PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II]
Staatengeſchichte der neueſten Zeit.
Siebenundzwanzigſter Band.
Deutſche Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert Vierter Theil.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1889.
[III]
Deutſche Geſchichte im Neunzehnten Jahrhundert
Vierter Theil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III.
LeipzigVerlag von S. Hirzel. 1889.
[IV]
[V]

Vorwort.

Um die Geſchichte der dreißiger Jahre hat ſich ein vierfacher Sagen - kreis gelagert. Die franzöſiſch-polniſchen und die nahe verwandten parti - culariſtiſch-liberalen Märchen gerathen zwar allmählich in Vergeſſenheit; die engliſch-coburgiſche Legende aber und die Legende des Literatenthums behaupten noch einen Theil ihrer alten Macht. Leicht iſt es nicht, durch dieſe Fabelwelt zu einer unbefangenen, ſchlicht deutſchen Auffaſſung der Ereigniſſe hindurchzudringen; noch ſchwieriger, die unendliche Bedingtheit alles hiſtoriſchen Lebens auch in den verworrenen Parteikämpfen dieſes Jahrzehntes zu erkennen und getreu zu ſchildern, wie Deutſchlands Ein - heit gewiß nicht durch den Liberalismus, doch ebenſo gewiß nicht ohne ihn möglich wurde, wie bald die Kronen bald die Oppoſition das nationale Leben gehemmt oder gefördert haben. So weit mein Scharfſinn reichte habe ich mich bemüht Licht und Schatten gerecht zu vertheilen.

Eine unerwartete Fülle dankenswerther vertraulicher Mittheilungen von Landsleuten aus Nord und Süd erleichterte mir die Arbeit. Außer den ſchon früher benutzten Archiven hat mir diesmal auch das Staats - archiv in Hannover mannichfache Belehrung geboten.

Die Vorwürfe, die mir in zahlreichen Briefen zukamen, habe ich ernſtlich erwogen, ohne ſie immer beherzigen zu können. Die meiſten dieſer Zuſchriften liefen darauf hinaus, daß wohl alles Uebrige zu billigen, aber die Heimath des Tadelnden ſchlecht behandelt ſei. Jakob Grimm ſagte über ſein Kurheſſen, keine deutſche Landſchaft würde von ihren Söhnen ſo leidenſchaftlich geliebt. Das Gleiche behauptet auch der Oſt - preuße und der Schleſier, der Baier und der Schwabe, der Weſtphale und der Kurſachſe von ſeinem Heimathlande. Den hohen Anſprüchen dieſer Heimathliebe kann eine Darſtellung, welche das Leben der geſammten Nation zu würdigen ſucht, wohl niemals völlig genügen.

VIVorwort.

Bei ausländiſchen Kritikern, freundlichen und feindſeligen, hat der ganze Ton meines Buchs Befremden erregt, und ich konnte nichts anders erwarten. Ich ſchreibe für Deutſche. Es mag noch viel Waſſer unſeren Rhein hinabfließen, bis die Fremden uns erlauben, von unſerem Vater - lande mit demſelben Stolze zu reden, der die nationalen Geſchichtswerke der Engländer und Franzoſen von jeher ausgezeichnet hat. Einmal doch wird man ſich im Auslande an die Geſinnungen des neuen Deutſchlands gewöhnen müſſen.

Dieſer Band ſchildert im Eingang mehrere rühmliche Erfolge, am Schluſſe zwei verhängnißvolle Fehler der preußiſchen Politik. Gleichwohl wird der Leſer, wie ich hoffe, die Erkenntniß gewinnen, daß zu Ende des Jahrzehnts die Wirrniß der deutſchen Dinge ſich zu lichten beginnt: Preußen tritt fortan ganz in den Vordergrund der vaterländiſchen Ge - ſchichte, ſein Thun und Laſſen beſtimmt die Schickſale der Nation.

Berlin, 30. November 1889.

Heinrich von Treitſchke.

[VII]

Inhalt.

Viertes Buch.

Das Eindringen des franzöſiſchen Liberalismus 1830 1840.

  • Seite
  • 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede3
  • Der Umſchwung in Frankreich, England, Belgien7
  • Anerkennung des Julikönigthums. Die Londoner Conferenzen35
  • Revolution in Polen und Italien56
  • Beſchwichtigung der Gegenſätze. Warſchaus Fall70
  • Antwerpen und Ancona91
  • 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland98
  • Der Aufruhr in Braunſchweig99
  • Verfaſſung und Mitregentſchaft in Kurheſſen126
  • Die ſächſiſche Verfaſſung142
  • Das hannoverſche Staatsgrundgeſetz153
  • Lornſen und die Provinzialſtände Schleswigholſteins169
  • 3. Preußens Mittelſtellung179
  • Innerer Friede. Die polniſchen Grenzwirren179
  • Die Verhandlungen über das Bundeskriegsweſen211
  • 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland221
  • Oberheſſiſche Unruhen. Der badiſche Landtag von 1831221
  • Gährung in Naſſau, Württemberg, Baiern238
  • Das Hambacher Feſt247
  • 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten267
  • Die Sechs Artikel267
  • Der Frankfurter Wachenſturm293
  • Theilung Luxemburgs311
  • Zuſammenkunft von Münchengrätz322
  • Neue Wiener Miniſter-Conferenzen 1834336
  • 6. Der deutſche Zollverein350
  • Kurheſſens Beitritt. Die Sponheimer Händel351
  • Beitritt des ſüddeutſchen Zollvereins364
  • Anſchluß von Sachſen und Thüringen. Die Neujahrsnacht 1834371
  • Kampf mit Oeſterreich und Hannover. Der hannöverſche Steuerverein379
  • Die Nachzügler: Baden, Naſſau, Frankfurt393
  • VIII
  • Seite
  • 7. Das Junge Deutſchland407
  • Goethe’s Tod408
  • Das ſouveräne Feuilleton419
  • Redende und bildende Künſte443
  • Hiſtoriker und Naturforſcher464
  • Die Junghegelianer. Strauß481
  • 8. Stille Jahre498
  • Die Quadrupel-Allianz und die Oſtmächte498
  • Preußiſche Zuſtände. Rheinland. Poſen541
  • Der Zollverein und die Eiſenbahnen569
  • Demagogen und Flüchtlinge598
  • Landtagsnöthe der Mittelſtaaten616
  • 9. Der welfiſche Staatsſtreich643
  • Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes. Die Göttinger Sieben643
  • Die Selbſtvernichtung des Bundestages668
  • 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit683
  • Erzbiſchof Droſte-Viſchering684
  • Die ultramontane Partei704
  • Tod Friedrich Wilhelm’s des Dritten727
  • Beilagen. XVI. Baierns Politik in den Jahren 1819 f. 731
  • XVII. Canning und Deutſchland732
  • XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz733
  • XIX. Prinz Wilhelm von Preußen und Prinzeſſin Eliſe Radziwill738
  • XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831740
  • XXI. König Wilhelm von Württemberg an Miniſter Wangenheim745
  • XXII. Das Frankfurter Attentat745
  • XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838749
  • XXIV. Handſchreiben König Ernſt Auguſt’s752
  • XXV. Aus den Aufzeichnungen König Friedrich Wilhelm’s753

Berichtigungen.

  • S. 34, Z. 7 v. u. lies: Gent ſtatt Brügge. 68, 17 v. o. lies: eingehen ſtatt übernehmen.
  • 81, 23 v. o. lies: der Silleria ſtatt des Retablo.
  • 87, 3 v. u. lies: Russkaja Starina.
  • 103, 20 v. o. lies: Garde-Dragonern.
  • 215, 12 v. u. hinter überraſchte iſt einzuſchalten: im Jannar.
  • 245, 5 v. u. lies: bewundern.
  • 287, 6 v. o. lies: Cartwright.
  • 327. 4 v. u. iſt endlich zu ſtreichen.
  • 345, 19 v. u. lies: fehlte.
  • 393, 15 v. o. lies: ein Drittel ſtatt ein Fünftel.
  • 395, 10 v. o. lies: Baden ſtatt Baiern.
  • 557, 5 v. o. lies: Statthalters.
  • 633, 8 v. u. lies: Uebungslager.
[1]

Viertes Buch. Das Eindringen des franzöſiſchen Liberalismus. 1830 1840.

[2][3]

Erſter Abſchnitt. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Das Fortwirken der Vergangenheit in der Gegenwart bewährt ſich unerbittlich auch in den Geſchicken ſolcher Völker, welche an dies hiſtoriſche Geſetz nicht glauben wollen. Durch die erſte Revolution hatten die Fran - zoſen mit ihrer Geſchichte gebrochen; ſie wähnten ihrer Vorzeit ledig zu ſein und ſahen nicht, daß Napoleon nur in vereinfachten, demokratiſchen Formen den alten centraliſirten Beamtenſtaat Richelieu’s wieder herſtellte als er dem neuen Frankreich ſeine dauernde Verfaſſung gab. Noch weniger wollten ſie im Jahre 1830 erkennen, daß die Juli-Revolution ihre welt - erſchütternden Folgen großentheils der Nachwirkung der Vergangenheit verdankte. Seit den Wiener Verträgen beſaß Frankreich weder die kriege - riſche Macht noch die geiſtigen Kräfte mehr um die Führerſtellung unter den Völkern zu beanſpruchen; der Tag von Belle Alliance hatte die Ueber - legenheit der deutſchen Waffen erwieſen, in Kunſt und Wiſſenſchaft war Deutſchland längſt zu neuen, eigenen Idealen gelangt, auch die prunkenden Redekämpfe der franzöſiſchen Volkstribunen und Tagesſchriften bewegten ſich immer noch in den ausgefahrenen Geleiſen der Ideen von 89, ſie warfen keinen ſchöpferiſchen politiſchen Gedanken in die Zeit. Aber die Erinnerungen an die hundertjährige Weltherrſchaft der franzöſiſchen Bildung, an die Propaganda der Jacobiner, an das napoleoniſche Reich blieben noch überall lebendig; auf das Heimathland der Revolution richtete ſich unverwandt die Beſorgniß der Höfe, die Hoffnung aller Unzufriedenen.

Als dort das wiederhergeſtellte legitime Königthum zuſammenſtürzte, urplötzlich, wie durch eine unabwendbare Naturgewalt, da ſchien die ge - ſammte neue Ordnung der Staatengeſellſchaft zu wanken. Ermuthigt durch Frankreichs Vorbild erhoben ſich faſt in allen Nachbarlanden die Mächte der Revolution, die Schlagworte der Menſchenrechte waren in Aller Munde. Selbſt die ſonſt fremdem Einfluß ſo unzugänglichen Briten ver - ſpürten den Zauber der demokratiſchen Ideen Frankreichs und begannen durch die Reformbill den ehrwürdigen Bau ihrer parlamentariſchen Ariſtokratie zu zerſtören. Die Franzoſen nannten ſich wieder die große Nation und wähnten, ihre Tricolore halte von Neuem den Rundgang1*4IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.um den Erdkreis. Achtzehn Jahre darauf ſollten ſie dann nochmals durch einen Straßenkampf den Anſtoß geben zu einer europäiſchen Be - wegung, aber auch nur den Anſtoß von außen her: Frankreichs Gedanken beherrſchten die Welt nicht mehr, die nationale Bewegung in Deutſchland und Italien verfolgte Ziele, welche mit den weltbürgerlichen Lehren der Revolution wenig gemein hatten. Nach vierzig Jahren war endlich die nachwirkende Kraft der alten Größe gänzlich gebrochen; die ernüchterte Welt ſah in dieſem Volke nicht mehr den Lichtbringer, ſondern den Friedensſtörer der Staatengeſellſchaft, die republikaniſche Schilderhebung der Pariſer im September 1870 weckte in Europa kaum noch ein Echo. Ebenſo langſam und unaufhaltſam war zwei Jahrhunderte zuvor die ſpaniſche Weltmacht von ihrer Höhe herabgeſunken. Hier wie dort wirkten die großen Erinnerungen noch gewaltig fort als die Pfeiler der Macht ſchon längſt vermorſcht waren, hier wie dort hielt ſich die Nation noch für die erſte der Welt, als mit einem Schlage, hier durch die Schlacht von Sedan, dort durch den Pyrenäiſchen Frieden die Verſchiebung der Machtverhältniſſe offenbar wurde.

Im Sommer 1830 konnten freilich nur vereinzelte ſcharfblickende Staatsmänner den beginnenden Verfall Frankreichs erkennen. Die große Woche der Pariſer veränderte die ganze Lage der Welt; ſie erſchütterte das politiſche Syſtem der legitimen Großmächte weit ſtärker als zehn Jahre früher die Revolutionen Südeuropas; ſie beſchleunigte überall die längſt ſchon begonnene Zerſtörung der alten Ständeherrſchaft. Der Unter - gang des Adels und die Herrſchaft der Bourgeoiſie in Frankreich entflammten das erſtarkte Selbſtgefühl der bürgerlichen Klaſſen zu neuen Hoffnungen und Anſprüchen. Unterdeſſen begann das zweite große Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen zu tagen, Wohlſtand und Verkehr nahmen einen unerhörten Aufſchwung. Die neuen Weltmächte der Großinduſtrie, der Börſe, des Judenthums traten ihre Herrſchaft an, und zugleich regte ſich ſchon der Klaſſengegenſatz von Capital und Arbeit. Die Zeit der Reſtauration ſtand mit ihrer feinen Sitte, ihren romantiſchen Träumen und ihrer andächtigen geiſtigen Arbeit, mit ihren Diplomatencongreſſen und höfiſchen Feſten dem ariſtokratiſchen alten Jahrhundert noch ſehr nahe. Erſt ſeit der Juli-Revolution, vollſtändig erſt ſeit dem Jahre 1848 zeigt die Geſittung des neunzehnten Jahrhunderts ihr eigenes Gepräge. Ein neues Geſchlecht kommt herauf, demokratiſch in Sitten und Gedanken, formlos und kurz angebunden, unerſättlich in ſeinen Anſprüchen, tief überzeugt von ſeiner eigenen Güte und noch tiefer von der Verworfenheit ſeiner Gegner, unternehmend und arbeitſam, kühn und erfinderiſch im Kampfe mit den Elementen, durch die Weite ſeines Geſichtskreiſes und die Vielſeitigkeit ſeiner Intereſſen allen früheren Zeiten überlegen, aber auch haſtig, unſtät, ohne Sammlung des Geiſtes, ohne Sicherheit der Weltanſchauung. Alles Leben der Völker drängt ſich auf den Markt5Charakter des neuen Zeitalters.hinaus. Die Wahlen und die Redeſchlachten der Parlamente, die Bera - thungen der Vereine, die großen neuen wirthſchaftlichen Unternehmungen nehmen die Kraft des Mannes in Anſpruch, im Kaffehaus und bei der Cigarre ſucht er ſeine Erholung. Der häusliche Verkehr verödet, die Frauen behaupten nicht mehr die unbeſtrittene Herrſchaft im geſelligen Leben und verſuchen dafür ſchon zuweilen mit der Männerarbeit den ungleichen Wett - kampf aufzunehmen. Die Zeitungen und die raſch ins Kraut ſchießende populäre Literatur wecken in weiten Kreiſen den Sinn für das öffentliche Leben, aber auch eine begehrliche, glaubenloſe, dünkelhafte Halbbildung; manches ſchöne Talent verflüchtigt ſich in Eintagswerken, nur wenige ſtarke Geiſter vermögen noch ſich hinauszuretten aus der unmuthigen Haſt der Zeit, in Kunſt und Forſchung Dauerndes zu ſchaffen. Der demokratiſche Charakter der Epoche ſpiegelt ſich treulich wieder in ihrer Männerkleidung, der häßlichſten, aber auch der zweckmäßigſten und be - quemſten, welche je in Europa getragen wurde. Haar - und Barttracht bleiben dem perſönlichen Belieben überlaſſen, im Uebrigen herrſcht unver - brüchlich das demokratiſche Anſtandsgeſetz, das Keinem erlaubt ſich von den Anderen zu unterſcheiden; Jedermann trägt den nämlichen ſchmutz - und miſchfarbigen, taſchenreichen Sackrock, der dem beſchäftigten Manne ſo viel Zeit erſpart; das lange Beinkleid und die Stiefeln dringen jetzt bis in den Salon, der demokratiſche Frack läßt auch hier Alle, Gäſte und Diener, vollkommen gleich erſcheinen.

Das verarmte Deutſchland vermochte dem Umſchwunge des Verkehres und der Lebensgewohnheiten nur langſam zu folgen. Um ſo mächtiger ſtrömten die politiſchen Gedanken der Franzoſen in unſer Leben ein, war ihnen doch längſt der Boden bereitet durch die radicale Literatur der zwanziger Jahre. Unabhängig von den Franzoſen, zumeiſt im Kampfe mit ihnen, hatte der deutſche Genius in den Jahren der claſſiſchen Dichtung, in den Befreiungskriegen, in den ſchönen Jugendtagen der hiſtoriſchen Wiſſen - ſchaft ſich in Wort und That ſeine Wege gefunden. Nun erfolgte ein ungeheuerer Rückſchritt; die alte Aufklärung, die ſeit Herder’s Zeiten über - wunden ſchien, kam wieder empor, und ſie trug franzöſiſche Gewänder. Jene tiefſinnige hiſtoriſche Anſchauung vom Staate, die ſich in der deutſchen Wiſſenſchaft ſtill vorbereitet, aber noch nicht durchgebildet hatte, trat in den Hintergrund. Die alte Naturrechtslehre von dem vernunftgemäßen Staate der Gleichheit, von der Unfehlbarkeit der öffentlichen Meinung, von der Staatsgewalt, die nicht regieren ſondern der Mehrheit dienen ſollte, führte das große Wort und verfiel bald in leere Phraſen, da ſie nichts Neues mehr zu ſagen wußte. Die vaterländiſche Begeiſterung der Befreiungs - kriege ward verdrängt durch einen liberalen Weltbürgerſinn, der im Namen der Freiheit die Feinde Deutſchlands im Oſten wie im Weſten verherr - lichte und das eigene Volk mit Schimpf überhäufte. Auf das geiſtvolle Kunſtverſtändniß der Romantiker folgte wieder ein flacher, mit Freiheits -6IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.worten prunkender Rationalismus, der, ganz in Nicolai’s Weiſe, an alle Werke des Genius den Zollſtock der Nützlichkeit, diesmal des politiſchen Nutzens, legte und die Lehrer der Nation nur nach ihrer zeitgemäßen Ge - ſinnung beurtheilte. Wüſter Radicalismus, zuchtloſe Leidenſchaft, hohler Wortſchwall und dann wieder harte Verfolgung ſchändeten das deutſche Leben.

Gleichwohl hat ſelbſt in dieſem Jahrzehnte widerwärtiger Verirrungen die ſtill wirkende Macht des nationalen Gedankens, die unſer Volk zur Einheit drängte, unwiderſtehlich gewaltet. Nach dem tiefen Schlummer der letzten Jahre war eine Aufrüttelung doch nothwendig, wenn die zähe Maſſe der deutſchen Politik wieder in Fluß kommen ſollte; und wer durfte die unerfahrenen Deutſchen ſchelten, wenn ſie, gleich allen anderen Völkern, das Land überſchätzten, das ihnen das Signal gegeben hatte? Die kleinen Volksaufläufe und Straßenkämpfe in den Reſidenzen unſeres Nordens mochten den Fremden nur wie ein kindiſches Nachſpiel der großen Woche erſcheinen; doch ihr Ergebniß war dauerhafter als das Julikönigthum der Franzoſen. Sie führten die wichtigſten der norddeutſchen Kleinſtaaten in das conſtitutionelle Lager hinüber; ſo ward der Gegenſatz von Nord und Süd gemildert, ein gemeinſamer Boden gewonnen für die politiſche Arbeit der Nation. Alle dieſe winzigen Umwälzungen waren durch ört - liche Beſchwerden veranlaßt, ſie verfolgten nur den Zweck, die altſtändiſche oder höfiſche Willkürherrſchaft in dem heimiſchen Kleinſtaate durch ein liberaleres Regiment zu verdrängen; aber die reife Frucht der partikula - riſtiſchen Revolutionen fiel der Einheitspolitik der Krone Preußen zu. Als Sachſen und Kurheſſen die in Preußen und Süddeutſchland längſt ver - wirklichten modernen Grundſätze der Staatseinheit und des gemeinen Rechtes anerkennen mußten, da wurden ſie erſt fähig mit den deutſchen Nachbarn in Zollgemeinſchaft zu treten, und nun erſt ſchloß ſich der Ring, welchen Preußens Handelsverträge um Deutſchland geſchlungen hatten. Die Siege der liberalen Parteien ermöglichten erſt die Gründung des großen Deutſchen Zollvereins, den die Mehrzahl der Liberalen leidenſchaft - lich bekämpfte; und ſeitdem blieb es ein Menſchenalter hindurch das ſelt - ſame Schickſal des deutſchen Liberalismus, daß alle großen Erfolge unſerer nationalen Politik nicht durch ihn, aber auch nicht ohne ihn errungen wurden. Der Zollverein war die größte politiſche That des Jahrzehnts, folgenreicher für Europas Zukunft als alle die vielbewunderten Partei - kämpfe in den Nachbarlanden, das letzte köſtliche Vermächtniß des alten unbeſchränkten preußiſchen Königthums an die deutſche Nation.

Auch das zerfahrene deutſche Parteileben ward durch den ſcharfen Luftzug dieſer Jahre etwas gekräftigt. Klarer, bewußter denn zuvor traten die Gegenſätze auseinander ſeit in Frankreich das Banner der Volks - ſouveränität erhoben wurde. Die Conſervativen hatten bisher, vertrauend auf ihre Machtſtellung in den Landtagen und auf die Gunſt der Höfe, den Federkrieg gegen die liberale Preſſe ſorglos den Regierungsblättern7Der Umſchwung in Deutſchland.überlaſſen; jetzt ſchaarten ſie ſich feſter zuſammen und bekämpften die Lehren der Revolution in unabhängigen Zeitſchriften. Bald darauf trat die ultramontane Partei, eine geſchloſſene, weithin über Deutſchland verzweigte Macht, mit einem Schlage auf den Kampfplatz. In der liberalen Welt wogten die Wünſche und Gedanken noch wirr durch ein - ander, aber einzelne Sätze der Parteidoctrin wurden allmählich zum Gemeingut Aller, und ſelbſt dem noch völlig unklaren Einheitsdrange der Nation zeigte ſich in weiter Ferne endlich ein erkennbares Ziel ſeit ſüddeutſche Liberale zuerſt von einem deutſchen Parlamente und von der preußiſchen Hegemonie zu reden wagten.

In ſo krankhaft erregter Zeit mußte die Dichtung verwildern. Der geſpreizte, grelle und dennoch kraftloſe Feuilletonſtil verdrängte den Adel der Form, die rohe Tendenz den künſtleriſchen Gedanken, Alles was deutſchen Herzen heilig, wurde von den literariſchen Helden des Tages beſchmutzt und verhöhnt. Doch bis zu den Höhen der deutſchen Bildung ſchlugen die ſchlammigen Wellen dieſes Radicalismus nicht empor. Eben jetzt erſchien Goethe’s letzte und tiefſinnigſte Dichtung; unbeirrt durch das Ge - ſchrei des Marktes ſchritten Böckh und Ritter, die Brüderpaare Grimm und Humboldt ihre Bahn; in Ranke’s Werken bewährte die Kunſt der Geſchichtſchreibung ihre Meiſterſchaft; Dahlmann vertiefte die liberale Parteidoctrin und befruchtete ſie mit den Ideen der hiſtoriſchen Rechts - ſchule; die Theologie wurde durch einen leidenſchaftlichen Parteikampf aufgerüttelt und gezwungen, den hiſtoriſchen Unterbau ihrer Lehren einer ſchonungsloſen Kritik zu unterwerfen; auch in den exacten Wiſſenſchaften traten junge Talente auf, den Wettlauf mit dem Auslande zu wagen. Alſo blieben auch in dieſem Jahrzehnt, das ſelber friedlos ſo viel Un - frieden ſäte, die ſchöpferiſchen Kräfte unſerer Geſchichte noch immer wirkſam.

Das Nahen einer großen Umwälzung war von einſichtigen Be - obachtern der franzöſiſchen Zuſtände längſt vorausgeſehen. Sobald König Karl X. das gemäßigte Miniſterium Martignac hatte berufen müſſen, erlangte der Liberalismus wieder die Herrſchaft über die öffentliche Meinung, und er griff um ſich mit unwiderſtehlicher Gewalt; denn eine gänzlich demokratiſirte Geſellſchaft gleicht einer Heerde, die beiden lebendigſten Kräfte des modernen franzöſiſchen Charakters, der Nationalſtolz und die ſittliche Feigheit, führen jeder augenblicklich obenauf kommenden Partei täglich neue Anhänger zu. Damals ſchon ſchrieb der preußiſche Geſandte v. Werther: Jetzt die ultramontane Partei zur Macht berufen, das heißt Frankreich einen unverzeihlichen und ungeheueren Schritt zur Re - volution hin machen laſſen; denn dieſe Partei würde, verabſcheut von der Nation und unfähig ſich am Ruder zu halten, bald gezwungen ſein, ent - weder einem ultraliberalen Miniſterium zu weichen oder dem Könige den Umſturz der gegenwärtigen Verfaſſung anzurathen. Eine ſolche That8IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.muß aber unfehlbar die Regierung des Königs, die Bourbonen und Frankreich ſelbſt in den Abgrund reißen. *)Werther’s Bericht, 5. Juni 1828.Jener unverzeihliche Schritt zur Revolution geſchah, und die Verblendung der liberalen Parteien trug die Schuld daran.

Großes hatte Frankreich der Herrſchaft ſeines wiederhergeſtellten Königthums zu verdanken. Wunderbar leicht wurden die Leiden der Kriegsjahre überwunden, der Volkswohlſtand und das geiſtige Leben blühten fröhlich auf, Heer und Haushalt ſtanden wieder in guter Ord - nung; die Charte blieb unangetaſtet, die conſtitutionellen Ideen ſchienen ſchon ſo feſt mit dem Volke verwachſen, daß Niebuhr noch im Sommer 1829 ſagen konnte, bei dem gegenwärtigen Zuſtande der Dinge ſei an keine Revolution mehr zu denken. Vor Kurzem noch hatte das Land drei Jahre lang die polizeiliche Aufſicht der europäiſchen Occupationstruppen ertragen müſſen, noch auf dem Aachener Congreſſe wurde ſein Miniſter von den vier Mächten wie ein Schulknabe zum Wohlverhalten ermahnt. Jetzt behauptete der Tuilerienhof wieder eine würdige, ſeiner Macht ent - ſprechende Stellung in der Staatengeſellſchaft, um ſeine Freundſchaft be - mühten ſich alle Großmächte, unter ſeiner Mitwirkung wurde die Schlacht von Navarin geſchlagen und ſchließlich, durch den Zug nach Morea, die Unabhängigkeit Griechenlands geſichert. Der Verfaſſung treu und dem königlichen Hauſe ritterlich ergeben, durfte Graf Martignac wohl auf den Beiſtand aller gemäßigten Parteien zählen, als er der Charte durch eine freiere Gemeindeverfaſſung einen feſten Unterbau zu ſchaffen unter - nahm; denn Jedermann wußte, daß König Karl ſchon dies Miniſterium nur ungern ertrug und nimmermehr den Liberalen noch weiter entgegen - kommen würde.

Trotzdem wurde das Cabinet bei den Verhandlungen über die Ge - meinderathswahlen von ſeinen natürlichen Freunden verlaſſen und zum Rücktritt genöthigt. Der letzte ehrliche Verſuch, das conſtitutionelle Frank - reich mit dem alten Herrſcherhauſe zu verſöhnen, war geſcheitert. Der Eigenſinn der Parteien trug den Sieg davon über die Gebote der Pflicht und der Klugheit. Auch die Ränkeſucht ſpielte mit, jene alte franzöſiſche Sünde, die in den höfiſchen Cabalen des alten Jahrhunderts zur Meiſter - ſchaft ausgebildet, längſt ſchon in die parlamentariſchen Sitten der neuen Zeit eingedrungen war: Graf Molé und der Vertraute des Herzogs von Orleans, General Sebaſtiani ſchürten den Widerſtand gegen Martignac, weil ſie ſelber ſeine Erbſchaft anzutreten hofften. **)Werther’s Bericht, 6. December 1828.König Karl meinte befriedigt: ich ſagte es ja, mit dieſen Leuten iſt nichts anzufangen, und betraute ſeinen Günſtling, den Fürſten Polignac, mit der Bildung des neuen Cabinets.

9Letzte Zeiten der Reſtauration.

Von Stund an änderte ſich die Lage. Der König war in den erſten Jahren ſeiner Regierung nicht unbeliebt geweſen; jetzt ſah er ſich von allen Seiten her mit Schmähungen und Verwünſchungen überhäuft. Der Schatten der Emigration ſtellte ſich trennend zwiſchen Thron und Volk. Man entſann ſich wieder, daß dieſer König und die Polignacs einſt, gleich nach dem Baſtilleſturme, zuerſt das böſe Beiſpiel der Aus - wanderung gegeben, daß ſie jahrelang gegen ihr Vaterland gekämpft, daß die Sendboten des Pavillons Marſan noch lange nach der Reſtau - ration die fremden Mächte beſtändig zur Einmiſchung in Frankreichs innere Händel aufgeſtachelt hatten. Eine furchtbare Vergeltung ſollte die beiden erſten Emigranten noch einmal für den alten Frevel des Landes - verraths züchtigen. Vergeblich verwahrte ſich Polignac in der Kammer dawider, daß man zwei feindliche Völker in der einen Nation ſchaffen, das neue Frankreich von dem alten trennen wolle. Dieſe Trennung be - ſtand ſchon längſt. Die Kluft zwiſchen der alten und der neuen Zeit that ſich ſofort wieder gähnend auf, als dieſer Mann an’s Ruder trat, der beſchränkte, ehrliche, bigotte Ultra, der einſt ſeine Verſchwörungen gegen Bonaparte mit langer Haft gebüßt und in der Einſamkeit des Kerkers ſeine hart reactionäre Geſinnung bis zum religiöſen Fanatismus geſteigert hatte. Die Blätter der Oppoſition übertrieben ſtark, als ſie nach der Juli-Revolution höhniſch bekannten, Frankreich habe fünfzehn Jahre lang Komödie geſpielt; wahr blieb doch, daß die belebende Kraft der Monarchie, die Geſinnung angeſtammter Treue, trotz aller Huldigungen für die unbeſtrittene Familie , der ungeheueren Mehrzahl der Franzoſen verloren gegangen war. Ueber den Wohlthaten der Reſtauration ver - gaß dies Volk doch nicht, daß ſein Königshaus die entſcheidenden Tage der nationalen Geſchichte im Auslande, im Lager der Feinde verlebt hatte. Den Bourbonen fehlte Alles was das Weſen der wirklichen Legitimität ausmacht: ſie konnten ſich weder auf eine große, dem ganzen Volke heilige Vergangenheit ſtützen noch mit Gelaſſenheit in die Zukunft blicken. Zudem war jetzt, da das Land ſich neu gekräftigt fühlte und die Wirren im Orient die Ausſicht auf eine europäiſche Verwicklung zu eröffnen ſchienen, die übermüthige keltiſche Kriegsluſt wieder erwacht. Vernichtung der Verträge von 1815 ſo lautete der Ruf des Tages, und die Schuld dieſer Verträge ſchrieb die von allen Parteien umſchmei - chelte und verwöhnte Nation nicht ſich ſelber und ihrer eigenen Ver - blendung zu, ſondern den Bourbonen, den Schützlingen des Auslands.

Angeſichts der allgemeinen Erbitterung war das Miniſterium Po - lignac von Haus aus unhaltbar. In dieſem Lande der Volksſouveränität konnte ſich keine Regierung mehr gegen den beſtimmten Willen der Nation auf die Dauer behaupten; ſelbſt Napoleon blieb nur ſo lange am Ruder als er glücklich war, als ſeine Siege die Eitelkeit des Volks befriedigten. Der berechtigte Haß gegen das Cabinet ward aber noch verſchärft durch10IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.die Macht der Doctrin. Die Selbſtgefälligkeit des neuen Jahrhunderts rühmte ſich gern, in dieſen hellen Tagen ſei die Parteibildung grund - ſätzlich geworden und darum klarer, bewußter denn je zuvor; und doch blieb der Parteikampf jetzt wie zu allen Zeiten ein Kampf um die Macht, die moderne Sitte der Aufſtellung theoretiſcher Programme erhöhte nur den Dünkel, die Unverſöhnlichkeit der Fractionen. Und ſelten hat eine hohle Doctrin ſo verderblich gewirkt wie jetzt in Frankreich die neue Lehre von dem allein wahren conſtitutionellen Staate.

In den Anfängen der Reſtauration hatten nur vereinzelte Stimmen, zumeiſt aus dem Lager der Ultras, dem Könige die verfaſſungsmäßige freie Ernennung der Miniſter zu beſtreiten gewagt. *)ſ. o. II. 120.Damals erklärte Royer-Collard, der verehrte Führer der Doctrinäre: das Königthum hört auf an dem Tage wo die Kammer ihm die Miniſter aufdrängt. Aber bald wendeten die Liberalen ihre Blicke nach England und bildeten ſich die Meinung, die Parlamentsherrſchaft der engliſchen Ariſtokratie müſſe in das demokratiſirte Frankreich übertragen werden. Thiers, der klügſte Kopf unter den Urhebern der Juli-Revolution faßte die neue Lehre zuſammen in dem Schlagworte: der König herrſcht nur, aber er regiert nicht. Nach dem Siege geſtand er unumwunden: in dem Augenblicke, da das Miniſterium Polignac gebildet wurde, erhob ſich die große Frage des Repräſentativſyſtems, die Frage, worin ſein ganzes Weſen enthalten iſt, die Frage, die über ſein Daſein oder Nichtſein entſcheidet; es war die Frage: iſt der König von der Mehrheit der Kammern unabhängig oder nicht? kann er die Miniſter außerhalb dieſer Mehrheit wählen? Und noch deutlicher fuhr er fort: Was wollten wir vor dem Juli? Die conſtitutionelle Monarchie mit einem Herrſcherhauſe, das ihre Be - dingungen anerkennen und deshalb uns den Thron verdanken ſoll.

Damit war der zweite doctrinäre Glaubensſatz der Zeit ausge - ſprochen. Die Verehrung für das todte Datum liegt in dem ſchablonen - haften Charakter der neufranzöſiſchen Bildung tief begründet. Wie die Liberalen längſt glaubten, in dem wunderbaren Jahre 1789 ſei ihre neue Freiheit urplötzlich geboren worden, und mitleidig auf jede andere Nation herabſahen, wenn ſie nicht auch ein 89 in ihren Annalen aufweiſen konnte, ſo berauſchten ſie ſich nunmehr an der neuen Heilswahrheit: Englands Freiheit ſei erſt durch die zweite Revolution von 1688 geſichert worden, folglich müſſe auch Frankreich das Zeitalter ſeiner Revolution durch ein anderes 88 abſchließen. Die Vergleichung hinkte auf beiden Füßen, denn wo war in Frankreich ein Schreckensregiment, das den Unthaten des Blutrichters Jeffreys glich? wo ein mächtiger parlamentariſcher Adel, der das Erbe des vertriebenen Königshauſes antreten konnte? Dem ober - flächlichen Doctrinarismus der Zeit genügten indeß einige äußerliche Aehn -11Der Kampf um die Parlamentsherrſchaft.lichkeiten, die allerdings in die Sinne fielen: in England wie in Frank - reich war auf die Zeit der Bürgerkriege die Herrſchaft eines genialen Tyrannen und dann, gegen den Willen des ruhmreichen Heeres, die Herſtellung des rechtmäßigen Königshauſes gefolgt; hier wie dort ward der alten, dem Erlöſchen nahen Dynaſtie unerwartet noch ein Erbe ge - boren, hier wie dort ſtand ein unzufriedener Prinz lauernd neben dem Throne. Warum ſollte nicht auch Frankreich ſich die Freuden einer zweiten Revolution gönnen? ſie hatte ja, wie Thiers gemüthlich bemerkte, nichts zu zerſtören außer der Dynaſtie!

Die Erbitterten wollten nicht ſehen, daß allein in dem unbeſtreit - baren Erbrechte des königlichen Hauſes der Ehrgeiz der Parteien ſeine letzte Schranke, die geſetzliche Freiheit ihre letzte Bürgſchaft finden konnte. Für das leichtſinnige junge Geſchlecht, das in den Schulen der neuen Univerſität herangewachſen war, hatte das Zeitalter der Revolution keine Schrecken mehr. Wie verführeriſch erſchienen die Gräuel jener Tage in Thiers gefeiertem Geſchichtswerke; ſelbſt in Mignet’s ruhiger ge - haltenem Buche über die Geſchichte der Revolution, einem Meiſterwerke gedrängter, klarer, lebendiger Erzählung, ſchwieg die Stimme des Ge - wiſſens gänzlich; Beide redeten, als ob eine räthſelhafte Schickſalsmacht die ewigen ſittlichen Geſetze des Völkerlebens fünfundzwanzig Jahre hindurch für die Franzoſen außer Kraft geſetzt hätte. So verloren ſich die liberalen Parteien in die Traumwelt einer Doctrin, die für unwiderleglich galt, ob - gleich ſie von Widerſprüchen ſtrotzte, die ſich monarchiſch nannte, obgleich ſie auf dem republikaniſchen Gedanken der Volksſouveränität ruhte. Man wähnte die Charte zu vertheidigen und beſtritt der Krone ein Recht, das ihr die Charte unzweifelhaft gewährte; man ſprach von der Unverantwort - lichkeit des Monarchen, von der Regierung ſeiner allein verantwortlichen Räthe und behielt dem Volke doch die Befugniß vor, den König zu ent - thronen falls er dem Willen der Kammern ſich nicht beugte.

Dieſer Doctrin der rechtmäßigen Revolution trat aber, ebenſo leicht - fertig und ebenſo dünkelhaft, die Doctrin der rechtmäßigen Staatsſtreiche gegenüber. Auch König Karl ſteifte ſich auf ſein natürliches Recht: er wolle, ſo vermaß er ſich, lieber Holz ſchlagen als ſeine Krone eben ſo tief wie die engliſche erniedrigen laſſen. Für den ärgſten Fall hielt ſein Polignac eine Rechtslehre bereit, die erſichtlich der jakobitiſchen Königskunſt des Hauſes Stuart nachgebildet war: da die Charte ein freies Geſchenk der königlichen Gnade ſei, ſo dürfe der Monarch jederzeit ſeine urſprüngliche Vollgewalt wieder an ſich nehmen und einzelne Sätze der Verfaſſung beſeitigen, um nachher wieder in den Weg des Geſetzes einzulenken; die Charte beſtimmte ja ſelbſt im Art. 14, daß der König die zur Sicher - heit des Staates erforderlichen Verordnungen erlaſſen ſolle; und ſchon einmal, im Jahre 1816, war das Wahlgeſetz, zur Befriedigung des Lan - des, durch eine königliche Ordonnanz einſeitig abgeändert worden. Sicher12IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.wie ein Nachtwandler ſchritt Polignac ſeines Weges. Bernſtorff und ſelbſt Metternich bezweifelten längſt, ob er die Ueberlegenheit des Charak - ters und des Talentes beſitze, um den ungleichen Kampf zu beſtehen; er aber meinte wirklich, nur eine Hand voll Schreier gegen ſich zu haben und betheuerte den fremden Geſandten: einer Mehrheit in der Kammer bedarf ich nicht, der Wille des Königs vermag in Frankreich Alles. *)Bernſtorff an Maltzahn, 1. Februar 1830. Berichte von Maltzahn, 26. Januar 1830, von Werther 12. Auguſt 1829 ff.So ſtand Princip gegen Princip. Der verſöhnliche Sinn, der die ſchwerfälligen conſtitutionellen Formen allein zu beleben vermag, fehlte hüben wie drüben; beide Theile verfuhren nach franzöſiſchem Herkommen ohne Offenheit und verbargen ihre letzten Abſichten.

Monatelang konnten die Miniſter unter Polignac’s unfähiger Leitung zu keinem Entſchluſſe gelangen, ſie beſorgten gemächlich ihre Verwaltungs - geſchäfte und wagten ſchlechterdings keinen tadelnswerthen Schritt. Trotz - dem verſchworen ſich die Blätter der Oppoſition, dieſem Cabinet das Re - gieren unmöglich zu machen, und ſchwelgten in wüthenden Beſchimpfungen, die von der amtlichen Zeitung ebenſo heftig erwidert wurden. Der Streit ward täglich giftiger, eben weil die Regierung noch nichts verſchuldet hatte. Bereits ſpürte man überall den Einfluß der Geſellſchaft Aide-toi, die aus Republikanern und Doctrinären gemiſcht, ſeit drei Jahren ſchon den Sturz der Bourbonen vorbereitete. In den Provinzen bildeten ſich Ver - eine, um zur Steuerverweigerung aufzufordern für den möglichen Fall, daß der König die Charte verletzen ſollte. Seit Neujahr 1830 gab dann Thiers mit einigen anderen jungen Talenten die Zeitung Le National heraus und entfaltete hier ungeſcheut das Banner der Tricolore. Eine Zeit lang hoffte Fürſt Polignac, durch Erfolge der auswärtigen Politik die Aufmerkſamkeit von den inneren Händeln abzulenken. Kaum ins Amt eingetreten legte er dem Könige einen großen Entwurf für die Neugeſtal - tung Europas vor: darnach ſollte die Türkei getheilt, der König der Nie - derlande in Konſtantinopel, der König von Sachſen in Aachen unterge - bracht, Preußen durch Sachſen und Holland vergrößert werden, Frankreich endlich ohne Schwertſtreich in den Beſitz von Belgien gelangen. Aber der Friede von Adrianopel zerſtörte die phantaſtiſchen Pläne noch bevor ſie den großen Mächten mitgetheilt waren. Nachher erhob ſich ein Streit mit dem Dey von Algier; ein freundliches Geſchick beſchied den Bourbonen, noch wenige Tage vor ihrem Sturze durch einen kühnen und geſchickten Angriff dem neuen Frankreich ſeine wichtigſte Kolonie zu erobern. Doch ſelbſt dieſer ſchöne Erfolg brachte die Nation nicht ab von dem einen Ge - danken, der ſich ihres Geiſtes bemächtigt hatte.

Als der König am 2. März die Tagung der Kammern eröffnete, er - klärte er in der Thronrede feierlich: er werde die geheiligten Rechte ſeiner13Die Juli-Ordonnanzen.Krone ungeſchmälert ſeinen Nachfolgern vermachen und ſtrafbare Umtriebe zu unterdrücken wiſſen. Er ſagte nichts was ihm nicht zuſtand, jedoch den erregten Hörern klangen ſeine Worte wie eine Drohung. Die Kammer antwortete durch eine unehrerbietige Adreſſe; ſie beſchwerte ſich über das Mißtrauen der Monarchen und ſtellte den Grundſatz auf: die fortwäh - rende Uebereinſtimmung der Anſichten der Regierung mit den Wünſchen des Volks iſt die unerläßliche Bedingung des regelmäßigen Ganges der öffentlichen Angelegenheiten. Derſelbe Royer-Collard, der vormals das parlamentariſche Regierungsſyſtem als den Tod der Monarchie bezeichnet hatte, verlas jetzt vor König Karl die Adreſſe, welche dies Syſtem für allein zuläſſig erklärte. Sofort befahl der König die Vertagung der Kam - mern. Welch ein wüſter, unaufrichtiger, gegenſtandsloſer Zank brodelte wieder einmal aus dem Hexenkeſſel der keltiſchen Leidenſchaften empor! Die Kammer verlangte von der Krone die Entlaſſung eines Cabinets, das noch nichts gethan, und der König trieb die Volksvertreter auseinander bevor ſie noch irgend einen Vorſchlag der Regierung verworfen hatten! Eben in dieſen Tagen banger Spannung ſchritt Victor Hugo’s Hernani zum erſten male über die Bretter, die formloſe Ausgeburt einer überhitzten Phantaſie; der jubelnde Beifall der Zuſchauer bekundete, daß die Nation ihrer claſſiſchen Ideale müde und auch eine literariſche Revolution im Anzug war. Im Mai erfolgte die Auflöſung der Kammer. Aus einem heftigen Wahlkampfe ging die bisherige Mehrheit, erheblich verſtärkt, als Siegerin hervor, was außer dem Könige und ſeinen Vertrauten Jeder - mann vorausgeſehen hatte. Der Miniſter aber ließ ſich nicht beirren, feſter denn je war er von ſeinem Rechte überzeugt. Er ſagte: der König würde wie ſein Bruder das Schaffot beſteigen, wenn er uns entließe! und betrieb nun erſt ernſtlich den Plan eines Staatsſtreichs. *)Werther’s Bericht, 27. Juni 1830.

Von den fremden Geſandten hielt nur noch der Nuntius Lambruschini bei dem Freunde aus. Selbſt Graf Apponyi, der bisher der apoſtoliſchen Partei ſehr nahe geſtanden, zog ſich als die Entſcheidung nahte behutſam zurück, wie vorher ſchon Lord Stewart; Werther dagegen und Pozzo di Borgo hatten ſich von vornherein zu dieſem Cabinet kein Herz faſſen wollen. Die großen Mächte verdammten alle die Haltung der Kammern, aber alle warnten auch vor der vermeſſenen Thorheit eines Verfaſſungsbruchs. **)Bernſtorff an Werther 14. Mai, Werther’s Berichte 22. Mai, 10. Juni 1830.Es war vergeblich. Am 25. Juli unterzeichnete der König die verhäng - nißvollen Ordonnanzen, die auf Grund des vieldeutigen Art. 14 der Charte das Wahlgeſetz abänderten, die Preßfreiheit ſuspendirten, die neu - gewählte Kammer auflöſten. Die Krone ſetzte ſich ſelber ins Unrecht, gab ihren Feinden den erwünſchten Vorwand als unſchuldige Vertheidiger der Verfaſſung aufzutreten. Am übernächſten Tage brach der Aufruhr14IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.in der Hauptſtadt los. Während die Beſitzenden, nach der unverbrüch - lichen Gewohnheit der Pariſer Bourgeoiſie, ſich in ihren Häuſern ver - ſteckten, eilten die napoleoniſchen Veteranen und die republikaniſche Jugend aus den Schulen, den Fabriken, den Werkſtätten alleſammt geſchwo - rene Feinde der Dynaſtie freudig auf die Barrikaden. Dies alte Kampfmittel aus den Straßenſchlachten der Hugenotten und der Fronde war vor drei Jahren wieder in Gebrauch gelangt und wurde wie alle die anderen Wunder neufranzöſiſcher Freiheit von den Nachbarvölkern gelehrig aufgenommen, ſo daß in den nächſten zwei Jahrzehnten faſt jede Hauptſtadt des Feſtlandes ſich einmal mindeſtens den Genuß eines Barrikadenkampfes vergönnte.

Am erſten Tage des Aufſtandes erklang noch der Ruf: es lebe die Charte; am zweiten hieß es ſchon: nieder mit den Bourbonen, es lebe die Freiheit, die Republik oder auch Napoleon II. ; dreifarbige Fahnen wehten überall, und zugleich begann der dem franzöſiſchen Gemüthe ſo wohlthuende Kampf gegen Stein und Erz, die königlichen Lilien wurden wo ſie ſich nur zeigten herausgehauen, abgeriſſen, beſudelt, verbrannt. Nach drei Tagen gaben die ſchlecht geführten und nicht ganz zuverläſſigen Truppen das Spiel verloren. Ein maßloſes Selbſtgefühl ſchwellte den Siegern die Herzen. Wie überſchwänglich war, alle dieſe Jahre hindurch, die Heldenthat der Baſtilleſtürmer geprieſen worden, die feige Nieder - metzelung einer Handvoll Invaliden durch eine Pöbelmaſſe. Diesmal hatte das Pariſer Volk wirklich einen ſchweren Kampf ſiegreich durchgefochten, mit Muth und Ausdauer, und nicht ohne ritterliche Hochherzigkeit; denn die Ausbrüche grauſamer Wuth, an denen ſich beſonders die Verwilderung der Gaſſenjugend offenbarte, blieben doch vereinzelt. Nun war dies Frank - reich wieder das gelobte Land der Freiheit, berechtigt, durch die Propaganda ſeiner Revolution die dankbaren Völker zu beherrſchen und zu beglücken. Irgend einen beſtimmten Plan für die Zukunft hegten die Sieger der Juliſchlacht freilich eben ſo wenig wie der greiſe Lafayette, der zum Be - fehlshaber der wiederhergeſtellten Nationalgarde erhoben, ſich wieder ſelbſt - gefällig auf den Wellen der Volksgunſt wiegte und wieder lediglich die hohlen Kraftworte ſeiner alten Menſchenrechte zu wiederholen wußte. Nur der Haß gegen die Bourbonen, nur eine unklare revolutionäre Leidenſchaft hatte dieſe jungen Radicalen auf die Barrikaden geführt.

Sofort nach der Entſcheidung traten aber die Führer der parlamen - tariſchen Oppoſition aus ihren Schlupfwinkeln hervor; die aufgelöſte Kam - mer verſammelte ſich eigenmächtig, um den Straßenkämpfern die Frucht ihres Sieges zu entwinden. Der König verweilte unterdeſſen auf den Schlöſſern in der Umgegend der Hauptſtadt; völlig entmuthigt nahm er nunmehr (30. Juli) die Ordonnanzen zurück und verſuchte ein gemäßigtes Cabinet zu bilden. Wenn unter den monarchiſchen Parteien noch einige Treue und Entſchloſſenheit lebte, ſo konnte nach dieſem Eingeſtändniß des15Die große Woche der Pariſer.begangenen Unrechts die legitime und conſtitutionelle Ordnung auf lange hinaus geſichert werden. Aber Treue fand ſich nirgends, klarer Entſchluß nur bei den Männern, welche die Revolution von 1688 zu wiederholen gedachten. Das vergoſſene Blut ſchrie um Sühne, der wilden Rachgier ſchien die Regierung dieſes Königs fortan unmöglich. Da wagten Thiers, Mignet und ihre Freunde zuerſt, in Flugblättern die Krone für den Herzog Ludwig Philipp von Orleans zu verlangen. Hinter ihnen ſtand ein Un - heil verkündender Name, der alte, von den Bourbonen undankbar zurück - geſetzte Talleyrand; mit ſeiner untrüglichen Spürkraft ahnte er ſchon den Umſchlag des Wetters und ſtand unbedenklich bereit, ſeine Segel wieder von günſtigem Fahrwinde ſchwellen zu laſſen.

Herzog Ludwig Philipp hatte ſich ſo lange die Wage noch ſchwankte im Parke von Neuilly verborgen gehalten und nur durch ſeine Schweſter Madame Adelaide, den einzigen Mann der Familie Orleans, mit den Sendboten ſeiner Anhänger unterhandeln laſſen. Schwankend zwiſchen Angſt und Begehrlichkeit ließ er ſich endlich bereden in die Stadt zu kom - men. Dort übernahm er das Reichsverweſeramt, das ihm die Kammern antrugen und erſchien mit der dreifarbigen Fahne in der Hand auf der alten Heimſtätte der Pariſer Aufſtände, auf dem Altane des Rathhauſes, wo er den General Lafayette vor allem Volk umarmte. Nachher gab der Held zweier Welten dem neuen Gewalthaber ſeinen Segen mit dem großen Worte: nunmehr iſt der Thron von republikaniſchen Einrichtungen um - geben. Dem Könige gingen nun endlich die Augen auf; er ernannte den Herzog von Orleans auch ſeinerſeits zum Generalſtatthalter des König - reichs. Schon Tags darauf, am 2. Auguſt, verzichtete er für ſich und den Dauphin auf die Krone; zugleich befahl er dem Generalſtatthalter, die Thronbeſteigung ſeines Enkels Heinrich V. zu verkündigen und die erforderlichen Anordnungen für die Zeit der Minderjährigkeit des jungen Königs zu treffen. Ludwig Philipp aber unterſchlug dieſen Befehl; er theilte der Kammer nur die Abdankung des Königs und des Dauphins mit. Von Heinrich V. ſagte er kein Wort; die harmloſen Leute ſollten glauben, daß die Bourbonen ihr Thronrecht aufgegeben hätten.

So erſchlich er ſich die Krone durch ſchlechte Künſte und verrieth ſeine Vettern, minder ruchlos vielleicht aber ganz ebenſo unritterlich wie einſt ſein Vater den ſechzehnten Ludwig verrathen hatte. Furcht und Ehrgeiz, die beiden beherrſchenden Kräfte ſeines Charakters, wirkten diesmal zu - ſammen; denn übernahm er nach ſeiner Fürſtenpflicht die Statthalter - ſchaft für den jungen König Heinrich V., ſo konnte der Haß, der auf dem Namen der Bourbonen laſtete, leicht auch ihn ſelber und das Haus Orleans vernichten.

Mit reißender Schnelligkeit eilte nun das Ränkeſpiel dem Schluſſe zu; ſchon am 7. Auguſt wurde das Bürgerkönigthum Ludwig Philipp’s förmlich eingeſetzt. Währenddem führte der entthronte König ſelber den16IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Leichenzug der alten Monarchie feierlich zum Lande hinaus; langſam, in kurzen Tagereiſen zog er, umgeben von dem königlichen Hauſe und einer Schaar getreuer Truppen, nach Cherbourg, um dann in England eine Zuflucht zu ſuchen. Unbekümmert um ihre Eide traten Heer und Be - amtenthum ſofort in das Lager der Sieger über. Nur in der Vendee flammte die alte legitimiſtiſche Kampfluſt noch einmal auf. Die anderen Provinzen fügten ſich ohne Widerſtand; ſie waren längſt an die Dictatur der Hauptſtadt gewöhnt, und ſie fühlten, daß die Revolution in Wahr - heit lediglich die Spitze des Staates umgeſtaltet hatte. Sein Weſen, das napoleoniſche Präfecturſyſtem blieb unverändert; nur die Kurbel der un - geheuren Verwaltungsmaſchine wurde jetzt von anderen Händen bewegt: von den Händen der wohlhabenden Mittelklaſſe, die ihr Uebergewicht in der Kammer gewandt ausbeutete um eine bürgerliche Klaſſenherrſchaft zu begründen, wie ſie ſo unbeſchränkt noch in keinem Großſtaate der Geſchichte beſtanden hatte. Die goldenen Tage der Bourgeoiſie brachen an. Die Demokratiſirung der Geſellſchaft brachte den Franzoſen nicht, wie ihre Doc - trinäre ſo oft geweiſſagt, die Herrſchaft des Talents, ſondern die Herrſchaft des Geldbeutels. Die Charte wurde ſofort zum Vortheil der neuen herr - ſchenden Klaſſe umgeſtaltet, obgleich die Liberalen doch behaupteten für die Aufrechterhaltung der Charte gefochten zu haben. Mit der legitimen Krone fiel auch die adliche Pairskammer hinweg; jedes politiſche Recht ward an einen hohen Cenſus geknüpft und damit jeder Unzufriedene gezwungen ſeinen Widerſpruch zuletzt gegen das Eigenthum ſelber zu richten. Dank dem Wahlgeſetze, Dank der Dreiſtigkeit amtlicher Wahlbeſtechung und Wahl - beherrſchung gelangten fortan faſt nur noch die Mitglieder der herrſchen - den Klaſſe in die Kammer; das parlamentariſche Leben verflachte ſich, die Beredſamkeit ward matter; der Parteikampf verlor Sinn und Inhalt, er bewegte ſich nur noch um die Frage, welchen der ehrgeizigen Fractions - führer die Miniſterſeſſel zufallen ſollten. Ebenſo hart und hochmüthig wie einſt der alte Ritteradel ſchaute dies pays légal des neuen Geldadels auf die breiten Maſſen des Volks hernieder und ſchmähte ſie als die gefähr - lichen Klaſſen.

Der vierte Stand aber hatte ſchon einmal, in den Tagen des Con - vents, Frankreich beherrſcht und jetzt wieder durch ſeinen Barrikadenkampf das alte Königthum geſtürzt; er hegte ein frühreifes Selbſtgefühl und unauslöſchlichen Groll gegen die escamoteurs de juillet, gegen die Reichen, die ihm das Heft aus der Hand gewunden hatten. Bedrückt und ver - wahrloſt konnte er nichts hoffen von einer Klaſſenherrſchaft, die das Elend der kleinen Leute nicht einmal bemerken wollte, und erwartete ſein Heil von den hochtönenden Verheißungen der neuen ſocialiſtiſchen und com - muniſtiſchen Lehren. Blutige Arbeiteraufſtände in Paris und Lyon bekun - deten bald, welche Fülle des Jammers und des Haſſes in dieſen Niede - rungen der Geſellſchaft angeſammelt lag.

17Das Bürgerkönigthum.

Die Regierung der Bourgeoiſie war wie jede Geldherrſchaft friedfertig, und ſie entſtammte doch einer Revolution, deren treibende Kraft in dem ſtreitbaren Radicalismus lag. Erſt unter dieſem friedlichen Bürgerkönig - thum hat der kriegeriſche Uebermuth der Franzoſen ſeine höchſte Ausbildung und auch, nach einem glücklichen Luſtſpiel Scribe’s, den neuen Namen des Chauvinismus empfangen. Alle Völker der Welt brachten dem Helden - volke der großen Woche wetteifernd ihre Huldigungen dar; ſo einſtimmig war ſelbſt der Baſtilleſturm nie geprieſen worden. Wie hätten dieſe Weihrauchswolken den Franzoſen nicht das Hirn bethören ſollen? Die große Mehrheit der Nation glaubte im Ernſt, daß ihr als dem aus - erwählten Volke nicht blos das Recht des Aufſtands, ſondern auch das Recht des Krieges ohne jede Beſchränkung zuſtehe; denn rings an ihren Grenzen wohnten Sklaven, die von ihr die Befreiung erhofften; Frank - reichs Eroberungszüge galten immer nur dem Siege der Idee, ſie ließen, wie der Nil den befruchtenden Schlamm, überall den Segen der Geſittung und der Freiheit zurück; der junge Stamm des revolutionären Königs - hauſes mußte mit Blut gedüngt werden damit er feſtwurzele, und jedes Volk ſollte es als eine Wohlthat dankbar hinnehmen, wenn die Franzoſen ihm ſein Herzblut für einen ſo erhabenen Zweck abzapften. So klang es tauſendſtimmig durch die Preſſe, in ehrlicher Begeiſterung.

Das neue künſtliche Königthum aber, das alle dieſe gefährlichen Lei - denſchaften und ſocialen Gegenſätze bändigen ſollte, war von Haus aus mit dem Fluche der Halbheit, der Unwahrheit geſchlagen. Der Bürger - könig verdankte ſeinen Thron weder dem hiſtoriſchen Rechte, noch wie Napoleon der gewaltigen demokratiſchen Macht der allgemeinen Volksab - ſtimmung, ſondern dem Beſchluſſe einer Kammer von zweifelhafter Geſetz - lichkeit. Als rechtmäßiger Statthalter König Heinrich’s V. konnte Ludwig Philipp gegen die fremden Mächte eine ſtolze, Frankreichs würdige Sprache führen; als König mußte er den Makel des Kronenraubes beſtändig ent - ſchuldigen und verſtecken, ohne doch den revolutionären Urſprung ſeiner Gewalt geradeswegs zu verleugnen. Er nannte ſich nicht Philipp VII., denn er war nicht ein rechtmäßiger Nachfolger König Philipp’s VI. ; aber auch nicht Philipp I., denn er wollte nicht ſchlechthin als Uſurpator er - ſcheinen; alſo Ludwig Philipp, und nicht König von Frankreich, ſondern König der Franzoſen. Dieſer Titel wurde von der geſammten liberalen Welt als ein abſonderliches Kennzeichen conſtitutioneller Glückſeligkeit be - wundert, obwohl ſich auch Friedrich der Große auf ſeinen Münzen ſtets Borussorum rex genannt hatte; ſelbſt den Ausdruck Unterthan , der doch genau das Nämliche bedeutete wie der allein erlaubte Name des Staats - bürgers, wollte der revolutionäre Hochmuth nicht mehr hören.

Die Orleans mußten ſich den Schein der Legitimität zu wahren ſuchen; ihre Hofblätter verſicherten nicht ohne Grund, Ludwig Philipp habe den Thron beſtiegen weil er ein Bourbone ſei. Aber ebenſo hart -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 218IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.näckig betheuerten die Radicalen, die Vertreter des ſouveränen Volks hätten den König frei gewählt obgleich er ein Bourbone ſei; und in der That hatte er die Volksſouveränität anerkannt und feierlich ausgeſprochen, daß er einen Vertrag, un pacte d’alliance mit der Nation geſchloſſen habe. Die neu - geſtaltete Verfaſſung redete nach altem Brauche noch von der Erblichkeit der Krone; doch nachdem von den vier letzten Monarchen Frankreichs nur einer friedlich auf ſeinem Throne geſtorben war, hatte dieſe Vorſchrift blos noch den Werth einer Redensart, und zum Ueberfluß wurde die Charte ausdrücklich dem Muthe und der Vaterlandsliebe der Nationalgarde und aller franzöſiſchen Bürger anvertraut das will ſagen: dieſer König war verantwortlich und konnte von Rechtswegen entthront werden falls das ſouveräne Volk die Charte für verletzt hielt. Er beſaß die höchſte Gewalt nur auf Wohlverhalten, trotz des monarchiſchen Prunkes der ihn umgab; darum nannte Odilon Barrot den Bürgerkönig die beſte der Republiken.

In ſo ſchiefer Stellung konnte ſelbſt ein Fürſt von ſchlichtem Grad - ſinn und reinem Namen dem Rufe der Zweizüngigkeit kaum entgehen; wie viel weniger dieſer vielgewandte Orleans, an deſſen Hauſe noch der ſchlimme Leumund des nichtswürdigen Regenten und des Bürgers Philipp Egalité haftete. Ludwig Philipp war in den Grundſätzen der wiſſens - ſtolzen Aufklärung erzogen und hatte nachher als General der Republik an der Schlacht von Jemappes theilgenommen. Als er dann auswanderte, da fügte es ſein gutes Glück, daß er trotz wiederholter Bemühungen doch keinen Einlaß in die Heere der Verbündeten erhielt; ſo konnte er ſich mit einigem Scheine ſpäterhin rühmen niemals im Lager der Feinde Frank - reichs gefochten zu haben. In den Jahren der Verbannung ſammelte er auf weiten Wanderfahrten eine mannichfaltige Welt - und Menſchenkennt - niß, aber er entwuchs auch gänzlich den Ueberlieferungen des königlichen Hauſes. Der Stolz des franzöſiſchen Prinzen blieb ihm ebenſo fremd wie das dynaſtiſche Pflichtgefühl; die Macht der Geſchichte, das tauſend - jährige Recht der Capetinger erweckte in dieſer trockenen Seele gar keine Ehrfurcht. Sobald die Stunde der Rückkehr ſchlug, war er als ſorgſamer Hausvater zunächſt darauf bedacht, das ungeheuere Hausvermögen der Orleans, das gutentheils aus den Miethen der Spielhöllen im Palais Royal entſtanden war, zurückzugewinnen und ſeiner Familie auf alle Fälle ein ruhiges Hausweſen zu ſichern. Darum wendete er ſich im Jahre 1821 insgeheim an Eugen Beauharnais und ließ ihm einen gegenſeitigen Ver - trag vorſchlagen, kraft deſſen Jeder von Beiden, falls ihn bei einer neuen Revolution das Glück begünſtigte, dem Anderen ungeſtörten Aufenthalt in Frankreich verſprechen ſollte; der Napoleonide zeigte ſich jedoch ritter - licher als der Bourbone, er lehnte ab, weil er gegebenen Falls nur die Herrſchaft Napoleon’s II. ausrufen, alſo keine bindende Zuſage geben könne. *)An dieſen Vorfall, deſſen auch Du Caſſe (Mémoires du prince Eugène, X, 285)

19Ludwig Philipp.

Da der Herzog mit ſeiner ganzen Weltanſchauung dem neuen Frank - reich angehörte, ſo täuſchte er ſich nicht über die gefährdete Lage der alten Dynaſtie, und ſchon nach den hundert Tagen erwog man in diplomati - ſchen Kreiſen die Möglichkeit ſeiner Thronbeſteigung. Die jüngere Linie des königlichen Hauſes bildete wieder den Mittelpunkt der Oppoſition, wie es im Geſchlechte der Capetinger ſeit Jahrhunderten üblich war; liberale Börſenmänner, Abgeordnete, Schriftſteller verkehrten im Palais Royal, und P. L. Courier feierte den Herzog als den einzigen nationalen und liberalen Prinzen von Geblüt. In weitere Kreiſe drang ſein Ruhm erſt, als er ſeine Söhne gut bürgerlich in einem Pariſer Lyceum unterrichten ließ. So lange es Monarchien gab war die Welt bisher der Meinung geweſen, daß Fürſten einer anderen Erziehung bedürfen als Unterthanen, weil ſie im Leben Anderes leiſten ſollen. Der Gleichheitseifer des libe - ralen Bürgerthums ſetzte ſich indeß über die Lehren der Erfahrung leicht - füßig hinweg und pries den volksfreundlichen Sinn des Herzogs, obgleich ſeine Prinzen den beſten Segen der öffentlichen Erziehung, den vollkom - men freien Wetteifer der jugendlichen Köpfe und Fäuſte, ſelbſtverſtändlich niemals kennen lernten und an Hochmuth ihren Standesgenoſſen nichts nachgaben. Als Ludwig Philipp zagend die Krone an ſich nahm, da be - drückte ihn die frevelhafte Rechtsverletzung nur wenig; dem aufgeklärten, durchaus ungläubigen Sohne Philipp Egalité’s fiel es nicht allzu ſchwer, die Linie der königlichen Vorurtheile zu durchbrechen , wie ſein getreuer Thiers ſagte. Um ſo ernſtlicher beunruhigte ihn die Sorge um die Zu - kunft ſeiner Familie. Sein Eigenthum mußte, nach dem alten, ſtets un - verbrüchlich eingehaltenen Hausgeſetze der Capetinger, im Augenblicke der Thronbeſteigung von Rechtswegen an die Krone fallen. Der Bürgerkönig aber bekundete ſogleich den kaufmänniſchen Charakter ſeines Regiments, indem er dieſen ſtolzen königlichen Rechtsſatz mit der Gewandtheit eines Börſenſpielers umging: unmittelbar bevor er die Königswürde annahm, trat er ſein Vermögen ſeinen Kindern ab und behielt ſich nur die Nutz - nießung vor, die er denn auch mit Hilfe der befreundeten Bankfirmen ſehr wirkſam handhabte. Gleichwohl empfand er täglich den Fluch der Uſurpation; ich ſage Ihnen, wiederholte er beſtändig, meine Kinder wer - den kein Brot zum Eſſen haben.

Um ſich zu halten durfte er anfangs perſönliche Demüthigungen und demagogiſche Schliche nicht verſchmähen. Er verſtand ſich dazu, die Lilien ſelbſt aus ſeinem Familienwappen zu entfernen, er ließ den Wortſchwall ſeiner ſüßen Reden unaufhaltſam ſpielen und verbeugte ſich auf den Pa - raden verbindlich vor dem ſouveränen Volke. Bei zweifelhaftem Wetter*)gedenkt, erinnerte Hortenſia Bonaparte die Höfe, als Ludwig Philipp den Nachkommen Eugen’s den belgiſchen Thron ſtreitig machte (Schreiben Hortenſia’s an die Herzogin Auguſte v. Leuchtenberg, Rom 27. Jan. 1831, den Cabinetten von Wien und Berlin mit - getheilt Febr. 1831).2*20IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ging er zu Fuß durch die Straßen, in ſauberer Bürgerkleidung, den Cylin - der über dem feiſten birnenförmigen Bankiersgeſichte und der wohlgebürſteten Lockenperrücke, und ſpannte, wenn der Regen eintrat, höflich ſeinen Schirm auf um einen überraſchten Bourgeois am Arme nach Hauſe zu geleiten. Nachher, da er ſich auf dem Throne ſicherer fühlte, mußte er die ehr - geizigen Parteiführer der Kammer gegen einander ausſpielen, damit unter dem Scheine der Parlamentsherrſchaft ſein perſönliches Regiment gewahrt blieb. Er bemühte ſich eifrig, ſeinem Hauſe die Gleichberechtigung mit den legitimen Höfen zu verſchaffen, und zügelte den kriegeriſchen Ueber - muth der Nation weil jeder Krieg die Revolution von Neuem zu entfeſſeln drohte; doch zugleich benutzte er die Gefahr der Revolution als ein Schreck - mittel um auf die großen Mächte zu drücken und allerhand kleine anmaß - liche Anſprüche Frankreichs durchzuſetzen. So hielt er ſich lange obenauf, ſeiner Mäßigung verdankten die Franzoſen viele Jahre blühenden Wohl - ſtandes; aber ſeine Regierung blieb immer nur ein unfruchtbarer Kampf ums Daſein, ſie brachte dem Lande niemals einen neuen politiſchen Ge - danken, ſie bereitete durch die ſündliche Vernachläſſigung der arbeitenden Maſſen die ſchweren ſocialen Kämpfe der Zukunft vor.

An dieſer Revolution war nichts zu bewundern außer dem perſönlichen Muthe der Barrikadenkämpfer. Mindeſtens ebenſo ſchwer wie die Ver - meſſenheit König Karl’s wog die Schuld der liberalen Parteien. Sie hatten das gemäßigte Miniſterium Martignac geſtürzt und durch eine gehäſſige Oppoſition den König in eine ſolche Lage gebracht, daß er nur noch wählen konnte zwiſchen dem Staatsſtreiche und der förmlichen Anerkennung der Parlamentsherrſchaft. Als dann der Verfaſſungsbruch durch die Abdan - kung des Königs geſühnt war, da wagten ſie nicht einmal den Verſuch das Thronrecht der Dynaſtie zu retten. Die Briten beriefen ſich, als ſie die Stuarts vertrieben, auf den unanfechtbaren Rechtsſatz, daß ein Papiſt nicht König von England, nicht Oberhaupt der anglikaniſchen Staatskirche ſein durfte. Gegen die Regierung Heinrich’s V. ſprach ſchlech - terdings kein Rechtsgrund, ſondern nur der blinde Haß der Nation und die modiſche leichtfertige Doctrin, welche Mignet zuſammenfaßte in dem Satze: nach einer Revolution muß auch der Thron ebenſo neu werden wie alle übrigen Inſtitutionen. Alſo ward das letzte ſchwache Band, das noch das neue mit dem alten Frankreich verkettete, unbedachtſam zerriſſen. Die Juli-Revolution ſchloß nicht das Zeitalter der Revolutionen, wie ihre Urheber frohlockten, ſie eröffnete vielmehr die Bahn für eine unab - ſehbare Reihe neuer bürgerlicher Kämpfe; darum war ſie, menſchlich in Vielem entſchuldbar, durch ihre politiſche Wirkung die verderblichſte der franzöſiſchen Revolutionen unſeres Jahrhunderts. Doch wie hätten die Zeitgenoſſen alle dieſe Folgen ahnen können? Am richtigſten urtheilten vielleicht die preußiſchen Generale und eine kleine Anzahl von beſonnenen Conſervativen in Deutſchland. Die Liberalen aller Länder hielten ſich21Katholiken-Emancipation in England.an den Augenſchein, ſie ſahen in dem Pariſer Straßenkampfe nur die hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfaſſungsbruch, und da der Name: Verfaſſung zur Zeit überall einen unwiderſtehlichen Zauber auf die Gemüther ausübte, das hiſtoriſche Recht der Dynaſtien aber von der herrſchenden Doctrin ſehr geringſchätzig behandelt wurde, ſo bemerkte man die ſchwere Rechtsverletzung kaum und freute ſich unbefangen des Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrſchaft der franzöſiſchen Bourgeoiſie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel - klaſſen ſchon längſt gegen die Ueberreſte der feudalen Geſellſchaftsordnung führten, eine mächtige Unterſtützung; und ſo geſchah es, daß eine Be - wegung, die in Frankreich ſelbſt faſt nur Unheil zeitigte, mittelbar in anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutſchland, einen nothwendigen, heilſamen Umſchwung des politiſchen Lebens förderte.

Einen überraſchend ſtarken Widerhall fanden die Pariſer Ereigniſſe in dem Lande, das vordem der erſten franzöſiſchen Revolution am zäheſten widerſtanden hatte. Seit Canning ſich von dem Bunde der Oſt - mächte losgeſagt, war auch Englands parlamentariſches Leben wieder in friſcheren Zug gekommen: durch Huskiſſon wurden die harten Zollgeſetze etwas gemildert, Canning ſelbſt näherte ſich kurz vor ſeinem Tode der erſtarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete ſich wieder jenen Reformplänen zu, welche einſt Pitt in ſeinen hoffnungsvollen erſten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Feſtlands durch den aufgeklärten Abſolutismus oder durch die Revolution neu ge - ſtaltet wurden, hatte England ſeine beſte Kraft verbraucht für die Begrün - dung ſeines Kolonialreichs und ſeine innere Geſetzgebung faſt ganz ins Stocken gerathen laſſen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver - ſäumt war, und ſo übermächtig drängte ſich das Bedürfniß der Neuerung auf, daß mehrere der kühnſten Reformen der nächſten Jahrzehnte durch ſtreng conſervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erſte, die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington’s und Peel’s (1829). Selbſt dieſe Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg, vielleicht der Abfall des ſchändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der uralte, ſoeben durch O’Connell’s flammende Reden wieder mächtig ange - fachte Haß der katholiſchen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be - ſchwichtigt werden mußte.

Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutſchland ſchon längſt, die übrigen Staaten des Feſtlands ſeit den napoleoniſchen Tagen er - reicht hatten. Die Herrſchaft der Ariſtokratie war aber mit den Vor - rechten der Staatskirche feſt verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert der Streit mit der römiſchen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige zuerſt geſchwächt und der reichsſtändiſchen Bewegung des folgenden Jahr - hunderts die Bahn gebrochen hatte, ſo erſchütterte jetzt der erſte Stoß22IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.gegen die anglikaniſche Kirche zugleich die Machtſtellung des parlamenta - riſchen Adels und öffnete die Breſche für den Einzug eines demokratiſchen Zeitalters. Laut und lauter erklang ſofort der Ruf nach Reform des Parlaments. Noch einmal, aber in völlig veränderter Geſtalt zeigte ſich der für Englands Geſchichte ſo folgenreiche landſchaftliche Gegenſatz des Südoſtens und des Nordweſtens. Wie oft hatten in früheren Jahrhun - derten die Mächte der Bewegung in den Ebenen des Südoſtens ihr Lager aufgeſchlagen; ſeitdem war das Bergland des Nordweſtens längſt aus ſeiner Abgeſchiedenheit herausgetreten, hier lagen die Bergwerke und die Fabrik - ſtädte des neuen Englands, hier begannen ſich die alten ſocialen Macht - verhältniſſe gänzlich zu verſchieben, da das Landvolk unaufhaltſam in die Städte ſtrömte, und gebieteriſch forderten die mächtig aufblühenden großen Gewerbsplätze ihren Antheil am Parlamente, während die verfaulten Wahl - flecken des Südoſtens mehr und mehr verödeten. Als im Sommer 1830 die Neuwahlen begannen, hatte ſoeben Wilhelm IV. den Thron beſtiegen, der Matroſenkönig, wie das Volk ihn nannte, ein wohlwollender, derb gemüthlicher Herr, beſchränkten Geiſtes, aber ehrlich und der Zeit nicht ſo ganz entfremdet wie vordem ſein Bruder Georg IV.

Mitten hinein in die Stürme des Wahlkampfs fielen nun zündend die Nachrichten aus Paris. Der alte Nationalhaß war mit einem male verſchwunden, Zeitungen und Volksredner wetteiferten im Lobe der großen Nation, mancher Heißſporn ſchwenkte ſeinen Hut mit den drei Farben, in Schaaren eilten die Beſitzenden nach Paris, um ſich dort mit den Nationalgardiſten zu verbrüdern und den wahrheitsgetreuen Berichten dieſer Bürgerhelden über die Wunder der großen Woche andächtig zu lauſchen. Die weltbürgerlichen Lehren des feſtländiſchen Radicalismus, die zur Zeit der erſten Revolution nur in den vereinzelten demokratiſchen Clubs der Hauptſtadt Anklang gefunden hatten, drangen nun zuerſt bis in die Maſſen des Volks; in den Arbeiterverſammlungen ward der Bruder - bund der befreiten Völker beſungen: Seht, frei iſt Frankreich ſchon! Italiens Helden droh’n. Deutſchland wird mit uns gehn, Polen ſoll auferſtehn! Radicale und Liberale fanden ſich zuſammen im Kampfe gegen die Ariſtokratie. Während Cobbet durch die fanatiſchen Aufſätze ſeines Regiſters die Maſſen aufwiegelte und ſelbſt in den Vereinen wohlhabender Londoner ſchon radicale Wünſche, ſogar die Forderung des Zwangsmandats für die Abgeordneten, laut wurden, vertraten Brougham und Jeffrey in der whiggiſtiſchen Edinburgh Review behutſamer die An - ſprüche der erſtarkten Mittelklaſſen.

Unterdeſſen erfanden die gelehrten Radicalen der Weſtminſter Review die wiſſenſchaftlichen Formeln für die Weltanſchauung des herannahenden demokratiſchen Zeitalters. Es waren die Schüler Jeremias Bentham’s, der jetzt noch am ſpäten Abend eines arbeitsreichen Lebens ſeine Saaten aufgehen ſah. Der alte Einſiedler ſtand noch immer feſt auf dem Boden23Engliſcher Radicalismus.jener alten engliſchen Aufklärungsphiloſophie, welche dann von den Fran - zoſen weitergebildet, in den Menſchenrechten des Jahres 89 ihre Vollen - dung gefunden hatte. Während die Radicalen des Feſtlandes ſelbſtgefällig wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu ſtehen, erklärte Bentham’s be - gabteſter Schüler, der frühreife, ehrlich begeiſterte John Stuart Mill mit der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert ſei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die hiſtoriſchen Rechtslehren der Deutſchen ſei der freiheitsmörderiſche Wahn verbreitet worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß die Verfaſſung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menſchen und dem gegebenen Machtverhältniß der ſocialen Kräfte. Darum zurück zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen Niemand ſo un - erſchrocken ausgeſprochen hat wie Bentham: der Staat beſteht aus Einzel - weſen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, ſondern dient nur als Mittel um der größten Zahl von Menſchen das größte Wohlſein zu verſchaffen; wird er gänzlich demokratiſirt, ſo muß ſchließlich die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künſtlichen, nur durch äußere Umſtände bedingten Unterſchied zwiſchen den Perſonen, den Raſſen, den Geſchlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der Allmacht einer demokratiſchen Geſetzgebung liefen freilich den politiſchen Ueberlieferungen der geſammten germaniſchen Welt ſchnurſtracks zuwider; die materialiſtiſche Weltanſchauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war in England noch niemals wiſſenſchaftlich überwunden worden, da dieſem Volke der Baconianer der ſpeculative Tiefſinn fehlte. Ganz unvermittelt ſtand hier noch neben dem ſtrengen Kirchenglauben die Moral des platten Verſtandes, der alle ſittlichen Güter nach dem Maßſtabe der Nützlichkeit abſchätzte; und wie verlockend, wie großartig erſchien die Ausſicht auf den unendlichen Fortſchritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirth - ſchaft begann. Eben in dieſen Tagen wurde die erſte größere Eiſenbahn, zwiſchen Mancheſter und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher der neuen Zeit, Huskiſſon, ſeinen tragiſchen Tod fand. Die Leiſtungen der Dampfmaſchinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Maſſen - elend der Großinduſtrie bekundete ſich ſchon in ſtürmiſchen Arbeitsein - ſtellungen.

Das ganze Land gerieth in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe ging die Oppoſition ſiegreich hervor. Schon im November trat Wellington, der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Cabinet aus Whigs und einigen Freunden Canning’s. Nunmehr brachte der junge Lord John Ruſſell ſeine Reformbill ein.

Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Preſſe und den Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenſchaftlicher Kampf, bis24IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.endlich das Unterhaus, nochmals aufgelöſt und neu gewählt, ſeine Zu - ſtimmung gab; den Widerſtand der Lords brach der König ſelbſt, indem er die Gegner perſönlich auffordern ließ, der entſcheidenden Sitzung fern zu bleiben, denn durch einen Pairſchub fürchtete er das tief herabge - würdigte Anſehen des Oberhauſes ganz zu zerſtören. Alſo ward durch eine unwiderſtehliche Volksbewegung die Neugeſtaltung des Unterhauſes durchgeſetzt (1832). Die Reformbill gewährte blos das Unerläßliche: ſie verdoppelte die Zahl der Wähler, was nach den Unterlaſſungsſünden ſo vieler Jahre nicht unbeſcheiden ſchien, ſie beſeitigte nur die gänzlich verrotteten Wahlflecken und gab den neuen Gewerbs - und Handelsplätzen eine den wirklichen Machtverhältniſſen noch keineswegs entſprechende Ver - tretung.

Was Wunder, daß dieſe friedliche Neuerung gerade von den ge - mäßigten Liberalen des Feſtlandes als ein neuer Beweis engliſcher Erbweisheit geprieſen wurde; ſelbſt Dahlmann ſah in der Reform ledig - lich eine heilſame Reinigung der beſtehenden Verfaſſungsorgane, da er mit ſeinem Montesquieu das Unterhaus für das demokratiſche Gegen - gewicht des Oberhauſes hielt. Nur einzelne ſcharfblickende Conſervative unterſchätzten nicht die Bedeutung des großen Umſchwungs. In einem geiſtvollen Aufſatze der Preußiſchen Staatszeitung ſagte Hegel voraus, dieſe Reform werde die Macht der alten parlamentariſchen Ariſtokratie in ihren Grundfeſten erſchüttern, und der Erfolg gab ihm Recht. Bis - her wurde nur ein Viertel der Commoners frei gewählt, die andern ver - dankten ihre Sitze alleſammt der Gunſt der Grundherren und des Cabi - nets. Von nun an gaben in der Hälfte der Wahlbezirke die Mittelklaſſen den Ausſchlag, und obwohl der Adel die gewohnten Künſte der Wahl - beherrſchung auch jetzt noch in zeitgemäßen Formen und mit großem Erfolge ſpielen ließ, ſo wurde doch das Haus der Gemeinen allmählich, was es unter den Welfen nie geweſen war, eine Volksvertretung. Un - aufhaltſam aber ſank die Macht des Oberhauſes, denn die Lords hatten bisher einen großen Theil ihres Einfluſſes unmerklich, durch die Be - herrſchung der Volkswahlen und der Abſtimmungen des Unterhauſes ausgeübt. Den verrotteten Wahlflecken verdankte das alte Haus der Gemeinen den friſchen Nachwuchs ſeiner jugendlichen Staatsmänner; fortan war der Eintritt erſchwert; an der Seltenheit der Talente, an dem Sinken der Beredſamkeit ließ ſich bald erkennen, daß die großen Tage des engliſchen Parlamentarismus zu Ende gingen.

Neben den altgeſchichtlichen Namen der Whigs und Torys kamen bereits die unbeſtimmten feſtländiſchen Bezeichnungen: Liberale und Con - ſervative in Gebrauch; denn die beiden alten erblichen Adelsparteien zer - ſplitterten ſich bald nach franzöſiſcher Weiſe in ſechs Fractionen, kleine Meinungs - und Intereſſengruppen, die nur mühſam unter einen Hut gebracht wurden. Der Führer dieſes neuen Unterhauſes gebot nicht mehr25Die Reformbill.wie einſt die beiden Pitt mit dem Anſehen des Feldherrn über eine ge - ſchloſſene Phalanx befreundeter und verſchwägerter Standesgenoſſen; er mußte die neue Gentry der Kaufherren und Fabrikanten, der Bank - und Eiſenbahndirektoren, die ſich jetzt neben den alten Grundadel drängte, durch Schmeichelei gewinnen, jedem wirthſchaftlichen, kirchlichen, örtlichen Anſpruch eine Befriedigung, jedem Wunſche eine Erfüllung verheißen, er mußte bald ſich leiten laſſen, bald unter dem Scheine der Nachgiebigkeit ſelber leiten. Hatte das Unterhaus früherhin in ſeinem Standesſtolze ſich der Nation oft entfremdet, ſo war nunmehr jedem Einfall, jeder Laune der öffentlichen Meinung Thür und Thor geöffnet; die namenloſen frei - willigen Staatsmänner der Zeitungen, zumal der Times, erlangten eine ungeheure Macht, und nicht ſelten geſchah es ſchon, daß die Commoners, eingeſchüchtert durch den Lärm der Preſſe, für Maßregeln, die ſie miß - billigten, ſtimmten. Die vordem ſo träge Geſetzgebung arbeitete ſchnell, oft leichtfertig. Raſch nach einander wurde die Civilliſte der Krone von den Staatsausgaben abgeſondert, das Handelsmonopol der oſtindiſchen Compagnie aufgehoben, die Sklaverei in den Kolonien beſeitigt, die neue Londoner Univerſität neben den beiden alten ariſtokratiſchen Hochſchulen als Corporation anerkannt, die verfallene ſtädtiſche Verwaltung durch eine liberale, aber gedankenloſe Städteordnung umgeſtaltet. Und ſo ſtark war der demokratiſche Zug der Zeit, daß ſelbſt dies Haus, das noch immer faſt ausſchließlich aus Reichen und Hochgeborenen beſtand, den miß - handelten Maſſen des Volkes ſeine Sorgfalt zuwenden mußte: im Jahre 1833 erſchien das erſte, noch ſehr zahme Geſetz zur Regelung des Fabrik - weſens, auch für den ſündlich verwahrloſten Volksunterricht ward ein kleiner Staatsbeitrag ausgeworfen.

Der Lärm der Gaſſen verſtummte, ſeit die Reformbill geſiegt hatte, doch die Arbeiter ſammelten ſich in der Stille um das neue Banner der Socialreform; zugleich erhob ſich der Ruf nach Befreiung des Handels. Die politiſchen Radicalen hingegen forderten Erweiterung des Stimmrechts, weil die Reformbill die Grenzen des Wahlrechts willkürlich gezogen hatte, und die geheime Abſtimmung, das Ballot. Die altengliſche Rechtsanſicht, die in dem Wahlrechte ſtets eine ernſte Bürgerpflicht, nicht eine Befugniß des ſouveränen Einzelmenſchen geſehen hatte, gerieth in Vergeſſenheit; die Todſünde demokratiſcher Zeiten, die Furcht vor perſönlicher Verantwortung, ſchmückte ſich mit dem Namen des Freiſinns. Mit den demokratiſchen Ideen drangen aber auch die bureaukratiſchen Verwaltungsformen des Feſtlands in den Inſelſtaat hinüber. Da die ſchwerfälligen Formen der alten Selbſtverwaltung der Friedensrichter und Lordlieutenants für den verwickelten Verkehr der modernen Geſellſchaft nicht mehr ausreichten und der Geldadel der neuen Gentry die ſchweren Pflichten des perſönlichen Dienſtes für Staat und Gemeinde verabſcheute, ſo wurde das vernach - läſſigte Armenweſen des Landes einem großen, ſtreng bureaukratiſch ein -26IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.gerichteten Armenamte untergeordnet; die neue Armenverwaltung übertraf die alte durch techniſche Geſchicklichkeit, jedoch ſie lag ausſchließlich in der Hand beſoldeter Beamten, den Ortsausſchüſſen blieb nur das bequeme Recht des Wählens. Zum Jubel der Radicalen ward alſo der erſte, entſcheidende Stoß geführt wider den alten feſten Unterbau der parlamen - tariſchen Ariſtokratie, das Selfgovernment der Grafſchaften, und bald be - mächtigte ſich die neue Bureaukratie auch anderer Zweige der Verwaltung.

An beiden Ufern des Canals rühmte man ſich ſeines Bürgerkönigs und der gemeinſamen Freiheit. In der That begannen die Briten aus ihrem ſtolzen ariſtokratiſchen Sonderleben herauszutreten, ihr neues Unterhaus wurde von allen Kinderkrankheiten des jungen feſtländiſchen Parlamentarismus heimgeſucht. In dem unberechenbaren Spiele der Frac - tionen gaben die geſchworenen Feinde der Reichseinheit, die Iren ſchon zuweilen den Ausſchlag; die Miniſterwechſel, dreizehn in fünfunddreißig Jahren, folgten ſich faſt ſo ſchnell wie in Frankreich. Freilich beſtand in England, da das Erbrecht und die Unverantwortlichkeit ſeiner macht - loſen Krone unbeſtritten blieb, noch immer eine ehrliche parlamentariſche Regierung, während der illegitime König der Franzoſen mit ſeinem Kopfe einſtehen mußte und folglich auch trotz der conſtitutionellen Formen ein perſönliches Regiment führte.

Das innerſte Weſen dieſer Uebergangszeit verkörperte ſich in dem Talleyrand des Parlamentarismus, dem vielgewandten Staatsmanne, der, Ariſtokrat durch Geburt und Neigung, fortan mit demagogiſcher Meiſter - ſchaft die auswärtige Politik Englands leitete. Lord Palmerſton ſtammte aus einem uralten angelſächſiſchen Geſchlechte, das ſchon lange vor der normanniſchen Eroberung geglänzt hatte; in neuerer Zeit war das Haus der Temple immer eine Zierde der Whigpartei geweſen. Der junge Viscount Henry aber trat unbedenklich zu den Torys über, weil die Whigs in jenen napoleoniſchen Tagen nicht auf die Macht hoffen konnten. Mit zweiundzwanzig Jahren war er Lord der Admiralität, zwei Jahre darauf ſchon Sekretär für den Krieg, und lebte ſich mit ſeiner eifrigen, wenn auch unpünktlichen Arbeitſamkeit bald ſo ganz in die Geſchäfte ein, daß er die Amtsthätigkeit nicht mehr miſſen konnte. Er wurde der dauer - hafteſte aller engliſchen Miniſter; von den achtundfünfzig Lebensjahren, die ihm nach ſeinem Eintritt ins Amt noch beſchieden waren, hat er achtund - vierzig auf den Miniſterbänken zugebracht. In den Jahren, da er die Heere gegen Napoleon ausrüſten half, ſammelte er früh eine reiche diplo - matiſche Erfahrung, und ſchon in ſeiner erſten größeren Parlamentsrede verkündete er dreiſt den leitenden Gedanken ſeines politiſchen Lebens: er rechtfertigte den Zug der Flotte gegen Kopenhagen mit den einfachen Worten, in dieſem Falle ſei das Naturrecht ſtärker als das Völkerrecht , folglich dürfe England um ſeiner Selbſterhaltung willen mitten im Frieden einen kleinen Nachbarſtaat räuberiſch überfallen. Der augenblickliche27Palmerſton.Vortheil, das expedient, wie er es gern nannte, entſchuldigte jeden Bruch der Treue und des Rechts. Durch und durch Politiker, ohne Sinn für die Kunſt und die idealen Mächte des Menſchenlebens, aber auch frei von Selbſtüberſchätzung und Gefühlsſeligkeit, folgte er ſtets ſeinem an - geborenen praktiſchen Inſtinkte; Grundſätze und Doctrinen beirrten ihn ſo wenig wie Gewiſſensbedenken. Er wußte, daß er ſeinen Weg machen würde, wenn er nur immer im Sattel bliebe; ruhig ſchlug er ein hohes Amt aus, dem er ſich noch nicht gewachſen fühlte, und ohne Murren nahm er nachher lange vorlieb mit einer Stellung zweiten Ranges, ob - gleich er ſchon Größeres erwartet hatte.

Auf die Dauer konnte ihm der Erfolg doch nicht fehlen; denn von frühauf war er der Liebling der Salons, die Geſchäfte hinderten ihn nicht fröhlich zu leben und leben zu laſſen, an jedem Sport der vornehmen Geſellſchaft eifrig theilzunehmen. Er verlachte das ſcheinheilige Weſen ſeiner Standesgenoſſen und geſtand mit wohlthuender Aufrichtigkeit zu, wie ſehr ihm die Weiber und alle Freuden dieſer Welt wohlgefielen; noch im Alter hörte er ſich gern bei ſeinem Schmeichelnamen Lord Cupid rufen. Wenn er in tiefer Nacht elaſtiſchen Schrittes aus einer langen Sitzung des Unterhauſes heim wanderte, immer mit einer Blume im Munde oder im Knopfloch, den Regenſchirm geſchultert, den hohen Hut weit auf den Hinterkopf hinaufgeſchoben, dann freuten ſich ſeine Lands - leute dieſes Bildes altengliſcher Lebensfriſche. Sein ganzes Weſen athmete fröhliches Behagen; der ſtarke viereckige angelſächſiſche Kopf mit den ver - ſchmitzten, weit vom Naſenbein abſtehenden Augen erinnerte zugleich an die Kraft der Dogge und an die Liſt des Fuchſes. Seinen Hinterſaſſen war er ein gütiger Grundherr, die Vettern und Freunde verſorgte er nach engliſchem Adelsbrauche mit fetten Pfründen, doch niemals hat er einem Unfähigen abſichtlich ein wichtiges Amt anvertraut. Wenn ihm ein Gegner den Weg kreuzte, ſo nahm Palmerſton unfehlbar früher oder ſpäter ſeine Vergeltung; dann aber vergaß er ſchnell, nachtragender Haß blieb dem Leichtlebigen fremd. Ihm fehlte die Größe und die Tiefe einer urſprüng - lichen, gedankenmächtigen Natur. Seine Stärke lag in dem feinen Spürſinn, der jeden Wechſel der Volksſtimmung vorauswitterte, und je länger er am Ruder ſtand um ſo genauer lernten er und ſeine Briten einander verſtehen, bis er ihnen ſchließlich als der vollkommene Vertreter des nationalen Geiſtes erſchien.

Fremde Völker kannte er nicht und er wollte ſie nicht kennen; nur für Italien, wo er einige Jugendjahre verlebt hatte, und für den leichten Ton der Pariſer Salons hegte er einige Vorliebe. Ueber die Deutſchen urtheilte er ſo, wie es die Torys alle aus Canning’s giftigen Schmäh - gedichten in der Antijacobiniſchen Review gelernt hatten,*)ſ. Beilage 17. er ſah in ihnen28IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ein Sklavenvolk von politiſchen Kindern, von zuchtloſen Freigeiſtern und gelehrten Narren. Um ſo unbefangener konnte er alſo in ſeinen Parla - mentsreden die lockenden Töne der nationalen Selbſtverherrlichung an - ſchlagen, und er lernte bald, daß britiſche Hörer dieſe Kunſt demago - giſcher Schmeichelei ſelten zu plump finden. Im Sommer 1813, während in Preußen das Volk in Waffen aufſtand, pries Palmerſton die unver - gleichlichen Vorzüge des engliſchen Söldnerweſens und verſicherte den befrie - digten Gemeinen: auf ein ſolches Heer von geworbenen Freiwilligen könne der Feldherr ſicherer zählen, als auf eine Bande von Sklaven, die mit Gewalt aus ihren Häuſern geriſſen werden. Späterhin verherrlichte er ſogar die neunſchwänzige Katze als ein Kleinod britiſcher Freiheit: der ganze Unterſchied zwiſchen dem engliſchen und den feſtländiſchen Heeren laufe doch lediglich darauf hinaus, daß hier ohne Unterſuchung, in Alt - England aber nach einem Spruche des Kriegsgerichts geprügelt werde!

Die reactionären Doctrinen des Wiener Hofes konnten dem Realiſten nicht zuſagen, obwohl er ſich hütete deßhalb mit Lord Caſtlereagh zu brechen. Mit aufrichtiger Freude ſchloß er ſich dann an Canning an, als dieſer die alte engliſche Intereſſenpolitik wieder zu Ehren brachte. Aus dem Miniſterium Wellington trat er mit den anderen Canningiten bald wieder aus; er fühlte, dies Cabinet müſſe an dem Felſen der öffentlichen Meinung ſcheitern , und täuſchte ſich auch nicht über den nahenden Zu - ſammenbruch des bourboniſchen Thrones. Zwei Jahre lang blieb er nunmehr in den Reihen der Oppoſition und bereitete durch freiſinnige Gemeinplätze die kühne Schwenkung vor, die ihn zu den Whigs hinüber - führen ſollte. In der Natur ſo ließ er ſich vernehmen giebt es nur eine bewegende Kraft, den Geiſt; in menſchlichen Dingen iſt dieſe Kraft die Meinung, in politiſchen Dingen iſt es die öffentliche Meinung und jene Staatsmänner, welche es verſtehen, ſich der Leidenſchaften, der Intereſſen, der Meinungen der Menſchen zu bemächtigen, erlangen eine unverhältnißmäßige Macht. Ob der Staatsmann nicht auch verpflichtet ſei, die irrende öffentliche Meinung zu belehren, den Vorurtheilen der Volksvertretung mit zornigen Brauen zu trotzen? ſolche Fragen hat er ſich niemals vorgelegt. Als er nun nach der Juli-Revolution in das Reformcabinet der Whigs eintrat und das auswärtige Amt aus Lord Aberdeen’s zaghaften Händen übernahm, lenkte er ſofort wieder in die Bahnen der Handelspolitik Canning’s ein. Er konnte nicht wie die beiden Pitt durch den Schwung einer großen Seele, nicht wie Canning durch das getragene Pathos kunſtvoller Rede das Haus begeiſtern; der neue Par - lamentarismus verlangte nach einem Virtuoſen der Mittelmäßigkeit. Palmerſton wirkte durch das unfehlbare Mittel des nationalen Selbſt - lobes, durch kleine dialektiſche Taſchenſpielerkünſte, durch Zeitungsredens - arten, die einem Jeden einleuchteten und Jedem das Nachdenken erſparten; die Gegner fertigte er mit ſchnöden Witzen ab, nach Umſtänden auch durch29Die liberalen Weſtmächte.eine wohl angebrachte Grobheit, die den unſchuldigen Leuten wie der unwillkürliche Gefühlsausbruch eines Biedermannes klang, und immer blieb den Hörern der Eindruck, als ob ſie tief in die Falten ſeines treuen Herzens hineingeblickt hätten.

Schon auf den Bänken der Oppoſition hatte er mit dem Lächeln des Augurs die ſchmeichelhafte Behauptung ausgeſprochen, jedes Mitglied des Unterhauſes könne ſich ein ſachverſtändiges Urtheil über die aus - wärtige Politik bilden, wenn dieſe nur ganz ehrlich und offen verfahre. Demgemäß betrieb er als Miniſter eifrig die Anfertigung kunſtvoller Blaubücher, die von Allem etwas, von dem Weſentlichen nichts erzählten, ſo daß jeder Leſer der Times ſich fortan rühmen durfte die europäiſche Politik des volksthümlichen Staatsmannes von Grund aus zu kennen. Gleich Canning wollte Palmerſton den Weltfrieden erhalten, um den britiſchen Handel nicht zu verderben; doch gleich ſeinem Meiſter wünſchte er ebenſo aufrichtig, daß immer eine ſanfte Kriegsgefahr über dem Feſt - lande ſchwebte, damit England freie Hand behielt ſein Kolonialreich zu erweitern und die Märkte der ganzen Welt zu beſetzen. Vor Allem galt es, die beiden gefährlichſten Nebenbuhler, Frankreich und Rußland aus - einander zu halten, und der Geſchäftsverſtand des bekehrten Torys ent - deckte ſogleich, wie leicht ſich dies Ziel erreichen ließ, wenn man die politiſchen Leidenſchaften des Tages gewandt ausbeutete. Richtig zubereitet konnte die liberale Phraſe für Alt-England ein ebenſo nützlicher und zu - dem weniger koſtſpieliger Ausfuhrartikel werden wie Kohlen, Eiſen und Kattun. Wenn England ſich an den neuen franzöſiſchen Gewalthaber anſchloß, um ihn zu ſtützen und zugleich im Zaume zu halten, wenn dieſe entente cordiale der Weſtmächte der aufgeregten Zeit beſtändig als ein Bund der Freiheit gegen den Despotismus, des Lichtes gegen die Finſterniß angeprieſen wurde, ſo war eine ehrliche Verſtändigung zwiſchen Frankreich und den conſervativen Oſtmächten unmöglich.

Dank der Tendenzpolitik Metternich’s beſtand in der Welt ſchon ſeit Jahren der Wahn, daß die Parteiung der Staatengeſellſchaft nicht durch die Weltſtellung und die auswärtigen Intereſſen der Mächte be - ſtimmt würde, ſondern, wie einſt im Zeitalter der Religionskriege, allein durch ihre inneren Zuſtände. Palmerſton’s Nüchternheit hat an dies Märchen der Parteileidenſchaft nie geglaubt; er wußte wohl, daß die Verfaſſungskämpfe der Gegenwart bei Weitem nicht ſo tief in die Macht - verhältniſſe Europas eingriffen wie einſt die kirchlichen Gegenſätze. Jedoch er bemächtigte ſich des allgemein verbreiteten Wahnes und verkündete ungeſcheut: dies ſelbſtgenügſame Inſelreich, das ſich in Jahrhunderten niemals um die Verfaſſung der Nachbarlande gekümmert hatte, ſei der natürliche Bundesgenoſſe aller conſtitutionellen Staaten. Mit dem Rede - ſchwall eines Marktſchreiers verherrlichte er die Trefflichkeit, die unver - gängliche Dauer dieſes auf die beſten Grundſätze der menſchlichen Natur,30IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.auf die aufgeklärteſten Grundſätze der Staatskunſt begründeten Bundes der Weſtmächte, und die alleinſeligmachende Kraft jener constitutional rights, die ein Segen ſind für die Völker und ein Aergerniß für ihre Nachbarn: wenn nur erſt die Formen da ſind, findet ſich allmählich der Geiſt hinein! Die hohlſten Schlagworte des feſtländiſchen Libera - lismus waren ihm willkommen, wenn ſie ihm zur Verleumdung der abſoluten Kronen dienen konnten. Er war einſt im Miniſterrathe ſelber bei den diplomatiſchen Verhandlungen des Jahres 1813 thätig geweſen und ſchämte ſich doch nicht dem Parlamente das Zeitungsmärchen zu wiederholen: damals ſeien die Völker, aufgeweckt durch den Zauberklang conſtitutio - neller Rechte, freiwillig unter die Waffen getreten und dann von ihren Despoten betrogen worden. Palmerſton hatte ſich das Loos der Schau - ſpieler Samuel Johnſon’s erwählt: er lebte, um zu gefallen und mußte gefallen, um zu leben; und ſchwer war es nicht, die tiefe Unkenntniß feſtländiſcher Dinge, welche die Briten jederzeit auszeichnete, nach Be - lieben zu mißbrauchen. Das Unterhaus lauſchte entzückt, wenn der liebenswürdige Schalk ihm erzählte, wie weit Preußen und das geknechtete Oſteuropa hinter den freien Spaniern und Portugieſen zurückſtänden; denn die große ſpaniſche Nation verſucht, wenn auch nur von fern (though at a distance), dem ſtolzen Beiſpiel dieſes Landes nachzu - eifern!

So trat denn dem legitimiſtiſchen Doctrinarismus der Hofburg eine demagogiſche Tendenzpolitik entgegen, die ebenſo gemeinſchädlich und noch um Vieles unredlicher war; denn Metternich fürchtete ſich wirklich vor der Revolution, während Palmerſton mit ſeinen conſtitutionellen Kraft - worten nur argliſtig ſpielte. Die erſten Erfolge dieſer ſeltſamen Staats - kunſt waren glänzend. Es gelang ihr in der That, den Continent der - maßen in Unruhe zu halten, daß England unterdeſſen ſein Weltreich ungeſtört ausbauen konnte. Es gelang ihr auch, die Parteien des Feſt - landes durch das beharrlich wiederholte dünkelhafte Selbſtlob der libe - ralen Weſtmächte völlig zu bethören; Europa zerfiel, zu ſeinem Unheil aber zu Englands Vortheil, zehn Jahre hindurch in die zwei Heerlager der conſtitutionellen und der abſoluten Kronen, die Liberalen begrüßten ihren old Pam und das wiedergeborene Frankreich als die Schirmherren der Freiheit, während die Staatsmänner der Oſtmächte das diplomatiſche Allerweltsſchwefelholz, den Lord Feuerbrand, verwünſchten.

Den Staaten wie den Männern wird die Mitwelt ſelten gerecht; immer ſind einzelne Staaten beſſer, andere ſchlechter als ihr Ruf. Zu jenen zählen die jungen Mächte, welche die öffentliche Meinung Europas noch nicht beherrſchen und das Recht ihres Daſeins erſt zu erweiſen haben; zu dieſen die alten Mächte, vornehmlich England, das bei der Enthüllung ſeiner diplomatiſchen Geſchichte nur verlieren kann und darum auch die Schätze ſeiner Archive ängſtlicher als irgend ein anderer Staat31Die Vereinigten Niederlande.behütet. Ein wunderbares Glück geſtattete dieſer Inſel, ihren großartigen Kampf um die Beherrſchung der Meere unter ſo günſtigen Umſtänden zu führen, daß ſie erſt das europäiſche Gleichgewicht, dann die allgemeine Völkerfreiheit zu vertheidigen ſchien. Der von Palmerſton angekündigte Bund Englands und aller freien Völker blieb viele Jahre lang ein unum - ſtößlicher Glaubensſatz des Liberalismus. Nach und nach begann die Welt doch zu bemerken, daß dieſe Politik, die ſo gern mit ihren unüberwindlichen Flotten prahlte, nur gegen die Schwachen und Willenloſen Muth zeigte, vor den Starken behutſam die Segel ſtrich. Dann fühlte man auch, wie wenig Ernſt hinter den Freiheitsreden des Briten lag, wie unfähig er war gerade die friſcheſte Kraft des neuen Völkerlebens, das erſtarkende Deutſchland zu verſtehen, wie kleinſinnig er das natürliche Wachsthum der Mitte Europas zu hemmen ſuchte. Endlich ward der maßloſe engliſche Hochmuth dem Stolze aller Nachbarn unerträglich, ſeit Palmerſton den Briten ſein civis Romanus sum zurief und damit alle anderen Nationen als Barbaren neben dem einzigen Culturvolke bezeichnete; ein ungeheurer Haß ſammelte ſich allmählich auf dem Feſtlande an, Englands einſt hochgefeierte Staatskunſt verfiel dem allgemeinen Mißtrauen, zuletzt der Verachtung. Als Palmerſton ſtarb kurz bevor die Sieger von König - grätz die ganze Rechnung ſeines Lebens mit einem bluthrothen Zuge durchſtrichen da war ſein England kaum mehr eine europäiſche Groß - macht; der Staat war hinausgewachſen aus dem alten Welttheil, er wahrte nur noch ſeine orientaliſchen und transatlantiſchen Intereſſen, in den Händeln des Feſtlands zählte ſeine Stimme nicht mit.

So langſam nahte die Vergeltung. In jenen Tagen, da Lord Palmerſton in das auswärtige Amt eintrat, voll Thatkraft und Lebens - luſt, unermüdlich und unergründlich, treu ſeinem Wappenſpruche flecti non frangi, gehoben von der Gunſt der liberalen Tagesmeinung, da er - ſchien er dem Wiener Hofe mit Recht als ein gewaltiger Feind. Mit den diplomatiſchen Schreckbildern der liberalen Peſt, des jacobiniſchen Krebſes und der revolutionären Feuersbrunſt war dieſem Meiſter der parlamentariſchen Redensart nicht beizukommen.

Unter allen den Erſchütterungen, welche der Juli-Revolution folgten, bedrohte keine den Weltfrieden ſo unmittelbar wie die Erhebung der Bel - gier gegen die holländiſche Herrſchaft. Bisher war trotz ſo mancher Wirren doch mindeſtens der Länderbeſtand der neuen Staatengeſellſchaft unverändert geblieben denn für Griechenland und die Türkei galten die Wiener Verträge nicht: jetzt ward er plötzlich an ſeiner verwund - barſten Stelle zerſtört. Das vielgerühmte, von den Diplomaten der großen Allianz im Wetteifer gehegte und verſtärkte Bollwerk des euro - päiſchen Gleichgewichts, das neue Königreich der Vereinigten Niederlande brach bei der erſten Prüfung morſch zuſammen, nicht ohne die Mitſchuld ſeiner Regierung, doch vornehmlich durch die unheilbare Schwäche einer32IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.verfehlten, künſtlichen Staatsbildung. Ihrer ſtolzen Geſchichte froh, konnten die Holländer in dem belgiſchen Lande, das ſeit den Tagen Philipp’s II. immer fremden Herrſchern gehorcht hatte, nur einen Gebietszuwachs ihres wiederhergeſtellten nationalen Staates ſehen, wie es die europäiſchen Ver - träge auch ausdrücklich ausſprachen. Durch die Begehrlichkeit des Hauſes Oranien und ſeiner engliſchen Gönner war aber der Zuwachs ſtärker ge - worden als das Hauptland ſelber: drei und eine Viertel Million Belgier ſtanden zwei Millionen Holländern gegenüber, und ſie wußten wohl, daß einſt Südniederland unter dem glücklichen Scepter Kaiſer Karl’s V. den Kern der vereinigten Siebzehn Provinzen gebildet hatte. Und was war ihnen nachher, ſeit die ſieben Provinzen des Nordens ſich aus der Ge - meinſchaft des alten Geſammtſtaates losriſſen, von dieſen feindlichen Brü - dern Alles geboten worden: erſt maßen ſie ſich mit den nordiſchen Nachbarn in einem langen blutigen Kampfe, denn der achtzigjährige Krieg der Hol - länder war doch größtentheils ein Bürgerkrieg zwiſchen den beiden Hälften Niederlands; endlich beſiegt, mußten ſie dann ertragen, wie ihnen die Schelde geſperrt, der indiſche Handel verboten, die Feſtungen durch hol - ländiſche Garniſonen beſetzt wurden.

Ungleich ſtärker als dieſe bitteren politiſchen Erinnerungen wirkte der Glaubenshaß. Nicht umſonſt führten die belgiſchen Landſchaften im Volksmunde den Namen der katholiſchen Niederlande, nicht umſonſt waren ihre Geiſtlichen zwei Jahrhunderte hindurch mit Spaniens fanatiſcher Cleriſei eng verbündet geweſen. Hier auf dem claſſiſchen Boden der Reli - gionskriege walteten die kirchlichen Gegenſätze ſtets ſo mächtig, daß die Stammesunterſchiede daneben faſt verſchwanden. Wie ſcharf ſich auch die ſchweren Flamen von den heißblütigen Wallonen unterſchieden, den holländiſchen Ketzern gegenüber hielten ſie doch zuſammen als eine gläubige Heerde. In Frankreich wie in England waren Liberale und Radicale die Urheber der Umgeſtaltung; in den Niederlanden ging die Revolution von den Ultramontanen aus, denen der Liberalismus nur das Hilfs - heer ſtellte. Kaum hatte Frankreich, unter Verwünſchungen wider die Jeſuiten, ſein ſtreng kirchliches altes Königshaus entthront, ſo erhob ſich in Belgien ein Aufruhr, der, den Pariſer Julikämpfen zugleich ver - wandt und feindlich, die Straßenſchlachten wie die liberalen Schlagworte der Franzoſen ſich zum Muſter nahm um am letzten Ende der römiſchen Kirche einen glänzenden Triumph zu bereiten. Ganz ebenſo ſeltſam hatte einſt die Empörung der brabantiſchen Patrioten gegen Kaiſer Joſeph II. ſich mit der erſten franzöſiſchen Revolution verflochten.

Ein Gefühl der Gemeinſchaft konnte ſich zwiſchen den beiden feind - lichen Landeshälften von vornherein nicht bilden. Schon die Verfaſſung des neuen Königreichs wurde, weil ſie die Gleichberechtigung der Be - kenntniſſe vorſchrieb, von der großen Mehrheit der belgiſchen Notabeln verworfen und nur durch einen häßlichen Betrug von der holländiſchen33Holländer und Belgier.Krone eigenmächtig eingeführt. Da beide Landestheile durch die gleiche Stimmenzahl in den Generalſtaaten vertreten waren, die Holländer mit dem Stolze des Herrenvolkes einmüthig zuſammenhielten, unter den bel - giſchen Stimmen aber immer einzelne den Winken der Regierung folgten, ſo wurde die belgiſche Mehrheit von der holländiſchen Minderheit regel - mäßig überſtimmt. Holländer bekleideten weitaus die meiſten wichtigen Stellen im Staatsdienſt; alle Oberbehörden, ſogar die Verwaltung der den Holländern ganz unbekannten Bergwerke erhielten ihren Sitz in Holland. Durch rückſichtsloſe Einführung der holländiſchen Staatsſprache verdarb man ſich ſogar unbedachtſam die köſtliche Gelegenheit, dies Land der ewigen Sprachenkämpfe friedlich zu germaniſiren, den flamiſchen Dialekt, der dem holländiſchen ſo nahe ſtand, zur Würde einer Schriftſprache zu erheben. Den alten ſtürmiſchen Freiheitstrotz der Genter und der Brüggelinge hatten die Jahrhunderte der Fremdherrſchaft längſt gezähmt; aber ge - blieben war den Belgiern ein ſtörriſches Mißtrauen gegen jede Regierung. Wie ſollten ſie ſich auch ein Herz faſſen zu dieſem Könige Wilhelm I., der, vom Wirbel bis zur Zehe ein proteſtantiſcher Holländer, mit dem Dünkel ſeines harten Verſtandes auf den Aberglauben ſeiner katholiſchen Unterthanen herabſchaute und zudem, unbekümmert um die moderne Lehre von der Verantwortlichkeit der Miniſter, nach der Weiſe ſeiner oraniſchen Vorfahren perſönlich regierte?

Das wohlhabende Bürgerthum hielt ſich lange ſtill, da der Wohl - ſtand wuchs und der belgiſche Gewerbfleiß in den holländiſchen Kolonien lohnenden Abſatz fand. Zuerſt regte ſich der Widerſtand unter dem Adel und den Geiſtlichen; dann folgten die von ihren Pfarrherren geleiteten Maſſen. Die Führer der Clericalen blickten hoffend nach Frankreich hinüber, nach der Congregation des Pavillons Marſan. Der König aber führte, wenig wähleriſch in den Mitteln, einen geheimen Krieg gegen die Bourbonen, er begünſtigte unter der Hand die Anſchläge der franzöſiſchen Unzufriedenen, er gewährte ihren Flüchtlingen jahrelang in Brüſſel eine Freiſtatt und bewirkte alſo, daß der belgiſche Liberalismus durch dieſe Gäſte ganz mit franzöſiſchen Gedanken durchtränkt wurde. Der Haß gegen die Holländer beförderte zugleich die franzöſiſche Bildung und die Macht der Kirche. Der ſcharf bureaukratiſchen Kirchenpolitik des Königs trat der Clerus mit offenbarer Unbotmäßigkeit entgegen; wieder wie in Kaiſer Joſeph’s Tagen klagte er über Glaubensdruck weil die Staatsge - walt ein geiſtliches Seminar in Löwen errichtet hatte. Den maßloſen Anklagen der Ultramontanen antworteten in der amtlichen Preſſe der berüchtigte Libry-Bagnano und ſeine Genoſſen mit einer Roheit, die ein katholiſches Volk empören mußte.

Endlich, in denſelben verhängnißſchweren Tagen, da das Miniſterium Martignac zuſammenſtürzte, ſprach der O’Connell Belgiens, Louis de Potter das entſcheidende Wort: Union der Liberalen und der Katholiken. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 334IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Der hatte bisher joſephiniſchen Grundſätzen gehuldigt und die Regierung nur mit politiſchen Flugſchriften bekämpft, aber bald einſehen müſſen, daß ſein letzter Zweck, die Unabhängigkeit Belgiens, nur mit Hilfe der Kirche erreicht werden konnte. Preßfreiheit, Schwurgerichte, Verantwort - lichkeit der Miniſter, freier Gebrauch der franzöſiſchen Sprache, aber auch Freiheit des Unterrichts das will ſagen: Unterwerfung der Volksſchule unter die Kirche ſo lautete das Programm der Neuverbündeten. Ein Sturm von Petitionen rüttelte an den Thoren der Generalſtaaten. Als der König über den monſtröſen Bund der beiden Parteien und ihr infames Betragen ſchalt, verſchworen ſich die Heißſporne nach altem Geuſenbrauche, treu bis zur Infamie bei ihrem Banner auszuharren.

In ſolcher Gährung ward das Land von der Juli-Revolution über - raſcht. Am 25. Auguſt erklangen die feurigen Aufruhrlieder der Stummen von Portici im Brüſſeler Theater, in der nämlichen Nacht brach die Em - pörung aus, eine rohe, noch zielloſe Pöbelbewegung; aber nicht lange, ſo flatterte auf dem gothiſchen Thurme des Rathhauſes ſchon die dreifarbige Fahne von Brabant. Ueberall im Lande züngelte der Aufruhr empor; franzöſiſche Agenten, Offiziere, Soldaten ſchloſſen ſich den Aufſtändiſchen an. Dem holländiſchen Heere fehlte die feſte Leitung; der König ſelber begann zu fühlen, daß die Verwaltung der beiden Landeshälften getrennt werden mußte, und verhandelte darüber mit den Generalſtaaten. Da wurden ſeine Truppen, vier Wochen nach dem erſten Aufruhr, durch einen dreitägigen wilden Straßenkampf von den Brüſſelern gezwungen, die Hauptſtadt zu räumen. Seitdem riß im Heere die Fahnenflucht ein, die Belgier verließen ihre Regimenter, hüben und drüben flammte der alte Stammeshaß furchtbar auf. Die Vermittlungsverſuche des ehrgeizigen Prinzen von Oranien verfingen nicht mehr, und als am 27. Oktober die Holländer in der Antwerpener Citadelle die Scheldeſtadt, zur Strafe für einen verrätheriſchen Angriff, mit ihren Bomben einäſcherten, da war die Trennung entſchieden. Unter den Trümmern von Antwerpen ward das Vereinigte Königreich begraben. In den Regierungsausſchüſſen der Aufſtändiſchen ſaßen die Führer der beiden verbündeten Parteien, der ultramontane Fanatiker Felix von Merode ſo gut wie der geiſtreiche junge liberale Staatsmann van de Weyer. Doch wie wirr auch die Meinungen noch durcheinander flutheten, ein ſtarkes Selbſtgefühl war in beiden Par - teien lebendig. Im Rauſche des Sieges entſann man ſich wieder jener ſtolzen Tage, da die Rolandsglocke von Brügge Victorie in Vlaander - land geläutet hatte; der einſt von Mirabeau ausgeſprochene Gedanke eines ſelbſtändigen belgiſchen Staates gewann von Tag zu Tag neue Anhänger.

Die zur Hilfe herbeigeeilten Franzoſen und ihr Anhang erwarteten zuverſichtlich den Anſchluß Belgiens an das freie Frankreich. Die geſammte radicale Preſſe von Paris blies in daſſelbe Horn, und der gefeierte Redner des Chauvinismus, General Lamarque erklärte kurzab: das Geſetz des35Revolution in Brüſſel.Convents vom Jahre IV der Republik, das die belgiſchen Departements mit Frankreich vereinigt hat, beſteht noch immer zu Recht. Die Mehr - heit der Belgier wies dieſe Anſchläge weit von ſich. Darum wurden auch die republikaniſchen Pläne, mit denen de Potter ſich trug, kurzerhand abgelehnt; denn nur mit Frankreichs Hilfe, nur durch einen Weltkrieg konnte ſich vielleicht die Republik behaupten, nur unter dem Schutze einer monarchiſchen Verfaſſung durften die Belgier auf die Zuſtimmung der großen Mächte hoffen. Schon zu Anfang Novembers faßte der neube - rufene nationale Congreß die verſtändigen, durch die Lage der Dinge ge - botenen Beſchlüſſe: Unabhängigkeit, Monarchie, Losſagung vom Hauſe Oranien.

So errang ſich dies mehr durch die kirchliche Geſinnung als durch das Bewußtſein politiſcher Gemeinſchaft zuſammengehaltene kleine Volk das Recht der Selbſtbeſtimmung. Die liberale Welt hatte anfangs dem Aufſtande mißtrauiſch zugeſehen, da ſein Urſprung unklar war und der belgiſche Pöbel ſich in argen Roheiten erging. Nach dem blutigen Brüſſeler Straßenkampfe ſchlug das Urtheil gänzlich um. Auch Brüſſel hat ſeine drei Tage und ſeine drei Farben! ſchrieb frohlockend Ed. Gans, und ſeine Geſinnungsgenoſſen in der liberalen deutſchen Preſſe entdeckten mit wachſender Bewunderung Zug für Zug immer neue Aehnlichkeiten zwiſchen Belgien und dem Muſterlande der Freiheit: ſie nannten de Potter den belgiſchen Lafayette, Jouvenel’s Brabançonne die belgiſche Marſeillaiſe. Drei Farben, drei Tage, Lafayette, Marſeillaiſe was brauchte ein Volk mehr um glücklich zu ſein? und wer außer den entmenſchten Schergen der Tyrannei konnte jetzt noch beſtreiten, daß die Sonne über Europa im Weſten aufging?

Die ſo lange niedergehaltenen Parteien der deutſchen Oppoſition athmeten fröhlich auf, als die erſte Kunde von der großen Woche über den Rhein drang. Heinrich Heine nahm der radicalen Jugend das Wort von den Lippen, da er in übermüthigem Jubel die Pariſer Zeitungen als in Papier gewickelte Sonnenſtrahlen begrüßte: Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marſeillaiſe fort iſt meine Sehnſucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich ſoll, was ich muß. Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zauberſegen ausgeſprochen. Blumen, Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Ich bin ganz Freude und Geſang, ganz Schwert und Flamme! Mächtig wie die Freude im libe - ralen Lager war der Schrecken an den großen Höfen. Mit wachſender Be - ſorgniß waren ſie ſämmtlich den vermeſſenen Unternehmungen Polignac’s gefolgt; eine ſo furchtbare Erſchütterung, die das ganze mühſame Friedens - werk der Wiener Verträge wieder in Frage ſtellte, kam ihnen doch allen3*36IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.unerwartet. König Friedrich Wilhelm hatte nach ſeiner Gewohnheit den Juli im Bade zu Teplitz verbracht und dort Metternich’s Beſuch empfangen. Trotz der Reibungen am Bundestage und trotz des geheimen Krieges der Hofburg wider die preußiſchen Zollvereinspläne hegte er keinen Groll gegen Oeſterreich; nach wie vor ſah er in der großen Allianz die Bürg - ſchaft des Völkerfriedens, er hoffte dies ſeit dem orientaliſchen Kriege ganz aus den Fugen gegangene Bündniß von Neuem zu befeſtigen und nament - lich das gute Einvernehmen zwiſchen den beiden verfeindeten Kaiſermächten wieder herzuſtellen. Da auch Metternich ſehnlich wünſchte aus ſeiner ſelbſtverſchuldeten Vereinſamung herauszugelangen, ſo ergab ſich eine vollkommene Uebereinſtimmung der Anſichten, und der Oeſterreicher geſtand nachher: bei dieſer Unterredung hätte er zuweilen glauben können, daß er ſich im Cabinet des Kaiſers Franz befände. *)Brockhauſen’s Bericht, 11. Auguſt 1830.

Als der König, von Teplitz heimkehrend, an ſeinem Geburtstage (3. Auguſt) den ſächſiſchen Hof in Pillnitz beſuchen wollte, ereilte ihn der Feldjäger mit den erſten Nachrichten aus Paris. Am ſelben Abend noch hielt er in dem nahen Landhauſe ſeines Geſandten Jordan eine erſte Berathung mit Wittgenſtein und Witzleben, und erklärte hier ſchon nachdrücklich, daß er zwar jeden Angriff der Franzoſen kräftig zurückweiſen, aber in Frankreichs innere Händel ſich nicht einmiſchen werde. So auf - richtig er auch den Sturz des legitimen Bourbonenhauſes beklagte, ſeine Friedensliebe, ſein nüchterner Verſtand, ſein landesväterliches Pflichtgefühl ſträubten ſich wider den Gedanken eines Weltkrieges, deſſen Gefahren unzweifelhaft zunächſt auf Preußen fallen mußten. Schon in Troppau und Laibach hatte er behutſam Alles was ſeinen Staat belaſten konnte von der Hand gewieſen;**)ſ. o. III. 181. wie ſollte er ſich jetzt in die Abenteuer eines neuen Champagnefeldzugs ſtürzen? Ich habe, ſo ſagte er oft, in meiner Jugend die Gräuel der Revolution geſehen und will mein Alter in ehren - vollem Frieden verleben. Die unberechenbare Macht der neuen Revolution hoffte er dann am ſicherſten in Schranken zu halten, wenn der große Vierbund ihr mit einmüthigen Beſchlüſſen gegenüberträte.

Damit die vier Mächte freie Hand und genügende Zeit für ihre Ver - abredungen behielten, wollte er alſo den diplomatiſchen Verkehr mit Frank - reich vorläufig einſtellen und beauftragte ſeinen Geſandten Werther (7. Aug.), nach Verſtändigung mit den Bevollmächtigten der drei anderen Großmächte Paris zu verlaſſen. Als aber Werther ſeine Amtsgenoſſen zur Berathung verſammelte, da zeigte ſich ſofort, daß der Vierbund nicht mehr beſtand. England ging ſeines eigenen Weges; ſein Geſandter erklärte, er habe Be - fehl unter allen Umſtänden zu bleiben. Alle drei riethen dem Preußen, zunächſt weitere Weiſungen abzuwarten, da die letzte durch die Ereigniſſe37Preußens friedliche Haltung.überholt worden ſei. *)Werther’s Bericht 17. Auguſt 1830 nebſt Protokoll über die Berathung der vier Geſandten.Mittlerweile hatte die Revolution ihr Ziel erreicht, der neue Thron war aufgerichtet, und die Geſandten ſchilderten in ihren Berichten das Geſchehene übereinſtimmend als eine unabwendbare Noth - wendigkeit. Sie waren zumeiſt auch perſönlich erbittert gegen Polignac, der über ſeinen Staatsſtreichsplänen die Geſchäfte des Auswärtigen Amts ganz vernachläſſigt, nur mit Apponyi und dem Nuntius Lambruschini Umgang gepflogen hatte. Alle aber beugten ſich vor der vollendeten That - ſache; der anſteckenden Kraft jenes allgemeinen, urplötzlichen Geſinnungs - wechſels, welcher die Revolutionen in Frankreich ſo furchtbar macht, konnte ſich Niemand ganz entziehen. Alle Monarchiſten, ſchrieb Werther ſchon am 5. Auguſt, wünſchen dringend, daß die vier Mächte ſich zu der neuen Krone freundlich ſtellen; ſonſt bricht die Republik, die Anarchie herein. **)Werther’s Bericht, 5. Auguſt 1830.

Ueber den großen Rechtsbruch tröſtete man ſich mit der Erwägung, daß die Orleans doch dem alten Capetingerhauſe angehörten und mithin ſo lautete der neue Verlegenheitsausdruck ſich mindeſtens einer Quaſi-Legitimität rühmen dürften; die Unterſchlagung, welche dem neuen Herrſcher zum Throne verhalf, ward in der ſtürmiſchen Unruhe dieſer erſten Tage kaum bemerkt. Ludwig Philipp aber erging ſich in brünſti - gen, unzweifelhaft aufrichtigen Betheuerungen ſeiner Liebe zum Frieden, zur bürgerlichen Ordnung: der Krieg, wiederholte er beſtändig, wäre die Republik, die Propaganda, der allgemeine Umſturz. Sein Miniſter des Auswärtigen, Graf Molé ſchrieb an Werther: Wir mußten Frankreich retten und, ich darf es hinzufügen, Europa vor einer großen Erſchütterung bewahren. Inmitten des Kampfes wurde die dreifarbige Fahne aufge - zogen. Aber ſeit ſie wieder das Banner Frankreichs geworden, entfaltet ſich dieſe glorreiche Fahne nur noch als ein Sinnbild der Mäßigung und Vertheidigung, der Erhaltung und des Friedens. Ihre Regierung wird anerkennen, welche Ueberwindung es S. Majeſtät gekoſtet hat Sich zur Beſteigung eines Thrones zu entſchließen, der doch um des allge - meinen Wohles willen nur von Ihm eingenommen werden durfte. ***)Molé an Werther, 12. Auguſt 1830.Nach Alledem ließ König Friedrich Wilhelm in Wien erklären, er ſei ſeinen Unterthanen ſchuldig das peinliche Opfer ſeiner Grundſätze und Gefühle zu bringen ; indeß hoffte er noch immer auf ein gemeinſames Vorgehen des Vierbundes und ſchlug daher den drei befreundeten Mächten vor, daß ſie durch gleichlautende Erklärungen die neue franzöſiſche Regierung anerkennen, aber zugleich von ihr die Aufrechterhaltung der Verträge, des Beſitzſtandes, des Friedens förmlich verlangen ſollten. †)Brockhauſen’s Berichte 11. 18. 23. Auguſt. Ancillon, Weiſung an die Geſandt - ſchaften 14. Auguſt 1830.

38IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Die Hofburg zeigte ſich kaum weniger friedfertig als das preußiſche Cabinet; ihre Nachgiebigkeit entſprang dem Bewußtſein der Schwäche. Welche ſchweren Enttäuſchungen brachte dies wilde Jahr dem alternden Staatskanzler! Am 4. Februar hatten die drei Schutzmächte auf der Londoner Conferenz beſchloſſen, das meuteriſche Griechenland ſolle ein unabhängiges, tributfreies Königreich werden. Und nun die Nachricht von dem Sturze der bourboniſchen Regierung, deren guten und äußerſt kräftig erwieſenen Willen Metternich noch zwei Tage zuvor warm belobt hatte! Der in dem Pariſer Bundesvertrage und dem geheimen Aachener Protokoll*)ſ. o. II. 471. vorhergeſehene Kriegsfall war nunmehr unzweifelhaft gegeben, wenn anders man die Verträge ſtreng auslegte. Wollte Metternich nicht Alles verleugnen, was er ſeit fünfzehn Jahren unabläſſig der Welt gepre - digt hatte, ſo mußte er jetzt die legitimen Mächte auffordern zum Kampfe gegen die Revolution, die ſich in Frankreich drohender, gefährlicher erhob als weiland in Neapel, in Piemont, in Spanien. Und doch wagte er nicht einmal ſich auf jene Verträge zu berufen. Die Geſchichte war dar - über hinweggeſchritten; der Hochmuth, der ſich erdreiſtet hatte dem ewigen Werden der Menſchheit ein Halt zuzurufen, zeigte ſich in ſeiner ganzen Blöße. Unter allen großen Mächten war Oeſterreich am wenigſten auf einen Krieg vorbereitet. Selbſt die beſchämenden Erfahrungen des orien - taliſchen Krieges hatten dieſen Hof nicht aus ſeiner Trägheit aufgerüttelt. Das Heer befand ſich noch immer in ebenſo elendem Zuſtande wie der Staatshaushalt. Die Zahl der Mannſchaften unter der Fahne blieb weit hinter dem Friedensfuße zurück; die Artillerie brauchte zwei Monate um auszurücken, denn von den Geſchützen waren kaum fünfzig beſpannt; nur die Reiterei, etwa 40000 Pferde ſtark, behauptete noch ihren alten Ruf. Dazu viele überalte Generale und Stabsoffiziere; ſogar ſiebzigjährige Hauptleute waren nicht ſelten, da der ſparſame Kaiſer Franz Abſchieds - geſuche faſt ebenſo ungern bewilligte wie ſein bairiſcher Schwager. Die Offiziere fühlten ſich gedrückt durch den geiſtlos pedantiſchen Dienſt und auch in der Geſellſchaft zurückgeſetzt, denn bei Hofe wie in den Kreiſen des hohen Adels galten ſie nichts; der einzige Feldherr, dem ſie vertrauten, Erzherzog Karl blieb Dank der Eiferſucht ſeines kaiſerlichen Bruders allen Geſchäften fern. **)Nach General Tettenborn’s Berichten (durch Otterſtedt an Bernſtorff mitgetheilt 1. März 1830).

Mit einer ſolchen Kriegsmacht ließ ſich ein europäiſcher Kreuzzug für das legitime Recht nicht führen; genug ſchon, wenn ſie nur in Oeſterreichs nächſtem Machtgebiete, in Italien, die täglich wachſende revolutionäre Er - regung niederzuhalten vermochte. Rückhaltlos äußerte ſich Gentz zu dem badiſchen Geſandten, dem kriegsluſtigen alten Koſakenführer General Tetten -39Oeſterreichs Schwäche. Gentz.born über die Ohnmacht des alten Syſtems. Wir ſind gezwungen, ſchrieb er ſchon am 24. Auguſt, wir ſind nothgedrungen, Ludwig Philipp’s Er - haltung zu wünſchen, car après lui le déluge. Nehmen Sie hinzu, daß der Stand der Dinge ein ganz anderer als im Jahre 1815, daß keine der großen Mächte zum Kriege gehörig vorbereitet iſt, und Sie werden Sich nicht wundern, wenn le maintien de la paix von allen Seiten als das große Loſungswort erſchallt. Heute müſſen Sie Ihr tapferes Schwert noch in der Scheide halten; gebe Gott, daß Sie es nicht allzu früh in das Blut der Weltverderber tauchen müſſen. *)Gentz an Tettenborn, 24. Auguſt 1830.Was war doch aus jener ſtreitbaren Feder geworden, die einſt die gebieteriſchen Rundſchreiben der großen Congreſſe verfaßte! Gentz ſtand in ſeinem ſiebenundſechzigſten Jahre. Die Mattigkeit des Alters kam über ihn, die Friſche des Willens und die Luſt am Kampfe ſchwanden ſichtlich, doch zugleich erwachten auch wieder die zarten künſtleriſchen Triebe dieſes reichen Geiſtes. Er verlebte Augenblicke dithyrambiſcher Verzückung wie vor Zeiten, da er mit ſeinem Friedrich Schlegel für die Lucinde geſchwärmt hatte: Wie, wenn Alles vernünftig wäre! Gott bewahre uns. Alle Blüthen des Genuſſes fielen plötzlich vom Baume des Lebens herab. Wer bei einem Buche nicht wahn - ſinnig, bei der Geliebten nicht ein Narr, im Kampfe nicht toll und unter Pedanten und Philiſtern nicht blödſinnig zu ſein verſteht, der kennt die Kunſt des Lebens nicht. Die romantiſche Liebe zu der ſchönen Tänzerin Fanny Elsler und der kaum minder phantaſtiſche Freundſchaftsbund mit dem jungen Prokeſch v. Oſten nahmen ſeine Seele ganz dahin, und zu - gleich träumte er über Heine’s Gedichten, bald tief gerührt, bald wollüſtig ſchaudernd, bald hoch entrüſtet. Dieſe beſtändige, halb greiſenhafte halb jugendliche Erregung der Gefühle rieb ſeine Lebenskräfte auf, wie der nüch - terne Metternich bald bemerkte.

Noch immer beobachtete er den Wandel der politiſchen Dinge mit dem alten wunderbaren Scharfblick. Schon im letzten Jahre hatte er vorausgeſagt, die wilde Leidenſchaft des ſataniſchen Geſchlechts der jakobi - niſchen Mütz-Cujons , der doctrinäre Eigenſinn der Liberalen und der geheime Ehrgeiz des Bonapartismus müßten unfehlbar ſehr bald einen neuen Umſturz in Frankreich herbeiführen. Er wußte wohl, dieſe neueſte Revolution war die entſcheidendſte und vollſtändigſte, die Frankreich erlebt, weil ſie das hiſtoriſche Recht endgiltig zerſtörte. Allein unter den Zeit - genoſſen erkannte er auch ſchon, daß die abermalige Erhebung der Fran - zoſen bei Weitem nicht ſo viel bedeutete wie der Einbruch der Demokratie in das altariſtokratiſche Staatsleben Englands; in dieſem Umſchwung der engliſchen Verhältniſſe ſah er das eigentlich Neue, das Verhängniß des Jahres 1830; immer wieder beſchäftigte ihn die Sorge was aus dieſer Nation geworden iſt und nächſtens werden wird. Aber den Kampf40IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.gegen die ſiegreichen Mächte der Revolution wollte er nicht mehr aufnehmen; er ſtand nicht an, die Niederlage der alten Gewalten ehrlich einzugeſtehen: das lebhafte Gefühl, daß wir geſchlagen ſind, raubt uns die letzten Kräfte zur Rettung. Frieden! hieß jetzt die Loſung aller ſeiner Briefe. Unermüdlich, und nicht immer ganz der Wahrheit getreu, verſicherte er dem Vertrauten Samuel Rothſchild, zur Mittheilung an die Pariſer Freunde, daß keine der drei Oſtmächte an einen Krieg denke; mit warmem, faſt überſchwänglichem Lobe pries er die Friedfertigkeit der franzöſiſchen Regierung. Nicht lange, ſo entdeckte er ſogar, daß die Volksſouveränität, Dank der Mäßigung des Bürgerkönigs, unvermerkt in eine neue Legiti - mität übergehe: warum könnten dieſe beiden großen Staatsgrundſätze nicht friedlich, wie Proteſtantismus und Katholicismus in der Staaten - geſellſchaft neben einander beſtehen? warum ſollte Europa wieder wie im ſechzehnten Jahrhundert einen Meinungskampf durch die Waffen zu ent - ſcheiden ſuchen? Das Syſtem der Erhaltung und das Syſtem des ruhigen Fortſchritts widerſprechen ſich ja nicht unbedingt. Alſo ward er, nicht durch freie Ueberzeugung, ſondern durch die Uebermacht der Ereigniſſe und durch die entſagende Verſöhnlichkeit des Alters am Abend ſeines Lebens wieder zurückgeführt zu den gemäßigten Grundſätzen, mit denen er einſt ſeine politiſche Laufbahn begonnen hatte.

Gentz’s Meinung fiel kaum mehr ins Gewicht, da er an den Geſchäften nur noch geringen Antheil nahm und, wie Metternich ſagte, nur noch Phantaſie-Dienſte leiſtete. Aber auch der Staatskanzler ſelbſt war tief durchdrungen von dem Gefühle ſeiner Hilfloſigkeit, obgleich er dem preußi - ſchen Geſandten gegenüber prahlte, Oeſterreichs Heer laſſe ſich ſchnell und leicht auf einen Beſtand von 400000 Mann bringen. *)Berichte von Brockhauſen 11. 18. Aug., von Blittersdorff 4. Sept. 1830.Wie hart es ihm auch ankam, ſo erklärte er ſich doch mit den preußiſchen Anträgen einverſtanden; indeß dachte er die Möglichkeit einer gemeinſamen Inter - vention noch nicht ganz aus der Hand zu geben und ſchlug daher vor, die vier Mächte ſollten zu einem Congreſſe zuſammentreten oder mindeſtens in Berlin zur Beobachtung Frankreichs ein centre d’entente bilden. Auf eine ſolche unnütze Herausforderung der Franzoſen wollte ſich jedoch der preußiſche Hof nicht einlaſſen; die böſe Erinnerung an den verhängniß - vollen Pillnitzer Congreß lag gar zu nahe. Für den ſchlimmſten Fall hielt Metternich noch eine furchtbare Waffe bereit: den Herzog von Reichſtadt. Er kannte die Furcht der Orleans vor dem großen Namen der Bonapartes; mehrmals gab er den befreundeten Geſandten, ſchließlich auch dem Tuilerienhofe ſelbſt zu verſtehen: wenn Frankreich die Verträge nicht achte, dann würde der Vierbund den Erben des Imperators zurück - führen. **)Maltzahn’s Berichte 5. September 1830. 11. 16. Februar 1831.Und wahrlich, der junge Napoleon hätte es an ſich nicht fehlen laſſen. Der Abgott aller Weiber, bildſchön, frühreif, hochbegabt fühlte er41Ruſſiſche Kriegspläne.ſich ganz als den Sohn des Bändigers der Revolution. Nicht als ein Verſchwörer dachte er ſich die Krone ſeines Vaters zu erſchleichen; als ein Fürſt der Ordnung wollte er in Frankreich einziehen, gerufen von dem altkaiſerlichen Heere, um den Sohn des Bürgers Egalité zu zer - malmen, den verächtlichen Thronräuber, der weder das legitime Recht noch den Volkswillen hinter ſich hatte. In vollem Ernſt hat Metternich ſo verwegene Gedanken nie gehegt; er ſpielte damit, wie ein Verzweifeln - der halb ſehnſüchtig halb entſetzt die Giftflaſche betrachtet, denn unmöglich konnte er glauben, daß ein Napoleon je ein zuverläſſiger Wächter der Wiener Verträge werden würde. Vorderhand war er ehrlich für den Frieden und bat den König von Preußen, er möge den Czaren für eine gemeinſame Erklärung der Mächte gewinnen, da Kaiſer Franz leider das Vertrauen des ruſſiſchen Selbſtherrſchers nicht beſitze. *)Brockhauſen’s Bericht, 23. Auguſt.

Dort in Petersburg ſtieß die Friedenspolitik der beiden deutſchen Mächte auf harten Widerſtand. Czar Nikolaus war noch wie berauſcht von den Erfolgen des Türkenkrieges, unüberwindlich erſchien ihm ſein Heer. Er wähnte ſich ſtark genug ſogleich gegen die Revolution einzu - ſchreiten, ſtand doch ſeine polniſche Armee wohlgerüſtet dicht an der Grenze. Die peinliche Frage, ob dieſe Polen ſich auch gegen das revolutionäre Frankreich ſchlagen würden, kam ihm gar nicht in den Sinn. Obwohl er den Verfaſſungsbruch Karl’s X. ſcharf verurtheilte, ſo wollte er doch mit dem fluchwürdigen Uſurpator nichts gemein haben. **)K. Nikolaus an Großfürſt Conſtantin (mitgetheilt in dem Berichte des Gen. Conſuls Schmidt, Warſchau 25. Auguſt 1830).Im erſten Zorne rief er alle Ruſſen aus Frankreich zurück, verbot den Franzoſen den Eintritt in ſein Reich, verſchloß der dreifarbigen Flagge die ruſſiſchen Häfen. Neſſelrode, der ſich ſoeben in Karlsbad mit Metternich, dann in Berlin mit Bernſtorff beſprochen und die friedlichen Abſichten der deutſchen Höfe gebilligt hatte, fand daheim ungnädige Aufnahme; auch Pozzo di Borgo verlor das Vertrauen ſeines Monarchen weil er ſich freundlich zu den Orleans ſtellte. Jene unbedachten feindſeligen Maßregeln gegen Frankreich nahm der Czar freilich ſchon nach einigen Tagen zurück. ***)Lieven an Bourgoing 13 / 25. Auguſt; Kaiſer Nikolaus an Großfürſt Conſtantin 29. Auguſt 1830.Aber die preußiſchen Vorſchläge genügten ihm nicht: die Volksſouveränität anerkennen, das heiße das ganze Syſtem der Mächte untergraben; und was nütze es, von Ludwig Philipp die Anerkennung der Verträge zu fordern, wenn man ſich auf ſein Wort nicht verlaſſen könne? Endlich entſchloß er ſich ſeinem königlichen Schwiegervater einen glänzenden Be - weis ſeines guten Willens zu geben und ſendete den Feldmarſchall Die - bitſch zu weiteren Verhandlungen nach Berlin. †)Galen’s Berichte, Petersburg 24. 26. Auguſt 1830.

42IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Während die Oſtmächte alſo noch ohne Ergebniß unter ſich verhan - delten, hatte England bereits ſeinen Entſchluß gefaßt und abermals unzweideutig bewieſen, daß der alte Vierbund zerſprengt war. Wellington ſtand noch am Ruder. Derſelbe Staatsmann, der vor fünfzehn Jahren die Wiederherſtellung der Bourbonen am eifrigſten gefördert hatte, zog jetzt zuerſt ſeine Hand von ihnen ab. Ganz ebenſo unbedenklich hatte er vor Kurzem zwei andere Freunde, den Sultan und den Dey von Algier preisgegeben. Es war die alte Treue Albions. Selbſt die Torys durften eine Regierung, welche ſich auf die Grundſätze der engliſchen Revolution von 1688 berief, nicht als unrechtmäßig bekämpfen; ihr Cabinet, das längſt ſchon im Sattel wankte, war ſofort verloren, wenn es ſich dem einmüthigen Verlangen der öffentlichen Meinung widerſetzte. Schon am 27. Auguſt wurde die Regierung der Orleans von dem eng - liſchen Hofe ohne jede Bedingung anerkannt, und Wellington erklärte den Oſtmächten in einem Rundſchreiben, die Lage ſeines Landes habe ihm nicht erlaubt die Beſchlüſſe der Alliirten abzuwarten.

So ſcheiterte Preußens Plan, durch eine gemeinſame Antwort der Großmächte dem Juli-Königthum zugleich die Anerkennung zu gewähren und ihm feſte Schranken vorzuzeichnen. Nunmehr ſchien es dem Berliner Hofe rathſam, daß auch die anderen Mächte jede für ſich ihr Anerkennungs - ſchreiben nach Paris ſendeten, damit der Zwieſpalt zwiſchen England und den Oſtmächten nicht zu auffällig hervorträte; denn nach wie vor blieben der König und Graf Bernſtorff der Meinung, dieſe große Kriſis müſſe benutzt werden um die große Allianz neu zu beleben. *)Bernſtorff an Neſſelrode, 26. Auguſt. Bernſtorff, Denkſchrift über die An - erkennung Ludwig Philipp’s, Sept. 1830 (abgedruckt bei Natzmer, Unter den Hohen - zollern I. 293).Ludwig Philipp hatte allen mächtigeren Fürſten durch außerordentliche Bevollmächtigte eigenhändige Briefe geſendet, deren demüthige Haltung einem Beherrſcher Frankreichs übel anſtand. Im bittenden Tone des Schuldbewußten ent - ſchuldigte er ſeinen Thronraub. Ich ſeufze über das Unglück des älteren Zweiges meiner Familie, ſchrieb er an König Ludwig von Baiern. Mein einziger Ehrgeiz wäre geweſen, ihm vorzubeugen und auf dem Platze, wohin mich die Vorſehung geſtellt, zu bleiben. Aber die Umſtände waren gebieteriſch, ich habe mich opfern müſſen. Die geringſte Zögerung meiner - ſeits konnte das Königreich in Wirren ſtürzen, deren Ende ſich nicht ab - ſehen ließ und die vielleicht die Fortdauer des für das Glück aller Staaten ſo unentbehrlichen Friedens gefährdet hätten. **)K. Ludwig Philipp an K. Ludwig 22. Auguſt 1830.Mit einem ähnlichen Briefe erſchien General Lobau in Berlin. Am 9. Septbr. antwortete Friedrich Wilhelm durch ein freundliches Schreiben, worin ſich freilich die unverblümte Bemerkung befand: es iſt nicht meines Amtes (il ne m’appartient pas) über das Geſchehene zu urtheilen. Nachdem er den43Anerkennung Ludwig Philipp’s.ſchweren Schritt gethan, wollte er auch ohne Groll mit dem neuen Nach - barfürſten verkehren, der ihm ſofort mit überſchwänglichen Worten ſeine ewige Dankbarkeit verſicherte. Alexander v. Humboldt, der alte Freund des Hauſes Orleans, erhielt daher vertrauliche Aufträge, als er in dieſen Tagen ſeine gewohnte Herbſtreiſe nach Paris antrat, und er that das Seine um ein leidliches Verhältniß zwiſchen den beiden Höfen herzuſtellen. Unterdeſſen hatte auch Kaiſer Franz ſein Anerkennungsſchreiben nach Paris geſendet. Die kleinen Fürſten und der Bundestag folgten dem Beiſpiele. Nur Czar Nikolaus zögerte noch einige Wochen, und als er endlich das Unvermeidliche that, konnte er ſeine Verſtimmung doch nicht bemeiſtern; jahrelang gefiel er ſich darin, durch allerhand diplomatiſche Ungezogenheiten den Orleans ſeine Verachtung zu zeigen.

Die Frage der Anerkennung Ludwig Philipp’s gefährdete, wie die Dinge ſtanden, den Weltfrieden nicht unmittelbar; bedrohlich ward die Lage erſt, als der belgiſche Aufſtand ſich mit der Juli-Revolution ver - kettete. Der Bürgerkönig ſelber ſah in dem Aufruhr der Belgier nur eine unwillkommene Verlegenheit. Anders dachte ſein Volk. Zu Tauſenden ſtrömten die franzöſiſchen Freiwilligen und Aufwiegler nach Brabant; wie ein Mann forderte die radicale Preſſe die Einverleibung Belgiens zur Sühne für Leipzig und Belle-Alliance; ſelbſt gemäßigte Blätter be - haupteten, mit jener naiven Geringſchätzung fremden Rechtes, welche die Franzoſen von jeher ausgezeichnet hat, nur durch Eroberungen könne das neue Herrſcherhaus die Herzen ſeines Volks gewinnen. Allem An - ſchein nach mußte Belgien der Herrſchaft oder doch dem übermächtigen Einfluſſe Frankreichs anheimfallen, wenn der niederländiſche Geſammt - ſtaat zerfiel. Und dies Vereinigte Königreich war das eigenſte Werk des Vierbundes, vor Allem doch das Geſchöpf der engliſchen Staatskunſt; denn nur damit England die Hälfte der holländiſchen Kolonien behalten könne, hatten die Verbündeten einſt den feſtländiſchen Beſitz der Oranier ſo übermäßig vergrößert; vor Kurzem erſt waren unter Wellington’s Oberleitung jene Feſtungen an der belgiſchen Südgrenze vollendet worden, welche der Vierbund von den franzöſiſchen Contributionsgeldern hatte er - bauen laſſen. Wo nicht der Buchſtabe, ſo doch ſicherlich der Geiſt der Verträge und mehr noch der politiſche Anſtand verpflichteten den engliſchen Staat, dies ſein Schooßkind nicht kurzerhand preiszugeben. Und welch ein gefährliches Beiſpiel gab dieſer Aufſtand der Prieſter den grollenden Iren; ſchon verkündete O’Connell frohlockend: wenn das katholiſche Belgien ſich befreie, dann müſſe auch Irland das Joch ſeiner proteſtantiſchen Herren abſchütteln. Darum empfing Wellington die Nachrichten aus Brüſſel mit aufrichtigem Bedauern; er wünſchte zum mindeſten, Belgien als ein ſelbſtändiges Land dem Hauſe Oranien zu erhalten, und trug ſich einige Tage lang ſogar mit dem Plane, engliſche Truppen in jene belgiſchen Feſtungen zu werfen. Aber die britiſche Handelspolitik hatte44IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.bei dem niederländiſchen Geſammtſtaate ihre Rechnung nicht gefunden; er war keineswegs, wie Caſtlereagh einſt gehofft, ihr demüthiger Client geworden, ſondern ihr mit ſeinen Zöllen und Rheinſchifffahrtsgeſetzen ſehr rückſichtslos entgegengetreten. Die alte Freundſchaft beſtand längſt nicht mehr, und niemals hätte die aufgeregte öffentliche Meinung dem Cabinet geſtattet, um dieſes ungeliebten Nachbarn willen einen Krieg gegen das hochgeprieſene Volk der Juli-Revolution heraufzubeſchwören. Der eiſerne Herzog mußte ſich fügen. Schon um Mitte Septembers wußte man in Berlin genau, daß England auf keinen Fall zur Ver - theidigung ſeines alten Bollwerks die Waffen ziehen werde. *)Bernſtorff’s Bericht an den König über die Lage der Niederlande, 17. Sep - tember 1830.

Ebenſo vorſichtig verfuhr der Wiener Hof. Bei der erſten ernſt - lichen Gefährdung unſeres Rheinlands ward ſogleich offenbar, wie gänz - lich dies neue Oeſterreich ſeit dem Verluſte ſeiner weſtlichen Provinzen aus Deutſchland hinausgewachſen war. Metternich klagte zwar nach ſeiner Gewohnheit über den neuen Krater des raſtlos arbeitenden Vulkans der Revolution; ſogar eine ſelbſtändige Verwaltung für Belgien, die er früher - hin ſelber dem Könige der Niederlande angerathen, fand er jetzt hochbe - denklich, da ſie durch einen Aufruhr ertrotzt würde. **)Maltzahn’s Bericht, 12. September 1830.Doch er erklärte auch von vornherein ſehr nachdrücklich, Kaiſer Franz ſtehe in dieſem Streite nur in zweiter Reihe; für einen rheiniſchen Feldzug hatte Oeſter - reich nur ein Hilfsheer übrig, ſeine beſte Kraft mußte ſich gegen den Süden, gegen die drohende Erhebung der Italiener wenden. Verſtimmt und entmuthigt, wie er jetzt war, ſah Metternich die belgiſchen Dinge im trübſten Lichte und geſtand ſeinem Kaiſer ſchon am 11. October: der Proceß in den Niederlanden iſt rein verloren.

Um ſo ſchwieriger war die Lage Preußens, das den belgiſchen Wirren faſt ebenſo nahe ſtand wie England. Perſönliche Theilnahme konnte der König der Niederlande von Deutſchland nicht verlangen; denn unter den vielen unleidlichen Nachbarn Preußens war er ſicherlich der böſeſte, und unter allen deutſchen Fürſten hatte keiner ſeine Bundespflichten ſo ſcham - los mit Füßen getreten. Welche lange Reihe häßlicher Händel, von den erſten Grenzſtreitigkeiten an bis zu der Sperrung der Rheinſchifffahrt und dem dreiſten Verſuche, die Bundesfeſtung Luxemburg den deutſchen Truppen zu verſchließen! Und wie hochmüthig hatte er nach dem Aachener Congreſſe den preußiſchen Nachbarn abgewieſen, als dieſer ſich erbot zum Schutze Belgiens ein ſtehendes Beobachtungsheer am Niederrhein aufzu - ſtellen! ***)ſ. o. II. 472.Trotz alledem war Friedrich Wilhelm’s Gutherzigkeit an den Oraniern nicht irr geworden, man behandelte ſie in Berlin noch immer faſt wie Glieder des königlichen Hauſes. König Wilhelm war der Schwager45Preußen und die Niederlande.und Vetter des Königs von Preußen; zärtliche Freundſchaft verband die beiden Kronprinzen, obgleich ſie in ihren politiſchen Grundſätzen gar nichts mit einander gemein hatten; und eben in dieſen Tagen wurde die alte Blutsverwandtſchaft durch die Vermählung des Prinzen Albrecht von Preußen mit einer niederländiſchen Prinzeſſin abermals befeſtigt. Die Niederlage, welche Prinz Friedrich der Niederlande im Straßenkampfe zu Brüſſel erlitten hatte, wirkte am Berliner Hofe wie ein Donnerſchlag. Der Kronprinz konnte dieſe Erinnerungen nie ganz verwinden; nach langen Jahren noch, in den Fieberträumen ſeiner letzten Krankheit ſprach er wehmüthig von dem guten Freunde, der die Hälfte ſeiner Kinder ver - loren habe.

Ueber die Unhaltbarkeit des künſtlichen niederländiſchen Geſammt - ſtaates waren die preußiſchen Staatsmänner noch keineswegs einig. Wohl hatte Hardenberg, als es zu ſpät war, ein Jahr nach dem Wiener Con - greſſe, ärgerlich geäußert: Bataver und Belgier würden ſich doch nie vertragen; wie viel klüger, wenn man Belgien an die Welfen und dafür Hannover an Preußen gegeben hätte. Aber ſolche Anſichten ſtanden ver - einzelt; die Mehrzahl am Hofe betrachtete es als eine Ehrenpflicht, die wichtige Poſition an der Maas und Schelde dem befreundeten Fürſten - hauſe zu erhalten. Die alten Helden des Befreiungskrieges ſahen den längſt erwarteten dritten puniſchen Krieg jetzt unaufhaltſam herannahen; und mußte er kommen, war es dann nicht würdiger, das Schwert ſo - gleich zu ziehen zur Wahrung der Rechte eines alten Bundesgenoſſen? So dachte Clauſewitz; ſo Gneiſenau, obwohl er zuweilen friedlicheren Stimmungen nachgab. Auch Stein ahnte tief erſchüttert, die ganze Arbeit ſeines Lebens müſſe von Neuem beginnen; er wußte, die Eitelkeit der Franzoſen werde nicht ruhen, bis ſie dereinſt Rache genommen hätten an den Siegern des Befreiungskrieges.

In dieſem Gewoge kriegeriſcher Leidenſchaften ſtand der König, minder weitſichtig und ebendeßhalb nüchtern die Lage des Augenblicks erwägend. Auch er hielt den Krieg für nahezu ſicher; aber die Schuld daran wollte er nicht auf ſein Gewiſſen nehmen. Durfte er ſeinem Volke, das die Nöthe des letzten Krieges noch kaum verwunden hatte, jetzt zumuthen, im Auslande einen Aufſtand niederzuſchlagen, der diesmal beſiegt, nach einigen Jahren unfehlbar abermals ausbrechen mußte? Schon begann das Nach - ſpiel der Juli-Revolution auf deutſchem Boden; in Braunſchweig, in Kaſſel, in Dresden erhob ſich der Aufruhr; wer konnte vorherſehen, ob Preußen nicht bald gezwungen ſein würde, hier in ſeinem nächſten Machtgebiete mit den Waffen die Ruhe herzuſtellen? Auf die Treue ſeines Heeres verließ er ſich unbedingt, doch die freudige Begeiſterung der Befreiungs - kriege das ward in den Denkſchriften des Auswärtigen Amts beſtändig wiederholt konnte nur dann wiederkehren, wenn er ſein Volk in einen gerechten, Allen verſtändlichen Vertheidigungskampf führte; und den Ein -46IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.marſch in Belgien hätten mindeſtens die geſinnungstüchtigen Liberalen der Kleinſtaaten kurzerhand als einen Rückfall in die alte Troppauer Inter - ventionspolitik verdammt. Die Feſtungen, auf deren Schutz der Vierbund einſt gerechnet, waren mit wenigen Ausnahmen ſchon in den Händen der belgiſchen Aufſtändiſchen. Von England ſtand keine, von Oeſterreich nur ſpäte und geringe Hilfe zu erwarten. Frankreich hingegen war entſchloſſen, falls Preußen in das öſtliche Belgien einrückte, ſogleich den weſtlichen Theil des Landes zu beſetzen. Dieſe Abſicht kündigte Graf Molé ſchon am 31. Auguſt dem preußiſchen Geſandten Werther vertraulich an. Er ſprach durchaus verſöhnlich, entſchuldigte ſich wie gewöhnlich mit der kritiſchen Lage ſeiner Regierung, verſicherte heilig, Frankreich beabſichtige keine Feindſeligkeiten; nur müßten die beiden Nachbarmächte Belgiens in vollkommen gleicher Stellung bleiben bis ein europäiſcher Congreß die Frage friedlich löſe. *)Die gegen d’Hauſſonville gerichteten Bemerkungen K. Hillebrand’s (Geſch. Frank - reichs I. 144) über Zeit und Inhalt dieſes Geſprächs ſind durchaus richtig, wie ſich aus der nachfolgenden Darſtellung ergeben wird.An der Aufrichtigkeit ſeiner Betheuerungen war nicht zu zweifeln. Aber wie nun, wenn das zuchtloſe, durch die Re - volution mächtig aufgeregte franzöſiſche Heer ſo nahe dem Schlachtfelde von Belle-Alliance den verhaßten preußiſchen Siegern dicht gegenübertrat? Ein Zufall konnte dann leicht das Signal geben zu jenem Weltkriege, welchen die Anerkennung des Julikönigthums ſoeben erſt glücklich abge - wendet hatte.

Die Entſcheidung dieſer ernſten Fragen behielt ſich Friedrich Wilhelm ſelber vor; nur Witzleben und Bernſtorff, der trotz der Schmerzen einer ſchweren Krankheit immer klar und ruhig blieb, genoſſen ſein Vertrauen. Und es war dringend nöthig, daß der Monarch die Leitung der aus - wärtigen Politik in ſeine Hand nahm; denn die Kriegspartei am Hofe gewann an Feldmarſchall Diebitſch einen kräftigen Bundesgenoſſen. Der König hatte ſoeben nach Petersburg die Weiſung geſchickt: Dieſer Sen - dung iſt nach Möglichkeit entgegenzuarbeiten, **)Randbemerkung des Königs zu Galen’s Bericht v. 26. Aug. 1830. und war peinlich über - raſcht, als der Ruſſe am 9. September nun doch eintraf; er wußte, daß der Feldmarſchall und ſein Stellvertreter Czernitſchew die beiden einzigen namhaften Männer des ruſſiſchen Hofes waren, welche die Kriegsluſt des Czaren theilten. Glänzende Feſte und Paraden wurden zu Ehren des Türkenbeſiegers veranſtaltet. Zur Zeit des orientaliſchen Krieges hatten Bernſtorff und die freieren Köpfe unter den preußiſchen Staatsmännern auf Rußlands Seite geſtanden; jetzt verſchob ſich die Parteiſtellung, alle ſtrengen Legitimiſten prieſen den Czaren als den Hort des göttlichen Königsrechts und erwieſen ſeinem Abgeſandten ihre befliſſene Verehrung. Der dicke kleine rothhaarige Herr, der übrigens von ſeinen Kriegsthaten47Diebitſch in Berlin.mit Beſcheidenheit ſprach, machte nicht den Eindruck eines ungewöhnlichen Geiſtes; doch an Eifer ließ er es nicht fehlen. Er war gekommen um die Anerkennung des Bürgerkönigs zu verhindern; nun er ſich in dieſer Hoffnung getäuſcht ſah, ſuchte er die belgiſche Frage für ſeine kriegeriſchen Pläne auszubeuten.

Zwei Monate blieb er in Berlin, um immer wieder in Vorträgen und Denkſchriften zu erweiſen, wie leicht der Krieg gegen die Revolution ſei, ſelbſt ohne Englands Mitwirkung. Dem Könige begann die leiden - ſchaftliche Haltung ſeines Schwiegerſohnes ſehr läſtig zu werden. In den Formen zeigte ſich der Czar ſtets überaus verbindlich. Seine Briefe an den Schwiegervater waren mit Verſicherungen dankbarer Ergebenheit dermaßen überladen, daß Witzleben einſt bei Bernſtorff ganz verlegen anfragte: wie denn der König antworten ſolle ohne die gebotene Gegen - ſeitigkeit zu verletzen oder ſeine Würde bloßzuſtellen;*)Briefwechſel zwiſchen Bernſtorff und Witzleben a. d. J. 1829. bei ſeinem letzten Beſuche in Schleſien führte er ſein Küraſſierregiment zweimal mit ge - ſenktem Degen vor General Zieten vorüber, ſo daß ſelbſt die preußiſchen Offiziere meinten: das ſei zu viel. Dieſe gottorpiſchen Schauſpielerkünſte verhinderten ihn aber keineswegs, in ſeinen politiſchen Zumuthungen an Preußen die plumpe Anmaßung des Moskowiters zu zeigen. Wohlgeborgen in ſeinem fernen Oſten, verſuchte er, wie vormals ſeine Großmutter im Jahre 1792, den preußiſchen Nachbarn in einen zielloſen Krieg gegen den Weſten hineinzudrängen. Wenngleich er in ſeinem wilden Haſſe gegen die Revolution durchaus ehrlich war und nicht wie Katharina argliſtige Hintergedanken hegte, ſo forderte er doch ganz ſo dreiſt wie jene, daß Preußen ſich für den Petersburger Hof opfern müſſe. In einer ſeiner Denkſchriften berechnete Diebitſch die Streitkräfte für den rheiniſchen Feldzug alſo: 210000 Mann Preußen, 120000 Mann deutſcher Bundes - truppen, 30000 Holländer, dazu 60000 Oeſterreicher, endlich an letzter Stelle 180000 Ruſſen. **)Diebitſch’s Denkſchrift v. 1. / 13. Okt. 1830.So ward in aller Freundſchaft faſt die ganze Laſt des Krieges auf Preußen abgewälzt; über die ſtolze Zahl der kleinen deutſchen Contingente konnte man in Berlin nur lächeln, und ſeit den Erfahrungen des Jahres 1813 wußte man auch, wie kühn die Phantaſie der Ruſſen bei der Abſchätzung ihrer eigenen Heeresmacht zu verfahren pflegte. Selbſt General Schöler, der Geſandte in Petersburg, der früherhin die ruſſiſche Macht ſtark überſchätzt hatte, war jetzt durch lang - jährige Beobachtung eines Beſſeren belehrt; er warnte, der Czar täuſche ſich über das Maß ſeiner Kräfte, mehr als 150000 Mann könne Ruß - land nicht gegen Frankreich aufbieten, und dieſe brauchten drei Monate um, vielleicht erſt nach gefallener Entſcheidung, die Maas zu erreichen. ***)Schöler’s Bericht, 21. Nov. 1830.

48IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Während der Czar alſo den preußiſchen Hof mit ſeinen Kriegsplänen beſtürmte, ließ Kaiſer Franz ſeinen armen Kronprinzen Ferdinand in Preßburg zum Rex junior Hungariae krönen, damit die nur zu wohl begründeten Gerüchte über deſſen Regierungs-Unfähigkeit durch die That widerlegt würden. Dieſen Anlaß benutzte Nikolaus, um den Grafen Orlow nach Preßburg zu ſenden. Metternich empfing den Vertrauten des Czaren mit offenen Armen, betheuerte lebhaft ſeine reine Geſinnung: was die revolutionäre Regierung fürchtet, das müſſen wir lieben; was ſie ablehnt, das müſſen wir annehmen. Um ſich bei dem Selbſtherrſcher einzu - ſchmeicheln verleumdete er freundnachbarlich den preußiſchen Hof: nur Bernſtorff’s Feigheit und der revolutionäre Geiſt des preußiſchen Beamten - thums trügen die Schuld, wenn der Krieg für das legitime Recht nicht zu Stande komme. Indeß hütete er ſich wohl, irgend eine feſte Zuſage zu geben. Die Oſtmächte ſollten die Geſammtbürgſchaft für die Verträge von 1815 aufrechthalten und für den Nothfall in der Stille rüſten ſolche unbeſtimmte Rathſchläge waren Alles was der Ruſſe aus Preßburg heimbrachte.

Schon am 28. Auguſt, gleich nach dem erſten Brüſſeler Aufſtande, ſendete der König der Niederlande durch den Adjutanten de notre Albert einen Hilferuf an den König von Preußen: die Folgen des Aufruhrs ſeien nicht zu berechnen; er bitte daher, daß der Gouverneur der Rheinlande, Prinz Wilhelm der Aeltere, und ſeine Generale ange - wieſen würden, gemäß den beſtehenden Verträgen ihm Beiſtand zu leiſten, ſobald er es verlange. Das Alles, als verſtünde ſich’s von ſelber. Friedrich Wilhelm las den Brief mit Befremden; von ſolchen Vertrags - pflichten war ihm nichts bekannt. Er ließ ſogleich im Auswärtigen Amte Nachforſchungen anſtellen, und da ſich ergab, daß Preußen keine beſon - deren Verpflichtungen gegen die Niederlande übernommen hatte, ſondern nur ebenſo wie die anderen Mächte des Vierbundes an die Verträge von 1815 gebunden war, ſo erwiderte er am 9. September ſeinem königlichen Schwager: er betrachte die Intereſſen der beiden Kronen als unzertrennlich und wolle ſich mit ſeinen Verbündeten verſtändigen; er werde auch Truppen an den Rhein ſenden und Alles thun, um Frankreich an der Unterſtützung des Aufſtands zu verhindern; aber große Vorſicht ſei nöthig, da der fran - zöſiſche Hof erklärt habe, daß auch ſeine Truppen einrücken würden, falls ein fremdes Heer Belgien beſetze. *)König Wilhelm der Niederlande an König Friedrich Wilhelm 28. Aug. Antwort, 9. Sept. Bernſtorff, Protokoll der Berathung über das niederl. Schreiben, 1. Sept. 1830, nebſt Denkſchrift über die tractatmäßige Verpflichtung Preußens .In der That wurde das vierte Armee - corps ſofort aus Sachſen an den Rhein geſendet und das rheiniſche ver - ſtärkt. Schon dieſe erſten ſchwachen Rüſtungen Preußens genügten, um die Staatsmänner des Palais Royal mit Beſorgniß zu erfüllen. Guizot,49Belgien und die Großmächte.der Miniſter des Innern, hielt für ſicher, daß der Anblick des preußiſchen Beobachtungsheeres die Kriegsluſt der Franzoſen ſteigern müſſe: Dieſe unglückliche belgiſche Sache verwickelt unſere Geſchäfte ſchrecklich und ſtellt uns auf einen Vulkan. Mit der kommenden jungen Kammer und bei der Aufregung, welche die Möglichkeit eines Krieges hervorrufen kann, werden wir ein neues 1793 erleben. Ich kann Ihnen verſichern, daß der König in dieſer Hinſicht die Meinungen und Beſorgniſſe ſeines Miniſterrathes theilt. *)Schreiben Guizot’s (September), durch Bernſtorff an Bülow mitgetheilt 3. Oct. 1830.

Mittlerweile hatten ſich die Brüſſeler zum zweiten male ſiegreich erhoben, ganz Belgien war im Aufruhr, die Verſöhnung zwiſchen den beiden verfeindeten Nachbarſtämmen erſchien ausſichtslos. Es ward hohe Zeit, daß die Großmächte ſich ins Mittel legten. Nachdem das niederlän - diſche Cabinet ſchon am 7. September die vier Mächte gebeten hatte, eine Geſandten-Conferenz nach dem Haag zu berufen, richtete Bernſtorff jetzt (3. Oktober) die dringende Anfrage nach London: ob England nun endlich den rechten Augenblick zum gemeinſamen Einſchreiten gekommen glaube? Er fragte ferner: ob es nicht vortheilhaft ſei, wenn auch der Hof des Palais Royal mittelbar oder unmittelbar bei den Unterhandlungen mitwirkte? **)Verſtolk van Soelen an Perponcher, Haag 7. Sept. Bernſtorff, Weiſung an Bülow 3. Oct. 1830.Obgleich Frankreich an der Begründung der Vereinigten Niederlande nicht theilgenommen, ſo war es doch auf dem Aachener Congreß förmlich in die große Allianz eingetreten; ohne ſeine Zuſtimmung, das lag auf der Hand, ließ ſich die belgiſche Frage nicht im Frieden beilegen. Zur Rechtfertigung ſeiner Anſicht berief ſich Bernſtorff auf die kriegeriſchen Leidenſchaften der Franzoſen, welche der Regierung ſelber über den Kopf zu wachſen drohten: man muß ihr die Mittel gewähren, um ſich ohne Demüthigung und ohne Gefahr für ſich ſelber aus einer ſehr ernſten Verlegenheit zu ziehen. ***)Bernſtorff, Weiſung an Bülow 20. Oct. 1830.

Unterdeſſen war das engliſche Cabinet bereits auf denſelben Ge - danken verfallen. Seit einigen Tagen weilte Talleyrand als franzöſiſcher Botſchafter in London, und der alte Meiſter der Diplomatie, dem die Orleans ihre Krone verdankten, ſollte ihnen jetzt auch noch eine leidliche Stellung in der Staatengeſellſchaft verſchaffen, ſein wechſelvolles Leben mit einem erfolgreichen Spiele abſchließen. Seiner nie verſiegenden Bered - ſamkeit konnte weder Wellington noch der Miniſter des Auswärtigen, der beſchränkte ängſtliche Lord Aberdeen, widerſtehen; er ward nicht müde zu betheuern, daß ſein König weder Belgien einverleiben noch dort einen Heerd des Aufruhrs unterhalten wolle. Der eiſerne Herzog war ent - zückt und lobte Talleyrand’s Redlichkeit ebenſo warm wie er vor’m JahreTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 450IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Polignac’s Geiſt geprieſen hatte. Schon am 2. October, noch bevor jene Anfrage Bernſtorff’s eingetroffen war, beſchloß das Cabinet, alle Groß - mächte, auch Frankreich, zu einer europäiſchen Conferenz einzuladen. Preußen und Oeſterreich ſtimmten zu. Der franzöſiſche Hof erhob noch allerhand Schwierigkeiten; er verlangte die Sicherheit, daß auf keinen Fall eine bewaffnete Einmiſchung erfolgen dürfe, er ſchlug Paris zum Sitze der Conferenz vor; doch er fügte ſich, als ſeine Zumuthungen einmüthig abgewieſen wurden, und man ward einig die Verſammlung nach London zu berufen.

In ſolcher Lage kam das neue Hilfegeſuch, das der König der Nieder - lande, diesmal an alle vier Mächte, abgehen ließ, offenbar zu ſpät. Der König verlangte ſofortiges Einſchreiten mit den Waffen und verſicherte dem Czaren, dies ſei mit dem europäiſchen Frieden vielleicht nicht unver - einbar. Preußen und England aber verwieſen ihn auf die Verhandlungen der Conferenzen; und in gleichem Sinne ward geantwortet, als der Oranier ſich bald nachher zum dritten male an Preußen wendete, um mindeſtens die Beſetzung einiger Feſtungen zu erreichen. *)König Wilhelm der Niederlande an Kaiſer Nikolaus 2. October. Perponcher an Bernſtorff 6. Oct. Antwort 15. Oct. Cabinetsordre an Bernſtorff 1. Nov. 1830.Sein Geſandter Graf Perponcher hatte einen harten Stand; der war in Berlin ganz heimiſch geworden, wurde vom Könige und den Prinzen als alter Freund behan - delt und mußte nun doch beſtändig Abweiſungen erfahren; würdig und taktvoll behauptete er ſich zwiſchen Bernſtorff und Diebitſch, zwiſchen den liberalen Beamten und den kriegsluſtigen Offizieren.

Und nun zeigte ſich, was Friedrich Wilhelm’s feſte und offene Hal - tung für den Weltfrieden bedeutete. Mit gutem Grunde ſagte Lord Heytesbury in Petersburg zu General Schöler: Ihre Regierung iſt die vernünftigſte von allen, und desgleichen Neſſelrode: die beſonnene Politik Ihres Königs iſt das Einzige, worauf Europa noch ſeine Hoffnung bauen kann. Durch Preußen allein wurden die kriegeriſchen Pläne des Czaren in Schach gehalten. Nikolaus fand es entſetzlich, daß der König der Barri - kaden in den hohen Rath Europas eintreten ſolle; ſein Diebitſch machte in Berlin den naiven Vorſchlag, Frankreich dürfe nur zugelaſſen werden, wenn es ſich verpflichte, die Verhältniſſe Belgiens, wie ſie vor der Revo - lution beſtanden, aufrechtzuerhalten worauf Friedrich Wilhelm kurzab erwiderte: dies wird niemals erreicht werden können. Aber ohne Preußen vermochte Rußland in dieſem Handel nichts. Wie hart es ihm auch ankam, am 25. October erwiderte Nikolaus dem Oranier: er ſelbſt ſei bereit die verlangte Waffenhilfe zu leiſten, doch ſein vereinzeltes Auftreten würde nur ſchaden, die Verſtändigung mit den Großmächten könne allein noch retten. Sichtlich erleichtert ſchrieb Neſſelrode, den die leidenſchaft - lichen Vorſätze des Czaren ſchwer beängſtigt hatten, nach Berlin: wenn alle51Die Londoner Conferenzen.Mächte dem Vorſchlage Wellington’s zuſtimmten, dann ſtehe zu hoffen, daß England bei dem Vierbunde verbleibe und nicht mit Frankreich ge - meinſame Sache mache. *)König Friedrich Wilhelm, Randbemerkungen zu Diebitſch’s Denkſchrift vom 1. / 13. Oct. Kaiſer Nikolaus an König Wilhelm der Niederl. 13. / 25. Oct. Neſſelrode an Alopeus 19. Oct. (a. St.) 1830.

So konnte denn am 4. November die Londoner Conferenz zuſammen - treten. Die Trennung der Niederlande erwies ſich inzwiſchen mit jedem Tage deutlicher als eine vollendete Thatſache. Auch die Widerſtrebenden begannen einzuſehen, daß der Beſtand zweier ſelbſtändiger, in ſich einiger Mittelſtaaten hier auf der wichtigſten militäriſchen Poſition Mitteleuropas immerhin mehr Dauer verſprach und den Weltfrieden weniger bedrohte, als die künſtliche Wiederherſtellung des von inneren Gegenſätzen zerriſſenen Vereinigten Königreichs. Schon am Tage der Eröffnung der Berathungen ſchrieb Bernſtorff: auf keinen Fall dürfe Belgien unter Frankreichs Ein - fluß gerathen; dies ſei das Weſentliche; daneben erſcheine es als eine untergeordnete Frage, ob ein Statthalter, ein Vicekönig oder ein ſelb - ſtändiger Herzog in Brüſſel gebiete. **)Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 4. Nov. 1830.Der Geſandte in London, Wilhelm Humboldt’s Schwiegerſohn Heinrich von Bülow befolgte dieſe verſöhn - lichen Weiſungen mit Freuden. Auf den Conferenzen zeigte er ſich als feiner Kopf und gewandter Unterhändler; die liberalen Vorurtheile des Tages beirrten ihn nicht, nur jener Verſuchung, welcher die lange im Auslande lebenden Diplomaten ſo leicht unterliegen, entging er nicht immer: er ſah zuweilen unwillkürlich durch fremde Brillen und folgte den Anſichten der engliſchen Staatsmänner allzu weit. Auch Metternich war bereits zu der Einſicht gelangt, daß es nur noch gelte die Herrſchaft Frankreichs über Belgien zu verhindern. Zum Bevollmächtigten für die Conferenz ernannte er neben dem Geſandten Eſterhazy den Freiherrn v. Weſſenberg, den Verfaſſer der deutſchen Bundesakte, der im alten Oeſterreich als liberal verrufen und deßhalb lange den Geſchäften fern geblieben war; die Wiederberufung dieſes unbequemen Talents galt in der diplomatiſchen Welt als ein Beweis für die Verlegenheit des Wiener Hofes. ***)Blittersdorff’s Bericht, 6. Oct. 1830.Selbſt die ruſſiſchen Bevollmächtigten, Lieven und Matuszewic, traten ſo verſöhnlich auf, als es die Furcht vor dem grollenden Czaren nur irgend erlaubte.

Die Hoffnung der Oſtmächte, der alte Vierbund werde ſich nun - mehr von Neuem befeſtigen, ging gleichwohl nicht in Erfüllung. Noch im November kam das Tory-Cabinet zu Falle, und ſobald Lord Palmerſton in die Conferenz eintrat, ward die längſt vorbereitete Verſchiebung der Allianzen ſogleich offenbar: die beiden Seemächte ſo lautete der diplo - matiſche Ausdruck der Zeit ſtellten ſich in herzlichem Einverſtändniß4*52IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.den drei Feſtlandsmächten gegenüber. Palmerſton hatte einſt als Mit - glied des Tory-Cabinets Liverpool ſelber mit theilgenommen an der Schöpfung des Vereinigten Königreichs; aber noch gleichmüthiger als Wellington ließ er den alten Schützling fallen um deſſen Feinde zu er - muthigen. Sofort trat er in vertraulichen Verkehr mit dem jungen van de Weyer, den die Belgier nach London geſendet hatten, einem klugen und beſonnenen Staatsmanne. Belgien ſollte für England werden, was man von den Vereinigten Niederlanden vergeblich erwartet hatte, ein abhängiger, ergebener Bundesgenoſſe. Darum wetteiferte Palmerſton mit Talleyrand in Gunſtbeweiſen gegen die aufſtändiſchen Belgier. Obgleich der Franzoſe anfangs die Rolle der uneigennützigen Tugend mit gewohnter Kunſtfertig - keit ſpielte, ſo mußte doch die Stunde kommen, da er ſeine Karten auf - deckte; und dann konnte dieſer freundſchaftliche Wettkampf der beiden wahlverwandten Geiſter nur mit dem Siege des Britten endigen, da England nicht in der Lage war belgiſches Gebiet für ſich zu fordern und mithin den Oſtmächten minder gefährlich erſchien.

Gleich der erſte Beſchluß der Conferenz gereichte den Belgiern zum Vortheil. Ein Waffenſtillſtand ward verkündigt und von beiden kämpfen - den Theilen willig angenommen. Darin lag, obwohl man den Namen noch vermied, ſchon die Anerkennung der Aufſtändiſchen als einer krieg - führenden Macht. Ganz auf die gleiche Weiſe, durch das Gebot der Waffenruhe, hatten England, Frankreich und Rußland vor drei Jahren die Errichtung des griechiſchen Staates diplomatiſch eingeleitet. *)S. o. III. 731.Am 20. December ward ſodann die Selbſtändigkeit der ſüdlichen Niederlande bis zu der alten Nordgrenze vom Jahre 1790 als Grundſatz ange - nommen, allerdings mit Vorbehalt der Rechte des Königs; denn alle Mächte, auch Frankreich, mißbilligten die in Brüſſel verkündigte Ent - thronung des königlichen Hauſes und wünſchten noch, den Oraniern den Beſitz Belgiens, mindeſtens als eine Secundogenitur zu erhalten. Auf Preußens Verlangen wurden auch die Rechte des Deutſchen Bundes auf Luxemburg ausdrücklich vorbehalten und dem Bundestage die Erledigung dieſer Streitfrage zugewieſen. Immerhin waren die Grundſteine für den künftigen belgiſchen Staat bereits gelegt, und in Berlin erwog man ſchon die Frage: was nunmehr aus den Feſtungen an der Südgrenze werden ſolle, da man den Belgiern weder die Macht noch den guten Willen zutraute, ſie gegen Frankreich zu vertheidigen. Feldmarſchall Diebitſch meinte, dann bleibe nur übrig, einen Theil der neuen Feſtungen wieder zu ſchleifen, und der preußiſche wie der ruſſiſche Hof ſchloß ſich dieſer Anſicht an. **)Diebitſch, Denkſchrift über die belgiſchen Feſtungen 12. / 24. Oct. Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 4. Nov. Neſſelrode, Weiſung an Alopeus 12. Nov. (a. St.) 1830.Um den Niederlanden doch einen Schutz gegen einen53Die Politik der Nicht-Einmiſchung.neuen Friedensbruch der Franzoſen zu gewähren, gerieth nachher Bülow zuerſt auf den Gedanken, Belgien ſolle wie die Schweiz für neutral erklärt und ſeine Neutralität unter die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte ge - ſtellt werden. Es war ein Nothbehelf, aber ein unvermeidlicher. Für eine große Entſcheidung, welche den tauſendjährigen Erbfolgeſtreit der Gallier und Germanen um die Trümmer des alten lotharingiſchen Zwiſchen - reiches endgiltig erledigt hätte, fehlten zur Zeit noch alle Vorbedingungen. Nach den jüngſten Proben britiſcher Vertragstreue blieb es freilich ſehr zweifelhaft, ob England ſeinen neuen Schützling nicht dereinſt ebenſo ge - müthsruhig preisgeben würde, wie jetzt den alten; aber für zwei oder drei Jahrzehnte vielleicht bot die Geſammtbürgſchaft der großen Mächte immerhin einige Sicherheit.

Wie friedlich auch die Londoner Conferenzen ſich anließen, die Gefahr eines allgemeinen Krieges war noch mit nichten verſchwunden. Ueber Talleyrand’s Redlichkeit wußten die Oſtmächte beſſer Beſcheid als Wel - lington; die glatten Worte des Botſchafters widerſprachen doch gar zu auffällig den Thaten ſeiner Regierung. Frankreich rüſtete unaufhörlich; im September wurden 128000 Mann, im December nochmals 80000 Mann einberufen, und dies zu einer Zeit, da Preußen zwar einige Truppen an den Rhein vorgeſchoben, aber noch kein Regiment auf Kriegs - fuß geſtellt hatte. Das Kriegsgeſchrei der Pariſer Preſſe ward täglich frecher; in Belgien, in Deutſchland, in Italien, überall trieben fran - zöſiſche Aufwiegler ihr Weſen, an den kleinen deutſchen Höfen ſprachen die Geſandten des Bürgerkönigs gern von den glücklichen Zeiten des Rheinbundes; und als im November, faſt gleichzeitig mit dem Sturze der Torys, das Miniſterium der Bewegung ins Amt trat, ſchlug auch die Regierung ſelber einen höheren Ton an. Der neue Miniſterpräſi - dent Laffitte, einer jener liberalen Börſenmänner, welche den Bürger - thron aufrichten halfen, glaubte an die welterobernde Macht der Ideen von 1789 mit der ganzen Unſchuld, deren die Seele eines lebensluſtigen Millionärs fähig iſt, und der Miniſter des Auswärtigen, der Corſe Sebaſtiani, hatte auch als Vertrauter der friedfertigen Orleans die an - maßliche Ruhmredigkeit des napoleoniſchen Generals noch nicht verlernt.

