Inhalts der Regierung überreichte. Den großen Höfen erſchien dieſe ſo lang anhaltende und ſo ganz ungeſtörte revolutionäre Bewegung völlig unbegreiflich; Metternich bemerkte mit Entſetzen, bis zu welchem Grade die Pläne ihrer Urheber gefährlich und verwegen ſeien. Die hannoverſche Regierung meldete dem Bundestage ſofort, ſie ſehe ſich außer Stande, Truppen zur Bewachung der deutſchen Weſtgrenze zu ſtellen, da ſie ihrer bewaffneten Macht im eigenen Lande bedürfe. *)Maltzahn’s Berichte, 28. 29. Januar 1831.Die geängſteten Landdroſten und Amtmänner verſprachen den biederen Bewohnern ihrer Bezirke demüthig, daß allen Beſchwerden förderſamſt Abhilfe gewährt werden ſolle. An die Göttinger erließ der Generalgouverneur Herzog von Cambridge ein abmahnendes Manifeſt nach dem andern und fragte ſie väterlich: Iſt es recht, mit Aufruhr und Widerſetzlichkeit anzufangen? Er faßte ſich erſt wieder ein Herz, als ihm Dahlmann, der mit einigen Abgeſandten des akademiſchen Senats nach Hannover gekommen war, ent - ſchloſſen erklärte: die Aufſtändiſchen ſeien ihrer Thorheit müde, eine mäßige Truppenmacht könne ohne Blutvergießen die Ordnung herſtellen.

So geſchah es auch. Als die Truppen am achten Morgen nach dem Beginne des Aufruhrs endlich einrückten über 7000 Mann, mehr als die Hälfte der hannoverſchen Armee da waren die Barrikaden an den Thoren bereits verſchwunden, desgleichen die akademiſche und die bürger - liche Legion. Rauſchenplatt aber floh mit einigen ſeiner Genoſſen nach Straßburg, wo ihm die Studenten einen feſtlichen Empfang bereiteten; ſeines Bleibens war auch hier nicht lange, da Metternich ſich bei der franzöſiſchen Regierung beſchwerte. **)Maltzahn’s Bericht, 9. Mai 1831.Die anderen Anſtifter wurden in Celle vor eine Gerichtscommiſſion geſtellt und dort, nach der grauſamen Weiſe des alten Strafverfahrens, durch viele Jahre hingehalten. Der Advokat v. Frankenberg, der lediglich in dem benachbarten Flecken Bo - venden eine Sicherheitswache befehligt hatte, wartete ſechs Jahre lang auf ſein Urtheil; endlich ließ man ihm die Wahl zwiſchen der gerichtlichen Entſcheidung und der Gnade des Königs; um dem Jammer nur ein157Münſter’s Sturz.Ende zu machen wählte der Arme die Begnadigung, obgleich er ſich keiner Schuld bewußt war. Viele der Studenten betrachteten den Einzug der Truppen mit Selbſtgefühl und rühmten ſich: das iſt ſchon gut genug, daß wir ſo viele Soldaten auf die Beine gebracht haben; durch die vorläufige Schließung der Univerſität wurden ſie indeß alle ſchwer beſtraft. Die großen Tage der Georgia Auguſta waren dahin, niemals konnte ſie ihren alten ariſtokratiſchen Glanz wieder erlangen.

Wohl mochte Jakob Grimm über dieſen dürren und widerwärtigen Aufſtand klagen; dem Lande brachte der kindiſche Spuk doch Segen, denn er öffnete dem Generalgouverneur die Augen, den Bürgern die Lippen. Der gutmüthige Herzog entdeckte mit einem male, wie wenig er die Zu - ſtände gekannt hatte; er bereiſte das Land, hörte in Münden die bitteren Klagen der zinspflichtigen Bauern, ließ ſich von den Clausthaler Berg - leuten in rührſamen Verſen ſchildern: wie ſchlecht man jetzt auf dem Harze lebt

und mit thränenvollem Herzen
trocknes Brot halb kalt genießt.

Zugleich liefen aus Lüneburg der Erbſtadt des Reichs und vielen an - deren Städten Bittſchriften ein, die alleſammt eine freie Volksvertretung forderten; ſo gewiß ein Gott über uns Alle wacht, ſchrieb der radicale Advokat Gans in Celle ſo gewiß wird auch für ſämmtliche Staaten Europas dieſe Herrlichkeit, dieſe Krone aller Wohlfahrt aufgehen . Hier wie in Sachſen verkettete ſich mit der Volksbewegung ein Parteikampf innerhalb der Regierung. Der Miniſter Graf Bremer, Cabinetsrath Roſe und die anderen arbeitenden bürgerlichen Räthe waren es längſt müde von der Deutſchen Kanzlei in London gegängelt zu werden, ſie beſchloſſen ſich an den Monarchen zu wenden; aber noch ehe ihre Ver - trauensmänner bei Hofe eintrafen, hatte König Wilhelm ſchon den Vor - ſtellungen des Herzogs von Cambridge nachgegeben und die Entlaſſung des Grafen Münſter verfügt (12. Februar). Die unheilvolle Doppel - regierung konnte freilich ſo lange die Fremdherrſchaft beſtand nicht gänzlich verſchwinden; an Münſter’s Stelle trat Ludwig v. Ompteda, jener treue Mann, der in den napoleoniſchen Tagen ſo raſtlos für die Befreiung Deutſchlands gearbeitet hatte, ein ehrenhafter Ariſtokrat von gemäßigten Grundſätzen. Indeß der Schwerpunkt des Regiments lag fortan in Han - nover, der Herzog wurde zum Vicekönig erhoben und mit erweiterter Voll - macht ausgeſtattet.

Der Schöpfer der Welfenkrone ertrug ſeinen Sturz mit unverhohlener Entrüſtung; die glänzenden Ehren, mit denen ihn der freundliche Monarch zum Abſchied noch auszeichnete, vermochten nicht, ihn über den welfiſchen Undank, der doch faſt unvermeidlich war, zu tröſten. Auf Dr. König’s Schmähungen antwortete er mit einer Erklärung , die noch einmal das unermeßliche Selbſtgefühl des welfiſchen Staatsmannes bekundete: nichts,158IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.gar nichts fand er an dem Beſtehenden tadelnswerth, ſelbſt von einer Bevorzugung des Adels wollte er nichts bemerken, obgleich unſere Miniſter jetzt zufällig Edelleute ſind . Zum Schluß druckte er eine Ode aus der Zeit des Wiener Congreſſes ab, worin ihm ein vornehmer und vereh - rungwürdiger deutſcher Dichter nachrühmte: er habe

Der Sultanismus-Wuth den Stab gebrochen,
Und Deine Sprache war der Freiheit Talisman.

Grollend zog er ſich in ſein ſchönes Derneburg zurück, wo eine Marmor - tafel über der Thür der alten Kloſterkirche dem Beſucher verkündigte, daß dieſe Herrſchaft dem Grafen Münſter für ſeine Verdienſte um das Vaterland geſchenkt worden ſei. Gneiſenau und die alten Kampfgenoſſen aus den napoleoniſchen Zeiten bewahrten dem ſtolzen Manne, der immer - hin hoch über dem Mittelmaße deutſcher Kleinminiſter ſtand, allezeit ihre Freundſchaft; er ſelber lebte fortan zumeiſt der Erinnerung an jene größten Tage ſeines Lebens und geſtattete zum Schrecken der Rheinbunds - höfe dem Baiern Hormayr, im Derneburger Archive den Stoff zu ſam - meln für die Lebensbilder aus den Befreiungskriegen .

Auch nach Münſter’s Sturz blieb es bei der alten Regel, daß die Miniſter zufällig immer Edelleute waren, und die Arbeitslaſt von den bürgerlichen Geheimräthen getragen wurde. Zwei bürgerliche Beamte, die der Vicekönig zu Miniſtern ernennen wollte, lehnten ab, weil ſie eine ſo kühne Neuerung nicht für durchführbar hielten. Während der nächſten Jahre behielt der kluge und wohlmeinende Cabinetsrath Roſe die Leitung der Geſchäfte, nur lau unterſtützt von ſeinen adlichen Vorgeſetzten. Der alte Landtag wurde im März nochmals einberufen; jetzt zum erſten male errang ſich dieſe ſonſt ſo geringgeſchätzte Verſammlung die Theilnahme des Volkes, da viele Städte ihren trägen Vertretern das Mandat gekündigt und liberale Abgeordnete neu gewählt hatten. Indeſſen überwog auch jetzt noch der conſervative Sinn der Niederſachſen. Auf Stüve’s Antrag verlangte der Landtag die Vereinbarung über eine neue Verfaſſung, welche auf dem gegebenen Rechte beruhen, aber das Beſtehende weiter ent - wickeln ſollte.

Demgemäß wurde durch Roſe, unter Dahlmann’s Mitwirkung, ein Verfaſſungsentwurf ausgearbeitet, vom Könige genehmigt und dann im November einer Commiſſion vorgelegt, die aus Vertretern der Regierung und des Landtags beſtand. Die Berathungen währten drei Monate; denn unter den Commiſſären der erſten Kammer befand ſich neben dem hochconſervativen General v. d. Decken auch Münſter’s Neffe, Freiherr Georg v. Schele, der langjährige Führer der Junkerpartei, der noch immer in ſeinen Landesblättern gegen alles conſtitutionelle Weſen einen grimmigen Federkrieg führte. Der unermüdliche Vermittler Frei - herr v. Wallmoden bedurfte ſeiner ganzen gewinnenden Ueberredungs - kunſt um dieſe Feudalen mit den Anſichten Stüve’s und der anderen159Der neue hannoverſche Landtag.bürgerlichen Vertreter der zweiten Kammer einigermaßen in Einklang zu bringen.

Erſt im Mai 1832 trat der Landtag wieder zuſammen, in ver - jüngter Geſtalt, da die zinspflichtigen Bauern inzwiſchen eine Vertretung, die Bürgerſchaften ein erweitertes Wahlrecht erhalten hatten; und erſt nach beinahe zehn Monaten kam er mit dem Verfaſſungswerke endlich ins Reine. Die Verhandlungen bewieſen, wie zuvor der Göttinger Aufſtand, daß die Fluthen des neufranzöſiſchen Liberalismus in einigen ſchmalen Rinnſalen doch auch in dies zähe niederdeutſche Sonderleben eingedrungen waren. Prachtvoll erklangen die Schlagworte des Rotteck - Welcker’ſchen Vernunftrechts aus dem Munde des Lüneburger Advokaten Chriſtiani, eines warmherzigen Schöngeiſtes, der jetzt für die norwegiſche Verfaſſung ebenſo feurig ſchwärmte wie früher für Goethe, und die lyriſche Bilderpracht der Damenalmanache in die parlamentariſche Beredſamkeit hinübernahm. Sein Freund H. Heine nannte ihn den Mirabeau der Lüneburger Haide und ſang ihm zu:

Haſt Du wirklich Dich erhoben
Aus dem müßig kalten Dunſtkreis,
Womit einſt der kluge Kunſtgreis
Dich von Weimar aus umwoben?

Außer dem geſchwätzigen Göttinger Profeſſor Saalfeld fand der Lüneburger Mirabeau freilich nur wenige Anhänger. Es war der Vortheil des feu - dalen Adels, daß er allein ſich zu einer geſchloſſenen Partei geſchaart hatte. Den bürgerlichen Abgeordneten erſchien es noch wie eine Ketzerei, als der welterfahrene greiſe Rehberg in den Conſtitutionellen Phantaſien eines alten Steuermannes ihnen zurief: Man erſchrecke nicht über das verhaßte Wort: Parteien werden ſich bilden! Chriſtiani ſelbſt blieb bei aller Kühnheit ſeiner Theorien dem welfiſchen Hauſe treu ergeben; über den Bürgerkönig Wilhelm ſagte er einmal: Seine Seele, hell und mild wie der Tag des Mai’s, aber ſtark wie die Felſen des Hochlandes und frei wie das ſein Vaterland umfluthende Meer, das er ſchon als Knabe befuhr, kann Alles, nur den Druck ſeines Volkes nicht ertragen.

Trotz ihrer Zahmheit erſchien dieſe liberale Oppoſition der conſerva - tiven Mehrheit hochgefährlich; und als ſie gar in einer Aufwallung weichen Gefühles die Begnadigung der Märtyrer der Freiheit , der Göttinger Aufrührer verlangte, da erhob ſich Dahlmann zornig: Auflehnung gegen Alles was unter Menſchen hochgehalten und würdig iſt, Hintanſetzung aller beſchworenen Treue, das ſind keine bewundernswerthen Thaten. Einen Liberalismus von unbedingtem Werthe, das heißt: einerlei durch welche Mittel er ſich verwirkliche, giebt es nicht. Der guten Zwecke rühmt ſich Jedermann, darum ſoll man die Menſchen nach ihren Mitteln be - urtheilen. Mit der ganzen Wucht ſeiner markigen, aus den Tiefen der Seele dringenden Beredſamkeit bekannte er ſich zu dem altväteriſchen160IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Glauben, daß man die Politik von der Moral nicht ſcheiden könne: Wenn ich hierin mich irrte, ich würde keine Stunde mehr mit der Politik mich beſchäftigen. Ihm war kein Zweifel, daß man der Erhaltung den Vorzug geben müſſe vor der Verbeſſerung, weil Erhaltung zugleich Bedingung der Verbeſſerung ſei.

Das Zünglein in der Wage war Stüve, der durch ſeine Sachkenntniß, ſeinen praktiſchen Verſtand, ſeine herriſche, aber auch rechtzeitig vermit - telnde Haltung die Verhandlungen immer wieder auf nahe, erreichbare Ziele zu lenken wußte. Rehberg nannte ihn die Seele der Reform, die Hoffnung meines zur Arbeit unfähigen Alters ; Wallmoden ſchloß ſich ihm als treuer Helfer an, verſöhnend und beſchwichtigend ſo oft der ge - ſtrenge kleine Osnabrücker durch ſeine Schärfe verletzte. Durch eine Schrift über die gegenwärtige Lage Hannovers hatte Stüve ſoeben abermals bewieſen, wie richtig er die Mächte des Beharrens in ſeinem Lande zu ſchätzen wußte. Eine Verfaſſung war ihm nur werthvoll, wenn ihre Grundſätze durch die Verwaltung lebendig werden . Ueber die Kanne - gießerei der ſüddeutſchen Liberalen urtheilte er ſehr abſchätzig: ſie verſtehen nur auf Rußland zu ſchimpfen, die Polen zu verherrlichen und nach Preßfreiheit zu ſchreien. *)Ich benutze hier u. A. eine handſchriftliche Biographie Stüve’s von deſſen Neffen, Hrn. Regierungspräſidenten Stüve in Osnabrück.Das neue Staatsgrundgeſetz, ſo ſagte er oft, ſollte nicht einer theoretiſchen Schablone entſprechen, ſondern die im täg - lichen Leben fühlbaren Mißſtände beſeitigen, und unter dieſen ſtellte er das alte Syſtem der Kaſſentrennung obenan. Die Regierung gab nur dem allgemeinen Wunſche des Landes nach, als ſie dem Landtage vorſchlug, daß die königliche Domänenkaſſe mit der ſtändiſchen Generalſteuerkaſſe ver - einigt werden, der König aber zur Beſtreitung der Koſten ſeines Hofhalts ſich eine Anzahl Domänen als Krondotation auswählen ſolle.