Unter den Schlagwörtern, mit denen dieſe Regierung die kriegsluſtigen Radicalen halb zu gewinnen, halb zu beſchwichtigen ſuchte, war keines wirkſamer als der prahleriſch verkündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Erſt in halbamtlichen Zeitungsaufſätzen, dann in Talleyrand’s Begrüßungs - worten an den König von England, nachher in verſchiedenen Depeſchen an die Großmächte, endlich in einer feierlichen Kammerrede Laffitte’s wurde die Behauptung aufgeſtellt, jedes Volk ſei befugt ſeine Regierung nach Gutdünken zu verändern, und keine fremde Macht dürfe ſich anmaßen in ſolche Händel einzugreifen. Die harte legitimiſtiſche Doctrin der Inter - ventionspolitik hatte die Selbſtändigkeit aller Staaten gefährdet; nun trat54IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ihr, durch einen nothwendigen Rückſchlag, eine ganz ebenſo doctrinäre radicale Lehre entgegen, welche die Gemeinſchaft des Staatenſyſtems zu zerſprengen drohte. In Paris ward dies neue Evangelium der Völker - freiheit dahin ausgelegt, daß Frankreich befugt ſei, jede Einmiſchung der Großmächte in die inneren Streitigkeiten anderer Länder mit den Waffen abzuweiſen. Hatten die Oſtmächte einſt in Troppau ſich angemaßt, jede Revolution in der Welt zu unterdrücken, ſo erhob jetzt das Juli-König - thum den noch weit gefährlicheren Anſpruch, jeden Aufruhr zu unter - ſtützen. Es war der alte Grundſatz der revolutionären Propaganda: Krieg den Paläſten, Friede den Hütten; nur erſchien er jetzt nicht mehr in ſeiner nackten Roheit, ſondern bürgerlich ehrbar, umkleidet mit ſchönen Worten vom Selbſtbeſtimmungsrechte aller freien Völker. Lord Palmerſton ſäumte nicht, ſich die Lehre der Nicht-Einmiſchung zu nutze zu machen; kaum am Ruder, verkündigte er ſie ſofort als ſein Glaubensbekenntniß dem ruſſiſchen Hofe. Er dachte zu klug, Ludwig Philipp zu furchtſam, um ſich im Ernſt durch eine doctrinäre Formel beſtimmen zu laſſen; jedoch die Politik der Orleans bedurfte, da ſie nur aus der Hand in den Mund lebte, des Aushängeſchildes einer großen Idee, das die nationale Eitelkeit befriedigte, und der Brite hieß unbedenklich Alles willkommen, was den Unfrieden auf dem Feſtlande nährte. In Wahrheit ſagte der neue Grund - ſatz nur, daß die Weſtmächte ſich vorbehielten, nach den Umſtänden zu han - deln und gegebenen Falles auch die revolutionären Leidenſchaften für ihr Intereſſe zu verwerthen. Talleyrand traf den Nagel auf den Kopf, als er einer wißbegierigen engliſchen Dame mit ſeinem fauniſchen Lächeln er - widerte: Nicht-Intervention iſt ein geheimnißvolles diplomatiſches Wort, es bedeutet ungefähr daſſelbe wie Intervention.

Den Oſtmächten mußte dieſe neue Völkerrechtslehre als ein unge - heuerlicher Frevel erſcheinen; denn ſie ſchlug allen Anſchauungen des vergangenen Jahrzehnts ins Geſicht und drohte die ſo lange behauptete vormundſchaftliche Gewalt der großen Mächte, das ganze alte Syſtem der europäiſchen Pentarchie zu vernichten. Metternich ſagte entrüſtet: Die Räuber weiſen die Polizei zurück, die Brandſtifter verwahren ſich gegen die Feuerwehr! Niemals werden wir einen Anſpruch anerkennen, der ſo jede Ordnung der Geſellſchaft zerſtört. Nüchterner blieb Bernſtorff; er ertheilte an Bülow die Weiſung, den doctrinären Streit auf der Lon - doner Conferenz nicht ohne Noth anzuregen. Aber auch er fand, in dem neu erfundenen Syſteme der Nicht-Einmiſchung ſei der Grundſatz der anmaßlichſten, übermüthigſten und unzuläſſigſten Einmiſchung aus - geſprochen ; und in ſeinem Auftrage ſchrieb Ancillon nach Wien: Gewiß, durch den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung und durch den Anſpruch, den Mächten bei Strafe des Krieges jede Truppenbewegung außerhalb ihrer Grenzen zu unterſagen, ginge die Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit jeder Regierung verloren. Czar Nikolaus dagegen brauſte in wildem Zorne55Ruſſiſche Rüſtungen.auf, ſeine Kriegsluſt war kaum mehr zu bändigen. Ich habe , ſagte er heftig, von vornherein für die Legitimität kämpfen wollen und mich nur, weil ich der Jüngere bin, der reiferen Erfahrung des Königs gefügt. Jetzt aber glaubte er zu wiſſen, daß nicht bloß die königlichen Prinzen, ſondern auch ſein Schwiegervater ſelber ſeine Anſicht theile und allein Bernſtorff mit den anderen Miniſtern die lauen Maßregeln Preußens veranlaßt habe. *)Schöler’s Bericht 21. Nov. 1830.Nur ſchwer gab er dieſen Verdacht auf, den wahr - ſcheinlich Metternich’s Mittheilungen an Orlow hervorgerufen hatten.

Schon längſt hatte er zu rüſten begonnen; nun befahl er neue Aus - hebungen und ließ ſie, um die Revolution zu ſchrecken , ganz gegen den ruſſiſchen Brauch in den Zeitungen veröffentlichen. Erſt auf Schöler’s dringende Vorſtellungen geſtattete er endlich, daß Neſſelrode in einem beſchwichtigenden Rundſchreiben an die Geſandtſchaften den Ernſt dieſer Drohungen etwas abſchwächte: die angeordneten Vorbereitungen, hieß es da, verfolgten nur die Abſicht, den Frieden und die vertragsmäßige Ord - nung Europas aufrechtzuerhalten; hoffentlich werde ſchon die Ankündigung genügen, um dieſen Zweck der Erhaltung zu erreichen. **)Schöler, Verbalnote an Neſſelrode, 8. November / 27. October 1830; Neſſelrode, Circular - Depeſche 29. October a. St., nebſt Begleitſchreiben an Schöler.Unterdeſſen erſchöpfte Diebitſch in Berlin ſeine ganze Beredſamkeit, um immer wieder zu beweiſen, wie nothwendig der große Krieg und wie leicht er zu führen ſei. Doch ſeine diplomatiſchen Künſte, die ſich vor’m Jahre in Adrianopel ſo glänzend bewährt hatten, verſagten diesmal. Friedrich Wilhelm blieb feſt, und als der Feldmarſchall endlich in den erſten Decembertagen heim - kehrte, gab man ihm eine große, ſorgfältig vorbereitete Denkſchrift mit auf den Weg, welche dem Czaren noch einmal die leitenden Gedanken der preußiſchen Friedenspolitik vor die Augen führen ſollte. ***)Bernſtorff, Mémoire sur la position de la grande alliance relativement à la France et à l’Europe, 24. November 1830. Entwurf dazu v. 9. Nov., nebſt Fragen und Anweiſungen des Königs.

Nichts lag dem Könige ferner als der Gedanke einer Annäherung an den liberalen Weſten. Auf dem Bunde der Oſtmächte fußten alle ſeine Pläne, und auch der alten übermäßigen Vorliebe für die Ruſſen hatte er keineswegs entſagt. Rußland , ſo ſagte er, iſt und bleibt die kräftigſte Stütze der Allianz, ſowohl wegen des hochherzigen Charakters ſeines Souve - räns, als wegen der Trefflichkeit ſeiner Heere. Er wollte nicht den Frieden um jeden Preis, ſondern verlangte, die großen Mächte ſollten dem Hofe des Palais Royal gemeinſam erklären, daß ſie die Politik der revolutio - nären Propaganda nicht dulden würden. Bei offenbarer Feindſeligkeit Frankreichs war er bereit, den Krieg ſogar ohne Englands Mitwirkung zu beginnen, während man in Petersburg ſelbſt noch immer an die Fort -56IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.dauer des Vierbundes glaubte. Aber er ließ zugleich dem Czaren vor - halten, daß dieſer ſchwere Krieg die öffentliche Meinung der Deutſchen entſchieden gegen ſich habe, vielleicht ſogar Aufſtände in Deutſchland und Polen hervorrufen würde. Auf die alte Freudigkeit der Preußen ſei nur zu rechnen, wenn das Volk wiſſe, daß man alle friedlichen Mittel erſchöpft habe. Darum verlangte er eine genaue, unzweideutige Verabredung: wann der Kriegsfall gegeben ſei?

Es war die Sprache des ruhigen Verſtandes; aber wie konnte ſie den blinden Haß überzeugen? Hier der prahleriſche Hochmuth des Selbſt - herrſchers, dort die freche Begehrlichkeit der Revolution, hüben und drüben die wachſende Wucht der Rüſtungen wer konnte dieſen Mächten des Verderbens noch Einhalt gebieten auf ihrer abſchüſſigen Bahn? Gegen Ende Novembers war die Luft mit Zündſtoff überladen; mit der einzigen Ausnahme des allezeit hoffnungsvollen Gentz glaubten gerade die ein - ſichtigſten und beſtunterrichteten Staatsmänner alleſammt, daß der Welt - friede nur noch an einem Faden hänge.

Da trat ein Ereigniß ein, das die Leidenſchaften der Parteien über - all in Europa von Neuem aufſtachelte und doch zugleich der Erhaltung des Friedens zu ſtatten kam. Die in aller Welt verbreiteten überſpannten Vorſtellungen von Rußlands kriegeriſcher Macht hatten ſchon durch die Erfahrungen des Türkenkrieges einen erſten Stoß erlitten; ſie ſchwächten ſich noch mehr ab, ſeit in Europa etwas ruchbar ward von den Ver - heerungen der aſiatiſchen Cholera. Die furchtbare Seuche, die erſt im Jahre 1817 in ihrem uralten Heimathslande Oſtindien von engliſchen Aerzten beobachtet worden war, drang ſeit dem Sommer 1829, zumeiſt den Waſſerläufen folgend, im Innern Rußlands unaufhaltſam vor. Da die Heilkunde noch rathlos vor der geheimnißvollen Krankheit ſtand, ſo griff der Staat zu den härteſten Vorſichtsmaßregeln: ganze Provinzen wurden abgeſperrt, alle Briefe durchſtochen, die Reiſenden durchräuchert und in Quarantäne gehalten; aber die Roheit des Volks und die Un - zuverläſſigkeit der Beamten brach allen Vorſchriften die Spitze ab. Im September 1830 kam die Cholera nach Moskau; der Pöbel wüthete gegen die Polen und die anderen Fremden, die den Giftſtoff eingeſchleppt haben ſollten; nur das perſönliche Eingreifen des furchtloſen Czaren ſtellte die Ruhe wieder her. In manchen Theilen des ungeheueren Reiches war alle bürgerliche Ordnung ſo aufgelöſt wie einſt in Weſteuropa, als der ſchwarze Tod durch die Lande raſte. Freund und Feind begannen ſchon zu ahnen, ein alſo heimgeſuchter Staat werde ſchwerlich ein großes Heer über ſeine Grenzen hinausſenden können. Und dieſe Vermuthung ward zur Gewißheit, als am 29. November plötzlich der Aufruhr in Warſchau ausbrach.

57Rußland und Polen.

Auch Polen erlebte ſeine große Woche. Nach wenigen Tagen war der letzte Ruſſe aus den Landen des weißen Adlers vertrieben, und der Czar durch einen furchtbaren Feind vom Weſten abgetrennt. Wieder wie in den Niederlanden brach eine der willkürlichen Staatsbildungen der Wiener Verträge plötzlich zuſammen; hier lag die Schuld jedoch mehr an den Menſchen als an den künſtlichen Inſtitutionen. Der wohlge - meinte Verſuch Kaiſer Alexander’s, die Unabhängigkeit Polens unter ruſſiſchem Schutze theilweiſe wiederherzuſtellen, ſcheiterte an der unheil - baren Zuchtloſigkeit des polniſchen Adels. Seit fünfzehn Jahren beſaß das Königreich ſein eigenes, durch die napoleoniſchen Veteranen wohl ge - ſchultes Heer und eine nationale Verwaltung, die faſt ebenſo wohlthätig wirkte wie einſt die preußiſche: ſie brachte den Staatshaushalt in treff - liche Ordnung, gründete eine Univerſität, eine Bank, eine Pfandbriefs - Anſtalt, ein gutes Poſtweſen, einige Kunſtſtraßen und Kanäle. Das ſchwerſte Leiden des Landes, die Rechtloſigkeit der mißhandelten Bauern, erſchien dem Adel, der hier allein das Wort führte, keineswegs als ein Uebel. Wohl unterlag die Preſſe einer harten Cenſur, doch erſt ſeit ſie ihre Freiheit maßlos mißbraucht hatte; auch die Oeffentlichkeit der Reichs - tagsverhandlungen wurde beſeitigt, doch erſt ſeit das Geſchrei der radicalen Jugend auf den Gallerien die Berathungen faſt unmöglich machte. Im Uebrigen beſtand die Verfaſſung unangetaſtet; unter den rohen Wuth - ausbrüchen des Statthalters Großfürſten Conſtantin litten nur Einzelne, meiſt Offiziere, da der Statthalter lediglich militäriſche Befugniſſe beſaß.

Wie ungern immerhin der herriſche Nikolaus die Erbſchaft ſeines völkerbeglückenden Bruders antreten mochte: er beſchwor die Verfaſſung, und den Buchſtaben des Rechts zu verletzen war ſeine Weiſe nicht. Zwar verſchob er anfangs die Berufung des Reichstags über die geſetzliche Friſt hinaus was ſich durch die Kriege und die inneren Wirren ſeiner erſten Regierungsjahre zur Noth entſchuldigen ließ aber im Frühjahr 1830 kam er ſelbſt nach Warſchau, um den Reichstag zu eröffnen. Es hängt von Euch ſelber ab, rief er der Verſammlung zu, das Werk des Wiederherſtellers Eures Vaterlandes zu befeſtigen, indem Ihr die Befugniſſe und Vorrechte, welche er Euch auferlegt hat, mit Weisheit und Mäßigung gebraucht. Mit ſchauſpieleriſchem Geſchick zeigte er ſich in Warſchau nur als König von Polen und verſäumte keine Gelegenheit den nationalen Erinnerungen ſeine Huldigung zu erweiſen; er errichtete ein Denkmal für den Volkshelden Sobiesky, als ſeinen Vorgänger auf dem Throne, vertheilte reiche Geſchenke, gab glänzende Feſte, denen auch einige der jungen preußiſchen Prinzen beiwohnten, und mit der Geduld eines conſtitutionellen Fürſten ertrug er ſchweigend die Ausfälle der ra - dicalen Mehrheit der Landboten. Als der Reichstag nach ſtürmiſcher Tagung wieder nur ein einziges, unerhebliches Geſetz zu Stande brachte, ſprach Nikolaus kalt und hochmüthig ſein Bedauern aus: auch in der58IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Ferne , ſo ſchloß er, werde ich nicht aufhören für Euer wahres Glück zu ſorgen. Feindſeliger Worte enthielt er ſich, weil ihm Neſſelrode vor - ſtellte, welchen üblen Eindruck ein öffentlicher Tadel in Europa hinter - laſſen würde. *)Schmidt’s Bericht, 29. Juni 1830.

Was man auch zu klagen hatte, eine unerträgliche Willkürherrſchaft laſtete nicht auf dem Lande. Durchaus der Wahrheit gemäß geſtanden ſpäterhin Mochnacki und andere Führer der radicalen Emigranten: nicht gegen ruſſiſchen Druck hätten die Polen ſich erhoben, ſondern um ihre alte Unabhängigkeit und die Grenzen von 1772 zurückzugewinnen. Von dem Tage an, da dies halb ſelbſtändige Königreich aufgerichtet wurde, waren alle namhaften Männer des Adels einig in der Hoffnung auf völlige Wiederherſtellung, auf Wiedervereinigung mit den verlorenen Brü - dern in Poſen und Weſtpreußen, in Litthauen und Podolien. Redlich, ohne Hintergedanken ſchloß ſich faſt Niemand der neuen Herrſchaft an.

In den langen Jahrhunderten, da die Nachbarn zu ſagen pflegten: Polen beſteht nur durch Unordnung, waren dieſem unſeligen Volke die ſchlichten Tugenden des Bürgers ganz verloren gegangen; der pol - niſche Edelmann verſtand nur für ſein Vaterland zu kämpfen, zu leiden und Verſchwörungen zu ſchmieden, nicht ihm zu dienen in nüchterner Arbeit. Sogar Alexander’s Freund Fürſt Adam Czartoryski wiederholte dem Kaiſer unabläſſig: dies Königreich, das um ein Drittel kleiner ſei als das Herzogthum Warſchau, könne nur als eine Abſchlagszahlung, eine pierre d’attente gelten; und er handelte nach ſeinen Worten, er mißbrauchte ſein Amt als Curator der Univerſität Wilna um ſeinen Lehrbezirk zu poloniſiren und für die Einverleibung vorzubereiten bis ſein nachſichtiger Gönner ihm endlich doch das gefährliche Handwerk legen mußte. Die ganze Geſchichte dieſer anderthalb Jahrzehnte war nur eine Kette von Verſchwörungen. Erſt der nationale Freimaurerbund, nachher die Patriotiſche Geſellſchaft beherrſchte das Königreich ſowie die Nachbargebiete durch Sendboten und geheime Vereine. Bald waren die geſammte gebildete Jugend, der Landadel und der größte Theil der Offiziere für die Verſchwörung gewonnen; nur die Bauern hielten ſich fern, desgleichen das neue Bürgerthum, deſſen erſte Keime jetzt unter dem Schutze einer geordneten Verwaltung aufzuſprießen begannen. Ver - geblich ſuchte ſich die Krone durch eine ſpüreifrige geheime Polizei zu decken. Als es im Jahre 1827 endlich gelang, einige der Häupter, Mit - wiſſer der ruſſiſchen Dekabriſten, aufzugreifen, da wurden ſie trotz erwie - ſener Schuld von dem höchſten Staatsgerichtshofe, dem Senate theils frei - geſprochen, theils zu lächerlich geringen Strafen verurtheilt; und Adam Czartoryski ſelbſt, der liebenswürdige, feingebildete Führer der gemäßigten ariſtokratiſchen Partei verfaßte dies Urtheil, das jedem Rechte ins Ge -59Die große Woche in Warſchau.ſicht ſchlug, jedem Hochverrath einen Freipaß ausſtellte. Der Adel froh - lockte, er war längſt gewohnt alle Staatsverbrecher als Patrioten zu verherrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerſtand hin, und ſeitdem führten die Polen mit wachſender Dreiſtigkeit jenen kleinen Krieg gegen die Behörden, deſſen Neckereien ihnen ebenſo ge - läufig waren wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzu - fangen mit der Obrigkeit und dann den Märtyrer zu ſpielen gehörte zum guten Tone unter den jungen Männern.

Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Koſciuszko’s, die geliebte Tricolore wieder ſchwenkte, da wirbelte die Begeiſterung hoch auf. In der Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo - leoniſchen Erinnerungen wieder lebendig; Niemand in dieſen Adelskreiſen bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geſchlagen habe. Sendboten der franzöſiſchen Radicalen mahnten zu raſcher That, aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Czar Nikolaus gegen Frank - reich kämpfen, das polniſche Heer als Vorhut vorausſenden wolle. Noch beſtand kein feſter Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un - treue genügte ein Funke den Brand zu wecken. Die Entſcheidung fiel, als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord - verſuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuchlings niederſtieß und den Warſchauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürſt Conſtantin verlor Muth und Faſſung; er hatte die Polen auf ſeine Weiſe lieb gewonnen und ſcheute ſich in ihre Händel einzugreifen. Ich und die Meinen, wir wollen rein aus dieſen Wirren hervorgehen ſo entſchuldigte er ſeine Schwäche. *)Schmidt’s Bericht, 14. December 1830.Ohne einen Widerſtand zu wagen, zog er mit ſeinen ruſſiſchen Regimentern heimwärts und überließ das Land ſeinem Schickſale. Das ganze Königreich mitſammt den ſtarken Feſtungen des Weichſelthals ſchloß ſich ſofort der Sache der Sieger an. Das war kein Aufſtand mehr. Ein ſelbſtändiger Staat mit geordneten Behörden, mit vollem Schatze und wohlgerüſtetem Heere trat Macht gegen Macht dem Czarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen werden.

Inzwiſchen nahmen die Dinge in Warſchau den herkömmlichen Verlauf aller polniſchen Revolutionen: Kampfluſt und Opfermuth im Ueberſchwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde Prieſter und hochſinnige ſchöne Frauen, dazu Punſch und Mazurka ſo - viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit, wüthende Anklagen herüber und hinüber, und in dieſem Gewoge tapferer begeiſterter Männer kein einziger ſtaatsmänniſcher Kopf, kein einziger großer Charakter. Für die Maſſen des Volks und ihre Leiden hatten die Freiheitsredner dieſer Adelsverſchwörung kein Auge; der Antrag die60IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Frohnden abzulöſen, den Bauern Grundeigenthum zu geben, ward vom Reichstage verworfen. Eine Zeitlang wiegte man ſich noch in dem kind - lichen Wahne, der Czar könne durch friedliche Verhandlungen beſchwichtigt, ja ſogar zur Einverleibung von Litthauen und Podolien bewogen werden. Bald aber errang ſich der Radicalismus das Herrenrecht, das ihm bei Aufſtänden gebührt. Adam Czartoryski und ſein gemäßigter Anhang mußte ſich den Geboten Lelewel’s, Mochnacki’s und der Jacobinerpartei fügen. Am 25. Januar 1831 beſchloß der Reichstag die Entthronung des Hauſes Romanow.

Die große Woche der Polen ward von der geſammten liberalen Welt Europas kaum minder freudig begrüßt als die Juli-Revolution ſelber. Der alte Haß gegen die ruſſiſche Selbſtherrſchaft, der ſchon in den erſten Friedensjahren ſich geregt und erſt während des Türkenkrieges ſich etwas vorloren hatte, flammte wieder auf; Niemand wollte bemerken, daß der römiſche Clerus in Polen faſt ebenſo eifrig wie in Belgien die Sache des Aufſtandes gefördert hatte. Der ſarmatiſche Adel erſchien den er - hitzten Köpfen wie ein Vorkämpfer der Freiheit. Auch die menſchliche Theilnahme aller weichen Herzen war ihm ſicher, da man dies Volk noch überall nach den landläufigen Märchen der franzöſiſchen Hiſtoriker als unſchuldiges Opfer einer gewiſſenloſen Cabinetspolitik bemitleidete. Ein unbefangenes Geſchichtswerk über die Theilungen Polens war noch nicht erſchienen; ſelbſt Dahlmann wollte in dem ſelbſtverſchuldeten Untergange der alten Adelsrepublik nichts ſehen als den kalt berechneten Volksmord. Die Polen theilten mit dem römiſchen Stuhle das Schickſal, daß die ihnen gewidmete Verehrung mit der räumlichen Entfernung wuchs. Ihre Nachbarn in den preußiſchen Grenzlanden wußten wohl, wie tief der polniſche Bauer unter dem ruſſiſchen ſtand; im Weſten aber, wo Niemand je ein polniſches Dorf betreten hatte, hielt man ſich an die herkömmlichen Begriffe von lateiniſcher und byzantiniſcher Cultur, und glaubte treuherzig, dieſe willenloſe, von Junkern, Pfaffen, Juden getretene Maſſe bilde ein ſtarkes Bollwerk gegen die aſiatiſche Barbarei. Die Freiheit der Völker und die Geſittung Europas fochten unter den Fahnen des weißen Adlers ſo lautete das allgemeine Urtheil.

Der Czar aber ließ ſich in ſeinen vermeſſenen Entwürfen nicht beirren. Die Warſchauer Revolution, ſo ſchrieb Neſſelrode ſtolz nach London, ändert nichts an der Haltung, welche S. Majeſtät von Anfang an gegenüber den allgemeinen Angelegenheiten Europas eingenommen hat. *)Neſſelrode an Lieven, 4. December (a. St.) 1830.Nikolaus verachtete die Polen, wie jeder echte Moskowiter; auf dem Durch - marſch, in wenigen Wochen ſollte ſein unbeſiegliches Heer dieſe Empörer zermalmen um dann hinauszufluthen über das rebelliſche Weſteuropa. Auch Diebitſch beharrte in ſeiner Verblendung. Der meinte ſelbſtzufrie -61Krieg in Polen.den: wäre man in Berlin meinem Rathe gefolgt, ſo ſtänden heute das polniſche Heer am Rhein, das ruſſiſche an der Weichſel; und einem Ab - geſandten der Warſchauer Regierung erwiderte er ſpöttiſch: Ihr habt die Zeit ſchlecht gewählt, die Kriegsmacht des Kaiſers rückt bereits nach dem Weſten vor! Der Feldmarſchall erhielt den Oberbefehl und hoffte ſchon im Februar unter den polniſchen Empörern aufzuräumen; war dort die Revolution gebändigt, ſo ſollte Preußen in den großen Kreuzzug für die Legitimität hineingeriſſen werden und im Mai das Heer des Türken - beſiegers am Rheine eintreffen. Darum erging Marſchbefehl an die Garden, die erſt im März, alſo nach der erhofften Unterwerfung, in Polen anlangen konnten, auch die kaiſerliche Feld-Equipage war ſchon unterwegs. Die Ruſſen zogen freudig in den Kampf gegen die alten Feinde ihrer Nation; überall ging die Rede: den einzigen Lohn, den Rußland aus ſeinem ſiegreichen Kriege wider ganz Europa davongetragen hat, laſſen wir uns nicht rauben. Sie grollten längſt, weil dies eroberte Land größerer Rechte genoß als die Eroberer ſelber; jetzt forderten ſie laut die völlige Einverleibung des meuteriſchen Nebenreiches. *)Schöler’s Bericht, 29. Januar 1831.Nach - haltigen Widerſtand befürchtete Niemand; die meiſten Offiziere der Garde erwarteten gleich dem Feldmarſchall einen raſchen Siegeszug bis zur Seine, und mancher ſagte beim Abſchied, erſt aus Paris werde er heimſchreiben. Der Uebermuth der Moskowiter ſollte ſich hart beſtrafen.

Durch die europäiſchen Kreuzzugspläne des Czaren wurde der polniſche Feldzug ſchon in ſeiner Anlage verdorben, wie General Schöler warnend vor - herſagte. Diebitſch begann den Krieg zu früh, mit ungenügenden Mitteln; um nur raſch fertig zu werden führte er ſogar die litthauiſchen Truppen, deren Treue längſt verdächtig war, gegen ihre polniſchen Landsleute ins Feuer. **)Schöler’s Berichte, 16. Januar, 22. März, 2. Mai 1831.Das herriſche Manifeſt, das vor ihm herging, verſchärfte lediglich den Haß; auf dem Schlachtfelde vergaßen die Polen ihrer Zwietracht und bewährten überall den alten Muth. Als Diebitſch gradeswegs gegen Warſchau vorgedrungen, bei Grochow auf dem alten Schlachtenboden des rechten Weichſelufers die Polen geſchlagen hatte (25. Februar), da fühlte er ſich nicht mehr ſtark genug den Sieg zu benutzen, ganz wie einſt König Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1794; er wagte nicht, nach dem Rathe ſeines kühnen Generalſtabschefs Toll, den Brückenkopf der Hauptſtadt, Praga zu ſtürmen und alſo mit einem Schlage den Krieg zu beendigen. Und ganz wie damals wendete ſich das Blatt ſobald der günſtige Augen - blick verſäumt war. Das ruſſiſche Heer mußte den Rückzug antreten, durch wegloſe Gelände, bei unerwartet frühem Thauwetter; die Cholera wüthete in ſeinen Reihen. Zu Ende März brachen die Polen, jetzt von dem tapferen Skrzynecki geführt, aus den Wällen Pragas hervor, ſchlugen62IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.das unzuverläſſige litthauiſche Corps des Generals Roſen, und bald ſah ſich Diebitſch genöthigt noch weiter oſtwärts zurückzugehen. Die Garden trafen auf ihrem Pariſer Siegeszuge grade noch rechtzeitig ein um in Polen das Verderben aufzuhalten. Ein langer und ſchwerer Krieg ſtand bevor; mit heller Schadenfreude verkündeten die europäiſchen Zeitungen, wie ſchwach der gefürchtete nordiſche Koloß ſich erwieſen habe. Auf viele Monate hinaus war Rußland außer Stande in die Händel Weſteuropas thätig einzugreifen.

Aber auch die beiden anderen Theilungsmächte wurden durch die polniſche Revolution gelähmt. Wieder wie einſt beim Beginne des erſten Revolutionskrieges ſtand Preußen in Gefahr zwiſchen zwei Feuer zu ge - rathen; kein preußiſcher Staatsmann durfte verkennen, was die Pflicht der Selbſterhaltung gebot. Blieb der Aufſtand in Warſchau ſiegreich, ſo waren Poſen und Weſtpreußen ſchwer gefährdet, und in Frankreich gelangte vorausſichtlich die Partei der revolutionären Propaganda ans Ruder. An dieſer handgreiflichen Wahrheit konnten die glatten Worte der Polen nichts ändern. Graf Titus Dzialynski, das Oberhaupt der Poſener Verſchwörer, eilte ſobald die Revolution ausgebrochen war, nach Warſchau, um anzufragen, ob eine Schilderhebung in Poſen rathſam ſei. Die proviſoriſche Regierung aber, die noch unter Czartoryski’s behutſamer Leitung ſtand, wies ihn ab und beeilte ſich, in einem um einen Tag vordatirten Briefe dem preußiſchen Conſul Schmidt unaufgefordert zu erklären: ſie hege die feſte Abſicht, gewiſſenhaft die Grenzen aller Staaten Sr. Maj. des Königs von Preußen zu achten. Zum Ueberfluß kam der harmloſe Poſener Graf ſelber zu dem Conſul und verſicherte gemüth - lich, er ſei nur nach Warſchau gereiſt um ſeine Mutter zu beſuchen. *)Schreiben der Proviſoriſchen Regierung an Schmidt, 4. December. Schmidt’s Berichte, 5. 9. December 1830.Wen ſollten ſolche Künſte täuſchen? Während Tag für Tag Ueberläufer aus Preußen in das polniſche Heer eintraten darunter auch der aus Glogau entflohene General Uminski und ſogar eine Poſener Reitertruppe ge - bildet wurde, rechneten die Warſchauer Gewalthaber noch immer auf die deutſche Gutherzigkeit und ließen den König durch General Kniaziewicz um ſeine Vermittlung bitten. Friedrich Wilhelm lehnte das Geſuch ſchroff ab und gab den Aufſtändiſchen den Rath, ſich ihrem Könige zu unter - werfen. **)Schmidt’s Bericht, 27. December 1830. Ancillon’s Weiſung an Schöler 19. Ja - nuar 1831.Er durfte in ihnen nur Feinde ſeines eigenen Staates ſehen, rief ſeinen Conſul aus Warſchau zurück und ſtellte die in Berlin verwahrten Gelder der polniſchen Bank dem rechtmäßigen Könige zur Verfügung.

Als die Dinge ernſter wurden, ließ er die 130 Meilen lange Grenz - linie durch Truppen der vier öſtlichen Armeecorps beſetzen. Gneiſenau63Beſetzung der deutſchen Oſtgrenze.übernahm den Oberbefehl über dieſe vier verſtärkten Corps und er ent - ledigte ſich des peinlichen Auftrags nach ſeiner großen Weiſe. Selbſt die grollenden Edelleute in Poſen beugten ſich vor der milden Hoheit des alten Helden. Er begegnete ihnen nicht ohne geringſchätzige Ironie, da er ihre unausrottbare Vorliebe für krumme Wege kannte. In Kleinig - keiten nachſichtig hielt er doch ſtreng darauf, daß der Zuzug zu den Aufſtändiſchen aufhörte; und es ward hohe Zeit, denn unbekümmert um die Friedensmahnungen ihres Erzbiſchofs Dunin hatten ſich ſchon an 12000 Mann aus der Provinz den Polen angeſchloſſen. Der Feld - marſchall war angewieſen, dem ruſſiſchen Heere die Verpflegung zu er - leichtern, aber nur im äußerſten Nothfall in den Kampf einzugreifen, da die Ruſſen ſelbſt, um ihres Anſehens willen, dies Einſchreiten nicht wünſchten. Von Diebitſch’s Feldherrngaben dachte er nicht hoch, dieſer ganze polniſche Krieg erſchien ihm nur als eine geringfügige Epiſode; ſein Blick blieb nach Weſten gerichtet, ſeine letzten Gedanken galten dem nahen Kampfe gegen das Karthago an der Seine.

Alſo mußte faſt die Hälfte des preußiſchen Heeres zur Sicherung der Oſtgrenze verwendet werden. Nicht ganz ſo ſchwer hatte Oeſterreich unter den polniſchen Wirren zu leiden. Für Galizien ſtand wenig zu befürchten, weil die rutheniſche Bauernſchaft ihre ſarmatiſchen Herren ver - abſcheute und auch die polniſchen Edelleute dieſes Landſtrichs bei Weitem weniger Eifer für den Aufſtand zeigten als die preußiſchen Polen. Von jeher war das katholiſche Oeſterreich den Polen minder verhaßt geweſen als die beiden anderen Theilungsmächte, und da nun der mächtige ma - gyariſche Adel jede Niederlage ſeiner ruſſiſchen Todfeinde mit ſtürmiſcher, faſt drohender Freude begrüßte, da der Statthalter von Galizien, Fürſt Lobkowitz ſeine polniſche Geſinnung kaum verbarg und ſelbſt das ſtille Wien für die ſarmatiſchen Helden ſich begeiſterte, ſo verfielen die Polen in leichtſinnige Selbſttäuſchungen. In der argen Schule ihres Verſchwörer - lebens hatten ſie längſt gelernt, Hoffnung für Wirklichkeit, leere Worte für Thaten zu nehmen; an allen Höfen arbeiteten ihre Sendboten, und jede hingeworfene Aeußerung menſchlichen Mitgefühls klang ihnen wie ein Verſprechen kriegeriſcher Hilfe. Adam Czartoryski warf unter ſeinen ariſtokratiſchen Freunden die Frage auf, ob man nicht den Erzherzog Karl zum Könige von Polen wählen und alſo Oeſterreichs Beiſtand ge - winnen ſolle; und doch mußte er wiſſen, daß grade dieſer Name den mißtrauiſchen Kaiſer Franz nur abſchrecken konnte. Er ließ durch ſeinen Bruder Conſtantin die Vermittelung der Hofburg erbitten und ſchrieb dann ſelbſt an Metternich um wegen der Wahl des Erzherzogs anzu - fragen. Nachher ward Graf Clam, der Vertraute des Staatskanzlers in tiefem Geheimniß nach Mähren eingeladen, wo ihn polniſche Unter - händler erwarteten. Als der Aufſtand ſchon im Erlöſchen war kam Czartoryski’s Neffe Graf Zamoiski nach Wien, bat nochmals um Oeſter -64IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.reichs Hilfe und erbot ſich, die Krone der Jagellonen irgend einem Erz - herzoge, welcher es auch ſei, zu verſchaffen. *)Maltzahn’s Berichte, 18. 28. Januar, 21. Februar, 4. September 1831.

Das Alles war verlorene Mühe, obwohl die polniſchen Blätter be - ſtändig von der günſtigen Geſinnung des Wiener Hofes fabelten. Andert - halb Jahre früher, zur Zeit des Türkenkrieges, hätte Metternich die pol - niſche Revolution vielleicht willkommen geheißen; jetzt da er den Bund der Oſtmächte wieder feſter zu ſchließen ſuchte, war ſie ihm nur eine Revolution wie alle anderen . Eine Hinterthür hielt er ſich freilich offen, indem er den k. k. Conſul Oechsner, zum Befremden des Czaren, während des Krieges in Warſchau bleiben ließ; jedoch die Erwählung eines Erz - herzogs wies er als einen abſurden Gedanken kurzweg ab. Um ſeinen Abſcheu kräftig zu bekunden, bereicherte er ſogar das Wörterbuch ſeiner Angſt-Sprache um eine ſechſte Metapher und nannte dies Polen ein Pulvermagazin , das alle Nachbarn in die Luft zu ſprengen drohe. Auch Gentz, der alte Gegner Rußlands, mußte zugeſtehen, daß Oeſterreich jetzt nicht viel anders handeln durfte als Preußen. In der That gab Kaiſer Franz den Polen faſt dieſelbe Antwort wie König Friedrich Wilhelm; nur dem Fürſten Czartoryski, der bei Hofe wohlgelitten war, und einigen ſeiner Standesgenoſſen verſprach man unter der Hand ein Aſyl in Oeſterreich. Die galiziſche Grenze wurde ſtark beſetzt und dem ruſſiſchen Heere die Zufuhr von Lebensmitteln freundnachbarlich geſtattet.

Da die Oſtmächte feſt zuſammenſtanden, ſo konnte Czar Nikolaus ſich jede Einmiſchung Frankreichs von Haus aus ſcharf verbitten. In hoffärtigem Tone ſchrieb Neſſelrode nach Paris: Wenn die Regierung des Königs Ludwig Philipp bisher ſcheinbar mit Ungeduld den rechten Augenblick erwartet hat um Europa eine Bürgſchaft der Sicherheit zu geben und ſich das Vertrauen des Kaiſers zu erwerben, ſo darf ſie nicht verſäumen, die gegenwärtige Gelegenheit weiſe zu benutzen. Ihre Würde wie ihr Intereſſe gebieten ihr dies zu thun. **)Neſſelrode, Weiſung an Pozzo di Borgo, 28. Nov. (a. St.) 1830.Die herriſche Mahnung fand willige Hörer. Ludwig Philipp wußte wohl, daß der völlig aus - ſichtsloſe Verſuch in die polniſchen Händel einzugreifen, nur den Feinden ſeines Hauſes zu gute kommen konnte. Denn obwohl alle Parteien Frankreichs für dies Belgien des Oſtens, dies liberale und katholiſche Volk, den natürlichen Bundesgenoſſen der Franzoſen ſchwärmten, ſo zeichneten ſich doch die Republikaner und die verkappten Bonapartiſten durch verdächtigen Eifer aus. Dieſelben Blätter, welche den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung als die Heilswahrheit neu-franzöſiſcher Freiheit prieſen, forderten mit der unbefangenen Logik des Radicalismus die Einmiſchung zu Gunſten der Polen. Der greiſe Lafayette erhob in einer ſchwülſtigen Erklärung feierlichen Einſpruch gegen das Vorgehen der65Revolution in Italien.Ruſſen; Caſimir de la Vigne ſchilderte rührſam den weißen Adler, wie er hoffend auf Frankreichs Regenbogen blickte, und als dieſer Regenbogen dem Adler nicht half, ſang Barthelemy wüthend: Cachons-nous, cachons - nous! Nous sommes des infâmes! Solchen Freunden wollte der Bürger - könig das gebrechliche Schifflein der Orleans nicht anvertrauen. Um die maßlos erregte öffentliche Meinung etwas zu beſchwichtigen, ließ er nur bei den großen Höfen behutſam anfragen, ob vielleicht eine gemein - ſame Vermittlung der Mächte möglich ſei; doch in Berlin wie in Wien ward das Anerbieten rundweg abgelehnt. *)Maltzahn’s Bericht, 23. März 1831.

Desgleichen in London. Den Griechen hatte Canning einſt unbe - denklich Beiſtand geleiſtet, weil der engliſche Handel im ägeiſchen Meere durch den helleniſchen Krieg zu Grunde gerichtet wurde. Sein Schüler Palmerſton handelte nur im Geiſte des Meiſters, als er den Polen jede Hilfe abſchlug; denn ein Zerwürfniß mit Rußland war der Untergang des einträglichen Oſtſeehandels. Der Lord empfing daher den Abgeſandten der Warſchauer Regierung, den geiſtreichen jungen Marquis Wielopolski ſehr kühl und redete würdevoll von der Heiligkeit der europäiſchen Ver - träge, die er doch ſelber in dem belgiſchen Streite leichtherzig preisge - geben hatte. Er ward ſogar durch die polniſchen Wirren näher an die Oſtmächte herangedrängt und ließ nach Paris ſehr nachdrückliche War - nungen ergehen. Mißtrauiſch wie er gegen alle Ausländer war, be - fürchtete er immer, Ludwig Philipp könne durch die Schmeicheleien der polniſchen Agenten, durch die Brandreden der radicalen Propaganda doch noch in einen Krieg hineingeriſſen werden, der die Intereſſen der britiſchen Handelspolitik ſchädigte. Und wie nahe lag doch die Gefahr, daß die unglücklichen Iren, die von ihren fremden Zwingherren unvergleichlich härter mißhandelt wurden als die Polen, dann auch die Hilfe des frei - heitſpendenden Frankreichs anriefen! Nur in der Stille und ohne jeden Erfolg bekundete er den deutſchen Mächten zuweilen ſeinen Unmuth über die allzu harte Behandlung der Polen.**)Maltzahn’s Berichte 30. März, 3. Juli 1831.

Um die Verwirrung der europäiſchen Lage zu vollenden, brach end - lich im Februar 1831 auch in Italien der längſt erwartete Aufruhr aus. Nirgends zeigte ſich die unberechenbare, zwiſchen Furcht und Begehrlichkeit ſchwankende Politik der Orleans ſo gewiſſenlos; ſie führte hier den alten, durch Frankreichs Ueberlieferungen gebotenen Kampf gegen Oeſterreichs Herrſchaft mit ſchlechten demagogiſchen Waffen fort und reizte die unglück - lichen Italiener zu thörichten Aufſtänden, die ſie doch nicht ernſtlich zu unterſtützen wagte. Da wurden zuerſt die nach Frankreich geflüchteten piemonteſiſchen Unzufriedenen durch die franzöſiſchen Behörden dermaßen begünſtigt und aufgeſtachelt, daß der geängſtigte Turiner Hof ein Schutz -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 566IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.bündniß mit Oeſterreich ſchloß und der neue König Karl Albert von Carignan derſelbe, der einſt vor der Rache des Wiener Hofes bei den franzöſiſchen Bourbonen Schutz geſucht hatte ſich in tödlichem Haſſe von Frankreich abwendete. Dann warf ſich die franzöſiſche Pro - paganda auf Mittelitalien. Sendboten der Pariſer Geheimbünde über - ſchwemmten das Land, Ludwig Philipp ſelber zahlte Geld an die Ver - ſchwörer freilich nur eine bettelhafte Summe, nach der geizigen Weiſe der Orleans; und noch bethörender wirkte der in Paris ſo prahleriſch ver - kündigte Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Die Verſchworenen glaubten feſt, Oeſterreich könne keine Einmiſchung wagen, weil Frankreich die Re - volution mit ſeinen Waffen ſchirmen würde dies verſicherte ihnen der alte Unheilſtifter Lafayette heilig und mit den elenden Truppen ihrer Kleinfürſten und Prieſter meinten ſie leicht fertig zu werden.

Alſo auf Frankreichs Schutz vertrauend wagten ſie den Kampf. Im Laufe des Februar wurden die kleinen Despoten von Modena und Parma verjagt; die Romagna, Umbrien, die Marken, volle vier Fünftel des Kirchenſtaates ſchüttelten das unerträgliche Joch des Papſtthums ab. In Bologna wie in Modena trat eine revolutionäre Regierung zuſammen, und aus den wirr durch einander fluthenden Hoffnungen und Entwürfen der Patrioten ließ ſich doch ſchon erkennen, daß der nationale Gedanke in dieſem edlen Volke klarer, greifbarer, beſtimmter wurde, ſeit er aus dem aufgeregten Süden nach dem ruhigeren Norden hinüberdrang. Keine Rede mehr von den Parteifarben der Carboneria, die vor zehn Jahren in Neapel geprangt hatten. Das nationale Banner des Königreichs Italien wehte überall in den befreiten Landen, die ſich ſtolz die Vereinigten Pro - vinzen Italiens nannten; der Name des großen Stifters jenes König - reichs war in Aller Munde. Zwei ſeiner Neffen, die jungen Söhne Ludwig Napoleon’s, bemerkte man inmitten der Aufſtändiſchen, zu Roſſe, auf grünweißrothen Schabracken; manche der Verſchworenen vermaßen ſich ſchon den König von Rom aus Wien herbeizurufen.

Wunderbar, wie nun plötzlich dem Wiener Hofe die Schwingen wuchſen. Bei den Wirren der letzten Monate hatte er faſt nur die Rolle des Chors in der Tragödie geſpielt; jetzt zeigte ſich Oeſterreich ganz als italieniſche Macht. In der Beherrſchung der Halbinſel ſah Kaiſer Franz die ſtärkſte Stütze ſeines Reichs, aus den italieniſchen Beſitzungen floß ſeinen Erzherzogen der größte Theil ihrer Reichthümer zu. Metternich ſuchte, da er für die Leiden Italiens nie ein Auge hatte, den einzigen Grund der Bewegung in der heilloſen Doctrin der Nicht-Einmiſchung; er wollte, indem er die Revolution niederſchlug, zugleich dieſe neue Völker - rechtslehre durch die That widerlegen, und als ihm ſein Schlag gelungen war, rief er ſtolz: Das erſte öſterreichiſche Bataillon in Italien hat die Lehre der Nicht-Einmiſchung zu Boden geſchmettert. *)Metternich an Ficquelmont, 29. April 1831.Wohl war das67Die Oeſterreicher im Kirchenſtaate.Heer, trotz der Rüſtungen der jüngſten Zeit, noch immer in üblem Zu - ſtande,*)Maltzahn’s Bericht, 9. Januar 1831. und die Geldmittel konnten nur durch den mehr bereitwilligen als wohlfeilen Beiſtand des getreuen Hauſes Rothſchild aufgebracht werden; doch zu einem Kampfe gegen italieniſche Freiſchaaren fühlte ſich die alte Kaiſer - macht noch ſtark genug. Sobald der Papſt und die vertriebenen Fürſten ihren Hilferuf nach Wien erſchallen ließen, rückten die Oeſterreicher ein, und ehe der März zu Ende ging war das geſammte aufſtändiſche Gebiet wieder unterworfen. Franz von Modena verherrlichte ſeine Rückkehr nach ſeiner Gewohnheit durch Hinrichtungen und Einkerkerungen; der Papſt aber begrüßte dankbar die auserleſene Schaar der Weißröcke, welche die Tempelſchänder aus dem Levitengebiete vertrieben habe.

Den Hof des Palais Royal hielt Metternich durch einen diplo - matiſchen Meiſterzug in Schach. Er ſendete nach Paris eine aus Wahr - heit und Dichtung kunſtvoll zuſammengewobene Darſtellung von dem Weſen und Ziele der italieniſchen Revolution (15. Februar). Danach ſollte die Bewegung allein von dem Pariſer Comité directeur ausgehen und den beſtimmten Zweck verfolgen, den Sohn Napoleon’s zum conſti - tutionellen Könige von Italien zu erheben. Einige Beweisſtücke, welche die weitverzweigten geheimen Umtriebe der Bonapartiſten aufdeckten, legte er bei; dagegen verſchwieg er weislich, daß der herriſche König von Rom keineswegs geſonnen war, den italieniſchen Patrioten als Werkzeug zu dienen, ſondern vielmehr zornglühend ſich erboten hatte, mit ſeinem guten Degen ſeiner Mutter Marie Luiſe das verlorene Herzogthum Parma wieder zu erobern. Zwiſchen den Zeilen ward dann noch ange - deutet, der Großvater Napoleon’s II. könne vielleicht doch in die Lage kommen, ſich ſeines Enkels zu bedienen. Zum Schluß die unverblümte Drohung: Unſer Bekenntniß muß von denen verſtanden werden, welche bei Strafe ihrer eigenen Vernichtung die Freunde unſerer Sache ſein müſſen; denn unſere Sache iſt im Grunde ihre eigene. Das Mittel wirkte. Die Orleans zitterten vor dem Bonapartismus, der ſelbſt in Ludwig Philipp’s nächſter militäriſcher Umgebung geheime Anhänger zählte, und der Gedanke der Einheit Italiens war der neidiſchen Politik des Bürger - königthums ganz ebenſo unheimlich wie dem Wiener Hofe. Frankreich regte ſich nicht. Erſt als der Aufſtand gebändigt war erließ das Pariſer Cabinet eine Verwahrung gegen die Beſetzung des Kirchenſtaates; von den kleinen Herzogthümern ſprach man nicht, ſie galten allgemein als ein unantaſtbares Familienbeſitzthum des Hauſes Oeſterreich. Metternich aber baute dem geſchlagenen Feinde goldene Brücken. Ganz wie vor zehn Jahren verſicherte er feierlich, Oeſterreich ſei nicht um ſeinetwillen, ſondern um der europäiſchen Ruhe willen eingeſchritten. Darum wider - ſprach er auch nicht, als auf Frankreichs Wunſch die Geſandten der fünf5*68IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Mächte in Rom zuſammentraten um über die nothwendigen Reformen im Kirchenſtaate zu berathen.

Am Berliner Hofe erregte das italieniſche Ränkeſpiel des Palais Royal lebhaften Argwohn. Ancillon, der für den erkrankten Bernſtorff jetzt das Auswärtige Amt leitete, verhehlte dem franzöſiſchen Geſandten nicht, daß der König Oeſterreichs Verhalten in Italien durchaus billige. Mit dem ganzen Wortſchwall ſeines wohlgeſalbten Predigerſtiles tadelte er den zweideutigen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung: Man kann nicht oft und nicht mannichfach genug dieſe revolutionäre Doctrin bekämpfen, welche darauf hinausläuft, daß die Empörung die heiligſte der Pflichten und Niemand berechtigt iſt deren Ausübung zu ſtören; ſie untergräbt die Unabhängigkeit der Souveräne in ihren Grundlagen, indem ſie ihnen die Möglichkeit nimmt ihre Verbündeten zu Hilfe zu rufen; ſie würde die Maßregeln, welche die Regierungen im Intereſſe ihres Daſeins und ihrer Selbſterhaltung für nöthig halten, von der Genehmigung Frankreichs abhängig machen. *)Ancillon, Weiſung an Maltzahn, 20. März 1831.Weitausſehende Verbindlichkeiten wollte der König, ſeinem alten Grundſatze gemäß, um Italiens willen nicht übernehmen; er lehnte ab, als der Turiner Hof ihn bitten ließ, gemeinſam mit Oeſter - reich die Bürgſchaft für Piemonts Sicherheit zu übernehmen. Nur zu wohlwollender Vermittlung war er gern bereit.

Unter den Geſandten der Conferenz in Rom zeigte der preußiſche den größten Eifer. Bunſen hatte ſeit er in Rom heimiſch geworden ſeine Vorurtheile gegen das italieniſche Volk längſt überwunden, er legte den Geſandten eine Denkſchrift vor (21. Mai), welche von allen gebilligt und ſeitdem durch ein Menſchenalter dem römiſchen Stuhle immer wieder als wohlgemeinte Mahnung ſeiner Beſchützer vorgehalten wurde. Ueber die Nichtswürdigkeit dieſes Prieſterregiments, das ſich ſeit dem Tode des milden Cardinals Conſalvi nur verſchlechtert hatte, war Jedermann einig. Selbſt Prokeſch v. Oſten, der abgeſagte Feind der Revolution, der in Metternich’s Auftrag die Zuſtände der Romagna beobachten ſollte, fand die Lage des Volks ganz entſetzlich. Alle Höfe, auch der Wiener, wünſchten auf - richtig das Gelingen der Reform; denn alle betrachteten den Kirchenſtaat als eine europäiſche Nothwendigkeit und hielten das Papſtthum ſelber für verloren falls ſeine weltliche Herrſchaft unterginge. Bunſen’s Vor - ſchläge lauteten verſtändig und maßvoll: er verlangte Zulaſſung der Laien zu allen obrigkeitlichen Aemtern, gewählte Räthe für die Gemeinden und die Provinzen, dazu einen Rechnungshof, der durch Laien verſtärkt den Unterſchleifen der Prieſter endlich ſteuern ſollte, und vielleicht noch einen Staatsrath. Aber wie konnte man hoffen, bei dem Papſte auch nur dieſe beſcheidenen Wünſche durchzuſetzen? Der heilige Stuhl gab halbe Zuſagen, und hielt ſie nicht, weil er ſie nicht halten konnte. Jede reine69Bunſen’s Denkſchrift über den Kirchenſtaat.Theokratie iſt Kaſtenherrſchaft; die unerläßliche Vorbedingung aller Re - formen, die Gleichſtellung der Laien durfte der gekrönte Prieſter nicht im Ernſt zugeſtehen.

Unterdeſſen forderte Frankreich, im Namen der heiligen Nicht-Ein - miſchungslehre, laut und lauter die Räumung des Kirchenſtaates, obgleich der Papſt ſelber das längere Verweilen der Beſatzungstruppen dringend wünſchte und Jedermann in Bälde einen zweiten Aufſtand erwartete. Ueber den langwierigen gereizten Verhandlungen rückte endlich der Tag heran, da die Pariſer Kammern wieder zuſammentreten ſollten. Da ſpielte Ludwig Philipp den letzten Trumpf aus, der ihm fortan immer zu ſeinen Schein-Erfolgen verhelfen mußte; er erklärte: wenn Oeſterreich nicht rechtzeitig die Romagna räume, dann könne er die Leidenſchaften ſeiner Volksvertreter nicht mehr zurückhalten, und der Krieg werde un - vermeidlich. Nunmehr gab Metternich in der Form nach, da er doch ſeinen weſentlichen Zweck erreicht hatte. Die kaiſerlichen Truppen zogen im Juli ab, aber zugleich ſchloß Graf Lützow mit der dankbaren Curie einen geheimen Vertrag, kraft deſſen Oeſterreich ſich verpflichtete, die Sou - veränität des Papſtes unter allen Umſtänden aufrechtzuerhalten, alſo beim nächſten Aufſtande den Kirchenſtaat ſogleich wieder zu beſetzen. Für dieſen Fall erbat ſich Metternich jetzt ſchon vorſorglich Preußens und Rußlands Unterſtützung. *)Metternich an Trauttmansdorff, 5. Sept. 1831.Siegesfroh erzählten die Miniſter des Bürgerkönigs der tiefen Unwiſſenheit ihrer Abgeordneten das Märchen, daß Frankreich den Papſt von dem kaiſerlichen Joche befreit habe. In Wahrheit ſtemmte der Kaiſerſtaat feſter denn jemals ſeinen Fuß auf Italiens Nacken. Das buh - leriſche Spiel der Orleans mit den Geheimbünden der Revolution trieb alle Fürſten der Halbinſel, auch den unberechenbaren Karl Albert dem Wiener Hofe in die Arme; in den nächſten Jahren blieb Oeſterreich unbeſtritten die Vormacht Italiens. Unter der Jugend des Landes aber wendeten ſich ſchon einzelne helle Köpfe, wie Graf Camillo Cavour, den conſtitutionellen Ideen des neuen Frankreichs zu; und ebenſo folgenreich ward es für eine ferne Zukunft, daß Ludwig Napoleon hier zuerſt in die Geſellſchaft der Dema - gogen eintrat. Der Prinz verlor während jener Wirren in der Romagna ſeinen älteren Bruder durch den Tod, und als bald darauf (Juli 1832) auch der Herzog von Reichſtadt ſtarb, da gingen die Erbanſprüche des napoleoniſchen Hauſes auf dieſen jungen Schweiger über. Der kriegeriſche Bonapartismus war mit dem ſtolzen König von Rom ins Grab geſunken; der neue Prätendent ging die ſtillen Wege des Verſchwörers.

Auch in der Schweiz fand die Juli-Revolution ein Nachſpiel. Nicht umſonſt hatten die Eidgenoſſen während der müden Jahre der Reſtaura - tion ein von außen her ungeſtörtes Stillleben geführt; ſie zeigten ſich jetzt bei Weitem weniger abhängig von den Pariſer Ideen als einſt, da70IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.ſie die helvetiſche Republik dem franzöſiſchen Einheitsſtaate nachbildeten und dann die Mediationsakte aus Bonaparte’s Hand entgegennahmen. Obwohl ermuthigt durch das Beiſpiel der Franzoſen bewahrte die Revo - lution hier ihren ſchweizeriſchen Charakter und darum nachhaltige Lebens - kraft; ſie erſtrebte das Ziel der reinen Volksherrſchaft, das ſich aus der neueren Geſchichte der Eidgenoſſenſchaft mit Nothwendigkeit ergab. Nicht ohne Roheit und Gewaltthat, aber auch ohne ſchweren Bürgerkrieg, wurden in mehreren Cantonen, zumal in den größten und reichſten, die Herr - ſchaft der Hauptſtädte ſowie die Vorrechte der Patricier gebrochen und demokratiſche Staatsformen eingeführt, deren Schwerpunkt in der erwählten Volksvertretung, dem Großen Rathe lag. Mit den demokratiſchen Ge - danken verband ſich das Verlangen nach Reform der lockeren Bundes - verfaſſung. Indeß vermochte der Einheitsdrang in dieſem claſſiſchen Lande des Föderalismus niemals ſo übermächtig zu werden, wie in Deutſchland oder Italien. Die alten kleinen Händel der Landſchaften währten fort; in Schwyz ward der Verſuch gewagt den Canton in zwei Hälften zu zer - ſchlagen, und das radicale Baſelland riß ſich als ſouveräner Halbcanton von der conſervativen Stadt Baſel los. Da die Tagſatzung ſich zu ſchwach fühlte alle dieſe Parteikämpfe zu beherrſchen, ſo nahm ſie den modiſchen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung an. Ein ſolcher Beſchluß augenblick - licher Verlegenheit konnte auf die Dauer nicht vorhalten; früher oder ſpäter mußten die Verfaſſungs-Aenderungen der Cantone auf den Bund zurückwirken. Dies erkannte auch Metternich mit dem Scharfblicke des Haſſes. Er wußte, wie eifrig der Pariſer Hof, der allein bei der Tag - ſatzung einen Botſchafter unterhielt, ſich wieder um die ſchweizeriſche Schirmherrſchaft bemühte;*)Otterſtedt’s Bericht, Bern 12. Juli 1830. auch fürchtete er, die Einheitsbewegung der Eidgenoſſen könne den Deutſchen ein übles Beiſpiel geben. In ſeiner Angſt ſah er die Schweiz ſchon wieder dem Einheitsſtaate der helvetiſchen Republik zutreiben und gab den Oſtmächten zu erwägen, ob man eine ſolche Aenderung dulden könne, da doch jeder Canton ein wohlerworbens Recht auf Erhaltung der alten Verfaſſung beſitze und die Schweiz nur als Staatenbund von den großen Mächten anerkannt worden ſei. **)Metternicht, Memorandum sur les affaires de la Suisse 23. Nov 1831.

In der Menge dieſer Gegenſätze, welche den Welttheil erfüllten, lag doch einige Gewähr für den allgemeinen Frieden. Nur die Selbſtüber - hebung des Czaren Nikolaus mochte ſich’s zutrauen alle dieſe Knoten zugleich mit dem Schwerte zu durchhauen. Vorderhand waren die Oſt - mächte durch Polen und Italien beengt, die Weſtmächte durch innere Ver - legenheiten. So konnte denn die Vermittlungsarbeit der Londoner Con - ferenz ſtätig voranſchreiten, freilich nur unter wiederholten gefährlichen Rückſchlägen, die zumeiſt durch Frankreichs Doppelſpiel verſchuldet wurden.

71Neutralität Belgiens.

Am 20. Januar 1831 einigte ſich die Conferenz über die Grundlagen der Trennung der Niederlande: auf Bülow’s Antrag wurde die Neutralität des künftigen belgiſchen Staates angenommen, der alle Landſchaften ſüdlich der alten holländiſchen Grenze, mit Ausnahme des deutſchen Bundeslandes Luxemburg, umfaſſen ſollte. Aber während dieſer Verhandlungen rückte plötzlich Talleyrand mit ſeinen Herzenswünſchen heraus: er verlangte für Frankreich die im Jahre 1815 an die Niederlande abgetretenen Grenz - ſtriche um Philippeville und Marienburg. Jener wunderlichen Traum - welt, welche die Franzoſen ſeit ihrer großen Woche umfing, konnte ſich ſelbſt der Neſtor der Diplomatie nicht entziehen. Man war an der Seine ſo ſehr daran gewöhnt, jede Pariſer Thorheit von der geſammten libe - ralen Welt Europas nachgeſprochen zu ſehen, daß man im Ernſt glaubte, auch das Verlangen nach der Rheingrenze werde von allen freien Köpfen des Welttheils gebilligt. Die beſonneneren Franzoſen meinten ſchon einen Beweis hoher Mäßigung zu geben, wenn ſie dieſe große Grenze für jetzt noch nicht verlangten, ſondern ſich zunächſt mit der in Paris ſoge - nannten kleinen Grenze begnügten mit der Rückforderung jener ſchmalen Grenzſtreifen, welche der milde zweite Pariſer Friede von Frank - reich abgetrennt hatte. Lord Palmerſton aber erkannte ſofort, daß keine der Oſtmächte auf eine ſolche Zumuthung eingehen konnte; von allen übrigen Bevollmächtigten unterſtützt erklärte er ſich ſcharf dawider. Nun - mehr verſuchte Ludwig Philipp durch geheime Sendungen den engliſchen Hof für dieſe kleine Grenze zu gewinnen. Zugleich forderte er die Neu - tralität für Luxemburg, worauf Preußen nachdrücklich erwiderte: der Deutſche Bund, dem Luxemburg angehöre, ſei zwar nur zur Vertheidigung beſtimmt, aber keineswegs neutral. *)Bericht des Auswärtigen Amtes an K. Friedrich Wilhelm 15. Febr. Weiſung an Bülow 15. Febr. 1831.

Der König der Niederlande erklärte ſich mit den Vorſchlägen der Con - ferenz einverſtanden. Der Brüſſeler Congreß hingegen erließ, verwöhnt durch die ſeltene Gunſt des Glücks, eine leidenſchaftliche Verwahrung und berief ſich zum Schluß auf den großen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung. Schon dieſe Wendung ließ erkennen, daß die Belgier auf franzöſiſchen Beiſtand rechneten, und in der That erhob Frankreich plötzlich Bedenken gegen die Genehmigung der Conferenzbeſchlüſſe. Währenddem wurden große Truppenmaſſen in Lothringen, dicht an der Grenze, angehäuft, und am 28. Januar meldete der Commandirende des rheiniſchen Armeecorps, General Borſtell, er müſſe jederzeit einen plötzlichen Einfall in die Moſel - und Saarlande erwarten. Nach einer Berathung Bernſtorff’s mit den höchſten Führern des Heeres befahl der König nunmehr, das rheiniſche, das ſächſiſche und einen Theil des weſtphäliſchen Armeecorps auf Kriegs - fuß zu ſetzen, ſo daß jetzt volle zwei Drittel des preußiſchen Heeres zur72IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Bewachung der Grenzen im Oſten und im Weſten aufgeboten waren. Mit großer Offenheit ließ das Auswärtige Amt dieſe Vorſichtsmaßregeln dem Pariſer Hofe mittheilen; ſelbſt der Schein einer Herausforderung ſollte vermieden werden. *)Protokoll der Conferenz von Bernſtorff, Gneiſenau u. A. 7. Febr. Cabinets - ordre an Prinz Wilhelm d. Aelt. 16. Febr. 1831.

Die Kriegsgefahr rückte noch näher, als der Brüſſeler Congreß zur Königswahl für den neuen Staat ſchritt. Nachdem er ſchon im No - vember die Entthronung der Oranier ausgeſprochen hatte, war er jetzt keineswegs geſonnen ſeinen Beſchluß zurückzunehmen. Geſichert durch das Spiel und Gegenſpiel der großen Mächte hielten die Belgier ſich für unangreifbar. Auf dem Namen König Wilhelm’s laſtete ſeit der Be - ſchießung von Antwerpen ein furchtbarer Haß, und der ehrgeizige Prinz von Oranien hatte in jüngſter Zeit eine ſo zweideutige Rolle zwiſchen den Parteien geſpielt, daß ſein eigener Vater ihm die belgiſche Krone kaum noch wünſchte. Die Oſtmächte begannen daher bereits an den Ausſichten des Hauſes Oranien zu verzweifeln. Bernſtorff bekannte dies ſchon um Mitte Decembers; kaum vier Wochen ſpäter ließ Metternich in Petersburg die gleiche Meinung ausſprechen und fügte betrübt hinzu: was nicht Frank - reich und England mit Wärme unterſtützen kann nicht durchgeſetzt werden. Selbſt Czar Nikolaus konnte ſich der hoffnungsloſen Stimmung ſeiner Bundesgenoſſen nicht ganz erwehren; er befahl ſeinen Bevollmächtigten in London, die belgiſche Krone für den Prinzen von Oranien zu fordern; würden ſie jedoch überſtimmt, dann behalte ſich der Kaiſer vor zu ent - ſcheiden, ob ihm ein anderer Thronbewerber ungefährlich erſcheine. **)Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 17. December 1830. Metternich an Ficquel - mont, 10. Januar. Weiſung an Lieven, 19. Januar (a. St.) 1831.

Deſto kecker ſchritt der belgiſche Congreß vorwärts. Obgleich ſeine Mehrheit die Einverleibung in Frankreich nicht wünſchte, ſo meinte ſie doch, daß ihr Land nur von den Franzoſen Hilfe zu erwarten habe. Um ſich dieſen Beiſtand zu ſichern und das Intereſſe des furchtſamen Bürgerkönigs für immer an Belgien anzuketten wollte man ſeinem zweiten Sohne, dem Herzog von Nemours, den neuen Thron anbieten. Welch eine Dreiſtig - keit revolutionärer Selbſtüberhebung! Wie konnte man glauben, daß die großen Mächte dieſem Orleans, der kürzlich erſt demüthig um ſeine eigene Anerkennung gebettelt hatte, jemals geſtatten würden ſich noch eine zweite Krone für ſein Haus zu erſchleichen? Und welch ein Hohn auf die ſo - eben beſchloſſene, von den Belgiern ſelbſt freudig begrüßte Neutralität des neuen Staates, wenn man hier eine franzöſiſche Nebenkrone gründete! Ludwig Philipp erkannte auch ſofort, daß ſeine übermüthigen belgiſchen Freunde gradeswegs auf einen allgemeinen Krieg losſteuerten, und ließ in Brüſſel wie in London erklären, an die Annahme dieſer Krone ſei nicht zu denken. Doch mittlerweile tauchte ein neuer Throncandidat auf, der73Die Königswahl in Brüſſel.junge Herzog von Leuchtenberg, und augenblicklich änderte ſich die Haltung des franzöſiſchen Hofes. Sobald es galt den furchtbaren Namen der Napoleons aus dem Wege zu ſchaffen, war den Orleans kein Mittel zu verächtlich. Breſſon und Lawoeſtine, Ludwig Philipp’s Bevollmächtigte in Brüſſel, gaben nunmehr unter der Hand die heilige Verſicherung, der König werde ſeinem Sohne die Thronbeſteigung geſtatten; ſo gewannen ſie van de Weyer, Nothomb und mehrere andere der fähigſten Mitglieder des Hauſes. Am 3. Februar wählte der Congreß mit einer Mehrheit von zwei Stimmen den Herzog von Nemours zum König der Belgier.

Das Gaukelſpiel der Orleans hatte ſeinen Zweck erreicht, der Napoleonide war beſeitigt; und da überdies die Londoner Conferenz mittlerweile den verſtändigen Beſchluß gefaßt hatte, daß kein Mitglied eines der fünf großen Herrſcherhäuſer die Krone des neutralen Staates tragen dürfe, ſo empfingen die Abgeſandten des belgiſchen Congreſſes im Palais Royal eine runde Abſage. Der Bürgerkönig hielt ihnen eine von tugendhaften Gemeinplätzen ſtrotzende Rede und betheuerte den Tief - gerührten, dem Beiſpiele Ludwig’s XIV. und Napoleon’s wolle er nicht folgen.

Begreiflich genug, daß nach ſolchen Proben franzöſiſcher Recht - ſchaffenheit die Kriegspartei in Berlin immer wieder ihre Stimme erhob. Mit allen hochkirchlichen Schlagworten der Haller’ſchen Staatslehre beſchwor Herzog Karl von Mecklenburg ſeinen königlichen Schwager, die Monarchie von Gottes Gnaden zu vertheidigen wider den treuloſen Aufruhr: Wie ein Vater ſeine Kinder regieret und leitet, die ihm die Gnade Gottes ge - geben hat, ſo ſoll ein König der Vater ſeiner Völker ſein, ein Gott auf Erden, verantwortlich dem Allerhöchſten, der ihm die Macht verlieh und die Völker anvertraute. Solche Stilübungen konnten Bernſtorff’s Nüch - ternheit nicht beirren; ſie ärgerten ſelbſt den Fürſten Wittgenſtein, der überhaupt in dieſer Kriſis den Parteimann ganz verleugnete und die Friedenspolitik des Königs treulich unterſtützte. *)Herzog Karl von Mecklenburg, Denkſchrift über die Kriegsfrage, März 1831. Wittgenſtein an Bernſtorff, 27. März 1831.Noch weniger fiel die Stimme des alten Hans von Gagern ins Gewicht, als er in den Vater - ländiſchen Briefen der Allgemeinen Zeitung das unantaſtbare Recht des Hauſes Oranien vertheidigte; der wunderliche Reichspatriot hatte einſt bei der Gründung des niederländiſchen Geſammtſtaates nur zu eifrig mit - geholfen und betrachtete jetzt den Zerfall ſeines kunſtvollen Gebildes wie eine perſönliche Demüthigung. Bedenklicher war, daß die Bewohner des linken Rheinufers für ihre Sicherheit beſorgt wurden. Eine geſchloſſene franzöſiſche Partei beſtand im preußiſchen Rheinlande längſt nicht mehr, Dank den unverkennbaren Wohlthaten der neuen Verwaltung. Jedoch das Zutrauen zu der Dauer der deutſchen Herrſchaft hatte ſich noch nicht74IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.befeſtigt und es ward abermals ſchwer erſchüttert, als die Franzoſen alle - ſammt die verhüllte oder unverhüllte Einverleibung Belgiens verlangten; überall hörte man die Frage, ob der König nicht durch übermäßige Geduld den galliſchen Hochmuth gradezu herausfordere. Unter den Eindrücken dieſer rheiniſchen Befürchtungen verfaßte Arndt zu Anfang des Jahres ſeine Flugſchrift: Die Frage über die Niederlande und die Rheinlande ein Büchlein, das allein ſchon hätte genügen ſollen den treuen Mann von dem Verdachte des Demagogenthums zu reinigen. Wir hatten das Füchslein vor ſechzehn Jahren in den Eiſen, und es war mit Schwanz und Klauen feſt ſo begann er ſeine grelle Schilderung der insge - heim bohrenden und wühlenden franzöſiſchen Politik; freimüthig hielt er den deutſchen Liberalen ihre wälſche Verbildung vor. Königlicher als ſein König wollte er in der belgiſchen Erhebung nichts weiter ſehen als ein von Frankreich angezetteltes hölliſches Gaukelſpiel und verlangte durch - aus, daß die Narren und Narrengenoſſen in Brüſſel zu dem Hauſe Oranien zurückkehren müßten, ſonſt verfalle Belgien rettungslos der Herrſchaft Frankreichs.

Da erfolgte in Paris eine friedliche Wendung, welche deutlich zeigte, daß die Dinge ſo verzweifelt doch nicht ſtanden. Das Juli-Königthum begann ſich im Innern zu befeſtigen. Bereits war Lafayette von ſeiner ge - fährlichen Stellung an der Spitze der Nationalgarde verdrängt. Im März wurde das Miniſterium der Bewegungspartei geſtürzt, und der Führer des Juste milieu, Caſimir Perier, trat ans Ruder, ein reicher Kaufherr, der aus Erfahrung wußte, daß große Geſchäfte durch kleine Schliche nicht gefördert werden, ein Mann der ſtrengen geſetzlichen Ordnung, ſtolz und unbiegſam, herriſch genug um zugleich die Ränke des Monarchen und die Leidenſchaften der Radicalen niederzuzwingen, friedliebend von Grund aus, aber auch feſt entſchloſſen der Würde ſeines Landes nichts zu vergeben Alles in Allem der größte politiſche Charakter unter den Staatsmännern des Juli-Königthums. Die wüſten Träume der revolu - tionären Propaganda wies er weit von ſich: die Freiheit ſoll ſtets national ſein, Frankreichs Blut gehört nur Frankreich an. Den großen Mächten gegenüber ſprach er ſich beſtimmt und offen aus ſo weit ein Miniſter dieſes zwitterhaften Königthums aufrichtig ſein konnte. Bald gewann er Werther’s Freundſchaft, und der Berliner Hof bekannte, daß Frankreich durch ſeine Haltung und ſeine Grundſätze jetzt Vertrauen zu verdienen beginne. Selbſt in Wien und Petersburg wurde die Friedenspolitik des ehrlichen Bourgeois anerkannt, obgleich bei Metternich immer wieder der ſtille Groll gegen das Syſtem des Juste milieu durchbrach gegen dieſe rechte Mitte, die ſtets dem Guten feindlich iſt und, wenn ſie das Böſe nicht offen begünſtigt, ihm doch zu ſchmeicheln ſucht. *)Ancillon, Weiſungen an Schöler 5. Mai, an Maltzahn 30. Mai; Metternich an Trauttmansdorff 9. Auguſt 1831.Eine von75C. Perier.Wien aus eingeleitete langwierige Verhandlung wegen gleichzeitiger Ab - rüſtung aller Mächte führte zwar nicht zum Ziele, da ſolche Vorſchläge an dem natürlichen Selbſtgefühle ſouveräner Staaten nothwendig ſcheitern müſſen; immerhin bewies ſie, daß die Spannung etwas nachließ. *)Alopeus an Ancillon, 2. Mai; Antwort 26. Mai 1831 u. ſ. w.Völlig ehrenhaft und zuverläſſig verfuhr das franzöſiſche Cabinet auch unter Caſimir Perier’s Leitung nicht, da Talleyrand in London, hinter dem Rücken des Miniſters doch ſchwerlich ohne Vorwiſſen Ludwig Philipp’s, auf eigene Fauſt Politik trieb und in geheimnißvollen Andeutungen die Theilung Belgiens empfahl.

Nachdem die Trennung des niederländiſchen Geſammtſtaates entſchie - den war, lag es in Preußens Intereſſe, die neue Ordnung der Dinge rück - haltlos anzuerkennen, den Belgiern raſch zu einem Oberhaupte zu ver - helfen und alſo dem preußiſchen Staate den entſcheidenden Einfluß in Brüſſel zu ſichern. Jedoch zu einer ſo kühnen Schwenkung, wie ſie Lord Palmerſton leichten Herzens vollzogen hatte, konnte ſich König Friedrich Wilhelm in ſeiner gewiſſenhaften Bedachtſamkeit nicht entſchließen. Er wollte weder das legitime Recht der oraniſchen Verwandten kurzerhand bekämpfen, noch mit dem Brüſſeler Congreſſe, der ſeine franzöſiſchen Nei - gungen ſo unverhohlen bekundet hatte, in Verkehr treten, und am aller - wenigſten den Bund der Oſtmächte auflockern, deſſen Preußen jetzt mehr denn je bedurfte. Czar Nikolaus hoffte, trotz Allem was mit ſeiner eigenen Zuſtimmung geſchehen war, noch immer auf die Wiederherſtellung der oraniſchen Herrſchaft, und Metternich wagte nicht dem Gefürchteten offen zu widerſprechen. So geriethen die Oſtmächte alleſammt in eine ſchiefe Stellung; ſie überließen den Weſtmächten die Vorhand in dem nieder - ländiſchen Spiele und begnügten ſich, widerwillig, ſchmollend hinzunehmen was nicht mehr zu ändern war. Während Palmerſton mit van de Weyer ſich immer enger befreundete, der Bürgerkönig durch ſeine Agenten den Brüſſeler Congreß bearbeiten ließ, wurde in Berlin der Bevollmächtigte der belgiſchen Regierung, Baron Behr, durch den Bureaudirector des Auswärtigen Amts kurzweg abgewieſen, weil zwiſchen Preußen und Bel - gien keine Beziehungen beſtänden, außer denen, welche die Londoner Conferenz erſt herzuſtellen ſuche. **)Bureau-Director Zahn an Baron Behr, 23. April 1831.

Nach der vergeblichen Königswahl vom Februar verſuchte Ludwig Philipp unter der Hand, ſeinem Neffen, dem blutjungen Prinzen Karl von Neapel, die belgiſche Krone zu verſchaffen, ſtand aber ſogleich davon ab als er den Unwillen der Oſtmächte bemerkte. ***)Alopeus an Ancillon, 8. März 1831.Inzwiſchen übernahm der Baron Surlet de Chokier die Regentſchaft, ein alter Clericaler, der ſeit Jahren mit den Oraniern verfeindet, ſich doch zu der belgiſchen Er - hebung kein Herz faſſen wollte; er hatte in ſeiner Jugend die brabantiſche76IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Revolution erlebt und befürchtete, auch dieſer neue Aufſtand werde wieder mit der Einverleibung in Frankreich endigen. Seine Räthe Lebeau, Devaux und der junge Nothomb dachten muthiger; ſie verfielen auf den glücklichen Gedanken, dem Wittwer der Prinzeſſin von Wales, dem Prinzen Leopold von Coburg die Krone anzubieten. Es konnte nicht fehlen, daß der engliſche Hof dieſer Candidatur zuſtimmte. Den Oſtmächten erſchien der deutſche Prinz nicht unannehmbar; auch Ludwig Philipp ſtimmte bald zu und benutzte die Gelegenheit zu einem vortheilhaften Geſchäfte, indem er dem Coburger die Hand ſeiner Tochter Luiſe verſprach. Der kluge, ehrgeizige Prinz war bereit dem Rufe zu folgen und bewährte ſogleich ſeine diplomatiſche Meiſterſchaft. Er ſah ein, daß Belgien ohne Verſtän - digung mit der Londoner Conferenz ſeine Unabhängigkeit nicht behaupten konnte. Es gelang ihm, erſt Palmerſton, dann auch die anderen Bevoll - mächtigten zu überreden, und am 27. Juni entſchloß ſich die Conferenz, ihre früheren Beſchlüſſe über die Theilung des Gebiets und der Staats - ſchuld zu Gunſten Belgiens etwas abzuändern. Die neuen Vorſchläge für die Friedenspräliminarien wurden in Achtzehn Artikeln zuſammen - gefaßt und von dem belgiſchen Congreſſe angenommen. Nunmehr durfte Leopold mit einiger Sicherheit auf die Anerkennung der großen Mächte hoffen; am 21. Juli zog er als König in Brüſſel ein.

König Wilhelm empfand das Alles wie eine perſönliche Beſchimpfung. Die Achtzehn Artikel waren ohne Vorwiſſen der holländiſchen Bevollmächtig - ten zwiſchen Palmerſton, Leopold und den Belgiern verabredet und von den Geſandten der Oſtmächte nur darum gutgeheißen worden, weil dieſe immer noch vertrauensvoll auf Englands Freundſchaft bauten, den britiſchen Miniſter nicht ganz in Frankreichs Arme treiben wollten. Um die Zu - ſtimmung des Oraniers nachträglich zu erwirken, ſendete die Conferenz den Freiherrn von Weſſenberg nach dem Haag. Widerwillig unterzog ſich der Oeſterreicher dem peinlichen Auftrage; er wußte, daß Kaiſer Franz und Metternich dies neue Zugeſtändniß an den belgiſchen Aufruhr ſehr ungern ſahen, und ſchrieb entſchuldigend: Wir haben gegen uns die Zeit, die Ereigniſſe, Frankreich und ſelbſt England. Die Sendung blieb erfolglos, wie Metternich vorausgeſehen. *)Weſſenberg an Metternich, 27. Juni. Metternich an Eſterhazy, 6. Juli, an Trauttmansdorff 8. Juli Maltzahn’s Berichte, 16. 20. Auguſt 1831.König Wilhelm verwarf nicht nur die Achtzehn Artikel, er entſchloß ſich auch zu einem neuen Waffen - gange um ſchlimmſten Falles die Ehre ſeiner Fahnen wiederherzuſtellen. Am 1. Auguſt ließ er den Waffenſtillſtand kündigen. In einem Feldzuge von zehn Tagen warf ſein tapferes Heer, unter der Führung des Prinzen von Oranien und des Herzogs Bernhard von Weimar, die erbärmlichen belgiſchen Milizen gänzlich über den Haufen; nach dem Gefechte von Haſſelt war der neue König ſelbſt in Gefahr gefangen zu werden. Da77Feldzug der Holländer in Belgien.kam Hilfe aus Frankreich. Leopold hatte ſich alsbald nach London und Paris gewendet und von Ludwig Philipp die Antwort erhalten: die Fran - zoſen würden ſogleich zur Stelle ſein um Belgiens Neutralität und den durch den König der Niederlande ſo thöricht geſtörten Frieden zu ſichern; meine beiden älteſten Söhne, auch jener, für den ich die Krone, welche Sie tragen, nicht angenommen habe, werden das Heer begleiten. *)König Ludwig Philipp an König Leopold, 4. Auguſt 1831.

So gab der Staat, der den Grundſatz der Nicht-Intervention aufge - ſtellt, ſelber das Beiſpiel einſeitiger Einmiſchung. Die Phraſe ward zu Schanden vor der Macht der Thatſachen; denn duldete Ludwig Philipp die militäriſche Ueberwältigung Belgiens, die doch nicht mehr zu einer dauernden Unterwerfung führen konnte, ſo war der Thron der Orleans unzweifelhaft verloren, der Radicalismus kam in Paris obenauf und entfeſſelte den allgemeinen Krieg. Während die engliſche Flotte ſich bei Dover verſammelte, rückte Marſchall Gerard mit 40000 Mann in Belgien ein. Am 12. Auguſt erſchien der Herzog von Orleans in Brüſſel. Auf die erſte Aufforderung der Franzoſen hielten die Holländer in ihrem Siegeszuge inne und räumten das belgiſche Gebiet. Zugleich ließ Perier nach allen Seiten hin beſchwichtigende Erklärungen ergehen: Frankreich handle ohne Hintergedanken, nur im Namen der fünf Mächte, da die Zeit nicht erlaubt habe die Londoner Conferenz ſelber zu befragen; das möge peinlich ſein für die großmüthige Seele des Königs von Preußen , aber in Paris wie in Berlin wolle man daſſelbe: die Neutralität Belgiens und den allgemeinen Frieden; auch werde das franzöſiſche Heer weder holländiſches Gebiet betreten noch ſich der preußiſchen Grenze nähern. **)Sebaſtiani an Graf Flahault, 5. Auguſt. Bülow an Nagler, 6. Auguſt 1831.Die Verſicherungen des Miniſters waren ehrlich gemeint; doch anders dachten die franzöſiſchen Truppen. Hier träumte man nur von einem großen Kriege; General Lawoeſtine trat gegen die Holländer, als er die Einſtellung der Feindſeligkeiten verlangte, anmaßend und höhniſch auf;***)Bericht des Oberſtleutnants v. Scharnhorſt an den König, Tirlemont 14. Au - guſt 1831. ſeine Offiziere meinten in den Reihen der Holländer ſchon preußiſche Bataillone zu bemerken und forderten laut Vergeltung für Waterloo.

Das preußiſche Cabinet ward durch den Friedensbruch der Holländer peinlich überraſcht. König Wilhelm ſetzte ſich dadurch offenbar ins Un - recht, da er ja ſelber die Vermittlung der Londoner Conferenz angerufen und den Waffenſtillſtand angenommen hatte. Darum konnte Preußen ein Unternehmen, das die ganze mühſame Friedensarbeit der Conferenz wieder in Frage ſtellte, nicht unterſtützen; ſein Militärbevollmächtigter, Oberſtleutnant v. Scharnhorſt, der im Hauptquartiere des Prinzen von Oranien dem kurzen Feldzuge zuſah, hatte einen ſchweren Stand, er durfte den klagenden Holländern durchaus keine Hilfe in Ausſicht ſtellen. 78IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Aber noch weit weniger wollte Preußen durch bewaffnetes Einſchreiten dem Friedensbrecher Halt gebieten; dieſe Frage ward in Berlin nicht einmal aufgeworfen, denn der geſammte Hof ſtand mit ſeinen Herzens - wünſchen auf der Seite des Oraniers. So ließ man denn unwillig die franzöſiſche Einmiſchung geſchehen, zumal da ſie überraſchend ſchnell er - folgte und rechtzeitig nicht mehr zu verhindern war. Ancillon klagte ent - rüſtet: Frankreich hat ohne Scham und ohne Rückhalt eine empörende Parteilichkeit für Belgien gezeigt. Sobald die Waffenruhe wieder her - geſtellt war, forderte König Friedrich Wilhelm auf der Londoner Con - ferenz ſehr nachdrücklich den ungeſäumten Abmarſch der Franzoſen; er drohte nöthigenfalls ſeine rheiniſchen Regimenter einrücken zu laſſen. Da alle Mächte das Verlangen Preußens unterſtützten, ſo ſah ſich Frank - reich gezwungen diesmal Wort zu halten. *)Ancillon an Maltzahn 11. Auguſt, an Schöler 17. September 1831.Wenige Tage nach dem Einmarſch begann ſchon der Rückzug der franzöſiſchen Truppen, zu Ende Septembers war Belgien wieder geräumt. Die Pariſer tobten über die erlittene Schmach; alleſammt waren ſie der beſcheidenen Meinung, daß Belgien durch einen leichten Handſtreich mit Frankreich hätte vereinigt werden müſſen. Marſchall Gerard wurde daheim wie ein Landesverräther empfangen; er hatte, als ſeine Tapferen auf dem Schlachtfelde von Belle Alliance dem niederländiſchen Löwendenkmal den Schwanz abzuhacken begannen, dies löbliche Unternehmen verboten, und nun jammerte die Preſſe des Volkes, das an der Spitze der Civiliſation zu marſchiren wähnte, wie aus einem Munde: nicht einmal der Löwe von Waterloo iſt zerſtört!

In Wahrheit hatte Perier’s ruhige Entſchloſſenheit den Oſtmächten eine empfindliche Schlappe beigebracht. Frankreich allein war, ohne daß die anderen Mächte zu widerſtehen wagten, thatkräftig für den Frieden eingetreten, ſein Bürgerkönig erſchien, für den Augenblick mindeſtens, als der mächtige Schirmherr Belgiens. Und was für Ränke ſpann dieſer Orleans wieder hinter dem Rücken ſeines Miniſters. In demſelben Augenblicke, da er zu Belgiens Gunſten die heilige Nichteinmiſchungslehre mit Füßen trat, holte er ſchon aus zum Todesſtoße wider ſeinen eigenen Schützling. Beſtimmter, zudringlicher als zuvor enthüllte Talleyrand jetzt dem preußiſchen Geſandten ſeine begehrlichen Anſchläge: der klägliche Ver - lauf dieſes Feldzugs habe doch zur Genüge bewieſen, daß Belgien nicht durch eigene Kraft beſtehen könne; am einfachſten alſo, wenn das Land zwiſchen Preußen, Holland und Frankreich aufgetheilt würde; England ſei leicht zu gewinnen, wenn man in Antwerpen und Oſtende Freihäfen einrichte. Palmerſton, der Andere ſtets nach ſeinem eigenen Charakter beurtheilte, argwöhnte Anfangs, daß Bülow dieſen Lockungen ein williges Ohr leihe. Der Preuße aber lehnte Alles rundweg ab; wie hätte er79Die 24 Artikel der Londoner Conferenz.ſich unterſtehen dürfen, ſeinen König zur Beraubung des Hauſes Oranien zu verleiten!

Durch alle dieſe Zettelungen wurde die Kriegsgefahr wieder näher gerückt. Czar Nikolaus knirſchte vor Zorn, als er den Einmarſch der Franzoſen erfuhr. Er ließ den deutſchen Mächten feierlich verſichern dies ſeine ſeine eigenen Worte : augenblicklich werde ſein Reich noch durch innere Verlegenheiten, durch den polniſchen Krieg und die Cholera gehemmt; aber wenn ihm auch nur ein einziges Regiment zur Verfügung bliebe, ſo würde er es ſenden um in den Reihen des öſterreichiſchen und preußiſchen Heeres zu kämpfen, damit im Angeſichte Europas die unzer - trennliche Verbindung der drei Mächte des Feſtlandes ſich bewähre. *)Neſſelrode an Tatiſtſchew, in Berlin überreicht 30. Aug. 1831.Als Rußland bald darauf durch den Fall von Warſchau wieder freie Hand erhielt, ſchlug Metternich den Oſtmächten vor, ihr altes Bündniß enger zu ſchließen, einen ſtändigen diplomatiſchen Ausſchuß, ein centre d’entente zur Leitung der gemeinſamen Politik einzuſetzen, da auf Eng - land doch nicht mehr zu rechnen ſei. **)Ancillon an Maltzahn, 23. Sept. 18. Oct., Neſſelrode an Tatiſtſchew, 7. Oct. 1831.Der Plan gelangte jedoch nicht zur Reife. Das Friedensbedürfniß war überall zu ſtark; alle Mächte wünſchten den leidigen belgiſchen Handel endlich aus der Welt zu ſchaffen.

Die Londoner Conferenz nahm ihre Verſöhnungsverſuche wieder auf, jetzt aber mit etwas veränderter Geſinnung. Die Kriegsthaten des hollän - diſchen Heeres übten doch ihre Wirkung, Belgien war durch ſeine offen - barte Schwäche tief in der allgemeinen Achtung geſunken, die Oſtmächte beſtanden darauf, daß der unbeugſame Oranier nicht allzu hart behandelt würde. ***)Neſſelrode an Lieven, 17. Nov. 1831.Am 14. October ſtellte die Conferenz in Vierundzwanzig Artikeln neue Friedenspräliminarien feſt, welche für Holland günſtiger lauteten als die Achtzehn Artikel: der Streit über die Grenzen ſollte da - durch geſchlichtet werden, daß Belgien einen Theil der Provinz Limburg abtrat und dafür die weſtliche Hälfte von Luxemburg eintauſchte immer mit Vorbehalt der Rechte des Deutſchen Bundes. Die Belgier murrten; ihr König aber ſah weiter, er verkannte nicht, daß ſein ungerüſteter Staat keinen Widerſtand wagen durfte, und nahm die Vierundzwanzig Artikel an. König Wilhelm hingegen hatte aus den Erfolgen ſeines Heeres neuen Muth geſchöpft und ließ in Berlin durch Prinz Albrecht von Preußen ſchroff erklären, den ſchmachvollen Untergang Hollands könne er nimmer - mehr genehmigen. Dabei blieb er, auch als die preußiſche Regierung ihm in einer ausführlichen Denkſchrift vorhielt, daß Holland nach den Vier - undzwanzig Artikeln noch immer ein größeres Gebiet behalte als zu den Zeiten der Republik. †)Witzleben an Ancillon, 22. Oct. Eichhorn’s Denkſchrift über die niederländiſche Frage, 25. Oct. 1831.Der kluge Coburger hatte alſo nochmals die großen80IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.Mächte auf ſeiner Seite. Am 15. November ward ihm der Triumph, daß die Bevollmächtigten der Londoner Conferenz mit ſeinem Geſandten van de Weyer einen Vertrag ſchloſſen und das Königreich Belgien, auf Grund der Vierundzwanzig Artikel, förmlich anerkannten. Im nächſten Monat verſtändigte er ſich ſodann mit den Mächten des alten Vierbundes über die längſt beabſichtigte Schleifung von fünf feſten Plätzen an der Südgrenze. Frankreich wurde von dieſer Verhandlung ausgeſchloſſen und ſeine lärmenden Klagen über den infamen Feſtungsvertrag blieben ohne Folgen.

Alſo trat, von den großen Mächten mittelbar anerkannt, die belgiſche Verfaſſung in Wirkſamkeit. Sie beruhte, wie es nicht anders ſein konnte, auf dem Grundſatze der Volksſouveränität, da der neue Staat ſein Daſein einer Revolution verdankte und zudem die alten Freiheiten der Joyeuses entrées, welche den Brabantern ſogar das Recht des Widerſtandes ge - währt hatten, noch in friſcher Erinnerung ſtanden. Alle Gewalten gehen von der Nation aus, ſo beſtimmte ihr wichtigſter Artikel. Jedes hiſto - riſchen Rechtes baar regierte der König nur kraft Vertrages, durch den Willen des Volks, er mußte ſich alljährlich ſämmtliche Steuern ſowie den ganzen Beſtand des Heeres von den Kammern neu bewilligen laſſen und er konnte ſolche Abhängigkeit ertragen, weil in dieſem neutralen Mittel - ſtaate weder eine große auswärtige Politik noch ein ernſthaftes Heerweſen möglich war. Jene republikaniſche Doctrin Rotteck’s und ſeiner Schüler, welche den conſtitutionellen König aller ſelbſtändigen Gewalt entkleidete, war hier mithin noch folgerichtiger durchgeführt als in Frankreichs neuer Charte. Obgleich das conſtitutionelle Leben in dem fruchtbaren Erdreich altniederländiſcher Gemeindefreiheit tiefere Wurzeln ſchlagen konnte als auf dem ſteinigen Boden des napoleoniſchen Verwaltungsdespotismus, ſo ſchuf die Revolution doch in Belgien wie in Frankreich nur die Claſſen - herrſchaft des reichen Bürgerthums. Ein hoher Cenſus ſchloß die Maſſen vom Wahlrechte aus, ſo daß in den Dörfern erſt auf 104 Einwohner ein Wähler kam; die erſte Kammer, der Senat, vertrat ausſchließlich das Groß-Capital, im ganzen Lande waren nur 403 Männer für dieſe oligar - chiſche Körperſchaft wählbar.

Mit der Bourgeoiſie aber theilte ſich der römiſche Clerus in die Beherrſchung des Staates und hierin lag die europäiſche Bedeutung des neuen Gemeinweſens. Wenn Richelieu einſt gehofft hatte, aus den ſpaniſchen Niederlanden eine katholiſche Republik zu bilden, die dem ſtreit - baren Calvinismus der Holländer die Wage halten ſollte, ſo ging der Traum des Cardinals jetzt herrlich in Erfüllung. Seit dem Herbſt 1830 ließ Lamennais zu Paris im Verein mit Pater Lacordaire und dem Grafen Montalembert die Zeitſchrift l’Avenir erſcheinen, ein Blatt, das mit feuriger Beredſamkeit zugleich die römiſche Weltherrſchaft und eine faſt ſchrankenloſe politiſche Freiheit vertheidigte. Die Leitartikel des Avenir81Die belgiſche Verfaſſung.fanden nirgends eifrigere Leſer als in den Reihen des Brüſſeler Con - greſſes; genau nach den Weiſungen dieſes neufranzöſiſchen kirchlichen Radi - calismus wurde der Kirche in Belgien eine Macht eingeräumt, wie ſie ihr noch nie ein europäiſcher Staat zugeſtanden hatte. Nothomb und ſeine liberalen Freunde wähnten damit nur dem gerühmten Vorbilde des amerikaniſchen voluntary system zu folgen. In Wahrheit begnügte ſich die Kirche in Belgien keineswegs wie in Nordamerika mit der beſcheidenen Stellung eines Privatvereines; ſie blieb vielmehr im Beſitze faſt aller der Ehren und Vorrechte, welche ſie den ſpaniſchen Königen verdankte, und ließ ſich vom Staate die Gehalte ihrer Prieſter bezahlen. Der Staat aber verzichtete auf jedes Recht der Kirchenhoheit, ſelbſt auf die Mitwirkung bei Biſchofswahlen. Als zwei gleichberechtigte Souveräne, in ungelöſtem Dualismus, ſtanden weltliche und geiſtliche Gewalt nebeneinander; und da ein völlig religionsloſer Staat in Europa ſich nicht zu halten vermag, ſo begann der Clerus alsbald in das politiſche Gebiet überzugreifen. Ge - deckt durch das modiſche Schlagwort der Unterrichtsfreiheit bemächtigte er ſich faſt des geſammten Volksſchulweſens, und mit ſolchem Erfolge, daß in dieſem Lande uralter Cultur die Kunſtfertigkeit des Leſens und Schrei - bens von Jahr zu Jahr ſeltener wurde. Die ſchwache Staatsgewalt ſtörte ihn wenig; ein evangeliſcher König mußte, wie der kluge Nuntius Capaccini ſogleich vorausſagte, inmitten eines rein katholiſchen Volkes jeden Streit mit der Curie ängſtlich vermeiden. Der belgiſche Staat glich einem jener ſpaniſchen Dome, wo die Cleriſei, durch die hohe Wand des Retablo von den Laien abgetrennt, das Mittelſchiff ſammt dem hohen Chore allein beſetzt hält, die Gemeinde nur aus den Seitenſchiffen einen Blick nach dem fernen Altar werfen darf.

Sobald die Folgen der neuen Kirchenfreiheit offenbar wurden, begann die Union, welche den belgiſchen Staat geſchaffen hatte, ſich aufzulöſen. Clericale und Liberale traten in zwei feindliche Lager auseinander, beide Parteien faſt gleich ſtark, die eine mächtig durch das gläubige Landvolk und eine Unzahl kirchlicher Vereine, die andere vorherrſchend in den Städten und unterſtützt durch die Freimaurerei, die hier noch weit mehr als in anderen katholiſchen Ländern eine politiſche Färbung annahm. Das ewige Auf und Ab dieſer beiden Parteien, der Streit zwiſchen der Loge und dem Beichtſtuhl füllte fortan die Geſchichte Belgiens aus. Un - kirchlich, einſeitig politiſch wie die Bildung der Zeit war, erregte dieſer krankhafte, unverſöhnliche Parteikampf bei den Nachbarvölkern kein Be - fremden. Man hielt den Gegenſatz für harmlos, weil die Belgier alle - ſammt treu zu der Verfaſſung ſtanden, und bemerkte nicht, daß die beiden Parteien in ihrer ſittlichen Weltanſchauung ſo weit von einander abwichen wie das neunzehnte vom dreizehnten Jahrhundert. Dies Land der Prieſtermacht wurde bald überall als der Muſterſtaat conſtitutioneller Freiheit geprieſen, da ſein Grundgeſetz alle Kernſätze des VernunftrechtsTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 682IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.enthielt und die Parteien in erfriſchendem Wechſel ſo lautete der be - liebte Zeitungsausdruck ſich im Genuſſe der Herrſchaft ablöſten. Unter dem Schutze einer klugen Handelspolitik nahm der Gewerbfleiß einen mächtigen Aufſchwung. Die beiden führenden Stände, Bourgeoiſie und Clerus, hatten ihr Ziel vorläufig erreicht, die hart bedrückten Arbeiter aber in den Bergwerken und Fabriken waren noch nicht zum Bewußtſein ihrer elenden Lage gelangt. So verlebte der junge Staat lange Jahre in un - geſtörter Ruhe, und alle Welt glaubte, daß er dies Glück allein den Wunderkräften ſeiner Muſterverfaſſung verdanke. Vornehmlich auf den ehrgeizigen Clerus und das erſtarkende Bürgerthum der preußiſchen Rheinlande übten die Zuſtände des Nachbarlandes einen verführeriſchen Zauber, und ſo ſtark war der weltbürgerliche Zug der Zeit, ſo ſchwach ihr Verſtändniß für die hiſtoriſche Eigenart der Staaten zuweilen hörte man hier ſchon die naive Frage: ob das waffengewaltige paritätiſche Preußen nicht in den Verfaſſungsformen des neutralen katholiſchen Bel - giens ſein Heil ſuchen ſolle?

Daß in Belgiens demokratiſcher Verfaſſung die Krone noch einiges Anſehen behauptete, war allein das Verdienſt des neuen Königs. Leopold ſtand noch in der Blüthe des Mannesalters, und wie viele ſeltſame Wandlungen lagen ſchon hinter ihm! Gewandter, raſtloſer, liſtiger als in dem Leben dieſes coburgiſchen Ulyſſes hat ſich der alte abenteuernde Weltbürgerſinn des deutſchen Kleinfürſtenſtandes nie gezeigt. Viermal wechſelte er wohlgemuth ſein Vaterland; aus einem Deutſchen ward er ein Ruſſe, dann Engländer, dann Grieche, ſchließlich ein Belgier, und es lag nur an den Umſtänden, daß er nicht auch noch zum Spanier oder Braſilianer wurde. Selbſt ſeine Mutterſprache verlernte er nach und nach, ſo daß er im Alter nur noch ein mit engliſchen und fran - zöſiſchen Brocken verſetztes Deutſch ſchreiben konnte. Als ruſſiſcher General nahm er rühmlichen Antheil an den Schlachten des Befreiungskrieges und beſorgte ſodann auf dem Wiener Congreſſe umſichtig die Geſchäfte des Coburgiſchen Hauſes. Nachher errang er die Hand der Prinzeſſin von Wales und dachte dereinſt als Prinz-Gemahl die britiſche Politik zu leiten; als dieſe ſtolzen Träume durch den Tod ſeiner Gemahlin zerſtört wurden, behauptete er ſich am engliſchen Hofe in geachteter Stellung trotz der Ungunſt Georg’s IV. Da beriefen ihn die Griechen auf ihren Thron; ſofort war er bereit und begann ſchon ſich in die neue Rolle einzuleben. Nach längerem Zaudern zog er jedoch ſein Ver - ſprechen zurück, weil er vorausſah, daß Griechenland in ſeinen engen Grenzen ſich nicht kräftig entwickeln konnte, und weil er insgeheim hoffte, in England als Rathgeber ſeiner Nichte Victoria einſt noch größere Erfolge zu erringen. Auch dieſe immerhin unſicheren Hoffnungen wurden wieder aufgegeben, als der Ruf aus Belgien kam, der in der That den rechten Mann an die rechte Stelle führte. Noch bevor Leopold den Thron83König Leopold.beſtieg, rettete er durch ſeine kluge Fügſamkeit gegen die Londoner Con - ferenzen den belgiſchen Staat vom ſicheren Verderben, und mit der gleichen diplomatiſchen Meiſterſchaft verſtand er während eines Menſchen - alters zwiſchen den beiden großen Parteien hindurchzuſteuern, ſo daß er ſich nicht nur perſönlich den Dank der Belgier verdiente, ſondern ſogar ein ſchwaches Gefühl dynaſtiſcher Anhänglichkeit in dieſem Staate von geſtern wachrief. Als Freimaurer und alter Freund der Whigs den Liberalen willkommen, gewann er auch das Vertrauen der Clericalen und nahm ſelbſt den eifernden Papſt Gregor XVI. für ſich ein. Obwohl er die Verfaſſung gewiſſenhaft einhielt und ſeine Miniſterien je nach den wechſelnden Abſtimmungen der Kammern bereitwillig veränderte, blieb er ſich doch ſeiner Ueberlegenheit ſtets bewußt und ſagte zu Vertrauten: für Belgien wie es gegenwärtig iſt, bin ich der Staat.

Alle Fäden der auswärtigen wie der inneren Politik des Landes liefen zuſammen im Schloſſe von Laeken, wo dieſer Stille bedachtſam ſeine Netze wob eine hohe, ſchlanke Geſtalt mit blaſſen, vornehmen Zügen, dunklen ſchwermüthigen Augen und glatt anliegender ſchwarzer Perrücke, leiſe im Sprechen, langſam, müde in den Bewegungen, ver - ſchwiegen in Allem, im Geſchäft ſo gut wie in der Liederlichkeit. In England nannte man ihn den Monſieur Peu-à-peu, den Marquis Tout - doucement; an den deutſchen Höfen, die ihm allerdings nicht wohlwollten, hieß er Leopold Schleicher. Stundenlang konnte er, ſtumm über ſeinen Plänen brütend, vor ſeinem Schildpattkäſtchen Goldfäden drieſeln, derweil man dem gewiegten Kenner Sonaten vorſpielte oder aus gelehrten Werken, aus Memoiren, aus Romanen vorlas. Eine höhere Sittlichkeit als den klug rechnenden Weltſinn kannte er nicht; als einer ſeiner Neffen ein - geſegnet wurde, warnte er ihn vor dem Egoismus alſo: es iſt im In - tereſſe vieler Leute, dieſe höchſt unliebenswürdige Eigenſchaft bei einem jungen Fürſten auszubilden und ſpäterhin als eine ergiebige Mine zu exploitiren. Tapfer auf dem Schlachtfelde, aber im täglichen Leben ängſtlich auf ſein Leibeswohl bedacht, verſtand er auch die Kunſt des Kaufmanns aus dem Grunde. Um politiſche Freunde zu gewinnen, bezwang er zuweilen ſeine Sparſamkeit und ſpendete mit vollen Händen; durch ſeine Verbindung mit der Börſe brachte er dann die Verluſte wie - der ein und ſammelte das große Vermögen an, deſſen die demokratiſche Krone in dieſem gewerbfleißigen Volke bedurfte. Dergeſtalt kam mit den beiden Bürgerkönigen der Juli-Revolution, mit den Häuſern Orleans und Coburg ein neuer Menſchenſchlag in die Reihen des europäiſchen hohen Adels: geriebene Geſchäftsleute mit dem Kurszettel in der Taſche, ſchlicht und unſcheinbar in ihrem Auftreten, Günſtlinge der Fortuna gleich den Tyrannen des Cinquecento, durchaus unempfänglich für die Gefühle der Ritterlichkeit und der hiſtoriſchen Pietät, aber im Grunde des Herzens ganz ebenſo hochmüthig wie der ariſtokratiſche Fürſtenſtand der alten Zeit.

6*84IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.

Als Leopold gen Brüſſel aufbrach, gedachte er Wilhelm’s III. von Oranien und ſeiner kühnen Fahrt nach England. Gleich jenem gefeierten großen Patrioten der Welt hoffte er als ein europäiſcher Staatsmann zugleich den Parlamentarismus zu retten und das Gleichgewicht der Mächte zu erhalten. Freilich blieb er hinter ſeinem genialen Vorbilde eben - ſo weit zurück, wie das kleine Belgien hinter den verbündeten Seemächten der wilhelminiſchen Tage. Brüſſel ward wie einſt der Haag eine Stern - warte der Diplomatie; eine Menge amtlicher und perſönlicher Agenten unterichtete den Coburger über den Wandel der großen Geſtirne am europäiſchen Himmel. Doch eine wahrhaft ſelbſtändige Politik wie einſt der große Oranier konnte der König von Belgien nicht führen. Er ſah ſich auf den Schutz der Weſtmächte angewieſen und ward darum die Klammer, die ihren Bund zuſammenhielt; wie viele kleine Mißverſtänd - niſſe zwiſchen den beiden ihm gleich nahe verwandten Höfen hat er be - hutſam vermittelnd in der Stille beigelegt. Da er indeß von Frankreich Alles, von England nichts zu fürchten hatte, auch ſeine Neigung ihn mehr zu dem Heimathlande ſeiner erſten Gemahlin hinzog, ſo entſprach ſeine Haltung in der Regel dem engliſchen Intereſſe. Es war Leopold’s Werk, daß Belgien nicht unter den beherrſchenden Einfluß Frankreichs gerieth. Späterhin trat er auch zu Deutſchland in freundlichere Be - ziehungen, weil die in der Revolution zurückgedrängten Vlamen wieder erſtarkten und der ſchwunghafte Handelsverkehr mit dem Oſten nicht vernachläſſigt werden durfte. Mit der natürlichen Selbſtüberſchätzung ſchwacher Völker rühmten ſich die Belgier fortan, daß ihr Land den Mittelpunkt der Staatengeſellſchaft bilde. Wie vormals die Holländer, pflegten ſie die Theorie des europäiſchen Völkerrechts, gleichſam als eine nationale Wiſſenſchaft, mit löblichem Eifer, aber auch mit einer philan - thropiſchen Einſeitigkeit, welche deutlich zeigte, daß waffenloſe Nationen die harten Machtfragen des Völkerverkehrs nicht unbefangen würdigen können. Im Grunde war der belgiſche Staat, ſo lange ſein erſter König regierte, nicht wahrhaft neutral wie die Schweiz, ſondern, ſeiner Beſtim - mung zuwider, der parteiiſche Bundesgenoſſe Englands, und mit gutem Rechte ſagte Lord Palmerſton: Belgien iſt meine Tochter.

Die kleine Krone genügte dem Ehrgeiz Leopold’s mit nichten; er benutzte ſie zugleich als ein Mittel für die weltumfaſſenden Pläne ſeiner Familienpolitik. Dieſer kühle Kopf, der ſo gleichmüthig über das legitime Recht anderer Fürſten hinwegſah und weder durch religiöſe noch durch nationale Empfindungen je beunruhigt wurde, kannte nur ein einziges Vorurtheil: den Aberglauben an den hiſtoriſchen Beruf des Coburgiſchen Hauſes; und in dieſer fataliſtiſchen Zuverſicht lag eine Kraft, welche große Erfolge verbürgte. Ganz ſo blind wie einſt die habsburgiſchen Ferdinande und Leopolde baute er auf den beſonderen Schutz der Vorſehung für ſein auserwähltes Geſchlecht. Obgleich die Dynaſtie außer ihm ſelber nur85Coburgiſche Hauspolitik.noch ein politiſches Talent beſaß den jungen Prinzen Albert ſo bezweifelte er doch niemals, daß jedes Volk ſich glücklich ſchätzen müſſe von einem Coburger beherrſcht zu werden. Daß ſein Haus jemals Unrecht haben könne, kam ihm ebenſo wenig in den Sinn wie jenen alten Habs - burgern. Wer das Unglück hatte die Wege der Coburger zu durchkreuzen galt ihm einfach als ein Böſewicht ſo Hardenberg, weil dieſer Treu - loſe die Abtretung des preußiſchen Henneberg, welche ihm der Herzog von Coburg ohne jeden haltbaren Rechtsgrund zumuthete, gebührender - maßen verweigerte. *)ſ. o. II. 480.

Der erſte Grund zu der neuen Herrlichkeit des erneſtiniſchen Hauſes wurde ſchon während Leopold’s Kinderjahren gelegt, als ſeine Mutter auf einen Wink der Czarin Katharina ihre drei lieblichen Töchter zur gefälligen Auswahl nach Petersburg brachte und der rohe Großfürſt Con - ſtantin der jüngſten Schweſter ſein Schnupftuch zuwarf. Die friedloſe Ehe mußte zwar bald wieder getrennt werden, doch ſie bahnte dem Bruder Leopold den Weg in die große Welt. Und als er nun ſelber erſt die engliſche, dann die franzöſiſche Prinzeſſin freite, da hieß es an den Höfen, das ſprichwörtliche Hochzeitsglück der Habsburger ſei jetzt auf das Cobur - giſche Haus übergegangen. Unterdeſſen heirathete ſein Bruder Ferdinand die reiche Erbtochter des Hauſes Kohary; ohne Bedenken ließ dieſer Sohn des erlauchten Bekennergeſchlechtes der Proteſtanten ſeine Kinder katholiſch taufen, wie auch Leopold’s Kinder in Belgien im römiſchen Glauben erzogen werden mußten. Damit eröffnete ſich die tröſtliche Ausſicht, auch die bigotten iberiſchen Völker nach Bedarf mit Coburgern zu verſorgen. In England aber gelang dem unermüdlichen Eheſtifter ſein glücklichſter Griff. Seine Schweſter Victoria, die gute und liebenswürdige Fürſtin Wittwe von Leiningen ver - mählte ſich mit dem Herzoge von Kent und wurde die Mutter der Thron - folgerin von Großbritannien; ſo blieb noch möglich, daß die Stellung eines engliſchen Prinz-Gemahls, welche Leopold einſt für ſich ſelbſt erhofft, vielleicht doch einem Coburger zufallen konnte. Von großen Gedanken war in dieſer Familienpolitik nichts zu ſpüren; gut bürgerlich ging ſie nur darauf aus, die Angehörigen vortheilhaft unterzubringen, obgleich es natürlich nicht an feilen Federn fehlte, welche in Zeitungen und Büchern bewieſen, daß die wahre conſtitutionelle Freiheit am ſicherſten unter coburgiſchem Scepter gedeihe. Zum Heile Europas konnte die große ſächſiſche Hausmacht, welche jetzt ſo plötzlich wie einſt die habsbur - giſche in die Höhe ſchoß, ſich nicht wie jene zu einem geſchloſſenen Welt - reiche ausgeſtalten. Indeß ward die geheime Wirkſamkeit der weitver - zweigten coburgiſchen Zettelungen und Klitterungen von Jahr zu Jahr ſtärker, zumal an unſeren kleinen Höfen, und ſie brachte dem deutſchen Volke ſelten Segen. Dem unſicheren Selbſtgefühle der Nation gereichte86IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.es auch nicht zur Kräftigung, daß die conſtitutionellen Doctrinäre ſich gewöhnten, zu dem vaterlandloſen Leopold wie zu einem Fürſten-Ideal emporzuſchauen.

In allen ſeinen Wandlungen ſtand dem Führer der Coburger zuerſt als vertrauter Arzt, dann als diplomatiſcher Rathgeber ſein Landsmann C. F. v. Stockmar zur Seite, ein hochbegabter Staatsmann, klar, be - ſtimmt, weit vorausſchauend, kühner und gedankenreicher als Leopold ſelber. Während der Londoner Conferenzen führte er die entſcheidenden Verhandlungen mit den Belgiern, und immer gab er den Ausſchlag, wenn ſein bedenklicher königlicher Freund einen raſchen Entſchluß nicht finden konnte. Seine politiſchen Anſichten hatte er ſich in langjährigem Verkehre mit den Whigs und den engliſchen Radicalen gebildet; reich und unabhängig, fragte er nicht nach Gunſt und ſparte ſobald es noth that die freimüthigen Vorwürfe nicht. Sein Ehrgeiz war in der Stille zu wirken; der ſchmächtige Mann mit den ſchönen, klugen dunklen Augen begnügte ſich gern mit einer Stelle hinter den Kuliſſen und hörte mit dem überlegenen Lächeln des Eingeweihten zu, wenn Andere ſich ſeiner eigenen Gedanken rühmten. In ſcharfem Gegenſatze zu ſeinem weltbürger - lichen Herrn blieb er in der Fremde ſtets ein deutſcher Patriot, warm begeiſtert für die Idee der nationalen Einheit; die Erbärmlichkeit unſerer Kleinſtaaterei verachtete er gründlich, kein Mittel ſchien ihm zu ſcharf, um dies Elend zu beendigen. Seine Freunde daheim übertraf er alle durch eine umfaſſende diplomatiſche Sachkenntniß, die ſich die deutſchen Liberalen in ihren engen Verhältniſſen nicht erwerben konnten, und durch die Nüchternheit ſeines politiſchen Urtheils. Die Ueberſchätzung der parla - mentariſchen Mehrheitsherrſchaft war wohl der einzige doctrinäre Zug in dieſem durchaus praktiſchen Geiſte. Aber welch ein tragiſcher Widerſpruch blieb es doch, daß ein ſolcher Mann im Dienſte des Vaterlandes keinen Platz finden konnte und ſeine reichen Kräfte verſchwendete für die Geſchäfte des großen internationalen Heirathsbureaus in Brüſſel, Geſchäfte, die mit dem Wohle Deutſchlands wenig oder nichts gemein hatten!

Derweil der belgiſche Staat ſich zu befeſtigen begann, nahm die Re - volution im Oſten ein jammervolles Ende. Beim Ausbruch des polni - ſchen Krieges hatte Nikolaus beſchloſſen, nach der erhofften raſchen Unter - werfung die polniſche Verfaſſung aufzuheben, die großen Schuldigen, Czartoryski, Lelewel und andere ähnliche Schufte (faquins) furchtbar zu beſtrafen, die Warſchauer Studenten und die andere Canaille zur Zwangsarbeit zu verurtheilen. Als die Polen zu unterhandeln ver - ſuchten und ihm die Wiedereinſetzung der Romanows anboten, ſchrieb er höhniſch: ich bin ſehr gerührt und dankbar! Wie anders war nun Alles gekommen. Nach dem unbenutzten Siege von Grochow befand ſich Die - bitſch in peinlicher Bedrängniß. In ſeinem ſchlecht verpflegten Heere wüthete die Cholera, derweil die Zuverſicht der Polen durch Skrzynecki’s87Stockmar. Diebitſch’s Tod.unerwartete Erfolge und den begeiſterten Beifall Europas geſteigert wurde. Die Ungunſt des Wetters erſchwerte jede Bewegung in dem unwegſamen Lande; und kaum minder beläſtigte den Feldherrn die pedantiſche Klein - meiſterei des Selbſtherrſchers, der ihn aus ſeinem Cabinet heraus bald mit herriſchen Befehlen, bald mit freundſchaftlichen Vorwürfen über - ſchüttete, ihm die Schonung der glänzenden Garderegimenter, die richtige Verwendung ſeiner neuerfundenen Dragoner, einer wenig brauchbaren Infanterie zu Pferd , anempfahl. *)Nikolaus an Diebitſch, 4. 21. Febr., 4. 10. März a. St. 1831, abgedruckt nebſt anderen Briefen des Czaren an den Feldmarſchall in der Russka Starina, Jahrgang 1884 u. 85.Im Mai brach Skrzynecki wieder aus Praga hervor, um ſich über den Bug nordwärts gegen die ruſſiſchen Garden zu wenden. Diebitſch eilte ihm nach und ſchlug ihn unter ſchweren Verluſten bei Oſtrolenka (26. Mai). Doch abermals wagte der Sieger nicht ſeinen Erfolg auszubeuten; abermals geſtattete er dem zer - rütteten polniſchen Heere hinter den ſchützenden Wällen von Praga zu verſchwinden und ſich dort von Neuem zu verſtärken. Da riß dem Czaren die Geduld, er beſchloß den unglücklichen Heerführer abzurufen.

Der ſchleppende Gang des Feldzugs hatte das Anſehen der ruſſiſchen Waffen überall in der Welt erſchüttert, und da faſt alle höheren Be - fehlshaber in dieſem erfolgloſen Kriege gleich dem Feldherrn ſelber Deutſche waren, ſo brach der alte Haß der Moskowiter gegen die Deutſchen wieder übermächtig aus. Die Nation forderte ſtürmiſch die Züchtigung der ver - achteten Polen, aber nur ein Ruſſe durfte dieſen nationalen Krieg führen. **)Schöler’s Bericht, 3. Juni 1831.Die polniſche Revolution ward ein Wendepunkt der ruſſiſchen Politik. Die Begünſtigung des alten Moskowiterthums, die ſich ſchon in Nikolaus erſten Jahren zuweilen gezeigt hatte, blieb fortan der leitende Grundſatz ſeiner Regierung. In ſchneidendem Gegenſatze zu ſeinem Bruder Alexander, dem Gönner der Deutſchen und der Polen, wies er alles weſtländiſche Weſen feindſelig ab. So ſtellte ſich die alte Regel wieder her, die ſich aus der nur halb gelungenen Verſchmelzung abendländiſcher und morgen - ländiſcher Geſittung nothwendig ergab und darum in der Geſchichte Ruß - lands mit der Stätigkeit eines Naturgeſetzes wiederkehrte: die Regel, daß jeder Czar gegenüber der europäiſchen Cultur genau das Gegentheil deſſen that, was ſein Vorgänger für geboten hielt.

Noch bevor ihn die Nachricht ſeiner Abberufung ereilte, ſtarb Die - bitſch plötzlich an der Cholera; die Lorbeeren ſeiner Türkenkämpfe waren verwelkt. Mittlerweile bereitete General Toll, der kühnſte und einſich - tigſte Kopf des Hauptquartiers, ſchon die entſcheidende Bewegung vor: das ruſſiſche Heer ſollte in einem weiten Flankenmarſche nach Nordweſten, bis dicht an die preußiſche Grenze zurückgehen, dort den ſo oft geplanten Uebergang über die Weichſel vollführen, um dann auf dem linken Ufer88IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.des Stromes wieder ſüdoſtwärts gegen Warſchau vorzurücken. Nun erſt ward offenkundig, was Preußens Freundſchaft für Rußland bedeutete; ohne die Mitwirkung der Nachbarmacht konnte der Plan nicht gelingen. Der König geſtattete, daß auf der preußiſchen Weichſel die Kähne und was ſonſt noch für den Brückenbau der Ruſſen nöthig war herbeigeſchafft wurden; er ließ an der Grenze entlang Märkte anlegen, mit Vorräthen jeder Art für die ruſſiſchen Einkäufer, und obwohl der Oberpräſident Schön gleich der Mehrzahl ſeiner liberalen Beamten die Ruſſen verab - ſcheute, ſo wurden doch die erhaltenen Befehle mit altpreußiſcher Pünkt - lichkeit ausgeführt. Im Juli ſchloß General Valentini mit dem Ruſſen Manſurow einen Vertrag, kraft deſſen Preußen ſich bereit erklärte, die nach Deutſchland übertretenden Polen zu entwaffnen und, gegen eine verein - barte Entſchädigung, vorläufig zu verpflegen; ſo ſollte zugleich unnützes Blutvergießen verhindert und die Unterdrückung des Aufſtandes be - ſchleunigt werden. *)Schöler’s Bericht, 20. Oct. 1831.Im Bewußtſein ſeines guten Rechtes verfuhr der König mit der größten Offenheit. Auf die wiederholten Vorſtellungen der Weſtmächte ließ er rundweg erwidern: er werde die polniſchen Em - pörer nimmer als eine kriegführende Macht anerkennen; von Pflichten der Neutralität könne gar nicht die Rede ſein bei einem Aufruhr, der Preußens eigene Sicherheit bedrohe.

Zu Diebitſch’s Nachfolger wurde der Held des letzten kleinaſiatiſchen Feldzugs Paskiewitſch ernannt ein echter Moskowiter, erſchreckend roh, hart, hochmüthig, als Feldherr zäh ausdauernd, doch überaus vorſichtig. Er durfte ernten was Andere geſäet. Durch die nahe preußiſche Grenze in ſeiner rechten Flanke gedeckt, überſchritt er die Weichſel bei Oſſiek, wenige Stunden oberhalb von Thorn (17. Juli) und zog dann, da die Cholera im Erlöſchen war, mit ſeinen geſunden, durch die preußiſchen Zufuhren wohlverſorgten Truppen langſam der Hauptſtadt entgegen, während die Polen ſchon durch Diebitſch’s Siege den Kern ihres Heeres verloren hatten und der beſtändige Wechſel im Oberbefehle ihre zu - nehmende Rathloſigkeit bekundete. Er hoffte die Unterwerfung ohne Schlacht zu erzwingen und vermied den Kampf, trotz der Mahnungen Toll’s, auch als er die Polen bei Bolimow in einer ganz unhaltbaren Stellung antraf. Noch am 4. September ließ er, endlich vor Warſchau angelangt, den Aufſtändiſchen überraſchend günſtige Bedingungen anbieten: eine wenig beſchränkte Amneſtie, Wiederherſtellung der Verfaſſung, Abzug der ruſſiſchen Garniſonen, ja die polniſchen Offiziere ſollten ſogar ihre im Kampfe gegen Rußland erworbenen neuen Grade behalten! So tief war der Hochmuth des Czaren durch dieſen langen Krieg gebeugt. In dem unglücklichen Warſchau aber hatte der wilde Radicalismus ſoeben durch einen gräßlichen Aufruhr des Pöbels die Herrſchaft wieder an ſich89Fall von Warſchau.geriſſen; Fürſt Czartoryski war entflohen, die Gemäßigten wagten ſich nicht mehr zu regen, die ſiegreiche Partei beſchloß den ausſichtsloſen Kampf fortzuſetzen. Am 6. September begann Paskiewitſch den Angriff auf dem weiten Blachfelde von Wola, wo einſt die Hunderttauſende des polniſchen Adels zur Königswahl ſich zu verſammeln pflegten; am folgenden Tage erſtürmten die Ruſſen unter Toll’s Führung nach wüthendem Kampfe die Thore der Hauptſtadt. Warſchau ergab ſich, die Trümmer des pol - niſchen Heeres flüchteten nach Preußen, ein kleiner Theil nach Galizien.

Alsbald ließ Nikolaus die verſöhnlichen Gedanken der letzten Monate fallen und nahm die Rachepläne wieder auf, mit denen er den Krieg begonnen hatte. Auch Preußen mußte erfahren, daß Rußland in der That, wie General Schöler dem Könige oft wiederholte, die nationale Eigenthümlichkeit beſaß, internationale Verträge ſchlecht zu erfüllen und namentlich von Preußen viel zu fordern ohne ſeinerſeits das gleiche Ent - gegenkommen zu beweiſen . *)Schöler’s Berichte, 7. Mai, 17. Nov. 1831.Ein Ukas des Czaren verkündete zwar eine allgemeine Amneſtie, unterſagte jedoch allen den Offizieren, welche erſt nach dem Falle von Warſchau ins Ausland übergetreten waren mithin der großen Mehrzahl des polniſchen Offizierscorps die Rückkehr für immer. Zum Danke für ihre freundnachbarliche Hilfe ſollten alſo Preußen und Oeſterreich mit einigen tauſend verzweifelten Heimathloſen belaſtet werden. Beſchlüſſe ſolcher Art, ſchrieb Schöler warnend, gehen von dem Kaiſer ſelber aus, ſie laſſen auf Eigenheiten ſeines Charakters ſchließen, die durch Zeit und Erfahrung nicht gemildert ſind. **)Schöler’s Bericht, 7. Oct. 1831.Beide Mächte erhoben Einſpruch: wie könne Rußland es verantworten, durch eine Maſſenverbannung in ganz Europa einen wandernden Heerd der Auf - hetzung und der Brandſtiftung zu gründen ? ***)Ancillon an Maltzahn 25. Oct. 1831.

Erſt nach langen Verhandlungen entſchloß ſich der Czar, ſeinen Ukas nach und nach zu mildern, ſo daß ſchließlich nur noch die gemeinen Ver - brecher und die politiſchen Hauptſchuldigen von der Amneſtie ausgeſchloſſen blieben. †)Ancillon, Weiſung an Schöler 10. Nov. Schöler’s Berichte, 16. 20. Nov. 21. Dec. 1831.Wie König Friedrich Wilhelm dergeſtalt die ehrliche Aus - legung des mit Rußland abgeſchloſſenen Auslieferungsvertrags durchſetzte, ſo war er auch keineswegs geſonnen, aus Gefälligkeit gegen ſeinen Schwiegerſohn den Weſtmächten einen Kriegsvorwand zu geben. Da die Republik Krakau den Aufſtand ihrer Stammgenoſſen mannichfach unter - ſtützt hatte, ſo wünſchte der Czar, daß die drei Schutzmächte das Gebiet des Freiſtaats gemeinſam beſetzen ſollten. Der Berliner Hof aber wider - ſprach, er wollte keinen Schritt über den Boden der Verträge hinaus - gehen und überließ die militäriſche Beſetzung den Ruſſen als dem allein90IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.angegriffenen Theile; nachher wurde unter der Oberaufſicht von Commiſ - ſären der Schutzmächte die völlig zerrüttete bürgerliche Ordnung in dem kleinen Staate nothdürftig wiederhergeſtellt. *)Metternich an Maltzahn, 14. Sept. Protokoll über die Verhandlung zwiſchen Metternich, Maltzahn, Tatiſtſchew 6. October. Weiſungen an Maltzahn 27. September, 13. October 1831.

Der verblendete Trotz der Polen bewirkte indeſſen, daß die erweiterte Amneſtie ihnen wenig Vortheil brachte. Die Einen wollten den Ver - heißungen des erzürnten Czaren keinen Glauben ſchenken, Andere bauten noch immer auf die leeren Verheißungen Lafayette’s und hofften über kurz oder lang mit Hilfe der franzöſiſchen Radicalen den allgemeinen Umſturz herbeizuführen. Dieſe Fanatiker, Allen voran der nach Dresden geflüchtete tapfere General Bem, übten die Künſte des allen Polen ge - läufigen Parteiterrorismus mit ſolchem Erfolge, daß die Mehrzahl der Harmloſen eingeſchüchtert und die Heimkehr von den Offizieren bald als Verrath angeſehen wurde. Tauſende freiwilliger Auswanderer, die ſich fälſchlich für Verbannte ausgaben, überſchwemmten Weſteuropa; ſie ver - ſchmähten daheim friedlich für ihr Vaterland zu arbeiten, was den Meiſten ſtraflos geſtattet war, und verfielen dem ſchlechten Handwerke der Ver - ſchwörer. Die tragiſche Schuld der Theilungen Polens ſuchte den Welt - theil mit immer neuen Leiden heim. Die polniſche Emigration ward ein Fluch Europas, ein Heerd des Unfriedens, wie die preußiſche Regierung vorausgeſagt. Zwei Jahrzehnte hindurch bildeten die polniſchen Flüchtlinge die verbindende Kette zwiſchen den radicalen Parteien aller Länder; ſie ſchürten jeden Aufruhr und fochten auf jeder Barrikade.

Czar Nikolaus aber blieb fortan neben Metternich der verhaßteſte Mann Europas. Er verdankte dieſen Ruf zum Theil den ungeheuer - lichen Märchen der polniſchen Flüchtlinge, mehr noch dem harten Straf - gerichte, das er über die Unterworfenen verhängte. Nach ſeiner Ueber - zeugung waren alle Freiheiten der Polen durch die Empörung verwirkt, und ihm allein ſtand es zu, einen neuen Rechtszuſtand anzubefehlen. Einige der Aufſtändiſchen mußten am Galgen, viele in Sibirien büßen; die Verfaſſung ward vernichtet, das Heer und die Univerſität aufgehoben, das herrliche Schloß der Czartoryskis in Pulawy ſeiner Kunſtſchätze beraubt. Polniſche Orden belohnten die Sieger für die Vernichtung der polniſchen Unabhängigkeit; auf dem Hauptplatze Warſchaus erhob ſich ein Obelisk zu Ehren der im November ermordeten Generale. Seit dem Organiſchen Statut vom Februar 1832 war das Land nur noch eine ruſſiſche Provinz mit eigener Verwaltung und Rechtspflege. Hatten die Polen ihre conſtitutionellen Rechte nur zu Ränken und Verſchwörungen mißbraucht, ſo erwies ſich die neue Ordnung faſt noch unheilvoller, ſie konnte allein durch einen beſtändigen Belagerungszuſtand aufrecht erhalten91Die polniſchen Flüchtlinge.werden. In der Hauptſtadt gebot der zum Fürſten von Warſchau er - hobene Paskiewitſch mit eiſerner Strenge; er verhöhnte die Geſchlagenen ins Angeſicht, feierte ſeine Siege in prunkenden Feſten, und als ihm der Czar das von Thorwaldſen ſoeben vollendete Reiterſtandbild des polniſchen Nationalhelden Poniatowski ſchenkte, ließ er der Bildſäule den Kopf ab - ſchlagen, ſeinen eigenen Kopf darauf ſetzen und dann dies unvergleichliche Denkmal moskowitiſcher Barbarei vor einem ſeiner Schlöſſer aufſtellen.

Bei alledem ſpielten die Weſtmächte eine klägliche Rolle. Mehrmals erhoben ſie ſchüchternen Einſpruch und beriefen ſich auf die Wiener Ver - träge, die ſie doch ſelber beſtändig verletzten. Alle dieſe Verſuche wurden von den drei Theilungsmächten kurzerhand abgewieſen; denn die Wiener Congreßacte verhieß den Polen nur im Allgemeinen nationale Inſtitu - tionen , und eine nationale Verwaltung blieb dem Lande auch jetzt noch erhalten. *)Maltzahn’s Berichte, 9. Nov. 1831 ff.Jahraus jahrein ergingen ſich die Parlamente von England und Frankreich fortan in Kundgebungen einer unfruchtbaren Entrüſtung. Der furchtſame Bürgerkönig nahm die polniſchen Flüchtlinge gaſtlich bei ſich auf. Im Stillen fühlte er ſich doch erleichtert durch die Unterdrückung eines Aufſtandes, der ihm nur Verlegenheiten bereitet hatte. Sein Ver - trauter Sebaſtiani plauderte dies Herzensgeheimniß unvorſichtig aus, als er in der Kammer die Aeußerung fallen ließ: die Ordnung herrſcht in Warſchau ein Wort, das von den Liberalen aller Länder begierig auf - gegriffen und jahrelang beſtändig wiederholt wurde, um die Ruchloſigkeit der Kronen zu brandmarken.

Durch den Fall von Warſchau gewann die Politik der Oſtmächte wieder freiere Bewegung; indeß war Rußland durch den polniſchen Kampf ſo erſchöpft und das Friedensbedürfniß an den beiden deutſchen Höfen ſo ſtark, daß eine ernſte Kriegsgefahr kaum noch hereinbrechen konnte. Die belgiſche Frage ſchritt der Löſung entgegen, ſehr langſam allerdings und unter mannichfaltigen Verwicklungen. Der am 15. November mit Belgien abgeſchloſſene Vertrag erregte in Berlin wie in Wien und Petersburg gerechtes Befremden; denn die Geſandten der drei Mächte hatten ihn ohne Vollmacht unterzeichnet, und ohne die Mitwirkung Hollands, wäh - rend die Londoner Conferenz doch berufen war zwiſchen den ſtreitenden Parteien zu vermitteln. Dennoch war König Friedrich Wilhelm zur Genehmigung bereit, da er den Inhalt des Vertrags billigte; nur wollte er die Ratification erſt dann ausſprechen, wenn alle Großmächte und wo möglich auch Holland beiſtimmten und dadurch eine endgiltige Ent - ſcheidung geſichert war. Den ganzen Winter hindurch mühte Preußen ſich ab, dieſe allgemeine Uebereinſtimmung herbeizuführen. Oeſterreich92IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.wurde leicht gewonnen. Der Hartnäckigkeit des Königs der Niederlande aber ließ ſich mit Ueberredung nicht beikommen. Obwohl er in die Thei - lung ſeines Königreichs längſt gewilligt hatte und nur noch gegen einzelne Artikel des Vertrages ſachliche Einwände erhob, ſo fühlte er ſich doch durch das rückſichtsloſe Verfahren der Conferenz tief beleidigt. Er wollte dem Coburgiſchen Thronräuber nicht verzeihen und hoffte insgeheim auf einen allgemeinen Krieg, der Hollands Entwürdigung noch abwenden ſollte. Nach Allem was geſchehen , ſchrieb er ſeinem Schwager, iſt es mir unmöglich, in Leopold nicht nach wie vor meinen Feind zu ſehen. Meine Sache iſt nicht meine eigene, ſie iſt allen rechtmäßigen Regie - rungen gemeinſam. Vergeblich hielt ihm Friedrich Wilhelm vor, daß Holland ſich durch ſeine Unverſöhnlichkeit den Beiſtand ſeiner Verbün - deten ſelbſt verſcherze. *)Oberſt Scharnhorſt’s Bericht an den König, 28. Aug. Witzleben an Ancillon 22. Oct. Eichhorn’s Denkſchrift für Prinz Albrecht 25. Oct. K. Wilhelm d. Niederl. an K. Friedrich Wilhelm 5. Dec. Antwort 24. Dec. 1831.

Der Oranier nahm dieſe Drohung nicht für Ernſt; er zählte auf Rußlands Beiſtand, denn Nikolaus wiederholte beſtändig: ich ratificire nicht eher, als bis der rechtmäßige König die Belgier aus dem Unterthanen - verbande entlaſſen hat. So drehte man ſich im Kreiſe; die beiden Legi - timiſten in Petersburg und im Haag verſteckten ſich einer hinter dem andern. Da Ancillon’s Denkſchriften auf den Czaren keinen Eindruck machten, ſo ſchrieb König Friedrich Wilhelm ſelbſt: er achte, ja er theile die Gefühle ſeines Schwiegerſohnes, aber ich habe meinem Herzen Schweigen auferlegt um den Geboten der politiſchen Vernunft zu ge - horchen ; nicht um der Oranier ſondern um Europas willen ſei Belgien einſt mit Holland vereinigt worden, alſo dürfe man auch bei der Tren - nung nur das allgemeine Intereſſe im Auge haben; bei einem allge - meinen Kriege bilde Rußland doch nur die Nachhut, die Laſt des Kampfes falle auf Deutſchland, darum ſei es Pflicht der drei Oſtmächte, im Haag gemeinſam zu erklären, daß ihre Geduld Grenzen habe. **)Ancillon, Rundſchreiben an die Geſandtſchaften, 18. Dec. 1831. K. Friedrich Wilhelm an K. Nikolaus, nebſt Memorandum, 12. Jan. 1832.

Nach langem Widerſtreben und mehrfachen Rückfällen ließ ſich der Czar überzeugen und ſendete im Februar 1832 ſeinen Vertrauten Orlow nach dem Haag, um dort noch einen letzten Verſuch zu wagen. Als Orlow, wie zu erwarten ſtand, bei dem Oranier nichts ausrichtete, erklärte er ihm am 22. März rundweg, ſein Kaiſer könne nunmehr die Ratifi - cation nicht länger verſchieben und überlaſſe alle Verantwortung dem Könige. ***)K. Nikolaus an K. Wilhelm der Niederl. 18. Jan. a. St. Ruſſiſche Denk - ſchrift, zur Beantwortung des preußiſchen Memorandums, Febr. Neſſelrode, Weiſung an Lieven, Ende März 1832.Bei allen dieſen Verhandlungen wähnte Nikolaus noch immer,93Anerkennung Belgiens.es werde ihm gelingen, England von Frankreich zu trennen und bei dem alten Vierbunde feſtzuhalten, während die ruſſiſche Politik doch nur das Gegentheil bewirken konnte. *)Neſſelrode, Weiſung an Lieven 19. Januar a. St., an Maltitz 17. Februar a. St. 1832.Je weiter die Oſtmächte ihre Genehmigung hinausſchoben, um ſo feſter ſchloſſen ſich die beiden Schutz - mächte Belgiens an einander. Lord Palmerſton hatte längſt die Geduld verloren und ſchon im December, zum Danke für Friedrich Wilhelm’s ehrliche Verſöhnungsverſuche, ein grobes Schreiben an Ancillon gerichtet, worin er die preußiſche Regierung beſchuldigte, ſie verſtecke ihre Zögerungen hinter einer Phraſe . Er ſchlug hier bereits jenen anmaßenden Ton an, der ihm bald zur anderen Natur wurde und viel dazu beitrug den engliſchen Namen bei allen Völkern in Verruf zu bringen. Offenbar hoffte er Preußen einzuſchüchtern, doch der Streich mißlang. Es blieb dabei, daß Bülow die preußiſche Ratification, die er ſchon ſeit Anfang Januar in der Taſche trug, erſt nach der Einigung aller Großmächte übergeben durfte. **)Palmerſton an Ancillon, 30. Dec. 1831. Bernſtorff, Bericht an den König 6. Jan. Ancillon an den Geſandten Chad 7. Jan., an Bülow 8. Jan. 1832.

Nachdem nun endlich der Widerſtand des Czaren gebrochen war, ſprachen Oeſterreich und Preußen am 18. April, Rußland am 4. Mai 1832 ihre förmliche Genehmigung aus. Die beiden deutſchen Mächte verwahrten wieder ausdrücklich das Recht des Bundes auf Luxemburg; der Czar verwies, noch immer grollend, in einem vieldeutigen Vorbehalte auf die künftige Verſtändigung der beiden Könige Niederlands. Im Spätſommer wurden dann Leopold’s Geſandte in Berlin und Wien empfangen, während Nikolaus und nach ſeinem Beiſpiele auch König Ludwig von Baiern ſowie mehrere andere ſtreng legitimiſtiſche deutſche Fürſten den diplomatiſchen Verkehr mit dem neuen Brüſſeler Hofe vor - läufig noch verſchmähten.

Das lange Zaudern hatte die Kluft zwiſchen dem Weſten und dem Oſten ſichtlich erweitert. Palmerſton’s zunehmende Ungezogenheit zeigte ſelbſt dem Czaren, daß Europa in zwei feindliche Heerlager zerfiel, und Metternich meinte ingrimmig: den drei Verbündeten treten die beiden Spießgeſellen (complices) gegenüber. Unverkennbar ſtanden die Spieß - geſellen im Vortheil, denn ſie wußten was ſie wollten. Sie verlangten, daß König Wilhelm, der noch die Citadelle von Antwerpen ſowie zwei kleine Feſten an der Schelde beſetzt hielt, mindeſtens das belgiſche Gebiet räumen müſſe, und waren bereit, ſelbſt durch die Waffen ſeinen Trotz zu brechen, während die Oſtmächte ſolchen Zwang gegen den alten Ver - bündeten weder billigen noch verhindern mochten. Als der Sommer wieder über fruchtloſen Verhandlungen mit dem Haag vergangen war,94IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.beantragten England und Frankreich auf der Londoner Conferenz ge - meinſame Gewaltmaßregeln gegen Holland. Man ſtritt hinüber und herüber, die Conferenz wußte ſich aus ihrer Rathloſigkeit nur dadurch zu retten, daß ſie gar nicht mehr zuſammentrat. Der europäiſche Areopag löſte ſich auf und überließ es den Weſtmächten, ihre heilige Nichtein - miſchungs-Lehre zum zweiten male gröblich zu verletzen. Sie beſchloſſen am 22. October, daß England die holländiſchen Schiffe in Beſchlag nehmen, Frankreich die Citadelle von Antwerpen für Belgien erobern ſolle.

Diesmal verfuhr der Hof des Palais Royal ohne Hintergedanken, anders als im vorigen Jahre; denn König Leopold hatte mittlerweile die ſo lange umworbene Tochter Ludwig Philipp’s geehelicht, und ſeit der Coburger mit zur Familie gehörte, ſtand der alte Plan der Theilung Belgiens nicht mehr im Einklang mit den kaufmänniſchen Geſchäftsregeln des Hauſes Orleans. Im Mai war Caſimir Perier geſtorben, auch er ein Opfer der Cholera. Im October übernahm der Herzog von Broglie das Auswärtige Amt, der Führer der Doctrinäre, hochgebildet, ſteif, tugendſtolz, unausſtehlich wie ſeine geſammte Partei, aber unbeſtreitbar ein Mann des Friedens. Er verſprach den großen Mächten ſofort, daß die franzöſiſchen Truppen alsbald nach der Einnahme der Citadelle Bel - gien wieder verlaſſen würden, und fragte ſogar an, ob nicht Preußen unterdeſſen das öſtliche Belgien beſetzen wolle. *)Witzleben an Maltzahn, 16. Oct. Weiſungen an Maltzahn, 20. 30. Oct. 6. Nov. 1832.König Friedrich Wilhelm aber wollte an der Vergewaltigung ſeines Schwagers auch nicht mittelbar theilnehmen; er verſtärkte nur die Truppen am Rhein durch das weſt - phäliſche Armeecorps und zog ſie dicht an der Grenze, bei Aachen zuſammen um gegen einen Wortbruch Frankreichs ſofort einſchreiten zu können. In Paris mußte Werther den ſtärkſten moraliſchen Widerſtand leiſten , wie Ancillon ſalbungsvoll ſagte**)Ancillon an Maltzahn 20. Oct. 1832.; auch Oeſterreich und Rußland zeigten dem franzöſiſchen Hofe die üble Laune, die im Leben der Einzelnen wie in der Politik immer den Schmollenden ſelber ſchädigt. Gleichwohl wagten die Oſtmächte nicht einmal eine öffentliche Verwahrung; ſchon im Früh - jahr waren ſie dahin übereingekommen, daß ein ſolcher Schritt entweder ihr Anſehen bloßſtellen oder die Gefahr des allgemeinen Kriegs wieder heraufbeſchwören müſſe. ***)Preußiſches Memorandum für Graf Orlow, 13. Febr. 1832.Der Bürgerkönig wußte dies nur zu wohl und ließ den kleinen deutſchen Höfen zuverſichtlich ankündigen: Obwohl wir die Zuſtimmung der Nordmächte zu unſeren Maßregeln nicht erlangt haben, ſo ſind wir nichtsdeſtoweniger ſicher, keinem Widerſtande ihrerſeits zu begegnen. †)Broglie, Circular-Depeſche über den Vertrag v. 22. Oct. 1832.Kein Wunder wahrhaftig, daß der Oranier über den abermaligen Einmiſchungsverſuch der gleißneriſchen Nicht-Einmiſchungs -95Der Zug nach Antwerpen.Politiker auf’s Aeußerſte empört war. Trotz aller Warnungen, die ihm ſelbſt aus Petersburg zukamen, hatte er doch nicht für möglich gehalten, daß ſeine alten Freunde ihn hilflos den Mißhandlungen der Weſtmächte preisgeben würden und warum? weil er einem Vertrage widerſprach, der gleich dem Utrechter Frieden ohne, über und gegen Holland abge - ſchloſſen war! Lord Palmerſton aber weidete ſich ſchadenfroh an der Ver - legenheit der Oſtmächte. Luſtiger denn je pries er dem Parlamente die Expediency des Zuges nach Antwerpen und rühmte zugleich die Ehr - lichkeit der engliſchen Politik was doch ſelbſt vielen ſeiner britiſchen Hörer wie ein frecher Witz klang.

Ungeſtört konnte alſo das wunderbare Schauſpiel eines Krieges ohne Friedensbruch über die Bretter gehen. Am 22. November begann Mar - ſchall Gerard mit 60000 Franzoſen die von 5000 Holländern vertheidigte Antwerpener Citadelle zu belagern. Jede Mitwirkung der Belgier wies er zurück, da ſeine Regimenter durchaus nur als Executionstruppen Europas auftreten ſollten. Nach vier Wochen tapferen Widerſtandes ergab ſich die Feſtung, und ſofort kehrte das franzöſiſche Heer in die Heimath zurück. Am 22. März 1833 ward dann eine neue Waffenruhe vereinbart: die Holländer blieben noch in den Scheldefeſtungen Lillo und Liefkenshoeck, die Belgier hielten einen Theil des holländiſchen Luxemburg und Limburg beſetzt. In dieſem ſeltſamen Zuſtande verblieben die Nieder - lande ſechs Jahre lang bis der Oranier endlich nachgab. Sechs Jahre hindurch ſtand das holländiſche Heer an der Südgrenze verſammelt, willig brachte das treue Volk dem Starrſinn ſeines Königs ſchwere Opfer, derweil die klugen Belgier ſich die Verzinſung ihres Antheils an der alten Staatsſchuld erſparten.

So endete dies Nachſpiel der Juli-Revolution mit einem Triumphe des Bürgerkönigthums, der dem franzöſiſchen Staate allerdings weder wahren Kriegsruhm noch eine dauernde Machterweiterung brachte, aber ſo blendend in die Augen ſtach, daß ſelbſt der nüchterne Guizot mit der glänzenden franzöſiſchen Löſung der belgiſchen Frage prahlen konnte. Die Oſtmächte empfanden die erlittene Niederlage ſehr lebhaft. Metternich wußte nur den einen Troſt, daß der Tag der Gerechtigkeit noch nicht gekommen ſei. Bald nach dem Falle von Antwerpen meinte er weh - müthig: die praktiſche, die einzige auf die Lage des Tages anwendbare Wahrheit iſt die Nothwendigkeit, die Entwicklung der Ereigniſſe abzu - warten.

In Oeſterreichs unmittelbarem Machtgebiete ließ er dieſe Wahrheit freilich nicht gelten; ſeine italieniſche Politik blieb feſt, herriſch, zugreifend. Im Kirchenſtaate kam Alles wie er es vorhergeſehen: die Unruhen brachen ſofort wieder aus, als die Oeſterreicher auf Frankreichs Wunſch abgezogen waren. Der Papſt konnte und wollte die verheißenen Reformen nicht ernſtlich durchführen, obwohl ihn Metternich mehrmals mahnte und ſchon96IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.daran dachte die großen Mächte zur Mitwirkung aufzurufen:*)Metternich, Mémoire sur l’affaire des Légations romaines, Nov. 1831. die Laien blieben von der Regierung ausgeſchloſſen, die neuen Provinzial - und Ge - meinderäthe völlig machtlos. Als nun im Januar 1832 päpſtliche Truppen in die Romagna einrückten, rotteten ſich die Bürgerwehren und Frei - ſchaaren zuſammen; die Aufſtändiſchen unterlagen, und furchtbar hauſte das wüſte Geſindel der Schlüſſelſoldaten in den unterworfenen Städten. Die Curie aber zitterte vor ihrem eigenen Heere und rief nochmals die Hilfe des öſterreichiſchen Nachbarn an. Am 28. Januar erſchien Mar - ſchall Radetzky mit ſeinen Weißröcken in Bologna; die Romagnolen ſelber empfingen ihn mit Freude, weil er ihnen doch Schutz gewährte gegen die wüthenden Papalini.

Nach Völkerrecht war Oeſterreichs Verfahren unanfechtbar, ſicherlich beſſer gerechtfertigt als der belgiſche Zug der Franzoſen vom vorigen Sommer. Caſimir Perier aber hatte ſich vor den Kammern vermeſſen, daß er eine neue Einmiſchung der Oeſterreicher nicht dulden werde; er war gerichtet, wenn er ſein Wort nicht hielt. Die Parteiwuth der Fran - zoſen zwang ſelbſt dieſen ernſten Staatsmann ſich vor der Phraſe der Nichteinmiſchungs-Lehre zu beugen und ſeine kurze rühmliche Laufbahn mit einem unwürdigen Poſſenſpiele zu ſchließen. Perier ließ durch Marſchall Maiſon in Wien ankündigen, daß nunmehr auch Frankreich einſchreiten müſſe Alles im Namen der Nichteinmiſchung! Metternich antwortete mit überlegenem Hohne: Wollen Sie, daß wir im Kirchenſtaate bleiben? Dann wählen Sie das rechte Mittel; denn ſicherlich werden wir ſo lange bleiben, bis Ihr wieder fortgeht! In tiefem Geheimniß ſegelte unter - deſſen ein kleines Geſchwader aus Toulon ab, fünfzehnhundert Franzoſen landeten am 22. Februar in Ancona und bemächtigten ſich der Stadt; ein pomphaftes Manifeſt verkündete den Italienern, daß Frankreich überall die Freiheit der Völker gegen den Despotismus beſchütze.

Die Pariſer Preſſe und viele der liberalen deutſchen Zeitungen froh - lockten über die neue Wunderthat des freien Frankreichs. Caſimir Perier ſelber war trotz ſeiner Verſtandesklarheit doch wie alle Franzoſen zur politiſchen Selbſttäuſchung geneigt; er redete ſich ein, daß er das öffent - liche Recht Europas vertheidigt habe, und die Haltung der anderen Mächte beſtärkte ihn in dieſem Wahne. Während Oeſterreich und Ruß - land ihre Entrüſtung über dies politiſche Verbrechen laut ausſprachen, konnte ſelbſt Palmerſton ſeine Unzufriedenheit kaum verbergen, ſo daß Ludwig Philipp für gerathen hielt den fremden Geſandten allerhand feige Entſchuldigungen zu ſagen. Ancillon aber klagte rührſam: Die Winde haben eine Seefahrt, welche keine Gunſt verdiente, ſeltſam begünſtigt. Die Geſchichte bietet wenig Beiſpiele einer ſo offenbaren Verletzung aller Grundſätze. Dies verhängnißvolle Abenteuer würde ein Räthſel ſein,97Beſetzung von Ancona.wenn man nicht daran gewöhnt wäre, daß das franzöſiſche wie das eng - liſche Miniſterium Alles den Rückſichten der parlamentariſchen Lage unter - ordnet, Alles der nationalen Eitelkeit opfert. *)Ancillon an Maltzahn, 5. März 1832.

Nach kurzer Friſt beruhigten ſich die Mächte wieder; ſie erkannten bald, daß die Beſetzung von Ancona wirklich nur den Dünkel der franzöſiſchen Parteien beſchwichtigte und ſonſt ohne jede Wirkung blieb. Die fünfzehn - hundert Mann auf der halbzerfallenen Citadelle durften, da der Papſt Einſpruch erhob, weder Verſtärkungen herbeiziehen noch die Feſtungswerke herſtellen, ſie mußten die päpſtliche Flagge hiſſen, ſie vertrieben ſogar die Liberalen aus der Stadt und leiſteten der Polizei des Vaticans willig Schergendienſte. Faſt ſieben Jahre lang hielten ſie in dieſer lächerlichen Lage aus, bis ſie endlich im December 1838, gleichzeitig mit den Oeſter - reichern das Land verließen. Inzwiſchen hatte ſich das Prieſterregiment unter dem Schutze der kaiſerlichen Waffen behaglich wieder eingerichtet. Von ernſten Reformen war ſo wenig mehr die Rede, daß England ſchon nach einigen Monaten ſeinen Bevollmächtigten von der nutzloſen römiſchen Geſandtenconferenz abberief. Metternich freute ſich des Starrſinns der Curie keineswegs und erſparte ihr ernſte Mahnungen nicht. Doch er wußte auch, daß dieſer Prieſterſtaat, den er ſelber bereits vor Jahren ein nur zu veraltetes, morſches Gebäude genannt hatte,**)Metternich an Bernſtorff, 17. Aug. 1820. durchgreifende Neuerungen kaum noch ertragen konnte, und ſchon um dem Bürger - königthum keinen Triumph zu bereiten, wollte er den Papſt nicht allzu lebhaft bedrängen. Die Beſetzung von Ancona brachte der Freiheit Italiens keinen Gewinn; ſie verhinderte ſogar die beſcheidenen Reformen, welche unter der Herrſchaft des gekrönten Prieſters vielleicht noch möglich waren. Der feine politiſche Inſtinkt der Italiener täuſchte ſich darüber nicht: die Oeſterreicher fürchtete man als harte, tapfere Feinde; der lärmende, an - maßende, furchtſame franzöſiſche Freund ward verachtet. Noch auf lange hinaus ſchien die Herrſchaft des Kaiſerhauſes auf der Halbinſel geſichert.

Das alſo war das Ergebniß dieſer wirrenreichen Kämpfe. England hatte die Wege des Liberalismus betreten, in Frankreich und Belgien war die Revolution zum Siege gelangt, in Polen und Italien war ſie unter - legen. Das alte und das neue Europa hielten einander das Gleich - gewicht. Welchem der beiden Lager würde Deutſchland ſich zuwenden? an dieſer Frage hing die nächſte Zukunft der Staatengeſellſchaft.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 7[98]

Zweiter Abſchnitt. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Kleine Staaten erſcheinen leicht lächerlich; denn der Staat iſt Macht, und die Ohnmacht widerſpricht ſich ſelber ſobald ſie als Macht auftreten will. Wo aber die Thatkraft einer großen Nation ſich nur in den arm - ſeligen Händeln kleiner Gemeinweſen zu äußern vermag, da werden folgen - ſchwere Wandlungen des Völkerlebens oft vorbereitet durch unſcheinbare particulariſtiſche Bewegungen die für ſich allein wenig, insgeſammt viel bedeuten. Neue politiſche Gedanken können ihre Nothwendigkeit nicht über - zeugender erweiſen, als wenn ſie in einem zerſplitterten Volke, zur ſelben Zeit an verſchiedenen Stellen auftreten und durch mannichfaltige Hemmniſſe hindurch ſich ihre Bahn brechen; der gleiche Erfolg, die ungewollte und doch unverkennbare innere Verwandtſchaft ſolcher Einzelkämpfe bekunden dann zugleich die ſchöpferiſche Naturgewalt der nationalen Einheit. Der - weil Europa die Pariſer Barrikadenhelden mit Huldigungen überſchüttete, wurden die Straßenunruhen der kleinen norddeutſchen Hauptſtädte im Auslande nur mit ſpöttiſchem Lächeln angeſehen, ja manche der Führer dieſer winzigen Revolutionen betrachteten ſich ſelber nur als beſcheidene Schüler der unerreichbaren Franzoſen. Und doch war dieſe verzettelte deutſche Bewegung mit aller ihrer kleinſtädtiſchen Abgeſchmacktheit beſſer berechtigt und in ihrer letzten Nachwirkung fruchtbarer als ihr vielbe - wundertes Vorbild. Durch die Juli-Revolution nur gefördert, keineswegs verurſacht, entſprang ſie naturgemäß aus einer veralteten Geſellſchafts - ordnung, die weit ſchwerer drückte als die politiſchen Mißgriffe der Bour - bonen, und verwirklichte in den altſtändiſchen Gemeinweſen des Nordens die Ideen der Rechtsgleichheit und des Staatsbürgerthums, welche im übrigen Deutſchland ſich ſchon längſt durchgeſetzt hatten, ſo daß jetzt erſt eine allen Deutſchen gemeinſame Staatsgeſinnung, ein über die Grenzen der Einzelſtaaten hinausreichendes Parteileben, ein bewußter Kampf um die Reform des nationalen Geſammtſtaates nach und nach möglich wurde.

Unter allen dieſen kleinen Staatsumwälzungen erregte der Braun - ſchweiger Aufſtand das größte Aufſehen; denn hier allein wurde der noth - wendige Umſchwung durch revolutionäre Mittel, durch offenbaren Rechts -99Klage der Braunſchweiger Landſtände.bruch bewirkt, und hier zeigte ſich zugleich mit erſchreckender Klarheit, daß die Unſicherheit unſeres öffentlichen Rechtes in der ſchimpflichen Ohnmacht des Bundestages ihren letzten Grund hatte. Gegen die Winkeltyrannei der ſchwächſten Reichsſtände bot die alte Reichsverfaſſung immerhin einigen Schutz; mehrmals ſchritten Kaiſer und Reich zur Abſetzung unverbeſſer - licher kleiner Despoten, noch zur Zeit der franzöſiſchen Revolution erſchien zuweilen eine kaiſerliche Debit-Commiſſion in einem überſchuldeten Fürſten - thume um von Reichswegen die Ordnung herzuſtellen. Seit aber die Bundesakte dieſen kleinen Herren die Souveränität gewährt hatte, beſtand für fürſtliche Willkür keine Schranke mehr, und einmal doch mußte an einem ungerathenen Sohne des deutſchen hohen Adels offenbar werden, wie tief der Genuß einer anſpruchsvollen Würde ohne Macht ihren Träger entſittlichen kann.

Trotzend auf ſeine fürſtliche Unverantwortlichkeit war Karl von Braun - ſchweig von Stufe zu Stufe geſunken. Er wußte, daß die Deutſchen ihn verabſcheuten, und fand bald eine boshafte Freude daran, ſeinen ſelbſt - verſchuldeten ſchlechten Ruf immer aufs Neue zu rechtfertigen. Schon vier Jahre vor ſeinem Sturze ſchrieb er ſeiner gütigen Freundin, der Prinzeſſin Amalie von Sachſen, die ihm vergeblich ins Gewiſſen redete: Man hält es am Ende für einerlei etwas zu ſein, wofür man ſchon lange gegolten hat. Jung, hübſch, mächtig und ganz unabhängig mir ſelbſt überlaſſen wie konnte ich anders werden? *)H. Karl von Braunſchweig an Prinzeſſin Amalie von Sachſen, 21. Nov. 1826.Die ſchlaffe Nach - ſicht des Bundestags, der ſich in dem Streite der beiden Welfenhäuſer mit einer beinahe poſſenhaften Genugthuung zufrieden gab, mußte den dreiſten Uebermuth des verblendeten Fürſten noch erhöhen**)ſ. o. III. 565.. Schon wieder lag ſeit Jahr und Tag eine Klage gegen Herzog Karl unerledigt in Frankfurt: die Bitte des landſtändiſchen Ausſchuſſes um Aufrechter - haltung der unbeſtreitbar rechtmäßigen Landſchaftsordnung von 1820. Wieder wußte Graf Münch, trotz der ungeſtümen Mahnungen des preu - ßiſchen Geſandten, die Entſcheidung zu verzögern; daß Landſtände gegen ihren Fürſten jemals Recht behalten könnten, ſchien der Wiener Hofburg ganz unfaßbar. Auch manche der anderen Bundesgeſandten bezweifelten die Giltigkeit der neuen Verfaſſung, weil ſie unter einer vormundſchaft - lichen Regierung vereinbart worden ſei, der Vormund aber nicht über das Vermögen des Mündels verfügen dürfe. Selbſt Wangenheim und einige überfeine Köpfe unter den Liberalen theilten dieſe Zweifel; ſo mächtig war noch, Dank der privatrechtlichen Bildung unſerer Juriſten, jene alte patrimoniale Staatslehre, welche Land und Leute nur als fürſtliches Haus - gut betrachtete. Alſo unter Bedenken und Gegenbedenken ſchleppte ſich der Handel dahin, bis endlich im Spätſommer 1830 die Commiſſion des7*100IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Bundestags einen Bericht zu Stande brachte, der ſich zu Gunſten der klagenden Landſtände ausſprach.

Dieſe Nachricht aus Frankfurt beſtärkte die Braunſchweiger in dem Bewußtſein ihres guten Rechtes, und unwillkürlich regte ſich die Frage, ob man nicht endlich zur Selbſthilfe ſchreiten müſſe; wer konnte denn wiſſen, wann jemals jenem Berichte ein wirkſamer Bundesbeſchluß folgen würde? Der Herzog ſchlenderte mittlerweile ſchon ſeit Monaten auf den Pariſer Boulevards umher und verhandelte nebenbei mit dem Hauſe Rothſchild über Börſengeſchäfte. Als ihn dort der Ausbruch der Juli - Revolution überraſchte, zeigte ſich der Erbe des braunſchweigiſchen Helden - geſchlechtes als ein elender Feigling; er verlor den Kopf, obwohl ihn die Pariſer kaum beachteten, und floh unter ſeltſamen Abenteuern. Unter - wegs ſah er in Brüſſel noch jene Vorſtellung der Stummen von Portici, welche den belgiſchen Aufruhr einleitete. Zweimal warnte ihn das Schick - ſal, doch in dieſe glatte Stirne grub die ernſte Zeit keine Furchen. Mit ſeinem Völkchen daheim dachte der Welfe ſchon fertig zu werden. Als er zurückkam, brachte er einen neuen Günſtling mit, den franzöſiſchen Aben - teurer Alloard, und prahlte laut, ihm ſolle man das Schickſal Karl’s X. nicht bereiten. Eine Handvoll Unterbeamten und Hofhandwerker begrüßte den Heimgekehrten mit einem Fackelzuge. Die Bürgerſchaft aber ſah mit Unmuth der gemachten Huldigung zu und ſendete ihre Vertreter auf das Schloß um die Einberufung des Landtags zu erbitten; Bürgermeiſter Bode, ein derber, freimüthiger, ganz von althanſiſchem Bürgerſtolze erfüllter Mann, führte das Wort und warnte den Fürſten vor der unheildrohenden Stimmung des Volkes. Dahin hatte es der Herzog durch die knaben - hafte Willkürherrſchaft dieſer ſieben Jahre gebracht, daß er in ſeinem durch und durch welfiſch geſinnten Völkchen unter den gebildeten Klaſſen faſt gar keine Anhänger mehr beſaß; ſelbſt die Offiziere murrten, weil er ſie bald launiſch beleidigte bald ihnen den Gehalt beſchnitt oder erledigte Stellen unbeſetzt ließ.

Die Maſſe des Volks nahm an dem Verfaſſungskampfe der Land - ſtände geringen Antheil; doch ſie wußte genug von dem wüſten Treiben im Schloſſe um den Herzog zu haſſen, ſie litt unter dem Drucke der Binnenmauthen, ſie klagte, daß kein Fremder mehr den verrufenen Hof beſuchte, daß der geizige Fürſt die öffentlichen Bauten einſtellen ließ und alſo die Noth noch ſteigerte, die nach einer ſchlechten Ernte, einem harten Winter überall in Deutſchland empfunden wurde. Karl ahnte das nahende Unwetter und ließ in ſeiner Angſt Kanonen vor dem Schloſſe auffahren, Pulvervorräthe in die nahe Aegidienkirche ſchaffen. Während er am Abend des 6. Septembers im Theater weilte, ſammelten ſich einige Volkshaufen um die beiden Wagen, die ihn und ſeine Dirne, eine bekannte Schauſpielerin, zur Heimfahrt erwarteten; ſobald er aus dem Schauſpielhauſe heraustrat, begrüßte ihn wüſtes Geſchrei, ein Hagel von101Schloßbrand in Braunſchweig.Steinen folgte dem davoneilenden Wagen. Vor dem Schloſſe ſtand eine Schaar von Gaffern und Schreiern. Ein Offizier fragte: Kinder, was wollt Ihr denn eigentlich? Die Leute ſahen ſich verwundert an, bis endlich ein liberaler Advokat das neue Pariſer Feldgeſchrei anſtimmte: Brot und Arbeit! und einige wohlgenährte Schüler des Carolinums den Jammerruf wiederholten. *)Nach der mündlichen Erzählung eines der mitſchreienden Schüler, der in ſpä - teren Jahren ein wackerer Reichstagsabgeordneter war.Zwei Züge Huſaren vertrieben dann ohne Kampf die Menge von dem Bohlwege, gegenüber dem Schloſſe.

Am nächſten Morgen wurden die Kanonen und das Pulver hin - weggeſchafft. Auf die Bitten der Bürger verſprach der Herzog auch einen kleinen Steuererlaß ſowie einige Geldſummen für Straßenbauten und Lebensmittel; er geſtattete ſogar, daß eine mit Piken bewaffnete Bürger - wehr zuſammentrat, nur von der Berufung des Landtags wollte er nichts hören. Am Abend ſtürmte wieder ein Pöbelhaufe gegen das Schloß heran, berauſcht und heulend, höchſtens tauſend Köpfe ſtark; die Piken - männer der Bürgerwehr wurden bald zur Seite gedrängt. Der Herzog aber wagte nicht ſeine im Schloßhofe verſammelten Truppen feuern zu laſſen; er ergriff nochmals die Flucht und ließ ſich von ſeinen Huſaren zur Landesgrenze geleiten, um dann nach England zu reiſen. Mittler - weile drang der Pöbel in das Schloß ein und begann Feuer anzulegen; während die Strolche plünderten, ſah man einige offenbar verkleidete Männer geſchäftig die geheimen Papiere des Herzogs durchſuchen. Der commandirende General v. Herzberg, ein tapferer Veteran aus Wellington’s ſpaniſchen Feldzügen, verſäumte ſeine Soldatenpflicht, ſtundenlang ließ er die Truppen ruhig im Schloßgarten ſtehen. Eine einzige ohne ſeinen Befehl abgegebene Salve, die unſchädlich über die Köpfe des Haufens hinwegfuhr, genügte um den Hof zu ſäubern und ſelbſt die Räuber aus dem Schloſſe zu verjagen; aber als die Truppen dann wieder unbeweglich blieben, wagte ſich der Pöbel nochmals vor und begann ſein Werk von Neuem. Die ganze Nacht hindurch währte die rohe Verwüſtung, kein Menſchenleben fiel ihr zum Opfer; die Spritzen ließ der Haufe nicht an das Schloß heran, und als die Grenadiere noch einen ſchwachen An - griff auf die Meuterer unternahmen, verſuchten ſie nicht ihren leichten Sieg zu verfolgen. Beim Grauen des Tages lag das ſchöne Bauwerk faſt ganz in Aſche.

Unverkennbar ſtanden mehrere Männer aus dem Adel und dem Beamtenthum hinter dieſem ſeltſamen unblutigen Aufruhr; gedungene Banden und wüſtes Geſindel beſorgten die Arbeit, die erbitterte Bürger - ſchaft ſah halb ſchadenfroh halb erſchrocken der Zerſtörung zu. Die Namen der Verſchwörer ſind, obgleich einige Vermuthungen ſehr nahe liegen, bis zum heutigen Tage verborgen geblieben, da die gerichtliche Unter -102IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſuchung nachher ungründlich geführt, manche wichtige Zeugen gar nicht vernommen wurden. Der Handſtreich der Wenigen konnte offenbar nur gelingen, weil das ganze Land den Herzog verwünſchte. Die vollbrachte That erſchien Allen wie ein Gottesgericht, obwohl man ihre Roheit tadelte. Wohl hatte ſich ſeit der großen Woche der Pariſer überall in der Welt der Wahn verbreitet, daß die Maſſe im Straßenkampfe unbeſiegbar ſei; alle Zeitungen wiederholten beſtändig den Ausſpruch, welchen einſt Napoleon auf Grund der ſpaniſchen Erfahrungen ſeiner Marſchälle gethan haben ſollte: wehe dem General, der ſich in der Enge der Gaſſen auf ein Gefecht einläßt. Aber Furcht war es nicht, was den Offizieren der ruhmreichen ſchwarzen Schaar die Hände lähmte, ſondern Haß und Ver - achtung. Dürfen wir Bürgerblut vergießen um einem Elenden, der uns feige verlaſſen hat, ſein Schloß zu behüten? dies Bedenken drängte ſich Allen auf und ſtimmte ſie unſicher gegenüber einem weder muthigen noch zahlreichen Meutererhaufen. Berechneter Verrath der Offiziere iſt nie erwieſen worden, und es bedarf auch dieſes Verdachtes nicht um die ſchlechte Haltung der Truppen zu erklären.

In den Trümmern des Schloſſes das fühlte Jedermann hatte Karl’s Herrſchaft ihr Grab gefunden, und als nun gar Einiges aus den geraubten Briefſchaften und dem ſchwarzen Buche des Herzogs veröffent - licht wurde, da ward die Rückkehr des Vertriebenen ganz unmöglich. Die erbaulichen Geſtändniſſe dieſer ſchönen Seele wie Metternich ſeinen welfiſchen Liebling einmal nannte gingen von Mund zu Mund, die kleinſtädtiſche Klatſcherei ſchwelgte in gräßlichen Erfindungen, und der leere knabenhafte Thor galt bei ſeinem ergrimmten Völkchen bald für einen Wütherich und Giftmiſcher. Sobald man des Verhaßten ledig war, kehrte die Ordnung ſogleich zurück. Die Bürgerwehr prunkte in den Straßen umher, jetzt nach Pariſer Muſter mit Flinten bewaffnet, unter der Füh - rung des gefeierten Volksmannes Bankier Löbbecke, und je unſchuldiger dieſe Philiſter an dem Schloßbrande waren, um ſo kühner prahlten ſie mit ihrer Revolution. Paris, Brüſſel und Braunſchweig bildeten das Dreigeſtirn der neuen Völkerfreiheit, der Branntweinbrenner Götte, der den Herzog um die Wegführung der Pulvervorräthe gebeten hatte, hieß mindeſtens ein halber Lafa-Yette. General Herzberg wurde durch das Geſchenk eines bürgerlichen Ehrenſäbels darüber getröſtet, daß die preußiſchen Kameraden ihn mit ſehr zweifelhaften Blicken betrachteten; denn der heutige Soldat ſo verſicherte eine Braunſchweigiſche Flug - ſchrift iſt nicht mehr der durch den Stock zum blinden Gehorſam dreſſirte Vagabunde des vorigen Jahrhunderts . Ein Bürgergardiſt drohte dem Herzoge in einem offenen Briefe: 200000 Braunſchweiger würden ſich lieber unter dem Schutte ihrer Häuſer begraben, als ſich unter die Tyrannei eines zweiten Don Miguel begeben; ein anderer pries in einer Abhandlung den freiwilligen Gehorſam als den eigenthümlichen Vorzug103Herzog Wilhelm erſcheint in Braunſchweig.der Bürgergarde vor dem Heere. Mit dem Soldatenſpiele der Pariſer Bourgeoiſie drang auch die undeutſche Verachtung des ernſten Waffen - handwerks in das ſelbſtgefällige Bürgerthum dieſer Kleinſtaaten ein; die wirkliche Volksbewaffnung, die in Preußen längſt beſtand, hieß ein Werk - zeug des Despotismus .

Die Regierung wußte ſich nicht zu helfen. Von den verrufenen Räthen des Herzogs hatten mehrere das Weite geſucht, den zurückbleiben - den fehlten Kraft und Anſehen. Um ſo raſcher handelten die Landſtände; einigen ihrer Führer kam der Schloßbrand offenbar nicht unerwartet. Schon am 9. September verſammelte ſich der Große Ausſchuß und faßte noch am ſelben Tage drei entſcheidende Beſchlüſſe. Er beſchloß bis zur Einberufung des Landtages zuſammenzubleiben, er bevollmächtigte die Grafen Werner Veltheim und Oberg, in Berlin und Hannover vertrau - liche Eröffnungen zu machen und für gewiſſe Fälle Rath zu erbitten *)Veltheim an Bernſtorff 17. Sept. 1830.; er richtete endlich an den Bruder des Herzogs, den letzten noch übrigen Sproſſen des Fürſtenhauſes, eine von vielen Bürgern mitunterzeichnete Adreſſe, um ihn zu bitten, daß er die Zügel der Regierung ſchleunigſt übernehme .

Herzog Wilhelm von Braunſchweig-Oels ſtand in Berlin bei den Garde-Ulanen und galt bei den Kameraden für einen Lebemann, der ſein großes Vermögen gründlich zu genießen verſtehe; Talente hatte man an dem vierundzwanzigjährigen Prinzen bisher noch nicht bemerkt. Schon am Abend des 8. September brachte ihm der reitende Bote eines braun - ſchweigiſchen Hofbeamten die Nachricht von dem Aufruhr, und ſofort erbat er ſich durch ſeinen väterlichen Freund, den Fürſten Wittgenſtein, die Befehle des Königs. Auf Friedrich Wilhelm’s dringenden Rath**)Dieſer Thatſachen gedenkt das hannoverſche Miniſterium in ſeinem Berichte an König Wilhelm IV. vom 14. Sept., desgleichen Graf Münſter in einem Schreiben an Stralenheim vom 21. Nov. 1830. reiſte er dann eilends ab, um daheim vorläufig die Ordnung aufrechtzuhalten. Allen unerwartet, erſchien er am 10. im Schloſſe Richmond, vor den Thoren Braunſchweigs, während die Adreſſe des ſtändiſchen Ausſchuſſes noch nach Berlin unterwegs war. Wie frohlockten die friedfertigen Re - volutionshelden, als ſie nun wieder hoffen durften von einem leibhaftigen Welfen beherrſcht zu werden. Im Triumphe wurde Wilhelm der Ge - ſegnete von der Bürgerwehr und jauchzenden Volkshaufen in die Stadt ſeiner Väter eingeholt. Nichts lag ihm ferner als ehrgeizige Anſchläge auf die Krone ſeines Bruders. Hart genug kam es ihm an, daß er die fröhlichen Gelage der Berliner Garde mit den Sorgen der Regierung und der Langeweile der kleinen Hauptſtadt vertauſchen mußte; auch blieb er ſein Lebelang den ſtrengen legitimiſtiſchen Grundſätzen ſeines Hauſes ergeben und konnte den ſtillen Aerger über die Meuterei ſeiner Braun -104IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſchweiger nie ganz verwinden. Nur die Macht der Verhältniſſe riß den Widerſtrebenden vorwärts, und kein Wunder, daß der wohlmeinende, aber unerfahrene, bildungsloſe und wenig ſcharfblickende Fürſt, überwältigt durch den ſeltſamen Anblick der aufgeregten Stadt, die Stärke dieſer kleinbürgerlichen Volksbewegung überſchätzte.

Der junge Welfe fühlte, daß er eines Rückhalts bedurfte, und blieb daher mit ſeinem Gönner Wittgenſtein in ununterbrochenem Briefwechſel. Auf des Herzogs Bitten ließ der König von Preußen zwei im Braun - ſchweigiſchen wohlbekannte Grundherren aus der Nachbarſchaft, v. Wulffen und v. Alvensleben, das Ländchen bereiſen. Beide berichteten der Wahr - heit gemäß, daß der landflüchtige Fürſt von Allen aufgegeben ſei und Jedermann das Verbleiben des Herzogs Wilhelm wünſche. *)H. Wilhelm v. Braunſchweig an Wittgenſtein, 11. 15. 19. 21. Sept. Wulffen’s Bericht, 21. Sept. 1830.Unterdeſſen war Graf Veltheim in Berlin eingetroffen. Er legte jenes ſchwarze Buch vor, worin Herzog Karl ſeine frevelhaften Regierungsgrundſätze aufge - zeichnet hatte, und bat gradezu, der König möge den jüngeren Bruder zur förmlichen Uebernahme der Statthalterſchaft veranlaſſen. Bernſtorff hörte den Grafen an; jedoch auf Verhandlungen mit dem landſtändiſchen Abgeſandten, der noch dazu als perſönlicher Feind des vertriebenen Her - zogs bekannt war, wollte er ſich nicht einlaſſen. Preußen, ſo berichtete er dem Könige, müſſe ſelbſt den Schein der Nachſicht in der Beurtheilung eines Aufſtandes vermeiden und in ſo ernſter Zeit den Nachbarn, ins - beſondere dem nächſtbetheiligten hannoverſchen Hofe keinen Anlaß zum Mißtrauen geben; dem Bunde allein gebühre die Entſcheidung. Demnach wurde Nagler beauftragt, in Frankfurt die ungeſäumte Abſendung eines Bundescommiſſärs zu verlangen; dem jungen Herzog aber befahl Bernſtorff im Namen des Königs: bis der Bund geſprochen habe, ſolle er in ſeiner unbeſtimmten, aber ſehr wohlthätigen Stellung ausharren. **)Bernſtorff, Bericht an den König 20. Sept., an Herzog Wilhelm 25. Sept., Weiſung an Nagler, 27. Sept. 1830.Der König wußte, daß die Rückkehr des Vertriebenen, bei der allgemeinen Aufregung im deutſchen Norden, hochbedenklich, ja unmöglich war; doch ſo lange ſich noch hoffen ließ, daß die Bundesverſammlung ihre Pflicht erfüllen würde, wollte er den Boden des Bundesrechts nicht verlaſſen.

Faſt noch vorſichtiger verfuhren die allezeit bedachtſamen hannoverſchen Miniſter. Sie weigerten ſich, mit dem Grafen Oberg, dem Bevollmäch - tigten der braunſchweigiſchen Stände, amtliche Verhandlungen anzuknüpfen, baten den Berliner Hof um ſeinen Rath und legten zugleich in einer langen Denkſchrift ihrem Könige die Frage vor, ob er nicht als Haupt des Braun - ſchweigiſchen Hauſes verſuchen wolle, den flüchtigen Herzog zur Abdankung zu bewegen um alſo den ſchlimmen Handel in Frieden aus der Welt zu105Herzog Karl in England.ſchaffen. *)Miniſter v. Ompteda an Bernſtorff, 14. Sept. Bericht des hannov. Miniſte - riums an K. Wilhelm IV., 14. Sept. 1830.König Wilhelm IV. äußerte ſich tief entrüſtet über den Aufruhr und die dem welfiſchen Hauſe angethane Schmach. Der gutmüthige Herr theilte den Haß ſeines verſtorbenen Bruders gegen Herzog Karl durchaus nicht, ſondern empfing den Flüchtling wohlwollend, als dieſer ihn wenige Tage nach der Landung im Pavillon zu Brighton aufſuchte. Aber wie groß war ſein Befremden, da er nun den geckenhaften Uebermuth, die ſchamloſe Verlogenheit ſeines Neffen kennen lernte. Karl hatte noch immer keine Ahnung von dem Ernſt ſeiner Lage; er hoffte beſtimmt, durch die großen Mächte, deren Hilfe er angerufen, alsbald wieder eingeſetzt zu werden, und erzählte ſeinem Oheim lachend: nur aus Liebe, nur um ihn im Lande zu behalten und ſeine längſt beabſichtigte engliſche Reiſe zu ver - hindern hätten ihm die Braunſchweiger ſein Schloß angezündet. **)Bülow’s Berichte, London 16. 20. Sept. Münſter an das hannov. Miniſte - rium, 5. Oct. 1830.Durch die engliſchen Miniſter ließ er ſich indeß bereden, ſeinem Bruder, der ihm über alles Geſchehene gewiſſenhaft Bericht erſtattete, mindeſtens eine widerrufliche Vollmacht zu ertheilen (21. Sept.): Herzog Wilhelm ſollte als Generalgouverneur vorläufig die Regierung führen, jedoch nur pro - viſoriſche Ernennungen vornehmen und an den organiſchen Geſetzen nichts ändern. ***)Vollmacht Herzog Karl’s für H. Wilhelm, London 21. Sept. 1830.

Aber welch eine lächerliche Rolle ſpielte unterdeſſen der Bundestag. Die Abſtimmungen über den Bundesbeſchluß, welcher den Herzog Karl zur Anerkennung der neuen Verfaſſung nöthigen ſollte, waren noch immer nicht alle eingelaufen; da kam ſchon die Nachricht von der Vertreibung des Böſewichts. Unbeſchreiblich war der Schrecken. Alle fühlten, daß Karl’s Sturz ſelbſtverſchuldet und unwiderruflich ſei. Doch ſo leichthin wollte Oeſterreich ſeinen Schützling nicht preisgeben. Die kleinen Höfe, zumal die weitverzweigte Verwandtſchaft des Braunſchweigiſchen Hauſes, zitterten vor der Zumuthung, daß ſie die Revolution anerkennen, das legitime Fürſtenrecht verleugnen ſollten. Wirr wogten die Meinungen durch ein - ander, an raſches Handeln war gar nicht zu denken. Die rathloſe Ver - ſammlung ermannte ſich vorerſt nur zu dem Beſchluſſe, einen Bericht der braunſchweigiſchen Regierung einzufordern.

Wie hätten die Braunſchweiger in ſolcher Lage nicht die Geduld ver - lieren ſollen? Das aufgeregte Land bedurfte durchaus einer endgiltigen Ordnung. Die Landſtände verſammelten ſich und überreichten dem Herzog Wilhelm am 27. September eine Adreſſe, worin ſie, nach einer grell gefärbten Darſtellung der Landesbeſchwerden, kühnlich ausſprachen, er müſſe die Re - gierung übernehmen, weil Herzog Karl nach den Grundſätzen des allge - meinen Staatsrechts ſie unmöglich fortführen könne. Der junge Welfe106IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.war auch gern bereit, die Statthalterſchaft im Namen ſeines Bruders förm - lich anzutreten, da deſſen Vollmacht mittlerweile aus London eingetroffen war. Aber die Miniſter, die Landſtände, die Stadträthe und viele andere ungebetene Rathgeber ſtellten ihm ernſt, faſt drohend vor, nimmermehr dürfe der Name des Vertriebenen erwähnt werden, ſonſt breche der Auf - ruhr von Neuem los. Am Abend ſtrömte wieder ein Volkshaufen auf dem Burgplatze zuſammen; ein Redner kletterte auf das alte Löwendenk - mal hinauf und ließ die Verſammlung ein Pereat auf Karl, ein Hoch auf den neuen Herzog Wilhelm ausbringen.

Eingeſchüchtert durch dieſe Kundgebungen des Volkswillens, verkündigte Wilhelm am 28. September, er habe ſich veranlaßt gefunden, die Re - gierung bis auf Weiteres zu übernehmen ; von der Vollmacht ſeines Bruders ſagte er in ſeinem Patent kein Wort. Aus Furcht und jugend - licher Unerfahrenheit, keineswegs aus Ehrgeiz, that er alſo den erſten rechtswidrigen Schritt. Dem Könige von Preußen wagte er ſein Unrecht nicht einzugeſtehen, ſondern zeigte ihm nur an, daß er in Uebereinſtim - mung mit ſeinem Bruder die Regierung vorläufig übernommen habe. Seinem engliſchen Oheim gegenüber ging er freier mit der Sprache heraus: er habe, ſo ſchrieb er ihm, die Vollmacht ſeines Bruders ver - öffentlichen wollen und viele Vertrauensmänner darüber befragt; aber einmüthig ward es ausgeſprochen, daß eine ſolche Verkündigung den Zweck meiner proviſoriſchen Regierungs-Uebernahme gänzlich vereiteln, ja von Neuem eine allgemeine Gährung veranlaſſen und die gefähr - lichſten Folgen für das Wohl des Landes auch in Rückſicht meiner Perſon haben würde. *)H. Wilhelm an K. Friedrich Wilhelm 28. September, an K. Wilhelm IV. 29. Sept. 1830.Die Entſchuldigung war ſo ſchwächlich wie ſein ganzes Verfahren; denn fand er den Muth bei ſeinem erſten Entſchluſſe zu beharren, dann konnte er als unbeſtreitbar rechtmäßiger Statthalter mit Sicherheit auf die Waffenhilfe Preußens, Hannovers, ja ſelbſt des Deutſchen Bundes zählen, und gegen preußiſche Bataillone hätten die Heerſchaaren des Bürgerwehr-Majors Löbbecke ihren freien Gehorſam ſchwerlich bethätigt. Den Landſtänden erwiderte Herzog Wilhelm: er werde verſuchen ſeinen Bruder zur Abdankung zu bewegen; mißlinge dies, ſo wolle er ſie nicht hindern, ſich an den wohlwollenden König von England - Hannover zu wenden. Der Wink ward ſofort verſtanden. Noch am ſelben Tage riefen die Stände die Vermittlung Wilhelm’s IV. an: wenn nur Karl erſt die Krone niedergelegt habe, dann ſei ſein Bruder recht - mäßiger Landesherr. **)Herzog Wilhelm, Schreiben an die Landſchaft, 28. Sept. Eingabe der Land - ſchaft an König Wilhelm IV., 28. Sept. 1830.