Damit ward die Einheit des Staatshaushaltes hergeſtellt und das ſtändiſche Schatzcollegium aufgehoben, das bisher die Steuerkaſſe ver - waltet und in endloſen Händeln beſtändig verſucht hatte, der Königlichen Kaſſe die volle Hälfte der Staatsausgaben aufzubürden. Dem Monarchen brachte die Kaſſenvereinigung nur Vortheil; ſie überhob ihn des unwür - digen Streites mit den Schatzräthen und erhöhte ſein freies Einkommen auf mehr als das Doppelte. Gleichwohl entſchloß ſich der König nur ſchwer, in die unabweisbare Reform zu willigen, denn er kannte ſeine deutſchen Stammlande kaum und beurtheilte ſie nach dem engliſchen Maßſtabe. Gerade in England, wo doch Begriff und Name der Civil - liſte entſtanden waren, hatte die Krone ſtets aus der Civilliſte einen Theil der Staatsverwaltungskoſten beſtritten, und erſt ganz neuerdings, 1831, war es dem Cabinet Grey nach ſchweren Kämpfen gelungen, Hof - ausgaben und Staatsausgaben ſcharf zu ſondern. Die Torys aber161Das hannoverſche Staatsgrundgeſetz.murrten noch immer über dieſe Neuerung; ſie klagten: ein Monarch, der eine unüberſchreitbare Summe für ſeinen Hofhalt beziehe, ſei ein stipen - diary, ein insulated king und habe nicht mehr das Recht Gnaden zu erweiſen. Der gutherzige König fühlte ſich daher peinlich überraſcht, als er ſeine beſcheidenen deutſchen Unterthanen deſſelben Weges gehen ſah wie die Reformer der Whigpartei. Endlich gab er nach und willigte in die Kaſſenvereinigung. Mit einem Zuge fiel der Vorhang von den wun - derſamen Geheimniſſen dieſes Finanzweſens. Nun erſt konnte der Landtag die geſammten Staatsausgaben überſehen und einen deutlichen Begriff gewinnen von allen den penſionirten Fähnrichen mit Premierleutnants - Charakter , von allen den Geheimeraths-Waiſen und Staats-Pfründnern, welche an der gaſtlichen Krippe der alten Adels-Oligarchie gefüttert wurden.

Nach dieſem entſcheidenden Erfolge zeigten ſich die Stände überaus beſcheiden in ihren Anſprüchen. Die Regierung erkannte wohl, daß in jedem geordneten Staate die meiſten Ausgaben dem Rechtsgrunde nach, viele auch dem Betrage nach geſetzlich feſtſtehen und mithin von den Kammern nicht eigentlich bewilligt, ſondern nur rechnungsmäßig geprüft werden können. Sie ſchlug daher vor, daß die Beſoldungen ſowie die anderen regelmäßigen Ausgaben der einzelnen Verwaltungszweige durch vereinbarte Regulative ein - für allemal beſtimmt, und alſo nur 1 ½ Mill., ſtreng genommen nur 200000 Thaler, jährlich der freien Bewilligung des Landtags unterliegen ſollten. Der Vorſchlag war in den einfachen Verhältniſſen eines Kleinſtaats wohl durchführbar, er raubte den Stän - den nichts, ſondern ſprach nur aus was ſchon zu Recht beſtand; aber er vertrug ſich ſchlechterdings nicht mit der herrſchenden Doctrin des con - ſtitutionellen Staatsrechts, welche kurzerhand den Landtagen die Befugniß zuſchrieb, bei jeder Budgetberathung die Staatsgläubiger ihrer Zinſen, die Beamten ihrer Gehalte zu berauben. Darum ward der Streit ſehr lebhaft, und der Kammerpräſident Rumann mußte von der liberalen Preſſe harte Vorwürfe hören, als er ſchließlich mit ſeiner Präſidialſtimme muthig den Ausſchlag gab zu Gunſten der Regierung. Auch dem Geſetz - gebungsrechte der Stände ward eine feſte Schranke gezogen. Sie ſollten zwar über den ganzen weſentlichen Inhalt neuer Geſetze entſcheiden und auch ſelber nach Belieben Geſetzentwürfe vorlegen; der Regierung aber blieb überlaſſen das alſo Vereinbarte näher zu bearbeiten , denn Stüve und ſeine geſchäftskundigen Freunde wußten aus Erfahrung, wie leicht die Einzelbeſtimmungen der Geſetze durch das unberechenbare Spiel der par - lamentariſchen Abſtimmungen verwirrt und verſchoben werden. Die öffentliche Berathung wurde dem Landtage nur geſtattet, nicht vorge - ſchrieben; und die erſte Kammer machte von dieſer Erlaubniß keinen Ge - brauch, ſie ließ ſogar in ihren veröffentlichten Protokollen die Namen der Redner weg. Tagegelder galten in der deutſchen liberalen Doctrin für ein natürliches Recht der Volksvertreter; der König aber huldigte derTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 11162IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.guten altengliſchen Anſicht, und die Abgeordneten der zweiten Kammer gaben ſich endlich zufrieden, als ihnen, nicht durch die Verfaſſung ſelbſt, ſondern nur durch ein vorläufiges Reglement Diäten zugeſtanden wurden.

Schwerer gelang die Verſtändigung über die Zuſammenſetzung der beiden Kammern. Die Krone wollte nur die angeſehenſten Grundherren, die Majoratsbeſitzer in die erſte Kammer berufen, die übrige Ritterſchaft, wie in Sachſen, dem unteren Hauſe zuweiſen; erhielt ſie dann noch, wie Dahlmann vorſchlug, das Recht, ein Drittel der Mitglieder der erſten Kammer nach freiem Ermeſſen zu ernennen, ſo ließ ſich hoffen, daß die beiden Häuſer in leidlicher Eintracht zuſammenarbeiten würden. Wall - moden begrüßte den Vorſchlag mit Freuden; er wünſchte ſelber in die zweite Kammer hinabzuſteigen um dort als Bauernführer die Herrſchſucht ſeiner eigenen Standesgenoſſen zu bekämpfen. Schele aber und die große Mehrheit des Adels fanden es beleidigend, daß Mitglieder der Ritter - ſchaft mit den Bürgern und Bauern gemeinſam in einem Hauſe tagen ſollten. Und leider arbeitete Stüve dem Junkerhochmuth in die Hände; er gerieth auf den überklugen Einfall, man müſſe den geſammten Adel in einer Kammer vereinigen um ihn alſo zu ſchwächen. Das Ergebniß der verworrenen Berathung war, daß der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden Kammern, der ſo lange ſchon dieſen Landtag gelähmt hatte, auch fernerhin fortbeſtand. Die erſte Kammer blieb wie bisher ausſchließlich eine Adelsvertretung; den einzigen bürgerlichen Ritter, der einmal in dieſen Saal eindrang, nöthigte ſie binnen Kurzem zum Austritt; der zweiten Kammer aber, die fortan aus zehn Prälaten, 37 ſtädtiſchen und 38 bäuerlichen Abgeordneten beſtand, trat ſie mit zunehmender Schroff - heit entgegen.

Die Vorrechte der Ritterſchaft wagte man nur behutſam anzutaſten; das Staatsgrundgeſetz verſprach nur für die Zukunft die Beſchränkung des privilegirten Gerichtsſtandes, die Anſchließung der Rittergüter an die Landgemeinden. Sein Lieblingswerk aber, die von langer Hand her vorbereitete Ablöſung der bäuerlichen Dienſte, Zehnten und Meiergefälle, wußte Stüve jetzt doch noch durchzuſetzen, damit der uralte niederſäch - ſiſche Grundſatz frei Mann, frei Gut endlich zur Wahrheit würde. Der Adel ſträubte ſich aufs Aeußerſte, und jahrelang mußte Stüve noch mit dem Führer der Junkerpartei wegen der Ausführung der neuen Ablöſungs-Ordnung einen perſönlichen Kampf ausfechten. Da ſein kleines Landgut bei Osnabrück nahe der Schelenburg lag, ſo kamen Schele’s Gutsunterthanen beſtändig herüber um ſich bei dem Bauernfreunde Rath zu holen, und der conſervative Reformer gerieth dergeſtalt in den Ruf eines demagogiſchen Verſchwörers. Als ſich die Aufregung legte, da mußten freilich die Grundherren ſelber zugeben, daß ſie durch die Ablöſung nur gewonnen hatten; der Bauernſtand aber kam jetzt endlich in die Lage ſein neugewonnenes Wahlrecht ſelbſtändig zu gebrauchen. Auf dieſe praktiſche163Schele. Stüve. Dahlmann.Freiheit legte Stüve allein Werth; die Dogmen des conſtitutionellen Ver - nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände ſelber ge - ſtanden unbefangen, daß man die häufige Wiederkehr großer Staatsproceſſe nicht erleichtern dürfe; ſie verlangten darum das Recht der Miniſteranklage nur für den Fall abſichtlicher Verfaſſungsverletzung und behielten ſich für leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beſchwerde an den König vor.

So kam das Staatsgrundgeſetz zu Stande, unzweifelhaft die be - ſcheidenſte unter den neuen norddeutſchen Verfaſſungen; bei allen Män - geln doch ein achtungswerthes Werk erfahrener Einſicht und behutſamer Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier ſei der Weg betreten, der für Deutſchland frommen könne. Eine Zeit lang gewann es den An - ſchein, als ſollte unter dieſen beſonnenen niederdeutſchen Reformern eine neue Schule des gemäßigten Liberalismus ſich bilden, wie ſie der Nation gerade noth that, ehrlich conſtitutionell und doch dem hiſtoriſchen Rechte nicht feindlich geſinnt, eine Schule, die nach Stein’s Vorbild das Künf - tige aus dem Vergangenen zu entwickeln ſuchte. Unterſtützt von Roſe, Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrauſch, ließ Stein’s Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa - niae, die Hannoverſche Zeitung erſcheinen, die erſte namhafte politiſche Zeitſchrift des kleinen Königreichs, ein ſtreng nationales Blatt, das den abſtrakten Theorien des modiſchen Liberalismus ebenſo nachdrücklich ent - gegen trat wie ſeiner polniſch-franzöſiſchen Schwärmerei und darum von der ſüddeutſchen Preſſe als ein Organ der pfäffiſchen Reaktion gebrand - markt wurde. Sein Wahlſpruch lautete: Treue iſt der Grundzug des deutſchen Charakters, und Treue iſt Freiheit. Nach einem kurzen viel - verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung, welche das ganze Land heimſuchte; unter den Männern des praktiſchen Lebens hatte ſie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politiſirenden Gelehrten, die ſelten lange bei der Stange aushalten, zogen ſich nach und nach zurück.

Ueber der neuen Verfaſſung ſchwebte kein glücklicher Stern. Nachdem die Vereinbarung mühſam gelungen war blieb man noch ein halbes Jahr hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß Schele und der öſterreichiſche Geſandte in London Alles aufboten um das Schiff noch dicht vor dem Hafen ſtranden zu laſſen. Am 26. Sept. 1833 unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgeſetz, nachdem er etwa vierzehn unweſentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einſeitig abgeändert hatte. Der neue Landtag beeilte ſich zwar auf Stüve’s An - trag die Aenderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver - hängnißvoller Fehler, daß dieſer Staat, der ſeit dem Kriege aus einem zweifelhaften Rechtszuſtande in den andern taumelte, nun ſchon zum dritten male eine Verfaſſung erhielt, deren Giltigkeit ſich mindeſtens mit Scheingründen anfechten ließ.

11*164IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Der Abſchluß des Verfaſſungswerkes wurde hier nicht wie in den Nachbarländern mit lauter Freude begrüßt. Den eifrigen Liberalen ge - nügte dieſe maßvolle Reform mit nichten, die Maſſe des Volkes aber war aus der Aufregung des Revolutionsjahres längſt wieder in die alte Gleich - giltigkeit zurückgefallen. Kurheſſen und Sachſen traten bald nach ihrer politiſchen Neugeſtaltung dem Zollverein bei, und die öffentliche Meinung wähnte in begreiflicher Selbſttäuſchung, daß man das kräftig aufblühende wirthſchaftliche Leben nicht der Freiheit des deutſchen Marktes, ſondern der Verfaſſung verdanke. In Hannover dagegen wurden die handelspoli - tiſchen Folgerungen, die ſich aus der Kaſſenvereinigung und der Steuer - reform unabweisbar ergaben, nicht gezogen, das Land verharrte bei ſeiner ſelbſtmörderiſchen engliſchen Zollpolitik, an dem ſchläfrigen Gange des Han - dels und Wandels änderte ſich nichts. So bemerkte das Volk wenig von dem Segen der neuen Ordnung. Nur die Bürger von Hildesheim holten ihren volksbeliebten Abgeordneten Lüntzel im Triumphzuge ein, und Stüve mußte ganz wie ſein verabſcheuter Gegenfüßler Rotteck in ſeiner Vaterſtadt den ſilbernen Ehrenbecher als liberalen Tugendpreis dankend entgegennehmen. Das übrige Land verhielt ſich lau. Der kluge Geh. Rath Hoppenſtedt und manche andere einſichtige Beamte wollten ſich von Haus aus zu dem Staatsgrundgeſetze kein Herz faſſen, weil ſie der Zukunft mißtrauten. Sie wußten, daß der Adel ſeine Widerſpänſtigkeit noch keines - wegs aufgegeben hatte, und er herrſchte noch immer in den ſieben Pro - vinziallandtagen, die mit verminderten Befugniſſen auch fernerhin fort - beſtehen ſollten. Schon als die Verfaſſung berathen wurde hatten mehrere dieſer Landtage ein Recht der Mitwirkung beanſprucht; als ſie beendet war, verwahrte der Ausſchuß der calenberg-grubenhagenſchen Stände in aller Stille ſeine vorgeblichen Rechte. Wie nun, wenn dieſe Adelsoppo - ſition bei dem vorausſichtlich nahen Thronwechſel den Monarchen ſelbſt für ſich gewann? Ueber den Thronfolger, den Herzog von Cumberland, liefen bedenkliche Gerüchte um. Man erfuhr, daß er mit Schele in Ver - bindung ſtehe und die neue Ordnung mißbillige. Doch nur wenige Ein - geweihte wußten, welch ein unwürdiges Spiel insgeheim im Welfenhauſe getrieben wurde.

Ernſt Auguſt von Cumberland blickte auf die deutſchen Dinge mit der Hoffart des ſtarren Hochtorys hernieder; er hielt es nie der Mühe werth, das Staatsrecht des Landes, das er dereinſt beherrſchen ſollte, kennen zu lernen, und begnügte ſich mit der unbeſtimmten Vorſtellung, daß den Agnaten in Hannover eine Art Mitregierungsrecht, mindeſtens für außerordentliche Fälle, zuſtehe. Von dieſem angemaßten Rechte machte er auch mehrmals Gebrauch, doch niemals offen, niemals ohne jene Winkel - züge, welche ſeinem aus Schroffheit und Heimtücke ſeltſam gemiſchten Cha - rakter geläufig waren. Bei Lord Eldon und den anderen Freunden von der ſtrengen Tory-Partei hatte er als höchſte politiſche Weisheit gelernt,165Ernſt Auguſt von Cumberland.daß man an dem Beſtehenden nichts ändern dürfe; darum wünſchte er die Aufrechterhaltung der alten Provinzialſtände. Sobald im Jahre 1814 die allgemeine Ständeverſammlung berufen wurde, erklärte er ſich da - wider in einer Denkſchrift an den Prinzregenten, aber ganz in der Stille, ſo daß ſelbſt ſein Bruder Clarence, der ſpätere König Wilhelm, kein Wort davon erfuhr; auch gegen die zweite Verfaſſungsänderung vom Jahre 1819 erhob er Einſpruch bei dem Prinzregenten, aber nur mündlich und wieder insgeheim. *)Näheres in Beilage 18.Beide Verwahrungen blieben unbeachtet. Man ſah auch ſtillſchweigend darüber hinweg, daß der Herzog jeden amtlichen Verkehr mit dem Allgemeinen Landtage vermied und der Ständeverſamm - lung, als ſie ſich im Jahre 1822 ihm vorſtellen wollte, kurzweg erwidern ließ: er könne nur die einzelnen Mitglieder als Privatleute empfangen.

Als nun der Entwurf des Staatsgrundgeſetzes vorlag, hielt der ge - wiſſenhafte König für nöthig, die Meinung des Thronfolgers einzuholen, obgleich er dem Herzog wenig traute und ihm deshalb auch bei der Be - ſetzung der Stelle des Vicekönigs den jüngeren Bruder Cambridge vor - gezogen hatte. Schon im October 1831 ließ er ihm durch Ompteda und Cabinetsrath Falcke den Verfaſſungsplan mittheilen, der bereits den Vor - ſchlag der Kaſſenvereinigung enthielt, und war freudig überraſcht, als Cumberland dafür in einem überaus verbindlichen Briefe dankte. Ich kann nicht genug meine vollkommene Befriedigung in aller und jeder Be - ziehung erklären ſo ſchrieb Ernſt Auguſt am 31. October und pries den Edelmuth und die Uneigennützigkeit des Königs, der alſo bewieſen habe, daß Ihr einziger Zweck iſt, die Finanzen des Landes Hannover auf einen ſolchen Fuß zu ſetzen, daß Ihre Nachfolger keine Schwierigkeiten haben ſollen. Nur gegen drei Beſtimmungen erhob er Einwände. Zunächſt gegen die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, die ſelbſt König Ludwig von Baiern für gefährlich halte. Sodann wider die Tagegelder der Abgeord - neten; doch hier, meinte er in ſeiner rohen Weiſe, ſei vielleicht eine kluge Nachgiebigkeit möglich: dann werden die Koſten wenigſtens auf das Land fallen und nicht auf den Souverän; und mit ſolchen Einſchränkungen, daß die Stände das Geſchäft nicht hinausziehen können um deſto länger bezahlt zu werden. Zum Dritten fand er es bedenklich, daß die beur - laubten Soldaten unter der bürgerlichen Obrigkeit ſtehen ſollten eine Frage, die in dem Entwurfe unmittelbar gar nicht berührt war. Ganz in demſelben Sinne hatte er Tags vorher an den Herzog von Cambridge geſchrieben und inbrünſtig verſichert: der Plan macht Beiden, dem Könige und der Regierung, die höchſte Ehre. Des Königs Kopf und Herz haben bei dieſer Gelegenheit geglänzt. **)Cumberland an Cambridge, 30. Oct., an König Wilhelm, 31. Oct. 1831.

Der gute König war ſeelenfroh, er dachte ja ſelbſt keineswegs liberal,166IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſondern ließ ſich nur von der Strömung der Zeit treiben, und verſicherte dem Bruder herzlich, daß er bei dem Entwurfe beſonders an die Inter - eſſen ſeiner Nachfolger gedacht habe, an Sie und Ihren hoffnungsvollen Sohn. Es ſchien mir von der äußerſten Wichtigkeit für die Wohlfahrt und das Glück des Landes und für Ihre eigene Behaglichkeit und Ruhe, daß Sie von den mir gemachten Vorſchlägen vollſtändig unterrichtet wür - den . Die Bedenken des Herzogs gegen die Oeffentlichkeit und die Tage - gelder fand der König wohlbegründet; er verſprach, daß ſie von der Regierung erwogen und nach den Umſtänden berückſichtigt werden ſollten. *)König Wilhelm an Cumberland, 3. Nov. 1831.Und er hielt Wort. Lediglich dem Thronfolger zu Liebe wurde die dem Landtage ſo oft verheißene Oeffentlichkeit dahin abgeſchwächt, daß den beiden Kammern nur geſtattet ſein ſollte Zuhörer zuzulaſſen; und aus demſelben Grunde verwies man die Zuſage der Diäten in ein vorläufiges Regle - ment. Weiter ließ ſich die zarte Rückſicht auf einen rechtlich bodenloſen Einſpruch in der That nicht treiben. Neue Einwendungen konnte die Regierung jetzt um ſo weniger erwarten, da Ernſt Auguſt die einzige Vorſchrift des Staatsgrundgeſetzes, welche vielleicht der Zuſtimmung der Agnaten bedurfte, die dem königlichen Hauſe ſo vortheilhafte Kaſſenver - einigung mit warmer Dankbarkeit gebilligt hatte.

Aber mittlerweile begann Schele ſeine unterirdiſche Arbeit; er ſchil - derte dem Herzog das Staatsgrundgeſetz als ein Werk ruchloſer Dema - gogen und wußte vornehmlich die Parteivorurtheile des Hochtorys wider die Civilliſte gewandt auszunutzen: die Kaſſenvereinigung, die faſt in allen größeren Bundesſtaaten längſt beſtand, ſollte in Hannover das monar - chiſche Princip vernichten! Aus den Berichten des Geſandten Münchhauſen in Berlin erfuhr der König bald, daß ſein Bruder ſich ſehr abfällig über die neue Verfaſſung äußere. Als die Miniſter im October 1833 dem Thronfolger das erlaſſene Staatsgrundgeſetz mittheilten und ihn fragten, ob er ſeinen Sitz in der erſten Kammer einnehmen wolle, da empfingen ſie eine kurze, ſchnöde Antwort (29. October). Der Herzog erwähnte, daß er ſchon bei ſeinem ſeligen Bruder gegen die Einführung der allgemeinen Stände proteſtirt habe, weil die Einwilligung der Agnaten dazu nicht eingeholt worden ſei, und ſchloß trocken: Von Allem was weiter vorge - kommen bin ich nicht gehörig unterrichtet und kann mich deshalb auch durch das neue Geſetz noch nicht gebunden halten. **)Cumberland an das k. Miniſterium in Hannover, 29. October 1833.Die Abſicht dieſes hinterhaltigen Schreibens war durchſichtig genug: zu ehrlichem Einſpruch hatte der Welfe nicht den Muth, doch für den Fall ſeiner Thronbeſteigung dachte er ſich die Hände frei zu halten. Wollte die Regierung nicht die ganze Zukunft des Staatsgrundgeſetzes gefährden, ſo mußte ſie, nach einer ſolchen Probe welfiſcher Zweizüngigkeit, von dem Thronfolger eine un -167Cumberland’s Zweizüngigkeit.umwundene Erklärung verlangen: offenen Proteſt oder offene Zuſtimmung. Aber wie konnten ſich dieſe Stralenheim, Alten, Schulte, von der Wiſch zu einer ſo ärgerlichen Ombrage entſchließen, die den vornehmen alt - hannoverſchen Staatsſitten gänzlich widerſprochen hätte? Die Miniſter berichteten zunächſt an den König; und der gemüthliche Herr meinte: man möge eine ausgleichende Erwiderung an ſeinen Bruder abgehen laſſen; einen günſtigen Erfolg erwarte er freilich nicht, doch würden die abwei - chenden Anſichten des Herzogs wohl nur ihm ſelber, nicht dem Lande zum Nachtheil gereichen eine deutliche Anſpielung auf Cumberland’s ſchwere Schuldenlaſt. *)Bericht des hannov. Miniſteriums an Ompteda in London, 13. November. Bericht des Geh. Raths Lichtenberg an das Miniſterium, London 3. Dec. 1833.

Nunmehr beſchloſſen die Miniſter dem Thronfolger zu antworten; denn obwohl ſein Brief nach Form und Inhalt nicht für eine eigentliche Proteſtation zu halten ſei, ſo könne man doch die Beſorgniß nicht unter - drücken, daß dieſem Aktenſtücke früher oder ſpäter eine andere Abſicht untergelegt werden könnte. Sie erwiderten alſo dem Herzoge (11. Dec.): von ſeinen früheren Proteſten habe ſich keine Spur vorgefunden; auch ſei die Zuſtimmung der Agnaten zu Verfaſſungs-Aenderungen zwar wünſchenswerth, aber keineswegs nothwendig und ſchon bei der Union der Landſchaften Calenberg und Grubenhagen im Jahre 1801 nicht mehr eingeholt worden. Alsdann hielten ſie ihm vor, wie gewiſſenhaft das Staatsgrundgeſetz die königliche Autorität zu ſtärken ſuche, und wie ſorglich man des Herzogs Bedenken gegen die Diäten und die Oeffentlichkeit berück - ſichtigt habe. **)Schreiben des Miniſteriums an Cumberland, 11. Dec. Antwort des Mini - ſteriums an Lichtenberg, 13. Dec. 1833.Durch dieſe matte Erwiderung meinten ſie ihr Gewiſſen beſchwichtigt zu haben; und doch mußten ſie wiſſen, daß Cumberland inzwiſchen (29. Nov.) ſeinem Bruder Cambridge noch deutlicher geſchrieben hatte: einigen Beſtimmungen des Staatsgrundgeſetzes, namentlich der Anordnung über die Domänen, werde er niemals beipflichten.

Als der Herzog zu Anfang des nächſten Jahres nach London kam, hatte Geh. Rath Lichtenberg drei amtliche Unterredungen mit ihm wegen des Staatsgrundgeſetzes, und hier ward die Falſchheit des Welfen ganz offenbar. Auf ſeine früheren beiden Bedenken legte er nur noch geringen Werth. Wenn ich anfangs nur dieſe beiden Punkte hervorgehoben habe, wird daraus nie der Schluß gezogen werden können, daß ich allem Uebrigen meinen Beifall gegeben dies wagte er jetzt zu behaupten, obgleich er einſt ſeinen beiden Brüdern ausdrücklich erklärt hatte, er ſei mit Allem und Jedem einverſtanden. Am anſtößigſten erſchien ihm jetzt die Kaſſenvereinigung, die er früher gebilligt hatte; niemals, ſo wieder - holte er feierlich, könne und werde er einer ſolchen Neuerung zuſtimmen. 168IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Und zwiſchen allen dieſen Winkelzügen immer wieder die biedere Ver - ſicherung: ich ſage meine Anſicht immer frei und offen, ich denke immer nur an die Sache, nicht an die Perſon! Selbſt der unterthänige Lichten - berg wagte am Schluſſe ſeines erſten Berichts nur zu bemerken, daß der Eindruck der Unterredung auf den Herzog wenigſtens kein durchaus ungünſtiger zu ſein ſchien . *)Lichtenberg’s Berichte an das Miniſterium, 28. Febr. 27. März 1834.Den Miniſtern aber konnte nach Allem was geſchehen nicht mehr zweifelhaft bleiben, daß der Thronfolger die Verfaſſung umſtoßen wollte und daß er in ſeinem frechen Hochmuth ſich einbildete, er brauche nur dem beſtehenden Rechte die Anerkennung zu verſagen, dann ſei es auch ſchon vernichtet. Gleichwohl thaten ſie nichts mehr um der drohenden Gefahr vorzubeugen. Sie wußten wohl, daß ſtaatsrechtliche Belehrungen bei dem harten Eigenſinn dieſes Welfen nichts auszurichten vermochten; doch ſchmeichelten ſie ſich mit der Hoffnung, der von Gläubigern verfolgte Herzog werde einen Staatsſtreich nicht wagen können; ſchlimmſten Falls rechneten ſie auf den Schutz des Bundestags für die neue, unzweifelhaft in anerkannter Wirkſamkeit ſtehende Ver - faſſung.

Bei der Berathung des Hausgeſetzes, das ſich an die Verfaſſung anſchließen ſollte, verfuhr der Herzog ebenſo hinterhaltig. Allem Anſchein nach hat er auch hier zuerſt in unverbindlicher Form ſein Einverſtändniß kundgegeben, um ſich nachher die endgiltige Erklärung für die Zukunft vor - zubehalten. Dahlmann, der den Entwurf des Hausgeſetzes ausarbeitete, erhielt im April 1834 vom Miniſter Stralenheim die amtliche Mittheilung, daß die Zuſtimmung der volljährigen königlichen Prinzen erfolgt ſei, eine Verſicherung die unmöglich ganz grundlos ſein konnte. Im December 1835 aber ſchrieb Ernſt Auguſt an Cabinetsrath Falcke, er könne als ehrlicher Mann das Hausgeſetz für jetzt noch nicht unterzeichnen, weil es ſo feſt mit dem Staatsgrundgeſetz zuſammenhänge. Eine frei - müthige Rechtsverwahrung wagte er auch jetzt nicht einzulegen, er ſagte nur, auf die Zukunft vertröſtend: Ich muß viel mehr Hilfe und Rath haben, bevor ich mir erlauben kann einen ſo ernſten Schritt zu thun. Demungeachtet wurde das Hausgeſetz am 19. Nov. 1836, nachdem der Landtag zugeſtimmt, als ein für Jedermann, auch für die königlichen Prinzen verbindliches Geſetz kundgemacht. Cumberland aber zeigte mit wachſender Dreiſtigkeit, daß die neue Verfaſſung für ihn nicht vorhanden ſei. In der Zeitſchrift ſeiner Getreuen, dem Berliner Politiſchen Wochenblatt, wurde das Staatsgrundgeſetz wie eine jacobiniſche Tollheit bekämpft. Seinen Sitz in der Kammer nahm der Herzog niemals ein, und als er einmal zur Zeit einer Landtagseröffnung in Hannover weilte, verließ er die Stadt in dem - ſelben Augenblicke da die Stände zuſammentraten, um in Derneburg den grollenden Münſter zu beſuchen.

169Schleswigholſtein. Falck.

Je deutlicher die unredlichen Hintergedanken des Thronfolgers ſich enthüllten, um ſo rathſamer ſchien es die Bürgſchaft des Bundestags für das Staatsgrundgeſetz zu erbitten; ſie wäre dieſer conſervativen Ver - faſſung wohl leichter gewährt worden als der radicalen kurheſſiſchen. Aber die Regierung wagte nicht einmal den Verſuch. Roſe fühlte ſich überall gehemmt durch das ſtille Widerſtreben ſeines unberechenbaren Nebenbuhlers Geh. Rath Falcke. Obwohl die neue Ordnung des Staatshaushaltes ſich trefflich bewährte und bald erhebliche Ueberſchüſſe erzielte, ſo wurden doch die zur Ausführung der Verfaſſung verheißenen Geſetze bei Weitem nicht ſo raſch gefördert wie in Sachſen. Namentlich an die Exemtionen des Adels getraute man ſich nicht recht heran. Auch dem Landtage fehlten Zug und Schwung. Die erſte Kammer beſtand zu acht Neunteln, die zweite zu fünf Achteln aus Beſoldeten, dort ſaßen die adlichen, hier die bürgerlichen Beamten, ganz wie ſonſt: nur die Geheimen Räthe der Haupt - ſtadt waren ſeit das Land Diäten zahlte etwas ſpärlicher, dafür die Amt - männer aus den Provinzen um ſo ſtärker vertreten. Mit gutem Grunde klagte die liberale Preſſe, dies Land werde durch die Maſſe ſeiner Be - amten erdrückt wie Spanien durch das Heer ſeiner Mönche. Erſt im Jahre 1837 legte die Krone dem Landtage eine Reihe wichtiger Geſetzentwürfe vor, doch kaum hatte er die Berathung begonnen, da ſtarb König Wilhelm und eine neue Zeit der Kämpfe brach über das Welfenland herein.