In Berlin wie in London mußte man ſich ſagen, daß Herzog Wilhelm’s eigenmächtige That nicht mehr zurückgenommen werden konnte. Ohne107Herzog Wilhelm’s Regentſchaft.ihn ließ ſich die Beruhigung des Ländchens nicht erreichen, und auch die trotzige Haltung der Braunſchweiger entſprang keineswegs allein dem über - ſpannten Selbſtgefühle des revolutionären Philiſterthums: eine wider - rufliche Vollmacht bot, bei Karl’s Charakter, in der That keine Gewähr für dauernden Frieden. Darum ſahen beide Höfe über den begangenen Formfehler ſchweigend hinweg und bemühten ſich während der nächſten Wochen wetteifernd, den Flüchtling zu freiwilligem Verzicht zu bewegen. Der König von Preußen ſchrieb ihm ſelbſt, noch nachdrücklicher Fürſt Wittgenſtein. *)König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 16. October. Wittgenſtein an Herzog Karl, 20. Oct. 1830.König Wilhelm IV. aber unterhandelte, erſt durch Wel - lington und Aberdeen, nachher perſönlich mit ſeinem Neffen. Er verfuhr ſchonend und ſtreng ehrenhaft; ſelbſt Graf Münſter, des Herzogs alter Feind, bekundete eine unerwartete Mäßigung. Man ließ dem Herzog die Wahl, ob er gänzlich abdanken oder ſeinem Bruder mit unbeſchränkter und unwiderruflicher Vollmacht die lebenslängliche Statthalterſchaft über - tragen wolle. Auf jeden Fall darüber waren die beiden Könige einig ſollte Karl’s Nachkommen ihr Erbrecht vorbehalten bleiben. **)Wellington an Münſter, 4. Oct. Münſter an Herzog Wilhelm von Braun - ſchweig, 5. Oct. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 8. 13. Oct. 1830.

Endlich begann der Herzog einzulenken und rückte mit ſeinen Be - dingungen heraus. Er war bereit den Bruder zum General-Gouverneur auf Lebenszeit zu ernennen, verlangte aber für ſich, außer dem Hof - ſtaate und den Ehrenrechten eines Souveräns, eine jährliche Rente von 300000 Thalern, ohne Abzug, lediglich für ſeine perſönlichen Ausgaben und dies von einem Ländchen, deſſen geſammte Staatseinnahmen wenig mehr als eine Million betrugen. Außerdem ſollte der Landtag das Recht erhalten, den Herzog jederzeit zur Selbſtregierung zurückzurufen. Da nach engliſchen Anſtandsbegriffen ſolche kaufmänniſche Künſte nicht anſtößig ſind, ſo zeigten ſich Wellington und Aberdeen geneigt, Karl’s Vorſchläge im Weſentlichen anzunehmen; was kümmerte dieſe Torys die Finanznoth eines deutſchen Kleinſtaats? Münſter aber fand die Geldſumme viel zu hoch, den Vorbehalt einer Zurückberufung ganz unannehmbar. ***)Bülow’s Berichte, 15. 22. Oct. Eſterhazy’s Bericht, London 19. Oct. Münſter an Stralenheim, 2. Nov. König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 4. Nov. 1830.Noch peinlicher war der Berliner Hof überraſcht. Tief empört ſchrieb Bernſtorff nach Wien: daß Herzog Karl ſich ſträubt, iſt nicht zu verwundern; daß er aber einen ſo hohen Preis in Gelde dafür fordert, einen Preis, welchen das Land kaum erſchwingen kann, giebt einen abermaligen Be - weis von der Härte und dem grenzenloſen Egoismus ſeines Charakters. †)Bernſtorff an Maltzahn, 9. Nov. 1830.

König Friedrich Wilhelm war indeſſen längſt zu der Erkenntniß ge - langt, daß die zaudernden engliſchen Welfen eines Spornes bedurften. 108IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Er hatte den jungen Herzog zu der Reiſe nach Braunſchweig bewogen und ſich dann zurückgehalten, um dem Deutſchen Bunde und dem wel - fiſchen Hauſe nicht vorzugreifen. Aber die von Preußen früher beabſich - tigte Abſendung eines Bundescommiſſars war durch die Ereigniſſe längſt überholt. Herzog Wilhelm’s eigenmächtige Statthalterſchaft wurde von den Revolutionären allerorten als ein Regiment der Volksſouveränität geprieſen, die unſicheren Zuſtände des Landes bedrohten die ganze Nach - barſchaft. Es ward hohe Zeit, daß der Bund die Regentſchaft anerkannte und ihr alſo einen feſten Rechtsboden verſchaffte. Der König ließ daher die preußiſche Anſicht in einer ausführlichen Denkſchrift des Auswärtigen Amtes zuſammenfaſſen (29. Oct.): Die Unruhen in Braunſchweig ſeien nicht ſchlechthin anarchiſch, ſondern lediglich gegen den Herzog gerichtet geweſen, der Haß gegen ihn aber ſo glühend, daß die Deutſchen bei ſeiner Rückkehr vielleicht ſelbſt das ſchauderhafte Beiſpiel des Fürſtenmordes erleben könnten. Verſtehe er ſich nicht zu einem Verzichte, ſo bleibe, da die Reichsgerichte nicht mehr beſtünden, nur noch das eine Mittel übrig, daß die Agnaten des welfiſchen Hauſes mit Genehmigung des Bundes - tags einen endgiltigen Rechtszuſtand herſtellten. Noch deutlicher ſchrieb Bernſtorff einige Wochen darauf nach London: ſcheitern die Verhandlungen mit Herzog Karl, dann dürfen ſie nicht von Neuem aufgenommen werden, ſondern die Agnaten müſſen den Vertriebenen für regierungsunfähig erklären und dieſen Beſchluß durch den Bundestag gutheißen laſſen. *)Denkſchrift des Auswärtigen Amtes, die gegenwärtige Lage des Herzogthums Braunſchweig betr., 29. Oct. Bernſtorff, Weiſung an Bülow, 17. Nov. 1830.Die Denkſchrift wurde nach London, Hannover und Frankfurt, erſt ſpäter nach Wien geſendet. Eichhorn ſelbſt hatte ſie ſorgfältig umgearbeitet und Alles klug darauf berechnet, die hannoverſche Regierung vorwärts zu drängen, ohne doch den immer wachen Argwohn des Grafen Münſter gegen Preußens hegemoniſche Gelüſte aufzureizen. Der Streich gelang. Münſter eignete ſich die preußiſchen Anſichten vollſtändig an und wieder - holte ſie in einer Denkſchrift für den hannoverſchen Bundesgeſandten, welche das gemeinſame Vorgehen der beiden Kronen in Frankfurt vor - bereiten ſollte. **)Bülow’s Bericht, 20. Nov. Münſter an Herzog Wilhelm, 16. Nov. 1830.Herzog Wilhelm aber ſprach, ſichtlich erleichtert, dem Berliner Hofe ſeinen Dank aus; er erbat und erhielt die Erlaubniß, ſich auf die preußiſche Denkſchrift zu berufen, falls er in die Lage käme, ſein Verbleiben in Braunſchweig vor den deutſchen Fürſten zu rechtfertigen. ***)Herzog Wilhelm an Wittgenſtein, 16. November. Bernſtorff an Wittgenſtein, 21. Nov. 1830.

Zunächſt mußte der Bundestag die ſo ſchmählich verſchleppte Be - ſchwerde der Landſtände gegen Herzog Karl endlich erledigen. Bis zum letzten Augenblicke verſuchte Graf Münch unter allerhand Vorwänden dieſe Entſcheidung zu hintertreiben; grenzenlos war die Nachſicht des Hauſes109Verhandlungen mit Herzog Karl.Oeſterreich für den verächtlichſten der deutſchen Fürſten. Aber Nagler blieb ſtandhaft, und am 4. November zwei Monate nach der Flucht des Welfen beſchloß die Bundesverſammlung dem Herzog Karl zu eröffnen, daß er die Landſchaftsordnung von 1820 nur auf verfaſſungsmäßigem Wege abändern dürfe. Wie lächerlich auch dieſer Beſchluß in der gänzlich veränderten Lage klingen mochte, er war doch nothwendig, er ſicherte den unglücklichen Braunſchweigern mindeſtens ihre neue Verfaſſung. Preußens Triumph war vollſtändig, und ingrimmig nannte Metternich im vertrauten Kreiſe den einſt ſo hochgeſchätzten Nagler einen verkappten Jacobiner. Außer Oeſterreich hatten nur der unverbeſſerliche Kurfürſt von Heſſen und Münch’s getreuer Trabant, der Stimmführer der ſechzehnten Curie Leonhardi gegen den Beſchluß geſtimmt. *)Nagler’s Berichte, 26. 31. Oct. 6. Nov. 1830.Nun erſt konnte man an die Frage des Augenblicks herantreten. An die Wiedereinſetzung des Herzogs Karl glaubte eigentlich Niemand mehr, nicht einmal der ſtrengſte aller Legitimiſten Czar Nikolaus. Der antwortete auf den Hilferuf des Flüch - tigen: Wenn ich die Ereigniſſe, von denen Sie mir ſprechen, beklage, ſo beklage ich doch nicht weniger die verhängnißvollen Verirrungen, welche ſie hervorgerufen haben, und die Täuſchungen, welche Ew. Durchlaucht noch über ihre unvermeidlichen Folgen zu hegen ſcheinen. **)Kaiſer Nikolaus an Herzog Karl von Braunſchweig, 25. Nov. (a. St.) 1830.Auch Met - ternich hatte dem preußiſchen Geſandten wiederholt ausgeſprochen, daß Karl jetzt unmöglich ſei, und Kaiſer Franz ſogar einen freundlichen Brief an Herzog Wilhelm gerichtet. Aber wie zweideutig blieb bei Alledem Oeſterreichs Haltung. Als der neue k. k. Geſandte, Hruby, in Braun - ſchweig erſchien, brachte er ein Beglaubigungsſchreiben an Herzog Karl mit, und dies Schreiben ſollte er dem Bruder des Herzogs als deſſen Stellvertreter überreichen. ***)Maltzahn’s Bericht, 7. Oct. Kaiſer Franz an H. Wilhelm v. Braunſchweig, 17. Oct. 1830.Münch begann unterdeſſen wieder ſein altes Spiel gegen Nagler, und bei der ängſtlichen Zerfahrenheit der Verſamm - lung durfte er wohl hoffen die Entſcheidung abermals hinauszuzögern. Da wurde der Bundestag durch eine neue Thorheit des flüchtigen Welfen zum Handeln gezwungen.

Am 8. November hatte Karl die Verhandlungen mit den engliſchen Miniſtern plötzlich abgebrochen, am folgenden Tage war er aus England verſchwunden. Acht Tage ſpäter tauchte er in der Frankfurter Gegend wieder auf; der Jude Henrici, der ſoeben aus dem Londoner Schuldge - fängniß entlaſſene vormalige bairiſche Lieutenant Bender v. Bienenthal und einige andere Abenteurer gleichen Schlages bildeten ſein Gefolge. Er kam mit gefüllten Taſchen und war entſchloſſen, ſich mit einer Frei - ſchaar die Krone zurückzuerobern. Da Herzog Wilhelm ſeiner Vollmacht nicht öffentlich erwähnt hatte, ſo betrachtete Karl ihn fortan als Feind,110IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.nahm am 16. November die Vollmacht förmlich zurück und forderte den Bruder auf, ſich zu einer Unterredung in Fulda einzufinden. Die Braun - ſchweiger aber wollten ihren Regenten nicht ziehen laſſen; ſie fürchteten im Ernſt ſo ſtark hatten ſich die Gemüther erhitzt Karl werde den Bruder vergiften. Daß ich dergleichen Beſorgniſſe nicht hege, bedarf wohl weiter keiner Verſicherung ſchrieb Herzog Wilhelm an Wittgen - ſtein, indeß wagte er auch nicht der Einladung, die ja doch keinen Er - folg verhieß, zu entſprechen. *)H. Wilhelm an Wittgenſtein, 21. Nov. 1830.Wie fühlte er ſich wieder ſo unſicher und verlegen. Die Zurücknahme der Vollmacht zog ihm den Rechtsboden unter den Füßen hinweg; ſeine Statthalterſchaft war nunmehr nicht blos der Form ſondern auch der Sache nach eine rechtswidrige Uſurpation. Wieder wendete er ſich nach Berlin um Hilfe und geſtand ſeinem Wittgen - ſtein: Wenn ich nicht öffentlich erklären darf, daß die Könige von Preußen und Hannover mein Verbleiben wünſchen, ſo werde ich wohl nicht um - hin können mich von hier zu entfernen . Die preußiſche Antwort ver - ſtand ſich von ſelbſt. Unmöglich durfte man dem vertriebenen Welfen geſtatten, durch einen launiſchen Einfall den mühſam hergeſtellten vor - läufigen Rechtszuſtand wieder über den Haufen zu werfen. Der junge Herzog wurde aufgefordert, auch nach dem Erlöſchen der Vollmacht in ſeiner Stellung auszuharren. **)H. Wilhelm an Wittgenſtein 22. Nov. Bernſtorff’s Bericht an den König, 30. Nov., und Antwort an H. Wilhelm, 30. Nov. 1830.

Noch bevor die Erwiderung aus Berlin eintraf, hatten ſich die Braun - ſchweiger ſelber geregt. Auf die Kunde von dem Herannahen des verab - ſcheuten kleinen Tyrannen gerieth das Land wieder in fieberiſche Unruhe. Die Bürgerwehr gelobte in einer ſtürmiſchen Verſammlung feierlich, nur dem Herzog Wilhelm zu gehorchen, und das Gleiche beſchloſſen ein in Deutſchland unerhörter Fall auch die Offiziere des kleinen Heeres. Das war der Fluch der Trägheit des Deutſchen Bundes. Faſt ein Viertel - jahr lang hatte er das unglückliche Land ſich ſelber überlaſſen, und nun waren alle Rechtsbegriffe ſchon dermaßen verwirrt, daß ſelbſt der Fahnen - eid dieſer durch Muth und Treue gleich berühmten Truppe nicht mehr Stand hielt. Magiſtrat und Stadtverordnete der Hauptſtadt verſicherten dem jungen Herzog in einer pathetiſchen Adreſſe: Die Sündenſchaar wird ihr boshaftes Treiben ſo lange fortſetzen bis die dauernde Regierung unſeres neuen Landesherrn außer allem Zweifel ſteht. Und der wackere Bürgermeiſter Bode fügte in einem Begleitſchreiben hinzu: Sollten Rück - ſchritte dem alten, über alle Beſchreibung drückenden und ſchaudervollen Zuſtande wieder näher führen, ſo will ich lieber nicht leben als an der Spitze einer nach und nach entwürdigten oder zur deſperaten Wuth gereizten Bürgerſchaft ſtehen. ***)Adreſſe von Magiſtrat und Stadtverordneten Braunſchweigs, 23. November.Dem gefeierten Herzog war bei dieſen Huldigungen111Karl’s verſuchte Rückkehr.ſehr übel zu Muthe; das Betragen der Offiziere ſchmerzte ihn tief, und traurig bekannte er dem väterlichen Wittgenſtein: Die Verhältniſſe nöthigen mich, alle dieſe Dinge ſtillſchweigend gut zu heißen. *)H. Wilhelm an Wittgenſtein, 24. Nov. 1830.Aber auch diesmal ließ er ſich von der Strömung treiben und geſtand in einer Proclamation vom 26. Nov.: er habe die Regierung nicht ohne die Zuſtimmung ſeines Bruders übernommen; obgleich dieſe Zuſtimmung zu ſeinem innigſten Bedauern jetzt aufgehört habe, ſo wolle er doch auf ſeiner Stelle bleiben, da Herzog Karl außer Stande ſei ſelbſt zu regieren. Und wieder ent - ſchuldigte er ſich vor dem preußiſchen Hofe: der Schritt ſei durch die all - gemeine Gährung geboten worden. **)H. Wilhelm an König Friedrich Wilhelm 26. Nov.; an Bernſtorff 26. Nov. 1830.

Herzog Karl war unterdeſſen in dem preußiſchen Städtchen Ellrich am ſüdlichen Abhange des Harzes eingetroffen. Dort warb er einen Haufen müſſigen Volkes, ließ das Geſindel tellergroße franzöſiſche Kokar - den, die er aus Metz mitgebracht, auf die Mützen ſtecken, und führte ſeine Bande am 30. November gegen die nahe braunſchweigiſche Grenze. Er ſpielte jetzt ganz den internationalen Demagogen, verſprach ſeinem Volke in aberwitzigen Manifeſten Abſchaffung des Heeres, Ablöſung der Zehnten, Steuerfreiheit für die niederen Klaſſen, Schwurgerichte, gewählte Volksvertreter und Beamte. Auch einen gefälſchten Aufruf ſeines Bruders führte er in zahlreichen Abzügen mit ſich: darin mahnte Herzog Wilhelm die Unterthanen, ihre Gemüther nur den Verheißungen und dem guten Willen Unſeres Bruders zu öffnen. ***)Proclamation Herzog Wilhelm’s, 28. Nov. 1830, von Herzog Karl verfaßt.An der Grenze, bei Zorge ſtanden die ſchwarzen Jäger, die noch den Namenszug Karl’s auf den Tſchackos trugen; doch weder die Offiziere noch die Mannſchaft wollten dem Kriegs - herrn folgen, als dieſer halb berauſcht und weinend ſie zu überreden ſuchte. Sobald die Truppen ſich zum Feuern fertig machten, ergriff der Welfe zum dritten male die Flucht, ehe noch ein Schuß gefallen war; ſeine Bande ſtob auseinander, und die aufgefundenen blauweißrothen Kokarden wurden nachher den Depeſchen der Diplomatie beigelegt um die jacobiniſchen Pläne dieſes legitimen Fürſten handgreiflich zu erweiſen. Mit dem Stolze des Helden berichtete ſodann der Jägerhauptmann Berner von der unblutigen Schlacht, die ſich an dieſem in der Geſchichte ewig denkwürdigen Platze abgeſpielt hatte. †)Hauptmann Berner, Bericht an Oberſt v. Wachholz, 1. Dec. 1830.Karl eilte weſtwärts, und als ſich unterwegs in Oſterode drohendes Volk vor ſeinem Gaſthauſe zuſammen - rottete, ſuchte er zum vierten male ſein Heil in der Flucht, bis er end - lich die Grenzen Frankreichs erreichte.

Dieſe widerlichen Narrenſtreiche ſtießen dem Faſſe doch den Boden***)Bode, Begleitſchreiben an einen Kammerherrn (vermuthlich v. Hohnhorſt), 24. No - vember 1830.112IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.aus. Daß ein ſolcher Menſch dem deutſchen hohen Adel nicht mehr an - gehören durfte, leuchtete ſchließlich Allen ein. Karl konnte ſich auf ſein unbeſtreitbares Fürſtenrecht berufen; nun hatte er ſelber den Pöbel auf - gehetzt, den Landfrieden des preußiſchen Staates geſtört, und in Berlin war man ſchon entſchloſſen ihn aufheben zu laſſen. Jetzt erſt, nachdem Karl ſelber die gütlichen Verhandlungen abgebrochen, beantwortete der bedächtige König von England die Adreſſe des braunſchweigiſchen Stände - Ausſchuſſes vom September und verſicherte die Landſtände ſeines Schutzes. Selbſt Kaiſer Franz erklärte dem Herzog Wilhelm ſeine volle Zuſtim - mung zu den unvermeidlichen Entſchlüſſen der letzten Tage. *)K. Wilhelm IV. Antwort auf die Adreſſe des Landſtändiſchen Ausſchuſſes, 21. Nov.Am Bun - destage war Alles verwandelt; außer dem kurheſſiſchen Geſandten beſtritt Niemand mehr, daß Karl zum Regieren unfähig ſei. Münch’s Zauder - künſte hörten auf, die Anſichten Preußens und Hannovers fanden raſch Anklang, und ſchon am 3. December einigte ſich der Bundestag über einen Beſchluß, dem nur einzelne Regierungen nach altem Bundes - brauche noch einen Vorbehalt anhingen. Herzog Wilhelm wurde erſucht die Regierung bis auf Weiteres zu führen , den Agnaten aber ward anheimgegeben, die definitive Anordnung für die Zukunft zu bewirken und ſie dem Deutſchen Bunde zur Anerkennung mitzutheilen. Der junge Herzog athmete auf und beeilte ſich, den erſten Theil des Beſchluſſes ſeinem Lande mitzutheilen. Nun hatte er doch wieder einen Rückhalt: er regierte fortan im Auftrage des Deutſchen Bundes.

Freilich nur bis auf Weiteres . Und ſeine Stellung ward mit jedem Tage unhaltbarer. Karl verwahrte ſich ſogleich wider den Bundesbeſchluß; er erklärte dem Könige von Preußen: einem ſeiner ſouveränen Mit - fürſten wolle er wohl die Verwaltung des Landes anvertrauen, doch nimmermehr dieſem Bruder; und drei Wochen darauf bot er ſelber dem Bruder an, ihn zum Mitregenten oder zum proviſoriſchen Regenten zu er - nennen, aber immer mit dem Vorbehalte: niemals werde ich auf meine Lan - deshoheits - und Regierungsrechte zu Gunſten eines Dritten verzichten. **)H. Karl an K. Friedrich Wilhelm, 1. Jan., an H. Wilhelm 25. 26. Jan. 1831.Als Herzog Wilhelm auf dieſe unklaren und ſchwerlich ehrlich gemeinten Vorſchläge nicht einging, wurde er von dem Flüchtling mit Schmähungen überſchüttet. Wie durfte man ihm zumuthen, auf die Dauer die Statt - halterſchaft zu führen für einen Fürſten, der ihn ſoeben mit den Waffen anzugreifen verſucht hatte, der ihn öffentlich als Rebellen und Verräther brandmarkte? Das neue Miniſterium, das er ſich aus tüchtigen Männern gebildet und der gewandten Leitung des Frhrn. v. Schleinitz unterſtellt hatte, war ſchon längſt der Meinung, daß der Herzog die Regierung de - finitiv übernehmen müſſe. ***)Schreiben des braunſchweigiſchen Miniſteriums an den hannov. Miniſter v. Stralenheim, 4. 5. Dec. 1830.Wie ein Mann forderte das ganze Land113Die welfiſche Erbfolgefrage.den Uebergang der Herzogskrone an den jüngeren Bruder. Und nun faßte ſich auch der junge Welfe ſelbſt ein Herz und erklärte dem hanno - verſchen Miniſter Stralenheim in hellem Zorne: im Namen Karl’s könne er nicht regieren; er wolle auch nicht in die Lage kommen, etwa für einen minderjährigen Sohn ſeines Bruders die Vormundſchaft zu führen, um dann vielleicht den gleichen Undank zu erleben wie einſt König Georg IV. und ſein Alter in Elend und Sorge zu verbringen. *)Stralenheim an Münſter, Braunſchweig 5. December. Reden an Bernſtorff, 28. December 1830.Dieſe Sprache verfehlte in London ihre Wirkung nicht ganz. Legte der junge Welfe die Regentſchaft nieder, ſo mußte der König von Hannover als nächſter Agnat ſie übernehmen, und ſolche Ausſichten erſchienen ſeinen Räthen, nach den bitteren Erfahrungen früherer Jahre, ſehr unheimlich. Daher ſprach ſich Graf Münſter jetzt für Herzog Wilhelm’s Anſicht aus: der junge Herr habe auch eine Stimme und könne zur Fortführung der Regentſchaft nicht gezwungen werden. **)Münſter an Stralenheim 7. Dec., an Reden 17. Dec., an die Geſandtſchaften in Wien, Berlin, Frankfurt, 17. Dec. 1830.Nur König Wilhelm IV. wollte ſeine Rechts - bedenken nicht aufgeben; das ungeſtüme Drängen der Braunſchweiger verletzte ſeinen Welfenſtolz, und er ſchrieb dem Neffen: Die Form, ob Sie in eigenem oder in Ihres Herrn Bruders Namen regieren würden, ſchien mir von weniger Wichtigkeit zu ſein, und ich geſtehe Euer Liebden unverhohlen, daß die daſigen Unterthanen ſich zu viel herausnehmen würden, wenn ſie ſich dem Gebrauche von Formen ſich zu widerſetzen das Anſehen geben würden, welche das Völker - und Fürſten-Recht geheiligt hat. ***)König Wilhelm IV. an Herzog Wilhelm, 23. Dec. 1830.

Hinter allen dieſen Bedenken ſtand als ſchwerſtes die Frage der Erb - folge, die bei freiwilligem Verzichte des Herzogs Karl ſich leicht löſen ließ, jetzt aber ganz unentwirrbar ſchien. Wurde dem jüngeren Bruder die Herzogskrone übertragen und dennoch den Nachkommen des älteren, nach der urſprünglichen Abſicht aller Agnaten, das Erbfolgerecht vorbehalten, ſo war mit Sicherheit vorauszuſehen, daß Karl, wie vormals Anton Ulrich von Meiningen, aus Bosheit ſofort heirathete und eine furchtbare Schaar rechtmäßiger Erben erzeugte; eine ebenbürtige Gemahlin aus einem kleinen mediatiſirten Hauſe hätte ſich leicht gefunden. Sollte dann Herzog Wilhelm gehalten ſein, die Krone zu Gunſten eines Neffen niederzulegen? Faſt noch gefährlicher ſchien es, den Mannsſtamm des jüngeren Bruders kurzweg zur Thronfolge zu berufen. Die Reichsacht alter Zeiten hatte zwar regelmäßig der ungeborenen Nachkommenſchaft des Aechters ihre Erbanſprüche genommen; aber wie durften die Agnaten eines ſouveränen Bundesfürſten ſich eine ſolche Strafgewalt anmaßen? Bedenken alſo und Zweifel überall. Das Bundesrecht gab keine Antwort; ohne die MajeſtätTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 8114IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.von Kaiſer und Reich war die Frage rechtlich nicht zu löſen. Die Welfen wußten ſich wieder nicht zu helfen, und wieder mußte Preußen ſie vor - wärts treiben.

König Friedrich Wilhelm zeigte ſich in dieſem Handel überraſchend feſt und ſicher. Wie tief er auch von der Heiligkeit des monarchiſchen Rechtes durchdrungen war, ſo ſagte ihm doch ſein ehrliches Gewiſſen, daß jedem menſchlichen Rechte eine letzte Schranke geſetzt iſt. Er hielt es für eine ſittliche Pflicht, den deutſchen Fürſtenſtand von einem Unwürdigen zu befreien, und für ein Gebot der Klugheit, der Nation in dieſer Zeit der Gährung zu beweiſen, daß mindeſtens das Uebermaß fürſtlicher Will - kür in Deutſchland nicht geduldet werde. Kurz und kühl erwiderte er auf einen neuen Brief des Flüchtlings: die Agnaten und dann der Bund hätten noch einmal zu ſprechen, die deutſchen Fürſten würden Alles aus dem Geſichtspunkt fürſtlicher Ehre und Würde in ſorgfältige Erwägung ziehen . *)König Friedrich Wilhelm an Herzog Karl, 19. Jan. 1831.Weder die legitimiſtiſchen Doctrinen ſeines Schwagers Karl von Mecklenburg noch die Bitten der braunſchweigiſchen Verwandtſchaft ver - mochten ihn umzuſtimmen. Als Karl’s Großmutter, die greiſe, halb erblindete Markgräfin Amalie von Baden und deren Tochter, die Königin - Wittwe Karoline von Baiern ihm nach Frauenart vorſtellten, der Ver - bannte werde durch ſein ſchreckliches Unglück hoffentlich gebeſſert wer - den, da antwortete der König: Zur Wiederherſtellung der Ordnung im Herzogthum und zur Sicherung der Ruhe in den Nachbarlanden giebt es nur das eine Mittel: die Regierungsunfähigkeit, wovon Herzog Karl nur zu arge Proben gegeben hat, förmlich anzuerkennen und die Staats - gewalt in den Händen ſeines Bruders geſetzlich zu befeſtigen. **)Markgr. Amalie an K. Karoline, 30. Nov. K. Karoline an K. Friedrich Wilhelm, 3. Dec. Antwort, 16. Dec. 1830.

In dieſem Sinne war auch die neue Denkſchrift gehalten, welche das Auswärtige Amt am 9. Jan. 1831 dem hannoverſchen Geſandten Reden für die Agnaten übergab. Sie führte aus: nachdem die Statthalterſchaft durch Karl’s letzte Schritte unmöglich geworden, ſollten die Agnaten nicht als Richter auftreten, ſondern lediglich die Thatſache der abſoluten Re - gierungsunfähigkeit des Herzogs feſtſtellen. Eine in Ausübung der Regierungsgewalt bewieſene Bösartigkeit, welche gerade wegen der dabei vorhandenen völligen Zurechnungsfähigkeit die Gemüther ſeiner Unter - thanen gegen ihn empört hat, macht ihn unfähig zu regieren, weil der Eindruck ſeiner Handlungen nicht ausgelöſcht zu werden vermag. Solche Pflichtverletzungen würden, von einem Privatmann begangen, nicht zur Entmündigung führen, ſondern ganz andere Folgen haben . Iſt die Thatſache der Regierungsunfähigkeit Karl’s durch die Agnaten förmlich anerkannt, ſo übernimmt Herzog Wilhelm, nicht durch Uebertragung, ſon -115Preußen treibt die Agnaten vorwärts.dern kraft ſeines eigenen Rechtes als nächſter Erbe ohne Weiteres die Krone. Die ſchwierige Frage des Erbfolgerechtes der Nachkommen wird für jetzt offen gelaſſen, da die herzoglichen Brüder beide noch unvermählt ſind, und gegebenen Falles ſpäterhin noch eine Entſcheidung getroffen werden kann.

So Preußens Rath. In einer ergänzenden Denkſchrift geſtand Eichhorn nachher ſelber: dieſe Sätze ſind wirklich als ein Extrem zu betrachten, über welches ohne Verletzung des Legitimitätsprincips nicht hinausgegangen werden könnte . *)Denkſchriften des Auswärtigen Amtes: für die Agnaten 9. Januar, für den Wiener Hof 4. März 1831.In Wahrheit enthielten Preußens Vorſchläge ſchon einen offenbaren Bruch des legitimen Rechtes; denn ſie verlangten, daß ein unverantwortlicher Souverän zur Strafe für ſeine Unthaten abgeſetzt würde. Dies ließ ſich rechtlich um ſo weniger begrün - den, da Herzog Karl nicht einmal förmlich gehört wurde, und der Rath der Agnaten nur aus den regierenden Herren der beiden welfiſchen Linien beſtand, von denen der eine, Herzog Wilhelm, unzweifelhaft ein Uſur - pator wider Willen war. Aber nach Allem, was geſchehen, war der Rechtsbruch unvermeidlich, an die Wiederherſtellung des Vertriebenen ließ ſich gar nicht mehr denken, und entſchloß man ſich einmal anzuerkennen, daß Noth kein Gebot kennt, ſo blieb es immerhin noch der leidlichſte Aus - weg, wenn der jüngere Bruder kraft Geburtsrechts in die Stelle des Entthronten eintrat. Die Vertagung der Erbfolgefrage ergab ſich von ſelbſt aus der Verlegenheit, denn aus einem Rechtsbruche laſſen ſich Rechtsgrundſätze ſchlechterdings nicht ableiten. Man ſcheute ſich die Rechts - verletzung weiter zu treiben, als es die Nothlage des Augenblicks ver - langte, und die Nachkommenſchaft Herzog Karl’s ihrer Erbanſprüche geradezu zu berauben; aber man wollte dieſe Rechte auch nicht aus - drücklich anerkennen, damit nicht Karl eine Ehe ſchlöſſe, welche die Ver - wirrung in dem Ländchen nur ſteigern konnte. Warum der Zukunft vorgreifen? War es nicht möglich, daß eine förmliche Entſcheidung der Frage ganz überflüſſig wurde? daß der ausſchweifende Karl frühzeitig kinderlos ſtarb und dann das Thronfolgerecht der Nachkommen Herzog Wilhelm’s unanfechtbar daſtand? Solche Erwägungen lagen nahe genug. Schon während der Verhandlungen der letzten Monate hatten beide wel - fiſche Höfe, zuerſt Braunſchweig, dann Hannover, die Meinung geäußert, man handle vielleicht am klügſten, wenn man die allerdings delicate Erbfolgefrage vorderhand unberührt laſſe. **)Zuerſt das braunſchweigiſche Miniſterium in ſeiner Denkſchrift für Stralenheim vom 4. December 1830.

Als nun die Vorſchläge Preußens einliefen, ergriffen die Agnaten noch - mals mit Freuden die dargebotene Hand. Der Herzog von Cambridge8*116IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.beſprach ſich im Januar perſönlich mit Herzog Wilhelm; die beiden Höfe eigneten ſich ſogar den Wortlaut der preußiſchen Denkſchrift großentheils an und ließen am 10. März im Bundestage erklären: nachdem ſie die Ueberzeugung von der abſoluten Regierungsunfähigkeit des Herzogs Karl gewonnen hätten, ſei die Regierung des Herzogthums als erledigt an - zuſehen und nunmehr definitiv auf den nächſten Agnaten Herzog Wilhelm übergegangen.

Welch ein Aufruhr am Bundestage, als dieſe Erklärung verleſen wurde! Schon auf die erſte Andeutung, daß Herzog Wilhelm die Krone für ſich verlange, hatte Metternich dem preußiſchen Geſandten in hellem Zorne zugerufen: Ich kann und will es noch nicht glauben. Sollte dies aber wider Verhoffen die eigene Anſicht dieſes jungen Fürſten ſein, ſo würde ich darin nur mit Bedauern einen Beweis finden können, daß derſelbe nicht würdig ſei, die ihm anvertraute Stellung auszufüllen. *)Maltzahn’s Bericht, 7. Jan. 1831.Sein legitimiſtiſcher Feuereifer verwickelte den Staatskanzler in die ſelt - ſamſten Widerſprüche. Die abſolute Regierungsunfähigkeit des Herzogs Karl geſtand er ausdrücklich zu, und gleichwohl verlangte er in einer Denkſchrift für den Hof von Hannover, daß Herzog Wilhelm nur die Statthalterſchaft für ſeinen Bruder führen, die Braunſchweiger ihm nicht huldigen, ſon - dern nur einen Paritions-Eid leiſten dürften. Dieſe Sophismen gefielen ihm ſelber ſo wohl, daß er ſie auch nach Berlin ſendete und mit ge - wohnter Anſpruchsloſigkeit dazu bemerkte: Wir ſchmeicheln uns, dieſe Ausführung als ſtreng correct bezeichnen zu dürfen. **)Metternich, Promemoria an den hannov. Geſandten v. Bodenhauſen 29. Jan., an Trauttmansdorff 4. Febr. 1831.Und doch war eine gegen den ausgeſprochenen Willen des legitimen Fürſten geführte Statthalterſchaft um kein Haarbreit rechtmäßiger als eine uſurpirte Her - zogswürde. Darauf entſpann ſich ein ſehr lebhafter Meinungsaustauſch zwiſchen den beiden deutſchen Großmächten. Metternich blieb hartnäckig bei ſeiner Behauptung, daß allein die illegitime Statthalterſchaft der Correctheit entſpreche; der kaiſerliche Hof müſſe freilich, um die Braun - ſchweiger nicht aufzuregen, Alles geſchehen laſſen was die Agnaten be - ſchlöſſen; doch unmöglich könne er ihrer Erklärung zuſtimmen, die auf eine ſo unnöthige, ſophiſtiſche und empörende Weiſe alle Grundſätze der Legitimität über den Haufen werfe . ***)Maltzahn’s Bericht, Wien 4. März 1831.Das Alles klang ſo räthſelhaft, daß man in Berlin anfangs an ein Mißverſtändniß glaubte. Da erfuhr man durch den öſterreichiſchen Geſandten Hruby in Hannover, daß Kaiſer Franz ſelber und ſeine dem Braunſchweiger nahe verwandte bairiſche Gemahlin hinter Metternich ſtanden. Nun war keine Hoffnung mehr; am 24. März ließ Bernſtorff nach Wien ſchreiben, er bedauere, daß eine117Anträge der Agnaten am Bundestage.Verſtändigung mit Oeſterreich unmöglich ſei. *)Graf Maltzan’s Bericht, Hannover 6. März. Weiſung an Frhrn. v. Maltzahn in Wien, 24. März 1831.Wenn die Großmächte ſich nicht einigen konnten, ſo noch weit weniger die anderen Bundes - ſtaaten. Ein kläglicher Anblick, wie die kleinen Ameiſen in dem Sand - haufen des Bundesrechts ängſtlich durch einander wimmelten, nachdem der Stecken der Revolution ſeine Furchen querdurch gezogen hatte. Wie - der begann Graf Münch ſeine alten Künſte, und wieder zog der Streit ſich unabſehbar in die Länge.

Mittlerweile geſtaltete ſich die Lage des Herzogthums täglich unleid - licher. Die Braunſchweiger nannten den jungen Welfen in Reden und Schriften unſeren rechtmäßigen, durch den Willen des Volkes erwählten Fürſten , ſie waren mit ihrer revolutionären Rechtsweisheit längſt im Reinen. Ihr Ober-Appellationsrath K. F. v. Strombeck, ein Bureau - krat aus der Schule des Königreichs Weſtphalen, hatte ihnen ſchon bald nach dem Schloßbrande in einer Flugſchrift die Frage beantwortet: Was iſt Rechtens, wenn die oberſte Staatsgewalt dem Zwecke des Staatsver - bandes entgegenhandelt? Da wurden aus der alten, von der hiſtoriſchen Rechtsſchule längſt überwundenen, Staatsvertragslehre ſchnellfertig kecke Schlüſſe gezogen, die der Halbbildung einleuchten mußten: wenn der Fürſt ſeine Vertragspflichten verletzt, ſo ſind die Unterthanen ihrerſeits berechtigt ihm den Gehorſam aufzukündigen. Die neue Regierung fühlte ſelbſt ſehr lebhaft, daß ſolche Doctrinen das Weſen der Monarchie aufheben; ſie hätte ihren unbequemen Vertheidiger gern beſtraft, aber ſie wagte es nicht weil ſie Unruhen beſorgte. **)Schreiben des braunſchw. Miniſteriums an den Bundesgeſandten v. Marſchall, 21. Nov. 1830.Ihre Furcht ſtieg noch als im März ruchbar wurde, daß die Erklärung der Agnaten im Bundestage auf Wider - ſpruch geſtoßen ſei. Länger wollte das Land die quälende Ungewißheit nicht mehr ertragen; mit wachſender Erbitterung beſprach man die Lage, und ſchon ward die Frage laut, ob man nicht durch Selbſthilfe dem zaudernden Bundestage zuvorkommen ſolle. Am 25. April ſtand das Geburtsfeſt des Herzogs Wilhelm bevor, das ganze Ländchen rüſtete ſich den Tag feſtlich zu begehen. Wie nun, wenn alle Gemeinden dann gleichzeitig dem neuen Landesherrn freiwillig den Huldigungseid leiſteten? Der Plan konnte ſehr leicht gelingen, er entſprach den allgemeinen Wünſchen und Herzog Wilhelm war nicht der Mann ihn gewaltſam zu hintertreiben; gelang er aber, ſo erlebte Deutſchland das für einen Fürſten - bund hochgefährliche Beiſpiel einer demokratiſchen Fürſtenwahl, und wer ſollte dann die vollzogene Kundgebung der Volksſouveränität rückgängig machen? ***)Berichte des Grafen Maltzan, Hannover 29. März, 1. April. Graf Veltheim an Bernſtorff, 11. April 1831.

118IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Der junge Welfe war in Verzweiflung. Das ſtand ihm feſt, daß er nur als Herzog, nicht als Statthalter ſeines erklärten Feindes regieren konnte; aber wenn die Bundesverſammlung ihm die Thronbeſteigung nicht geſtatten wollte, dann war er ſchon halb entſchloſſen die Regierung nieder - zulegen und ſofort abzureiſen. Von Hannover hatte er raſches Eingreifen nicht zu erwarten; dort war der Bedenklichkeiten abermals kein Ende und nur der eine Rath zu erlangen, daß man mit der äußerſten Vorſicht verfahren müſſe. *)Schleinitz an Stralenheim, 8. März, Antwort 14. März. Graf Bremer, Miniſterialſchreiben an das braunſchw. Miniſterium, Hannover 2. April 1831.So blieb wieder nur Preußens Hilfe übrig. Am 7. April zeigte der Herzog ſeinem Freunde Wittgenſtein an, daß er den Grafen Veltheim, den er inzwiſchen in ſein Miniſterium berufen hatte, abermals mit vertraulichen Aufträgen nach Berlin ſenden werde.

Noch ehe Veltheim eintraf, hatte der preußiſche Hof ſeinen Entſchluß gefaßt. Als Schutzmacht des deutſchen Nordens konnte Preußen es nicht verantworten, daß der unſichere Zuſtand in dem Herzogthume noch länger währte; die von den Braunſchweigern geplante eigenmächtige Huldigung mußte auf jeden Fall verhindert werden. Darum ſollte Herzog Wilhelm ſofort als rechtmäßiger Erbe des durch die Agnaten für regierungsunfähig erklärten Herzogs die Krone übernehmen und noch vor ſeinem Geburts - tage den Unterthanen die Eidesleiſtung anbefehlen. Eine richterliche Ent - ſcheidung über den Beſchluß der Agnaten ſtand dem Bundestage nicht zu; er hatte nur das Recht den neuen Herzog als Mitglied des Deutſchen Bundes anzuerkennen, und dieſe Anerkennung konnte er auch nachträglich, nach erfolgtem Regierungswechſel ausſprechen. In ſolchem Sinne ant - wortete Bernſtorff auf Veltheim’s Frage, was nun zu thun ſei; er be - dauerte, daß die Uneinigkeit des Bundestags zu ſolchen Schritten nöthige, aber Preußen habe ſeine Anſicht nie verhehlt und werde den jungen Herzog auch jetzt nicht verlaſſen. **)Eichhorn, Weiſung an Graf Maltzan, 8. Apr. Bernſtorff an Veltheim, 14. Apr. 1831.Bei den guten Rathſchlägen blieb es nicht. Eichhorn ſelbſt, der dieſen Handel ebenſo eifrig betrieb wie die Zollvereins - ſache, prüfte die von Veltheim vorgelegten Entwürfe für das Patent, das der Herzog bei ſeinem Regierungsantritt erlaſſen ſollte, und da er ſie alle ungenügend fand, ſo ſchrieb er eigenhändig ein neues Patent. ***)Eichhorn, Entwurf für das Patent des Herzogs Wilhelm, o. D., am 16. April 1831 von Graf Veltheim zurückgeſchickt.Mit einer Abſchrift davon eilte Veltheim nach Braunſchweig zurück. Alſo des preußiſchen Beiſtandes ſicher ſchöpfte der junge Herzog friſchen Muth; er nahm den Entwurf Eichhorn’s Wort für Wort an und ſendete gerührt ſeinen Dank: Ohne den kräftigen Beiſtand, welchen der königliche Hof dieſer für mich und das Land ſo hochwichtigen Angelegenheit hat ange - deihen laſſen, wäre ſie wohl nie zu dem erwünſchten Ziele gelangt. †)Herzog Wilhelm an Wittgenſtein, 16. 19. April 1831.

119Thronbeſteigung Herzog Wilhelm’s.

Am 20. April überraſchte er ſein Land durch die Veröffentlichung des Patents. Eichhorn hatte die Worte ſo gewählt, daß der Bundestag an der vollendeten Thatſache nichts mehr ändern konnte; nachdem der Herzog ſeinen Regierungsantritt verkündigt und vor dem Lande gerechtfertigt hatte, ſchloß er einfach: mit der Ableiſtung des neuen Huldigungseides werde die definitive Anordnung, wozu der Bund die Agnaten eingeladen, be - wirkt ſein , und die Bundesverſammlung davon benachrichtigt werden. Die Braunſchweiger frohlockten. Wie alle die freiheitsſtolzen Bürger der conſtitutionellen Kleinſtaaten waren ſie gewohnt auf die preußiſche Knecht - ſchaft tief herabzublicken; ſie ließen ſich’s nicht träumen, daß das Patent ihres volksfreundlichen Wilhelm’s im Berliner Auswärtigen Amte geſchrieben war. Fünf Tage darauf konnten ſie nun wirklich, wie ſie gewünſcht, den Geburtstag ihres neuen Landesherrn durch die allgemeine Huldigung feiern; aber die Eidesleiſtung erfolgte nunmehr auf Befehl des Herzogs, nicht durch Volksbeſchlüſſe. In ſchwungvoller Rede feierte Bürgermeiſter Bode den Fürſten, der wie auf Windesflügeln in ſeine furchtbar bewegte Stadt eilte . Der junge Welfe dankte dem Grafen Bernſtorff nochmals vertraulich für ſeine bleibenden Verdienſte um Braunſchweig und ſchrieb an Wittgenſtein: Auch für mich war es ein Tag der Freude, welche voll - kommen geweſen ſein würde, hätte ich des betrübenden Gedankens an meinen Bruder dabei mich erwehren können. *)Herzog Wilhelm an Bernſtorff, 26. April, an Wittgenſtein, 26. April 1831.

Dergeſtalt war die Frage ohne den Bundestag entſchieden, und in dieſer unglücklichen Verſammlung ward das Zerwürfniß täglich größer. Zu den unbeſtreitbaren ſchweren Rechtsbedenken geſellten ſich jetzt noch das Gefühl beleidigter Würde und der allezeit wache Argwohn gegen Preußen. Schon als die Agnaten ihre Erklärung einreichten, gelangte die in Frankfurt blühende Klatſcherei bald auf die rechte Fährte, und Nagler meldete: Wahrſcheinlich hat Hannover das Geheimniß wenig bewahrt, daß die von ihm aufgeſtellten Anſichten und Maximen größtentheils von Preußen ihm ſuppeditirt ſeien. Nach dem letzten Schritte Herzog Wilhelm’s ließ Bernſtorff überall, ſelbſt in Wien, offen ausſprechen, daß der preußiſche Hof dazu gerathen habe. Ueber den Verfaſſer des Patents ſagte er aller - dings nichts; dieſe Enthüllung hätten die Nerven der deutſchen Souveräne ſchwerlich vertragen. **)Nagler’s Bericht, 7. März. Weiſung an Maltzahn in Wien, 12. Mai 1831.

So war denn Oeſterreichs Ränken Thür und Thor geöffnet. Während Metternich treuherzig verſicherte, er verhalte ſich ganz leidend,***)Maltzahn’s Bericht, 25. April 1831. warben ſeine Leute in Frankfurt Tag für Tag Stimmen gegen Preußen, die gewohnte Parteiſtellung verſchob ſich gänzlich. Neben Münch und ſeinem Schatten Leonhardi ſtanden nicht nur der unwandelbare Kurheſſe und der120IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.eifrigſte Reaktionär der Verſammlung, der Holſteiner Pechlin, ſondern auch der Oldenburger Both, weil ſein braver Großherzog ſich nicht ent - ſchließen konnte, die Folgen eines Aufruhrs anzuerkennen. Andere Sou - veräne betrachteten die Frage einfach als Familienſache. In Darmſtadt neigte ſich du Thil der preußiſchen Anſicht zu, aber Prinz Emil ſetzte durch, daß man den Vetter Karl nicht im Stiche ließ. Ebenſo dachte der Dresdner Hof, der ſogar im Voraus verlangte, daß Karl’s künftige Kinder nicht von ihrem revolutionären Oheim, ſondern vom Könige von Hannover er - zogen werden ſollten. Selbſt der König von Württemberg ließ ſich, gegen den Rath ſeiner Miniſter, durch dynaſtiſche Rückſichten beſtimmen. Nicht einmal auf ihren eigenen Geſandten, den Naſſauer Marſchall konnte ſich die braunſchweigiſche Regierung unbedingt verlaſſen. Dieſer Vertraute Metternich’s erweckte allgemeinen Argwohn durch ſeine faſt übermenſchliche Unparteilichkeit, er hatte noch Vollmacht von Herzog Karl und empfing zugleich die Weiſungen Herzog Wilhelm’s; abwechſelnd Revolutionär und Legitimiſt überreichte er dem Bundestage bald die Erklärungen des jüngeren bald die des älteren Bruders und ſagte ſich ſelber die gröbſten Beleidigungen ins Geſicht. Dagegen ging Preußens alter Feind Blittersdorff diesmal mit Nagler zuſammen, desgleichen Mecklenburg, die Erneſtiner, die Hanſe - ſtädte. Bei König Ludwig von Baiern hatten die flehentlichen Bitten ſeiner Stiefſchweſtern und der Königin Wittwe nichts ausgerichtet; nach einigem Zögern entſchied er ſich für die Erklärung der beiden Welfenhöfe: von Nebenbeſtimmungen müſſe man abſehen, da ſie theils der Beur - theilung der hohen Agnaten zuſtehen, theils auf Vorausſetzungen zielen, welche noch nicht eingetreten ſind. *)K. Ludwig v. Baiern, Weiſung an Lerchenfeld, 2. Mai 1831.

Am 11. Mai, zwei volle Monate nach dem Antrage der Agnaten, erwartete man endlich den Schluß der Verhandlung. Die Stimmen ſtanden, acht gegen acht. Mit Spannung ſahen Alle der Abſtimmung Luxemburgs entgegen; ſie allein fehlte noch und mußte den Ausſchlag geben. Die Inſtruction aus dem Haag war noch immer nicht eingetroffen. Der luxemburgiſche Geſandte aber, Graf Grünne, ſtammte aus einem Geſchlechte, das im öſterreichiſchen Dienſte emporgekommen war; er zählte zu Münch’s Vertrauten und bot willig ſeine Hand zu einem jener Ueber - raſchungsſcherze, welche die k. k. Bundespolitik mit Hilfe der dehnbaren Präſidialrechte ſo meiſterhaft aufzuführen verſtand. Münch war, wie Metternich dem preußiſchen Geſandten ſelbſt geſtand, durch die Hofburg angewieſen, die ferneren Bundesbeſchlüſſe an die neueſten faktiſchen Vor - gänge anzuknüpfen, **)Maltzahn’s Bericht, Wien 2. Mai 1831. und dieſem Befehle gemäß kartete er ſein Spiel mit dem Luxemburger ab. Statt einfach anzuzeigen, daß er noch keine Weiſung habe und mithin die Schlußziehung noch vertagt werden müſſe,121Oeſterreichs Umtriebe für Herzog Karl.bemerkte Graf Grünne gemüthlich: durch Herzog Wilhelm’s Regierungs - antritt habe ſich der Stand der Sache verändert, und es ſcheine vor Allem erforderlich zu vernehmen, wie die Bundesregierungen dieſen un - erwarteten Vorſchritt beurtheilten. Die Erklärung wurde nicht nur ganz eigenmächtig abgegeben, ſie verſtieß auch offenbar gegen die Geſchäftsord - nung, da lediglich der Antrag der Agnaten zur Abſtimmung ſtand.

Gleichwohl ging der pflichtgetreue Präſidialgeſandte ſofort darauf ein und hielt einen langen, unverkennbar wohlvorbereiteten Vortrag über die Thronbeſteigung des jungen Welfen. Er verdammte dieſe höchſt bedauerns - werthe Thatſache mit ſcharfen, gradezu beleidigenden Worten; er behaup - tete, das Anſehen des Bundes ſei verletzt durch die vorgreifende, keineswegs gerechtfertigte Handlungsweiſe des Herzogs, und ſchloß mit dem Antrage: der Bundestag möge den Vorgang in ſein Protokoll verzeichnen, den Regierungen alles Weitere anheimſtellen, aber zugleich ausſprechen, daß dieſe, ohne Zuthun des Bundes vollzogene Anordnung die Rechte der Nachkommen Herzog Karl’s nicht beeinträchtigen könne. Alsbald erhob ſich Nagler um Verwahrung einzulegen wider einen Antrag, der, ohne die Regierungen auch nur zu befragen, im Voraus eine Rüge gegen das Verfahren des Herzogs ausſprechen wolle; ein ſolcher aus dem Stegreif gefaßter Beſchluß ſei null und nichtig. *)Nagler’s Berichte, 11. 21. 25. Mai 1831.Aber die öſterreichiſche Partei hielt bei ihrem Führer aus; nur zwei Stimmen vertauſchten ihre Stelle, Mecklenburg ging zu Oeſterreich, Württemberg zu Preußen über. Die k. k. Ueberrumpelung gelang vollkommen. Da über dieſen unvermutheten Vor - ſchlag Niemand inſtruirt war, ſo ſtimmte auch Graf Grünne wohlgemuth mit, und Dank dem Luxemburger wurde Münch’s Antrag mit einer Stimme Mehrheit angenommen. Welch ein Ergebniß! Nach zwei Monaten hatte der Bundestag über die Erklärung der Agnaten noch immer nichts entſchieden, wohl aber durch einen rechtlich anfechtbaren und praktiſch un - wirkſamen Beſchluß ſeinen Aerger bekundet wegen der Huldigung der Braunſchweiger.

Kaiſer Franz ſtand nicht an, dem jungen Herzoge ſelber auszuſprechen, daß er dieſen Bundesbeſchluß billige: Ich bin es den Grundſätzen, welche mir während einer neununddreißigjährigen Regierung der mir von der Vorſehung anvertrauten Staaten zur Richtſchnur dienten, ſchuldig, Ew. Liebden frei und offen zu bekennen, wie ſehr ich Ihren ſo bedenklichen Schritt bedauere. **)K. Franz an H. Wilhelm 30. März 1831.Preußen aber ſetzte alle Hebel ein um endlich die Anerkennung des Beſchluſſes der Agnaten zu erwirken. Zunächſt galt es, die luxemburgiſche Stimme, die allein noch ausſtand, für Preußen zu gewinnen. Dies gelang dem Geſandten im Haag, dem Grafen Truch - ſeß, ohne beſondere Mühe, weil der König der Niederlande alle deutſchen Angelegenheiten mit vollkommener Gleichgiltigkeit betrachtete und wegen122IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.der belgiſchen Wirren auf Preußens Freundſchaft rechnen mußte. *)Waldburg-Truchſeß’s Bericht, 9. Juni. Grünne an Nagler, 29. Mai 1831.Am 30. Juni erklärte Graf Grünne zum allgemeinen Erſtaunen, er ſei jetzt angewieſen, ſich den Anträgen der Agnaten anzuſchließen. Damit war alſo endlich die Mehrheit für Preußen geſichert, und wenn der Präſidialge - ſandte ſeiner Pflicht gemäß nunmehr einen Beſchluß faſſen ließ, ſo wurde die Regierung des Herzogs Wilhelm von Bundeswegen anerkannt. Oeſter - reich aber wollte ſeine Niederlage nicht eingeſtehen, Münch verzögerte den Beſchluß unter nichtigen Vorwänden von Woche zu Woche. Und während - dem begannen Preußens Parteigenoſſen ſelber unſicher zu werden. König Ludwig von Baiern ſchrieb ſeinem Bundesgeſandten: eine Schlußziehung ſcheine nicht mehr nöthig; genug wenn alle Regierungen einzeln den neuen Herzog anerkennten. Selbſt der hannoverſche Hof fiel wieder in ſeine ge - wohnte Bedachtſamkeit zurück. Miniſter v. Ompteda in London geſtand dem preußiſchen Geſandten, ſeine Regierung wolle mit Oeſterreich nicht brechen und darum für jetzt nichts weiter thun. **)K. Ludwig von Baiern, Weiſung an Lerchenfeld, 2. Aug. Bülow’s Bericht, London 17. Sept. Verbalnote der hannov. Geſandtſchaft an Bernſtorff, 31. Oct. 1831.So ward denn wieder zweifel - haft, ob die mühſam gewonnene Mehrheit bei der Schlußziehung noch zuſammenhalten werde. Zu Alledem kam ein ſchweres Rechtsbedenken, das ſchon früher von Preußen ausgeſprochen, aber nicht beachtet worden war. Die Frage betraf offenbar jura singulorum, nach ſtrenger Aus - legung des Bundesrechts konnte ſie nur durch einſtimmigen Beſchluß des Bundestags entſchieden werden, und dies war undenkbar.

Angeſichts dieſer Unmöglichkeit begannen beide Großmächte allmählich zu fühlen, daß ſie den unlösbaren und zweckloſen Streit in der Stille beilegen mußten; ſie bedurften einander in der deutſchen wie in der euro - päiſchen Politik. Preußen hatte in der Sache ſeinen Willen durchgeſetzt. Herzog Wilhelm’s Regierung beſtand, alle deutſchen Höfe unterhielten mit ihr amtlichen Verkehr, außer dem entthronten Fürſten wagte Niemand mehr ihre Berechtigung offen anzufechten. Wenn es noch gelang, ihr auf einem neuen Wege mindeſtens die mittelbare Anerkennung des Bun - destags zu verſchaffen, ſo war ſie rechtlich geſichert und Alles erlangt was ſich nach einem Rechtsbruche überhaupt erreichen ließ. Eben dieſen Ver - ſöhnungsantrag brachte Metternich nach langen Verhandlungen im April 1832 dem preußiſchen Hofe entgegen. Oeſterreich ſchlug vor, der braun - ſchweigiſche Geſandte ſolle beim Bundestage eine neue Vollmacht ein - bringen, und dieſe dann mit einer kurzen Erklärung, wofür zwei ver - ſchiedene Formeln beilagen, amtlich entgegengenommen werden. Preußen ging auf den Vorſchlag ein und wählte die ihm zuſagende Formel; auch die welfiſchen Höfe erklärten ſich einverſtanden. ***)Metternich, Weiſung an Trauttmansdorff, 25. April. Weiſung an Nagler, 7. Mai. Münchhauſen an Bernſtorff, 26. Mai 1832.Demnach legitimirte123Ausgleichung am Bundestage.ſich Marſchall am 12. Juli 1832 zur Fortführung der braunſchweigiſchen Stimme, indem er eine Vollmacht des Herzogs Wilhelm vorlegte. Der Bundestag aber beſchloß ſofort einſtimmig, dieſe Vollmacht anzunehmen, da nach den vorangegangenen Verhandlungen Se. Durchlaucht als ſtimm - führendes Bundesglied in der Bundesverſammlung zu betrachten iſt.

Mit dieſem Poſſenſpiele fanden die Bundesverhandlungen über die braunſchweigiſche Frage ihren würdigen Abſchluß. Der hochconſervative Marſchall nahm ſich als Geſandter eines illegitimen Fürſten ganz ebenſo ſeltſam aus wie die hohe Verſammlung insgeſammt, da ſie einen Beſchluß faßte, der einer Selbſtverhöhnung gleichkam. Sie hatte am 2. December 1830 den Herzog Wilhelm gebeten, die Regierung bis auf Weiteres zu führen, und ſodann am 11. Mai 1831 ihm ihren Unwillen über ſeine eigen - mächtige Thronbeſteigung ſehr unhöflich ausgeſprochen; über alles Andere war ſie nicht einig geworden, und gleichwohl behauptete ſie jetzt, daß der Herzog nach den vorangegangenen Verhandlungen als Bundesglied zu betrachten ſei! Zu ſolchen Widerſprüchen führte der legitimiſtiſche Trotz, der die vollendeten Thatſachen wohl verwünſchen, doch nicht ſtreichen konnte. War es zu verwundern, wenn die Liberalen mehr und mehr in das Fahr - waſſer des Partikularismus hinübertrieben? Von dieſer Centralgewalt hatte die Nation ſelbſt in dringender Nothlage nichts zu erwarten.

Die anhaltende Feindſeligkeit des vertriebenen Herzogs zwang die welfiſchen Höfe unterdeſſen neue Vorſichtsmaßregeln zu ergreifen. Am 24. October 1831 vereinbarten ſie ein Hausgeſetz, kraft deſſen fortan für alle Ehen der Welfen die Einwilligung des regierenden Herrn der Linie nachgeſucht werden mußte. Alle engliſchen Prinzen unterzeichneten das Geſetz, der hannoverſche Thronfolger Ernſt Auguſt von Cumberland frei - lich erſt nach langem Sträuben. Dieſer fanatiſche Legitimiſt wollte von dem Aufſtande der Braunſchweiger und allen ſeinen Folgen nichts hören; erſt nach Jahren verſöhnte er ſich mit dem Uſurpator Wilhelm, und ſein Leben lang hielt er feſt an der Meinung, daß den Nachkommen des älteren Bruders die Thronfolge gebühre. *)Canitz’s Bericht, Hannover 10. Jan. 1838.Karl’s Unterſchrift fehlte natürlich, und da er zudem ſich ſelber für den regierenden Herrn ſeiner Linie anſah, ſo blieb die braunſchweigiſche Erbfolgefrage auch jetzt noch unentſchieden. Durch ſeine Rüſtungen nöthigte er ſodann die Agnaten ſein Vermögen unter Curatel zu ſtellen ein hartes Verfahren, das zu widerwärtigen Proceſſen führte und von den franzöſiſchen Gerichten nicht als rechtsgiltig anerkannt wurde. Dabei ſtellte ſich heraus, daß er nahezu 350000 Thaler dem Lande entwendet hatte 118000 Thlr. engliſche Subſidien, das Uebrige durch widerrechtlichen Verkauf von Kammergütern immerhin weit weniger als ſein erbittertes Völkchen glaubte. Auch das herrliche Man - tuaniſche Onyxgefäß und andere Kleinodien des Hauſes Bevern hatte er ins Ausland mitgenommen.

124IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Da die Agnaten aus Rathloſigkeit die Frage der Thronfolge offen gelaſſen hatten, ſo ergab ſich als nothwendige, aber keineswegs beabſich - tigte Folge, daß keiner der beiden feindlichen Brüder ſich vermählen konnte. Als ſtolzer Welfe wünſchte Herzog Wilhelm eine Gemahlin aus großem Hauſe, doch alle ſeine geheimen Bemühungen blieben vergeblich, die vor - nehmeren Höfe trugen alleſammt Bedenken, die Nachkommenſchaft ihrer Töchter einer ungewiſſen Zukunft preiszugeben. *)Dieſe auch durch andere Zeugniſſe beglaubigte Thatſache wird als allen Höfen wohlbekannt und als abſchreckendes Beiſpiel angeführt von Herzog Karl v. Mecklenburg (in ſeiner Denkſchrift über die Heirath des Herzogs von Orleans 1837).Die Braunſchweiger wußten wenig von dieſen Mißerfolgen ihres Herzogs; ſie beſchworen ihn wieder und wieder, daß er den alten Heldenſtamm nicht ausſterben laſſe, die Städte Braunſchweig und Wolfenbüttel baten einmal ſogar in einer feierlichen Adreſſe um eine Landesmutter. **)Canitz’s Bericht, Hannover 28. April 1839.Alles umſonſt. Nach und nach ward das Volk mißtrauiſch. Seltſame Gerüchte liefen um, und der ver - triebene Landesherr nährte ſie gefliſſentlich durch ſeine Brandſchriften. Die böſe Welt fragte nach ihrer Gewohnheit: wem bringt das Ausſterben der braunſchweigiſchen Linie Vortheil? und da die Antwort nur lauten konnte: dem Hauſe Hannover ſo bildete ſich bald ein kunſtvolles Lügen - gewebe, das unzerſtörbar feſt erſchien, weil alle ſeine Fäden eng verknotet waren. Man glaubte allgemein, die hannoverſchen Welfen hätten Erb - ſchleicherei getrieben und dem Herzog Wilhelm gegen das Verſprechen der Eheloſigkeit zur Krone verholfen, Preußen aber ſei Hannovers ergebener Schildknappe geweſen. Es war das genaue Gegentheil der Wahrheit. Die treibenden Kräfte bei dem Handel waren einerſeits das braunſchweigiſche Volk, das ſeinen böſen Herzog für alle Zukunft beſeitigen, andererſeits die Krone Preußen, die den anarchiſchen Zuſtand an ihrer Grenze raſch und endgiltig ordnen wollte. Die Welfen wurden allein durch die Macht der Verhältniſſe gedrängt: Herzog Wilhelm etwas ſchneller, weil ihm die Noth auf den Nägeln brannte, König Wilhelm langſamer und ganz wider Willen. Vom Anfang bis zum Ende zeigten die Hannoveraner eine ſchwerfällige, aber ehrenwerthe Gewiſſenhaftigkeit; nur den Uneingeweihten erſchienen ſie fälſchlich als die Führer, weil Preußen ſie abſichtlich am Bundestage ſtets vorangehen ließ.

Zweiundvierzig Jahre lang hat Herzog Karl dann noch im Auslande gelebt, eine Schande des deutſchen Namens. Die gute Geſellſchaft zog ſich in London wie in Paris bald von ihm zurück; nur einzelne über - ſpannte Radicale, wie der ehrliche Thomas Duncombe, ſchenkten ſeinen demokratiſchen Kraftworten Glauben. Halb Geizhals halb Verſchwender vermehrte er den geretteten, ſehr anſehnlichen Theil ſeines Vermögens durch glückliches Börſenſpiel und legte ſich die ſchönſte Juwelenſammlung der Erde an; dann praßte er wieder mit einem Geſindel von Dirnen125Braunſchweigiſche Verfaſſung von 1832.und Glücksrittern. Die Engländer fanden übrigens den Vollbart des Diamantenherzogs noch weit anſtößiger als ſeinen ſittlichen Wandel. Unabläſſig arbeitete er für ſeine Rückkehr, obgleich er daheim gar keinen Boden mehr hatte und nur ein einzigesmal eine ganz unbedeutende kar - liſtiſche Verſchwörung in Braunſchweig entdeckt wurde. Er plante mit einer franzöſiſchen Freiſchaar in Deutſchland zu landen. Da die Regierung Lud - wig Philipp’s dieſe Anſchläge vereitelte, ließ er ſeine Leute wieder den ge - wohnten demagogiſchen Federkrieg beginnen und ſchilderte ſelber ſeine Erleb - niſſe nicht ohne ſchriftſtelleriſches Geſchick, aber mit ſchamloſer Verlogenheit, in den Denkwürdigkeiten Karl’s von Eſte. In London lernte er einen anderen Prätendenten kennen, von reicherem Kopfe und ärmerem Beutel, den Prinzen Ludwig Napoleon. Die Beiden fanden ſich zuſammen und verpflichteten ſich durch einen förmlichen Vertrag, einander durch Geld und Waffen zu ihren Rechten zu verhelfen; Karl verſprach außerdem, wo - möglich aus dem ganzen Deutſchland eine einige Nation zu machen und ihm eine dem Fortſchritt des Zeitalters angemeſſene Verfaſſung zu geben. *)Abgedruckt in T. H. Duncombe, the life and correspondence of T. S. Duncombe. II. 10.Als aber ſein Bundesgenoſſe den Staatsſtreich des zweiten Decembers wagte, da floh der Welfe wieder vor dem Donner der Kanonen; zurück - gekehrt fand er bei dem neuen Kaiſer nur laue Unterſtützung, weil er ihm ſelber von ſeinem Reichthum wenig abgegeben hatte. Und als nachher die Heere des geeinten Deutſchlands gegen Paris zogen, da flüchtete er ſich nochmals vor ſeinen Landsleuten und eilte nach Genf. Dieſer Stadt ver - machte er ſein ganzes Vermögen, denn ſeinem Vaterlande gönnte er nichts, und um ſein verlorenes Leben noch mit einer höhniſchen Bosheit abzu - ſchließen legte der kleine deutſche Despot den Schweizer Republikanern die Verpflichtung auf, ihm ein prächtiges Denkmal, gleich den Gräbern der Scaliger, zu errichten.

Dem Braunſchweigiſchen Lande gereichte der Thronwechſel zum Segen. Das Herzogthum blieb unter dem Miniſterium Schleinitz zwei Jahrzehnte lang einer der beſtverwalteten Kleinſtaaten; ſein Landtag beſaß an dem liberalen Juriſten Karl Steinacker einen begabten Redner und behauptete unter den kleinen deutſchen Parlamenten ein gutes Anſehen. Im Jahre 1832 wurde eine neue Verfaſſung vereinbart; ſie gab den Bürgern und Bauern eine ſtärkere Vertretung und bewies durch die That, daß der Umſchwung keineswegs, wie der flüchtige Herzog behauptete, blos durch den Adel bewirkt worden war. Eine verſtändige Agrargeſetzgebung ar - beitete dann weiter an der Befreiung des Landvolks. Die deutſchen Fürſten aber wollten ſich noch lange nicht darein finden, daß ſie jetzt in ihren Reihen einen Souverän dulden mußten, der nur gleich dem Bürgerkönige mit dem zweifelhaften Titel der Quaſi-Legitimität beehrt werden konnte. 126IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Herzog Wilhelm beſtellte ſich bei dem Heidelberger Juriſten H. Zöpfl eine Schutzſchrift über die Eröffnung der legitimen Thronfolge ; doch der ſtreb - ſame junge Mann, der wie Karl Salomo Zachariä ſeine Rechtsgutachten jedem Kunden auf den Leib zuſchnitt, fiel leider in die alte Vertragslehre zurück und gelangte zu dem lächerlichen Schluſſe: wenn der Fürſt ab - danken könne, ſo dürfe auch das Volk ihm den Gehorſam verweigern. Noch unheimlicher ward dem jungen Welfen zu Muthe, als ein radicaler Poet, Walter Berg in einem Schauſpiele Der Bürger ihn ſelber ſagen ließ:

Wir ſelbſt ſind erſter Bürger unter Euch,
Der Bürger iſt des Staates Zucht entwachſen!

Es ließ ſich doch nicht bemänteln, die Geſchichte des Deutſchen Bundes hatte zum erſten male eine kleine Revolution aufzuweiſen. Aber wie ver - ſchieden zeigte ſich dabei der Charakter der beiden Nachbarvölker. Wie leicht ſprangen die Franzoſen, ohne zwingenden Grund, über ihr hiſtori - ſches Recht hinweg, und wie ſchwer vollendete ſich in Deutſchland ein Rechtsbruch, den die unerbittliche Noth erzwang!

Nicht ganz ſo gewaltſam vollzog ſich der Umſchwung in Kurheſſen. Der Kurfürſt plündert ſein Land und ſeine Unterthanen, ſo daß es zu - letzt keine Landeskaſſen und Domänen mehr, ſondern bloße Privat - oder Cabinetskaſſen mehr geben wird alſo ſchilderte der preußiſche Geſandte Hänlein das gierige Regiment der Gräfin Reichenbach, das nachgrade ſelbſt im Auslande Befremden erregte und im Pariſer Figaro als ein deutſcher Skandal bezeichnet wurde. *)Hänlein’s Bericht, 20. Febr. 1830.Der neue Finanzminiſter Kopp wurde bei ſeiner Ernennung ausdrücklich verpflichtet, das Intereſſe des Kurfürſten beſonders wahrzunehmen, und wie erfinderiſch zeigte ſich der Landesvater ſelber in den ſchlechten Künſten des Finanzweſens. Während er mit den Ständen der Grafſchaft Schaumburg wegen rechtswidriger Steuererhöhung einen langen Streit führte, ließ er gegen die Stadt Kaſſel und andere Gemeinden unter nichtigen Vorwänden fiscaliſche Proceſſe einleiten; ſeine Bauern beglückte er durch die Verordnung, daß der Dünger der Dienſt - pferde, welche die beurlaubten Cavalleriſten mit aufs Land nahmen, zum Beſten der Kriegskaſſe verſteigert werden ſolle. Selbſt die Theuerung und die bittere Kälte der erſten Monate des Jahres 1830 mußten ihm ſeine Hofkaſſe bereichern helfen: er maßte ſich das Recht des alleinigen Holzhandels an, verbot die gewohnte Holzeinfuhr aus der hannoverſchen Nachbarſchaft und ſetzte die Preiſe ſo hoch an, daß die Kaſſeler Bäcker einmal wegen Holzmangels ihre Arbeit einſtellten.

Hier wie in Braunſchweig ſtützte ſich die Willkür des Kleinfürſten - thums auf den Beiſtand Oeſterreichs. Hruby, der k. k. Geſandte, beſaß127Kurfürſt Wilhelm in Karlsbad.das Vertrauen der Reichenbach, er hatte den Kurfürſten zum Eintritt in den mitteldeutſchen Handelsverein bewogen und konnte nun mit Befrie - digung betrachten, wie das unglückliche, zwiſchen den Zolllinien Baierns und Preußens eingeklammerte Ländchen dem Verderben ſeiner Volkswirth - ſchaft entgegenging. Und bereits ließ ſich vorausſehen, daß die zerrütteten Familienverhältniſſe dieſes Fürſtenhauſes, die ſchon ſo viel Elend über das heſſiſche Land gebracht, auch unter der künftigen Regierung fortdauern würden. Um den Anmaßungen der Reichenbach auszuweichen lebte der Kurprinz mit ſeiner Mutter jahrelang außer Landes; König Friedrich Wilhelm ließ ſeiner Schweſter große Summen vorſtrecken, da der Kurfürſt den Beiden die Unterhaltsmittel verweigerte. Als die Kurfürſtin unter dem Jubel des Volkes endlich heimkehrte um ſich in Fulda einen ſelb - ſtändigen Hofhalt einzurichten, blieb der Sohn am Rhein zurück. Der hatte in Bonn die Frau eines Rittmeiſters Lehmann liebgewonnen und führte mit ihr ein ſo anſtößiges Leben, daß ſelbſt der galante Lebemann Hänlein ſich verpflichtet hielt dem königlichen Oheim in Berlin zu melden: ganz Heſſen wünſcht, Allerhöchſtdieſelben möchten zum Wohle des hieſigen Landes den nichtswürdigen Lebenswandel des Kurprinzen gewaltſam be - ſchränken. *)Hänlein’s Bericht, 10. Aug. 1830.

Im Juli 1830 reiſte Kurfürſt Wilhelm nach Wien um der Reichenbach den öſterreichiſchen Fürſtentitel zu verſchaffen. Seine Heſſen fürchteten ſchon, er werde dann dem Beiſpiele Philipp’s des Großmüthigen folgen und das dämoniſche Weib förmlich zur Nebengemahlin erheben; die Akten über Philipp’s Doppelehe hatte er ſich bereits nach Wilhelmshöhe kommen laſſen. Metternich aber fand dieſe Zumuthung doch bedenklich und verließ die Hauptſtadt plötzlich, kurz vor der Ankunft des Gaſtes. Als der Kurfürſt einige Tage darauf in Karlsbad eintraf, von der Hitze erſchöpft, wüthend wegen der vergeblichen Reiſe, wurde er von ſeiner enttäuſchten Geliebten ſehr übel aufgenommen und verfiel in ſchwere Krankheit. Daheim ver - breiteten ſich unheimliche Gerüchte; man glaubte an den Tod des Kur - fürſten, da der Bruder der Reichenbach, Heyer v. Roſenfeld unvermuthet in Kaſſel erſchien, Juwelen und Staatspapiere haſtig einpackte und dann mitſammt den Kindern ſeiner Schweſter bei Nacht und Nebel aus dem Lande floh. Die Bürgerſchaft ſendete drei Stadträthe nach Karlsbad um ſich von dem Zuſtande des Landesherrn zu überzeugen; auch der Kur - prinz eilte herbei und verſöhnte ſich mit dem kranken Vater. Mittler - weile ward das längſt erbitterte Volk durch die Pariſer und Brüſſeler Nachrichten ſtark aufgeregt. Der Groll wider die Tyrannei und das wüſte Treiben des Hofes ließ ſich nicht mehr bändigen. Ueberall erklang ein Gaſſenhauer, der die Raubgier der Reichenbach verwünſchte: von dem Blutgeld jener Millionen wußt die Beſtie ſich zu lohnen und128IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.mit dem Kehrreime ſchloß: Alles ſeufzt zum Gott des Lichts: Ach die Hure läßt uns nichts! Schon begannen die Bauern ihre Frohndienſte einzuſtellen; die Wilddieberei nahm überhand, mehr noch der Schmuggel, denn das Zollweſen war durch die thörichte Handelspolitik des Kurfürſten gänzlich in Verruf gekommen, ein Schlagwort des Tages lautete: die Mauth iſt ein Kind der Finſterniß. In Kaſſel traten die Zunftmeiſter zuſammen um über die Landesbeſchwerden zu berathſchlagen; ein Küfer Herbold führte das große Wort und ward mit dem Namen des heſſiſchen Maſaniello geehrt, denn dieſe deutſchen Bürgerhelden fühlten ſich nur im Schmucke ausländiſcher Federn ſtolz und herrlich. Als der Pöbel dann die Bäckerläden zu ſtürmen verſuchte, bewaffneten ſich die Bürger und ſtellten die Ordnung her. Die erſchreckte Regierung ließ ſie gewähren und öffnete die kurfürſtlichen Kornmagazine; das Getreide des Landes - vaters ward aber auch jetzt noch, nach dem alten Brauche des Kurhauſes, zu erhöhten Preiſen verkauft, und erſt nachdem Abgeſandte der Bürger - ſchaft dem Finanzminiſter drohend ins Haus gerückt waren, entſchloß er ſich bis zum Marktpreiſe herabzugehen.

So aufgeſtört fand der Kurfürſt ſeine friedliche Hauptſtadt vor, als er am 12. September, abgeſpannt und kaum geneſen, endlich heimkehrte; ſeine Geliebte hatte er jenſeits der Landesgrenze zurücklaſſen müſſen, weil die Miniſter ſonſt das Aergſte befürchteten. Am 15. September ſtanden die Bürger dicht gedrängt, in banger Spannung, auf dem Fried - richsplatze, derweil die Stadträthe im Palaſte eine Adreſſe übergaben, welche den Kurfürſten beſchwor die Landſtände zu berufen und Sich als Vater mit Ihren Kindern zu berathen, wie unſerer Noth zu helfen ſei. Droben im Saale ergriff der Bürgermeiſter Karl Schomburg das Wort, ein echter Heſſe, ernſt, beſonnen, freimüthig, und ſchilderte in tief er - greifender Rede das Elend des verwahrloſten Landes. Der Kurfürſt ver - wünſchte im Herzen ſeine Bürger-Rebellen , aber er ſah auch, was die finſteren Geſichter draußen ankündigten, und gab zitternd ſeine Zuſage. Alsbald eilte der Küfer Herbold an das Geländer vor dem Schloſſe, und als er ein weißes Taſchentuch ſchwenkte, durchbrauſte ſtürmiſches Freudengeſchrei den weiten Platz. Wie oft iſt dann in Lied und Bild die Friedensbotſchaft des heſſiſchen Maſaniello verherrlicht worden; ein ſchwarzes Tuch in Herbold’s Händen das wußte Jedermann hätte dem Aufruhr das Zeichen gegeben. Mit Tanz, Geſang und feurigen Reden ging dieſer große Tag der heſſiſchen Geſchichte zu Ende; auch vor dem Hauſe des preußiſchen Geſandten erklangen jubelnde Hochrufe, denn König Friedrich Wilhelm ſtand als Bruder und Beſchützer der ge - liebten Kurfürſtin hoch in Ehren, und nicht ſelten hörte man unter den Unzufriedenen die Drohung: wir wollen preußiſch werden.

Schnell genug verflog der Rauſch der Freude. Die Caſſeler fuhren fort, dem Verbote zum Trotz, ihre Bürgerverſammlungen abzuhalten und129Die heſſiſchen Bürgergarden.offenbarten hier ſehr laut ihr Mißtrauen gegen den Kurfürſten, gegen den öſterreichiſchen Geſandten, gegen die Miniſter, die alleſammt nur für Geſchöpfe der Reichenbach galten. Die Rückkehr dieſer tödlich verhaßten Frau wollte man nimmermehr dulden; auf das Gerücht von ihrem Nahen ſtrömte eines Tages das Volk in Schaaren auf die Arolſener Landſtraße hinaus um den Weg zu ſperren, ihr Bruder Heyer mußte ſchleunigſt aus ſeinem Amte entlaſſen werden. Welch einen kläglichen Anblick bot der Kurfürſt in ſeiner ſtumpfen Verzweiflung; er verging vor Sehnſucht nach der Geliebten und rief jammernd: jetzt weiß ich erſt was ein Aufſtand iſt! Die militäriſchen Schnurrbärte der Caſſeler Bürgergarde verletzten ſein heiligſtes Gefühl; nun mußte er dieſen Unholden aus ſeinem Zeug - hauſe Waffen geben und ſogar in einem Manifeſte verkündigen, daß er den guten Geiſt und den bewährten treuen Sinn der Heſſen mit Wohl - gefallen erkennend überall im Lande die Bildung von Bürgerbataillonen geſtatten wolle. Bald ſtolzirten in jedem heſſiſchen Städtchen bewaffnete Bürger umher, alle nach dem Pariſer Muſter gekleidet, mit der weißen Bürgerbinde am Arme, und prächtig erklang das Lied zum Preiſe der bürgerlichen Waffen:

Sie ſtehen jedem freien Mann,
Sie ſtehn dem Kattenſohn wohl an!

Der vermeſſene Plan, dem Kurfürſten ſelber eine geſtickte Bürgerbinde zu ſchenken, wurde zum Glück noch vereitelt, da die Hofleute ſchaudernd an Ludwig XVI. und die ihm aufgeſtülpte Jacobinermütze erinnerten. Indeß bekundete ſich das Selbſtgefühl der Bürgergarde unzweideutiger als ihre Waffentüchtigkeit; es war der Fluch des alten Stellvertretungs - ſyſtems, daß die Kriegsſpieler ſich für beſſer hielten als die wirklichen Krieger. Sie verlangten bei den Paraden ſtets den Vortritt und ge - riethen mit den Truppen oft in Händel. Als die beliebte Sängerin Frau Roller-Schweizer ſich einige mehr ehrliche als ſchmeichelhafte Bemerkungen über die Leiſtungen der Bürgerwehr erlaubt hatte, wurde ſie ohne Gnade von der Bühne entfernt, obgleich ſie von den Brettern herunter vor Caſſels hochachtbaren Bürgern Abbitte leiſtete.

Trotz dieſer Unzahl von Sicherheitswächtern kam das Land nicht zur Ruhe, weil die Regierung Kopf und Herz verloren hatte. Das Land - volk wähnte, mit der verheißenen neuen Freiheit ſei auch die Entlaſtung des Bodens vollendet; tobende Banden ſtürmten die Schlöſſer der Grund - herren und verbrannten, meiſt ohne zu plündern, die Zehnten - und Gilten-Regiſter. Am lauteſten lärmten dieſe Papierſtürmer in dem armen Iſenburgiſchen Ländchen auf der Rhön, das ſeine doppelten Steuern, für den Kurfürſten und den Standesherrn, kaum noch erſchwingen konnte. Die geängſteten Fürſten des Hauſes Iſenburg drohten ſchon ſich unter preußiſche Landeshoheit zu ſtellen, damit ſie doch Schutz für ihre Habe fänden. In Hanau wurde das Mauthhaus von einem Volkshaufen zer -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 9130IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſtört; alle Papiere und ſelbſt die Kaſſe flogen ins Feuer, denn mit Mauth - geldern wollte ſich Niemand die Hände beflecken. Ein Demagog, der ſich General Paulſen nannte, erließ aus ſeinem Hauptquartier Neu-Brüſſel jacobiniſche Tagesbefehle. Um Frieden zu ſtiften eilte der Kurprinz ſelbſt herbei, und der furchtſame junge Herr ließ ſich durch die zuverſichtlichen Reden dieſer harmloſen Revolutionäre dermaßen einſchüchtern, daß er ihnen bis auf Weiteres Zollfreiheit verſprach. In der That ſtellten die Mauthen im Hanauer und Fuldaer Lande ihre Thätigkeit ein. Dieſe ſüdlichen Provinzen, wie man am Caſſeler Hofe ſagte, gebärdeten ſich faſt wie ein ſelbſtändiger Staat; der Thalerrechnung hatten ſie ſich immer erwehrt, nun ſagten ſich die heſſiſchen Guldenländer auch von dem Zoll - weſen des Kurſtaates los.

Es ward hohe Zeit, daß ein von allen Theilen anerkannter Rechts - zuſtand dieſe gemüthliche Anarchie verdrängte. In ſolchem Sinne ſchrieb Bernſtorff an Hänlein: Wir bedauern die jetzt maßloſe Ungebühr des Volks als die unausbleibliche Folge einer bis dahin ebenſo maßloſen Ver - fahrungsweiſe des Fürſten erkennen zu müſſen. Wohl haben die Maſſen dem Kurfürſten ſeine Verſprechungen abgetrotzt; aber dieſe Zugeſtänd - niſſe ſind ertheilt, und es iſt nicht denkbar, daß ihre Zurücknahme ohne die größte Gefahr und Zerrüttung aller noch beſtehenden Verhältniſſe erfolgen könnte. Alle Wünſche müſſen ſich vielmehr dahin vereinigen, daß die einmal betretene Bahn mit möglichſter Schnelligkeit und Ruhe zu einem Ziele feſter geſetzlicher Ordnung führe. *)Bernſtorff, Weiſung an Hänlein, 12. Oct. 1830.

Auf preußiſche Rathſchläge hörte der Kurfürſt niemals; nur die Angſt vor den beſtändig wiederholten lärmenden Kundgebungen der Caſſeler bewog ihn ſein Wort zu halten. Am 16. October traten die altheſſiſchen Stände zuſammen und verſtärkten ſich ſogleich durch Abgeordnete der übrigen Lan - destheile. Klug und rückſichtsvoll beſeitigten ſie zunächſt das Hemmniß, an dem bisher jede Verſtändigung geſcheitert war, den alten Streit um das fürſtliche Hausgut. Der Kurfürſt ließ ihnen eine Ueberſicht über den Beſtand des Landesvermögens vorlegen, deren Ziffern ſehr weit um mindeſtens 6 Millionen, Mißtrauiſche behaupteten gar um 16 Mill. Thaler hinter der allgemeinen Erwartung zurückblieben. Der ſtän - diſche Ausſchuß verſchmähte jedoch im Einzelnen zu unterſuchen, was wohl Alles in den Taſchen der Reichenbach und Amſchel Rothſchild’s verſchwun - den ſein mochte, und willigte in die Theilung der alſo angegebenen Ca - pitalien. Aus der einen Hälfte ward ein Staatsſchatz gebildet; die andere, mit einem Ertrage von wenigſtens 0,4 Mill. Thlr. jährlich, verblieb der Dynaſtie als unveräußerlicher Hausſchatz. Außerdem erhielt der Kurfürſt für ſeinen Hofhalt 392000 Thlr. jährlich aus den Einkünften der vom Staate verwalteten Domänen, und da er endlich noch ein großes Scha -131Theilung des Landesvermögens.tullvermögen beſaß, deſſen Höhe nur ihm ſelber und dem getreuen Hauſe Rothſchild bekannt war, ſo blieb er nach wie vor einer der reichſten deutſchen Fürſten. Freilich mußte er nun auch ein Legat, das er ſeiner Gemahlin unterſchlagen, und die 110000 Thaler, welche König Friedrich Wilhelm der Kurfürſtin vorgeſchoſſen hatte, endlich herausgeben; er ſträubte ſich aufs Aeußerſte, aber die Krone Preußen beſtand auf ihrem Rechte, und der Landtag hielt zu ihr. *)Schreiben des kurf. Miniſters v. Schminke an Hänlein, 7. Jan. Wittgenſtein an Bernſtorff, 10. März 1831 u. ſ. w.

Sobald man ſich über den Grundſatz der Theilung des Landes - vermögens geeinigt hatte, beantragte der kurfürſtliche Unterhändler Re - gierungsrath Eggena, ein gewandter, weltkluger Juriſt, die Stände ſollten dem Landesvater ihren Dank ausſprechen. Auch dazu ließ der Landtag ſich herbei; die bäuerlichen Abgeordneten ſagten treuherzig: die Capitalien ſind zwar heſſiſches Blutgeld und gehören eigentlich alleſammt dem Lande, aber wir müſſen dem Kurfürſten auch eine Liebe erweiſen. Wilhelm empfing die Abgeſandten auf Wilhelmshöhe, krank, zerknirſcht, unter ſtrömenden Thränen. Die getreuen Stände weinten mit und tranken nachher drunten im Gaſthofe auf das Wohl ihres gnädigen Herrn. **)Hänlein’s Bericht, 23. Nov. 1830.Allein nachdem ſie ihm großmüthig den beſten Theil ſeiner Herzenswünſche erfüllt, meinten ſie ſich um ſo mehr berechtigt, in der eigentlichen Verfaſſungsſache, die den Kurfürſten weniger bekümmerte, ihrem eigenen Kopfe zu folgen.

Eggena legte ihnen einen Entwurf vor, der im Grunde nur einige Verbeſſerungen der alten ſtändiſchen Verfaſſung entheilt. Dawider erhob ſich im Verfaſſungsausſchuſſe ſofort der Vertreter der Univerſität Marburg, Profeſſor Sylveſter Jordan, ein fröhlicher katholiſcher Tyroler, der ſchon in jungen Jahren daheim gegen die Herrſchſucht der Cleriſei gekämpft, dann in München den Verhandlungen des erſten deutſchen conſtitutionellen Land - tags als eifriger Zuhörer beigewohnt und endlich in Heidelberg ſich die Heilslehren des Rotteck-Welcker’ſchen allgemeinen Staatsrechts bis auf den letzten Buchſtaben angeeignet hatte. Den Brüdern Grimm erſchien der ehrliche Doctrinär als ein aufgeſchwemmter Liberaler, der die Formen hitzig verficht, für die Sache nicht einmal mäßige Wärme beſitzt . Unter allen den Wortführern des norddeutſchen Liberalismus ſtand er der Welt - anſchauung Rotteck’s am nächſten; und nur der wohlberechtigte Groll über die Unthaten des Kurhauſes erklärt das Räthſel, daß die gemüth - liche Flachheit dieſer joſephiniſchen Aufklärung hier im proteſtantiſchen Kurheſſen Anklang finden konnte. Jordan trat in den Ausſchuß mit dem Bewußtſein eines großen hiſtoriſchen Berufs: Kurheſſens Beiſpiel iſt für den Sieg des conſtitutionellen Syſtems in Deutſchland völlig9*132IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.entſcheidend und warf ſofort die Frage auf: Wie muß eine Ver - faſſung überhaupt beſchaffen ſein, um den durch Vernunft und Geſchichte gleichmäßig begründeten Anforderungen der Zeit zu entſprechen? In einem regelrechten Kathedervortrage zählte er ſodann, mit 1 und 2, mit a und b, alle die nothwendigen Garantien des verfaſſungsmäßigen Volkslebens her. Da prangten wie die aufgeſpießten Käfer einer In - ſektenſammlung neben einander: zuerſt die Volkserziehung, die ſittliche und die politiſche denn die wahre Volksaufklärung gilt mit Recht ebenſo für eine Hauptſtütze des monarchiſchen Freiſtaates, wie die Un - wiſſenheit und Stüpidität des Volks für eine Grundlage der Despotie ſodann die Sprech - und Preßfreiheit, d. i. die Publicität , ferner eine unabhängige Gemeindeverfaſſung und eine kräftige Volksvertretung, endlich die Nationalbewaffnung oder Landwehr denn der Geiſt einer Soldatesca iſt ſchon an ſich von dem Geiſte des Volkes völlig verſchieden und muß, wenn das ſtehende Heer nicht aufgehoben werden kann, min - deſtens durch kurze Dienſtzeit und häufige Beurlaubungen gemildert werden. Nach dieſen Grundſätzen wollte Jordan die Vorſchläge der Regierung be - urtheilt ſehen: richtige Principien ſind auch hier wie überall die Haupt - ſache.

Der wunderliche Vortrag machte auf die Hörer tiefen Eindruck; denn er verkündete mit ehrlicher Begeiſterung, mit einer Zuverſicht, als ob ein Zweifel gar nicht möglich ſei, alle die Glaubensſätze des vernunftrecht - lichen Katechismus, welche den deutſchen Liberalen heilig waren, und hinter den doctrinären Gemeinplätzen verbarg ſich ein praktiſcher, nach den trüben Erfahrungen der kurheſſiſchen Geſchichte nur allzu berechtigter Gedanke: die Abſicht beſtändiger Vertheidigung gegen fürſtliche Ueber - griffe. Jordan dachte ſeinen monarchiſchen Freiſtaat alſo einzurichten, daß die Regierung von den Vorſchriften der Verfaſſung unmöglich ab - weichen könnte, und da die Landſtände alleſammt, trotz ihrer unerſchütter - lichen dynaſtiſchen Treue, den Argwohn gegen den Kurfürſten theilten, ſo wurde der Verfaſſungsentwurf völlig umgeſtaltet. Der Marburger Profeſſor behauptete dabei die unbeſtrittene Leitung. In ſeinen Collegien - heften ſtanden alle die Paragraphen, welche ein Volk frei und glücklich machen können, längſt ſäuberlich aufgezeichnet; für jeden Herzenswunſch der öffentlichen Meinung fand er ſofort den vernunftrechtlichen Ausdruck, und dieſe Fertigkeit des haſtigen Formulirens, die in unerfahrenen Par - lamenten immer überſchätzt wird, verſchaffte ihm den Ruf ſtaatsmänniſcher Weisheit. So gelangten die Verhandlungen raſch zum Ziele; man wußte was man wollte, und für unnütze Redekünſte bot dieſer Landtag, der noch geheim tagte, keinen Raum. Schon am 5. Januar 1831 ward die neue Verfaſſung vom Kurfürſten unterzeichnet eines der denkwürdigſten deutſchen Grundgeſetze, bedeutſam nicht blos durch ſeine ſtürmiſchen Schick - ſale, ſondern auch durch ſeinen Inhalt; denn nirgends ſonſt zeigte ſich133Die kurheſſiſche Verfaſſung.ſo klar die nationale Eigenart des älteren deutſchen Repräſentativſyſtems, die ſeltſame Verquickung der noch immer fortwirkenden altſtändiſchen Rechtsüberlieferungen mit der Doctrin des modernen Naturrechts. Mit erſchöpfendem Fleiße trugen Jordan und ſeine Freunde aus den wohl - gefüllten Zeughäuſern der altſtändiſchen Verfaſſung und des neuen allge - meinen Staatsrechts alle die Netze herbei, welche den Fürſten wie ein Wild umſtellen ſollten, ſo daß er ſich nicht mehr rühren konnte. Eggena ſo gut wie die Landſtände betrachteten das neue Grundgeſetz als einen Vertrag zwiſchen Fürſt und Volk; in dieſem Urtheile ſtimmte die altſtän - diſche Rechtsanſicht mit der Lehre des Contrat social überein.

Darum wurde dem Thronfolger erſt nach geleiſtetem Verfaſſungseide gehuldigt, und jede Verbeſſerung des vereinbarten Grundvertrages aufs Aeußerſte erſchwert. Nur wenn die Stände einmüthig oder auf zwei Landtagen nach einander mit Dreiviertel-Mehrheit zuſtimmten konnte die Verfaſſung erläutert oder geändert werden; erhoben ſich Zweifel über den Sinn ihrer Vorſchriften, ſo entſchied ein Compromißgericht, zu dem Fürſt und Landtag je drei Mitglieder wählten. Den Landtag bildeten die Abgeordneten der drei alten Stände; ſie waren aber fortan alleſammt Vertreter des ganzen Volkes und ſollten in einer Kammer nach Köpfen abſtimmen, weil man einſah, daß die Ritterſchaft des Landes zu ſchwach und zu arm war um in einem Oberhauſe eine angeſehene Stellung zu behaupten. Die Stände erhielten außer dem Rechte der freien Steuer - bewilligung und der Zuſtimmung zu allen Geſetzen auch die Befugniß der Initiative, die noch keinem deutſchen Landtage unbeſchränkt zuſtand. Sobald die Mandate der Stände nach drei Jahren abliefen, erfolgte ſofort die Neuwahl auch ohne die Aufforderung der Regierung. Wenn der Landtag nicht verſammelt war, ſollte nach altſtändiſchem Brauche ein er - wählter Ausſchuß von drei bis fünf Mitgliedern mit einem lebensläng - lichen Syndicus die Rechte der Stände vertreten und nöthigenfalls auch andere Abgeordnete zu Rathe ziehen.

Den Staatsbürgern wurden einige Menſchenrechte der perſönlichen Freiheit gewährt, auch die Ablöſung der Grundlaſten ſowie andere wirth - ſchaftliche Erleichterungen verſprochen. Zur Sicherung dieſer ſtändiſchen und bürgerlichen Rechte waren Bollwerke aufgerichtet, die in Deutſchland nicht ihres gleichen fanden. Jeder männliche Heſſe ſollte in ſeinem acht - zehnten Lebensjahre das Grundgeſetz beſchwören; auch das Heer und die Bürgergarde wurden mithin auf die Verfaſſung vereidigt, die Offiziere den übrigen Staatsdienern rechtlich gleichgeſtellt, obgleich dem Kurfürſten der Name des oberſten Militärchefs blieb. Bei jeder Ausſchreibung einer Steuer mußte die ſtändiſche Zuſtimmung ausdrücklich angegeben werden; wo nicht, ſo war Niemand berechtigt die Abgabe zu erheben, Niemand verpflichtet ſie zu zahlen; nur ſechs Monate lang nach einer Auflöſung des Landtags durfte die Regierung die früher bewilligten134IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Steuern vorläufig forterheben. Im Falle des Verfaſſungsbruchs ſollten die Stände nicht blos berechtigt, ſondern verpflichtet ſein die Miniſter vor dem Oberappellationsgericht anzuklagen. Dieſer § 100 erwies ſich bald als der gefährlichſte des Grundgeſetzes; er forderte die Zankluſt, die allen den kleinen Landtagen im Blute lag, gradezu heraus, da Meinungsver - ſchiedenheiten über die noch ganz unerprobte Verfaſſung kaum ausbleiben konnten, und begünſtigte die verhängnißvolle Neigung der Deutſchen, poli - tiſche Machtfragen vom Standpunkte des Civilproceſſes zu beurtheilen. Auch alle andere Beamten konnte der Landtag vor Gericht verklagen, wegen Verletzung der Verfaſſung, wegen Veruntreuung, Beſtechung und Mißbrauch der Amtsgewalt. Alſo den Landſtänden verantwortlich erlangten die Staatsdiener dem Kurfürſten gegenüber eine Unabhängigkeit, die von ihrer bisherigen völlig rechtloſen Stellung ſeltſam abſtach; ſie durften nur durch Urtheil und Recht abgeſetzt, nur wegen Altersſchwäche oder anderer Gebrechen penſionirt werden. Wurde ein Beamter in den Landtag gewählt, ſo konnte ihm die Regierung den Urlaub verweigern, doch nur aus er - heblichen Gründen, die ſie den Ständen mitzutheilen hatte.

So folgerecht war die neue Lehre, welche die belebende Kraft des con - ſtitutionellen Staates in dem Geiſte des Mißtrauens ſuchte, auf deutſchem Boden noch nie verwirklicht worden; und nach Allem was dies Land an ſeinen Fürſten erlebt, mußte ſich der heſſiſche Landtag allerdings in einem Zuſtande beſtändiger Nothwehr fühlen. Daß auch die Stände ſelber ihr Recht mißbrauchen könnten, hielt die vernunftrechtliche Doctrin für unmöglich; für dieſen Fall gab die Verfaſſung dem Kurfürſten keine Waffen. Er konnte ſelbſt in der Noth, wenn die Geſetze ſich unzu - länglich erwieſen, nur mit Zuziehung des ſtändiſchen Ausſchuſſes Ver - ordnungen erlaſſen. Zweifelhaft blieb ſogar, ob er auch nur ſein Recht, den Landtag aufzulöſen, wirklich gebrauchen durfte; denn am Schluſſe jeder Tagung mußten die Stände den Landtagsabſchied mit unterzeichnen, ihren Ausſchuß mit Weiſungen verſehen, und wie war dies möglich, wenn die Regierung den Landtag wider ſeinen Willen auflöſte? Ein großer Staat mit ſtarkem Heere und ſelbſtändiger auswärtiger Politik konnte unter einer ſolchen Verfaſſung unmöglich beſtehen, ein kleines abhängiges Gemeinweſen vielleicht wenn ſeine Fürſten eine ungewöhnliche Selbſt - verleugnung bewährten.

Da das heſſiſche Kurhaus von ſolcher Geſinnung nichts beſaß, ſo ſollten die Bekenner des Vernunftrechts bald durch eine große Enttäuſchung erfahren, wie wenig politiſche Formen allein die Freiheit ſichern: unter allen deutſchen Verfaſſungen war keine durch Rechtsſchranken jeder Art ſo wohl geſchützt wie die kurheſſiſche, und doch wurde keine ſo oft und ſo frevelhaft gebrochen. Jordan ſelbſt zeigte ſich mit dem Werke nur halb zufrieden; er klagte: das anti-conſtitutionelle Element durchdringt die ganze Verfaſſung und ſchließt ſich allenthalben klettenartig an das con -135S. Jordan.ſtitutionelle an, denn Schomburg und andere welterfahrene Abgeordnete hatten dem doctrinären Feuergeiſte zuweilen Waſſer in den Wein ge - ſchüttet. Vornehmlich mißfiel ihm der übel gerathene Schlußſtein der Verfaſſung, die Vorſchrift über die Miniſter-Anklage: wie durfte man die Entſcheidung ſolcher Klagen dem Oberappellationsgericht anvertrauen, das von der Regierung ernannt wird, und in der Reſidenz allen Künſten und Gefahren der Hofkabale ausgeſetzt iſt ? Immerhin wagte er zu hoffen, aus ſolcher Verpuppung werde ſich noch der Schmetterling der Freiheit erheben, wenn man nur ſtets dem Geiſte der Verfaſſung den Vorzug gäbe vor dem Buchſtaben. Unter dieſem Geiſte verſtand er aber kurzweg die neufranzöſiſche Parlamentsherrſchaft: das conſtitutionelle Syſtem kann nur da ſich kräftig ausbilden, wo kein Miniſterium ſich halten kann, welches die Majorität der Deputirtenkammer gegen ſich hat. Wie viel er auch ſelbſt noch vermißte, das dankbare Volk begrüßte ihn, und mit Recht, als den Vater der Verfaſſung. Für Schomburg und den Küfer Maſaniello genügten Ehrenbecher, die landesübliche Belohnung liberaler Ueberzeugungstreue. Jordan aber erhielt von der Stadt Marburg ein Haus geſchenkt; als er nachher von dem erſten conſtitutionellen Landtage heimkam, empfing man den ſchlichten, anſpruchsloſen Mann mit fürſt - lichen Ehren, und der junge heſſiſche Dichter Franz Dingelſtedt ſang:

Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen Schwerten,
Das mit Fahnen und Drommeten grüßte ſeinen Heimgekehrten?

Ueberall im Lande ward der Verfaſſungseid willig geleiſtet; eine Rechtsverwahrung der Fuldaer Clericalen zu Gunſten der römiſchen Kirche blieb unbeachtet. Nur einige Bauerſchaften des Fuldaer Landes nahmen Anſtoß an dem Art. 10, der von dem Kurfürſten ſagte: ſeine Perſon iſt heilig und unverletzlich; ſie glaubten, mit dieſer Perſon ſei die Reichenbach gemeint, ließen ſich jedoch bald eines Beſſeren belehren. Zahlreiche Flug - ſchriften verherrlichten Kurheſſens freudige Zukunft und die Verfaſſung, dies tief durchdachte Zeugniß des fortſchreitenden Menſchengeiſtes . Ein Verfaſſungsbüchlein für den Bürger und Bauer lobte vornehmlich das neu - gewonnene Recht der Auswanderungsfreiheit und ſchloß mit der tröſtlichen Verſicherung: Das letzte Landesrecht iſt, daß jeder Heſſe, dem es hiernach im Lande nicht gefällt, hingehen kann wohin er will, ohne daß er gehalten wird. In Caſſel gründete der wackere Philolog Bernhardi eine Zeitſchrift Der Verfaſſungsfreund , deren Artikel ſich meiſt durch kühne Allgemein - heit und durch ſorgfältiges Vermeiden aller praktiſchen Fragen auszeichneten. Der Vorabend großer Ereigniſſe oder Was haben die Kurheſſen noch mehr zu thun? ſo lauteten die Ueberſchriften beliebter Aufſätze. Auch die liberale Preſſe der deutſchen Nachbarlande fand des Lobes kein Ende; ſie pflegte nunmehr, ſeit die ſpaniſche Cortes-Verfaſſung von 1812 endlich in Vergeſſenheit gerieth, Kurheſſen und Norwegen neben dem Muſterlande Belgien als die Staaten zu bezeichnen, welche dem Zeitgeiſte die ihm136IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.gebührenden Zugeſtändniſſe gemacht haben. Nur Börne bewährte ſich wieder als unerſättlichen Radicalen und witzelte in ſeinen Pariſer Briefen über das Flittergold der heſſiſchen Freiheit. Am Bundestage dagegen war Jedermann entrüſtet über dies revolutionärſte aller deutſchen Grund - geſetze und ſtimmte dem erboſten Blittersdorff zu, der ſchon beim Beginne der kurheſſiſchen Bewegung vorausgeſagt hatte: unſere gefürchteten ſüd - deutſchen Verfaſſungen werden bald die illiberalſten in Deutſchland ſein! *)Blittersdorff’s Bericht, 20. Oct. 1830.

Und doch ſollte das vielgeprüfte Land kaum einige Tage lang ſeines neuen Grundgeſetzes froh werden. Am 8. Januar 1831 verſammelte ſich der Landtag vor dem Throne. Der Kurfürſt, der ſeinen Ingrimm nur mühſam verbiß, übergab dem Erbmarſchall die Verfaſſungsurkunde und ſtammelte verlegen: ich wünſche Heſſen Glück dazu; dann baten die Stände in überſtrömender Unterthänigkeit um die Erlaubniß, dieſem Fürſten, als dem zweiten Gründer des Landesglücks ſeit Philipp dem Großmüthigen, ein Standbild errichten zu dürfen. Tags darauf zogen die Bürger mit Fackeln nach dem Schloſſe, denn die geliebte Kur - fürſtin war ſoeben zurückgekehrt; und als nun der Landesvater mit ſeiner Gemahlin am Arme auf dem Altane erſchien, da jubelte Alles, mit der neuen Freiheit ſchien auch der häusliche Friede des Kurhauſes endlich geſichert. Doch leider hatte Wilhelm ſchon dafür geſorgt, daß jenes würdige Gegenſtück zu dem Standbilde des menſchenverkaufenden pater patriae nie zu Stande kam. Noch in derſelben Nacht fuhr ein Wagen Amſchel Rothſchild’s auf Wilhelmshöhe vor, und ihm entſtieg die Gräfin Reichenbach. Augenblicklich ſchlug die Stimmung in Caſſel um, und aber - mals begann der Krawall ſo lautete der neue Ausdruck, der damals zuerſt in dieſen mitteldeutſchen Landſtrichen aufkam. Sie muß aus dem Lande hieß es überall; der Schutz des neuen Grundgeſetzes ſollte der verhaßten Frau nicht zu gute kommen, obgleich ſie Heſſin war, und die Kurfürſtin ſelber ſich jetzt bereit erklärte, ſie als Geſellſchafterin und Pflegerin ihres Gemahls neben ſich zu dulden. Bei den Unruhen dieſer Januartage hatte der Adel, ganz wie in Braunſchweig, unverkennbar die Hände mit im Spiele; doch es bedurfte der Aufſtiftung kaum. Selbſt die Soldaten, die ſonſt trotz des gefährlichen doppelten Eides gute Manns - zucht hielten, theilten den allgemeinen Abſcheu und ſagten laut: Schlagt ſie nur todt, wir laſſen Euch nicht im Stich! Nach drei Tagen wachſen - der Aufregung ſah ſich die Gräfin gezwungen Wilhelmshöhe zu verlaſſen. Maſaniello Herbold ritt ſelber hinaus um nachzuſehen ob ſie wirklich fort ſei. Wilhelm aber gebärdete ſich wie ein Raſender; alle politiſchen Wünſche hatte er ſeinem Völkchen erfüllt, und nun verwehrten ihm die Undank - baren, ſeinen perſönlichen Neigungen zu folgen. In den nächſten Tagen mußte er noch, halb gezwungen durch drohende Schreiben der Bürger -137Rückkehr und Flucht der Gräfin Reichenbach.ſchaft, ein conſtitutionelles Miniſterium berufen, deſſen Leitung Freiherr Schenk von Schweinsberg übernahm, und den Vertrauten der Reichenbach, Meyſenbug, mit dem unpolitiſchen Amte des Hausminiſters abfinden. Wie viel noch an einem geſicherten Rechtszuſtande fehlte, das fühlte man jetzt erſt, als im Landtage die unendliche Reihe der organiſchen Geſetze aufgezählt wurde, die noch nöthig waren um alle die reichen Verſprechungen des Staatsgrundgeſetzes zu erfüllen.

Die Verfaſſung ſelbſt wurde ſchon im Februar in Frankfurt einge - reicht, damit der Bundestag die Bürgſchaft dafür übernähme. Die Bun - desverſammlung aber that, wie in allen ſchwierigen Fällen, gar nichts. Metternich verlangte kurzweg die Abweiſung des Geſuchs, und als Preußen, von mehrern Mittelſtaaten unterſtützt, widerſprach, ließ er in einer Denk - ſchrift alle die Sätze der Verfaſſung zuſammenſtellen, welche dem monar - chiſchen Princip zuwiderlaufen ſollten. Ganz im Sinne der Hofburg verfaßte auch der Berichterſtatter Blittersdorff ſein Gutachten. Einen ſo rechtswidrigen Uebergriff des Bundestags konnte jedoch der Großherzog von Baden als conſtitutioneller Fürſt unmöglich gutheißen; ſeine Regie - rung ſprach ſich nachdrücklich gegen die Meinung des eigenen Geſandten aus, und nachdem man noch eine Weile vertraulich geſtritten hatte, wurde ſchließlich, nach dritthalb Jahren, im October 1833 dem Caſſeler Hofe unter der Hand mitgetheilt, daß der Bundestag in dieſer Sache keinen Beſchluß faſſen könne. Durch dieſe lächerliche Entſcheidung waren Oeſter - reichs Anſchläge vorläufig vereitelt; die kurheſſiſche Verfaſſung beſtand in anerkannter Wirkſamkeit, der Bundestag hatte ſie ohne Widerſpruch ent - gegengenommen, mithin durfte ſie, nach der Wiener Schlußakte und dem Braunſchweigiſchen Präcedenzfalle, nicht mehr einſeitig abgeändert werden.

Unterdeſſen bemerkten die Caſſeler bald, daß der Landesvater etwas im Schilde führte. Auf Wilhelmshöhe wurde unaufhörlich gepackt; Silber - zeug und Koſtbarkeiten, ſelbſt Thürſchlöſſer, Oefen und Parketböden ver - ſchwanden in großen Frachtwagen, die nach Frankfurt zu der Reichenbach ab - gingen; zugleich ließ das Hofmarſchallamt eine Menge kurfürſtlicher Pferde verſteigern. *)Hänlein’s Bericht, 19. Febr. 1831.Und wieder rotteten ſich die Krawaller zuſammen um die Abfahrt der Wagen zu verhindern. Der Kurfürſt ſelbſt war in der Stadt vor beleidigenden Zurufen nicht ſicher; ſeine Gemahlin aber erſchien auf den Bürgerbällen, wie die anderen Damen in die weißblauen Stadtfarben gekleidet, und empfing die ehrfurchtsvollen Huldigungen der Herren, die alleſammt die Conſtitutions-Schleife im Knopfloch trugen. Sobald der Landtag geſchloſſen war, am 10. März, verſchwand der Kurfürſt mit ſeinem Meyſenbug aus Wilhelmshöhe und fuhr nach ſeinen Schlöſſern im Hanauerlande, wo er mit ſeiner Geliebten zuſammentraf. Die radi - calen Hanauer wußten ſich vor Freuden kaum zu laſſen, als der Landes -138IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.vater leibhaftig in ihrer Mitte erſchien, auch gegen die Gräfin hatten ſie nichts einzuwenden; ſie hofften, ihre Stadt werde wieder wie vor Zeiten Reſidenz werden, und gewannen Wilhelm’s Herz durch unterthänige Befliſſenheit ſo gänzlich, daß er ſich ſelber zum Chef ihrer Bürgergarde ernannte. Warum ſollten dieſe ſüdlichen Provinzen, nachdem ſie ſchon das altheſſiſche Mauthweſen abgeſchüttelt, nicht einen ſelbſtändigen Klein - ſtaat unter dem alten Kurfürſten bilden? ſolche Pläne wurden bereits beim Schoppen von begeiſterten Hanauer Patrioten erörtert.

Während die Miniſter in Caſſel redlich an den neuen organiſchen Ge - ſetzen arbeiteten, bildete der Kurfürſt mit der Gräfin und ihrem Meyſenbug eine geheimnißvolle abſolutiſtiſche Gegen-Regierung im ſchönen Schloſſe Philippsruhe am Main; die Bürgerfeſte der Caſſeler wurden durch aller - hand rohen Muthwillen geſtört, und Jedermann argwöhnte, daß die Unruh - ſtifter ihre Weiſungen von der Reichenbach empfingen. Während jene den Beitritt zum preußiſchen Zollvereine vorbereiteten, ſtand der Kurfürſt in Verkehr mit der benachbarten öſterreichiſchen Bundesgeſandtſchaft und ſuchte insgeheim jede Annäherung an Preußen zu vereiteln. Nach dem Buch - ſtaben der Verfaſſung war er in ſeinem guten Rechte, denn dieſe verbot ihm nur den Sitz der Regierung außer Landes zu verlegen; auf die Dauer mußte ein ſolches Doppel-Regiment doch unerträglich werden. Die Caſſeler murrten, weil ihnen die Kundſchaft des Hofes entzogen und ſogar das unentbehrliche Hoftheater geſchloſſen wurde; umſonſt hielt Hänlein den Stadträthen vertraulich vor, nach ſo grober Verletzung der Ehrerbietung ſei die Stadt doch verpflichtet, ſich bei dem beleidigten Landesherrn zu entſchuldigen. Heißſporne meinten ſchon: da der Kurfürſt an der Aus - übung der Regierung verhindert ſei, ſo müſſe ſeine Gemahlin die Regent - ſchaft übernehmen.

Im April wurde der neue Landtag gewählt, ohne heftigen Kampf, noch nach der ſtillen Weiſe der alten Zeit. Die Abgeordneten gehörten in ihrer großen Mehrheit der liberalen Partei an; ſie beſchloſſen den Kur - fürſten durch Abgeſandte zur Rückkehr aufzufordern, weil er im Hanauer Lande des verfaſſungsmäßigen Rathes der verantwortlichen Miniſter faſt gänzlich entbehre . Der aber antwortete durch heftige Vorwürfe gegen die Undankbarkeit ſeiner Unterthanen; ſeine Caſſeler ließ er bedeuten, durch Worte könne das Andenken übler Thaten nicht verlöſcht werden. Im Landtage brach die gereizte Stimmung überall durch. Der Voran - ſchlag wies ein Deficit von faſt 0,4 Mill. Thlr. bei einer Geſammtein - nahme von kaum 2,888 Mill. auf. Allein das Heer mit ſeinen 9000 Mann erforderte eine Million, und manche neue unabweisbare Ausgaben ſtanden noch bevor; ſo ſollten die Amerikaner , jene unglücklichen einſt an England verkauften Soldaten, endlich einen beſcheidenen Ruhegehalt empfangen, aber nur die im Lande lebenden, denn gegen Ausländer, alſo beſchloß der Landtag, dürfe man bei der allgemeinen Landesnoth keine unnöthige139Der Kurfürſt im Hanauer Lande.Großmuth üben . Für den Augenblick konnte wohl eine Anleihe aus - helfen; das Gleichgewicht des Staatshaushalts ließ ſich aber nur dann ſichern, wenn die Anarchie des Mauthweſens durch die preußiſche Ordnung verdrängt wurde, und vor dem preußiſchen Zollvereine bebten viele der Liberalen faſt ebenſo ſcheu zurück wie der Landesherr ſelber.

Derweil man dergeſtalt rathlos verhandelte, zeigte jener § 100 der Verfaſſung ſchon ſeine verderbliche Wirkung. Der Kurfürſt hatte durch Cabinetsordre einige Offiziere befördert. Gegen die Sache ſelbſt wie gegen die Perſonen ließ ſich gar nichts einwenden; aber der Befehl trug nicht die Unterſchrift des Kriegsminiſters Loßberg, und obſchon die Vorſchriften der Verfaſſung für dieſen Fall keineswegs unzweideutig lauteten, ſo meinte ſich gleichwohl Burkard Pfeiffer, einer der beſten Juriſten des Landes, in ſeinem Gewiſſen verpflichtet zu beantragen, daß General Loßberg, dem doch höchſtens ein verzeihlicher Formfehler zur Laſt fiel, wegen Verfaſſungs - bruchs angeklagt werde. In leidenſchaftlicher Rede fiel Jordan bei und rief wie gewöhnlich den Geiſt der Verfaſſung zu Hilfe gegen ihren zweifel - haften Wortlaut. Mittlerweile ward es im Lande täglich unfriedlicher. Die Bürgergarden von Caſſel und Marburg beriethen ſchon unter ein - ander, wie die im Finſtern ſchleichende, geifernde Brut gänzlich unter - drückt und der Kurfürſt aber ohne ſeine Gräfin in die Hauptſtadt zurückgeführt werden ſolle; eine Adreſſe von nahezu tauſend Caſſeler Ein - wohnern ſtellte die ungeheuerliche Behauptung auf: wenn Wilhelm noch länger fern bleibe, ſo verzichte er auf den Kurhut. In aller Gemüthlich - keit waren die Heſſen ſchon nahe daran, den Verſailler Zug der Pariſer vom October 1789 zu wiederholen.

Um ein Ende zu machen beſchloß der Landtag, noch einmal ſein Glück bei dem grollenden Landesherrn zu verſuchen. Gegen Ende Auguſt reiſten abermals ſtändiſche Abgeſandte nach Philippsruhe, und einer von ihnen ward vorgelaſſen: Präſident Wiederhold, jener ehrwürdige alte Richter, der an der Spitze des Obergerichts ſo viele Jahre hindurch gegen fürſt - liche Willkür angekämpft hatte. Freimüthig und doch ehrfurchtsvoll ſetzte er dem Kurfürſten jetzt auseinander, daß der Souverän in der gegen - wärtigen Lage mit den Miniſtern regelmäßig zuſammen arbeiten müſſe, die Gräfin aber in Caſſel ihres Lebens ſchwerlich ſicher ſei; ſchließlich ſtellte er ihm die Wahl: Trennung von der Reichenbach oder Verzicht auf die Regierung. Wilhelm wählte wie er mußte: er zog die Geliebte vor und ſendete den Präſidenten nach Fulda, um dort mit dem Kur - prinzen, dem nach der Verfaſſung die Regentſchaft gebührte, weiter zu verhandeln. Am 4. September wurden die Stände zu einer geheimen Sitzung berufen, und mit Zuſtimmung des Landtags kam nunmehr ein Geſetz zu Stande, das dem Kurprinzen als Mitregenten die alleinige Beſorgung aller Regierungsgeſchäfte übertrug, bis der Kurfürſt ſeine bleibende Reſidenz wieder in Caſſel nehmen würde.

140IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Dieſen Ausgang der Wirren hatte Niemand erwartet, Niemand ge - wünſcht. Kurprinz Friedrich Wilhelm hieß im Volke längſt der böſe Junge. Der Eintagsruhm, den er ſich durch ſeine feige Nachgiebigkeit gegen die Hanauer Mauthſtürmer erworben, war raſch wieder verflogen; man wußte, wie dringend er dem Vater von der Verfaſſung abgerathen, wie frech und lieblos er ſich ſoeben erſt in Fulda mit ſeiner Frau Lehmann gegen ſeine Mutter betragen hatte. Wie unheilvoll hatte doch Alles zuſammengewirkt um dieſen letzten Fürſten eines ruhmreichen Hauſes einem ſchmählichen Falle entgegenzuführen. Freudlos und freundlos war er aufgewachſen, in ewigem Hader erſt mit dem Vater, dann mit beiden Eltern, ſchlecht erzogen, von Ränken umringt, vom Morde bedroht, ohne Kenntniſſe, kleinlich, gewöhnlich in allen ſeinen Neigungen. So ward er zum bos - haften Menſchenverächter; der ſeltſame halb ſcheue halb ſtiere Blick ſeiner waſſerblauen Augen verrieth ſchon, daß er Alle fürchtete, Keinen ehrte, Jedem die ſchlechteſten Beweggründe unterſchob. Ein höheres ſittliches Ideal als die formale Geſetzlichkeit blieb ihm unfaßbar. Schüchtern und linkiſch im Verkehre, kaum fähig einen längeren Satz zu Ende zu ſprechen, konnte er zuweilen in raſendem Jähzorn auffahren und dann verſchlug es ihm wenig, den Beamten Fußtritte zu verſetzen, den Miniſtern ſelbſt brutale Schimpfworte, nach Umſtänden auch ein Tintenfaß an den Kopf zu werfen. Seine Staatsweisheit lief auf das einfache: Ordre pariren und nicht räſonniren! hinaus; als Abſolutiſt ohne Phraſe liebte er weder die Salbung der theologiſchen, noch die Romantik der feudalen Reactions - lehren.

Die Verfaſſung durfte er nicht brechen, ſchon weil er ihr allein die Regentſchaft verdankte und weil ſein Vater jederzeit zurückkehren konnte; doch er haßte ſie wie einen perſönlichen Feind, denn ſie verkümmerte ihm ſein Familienleben, das einzige Glück, deſſen er fähig war. Gertrud Lehmann war jetzt ſeine rechtmäßige Gemahlin; er hatte ſie vor Kurzem, nachdem ihre Ehe getrennt worden, insgeheim geheirathet und erhob ſie es war die erſte That ſeiner Regierung zur Gräfin von Schaumburg. Wie verſchwenderiſch hatten doch einſt ſeine Vorfahren ihre Dirnen und Ba - ſtarde ausgeſtattet. Er aber konnte für ſeine Gattin und ſeine ehelichen Kinder, die er auf ſeine Weiſe liebte, nur wenig thun; ſein Einkommen genügte, trotz der äußerſten Sparſamkeit und trotz der Beihilfe Amſchel Rothſchild’s, kaum für die Koſten des Hofhalts, da ſein Vater den Haus - ſchatz für ſich behielt, und an den Staatsgeldern durfte der conſtitutionelle Fürſt ſich nicht mehr vergreifen. Leider ward die Lage des Prinz-Regenten auch durch die Schuld der Mutter verſchlimmert. Wenn die Kurfürſtin ſich entſchloß über das Vergangene hochherzig einen Schleier zu werfen, wenn ſie die Gemahlin ihres Sohnes, die nunmehr ein untadelhaftes Leben führte und allen Staatsgeſchäften fern blieb, als ihre rechtmäßige Schwieger - tochter behandelte, ſo konnte vielleicht wieder ein geordnetes häusliches Leben141Mitregentſchaft des Kurprinzen.am Hofe ſich herſtellen. König Friedrich Wilhelm gab ſeiner Schweſter auch ausdrücklich Vollmacht, ſich mit der Gräfin Schaumburg zu verſtändigen. *)Hänlein’s Berichte, 12. Nov. 27. 31. Dec. 1831.Die unglückliche Fürſtin aber hatte unter dem heſſiſchen Dirnenregiment zu ſchwer gelitten, ſie konnte den Widerwillen der Frau, den Stolz der Hohenzollerin nicht überwinden, und da ihr Sohn ſich durch trotzige Roheit rächte, ſo blieb es dabei, daß dies Fürſtenhaus keine allgemein anerkannte Herrin beſaß.

Die erſten Wochen der neuen Regierung verliefen leidlich. Wiederhold übernahm die Leitung des Miniſteriums und kam dem Landtage ſo weit entgegen, daß er ſogar in die Entlaſſung des halb-ſchuldigen Kriegsminiſters willigte. Durch ſolche Nachgiebigkeit wurde freilich das Selbſtgefühl der Stände bedenklich geſteigert. Erſtaunlich, was ſie jetzt Alles aus dem Geiſte ihrer Verfaſſung heraus zu folgern wußten. Als der Kurprinz einmal einige Abgeordnete während einer Sitzung zur Tafel befohlen hatte, beantragte Jordan, die verantwortlichen Miniſter ſollten das Hofmarſchallamt erſuchen ſolche Einladungen zu unterlaſſen, denn der Regent ſei nicht berechtigt die Vertreter des Volks ihren Geſchäften zu entziehen. Bald führte das Zerwürfniß im Kurhauſe zu neuen Ruheſtörungen. Ergrimmt über die geringſchätzige Behandlung ſeiner Gemahlin ließ der Kurprinz ſeiner Mutter ihre Loge im Theater verſchließen; am nächſten Tage nahm er den Befehl zurück da er die allgemeine Entrüſtung bemerkte. Als nun die Kurfürſtin am 7. December im Theater erſchien, begrüßten ſie die Zuſchauer mit Hochrufen auf unſere rechtmäßige Landesmutter . Draußen ſtrömte das Volk zuſammen, man wollte die Kurfürſtin mit Fackeln nach Hauſe ge - leiten. Da eilten Truppen herbei, der Polizeidirektor verkündete den Kriegszuſtand, obwohl ernſte Unordnungen diesmal nicht vorgekommen waren; die Garde du Corps ſprengte in den Haufen ein und verwundete mehr als zwanzig Leute. Währenddem ging der Kurprinz auf dem Fried - richsplatze unter den Soldaten umher und rühmte ſich nach vollbrachter That, nun habe er ſich endlich Reſpekt verſchafft.

Nach wenigen Tagen verlor er wieder den Muth, da Hänlein ihm ins Gewiſſen redete, ordnete eine Unterſuchung an und bedauerte in einer Bekanntmachung, daß im nächtlichen Dunkel Unfälle geſchehen ſeien . Die Bürger bezeigten ihren Zorn durch widerwärtige Händel mit den Truppen. Der Verfaſſungsfreund ſchrieb, da der Kurprinz nur Uniform trug: ein Fürſt der immer im Soldatenkleide erſcheint, beweiſt damit, daß er das Oberhaupt nicht des Staates, ſondern des Militärs ſein will. Am Sylveſterabend wurde Jordan, zu ſeinem Namenstage, mit überſchwäng - lichen Huldigungen geehrt; bald darauf hielten die Abgeordneten der beiden Heſſen in Gießen ein feierliches Eintrachtsmahl, tranken mit einander auf die gemeinſame Freiheit, und jeder Theilnehmer erhielt zum Andenken einen142IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Abdruck der beiden Verfaſſungsurkunden. Die Kurheſſen gedachten indeſſen bereits wehmüthig der Erzählung Hippel’s von den Lebensläufen in ab - ſteigender Linie ; ſie fanden, im Hauſe Brabant gerathe der Sohn immer noch ſchlechter als der Vater, und Mancher ſehnte ſich ſchon nach dem alten Kurfürſten zurück. Der aber betrat ſeine Hauptſtadt niemals wieder, ſondern lebte als Privatmann bald in den Schlöſſern am Main, bald in Frankfurt oder an der Badener Spielbank. Sein Sohn begnadigte ſofort den wegen der Vorfälle vom 7. December verurtheilten Polizeidirektor und kränkte ſeine Caſſeler tödlich, als er den Civil-Beamten der Bürgerwehr befahl ihre Schnurrbärte abzuſchneiden. Welch eine Gelegenheit für Jordan zu ſchwungvollen Reden: die §§ 31 und 32 verbürgten die Freiheit der Perſon und des Eigenthums, folglich gebührte jedem Heſſen das unbe - ſchränkte Eigenthum an ſeinem Barthaare, und die eidvergeſſenen Miniſter mußten wegen Verfaſſungsbruchs angeklagt werden!

Zum Unheil des Landes ſtarb Miniſter Wiederhold ſchon im Februar 1832, der einzige Mann, deſſen Stimme zugleich am Hofe und im Land - tage gehört wurde. Nun trat Hans Daniel Haſſenpflug in den Miniſter - rath ein, der Sohn des Vaters, und ſprach ſofort die Abſicht aus die Strömung wieder in das verlaſſene Bette des Gehorſams zurückzu - dämmen . Mit ihm begann der lange boshafte Kampf wider die Ver - faſſung. Vorderhand trug Kurheſſen aus ſo vielen Erſchütterungen nur drei werthvolle politiſche Güter davon: die Theilung des Landesvermögens, die rechtlich geſicherte Ordnung des Beamtenthums, vor Allem aber die Verbindung mit dem Zollvereine, die im Sommer 1831 endlich zu Stande kam und, weil ſie allein dem zerrütteten Staatshaushalt aufhelfen konnte, auch die Genehmigung der Stände fand. Zu Neujahr 1832 wurde das preußiſche Zollweſen eingeführt. Wieder zogen die Hanauer in hellen Haufen hinaus um das neue Zollhaus wie einſt das alte zu ſtürmen, doch dies - mal begegneten ſie entſchloſſener Abwehr. Auch die anderen Landestheile fügten ſich anfangs nur ungern; die Gaſſenbuben verhöhnten den Preuß im Zollhauſe:

Er iſt geſchnüret wie ein Weib,
Die Sonne ſcheint ihm durch den Leib.

Sehr bald erkannte man doch den Segen des freien deutſchen Marktes. Lediglich dem Zollvereine verdankte das Land, daß ſeine wirthſchaftlichen Kräfte unter einer nichtswürdigen Regierung langſam wieder erſtarkten.

In Heſſen wie in Braunſchweig richtete ſich der Aufruhr gradeswegs gegen die Willkür pflichtvergeſſener Fürſten. Im Königreich Sachſen brach eine wohlwollende, aber altersſchwache und völlig entgeiſtete Regierung haltlos zuſammen vor den erſten Schlägen einer kleinbürgerlichen Volks - bewegung, welche ohne ein politiſches Ziel zu verfolgen ihren Unmuth143Unruhen in Leipzig.zunächſt nur an einzelnen verhaßten Behörden und örtlichen Mißſtänden ausließ. Die Unruhen begannen hier ſchon vor der großen Woche der Pariſer, als im Juni drei Tage lang das Jubelfeſt der Augsburgiſchen Confeſſion gefeiert wurde. Ein geiſtliches Lied mahnte die Sachſen, auch das kommende Jahrhundert hindurch der Kirche heilige Güter treu zu beſchirmen: dann jubeln frei wie Ihr der Enkel freie Schaaren; und manche der Feſtreden klang wie ein Proteſt des lutheriſchen Volkes gegen die jeſuitiſchen Umtriebe, die man den ausländiſchen Hofgeiſtlichen des greiſen Königs zutraute. Da die Behörden in Dresden und Leipzig ſich dem volksthümlichen Feſte unfreundlich zeigten, ſo kam es in beiden Städten zu kleinen Aufläufen und Straßenhändeln; zuweilen erklang aus der aufgeregten Menge ſogar der in Sachſen unerhörte Ruf: hoch Friedrich Wilhelm der proteſtantiſche König! Die eingeleitete Unterſuchung hüllte ſich in tiefes Geheimniß, und eine heftige Flugſchrift, die das Gebahren der wachſamen, aber groben Leipziger Polizei kurzweg als Schatten ohne Licht brandmarkte, mußte zur Beſchämung der Kurſachſen außer Landes, unter dem Schutze der ſtrengen preußiſchen Cenſur erſcheinen.

In den erſten Septembertagen brach der Groll von Neuem aus; an zwei Abenden hintereinander trieb der Leipziger Pöbel argen Unfug. Die Bürger ſahen ſchadenfroh zu, und als der geängſtete Stadtrath ſie am 4. September zur Hilfe rief, hielten ſie ihm zornig die Sünden ſeines Vettern-Regimentes vor, bis er endlich Rechenſchaft von ſeiner Verwaltung abzulegen verſprach. Die ganze nächſte Nacht hindurch tobten die Maſſen wieder in den Straßen. Da und dort zeigte ſich die franzöſiſche Tricolore, und zuweilen erklang der Ruf: Freiheit, Paris, Lafayette! Im Grunde galt der Grimm nur den kleinen Stadttyrannen, und auch der Zunftgeiſt wollte in der erwerbloſen Zeit ſein Müthchen kühlen an gefährlichen Neben - buhlern. Die Wohnungen mehrerer Rathsherren und Polizeibeamten wurden demolirt ſo lautete die ausgegebene Loſung desgleichen einige verrufene Häuſer, deren Damen ſich der geheimen Gunſt der Stadt - behörden erfreuten; die Schloſſer grollten, weil der Rath die eiſernen Bettſtellen für ein Krankenhaus auswärts beſtellt hatte, die Drucker wollten die neue Schnellpreſſe zerſtören, die ihnen das Brot vom Munde nahm, die Lohnkutſcher den Eilwagen im königlichen Poſtſtalle. Am folgenden Morgen that ſich die Bürgerſchaft zuſammen und bildete eine Commu - nalgarde; Rector Krug berief die Studenten in die Paulinerkirche und ermahnte ſie in feuriger Rede, mit den Bürgern vereint die Ordnung herzuſtellen. Dies gelang denn auch ſogleich und ohne Widerſtand. Die Communalgarde und die akademiſche Legion bezogen gemeinſam die Wachen denn kraft alter Privilegien brauchte Leipzig außer der Schloßwache der Pleißenburg keine Garniſon aufzunehmen. Die Bürger trugen die weiße Armbinde, die Studenten ihre Schläger und die bunten Verbin - dungsuniformen, die ſich nunmehr dem Verbote zum Trotz an den Tag144IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.hinauswagen durften; während die Einen patrouillirten, ſaßen die An - deren vor den Thorwachen, tranken Goſe und ſpielten Sechsundſechzig.

Wie freudig wärmte ſich der ehrliche Krug an der Sonne dieſes neuen Bürgerglückes. Der hatte ſchon vor Jahren den Deutſchen mit gewohnter Wortfülle ſeine Lebensreiſe geſchildert und darin das Jahr 1813 als den Höhepunkt ſeines Daſeins bezeichnet. Jetzt ſchrieb er ſofort einen Nachtrag über das merkwürdigſte Jahr meines Lebens denn wer durfte leugnen, daß die Leipziger Revolution doch noch mehr bedeutete als die Leipziger Völkerſchlacht? Keine ſeiner ungezählten Schriften recht - fertigte ſo glänzend den Beinamen des Waſſerkruges, welchen die bos - haften Hegelianer dieſem Philoſophen angehängt hatten. Am Schluſſe erzählte er rührſam, wie ihm für die Großthaten ſeines Rektoratsjahres der Civilverdienſt-Orden verliehen wurde; beſcheiden fügte er hinzu: Das war wieder allzuviel Ehre. Denn was hatt ich eigentlich gethan? Nichts als meine Schuldigkeit. Ueber die Höhe dieſes ſeelenvergnügten Frei - heitsmuthes ſchwangen ſich auch die zahlreichen anderen Flugſchriften, welche die ſächſiſche Revolution hervorrief, ſelten empor; nur ein Büchlein des jungen, den Demagogenverfolgern wohl bekannten Theologen Karl Haſe beſprach Sachſens Hoffnungen mit politiſcher Einſicht und Mäßigung.

Inzwiſchen hatten die Leipziger Unruhen ſchon in Dresden ihr Echo gefunden. Auch hier galt die Wuth des Volkes vorerſt nur dem all - mächtigen Stadtrathe, obgleich dann und wann im Getümmel die Mar - ſeillaiſe geſungen wurde. Ein Pöbelhaufe zerſtörte das Polizeihaus vom Fuß zum Firſt, verbrannte die Akten aus dem nahen Rathhauſe, und die Bürgerſchaft ließ ihn gewähren (9. Sept.). Die ſchwarzen Schützen, eines der beſten Regimenter des kleinen Heeres, durften auf Befehl der furchtſamen Regierung nicht in den Haufen feuern, und als ſich auch hier eine Bürgerwehr mit weißen Armbinden zuſammengeſchaart hatte, mußten die Truppen ohne Hörnerklang durch ein Spalier der Commu - nalgarde aus der Stadt abziehen, während die Maſſe den ſchwarzen Bluthunden ihre Verwünſchungen nachrief. Nun ergoß ſich auch über das ſtille Dresden ein Abglanz neufranzöſiſcher Bürgerherrlichkeit. Die Communalgardiſten grüßten einander ſtolz: Guten Morgen, Pariſer! , wenn ſie auf den Trommelruf Kamerad komm! zum Sammelplatze eilten. Bei ihren Feſten ſangen ſie die ſächſiſche Marſeillaiſe des ſanft - müthigen alten Tiedge; der Kehrreim Aux armes citoyens! lautete hier minder blutdürſtig:

Wohlauf, wohlan, ſtreut Blumen hin
Wo Zwiſt und Unheil war!

Ganz ſo kindlich wie dies Bürgerlied war die Stimmung des Landes freilich nicht. In Chemnitz und mehreren kleinen Städten rottete ſich das Volk zuſammen; ſelbſt die Freiberger Bergleute, die ſonſt ihren Rautenkranz ſo treu in Ehren hielten, zogen drohend vor das Thor der145Entlaſſung Einſiedel’s.freien Bergſtadt und wurden nur durch das Verſprechen höheren Lohnes beſchwichtigt. Hier ward das Haus eines katholiſchen Kaufmanns ge - plündert, dort ein Rathsherr wegen ſeiner Strenge, ein Fabrikant wegen ſeiner Maſchinen, ein Kirchenpatron wegen des unbilligen Preiſes der Kirchenſtühle bedroht; alle Herzensneigungen des Philiſterthums kamen an den Tag, denn die Zügel des Regiments ſchleiften am Boden.

Nach und nach wurden auch politiſche Wünſche laut, da die ver - haßte ſtädtiſche Verwaltung mit der alten Ständeverfaſſung ſo eng zu - ſammenhing. Ein bei den Mittelklaſſen hochbeliebter tüchtiger Beamter, C. G. Eiſenſtuck, der durch die Kenntniß der engliſchen Zuſtände freiere Anſchauungen gewonnen hatte, verfaßte für die Bürger der Dresdener Neuſtadt eine Adreſſe an die Krone und wagte hier zuerſt neben der Beſeitigung der ſtädtiſchen Mißbräuche auch eine dem Zeitgeiſt entſpre - chende Repräſentation , vornehmlich eine Vertretung des Bauernſtandes zu fordern.

In aller Unſchuld ward unter den Communalgardiſten der Haupt - ſtadt ſchon die Frage erwogen: ob man nicht, da ſo Vieles zu ändern ſei, den guten alten König Anton durch freundliche Bitten zur Abdankung bewegen ſolle; dann könne ſein Neffe, der junge Prinz Friedrich Auguſt, den Thron beſteigen und vielleicht auch aus Liebe zum Volke den luthe - riſchen Glauben annehmen. Solche Pläne erſchienen der aufgeregten Zeit ganz unverfänglich, war doch Ludwig Philipp von den alten Mächten ſchon thatſächlich anerkannt; die neue franzöſiſche Revolution wirkte darum ſo verführeriſch auf das gutmüthige deutſche Bürgerthum, weil ſie ſo glatt verlief und ſo viel unſchuldiger ſchien als die gräuelvolle erſte. Der deutſche Prinz aber dachte anders als der Orleans; er wies jene An - ſchläge ſobald er davon hörte entrüſtet zurück und ſagte: ich will nicht König von Rebellen ſein!

Ein feſtes Ziel gewann die unſtäte Bewegung erſt als das hohe Beamtenthum ſelber ſich der Leitung bemächtigte. Die jüngeren Mit - glieder des Geheimen Rathes empfanden ſchon längſt mit Unmuth die Uebermacht des Geheimen Cabinets, das ſie ganz von dem Monarchen abſperrte, und den ſtarren Dünkel des Cabinetsminiſters Einſiedel; ſie konnten ſich auch nicht mehr verbergen, daß der König bei dem drohenden Zuſammenbruche des alten Syſtems mindeſtens der Beihilfe einer jugend - lichen Kraft bedurfte. Dem alten Herrn waren die Unruhen ganz unbe - greiflich; ich habe ja, ſagte er traurig, Alles beim Alten gelaſſen und Keinem je etwas zu Leide gethan! Endlich begann er doch einzuſehen, wie gänzlich Graf Einſiedel ihn und ſich ſelber über die Stimmung des Volkes getäuſcht hatte. Am 13. September mußte der Graf auf die Auf - forderung des Königs ſein Abſchiedsgeſuch einreichen; unwillig räumte er den ſo lange behaupteten Poſten und ſchrieb dem preußiſchen Geſandten: S. Maj. hat es für nöthig gehalten, daß ich ihn um meine EntlaſſungTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 10146IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.bitten ſolle. *)Einſiedel an Jordan, 13. Sept. 1830.Am ſelben Tage fuhr der Geheime Rath v. Lindenau mit dreien ſeiner Amtsgenoſſen nach Pillnitz hinaus und bewog dort den König, den Prinzen Friedrich Auguſt zum Mitregenten zu ernennen. Der Vater des jungen Prinzen, der alte Prinz Max, hatte dawider nichts einzuwenden und erklärte ſogar unaufgefordert, daß er zu Gunſten ſeines Sohnes auf die Thronfolge verzichte: Ich mag gar nicht regieren meinte er gemüthlich der Fritz iſt gut, er wird ſchon nach meinem Sinne regieren.

So übernahm denn Friedrich Auguſt die Herrſchaft, die ihm nur ſelten durch eine Bedenklichkeit des alten Königs erſchwert wurde ſeit lange her der liebenswürdigſte Fürſt des albertiniſchen Hauſes, vielſeitig gebildet, gütig, leutſelig und von einer treuherzigen Aufrichtigkeit, welche die Hofleute zuweilen erſchreckte. Er nannte ſich ſelber einen Gemüths - menſchen und war in der That durch Anlage und Neigung mehr für die gelehrte Muße als für die Welt des Handelns beſtimmt; raſche Ent - ſchlüſſe fielen ihm ſchwer, durch die trockenen Geſchäfte ward er leicht ermüdet, und in großer Geſellſchaft ſprach er wenig. Heute kein Wort von Politik, ſo ſagte er oft, wenn er ſich einen guten Tag machte und mit einem Adjutanten allein hinausfuhr in die Felſengründe des Meißener Hochlandes; faſt alle Gebirge Europas hatte er durchwandert bis in ihre entlegenen Schluchten, und im vertrauten Kreiſe erzählte er von ſeinen Reiſen mit dichteriſcher Anſchaulichkeit. Am wohlſten fühlte er ſich auf ſeinem beſcheidenen Weinberge in Wachwitz, wo ihn kein Hofſtaat, nicht einmal eine Wache ſtörte. Alle Künſte waren ihm vertraut, und mit glücklichem Blicke wußte er die jungen Talente herauszufinden; von den Wiſſenſchaften trieb er mit Vorliebe die Botanik, und es geſchah wohl, daß ein Bäuerlein den ſchlichten Mann, wenn er mit ſeiner grünen Trommel die Feldraine abſuchte, für den Rattenfänger hielt. Auf ſeinen fürſtlichen Beruf hatte er ſich gewiſſenhaft vorbereitet; man wußte, daß er von der Unhaltbarkeit der alten Adelsherrſchaft längſt überzeugt war und weder mit den Beichtvätern ſeines Oheims noch mit dem Grafen Einſiedel auf gutem Fuße ſtand. Durch eine freundliche Anſprache an die Dresdener Bürgerſchaft gewann ſich der Mitregent alsbald alle Herzen; ſein Wort Vertrauen erweckt wieder Vertrauen wurde fortan in den gereimten und ungereimten Trinkſprüchen ergebener Unterthanen beharrlich wiederholt, und man verzieh ihm auch, daß er ſich zu dem angeſonnenen Glaubenswechſel doch nicht entſchließen wollte. Als treuer und arbeit - ſamer Gehilfe ging ihm ſein Bruder Johann zur Hand, auch er ein Gelehrter von umfaſſendem Wiſſen, minder liebenswürdig als Friedrich Auguſt aber auch minder weich, gründlich bewandert in dem Rechte und der Verwaltung des Landes. Prinz Johann übernahm den Oberbefehl147Prinz Friedrich Auguſt Mitregent.über die Communalgarden, die nun in allen größeren Städten zuſammen - traten und beim Anblick des Fürſten mit der weißen Bürgerbinde ihre eigene Größe erſt ganz empfanden. In überſchwänglichen Dithyramben wurde der Hochgeweihte und ſein Johannes ihm zur Seite gefeiert, und als dieſe ſächſiſchen Dioskuren im Zenithe von Leipzig erſchienen , fand Krug kaum Worte genug für ſeine liberale Begeiſterung.

Der leitende Kopf bei der Arbeit der Reform war der Geh. Rath v. Lindenau. Herzog Bernhard hieß er bei dem dankbaren thüringiſchen Volke noch von den Tagen her, da er ſein Heimathland Gotha-Altenburg während einer Zwiſchenherrſchaft allein regiert hatte; und die gleiche Liebe erwarb er ſich bald auch in Kurſachſen, zumal unter den Bauern, ob - gleich der ſchlichte Ariſtokrat alle Künſte der Volksſchmeichelei verſchmähte. Ein Hauch von Schwermuth lag über ſeinem Weſen; er hatte in der Jugend ſeine Geliebte verloren, blieb unvermählt, verwendete die Ein - künfte ſeines anſehnlichen Vermögens und vier Fünftel ſeines Gehalts für gemeinnützige Zwecke, mied die Geſellſchaft ſo ſehr, daß ihm ſelbſt die Mitglieder des diplomatiſchen Corps nicht alle bekannt wurden, und widmete ſeine freien Stunden ganz der Wiſſenſchaft. Die Aſtronomen ſchätzen ihn als einen glücklichen Forſcher, ſeiner Leitung verdankte die Sternwarte auf dem Seeberge bei Gotha zum guten Theile ihren Ruf. Zu Zeiten konnte ſich der hochherzige Idealiſt wohl in unmögliche Pläne verlieren, ſchließlich kehrte er doch immer auf den Boden des Wirklichen zurück. So entſagte er jetzt der Politik des mitteldeutſchen Handelsvereins, an den er einſt ſo viel patriotiſchen Eifer verſchwendet hatte, und geſtand dem preußiſchen Geſandten Jordan offen: Der Wiener Hof hat uns glänzende Anerbietungen für eine handelspolitiſche Verbindung gemacht, wir werden ihnen aber nicht Folge leiſten, ſondern uns dem preußiſchen Zollvereine anſchließen. *)Jordan’s Bericht, 25. Sept. 1830. Vgl. o. III. 652.Auch für die Ablöſung der bäuerlichen Laſten, für die Neugeſtaltung der Verwaltung und des Städteweſens nahm er ſich die preußiſchen Geſetze zum Muſter. Die Verfaſſung, die er plante, ſollte zwar, wie es die Meinung des Tages forderte, die Form einer Charte erhalten, aber von den altſtändiſchen Ueberlieferungen nicht allzu - weit abweichen; denn mehr ließ ſich von dem alten Landtage voraus - ſichtlich nicht erlangen, und deſſen Mitwirkung war unumgänglich, da der Prinzregent und ſeine Räthe ihren Stolz darein ſetzten, daß die neue Ordnung rechtlich unantaſtbar daſtehen müſſe. **)Jordan’s Bericht, 1. Februar 1831.

So viele Jahre daher war Sachſen der ſtillſte aller Mittelſtaaten geblieben; begreiflich genug, daß der Wiener Hof durch die ſo ganz uner - warteten jüngſten Vorfälle ſchwer beängſtigt wurde. Auch aus den be - nachbarten Kleinſtaaten liefen bedenkliche Nachrichten ein: aus Köthen10*148IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.hatte die verwittwete Herzogin, die Convertitin Julia fliehen müſſen, weil das proteſtantiſche Volk ihre Cleriſei bedrohte, in Altenburg war ein ſehr roher Pöbelaufruhr nur ſchwer und mit preußiſcher Hilfe gebändigt wor - den. Kaiſer Franz ließ ſogleich in Berlin anfragen, ob nicht ein gemein - ſames Einſchreiten der beiden Großmächte, zunächſt in Sachſen, rathſam ſei, und wenngleich ſein Schwiegerſohn, der Prinzregent Friedrich Auguſt, ſich brieflich vor ihm rechtfertigte, befahl er doch ſeinem Staatskanzler einige geſalzene Depeſchen nach Dresden zu ſenden. In hoffärtigem Tone fragte Metternich, wie es möglich ſei, daß ein Staat, der bisher ein Muſter deutſcher Sitte geweſen, der ſein gegenwärtiges Daſein allein dem Kaiſer Franz verdanke, ein ſo gefährliches Beiſpiel habe geben können, und erklärte drohend: der Kaiſer ſei feſt entſchloſſen, nicht über eine ge - wiſſe Grenze hinaus ein wohlwollender Zuſchauer dieſer Unordnungen zu bleiben. Der ſächſiſche Geſandte Graf Schulenburg, ein Mann der alten Schule, der bisher von Wien aus Sachſens deutſche Politik ganz in Metternich’s Sinne geleitet hatte, eilte ſelbſt in die Heimath um die Ermahnungen ſeines Meiſters zu unterſtützen; er wurde jedoch von dem Prinz-Regenten auf ſeinen Poſten zurück verwieſen und bald darauf abberufen. Czar Nikolaus äußerte ſich faſt ebenſo unwillig. Zärtlich beſorgt kam der Geſandte des freiheitſchirmenden Frankreichs ſchon zu Lindenau, um ſich mit verſtändlichem Winke zu erkundigen, ob wirklich der Einmarſch fremder Truppen bevorſtehe.

Bernſtorff aber wies die Anſchläge der Hofburg kühl zurück. Man urtheilte im Auswärtigen Amte ſehr hart über die ſächſiſchen Unruhen, weil ſich der geſtürzten Regierung keine Rechtsverletzung vorwerfen ließ. Im Herzogthum Braunſchweig ſagte eine Weiſung an Jordan war der Aufruhr die Folge der Unterdrückung, in Heſſen erklärt er ſich aus den gehäuften Fehlern und dem ſchweren Unrecht der Regierung, in Sachſen hat er kaum einen Vorwand, geſchweige denn einen Grund. Als der ſächſiſche Geſandte General Watzdorf, um ein freundnachbarliches Urtheil bittend, den neuen Verfaſſungsentwurf in Berlin überreichte, da ſang Ancillon wieder einmal das Lob der deutſchrechtlichen Landſtände und be - dauerte lebhaft, daß man dieſe rein germaniſche Form nicht mit einigen Verbeſſerungen beibehalten habe. Indeß erkannten die preußiſchen Staats - männer gern an, wie ſorgſam der Entwurf das monarchiſche Princip wahre; an eine Störung der ſächſiſchen Reformen dachten ſie um ſo weniger, da das Nachbarland offenbar erſt wenn ſeine Verwaltung neu - geſtaltet war dem preußiſchen Zollvereine beitreten konnte. *)Weiſung an Jordan, 22. April. Watzdorf an Bernſtorff, 2. März. Jordan’s Bericht, 1. März 1831.Alſo der preußiſchen Freundſchaft ſicher erwiderte Lindenau der Wiener Hofburg nach - drücklich, die neue Regierung werde durch eigene Kraft ihr monarchiſches149Neue Unruhen in Dresden.Anſehen behaupten. Sobald das kleine Königreich an ſeine inneren Schä - den die heilende Hand legte, lenkte auch ſeine deutſche Politik wie von ſelbſt in ihre natürlichen Bahnen ein; der Groll über die Landestheilung ſchien faſt vergeſſen, das Verhältniß zum preußiſchen Hofe geſtaltete ſich bald freundlich. Prinz Friedrich Auguſt hatte ſich kürzlich bei einem Beſuche in Berlin das beſondere Wohlwollen des Königs erworben; Prinz Johann ſchloß mit ſeinem Schwager, dem preußiſchen Kronprinzen, brüderliche Freundſchaft, die beiden gelehrteſten Fürſten des Zeitalters ergingen ſich gern im Austauſch ernſter Gedanken, obgleich der nüchterne Albertiner die romantiſche Weltanſchauung des Hohenzollern nicht theilte.

Es währte noch ein volles Jahr, bis das aufgewühlte Land ſich wieder beruhigte. Die Sachſenzeitung, der Vaterlandsfreund, die Biene des Zwickauer Bienenvaters Richter führten oft eine aufreizende Sprache, und was vor der eingeſchüchterten ſächſiſchen Cenſur doch keine Gnade fand wurde in Winkelpreſſen gedruckt oder in Altenburg, in Ilmenau unter dem kraftloſen Regimente der thüringiſchen Kleinfürſten. Späterhin wirkten auch einige der polniſchen Flüchtlinge mit, denen die Dresdener, eingedenk der alten Zeiten, eine gaſtliche Aufnahme bereiteten. Die Behörden zeigten ſich faſt überall ſchwach; faſt jede Mißtrauenserklärung der Gemeinden gegen einen Beamten, einen Geiſtlichen konnte auf Erhörung rechnen; die Polizei war durch die vielen kleinen Gaſſenprügeleien ſo in Verruf ge - kommen, daß ſie kaum noch brauchbare Leute für ihren Dienſt zu finden vermochte. In Dresden wurde die alte Nationalgarde, weil ſie neben der neuen Communalgarde nicht mehr beſtehen konnte, aufgelöſt; einige ihrer Mitglieder widerſetzten ſich, legten Verwahrung ein gegen die Beſchimpfung, die der geſammten Nationalgarde nicht blos in Europa ſondern auch in anderen Welttheilen widerfahren ſei, bildeten ſchmollend einen Bürger - verein. In dieſen Kreiſen ward eine von dem Advocaten Mosdorf ent - worfene Conſtitution wie ſie die Sachſen wollen verbreitet. Sie trug die Aufſchrift: und wird ſie nicht gewährt, ſo pochen wir mit den Flinten - kolben an, forderte Volksſouveränität, Abſchaffung des Adels und des ſtehenden Heeres; alle die verworrenen radicalen Gedanken, welche das ſtarre Adelsregiment unter den Kleinbürgern erweckt hatte, fanden hier ihren groben Ausdruck.

Als die Regierung endlich im April 1831 einige Verhaftungen vor - nahm, begann der Straßenlärm in der Hauptſtadt von Neuem; der Pöbel befreite die Gefangenen, die Communalgarde benahm ſich feig, ihr Führer Prinz Johann ward verhöhnt, und erſt am zweiten Tage trieb das Feuer der Truppen die Aufrührer auseinander. Mosdorf ward auf den König - ſtein, viele Andere ins Zuchthaus abgeführt. Dieſe Nachrichten entflammten in Leipzig wieder die alte Eiferſucht auf die Reſidenz; der Stadtrath ſendete ſogleich eine Ergebenheits-Adreſſe an den Hof und erbot ſich, im Nothfall ſeine Communalgarde gegen die meuteriſchen Dresdener auszuſenden. 150IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Leider war aber auch auf das Bürgerheer an der Pleiße kein Verlaß, die Weihrauchſpenden der liberalen Preſſe hatten den Hochmuth der be - waffneten Volksmänner bedenklich geſteigert. Im Auguſt meuterte ein Theil der Leipziger Communalgardiſten, weil ihnen ein neuer Wachſaal nicht behagte; ſelbſt die Studenten nahmen Partei gegen die Aufſäſſigen, und den ſchwarzen Schützen, die jetzt, nach Aufhebung der ſtädtiſchen Privilegien, ihr Standquartier in Leipzig hatten, fiel die undankbare Auf - gabe zu, den Aufruhr mit Waffengewalt niederzuſchlagen. Seitdem fühlte die Krone ſich wieder ſicherer.

Mittlerweile hatte der alte Landtag ſeine weitläuftigen Berathungen über das Grundgeſetz beendigt. Welch ein ſeltſamer Gegenſatz zu Kur - heſſen! Während dort der Landtag den Verfaſſungsentwurf der Miniſter in liberalem Sinne gänzlich neugeſtaltete, gingen in Sachſen alle Re - formen von der Regierung aus. Sie bewährte durchweg mehr Einſicht und Unbefangenheit als die Stände; die Ritterſchaft ſo gut wie die Städte verfochten hartnäckig nur ihr eigenes Intereſſe, und oftmals mußte Lindenau von ſeinen Standesgenoſſen Schmähungen anhören weil er die Rechte des Adels preisgebe. Auch die neue Verfaſſung ruhte auf dem Grundſatze der ſtändiſchen Gliederung. Die erſte Kammer war in Wahrheit nur ein verkleinertes Abbild des alten Landtags und ebenſo ſelbſtändig wie dieſer gegenüber der Krone, die nur zehn Grundherren auf Lebenszeit ernennen durfte; ſie beſtand aus den Prälaten, den Stan - desherren, den Vertretern des großen Grundbeſitzes und den Bürger - meiſtern von acht größeren Städten. In der zweiten Kammer behauptete der Grundbeſitz ebenfalls das Uebergewicht, weil der Landtag die kühne Behauptung aufſtellte, der wirthſchaftliche Schwerpunkt dieſes gewerb - fleißigen Landes liege, Dank dem gegenwärtigen Nothſtande des Handels, allein im Landbau; die Ritterſchaft war hier noch einmal, durch zwanzig Abgeordnete vertreten; dazu fünfundzwanzig Bauern, ebenſoviel Städter und fünf Vertreter des Gewerbfleißes. Die Kammern ſtanden mithin, obgleich ſie nicht nach Curien ſtimmten, den altſtändiſchen Inſtitutionen näher als dem neufranzöſiſchen Repräſentativſyſtem; für die großſtädtiſche Bildung boten ſie wenig Raum, da jeder Abgeordnete in ſeinem Wahl - bezirke wohnen mußte, freilich krankten ſie auch nicht an der Ueberzahl von Beamten, welche in den ſüddeutſchen Landtagen ſo viel Unfrieden erregten. Die Krone gab die freie Verfügung über das Kammergut auf und begnügte ſich fortan mit einer Civilliſte; die Stände erhielten das Recht, die Miniſter vor einem beſonderen Staatsgerichtshofe anzuklagen, ſie be - willigten das Budget für je drei Jahre und faßten Beſchluß über die Geſetzentwürfe, welche die Regierung allein vorlegen durfte. Ein Geſetz und ſelbſt ein Budget ſollte aber nur dann als abgelehnt betrachtet werden, wenn in einer der beiden Kammern mindeſtens zwei Drittel dagegen ge - ſtimmt hatten; überdies konnte die Krone nöthigenfalls die bisherigen Ab -151Die ſächſiſche Verfaſſung.gaben noch ein Jahr lang forterheben. Ebenſo behutſam war auch der Abſchnitt über die Menſchenrechte gehalten, der als ein Zugeſtändniß an den aufgeklärten Zeitgeiſt doch nicht ganz fehlen durfte.

König Anton ließ Alles geduldig über ſich ergehen. Nur durch die beiden Artikel, welche die Kirchen der Oberaufſicht des Staates unter - warfen und die Zulaſſung der Jeſuiten ſowie aller anderen geiſtlichen Orden für alle Zukunft verboten, fühlte er ſich tief verletzt, weil ihre Faſſung ein kränkendes Mißtrauen gegen den katholiſchen Hof verrieth. Erſt auf das Zureden ſeines Neffen Johann entſchloß er ſich, auch dieſe Sätze zu genehmigen. Der Prinz war ſelbſt ſtreng gläubiger Katholik und blieb in ſeiner Anſchauung der deutſchen Geſchichte den alten habs - burgiſch-albertiniſchen Traditionen immer treu; doch er wußte auch, was die Dynaſtie ihrem hart lutheriſchen Volke ſchuldig war, und behandelte die Kirchenpolitik ohne confeſſionelle Engherzigkeit. Am 4. September 1831 empfingen die alten Stände aus der Hand des Königs die Verfaſſungs - urkunde, und nach dem Vorbilde der Pariſer Julifeier wurde nunmehr alljährlich das Conſtitutionsfeſt durch Bürgerparaden, Schmäuſe und jubelnde Reden verherrlicht.

Wie lächerlich auch dieſe Großſprechereien zuweilen klangen, die erſten zehn Jahre der neuen Verfaſſung waren doch unzweifelhaft die glücklich - ſten, welche das Königreich unter dem Deutſchen Bunde verlebt hat. Das nach Fächern gegliederte Staatsminiſterium, das jetzt die Leitung der ge - ſammten Verwaltung übernahm, war ſo reich an guten Kräften wie kaum ein anderes in den deutſchen Mittelſtaaten und beſaß an dem Finanz - miniſter v. Zeſchau einen ſtaatsmänniſchen Kopf, der in den großen Ver - hältniſſen des preußiſchen Dienſtes geſchult, Lindenau’s idealiſtiſchen Schwung durch nüchternen Geſchäftsſinn ermäßigte. Auch in den anderen höheren Aemtern wirkten tüchtige Männer, wie Wietersheim, Merbach, Günther; der alte Reichthum des Landes an Talenten durfte ſich jetzt etwas freier entfalten. Wer ſchärfer zuſah konnte freilich wahrnehmen, daß die alte kurſächſiſche Adelsoligarchie in milderer Form noch immer fortbeſtand. Die Miniſter gehörten alleſammt zu dem engen Kreiſe jener alteingeſeſſenen Geſchlechter, welche ſich ſeit dreihundert Jahren in die Regierung zu theilen pflegten. Nur der Cultusminiſter Müller war bür - gerlich ein märchenhafter Fall im alten Sachſen und es blieb fortan die Regel, daß zur Beſchwichtigung der Beamten und der Liberalen von Zeit zu Zeit ein bürgerlicher Miniſter ernannt, die wichtigſten Stellen aber ſtets dem Adel vorbehalten wurden. Eine der preußiſchen nachge - bildete Städteordnung gab der neuen Volksvertretung einen feſten Unter - bau. Im ſelben Jahre (1832) erſchien das muſterhafte Geſetz über die Ablöſungen und Gemeinheitstheilungen, das mit den feudalen Laſten weit gründlicher aufräumte, als es bisher in Preußen gelungen war; nach Lindenau’s Plänen wurde eine Landrentenbank eingerichtet, welche die152IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Berechtigten durch verzinsliche Inhaberpapiere entſchädigte und damit den Pflichtigen die Ablöſung erleichterte. Nach mehrjährigen Verhandlungen trat endlich auch die Markgrafſchaft Oberlauſitz in die Verwaltungsord - nung der Erblande ein.

Der neue Landtag zeigte anfangs eine faſt kindliche Beſcheidenheit, obwohl Tiedge herausfordernd ſang: wir haben Männer wie unſern Eiſenſtuck; der abſtrakte Liberalismus der Rotteck-Welckerſchen Schule fand hier vorderhand noch gar keine Vertreter. An geſundem praktiſchem Verſtande aber war kein Mangel; einzelne Redner, wie der ehrenfeſte Ariſtokrat Albert v. Carlowitz und der Leipziger Bürgermeiſter Deutrich wagten auch ſchon über die grünweißen Grenzpfähle hinauszuſchauen. Großes Aufſehen erregte an den Höfen die parlamentariſche Thätigkeit des Prinzen Johann, der allein unter allen Prinzen der deutſchen regie - renden Häuſer ſeinen Platz in der erſten Kammer regelmäßig einnahm und durch ſeine etwas trocken juriſtiſchen, aber ſtets ſachkundigen und ver - ſtändigen Arbeiten dieſe ſchwierige Stellung würdig zu behaupten wußte. Wer durfte es Karl Böttiger dem Unaufhaltſamen verargen, daß er den gelehrten Prinzen in wohlgedrechſelten griechiſchen Diſtichen als den πύϱ - γος Σασσονίας verherrlichte? Seit das ſtarre alte Syſtem gebrochen war und der Zollverein dem gewerbfleißigen Lande ſeinen natürlichen Markt eröffnete, erwachte überall ein friſcheres Leben. Die Volkswirth - ſchaft blühte auf, das Schulweſen ward mit Einſicht verbeſſert, die Leip - ziger Kramer-Innung gründete ihre große Handelslehranſtalt; faſt in jeden Städtchen ſorgte ein thätiger Mann, wie der wackere Paſtor Böhmert in Roßwein, für Sonntagsſchulen, Sparkaſſen, Gewerbevereine. Auch der Kunſtſinn ward reger ſeit der neue Kunſtverein ſeine Ausſtellungen hielt; in die ganz verzopfte Dresdener Akademie trat der junge Ludwig Richter ein und wagte zuerſt wieder, ſeine Schüler zum Landſchaftszeichnen in die freie Luft hinaus zu führen. Der geſammten deutſchen Baukunſt aber erwies Friedrich Auguſt einen folgenreichen Dienſt, als er den frucht - barſten und gedankenreichſten der jüngeren Baumeiſter, den Holſten Gott - fried Semper nach Dresden berief um das neue Theater mitten hinein zu ſtellen zwiſchen die flimmernde Pracht des Zwingers und der Hofkirche; in ſolcher Umgebung entſtanden wie von ſelbſt die Entwürfe zu jenen reichen römiſchen Renaiſſancebauten, welche minder überladen als die Werke des Barockſtils, dem maleriſch geſtimmten modernen Auge doch wärmer, vertrauter, zweckmäßiger erſchienen als Schinkel’s helleniſche Tempel.

Gleichwohl ſammelte ſich während dieſer glücklichen Zeit in der Stille viel Groll an. Die lang anhaltende gemüthliche Unordnung des Revo - lutionsjahres hatte die niederen Stände, zumal in der Hauptſtadt, an einen rohen radicalen Ton gewöhnt. Niemand wollte eingeſtehen, daß die Regierung ſehr hoch über ihrem Volke ſtand, daß erſt Lindenau und ſeine Freunde der völlig unklaren Bewegung einen politiſchen Inhalt gegeben153Miniſterium Lindenau-Zeſchau.hatten. Man prahlte mit dem Heldenmuthe der ſächſiſchen Julikämpfer , der die widerſtrebende Krone zur Gewährung der Freiheit fortgeriſſen habe. Alle Bewohner Europas in allen Städten und Dörfern theilen gleiche politiſche Geſinnung meinte der Bienenvater Richter darum wurde die große Woche von Paris ſofort die von ganz Europa. Der neue weltbürgerliche Radicalismus, der überall in der Luft lag, drang unmerklich auch in Sachſen ein, und die ausländiſchen Schriftſteller, welche ſich nach und nach in Leipzig zuſammenfanden, nährten ihn ebenſo eifrig wie die polniſchen Flüchtlinge in Dresden. Im Erzgebirge war der Nothſtand groß, und es zeigten ſich ſchon die erſten Keime ſocialen Un - friedens; die Regierung aber that wenig um die Arbeiter vor Ausbeutung zu ſchützen, ſie ſtand noch rathlos vor der ſo plötzlich aufſchießenden Macht der Großinduſtrie. Die undeutſche Soldatenſpielerei der Communalgarden nährte den Uebermuth der Mittelklaſſen. Kleine Reibungen konnten nicht ausbleiben, da die Truppen ihre Meinung über dies Bürgerheer, das ſich gegen die Aufrührer ſo ſchlecht bewährt hatte, oft ſehr deutlich aus - ſprachen; auf den Exercirplätzen lautete der ſchlimmſte Tadel: das geht ja wie bei der Communalgarde! Boshafte Märchen kamen in Umlauf, als der unglückliche Mosdorf in ſeiner Feſtungshaft ſich erhängte, als der Bienenvater Richter ſein ganz verwildertes Blatt aufgeben mußte und nach Amerika auswanderte. Die ſchwarzen Schützen hießen die ſächſiſchen Prätorianer, und mit unbegreiflicher Gehäſſigkeit richtete ſich das Miß - trauen des lutheriſchen Volkes gegen den Prinzen Johann, der ſeine Beliebtheit raſch verlor: er ſollte durchaus ein Jeſuit ſein, obwohl man gerade ihm das Verbot des Jeſuitenordens verdankte, er ſollte am Hofe geheime Ränke ſpinnen und was der Thorheit mehr war. Die Klatſcherei der Philiſter hatte freies Feld, da eine gebildete liberale Preſſe hierzulande noch ganz fehlte, und wenn ſich dereinſt die rechten Demagogen fanden, ſo konnte die kleinliche Verſtimmung leicht in wüſten Radicalismus aus - arten.

Später als in Kurſachſen entbrannte in Hannover der Kampf gegen die Adelsherrſchaft. Bei uns bleibt Alles ruhig, wir haben ja auch keinen Grund zur Klage ſo ſprach man ſtolz in den Göttinger Pro - feſſorenkreiſen, als die erſten Nachrichten von den Kaſſeler Unruhen an - langten. Die von der letzten Mißernte ſchwer heimgeſuchten Bauern dachten anders; man ſah ſie häufig auf dem Ti zuſammentreten um über die Barſchheit der Beamten, den Hochmuth der Gutsherren, die Zehnten, die Frohnden, die Jagdrechte zu klagen; in einzelnen kleinen Amtsſtädten bildeten die Bürger ſchon im Herbſt Sicherheitswachen, weil ſie Angriffe des aufgeregten Landvolks befürchteten. Der dumpfe, unklare Groll bedurfte eines Namens, dem ſich alle Sünden des Adelsregimentes aufbürden ließen; und dieſer Feind ward ihm gewieſen, als gegen Weihnachten 1830154IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.eine Schmähſchrift Anklage des Miniſteriums Münſter vor der öffentlichen Meinung unter der Hand verbreitet wurde, bald nachher auch gedruckt erſchien ein ſchwülſtiges Machwerk aus der Feder des jungen Advo - katen König in Oſterode. Münſter, Münſter, Münſter heißt der Alp, der uns drückt darauf lief Alles hinaus. Der allmächtige Miniſter wurde mit Attila, Nero, Pizarro, mit dem Hausmeier Pipin verglichen, weil er die befreiende ſociale Geſetzgebung des Königreichs Weſtphalen aufgehoben, das Volk ſchmählicherweiſe in die Leibeigenſchaft zurückge - worfen und dies in den Jahren 1808 1813 ſchön und herrlich auf - gerichtete Staatsgebäude mit ungeweihter Hand in einem Augenblicke wieder niedergeriſſen habe. Und ſo ſtark war ſchon die Erbitterung gegen den Starrſinn der welfiſchen Reſtaurationspolitik: dies Lob der einſt tödlich verhaßten Fremdherrſchaft machte jetzt tiefen Eindruck auf die kleinen Leute, zumal da der Libelliſt nur gegen die ſchrankenloſe Ge - walt miniſterieller Willkür eiferte und ehrfurchtsvoll betheuerte: Wilhelm unſer Bürgerkönig weiß nichts davon.

Am 5. Januar 1831 unternahmen König’s Landsleute in Oſterode, einen revolutionären Gemeinderath und eine Communalgarde zu errichten; ſie wollten dann dem Bürgerkönig die unter allen nichtbeamteten Staats - bürgern herrſchende Noth nachdrücklich vorſtellen und verkündeten in einem Manifeſte neufranzöſiſchen Stiles: Möge unſeren Enkeln und Urenkeln der 5. Januar als ein heiliges Geſchenk ihrer edlen Väter und Urväter erhalten werden! Der kleine Aufruhr ward ſogleich unterdrückt. Da zeigte ſich plötzlich, daß die ſtürmiſche Zeit auch an dem gelehrten Still - leben der Georgia Auguſta nicht ſpurlos vorübergegangen war. Ein Heiß - ſporn der feudalen Partei, der in Göttingen lebte, Frhr. v. d. Kneſebeck hatte kürzlich in einer Deutſchlands erlauchten Souveränen gewidmeten Flugſchrift alle Herzensgeheimniſſe des welfiſchen Junkerthums ausge - plaudert. Die Schrift trug das napoleoniſche Motto: Wenn die Ca - naille die Oberhand gewinnt, ſo hört ſie auf Canaille zu heißen, man nennt ſie alsdann Nation; ſie erklärte den Adel für die erſte Stütze des Thrones, die durch ein Landesheroldsamt geſichert werden müſſe, ſie ver - langte ein Ordenszeichen für die Freunde der Legitimität, einen politiſchen Katechismus, der in den Schulen eingeprägt, von allen Staatsdienern beſchworen werden ſollte kurz, es war nicht wunderbar, daß die akade - miſche Jugend eines Abends ihren Unwillen an den Fenſterſcheiben des legi - timiſtiſchen Freiherrn ausließ und ihn zu ſchleuniger Abreiſe nöthigte. Neue Aufregung unter den jugendlichen Gelehrten, als der Dekan der Juriſten, der alte, den Zeitungsſchreibern ſchon längſt durch ſeine tiefe Gelehrſamkeit verdächtige Hugo, einer mehr liberalen als geiſtreichen Diſſertation des Dr. Ahrens über den Deutſchen Bund das Imprimatur verweigerte.

In den Kreiſen dieſer jungen Docenten und Advokaten entſtand nun der tolle Plan, hier auf dem denkbar ungünſtigſten Boden eine Revolution155Der Göttinger Aufſtand.zu wagen. Daß die Hofräthe des akademiſchen Körpers ſich mit wenigen Ausnahmen grundſätzlich der Politik fern hielten, war weltbekannt; auch unter den Studenten beſtand nur eine kleine radicale Partei, denn die Georgia Auguſta galt noch für die vornehmſte der deutſchen Univerſitäten, die Prinzen und die Grafen ſaßen in den Hörſälen noch immer wie zu Pütter’s Zeiten auf einer Ehrenbank. In der Bürgerſchaft aber hatte ſich, ſeit die heruntergekommene Stadt nur noch von den Studenten lebte, jener aus Geldgier, Bedientenſinn und Durſt gemiſchte Charakter, welcher die Bewohner kleiner Badeorte und Univerſitätsſtädte gemeinhin auszeichnet, ungewöhnlich ſtark ausgebildet. Gleichwohl konnte ein Handſtreich leicht gelingen; denn das Jägerbataillon in der Kaſerne zählte nur achtzig Mann Dank dem läſſigen Beurlaubungsſyſtem, das in allen den kleinen Bundesheeren eingeriſſen war und der Commandant ſollte nach Lan - desbrauch alle Ombrage vermeiden, er durfte ſeine Mannſchaft, die bei rechtzeitigem Vorgehen vollauf genügt hätte, nur auf Verlangen der Civil - behörden einſchreiten laſſen.

Am 8. Januar ſtürmten die Advokaten Seidenſticker und Eggeling mit einer kleinen Schaar Verſchworener in das alte Rathhaus. Der verhaßte Polizei-Commiſſär machte ſich aus dem Staube, auch die anderen Behörden ſtellten gehorſam ihre Arbeit ein; ein neuer, aus Bürgern, Doctoren und Studenten zuſammengeſetzter Gemeinderath übernahm die Herrſchaft. Während ein Studentenſchneider auf der ſteinernen Brüſtung der Rathhaustreppe drohend ſeinen Hirſchfänger wetzte, ſchritt der Leiter der Bewegung, der Privatdocent v. Rauſchenplatt, im Schlapphut und hohen Kanonenſtiefeln auf dem Marktplatze einher ein beherzter, ſtämmiger kleiner Mann mit ſchief geſchlitzten ſchlauen Augen, dichtem Haarwuchs und ſtruppigem blondem Vollbart; vier Piſtolen, ein Schlepp - ſäbel und ein Dolch prangten an ſeinem Gürtel. Auf den Ruf: es giebt Revolution eilten die Studenten mit ihren Schlägern herbei, glück - ſelig über den ungeheueren Ulk. Eine akademiſche und eine bürgerliche Legion wurde gebildet, jeder Wehrmann trug die weiße Bürgerbinde, viele auch die lila-grün-rothe Kokarde der vereinigten Calenberg-Gruben - hagenſchen Nation. Alles beugte ſich den neuen Gewalten. Die Gar - niſon zog unbeläſtigt ab, nachdem Rauſchenplatt vergeblich verſucht hatte, den Commandanten zur gefälligen Ablieferung ſeiner überzähligen Flinten zu bereden. Im akademiſchen Senat verlangte Dahlmann eine ſcharfe Abmahnung an die Studenten, aber nur der ſtreng conſervative Gauß fand den Muth ihm beizuſtimmen.

Eine ganze Woche hindurch blieb die Stadt in der Hand des Ka - ters ſo hieß der kleine Mann mit den großen Stiefeln. Die Thore waren verrammelt, die ſchönen Baumgänge des Walles wurden ſcharf bewacht, weil man die Beamten und Profeſſoren als Geiſel zurückhalten wollte. Auf dem Marktplatze lagerten die Helden der beiden Legionen156IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.um große Feuer, das nichtswürdige Adminiſtrations-Bier der alleinberech - tigten ſtädtiſchen Brauerei floß in Strömen, und ſtolz rauchte Jedermann auf der Straße; denn die ertrotzte Rauchfreiheit galt in allen dieſen kleinen norddeutſchen Revolutionen für das Sinnbild des neuen Völkerfrühlings. Von beſtimmten politiſchen Plänen war keine Rede. Man ſang radicale Lieder, ließ Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hoch leben; Einzelne empfahlen auch eine Republik Göttingen unter dem Schutze des Deutſchen Bundes. Die Geſandtſchaft aber, welche der neue Gemeinderath nach Hannover ſendete, vermochte ſich über die Wünſche des ſouveränen Volkes ſo wenig zu einigen, daß ſie ſchließlich zu gleicher Zeit zwei Eingaben ganz ver - ſchiedenen Inhalts der Regierung überreichte. Den großen Höfen erſchien dieſe ſo lang anhaltende und ſo ganz ungeſtörte revolutionäre Bewegung völlig unbegreiflich; Metternich bemerkte mit Entſetzen, bis zu welchem Grade die Pläne ihrer Urheber gefährlich und verwegen ſeien. Die hannoverſche Regierung meldete dem Bundestage ſofort, ſie ſehe ſich außer Stande, Truppen zur Bewachung der deutſchen Weſtgrenze zu ſtellen, da ſie ihrer bewaffneten Macht im eigenen Lande bedürfe. *)Maltzahn’s Berichte, 28. 29. Januar 1831.Die geängſteten Landdroſten und Amtmänner verſprachen den biederen Bewohnern ihrer Bezirke demüthig, daß allen Beſchwerden förderſamſt Abhilfe gewährt werden ſolle. An die Göttinger erließ der Generalgouverneur Herzog von Cambridge ein abmahnendes Manifeſt nach dem andern und fragte ſie väterlich: Iſt es recht, mit Aufruhr und Widerſetzlichkeit anzufangen? Er faßte ſich erſt wieder ein Herz, als ihm Dahlmann, der mit einigen Abgeſandten des akademiſchen Senats nach Hannover gekommen war, ent - ſchloſſen erklärte: die Aufſtändiſchen ſeien ihrer Thorheit müde, eine mäßige Truppenmacht könne ohne Blutvergießen die Ordnung herſtellen.

So geſchah es auch. Als die Truppen am achten Morgen nach dem Beginne des Aufruhrs endlich einrückten über 7000 Mann, mehr als die Hälfte der hannoverſchen Armee da waren die Barrikaden an den Thoren bereits verſchwunden, desgleichen die akademiſche und die bürger - liche Legion. Rauſchenplatt aber floh mit einigen ſeiner Genoſſen nach Straßburg, wo ihm die Studenten einen feſtlichen Empfang bereiteten; ſeines Bleibens war auch hier nicht lange, da Metternich ſich bei der franzöſiſchen Regierung beſchwerte. **)Maltzahn’s Bericht, 9. Mai 1831.Die anderen Anſtifter wurden in Celle vor eine Gerichtscommiſſion geſtellt und dort, nach der grauſamen Weiſe des alten Strafverfahrens, durch viele Jahre hingehalten. Der Advokat v. Frankenberg, der lediglich in dem benachbarten Flecken Bo - venden eine Sicherheitswache befehligt hatte, wartete ſechs Jahre lang auf ſein Urtheil; endlich ließ man ihm die Wahl zwiſchen der gerichtlichen Entſcheidung und der Gnade des Königs; um dem Jammer nur ein157Münſter’s Sturz.Ende zu machen wählte der Arme die Begnadigung, obgleich er ſich keiner Schuld bewußt war. Viele der Studenten betrachteten den Einzug der Truppen mit Selbſtgefühl und rühmten ſich: das iſt ſchon gut genug, daß wir ſo viele Soldaten auf die Beine gebracht haben; durch die vorläufige Schließung der Univerſität wurden ſie indeß alle ſchwer beſtraft. Die großen Tage der Georgia Auguſta waren dahin, niemals konnte ſie ihren alten ariſtokratiſchen Glanz wieder erlangen.

Wohl mochte Jakob Grimm über dieſen dürren und widerwärtigen Aufſtand klagen; dem Lande brachte der kindiſche Spuk doch Segen, denn er öffnete dem Generalgouverneur die Augen, den Bürgern die Lippen. Der gutmüthige Herzog entdeckte mit einem male, wie wenig er die Zu - ſtände gekannt hatte; er bereiſte das Land, hörte in Münden die bitteren Klagen der zinspflichtigen Bauern, ließ ſich von den Clausthaler Berg - leuten in rührſamen Verſen ſchildern: wie ſchlecht man jetzt auf dem Harze lebt

und mit thränenvollem Herzen
trocknes Brot halb kalt genießt.

Zugleich liefen aus Lüneburg der Erbſtadt des Reichs und vielen an - deren Städten Bittſchriften ein, die alleſammt eine freie Volksvertretung forderten; ſo gewiß ein Gott über uns Alle wacht, ſchrieb der radicale Advokat Gans in Celle ſo gewiß wird auch für ſämmtliche Staaten Europas dieſe Herrlichkeit, dieſe Krone aller Wohlfahrt aufgehen . Hier wie in Sachſen verkettete ſich mit der Volksbewegung ein Parteikampf innerhalb der Regierung. Der Miniſter Graf Bremer, Cabinetsrath Roſe und die anderen arbeitenden bürgerlichen Räthe waren es längſt müde von der Deutſchen Kanzlei in London gegängelt zu werden, ſie beſchloſſen ſich an den Monarchen zu wenden; aber noch ehe ihre Ver - trauensmänner bei Hofe eintrafen, hatte König Wilhelm ſchon den Vor - ſtellungen des Herzogs von Cambridge nachgegeben und die Entlaſſung des Grafen Münſter verfügt (12. Februar). Die unheilvolle Doppel - regierung konnte freilich ſo lange die Fremdherrſchaft beſtand nicht gänzlich verſchwinden; an Münſter’s Stelle trat Ludwig v. Ompteda, jener treue Mann, der in den napoleoniſchen Tagen ſo raſtlos für die Befreiung Deutſchlands gearbeitet hatte, ein ehrenhafter Ariſtokrat von gemäßigten Grundſätzen. Indeß der Schwerpunkt des Regiments lag fortan in Han - nover, der Herzog wurde zum Vicekönig erhoben und mit erweiterter Voll - macht ausgeſtattet.

Der Schöpfer der Welfenkrone ertrug ſeinen Sturz mit unverhohlener Entrüſtung; die glänzenden Ehren, mit denen ihn der freundliche Monarch zum Abſchied noch auszeichnete, vermochten nicht, ihn über den welfiſchen Undank, der doch faſt unvermeidlich war, zu tröſten. Auf Dr. König’s Schmähungen antwortete er mit einer Erklärung , die noch einmal das unermeßliche Selbſtgefühl des welfiſchen Staatsmannes bekundete: nichts,158IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.gar nichts fand er an dem Beſtehenden tadelnswerth, ſelbſt von einer Bevorzugung des Adels wollte er nichts bemerken, obgleich unſere Miniſter jetzt zufällig Edelleute ſind . Zum Schluß druckte er eine Ode aus der Zeit des Wiener Congreſſes ab, worin ihm ein vornehmer und vereh - rungwürdiger deutſcher Dichter nachrühmte: er habe

Der Sultanismus-Wuth den Stab gebrochen,
Und Deine Sprache war der Freiheit Talisman.

Grollend zog er ſich in ſein ſchönes Derneburg zurück, wo eine Marmor - tafel über der Thür der alten Kloſterkirche dem Beſucher verkündigte, daß dieſe Herrſchaft dem Grafen Münſter für ſeine Verdienſte um das Vaterland geſchenkt worden ſei. Gneiſenau und die alten Kampfgenoſſen aus den napoleoniſchen Zeiten bewahrten dem ſtolzen Manne, der immer - hin hoch über dem Mittelmaße deutſcher Kleinminiſter ſtand, allezeit ihre Freundſchaft; er ſelber lebte fortan zumeiſt der Erinnerung an jene größten Tage ſeines Lebens und geſtattete zum Schrecken der Rheinbunds - höfe dem Baiern Hormayr, im Derneburger Archive den Stoff zu ſam - meln für die Lebensbilder aus den Befreiungskriegen .