In Hannover wurde durch die conſtitutionelle Bewegung mittelbar auch die Fremdherrſchaft erſchüttert, da der Sitz der Regierung fortan im Lande ſelber blieb. Noch deutlicher bekundete ſich in Schleswigholſtein, wie eng die liberalen und die nationalen Ideen der Zeit mit einander verkettet waren. Seit ihrem verunglückten Feldzuge am Bundestage war die Ritterſchaft der Herzogthümer ganz ſtill geblieben, ihr ſtreitbarer Führer Dahlmann hatte Kiel verlaſſen, und von den Verhandlungen jener Kopen - hagener Commiſſion, welche die neue Verfaſſung für Holſtein ausarbeiten ſollte, verlautete längſt kein Wort mehr. Aber Dahlmann’s Wirken hatte in den höheren Ständen die Liebe zu dem alten Rechte Trans - albingiens geweckt, in dem engeren Kreiſe der Freunde auch ſchon das helle Bewußtſein des deutſchen Volksthums; denn bei ſeinem Kampfe für das Landesrecht leitete ihn ſtets die Abſicht, daß die Fremdherrſchaft auf deutſchem Boden in ihrer unheilvollen Wirkung beſchränkt werden, daß die deutſchen Unterthanen Dänemarks Deutſche bleiben, nur gegen Deutſchlands Feinde Krieg führen müßten: das iſt ihr Charakter, ihre unfreiwillige Beſtimmung . Nach Dahlmann’s Abgang war jetzt ſein treuer Genoſſe Nic. Falck der anerkannt erſte Mann des Landes. Aus Falck’s rechtshiſtoriſchen Vorleſungen und ſeinen ſtaatsrechtlichen Schriften, aus den mannichfaltigen Aufſätzen ſeines Staatsbürgerlichen170IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Magazins ſchöpften die heranwachſenden jungen Beamten alleſammt ihre Kenntniß der halbverſchollenen ruhmreichen Landesgeſchichte. Als die Juli - revolution hereinbrach, regte ſich in weiten Kreiſen das Verlangen nach einer Verfaſſung, welche das hiſtoriſche Recht neu beleben und fortbilden ſollte. Die Regierung in Kopenhagen benahm ſich überaus furchtſam, weil ihr das Gewiſſen ſchlug. Sie wußte wohl, wie ſchwer an den Rechten der deutſchen Nordmark geſündigt worden war, und warum die Dänen ihren ſechsten Frederik als den erſten däniſchen König feierten; ſie beſorgte im Ernſte, daß ein ſchleswigholſteiniſcher de Potter erſtehen und der bel - giſche Aufruhr an der Eider ſein Gegenbild finden könnte. So bedrohlich war die Lage mit nichten. An einen Abfall dachte in den Herzogthümern noch Niemand. Selbſt das Verlangen nach geſetzlicher Reform ward niedergehalten durch die tiefe Ehrfurcht vor dem edelſten, beſten, gütigſten König, dem innig und heiß geliebten Landesvater , der ſich doch die Mühe gegeben hatte ſo viele Jahre zu leben; und ſchwerlich wäre den beſchei - denen Wünſchen der gebildeten Klaſſen irgend eine Frucht entſproſſen, wenn nicht ein tapferer Mann die Angſt der Krone benutzt hätte um zur rechten Zeit mit lauter Stimme zu fordern.

Jens Uwe Lornſen hatte nach einem ſtürmiſchen Studentenleben die letzten Jahre hindurch auf der ſchleswigholſteiniſchen Kanzlei in Kopenhagen gearbeitet und dort ſo ganz entfremdet war dieſe Behörde ihrer Heimath weder von der Geſchichte noch von dem alten Staatsrechte Schleswig - holſteins irgend etwas erfahren. Aber die glühende Begeiſterung für ſein deutſches Vaterland blieb dem alten Burſchenſchafter unverloren; ſein innerſtes Gefühl empörte ſich, wenn die däniſchen Beamten ihm das alte Hohnwort entgegenhielten, die Schleswigholſteiner ſollten ſich doch freuen, lieber etwas, nämlich Dänen zu ſein, als gar nichts, nämlich Deutſche. Durch ſeine amtliche Thätigkeit lernte er dann den Schlendrian und die ver - ſtändnißloſe Ungerechtigkeit der aus der Ferne wirkenden Regierung gründlich kennen. Auch die conſtitutionellen Gedanken der Zeit ergriffen ihn mächtig, er meinte die Stunde gekommen für die europäiſche Herrſchaft des Bürger - thums, und verlockend nahe lag dem Kopenhagener Beamten das Vorbild der ſchwediſch-norwegiſchen Union; der däniſche Kronprinz Chriſtian ſelbſt hatte ja einſt den Norwegern ihre gerühmte Bauernverfaſſung verliehen. In ſolchem Sinne äußerte ſich Lornſen oft gegen ſeine deutſchen Amts - genoſſen; alle hörten bewundernd zu, wenn er ſich erhob, ein hochge - wachſener Nordlandsrecke mit buſchigem blondem Haar, geiſtvollem Munde, tiefen blauen Augen, und in unwiderſtehlicher Rede, feurig zugleich und würdevoll, ſeine Gedanken entfaltete. Leider ſchlummerte bereits der Keim der Krankheit in dieſem groß angelegten Geiſte; er meinte ſich gequält von einem halb wirklichen halb eingebildeten unheilbaren Leiden, und ſein Wahn lähmte ihm in entſcheidender Stunde den Muth. Der Stolze fühlte, daß er vor Vielen voraus hatte was ſeine Frieſen als höchſte Mannes -171J. U. Lornſen.tugend preiſen: rum Hart, klar Kimming, das weite Herz, den freien Ge - ſichtskreis; er hoffte dereinſt noch für ganz Deutſchland politiſch zu wirken.

Als er nun im Herbſt 1830 nach den Herzogthümern zurückkehrte um das Amt des Landvogts auf ſeiner heimathlichen Inſel Sylt anzu - treten, da erkannte er ſofort, daß jetzt der Augenblick gekommen ſei, den eingeſchüchterten Königherzog durch Petitionen und Verſammlungen zur Verleihung einer Verfaſſung zu bewegen. In Kiel und Flensburg ver - ſtändigte er ſich mit angeſehenen Männern des Bürgerthums, während der geiſtreiche junge Nationalökonom Georg Hanſſen unter den Bauern im öſtlichen Holſtein Anhänger warb. Um die Bewegung auf ein feſtes Ziel zu richten, ſchrieb Lornſen ſodann ein Schriftchen von elf Seiten über das Verfaſſungswerk in Schleswigholſtein . Er verwies darin auf die Gebrechen der Verwaltung, auf die Heimlichkeit des Staatshaushalts und forderte kurzab einen gemeinſamen Landtag für beide Herzogthümer, da die Bundesakte den Holſten Landſtände verheiße, die Trennung der Herzogthümer aber jedem Schleswigholſteiner ſchlechthin undenkbar ſei. Mehr als ein Viertel der Volksvertretung wollte er dem Adel nicht gönnen; denn fortan wird allein die Ueberzeugung des großen Mittelſtandes, bei dem die phyſiſche und intellectuelle Macht wohnt, die Welt regieren, und Alles was ſich gegen dieſe Ueberzeugung erhebt, machtlos daran zerſchellen. Dazu Verlegung aller Behörden in die deutſchen Lande, ein oberſter Gerichtshof für Schleswigholſtein, in jedem Herzogthum ein Regierungs - collegium und über beiden ein Staatsrath nach dem Vorbilde Norwe - gens; mithin Unabhängigkeit von Dänemark in allen inneren Angelegen - heiten: nur der König und der Feind ſeien uns gemeinſchaftlich. Mit nachdrücklichen Worten mahnte Lornſen ſchließlich ſeine Landsleute, der unberechenbaren Zukunft zu gedenken und nicht blindlings der Perſon des gegenwärtigen Königs zu vertrauen, dem wir die Unſterblichkeit wünſchen. Unſer König iſt kein gemachter, ſondern ein geborener Bürger - könig.

Kaum begonnen brach das kühne Unternehmen ſchon zuſammen. Die Ritterſchaft erklärte ſich dawider, weil ſie den bürgerlichen, liberalen Zug der Bewegung fürchtete, und verſicherte dem Könige in einer Er - gebenheits-Adreſſe, die Anforderungen der Zeit müßten allerdings berück - ſichtigt werden, aber ohne Uebereilung. Noch lebhafter eiferten der hoch - conſervative Herzog von Auguſtenburg und ſein Bruder Prinz Friedrich von Noer gegen den gefährlichen Demagogen. Selbſt die Bürger und Bauern wurden ſcheu ſobald der Kieler Stadtrath den kleinmüthigen Beſchluß gefaßt hatte, für eine Eingabe an den König ſei der gegen - wärtige Zeitpunkt nicht geeignet. Keine einzige Petition ging nach Kopen - hagen ab. Lornſen aber, der Feldherr ohne Heer, wurde noch im No - vember verhaftet, und dem kranken Manne verſagte die Kraft; er wagte weder die Einleitung eines öffentlichen fiscaliſchen Verfahrens zu fordern172IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.noch die Akten ſeines Proceſſes zu veröffentlichen, ſondern ließ ſich ge - duldig zur Feſtungsſtrafe verurtheilen, da er ja unleugbar ſeine Amts - pflicht verletzt hatte.

Und doch wirkte Lornſen’s Schrift mächtig nach; ſie ward wirklich, wie die däniſchen Beamten grollend ſagten, eine in die Herzogthümer geſchleuderte Brandfackel, ſie verbreitete den Gedanken der Selbſtändig - keit des untheilbaren Schleswigholſteins in weiten Kreiſen des Mittel - ſtandes, welche einſt dem Kampfe des Adels um das alte Landesrecht gleichgiltig zugeſchaut hatten. In wenigen Monaten erſchienen dreißig Flugſchriften für und wider. Manche darunter ergingen ſich nur in philiſterhaften Klagen über den bacchantiſchen Taumel der neuerungs - ſüchtigen Zeit, über die taktloſe, dem heißgeliebten Könige zugefügte Krän - kung, und mahnten gemüthlich: ein Jeder lern ſeine Lektion, ſo wird es wohl im Lande ſtohn. Wit v. Dörring, der Verräther der Burſchen - ſchaft, hatte ſogar die Frechheit, ſeine holſteiniſchen Landsleute zu warnen vor jenem Deutſchland, das niemals war, nirgends iſt und niemals ſein wird . A. Binzer aber, Lornſen’s ſangesluſtiger Freund von Jena her, und der junge Hiſtoriker Michelſen gingen dem Dänen Schmidt - Phiſeldeck ſcharf zu Leibe und erklärten rundheraus: Schleswigholſtein verlange nicht die Unabhängigkeit wie Belgien, ſondern eine ſelbſtändige Stellung unter dem däniſchen Königshauſe, wie ſie Hannover neben Eng - land oder Finnland neben Rußland einnehme. Der greiſe König, der in ſeiner Angſt dem Statthalter der Herzogthümer ſchon außerordentliche Vollmachten zur Unterdrückung von Ruheſtörungen ertheilt hatte, er - kannte nun doch, daß er einlenken müſſe. Durch ein Geſetz vom 28. Mai 1831 verkündete er ſeine Abſicht, in jedem der beiden Herzogthümer, ebenſo in Jütland und auf Seeland einen berathenden Provinziallandtag nach preußiſchem Muſter einzuführen. Weiter wollte er nicht gehen; vorſorg - lich hatte er ſchon ſeinen oldenburgiſchen Nachbarn durch die Höfe von Berlin und Petersburg vor den Gefahren des reinen Repräſentativ - ſyſtems warnen laſſen. *)Schöler’s Bericht, Petersburg 30. März 1831.

Immerhin war nunmehr die erſte Breſche geſchlagen in das ſchranken - loſe Alleingewalt-Erbkönigthum des däniſchen Königsgeſetzes, und der un - glückliche Lornſen, der jetzt von den Wällen der einſamen Feſte Friedrichsort auf die Gewäſſer der Kieler Föhrde hinausblickte, durfte ſich ſagen, daß er den Dänen wie den Holſten die Bahn eines freieren Staatslebens eröffnet hatte. Da das neue Geſetz die Untheilbarkeit Schleswigholſteins zu bedrohen ſchien, ſo legte die Ritterſchaft am 7. Juli förmliche Ver - wahrung ein und erklärte dem Könige, das alte Landesrecht könne durch dieſe blos adminiſtrative Maßregel nicht berührt werden. Die Krone ließ es an Beſchwichtigungen nicht fehlen und berief im folgenden Jahre173Provinzialſtände für Schleswig und Holſtein.erfahrene Männer aus den Herzogthümern nach Kopenhagen, um mit ihnen die Grundzüge der Provinzialverfaſſungen feſtzuſtellen. Unterſtützt von Niebuhr’s Freunde, dem feurigen Romantiker Grafen Adam Moltke, verſuchte hier Falck nochmals einen gemeinſamen Landtag für Schleswig - holſtein durchzuſetzen. Er unterlag. Am 15. Mai 1834 wurde endlich die Bildung der beiden Provinziallandtage für die Herzogthümer ange - ordnet.

In beiden erhielten Ritterſchaft und Großgrundbeſitz nur etwa ein Drittel der Stimmen; je ein Drittel der Abgeordneten ſollte von den ſtädtiſchen und den ländlichen Grundbeſitzern unmittelbar gewählt werden. Dieſe kühne Neuerung überraſchte allgemein; denn faſt in allen anderen deutſchen Staaten beſtand das Syſtem der indirekten Wahlen, und ſelbſt die Liberalen hegten noch überall das Vorurtheil, daß nur ſo die öffent - liche Ordnung geſichert werden könne. Noch größer war das Erſtaunen, als der König nicht nur den alten nexus socialis der ſchleswigholſtei - niſchen Ritterſchaft ſowie alle die anderen, beide Herzogthümer verbinden - den Rechtsverhältniſſe ausdrücklich anerkannte, ſondern ſogar neue hoch - wichtige gemeinſame Inſtitutionen einführte: ein Oberappellationsgericht, das in Kiel, eine gemeinſchaftliche Provinzialregierung, die auf dem Schloſſe Gottorp hauſen und das ſchleswigholſteiniſche Wappen führen ſollte. In demſelben Augenblicke, da man die Landſtände der Herzogthümer trennte, wurde alſo die Einheit ihrer Rechtspflege und Verwaltung neu befeſtigt, ſtärker befeſtigt als Lornſen ſelbſt zu fordern gewagt hatte. Offenbar wußte König Friedrich nicht genau was er that; er fühlte nur dunkel, daß er ſeinen deutſchen Landen irgend ein Zugeſtändniß ſchuldig ſei, und ahnte nicht die unausbleiblichen Folgen der Gewährung.

In Schleswigholſtein waren ſelbſt Falck und die Ritterſchaft ſofort entſchloſſen, ihrer Rechtsbedenken ungeachtet das königliche Geſchenk anzu - nehmen; denn durch die Errichtung der Provinzialſtände wurde die Un - theilbarkeit der Lande nicht gradezu aufgehoben, erhielt doch auch Jütland ſeinen eigenen Landtag neben den Inſeln. Da die Landtage beider Herzog - thümer nach denſelben Grundſätzen gebildet waren und beide der Regel nach dieſelben Geſetze vorgelegt erhielten, ſo erſchienen ſie faſt wie zwei Curien einer Ständeverſammlung und konnten vielleicht im Laufe der Zeit förmlich vereinigt werden. In ſolchem Sinne verfaßte Franz Hege - wiſch, der geiſtvolle, beim Adel und Bürgerthum gleich angeſehene Kieler Arzt, eine Schrift: Für Holſtein, nicht gegen Dänemark. Wie alle Patrioten der Nordmark hielt er die Verbindung mit Dänemark noch für ein Glück und meinte arglos, dieſer heilſame Bund werde am beſten ge - ſichert, wenn die Herzogthümer unter ſich eng vereinigt blieben und Schleswig alſo das Bindeglied bilde zwiſchen dem deutſchen Bundeslande Holſtein und den däniſchen Provinzen. In der That konnte nur eine ehrliche Politik, die das alte Recht der ihrem Königshauſe ſo treu er -174IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.gebenen deutſchen Lande gewiſſenhaft ſchonte, den Zerfall des däniſchen Geſammtſtaates vielleicht noch abwenden.

Die Dänen aber begannen bereits andere Wege zu gehen. Ihr Selbſtgefühl war durch die Nachgiebigkeit des Königs, die ſie doch allein dem Deutſchen Lornſen verdankten, mächtig angewachſen, ſie feierten den Geburtstag ihrer neuen Verfaſſung als ein nationales Feſt. Nicht ganz mit Unrecht. Eine neue Epoche der däniſchen Geſchichte war angebrochen, und der vertriebene Schwedenkönig Guſtav IV. wußte wohl, warum er als möglicher Erbe der Krone feierliche Verwahrung einlegte gegen die vollzogene Beſchränkung der abſoluten Königsgewalt. Die Hauptſtadt hallte wider von politiſchen Kämpfen, und in der allezeit erregbaren Kopenhagener Jugend bildete ſich ſchon eine neue Partei, die den natio - nalen Gedanken über jede andere Rückſicht ſtellte. Dieſe Eiderdänen, wie man ſie ſpäterhin nannte, verdammten die Bildung der neuen ſchleswigholſteiniſchen Provinzialregierung als einen argen Mißgriff und verlangten die gänzliche Trennung der beiden Herzogthümer; ſie wollten im Nothfall auf das deutſche Holſtein, das man doch nicht daniſiren könne, verzichten, Schleswig aber bedingungslos dem Einheitsſtaate Dänemark einverleiben und auch die rein-deutſche Südhälfte dieſes Herzogthums gewaltſam der ſkandinaviſchen Geſittung unterwerfen. Noch ward die neue Loſung Dänemark bis zur Eider nur von wenigen übermüthigen jungen Männern nachgeſprochen; aber die Zahl ihrer Anhänger wuchs, und gelangten die Eiderdänen je zur Herrſchaft, ſo wurden unfehlbar alle die drei politiſchen Kräfte, welche im Volke Schleswigholſteins noch halb unbewußt arbeiteten, zugleich aufgeregt und zu unverſöhnlichem Widerſtande gezwungen: das Rechtsgefühl, der Freiheitsmuth, der deutſche Nationalſtolz.

Wieder war es Lornſen, der zuerſt in der Nordmark die Zeichen der verwandelten Zeit erkannte. Der hatte ſich während ſeiner Haft raſtlos forſchend in die Geſchichte der Herzogthümer eingelebt und mit freudigem Erſtaunen entdeckt, wie faſt Alles was er einſt aus politiſchen Gründen für ſeine Heimath verlangt, ſchon in den alten Freiheitsbriefen des Landes begründet war: Die Schleswigholſteiner , ſo ſagte er nunmehr, haben nichts zu wünſchen was ſie nicht auch zu fordern ein Recht haben. Froh dieſer neu gewonnenen Erkenntniß arbeitete er nun an einem Buche über Die Unionsverfaſſung Dänemarks und Schleswigholſteins , um ſeinen Landsleuten zu zeigen, wie ſie auf dem Boden ihres alten Rechtes den neuen Staat Schleswigholſtein aufbauen ſollten. Gegen Falck’s ſtreng conſervative Geſinnung ſprach er ſehr ſcharf, nicht ohne die Un - gerechtigkeit, welche den Vertretern neuer, zukunftsreicher Gedanken anzu - haften pflegt. Sein Ziel lag ſchon höher: er wollte jetzt die reine Per - ſonalunion, die Selbſtändigkeit des transalbingiſchen Staates auch im Heerweſen und Staatshaushalt. Er warnte die Holſten vor dem gut -175Beginn des nationalen Kampfes.müthigen Wahne, als ob ſie durch ihre Verbrüderung mit den Schles - wigern den däniſchen Geſammtſtaat ſtärken, der Krone einen Dienſt er - weiſen könnten, und enthüllte ihnen ſchonungslos die Hintergedanken der Dänen, die offenbar darauf ausgingen, Schleswig zu verſchlingen, die Verbindung der Herzogthümer zu zerreißen. Ebenſo ſcharf faßte er auch die Erbfolgefrage ins Auge und zeigte, daß in Schleswigholſtein allein dem Mannesſtamme die Thronfolge gebühre, in Dänemark aber ſeit dem Königsgeſetze auch dem Weiberſtamme, und mithin, da das däniſche Haus nur noch auf ſechs Augen ſtand, leicht eine Trennung der beiden Staaten eintreten könne. Die formloſe Schrift zeigte vielfach die Mängel überhaſteter Forſchung, aber auch überall die große Leidenſchaft eines ge - borenen Publiciſten, der mit feſtem Griff das Weſentliche aus der Fülle des Stoffes heraushob und dem Leſer unerbittlich eine Entſchließung auf - zwang; ſie ward erſt nach dem Tode des Verfaſſers durch Georg Beſeler herausgegeben und hat dann als ein theueres Vermächtniß auf die nationalen Kämpfe der vierziger Jahre noch ſtark eingewirkt. Lornſen ſchrieb daran unter unſäglichen Qualen, in der Sonnengluth Braſiliens, wo er nach überſtandener Haft vergeblich Heilung für ſeine Krankheit ſuchte; die aufopfernde Freundſchaft des treuen Hegewiſch vermochte den Unſeligen nicht mehr aufzurichten. Nach Europa zurückgekehrt gab er ſich in den Wellen des Genfer See’s ſelbſt den Tod (1838), der Edelſten einer aus der langen Reihe der Kämpfer und Dulder, welche dem Tage der deutſchen Einheit vorangingen.

Die Schleswigholſteiner brauchten noch eine gute Weile bis ſie die feindſeligen Anſchläge des Dänenthums ebenſo klar wie Lornſen erkannten. Wie hätte ſich auch in dieſem behaglichen Sonderleben das Verſtändniß für nationale Machtfragen raſch entwickeln können? Selbſt Hegewiſch, der über den Geſichtskreis ſeiner Holſten weit hinausſah, meinte damals noch gemüthlich: einer Kriegsflotte bedürfen die Herzogthümer nicht; Ham - burger Schiffe befahren alle Meere ganz ohne bewaffnete Seemacht. Als die neuen Landtage zuerſt angekündigt wurden, ließ Falck die Schriften zweier Kopenhagener Liberalen, des Profeſſors David und des ehrgeizigen jungen Capitäns Tſcherning, über die preußiſchen Provinzialſtände über - ſetzen und ſprach im Vorworte ganz wie ein guter Landsmann der beiden Dänen. Noch vier Jahre ſpäter wurde David, als er nach einem glück - lich überſtandenen Preßprozeſſe durch Kiel kam, von den Studenten als ein Held der Freiheit gefeiert, obgleich ſeine Zeitung Faedrelandet das Deutſchthum Schleswigs offen bekämpfte. Die erſten Verhandlungen der beiden Landtage verliefen noch ziemlich ſtill. Die Stände bekundeten zwar mehrfach jenen Drang nach Erweiterung der eigenen Rechte, der ſich in berathenden Parlamenten, wenn ſie nicht ganz in Schlummer verſinken, unausbleiblich einſtellt; ſie verlangten eine beſchränkte Oeffent - lichkeit für ihre Berathungen und genauere Rechenſchaft über den Staats -176IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.haushalt, da ſie das Deficit fünfmal höher ſchätzten als die Regierung angab. Zwiſchen dem Herzog von Auguſtenburg, dem harten Ariſtokraten, und den bäuerlichen Abgeordneten Schleswigs kam es auch ſchon zu lebhaften Wortgefechten, welche den verhaltenen Parteihaß errathen ließen.

Ernſte Kämpfe brachte aber erſt die zweite Tagung im Jahre 1838, als die dreiſten Uebergriffe der Kopenhagener Demokratie das Selbſtgefühl der Deutſchen geweckt hatten. Auf den Vorſchlag des jungen Anwalts Orla Lehmann, eines feurigen, rückſichtsloſen Demagogen beſchloß die däniſche Geſellſchaft für Preßfreiheit (1836) ihre Thätigkeit auch auf Nord - ſchleswig zu erſtrecken. Ueberall im Norden der Schlei bildete ſie ihre Zweigvereine. Bald darauf ward die Schleswigſche Geſellſchaft zur Ver - breitung däniſcher Bücher gegründet. In der deutſchen Stadt Hadersleben erſchien ein däniſches Blatt Dannevirke, das ſchon durch ſeinen Namen den Kampf um die Eidergrenze ankündigte. Seitdem begann ein unruhiges Drängen und Treiben auf dem flachen Lande Nordſchleswigs. So viele Jahrhunderte hindurch redete dies Grenzvolk im Hauſe ſeinen däniſchen Dialekt, den die Inſeldänen kaum verſtanden, und ehrte das Deutſche als die Sprache der Bildung und des großen Verkehrs; Niemand nahm Anſtoß an einem Zuſtande, der ſich ohne jeden Zwang aus der Geſchichte des Landes herausgebildet hatte. Jetzt wurde den friedfertigen Bauern Nordſchleswigs Tag für Tag der Haß gegen die deutſchen Unterdrücker durch die Zeitſchriften und Sendboten der Kopenhagener gepredigt, und bald zeigte ſich auch hier, wie übermächtig der nationale Gedanke in dieſem Zeitalter herrſchte, das ſich im Streite gegen das napoleoniſche Weltreich ſeinen Charakter gebildet hatte. Eine von außen hereingetragene nationale Propaganda genügte, um einen gefährlichen Gegenſatz von Nord und Süd hervorzurufen in dieſem Schleswig, das zu allen Zeiten, auch in ſeinen Kämpfen wider Dänemark, treu zuſammen geblieben war. Im Sundewitt vornehmlich, dicht vor den Thoren der deutſchen Stadt Flensburg, trugen die Bauern ihre Begeiſterung für Gammel Dannemark herausfordernd zur Schau.

Dieſe Umtriebe der Dänen nöthigten die Deutſchen endlich zur Ab - wehr. Auf beiden Landtagen, in Schleswig wie in Itzehoe wurde die Bitte um Vereinigung der ſchleswigholſteiniſchen Landſtände, die vor drei Jahren noch zu kühn erſchienen war, jetzt beſchloſſen. Aber noch fehlte viel daran, daß die deutſche Gutmüthigkeit den ganzen Umfang der Gefahr erkannt hätte. Als der Abgeordnete Lorentzen, ein beredter, liberaler Bauer aus Nordſchleswig, die Einführung der däniſchen Gerichtsſprache in den däniſch redenden Bezirken Schleswigs befürwortete, da fand ſelbſt Falck den Vorſchlag unverfänglich; der argloſe Gelehrte ahnte nicht, wie unheimlich das Stillleben ſeiner nordſchleswigſchen Heimath in den letzten Jahren ſich verändert hatte. Vergeblich warnte der Herzog von Auguſten - burg, der diesmal weiter ſah. Der Antrag wurde mit geringer Mehrheit177Nordſchleswig. Oldenburg.angenommen, und erſt als die Dänen die ertheilte Vollmacht mit unge - ſtümer Härte mißbrauchten, gingen den Deutſchen die Augen auf. Mehr und mehr gerieth der alternde König in die Hände der däniſchen Fanatiker; er ſcheute ſich nicht, 5 Mill. Reichsbankthaler, welche die Herzogthümer von der Nationalbank zu fordern hatten, dieſer ausſchließlich däniſchen Anſtalt einfach zu ſchenken. Angeſichts ſolcher Gewaltſtreiche verſchwand allmählich die alte ſorgloſe Selbſtgenügſamkeit; die Holſten fühlten ſich als Markmannen des großen Deutſchlands. Das junge Geſchlecht empfand anders als der alte Riſt, der bis zum Grabe, unbekümmert um den Wandel der Zeiten, als treuer königlicher Beamter in der Gottorper Regierung ſeine Akten erledigte. In Kiel unterhielt Dr. Balemann einen regen Verkehr mit den Führern der ſüddeutſchen Oppoſition, und Theodor Olshauſen verfocht in ſeinem Correſpondenzblatte, der einzigen namhaften Zeitung des Landes, die Ideen eines demokratiſchen Libera - lismus, der über Falck’s altſtändiſche Anſchauungen ſehr weit hinausging. Die Unwahrheit des beſtehenden Rechtes trat einmal grell zu Tage, als der junge Juriſt Georg Beſeler den herkömmlichen Homagial-Eid leiſten ſollte und mit Schrecken entdeckte, daß der Schwur auf das absolutum dominium des däniſchen Königsgeſetzes ſich mit dem Landesrechte Schles - wigholſteins ſchlechterdings nicht vertrug. Er folgte ſeinem Gewiſſen und verließ die Heimath. Diesſeits wie jenſeits des Beltes begann man zu ahnen, daß man in ſolchen Widerſprüchen nicht mehr leben könne.

Mittlerweile ward der Fortbeſtand des königlichen Hauſes immer fraglicher, da Prinz Friedrich, der Sohn des Thronfolgers, kinderlos blieb. Mit krampfhaftem Eifer bemächtigte ſich die däniſche Preſſe der Erbfolge - frage; Leitartikel und Flugſchriften wiederholten beharrlich das alte Märchen, daß Schleswig gleich dem Königreiche Dänemark der Thron - folgeordnung des Königsgeſetzes unterliege. Zur Widerlegung erſchien im Jahre 1837 in Halle eine anonyme[Schrift] Die Erbfolge in Schleswig - holſtein , die nüchtern und ohne Wortprunk, aber ſehr nachdrücklich den Anſpruch des Hauſes Auguſtenburg auf die Herzogskrone Schleswighol - ſteins vertheidigte; ſie hielt ſich ſtreng in den Grenzen einer erbrechtlichen Unterſuchung, von politiſcher Freiheit, von dem deutſchen Volksthum Schleswigholſteins ſagte ſie nichts. Der Verfaſſer war, wie ſich bald herausſtellte, Herzog Chriſtian von Auguſtenburg ſelbſt. Die jüngere Linie des oldenburgiſchen Hauſes ſprach alſo ſchon offen die Erwartung aus, daß die deutſchen Herzogthümer ſich demnächſt von Dänemark trennen würden. Die Frage der Zukunft Transalbingiens war geſtellt.

In den benachbarten kleinen niederdeutſchen Gebieten ſtiegen aus dem Strudel der europäiſchen Revolution nur ſchwache Blaſen auf. Der Pöbel auf dem Hamburger Berge trieb einmal argen Unfug gegen die Juden und die Acciſe. Etwas ernſthafter war eine conſtitutionelle Be - wegung im Jeverlande, die bald auch in anderen Landestheilen des bunt -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 12178IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſcheckigen oldenburgiſchen Staates Anklang fand. Aber ihr fehlte der rechte Boden; denn Oldenburg hatte faſt allein unter allen deutſchen Gebieten niemals einen wirklichen Landtag geſehen, da Prälaten und Adel früh verſchwunden waren, die Städte wenig bedeuteten, die Bauern frei auf ihren ſtattlichen Höfen ſaßen und die Landesherren für ihre ſparſame Kammerguts-Verwaltung keiner Beihilfe bedurften. Nach einigem Lärm ergab man ſich darein, daß der wohlmeinende Großherzog die War - nungen ſeines däniſchen Vetters beherzigte und ſeinem Lande ſtatt der erhofften Verfaſſung nur eine neue Gemeindeordnung gab. Oldenburg blieb nach wie vor der einzige unter den größeren deutſchen Staaten, der für die Verwirklichung des Art. 13 der Bundesakte gar nichts that. Die Bureaukratie der Amtmänner führte ihr ſcharfes aber ſorgſames Regiment ungeſtört weiter.

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Dritter Abſchnitt. Preußens Mittelſtellung.

Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel - geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an - gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück - lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König - thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund - heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs, der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz - lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft, die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd - deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur langſam Eingang finden.

Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit12*180IV. 3. Preußens Mittelſtellung.den Maſchinen! Der König ließ die Stadträthe ſeiner Hauptſtadt ſehr un - gnädig an, und Bernſtorff klagte im erſten Schrecken über dies neue Sym - ptom jenes Schwindel - und Wahngeiſtes, der leicht ganz Europa in ein großes Narrenhaus verwandeln kann. *)Blittersdorff’s Bericht, 30. September. Bernſtorff, Weiſung an Maltzahn, 20. September 1830.Aber der Spuk verflog ſobald die Truppen, ohne zu feuern, einige Hiebe mit der blanken Waffe ausgetheilt hatten, und der Berliner Schneiderkrawall wäre raſch der Vergeſſenheit anheimgefallen, wenn nicht Chamiſſo dem Kleidermacher-Muthe in ſeinem Liede: Courage, Courage! ein dauerndes Denkmal geſetzt hätte. Selbſt in Poſen wurde die Ordnung nirgends geſtört, trotz der fieberiſchen Aufregung des Adels und trotz der Zuzüge, die heimlich über die polniſche Grenze gingen.