Auch nach Münſter’s Sturz blieb es bei der alten Regel, daß die Miniſter zufällig immer Edelleute waren, und die Arbeitslaſt von den bürgerlichen Geheimräthen getragen wurde. Zwei bürgerliche Beamte, die der Vicekönig zu Miniſtern ernennen wollte, lehnten ab, weil ſie eine ſo kühne Neuerung nicht für durchführbar hielten. Während der nächſten Jahre behielt der kluge und wohlmeinende Cabinetsrath Roſe die Leitung der Geſchäfte, nur lau unterſtützt von ſeinen adlichen Vorgeſetzten. Der alte Landtag wurde im März nochmals einberufen; jetzt zum erſten male errang ſich dieſe ſonſt ſo geringgeſchätzte Verſammlung die Theilnahme des Volkes, da viele Städte ihren trägen Vertretern das Mandat gekündigt und liberale Abgeordnete neu gewählt hatten. Indeſſen überwog auch jetzt noch der conſervative Sinn der Niederſachſen. Auf Stüve’s Antrag verlangte der Landtag die Vereinbarung über eine neue Verfaſſung, welche auf dem gegebenen Rechte beruhen, aber das Beſtehende weiter ent - wickeln ſollte.

Demgemäß wurde durch Roſe, unter Dahlmann’s Mitwirkung, ein Verfaſſungsentwurf ausgearbeitet, vom Könige genehmigt und dann im November einer Commiſſion vorgelegt, die aus Vertretern der Regierung und des Landtags beſtand. Die Berathungen währten drei Monate; denn unter den Commiſſären der erſten Kammer befand ſich neben dem hochconſervativen General v. d. Decken auch Münſter’s Neffe, Freiherr Georg v. Schele, der langjährige Führer der Junkerpartei, der noch immer in ſeinen Landesblättern gegen alles conſtitutionelle Weſen einen grimmigen Federkrieg führte. Der unermüdliche Vermittler Frei - herr v. Wallmoden bedurfte ſeiner ganzen gewinnenden Ueberredungs - kunſt um dieſe Feudalen mit den Anſichten Stüve’s und der anderen159Der neue hannoverſche Landtag.bürgerlichen Vertreter der zweiten Kammer einigermaßen in Einklang zu bringen.

Erſt im Mai 1832 trat der Landtag wieder zuſammen, in ver - jüngter Geſtalt, da die zinspflichtigen Bauern inzwiſchen eine Vertretung, die Bürgerſchaften ein erweitertes Wahlrecht erhalten hatten; und erſt nach beinahe zehn Monaten kam er mit dem Verfaſſungswerke endlich ins Reine. Die Verhandlungen bewieſen, wie zuvor der Göttinger Aufſtand, daß die Fluthen des neufranzöſiſchen Liberalismus in einigen ſchmalen Rinnſalen doch auch in dies zähe niederdeutſche Sonderleben eingedrungen waren. Prachtvoll erklangen die Schlagworte des Rotteck - Welcker’ſchen Vernunftrechts aus dem Munde des Lüneburger Advokaten Chriſtiani, eines warmherzigen Schöngeiſtes, der jetzt für die norwegiſche Verfaſſung ebenſo feurig ſchwärmte wie früher für Goethe, und die lyriſche Bilderpracht der Damenalmanache in die parlamentariſche Beredſamkeit hinübernahm. Sein Freund H. Heine nannte ihn den Mirabeau der Lüneburger Haide und ſang ihm zu:

Haſt Du wirklich Dich erhoben
Aus dem müßig kalten Dunſtkreis,
Womit einſt der kluge Kunſtgreis
Dich von Weimar aus umwoben?

Außer dem geſchwätzigen Göttinger Profeſſor Saalfeld fand der Lüneburger Mirabeau freilich nur wenige Anhänger. Es war der Vortheil des feu - dalen Adels, daß er allein ſich zu einer geſchloſſenen Partei geſchaart hatte. Den bürgerlichen Abgeordneten erſchien es noch wie eine Ketzerei, als der welterfahrene greiſe Rehberg in den Conſtitutionellen Phantaſien eines alten Steuermannes ihnen zurief: Man erſchrecke nicht über das verhaßte Wort: Parteien werden ſich bilden! Chriſtiani ſelbſt blieb bei aller Kühnheit ſeiner Theorien dem welfiſchen Hauſe treu ergeben; über den Bürgerkönig Wilhelm ſagte er einmal: Seine Seele, hell und mild wie der Tag des Mai’s, aber ſtark wie die Felſen des Hochlandes und frei wie das ſein Vaterland umfluthende Meer, das er ſchon als Knabe befuhr, kann Alles, nur den Druck ſeines Volkes nicht ertragen.

Trotz ihrer Zahmheit erſchien dieſe liberale Oppoſition der conſerva - tiven Mehrheit hochgefährlich; und als ſie gar in einer Aufwallung weichen Gefühles die Begnadigung der Märtyrer der Freiheit , der Göttinger Aufrührer verlangte, da erhob ſich Dahlmann zornig: Auflehnung gegen Alles was unter Menſchen hochgehalten und würdig iſt, Hintanſetzung aller beſchworenen Treue, das ſind keine bewundernswerthen Thaten. Einen Liberalismus von unbedingtem Werthe, das heißt: einerlei durch welche Mittel er ſich verwirkliche, giebt es nicht. Der guten Zwecke rühmt ſich Jedermann, darum ſoll man die Menſchen nach ihren Mitteln be - urtheilen. Mit der ganzen Wucht ſeiner markigen, aus den Tiefen der Seele dringenden Beredſamkeit bekannte er ſich zu dem altväteriſchen160IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Glauben, daß man die Politik von der Moral nicht ſcheiden könne: Wenn ich hierin mich irrte, ich würde keine Stunde mehr mit der Politik mich beſchäftigen. Ihm war kein Zweifel, daß man der Erhaltung den Vorzug geben müſſe vor der Verbeſſerung, weil Erhaltung zugleich Bedingung der Verbeſſerung ſei.

Das Zünglein in der Wage war Stüve, der durch ſeine Sachkenntniß, ſeinen praktiſchen Verſtand, ſeine herriſche, aber auch rechtzeitig vermit - telnde Haltung die Verhandlungen immer wieder auf nahe, erreichbare Ziele zu lenken wußte. Rehberg nannte ihn die Seele der Reform, die Hoffnung meines zur Arbeit unfähigen Alters ; Wallmoden ſchloß ſich ihm als treuer Helfer an, verſöhnend und beſchwichtigend ſo oft der ge - ſtrenge kleine Osnabrücker durch ſeine Schärfe verletzte. Durch eine Schrift über die gegenwärtige Lage Hannovers hatte Stüve ſoeben abermals bewieſen, wie richtig er die Mächte des Beharrens in ſeinem Lande zu ſchätzen wußte. Eine Verfaſſung war ihm nur werthvoll, wenn ihre Grundſätze durch die Verwaltung lebendig werden . Ueber die Kanne - gießerei der ſüddeutſchen Liberalen urtheilte er ſehr abſchätzig: ſie verſtehen nur auf Rußland zu ſchimpfen, die Polen zu verherrlichen und nach Preßfreiheit zu ſchreien. *)Ich benutze hier u. A. eine handſchriftliche Biographie Stüve’s von deſſen Neffen, Hrn. Regierungspräſidenten Stüve in Osnabrück.Das neue Staatsgrundgeſetz, ſo ſagte er oft, ſollte nicht einer theoretiſchen Schablone entſprechen, ſondern die im täg - lichen Leben fühlbaren Mißſtände beſeitigen, und unter dieſen ſtellte er das alte Syſtem der Kaſſentrennung obenan. Die Regierung gab nur dem allgemeinen Wunſche des Landes nach, als ſie dem Landtage vorſchlug, daß die königliche Domänenkaſſe mit der ſtändiſchen Generalſteuerkaſſe ver - einigt werden, der König aber zur Beſtreitung der Koſten ſeines Hofhalts ſich eine Anzahl Domänen als Krondotation auswählen ſolle.

Damit ward die Einheit des Staatshaushaltes hergeſtellt und das ſtändiſche Schatzcollegium aufgehoben, das bisher die Steuerkaſſe ver - waltet und in endloſen Händeln beſtändig verſucht hatte, der Königlichen Kaſſe die volle Hälfte der Staatsausgaben aufzubürden. Dem Monarchen brachte die Kaſſenvereinigung nur Vortheil; ſie überhob ihn des unwür - digen Streites mit den Schatzräthen und erhöhte ſein freies Einkommen auf mehr als das Doppelte. Gleichwohl entſchloß ſich der König nur ſchwer, in die unabweisbare Reform zu willigen, denn er kannte ſeine deutſchen Stammlande kaum und beurtheilte ſie nach dem engliſchen Maßſtabe. Gerade in England, wo doch Begriff und Name der Civil - liſte entſtanden waren, hatte die Krone ſtets aus der Civilliſte einen Theil der Staatsverwaltungskoſten beſtritten, und erſt ganz neuerdings, 1831, war es dem Cabinet Grey nach ſchweren Kämpfen gelungen, Hof - ausgaben und Staatsausgaben ſcharf zu ſondern. Die Torys aber161Das hannoverſche Staatsgrundgeſetz.murrten noch immer über dieſe Neuerung; ſie klagten: ein Monarch, der eine unüberſchreitbare Summe für ſeinen Hofhalt beziehe, ſei ein stipen - diary, ein insulated king und habe nicht mehr das Recht Gnaden zu erweiſen. Der gutherzige König fühlte ſich daher peinlich überraſcht, als er ſeine beſcheidenen deutſchen Unterthanen deſſelben Weges gehen ſah wie die Reformer der Whigpartei. Endlich gab er nach und willigte in die Kaſſenvereinigung. Mit einem Zuge fiel der Vorhang von den wun - derſamen Geheimniſſen dieſes Finanzweſens. Nun erſt konnte der Landtag die geſammten Staatsausgaben überſehen und einen deutlichen Begriff gewinnen von allen den penſionirten Fähnrichen mit Premierleutnants - Charakter , von allen den Geheimeraths-Waiſen und Staats-Pfründnern, welche an der gaſtlichen Krippe der alten Adels-Oligarchie gefüttert wurden.

Nach dieſem entſcheidenden Erfolge zeigten ſich die Stände überaus beſcheiden in ihren Anſprüchen. Die Regierung erkannte wohl, daß in jedem geordneten Staate die meiſten Ausgaben dem Rechtsgrunde nach, viele auch dem Betrage nach geſetzlich feſtſtehen und mithin von den Kammern nicht eigentlich bewilligt, ſondern nur rechnungsmäßig geprüft werden können. Sie ſchlug daher vor, daß die Beſoldungen ſowie die anderen regelmäßigen Ausgaben der einzelnen Verwaltungszweige durch vereinbarte Regulative ein - für allemal beſtimmt, und alſo nur 1 ½ Mill., ſtreng genommen nur 200000 Thaler, jährlich der freien Bewilligung des Landtags unterliegen ſollten. Der Vorſchlag war in den einfachen Verhältniſſen eines Kleinſtaats wohl durchführbar, er raubte den Stän - den nichts, ſondern ſprach nur aus was ſchon zu Recht beſtand; aber er vertrug ſich ſchlechterdings nicht mit der herrſchenden Doctrin des con - ſtitutionellen Staatsrechts, welche kurzerhand den Landtagen die Befugniß zuſchrieb, bei jeder Budgetberathung die Staatsgläubiger ihrer Zinſen, die Beamten ihrer Gehalte zu berauben. Darum ward der Streit ſehr lebhaft, und der Kammerpräſident Rumann mußte von der liberalen Preſſe harte Vorwürfe hören, als er ſchließlich mit ſeiner Präſidialſtimme muthig den Ausſchlag gab zu Gunſten der Regierung. Auch dem Geſetz - gebungsrechte der Stände ward eine feſte Schranke gezogen. Sie ſollten zwar über den ganzen weſentlichen Inhalt neuer Geſetze entſcheiden und auch ſelber nach Belieben Geſetzentwürfe vorlegen; der Regierung aber blieb überlaſſen das alſo Vereinbarte näher zu bearbeiten , denn Stüve und ſeine geſchäftskundigen Freunde wußten aus Erfahrung, wie leicht die Einzelbeſtimmungen der Geſetze durch das unberechenbare Spiel der par - lamentariſchen Abſtimmungen verwirrt und verſchoben werden. Die öffentliche Berathung wurde dem Landtage nur geſtattet, nicht vorge - ſchrieben; und die erſte Kammer machte von dieſer Erlaubniß keinen Ge - brauch, ſie ließ ſogar in ihren veröffentlichten Protokollen die Namen der Redner weg. Tagegelder galten in der deutſchen liberalen Doctrin für ein natürliches Recht der Volksvertreter; der König aber huldigte derTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 11162IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.guten altengliſchen Anſicht, und die Abgeordneten der zweiten Kammer gaben ſich endlich zufrieden, als ihnen, nicht durch die Verfaſſung ſelbſt, ſondern nur durch ein vorläufiges Reglement Diäten zugeſtanden wurden.

Schwerer gelang die Verſtändigung über die Zuſammenſetzung der beiden Kammern. Die Krone wollte nur die angeſehenſten Grundherren, die Majoratsbeſitzer in die erſte Kammer berufen, die übrige Ritterſchaft, wie in Sachſen, dem unteren Hauſe zuweiſen; erhielt ſie dann noch, wie Dahlmann vorſchlug, das Recht, ein Drittel der Mitglieder der erſten Kammer nach freiem Ermeſſen zu ernennen, ſo ließ ſich hoffen, daß die beiden Häuſer in leidlicher Eintracht zuſammenarbeiten würden. Wall - moden begrüßte den Vorſchlag mit Freuden; er wünſchte ſelber in die zweite Kammer hinabzuſteigen um dort als Bauernführer die Herrſchſucht ſeiner eigenen Standesgenoſſen zu bekämpfen. Schele aber und die große Mehrheit des Adels fanden es beleidigend, daß Mitglieder der Ritter - ſchaft mit den Bürgern und Bauern gemeinſam in einem Hauſe tagen ſollten. Und leider arbeitete Stüve dem Junkerhochmuth in die Hände; er gerieth auf den überklugen Einfall, man müſſe den geſammten Adel in einer Kammer vereinigen um ihn alſo zu ſchwächen. Das Ergebniß der verworrenen Berathung war, daß der unverſöhnliche Gegenſatz der beiden Kammern, der ſo lange ſchon dieſen Landtag gelähmt hatte, auch fernerhin fortbeſtand. Die erſte Kammer blieb wie bisher ausſchließlich eine Adelsvertretung; den einzigen bürgerlichen Ritter, der einmal in dieſen Saal eindrang, nöthigte ſie binnen Kurzem zum Austritt; der zweiten Kammer aber, die fortan aus zehn Prälaten, 37 ſtädtiſchen und 38 bäuerlichen Abgeordneten beſtand, trat ſie mit zunehmender Schroff - heit entgegen.

Die Vorrechte der Ritterſchaft wagte man nur behutſam anzutaſten; das Staatsgrundgeſetz verſprach nur für die Zukunft die Beſchränkung des privilegirten Gerichtsſtandes, die Anſchließung der Rittergüter an die Landgemeinden. Sein Lieblingswerk aber, die von langer Hand her vorbereitete Ablöſung der bäuerlichen Dienſte, Zehnten und Meiergefälle, wußte Stüve jetzt doch noch durchzuſetzen, damit der uralte niederſäch - ſiſche Grundſatz frei Mann, frei Gut endlich zur Wahrheit würde. Der Adel ſträubte ſich aufs Aeußerſte, und jahrelang mußte Stüve noch mit dem Führer der Junkerpartei wegen der Ausführung der neuen Ablöſungs-Ordnung einen perſönlichen Kampf ausfechten. Da ſein kleines Landgut bei Osnabrück nahe der Schelenburg lag, ſo kamen Schele’s Gutsunterthanen beſtändig herüber um ſich bei dem Bauernfreunde Rath zu holen, und der conſervative Reformer gerieth dergeſtalt in den Ruf eines demagogiſchen Verſchwörers. Als ſich die Aufregung legte, da mußten freilich die Grundherren ſelber zugeben, daß ſie durch die Ablöſung nur gewonnen hatten; der Bauernſtand aber kam jetzt endlich in die Lage ſein neugewonnenes Wahlrecht ſelbſtändig zu gebrauchen. Auf dieſe praktiſche163Schele. Stüve. Dahlmann.Freiheit legte Stüve allein Werth; die Dogmen des conſtitutionellen Ver - nunftrechts ließen die Mehrheit des Landtags kalt. Die Stände ſelber ge - ſtanden unbefangen, daß man die häufige Wiederkehr großer Staatsproceſſe nicht erleichtern dürfe; ſie verlangten darum das Recht der Miniſteranklage nur für den Fall abſichtlicher Verfaſſungsverletzung und behielten ſich für leichtere Streitigkeiten lediglich eine Beſchwerde an den König vor.

So kam das Staatsgrundgeſetz zu Stande, unzweifelhaft die be - ſcheidenſte unter den neuen norddeutſchen Verfaſſungen; bei allen Män - geln doch ein achtungswerthes Werk erfahrener Einſicht und behutſamer Mäßigung. Dahlmann meinte zufrieden, hier ſei der Weg betreten, der für Deutſchland frommen könne. Eine Zeit lang gewann es den An - ſchein, als ſollte unter dieſen beſonnenen niederdeutſchen Reformern eine neue Schule des gemäßigten Liberalismus ſich bilden, wie ſie der Nation gerade noth that, ehrlich conſtitutionell und doch dem hiſtoriſchen Rechte nicht feindlich geſinnt, eine Schule, die nach Stein’s Vorbild das Künf - tige aus dem Vergangenen zu entwickeln ſuchte. Unterſtützt von Roſe, Stüve, Dahlmann und dem wackeren Pädagogen Kohlrauſch, ließ Stein’s Vertrauter Pertz, der gelehrte Herausgeber der Monumenta Germa - niae, die Hannoverſche Zeitung erſcheinen, die erſte namhafte politiſche Zeitſchrift des kleinen Königreichs, ein ſtreng nationales Blatt, das den abſtrakten Theorien des modiſchen Liberalismus ebenſo nachdrücklich ent - gegen trat wie ſeiner polniſch-franzöſiſchen Schwärmerei und darum von der ſüddeutſchen Preſſe als ein Organ der pfäffiſchen Reaktion gebrand - markt wurde. Sein Wahlſpruch lautete: Treue iſt der Grundzug des deutſchen Charakters, und Treue iſt Freiheit. Nach einem kurzen viel - verheißenden Anlaufe verfiel die Zeitung leider bald der Ermattung, welche das ganze Land heimſuchte; unter den Männern des praktiſchen Lebens hatte ſie nie viele Mitarbeiter gefunden, und die politiſirenden Gelehrten, die ſelten lange bei der Stange aushalten, zogen ſich nach und nach zurück.

Ueber der neuen Verfaſſung ſchwebte kein glücklicher Stern. Nachdem die Vereinbarung mühſam gelungen war blieb man noch ein halbes Jahr hindurch in peinlicher Ungewißheit und erfuhr nur durch Gerüchte, daß Schele und der öſterreichiſche Geſandte in London Alles aufboten um das Schiff noch dicht vor dem Hafen ſtranden zu laſſen. Am 26. Sept. 1833 unterzeichnete der König endlich das Staatsgrundgeſetz, nachdem er etwa vierzehn unweſentliche Paragraphen des vereinbarten Entwurfs einſeitig abgeändert hatte. Der neue Landtag beeilte ſich zwar auf Stüve’s An - trag die Aenderungen nachträglich gutzuheißen; immer blieb es ein ver - hängnißvoller Fehler, daß dieſer Staat, der ſeit dem Kriege aus einem zweifelhaften Rechtszuſtande in den andern taumelte, nun ſchon zum dritten male eine Verfaſſung erhielt, deren Giltigkeit ſich mindeſtens mit Scheingründen anfechten ließ.

11*164IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.

Der Abſchluß des Verfaſſungswerkes wurde hier nicht wie in den Nachbarländern mit lauter Freude begrüßt. Den eifrigen Liberalen ge - nügte dieſe maßvolle Reform mit nichten, die Maſſe des Volkes aber war aus der Aufregung des Revolutionsjahres längſt wieder in die alte Gleich - giltigkeit zurückgefallen. Kurheſſen und Sachſen traten bald nach ihrer politiſchen Neugeſtaltung dem Zollverein bei, und die öffentliche Meinung wähnte in begreiflicher Selbſttäuſchung, daß man das kräftig aufblühende wirthſchaftliche Leben nicht der Freiheit des deutſchen Marktes, ſondern der Verfaſſung verdanke. In Hannover dagegen wurden die handelspoli - tiſchen Folgerungen, die ſich aus der Kaſſenvereinigung und der Steuer - reform unabweisbar ergaben, nicht gezogen, das Land verharrte bei ſeiner ſelbſtmörderiſchen engliſchen Zollpolitik, an dem ſchläfrigen Gange des Han - dels und Wandels änderte ſich nichts. So bemerkte das Volk wenig von dem Segen der neuen Ordnung. Nur die Bürger von Hildesheim holten ihren volksbeliebten Abgeordneten Lüntzel im Triumphzuge ein, und Stüve mußte ganz wie ſein verabſcheuter Gegenfüßler Rotteck in ſeiner Vaterſtadt den ſilbernen Ehrenbecher als liberalen Tugendpreis dankend entgegennehmen. Das übrige Land verhielt ſich lau. Der kluge Geh. Rath Hoppenſtedt und manche andere einſichtige Beamte wollten ſich von Haus aus zu dem Staatsgrundgeſetze kein Herz faſſen, weil ſie der Zukunft mißtrauten. Sie wußten, daß der Adel ſeine Widerſpänſtigkeit noch keines - wegs aufgegeben hatte, und er herrſchte noch immer in den ſieben Pro - vinziallandtagen, die mit verminderten Befugniſſen auch fernerhin fort - beſtehen ſollten. Schon als die Verfaſſung berathen wurde hatten mehrere dieſer Landtage ein Recht der Mitwirkung beanſprucht; als ſie beendet war, verwahrte der Ausſchuß der calenberg-grubenhagenſchen Stände in aller Stille ſeine vorgeblichen Rechte. Wie nun, wenn dieſe Adelsoppo - ſition bei dem vorausſichtlich nahen Thronwechſel den Monarchen ſelbſt für ſich gewann? Ueber den Thronfolger, den Herzog von Cumberland, liefen bedenkliche Gerüchte um. Man erfuhr, daß er mit Schele in Ver - bindung ſtehe und die neue Ordnung mißbillige. Doch nur wenige Ein - geweihte wußten, welch ein unwürdiges Spiel insgeheim im Welfenhauſe getrieben wurde.

Ernſt Auguſt von Cumberland blickte auf die deutſchen Dinge mit der Hoffart des ſtarren Hochtorys hernieder; er hielt es nie der Mühe werth, das Staatsrecht des Landes, das er dereinſt beherrſchen ſollte, kennen zu lernen, und begnügte ſich mit der unbeſtimmten Vorſtellung, daß den Agnaten in Hannover eine Art Mitregierungsrecht, mindeſtens für außerordentliche Fälle, zuſtehe. Von dieſem angemaßten Rechte machte er auch mehrmals Gebrauch, doch niemals offen, niemals ohne jene Winkel - züge, welche ſeinem aus Schroffheit und Heimtücke ſeltſam gemiſchten Cha - rakter geläufig waren. Bei Lord Eldon und den anderen Freunden von der ſtrengen Tory-Partei hatte er als höchſte politiſche Weisheit gelernt,165Ernſt Auguſt von Cumberland.daß man an dem Beſtehenden nichts ändern dürfe; darum wünſchte er die Aufrechterhaltung der alten Provinzialſtände. Sobald im Jahre 1814 die allgemeine Ständeverſammlung berufen wurde, erklärte er ſich da - wider in einer Denkſchrift an den Prinzregenten, aber ganz in der Stille, ſo daß ſelbſt ſein Bruder Clarence, der ſpätere König Wilhelm, kein Wort davon erfuhr; auch gegen die zweite Verfaſſungsänderung vom Jahre 1819 erhob er Einſpruch bei dem Prinzregenten, aber nur mündlich und wieder insgeheim. *)Näheres in Beilage 18.Beide Verwahrungen blieben unbeachtet. Man ſah auch ſtillſchweigend darüber hinweg, daß der Herzog jeden amtlichen Verkehr mit dem Allgemeinen Landtage vermied und der Ständeverſamm - lung, als ſie ſich im Jahre 1822 ihm vorſtellen wollte, kurzweg erwidern ließ: er könne nur die einzelnen Mitglieder als Privatleute empfangen.

Als nun der Entwurf des Staatsgrundgeſetzes vorlag, hielt der ge - wiſſenhafte König für nöthig, die Meinung des Thronfolgers einzuholen, obgleich er dem Herzog wenig traute und ihm deshalb auch bei der Be - ſetzung der Stelle des Vicekönigs den jüngeren Bruder Cambridge vor - gezogen hatte. Schon im October 1831 ließ er ihm durch Ompteda und Cabinetsrath Falcke den Verfaſſungsplan mittheilen, der bereits den Vor - ſchlag der Kaſſenvereinigung enthielt, und war freudig überraſcht, als Cumberland dafür in einem überaus verbindlichen Briefe dankte. Ich kann nicht genug meine vollkommene Befriedigung in aller und jeder Be - ziehung erklären ſo ſchrieb Ernſt Auguſt am 31. October und pries den Edelmuth und die Uneigennützigkeit des Königs, der alſo bewieſen habe, daß Ihr einziger Zweck iſt, die Finanzen des Landes Hannover auf einen ſolchen Fuß zu ſetzen, daß Ihre Nachfolger keine Schwierigkeiten haben ſollen. Nur gegen drei Beſtimmungen erhob er Einwände. Zunächſt gegen die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, die ſelbſt König Ludwig von Baiern für gefährlich halte. Sodann wider die Tagegelder der Abgeord - neten; doch hier, meinte er in ſeiner rohen Weiſe, ſei vielleicht eine kluge Nachgiebigkeit möglich: dann werden die Koſten wenigſtens auf das Land fallen und nicht auf den Souverän; und mit ſolchen Einſchränkungen, daß die Stände das Geſchäft nicht hinausziehen können um deſto länger bezahlt zu werden. Zum Dritten fand er es bedenklich, daß die beur - laubten Soldaten unter der bürgerlichen Obrigkeit ſtehen ſollten eine Frage, die in dem Entwurfe unmittelbar gar nicht berührt war. Ganz in demſelben Sinne hatte er Tags vorher an den Herzog von Cambridge geſchrieben und inbrünſtig verſichert: der Plan macht Beiden, dem Könige und der Regierung, die höchſte Ehre. Des Königs Kopf und Herz haben bei dieſer Gelegenheit geglänzt. **)Cumberland an Cambridge, 30. Oct., an König Wilhelm, 31. Oct. 1831.

Der gute König war ſeelenfroh, er dachte ja ſelbſt keineswegs liberal,166IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſondern ließ ſich nur von der Strömung der Zeit treiben, und verſicherte dem Bruder herzlich, daß er bei dem Entwurfe beſonders an die Inter - eſſen ſeiner Nachfolger gedacht habe, an Sie und Ihren hoffnungsvollen Sohn. Es ſchien mir von der äußerſten Wichtigkeit für die Wohlfahrt und das Glück des Landes und für Ihre eigene Behaglichkeit und Ruhe, daß Sie von den mir gemachten Vorſchlägen vollſtändig unterrichtet wür - den . Die Bedenken des Herzogs gegen die Oeffentlichkeit und die Tage - gelder fand der König wohlbegründet; er verſprach, daß ſie von der Regierung erwogen und nach den Umſtänden berückſichtigt werden ſollten. *)König Wilhelm an Cumberland, 3. Nov. 1831.Und er hielt Wort. Lediglich dem Thronfolger zu Liebe wurde die dem Landtage ſo oft verheißene Oeffentlichkeit dahin abgeſchwächt, daß den beiden Kammern nur geſtattet ſein ſollte Zuhörer zuzulaſſen; und aus demſelben Grunde verwies man die Zuſage der Diäten in ein vorläufiges Regle - ment. Weiter ließ ſich die zarte Rückſicht auf einen rechtlich bodenloſen Einſpruch in der That nicht treiben. Neue Einwendungen konnte die Regierung jetzt um ſo weniger erwarten, da Ernſt Auguſt die einzige Vorſchrift des Staatsgrundgeſetzes, welche vielleicht der Zuſtimmung der Agnaten bedurfte, die dem königlichen Hauſe ſo vortheilhafte Kaſſenver - einigung mit warmer Dankbarkeit gebilligt hatte.

Aber mittlerweile begann Schele ſeine unterirdiſche Arbeit; er ſchil - derte dem Herzog das Staatsgrundgeſetz als ein Werk ruchloſer Dema - gogen und wußte vornehmlich die Parteivorurtheile des Hochtorys wider die Civilliſte gewandt auszunutzen: die Kaſſenvereinigung, die faſt in allen größeren Bundesſtaaten längſt beſtand, ſollte in Hannover das monar - chiſche Princip vernichten! Aus den Berichten des Geſandten Münchhauſen in Berlin erfuhr der König bald, daß ſein Bruder ſich ſehr abfällig über die neue Verfaſſung äußere. Als die Miniſter im October 1833 dem Thronfolger das erlaſſene Staatsgrundgeſetz mittheilten und ihn fragten, ob er ſeinen Sitz in der erſten Kammer einnehmen wolle, da empfingen ſie eine kurze, ſchnöde Antwort (29. October). Der Herzog erwähnte, daß er ſchon bei ſeinem ſeligen Bruder gegen die Einführung der allgemeinen Stände proteſtirt habe, weil die Einwilligung der Agnaten dazu nicht eingeholt worden ſei, und ſchloß trocken: Von Allem was weiter vorge - kommen bin ich nicht gehörig unterrichtet und kann mich deshalb auch durch das neue Geſetz noch nicht gebunden halten. **)Cumberland an das k. Miniſterium in Hannover, 29. October 1833.Die Abſicht dieſes hinterhaltigen Schreibens war durchſichtig genug: zu ehrlichem Einſpruch hatte der Welfe nicht den Muth, doch für den Fall ſeiner Thronbeſteigung dachte er ſich die Hände frei zu halten. Wollte die Regierung nicht die ganze Zukunft des Staatsgrundgeſetzes gefährden, ſo mußte ſie, nach einer ſolchen Probe welfiſcher Zweizüngigkeit, von dem Thronfolger eine un -167Cumberland’s Zweizüngigkeit.umwundene Erklärung verlangen: offenen Proteſt oder offene Zuſtimmung. Aber wie konnten ſich dieſe Stralenheim, Alten, Schulte, von der Wiſch zu einer ſo ärgerlichen Ombrage entſchließen, die den vornehmen alt - hannoverſchen Staatsſitten gänzlich widerſprochen hätte? Die Miniſter berichteten zunächſt an den König; und der gemüthliche Herr meinte: man möge eine ausgleichende Erwiderung an ſeinen Bruder abgehen laſſen; einen günſtigen Erfolg erwarte er freilich nicht, doch würden die abwei - chenden Anſichten des Herzogs wohl nur ihm ſelber, nicht dem Lande zum Nachtheil gereichen eine deutliche Anſpielung auf Cumberland’s ſchwere Schuldenlaſt. *)Bericht des hannov. Miniſteriums an Ompteda in London, 13. November. Bericht des Geh. Raths Lichtenberg an das Miniſterium, London 3. Dec. 1833.

Nunmehr beſchloſſen die Miniſter dem Thronfolger zu antworten; denn obwohl ſein Brief nach Form und Inhalt nicht für eine eigentliche Proteſtation zu halten ſei, ſo könne man doch die Beſorgniß nicht unter - drücken, daß dieſem Aktenſtücke früher oder ſpäter eine andere Abſicht untergelegt werden könnte. Sie erwiderten alſo dem Herzoge (11. Dec.): von ſeinen früheren Proteſten habe ſich keine Spur vorgefunden; auch ſei die Zuſtimmung der Agnaten zu Verfaſſungs-Aenderungen zwar wünſchenswerth, aber keineswegs nothwendig und ſchon bei der Union der Landſchaften Calenberg und Grubenhagen im Jahre 1801 nicht mehr eingeholt worden. Alsdann hielten ſie ihm vor, wie gewiſſenhaft das Staatsgrundgeſetz die königliche Autorität zu ſtärken ſuche, und wie ſorglich man des Herzogs Bedenken gegen die Diäten und die Oeffentlichkeit berück - ſichtigt habe. **)Schreiben des Miniſteriums an Cumberland, 11. Dec. Antwort des Mini - ſteriums an Lichtenberg, 13. Dec. 1833.Durch dieſe matte Erwiderung meinten ſie ihr Gewiſſen beſchwichtigt zu haben; und doch mußten ſie wiſſen, daß Cumberland inzwiſchen (29. Nov.) ſeinem Bruder Cambridge noch deutlicher geſchrieben hatte: einigen Beſtimmungen des Staatsgrundgeſetzes, namentlich der Anordnung über die Domänen, werde er niemals beipflichten.

Als der Herzog zu Anfang des nächſten Jahres nach London kam, hatte Geh. Rath Lichtenberg drei amtliche Unterredungen mit ihm wegen des Staatsgrundgeſetzes, und hier ward die Falſchheit des Welfen ganz offenbar. Auf ſeine früheren beiden Bedenken legte er nur noch geringen Werth. Wenn ich anfangs nur dieſe beiden Punkte hervorgehoben habe, wird daraus nie der Schluß gezogen werden können, daß ich allem Uebrigen meinen Beifall gegeben dies wagte er jetzt zu behaupten, obgleich er einſt ſeinen beiden Brüdern ausdrücklich erklärt hatte, er ſei mit Allem und Jedem einverſtanden. Am anſtößigſten erſchien ihm jetzt die Kaſſenvereinigung, die er früher gebilligt hatte; niemals, ſo wieder - holte er feierlich, könne und werde er einer ſolchen Neuerung zuſtimmen. 168IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Und zwiſchen allen dieſen Winkelzügen immer wieder die biedere Ver - ſicherung: ich ſage meine Anſicht immer frei und offen, ich denke immer nur an die Sache, nicht an die Perſon! Selbſt der unterthänige Lichten - berg wagte am Schluſſe ſeines erſten Berichts nur zu bemerken, daß der Eindruck der Unterredung auf den Herzog wenigſtens kein durchaus ungünſtiger zu ſein ſchien . *)Lichtenberg’s Berichte an das Miniſterium, 28. Febr. 27. März 1834.Den Miniſtern aber konnte nach Allem was geſchehen nicht mehr zweifelhaft bleiben, daß der Thronfolger die Verfaſſung umſtoßen wollte und daß er in ſeinem frechen Hochmuth ſich einbildete, er brauche nur dem beſtehenden Rechte die Anerkennung zu verſagen, dann ſei es auch ſchon vernichtet. Gleichwohl thaten ſie nichts mehr um der drohenden Gefahr vorzubeugen. Sie wußten wohl, daß ſtaatsrechtliche Belehrungen bei dem harten Eigenſinn dieſes Welfen nichts auszurichten vermochten; doch ſchmeichelten ſie ſich mit der Hoffnung, der von Gläubigern verfolgte Herzog werde einen Staatsſtreich nicht wagen können; ſchlimmſten Falls rechneten ſie auf den Schutz des Bundestags für die neue, unzweifelhaft in anerkannter Wirkſamkeit ſtehende Ver - faſſung.

Bei der Berathung des Hausgeſetzes, das ſich an die Verfaſſung anſchließen ſollte, verfuhr der Herzog ebenſo hinterhaltig. Allem Anſchein nach hat er auch hier zuerſt in unverbindlicher Form ſein Einverſtändniß kundgegeben, um ſich nachher die endgiltige Erklärung für die Zukunft vor - zubehalten. Dahlmann, der den Entwurf des Hausgeſetzes ausarbeitete, erhielt im April 1834 vom Miniſter Stralenheim die amtliche Mittheilung, daß die Zuſtimmung der volljährigen königlichen Prinzen erfolgt ſei, eine Verſicherung die unmöglich ganz grundlos ſein konnte. Im December 1835 aber ſchrieb Ernſt Auguſt an Cabinetsrath Falcke, er könne als ehrlicher Mann das Hausgeſetz für jetzt noch nicht unterzeichnen, weil es ſo feſt mit dem Staatsgrundgeſetz zuſammenhänge. Eine frei - müthige Rechtsverwahrung wagte er auch jetzt nicht einzulegen, er ſagte nur, auf die Zukunft vertröſtend: Ich muß viel mehr Hilfe und Rath haben, bevor ich mir erlauben kann einen ſo ernſten Schritt zu thun. Demungeachtet wurde das Hausgeſetz am 19. Nov. 1836, nachdem der Landtag zugeſtimmt, als ein für Jedermann, auch für die königlichen Prinzen verbindliches Geſetz kundgemacht. Cumberland aber zeigte mit wachſender Dreiſtigkeit, daß die neue Verfaſſung für ihn nicht vorhanden ſei. In der Zeitſchrift ſeiner Getreuen, dem Berliner Politiſchen Wochenblatt, wurde das Staatsgrundgeſetz wie eine jacobiniſche Tollheit bekämpft. Seinen Sitz in der Kammer nahm der Herzog niemals ein, und als er einmal zur Zeit einer Landtagseröffnung in Hannover weilte, verließ er die Stadt in dem - ſelben Augenblicke da die Stände zuſammentraten, um in Derneburg den grollenden Münſter zu beſuchen.

169Schleswigholſtein. Falck.

Je deutlicher die unredlichen Hintergedanken des Thronfolgers ſich enthüllten, um ſo rathſamer ſchien es die Bürgſchaft des Bundestags für das Staatsgrundgeſetz zu erbitten; ſie wäre dieſer conſervativen Ver - faſſung wohl leichter gewährt worden als der radicalen kurheſſiſchen. Aber die Regierung wagte nicht einmal den Verſuch. Roſe fühlte ſich überall gehemmt durch das ſtille Widerſtreben ſeines unberechenbaren Nebenbuhlers Geh. Rath Falcke. Obwohl die neue Ordnung des Staatshaushaltes ſich trefflich bewährte und bald erhebliche Ueberſchüſſe erzielte, ſo wurden doch die zur Ausführung der Verfaſſung verheißenen Geſetze bei Weitem nicht ſo raſch gefördert wie in Sachſen. Namentlich an die Exemtionen des Adels getraute man ſich nicht recht heran. Auch dem Landtage fehlten Zug und Schwung. Die erſte Kammer beſtand zu acht Neunteln, die zweite zu fünf Achteln aus Beſoldeten, dort ſaßen die adlichen, hier die bürgerlichen Beamten, ganz wie ſonſt: nur die Geheimen Räthe der Haupt - ſtadt waren ſeit das Land Diäten zahlte etwas ſpärlicher, dafür die Amt - männer aus den Provinzen um ſo ſtärker vertreten. Mit gutem Grunde klagte die liberale Preſſe, dies Land werde durch die Maſſe ſeiner Be - amten erdrückt wie Spanien durch das Heer ſeiner Mönche. Erſt im Jahre 1837 legte die Krone dem Landtage eine Reihe wichtiger Geſetzentwürfe vor, doch kaum hatte er die Berathung begonnen, da ſtarb König Wilhelm und eine neue Zeit der Kämpfe brach über das Welfenland herein.

In Hannover wurde durch die conſtitutionelle Bewegung mittelbar auch die Fremdherrſchaft erſchüttert, da der Sitz der Regierung fortan im Lande ſelber blieb. Noch deutlicher bekundete ſich in Schleswigholſtein, wie eng die liberalen und die nationalen Ideen der Zeit mit einander verkettet waren. Seit ihrem verunglückten Feldzuge am Bundestage war die Ritterſchaft der Herzogthümer ganz ſtill geblieben, ihr ſtreitbarer Führer Dahlmann hatte Kiel verlaſſen, und von den Verhandlungen jener Kopen - hagener Commiſſion, welche die neue Verfaſſung für Holſtein ausarbeiten ſollte, verlautete längſt kein Wort mehr. Aber Dahlmann’s Wirken hatte in den höheren Ständen die Liebe zu dem alten Rechte Trans - albingiens geweckt, in dem engeren Kreiſe der Freunde auch ſchon das helle Bewußtſein des deutſchen Volksthums; denn bei ſeinem Kampfe für das Landesrecht leitete ihn ſtets die Abſicht, daß die Fremdherrſchaft auf deutſchem Boden in ihrer unheilvollen Wirkung beſchränkt werden, daß die deutſchen Unterthanen Dänemarks Deutſche bleiben, nur gegen Deutſchlands Feinde Krieg führen müßten: das iſt ihr Charakter, ihre unfreiwillige Beſtimmung . Nach Dahlmann’s Abgang war jetzt ſein treuer Genoſſe Nic. Falck der anerkannt erſte Mann des Landes. Aus Falck’s rechtshiſtoriſchen Vorleſungen und ſeinen ſtaatsrechtlichen Schriften, aus den mannichfaltigen Aufſätzen ſeines Staatsbürgerlichen170IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.Magazins ſchöpften die heranwachſenden jungen Beamten alleſammt ihre Kenntniß der halbverſchollenen ruhmreichen Landesgeſchichte. Als die Juli - revolution hereinbrach, regte ſich in weiten Kreiſen das Verlangen nach einer Verfaſſung, welche das hiſtoriſche Recht neu beleben und fortbilden ſollte. Die Regierung in Kopenhagen benahm ſich überaus furchtſam, weil ihr das Gewiſſen ſchlug. Sie wußte wohl, wie ſchwer an den Rechten der deutſchen Nordmark geſündigt worden war, und warum die Dänen ihren ſechsten Frederik als den erſten däniſchen König feierten; ſie beſorgte im Ernſte, daß ein ſchleswigholſteiniſcher de Potter erſtehen und der bel - giſche Aufruhr an der Eider ſein Gegenbild finden könnte. So bedrohlich war die Lage mit nichten. An einen Abfall dachte in den Herzogthümern noch Niemand. Selbſt das Verlangen nach geſetzlicher Reform ward niedergehalten durch die tiefe Ehrfurcht vor dem edelſten, beſten, gütigſten König, dem innig und heiß geliebten Landesvater , der ſich doch die Mühe gegeben hatte ſo viele Jahre zu leben; und ſchwerlich wäre den beſchei - denen Wünſchen der gebildeten Klaſſen irgend eine Frucht entſproſſen, wenn nicht ein tapferer Mann die Angſt der Krone benutzt hätte um zur rechten Zeit mit lauter Stimme zu fordern.

Jens Uwe Lornſen hatte nach einem ſtürmiſchen Studentenleben die letzten Jahre hindurch auf der ſchleswigholſteiniſchen Kanzlei in Kopenhagen gearbeitet und dort ſo ganz entfremdet war dieſe Behörde ihrer Heimath weder von der Geſchichte noch von dem alten Staatsrechte Schleswig - holſteins irgend etwas erfahren. Aber die glühende Begeiſterung für ſein deutſches Vaterland blieb dem alten Burſchenſchafter unverloren; ſein innerſtes Gefühl empörte ſich, wenn die däniſchen Beamten ihm das alte Hohnwort entgegenhielten, die Schleswigholſteiner ſollten ſich doch freuen, lieber etwas, nämlich Dänen zu ſein, als gar nichts, nämlich Deutſche. Durch ſeine amtliche Thätigkeit lernte er dann den Schlendrian und die ver - ſtändnißloſe Ungerechtigkeit der aus der Ferne wirkenden Regierung gründlich kennen. Auch die conſtitutionellen Gedanken der Zeit ergriffen ihn mächtig, er meinte die Stunde gekommen für die europäiſche Herrſchaft des Bürger - thums, und verlockend nahe lag dem Kopenhagener Beamten das Vorbild der ſchwediſch-norwegiſchen Union; der däniſche Kronprinz Chriſtian ſelbſt hatte ja einſt den Norwegern ihre gerühmte Bauernverfaſſung verliehen. In ſolchem Sinne äußerte ſich Lornſen oft gegen ſeine deutſchen Amts - genoſſen; alle hörten bewundernd zu, wenn er ſich erhob, ein hochge - wachſener Nordlandsrecke mit buſchigem blondem Haar, geiſtvollem Munde, tiefen blauen Augen, und in unwiderſtehlicher Rede, feurig zugleich und würdevoll, ſeine Gedanken entfaltete. Leider ſchlummerte bereits der Keim der Krankheit in dieſem groß angelegten Geiſte; er meinte ſich gequält von einem halb wirklichen halb eingebildeten unheilbaren Leiden, und ſein Wahn lähmte ihm in entſcheidender Stunde den Muth. Der Stolze fühlte, daß er vor Vielen voraus hatte was ſeine Frieſen als höchſte Mannes -171J. U. Lornſen.tugend preiſen: rum Hart, klar Kimming, das weite Herz, den freien Ge - ſichtskreis; er hoffte dereinſt noch für ganz Deutſchland politiſch zu wirken.

Als er nun im Herbſt 1830 nach den Herzogthümern zurückkehrte um das Amt des Landvogts auf ſeiner heimathlichen Inſel Sylt anzu - treten, da erkannte er ſofort, daß jetzt der Augenblick gekommen ſei, den eingeſchüchterten Königherzog durch Petitionen und Verſammlungen zur Verleihung einer Verfaſſung zu bewegen. In Kiel und Flensburg ver - ſtändigte er ſich mit angeſehenen Männern des Bürgerthums, während der geiſtreiche junge Nationalökonom Georg Hanſſen unter den Bauern im öſtlichen Holſtein Anhänger warb. Um die Bewegung auf ein feſtes Ziel zu richten, ſchrieb Lornſen ſodann ein Schriftchen von elf Seiten über das Verfaſſungswerk in Schleswigholſtein . Er verwies darin auf die Gebrechen der Verwaltung, auf die Heimlichkeit des Staatshaushalts und forderte kurzab einen gemeinſamen Landtag für beide Herzogthümer, da die Bundesakte den Holſten Landſtände verheiße, die Trennung der Herzogthümer aber jedem Schleswigholſteiner ſchlechthin undenkbar ſei. Mehr als ein Viertel der Volksvertretung wollte er dem Adel nicht gönnen; denn fortan wird allein die Ueberzeugung des großen Mittelſtandes, bei dem die phyſiſche und intellectuelle Macht wohnt, die Welt regieren, und Alles was ſich gegen dieſe Ueberzeugung erhebt, machtlos daran zerſchellen. Dazu Verlegung aller Behörden in die deutſchen Lande, ein oberſter Gerichtshof für Schleswigholſtein, in jedem Herzogthum ein Regierungs - collegium und über beiden ein Staatsrath nach dem Vorbilde Norwe - gens; mithin Unabhängigkeit von Dänemark in allen inneren Angelegen - heiten: nur der König und der Feind ſeien uns gemeinſchaftlich. Mit nachdrücklichen Worten mahnte Lornſen ſchließlich ſeine Landsleute, der unberechenbaren Zukunft zu gedenken und nicht blindlings der Perſon des gegenwärtigen Königs zu vertrauen, dem wir die Unſterblichkeit wünſchen. Unſer König iſt kein gemachter, ſondern ein geborener Bürger - könig.

Kaum begonnen brach das kühne Unternehmen ſchon zuſammen. Die Ritterſchaft erklärte ſich dawider, weil ſie den bürgerlichen, liberalen Zug der Bewegung fürchtete, und verſicherte dem Könige in einer Er - gebenheits-Adreſſe, die Anforderungen der Zeit müßten allerdings berück - ſichtigt werden, aber ohne Uebereilung. Noch lebhafter eiferten der hoch - conſervative Herzog von Auguſtenburg und ſein Bruder Prinz Friedrich von Noer gegen den gefährlichen Demagogen. Selbſt die Bürger und Bauern wurden ſcheu ſobald der Kieler Stadtrath den kleinmüthigen Beſchluß gefaßt hatte, für eine Eingabe an den König ſei der gegen - wärtige Zeitpunkt nicht geeignet. Keine einzige Petition ging nach Kopen - hagen ab. Lornſen aber, der Feldherr ohne Heer, wurde noch im No - vember verhaftet, und dem kranken Manne verſagte die Kraft; er wagte weder die Einleitung eines öffentlichen fiscaliſchen Verfahrens zu fordern172IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.noch die Akten ſeines Proceſſes zu veröffentlichen, ſondern ließ ſich ge - duldig zur Feſtungsſtrafe verurtheilen, da er ja unleugbar ſeine Amts - pflicht verletzt hatte.

Und doch wirkte Lornſen’s Schrift mächtig nach; ſie ward wirklich, wie die däniſchen Beamten grollend ſagten, eine in die Herzogthümer geſchleuderte Brandfackel, ſie verbreitete den Gedanken der Selbſtändig - keit des untheilbaren Schleswigholſteins in weiten Kreiſen des Mittel - ſtandes, welche einſt dem Kampfe des Adels um das alte Landesrecht gleichgiltig zugeſchaut hatten. In wenigen Monaten erſchienen dreißig Flugſchriften für und wider. Manche darunter ergingen ſich nur in philiſterhaften Klagen über den bacchantiſchen Taumel der neuerungs - ſüchtigen Zeit, über die taktloſe, dem heißgeliebten Könige zugefügte Krän - kung, und mahnten gemüthlich: ein Jeder lern ſeine Lektion, ſo wird es wohl im Lande ſtohn. Wit v. Dörring, der Verräther der Burſchen - ſchaft, hatte ſogar die Frechheit, ſeine holſteiniſchen Landsleute zu warnen vor jenem Deutſchland, das niemals war, nirgends iſt und niemals ſein wird . A. Binzer aber, Lornſen’s ſangesluſtiger Freund von Jena her, und der junge Hiſtoriker Michelſen gingen dem Dänen Schmidt - Phiſeldeck ſcharf zu Leibe und erklärten rundheraus: Schleswigholſtein verlange nicht die Unabhängigkeit wie Belgien, ſondern eine ſelbſtändige Stellung unter dem däniſchen Königshauſe, wie ſie Hannover neben Eng - land oder Finnland neben Rußland einnehme. Der greiſe König, der in ſeiner Angſt dem Statthalter der Herzogthümer ſchon außerordentliche Vollmachten zur Unterdrückung von Ruheſtörungen ertheilt hatte, er - kannte nun doch, daß er einlenken müſſe. Durch ein Geſetz vom 28. Mai 1831 verkündete er ſeine Abſicht, in jedem der beiden Herzogthümer, ebenſo in Jütland und auf Seeland einen berathenden Provinziallandtag nach preußiſchem Muſter einzuführen. Weiter wollte er nicht gehen; vorſorg - lich hatte er ſchon ſeinen oldenburgiſchen Nachbarn durch die Höfe von Berlin und Petersburg vor den Gefahren des reinen Repräſentativ - ſyſtems warnen laſſen. *)Schöler’s Bericht, Petersburg 30. März 1831.

Immerhin war nunmehr die erſte Breſche geſchlagen in das ſchranken - loſe Alleingewalt-Erbkönigthum des däniſchen Königsgeſetzes, und der un - glückliche Lornſen, der jetzt von den Wällen der einſamen Feſte Friedrichsort auf die Gewäſſer der Kieler Föhrde hinausblickte, durfte ſich ſagen, daß er den Dänen wie den Holſten die Bahn eines freieren Staatslebens eröffnet hatte. Da das neue Geſetz die Untheilbarkeit Schleswigholſteins zu bedrohen ſchien, ſo legte die Ritterſchaft am 7. Juli förmliche Ver - wahrung ein und erklärte dem Könige, das alte Landesrecht könne durch dieſe blos adminiſtrative Maßregel nicht berührt werden. Die Krone ließ es an Beſchwichtigungen nicht fehlen und berief im folgenden Jahre173Provinzialſtände für Schleswig und Holſtein.erfahrene Männer aus den Herzogthümern nach Kopenhagen, um mit ihnen die Grundzüge der Provinzialverfaſſungen feſtzuſtellen. Unterſtützt von Niebuhr’s Freunde, dem feurigen Romantiker Grafen Adam Moltke, verſuchte hier Falck nochmals einen gemeinſamen Landtag für Schleswig - holſtein durchzuſetzen. Er unterlag. Am 15. Mai 1834 wurde endlich die Bildung der beiden Provinziallandtage für die Herzogthümer ange - ordnet.

In beiden erhielten Ritterſchaft und Großgrundbeſitz nur etwa ein Drittel der Stimmen; je ein Drittel der Abgeordneten ſollte von den ſtädtiſchen und den ländlichen Grundbeſitzern unmittelbar gewählt werden. Dieſe kühne Neuerung überraſchte allgemein; denn faſt in allen anderen deutſchen Staaten beſtand das Syſtem der indirekten Wahlen, und ſelbſt die Liberalen hegten noch überall das Vorurtheil, daß nur ſo die öffent - liche Ordnung geſichert werden könne. Noch größer war das Erſtaunen, als der König nicht nur den alten nexus socialis der ſchleswigholſtei - niſchen Ritterſchaft ſowie alle die anderen, beide Herzogthümer verbinden - den Rechtsverhältniſſe ausdrücklich anerkannte, ſondern ſogar neue hoch - wichtige gemeinſame Inſtitutionen einführte: ein Oberappellationsgericht, das in Kiel, eine gemeinſchaftliche Provinzialregierung, die auf dem Schloſſe Gottorp hauſen und das ſchleswigholſteiniſche Wappen führen ſollte. In demſelben Augenblicke, da man die Landſtände der Herzogthümer trennte, wurde alſo die Einheit ihrer Rechtspflege und Verwaltung neu befeſtigt, ſtärker befeſtigt als Lornſen ſelbſt zu fordern gewagt hatte. Offenbar wußte König Friedrich nicht genau was er that; er fühlte nur dunkel, daß er ſeinen deutſchen Landen irgend ein Zugeſtändniß ſchuldig ſei, und ahnte nicht die unausbleiblichen Folgen der Gewährung.

In Schleswigholſtein waren ſelbſt Falck und die Ritterſchaft ſofort entſchloſſen, ihrer Rechtsbedenken ungeachtet das königliche Geſchenk anzu - nehmen; denn durch die Errichtung der Provinzialſtände wurde die Un - theilbarkeit der Lande nicht gradezu aufgehoben, erhielt doch auch Jütland ſeinen eigenen Landtag neben den Inſeln. Da die Landtage beider Herzog - thümer nach denſelben Grundſätzen gebildet waren und beide der Regel nach dieſelben Geſetze vorgelegt erhielten, ſo erſchienen ſie faſt wie zwei Curien einer Ständeverſammlung und konnten vielleicht im Laufe der Zeit förmlich vereinigt werden. In ſolchem Sinne verfaßte Franz Hege - wiſch, der geiſtvolle, beim Adel und Bürgerthum gleich angeſehene Kieler Arzt, eine Schrift: Für Holſtein, nicht gegen Dänemark. Wie alle Patrioten der Nordmark hielt er die Verbindung mit Dänemark noch für ein Glück und meinte arglos, dieſer heilſame Bund werde am beſten ge - ſichert, wenn die Herzogthümer unter ſich eng vereinigt blieben und Schleswig alſo das Bindeglied bilde zwiſchen dem deutſchen Bundeslande Holſtein und den däniſchen Provinzen. In der That konnte nur eine ehrliche Politik, die das alte Recht der ihrem Königshauſe ſo treu er -174IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.gebenen deutſchen Lande gewiſſenhaft ſchonte, den Zerfall des däniſchen Geſammtſtaates vielleicht noch abwenden.

Die Dänen aber begannen bereits andere Wege zu gehen. Ihr Selbſtgefühl war durch die Nachgiebigkeit des Königs, die ſie doch allein dem Deutſchen Lornſen verdankten, mächtig angewachſen, ſie feierten den Geburtstag ihrer neuen Verfaſſung als ein nationales Feſt. Nicht ganz mit Unrecht. Eine neue Epoche der däniſchen Geſchichte war angebrochen, und der vertriebene Schwedenkönig Guſtav IV. wußte wohl, warum er als möglicher Erbe der Krone feierliche Verwahrung einlegte gegen die vollzogene Beſchränkung der abſoluten Königsgewalt. Die Hauptſtadt hallte wider von politiſchen Kämpfen, und in der allezeit erregbaren Kopenhagener Jugend bildete ſich ſchon eine neue Partei, die den natio - nalen Gedanken über jede andere Rückſicht ſtellte. Dieſe Eiderdänen, wie man ſie ſpäterhin nannte, verdammten die Bildung der neuen ſchleswigholſteiniſchen Provinzialregierung als einen argen Mißgriff und verlangten die gänzliche Trennung der beiden Herzogthümer; ſie wollten im Nothfall auf das deutſche Holſtein, das man doch nicht daniſiren könne, verzichten, Schleswig aber bedingungslos dem Einheitsſtaate Dänemark einverleiben und auch die rein-deutſche Südhälfte dieſes Herzogthums gewaltſam der ſkandinaviſchen Geſittung unterwerfen. Noch ward die neue Loſung Dänemark bis zur Eider nur von wenigen übermüthigen jungen Männern nachgeſprochen; aber die Zahl ihrer Anhänger wuchs, und gelangten die Eiderdänen je zur Herrſchaft, ſo wurden unfehlbar alle die drei politiſchen Kräfte, welche im Volke Schleswigholſteins noch halb unbewußt arbeiteten, zugleich aufgeregt und zu unverſöhnlichem Widerſtande gezwungen: das Rechtsgefühl, der Freiheitsmuth, der deutſche Nationalſtolz.

Wieder war es Lornſen, der zuerſt in der Nordmark die Zeichen der verwandelten Zeit erkannte. Der hatte ſich während ſeiner Haft raſtlos forſchend in die Geſchichte der Herzogthümer eingelebt und mit freudigem Erſtaunen entdeckt, wie faſt Alles was er einſt aus politiſchen Gründen für ſeine Heimath verlangt, ſchon in den alten Freiheitsbriefen des Landes begründet war: Die Schleswigholſteiner , ſo ſagte er nunmehr, haben nichts zu wünſchen was ſie nicht auch zu fordern ein Recht haben. Froh dieſer neu gewonnenen Erkenntniß arbeitete er nun an einem Buche über Die Unionsverfaſſung Dänemarks und Schleswigholſteins , um ſeinen Landsleuten zu zeigen, wie ſie auf dem Boden ihres alten Rechtes den neuen Staat Schleswigholſtein aufbauen ſollten. Gegen Falck’s ſtreng conſervative Geſinnung ſprach er ſehr ſcharf, nicht ohne die Un - gerechtigkeit, welche den Vertretern neuer, zukunftsreicher Gedanken anzu - haften pflegt. Sein Ziel lag ſchon höher: er wollte jetzt die reine Per - ſonalunion, die Selbſtändigkeit des transalbingiſchen Staates auch im Heerweſen und Staatshaushalt. Er warnte die Holſten vor dem gut -175Beginn des nationalen Kampfes.müthigen Wahne, als ob ſie durch ihre Verbrüderung mit den Schles - wigern den däniſchen Geſammtſtaat ſtärken, der Krone einen Dienſt er - weiſen könnten, und enthüllte ihnen ſchonungslos die Hintergedanken der Dänen, die offenbar darauf ausgingen, Schleswig zu verſchlingen, die Verbindung der Herzogthümer zu zerreißen. Ebenſo ſcharf faßte er auch die Erbfolgefrage ins Auge und zeigte, daß in Schleswigholſtein allein dem Mannesſtamme die Thronfolge gebühre, in Dänemark aber ſeit dem Königsgeſetze auch dem Weiberſtamme, und mithin, da das däniſche Haus nur noch auf ſechs Augen ſtand, leicht eine Trennung der beiden Staaten eintreten könne. Die formloſe Schrift zeigte vielfach die Mängel überhaſteter Forſchung, aber auch überall die große Leidenſchaft eines ge - borenen Publiciſten, der mit feſtem Griff das Weſentliche aus der Fülle des Stoffes heraushob und dem Leſer unerbittlich eine Entſchließung auf - zwang; ſie ward erſt nach dem Tode des Verfaſſers durch Georg Beſeler herausgegeben und hat dann als ein theueres Vermächtniß auf die nationalen Kämpfe der vierziger Jahre noch ſtark eingewirkt. Lornſen ſchrieb daran unter unſäglichen Qualen, in der Sonnengluth Braſiliens, wo er nach überſtandener Haft vergeblich Heilung für ſeine Krankheit ſuchte; die aufopfernde Freundſchaft des treuen Hegewiſch vermochte den Unſeligen nicht mehr aufzurichten. Nach Europa zurückgekehrt gab er ſich in den Wellen des Genfer See’s ſelbſt den Tod (1838), der Edelſten einer aus der langen Reihe der Kämpfer und Dulder, welche dem Tage der deutſchen Einheit vorangingen.

Die Schleswigholſteiner brauchten noch eine gute Weile bis ſie die feindſeligen Anſchläge des Dänenthums ebenſo klar wie Lornſen erkannten. Wie hätte ſich auch in dieſem behaglichen Sonderleben das Verſtändniß für nationale Machtfragen raſch entwickeln können? Selbſt Hegewiſch, der über den Geſichtskreis ſeiner Holſten weit hinausſah, meinte damals noch gemüthlich: einer Kriegsflotte bedürfen die Herzogthümer nicht; Ham - burger Schiffe befahren alle Meere ganz ohne bewaffnete Seemacht. Als die neuen Landtage zuerſt angekündigt wurden, ließ Falck die Schriften zweier Kopenhagener Liberalen, des Profeſſors David und des ehrgeizigen jungen Capitäns Tſcherning, über die preußiſchen Provinzialſtände über - ſetzen und ſprach im Vorworte ganz wie ein guter Landsmann der beiden Dänen. Noch vier Jahre ſpäter wurde David, als er nach einem glück - lich überſtandenen Preßprozeſſe durch Kiel kam, von den Studenten als ein Held der Freiheit gefeiert, obgleich ſeine Zeitung Faedrelandet das Deutſchthum Schleswigs offen bekämpfte. Die erſten Verhandlungen der beiden Landtage verliefen noch ziemlich ſtill. Die Stände bekundeten zwar mehrfach jenen Drang nach Erweiterung der eigenen Rechte, der ſich in berathenden Parlamenten, wenn ſie nicht ganz in Schlummer verſinken, unausbleiblich einſtellt; ſie verlangten eine beſchränkte Oeffent - lichkeit für ihre Berathungen und genauere Rechenſchaft über den Staats -176IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.haushalt, da ſie das Deficit fünfmal höher ſchätzten als die Regierung angab. Zwiſchen dem Herzog von Auguſtenburg, dem harten Ariſtokraten, und den bäuerlichen Abgeordneten Schleswigs kam es auch ſchon zu lebhaften Wortgefechten, welche den verhaltenen Parteihaß errathen ließen.

Ernſte Kämpfe brachte aber erſt die zweite Tagung im Jahre 1838, als die dreiſten Uebergriffe der Kopenhagener Demokratie das Selbſtgefühl der Deutſchen geweckt hatten. Auf den Vorſchlag des jungen Anwalts Orla Lehmann, eines feurigen, rückſichtsloſen Demagogen beſchloß die däniſche Geſellſchaft für Preßfreiheit (1836) ihre Thätigkeit auch auf Nord - ſchleswig zu erſtrecken. Ueberall im Norden der Schlei bildete ſie ihre Zweigvereine. Bald darauf ward die Schleswigſche Geſellſchaft zur Ver - breitung däniſcher Bücher gegründet. In der deutſchen Stadt Hadersleben erſchien ein däniſches Blatt Dannevirke, das ſchon durch ſeinen Namen den Kampf um die Eidergrenze ankündigte. Seitdem begann ein unruhiges Drängen und Treiben auf dem flachen Lande Nordſchleswigs. So viele Jahrhunderte hindurch redete dies Grenzvolk im Hauſe ſeinen däniſchen Dialekt, den die Inſeldänen kaum verſtanden, und ehrte das Deutſche als die Sprache der Bildung und des großen Verkehrs; Niemand nahm Anſtoß an einem Zuſtande, der ſich ohne jeden Zwang aus der Geſchichte des Landes herausgebildet hatte. Jetzt wurde den friedfertigen Bauern Nordſchleswigs Tag für Tag der Haß gegen die deutſchen Unterdrücker durch die Zeitſchriften und Sendboten der Kopenhagener gepredigt, und bald zeigte ſich auch hier, wie übermächtig der nationale Gedanke in dieſem Zeitalter herrſchte, das ſich im Streite gegen das napoleoniſche Weltreich ſeinen Charakter gebildet hatte. Eine von außen hereingetragene nationale Propaganda genügte, um einen gefährlichen Gegenſatz von Nord und Süd hervorzurufen in dieſem Schleswig, das zu allen Zeiten, auch in ſeinen Kämpfen wider Dänemark, treu zuſammen geblieben war. Im Sundewitt vornehmlich, dicht vor den Thoren der deutſchen Stadt Flensburg, trugen die Bauern ihre Begeiſterung für Gammel Dannemark herausfordernd zur Schau.

Dieſe Umtriebe der Dänen nöthigten die Deutſchen endlich zur Ab - wehr. Auf beiden Landtagen, in Schleswig wie in Itzehoe wurde die Bitte um Vereinigung der ſchleswigholſteiniſchen Landſtände, die vor drei Jahren noch zu kühn erſchienen war, jetzt beſchloſſen. Aber noch fehlte viel daran, daß die deutſche Gutmüthigkeit den ganzen Umfang der Gefahr erkannt hätte. Als der Abgeordnete Lorentzen, ein beredter, liberaler Bauer aus Nordſchleswig, die Einführung der däniſchen Gerichtsſprache in den däniſch redenden Bezirken Schleswigs befürwortete, da fand ſelbſt Falck den Vorſchlag unverfänglich; der argloſe Gelehrte ahnte nicht, wie unheimlich das Stillleben ſeiner nordſchleswigſchen Heimath in den letzten Jahren ſich verändert hatte. Vergeblich warnte der Herzog von Auguſten - burg, der diesmal weiter ſah. Der Antrag wurde mit geringer Mehrheit177Nordſchleswig. Oldenburg.angenommen, und erſt als die Dänen die ertheilte Vollmacht mit unge - ſtümer Härte mißbrauchten, gingen den Deutſchen die Augen auf. Mehr und mehr gerieth der alternde König in die Hände der däniſchen Fanatiker; er ſcheute ſich nicht, 5 Mill. Reichsbankthaler, welche die Herzogthümer von der Nationalbank zu fordern hatten, dieſer ausſchließlich däniſchen Anſtalt einfach zu ſchenken. Angeſichts ſolcher Gewaltſtreiche verſchwand allmählich die alte ſorgloſe Selbſtgenügſamkeit; die Holſten fühlten ſich als Markmannen des großen Deutſchlands. Das junge Geſchlecht empfand anders als der alte Riſt, der bis zum Grabe, unbekümmert um den Wandel der Zeiten, als treuer königlicher Beamter in der Gottorper Regierung ſeine Akten erledigte. In Kiel unterhielt Dr. Balemann einen regen Verkehr mit den Führern der ſüddeutſchen Oppoſition, und Theodor Olshauſen verfocht in ſeinem Correſpondenzblatte, der einzigen namhaften Zeitung des Landes, die Ideen eines demokratiſchen Libera - lismus, der über Falck’s altſtändiſche Anſchauungen ſehr weit hinausging. Die Unwahrheit des beſtehenden Rechtes trat einmal grell zu Tage, als der junge Juriſt Georg Beſeler den herkömmlichen Homagial-Eid leiſten ſollte und mit Schrecken entdeckte, daß der Schwur auf das absolutum dominium des däniſchen Königsgeſetzes ſich mit dem Landesrechte Schles - wigholſteins ſchlechterdings nicht vertrug. Er folgte ſeinem Gewiſſen und verließ die Heimath. Diesſeits wie jenſeits des Beltes begann man zu ahnen, daß man in ſolchen Widerſprüchen nicht mehr leben könne.

Mittlerweile ward der Fortbeſtand des königlichen Hauſes immer fraglicher, da Prinz Friedrich, der Sohn des Thronfolgers, kinderlos blieb. Mit krampfhaftem Eifer bemächtigte ſich die däniſche Preſſe der Erbfolge - frage; Leitartikel und Flugſchriften wiederholten beharrlich das alte Märchen, daß Schleswig gleich dem Königreiche Dänemark der Thron - folgeordnung des Königsgeſetzes unterliege. Zur Widerlegung erſchien im Jahre 1837 in Halle eine anonyme[Schrift] Die Erbfolge in Schleswig - holſtein , die nüchtern und ohne Wortprunk, aber ſehr nachdrücklich den Anſpruch des Hauſes Auguſtenburg auf die Herzogskrone Schleswighol - ſteins vertheidigte; ſie hielt ſich ſtreng in den Grenzen einer erbrechtlichen Unterſuchung, von politiſcher Freiheit, von dem deutſchen Volksthum Schleswigholſteins ſagte ſie nichts. Der Verfaſſer war, wie ſich bald herausſtellte, Herzog Chriſtian von Auguſtenburg ſelbſt. Die jüngere Linie des oldenburgiſchen Hauſes ſprach alſo ſchon offen die Erwartung aus, daß die deutſchen Herzogthümer ſich demnächſt von Dänemark trennen würden. Die Frage der Zukunft Transalbingiens war geſtellt.

In den benachbarten kleinen niederdeutſchen Gebieten ſtiegen aus dem Strudel der europäiſchen Revolution nur ſchwache Blaſen auf. Der Pöbel auf dem Hamburger Berge trieb einmal argen Unfug gegen die Juden und die Acciſe. Etwas ernſthafter war eine conſtitutionelle Be - wegung im Jeverlande, die bald auch in anderen Landestheilen des bunt -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 12178IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.ſcheckigen oldenburgiſchen Staates Anklang fand. Aber ihr fehlte der rechte Boden; denn Oldenburg hatte faſt allein unter allen deutſchen Gebieten niemals einen wirklichen Landtag geſehen, da Prälaten und Adel früh verſchwunden waren, die Städte wenig bedeuteten, die Bauern frei auf ihren ſtattlichen Höfen ſaßen und die Landesherren für ihre ſparſame Kammerguts-Verwaltung keiner Beihilfe bedurften. Nach einigem Lärm ergab man ſich darein, daß der wohlmeinende Großherzog die War - nungen ſeines däniſchen Vetters beherzigte und ſeinem Lande ſtatt der erhofften Verfaſſung nur eine neue Gemeindeordnung gab. Oldenburg blieb nach wie vor der einzige unter den größeren deutſchen Staaten, der für die Verwirklichung des Art. 13 der Bundesakte gar nichts that. Die Bureaukratie der Amtmänner führte ihr ſcharfes aber ſorgſames Regiment ungeſtört weiter.

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Dritter Abſchnitt. Preußens Mittelſtellung.

Die einfachen Formeln der Geſchichtsphiloſophie werden der viel - geſtaltigen Fülle des hiſtoriſchen Lebens niemals gerecht. Weitum in der aufgeklärten Welt meinte man den Charakter des neuen Zeitalters längſt durchſchaut zu haben: der entſcheidende Kampf zwiſchen dem Königthum von Gottes Gnaden und dem conſtitutionellen Vernunftrecht ſchien an - gebrochen, und kein Thron Weſteuropas noch der Zukunft ſicher, wenn er ſich nicht mit parlamentariſchen Formen umgab. Gleichwohl überſtand Preußen die Stürme der Zeit unter allen deutſchen Ländern am glück - lichſten. Dieſer Staat mit ſeinem vielgeſchmähten unbeſchränkten König - thum zeigte eine jedes liberale Gemüth beleidigende Kraft und Geſund - heit. Ein Felſen im brandenden Meere, ſtand er inmitten des Aufruhrs, der alle ſeine Grenzen umtobte. Während er mit ſeinen Waffen die Marken des Vaterlandes am Rhein und an der Prosna ſchirmte, rettete er den Deutſchen durch die unerſchütterliche Strenge ſeines Rechtes einen fruchtbaren Schatz altüberlieferten Anſehens, monarchiſcher Treue, geſetz - lichen Sinnes, nationalen Stolzes. Die alte Ordnung der Geſellſchaft, die in Sachſen, Heſſen, Hannover erſt gebrochen werden mußte, war in Preußen vorlängſt zerſtört, und die neufranzöſiſchen Schlagworte des ſüd - deutſchen Liberalismus konnten in dem Volke des Befreiungskrieges nur langſam Eingang finden.

Von politiſchen Unruhen blieb Preußen ſo gänzlich verſchont, daß die Staatsgewalt ungewöhnlicher Vorkehrungen kaum bedurfte. Ein roher Aufruhr des Aachener Pöbels im Auguſt 1830 war offenbar durch die Arbeiterbewegung im nahen Verviers veranlaßt; die Meuterer richteten ihren Groll nur gegen die arbeitſparenden Maſchinen Cockerill’s und wider die Häuſer einiger verhaßten Fabrikanten, die bewaffnete Bürgerſchaft trieb ſie bald zu Paaren. Noch weniger bedeutete das wüſte Geſchrei, das an einigen Septemberabenden in den Straßen Berlins, ſelbſt vor den Fenſtern des Königs erklang; die Schneidergeſellen, die über die Kargheit ihrer Meiſter, über den freien Wettbewerb der Näherinnen zürnten, führten den lärmenden Haufen an, und auch hier riefen die Arbeiter: nieder mit12*180IV. 3. Preußens Mittelſtellung.den Maſchinen! Der König ließ die Stadträthe ſeiner Hauptſtadt ſehr un - gnädig an, und Bernſtorff klagte im erſten Schrecken über dies neue Sym - ptom jenes Schwindel - und Wahngeiſtes, der leicht ganz Europa in ein großes Narrenhaus verwandeln kann. *)Blittersdorff’s Bericht, 30. September. Bernſtorff, Weiſung an Maltzahn, 20. September 1830.Aber der Spuk verflog ſobald die Truppen, ohne zu feuern, einige Hiebe mit der blanken Waffe ausgetheilt hatten, und der Berliner Schneiderkrawall wäre raſch der Vergeſſenheit anheimgefallen, wenn nicht Chamiſſo dem Kleidermacher-Muthe in ſeinem Liede: Courage, Courage! ein dauerndes Denkmal geſetzt hätte. Selbſt in Poſen wurde die Ordnung nirgends geſtört, trotz der fieberiſchen Aufregung des Adels und trotz der Zuzüge, die heimlich über die polniſche Grenze gingen.

Nur auf einem entlegenen Außenpoſten ſeiner Hausmacht, in Neuen - burg, mußte König Friedrich Wilhelm für ſeinen Beſitzſtand kämpfen. Mit dem preußiſchen Staate hatte das ſchöne Juraländchen ſchlechterdings nichts gemein als das Herrſcherhaus und deſſen Erbfolgeordnung; und ſo gewiſſenhaft wahrten die Hohenzollern von jeher dies Rechtsverhältniß der reinen Perſonal-Union, daß ſogar die neuenburgiſchen Offiziere, die im franzöſiſchen Heere gegen Preußen fochten, nach der Schlacht von Roß - bach ungeſtraft als ehrliche Kriegsgefangene behandelt wurden. Nach dem unglücklichen Schönbrunner Vertrage erhielt Marſchall Berthier die Fürſten - krone, aber ſofort nach Napoleon’s Sturze wurde die hundertjährige Ver - bindung mit dem Hauſe Hohenzollern wieder angeknüpft; die Herſtellung vollzog ſich in allen Formen Rechtens, Berthier verzichtete ausdrücklich und erhielt von der Krone Preußen eine Entſchädigungsrente. Mit heller Freude empfingen die Neuenburger ſodann ihren alten König bei ſeinem Einzuge.

So lange der Lord Marſhal und die anderen königlichen Gouver - neure der fridericianiſchen Tage ihr mildes und ſorgſames Regiment führten, war die Eintracht zwiſchen Fürſt und Volk immer ungeſtört geblieben. Die Gemeinden erfreuten ſich ihrer uralten Freiheiten; die Landesverwaltung wurde unentgeltlich und mit einziger Ausnahme des königlichen Gouverneurs ausſchließlich von Landeskindern beſorgt, aber die ſtolzen Patriciergeſchlechter, welche die Aemter zu bekleiden pflegten, durften hier nicht, wie überall ſonſt in der alten Schweiz, ihre Macht zu oligarchiſchem Drucke mißbrauchen, weil die Gerechtigkeit der Monarchie ſie in Schranken hielt. Steuern blieben den Neuenburgern in dieſen könig - lichen Zeiten ganz unbekannt, der Ertrag der Domänen und Regalien nebſt einigen Grundzinſen genügte vollauf; der König bezog ein Einkommen von 27000 Thalern, das er regelmäßig zu gemeinnützigen Zwecken im Lande ſelbſt verwendete. Und wie wunderbar war der Wohlſtand auf -181Parteikampf in Neuenburg.geblüht in den unwirthlichen Jurabergen; droben im rauhen Hochthale von La Chaux de Fonds, wo kaum das Korn reifte, lag jetzt eine große Gewerbſtadt, die ihre Uhren in alle Welt verſendete, und mit dem Reich - thum der Pourtalès oder Pury konnte ſich manches Fürſtenhaus nicht meſſen.

Alle dieſe Segnungen der guten alten Zeit ſchienen jetzt zurückzu - kehren als die Hohenzollern wieder einzogen. Der König beſtätigte von Neuem die alten Landesrechte und verſtärkte ſie noch indem er den ſeit Jahr - hunderten eingeſchlummerten Landtag der Trois Etats wieder ins Leben rief. Der Gewerbfleiß nahm einen neuen Aufſchwung, da Preußen und ſeine Zollverbündeten den neuenburgiſchen Waaren große Begünſtigungen gewährten. Schon begann die gebildete Jugend ſich den deutſchen Hoch - ſchulen zuzuwenden; auch die neue Akademie der kleinen Hauptſtadt folgte, trotz der franzöſiſchen Lehrſprache, den Bahnen deutſcher Wiſſenſchaft. Die Söhne der vornehmen Geſchlechter, der Pourtalès, Sandoz, Rougemont, Crouſaz dienten häufig im Heere oder am Hofe ihres Königs. Auch für die altſchweizeriſche Reisläuferluſt des kleinen Mannes war geſorgt durch die Augenweide der Berliner Straßenjugend, das Gardeſchützenbataillon, das auf Grund einer vereinbarten Capitulation in Neuenburg angeworben und gleich den Schweizerregimentern des Papſtes oder des Königs von Neapel als eine Schaar freiwilliger ausländiſcher Söldner behandelt wurde.

Gleichwohl zeigten ſich bald die Keime inneren Unfriedens, weil das Verhältniß des Fürſtenthums zur Eidgenoſſenſchaft ſich gänzlich verſchoben hatte. Dieſer winzige Hausbeſitz, der für den preußiſchen Staat gar nichts leiſtete, ſondern lediglich Wohlthaten von den Hohenzollern empfing, be - reitete den Staatsmännern Preußens beſtändig Verlegenheiten, und nicht lange, ſo konnte man im Berliner Auswärtigen Amte, das die neuen - burgiſchen wie alle anderen auswärtigen Angelegenheiten bearbeitete, ſchon die ärgerliche Aeußerung hören: wenn der Canton nur in ſeinen See verſänke! Im achtzehnten Jahrhundert war Neuenburg nur ein zuge - wandter Ort der Schweiz, ohne Stimme auf der Tagſatzung, der König ſelbſt ein Schweizerbürger und als lieber treuer Eidgenoſſe gleich allen ſeinen Neuenburgern dem Schweizer Bunde perſönlich verpflichtet. In - zwiſchen hatte die Revolution alle die anderen zugewandten Orte hinweg - gefegt, die neue Schweiz beſtand nur noch aus gleichberechtigten Cantonen, und als das Fürſtenthum im Mai 1815 in die Eidgenoſſenſchaft wieder aufgenommen wurde, war der neue Canton die einzige Monarchie in einem Bunde kleiner Republiken. Hardenberg fühlte, welche peinliche Rolle ein königlicher Geſandter auf der Tagſatzung inmitten der republikaniſchen Amtsgenoſſen ſpielen müßte. Um die Reibung zu mindern, bedang er ſich daher aus, daß die Verpflichtungen des Fürſtenthums gegen die Schweiz allein durch die Neuenburger Regierung, den Staatsrath, ohne Mitwirkung des Königs erfüllt werden ſollten. Das wohlgemeinte Auskunftsmittel erwies182IV. 3. Preußens Mittelſtellung.ſich jedoch bald als ein ſchwerer Mißgriff. Der König war fortan von Rechtswegen der Eidgenoſſenſchaft fremd und nahm doch thatſächlich an den Beſchlüſſen ihrer Tagſatzung theil, da der Neuenburger Staatsrath nur aus Beamten des Landesherrn beſtand. Aus dieſen unklaren Ver - hältniſſen entwickelte ſich nun unausbleiblich ein Parteikampf, der im alten Jahrhundert unmöglich geweſen wäre: in den Kreiſen der radicalen Jugend entſtand eine ſchweizeriſch-republikaniſche Partei, welche die Trennung von dem Fürſtenhauſe erſtrebte, während die Patricier alleſammt und auch noch die große Mehrheit des Volks ſich ihrer royaliſtiſchen Treue rühmten.

Der Gegenſatz blieb verhüllt ſo lange in den Nachbarcantonen die alten Herrengeſchlechter ihr ſtilles Regiment führten; aber ſobald nach der Julirevolution die radicale Partei in der Schweiz ſich erhob, richtete ſie ihre Pfeile ſogleich gegen den Fürſtenhut der Hohenzollern. Ihr Ziel war die Volksherrſchaft in den Cantonen und die Verſtärkung der Bundes - gewalt. Beides hing unzertrennlich zuſammen, denn nur wenn die Can - tonalverfaſſungen alleſammt auf denſelben demokratiſchen Grundſätzen beruhten, konnte der lockere Staatenbund ſich in einen feſten Bundesſtaat verwandeln. Die Preſſe der Schweizer begann mit ihrer eigenthümlichen Grobheit den Federkrieg gegen Neuenburg; ſie ſchilderte die Zuſtände des beſtverwalteten aller Cantone als eine empörende Tyrannei, da nach ſchwei - zeriſcher Anſchauung die Freiheit lediglich im Nichtvorhandenſein einer monarchiſchen Gewalt beſteht, und erzählte ungeheuerliche Märchen von allen den Schätzen, welche aus der reichen Schweiz in den brandenburgiſchen Sand gefloſſen ſeien. Auch die Zeitungen im nahen Baden ließen ſich durch die republikaniſchen Schlagworte blenden und ſchämten ſich nicht die Neuenburger gegen ihren deutſchen Fürſten aufzuwiegeln.

Der König verſprach dem Fürſtenthum eine Reform der Verfaſſung, dergeſtalt daß die Mehrzahl der Ständemitglieder fortan nach allge - meinem Stimmrecht gewählt werden ſollte, und ſendete im Mai 1831 den General Pfuel mit außerordentlicher Vollmacht ins Land, jenen rüſtigen Teutonen, der einſt als Commandant von Paris ſo gut verſtanden hatte mit den Wälſchen auszukommen. Der neue Landtag ward verſammelt, und Alles ſchien verſöhnt. Aber kaum hatte der General im September das Land wieder verlaſſen, ſo überrumpelte ein durch eidgenöſſiſchen Zu - zug verſtärkter Pöbelhaufe das Neuenburger Schloß, und die Tagſatzung ſah ſich genöthigt durch ihre Truppen die Ruhe wiederherzuſtellen. Nun kehrte Pfuel zurück, berief die treuen Milizen ein, verhaftete die Rädels - führer, und als die Aufſtändiſchen im December ſich von Neuem erhoben, jagte er ſie nach einigen Gefechten im Val de Travers binnen drei Tagen auseinander. Das Land frohlockte; Jedermann wußte, daß die Unruhen nur durch den jungen Tollkopf Leutnant Bourquin und einige radicale Sendlinge aus der Nachbarſchaft künſtlich angezettelt waren. Ueberall erklang das alte Royaliſtenlied:

183Niederwerfung des Neuenburger Aufſtandes.
Vive le Roi, vive sa loi,
La liberté chérie!
Vive le Roi, vive sa loi,
Vive notre patrie!

Der König ſtiftete ein beſonderes Ehrenzeichen für die Kämpfer und dankte dem wackeren Völkchen mit warmen Worten: Dieſe kleine Gegend hat Europa eine Lehre und ein Beiſpiel gegeben, welche nicht verloren ſein und ihr eine ehrenvolle Stelle in der Geſchichte erringen werden. *)Cabinetsordre an Pfuel, 31. Dec. 1831.Aber er dankte auch der Tagſatzung für ihre eidgenöſſiſche Hilfe. **)Ancillon, Weiſungen an Otterſtedt, 4. Oct. 25. Nov. 1831.Nicht ſo ruhig dachten ſeine begeiſterten Anhänger unter den Herrengeſchlechtern; hier war nur eine Stimme der Entrüſtung über die Angriffe der ſchweizeri - ſchen Preſſe und die wühleriſchen Umtriebe in den Nachbarcantonen. Der Oberſt der Milizen, Graf Ludwig Pourtalès, ſchrieb an Otterſtedt, den Geſandten bei der Eidgenoſſenſchaft: Die Beleidigungen der Schweizer ekeln uns an. Die Schweiz will, daß wir uns von unſerem König oder von ihr losſagen ſollen. Nun wohl, die Wahl iſt leicht. Wir wollen unſeren König, die Kränkung hat uns dieſen feindſeligen Bundesgenoſſen entfremdet. Wir wollen nicht die jacobiniſche Anſteckung; und ſollte ſelbſt unſere Trennung von der Eidgenoſſenſchaft zu einer europäiſchen Frage werden, um ſo beſſer; ich glaube die Intervention iſt die einzige Planke der Rettung für die Schweiz. ***)Pourtalès an Otterſtedt, 8. 25. Jan. 1832.Im ſelben Sinne ſprach eine Flugſchrift, die aus dieſen royaliſtiſchen Kreiſen ſtammte: Les Suisses délibèrent sur le sort de Neuchâtel; ne saurous-nous pas en décider nous-mêmes? Das preußiſche Auswärtige Amt verwarf ſolche Pläne gänzlich. Man wußte wohl, wie viel die Verbindung des Fürſtenthums mit der Eidgenoſſenſchaft an Werth verloren hatte ſeit dem Erwachen des ſchweizeriſchen Radicalismus. Aber der König wollte weder den Rechts - boden der europäiſchen Verträge verlaſſen noch das waffenloſe Ländchen dicht an Frankreichs Grenze einem ungewiſſen Schickſal preisgeben; er wollte auch einen Fuß im Bügel der Eidgenoſſenſchaft behalten, da die Diplomaten des Bürgerkönigs ſich ſo gefliſſentlich bemühten, die Schweiz wieder, wie in den bourboniſchen Zeiten, unter Frankreichs Vormundſchaft zu ſtellen, und befahl daher ſtrenge Zurückhaltung nach beiden Seiten. †)Otterſtedt’s Bericht 14. Jan. Ancillon, Weiſung an Otterſtedt 7. Febr. und Bericht an den König 17. März 1832.Auf ſeinen Befehl verſtummten die Heißſporne der Royaliſten. Der Can - ton erfüllte ſeine Pflichten gegen den Bund ſo gewiſſenhaft, daß während der nächſten zehn Jahre trotz der herausfordernden Haltung der Radicalen der offene Kampf mit der Tagſatzung noch vermieden wurde.

Trotzdem verwickelte ſich Preußens ſchweizeriſche Politik mehr und mehr in einen tragiſchen Widerſpruch. Bei gutem Willen hüben und184IV. 3. Preußens Mittelſtellung.drüben konnte das kleine Fürſtenthum unter der Oberhoheit eines ſtarken republikaniſchen Bundesſtaates zur Noth ebenſowohl fortbeſtehen, wie heute die hanſeatiſchen Städterepubliken unter dem monarchiſchen Deutſchen Reiche. Aber die Partei, welche die nothwendige Bundesreform verlangte, vertrat zugleich die Ideen des Radicalismus, ſie forderte mit wachſender Dreiſtigkeit die Vertreibung der Hohenzollern aus der Eidgenoſſenſchaft, alle ihre Blätter wiederholten beharrlich das alte Kraftwort, daß Schweizer ſich nicht beherren dürften. So ſah ſich Preußen gradezu gezwungen, in der Bundespolitik die Vorkämpfer des Particularismus, die ſchweizeriſchen Conſervativen zu unterſtützen. Zu ihnen hielten ſich der alte Staats - rath Sandoz-Rollin und alle die anderen wohlmeinenden Patricier, welche das Neuenburger Land regierten; ihre Führer in Bern, Baſel, Zürich ſtanden mit Otterſtedt in beſtändigem Verkehr. Doch was auch die Radicalen durch Uebermuth und Gewaltthätigkeit ſündigten, ihnen gehörte die Zukunft; und kam dereinſt der Tag, da die Bundeseinheit über den Particularismus triumphirte, dann ſtand der Hohenzollernſche Canton in den Reihen der geſchlagenen Partei. Niemand erkannte dieſe Gefahren deutlicher als General Pfuel. Der war jetzt Gouverneur des Fürſten - thums, gewann die Herzen der Jugend durch ſeine Schwimmſchulen im See, die Achtung aller Parteien durch ſein ehrliches Wohlwollen. Das zuchtloſe Gerede der Radicalen behagte dem liberalen Offizier ebenſo wenig wie die calviniſche Engherzigkeit und der beſchränkte Vetterngeiſt der Roya - liſten; ein Troſt nur, daß er an Agaſſiz einen geiſtreichen Umgang fand, wie er ihn in ſeinem Berliner literariſchen Freundeskreiſe genoſſen hatte. Schon im Jahre 1832 ſprach er dem Könige offen aus, bei dem nahen Zuſammenbruche der alten Bundesverfaſſung würde ſich der neuenbur - giſche Fürſtenhut ſchwerlich halten laſſen.

Gleichviel, überall wo die ſchwarzweißen Fahnen wehten behauptete das Königthum noch ſein altes Anſehen. Mit Erſtaunen bemerkten Freund und Feind, wie treu das katholiſche Rheinland zu ſeinem Herrſcher ſtand; die ſchwerſte unter allen den ſchweren Aufgaben, welche der Wiener Con - greß dieſem Staate geſtellt, ſchien glücklich gelöſt. Zahlloſe Sendboten aus Frankreich und Belgien trieben am Rhein ihr Weſen; überall fanden ſie taube Ohren, überall wurden die vaterländiſchen Truppen, als ſie zum Schutze der Weſtgrenze heranzogen, mit offenen Armen aufgenommen, und Prinz Wilhelm der Aeltere, der als Gouverneur an den Rhein kam, gewann ſich in Köln bald die allgemeine Verehrung. Nur die dreiſtere Sprache des Clerus ließ zuweilen ſchon errathen, daß die Nachbarſchaft der belgiſchen Prieſterherrlichkeit mit der Zeit vielleicht den Frieden der preußiſchen Rheinlande ſtören würde. Begreiflich alſo, daß die harmloſen preußiſchen Zeitungen im Selbſtlobe ſchwelgten und der rheiniſche Pädagog Aldefeld in zweifelhaften Verſen weiſſagte, das ſtarke Preußen werde fortan das Land der Ruhe heißen. Aber auch einſichtige Beobachter erkannten185Preußiſche Königstreue.an, wie überlegen dieſes Volk mit ſeiner Zucht und Treue inmitten der auf - geregten Nachbarn ſtand. Selbſt der Holſte Riſt, der ſonſt nach Landesbrauch auf Preußen tief herabgeſehen hatte, pries jetzt, da er die weſtlichen Pro - vinzen durchreiſte, die glückliche Ordnung des wohlregierten Staates. Noch zuverſichtlicher ſchrieb der junge Hauptmann Helmuth v. Moltke in ſeinem geiſtreichen Buche über Polen: Der preußiſche Staat zeichnet ſich aus durch ſein unaufhaltſames ruhiges Fortſchreiten, durch die ſtätige Ent - wicklung ſeiner inneren Verhältniſſe, welche Preußen an die Spitze der Reformen, der Aufklärung, der liberalen Inſtitutionen und einer vernünf - tigen Freiheit mindeſtens in Deutſchland geſtellt haben.

Wieder wie in den Zeiten der erſten Revolution fühlten ſich die Preußen ſtolz als Mannen ihres Königs, und begrüßten den alten Herrn wo er ſich zeigte mit ſtürmiſchen Huldigungen. Und wie damals zur Ant - wort auf den Marſeiller Marſch das Heil Dir im Siegerkranz erklungen war, ſo machte jetzt das neue Preußenlied, gedichtet von Rector Thierſch, dem Bruder des Münchener Philologen, und von Neithardt in Muſik geſetzt, die Runde auf allen vaterländiſchen Feſten. Mochten die Libe - ralen des Südens über den preußiſchen Hochmuth ſchelten, ſie fühlten doch mit ſtillem Neide, daß dieſe ſtolzen Klänge ganz etwas Anderes be - deuteten als alle jene läppiſchen Farbenlieder auf das Weiß der Un - ſchuld und das Grün der guten Hoffnung, welche die kleinen Hofpoeten zum Preiſe ihrer geſchichtsloſen Landeskokarden anfertigten; ſie ahnten die Wahrheit der Verſe: daß für die Freiheit meine Väter ſtarben, das deuten, merkt es, meine Farben an. Die Erinnerungsfeiern der alten Landwehrmänner und Kriegskameraden verliefen meiſt anſpruchslos und ohne Wortprunk, nur in Berlin pflegte Fouqué ſchmetternde Huſaren - Reden zu halten; aber ſie hielten unter den Verſammelten das Gefühl der Staatseinheit wach. Als dem Prinzen Wilhelm 1831 am ſiegver - heißenden Jahrestage der Leipziger Schlacht ein Sohn geboren wurde, der vermuthliche Thronfolger, da erklang in allen Provinzen ein Freudenruf, der offenbar aus den Tiefen der Herzen kam. Und da man ſich ſo ſtolz und ſicher fühlte, ſo gewann auch der Traum der deutſchen Einheit in einzelnen Kreiſen der preußiſchen Jugend ſchon eine feſtere Geſtalt. Die Bonner Burſchenſchafter ſchwärmten für das preußiſche Kaiſerthum, und es war ein Sohn des linken Rheinufers, der dieſen Gedanken zuerſt im Liede ausſprach. Karl Simrock hatte ſoeben die Aengſtlichkeit der Regie - rung am eigenen Leibe erfahren denn die alte Furcht vor den Demagogen war noch immer nicht verſchwunden, und das Juſtizminiſterium hielt für nöthig, ſeinen Beamten alle abſprechenden politiſchen Urtheile an öffent - lichen Orten zu unterſagen; er hatte den Staatsdienſt verlaſſen müſſen wegen eines Gedichtes auf Frankreichs drei Tage und drei Farben, das ihm in der erſten Aufregung der Juliwochen entſtanden war. Doch die Unbill focht den Treuen nicht an. Gleich darauf ſchilderte er in einem186IV. 3. Preußens Mittelſtellung.feurigen Liede, wie der Siegeswagen vom Brandenburger Thor durch Land und Volk dahinfuhr; er ſah das Scepter Karls des Großen in Friedrich Wilhelms Hand und hörte den alten Blücher ſprechen:

Es möge ſterben
Was nicht zu leben weiß.
Und fragt ihr nach dem Erben?
Das junge Preußen ſei’s!

Bei ſolcher Geſinnung vermochten die conſtitutionellen Kämpfe der klei - nen Staaten nur wenig Theilnahme zu erwecken, und die Süddeutſchen klagten bitterlich über die politiſche Unreife der preußiſchen Nachbarn. Aller - dings nahm die Sorge um Haus und Wirthſchaft in dem langſam wieder aufblühenden verarmten Lande noch immer die beſten Kräfte der Männer in Anſpruch, die praktiſchen Fragen der Steuervertheilung und der Orts - verwaltung ſtanden dieſem hart arbeitenden Geſchlechte weit näher als der Gedanke an die verheißenen Reichsſtände. Der eigentliche Grund der un - wandelbar ruhigen Haltung des Landes lag jedoch in der kräftigen Staats - geſinnung, welche dies Volk vor den anderen Deutſchen voraus hatte. Zwei Jahre lang blieben die Preußen in der Erwartung eines Weltkrieges; ſie wußten, daß ſie faſt allein dieſen Kampf würden entſcheiden müſſen, denn auf die Kriegsmacht ihrer kleinen deutſchen Bundesgenoſſen blickten ſie mit wohlberechtigter Geringſchätzung. Sie trugen ohne Murren die ſchwere Einquartierung und alle die anderen drückenden Laſten des bewaff - neten Friedens. Wie hätte ein kriegeriſch erzogenes Volk den Gedanken faſſen ſollen, in ſo drangvoller Zeit, gleichſam im Angeſichte des Feindes, die Krone mit Bitten zu beſtürmen, welche doch nicht durch drängende Noth geboten waren?

Faſt kindlich harmlos zeigte ſich dieſe Königstreue auf dem Weſt - phäliſchen Landtage. Dort war unter Stein’s Leitung das ſtändiſche Leben immer rege geblieben, und im December 1830 beſchloß der Landtag den König um die Berufung des Reichstages zu bitten, der die verſchiedenen Provinzen mit einem neuen geiſtigen Bande umſchlingen , die erkaltete Theilnahme an den Landſtänden allenthalben beleben werde. Aber Stein ſelbſt, der Landtagsmarſchall, hegte jetzt Zweifel, ob der Antrag in ſolchen Tagen der Gährung und der Kriegsgefahr nicht unzart oder unzeitgemäß erſcheinen werde; er übernahm es endlich den Gouverneur um ſeine Ver - mittlung zu bitten, und als Prinz Wilhelm, auf einen Wink aus Berlin, ſich bedenklich äußerte, gaben die Stände gehorſam ihr Vorhaben auf. Stein erwähnte des Antrags im Landtagsberichte und erinnerte den König an das ſchöne Lob ſeines Ahnherrn Wilhelm von Cleve: ſein Wort das war ſein Siegel; doch auf die Vorſtellungen des Oberpräſidenten Vincke ſtrich er dieſe Sätze wieder, und des ganzen Vorfalls, der bei Hofe lebhafte Beſorgniſſe erregt hatte, ward amtlich mit keinem Worte mehr gedacht. In den übrigen Provinziallandtagen war von den verheißenen Reichs -187Hanſemann’s Denkſchrift über die Verfaſſung.ſtänden gar nicht die Rede. Selbſt die Altpreußen hielten ſich ſtill, ob - gleich ihr ſtändiſcher Ausſchuß ſchon vor’m Jahre erklärt hatte, Preußen bedürfe einer reichsſtändiſchen Verfaſſung, da die Nachbarſtaaten durch ihre Inſtitutionen allmählich ein Uebergewicht gewännen*)Protokoll des ſtändiſchen Ausſchuſſes (v. Kuhnheim, v. Hake, Graf Dohna - Reichertswalde) Königsberg 23. Jan. 1829.; der Landtag wagte nur in aller Ehrfurcht um die Oeffentlichkeit der provinzialſtändiſchen Verhandlungen zu bitten.

Auch in den zahlreichen Flugſchriften der Preußen wurde das Ver - langen nach einer Verfaſſung nirgends laut; kaum daß einmal ein ſtiller Gelehrter, wie der Schleſier Thilo in ſeiner Schrift was iſt Verfaſſung den theoretiſchen Beweis führte: der Fürſt vertrete den Staat doch nur nach außen, folglich müſſe das Volk im inneren Staatsleben ſeine eigene Vertretung erhalten. Nur ein Mann wagte in dieſen Jahren den König unumwunden an die alte Verheißung zu erinnern: der rheiniſche Kauf - herr David Hanſemann, ein evangeliſcher Predigersſohn aus dem Ham - burgiſchen, der in jungen Jahren die franzöſiſche Verwaltung gründlich kennen und leider auch überſchätzen gelernt, dann in Aachen die große Feuerverſicherungs-Geſellſchaft gegründet und durch ſeine glänzende ge - ſchäftliche Begabung in der ſtrengkatholiſchen Stadt ein unbeſtrittenes An - ſehen errungen hatte. In einer Denkſchrift über Preußens Lage und Politik , die er im Dec. 1830 dem König einſendete, ſprach er durchaus als treuer preußiſcher Patriot; er erkannte dankbar an, wie ſtark ſein Staat in dem zerfahrenen Treiben der deutſchen Kleinſtaaterei daſtehe, und hoffte die Zeit noch zu erleben, da die undeutſchen Länder dereinſt aus dem Bunde ausſcheiden, Preußen aber die Führung eines Bundes - raths und eines deutſchen Reichstags übernehmen würde. Doch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit, welche alle neuen ſocialen Mächte auszeichnet, vertrat er zugleich die Intereſſen ſeines jungen rheiniſchen Bürgerthums. Ihm war unzweifelhaft, daß die bei dem lebendigſten und mittheilendſten Volke Europas herrſchenden Principien ſich überall in der Welt ver - breiten müßten, daß jede vernünftige Regierung ſich auf die Mehrheit des Vermögens und der Bildung gleichviel woher dieſe ſtammten zu ſtützen habe, und Preußen jetzt im Begriff ſtehe aus der Feudalzeit durch den Beamtenſtaat zu dieſer Mehrheitsherrſchaft überzugehen. Die ſtän - diſche Gliederung der Provinziallandtage verwarf er gänzlich, weil jeder Abgeordnete von Köln oder Aachen hundertundzwanzigmal mehr Köpfe, vierunddreißigmal mehr Steuerkraft vertrete als ein Mitglied der rhei - niſchen Ritterſchaft. Er glaubte zu wiſſen, daß die Städte durch Kennt - niſſe und politiſche Bildung weit mehr bedeuteten als das flache Land, daß der Thron an den großen Kaufleuten und Fabrikanten, die bei Krieg oder bürgerlichen Unruhen Alles zu verlieren hätten, mindeſtens eine188IV. 3. Preußens Mittelſtellung.ebenſo feſte Stütze fände wie an dem Grundadel, und forderte darum außer einem Oberhauſe, das aus Majoratsbeſitzern und aus Vertrauens - männern der Krone beſtehen ſollte, eine von den Höchſtbeſteuerten gewählte zweite Kammer.

Alſo traten die neuen Anſchauungen, welche ſich in den großen Städten des Rheinlandes unter der Herrſchaft des napoleoniſchen Geſetz - buchs und der beſtändigen Einwirkung franzöſiſcher Ideen gebildet hatten, zum erſten male freimüthig vor den Thron. Dieſer neue Mittelſtand hielt ſich in ſeinem jugendlichen Selbſtgefühle für den Staat ſelber; er ließ in der bürgerlichen Geſellſchaft überhaupt nur noch den einen Unter - ſchied gelten, der im Mittelſtande vorherrſcht, den Unterſchied des Geldes und des Wiſſens. Der König nahm die Denkſchrift nicht unfreundlich auf, doch weder er noch ſeine Räthe erkannten, welch eine ſtarke, zukunfts - ſichere ſociale Macht hinter den Vorſchlägen des rheiniſchen Kaufmanns ſtand. Die Verſöhnung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten, die man in Berlin ſchon beendet glaubte, hatte in Wahrheit noch kaum begonnen; zwiſchen dem abſtrakten Staatsbürgerthum der rheiniſchen Städter und der altſtändiſchen Geſinnung der brandenburgiſchen Grundherren lag eine Kluft, die nur durch die Arbeit langer Jahre überbrückt werden konnte.

Auch im Oſten war die Zufriedenheit bei Weitem nicht ſo ungetrübt, wie man aus der allgemeinen Stille wohl ſchließen mochte. Es konnte nicht fehlen, daß die Gelehrten und Beamten aus den eifrig geleſenen ausländiſchen Zeitungen neue Gedanken einſogen, und wenngleich die Zahl der Conſtitutionellen noch ſehr gering blieb, ſo bekundete ſich doch der alt - preußiſche Widerſpruchsgeiſt oft in ſcharfer Kritik, und die öſterreichiſchen wie die kleinfürſtlichen Diplomaten vermochten ſich über die liberale Geſinnung dieſer Bureaukratie nicht genug zu verwundern. *)Frankenberg’s Berichte, Berlin 20. Aug. 1830 ff.Im Volke aber mußte die Beamtenherrſchaft, wie Tüchtiges ſie auch leiſtete, zuletzt manches Mißtrauen erregen, weil ſie unbeſchränkt ſchaltete. Selbſt Reaube’s Jahr - bücher der preußiſchen Provinzialſtände die einzige Zeitſchrift, die ſich mit dem Stillleben der Provinziallandtage befaßte brachten unter einem Wuſte ſtillvergnügter Philiſterbetrachtungen zuweilen ſchon einen heftigen Ausfall wider dies ungeheuere Beamtenheer, das ſich ſtets nur aus ſich ſelbſt ergänze, während in England und Frankreich auch ein Kaufmann oder Grundbeſitzer Miniſter werden könne: in Preußen müſſen immer 49 Menſchen arbeiten um einen Beamten zu ernähren!

Noch bitterer äußerte ſich der Adelshaß der bürgerlichen Kreiſe. Der einzige der altgermaniſchen Geburtsſtände, der ſich inmitten der Berufs - ſtände der neuen Geſellſchaft noch erhalten hatte, konnte der in ſich ſelbſt verliebten modernen Bildung nur widerwärtig erſcheinen. Da der Adel zu - dem auf den Provinzial - und Kreistagen ein ganz unbilliges Uebergewicht189Adel und Bürgerthum.behauptete, ſo klagte alle Welt über die Macht des Junkerthums und zählte mit widerwärtigem Kleinſinn nach, wie viele Edelleute in den hohen Staats - ämtern ſäßen. Die vorletzten Miniſter der Juſtiz und der Finanzen, Kirch - eiſen und Klewiz waren bürgerlich geboren, ihnen folgten die Edelleute Danckelmann und Motz; als dieſe ſtarben und jetzt wieder zwei Bürgerliche, Mühler und Maaſſen eintraten, da jubelte die geſammte Preſſe, wie liberal Preußen geworden ſei. Und doch war unter den drei Finanz - miniſtern der Edelmann unzweifelhaft der freieſte Kopf, und bei allen dieſen Ernennungen hatte der König die Frage der Geburt gar nicht in Betracht gezogen. Ja ſogar als Ancillon nachher ins Miniſterium be - rufen wurde, erhoben die Zeitungen ein Freudengeſchrei über den bürger - lichen Miniſter, deſſen reaktionäre Geſinnung man doch kannte. Vor - nehmlich im Heere ſollte der Adel ungebührlich bevorzugt ſein; aber auch bei dieſer landläufigen, und nicht ganz grundloſen Klage ſpielten gehäſſige Uebertreibung und Unkenntniß mit. Unter den Generalen und Oberſten des ſtehenden Heeres konnten ſich nur vereinzelte Bürgerliche befinden, weil erſt Scharnhorſt die alten Vorrechte des Adels beſeitigt, erſt der Befreiungskrieg eine größere Anzahl bürgerlicher Offiziere in die Regi - menter der Infanterie und der Reiterei eingeführt hatte. In den mittleren Stellen hingegen war der Adel ſchwächer vertreten als in den unterſten; von den Stabsoffizieren war faſt ein Fünftel, von den Hauptleuten und Rittmeiſtern beinahe die Hälfte bürgerlich, von den Secondelieutenants nur ein Zwanzigſtel, weil der Kriegsdienſt in dieſen ſtillen Friedensjahren nichts Verlockendes hatte und der junge Nachwuchs mithin ganz über - wiegend von jenen alten Soldatengeſchlechtern geſtellt wurde, welche das Waffenhandwerk als den Beruf ihres Hauſes betrachteten.

All dieſer kleine Groll blieb für jetzt noch halb verborgen; wer aber die ſtille tiefe Leidenſchaft der norddeutſchen Stämme kannte, der mußte einſehen, daß es nun endlich an der Zeit war, den Gegenſätzen der Land - ſchaften, der Stände, der politiſchen Geſinnungen einen freien Kampfplatz zu eröffnen. Ein aus den Provinzialſtänden hervorgegangener berathen - der Reichstag, wie er verſprochen war, konnte jetzt, da Niemand ihn un - geſtüm forderte, von dem treuen Volke nur mit Dank begrüßt werden, er konnte nicht die Macht des gerade in dieſen Tagen unbeſchreiblich ge - liebten Königthums erſchüttern, ſondern nur die Staatseinheit befeſtigen und die Preußen daran gewöhnen, daß ſie in gemeinſamer politiſcher Arbeit einander verſtehen und ertragen lernten.

Sehr nachdrücklich mahnte auch der Zuſtand des Staatshaushalts an die Einlöſung des alten Verſprechens. Während die anderen Bundes - ſtaaten gar nichts leiſteten, verwendete Preußen für die Beſchützung der deutſchen Grenzen binnen anderthalb Jahren 39,28 Mill. Thaler, vier Fünftel ſeiner regelmäßigen Jahreseinnahmen. Da förmliche Anleihen nur noch unter der Bürgſchaft der Reichsſtände erfolgen durften und der190IV. 3. Preußens Mittelſtellung.gutmüthige König zu einer Steuer-Erhöhung ſich auch nicht entſchließen wollte, ſo wurden dieſe Ausgaben vorläufig gedeckt durch Zahlungen aus dem Staatsſchatze, durch kurze Darlehen der Seehandlung, durch die Ein - ziehung der entbehrlichen Capitalbeſtände der Staatsverwaltung, ja ſogar der hinterlegten Cautionen der Beamten, und dann nach und nach aus dem wachſenden Ertrage der neuen Abgaben zurückgezahlt. *)Ueberſicht über den Staatshaushalt der J. 1830 40 von Rother, Alvensleben, Voß, 11. Febr. 1841.Das Alles ward mit altpreußiſcher Genauigkeit abgewickelt; doch wohin ſollte dies geheime Treiben führen, wenn der Zuſtand des bewaffneten Friedens ſich verlängerte oder gar der Weltkrieg ausbrach? Und war es eines ſtolzen Staates würdig, wenn die veröffentlichten Jahresbudgets in ſolcher Zeit immer nur von dem vollkommenen Gleichgewichte der regelmäßigen Ein - nahmen und Ausgaben fälſchlich berichteten? Jene ſchweren Aufwendungen für Deutſchlands Sicherheit wurden ängſtlich geheim gehalten, wie die Schulden eines leichtſinnigen Jünglings; und doch gereichten ſie der preu - ßiſchen Staatskunſt zu hoher Ehre, und doch mußten ſie, wenn man ſie offen eingeſtand, dem Volke der Kleinſtaaten, ſoweit es nicht durch die Polenſchwärmerei verdorben war, handgreiflich beweiſen, daß Preußen allein für das große Vaterland Opfer brachte.

Aber die Noth des Augenblicks ging vorüber, und feſter denn je war der König jetzt überzeugt, mit der Einrichtung der Provinzialſtände das Rechte getroffen zu haben. Er hatte einſt, als ihm die Verordnung vom Mai 1815 vorgelegt wurde, das Steuerbewilligungsrecht des Reichstags eigenhändig ausgeſtrichen und dem Reichstage nur berathende Befugniſſe gewährt; er hatte fünf Jahre darauf den künftigen Reichsſtänden nur darum die Mitwirkung bei Staatsanleihen zugeſtanden, weil er beſtimmt hoffte, daß die Monarchie neuer Schulden nicht mehr bedürfe, bei augenblick - lichen Verlegenheiten aber die Seehandlung eintreten könne; er hatte damals nachdrücklich ausgeſprochen: Repräſentanten der Nation, Repräſen - tation des Volks, Landesrepräſentanten, das verbitte ich mir; Reichsſtände liebe ich auch nicht, aber ich habe auch nichts dagegen. **)So erzählt Rother in ſeiner Denkſchrift v. 18. Mai 1847: Mein Antheil an den Verordnungen v. 22. Mai 1815 u. 17. Jan. 1820. Nun ſah er ſein Volk zufrieden, unvergleichlich zufriedener als die Bewohner der benach - barten conſtitutionellen Staaten. Nichts drängte zu einer entſcheidenden Aenderung, und wer das enge, ſchwungloſe Weſen des Königs durchſchaute, mußte vorausſehen, daß die Reichsſtände bei ſeinen Lebzeiten niemals zu Stande kommen würden. Und wie ſchwer, ja unmöglich erſchien ein ſolcher Entſchluß Angeſichts der allgemeinen Lage Europas! Dahin war es doch gekommen durch die brutale Schroffheit Lord Palmerſton’s und des Czaren Nikolaus, daß die Welt in die zwei großen Heerlager der conſtitutionellen Staaten und der abſoluten Monarchien zerfiel. Wie die191Die revidirte Städteordnung.Dinge lagen hatte Preußen zunächſt nur einen Feind zu fürchten: das revolutionäre Frankreich, das ſeine frechen Anſchläge auf die Rheingrenze mit unbelehrbarer Verblendung kundgab. Wer durfte dem deutſchen Staate zumuthen, die ſichere Bundesgenoſſenſchaft der Oſtmächte mit der treuloſen Freundſchaft der Freiheitsheuchler Weſteuropas zu vertauſchen?

Im Uebrigen ward der mildere und freiere Geiſt, der ſeit dem Ende der zwanziger Jahre in der Regierung vorherrſchte, durch die Juli-Revo - lution nicht erſchüttert. Während Bernſtorff die Kriegspläne des Czaren vereitelte, die conſtitutionelle Bewegung in den norddeutſchen Nachbar - ſtaaten mit wohlwollender Zurückhaltung gewähren ließ, die Erhebung der Braunſchweiger ſogar ſelbſt zum glücklichen Abſchluß brachte, führte Maaſſen die von Motz eingeleiteten Zollvereinsverhandlungen fort und der Staatsrath arbeitete weiter an den Reformgeſetzen. Die ſeit Jahren mit den Provinzialſtänden beſprochene Landgemeinde-Ordnung kam freilich noch immer nicht zu Stande, da das unüberſehbare Gewirr der örtlichen Intereſſen ſich jeder Neuerung entgegenſtemmte. Aber am 17. März 1831 wurde die revidirte Städteordnung veröffentlicht. Stein ſelbſt begrüßte dieſen Umbau ſeines eigenen Werkes mit Freuden, weil das neue Geſetz an den bewährten Grundſätzen der Selbſtverwaltung nichts änderte, ſondern nur einige durch die Erfahrung erwieſene Uebelſtände behutſam hinweg - räumte; und Savigny erwies in einer geiſtvollen Abhandlung, daß die Neuerungen in der That meiſt Verbeſſerungen waren. Die Städte er - hielten fortan eine erhöhte Selbſtändigkeit, indem ſie durch Ortsſtatute das allgemeine Geſetz ergänzen, zum Theil ſelbſt abändern durften; die Befugniſſe des Magiſtrats, der bisher von den Stadtverordneten ganz abhängig geweſen, wurden etwas erweitert; die Regierungen ſollten bei Streitigkeiten zwiſchen Magiſtrat und Stadtverordneten entſcheiden und überhaupt ein ſchärferes Aufſichtsrecht ausüben, was dringend nöthig war, da in einzelnen heruntergekommenen kleinen Städten ſich arge Mißbräuche eingeniſtet hatten. Dazu einige neue Beſtimmungen über das Bürgerrecht, die ſich von ſelbſt ergaben ſeit die neue Gewerbefreiheit den Bürgern das Vorrecht des Gewerbebetriebs genommen hatte. Bedenklich war nur, daß die Grundherren der Mediatſtädte ihre alten Communalrechte behalten ſollten.

Bei der Einführung des Geſetzes verfuhr die Krone mit einer zarten Schonung, welche von der ſcharfen Centraliſation der meiſten conſtitutio - nellen Staaten ſeltſam abſtach. Alle Städte, die ſchon unter Stein’s Ge - ſetze ſtanden, verblieben bei dieſer Ordnung, falls ſie nicht ausdrücklich die Verleihung des neuen Geſetzes beantragten. In den anderen ſollte das revidirte Geſetz provinzenweiſe nach und nach eingeführt werden; die Oberpräſidenten erhielten aber den Auftrag, zuvor mit den Landtags - Abgeordneten des Standes der Städte zu berathſchlagen. Wie wohlgemeint die Reform auch war, die Macht des Beharrens, die im Gemeindeleben ſo unwiderſtehlich waltet, und das ſtille Mißtrauen gegen das Beamten -192IV. 3. Preußens Mittelſtellung.thum bewirkten doch, daß von allen Städten, welche die alte Städteord - nung beſaßen, nur drei die Einführung des neuen Geſetzes verlangten: das ſchöne alte Königsberg in der Neumark und zwei brandenburgiſche Landſtädtchen.

In den neuen Provinzen dagegen bewährte ſich wieder einmal die zähe Widerſtandskraft des Particularismus. Die Stände der Provinz Sachſen freilich nahmen das neue Geſetz ſofort dankbar an, ſie freuten ſich der alten kurſächſiſchen Vetternherrſchaft entledigt zu werden. Die Weſt - phalen, die ſich um Vincke verſammelten, wünſchten das alte Geſetz ihres Landtagsmarſchalls,*)Vincke’s Bericht, Münſter 17. April 1831. doch da ſie an dem neuen Geſetze nur wenige Be - ſtimmungen anſtößig fanden, ſo begannen langwierige Verhandlungen mit den einzelnen Communen, bis endlich im Jahre 1841 die revidirte Städte - ordnung in allen größeren Städten der Provinz eingeführt war. Um dieſelbe Zeit ward die Reform auch in Poſen beendigt. Die Neuvorpom - mern aber wollten weder das alte noch das neue Geſetz, ſie beſtanden hart - näckig auf ihren durch die ſchwediſchen Freiheitsbriefe verbürgten Städte - verfaſſungen, fanden an dem romantiſchen Kronprinzen einen warmen Fürſprecher**)Votum des Kronprinzen über die vorpommerſchen Städte, 11. April 1831. und ſetzten ſchließlich ihren Willen durch; nur einzelne un - vermeidliche Aenderungen ſollten noch mit den Bürgerverſammlungen von Stralſund, Greifswald, Barth vereinbart werden. Ebenſo hartnäckig hielten die rheiniſchen Stände an ihrer napoleoniſchen Gemeindeordnung feſt, weil die Trennung von Stadt und Land in dem hochentwickelten wirthſchaftlichen Leben des Rheinlands ſchwer durchzuführen war, aber auch weil dies Volk mit ſeiner bureaukratiſchen Gewöhnung den Segen deutſcher Selbſtverwaltung nicht verſtehen wollte. Auch ſie erreichten, daß die franzöſiſchen Geſetze vorläufig fortbeſtanden; nur drei Städte der Provinz nahmen die neue Städteordnung freiwillig an. Dieſe Nachgiebig - keit der Krone erregte in der reaktionären Partei am Hofe ſchwere Beſorg - niß. Herzog Karl von Mecklenburg beſchwor den König das Zugeſtändniß zurückzuziehen: ſelbſt in conſtitutionellen Staaten werde den Unterthanen nie erlaubt zwiſchen verſchiedenen Geſetzen zu wählen. Wie ſo oft ſchon drohte er wieder den Vorſitz im Staatsrathe niederzulegen. Friedrich Wilhelm aber erwiderte: die revidirte Städteordnung ſei kein neues, ſondern nur ein verbeſſertes Geſetz; alſo müſſe den Städten die Wahl frei bleiben, damit das Volk zufrieden geſtellt und die Mannichfaltigkeit der örtlichen Verhältniſſe berückſichtigt würde. ***)Herzog Karl v. M. an den König, 1. März, an Wittgenſtein, 8. März. Cabinets - ordre an Herzog Karl, 7. März 1831.

Dieſe Klagebriefe des Herzogs waren nur eine der Rauchſäulen, welche zuweilen aus dem verdeckten Brande des höfiſchen Parteikampfes empor - ſtiegen. Preußens kluge und ſelbſtändige Haltung gegenüber der Revolution193Veränderungen im Miniſterium.erfüllte die Hochconſervativen mit Unmuth. Bernſtorff aber ſtand feſt im Vertrauen des Königs, er beſaß an General Witzleben einen treuen Rück - halt, und ſelbſt Fürſt Wittgenſtein hielt als Mann des Friedens jetzt zu ihm. Als er im Frühjahre 1831, von langer Krankheit erſchöpft, ſein oft ge - ſtelltes Abſchiedsgeſuch erneuerte, da antwortete Friedrich Wilhelm, er könne ihn nicht entbehren, ſei aber bereit zur Aushilfe einen zweiten Miniſter anzuſtellen. Nun wurde Werther aus Paris berufen. Der feine Diplomat fühlte jedoch ſelbſt, daß er zum Führer nicht geſchaffen war, und lehnte ab. Bernſtorff blieb im Amte, und auf ſeinen Antrag wurde Eichhorn, der ſchon bisher die deutſche Politik Preußens geleitet hatte, förmlich an die Spitze der zweiten Abtheilung des Miniſteriums geſtellt; die regel - mäßige europäiſche Correſpondenz führte Ancillon unter dem Titel eines Staatsſekretärs nicht immer zur Zufriedenheit des Miniſters, der die öſterreichiſchen Neigungen ſeines alten Mentors längſt nicht mehr theilte. *)Bernſtorff’s Berichte an den König 18., 27. April, 27. Juni. Werther an Bern - ſtorff 26. Juni. Cabinetsordres an Bernſtorff 26. April, 4. Juni, 6. Juli 1831.Um ſo feſter ſchloß ſich Bernſtorff an Eichhorn an; er ließ ihm in den deutſchen Dingen faſt ganz freie Hand und lobte den der Hofburg ſo tief verhaßten Demagogen überall als die Seele der preußiſchen Zoll - politik. Kaum minder verrufen war in Wien Geh. Rath Kühne aus dem Finanzminiſterium, und auch er gewann unter Motz’s Nachfolger Maaſſen noch ſtärkeren Einfluß. Da Schuckmann’s bureaukratiſche Steif - heit in ſo bewegter Zeit nicht mehr ausreichte, ſo wurde der alte Herr, gegen ſeinen Wunſch, bewogen, in eine Theilung ſeines Departements zu willigen, und dies neu abgezweigte Miniſterium des Innern und der Polizei dem Frhrn. v. Brenn anvertraut. Die erledigte Stelle des Kammer - gerichtspräſidenten erhielt Grolman, der Bruder des Generals und Sohn des berühmten alten Obertribunalspräſidenten, ein ausgezeichneter Juriſt von unabhängiger Geſinnung, der nun ſogleich als Haupt des liberalen Richterſtandes in Verruf kam. An die Spitze des Generalſtabs war Krauſeneck getreten, ein entſchiedener Gegner der Anmaßungen Oeſter - reichs**)ſ. o. III. 330.; ſelbſt General Boyen, der Vielverleumdete, gewann allmählich das Vertrauen des Monarchen wieder und ward zur Berathung der Militär - geſetze zugezogen.

Auf den Univerſitäten durften alle Schulen der Wiſſenſchaft in voller Freiheit ſich entfalten. Während Altenſtein und ſein Johannes Schulze die Schüler Hegel’s nach Kräften begünſtigten und ſogar dem liberalen Rhetor Ed. Gans zu einem ordentlichen Lehrſtuhle in Berlin verhalfen, wurde der Todfeind der Hegelianer, Schleiermacher nach langer Entfremdung vom Könige wieder ausgezeichnet. Er dankte tief gerührt, da er doch einſt im Agendenſtreite dem Monarchen perſönlich als lite -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 13194IV. 3. Preußens Mittelſtellung.rariſcher Widerſacher entgegengetreten war, und als der Pariſer Meſſager (Februar 1831) ihn einen Führer der preußiſchen Linken nannte, hielt er ſich verpflichtet öffentlich ein Zeugniß abzulegen für die königliche Geſin - nung der Preußen. Ihre Ausdrücke: rechte und linke Seite, linkes und rechtes Centrum ſo antwortete er ſind unſern Verhältniſſen völlig fremd. Wir haben ſeit dem Tilſiter Frieden reißende Fortſchritte gemacht, und das ohne Revolution, ohne Kammern, ja ſelbſt ohne Preßfreiheit; aber immer das Volk mit dem König und der König mit dem Volk. Müßte man nun nicht ſeiner geſunden Sinne beraubt ſein, um zu wähnen, wir würden von nun an beſſer vorwärts kommen mit einer Revolution? Darum bin ich auch meinestheils ſehr ſicher, immer auf der Seite des Königs zu ſein, wenn ich auf der Seite der einſichtsvollen Männer des Volkes bin. Das liberale Pariſer Blatt unterſchlug dieſe Erwiderung, und als ſie dann in einer Berliner Zeitung erſchien, da ſchimpfte die ſüddeutſche liberale Preſſe auf die Knechtsgeſinnung des preußiſchen Hof - pfaffen, der die unwiſſende Anmaßung der Franzoſen ſo würdig zurück - gewieſen hatte.

Zum Schrecken Metternich’s wurde nunmehr auch Wilhelm Humboldt in den Staatsrath zurück berufen. Eben in den Tagen da die erſten Schreckensnachrichten aus Paris eintrafen, hatte er das neue Muſeum der öffentlichen Benutzung übergeben. Der König zeigte ſich hoch er - freut über die ſinnige Auswahl der Gemälde, über die ſchönen, von Rauch meiſterhaft reſtaurirten antiken Bildwerke, und er beſchloß auf Hum - boldt’s Vorſchlag, die Erweiterung der Sammlungen nicht einem Manne, ſondern einer Commiſſion von Künſtlern anzuvertrauen. Sein dank - bares Herz drängte ihn aber auch, das alte Unrecht aus den Karlsbader Tagen zu ſühnen, zumal da der Kronprinz und Witzleben ſich des Ge - kränkten eifrig annahmen. Politiſch bedeutete dieſe Ernennung jetzt nur noch wenig. Humboldt lebte der Welt entfremdet; immer wieder klangen ihm die Worte durch den Sinn, die ihm einſt ſeine Gattin in Sorrent zugerufen:

Was in Liebe war verbunden,
Treu in Liebe ward erfunden,
Findet ſich im Weltenall.

Seine Gedanken galten dem dunklen Jenſeits, das er ſich doch, wie alle großen Köpfe, mit dem Dieſſeits feſt verknüpft dachte, und da er in dem mäch - tigen Gewebe der Geſchichte die Perſonen und die allgemeinen Ereigniſſe als Zettel und Einſchlag, die Perſonen aber als die entſcheidende Macht anſah, ſo kam ihm ſchließlich Alles darauf an, welche geiſtigen Kräfte der Menſch aus dieſer Welt mit ſich fortnehme: ich kann es nicht für gleich - giltig halten, ob man vor dem Dahingehen zur wahren Klarheit des im Leben in Ideen Erſtrebten gelangt oder nicht. Dieſe Hoffnung auf die Ewigkeit des Schauens und Erkennens nahm ſeine Seele ganz ein; was195Die mecklenburgiſche Partei.ihm von Thatkraft noch blieb, wollte er verwenden um die Gedankenarbeit ſo vieler Jahre zum Abſchluß zu bringen, das Werden der Menſchheit aus den Geſetzen der Sprachbildung zu erklären. Neben ſolchen wiſſenſchaftlichen Plänen verloren die Kämpfe der Politik jeden Reiz für ihn. Aber ſein Name genügte um die Anhänger Oeſterreichs zu beunruhigen: was konnte er nicht Alles anſtiften mit Hilfe der encyclopädiſchen Katze , ſeines Bruders Alexander, mit dem der König ſo gern verkehrte?

Voll Haſſes ſtand allen dieſen freieren Köpfen am Hofe die mecklenburgiſche Clique gegenüber, wie Prinz Wilhelm der Jüngere ſie treffend nannte: voran Herzog Karl, der unermüdlich in aufgeregten, in - haltloſen Denkſchriften den Kreuzzug für das legitime Recht predigte, dann ſeine ſchöne Schweſter Friderike und ihr Gemahl Ernſt Auguſt von Cumberland, endlich Kamptz der Naſenquetſcher ſo hieß er bei den jungen Herren. Der hatte der alten Heimath in der neuen nicht vergeſſen und ſchrieb noch als preußiſcher Miniſter umfängliche Bücher über die Myſterien des Civilproceſſes, der adlichen Klöſter, der landſtändiſchen Rechte Mecklenburgs. Aus der Ferne gab Großherzog Georg von Strelitz mit ſeinen Miniſtern Oertzen und Dewitz dem Bruder Karl Rathſchläge. Auch General Müffling, der kürzlich, keineswegs zu ſeiner Freude, das Generalcommando in Weſtphalen erhalten hatte, blieb der alten Freund - ſchaft treu; er war ein Vetter des Grafen Münſter, Schwager des han - noverſchen Adelsführers Schele und bildete das natürliche Bindeglied in dieſer welfiſch-mecklenburgiſchen Junkerpartei, die allen großen altpreußiſchen Ueberlieferungen feind war.

Seit Bernſtorff im Frühjahr 1831 ſeine Entlaſſung erbeten hatte, ſetzte die mecklenburgiſche Partei alle Hebel ein um die neuen friſchen Kräfte wieder aus dem Regimente zu vertreiben. Die Lage iſt verzweifelt, ſo klagte Herzog Karl, Humboldt hat die Mehrheit im Staatsrathe, er will auf den Trümmern der alten Ordnung ſeine Macht gründen. Und Großherzog Georg meinte traurig: dieſes Verliebtſein des Kronprinzen in Humboldt im Widerſtreit mit ſeinem ſonſt ſo guten Verſtande und den Anſichten der Männer, auf die er ſonſt zu hören pflegt ſcheint mir zu den großen, die ganze Welt zu erſchüttern drohenden Gewitter - wolken zu gehören, welche am politiſchen Horizonte hängen. Viermal binnen acht Monaten erklärte der Herzog dem Könige, daß er, auf die Ge - fahr hin der liberalen Partei einen Sieg zu bereiten, ſich zurückziehen müſſe, wenn nicht die Einheit im Miniſterium hergeſtellt und durch Neuberufungen eine zuverläſſige Mehrheit im Staatsrath geſichert würde. Er wünſchte Müffling für das Auswärtige oder den Krieg, Nagler für das Innere oder das Auswärtige; für die Juſtiz den getreuen Kamptz, aber von Seiten des Kronprinzen und einem Theile der liberalen Ju - riſten ſteht ihm eine ſolche Oppoſition entgegen, daß ich ihn kaum nennen darf. Eichhorn ſollte auf eine unſchädliche Geſandtſchaft verſetzt werden:13*196IV. 3. Preußens Mittelſtellung. ich halte die deutſchen Angelegenheiten in ſeiner Hand nicht gut, und durch ihn Uneinigkeit mit Oeſterreich nur zu möglich. *)H. Karl v. M. Denkſchriften für den König, 23. Apr., 23. 28. Juni, 5. Nov.; an Lottum 27. Oct.; an Wittgenſtein 8. Juli; Großh. Georg an H. Karl, 26. Juni, 3. Juli 1831.Wegen der Verſtärkung des Staatsraths erbat ſich der Herzog die Vorſchläge von Kamptz. Der aber erwiderte ingrimmig: es iſt ebenſo bedauerlich als wahr, daß der hieſige höhere Staatsdienerſtand nur ſo wenige, ich möchte ſagen: keine zwei, ganz zuverläſſige Perſonen zu dem gedachten Zwecke enthält; auch in den Provinzen ließ er nur einzelne Beamte als bom - benfeſt gelten. Dagegen war der alte Bankpräſident Frieſe ſogleich mit einer ganzen Reihe bedeutender Namen bei der Hand; er nannte Männer wie Boyen, Schleiermacher, Präſident Grolman, General Rühle, und der Herzog rief entſetzt: In welche Geſellſchaft würden wir durch dieſe Vorſchläge gerathen! **)Kamptz an H. Karl 19. Juli; Frieſe an H. Karl 23. Oct. 1831.Der König ſah dem unruhigen Treiben ſeines Schwagers gelaſſen zu. Nur einmal wurde er gegen Eichhorn mißtrauiſch, da die Hofburg die Anſchwärzungen der Mecklenburger unterſtützte, und ließ ihm unter der Hand eine Oberpräſidentenſtelle, welche er wolle, an - bieten. Eichhorn erwiderte einfach: mein Amt ſteht zur Verfügung Sr. Majeſtät, aber ohne Befehl gebe ich es nicht auf. Dabei blieb es; zu einer ungerechten Kränkung konnte ſich Friedrich Wilhelm doch nicht ent - ſchließen.

Nach einem langen widerwärtigen Ränkeſpiele begann Herzog Karl zu fürchten, daß ſein königlicher Schwager vielleicht ihn ſelber beim Worte nehmen, eines ſeiner Abſchiedsgeſuche bewilligen würde. ***)Lottum an Herzog Karl 20. Oct. 1831.Darum be - ruhigte er ſich endlich, und von allen ihren Anſchlägen blieb der mecklen - burgiſchen Partei nichts übrig als ein halber Erfolg, den ſie bei der Wie - derbeſetzung des Juſtizminiſteriums noch errang. Als höchſter Beamter des Departements hatte Kamptz dies Amt nach Danckelmann’s Tode ein Jahr lang mit ſeinem gewohnten ungeheuren Fleiße vorläufig verwaltet. Der König mochte den verdienten Beamten nicht gradeswegs zurückſetzen und entſchied ſich wieder für eine Theilung des Miniſteriums. Kamptz erhielt (Februar 1832) die Leitung der Geſetz-Reviſion eine Aufgabe, die für dieſen gründlichſten Kenner aller preußiſchen Particular-Rechte wie geſchaffen ſchien und zugleich die Aufſicht über die rheiniſche Rechtspflege, da die Reviſion zunächſt in den Rheinlanden durchgeführt werden ſollte. Für die Juſtizverwaltung der übrigen Provinzen wurde Mühler berufen, ein Juriſt von ungleich freieren Anſichten.

Eine eigenthümliche Mittelſtellung behaupteten die königlichen Prinzen in dieſem Parteikampfe. Den Krieg gegen Frankreich wünſchten ſie alle - ſammt, weil ſie alle in den Erinnerungen von Belle Alliance lebten, die197Die königlichen Prinzen.Revolution verabſcheuten und den bedrängten oraniſchen Verwandten ritterlich beiſtehen wollten. Wie oft mußte General Witzleben von den kampfluſtigen jungen Fürſten heftige Vorwürfe wegen ſeiner Friedens - politik hören. Einmal, am Hubertustage 1830, erregten die Prinzen auch die Entrüſtung der aufgeklärten Hauptſtadt, als ſie beim Jagdmahle im Schloſſe Grunewald jubelnd einen Trinkſpruch auf den Sieg der guten Sache ausbrachten und dann nach ruſſiſchem Brauche die Gläſer an der Wand zerſchmetterten. Immerhin blieb ein Unterſchied zwiſchen dem naiven legitimiſtiſchen Feuereifer der jungen Prinzen Karl und Albrecht und den allezeit eigenartigen Gedanken ihres älteſten Bruders. Auch der Kronprinz hoffte auf den Sieg des legitimen Rechtes, er ſah in der Revolution vornehmlich den Abfall vom Glauben und konnte den Namen der Orleans kaum in den Mund nehmen ohne einen grim - migen Witz wider Louis Philippeste damné zu ſchleudern. Seine alte Verachtung gegen das Vernunftrecht der Liberalen ſteigerte ſich noch in dieſen Jahren, da ihm Lancizolle, ein ehrlicher, durchaus fanatiſcher Anhänger der ſtrengen Hallerſchen Doctrin, regelmäßig Vorträge über deutſche Rechtsgeſchichte hielt. Als Gans in die Berliner Facultät eintrat, da verlangte der Kronprinz, daß ſein Freund Savigny zuvor eine öffentliche Ehrenerklärung von dem frechen Läſterer erhalten müſſe: Der Name Hiſtoriſche Schule (welcher ſo bezeichnend dasjenige Streben ehren ſollte, was unſerer Zeit und unſerem Lande in Kirche, Staat und Jurisprudenz ſo vorzüglich noththut) iſt von Gans der Verachtung preisgegeben inſoweit ſolch ein Beginnen möglich iſt und Vieles iſt möglich in einer Zeit, wo man nur recht unverſchämt zu brüllen braucht um Geſellen zu finden. *)Kronprinz Fr. Wilhelm an Altenſtein, 8. Jan. 1829.Aber die mecklenburgiſche Partei war ihm zu geiſtlos, der Demagogenverfolger Kamptz zu gehäſſig; mit Humboldt, Altenſtein und allen feiner gebildeten Männern der Regierung blieb er auf gutem Fuße, und trotz ſeiner Heftigkeit kannte er die Pflichten des Thronfolgers zu genau, um ſeinen Unwillen über die friedliche Haltung des Königs durch rückſichtsloſen Widerſpruch zu bekunden.

Noch weniger war Prinz Wilhelm geſonnen, ſich einer Partei dahin - zugeben. Ruhig und ſicher, unaufhaltſam wachſend reifte er für ſeine große Zukunft heran. Der Tod ſeiner zärtlich geliebten Mutter und die ſchrecklichen Erfahrungen der napoleoniſchen Zeiten hatten ihn früh ernſt geſtimmt, ihn gewöhnt, ſeine natürliche Heiterkeit zu beherrſchen. An eine Zeit, da er ſelbſt die Krone tragen könnte, dachte er in jenen Jahren nicht; ſeine Hoffnung war, dereinſt als Feldherr ſeines Vaters oder ſeines Bruders die Fahnen Preußens zu neuen Siegen zu führen, und in dieſem Waffenhandwerk ward er ſo bald zum Meiſter, daß er ſchon jetzt für das Vorbild des preußiſchen Soldaten galt. Sein ganzes Weſen198IV. 3. Preußens Mittelſtellung.erinnerte an den Fridericianiſchen Wahlſpruch, den die Offiziere der Grenadierregimenter noch auf den Klingen ihrer Degen trugen: Ne me tirez sans raison, ne me remettez sans honneur. Ein glückliches Gleichmaß von kriegeriſcher Thatkraft und klarer Beſonnenheit ſprach aus dem ritterlichen Anſtand dieſer hohen Geſtalt, aus dieſen offenen Zügen und den freundlich ernſten Augen. Im Dienſte bemerkte er jeden falſchen Griff, jedes kleine Verſehen, und oft ſprach er aus, daß grade dies Volk in Waffen jeden Einzelnen ununterbrochen und peinlich ſtreng ausbilden müſſe, damit der Wehrmann, wenn er nach Jahren zur Fahne zurückkehre, all ſein Können noch gegenwärtig habe und ſich ſogleich wieder zurechtfinde. Durch ſeinen Vater, der die militäriſche Begabung dieſes Sohnes bald erkannte, war er ſchon im Knabenalter, gründlicher als der Kronprinz, über alle Reformen des Heerweſens unterrichtet worden; und fortan blieb er von der Größe der organiſatoriſchen Gedanken Scharn - horſt’s, von der ſittlichen Ueberlegenheit des preußiſchen Volksheeres tief überzeugt. Lebhaft äußerte ſich ſein Unmuth, als in dieſen Jahren Johannes Voigt und einige andere durch Schön beeinflußte oſtpreußiſche Schriftſteller verſuchten, dem Vater der Landwehr ſeinen Ruhm zu ver - kürzen. Dem alten Boyen als dem Erben Scharnhorſt’s erwies er auch in den Zeiten ſeiner Ungnade dankbare Verehrung, und immer wählte er mit ſicherer Menſchenkenntniß die fähigſten Offiziere ſich zu Freunden aus, ſo unter den älteren General Brauſe, ſeinen geliebten Lehrer, und General Natzmer, unter den jüngeren General Röder und ſeinen lang - jährigen Generalſtabschef Oberſt Reyher. Mit ihnen beſprach er ſich über die Einzelheiten des Dienſtes wie über die Fragen der Heeresverfaſſung und der Strategie. Sein Ideal war die Kriegführung großen Stiles nach Scharnhorſt’s Worten: getrennt marſchiren, vereinigt ſchlagen. Die Infanterie nannte er die Hauptwaffe der modernen Heere, auch die lehr - reichſte für den Führer, weil ſie jede Geſtaltung des Bodens benutzen könne und darum dem Nachdenken immer neue Aufgaben ſtelle.

Die Liberalen draußen im Reich kannten den Prinzen kaum oder hielten ihn für einen glänzenden Paradeſoldaten. Seine Freunde wußten, daß die ernſte Gewiſſenhaftigkeit ſeiner militäriſchen Arbeiten mit ſeiner Anſchauung von Preußens Berufe unzertrennlich zuſammenhing. Feu - riger, beſtimmter als irgend einer der zeitgenöſſiſchen Staatsmänner, viel - leicht den einen Motz ausgenommen, hatte er ſchon während der letzten ſtillen Jahre beſtändig die Meinung vertreten, daß dieſem Staate vor Allem Macht noth thue, Macht weit mehr als Freiheit. Immer und immer hoffte er auf Krieg, wahrhaftig nicht um des rohen Schlagens willen, ſondern weil er fühlte, daß Preußen wachſen, ſeine ſchlummernden Kräfte bethätigen müſſe. Schon ſechs Jahre nach dem Kriege, in einer Zeit da das Volk ſich noch kaum von ſeinen Wunden erholt hatte, klagte er bitter über die erſchlaffende Wirkung des langen Friedens: Man ſehe unſeren199Tod Stein’s, Gneiſenau’s, Niebuhr’s.politiſchen Standpunkt an. Unſere körperliche Schwäche iſt erſchreckend, wenn man die Nachbarſtaaten daneben betrachtet. Wir müſſen dieſer Schwäche alſo durch intellectuelle Kräfte zu Hilfe kommen, und dieſe müſſen vornehmlich in dem Heere geweckt und erhalten werden. Mit Verachtung fertigte er die Schwächlinge ab, die ſchon zu behaupten wagten, daß es lächerlich ſei, mit 11 Millionen eine Rolle zwiſchen Nationen von 40 Millionen ſpielen zu wollen. Was einſt bei 3 Millionen der Enthuſias - mus that, muß jetzt bei 11 Millionen die geweckte und geförderte Intelli - genz thun. Darum hielt er auch nach der Juli-Revolution den Krieg für nothwendig. Die legitimiſtiſchen Kapuzinerreden des wenig geliebten mecklenburgiſchen Oheims berührten ſeinen heiteren Heldenſinn nicht; er wußte aber, das revolutionäre Frankreich werde das Erſtarken Preußens im Frieden niemals dulden, und als das Wetter ſich verzog, meinte er traurig: Der Kampf iſt verſchoben, nicht zum Heile der Menſchheit; der Feind behält Zeit ſich zu befeſtigen.

Sammt und ſonders ſtanden dieſe leitenden Männer Preußens, wie weit ſie auch von einander abwichen, den Mächten der Revolution als Feinde, als ſtolze Monarchiſten gegenüber. Und dieſelbe Geſinnung hegten auch alle die Großen, welche dem preußiſchen Staate jetzt verloren gingen. Der Tod hielt eine furchtbare Ernte in Deutſchland. Binnen anderthalb Jahren ſtarben erſt Motz, dann Niebuhr und Stein, dann Hegel, Gnei - ſenau, Clauſewitz, alle Drei Opfer der Cholera, endlich Goethe. In einer Nation von altbefeſtigter Einheit mußte nach ſo ſchweren Verluſten neben der Trauer doch auch ein Gefühl des Stolzes erwachen; denn wo war noch ein anderes Volk auf der Welt, das ſo viel Menſchengröße zu ver - lieren hatte? Dieſem Geſchlechte aber war alle Freude an der uner - ſchöpflichen Fruchtbarkeit des germaniſchen Genius ganz vergällt durch die ewigen Klagen über das deutſche Elend. Während über Goethe’s und Hegel’s friſchen Gräbern ein häßlicher literariſcher Zank entbrannte, wurden die großen Preußen, die dahingingen, von den liberalen Zeitungen der Kleinſtaaten kaum beachtet. Von Motz wußte man dort nichts, und Niebuhr’s tragiſches Ende erregte faſt nur Hohn unter den Parteifana - tikern.

Ein Jahr vor der Juli-Revolution hielt Niebuhr in Bonn ſeine Vorleſungen über neueſte Geſchichte. Ihm war zu Muthe, als erzähle er ſein eigenes Leben; ſo leidenſchaftlich hatte er von jeher an den Zeit - ereigniſſen theilgenommen. Allen Glanz und allen Schmerz ſeines großen Herzens legte er in dieſen Vorträgen nieder; denn das blieb immer ſeine oberſte Forderung an den Hiſtoriker, daß ſich ein ſtarkes und lebendiges Ich in ſeinen Schriften ausſpreche, und niemals konnte er ſich mit der erkünſtelten Objectivität Johannes Müller’s befreunden, dem er vorwarf: der reine Lebensathem der friſchen Wahrheit fehlt in allen ſeinen Schriften; er hat ein außerordentliches Talent ſich eine Natur anzunehmen. Es200IV. 3. Preußens Mittelſtellung.geſchah zum erſten male, daß ein deutſcher Meiſter dieſe nahe Vergangen - heit zu einem Geſammtbilde zuſammenfaßte. Die Darſtellung litt, wie be - greiflich, an manchen thatſächlichen Irrthümern und Ungerechtigkeiten, doch ſie traf den Kern der Sache, ſie ſchilderte ſchonungslos ehrlich den un - reinen Charakter der Bewegung von 89, den die Deutſchen vormals wohl gekannt hatten, jetzt aber unter den Eindrücken der liberalen Mythen - bildung ſchon wieder zu vergeſſen begannen, und gab alſo der Nachwelt ein letztes ſchönes Vermächtniß der Weltanſchauung der Reſtauration. Bei aller Schärfe ſeines Urtheils dachte Niebuhr doch noch keineswegs hoffnungslos über Frankreichs Zukunft; er glaubte vielmehr, die Charte der Bourbonen ſtehe ſchon ſo feſt wie eine hundertjährige Verfaſſung.

Mittlerweile wurde der reizbare Mann durch den Brand ſeines Hauſes ſowie durch anderes häusliches Ungemach heimgeſucht, und die krank - hafte Verſtimmung dieſer trüben Tage verleugnete ſich auch nicht, als der Kronprinz ihm jetzt in Berlin eine neue Heimath zu eröffnen ſuchte. Der Thronfolger bat den König, ſich ſeines lieben Freundes anzunehmen, des großen Gelehrten, deſſen Geſinnungen ſo echt royaliſtiſch ſind, ſo ganz auf dem erhaltenden und fördernden, nicht wie die der meiſten ſeiner Art auf dem umwälzenden Princip beruhen; er ſchlug vor, Niebuhr eine ganz freie Stellung mit hohem Gehalte in der Hauptſtadt anzubieten, ſo daß er, ähnlich wie Alexander Humboldt, nur nach Belieben literariſch oder akademiſch thätig ſein und außerdem an den Arbeiten des Staats - raths ſich betheiligen ſollte. Der König war gern bereit, aber nur wenn der Hiſtoriker ſelbſt wünſche, ſeinen ſegensreichen Wirkungskreis am Rhein zu verlaſſen. Nun begannen die bei Gelehrten-Berufungen üblichen Zwiſchenträgereien, der Kronprinz zeigte wieder ſein verhängnißvolles Talent alle Geſchäfte zu verderben. Niebuhr glaubte zu wiſſen (ſchwerlich mit Recht), daß die Pietiſten in der Umgebung des Thronfolgers ſeiner Berufung entgegenarbeiteten; ſichtlich aufgeregt gab er nur ſchwankende Antworten, und als man endlich eine beſtimmte Erklärung verlangte, er - widerte er, daß er in Bonn mehr zu nützen glaube. Dabei blieb ihm doch das Gefühl einer erlittenen Kränkung. *)So hat ſich mir, ſehr gegen meine Erwartung, das Urtheil geſtaltet nach Ver - gleichung des gedruckten Materials mit den Aktenſtücken des Geh. St. Archivs (der Kronprinz an den König 13. Febr., an Albrecht 14. Febr.; Lottum an Niebuhr 22. März, Albrecht an Lottum 10. April; Niebuhr an Lottum 30. März, 20. April, an den König 13. Mai; Cabinetsordres an Niebuhr, 3. 30. Mai 1830). Die an Niebuhr gerichteten Schreiben ſind alle ſo wohlwollend und achtungsvoll, daß ich mir ſeine unbeſtimmten, ausweichenden Erwiderungen nur aus ſeiner nervöſen Aufregung erklären kann.

Ihm graute längſt vor dem Verfalle der deutſchen Literatur: Heine, Börne, Saphir, dieſe drei Götter aus Israel ſind ja die Götzen des deutſchen Israels, ſelbſt Goethe iſt ſchon abgeſetzt. Ihm graute mehr noch vor den demokratiſchen Sitten der neuen Zeit. Ich finde, ſagte201Niebuhr’s letzte Tage.er ſchmerzlich, daß die ſchönen Eigenſchaften ſchwinden, welche die Zierde unſerer Nation machten, Tiefe, Innigkeit, Eigenthümlichkeit, Herz und Liebe, daß Flachheit und Frechheit herrſchend werden. Als nun der Thron der Bourbonen ſtürzte, da glaubte er wie Goethe die all - gemeine Anarchie einbrechen zu ſehen; weitſichtig wie jener ahnte er ſchon die Stürme des Jahres 1848. Dieſe Erlebniſſe erſchütterten ihn ſo tief, daß er um ihretwillen von zweien ſeiner wärmſten Freunde, Stein und Dahlmann, ſich zurückzog: von jenem, weil er die Erwählung des Bürger - königs doch politiſch entſchuldbarer fand als der ſtrenge Reichsfreiherr zugeben wollte; von dieſem, weil der jüngere Freund ſo gar hoffnungsvoll ſagte: ich freue mich zu erleben was ich lieber ſchon vor zehn Jahren erlebt hätte. In der Vorrede zu dem neuen Bande der römiſchen Geſchichte ſprach Niebuhr ſeine hoffnungsloſe Anſicht von der Zukunft offen aus, und geſtand einem Freunde: In einem Buche, welches, wenn es nun auf mehrere Menſchenalter in der hereinbrechenden Barbarei vergeſſen wird, doch einmal wieder hervorkommen muß, glaubte ich eine Erklärung niederlegen zu können, wie unſere Vorfahren einen Bericht von der Gegen - wart in Grundſteinen oder in der Kugel eines Kirchthurms niederlegten. *)Niebuhr an Bunſen, Dec. 1830.Noch ſtrenger lauteten ſeine letzten Worte: das Vorwort zur erſten philippiſchen Rede, die er einſt in den bangen Tagen vor Auſterlitz für Kaiſer Alexander überſetzt hatte und jetzt wieder herausgab um die Deutſchen vor den alten Sünden der Zwietracht und des Preußenhaſſes zu war - nen: Allenthalben, ſo ſchrieb er, lachte der Neid, daß Athen Schmach und Unglück leide; im ſchlimmſten Fall hofften ſie die letzten zu ſein, welche der Kyklop verſchlinge: und ſollte man ihm nicht entwiſchen können? ſollte er nicht gütig werden? könnte er nicht auch ſterben ehe es ſo weit komme? Endlich erwachten Viele mit Entſetzen aus dem Traum. Die Geſchichte beklagt auch ſie, die neben den Athenienſern bei Chäronea fielen. Aber ihre Schuld iſt nicht gehoben: durch ſie iſt Griechenland untergegangen, das Deutſchland des Alterthums.

Unter ſo finſteren Träumen ſtarb Niebuhr zu Neujahr 1831 er, deſſen Daſein allein ſchon bewies, wie Dahlmann ſagte, daß die Menſchheit von höheren Gewalten nicht aufgegeben iſt. Wie wunderbar ſchnell war dies reiche Leben verrauſcht; nur vierundfünfzig Jahre, und ein ſolcher Schatz von Wiſſen und Gedanken, wie ihn kaum Greiſe er - werben. Und nun zerriſſen die Saiten plötzlich mit einem ſchrillen Miß - tone. Geh. Rath Ferber, der fleißige Statiſtiker, verſuchte ſogleich in einer eigenen Schrift, Niebuhr’s letzte Anſichten pathologiſch zu erklären und gab den Philiſtern die tröſtliche Verſicherung, im Jahre 89 ſei die Entſittlichung vorherrſchend geweſen, im Jahre 30 die Sittlichkeit. Tiefer - blickende erkannten in dem Schmerze, der Niebuhr’s Ende verdüſterte,202IV. 3. Preußens Mittelſtellung.doch ein ernſtes Zeichen der Zeit: welchen Kämpfen trieb Deutſchland entgegen, wenn gerade die Männer, welche den Geiſt von 1813 erzogen und am treueſten bewahrt hatten, ſich alleſammt von den Idealen dieſer allerneueſten Tage angeekelt abwandten!

Auch Stein blickte voll ſchwerer Sorge in die Zukunft, als er am 29. Juni 1831 verſchied. Ihm waren die Franzoſen ſeit ihrer letzten Revolution nur noch verächtlicher geworden; er ſprach dieſem Volke ohne Liebe und Treue die ſchöpferiſche Kraft des Geiſtes gänzlich ab, da alle bahnbrechenden Thaten der neueren Geſittung von den germaniſchen Völkern, den Italienern oder den Spaniern ausgegangen ſeien, und mahnte ſeine Leute noch auf dem Todesbette, ſich gegen den alten Feind als gute Preußen für König und Vaterland zu ſchlagen. So ging er dahin, noch ganz erfüllt von dem Feuer jener edlen Leidenſchaft, welche ſeine größten Tage durchleuchtet hatte. Ueberall auf der rothen Erde und drüben im heimiſchen Lahngau, wo man den Letzten des alten Freiherrengeſchlechts in der Gruft ſeiner Ahnen beſtattete, wurde der Leichenzug mit hohen Ehren empfangen; auch die altpreußiſchen Städte gedachten dankbar des Schöpfers ihrer Bürgerfreiheit. Die übrigen Deutſchen hatten ſeiner ſo ganz vergeſſen, daß Dahlmann zürnend ſagte: die Zeit wird kommen, da man ihm ſeine Tugenden verzeiht.

Stein war früh gealtert, Gneiſenau aber fühlte noch die frohe That - kraft ſeiner Mannesjahre in den Adern, als er einundſiebzigjährig von der aſiatiſchen Seuche dahingerafft wurde (Auguſt 1831). Ganz ſo hoff - nungsvoll wie er einſt am Main als Jüngling von Kolonien und Städte - gründungen in der neuen Welt geträumt hatte, dachte er jetzt in Poſen an einen dritten Siegeszug nach Paris und an einen ſchönen Kriegertod: Napoleon der Zweite bei der preußiſchen Avantgarde, das ſollte der Helfer ſein um das Bürgerkönigthum zu zerſchmettern. Wie Stein hatte er Alles längſt verwunden was ihn einſt von Friedrich Wilhelm getrennt und ſich in aufrichtiger Dankbarkeit dem Könige angeſchloſſen. Seinem Jugend - freunde Profeſſor Siegling ſchrieb er noch kurz vor dem Tode mit ſeiner alten wunderbaren Beſcheidenheit: Du biſt ein Sohn Deines Fleißes, ich ein Sohn des Glücks. Noch drängender als Gneiſenau forderte Clauſewitz, der dem Freunde nach wenigen Wochen ins Grab folgen ſollte, den un - vermeidlichen Krieg gegen die Revolution: jeder Hader mit Oeſterreich müſſe für jetzt abgethan bleiben, damit der Bund der Oſtmächte im Ent - ſcheidungskampfe feſt ſtehe.

So die Stimmung der Helden des Befreiungskriegs. Wie Arndt beharrlich den Feldzug gen Brabant verlangte, ſo donnerte Jahn in ſeinen Merken zum deutſchen Volksthum wider das neu eindringende wälſche Weſen. Wohl zu keiner Zeit, rief er grimmig, hat der Deutſche weniger gewußt, als jetzt nach der großen Pariſer Hundswoche, das Eine was noth thut. Vor lauter Empfindſeligkeit überfließet ſein fremdbrüderliches203Arndt und Jahn. Berliner Wochenblatt.Herz; er pfeift, er ſingt, er ſpielt in den Mißtönen aller Nachbarvölker; er ſchwatzt, redet und ſchreibt, wie die Sachwalter ſeiner Erbfeinde; er glaubt das Grüne vom Himmel, das Blaue von der Erde was die Ein - gelogenſten der Wälſchen, Walen, Wenden und Irren ihm weis machen. Dann ſchilderte der Alte anſchaulich den Unfug der anonymen Zeitungs - ſchreiber, das beſchreibfederte Zwerggeſindel, was überall Klatſchbuden auf - ſchlägt und auf dem Trödelmarkte ſchmutzige Lumpen feil bietet. Mit lau - tem Geſchrei bekennt ſich dieſe namenloſe Schreiberſchaft zur Oeffentlichkeit und Preßfreiheit und ſpielt heimlich und unvermerkt ein falſch Wort nach dem andern dieſe Hinz-Hunze, ſo das Kneipviehtolle für Laune, Ge - läpſche für Witz, Flegelgeklappe für Jugendfriſche und tappiſches Hinein - plumzen für feine Redeblumen halten. Mit Stolz hielt er endlich dieſem fremdbrüderlichen Weſen der kleinen Nachbarländer ſein Preußen entgegen, deſſen Krone nicht den Beherrſcher allein, auch die Beherrſchten zum Volke gekrönt hat.

Bei ſolcher Macht der antirevolutionären Geſinnungen konnte es nicht ausbleiben, daß die einzige geſchloſſene Partei, die in Preußen be - ſtand, die feudale, ſich endlich ein literariſches Organ für ihre Beſtrebungen ſchuf. Der Kampf war geboten, ſo geſtand Heinrich Leo, ſeit das Jahr 1830 grimmen Ernſt gemacht. In dem Kreiſe der Gebrüder Gerlach wurde der Plan zu dem Berliner Politiſchen Wochenblatt entworfen; dort in der Wilhelmsſtraße glänzte jetzt der aus Heſſen geflüchtete, mit dem Kronprinzen eng befreundete Major Radowitz durch ſeine unverſieg - liche lehrhafte Beredſamkeit. Die Herausgabe übernahm C. E. Jarcke, jener junge Juriſt, der unlängſt in Bonn zur katholiſchen Kirche über - getreten war*)ſ. o. III. 211. und ſoeben in einer hoch legitimiſtiſchen Schrift über die franzöſiſche Revolution von 1830 ſein ungewöhnliches politiſches Talent bewährt hatte. Auch er war Burſchenſchafter, wie Leo und Hengſten - berg, und keiner von den Dreien hat je zugeben wollen, daß er von den romantiſchen Idealen ſeiner Jugend abgefallen ſei. Das Blatt führte zum Motto jenen ſchillernden Satz de Maiſtre’s, der dem Kron - prinzen ſo wohl gefiel: nous ne voulons pas la contre-révolution, mais le contraire de la révolution, und ſollte allen antirevolutionären Par - teien zum Sammelplatze dienen. In Wahrheit war hier nur die aller - ſtrengſte Hallerſche Schule vertreten. Der Reſtaurator der Staatswiſſen - ſchaft ſah jetzt erſt ſeine Saat in Halme ſchießen und gewann durch dies Blatt, das er ſelbſt häufig mit Beiträgen beſchenkte, großen Einfluß auf die Berliner Hofgeſellſchaft. Er bearbeitete zur Zeit einen neuen Band ſeines Hauptwerkes, über die Prieſterſtaaten, mit großer Sachkenntniß, aber auch mit parteiiſcher Vorliebe; er bewies darin, daß die dumpfſte und unfreieſte aller Verfaſſungen, die Theokratie in Wahrheit der204IV. 3. Preußens Mittelſtellung.mildeſte und zwangloſeſte aller Staaten, die einzige legitime Kirche des Chriſtenthums, die römiſche, nur in der Form monarchiſch, in ihrem Geiſte durchaus republikaniſch ſei. In einer Flugſchrift Satan und die Revolution erklärte er den Zeitgeiſt und ſeine Propheten kurzweg für das Reich des Teufels, den Geiſt der Lüge.

An ſeinen Berliner Schülern durfte er ſeine Freude haben; denn ſie bekämpften nicht nur die Thorheiten des liberalen Vernunftrechts, ſondern auch den Begriff des Staates ſelber als eine philoſophiſche Ab - ſtraction und fanden alles Ernſtes in Mecklenburg den deutſchen Muſter - ſtaat, eine friſch grünende Oaſe in der todten Sandwüſte des Conſti - tutionalismus unſerer Tage. Die Doctrinäre der ſtändiſchen Monarchie bemerkten ſchon nicht mehr, daß auch Preußen einſt faſt in allen ſeinen Territorien dieſe Herrlichkeit mecklenburgiſcher Adelslibertät gekannt hatte und nur durch ihre Bändigung zur Großmacht emporgewachſen war. Das Wochenblatt war vortrefflich geſchrieben, gebildeter, anſtändiger als die große Mehrzahl der liberalen Zeitungen, und ſeine tauſend Abonnenten eine für jene Tage beträchtliche Zahl gehörten durchweg den mächtigen, an - geſehenen Ständen an. Von dem ruſſiſchen Geſandten Ribeaupierre erhielt Jarcke häufig werthvolle Mittheilungen. Kirchlichen Fragen ging er behut - ſam aus dem Wege; er wußte, daß er ſeine ultramontanen Hintergedanken in Berlin nicht offen ausſprechen durfte. Der König traute ihm nur halb und ließ ſich trotz der beſtändigen Fürbitten des Kronprinzen, Altenſtein’s, Schmedding’s nie bewegen, dem Convertiten einen ordentlichen Lehrſtuhl zu übertragen. *)Schmedding an Altenſtein 1. Aug. 1829. Der Kronprinz an Altenſtein 3. Febr.; Antwort 10. Febr. 1832. Cabinetsordre an Altenſtein, 18. Oct. 1832.Als Jarcke im November 1832 in die Stelle des verſtorbenen Gentz nach Wien berufen wurde, folgte er dem Rufe mit Freuden; dort in der katholiſchen Luft konnte ſich ſein Talent freier entfalten und ſeine fortdauernde Verbindung mit dem Wochenblatte wurde jetzt, ſeit er Metter - nich’s Weiſungen empfing, nur um ſo bedeutſamer.

Um auch den gemäßigten Conſervativen einen Sprechſaal zu eröffnen berieth ſich im Sommer 1831 der wackere Buchhändler Perthes mit Bern - ſtorff, Eichhorn, Savigny und den Generalen Witzleben, Krauſeneck, Rühle. Bald nachher erſchien, von Ranke geleitet, die Hiſtoriſch-politiſche Zeit - ſchrift , eine Revue großen Stils, reich an guten wiſſenſchaftlichen Arbeiten, unter denen die hiſtoriſchen Abhandlungen des Herausgebers den Preis davon trugen. Auch den Tagespolitikern brachte Ranke reiche Belehrung: zur Verwunderung der Liberalen ſchilderte er nach amtlichen Quellen die noch ganz unbekannte Geſchichte der neueſten preußiſchen Handelspolitik zum erſten male der Wahrheit gemäß, und über den Charakter der Juli - Revolution urtheilte er mit einer genialen Sicherheit wie Niemand ſonſt unter den Zeitgenoſſen. Freilich konnte ſein ganz auf das Schauen und Erkennen gerichteter Geiſt nur auf die Einſicht, nicht, wie es die Auf -205Ranke’s Zeitſchrift.gabe des Publiciſten iſt, auch auf den Willen der Leſer wirken. Die kecke dem Politiker unentbehrliche Luſt am Kampfe blieb ihm fremd, der wie Leibniz den wenig liebenswürdigen Namen der Eris verabſcheute, und gar den Finger in die Wunden des Vaterlandes zu legen konnte ſich der Friedfertige nie entſchließen. Was ſollte die begeiſterte, von einem mächtigen Vaterlande träumende Jugend empfinden, wenn ihr der große Hiſtoriker die Segnungen der elenden Bundesverfaſſung alſo anpries: der Bund fördere den Wehrſtand durch ſeine Kriegsverfaſſung, deren Erbärm - lichkeit doch ſo klar vor Augen lag, daß Preußen ſie für den nächſten Krieg kurzweg außer Kraft ſetzen wollte; er fördere den Nährſtand durch den Zollverein, der aber nicht durch den Bund, ſondern im Kampfe mit ihm durch Sonderbünde entſtand; er fördere endlich ſogar den Lehrſtand durch das Karlsbader Preßgeſetz! Alſo gehalten, vermochte die Zeitſchrift niemals wie das Wochenblatt politiſche Macht zu erringen; weder die Ariſtokraten, wie man damals die Ständiſchgeſinnten nannte, noch die Liberalen konnten ihr ganz zuſtimmen, und da bedeutende Männer immer ſelbſt zuerſt fühlen was ihrer Natur zuſagt, ſo zog ſich Ranke ſchon nach vier Jahren wieder in ſeine gelehrte Muße zurück. Aber welch ein ſeltſames Schauſpiel: zwei große hochgebildete conſervative Zeitſchriften in dieſem Preußen, das noch keine einzige nennenswerthe liberale Zeitung beſaß; beide Blätter redeten beſtändig über die ſchwarzweißen Grenzpfähle hinaus zu den Süddeutſchen und den Franzoſen.

Indeß begannen die vereinzelten Liberalen Preußens ſich doch all - mählich zu ſammeln, zunächſt in Folge der polniſchen Wirren. Nichts konnte offener ſein als Preußens Politik während dieſer verwickelten Hän - del. Von vornherein erklärte Bernſtorff dem ruſſiſchen Geſandten, daß die Intereſſen der beiden Höfe hier vollkommen übereinſtimmten, und auf das Beſtimmteſte verſicherte der König ſeinem Schwiegerſohne: wenn die Polen verſuchen ſollten ſich durch preußiſches Gebiet durchzuſchlagen, ſo würden ſie den gebührenden Empfang finden . *)Bernſtorff an Alopeus, 24. December 1830. K. Friedrich Wilhelm an K. Niko - laus, April 1831.Jeder Brief der Rebellenführer an den König wurde grundſätzlich zurückgewieſen, desgleichen jeder Verſuch der Vermittlung, auch wenn er von Männern ausging, die dem Monarchen perſönlich naheſtanden, wie der Erbmarſchall von Schleſien Graf Maltzan oder der berühmte Augenarzt Gräfe. **)Bernſtorff’s Bericht an den König, 28. Juni; Bernſtorff an Graf Maltzan, 12. März; Cabinetsordre an G. Stabsarzt v. Gräfe, 24. März 1831.Dies hinderte nicht, daß man aus Menſchlichkeit preußiſche Aerzte ſowohl nach Warſchau wie in das ruſſiſche Hauptquartier ſendete. Ohne alle Hintergedanken erhoffte man in Berlin nichts weiter als die raſche Beendigung des Aufruhrs. Gneiſenau ſprach nur die allgemeine Meinung der Regierungskreiſe aus, als er ſagte: der preußiſche Staat müſſe zwar um ſeiner Selbſterhaltung206IV. 3. Preußens Mittelſtellung.willen ſeinen polniſchen Beſitz behaupten; doch eine neue Theilung Polens könne er nicht wünſchen, denn die Verhältniſſe der Polen zu den Deutſchen haben ſich ſehr verbittert ſeit jener Zeit vor ſechsunddreißig Jahren; ſie ſind unfähig durch eine ſanfte und gerechte Regierung wie die unſrige ſich leiten zu laſſen . *)Gneiſenau an Bernſtorff, 21. Juli 1831.Den Weſtmächten gegenüber ſchlug Preußen wie Oeſterreich einen ſtolz abweiſenden Ton an. Als Sebaſtiani die Cholera - Gefahr zum Vorwande nahm, um darauf hin die Beendigung des Krieges zu verlangen, als Palmerſton ſich erdreiſtete die deutſchen Mächte an Vattel’s Völkerrecht und die Pflichten der Neutralen zu erinnern, da er - widerte Metternich höhniſch: es fehle grade noch zur Vollendung der all - gemeinen Auflöſung, daß die engliſchen Miniſter ſich zu Profeſſoren des Völkerrechts aufwürfen, und Ancillon erklärte dem Grafen Flahault, mit ausdrücklicher Genehmigung des Königs, rundweg: zunächſt müßten die Polen ſich unterwerfen, dann erſt könne von Zugeſtändniſſen geſprochen werden. **)Sebaſtiani, Weiſung an Mortemart, 15. Mai; Palmerſton, Weiſung an Cowley, 19. Juni; Metternich, Weiſung an Eſterhazy, 6. Juli; Ancillon, Bericht an den König, mit deſſen Randbemerkungen 26. Juli 1831.

Die treuen Deutſchen an der Grenze dankten dem Könige aufrichtig für ſeine entſchloſſene Haltung. Sie ſtanden den Dingen nahe genug um die ungeheuere Verlogenheit der aus Warſchau verbreiteten Kriegsberichte zu würdigen; ſie wußten, daß der Kampf in Polen keineswegs ungleich war, da die geringe Ueberzahl der Ruſſen durch die wohlgeſicherte Stellung der Polen an der Weichſellinie reichlich ausgeglichen wurde. Sie konnten nur mit Lächeln das an allen Läden ausgehängte Bild der letzten Zehn vom vierten Regiment , die nach ununterbrochenem Bajonettkampfe den Ruſſen entronnen ſein ſollten, und die ſchwülſtigen Verſe Julius Moſen’s darunter betrachten; denn ſie hatten mit eigenen Augen geſehen, wie die heldenmüthigen letzten Zehn , noch 1800 Köpfe ſtark, bei Strasburg über die Grenze flüchteten, und das geſammte vierte Regiment vor einer Handvoll Preußen ohne Widerſtand die Waffen ſtreckte. In Berlin aber und den entfernteren Provinzen begann die von Jahn gebrand - markte deutſche Fremdbrüderlichkeit bald hohe Wellen zu ſchlagen. Nicht zufällig hatte einſt Rouſſeau unmittelbar vor der erſten Theilung die un - vergleichliche Freiheit der Polen verherrlicht. Ein Gefühl der Wahlver - wandtſchaft verband den modernen Radicalismus mit der ſarmatiſchen Adels-Anarchie; dazu der Ruſſenhaß und die zauberiſche Macht der Pariſer Zeitungsphraſe. Eine polenfreundliche Literatur ſchoß ins Kraut, deren Anmaßung nur durch ihre Unwiſſenheit überboten ward; durch dieſe Polenſchwärmer gerieth Preußen, das im Herbſt 1830 von den Liberalen nicht ohne Achtung behandelt wurde, zuerſt wieder in Verruf. Da war vor Allen der aufgeklärte Spazier, der alte Läſterer Goethe’s, dann die207Die Polenfreunde.Baiern Groſſe und Widmann, dann Dr. Butte und eine Schaar anonymer Schriftſteller, von denen keiner je das alte Deutſchordensland betreten hatte. In ſeiner italieniſchen Abgeſchiedenheit dichtete Platen ſeine wilden Polen - lieder, mit ungewohnter Wärme, aber auch mit vollendeter Unkenntniß aller Verhältniſſe. Er glaubte im Ernſt, daß Rom und ſeine Jeſuiten , die natürlich auf Seiten der rechtgläubigen Polen ſtanden, mit den platt - naſigen Moskowitern Bruderküſſe tauſchten; denn die römiſche Mitra und die ruſſiſche Knute galten den Liberalen ein für allemal als der Inbegriff alles politiſchen Verderbens. Und wenn der Dichter dem Czaren zurief:

Sohn eines Bankerts, Enkel einer Hure!
Vernimmſt Du nicht, daß Alle Dich begrüßen:
Rehabeam, wie ſteht’s mit Deinem Schwure?

ſo vergaß er nur die Kleinigkeit, daß nicht Nikolaus, ſondern die Polen ihren Schwur gebrochen hatten.

In Berlin bildeten die Polenfreunde den erſten ſchwachen Stamm einer liberalen Oppoſitionspartei. Sie verſammelten ſich täglich in der Conditorei von Steheli hinter dem Schauſpielhauſe, laſen dort den Cour - rier polonais ſowie das deutſche Warſchauer Blatt und eiferten weidlich wider die ruſſiſch geſinnten Diplomaten und Offiziere des Adlichen Caſinos am Pariſer Platze, zumal wider den treuen Stägemann, der als guter Oſtpreuße den alten Markmannenhaß gegen die Sarmaten in ſeinen anti-meſſeniſchen Oden ungeſcheut ausſprach und kurzweg ſagte:

Glimme der Feuerball,
Der Polen hieß, zur Nacht geſchleudert,
Unter der Aſche die letzte Gluth aus!

Außer Ed. Gans ſchürte namentlich Varnhagen mit ſeiner Rahel das Feuer der polniſchen Begeiſterung. Der hatte alle dieſe Jahre hindurch beharrlich verſucht, durch freiwillige diplomatiſche Arbeiten die Gunſt Bern - ſtorff’s wiederzugewinnen, unter Anderem durch eine Denkſchrift, worin er vorſchlug, man möge die preußiſche Verfaſſung insgeheim ausarbeiten, vorläufig nach ihr regieren und ſie dann nach Jahresfriſt veröffentlichen. *)Varnhagen, Betrachtungen über die gegenwärtigen Verhältniſſe, 29. Juni 1820.Er war auch neuerdings von dem gutmüthigen Miniſter eine Zeit lang im Auswärtigen Amte beſchäftigt, aber wegen ſeines unheilbaren politiſchen Dilettantismus bald wieder beſeitigt worden und ſpielte nunmehr aber - mals den Freiheitshelden. Im Stillen übten dieſe polenfreundlichen Stim - mungen der gelehrten Welt eine ſtarke Wirkung. Die Schrift des gut - müthigen Friedrich v. Raumer über Polens Untergang klang faſt wie eine Anklage gegen Friedrich den Großen, und die Miniſter dachten ſchon an die Einleitung eines Strafverfahrens. Friedrich Wilhelm aber gewährte dem Hiſtoriker, nachdem er das Büchlein geleſen, eine königliche Genugthuung; er beauftragte ihn, als einen offenbar unparteiiſchen ehrlichen Schrift - ſteller, Preußens Verhältniſſe zu Polen in den Jahren 1830 32 nach amtlichen Quellen darzuſtellen. Raumer gehorchte und gab der Wahrheit208VI. 3. Preußens Mittelſtellung.die Ehre; ſeine Arbeit fiel jedoch ſo matt aus, daß die Regierung ſie un - gedruckt ließ. *)Nachträglich gedruckt in Raumer’s Vermiſchten Schriften II. 501.Auch die Berliner Börſe, die jetzt gute Tage ſah, da die Staatsſchuldſcheine auf 82 83 geſunken waren, und bereits anfing auf die öffentliche Meinung einen fühlbaren Druck auszuüben, pflegte jede Sieges - nachricht der Polen mit einem Steigen der Kurſe zu begrüßen. Selbſt im Heere war die Stimmung keineswegs ungetheilt; das rohe ruſſiſche Weſen mißfiel den preußiſchen Offizieren ebenſo gründlich wie den öſterreichiſchen. Das Militärwochenblatt brachte aus der Feder des Majors Williſen einige Aufſätze, welche nicht nur die ruſſiſche Kriegführung ſcharf tadelten, ſondern auch den Polen ſo deutlich wohlgemeinte Rathſchläge gaben, daß Ancillon ſich tief erſchrocken bei dem Kriegsminiſter beſchwerte und ihn nöthigte dem Unfug zu ſteuern. **)Ancillon an Hake, 26. März; Antwort 7. April; Krauſeneck an Bernſtorff, 12. April; Antwort 7. Mai 1831.

Die Aufregung wuchs, als das Verderben über Polen hereinbrach, im Juli 1831 das Corps Gielgud’s, 7000 Mann ſtark, im October General Rybinski mit 17,000 Mann auf preußiſchem Boden die Waffen ſtreckte; zur Feier des Einzugs wurde Gielgud ſogleich von einem ſeiner Offiziere als Verräther niedergeſchoſſen. Welch eine Aufgabe, dies ver - wilderte, durch Ungeziefer und ekelhafte Krankheiten ſtark heimgeſuchte Kriegsvolk ſo lange zu beherbergen, bis der Czar ihm die ſtraffreie Rück - kehr geſtattete! General Krafft und die preußiſchen Provinzialbehörden entledigten ſich der peinlichen Pflicht mit muſterhafter Geduld. Die Leute wurden ganz nach preußiſcher Weiſe verpflegt, bekleidet, ſogar abgelöhnt; die Mannſchaft betrug ſich leidlich, die Offiziere aber ſchlemmten im Hoch - meiſter zu Marienburg und im Goldenen Hirſch zu Elbing dermaßen, daß ſelbſt die deutſchen Polenſchwärmer ſich der Frage nicht erwehren konnten, ob das die Trauer ſei um ein verlorenes Vaterland. Nach und nach kehrte die Mehrzahl heim, nach zugeſicherter Begnadigung; beim Ab - marſch erklangen meiſt ſtürmiſche Hochrufe auf den guten König, der ſich der Unglücklichen ſo menſchlich annahm, obgleich ſie auch ſeine Feinde waren.

Doch unterdeſſen gab das Pariſer National-Comité die geheime Wei - ſung aus: der Stamm des polniſchen Heeres müſſe beiſammen bleiben um von Frankreich aus an dem nahen Rachekriege theilzunehmen. Sendboten des Generals Bem (er war eigentlich ein Deutſcher Namens Böhm) ſtachelten die Zurückgebliebenen auf; unter nichtigen Vorwänden ver - weigerten auch ſolche Offiziere, denen jede Strafe erlaſſen war, die Heim - kehr. Am unſäuberlichſten betrugen ſich die letzten Zehn vom vierten Regiment ; ſie waren, nachdem ihrer viele heimgekehrt, noch an 800 Köpfe ſtark und lebten in ewigen Händeln mit ihren Quartierwirthen. Als man ſie im Jahre 1832 zu Fiſchau bei Elbing verſammelte um ihnen neue Cantonnirungen anzuweiſen, drangen ſie mit Knütteln und Stangen209Die polniſchen Flüchtlinge in Preußen.auf die ſchwache preußiſche Wachtmannſchaft ein, und der commandirende Offizier ließ nach wiederholten Mahnungen endlich in den meuternden Haufen ſchießen. Augenblicklich fielen die Tapferen alleſammt platt auf die Erde, und ein gutmüthiges Bäuerlein rief ſchon klagend: ach Gott, die armen Leute ſind alle todt; aber alsbald erhob ſich die Mehrzahl wieder um das Weite zu ſuchen. Neun lagen todt, etwa zwölf verwundet auf dem Platze; die Flüchtlinge wurden von den erbitterten Bauern wieder eingefangen und ließen ſich nunmehr geduldig abführen. So endeten die letzten Zehn vom vierten Regiment. Endlich im Frühjahr war das Land von den ungebetenen Gäſten befreit. Bis zuletzt hielt der König ſtreng darauf, daß Keiner ausgeliefert wurde, dem die Begnadigung nicht ſicher war, da es nicht in der Abſicht liegen kann, dieſe Schutz ſuchend ins preußiſche Gebiet hinübergekommenen Mannſchaften einem un - gewiſſen Schickſal entgegenzuſenden. Vergeblich verlangte Czar Nikolaus mehrmals, daß man ihm mindeſtens die Hauptſchuldigen übergeben möge. Etwa 700 Mann, die von der Amneſtie ausgeſchloſſen waren oder jede Gnade verſchmähten, wurden ſchließlich zu Schiff nach Amerika gebracht und meuterten auf der See abermals, ſo daß man ſie in Havre abſetzen mußte.

Ebenſo ſchonend verfuhr Preußen gegen ſeine eigenen polniſchen Unter - thanen. Die Stimmung unter den Slachtizen und Kaplänen in Poſen war eine Zeit lang ſehr ſchwierig, die erhitzten Köpfe ſahen den weißen Adler auf dem Rathhausthurme, den die Zeit längſt geſchwärzt hatte, ſchon wieder weiß werden. Der König that nur das Nothwendige, als er die Theilnahme am Aufſtande für Landesverrath erklärte. Nach dem Kriege aber verkündete er eine Amneſtie für Alle, die in beſtimmter Friſt heimkehrten. Trotzdem mußten die Gerichte noch gegen mehr als 1600 Perſonen einſchreiten. Ihrer 1400 wurden verurtheilt, 1200 davon gänzlich begnadigt. 180 Verurtheilten erließ man die Geldſtrafen ganz, die Freiheitsſtrafen zur Hälfte. Nur 22 reiche Grundherren, deren Ver - mögen von Rechtswegen gänzlich eingezogen werden ſollte, mußten ein Fünftel davon als Geldſtrafe zahlen, und der König ließ die Summen den Unterrichtsanſtalten der Provinz zuweiſen.

Was war der Lohn für dieſe beiſpielloſe, offenbar unvorſichtige Milde? Ein unermeßliches Wuthgeſchrei in der geſammten liberalen Preſſe Europas. Das Pariſer polniſche National-Comité klagte den König vor aller Welt an wegen des ſchauderhaften Meuchelmords von Fiſchau: Niemals werden wir es vergeſſen, daß dieſe Frevel auf einem Boden ſtattfanden, der einſt polniſch war, daß die Ahnen derer, die unſere Mit - bürger meuchelmorden, einſt Polen zinsbar geweſen! Und um dieſen Anſpruch auf Preußens Zinsbarkeit näher zu erläutern, zeichnete der Vor - ſitzende des Comités Lelewel (auch er war ein Deutſcher, des Namens Löllhöfel) eine Karte des wiederhergeſtellten Polenreichs, welche nicht nur das Ordensland, ſondern auch große Stücke von Brandenburg undTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 14210IV. 3. Preußens Mittelſtellung.Pommern für den weißen Adler beanſpruchte. Ebenſo roh und verlogen äußerte ſich J. Czynski in der Schrift Preußen im Jahre 1831 über die Behandlung ſeiner Landsleute. Mickiewicz aber, der gefeierte Dichter, theilte in den Büchern des polniſchen Volks die ganze Weltgeſchichte in zwei Abſchnitte: von Erſchaffung der Welt bis zum Leidenstode der polniſchen Nation , und dann die Zeit nachher. Den Charakter des Deutſchen ſchilderte er alſo: ſein Vater iſt der Arbeitsplatz und ſeine Mutter die Kneipe. Er ſchloß mit dem Gebete: Erlöſe uns, Herr, durch das Blut der Soldaten todtgeſchlagen in Fiſchau von den Preußen! Und dieſe wüthenden Angriffe der Todfeinde Deutſchlands wurden von den ſüddeutſchen Kammerrednern und Zeitungsſchreibern eifrig nachgeſprochen, obgleich zwei preußiſche Offiziere, Dankbahr und Brandt, beide Augen - zeugen, in verſtändigen Schriften den wirklichen Hergang längſt wahrheits - getreu geſchildert hatten. Was galten auch dieſen fremdbrüderlichen Herzen die ſchlichten Worte deutſcher Landsleute neben den Prahlereien edler Polen ? So lautete das unerläßliche ſchmückende Beiwort in den liberalen Zeitungen, unedle Polen gab es nicht.

In Altpreußen ließen dieſe polniſchen Händel zuletzt viel böſes Blut zurück. Die langanhaltende Grenzbewachung ſtörte den gewohnten Ver - kehr, und bei den Sperrmaßregeln gegen die Cholera konnten arge Miß - griffe nicht ausbleiben, da noch Niemand die räthſelhafte Seuche kannte. Schön, der wie gewöhnlich Alles beſſer wußte, glaubte erkannt zu haben, daß die Cholera nicht anſteckend ſei, und vermehrte die Verwirrung noch durch ſeine wohlgemeinten eigenmächtigen Vorſchriften. Nach deutſchem Brauche warf man alle Schuld auf die Regierung. Der Magiſtrat von Königsberg richtete im Juli 1831 eine ſehr unehrerbietige Adreſſe an den König und verlangte völlige Abſperrung gegen Rußland zu Lande wie zur See; eine höchſt ungnädige Cabinetsordre verwies ihn zur Ruhe. Als nun endlich die Kriegswetter verrauſchten, erſtattete Rußland ſeinen Dank für Preußens freundnachbarliche Hilfe durch eine Verſchärfung der Grenz - ſperre, welche den geſetzlichen Handel zwiſchen den beiden Nachbarländern faſt vernichtete. Die Provinz litt ſchwer, die Mißſtimmung ſtieg, und um die Mitte der dreißiger Jahre erkannte man das gut königliche Königs - berg kaum mehr wieder. Die Stadt zerfiel fortan in zwei grimmig ver - feindete Parteien, die einander mit der ganzen Schroffheit der Altpreußen bekämpften, und die vordem ſo zahme Königsberger Zeitung redete jetzt über alle Schritte der Regierung mit einer Gehäſſigkeit, welche deutlich erkennen ließ, daß die ſchwere Willenskraft dieſer Provinz leicht der Träger einer gefährlichen Oppoſition werden konnte. Wahrlich es war dringend geboten, allen dieſen verhaltenen Gegenſätzen endlich Thür und Thor zu öffnen; und Dahlmann traf den Nagel auf den Kopf, als er in der Han - noverſchen Zeitung, in der Rede eines Fürchtenden ſagte: Wir haben einen Staat in Deutſchland, der den wunderbaren Speer beſitzt, welcher heilt211Frankreich und die deutſchen Höfe.zugleich und verwundet. An dem Tage, da der König von Preußen in ſeinem Staate die Reichsſtandſchaft begründet, wird der geſetzliche Deutſche wieder aufathmen; er hat die Verſicherung, daß bei der Freiheitsent - wickelung Geſetz wohnen werde, daß unſeren Dynaſtien ihre Ehre ver - bleibe, daß aber auch fortan die Bundesverſammlung in ihre Berech - nungen die leitenden Ideen aufnehmen und allmählich dem Grundgeſetze einverleiben werde, welche das gute heimiſche Recht ſicher ſtellen vor jeder verderblichen Einwirkung, ſei’s von Oſten oder von Weſten.

Für ſolche Pläne einer Verjüngung des Bundestags fehlten für jetzt noch alle Vorbedingungen. Preußens Bundespolitik ging, wie ſie es mußte, zunächſt nur darauf aus, Deutſchlands innere und äußere Sicherheit in ſo drangvoller Zeit zu befeſtigen. Dem Hofe des Palais Royal gegenüber hielten ſich die kleinen deutſchen Cabinette alleſammt untadelhaft, weit patriotiſcher als ihre liberalen Unterthanen. Bei einigen mochte der Haß gegen die Revolution, bei anderen die noch friſche Er - innerung an das Schickſal Friedrich Auguſt’s von Sachſen mitwirken, die Mehrzahl war wirklich national geſinnt. Als General Sebaſtiani unter der Hand bei dem bairiſchen, dem württembergiſchen Geſandten und dem Karlsruher Hofe anfragte, ob nicht ein neuer Rheinbund oder doch eine Neutralität Süddeutſchlands möglich ſei, da ward er überall ſcharf abgewieſen, und die kleinen Höfe berichteten das Geſchehene getreulich den deutſchen Großmächten. *)K. Ludwig v. Baiern an K. Friedrich Wilhelm 17. März 1831. Otterſtedt’s Bericht, 12. December 1830. Arnim’s Bericht, Karlsruhe 8. Januar 1831.König Ludwig von Baiern war in dieſer Zeit, da die Zollverhandlungen ſich ſo glücklich abgewickelt hatten, Feuer und Flamme für Preußen und verſicherte dem Könige Friedrich Wilhelm, als er ſeinen Sohn auf die Berliner Hochſchule ſendete, wiederholt: ſein Thronfolger ſolle dort ſich mit denſelben Geſinnungen für Preußen er - füllen, die mich durchdringen, für Preußen, was mehrmalen Baiern meinem Hauſe erhielt, der ich nur in engem Verbande mit Preußen Teutſchlands Heil ſehe . **)K. Ludwig v. Baiern an K. Friedrich Wilhelm 30. Sept., 2. Nov. 1830.Auch der König von Württemberg hatte mit den Trias-Träumen früherer Jahre gründlich gebrochen; die hohle Rhe - torik der Liberalen widerte ſeinen nüchternen Geiſt mehr und mehr an. Als er im Juni 1831 mit Ludwig Philipp in Straßburg zuſammentraf, verhielt er ſich ſehr ſchweigſam und ſagte ſchließlich dem Franzoſen rund heraus, an einen neuen Rheinbund ſei gar nicht zu denken. ***)Berichte Salviati’s 27. Juni, Otterſtedt’s 21. 26. Juni 1831.

Dieſe achtungswerthe Geſinnung der kleinen Höfe hinderte freilich nicht, daß jeder durchgreifende Bundesbeſchluß, nach altem Frankfurter Brauche, auf eigenſinnigen Widerſpruch ſtieß. Am 18. Sept. 1830 ver - ſammelte Münch, im Einverſtändniß mit Nagler, die Bundesgeſandten14*212IV. 3. Preußens Mittelſtellung.zu einer vertraulichen Beſprechung und ſtellte ihnen vor, daß dieſe Tage der Gährung außerordentliche Vorſichtsmaßregeln erheiſchten; denn der Bund beruht ſeinem eigentlichſten Weſen nach auf dem Princip der wechſel - ſeitigen Intervention in allen den Fällen wo ſonſt das Völkerrecht ent - ſcheidet . *)Blittersdorff’s Bericht, 18. September 1830.Man beabſichtigte zunächſt mehrere tauſend Mann Bundes - truppen in der Nachbarſchaft Frankfurts aufzuſtellen, nöthigenfalls auch einige fliegende Corps durch das unruhige Mitteldeutſchland zu ſenden. Da erhob Baiern Einſprache. König Ludwig wollte nichts dulden was ſeine Souveränität irgend ſchmälerte: nimmermehr könne Baiern, das an dreizehn Nachbarn angrenze, fremden Weiſungen gehorchen oder gar, wie man in Frankfurt verlangte, einige ſeiner Bataillone einem naſſaui - ſchen General unterordnen; nur als ſouveräne Macht, nicht als Bundes - ſtaat werde ſein Staat den Nachbarn Hilfe leiſten. Er ſelbſt wähnte ſich völlig ſicher, da ſein Land bisher noch ruhig blieb und die Münchener ihr Octoberfeſt mit der üblichen Bierſeligkeit feierten. Seinem Bundesge - ſandten ſchrieb er ſehr gereizt: Wir ſind bereitwillig Unſere bundesmäßige Hilfe nach den Beſtimmungen der Bundesgeſetze mit teutſch-patriotiſchen Geſinnungen zu leiſten; aber Wir haben keinen Grund zum Schutze der Grenzen Unſeres Reiches eine fremde Hilfe zu verlangen; und ſein Miniſter Zentner fügte hinzu: Einquartierungen im Frieden ſind ver - haßt und werden es noch mehr, wenn der brave Bürger für Dritte, für Angehörige anderer Staaten büßen ſoll. **)K. Ludwig, Weiſungen an Lerchenfeld 4. 6. 9. October. Erörterungen des bair. Miniſteriums, 9. October 1830.

Metternich fürchtete ſchon, die alte Sonderpolitik Baierns werde von Neuem beginnen und griff in ſeiner Angſt zu einem ſehr ungewöhn - lichen Unterhandlungsmittel. Er ſchickte König Ludwigs eignen Geſand - ten, den Grafen Bray, nach München, mit einem Handſchreiben des Kaiſers Franz und zwei großen Denkſchriften, welche dem Wittelsbacher die Gefahr der Lage vor die Augen führen ſollten: Für die Fürſten und die Völker handelt es ſich heute darum, zu leben und nicht die Beute jener Klaſſe von Proletariern zu werden, welche Ziele verfolgen, die ſie ſelbſt nicht angeben wollen oder können und welche immer nur umſtürzen, niemals etwas ſchaffen werden . ***)K. Franz an K. Ludwig, Preßburg 9. October 1830, nebſt zwei Beilagen: Points pour le Comte Orlow; Points pour le Comte Bray. Anfangs empfing König Ludwig ſeinen Geſandten, der ihm alſo k. k. Politik predigen ſollte, mit erklärlichem Unwillen; er lenkte jedoch bald ein, dankte dem Kaiſer in einem verbindlichen Schreiben für ſeine erhabenen Anſichten und ver - wahrte ſich wider den Verdacht, daß er Spaltungen am Bunde hervor - rufen wolle. †)K. Ludwig an K. Franz, 24. October 1830.

213Bundesbeſchlüſſe gegen die Revolution.

In der That erwies ſich Metternich’s Beſorgniß ſofort als grundlos. Der Wittelsbacher war nur in ſeiner dynaſtiſchen Eitelkeit verletzt, doch im Weſentlichen ganz einverſtanden mit den Abſichten der Großmächte. Eben jetzt lieferte der Münchener Hof ein neues erbauliches Probſtück jener unwahren, ſchielenden Politik, welche er gegenüber den Karlsbader Be - ſchlüſſen immer eingehalten hatte. Vornehmlich auf Baierns Betrieb war im Jahre 1824 die Giltigkeit dieſer Ausnahmegeſetze verlängert worden; gleich - wohl hatte der bairiſche Geſandte bei der Abſtimmung die beiläufige Be - merkung eingeflochten, man werde ſie wie bisher befolgen. *)ſ. o. III. 338.Ein ſolcher Vorbehalt war rechtlich wirkungslos bei einem einſtimmigen Bundesbe - ſchluſſe; doch er konnte mit einiger Dreiſtigkeit allenfalls ſo gedeutet werden, als ob in Baiern wie bisher die Bücher und die wiſſenſchaftlichen Zeit - ſchriften cenſurfrei bleiben ſollten. Die bairiſche Cenſur wurde auch während der folgenden ſtillen Jahre ziemlich mild gehandhabt; ſie ließ die kleinen Blätter, welche nur Landesſachen beſprachen, ganz unbeläſtigt. Nach der Juli-Revolution ſchlugen aber mehrere dieſer Ortsblätter einen ſo auf - reizenden Ton an, daß König Ludwig ſich ſchwer gekränkt fühlte. Im tief - ſten Geheimniß, ohne Vorwiſſen des Miniſters Armansperg, ſchrieb er alſo (27. Sept.) ſeinem Bundesgeſandten Lerchenfeld: er wolle die Be - ſprechung innerer Landesangelegenheiten wieder der Cenſur unterwerfen, doch ohne die Hilfe des Bundestags könne er dies nicht wagen; daher ſolle der preußiſche Bundesgeſandte in unverbrüchlichem Vertrauen gebeten werden, einen Antrag in dieſem Sinne zu ſtellen. Aengſtlich fügte er hin - zu: daß ich Preußen dazu anging, darf nicht vorkommen, noch in Baiern irgend Jemand zu irgend einer Zeit hiervon Kenntniß erhalten; auch nachher kam er immer wieder darauf zurück, daß Baierns Bereitwilligkeit im tiefen Dunkel bleiben müſſe.

Seine Bitte war kaum nöthig; die beiden Großmächte hatten bereits beſchloſſen, die Zügel der Cenſur etwas ſchärfer anzuziehen. So konnten denn am 21. October 1830 in leidlicher Eintracht die neuen Bundes - beſchlüſſe über Deutſchlands Sicherheit gefaßt werden. **)Weiſung an Lerchenfeld, 13. Oct. 1831.Sie befahlen nur das Unentbehrliche. Man merkte deutlich die ruhige Hand Bern - ſtorff’s, der alle dieſe Monate hindurch mit Metternich in Fehde lag und wegen ſeiner Mäßigung von Wien her bei dem Könige beharrlich aber erfolglos verdächtigt wurde. ***)Bernſtorff, Rechtfertigungsſchreiben an den König, 27. September 1830.Der Bund forderte lediglich: die Bundes - ſtaaten ſollten zu gegenſeitiger Unterſtützung ihre Truppen bereit ſtellen, ihre Bundesgeſandten mit umfaſſenden Vollmachten verſehen, ihre Cen - ſoren zur Wachſamkeit anhalten und auch die Blätter, welche ſich nur mit inneren Landesangelegenheiten befaßten, ſtreng beaufſichtigen. Dieſen214IV. 3. Preußens Mittelſtellung.letzten Zuſatz hatte Preußen beantragt um freundnachbarlich dem geäng - ſtigten Baiernkönige aus der Noth zu helfen. Im Uebrigen war der Beſchluß weit milder und verſöhnlicher gehalten als die früheren Frank - furter Ausnahmebeſchlüſſe. Der Bundestag ſprach zugleich die Erwartung aus, daß die Regierungen nicht blos gefährliche Nachgiebigkeit vermeiden, ſondern auch begründeten Beſchwerden ihrer Unterthanen landesväterlich abhelfen würden. Eine ſolche Anerkennung der Rechte des Volks war in der Geſchichte der Bundesverſammlung unerhört. In ſeinem beglei - tenden Vortrage mußte Nagler ſogar auf Eichhorn’s beſtimmten Befehl und gegen ſeine perſönliche Neigung rundheraus erklären, daß manche Staaten durch Vernachläſſigung ihrer Bundespflichten, namentlich durch die unterlaſſene Einführung der Landſtände, allerdings Anlaß zu Klagen gegeben hätten.

Leider folgte dem verſtändigen Beſchluſſe ein Nachſpiel, das den be - rechtigten Unwillen der Liberalen erregte. Jetzt zum erſten male erdreiſtete ſich Czar Nikolaus in die Bundespolitik einzugreifen, indem er der Frankfurter Verſammlung ſeine Anerkennung für ihre weiſen Beſchlüſſe ausſprach; der Bundestag antwortete durch ein Dankſchreiben, ohne zu erwägen, daß wer loben darf auch zum Tadeln berechtigt iſt. Bald darauf ſetzte Preußen durch, daß die Contingente der allerkleinſten Staaten endlich zu einer Reſerve-Infanteriediviſion vereinigt und für den Kriegs - fall zur Beſetzung der Bundesfeſtungen verwendet werden ſollten. Leicht hielten ſolche Beſchlüſſe mit nichten, denn die Bundes-Militärcommiſſion führte auch in dieſen gefährlichen Zeiten ihr ſubalternes Stillleben weiter. Sie ſtritt ſich über den Eid des Commandanten der noch immer nicht vollendeten Bundesfeſtung Landau; Württemberg hielt ihr einen aus - giebigen Vortrag über die Frage, wer ein beim Luxemburger Feſtungsbau gefallenes Pferd zu bezahlen habe, und gelangte zu dem Ergebniß, daß dieſer ſchwierige Fall nirgends vorgeſehen, alſo nur durch ein neues Bundes - geſetz zu entſcheiden ſei. *)Nagler’s Berichte, 10. 22. November, 10. December 1830.

Als die Kriegsgefahr näher rückte, ſtellte König Friedrich Wilhelm dem Auswärtigen Amte die Anfrage (10. Nov.), wie die Ruhe in Deutſch - land für den Fall des Krieges zu ſichern ſei. Bernſtorff ließ darauf durch Eichhorn in einer ausführlichen Denkſchrift die leitenden Grundſätze ſeiner Bundespolitik zuſammenſtellen (29. Januar 1831). Unbefangen geſtand er zu, daß die Unzufriedenheit in den kleinen Staaten nicht allein durch die Juli-Revolution hervorgerufen ſei, ſondern durch ſchwere Fehler der Regierungen und vornehmlich durch den Unwillen der Deut - ſchen über ihre Zerriſſenheit; darum dürfe der Krieg gegen Frankreich nicht als ein Principienkampf für das legitime Recht geführt werden, ſondern als ein Vertheidigungskrieg für die vaterländiſchen Grenzen; dann215Militäriſche Verhandlungen mit Oeſterreich.werde die Nation einem warmen Aufrufe des Königs ebenſo freudig folgen wie im Jahre 1813, zumal wenn man ſie durch patriotiſche Schriften über die Lage aufkläre. Den Augenblick für eine Bundesreform ſah er noch nicht gekommen: Wenn die deutſchen Regierungen, durch eigene Erfahrung be - lehrt, einſt aufgehört haben werden, in Anordnungen, die nichts als das gemeine Beſte Deutſchlands zu begründen oder zu erhöhen beſtimmt und geeignet ſind, nur Beſchränkungen ihrer Souveränität zu ſehen und zu ſcheuen, wenn ſie in ihrem richtig verſtandenen Intereſſe Antriebe finden, freiwillig dazu die Hände zu bieten, alsdann erſt wird die Zeit zu einer den Grundſätzen Preußens angemeſſenen Verwirklichung eines beſſeren Zuſtandes der deutſchen Bundesverfaſſung die völlige Reife erlangt haben. Für jetzt bleibe nur übrig, daß Preußen durch ſtreng geſetzliche, bundestreue Haltung ſich das allgemeine Vertrauen ſichere und zugleich fortfahre, durch Sonderverhandlungen mit den einzelnen Staaten gemeinnützige Zwecke zu fördern, insbeſondere der allgemeinen deutſchen Handelsfreiheit ſchrittweiſe ſich anzunähern.

Der König gab dieſen Grundſätzen ſeine Zuſtimmung (22. März). Die Kriegsgefahr zwang ihn, den empfohlenen Weg der Sonderverhand - lungen alsbald rüſtig zu verfolgen. Jetzt da Noth an Mann kam, waren alle Höfe über die unverbeſſerliche Erbärmlichkeit der Bundeskriegsver - faſſung einig, ſelbſt jene Mittelſtaaten, welche einſt aus Neid gegen Preußen dies Meiſterwerk geſchaffen hatten. Alle fühlten, daß mindeſtens für den nächſten Krieg eine andere, feſtere Ordnung verabredet werden müſſe, da Oeſterreich ſeiner beſten Kraft zum Schutze Italiens bedurfte. Auf Preu - ßens wiederholtes Andrängen erklärte ſich die Hofburg auch bereit, mit den ſüddeutſchen Höfen zu verhandeln; aber die alte Gleichgiltigkeit gegen Deutſchland und die Mattigkeit, welche dieſen alternden Hof ergriffen hatte, lähmten jeden Entſchluß. Graf Schönburg, der Geſandte in Stutt - gart, der die Verhandlungen führen ſollte, blieb monatelang unthätig in Wien, und Preußen ſah ſich ſchließlich gezwungen, Alles auf ſeine eigene Kappe zu nehmen. Schon im December 1830 wurde General Röder nach Wien geſendet und überraſchte die Hofburg durch die beſtimmte Erklärung: die Bildung eines Bundesheeres unter einem Bundesfeldherrn ſei offenbar unmöglich. Preußen denke mit ſeiner ganzen Macht in den Krieg einzu - treten und verlange, daß drei Heere aufgeſtellt würden: ein preußiſches, verſtärkt durch die kleinen norddeutſchen Contingente, an der Moſel; ein ſüddeutſches, durch preußiſche Truppen verſtärkt, am Ober - und Mittel - rhein; endlich ein öſterreichiſches in Schwaben. Damit war die Bundes - kriegsverfaſſung über den Haufen geworfen, freilich nur vorläufig, für die Dauer des nächſten Krieges, eines Krieges, welchen Preußen aus guten Gründen zu vermeiden wünſchte. Die lächerliche Künſtelei, welche ſechs der neun preußiſchen Armeecorps von dem Bundesheere ausſchloß, ſollte hinwegfallen, Preußen der Sache nach die Führung des Bundes -216IV. 3. Preußens Mittelſtellung.krieges übernehmen, Oeſterreich ſich mit der beſcheidenen Rolle einer Hilfs - macht begnügen.

In Wien empfand man, Angeſichts der unſicheren Lage Italiens, die eigene Schwäche ſo lebhaft, daß man ſelbſt dieſen ſtarken Zumuthungen nicht gradehin zu widerſprechen wagte. Eine bündige Antwort war freilich auch nicht zu erlangen, und der König entſchloß ſich daher im Februar 1831, den General Rühle von Lilienſtern unmittelbar an die ſüddeutſchen Höfe zu ſenden. Dort wurde der preußiſche Unterhändler überall mit offenen Armen aufgenommen. König Ludwig verbarg nicht, daß er der Redlichkeit der Hofburg ebenſo ſehr mißtraue wie ihrer kriegeriſchen Macht; er ließ eben jetzt, zum Entſetzen des franzöſiſchen Geſandten, den bairiſchen Schützen - marſch, den er einſt im Januar 1814 gedichtet, im Theater wieder auf - führen und war gern bereit zum Schlagen, aber nur im engſten Anſchluß an Preußen, und alſo, daß ſeine Truppen nöthigenfalls ihren Rückzug nach dem Maine, gegen Preußen hin nähmen. *)Bericht von Rühle und Küſter 7. März. Küſter’s Berichte, 7. 25. März, 10. April 1831.Auch die Höfe von Stuttgart, Karlsruhe, Darmſtadt gingen auf Preußens Vorſchläge bereitwillig ein; ſie einigten ſich ſogar über einen gemeinſamen ſüddeutſchen Feldherrn. Im Stillen hatte König Wilhelm von Württemberg auf dieſe Stellung gehofft. Die preußiſchen Generale meinten jedoch, daß er wohl ein verſtändiger und feſter Corpsführer, aber kein Feldherr ſei und noch weniger fähig Liebe zu gewinnen. **)General Wolzogen an Bernſtorff, 14. Oct. 1830.Da auch die ſüddeutſchen Höfe dieſe Anſicht theilten, ſo bezwang der König hochherzig ſeinen Ehrgeiz und ſchlug ſelber vor, daß Wrede, der als Feldmarſchall den Vortritt hatte, die Führung über das bairiſche und über das achte Bundes-Armeecorps zugleich übernehmen ſollte.

Es war doch ein ſchöner Erfolg, daß die alte deutſche Zankſucht jetzt ſo ganz zurücktrat. Auf das Eifrigſte verhandelten die oberländiſchen Höfe nunmehr über alle Einzelheiten ihres Aufmarſches. ***)Wrede an Markgraf Wilhelm von Baden, 20. Febr.; Antwort 27. Febr. 1832.In heller Freude ſchrieb Witzleben dem Auswärtigen Amte: Die ſüddeutſchen Re - gierungen haben uns Vertrauen erwieſen, wir müſſen daſſelbe largement erwiedern. Der Charakter der preußiſchen Politik iſt Gradheit und Offen - heit, ſo müſſen wir uns daher gegen unſere ſüddeutſchen Brüder aus - ſprechen. Das wahre deutſche Intereſſe wird allemal auch ein preußiſches ſein. Wünſche, die jenem nicht entgegen ſind, werden daher von uns nur unterſtützt werden können, und es leidet auch keinen Zweifel, daß man ſich darüber mit Oeſterreich leicht wird verſtändigen können. †)Witzleben an Eichhorn, 1. Juli 1831.General Krauſeneck, der den liberalen Ideen nahe ſtand, trug ſich ſchon mit der kühnen Hoffnung, aus dieſen Verabredungen werde vielleicht ein217Militäriſche Verhandlungen mit Süddeutſchland.dem Zollvereine ähnlicher militäriſcher Bund der Kleinſtaaten unter Preu - ßens Führung hervorgehen. Ueberhaupt verbreitete ſich unter den preu - ßiſchen Generalen mehr und mehr die Einſicht, daß Oeſterreich im deutſchen Heerweſen nicht ſchöpferiſch und leitend wirken könne. Selbſt Herzog Karl von Mecklenburg trug kein Bedenken dieſen ketzeriſchen Gedanken auszu - ſprechen. Doch leider bekundete ſich die wackere Geſinnung der ſüddeutſchen Höfe vorerſt nur in Worten. Sie thaten Einiges um unter den Contin - genten Badens, Württembergs, Heſſens eine annähernde Gleichheit des Commandos und der Bewaffnung herbeizuführen; einmal verſammelte ſich ſogar das achte Bundesarmeecorps zu gemeinſamen Manövern bei Heil - bronn. Indeß ließ der Zuſtand ihrer Truppen ſehr viel zu wünſchen übrig, Dank der thörichten Knauſerei der Landtage und der Kunſtliebe König Ludwigs. In Baiern hatte das Bataillon nur 60 Mann unter der Fahne, und als der König jetzt, zum erſten male ſeit ſeiner Thron - beſteigung, eine Heerſchau über die Münchener Regimenter hielt, da zählte die geſammte Garniſon nur 1200 Mann Fußvolk, 400 Pferde und 5 Batterien. *)Küſter’s Bericht, 26. Juni 1831.

Unterdeſſen war der Wiener Hof aus ſeiner Trägheit erwacht. Feld - marſchallleutnant Langenau, Preußens alter Feind von Frankfurt her, warnte dringend vor den Berliner Anſchlägen. Auch fürchtete Metternich, ohne jeden Grund, die Süddeutſchen würden ſich über ein Neutralitäts - bündniß verſtändigen; wirkte doch der württembergiſche General Bangold, ein in der Hofburg ſehr übel verrufener Liberaler, bei den Verhandlungen mit, und an allen kleinen Höfen entfalteten die Geſandten Ludwig Phi - lipp’s eine verdächtige Geſchäftigkeit. **)Maltzahn’s Bericht, 6. Mai 1831.Erſt die Eiferſucht auf Preußens Erfolge bewog die öſterreichiſchen Unterhändler, endlich gegen General Röder mit eigenen Vorſchlägen herauszurücken. Auf den einen Bundes - feldherrn wagten ſie kaum noch zu hoffen, da Erzherzog Karl ſich nicht geneigt zeigte, dies dornige Amt unter den mißtrauiſchen Augen ſeines Bruders zu führen. Dafür verlangten ſie die Bildung zweier Heere: alle ſüddeutſchen Truppen unter Oeſterreichs Führung, alle norddeutſchen unter Preußen. Welch ein Wandel der Machtverhältniſſe! Dieſe Zwei - theilung des Bundesheeres war von Preußen während der letzten Jahre immer als das höchſte vielleicht erreichbare Ziel erſtrebt, von Oeſterreich ſtets bekämpft worden, und nun brachte die Hofburg den Gedanken des militäriſchen Dualismus ſelber ihrem Nebenbuhler entgegen. In Berlin flogen aber die Gedanken jetzt ſchon höher; man wußte, wie wenig Oeſter - reich für dieſen Bundeskrieg leiſten konnte, und verlangte für Preußen die thatſächliche Leitung aller kleinen Contingente.

So rückten die Verhandlungen in Wien nicht von der Stelle. Die218IV. 3. Preußens Mittelſtellung.ſüddeutſchen Höfe billigten alleſammt Preußens Verfahren; öſterreichiſcher Führung wollten ſie ihre Truppen ſchlechterdings nicht anvertrauen, und als Langenau gar den Plan entwickelte, das öſterreichiſch-ſüddeutſche Heer ſolle ſeine Rückzugslinie nach dem Lech nehmen, da erwachten wieder die böſen Erinnerungen aus den Zeiten der Revolutionskriege. Kaiſer Franz hatte zwar ſelbſt durch ſeine Trägheit verſchuldet, daß Preußen jetzt auf eigene Fauſt mit den kleinen Höfen ſich verſtändigte und ihn, den alten, mächtigen Bundesgenoſſen faſt zur Seite liegen ließ; gleichwohl fühlte er ſich durch das Verfahren des Königs verletzt. Er ſchrieb ihm ſelbſt (2. April) in dem gewohnten freundſchaftlichen Tone, dankte für Röder’s Sendung und ſchloß deutlich mahnend: Je größer die Gefahren des Tages ſind, um ſo mehr bin ich überzeugt, daß die noch mögliche Rettung ſich nur finden kann und finden wird in der innigſten, offenſten und vollſtändigſten Verbindung zwiſchen uns Beiden . *)Kaiſer Franz an König Friedrich Wilhelm, 2. April 1831.Zugleich mußte Metternich dem Berliner Hofe immer dringender vorhalten, das alte Ver - trauen zwiſchen den beiden führenden Mächten erfordere doch, daß ſie auch über dieſe Frage der Bundespolitik ſich zunächſt ſelbander ver - einigten. Als der König im Auguſt im Teplitzer Bade weilte, ſtellte ihm Metternich’s Vertrauter, Hofrath v. Werner, die förmliche Bitte, er möge geſtatten, daß ein k. k. Militärbevollmächtigter zu Berlin die Verhand - lungen ins Reine bringe.

Friedrich Wilhelm war unangenehm überraſcht; er bemerkte ſpäter - hin ärgerlich, Oeſterreich habe ſich Licht zu Berlin geholt. **)Aufzeichnung des Königs, 30. Nov. 1831.Aber er gab nach; die Kriegsgefahr war im Augenblicke nicht drohend, und da man den Kampf, wenn er kam, doch gemeinſam mit Oeſterreich führen mußte, ſo ſchien es nicht rathſam den alten Bundesgenoſſen zu beleidigen. An eine dauernde Reform der Heeresverfaſſung des Bundes ließ ſich gar nicht denken; dies hätten die ſüddeutſchen Höfe niemals zugegeben, am wenigſten der eiferſüchtige König von Württemberg. Bernſtorff ſelbſt dachte viel zu nüchtern, um irgend eine Aenderung der Bundesgeſetze für möglich zu halten;***)Bernſtorff, Denkſchrift über die Bundesverfaſſung, 1. Nov. 1831. auch Clauſewitz rieth, man müſſe mit dem Wiener Hofe ſich klar verſtändigen. Im September traf der öſterreichiche General Graf Clam in Berlin ein, ein reicher, glänzender Magnat, der von Met - ternich ſtark überſchätzt und oft zu vertraulichen Sendungen gebraucht wurde. Den Damen bei Hofe gefiel er ſehr, weniger den ſtolzen preußi - ſchen Männern; denn gar zu gleißneriſch erklang doch aus dem Munde des ſchlauen Weltmannes der anbiedernde Wiener Ton. Immer wenn Clam eine dreiſte öſterreichiſche Forderung ſtellte, fügte er mit freund - ſchaftlicher Zudringlichkeit hinzu, dieſer Vorſchlag beweiſe, daß Preußens Ehre, Anſehen und eminente Stellung im Bunde für Oeſterreich ebenſo219Verſtändigung über den Bundes-Kriegsplan.wichtig und theuer als die eigenen ſind. *)Clam an Kneſebeck, 15. März 1833 u. ſ. w.In langen Monaten ver - mochten weder Bernſtorff noch die Generale Kruſemark und Rühle ſich mit dieſem wortreichen Freunde zu verſtändigen. Bernſtorff, krank und reizbar wie er war, bat endlich den König geradezu, ihn von dieſem Ge - ſchäfte zu entbinden. **)Cabinetsordre an Bernſtorff, 12. März; Bernſtorff an Clam, 14. März 1832.

Inzwiſchen wurde General Kneſebeck mit der Fortführung der Unter - handlungen beauftragt, und dieſer alte treu ergebene Freund der Hofburg bemühte ſich nach Kräften, allen Wünſchen Clam’s entgegenzukommen. Preußens Forderungen entſprachen aber ſo genau den gegebenen Macht - verhältniſſen, daß ſelbſt Kneſebeck wenig davon nachlaſſen konnte. Als nun endlich im Mai 1832 die Militärbevollmächtigten der ſüddeutſchen Höfe, die von Preußen über Alles getreulich unterrichtet waren, und dann auch die Vertreter von Sachſen und Hannover nach Berlin geladen wurden, da errang die preußiſche Politik einen vollſtändigen Triumph. Die Offiziere der Mittelſtaaten erklärten ſich ſammt und ſonders für Preußens Vorſchläge, und die Militär-Conferenz beſchloß, daß für den Fall des Krieges drei Heere aufgeſtellt würden: zwei aus Preußen und Bundestruppen gemiſchte am Nieder - und Mittelrhein, dazu ein öſter - reichiſches Heer am Oberrhein. Preußen verſprach außer den Feſtungs - garniſonen 231000 Mann zu ſtellen, die kleinen Staaten 116000 Mann eine ziemlich kühne Rechnung Oeſterreich endlich 172000 Mann. Die letztere Zahl ließ man nur aus Höflichkeit ſtehen; denn Niemand glaubte, daß der Krieg in Italien ſo viele k. k. Truppen verfügbar laſſen würde. Traten dieſe Entwürfe je ins Leben, ſo erhielt Preußen offenbar die Leitung des Bundeskriegs. Der verabredete Plan wurde ſodann dem aus Petersburg geſendeten General Neidhardt mitgetheilt, und Czar Nikolaus wiederholte ſeine dreiſte Zuſage, daß er im Falle des Krieges Polen mit 100000 Mann decken und 200000 Mann als furchtbare Reſerve dem deutſchen Heere nachſchicken werde. So hoffte man gegen jeden Angriff gedeckt zu ſein. Alle dieſe Verhandlungen blieben tief geheim und für den Augenblick ohne Wirkung, da der Krieg abgewendet wurde; aber ſie bewieſen ſchlagend, daß ſelbſt die eiferſüchtigen kleinen Höfe in ernſter Noth nur bei Preußen Hilfe ſuchen konnten, und wer frei in die Zu - kunft blickte, mochte ſchon jene von Eichhorn erhoffte Zeit nahen ſehen, da die deutſchen Dinge für eine preußiſche Bundesreform reif wurden. In welche Sackgaſſe war doch der Deutſche Bund unter dem Syſteme des friedlichen Dualismus gerathen: alle größeren Höfe ſahen ein, daß ſie den Krieg gegen Frankreich nur unter Preußens Führung unternehmen durften; und dennoch wagte Niemand, die geſetzliche Neugeſtaltung des Bundeskriegsweſens auch nur zu beantragen. ***)S. Beilage 20.

220IV. 3. Preußens Mittelſtellung.

Mittlerweile begann Preußens Bundespolitik ſich leiſe zu ändern. Zunächſt in Folge der Entlaſſung Bernſtorff’s, der im Mai 1832 die Qualen ſeiner Krankheit nicht länger mehr zu ertragen vermochte. *)Cabinetsordre an das Staatsminiſterium, 10. Mai 1832.Sein Nachfolger wurde Ancillon, da Werther abgelehnt hatte, Eichhorn als Feind der Oſtmächte verrufen war, und man ſonſt keinen geeigneten Diplomaten fand. Der eitle Mann ſtrahlte vor Freuden über die neue, längſt insgeheim erſtrebte Würde und warf mit erhabenen Ausſprüchen politiſcher Weisheit ſo freigebig um ſich, wie Ludwig Philipp von Or - leans, dem er auch in ſeiner äußeren Erſcheinung auffällig ähnelte. Die fremden Diplomaten trauten ihm zu, er wolle Preußens Cardinal Fleury werden. Sein eigener Ehrgeiz ging nicht ſo weit. Ihm genügte, wenn die Dinge ſich im alten Gleiſe ruhig weiter ſchoben und der Weltfrieden erhalten blieb. Es war kein eigentlicher Syſtemwechſel, denn der König behielt die Leitung der auswärtigen Politik in ſeiner eigenen Hand; doch die Mattherzigkeit des neuen Miniſters machte ſich bald fühlbar. War Bernſtorff der Hofburg gegenüber mit den Jahren immer ſtolzer auf - getreten, ſo hatte ſich Ancillon ſeine öſterreichiſche Geſinnung nur allzutreu bewahrt. Sogleich nach Antritt ſeines Amtes ſprach er dem großen Staatsmanne, dem Europa ſo viel Dank ſchuldet , ſeine unterthänige Bewunderung aus und verſicherte ihm die vollſtändige Gleichheit des Syſtems der beiden Mächte. **)Ancillon an Maltzahn, 7. 28. Mai 1832.Dieſe beſtändigen Schmeicheleien für Metternich und der ſalbungsvolle Predigerſtil ſeiner endloſen, lehrhaften Depeſchen ließen ſeine Politik noch ſchwächlicher erſcheinen als ſie war. Weit verderblicher wirkte aber die zunehmende Aufregung in Oberdeutſch - land. Die trotzige Auflehnung der ſüddeutſchen Liberalen gegen das Bundesrecht, die maßloſe Sprache ihrer Preſſe, ihr vaterlandsloſes Buhlen mit Frankreich und Polen, ihre wüthenden Ausfälle gegen Preußen, ihre Drohungen und Verſchwörungen das Alles zwang den Berliner Hof, der anfangs die Bewegungen dieſer neuen Zeit ſo nachſichtig beurtheilt hatte, ſich wieder feſter an Oeſterreich anzuſchließen.

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Vierter Abſchnitt. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.

Die Nachwirkung der Pariſer Ereigniſſe zeigte ſich im deutſchen Süden etwas ſpäter als in den kleinen Staaten des Nordens, dann freilich um ſo ſtärker. Volksbewegungen gegen die altſtändiſche Geſell - ſchaftsordnung fanden hier, wo längſt moderne Verfaſſungen beſtanden, keinen Boden. Im Spätjahr 1830 blieb noch Alles leidlich ſtill, nur Darmſtadt wurde durch die kurheſſiſche Nachbarſchaft in die mitteldeutſchen Unruhen verwickelt. Der greiſe Großherzog Ludwig war im April 1830 verſchieden. Ihm folgte Ludwig II., ein wohlwollender, ehrenhafter Herr, nicht ganz unbegabt, aber weder thätig noch ſelbſtändig; er ſtand bereits in den fünfziger Jahren und hatte Zeit genug gehabt, mit Hilfe ſeiner badiſchen Gemahlin, einer geiſtreichen, ſtolzen, für größere Verhältniſſe geſchaffenen Fürſtin, bedeutende Schulden anzuſammeln, die unter Amſchel Rothſchild’s ſorgſamer Pflege ſchon auf 2 Mill. Gulden angeſchwollen waren eine anſehnliche Summe für ein Ländchen von 700000 Ein - wohnern. Als tüchtiger Finanzmann beſtand nun Miniſter du Thil darauf, daß dieſe unerfreulichen Verhältniſſe des fürſtlichen Hauſes dem Landtage enthüllt wurden; er verlangte von den Kammern entweder Er - höhung der Civilliſte oder Uebernahme der Schulden auf den Staats - haushalt.

Im Landtage wurde dieſe allerdings ſtarke Forderung ſehr unfreund - lich aufgenommen. Ueberall in den Kleinſtaaten hatte ſich ſchon das Märchen von der Wohlfeilheit republikaniſcher Regierungen verbreitet. Jedes Zeitungsblatt beneidete die Vereinigten Staaten um den beſcheidenen Gehalt, der ihrem Präſidenten genügen mußte, und Niemand bedachte, daß die Koſten einer einzigen Präſidentenwahl, die freilich in den Staatsrechnungen Nordamerikas nicht aufgezählt wurden, ſich weit höher ſtellten als alle deutſchen Civilliſten insgeſammt. Wohlfeiles Regiment nach republika - niſchem Muſter war das allgemeine Feldgeſchrei. Ernſt Emil Hoffmann, der jetzt in der Kammer das große Wort führte, wuſch die ſchwarze Wäſche des fürſtlichen Hauſes mit demagogiſcher Schadenfreude, und nach langen, höchſt unehrerbietigen Verhandlungen wurden die Forderungen222IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.des Großherzogs ſämmtlich abgelehnt. Der Hof ſah ſich genöthigt, ſeine Ausgaben ſtark zu beſchränken und ſogar das Hoftheater zu ſchließen, das den Darmſtädtern, wie allen Bewohnern der kleinen deutſchen Reſidenzen, die einzige Würze in der Langeweile ihres Daſeins war. Aller Zorn der Hofgeſellſchaft ergoß ſich nunmehr auf du Thil; er allein ſollte durch ſeine Offenheit die erlittene Niederlage und die beleidigenden Reden des Land - tags verſchuldet haben. Der ehrgeizige Prinz Emil, der zu ſeinem Unheil ein Commando im öſterreichiſchen Heere abgelehnt hatte und nun mit ſeinem militäriſchen Talent in dem kleinen Staate nichts anzufangen wußte, trat dem Miniſter offen entgegen.

Mittlerweile begann es in Oberheſſen zu gähren. Aufrühreriſche Banden aus dem Großherzogthum ſchloſſen ſich den kurheſſiſchen Mauth - ſtürmern an; denn ſo lange die Nachbarſtaaten noch nicht beigetreten waren empfand man in den zerſtückelten Gebieten der Wetterau nur die Laſten, nicht die Segnungen des preußiſchen Zollvereins; ſelbſt Profeſſor Hundeshagen in Gießen, der berühmte Forſtmann, erklärte in einer leiden - ſchaftlichen Schrift die preußiſchen Mauthen für das Unglück des Landes. Der Pöbel zerſtörte die Zollhäuſer und zündete da und dort einem ver - haßten Amtmann das Dach über dem Kopfe an. Hier wie in Kurheſſen lärmten die ſchwer belaſteten Unterthanen der mediatiſirten Fürſten am lauteſten. Die Lage ward im September recht bedenklich. Der Hof ver - zagte, und E. E. Hoffmann erdreiſtete ſich ſchon, wie ein Dictator ein beſchwichtigendes Manifeſt an ſein Volk zu erlaſſen. Alles was unſere Nachbarn wünſchen, haben wir, ſagte er mit dem ganzen Stolze des Darm - ſtädters, haltet den Namen Heſſen makelfrei. Da befahl du Thil auf eigene Fauſt die Einberufung der Beurlaubten und ließ zugleich in Frank - furt um Beiſtand bitten, während der Kurfürſt von Heſſen jede Bundes - hilfe höhniſch zurückwies. Prinz Emil wurde an die Spitze der Armee geſtellt und alſo mit dem Miniſter verſöhnt. In wenigen Tagen trieb der Prinz die Aufrührer auseinander; bei Södel kam es zu einem kleinen Gefechte, und auch einige der braven Bauern, welche die Unruheſtörer bekämpft hatten, bekamen im Getümmel die Klingen der erbitterten Reiter zu fühlen. Die Ordnung war hergeſtellt, der beherzte Miniſter gewann das Vertrauen des Großherzogs wieder, und auch Otterſtedt that das Seine, um das Anſehen des Staatsmannes, der allein im Süden ein zuverläſſiger Anhänger Preußens war, aufrecht zu erhalten. *)Du Thil an Otterſtedt 13. Oct. Otterſtedt’s Berichte 15. 27. Oct. 1830.

Viele Jahre lang führte du Thil fortan die Herrſchaft, gewiſſenhaft und einſichtig, aber auch mit einer Strenge, die nach und nach zur Härte wurde. Seine treue deutſche Geſinnung hatte er ſchon im Befreiungs - kriege bewährt, als er den Zutritt des Landes zur großen Allianz ver - mitteln half, und dann noch kühner durch die Zollverhandlungen mit223Unruhen im Großherzogthum Heſſen.Preußen. Die kleinbürgerliche Selbſtüberhebung der ſüddeutſchen Liberalen erſchien ihm lächerlich; er kannte die beſcheidene Macht ſeines Großherzog - thums und meinte unbefangen: Geſandte ſolle ein deutſcher Mittelſtaat nur in Berlin und Wien halten, bei den kleinen Höfen ſei eine diplomatiſche Vertretung überflüſſig, bei den fremden meiſt ſchädlich; wenn die Ge - ſandtſchaft in Paris je wichtig wird, ſo ſteht es ſchlimm um Deutſchland. Obwohl er nach ſeinen ſtrengconſervativen Neigungen der altſtändiſchen Verfaſſung entſchieden den Vorzug gab, ſo ſah er doch ein, daß in der demokratiſirten Geſellſchaft des deutſchen Südens nur noch das Repräſen - tativſyſtem möglich ſei. Aber im Gefühle ſeiner Ueberlegenheit behandelte er die Gegner geringſchätzig, da ſie ihm ſo oft kleinliche und thörichte Bedenken in den Weg warfen, und bald kam er ſo weit, daß er jeden Liberalen für einen Narren oder einen gefährlichen Menſchen anſah. *)Ich benutze hier die Aufzeichnungen du Thil’s, die ich inzwiſchen vollſtändiger eingeſehen habe.

Der Landtag von 1830 ging noch in Frieden auseinander; doch im Lande hielt die Gährung an. Viele der jüngeren Beamten waren aus der radicalen alten Gießener Burſchenſchaft, aus den Kreiſen der Schwarzen und der Unbedingten hervorgegangen; mehrere verhielten ſich lau oder untreu während der Volksbewegung, und die Schuldigen wurden alleſammt aus den Aemtern entfernt, obwohl man ihnen meiſt die Strafen erließ. So bildete ſich ein Stamm von Unzufriedenen, und der junge Nachwuchs dachte nicht friedfertiger, da der Gießener Curator Arens durch gehäſſige Verfolgungen den Trotz der Jugend herausforderte. **)Arnim’s Bericht, Darmſtadt 25. September 1831.Der Offenbacher Bund der Sektionen und andere geheime Vereine nährten die Verſtim - mung. Das Blutbad von Södel ward dem Volke als ein ungeheuer - licher Frevel geſchildert, obgleich die Regierung eine Unterſuchung einleitete und einige der ſchuldigen Soldaten beſtrafen ließ. Noch ſtärker wirkte das verführeriſche Beiſpiel der badiſchen Nachbarn, da die beiden gefeierten Karlsruher Volksmänner Itzſtein und Welcker aus Heſſen ſtammten und mit den alten Landsleuten in Verbindung blieben.

Dort in Baden erlebte der parlamentariſche Liberalismus der Klein - ſtaaten jetzt ſeine Blüthezeit. Wenige Tage vor dem heſſiſchen Großherzog, im März 1830 war auch Großherzog Ludwig von Baden geſtorben, und als nunmehr der erſte der hochbergiſchen Markgrafen Leopold ohne jeden Wider - ſtand die Regierung übernahm, da fühlte das Land ſich erſt ſeiner Selb - ſtändigkeit ſicher. Man meinte durch die vollendete Thatſache und durch die Anerkennung der großen Mächte geſchützt zu ſein wider die begehrlichen Anſchläge der Wittelsbacher eine Hoffnung, die ſich doch nicht ſogleich erfüllen ſollte. Großherzog Leopold war ein Fürſt von ſeltener Herzens - güte, ehrlich gewillt ſein Land zu beglücken; ſeine gemüthliche Leutſelig -224IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.keit ſtach von dem verſchloſſenen Weſen des geſtrengen Vorgängers er - freulich ab. Aber die Staatsgeſchäfte kannte er nicht, ſelbſtändiges Nachdenken fiel ihm ſchwer, noch ſchwerer ein kräftiger Entſchluß; am wohlſten fühlte er ſich in ſeinem Marſtall oder auf dem Schießſtande, für Künſte und Wiſſenſchaften zeigte er wenig Verſtändniß. Seine Ge - mahlin Sophie, eine ſtolze Waſa von klarem Verſtande, ſtarkem Willen, lebhaftem Thatendrange und fürſtlicher Haltung, überſah den gutmüthigen Gatten weit; auch ſein Bruder Markgraf Wilhelm, ein tapferer General des napoleoniſchen Heeres, war nicht ohne Ehrgeiz, und ſeit der Markgraf eine Schweſter des Königs von Württemberg geheirathet hatte, glaubte ſich der ſchwäbiſche Schwager ebenfalls berechtigt am Karlsruher Hofe mitzureden.

Zum Glück fand der Großherzog einen Rückhalt an dem alterprob - ten Vertrauten der hochbergiſchen Markgrafen, dem Staatsrath Winter, der ſeit Jahren die Vermögensgeſchäfte dieſer jüngeren Linie beſorgte, auch als Schriftſteller ihr Thronfolgerecht ſiegreich vertheidigt hatte. Winter war längſt ſchon der leitende Kopf der Verwaltung des Innern, ſoweit der Großherzog Ludwig ihm freie Hand ließ. Die Sünden der vergange - nen Regierung rechnete man ihm nicht an; Jedermann wußte, daß er Vieles nur widerwillig hatte geſchehen laſſen. Der ſchlichte Mann mit dem diplomatiſch klugen und doch treuherzig gemüthlichen Geſichte war ganz dazu angethan, das Vertrauen dieſes bürgerlichen Landes zu ge - winnen. Sein klarer Geſchäftsverſtand erkannte ſofort, das alte harte Syſtem der polizeilichen Ueberwachung ſei unhaltbar, die neue Linie der Dynaſtie müſſe die Liebe des Volks zu gewinnen ſuchen. Auf ſeinen Rath unternahm der Großherzog eine Rundreiſe durch das Land, und die unge - heuchelte Freude der Maſſen verkündete überall, welche ſtolzen Hoffnungen dies Völkchen an den Hingang ſeines ungeliebten alten Fürſten knüpfte. Die Heidelberger ſangen ihrem Leopold zu:

Herzensreinheit iſt Dein Theil!
Sie nur bringt der Zukunft Heil!

und veranſtalteten ihm zu Ehren einen künſtlichen Schloßbrand. Haufen von Reiſig und Kleinholz flammten plötzlich auf in dem alten Gemäuer des Pfälzerſchloſſes, den Beſchauern traten alle Schrecken der Tage Me - lac’s leibhaftig vor die Augen. Es war, als ob die Preußen eine thea - traliſche Aufführung der Schlacht von Jena veranſtalteten; in dieſem ſtaatloſen Geſchlechte fand es Niemand anſtößig, die Erinnerung an die Schmach des Vaterlandes alſo zu erneuern.

Seit Winter den Gang der Regierung beſtimmte, hatte die Stunde des Rücktritts geſchlagen für die beiden hochconſervativen Miniſter des alten Großherzogs, für Metternich’s Getreuen Berſtett und den geſtrengen rheinbündiſchen Bureaukraten Berckheim. Doch Leopold zögerte und ſchwankte. Da gab endlich der ſchwäbiſche Nachbar den Ausſchlag durch225Leopold von Baden. Winter.einen jener freundlichen Fußtritte, welche ſeinem nachtragenden Gemüthe wohl thaten. Er haßte Berſtett als perſönlichen Feind und Verleumder noch von den Veroneſer Zeiten her. Als nun Markgraf Wilhelm die Württem - bergiſche Prinzeſſin freite, ſchenkte der König dem badiſchen Hausminiſter die übliche Doſe; er ließ ſie aber nicht, wie der Brauch war, mit ſeinem Bildniß ſchmücken, ſondern die offenbar höhniſch gemeinte Inſchrift Loyauté et vérité! darauf ſetzen. Berſtett tobte über dieſe neue Beleidigung des unverſöhnlichen Nachbarkönigs ; er ſendete das Danaergeſchenk dem Geſandten General Bismarck mit einem ſtolzen Briefe zurück, klagte dem diplomatiſchen Corps ſein Herzeleid. Der Arme mußte Temperirpulver nehmen um ſeinen Zorn zu bändigen, und das geſammte hohe Beamten - thum theilte ſeine Entrüſtung. Nur der Großherzog wagte nicht, ſich des gekränkten Miniſters anzunehmen, und nun merkte Berſtett endlich doch, daß ſeine Uhr abgelaufen ſei. Gegen Ende des Jahres war ſein und Berckheim’s Rücktritt entſchieden. *)Berſtett an Bismarck 9. December, an Otterſtedt 16. December; Otterſtedt’s Berichte 6. 16. 25. December 1830.Bald nachher verſchwand auch Major Hennenhofer, jener zweideutige Günſtling des alten Großherzogs, der ſich auch dem Nachfolger ſchon durch ſeine Vielgeſchäftigkeit unentbehrlich ge - macht hatte; eine Stuttgarter liberale Zeitung, der Hochwächter, brachte ſo arge Enthüllungen über ſeinen ſittlichen Wandel, daß man ihn un - möglich länger halten konnte. **)Berichte Salviati’s 19. Juni, Otterſtedt’s 14. Juni 1831.

Das alte Syſtem war geſtürzt, das neue noch nicht befeſtigt. Winter übernahm nunmehr förmlich die Leitung des Miniſteriums des Innern. Er hegte die redliche Abſicht, ſtreng nach der Verfaſſung zu regieren und trug ſich mit mannichfachen wohldurchdachten Reformplänen. Doch über die Grenzen des Ländchens reichte ſein Blick nicht weit hinaus: genug, wenn nur der Bundestag, deſſen erbärmliche Geſetze dem gewiegten Ge - ſchäftsmanne wie elaſtiſcher Gummi vorkamen, durch eine behutſame Politik verhindert wurde, ſich in die badiſchen Dinge einzumiſchen. Da er ſelber an dem Ideale eines wohlverwalteten Mittelſtaates ſein Genügen fand, ſo täuſchte er ſich gänzlich über die Macht des neuen Radicalismus, der doch nur darum ſo drohend überhand nahm, weil das Volk die Jämmerlichkeit der Kleinſtaaterei dunkel empfand und ſich nach einem großen politiſchen Leben ſehnte. Er hielt eine Revolution in Deutſchland für ganz undenkbar ein verhängnißvoller Irrthum, der faſt allen den gemäßigt conſervativen Miniſtern der conſtitutionellen Kleinſtaaten gemein war und ſuchte den Grund der allgemeinen Aufregung allein in den Brandreden der Impfer : ſo nannte er in ſeiner volksthümlich derben Redeweiſe jene liberalen Schwätzer, die dem Volke ſo lange von ſeinem Unglück vorſprächen, bis es ſelber daran glaubte. Für dieſe StaatskunſtTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 15226IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.des vorſichtigen, wohlwollenden Particularismus fand Winter nur wenige zuverläſſige Gehilfen. Da das kleine Land kein anderes diplomatiſches Talent beſaß, ſo mußte Blittersdorff auf dem wichtigen Frankfurter Poſten bleiben, und der Heißſporn der Reaktion trug kein Bedenken, eigenmächtig, oft gegen ſeine Weiſungen, den öſterreichiſchen Bundesgeſandten zu unterſtützen, ſo daß der Karlsruher Hof bald in den Ruf der Zwei - züngigkeit gerieth. In das Auswärtige Amt ward Frhr. v. Türckheim berufen, derſelbe, der vor zwölf Jahren die Vorrechte des Adels ſo leb - haft gegen Winter’s Angriffe vertheidigt hatte,*)ſ. o. II. 517. ein Staatsmann von feiner Bildung und gemäßigten Grundſätzen, aber ein Ariſtokrat, dem bei der ganz bürgerlichen Weltanſchauung des leitenden Beamten nicht immer wohl zu Muthe war.

Und dieſe geſpaltene Regierung ſtand fortwährend unter dem Kreuz - feuer der überlegenen Nachbarhöfe. Gleich ſeinem Vorgänger wollte auch Großherzog Leopold ſich treu an Preußen anſchließen, ſchon weil er Schutz brauchte gegen die bairiſchen Anſchläge; er bat den König herzlich um die Bewahrung der gütigen Geſinnungen, die meinem Hauſe und Lande von jeher als Stützpunkt zugewendet waren. **)Großh. Leopold an K. Friedrich Wilhelm, 22. Juni 1830.Aber während Otterſtedt für den Zollverein und die Neugeſtaltung des Bundesheeres arbeitete, wirkte der öſterreichiſche Geſandte Graf Buol, den man doch auch nicht verletzen wollte, heimlich dagegen; dazwiſchen hinein kamen ſcharfe Droh - ungen vom Bundestage, der Münchener Hof meldete ſeine Erbanſprüche an, und der franzöſiſche Geſandte empfahl beharrlich einen neuen, neu - tralen Rheinbund.

Und dazu die Macht der unaufhaltſam aus dem Auslande ein - dringenden revolutionären Ideen. Hier an der langgeſtreckten offenen Grenze war ſelbſt die Karlsbader Cenſur machtlos. Die radicalen Schweizer Zei - tungen überſchwemmten das Oberland, ſie predigten alleſammt den Fürſten - haß und vornehmlich den Kampf wider den preußiſchen Zollverein. Noch ſchädlicher wirkte die Nachbarſchaft Frankreichs. Nunmehr da die über - müthige Kriegsluſt der Franzoſen wieder auflebte, empfand man erſt ganz, welch ein Pfahl im deutſchen Fleiſche das franzöſiſche Straßburg war. Dies drohende Ausfallsthor dicht vor dem ſchutzloſen deutſchen Oberlande raubte den ſüddeutſchen Höfen allen die ruhige Sicherheit, und zugleich ward die alte Reichsſtadt der Herd einer gewiſſenloſen Propaganda, welche jetzt weit erfolgreicher arbeitete als einſt in den Tagen der erſten Republik. Da die Elſaſſer erſt ſeit den Agrargeſetzen der Revolution und ſeit den Waffenthaten des Kaiſerreichs ſich als Franzoſen fühlten, ſo hegten ſie für das alte Königshaus wenig Theilnahme, beſeitigten nach den Juli - tagen alsbald die königlichen Lilien aus dem Straßburger Wappen und227Die Radicalen im Elſaß.ſchaarten ſich freudig, neuen Kriegsruhms gewärtig, um die wiederaufge - richtete Tricolore. Sofort ward nun den badiſchen Nachbarn die Herrlich - keit franzöſiſcher Bürgerfreiheit angeprieſen. Der Straßburger National - gardiſt Gradaus ſchilderte dem Bauern Vetter Michel die Wunder der neuen Zeit in jenem behaglichen Biedermannstone, der ſeit Hebel’s Volks - kalendern den Badenern geläufig war. Dann erſchien der Widerhall deutſcher Volksſtimme in Grüßen an das deutſche Vaterland , ein Libell voll wüthender Anklagen gegen die Spürnaſen und gefütterten Hunds - naturen der Fürſten, gegen das ſervile Corps einexercirter Potsdamer Kamaſchenknechte , das an den Grenzen Polens ſtehe, ſtatt im Staube knieend den größten aller Soldaten, Kosciuszko, zu verehren und ſo weiter eine ganze Reihe wüſter Brandſchriften, zumeiſt aus dem Verlage von Silbermann in Straßburg. Der König von Württemberg erfuhr bald durch ſeine wachſame Polizei, daß in Straßburg ein geheimes Re - volutions-Comité beſtand, das allwöchentlich zwei Boten nach Karlsruhe und Stuttgart ſendete; er befahl aber dem Winter nichts zu ſagen weil er ihm nicht über den Weg traute. *)K. Wilhelm, Weiſung an Bismarck, mitgetheilt in Arnim’s Bericht, Karlsruhe 25. Jan. 1831.

Der Straßburger Niederrheiniſche Curier brachte eine Beilage das conſtitutionelle Deutſchland , die offenbar zur Aufwiegelung des deutſchen Südens beſtimmt, von dem jungen Stralſunder Cornelius geleitet, durch badiſche und pfälziſche Radicale mit Beiträgen verſorgt wurde. Hier erklang wieder das alte Rheinbundslied, nur in neuer Tonart, zu Ehren deutſcher Macht und Herrlichkeit: Gebt Deutſchland eine Verfaſſung, die es zur ſechſten Großmacht erhebe. Laßt Preußen und Oeſterreich, deren Intereſſen nicht die unſeren ſind, ihre eigenen Bahnen gehen, aber vereinigt Euch zu einem einzigen, herrlichen und mächtigen Volke unter einem auf Zeit gewählten Oberhaupte und Reichsſtänden. Auch die franzöſiſchen Zeitungen, zumal die bonapartiſtiſche Révolution ver - ſtanden klüglich bald dem Einheitsdrange der Deutſchen zu ſchmeicheln und die ſchmähliche, allein durch die kleinen Tyrannen verſchuldete Zerſplitterung des großen deutſchen Vaterlandes zu verhöhnen, bald für ſich die natürlichen Grenzen zurückzufordern: dann werde Frank - reich durch eine heilſame, großmüthige Einmiſchung, nöthigenfalls mit den Waffen, den Kampf der beiden großen Staatsgedanken zu Gunſten der Völker entſcheiden.

Bei ſo friſchem Weſtwinde mußten dem badiſchen Liberalismus wohl die Segel ſchwellen. Unter Rotteck’s und Itzſtein’s gewandter Führung hatte ſich die geſchlagene Partei in der Stille geſammelt, und bei den Landtagswahlen, die auf Winter’s ausdrücklichen Befehl völlig unbeläſtigt blieben, errang ſie einen glänzenden Sieg. Die neue Zweite Kammer, die15*228IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.im März 1831 zuſammentrat, beſtand faſt durchweg aus Liberalen; die wenigen dem Miniſterium näher ſtehenden Abgeordneten wagten kaum wider den Strom zu ſchwimmen. Und leicht war es nicht, gegen den undeutſchen, echtfranzöſiſchen Parteiterrorismus dieſer liberalen Trium - phatoren aufzukommen; ſie verlangten Rache für die langjährige Zu - rückſetzung, mißhandelten Jeden, der nur um eines Fingers Breite von der alleinſeligmachenden Lehre ihres Vernunftsrechts abwich, als einen Höf - ling und Ariſtokraten und beräucherten ſich ſelber wechſelſeitig mit einer maßloſen Eitelkeit, die dem Größenwahnſinn nahe kam. Rotteck ſchilderte nachher das europäiſche Ereigniß dieſes Landtags in einem Leſe - und Lehrbuch für’s deutſche Volk ; 674 Seiten genügten ihm kaum um die unermeßliche Waſſerfluth der liberalen Kammerweisheit ganz zu erſchöpfen. Bildniſſe der großen Volksmänner ſchmückten das Werk, vorn neben dem Titelblatte prangte natürlich das Bild des Verfaſſers, der in der badi - ſchen Preſſe allgemein als Deutſchlands größter Hiſtoriker gefeiert wurde; Großherzog Leopold aber, der Volksfreund , mußte ſich mit einer beſcheidenen Stelle mitten im Buche begnügen.

Franzöſiſirende Deutſchthümler nannte Blittersdorff einmal die Genoſſen Rotteck’s mit dem Scharfblick des Haſſes,*)Blittersdorff’s Bericht 2. April 1831. und in der That war ihre blinde, unterthänige Begeiſterung für Frankreichs neue Frei - heit ebenſo unbeſtreitbar wie ihre nebelhafte Begeiſterung für ein deutſches Vaterland irgendwo in den Wolken. Vernunft und Unſinn, polternde Phraſe und nüchterne Beobachtung der Bedürfniſſe der Gegenwart vertrugen ſich freundnachbarlich in dieſen Köpfen. Der badiſche Liberalismus vertrat die Intereſſen der erſtarkenden Mittelklaſſen, ihr wohlberechtigtes Ver - langen nach Entlaſtung des Bodens, nach Freiheit des Wortes und des Verkehrs; aber er ſtand noch ganz unter der Herrſchaft der ſelbſtgefälligen alten Aufklärung, die nirgends in Deutſchland ſich feſter eingeniſtet hatte, als hier in dieſem lieblichen, wie für die Romantik geſchaffenen Winkel; er betrachtete die Intereſſenpolitik des Bürgerſtandes kurzerhand als den geläuterten Ausdruck des vernünftigen Geſammtwillens und wähnte ſich berufen, das blos dem Machtwort entfließende hiſtoriſche Recht dem Vernunftrechte zu unterwerfen . Die Heimath dieſes bürgerlichen Ver - nunftrechts war die Univerſität Freiburg, zu jener Zeit eine ſehr beſcheidene Leuchte deutſcher Wiſſenſchaft; die geiſtvollen Heidelberger Gelehrten hatten in ihrer großen Mehrzahl das Joch der alten naturrechtlichen Abſtraktio - nen ſchon abgeſchüttelt und hielten ſich der Bewegung fern.

Auch diesmal trat das alte Leiden des badiſchen Verfaſſungslebens, das unnatürliche Uebergewicht des Beamtenthums wieder grell zu Tage. Faſt alle Redner der Oppoſition waren Staatsdiener, die Regierung wagte keinem mehr den Urlaub zu verweigern und ſah ſich bald durch die229Rotteck und Welcker.Angriffe ihrer eigenen Untergebenen Schritt für Schritt zurückgedrängt. Schon während des ſtürmiſchen Wahlkampfes konnte ſcharfen Beobachtern nicht entgehen, daß ſich in der Stille bereits eine radicale Partei gebildet hatte, deren Pläne weit über die Ziele der Liberalen hinausgingen. Zu ſelbſtändigem Auftreten fühlte ſie ſich aber noch zu ſchwach, und Adam v. Itzſtein, der unter allen den Neugewählten ihr am nächſten ſtand, war viel zu klug um ſich offen zu ihr zu bekennen. Nicht umſonſt hatte Itzſtein einſt in ſeiner Mainzer Heimath das Treiben der Clubiſten mit angeſehen; ſein kalter Fanatismus erinnerte an die gewiegten jacobiniſchen Parteimänner des Convents. Darum fürchtete ihn Metternich als den einzigen gefährlichen Mann der badiſchen Oppoſition. Immer im Stillen thätig, verſtand er meiſterhaft, durch diplomatiſches Zureden die Schwan - kenden bei der Stange zu halten. Oeffentlich ſprach er nur ſelten, aber die Schärfe ſeiner Rede verletzte tödlich, weil man fühlte, daß jedes krän - kende Wort genau erwogen war.

Der ehrliche Rotteck hatte inzwiſchen längſt die radicalen theoreti - ſchen Folgerungen gezogen, welche ſich aus ſeiner Lehre von der Volks - ſouveränität unausweichlich ergaben; in ſeinem Lehrbuche des Vernunft - rechts erklärte er kurzab, nur die Republik ſei gerecht und gut, nur nach dem Maße der Annäherung an dieſes ideale Ziel dürfe eine Verfaſſung geprieſen werden. Als praktiſcher Parlamentarier ließ er ſich indeſſen wohl gefallen, daß in Baden noch ein Theil der urſprünglichen Volks - gewalt dem Monarchen übertragen war, und durch die gutherzige Freund - lichkeit ſeines Auftretens brach er mancher ſeiner ſcharfen Aeußerungen ſelber die Spitze ab. Von anderem Schlage war Welcker, ein unterſetzter Mann mit geröthetem ſtrengem Geſicht und zornig funkelnden großen Augen; wie ein Kampfſtier erhob er ſich zum Sprechen, über der tobenden Heftigkeit ſeiner unaufhaltſam dahinbrauſenden Reden vergaß man ganz, daß er mindeſtens in der Theorie nicht ſo weit ging wie Rotteck. Er nannte ſich gern einen alten Soldaten der Freiheit, er lebte und webte in dem Kampfe wider die Reaktion und betrachtete den Bundestag als ſeinen perſönlichen Feind. Ueber die Bosheit der Fürſten tröſtete er ſich nur auf Augenblicke, wenn er in ſeinem Zimmer die lange Reihe der Bürger - kronen und Ehrenbecher, lauter Weihgeſchenke des geſinnungstüchtigen Volkes, wohlgefällig muſterte. Von den berühmten Heidelberger Profeſſoren erſchien nur der gutkatholiſche Altbaier Mittermaier, ein Juriſt von un - geheuerer Beleſenheit, weltberühmt durch ſeine Kenntniß des ausländiſchen Rechts, ſeit Langem eifrig bemüht für die Einführung der Schwurgerichte und die Verbeſſerung der Gefängniſſe, freilich mehr ein vielwiſſender Ge - lehrter als ein ſelbſtändiger Denker, gemäßigt in ſeinen politiſchen Grund - ſätzen, aber keineswegs unempfänglich für die Tageslaunen der öffentlichen Meinung. An dieſe Führer ſchloß ſich eine ganze Schaar treuer Bekenner des liberalen Vernunftrechts: aus Freiburg der geſchäftskundige Juriſt230IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.Duttlinger, der ſo lange faſt allein im Landtage der reaktionären Mehr - heit Stand gehalten hatte; aus Heidelberg der Buchhändler Vater Win - ter , der alte Kämpe der Preßfreiheit; aus dem Oosthale der Geiſtliche Rath Herr, ein volksbeliebter, warmherziger Prieſter, dem fürſtlichen Hauſe ſo treu ergeben, daß er ſich bei Hofe jede freimüthige Derbheit erlauben durfte.

Zum Beginn des Kampfes ſchwenkte Itzſtein ſein Weihrauchfaß vor den Franzoſen: Im Weſten Europas erhob ſich ein Volk, an Bildung und Nationalſinn allen vorgehend, und gab ſich einen Bürgerkönig. Nach dieſem glorreichen Vorbilde ſollte auch das badiſche Volk ſeine Frei - heit zurückfordern und die vor ſechs Jahren abgeänderten Artikel ſeiner Verfaſſung wiederherſtellen. *)Vgl. III. 353.Schaden hatte jene Verfaſſungsänderung allerdings nicht angerichtet; nach ihren jüngſten Wahlerfolgen durften die Liberalen am wenigſten beſtreiten, daß der Volkswille jetzt, da die Kammer aller ſechs Jahre vollſtändig erneuert wurde, ſich weit kräftiger äußern konnte als früherhin, da immer nur ein Viertel der Abgeordneten ausgeſchieden war. Aber das badiſche Grundgeſetz galt nun einmal für ein Heiligthum; daß die finſteren Zeiten der Reaction je daran gerührt hatten, durfte nicht ungerochen bleiben, und ſo ward denn einſtimmig be - ſchloſſen, jene unzweckmäßigen Vorſchriften der Verfaſſung wörtlich wieder einzuführen. Die Flügelthüren des Saales waren geöffnet, weil die Tri - bünen die Maſſe der Zuhörer nicht faſſen konnten; nach der Abſtimmung erdröhnte das Haus von Jubelrufen. Auch Winter ſtimmte zu; er fühlte, das Rechtsbewußtſein des ganzen Landes fordere dieſe Sühne. Dann legte er ein wohldurchdachtes Gemeindegeſetz vor, das mit dem alten Syſteme rheinbündiſcher Bevormundung entſchloſſen brach. Die Kammer ging darauf ein; ſie veränderte jedoch die Vorſchriften über das Wahl - recht in ſo radicalem Sinne, daß der politiſche Parteikampf ſofort in die Gemeindewahlen eindrang und die neue Selbſtverwaltung während der nächſten Jahre ſich noch nicht ruhig entwickeln konnte.

Noch heftiger flammten die Leidenſchaften auf, als Welcker die ſo - fortige Verkündigung eines Preßgeſetzes verlangte. Er hatte ſchon im vorigen Herbſt, in einer gedruckten Petition an den Bundestag, die voll - kommene und ganze Preßfreiheit für Deutſchland gefordert; in Frankfurt abgewieſen, verſuchte er nun ſeine Abſicht für Baden allein durchzuſetzen. Alſo verfiel der Karlsruher Landtag nochmals ſeinem alten dunklen Ver - hängniß: er begann wieder, wie ſo oft ſchon, einen ausſichtsloſen Kampf gegen den Deutſchen Bund und trat auch diesmal das geſchriebene Recht mit Füßen. Nichts war begreiflicher als die allgemeine Sehnſucht nach Preßfreiheit, zumal hier an der Grenze, wo man die Blätter des Auslandes täglich vor Augen ſah. Doch leider durfte der badiſche Staat über ſeine231Der badiſche Landtag von 1831.Preſſe nicht frei verfügen, da er ſich ſelbſt die Hände gebunden hatte. Der § 17 der Verfaſſung beſtimmte: Die Preßfreiheit wird nach den künftigen Beſtimmungen der Bundesverſammlung gehandhabt werden. Wollten die Badener alſo die drückende Feſſel der Cenſur zerbrechen, ſo mußten ſie verſuchen, den Bundestag zuvor zur Aufhebung des Karlsbader Preßge - ſetzes zu bewegen. Dieſer einzige geſetzliche Weg war freilich ganz un - gangbar, und als der Abgeordnete Schaaff gleichwohl ihn zu betreten rieth, erwiderte Welcker grimmig, das hieße ein Gaukelſpiel mit dem badiſchen Volke treiben. Da die rechtliche Unmöglichkeit auf flacher Hand lag, ſo griff der Antragſteller in ſeinem Feuereifer zu ſophiſtiſchen Aus - legungskünſten, die dem grundehrlichen Manne übel anſtanden. Welcker meinte friſchweg: jener ganz unzweideutige Verfaſſungsartikel bedeute eigentlich das Gegentheil, er bedeute, daß die Preßfreiheit, nicht die Preß - ſklaverei, den Badenern verſprochen ſei und mithin auch gegen den Willen des Bundestags eingeführt werden müſſe. Noch mehr, er behauptete ſogar, das Bundespreßgeſetz verlange nur, daß keine Schrift unter zwan - zig Bogen ohne Vorwiſſen und vorgängige Genehmigung der Landes - behörden gedruckt werden dürfe, folglich ſei die Cenſur von Bundeswegen nicht anbefohlen, ihr Name komme ja in dem Geſetze gar nicht vor! Es war ein häßliches Advokatengezänk, und mit gutem Grunde erklärte man im Berliner Auswärtigen Amte dieſe Beweisführungen der badiſchen Liberalen für wahrhaft jeſuitiſch . *)Frankenberg’s Bericht, 4. Febr. 1832.

Jener ehrenwerthe Abſcheu gegen die anonyme Schriftſtellerei, der noch vor zwölf Jahren in der Karlsruher Kammer vorgeherrſcht hatte, war jetzt, nach ſo widerwärtigen Verfolgungen, gründlich zerſtört. Welcker ſprach noch pathetiſch von der Pflicht des freien Bürgers, für ſeine Worte einzuſtehen, doch er forderte nur, daß der Drucker oder der Verleger ſich nennen müſſe, und erkannte alſo die Anonymität der Zeitungsſchreiber als Regel an. Zum Schluß rief er drohend: wenn die Miniſter nicht ein Preßgeſetz vorlegen, ſo ſetzen ſie ſich der Anklage des Verraths gegen das Volk und den Fürſten aus. Rotteck ſtimmte dem Freunde fröhlich bei und predigte ungeſcheut die Auflehnung gegen den Deutſchen Bund; denn ſeit der Bundestag ſein Recht zur Regelung der Preßfreiheit ſo ſchnöde mißbraucht hatte, ſahen ſich die Liberalen, wenn ſie nicht ſehr weit blickten, faſt gezwungen, das Panier des rohen Particularismus zu erheben. Der Deutſche Bund iſt ein bloßes Factum für uns ſo meinte Rotteck nicht mit uns iſt der Bundesvertrag geſchloſſen worden, ſondern nur zwiſchen den Fürſten, darum erkennen wir nur ein zweifaches Geſetz an: das ewige Vernunftrecht und unſere Landesconſtitution. Dann pries er die vox populi vox Dei und verſicherte in gläubiger Unſchuld, es ſei rein unmöglich, daß die Preſſe jemals ſchlecht werde.

232IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.

Von Stunde zu Stunde erhitzten ſich die Köpfe; eine Fluth von Zornreden ergoß ſich über die Karlsbader Ordonnanzen . Die franzöſiſche Verbildung dieſes Liberalismus bekundete ſich auch in ſeiner verwälſchten Sprache: wie die Karlsbader Beſchlüſſe Ordonnanzen hießen, ſo nannte man Welcker’s Antrag eine Motion und die Verbeſſerungen Amen - dements ; nach Pariſer Brauch donnerten die Redner wider die mark - loſen Juſtemilianer und warnten die Regierung vor dem Schickſale des deplorablen Miniſteriums Polignac. Der Geiſtliche Rath Herr gab der Preßfreiheit ſogar den kirchlichen Segen: er nannte ſie eine Anſtalt Gottes, die uns helfen wird zu Alledem was wir für Zeit, Tod und Ewigkeit nothwendig haben. Da die anonymen Zeitungsſchreiber der liberalen Doctrin wie Volkstribunen erſchienen, ſo ſollten ſie auch nur durch die freie Stimme des Volksgewiſſens, durch Geſchworene gerichtet werden. Selbſt Duttlinger, der ruhigſte unter den Führern der Oppo - ſition, ließ ſich von der allgemeinen Aufregung anſtecken; der deutſche Rechtslehrer ſchämte ſich nicht, die Schwurgerichte kurzerhand über das Geſetz zu ſtellen und die ſchmähliche Parteilichkeit, welche die franzöſiſchen Geſchworenen in allen politiſchen Proceſſen bethätigten, den rechtſchaffenen Germanen als ein Muſter anzupreiſen: Geſchworene beſchützen die Preß - freiheit gegen zu ſtrenge und unnatürliche Geſetze durch ihr einfaches: Nichtſchuldig! Endlich mißbrauchte die Kammer gar ihr Steuerbewilli - gungsrecht zu einer verfaſſungswidrigen Drohung; ſie beſchloß, das Budget erſt dann zu bewilligen, wenn die Regierung das Preßgeſetz nebſt einigen anderen Geſetzentwürfen vorgelegt hätte.

Welch eine Lage für den wohlmeinenden Miniſter! Winter hielt die Cenſur für einen gemeinſchädlichen Mißbrauch, aber wie durfte er ſie beſeitigen, den Vorſchriften der Bundesgeſetze und der Landesverfaſſung gradeswegs zuwider? Der Großherzog ſtand, wenngleich er den Kammern gern ein Stück Weges entgegenkam, mit ſeinen Herzensneigungen durch - aus auf Seiten der Oſtmächte. So oft die Ruſſen, unter dem Wehge - ſchrei der Liberalen, einen Sieg erfochten, ließ er dem Könige von Preu - ßen durch Otterſtedt ſeinen Glückwunſch ausſprechen. *)Otterſtedt’s Berichte, 18. März, 6. Juni 1831.Nimmermehr wollte er ſich gegen den Deutſchen Bund auflehnen. Mit Badens Zu - ſtimmung hatte der Bundestag im vorigen Herbſt den Regierungen die ſtrenge Handhabung der Cenſur anempfohlen, jetzt ſchritt er zu neuen Beſchlüſſen gleichen Sinnes; an die Milderung oder gar die Aufhebung der Karlsbader Geſetze wagte keine der Bundesregierungen zu denken in einem Augenblicke, da halb Deutſchland durch Unruhen heimgeſucht wurde. Aus Darmſtadt, Butzbach, Tübingen und anderen ſüddeutſchen Städten kamen Adreſſen, welche die Bundesverſammlung baten dem Blutvergießen in Polen Einhalt zu thun, damit die Cholera nicht nach233Das badiſche Preßgeſetz.Deutſchland eingeſchleppt werde. Der Vorwand erſchien durchſichtig ge - nug; denn der Einmarſch deutſcher Bundestruppen in das Land der Knute und der Cholera war ſicherlich das beſte Mittel um die Seuche weithin über Deutſchland zu verbreiten. Blittersdorff wurde zum Bericht - erſtatter gewählt und fragte diesmal bei ſeinem Miniſter an. Mit Türck - heim’s Genehmigung beantragte er ſodann und ſetzte durch, daß der Bundestag nicht nur die Eingaben der Polenfreunde zurückwies, ſondern auch für die Zukunft die Einſendung politiſcher Adreſſen unterſagte (27. Oct.). *)Blittersdorff’s Bericht, 4. Oct. Türckheim’s Weiſung, 6. Oct. 1831.Am 10. Novbr. wurden die Vorſchriften des Bundes-Preß - geſetzes den Höfen nochmals nachdrücklich eingeſchärft, am 19. das Straß - burger Conſtitutionelle Deutſchland verboten. Der letztere Beſchluß war eine wohlberechtigte Abwehr; ein Blatt, das ſo offen den Rheinbund und den Aufruhr verfocht, konnte dort an der Grenze nur Unheil ſtiften. Bei dem Allen wirkte der badiſche Geſandte insgeheim eifrig mit, und Türckheim bedauerte nur, daß Blittersdorff nicht reinen Mund gehalten habe, da man in München ſchon die Meinung des Karlsruher Hofes über das Straßburger Blatt kenne. **)Türckheim, Weiſung an Blittersdorff, 24. Nov. 1831.

In dieſen nämlichen Tagen, da Baden am Bunde die alte Karls - bader Politik unterſtützte, verſprach Winter dem Landtage das verlangte Preßgeſetz ſogleich vorzulegen. Anders wußte er ſich Angeſichts der Drohungen des Landtags nicht mehr zu helfen; auf die Verweigerung des Budgets, auf die Auflöſung der Kammern durfte er’s nicht ankommen laſſen. Vorſorglich hatte Türckheim ſchon früher nach Wien geſchrieben, das badiſche Preßgeſetz werde jedenfalls die Rechte des Bundes und der Mitverbündeten gewiſſenhaft wahren. ***)Türckheim, Weiſung an Tettenborn, 26. Sept. 1831.In der That beſtimmte der den Kammern vorgelegte Geſetzentwurf, daß die Cenſur zwar der Regel nach hinwegfallen, doch für die Beſprechung der Angelegenheiten des Deutſchen Bundes oder der anderen Bundesſtaaten noch fortbeſtehen ſollte. Die Kammer aber fand in ihrem Siegesübermuthe ſelbſt dies Zugeſtändniß an das Bundesrecht noch zu ſtark; ſie fügte einen Paragraphen hinzu, kraft deſſen der Herausgeber einer Zeitung, der die obige Vorſchrift um - ginge und dann auf die Beſchwerde des Bundes oder einer Bundesre - gierung wegen Beleidigung gerichtlich verurtheilt würde, zu der verwirkten Strafe noch eine Zuſatzſtrafe von 5 bis 50 Gulden tragen ſolle. In ſolcher Faſſung erſchien das Preßgeſetz wie ein Hohn auf das Anſehen des Deutſchen Bundes. Die badiſchen liberalen Blätter riefen ſchon trium - phirend: es giebt in Baden keine Cenſur mehr; wir unterwerfen uns keinem Cenſor, ſondern tragen willig die kleine Zuſatzſtrafe falls ein Ge - richt uns wegen Schmähung des Bundestags verurtheilen ſollte. Wie234IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.man ſich auch drehen und wenden mochte, das am 1. März 1832 in Kraft tretende neue badiſche Preßgeſetz widerſprach offenbar dem Bundes - rechte, das die Cenſur verlangte. Der Widerſpruch ward dadurch wahr - lich nicht gemildert, daß die Karlsruher Regierung im März 1832 die neueſten Bundesbeſchlüſſe veröffentlichte und zugleich erklärte, daneben ſolle ihr Preßgeſetz alſo das Gegentheil der bundesrechtlichen Vorſchriften in Geltung bleiben. Dem ehrlichen Großherzog war bei dieſem zwei - deutigen Treiben übel zu Muthe. Unter vier Augen betheuerte er dem preußiſchen Geſandten: auf Verlangen des Bundestags werde er das be - denkliche Geſetz gern abändern. *)Otterſtedt’s Bericht, 28. Febr. 1832.Wie durfte er auch hoffen, eine ſo un - haltbare Stellung gegen den Willen der Geſammtheit der übrigen Bundes - ſtaaten zu behaupten?

Mittlerweile wiederholte Rotteck im Landtage ſeine ſchon ſeit Jahren feſtgehaltene Forderung, die ihm vor Allen die Gunſt des Landvolkes verſchafft hatte, er verlangte die Aufhebung der Frohnden und Zehnten. Der Antrag ergab ſich nothwendig aus den veränderten Zuſtänden der Landwirthſchaft; aber wie radical, wie parteiiſch ward er begründet. Es war Deutſchlands Glück und Ruhm, daß der Uebergang in die neuen ländlichen Beſitzverhältniſſe ſich bei uns, nach Preußens Vorgang, überall auf geſetzlichem Wege, durch billige Entſchädigung der Berechtigten, nicht, wie in Frankreich und Spanien, durch Raub und Gewalt vollzogen hatte. Dieſen ſchönen Vorzug ſeines Vaterlandes vermochte der Lehrer des Ver - nunftrechts nicht zu begreifen; er ſah in den alten, durch langen Beſitz - ſtand geheiligten grundherrlichen Rechten nichts als frevelhaftes Unrecht und fand es ſehr ſonderbar, daß die Deutſchen blos an eine Ablöſung zu denken wagten. Nur als ein Zugeſtändniß an die deutſche Gutmüthig - keit beantragte er eine unbillig niedrige Entſchädigung und meinte traurig, ein Franzoſe oder Ueberrheiner werde dies noch viel zu hoch finden.

Dawider erhoben ſich alsbald die in ihrem Vermögen ſchwer bedrohten Grundherren der erſten Kammer. Das Haus Löwenſtein verwahrte am Bundestage wie am Karlsruher Hofe feierlich ſeine grundherrlichen Rechte. Die Miniſter aber gaben dem Drängen der zweiten Kammer nach; ſie befanden ſich wieder in arger Verlegenheit, zumal Türckheim, der vor Jahren die grundherrlichen Rechte des Adels lebhaft vertheidigt hatte und jetzt doch fühlte, daß Baden nicht hinter den Nachbarländern zurückbleiben dürfe. **)Türckheim an Blittersdorff, 29. Sept. 1831.Als die erſte Kammer das Geſetz über die Ablöſung des Neu - bruch-Zehntens verworfen hatte, da erhob ſich Rotteck zornglühend: Der vereinte Wille der Regierung und des Volkes iſt alſo geſcheitert an dem Veto einer Handvoll Junker! Nach dem Codex ſeines Vernunftrechts war ja das Zweikammerſyſtem nur eine verwerfliche, die Natur ver -235Rotteck und die Handvoll Junker.drängende Künſtelei. Er zählte auf, daß in der erſten Kammer ſogar einige der von der Krone ernannten Mitglieder gegen das Geſetz geſtimmt hätten, und in ſeinem Parteihaſſe verſtieg ſich der Held der unentwegten Ueberzeugungstreue bis zu der Behauptung: dieſe Mitglieder ſeien ver - pflichtet ihre Ueberzeugung den Miniſtern zu opfern! Da der Präſident die Schmähungen ungerügt ließ, ſo beſchwerte ſich die beleidigte Erſte Kammer. Rotteck aber verweigerte jede Genugthuung und rief unter donnerndem Beifall: Zum Höfling bin ich verdorben, ich bin Volksvertreter! ein geflügeltes Wort, das fortan auf zahlloſen Ehrenbechern und Dank - adreſſen prangte. Schließlich mußte man ſich doch zu einigen kleinen Zu - geſtändniſſen an die Grundherren bequemen; der Fürſt von Fürſtenberg, ein feingebildeter, wohlwollender Ariſtokrat, vermittelte zwiſchen beiden Kammern. Zwei Ablöſungsgeſetze, über die Frohnden und den Neubruch - Zehnten, kamen zu Stande, andere ſtanden in ſicherer Ausſicht, und Rotteck behielt das Verdienſt, der agrariſchen Reform die Bahn gebrochen zu haben.

Auch in minder wichtigen Fragen bekundete ſich der Uebermuth der Liberalen. Auf ihr Verlangen mußte ein Cenſor, der ſich beim Schoppen einige offenherzige Worte über Ludwig Philipp und die Fran - zoſen erlaubt hatte, ſofort ſeines Amtes enthoben werden; jeder Zweifel an der Tugend des meſſianiſchen Freiheitsvolkes galt ſchon als Verrath. Die in Karlsruhe üblichen Motionen auf Beſeitigung des Cölibats fehlten auch diesmal nicht, obwohl weder Rotteck noch irgend einer ſeiner katholiſchen Freunde geſonnen war, der römiſchen Kirche den Gehorſam aufzuſagen. Der allen liberalen Gemüthern theure Verfaſſungseid des Heeres wurde ebenfalls gefordert, aber zum Glück noch abgewendet; nur die Offiziere erhielten durch eine neue Dienſtpragmatik dieſelbe rechtliche Stellung wie die übrigen Staatsdiener und verwandelten ſich alſo, wie Rotteck rühmte, aus willenloſen Waffenknechten oder blinden Werkzeugen der Gewalt in vaterländiſche Wehrmänner. Sehr ſtürmiſch verliefen die Verhandlungen über die Ausgaben des Heerweſens. Großherzog Ludwig hatte jahrelang die Beſoldungen des Chefs der Armee und des Kriegsminiſters für ſich bezogen, und die Kammern waren bisher über dies unfürſtliche Verhalten ſtillſchweigend hinweggegangen, da der alte Herr jene beiden Aemter in der That verwaltet hatte. Jetzt aber wurde die abgethane Sache mit großem Lärm ans Licht gezogen, der Kriegsminiſter ſogar, wie es der Brauch des Tages war, mit einer Anklage bedroht. Itzſtein entleerte einen Köcher voll vergifteter Pfeile gegen den Hof und ſchloß ſeine von Bosheit triefende Rede mit den erhabenen Worten: Der jüngſt ver - ſtorbene Regent ruht im Grabe, als ſprechender Beweis, daß Fürſten zu bloßem Staube zurückkehren wie ihre Unterthanen.

Das für die Zukunft folgenreichſte Ereigniß dieſer Tagung war eine Motion Welcker’s auf organiſche Entwicklung des Deutſchen Bundes . 236IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.Der beherzte Mann wagte hier zum erſten male feierlich ein deutſches Parlament zu fordern ein fruchtbarer Gedanke, der jetzt freilich, wie alle neuen Ideen, noch in nebelhaft verſchwommener Geſtalt erſchien, aber fortan nicht mehr aus dem Leben der Nation verſchwinden ſollte. Welcker verhehlte nicht, daß ihm die Freiheit weit näher am Herzen lag als die Einheit der Nation; er fühlte ſich tief gekränkt, wenn die franzöſiſchen Blätter von den deutſchen Sklaven ſprachen, die engliſchen mit ihrer gewohnten Beſcheidenheit unſer Volk das niederträchtigſte und feigſte der Erde nannten. Er erkannte den unverſöhnlichen Widerſpruch zwiſchen der abſolutiſtiſchen Centralgewalt des Bundes und den Landſtänden der Einzel - ſtaaten, den empörenden Unſinn einer Verfaſſung, welche der Nation jede Einwirkung auf die Leitung ihres Geſammtſtaates ſchlechthin verſagte, und zog aus Alledem den Schluß, daß eine aus den Mediatiſirten und aus erwählten Volksvertretern gebildete Zweite Kammer neben den Bundes - tag treten müſſe. An die Nothwendigkeit einer ſtarken executiven Bundes - gewalt dachte er noch nicht, am wenigſten an die Hegemonie Preußens, das er vielmehr als einen halbfremden, faſt feindlichen Staat anſah, ſeit die Berliner Politik der Polenſchwärmerei der badiſchen Liberalen ins Geſicht ſchlug. Auch die böſe Frage, wie der vielköpfige Bundestag neben einem noch unbehilflicheren Reichstage beſtehen ſolle, erregte dem ehrlichen Schwärmer kein Bedenken. In ſeinem Parteieifer hatte er dem Antrage noch einige völlig thörichte Vorſchläge hinzugefügt; er meinte, der Unter - ſchied zwiſchen den abſoluten und den conſtitutionellen Staatsgewalten ſei heute weit größer als vormals der Gegenſatz der kirchlichen Bekennt - niſſe, und verlangte daher, daß die Bundesgeſandten der conſtitutionellen Staaten, nach dem Vorbilde des alten Corpus Evangelicorum, eine ge - ſchloſſene Körperſchaft bilden müßten, mit dem Rechte der geſonderten Ab - ſtimmung, der itio in partes, falls über Verfaſſungsfragen verhandelt würde! Zu ſolchen Ungeheuerlichkeiten verſtieg ſich die politiſche Unreife der Zeit: jene unſelige kirchliche Spaltung, welche ſo lange jede Thätig - keit der Reichsgewalt gelähmt hatte, ſollte jetzt, dem Vernunftrechte zu Liebe, auf politiſchem Gebiete künſtlich erneuert werden; und dieſer Vor - ſchlag kam aus dem Munde eines Apoſtels der deutſchen Einheit.

Gleichwohl enthielt Welcker’s Motion einen geſunden Kern. Die Miniſter bewährten nur von Neuem ihre rathloſe Schwäche, als ſie jede Verhandlung über den Antrag verweigerten und ſchließlich Mann für Mann den Ständeſaal verließen. Offenbar befürchtete Winter einen gemeinſamen Sturmlauf der Landtage wider die Bundesverfaſſung; denn zur ſelben Zeit beantragte Sylveſter Jordan in Caſſel ſicherlich nach Verabredung mit dem befreundeten Welcker Veröffentlichung der Bun - desprotokolle und engere Verbündung der conſtitutionellen Staaten am Bundestage. Jordan’s Antrag blieb ohne ernſte Folgen, weil die Heſſen zur Zeit durch ihre heimiſchen Nöthe genugſam beſchäftigt waren. Den badiſchen237Welcker verlangt ein deutſches Parlament.Abgeordneten war ebenfalls an der Glückſeligkeit ihres badiſchen Muſter - landes ungleich mehr gelegen als an der Zukunft Deutſchlands; durch vertrauliches Zureden ließen ſie ſich bewegen, den Welcker’ſchen Antrag in die Abtheilungen zu verweiſen , das will ſagen: ihn in der Stille zu beerdigen. Welch ein unheimliches Schauſpiel! Der Bundestag ver - bot den Deutſchen, ihm politiſche Adreſſen zu ſenden, und nun beſtritt eine ſehr nachgiebige Regierung ſelbſt den Landtagen das Recht, über Bundesangelegenheiten auch nur mitzureden. Wenn man alſo der Nation jeden geſetzlichen Weg zur Bundesreform verſperrte, was blieb ihr ſchließ - lich noch übrig als die Bahn der Revolution?

Nachdem Rotteck noch einmal in leidenſchaftlicher Rede wider die neueſten Bundesbeſchlüſſe, wider das Joch Oeſterreichs und Preußens gedonnert und über 34 aus allen Theilen des Landes eingelaufene Dank - adreſſen triumphirend berichtet hatte, wurde der Landtag zu Ende Decem - bers geſchloſſen. Ein Rauſch der Freude ging durch das Land. Ueberall Ehrenpforten und Ehrenjungfrauen, Feſtzüge und Feſtſchmäuſe für die heimkehrenden Volksmänner. Auf dem Feſtkuchen der Stadt Heidelberg ſtand, herrlich in Zucker gegoſſen, die Göttin des Ruhmes, am Munde die Tuba, in der Hand eine Tafel mit den Namen der großen badiſchen Landtagsredner; Europa ſchaute bewundernd zu dieſen Namen empor, während der Genius der Knechtſchaft mit ſeiner Geißel trauernd abſeits ſaß. Am treueſten bekundete ſich die Geſinnung des feſtluſtigen Ländchens in einem Liede, das beim Abſchiedsmahle der Kammern in Karlsruhe geſungen wurde:

Wohin ich blicke weit umher,
So ſchön wie hier iſt’s nirgends mehr!

Konnten die großen Mächte dieſen ſelbſtzufriedenen Liberalismus, der ſich ſo dreiſt über die Bundesverfaſſung hinwegſetzte, auf die Dauer gewähren laſſen? Der Berliner Hof zeigte ſich anfangs ſehr geduldig. Er mahnte den Großherzog zu kräftiger Haltung, doch er warnte ihn auch vor verfaſſungswidrigen Schritten und verſicherte wiederholt, daß Preußen ſich in die badiſchen Händel nicht einmiſchen werde. *)Ancillon, Weiſung an Arnim, 21. Januar, an Otterſtedt, 15. Juli; Bern - ſtorff, Weiſung an Otterſtedt, 18. November 1831.Erſt als das Preßgeſetz erſchien ſchlug die Stimmung um. Eine Verhöhnung des Bundesrechts wollte ſich der König nicht bieten laſſen; auch das Doppel - ſpiel, das die Karlsruher Regierung zwiſchen dem Landtage und dem Bundestage getrieben, widerte ihn an. Bald nach der Entlaſſung der Kam - mern berichtete der badiſche Geſandte aus Berlin verzweifelnd: Preußen vertraut uns nicht mehr! Er ahnte, daß ſich über ſeiner Heimath ein Unwetter zuſammenzog, dem ſie ſchwerlich widerſtehen konnte.

238IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.

Unterdeſſen ward auch der Naſſauer Landtag von Stürmen heim - geſucht. Es war der alte widerliche Zank um das Eigenthum des Kammer - guts, der die ganze Verfaſſungsgeſchichte dieſes mißhandelten Landes ausfüllte. *)Vgl. II. 373.Herzog Wilhelm nannte ſich ſelbſt einen von den Wiener Grundſätzen durchtränkten Ultraroyaliſten, er erklärte es für eine leere Floskel , daß die Geſetze regieren ſollten, und hoffte auf die Zeit, da man mit Hilfe des Bundes ohne Widerſtand und mit gutem Gewiſſen die modernen Conſtitutionen Deutſchlands aufheben könne. **)Witzleben’s Tagebuch, 12. September 1825. Arnim’s Bericht, 18. Septem - ber 1832.Einer ſolchen Regierung gegenüber konnte der Landtag, der ſich im Januar 1831 verſammelte, wenig ausrichten; er trat beſcheiden auf, verwahrte aber das Recht des Landes auf die Kammergüter und wurde darum nach einigen Monaten vertagt. Selbſt der preußiſche Geſchäftsträger Heinrich von Arnim, ein geiſtreicher Romantiker aus dem Kreiſe des Kronprinzen, konnte nicht leugnen, daß die tiefe Verſtimmung des Volkes weſentlich durch den falſchen Stolz und den Eigennutz des Herzogs ſowie durch das Paſcha-Regiment ſeines Miniſters Marſchall verſchuldet war. ***)Arnim’s Berichte, 13. Mai 1831 ff.

Sobald die Stände im Herbſt ſich wieder verſammelten, vermehrte der Herzog die Zahl der Mitglieder der Herrencurie von ſechs auf ſiebzehn, um bei den gemeinſamen Sitzungen des Landtags immer der Mehrheit ſicher zu ſein. Die zweite Kammer plante eine Steuerverweigerung, da ſie nicht einmal einen Rechenſchaftsbericht über die Einnahmen des Kammer - gutes mitgetheilt erhielt. Sie wurde aufgelöſt, und als der neugewählte Landtag im April 1832 zuſammentrat, wußte er ſich gegen den böſen Willen der Regierung nicht mehr zu helfen. Die große Mehrheit der zweiten Kammer erklärte nach eintägiger Sitzung ihren Austritt. Nur fünf Ge - treue Marſchall’s blieben auf ihren Plätzen, und dieſe Fünfmännerſchaft hatte den verzweifelten Muth, das von dem Miniſter vorgelegte Budget bis auf wenige Abſtriche zu bewilligen. Einige Volksaufläufe in Wiesbaden und anderen Städten wurden leicht unterdrückt; aber im Lande herrſchte, wie Arnim ſelbſt geſtand, allgemeine Empörung . Ein ſo perſönlicher Streit zwiſchen der Habgier des Fürſtenhauſes und dem Rechtsbewußtſein des Landes mußte ſelbſt dies friedfertige Völkchen erbittern. Sogar das allmächtige Beamtenthum konnte ſich der wohlberechtigten Aufregung des Volkes nicht entziehen. †)Arnim’s Berichte, 16. 17. Mai, 19. Juni, 2. Sept. 1832.Gehäſſige Unterſuchungen, welche Marſchall gegen den wackeren Kammer-Präſidenten Herber und die anderen ausgetretenen Abgeordneten einleiten ließ, goſſen nur Oel ins Feuer. Der Herzog be - lohnte die ergebenen Mitglieder der Herrencurie, ſchalt auf ſein unge -239Naſſau. Gährung in Württemberg.treues Volk und drohte die Hilfe des Bundestags anzurufen. Da er indeſſen kein gutes Gewiſſen hatte, ſo wagte er die Drohung nicht aus - zuführen und rächte ſich nur durch kleinliche polizeiliche Quälereien. Ein Verein in Wiesbaden, der den Armen bis zur nächſten Ernte billiges Brot verſchaffen wollte, wurde kurzerhand verboten, weil ein Theil ſeiner Mit - glieder der liberalen Partei angehörte; und Arnim ſchrieb traurig: Mit welchen Gefühlen gegen ſeine Regierung, deren Motive er nicht durch - ſchauen kann, ſoll jetzt der arme Tagelöhner ſein ihm abſichtlich ver - theuertes Kummerbrot verzehren! So flammte hier, dicht vor den Thoren des Bundestages, ein gefährliches Feuer auf.

Württemberg blieb von parlamentariſchen Kämpfen vorerſt noch ver - ſchont, obwohl der ſcharfe Luftzug der neuen Zeit auch hier bald empfunden wurde. Der Landtag war erſt im Frühjahr 1830 auseinandergegangen und brauchte, nach der Verfaſſung, erſt in drei Jahren wieder einberufen zu werden. König Wilhelm, der ſich jetzt für immer einer ſtreng conſervativen Richtung zugewendet hatte, trug auch kein Verlangen dieſe Friſt zu verkürzen. Nachdrücklich ſprach er aus, daß er die Zeit der allgemeinen Erregung erſt vorübergehen laſſen wolle, da das Budget genehmigt, der Staatshaushalt unter der umſichtigen Leitung des Freiherrn v. Varn - büler in guter Ordnung war und auch ſonſt kein Anlaß zu eiligen Ar - beiten der Geſetzgebung vorlag. Für den Fall eines plötzlichen Angriffs der Franzoſen hatte er ſchon beſchloſſen, die zu öffentlichen Bauten be - willigten Gelder zu benutzen. *)Salviati’s Berichte, 5. April, 29. September 1831, 5. Mai 1832.So ließ er denn die Verwaltung ruhig die laufenden Geſchäfte erledigen und erfreute ſein Land nur einmal durch eine wohlthätige Neuerung. Im April 1831 wurde jene unſelige Verordnung vom Jahre 1829, welche der Landesuniverſität ihre alte Freiheit genommen hatte, aufgehoben: Tübingen erhielt wieder das Recht, ſeinen Rector und ſeine Decane zu wählen, eine verſtändige neue Ver - faſſung ſtellte die Univerſität den anderen deutſchen Hochſchulen gleich. Durch den heftigen Federkrieg der beleidigten deutſchen Profeſſorenwelt und die Vorſtellungen ſeines Landtags war der König des begangenen Irrthums inne geworden, und er ſtand nicht an, den Mißgriff zurück - zunehmen. **)Vgl. III. 351.

Mit ſolchen Zugeſtändniſſen ward die Gährung keineswegs beſchwich - tigt. Ueberall im Lande erklang der Ruf nach ſchleuniger Einberufung der Stände. Einen beſtimmten Zweck verfolgten die Unzufriedenen freilich nicht; ſie wünſchten nur daß die übervollen Herzen ſich irgendwie ausſprechen ſollten. Der Wahlkampf, ſonſt ſo harmlos, ward diesmal ſehr heftig; ein Netz von liberalen Wahlvereinen überſpannte das Land. Wie Pilze ſchoſſen die Zeitungen aus der Erde; in Stuttgart allein erſchienen ihrer240IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.acht, faſt alle liberal, und vergeblich berief der König den Schweizer Ernſt Münch, um in der Stuttgarter Hofzeitung die Oppoſition zu be - kriegen; das Talent des oberflächlichen Vielſchreibers, der vormals zu Rotteck’s Füßen geſeſſen hatte, zeigte ſich ſolchen Gegnern nicht gewachſen. Die ſchwäbiſchen Liberalen waren in ihrer Mehrheit gut deutſch geſinnt, für die Pariſer Heilslehren minder empfänglich als die Badener, aber nach Landesbrauch ſehr eigenſinnig, und ſobald ſie bei den Wahlen zu Anfang 1832 den Sieg davongetragen hatten, forderten ſie den ſofortigen Zuſammentritt des Landtags als ihr unbeſtreitbares Recht. Der König aber mitſammt ſeinem vertrauten Duzbruder, dem gewandten Bureau - kraten Maucler hielt ebenſo hartköpfig an dem Wortlaut der Verfaſſung feſt und ließ nach der Wahl alle Verſammlungen, die ſich noch mit Land - tagsſachen befaſſen wollten, ſtreng verbieten.

Mittlerweile tauchte auch Wangenheim wieder auf, da ihm in ſeinem Coburger Exile ein württembergiſcher Wahlkreis ein Mandat angeboten hatte. Er war noch ganz der Alte, halb Romantiker, halb conſtitutio - neller Doctrinär, lauſchte im Garten des Geiſterhauſes zu Weinsberg andächtig den Aeolsharfen ſeines Freundes Juſtinus Kerner, in Tübingen den Seherworten des Naturphiloſophen Eſchenmaier und erbat ſich vom Könige, als geborener Ausländer, die Beſtätigung oder Erneuerung ſeines Staatsbürgerrechts. König Wilhelm überwand ſeinen ſtillen Groll gegen den entlaſſenen Miniſter, er gewährte die Bitte, erſtaunte aber ſehr, als Wangenheim ſich nun ſogleich an die Liberalen anſchloß und mit ge - wohntem Selbſtgefühl erklärte, daß er zwar als ein Mann der rechten Mitte für die Sache der Monarchie, für die Souveränität aller deutſchen Fürſten eintreten, aber auch die Segnungen der Juli-Revolution, die er mit glühen - der Begeiſterung feierte, den Schwaben übermitteln wolle. *)Wangenheim an Hartmann, 28. Februar, 12. Auguſt 1830, 23. 26. October 1831; an König Wilhelm 13. October, 17. November 1831.Im April 1832 ging den erwählten Liberalen die Geduld aus, da ſie noch immer nicht einberufen wurden; ſie verſammelten ſich im Bade Boll auch Wangen - heim war darunter und erklärten feierlich ihr Bedauern über das Stocken des verfaſſungsmäßigen Lebens . Im Namen der Boller Ver - ſammlung ſendete ſodann der heißblütige junge Anwalt Schott eine ſehr kräftige Bittſchrift an den König: Bis jetzt iſt es in den Annalen des conſtitutionellen Staatslebens noch nicht erhört, daß die Bitten des Volks um Einberufung der Stände keine Beachtung zu erwarten haben . **)Schott, Eingabe an den König, 10. Mai 1832.König Wilhelm blieb feſt und behauptete das Feld noch ein volles Jahr hindurch; das poſitive Recht erwies ſich ſtärker als das conſtitutionelle Vernunftrecht. Das Volk aber klagte: ſo werde den Schwaben gewaltſam der Mund verſchloſſen.

241Unruhen in München.

In peinlicherer Lage befand ſich König Ludwig von Baiern. Nach ſeiner ganzen Weltanſchauung konnte er die Juli-Revolution nur verab - ſcheuen. Man ſah ihn finſter, ſchweigſam einhergehen und bemerkte bald, daß jener clericale Kreis, welchen die Liberalen nach Pariſer Muſter die Congregation nannten, in der Stille Einfluß gewann. *)Küſter’s Berichte, 25. Auguſt 1830 ff.Von den ver - trauten Generaladjutanten war der eine, General Deuxponts, ein Vetter Polignac’s, der andere, Prinz Conſtantin Löwenſtein, weithin verrufen als Feuerbrand der reaktionären Partei; im Schloſſe Heubach am Main ver - ſammelten ſich um den geiſtreichen unterrichteten Prinzen die Führer der Ul - tramontanen aus ganz Süddeutſchland und jene feudalen Edelleute, welche in der neuen Agrargeſetzgebung nur das legaliſirte Fauſtrecht ſehen wollten. Im ſelben Sinne wirkte insgeheim der vielvermögende Cabinetsrath Gran - dauer. Auch Feldmarſchall Wrede, der mittlerweile ſeinen Frieden mit dem Wiener Cabinet geſchloſſen hatte, ward am Hofe wieder hoch geehrt. Indeſſen blieb das Land noch ruhig, obgleich die hohen Bierpreiſe unter den Gäſten des Hofbräus viel Zorn erregten. Als Ludwig am Jahres - tage der Leipziger Schlacht den Grundſtein zur Walhalla legte, rühmte ſein Miniſter Schenk in prahleriſcher Rede, wie feſt und ruhig hier der glückliche weil beglückende König Baierns ſtehe, während ringsumher die Empörung tobe. Der König ließ ſogar auf die Treue ſeiner Baiern eine Münze ſchlagen und ſang ihnen zu:

Siegend alle Proben ſchon beſtanden,
Bleibt Ihr immerdar bei Eurer Pflicht.
Selbſt die frühſten Zeiten ſo Euch kannten;
Baiern, zu verderben ſeid Ihr nicht!

Was er an Sicherheitsmaßregeln für nöthig hielt, verſparte er ſich auf die Zeit nach den Neuwahlen, die im December ſtattfanden.

Da wurde die Ruhe der Hauptſtadt in der Weihnachtswoche mehr - mals durch rohen Unfug der Studenten geſtört. Es war ein gemeiner Straßenlärm, ohne politiſchen Zweck, nur mittelbar gefördert durch den unbeſtimmten Thatendrang der aufgeregten Zeit. König Ludwig aber hörte auf die Einflüſterungen ſeiner Umgebung, er wähnte einer furcht - baren Verſchwörung gegenüberzuſtehen, befahl zahlreiche, zum Theil un - geſetzliche Verhaftungen, er ſchloß die Univerſität auf einige Zeit und be - nutzte nunmehr die Vollmacht, die er ſich vom Bundestage erbeten hatte. Am 28. Januar 1831 erließ Miniſter Schenk eine Preßverordnung, welche die Beſprechung innerer Angelegenheiten der Cenſur unterwarf und den Zeitungsſchreibern unter Anderem auch verbot die Striche der Cen - ſoren durch Lücken im Druck anzudeuten: dieſe oft ſehr draſtiſch wirkenden Cenſurlücken waren neuerdings als ein willkommenes Mittel der Noth - wehr bei der mißhandelten liberalen Preſſe in Gebrauch gekommen. DieTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 16242IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.Verordnung entſprach den Verfaſſungsgeſetzen, welche die Cenſur für alle Zeitſchriften politiſchen und ſtatiſtiſchen Inhalts vorſchrieben; aber ſie ſtand in grellem Widerſpruche mit dem ſeit Jahren herrſchenden milderen Brauche und mit des Königs eigenen Worten. Wie oft hatte er ſich doch in früheren, hoffnungsfrohen Jahren gerühmt, daß ſeine Baiern über bairiſche Dinge unbeſchränkt ihre Meinung ſagen dürften! Dann erfuhr man, daß fünf von den 54 in die Kammer gewählten Staats - und Gemeindebeamten keinen Urlaub erhalten hätten. Auch damit glaubte der König nur ſein verfaſſungsmäßiges Recht auszuüben. Doch Jeder - mann ſah, daß der Urlaub den fünf Abgeordneten nicht wegen der Erfor - derniſſe des öffentlichen Dienſtes, ſondern um ihrer liberalen Geſinnung willen verweigert wurde; und zudem war die Frage, ob auch Gemeinde - beamten des Urlaubs bedürfen, noch immer ſtreitig.

Dieſe Schritte der Regierung erregten überall ſo tiefen Unmuth, daß die Stadträthe von Nürnberg und Bamberg ſich berechtigt hielten, an den König ſelbſt unehrerbietige Eingaben zu richten. Die Nürnberger nannten die unglückſelige Ordonnanz vom 28. Jan. gradezu ver - faſſungs - und eideswidrig , ſie beſchwerten ſich über die Ausſchließung der Männer, welche unter den Gewählten am meiſten das Vertrauen des Volkes genießen ; ſie verſicherten, im Lande herrſche eine kaum je erlebte Gährung: die Bewohner Nürnbergs blicken mit wahrem Schauder in die nächſte Zukunft. Der König erwiderte ſehr mild: es ſei ihm ſchmerzlich, verkannt zu werden, aber wie er die Freiheit der Wahlen gewahrt habe, ſo wolle er auch ſeine eigenen Rechte wahren. *)Eingabe des Magiſtrats von Nürnberg, Febr. Cabinetsſchreiben des Königs an Präſident Frhr. Zu Rhein, Bürgermeiſter Binder und Bayl, 8. Febr. 1831.Die ver - ſöhnliche Antwort beſchwichtigte nicht. Aus den Bergen des Allgaus lief eine noch weit heftigere Adreſſe an den Landtag ein: die Regierung habe die Verweigerung des Urlaubs nur deßhalb ſo weit ausgedehnt um ſich gegen jene, durch die Ereigniſſe des Juli jetzt glücklich zernichtete hohe Allianz gefällig zu zeigen. Wir ſollen eine bloße Schein-Repräſentation beſitzen und doch ſo gutmüthig ſein zu glauben, wir hätten eine wahre. Die Miniſter eilen, ſich die traurige Verlaſſenſchaft Karl’s X. anzueignen; doch auch ſie haben falſch gerechnet wie das deplorable Miniſterium. Repräſentanten! Enthüllet dem Könige den furchtbaren Abgrund, an den heuchleriſche Frömmlinge ihn führten! **)Adreſſe aus Kempten an die Kammer der Abgeordneten, 17. Febr. 1831.

Wie kamen dieſe braven Kleinbürger, die ſich in der Krone zu Kempten oder in der Poſt zu Immenſtadt bei der landesüblichen Elfuhr-Meß , beim Frühſchoppen, zuſammenzufinden pflegten, zu ſolchen franzöſiſchen Redensarten? Es ließ ſich nicht verkennen, die Aufregung im Volke war vorhanden, aber ſie ward auch künſtlich gefördert durch eine verwilderte243Das bairiſche Preßgeſetz.Preſſe, die ſich gutentheils von dem Abhub der Pariſer Tiſche nährte. Mit Unmuth bemerkte der Freiherr vom Stein noch kurz vor ſeinem Tode: wie ſei der ehrwürdige Name Publiciſt , den unſere Altvorderen einem Pufendorf, einem Möſer beilegten, jetzt durch eine Rotte ſeichter und gewiſſenloſer Tagesſchreiber herabgebracht! Unter der Maſſe kleiner Blätter, die neuerdings aufgeſchoſſen waren, ſprach das Bairiſche Volks - blatt noch am ruhigſten; hier verfocht der wunderliche, von den Dema - gogenjägern ſo lange mißhandelte mediciniſche Syſtematiker Eiſenmann die Lehren Rotteck’s mit warmem Herzen, aber ohne jede Sachkenntniß. Stürmiſcher redete der Belgier Coremans in ſeiner Freien Preſſe, am wildeſten der Franke Wirth in der Deutſchen Tribüne. Alle dieſe Lite - raten gewannen bald eine unheilvolle Macht über den Landtag, obgleich ſie ſelber nicht Abgeordnete waren. Coremans pflegte vor wichtigen Ab - ſtimmungen ein drohendes Manifeſt an die Volksvertreter zu richten, nach der Entſcheidung die Namen der geſinnungstüchtigen in rothgedruckten Ehrenliſten zu veröffentlichen, und ſchüchterte alſo manche brave Männer ein, da die Kleinbürger an das Evangelium der Zeitungen noch überall kindlich glaubten. Wirth bearbeitete die Volksvertreter im perſönlichen Verkehre, und nicht ſelten geſchah es, daß ein dunkler Ehrenmann, der noch nie ein Wort geſprochen, ſich im Hauſe erhob um vom Blatte weg eine mächtige Rede abzuleſen, deren Satzbau und Gedanken den Heraus - geber der Deutſchen Tribüne deutlich erkennen ließen. Durch ſolchen Terrorismus unberufener journaliſtiſcher Mitarbeiter wurden die Ver - handlungen der Stände von Haus aus vergiftet und verfälſcht.

Der König wiederholte in ſeiner Thronrede am 1. März was er ſo oft geſagt: Ich möchte nicht unumſchränkter Fürſt ſein, aber er rief auch warnend: Volksgunſt auf des Staatszwecks Koſten darf nicht er - ſtrebt werden. Zu Beginn der Verhandlungen erhob Freiherr v. Cloſen eine heftige wohlberechtigte Beſchwerde wider die willkürlichen Verhaftungen in München. Der beredte Pfälzer hatte von ſeinem Vater, einem Kriegs - gefährten Waſhington’s und Lafayette’s, die glühende Begeiſterung für die Freiheit geerbt, indeß war er keineswegs gemeint den Boden der Ver - faſſung zu verlaſſen, den König perſönlich und deſſen Mäcenatenthum bewunderte er aufrichtig. Er gehörte mit zu jenen fünf Abgeordneten, denen der Urlaub verſagt war, und hatte ſein Amt niedergelegt um in die Kammer einzutreten. Statt dieſen treuen Mann durch Wohlwollen zu gewinnen ſuchte die Regierung in unbegreiflicher Verblendung ihn zu verderben. Sie warf die gehäſſige Frage auf, ob Cloſen mit Recht in der Kammer ſitze, da er zwar auf ſein Amt verzichtet habe, aber zur Zeit der Wahl noch Staatsdiener geweſen ſei. Mit erdrückender Mehrheit wurde dies Bedenken abgewieſen, und nun ergoß ſich von allen Seiten her ein Strom des Unwillens über die Miniſter. Zumal Schenk, der Vater der Preßordonnanz, der bairiſche Polignac ſollte wegen Verfaſſungs -16*244IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.bruchs angeklagt werden. Von den Beſchlüſſen des Bundestags ſprach man nur mit zorniger Verachtung; ſelbſt Ignaz Rudhart, der wieder mit dem herzerwärmenden Feuer ſeiner Beredſamkeit für die Sache des gemäßigten Liberalismus eintrat, ſchlug Baierns Bundespflichten ſehr niedrig an und forderte die unbeſchränkte Preßfreiheit.

Nach langen, erbitterten Kämpfen ſah der König endlich ein, daß er den verhaßten Miniſter nicht mehr halten konnte. Schenk wurde in die Provinz verſetzt und den Ständen eine neue, ſehr gemäßigte Preßver - ordnung vorgelegt: ſie gab die Beſprechung bairiſcher Angelegenheiten völlig frei und widerſprach alſo ſchnurſtracks den neuen, durch Baiern ſelbſt veranlaßten Bundesbeſchlüſſen. Auch dies genügte der Kammer noch nicht; die Köpfe hatten ſich ſchon ſo ſehr erhitzt, daß ſogar Präſident Seuffert, der Diplomat des Hauſes rundab erklärte: Alles oder nichts! Die Kammer der Reichsräthe aber wollte den Abgeordneten auf ihrer ab - ſchüſſigen Bahn nicht folgen, und ſo blieb denn der gewaltige Lärm ſchließlich ohne jedes Ergebniß. Die Krone behielt freie Hand gegenüber der Preſſe. Ebenſo unerquicklich verlief der langwierige Streit wegen der Urlaubsverweigerung; zu einem Verzicht auf ſein verfaſſungsmäßiges Recht ließ ſich der König nicht bewegen.

Darüber vergingen Monate; erſt in ihrer hundertſten Sitzung begann die Kammer die Berathung des Budgets und bewährte ſogleich ihre Ge - ſinnungstüchtigkeit durch umfaſſende Streichungen, obgleich Armansperg durch ſeine überſparſame Verwaltung das Deficit von faſt 3 Millionen Gulden beſeitigt und einen Ueberſchuß von 7 Millionen gewonnen hatte. Die ohnehin viel zu knapp bemeſſenen Ausgaben für das verwahrloſte Heer ſollten noch einmal beſchnitten werden. Auch die Vereidigung des Heeres auf die Verfaſſung wurde beantragt. Dieſe thörichte Forderung galt ſelbſt unter den Gemäßigten für einen unantaſtbaren Glaubensſatz des liberalen Katechismus; indeß war Rudhart klug genug zu erklären, daß er dem verfaſſungstreuen Monarchen kein Mißtrauen ausſprechen wolle, und ſo gelang es den Antrag noch zu beſeitigen. Aber auch die Civilliſte des Königs dachten die Liberalen um faſt ein Viertel zu kürzen, und die Verhandlungen darüber mußten den Monarchen tief kränken, da Jedermann wußte, daß er von ſeinem Einkommen nichts für ſich, Alles für die Kunſt verwendete. Für die Kunſtpflege, die unter König Ludwig doch allein dem bairiſchen Staatsleben Würde und Inhalt gab, zeigte der aufgeklärte Liberalismus wenig Verſtändniß; faſt alle Ausgaben für Neubauten wurden verworfen. Die mächtigen Quadermauern der Pinakothek ragten ſchon aus dem Erdboden heraus; dennoch verweigerte die Kammer vielleicht nach dem Buchſtaben, doch ſicherlich gegen den Geiſt der Verfaſſung die Mittel zur Fortführung des Werkes. Ein liberaler Redner rief triumphirend: möge dieſer Bau liegen bleiben als eine Ruine der Geſetzmäßigkeit! und der König ſah ſich ge -245Die Oppoſition im bairiſchen Landtage.zwungen, eine halbe Million Gulden aus ſeinen eigenen Mitteln vor - zuſchießen.

Bei allen dieſen Händeln trat wieder grell zu Tage, wie wenig der bairiſche Staat noch vermocht hatte den Gegenſatz der Landſchaften zu verſöhnen. Die Pfälzer und die Franken ſtanden faſt ſämmtlich zu der liberalen Fahne, allen voran der Advocat Schüler aus Bergzabern, die Stütze des Volks, der Koloß an Geiſt und Charakter wie die Zei - tungen ihn nannten in der That ein feiner Kopf, der ſeine radicalen Anſichten faſt immer klug und mit vornehmem Anſtand vertrat. Bei den Altbaiern dagegen herrſchte die alte Begeiſterung für Thron und Altar, mehr noch im Volke als unter den Abgeordneten. Die Münchener Bürger - ſchaft und die tauſende von Arbeitern, welche der königliche Kunſtfreund bei ſeinen Bauten beſchäftigte, grollten über die Schmälerung der Civilliſte und holten den Monarchen in feierlichem Zuge ein, als er von einer Reiſe heimkehrte. Die Gautinger Bauern ſchaarten ſich zuſammen unter der Führung des bergiſchen Freiherrn v. Hallberg, des allbekannten Eremiten von Gauting , und ſendeten eine geharniſchte Adreſſe: der König möge ſeinen getreuen Bauern nur winken, und in einer Stunde haben Ew. Majeſtät keine lebenden Feinde mehr! Seitdem diente der Name der Gautinger, wie vormals am Rhein der Name der Hatzenporter, der liberalen Preſſe viele Jahre lang zur Bezeichnung des Bedientenſinnes.

Eine ſchwierige Mittelſtellung zwiſchen den Parteien behauptete der junge Freiherr v. Rotenhan aus der fränkiſchen Reichsritterſchaft, ein Burſchenſchafter, von der Hochſchule her mit Stüve und dem Jenenſer Buchhändler Frommann befreundet, durch Blutsverwandtſchaft und Ge - ſinnungsgemeinſchaft mit dem Berliner Präſidenten Grolman eng ver - bunden, ein edler Patriot von freiem, weitem Blicke, unabhängig nach oben wie nach unten. Die Liberalen wußten ſeinen Freimuth noch nicht zu ſchätzen, weil er ein gläubiger Proteſtant war und als beſonnener Reformer den Brandreden der Demagogen oft ſehr ſcharf entgegentrat. Gleich ihm dachte ſein Freund Graf Giech, der Schwiegerſohn des Freiherrn vom Stein. Die Beiden bildeten faſt die einzige Brücke zwiſchen der hiſtoriſchen Staatsgeſinnung des Nordens und dem vernunftrechtlichen Liberalismus des Südens. Wie weit die Kluft zwiſchen dieſen Anſichten noch war, das empfand Chriſtian Rauch ſehr lebhaft, als er um jene Zeit zur Vollendung ſeines Königsdenkmals nach München kam; Thierſch und ſeine anderen bairiſchen Freunde betrachteten ihn faſt wie einen Ko - ſaken, weil er als guter Preuße das gerühmte allgemeine Staatsrecht nicht bewundere, in den Polen nur die Feinde ſeines Vaterlandes ſehen wollte.

Nach langem Feilſchen kam das Budget doch noch zu Stande; die Abſtriche waren ſo ſtark, daß man ein Fünftel der direkten Steuern erlaſſen konnte. Im Uebrigen leiſtete die lärmende Verſammlung ſehr246IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.wenig: über die Ablöſung der Scharwerke und der Zehnten, über das längſt geplante, dringend nöthige Landesculturgeſetz äußerte ſie nur aller - hand Wünſche, ohne ſich über ausführbare Vorſchläge zu einigen, und der beſchränkten Gewerbefreiheit, welche das neue Conceſſionsſyſtem ge - währte, trat ſie ſogar feindlich entgegen, weil die Kleinbürger, geängſtigt durch den wachſenden Wettbewerb, ſich in ſtürmiſchen Adreſſen über die neue Freiheit beſchwerten. Als die Stände um Weihnachten mit wenigen trockenen Worten heimgeſchickt wurden, da trennte man ſich zwar noch in leidlichem Frieden. Ein Bruch war für diesmal vermieden, und das preußiſche Auswärtige Amt erkannte dankbar an, daß die Landtagsver - handlungen hier doch nicht ganz ſo ſtürmiſch verlaufen waren wie in Karlsruhe oder Caſſel. *)Ancillon, Weiſung an Küſter, 8. Jan. 1832.Rotenhan aber und wer ſonſt unter den be - ſonneneren Abgeordneten dem Hofe nahe ſtand, ſchaute voll Beſorgniß in die Zukunft. Denn der König, deſſen Wille in dem ſtreng monar - chiſchen Staate doch immer den Ausſchlag gab, verhehlte nicht ſeinen Zorn über die thörichten und aufreizenden Reden dieſes langen und leidigen Landtags . Er ward irr an den conſtitutionellen Idealen ſeiner Jugend. Nach der Weiſe enttäuſchter Enthuſiaſten wendete er ſich ſchroff von dieſen holden Träumen ab und ließ den ſelbſtherrlichen Neigungen ſeines Charakters die Zügel ſchießen, obgleich er an die förmliche Auf - hebung der Verfaſſung niemals dachte. Erobert von der Proſa wird die Welt , ſo rief er ſchmerzlich, als ihm die Liberalen ſeine künſtleriſchen Pläne ſtörten und Goethe dem verkannten frommen Bauherrn ſeine Theilnahme ausſprechen ließ. Er klagte über den Wandel der Volksgunſt, über das Schwinden der alten Treue:

Deutſches Volk, das einſt ſo fromm und bieder,
Nun ergriffen von dem Schwindelgeiſt,
Redlich wie Du wareſt werde wieder!
Beſſer die Geſchichte keines weiſt.

Und es blieb nicht bei den ſtrafenden Worten. Die Oppoſition hatte ſich gründlich verrechnet, als ſie nach der Entlaſſung Schenk’s den Beginn eines liberalen Regiments erhoffte. Zu Ende des Jahres trat der alte Zentner aus, der ſo viele Jahre hindurch Beamtenthum und Landtag in Eintracht erhalten hatte. Zugleich erhielt auch Armansperg ungnädigen Abſchied, zum großen Leidweſen der preußiſchen Regierung; alle ſeine Verdienſte um den Staatshaushalt und den preußiſch-bairiſchen Zollvertrag galten jetzt nichts mehr, da der öſterreichiſche Hof und die Genoſſen der Münchener Congregation ihn ſchon längſt, durchaus mit Unrecht, als einen geheimen Gönner des Liberalismus verdächtigt hatten. **)Küſter’s Berichte, 14. Febr., 18. Apr., 7. 24. Mai, 22. 31. Dec. 1831.Nunmehr übernahm Feldmarſchall Wrede den Vorſitz im Miniſterrath. 247König Ludwig’s Verſtimmung.Gleich ihm war auch der neue Miniſter des Auswärtigen, Frhr. v. Giſe ein Anhänger Metternich’s. Von dem Fürſten Oettingen-Wallerſtein, einem geiſtreichen Weltmanne, dem der König ganz unvermuthet die Ver - waltung des Innern übertrug, wußte man bisher noch wenig. Nur ſo viel war ſicher, daß die neue Regierung der Wiener Hofburg näher ſtehen würde als die alte. Unabläſſig bearbeitete Kaiſerin Karoline Auguſte ihren königlichen Bruder mit frommen Rathſchlägen; und da in Baiern eine politiſch-conſervative Partei außerhalb der Kreiſe des hohen Beam - tenthums kaum vorhanden war, ſo regte ſich ſchon die beſorgte Frage, ob König Ludwig ſich nicht bald den mächtigen Clericalen, die ſeinen ro - mantiſchen Anſchauungen doch ſehr nahe ſtanden, ganz in die Arme werfen würde.

Noch eifriger als die Landtage bemühte ſich die raſch ins Kraut ge - ſchoſſene Preſſe Süddeutſchlands, die Höfe in die Bahnen der Reaction hineinzuzwingen. Unter den Zeitſchriften des oberländiſchen Liberalismus galten die früherhin von Poſſelt, dann von Murhard, neuerdings von Rotteck herausgegebenen Politiſchen Annalen immerhin noch für das anſtändigſte Blatt, und welch ein thörichtes radicales Weltbürgerthum ward hier ver - treten. Von Deutſchland, von den Pflichten nationaler Ehre und Selbſt - behauptung war gar nicht mehr die Rede. Der ehrliche Freiburger Doctrinär ſah auf der Welt nichts weiter als den Freiheit krähenden galliſchen Hahn und deſſen Todfeindin, die heilige Allianz . Die Ge - ſchichte der Welt, ſo ſchrieb Rotteck im Januar 1831, hat kein anderes Jahr von ſo unermeßlicher und verhängnißvoller Wichtigkeit aufzuweiſen, wie jenes das ſoeben zu Ende ging. Darum fand er es entſetzlich, daß Lafayette, der Abgott aller wohldenkenden Franzoſen, dem ſchändlichen Haſſe der Ariſtokraten aufgeopfert wurde. Darum verlangte er auch die Einmiſchung der deutſchen Mächte zu Gunſten der aufſtändiſchen Polen, eine Intervention, die grade aus dem Princip der Nichtintervention zu rechtfertigen ſei! Belgien, ſo unentbehrlich zur Sicherſtellung Frank - reichs gegen die Waffenmacht der heiligen Allianz , wurde zu Rotteck’s Bedauern durch die Friedensliebe der Juſtemilianer verſchmäht, und der badiſche Staatsweiſe wünſchte von Herzen, daß dieſem friedlichen Ent - ſchluſſe des freien Frankreichs nicht eine allzu ſpäte Reue folgen möchte. Als der betriebſame bairiſche Kammerredner Hornthal wieder einmal eine Schrift herausgab um die Neutralität Deutſchlands gegenüber der Juli - Revolution zu verlangen, da ward er von Rotteck hart angelaſſen: das ſei zu wenig; jetzt handle es ſich um die allgemeine Freiheit und Civili - ſation, alſo müßten Deutſchlands conſtitutionelle Fürſten Partei ergreifen, ihr Wort und ihre Arme legen in die Wagſchale der Conſtitution . So mit der ganzen harmloſen Unwiſſenheit des politiſchen Dilettanten predigte248IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.der Freiburger Volksmann die Zerreißung ſeines Vaterlandes; zu ver - wundern war es nicht, wenn General Clauſewitz und die anderen preußi - ſchen Patrioten ihn einfach für einen Landesverräther hielten.

Die kleinen Leute von der Preſſe überboten noch das Vorbild des Meiſters. Wer dieſen Stimmen glaubte, der mußte wähnen, alles Leben der Völker gehe nur in den Zeitungen und den Kammerreden auf. Da die Preußen von dieſem zweifachen Glücke bisher nur wenig beſaßen, ſo wurden ſie mit grenzenloſer Verachtung behandelt, und Niemand bemerkte, daß der Preuße im täglichen Leben, bei der Niederlaſſung, bei der Heirath, im Gewerbebetrieb, in der Gemeinde ein unvergleichlich freierer Mann war als der bureaukratiſch gegängelte Süddeutſche. Ein noch ziemlich gemäßigtes Blatt, der Stuttgarter Hochwächter, herausgegeben von Lohbauer, faßte einmal (9. Jan. 1832) die Grundgedanken dieſer conſtitutionellen Selbſt - beräucherung alſo zuſammen: Ausland heißt in dieſem Augenblick den conſtitutionellen Teutſchen jeder Staat, der ein anderes als ein conſtitutio - nelles Intereſſe verfolgt. Es klingt hart und ſcheint die unſelige Tren - nung Teutſchlands verewigen zu wollen, wenn wir ſagen, daß wir unſere preußiſchen und öſterreichiſchen Stammgenoſſen als Ausländer betrachten. Nachdem wir aber einmal die Worte Teutſch und Conſtitutionell für gleich - bedeutend genommen haben, ſo müſſen ſich’s unſere öſterreichiſchen und anderen Sprachgenoſſen ſchon gefallen laſſen, wenn wir ihnen die Bruder - ſchaft ſo lange aufkündigen, bis wir ſie auf einem Wege mit uns wandeln ſehen. Wir ſind nun zwar nicht gemeint, daß die Preußen oder Oeſter - reicher von uns mißachtet werden müſſen; aber man nehme uns nicht übel, wenn wir vorderhand beſſere Freunde der Franzoſen ſind, von denen wir Schutz für den Beſtand unſerer Verfaſſungen zu erwarten haben.

In Freiburg thaten ſich die Liberalen ſofort nach der Verkündigung des neuen Preßgeſetzes zu einer Aktiengeſellſchaft zuſammen und gründeten den Freiſinnigen . Die Leitung übernahm für eine Weile der Frei - herr v. Reichlin-Meldegg, ein katholiſcher Prieſter, der um dieſe Zeit zur evangeliſchen Kirche übertrat und ſich der rationaliſtiſchen Schule des Heidelbergers Paulus anſchloß, unzweifelhaft ein ehrlicher Mann, aber ſo platt und abgeſchmackt, daß er in guter Geſellſchaft höchſtens als Spaß - macher geduldet werden konnte. Groß war der Jubel als dies erſte Kind der Preßfreiheit zur Welt kam. Die Studenten fuhren eine auf Atlas gedruckte Nummer des Freiſinnigen in feierlichem Zuge durch die Stadt. Daran ſchloß ſich das unvermeidliche Feſtmahl. Eine Abgeſandt - ſchaft der Buchdrucker überreichte Welcker dem Manne, der die ſchöne Motione macht , wie man im Ländchen ſagte die gleich unvermeidliche Lorbeerkrone. Rotteck rief: Das in allen civiliſirten Ländern des Erd - theils und der Welt ausgebreitete Volk der Freigeſinnten, im Gegenſatz der Herriſchgeſinnten und Knechtiſchgeſinnten, lebe hoch! Dann trank ein junger Doctor auf die Geſundheit und das lange Leben eines Vogels,249Der Freiburger Freiſinnige.des galliſchen Hahnes, der zum zweiten mal durch ſeinen kräftigen Flügel - ſchlag die Ketten zerriſſen habe. Zum Schluß erhob ſich der ebenfalls unvermeidliche edle Pole , um ſeinen Unwillen über das Regiment des franzöſiſchen Juſtemilieu auszuſprechen, worauf Rotteck, um ihn zu tröſten, Lafayette leben ließ, die reinſte Perſonification des edelſten Geiſtes und Charakters in Frankreichs Revolution und Volk. Die mit ſo großen Er - wartungen begrüßte Zeitſchrift beſprach die auswärtige Politik mit blinder Leidenſchaft und vollendeter Unwiſſenheit; beharrlich wiederholte ſie ihren Leſern das alberne Märchen, daß Oeſterreich und Preußen die Deutſchen, wie einſt Napoleon gegen die Spanier, ſo jetzt gegen die Freiheit Frank - reichs als willenloſe Knechte in den Kampf führen wollten.

Ueber die heimiſchen Angelegenheiten urtheilte der Freiſinnige ruhiger, ſachkundiger, und wer ihn mit den anderen, leider recht unge - rathenen Erſtlingen der neuen Preßfreiheit verglich, der konnte ſchon er - kennen, daß die badiſche Oppoſition zwei grundverſchiedene Parteien um - ſchloß. Im Oberlande donnerte der Schwarzwälder des jungen Juriſten Bader gegen die Zwergmännerchen der Cabinette und die Kaſte der ſo - genannten Adlichen mit ihren Ausſchweifungen, ihrer Ueppigkeit, ihren Laſtern: ſie mögen nur herkommen, die Knechte der Tyrannei! In Mannheim ließ der friſche, geiſtreiche, aber auch zerfahrene und flüchtige Brauſekopf Franz Stromeyer den Wächter am Rhein erſcheinen. Dann und wann gab ihm ſein Schwager der junge Karl Mathy einen verſtän - digen Artikel; er ſelber erging ſich zumeiſt in wilden Anklagen, drohte mit dem Bunde der Völker gegen die Fürſten, forderte die beiden Großmächte gradehin zum Kampfe heraus: Alle Herzen ſchlagen für Badens Preß - freiheit; Heſſen, Naſſau, Rheinbaiern, Braunſchweig werden auf Leben und Tod mit uns ſtehen. Das iſt Badens Macht! Nur zu mit der Gewalt! Nur zu! Gebt die Loſung zur Wiedergeburt des Vaterlandes! So lange man noch gemeinſam dem drohenden Bundestage gegenüber - ſtand konnten ſich freilich dieſe Radicalen von den gemäßigteren Liberalen noch nicht ſcharf abſcheiden.

Ueberhaupt gährten die Meinungen noch ſo wild durch einander, daß keine Partei ihre eigenen Ziele klar erkannte. Mancher der ſüddeutſchen Bewunderer Frankreichs wähnte im beſten Glauben, nur das Werk der Befreiungskriege fortzuführen, wenn er die damals errungene nationale Unabhängigkeit auf ſeine Weiſe durch den Ausbau der inneren Freiheit zu vollenden ſuchte. Eine in Straßburg gedruckte, offenbar in Baden entſtandene Schrift Bitt um’s Wort, eine kleine halbe Stunde mit Arndt und Jahn fragte den Turnmeiſter ganz verwundert: man ſage, er urtheile ungünſtig über die Juli-Revolution; das kannſt du nicht ge - ſagt haben, alter Kämpe, du haſt der Freiheit Rennlaufbahn in Deutſch - land eröffnet. Die Franzoſen ſind die Jugend Europas, von allen Völkern der Erde müſſen ſie grade dir am beſten gefallen. Arndt’s Schrift gegen250IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.die Belgier, die ſich leider nicht hinwegleugnen ließ, erſchien dieſem Ba - dener wie eine unbegreifliche Verirrung: Wäre Arndt nicht ein Mann des Volkes, ſo könnte man glauben, dies Buch ſei die erkaufte Stimme eines feilen Cabinets-Lakaien oder Miniſters. Das einzige unabhängige badiſche Blatt, das ſich der Uebermacht des Liberalismus entgegenſtemmte, die Mannheimer Zeitung, verſpottete mit ſcharfem Witze Rotteck’s vernunft - rechtliche Gemeinplätze und die Selbſtüberhebung ſeiner Genoſſen; in ein - zelnen Artikeln verriethen ſich die Federn geiſtreicher Heidelberger Profeſſoren. Indeß zeigte auch dieſe Zeitung, wie faſt alle conſervativen Organe des - dens, deutlich ihre clericalen Hintergedanken und ſchon darum konnte ſie in den proteſtantiſchen Landestheilen wenig Anſehen gewinnen.

Nicht minder laut lärmten die Zeitungen in den Nachbarländern. In Württemberg hatte der Schwäbiſche Merkur, der namentlich über die deutſche Handelspolitik ſehr verſtändig urtheilte, einen ſchweren Stand neben der Maſſe der neu aufgeſchoſſenen radicalen Blätter. Kein Ehrenmann wird ſich der Schmach bequemen alſo ſtand auf dem Titel des Reutlinger Beobachters zu leſen neben dem Bilde der Stange mit dem Geßler - hute. Der Hauptſtrom, auf welchem der allgewaltige Zeitgeiſt einherfährt, fluthete natürlich wider den Damm der heiligen Allianz; alle Männer von Kraft, Muth und feſtem Willen ſollten in dem Beobachter ihren Sprechſaal finden, und zugleich verſprach er dieſen Tapferen ſtrenge Geheimhaltung ihrer Namen: ſo unantaſtbar erſchien bereits die ent - ſittlichende Anonymität der Preſſe. Die Rede dieſer radicalen Schwaben klang noch ſehr beſcheiden neben den Kraftworten der Zeitſchwingen , die in Hanau dicht unter den ſchadenfrohen Augen des alten Kurfürſten, von G. Stein herausgegeben und in Frankfurt, zum Schrecken des Bundes - tags, durch geheime Stafetten verbreitet wurden. Hier ward die un - bedingte Einheit des Vaterlandes, die Vernichtung aller Staaten und Staatlein, mochten ſie Preußen oder Heſſen-Homburg heißen, ſtürmiſch gefordert, aber auch das angeborene Phlegma des deutſchen Michels in Börne’s Weiſe verhöhnt und die Geſammtheit der conſtitutionellen Deutſchen ermahnt, nach dem Beiſpiele der Polen, des Muſterbildes der Völker , den Kampf zu beginnen gegen Preußen: Ich haſſe den Feind; aber den Heuchlerfreund, den haſſe ich nicht, den verachte ich aufs tiefſte. Wie Preußen Deutſchland überreden möchte, daß es ſelber der Schild der Freiheit ſei, ſo ſpiegelt es der Welt vor, es wolle den Frieden und das Glück Europas, während es den nordiſchen Feind durch ſeinen Bund zum Herrn unſeres Glücks (ach, unſeres Unglücks!) macht.

Das Alles ward aber weit überboten von der urkräftigen Sprache der Zeitungen in der bairiſchen Rheinpfalz. Wieder einmal ſchuf ſich das zerfahrene politiſche Leben der Nation für kurze Zeit einen unnatür - lichen Mittelpunkt: das entlegene pfälziſche Grenzgebiet wurde, wie einſt Coblenz in der Zeit des Rheiniſchen Mercurs, Jena in den Tagen der251Die Radicalen in der Pfalz.Nemeſis und der Iſis, zum Feuerherde der deutſchen literariſchen Oppo - ſition, obgleich dieſem Ländchen von Kleinbürgern und Kleinbauern ſchlechter - dings Alles fehlte, was der politiſchen Preſſe Gehalt und Macht giebt. Nur der tiefe Groll, der die liberalen Schriftſteller beſeelte, fand hierzu - lande einen natürlichen Boden; denn nirgends ward der Jammer der deutſchen Zerriſſenheit ſo handgreiflich empfunden. Eingeklemmt zwiſchen den Zolllinien Frankreichs und des preußiſch-heſſiſchen Vereins, abgeſperrt von dem bairiſchen Hauptlande, lernte die Pfalz den Segen des freien Verkehrs faſt nur an den falſchen Sechſern kennen, mit denen der Co - burger Herzog von St. Wendel aus ſie freundnachbarlich überſchwemmte. Der Abſatz ſtockte; die Auswanderung nach dem gelobten Eldorado des fernen Weſtens nahm hier noch bedenklicher überhand als in den anderen Kleinſtaaten des Südens, und die öffentliche Meinung, die vor der neuen Erſcheinung des Maſſen-Elends noch ganz hilflos ſtand, pries dies Ab - ſtrömen köſtlicher nationaler Kräfte als ein wirkſames ſociales Heilmittel. Die fröhlichen Pfälzer betrachteten ihre barſchen, ſchwerfälligen altbairiſchen Beamten immer noch als Fremde, obgleich die Verwaltung neuerdings unter der Leitung des Präſidenten Stichaner etwas rühriger arbeitete; ſie lebten nach ihren franzöſiſchen Geſetzen und hingen daran mit deutſcher Treue. Noch im Jahre 1799, als in Frankreich ſelbſt der Idealismus der Revolution ſich längſt verflüchtigt hatte, waren die Freiwilligen aus der gebildeten pfälziſchen Jugend frohlockend zum franzöſiſchen Heere ge - zogen um für die Freiheit gegen die Despoten zu kämpfen.

Was Wunder alſo, daß der neue Freiheitsruf der Pariſer grade hier ein ſchallendes Echo fand und die unzufriedenen Pfälzer mit den Radi - calen im nahen Straßburg ſogleich einen freundſchaftlichen Verkehr an - knüpften? Aber, ſo ſtark blieb immerhin die Stimme des Blutes in dieſem grunddeutſchen Stamme, die förmliche Vereinigung mit Frankreich wünſch - ten nur Wenige, etwa mit Ausnahme des Advokaten Savoye und des kleinen Kreiſes ſeiner radicalen Freunde. Man fühlte doch, daß die ungeliebte bairiſche Verwaltung milder verfuhr als die napoleoniſchen Präfecten, und trug auch kein Verlangen nach wälſch redenden Beamten. Die Mehr - zahl der Pfälzer ſchwärmte für ein einiges, freies Deutſchland, das mit dem freien Frankreich treu verbündet, ihnen den Druck der Binnenmauthen, die Plackereien der Cenſur und der Polizei von den Schultern nehmen ſollte; in ihrer Harmloſigkeit legten ſie ſich kaum die Frage vor, um welchen Preis die Freundſchaft der Franzoſen feil ſei. Da dies Land jedoch weder dynaſtiſche Anhänglichkeit noch irgendwelche Achtung vor dem bairiſchen Staate hegte, ſo konnte die unklare Aufregung leicht mißleitet werden.

Jedermann ſah die Gefahr, nur nicht König Ludwig, der ſein ſtolzes Wort von der Baiern Treue nimmermehr anzweifeln ließ und am wenigſten in der geliebten Wiege ſeines Geſchlechts aufrühreriſche Ge -252IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.danken vermuthen wollte. *)Küſter’s Berichte, 13. Aug. 1830 ff.Die zuverſichtliche Stimmung des Münchener Hofes änderte ſich aber bald, als Dr. Siebenpfeiffer ſeine demagogiſche Wirkſamkeit begann, ein Rabuliſt des gemeinen Schlages, von zweifel - haftem Charakter, federfertig, unermüdlich, grade geiſtreich genug um den halbgebildeten Philiſtern als ein großer Mann zu erſcheinen. Sein Rhein - baiern, eine Zeitſchrift für die Geſetzgebung des conſtitutionellen In - und Auslands, zumal Frankreichs ſprach noch ziemlich gemäßigt, obwohl die üblichen Schimpfreden wider die verfaſſungswidrige Zitterpappelhaftigkeit der Beamten, wider das deutſche Sibirien Preußen, wider die Frechheit der preußiſchen Ariſtokratenſtirnen und den zum ruſſiſchen Statthalterſitze erniedrigten Thron Friedrich’s des Großen auch hier nicht fehlten. Er ver - langte nur ein ſelbſtändig regiertes Rheinbaiern, etwa unter einem könig - lichen Prinzen, aber mit feierlicher Anerkennung der in der Pfalz recht - mäßig verkündigten franzöſiſchen Erklärung der Menſchenrechte, und wünſchte die Jugend ſtaatsbürgerlich zu bilden durch Beſeitigung des claſſiſchen Unterrichts, der überhaupt den vernunftrechtlichen Liberalen zu geiſtvoll und darum verdächtig war. Was ſich in den Abhandlungen einer Monats - ſchrift nicht wohl ſagen ließ, das verkündete Siebenpfeiffer um ſo deut - licher in den kleinen Brand-Artikeln ſeines Tageblatts, des Weſtboten . Hier ſprach er aus, was er auch ſeinem alten Freunde Rotteck vertraulich geſtand, daß er der ſüßlichen Halbheiten und conſtitutionellen Lügen der badiſchen Juſtemilianer müde ſei: Thron und Republik heulen einander an, Fürſtlichkeit und Volksthum ſind unverträglich, die Fürſten nur die ver - körperte Idee des Ariſtokratismus. Wenn dereinſt alle Oberbehörden aus Volkswahlen hervorgehen, dann ſtürzen die ausgehöhlten Throne, dann, göttliches Recht, fliehe in die Wälder von Rußland ! Darum wurden die Caſſeler, Braunſchweiger, Dresdner verhöhnt wegen ihrer Lärmbewe - gungen, die vor den Thronen ſtehen geblieben, die Naſſauer aufgefordert ein Loth Blei durch das falſche niedrige Herz des ehrvergeſſenen Miniſters Marſchall zu ſchießen , und der geſammten Nation zugerufen: Welcher deutſche Brutus reißt das Meſſer aus dem blutigen Leichnam der ge - ſchändeten Polonia und giebt den Aufruf zur Freiheit?

Zu Siebenpfeiffer geſellte ſich der fränkiſche Juriſt Wirth, der ſo lange in der Münchener Kammer hinter den Kuliſſen geſtanden hatte und nun doch gerathen fand ſeine ſtreitbare Feder unter den Schutz des franzöſiſchen Gerichtsverfahrens zu flüchten, ein ſchwärmeriſcher Teutone von gutem Rufe und ehrlicher Vaterlandsliebe, aber faſt noch radicaler als ſein Genoſſe. In ſeiner Tribüne wurde nicht nur das amerika - niſche Staatsideal verherrlicht, ſondern auch ſchon ein verſchämter Socialis - mus gepredigt: eine große Aſſociation ſollte die Kinder der Armen, je nach ihrer Begabung, für höhere Berufe erziehen, eine Nationalkaſſe den kleinen253Wirth und Siebenpfeiffer.Geſchäftsleuten Darlehen gewähren. Wirth weigerte ſich ſein Blatt den Cenſoren zu unterwerfen, forderte alle deutſchen Schriftſteller öffentlich auf, ihm die von der Cenſur geſtrichenen Stellen zum Abdruck zu über - geben, verlegte ſeine Zeitung von einer pfälziſchen Stadt zur anderen, ſobald ihm ſeine Handpreſſe verſiegelt wurde, und führte gegen die Polizei - behörden einen kleinen Krieg, der das Volk um ſo ſtärker erbittern mußte, weil die Gerichte ſich in mehreren Fällen des gehetzten Mannes annahmen. Die pfälziſchen Richter wurden allgemein als die natürlichen Vertheidiger der Landesfreiheit verherrlicht, und ſie ſetzten auch ihren Stolz darein, durch milde, zuweilen recht anfechtbare Urtheile der Welt zu beweiſen, daß unter der Herrſchaft der napoleoniſchen Codes den politiſchen Käm - pfern mehr erlaubt ſei als in Altbaiern.

Von nah und fern drängten ſich nunmehr radicale junge Schrift - ſteller an jene beiden Führer heran: der Herausgeber der Speierſchen Zeitung, Kolb, der Braunſchweiger Georg Fein, Sauerwein in Frankfurt und viele Andere, von denen keiner über die Mittelmäßigkeit herausragte. Ermuthigt durch das Beiſpiel der Pfälzer ließ der Mecklenburger Hundt - Radowsky in irgend einem Winkel des Südens die Geißel erſcheinen, worin gleich zum Eingang die Geiſterſtimmen der Ermordeten an Nickel und ſeine Verbündeten erklangen. Die heſſiſchen Liberalen gründeten unter dem Schutze der ſchlaffen pfälziſchen Cenſur das heſſiſche Volks - blatt , das nur von Heſſen geſchrieben, die Miniſter in Darmſtadt ſchwer beunruhigte. Aus ſicherer Ferne half auch Börne mit, deſſen Pariſer Briefe täglich frecher, höhniſcher, roher ſprachen.

Bald wurden auch die Truppen bearbeitet; im Zweibrückener All - gemeinen Anzeiger ſetzte ein angeblicher Unteroffizier ſeinen Kameraden auseinander, daß ſie ſich gegen Bürger nicht gebrauchen laſſen dürften, da als Bürger alle Erdbewohner gleiche Rechte hätten. Um die preu - ßiſchen Rheinländer ebenfalls aufzuwiegeln, ließ man in Zweibrücken eine Schrift erſcheinen Rheinpreußiſche Glückſeligkeit , ein hohles Machwerk, das an der preußiſchen Verwaltung eigentlich nichts zu tadeln fand als die Tyrannei der Cenſoren, denen der Staat ihre Ketten von dem Bürger - ſchweiße vergoldete , und gleichwohl zu dem Schluſſe gelangte, die Rhein - länder ſeien Waiſenkinder, zwar nicht ohne Mutter, aber ohne Vater. Hier war die Mühe freilich umſonſt. Die Rheinländer ſtanden, bis auf ver - ſchwindende Ausnahmen, feſt zum preußiſchen Staate, ſo daß Präſident Ruppenthal, ſeit Daniels Tode der anerkannt erſte rheiniſche Juriſt, bei der Eröffnung der Aſſiſen von 1832 die unwandelbare Treue der Provinz mit gerechtem Stolze rühmen konnte.

Um ſo kläglicher zeigte ſich die Hilfloſigkeit der Kleinſtaaterei in dem coburgiſchen Fürſtenthum Lichtenberg, dem fruchtbaren Heimathlande der falſchen Sechſer. Die Lichtenberger klagten ihrem Herzoge in einer ſtür - miſchen Adreſſe, daß ſie baare 10000 Gulden für das Heer bezahlen254IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.müßten und trotzdem nie einen Soldaten zu Geſicht bekämen, daß die Her - zogin Wittwe aus St. Wendel weggezogen ſei, daß ſo viele Coburger und Gothaer angeſtellt würden, während Lichtenberg doch an einheimiſchen Ta - lenten Ueberfluß hätte. Da dieſe und andere Beſchwerden fruchtlos blieben, ſo brach bald eine gemüthliche Anarchie herein; denn das Land wurde ſchlecht verwaltet, nach franzöſiſchen Geſetzen, aber ohne die ſtramme Ordnung des Präfectenſyſtems; die Regierung that gar nichts um dem Schmuggel zu wehren und ihre armen Bauern vor dem verbrecheriſchen Treiben der Bande noire, der Wucherjuden zu ſchützen. Ueberall Volksverſammlungen und tobende Straßenaufzüge, auch viele Rothkäppchen mit Jacobinermützen zeigten ſich unter dem Haufen. In St. Wendel hielt der Pfarrer Juch regel - mäßig einen Markt , um den Bauern die radicalen pfälziſchen Blätter vorzuleſen und zu erläutern. Auf die Bitte des Herzogs rückten einige preußiſche Truppen ein, und ſofort nach ihrem Erſcheinen ward Alles ſtill; doch kaum waren ſie abgezogen, ſo begann der Lärm von Neuem, bis endlich vor der alten Hallenkirche zu St. Wendel ein mächtiger Freiheits - baum aufgepflanzt wurde mit der trutzigen Inſchrift: Welcher Henkers - knecht es wagt mit frevelnder Hand dieſes Heiligthum anzutaſten, iſt des Todes! Der Pöbel ließ die Gensdarmen nicht heran und tanzte die Nacht hindurch die Carmagnole um das Symbol der Freiheit.

Mittlerweile begannen auch die bairiſchen Pfälzer vom Zeitungsleſen zu Thätlichkeiten vorzuſchreiten. In jedem Wirthshauſe des weinſeligen Landes ſaßen die politiſirenden Kriſcher zuſammen. Da und dort ward ein Freiheitsbaum aufgerichtet und durch die Maſſen gegen die Polizei - mannſchaft vertheidigt, oder auch ein Hund gekrönt und dann feierlich ausgeprügelt. Wirth bildete im Anſchluß an die Polenvereine einen Vaterlandsverein zum Schutze der freien Preſſe, der ſich bald über mehrere Städte des Südweſtens verzweigte, und ſtellte den Genoſſen zur höchſten Aufgabe die Neugeſtaltung des Deutſchen Bundes: an der Spitze der Nation ſteht eine erwählte Nationalkammer und ein ausführender Präſident, auf zwei Jahre gewählt, den Volksvertretern unbedingt unter - worfen; jede deutſche Provinz darf ſich durch Volksabſtimmung als ſelbſtändiger Bundesſtaat einrichten, mit einer republikaniſchen oder con - ſtitutionellen Verfaſſung. Ein ſolches Programm erſchien der Mehrzahl der Vereinsmitglieder doch bedenklich, es ward für jetzt noch verworfen; aber wohin ſollte das wüſte Treiben aller dieſer Zeitungen und Vereine noch führen, hier dicht vor den Thoren der radicalſten deutſchen Stadt, Mainz, an der Grenze des begehrlichen Frankreichs? Schon wußte man in Berlin, daß der franzöſiſche Geſandte Mortier dem bairiſchen Miniſter Giſe vertraulich erklärt hatte: fremde Truppen das will ſagen: Bun - destruppen könne Frankreich in der Rheinpfalz unmöglich dulden. *)Küſter’s Bericht, 5. April 1832.

255Die Polen in Süddeutſchland.

Wie hätte das badiſche Land von dem Lärm der Nachbarn unberührt bleiben können! Sobald man im Frühjahr 1832 erfuhr, daß der Bundes - tag gegen das badiſche Preßgeſetz einzuſchreiten denke, veranſtalteten die Liberalen in Mannheim, Freiburg und anderen Orten große Volksver - ſammlungen und beſchloſſen unter ſtürmiſchen Reden, den Großherzog um die Wahrung der Preßfreiheit zu bitten. Leopold weigerte ſich die Adreſſen anzunehmen; aber ließ man die Dinge gehen, ſo konnte auch dieſe Bewegung leicht gefährlich werden, hatten doch erſt kürzlich die bel - giſchen Clericalen durch einen wohlgeleiteten Adreſſenſturm ihren Aufſtand vorbereitet. Die von Siebenpfeiffer verherrlichte Doppeleiche der Tribüne und der Preſſe, unter deren Schatten die Menſchheit unaufhaltſam zum Beſſeren hinanſchreitet , wurde dem Bundestage unheimlich. Er ver - bot am 2. März die Tribüne, den Weſtboten, die Hanauer Zeitſchwingen, während das Berliner Auswärtige Amt zugleich die ſüddeutſchen Höfe zur Wachſamkeit mahnte. *)Ancillon, Weiſung an Otterſtedt, 8. März, an Küſter, 9. März 1832.Die bairiſche Regierung benahm ſich ſehr ſchwach; ſie führte den Bundesbeſchluß nur unvollſtändig aus, weil ſie ihrer Sou - veränität nichts vergeben wollte, und duldete ſogar, daß der Vaterlands - verein, den ſie ſelbſt verboten hatte, ungeſcheut ſeine Arbeit fortſetzte.

Die ſüddeutſche Bewegung mußte den großen Mächten um ſo be - denklicher erſcheinen, da die Polen erſichtlich überall die Hände im Spiele hatten. Mit rührendem Eifer, als gälte es dem eigenen Lande, hatten viele ſüddeutſche Städte den Polen während des Krieges Gelder zuge - ſendet; in Mainz entſtand ſogar ein Mädchenverein, der für die Helden des Oſtens Charpie zupfte. Seit dem Herbſt 1831 ergoſſen ſich die Schaaren der Warſchauer Flüchtlinge ſelber über Süddeutſchland. Den ſtärkſten Haufen führten, mit rothweißen Schärpen prächtig angethan, drei polniſche Generale: der Italiener Ramorino und die Deutſchen Langermann und Schneider der Letztere hatte ſich freilich in einen Polen Sznayde ver - wandelt. Sie wurden in Regensburg und Augsburg von den Offizierscorps als Kameraden aufgenommen, in Stuttgart bereitete ihnen der Brauer Denninger, ein Straßburger Jude, feſtlichen Empfang, in Freiburg veran - ſtalteten Rotteck, Welcker und die Offiziere ein großes Polenbankett. So ſtark war die Macht der napoleoniſchen Erinnerungen und der liberalen Phraſe, ſo ſchwach das nationale Ehrgefühl im Bundesheere, daß deutſche Offiziere mit den Todfeinden Preußens ſich verbrüdern konnten. Ueberall im Süden ſang man Noch iſt Polen nicht verloren oder Denkſt Du daran, mein tapferer Lajenka oder Die freie keuſche Maid im roth und weißen Kleid . Andachtsvoll lauſchten die badiſchen und bairiſchen Libe - ralen den tollen Prahlereien der nordiſchen Gäſte; ſie verwunderten ſich auch nicht, als das Pariſer National-Comité der Polen in einem Mani - feſte an die deutſche Nation die beſcheidene Behauptung aufſtellte: die256IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.bürgerliche Emancipation aller Volksklaſſen ſei bisher nur in einem Lande der Welt verwirklicht worden: in Polen, durch die Verfaſſung von 1791. In allen Vereinen und Zeitungen der ſüddeutſchen Radicalen hieß man die Polen willkommen; den aufhetzenden Reden dieſer Fremd - linge war es vornehmlich zu verdanken, daß der ſinnloſe Haß gegen Preußen im Süden wieder überhand nahm.

Erſt nach und nach, ſobald man die wenig ſäuberlichen Sitten der freien keuſchen Maid Polonia genauer kennen lernte, begannen einzelne Verſtändige an ihrer fremdbrüderlichen Begeiſterung irr zu werden. Nach - dem die letzten Flüchtlinge Deutſchland verlaſſen hatten, erſtatteten zwei Führer der Emigration nach ſarmatiſchem Brauche ihren Dank für die ſo reichlich genoſſene Gaſtfreundſchaft. Johann Czynski ſchrieb aus Metz Deux mots sur les Allemands, um die Deutſchen zur Zertrümmerung Oeſterreichs und Preußens aufzufordern, nur ſo könne Deutſchland be - freit, Polen wiederhergeſtellt werden. Wer etwa an Deutſchlands Knecht - ſchaft noch zweifeln mochte, den verwies er auf den Einmarſch der drei - hundert Preußen in das Fürſtenthum Lichtenberg, dieſe empörende Ver - letzung des Grundſatzes der Nicht-Einmiſchung: ein Preuße in St. Wendel iſt für Deutſchland dieſelbe Schmach wie für Italien ein Oeſterreicher in Rimini oder für Polen ein Ruſſe in Warſchau. Noch deutlicher redete Moritz Mochnatzki in ſeiner Schrift die Revolution in Deutſch - land . Der Häuptling der polniſchen Radicalen fand kaum Worte genug, um die Deutſchen zu beſchimpfen. Dies Volk habe die neueren Zeiten verſchlafen und in ſeinem Schlafe mehr Bücher geſchrieben als alle Völker der Welt zuſammengenommen, bis es endlich durch Napoleon, durch die Julitage, durch den polniſchen Krieg aus ſeiner langen Schlafſucht auf - gerüttelt worden ſei. Nun ſollten die Deutſchen wach bleiben, die ent - nervende literariſche Thätigkeit aufgeben, da das Zeitalter der Revo - lutionen doch nur Zeitungen und praktiſche Wiſſenſchaften brauchen könne, und ſich mit den Polen verbinden zur Vernichtung Oeſterreichs und Preußens. Dies Uebermaß ſarmatiſcher Thorheit ſchreckte die klügeren Führer des deutſchen Liberalismus ab; in der breiten Maſſe der Partei blieb aber die polniſche Legende noch lange, und als eine wirkſame Macht, lebendig. Die deutſchen Flüchtlinge in Paris ſaßen in ihren Geheim - bünden mit den Polen zuſammen und ließen ſich von den gewiegten Ver - ſchwörern gern über Mochnatzki’s Wiſſenſchaft der Revolution belehren: nach der Meinung dieſes ſarmatiſchen Apoſtels ſchien es ja weit leichter eine Revolution zu machen als Hegel’s Phänomenologie zu verſtehen . Nur in Heinrich Heine war der Dichter und der Schelm doch ſtärker als der Radicale. Als er die ſchäbige Eleganz dieſes großſprecheriſchen Bumm - lerlebens aus der Nähe betrachtet hatte, da konnte er dem Reize des Lächerlichen nicht mehr widerſtehen und beſang die Polen aus der Po - lakei in dem luſtigen Gedichte vom großen Eſelinski.

257Paul Pfizer.

Und doch barg dieſer ſüddeutſche Liberalismus, der ſo blind für Deutſchlands Feinde ſchwärmte, eine unverwüſtliche Kraft treuer Vater - landsliebe. Seine Selbſtüberhebung entſprang dem Gefühle der Leere, das der Mangel eines großartigen öffentlichen Lebens in einem geiſtreichen Volke erzeugen mußte, ſeine lärmende Ungeduld der Sehnſucht nach na - tionalem Ruhme. In einem Wuſte von Thorheiten und halbreifen Ein - fällen brachte die ſüddeutſche Preſſe doch auch einige geſunde Ideen her - vor, welche die politiſche Entwicklung der Nation förderten. Wilhelm Schulz, jener heſſiſche Offizier, der einſt wegen ſeinen radicalen Schriften den Kriegsdienſt hatte verlaſſen müſſen*)ſ. o. III. 66. und mittlerweile durch ernſte Arbeit gereift war, verſuchte in einem Buche Deutſchlands Einheit durch Nationalrepräſentation den Grundgedanken der Welcker’ſchen Motion deutlicher auszuführen. Er zeigte ſich noch keineswegs frei von den Selbſt - täuſchungen des jugendlichen Liberalismus, glaubte feſt an die unüberwind - liche Macht der öffentlichen Meinung und der kleinen Landtage falls ſie nur ihr Steuerverweigerungsrecht rückſichtslos zur Beſeitigung böswilliger Miniſter gebrauchten; indeſſen ſah er ſchon ein, daß ein Parlament neben dem Bundestage keinen Platz finden könne, und verlangte darum außer dem Reichstage auch eine feſter geordnete Centralgewalt, ſei es ein Kaiſerthum oder eine Bundesrepublik. Oeſterreich ließ er kaum noch für einen deutſchen Staat gelten, Preußen aber, dies Deutſchland im Kleinen habe ſich leider durch ſeine polniſche Politik augenblicklich ſo verhaßt gemacht, daß man vorderhand nur einen conſtitutionellen Bund im Bunde bilden könne. Alſo taſtend und zweifelnd näherte er ſich der Löſung des großen Problems. Aehnlich, nur meiſt noch günſtiger für Preußen, ſprachen mehrere Artikel in Rotteck’s Annalen und in den Staatsrechtlichen Beiträgen des wackeren heſſiſchen Liberalen K. H. Hofmann.

Wie dünn und matt erklangen alle dieſe Laute unbeſtimmter Sehn - ſucht neben den tiefen, ernſten Tönen, welche der junge Paul Pfizer in ſeinem Briefwechſel zweier Deutſchen (1831) anſchlug der Prophet des neuen preußiſchen Reiches deutſcher Nation, ein echter Schwabe, ernſt, gedankenreich, voll dichteriſcher Phantaſie und philoſophiſchen Tief - ſinnes, und dabei nüchtern genug um das Wirkliche, das Lebendige aus der Flucht der Erſcheinungen herauszufinden, ohne jeden Vergleich der erſte Publiciſt ſeiner Tage. Sein Buch trug in Form und Inhalt noch das Gepräge einer Uebergangszeit, die vom literariſchen Schaffen zur politiſchen That aufzuſteigen begann. Durch die freie Bearbeitung philo - ſophiſcher Briefe, die er einſt mit ſeinem Freunde, dem Dichter Friedrich Notter gewechſelt hatte, bahnte er ſich erſt den Weg zu der Erkenntniß, daß die Freiheit, nicht die Nothwendigkeit das ſittliche Leben der Völker beherrſche. Nun erſt, im zweiten Theile des Buches, der ihm allein an -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 17258IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.gehörte, ſtellte er die Frage nach der Zukunft Deutſchlands und ſchilderte mit ſtolzer Zuverſicht dies Volk, das mit allen ſeinen Fehlern doch das geiſtvollſte und gemüthlichſte, das frömmſte und gewiſſenhafteſte der Völker ſei, aber wie der am heimathlichen Strande erwachende Odyſſeus weinend ſein Vaterland nicht erkenne. Dies Vaterland der Deutſchen, ſo fuhr er freudig fort, ſei ſchon vorhanden in dem Staate Friedrich’s des Großen, in dieſem Staate, der nicht nur durch ſeine gerechte Verwaltung, ſeine menſch - lichen Geſetze, ſein Volksheer, ſein gewecktes geiſtiges Leben, ſondern auch durch ſein ſtarkes Volksgefühl alle anderen deutſchen Länder übertreffe.

Der tapfere Schwabe wagte alſo den überall als dünkelhaften Parti - cularismus verrufenen preußiſchen Stolz kurzerhand als den größten Vorzug der Preußen zu loben, er wagte den undeutſchen, atheiſtiſchen Zug des deutſchen Liberalismus, dies ſchlimme Erbtheil der franzöſiſchen Encyclopädiſten, freimüthig zu tadeln, die hoffnungsloſe Ohnmacht der kleinen Landtage offen einzugeſtehen und hielt den gellenden Anklagen der Demagogen die harte Wahrheit entgegen: Weniger die Fürſten als die Völker Deutſchlands ſind das große Hinderniß ſeiner Vereinigung. Die glücklich gewählte Briefform bot ihm die Möglichkeit, das Für und Wider vor den Augen ſeiner zweifelnden und ringenden Zeit genau abzuwägen, mit ſiegreicher Dialektik alle die Einwände gegen das Eine was noth that zu vernichten: die Träume vom Sonderbunde des ſogenannten reinen Deutſch - lands ſo gut wie den ſchwärmeriſchen Weltbürgergeiſt, der die Nationa - lität nur für das Ausland gelten laſſen wollte. Aus den Gedichten, die er ſeinen Briefen anſchloß, ſprach die Ahnung einer unermeßlichen Zukunft. Er ſah im Mondenſcheine die Felskegel ſeiner heimiſchen Rauhen Alp vor ſich liegen, er ſah die alten Schwabenkaiſer vom ſchlanken Gipfel des Hohenſtaufen niederſteigen und wendete dann ſeine Blicke auf den Hohen - zollern:

Doch die Helden ſind geſchieden,
Die Vergangenheit iſt todt!
Seele, von des Grabes Frieden
Wende dich zum Morgenroth,
Gleich dem Aar, der einſt entflogen
Staufens Nachbar und im Flug
Zollerns Ruhm bis an die Wogen
Des entlegnen Oſtmeers trug.

Nimmer wollte er von der Hoffnung laſſen, daß der Adler Fried - rich’s die Verlaſſenen, Heimathloſen mit ſeiner goldnen Schwinge decken werde. So ſchön und tief hatte noch nie ein Deutſcher von Preußens großer Zukunft geſprochen; neben Pfizer’s ſtreng politiſchen Gedanken er - ſchienen Fichte’s kühne Weiſſagungen doch nur wie nebelhafte Gelehrten - träume. Und dieſer weckende Ruf erklang von den Lippen eines dreißig - jährigen Schwaben, der in den engen Verhältniſſen der Heimath auf - gewachſen, das preußiſche Land vermuthlich nie betreten hatte. Wie fremd259Friedrich v. Gagern.auch der Gedanke der preußiſchen Hegemonie der ungeheuren Mehrzahl der Süddeutſchen noch erſcheinen mochte, in ihrer eigenartigen Faſſung konnte dieſe Schrift doch nur auf oberdeutſchem Boden entſtehen, daher ward ſie auch von den Schwaben freundlich aufgenommen. In dem Gegenſatze der conſtitutionellen und der abſolutiſtiſchen Geſinnung ging der Parteikampf der Zeit noch gänzlich auf; und da Pfizer die Mängel der beſtehenden Zuſtände ſchonungslos rügte, auch ſeine conſtitutionelle Ge - ſinnung nicht verbarg, ſo betrachteten ihn die ſchwäbiſchen Liberalen als ihren Mann. Der preußiſche Geſandte in Stuttgart hingegen, Salviati, ein hartköpfiger Conſervativer, behandelte in ſeinen Berichten den glühen - den Bewunderer Preußens zwar achtungsvoll, aber als einen erklärten Gegner. Im Norden fand Pfizer’s Buch viele dankbare Leſer. Die jungen Preußen, die von der Kaiſerkrone der Hohenzollern träumten, fühlten ſich durch die Geſchichtsphiloſophie des Schwaben in ihren ſtillen Hoffnungen beſtärkt; Jens Uwe Lornſen und manche andere Politiker der norddeutſchen Kleinſtaaten wurden durch ihn gezwungen, in ſich zu gehen, ihre aner - zogenen particulariſtiſchen Vorurtheile abzulegen, die Machtverhältniſſe der Bundespolitik ruhiger zu überdenken.

Lange vor dem Erſcheinen des Pfizer’ſchen Briefwechſels hatte ſchon ein anderer Süddeutſcher, allerdings nur im vertrauten Kreiſe, verwandte Ideen ausgeſprochen. Friedrich von Gagern, der älteſte und begabteſte unter den zahlreichen ſtattlichen Söhnen des Reichsfreiherrn Hans, war auf den Rath ſeines Vaters in niederländiſchen Kriegsdienſt getreten und mußte nun am eigenen Leibe erfahren, wie gründlich der phanta - ſiereiche alte Reichspatriot ſich über den deutſchen Charakter ſeiner Nieder - lande getäuſcht hatte. Ein Fremder lebte er unter Fremden, ganz abge - trennt von dem leidenſchaftlich geliebten großen Vaterlande. Wenn er auf ſeinen Urlaubsreiſen das heimathliche Hornau beſuchte, fand er die Brüder um den redſeligen Vater verſammelt und tauſchte mit ihnen politiſche Gedanken aus, ſo daß man im heſſiſchen Lande bald von der Familienpolitik der Gagern ſprach. Der alte Hans war ſeiner poli - tiſchen Vielgeſchäftigkeit treu geblieben. Mit gewohntem Selbſtgefühl bot er, als der belgiſche Aufſtand ausbrach, dem niederländiſchen Hofe und dem Brüſſeler Congreſſe ses lumières zur Vermittlung an;*)Nagler’s Bericht, 28. Nov. 1830. dann ſchriftſtellerte er fleißig, bereiſte die Höfe, verkehrte viel mit ſeinem freundſchaftlichen Gegner, dem Freiherrn vom Stein und errichtete dem großen Todten nachher, zuerſt in Deutſchland, ein literariſches Denkmal, indem er deſſen Briefe herausgab; in der Darmſtädter Erſten Kammer hielt er zuweilen eine geiſtreich abſpringende Rede über Fragen der großen Politik. Einer ſeiner Söhne, Heinrich, errang ſich mittlerweile ein hohes Anſehen unter den Liberalen der Zweiten Kammer. So lernte17*260IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.Friedrich die politiſchen Gedanken, welche den deutſchen Süden bewegten, aus erſter Hand kennen und ſtand ihnen doch fern genug um darüber das geſammte Vaterland nicht aus den Augen zu verlieren.

Als er im Jahre 1823 die Heimath wieder ſah und mit Schrecken die allgemeine Entmuthigung bemerkte, ſchrieb er für die Familie einen meiſterhaften Aufſatz über die politiſche Einheit Deutſchlands . Mit der Ueberlegenheit des geborenen Staatsmannes, militäriſch kurz, klar und ſicher ſchilderte er hier die Nichtigkeit der kleinen Höfe und den Verfall Oeſterreichs, das in der Zukunft nur Niederlagen erleben werde. Preußen allein könne die Führung Deutſchlands übernehmen, weil Ehrgeiz die Bedingung ſeiner Exiſtenz ſei, und auch die Liebe der Deutſchen leicht gewinnen ſobald der König ſeine Reichsſtände berufe. Im Jahre 1834 verfolgte Gagern, vielleicht angeregt durch Pfizer’s Briefe, dieſen Gedankengang weiter und zeichnete die Grundlinien der künftigen deut - ſchen Reichsverfaſſung in einer Abhandlung Vom Bundesſtaat , deren knappe Beſtimmtheit von den weitſchweifigen, verſchwommenen Betrach - tungen des wiſſenſchaftlichen Staatsrechts jener Tage ſeltſam abſtach. *)Dieſer Aufſatz kann nicht, wie Heinrich v. Gagern (Leben Friedrich’s v. Ga - gern I. 355 f.) behauptet, ſchon im Jahre 1826 entſtanden ſein, ſondern erſt 1834; denn er erwähnt den bekannten Zollſtreit zwiſchen Südcarolina und der Union, der in den Jahren 1832 und 33 ſpielte, als ein Ereigniß aus der neueſten Zeit . Ueberdies er - zählt Friedrich ſelbſt in einem Briefe aus Eindhoven v. 14. April 1834 (a. a. O. II. 204), daß er die Abhandlung Bundesſtaat ſoeben nebſt einigen anderen Arbeiten hier in Eindhoven geſchrieben habe.Er verlangt ein erbliches Kaiſerthum, dergeſtalt, daß die kleinen Fürſten das Heerweſen, die auswärtige Politik ſowie einige ihrer inneren Hoheits - rechte der Centralgewalt abtreten, mithin ihre Souveränität aufgeben und dem Kaiſer gehorchen müſſen. Daneben eine Kammer der halbſouveränen Fürſten und eine gewählte Volksvertretung, beide um den Kaiſer ver - ſammelt in einer großen Hauptſtadt, die als mächtiger Brennpunkt des nationalen Lebens den Deutſchen unentbehrlich iſt und darum, allen Vor - urtheilen zum Trotz, durchaus geſchaffen werden muß. Im Einzelnen blieb natürlich noch Vieles unklar; aber feſt und ſicher ſtand der zukunfts - reiche Gedanke, daß die im preußiſchen Staate verkörperte Idee der natio - nalen Einheit ſich mit den conſtitutionellen Ideen des Südens verbinden mußte, um den Sieg zu erringen, und dieſe Beweisführung wirkte um ſo zwingender, da ſie aus der Feder eines gemäßigt liberalen Ariſto - kraten floß.

Wie unaufhaltſam der Drang der Einheit in dem Wirrſal der deut - ſchen Politik arbeitete, das empfand in banger Ahnung der geiſtreiche Franzoſe Edgar Quinet, der um dieſe Zeit in Heidelberg lebte und eine ſchöne Pfälzerin heimführte. Eben hier inmitten der lärmenden Pfalz, wo Alles nach Freiheit rief, ward ihm deutlich, der tiefſte und leben -261E. Quinet.digſte Gedanke aller deutſchen Herzen ſei doch das Verlangen nach natio - naler Macht und Herrlichkeit; und mit Schrecken erkannte er, nur ein Staat könne ſolche Sehnſucht befriedigen: jenes unheimliche Preußen, das an ſeinem Gürtel den Schlüſſel Frankreichs, die Rheinfeſtungen, in ſeiner Hand den ſiegreichen Degen von Waterloo trage. Dort in Preu - ßen ſo ſchrieb er in ſeinen Aufſätzen über Deutſchland und Italien (1831) ſind die alte Unparteilichkeit und das politiſche Weltbürgerthum einem reizbaren und zornigen Nationalſtolze gewichen. Der preußiſche Despotismus iſt einſichtig, beweglich, unternehmend; er lebt von der Wiſſenſchaft wie andere Despoten von der Unwiſſenheit. Zwiſchen ihm und ſeinem Volke beſteht ein geheimes Einverſtändniß um die Freiheit zu vertagen und gemeinſam das Erbe Friedrich’s zu vermehren.

Die Zeit ſollte noch kommen, da die Beſorgniſſe des Franzoſen ſich bewährten. Für jetzt gingen die Kräfte, welche an der Einheit Deutſch - lands bauten, noch ſehr weit aus einander. Durch die Thorheit der pfälziſchen Demagogen wurde der bisher ſo geduldige preußiſche Hof ge - nöthigt die liberale Bewegung in Oberdeutſchland zu bekämpfen, und er führte den Kampf mit ſolcher Schärfe, daß im Süden bald wieder ein tödlicher Haß gegen die norddeutſche Macht aufflammte.

Um der Bewegung neuen Schwung zu geben, beſchloſſen Wirth und Siebenpfeiffer die Einberufung großer Volksverſammlungen, und dies überall zweiſchneidige Kampfmittel konnte hier, wo man eigentlich gar keinen beſtimmten Zweck verfolgte, nur Unfug und Ruheſtörung bewirken. Ein von Siebenpfeiffer verfaßter Aufruf lud alle Deutſchen ein, am 27. Mai auf dem Hambacher Schloſſe bei Neuſtadt an der Hardt der Deutſchen Mai zu feiern, ein Feſt der Hoffnung, am Geburtstage der bairiſchen Verfaſſung; in dieſem Wonnemonat hätten ſich einſt die freien Franken auf ihrem Maifeld verſammelt und dann die freien Polen ihre Ver - faſſung erhalten. Der Münchener Hof verfuhr wieder ſehr ſchwächlich, er wollte dem preußiſchen Geſandten durchaus nicht zugeſtehen, daß in Baiern irgend eine Gefahr für die öffentliche Ruhe beſtehe. *)Küſter’s Bericht 3. Mai 1832.Und doch bezeichnete Wirth als den Zweck ſeines Preßvereins ganz offen die Organi - ſation eines deutſchen Reichs im demokratiſchen Sinne ; und doch hatten die pfälziſchen Radicalen ſoeben, bei einem Feſte für den heimkehrenden Abgeordneten Schüler, ebenſo unzweideutig ausgeſprochen, jede Verſöhnung mit dem Grundſatz der Legitimität ſei unmöglich, die Reform Deutſch - lands könne nur auf dem Boden der unbedingten Volksſouveränität durch - geführt werden. Die Zweibrückener Bürgerwehr, die ſich eigenmächtig bewaffnet hatte, belagerte die Reiter-Caſerne und bewachte Schüler’s Haus, um ſofort Sturm zu läuten falls der Volksmann bedroht würde. Aus ſolchen Anzeichen ſchloß der wohlmeinende Präſident Stichaner,262IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.daß die pfälziſche Bewegung einen üblen Verlauf nehmen müſſe; der ewigen Händel überdrüſſig erbat er ſich ſeine Verſetzung. Sein Nachfolger, Frhr. v. Andrian, zeigte ſich durchaus rathlos, obgleich ihn die Preſſe ſo - gleich als einen blutigen Landvogt begrüßte; er unterſagte zuerſt die Ham - bacher Verſammlung und nahm dann das Verbot zurück, da der Stadtrath von Neuſtadt und die Landräthe von Rheinbaiern ſich dawider verwahrten. So hatte die Regierung ihre Furcht gezeigt und doch ihren Willen nicht durchgeſetzt; die Radicalen frohlockten, und triumphirend ſagte der Feſt - ausſchuß, als er in ſeinem Rechenſchaftsberichte jene heldenmüthigen Stadt - und Landräthe aufzählte: wir übergeben ihre Namen dem dankbaren Andenken der Nachwelt.

Nun rüſtete ſich Alles an beiden Ufern des Mittelrheins für die Feier des Allerdeutſchenfeſtes . In Mainz, wo viele der alten Gießener Schwarzen lebten, zeigten ſich plötzlich ſchwarzrothgoldene Kokarden und Bänder; die Farben der Burſchenſchaft hießen fortan die deutſchen Frei - heitsfarben. Dreifarbig, nach Frankreichs Vorbild, mußte das Banner der nationalen Einheit und Freiheit ſein, im Gegenſatz zu den zweifarbigen Fahnen der alten Dynaſtien. Der öſterreichiſche Gouverneur ſchritt als - bald mit Verboten ein, und die Bundesverſammlung genehmigte ſein Ver - fahren, wenn auch die abenteuerlichen Intentionen und Abzeichen der Partei keiner beſonderen Beachtung werth ſeien, wodurch ſie leicht erſt den Schein einer unverdienten Wichtigkeit erlangen könnten . *)Geheime Regiſtrande zur Sitzung der Bundesverſammlung v. 24. Mai 1832.Das Verbot fruchtete nichts. Am 26. Mai waren alle die Landſtraßen, die rheinauf und rheinab durch die Ebene oder aus dem Odenwalde und dem Weſtrich nach dem lieblichen Neuſtadt führen, dicht bedeckt mit langen Zügen von Wagen und Fußgängern; überall prangten die deutſchen Farben. Min - deſtens 25000 Köpfe ſtrömten in der Feſtſtadt zuſammen, die Glocken läuteten, die Geſchütze donnerten, auf dem Gebirge brannten Freudenfeuer. Zum zweiten male ſollte eine Bergfeier für die Geſchichte des Deutſchen Bundes bedeutungsvoll werden; aber welch ein Abſtand zwiſchen der chriſtlich-vaterländiſchen Begeiſterung der Burſchen auf der Wartburg und dem weltlichen Radicalismus dieſer neuen Tage. Von dem roman - tiſchen Zauber, der einſt das Burſchenfeſt durchleuchtet hatte, ließ ſich in dieſer Maſſenverſammlung trinkender und lärmender Menſchen nur wenig bemerken, und auch die politiſche Bildung war in fünfzehn Jahren leider kaum fortgeſchritten: auf den überſpannten Idealismus der Jugend folgte der falſche Idealismus der Erwachſenen.

Am Morgen des 27. ſetzte ſich der Feſtzug in Bewegung; dreihundert Handwerksburſchen ſangen nach der Melodie des Schiller’ſchen Reiter - liedes ein Gedicht von Siebenpfeiffer: Hinauf Patrioten, zum Schloß, zum Schloß! Inmitten der Frauen, die ausdrücklich geladen und dem263Das Hambacher Feſt.Rufe zahlreich gefolgt waren, ſchritt ein Fähnrich mit dem weißrothen Banner Polens, dann folgten die Feſtordner mit einer deutſchen Fahne, worauf geſchrieben ſtand: Deutſchlands Wiedergeburt ; die armen Winzer trugen ein ſchwarzes Trauerpanier und beklagten in einem ſchwer - müthigen Geſange den ſchlechten Abſatz der pfälziſchen Weine. Droben auf dem Schloſſe wurden die Fahnen Deutſchlands und Polens feierlich aufgepflanzt; die alten Feinde, der ſchwarze und der weiße Adler, ge - ſellten ſich gemüthlich zuſammen ein bedenkliches Vorzeichen für die Zu - kunft dieſer deutſchen Tricolore, die leider niemals mehr als ein Partei - Abzeichen werden ſollte. Unheimliche Erinnerungen deutſcher Knechtſchaft umſchwebten das Gemäuer der Käſtenburg, der alten Zwingburg der ver - rufenen Biſchöfe von Speier; ſie war einſt im Bauernkriege durch das verzweifelte Landvolk gebrochen und nachher auf Befehl des unbarm - herzigen Fürſten durch die Zerſtörer ſelbſt wieder aufgebaut worden; nun lag ſie nochmals in Trümmern, Dank den Franzoſen, und ſollte durch das große Volksfeſt für immer der Freiheit geweiht werden. Die Menge lagerte ſich unter den ſchönen Käſtenbäumen am Abhang, Mancher be - grüßte mit Jubelruf die Thürme von Speyer und Mannheim, die fern aus der üppigen Ebene aufragten. Der Wein floß in Strömen. Vater - ländiſche Lieder erklangen, alle frei nach Schiller denn längſt war Schiller durch ſein mächtiges Pathos der Liebling der kleinen Leute ge - worden alle voll Zornes über der Deutſchen ſchandenvolle Lage :

Tyrannei, auf Gold gebettet,
Lachte Deiner Hoffnung Hohn,
Hat Dich ſchimpflicher gekettet
An des Nordens blut’gen Thron.

Zahlreiche Adreſſen ferner Freunde waren eingelaufen, aus mehreren deutſchen Orten, von dem polniſchen National-Comité zu Paris, von dem radicalen Vereine der Amis du peuple in Straßburg. Auch einige Rheinpreußen hatten ihren Feſtgruß geſendet; ſie beklagten bitterlich das muntere Vöglein des Rheines, das zu dem alten finſteren Uhu in den Käfig geſperrt ſei, wollten aber ihre Namen nicht nennen um der guten Sache nicht zu ſchaden . Dann ſchilderte Siebenpfeiffer in langer Rede den Gedanken des heutigen Feſtes, des herrlichſten und bedeutungsvollſten, das ſeit Jahrhunderten in Deutſchland gefeiert ward . Er ſah den Tag kommen, wo die Fürſten die bunten Hermeline feudaliſtiſcher Gottſtatt - halterſchaft mit der männlichen Toga deutſcher Nationalwürde vertauſchen; wo das deutſche Weib, nicht mehr die dienſtpflichtige Magd des herrſchenden Mannes, ſondern die freie Genoſſin des freien Bürgers, unſeren Söhnen und Töchtern ſchon als ſtammelnden Säuglingen die Freiheit einflößt , und ſchloß mit einem Hoch auf Deutſchland, Polen, Frankreich, auf jedes Volk das ſeine Ketten bricht, auf Vaterland, Volksfreiheit, Völker - bund. Noch kräftiger ging Wirth mit der Sprache heraus. Der ließ264IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland. die vereinigten Freiſtaaten Deutſchlands, das conföderirte republi - kaniſche Europa hoch leben und verlangte, daß einige entſchloſſene Männer die gemeinſame Leitung der deutſchen Oppoſition übernähmen; als ehr - licher Patriot warnte er aber die Deutſchen vor Frankreichs Rheingelüſten.