Nur auf einem entlegenen Außenpoſten ſeiner Hausmacht, in Neuen - burg, mußte König Friedrich Wilhelm für ſeinen Beſitzſtand kämpfen. Mit dem preußiſchen Staate hatte das ſchöne Juraländchen ſchlechterdings nichts gemein als das Herrſcherhaus und deſſen Erbfolgeordnung; und ſo gewiſſenhaft wahrten die Hohenzollern von jeher dies Rechtsverhältniß der reinen Perſonal-Union, daß ſogar die neuenburgiſchen Offiziere, die im franzöſiſchen Heere gegen Preußen fochten, nach der Schlacht von Roß - bach ungeſtraft als ehrliche Kriegsgefangene behandelt wurden. Nach dem unglücklichen Schönbrunner Vertrage erhielt Marſchall Berthier die Fürſten - krone, aber ſofort nach Napoleon’s Sturze wurde die hundertjährige Ver - bindung mit dem Hauſe Hohenzollern wieder angeknüpft; die Herſtellung vollzog ſich in allen Formen Rechtens, Berthier verzichtete ausdrücklich und erhielt von der Krone Preußen eine Entſchädigungsrente. Mit heller Freude empfingen die Neuenburger ſodann ihren alten König bei ſeinem Einzuge.

So lange der Lord Marſhal und die anderen königlichen Gouver - neure der fridericianiſchen Tage ihr mildes und ſorgſames Regiment führten, war die Eintracht zwiſchen Fürſt und Volk immer ungeſtört geblieben. Die Gemeinden erfreuten ſich ihrer uralten Freiheiten; die Landesverwaltung wurde unentgeltlich und mit einziger Ausnahme des königlichen Gouverneurs ausſchließlich von Landeskindern beſorgt, aber die ſtolzen Patriciergeſchlechter, welche die Aemter zu bekleiden pflegten, durften hier nicht, wie überall ſonſt in der alten Schweiz, ihre Macht zu oligarchiſchem Drucke mißbrauchen, weil die Gerechtigkeit der Monarchie ſie in Schranken hielt. Steuern blieben den Neuenburgern in dieſen könig - lichen Zeiten ganz unbekannt, der Ertrag der Domänen und Regalien nebſt einigen Grundzinſen genügte vollauf; der König bezog ein Einkommen von 27000 Thalern, das er regelmäßig zu gemeinnützigen Zwecken im Lande ſelbſt verwendete. Und wie wunderbar war der Wohlſtand auf -181Parteikampf in Neuenburg.geblüht in den unwirthlichen Jurabergen; droben im rauhen Hochthale von La Chaux de Fonds, wo kaum das Korn reifte, lag jetzt eine große Gewerbſtadt, die ihre Uhren in alle Welt verſendete, und mit dem Reich - thum der Pourtalès oder Pury konnte ſich manches Fürſtenhaus nicht meſſen.

Alle dieſe Segnungen der guten alten Zeit ſchienen jetzt zurückzu - kehren als die Hohenzollern wieder einzogen. Der König beſtätigte von Neuem die alten Landesrechte und verſtärkte ſie noch indem er den ſeit Jahr - hunderten eingeſchlummerten Landtag der Trois Etats wieder ins Leben rief. Der Gewerbfleiß nahm einen neuen Aufſchwung, da Preußen und ſeine Zollverbündeten den neuenburgiſchen Waaren große Begünſtigungen gewährten. Schon begann die gebildete Jugend ſich den deutſchen Hoch - ſchulen zuzuwenden; auch die neue Akademie der kleinen Hauptſtadt folgte, trotz der franzöſiſchen Lehrſprache, den Bahnen deutſcher Wiſſenſchaft. Die Söhne der vornehmen Geſchlechter, der Pourtalès, Sandoz, Rougemont, Crouſaz dienten häufig im Heere oder am Hofe ihres Königs. Auch für die altſchweizeriſche Reisläuferluſt des kleinen Mannes war geſorgt durch die Augenweide der Berliner Straßenjugend, das Gardeſchützenbataillon, das auf Grund einer vereinbarten Capitulation in Neuenburg angeworben und gleich den Schweizerregimentern des Papſtes oder des Königs von Neapel als eine Schaar freiwilliger ausländiſcher Söldner behandelt wurde.

Gleichwohl zeigten ſich bald die Keime inneren Unfriedens, weil das Verhältniß des Fürſtenthums zur Eidgenoſſenſchaft ſich gänzlich verſchoben hatte. Dieſer winzige Hausbeſitz, der für den preußiſchen Staat gar nichts leiſtete, ſondern lediglich Wohlthaten von den Hohenzollern empfing, be - reitete den Staatsmännern Preußens beſtändig Verlegenheiten, und nicht lange, ſo konnte man im Berliner Auswärtigen Amte, das die neuen - burgiſchen wie alle anderen auswärtigen Angelegenheiten bearbeitete, ſchon die ärgerliche Aeußerung hören: wenn der Canton nur in ſeinen See verſänke! Im achtzehnten Jahrhundert war Neuenburg nur ein zuge - wandter Ort der Schweiz, ohne Stimme auf der Tagſatzung, der König ſelbſt ein Schweizerbürger und als lieber treuer Eidgenoſſe gleich allen ſeinen Neuenburgern dem Schweizer Bunde perſönlich verpflichtet. In - zwiſchen hatte die Revolution alle die anderen zugewandten Orte hinweg - gefegt, die neue Schweiz beſtand nur noch aus gleichberechtigten Cantonen, und als das Fürſtenthum im Mai 1815 in die Eidgenoſſenſchaft wieder aufgenommen wurde, war der neue Canton die einzige Monarchie in einem Bunde kleiner Republiken. Hardenberg fühlte, welche peinliche Rolle ein königlicher Geſandter auf der Tagſatzung inmitten der republikaniſchen Amtsgenoſſen ſpielen müßte. Um die Reibung zu mindern, bedang er ſich daher aus, daß die Verpflichtungen des Fürſtenthums gegen die Schweiz allein durch die Neuenburger Regierung, den Staatsrath, ohne Mitwirkung des Königs erfüllt werden ſollten. Das wohlgemeinte Auskunftsmittel erwies182IV. 3. Preußens Mittelſtellung.ſich jedoch bald als ein ſchwerer Mißgriff. Der König war fortan von Rechtswegen der Eidgenoſſenſchaft fremd und nahm doch thatſächlich an den Beſchlüſſen ihrer Tagſatzung theil, da der Neuenburger Staatsrath nur aus Beamten des Landesherrn beſtand. Aus dieſen unklaren Ver - hältniſſen entwickelte ſich nun unausbleiblich ein Parteikampf, der im alten Jahrhundert unmöglich geweſen wäre: in den Kreiſen der radicalen Jugend entſtand eine ſchweizeriſch-republikaniſche Partei, welche die Trennung von dem Fürſtenhauſe erſtrebte, während die Patricier alleſammt und auch noch die große Mehrheit des Volks ſich ihrer royaliſtiſchen Treue rühmten.

Der Gegenſatz blieb verhüllt ſo lange in den Nachbarcantonen die alten Herrengeſchlechter ihr ſtilles Regiment führten; aber ſobald nach der Julirevolution die radicale Partei in der Schweiz ſich erhob, richtete ſie ihre Pfeile ſogleich gegen den Fürſtenhut der Hohenzollern. Ihr Ziel war die Volksherrſchaft in den Cantonen und die Verſtärkung der Bundes - gewalt. Beides hing unzertrennlich zuſammen, denn nur wenn die Can - tonalverfaſſungen alleſammt auf denſelben demokratiſchen Grundſätzen beruhten, konnte der lockere Staatenbund ſich in einen feſten Bundesſtaat verwandeln. Die Preſſe der Schweizer begann mit ihrer eigenthümlichen Grobheit den Federkrieg gegen Neuenburg; ſie ſchilderte die Zuſtände des beſtverwalteten aller Cantone als eine empörende Tyrannei, da nach ſchwei - zeriſcher Anſchauung die Freiheit lediglich im Nichtvorhandenſein einer monarchiſchen Gewalt beſteht, und erzählte ungeheuerliche Märchen von allen den Schätzen, welche aus der reichen Schweiz in den brandenburgiſchen Sand gefloſſen ſeien. Auch die Zeitungen im nahen Baden ließen ſich durch die republikaniſchen Schlagworte blenden und ſchämten ſich nicht die Neuenburger gegen ihren deutſchen Fürſten aufzuwiegeln.

Der König verſprach dem Fürſtenthum eine Reform der Verfaſſung, dergeſtalt daß die Mehrzahl der Ständemitglieder fortan nach allge - meinem Stimmrecht gewählt werden ſollte, und ſendete im Mai 1831 den General Pfuel mit außerordentlicher Vollmacht ins Land, jenen rüſtigen Teutonen, der einſt als Commandant von Paris ſo gut verſtanden hatte mit den Wälſchen auszukommen. Der neue Landtag ward verſammelt, und Alles ſchien verſöhnt. Aber kaum hatte der General im September das Land wieder verlaſſen, ſo überrumpelte ein durch eidgenöſſiſchen Zu - zug verſtärkter Pöbelhaufe das Neuenburger Schloß, und die Tagſatzung ſah ſich genöthigt durch ihre Truppen die Ruhe wiederherzuſtellen. Nun kehrte Pfuel zurück, berief die treuen Milizen ein, verhaftete die Rädels - führer, und als die Aufſtändiſchen im December ſich von Neuem erhoben, jagte er ſie nach einigen Gefechten im Val de Travers binnen drei Tagen auseinander. Das Land frohlockte; Jedermann wußte, daß die Unruhen nur durch den jungen Tollkopf Leutnant Bourquin und einige radicale Sendlinge aus der Nachbarſchaft künſtlich angezettelt waren. Ueberall erklang das alte Royaliſtenlied:

183Niederwerfung des Neuenburger Aufſtandes.
Vive le Roi, vive sa loi,
La liberté chérie!
Vive le Roi, vive sa loi,
Vive notre patrie!

Der König ſtiftete ein beſonderes Ehrenzeichen für die Kämpfer und dankte dem wackeren Völkchen mit warmen Worten: Dieſe kleine Gegend hat Europa eine Lehre und ein Beiſpiel gegeben, welche nicht verloren ſein und ihr eine ehrenvolle Stelle in der Geſchichte erringen werden. *)Cabinetsordre an Pfuel, 31. Dec. 1831.Aber er dankte auch der Tagſatzung für ihre eidgenöſſiſche Hilfe. **)Ancillon, Weiſungen an Otterſtedt, 4. Oct. 25. Nov. 1831.Nicht ſo ruhig dachten ſeine begeiſterten Anhänger unter den Herrengeſchlechtern; hier war nur eine Stimme der Entrüſtung über die Angriffe der ſchweizeri - ſchen Preſſe und die wühleriſchen Umtriebe in den Nachbarcantonen. Der Oberſt der Milizen, Graf Ludwig Pourtalès, ſchrieb an Otterſtedt, den Geſandten bei der Eidgenoſſenſchaft: Die Beleidigungen der Schweizer ekeln uns an. Die Schweiz will, daß wir uns von unſerem König oder von ihr losſagen ſollen. Nun wohl, die Wahl iſt leicht. Wir wollen unſeren König, die Kränkung hat uns dieſen feindſeligen Bundesgenoſſen entfremdet. Wir wollen nicht die jacobiniſche Anſteckung; und ſollte ſelbſt unſere Trennung von der Eidgenoſſenſchaft zu einer europäiſchen Frage werden, um ſo beſſer; ich glaube die Intervention iſt die einzige Planke der Rettung für die Schweiz. ***)Pourtalès an Otterſtedt, 8. 25. Jan. 1832.Im ſelben Sinne ſprach eine Flugſchrift, die aus dieſen royaliſtiſchen Kreiſen ſtammte: Les Suisses délibèrent sur le sort de Neuchâtel; ne saurous-nous pas en décider nous-mêmes? Das preußiſche Auswärtige Amt verwarf ſolche Pläne gänzlich. Man wußte wohl, wie viel die Verbindung des Fürſtenthums mit der Eidgenoſſenſchaft an Werth verloren hatte ſeit dem Erwachen des ſchweizeriſchen Radicalismus. Aber der König wollte weder den Rechts - boden der europäiſchen Verträge verlaſſen noch das waffenloſe Ländchen dicht an Frankreichs Grenze einem ungewiſſen Schickſal preisgeben; er wollte auch einen Fuß im Bügel der Eidgenoſſenſchaft behalten, da die Diplomaten des Bürgerkönigs ſich ſo gefliſſentlich bemühten, die Schweiz wieder, wie in den bourboniſchen Zeiten, unter Frankreichs Vormundſchaft zu ſtellen, und befahl daher ſtrenge Zurückhaltung nach beiden Seiten. †)Otterſtedt’s Bericht 14. Jan. Ancillon, Weiſung an Otterſtedt 7. Febr. und Bericht an den König 17. März 1832.Auf ſeinen Befehl verſtummten die Heißſporne der Royaliſten. Der Can - ton erfüllte ſeine Pflichten gegen den Bund ſo gewiſſenhaft, daß während der nächſten zehn Jahre trotz der herausfordernden Haltung der Radicalen der offene Kampf mit der Tagſatzung noch vermieden wurde.

Trotzdem verwickelte ſich Preußens ſchweizeriſche Politik mehr und mehr in einen tragiſchen Widerſpruch. Bei gutem Willen hüben und184IV. 3. Preußens Mittelſtellung.drüben konnte das kleine Fürſtenthum unter der Oberhoheit eines ſtarken republikaniſchen Bundesſtaates zur Noth ebenſowohl fortbeſtehen, wie heute die hanſeatiſchen Städterepubliken unter dem monarchiſchen Deutſchen Reiche. Aber die Partei, welche die nothwendige Bundesreform verlangte, vertrat zugleich die Ideen des Radicalismus, ſie forderte mit wachſender Dreiſtigkeit die Vertreibung der Hohenzollern aus der Eidgenoſſenſchaft, alle ihre Blätter wiederholten beharrlich das alte Kraftwort, daß Schweizer ſich nicht beherren dürften. So ſah ſich Preußen gradezu gezwungen, in der Bundespolitik die Vorkämpfer des Particularismus, die ſchweizeriſchen Conſervativen zu unterſtützen. Zu ihnen hielten ſich der alte Staats - rath Sandoz-Rollin und alle die anderen wohlmeinenden Patricier, welche das Neuenburger Land regierten; ihre Führer in Bern, Baſel, Zürich ſtanden mit Otterſtedt in beſtändigem Verkehr. Doch was auch die Radicalen durch Uebermuth und Gewaltthätigkeit ſündigten, ihnen gehörte die Zukunft; und kam dereinſt der Tag, da die Bundeseinheit über den Particularismus triumphirte, dann ſtand der Hohenzollernſche Canton in den Reihen der geſchlagenen Partei. Niemand erkannte dieſe Gefahren deutlicher als General Pfuel. Der war jetzt Gouverneur des Fürſten - thums, gewann die Herzen der Jugend durch ſeine Schwimmſchulen im See, die Achtung aller Parteien durch ſein ehrliches Wohlwollen. Das zuchtloſe Gerede der Radicalen behagte dem liberalen Offizier ebenſo wenig wie die calviniſche Engherzigkeit und der beſchränkte Vetterngeiſt der Roya - liſten; ein Troſt nur, daß er an Agaſſiz einen geiſtreichen Umgang fand, wie er ihn in ſeinem Berliner literariſchen Freundeskreiſe genoſſen hatte. Schon im Jahre 1832 ſprach er dem Könige offen aus, bei dem nahen Zuſammenbruche der alten Bundesverfaſſung würde ſich der neuenbur - giſche Fürſtenhut ſchwerlich halten laſſen.