Während er dann das Schwert des Preßvereins, ein Geſchenk aus Frankfurt, ſtolz nach allen vier Winden ſchwang, flutheten die Reden und die Lieder unaufhaltſam weiter. Der Straßburger L. Rey betheuerte in franzöſiſcher Anſprache, Frankreich wolle keine Eroberungen, ſondern einen freien Bund mit dem freien Deutſchland. Zwei edle Polen redeten in gleichem Sinne. Der Pfälzer Scharpff verſicherte: Der beſte Fürſt von Gottes Gnaden iſt ein geborener Hochverräther an der menſchlichen Ge - ſellſchaft. Faſt ebenſo radical, aber mit entſchiedenem Talent und wohl - thuender patriotiſcher Wärme ſprach ein Student aus Weſtphalen, K. H. Brüggemann, zum Jubel der Commilitonen, die in Schaaren aus Heidelberg herüber gewandert waren. Manche in der Menge riefen einen feierlichen Fluch über ſämmtliche deutſche Fürſten. Zuletzt verhallten alle Worte in der allgemeinen Trunkenheit. Dem ſchweigſam zuhörenden Karl Mathy wurde ganz unheimlich zu Muthe bei dem tollen Treiben, während Lud - wig Börne, der auch mit im Getümmel ſtand, aber bald nachher ſich wieder in das ſichere Paris zurückſtahl, die wildeſten Reden noch zu ge - mäßigt fand. Am richtigſten gab ein Lied, das irgendwo im Haufen ge - ſungen wurde, die Geſinnungen der Menge wieder:

Muth, Muth, Muth! Nicht wird uns Gott verlaſſen,
Folgen wir in Treuen ſeinem Wort!
Feurig laßt uns lieben, feurig haſſen
Und bereiten uns zum Drachenmord.
Wie der Lindwurm ſtolz ſich brüſtet,
Ihn nach unſerm Blut gelüſtet!

Wer dieſer Lindwurm ſei, ob Preußen oder der Bundestag, das ver - ſchwieg der Dichter weislich, und eben damit traf er die Meinung ſeiner Hörer, die alleſammt nur durch eine mächtige lyriſche Empfindung, durch die Nachklänge der großen Epoche deutſcher Dichtung, ſich im Herzen gehoben fühlten und irgend ein außerordentliches Ereigniß erſehnten.

Am nächſten Morgen ließen die Führer drunten in Neuſtadt Ver - trauensmänner aus den einzelnen deutſchen Gauen wählen und legten ihnen die Frage vor, ob man nicht ſogleich eine proviſoriſche Regierung für das freie Deutſchland einſetzen ſolle. Der Vorſchlag ward verworfen, weil man zu ſolchen Beſchlüſſen von daheim keinen Auftrag habe. So verlief das Feſt ohne unmittelbares Ergebniß, aber der wilde Lärm nach ſo langen Jahren tiefer Stille regte das Land weithin auf. Als die Mainzer von Hambach heimkehrten, geriethen ſie unterwegs zu Worms in einen rohen Pöbelaufruhr hinein; die Wormſer meinten einfach, jetzt ſei Freiheit. Unverkennbar hatten die franzöſiſchen Geheimbünde auf das265Das revolutionäre Philiſterthum.Maifeſt der Deutſchen große Hoffnungen geſetzt. Am Tage des Ham - bacher Feſtes veranſtalteten die deutſchen Radicalen in Paris ein Bankett unter Lafayette’s Vorſitz, und einige Tage nachher brach dort ein gefähr - licher Aufſtand aus.

Auch in den anderen Landſchaften am Ober - und Mittelrhein wurden zur ſelben Zeit überall, offenbar nach Verabredung, Volksverſammlungen abgehalten; der Frühling war ſo ſchön, der Verkehr ſo leicht, der Wein ſo wohlfeil und das deutſche Elend unbeſtreitbar ſchwer. In Weinheim an der Bergſtraße, in Bergen und Wilhelmsbad bei Frankfurt, in der Nebelhöhle der Rauhen Alp verſammelten ſich die Patrioten, mit ſchwarz - rothgoldenen Kokarden geſchmückt; da und dort genügte ſchon die Ein - ladung eines unternehmenden Gaſtwirths um das ſouveräne Volk anzu - locken. Am 11. Juni tagten die badiſchen Liberalen in Badenweiler, und hier zeigte ſich deutlich, wie ſcharfe Gegenſätze die ſüddeutſche Oppoſition in ſich barg. Den Gedanken der unbedingten nationalen Einheit vermochte Rotteck nicht zu faſſen. Als ein Student das deutſche Banner aufpflanzen wollte, ließ er die Fahne hinwegnehmen und brachte einen Trinkſpruch auf Badens Selbſtändigkeit aus: Ich will keine Einheit, die uns in Gefahr ſetzt, in einen Kriegszug gegen die uns natürlich Verbündeten geſchleppt zu werden; ich will keine Einheit unter den Flügeln des öſter - reichiſchen oder des preußiſchen Adlers, ſondern die Einheit der Völker Deutſchlands zum Schutze gegen die Vereinigung der Fürſten und der Ariſtokraten. Unter brauſendem Beifall faßte er ſeine Weisheit endlich in dem Satze zuſammen: Ich will lieber Freiheit ohne Einheit, als Einheit ohne Freiheit einem Satze, der ſeitdem oft wiederholt, durch lange Jahre das Stichwort des liberalen Particularismus geblieben iſt.

Seit dieſen Hambacher Tagen gewöhnte ſich das ſüddeutſche Bürger - thum an eine patriotiſche Kneipſeligkeit, die, zuweilen einmal durch ein Verbot der Obrigkeit geſtört, faſt zwei Jahrzehnte lang anhielt und auf das Volksgemüth ebenſo unwiderſtehlich wirkte wie ein halbes Jahrtauſend zuvor der Kyrieleis-Ruf der Geißler. Beim vollen Becher das Kauder - wälſch der Zeitungen nachzuſprechen oder bei einem Welckers-Eſſen den großen deutſchen Hofrath reden zu hören, das gehörte zum Leben des ſüddeutſchen Bürgers; der Idealismus, aber auch die Zuchtloſigkeit des Jahres 1848 hat ſich gutentheils in dem beſtändigen Rauſche dieſer Zweckeſſen angeſammelt. Niemand kannte dies revolutionäre Philiſterthum beſſer als der liebenswürdige Heidelberger Dialektdichter K. G. Nadler, ſelber ein fröhlicher Pfälzer in Allem, nur nicht in ſeiner politiſchen Ge - ſinnung. Er wollte ſich kein Herz faſſen zu den beharrlichen weingrünen Hochs auf Deutſchland ſo lange unſere Fahne noch nicht in Straß - burg wehe, unſere Kriegsflotte noch nicht nach Kronſtadt gehe und ließ den geſinnungstüchtigſten aller liberalen Schoppenſtecher, den Bürger - grenadiercapitän und Schuhmachermeiſter Hackſtrumpf alſo reden:

266IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Jetzt weeß ich’s erſcht!
Ich bin ein Menſch, ein teutſcher Mann, ein Bürger,
Dauſch nit mit Dir, des Nordens Automat,
Satrapoſpotenknecht, der Freiheit Würger,
Der Du die Geißel ſchwingſt im Kſchlavenſtaat!

Wie lächerlich auch dies lärmende Unweſen heute einem erfahreneren und abgehärteten Geſchlechte erſcheinen mag: eine Zeit, welche öffentliche Verſammlungen noch kaum kannte, mußte durch die aufrühreriſchen Rufe der Hambacher Volksredner erſchreckt werden. Der Bund durfte nicht dulden, daß Deutſchlands gefährdete Weſtmark den Revolutionären dreier Völker zum Sammelplatze diente.

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Fünfter Abſchnitt. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.

Im Strome der Geſchichte ſcheint oft eine Welle der anderen zu gleichen, weil die neuen Gedanken des Völkerlebens nur langſam, nach vergeblichen Anläufen, unter Kämpfen die einander ähneln, den Sieg er - ringen können; und dies unterſcheidet den politiſchen Kopf von dem Dok - trinär wie von dem gedankenloſen Praktiker, daß er durch ſolchen Schein der Wiederholung ſich nicht täuſchen läßt über den unerſchöpflichen Wechſel der immer durch Menſchen beſtimmten Menſchengeſchicke. Deutſchlands Zuſtand war ſeit dreizehn Jahren völlig verändert; der Liberalismus hatte an Anhang und Zuverſicht, freilich auch an unlauteren und gefährlichen Kräften, erheblich zugenommen, während die Mächte des Beharrens durch den Siegeszug des conſtitutionellen Syſtems in Norddeutſchland wie durch die veränderte Parteiung der europäiſchen Staatengeſellſchaft ſich geſchwächt ſahen. Wer aber nur oberflächlich hinblickte, konnte allerdings glauben, daß der Deutſche Bund ſich wieder in der gleichen Lage befinde wie zur Zeit der Karlsbader Conferenzen. Wieder wie damals hatte ſich die Oppo - ſition arge Blößen gegeben, wieder war die öffentliche Ordnung gefährdet, das Gefühl rathloſer Beſorgniß an allen kleinen Höfen lebendig, ein kräf - tiges Einſchreiten der Staatsgewalten unabweisbar geboten. Begreiflich alſo, daß überall in der diplomatiſchen Welt die Frage laut ward, ob man ſich nicht wieder nach der alten Karlsbader Weiſe Ruhe verſchaffen ſolle durch Zwangsmaßregeln gegen die Univerſitäten, die Landtage, die Preſſe, die Vereine.

Erſchreckt durch den Göttinger Aufruhr, an dem die Studenten doch nur helfend, nicht leitend theilgenommen hatten, beantragte die hannoverſche Regierung ſchon im März 1831 den Erlaß eines neuen Bundesgeſetzes gegen die Univerſitäten: wer jemals einer Burſchenſchaft angehört, ſollte zwei bis vier Jahre lang von allen deutſchen Univerſitäten entfernt bleiben und unter keinen Umſtänden von ſeinem Landesherrn begnadigt werden. Dieſe drakoniſchen Vorſchläge erregten ſelbſt am Bundestage Entrüſtung und blieben vorläufig liegen, da erſt Inſtruktionen eingeholt werden mußten. Als ſodann der Streit in den Kammern zu München, Karlsruhe, Wies -268IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.baden ſich verſchärfte, da meinte der Naſſauer Marſchall, jetzt ſei endlich der Tag gekommen für die Vernichtung der neuen Verfaſſungen, die er ſchon auf den Karlsbader und Wiener Conferenzen vergeblich erſtrebt hatte. *)ſ. o. III. 10.In einer Denkſchrift über landſtändiſche und Repräſentativ-Verfaſſungen, welche er um Neujahr 1832 den Höfen zuſendete, verlangte er kurzweg einen Staatsſtreich des Bundestages: da der Art. 13 der Bundesakte nur landſtändiſche Verfaſſungen geſtatte, ſo müſſe der Bund durch ein - fachen Mehrheitsbeſchluß dieſe Vorſchrift ausführen, die Verantwortlichkeit der Miniſter, die Civilliſten und was ſonſt noch dem monarchiſchen Princip widerſpreche verbieten, in beiden Heſſen, Baden, Württemberg, Baiern, wo die ſelbſtändige oberſte Staatsgewalt dem Regenten bereits entriſſen ſei, eine gründliche Verfaſſungs-Aenderung erzwingen. **)Marſchall, Denkſchrift über den Unterſchied landſtändiſcher Verfaſſungen im Sinne des Art. 13 und ausländiſchen Muſtern nachgebildeter Repräſentativverfaſſungen. Dem Karlsruher Hofe mitgetheilt 12. Jan. 1832.

Auch General Borſtell, der Commandirende in der Rheinprovinz, der das anarchiſche Treiben der Pfälzer dicht vor ſeiner Thür ſah und beſtändig auf dem Sprunge ſtehen mußte, geſtand dem Adjutanten des Königs, General Thile vertraulich: er ſehe keine Rettung mehr, wenn man nicht die kleinen Staaten durch Waffengewalt nöthige, berathende Stände nach preußiſchem Muſter einzuführen. Unter den Staatsmännern Preußens wurde der Plan einer neuen Karlsbader Conferenz zuerſt, ſchon im Auguſt 1831, von dem Grafen Maltzan, dem Geſandten in Hannover ausgeſprochen. Vom Bundestage ließ ſich ja doch nichts erwarten, wenn er nicht von außen her geſtachelt wurde; die alte Zank - und Ränkeſucht der Bundesgeſandten war eben jetzt, in Folge der braunſchweigiſchen und heſſiſchen Händel, wieder ſo üppig aufgewuchert, daß der ehrliche du Thil bei einem Beſuche in der Eſchenheimer Gaſſe ſeinen Abſcheu kaum verbergen konnte. ***)Du Thil’s Aufzeichnungen, 18. Oct. 1831.Darum hielt Maltzan für nöthig, daß die leitenden Miniſter Deutſchlands wieder wie einſt in Karlsbad unter ſich die allgemeinen Grundſätze für die inneren Angelegenheiten, wo möglich auch ein gleich - mäßiges Verwaltungsſyſtem für alle Bundesſtaaten verabreden ſollten.

Bernſtorff ließ ſich durch alle dieſe reaktionären Beſtrebungen nicht in ſeinem Gleichmuth ſtören. In einem Miniſterialſchreiben vom 1. Nov. 1831 erwiderte er dem Geſandten ausführlich: an conſervativen Grundſätzen gebreche es dem Bunde wahrhaftig nicht, ſeit die Wiener Schlußakte das monarchiſche Princip ſo beſtimmt ausgeſprochen habe; was fehle ſei allein der ernſte Wille der Regierungen die vorhandenen Geſetze anzuwenden. Dieſen Willen zu kräftigen bleibe die nächſte Aufgabe. Jede Veränderung des Bundesrechts wies er ebenſo weit von ſich wie den Gedanken einer gewaltſamen Aufhebung der durch übel berathene Fürſten ertheilten Ver -269Bernſtorff’s Bundespolitik.faſſungen . Indeſſen war er mit nichten gemeint den Bundestag zu völliger Unthätigkeit zu verdammen; er erkannte vielmehr, daß man mit den gehäſſigen Zeitungsverboten ſich nicht begnügen, ſondern endlich das ſo oft verheißene definitive Bundespreßgeſetz gewähren müſſe. Darum ließ er durch Eichhorn den Entwurf eines preußiſchen Preßgeſetzes ausarbeiten, der allerdings nicht allen Wünſchen der Liberalen genug that, aber große Erleichterungen gewährte: wiſſenſchaftliche Werke ſollten fortan gänzlich frei ſein, die Cenſur nur für politiſche Zeitungen fortbeſtehen und der Aufſicht eines unabhängigen, aus Mitgliedern der Akademie und hohen Beamten gebildeten Ober-Cenſurcollegiums unterworfen werden. *)Frankenberg’s Bericht, 4. Febr. 1832.Dieſe preußiſche Reform ſollte dann die Grundlage für ein neues Bundes - preßgeſetz bilden, und die Geſandtſchaften erhielten den Auftrag, ſich darüber zunächſt mit den ſüddeutſchen Höfen zu verſtändigen. Auch die Frage der Oeffentlichkeit der Bundesverhandlungen hatte Bernſtorff ſchon ſeit dem Jahre 1829 ernſtlich ins Auge gefaßt. Daß die Bundesprotokolle gar nicht mehr kundgemacht wurden, widerſprach den Abſichten des preußiſchen Hofes durchaus. Man wünſchte in Berlin, zwar die ſchwebenden Verhandlungen vor jeder Einmiſchung der Tagesblätter ſicherzuſtellen, aber keineswegs die ernſte Wiſſenſchaft von jeder Kenntniß der Bundesverhandlungen ab - zuſperren, und ſchlug daher vor, daß die Bundesprotokolle, mit wenigen Ausnahmen, jedesmal bei Beginn der Ferien in einem Bande veröffentlicht werden ſollten. Ueber dieſen Vorſchlag wurde ſchon ſeit Jahren in Frank - furt vertraulich unterhandelt. Münch aber wußte durch ſein alterprobtes Hausmittel Alles zu vereiteln; er erklärte beſtändig, daß er erſt aus Wien Inſtruktionen einholen müſſe, und Metternich’s Weiſungen trafen niemals ein.

Mit ſolchen Plänen bedachtſamer Zugeſtändniſſe trug ſich der preußiſche Miniſter, als ihn der Wiener Hof im September 1831 zu vertraulichen Beſprechungen über Deutſchlands bedrängte Lage auffordern ließ. Seit dem Falle von Warſchau begann Metternich aufathmend ſich zu neuer Thätigkeit zu ermannen. Den ganzen Winter über wechſelte er mit den Geſandten der beiden anderen Oſtmächte Denkſchriften über das gemeinſame Syſtem, das man fortan gegen die Revolution einhalten wolle, und be - zeichnete dieſen wenig fruchtbaren Gedankenaustauſch mit dem hochtraben - den Namen Verhandlungen der Wiener Conferenz , damit Wien doch wieder als der Mittelpunkt der conſervativen europäiſchen Politik erſchiene. **)Vgl. oben IV. 79.Ueber die Bändigung der deutſchen Revolution berieth ſich Metternich mit dem preußiſchen Geſandten Frhr. v. Maltzahn allein; denn Neſſelrode verſtand die Form zu wahren und ſchärfte dem Geſandten Tatiſtſchew ein: wohl ſei es dringend nöthig den kleinen deutſchen Regierungen zu Hilfe zu kommen, aber hier gebühre der Vortritt den deutſchen Groß -270IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.mächten. *)Neſſelrode, Weiſung an Tatiſtſchew, 7. Oct. 1831.Nach der Meinung des öſterreichiſchen Staatsmannes mußte jetzt ein - für allemal aufgeräumt werden mit den ſämmtlichen deutſchen Verfaſſungen neufranzöſiſchen Stiles; der vermeſſene Staatsſtreichsplan ſeines getreuen Marſchall behagte ihm wohl. Maltzahn dagegen hatte gemeſſenen Befehl, jeden rechtswidrigen Eingriff in die Landesverfaſſungen zurückzuweiſen. Er erklärte: die Vorſchriften der Schlußakte genügten vollauf, wenn man ſie nur entſchloſſen handhabe; der Bundestag ſolle ſich begnügen, den Sinn ſeiner Grundgeſetze deutlich auszuſprechen und ihre Befolgung den Regierungen nachdrücklich einzuſchärfen. Dem Unfug der Preſſe und der Verſammlungen laſſe ſich ſteuern, wenn der Bund und die Landesbehörden auf Grund der vorhandenen Geſetze ſofort mit ſtrengen Verboten einſchritten. Da ein neues organiſches Bundesgeſetz nur durch einhelligen Beſchluß zu Stande kommen konnte, ſo mußte Metternich dem Preußen ſchließlich nachgeben**)Tettenborn’s Bericht, Wien 3. Jan. 1832., und man einigte ſich über ſechs dem Bundestage vorzulegende Artikel, welche im Weſentlichen nichts Neues ent - hielten, ſondern nur den beſtehenden Geſetzen eine ſcharfe Auslegung gaben.

Die Sechs Artikel beriefen ſich auf das monarchiſche Princip der Art. 57 und 58 der Schlußakte und beſtimmten demgemäß: Da die ge - ſammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben muß, ſo ſind die deutſchen Souveräne verpflichtet, Anträge der Stände, welche dieſer Vorſchrift widerſprechen, zu verwerfen. Ferner dürfen die Landſtände den Fürſten weder die zur Führung einer verfaſſungsmäßigen Regierung erforderlichen Mittel verweigern noch die Bewilligung dieſer Summen zur Durchſetzung anderweiter Wünſche mißbrauchen eine deutliche Antwort auf das Verhalten des badiſchen Landtags bei der Berathung des Preßgeſetzes. Drittens ſoll die Geſetzgebung der Bundes - ſtaaten der Erfüllung ihrer Bundespflichten keinen Eintrag thun. Um die Landtage zu überwachen und alle Ausſchreitungen zur Sprache zu bringen, wird viertens am Bundestage eine beſondere Commiſſion eingeſetzt. Zum fünften verpflichten ſich die Regierungen, jeden Angriff der Landtage auf den Bund zu verhüten. Endlich wird nochmals daran erinnert, daß die Aus - legung der Grundgeſetze des Bundes allein der Bundesverſammlung zuſtehe.

Dergeſtalt hatte Bernſtorff dicht vor dem Ende ſeiner politiſchen Laufbahn noch einmal den reaktionären Anſchlägen des Wiener Hofes den Kern ausgebrochen. Dafür mußte er aber auch auf ſeine eigenen beſcheidenen Reformpläne verzichten. Sein Preßgeſetz-Entwurf ſtieß im preußiſchen Miniſterium ſelbſt auf unbeſieglichen Widerſtand. Altenſtein, der ſich die leidige Bundespolitik gern vom Leibe hielt, meinte ärgerlich: mit dem alten Preßgeſetze laſſe ſich ſehr wohl auskommen;***)Frankenberg’s Bericht, 9. Oct. 1832. zu ſtreng ſei die preußiſche Cenſur ſicherlich nicht, der ruſſiſche Geſandte beſchwere271Die Sechs Artikel.ſich ja unabläſſig über die polenfreundliche Haltung der Berliner Blätter. Wie das Preßgeſetz in Berlin zu Falle kam, ſo in Wien der Vorſchlag die Bundesprotokolle wieder zu veröffentlichen. In einer langen, ängſt - lichen Denkſchrift ſetzte Metternich auseinander, welche Gefahren dem Bundestage bereitet werden könnten, nicht blos von Journalen und Flug - ſchriften, ſondern auch von den falſchen Theorien der Lehrbücher. Bern - ſtorff erwiderte durch Eichhorn’s Feder: niemals könne der Bundestag Anſehen gewinnen ſo lange ſeine Wirkſamkeit etwas Unbekanntes und eben dadurch den mannichfaltigſten Mißdeutungen ausgeſetzt bleibe ; der den Deutſchen unentbehrliche Nationalſinn müſſe erſchlaffen, wenn ſie nicht einmal ein treues Bild von ihrem gemeinſamen politiſchen Leben gewännen; die Wiſſenſchaft des Bundesrechts werde ſich in leere Ab - ſtraktionen verlieren, wenn man ihr allen poſitiven Stoff entziehe. *)Beide Denkſchriften bei Kombſt, der deutſche Bundestag gegen Ende des Jahres 1832 S. 107 f.Lauter vortreffliche Gründe, aber wenig geeignet den Wiener Hof zu über - zeugen, der ja den unentbehrlichen Nationalſinn der Deutſchen als ſeinen gefährlichſten Feind betrachtete. Metternich verblieb bei ſeinem Widerſpruche, und Bernſtorff mußte ſchließlich (18. April 1832) den Bundesgeſandten anweiſen, die ausſichtsloſe Sache in Frankfurt vorläufig ruhen zu laſſen.

Im Verlaufe dieſer langwierigen Unterhandlungen wurden auch die Geſandten Baierns und Württembergs hinzugezogen. König Wilhelm nahm die Sechs Artikel unbedenklich an; er war längſt der Meinung, daß man der einreißenden Anarchie Halt gebieten müſſe. **)Berichte von Blittersdorff, 9. Jan., von Nagler, 22. Febr. 1832.Etwas langſamer entſchloß ſich der bairiſche Hof. Das in München beliebte Iſolirungs - und Puiſſancirungsſyſtem , wie Blittersdorff es nannte, vertrug ſich ſchwer mit ſtrengen Bundesbeſchlüſſen; doch da Oeſterreich beſtimmt verſicherte, daß man keine Einmiſchung in die inneren Angelegenheiten des Königreichs beabſichtige, ſo gab auch Baiern ſeine Einwilligung. ***)Berichte von Blittersdorff, 19. Jan., von Fahnenberg, München 18. Febr. 1832.Nunmehr theilte Metternich durch ein ausführliches Rundſchreiben die Sechs Artikel auch den übrigen Höfen mit (12. April), und nirgends erhob ſich ein Wider - ſpruch. Die ſächſiſche Regierung hegte anfangs Bedenken wegen ihres Staatsgrundgeſetzes, ließ ſich aber bald beſchwichtigen†)Berichte aus Dresden: von Buch 19. Mai, Jordan 1. Juni 1832.; der Karlsruher Hof war ſchon ſeit Monaten entſchloſſen, allen Vorſchlägen der Großmächte zuzuſtimmen, falls ſie nur nicht gradeswegs in die badiſche Verfaſſung eingriffen. Unterdeſſen kam die erſchreckende Kunde von dem Hambacher Feſte. Metternich frohlockte über dieſen unerhörten Skandal ; er ſah voraus, jetzt würde die Angſt auch die Zaudernden fortreißen, und er täuſchte ſich nicht. Nachdem Münch in einem langen Vortrage die Schreck -272IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.niſſe der mit ſtarken Schritten ihrer Reife entgegengehenden deutſchen Revolution geſchildert hatte, nahm der Bundestag ſofort, am 28. Juni 1832 die Sechs Artikel einſtimmig an, nur mit dem einen durch Baiern bean - tragten Zuſatze, daß die Bundescommiſſion zur Ueberwachung der Land - tage vorläufig blos für ſechs Jahre eingeſetzt werden ſollte.

Am 5. Juli folgte ſodann eine mächtige Sturzwelle außerordentlicher Sicherheitsmaßregeln, die großentheils auch ſchon in Wien verabredet waren. Alle politiſchen Vereine wurden verboten, desgleichen alle Volksverſamm - lungen und Volksfeſte ohne beſondere Erlaubniß, ebenſo die Freiheitsbäume und die deutſchen Kokarden. Zugleich wurden die Geſetze über die Uni - verſitäten wieder in Erinnerung gebracht, die Regierungen zu ſtrenger Handhabung der Polizei ermahnt, der badiſche Hof endlich aufgefordert, binnen vierzehn Tagen ſein bundeswidriges Preßgeſetz außer Kraft zu ſetzen. In den nächſten Wochen verbot der Bundestag, auf Grund des Karls - bader Preßgeſetzes, den Wächter am Rhein, den Freiſinnigen, Rotteck’s Annalen, Mebold’s Deutſche Allgemeine Zeitung, nachher die Biene des ſächſiſchen Bienenvaters und ſo weiter, bis ſchließlich nahezu alle ent - ſchiedenen Oppoſitionsblätter vernichtet waren. Den namhafteſten Publi - ciſten der ſüddeutſchen Liberalen, Wirth, Siebenpfeiffer, Rotteck, Stromeyer, Mebold und Anderen ward unterſagt, binnen der nächſten fünf Jahre eine Zeitſchrift herauszugeben.

Die Karlsbader Schreckenstage ſchienen wiederzukehren, und ſtärker noch als damals war die Erbitterung in den gebildeten Klaſſen. Nun hatte auch Deutſchland ſeine Juni-Ordonnanzen! ſo hieß es überall. Die liberale Preſſe des Südens benutzte die kurze ihr noch vergönnte Galgenfriſt, um die volle Schale ihrer Entrüſtung über den Bundestag und die beiden Großmächte auszuſchütten. Die deutſchen Kleinſtaaten ſo rief der Freiſinnige ſind Knechte der Knechte; verwiſcht für immer iſt jede achtungsvolle Erinnerung an Oeſterreichs Erhebung im Jahre 1809 und an jene Preußens im Jahre 1813. Auch jene gemäßigten nord - deutſchen Liberalen, welche das lärmende Treiben der Pfälzer entſchieden mißbilligten, erſchraken über die Härte der hereinbrechenden Reaktion; Dahlmann meinte traurig: es ſchwebt einmal ein Unglücksſtern über Allem was deutſch iſt.

Unleugbar war die Ruhe Deutſchlands diesmal weit ernſtlicher bedroht als in den Zeiten der burſchenſchaftlichen Bewegung; der Bund hatte beſſere Gründe zum Einſchreiten und ging auch nicht, wie damals, über die Schranken des formalen Rechtes hinaus. Die Sechs Artikel waren kein Ausnahmegeſetz, wie die Liberalen behaupteten, ſie enthielten im Weſentlichen nur die authentiſche Interpretation beſtehender Bundes - geſetze. Wurden ſie gerecht und verſtändig angewendet, ſo widerſprachen ſie auch nicht den Landesverfaſſungen, denn kein deutſches Staatsgrund - geſetz mit der einzigen Ausnahme des neuen kurheſſiſchen gewährte273Bedeutung der Sechs Artikel.den Landſtänden das Recht der unbeſchränkten Steuerverweigerung. Die Zeitungsverbote ſtanden in Einklang mit dem Bundespreßgeſetze, und wenn der Bund zur Erhaltung der inneren Sicherheit auch die Vereine und Verſammlungen überwachte, ſo durfte er ſich auf die freie Zuſtimmung der ſämmtlichen deutſchen Souveräne berufen.

Doch unmöglich konnte die tief enttäuſchte liberale Partei ſich bei der formalen Geſetzlichkeit der Bundesbeſchlüſſe beruhigen. Die Sechs Ar - tikel erſchienen vier Wochen nach dem Hambacher Feſte; ſie wurden da - her, obgleich ſie ſchon ſeit Monaten vorbereitet waren, allgemein als die Antwort des Bundestags auf die Hambacher Drohreden, als ein Werk ſchimpflicher Angſt betrachtet, und alle Welt erzählte ſich, daß Metternich geäußert haben ſollte: das Hambacher Feſt, wenn es gut benutzt wird, kann das Feſt der Guten werden, die Schlechten haben ſich mindeſtens zu ſehr übereilt. Wie zuverſichtlich hatte man gehofft, der neue Tag, den der ſchmetternde Weckruf des galliſchen Hahnes angekündigt, werde auch den Deutſchen die Preßfreiheit und die Parlamentsherrſchaft bringen, und nun legte der Bundestag die vorhandenen beſcheidenen Rechte der Landtage im ſtrengſten monarchiſchen Sinne aus. Immer nur der Stein ſtatt des Brotes: ſtatt der Preßfreiheit eine gehäſſige Verfolgung, die neben den revolutionären Schriften doch auch gebildete und wohlmeinende Blätter, wie Rotteck’s Annalen, mit ihren Peitſchenſchlägen traf. Wie ſchwärmeriſch hatte man ſich nach der Herrlichkeit eines großen Vater - landes geſehnt, und nun ward der Nation ſogar ihre in ehrlicher Be - geiſterung entfaltete neue Tricolore verboten. Im Wächter am Rhein klagte Stromeyer: So verſchwinde denn für einen Augenblick vor dem Antlitz deiner Feinde, o du heilige Dreifarbe, du himmliſches Bild der Reinheit und des muthigen Ernſtes! Ziehe dich zurück auf unſere nackte Bruſt. Dort hüpft dir grüßend jeder Schlag unſeres Herzens entgegen und empfängt von dir die elektriſche Einſtrömung des heiligen Feuers. So ſchwülſtig auch die Worte klangen, die Klage ſelbſt war vollberechtigt: welch ein verſchrobener, unwahrer Zuſtand, wenn die höchſte deutſche Be - hörde, in der ſich die Einheit der Nation verkörpern ſollte, das Symbol der Einheit wie ein verbrecheriſches Abzeichen verfolgte!

Auch der Inhalt der Sechs Artikel ſelbſt bot dem Liberalismus guten Grund zum Mißtrauen; denn auch ſie litten, wie alle Bundesbeſchlüſſe, an jener gefährlichen Vieldeutigkeit, welche die geſetzgeberiſchen Arbeiten juri - ſtiſcher Dilettanten gemeinhin auszeichnet. Dieſe Eigenthümlichkeit der Bun - desgeſetzgebung war in Frankfurt ſelbſt ſo bekannt, daß Blittersdorff einmal mit ſeiner gewohnten cyniſchen Dreiſtigkeit bei ſeinem Miniſter anfragte: Es giebt eine zweifache Auslegung der Bundesgeſetze, eine conſtitutionell - liberale und eine monarchiſche; welche von beiden ſoll ich jetzt anwenden? *)Blittersdorff’s Bericht, 7. Jan. 1832.Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 18274IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Was ließ ſich nicht Alles herausleſen aus dem zweiten Artikel, der den Landſtänden unterſagte, die zur Führung einer verfaſſungsmäßigen Re - gierung erforderlichen Mittel zu verweigern! Wie leicht konnte dieſe Vor - ſchrift zur gänzlichen Vernichtung des ſtändiſchen Steuerbewilligungsrechts mißbraucht werden, und wie nahe lag dieſer Verdacht gerade jetzt, da die Höfe ſo unerbittlich ſtreng gegen die Zeitungen und Vereine auftraten. Begreiflich alſo, daß die liberale Partei die Sechs Artikel, ſtark übertreibend, im gehäſſigſten Sinne auslegte und wehklagend verſicherte: der Schein - Conſtitutionalismus ſo lautete die neue Zeitungsphraſe ſolle in die deutſchen Verfaſſungen eingeführt werden.

Und welch ein grelles Schlaglicht fiel jetzt wieder auf die grundfalſche Richtung, welche die Bundespolitik von Anbeginn eingeſchlagen hatte! Für die Einheit, deren die Nation wie des lieben Brotes bedurfte, für die Einheit des Heerweſens und der Handelspolitik that der Bund gar nichts; für ſie mußte Preußen mit Umgehung des Bundestags ſorgen. Auch in allen anderen gemeinnützigen Geſchäften zeigte der Bundestag eine ſchimpfliche Trägheit. Soeben erzählte man ſich wieder hohnlachend ein neues Stücklein aus der Geſchichte dieſes Bundesjammers: jahrelang hatte ſich eine Com - miſſion des Bundestags über die Staatsangehörigkeit eines Jägers Lemnitzer in Thüringen geſtritten; da berichtete endlich der Geſandte Leonhardi, daß nicht Preußen oder Reuß, ſondern Meiningen den Mann aufzunehmen ſchuldig ſei, und fügte die ſchmerzliche Mittheilung hinzu, der Arme, der über dem Gezänk achtzig Jahre alt geworden war, ſei leider ſoeben ge - ſtorben. *)Nagler’s Bericht, 17. Juli 1831.Wenn es aber galt, die ſtändiſchen Verfaſſungen, die ſich doch nach der Eigenart der Landſchaften richten mußten, alle über einen Kamm zu ſcheeren oder durch den Zwang der Polizei das politiſche Leben der Nation darniederzuhalten, dann entfaltete dieſe träge Verſammlung eine fieberiſche Thätigkeit, dann erließ ſie Verbote und Befehle an ſouveräne Fürſten, dann übte ſie ungeſcheut alle die Machtbefugniſſe einer Staats - gewalt, welche weit über die beſcheidenen Rechte eines Staatenbundes hin - ausgingen. Vielherrſchaft da wo Einheit noth that, Centraliſation da wo der Particularismus ſein gutes Recht hatte das war der Charakter der deutſchen Bundespolitik. Da der Bundestag ſeine Aufgabe ſo ganz ver - kannte, ſo wurden ihm auch nothwendige und gerechtfertigte Sicherheits - maßregeln zur Schuld angerechnet; er erſchien der Nation nur noch als eine kleinlich gehäſſige Polizeibehörde.

Die Unzufriedenheit war allgemein. Selbſt die Preußen, die ſonſt nach dem Bundestage wenig fragten, zeigten ſich unwillig; ſie fanden es kränkend, daß alle dieſe neuen Verbote auch für ſie, die Königstreuen gelten ſollten. Am Hofe wehte die Luft ſeit einigen Monaten ſchärfer. Der König ſprach ſich über den Lärm der pfälziſchen Demagogen ſehr275Preußens beſchwichtigende Erklärung.unwillig aus; beim Ordensfeſte, im Januar, hörte er wohlgefällig zu, als Biſchof Eylert in bedientenhafter Rede die Liebe zum Landesvater für die wahre preußiſche Verfaſſung erklärte und dies tapfere Volk mit glücklichen Kindern verglich. Von den verheißenen Reichsſtänden durfte ihm Niemand mehr ſprechen; ſelbſt über Dahlmann’s ſo würdig und achtungsvoll ge - haltene Rede eines Fürchtenden mußte der Geſandte in Hannover ſich be - ſchweren. Noch ängſtlicher dachte Ancillon. Ihm gereichte zur hohen Freude, daß er ſeine Laufbahn als Miniſter ſogleich mit einem Hauptſchlage wider die Demagogen eröffnen konnte. Immer wieder verſicherte er dem Wiener Hofe, Oeſterreich und Preußen müßten Deutſchland retten, trotz der neuen improviſirten Verfaſſungen, dieſer ſchlechten Nachahmungen eines fehler - haften Vorbildes ; ſie müßten Deutſchlands Souveräne electriſiren , nachdem die Revolution jetzt ihre Maske gelüftet, ihr Banner entfaltet habe. Aufrichtig war ſeine Befriedigung, als das wahre Deutſchland, das im Bundestage verkörperte Deutſchland endlich geſprochen und alſo dem ganzen Welttheile einen Rettungsanker dargeboten hatte. *)Ancillon, Weiſungen an Maltzahn 4. 14. Juni, 9. Juli, an Brockhauſen 23. Juli, 13. Aug. 1832.So - bald er aber den tiefen Unwillen bemerkte, der ſich vornehmlich in den Kreiſen des hohen Beamtenthums lebhaft äußerte, ward er ſelbſt unſicher und rieth dem Könige, ſeinen treuen Unterthanen ausdrücklich zu erklären, daß er ſie nicht durch unverdientes Mißtrauen verletzen wolle. So geſchah was bisher unerhört geweſen: Preußen ſelbſt erlaubte ſich einen bairiſchen Vorbehalt. Als Friedrich Wilhelm im September die Bundesbeſchlüſſe veröffentlichen ließ, betheuerte er zugleich mit warmen Worten: damit erfülle er nur ſeine Pflicht als Bundesfürſt, in Preußen ſei die Ruhe nie geſtört worden, in dem Vertrauen und der erprobten Zuneigung ſeines Volkes beſitze er die zuverläſſigſte Bürgſchaft für die Erhaltung des inneren Friedens.

Noch größer war die Verlegenheit der conſtitutionellen Fürſten. Im Gefühle ihrer Ohnmacht ſchaukelten ſie ſämmtlich ſchon ſeit Jahren zwiſchen dem Bundestage und den Landtagen hin und her; daß der Bund ihnen einen Rückhalt bot gegen die Anſprüche der Landſtände, war ihnen allen hochwillkommen. Aber an einen Verfaſſungsbruch dachten ſie nicht; nur der Herzog von Naſſau und der kurheſſiſche Prinzregent mochten ſich ins - geheim mit Staatsſtreichsplänen tragen. Als ihnen nun allüberall die Klage entgegenſcholl, durch die Sechs Artikel würden die Landesverfaſſungen in ihren Grundfeſten bedroht, da fühlten ſie ſich im Gewiſſen bedrängt, denn eine ſolche Abſicht hatten ſie bei der Annahme der Bundesbeſchlüſſe wirklich nicht gehegt, und ſuchten ihre aufgeregten Völkchen zu beſchwich - tigen. Selbſt du Thil, der Hochconſervative, bat ſeinen Großherzog, bei der Bekanntmachung der Bundesgeſetze zugleich zu verſichern, daß die18*276IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Landesverfaſſung dadurch nicht abgeändert würde. Im gleichen Sinne ſprach ſich der Herzog von Meiningen aus. Auch der Prinz-Mitregent von Sachſen verwahrte ausdrücklich die Gerechtſame ſeiner Landſtände, als er die Bundesbeſchlüſſe veröffentlichte. Seine Miniſter zeigten ſich ſehr ängſtlich; denn die Nachrichten aus Frankfurt hatten im Lande große Unzufriedenheit erregt, die Sachſenzeitung empfahl ſchon den Bund mit Frankreich gegen die deutſchen Großmächte, im Vogtlande verbreitete ein neugebildeter Preßverein radicale Schriften, und in den geweihten Hallen der Dresdener Adlichen Reſſource wagte Otto v. Watzdorf ſogar einen Proteſt gegen die Sechs Artikel zur Unterzeichnung auszulegen. *)Jordan’s Berichte, 29. Juli, 4. Auguſt 1832.

König Ludwig von Baiern ſchwankte lange bevor er mit ſich ins Reine kam. Schmerzlich überraſcht durch das aufrühreriſche Treiben ſeiner Pfälzer hatte er ſich endlich, auf Metternich’s und Ancillon’s dringenden Rath, zur Strenge entſchloſſen und den Feldmarſchall Wrede mit einer anſehnlichen Truppenmacht nach der unruhigen Provinz geſendet. Alsbald zeigte ſich, wie wenig revolutionäre Kraft hinter den prahleriſchen Reden der Dema - gogen ſtand. Der alte Kriegsmann trat feſt und verſöhnlich auf; er ver - ſprach Berückſichtigung aller begründeten Klagen, ließ die Vereine ſchließen, die Freiheitsbäume beſeitigen, zahlreiche Verhaftungen vornehmen und ſtellte ohne ernſtlichen Widerſtand die Ordnung wieder her. Unterdeſſen feierten auch die Franken zu Gaibach ein lärmendes Waldfeſt, begeiſterte junge Leute hoben in der Luſt des Weines den liberalen Bürgermeiſter Behr auf ihre Schultern und begrüßten ihn als unſeren Frankenkönig . Auch dort wurde mit Unterſuchungen und Verhaftungen ſcharf eingeſchritten. Der König verbarg ſein Mißtrauen nicht, er argwöhnte ſogar einen Anſchlag wider ſein Leben, und als ihm die Würzburger in einer ſchwülſtigen Adreſſe Gut und Blut des ganzen Volkes der Baiern zum Kampfe gegen den Bundestag anboten, da wies er die Eingabe mit ungnädigen Worten zurück.

Ebenſo ſcharf ließ er eine Vorſtellung conſtitutionell getreuer Staats - bürger aus der Rheinpfalz abfertigen, ein freches Machwerk, aus dem noch einmal der ganze Bodenſatz der radicalen Phraſe emporwirbelte. Die Pfälzer ſagten: Bürgerkrieg, ſo lautet die Loſung des Bundestags. Wie konnte der Rheinbaiern geſetzestreue und freiheitliebende Bruſt un - erſchüttert bleiben bei der ſchrecklichen, ungeheueren, faſt unglaublichen Nachricht: der Bundestag hat die deutſchen Conſtitutionen vernichtet! Was ſoll uns Oeſterreich? Dieſer alte, morſche, von Würmern zerfreſſene hohle Stamm? Welche Vortheile kann das abſolute Preußen dem con - ſtitutionellen Baiern bieten? Dieſes falſche Rohr, das dem durch die Hand ſticht, der ſich darauf ſtützen will? Wie wird Rußland Baierns Rechte ſchirmen? Dieſer glühende Moloch des Despotismus, dem in heid -277Vorbehalte der conſtitutionellen Regierungen.niſchem Wahne der Vater das eigene Kind opfern muß? König, laut beſchwört dich dein Volk: ſchließe nicht den unglücklichen Bund mit jenen abſoluten Mächten! Weiſe die Verſucher zurück! Verſcherze nicht die Liebe deiner Baiern. *)Adreſſe der Würzburger Bürger an den König, o. D. Vorſtellung vaterlands - liebender Bürger Rheinbaierns, oder vielmehr Erklärung über und Verwahrung gegen die Bundestagsbeſchlüſſe vom 28. Juni 1832. Mit zahlreichen Unterſchriften von Land - räthen, Abgeordneten, Bürgermeiſtern, Lehrern u. ſ. w.Eine ſolche Sprache mußte den König erbittern. Vor den Bundesgeſandten, die ihn in Franken beſuchten, äußerte er lebhaft ſeinen Abſcheu gegen den Liberalismus; zu Blittersdorff ſagte er heftig: von meinen früheren Miniſtern war ich verrathen und verkauft. **)Blittersdorff’s Berichte, 17. 24. Sept. 1832.Aber zur Bekanntmachung der Beſchlüſſe, bei denen er doch ſelbſt mit - gewirkt hatte, konnte er ſich noch immer nicht entſchließen; ſeine ſouveräne Krone ſollte ſich nicht förmlich unter die Oberhoheit des Bundestages beugen. Vergeblich mahnte ihn Czar Nikolaus in einem eigenhändigen Briefe an die Pflichten der Bundestreue. ***)Küſter’s Berichte, 3. 22. Aug. 1832.Erſt im October überwand er ſich und ließ die Beſchlüſſe veröffentlichen, doch mit der Erklärung, daß dadurch die bairiſche Verfaſſung nicht abgeändert, ſondern vielmehr deren treue Beobachtung erkräftigt werde .

Nirgends äußerte ſich der öffentliche Unwille ſo ſtürmiſch wie in Württemberg. Da die Schwaben bisher noch gar nicht zu Worte gekommen waren und noch immer vergeblich auf die Einberufung ihres Landtags warteten, ſo warfen ſie allen Groll, den ſie in dieſen zwei Jahren an - geſammelt hatten, auf die neuen Bundesbeſchlüſſe. Nur der landſtändiſche Ausſchuß blieb nüchtern; er konnte nach reiflicher Prüfung nicht finden, daß die Sechs Artikel den Beſtand der Verfaſſung unmittelbar bedrohen ſollten. Sonſt war im Lande faſt nur eine Stimme. Die Stuttgarter Bürger verlangten in einer Petition die Ablehnung der Bundesbeſchlüſſe, und des Königs Freund Maucler übertrieb nur wenig, als er nach Frank - furt ſchrieb: nicht blos die ewigen Gegner der Regierungen, die Anhänger der Einheit und Freiheit Deutſchlands , ſondern auch die Treuen ſeien tief erbittert. †)Blittersdorff’s Bericht, 19. Aug. 1832.Eine anonyme Schrift Deutſchlands Juli-Ordonnanzen , die von dem ſchändlichſten, dem fluchwürdigſten Verrath am Wohle der Menſchheit , von dem monarchiſchen Princip Caligula’s und Nero’s ſprach, fand viele gläubige Leſer. Selbſt Paul Pfizer ließ ſich von der Ent - rüſtung ſeiner Landsleute fortreißen. Er arbeitete gerade an einer Schrift über den deutſchen Liberalismus, um ſeine ſüddeutſchen Freunde vor den Täuſchungen der liberalen Selbſtüberhebung, vor den Gefahren eines franzöſiſchen Bündniſſes zu warnen und ihnen vorzuhalten, daß ſie für jetzt höchſtens auf einen ſüddeutſchen Sonderbund hoffen dürften, der aber278IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.in Zukunft unter Preußens Schutz treten müſſe. So bewährte er wieder, unbekümmert um Welcker’s ſittliche Entrüſtung, ſeine ſtolze Selbſtändigkeit gegenüber den Vorurtheilen der Parteien und geſtand ſelbſt, mancher Schwabe werde den Gedanken des preußiſchen Protectorats ganz unglaub - lich finden wollen. Da erhielt er während des Drucks die Nachricht von den Frankfurter Ordonnanzen , und aufwallend in leidenſchaftlichem Zorne, fügte er ein geharniſchtes Nachwort hinzu, das mit der Drohung ſchloß: nunmehr werde die Nation durch die Fürſorge ihrer Regierungen dasjenige erhalten, woran es ihr bisher gefehlt: ein gemeinſchaftliches Intereſſe und einen gemeinſchaftlichen Feind .

Eingeſchüchtert durch das allgemeine Mißtrauen verſicherten die Mi - niſter und Geheimen Räthe, als ſie die Bundesbeſchlüſſe veröffentlichten, feierlich, daß dieſe Vorſchriften die Verfaſſung und namentlich das Steuer - bewilligungsrecht der württembergiſchen Landſtände in keiner Weiſe ge - fährden ſollten (28. Juli). Zu um ſo vollſtändigerer Beruhigung ſeiner getreuen Unterthanen gab der König, der zu Livorno weilte, in einem alsbald veröffentlichten Briefe dieſem Vorbehalte ſeine förmliche Geneh - migung. Aber das Land ließ ſich nicht beſchwichtigen. Neue Adreſſen liefen ein, aus der Hauptſtadt, aus Ulm, aus Tübingen. Der Stutt - garter Bürger-Ausſchuß veranſtaltete einen feierlichen Aufzug um die Ein - gabe dem königlichen Cabinet ſelbſt zu überbringen. Mit dem Rufe: Nur über meine Leiche! und unter dem lauten Murren der Bürgerſchaft trieb der Stadtdirektor Klett die Verſammelten auseinander. Da brach König Wilhelm ſeine italieniſche Reiſe ab und kehrte eilends heim. Er verwies ſeinen Stuttgartern ſtreng ihr aufrühreriſches Gebahren, ließ ihnen die hauptſächlich durch die Umtriebe einer übelwollenden Partei zu Stande gekommene Adreſſe zurückgeben, betheuerte wiederholt ſeine unverbrüchliche Verfaſſungstreue und verſicherte zugleich vertraulich den Geſandten der großen Mächte, wie ſehr er ſich über die Bundesbeſchlüſſe freue. *)Salviati’s Berichte, 11. 16. 26. Aug., 6. Nov. 1832.

Den beiden Großmächten kamen dieſe Winkelzüge der conſtitutionellen Höfe ſehr ungelegen, indeß ſahen ſie darin mit Recht nur ein Zeichen der Schwäche, nicht der Widerſetzlichkeit. Zu Frankfurt wurde die Frage in vertraulichen Beſprechungen lebhaft, aber ohne Bitterkeit erörtert. Dann beſchloß der Bundestag ſein Anſehen zu wahren und erklärte am 8. Novbr. : die der Bekanntmachung beigefügten erläuternden Beiſätze könnten, wie ſich von ſelbſt verſtehe , der Verbindlichkeit der Bundesbeſchlüſſe keinen Eintrag thun, ſowie ſolches ohnehin auch nicht in der Abſicht der einzelnen Regierungen gelegen habe. Dieſem Beſchluſſe, der ihnen doch ſelber einen ſanften Backenſtreich gab, ſtimmten die Geſandten der fünf Höfe, welche mit Vorbehalt veröffentlicht hatten, ſämmtlich zu. So drehten ſich die Staatsgewalten im Kreiſe, und die argwöhniſche Oppoſition mußte zu279Reaktion in Kurheſſen.der Meinung gelangen, daß die Höfe mit deutſcher Redlichkeit ein frevel - haftes Spiel trieben.

Alle anderen conſtitutionellen Fürſten außer jenen fünf veröffentlichten die Bundesbeſchlüſſe ohne Vorbehalt. Der heſſiſche Mitregent benutzte zugleich den willkommenen Vorwand um ſich ſeiner Stände für einige Zeit zu entledigen. Die Aufregung der letzten Jahre zitterte in dem unglück - lichen Lande noch zuweilen nach. Bei den üblichen Polenfeſten erklangen ſtürmiſche Pereats auf die drei Oſtmächte; in Hanau meuterten einmal ſogar die Soldaten, unter Hochrufen auf Frankreich und Polen; die deutſchen Farben ſah man überall, auf Fahnen und Kokarden, auch auf den Schnupf - tüchern der Handwerksburſchen. Immerhin ließ ſich ſchon deutlich erkennen, daß die Heſſen der ewigen Unruhen müde wurden; auch die Freude an dem zeitraubenden Soldatenſpiele der Bürgergarden erkaltete ſichtlich. Der Kurprinz aber und ſein Haſſenpflug verbargen kaum, daß ſie einen Streit mit den Landſtänden und dann den Einmarſch preußiſcher Truppen wünſchten. Je näher Hänlein den Charakter dieſes Fürſten kennen lernte, um ſo klarer ward ihm, daß dem Kurprinzen weder zu rathen noch zu helfen iſt, und daß er bei ſeiner Eintagspolitik ſeinem unvermeidlichen Schickſal nicht ent - gehen wird. *)Hänlein’s Berichte, 25. Febr., 13. März 1832.Es war allein die Schuld des Regenten, daß der Landtag in einer Tagung von ſechzehn Monaten nur ein einziges wohlthätiges Geſetz zu Stande brachte: das Geſetz über die Ablöſung der Reallaſten und die Bildung einer Landeskreditkaſſe. So that Kurheſſen endlich den erſten Schritt auf der Bahn der befreienden Agrargeſetzgebung, die in den Nach - barſtaaten längſt betreten war. Faſt Alles aber was die Stände ſonſt noch beantragten blieb im Cabinet unerledigt liegen, und allerdings erſchwerte Jordan mit ſeinen Freunden jede Verſtändigung durch Uebermuth und unmögliche Zumuthungen. Der begeiſterte Doktrinär gebärdete ſich, als ob Kurheſſen auf einer Inſel im Weltmeere läge: niemals, rief er ſtolz, wird unſer Landtag die Ruthe des Bundestags küſſen! Vergeblich gewarnt von den Geſandten der beiden Großmächte, betrieb er mit Feuereifer die Berathung eines Preßgeſetzes eben jetzt da der Bundestag ſo handfeſt gegen die Zeitungen vorging und die Vernichtung des badiſchen Preßge - ſetzes, wie Jedermann wußte, nahe bevorſtand. Als die Stände dann über die heſſiſche Preßfreiheit ſchlüſſig geworden, verſicherte Burkard Pfeiffer drohend: die Regierung müſſe dieſen Entwurf alsbald genehmigen, wenn anders nicht das feierlich gegebene Fürſtenwort nur als leere Form, der wiederholte Schwur der Miniſter nur als Gaukelſpiel mit zerbrechlichen Eiden erſcheinen ſoll.

So erbittert ſtanden die Parteien einander gegenüber, als die neuen Bundesbeſchlüſſe ruchbar und gleich darauf vom Kurprinzen amtlich ver - kündigt wurden. Die Stände tobten. Während Pfeiffer in ſchwungvoller280IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Rede die Freiheitsfarben der alten Burſchenſchaft verherrlichte, erklärte Jordan die Bundesbeſchlüſſe für ungiltig und forderte, daß die Miniſter angeklagt werden ſollten. Das war es was der Kurprinz wünſchte. Am 26. Juli wurde der Landtag aufgelöſt, und Heinrich v. Arnim, der auf der Durchreiſe dieſer Schlußſitzung beiwohnte, berichtete ſchaudernd, welche entſetzliche Drohungen die ſchnurrbärtigen, mit ſchwarzrothgoldenen Bändern geſchmückten Männer droben auf der Gallerie ausgeſtoßen hätten. *)Arnim’s Bericht, 26. Juli 1832.Das Land blieb indeſſen ruhig. Jordan aber, der Vater der Verfaſſung fiel nun - mehr ſelber in das Fangeiſen, das er früherhin vorſorglich der monarchiſchen Gewalt geſtellt hatte. Um der Regierung die Auflöſung der Landſtände zu erſchweren, hatte er einſt die Vorſchrift durchgeſetzt, daß der Landtag am Schluſſe jeder Tagung den ſtändiſchen Ausſchuß mit Weiſungen verſehen müſſe. **)S. o. IV. 134.Jetzt ward der Landtag plötzlich aufgelöſt bevor er dieſe Wei - ſungen ertheilen konnte, und als der Ausſchuß alsbald verſuchte nach - träglich gegen die Bundesbeſchlüſſe zu proteſtiren, da erwiderte ihm Haſſen - pflug höhniſch, aber mit unbeſtreitbarem Rechte: der Ausſchuß hat keine ſtändiſche Inſtruktion erhalten, iſt alſo nach der Verfaſſung nicht befugt irgend einen rechtsgiltigen Beſchluß zu faſſen. So hatte der gewandte Taſchenſpieler den Landtag und ſeinen Ausſchuß zugleich entwaffnet. Jedermann fühlte, unter dieſer Regierung werde das heſſiſche Land nie - mals zum Frieden gelangen.

Auch die badiſche Regierung veröffentlichte die Sechs Artikel ohne Vorbehalt, weil ſie fürchtete ſich durch nutzloſe Zuſätze bloßzuſtellen***)Türckheim an Blittersdorff, 10. Aug, 1832. und weil ſie ihrer ganzen Widerſtandskraft bedurfte um vielleicht noch ihr Preßgeſetz zu retten. Längſt wünſchte der Großherzog ſehnlich ſeinen Frieden mit den großen Mächten zu ſchließen. Um die Hofburg über ſeine tadelloſe Geſinnung aufzuklären ſendete er im Frühjahr den Frei - herrn v. Falkenſtein nach Wien, erhielt aber zur Antwort nur einen freundlich mahnenden Brief von Kaiſer Franz. †)Türckheim an Blittersdorff, 28 Mai; Otterſtedt’s Bericht, 9. Juni 1832.Seine Miniſter ge - nügten ihm nicht. Winter zeigte ſich zwar ſehr aufgebracht über Rotteck und deſſen Getreue: Da iſt mir Herr Wirth noch ein ehrenwertherer Gegner ſchrieb er einmal. Der Burſche iſt ein Radicaler, ein ver - rücktes Gehirn, aber doch ein teutſcher Radicaler und ſagt offen was er will. Die Freiburger ſind Heuchler. ††)Winter an Otterſtedt, 18. Juni 1832.Gleichwohl konnte ſich Leopold nicht verbergen, daß dieſer bürgerfreundliche Miniſter niemals das Ver - trauen der beiden Großmächte gewinnen werde, und berief daher im Mai den Freiherrn v. Reizenſtein aus der Stille ſeiner Heidelberger gelehrten Muße wieder an die Spitze des Miniſteriums jenen verdienten Staats -281Aufhebung des badiſchen Preßgeſetzes.mann, der einſt bei der Begründung des Großherzogthums und ſeiner Verfaſſung ſo erfolgreich mitgewirkt hatte. Der kräftige alte Herr, deſſen Verfaſſungstreue außer Zweifel ſtand, war über Rotteck’s Reden empört; er fand, daß der vielgerühmte unvergeßliche und unübertreffliche Landtag ſeine Rechte frevelhaft mißbraucht habe, und verſicherte dem preußiſchen Geſandten, zu Ancillon’s lebhafter Genugthuung: ich werde nicht ruhen bis der Zügelloſigkeit Grenzen geſetzt ſind. *)Otterſtedt’s Berichte, 26. Mai, 21. Juni; Ancillon, Weiſung an Otterſtedt, 10. Juni 1832.

Nur zu der vollſtändigen Aufhebung des Preßgeſetzes mochte der Großherzog ſich nicht entſchließen. Eine ſo herriſche Zumuthung war bis - her noch keinem Bundesfürſten geſtellt worden; zudem fürchtete Leopold, wenn er gehorche, ſich das Vertrauen ſeines Volkes zu verſcherzen. Er ſchwankte lange. Die badiſchen Liberalen erzählten einander zuverſichtlich, daß er in ſeiner Noth den franzöſiſchen Nachbarn heimlich um Hilfe ge - beten habe, und ſo gründlich war hier das nationale Selbſtgefühl zerſtört ſie rechneten ihm dies Hilfegeſuch zur Ehre an. In Wahrheit hat der patriotiſche Fürſt an ſolchen Landesverrath nie gedacht. Am Bundestage aber ließ er ſeine Anſicht mehrere Monate hindurch hart - näckig vertheidigen. Blittersdorff, der im Grunde des Herzens das liberale Geſetz ſelber verwünſchte, mußte alle ſeine ſophiſtiſchen Künſte aufbieten, um immer wieder zu beweiſen: Baden erkenne das Bundespreßgeſetz, das die Cenſur vorſchrieb, als rechtsverbindlich an und ſei gleichwohl befugt, durch ſein eigenes Preßgeſetz die Cenſur aufzuheben. **)Nagler’s Berichte, 23. Mai 1832 ff.Kein einziger der Bundes - geſandten ſtimmte dem Badener bei. Das formale Recht war zu klar, und als der Bundestag auf ſeiner Forderung beharrte, mußte die Karls - ruher Regierung endlich am 28. Juli die Cenſur wieder einführen. Schlag auf Schlag folgten nun die Unterdrückung der vom Bundestage bereits verbotenen liberalen Blätter und zahlreiche Unterſuchungen gegen die Redner der Volksverſammlungen. Noch nicht zufrieden mit Alledem, ver - langte der Bundestag im September auch die Beſtrafung der akademiſchen Lehrer, welche den unterdrückten Freiſinnigen herausgegeben hatten.

In Freiburg wurden die Sechs Artikel mit unbeſchreiblicher Ent - rüſtung aufgenommen. Rotteck legte ihnen einen verbrecheriſchen Sinn unter, den ſie durchaus nicht hatten; er veranſtaltete ſofort eine Adreſſe dawider und ſagte mit bitterem Hohne: dieſe Bundesbeſchlüſſe vom 28. Juni würden für alle wohlgeſinnten Bürger ein unendlich wirkſameres Vereinigungszeichen bilden als die geächteten drei Farben. In dem Fana - tismus ſeines Vernunftrechts war er bereits ſo weit gelangt, daß er in Europa nur noch die zwei Völker der Freien und der Knechte bemerken wollte; faſt alle die alten, meiſt nur noch bei der gedankenloſen Maſſe282IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.wirkſamen National-Sympathien und Antipathien, Verwandtſchaften und Scheidewände verſchwanden ihm daneben. Mittlerweile gerieth er in Händel mit dem Gemeinderathe, weil dieſer eine Bürgerwache zur Ver - hinderung von Volksverſammlungen errichtet hatte, und als nun auch die Studenten wieder allerhand Straßenunfug verübten, da meinte die Re - gierung, dies Neſt des Aufruhrs an der Dreiſam ausheben zu müſſen. In ihrer Angſt ging ſie noch weit über die Forderungen des Bundestags hinaus. Die Univerſität Freiburg wurde geſchloſſen und dann mit ver - änderter Verfaſſung neu eröffnet. Rotteck und Welcker erhielten den Ab - ſchied mit Ruhegehalt, Duttlinger entging dem gleichen Schickſal nur weil man ihn auf dem Lehrſtuhle nicht entbehren konnte. Es war nicht blos ein ſchweres Unrecht wider ehrenhafte Gegner, die ſich allen geheimen Umtrieben ſtets fern gehalten hatten, ſondern auch eine politiſche Thorheit; denn die Wirkſamkeit der Beiden als Lehrer reichte nicht ſehr weit, durch die Abſetzung gab man ihnen außer dem Ruhme der Märtyrer auch die Muße ſich ganz dem Parteileben zu widmen. Durch mannichfache Huldi - gungen ſuchten die Geſinnungsgenoſſen den Abgeſetzten Troſt zu geben. Welcker, der ſich bis zuletzt durch umfängliche Vertheidigungsſchriften tapfer wehrte, wurde in Gießen von ſeinen Landsleuten mit einem großen Feſt - mahle geehrt. Rotteck erhielt aus verſchiedenen Gegenden des conſtitutio - nellen Deutſchlands neue Ehrenbecher zugeſendet; deren Zahl ſtieg all - mählich auf zwölf, ſo daß die Badener ſich bewogen fanden ihrem Helden noch einen koſtbaren Kaſten zur Aufbewahrung der Spenden zu ſchenken; wenn er dieſe Schätze betrachtete, dann ſagte er ſtolz: welcher Miniſter hat wohl ſo ſchöne Orden?

Trotzdem reichte die Unzufriedenheit nicht über enge Kreiſe hinaus. Der Zorn über die halb mögliche halb eingebildete Gefährlichkeit der Sechs Artikel mußte dem Volke unverſtändlich bleiben, obgleich Rotteck, der Baure - held bei den Maſſen in hohem Anſehen ſtand. Als der Großherzog mit Reizenſtein im Herbſt den Breisgau beſuchte, fand er ſeine Oberländer ganz glücklich: Spelz und Trauben waren gut gerathen. Der greiſe Miniſter glaubte feſt, durch heilſame Strenge dem Staate einen Dienſt erwieſen zu haben und nahm den Dank des Berliner Hofes befriedigt an. Er betrachtete die Lage als Diplomat; er ſah ſein Land faſt waffenlos, ohne Feſtung, durch die galliſche Habgier unmittelbar bedroht. Darum wünſchte er, wie er dem preußiſchen Geſandten ſagte, entweder einen wirk - lichen Frieden oder, wenn es ſein müſſe, einen raſchen, zermalmenden Angriffskrieg, und für beide Fälle war Preußens Freundſchaft unent - behrlich. *)Otterſtedt’s Berichte, 12. Oct., 24. Nov.; Ancillon, Weiſung an Otterſtedt, 20. Sept. 1832.

Dergeſtalt war auch in Baden die Bewegung ins Stocken gerathen,283Verkauf von Lichtenberg.und während der nächſten zwei Jahre wagte nur noch ein einziges Blatt, Mathy’s Zeitgeiſt , die Gedanken des Liberalismus unerſchrocken zu ver - theidigen. Die erſte Nummer erſchien wenige Wochen bevor die junge badiſche Preßfreiheit wieder beſeitigt wurde, und alltäglich mußte Mathy nunmehr den kleinen Krieg führen wider die kindiſche Aengſtlichkeit einer willkürlichen Cenſur. Ihm war nie wohler als wenn er allein auf der Breſche ſtand und Andere verzagten. Da er ſelbſt das geſetzlich vorge - ſchriebene Alter noch nicht erreicht hatte, ſo unterzeichnete ſein Ausläufer Erasmus Bartlin als Herausgeber, und es war ein Genuß, den biederen Bartlin zu ſehen, wenn er Abends den Zeitgeiſt ſelber zum Cenſor trug und ſtolz ſagte: hier bringe ich mein Blatt. Obwohl nicht ganz frei von den fanatiſchen Uebertreibungen und den tönenden Schlagworten des jungen Liberalismus bewies die Zeitung doch durch ihren geſunden Ge - ſchäftsverſtand, durch ihre knappe, gedrungene, immer ſachlich belehrende Sprache, daß die Oppoſition ſchon einzelne regierungsfähige Talente be - ſaß. Die volkswirthſchaftliche Ueberlegenheit des Nordens geſtand Mathy unbefangen zu, und in der preußiſchen Handelspolitik erkannte er bald den erſten Keim der wirkſamen deutſchen Einheit. Sein nächſtes Ziel blieb natürlich die Preßfreiheit, oder, wie er bitter ſagte die Herſtellung des natürlichen und durch das Grundgeſetz verheißenen Rechtes des freien Menſchen, ſich von dem Thiere und dem Sklaven unterſcheiden zu dürfen, indem er auf eigene Gefahr und Verantwortung hin ſeine Gedanken ausſpricht.

Den Badenern raubte die hereinbrechende Reaction die freie Preſſe, dem unzufriedenen Völkchen des Fürſtenthums Lichtenberg brachte ſie ein unerwartetes Glück: die Einverleibung in den preußiſchen Staat. Da die Unruhen in St. Wendel gar kein Ende nahmen, ſo mußte der Herzog von Coburg nochmals um Preußens Hilfe bitten, und abermals ſtellten preußiſche Truppen ohne Kampf die Ordnung her. Wie viele Mühe hatten die Coburger einſt zur Zeit der Wiener Verträge aufgewendet, um durch die Gunſt der großen Mächte eine Gebietsvergrößerung, die ihnen von Rechtswegen durchaus nicht gebührte, zu erlangen, und wie hart war ihre Ländergier beſtraft worden. Jetzt ſah Herzog Ernſt endlich ein, daß er ſich dieſes entlegenen Beſitzthums entledigen mußte. Er geſtand dem Könige von Preußen (18. Juni 1832), aus eigener Kraft könne er weder die Ruheſtörungen noch den Schmuggel verhindern, und erbot ſich daher das Fürſtenthum an Preußen abzutreten. Gewitzigt durch frühere Erfahrungen wagte er aber dem Könige nicht wieder einen Ländertauſch zuzumuthen,*)Vgl. II. 480. ſondern verlangte eine Entſchädigung durch preußiſche Domänen. Weil er des Erfolges ſicher zu ſein wähnte, ſo beſichtigte er bereits einige Staatsgüter in der Goldenen Aue, die er zu einer ſtattlichen Standesherrſchaft abzu -284IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.runden hoffte. Da ſchlugen die Pächter und Bauern Lärm, denn der Coburger ſtand keineswegs in dem Rufe eines milden Grundherrn, und der Merſeburger Regierungspräſident v. Rochow erklärte dem Könige frei - müthig: die Abtretung von Domänen werde im Lande allgemeine Unzu - friedenheit erregen. Gleich ihm dachten die Räthe des Finanzminiſteriums; ſie fanden es gar zu großmüthig, daß man mehrere der ſchönſten Land - güter der Provinz Sachſen dahingeben ſollte für die Lappländer am Hunsrück , wie L. Kühne die armen Lichtenberger nannte; zudem dienten die Domänen als Unterpfand für die Staatsſchuld, der Staatshaushalts - plan war auf ihren wachſenden Ertrag berechnet. Auch der Kronprinz ſchloß ſich den Widerſprechenden an; von Domänenverkäufen wollte er grundſätzlich nichts hören, da nach der Haller’ſchen Staatslehre die mon - archiſche Gewalt auf dem Beſitze eines reichen Kammergutes ruhen ſollte. Nach langwierigen Verhandlungen erwiderte der König endlich, daß er nur eine ſehr hoch bemeſſene Geldentſchädigung leiſten könne. Herzog Ernſt ſtimmte zu; nur wünſchte er das Geſchäft verdeckt zu halten, damit man ihm nicht nachſage, daß er ſeine Unterthanen für Geld verkaufe. *)Herzog Ernſt an K. Friedrich Wilhelm, 18. Juni 1832. Denkſchriften von Präſident v. Rochow, 12. September 1833, von Stägemann, 29. Juni 1834. König Friedrich Wilhelm an Herzog Ernſt, 5. März; Antwort 14. April 1834.

Darum erhielt der am 31. Mai 1834 abgeſchloſſene und im nächſten Monate von beiden Theilen genehmigte Abtretungsvertrag eine vieldeutige Faſſung. Dem Herzog ward eine Entſchädigung zugeſagt, welche ihm nicht nur eine Rente von 80000 Thalern gewähren, ſondern ihn zugleich in den Stand ſetzen ſollte, theils durch Uebernahme preußiſcher Domänen theils durch Ankauf anderer Güter ein Grundeigenthum zu erwerben . Auf Grund dieſer ſehr unbeſtimmten Zuſage bemühte ſich der Herzog nunmehr jahrelang um den Ankauf ſchleſiſcher oder poſenſcher Domänen; doch immer wieder trat ihm das preußiſche[Finanzminiſterium] entgegen. Mit dem Tode Friedrich Wilhelm’s III. verſchwand die letzte Ausſicht, da ſein Nachfolger den ganzen Handel mißbilligte, und erſt im Jahre 1843 beruhigte ſich Coburg, nach vollſtändiger Auszahlung des ausbedungenen Kaufpreiſes. Kaufmänniſch betrachtet, war das Geſchäft für die welt - erfahrenen Verwandten Leopold’s von Belgien recht erfreulich ausgefallen: ſie erhielten 2,1 Mill. Thlr. in Staatsſchuldſcheinen für ein Land, deſſen bisherigen Ertrag die preußiſchen Finanzbeamten auf 45000 Thlr., einige gar nur auf 30000 Thlr. ſchätzten. **)Finanz-Miniſter Graf Alvensleben an General Thile, 19. Jan. 1841. Denk - ſchrift des Finanzminiſteriums über die coburgiſche Entſchädigung, Juni 1843. Die Erzählung des Herzogs Ernſt II. (Aus meinem Leben I. 100) wirft Wahres und Falſches durch einander.Alſo verſchwand das Fürſtenthum Lichtenberg, deſſen nationales Selbſtbeſtimmungsrecht den Polen, Franzoſen und Süddeutſchen ſo viel Sorgen bereitet hatte, als Kreis St. Wendel in285Die Weſtmächte gegen die Sechs Artikel.der preußiſchen Monarchie. Der Schmuggel hörte auf, das verwahrloſte Land erholte ſich unter einer gerechten Verwaltung, und da die eine Ein - bruchsſtelle der Coburger Sechſer nunmehr geſchloſſen ward, ſo konnte der befruchtende Strom der falſchen Münzen nur noch von Coburg aus, in dünnerem Strahle über die Guldenländer hereinfluthen. Die klein - fürſtliche Souveränität hatte zum erſten male ihren Bankbruch erklärt und eingeſtehen müſſen, daß ſie in bewegter Zeit nicht einmal die nächſten Pflichten jeder Staatsgewalt zu erfüllen vermochte.

Alles in Allem war der Widerſtand, dem die Sechs Artikel begegneten, überaus ſchwächlich, und wer den Dingen näher ſtand konnte nicht ver - kennen, daß die entſchiedene Oppoſition erſt geringen Anhang beſaß. Entmuthigt zog ſich in dieſen Tagen der Jenenſer Luden aus dem Wei - mariſchen Landtage zurück, weil er eine Verwahrung gegen die Bundes - beſchlüſſe nicht durchzuſetzen vermochte. Im Auslande aber erregten die lauten Weherufe der liberalen Preſſe den Eindruck, als ob Deutſchland dem Bürgerkriege entgegentriebe. Im engliſchen Unterhauſe beantragte Henry Lytton Bulwer (2. Auguſt 1832), der König ſolle durch eine Adreſſe gebeten werden, beim Bundestage den neuen, Deutſchlands Unabhängigkeit vernichtenden Beſchlüſſen entgegenzutreten. Der feurige Redner, ein ehr - licher Freund Deutſchlands, fragte zornig, ob je eine ſolche Verletzung der heiligſten Verſprechungen erhört worden ſei? und dies in dem Ge - burtslande der Freiheit, in dem Lande Luther’s, dem auch England ſeinen geläuterten Glauben verdanke, bei den Nachkommen der Männer, denen die Freiheit des Gedankens immer als Loſungswort zum Siege gedient habe! Palmerſton antwortete behutſam ausweichend, er pries nur in all - gemeinen Redensarten den beliebten Bund aller conſtitutionellen Staaten, und auf ſeine Bitte ward der Antrag als unzeitgemäß verworfen. Nach wenigen Tagen wurde der Lord jedoch andern Sinnes. Warum ſollte er auch nicht verſuchen, wieder einmal ohne Unkoſten den hochherzigen Be - ſchützer der Völkerfreiheit zu ſpielen, durch treuherzigen Zuſpruch die deutſchen Höfe gegen einander zu hetzen und alſo die erfreuliche Ver - wirrung auf dem Feſtlande noch zu ſteigern? Ueberdies hatte der ruſſiſche Geſandte Lieven ſeine Freude über die Bundesbeſchlüſſe ausgeſprochen, und der mißtrauiſche Brite ſchloß daraus ſogleich, daß Czar Nikolaus bei den Sechs Artikeln mitgeholfen habe. *)Brockhauſen’s Bericht, 17. Aug. 1832.

Am 7. Septbr. richtete Palmerſton an die Geſandtſchaften in Deutſch - land eine Depeſche, die für England als einen Mitunterzeichner der Wiener Verträge das Recht beanſpruchte in deutſchen Bundesangelegenheiten mit - zureden. Leider entbehrte dieſe Anmaßung nicht eines ſcheinbaren Grun - des, da die elf erſten Artikel der Bundesakte allerdings in der Schluß - akte des Wiener Congreſſes ſtanden. Die liberalen Weſtmächte waren ja286IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.längſt gewohnt, je nach Umſtänden bald ſich auf die Wiener Verträge zu be - rufen bald deren Rechtsverbindlichkeit zu beſtreiten. Im Tone des beſorgten Freundes bat der Lord ſodann die deutſchen Regierungen, dem unbedachten Eifer des Bundestags einen Zügel anzulegen und die Annahme von Maß - regeln zu verhindern, welche nur allzu wahrſcheinlich zu Erſchütterungen und zum Kriege führen müßten. Zugleich warnte Lord Erskine in München dringend vor den Sechs Artikeln, namentlich vor der Bundescommiſſion, welche die Landtage überwachen ſollte. *)Küſter’s Berichte, 18. 21. Sept. 1832.Dieſe Heuchelei mußte die deutſchen Höfe um ſo widerwärtiger berühren, da der König von England ſelbſt als König von Hannover bereitwillig bei den letzten Bundesbeſchlüſſen mit - gewirkt hatte. Der ehrliche Welfe bekundete auch ſeine Unzufriedenheit mit Palmerſton’s Haltung ſo deutlich wie es einem parlamentariſchen Schattenkönige möglich war; er ſendete eben jetzt den Guelphenorden an Münch und Nagler, ausdrücklich zum Dank für ihre Verdienſte um die Sechs Artikel.

Faſt noch verdächtiger erſchien die Haltung der franzöſiſchen Diplo - maten, die überall mit den Engländern Hand in Hand gingen. Mortier in München, ein prahlſüchtiger, leichtfertiger Chauviniſt, und der junge Reinhard in Dresden wiederholten den alten Rheinbundsgenoſſen beſtändig, daß Frankreich bereit ſei, ſie wider die Tyrannei ihrer deutſchen Vor - münder zu ſchützen; Mortier unterſtand ſich ſogar gegen die Befeſtigung von Germersheim Einſpruch zu erheben. Wenn darauf Werther in Paris oder Jordan in Dresden ſich beſchwerten, dann hieß es ſtets, die jungen Diplomaten hätten ihre Weiſungen überſchritten. **)Ancillon an Küſter, 11. Juni, 25. Aug.; Jordan’s Bericht, 8. Aug., 5. Sept. 1832 u. ſ. w.Gleichwohl führte Sebaſtiani ſelbſt in ſeinen vertraulichen Unterredungen mit dem bairiſchen Geſandten ganz die nämliche Sprache wie Mortier, und ſein Amtsblatt brachte aus der Feder des alten Bonapartiſten Bignon einen Aufſatz, der die Sechs Artikel für nichtig erklärte, alle Leidenſchaften der rheinbün - diſchen Zeiten wieder aufzuwiegeln verſuchte. Und dazu das räthſelhafte Treiben der zahlreichen franzöſiſchen Agenten am Rhein, die nur zuweilen einmal auf Umwegen den deutſchen Höfen eine Warnung zukommen ließen. Sollten dieſe Leute die deutſchen Demagogen überwachen oder ihnen helfen oder auch beides zugleich thun? Niemand wußte es. Nach ſolchen Erfah - rungen hielten beide deutſche Großmächte für geboten, die engliſche Zu - dringlichkeit gründlich abzufertigen.

Als der Geſchäftsträger Abercrombie dem preußiſchen Miniſter die Depeſche Palmerſton’s vorlas, da erwiderte Ancillon mit ungewohnter Schärfe: er wolle ein - für allemal das abſichtliche oder unabſichtliche Vorur - theil zerſtören, als ob die zwei Großmächte Deutſchland beherrſchten; in Frank -287Abfertigung der Weſtmächte.furt ſeien die Sechs Artikel einmüthig beſchloſſen, dort möge England ſeine Beſchwerden vorbringen, der König von Preußen nehme ſie gar nicht an. Trotzdem erdreiſtete ſich der Engländer mit dem eigenthümlichen Zart - gefühle ſeiner Nation noch eine Abſchrift der Depeſche an Ancillon zu ſenden; ſofort ward ihm das Schriftſtück ungeleſen mit einem kurz ab - weiſenden Briefe zurückgeſchickt. *)Ancillon an Abercrombie, 24. Sept., an Brockhauſen, 24. Sept. 1832.Nunmehr wendete ſich Cathcart in Frankfurt an die Bundesgeſandten und empfing von Münch wie von Nagler die ſchroffe Antwort, daß der Bund ſich jede Einmiſchung des Auslands verbitten müſſe. Dem Dresdener Hofe dankte Ancillon warm für ſeine würdige Haltung und fügte hinzu: Die deutſchen Staaten ent - zweien um ſelbſt in Deutſchland zu herrſchen, das iſt immer Frankreichs Loſung geweſen und iſt es heute mehr denn je; denn Frankreich fühlt, daß Deutſchland, geſchloſſen, einig und in voller Uebereinſtimmung unter dem Banner des Bundes kämpfend, ſeinem mächtigen Nachbarn zum min - deſten gewachſen ſein würde. **)Ancillon an Jordan, 11. Aug. 1832.Metternich aber konnte ſich’s nicht ver - ſagen, den engliſchen Miniſter, der ſolches Unterrichts allerdings bedurfte, durch eine lange Depeſche über die Grundzüge des deutſchen Bundesrechts zu belehren (31. Oct.) und erließ ſodann noch ein Rundſchreiben an die deutſchen Höfe um ſie in ihrer guten Geſinnung zu beſtärken. Nichts über - flüſſiger als dieſe Mahnung. Dem Auslande gegenüber waren Deutſch - lands Fürſten einig; was konnten ſie auch von England hoffen? was von dem ſchwächlichen, beſtändig um’s Daſein ringenden Bürgerkönigthum?

Verbittert wie ſie war zeigte die Nation für dieſe ehrenwerthe Hal - tung ihres Fürſtenſtandes gar kein Verſtändniß. Die Ueberklugen meinten, das Alles ſei nur ein Gaukelſpiel; die Meiſten ſagten: den liberalen Weſtmächten zeigt man die Zähne, vor dem weißen Czaren kriecht man im Staube. Von der europäiſchen Politik hatten unſere liberalen Zei - tungen nicht die leiſeſte Ahnung, obgleich ſie den größten Theil ihrer Spalten dem Auslande widmeten und ſich beſtändig den Kopf anderer Völker zerbrachen; ſie redeten nur nach was die Handlungsreiſenden der Revolution, die polniſchen Flüchtlinge ihnen vorſagten. Darum glaubten ſie beſtimmt, daß Deutſchland von den Ruſſen beherrſcht werde. Und doch hatte der Czar ſich von der Berathung der Sechs Artikel ganz fern gehalten, da er auf die conſervative Geſinnung der deutſchen Großmächte zählen konnte; er hatte nur einmal durch einen freundſchaftlichen Brief den König von Baiern zur Bundestreue ermahnt, während die Weſtmächte dem Deutſchen Bunde mit ſchamloſer Anmaßung entgegentraten. Auch in der großen Politik gab Rußland keineswegs den Ausſchlag; bisher waren noch alle ſeine Kriegspläne durch Preußens Mäßigung vereitelt worden. Aber die beharrlichen Angriffe der liberalen Preſſe mußten den288IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Hochmuth des Selbſtherrſchers ſteigern; je eifriger ſie den Teufel an die Wand malte, je lauter ſie den Czaren als den Zwingherrn Mitteleuropas verläſterte, um ſo höher ſtieg ſein Anſehen in der diplomatiſchen Welt. Zum Nikolaustage gab Münch den Bundesgeſandten ein Feſtmahl und rief unter brauſendem Beifall: Lange lebe er zum Schutz und Hort der Könige, die für das Glück und Wohl ihrer Völker wachen und wirken. *)Blittersdorff’s Bericht, 22. Dec. 1832.Die in Europa längſt verbreiteten übertriebenen Vorſtellungen von Ruß - lands Macht konnten durch die maßloſe Feindſeligkeit der Polenfreunde nur verſtärkt werden. Noch einige Jahre, und der Czar erlangte wirklich die führende Stellung in dem nordiſchen Bunde, die man ihm jetzt ſchon fälſchlich zuſchrieb.

Ein ernſthafter parlamentariſcher Kampf gegen die Sechs Artikel wurde nur in einem deutſchen Lande, in Württemberg gewagt, aber viel zu ſpät und unter den denkbar ungünſtigſten Umſtänden. Als das Jahr 1833 herannahte und die verfaſſungsmäßige Friſt ablief, mußte ſich König Wil - helm endlich doch zur Einberufung des längſt gewählten Landtags ent - ſchließen. Er hatte unterdeſſen an dem neuen Juſtizminiſter Schlayer einen Mann nach ſeinem Herzen gefunden, einen ausgezeichneten Juriſten, der durch raſtloſen Fleiß aus niederem Stande emporgekommen war und ſchon in der Jugend ein abgeſagter Feind der Altrechtler, durch und durch moderner Bureaukrat, beredt, heftig, ſchlagfertig, geſchäftskundig, alsbald ſeinen Entſchluß ausſprach die Oppoſition mit eiſerner Strenge niederzu - halten. Ebenſo wenig wie Schlayer verſtanden Maucler und der durch ſeinen Nepotismus berüchtigte Miniſter Hügel ſich die Herzen der Schwaben zu gewinnen.

Die Geſinnung der Regierung ward ſchon offenbar, als Wangenheim an den Vorbeſprechungen der liberalen Abgeordneten theilnahm. Der König ſah in dieſer Haltung ſeines vormaligen Miniſters nur ſchwarzen Undank, nachdem er ihm ſoeben ſelbſt das Staatsbürgerrecht gnädig erneuert hatte**)Vgl. IV. 240., und plötzlich erklärten die Behörden, zur Ueberraſchung der arg - loſen Wähler, daß Wangenheim nicht wählbar ſei, weil er nicht im König - reiche wohne; ſie beriefen ſich auf einen allerdings übel gerathenen und nicht ganz unanfechtbaren Satz der Verfaſſungsurkunde. Wangenheim fiel aus allen ſeinen Himmeln. Er hatte ſich, wie dem Könige wohl bekannt war, ſein Staatsbürgerrecht nur darum beſtätigen laſſen, weil er in den Landtag eintreten wollte; da ward ihm unverſehens ein Bein geſtellt und die Wählbarkeit beſtritten. Mit Aufwendung aller ſeiner dialektiſchen Künſte verſuchte er dann die Giltigkeit ſeiner Wahl zu vertheidigen; er veröffentlichte eine umfängliche Schrift darüber und ſcheute ſich nicht, eine Stelle aus einem vertraulichen Briefe des Königs abzudrucken. Nun289Der Vergebliche Landtag in Württemberg.brauſte König Wilhelm auf, gab dem Vertrauensbrecher ſeine ganze Indignation zu erkennen und ſagte zum Schluß: Ebenſo unangenehm ſind mir die Lobſprüche geweſen, die Sie über denjenigen Theil meines Briefes, den Sie nicht abgedruckt haben, beigefügt haben, indem unter den wirklichen Zeitumſtänden jedes günſtige Urtheil eines Mannes, der zu einer Partei gehört, zu der Sie Sich öffentlich bekannt haben, für mich nur höchſt beleidigend ſein kann. Mit ſo ſchnöden Worten gab der Schwaben - könig den Liberalen den Laufpaß. Für jetzt blieb dieſe Kriegserklärung noch geheim; denn Wangenheim, der ſeine eigene Schuld durchaus nicht einſehen wollte, meinte ſtolz: das Mitleid forderte, dem unköniglichen Schreiben keine Oeffentlichkeit zu geben, und die Verachtung forderte, nichts darauf zu erwidern. *)K. Wilhelm an Wangenheim, 9. Sept. Wangenheim an Hartmann, 27. Sept. 1832. S. Beilage 21.

Bald genug ſollte der Landtag ſelbſt erfahren, daß der König ſeine politiſchen Gegner wie perſönliche Feinde betrachtete. Es war Brauch in Schwaben, daß die neuen Abgeordneten den Verfaſſungseid in die Hand des Königs ablegten. Unter den Neugewählten befand ſich aber Paul Pfizer. Der war ſoeben aus dem Staatsdienſt ausgetreten, weil ihn ſeine Vorgeſetzten wegen des Briefwechſels zweier Deutſchen zur Rechenſchaft zogen. Um keinen Preis wollte König Wilhelm ſeine Hand dieſem Ver - haßten reichen, der dem Hauſe Württemberg zugemuthet hatte, ſich den Hohenzollern unterzuordnen. Pfizer wurde daher unter der Hand auf - gefordert bei der Eröffnungsſitzung wegzubleiben. Zu einer ſo ſchimpflichen Demüthigung konnte ſich der beſcheidene junge Abgeordnete doch nicht ent - ſchließen, ein unmittelbarer Befehl des Königs war ihm gar nicht zuge - kommen. So vollzog ſich denn ſchon die Eröffnung der Ständeverſammlung unter böſen Anzeichen (15. Januar 1833). Der gefürchtete junge Liberale erſchien, aber die angekündigte feierliche Auffahrt des Monarchen ward in letzter Stunde abgeſagt, und ſtatt ſeiner vereidigte ein Miniſter die Volks - vertreter. **)Küſter’s Bericht, 15. Jan. 1833.Alsbald folgten heftige Verhandlungen über die Wahlen. Wangenheim’s Wahl ward von einer ſchwachen Mehrheit für ungiltig erklärt, und dem Ausgeſtoßenen blieb nur die Genugthuung, daß jetzt alle Parteien wetteifernd ſeine Verdienſte um die Begründung der Verfaſſung anerkannten. Selbſt ſein alter Gegner Uhland ſagte: Giebt es nicht auch ein geiſtiges Heimathsrecht, das nicht ganz von der Scholle abhängt? Iſt es nicht auch ein Wohnen im Lande, wenn man im Angedenken ſeiner Bewohner lebt und dann durch ihr Vertrauen zur Repräſentation berufen wurde?

Das Schickſal des entlaſſenen Miniſters theilten vier andere Abge - ordnete, welche vor Jahren wegen demagogiſcher Umtriebe auf dem Hohen -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 19290IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.asperg geſeſſen und dann vom Könige vollſtändige Begnadigung erlangt hatten. Mit gutem Grunde behaupteten nun die Liberalen, durch die Wiederherſtellung ihrer bürgerlichen Ehre ſei den Vier auch die Wählbarkeit zurückgegeben worden. Der nachtragende König aber wollte ſich lieber die Prärogative ſeiner Krone ſelbſt beſchränken als dieſe vier, perſönlich höchſt achtbaren, Männer in die Kammer einlaſſen; er drohte mit ſofortiger Auflöſung des Landtages*)Küſter’s Bericht, 20. Jan. 1833., und wie oft hatte er ſich doch in früheren Zeiten gerühmt, daß die Demagogen nirgends ſo mild behandelt würden wie in Schwaben! In der That erreichten Miniſter Schlayer und ſeine Getreuen durch eine kühne juriſtiſche Beweisführung, daß die vier Dema - gogen ausgeſchloſſen wurden; denn nach dem Buchſtaben der Verfaſſung könne im Landtage Niemand ſitzen, der jemals eine verſchärfte Feſtungs - haft verbüßt habe, daran vermöge ſelbſt die Gnade des Königs nichts zu ändern. Es war ein Stück verkehrter Welt: die Oppoſition vertheidigte, die Miniſter beſtritten das unbeſchränkte Begnadigungsrecht des Mon - archen, und mächtig klangen im Lande die mahnenden Worte Uhland’s wieder: in den unerfüllten Wünſchen der Völker, in den unwirkſamen deutſchen Verfaſſungen liegt ein Keim tiefgehender Bitterkeit für das reifere Alter wie für die Jugend. Salviati ſogar, der preußiſche Ge - ſandte, fand es unbegreiflich, daß die Regierung alſo, in blindem Partei - haß, ſich ſelber ins Fleiſch ſchnitt.

Aber auch die Liberalen begingen, fortgeriſſen durch eine ehrenwerthe patriotiſche Leidenſchaft, Fehler auf Fehler. Mit flammenden Worten verlangte Schott die Preßfreiheit für ſeine Schwaben, erklärte die Karls - bader Beſchlüſſe für nichtig und pries das ruhigſte Land der Welt, Nord - amerika, das mit ſeiner freien Preſſe ſich des wundervollen Rufes poli - tiſcher Glückſeligkeit erfreue. Die Abgeordneten drängten ſich um den Redner, der tief erregt inmitten des Saales ſtand, von den Gallerien erdröhnte rauſchender Beifall; doch die Miniſterbank war leer, und wer konnte auch für möglich halten, daß Württemberg heute noch, nachdem das badiſche Preßgeſetz ſchon von Bundeswegen aufgehoben war, dem bedenk - lichen Beiſpiele des Nachbarlandes folgen würde? Immer ſchärfer traten die Parteien auseinander; ſchon rief die Württembergiſche Zeitung, jetzt ſei die Lage geklärt, jetzt heiße es einfach: wir und ihr! Die Stuttgarter Bürgerſchaft war ſeit zwei Jahren nicht aus der Aufregung herausgekommen, ſelbſt die kleinen perſönlichen und örtlichen Händel in den Tagesblättern wurden mit erbitterter Heftigkeit geführt; nun begann auch allerhand grober Straßenunfug. Da ließ der König die Drohung fallen, er werde das Hoflager in das Trutz-Stuttgart ſeiner Ahnen, nach Ludwigsburg verlegen. Kaum war dies ruchbar, ſo begannen die Bürger ſchon für ihren Erwerb zu zittern und überreichten dem erzürnten Monarchen eine mit 1600 Unter -291Pfizer’s Motion.ſchriften bedeckte demüthige Adreſſe. Er ließ die Abgeſandten hart an, ſprach von einer wohlbekannten Rotte, die das undeutſche Weſen in Schwaben einbürgern wolle, und verhieß nur, daß ſeine Entſchließung von dem Wohlverhalten der Stadt abhängen werde.

Unterdeſſen hatte die Oppoſition ſich zur Hauptſchlacht gerüſtet. Pfizer übernahm den erſten Stoß zu führen nicht zu ſeinem Glücke, denn ſolche weitſichtige Prophetennaturen werden im wimmelnden Gewühl der kleinen Tagespolitik leicht in falſche Stellungen gedrängt. Am 13. Fe - bruar brachte er eine Motion ein, die ſofort als Flugſchrift gedruckt wurde, da die Cenſoren den Zeitungen den Druck unterſagten, und weithin im conſtitutionellen Deutſchland großes Aufſehen erregte. Die Motion verlangte geradeswegs, die Sechs Artikel ſollten für unverbindlich erklärt werden, bis die Regierung ſich mit ihren Landſtänden und dem Bundes - tage über andere Beſchlüſſe verſtändigt hätte. Pfizer’s Rede war meiſter - haft, gedankenreich und voll edler Leidenſchaft, aber der Antrag ſelbſt ganz unhaltbar und nicht einmal durch die Noth entſchuldigt. Daß die Sechs Artikel der Landesverfaſſung geradezu widerſprächen, wagte der Redner ſelbſt nicht zu behaupten; er ſagte nur: ſie tragen in ſich die Fähigkeit den Staatsvertrag abzuändern. Nun hatte der König erſt vor Kurzem feierlich verſprochen, daß er die Bundesbeſchlüſſe nie mißbrauchen werde, und ſeine Zuſage bisher redlich gehalten; er mußte alſo in der Motion eine abſichtliche Beleidigung ſehen, obwohl Pfizer über ihn perſönlich mit Ehrfurcht redete. Und welch ein grober Particularismus ſprach aus dem Antrage. Wie heillos verfahren und verſchroben war die deutſche Politik, wenn dieſer Bewunderer Preußens, dieſer Vorkämpfer der nationalen Ein - heit, der über die Nichtigkeit der kleinen Landtage ſo ſcharf und treffend urtheilte, jetzt die württembergiſche Verfaſſung kurzerhand über das Bundes - recht ſtellte! Er empfand auch ſelbſt den Widerſpruch, er fühlte, daß er nur als Vertreter des Liberalismus unter ſeinen Landsleuten Anſehen gewinnen konnte, und geſtand offen: Ich wollte diejenigen, welche mich falſch beurtheilen, überzeugen, daß die Einheit Deutſchlands, welche ich wünſche, die Einheit des Rechtes und der Freiheit iſt, und daß ich die Einheit des geſammten Deutſchlands nicht um den Preis der Unterdrückung und Vernichtung der einzelnen deutſchen Länder erkauft wiſſen möchte. So lange die deutſchen Staaten ſouverän waren und ein deutſcher Reichstag nicht beſtand, durften die Landtage mit Recht verlangen, daß die Miniſter ihnen nöthigenfalls auch wegen der nach Frankfurt erlaſſenen Weiſungen Rede ſtehen müßten; aber Pfizer ging weiter, er wollte die Bundesgeſandten Württembergs nur dann als rechtmäßige Vertreter des Landes gelten laſſen, wenn ihnen ihre Aufträge mit Zuſtimmung der Landſtände ertheilt würden. Das hieß die deutſche Centralgewalt den Befehlen eines Dutzends kleiner Landtage unterwerfen, und erſchien um ſo gefährlicher, da Pfizer ſogar das allen Bundesfürſten theuere monarchiſche Princip der Bundes -19*292IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.geſetze als widerrechtlich angriff. Am Hofe war die Entrüſtung maßlos, und Schlayer zeigte ſich gern bereit, dem Zorne des Monarchen über den vermeſſenen Antrag einen unerhört harten Ausdruck zu geben.

Nach einigen Tagen wurde die Kammer durch eine königliche Bot - ſchaft aufgefordert, mit Rückſicht auf die Würde des Königs und ſeiner Bundesgenoſſen die Motion mit verdientem Unwillen zu verwerfen . Dieſe Sprache klang ſogar vielen Anhängern der Regierung, auch dem preu - ßiſchen Geſandten, allzu ſtark, und die Oppoſition, die bisher nur über eine ſtarke Minderzahl geboten hatte, gewann plötzlich die Mehrheit. Nach - dem Pfizer mit würdigen Worten ſich vertheidigt hatte, erklärte die Kammer in einer Adreſſe, die aus Uhland’s Feder ſtammte, daß ſie ihre eigene Freiheit und die Unverantwortlichkeit ihrer Mitglieder feierlich verwahren müſſe gegen die vorgreifende Einſchreitung in den gemeſſenen Gang un - ſerer Verhandlungen, eine Einſchreitung, wodurch uns für die erwartete Beſchlußnahme ſelbſt die Gemüthsſtimmung angeſonnen wird. Neun Tage nachher, am 22. März, erfolgte die Auflöſung des Landtags, unter allen Zeichen der Ungnade, und der König ſagte zu dem öſterreichiſchen Geſandten: einmal wolle er es noch mit einer Kammer verſuchen, doch ſcheine es faſt unmöglich mit dieſen Leuten zu regieren. *)Salviati’s Bericht, 23. März 1833.

Der vergebliche Landtag, wie das Volk ihn fortan nannte, über - ſtrahlte mit dem Glanze ſeiner Beredſamkeit alle anderen Ständever - ſammlungen Württembergs; doch er ſchritt zum Angriff wo eine ſchlichte Rechtsverwahrung vollauf genügte, er verbiß ſich in dieſen Kampf mit einem Eigenſinne, der lebhaft an die Haltung der Altrechtler erinnerte, und für die Wohlfahrt des Landes leiſtete er nichts. Ueber den Angriffen auf den Bundestag, über einer Fülle hochpolitiſcher Motionen wurde ſelbſt das verſtändige Ablöſungsgeſetz, das die Regierung zum Schrecken der Grundherren vorgelegt hatte, faſt vergeſſen. Nicht ohne Geſchick wendete ſich eine Flugſchrift Der vergebliche Landtag Württembergs im Jahre 1833 , die vom Hofe aus zur Vorbereitung der Neuwahlen verbreitet wurde, an den praktiſchen Verſtand der kleinen Leute und verglich die Unfruchtbarkeit dieſer landſtändiſchen Verhandlungen mit allen den unbe - ſtreitbaren Wohlthaten, welche die ſparſame, geordnete Verwaltung dieſer fünfzehn Jahre dem Lande gebracht hatte. Den Gegnern ſuchte man mit allen Mitteln die Vertheidigung zu erſchweren; gegen eine Schrift des nach Straßburg entflohenen Liberalen Elsner wurden ſchon im Voraus poli - zeiliche Maßregeln getroffen, weil ſie vorausſichtlich in entſchieden revolu - tionärem Sinne gehalten ſein würde. **)Beroldingen, Weiſung an Bismarck, 29. März 1833.Auch auf den Beiſtand der beiden Großmächte konnte die Regierung zählen. Der König von Preußen nahm, minder gerecht als ſein Geſandter, an der leidenſchaftlichen Heftigkeit293Flugſchriften der Radicalen.ihres Verfahrens gar keinen Anſtoß und ließ ihrer Weisheit ſeinen vollen Beifall ausſprechen. *)Ancillon, Weiſung an Salviati, 31. März 1833.

So war der letzte Sturm auf die Sechs Artikel abgeſchlagen. Nur die Wiſſenſchaft ſtritt ſich noch lange über die rechtlichen Grenzen der Bundesgewalt. Viele namhafte Publiciſten betheiligten ſich an dieſen Käm - pfen: Wangenheim, K. H. Hofmann und Gruben, Pfizer ſelbſt und ſeine Landsleute Wurm und Reyſcher. Aber feſte rechtliche Grundſätze wußte Niemand zu finden, denn ſie waren unfindbar. Die Theorie des Bundes - rechts mußte ebenſo unfruchtbar bleiben wie die praktiſche Bundespolitik. Der Widerſpruch zwiſchen der abſolutiſtiſchen Centralgewalt und den land - ſtändiſchen Verfaſſungen der Gliederſtaaten ließ ſich durch wohlgemeinte Doctrinen nicht löſen, und ſeit der Bundestag ſich in eine geſammtdeutſche Polizeibehörde verwandelt hatte, kamen alle Grundgedanken des Bundes - rechts ins Schwanken. Für einen Staatenbund konnte dieſe Foederation kaum noch gelten, und ebenſo gewiß war ſie kein geordneter Bundesſtaat.

Extreme Parteien verfallen ſelten in Kleinmuth ſobald ſie ſich in einer ausſichtsloſen Minderheit ſehen; die Regel iſt, daß ſie durch das Gefühl ihrer Schwäche zu keckeren Reden, zu dreiſteren Wagniſſen auf - geſtachelt werden. Je weniger die Liberalen mit ihrem Einſpruch gegen die Sechs Artikel ausrichteten, um ſo ſchärfer ſonderte ſich die kleine radi - cale Partei von ihnen ab; ſie ſchaute mit Hohn auf den geſetzlichen Wider - ſtand und baute nur noch auf die Macht der Fauſt. Derweil Wirth, Miller und andere Feſtgenoſſen durch prahleriſche Schilderungen der großen Volksfeier den Hambacher Geiſt wach zu halten ſuchten, warfen die Straßburger Drucker immer neue Brandſchriften über den Rhein: die Neue Welt, die Hausbibliothek für das deutſche Volk und ähnliche Mach - werke, die ſich alleſammt in unfläthigen Schimpfreden gegen die Eſels - ſtreiche der deutſchen Fürſten ergingen und den nahe bevorſtehenden Kampf ankündigten. In gleichem Sinne ſprachen der Raſtatter Garnier und der anoyme Verfaſſer der Flugſchrift das betrogene Baden . Sauerwein in Frankfurt ſchrieb ein ABCBuch der Freiheit in jenem jüdiſch witzeln - den Stile, der durch Heine und Börne in die Mode gekommen war; er ſchloß mit einer Verherrlichung der rothen Mütze. Ein in der Frank - furter Gegend verbreitetes Flugblatt Empörung von Herold kündigte den Gemäßigten offen den Frieden auf: Alle Bücher und Reden über Reform, Legalität und geſetzlichen Weg ſind blos gelehrte hochſtiliſirte Feig - heit. Während die promovirten Philiſter Toaſte brachten auf Fürſtenwort und Bürgerfreundlichkeit, haben die gekrönten Meuchler Ränke geſchmiedet, Dolche geſchliffen, Gift gemiſcht und Mörder gedungen: Wiener Diplo -294IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.matenſtücke, Berliner Cabinetsbeſchlüſſe, Frankfurter Protokolle, Potsdamer Kaſernenpuppen und öſterreichiſche Soldknechte. Aber wir waren darauf gefaßt. Die große Oper: Volksrache! wird aufgeführt in allen Reſidenzen, und in Frankfurt die Ouvertüre. Von Mund zu Mund geht jetzt ein kräftiger Wort, als alle Landtagskammern und Zeitungsblätter uns liefer - ten: Fürſten zum Land hinaus! Das iſt die große Parole, und unſer einzig Gebet iſt: Herr, gieb uns unſer täglich Schrot! Auf laßt uns be - ginnen! Der Herr hat uns zu Schnittern gemacht, die giftigen Königs - blumen abzumähen!

Was Herold in wüſten Drohungen herauspolterte, war nur der kräftige Widerhall jener radicalen Schlagworte, mit denen Börne in ſeinen Pariſer Briefen um ſich warf; der war jetzt ſchon ſo weit, daß er in ſeiner hämiſchen Weiſe den ehrlichen Rotteck für eine alte Vettel erklärte, die nur den Demagogen ſpiele um ihren ſchlechten Büchern Abſatz zu verſchaffen. Gewandter aber noch frecher redete Heine in dem Vorworte zu ſeinen Franzöſiſchen Zuſtänden . Erſtaunlich, wie dieſer vaterlands - loſe Jude gleich einem Chamäleon beſtändig die Farbe wechſelte, ohne ſeine angeſtammte orientaliſche Eigenart jemals aufzugeben. Wie er einſt den Glauben ſeines Volks verlaſſen und gleichwohl beharrlich den verfolgten Juden geſpielt hatte, ſo ward er jetzt durch die Diners, die Griſetten und die Zeitungsphraſen der Pariſer dermaßen bezaubert, daß er ſich gänzlich in einen Franzoſen verwandelte; er ließ fortan ſeine Schriften meiſt in beiden Sprachen zugleich erſcheinen und lebte ſich in die wälſche Empfindungsweiſe ſo gelehrig ein, daß Thiers ihn mit Recht den geiſt - reichſten Franzoſen ſeiner Zeit nennen konnte. Dabei bewahrte er doch in dem ſtillen Winkel ſeines Herzens, der noch deutſch geblieben war, die Sehnſucht nach dem Traumlande ſeiner Jugend und meinte ſich noch immer berechtigt als Deutſcher zu ſeinem verrathenen Heimathlande zu reden. Ueber dieſe grandioſe Stadt, wo alle Tage ein Stück Weltgeſchichte tragirt wird , redete er mit einer knechtiſchen Unterthänigkeit, als ob jeder Pariſer Lumpenſammler die Blüthe der Menſchheit darſtellte; ſachlich wußte er freilich nichts weiter vorzubringen, als ſeichtes Feuilleton - geſchwätz und die landesüblichen thörichten Schmähungen gegen die Politik Caſimir Perier’s. Auch unſere heimiſche Miſere betrachtete er durch die Brille der Pariſer Radicalen. Während die franzöſiſche Preſſe Tag für Tag nach den natürlichen Grenzen verlangte, und die deutſchen Patrioten, mit Ausnahme einer Handvoll legitimiſtiſcher Heißſporne, ſchlech - terdings nur an die Vertheidigung ihrer vaterländiſchen Grenzen dachten, ſtellte Heine mit gewohnter Verlogenheit die Dinge auf den Kopf: er ſchilderte dies unſchuldige, friedfertige Frankreich, wie es beſtändig durch den künſtlich aufgeſtachelten Nationalhaß der dummen Teutonen bedroht würde, und wollte auf der Welt keine Nationen mehr ſehen, ſondern nur noch zwei Parteien: die Ariſtokratie und die Partei der Vernunft. Das295Heine’s Franzöſiſche Zuſtände.Alles freilich unter der ſtillſchweigenden Vorausſetzung, daß zuvor Preußen zerſchlagen und das linke Rheinufer an Frankreich abgetreten würde. Die deplorablen Sechs Artikel erklärte er feierlichſt für null und nichtig ; das ſittliche Pathos ſtand ihm aber ſo ſchlecht zu Geſicht, daß die Leſer zweifeln mußten, ob hier der Schalksnarr oder der Volkstribun rede.

Um ſo lebendiger erklangen ſeine rohen Schimpfreden wider den preußiſchen Eſel, der im Befreiungskriege dem ſterbenden Löwen den letzten Fußtritt gegeben habe. Das war unverkennbar die Sprache des Herzens. Heine’s alter Haß gegen Preußen hatte ſich in der Pariſer Luft bis zur blöden Wuth geſteigert, denn er ahnte insgeheim, daß die begehrlichen Träume ſeiner Franzoſen keinen ärgeren Feind zu fürchten hatten als den preußiſchen Degen. Darum wurden alle die Männer, die in den letzten Jahren ihre preußiſche Staatsgeſinnung offen bekundet hatten, mit Koth beworfen: Hegel, Arndt, Schleiermacher, Stägemann, auch der arme Ranke, ein hübſches Talent, gemüthlich wie Hammelfleiſch mit Tel - tower Rübchen ; ihnen alleſammt ſchleuderte Heine den Vorwurf der Feil - heit zu, da er Andere nur nach ſeinem eigenen Charakter zu beurtheilen vermochte. Den langfingerigen Hohenzollern weiſſagte er mit der Seher - kraft des Dichters ſtatt der erſehnten Krone Karl’s des Großen vielmehr das Schickſal Karl’s X. von Frankreich oder Karl’s von Braunſchweig, und über einen deutſch-franzöſiſchen Krieg urtheilte er alſo: Sollte ſich das Entſetzliche begeben, und Frankreich, das Mutterland der Civiliſation und der Freiheit, ginge verloren durch Leichtſinn und Verrath, und die potsdämiſche Junkerſprache ſchnarrte wieder durch die Straßen von Paris, und ſchmutzige Teutonenſtiefeln befleckten wieder den heiligen Boden der Boulevards, und das Palais Royal röche wieder nach Juchten dann würden alle Flüche der Menſchheit den Urheber ſolchen Verderbens treffen.

Die Vorrede dieſes Buchs, die ſich durch ihren pöbelhaften Ton be - ſonders auszeichnete, wurde in zahlreichen Sonderabdrücken in der Mainzer Gegend verbreitet, um die Rheinheſſen gegen Preußen aufzuwiegeln, und fand auch viele bewundernde Leſer; das internationale Judenthum zog ja offenbar die letzten unabweisbaren Folgerungen aus jener Lehre Rotteck’s, welche die europäiſche Welt in die beiden Völker der Freiſinnigen und der Knechtiſch - geſinnten eintheilte. Weltbürgerliche Träume, phantaſtiſche Hoffnungen auf eine allgemeine Revolution, auf die Verbrüderung aller freien Völker ver - fälſchten und verdunkelten das Idealbild der nationalen Einheit. Auch die deutſche Demokratie wurde jetzt hineingezogen in das Netz revolutionärer Geheimbünde, das die romaniſchen Länder längſt überſpannte. Während der zwanziger Jahre hatten nur vereinzelte deutſche Radicale mit Lafayette’s geheimnißvollem Comité directeur ihre Gedanken ausgetauſcht; nun erſt ward dieſer Verkehr lebhafter, ſeit die polniſchen Flüchtlinge ihm als na - türliche Vermittler dienten. General Bem in Dresden unterhielt einen ge - heimen Briefwechſel mit Cornelius, Siebenpfeiffer und anderen Radicalen des296IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Südens; ſeine Hoffnung war, die tödlich gehaßte preußiſche Regierung durch einen unabläſſigen kleinen Krieg zu ermüden. *)Frankenberg’s Bericht, Berlin 17. März 1832.Der neugebildete deutſche Preßverein zu Paris ſtand in Verbindung mit der Geſellſchaft der Menſchen - rechte, mit den Straßburger Amis du peuple, mit Lelewel’s polniſchem Na - tionalcomité, mit jenem großen Depot polniſcher Krieger, das die franzö - ſiſche Regierung freundnachbarlich in Beſançon, nahe der deutſchen Grenze eingerichtet hatte.

Und ſchon verſuchte der größte, kühnſte, edelſte aller internationalen Demagogen, der Genueſe Giuſeppe Mazzini ſeine ſtarken Hände auch nach den deutſchen Radicalen auszuſtrecken. Seit einiger Zeit war dieſer echte Landsmann Machiavelli’s die Verzweiflung aller Polizeibehörden des Feſtlands; wie ein Aal glitt er ihnen zwiſchen den Fingern durch; überall trieb er ſein Weſen, neuerdings in Paris unter dem Namen Strozzi. Mit der glühenden Inbrunſt des Myſtikers glaubte er an die gottgewollte Volksherrſchaft überall auf Erden; die Jugend ſollte dieſer Teo-Democrazia zum Siege verhelfen, mit jedem Mittel des Aufruhrs, des Mordes, der Lüge. Es iſt weſentlich ſo ſchrieb er dem Badener Garnier daß die Jugend die Geſchicke der Menſchheit in die Hand nimmt, denn ſie allein beſitzt Kraft, Ausdauer, Begeiſterung, ſie allein iſt fähig aus der Freiheit eine Religion zu machen. Von Marſeille aus hatte er bereits den Geheimbund des Jungen Italiens geſtiftet, der mit der wohlgegliederten Hierarchie ſeiner Ordinatoren und Propagatoren ſchon mehrere Städte der Halbinſel beherrſchte; ein Junges Polen war in der Bildung begriffen, nun ſollten auch die deutſchen Unzufriedenen für ein Junges Deutſchland angeworden werden und ſo weiter, bis endlich das vereinigte Junge Europa Macht gegen Macht den Cabinetten trotzen könne. **)Strozzi (Mazzini) an Garnier, Paris 17. Febr. 1833.

Die deutſchen Regierungen vermochten nur ſelten eines Fadens aus dieſen Geſpinnſten habhaft zu werden; was ſie erfuhren genügte immerhin, um ihr Mißtrauen gegen den Pariſer Hof zu verſchärfen. Große Erfolge der radicalen Propaganda konnte Ludwig Philipp unmöglich wünſchen, weil er für ſeinen Bürgerthron zittern mußte. Als er einmal einen Mord - anſchlag italieniſcher Demagogen gegen ſein eigenes Leben befürchtete, bat er die Wiener Hofburg unbedenklich um ihren Beiſtand. Gleichwohl blieb Frankreich das große Aſyl des Radicalismus. Gedrängt durch die öffentliche Meinung, eröffnete der Bürgerkönig, wie Caſimir Perier bitter ſagte, allen Revolutionen ein Conto-Current . Tauſende von Flüchtlingen lebten in Paris und den Provinzen; die Regierung überwachte ſie, gewährte ihnen aber auch Millionen zur Unterſtützung. Namentlich die deutſchen Flüchtlinge erfreuten ſich ihrer Gunſt. Man wußte im Palais Royal merkwürdig genauen Beſcheid über die demagogiſchen Umtriebe jenſeits des Rheines,297Verſchwörungen der Radicalen.und der letzte Zweifel mußte ſchwinden, als den deutſchen Behörden zwei geheime Rundſchreiben aus dem franzöſiſchen Miniſterium des Innern in die Hände fielen. Das eine beauftragte die geheimen Agenten Frankreichs in Berlin und ſieben weſtdeutſchen Städten, eine Liſte der franzöſiſch ge - ſinnten Oppoſitionsmänner, nebſt Angabe ihrer Vermögensverhältniſſe, ein - zuſenden. Das andere befahl den Präfecten der Departements an der Oſtgrenze, die deutſchen Flüchtlinge mit Achtung und Nachſicht, milder als die polniſchen, zu behandeln, die bedürftigen zu unterſtützen, ihren Brief - wechſel und den Verkehr ihrer Fußboten mit der Heimath nicht zu ſtören; denn die Deutſchen ſind wenig geneigt, Verwirrung und Zwietracht in fremde Länder zu tragen; die beſtändig von ihnen angeſtellte Vergleichung zwiſchen dem krankhaften, gebrechlichen politiſchen Zuſtande ihres Landes und dem Zuſtande Frankreichs iſt der Grund und die Veranlaſſung des Hambacher Feſtes ſowie der ſpäteren Unruhen. *)Rundſchreiben des franz. Miniſters des Innern an die Agenten in Luxemburg, Frankfurt, Stuttgart, Karlsruhe, Kaſſel, Berlin, Coblenz, Zweibrücken, 14. Sept.; an die Präfecten der Moſel, des Ober - und Niederrheins, 2. Sept. 1832.Der franzöſiſche Conſul Engelhardt in Mainz, ein erklärter Chauviniſt, unterhielt einen ſo ver - dächtigen Verkehr mit den zahlreichen Radicalen der Stadt, daß die preußiſche Regierung beſorgt wurde und am Bundestage vorſchlug, man ſolle fortan in der gefährdeten Bundesfeſtung nur deutſche Conſuln dulden; der Groß - herzog von Heſſen ſcheute ſich jedoch die Franzoſen zu beleidigen. **)Ancillon, Weiſung an Maltzahn, 11. Nov. 1833.

Von einem ſolchen Nachbarn konnte der Bundestag wenig Beiſtand erwarten. Zum Glück waren aber die deutſchen Geheimbündler unter allen Theilnehmern der internationalen Verſchwörung weitaus die unge - fährlichſten. Der rechtſchaffene Gradſinn der Deutſchen konnte ſich mit dieſem unterirdiſchen Treiben nicht befreunden. An Rotteck, Uhland und die ſchwäbiſchen Liberalen wagten ſich die Verſchwörer kaum heran, weil man ihren geſetzlichen Sinn kannte. Als Welcker einmal auf der Reiſe in den Kreis der Demagogen gerieth, ſprach er ſeinen Abſcheu vor allen geheimen Vereinen nachdrücklich aus. Sylveſter Jordan wurde von den Sendboten der Verſchwörer häufig beſucht, weil ſie glaubten, daß er alle Kurheſſen wie am Schnürle habe , und erfuhr wahrſcheinlich Manches von ihren Plänen; zur Theilnahme ließ auch er ſich nicht bewegen. Selbſt Rector Weidig in Butzbach, der einzige angeſehene Mann unter den Ein - geweihten, zog ſich bald zurück und warnte die Genoſſen vor dem unmög - lichen Unternehmen. So beſchränkte ſich der Kreis der Verſchworenen auf eine Handvoll Demagogen des gemeinen Schlags und auf einige jener unſeligen Phantaſten, die ſich ſo lange in ihr eigenes Lügengewebe ein - ſpinnen, bis ſie nicht mehr wiſſen, ob ſie ſich ſelber oder Andere betrügen.

Da war in Ludwigsburg ein radicaler Leutnant Koſeritz, der durch Geld und glatte Worte einige Unteroffiziere gewonnen hatte; mit Hilfe dieſer298IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Leute dachte er die Garniſon aufzuwiegeln und dann vielleicht den König Wilhelm ſelbſt zum Freiheitskampfe fortzureißen. Der Stuttgarter Buch - händler Franckh erzählte ihm Wunderdinge von einer Pariſer geheimen Ge - ſellſchaft, die ſchon ſeit 1786 beſtehe, einen Robespierre zu ihren Genoſſen gezählt und alle europäiſchen Revolutionen ſeitdem veranlaßt habe. *)Berichte des Gouverneurs von Ludwigsburg über das Verhör des Lt. Koſeritz, 25. Mai 1833 ff.Er verſicherte zugleich, in Beſançon ſtänden 400 Polen bereit, durch die Schweiz in Baden einzubrechen, am Bodenſee weilten ſchon zwanzig pol - niſche Offiziere, die den Aufruhr im Schwarzwald leiten ſollten. In der That hatte ein anderer Verſchwörer, der Frankfurter Dr. Gärth inzwiſchen mit dieſen Polen unterhandelt und ſie zu jeder Tollheit willig gefunden. Am rührigſten unter Allen zeigte ſich Rauſchenplatt; er machte ſeinem Kater-Namen Ehre, tauchte bald hier bald dort in den mitteldeutſchen Städten auf und verſchwand ſpurlos, ſobald die Häſcher den längſt ſteck - brieflich Verfolgten ergreifen wollten. Man hoffte im Frühjahr 1833 an mehreren Stellen zugleich loszubrechen; der erſte Schlag ſollte in Frank - furt fallen, weil der Bundestag zuerſt einer Züchtigung bedurfte und weil die radicale Partei dort in den Maingegenden auf einen ſtarken Anhang rechnete. In Homburg beſaß ſie an den Brüdern Breidenſtein zwei thätige Helfer, in der Wetterau hatte ſich Weidig einen Stamm gläubiger Schüler erzogen; in dem Gießener Leſevereine gaben der Anwalt Paul Follen, der Bruder Karl’s, und deſſen Verwandter, der junge Naturforſcher Karl Vogt den Ton an; in Naſſau verwünſchte Jedermann den allmächtigen Mi - niſter Marſchall; im Odenwalde murrten die Bauern der Standesherr - ſchaften über die doppelte Steuerlaſt.

In Frankfurt ſelbſt zeigten ſich die kleinen Leute ebenfalls erbittert. Sie hatten nach der großen Woche durch Flugſchriften und Petitionen um Preßfreiheit und Oeffentlichkeit ihres geſetzgebenden Körpers, aber auch nach Pfahlbürgerbrauch um kräftigen Nahrungs - und Gewerbsſchutz gegen das deutſche Ausland gebeten und im Herbſt 1831 ſogar ein kleines Nachſpiel der Juli-Revolution aufgeführt, weil die Thorſperre während der Weinleſe gar ſo ſtreng eingehalten wurde. Dabei war Blut gefloſſen, und ſeitdem wurde auf die Roheit der Linienſoldaten, auf die zugleich ſchlaffe und hochmüthige Vetternherrſchaft der Römerherren , wie man die Senatoren nannte, weidlich geſchimpft. Von den jungen Männern der gebildeten Stände gehörten einige zu dem verbotenen Preßvereine, der jetzt unter den Augen des Bundestags ſein geheimes Hauptquartier auf - geſchlagen hatte und in kräftigen Flugſchriften beharrlich erklärte: die Fürſten hätten ihr Wort gebrochen, folglich ſei das Volk auch ſeiner Eide entbunden. Aus ſolchen Anzeichen einer allerdings vorhandenen, aber ganz ohnmächtigen Mißſtimmung ſchloſſen nun Rauſchenplatt und ſeine Leute, daß ein glücklicher299Die Burſchentage.Handſtreich in Frankfurt ſofort den Aufruhr in der ganzen Nachbarſchaft entflammen müſſe. Was dann werden ſollte eine Bundesrepublik oder nur ein deutſches Parlament? darüber ward allem Anſchein nach nie ernſtlich verhandelt, obwohl Einzelne bereits eine Liſte der drei Präſidenten der deutſchen Republik bereit hielten. Der ganze Plan war ſo kindiſch, daß einige der Urheber bald ſelbſt beſorgt wurden; ſie glaubten einander ſchon nicht mehr ihre windigen Prahlereien, ſelbſt Koſeritz hielt ſich zurück, weil er die grenzenloſe Unvorſichtigkeit der Verſchworenen fürchtete. Faſt Niemand wollte anfangen, und ſo mußte denn, wie gewöhnlich, die leicht - gläubige tapfere Jugend ausbaden was die vermeſſene Thorheit der Ael - teren verſchuldet hatte.

Auch jetzt wie zu allen Zeiten ſpiegelte ſich das nationale Leben in den Zuſtänden der Univerſitäten getreulich wieder. Nach den Julitagen hatten ſich die Burſchenſchaften überall verſtärkt oder neu aufgethan, und bald gewann die radicale Germania die Oberhand über die gemäßigte Partei der Arminen. Auf den gemeinſamen Burſchentagen übernahmen die Süddeutſchen die Führung; die preußiſchen Burſchenſchaften betheiligten ſich wenig und blieben endlich ganz aus, die Breslauer wurde ſogar förmlich zurückgewieſen, weil ſie ſich auf politiſche Umtriebe nicht einlaſſen wollte. Unaufhaltſam drang nunmehr der Geiſt des neufranzöſiſchen Radicalismus in dieſe jugendlichen Kreiſe ein. Auf dem Frankfurter Burſchentage, im September 1831, wurde beſchloſſen, daß jeder Burſch ſich verpflichten müſſe, ſelbſt mit Gewalt ein freies und gerechtes, in Volkseinheit geord - netes Staatsleben herbeizuführen; die Burſchenſchaft ſollte fortan ihren alten chriſtlich-germaniſchen Charakter ablegen und auch Juden aufnehmen. Auf einem neuen Tage zu Stuttgart, um Weihnachten 1832, kündigte man ſchon an, daß im Frühjahr die Revolution bevorſtehe und die Burſchen ſich darauf vorzubereiten hätten. Nun traten die Eifrigſten der Heidel - berger Burſchenſchaft zu einem geheimen Vereine zuſammen. Zwei ihrer alten Herren in Frankfurt ertheilten ihnen Nachricht und Befehl: der hitzköpfige, ſchon im polniſchen Revolutionskriege erprobte Arzt Guſtav Bunſen und Dr. Georg Körner, ein junger Anwalt von ungewöhnlicher Begabung, der ſich nachher in Amerika eine ehrenreiche politiſche Wirk - ſamkeit geſchaffen hat. Die Burſchen ſchwelgten in der Hoffnung, den Bundestag in voller Sitzung aufzuheben; der Frankfurter Soldatesca meinten ſie ſicher zu ſein durch einen Hauptmann, der kein Wort von ihren Plänen wußte, und überdies lagen im Taxis’ſchen Palaſte augen - blicklich 400000 Gulden Mainzer Feſtungsgelder Geld genug um den Freiheitskrieg weiter zu führen. *)Ich benutze hier u. A. eine Aufzeichnung Meine Frankfurter Erlebniſſe von einem der Theilnehmer, dem kürzlich verſtorbenen Dr. Eimer in Freiburg i. B.Am 2. April waren etwa zwanzig Studenten aus Heidelberg, Würzburg, Erlangen, auch zwei aus Göttingen300IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.in der Bundesſtadt eingetroffen; dazu die Frankfurter, mehrere Polen und der unvermeidliche Rauſchenplatt mit einigen älteren Genoſſen, Alles in Allem kaum mehr als fünfzig Verſchworene. Auf einer Verſammlung in Bockenheim wurden durch Bunſen und Körner die Rollen vertheilt; nächſten Tags am Abend wollte man losbrechen.

Schon am Morgen des 3. April war der Anſchlag durch einen ano - nymen Brief aus Würzburg verrathen, und wenn die Behörden ihre Pflicht erfüllten, ſo konnte der ſo kläglich vorbereitete Aufſtand leicht ent - weder ganz verhindert oder doch beim erſten Beginn unterdrückt werden. Militäriſche Hilfe aus dem nahen Mainz war dringend nöthig, da die Frank - furter Garniſon nur 380 Köpfe zählte, und ſie ließ ſich raſch zur Stelle ſchaffen, denn der Gouverneur hatte ſich, wegen der längſt umlaufenden bedenklichen Gerüchte, ſchon für alle Fälle vorbereitet. Freiherr v. Man - teuffel aber, der ſächſiſche Bundesgeſandte, der in Münch’s und Nagler’s Abweſenheit den Vorſitz führte, verhielt ſich ganz unthätig. Er ſendete nach Mainz nur die vorläufige Anzeige, daß vielleicht Unruhen bevor - ſtünden, und wollte, zu Blittersdorff’s Verzweiflung, nicht einmal den Bundestag zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen. *)Blittersdorff’s Bericht, 4. April 1833.Der regie - rende Bürgermeiſter ließ auf die Hauptwache zehn Mann mehr als ge - wöhnlich, alle mit ungeladenem Gewehr aufziehen, und ſchickte zwei Polizei - diener an den Fuß des Pfarrthurms, um die Sturmglocken zu behüten; die wachfreie Mannſchaft blieb in der Kaſerne verſammelt und harrte unter der Aufſicht eines Senators der kommenden Dinge.

Nach ſo auffälligen Proben politiſcher Wachſamkeit mußten die Libe - ralen wohl auf den Verdacht gerathen, daß der Bundestag die Aufrührer abſichtlich eine Weile hätte gewähren laſſen um die Demagogen endlich einmal auf handhafter That zu ergreifen. Erwieſen iſt dieſe damals aller - orten geglaubte Beſchuldigung freilich nicht; der tragikomiſche Hergang läßt ſich auch ohnedies, aus der allgemeinen Erbärmlichkeit der Frankfurter Verhältniſſe ungezwungen erklären. Das Kriegsheer der Bundesſtadt befand ſich in einem ebenſo verwahrloſten Zuſtande wie alle die anderen kleinen Contingente; Freiherr v. Manteuffel gehörte noch zu jener alten, ſoeben erſt vom Staatsruder verdrängten kurſächſiſchen Beamtenſchule, welche ſich unleugbar mehr durch ſchwerfällige Pedanterei als durch teuf - liſche Argliſt auszeichnete; und die Römerherren waren in dieſen unruhigen Tagen ſchon ſo oft durch blinden Lärm vom Schmauſe oder vom Whiſt - ſpiel aufgeſcheucht worden, ſie mochten gern glauben, auch diesmal ſtecke nichts dahinter.

Am Abend verſammelte ſich der eine Haufe der Verſchworenen, faſt durchweg Studenten, in Bunſen’s Wohnung; mehrere ſehr tüchtige junge Männer waren darunter, ſo der Mediciner Eimer aus Baden und der301Der Frankfurter Wachenſturm.Braunſchweiger A. L. v. Rochau, in ſpäteren Jahren einer der beſten deutſchen Publiciſten. Die Unglücklichen wußten ſchon, daß Alles verrathen war, aber als ritterliche Deutſche wollten ſie nicht mehr zurückweichen. Wohl - bewaffnet und mit ſchwarzrothgoldnen Binden geſchmückt brachen ſie auf; Rauſchenplatt ſchritt voran, heute nicht in ſeinen großen Stiefeln, ſondern in einer ſchönen polniſchen Uniform. Um halb zehn Uhr drang die Schaar aus den engen Gaſſen neben der Zeil hervor und ſtürzte ſich auf die Haupt - wache. Im Nu waren die in der Vorhalle aufgehängten Gewehre genommen, die Schildwache verwundet und gefangen. Der Befehlshaber, ein blutjunger Leutnant, ſprang aus dem Hinterfenſter und ſuchte das Weite; die waffen - loſe Mannſchaft in der Wachſtube mußte ſich nach einigen Schüſſen ergeben. Umſonſt verſuchten die Sieger das herbeiſtrömende Volk zu überreden; Niemand wollte die erbeuteten Flinten anrühren, Niemand ſo klagt einer der Verſchworenen mit uns helfen an der Befreiung Deutſchlands . Selbſt die befreiten politiſchen Gefangenen im oberen Stockwerk blieben zum Theil ruhig ſitzen; andere, unter ihnen die gefürchteten Demagogen Freieiſen und Sauerwein, ſtellten ſich am nächſten Tage freiwillig wieder ein.

Unterdeſſen hatte eine andere Abtheilung der Aufſtändiſchen ſich des Pfarrthurms bemächtigt und ließ Sturm läuten. Ein dritter Haufe trat in einem Gaſthofe zuſammen, nahe der Conſtablerwache am andern Ende der Zeil. Eine Kellnerin, die Alles mit anſehen durfte, fiel vor Schrecken in Ohnmacht, als die Verſchworenen ihre Flinten luden und ſich die Ge - ſichter ſchwärzten. Sie wurde auf ein Bett gelegt, und jeder der Abziehen - den küßte gerührt das ſchöne Kind. Von dem polniſchen Major Michalowski geführt marſchirten die deutſchen Freiheitshelden ſodann nach der Con - ſtablerwache. Der Pole gab in franzöſiſcher Sprache den Befehl zum Sturme, und auch hier ward ein leichter Sieg erfochten; nach einem kurzen Handgemenge verkroch ſich die Wachmannſchaft in einem nahen Schuppen. Jetzt aber eilte das Linienbataillon aus der Kaſerne herbei; die Aufrührer leiſteten noch eine Zeit lang tapferen Widerſtand, dann flohen ſie vor der erdrückenden Uebermacht. Eine Bauernſchaar aus Bonames, die unter der Leitung eines Mitverſchworenen noch heranzog, um den alten Haß des Landvolks an den Frankfurter Herren auszulaſſen, fand das Stadtthor ſchon ſcharf bewacht und kehrte ſchleunig heim. Der ganze Kampf währte kaum eine Stunde; die Straßen neben der Zeil blieben durchaus ſtill, im nahen Theater wurde die Oper ruhig zu Ende geſpielt, und die Zuſchauer erfuhren erſt auf der Heimkehr, daß Frankfurts Annalen um eine Re - volution reicher waren. Aber die frevelhafte Thorheit hatte ſechs Soldaten und einem der Aufſtändiſchen das Leben gekoſtet, etwa Vierundzwanzig waren verwundet. Die Führer und die Polen entkamen ſämmlich, nur die unvorſichtigen jungen Leute wurden größtentheils verhaftet; mehrere der Studenten waren vom Schlachtfelde arglos in ihre Gaſthöfe zurück - gekehrt und ließen ſich in der Nacht von den Polizeibeamten wecken. Schon302IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.die nächſten Tage lehrten, daß dieſer Aufruhr doch nicht blos ein jugend - liches Thorenſpiel war, ſondern mit den internationalen Aufſtandsplänen der polniſchen Flüchtlinge irgendwie zuſammenhing. Am 7. April zogen wirklich, der Abrede gemäß, 300 Polen aus Beſançon in die Schweiz, und nur die Unglücksbotſchaften aus Frankfurt verhinderten ſie ihren Marſch nach Baden fortzuſetzen; zur ſelben Zeit brach eine Schaar Aufſtändiſcher aus Galizien in das ruſſiſche Polen ein, und gleich darauf wurde in Piemont eine gefährliche Soldatenverſchwörung unterdrückt, welche dem polniſchen General Ramorino ſchwerlich unbekannt war.

Der tolle Streich der Radicalen eröffnete einer neuen Zeit politiſcher Verfolgungen die Thore. Ancillon ſchrieb ſofort nach Wien: Das Frank - furter Attentat kann Deutſchland retten, wenn man ſich beeilt das Ereigniß auszubeuten. *)Ancillon, Weiſung an Maltzahn, 25. April 1833.Münch und Nagler erhielten umfaſſende Vollmachten, und nachdem ſie zurückgekehrt, beſchloß der Bund am 30. Juni, abermals eine Centralbehörde für die politiſchen Unterſuchungen einzuſetzen. Sie ſollte in Frankfurt ſelbſt ihren Sitz haben; Oeſterreich, Preußen, Baiern, Württemberg und Darmſtadt ernannten die fünf Mitglieder, Kurheſſen und Naſſau die beiden Stellvertreter. Sachſen und Baden wurden ab - ſichtlich übergangen, weil ſie im Geruche liberaler Geſinnung ſtanden. So ſchien denn der ganze Jammer der alten Mainzer ſchwarzen Commiſſion ſich zu erneuern; auch zwei ihrer Mitglieder, der Oeſterreicher Wagemann und der Heſſe Preuſchen traten wieder ein. Halb befriedigt, halb beſorgt meinte Blittersdorff: wir haben ſeit 1832 ungeheure Rückſchritte gemacht. **)Blittersdorff’s Bericht, 4. Juli 1833.Gleichwohl ließ ſich leicht bemerken, daß ſelbſt der Bundestag der ver - wandelten Zeit einige Zugeſtändniſſe hatte gewähren müſſen. Die Mittel - ſtaaten, Baiern voran, wollten dem Bunde unmittelbare Eingriffe in ihre Rechtspflege nicht mehr geſtatten, und die Großmächte wagten den Stolz der Bundesgenoſſen nicht zu reizen. ***)Ancillon, Weiſung an Maltzahn, 25. Juni; Blittersdorff’s Bericht, 18. Juni 1833.Darum erhielt die neue Central - behörde weit geringere Befugniſſe als die alte; ſie durfte nicht ſelbſt Unter - ſuchungen führen, ſondern nur von den Unterſuchungen in den Einzel - ſtaaten Kenntniß nehmen. Ganz ſo gehäſſig und verfolgungsſüchtig wie einſt die Mainzer Commiſſion wagte ſie nicht aufzutreten.

Zugleich mußte die Bundesverſammlung für ihre eigene Sicherheit und für die Bewachung der Gefangenen ſorgen. Nach Allem was man an dem Frankfurter Senate und ſeiner Kriegsmacht hatte erleben müſſen, wurde die Ueberſiedelung des Bundestages in eine beſſer behütete Stadt ernſtlich erwogen; König Ludwig wünſchte lebhaft den würdigen Nachfolger des alten Reichstags in ſeinem Regensburg als Nachbarn der neuen Wal - halla aufzunehmen. Die Verhafteten wollte Preußen der Sicherheit halber303Die Bundes-Centralbehörde.nach Mainz ſchaffen laſſen; und als man einwarf, der Mainzer Name ſei durch die ſchwarze Commiſſion allzuſehr in Verruf gekommen, da bemerkte Nagler mit wehmüthiger Selbſterkenntniß, der Name Frankfurts hätte einen noch ſchlimmeren Klang im Volke. *)Nagler’s Bericht, 23. April 1833.Aber der Senat der freien Stadt weigerte ſich, ſeine Hochverräther herauszugeben, und da er ſich auch nicht entſchließen konnte, den Bund um die unentbehrliche militäriſche Unter - ſtützung zu bitten, ſo beſchloß der Bundestag, nach ſeinem guten Rechte, ſelbſt das Nothwendige (12. April). Etwa zweitauſend Mann Oeſterreicher und Preußen wurden aus Mainz abberufen und unter der Führung des k. k. Generals Piret vorläufig in Sachſenhauſen und den umliegenden Ortſchaften einquartiert. Die innere Stadt und die Gefangenen blieben unter der bewährten Obhut des Frankfurter Bataillons, das nur bei aus - brechenden Unruhen unter Piret’s Oberbefehl treten ſollte. So ehrfurchts - voll ward die Souveränität der Bundesſtadt geſchont: die Preußen mußten dem Bundesgeneral unbedingt gehorchen, dem freien Frankfurt wagte man eine ſolche Demüthigung nicht zuzumuthen. Trotzdem fühlte ſich der Senat tief verletzt und ſendete dem Bundestage eine übellaunige Erklärung, die faſt wie eine Rechtsverwahrung klang, aber ſtillſchweigend zu den Akten gelegt wurde.

Alsbald witterte der franzöſiſche Geſandte Baron Alleye, ein heiß - blütiger, radicaler Creole, daß ſich hier wieder einmal ein bequemer Anlaß bot um Unfrieden zwiſchen den Deutſchen zu ſäen. Er berichtete an ſeinen Miniſter und erhielt von Broglie in den letzten Apriltagen eine Depeſche, welche nochmals den alten Sirenenſang von der Unab - hängigkeit aller deutſchen Staaten und Völkerſchaften anſtimmte. Als er aber dies Schriftſtück dem präſidirenden Bundesgeſandten Manteuffel vertraulich vorlas, da weigerte ſich der Sachſe auf eine Verhandlung ſolcher Art überhaupt einzugehen und verſuchte dem Franzoſen einen ungefähren Begriff von der deutſchen Bundesverfaſſung beizubringen; nur ſprach er leider mit einer Höflichkeit, welche auf den Vertreter der Civiliſation des Weſtens nicht genügenden Eindruck machte. Noch ſtrenger wies Metternich eine Anfrage des franzöſiſchen Geſandten in Wien zurück; und am Pariſer Hofe erhob Werther ſogleich ernſtlich Beſchwerde. **)Ancillon, Weiſung an Maltzahn, 15. Mai 1833.Der Bundestag billigte das Verhalten ſeines Vorſitzenden, alle Anweſenden äußerten ſich ſcharf über die Anmaßung des Franzoſen, und der erſchrockene Vertreter Frank - furts mußte demüthig verſichern, ſein hoher Senat ſei keineswegs gemeint die Giltigkeit der letzten Bundesbeſchlüſſe zu beſtreiten, noch weniger die Hilfe des Auslandes anzurufen. ***)Berichte von Blittersdorff, 30. Apr., 10. 23. Mai; von Nagler, 23. Mai 1833.

Wie ſeltſam hatte ſich mittlerweile die Stimmung der Frankfurter304IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.verwandelt. Bei dem Aufſtande ſelber waren ſie gleichgiltig geblieben; jetzt regte ſich das Mitleid mit den politiſchen Verbrechern, das immer ein Zeichen ungeſunder öffentlicher Zuſtände iſt, und wer konnte auch den unglücklichen Studenten menſchliche Theilnahme verſagen? Ihre Verführer waren entkommen; ſie aber, die von den Hintergedanken der polniſchen Mitverſchwornen wenig oder nichts wußten, büßten in endloſer Unter - ſuchungshaft und lernten jenes aus Härte und Nachläſſigkeit gemiſchte Regierungsſyſtem, das unter der Frankfurter Oligarchie aufgeblüht war, mit allen ſeinen Sünden gründlich kennen. Im Verhöre verfuhren die Richter ſtreng, oft roh; wer hartnäckig leugnete, wurde nach Karl’s V. Hochnothpeinlicher Halsgerichtsordnung, die in Frankfurt noch galt, mit außerordentlichen Strafen belegt. Um ſo gemüthlicher ging es in den Kerkern zu; die meiſten der Gefängnißwärter zeigten eine Weitherzigkeit, die nichts zu wünſchen übrig ließ. Durch die lange Uebung erlangten die jungen Herren eine erſtaunliche Fertigkeit in allen kleinen Künſten des Ge - fangenenlebens. Sie beſprachen ſich unter einander durch Klopfen oder Pfeifen und unterhielten alleſammt einen regelmäßigen Briefwechſel mit der Außenwelt; ſie verſtanden meiſterhaft, aus dem Morgenkaffee die kleinen in die Zuckerſtücke eingebohrten Zettel herauszufiſchen und ihre Erwiderungen in den Pfropfen der geleerten Bierflaſchen fortzuſenden. In den Kuchen und Wecken, die ihnen von Frankfurter Gönnern verehrt wurden, fanden ſich zuweilen Uhrfederſägen eingebacken. Die halbe Stadt beſchäftigte ſich mit dem Schickſal der verwegenen Jungen; keine Woche verging, wo man nicht von einem vergeblichen Fluchtverſuche erzählte. Endlich an einem nebligen October-Abend gelang es dem Studenten Lizius ſich an einem Seile aus dem zerfeilten Fenſtergitter herabzulaſſen; die Frankfurter Schild - wache dicht unter dem Fenſter verließ ihren Poſten, weil einige ſeiner Freunde mittlerweile eine Rauferei auf der Gaſſe veranſtalteten. So entkam er glücklich, und jubelnd ſangen die Gaſſenbuben hinter den Se - natoren her: O Polizei, wie viel Verdruß macht dir Studioſus Lizius!

Dies neue Probſtück frankfurtiſcher Kriegstüchtigkeit erfüllte den Bun - destag mit gerechter Beſorgniß. General Piret war ſchon längſt in Ver - zweiflung über das ſouveräne Stadtcommando neben ihm, das ihn von den Ruheſtörungen nicht einmal benachrichtigte. Der Militär-Ausſchuß des Bundes berieth ſchon ein neues Reglement, und da jetzt Gefahr im Verzuge ſchien, ſo beſchleunigte er ſeine Arbeiten, ſoweit am Bundestage Eile möglich war. Am 16. Jan. 1834, dritthalb Monat nach jener ver - hängnißvollen Flucht, wurden ſeine Vorſchläge der Bundesverſammlung zur Abſtimmung unterbreitet. Der Ausſchuß beantragte nur was ſich in jedem anderen Heere von ſelbſt verſtanden hätte: die Frankfurter Linien - truppen ſollten mit den Oeſterreichern und den Preußen zu einem Sicher - heitscorps unter Piret’s Führung vereinigt, und im Falle der Noth auch die Stadtwehr dem commandirenden General untergeordnet werden. Kaum305Die Bundestruppen in Frankfurt.wurden dieſe Anträge bekannt, ſo hallte ein Aufſchrei der Entrüſtung durch das ſouveräne Volk von Frankfurt: die Stadtwehr und die prächtigen Bonapart-Hüte ihrer Stabsoffiziere waren der Stolz der Stadt, nimmer ſollten ſie einem deutſchen Ausländer gehorchen. In einer bogenlangen Erklärung verwahrte der Senat ſeine Souveränität: hier handle es ſich nicht um militäriſche Sicherheit, ſondern um eine primäre politiſche Maß - regel , und was des Unſinns mehr war.

Nach abermals dritthalb Monaten, am 3. April wurde endlich abge - ſtimmt und der Antrag des Ausſchuſſes angenommen. Frankfurt verwahrte ſich nochmals, und vergeblich verlangte General Piret, daß ihm die Frank - furter Truppen, dem Bundesbeſchluſſe gemäß, nunmehr untergeben würden. Bürgermeiſter Stark erwiderte ſtolz: das Frankfurter Bataillon hätte ſchon einen Sammelplatz für den Fall einer Ruheſtörung angewieſen erhalten und ſchicke überdies jeden Sonntag ſeine Standesliſten an den General; das ſei doch wohl genug, unmöglich könne der Bundestag beabſichtigen den Rechten hieſiger Stadt zu nahe zu treten . *)Piret’s Bericht an die Bundesverſammlung, 22. April; Stark an Piret 14. 22. April; Piret an Stark 19. April 1834.Da riß dem preußiſchen Geſandten die Geduld. Er beantragte und ſetzte durch, daß Frankfurt aufgefordert wurde bis zur nächſten Sitzung die Vollziehung des Bundes - beſchluſſes anzuzeigen. Der Senat aber unterſtand ſich, am 1. Mai gegen dieſen Befehl feierlich zu proteſtiren , was ſofort als bundesverfaſſungs - widrig zurückgewieſen wurde. Noch nicht genug, er verlangte ſogar die Abberufung der Bundestruppen, weil Frankfurt vollauf im Stande ſei, die Ordnung ſelber zu wahren. Eine ſolche Frechheit erlaubte ſich ein Stadtſtaat, der erſt vor neunzehn Jahren durch die unbedachte Groß - muth der Mächte ſeine Souveränität geſchenkt erhalten und dabei alle dem Bundesſitze obliegenden Pflichten ausdrücklich übernommen hatte. Kein Wunder wahrhaftig, daß man jetzt nochmals ernſtlich an die Verlegung der Bundesverſammlung dachte. Aber Nagler widerſprach. Preußen rettete den Frankfurtern ihre Bundesherrlichkeit; denn der König meinte: ohne den Bundestag würde dieſe Stadt mit ihrer elenden Regierung ein Heerd der Revolution und namentlich der franzöſiſchen Umtriebe werden. **)Nagler’s Bericht, 4. Juni 1834 nebſt Randbemerkung des Königs.

Nur vierundzwanzig Stunden vergingen ſeit jener prahleriſchen Er - klärung des Senats; da ward ſie ſchon durch die Thatſachen lügen geſtraft. Am Abend des 2. Mai ſaß die Mannſchaft der Conſtablerwache ſchwer betrunken in der Wachſtube; einige mit den Gefangenen einverſtandene Kameraden hatten ihr Aepfelwein in Fülle vorgeſetzt. Schwere Rollwagen raſſelten mit betäubendem Lärm über das Pflaſter der Zeil, ſo daß die Studenten im oberen Stockwerk das Durchfeilen der Gitter ungeſtört beenden konnten. Da drang plötzlich eine tobende Volksmaſſe gegen dieTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 20306IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Wache heran, und während des Getümmels verſuchten ſämmtliche Ge - fangene auszubrechen. Die betrunkenen Soldaten ſtürzten an die Gewehre und ſchoſſen blindlings unter den Haufen; ein Bürger fiel, mehrere wurden verwundet. Von den Studenten entkam nur einer, ein anderer ward getödet, zwei hatten ſich beim Sprunge verletzt, die übrigen wurden auf der Flucht wieder eingefangen. Die ſo ſchmählich beſchämten Frank - furter Behörden rächten ſich dann durch grauſame Mißhandlungen; ſie ließen den Gefangenen Ketten anlegen, ſogar dem armen Eimer, der ſich das Bein gebrochen hatte und erſt nach Monaten wieder gehen lernte.

Mit Wohlbehagen betrachteten die liberalen Weſtmächte dies deutſche Gezänk. Der Frankfurter Nationalſtolz ſtand gerade jetzt in ſeiner Blüthe. Soeben hatte der Senat einen Handelsvertrag mit England abgeſchloſſen, um dem bedrohlichen Fortſchreiten des preußiſchen Zollvereins freundnach - barlich einen Riegel vorzuſchieben, und von ſelbſt verſtand ſich’s, daß Frankfurts uneigennütziger Zollverbündeter nun auch für die Souveränität der freien Stadt eine Lanze brach. Der Geſandte Cartwright, das Urbild des beſchränkten britiſchen Dünkels, überreichte am 24. Mai dem Präſidial - geſandten eine Verbalnote, deren Unverſchämtheit ſogar in den Annalen der engliſchen Diplomatie ihres gleichen ſuchte. Sie erklärte: ohnehin durch die Wiener Verträge zum Einſpruch berechtigt, betrachte England die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit ſelbſt des kleinſten europäiſchen Staates als ein britiſches Intereſſe und könne in dem jüngſten Bundes - beſchluſſe nur eine gewaltſame Verletzung (a violent infringement) der Rechte eines unabhängigen Staates ſehen . Nun drängte ſich auch Alleye wieder vor, ungeſchreckt durch die kürzlich erlittene Zurückweiſung. Seine Verbalnote begann in dem väterlichen, ſanft aufreizenden Tone der alt - bourboniſchen Zeiten: Die franzöſiſche Regierung vermag kaum zu glauben, daß Souveräne, welche ohne Zweifel auf ihre Unabhängigkeit ebenſo viel Werth legen wie die anderen europäiſchen Mächte, den Untergang dieſer Unabhängigkeit vorbereiten könnten durch einen Präcedenzfall, deſſen man ſich unfehlbar bei Gelegenheit zu ihrem eigenen Schaden bedienen wird. Darum iſt ſie überzeugt, daß die deutſchen Fürſten die Augen öffnen und ſich beſinnen werden bevor ſie einen ſo entſcheidenden Schritt thun . Zum Schluſſe ſtand aber die wenig verblümte Drohung: Niemals wird Frank - reich zugeben, daß man das Recht habe die deutſche Unabhängigkeit (l’in - dépendence Germanique) zu einem leeren Worte zu machen.

Die Weſtmächte hatten falſch gerechnet; ſie hofften ihren Frankfurter Schützling in ſeinem Widerſtande zu beſtärken und bauten ihm ſelber nur die Brücke zum Rückzuge. Sobald die beiden Noten dem Bundestage vor - geleſen waren, ſah ſich der Vertreter der freien Stadt von allen Seiten mit Vorwürfen überſchüttet, und Nagler, der Vorſitzende, fragte amtlich, ob Frankfurt dieſe Einmiſchung des Auslandes veranlaßt habe. Die Römerherren erſchraken und betheuerten heilig ihre Unſchuld. Nagler ver -307Frankfurt und die Weſtmächte gegen den Bund.ſchmähte die Glaubwürdigkeit dieſer halbwahren Verſicherung näher zu prüfen, obgleich er wohl wußte, wie eifrig Cartwright und der franzöſiſche Legationsſekretär Grouchy mit mehreren Senatoren verkehrten,*)Nagler’s Bericht, 18. Mai 1834. und be - ſtand nun um ſo ernſter darauf, daß Frankfurt ſeine deutſche Geſinnung durch Thaten beweiſen müſſe. Die Execution war der widerſpänſtigen Stadt bereits angedroht, da unterwarf ſich endlich der Senat (3. Juni), ſtellte ſeine Truppen unter Piret’s Befehl und verſprach auch ſeine jämmerliche Polizei neu zu ordnen.

Die Noten der Weſtmächte beantwortete der Bundestag mit einer kurzen, würdigen Zurückweiſung (12. Juni), die in Wien von ſämmtlichen Mit - gliedern der deutſchen Miniſterconferenz mit einziger Ausnahme des Hannoveraners gebilligt worden war. **)Brockhauſen’s Bericht, 7. Juni 1834.Der ruhige Ton dieſer Er - widerung ermuthigte aber die beiden Geſandten zu neuen Noten (30. Juni. 18. Juli); Beide beriefen ſich wieder auf die Wiener Verträge, und der Engländer ſprach wieder am gröbſten. Die an der Wiener Schlußakte betheiligten Staaten ſo ſchrieb er können nicht zugeben, daß der Deutſche Bund, der zum Schutze der Schwachen geſchaffen wurde, ſich zu einem Werkzeuge der Unterdrückung in der Hand der Mächtigen um - wandle . Nunmehr merkte Nagler doch, daß man zu den feinfühligen Weſtländern deutlicher reden mußte. Er verlas am 18. September eine geharniſchte Präſidialerklärung, welche die Anmaßung, die vollſtändige Unkenntniß, die unbegreifliche Begriffsverwirrung der beiden Noten ſcho - nungslos rügte und den Weſtmächten vorhielt, daß ihr eigener Schützling, Frankfurt, ſie verleugnet habe. Demgemäß ward ſodann ein überaus ſcharfer Beſchluß einmüthig gefaßt ſelbſt Hannover ſtimmte diesmal gegen England : Niemals werde der Bund den fremden Mächten, als Mitunterzeichnern der Congreßakte, in Bundesangelegenheiten Rechte zu - geſtehen, welche nach dem Wortlaute des Bundesvertrages und ebenſo nach dem Inhalte der Congreßakte nur den Gliedern des Deutſchen Bun - des und deſſen Geſammtheit zuſtehen.

Dieſen Beſchluß überſendete Nagler einfach den beiden Geſandten, ohne ſie auch nur einer förmlichen Antworts-Note zu würdigen. Cartwright und Alleye fühlten ſich tief verletzt, ſie beſchwerten ſich in zwei neuen Noten (17. Oct. 21. Nov.) über eine ſo vollſtändige Abweichung von den diplo - matiſchen Gebräuchen Europas und beharrten bei ihrer Meinung über den Sinn der Wiener Verträge. Der Bundestag aber legte die Beſchwerde - ſchriften der beiden Unermüdlichen ohne Erwiderung zu ſeinen Akten, und die Weſtmächte mußten die ſelbſtverſchuldete ſchnöde Behandlung ruhig hin - nehmen: ſie fühlten, daß die Eintracht der deutſchen Höfe doch nicht ſo leicht zu zerſprengen war. Leider wurde dieſer Schriftenwechſel, der dem20*308IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Bunde nur zur Ehre gereichte, nicht vollſtändig veröffentlicht; die Liberalen fuhren fort den freien Weſten zu verherrlichen, den moskowitiſchen Zwing - herrn der Deutſchen zu bekämpfen, obgleich ſich Rußland mit keinem Worte in die Frankfurter Händel eingemiſcht hatte.

Zu gleicher Zeit mußte der Bundestag noch eine andere, höchſt wider - wärtige Verhandlung mit Frankreich führen. Nach dem Falle von War - ſchau war in Paris feierlich verkündigt worden, daß die Polen alleſammt in dem gaſtlichen Frankreich ein Aſyl finden ſollten, und nur im Ver - trauen auf dieſe Zuſage hatten die deutſchen Regierungen den polniſchen Flüchtlingen den Durchzug geſtattet. Jetzt erklärte das Bürgerkönigthum plötzlich, jene aus Beſançon in die Schweiz eingebrochenen Polen dürften nicht wieder nach Frankreich zurückkehren. Die Eidgenoſſenſchaft wollte dieſe gefährlichen Gäſte auch nicht bei ſich behalten; denn ſie bildeten, durch Zuzüge erheblich verſtärkt, ein geordnetes kleines Revolutionsheer mit Hauptleuten, Leutnants und Corporalen, und konnten jederzeit den Auf - ruhr in den deutſchen Süden tragen. Die Nachbarſtaaten Baiern, Baden, Württemberg fühlten ſich ernſtlich bedroht, und in ihrer Angſt verfuhren dieſe conſtitutionellen Cabinette weit härter als jemals der Berliner Hof - ſie erklärten am Bundestage, man müſſe die Polen ſobald ſie deutſches Gebiet beträten dem Czaren ausliefern. Um dies Aeußerſte zu verhindern wollte die Schweiz die Flüchtlinge nach England oder Amerika ſchaffen; ſie verhandelte bereits mit dem Deutſchen Bunde und den Niederlanden über die Frage, wie man die Legion von Beſançon ſicher den Rhein hinab befördern könne. Da gab Frankreich endlich ſein verdächtiges Doppel - ſpiel auf und geſtattete den Polen, durch franzöſiſches Gebiet den Weg zur See einzuſchlagen. *)Schreiben des Vororts Zürich an Graf Münch-Bellinghauſen, 30. Juli; Nagler’s Berichte, 15. Nov. 1833 ff.

Unter ſo ſchweren europäiſchen Kämpfen ward die Einheit des mili - täriſchen Oberbefehls in der deutſchen Bundesſtadt endlich durchgeſetzt. Neun Soldaten des Frankfurter Bataillons wurden kriegsrechtlich ver - urtheilt wegen Beihilfe bei dem letzten Fluchtverſuche. Gleichwohl blieb die Bewachung der inneren Stadt nach wie vor dieſer republikaniſchen Kriegs - ſchaar allein anvertraut, und die jugendlichen Hochverräther fanden alſo noch reichliche Gelegenheit dem Bundestage neuen Kummer zu bereiten. Im October 1836 wurde den Verhafteten ihr Urtheil verkündigt; am Tage darauf verſchwand Rochau mitſammt ſeinem beſtochenen Gefängniß - wärter. Im Januar des folgenden Jahres entflohen noch ſechs Studenten aus der Conſtablerwache, während die Wachmannſchaft ſich mit Karten - ſpiel vergnügte, und jetzt endlich beſchloß der Bundestag was Preußen ſchon vor vier Jahren beantragt hatte: die unglücklichen Sechs, die nach ſo vielen Entweichungen noch übrig blieben, wurden in das ſichere Mainz abgeführt.

309Proceß Wirth.

Mit dem Frankfurter Attentate ging die liberale Bewegung vorläufig zu Ende. Nur da und dort züngelten noch einzelne Flammen aus dem verlöſchenden Brande auf. Die Pfälzer ließen ſich’s nicht nehmen, den erſten Jahrestag ihres Hambacher Feſtes durch eine neue Volksverſammlung auf der Käſtenburg zu feiern. Das Feſt wurde verboten, Truppen rückten an, und die durch wiederholte Neckereien längſt erbitterten Soldaten ver - fuhren mit entſetzlicher Roheit, verwundeten und mißhandelten eine Menge harmloſer Leute. Die Aufregung im Volke ſteigerte ſich noch, als bald nachher, ſeit Ende Juli 1833, faſt drei Wochen lang Wirth, Siebenpfeiffer und ihre Hambacher Genoſſen vor den Landauer Geſchworenen ſtanden. Die meiſten der Angeklagten bekannten ſich unumwunden zu dem radicalen Grundſatze der allgemeinen Gleichheit. Wirth erklärte freimüthig, daß er die eine und untheilbare deutſche Republik erſtrebe, freilich ohne Blutvergießen, allein durch die innere Aufrichtung des Volkes . Dieſe republikaniſche Ver - faſſung ſei nichts anderes als das alte, allein rechtmäßige deutſche Kaiſer - thum; der ganze Unterſchied beſteht nur darin, daß ich dem gemein - ſchaftlichen Reichsoberhaupt der Deutſchen den Titel: Präſident beigelegt wiſſen will, während ihn die deutſche Conſtitution Kaiſer nennt. Er ſprach jedoch mit ſolchem Feuer ehrlicher vaterländiſcher Begeiſterung und wußte die rührſamen Schlagworte aus Jean Paul, dem erſten Dichter aller Völker und Jahrtauſende , ſo geſchickt einzuflechten, daß Geſchworene, Vertheidiger, Zu - ſchauer dieſem politiſchen Luther ihre Bewunderung lärmend kundgaben. Sämmtliche Angeklagte wurden freigeſprochen, obgleich der aufrühreriſche Sinn der Hambacher Reden klar zu Tage lag; einige der Freigeſprochenen mußten aber noch nachträglich dem Zuchtpolizeigericht wegen Beleidigung der Beamten Rede ſtehen und erlitten Gefängnißſtrafen. Die Pfalz be - ruhigte ſich ſcheinbar, der ſtille Groll gegen die Altbaiern blieb freilich unverſöhnt. Auch im rechtsrheiniſchen Baiern und in Württemberg wurde durch zahlreiche Verhaftungen wiederhergeſtellt was man am Bundestage Ordnung nannte.

Nur im Großherzogthum Heſſen fand die revolutionäre Bewegung noch ein verſpätetes Nachſpiel. Als der Landtag im Herbſt 1832 neu gewählt wurde, zeigte das Land wenig Theilnahme, und da ein Theil der jüngeren Beamten nach ſüddeutſchem Brauche die Oppoſition offen unter - ſtützte, ſo erlangten die Liberalen durch ihre Rührigkeit eine ſtarke Mehrheit. Als ob ſie fühlte, daß ſie das Land nicht hinter ſich hatte, ſtürmte die neue Kammer mit fieberiſcher Haſt vorwärts. Zehn Monate blieb ſie verſammelt ohne ihre eigentliche Aufgabe, die Bewilligung des Budgets auch nur ernſtlich anzugreifen. Dafür erging ſie ſich in donnernden Reden gegen die Sechs Artikel des Bundestages und heftigen Anklagen gegen die Regierung; ſie ſprach von einem neuen Wahlgeſetze, von jährlichen Landtagen, von Beſeitigung der Cenſur, von Einführung des Code Napoleon auf dem rechten Rheinufer und das Alles in einer Zeit, da die Liberalen310IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.auf einen Erfolg längſt nicht mehr rechnen konnten. Neben den alten Führern der heſſiſchen Liberalen E. E. Hoffmann und Jaup that ſich jetzt zuerſt Heinrich von Gagern hervor, ein bildſchöner Reichsritter von hohem Selbſtgefühl und feuriger nationaler Geſinnung, der wie Czar Nikolaus durch die Außenſeite des großen Mannes die Zeitgenoſſen lange über die Mittelmäßigkeit ſeiner Begabung zu täuſchen vermochte. Miniſter du Thil glaubte dem maßloſen Haſſe, der über ihn hereinbrach, nicht mehr gewachſen zu ſein; er hörte überall das Hohnlied ſingen Herr du Thil mit der Eiſenſtirn und bot dem Großherzog ſeine Entlaſſung an. Der aber gab zur Antwort, was nach fünfzehn Jahren wörtlich in Erfüllung gehen ſollte: Wenn Herr Jaup je Miniſter wird, dann habe ich vorher abgedankt. *)Nach du Thil’s Aufzeichnungen.Im November 1833 wurde der Landtag unverrichteter Dinge aufgelöſt.

Die radicale Partei in der Wetterau gab ihr Spiel noch nicht ver - loren; ſie verachtete die Kammerredner als liberale Leiſetreter, hielt ihre Genoſſen in der Geſellſchaft der Menſchenrechte und ähnlichen Geheim - bünden zuſammen. Paul Follen und ſein Freund Fr. Münch wanderten nach Amerika aus, weil ſie an ein Gelingen nicht mehr glaubten. Weidig aber hielt bei der Fahne aus, und zu dieſem chriſtlich-germaniſchen Schwärmer geſellte ſich nun ein radicaler Atheiſt, der junge Georg Büchner, ein Dichter von außerordentlicher Geſtaltungskraft, zugleich begeiſtert und blaſirt, eine jener Hamletsnaturen, wie ſie in der litera - riſchen Gährung der Zeit gediehen. Er hatte als Student in Straßburg die St. Simoniſten kennen gelernt und ſprach die ſocialiſtiſchen Gedanken, welche ſich ſchon in Wirth’s Vertheidigungsrede und einzelnen liberalen Flug - ſchriften leiſe ankündigten, zum erſten male in Deutſchland mit Beſtimmt - heit aus. Realiſt in der Politik wie in der Dichtung, erwartete er den Sieg der Revolution nur von der rohen Gewalt; er lachte der Thoren, die das Volk gegen die Sechs Artikel des Bundestags aufzuregen dachten, und wollte ſich vielmehr an den hungernden Magen der Maſſe wenden. Sein Mitleid für die kleinen Leute kam aus dem Herzen, und nicht ganz mit Unrecht ward er ſpäterhin als der Johannes des Meſſias Laſſalle gefeiert.

Bereits hatte Weidig ſeinen Leuchter und Beleuchter für Heſſen ins Volk geworfen; auch ein irgendwo in Thüringen gedrucktes Bauern - Lexicon war im Umlauf, das den kleinen Leuten erzählte, wie auf den Miniſtercongreſſen geſoffen und gefreſſen und der Teufelsbund zur Er - mordung der Freiheit geſchloſſen würde. Alle ſolche Libelle übertraf aber bei Weitem Büchner’s Heſſiſcher Landbote, ein Meiſterſtück gewiſſenloſer demagogiſcher Beredſamkeit. So blind war ſchon die Wuth der Parteien: der Conſtitutionelle Weidig trug kein Bedenken an dieſem wild-radicalen Machwerke mitzuhelfen, der Atheiſt Büchner ließ ſich von ſeinem gläubigen Freunde Bibelſtellen und erbauliche Redewendungen in den Text einflechten. 311Der Heſſiſche Landbote.Die geſammte Ordnung der bürgerlichen Geſellſchaft ward hier als ein Zuſtand des Raubes geſchildert: Ihr müſſet geben was Euere unerſättlichen Preſſer fordern und tragen was ſie Euch aufbürden; jeden Tag wird Dieb - ſtahl an Euerem Eigenthum begangen unter dem Namen von Steuern, um einige Fettwänſte zu mäſten und ſo weiter: ſelbſt den Ertrag der Domänen rechnete Büchner mit zu den Abgaben, die dem darbenden Volke abgepreßt würden. Die Brandſchrift ſtreute den erſten Samen eines Un - krauts, das erſt nach Jahren aufgehen ſollte. Für den Augenblick wirkte ſie wenig; die Bauern, die den Landboten unter ihren Hausthüren fanden, brachten die unheimliche Schrift meiſt ſelbſt erſchrocken der Obrigkeit. Nun erhielt du Thil, der in den Mitteln wenig wähleriſch war, durch ſeine Spione Kunde von dem Treiben. Büchner entfloh zur rechten Zeit, Weidig wurde nebſt einigen ſeiner Freunde gefangen, und ſo war auch auf dieſem letzten Heerde des Aufruhrs die Flamme verlöſcht.

Während aller dieſer Wirren wurde am Bundestage viele Jahre lang der Streit um Luxemburg dahingeſchleppt, ein elender Handel, bei dem Alles was im deutſchen Staatsweſen faul war zu Tage trat: die Lüge der geſammten Bundesverfaſſung, die zerfahrene Unklarheit der öffentlichen Meinung, die Selbſtſucht der kleinen Höfe, die Feigheit des Bundestags, die Ränke der Weſtmächte, und leider auch die Schwäche der verſtändigen Friedenspolitik Preußens. Das luxemburgiſche Land hatte ſeit Jahrhun - derten die Schickſale der übrigen Provinzen Belgiens getheilt, mit ihnen gemeinſam nach einander die Herrſchaft Spaniens, Oeſterreichs, Frank - reichs, Hollands ertragen. Nur die Weſthälfte des Landes war walloniſch, aber auch in der deutſchen Oſthälfte konnte ſich unter der beſtändigen Fremdherrſchaft ein deutſches Nationalgefühl unmöglich ausbilden. Die Beſchlüſſe des Wiener Congreſſes, welche das Großherzogthum in den Deutſchen Bund einfügten, wurden im Lande ſelbſt kaum bemerkt; wie hätten auch die Maſſen des Volks dieſe dem erfinderiſchen Geiſte Hans von Gagern’s entſprungene diplomatiſche Künſtelei verſtehen ſollen? Die Einwohner fühlten ſich als Angehörige der katholiſchen Niederlande, und ſobald in Brüſſel der Aufruhr gegen Holland begann, wehte auch in Luxemburg überall die Fahne von Brabant. Die Hauptſchuld an dieſer unheilvollen Wendung der Dinge trug unzweifelhaft der König der Nieder - lande ſelber; er hatte die allerdings ſchwierige Doppelſtellung des Groß - herzogthums niemals beachtet, ſondern dies deutſche Bundesland ſtets als eine belgiſche Provinz behandelt und ihm weder eine eigene Verfaſſung gewährt noch das vorgeſchriebene deutſche Bundescontingent gebildet. Wäre das Land, nach der Vorſchrift der Bundesgeſetze, durch luxemburgiſche Bundestruppen behütet worden, ſo ließ ſich der Aufſtand, der anfangs nur ſchwächlich auftrat, mit leichter Mühe erſticken. Völlig ungehindert,312IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.griff die Bewegung raſch um ſich. Deutſch blieb in dem Grenzlande nur die Bundesfeſtung, dies kleine nordiſche Gibraltar, das freilich nach Gneiſenau’s Urtheil ſchon damals für die Kriegführung großen Stiles wenig mehr bedeutete; das uneinnehmbare Felſenneſt wurde von der preu - ßiſchen Garniſon ſcharf bewacht und ſchloß den Aufrührern ſeine Thore.

Am 15. Oct. 1830 bat Graf Grünne im Namen des König-Groß - herzogs den Deutſchen Bund um Hilfe, da ſchon das ganze Land mit Ausnahme der Feſtung und ihrer nächſten Umgebung in den Händen der Empörer ſei; zum Troſte fügte der luxemburgiſche Bundesgeſandte hinzu, daß ſein König fortan dem Bunde freundlich entgegenkommen und darum den Proviant für die Bundesfeſtung fortan zollfrei einlaſſen wolle. Ueber die Rechtsfrage ließ ſich gar nicht ſtreiten. Was auch der Wiener Congreß durch ſeine künſtlichen Staatsbildungen, der König der Nieder - lande durch ſeine bundesfeindliche Geſinnung geſündigt haben mochten: unzweifelhaft war der Bund verpflichtet, dem bedrängten Bundesgliede Beiſtand zu leiſten, gleichviel ob man die Belgier als Empörer oder als eine auswärtige feindliche Macht anſah. Rückten ſchleunig Bundestruppen ein, ſo konnte das Land ſeinem rechtmäßigen Landesherrn bewahrt, oder auch ein Gebietsaustauſch, wenn er ſich als nothwendig erwies, freiwillig, ohne Schaden für Deutſchlands Ehre zugeſtanden werden. Das Alles war ſo unbeſtreitbar, daß ſelbſt die Londoner Conferenz bei ihren erſten Be - ſchlüſſen die Rechte des Deutſchen Bundes auf Luxemburg ſtets aus - drücklich vorbehielt. In Frankfurt aber herrſchte rathloſe Verwirrung; Alle fürchteten durch die luxemburgiſche Frage in einen Krieg mit Frankreich ver - wickelt zu werden. Und faſt noch kläglicher verhielt ſich die Nation. Unter dieſer niederländiſchen Provinz, die doch mit einem Beine im Deutſchen Bunde ſtehen ſollte, konnte ſich Niemand etwas Beſtimmtes denken, und überdies waren die Belgier Empörer, alſo nach der neuen liberalen Heils - lehre jeder Unterſtützung würdig. Soweit die öffentliche Meinung die Frage überhaupt beachtete, ſprach ſie ſich bald einmüthig für den Aufſtand aus; warme Theilnahme für das Recht des König-Großherzogs zeigten nur der Kronprinz von Preußen und der kleine Kreis der ſtrengen Berliner Legitimiſten.

Nach langen Erwägungen kam der Bundestag zu der Einſicht, daß man den Krieg unter allen Umſtänden vermeiden, alſo die luxemburgiſchen Wirren nicht als den Einfall einer feindlichen Macht, ſondern als einen Aufruhr im Bundesgebiete behandeln und dawider durch Bundes-Execu - tion einſchreiten müſſe. Dies gab den erwünſchten Anlaß zu neuen Ver - zögerungen; nun ſollte erſt der luxemburgiſche Geſandte über die Lage des Landes ausführlich berichten und dann General Wolzogen ſelbſt hinüber - reiſen um ebenſo gründlich zu begutachten, wie viele Truppen wohl für die Bundes-Execution nöthig ſeien. Darüber mußten Monate vergehen, und unterdeſſen, ſo hoffte man in Frankfurt, konnte der ganze Handel313Der Aufruhr in Luxemburg.glücklich begraben ſein. Um den Ernſt ſeiner Abſichten von vornherein unzweideutig zu erweiſen, richtete der Bundestag am 18. Nov. an Oeſter - reich und Preußen die vertrauensvolle Bitte, ſie möchten ſich auf der Lon - doner Conferenz des deutſchen Bundeslandes annehmen und womöglich bewirken, daß die Bundes-Execution ganz oder theilweiſe überflüſſig werde. Einen Vertreter des Bundes nach London zu ſchicken hielt man für be - denklich; denn man fühlte, welche lächerliche Rolle ein ſolcher rein-deutſcher Diplomat neben den Geſandten der beiden deutſchen Großmächte ſpielen mußte. Nur Blittersdorff wollte nicht ſehen, daß der Deutſche Bund ohne Oeſterreich und Preußen nicht zu den großen Mächten gehörte, und ver - langte lebhaft, aber vergeblich die unmittelbare Mitwirkung des Bundestags bei den Londoner Conferenzen. *)Blittersdorff’s Berichte, 22. 30. April 1831 ff.

Mittlerweile verſuchte der franzöſiſche Hof, da er die Rechtmäßigkeit der Bundes-Execution unmöglich beſtreiten konnte, mindeſtens die Aus - führung nach Kräften zu verzögern. In einem Rundſchreiben vom 30. Dec. ſprach er den kleinen deutſchen Höfen den väterlichen Wunſch aus, der mit den Hoffnungen dieſer Cabinette nur zu wohl übereinſtimmte: daß der Bundestag bei den zu ergreifenden Maßregeln die Langſamkeit und die weiſe Mäßigung, wovon ſeine Thaten durchdrungen ſind, bewähren, daß alle möglichen Zögerungen angewendet und ſelbſt erneuert werden mögen. Dieſe Langmuth entſpricht dem Charakter des Bundestages, der die Eintracht und den Frieden durch die verſöhnlichſten Mittel aufrecht erhalten ſoll. Zugleich mußte Alleye in Frankfurt der Bundesverſamm - lung vorhalten: die Eilfertigkeit, welche ſie bei der Vorbereitung der militäriſchen Maßregeln zeige, drohe die Aufregung in Belgien noch zu vermehren . **)Circularſchreiben des franzöſ. Miniſters des Ausw. an die Geſandtſchaften in Karlsruhe, Stuttgart u. ſ. w. 30. Dec. Weiſung an Alleye, 29. Dec. 1830.Um dem Bunde noch einen Stein mehr in den Weg zu werfen, ſtellte Frankreich ſodann die dreiſte Behauptung auf: das Stück des Fürſtenthums Bouillon, das die Pariſer Verträge einſt mit dem alten Herzogthum Luxemburg vereinigt hatten, könne nicht als ein unzertrenn - licher Beſtandtheil des Landes betrachtet werden worauf dann erſt von Bundeswegen eine lange Widerlegung geſchrieben werden mußte. ***)Graf Reinhard, franz. Geſandter in Dresden, Denkſchrift über Bouillon. Er - widerung von Smidt d. J., Jan. 1831.In - deß Deutſchlands Recht war allzu klar. Am 18. März 1831 beſchloß der Bundestag endlich, durch ein Executionsheer von 24000 Mann das Anſehen der rechtmäßigen Obrigkeit in Luxemburg wiederherzuſtellen und zugleich die Beſatzung der Bundesfeſtung auf Kriegsfuß zu ſetzen.

Der Beſchluß erfolgte viel zu ſpät; denn in dieſen ſechs Monaten hatten die Aufſtändiſchen, ermuthigt durch das Zaudern des Bundes, überall im Lande ihre Behörden eingerichtet. Nur die Bundesfeſtung314IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.blieb in der feſten Hand des preußiſchen Gouverneurs; und Preußen ver - mehrte freiwillig ſeine Beſatzungstruppen faſt auf das Doppelte, da das luxemburgiſche Contingent, das in Kriegszeiten die kleinere Hälfte der Garniſon bilden ſollte, nirgends vorhanden war. Aber welch ein An - blick, als nun die anderen Bundestruppen, welche der Bundestag zur Vertheidigung der Feſtung beſtimmt hatte, die Kriegsſchaaren von Det - mold, Bückeburg und Waldeck langſam eintrafen. Sie erwieſen ſich als würdige Bundesbrüder des Frankfurter Kriegsheeres. Schon unterwegs hatten ſie gemeutert, und in der Feſtung betrugen ſie ſich ſo zuchtlos, daß der preußiſche Gouverneur ſcharf eingreifen mußte; er ließ ihnen den höheren preußiſchen Sold geben und ſie unter preußiſcher Aufſicht in der ihnen faſt unbekannten Kunſt des Schießens üben. Ueber dieſe Eigen - mächtigkeit des preußiſchen Generals gerieth der Bundestag in vaterlän - diſchen Zorn und erörterte nunmehr mit gewohnter Gründlichkeit die leider ganz unlösbare Frage: wer ſolle die Koſten der Soldzahlungen und Schießübungen tragen? der Bund, oder Preußen, oder die Souveräne der gebeſſerten Kriegsheere? Schließlich konnte das preußiſche Gouvernement den Jammer nicht mehr anſehen und erklärte der Bundesverſammlung geradezu: mit ſolchem Geſindel ſei in einer rings von Rebellen umgebenen Feſtung nichts anzufangen. Neue Verlegenheit in Frankfurt. Man ſah wohl ein, daß der Rückmarſch der drei Heere unvermeidlich war, aber den wahren Grund wollte man den drei Souveränen nicht mittheilen, das hätte ſie zu tief gekränkt; darum beſchloß man am 27. October, die drei Contingente ſollten heimkehren, da die Veranlaſſung ihres Ausmarſches nicht mehr vorhanden ſei . So väterlich ſorgte der Bund nicht für die Kriegstüchtigkeit des deutſchen Heeres, ſondern für die Gemüthsruhe ſeiner Kleinfürſten. Für die Bundesfeſtung ſtand allerdings nichts zu fürchten; denn König Friedrich Wilhelm befahl ſofort, daß ſein rheiniſches Armee - corps im Nothfall den Erſatz für die 1400 Lipper und Waldecker ſtellen ſolle. *)Nagler’s Berichte, 1. 19. Aug., 28. Sept., 4. Nov., 3. Dec. 1831.

Um ſo troſtloſer geſtalteten ſich die Ausſichten für die Bundes-Exe - cution; es lag ein Fluch auf Allem was dieſe unglückliche Frankfurter Ver - ſammlung in die Hand nahm. Daß Preußen an der Execution nicht theil - nehmen dürfe, war am Bundestage beſchloſſene Sache; denn das Erſcheinen preußiſcher Regimenter außerhalb der Bundesfeſtung konnte allerdings ſehr leicht das Signal zu einem europäiſchen Kriege geben. Frankreich hatte auf der Londoner Conferenz den dringenden Wunſch ausgeſprochen, die Bundes-Execution möge in einer Form erfolgen, welche unzweideutig beweiſe, daß der Bund allein, und nicht die Oſtmächte, in Luxemburg ein - ſchritten. **)Bernſtorff, Weiſung an Maltzahn, 14. Nov. 1830.Dieſe Bitte erſchien, wie die Dinge lagen, wohl begreiflich,315Hannovers Widerſetzlichkeit.und der Bund konnte ſie leicht erfüllen; auf dem Papiere mindeſtens beſaß er ja noch andere Truppen, die den reizbaren Franzoſen minder verdächtig erſchienen als die Preußen. Die Execution wurde alſo dem zehnten und einem Theile des neunten Bundes-Armeecorps unter der Führung Hannovers übertragen. Die hannoverſche Regierung zeigte ſich jedoch wenig dankbar für ſolche Auszeichnung; ſie erhob vielmehr lebhafte Beſchwerden über die unerſchwingliche Laſt und verlangte endlich einen Vorſchuß von 2 300000 Thlr., der nach Bundesbrauch unmöglich vor einem halben Jahre gezahlt werden konnte. Was war der Grund dieſes auffälligen Verhaltens? Geiz gehörte doch ſonſt nicht zu den Fehlern des hannoverſchen Adelsregiments, das immer ſtattlich und vornehm aufzu - treten liebte. Unzweifelhaft beſorgte Hannover die Geſchäfte Lord Palmer - ſton’s. Beide Weſtmächte wünſchten, aus zärtlicher Rückſicht für ihren belgiſchen Schützling, die Einmiſchung des Bundes wo möglich zu hinter - treiben, und da ſie die Rechtmäßigkeit der Bundes-Execution ſchlechterdings nicht beſtreiten konnten, ſo trieben ſie ihr Spiel verdeckt. Während Alleye den einzelnen Bundesgeſandten vertraulich eine neue franzöſiſche Denk - ſchrift zeigte, welche nochmals dringend vor den Gefahren der Ueberſtürzung warnte,*)Alleye, Annotations über Luxemburg, März 1831. warf England-Hannover die Fackel der Zwietracht in den Bundes - tag ſelber. Der hannoverſche Geſandte ſteigerte ſeine Geldforderungen; er verlangte ſogar, der Befehl zum Ausmarſch der Executionstruppen dürfe nicht eher ertheilt werden, als bis alle betheiligten Staaten gehört und die Geldfragen erledigt ſeien.

Holſtein und mehrere andere der kleinen nordiſchen Contingentsherren beeilten ſich dem löblichen Beiſpiel Hannovers zu folgen und forderten ebenfalls Sicherheit wegen der Koſten. Auf das Schärfſte trat Nagler, von dem bairiſchen Geſandten wacker unterſtützt, dieſem Treiben entgegen, das dem offenen Bundesverrathe nahekam. Der Zank ward unerträg - lich, die ſchlimmſten Zeiten des Regensburger Reichstags kehrten wieder. **)Nagler’s Berichte, 26. April, 2. 10. 23. Juli, 10. Nov. 1831.Friedrich v. Gagern, der im März mit Aufträgen der holländiſchen Re - gierung in Frankfurt eintraf, ſagte ſchon damals ſcharfblickend voraus: der Bund werde ſicherlich gar nichts thun, es fehle durchaus an ernſtem Willen. In der That ging das Jahr 1831 über dem unwürdigen Geld - gezänk dahin, ohne daß ein Mann der Bundesexecutionstruppen ſich in Marſch ſetzte. Und mittlerweile ward durch die Londoner Conferenz ſchon dafür geſorgt, daß die ganze Bundes-Execution überflüſſig ſchien, wie es der Bundestag von Haus aus ſo inbrünſtig wünſchte.

Der preußiſche Hof that für die Sicherheit der Feſtung Luxemburg weit mehr als ſeine Bundespflicht erheiſchte; er bemühte ſich in Frankfurt redlich, den hadernden Bundesgenoſſen einen Entſchluß abzuringen, er316IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.verwahrte auf der Londoner Conferenz oft und nachdrücklich die Rechte des Bundes. Nach Wien ſchrieb Bernſtorff: Der Bund würde entehrt ſein und ſich darein ergeben müſſen, in Zukunft kein Leben und keine politiſche Thätigkeit mehr zu haben, wenn er es unterlaſſen wollte, bei dieſer wichtigen Gelegenheit ſeine ebenſo klare als förmliche Pflicht zu erfüllen. Zur ſelben Zeit (November 1830) erhielt Bülow in London die beſtimmte Weiſung: Die Verhältniſſe des Großherzogthums und der Feſtung Luxemburg zu dem Deutſchen Bunde ſind unwiderruflich feſtzu - halten. Jede verſuchte gewaltſame Veränderung in dieſem Betreff wird als ein Eingriff in die Rechte des Bundes und in die durch die Ueber - einſtimmung von Europa geheiligten Verträge anzuſehen ſein. *)Bernſtorff, Weiſung an Maltzahn 1. Nov., an Bülow 4. Nov. 1830.Doch über das beſcheidene Maß dieſer ſelbſtverſtändlichen Forderungen ging auch die preußiſche Politik nicht hinaus. Nur gewaltſame Veränderungen des Bundesgebiets dachte ſie nicht zu dulden. Fand ſich indeſſen ein friedliches Mittel, um ohne Schmälerung des Bundesgebiets und mit Zuſtimmung aller Berechtigten, den leidigen Handel aus der Welt zu ſchaffen, dann wollte König Friedrich Wilhelm, friedfertig wie er war, nichts dawider einwenden; und ein ſolcher Ausweg ward ihm jetzt un - erwartet durch ſeinen niederländiſchen Schwager ſelbſt gewieſen.

Der König-Großherzog trug ſich noch eine Zeit lang mit der Hoffnung, ſein deutſches Bundesland durch Waffengewalt zurückzugewinnen. Er ſendete im März 1831 den tapferen Herzog Bernhard von Weimar in die Feſtung Luxemburg, um von dort aus einen royaliſtiſchen Kreuzzug zu verſuchen. Der Plan ward raſch wieder aufgegeben, weil das ganze Groß - herzogthum ſich ſchon in den Händen der Aufſtändiſchen befand. Nachher unternahm König Wilhelm, den Bund zu einer Kriegserklärung gegen Belgien zu bewegen; auch dies blieb vergeblich, da die Execution bereits beſchloſſen war. Mittlerweile hatte ſich die Londoner Conferenz längſt über den Grundſatz der Theilung des niederländiſchen Geſammtſtaats geeinigt. Die holländiſchen Bevollmächtigten begannen ſelbſt zu fühlen, daß ſie an dieſer vollendeten Thatſache nichts mehr ändern konnten, und verſuchten nur noch, ihrem Lande eine möglichſt günſtige Grenze zu gewinnen. Die alte Grenze von 1790, welche dem Theilungsplane zur Richtſchnur diente, war in den limburgiſchen Maaslanden ſehr unvortheilhaft für Holland; dort lagen Venlo, Roermonde und andere altholländiſche Plätze rings von belgiſchem Gebiete umgeben. Daher erklärten die holländiſchen Unter - händler dem preußiſchen Geſandten vertraulich, ihr König ſei geneigt, die Weſthälfte von Luxemburg an Belgien auszuliefern, wenn Belgien dafür das rechte Ufer der Maas und die Nordſpitze der Provinz Limburg an Holland und den Deutſchen Bund abträte. Sobald dieſer Vorſchlag der Londoner Conferenz bekannt wurde, fand er ſofort allgemeine Zuſtimmung,317General Dumoulin.und auch der Bundestag hegte keine Bedenken. *)Bülow an Nagler, 27. Auguſt; Eichhorn’s Denkſchrift über die Niederlande 25. Oct.; Nagler’s Bericht 13. Sept. 1831.An ſich war ein ſolcher Gebietstauſch für Deutſchland keineswegs unannehmbar. Der einzige militäriſch wichtige Platz Luxemburgs, die Bundesfeſtung, ſollte deutſch bleiben, das limburgiſche Maasland grenzte unmittelbar an preußiſches Gebiet, und da das Großherzogthum bisher nur dem Namen nach zum Deutſchen Bunde gehört hatte, ſo kam leider ſehr wenig darauf an, ob fortan ſtatt der 150000 luxemburgiſchen Wallonen ebenſo viele limburgiſche Niederdeutſche zu den Einwohnern des Bundesgebiets gerechnet wurden. Der junge belgiſche Staat war für neutral erklärt worden, folglich durfte ſein König nicht in den Deutſchen Bund eintreten, und Deutſchland mußte durch holländiſches Gebiet für den Verluſt der Weſthälfte Luxemburgs entſchädigt werden.

Nach Alledem erſchien der in London gefundene Ausweg als der einzige, der aus der Verwirrung hinausführte. Schmachvoll war dabei nur, daß die Belgier, vom Bunde ungehindert, das deutſche Bundesland ſchon beſetzt hielten und ſich mithin rühmen konnten das große Deutſch - land zu einer Abtretung gezwungen zu haben. Die Londoner Conferenz beachtete dieſe häßliche Kehrſeite des Handels nicht, und in den Vierund - zwanzig Artikeln, welche die Großmächte am 15. Nov. 1831 mit Belgien vereinbarten, wurde der Gebietstauſch an der deutſchen Grenze förmlich beſchloſſen, immer unter ausdrücklichem Vorbehalt der Rechte des Bundes. Damit ſchien der Streit erledigt. Jetzt aber rächten ſich erſt die Trägheit des Bundestags und die Widerſetzlichkeit Hannovers. Hätte der Bund, nach ſeiner Pflicht, die Exekutionstruppen rechtzeitig in das aufrühreriſche Bundesland einrücken laſſen, ſo konnte er in ſtolzer Ruhe warten, bis der König der Niederlande den Vierundzwanzig Artikeln endlich zuſtimmte, und dann dem in London verabredeten Gebietstauſche auch ſeinerſeits freiwillig, in Ehren die Genehmigung ertheilen. Nun war der günſtige Augenblick längſt verſäumt. Die Belgier blieben im Beſitze des ganzen Landes, was ihnen ſogar der König der Niederlande für die Dauer des Waffenſtillſtands ausdrücklich zugeſtand, und da der König erſt im Jahre 1839 ſeinen Frieden mit Belgien ſchloß, ſo gerieth die deutſche Inſel, die allein noch aus der belgiſchen Ueberſchwemmung emporragte, die Bundesfeſtung, bald in eine völlig unhaltbare Lage. Die deutſche liberale Welt war aber mit dem Gezänk der kleinen Landtage, mit Rußland und Polen, mit Spanien und Portugal dermaßen beſchäftigt, daß ſie die ſchimpflichen Zuſtände der Weſtmark keines Blickes würdigte.

Der einzige Mann, der in dieſer Bundesſchande eine rühmliche Rolle ſpielte, war General Dumoulin, der preußiſche Feſtungscommandant von Luxemburg. Ihm allein und ſeinen braven Soldaten verdankte318IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Deutſchland, daß in dieſer Weſtmark, wo alle Welt des Deutſchen Bundes ſpottete, mindeſtens die ſchwarzweiße Fahne noch verhaßt und gefürchtet blieb. Der Sohn eines holländiſchen Generals und bis zum Jahre 1806 ſelbſt holländiſcher Offizier, war Dumoulin im preußiſchen Dienſte bald ganz zum Deutſchen geworden; er hatte ſich in den ſchweren napoleoniſchen Zeiten das Vertrauen Gneiſenau’s erworben und dann bei der Erhebung Deutſchlands wacker mitgeholfen. Sein neues Amt übernahm er mit dem Bewußtſein, daß ihm die Grenzhut des Vaterlandes anvertraut ſei; er führte die Geſchäfte des Gouvernements, da der Gouverneur, der tapfere alte Landgraf Ludwig von Heſſen-Homburg nach Fürſtenbrauch den größten Theil des Jahres auf Reiſen verbrachte, und erſchreckte die Belgier durch ſeine genaue Kenntniß der niederländiſchen Verhältniſſe, die Diplomaten des Bundestags durch den ſoldatiſchen Freimuth ſeiner Berichte.

Und welch ein Aufgabe hatte er zu löſen! Neun Jahre lang blieb die Feſtung in beſtändigem Belagerungszuſtande, rings von Feinden ein - geſchloſſen. Für die Garniſon freilich erzwang ſich der General den freien Verkehr mit Trier und dem heimathlichen Hinterlande, aber auch nur für die Garniſon; jeder Waarenballen, der an die Einwohner einging, unterlag den belgiſchen Zöllen und wurde von den Zollbeamten der Rebellen mit berechneter Bosheit mißhandelt. Handel und Wandel ſtockten gänzlich; die Wirkſamkeit der Rechtspflege endete an den Grenzen des Feſtungsrayons, da der Bundestag die Behörden der Belgier nicht anerkannte; ſelbſt der Poſtverkehr mit Deutſchland hörte auf, und Dumoulin mußte die Briefe der Einwohner durch ſeine Ordonnanzen befördern laſſen. An die alten Wälle, die in gewaltigen Zikzaklinien die Felſenthäler der Elze und des Petrusbachs überragten, wagten ſich die Belgier nicht heran; dafür ver - ſuchten ſie durch ſchlechte Künſte Verrätherei anzuzetteln. Bald mußte der General einen Belgier, der einen preußiſchen Soldaten zur Deſertion verleiten wollte, ausprügeln laſſen was nach Kriegsrecht erlaubt war und ſehr heilſam wirkte bald eine Brigade belgiſcher Zollwächter im Feſtungsbezirke gefangen nehmen, bald die Miliz-Aushebungen der Belgier unterſagen oder ihren Holzfreveln ſteuern. Dazu von hüben und drüben beſtändige Verſuche Freicorps zu bilden; wiederholte Verhaftungen, heute von der einen morgen von der anderen Seite angefochten; und ein wider - wärtiger Briefwechſel mit dem belgiſchen Militärgouverneur General Tabor in Arlon, der erſt nach ſcharfen Zurechtweiſungen einſah, daß man einen preußiſchen General nicht ebenſo ſchnöde behandeln durfte wie den Deutſchen Bund. Aber auch der holländiſche Civil-Gouverneur in der Feſtung ſelbſt, General Gödecke, machte dem tapferen Preußen zu ſchaffen; er begünſtigte erſt unter der Hand die Umtriebe der kleinen oraniſchen Partei, dann verlangte er Schonung für die gefangenen Belgier, da ſein König noch immer hoffte die meuteriſche Provinz durch Güte zu gewinnen; dann for -319Luxemburg und die Weſtmächte.derte er gar Bezahlung für die preußiſche Einquartierung. Selbſt der Bundestag beſchwerte ſich, weil die preußiſchen Ingenieure im Angeſichte des Feindes die Feſtungswerke verſtärkten, und es währte lange bis er dieſe außerordentlichen Ausgaben genehmigte. *)Nagler’s Berichte, 28. Dec. 1831, 24. Jan., 10. März., 8. Mai 1832.Das Tollſte blieb doch, daß der Bund ſich über ein Rayonsgeſetz für die Bundesfeſtungen noch immer nicht hatte einigen können. Der Commandant mußte alſo eigen - mächtig die Abgrenzung des Feſtungsrayons beſtimmen. Als er ſich durch die beharrlichen Neckereien der Belgier genöthigt ſah das Feſtungsgebiet bis auf einen Umkreis von vier Stunden zu erweitern, da erhob die Bundes - verſammlung Bedenken, und der General antwortete kurzab, diesmal könne er ſeinen Frankfurter Vorgeſetzten nicht gehorchen.

Um die Verwirrung zu vollenden miſchten ſich auch noch die Weſt - mächte ein. Da der Bundestag die Bevollmächtigten des noch nicht an - erkannten Königs der Belgier mehrmals zurückgewieſen hatte, ſo betrach - teten ſich England und Frankreich als die natürlichen Vertreter ihres Schützlings. Alleye und Cartwright erhoben eine Beſchwerde nach der anderen über angebliche Uebergriffe des luxemburgiſchen Commandanten und ſchlugen dabei wieder jenen rohen, zankenden Ton an, der ihnen ſchon bei dem Frankfurter Streite ſo übel bekommen war. Es war, als wollten ſie nochmals der Welt beweiſen, was von der gerühmten Civiliſation des Weſtens zu halten ſei. Als Dumoulin einige belgiſche Soldaten aus dem Gebiete der deutſchen Bundesfeſtung ausgewieſen hatte, da meinte der Engländer, eine ſolche That launiſcher Willkür könne ſich nur auf das Recht des Stärkeren ſtützen ; und als die Aushebung der belgiſchen Milizen im Feſtungsgebiete unterſagt wurde, da erklärte Alleye: die franzöſiſche Regierung hat Grund zu der Befürchtung, daß General Dumoulin und ſeine Anſtifter abſichtlich einen Zuſammenſtoß herbeiführen wollten. **)Verbalnoten an Münch, von Cartwright 25. Sept. 1833, von Alleye 26. Fe - bruar 1834.Und nicht genug, daß die Beiden das ſonnenklare Recht mit dreiſter Stirn beſtritten; ſie traten auch allen diplomatiſchen Brauch mit Füßen. Sie unterſtanden ſich dem Commandanten von Luxemburg unmittelbar ihre Beſchwerden einzuſenden; und obwohl ſie wußten, daß der Bundestag nach ſeiner Geſchäftsordnung nur Verbalnoten von den fremden Ge - ſandten annehmen durfte, ſo verſuchten ſie doch immer wieder mit dem präſidirenden Geſandten Münch perſönlich zu unterhandeln, ja Alleye hatte einmal die Unverſchämtheit, eine vorgebliche mündliche Aeußerung Münch’s dem Bundestage vorzuhalten mit der Bemerkung: das ſei ſo gut wie ein Ehrenwort! Das freche Treiben der zwei Diplomaten des Weſtens währte jahrelang. Doch mit dieſen wohlbekannten Störenfrieden wußte ſelbſt der Bundestag fertig zu werden; er gab immer nur kurze abweiſende Er -320IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.widerungen, die deutſchen Großmächte unterſtützten ihn nachdrücklich,*)Ancillon, Weiſung an Maltzahn, 6. Nov. 1834. und die beiden Geſandten verloren in Frankfurt jeden Einfluß. Die diplo - matiſche Geſellſchaft zog ſich von ihnen zurück. Blittersdorff berichtete: man iſt hier nahe daran, Lord Palmerſton für einen Halbwilden zu er - klären, mit dem man nichts zu thun haben könne. **)Blittersdorff’s Bericht, 13. Sept. 1834.Und dieſe Weſt - mächte, die den Deutſchen Bund alſo durch anmaßende Einmiſchungs - verſuche beläſtigten, wurden von der liberalen Preſſe fort und fort als Deutſchlands natürliche Bundesgenoſſen verherrlicht.

Unterdeſſen war über Luxemburgs Zukunft noch immer nichts ent - ſchieden. Der König der Niederlande wollte ſich zur Annahme der Vierund - zwanzig Artikel nicht entſchließen, denn insgeheim hoffte er noch auf einen allgemeinen Krieg. Palmerſton aber erſchwerte dem verrathenen hollän - diſchen Bundesgenoſſen die Nachgiebigkeit durch ungezogenen Uebermuth. Unverkennbar wünſchte der Lord den Streit in die Länge zu ziehen; der Waffenſtillſtand, der die Belgier im Beſitze des größten Theiles von Luxem - burg und Limburg ließ, war ja für Englands neues Schoßkind überaus vortheilhaft, und wehe dem britiſchen Handel wenn das Feſtland je ganz zur Ruhe kam!

Menſchlich genug, daß König Wilhelm in dieſen langen Jahren der Ungewißheit ſeinem Grolle gegen den unthätigen Deutſchen Bund zuweilen die Zügel ſchießen ließ. Im November 1833 zeigte er dem Bundestage an, er ſei bereit die Weſthälfte Luxemburgs an Belgien abzutreten; eine Entſchädigung in Land und Leuten könne er dem Bunde freilich nicht bieten, indeſſen denke er die auf dem ungetheilten Großherzogthum ruhen - den Bundespflichten nach wie vor vollſtändig zu erfüllen, und er hoffe ſo ſagte er wie zum Hohne man werde in dieſer Zuſage einen Beweis ſeiner föderativen Geſinnungen erkennen. Durch heftige Be - ſchwerden über die Unthätigkeit des Bundestages ſuchte er ſodann dieſe ehrenrührige Zumuthung, die ſeinen eigenen früheren Verheißungen offen - bar widerſprach, wohl oder übel zu rechtfertigen. ***)Nagler’s Berichte, 20. Nov. 1833, 16. Jan. 1834.Die beiden deutſchen Großmächte aber waren jetzt ſo ganz erfüllt von dem Wunſche den leidigen Streit zu begraben, daß ſie den kleinen Höfen die Annahme der nieder - ländiſchen Vorſchläge dringend empfahlen. Ancillon meinte: eine Ent - ſchädigung zu fordern ſei widerſinnig, da kein Gebiet zur Verfügung ſtehe, und auch ungerecht, da der König ja kein neues Land erhalte, ſondern nur ſein altes Land behalte. †)Ancillon, Weiſung an Bülow, 15. Dec. 1833.Da geſchah das Unerhörte: König Ludwig von Baiern und mehrere der deutſchen Höfe zeigten ſich patriotiſcher als Preußen ſelbſt; ſie beſtanden darauf, daß Deutſchland eine Entſchädigung321Theilung Luxemburgs.durch Landgebiet erhalten müſſe. *)Dönhoff’s Berichte, München 19. Dec. 1833, 28. Febr. 1834.Zweimal, in den Jahren 1834 und 1836, verlangte der Bundestag demnach feierlich vollen Erſatz für das weſtliche Lützelburg. König Wilhelm gab endlich nach. Am 19. April 1839 wurde der Friede zwiſchen Holland und Belgien, auf Grund der Vierundzwanzig Artikel, unterzeichnet. Am 5. September genehmigte der Bundestag, daß dies neugebildete holländiſche Herzogthum Limburg, mit Ausſchluß der Feſtungen Mastricht und Venloo, in den Bund eintreten ſollte; dafür wurde das etwa gleich große walloniſche Luxemburg, das allerdings auch die deutſche Stadt Arlon und insgeſammt etwa 32,000 deutſche Bewohner umfaßte, an Belgien ausgeliefert. Der gefallenen Entſcheidung fügten ſich ſelbſt die Agnaten aus dem herzoglichen Hauſe Naſſau; ſie hatten während aller dieſer Verhandlungen in tapferen Worten Großes geleiſtet, aber freilich bei der Stellung der Executionstruppen ſich ganz ebenſo kleinlich gezeigt wie Hannover; jetzt entſagten ſie ihren Erbanſprüchen auf die Weſthälfte Luxemburgs und empfingen von König Wilhelm eine Geldentſchädigung.

Dergeſtalt wurde eine Schmälerung des Bundesgebietes noch glücklich vermieden. Das neue ſogenannte Herzogthum Limburg war, genau wie der abgetretene Landſtrich, eine niederländiſche Provinz, die dem Namen nach zu Deutſchland gehörte, und der Bundestag getröſtete ſich der Hoffnung, daß die Weisheit Sr. Majeſtät Maßregeln treffen werde, welche geeignet ſind, den Unzukömmlichkeiten vorzubeugen, die ſonſt möglicherweiſe aus dieſen Verhältniſſen entſtehen könnten . Wer ſolchen Beſchwichtigungen Glauben ſchenkte, der konnte ſogar mit einigem Scheine behaupten, daß der Gebietstauſch an der Weſtgrenze dem Deutſchen Bunde Vortheil bringe. Da das verkleinerte Luxemburg nunmehr von dem Königreich der Nieder - lande weit entfernt lag, ſo ſah ſich der König gezwungen, alte Unter - laſſungsſünden endlich zu ſühnen; das Großherzogthum wurde fortan als ein ſelbſtändiger, nur durch Perſonal-Union mit den Niederlanden ver - bundener Staat eingerichtet, erhielt ſein beſonderes Bundescontingent, im Jahre 1841 auch ſeine eigene Verfaſſung und trat alſo ſcheinbar dem deutſchen Leben näher als bisher.

Doch was wollte dieſer deutſche Troſt bedeuten neben der furchtbaren moraliſchen Niederlage, welche der Deutſche Bund ſich ſelbſt bereitet hatte? Als der Bundestag die Widerſetzlichkeit Hannovers hinnahm und die be - ſchloſſene Bundes-Execution gemächlich einſchlafen ließ, da bekundete er vor aller Welt, daß er der erſten ſeiner Pflichten nicht entſprechen konnte. An dieſer Schande waren alle deutſche Staaten mitſchuldig, auch Preußen und Baiern, denn wohlgemeinte Worte genügten in ſolchem Falle nicht. Das geringe Anſehen, das der Bund in Europa bisher noch behauptet hatte, ſchwand fortan gänzlich; das kleine Belgien, das ängſtliche Juli -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 21322IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Königthum und der nur gegen die Schwachen muthige Palmerſton wagten ihn offen zu verhöhnen.

Und wie verderblich wirkte der Anblick deutſcher Schwäche auf die Geſinnung der deutſchgebliebenen Lützelburger. Das Völkchen konnte in jenem Beſchluſſe der Londoner Conferenz, der ihr Heimathland zertheilte, nur ein ſalomoniſches Urtheil, in dem geduldig zuwartenden Deutſchland nur die Rabenmutter ſehen. Neun Jahre lang hatte man ſich an die belgiſche Verwaltung gewöhnt; was Wunder, daß die guten deutſchen Klein - bürger in Diekirch, Waſſerbillig, Grevenmachern die Wiedervereinigung mit dem freien Belgien erſehnten? Auch die Stadt Luxemburg war belgiſch geſinnt, denn ſie hatte zwar an der preußiſchen Garniſon viel Geld verdient, aber noch mehr gelitten durch die Abſperrung von der Nachbarſchaft. Selbſt Miniſter Türckheim, der nicht leicht einen Bundes - beſchluß tadelte, fand es unbegreiflich, daß der Bundestag dieſe Grenz - bewohner gewaltſam mit dem Wunſche erfülle, dem Looſe der Verweſung zu entgehen, welchem die Stagnation des Bundes alle Verhältniſſe, welche ſie umfaßt, entgegenführt. *)Türckheim an Blittersdorff, 3. Auguſt 1835.Außerdem beſtand noch, wie in Belgien ſelbſt, eine kleine Partei von Fransquillons, die mit Frankreich buhlte, und eine Partei ſtillvergnügter Particulariſten, die am liebſten für ſich bleiben wollten. Eine deutſche Partei beſtand nicht. Die Beſitzer der großen Bergwerke und Fabriken wünſchten zwar freien Verkehr mit ihrem natürlichen Abſatzgebiete im Oſten; da und dort ſaß wohl auch ein junger Anwalt, der ſich in Bonn oder Heidelberg deutſche Ideen angeeignet hatte. Sonſt erklang im Lande nur Hohn und Spott über alles deutſche Weſen. Preußen allein ward gefürchtet, aber als ein Feind. Die ſchwarzweiße Fahne auf den Feſtungswällen Luxemburgs, die doch zum Schutze des Landes dort aufgerichtet ſtand, erſchien jetzt dem Volke als das Feldzeichen der Tyrannei, nachdem ſie neun Jahre hindurch der Tricolore von Brabant den Einzug gewehrt hatte. Ohnehin war der paritätiſche deutſche Staat dieſem bigott-katholiſchen Volke, das alljährlich am Pfingſtdienſtage den widerlichen Mummenſchanz der Echternacher Springproceſſion aufführte, von Altersher verdächtig, und der mächtige, noch ganz von hispaniſchen Gedanken erfüllte Clerus verſäumte nicht dieſe Geſinnung aufzuſtacheln. Verachtung gegen den deutſchen Namen und Haß gegen Preußen das war die Saat, welche der Bundestag auf den Boden dieſes altdeutſchen Grenzlandes ſtreute. Sie ging üppig auf und wuchert fort bis zum heutigen Tage.

Seit dem Sommer 1832 war entſchieden, daß Deutſchland wieder ganz der Politik der Oſtmächte angehörte, und nirgends ward dies Er - ſtarken der alten Gewalten freudiger begrüßt als in Petersburg. Stolz323Preußens Zurückhaltung gegen Rußland.auf die Bändigung des polniſchen Aufruhrs, ſtolzer noch auf die wüthen - den Schmähreden der liberalen Preſſe, träumte der Czar nur noch von dem großen Kreuzzuge für das legitime Recht. Schon um Weihnachten 1830 ſagte er in einer geheimen Denkſchrift über die Lage Europas: Bewahren wir das heilige Feuer für den feierlichen Augenblick, den keine menſchliche Macht abwenden, keine hinausſchieben kann, für den Augenblick, da der Kampf zwiſchen der Gerechtigkeit und den Grundſätzen der Hölle (le prin - cipe infernal) ausbrechen muß. Irgend ein beſtimmter politiſcher Ge - danke lag in ſolchen dröhnenden Worten fanatiſchen Haſſes freilich nicht, und General Schöler urtheilte treffend: über ſeine eigentlichen Wünſche täuſcht der Kaiſer nicht nur Andere, ſondern ſich ſelbſt. *)Schöler’s Bericht, 24. Sept. 1833.Deutlich war nur, daß Deutſchland in dem Kampfe gegen die Revolution ſich verbluten, und Rußland ſchließlich mit ſeiner vielgerühmten formidablen Reſerve , die ſich auf dem Papiere der Petersburger Denkſchriften ſo großartig aus - nahm, die Früchte des Krieges gemächlich einheimſen ſollte.

Je ſicherer Nikolaus nach dem Falle Warſchaus ſich wieder ſelbſt fühlte, um ſo tiefer wurmten ihn die Niederlagen, die ihm Preußens bedachtſame Friedenspolitik bereitet hatte. Noch immer trug er ſeine perſönliche Verehrung für den König gefliſſentlich zur Schau und ver - ſicherte inbrünſtig: er iſt mein Vater, ich bin ſein Sohn. Dies hin - derte ihn jedoch keineswegs, den Berliner Hof mit Zumuthungen zu über - ſchütten, deren gleichen andere Söhne ihren Vätern nicht zu ſtellen pflegen. Nach allen den Freundſchaftsdienſten, welche ihm Preußen während des polniſchen Aufſtands geleiſtet, wagte er noch zu verlangen, der deutſche Nachbarſtaat möge dicht an der ruſſiſchen Grenze eine hohe Polizeibehörde unter Mitwirkung eines ruſſiſchen Beamten einrichten; ja er bat den König ſogar, jene polniſchen Flüchtlinge, welche die Heimkehr verweigerten, einfach im preußiſchen Heere unterzuſtecken (März, Juni 1832). Beide Bitten wurden rundweg abgeſchlagen, und die politiſche Freundſchaft erkaltete ſichtlich. Der neue ruſſiſche Geſandte Ribeaupierre verſtand auch nicht wie ſein Vorgänger Alopeus, ſich das perſönliche Vertrauen der Berliner Staats - männer zu gewinnen; General Schöler andererſeits begann dem Peters - burger Hofe läſtig zu werden, weil er durch lange Erfahrung gegen die moskowitiſchen Schauſpielerkünſte gepanzert war und immer wieder warnte: es iſt wahrhaft nationale Eigenſchaft der Ruſſen, von ihren Freunden Opfer jeder Art und nach dem größten Zuſchnitt zu fordern, ſolche aber nur in ganz entgegengeſetztem Verhältniß zu leiſten. **)Schöler’s Bericht, 28. Dec. 1833.

Obgleich der belgiſche Streit unter Rußlands eigener Mitwirkung im Weſentlichen beigelegt war und mithin kein Anlaß zum Kriege mehr beſtand, ſo forderte der Czar doch unabläſſig eine förmliche Erneuerung des Bundes21*324IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.der Oſtmächte: die drei Höfe müßten ihren Entſchluß das göttliche Recht aufrechtzuhalten feierlich vor der Welt beweiſen. Preußen erwiderte (Jan. 1833): das alte Bündniß ſtehe feſter denn je, ſeine förmliche Erneuerung ſei überflüſſig, ja gefährlich, denn ſie könne nur bewirken, daß die Weſtmächte ſich noch enger an einander ſchlöſſen und alſo der Zwieſpalt der Staaten - geſellſchaft ſich verſchärfte. Nach langen Bemühungen erreichte Rußland nur, daß am 9. März 1833 in Berlin ein unſchädlicher, nahezu inhalt - loſer Vertrag zwiſchen den Oſtmächten unterzeichnet wurde: die drei Höfe verpflichteten ſich lediglich, die belgiſche Frage auf Grund der 24 Artikel, alſo im Einverſtändniß mit den Weſtmächten, zum Abſchluß zu bringen, und verſprachen dem König der Niederlande Schutz gegen weitere Angriffe Angriffe, welche zur Zeit Niemand beabſichtigte.

Während alſo Preußen ſich gegen die Petersburger Politik ſpröde ver - hielt, kam ihr die Hofburg dienſtfertig entgegen. Seit der Julirevolution bewarb ſich Metternich um die ruſſiſche Freundſchaft, unaufhörlich und mit wenig Würde. Er hoffte, die Vertrauensſtellung, welche Preußen in Petersburg ſo lange behauptet hatte, nunmehr dem öſterreichiſchen Hofe zu verſchaffen, und reizte den verhaltenen Groll des Czaren beſtändig durch Verleumdung der preußiſchen Staatsmänner, durch mehr oder minder deutliche Klagen über die Berliner Feigheit. Sein Vertrauter, der Ge - ſandte Graf Ficquelmont, einer der feinſten Diplomaten aus der Schule des Staatskanzlers, hörte ehrfurchtsvoll die legitimiſtiſchen Zornreden des Selbſtherrſchers und bekräftigte ſie ſtets mit einem herzerfreuenden ſol - datiſchen Biederſinne. Von kriegeriſchen Abſichten blieb Metternich’s Aengſt - lichkeit nach wie vor weit entfernt, allein er fürchtete die Revolution in Italien. Seine wiederholten Bemühungen um die Bildung eines italieni - ſchen Fürſtenbundes waren an dem particulariſtiſchen Stolze der Bour - bonen von Neapel geſcheitert, und die Nachrichten von den Unruhen in Piemont lauteten hochbedenklich; in den Reihen der Verſchworenen fanden ſich ſchon die furchtbaren Namen Gioberti, Mazzini, Garibaldi. Wie bald konnte Oeſterreich ſich genöthigt ſehen, ſeine Truppen nach Turin zu ſenden und dadurch den Einmarſch der Franzoſen, den allgemeinen Krieg herbei - zuführen! Für ſolchen Fall mußte die Hofburg auf Rußlands Beiſtand rechnen; war dieſer geſichert, ſo ſchien nach öſterreichiſcher Anſchauung auch Preußens Heeresfolge unausbleiblich. Auf die Gefühle des nord - deutſchen Verbündeten zarte Rückſichten zu nehmen hielt Metternich für überflüſſig; denn eben in dieſer Zeit that der Berliner Hof wieder einen mächtigen Schritt zur Löſung des deutſchen Dualismus, Schlag auf Schlag kamen die Nachrichten von Preußens Zollverträgen, und obwohl der öſter - reichiſche Staatsmann die langnachwirkenden Folgen dieſer Verhandlungen keineswegs klar erkannte, ſo ahnte er doch in dem werdenden Deutſchen Zollvereine eine feindliche Macht. Alſo geſchah es, daß der Wiener Hof ſich jetzt mit jedem Mittel das ruſſiſche Bündniß zu ſichern trachtete, und325Mehemed Ali’s Erhebung.ſelbſt in der orientaliſchen Frage, welche die beiden Kaiſermächte ſchon ſo oft entzweit hatte, dem Petersburger Cabinet eine ganz unerwartete Unter - würfigkeit erwies.

So hoffärtig und leidenſchaftlich die ruſſiſche Politik im Weſten auf - trat, ebenſo klug und überlegen zeigte ſie ſich im Orient, wo ſie allein den Boden genau kannte. Seit dem Frieden von Adrianopel ſpielte der Czar die Rolle des hochherzigen Beſchützers der Türkei. Er erleichterte dem Sultan die Ausführung des Friedensvertrages in jeder Weiſe, erließ ihm einen großen Theil der Kriegskoſten, ſuchte die Pforte durch ſeine Geſchöpfe mittelbar zu beherrſchen, und ſeine Kronräthe gelangten nach reiflicher Berathung ſogar zu dem förmlichen Beſchluſſe, daß die Erhaltung des osmaniſchen Reiches vorläufig im Intereſſe Rußlands geboten ſei. Als freilich das Londoner Cabinet den Wunſch ausſprach, Rußland möge die Unverletzlichkeit der Türkei durch einen Vertrag mit England ſicher - ſtellen, da wurde das harmloſe Anſinnen in Petersburg entſchieden zurück - gewieſen.

Seit dem Jahre 1831 begannen neue Gefahren über das Türkenreich heraufzuziehen. Mehemed Ali, der gewaltige Vicekönig von Aegypten, der Bekämpfer der griechiſchen Giaurs heiſchte von dem Großherrn die längſt verſprochene Belehnung mit den ſyriſchen Paſchaliks, er wagte den Auf - ruhr, und in unaufhaltſamem Siegeszuge führte ſein Sohn Ibrahim das Heer der Aegypter durch Syrien bis in den Nordweſten Kleinaſiens. Zu Anfang 1833 ſtanden die Sieger nur noch wenige Märſche vom Bos - porus entfernt, der Hauptſtadt faſt ebenſo nahe wie Diebitſch vier Jahre zuvor, und wieder wie damals meinte die erſchrockene europäiſche Diplo - matie ſchon das Ende der Osmanenherrſchaft vor Augen zu ſehen. In Wahrheit konnte dieſe furchtbare Empörung dem wankenden türkiſchen Reiche vielleicht die Rettung bringen, wenn anders Rettung noch möglich war. Mehemed Ali war nach orientaliſchen Begriffen kein Hochverräther, und die brünſtige Verehrung, welche er mitten im Kriege dem Sultan bezeigte, doch nicht ganz erheuchelt; an die Entthronung des Hauſes Os - mans konnte und durfte er nicht denken. Wenn es dem kühnſten und ſchlaueſten Staatsmanne der orientaliſchen Welt gelang, ſeinem Hauſe das erbliche Großweſirat neben dem Kalifengeſchlechte zu erwerben, dann blieb immerhin denkbar, daß der türkiſche Staat ſich von innen heraus noch einmal verjüngte wie einſt das Frankenreich unter der Herrſchaft der karolingiſchen Hausmeier. Der Befreier der heiligen Stätten von Mekka durfte auf die begeiſterte Hingebung aller gläubigen Moslemin zählen, und ſein napoleoniſches Regiment in Aegypten zeigte, wie meiſterhaft er verſtand, die Herrſcherkünſte Europas dem Leben des Morgenlandes an - zupaſſen.

Aber jene Zerfahrenheit der öffentlichen Meinung Europas, welche dem osmaniſchen Reiche ſo oft ſchon das Daſein gefriſtet hatte, gereichte326IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.ihm diesmal zum Unſegen. Keine der Mächte, welche den Beſtand des türkiſchen Staates ehrlich wünſchten, beurtheilte die Lage richtig. Preußen blieb nach ſeiner alten Gewohnheit den türkiſchen Händeln fern, ſo lange ſie nicht unmittelbar den Weltfrieden bedrohten. Palmerſton verſtand von orientaliſcher Politik nicht das Mindeſte und verſäumte rathlos den rechten Augenblick. Metternich aber zeigte ſich wieder einmal unfähig, die Mächte des Werdens in der Geſchichte zu würdigen, und legte den Zollſtock ſeiner legitimiſtiſchen Doctrin auch an die Politik des Morgenlandes; wie er einſt in den Griechen nur Empörer geſehen hatte, ſo verdammte er jetzt un - bedingt die durchaus umſtürzleriſchen Abſichten Mehemed Ali’s und er - klärte die reine Verdammung der Revolution für den leitenden Gedanken jeder geſunden Politik . Niemals wollte er den Vermittler ſpielen zwiſchen einem Rebellen und einem rechtmäßigen Souverän. Er athmete auf, als auch der Czar ſeine Entrüſtung über den ägyptiſchen Aufrührer kundgab, und war nunmehr von Rußlands lauteren Abſichten ſo feſt überzeugt, daß er jedes Bedenken faſt wie eine perſönliche Beleidigung betrachtete. Wenn unſer Cabinet beruhigt iſt, ſchrieb er tief gekränkt nach Paris, ſo haben andere Cabinette nicht das Recht Zweifel zu hegen. Die un - klare Politik des Juli-Königthums mußte den Wiener Hof in ſeiner Ver - blendung beſtärken. Man wünſchte in Paris die Erhaltung der Türkei, aber man wollte auch den Aegypter nicht ganz preisgeben, da das Nilland von Altersher zu Frankreichs natürlichem Machtgebiete gerechnet wurde, und erging ſich daher in ungeſchickten Vermittlungsverſuchen, welche dem öſterreichiſchen Staatskanzler nur von Neuem zu beweiſen ſchienen, daß die Revolutionäre am Nil wie an der Seine alleſammt an demſelben Strange zögen.

Der Petersburger Hof allein wußte was er wollte; er weigerte ſich an einer gemeinſamen Einmiſchung theilzunehmen und bot dem Sultan, als die Gefahr aufs Höchſte geſtiegen war, ſeine Waffenhilfe an. Dankbar ergriff Machmud die Hand des großmüthigen Beſchützers. Ein ruſſiſches Heer landete an der aſiatiſchen Küſte gegenüber der Hauptſtadt, die Be - lagerung von Antwerpen ward durch einen Meiſterzug der Petersburger Politik wett gemacht und in den Schatten geſtellt. Unter freundlicher Mitwirkung ſeines nordiſchen Gönners ſchloß nun der Sultan mit den Aegyptern einen Frieden, der allen Herzenswünſchen der ruſſiſchen Politik Genüge that. Mehemed Ali erhielt die erbliche Statthalterſchaft über Syrien; ſelbſt das Thor Kleinaſiens, Cilicien, und die für den Flottenbau unentbehrlichen Gebirgswälder des Paſchaliks von Adana wurden ihm ab - getreten. Die Macht der Pforte erlitt alſo eine ſchwere Einbuße, aber dafür zogen ſich die Empörer aus dem eroberten Innern Kleinaſiens zurück, und ſtatt des gefürchteten Aegypters herrſchte der ruſſiſche Geſandte im Rathe der hohen Pforte; er ſorgte dafür, daß alle Reformen, die dem Staate vielleicht noch aufhelfen konnten, fortan unterblieben.

327Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi.

Oeſterreich und Preußen begrüßten den Friedensſchluß mit aufrichtiger Freude; die Revolution war ja beſiegt, der Beſtand der Türkei dem Namen nach geſichert. In Paris dagegen wurde die Niederlage ſchmerzlich empfun - den; auch Palmerſton erkannte zu ſpät was er verſäumt hatte, und tröſtete das Parlament mit dem behaglichen, britiſchen Hörern immer willkommenen Gemeinplatze: England führe niemals Krieg für abſtrakte Grundſätze. Als - bald ſollte man noch deutlicher erkennen, was Rußlands Schutzherrſchaft in dem geſchwächten Türkenreiche bedeutete. Auf den erſten Wink des Sultans zogen die Truppen des nordiſchen Erretters gefällig heimwärts, aber am 8. Juli 1833 ward zwiſchen beiden Mächten zu Hunkiar Iskeleſſi ein Bündnißvertrag abgeſchloſſen: beide verbürgten einander ihren Länder - beſtand, und da der Sultan außer Stande war ſeine Zuſage zu halten, ſo verſprach er die Dardanellen allen fremden Kriegsflotten zu verſchließen. Die Einfahrt nach Konſtantinopel ward mithin den Weſtmächten ver - ſchloſſen, den Ruſſen vom Pontus her ſtand ſie jederzeit offen.

Alſo ohne Schwertſtreich errang Rußland das Uebergewicht im Oſten, und nach ſo glänzenden Erfolgen wähnte ſich der Czar ſtark genug, auch dem Abendlande die Herrſcherſtirne zu zeigen. Er wollte der Revolution, auf die Gefahr des Weltkrieges hin, mindeſtens grundſätzlich den Kampf ankündigen; er hoffte die ſchönen Tage von Troppau zu erneuern, obgleich ſeine eigenen Räthe lebhaft widerſprachen und ein triftiger Grund für eine Zuſammenkunft der Monarchen nirgends vorhanden war. Die erſte Ein - ladung zu dieſem neuen Congreſſe war von Wien ausgegangen. Kaiſer Franz fragte durch Ficquelmont vertraulich an, ob er im Sommer 1833 den ruſſiſchen Kaiſer in dem böhmiſchen Schloſſe Münchengrätz begrüßen dürfe. Bei einiger Höflichkeit ließ ſich die Verſammlung ſehr leicht ſo einrichten, daß auch der König von Preußen auf ſeiner alljährlichen Teplitzer Bade - reiſe daran theilnehmen konnte. Metternich aber wünſchte den Czaren, den er als Kaiſer noch nie geſehen, für ſich allein zu haben; er fürchtete die Anweſenheit des alten Herrn, der von ſeinem Schwiegerſohne wie von allen ſeinen Kindern mit einer gewiſſen Scheu verehrt wurde und wenn es zu beſchwichtigen oder zu verneinen galt ſich ſehr zähe zu zeigen pflegte. Darum wurden die Vorbereitungen zu der Conferenz mit einem ſo auf - fälligen Ungeſchick betrieben, daß General Schöler ärgerlich ſagte: dieſe Kaiſerreiſe droht eine Art von Pasquill auf alle Monarchen-Zuſammen - künfte zu werden . *)Schöler’s Bericht, 16. Sept. 1833.König Friedrich Wilhelm erhielt nur die Mittheilung, daß ſein Schwiegerſohn ihn und den Kaiſer von Oeſterreich zu beſuchen denke; über den Zeitpunkt der Reiſe erfuhr er nichts Sicheres. Nach längerem Warten brach er endlich im Juli nach Teplitz auf, traf am 14. Auguſt in Thereſienſtadt mit Kaiſer Franz, gleich darauf in Teplitz ſelbſt mit Metternich zuſammen und beſprach ſich mit Beiden über die328IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.deutſche Bundespolitik; die europäiſchen Fragen wurden hier nur beiläufig berührt. Nach beendeter Cur kehrte er endlich heim; erſt in Berlin empfing er die Nachricht, daß der Czar ſeine dringenden Geſchäfte nunmehr abge - ſchloſſen habe und in den erſten Septembertagen nach Deutſchland zu kommen denke.

Alſo war, zu Ficquelmont’s unverhohlener Befriedigung und wohl nicht ohne die ſtille Beihilfe des Czaren ſelbſt, entſchieden, daß der geplante Congreß in zwei Theile zerfallen mußte. Ebenſo ungeſchickt ſuchte man die fremden Höfe über den politiſchen Zweck der Zuſammenkunft zu täuſchen. Neſſelrode ſchrieb nach England, dies Wiederſehen der befreundeten Herrſcher ſei nur durch die Herzensbedürfniſſe des Czaren veranlaßt; Ancillon ver - ſicherte den Geſandtſchaften, Nikolaus komme lediglich um ſeinen geliebten Schwiegervater zu begrüßen und den öſterreichiſchen Kronprinzen kennen zu lernen*)Ancillon, Weiſung an die Geſandtſchaften, 7. Sept. 1833. während doch Jedermann wußte, daß der Kanzler Neſſelrode, Ficquelmont und eine Menge Beamten des Auswärtigen Amts den Selbſt - herrſcher auf ſeiner ſtillen Familienreiſe begleiteten. Begreiflich, daß Pal - merſton mit gewohnter Grobheit ſagte: Wie können dieſe Leute ſich die Mühe geben ſolches Blech (stuff) zu ſchreiben? Es iſt, als ob ſie uns zwingen wollten, ihnen niemals mehr ein Wort zu glauben!

König Friedrich Wilhelm erwartete nunmehr ſeinen Schwiegerſohn im Schloſſe Schwedt an der Oder. Es ſchwebte aber ein Unſtern über dieſem ſo ganz vom Zaune gebrochenen Congreſſe. Furchtbare Stürme zwangen das Schiff des Czaren, unterwegs in Riga eine Zuflucht zu ſuchen. Der König verbrachte mehrere Tage in tödlicher Langeweile, die nur Abends durch die tollen Improviſationen des Komikers Beckmann und einiger anderen Berliner Schauſpieler etwas gemildert wurde; bei dem ſtrömenden Regen war ſelbſt das liebliche Verſailles der Ukermark ein unleidlicher Aufenthalt. Da plötzlich, während Alles noch geſpannt auf Nachrichten von der Küſte wartete, raſſelte der Wagen des Czaren über die Oder - brücke (5. Sept.); er hatte wieder eine ſeiner beliebten Ueberraſchungen ausgeführt und den Weg von Riga zu Lande zurückgelegt. Der Empfang war herzlich wie immer. Ein Strom ruſſiſcher Orden ergoß ſich über die ſchwarzen Schwedter Dragoner; hier zuerſt gefiel ſich Nikolaus in jener Ordensverſchwendung, welche ſeitdem von allen Höfen getreulich nachgeahmt den Ehrenzeichen allen Sinn und Werth geraubt hat. Mit der üblichen amtlichen Glückſeligkeit ſchilderte Ancillon den Geſandten die wunderbare Eintracht der Schwedter Berathungen: der Kaiſer hat wieder - holt erklärt, daß er daſſelbe wolle wie der König und ſein Cabinet, daß er nichts anderes wolle, daß er weder mehr noch weniger wolle. **)Ancillon, Weiſung an Schöler, 15. Sept. 1833.

Unterdeſſen äußerte ſich Nikolaus zu ſeinen Vertrauten ſehr unzu -329Zuſammenkunft in Schwedt.frieden über dieſe dreitägigen Unterredungen. *)Schöler’s Bericht, 24. Sept. 1833.Der König war mit nichten gemeint jedem launiſchen Einfalle ſeines Schwiegerſohnes nachzugeben und den ſo mühſam geſicherten Frieden durch eine thörichte Herausforderung in Frage zu ſtellen. Er ſtimmte dem legitimiſtiſchen Gepolter des Czaren freundlich zu; er erkannte auch an, wie Ancillon ſagte, daß der Aufſchwung des revolutionären Geiſtes verſchuldet ſei durch die verhängnißvolle Thätig - keit der Pariſer Propaganda und durch den ungeheuerlichen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung . Gern wollte er das Seine thun um dieſe beiden Quellen des Unheils zu verſtopfen, von denen die eine die Revolutionen entſtehen läßt, die andere ihnen die Strafloſigkeit ſichert. Darum ſchlug er ſelbſt vor, daß die drei Oſtmächte gemeinſam die Unterdrückung der demagogiſchen Umtriebe in Paris verlangen ſollten; er erklärte ſich auch bereit, bei der erſten Gelegenheit dem franzöſiſchen Hofe zu erklären, daß die drei Mächte das Recht der Intervention feſthalten und behaupten würden. Weiter mochte Friedrich Wilhelm durchaus nicht gehen; allen kriegeriſchen Andeutungen des Ruſſen ſetzte er einen ſo hartnäckigen Wider - ſtand entgegen, daß Nikolaus nicht einmal wagte ihm die Abſchließung eines förmlichen Vertrages vorzuſchlagen. Die Beſprechungen gelangten über einen wenig fruchtbaren Gedankenaustauſch nicht hinaus, und der Czar beſchloß, Näheres erſt in Münchengrätz mit den Oeſterreichern zu verabreden.

Eine nochmalige Reiſe nach Böhmen konnte er ſeinem Schwieger - vater um ſo weniger zumuthen, da die Manöver, bei denen der König niemals fehlte, nahe bevorſtanden. Er wünſchte alſo, Ancillon möge ihn begleiten. Der aber widerſprach mit ungewohnter Entſchiedenheit und ging ſo weit, dem Selbſtherrſcher zu ſagen die Würde Preußens erlaubt mir das nicht ,**)Dieſe in den Tagebüchern der Fürſtin Metternich (Hinterl. Papiere V. 435) erwähnte Aeußerung ſcheint in der That gefallen zu ſein. Am Bundestage wurde ſie allgemein geglaubt. (Blittersdorff’s Bericht, 13. Dec. 1833.) worauf Nikolaus, der den friedfertigen Theologen ohnehin nicht leiden mochte, in hellem Zorne auffuhr. Der Miniſter ſah voraus, welche peinliche Rolle er allein neben den beiden Kaiſern ſpielen mußte; deßhalb behielt er ſich vor, die Münchengrätzer Verabredungen nachträglich in Berlin zu prüfen und dabei die Meinung des kranken Bernſtorff ein - zuholen, dem er offenbar mehr Muth zutraute als ſich ſelber. Uner - ſchütterlich blieb er bei ſeiner Weigerung, und der König gab ihm Recht. Nur um den Schein der Eintracht vor der Welt zu wahren, wurde auf die Bitte des Czaren der Kronprinz mit nach Münchengrätz geſendet; ſein Vater befahl ihm indeſſen ſtreng, weder irgend ein Verſprechen zu geben noch an den politiſchen Unterhandlungen theilzunehmen. So trennten ſich die beiden Monarchen, in Freundſchaft, doch nicht ohne Verſtimmung.

330IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.

Glücklicher verliefen dem Czaren die zehn Tage ſeines Aufenthalts auf dem alten Wallenſtein-Schloſſe im Iſerthale. Kaiſer Franz freilich erſchien kläglicher denn je; nach einer ſoeben überſtandenen Krankheit war er ſichtlich gealtert und ſein Geſpräch zum Verzweifeln geiſtlos. Mit Metternich aber fand ſich Nikolaus raſch zuſammen; er überhäufte ihn mit Gnaden und ſagte ihm gleich bei der Begrüßung mit ſeinem gewohnten theatraliſchen Pathos: Ich komme um mich unter die Befehle meines Chefs zu ſtellen. Der Eitelkeit des Oeſterreichers war ſogar dieſe Schmei - chelei nicht zu plump; Metternich glaubte wirklich ſelber zu herrſchen, derweil die Zügel des Kaiſerbundes unvermerkt in Rußlands Hände hin - überglitten. Schon das geſellige Leben in Münchengrätz ließ errathen, wie der Schwerpunkt der Allianz ſich ſeit den Laibacher Zeiten verſchoben hatte. Die blendende Erſcheinung des Czaren verdunkelte alle Anderen. Um ihn drängte ſich huldigend der hohe Adel, Allen voran Herzog Wilhelm von Naſſau, der ärgſte Reaktionär des deutſchen Fürſtenſtandes und darum Nikolaus erklärter Liebling; auf ihn allein waren die Blicke aller der ge - heimen Agenten gerichtet, welche ſich von nah und fern in den Städten und Bädern Böhmens eingefunden hatten. Ihm zu Ehren wurden glän - zende Paraden veranſtaltet, und den Diplomaten der alten Schule, die das Heer eigentlich nicht für ganz hoffähig anſahen, kam es hart an, wenn ſie beſtändig von den Reiterkunſtſtücken des ungariſchen Huſarenregiments, das Kaiſer Franz ſeinem Gaſte verlieh, ſich erzählen laſſen, beſtändig mit Entzücken betheuern mußten, wie herrlich die neue Uniform den ſchönſten Mann Europas kleide.

Unterdeſſen bewies auch der Verlauf der diplomatiſchen Arbeiten, daß in den Machtkämpfen der Politik der ſtärkere Wille dem feineren Kopfe immer überlegen iſt. Der Czar erlangte von Metternich Alles was er wollte. Er erreichte zunächſt, daß die beiden Mächte durch einen geheimen Vertrag ſich verpflichteten (18. Sept.), den Beſtand des osmaniſchen Reichs unter ſeinem gegenwärtigen Herrſcherhauſe zu erhalten, dem Paſcha von Aegypten keinen Uebergriff in die europäiſchen Provinzen des Sultans zu geſtatten, und immer in Eintracht, nach gemeinſamem Plane zu handeln falls die Türkei gleichwohl zuſammenbrechen ſollte. Metternich frohlockte; war es denn nicht ein wunderbarer Triumph ſeiner Weisheit, daß Ruß - land jetzt die alten Anſchläge auf Konſtantinopel feierlich aufgab, während der argwöhniſche Palmerſton ſchon fürchtete, die Kaiſermächte würden ſich in Münchengrätz über die Theilung der Türkei verſtändigen? In Wahr - heit hatte Nikolaus Vertrauter Graf Alexis Orlow, der Urheber des Ver - trages von Hunkiar Iskeleſſi den Oeſterreicher nochmals mit vollendeter Kunſt überliſtet: wenn die Türkei unter dem verkommenden Hauſe Osman’s fortbeſtand, wenn dem einzigen Manne, der ihr vielleicht noch aufhelfen konnte, dem Aegypter, ein Riegel vorgeſchoben wurde, ſo war Rußlands Schirmherrſchaft am Bosporus für einige Jahre geſichert und damit331Die Verträge von Münchengrätz.Alles erreicht was man in Petersburg vorläufig wünſchen konnte. In der orientaliſchen Politik immer zurückhaltend, trat der Berliner Hof dieſem Vertrage nicht förmlich bei, doch er billigte ihn lebhaft; denn An - cillon ahnte ſo wenig wie Metternich, was die neue Freundſchaft zwiſchen dem Czaren und dem Sultan bezweckte. Als die Weſtmächte, jetzt endlich über die Sachlage aufgeklärt, ſich in Petersburg über den Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi beſchwerten, da wurden ſie hochmüthig abgewieſen, und der preußiſche Miniſter freute ſich von Herzen dieſer zugleich ſiegreichen und würdevollen Antwort: die beiden Mächte, meinte er, haben wohl eine Lektion verdient, da ſie ſich in Dinge miſchen, die ſie nichts angehen . *)Ancillon, Weiſung an Schöler, 27. Nov. 1833.In beſtem Glauben, wie Metternich, verſicherte er den Weſtmächten, daß Rußland völlig uneigennützige Geſinnungen hege und nicht beabſichtige den Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi auszuführen; zugleich erging er ſich in weihevollen Betrachtungen über die Gebrechlichkeit des armen Groß - türken, dem er damals zuerſt den Namen des kranken Mannes gab.

Als einen Erfolg durfte Rußland auch einen Vertrag über Polen betrachten, der in Münchengrätz von Oeſterreich, bald nachher (16. Oct.) von Preußen unterzeichnet wurde. Während des polniſchen Aufſtandes hatte Nikolaus einmal daran gedacht, die treuloſen Lande weſtlich der Weichſel als unwürdig der ruſſiſchen Herrſchaft ſeinen Verbündeten ab - zutreten. Jetzt war von ſolchen Aufwallungen keine Rede mehr. Der Czar wollte behaupten was er beſaß, und Metternich unterſagte gehorſam die geheimen Begünſtigungen, welche Erzherzog Ferdinand von Eſte in Galizien den vornehmen polniſchen Flüchtlingen bisher gewährt hatte. **)Maltzahn’s Bericht, 28. Apr. 1833.Rußland erlangte, daß die drei Mächte einander ihren polniſchen Beſitz nochmals verbürgten, und ſich gegenſeitig Hilfe im Falle von Aufſtänden, auch die Auslieferung der wegen Hochverraths verfolgten Polen und die Ueberwachung der Theilnehmer an dem letzten Aufruhr verſprachen. Wie die Dinge lagen, ließ ſich der Vertrag für einige Jahre mindeſtens durch die Noth entſchuldigen, da die Theilungsmächte alle drei durch die Um - triebe der polniſchen Verſchwörer bedroht waren. Auf die Dauer mußte dies Abkommen doch nur den Moskowitern Gewinn bringen; denn im Völkerverkehre iſt der rohere Staat faſt immer im Vortheil, zwiſchen Staaten von ganz verſchiedener Geſittung kann die Gegenſeitigkeit der Rechte und Pflichten, die Vorbedingung alles Völkerrechtes ſelten beſtehen. Daß ein preußiſcher Hochverräther in Rußlands freier Luft Zuflucht ge - ſucht hätte, war bisher noch niemals vorgekommen; die Laſt der Aus - lieferungspflicht ruhte mithin allein auf den Schultern der deutſchen Mächte, und beide erſchienen vor der Welt wie dienſtfertige Gehilfen Rußlands.

332IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.

Höher als das Alles galt dem Czaren das Vorgehen der Oſtmächte gegen das Bürgerkönigthum, und auch dieſen Herzenswunſch wollte ihm Metternich gern erfüllen. Kaiſer Franz zeigte ſich über das Unweſen der Pariſer Propaganda um ſo mehr aufgebracht, da Ludwig Philipp eben jetzt ſich erdreiſtet hatte, die Hilfe Metternich’s gegen die zahlreichen Legi - timiſten anzurufen, die ſich in Oeſterreich in der Nähe des vertriebenen Königs Karl aufhielten. Daß die Unzufriedenen aller Länder auf die ſtille Unterſtützung der Weſtmächte rechnen konnten, war ein öffentliches Geheimniß; zahlreiche Demagogen bereiſten das Feſtland unter falſchen Namen, mit engliſchen Päſſen; mehrere der Diplomaten aus Palmerſton’s Schule, vornehmlich der hitzköpfige Lord Minto, verſammelten an den kleinen Höfen die Oppoſitionsparteien um ſich. Wenn die Oſtmächte ſolchen Frie - densſtörungen, zunächſt durch eine gemeinſame Beſchwerde in Paris, offen entgegentreten wollten, ſo thaten ſie nur was ihnen zuſtand, und Frank - reich ſelbſt konnte ihre Berechtigung nicht beſtreiten. Aber wie ließ ſich mit dieſer Beſchwerde die ſchon in Schwedt beſprochene Erklärung gegen die Nicht-Einmiſchungslehre des Julikönigthums angemeſſen verbinden? Nikolaus vergaß oder wollte vergeſſen, daß er ſeinem Schwiegervater von einem förmlichen Vertrage kein Wort geſagt hatte. Hier unter den Oeſter - reichern fühlte er ſich freier und verlangte ein feierliches Manifeſt, das, ähnlich wie einſt das Troppauer Rundſchreiben, der Welt die Heilslehre des Einmiſchungsrechts verkünden ſollte. Was kümmerte es ihn in ſeiner blinden Leidenſchaft, daß die Welt ſich ſeit dem Troppauer Congreß von Grund aus verwandelt hatte, und man nicht mehr dem ſchwachen Neapel, ſondern der fanatiſchen Kriegsbegierde der Radicalen Frankreichs gegen - überſtand? Metternich aber ging auf den thörichten Vorſchlag ein; die Furcht vor der italieniſchen Revolution und der glühende Wunſch, den Czaren ganz für ſich zu gewinnen, ließen ihn der gewohnten Vorſicht völlig vergeſſen. Der Zuſtand Europas iſt unerträglich, man muß ein Ende machen , ſo ſagte er zu den Ruſſen, obgleich er einen Krieg im Ernſt nicht wünſchte.

Nun ward ein förmlicher Vertrag verabredet: die drei Mächte be - kennen ſich ausdrücklich zu dem Rechtsgrundſatze der Einmiſchung und ſind bereit, jederzeit ihre vereinte Macht aufzubieten um die rechtmäßige Intervention zu unterſtützen . Dieſen Vertrag wollte man ſodann ge - meinſam dem franzöſiſchen Hofe vorlegen und zugleich in einer kurzen, herriſchen Erklärung den Wunſch ausſprechen, daß alle anderen Regie - rungen fortfahren würden dieſe Grundſätze zur Richtſchnur ihres Han - delns zu nehmen . Unmittelbaren Vortheil für ſein Rußland konnte Nikolaus von einem ſolchen Abkommen nicht erwarten; er wußte, daß die Türkei damals noch nicht zu dem Gebiete des europäiſchen Völkerrechts gerechnet wurde, und ſeine Verbündeten mithin auch nicht beabſichtigten, ihre Einmiſchungslehre etwa zu Rußlands Gunſten im Oriente anzuwen -333Verabredung über das Einmiſchungsrecht.den. *)Dies ſagt Ancillon ausdrücklich (Weiſung an Schöler, 12. Jan. 1834).Der einzige Zweck des Vertrages war alſo eine Drohung gegen Frankreich, eine Drohung, die im gegenwärtigen Augenblicke nur wie eine muthwillige Friedensſtörung wirken konnte. Wenn die Regierung des Bürgerkönigs im Gefühle ihrer Schwäche eine hohle revolutionäre Doctrin aufgeſtellt hatte, ſo war es doch ſicherlich nicht geboten, ihr ein ebenſo hohles legitimiſtiſches Dogma in verletzender Form entgegenzuhalten. Wurde der Münchengrätzer Vertrag, wie er vorlag, in Paris bekannt, ſo vermochten die Orleans den kriegeriſchen Leidenſchaften der Radicalen ſchwerlich mehr zu widerſtehen und dann brach ein Weltkampf los, ein Krieg nicht um irgend eine ernſte Machtfrage, ſondern um die leeren Schlagworte der Revolution und der Legitimität. Wer darf ſagen, ob Nikolaus beſchränkter Kopf alle dieſe Folgen überſah? Genug, der Czar erreichte ſeinen nächſten Zweck und kehrte befriedigt heim, ohne das preußiſche Gebiet wieder zu berühren. Seine ganze Reiſe hatte nur vier Wochen gewährt; ſie zeigte vom Anfang bis zum Ende, daß ſie nicht einer klaren ſtaatsmänniſchen Berechnung, ſondern einer jähen Despotenlaune entſprungen war. Die Oeſterreicher freuten ſich inbrünſtig der wiederhergeſtellten Freundſchaft der beiden Kaiſerhöfe, und noch nach Jahren ſchrieb Metternich, dieſe Tage von Münchengrätz ſeien dem Kaiſer Franz eine der theuerſten Erinnerungen ſeines langen Lebens geblieben.

Aber ſollte der König von Preußen ſich’s bieten laſſen, daß ſeine Ver - bündeten über ſeinen Kopf hinweg, und in offenbarem Widerſpruche mit den Schwedter Verabredungen, Verträge ſchloſſen? Sollte er durch leere Drohungen einen Krieg heraufbeſchwören helfen, deſſen Gefahren man nirgends beſſer kannte als in Berlin? Ueber den Zuſtand des gerühmten ruſſiſchen Heeres wußte General Schöler wohl Beſcheid; immer wieder be - richtete er ſeinem Hofe, wie verſtimmt die Offiziere ſeien über die furcht - bare Härte des Czaren, über die Oede des Kamaſchendienſtes, über die Unmaſſe der Disciplinarſtrafen; komme der Krieg, ſo werde das preußiſche Heer ſich ohne Zweifel vollzähliger, kampfwilliger, ſchlagfertiger und nach - haltiger zeigen als das ruſſiſche. **)Schöler’s Bericht, 28. Dec. 1833 ff.Die Kaiſermächte ſchienen ſelbſt zu fühlen, welche Zumuthung dem Könige geſtellt wurde und ſendeten daher zwei ihrer beſten Diplomaten, Neſſelrode und Ficquelmont, nach Berlin um die Zuſtimmung Preußens zu gewinnen. Ancillon jedoch empfing die Beiden ſehr kühl: der Münchengrätzer Vertrag ſei dem Könige ebenſo neu als unerwartet und drohe in die Zukunft der drei Mächte, ja Europas der - maßen einzugreifen, daß die reiflichſte Erwägung geboten ſcheine. ***)Ancillon, Weiſung an Brockhauſen 26. Sept., an die Geſandtſchaften, 14. Oc - tober 1833.Die Berliner Verhandlungen währten volle drei Wochen. Metternich verzehrte ſich in Ungeduld; gegen ſeine Vertrauten ſchalt er wieder auf Preußens334IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Feigheit und ſchilderte den Staat, der ihm ſoeben durch die Stiftung des Zollvereins ſeine Kraft erwieſen hatte, als ein erbärmliches Zwitter - weſen, ein juste milieu zwiſchen den Mächten erſten und zweiten Ranges. *)Brockhauſen’s Berichte, 1. 9. 19. Oct. 1833.

Der preußiſche Miniſter ließ ſich dadurch nicht anfechten; der König und Bernſtorff ſtanden hinter ihm, und ſeine Friedensliebe ſelbſt erhöhte ihm den Muth. Er nöthigte die beiden Unterhändler, die drei ſchärfſten Artikel aus dem Münchengrätzer Vertrage zu ſtreichen. Was nunmehr noch übrigblieb und am 15. October endlich unterzeichnet wurde, klang noch immer thöricht genug, aber nicht mehr wie eine offenbare Drohung. Die drei Mächte erkannten an, daß jeder Souverän das Recht habe, im Falle innerer oder äußerer Gefahren die Hilfe eines anderen Souveräns anzurufen, und keine dritte Macht dann befugt ſei die Einmiſchung zu verhindern; ſie erklärten ferner: wenn eine von ihnen ſelbſt zur Ein - miſchung aufgefordert und deshalb durch einen dritten Staat angegriffen würde, dann müßten ſie alleſammt die Sache der angegriffenen Macht als ihre eigene betrachten. Der alſo aufgeſtellte Grundſatz war nicht ganz ſo vernunftwidrig wie die franzöſiſche Nicht-Einmiſchungslehre, aber ebenſo wenig unanfechtbar; denn ſollte jedem ſouveränen Staate geſtattet ſein, nach freiem Ermeſſen ſeinem Nachbarn Hilfe zu leiſten, ſo mußte folgerecht auch jedem anderen Souverän unverwehrt bleiben, je nach Umſtänden dieſer Einmiſchung entgegenzutreten. Immerhin hatte Preußen dem gefährlichen Unternehmen die Spitze abgebrochen; das von dem Czaren ſo leiden - ſchaftlich betriebene Werk zerfloß in doctrinäre Erörterungen über mögliche Fälle der Zukunft. Zum Ueberfluß verpflichteten ſich die drei Mächte, auf Preußens Verlangen, den Vertrag vorläufig tief geheim zu halten; ihre Geſandten in Paris ſollten nur, wenn ſie ſich über die Propaganda beſchwerten, gleichzeitig auch die vereinbarten Grundſätze über das Ein - miſchungsrecht ausſprechen, ohne des Vertrages ſelber zu gedenken. Damit ſchien jede Kriegsgefahr beſeitigt, und man mußte nur noch auf eine lebhafte akademiſche Unterhaltung mit dem Pariſer Auswärtigen Amte gefaßt ſein.

Nikolaus machte gute Miene zum böſen Spiele und erklärte wieder - holt ſein Entzücken über die Berliner Berathungen. **)Ancillon an Schöler, 7. Nov. 1833 ff.Mittlerweile lernte Preußen noch einmal die Zuverläſſigkeit der Ruſſen kennen. Der geheime Vertrag war kaum unterzeichnet, da richtete Neſſelrode ſchon, am 16. October, aus Berlin ein Rundſchreiben an die Geſandtſchaften bei den kleinen Höfen und erzählte darin ganz unbefangen alles Weſentliche aus den jüngſten Verhandlungen: der Grundſatz der Einmiſchung, ſo ſchloß er, entſpricht dem Intereſſe aller legitimen Regierungen . ***)Neſſelrode, Circulardepeſche an die Geſandtſchaften in Dresden, München, Turin, u. ſ. w., 4. / 16. Oct. 1833.Offenbar wollte Rußland durch dieſe vorzeitige Nachricht, die unmöglich335Erklärungen der Oſtmächte in Paris.geheim bleiben konnte, den Streit verſchärfen, den franzöſiſchen Hof reizen. Als der öſterreichiſche Geſchäftsträger v. Hügel am 30. October den Herzog von Broglie aufſuchte um ihm die in Berlin verabredete Mittheilung zu machen, fand er den Miniſter ſchon vorbereitet und überaus zurück - haltend; der Franzoſe erklärte trocken, in der Schweiz und in Belgien könne ſein König eine Intervention nicht dulden was ſich im Grunde von ſelbſt verſtand, da beide Länder als neutral anerkannt waren. Am folgenden Tage ward aber Miniſterrath gehalten, und Ludwig Philipp entſchied, daß man den Bogen nicht überſpannen dürfe. Pozzo di Borgo und Werther wurden daher am 1. November ungleich beſſer empfangen, der Preuße ſogar mit freundſchaftlicher Wärme; Broglie verſprach dem Unweſen der Flüchtlingsvereine nach Kräften zu ſteuern und erhob auch gegen die Einmiſchungslehre der Verbündeten nur wenige Einwendungen. *)Pozzo di Borgo’s Berichte, 21. Oct. / 2. Nov.; Ancillon, Rundſchreiben an die Geſandt - ſchaften, 19. Nov. 1833.

Alſo ſchien das große diplomatiſche Zugſtück mit einem Schwall nichtsſagender Redensarten zu enden. Doch leider folgte noch ein häß - liches Nachſpiel. Broglie konnte ſich’s nicht verſagen, in einem Rund - ſchreiben an die Geſandtſchaften die drei Unterredungen mit doctrinärer Selbſtgefälligkeit zu ſchildern. Schon die hochmüthige Sprache dieſes Schriftſtückes mußte verletzen. Denn jedes Volk hat ſeine eigenen Fehler, die ihm natürlich zu Geſichte ſtehen; bei den Germanen kann ſich der Doctrinarismus mit harmloſer Gutmüthigkeit paaren, bei den Romanen entartet er ſtets zu unleidlichem Tugendſtolze. Schlimmer war, daß der tugendhafte Franzoſe ſelbſt Unwahrheiten nicht verſchmähte. Er behauptete, geſagt zu haben, daß Frankreich auch in Piemont eine Einmiſchung nicht dulden werde. Die drei Geſandten ſtellten dies übereinſtimmend in Ab - rede; und nun begann ein lang anhaltender, widerwärtiger perſönlicher Zank; ſogar der ſanftmüthige Ancillon beſchuldigte den Franzoſen der Zweizüngigkeit und Charakterſchwäche. **)Ancillon, Weiſungen an Schöler, 8. 22. Dec. 1833.Das Ende war, daß Weſt und Oſt einander noch lange höchſt gereizt gegenüberſtanden. Die Staats - männer der Tuilerien redeten wieder viel von dem natürlichen Bunde mit den kleinen Staaten der Nachbarſchaft und wollten nicht begreifen, warum weder die deutſchen Fürſten noch der ſtrenge Legitimiſt Karl Albert von Piemont ſich nach Frankreichs Schirmherrſchaft ſehnten. Auch Palmer - ſton fühlte ſich beleidigt; er nannte das Auftreten der drei Mächte eine Schilderhebung gegen die Verfaſſungsſtaaten und erlaubte ſich in ſeinen geheimen Depeſchen grobe Ungezogenheiten, die, bald verrathen, neuen Unmuth erregten. In Wien und Petersburg aber begann man nach einiger Zeit halb widerwillig einzuſehen, daß Preußens Mäßigung die Welt vor einer ernſten Gefahr bewahrt hatte.

336IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.

Der europäiſchen Politik der beiden Kaiſermächte widerſtand der Berliner Hof zähe und nachhaltig, aber im Kampfe gegen die deutſche Revolution fand er ſich mit der Hofburg wieder zuſammen. Der Frank - furter Wachenſturm und was nachher noch von den Plänen der Radi - calen entdeckt wurde ſchlug die Höfe mit Schrecken. König Wilhelm von Württemberg meinte den Boden unter ſeinen Füßen verſinken zu ſehen, als die Ludwigsburger Soldatenverſchwörung an den Tag kam; auf die Treue ſeiner Truppen hatte er ſich immer ſo feſt verlaſſen. In der erſten Angſt befürchtete er einen allgemeinen ſüddeutſchen Aufruhr und wendete ſich nach Wien um Hilfe. Darauf, im Mai 1833, überbrachte Fürſt Lichnowsky den Höfen von Stuttgart und Karlsruhe die vertrauliche Mittheilung, daß man ein öſtereichiſches Corps an der Weſtgrenze bereitſtellen werde um im Nothfall die Ruhe des deutſchen Südens zu ſchützen. *)Berichte von Maltzahn, 28. April, 28. Mai, von Salviati, 13. 22. Juni 1833.Aber auch nur im äußerſten Nothfall. Metternich hoffte mit ſanfteren Mitteln auszu - reichen und ſendete dem Könige zunächſt eine lehrhafte Denkſchrift, die ſchon auf die Möglichkeit einer heilſamen Reform der Landesverfaſſungen hin - deutete und ſich ſogar zu einer neuen Metapher aufſchwang: da die Peſt und der Krebs allmählich verbraucht waren, ſo verglich der beſorgte poli - tiſche Arzt diesmal die Revolution mit der Influenza.

An den Höfen erfuhr man bald, daß der Staatskanzler einen neuen großen Schlag in der Bundespolitik vorbereite. Als er ſich im Juli nach ſeinem Schloſſe Königswart begeben hatte, ſprach eine ſtattliche Schaar ſtrebſamer Diplomaten bei ihm vor; die einen wollten horchen, andere unter - breiteten dem Miniſter ihre Vorſchläge zur Rettung Deutſchlands. Unter dieſen Gäſten war auch Blittersdorff, der in einer Denkſchrift darſtellte, wie der Bundestag fortan in dem Kampfe gegen das conſtitutionelle Princip die Führung übernehmen, überall, auch in der europäiſchen Politik thätiger auftreten und folglich, damit die Nation ihre Centralgewalt verſtehe, ſeine Verhandlungen zum Theil veröffentlichen müſſe. Der Oeſter - reicher aber wußte nur zu wohl, was die Frankfurter Verſammlung leiſten konnte; er hoffte gerade durch Umgehung des Bundestags ſein Ziel zu erreichen, und empfahl daher, als er im Auguſt zu Teplitz mit Ancillon zuſammentraf, die Berufung einer neuen Miniſterconferenz, nach dem Karlsbader und Wiener Vorbilde. Der preußiſche Miniſter ging auf dieſen Vorſchlag, den ſein Vorgänger vor zwei Jahren ſo entſchieden abgewieſen, jetzt mit Freuden ein, denn die Thorheiten der Radicalen in Hambach und Frankfurt hatten auch ihn tief erſchreckt; doch hielt er feſt an dem Grund - ſatze Bernſtorff’s, daß man neuer Bundesgeſetze nicht bedürfe, ſondern nur über die kräftige Handhabung der beſtehenden Geſetze ſich verabreden müſſe.

Die beiden Staatsmänner entwarfen dann ſelbander ein Rundſchreiben an die deutſchen Höfe, das von Ancillon ſofort, ſchon am 24. Aug., von337Die Wiener Miniſterconferenzen.Metternich erſt nach der Münchengrätzer Zuſammenkunft am 5. October abgeſendet wurde. Das Circular lud die leitenden Miniſter der größeren Bundesſtaaten zu einer Beſprechung ein, um den immer drohender wer - denden Uebeln der Zeit zu begegnen, und ſprach die beſtimmte Meinung aus, daß dazu die gehörige Anwendung der beſtehenden Bundesgeſetze genügen werde. Sobald dieſe Einladung ruchbar ward, witterten die Liberalen ſogleich wieder Petersburger Umtriebe, und Palmerſton, der eben damals den Frankfurter Senat gegen den Bundestag aufwiegelte, ver - ſicherte mit leichtfertiger Dreiſtigkeit, dieſe deutſchen Miniſterconferenzen ſeien ebenſo ſehr ein ruſſiſches als ein öſterreichiſches Werk. Möglich immerhin, daß Metternich in Münchengrätz ſeine Pläne mit dem Czaren beſprochen hat, da er ſein Rundſchreiben ſo auffällig ſpät abſendete; Preußen aber erließ ſeine Einladung noch bevor Nikolaus den deutſchen Boden betreten hatte. Auch an den Conferenzen ſelbſt nahm die ruſſiſche Diplomatie nicht einmal mittelbar irgend einen Antheil; erſt nach dem Schluſſe der Berathungen empfing der Czar eine Mittheilung über die Ergebniſſe, was ſich unter ſo nahe befreundeten Höfen von ſelbſt verſtand. *)Brockhauſen’s Bericht, 17. Juni 1834 mit Randbemerkung des Königs.Die Spitze der geplanten Miniſter-Verſammlung war offenbar gegen die Landtage gerichtet, obgleich auch die beiden anderen Lieblinge der Hofburg, die Univerſitäten und die Zeitungen wieder ihr Theil erhalten ſollten; denn da die revolutionären Verſchwörungen der jüngſten Zeit ſich faſt aus - ſchließlich im conſtitutionellen Deutſchland zeigten, ſo ſchloß Metternich, daß ſie in dem Repräſentativſyſteme ihre Wurzeln hätten, und hoffte, durch eine verabredete gemeinſame Politik der Höfe die neuen Verfaſſungen, die man doch nicht mehr beſeitigen konnte, mindeſtens in ihrer Wirkſam - keit zu hemmen.

Die kleinen conſtitutionellen Regierungen durchſchauten dieſen Plan und geriethen wieder einmal in rathloſe Verlegenheit; Schutz gegen ihre Landtage wünſchten ſie alleſammt, aber vor einem Bruche ihres Ver - faſſungseides ſchraken die meiſten zurück, und ihre Souveränität wollten ſie ſich nicht durch den Bund beſchränken laſſen. Sie fühlten ſich um ſo mehr beängſtigt, da ſie über den Zweck der Conferenz durchaus keinen ſicheren Aufſchluß erlangen konnten. Das wollen wir von Euch erfahren, ant - wortete man in Wien wie in Berlin; die conſtitutionellen Miniſter ſollen ihre Klagen über die Mißſtände des Repräſentativſyſtems vorbringen, dann wird beſchloſſen werden, wie dem Uebel abzuhelfen ſei. Als der ſächſiſche Miniſter Lindenau im Herbſt in Geſchäften des Zollvereins den Münchener und den Stuttgarter Hof beſuchte, fragte er zugleich vertraulich an, was wohl auf den Conferenzen zur Beſchützung der Landesverfaſſungen geſchehen könne. Man kam jedoch zu keiner Vereinbarung, da die Anſichten über die unlösbaren Räthſel des Bundesrechts, zumal über die rechtmäßigenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 22338IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Grenzen der Bundesgewalt allzuweit auseinander gingen, und beruhigte ſich ſtillſchweigend bei der angenehmen Erwartung, daß im Deutſchen Bunde niemals ein wirkſamer Beſchluß zu Stande kommen könne. Dieſe Hoffnung ſprach der hannoverſche Bundesgeſandte Stralenheim im Namen ſeiner wohlmeinenden Regierung ſehr aufrichtig aus: wenn man nur die Großmächte nicht reize, ſondern dilatoriſch verfahre, ſo würden die Landes - verfaſſungen wohl unerſchüttert und die neue Wiener Miniſterverſammlung ebenſo ergebnißlos bleiben wie einſt die alte vom Jahre 1820. *)Türckheim an Blittersdorff 21. Nov. Blittersdorff’s Bericht, 21. Nov. 1833.

Inzwiſchen hielt Metternich doch für nöthig, ſich mindeſtens der Zu - ſtimmung des Münchener Hofes zu verſichern, der ſo oft ſchon durch ſeine Vorbehalte die Bundespolitik der Hofburg erſchwert hatte; und wieder, wie vor neun Jahren bei der Verlängerung der Karlsbader Beſchlüſſe, glückte es ihm den König von Baiern zu einer perſönlichen Zuſammen - kunft zu bewegen. Als er im October zu Linz mit König Ludwig zu - ſammentraf, fand er freundliches Entgegenkommen. Der König war noch immer erbittert über ſeinen unbotmäßigen Landtag und erklärte ſich gern bereit das monarchiſche Princip in den Landesverfaſſungen zu verſtärken; nur wollte er und dies war auch Preußens Wunſch die Conferenz lieber in Prag oder Linz als in Wien zuſammentreten ſehen. **)Dönhoff’s Bericht, München 2. Dec. 1833.Der Staatskanzler aber konnte ſich nicht auf ſo lange Zeit von ſeinem Amte entfernen, und ſo erlebte denn Kaiſer Franz im Januar 1834 die Genug - thuung, daß ſich die leitenden Staatsmänner Deutſchlands als Vertreter der ſiebzehn Stimmen des engeren Rathes, wie wenn er ihr Kaiſer wäre, in ſeiner Hofburg einfanden. Zu einem fröhlichen reaktionären Staats - ſtreiche Karlsbader Stiles war die Zeit freilich nicht angethan; denn mehr als eine Verſtändigung über conſervative Gemeinplätze hatte Metternich in Linz nicht erreicht, und da er ſelber keinen beſtimmten Plan verfolgte, ſondern lediglich, ohne die Mittel und Wege zu überſehen, die unheimliche Macht der kleinen Landtage eindämmen wollte, ſo konnte es nicht fehlen, daß die Kraft der Trägheit, der Particularismus und die Verfaſſungstreue der conſtitutionellen Höfe ſeinem Unternehmen bald den Stachel nahmen.

Die Parteiſtellung geſtaltete ſich diesmal anders als auf der erſten Wiener Conferenz vor vierzehn Jahren. Metternich ſelbſt war durch die Niederlagen der letzten Jahre, nach überſtandenem erſtem Schrecken, nicht gebeugt, ſondern nur in ſeiner Selbſtgerechtigkeit beſtärkt worden. Alles hatte er vorher gewußt, Alles vorausgeſagt. Erfroren in Dünkel blickte er auf die kleinen Sterblichen nieder und ſagte zu Varnhagen, als dieſer ihm ſeine unterthänige Aufwartung machte: ich bin der Mann der Wahr - heit, ſeit fünfundzwanzig Jahren habe ich nichts zu bereuen. Mit ſeinem Amte war er jetzt ſo feſt verwachſen, daß er den Fall ſeines Rücktrittes339Die Conſervativen auf der Conferenz.geradehin für unmöglich erklärte. In der Stille gewann ſeine dritte Ge - mahlin Gräfin Melanie Zichy große Macht über den Alternden, eine ſchöne, feurige junge Dame, die ihre ſtreng legitimiſtiſche Geſinnung her - ausfordernd zur Schau trug und durch ihr beleidigendes Betragen gegen den franzöſiſchen Geſandten zuweilen den Gatten ſelbſt in Verlegenheit brachte. Sie vergötterte ihren Clemens und hielt ihn für den Retter der Welt; ſie entdeckte ſogar, was noch kein anderer Sterblicher bemerkt hatte, eine auffällige Geſinnungsverwandtſchaft zwiſchen ihrem Gemahl und dem Apoſtel Paulus. Unter der Leitung dieſer ſanften Hände wurde Metternich unvermerkt den clericalen Anſichten näher geführt. Er gedachte wieder mit Stolz ſeines Vorfahren, jenes trierſchen Kurfürſten Lothar, der einſt die katholiſche Liga mitbegründet hatte, und aller der anderen kirchlichen Erinnerungen ſeines alten Domherrengeſchlechts. Obwohl er das Weltkind des achtzehnten Jahrhunderts nie ganz verleugnen konnte, ſo ließ er ſich’s doch wohl gefallen, daß jetzt ſtatt des Kantianers Gentz der Renegat Jarcke das Scepter ſchwang unter den Publiciſten der Hof - burg. Je mehr er ſich in ſeinen hochconſervativen Anſchauungen ver - härtete, um ſo ſichtlicher ſchwand auch jener Zauber beſtrickender Liebens - würdigkeit, dem er einſt ſo große diplomatiſche Erfolge verdankt hatte. Der ſchwerhörige alte Herr, der allen Einwürfen unzugänglich, immer nur in ſtrengem Docententone dieſelben Gedanken wiederholte, verblüffte die Neu - linge durch ſeine feierliche Würde, und Niemand beſtritt ihm den Ruhm des Neſtors der europäiſchen Diplomatie; zu gewinnen, zu überreden ver - mochte er nur noch ſelten.

Unter allen Mitgliedern der Conferenz ſtand Ancillon der Hofburg am nächſten. Wie ſtolz fühlte er ſich, als er in die Verſammlung ein - trat und ihr ſalbungsvoll zurief: die Augen von Deutſchland und ganz Europa ſind auf uns gerichtet. Mit allgemeiner Verehrung wurde er aufgenommen, denn von dem neueſten glänzenden Erfolge der preußiſchen Politik, der Gründung des Zollvereins, fiel ein Wiederſchein auf ſein un - ſchuldiges Haupt zurück. Er blieb nur ſechs Wochen in Wien, weil die Amtsgeſchäfte ihn heimriefen; die übrigen vier Monate hindurch vertrat ihn, da man den der Hofburg ſo tief verhaßten Eichhorn nicht zu ſenden wagte, der Geheime Juſtizrath Graf Alvensleben, ein tüchtiger Juriſt von gemäßigt conſervativer Geſinnung, aber erklärter Anhänger Oeſterreichs und darum von Wittgenſtein dem Könige empfohlen. *)Frankenberg’s Bericht, 1. Jan. 1834.Die Wahl war ein arger Mißgriff; denn als ein Beamter mittleren Ranges und ſtreng an ſeine Inſtruktionen gebunden, durfte Alvensleben nicht wagen, gegen Metternich ſo ſelbſtändig wie vormals Bernſtorff aufzutreten. Im Uebrigen war Preußens Stellung durch ein faſt unentrinnbares tragiſches Ver - hängniß vorgezeichnet. Wie einſt die Hohenſtaufen, eingepreßt zwiſchen22*340IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.der römiſchen Curie und der wuchernden Fülle der deutſchen Territorial - gewalten, ſich gezwungen ſahen das Fürſtenthum gegen die Städte zu be - günſtigen, ſo mußten die Hohenzollern jetzt den Liberalismus bekämpfen. Der preußiſche Hof wollte gegen Rußlands Wünſche ſeine verſtändige europäiſche Friedenspolitik weiterführen, ohne das unentbehrliche Bündniß der Oſtmächte zu zerſprengen; er wollte gegen Oeſterreichs Willen die praktiſche deutſche Einheit, den Zollverein aufrechthalten, ohne den für jetzt ebenfalls unentbehrlichen Deutſchen Bund zu zerſtören; und wie konnte er dieſe zweifache ſchwierige Aufgabe löſen, wenn er nicht in den armſeligen Händeln der zur Polizei herabgeſunkenen Bundespolitik dem Wiener Hofe einiges nachgab? An den Liberalen, den Feinden des Zoll - vereins, den Freunden Polens fand er keine Stütze. Genug, Alvensleben ging mit Metternich und Münch, der als einziger Vertreter des Bundes - tages den Conferenzen beiwohnte, meiſt zuſammen. Nur zu offenbarem Verfaſſungsbruch verweigerte er ſeine Mitwirkung; ſelbſt die in Metter - nich’s Augen ſchlechthin verwerfliche Oeffentlichkeit der Landtage wollte der preußiſche Hof nur beſchränken, nicht beſeitigen, da ſie einmal in den neuen Staatsgrundgeſetzen zugeſtanden ſei. *)Ancillon, Weiſung an Alvensleben, 27. Jan. 1834.

Unter den Miniſtern der kleinen Staaten that ſich du Thil durch ſeinen monarchiſchen Feuereifer hervor; ſchwer gereizt durch den Ueber - muth des letzten Landtags hatte er die kühnſten Aeußerungen ſeiner Darm - ſtädter Abgeordneten in einem Verzeichniß zuſammengeſtellt und hoffte, die Conferenz werde dieſen Syllabus liberaler Irrlehren feierlich ver - dammen. Auch der däniſche Miniſter Reventlow-Criminil dachte ſtreng conſervativ wie der Bundesgeſandte Pechlin und König Friedrich VI. ſelbſt. Als während der Wiener Conferenz die neuen, wahrlich ſehr beſcheidenen däniſchen Provinzialſtände eingeführt wurden, hielt der Kopenhager Hof für nöthig den deutſchen Mächten ausdrücklich zu verſichern: es ſei der beſtimmte Wille Sr. Majeſtät, das monarchiſche Princip in allen Stücken unverletzt aufrechtzuhalten und weder in der Geſetzgebungsgewalt noch im Beſteuerungsrechte etwas von den Befugniſſen der Krone aufzugeben ; er habe demgemäß den übertriebenen Beſchränkungsplänen gegen die ſou - veräne Macht, die unſere Zeit ſo gefahrvoll für die Ruhe der Völker be - zeichnen, Schranken geſetzt. **)Rundſchreiben des däniſchen Miniſters des Auswärtigen über die neuen Stände, 27. Mai 1834.Miniſter v. Berg folgte dem Vertreter des befreundeten däniſchen Hofes unbedenklich, da Oldenburg noch keine Ver - faſſung beſaß. Auf ſeinen alten Vertrauten, den Mecklenburger Pleſſen durfte Metternich immer zählen, und ſogar Bürgermeiſter Smidt von Bremen hielt ſich jetzt zu der öſterreichiſchen Partei, weil die Handels - politik der Hanſeaten den werdenden preußiſchen Zollverein mit Hilfe der341Die Liberalen auf der Conferenz.Hofburg noch zu zerſprengen hoffte. Aus ähnlichen Gründen, um ſich die Gunſt der Großmächte für die belgiſchen Händel zu ſichern, folgte der Vertreter Luxemburgs, Verſtolk van Soelen dem Banner Oeſterreichs; was kümmerten auch den Holländer die deutſchen Verfaſſungsfragen? *)du Thil an Prinz Emil von Heſſen, 18. Jan., 7. Febr. 1834.

Dieſen acht conſervativen Stimmen trat eine Mehrheit von neun Conſtitutionellen entgegen, eine buntgemiſchte Partei, einig nur in dem Entſchluſſe, Alles zu vermeiden was daheim zu einer Miniſteranklage führen konnte. Voran ſtand Baiern, das anfangs durch Giſe, nachher ſehr geſchickt durch den Miniſter v. Mieg vertreten wurde. Beide Staats - männer mußten ihrem Könige in tiefem Geheimniß, hinter dem Rücken des Miniſterrathes, Bericht erſtatten und empfingen von ihm die gemeſſene Weiſung, die Selbſtändigkeit ſeines Reiches vor jedem Eingriff zu be - wahren. **)Dönhoff’s Bericht, 6. Febr. 1834.Etwas behutſamer trat der Badener Reizenſtein für den Be - ſtand der Landesverfaſſungen ein und gerieth deßhalb mit ſeinem alten Gegner du Thil oft in Streit; die alte freundnachbarliche Geſinnung der Badener und der Heſſen machte ſich in dieſen Händeln Luft. ***)Alvensleben’s Bericht, 11. Febr. 1834.Der Führung Reizenſtein’s fügten ſich in der Regel der Sachſe Minckwitz und der Württemberger Beroldingen, obgleich beide perſönlich den Anſichten Metternich’s nahe ſtanden; desgleichen Ompteda aus Hannover, Trott aus Kurheſſen und der Vertreter der Allerkleinſten, v. Strauch. Daß der geiſt - reiche Thüringer Fritſch, Metternich’s Widerſacher von Karlsbad her, in dieſem Kreiſe nicht fehlte, verſtand ſich von ſelbſt. Sogar auf das allzeit getreue Naſſau konnte die Hofburg ſich nicht mehr verlaſſen, da Marſchall vor Kurzem geſtorben war und Ompteda vorläufig die naſſau-braunſchwei - giſche Curiatſtimme führte. Im Vertrauen ward ſchon der Plan eines Sonderbundes der conſtitutionellen Staaten beſprochen: natürlich ohne Erfolg, weil man doch nur im ängſtlichen Verneinen übereinſtimmte.

Bei ſolchem Gleichgewicht der Parteien mußte die Conferenz von Haus aus unfruchtbar bleiben. Am 13. Januar eröffnete Metternich die Be - rathungen und erklärte in pathetiſcher Anſprache: vor vierzehn Jahren ſei der Bund ausgebildet worden, jetzt gelte es ihn zu erhalten. Darauf folgte das wohlbekannte Schauergemälde der deutſchen Zuſtände: Aus den Stürmen der Zeit iſt eine Partei entſproſſen, deren Kühnheit wenn nicht durch Entgegenkommen ſo doch durch Nachgiebigkeit bis zum Uebermuth geſteigert iſt. Wenn nicht bald dem überfluthenden Strome ein rettender Damm entgegengeſetzt wird, ſo könnte in Kurzem ſelbſt das Schattenbild einer monarchiſchen Gewalt in den Händen mancher Regenten zerfließen. Zwiſchen dem monarchiſchen Princip der Bundesverfaſſung und der mo - dernen, unter den Formen des Repräſentativſyſtems verhüllten Idee der342IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Volksſouveränität beſtehe ein Zwieſpalt, der beſeitigt werden müſſe; darum ſolle man offen die Frage beantworten, was in Beziehung auf die Ge - fahren der Zeit der Bund in Zukunft von den deutſchen Regierungen und was dieſe vom Bunde zu erwarten haben. Oeſterreich ſtellte alſo keinen Antrag, ſondern nur eine Frage. Um die ſchwierige Antwort zu finden, vergrub ſich die Conferenz dritthalb Monate hindurch im Dunkel ihrer Commiſſionsſitzungen. Das Geheimniß ward ſo ſtreng gewahrt, daß ſelbſt die in Wien beglaubigten Geſandten der deutſchen Höfe nichts über die Berathungen der Miniſter erfuhren; von den Protokollen erhielt jeder der ſiebzehn Bevollmächtigten nur ein Handexemplar, jedes deutſche Cabinet einen zweiten Abdruck.

Als die Conferenz am 26. März ihre zweite Sitzung hielt, konnten die Commiſſionen nur ſehr dürftige Ergebniſſe ihrer tiefgeheimen Arbeiten vorlegen, und erſt nach neuen, überaus peinlichen Verhandlungen wurden 27 Artikel über die Landtage vereinbart. Der urſprünglichen Abſicht zu - wider gelangte man zu der Einſicht, daß ohne neue Bundesgeſetze nicht auszukommen ſei, und um die ewigen Streitigkeiten über die Auslegung der Landesverfaſſungen oder über die Grenzen der ſtändiſchen Rechte endlich abzuſchneiden, beſchloß man ein Bundesſchiedsgericht einzuſetzen. Jede der ſiebzehn Stimmen des engeren Rathes ſollte zwei Spruchmänner er - nennen, aus dieſen hatten dann gegebenen Falles die ſtreitenden Parteien je drei Richter und der Bundestag einen Obmann auszuwählen. Es geſchah zum erſten male, daß der Deutſche Bund ſich zur Errichtung einer dauernden Bundesbehörde aufraffte. Aber der offenbar wohlgemeinte, von Alvensleben mit großem Fleiße ausgearbeitete Plan litt an einem un - heilbaren Gebrechen: wie die Spruchmänner allein von den Regierungen ernannt wurden, ſo ſollten auch die Regierungen allein berechtigt ſein, vom Bundestage die Einberufung des Bundesſchiedsgerichts zu verlangen, die Landſtände durften höchſtens darum bitten. Die mißtrauiſche öffent - liche Meinung mußte alſo glauben, das neue Tribunal ſei grundſätzlich parteiiſch, ſei lediglich beſtimmt, die Kronen gegen die Landſtände, nicht auch die Verfaſſungen gegen die Fürſten zu beſchützen. Zur allgemeinen Verwunderung verlangte Baiern, das früherhin immer jede Bundesge - richtsbarkeit bekämpft hatte, jetzt ſogar die Einſetzung eines Bundescom - promißgerichts für die Zwiſtigkeiten zwiſchen den Bundesſtaaten. Doch der particulariſtiſche Trotz widerſtrebte, und man gelangte nur zu dem matten Beſchluſſe, daß den Bundesgliedern frei ſtehen ſolle ihre nach - barlichen Streitigkeiten vor dem neuen Bundesſchiedsgerichte auszutragen.

Darauf folgten Beſtimmungen über die landſtändiſchen Rechte einige verſtändig, andere willkürlich, alle aber ausgezeichnet durch jene unklare, viel oder nichts ſagende Form, welche der Bundesgeſetzgebung eigenthümlich blieb; denn da nur einſtimmige Beſchlüſſe gefaßt werden durften, ſo war immer im Vortheil, wer den dehnbarſten Ausdruck vor -343Das Bundesſchiedsgericht.ſchlug. Da hieß es: Die Regierungen werden nicht geſtatten, daß die Stände über die Giltigkeit der Bundesbeſchlüſſe berathen und beſchließen. Metternich wollte den Kammern ſchlechterdings verbieten, über Bundes - angelegenheiten auch nur zu reden; aber Reizenſtein widerſtand, obgleich ſeine ängſtliche Regierung ſelber dies Recht ihrem Landtage erſt vor Kurzem abgeſprochen hatte. *)ſ. o. IV. 236.Auch eine ſtrenge Staatsdienerpragmatik für die deutſchen Beamten, wie ſie Metternich längſt wünſchte, ließ ſich nicht er - reichen; die Conferenz beſchloß nur, daß Beamte nicht ohne Urlaub in die Landtage eintreten ſollten. Ebenſo wenig war eine unzweideutige Vor - ſchrift über die Civilliſten durchzuſetzen. Seit einigen Jahren hatte ſich die hochconſervative Partei den Haller’ſchen Lehrſatz angeeignet, daß alles fürſtliche Einkommen nur aus Grundbeſitz fließen dürfe, und in Heſſen bemühte ſich Prinz Emil ſogar die Domanialverwaltung nach dem alt - hannoverſchen Vorbilde von den Staatsfinanzen gänzlich abzutrennen, was ſelbſt du Thil unverſtändig fand; aber da Geiſt und Wortlaut einiger Landesverfaſſungen ſich mit ſolchen Wünſchen ſchlechterdings nicht ver - trugen, ſo begnügten ſich die verſammelten Miniſter mit der harmloſen Weiſſagung: die Souveräne werden ſich bemühen zu bewirken, daß die Civilliſten auf Domanialgefälle gegründet werden u. ſ. w. Faſt ebenſo unwirkſam war der an ſich wohlberechtigte Beſchluß: die Regierungen werden einer Beeidigung des Militärs auf die Verfaſſung nirgends und zu keiner Zeit ſtattgeben; ſelbſt der kurheſſiſche Miniſter ſtimmte ver - gnüglich zu, denn er meinte, ſolche Sätze hätten keine rückwirkende Kraft und könnten alſo den in Heſſen bereits eingeführten Verfaſſungseid der Truppen nicht berühren. Auch die Artikel über die Oeffentlichkeit und die Redefreiheit der Landtage ſagten im Grunde nur, daß die Regierungen für die nöthigen Beſchränkungen ſorgen ſollten.

Selbſt über das Steuerbewilligungsrecht, das den verſammelten Miniſtern beſonders gefährlich ſchien, wagte man nur einige geſchraubte Sätze aufzuſtellen, welche für eine gewiſſenhafte conſtitutionelle Regierung nichts bedeuteten, einer gewiſſenloſen aber leicht die Handhabe zu Staats - ſtreichen bieten konnten. Der eine Satz ſchien zu ſagen, daß die Landſtände eine bereits erfolgte Ausgabe nicht für ungiltig erklären dürften; aber der Nachſatz ließ ihnen den nach der Verfaſſung zuläſſigen Weg offen und hob mithin den Vorderſatz wieder auf. Kam ein Budget nicht zu Stande, dann ſollte das Bundesſchiedsgericht eintreten; aber auch dies war ein Schlag in’s Waſſer, denn wer konnte die Regierungen zwingen beim Bun - destage die Einberufung des Schiedsgerichts zu verlangen? Unter allen den traurigen Leiſtungen der Bundesgeſetzgebung gerieth dieſer erſte Ab - ſchnitt der Wiener Conferenzbeſchlüſſe unzweifelhaft am kläglichſten; in dem planloſen Durcheinander dilettantenhafter ſtaatsrechtlicher Grundſätze344IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.verrieth ſich überall der ſtille Wunſch nach Durchlöcherung der Landes - verfaſſungen, aber auch die Angſt vor offenbarem Eidbruch. Es war ein häßliches Spiel mit Treu und Glauben, und zugleich ein ſchwerer poli - tiſcher Fehler in einer Zeit radicaler Leidenſchaften, wenn Deutſchlands Fürſten hinter dem Rücken ihrer Landtage ſich über Auslegung und Hand - habung ihrer beſchworenen Landesverfaſſungen zu vereinbaren ſuchten. Mit reinem Gewiſſen und ohne ſtillen Vorbehalt konnte keiner der conſtitutio - nellen Miniſter dieſe Artikel unterſchreiben; am wenigſten der kurheſſiſche, denn ſeine Landesverfaſſung war die einzige in Deutſchland, die der neuen franzöſiſchen Charte nahe ſtand, und keine Kunſt der Auslegung vermochte ſie mit den Wiener Beſchlüſſen in Einklang zu bringen.

Ein zweiter Abſchnitt von zehn Artikeln gab Vorſchriften über die Cenſur, forderte für die Herausgabe neuer Zeitungen eine beſondere Er - laubniß was den Vorſchriften der ſächſiſchen und der kurheſſiſchen Ver - faſſung gradeswegs zuwiderlief und erlaubte jedem Staate, die von anderen Bundesgliedern bereits cenſirten Schriften noch einmal zu cen - ſiren oder auch zu verbieten. So ward dafür geſorgt, daß kein gefährlicher Schriftſteller jemals durchſchlüpfen konnte. Die deutſchen Buchhändler aber, die jetzt nochmals um Schutz gegen den Nachdruck baten, ſpeiſte die Conferenz mit einem leeren, auf die Zukunft vertröſtenden Artikel ab. Vorläufig blieb es dabei, daß die Reutlinger Nachdrucker unter dem Schutze der Krone Württemberg die Leipziger großen Verleger beſtahlen, ihre Raub - waare durch die armen Hauſirer von der Rauhen Alp auf dem flachen Lande verbreiten ließen und mit dieſen ahnungsloſen Helfershelfern auf der Nachdrucker-Meſſe, dem berüchtigten Ehninger Krämercongreß regel - mäßige Abrechnung hielten.

Dem dritten Abſchnitt über die Univerſitäten lag jener hanno - verſche Antrag zu Grunde, der vor drei Jahren am Bundestage ſo viel Verwunderung erregt hatte. *)ſ. o. IV. 267.Einige der Vorſchläge Hannovers wurden als allzuhart beſeitigt; was übrig blieb war immerhin noch arg genug. Mit philiſterhafter Kleinmeiſterei verſuchte die Conferenz durch ſiebzehn Artikel das Leben der Studenten bis in’s Einzelne zu regeln; namentlich das Reiſen ward ihnen auf’s Aeußerſte erſchwert, der Württemberger Berol - dingen dachte ſelbſt die üblichen akademiſchen Spritzfahrten in die Um - gegend der Univerſitätsſtädte nur nach eingeholtem Segen der Obrigkeit zu erlauben. Es war, als ob man die jungen Leute zur Selbſtüber - hebung zwingen wollte; wie wichtig mußten ſie ſich ſelber vorkommen, wenn ihnen jetzt nach dem Frankfurter Attentate einige Zeit lang ſogar das Uebernachten in der Bundesſtadt verboten wurde.

Als Anhang folgte noch ein Artikel, der die Aktenverſendungen in Criminalfällen unterſagte weil die Tübinger Facultät kürzlich ein ſehr345Beſchlüſſe über Cenſur und Univerſitäten.mildes Urtheil über einige Demagogen gefällt hatte. *)Alvensleben’s Bericht, 14. Febr. 1834.Manche andere Wünſche der reaktionären Heißſporne mußten unberückſichtigt bleiben; wie hätte man auch einen einhelligen Beſchluß über die Beſchränkung der Schwurgerichte oder ähnliche Vorſchläge durchſetzen können.

Auch die Mediatiſirten, die in Süddeutſchland, zumal in Baden und Württemberg, guten Grund zur Klage hatten, klopften vergeblich an die Thüre der Conferenz. Sie verlangten in einer Eingabe (1. Febr. 1834) die ihnen früher verſprochenen Curiatſtimmen am Bundestage, ferner eine authentiſche Interpretation des Art. 14 der Bundesakte, endlich ein ſelbſtändiges Tribunal, das ihnen die dort verheißenen Rechte ſichern ſollte. Preußen hatte dieſen mediatiſirten Herren immer jene Großmuth, welche dem Starken ziemt, erwieſen. Der Kronprinz war ihr treuer Gönner. Er hielt für Ehrenpflicht aller früheren Reichsſtände, den als Opfer der Gewalt und Habſucht gefallenen ehemaligen Mitſtänden freundlich ent - gegenzukommen, und wünſchte geradezu, daß einige Gebiete der Mediatiſirten nicht ihre neuen Entſchädigungslande, wohl aber die Länder, welche ſo lange deutſche Geſchichte reicht, von demſelben Hauſe regiert wurden als wahre Mediat-Fürſtenthümer oder - Grafſchaften nach unſeren Landesgeſetzen von ihren alten Landesherren als Lehensträgern unſerer Krone, nicht als Unterthanen beherrſcht werden ſollten. **)Separat-Votum des Kronprinzen zu dem Berichte des Staatsminiſteriums über die Rechtsverhältniſſe der Mediatiſirten, Juli 1824.Ganz ſo weit, bis zur Bildung kleiner Staaten im Staate, wollte das nüchterne preußiſche Beamtenthum freilich nicht gehen; immerhin gewährte die königliche Inſtruktion vom 30. Mai 1820 dem hohen Reichsadel eine angeſehene Stellung, die ihm billigerweiſe genügen konnte, und obgleich es auch in Preußen nicht an Beſchwerden fehlten, ſo hegte er doch ein gutes Zutrauen zu der Gerech - tigkeit der Hohenzollern.

Zehn der mediatiſirten Fürſten und Grafen wendeten ſich daher noch vor Eröffnung der Conferenz an König Friedrich Wilhelm und beſchworen ihn, ihr in der That wohlberechtigtes Geſuch zu unterſtützen. Der König war auch nicht abgeneigt und antwortete freundlich; doch eine feſte Zuſage konnte er nicht geben, weil die in der Bundesakte verheißenen Curiat - ſtimmen den Mediatiſirten nur durch einſtimmigen Beſchluß gewährt werden durften. Mit Sicherheit ließ ſich vorherſehen, daß der mediatiſirte Reichs - adel, der ſich auf den Landtagen ſtets ſo ſtreng conſervativ gehalten hatte, am Bundestage für die beiden Großmächte ſtimmen würde; ebendeßhalb waren ſeine alten Feinde, die ſüddeutſchen Mittelſtaaten feſt entſchloſſen das Verſprechen der Bundesakte nicht einzulöſen. ***)Eingabe der Fürſten von Hohenlohe, Löwenſtein, Leiningen u. Gen. an K. Friedrich Wilhelm, Nov. 1833. Antwort, 13. Febr. 1834. Ancillon, Weiſung an Alvensleben, 13. Febr. 1834.Zum Unglück führte über -346IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.dies in Wien der fanatiſche Feudale Prinz Conſtantin Löwenſtein das Wort für ſeine Standesgenoſſen. Er verſicherte ungeſcheut: wenn in dem Gebiete eines mediatiſirten Herrn noch die Folter beſtünde, ſo könnte ſie durch ein Geſetz des neuen Landesfürſten nicht aufgehoben werden und brachte durch ſeine maßloſen Anſprüche ſelbſt die wohlgeſinnten Miniſter in Har - niſch. Nach lebhaften Verhandlungen, die namentlich den alten Haß Naſſaus gegen die Mediatiſirten wieder offenbarten, beſchloß die Conferenz, die ganze Frage unerledigt zu laſſen und verwies die Klagenden an den Bundestag. Alſo ward der alte Reichsadel durch eigene Schuld und durch die Wortbrüchigkeit der ſüddeutſchen Staaten immer tiefer in ſeine un - natürliche Winkelſtellung hineingedrängt.

Die Ergebniſſe der Berathungen wurden endlich in einem Schluß - Protokoll von 60 Artikeln zuſammengefaßt. Der liberale Luftzug wehte aber ſchon ſo ſchneidend durch die Welt, daß man nicht mehr wagte, dies Protokoll, wie einſt die Karlsbader Beſchlüſſe, zu veröffentlichen. Nur einzelne Artikel ſollten in Frankfurt als Bundesbeſchlüſſe verkündet werden; die übrigen, und vornehmlich jene gefährlichen Verabredungen über die Rechte der Landtage, blieben geheim. Die Regierungen verpflichteten ſich insgeheim, auch dieſe geheimen Artikel ebenſo unverbrüchlich zu befolgen als wenn dieſelben zu förmlichen Bundesbeſchlüſſen erhoben worden wären .

Da drohte das Schiff dicht vor dem Hafen noch zu ſtranden. Der Münchener Hof, deſſen Wünſchen die Conferenz ſtets bereitwillig entgegen - gekommen war, erhob plötzlich Einſpruch, und mit gutem Grunde meinte Türckheim, dahinter verberge ſich nur das dünkelhafte Princip der Iſo - lirung und eine mehr der Aengſtlichkeit als aufrichtigem Liberalismus zu - zuſchreibende Beſorgniß . *)Türckheim an Blittersdorff, 14. Juni 1834.König Ludwig war augenblicklich mit ſeinem neuen Landtage zufrieden; auch fand er es unwürdig, ſein Reich einem förmlichen Beſchluſſe der Bundesgenoſſen zu unterwerfen. Höchſtens einem freien Vertrage wollte er ſich anſchließen, und ſein vertrauter Miniſter Fürſt Wallerſtein, der gern den Liberalen ſpielte, beſtärkte ihn in ſeinen Bedenken gegen das Bundesſchiedsgericht. **)Dönhoff’s Berichte, 31. Mai, 19. Juni 1834.Die Beſtürzung in Wien war groß. Ancillon hielt für nöthig ſein grobes Geſchütz aufzufahren, und ſendete nach München einen von Schmeicheleien und Mahnungen überſtrömenden Erlaß: Wir waren überzeugt, die Einheit Deutſchlands feſter und folglich ſtärker gemacht zu haben. Wie wäre es möglich, daß der Fürſt, dem Deutſchland großentheils das ſchöne Werk des Zollvereins verdankt, und der darin immer ein Unterpfand der Eintracht und eine neue Stütze der Einheit geſehen hat, jetzt dieſe Einheit durch Trennung von ſeinen Bundes - genoſſen ſchwächen oder bloßſtellen könnte, jetzt da es ſich darum handelt347Schlußprotokoll. Baierns Zögerung.den inneren Frieden und die Unabhängigkeit nach außen zu ſichern? *)Ancillon, Weiſung an Dönhoff, 2. Juni 1834.Noch bevor ihm dieſe Predigt vorgeleſen wurde hatte der launiſche Wittels - bacher ſich ſchon eines Anderen beſonnen und die Unterzeichnung des Schlußprotokolls befohlen; indeß ſtellte er noch einige kleine Bedingungen um der Conferenz doch zu zeigen was auf Baiern ankomme. Auf ſein Verlangen wurde in elfter Stunde noch Mehreres geändert: die Verab - redungen über die Preſſe und die Univerſitäten ſollten nur auf ſechs Jahre gelten, eine gemeinſame Dienſtvorſchrift für die Cenſoren ſollte nicht erlaſſen werden, und was der Armſeligkeiten mehr war. Nun erſt, am 12. Juni konnte man das Schlußprotokoll einmüthig unterzeichnen. Ancillon bedang ſich als beſondere Ehre aus, daß ihm die koſtbare Ur - kunde zur nachträglichen Mitunterzeichnung nach Berlin geſchickt wurde, und Metternich hielt eine feierliche Schlußrede. Der preußiſche Miniſter ermahnte das Münchner Cabinet in einer neuen Depeſche, nunmehr wenig - ſtens das Beſchloſſene ernſthaft auszuführen, und der Baier Mieg gelobte dies auch heilig in der Schlußſitzung. **)Ancillon, Weiſung an Dönhoff, 26. Juni 1834.

Mit Genugthuung wurde das klägliche Ergebniß dieſer fünfmonat - lichen Berathungen wohl nur am Berliner Hofe begrüßt. Dort dachte man ſehr beſcheiden über die Aufgaben des Bundes, ſeit die Politik der lebendigen deutſchen Einheit im Zollvereine einen großen Wirkungskreis gefunden hatte; man war zufrieden, wenn nur der Schein der Eintracht zwiſchen den Bundesgenoſſen gewahrt, und der Revolution mit einigem Ernſt begegnet wurde. Darum richtete der König ein warmes Dankſchreiben an Metternich; trotz der Meinungsverſchiedenheiten der jüngſten Jahre hatte ſich ſeine perſönliche Verehrung für den öſterreichiſchen Staatsmann nicht vermindert. Ancillon aber pries in einem Rundſchreiben an die Geſandtſchaften den ſchönen Erfolg der Conferenzen: man habe weder die Bundesgeſetze noch die beſchworenen Verfaſſungen ändern, ſondern ledig - lich verhindern wollen, daß die beſtehenden Geſetze entarteten ; dies ſei glücklich gelungen gegenüber den Landtagen, der Preſſe und den Univerſi - täten, von denen mehrere heute als wahre Pflanzſtätten der Demagogie, ja ſelbſt des Aufruhrs erſchienen. ***)Ancillon, Rundſchreiben 30. Juni 1834.

Auch die über deutſche Dinge immer ſchlecht unterrichtete franzöſiſche Regierung hielt die Wiener Conferenzen für ein folgenſchweres Ereigniß. Der neue Miniſter des Auswärtigen, Rigny, verſuchte durch ein Rund - ſchreiben und durch perſönliche Unterredungen die Diplomatie der Mittel - ſtaaten vor der Tyrannei der deutſchen Großmächte zu warnen: wie könnten Monarchen, deren Souveränität durch Frankreich verbürgt ſei, ſich freiwillig einem auswärtigen ſubalternen Gerichte unterwerfen?†)Jordan’s Bericht, 6. Dec. 1834. Frankreichs348IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.Warnungen fanden taube Ohren. Die kleinen Kronen wußten wohl, daß in Wien nur eine Halbheit, eine Unwahrheit beſchloſſen war. Der Bun - destag mußte ſich bequemen, die Artikel über das Bundesſchiedsgericht in Geſtalt eines Bundesgeſetzes zu veröffentlichen (30. October 1834). Aber dies von allen amtlichen Blättern pomphaft angeprieſene Tribunal trat bis zum Jahre 1848 nie in Thätigkeit; denn die conſtitutionellen Fürſten zogen ſämmtlich vor, ihre ſchwarze Wäſche daheim zu waſchen ſtatt den immer verdächtigen Schiedsſpruch des Bundes anzurufen, und als die kurheſſiſchen Stände einmal um Einberufung des Bundesſchiedsgerichts baten, wies ſie der Bundestag ſelber ab. Nachher wurden auch die Artikel über die Univerſitäten und über die Aktenverſendung als Bundesgeſetze verkündigt. Alles Uebrige blieb, wie beſchloſſen war, tief geheim, und die Frankfurter Geſandten klagten bitterlich, wie ſchmählich man den Bundestag wieder einmal an die Wand gedrückt habe. Die Nation aber konnte in dieſem undurchdringlichen Geheimniß nur ein Zeichen böſen Gewiſſens ſehen, ſie glaubte tolle Märchen über die Wiener Teufeleien. Als endlich, nach beinahe zehn Jahren, Welcker das Schlußprotokoll herausgab, da ſchoben die längſt auf das Schlimmſte gefaßten Leſer allen Artikeln, auch den harmloſen oder nichtsſagenden, einen ſo argen Sinn unter, daß die Wiener Conferenz einen nur halb verdienten hölliſchen Ruf erlangte. Erſt nach einem vollen Menſchenalter (1865) hat F. v. Weech alles Weſentliche aus den Protokollen veröffentlicht.

Die verfaſſungstreuen conſtitutionellen Miniſter gelangten alleſammt bald zu dem ſtillen Entſchluſſe, es mit der Ausführung der Wiener Ver - einbarungen nicht ſehr genau zu nehmen. Lindenau in Dresden erklärte dem preußiſchen Geſandten aufrichtig: die zu Bundesbeſchlüſſen erhobenen Artikel werden wir ſtreng ausführen, die anderen auch wenn unſere Kammern nicht widerſprechen. Die Reaktionäre aber grollten. Seit den Wiener Conferenzen weiß ich, ſagte der Herzog von Naſſau, daß Oeſter - reich in Deutſchland nicht mehr die Initiative ergreifen kann, ich ſage mich los von dem öſterreichiſchen Syſteme. *)Blittersdorff’s Bericht, 21. Febr. 1835.Und du Thil ſuchte noch nach Jahren den letzten Grund der Revolution von 1848 in der Untreue jener liberaliſirenden Miniſter, welche das Wiener Schlußprotokoll zum todten Buchſtaben gemacht hätten. Ebenſo ſchwermüthig, aber unbefan - gener urtheilte Münch-Bellinghauſen. Er ſagte: die Conferenzen haben nur ein halbes Ergebniß gebracht, denn die Richtung, welche Deutſchland ſeit der Juli-Revolution eingeſchlagen iſt nicht mehr aufzuhalten. **)Blittersdorff’s Bericht, 27. Oct. 1834.

So ſtand es wirklich. Es war gelungen, den offenen Aufruhr zu bändigen, auch den Ruf nach Preßfreiheit und viele andere wohlberechtigte Forderungen der Zeit vorläufig abzuweiſen. Aber die neuen parlamen -349Fruchtloſigkeit der Conferenzen.tariſchen Staatsformen umfaßten nunmehr ſchon faſt die geſammte kleine deutſche Staatenwelt. Trotz der Angſt der Höfe und trotz der Aus - ſchweifungen der Liberalen ſtanden ſie unerſchütterlich feſt, und wer die zähe Lebenskraft dieſer kleinen, ſo wenig muſterhaften Verfaſſungen recht erkannte, der mußte vorherſehen, daß die conſtitutionellen Ideen bald durch ganz Deutſchland ihren Siegeszug halten würden.

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Sechſter Abſchnitt. Der Deutſche Zollverein.

Radicale Theorien leiten den Staat aus dem freien Willen des ſou - veränen Volkes ab. Die Geſchichte lehrt vielmehr, daß in einfachen Ver - hältniſſen die Staaten meiſt gegen den Willen der Mehrheit des Volkes, durch Eroberung und Unterwerfung entſtehen; und wie der Krieg ſelbſt in Zeiten bewußter Geſittung immer ſeine ſtaatenbildende Kraft bewahrt, ſo wird auch die innere Politik freier Völker keineswegs allein durch die Wandlungen der öffentlichen Meinung beſtimmt. Die folgenreichſte po - litiſche That dieſes Zeitraumes, die alle die kleinen Kämpfe um conſtitu - tionelle Rechte gänzlich in den Schatten ſtellte, vollzog ſich unzweifelhaft gegen den Willen der Mehrheit der Deutſchen; die Nation wirkte nur mittelbar und halb unbewußt mit, da die Zornreden der Liberalen wider das deutſche Elend und die berechtigten Klagen der Geſchäftswelt den Regierungen einen rettenden Entſchluß aufzwangen. Der größte praktiſche Erfolg der Idee der deutſchen Einheit war das Werk der nämlichen Kronen, welche die deutſchen Farben verfolgten und den Vorſchlag eines Deutſchen Reichstages als eine revolutionäre Ketzerei zurückwieſen. So unerbittlich zwang die Vernunft, die in den Dingen lag, auch die Widerwilligen und die Ahnungsloſen in ihre Dienſte.

Nach dem Tode Motz’s, des einzigen Staatsmannes, der die poli - tiſchen Folgen des preußiſchen Handelsbundes von vornherein ganz über - ſah, erhielt ſein Freund Maaſſen, der Begründer des Zollgeſetzes, die Leitung des Finanzweſens. Die Wahl des Königs konnte keinen würdigeren Mann treffen. Maaſſen überragte den Verſtorbenen durch umfaſſende Sachkenntniß; klug, gerecht, wohlwollend verſtand er bei den Unterhand - lungen ſich das Vertrauen der argwöhniſchen kleinen Kronen ſtets zu er - halten. Freilich fehlten ihm der kühne Wagemuth und der weite ſtaats - männiſche Blick des Vorgängers; er ließ die Dinge gern an ſich kommen und hegte nicht wie jener den Ehrgeiz auf die Leitung der geſammten preußiſchen Politik einzuwirken, obgleich er als der bedeutendſte Kopf des Miniſteriums klar erkannte, wie gemächlich die Mittelmäßigkeit in den anderen Departements ſich wieder einzuniſten begann. Wenn ſein ge -351Maaſſen Finanzminiſter.treuer Mitarbeiter, der feurige Ludwig Kühne ihn beſchwor, daß er ſeine geiſtige Ueberlegenheit den anderen Miniſtern zeigen möge, dann erwiderte Maaſſen achſelzuckend: dazu fühle er ſich mit ſeinen einundſechzig Jahren ſchon zu alt. *)Ich benutze im Folgenden mehrfach eine Abſchrift der Denkwürdigkeiten L. Kühne’s, die mir Herr Wirkl. Geh. Rath von Jordan mit Erlaubniß der Familie freundlich über - laſſen hat.Ueberdies hatte der Finanzminiſter vollauf zu thun um die außerordentlichen Mittel für die Rüſtungen zur Stelle zu ſchaffen, die Thätigkeit des Auswärtigen Amtes aber ward durch die Kriegsgefahr und die deutſchen Unruhen ganz in Anſpruch genommen. So erklärt es ſich, daß die mühſelige Arbeit der handelspolitiſchen Einigung zwar ſtetig vorwärts ſchritt, aber zunächſt nicht ſo ſchnell gefördert wurde, wie man wohl erwarten konnte nachdem Motz Schlag auf Schlag die letzten En - claven aufgenommen, den Zollverein mit Darmſtadt, den Handelsvertrag mit Baiern-Württemberg abgeſchloſſen, den feindlichen Handelsverein der Mitteldeutſchen nahezu zerſprengt hatte.

Die Nachſpiele der Juli-Revolution gereichten der preußiſchen Handels - politik zum Vortheil; ſie räumten plötzlich alle die Hemmniſſe hinweg, welche das alte Syſtem in den norddeutſchen Mittelſtaaten dem Zollver - bande entgegenſtellte. Durch den Untergang der ſtändiſchen Anarchie in Sachſen, der despotiſchen Willkür in Heſſen war die Verwaltung beider Länder den preußiſchen Inſtitutionen angenähert worden; früher oder ſpäter mußte die Verſtändigung erfolgen. In Kurheſſen zunächſt wurde die Morſchheit des alten Mauthweſens offenbar. Nicht zuletzt die wirth - ſchaftliche Noth hatte die Volksbewegungen im Herbſt 1830 hervorge - rufen. Das Ländchen mit ſeinen 154 Geviertmeilen beſaß 154 Meilen Zollgrenze. Frecher als irgendwo auf deutſchem Boden gedieh hier der Schmuggel; in geſchloſſenen Schaaren zogen die Schwärzer aus, maßen ſich mit den Zollwächtern in offenem Gefechte. Während die Koſten der Zollverwaltung den Ertrag der Eingangsabgaben faſt verzehrten, begann jetzt auch der ergiebige Durchfuhrzoll zu verſiegen, da der Tranſit ſich nach der neuen Thüringer Straße hinüberzog. Als die Unruhen aus - brachen, verließen alle Mauthbeamten im Hanauiſchen und Fuldiſchen ihre Amtshäuſer; Maſſen fremder Waaren ſtrömten unverzollt ins Land, und der Bundesgeſandte Meyerfeld erklärte dem Bundestage, die Regierung dürfe nicht wagen, die Zollämter wiederherzuſtellen. **)Blittersdorff’s Bericht, 7. Oct. 1830.Entſetzt ſchrieb Blittersdorff: Die Mauthen können leicht für ganz Deutſchland ein Loſungswort des Aufruhrs werden.

Doch wie konnte Kurheſſen aus dem unerträglichen Nothſtande heraus? Die Regierung war zwiefach gebunden: durch den mitteldeutſchen Handels - verein und durch den Eimbecker Vertrag. ***)ſ. o. III. 680.Jener lag im Sterben,352IV. 6. Der Deutſche Zollverein.dieſer war vor der Hand noch ein Entwurf, änderte nichts an den Leiden des Landes. Man ſchwankte lange; noch im Herbſt 1830 widmete Geh. Rath Meiſterlin, einer der Urheber des Eimbecker Vertrags, den Land - ſtänden eine Flugſchrift, die den Eintritt in das preußiſche Zollſyſtem verwarf, weil Heſſens Gewerbfleiß die Mitwerbung der überlegenen rhei - niſchen Induſtrie nicht ertragen könne. Die alte Abneigung des Kur - fürſten gegen Preußen war nicht verflogen, auch ſchien ihm doch bedenk - lich eine zwiefache Verpflichtung ohne Weiteres zu brechen. Er wünſchte und mit ihm wohl die Mehrzahl im Lande einen Mauthverband des geſammten Deutſchlands, der die Sonderbünde von ſelbſt aufgehoben hätte. In dieſem Sinne mußte Meyerfeld bei dem bairiſchen Bundes - tagsgeſandten Lerchenfeld vertraulich anfragen. Das Münchener Cabinet aber kannte jetzt die handelspolitiſchen Pläne wie die Verhandlungsweiſe des Berliner Hofes; daher gab Graf Armansperg an Lerchenfeld die verſtändige Weiſung: dieſe Sache ſei vorſichtig dahin zu lenken, daß ſie in Berlin unter Preußens Leitung erledigt werde. *)Armansperg, Weiſung an Lerchenfeld, 29. Oct. 1830.Gleichwohl konnte der Kurfürſt ſich noch immer nicht entſchließen mit dem verhaßten Preußen und dem ſo gröblich beleidigten Darmſtädter Vetter allein zu verhandeln. Noch im folgenden Frühjahr erhielt Meyerfeld den Auftrag, die Vereinigung ſämmt - licher deutſcher Mauthverbände beim Bundestage zu beantragen; da warnte ihn Nagler: niemals werde Preußen einer ſolchen Utopie zuſtimmen. **)Nagler’s Bericht, 24. April 1831.

Unterdeſſen hatte Motz, ein Verwandter des preußiſchen Miniſters, das heſſiſche Finanzminiſterium übernommen. Die Anarchie im Zollweſen ward unhaltbar; die Commiſſäre des Eimbecker Vereins, die in Hannover tagten, konnten ſich nicht einigen. Motz und ſein wackerer Amtsgenoſſe Schenk zu Schweinsberg bewogen endlich den Kurfürſten, daß er die Ge - heimräthe Ries und Meiſterlin im Juni nach Berlin ſchickte um mit Preußen-Darmſtadt und Baiern-Württemberg zugleich einen Zollverein zu ſchließen. Doch unerbittlich hielt Eichhorn den beiden Bevollmächtigten den alten preußiſchen Grundſatz entgegen: Verhandlungen mit mehreren Staaten zugleich ſind ausſichtslos. Vergeblich ſträubte ſich der Kurfürſt; man mußte ſich der Forderung des Berliner Hofes fügen, mit Preußen - Darmſtadt allein verhandeln. In Maaſſen’s Auftrag führte L. Kühne die Unterhandlung. Der ſchlicht bürgerliche kleine Mann erwies ſich jetzt ſchon, wie ſpäterhin in allen Geſchäften des Zollvereins, als meiſterhafter Diplomat. Klar und beſtimmt, mit überlegener Sachkenntniß und ehr - lichem Wohlwollen entwickelte er ſeine Vorſchläge; wenn ihm aber das thörichte Mißtrauen der Kleinen entgegentrat, dann funkelten ſeine kleinen ſcharfen Augen, und er fertigte alle Winkelzüge mit ſchneidenden Sarkas - men ab. Auf die Frage des Preußen, ob Kurheſſen nicht noch durch die353Abſchluß mit Kurheſſen.mitteldeutſchen Handelsverträge gebunden ſei, verweigerten die Heſſen jede Antwort weil ihnen das Gewiſſen ſchlug. Man ging alſo über dieſen wunden Punkt ſchweigend hinweg. *)Nach Kühne’s Denkwürdigkeiten.Die Kurheſſen drängten zur Eile; denn ſie befürchteten einen neuen Umſchwung an ihrem heimiſchen Hofe, wo Oeſterreich und England-Hannover alle Minen ſpringen ließen, und ſie wollten, geängſtigt durch die nahende Cholera, den unheimlichen Boden Berlins ſchleunigſt wieder verlaſſen. Schon am 29. Auguſt 1831 war Alles beendigt. Um dem zollvereinsfreundlichen Könige von Baiern eine Ehre zu erweiſen, wurde der Vertrag auf den Ludwigstag (25. Aug.) zu - rückdatirt. Kurheſſen trat dem preußiſchen Zollſyſteme bei, im Weſent - lichen unter denſelben Bedingungen wie einſt Darmſtadt. Der alte Kur - fürſt ließ dieſe Demüthigung noch über ſich ergehen, wenige Tage bevor er die Regierung ſeinem Sohne abtrat. Vor ſieben Jahren war man in Berlin bereit geweſen ein erhöhtes Einkommen an Kurheſſen zu bewilligen; jetzt hatte das Kurfürſtenthum ſeinen Durchfuhrhandel verloren und durch gehäufte Sünden jeden Anſpruch auf Begünſtigung verſcherzt. Heſſen mußte ſich begnügen mit dem Maßſtabe der Kopfzahl.

Der Vertrag war für Kurheſſen eine politiſche Nothwendigkeit, er rettete das Land aus namenloſem Elend. Selbſt der Caſſeler Landtag wagte nicht zu widerſprechen, obgleich Sylv. Jordan bitterlich beklagte, daß die indirekten Steuern nunmehr der Verfügung des Landtages ent - zogen ſeien und die abſolute preußiſche Krone über das freie Heſſen Macht gewinne. **)Hänlein’s Bericht, 18. Oct. 1831.Die mitteldeutſchen Verbündeten freilich drohten und lärmten. Nicht ohne Grund; Kurheſſen hatte in den roheſten Formen ſeine Ver - tragspflicht gebrochen ohne auch nur ernſtlich eine Verſtändigung mit den alten Bundesgenoſſen zu verſuchen. Für Preußen dagegen war ein klarer Gewinn errungen. Wie die Gotha-Meininger Straße den Verkehr mit dem ſüddeutſchen Vereine geſichert hatte, ſo wurde jetzt die lang erſehnte Verbindung zwiſchen dem Oſten und dem Weſten hergeſtellt, der mittel - deutſche Verein noch an einer zweiten Stelle durchbrochen. Während in Thüringen die Zollfreiheit der preußiſchen Durchfuhrſtraße den mittel - deutſchen Verbündeten gefährlich wurde, mußte Kurheſſen die höheren Tranſitzölle des preußiſchen Tarifs einführen. Auf Baierns dringende Vorſtellungen ſetzte Preußen dieſe heſſiſchen Zölle bald auf die Hälfte herab. Eine noch weitergehende Verminderung war vor der Hand unthunlich; die mitteldeutſchen Verbündeten, vornehmlich die Frankfurter Kaufleute, ſollten fühlen, daß ſie von Preußen abhingen, und durch heilſamen Druck beſtärkt werden in ihrer beginnenden Bekehrung.

Durch den Abfall Kurheſſens ward der mitteldeutſche Handelsverein vernichtet. Der Liberalismus freilich kam ſo ſchnell nicht los von denTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 23354IV. 6. Der Deutſche Zollverein.liebgewonnenen Phraſen. In Baiern declamirte Siebenpfeiffer gegen die Mauth: ſie hätte zur Volksſache werden ſollen und iſt zur Volksfeindin geworden! Stromeyer in Baden ſchrieb in die gefürchtete Zeitſchrift Rhein - baiern einen donnernden Artikel: Die preußiſche Ariſtokratenſtirne wagt es ſich an das Nationalgefühl zu wenden! In Preußen herrſcht, härter als irgendwo auf der Welt, die eiſerne Conſequenz des Mercantilſyſtems; der mitteldeutſche Verein vertritt die Freiheit. Darum ſoll Baden feſt - halten an ſeinem trefflichen liberalen Zollweſen. Dann wird Württem - berg, das ohnedies durch ſeine hohe politiſche Bildung dem conſtitutionellen Muſterſtaate nahe ſteht, und bald auch das conſtitutionelle Baiern, Sachſen, Kurheſſen dem badiſchen Syſteme ſich anſchließen! Auch einer der edelſten und gelehrteſten Vertreter deutſcher Wiſſenſchaft brach eine Lanze für den ſterbenden Sonderbund. Johann Friedrich Böhmer verfaßte das wunderliche Büchlein das Zollweſen in Deutſchland geſchichtlich beleuchtet . Der Legitimiſt des heiligen Reichs ſtellte den kühnen Satz auf, die Zoll - freiheit der deutſchen Flüſſe müſſe von Rechtswegen auch für die Land - ſtraßen gelten. Er pries den mitteldeutſchen Verein als den letzten Ver - ſuch, von dem was einſtens als gemeines deutſches Recht und Freiheit gegolten, ſo viel wie möglich, wenigſtens vertragsweiſe, zu ſichern. Er ſchalt Preußen den Reichsfeind und Landfriedensbrecher , warnte die Kleinſtaaten, wie leicht ſich Einverleibungen der Nachbarländer an Zoll - angelegenheiten knüpfen, und getröſtete ſich des ſchönen Wortes, das vor zwölf Jahren der k. k. Präſidialgeſandte geſprochen: daß die hohe Bundes - verſammlung die Beförderung und Erfüllung des deutſchen Handels in die Hand nehmen werde !

Die ſächſiſchen Höfe waren längſt nicht mehr in der Lage ſolchen Schrullen nachzuhängen. Die Noth des Haushalts, das laute Murren des Volkes zwang ſie, wie Motz vorausgeſagt, demüthig bittend in Berlin anzuklopfen. Armſelige Advokatenkünſte mußten vorhalten um den Ver - tragsbruch zu beſchönigen. Meiningen behauptete, der mitteldeutſche Verein ſei durch den Eimbecker Vertrag zerriſſen worden, er beſtehe nicht mehr zu Recht. Der Verrath des Einen diente dem Anderen zum Vorwande; ſobald die kleinen Thüringer ſchwankten, berief ſich das Dresdner Cabinet auf den Artikel des Caſſeler Vertrags, wonach die gänzlich vom Auslande umſchloſſenen Gebietstheile den Satzungen des Vereins nicht unterliegen ſollten. Das ſei jetzt Sachſens Fall, wenn Thüringen ſich mit Preußen verſtändige eine offenbare Sophiſterei, da jene Clauſel ſich nur auf entlegene Enclaven bezog. Wollte der ſächſiſche Hof ehrenhaft verfahren, ſo mußte er ſofort einen neuen Congreß der mitteldeutſchen Verbündeten berufen, dort die Auflöſung des unhaltbaren Vereines beantragen und dann erſt mit Preußen unterhandeln. Aber die alte Politik der Winkelzüge, der Halbheit, des Mißtrauens gegen Preußen wurde ſelbſt unter dem neuen Miniſterium Lindenau nicht ſogleich aufgegeben. Die ſächſiſche355Bekehrung der ſächſiſchen Höfe.Regierung glaubte ihre Wünſche in Berlin ſicherer durchſetzen zu können, wenn ſie an dem Geſpenſte des mitteldeutſchen Vereins noch einen Rück - halt hätte; ſie begann mit Preußen zu verhandeln noch bevor ſie ihrer älteren Verpflichtung entbunden war.

Nachdem das Dresdner Cabinet ſchon im Auguſt 1830 bei den ſüd - deutſchen Kronen leiſe angefragt, mußte ſich der alte König Anton endlich entſchließen, an den König von Preußen ſelber zu ſchreiben. Er betheuerte, daß er längſt die Abſicht gehabt mit Preußen in commercielle Verbindung zu treten und ſomit im Sinne des hochwichtigen und wohlthätigen Zwecks zu handeln, deſſen Erreichung von Ew. Majeſtät bereits ſeit längerer Zeit beabſichtigt wird. Daß dieſe Verhandlung von Preußen begonnen und eingeleitet werde, ſcheint die nothwendige Bedingung des Erfolges zu ſein. Lindenau, der im Januar 1831 dies Handſchreiben nach Berlin brachte, überreichte zugleich eine Denkſchrift, worin Sachſen den Entſchluß aus - ſprach, die Auflöſung des mitteldeutſchen Vereins durchzuſetzen da Ver - anlaſſung, Zweck und Grund des Vereins nicht mehr vorhanden ſind. Das Bedürfniß einer bewegten Zeit, die Zuverſicht, durch den Antritt einer ſolchen Verhandlung die aufgeregten Gemüther am ſicherſten zu beruhigen, endlich die Hoffnung, daß ein ſolcher die Mehrzahl der deutſchen Bundes - ſtaaten umfaſſender Verband auch auf die größeren Weltereigniſſe einen friedlich beſänftigenden Einfluß äußern könne ermuthigten den ſächſiſchen Hof die Verhandlungen in Berlin zu beginnen. *)König Anton v. Sachſen an König Friedrich Wilhelm, 29. Dec. 1830. Lin - denau’s Denkſchrift über die Handelseinheit, 4. Jan. 1831.

Noch kläglicher war die Demüthigung Weimars. Derſelbe Miniſter Schweitzer, der ſeit Jahren das preußiſche Zollſyſtem als den Todfeind deutſcher Handelsfreiheit bekämpft hatte, verſicherte im Juli 1830 dem Aus - wärtigen Amte: daß zur Förderung des von dem König von Preußen begonnenen, in ſeinen Zwecken und ſeinen Gründen immer klarer hervor - tretenden deutſchen Werkes, alſo zur Förderung eines freien Handels und Verkehrs im deutſchen Vaterlande von Preußen aus, der Großherzog von Weimar im Einverſtändniß mit dem Königreich Sachſen mit Vergnügen die Hand bieten wird. Dann ſang der weimariſche Miniſter Fritſch die Todtenklage des Sonderbundes: Auf hinreichende Zeit zur Ausbildung des Vereines iſt nicht mehr zu rechnen, nachdem die großen welthiſtoriſchen Ereigniſſe ſeit dem 25. Juli 1830 und deren Folgen auf deutſchem Boden eine weit ſchleunigere Hilfe nothwendig gemacht, man kann ſagen, die Uebel, welche als chroniſche behandelt werden ſollten, in acute verwandelt haben. Nur Schaden, nur Verderben könnte es bringen, wenn man ſich unter ſolchen Umſtänden noch gegenſeitig beſchränken, ſich zum Nichtsthun verpflichtet halten wollte in einer Zeit, welche in allen öffentlichen Dingen ganz andere Forderungen ſtellt. Was uns die Jahre 1829 und 1830 genommen und gebracht haben, ließ ſich im Jahre 1828 nicht vorausſehen,23*356IV. 6. Der Deutſche Zollverein.nicht vorausahnden. Der Caſſeler Verein war und bleibt ein bedeutendes Unternehmen, nicht ohne Folgen. Es wird den Stiftern deſſelben ein ge - rechtes Urtheil in der Geſchichte um ſo weniger entgehen, je bereitwilliger ſie jetzt das Geſtändniß ablegen und bethätigen, daß eine ganz neue Zeit uns gekommen iſt. *)Schweitzer, Schreiben an das preuß. Min. d. A. A., 25. Juli 1830. Fritſch, Schreiben an das ſächſ. Min. d. A. A., 31. März 1831.

Friedrich Wilhelm antwortete dem Könige von Sachſen ſehr freund - lich, er ſei bereit Sachſens Anträge zu erwägen, und ſprach ſich zugleich offen aus über die nationalen Ziele ſeiner Handelspolitik: Wiewohl der Abſchluß dieſer Verträge ſtets nur mit einzelnen Staaten erfolgte, ſo hatte man dennoch dabei nicht ein ausſchließliches Intereſſe der unmittelbar Betheiligten im Auge, ſondern man verfolgte zugleich den Geſichtspunkt, daß die einzelnen Verträge als Mittel dienen möchten, der Freiheit des Verkehrs in Deutſchland überhaupt eine größere Ausdehnung zu geben. Dem Weimariſchen Hofe drückte der Miniſter des Auswärtigen ſeine Freude aus, daß unſer Werk auch in den Augen Weimars immer klarer als ein deutſches Werk hervortritt ; dann wiederholte er in ſchneidenden Aus - drücken die hundertmal von Preußen ausgeſprochene Ermahnung: die Thü - ringer ſollten ſich erſt unter ſich verſtändigen, bevor Preußen mit ihnen verhandeln könne. **)König Friedrich Wilhelm an König Anton v. Sachſen, 24. Jan. 1831. Bern - ſtorff an das Staatsminiſterium in Weimar, 22. Oct. 1830.

Nach ſolchen Erfolgen ſtand in Berlin feſter denn je die Ueberzeugung, daß der eingeſchlagene Weg der Einzelverhandlungen allein zum Ziele führe. Mit voller Sicherheit ſchrieb Bernſtorff dem Könige: Die Schöpfung eines allgemeinen deutſchen Zoll - und Handelsſyſtems oder irgend einer anderen bleibenden Inſtitution ähnlicher Natur iſt eine Aufgabe, deren Löſung dem Bunde ſo lange unmöglich bleiben wird, als derſelbe nicht eine andere, von der jetzigen ganz verſchiedene Organiſation beſitzt. Seit dem Zer - falle des mitteldeutſchen Sonderbundes ſchien die Bahn frei für die voll - ſtändige Vereinigung der beiden befreundeten Zollvereine des Südens und des Nordens. Was ſollte jetzt noch hindern, da beide Theile die Unhalt - barkeit des beſtehenden Zuſtandes lebhaft empfanden? da die zwiſchen - liegenden Staaten nicht mehr feindlich im Wege ſtanden, ſondern ſelbſt um ihre Aufnahme baten? da das Grundgeſetz des preußiſch-heſſiſchen Vereins ſich von ſelber darbot als die Regel für den großen Verein? Und dennoch mußte Preußen wieder und wieder durch den Flugſand waten, der im Wüſtenwinde der deutſchen Kleinſtaaterei emporwirbelte. Faſt drei Jahre lang, von 1830 bis 1833, ſpielte in Berlin, vielfach unter - brochen, eine dreifache Reihe mühſeliger Verhandlungen: mit Baiern - Württemberg, mit Sachſen, mit den thüringiſchen Staaten; und das Ge - ſchäft wäre nie zum Abſchluß gelangt, wenn man nicht, dem alterprobten357Die bairiſch-badiſchen Händel.Grundſatz getreu, die Unterhandlungen mit den einzelnen Gruppen ſcharf auseinander gehalten hätte. Der Vergleich drängt ſich unwillkürlich auf: der Deutſche Zollverein ging aus dem preußiſch-heſſiſchen hervor unter ähnlichen Kämpfen und Bedenken, wie ſpäterhin das Deutſche Reich aus dem Norddeutſchen Bunde. Der Zollverein wie der Norddeutſche Bund ſtieß auf die höchſten Schwierigkeiten erſt als die größeren Mittelſtaaten, mit ihrem feſtgewurzelten und nicht ganz unberechtigten Particularismus, mit der Fülle ihrer ſcheinbar oder wirklich abweichenden Intereſſen in die Verhandlungen eintraten. In Verſailles wie vierzig Jahre zuvor in Berlin gebärdeten ſich die ſüddeutſchen Kronen anfangs, als ſtände man vor einem Neubau, als ſei noch gar kein Grundgeſetz vorhanden; erſt nach langem peinlichem Zögern erkannten ſie die im Norden beſtehende Ordnung an, doch indem der Bau erweitert wurde, lockerte man zugleich das feſte Gefüge ſeiner Mauern.

Der Handelsvertrag zwiſchen Preußen-Heſſen und Baiern-Württem - berg war von vornherein in der Abſicht fortſchreitender Erweiterung ab - geſchloſſen. In München aber begann die ultramontane Partei ſofort an dem neuen Bunde zu zerren und zu nagen. Ihre Führer, Schenk, Görres, Ringseis, ſtanden durch den k. k. Legationsrath Wolff mit der Hofburg im Verkehr; der Geſandte in Wien, Graf Bray, war für Metternich gewonnen, desgleichen neuerdings auch der alte Feldmarſchall Wrede. Angeſichts dieſer mächtigen Gegner und der unberechenbaren Launen König Ludwig’s hielt Bernſtorff für nöthig, allen Begehren Baierns ſo weit als möglich entgegen - zukommen. Der Münchener Hof wünſchte zunächſt den Eintritt Badens in den bairiſch-württembergiſchen Verein; denn das badiſche Gebiet ragte als ein trennender Keil zwiſchen die bairiſche Pfalz und die Hauptmaſſe der Vereinslande hinein, und unter dem Schutze der gerühmten Karlsruher Freihandelspolitik, die für die Grenzbewachung wenig that, blühte auf dem Schwarzwalde wie am Rheinufer ein gefährlicher Schmuggelhandel. War der kränkelnde ſüddeutſche Zollverein durch Badens Zutritt neu gekräftigt, dann erſt ſollte ſo rechnete König Ludwig über die völlige Ver - ſchmelzung der beiden Vereine des Nordens und des Südens verhandelt werden. Motz hatte dieſen etwas künſtlichen und umſtändlichen Plan ge - billigt, und aus Rückſicht auf Baiern hielt Bernſtorff auch jetzt noch daran feſt, obwohl Maaſſen ihm verſicherte, man könne getroſt weiter gehen und mit Baiern, Württemberg und Baden ſogleich einen wirklichen Zollverein nach dem Muſter des preußiſch-heſſiſchen abſchließen. *)Maaſſen an das Auswärtige Amt, 15. Oct. 1830.

Eine handelspolitiſche Verſtändigung zwiſchen Baiern und Baden blieb aber völlig ausſichtslos ſo lange die beiden Höfe einander noch als Feinde betrachteten und König Ludwig ſeine traumhaften Anſprüche auf badiſches Gebiet nicht aufgab. Als Großherzog Ludwig ſtarb und ſein358IV. 6. Der Deutſche Zollverein.Nachfolger ſogleich von allen Mächten anerkannt wurde, da wagte man in München gar nicht mehr wie früher zu behaupten, daß mit der Thron - beſteigung der Hochbergiſchen Linie das Haus der Zähringer ausgeſtorben ſei. Der Wittelsbacher trug ſeine vorgeblichen Anſprüche auf den Heimfall der badiſchen Pfalz ſtillſchweigend zu Grabe. Um ſo mehr lag ihm daran, jetzt mindeſtens den Sponheimer Streit auf gute Art zu Ende zu führen und durch eine kleine Gebietserwerbung der Welt zu beweiſen, daß Baiern doch nicht ganz im Unrechte geweſen ſei. *)ſ. o. III. 620 f.

Gegen Ende Mai 1830 erſchien Armansperg in tiefem Geheimniß zu Berlin und bat um Preußens gute Dienſte. König Friedrich Wilhelm übernahm die Vermittlung, im Verein mit dem Könige von Württemberg, und ließ den badiſchen Miniſter Böckh nach Berlin einladen. Er hoffte nicht nur den leidigen Gebietsſtreit beizulegen, ſondern auch Baden zum Eintritt in den bairiſch-württembergiſchen Zollverein zu bewegen. Am 10. Juli brachte Bernſtorff’s verſöhnliches Zureden endlich eine Ueberein - kunft zu Stande, kraft deren Baden dem ſüddeutſchen Vereine beizutreten verſprach; dafür wollten beide Theile auf ihre Sponheimer Erbanſprüche verzichten und den alten Beinheimer Entſcheid für erloſchen erklären. Um Baiern gänzlich zufrieden zu ſtellen wurde noch ein geringfügiger Gebiets - austauſch irgendwo an der badiſchen Oſtgrenze vorbehalten. Damit ſchien der jämmerliche Handel aus der Welt geſchafft. Metternich ſprach bereits allen Theilnehmern ſeinen Glückwunſch aus, und König Ludwig dankte dem preußiſchen Miniſter auf’s Wärmſte. Ohne Verſtändigung mit Baden ſo ſchrieb er kann ein näheres Anſchließen an Preußen nicht ſtatt - finden. Daß aber ein ſolches Anſchließen geſchehe, finde ich von großer Wichtigkeit für das Beſte unſeres teutſchen Geſammtvaterlandes; hiervon bin ich durchdrungen, ſowie daß mein Haus dem preußiſchen zu verdanken hat noch in Baierns Beſitz zu ſein. Es iſt eine Freude mit einem ſolchen Manne von Ehre zu thun zu haben. **)König Ludwig an Bernſtorff, 22. Juli 1830.

Sobald man jedoch über die Ausführung der Uebereinkunft ver - handelte, verlangte Baiern einen Zuwachs von etwa 20000 Einwohnern, und ſetzte erſt nach langem Feilſchen ſeine Forderung ein wenig herab; das ſchöne Wertheim vornehmlich, das Heidelberg der Mainlande erſchien dem romantiſchen Wittelsbacher unwiderſtehlich verlockend. Der Karls - ruher Hof wies jede größere Gebietsabtretung entſchieden zurück und ver - ſchanzte ſich hinter der geſinnungstüchtigen Entrüſtung ſeines Volkes. Die Stadt Wertheim ſelbſt hatte freilich gegen die Abtretung wenig einzu - wenden, weil die Beamten den Main-Tauberkreis als das badiſche Sibirien behandelten; auch der Fürſt Georg von Löwenſtein, der dort Hof hielt, wollte ſich als treuer deutſcher Patriot den Herrſchaftswechſel wohl ge -359Vermittlung von Preußen und Württemberg.fallen laſſen, wenn dadurch nur endlich das Elend der Binnenmauthen aufgehoben würde. *)Bürgermeiſter Weimar in Wertheim an Fürſt Georg v. Löwenſtein, 28. Mai; F. Georg v. Löwenſtein an Otterſtedt, 30. Mai 1831.Anders empfand die große Mehrzahl der Liberalen; ſie dachte von dem Muſterlande der conſtitutionellen Freiheit nicht eine Geviertmeile aufzuopfern, und ihr Entſchluß ſtand um ſo feſter, da ſie auch den Zollvereinsplänen mißtraute. Der Hauptverkehr des langge - ſtreckten Landes ging von Norden nach Süden und konnte durch den An - ſchluß an Baiern-Württemberg wenig gewinnen. Man überſah oder wollte überſehen, daß dieſer Anſchluß nur das Mittel bilden ſollte zur ſpäteren Vereinigung mit Preußen; unleugbar war der bairiſche Plan zu fein, zu verwickelt um ſogleich vom Volke verſtanden zu werden.

Ueberall in Baden ſprach man begeiſtert von einem geſammtdeutſchen Zollverbande; denn ſo viel Boden hatte die Idee der deutſchen Handels - einheit durch Preußens Siege doch gewonnen, daß Niemand mehr ſie ſchlechthin zu verwerfen wagte. Freilich benutzten viele badiſche Liberale das ſchöne Wort vom allgemeinen deutſchen Zollvereine nur als ein Schurz - fell um die Blöße ihrer partikulariſtiſchen Selbſtſucht zu bedecken. Wie behaglich lebte ſich’s doch unter der badiſchen Handelsfreiheit auf Koſten der lieben Nachbarn! Mit Stolz ſah der Badener ſo ſagte eine Flug - ſchrift des Raſtatter Kaufmanns F. Meyer über die Zollverhältniſſe Ba - dens wie die Nachbarn aus dem Elſaß, aus Schwaben, aus der Rhein - pfalz in das wohlfeile, gaſtfreie Ländle kamen um dann ihre billigen Einkäufe über die heimathliche Grenze hinüberzuſchmuggeln. Nimmermehr ſollte dieſe gemüthliche Unordnung durch eine gewiſſenhafte Grenzbewachung beſeitigt werden. Der Freiburger Handelsſtand ſtellte dem Landtage vor: ein Zollverein wird rechtliche, ſittlich gute Menſchen in eine Rotte von Zöllnern, Schmugglern, Spionen und Gaunern verwandeln wobei nur verſchwiegen ward, daß die große Mehrzahl der badiſchen Geſchäfte, zumal die Colonialwaarenhandlungen, dem Schleichhandel längſt als Herbergen dienten. Noch kräftiger ſprach das Straßburger Conſtitutionelle Deutſch - land: Mauth, Mauth, preußiſche Mauth erhalten wir! Unglückliches Vaterland! Im Geheimen, im Dunkel der Nacht wird ſie Dir gegeben! Wehe Dir, Kammer von 1831! Als Großherzog Leopold ſein Oberland bereiſte, wurde er überall dringend gewarnt, und Winter, der in Fragen der großen Politik immer rathlos war, wagte nicht einer ſcheinbar ſo ſtarken Volksüberzeugung zu widerſprechen.

So ſchleppte ſich der Zank durch faſt anderthalb Jahre dahin. Die beiden vermittelnden Höfe boten alle ihre Beredſamkeit auf. Der Berliner ſprach ſanft, der Stuttgarter ſchroff; denn König Wilhelm ſah ſein Land unmittelbar unter dem badiſchen Schmuggel leiden, er drohte dem Karls - ruher Hofe geradezu: Baiern und Württemberg würden dem bisherigen360IV. 6. Der Deutſche Zollverein.ganz feindſeligen Betragen Badens gemeinſchaftlich ein jedes Mittel ent - gegenſetzen, um nicht mitten in unſerem Vereine das Syſtem einer Re - gierung zu ſehen, das mit Vorbedacht Unzufriedenheit und Unruhe in unſerer ſo bedenklichen Zeit ſtiftet. *)König Wilhelm von Württemberg an Markgraf Wilhelm von Baden, 12. Nov. Antwort 17. Nov. 1830.Ebenſo vergeblich ſchrieb König Ludwig ſelbſt in ſeinem wuchtigſten Participialſtile an den Großherzog: durch meine letzten Vorſchläge habe ich das Aeußerſte gethan um die Sponheimer Angelegenheit zur Ausgleichung zu bringen, und von großem Werth iſt mir die von Ew. K. Hoheit ausgedrückte Willfährigkeit, damit ſie und Beitritt zum Zollvereine ſtattfinde, überzeugt, daß feſter Wille Beides bei Ihren Ständen durchſetzen werde. **)König Ludwig an Großherzog Leopold, 9. Mai 1831.An dieſem feſten Willen gebrach es dem badiſchen Hofe gänzlich. Die Miniſter vertheidigten den Zutritt zum ſüddeutſchen Zollvereine ſehr lau; Welcker tobte mit gewohnter Wort - fülle gegen die abſolute preußiſche Krone, Rotteck unterſtützte ihn etwas ruhiger. Die phraſenreichen Verhandlungen gereichten dem Muſter-Land - tage wenig zur Ehre; über die volkswirthſchaftliche Bedeutung der Frage wußten nur einzelne große Geſchäftsmänner ein treffendes Wort zu ſagen, ſo der liberale Fabrikant Buhl aus Ettlingen und der Tabakshändler v. Lotzbeck aus Lahr. Selbſt der liberale E. E. Hoffmann, der aus Darm - ſtadt herüberkam um den badiſchen Parteifanatikern Vernunft zu predigen, richtete nichts aus. Schließlich einigte ſich der Landtag über eines jener unwahren Compromiſſe, wie ſie der Parlamentarismus liebt wenn er nichts mehr zu ſagen weiß. Beide Kammern verwarfen einſtimmig den Eintritt in den ſüddeutſchen Verein und gaben der Regierung Vollmacht, über einen geſammtdeutſchen Zollverein zu verhandeln (Nov. 1831). Da - bei konnte ſich Jeder das Seine denken, denn an die Möglichkeit eines Zollvereins mit Oeſterreich, Hannover und Holſtein glaubte eigentlich Niemand mehr. Auch die von Baiern geforderte Gebietsabtretung wurde durch die zweite Kammer verworfen, einſtimmig, unter brauſenden Hoch - rufen auf den Großherzog.

Dem gefeierten Fürſten ward bei dieſer Begeiſterung ſeiner getreuen Oppoſition ſehr ſchwül zu Muthe. In einem flehentlichen Briefe wendete er ſich abermals hilfeſuchend an Bernſtorff, unter Bezeigung des innigſten Dankgefühls gegen Hochdieſelben ,***)Großherzog Leopold an Bernſtorff, 5. Dec. 1831. und wirklich unterzog ſich der gedul - dige preußiſche Miniſter noch einmal den undankbaren Mühen der Ver - mittlung. König Ludwig aber empfand jenen Beſchluß des badiſchen Land - tages als eine perſönliche Beleidigung; er hielt es für ſchmachvoll, eine Forderung, die ſchon ſo viel Staub aufgewirbelt hatte, ohne jede Ent - ſchädigung fallen zu laſſen. An dem ergrimmten Wittelsbacher war jetzt jeder Zuſpruch verſchwendet. Auch der König von Württemberg ließ nach361Abbruch der Verhandlungen mit Baden.einiger Zeit in ſchnöden Worten erklären, daß er mit dem unbelehrbaren badiſchen Hofe nichts mehr zu ſchaffen haben wolle. *)Note des württemb. Geſandten Frhr. v. Linden an Bernſtorff, 20. April 1832.In Berlin urtheilte man milder, doch die erneuten Verhandlungen blieben fruchtlos. Der königliche Dichter in München hinterließ die imaginären Sponheimer An - ſprüche ſeinen Nachfolgern als ein heiliges Vermächtniß, unterthänigen Hiſtorikern als einen köſtlichen Stoff für bajuvariſche Großſprechereien. Alſo ward Baden, früherhin immer ein wackerer Vorkämpfer der deutſchen Handelseinheit, theils durch die Thorheit ſeiner Kammern theils durch eine ſeltſame diplomatiſche Verwicklung ganz in das Hintertreffen gedrängt und von den entſcheidenden Verhandlungen der Zollvereinspolitik mehrere Jahre hindurch ausgeſchloſſen.

Die leidenſchaftliche, uns heute faſt räthſelhafte Erbitterung dieſer bairiſch-badiſchen Händel ſpiegelte ſich wieder in einem ſeltſamen Abenteuer, das die Zeitgenoſſen viele Jahre hindurch lebhaft beſchäftigte. Zu Pfingſten 1828 kam ein junger Bauerburſch, angeblich Kaspar Hauſer benamſet, nach Nürnberg um bei den Chevauxlegers als Reiter einzutreten; der verwahrloſte Menſch war geimpft, konnte etwas leſen und ſchreiben, auch einfache Fragen in ſeinem oberpfälziſchen Dialekt nothdürftig beantworten, und trug die unter bairiſchen Bauersleuten üblichen katholiſchen Gebet - bücher bei ſich. Er überbrachte einen geheimnißvollen Brief, deſſen Hand - ſchrift ſeiner eigenen ſehr ähnlich ſah. Der dunkle Sinn dieſes Schreibens und das ſcheue, ſonderbare Weſen des Burſchen erregten die öffentliche Neugier; durch thörichte Fragen ward bald ein ungeheuerliches Märchen aus ihm herausgeforſcht: er wollte von Kindesbeinen an in einem finſteren unterirdiſchen Kerker gelegen, dann urplötzlich von ſeinem unſichtbaren Kerkermeiſter das Sprechen, Leſen und Schreiben gelernt haben. Der Bürgermeiſter Binder von Nürnberg verkündete alsdann in einer ſchwül - ſtigen, die gefühlsſelige Leſewelt zerknirſchenden Bekanntmachung, daß die Gemeinde den Findling als ein ihr von der Vorſehung anvertrautes Pfand der Liebe betrachte , und übergab ſeinem Schwiegerſohne Daumer, einem geiſtreichen, aber unerfahrenen und durchaus verſchrobenen Gelehrten, die Erziehung des Wunderkindes. Pädagogen, Aerzte und Criminaliſten, Ho - möopathen, Wunderthäter und Geiſterſeher, blaſirte Weltmänner, Wiß - begierige aller Stände eilten herbei um dieſen Thiermenſchen, der in Allem von den gemeinen Sterblichen abweichen ſollte, zu ergründen, jedes Organ ſeines Leibes und ſeiner Seele verwegenen Experimenten zu unterwerfen.

Eine ganze Literatur von Aufſätzen und Flugſchriften beſchäftigte ſich mit dem Kinde von Europa . Alle Schwächen einer thatenarmen und doch nach Thaten dürſtenden Zeit, der romantiſche Wunderglaube, die nervöſe Reizbarkeit, der überkluge Scharfſinn, die Luſt am Skandal und der radicale Haß gegen die vornehme Welt fanden hier ihre Rechnung. 362IV. 6. Der Deutſche Zollverein.Auch den Nüchternen ſchien ſo viel mindeſtens ſicher, daß die Wundermär irgend einen wahren Kern enthalten und die geheimnißvollen, aller Nach - forſchungen und ausgeſchriebenen Preiſe ſpottenden Feinde des Mißhan - delten über große Machtmittel gebieten müßten. Nur der Polizeirath Merker in Berlin und wenige andere gewiegte Kenner der Verbrecherwelt wagten jetzt ſchon, zur Entrüſtung des gebildeten Publicums, das Kind Europas für einen gemeinen Betrüger zu erklären, da die Kerkergeſchichte offenbar allen Naturgeſetzen widerſpräche. Unter den Gläubigen befanden ſich nicht blos Saphir und ähnliche literariſche Klopffechter, ſondern auch ernſte, bedeutende Männer, wie der Staatsrechtslehrer Klüber, der Heraus - geber des Neuen Pitaval Hitzig, vor Allen aber Anſelm Feuerbach, der von tiefem Mitleid ergriffen, mit der ganzen Gluth ſeines leidenſchaftlichen Herzens ſich des Findlings annahm und in einer eigenen Schrift die un - heimliche Kerkergeſchichte als Beiſpiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menſchen ſchilderte. Alſo verwöhnt, verzogen, angeſtaunt und zum Heucheln geradezu herausgefordert lebte ſich Hauſer immer tiefer ein in ſeine Lügenwelt, er ſpielte die ihm halb aufgedrungene Rolle des langſam aus dem Seelenſchlafe Erwachenden nicht ohne Bauernſchlauheit und erlernte allmählich Alles wieder was er ſchon vor ſeinen Nürnberger Tagen gewußt hatte; viel mehr konnten die Erziehungskünſte ſeiner Gönner in dieſen harten Kopf nicht hineinbringen. Als er fühlte, daß ſein Anſehen zu wanken begann, verwundete er ſich ſelbſt und erweckte noch einmal die Theilnahme aller zarten Seelen indem er vorgab, daß ein unbekannter Mörder ihn angefallen habe. Dann lebte er als Schreiber in Ansbach und wagte dort im Schloßgarten nochmals den nämlichen Verſuch, aber diesmal drang ſein Dolch tiefer ein als er ſelbſt beabſichtigte, und er ſtarb ſchon nach drei Tagen (Dec. 1833). Da dieſe Selbſtverwundung ſich weder ganz unzweifelhaft erweiſen ließ, noch mit der Feigheit des Burſchen leicht vereinbar ſchien, ſo gab Hauſer’s Tod den umlaufenden Gerüchten nur neue Nahrung. Seine Grabſchrift nannte ihn aenigma sui temporis, und auf der Unglücksſtelle im Schloßgarten wurde ein Denkſtein errichtet mit der doppelſinnigen Inſchrift: hic occultus occulto occisus.

Nach mannichfachen abenteuerlichen Vermuthungen war der Verdacht entſtanden, Hauſer ſei der im Jahre 1812 geborene und nach wenigen Tagen geſtorbene Erbgroßherzog von Baden; der berüchtigte Major Hennen - hofer ſollte ein todtes Kind untergeſchoben und den Prinzen aus dem Wege geräumt haben um den hochbergiſchen Zähringern den Thron zu verſchaffen. Beweiſe, ja ſelbſt verdächtige Anzeichen fehlten gänzlich; aber der plötzliche Tod der beiden Söhne des Großherzogs Karl hatte ſchon vor Jahren viel müßiges Gerede hervorgerufen,*)S. o. II. 361. Beiläufig ſei ein dort angegebenes falſches Datum berichtigt. Der zweite Sohn des Großherzogs Karl, Prinz Alexander wurde am 1. Mai 1816 geboren und ſtarb 8. Mai 1817. dem Großherzog Ludwig und363Kaspar Hauſer.ſeinem Hennenhofer traute man alles Böſe zu, und ſo fand denn die neue Legende lebhaften Anklang. Feuerbach ſelbſt ſchenkte ihr Glauben und ſendete dem Münchener Hofe eine geheime Denkſchrift, die ſeiner Combi - nationsgabe mehr zur Ehre gereichte als ſeinem Verſtande. König Ludwig ließ ſich ebenſo gern überzeugen, wie ſein phantaſtiſcher Miniſter Fürſt Wallerſtein; der romanhafte Reiz beſtach ihn leicht, unwillkürlich mochte auch ſein alter Haß gegen die Zähringer mitſpielen. Sogar ſeine Stief - mutter Königin Caroline ließ eifrig nachforſchen und ſcheint eine Zeit lang an das Märchen geglaubt zu haben,*)Darauf deuten einige Bemerkungen in den oft erwähnten Aufzeichnungen ihres Hofpredigers v. Schmitt. obgleich ſie ſelbſt eine badiſche Prin - zeſſin war und mit ihrem Stiefſohne ſelten übereinſtimmte. Der badiſche Hof war längſt im Beſitze von Aktenſtücken, welche den natürlichen Tod jenes jungen Erbprinzen unzweifelhaft erwieſen, und konnte durch eine offene Erklärung das boshafte Geſchwätz ſofort ertöden; er hegte jedoch, wie alle Höfe jener Zeit, eine faſt krankhafte Scheu vor der Oeffentlich - keit und mochte zudem fürchten, daß durch ſolche Enthüllungen auch andere, beſſer beglaubigte Schmutzgeſchichten aus den Zeiten der beiden letzten Großherzoge zu Tage kommen würden. Genug, er ſchwieg, und nunmehr verbreiteten ſich die unheimlichen Gerüchte, die allem Anſchein nach zuerſt in Baiern aufgetaucht waren, auch weithin über das badiſche Land. In Karlsruhe, der klatſchſüchtigſten aller deutſchen Reſidenzen, erlebten die Läſtermäuler gute Tage; die verbitterten Liberalen hießen Alles willkommen was den Fürſten Schande brachte; auch unter dem Breisgauer Adel, der dem evangeliſchen Fürſtenhauſe noch nicht recht traute, fanden ſich viele Gläubige.

Nun erdreiſtete ſich der nichtsnutzige Demagog Garnier der Raſtatter Ravaillac, wie er ſich ſelber nannte in einem albernen Schauerromane die Leiden des lebendig begrabenen badiſchen Erbprinzen ausführlich zu erzählen, und fortan ſtand die Fabel feſt. Brandſchriften der ultramontanen und der radicalen Feinde des badiſchen Hauſes ſchmückten das Märchen noch reicher aus; die Hauſer-Legende diente den Parteien des Umſturzes als ein wirkſames Mittel um den Maſſen die Verderbniß der Höfe zu erweiſen. Unglaublich, wie viel Haß und Argwohn durch dieſe nachbarlichen Zänke - reien in Süddeutſchland geſät wurde. Als Feuerbach einige Monate vor ſeinem Schützlinge ſtarb, da behaupteten viele ſeiner Verehrer unerſchütter - lich, die Seelenmörder Kaspar Hauſer’s hätten auch deſſen mächtigen Gönner vergiftet; und doch war allbekannt, daß der große Rechtsgelehrte, durch Arbeit und Gemüthsbewegungen früh gealtert, ſchon mehrere Schlaganfälle erlitten hatte. Der Glaube an den badiſchen Prinzenraub blieb lange Zeit ſo mächtig, daß die ernſte Wiſſenſchaft ſich nicht gern mit der widerlichen Frage befaſſen mochte; denn eine tief eingewurzelte Volksüberzeugung darf364IV. 6. Der Deutſche Zollverein.der Hiſtoriker nicht ſo kurzerhand zurückweiſen, wie der Strafrichter, der unbedenklich frei ſpricht wenn ſichere Beweiſe fehlen. Erſt im Jahre 1875 entſchloß ſich der badiſche Hof die Urkunden über den Tod jenes Erbprinzen zu veröffentlichen. Seitdem iſt durch die Schriften von O. Mittelſtädt und A. v. d. Linde das Lügengewebe endlich zerriſſen worden, und wenn - gleich manche Einzelheit noch dunkel bleibt, ſo hat doch die Frage, woher der Betrüger eigentlich ſtammte, heute jeden hiſtoriſchen Werth verloren.

Nach Alledem war eine Verſtändigung zwiſchen Baiern und Baden vorläufig undenkbar. Der deutſchen Handelseinheit aber kam jener ab - lehnende Beſchluß der badiſchen Kammern ſeltſamerweiſe zu gute. Der künſtliche Gedanke, zunächſt den ſüddeutſchen Verein zu vergrößern und dann erſt die Vereinigung mit dem Norden zu ſuchen, war fortan be - ſeitigt. Die oberdeutſchen Königshöfe, außer Stande, ihren unergiebigen Sonderbund aufrechtzuhalten, ſahen ſich genöthigt, ſtatt des Nothbehelfs ſogleich das durchſchlagende Mittel zu wählen; ſie ſtellten jetzt bei dem preußiſchen Cabinet den Antrag auf völlige Vereinigung. Im December 1831 wurden die Verhandlungen in Berlin eröffnet. Doch ſofort ergab ſich eine Fülle gewichtiger Bedenken. Preußen hatte ſchon durch die Auf - nahme der beiden Heſſen ein fühlbares finanzielles Opfer gebracht; der Ertrag ſeiner Zölle, der um 1829 gegen 25,3 Sgr. für den Kopf der Be - völkerung abwarf, begann bereits zu ſinken. Durfte man auch die ober - deutſchen Lande, die von Colonialwaaren noch weit weniger verzehrten als die beiden Heſſen, zu den gleichen Bedingungen aufnehmen? Die Finanzpartei in Berlin fürchtete ſchwere Verluſte, wie denn in der That Preußen im Durchſchnitt der Jahre 1834 39 nur 22 Sgr. auf den Kopf erhalten hat. Sie verlangte entſchieden ein Präcipuum zu Gunſten Preußens; ein Ausfall in den Einnahmen ſchien hochbedenklich in ſo unruhiger Zeit. Die bairiſch-württembergiſchen Finanzmänner dagegen lebten in dem wunderlichen Wahne, daß die Conſumtion im Süden ſtärker ſei als in Preußen; ſie meinten ſchon ſeltene Großmuth zu zeigen, wenn ſie auch nur die Vertheilung nach der Kopfzahl zugeſtänden.

Die Einführung der preußiſchen Conſumtionsſteuern war in Heſſen ohne Schwierigkeit erfolgt; Baiern aber ſah ſich außer Stande ſeine Malzſteuer abzuändern. Während Preußen kaum 1,3 Mill. Thlr., 3 Sgr. auf den Kopf, durch die Beſteuerung des Bieres bezog, gewann Baiern allein in ſeinem rechtsrheiniſchen Gebiete 5 Mill. fl., 21 Sgr. auf den Kopf, und aus dieſem Ertrage mußte nach der Verfaſſung die Staatsſchuld ver - zinſt werden. Unmöglich konnte Preußen ſeine Bierſteuer zu der gleichen Höhe hinaufſchrauben. Der angeſtammte Durſt ließ ſich ebenſo wenig in den Norden verpflanzen wie die Realgerechtigkeiten der bairiſchen Brauer, die jenen reichen Steuerertrag erſt ermöglichten, aber den Grundſätze der365Verhandlungen mit dem ſüddeutſchen Zollvereine.preußiſchen Gewerbefreiheit widerſprachen. Da die gleichmäßige Beſteue - rung der inländiſchen Conſumtion mithin unausführbar blieb, ſo beſtand die preußiſche Finanzpartei hartnäckig auf der Einführung von Ausglei - chungsabgaben. Die an ſich richtige Meinung, daß jede Zollgemeinſchaft die annähernde Gleichheit der indirekten Steuern vorausſetze, war ſeit dem Jahre 1818 eine der leitenden Ideen der preußiſchen Handelspolitik. Die Berliner Finanzmänner hatten ſich ſo tief in dieſen Gedanken ein - gelebt, daß ſie ihn alsbald mit fiskaliſcher Härte auf die Spitze trieben. Die Ausgleichungsabgaben ſind lange, weſentlich durch Preußens Schuld, ein wunder Fleck der Zollgeſetze geblieben; ſie beläſtigten den Verkehr und brachten geringen Ertrag, auch nachdem ſie ſpäterhin die rein fiskaliſche Geſtalt der Uebergangsabgaben annahmen.

Irrte Preußen in dieſer Frage, ſo erhoben auch die Südſtaaten höchſt unbillige Anſprüche. Sie verlangten anfangs eine völlige Umge - ſtaltung des Tarifs und fanden namentlich die preußiſchen Zölle auf Baumwollenwaaren unerträglich hoch, da ſie ſelbſt noch faſt gar keine Baumwollenſpinnereien beſaßen. Und doch konnte Preußen nicht nach - geben. Sachſens Eintritt ſtand bevor, die preußiſche Induſtrie klagte laut über die drohende Mitwerbung des Erzgebirges; in ſolcher Stunde die Zölle herabzuſetzen ſchien ſelbſt dem Freihändler Maaſſen nicht rathſam. Auch die von Württemberg geforderte Herabſetzung der Zuckerzölle ging nicht durch; die Intereſſen der mächtig aufblühenden Magdeburgiſchen Rübenzuckerinduſtrie durften nicht preisgegeben werden. Desgleichen die gefürchteten preußiſchen Tranſitzölle blieben noch unentbehrlich als ein ſanfter Wink für die Nachbarn. Ueberhaupt war die Lage des Augen - blicks der Vereinfachung des Tarifs keineswegs günſtig; Preußens Staats - männer ahnten, daß die ſüddeutſchen Höfe in einer nahen Zukunft die Farbe wechſeln, mit ſchutzzöllneriſchem Eifer auf die Erhöhung der Zölle dringen würden. Lebhafter noch als dieſer ſtaatswirthſchaftliche Kampf entbrannte der ſtaatsrechtliche Streit , wie man in München zu ſagen pflegte. Die verſtändige Beſtimmung der preußiſch-heſſiſchen Verträge, wonach Preußen in der Regel allein die Handelsverträge für den Zoll - verein ſchließen ſollte, galt dem bairiſchen und dem württembergiſchen Hofe als eine ſchimpfliche Unterwerfung; ſie forderten unbedingte Gleichheit in Allem und Jedem.

So mannichfache ſachliche Bedenken ins Gleiche zu bringen, konnte nur erprobter ſtaatsmänniſcher Kraft gelingen. Die oberdeutſchen Höfe aber hatten, thöricht genug, zwei junge Subalternbeamte für dieſe ſchwierige Miſſion bevollmächtigt, vermuthlich nur aus Sparſamkeit. Die Erſparniß ſollte ihnen theuer zu ſtehen kommen. Eichhorn hatte an den Unter - händlern der Kleinſtaaten ſchon des Wunderſamen viel beobachtet; eine Perſönlichkeit wie dieſer württembergiſche Bevollmächtigte, der Aſſeſſor Moritz Mohl, war ihm noch nicht vorgekommen. Die Diplomatie in366IV. 6. Der Deutſche Zollverein.Berlin konnte nicht genug ihre Verwunderung ausſprechen über den un - geſtümen Mann mit der rothen Perrücke und den vollgepfropften Akten - mappen: welch eine weitſchweifige Kleinlichkeit, welche Luſt an unfrucht - barem theoretiſchem Streite, welche Fülle unverdauter Gelehrſamkeit, welch ein hartnäckiges Mißtrauen gegen Preußen! Der frühreife ſchwäbiſche Staatsweiſe entfaltete bereits alle jene Talente, die noch vierzig Jahre ſpäter den deutſchen Reichstag bezaubern ſollten; L. Kühne nannte ihn einen eingebildeten Narren, der den Bären des Nordlands ſeine kindiſche conſtitutionelle Weisheit zu predigen dachte . Als Mohl dem einzigen Küſtenſtaate des Zollvereins die Abſchließung von Schifffahrtsverträgen verbieten wollte, da erwiderte der Preuße: dann werden wir alſo einen unſerer Oſtſeehäfen an Württemberg abtreten müſſen um die Gleichheit zwiſchen den Zollgenoſſen herzuſtellen! Mit einem ſolchen Collegen be - haftet, konnte auch der bairiſche Aſſeſſor Bever nichts fördern. Die hoch - ſtehenden preußiſchen Staatsmänner fanden es bald unerträglich, mit Sub - alternen zu verhandeln, die bei jeder Kleinigkeit daheim anfragten; und zu allem Unheil begann auch wieder der alte Streit der Berliner Departe - ments: Kühne und Eichhorn, die doch Beide das Nämliche wollten, be - trachteten einander mit gegenſeitiger Eiferſucht. Alſo geſtalteten ſich die Verhandlungen mit dem befreundeten Süden wider Erwarten zu einem unerquicklichen Zwiſt. Im Mai 1832 brach man ſie ab.

Moritz Mohl ſchrieb nun eine ungeheure Denkſchrift und bewies, daß der Zollverein mit Preußen den ſicheren Untergang Württembergs herbeiführen müſſe. Ein Menſchenalter darauf hat Freiherr v. Varnbüler dies klaſſiſche Aktenſtück der Vergeſſenheit entriſſen um der Welt den Weit - blick des Volksmannes zu zeigen. König Wilhelm wünſchte nach wie vor den Abſchluß, ſelbſt Wangenheim hatte Einiges gelernt, mahnte aus der Ferne zur Verſtändigung. Doch die große Mehrheit im Lande widerſtrebte. Die Fabrikanten, die bisher aus der Beherrſchung des bairiſchen Marktes großen Gewinn gezogen, fürchteten die Induſtrie des Niederrheins, die Bequemlichkeit des mächtigen Schreiberſtandes zitterte vor der ſtrengen preußiſchen Controle, der geſinnungstüchtige Liberale ſchlug ein Kreuz vor dem Schreckbilde des norddeutſchen Abſolutismus. Mehr als ein halbes Jahr brauchten die ſüddeutſchen Höfe, um ſich einen neuen Entſchluß zu bilden. Unterdeſſen trieb die Diplomatie Oeſterreichs und der auswärtigen Mächte ihr verdecktes Spiel an den Höfen der Mittelſtaaten. Eine Zeit lang ſtand die große Sache faſt hoffnungslos. Baden thut wohl, alle Zollvereinsgedanken vorläufig aufzugeben ſagte der bairiſche Miniſter Giſe zu dem badiſchen Geſandten Fahnenberg Preußen ſtellt unerhörte Forderungen, verlangt von uns materielle Opfer und die Beſchränkung der Souveränität, Kurheſſen bereut ſchon den übereilten Anſchluß! *)Fahnenberg’s Bericht, 30. Mai 1832.Zu -367Moritz Mohl. Mieg.dem beſtand wenig Freundſchaft zwiſchen den Beamten der beiden König - reiche; ein Glück nur, daß Schmitz-Grollenburg, der württembergiſche Geſandte in München, das Vertrauen König Ludwig’s beſaß und die Fäden nicht gänzlich abreißen ließ.

So verging das Jahr in leidiger Verſtimmung. Da raffte ſich endlich König Ludwig auf und ließ am Sylveſterabend eine derbe Note an Schmitz-Grollenburg ſchreiben: Der ſüddeutſche Verein ſei thatſächlich aufgelöſt, die Wiederaufnahme der preußiſchen Verhandlungen ſchlechthin unvermeidlich. Zugleich kam vom Berliner Hofe eine ernſte Mahnung: wolle man zu Ende gelangen, ſo müſſe ſtatt unbrauchbarer Subalternen ein fähiger, hochgeſtellter Staatsmann die Unterhandlungen in Berlin führen. Der Rath wirkte. Zu Ende Januars 1833 wurde der bairiſche Finanzminiſter v. Mieg als gemeinſamer Bevollmächtigter der beiden Kronen nach Berlin geſendet: ein Jugendfreund König Ludwig’s noch von den frohen Salzburger Tagen her, ein trefflicher Beamter von großer Sachkenntniß und ſeltener Arbeitskraft, die der König nach ſeiner Weiſe bis auf den letzten Tropfen auspreßte in der Handespolitik ſehr frei geſinnt, dabei gütig und liebenswürdig, hochgebildet, von feinen gewinnen - den Formen. Er vermied über Stuttgart zu reiſen, weil er der pedan - tiſchen Schwerfälligkeit der württembergiſchen Schreiber mißtraute, ſprach aber unterwegs in Dresden ein, verſtändigte ſich mit den ſächſiſchen Finanz - männern und erſchien am 6. Febr. in der preußiſchen Hauptſtadt. Eichhorn und Maaſſen kamen ihm herzlich entgegen; es bewährte ſich wieder, wie Blittersdorff mit ärgerlichem Lobe zu ſagen pflegte, Preußens ſeltenes Talent, fremde Staatsmänner in Berlin zu gewinnen. Noch boten ſich der Bedenken viele; allein da Preußen auf ſeinen erprobten Tarif, ſeine feſtbegründete Zollverwaltung verweiſen konnte, ſo blieb nur übrig, die im Norden beſtehende Ordnung mit einigen Aenderungen anzunehmen. Preußen verzichtete auf jedes Präcipuum, trotz der Warnungen der Finanz - partei. Die Einnahmen wurden nach der Kopfzahl vertheilt; nur für die Schifffahrtsabgaben auf der Oder und Weichſel, die ja gar nicht zur Zoll - gemeinſchaft gehörten, bezog Preußen eine Bauſchſumme. Auch der theuerſte Herzenswunſch des bairiſchen Großmachtsbewußtſeins fand Erfüllung: jeder Staat erhielt das Recht Handelsverträge zu ſchließen, lediglich die Verträge mit dem ruſſiſchen Polen blieben dem preußiſchen Staate vor - behalten. Zum Entgelt für ſo große Zugeſtändniſſe wagte Mieg in einem Punkte ſeine Inſtruktionen zu überſchreiten; er bewilligte, daß die preußiſche Zollverwaltung des raſcheren Uebergangs halber ſofort im Süden proviſoriſch eingeführt würde, noch bevor die Zollgemeinſchaft in Kraft trat.

Am 4. März wurden die heſſiſchen Bevollmächtigten zur erſten Plenar - verſammlung gerufen, am 22. kam der Vertrag zu Stande: die verbün - deten Staaten, in fortgeſetzter Fürſorge für die Beförderung der Freiheit368IV. 6. Der Deutſche Zollverein.des Handels zwiſchen ihren Staaten und hierdurch zugleich in Deutſchland überhaupt , bilden einen Geſammtverein , der am 1. Januar 1834 für acht Jahre ins Leben tritt. Das Grundgeſetz entſprach im Weſentlichen den heſſiſchen Verträgen, nur daß die Selbſtändigkeit der Bundesgenoſſen erheblich verſtärkt wurde. Für jede Aenderung der Zollgeſetze wurde Ein - ſtimmigkeit der Verbündeten gefordert. Das ſchlimmſte Gebrechen des Vereins lag weniger in ſeinen Satzungen als in der Verſchiebung der Macht - verhältniſſe. Durch den Zutritt mehrerer größerer Staaten mit gleichem Stimmrecht wurde die freie Thätigkeit der preußiſchen Handelspolitik unver - meidlich erſchwert. Die neuen Rechte dagegen, die man den Zutretenden einräumte, ſchienen bedenklicher als ſie waren ganz wie die Ausnahme - beſtimmungen der Verſailler Verträge. Die Befugniß, Handelsverträge zu ſchließen, dies von Baiern mit ſo leidenſchaftlichem Eifer erſtrebte Kleinod, erwies ſich als ein ebenſo harmloſes Spielzeug, wie jener unfindbare Bundes - raths-Ausſchuß für die auswärtigen Angelegenheiten, welchen Preußen in Verſailles dem Männerſtolze der Königskronen zugeſtand. Preußen allein galt im Auslande als Haupt und Vertreter des Zollvereins; daher ſind alle irgend wichtigen Handelsverträge durch Preußen im Namen des Vereins abgeſchloſſen worden. Auch die Controle ward ermäßigt, auf Baierns Andringen. Die Verbündeten ſendeten blos Vereinsbevollmächtigte zu den Zolldirektionen, Controleure zu den Hauptzollämtern der Genoſſen; eine gegenſeitige Viſitation des Grenzdienſtes fand nicht mehr ſtatt. Solche Formen verſchlugen wenig; denn im Grunde war der Verein auch bisher nur durch wechſelſeitiges Vertrauen und die Macht der Intereſſen zu - ſammengehalten worden. Die Bundesgenoſſen gelobten einander unbe - ſchränkte Offenheit in der Zollverwaltung und ſie haben ihr Wort redlich gehalten. Um den hergebrachten bundespatriotiſchen Phraſen zu genügen und zugleich gegen alle Angriffe von Frankfurt her ſich zu decken, ver - ſprachen die Verbündeten ihren Verein aufzulöſen, ſobald der Bundestag den Art. 19 erfülle eine gemüthliche Zuſage, die Eichhorn ſchwerlich ohne ſtilles Lächeln gegeben hat.

Da Baiern und Württemberg noch immer ihre thörichte Sorge vor finanziellen Verluſten nicht aufgaben, ſo wurde in einem geheimen Artikel den Verbündeten das Recht vorbehalten, den Verein vor der Zeit zu kündigen, falls ihre Zolleinnahmen einen Ausfall von 10% des bisherigen Rohertrags aufwieſen. Maaſſen unterſchrieb getroſten Muthes; er wußte, daß der Vertrag ein Löwenvertrag war zu Gunſten des Südens, und der Erfolg ſollte ſeine Erwartungen noch weit übertreffen. In den Jahren von 1834 1845 hat der Norden an Baiern 22,29 Mill. Thlr., an Württemberg 10,3 Mill. herausgezahlt, in dem Zeitraum von 1854 1865 empfing Baiern vom Norden 34 Mill. Während der zwei erſten Jahr - zehnte des Zollvereins haben bei der Abrechnung regelmäßig nur Preu - ßen, Sachſen, Frankfurt und Braunſchweig herausgezahlt; alle anderen369Baierns Zögerung.Staaten gewannen. Allerdings geben jene großen Zahlen kein ganz zu - treffendes Bild, da ein Theil der für das Binnenland beſtimmten Ein - fuhr in den Häfen und Speditionsplätzen des Nordens verzollt wurde. Deutlicher erhellt der unverhältnißmäßige Gewinn des Südens aus der Thatſache, daß die Verwaltungskoſten in Baiern ſchon während des erſten Jahres von 44 auf 16, ſpäter auf nahezu 10% ſanken, Baierns Antheil an dem Kaffezolle ſofort auf das Dreifache, bis zum Jahre 1845 auf das Fünffache ſtieg.

Um auch den leiſeſten Anſchein preußiſcher Hegemonie zu vermeiden, wurde verabredet, daß die alljährlichen Conferenzen der Zollvereinsbevoll - mächtigten nicht mehr, wie im preußiſch-heſſiſchen Verein, regelmäßig zu Berlin ſich verſammeln ſollten; ſie wanderten fortan, nach dem Belieben der Verbündeten, von Ort zu Ort, der erſte Zuſammentritt fand in München ſtatt. Streitigkeiten wollte man der Entſcheidung eines Schieds - richters unterwerfen, der durch einſtimmigen Beſchluß für jeden einzelnen Fall zu ernennen war. Doch iſt ein ſolcher Schiedsſpruch niemals an - gerufen worden nicht weil die Eintracht ungetrübt beſtanden hätte, ſondern weil der Dünkel der Kleinſtaaten den freiwilligen Ausgleich der ſchimpflichen Unterwerfung unter eine fremde Gewalt regelmäßig vorzog. Daß Baiern ſeine Bierſteuer behielt, war unvermeidlich. Man begnügte ſich daher ein Maximum für die Conſumtionsſteuern feſtzuſetzen und die allmähliche Annäherung der Steuerſyſteme in Ausſicht zu ſtellen. In einem ſo lockern Bunde blieb das liberum veto und das Kündigungsrecht für Preußen ebenſo unentbehrlich wie für die Kleinſtaaten, als ein letztes verzweifeltes Mittel, um dem ſchwerfälligen Körper einen Entſchluß zu ent - reißen. Nur die Hoffnung auf einen hohen politiſchen Gewinn konnte den preußiſchen Hof zu ſo ſchweren Opfern, zu einer ſo weitgehenden Nachſicht für die Grillen und Eitelkeiten der Mittelſtaaten beſtimmen. Mit über - legener Geduld erwartete Eichhorn, daß aus den faſt lächerlichen Formen dieſes lockeren Vereines doch eine unlösbare Gemeinſchaft der Intereſſen emporwachſen müſſe.