Gleichviel, überall wo die ſchwarzweißen Fahnen wehten behauptete das Königthum noch ſein altes Anſehen. Mit Erſtaunen bemerkten Freund und Feind, wie treu das katholiſche Rheinland zu ſeinem Herrſcher ſtand; die ſchwerſte unter allen den ſchweren Aufgaben, welche der Wiener Con - greß dieſem Staate geſtellt, ſchien glücklich gelöſt. Zahlloſe Sendboten aus Frankreich und Belgien trieben am Rhein ihr Weſen; überall fanden ſie taube Ohren, überall wurden die vaterländiſchen Truppen, als ſie zum Schutze der Weſtgrenze heranzogen, mit offenen Armen aufgenommen, und Prinz Wilhelm der Aeltere, der als Gouverneur an den Rhein kam, gewann ſich in Köln bald die allgemeine Verehrung. Nur die dreiſtere Sprache des Clerus ließ zuweilen ſchon errathen, daß die Nachbarſchaft der belgiſchen Prieſterherrlichkeit mit der Zeit vielleicht den Frieden der preußiſchen Rheinlande ſtören würde. Begreiflich alſo, daß die harmloſen preußiſchen Zeitungen im Selbſtlobe ſchwelgten und der rheiniſche Pädagog Aldefeld in zweifelhaften Verſen weiſſagte, das ſtarke Preußen werde fortan das Land der Ruhe heißen. Aber auch einſichtige Beobachter erkannten185Preußiſche Königstreue.an, wie überlegen dieſes Volk mit ſeiner Zucht und Treue inmitten der auf - geregten Nachbarn ſtand. Selbſt der Holſte Riſt, der ſonſt nach Landesbrauch auf Preußen tief herabgeſehen hatte, pries jetzt, da er die weſtlichen Pro - vinzen durchreiſte, die glückliche Ordnung des wohlregierten Staates. Noch zuverſichtlicher ſchrieb der junge Hauptmann Helmuth v. Moltke in ſeinem geiſtreichen Buche über Polen: Der preußiſche Staat zeichnet ſich aus durch ſein unaufhaltſames ruhiges Fortſchreiten, durch die ſtätige Ent - wicklung ſeiner inneren Verhältniſſe, welche Preußen an die Spitze der Reformen, der Aufklärung, der liberalen Inſtitutionen und einer vernünf - tigen Freiheit mindeſtens in Deutſchland geſtellt haben.

Wieder wie in den Zeiten der erſten Revolution fühlten ſich die Preußen ſtolz als Mannen ihres Königs, und begrüßten den alten Herrn wo er ſich zeigte mit ſtürmiſchen Huldigungen. Und wie damals zur Ant - wort auf den Marſeiller Marſch das Heil Dir im Siegerkranz erklungen war, ſo machte jetzt das neue Preußenlied, gedichtet von Rector Thierſch, dem Bruder des Münchener Philologen, und von Neithardt in Muſik geſetzt, die Runde auf allen vaterländiſchen Feſten. Mochten die Libe - ralen des Südens über den preußiſchen Hochmuth ſchelten, ſie fühlten doch mit ſtillem Neide, daß dieſe ſtolzen Klänge ganz etwas Anderes be - deuteten als alle jene läppiſchen Farbenlieder auf das Weiß der Un - ſchuld und das Grün der guten Hoffnung, welche die kleinen Hofpoeten zum Preiſe ihrer geſchichtsloſen Landeskokarden anfertigten; ſie ahnten die Wahrheit der Verſe: daß für die Freiheit meine Väter ſtarben, das deuten, merkt es, meine Farben an. Die Erinnerungsfeiern der alten Landwehrmänner und Kriegskameraden verliefen meiſt anſpruchslos und ohne Wortprunk, nur in Berlin pflegte Fouqué ſchmetternde Huſaren - Reden zu halten; aber ſie hielten unter den Verſammelten das Gefühl der Staatseinheit wach. Als dem Prinzen Wilhelm 1831 am ſiegver - heißenden Jahrestage der Leipziger Schlacht ein Sohn geboren wurde, der vermuthliche Thronfolger, da erklang in allen Provinzen ein Freudenruf, der offenbar aus den Tiefen der Herzen kam. Und da man ſich ſo ſtolz und ſicher fühlte, ſo gewann auch der Traum der deutſchen Einheit in einzelnen Kreiſen der preußiſchen Jugend ſchon eine feſtere Geſtalt. Die Bonner Burſchenſchafter ſchwärmten für das preußiſche Kaiſerthum, und es war ein Sohn des linken Rheinufers, der dieſen Gedanken zuerſt im Liede ausſprach. Karl Simrock hatte ſoeben die Aengſtlichkeit der Regie - rung am eigenen Leibe erfahren denn die alte Furcht vor den Demagogen war noch immer nicht verſchwunden, und das Juſtizminiſterium hielt für nöthig, ſeinen Beamten alle abſprechenden politiſchen Urtheile an öffent - lichen Orten zu unterſagen; er hatte den Staatsdienſt verlaſſen müſſen wegen eines Gedichtes auf Frankreichs drei Tage und drei Farben, das ihm in der erſten Aufregung der Juliwochen entſtanden war. Doch die Unbill focht den Treuen nicht an. Gleich darauf ſchilderte er in einem186IV. 3. Preußens Mittelſtellung.feurigen Liede, wie der Siegeswagen vom Brandenburger Thor durch Land und Volk dahinfuhr; er ſah das Scepter Karls des Großen in Friedrich Wilhelms Hand und hörte den alten Blücher ſprechen:

Es möge ſterben
Was nicht zu leben weiß.
Und fragt ihr nach dem Erben?
Das junge Preußen ſei’s!

Bei ſolcher Geſinnung vermochten die conſtitutionellen Kämpfe der klei - nen Staaten nur wenig Theilnahme zu erwecken, und die Süddeutſchen klagten bitterlich über die politiſche Unreife der preußiſchen Nachbarn. Aller - dings nahm die Sorge um Haus und Wirthſchaft in dem langſam wieder aufblühenden verarmten Lande noch immer die beſten Kräfte der Männer in Anſpruch, die praktiſchen Fragen der Steuervertheilung und der Orts - verwaltung ſtanden dieſem hart arbeitenden Geſchlechte weit näher als der Gedanke an die verheißenen Reichsſtände. Der eigentliche Grund der un - wandelbar ruhigen Haltung des Landes lag jedoch in der kräftigen Staats - geſinnung, welche dies Volk vor den anderen Deutſchen voraus hatte. Zwei Jahre lang blieben die Preußen in der Erwartung eines Weltkrieges; ſie wußten, daß ſie faſt allein dieſen Kampf würden entſcheiden müſſen, denn auf die Kriegsmacht ihrer kleinen deutſchen Bundesgenoſſen blickten ſie mit wohlberechtigter Geringſchätzung. Sie trugen ohne Murren die ſchwere Einquartierung und alle die anderen drückenden Laſten des bewaff - neten Friedens. Wie hätte ein kriegeriſch erzogenes Volk den Gedanken faſſen ſollen, in ſo drangvoller Zeit, gleichſam im Angeſichte des Feindes, die Krone mit Bitten zu beſtürmen, welche doch nicht durch drängende Noth geboten waren?

Faſt kindlich harmlos zeigte ſich dieſe Königstreue auf dem Weſt - phäliſchen Landtage. Dort war unter Stein’s Leitung das ſtändiſche Leben immer rege geblieben, und im December 1830 beſchloß der Landtag den König um die Berufung des Reichstages zu bitten, der die verſchiedenen Provinzen mit einem neuen geiſtigen Bande umſchlingen , die erkaltete Theilnahme an den Landſtänden allenthalben beleben werde. Aber Stein ſelbſt, der Landtagsmarſchall, hegte jetzt Zweifel, ob der Antrag in ſolchen Tagen der Gährung und der Kriegsgefahr nicht unzart oder unzeitgemäß erſcheinen werde; er übernahm es endlich den Gouverneur um ſeine Ver - mittlung zu bitten, und als Prinz Wilhelm, auf einen Wink aus Berlin, ſich bedenklich äußerte, gaben die Stände gehorſam ihr Vorhaben auf. Stein erwähnte des Antrags im Landtagsberichte und erinnerte den König an das ſchöne Lob ſeines Ahnherrn Wilhelm von Cleve: ſein Wort das war ſein Siegel; doch auf die Vorſtellungen des Oberpräſidenten Vincke ſtrich er dieſe Sätze wieder, und des ganzen Vorfalls, der bei Hofe lebhafte Beſorgniſſe erregt hatte, ward amtlich mit keinem Worte mehr gedacht. In den übrigen Provinziallandtagen war von den verheißenen Reichs -187Hanſemann’s Denkſchrift über die Verfaſſung.ſtänden gar nicht die Rede. Selbſt die Altpreußen hielten ſich ſtill, ob - gleich ihr ſtändiſcher Ausſchuß ſchon vor’m Jahre erklärt hatte, Preußen bedürfe einer reichsſtändiſchen Verfaſſung, da die Nachbarſtaaten durch ihre Inſtitutionen allmählich ein Uebergewicht gewännen*)Protokoll des ſtändiſchen Ausſchuſſes (v. Kuhnheim, v. Hake, Graf Dohna - Reichertswalde) Königsberg 23. Jan. 1829.; der Landtag wagte nur in aller Ehrfurcht um die Oeffentlichkeit der provinzialſtändiſchen Verhandlungen zu bitten.

Auch in den zahlreichen Flugſchriften der Preußen wurde das Ver - langen nach einer Verfaſſung nirgends laut; kaum daß einmal ein ſtiller Gelehrter, wie der Schleſier Thilo in ſeiner Schrift was iſt Verfaſſung den theoretiſchen Beweis führte: der Fürſt vertrete den Staat doch nur nach außen, folglich müſſe das Volk im inneren Staatsleben ſeine eigene Vertretung erhalten. Nur ein Mann wagte in dieſen Jahren den König unumwunden an die alte Verheißung zu erinnern: der rheiniſche Kauf - herr David Hanſemann, ein evangeliſcher Predigersſohn aus dem Ham - burgiſchen, der in jungen Jahren die franzöſiſche Verwaltung gründlich kennen und leider auch überſchätzen gelernt, dann in Aachen die große Feuerverſicherungs-Geſellſchaft gegründet und durch ſeine glänzende ge - ſchäftliche Begabung in der ſtrengkatholiſchen Stadt ein unbeſtrittenes An - ſehen errungen hatte. In einer Denkſchrift über Preußens Lage und Politik , die er im Dec. 1830 dem König einſendete, ſprach er durchaus als treuer preußiſcher Patriot; er erkannte dankbar an, wie ſtark ſein Staat in dem zerfahrenen Treiben der deutſchen Kleinſtaaterei daſtehe, und hoffte die Zeit noch zu erleben, da die undeutſchen Länder dereinſt aus dem Bunde ausſcheiden, Preußen aber die Führung eines Bundes - raths und eines deutſchen Reichstags übernehmen würde. Doch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit, welche alle neuen ſocialen Mächte auszeichnet, vertrat er zugleich die Intereſſen ſeines jungen rheiniſchen Bürgerthums. Ihm war unzweifelhaft, daß die bei dem lebendigſten und mittheilendſten Volke Europas herrſchenden Principien ſich überall in der Welt ver - breiten müßten, daß jede vernünftige Regierung ſich auf die Mehrheit des Vermögens und der Bildung gleichviel woher dieſe ſtammten zu ſtützen habe, und Preußen jetzt im Begriff ſtehe aus der Feudalzeit durch den Beamtenſtaat zu dieſer Mehrheitsherrſchaft überzugehen. Die ſtän - diſche Gliederung der Provinziallandtage verwarf er gänzlich, weil jeder Abgeordnete von Köln oder Aachen hundertundzwanzigmal mehr Köpfe, vierunddreißigmal mehr Steuerkraft vertrete als ein Mitglied der rhei - niſchen Ritterſchaft. Er glaubte zu wiſſen, daß die Städte durch Kennt - niſſe und politiſche Bildung weit mehr bedeuteten als das flache Land, daß der Thron an den großen Kaufleuten und Fabrikanten, die bei Krieg oder bürgerlichen Unruhen Alles zu verlieren hätten, mindeſtens eine188IV. 3. Preußens Mittelſtellung.ebenſo feſte Stütze fände wie an dem Grundadel, und forderte darum außer einem Oberhauſe, das aus Majoratsbeſitzern und aus Vertrauens - männern der Krone beſtehen ſollte, eine von den Höchſtbeſteuerten gewählte zweite Kammer.

Alſo traten die neuen Anſchauungen, welche ſich in den großen Städten des Rheinlandes unter der Herrſchaft des napoleoniſchen Geſetz - buchs und der beſtändigen Einwirkung franzöſiſcher Ideen gebildet hatten, zum erſten male freimüthig vor den Thron. Dieſer neue Mittelſtand hielt ſich in ſeinem jugendlichen Selbſtgefühle für den Staat ſelber; er ließ in der bürgerlichen Geſellſchaft überhaupt nur noch den einen Unter - ſchied gelten, der im Mittelſtande vorherrſcht, den Unterſchied des Geldes und des Wiſſens. Der König nahm die Denkſchrift nicht unfreundlich auf, doch weder er noch ſeine Räthe erkannten, welch eine ſtarke, zukunfts - ſichere ſociale Macht hinter den Vorſchlägen des rheiniſchen Kaufmanns ſtand. Die Verſöhnung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten, die man in Berlin ſchon beendet glaubte, hatte in Wahrheit noch kaum begonnen; zwiſchen dem abſtrakten Staatsbürgerthum der rheiniſchen Städter und der altſtändiſchen Geſinnung der brandenburgiſchen Grundherren lag eine Kluft, die nur durch die Arbeit langer Jahre überbrückt werden konnte.

Auch im Oſten war die Zufriedenheit bei Weitem nicht ſo ungetrübt, wie man aus der allgemeinen Stille wohl ſchließen mochte. Es konnte nicht fehlen, daß die Gelehrten und Beamten aus den eifrig geleſenen ausländiſchen Zeitungen neue Gedanken einſogen, und wenngleich die Zahl der Conſtitutionellen noch ſehr gering blieb, ſo bekundete ſich doch der alt - preußiſche Widerſpruchsgeiſt oft in ſcharfer Kritik, und die öſterreichiſchen wie die kleinfürſtlichen Diplomaten vermochten ſich über die liberale Geſinnung dieſer Bureaukratie nicht genug zu verwundern. *)Frankenberg’s Berichte, Berlin 20. Aug. 1830 ff.Im Volke aber mußte die Beamtenherrſchaft, wie Tüchtiges ſie auch leiſtete, zuletzt manches Mißtrauen erregen, weil ſie unbeſchränkt ſchaltete. Selbſt Reaube’s Jahr - bücher der preußiſchen Provinzialſtände die einzige Zeitſchrift, die ſich mit dem Stillleben der Provinziallandtage befaßte brachten unter einem Wuſte ſtillvergnügter Philiſterbetrachtungen zuweilen ſchon einen heftigen Ausfall wider dies ungeheuere Beamtenheer, das ſich ſtets nur aus ſich ſelbſt ergänze, während in England und Frankreich auch ein Kaufmann oder Grundbeſitzer Miniſter werden könne: in Preußen müſſen immer 49 Menſchen arbeiten um einen Beamten zu ernähren!

Noch bitterer äußerte ſich der Adelshaß der bürgerlichen Kreiſe. Der einzige der altgermaniſchen Geburtsſtände, der ſich inmitten der Berufs - ſtände der neuen Geſellſchaft noch erhalten hatte, konnte der in ſich ſelbſt verliebten modernen Bildung nur widerwärtig erſcheinen. Da der Adel zu - dem auf den Provinzial - und Kreistagen ein ganz unbilliges Uebergewicht189Adel und Bürgerthum.behauptete, ſo klagte alle Welt über die Macht des Junkerthums und zählte mit widerwärtigem Kleinſinn nach, wie viele Edelleute in den hohen Staats - ämtern ſäßen. Die vorletzten Miniſter der Juſtiz und der Finanzen, Kirch - eiſen und Klewiz waren bürgerlich geboren, ihnen folgten die Edelleute Danckelmann und Motz; als dieſe ſtarben und jetzt wieder zwei Bürgerliche, Mühler und Maaſſen eintraten, da jubelte die geſammte Preſſe, wie liberal Preußen geworden ſei. Und doch war unter den drei Finanz - miniſtern der Edelmann unzweifelhaft der freieſte Kopf, und bei allen dieſen Ernennungen hatte der König die Frage der Geburt gar nicht in Betracht gezogen. Ja ſogar als Ancillon nachher ins Miniſterium be - rufen wurde, erhoben die Zeitungen ein Freudengeſchrei über den bürger - lichen Miniſter, deſſen reaktionäre Geſinnung man doch kannte. Vor - nehmlich im Heere ſollte der Adel ungebührlich bevorzugt ſein; aber auch bei dieſer landläufigen, und nicht ganz grundloſen Klage ſpielten gehäſſige Uebertreibung und Unkenntniß mit. Unter den Generalen und Oberſten des ſtehenden Heeres konnten ſich nur vereinzelte Bürgerliche befinden, weil erſt Scharnhorſt die alten Vorrechte des Adels beſeitigt, erſt der Befreiungskrieg eine größere Anzahl bürgerlicher Offiziere in die Regi - menter der Infanterie und der Reiterei eingeführt hatte. In den mittleren Stellen hingegen war der Adel ſchwächer vertreten als in den unterſten; von den Stabsoffizieren war faſt ein Fünftel, von den Hauptleuten und Rittmeiſtern beinahe die Hälfte bürgerlich, von den Secondelieutenants nur ein Zwanzigſtel, weil der Kriegsdienſt in dieſen ſtillen Friedensjahren nichts Verlockendes hatte und der junge Nachwuchs mithin ganz über - wiegend von jenen alten Soldatengeſchlechtern geſtellt wurde, welche das Waffenhandwerk als den Beruf ihres Hauſes betrachteten.

All dieſer kleine Groll blieb für jetzt noch halb verborgen; wer aber die ſtille tiefe Leidenſchaft der norddeutſchen Stämme kannte, der mußte einſehen, daß es nun endlich an der Zeit war, den Gegenſätzen der Land - ſchaften, der Stände, der politiſchen Geſinnungen einen freien Kampfplatz zu eröffnen. Ein aus den Provinzialſtänden hervorgegangener berathen - der Reichstag, wie er verſprochen war, konnte jetzt, da Niemand ihn un - geſtüm forderte, von dem treuen Volke nur mit Dank begrüßt werden, er konnte nicht die Macht des gerade in dieſen Tagen unbeſchreiblich ge - liebten Königthums erſchüttern, ſondern nur die Staatseinheit befeſtigen und die Preußen daran gewöhnen, daß ſie in gemeinſamer politiſcher Arbeit einander verſtehen und ertragen lernten.

Sehr nachdrücklich mahnte auch der Zuſtand des Staatshaushalts an die Einlöſung des alten Verſprechens. Während die anderen Bundes - ſtaaten gar nichts leiſteten, verwendete Preußen für die Beſchützung der deutſchen Grenzen binnen anderthalb Jahren 39,28 Mill. Thaler, vier Fünftel ſeiner regelmäßigen Jahreseinnahmen. Da förmliche Anleihen nur noch unter der Bürgſchaft der Reichsſtände erfolgen durften und der190IV. 3. Preußens Mittelſtellung.gutmüthige König zu einer Steuer-Erhöhung ſich auch nicht entſchließen wollte, ſo wurden dieſe Ausgaben vorläufig gedeckt durch Zahlungen aus dem Staatsſchatze, durch kurze Darlehen der Seehandlung, durch die Ein - ziehung der entbehrlichen Capitalbeſtände der Staatsverwaltung, ja ſogar der hinterlegten Cautionen der Beamten, und dann nach und nach aus dem wachſenden Ertrage der neuen Abgaben zurückgezahlt. *)Ueberſicht über den Staatshaushalt der J. 1830 40 von Rother, Alvensleben, Voß, 11. Febr. 1841.Das Alles ward mit altpreußiſcher Genauigkeit abgewickelt; doch wohin ſollte dies geheime Treiben führen, wenn der Zuſtand des bewaffneten Friedens ſich verlängerte oder gar der Weltkrieg ausbrach? Und war es eines ſtolzen Staates würdig, wenn die veröffentlichten Jahresbudgets in ſolcher Zeit immer nur von dem vollkommenen Gleichgewichte der regelmäßigen Ein - nahmen und Ausgaben fälſchlich berichteten? Jene ſchweren Aufwendungen für Deutſchlands Sicherheit wurden ängſtlich geheim gehalten, wie die Schulden eines leichtſinnigen Jünglings; und doch gereichten ſie der preu - ßiſchen Staatskunſt zu hoher Ehre, und doch mußten ſie, wenn man ſie offen eingeſtand, dem Volke der Kleinſtaaten, ſoweit es nicht durch die Polenſchwärmerei verdorben war, handgreiflich beweiſen, daß Preußen allein für das große Vaterland Opfer brachte.

Aber die Noth des Augenblicks ging vorüber, und feſter denn je war der König jetzt überzeugt, mit der Einrichtung der Provinzialſtände das Rechte getroffen zu haben. Er hatte einſt, als ihm die Verordnung vom Mai 1815 vorgelegt wurde, das Steuerbewilligungsrecht des Reichstags eigenhändig ausgeſtrichen und dem Reichstage nur berathende Befugniſſe gewährt; er hatte fünf Jahre darauf den künftigen Reichsſtänden nur darum die Mitwirkung bei Staatsanleihen zugeſtanden, weil er beſtimmt hoffte, daß die Monarchie neuer Schulden nicht mehr bedürfe, bei augenblick - lichen Verlegenheiten aber die Seehandlung eintreten könne; er hatte damals nachdrücklich ausgeſprochen: Repräſentanten der Nation, Repräſen - tation des Volks, Landesrepräſentanten, das verbitte ich mir; Reichsſtände liebe ich auch nicht, aber ich habe auch nichts dagegen. **)So erzählt Rother in ſeiner Denkſchrift v. 18. Mai 1847: Mein Antheil an den Verordnungen v. 22. Mai 1815 u. 17. Jan. 1820. Nun ſah er ſein Volk zufrieden, unvergleichlich zufriedener als die Bewohner der benach - barten conſtitutionellen Staaten. Nichts drängte zu einer entſcheidenden Aenderung, und wer das enge, ſchwungloſe Weſen des Königs durchſchaute, mußte vorausſehen, daß die Reichsſtände bei ſeinen Lebzeiten niemals zu Stande kommen würden. Und wie ſchwer, ja unmöglich erſchien ein ſolcher Entſchluß Angeſichts der allgemeinen Lage Europas! Dahin war es doch gekommen durch die brutale Schroffheit Lord Palmerſton’s und des Czaren Nikolaus, daß die Welt in die zwei großen Heerlager der conſtitutionellen Staaten und der abſoluten Monarchien zerfiel. Wie die191Die revidirte Städteordnung.Dinge lagen hatte Preußen zunächſt nur einen Feind zu fürchten: das revolutionäre Frankreich, das ſeine frechen Anſchläge auf die Rheingrenze mit unbelehrbarer Verblendung kundgab. Wer durfte dem deutſchen Staate zumuthen, die ſichere Bundesgenoſſenſchaft der Oſtmächte mit der treuloſen Freundſchaft der Freiheitsheuchler Weſteuropas zu vertauſchen?

Im Uebrigen ward der mildere und freiere Geiſt, der ſeit dem Ende der zwanziger Jahre in der Regierung vorherrſchte, durch die Juli-Revo - lution nicht erſchüttert. Während Bernſtorff die Kriegspläne des Czaren vereitelte, die conſtitutionelle Bewegung in den norddeutſchen Nachbar - ſtaaten mit wohlwollender Zurückhaltung gewähren ließ, die Erhebung der Braunſchweiger ſogar ſelbſt zum glücklichen Abſchluß brachte, führte Maaſſen die von Motz eingeleiteten Zollvereinsverhandlungen fort und der Staatsrath arbeitete weiter an den Reformgeſetzen. Die ſeit Jahren mit den Provinzialſtänden beſprochene Landgemeinde-Ordnung kam freilich noch immer nicht zu Stande, da das unüberſehbare Gewirr der örtlichen Intereſſen ſich jeder Neuerung entgegenſtemmte. Aber am 17. März 1831 wurde die revidirte Städteordnung veröffentlicht. Stein ſelbſt begrüßte dieſen Umbau ſeines eigenen Werkes mit Freuden, weil das neue Geſetz an den bewährten Grundſätzen der Selbſtverwaltung nichts änderte, ſondern nur einige durch die Erfahrung erwieſene Uebelſtände behutſam hinweg - räumte; und Savigny erwies in einer geiſtvollen Abhandlung, daß die Neuerungen in der That meiſt Verbeſſerungen waren. Die Städte er - hielten fortan eine erhöhte Selbſtändigkeit, indem ſie durch Ortsſtatute das allgemeine Geſetz ergänzen, zum Theil ſelbſt abändern durften; die Befugniſſe des Magiſtrats, der bisher von den Stadtverordneten ganz abhängig geweſen, wurden etwas erweitert; die Regierungen ſollten bei Streitigkeiten zwiſchen Magiſtrat und Stadtverordneten entſcheiden und überhaupt ein ſchärferes Aufſichtsrecht ausüben, was dringend nöthig war, da in einzelnen heruntergekommenen kleinen Städten ſich arge Mißbräuche eingeniſtet hatten. Dazu einige neue Beſtimmungen über das Bürgerrecht, die ſich von ſelbſt ergaben ſeit die neue Gewerbefreiheit den Bürgern das Vorrecht des Gewerbebetriebs genommen hatte. Bedenklich war nur, daß die Grundherren der Mediatſtädte ihre alten Communalrechte behalten ſollten.

Bei der Einführung des Geſetzes verfuhr die Krone mit einer zarten Schonung, welche von der ſcharfen Centraliſation der meiſten conſtitutio - nellen Staaten ſeltſam abſtach. Alle Städte, die ſchon unter Stein’s Ge - ſetze ſtanden, verblieben bei dieſer Ordnung, falls ſie nicht ausdrücklich die Verleihung des neuen Geſetzes beantragten. In den anderen ſollte das revidirte Geſetz provinzenweiſe nach und nach eingeführt werden; die Oberpräſidenten erhielten aber den Auftrag, zuvor mit den Landtags - Abgeordneten des Standes der Städte zu berathſchlagen. Wie wohlgemeint die Reform auch war, die Macht des Beharrens, die im Gemeindeleben ſo unwiderſtehlich waltet, und das ſtille Mißtrauen gegen das Beamten -192IV. 3. Preußens Mittelſtellung.thum bewirkten doch, daß von allen Städten, welche die alte Städteord - nung beſaßen, nur drei die Einführung des neuen Geſetzes verlangten: das ſchöne alte Königsberg in der Neumark und zwei brandenburgiſche Landſtädtchen.

In den neuen Provinzen dagegen bewährte ſich wieder einmal die zähe Widerſtandskraft des Particularismus. Die Stände der Provinz Sachſen freilich nahmen das neue Geſetz ſofort dankbar an, ſie freuten ſich der alten kurſächſiſchen Vetternherrſchaft entledigt zu werden. Die Weſt - phalen, die ſich um Vincke verſammelten, wünſchten das alte Geſetz ihres Landtagsmarſchalls,*)Vincke’s Bericht, Münſter 17. April 1831. doch da ſie an dem neuen Geſetze nur wenige Be - ſtimmungen anſtößig fanden, ſo begannen langwierige Verhandlungen mit den einzelnen Communen, bis endlich im Jahre 1841 die revidirte Städte - ordnung in allen größeren Städten der Provinz eingeführt war. Um dieſelbe Zeit ward die Reform auch in Poſen beendigt. Die Neuvorpom - mern aber wollten weder das alte noch das neue Geſetz, ſie beſtanden hart - näckig auf ihren durch die ſchwediſchen Freiheitsbriefe verbürgten Städte - verfaſſungen, fanden an dem romantiſchen Kronprinzen einen warmen Fürſprecher**)Votum des Kronprinzen über die vorpommerſchen Städte, 11. April 1831. und ſetzten ſchließlich ihren Willen durch; nur einzelne un - vermeidliche Aenderungen ſollten noch mit den Bürgerverſammlungen von Stralſund, Greifswald, Barth vereinbart werden. Ebenſo hartnäckig hielten die rheiniſchen Stände an ihrer napoleoniſchen Gemeindeordnung feſt, weil die Trennung von Stadt und Land in dem hochentwickelten wirthſchaftlichen Leben des Rheinlands ſchwer durchzuführen war, aber auch weil dies Volk mit ſeiner bureaukratiſchen Gewöhnung den Segen deutſcher Selbſtverwaltung nicht verſtehen wollte. Auch ſie erreichten, daß die franzöſiſchen Geſetze vorläufig fortbeſtanden; nur drei Städte der Provinz nahmen die neue Städteordnung freiwillig an. Dieſe Nachgiebig - keit der Krone erregte in der reaktionären Partei am Hofe ſchwere Beſorg - niß. Herzog Karl von Mecklenburg beſchwor den König das Zugeſtändniß zurückzuziehen: ſelbſt in conſtitutionellen Staaten werde den Unterthanen nie erlaubt zwiſchen verſchiedenen Geſetzen zu wählen. Wie ſo oft ſchon drohte er wieder den Vorſitz im Staatsrathe niederzulegen. Friedrich Wilhelm aber erwiderte: die revidirte Städteordnung ſei kein neues, ſondern nur ein verbeſſertes Geſetz; alſo müſſe den Städten die Wahl frei bleiben, damit das Volk zufrieden geſtellt und die Mannichfaltigkeit der örtlichen Verhältniſſe berückſichtigt würde. ***)Herzog Karl v. M. an den König, 1. März, an Wittgenſtein, 8. März. Cabinets - ordre an Herzog Karl, 7. März 1831.

Dieſe Klagebriefe des Herzogs waren nur eine der Rauchſäulen, welche zuweilen aus dem verdeckten Brande des höfiſchen Parteikampfes empor - ſtiegen. Preußens kluge und ſelbſtändige Haltung gegenüber der Revolution193Veränderungen im Miniſterium.erfüllte die Hochconſervativen mit Unmuth. Bernſtorff aber ſtand feſt im Vertrauen des Königs, er beſaß an General Witzleben einen treuen Rück - halt, und ſelbſt Fürſt Wittgenſtein hielt als Mann des Friedens jetzt zu ihm. Als er im Frühjahre 1831, von langer Krankheit erſchöpft, ſein oft ge - ſtelltes Abſchiedsgeſuch erneuerte, da antwortete Friedrich Wilhelm, er könne ihn nicht entbehren, ſei aber bereit zur Aushilfe einen zweiten Miniſter anzuſtellen. Nun wurde Werther aus Paris berufen. Der feine Diplomat fühlte jedoch ſelbſt, daß er zum Führer nicht geſchaffen war, und lehnte ab. Bernſtorff blieb im Amte, und auf ſeinen Antrag wurde Eichhorn, der ſchon bisher die deutſche Politik Preußens geleitet hatte, förmlich an die Spitze der zweiten Abtheilung des Miniſteriums geſtellt; die regel - mäßige europäiſche Correſpondenz führte Ancillon unter dem Titel eines Staatsſekretärs nicht immer zur Zufriedenheit des Miniſters, der die öſterreichiſchen Neigungen ſeines alten Mentors längſt nicht mehr theilte. *)Bernſtorff’s Berichte an den König 18., 27. April, 27. Juni. Werther an Bern - ſtorff 26. Juni. Cabinetsordres an Bernſtorff 26. April, 4. Juni, 6. Juli 1831.Um ſo feſter ſchloß ſich Bernſtorff an Eichhorn an; er ließ ihm in den deutſchen Dingen faſt ganz freie Hand und lobte den der Hofburg ſo tief verhaßten Demagogen überall als die Seele der preußiſchen Zoll - politik. Kaum minder verrufen war in Wien Geh. Rath Kühne aus dem Finanzminiſterium, und auch er gewann unter Motz’s Nachfolger Maaſſen noch ſtärkeren Einfluß. Da Schuckmann’s bureaukratiſche Steif - heit in ſo bewegter Zeit nicht mehr ausreichte, ſo wurde der alte Herr, gegen ſeinen Wunſch, bewogen, in eine Theilung ſeines Departements zu willigen, und dies neu abgezweigte Miniſterium des Innern und der Polizei dem Frhrn. v. Brenn anvertraut. Die erledigte Stelle des Kammer - gerichtspräſidenten erhielt Grolman, der Bruder des Generals und Sohn des berühmten alten Obertribunalspräſidenten, ein ausgezeichneter Juriſt von