Mieg kehrte heim in der feſten Erwartung, daß der ſo überaus vor - theilhafte Vertrag ihm die Verzeihung für ſein eigenmächtiges Vorgehen verbürge. Er täuſchte ſich ſchwer. König Ludwig konnte ſelbſtändigen Willen nicht ertragen, empfing den Freund mit bitteren Vorwürfen; daß die preußiſche Zollordnung ſofort proviſoriſch eingeführt werden ſollte, ſchien ihm eine Entwürdigung der bairiſchen Krone. Der Miniſter wollte, tief verletzt, ſein gegebenes Wort nicht zurücknehmen; er forderte und er - hielt ſeine Entlaſſung. Die öſterreichiſche Partei jubelte; ſo gewinnt das eigentlich wahre Bundesſyſtem wieder das Uebergewicht , ſchrieb Blittersdorff befriedigt. *)Blittersdorff’s Bericht, 5. Mai 1833.Nunmehr nahm der König die Acten an ſich,Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 24370IV. 6. Der Deutſche Zollverein.und lange blieb das Schickſal des Vertrages zweifelhaft. Mieg’s Nach - folger Lerchenfeld erkannte zwar, nachdem er die Papiere eingeſehen, die Nothwendigkeit des Abſchluſſes, doch rückte er nicht recht mit der Sprache heraus. Fürſt Oettingen-Wallerſtein vollends, der vielgewandte liberali - ſirende Miniſter bewies in ausführlicher Denkſchrift: kein Zollverein ohne Oeſterreich, die preußiſche Hegemonie iſt Baierns Verderben. Der preußiſche Geſandte hielt ſchon Alles für verloren und ſchrieb verzweifelnd: nur Eich - horn ſelber könne noch retten. Darauf eilte Eichhorn ſofort nach München (Juli 1833), gewährte noch das letzte Zugeſtändniß, gab zu, daß kein Proviſorium ſtattfinden ſolle; ſeine gewinnende Freundlichkeit brachte in wenigen Tagen Alles ins Reine. Jetzt brach des Königs gute Natur wieder durch; er wünſchte ſich Glück zu der Wiederkehr der fridericianiſchen Tage, ließ eine Denkmünze prägen auf das Gelingen ſeines eigenſten Werkes und ſagte zu dem Naſſauer Röntgen: Oeſterreich iſt ein abgeſchloſſener Staat, mit dem wir wohl Handelsverträge, doch keinen Zollverein ſchließen können; Preußen iſt ein Blitz, der mitten durch Deutſchland hindurchfährt.

Kaum war die Krone Baiern gewonnen, ſo begann der Kampf mit dem württembergiſchen Landtage. Die ſchwäbiſchen und badiſchen Libe - ralen hatten ſich zu Anfang des Jahres in Pforzheim verſammelt und dort beſchloſſen, dem vordringenden preußiſchen Abſolutismus mannhaft zu widerſtehen. Die Schutzzöllner beweinten den nahen Untergang der ſchwäbiſchen Induſtrie; die Particulariſten bewieſen, daß Württembergs Abſatzwege nach Frankfurt und der Schweiz, nicht nach dem Norden führten; manche peſſimiſtiſche Radicale gönnten dem verhaßten Miniſterium nicht ein Verdienſt, das der Regierung allein gebührte, ſie wünſchten noch weniger, daß ein wichtiger Grund der allgemeinen Unzufriedenheit beſeitigt werde. Die gemüthlichen Leute wollten die geforderten Opfer nur einem geſammtdeutſchen Vereine bringen. Selbſt den gemäßigten Liberalen ſchien es hochbedenklich, einer abſoluten Krone mittelbare Einwirkung auf den württembergiſchen Haushalt zu geſtatten. Zudem wurden die Kammern nur zu einer Erklärung über den Vertrag, nicht zu förmlicher Geneh - migung aufgefordert. Der Landtag empfand bitter ſeine Ohnmacht. König Wilhelm ſetzte ſeinen Stolz darein das Werk hinauszuführen; kein Zweifel, er hätte auch ohne die Zuſtimmung der getreuen Stände den Vertrag vollzogen und alſo den leeren Schein der ſchwäbiſchen Verfaſſungsherr - lichkeit vor aller Welt erwieſen. Darum wollte ſelbſt Paul Pfizer, der Bewunderer Preußens ſich nicht zur Genehmigung entſchließen; wenn er zuſtimmte, ſo verlor er jedes Anſehen unter den Parteigenoſſen, jede po - litiſche Wirkſamkeit in ſeiner Heimath. In ſolchen tragiſchen Widerſpruch war der ſüddeutſche Liberalismus gerathen. *)So hat mir einſt Fr. Notter die Beweggründe, welche ſeinen Freund Pfizer beſtimmten, erklärt.Endlich, im November ge -371Abſchluß mit Baiern und Württemberg.nehmigte der Landtag den Vertrag nach harten Kämpfen. Nur Einzelne waren überzeugt durch die treffliche Denkſchrift über Badens Beitritt, welche Nebenius in der elften Stunde veröffentlicht hatte um die Schwaben zu gewinnen. Die Mehrzahl gab ihr Ja nur aus gedankenloſem Ge - horſam; alle Führer der Liberalen, Pfizer, Uhland, Römer, ſtimmten da - wider. Es war ein vollſtändiger Triumph des geſchäftskundigen Beamten - thums über den ſchwärmenden Liberalismus.

Neue unerquickliche Händel folgten, da nun das preußiſche Zollweſen durch eine gemeinſame Vollziehungscommiſſion im Süden eingeführt wurde. Wie oft mußte der preußiſche Commiſſär L. Kühne von den gemüthlichen bairiſchen Beamten bittere Klagen hören über dieſe verwünſchte Berliner Strammheit; er beſtand darauf, daß in den Grenzbezirken, wo offenkun - diger Schmuggel blühte, drei Monate lang eine ſtrenge Binnencontrole gründlich aufräumte. Die unfreie ſociale Geſetzgebung der Mittelſtaaten fand ſo leicht nicht den Uebergang zur preußiſchen Freiheit. Das erſte Jahr des neuen Zollvereins (1834) brachte dem bairiſchen Volke ein neues höchſt unverſtändiges Gewerbegeſetz, das die Inländer kleinlich begünſtigte. Als der preußiſche Geſandte Einſpruch erhob und an die im Vertrage zugeſagten gleichförmigen Grundſätze der Gewerbspolizei er - innerte, verbat ſich der Münchener Hof ärgerlich die preußiſche Einmiſchung. Doch der weſentliche Inhalt des Vertrags wurde redlich ausgeführt. Seit in München ein neuer Zolldirektor, der verdiente Knorr, ernannt war, arbeitete die Zollverwaltung feſt und pünktlich. Jeder neue Tag der Er - fahrung warb dem Zollvereine neue Anhänger im Süden; die beſſeren Köpfe des Liberalismus geſtanden beſchämt ihren Irrthum. Ein befrem - dender unnatürlicher Anblick: dies Doppelleben unſeres Volkes unter dem Deutſchen Bunde! Der Bundestag ein Spott der Welt, eine Schande des Vaterlandes; und dieſelben Regierungen, die ihn halten, arbeiten zugleich an der Einigung der Nation. Wenige Tage nach jenem Berliner Märzvertrage ſtürmte die erhitzte Jugend die Frankfurter Wachen; die Idee der deutſchen Einheit erhob ſich gegen die Höfe, welche ſoeben eine der folgenreichſten Thaten unſerer nationalen Politik vollzogen hatten.

Gleichzeitig mit Baiern und Württemberg unterhandelte Sachſen in Berlin. Es geſchah wie Motz vorhergeſehen: keine der Zollsvereinsver - handlungen hat den preußiſchen Staatsmännern ſchwerere Ueberwindung gekoſtet. Gewiß trat mit Sachſens Beitritt nur die Natur der Dinge in ihr Recht. Das Erzgebirge erhielt wieder ungehemmten Verkehr mit ſeiner alten Kornkammer, den Muldeniederungen in der Provinz Sachſen, Leipzig wieder freie Verfügung über ſeine wichtigſten Handelsſtraßen; Macht und Bedeutung des Zollvereins ſtiegen erheblich, ſobald eines der erſten Fabrikländer und der größte Meßplatz Europas hinzutrat. Gleich -24*372IV. 6. Der Deutſche Zollverein.wohl war der unmittelbare Vortheil faſt ausſchließlich auf Sachſens Seite; in Preußen erhoben ſich ernſte ſtaatswirthſchaftliche und finanzielle Be - denken. Preußen gewann in Sachſen nur einen kleinen Markt, der überdies durch ſeinen eigenen Gewerbfleiß ſchon reichlich verſorgt war. Da die Lebenshaltung und demnach der Arbeitslohn im Erzgebirge niedriger ſtand als in irgend einem anderen Induſtriebezirke, ſo fürchteten die preu - ßiſchen Fabriken, vornehmlich die Webereien und Druckereien in Schleſien und in der Provinz Sachſen, der ſächſiſchen Concurrenz zu erliegen. Von allen Seiten her wurde das Finanzminiſterium mit Warnungen beſtürmt; am Niederrhein rief die erſte Nachricht von dem Beginn der preußiſch - ſächſiſchen Verhandlungen weithin im Lande eine ſtarke Aufregung her - vor. *)Bericht des Reg. -Präſidenten von Düſſeldorf an das Finanzminiſterium, 6. Fe - bruar 1831.Die Frage, wie ein großer Meßplatz einem Zollſyſteme ſich einfügen laſſe, galt noch allgemein als ein faſt unlösbares Problem; ſie war bei den Verhandlungen mit Baiern-Württemberg oft erörtert und endlich zur Seite geſchoben worden, da man an der Verſtändigung verzweifelte.

An der ſächſiſch-böhmiſchen Grenze hatte ſich ein ungeheurer Schmuggel feſtgeniſtet; das Volk nahm den elenden Zuſtand hin wie eine Nothwen - digkeit, ja wie einen Segen. Selbſt Lindenau wagte nach dem Abſchluß des Zollvereins im Geſpräche mit Blittersdorff nur die ſchüchtern zweifelnde Bemerkung: daß der Schmuggel im Erzgebirge jetzt aufhören wird, iſt wohl ſchwerlich ein Unglück . **)Blittersdorff’s Bericht, 23. Aug. 1833.Die hochherzige Geſinnung des neuen Mitregenten, des Prinzen Friedrich Auguſt, wurde in Berlin ebenſo bereit - willig anerkannt, wie die Einſicht der trefflichen Männer, die er in ſein Cabinet berufen. Doch ein volles Jahr verfloß, bis die Ordnung in dem aufgeregten Ländchen ſich wieder befeſtigte; Maaſſen fragte beſorgt, ob eine Regierung, die den ſchwächlichen Aufläufen in Leipzig und Dresden ſo wenig nachhaltigen Widerſtand entgegengeſtellt, auch den feſten Muth beſitzen werden, die Schmuggelneſter im Gebirge auszuheben. Und lehrte denn nicht der Gang der Verhandlungen, daß die neue Regierung das alte kleinliche Mißtrauen gegen Preußen nicht gänzlich über Bord geworfen hatte? Man kam in Berlin nicht los von dem Argwohn, Sachſen würde einen Zollverein mit Oeſterreich vorziehen, wenn nur die Hofburg mehr böte als leere Redensarten. Wenn König Friedrich Wilhelm keinen deut - ſchen Staat locken und einladen wollte, ſo doch am allerwenigſten dieſen ſächſiſchen Hof, der als Stifter des mitteldeutſchen Vereins eine ſo bösartige Gehäſſigkeit zur Schau getragen hatte. Der preußiſche Conſul Baumgärtner empfing einen herben Verweis, als er zu Anfang 1830 eine Flugſchrift über die Nothwendigkeit eines ſächſiſch-preußiſchen Zollbundes ſchrieb und in Sachſen verbreitete.

373Verhandlung mit Sachſen.

Bis zum Sturze des alten Syſtems erging ſich die ſächſiſche Re - gierung in Umwegen und Künſteleien, nach der alten Gewohnheit der Mittelſtaaten. Sie fragte in Stuttgart und München an, ob Sachſen nicht dem ſüddeutſchen Vereine beitreten könne. Ihr Berliner Geſchäfts - träger Könneritz richtete an Ancillon die Bitte: Preußen möge ſofort ſeinen Tarif zu Sachſens Gunſten herabſetzen, da die Verhandlungen über den unmittelbaren Anſchluß vor der Hand noch ausgeſetzt werden müßten. Maaſſen aber antwortete (15. Sept. 1830): ohne vorhergegangene Ver - einigung zu einem gegenſeitig erleichterten Handelsverkehr können wir bei der Ordnung unſeres Tarifs auf dritte Staaten keine Rückſicht nehmen. *)Salviati’s Bericht, Stuttgart 26. Aug. Könneritz an Ancillon, 2. Aug. Maaſſen an das Ausw. Amt, 15. Sept. 1830.

Erſt das Miniſterium Lindenau fand den Muth einzugeſtehen was ſich mit Händen greifen ließ: daß Sachſens Gewerbfleiß ohne Preußens Freundſchaft untergehen mußte; nahm doch die geſammte überſeeiſche Aus - fuhr des Landes ihren Weg durch Preußen, desgleichen faſt die geſammte Einfuhr der rohen Baumwolle. Leider war nur ein Theil der Fabrikanten im Gebirge dem Anſchluß günſtig, das Landvolk und vornehmlich das mächtige Leipzig wehklagten über das hereinbrechende Verderben. Alſo hat ſelbſt der allzeit patriotiſche und einſichtige Handelsſtand der wackeren Pleißeſtadt, ganz wie ſpäterhin die Kaufmannſchaft von Frankfurt, Bremen, Hamburg, die unliebſame Wahrheit erhärtet, daß der Intereſſent faſt nie - mals ſachverſtändig iſt. Auch der große Kaufherr wird zum Krämer, ſein Geſichtskreis verengt ſich, ſobald er ſeinen unmittelbaren Vortheil bedroht wähnt; ſtolz auf ſeine perſönliche Kraft und Freiheit, empfindet er es als eine Anmaßung, eine Beleidigung, wenn die Männer des grünen Tiſches ihm zumuthen ſeine altgewohnten Geſchäftsformen zu ändern, und will nicht zugeſtehen, daß über große handelspolitiſche Fragen nicht die privat - wirthſchaftliche Anſchauung des Kaufmanns, ſondern das ſtaatswirth - ſchaftliche Urtheil des Staatsmannes zu entſcheiden hat. Trotz Alledem entſchloß ſich die Regierung gegen Jahresſchluß zu jener erſten Anfrage in Berlin. Das Miniſterium des Auswärtigen antwortete (24. Jan. 1831): Die Schwierigkeiten ſcheinen ſehr groß, die Intereſſen überaus verſchieden; dennoch iſt die Aufgabe ſo gemeinnützig und deutſcher Regierungen, welche neben der Sorge für ihre Unterthanen zugleich die Beförderung des Wohls von ganz Deutſchland im Auge haben, ſo entſchieden würdig , daß wir den Verſuch wagen wollen. Die oberdeutſchen Könige, von Allem unterrichtet, überließen die Verhandlungen vertrauensvoll dem preußiſchen Hofe; die Ueberlegenheit der ſächſiſchen Induſtrie, meinte Armansperg zuverſichtlich, iſt in einem großen Vereine wenig zu fürchten, auch die ſchwierige Grenz - bewachung muß ſich durchführen laſſen, ſo man ernſtlich will. **)Miniſterialſchreiben des Answärtigen Amtes 24. Jan. Armansperg an Küſter 22. März 1831.

374IV. 6. Der Deutſche Zollverein.

Im März 1831 kam der ſächſiſche Finanzminiſter v. Zeſchau nach Berlin neben dem Baiern Mieg, dem Heſſen Hofmann und dem Badener Boeckh ſicherlich der fähigſte unter allen den Finanzmännern, mit denen Preußen zu verhandeln hatte thätig und kenntnißreich, ein ritter - licher Charakter, ſchweigſam und bedächtig, noch von ſeiner preußiſchen Dienſtzeit her mit L. Kühne wohl bekannt. Die in Dresden gewünſchte Aenderung des geſammten Tarifs gab er bald auf, gleichwohl ward er mit Maaſſen nicht handelseinig. Erſchreckt durch die Warnungen ſeiner Fabri - kanten wollte Preußen proviſoriſche Schutzzölle zu Gunſten einiger Fabrik - waaren einführen, damit die Induſtrie Zeit behielte ſich auf die Con - currenz des Erzgebirges zu rüſten. Zugleich verlangte man Entſchädigung für den drohenden ſtarken Verluſt an Durchfuhrzöllen. Kühne ſelbſt fand dieſe Forderungen zu hart; aus dem Magdeburgiſchen gebürtig betrachtete er die Kurſachſen halb als ſeine Landsleute und hielt dem Miniſter vor: nach der Theilung Sachſens ſei Preußen ſchon ehrenhalber verpflichtet dem Nachbarlande Wohlwollen zu zeigen. Als Maaſſen in dieſen Fragen endlich nachgegeben hatte, erhob ſich ſofort ein neues Hemmniß: die Meß - frage. Frankfurt an der Oder hatte bisher für ſeine Meſſen einen Zoll - rabatt genoſſen, der erſt vor Kurzem auf 20% herabgeſetzt war; nun der Eintritt Leipzigs bevorſtand, wollte Preußen ſeinen ſchwer bedrohten kleinen Meßplatz nicht ungünſtiger ſtellen als bisher. Die Leipziger Kaufmann - ſchaft dagegen ſagte den unfehlbaren Verfall ihrer Meſſen voraus, falls Frankfurt irgend ein Vorrecht behalte; und keine Regierung, am wenigſten eine conſtitutionelle ſchrieb der ſächſiſche Bevollmächtigte Wietersheim kann einer ſo ausdrücklichen Erklärung der Repräſentanten des gefähr - deten National-Intereſſes entgegenhandeln . Auch das Altenburgiſche Geheime Miniſterium ſendete ein dringendes Mahnungsſchreiben nach Berlin ohne alle äußere Aufforderung , wie man unſchuldig be - theuerte und ſchilderte in herzbrechenden Worten das furchtbare Schick - ſal, das dem unglücklichen Leipzig drohe. *)Wietersheim an Eichhorn, 16. Aug.; Schreiben des Altenb. Geh. Miniſteriums an das Ausw. Amt, 30. Sept. 1831.

Da die Verhandlungen ſich ſo ungünſtig anließen, ſo wünſchte der ſächſiſche Hof, geängſtigt durch die fortdauernde Gährung im Lande, min - deſtens einige Handelserleichterungen ſofort zu erlangen, falls die voll - ſtändige Vereinigung nicht möglich ſei. Der Prinz-Mitregent ſelber ſtellte dieſe Bitte in einem Handſchreiben an den König von Preußen (11. April 1831). Er gab zu bedenken, daß mit dem gänzlichen Miß - lingen dieſer Verhandlungen die Ausführung des großen und für die Sicherheit und Ruhe Deutſchlands begründeten, von Ew. K. Maj. ver - folgten Planes, die Intereſſen des Handels und Verkehrs in verſchiedenen deutſchen Staaten zu vereinigen und dadurch zugleich das politiſche Band375Abſchluß mit Sachſen.zu befeſtigen, gefährdet werden oder mindeſtens Aufſchub erleiden würde. Auch mag ich mir ſelbſt nicht verſchweigen, daß eine erfolgloſe Verhand - lung in der gegenwärtigen Zeit auch hier nicht ohne einen ſehr ungün - ſtigen Eindruck bleiben würde. *)Prinz Friedrich Auguſt an König Friedrich Wilhelm, 11. April 1831.Ein ſolcher Mittelweg ſchien aber den beſten Köpfen der preußiſchen Regierung kleinlich und nutzlos. Eichhorn bewies in einem ausführlichen Gutachten: ſofortige Handelserleichterungen würden, nach der Lage der Dinge, nur dem preußiſchen Staate einſeitige Opfer auferlegen; wolle Sachſen dagegen zu Preußen in ein ähnliches Verhältniß treten, wie bisher Baiern und Württemberg, ſo ſei dazu eine vollſtändige Neugeſtaltung ſeines Zollſyſtems erforderlich; warum alſo nicht ſogleich das höchſte Ziel, den Zollverein, ins Auge faſſen? Auch der geiſtvolle Beuth meinte traurig: wäre die Zeit nicht ſo ſchlecht und ungünſtig, ſo konnte man die Sache großartiger behandeln. Die letzten mündlichen Verhandlungen erfolgten im Juli, bald nachher ſtockte auch der ſchriftliche Verkehr. Die deutſchen Cabinette begannen zu fürchten, daß Sachſen den Plan aufgegeben habe; der Dresdner Hof ſah ſich um die Wende des Jahres genöthigt, in einer langen Denkſchrift ſeine Handels - politik vor den oberdeutſchen Königen zu vertheidigen.

Erſt als Baiern und Württemberg ihre Zollvereinsverhandlungen in Berlin eröffneten, faßte man ſich in Dresden wieder ein Herz. Im März 1832 erſchien Zeſchau zum zweiten male in Berlin. Abermals kam man einen Schritt weit vorwärts; Sachſen erklärte ſich bereit das preußiſche Syſtem der indirekten Steuern anzunehmen. Doch über die Meſſen konnte man ſich wieder nicht verſtändigen. Nun wirkte auch die Staatsweisheit Moritz Mohl’s lähmend auf Sachſen zurück; ohne die ſüddeutſchen Höfe, die jetzt ihre Verhandlungen abbrachen, wollte das Dresdner Cabinet, wie begreiflich, nicht beitreten. Im Mai wurde die letzte Berathung gehalten; der Sommer verlief in peinlicher Verlegenheit. Die amtliche Leipziger Zeitung ſchlug bereits jenen ſalbungsvollen Ton an, der immer ein Zeichen der Rathloſigkeit iſt; ſie mahnte: der Ent - ſchluß, welchen die Staatsregierung mit den Landſtänden ergreift, wird jedem Staatsbürger heilig ſein.

Inzwiſchen beging der ſächſiſche Hof einen ſchweren politiſchen Fehler, der den ſchlimmſten Verdacht zu rechtfertigen ſchien. Hannover hatte am Bundestage wieder einmal die Ausführung des unſterblichen Art. 19 be - antragt in der unverhohlenen Abſicht, den Gang der preußiſchen Handelspolitik zu ſtören. Ohne jede Rückſprache mit Preußen, ohne auch nur den Bericht der Bundestagscommiſſion abzuwarten, ſtimmte Sachſen als die erſte deutſche Regierung dem thörichten Antrage zu und erklärte: Höchſter Zweck des Bundes in Zollſachen iſt, dasjenige durch gemein - ſchaftliche Geſetze zu erreichen, was durch Einzelverhandlungen nur ſchwer376IV. 6. Der Deutſche Zollverein.zu erreichen iſt; ſollen in Deutſchland überhaupt Durchfuhrzölle beſtehen, ſo doch jedenfalls ein anderes Syſtem als das preußiſche! Die Finanz - partei in Berlin klagte laut über die offenbare Zweizüngigkeit. Geh. Rath Michaelis fragte in einer ſcharfen Denkſchrift: ſoll dieſe Sprache des ſächſiſchen Bundestagsgeſandten etwa die öffentliche Meinung in Sachſen für den preußiſchen Zollverein gewinnen? Wen konnten auch die nichtigen Entſchuldigungen überzeugen, die der ſächſiſche Miniſter Minckwitz ſeinem Berliner Geſandten Watzdorf ſchrieb (29. Nov. 1832)? Der harm - loſe Mann betheuerte, die Vorgänge in Frankfurt ſollten den Berliner Verhandlungen keinen Eintrag thun ! Eichhorn aber, als ein gewiegter Kenner des Charakters der kleinen Höfe, mahnte ſeine erzürnten Amts - genoſſen zur Geduld: gönnen wir doch den Herren in der Eſchenheimer Gaſſe ihre unſchuldigen Stilübungen; der Dresdner Hof meint es ehrlich, wenngleich er zuweilen einem Anfall von Schwäche unterliegt; noch eine kurze Friſt, und er kommt wieder zu uns.

Und ſo geſchah es. Im Januar 1833 beſprach ſich Mieg in Dresden mit Zeſchau, und als darauf die Berliner Verhandlungen mit Baiern ſo glücklich vorangingen, kam der ſächſiſche Finanzminiſter (24. März) zum dritten male in die preußiſche Hauptſtadt. Nach kaum acht Tagen (30. März 1833) ſchloſſen Eichhorn, Maaſſen, Zeſchau und Watzdorf den Zollvereinsvertrag, der wörtlich mit dem ſoeben beendigten bairiſchen über - einſtimmte. Einige Separatartikel ordneten den Zuſtand der Meſſen. Der Frankfurter Zollrabatt blieb etwas ermäßigt beſtehen, doch durfte Sachſen ſeinem Leipzig ähnliche Vergünſtigungen zuwenden. Der Meß - handel erhielt eine große Erleichterung durch die Einrichtung der Meß - contirung; für Leipziger Großhandlungen von gutem Rufe wurde ſogar ein über die Meßzeiten hinaus fortdauerndes Steuerconto zum Abſchreiben eröffnet eine wichtige Vergünſtigung, die noch manchen Mißbrauch ver - anlaſſen ſollte. Auch die Herabſetzung einiger Zollſätze, namentlich für Woll - und Baumwollwaaren, wurde vereinbart. Preußen verpflichtete ſich, die Ermäßigung der Elbſchifffahrtsabgaben, welche Anhalt dem preußiſchen Elbhandel zugeſtanden hatte, auch dem ſächſiſchen Verkehre zuzuwenden; der gute Vorſatz ſcheiterte freilich an Anhalts Kleinſinn.

Nicht ohne Zagen unterſchrieb Maaſſen den Vertrag, der den preu - ßiſchen Markt den Fabriken des Erzgebirges eröffnete; von allen ſeinen Räthen ſtimmte ihm nur Kühne unbedingt zu. Das iſt ein ſchwerer Vertrag ſagte er zu Kühne und wog die Actenſtücke auf der flachen Hand es hätte ihn nicht jeder unterzeichnet. Die Beſorgniß des Staatswirths hatte zurücktreten müſſen vor den Hoffnungen der Politiker. Sachſen ſtand gerade in den Flitterwochen ſeines conſtitutionellen Lebens; der Eintritt dieſes Staates mußte die öffentliche Meinung günſtig ſtimmen. Leider verging wieder eine geraume Friſt, bis die deutſche Welt mit der vollendeten Thatſache ſich verſöhnte. Die preußiſchen Fabrikanten lärmten,377Abſchluß mit Thüringen.die gute Stadt Leipzig überließ ſich einer maßloſen Verzweiflung. Eine Petition, die der k. k. Conſul Bercks geſchäftig umhertrug, warnte die Regierung; die Stadtverordneten richteten eine dringende Vorſtellung nach Dresden. An Zeſchau’s Wohnung fand ſich eines Morgens ein Anſchlag: Allhier wird von einem Parvenu, einem preußiſchen Landrath, ſo ſäch - ſiſcher Finanzminiſter geworden iſt, das Land für Geld und Orden an Preußen verkauft. Der Taumel ergriff jeden Stand und jedes Alter. Die Leipziger Schulbuben kauften ſich engliche Farbkäſten auf Vorrath, weil ſie mit frühreifer handelspolitiſcher Vorſicht befürchteten, das gewohnte Spielzeug werde nunmehr für bürgerliche Geldbeutel unerſchwinglich wer - den. Ein Jahr darauf ſchon begann für die Pleißſtadt eine neue Epoche glänzender Handelsblüthe; das kleine Frankfurt wurde durch den über - legenen Nebenbuhler ganz zurückgedrängt, die mächtigen Leipziger Firmen lernten bald den Frankfurter Meßrabatt für ſich ſelber zu benutzen. Auch die Klagen der preußiſchen Fabrikanten verſtummten, und Niemand wollte die warnenden Petitionen unterſchrieben haben. Zeſchau ſelbſt, der Wohl - thäter Leipzigs, hat freilich von den ſtolzen Kaufherren der Meßſtadt nie - mals irgend eine Genugthuung für ſo viele Schmähungen erhalten.

Während dieſe verwickelte zweifache Verhandlung in wiederholten Anſätzen erledigt wurde, hatte Eichhorn’s unverwüſtliche Geduld zugleich ein drittes ſchwieriges Geſchäft zu führen: die Unterhandlungen mit den thüringiſchen Staaten. In Thüringen wie in Sachſen und Kurheſſen wurde die beginnende Bekehrung gefördert durch den unruhigen Sommer von 1830, durch die Angſt vor den murrenden Maſſen. Hier wie in Sachſen hoffte man anfangs, ſogleich einſeitige Handelserleichterungen von Preußen zu erlangen. Der weimariſche Miniſter Gersdorff kam im Januar 1831 zugleich mit Lindenau nach Berlin, überbrachte ein Hand - ſchreiben ſeines Großherzogs, das um ſolche Vergünſtigung bat: dies würde in einer Periode mannichfacher Aufregungen Uebelgeſinnten einen Vorwand zu ſchlechten Einwirkungen entnehmen. Auf wiederholte ähn - liche Anfragen kleiner thüringiſcher Höfe antwortete das Berliner Cabinet (5. Juli 1831): man ſei bereit, über einen Zollverein zu verhandeln, doch nur mit allen thüringiſchen Staaten gemeinſam, und nur wenn dieſe Höfe ſich nicht mehr gebunden glaubten an den mitteldeutſchen Verein. Erſt als Kurheſſen zu dem preußiſchen Vereine übergetreten war, erklärten die erneſtiniſchen Höfe: der mitteldeutſche Verein ſei that - ſächlich aufgelöſt.

General Leſtocq, der vielgeplagte Geſandte, den die thüringiſchen und einige andere kleine Dynaſten in Berlin auf gemeinſame Koſten ernährten, überreichte am 15. Januar 1832 eine Verbalnote: Preußen möge die Initiative ergreifen, ältere bindende Verpflichtungen beſtänden nicht mehr. Weimar drängte am eifrigſten; das Großherzogthum beſaß an Gersdorff und O. Thon zwei treffliche Verwaltungsbeamte, die wohl378IV. 6. Der Deutſche Zollverein.einſahen, wo der Grund der ewigen Finanznoth lag. Spröder verhielt ſich Gotha, da hier der hergebrachte Schmuggel allgemein als ein Na - tionalglück betrachtet wurde. Maaſſen und Eichhorn entwickelten nun ausführlicher den einfachen Gedanken, den ſie ſo oft ſchon ausgeſprochen hatten: die verzettelten thüringiſchen Gebiete ſollen zunächſt unter ſich einen Verein mit gemeinſamer Zollverwaltung bilden und dann erſt als eine geſchloſſene Einheit in den großen Zollverein treten; Preußen will die Kreiſe Erfurt, Suhl und Ziegenrück dieſem thüringiſchen Vereine zu - theilen, wird auch dafür ſorgen, daß Kurheſſen ſein Schmalkaldener Land hinzugefügt. Zu förmlichen Verhandlungen kam es auch jetzt noch nicht; denn Eichhorn hoffte, vorher mit Baiern und Württemberg abzuſchließen. Dieſe beiden Höfe fühlten ſich ſchon beunruhigt durch die Anfragen der Erneſtiner; ſie meinten: ſchließe Thüringen früher ab, ſo ſei der Süden auf Gnade und Ungnade dem Belieben Preußens überliefert. Darum richteten ſie ſogar eine Verwahrung an den Berliner Hof (15. Nov. 1832): ohne die vorhergehende Zuſtimmung Baierns und Württembergs dürfe Preußen die Thüringer nicht aufnehmen. Der Dresdener Hof, der ſich noch immer als das geborene Oberhaupt der Erneſtiner fühlte, verlangte zu allen Verhandlungen mit ſeinen Stammesvettern zugezogen zu werden. Preußen erwiderte: wir werden Sachſens Intereſſen ſorgſam wahren, doch der Zutritt eines ſächſiſchen Bevollmächtigten kann die Verhandlungen nur erſchweren. Immerhin haben dieſe Bedenken der drei kleinen Königs - kronen den Beginn der Unterhandlungen verzögert.

Erſt im December 1832 begannen die Conferenzen mit den Thüringern. Die preußiſchen Staatsmänner ſchlugen vor, eine Centralbehörde für das thüringiſche Zollweſen zu bilden. Große Beſtürzung; keiner der Kleinen wollte eine ſolche Beſchränkung ſeiner Souveränität zugeben. Da meinten die Preußen begütigend: es werde genügen einen Generalinſpektor einzu - ſetzen; der müſſe freilich in Erfurt wohnen, als dem Mittelpunkte des Landes, doch ſolle er nicht von Preußen, ſondern von der thüringiſchen Hauptmacht Weimar ernannt werden. Hiermit ſchien jeder Widerſpruch entwaffnet. Wenn Preußen ſein Zollweſen einem weimariſchen Beamten unterſtellte, ſo durfte auch der Reußenſtolz und der Gothaerdünkel nicht klagen. Gleichwohl erhoben Altenburg und Meiningen neue Bedenken; ſie konnten ſich nicht in den Gedanken finden, daß ihre Verwaltung fremder Aufſicht unterliegen ſolle. Schon war man nahe daran, ohne Meiningen abzuſchließen. Da drohte Kühne: wenn man die preußiſchen Beamten als Spione betrachte, dann müſſe Preußen ſein gefürchtetes Enclavenſyſtem gegen die kleinen Nachbarn anwenden. Das ſchlug durch. Am 10. Mai 1833 wurde der Zoll - und Handelsverein der thüringiſchen Staaten gebildet, am folgenden Tage erklärte der neue Verein, der das geſammte Syſtem der preußiſchen indirekten Steuern annahm, ſeinen Zutritt zu dem deutſchen Zollvereine. Ein weimariſcher Generalbevollmächtigter ver -379Die Neujahrsnacht 1834.trat die Thüringer auf den Conferenzen des Zollvereins, gab in Tarif - ſachen nur eine Geſammtſtimme ab; in einigen anderen Fällen ſollte er die Meinung jedes einzelnen thüringiſchen Staates geſondert vortragen. Dieſer Bund im Bunde, welchen Preußens Staatsmänner ſeit dem Jahre 1819 erſtrebt hatten, erwies ſich als ſo einfach und naturgemäß, daß nie - mals, auch nicht in den ſchwerſten Kriſen des Zollvereins, an die Auf - löſung des thüringiſchen Vereins gedacht worden iſt.

Alſo war des großen Werkes ſchwerſter Theil gelungen. Ein uner - hörter Ordensſegen belohnte die treue Arbeit des Beamtenthums; die Jahrgänge der deutſchen Geſetzſammlungen ſchwollen zu unförmlichen Bänden an, von allen den neuen Verträgen und Geſetzen. Dann kam jene folgenſchwere Neujahrsnacht des Jahres 1834, die auch den Maſſen das Nahen einer beſſeren Zeit verkündete. Auf allen Landſtraßen Mittel - deutſchlands harrten die Frachtwagen hochbeladen in langen Zügen vor den Mauthhäuſern, umringt von fröhlich lärmenden Volkshaufen. Mit dem letzten Glockenſchlage des alten Jahres hoben ſich die Schlagbäume; die Roſſe zogen an, unter Jubelruf und Peitſchenknall ging es vorwärts durch das befreite Land. Ein neues Glied, feſt und unſcheinbar, war eingefügt in die lange Kette der Zeiten, die den Markgrafenſtaat der Hohenzollern hinaufgeführt hat zur kaiſerlichen Krone. Das Adlerauge des großen Königs blickte aus den Wolken, und aus weiter Ferne erklang ſchon der Schlachtendonner von Königgrätz. Glücklicher als ſein leiden - ſchaftlicher Freund hat Maaſſen die Stunde der Genugthuung noch ge - noſſen. Er ſtarb am 4. November 1834. Einen ebenbürtigen Nachfolger fand er nicht; nur in Eichhorn und den Geheimen Räthen des Finanz - miniſteriums lebten die Ueberlieferungen von 1818 fort.

Der erweiterte Handelsbund nahm jetzt den Namen des Deutſchen Zollvereins an. Aus dem dunſtigen Nebel des Deutſchen Bundes traten ſchon erkennbar die Umriſſe jenes Kleindeutſchlands hervor, das dereinſt den Ruhm und die Macht des heiligen römiſchen Reiches überbieten ſollte.

Im Kampfe mit dem deutſchen Liberalismus errang die Krone Preußen ihre handelspolitiſchen Erfolge, und nur weil ſie ſelbſt nicht durch Reichs - ſtände beſchränkt war, konnte ſie ihr Ziel erreichen. Ebenſo wenig wie die ſüddeutſchen Oppoſitionsparteien ahnte Czar Nikolaus, was dies beginnende Anwachſen der preußiſch-deutſchen Macht bedeutete. Da er noch immer auf den großen Krieg gegen die Revolution hoffte, ſo ſuchte er ſich ſeinem Schwiegervater in Allem, was Rußlands Intereſſen nicht unmittelbar zu bedrohen ſchien, freundlich zu erweiſen und vermied ſorgſam jeden Schritt, der die Bahnen des Zollvereins durchkreuzen konnte. Die unverhohlene Feindſchaft, welche England und Frankreich dem werdenden Handelsbunde380IV. 6. Der Deutſche Zollverein.erwieſen, konnte den Czaren nur in ſeiner Geſinnung beſtärken. Wie hoch - müthig hatten bisher die Weſtmächte herabgeblickt auf dies zerriſſene Deutſch - land, das in den Wettkämpfen der Handelsvölker niemals mitzählen könne. Welch ein Eindruck, als jetzt die neue Größe des deutſchen Handelsbundes ſich erhob, und der Geſammtwerth der Aus - und Einfuhr des Zollvereins ſchon im erſten Jahre (1834) 249,5 Mill. Thlr., 10 Thlr. auf den Kopf der Bevölkerung betrug. Wohl erſchienen die Zahlen der deutſchen Handels - tabellen noch beſcheiden genug neben den 1365 Mill. Fr., die Frankreichs Handel im Durchſchnitt der Jahre 1827 36 erreichte, oder gar neben den 116 Mill. . der engliſchen Aus - und Einfuhr (1830). Aber der Handel des Zollvereins blieb in ſicherem, ſtetigem Aufſteigen, er wuchs in zehn Jahren (bis 1844) auf 385 Mill. Thlr., 13½ Thlr. für den Kopf der Bevölkerung. Auch die induſtrielle Kraft des Vereins erſtarkte zu - ſehends, die Ausfuhr von deutſchen Ganzfabrikaten hob ſich im erſten Menſchenalter der Zollvereinsgeſchichte um 52 %. Und dieſer Verein um - faßte noch bei Weitem nicht das geſammte Deutſchland; die ganze Nord - ſeeküſte, die größten deutſchen Seeplätze gehörten ihm nicht an. In Rouen und St. Etienne, in London und Mancheſter mußte man lernen mit einem neuen Concurrenten zu rechnen.

Die Regierung der Orleans, kleinlich, neidiſch, mittelmäßig von Haus aus, die geborene Feindin aller ſchöpferiſchen neuen Gedanken, eifrig beſtrebt ihre Hand in dem Spiele der deutſchen Politik zu halten, trat den Plänen Preußens durch hundert kleine Mittel entgegen. Ihre Geſandten Breſſon in Berlin, d’Alleye in Frankfurt, Mornay in Karlsruhe, und am rührigſten von Allen ihr berüchtigter Conſul Engelhardt in Mainz, zogen von einem deutſchen Diplomaten zum andern, oftmals insgeheim durch die Agenten Oeſterreichs unterſtützt; ſie warnten vor Preußens Herrſchſucht, boten Handelsverträge mit dem freien Frankreich an. Zum Glück war das ſtarre franzöſiſche Prohibitivſyſtem völlig unfähig den Nachbarn lockende Vortheile zu bieten. Als der Zollverein trotzdem zu Stande kam, erklärte der Geſchäftsträger in Darmſtadt, Herr v. Buſſieres: ſein Miniſter, der Herzog von Broglie, beabſichtige ein freiſinniges Zollgeſetz mit großen Erleichterungen für Deutſchlands Schlachtvieh und Wolle; doch erwarte man Gegenleiſtungen, namentlich die Begünſtigung der franzöſiſchen Weine, wenn die Richtung, welche Preußen dem von ihm gegründeten Zollvereine gegeben hat, dies nicht verhindern ſollte. Von der heſſiſchen Regierung befragt, ergriff Eichhorn ſogleich die Gelegenheit, der Krämerpolitik des Bürgerkönigs heimzuleuchten. Er erwiderte (7. Febr. 1834): Frankreich iſt noch gar nicht in der Lage, mit der freieren Geſetzgebung des Zollvereins Zug um Zug zu verhandeln; zuerſt möge man in Frankreich das Pro - hibitivſyſtem abſchaffen. Die Führerſtelle im Zollvereine, die man in den Tuilerien uns zuſchreibt, nehmen wir nicht an. Nicht Preußen hat den Zollverein gegründet; er entſtand ganz natürlich aus dem übereinſtim -381Beſorgniſſe des Auslandes.menden Willen aller betheiligten Souveräne. *)Buſſieres an du Thil, 21. Jan. Eichhorn, Weiſung an die Geſandtſchaft in Darmſtadt, 7. Febr. 1834.So ängſtlich vermied der Berliner Hof jeden Schein der Hegemonie; der Handelsbund war noch im Werden und Wachſen, man wollte den Widerſtand Oeſterreichs und des Auslandes nicht noch mehr herausfordern.

Auch England ſuchte durch Handelsverträge mit den Kleinſtaaten das nationale Werk zu ſtören. Der Geſandte in Berlin, Lord Minto, haßte die beiden großen Bundesmächte mit dem Ingrimm des Radicalen, und wie er den Beſchlüſſen des Bundestags laut und rückſichtslos entgegentrat, ſo hielt er auch für Pflicht, die Kleinſtaaten vor dem preußiſchen Joche zu bewahren. Im Parlamente redete ſchamlos jene britiſche Handelsmoral, welche mit der Bibel in der rechten, der Opiumpfeife in der linken Hand die Güter der Geſittung über den Erdball verbreitet. Ihr habt nicht das Recht rief man dort den preußiſchen Staatsmännern zu mit anderen deutſchen Staaten Verträge zu ſchließen, die dem engliſchen Handel zum Nachtheil gereichen! Indeß war England mit ſeinem hohen Zoll - tarife ebenſo wenig wie Frankreich im Stande, den Deutſchen lockende Vortheile zu bieten, und ſeit der für die britiſchen Kaufleute ſo vortheil - haften Rheinſchifffahrtsacte begann ſeine Theilnahme an unſerem handels - politiſchen Streite langſam zu erkalten. Der Gewandtheit des Geſandten Bülow wäre es vielleicht gelungen, die Beſorgniſſe der britiſchen Staats - männer etwas zu beſchwichtigen, wenn nicht der Preußenhaß der welfiſchen Staatsmänner in Hannover den Handelsneid Englands von Neuem auf - geſtachelt hätte.

In welchem Lichte der preußiſche Handelsbund der öſterreichiſchen Partei des Bundestags erſchien, das erhellt aus einigen Briefen Blitters - dorff’s. Im März 1833, als die Wage noch ſchwankte, ſchrieb er höh - niſch: es wird ſich doch zeigen, ob man die preußiſchen Finanzen dem politiſchen Syſteme des Herrn Eichhorn opfern wird. Nach der Ent - ſcheidung bereiſte er Mitteldeutſchland, ſprach mit vielen ſächſiſchen und thüringiſchen Staatsmännern und berichtete traurig: Die Zollvereinigung giebt dem Bundesſyſteme gleichſam den Gnadenſtoß. Den gegenſeitigen Schutz, welchen die kleinen Staaten bisher durch den Bund empfingen, erhalten ſie jetzt durch den Zollverein; auch in anderen politiſchen Fragen werden ſie ſich auf Preußen ſtützen müſſen. Alle mitteldeutſchen Staats - männer, die ich ſprach, geſtanden: Wir konnten nicht anders. Oeſter - reich hat ſich uns verſagt. Preußen war ebenſo willfährig als beharrlich, hat durch das Zugeſtändniß des gleichen Stimmrechts alle Bedenken ent - waffnet. Nun bleibt nur übrig, fährt er ſchmerzlich fort, daß Oeſterreich auch in den Zollverein träte. Doch das wird wohl unmöglich ſein; denn in dieſer Sache kann der wohlgeſinnte Ancillon nichts ausrichten gegen382IV. 6. Der Deutſche Zollverein.Herrn Eichhorn! Noch düſterer klingen ſeine Berichte vom December 1833: Der Zollverein iſt ein Hauptnagel im Sarge des Deutſchen Bun - des. Herr Eichhorn will die Einheit Deutſchlands durch Separatverträge erreichen, mit Ausſchluß Oeſterreichs, das, wie man in Berlin ſtets be - hauptet, uns nur Opfer auferlegt. Preußen übernimmt jetzt die Führung der poſitiven Politik Deutſchlands, Oeſterreich behält nur noch die formelle Leitung. Vielleicht kann im Deutſchen Bunde nur dann ein neues Leben erwachen, wenn Preußen an die Spitze träte, und Oeſterreich ſich auf ein Schutz - und Trutzbündniß beſchränkte, wozu aber wenig Ausſicht vor - handen iſt. Vielleicht werden durch dieſe Wendung die Repräſentativ - verfaſſungen ihre Bedeutung für die Bundespolitik verlieren, und ganz andere Fragen in den Vordergrund treten jene Machtfragen, die ſchon auf dem Wiener Congreſſe auftauchten! *)Blittersdorff’s Berichte, 23. Aug. 1833 ff.Und derſelbe Mann, der mit ſo ſcharfem Auge in das Dunkel der Zukunft blickte, hat gleichwohl dem hereinbrechenden Schickſal mit ſeiner ganzen Kraft ſich entgegen - geſtemmt; er hat noch im November 1847 vorgeſchlagen, die Hofburg ſolle die politiſche Führung des Zollvereins antreten, da ſie die ſtaats - wirthſchaftliche Leitung allerdings nicht übernehmen könne!

Aehnliche Sorgen regten ſich in Oeſterreich ſelbſt. Jetzt erſt begann das ſtarre Greiſenregiment zu Wien die folgenſchwere Bedeutung der preu - ßiſchen Handelspolitik zu ahnen, die man bisher wohl aufzuhalten, doch nicht mit voller Kraft zu bekämpfen gewagt hatte. Und auch jetzt noch erhob ſich die ſtaunenswerthe Gedankenarmuth des Neſtors der europäi - ſchen Diplomatie nur zu Angſtrufen, Warnungen und kleinen Ränken, nicht zu irgend einem ausführbaren Gegenplane. Seit nahezu zwanzig Jahren verhandelten Baiern und Oeſterreich über Handelserleichterungen. Immer vergeblich. Daß ſolche Zugeſtändniſſe nur durch Gegenleiſtungen zu erlangen ſind, war den Köpfen der k. k. Hofräthe nicht beizubringen. Die Agenten Oeſterreichs in München pflegten dann am lebhafteſten um Baierns freundnachbarliche Gefälligkeit zu bitten, wenn das k. k. Prohibi - tivſyſtem den Verkehr der Nachbarn recht empfindlich geſchädigt hatte. So wurde im Jahre 1829 die Getreideeinfuhr aus Baiern, die den Tyrolern unentbehrlich war, mit erhöhten Zöllen belegt, und gleich darauf verlangte man in München die Herabſetzung der bairiſchen Zölle. Im Jahre 1832, als die Zollvereinsverhandlungen ſchwebten, kam der Hof - rath v. Münch, ein Bruder des Bundestagsgeſandten, nach München, um den Verlauf zu beobachten und durch das Anerbieten eines bairiſch - öſterreichiſchen Handelsvertrags den Abſchluß der Berliner Verträge zu hintertreiben. Er rieth dringend, nicht über den Handelsvertrag, der ſeit 1829 den Süden mit Preußen verband, hinauszugehen; alle Vortheile eines preußiſchen Zollvereins würden überboten durch einen Handelsvertrag383Oeſterreichs Gegenbeſtrebungen.mit Oeſterreich. Schärfer befragt, verlangte er für Oeſterreich weſent - liche Vergünſtigungen, ſo die Herabſetzung der Zölle auf das böhmiſche Eiſen; irgend nennenswerthe Gegenleiſtungen hatte er nicht zu bieten.

Eine Denkſchrift, welche Münch dem König von Baiern insgeheim überreichte, zeigt alle Charakterzüge der k. k. Handelspolitik: maßloſe ſtaats - wirthſchaftliche Unwiſſenheit, gänzlichen Mangel an poſitiven Gedanken und daneben eine dreiſte Pfiffigkeit, die nicht ohne Geſchick auf die per - ſönlichen Schwächen König Ludwig’s baut. Da wird bewieſen, wie die bairiſche Induſtrie und die Mainſchifffahrt durch den Zollverein noth - wendig vernichtet werden müſſen: Baierns Fabriken nahmen aber erſt ſeit dem Berliner Vertrage von 1829 einen neuen Aufſchwung. Des - gleichen, daß Süddeutſchland bekanntlich weit mehr conſumire als der Norden; daher werde Baiern in einem Zollvereine beſtändig an Preußen herauszahlen müſſen; und welche ſchreckliche Theuerung drohe in den wohl - feilen Guldenländern einzureißen, ſobald man den Verkehr mit den Thaler - ländern frei gebe! Liſt’s alter Genoſſe Miller von Immenſtadt, dem die oberdeutſchen Kronen ein Gutachten über die Denkſchrift abforderten, be - merkte zu dieſem Satze: Nichts beweiſt ſchlagender, wie wenig man über die Mittel verlegen iſt, wenn man ſich zum Zwecke macht zu täuſchen. Dann führt Münch aus: Preußen beſitze keinen eigentlichen Handel; Zoll - ſätze wie die preußiſchen ſeien mit ſchwunghaftem Handel unvereinbar; Baiern dagegen könne bald durch den Donau-Main-Canal den geſammten Durchfuhrhandel zwiſchen England und dem Schwarzen Meere an ſich ziehen und zum einzigen Vermittler des wichtigen griechiſchen Verkehrs mit dem Weſten werden. Eben in jenen Tagen ſtanden die helleni - ſchen Träume König Ludwig’s in ihrer Blüthe; und wie ſollte der Fürſt, der als glücklicherer Nachfolger Karl’s des Großen den welthiſtoriſchen Waſſerweg zwiſchen Main und Donau erbaute, die ungeheure Bedeutung des bairiſch-griechiſchen Handels verkennen? Freilich der Bau des Lud - wigs-Canals wurde erſt ein Jahrzehnt ſpäter beendigt, und die Donau in Oeſterreich war weder ganz frei noch wirklich ſchiffbar. Darum ſchienen die lockenden Ausſichten, welche Münch eröffnete, dem Könige von Baiern doch allzu unſicher; er verhandelte weiter mit dem Oeſterreicher, ließ aber zugleich die Unterhandlungen in Berlin nicht abreißen. Vollends die po - litiſchen Warnungen der öſterreichiſchen Denkſchrift mußten in München und Stuttgart verwundertes Kopfſchütteln erregen. Münch verſicherte, der Zollverein arbeite den Demagogen in die Hände, ſei das beſte Mittel die Regierungen überflüſſig zu machen und faſt im ſelben Augen - blicke verſchworen ſich zu Pforzheim die Liberalen gegen die Handelspolitik des preußiſchen Abſolutismus. *)Münch, Denkſchrift über einen bairiſch-öſterreichiſchen Handelsvertrag. Be - merkungen dazu vom Oberſteuerrath von Miller (durch Fahnenberg dem Karlsruher Hofe mitgetheilt, 1. März 1833).Sobald die Nachricht einlief, daß Mieg384IV. 6. Der Deutſche Zollverein.in Berlin abgeſchloſſen habe, eilte der öſterreichiſche Unterhändler, aufs höchſte beſtürzt, nach Wien; er iſt dann im Laufe des Jahres noch ein - mal in die bairiſche Hauptſtadt zurückgekehrt wieder vergeblich, da er bedeutende Anerbietungen nicht zu überbringen hatte.

Und nun endlich erwachte Fürſt Metternich aus ſeinem trägen Schlummer. Er hatte noch im Jahre 1832 dem Berliner Cabinet ge - ſchrieben: Es liegt nicht in der Aufgabe der Bundesverſammlung, in den wichtigſten Angelegenheiten, namentlich in den Handels - und ſtändiſchen Angelegenheiten, einen entſcheidenden Einfluß zu äußern. Daß dieſe Ver - ſicherung nicht ehrlich war, liegt auf der Hand; doch beweiſt ſie immerhin, wie gänzlich der Staatskanzler ſich in jenem Augenblicke über den ſchweren Ernſt der Lage täuſchte, wie zuverſichtlich er auf das Mißlingen der Berliner Verhandlungen rechnete. Jetzt nachdem die Entſcheidung gefallen war, ging ihm ein Licht auf, und er ergoß ſein Herzeleid in einer langen Denkſchrift (24. Juni 1833), die von ſeinen Verehrern oft als ein Zeugniß groß - artiger politiſcher Vorausſicht geprieſen wurde. Dem unbefangenen Urtheil erſcheint das Machwerk als ein wahrhaft erſchreckender Beweis für die Un - fähigkeit des Mannes, den die Höfe bewunderten und die Liberalen um ſeiner dämoniſchen Klugheit willen fürchteten. Es war gleichſam Oeſter - reichs Antwort auf jene grundlegende Denkſchrift Motz’s vom Juni 1829,*)ſ. o. III. 669 f. und wer die beiden Arbeiten vergleicht erkennt ſofort, warum der Wiener Hof die Herrſchaft in Deutſchland ſchließlich verlieren mußte.

Metternich ſchildert zunächſt die Entſtehungsgeſchichte des Zollvereins in einer Darſtellung, deren gehäufte grobe Schnitzer abermals lehren, mit welchem oberflächlichen Leichtſinn die Hofburg fünfzehn Jahre lang die Handelspolitik ihres Nebenbuhlers beobachtet hatte. Durch die Ver - träge mit Baiern-Württemberg iſt der preußiſche Handelsbund neuerdings zu einer Macht geworden. Für den Deutſchen Bund als ſolchen, ins - beſondere aber für Oeſterreich, iſt jener preußiſche Zollverein entſchieden eine höchſt nachtheilige und unheildrohende Erſcheinung. Er ſchadet unſerem Handel, weil Oeſterreich jetzt im Weſten und im Norden von einer Macht umklammert wird, welche mit unſerer Induſtrie concurrirt. Er ſchadet noch mehr der deutſchen Bundespolitik, denn der Grundcharakter des Bundes iſt Gleichheit der Rechte und Pflichten der Glieder deſſelben. Jede Präponderanz, jedes Vorrecht irgend einer Macht (als ſolche ſpricht ſich das lediglich formelle Präſidium Oeſterreichs am Bundestage keines - wegs aus) iſt dem Bundesvereine, wie ihn die Wiener Congreßakte ſchuf, gänzlich fremd. Heute aber entſteht ein kleinerer Nebenbund, in dem vollſten Sinne des Wortes ein status in statu. Von den ſiebzehn Stimmen des engeren Rathes in Frankfurt ſind nur noch ſieben völlig unabhängig von dem preußiſchen Vereine. Es läßt ſich nicht bezweifeln,385Metternich’s Denkſchrift über den Zollverein. daß die Beziehungen Oeſterreichs zu den anderen deutſchen Bundes - ſtaaten, bei wechſelſeitig allem Verkehr und Handel geſchloſſenem Gebiet und bei ſo künſtlichem Bemühen, dieſe materielle Abgeſchloſſenheit zur politiſchen und moraliſchen zugleich zu ſtempeln, auf die Länge erſchlaffen und ganz abreißen werden.

Der preußiſche Zollverein ſo fährt die Denkſchrift fort iſt unzweifelhaft ein wohlbewußt kräftiges Werkzeug in den Händen der Be - wegungspartei in Preußen, zur Beförderung der ſich wechſelſeitig bedingenden Umkehr in Preußen und in dem übrigen Deutſchland. Von dem Augenblick an, in welchem die Idee, den Plänen der preußiſchen Finanzmänner ent - ſprungen, in das Leben zu treten begann, bemerkten die Männer der Faction in dieſem Lande ſehr ſchnell den Vortheil, den ſie aus derſelben würden ziehen können. Die Partei hatte, im Falle der Verwirklichung ihrer Plane, ihr wahres Ziel erreicht: Preußen mit einer neu repräſentativen Verfaſſung an der Spitze des übrigen conſtitutionellen Deutſchlands. Der Zollverein hat daſelbſt in der neueren Zeit aufrichtige entſchiedene Anhänger und Beförderer hauptſächlich in den eigentlichen Männern der Bewegung ge - funden. Allerdings aber haben dieſe ihre Sache ſo geſchickt an die Stelle der Sache des Staates zu ſetzen und letztere auf ſo vielfache Weiſe in das neue Syſtem zu verweben gewußt, daß auch eine veränderte preußiſche Staatsverwaltung ſich jetzt ohne Compromiſſion nicht mehr herauszuwinden im Stande ſein und immer mehr oder weniger in der Nothwendigkeit bleiben würde, die Farben Preußens zur Verhüllung von Ideen herzugeben, die im Weſentlichen gegen den Gedanken des Bundes gerichtet ſind ... Das monarchiſche Intereſſe des preußiſchen Thrones vereinigt ſich mit jenem Oeſterreichs und des Deutſchen Bundes gegen ein ſo bedenkliches und unnatürliches Werk. Die Wahlverwandtſchaft zwiſchen der höchſt ge - fährlichen Lehre der deutſchen Einheit und dem Zollvereine, die ſchon im Jahre 1820 der beſorgte Marſchall ſeinem Gönner geſchildert, war mithin endlich auch dem Staatskanzler klar geworden. Und nunmehr, zum erſten mal nach fünfzehn Jahren, verfiel Metternich auf die Frage, ob nicht Oeſter - reich ſelbſt etwas thun könne zur Beförderung des deutſchen Verkehrs.

Doch wie läßt ſich helfen? Ein Recht einzuſchreiten beſitzt der Bund leider nicht. Ein offener Bruch mit Preußen liegt nicht in den Abſichten und nicht in der Politik Oeſterreichs . Alſo bleibt, da der mitteldeutſche Verein leider zerfallen iſt, nur übrig, jenen Art. 19 der Bundesakte, welcher Berathungen des Bundestags über die Handelsſachen verheißt endlich auszuführen! Nur in dem Einverſtändniß Aller liegt ein Mittel, die einſeitig-eigennützigen Pläne Einzelner zu paralyſiren. Klingt es nicht wie ein Märchen, daß der k. k. Staatskanzler in dem Augenblicke, da der Machtſtellung ſeines Staates eine furchtbare Gefahr drohte, nur auf den armſeligen Einfall kam, noch einmal jenes harmloſe Steckenpferd zu reiten, das die Staatsweiſen der Wiener Conferenzen ſchon dreizehnTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 25386IV. 6. Der Deutſche Zollverein.Jahre zuvor ſo lange getummelt hatten bis es zerbrach? Hannover, fährt Metternich fort, dieſe von einem vorzüglichen föderativen Geiſte beſeelte Regierung, hat bereits dem Bunde Anträge in dieſem Sinne geſtellt. Der Bundestag muß die Freiheit des Durchfuhrhandels be - ſchließen. Dies wird für Oeſterreich geringe Schwierigkeiten bieten, da mir der Hofkammerpräſident Klebelsberg verſichert hat, daß unſere Geſetze über den Tranſit ſehr liberal ſind. Ein durchſchlagender Erfolg gegen Preußen ſteht von einem ſolchen Beſchluſſe freilich nicht zu erwarten. Eine deſto eindringlichere Waffe zur Bekämpfung des preußiſchen Zoll - ſyſtems bietet der zweite hannöverſche Antrag auf Befreiung des Verkehrs zwiſchen den Bundesſtaaten. Wenn der Bundestag beſchlöſſe, daß in allen deutſchen Staaten die Einfuhr aus anderen Bundesſtaaten vor der Einfuhr des Auslandes begünſtigt würde, ſo wäre dem preußiſchen Zollſyſtem der empfindlichſte Stoß verſetzt. Dazu aber iſt nothwendig eine Ermäßigung des k. k. Mauthſyſtems bis zu dem Punkte, der uns in den Stand ſetze, mit den übrigen deutſchen Bundesſtaaten unter Anerbietung der Reciprocität über den Vollzug des Art. 19 in Verhandlung zu treten.

So wenig begriff man in Wien, worauf es ankam in unſern handels - politiſchen Kämpfen! Daß der ganze Werth des Zollvereins in der Auf - hebung der Binnenmauthen lag; daß der mitteldeutſche Verein eben darum untergegangen war, weil er dieſe Befreiung des deutſchen Marktes nicht wagte; daß der preußiſche Handelsbund nur überboten werden konnte durch den Plan eines noch größeren Zollvereins alle dieſe Wahrheiten, die bereits von dem kleinſten thüringiſchen Cabinette durchſchaut wurden, waren der öſterreichiſchen Staatsweisheit noch nicht aufgegangen. Die deutſchen Staaten, ſo hoffte Metternich, ſollten die unermeßlichen Vor - theile des freien vaterländiſchen Marktes dahingeben für die kümmerliche Ausſicht, daß ihre Landesprodukte an den Schlagbäumen von dreißig deutſchen Staaten milder behandelt würden als die Waaren des Auslands! Und ſelbſt dieſer ſchwächliche Gedanke des Staatskanzlers drang in Wien nicht durch, nicht weil man die Halbheit verworfen hätte, ſondern weil der Plan dem Stumpfſinne des Hofes noch allzu kühn erſchien. Präſident Krieg hatte eine Herabſetzung der Zölle nach Preußens Muſter vorge - ſchlagen, und ſeit dem Mai 1833 verweilte bereits der öſterreichiſche Geh. Rath Binder in Berlin, um wegen eines Handelsvertrages anzufragen. Kaiſer Franz aber hörte auf die Klagen ſeiner Fabrikanten, er fürchtete jeden lebhaften Verkehr mit dem verderbten Auslande und verabſcheute alle Neuerungen. Im Sommer 1834 entſchied er: Ermäßigungen des öſterreichiſchen Tarifs dürfen nur erfolgen als Gegenleiſtungen für Zu - geſtändniſſe des Zollvereins und dies in einer Zeit, da Oeſterreich mit ſeinem ſtarren Prohibitivſyſteme ſogar noch weniger als Frankreich im Stande war, mit Preußen Zug um Zug zu verhandeln. Der öſter - reichiſche Unterhändler verließ Berlin unverrichteter Dinge.

387Klage Hannovers gegen Kurheſſen.

Unfähig zum Schaffen war die Hofburg um ſo thätiger im Hetzen und Stören. Tagaus tagein brachten ihre Blätter Verdächtigungen gegen Preu - ßens Handelspolitik; das vielgetreue Haus Thurn und Taxis beförderte die Briefbeutel von Frankfurt nach der Schweiz durch das Elſaß, um Baden, den Schützling Preußens, zu ſchädigen und was der Armſeligkeit mehr iſt. Den Hauptſchlag aber führten die Welfen. Im Sommer 1832 erhoben Hannover, Braunſchweig, Oldenburg, Naſſau, Bremen und Frankfurt beim Bundestage eine Klage gegen Kurheſſen wegen Verletzung des mitteldeutſchen und des Eimbecker Vertrages; ſie forderten, daß der Zollverband mit Preußen aufgehoben und die kurheſſiſchen Durchfuhrzölle wieder auf den früheren Stand gebracht würden. Der Zeitpunkt war ſchlau gewählt. Grade in jenem Augenblicke hatte der Eigenſinn Moritz Mohl’s die Verhandlungen zwiſchen Preußen und Baiern-Württemberg dem Scheitern nahe gebracht; auch der Dresdener Hof ſpürte wieder eine Anwandlung ſeiner alten preußen - feindlichen Gelüſte, ließ am Bundestage tugendhaft erklären: kein Staat dürfe den zufälligen Vortheil der geographiſchen Lage mißbrauchen um den freien Verkehr der Nachbarn zu erſchweren. Zudem warnten und ſchürten die engliſchen Geſandten an allen kleinen Höfen. Noch niemals früher hatte die Verbindung von England und Hannover ſo ſchmachvolle Wirkungen gehabt. Wie die hannoverſche Regierung um Englands willen ſich weigerte ihre Bundespflichten in Luxemburg zu erfüllen, ſo bat ſie wieder den Londoner Hof um Beiſtand gegen Preußen, damit die dem britiſchen Handel ſo ſchädlichen Durchfuhrzölle zwiſchen Bremen und Frankfurt, Hamburg und Leipzig beſeitigt würden. Eine geheime hannoverſche Denk - ſchrift ſagte rund heraus: Eine ſolche Dazwiſchenkunft von Seiten Englands möchte um ſo räthlicher ſcheinen, als Hannover, ohne Englands Beiſtand und im Falle daß der beim Bundestag gemachte Antrag nicht angenommen würde, vielleicht nicht lange im Stande ſein dürfte dem großen Handels - übergewichte Preußens zu widerſtehen und vielleicht genöthigt werden möchte zum Nachtheil des englichen Handels ebenfalls das preußiſche Zollſyſtem anzunehmen. *)Hannöverſches Promemoria, den engliſchen Geſandten in Deutſchland und der Schweiz zur Inſtruktion zugegangen (durch Eichhorn an Lottum mitgetheilt, 14. Dec. 1832).So warnte eine deutſche Regierung die Briten vor der deutſchen Einheit. Lord Palmerſton aber ſäumte nicht, dieſe hannöverſche Denkſchrift ſeinen Geſandten in Deutſchland als Inſtruktion mitzutheilen.

Da der Buchſtabe des Rechts gegen Kurheſſen ſprach, ſo hielt Münch - Bellinghauſen durch Drohungen und Schmeicheleien für eine kurze Friſt eine Mehrheit zuſammen, die der hannöverſchen Klage günſtig war, und erntete Metternich’s warmes Lob für ſeinen heiligen Eifer. Ein wider - wärtiges Schauſpiel: die zweifelloſe Schuld des vertragsbrüchigen Be - klagten, und die nicht minder zweifelloſe Gleißnerei dieſer Kläger! Darin lag ja, ſeit das heilige Reich erſtarrt war, das häßlichſte ſittliche Leiden,25*388IV. 6. Der Deutſche Zollverein.die tiefe Unwahrheit unſerer Verfaſſung, daß ſie den deutſchen Staaten erlaubte, die heiligen Formen des Rechts zu mißbrauchen zur Entſcheidung der Intereſſenkämpfe der Politik. Wie einſt der Regensburger Reichstag die harten Machtfragen des ſiebenjährigen Krieges zu löſen ſuchte durch einen Criminalprozeß gegen den Reichsfriedensbrecher Friedrich, ſo dachten jetzt Hannover und ſeine mitteldeutſchen Genoſſen, durch das Urtheil eines Austrägalgerichts nicht ſowohl den Vertragsbruch Kurheſſens zu ſühnen, als vielmehr die werdende Handelseinheit zu hemmen.

Die kurheſſiſche Regierung vertheidigte ohne Geſchick ihre unglückliche Sache. Ihr Geſandter erklärte zwar ſehr richtig: der mitteldeutſche Handelsverein ſei niemals wirklich zu Stande gekommen; auch habe Kur - heſſen durch den Anſchluß an Preußen offenbar im Sinne des Art. 19 gehandelt, da jetzt freier Verkehr beſtehe von der franzöſiſchen bis zur ruſſiſchen Grenze. Doch ſchwächte er ſelbſt das Gewicht dieſer Gründe durch ſophiſtiſche Vorwände. Dann fiel er heftig gegen Hannover aus, er betheuerte: ſeine Regierung werde niemals ausländiſche Handelsintereſſen im Herzen von Deutſchland vertreten und erregte alſo den Zorn der Mehrheit, die ſich getroffen fühlte. Nachdrücklich nahm ſich Nagler des Heſſen an und wies nach, daß Austrägalgerichte nur über Rechtsfragen, nicht über ſtreitige Intereſſen entſcheiden könnten. Dieſelbe Anſicht war ſchon vor zwölf Jahren, während des Köthener Zollkrieges, von Preußen vertheidigt und ſeitdem, weil ſie den lebendigen Mächten der Geſchichte entſprach, auf allen deutſchen Kathedern von den Doktrinären des Bundes - rechts mit ſittlicher Entrüſtung gebrandmarkt worden. Außer den beiden Heſſen ſtand nur Baiern tapfer auf Preußens Seite. Während Hannover der Bundestreue des k. k. Präſidialhofes ſeine Huldigungen darbrachte, ließ König Ludwig in Frankfurt erklären: die preußiſche Regierung verdiene den Dank des Bundes, weil ſie durch ihre Zollverträge an der Erfüllung des Art. 19 ehrlich arbeite.

Nagler wünſchte die Entſcheidung hinauszuſchieben, damit unterdeſſen die Zollverträge in Berlin zu Stande kämen und die Klage von ſelbſt beſeitigt würde. Die öſterreichiſche Mehrheit aber ſtürmte vorwärts, ohne auch nur Inſtruktionen von daheim abzuwarten; denn die Bundesgeſandten fühlten ſich durch Preußens ſelbſtändiges Auftreten auch in ihrer Amtsehre gekränkt. Drei geſchworene Feinde der preußiſchen Handelspolitik, Oeſter - reich, Dänemark und Mecklenburg wurden mit der Berichterſtattung beauf - tragt. Auf ihren Vorſchlag beſchloß man ſodann, daß Oeſterreich, Däne - mark und Baden im Namen des Deutſchen Bundes gütlich vermitteln ſollten. Der Sühneverſuch blieb vergeblich, und ſofort, mit einer in Frankfurt unerhörten Eile, ward das Austrägalverfahren eingeleitet. Da Kurheſſen ſich weigerte, dem Kläger drei unparteiiſche Bundesſtaaten zur Auswahl vorzuſchlagen, ſo ging das Vorſchlagsrecht von Rechtswegen auf die Bundesverſammlung über. Die Mehrheit ließ dem Kläger die389Oeſterreich als Schiedsrichter.Wahl zwiſchen Oeſterreich, Baden und Schwerin. Hannover wählte, wie zu erwarten ſtand, das heilige Erzhaus, und die Akten wurden an das höchſte Tribunal zu Wien geſendet. Alſo Oeſterreich ein unparteiiſcher Richter in Sachen des mitteldeutſchen Handelsvereins, der unter Oeſter - reichs Fahnen ſich gebildet hatte! Ein Streit, der in ſeinen letzten Gründen doch hinauslief auf eine Machtfrage zwiſchen England, Oeſterreich und Preußen, ſollte nach den Grundſätzen des Civilprozeſſes entſchieden werden durch ein k. k. Civilgericht! Und der eigentliche Kläger, der mitteldeutſche Handelsverein, war im Frühjahr 1833, als die Akten nach Wien gingen, gar nicht mehr am Leben; der Abfall Sachſens und Thüringens hatte auch die letzten Steine aus dem morſchen Bau des Sonderbundes heraus - gebrochen. Kläglicher konnte die Verlogenheit der deutſchen Verfaſſung nicht offenbar werden.

Die preußiſche Regierung war mit dem Jammer der Austrägalgerichte nur allzuwohl vertraut; verwickelt in zahlloſe nachbarliche Händel, hatte ſie damals fünf ſolcher Prozeſſe zugleich ſchweben ein Schickſal, vor dem der öſterreichiſche Staat ſchon darum bewahrt blieb, weil er kein deutſcher Staat war. Preußen verſuchte nunmehr das hannöverſche Cabinet von der Verfolgung des aberwitzigen Rechtsſtreites abzubringen. Auch den anderen Bundesſtaaten, die inzwiſchen in Berlin abgeſchloſſen hatten, begann der Unſinn dieſes Prozeſſes einzuleuchten. Thüringen, Württemberg, Sachſen änderten ihre Anſicht; ingrimmig ſchrieb Metternich: wenn heute noch einmal in Frankfurt abgeſtimmt würde, ſo blieben wir in der Minderheit! Der badiſche Hof ſchwankte lange zwiſchen der großen Sache deutſcher Handelseinheit und dem formalen Rechte, das hier das ſchwerſte Unrecht war; endlich trat er auf Preußens Seite. Nun verſprach Kurheſſen, im Einverſtändniß mit Preußen, ſeine Durchfuhrzölle herabzuſetzen; der wich - tigſte Grund der Klage fiel dahin. Oeſterreich aber bedurfte der preußiſchen Hilfe für die neuen Wiener Conferenzen; der Staatskanzler hielt nicht für gerathen den norddeutſchen Nebenbuhler noch mehr zu reizen. So iſt dieſer frivole Rechtshandel in den Akten des höchſten öſterreichiſchen Ge - richtshofes begraben worden; der Verſuch, die Frage der deutſchen Zukunft durch das Urtheil eines k. k. Gerichts zu entſcheiden, war jämmerlich ge - ſcheitert.

Gleichzeitig mit jener Klage gegen Kurheſſen ſtellte Hannover am Bundestage einen Antrag, der unzweideutig bewies, daß die Welfenkrone nicht die Wahrung ihrer Vertragsrechte, ſondern den Zollkrieg gegen Preußen beabſichtigte. Der unſterbliche Art. 19 ſollte endlich von Bundes - wegen ausgeführt werden. Bis die vollkommene Handelsfreiheit möglich ſei, beantragte Hannover die Erleichterung des Tranſits, einen nach Ge - wicht und Entfernung abgeſtuften Tarif mit einem Maximum von 30 Xr. für die Durchfuhrzölle; denn die durch den Wiener Congreß ausgeſprochene Freiheit der Flüſſe gelte auch für die Landſtraßen. Außerdem wurden390IV. 6. Der Deutſche Zollverein.erleichterter Verkehr mit deutſchen Produkten und gemeinſame Maßregeln gegen den Schmuggel gefordert. Die Abſicht dieſer mit den üblichen wohllautenden Freiheitsphraſen ausgeſtatteten Vorſchläge ſprang in die Augen: die Handelspolitik des mitteldeutſchen Vereins, der Kampf gegen Preußens Tranſitzölle, ſollte, nachdem der Sonderbund ſelbſt zerfallen, durch den Deutſchen Bund wieder aufgenommen, den engliſchen Waaren die freie Einfuhr nach dem Stapelplatze Frankfurt durch einen Bundes - beſchluß geſichert werden. Darum die ſophiſtiſche Behauptung, daß mit der Freiheit der Flüſſe auch die Freiheit der Landſtraßen gegeben ſei eine in Hannovers Munde ſchlechthin ſchamloſe Erklärung. Denn wer hinderte doch die Freiheit der Elbſchifffahrt? Die Welfenkrone durch ihre Seezölle bei Stade! Darum die von gröbſter Unwiſſenheit zeugende Verſicherung, daß der Bund einzelne Stücke aus dem deutſchen Zollſyſtem herausreißen, die Durchfuhrzölle und die Beſteuerung deutſcher Produkte neu ordnen könne, ohne das übrige Zollweſen zu berühren.

Münch-Bellinghauſen bemächtigte ſich ſofort mit Eifer des Antrags. Unter vier Augen geſtand er unverhohlen, daß der Vorſchlag Hannovers lediglich ein Schachzug ſei gegen den Deutſchen Zollverein. Wir dürfen, ſagte er zu Blittersdorff, nicht ruhig zuſehen, daß einzelne Bundesſtaaten ſolche Einrichtungen treffen, daß den übrigen Bundesſtaaten nichts übrig bleibt, als ſich nach und nach zu Grunde richten zu laſſen oder aber ſich auf Koſten ihrer Unabhängigkeit und Selbſtſtändigkeit dem Geſetze des Stärkeren zu unterwerfen. *)Blittersdorff’s Bericht 18. Decbr. 1832.

Preußen ſtand anfangs faſt allein, wie einſt auf den Wiener Miniſter - conferenzen. Die Hoffnung auf den Untergang der läſtigen preußiſchen Durchfuhrzölle trieb ſelbſt den ſächſiſchen Hof in das öſterreichiſche Lager. Um die oberdeutſchen Könige zu gewinnen, hatte Hannover vorgeſchlagen, der Bund ſolle die Durchfuhrzölle nach den Grundſätzen des bairiſch - württembergiſchen Tarifs ordnen. Dieſe Lockung und das Zureden des raſtloſen hannöverſchen Geſandten Stralenheim ſtimmte auch die Höfe von Stuttgart und München günſtig für den welfiſchen Antrag. Der Hamburger Senat, der bisher gegen die Umtriebe des mitteldeutſchen Vereins eine verſtändige Zurückhaltung gezeigt, fiel jetzt ganz aus der Rolle, erwies in langer Denkſchrift, daß der deutſche Verkehr den Inter - eſſen des hanſeatiſchen Durchfuhrhandels von Rechtswegen ſich fügen müſſe. Ganz umſonſt hatte der gelehrte Böhmer ſein flammendes Buch gegen den Reichsfriedensbrecher Preußen doch nicht geſchrieben. Offenbar belehrt durch Böhmer’s hiſtoriſche Forſchungen, beriefen ſich die Ham - burger Kaufherren auf die Goldene Bulle: ſo lange zwei Bundesſtaaten durch die Zolllinien eines dazwiſchenliegenden Bundesſtaats getrennt ſind, haben ſie das Recht auf völlig ungehinderte Handelsverbindung; dies391Hannovers Antrag auf Bundeszölle.Recht iſt durch den Bundestag zu ſchützen. Elbe und Weſer, dieſe beiden einzigen rein-deutſchen Welthandelswege, werden nur dann wahrhaft frei im Sinne der Wiener Congreßacte, wenn auch die Landſtraßen in ihrem Stromgebiete aller Durchfuhrzölle entlaſtet ſind. Deßhalb müſſen die Tranſitzölle auf den Stand von 1815 zurückgeführt werden. Und dieſe leeren Redensarten dreiſter Kaufmannsliſt, die offenbar nur den Zweck hatten, den Durchzug der engliſchen Waaren zwiſchen Hamburg und Frankfurt ſicherzuſtellen und das deutſche Binnenland einem großartigen Schmuggel preiszugeben ſie wurden noch fünfzehn Jahre ſpäter von einem unſerer geiſtvollſten Publiciſten, dem Schwaben C. F. Wurm (in ſeinem bekannten Commiſſionsbericht über die Aufgabe der Hanſeſtädte 1847) alles Ernſtes vertheidigt!

Feſt und ſicher, wie einſt Bernſtorff in Wien, trat jetzt Nagler in Frankfurt der bundespatriotiſchen Heuchelei entgegen; er zeigte abermals, daß der Bund dieſe Sache nicht fördern könne, denn am Bundestage ſeien auch ſolche Staaten vertreten, welche an einer wirklichen Zolleinigung nicht theilnehmen wollten. *)Eichhorn, Denkſchrift über den Art. 19 der Bundesakte, 25. Oct. 1832.Das Berliner Cabinet verwies ſtolz auf ſeine Erfolge: alle anderen Verſuche ſind fehlgeſchlagen, und nur dieſem Fehl - ſchlagen iſt es zuzuſchreiben, daß Hannover ſich jetzt wieder an den Bun - destag wendet. Was wäre denn erreicht durch die Ermäßigung der Durch - fuhrzölle? Keine einzige deutſche Zollſchranke fiele hinweg; in unſerem Zollvereine aber ſind die Durchfuhrzölle für die Verbündeten nicht blos ermäßigt, ſondern beſeitigt. Auch Kurheſſen verwahrte ſich gegen un - fruchtbare halbe Maßregeln: nur die Verſchmelzung der Zollſyſteme kann helfen, dann wird kein Demagog das biedere deutſche Volk zu verführen im Stande ſein. Eine neue preußiſche Denkſchrift widerlegte alsdann die Behauptungen des Hamburger Senats. Sie erwies, wie untrennbar Durchfuhr - und Einfuhrzölle zuſammenhingen: und ſage man doch nicht, daß Hamburgs Vorſchläge nicht dem Auslande zu Gute kommen ſollen! Von den hanſeatiſchen Waaren, die Hamburg zollfrei ins Binnenland zu führen denkt, würden neun Zehntel ausländiſchen Urſprungs ſein.

Faſt alle Bundesgeſandten, ſo verſichern Blittersdorff’s Berichte, ver - nahmen dieſe bundesfeindlichen Erklärungen mit höchſter Entrüſtung. Münch klagte: Preußen vertheidigt heute dieſelben Grundſätze der Revo - lution, die es in der höheren Politik gemeinſam mit Oeſterreich bekämpft. Die Bundesgeſetze werden nicht mehr nach dem Rechte und dem Geiſte des Bundesſyſtems, ſondern nach adminiſtrativen und finanziellen Rück - ſichten ausgelegt. Metternich verdammte in einem Briefe an Münch mit ſcharfen Worten die an Narrheit grenzende Erklärung des Herrn v. Nagler . **)Blittersdorff’s Bericht, 11. Febr. 1833.Doch die preußiſche Narrheit behauptete das Feld. Die392IV. 6. Der Deutſche Zollverein.Zollvereinsverträge wurden abgeſchloſſen, und da ſie alleſammt die bundes - treue Clauſel enthielten, daß der Zollverein ſich auflöſen würde, ſobald der Art. 19 ins Leben träte, ſo konnte der Bundestag der vollendeten Thatſache nicht einmal mit den Künſten rabuliſtiſcher Silbenſtecherei zu Leibe gehen. Preußen war fortan der Mehrheit ſicher; Münch wagte nicht mehr die hannöverſchen Anträge zur Abſtimmung zu bringen. Der Streit ſchlief ein; der Bundestag hatte abermals ſeine unheilbare Ohn - macht bekundet.

Gleichwohl verſuchte der unverſöhnliche Welfenhof während der Wiener Conferenzen von 1834 noch einmal, auf dem traurigen Art. 19 herauszu - ſprengen gegen den Zollverein. Und wieder hielten die Hanſeſtädte zu den Welfen. Kein ſchlechterer Mann als der Bremer Smidt war der Verfaſſer einer Denkſchrift, welche der hannöverſche Miniſter Ompteda den Conferenzen überreichte. Die alten, ſoeben am Bundestage glücklich beſeitigten Thor - heiten in neuer Faſſung! Ein dem Bunde fremder Organismus hat ſich der Handelsfrage bemächtigt und erregt im Volke ſchon mehr Theilnahme als der Bund ſelber! Darum muß ſchleunigſt ein permanenter Ausſchuß am Bundestage errichtet werden zur Herſtellung des Rechtszuſtandes und zur Beförderung des Verkehrs, insbeſondere des Durchfuhrhandels. Doch jetzt, da der große Zollverein bereits ins Leben getreten war, wollten die alten Locktöne nicht mehr verfangen. Die Verſammlung blieb kalt, nur Oeſter - reich und Mecklenburg unterſtützten die welfiſch-hanſeatiſchen Träumereien. Selbſt der glatte Ancillon faßte ſich ein Herz und erklärte jede handels - politiſche Thätigkeit des Bundestages für hoffnungslos. Noch ſchärfer und kräftiger widerſprach der Vertreter Baierns, der geiſtreiche Mieg, der inzwiſchen die Gnade ſeines launiſchen königlichen Herrn wiedergefunden hatte. Um die Welfen nicht durch ein rundes Nein zu kränken, beſchloß man endlich: die Bundesgeſandten ſollen mit Inſtruktionen verſehen werden, damit der Bundestag einen Ausſchuß bilden und ſich mit der Handelsſache beſchäftigen könne. Faſt genau derſelbe Beſchluß war vier - zehn Jahre zuvor auf den erſten Wiener Conferenzen, unter dem ſchallen - den Gelächter der Verſammlung, gefaßt worden. *)ſ. o. III. 37.So irrte die deutſche Diplomatie unter Metternich’s umſichtiger Führung im Kreiſe umher. Der gequälte Geiſt des Art. 19 fand nunmehr endlich den Frieden des Grabes.

Die Welfenkrone blieb unbelehrt. Sie ſchloß noch im ſelben Jahre (1. Mai 1834) mit Braunſchweig den Steuerverein, dem nachher auch Oldenburg und Bückeburg beitraten. Es war das letzte Trümmerſtück des geſprengten Mitteldeutſchen Sonderbundes, aber an Feindſeligkeiten ließ ſich jetzt nicht mehr denken. Vielmehr bildete ſich bald ein freund - nachbarliches Verhältniß zwiſchen den beiden Vereinen. Sie unterſtützten393Der hannöverſche Steuerverein.einander durch ein Zoll-Cartell und gegenſeitige Ueberweiſung von En - claven. Der Steuerverein verband wie der große Zollverein ſeine Mit - glieder zu vollſtändiger Zollgemeinſchaft und vertheilte wie dieſer die Ein - künfte nach der Kopfzahl. Sehr niedrige Finanzzölle ſollten den Engländern und den Hanſeaten die Einfuhr erleichtern, dem wohlhabenden Landvolk wohlfeilen Kaffee und Rothwein verſchaffen. Darum ward der Steuer - verein von dem hannöverſchen Landtage ebenſo lebhaft geprieſen, wie der große Zollverein von den ſüddeutſchen Liberalen bekämpft wurde. Dieſe deutſchen Großbritannier betrachteten es als ein Zeichen überlegener Ge - ſittung, daß bei ihnen der Centner Seidenwaren faſt um 98, der Wein um 5, der Zucker um 7 Thaler niedriger verzollt wurde als im Zollvereine; und die öffentliche Meinung des Binnenlandes, geneigt wie ſie war den Staat als einen heiſchenden Feind zu betrachten, fand dies Selbſtgefühl anfangs ganz begreiflich. War doch der Ertrag der Finanzzölle ſehr beträchtlich, 1 Thaler auf den Kopf, um ein Fünftel höher als im Zoll - vereine. Erſt nach und nach begann man zu bemerken, daß dieſer Sonder - bund zum Beſten Englands und der Hanſeaten die Induſtrie des eigenen Landes künſtlich darniederhielt, und die Volkswirthſchaft in den benach - barten Gebieten des Zollvereins weit raſcher als in Hannover aufblühte. Die Staatsmänner Oeſterreichs aber ſanken nach ſo kläglichen Niederlagen bald wieder in die alte holde Selbſttäuſchung zurück. Der große Zollverein war kaum jährig, da ſagte Münch ſchon ſchadenfroh zu Blittersdorff: der Beitritt ſo vieler Staaten wird die Sonderintereſſen verſtärken und bald die Auflöſung des Vereins herbeiführen! *)Blittersdorff’s Bericht, 22. Jan. 1835.

Als der Bundespräſidialgeſandte dieſe patriotiſche Hoffnung ausſprach, hatte der jugendliche Handelsbund freilich ſchon durch unzweideutige Zeichen ſeine Lebenskraft bekundet; er ſtand im Begriff, auch die letzten Klein - ſtaaten Süd - und Mitteldeutſchlands zu erobern. Baden, der mit Preußen ſo nahe befreundete Staat, war noch immer nicht dem Zollvereine beige - treten ein ſchlagender Beweis für die ungeheure Schwierigkeit dieſer verwickelten Unterhandlungen. Zweimal, in den Jahren 1829 und 1830 / 31, hatte Preußen verſucht, eine handelspolitiſche Verſtändigung zwiſchen Baden und den oberdeutſchen Königen herbeizuführen. Immer war der unglückliche Sponheimer Handel dazwiſchen getreten zum ſchweren Verdruß König Friedrich Wilhelm’s, der es als Ehrenpflicht betrachtete gutes Einvernehmen unter den deutſchen Staaten herzuſtellen. Der Karlsruher Hof war, trotz ſeiner dankbaren Ergebenheit gegen Preu - ßen, noch keineswegs ernſtlich geſonnen, zum Beſten der deutſchen Handels -394IV. 6. Der Deutſche Zollverein.einheit eine unbequeme Aenderung des Beſtehenden zu wagen. Er be - folgte noch den alten Grundſatz Berſtett’s: Unſere Maxime iſt, daß wir zwar gegen größere Mächte gern Deferenz haben und ihre Präponderanz anerkennen, daß wir ſie aber als großmüthig denken, welche den kleineren gern Vortheile gönnen, eben weil ſie kleine Staaten ſind und deren be - dürfen. *)Berſtett, Weiſung an Frankenberg, Dec. 1826.Die Regierung blickte mit Stolz auf ihr Freihandelsſyſtem , auf ihre wichtige europäiſche Stellung zwiſchen Deutſchland, Frankreich und der Schweiz. Die Zölle ertrugen 13¼ Sgr. auf den Kopf der Be - völkerung weit weniger als in Preußen, doch immerhin genug, um den Wunſch nach Neuerungen nicht allzu laut werden zu laſſen. Die materiellen Nachtheile des ſchwunghaften badiſchen Schmuggelhandels fielen allein auf die Nachbarſtaaten; für den ſchweren ſittlichen Schaden, der das eigene Land traf, hatte weder die Regierung noch das Volk ein Ver - ſtändniß. Sprach doch ſogar Nebenius in ſeiner Schrift über Badens Beitritt vornehm von oben herab, als ob Baden ſelbſt von dem Zoll - vereine wenig gewänne und nur um Deutſchlands willen einträte.

Daher zeigte die badiſche Regierung anfangs geringe Neigung aus ihrer vereinſamten Stellung herauszutreten. Erſt als Baiern und Würt - temberg ſich entſchloſſen hatten, die vollſtändige Vereinigung mit Preußen zu beantragen, wurde man in Karlsruhe beſorgt und fand es gerathen den gleichen Antrag in Berlin zu ſtellen (Mai 1832), weil die ſpäter ein - tretenden Staaten ungünſtigere Bedingungen erhalten würden . **)Gutachten des bad. Min. d. a. A., 3. Mai 1832.Preu - ßen aber, vollauf beſchäftigt mit Baiern, Württemberg, Sachſen und Thüringen, wollte für jetzt die badiſche Frage nicht berühren, die unfehlbar den Zorn des Wittelsbachers aufs Neue erwecken mußte. Alſo blieb der Karlsruher Hof wieder unthätig. Er hat ſich dann noch eine Weile mit der Hoffnung getragen, der Antrag Hannovers am Bundestage könne vielleicht einen neuen Weg eröffnen und dem kleinen Lande die Aufhebung ſeines Freihandelsſyſtems erſparen. Da dieſe Erwartung trog, begann man endlich einzuſehen, daß Baden keine Wahl mehr habe. Aber die aus - geſprochene Abneigung des Volks gebot dem Hofe Vorſicht; er hielt für nöthig zuvörderſt eine Verſammlung badiſcher Volkswirthe zu berufen. Der Finanzminiſter Böckh verhandelte mit dieſen Notabeln im Winter 1833 / 34, ohne eine Einigung zu erzielen; die Landwirthe und Kaufleute widerſprachen entſchieden dem Anſchluß, ſogar von den Fabrikanten war nur ein Theil dafür.

Die preußiſchen Staatsmänner andererſeits empfanden jetzt zum erſten male ſchwer die Feſſeln des gerühmten Föderalismus , ſie ſahen ihre diplomatiſche Action überall gehemmt durch die kleinen Verbündeten. Eichhorn ſelbſt geſtand dem Karlsruher Hofe: Baiern und Württemberg395Neue Verhandlungen mit Baden.hegen ein unüberwindliches Mißtrauen gegen Baden wegen des organi - ſirten und amtlich begünſtigten Schmuggels. *)Eichhorn, Weiſung an Otterſtedt, 7. Sept. 1833.Der Stuttgarter Hof vornehmlich zeigte ſich unwirſch. König Wilhelm fragte befremdet, warum denn dieſer Staat, der in Württembergs Machtſphäre liege, zuerſt in Berlin, ſtatt in Stuttgart angeklopft habe? noch ſei keineswegs ſicher, ob Württemberg ſich herablaſſen werde, auf Badens Bitte um Zulaſſung einzugehen. Der ſchwäbiſche Schreiberſtand, übel berufen unter den Zoll - vereinsgenoſſen wegen ſeiner pedantiſchen Formenſeligkeit, war allen Neue - rungen abhold. Er hatte bisher eine lange Zollgrenze ſelbſtändig bewacht; trat Baiern bei, ſo wurde Schwaben zu einem Binnenlande , gerieth in ſchmachvolle Abhängigkeit den Verbündeten gegenüber. Und wer ſollte die Penſionen bezahlen für die württembergiſchen Zollbeamten auf dem Schwarzwalde, die nun überflüſſig wurden? Zudem war der alte Zank wegen der Neckarſchifffahrt wieder entbrannt. Baden forderte einen Neckar - zoll von 5 bis 6 Xr., Württemberg und Darmſtadt wollten nur 4 Xr. zugeſtehen; der Stuttgarter Hof hatte ſich bereits klagend an den Bund gewendet. Schaudernd erzählte ſich die deutſche Diplomatie von dieſer Kreuzerfrage ; Moritz Mohl der Unverwüſtliche verfaßte eine Denkſchrift darüber, zweitauſend Aktenſeiten lang. Der württembergiſche Geſandte in Karlsruhe, der bekannte Bonapartiſt General Bismarck, verſchärfte die Feindſchaft der beiden Höfe noch durch Ränke und Klatſchereien. Auch der franzöſiſche Geſandte Graf Mornay verſuchte wieder Unheil zu ſtiften. Freundlichere Geſinnung erwies der bairiſche Hof, zumal ſeit Preußen erklärt hatte: der Sponheimer Handel ſoll diesmal aus dem Spiele bleiben, eine Verſtändigung darüber wird leichter erfolgen, wenn Baiern und Baden eine Zeit lang als Zollvereinsgenoſſen gute Freundſchaft ge - halten haben. Doch beſtand auch in München lebhafte Eiferſucht gegen Preußens ausgreifenden Ehrgeiz. Miniſter Giſe betheuerte dem badiſchen Geſchäftsträger Röntgen vertraulich: Die Rechtlichkeit des preußiſchen Gouvernements wird allgemein anerkannt. Es iſt aber meine Pflicht die neu eintretenden Staaten zu warnen vor der Gefahr drückender Ab - hängigkeit. Preußens geheime Tendenzen laſſen ſich nicht mehr verkennen. Baiern wird ihnen überall entgegentreten, wird ein feſtes Zuſammen - ſtehen aller Vereinsſtaaten gegen Preußen zu bewirken ſuchen und hofft, daß auch Baden erkennen wird, wie vollſtändig ſeine Intereſſen mit denen Baierns und Württembergs zuſammenfallen. **)Röntgen’s Berichte, 23. April, 10. Mai 1834.

In ſolchem Gewirr von Zänkereien und mißtrauiſchen Hintergedanken war die höchſte Offenheit die höchſte Klugheit. Auf Badens erneuerte Anfrage ließ König Friedrich Wilhelm um Neujahr 1834 antworten: wir werden nicht, wie Baden wünſcht, einen preußiſchen Finanzbeamten nach396IV. 6. Der Deutſche Zollverein.Karlsruhe ſenden; das würde den Argwohn der ſüddeutſchen Kronen er - regen; der Karlsruher Hof thäte wohl ſich zunächſt mit Hofmann in Darmſtadt, einer der kräftigſten Stützen des Vereins, vertraulich zu be - ſprechen; alsdann können die eigentlichen Verhandlungen beginnen, aber nur in Berlin und nur durch hochgeſtellte Staatsmänner, nicht durch Subalterne. *)Frankenberg’s Bericht, 1. Jan. 1834.Dann ließ der König die ſämmtlichen den Geſandtſchaften in den Zollvereinsſtaaten zugegangenen Inſtructionen dem Vertreter Badens vorlegen, und Frankenberg fand ſie alle in dem Geiſte der Correctheit und Offenheit, welcher das preußiſche Cabinet charakteriſirt, abgefaßt.

Endlich im Sommer 1834 kam Böckh nach Berlin. Die Confe - renzen währten den Juni und Juli hindurch, ſie ſtießen aber auf ſo mannichfache Schwierigkeiten, daß noch bis zum Jahresſchluſſe zwiſchen den Cabinetten verhandelt werden mußte. Der Karlsruher Hof lebte in dem Wahne, der Zollverein werde um Badens willen eine bedeutende Herabſetzung ſeines Tarifes zugeſtehen; es währte lange, bis man von ſolcher Ueberhebung zurückkam. Dann wieder der Streit um die Neckar - zölle. Noch im December ließ der König den Großherzog dringend um einige Nachgiebigkeit bitten: Preußen hat nur das alleinige aber höchſt wichtige Intereſſe, ein reines Verhältniß zwiſchen den deutſchen Regierungen hergeſtellt und allen Stoff zum Hader und Streit entfernt zu ſehen. Schließlich mußte man doch dieſe Streitfrage aus den Verhandlungen aus - ſcheiden, die Löſung auf beſſere Zeiten vertagen. Die größte Schwierig - keit lag in der ſchmalen langgeſtreckten Geſtalt des badiſchen Landes. Führte man hier die Zollvereinsgeſetze in voller Strenge ein, ſo wurde faſt das geſammte Staatsgebiet zum Grenzbezirke. Baden verlangte daher, daß an der leicht zu bewachenden Rheingrenze der Grenzbezirk nur die Breite einer Wegſtunde haben ſollte; ſonſt würde der größte Theil des Landesverkehrs den läſtigen Beſchränkungen der Grenzcontrole unter - liegen. Sofort forderte Sachſen die gleiche Vergünſtigung für ſeine erz - gebirgiſchen Grenzen. Erſt am 12. Mai 1835 kam der Vertrag zu Stande. Baden erhielt einen ſchmalen Grenzbezirk, und in der zwölften Stunde hatte Eichhorn der widerſtrebenden Finanzpartei noch ein letztes Zuge - ſtändniß entrungen: die badiſchen Tabaksbauer ſollten eine Rückvergütung empfangen für die nach der Schweiz ausgeführten Tabaksblätter. Da die Nachverſteuerung in Sachſen und Thüringen ſchlechte Ergebniſſe ge - bracht hatte, ſo beſchloß man diesmal die Kaufleute zu überraſchen. Schon in der Nacht vom 17. zum 18. Mai wurden die neuen Zölle an den badiſchen Grenzämtern eingeführt, während das Volk von dem Berliner Vertrage noch kaum wußte; die Regierung verſprach den Erſatz der Zah - lungen, falls der Landtag den Vertrag nicht billige.

Dieſer entſchloſſene Schritt brachte nicht nur den Zollvereinskaſſen397Badens Beitritt.reichen Gewinn, er ſicherte auch die Genehmigung des Vertrags. Nur die Macht vollendeter Thatſachen konnte den Widerſtand der Liberalen entwaffnen. Rotteck donnerte wider dieſe Bewirthſchaftung der Nation; der Strudel des Zollvereins wird uns Alle in den Abgrund des Abſo - lutismus reißen! Ein anderer Redner der Oppoſition warnte vor - ſorglich: die preußiſchen Thaler würden das Ländle überſchwemmen, worauf die Miniſterbank entgegnete: man könne nur wünſchen, daß dieſe Ueber - ſchwemmung recht reichlich ausfalle. Die Regierung war in beſchämen - der Verlegenheit; ſie mußte jetzt ſelbſt den ſo oft vertheidigten badiſchen Freihandel öffentlich verdammen als eine ſyſtematiſche Begünſtigung des Schmuggels. Freieren Blick als der Liberalismus zeigte die Ariſtokratie der erſten Kammer; Fürſt Löwenſtein-Wertheim pries die edle Selbſt - verleugnung Preußens und das große nationale Werk, das der preußiſchen Regierung zum unverwelklichen Ruhm gereicht. Außer Nebenius traten noch zwei andere geſchulte Volkswirthe für den Anſchluß auf: der be - rühmte Heidelberger Profeſſor Rau und deſſen Schüler Karl Mathy, ein bekehrter Gegner der preußiſchen Handelspolitik, der hier wieder die Tiefe und Selbſtändigkeit ſeines Urtheils bewährte und ſich ſogar unterſtand, die Gewerbefreiheit Preußens dem badiſchen Liberalismus als ein Muſter vorzuhalten. Der vorſichtige Ton der Flugſchrift Mathy’s beweiſt genug - ſam, wie ſchwer es noch hielt, den Vorurtheilen der liberalen Welt zu widerſprechen. Mit ſchwacher Mehrheit genehmigten die Kammern den Vertrag; und nun ſtimmten auch die anderen Zollverbündeten zu, nach - dem Preußen erſt noch durch eine ſcharfe Note den widerſprechenden kur - heſſiſchen Landtags-Ausſchuß zum Schweigen gebracht hatte. Darauf abermals reichliche Ordensſpenden und zuletzt noch ein gereizter Schrift - wechſel zwiſchen Caſſel und Karlsruhe. Die kurheſſiſchen Beamten fühlten ſich beleidigt, weil die ihnen zugeſendeten Zähringer Löwenorden kein Eichenlaub trugen. Auch dieſes Gewölk verzog ſich; es ſtellte ſich heraus, daß jener Löwe damals noch in den Jahren unreifer Jugend ſtand und noch kein Eichenlaub in ſeinem Vermögen hatte.

Bald nach dem Beitritt dieſes befreundeten Staates mußte einer der boshafteſten Gegner, der Naſſauer Hof, ſeinen Frieden mit Preußen ſchließen, doch erſt nachdem er zuvor ein unvergeßliches Probeſtück ehrloſer Geſinnung abgelegt hatte. Selbſt in Wien erregte die Kunde von Preu - ßens Erfolgen kaum eine ſo wilde Entrüſtung, wie in Biebrich. Marſchall tobte und polterte. Niemals wird Naſſau einem fremden Zollſyſtem ſich anſchließen, ſchrieb er dem Geſandten Fabricius. Wir ſind für die Cen - traliſation, wo es ſich handelt um die Erhaltung der Ruhe; doch in Zoll - und Handelsſachen verwerfen wir die Centraliſation, weil ſie hier ſich nicht verträgt mit der Souveränität. Darum haben wir alle hierauf ge - richteten Anträge zurückgewieſen; andere Regierungen, die im Sinne der revolutionären Partei ihre Souveränität gegen den Bundestag ſtreng be -398IV. 6. Der Deutſche Zollverein.haupteten, ſind leider auf ſolche Lockungen eingegangen. *)Marſchall an Fabricius, 25. Sept. 1833.Der Prahler log mit Bewußtſein; er wußte wohl, daß Preußen weder in Naſſau noch an irgend einem anderen Hofe Anträge geſtellt hatte. Dabei ward die Lage von Tag zu Tag unhaltbarer. Das Ländchen war jetzt rings von Zollvereinsgebiet umſchloſſen; die Verwilderung des Volkes durch den frechen Schmuggel begann in Biebrich Beſorgniſſe zu erregen. Marſchall ſagte oft ſtolz: Die Stellung an dem freien Rhein verbürge dem Naſſauer Reiche ſeine handelspolitiſche Unabhängigkeit für ewige Zeiten. Auch dies war eine bewußte Lüge. Denn allein Preußens Langmuth geſtattete dem Naſſauer Despoten noch eine ſelbſtändige Handelspolitik; ſobald Preußen wollte, konnte das Enclavenſyſtem auf Naſſau angewendet und der Bieb - richer Hof in dieſelbe Nothlage verſetzt werden wie einſt der Köthener.

Wie ließ ſich der unvermeidlichen Unterwerfung ausweichen? Offen - bar nur durch Anlehnung an das Ausland, an den altbewährten treuen Beſchützer der Kleinſtaaterei. Seit Jahren wiederholte Graf Fenelon die Verſicherung, Frankreich ſei bereit die günſtigſten Handelsverträge mit den Kleinſtaaten zu ſchließen, wenn ſie nur dem preußiſchen Handelsbunde fern bleiben wollten. Der Herzog war freilich ſtrenger Legitimiſt, wollte nichts hören von einer Verbindung mit dem Bürgerkönige. Da kam eine Verlegenheit ſeiner Domänenkaſſe den Lockrufen des franzöſiſchen Ge - ſandten zu Hilfe. Unter den Einnahmen des Domaniums, deſſen In - tereſſen die Handelspolitik Naſſaus allein beſtimmten, ſtand obenan der Ertrag der Mineralwaſſer; die Naſſauer Staatsgelehrten ſprachen ſogar von einem Waſſerregale, kraft deſſen dieſe koſtbaren Quellen von Rechts - wegen dem Landesherrn gehören ſollten. Nun hatte Frankreich vor einigen Jahren den Zoll auf fremde Mineralwaſſer erhöht, die herzoglichen Brunnen ſchwer geſchädigt. Doch Marſchall war nicht umſonſt der Freund Rothſchild’s; er verfiel auf den ſchlauen kaufmänniſchen Gedanken, ob Naſſau nicht von Frankreich die Herabſetzung dieſes Zolls erbitten und dafür verſprechen ſollte, einige Jahre lang jedem Zollvereine fern zu bleiben. Vor der angenehmen Ausſicht auf erhöhte Einnahmen mußte der Widerſpruch des legitimiſtiſchen Herzogs verſtummen; der Miniſter aber erhielt einen feſten Rückhalt im Kampfe gegen Preußen, er konnte, auf die Vertragspflicht gegen Frankreich verweiſend, den Anſchluß an den Zollverein noch jahrelang hinausſchieben.

Im Sommer 1833 verhandelte Geh. Rath Fabricius in Paris wegen dieſes Planes. Am 19. Sept. kam der franzöſiſch-naſſauiſche Handels - vertrag zu Stande, der ſchmutzigſte unter allen Verträgen der Zollvereins - geſchichte und darum auch ſtreng geheim gehalten; erſt im Jahre 1866 hat Karl Braun das Actenſtück veröffentlicht. Der Wortlaut klang harmlos, wie üblich bei Gaunergeſchäften. Frankreich verſprach Begünſtigung der399Frankreich und Naſſau gegen Preußen.naſſauiſchen Mineralwaſſer, Naſſau verpflichtete ſich, den Zoll auf fran - zöſiſche Weine und Seidenwaaren in den nächſten fünf Jahren nicht zu erhöhen. Alſo wurde der ſchmähliche Zweck des Vertrags durch eine vor - ſichtige Umſchreibung verhüllt. Die Herabſetzung der beiden naſſauiſchen Tarifſätze war ein leerer Vorwand, da das Weinland Naſſau nur etwa 3000 Flaſchen franzöſiſchen Weines und 10 Ctr. franzöſiſcher Seide jähr - lich einführte. Den Orleans kam es nur darauf an, durch irgend welche Verpflichtung den Kleinſtaat auf fünf Jahre zu binden und von dem Zollvereine abzuziehen. Der Herzog ratificirte; er ertrug, daß ihm der Bürgerkönig das Alternat bei der Unterſchrift verweigerte, er verſchmerzte ſogar den ruchloſen dreifarbigen Heftfaden der franzöſiſchen Aktenſtücke. Welches Opfer war auch zu ſchwer für die Befriedigung der Habgier und des[Preußenhaſſes]?

Nach und nach regte ſich dem Fürſten doch die Scham. Er war im Herbſt 1833 durch Berlin gekommen, hatte dort Vieles gelernt und ſelbſt von dem treuen Freunde Wittgenſtein hören müſſen: in Handelsſachen iſt Herr Eichhorn leider allmächtig. Bald nachher ſtarb Marſchall; der franzöſiſche Vertrag bildete den würdigen Abſchluß ſeiner politiſchen Lauf - bahn. Die öſterreichiſche Politik des kleinen Hofes kam jetzt ins Schwanken; der Steuerdirektor Magdeburg rieth dringend den hoffnungsloſen Wider - ſtand aufzugeben. Aber wie herauskommen aus der kaum erſt übernom - menen Vertragspflicht? Ein Advocatenſtreich mußte dem Naſſauer Hofe aus der Noth helfen, wie ſchon ſo vielen anderen Mitgliedern des mittel - deutſchen Sonderbundes. Der Vertrag ſollte erlöſchen, falls die fran - zöſiſchen Kammern in ihrer nächſten Seſſion ihn nicht genehmigten. Im Drange ernſterer Geſchäfte, über den Aufregungen des parlamentariſchen Parteikampfes war die Ausführung dieſes Artikels in Paris vergeſſen worden. Die franzöſiſche Regierung hatte aber gleich darauf ihr Verſehen geſühnt, ſie hatte die Begünſtigung der Naſſauer Mineralwaſſer durch eine königliche Ordonnanz eingeführt und ausdrücklich verſprochen, dieſe Verordnung den Kammern, ſobald ſie wieder zuſammenträten, vorzulegen. Die Zuſtimmung der Kammern war völlig zweifellos, da der Vertrag der Handelspolitik der Orleans ſo große Vortheile gewährte. Frankreich hatte alſo, bis auf einen kleinen Formfehler, ſeinen Pflichten vollauf genügt. Aber das geringfügige Verſehen bot dem Naſſauer Hofe den Vorwand, ſeinerſeits den Vertrag zu brechen. Im Juli 1834 erklärte Fabricius in Paris, der Vertrag beſtehe nicht mehr zu Recht. Der franzöſiſche Hof, mit Recht empört über ſolchen Beweis deutſcher Treue, erwiderte: Frank - reichs Loyalität verwirft dieſe Zweifel. Ein donnernder Artikel im Mo - niteur ſagte: Der Naſſauer Hof hat zum Zwecke des Vertragsbruchs ſich hinter eine Spitzfindigkeit verſteckt. Fabricius aber griff zu dem bekannten letzten Mittel der Lügner; er betheuerte ſtolz, es ſei unter der Würde ſeiner Regierung auf ſolche Beſchuldigungen zu antworten.

400IV. 6. Der Deutſche Zollverein.

Während alſo Marſchall’s letztes Werk durch eine offenbare Gaunerei rückgängig gemacht wurde, verſuchte Naſſau ſich dem Zollvereine zu nähern. Am 5. März 1834 berichtete Blittersdorff, ein alter Vertrauter des Herzogs: man ſieht in Biebrich die Nothwendigkeit des Anſchluſſes ein, doch der Herzog iſt zu weit gegangen im Kampfe gegen Preußen, er kann ſich jetzt nicht durch Bitten bloßſtellen und will abwarten, bis man ihm Anerbie - tungen macht. Aber die Anerbietungen blieben aus. Der kleine Herr, der aus Haß gegen das fremde Zollſyſtem vor Frankreich ſich gedemüthigt, mußte ſchließlich auch vor Preußen ſich beugen. Am 8. October bat der Collectivgeſandte Leſtocq in Berlin um die Eröffnung der Verhandlungen. Die preußiſchen Staatsmänner zögerten; ſie wollten vorher die badiſche Frage ins Reine bringen. Erſt im Juli 1835 begannen die Verhand - lungen. Eichhorn wünſchte den Naſſauer Hof für ſein ehrloſes Verhalten zu züchtigen, wollte ihm nur ein beſchränktes Stimmrecht zugeſtehen. Auch die thüringiſchen Kleinſtaaten fanden es unwürdig, daß Naſſau höhere Rechte erhalten ſollte als ſie ſelber. Aber Wittgenſtein ſprach warm für den alten Freund, und die unerſchöpfliche Gutmüthigkeit des Königs ge - währte dem reuigen Sünder volle Verzeihung. Uebrigens zeigte Naſſau noch während der Verhandlungen eine erſtaunliche Unbeſcheidenheit. Sein Bevollmächtigter forderte nicht nur die Fortdauer der Schifffahrtsabgaben auf dem Main und Rhein ſowie der Bannrechte der herzoglichen Do - manialmühlen; er verlangte auch die Privilegien der Meßplätze für die naſſauiſchen Badeorte und ein Präcipuum für das Herzogthum bei der Vertheilung der Zolleinnahmen, da Ems, Wiesbaden und Schwalbach mit ihrem lebhaften Fremdenverkehr doch ſicherlich mehr verzehrten als andere Städte des Vereins! Als der Kleinſtaat endlich am 10. Dec. 1835 mit gleichem Stimmrecht und gleichem Antheil an den Einkünften dem Zollvereine beigetreten war, da ſtellte ſich die Rechnung nach einem Jahr - zehnt wie folgt: Naſſau hatte kaum eine halbe Million Thaler einge - nommen und Mill. Thlr. empfangen. Und dieſer Staat forderte ein Präcipuum!

Wie Naſſau ſich mit Frankreich gegen den Zollverein verſchwor, ſo ſuchte die freie Stadt Frankfurt durch Englands Hilfe den preußiſchen Feſſeln zu entgehen. Alle Verkehrseinrichtungen der Stadt richteten ſich, wie in den Hanſeſtädten, nach den Bedürfniſſen des Durchfuhrhandels; alle Klaſſen der Bevölkerung betrachteten die fremden Mauthbeamten vor den Thoren als ihre natürlichen Feinde. Der Schmuggler war eine volks - beliebte Geſtalt, in den Contoren ein willkommener Gaſt. Dem Frank - furter, wie bisher dem Leipziger Kaufherrn ſtand die Meinung feſt, daß ſein Handel die Plackereien der Mauthämter nicht vertrage: der Zoll - verein würde unſere merkantile Exiſtenz vernichten.

Von der herrſchenden öſterreichiſchen Partei des Senats ging nun der Gedanke aus, die Politik des mitteldeutſchen Sonderbundes auf eigene401Naſſaus Beitritt. Frankfurt und England.Fauſt fortzuführen und im Bunde mit England dem Zollverein entgegen - zutreten. Am 13. Mai 1832 ſchloß Senator Harnier in London mit Palmerſton und Lord Auckland einen Handels - und Schifffahrtsvertrag auf zehn Jahre, der die Flaggen beider Mächte gleich ſtellte und zugleich ausbedang, daß kein dritter Staat im Zollweſen zum Nachtheil der Con - trahenten bevorzugt werden dürfe. Die Abſicht war deutlich: engliſche Schiffe ſollten ihre Waaren den freien Rhein hinauf nach Frankfurt führen zur Weiterbeförderung durch die Schmuggler, dafür blieb die deutſche Stadt zehn Jahre lang dem preußiſchen Handelsbunde fern und getröſtete ſich des Glaubens, daß vielleicht einmal ein Schiff unter Frankfurter Flagge nach England ſegeln würde. So ſtattete Frankfurt ſeinen Dank ab für die durch Preußens langjährige Arbeit endlich erreichte Befreiung der Rheinſchifffahrt. Die Preſſe des Zollvereins tobte, der alte Haß gegen England brach wieder aus, der Darmſtädter Landtag erklärte ſich entrüſtet wider dieſe Preisgebung der nationalen Ehre. In der That ſcheint trotz der Ableugnungen des Frankfurter Senats unbeſtreitbar, daß die deutſche Stadt und nicht England die Anregung gegeben hatte zu dem unſauberen Geſchäfte, wie ja auch Naſſau bei jenem franzöſiſchen Ver - trage der treibende Theil war. Die Times und die beſſeren engliſchen Blätter ſchalten auf den begehrlichen Krämerſinn ihres Cabinets: wie lächerlich dieſer Schifffahrtsvertrag mit einer Binnenſtadt, die doch auf die Dauer ſich nicht abſondern kann von der nationalen Handelspolitik!

In Frankfurt ſelbſt ſtieg die Unzufriedenheit. Bittere Erfahrungen lehrten, daß die beliebte Vergleichung Frankfurts und der anderen freien Städte auf beiden Füßen hinkte. Während in Hamburg der geſammte Zwiſchenhandel Skandinaviens ſeinen Mittelpunkt fand, war der Binnen - platz weſenlich auf den deutſchen Handel angewieſen. Auf eine Firma, die mit engliſchen und franzöſiſchen Waaren handelte, kamen zwanzig deutſche Geſchäfte. Der Umfang des Speditionshandels ſank auf die Hälfte herab, ſeit Kurheſſen ſich an Preußen angeſchloſſen; das blühende Geſchäft in Leder und Wein lag jetzt ganz darnieder. Die wenigen engliſchen Schiffe, die den Main herauf kamen, boten keinen Erſatz für den geſperrten nach - barlichen Verkehr. Alle Nachbarſtädte wuchſen zuſehends: Hanau, Vilbel und der aufblühende Meßplatz Offenbach. Auch die alten Nebenbuhler zu Mainz frohlockten in nachbarlicher Schadenfreude. Schon mußte der Frankfurter Kaufmann in Offenbach zu hohen Preiſen Keller und Speicher miethen, derweil daheim die Speicher leer ſtanden. Wie lange ſollte der ſchimpfliche Schmuggel noch währen, und konnte Preußen nicht endlich die Geduld verlieren, die Schrecken ſeines Enclavenſyſtems über die trotzige Stadt verhängen? Beredte Flugſchriften ſchilderten den Nothſtand. Im Februar 1834 verlangte endlich die Handelskammer, die ſchon ſeit Langem getheilten Sinnes war, den Anſchluß an Preußen.

Nach langwierigen Vorberathungen mit dem Darmſtädter HofmannTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 26402IV. 6. Der Deutſche Zollverein.ſtellte der Senat im Herbſt 1834 bei der Krone Preußen die Bitte um Eröffnung der förmlichen Verhandlungen. Im Januar 1835 kam Senator Guaita nach Berlin, derſelbe, der in dem mitteldeutſchen Vereine eine ſo gehäſſige Rolle geſpielt hatte. Ein Jahr verging bis man einig wurde. Frankfurt erwartete anfangs große Privilegien für ſeinen Handelsſtand, bis Guaita endlich einſah, daß alle Vorrechte dem Weſen des Vereins widerſprachen. Die Rechtsgleichheit, meinte der Bekehrte jetzt, iſt der beſte Schutz für die kleinen Staaten. Fordern wir Privilegien, ſo wird Preußen dieſelben Vorrechte ſeinen Städten gewähren, und die Begünſtigung Kölns wäre Frankfurts Untergang. *)Blittersdorff’s Bericht, 4. Febr. 1835.Preußen wünſchte mit dem Zollweſen zugleich ſeine Gewerbefreiheit in die Republik einzuführen; denn die Nach - barn klagten laut, der Darmſtädter Landtag ſprach in bitteren Worten über das verrottete Frankfurter Zunftweſen. Doch die freie Stadt wollte dies Heiligthum ihrer Bürgerſchaft nicht antaſten; nach langem Streite blieb die alte Unordnung aufrecht. Daß der reiche Handelsplatz unver - hältnißmäßig viel verzehrte, wurde von allen Seiten zugegeben; man verabredete eine Bauſchſumme von 4⅖ fl. auf den Kopf der ſtädtiſchen Bevölkerung, faſt viermal ſo viel als der Stadt nach Verhältniß der Einwohnerzahl gebührte. Der Meßverkehr erhielt dieſelben Begünſtigungen wie in Leipzig. Dagegen konnte Preußen die vollſtändige politiſche Gleich - berechtigung des Kleinſtaats nicht zugeben. Nach höchſt verwickelten Ver - handlungen beſchloß man eine gemeinſame Zolldirektion in Frankfurt einzuſetzen; ein Mitglied ernannte der Senat, die andern wurden ihm durch die beiden Heſſen vorgeſchlagen, Preußen aber führte die Ober - aufſicht über die Zollverwaltung. Im Uebrigen erhielt die Stadt durch die Nachſicht des Königs alle Rechte der Zollvereinsmitglieder zugeſtanden, nur daß ſie den Handelsverträgen nicht widerſprechen durfte und auf den Zollconferenzen in der Regel dem naſſauiſchen Bevollmächtigten ihre Stimme übertragen ſollte.

Dieſe Verabredungen konnten nicht ins Leben treten, ſo lange der Vertrag mit England beſtand. Ehrenhafter als der Herzog von Naſſau ſendete der Senat einen Bevollmächtigten nach London und ließ, wie hart das auch ankam, um die Aufhebung des Vertrages bitten. Erſt nachdem England eingewilligt, trat Frankfurt, am 2. Januar 1836, dem Zoll - vereine bei. Noch waren einige böſe Tage zu überſtehen. Die ungeheuren in der Stadt aufgeſtapelten Vorräthe mußten einer Nachverſteuerung unterworfen werden, die einen Ertrag von 1,68 Millionen fl. abwarf. Während mehrerer Tage war jede Waarenbewegung verboten, eine wilde Aufregung herrſchte unter den Kaufleuten, die Bürgerſchaft begann ſchon ihren Entſchluß zu verwünſchen. Doch bald kehrte die Ordnung zurück; ſchon die nächſte Meſſe brachte ein reiches Ergebniß; für Frankfurt wie403Frankfurts Beitritt.für Leipzig ſchuf der Zollverein eine neue Zeit des Glanzes. Nur der hanſeatiſche Dünkel grollte der Schweſterſtadt, die ihre Ebenbürtigkeit um ein Linſengericht veräußert hatte : ſo ſagte Wurm noch in jenem Hamburger Commiſſionsberichte von 1847.

Durch den Zutritt dieſer letzten Bruchſtücke Mitteldeutſchlands er - hielt das Gebiet des Handelsbundes einen vorläufigen Abſchluß. Der Zollverein umfaßte jetzt 8253 Geviertmeilen mit reichlich 25 Millionen Einwohnern, er hatte 1064 Grenzmeilen zu beſchützen, 9 Meilen weniger, als Preußen allein im Jahre 1819 bewacht hatte. Behutſam, mit ſchonen - der Erwägung aller volkswirthſchaftlichen Intereſſen, wie der Bau be - gonnen, ward er weitergeführt; nach Jahren erſt traten einige neue Mit - glieder hinzu.

Die Gleichberechtigung der Bundesgenoſſen wurde auch in der Form ſorgſam gewahrt. Von den vier erſten Generalconferenzen des Zollvereins iſt nur eine (1839) in Berlin gehalten worden. Die lockere bündiſche Verfaſſung des Vereins zeigte bald ihre ſchädliche Wirkung, ſie erſchwerte jede Fortbildung des Tarifs. Die finanziellen Ergebniſſe blieben hinter den Erwartungen weit zurück; die Verwaltungskoſten ſtanden noch immer hoch, zwiſchen 10 und 12 pCt. Alle dieſe Mängel konnten gleichwohl den unendlichen Segen der großen Vereinigung nicht aufheben. Lange zurück - geblieben hinter der Volkswirthſchaft der weſtlichen Nachbarn, trat unſer Volk wieder als ihr ebenbürtiger Nebenbuhler auf den Weltmarkt. Am Schluſſe des erſten Jahrzehnts der Zollvereinsgeſchichte waren die Sünden der Jahrhunderte geſühnt. Die Höhe des Wohlſtands, welche unſer Vater - land ſchon vor dem dreißigjährigen Kriege erſtiegen hatte, war endlich wieder erreicht.

Die politiſchen Wirkungen des Zollvereins ſind, Dank der unver - gleichlichen Schwerfälligkeit des deutſchen Staatslebens, nicht ſo raſch und nicht ſo unmittelbar eingetreten, als manche kühne Köpfe meinten. Schon zu Anfang der dreißiger Jahre hoffte Hanſemann, ein Parlament des Zoll - vereins und daraus vielleicht einen deutſchen Reichstag erſtehen zu ſehen, und wie viele andere wohlmeinende Patrioten haben nicht ähnliche Erwar - tungen an den deutſchen Zollſtaat geknüpft. Aber der Handelsbund war kein Staat, er bot keinen Erſatz für die mangelnde politiſche Einheit und konnte noch durch Jahrzehnte fortdauern, ohne die Lüge der Bundesver - faſſung zu zerſtören. Als Miniſter du Thil im Jahre 1827 ſeinem Groß - herzoge den Rath gab, jenen entſcheidenden Schritt in Berlin zu wagen, da ſprach er offen aus: Wir dürfen uns nicht darüber täuſchen; indem wir den Handelsbund ſchließen, verzichten wir auf die Selbſtändigkeit unſerer auswärtigen Politik; bricht ein Krieg aus zwiſchen Oeſterreich und Preußen, ſo iſt Heſſen an die preußiſchen Fahnen gebunden. Des - gleichen Dahlmann, der nach ſeiner großen und tiefen Art den Zollverein ſofort als das einzige deutſche Gelingen ſeit den Befreiungskriegen be -26*404IV. 6. Der Deutſche Zollverein.grüßte, erklärte zuverſichtlich, der Handelsbund ſtelle uns ſicher vor der Wiederkehr bürgerlicher Kriege. Auch dieſe Weiſſagungen ſind nicht buch - ſtäblich eingetroffen. Der Zollverein hat die oberdeutſchen Staaten nicht verhindert, die Waffen zu ergreifen gegen Preußen. Und dennoch ſollte gerade das Jahr 1866 die gewaltige Lebenskraft dieſes handelspolitiſchen Bundes erproben. Der raſche Siegeszug der preußiſchen Fahnen überhob unſeren Staat der Mühe ſeine wuchtigſte Waffe zu ſchwingen, durch die Aufhebung der Zollgemeinſchaft die oberdeutſchen Höfe ſofort zu bekehren.

Das Bewußtſein, daß man zu einander gehöre, daß man ſich nicht mehr trennen könne von dem großen Vaterlande, war durch die kleinen Erfahrungen jedes Tages in alle Lebensgewohnheiten der Nation einge - drungen, und in dieſer mittelbaren politiſchen Wirkung liegt der hiſtoriſche Sinn des Zollvereins. Mochten die Schulen der Albertiner und der Welfen der Jugend die Märchen des Stammeshaſſes und der particulariſtiſchen Selbſtzufriedenheit künden es ging doch zu Ende mit dem Philiſterthum der alten Zeit, das an die Herrlichkeit der Kleinſtaaten kindlich glaubte. Der Geſchäftsmann folgte mit ſeinen Gedanken den Waarenballen, die er frei durch die deutſchen Länder ſandte; er gewöhnte ſich, wie ſchon längſt der Gelehrte, über die Grenzen des heimiſchen Kleinſtaates hinaus - zublicken; ſein Auge, vertraut mit großen Verhältniſſen, ſah mit ironiſcher Gleichgiltigkeit auf die Kleinheit des engeren Vaterlandes. Der Gedanke ſelbſt, daß die alten trennenden Schranken jemals wiederkehren könnten, wurde dem Volke fremd; wer einmal in dem Handelsbunde ſtand, gehörte ihm für immer. Eine unerbittliche Nothwendigkeit ſtellte nach jeder Kriſis die alten Grenzen des Zollvereins wieder her; kalte politiſche Köpfe konnten ſtets mit mathematiſcher Sicherheit den Verlauf des Streites im Voraus berechnen.

Das Ausland gab den ausſichtsloſen Kampf gegen unſere Handels - einheit bald auf. Franzöſiſche Staatsmänner geſtanden achſelzuckend: wir haben leider den deutſchen Staaten nichts zu bieten, was ihnen die Vor - theile des preußiſchen Zollvereins erſetzen könnte. Die Briten erhielten erſt durch Dr. Bowring’s Berichte (1839) eine deutlichere Vorſtellung von dem Weſen des Zollvereines und gewöhnten ſich fortan, Preußen als den Vertreter des deutſchen Handels zu betrachten. Oeſterreich mußte nach ſtets vergeblichen Störungsverſuchen immer wieder dem Nebenbuhler freie Hand laſſen im deutſchen Verkehrsleben; nur dieſer ſtillſchweigende Vertrag zwiſchen den beiden Großmächten ſicherte nothdürftig den Beſtand des Deutſchen Bundes. Dem preußiſchen Staate aber waren die Wege ſeiner Handelspolitik ſo feſt und ſicher vorgezeichnet, daß auch die Zagheit ſie nicht mehr verlaſſen konnte. Die Aufgabe war, den Handelsbund aus - zudehnen; über alle deutſchen Staaten, aber keinen Schritt weiter. Schon im Jahre 1834 wurde in Brüſſel, durch die Sorge vor Frankreichs Er - oberungsluſt, die Frage aufgeworfen, ob nicht Belgien dem deutſchen405Bedeutung des Zollvereins.Zollvereine beitreten ſolle. Preußen wies den Gedanken zurück, und auch ſpäterhin, als das unreife Nationalgefühl deutſcher Publiciſten wiederholt für einen Handelsbund mit der Schweiz oder mit Holland ſich erwärmte, wahrte Preußen unbeirrt den nationalen Charakter des Zollvereins. Alſo entſtanden zwei Gemeinweſen im Deutſchen Bunde: ein Deutſchland des Scheines, das in Frankfurt, ein Deutſchland der ehrlichen Arbeit, das in Berlin ſeinen Mittelpunkt fand. Der preußiſche Staat erfüllte, indem er Deutſchlands Handelspolitik leitete, einen Theil der Pflichten, welche dem Deutſchen Bunde oblagen, wie er zugleich allein durch ſein Heer die Grenzen des Vaterlandes ſicherte. So iſt er durch redlichen Fleiß langſam emporgewachſen zur führenden Macht des Vaterlandes; und nur weil die europäiſche Welt es nicht der Mühe werth hielt, das Heerweſen und die Handelspolitik Preußens ernſtlich kennen zu lernen, bemerkte ſie nicht das ſtille Erſtarken der Mitte des Feſtlandes.

Die wirthſchaftliche und die politiſche Einigung Deutſchlands zeigen eine überraſchende Verwandtſchaft in ihrer Geſchichte. Beide Bewegungen gleichen einem großen dialektiſchen Proceſſe: erſt nachdem durch wieder - holte vergebliche Verſuche die Unmöglichkeit jeder andern Form der Ein - heit zweifellos erwieſen war, errang die preußiſche Hegemonie den Sieg. Ein reiches Erbe monarchiſcher und im guten Sinne föderaliſtiſcher Ueber - lieferungen iſt aus den Erfahrungen des Zollvereins übergegangen auf den Norddeutſchen Bund und das Deutſche Reich. In dem Zollvereine lernte Preußen, einen vielköpfigen, faſt formloſen Bund, der ſich in keine Kategorie des Staatsrechts einfügen wollte, monarchiſch zu leiten, mehr durch Einſicht und Wohlwollen und durch das natürliche Uebergewicht der Macht als durch förmliches Vorrecht. Zwei grundverſchiedene Schulen deutſcher Staatsmänner wuchſen auf ſeit den dreißiger Jahren. Auf der einen Seite die Politiker des Bundestags, dieſe bejammernswerthen Ge - ſchöpfe, denen die Erbſünde der Diplomatie, die Verwechslung von Ge - ſchäft und Klatſcherei, zur anderen Natur geworden war, dieſe durch die condenſirte Milch der Augsburger Allgemeinen und der Frankfurter Ober - Poſtamts-Zeitung mühſam am Leben erhaltenen politiſchen Kinder, die mit ſo feierlichem Ernſt von den Formen und Formeln des hohlen Bun - desrechts zu reden wußten. Und daneben die Geſchäftsmänner des Zoll - vereins, nüchterne praktiſche Leute, gewohnt, ernſthafte Intereſſenfragen umſichtig zu erwägen, die Wünſche und Bedürfniſſe der Nachbarn mit Gerechtigkeit und Milde zu beachten. Auf der hohen Schule der Zoll - conferenzen und der mannichfachen Berathungen über die Fragen des Verkehrs, lernten Preußens Staatsmänner die Methode neuer deutſcher Politik: die Kunſt, reizbare kleine Bundesgenoſſen ohne Gehäſſigkeit und Gewaltthat zu leiten, unter bündiſchen Formen das Weſen der Monarchie zu wahren.

Der Gedanke des Zollvereins war nicht eines Mannes Eigenthum,406IV. 6. Der Deutſche Zollverein.er entſtand gleichzeitig in vielen Köpfen unter dem Drucke der Noth des Vaterlandes; daß der Gedanke Fleiſch und Blut gewann, war allein Preu - ßens Werk, war das Verdienſt von Eichhorn, Motz und Maaſſen und nicht zuletzt das Verdienſt des Königs. Nicht die Anſtandspflicht monar - chiſcher Staatsſitten, ſondern die Pflicht hiſtoriſcher Gerechtigkeit nöthigt zu dem Urtheil, daß nur das feſte Vertrauen auf Friedrich Wilhelm’s unverbrüchliche Treue die deutſchen Fürſten bewegen konnte ihre Souve - ränität freiwillig zu beſchränken. Eben die anſpruchsloſe Schlichtheit ſeines Weſens, welche dieſen Hohenzollern in den wilden napoleoniſchen Tagen ſo oft kleinmüthig erſcheinen ließ, befähigte ihn in ſtiller Zeit den Samen einer großen Zukunft auszuſtreuen.

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Siebenter Abſchnitt. Das Junge Deutſchland.

Veränderungen ſeines Länderbeſtandes hat jedes große Volk von Zeit zu Zeit erlebt, aber nur den Deutſchen beſchied eine wechſelreiche Ge - ſchichte, daß ſich die Marken ihres Vaterlandes die Jahrhunderte hindurch faſt unaufhörlich verſchoben und Niemand zu ſagen wußte, welchen Ge - bieten eigentlich der große Name Deutſchland gebühre. Derweil das alte Reich ſeine wälſchen Vorlande im Süden und Weſten verlor, Oeſterreich, die Schweiz, die Niederlande ihrem Sonderleben überließ, erwuchs ihm ein köſtlicher Erſatz in den Kolonien jenſeits der Elbe, und aus dieſen Landen des Nordoſtens, die zum guten Theile dem Reichsverbande nicht angehörten, erhoben ſich die ſtaatenbildenden Kräfte unſerer neuen Ge - ſchichte. Auch der Deutſche Bund war gleich dem heiligen Reiche noch ein unfertiges politiſches Gebilde ohne feſte Grenzen, halb weltbürgerlich, halb national, zugleich zu weit und zu eng, mit Oeſterreich und noch drei an - deren undeutſchen Mächten wunderlich verkettet und doch den preußiſchen Staat nicht ganz umſchließend. Erſt durch den Zollverein begann ſich’s zu entſcheiden, welche Theile der ewig beweglichen Ländermaſſen Mittel - europas fortan das politiſche Deutſchland der neuen Geſchichte bilden ſollten. Er umfaßte, Oeſterreich in weitem Bogen umklammernd, das deutſche Land vom Memelſtrom bis zum Bodenſee denn da die Küſte immer dem Binnenlande gehört, ſo war der Zutritt der Staaten des hannoverſchen Steuervereins nur noch eine Frage der Zeit nicht alle die Gebiete, auf denen einſt der Ruhm des deutſchen Namens geruht hatte, aber ihren edlen Kern, die fröhliche Heimath deutſcher Kunſt im Südweſten und die waffenſtolzen Adlerlande des Nordens, herrliche Kräfte, die im treuen Verein dereinſt eine neue Zeit vaterländiſchen Glanzes her - aufführen konnten. An den idealen Mächten der Sprache und Geſittung, des rechtsbildenden Gemeingeiſtes, der Hoffnungen und Erinnerungen hatte die Nation bisher das Bewußtſein ihrer Größe genährt; jetzt erlangte ſie auch die Gemeinſchaft des wirthſchaftlichen Lebens, den natürlichen Unter - bau der politiſchen Einheit, der ihr immer gefehlt hatte. In denſelben ſchickſalsſchweren Januartagen des Jahres 1834, da der Wiener Hof den408IV. 7. Das Junge Deutſchland.hohen Rath der deutſchen Bundespolizei zum letzten male zu unfrucht - baren Verhandlungen um ſich verſammelte, erſtand im Weſten und Nor - den das neue in Arbeit geeinigte Deutſchland, ſcharf abgegrenzt gegen Oeſterreich wie gegen das Ausland. Das letzte Ziel der fridericianiſchen Politik, die Löſung des deutſchen Dualismus, ſchien jetzt nicht mehr un - erreichbar, und hoffnungsvoll ſagte Karl Mathy: Noch niemals iſt Deutſch - land ſo einig geweſen wie ſeit der Stiftung des Zollvereins.

Der junge Tag, der über Deutſchland heraufdämmerte, ward aber nur von wenigen Einſichtigen bemerkt; die emporſteigende Sonne verbarg ſich hinter dem Gewölk langweiliger und widerwärtiger diplomatiſcher Zwi - ſtigkeiten. Wie oft hatten die Patrioten geſungen und geſagt von der Stunde des Heiles, da die Raben nicht mehr den Kaiſerberg umkreiſen, da der Birnbaum auf dem Walſerfelde wieder grünen, der alte Rothbart ſeinen Flamberg ſchwingen und den Reichstag der freien deutſchen Nation einberufen würde ein Gedanke, der noch kaum greifbarer war als weiland die Weiſſagungen des Simpliciſſimus von dem deutſchen Hel - den und ſeinen Parlamentsherren. Neben dieſen ſtrahlenden Traum - bildern eines Volkes, das ſchon in zorniger Ungeduld ſeine künſtlich nieder - gedrückte Kraft zu fühlen begann, erſchien das neue wirthſchaftliche Ge - meinweſen der Nation in ſeinem Werktagskleide unſcheinbar und nüchtern. Die Deutſchen wußten ihrem Beamtenthum für ſeine treue Arbeit wenig Dank; denn immer iſt es das tragiſche Loos neuer politiſcher Ideen, daß ſie zuerſt von der gedankenloſen Welt bekämpft und dann, ſobald der Er - folg ſie rechtfertigt, als ſelbſtverſtändlich mißachtet werden. Eben in den Tagen, da der deutſchen Politik Preußens endlich wieder ein großer Wurf gelungen war, verfiel die öffentliche Meinung nochmals in einen Zuſtand der Ermattung und Verſtimmung, wie zehn Jahre zuvor, und faſt allein in den Kämpfen des literariſchen Lebens entlud ſich noch die verhaltene poli - tiſche Leidenſchaft der Zeit.

Erſt ſeit Goethe die Augen ſchloß (22. März 1832), gelangte die neue radicale Literatur, die ſich in Börne’s und Heine’s Schriften zuerſt an - gekündigt hatte, für kurze Zeit zur unumſchränkten Herrſchaft. Sein Da - ſein ſchon war ein beredter Vorwurf gegen die freche Tendenz, und moch - ten die Kleinen ſich wechſelſeitig als junge Titanen verherrlichen, an ſeine Größe reichte alles Selbſtlob nicht heran. Nichts erregt ſo unwiderſtehlich die fromme Ahnung einer höheren Welt, wie der Anblick eines gottbegna - deten Greiſes, der an den letzten Grenzen menſchlichen Alters, allen kleinen irdiſchen Sorgen entwachſen, nur noch für die Idee ſeines Lebens wirkt und dann in der Verklärung einer zweiten Jugend abſcheidet. Friedrich’s ernſter Lebensausgang ließ neben der ſcheuen Bewunderung die Freude nicht aufkommen; erſt an Goethe’s Alter lernten die Deutſchen die glück - liche, in ſich befriedete und zugleich über die Erde hinausweiſende Voll - endung eines großen Menſchendaſeins kennen. Gedenke zu leben! ſo409Der alte Goethe.lautete, ſittlicher und tiefſinniger als das mönchiſche Memento mori, der Weisheit letzter Spruch im Wilhelm Meiſter. Bis zum letzten Athem - zuge blieb der Dichter ſeinem Worte treu, ein heiter Entſagender, dank - bar für jede Blume des Sommers und jede Frucht des Herbſtes, beruhigt in dem Glauben, daß Verdruß auch ein Theil des Lebens und das höchſte Glück auf Erden, die Freuden des Gemüths, der ganzen Welt gemein ſeien.

Als einen gebührenden Zoll nahm er die Huldigungen entgegen, die ihm Walter Scott mit den ſchottiſchen Dichtern und ſo viele andere Aus - länder darbrachten. Er ſah, daß Deutſchland jetzt an der Spitze der Weltliteratur ſtand, und ſagte den Fremden aufrichtig: wer die deutſche Sprache verſteht, ſpielt den Dolmetſcher, indem er ſich ſelbſt bereichert. Mit dieſem ruhigen Selbſtgefühle paarte ſich eine wunderbare, allen Neid entwaffnende Demuth; faſt ſiebzig Jahre war er alt, als er beim Anblick einer Ausgabe ſeiner Werke die Verſe ſchrieb:

Seh ich die Werke der Meiſter an,
So ſeh ich das was ſie gethan.
Betracht ich meine Siebenſachen,
Seh ich was ich hätt ſollen machen.

Wie that es ihm wohl, als er in dem jungen Schotten Thomas Carlyle, dem Ueberſetzer und Kritiker der deutſchen claſſiſchen Literatur, den erſten Ausländer kennen lernte, der auf der Höhe des deutſchen Denkens ſtand. Ganze Generationen werden Sie dereinſt dafür ſegnen, daß ſie ſtatt des Vermuthens und Leugnens wieder zu glauben und zu wiſſen gelernt haben ſo ſagte Carlyle, die Orthodoxen und die liberalen Partei - fanatiker zugleich beſchämend. Goethe ahnte, was Deutſchland an dieſem ſeinen wärmſten und treueſten Freunde draußen beſaß; er wurde nicht müde, dem jugendlichen Verehrer in die Einſamkeit der ſchottiſchen Berge bald ſeine neueſten Werke, bald eine Medaille für die Genoſſen drüben, bald ein Armband oder eine feine ſchmiedeeiſerne Halskette oder ein anderes einfaches deutſches Geſchenk für die junge Frau zu ſenden. Und ſo fortan. Goethe damit ſchloß er in der Regel ſeine patriarchaliſchen Briefe.

Von jeher hatte er das Weſen der Schönheit darin geſucht, daß wir beim Anſchauen des geſetzmäßig Lebendigen uns gleichfalls lebendig und in größte Thätigkeit verſetzt fühlen . Alles Empfangen reizte ihn ſogleich zum Schaffen, und jetzt, da er in der ſtillen Sammlung des hohen Alters jede Zerſtreuung abweiſen durfte, war ſein ganzes Leben nur noch un - ausgeſetzte beglückende Arbeit. Mochte er dichten und denken oder der ge - liebten Stimme der großen, leiſe ſprechenden Natur lauſchen, oder an den neuen Werken der Kunſt und Forſchung, die ihm von allen Enden der Welt zuſtrömten, ſich liebevoll erfreuen, immer ſchritt er aufwärts, immer baute er fort an dem umfaſſenden Weltenbilde, das leuchtend vor ſeiner Seele ſtand, mit den Jahren ſtets freier, heller, größer ſich ge - ſtaltete, und noch am Rande des Grabes gingen ihm bisher undenkbare410IV. 7. Das Junge Deutſchland.Gedanken auf, wie ſelige Dämonen, die ſich auf den Gipfeln der Ver - gangenheit glänzend niederlaſſen. Dabei blieb ihm bis zum Ende das ewige Geltenlaſſen, das Leben und Lebenlaſſen , das einſt Merck an dem jungen Freunde ſo gar nicht begreifen wollte; neidlos, wie kaum je ein Künſtler hieß er jede Schöpfung der Mitſtrebenden willkommen, wenn ſie nur ſeinem eigenen Weſen nicht ganz fremd oder widrig ſchien. In ſol - cher Stimmung fand ihn Chriſtian Rauch und formte dann die Statuette des alten Goethe, genau ſo wie er in ſeinem Arbeitszimmer diktirend auf und nieder zu gehen pflegte, den Kopf frei aufgerichtet, die Hände über dem Rücken verſchränkt, die einzige Unſchönheit der herrlichen Geſtalt, die etwas kurzen Beine durch den lang niederwallenden Hausrock glücklich ver - deckt ein Bild ruhiger Majeſtät und Güte, erhabener in ſeiner Schlicht - heit, als die theatraliſche Büſte David’s von Angers, der ſich nach Fran - zoſenart den deutſchen Dichterfürſten wie einen donnernden Zeus dachte.

Noch war Vieles in dem Treiben der Gegenwart, was den Dichter abſtoßen mußte. Er ſah die mit der Juli-Revolution beginnende Zerſetzung der alten Geſellſchaft nur zu deutlich voraus, ohne die Lichtſeiten der Be - wegung zu würdigen, und wendete ſich verächtlich hinweg von dem Ge - ſinnungsterrorismus der Freiheitshelden des Tages:

Kommt, laßt uns Alles drucken,
Und walten für und für.
Nur ſollte Keiner mucken,
Der nicht ſo denkt wie wir.

Während Jedermann politiſirte und das eigene Haus über den Welt - händeln vergaß, hielt er nur um ſo feſter an ſeinem alten Glauben, daß die ſittliche Ordnung der Welt zumeiſt auf der treuen Erfüllung der näch - ſten Pflichten beruhe, und ſchrieb noch kurz vor ſeinem Tode es waren wohl ſeine letzten Verſe einem jungen Freunde ins Stammbuch: Ein Jeder kehre vor ſeiner Thür, und rein iſt jedes Stadtquartier! Auch die tiefe Einſamkeit, die jedem Meiſter beſchieden iſt, ward ihm zuweilen ſchmerzhaft; er fühlte, daß ihm der Lohn des Dichters, der zart ant - wortende Nachklang und der reine Reflex aus der begegnenden Bruſt doch nur ſelten zu Theil ward. Sehr bitter empfand er die grenzenloſe Dreiſtigkeit der Neueſten , des jungen Volkes, das ſich einbildete, ſein Tauftag ſollte der Schöpfungstag ſein; noch bitterer, daß ſich in dem Uebermuthe der jungen Schriftſteller ſo wenig jugendliche Friſche, in den grellen, häßlichen Gebilden ihrer Lazarethpoeſie ſo wenig männliche Kraft, in ihrem geſucht geiſtreichen Weſen nur das verfrühte Alter eines der Naivität und der Ehrfurcht entwachſenen Geſchlechtes kundgab. Er beugte ſich in Andacht vor dem Ewig-Einen, das ſich vielfach offenbart , und konnte nur mit Achſelzucken den hohlen Dünkel der neuen Gottes - leugner betrachten: der Profeſſor iſt eine Perſon, Gott iſt keine!

Dennoch ſtand Goethe in ſeinen letzten Jahren der Welt, die ihn411Goethe und das neue Geſchlecht.umgab, bei Weitem nicht mehr ſo fremd gegenüber wie einſt in den Tagen der Befreiungskriege und des chriſtlichen Teutonenthums. Damals konn - ten ihn Fernſtehende leicht für einen Reaktionär halten, der verdroſſen zu dem Weltbürgerthum der guten alten Zeit zurückſtrebte. Nunmehr aber ſprach er wieder mit Abſcheu von der Aufklärung des ſelbſtklugen achtzehnten Jahrhunderts; er empfand von Neuem, daß er ſelber einſt die Deutſchen von Philiſternetzen befreit, der Erkenntniß der zweckloſen Schön - heit, des ewigen Werdens in Natur und Geſchichte zuerſt die Bahn ge - brochen hatte. Was jetzt auf dem literariſchen Markte ſich wider Goethe auflehnte, war doch nur in neuem Aufputz die alte Aufklärung, das alte Naturrecht, die alte platte Nützlichkeitslehre, die alles Lebendige fragte wo - zu man es wohl gebrauchen könne. Wenn Menzel und Börne mit libe - ralen Kraftworten gegen ihn polterten, dann mußte der alte Herr unwill - kürlich jener fernen Tage gedenken, da Nicolai auf dem Grabe des jungen Werther ſeine Andacht verrichtete. Auch ſeinem jugendlichen Freunde Car - lyle entging dieſe Wahlverwandtſchaft nicht; der meinte: Eure deutſchen Philiſter Adelung und Nicolai ſind mir ſehr merkwürdig; hier nennen wir ſie Utilitarianer, ſie ſind meiſt Politiker, radical oder republikaniſch.

Die dürren, fertigen Formeln der modiſchen Freiheitslehren beſtärkten Goethe nur in der Einſicht, daß ſeine eigene Weltanſchauung die freiere war. Er fühlte ſich wieder als den Lichtbringer einer neuen Zeit und nahm mit Befriedigung wahr, wie unverkennbar alle ſchöpferiſchen Werke der bil - denden Kunſt und der Wiſſenſchaft ſchon den Stempel ſeines Geiſtes trugen. Er wußte, dies große Jahrhundert, das er ſelbſt einſt mit her - aufgeführt, hatte ſein letztes Wort noch nicht geſprochen; und obwohl er ſchwerlich wünſchen mochte, dieſe Zukunft noch zu erleben, ſo ſah er doch ahnungsvoll voraus, wie bald die kleinen Händel der Gegenwart veralten, eine reichere Zeit den Geſichtskreis der Menſchheit unermeßlich erweitern, ihrer Geſittung ganz neue Aufgaben ſtellen würde. Schon in Meiſter’s Wanderjahren forderte er eine hochgeſteigerte Staatsthätigkeit wie ſie erſt in der Gegenwart ſich zu entfalten anfängt; er entwickelte den Plan einer ganz vom Staate geleiteten Volkserziehung, ein platoniſches Ideal, das den Privatmenſchen des achtzehnten Jahrhunderts ebenſo fremd war wie dem ſtaatsfeindlichen Radicalismus der dreißiger Jahre; und in den ſchwachen Anfängen der deutſchen Auswanderung erkannte er ſchon die Vorboten jener expanſiven Civiliſation, welche in der zweiten Hälfte des neuen Jahrhunderts ihren Siegeszug um die Erde halten ſollte:

Daß wir uns auf ihr zerſtreuen,
Darum iſt die Welt ſo groß!

In ſeinem letzten Lebensjahre, bei der Eröffnung des weimariſchen Leſe - muſeums, ſprach er offen aus, wie die Welt ſich zu verwandeln beginne, wie die geſellige Bildung univerſell werde , wie alle gebildeten Kreiſe, die ſich ſonſt nur berührten, jetzt ſich vereinigten, und an Jeden die Noth -412IV. 7. Das Junge Deutſchland.wendigkeit herantrete, ſich von dem Zuſtande des augenblicklichen Welt - laufes im realen und idealen Sinne zu unterrichten .

Noch mächtiger redete dies ſtarke Zukunftsgefühl aus ſeinem letzten großen Werke, einer prophetiſchen Dichtung, die von der thatenarmen und zuchtloſen Mitwelt kaum begriffen, erſt heute einem an Heldenkraft und darum auch an frommer Ehrfurcht reicheren Geſchlechte langſam verſtänd - lich wird. Sehr ſelten geſchieht es, daß ein greiſer Meiſter verſcheidet, bevor er ſein Lieblingswerk vollendet hat; es iſt, als läge in ſolchen Leib und Seele ſpannenden Aufgaben eine geheimnißvolle Kraft, die den Lebens - faden nicht abreißen läßt. Seit mehr als zwanzig Jahren beſchäftigte die Geſtalt des Fauſt die Gemüther der Menſchen ſo lebhaft, wie nur je ein hiſtoriſcher Held. Philoſophen und Poeten verſuchten das Bruchſtück zu er - gänzen, jeder fühlende Leſer fragte unwillkürlich, wie dieſer hohe Menſch enden müſſe, in dem Alle die eigenſten Züge des deutſchen Geiſtes er - kannten. Goethe wußte, daß die Augen der Beſten ſeines Volkes auf ihn ge - richtet waren, wenn er jetzt in jedem frohen Augenblicke an ſeiner Dichtung ſtill weiter arbeitete und den ganzen Schatz ſeiner unvergleichlichen Lebens - erfahrung wie in ein großes Tagebuch in ſie eintrug. Wenige Wochen vor ſeinem Tode, faſt ſechzig Jahre nachdem er den erſten kühnen Plan gefaßt, ſchloß er das Werk ab, ſo weit der unendliche Stoff ſich erſchöpfen ließ, und geſtand, daß er ſein ferneres Leben nunmehr nur noch als ein reines Geſchenk Gottes betrachten wolle. So durch zwei Menſchenalter beſtändig fortgebildet und ergänzt, mußte der zweite Theil des Gedichts an urſprünglicher Friſche und künſtleriſcher Rundung eben ſo viel ver - lieren, wie er an Gedankenfülle gewann.

Der Fauſt war das echte Kind der Epoche des dichteriſchen Sturmes und Dranges; nur die Jugend, die Alles verheißt und Alles verlangt, konnte in dem Bilde des ungeduldig wider die allgemeinen Erdenſchranken ankämpfenden Titanen ihr eigenes Herz wiederfinden. Schon als er den erſten Theil herausgab, empfand der Dichter zuweilen, wie fern ihm jetzt dieſer himmelſtürmende Trotz ſeiner jungen Tage lag, und er klagte: So gieb mir auch die Zeiten wieder, wo ich noch ſelbſt im Werden war. Um die zarten Nerven der Leſer zu ſchonen, beſeitigte er aus den erſten Entwürfen manchen Zug genialer Frechheit, der zum Weſen der geſpenſtiſchen Fabel gehörte, ſogar das ſchauerlich ſchöne Blutlied der Dämonen: Wo fließet heißes Menſchenblut, der Dunſt iſt allem Zauber gut, und der diaboliſche Humor der Walpurgisnacht auf dem Blocksberge verblaßte etwas unter ſeinen umbildenden Händen. Seitdem waren nochmals zwanzig reiche Jahre über ſein Haupt dahingegangen; er fühlte ſich den Geſtalten ſeiner Dichtung ſo fremd, daß er keinen Anſtand nahm, die lieblich naive Garten - ſcene des erſten Theils für die Compoſition des Fürſten Radziwill zu einem froſtigen Opern-Quartett umzuarbeiten. Nicht ohne gewaltſame Selbſtüberwindung konnte er alſo aus der beſchaulichen Stimmung des413Zweiter Theil des Fauſt.Greiſenalters zurückgreifen zu einem Werke, das der flammenden Be - geiſterung des Jünglings entſprungen war; ich mußte, ſo geſtand er an Wilhelm Humboldt, dasjenige durch Vorſatz und Charakter erreichen was eigentlich der freiwilligen thätigen Natur allein zukommen ſollte. Darum fehlte dem zweiten Theile des Fauſt jener Zauber des unmittelbaren per - ſönlichen Bekenntniſſes, der alle früheren Werke Goethe’s wie zarter Sonnen - duft umſchwebte. Aus allen ſeinen Helden, aus Weislingen, Werther, Egmont, Taſſo, Meiſter ſprach das Herz des Dichters ſelber, am bered - teſten doch aus dem Fauſt des erſten Theiles; was er nur je genoſſen, gedacht, gelitten, hatte er in dieſer Geſtalt vereinigt, und mit der ganzen Macht des ſelbſterlebten Leides erklang aus den Schlußſcenen die Reue um die verrathene Friderike. Der zweite Theil des Gedichts hingegen war ſtreng objectiv gehalten; die Charaktere des Fauſt und des Mephiſtopheles traten ganz zurück, der Schwerpunkt des Dramas lag nicht mehr in der inneren Entwicklung des Helden, ſondern in dem bunten Wechſel der Weltverhältniſſe, die er durchſchritt.

Daraus ergab ſich aber ein Mißverhältniß von Form und Inhalt. Schon Schiller hatte dem Freunde vorhergeſagt, wie ſchwer es halten werde, bei der Behandlung eines ſo ganz phantaſtiſchen und doch tief ernſten Stoffes zwiſchen Spaß und Ernſt glücklich durchzukommen . Im erſten Theile war Goethe dieſer Schwierigkeit noch völlig Herr geworden, mit jener ſpielenden Leichtigkeit, welche das vollendete Kunſtwerk wie ein Gebilde der Natur erſcheinen läßt. Das Schickſal des Helden feſſelte die Leſer ſo unwiderſtehlich, daß ſie die grellen Contraſte von ſataniſchem Humor und tragiſcher Erhabenheit nicht als Störung empfanden; die kurzen gereimten Verſe ſchmiegten ſich in jeden Wechſel der Stimmung faſt noch williger als es der dramatiſche Jambus vermag; die glücklich idealiſirte Sprache unſeres ſinnlich derben und gedankenſchweren ſech - zehnten Jahrhunderts mußte ein Geſchlecht, das ſich den Zeiten Luther’s und Dürer’s verwandt fühlte, im tiefſten Herzen anheimeln. Dem zweiten Theile fehlte dieſe Einheit des Tones, die auch das Wunderbare glaub - haft machte; er erſchien zu ernſt für ein Märchenſpiel, zu ſpukhaft für ein Drama. Im engen Anſchluß an das alte Volksbuch vom Doctor Fauſt führte der Dichter ſeinen Helden durch eine Welt phantaſtiſcher Abenteuer, aber in allen ſeinen Traumgeſtalten lag ein tiefer Sinn verborgen, und unmöglich vermochte der Leſer, wenn er der geheimnißvollen Bedeutung dieſer Symbole nachgrübelte, ſich noch die unſchuldige Leichtgläubigkeit zu bewahren, welche das Wunder verlangt. Trotz aller ihrer glänzenden theatraliſchen Effecte blieb die gedankenreiche, mit Anſpielungen und Be - ziehungen jeder Art überladene Dichtung doch viel zu ſchwer, um auf der Bühne wie ein prächtiges Zauberſtück die Schauluſt der Menge zu be - ſchäftigen. Fragmentariſch geſchaffen konnte das Werk auch nur fragmen - tariſch genoſſen werden; nur wenn man ſich zuerſt liebevoll in die Fülle414IV. 7. Das Junge Deutſchland.der Einzelſchönheiten verſenkte, gelangte man Schritt für Schritt zur Er - kenntniß des Ganzen.

In ſeinem Briefwechſel mit Schiller hatte Goethe ſtets die Einheit des ſich ſelbſt erklärenden Kunſtwerks als höchſte Aufgabe des Dichters bezeichnet. Als Greis erhob er ſich von dieſem künſtleriſchen zu einem allgemein menſchlichen Ideale, das zu umfaſſend war um ſich noch der ſtrengen Kunſtform einzufügen und zu tiefſinnig um je gemeinver - ſtändlich zu werden. Wer dieſem letzten Fluge des Goethiſchen Genius zu folgen wagte und das Vermächtniß des Dichters als ein Werk eigener Art, das ſo nicht wiederkehren konnte, unbefangen aufnahm, dem erſchloß ſich eine Fülle reifer Lebensweisheit denn zu dem Citatenſchatze unſerer Nation hat außer den Schriften der Bibel kein anderes Werk ſo viel bei - geſteuert wie der Fauſt, der zweite Theil faſt noch mehr als der erſte und eine wunderbare Sprachgewalt, die wohl zuweilen in die Manier des Alters abſank, dann aber wieder im ſüßen Wohllaut der mannichfachſten Versformen ſchwelgte, mit jugendlicher Kühnheit das nie Geſagte, kaum Geahnte ausſprach.

Der zweite Theil gab die Antwort auf die ſchweren Fragen des erſten. Während der Fauſt des alten Puppenſpiels im Taumel des Genuſſes unter - ging, erhob ihn Goethe aus der engen Welt der perſönlichen Leidenſchaft in höhere Regionen, in würdigere Verhältniſſe und ließ ihn, gemäß dem Worte im Anfang war die That , durch ſchöpferiſches Handeln die Er - löſung finden ein Bild der inneren Befreiung und Läuterung, das ſich freilich mehr für den Roman als für das Drama eignete, aber in ſeiner breiten epiſchen Anlage dem Dichter geſtattete die ganze Geſchichte ſeines Zeitalters ſymboliſch darzuſtellen. Aus dem Lärm und Glanz des Kaiſer - hofes ſteigt Fauſt in die Welt des Schönen empor und erlebt im Traume die Befreiung der Helena, die Vermählung des antiken mit dem germa - niſchen Geiſte, bis endlich der thätige Humanismus ſich im gemeinnützigen Wirken bewährt, der ſiegreiche Kampf des alten Fauſt mit dem Meere zugleich zurückweiſt auf König Friedrich’s friedliche weſtpreußiſche Erobe - rungen und weit vorwärts deutet in die große Zukunft des arbeitsfrohen neuen Deutſchlands, dem das freie Meer den Geiſt befreien ſoll.

Im Weiterſchreiten find er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick

der höchſte Gedanke der neuen deutſchen Philoſophie, die Erkenntniß der nie auf Erden ganz verwirklichten, aber ewig ſich verwirklichenden Idee, lag in dieſen Zeilen, und doch noch nicht das letzte Wort einer Dichtung, die über das Dieſſeits hinausweiſen mußte. Weder in der Proſa der Arbeit noch in der nüchternen Mahnung dem Tüchtigen iſt dieſe Welt nicht ſtumm konnte ein hochpoetiſches und der altklugen Aufklärung entſchieden feindliches Werk ausklingen. Erſt die allmächtige Liebe vollendet Fauſt’s Erlöſung, und wie der Dichter dem Himmel durch die ſcharf umriſſenen Geſtalten415Goethe’s Vermächtniß.der heiligen Geſchichte verſtändliches Leben giebt, ſo weiß er auch durch Gretchens Erſcheinen die Idee der Liebe künſtleriſch zu veranſchaulichen. In der Wiedervereinigung der beiden Liebenden verwirklicht ſich der be - ſeligende Traum, der, ſeit Dante ihn zuerſt beſang, in der chriſtlichen Dich - tung immer wiederiehrt: wie die irdiſche Liebe ſich zur himmliſchen verklärt. Fauſt’s Unſterbliches wird zum Himmel getragen und die Engel ſingen:

Gerettet iſt das edle Glied
Der Geiſterwelt vom Böſen.
Wer immer ſtrebend ſich bemüht,
Den können wir erlöſen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben theilgenommen,
Begegnet ihm die ſel’ge Schaar
Mit herzlichem Willkommen.

Alſo nahm unſere claſſiſche Dichtung bei ihrem letzten Ausgange die beiden Grundwahrheiten der Reformation wieder auf. In freierer, milderer Form wiederholte Goethe den kühnen und doch ſo zermalmend ſchweren Ausſpruch Martin Luther’s gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, ſondern ein guter Mann machet gute Werke , und bekannte ſich zugleich zum Glauben an die erlöſende Macht der göttlichen Barmherzigkeit.

Das junge Geſchlecht lebte am Tage den Tag; ihm fehlte die Samm - lung des Geiſtes um ein Werk zu würdigen, das über die gerühmte Jetzt - zeit der Zeitungsſchreiber ſo weit hinausragte. Längſt ſtand ihm feſt, daß die burſchikoſen Witze von Heine’s Harzreiſe mehr bedeuteten als Goethe’s Italieniſche Reiſe, ein beliebiger Tendenzroman zur Verherrlichung des freien Weibes mehr als Wilhelm Meiſter. Nun gar der myſtiſche Schluß des Gedichts galt den radicalen Poeten für eine froſtige Allegorie; denn ſo tief waren ſie ſchon von franzöſiſcher Verbildung angefreſſen, daß ſie den eigenſten Vorzug der proteſtantiſchen deutſchen Cultur, die Verſöhnung von Freiheit und Frömmigkeit, gar nicht mehr kannten und ſchlechterdings nicht begreifen wollten, wie ein ſtarker Geiſt religiös empfinden könne. Zu allem Unglück begann nun auch die Zunft der Goetheforſcher ihre pedan - tiſche Arbeit, eine neue wenig erfreuliche Spielart des deutſchen gelehrten Philiſterthums. Göſchel, Hinrichs, Rötſcher und andere Hegelianer, dann Philologen und Literarhiſtoriker in langer Reihe bemächtigten ſich des Fauſt um in alexandriniſchen Commentaren ihre Auslegungskünſte zu zeigen; ſie warfen ſich mit Vorliebe auf die ſchwächſten, die dunkelſten Stellen des Werkes und ſuchten zu ergründen, was der alte Herr in ſeine ſymboliſchen Andeutungen wohl Alles hineingeheimnißt habe. So ward die Dichtung der Jugend vollends verleidet, und lange blieb die Welt der Anſicht, mit dieſem Buche hätte Goethe doch dem Alter ſeinen Zoll entrichtet.

Die ſchöpferiſchen Köpfe der deutſchen Kunſt haben dieſe Meinung nie getheilt; wie oft ſaß Schinkel in Rauch’s Werkſtatt, mit dem Fauſt in der Hand, um dem dankbaren Freunde den Born neuer künſtleriſcher An -416IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſchauungen, der hier floß, zu zeigen. Je mehr die nervöſe Erregung der Zeit ſich beruhigte, um ſo dichter ward der Kreis der Andächtigen, die ohne nach den klügelnden Ausdeutungen ſo mancher krauſen Allegorien viel zu fragen, ſchlichtweg als Schauende an den Fauſt herantraten und bei jedem neuen Leſen immer neue Seiten der Dichtung entdeckten, immer klarer erkannten, wie feſt die beiden Theile, trotz der Verſchiedenheit des Stiles und des Kunſtwerthes unter ſich zuſammenhingen. Was man auch mäkeln und ergrübeln mochte, der Fauſt blieb die Tragödie des neuen Jahrhunderts, wie Dante’s Dichtung das Bekenntniß des ausgehenden Mittelalters, und beide Werke konnten nur im Herzen Europas entſtehen, in den beiden Völkern, welche von jeher den Idealismus der chriſtlichen Ge - ſittung getragen haben. Wie verſchwand doch Alles was andere Dichter von dem unbändigen Erkenntnißdrange der modernen Menſchheit geſungen hatten, wie klein und kränklich erſchien ſelbſt in Byron’s Manfred, der dem Fauſt noch am nächſten kam, der ſelbſtzerſtöreriſche, gegenſtandsloſe Welt - ſchmerz neben dem echten Titanenſtolze des Goethiſchen Helden:

Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.

Als das Gedicht allmählich auch über unſere Grenzen hinausdrang, da glaubten manche geiſtreiche Männer des Auslandes die Empfindungen ihres eigenen Volkes darin wiederzufinden: Turgeniew behauptete dreizehn Jahre nach Goethe’s Tode, der Fauſt ſei den Ruſſen vielleicht verſtändlicher als jeder anderen Nation. Deutlicher ließ ſich nicht ausſprechen, daß der deutſchen Dichtung die centrale Stelle in der modernen Geſittung gebührte. Der hohe menſchliche Sinn, der den Fremden ſo traulich zum Herzen ſprach, war doch nichts Anderes als die feinſte Blüthe unſerer nationalen Bildung und nur den Landsleuten ganz begreiflich; denn wahrnehmbar wie in keinem anderen Werke Goethe’s rauſchte im Fauſt der Flügelſchlag deutſcher Geſchichte, und nicht zufällig ſtand grade hier die Mahnung des Dichters, daß wir das Erbe unſerer Väter erwerben ſollen um es zu beſitzen.

Gleichzeitig mit dem Fauſt beendete Goethe den vierten Theil von Dichtung und Wahrheit, die rührende Geſchichte der tiefſten Herzensneigung ſeiner Jugend, und ſo warm, ſo zart, ſo lebendig erzählte der Achtzigjährige noch, daß er wagen durfte die halbverſchollenen alten Lilli-Lieder mit ein - zuflechten; die ſüßen Töne klangen als wären ſie geſtern entſtanden. Alſo hat ihm die Wonne der Frauenliebe noch ſeine letzten Träume vergoldet; durch ein langes Leben voll ſtarker Mannesarbeit war ſie ihm gefolgt, von jenen fernen Tagen an, da der ſinnenfrohe Jüngling den Amor beſang, der ſchalkhaft und beſcheiden ſich feſt die beiden Augen zuhält, bis zu der glühenden Abſchiedsklage des Greiſes:

War unerſättlich nach viel tauſend Küſſen,
Und mußt mit Einem Kuß am Ende ſcheiden!
417Bettina.

Darum ſind die Frauen dem Sänger des Ewig-Weiblichen immer treu geblieben. Wie ſie einſt dem verwilderten Geſchlechte des dreißigjährigen Krieges noch einen letzten Schatz guter Sitte, häuslicher Gemüthlichkeit erhielten, ſo haben ſie uns auch als die Literatur wieder entartete das An - denken unſeres größten Dichters in der Stille bewahrt. Und nicht die von Goethe ſo tief verabſcheuten gelehrten Frauen behüteten ſeinen Ruhm, ſon - dern die anſpruchsloſen, ſtill thätigen, von denen Niemand ſprach. Wenn die ſchlichte deutſche Hausfrau nach den Sorgen des Haushalts ſich am Anblick der Schönheit erquicken wollte, dann ſchlug ſie aus den vierzig Bänden irgend eine Stelle auf, die ihrem Herzen wohl that, und empfand die ewige Wahlverwandtſchaft zwiſchen dem Genius und dem Weibe denn was konnte Börne oder Heine einer edlen Frau bieten? Während die Dichtung ſich von Goethe abwendete, blieb ſein Geiſt in der bildenden Kunſt und in der Wiſſenſchaft lebendig; unter den neu auftretenden großen Gelehrten war keiner, der nicht von ihm gelernt hätte. Erſt in weit ſpäterer Zeit, als unſer Volk Großes und Schweres geſchaffen hatte, begannen die begabteren Dichter und alle wahrhaft erfahrenen Männer zu dem Liebling der Frauen zurückzukehren, und ſeitdem wächſt beſtändig die ſtille Macht ſeines Genius. Der Tag ſeines höchſten Ruhmes iſt noch nicht gekommen. Schiller’s Gedanken, wie groß und hehr ſie auch waren, umfaßten doch nur eine begrenzte Zeit. Was er ahnte von Menſchenrecht und Völker - freiheit, hat die Geſchichte vor unſeren Augen verwirklicht, und wir empfinden ſchon den nur bedingten Werth ſeiner Ideale. Nur die unerfahrene Jugend kann ſich ihm noch ganz hingeben, mit Emil Devrient iſt der letzte echte Marquis Poſa aus unſerem kürzer angebundenen Geſchlechte geſchieden. Goethe’s Geſtalten gehören keiner Zeit; ſie ſind wahr, niemals wirklich, ſo wie er es von der Kunſt verlangte. Sie veralten nicht, denn ſie wollen erlebt ſein; ſie erwarmen nur vor den Augen des gottbegnadeten Künſtlers, des liebevollen Weibes oder des feſten Mannes, den die vollendete Bildung zur Einfalt der Natur zurückführt.

Frauenhände errichteten dem Todten ſein erſtes ſchönes Denkmal. Drei Jahre nach dem Abſcheiden des Dichters gab Bettina v. Arnim Goethe’s Briefwechſel mit einem Kinde heraus, eine tief und groß empfundene, gedankenreiche Dichtung, die mit den hiſtoriſchen Thatſachen ebenſo frei ſchaltete, wie Goethe ſelbſt im Werther mit ſeinen Wetzlarer Erlebniſſen, und gleichwohl mehr innere Wahrheit enthielt, von dem geheimnißvollen Leben des Genius mehr offenbarte als ganze Bändereihen der gelehrten Goetheforſchung. Mit der herzlichen Wärme der bilderreichen rheinländiſchen Sprache erzählt das Buch, wie ſich Goethe’s Weſen im Herzen eines leiden - ſchaftlichen Kindes wiederſpiegelt; majeſtätiſch hebt ſich die ruhige Milde des Dichters ab von der bacchantiſchen, zuweilen zudringlichen Begeiſterung des Mädchens; und über dieſem reichen Seelengemälde leuchtet der heitere Himmel unſeres ſchönen Weſtens. Die kleinen Mädchen im NonnenkloſterTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 27418IV. 7. Das Junge Deutſchland.von Fritzlar, die ſingenden Schiffer im ſonnigen Rheingau, die Wanderer auf den Felſen von St. Goar ſpielen mit, und, glücklicher noch als die junge Welt, in ihrer Frankfurter Erkerſtube die alte Frau Rath, die Alles zur Freude bewegt blos weil ſie mit Kraft genießt. Mochten die Philiſter den Kopf ſchütteln, wenn das fünfzigjährige Kind im tollen Uebermuthe des Brentanobluts manchmal ein Rad ſchlug oder wie ein Irrwiſch daher flackerte: gedankenreiche Männer ergriff das Buch grade weil es ſo ganz weiblich war, weiblicher als manche zimperliche Romane ſittſamer Blau - ſtrümpfe. Bettina’s Stärke lag wo das Genie der Weiber immer liegt, in der Kraft des Verſtehens und Empfangens; ſie wußte das und blieb immer der Epheu, der ſich am feſten Stamme emporrankt. Männer - arbeit zu thun hat ſie ſich nie erdreiſtet; was ſie ſpäter noch ſchrieb erhob nicht den Anſpruch für eine ſelbſtändige Schöpfung zu gelten, ſondern entſprang entweder der verſtändnißvollen Erinnerung oder der werkthätigen Menſchenliebe eines reichen Herzens. Auch ihre Schwächen blieben weib - lich und darum verzeihlich; von der halb unbewußten Gefallſucht ihres Geſchlechts hielt ſie ſich nicht frei, das Kind, das nicht fragt was da bös ſei, was da gut wußte ſich zu viel mit ſeiner Natürlichkeit.

Die Zeitgenoſſen verglichen ſie gern mit Rahel Varnhagen, und Manches war den zwei geiſtreichſten Frauen der deutſchen Geſellſchaft ge - mein: der Sinn für das Große, der Zauber des Geſprächs und ein ekſtatiſcher Zug verzückter Schwärmerei. Und doch verhielten ſich die Beiden zu einander wie der Rhein zur Spree. Bei der Berlinerin herrſchte, wie warm ſie auch empfand, der ſcharfe, alle Begriffe zerfaſernde Verſtand vor; das Leben der kinderloſen, vielerfahrenen Frau neben einem weit jüngeren, eitlen und falſchen Manne, der nicht von fern an ſie heran - reichte, unter einem Schwarme blaſirter abgetriebener Weltmänner blieb der Natur fremd, und darum auch ihre Sprache immer ſchwülſtig, von der geſuchten Künſtelei großſtädtiſcher Ueberbildung angekränkelt. Bettina war ein Kind der Sonne, halbwälſchen Blutes, aufgewachſen in der freien Luft am grünen Rheine, die Gattin eines edlen, geiſtvollen Dichters, die ſchöne Mutter ſchöner Kinder, für alle Künſte wunderbar begabt, ganz Phantaſie und Gemüth, ſo daß ihr die herzbewegenden Worte und die farbigen Bilder von ſelber kamen, bei allen ihren ſeltſamen Nixenlaunen doch eine fromme, tapfere, mildthätige Frau, die vor der Cholera keinen Schrecken, vor dem Elend keinen Ekel empfand. Noch im Alter zog ſie die jungen Männer an ſich und wußte aus jedem den göttlichen Funken herauszuſchlagen; manchen Sünden der Zeit hat ſie ihren Zoll gezahlt, aber die anmaßende Nichtig - keit der modiſchen Dichtung durfte ſich nicht an ſie heranwagen. Stark, doch leider nicht günſtig wirkte ihre große Natur auf den Geiſt des Kron - prinzen von Preußen. Die Klarheit, die ihm fehlte, konnte er aus den überſchwänglichen Orakelſprüchen dieſer Hohenprieſterin der Romantik nicht gewinnen; und wenn ſie begeiſtert ſagte: Nichts iſt Sünde, was mit dem419Die Pariſer Deutſch-Juden.Genius nicht entzweit was frommte das ihm, der Alles umfaſſend, Nichts ganz beherrſchend, niemals wußte wo ſein Genius ſei?

Weitab von dieſen lichten Höhen der Poeſie trieb das neue Geſchlecht, das ſich um Heine’s Banner ſchaarte, ſein lautes Weſen. Seit Heine nach Paris übergeſiedelt war, begann ſein lyriſches Talent raſch zu verſiegen, in einem wüſten, zerſtreuten Leben ward ſein Herz leerer, ſein Gefühl ſtumpfer. An umfaſſende Werke durfte er ſich ohnehin nicht wagen; denn die künſtleriſche Compoſition großen Stiles gelingt meiſt nur der maſſiven Kraft der Arier; ſelbſt die Wunderwerke orientaliſcher Kunſt, ſelbſt der Säulenwald der Moſchee von Cordova oder die ſchimmernden Tropfſtein - gewölbe der Alhambra bilden mit aller ihrer Pracht doch kein Ganzes. Außer einigen Liedern und dem Bruchſtück einer unſauberen Novelle Schnabelewopski brachte Heine in dieſem Jahrzehnt keine Dichtung mehr zu Stande. Was der Tag gab oder forderte nahm ihn ganz in Anſpruch; in allerhand literariſchen Capriccios verarbeitete er dieſe Eindrücke und ſammelte dann die Fragmente unter den Titeln: Zuſtände, Zeitbilder, Reiſebilder neuen Namen, denen er das Bürgerrecht im deutſchen Feuilletonſtile eroberte. Um ſein zerſtückeltes Schaffen zu beſchönigen, ver - kündete er der Welt prahleriſch, daß er ſich berufen fühle, zwiſchen der Ge - ſittung der beiden Nachbarvölker zu vermitteln, und die deutſchen Liberalen glaubten ihm treuherzig.

Richtiger beurtheilten ihn die Franzoſen. Sie merkten bald, daß er von franzöſiſcher Politik nicht das Mindeſte verſtand, und aus ſeinen witzelnden Betrachtungen über die deutſche Literatur konnten ſie auch nichts lernen; die einſichtigſten ſeiner Pariſer Freunde fanden, er verkenne ſeine dichteriſche Begabung, wenn er ſich zum Lehrer der Völker berufen glaube. Doch waren ſie klug genug, dieſen neuen Alliirten Frankreichs durch Schmeicheleien warm zu halten, denn ſo unterthänig hatte ihnen noch nie ein Ausländer den Staub von den Schuhen geküßt. Engländer und Franzoſen pflegten, wenn ſie zu uns kamen, ſich darüber aufzuhalten, daß unſer Volk nicht ihre Sprache redete; den gutmüthigen Deutſchen aber beſchlich eine ſcheue Ehrfurcht ſobald er bemerkte, wie in Frankreich jeder dumme Bauer franzöſiſch ſprechen konnte. Und ganz ſo wie der naive deutſche Philiſter empfand auch dieſer geiſtreiche Jude. Alles in Frank - reich erſchien ihm feiner, ſchöner, vornehmer als daheim, und erſtaunt ſchrieb er nach ſeiner Weiſe halb ſpottend halb im Ernſt: ſo eine Dame de la Halle ſpricht beſſer franzöſiſch als eine deutſche Stiftsdame von vierundſechzig Ahnen. In ſeinen Franzöſiſchen Zuſtänden fand er kaum Worte genug für ſeine fremdbrüderliche Begeiſterung: die Franzoſen ſind das auserleſene Volk der neuen Religion, Paris iſt das neue Jeru - ſalem, und der Rhein iſt der Jordan, der das geweihte Land der Freiheit27*420IV. 7. Das Junge Deutſchland.trennt von dem Lande der Philiſter. Unabläſſig pries er den neuen Bürgerkönig ohne Hofetikette, ohne Edelknaben, ohne Courtiſanen, ohne Kuppler, ohne diamantene Trinkgelder und ſonſtige Herrlichkeiten ; aber auch die Bergprediger, welche von der Höhe des Convents zu Paris ein dreifarbiges Evangelium herabpredigten, in Uebereinſtimmung mit der An - ſicht jenes älteren Bergpredigers ; und dann wieder den großen Napoleon, der im Freiheitskriege nur der Macht der Dummheit unterlag, was aber wenig ſchadete, weil die Franzoſen ſogar durch ihre Niederlagen ihre Gegner in Schatten zu ſtellen wiſſen . Derweil er unter ſeinen Fenſtern den Pariſer Pöbel brüllen hörte: Warſchau iſt gefallen, Tod den Ruſſen, Krieg den Preußen! verſicherte er dreiſt, nur die Feinde der Demokratie hetzten die nationalen Vorurtheile auf, der franzöſiſche Patriotismus um - faſſe das geſammte Land der Civiliſation mit ſeiner Liebe, der deutſche ziehe das Herz zuſammen wie Leder.

Zugleich gebärdete er ſich als politiſcher Flüchtling und ſprach weiner - lich von ſeinem Exile, während er in Wahrheit allein durch ſeine Genuß - ſucht und ſeine franzöſiſchen Neigungen in Paris zurückgehalten wurde. Bald ſank er noch tiefer und verkaufte ſich dem franzöſiſchen Hofe; er erbat und empfing viele Jahre hindurch einen Gehalt aus den geheimen Fonds. Zum Danke fuhr er fort ſein Vaterland zu begeifern, aber die höhniſchen Ausfälle gegen Ludwig Philipp, die er ſich früherhin zu - weilen erlaubt, hörten auf. Als er darauf eine Zeitſchrift gründen wollte, die auf den Abſatz in Preußen berechnet war, wendete er ſich durch Varn - hagen’s Vermittlung an die preußiſche Regierung um heilig zu betheuern, wie dankbar er Preußens Verdienſte um das Baſtardsvolk ſeiner rheiniſchen Heimath anerkenne; die Rheinländer, dieſe Belgier, die alle Fehler der Deutſchen aber keine Tugend der Franzoſen beſäßen, ſeien erſt durch Preußen wieder zu Deutſchen geworden. Im Berliner Miniſterium wür - digte man dieſe Verſicherungen nach Gebühr, und ſobald Heine erfuhr, daß ſein Geſuch vergeblich ſei, ſchimpfte er ſogleich wieder nach alter Ge - wohnheit auf die Berliner Ukaſuiſten und Knutologen , und rief die rheiniſchen Bogenſchützen auf, den häßlichen ſchwarzen Adler von der Stange zu ſchießen. Die deutſchen Liberalen aber ließen ſich in ihrer Bewunderung nicht ſtören, als im Jahre 1848 das geheime zwiſchen Guizot und Heine abgeſchloſſene Handelsgeſchäft endlich an den Tag kam; der entlarvte Söld - ling Frankreichs blieb ihnen nach wie vor ein Apoſtel deutſcher Freiheit, und wer etwa noch ſchüchtern zu behaupten wagte, die Grundſätze der Ehre und der Rechtſchaffenheit müßten doch wohl auch für Heine gelten, wurde von der herrſchenden Literatenſchule als ein geiſtloſer Menſch ab - gefertigt.

Etwas mehr greifbaren Inhalt boten die leichten Plaudereien, mit denen Heine die Pariſer über die Geſchichte der deutſchen Religion, Philoſophie und Literatur zu belehren ſuchte; hier war der Schüler Hegel’s doch nicht ſo421Heine’s Salon.ganz ſteuerlos wie auf der hohen See der Politik. In den Kern der Sache vermochte er freilich auch hier nicht einzudringen; was konnte ein Mann, dem jede tiefe religiöſe Empfindung fremd war, über die Religion ſagen? Er half ſich nach Dilettantenbrauch durch eine ſtarre Formel, indem er den geſammten wechſelreichen Ideenkampf der Geſchichte auf den einfachen Gegenſatz von Senſualismus und Spiritualismus, Weltbejahung und Weltverneinung zurückführte, das ganze Menſchengeſchlecht in fette Griechen und dürre Nazarener eintheilte. Unter ſeinen Händen ward jetzt Alles unrein. In den ſeltenen Augenblicken, da er noch ein Dichter war, ver - ſuchte er die religiöſe Verklärung, die Rehabilitation der Materie als einen Cultus der Schönheit zu rechtfertigen; doch ſobald er ſich gehen ließ, betete er nicht mehr zu den olympiſchen Göttern der Hellenen, ſondern zu der Aſtarte und dem goldenen Kalbe der Semiten. Zu geiſtreich und zu weltklug um ſeinen ingrimmigen Chriſtenhaß offen zu bekennen, verfiel er aus einem Widerſpruche in den andren; bald verglich er das Chriſtenthum mit einer anſteckenden Krankheit, bald nannte er es eine Wohlthat für die leidende Menſchheit. In Luther ſah er nur den Helden des ſtrengen Spiritualismus in ihm, der doch grade die Weltbejahung auf dem Boden des Chriſtenthums erneuert, dem Staate, dem Hauſe, aller red - lichen irdiſchen Arbeit ihre ſittliche Berechtigung wiedergegeben hat. Ebenſo oberflächlich betrachtete er die deutſche Philoſophie lediglich als eine Macht der Zerſtörung und Zerſetzung; alſo konnte er leicht zu dem erwünſchten Schluſſe gelangen, daß der Pantheismus die verborgene Religion unſeres Volkes ſei, und die Deutſchen demnächſt, nach Vollendung ihrer Philo - ſophie, gleich den Franzoſen ihre Revolution ausarbeiten würden. Die ſittliche Strenge der Pflichtenlehre Kant’s verſtand er ebenſo wenig wie die erhaltenden, aufbauenden Gedanken der Schelling-Hegel’ſchen Geſchichts - philoſophie, und von dem ſtillen Wachsthum der kirchlichen Frömmigkeit, das dem Uebermuthe des philoſophiſchen Radicalismus als nothwendiger Rückſchlag folgte, ahnte er gar nichts. Wie leer, öde, langweilig erſchien doch dieſe neue Form des Unglaubens! Die alte Aufklärung glaubte noch an den ewigen Fortſchritt der Menſchheit, ſie hoffte noch auf einen Tag des Lichtes; die moderne Lehre der Verklärung des Fleiſches verhöhnte Alles was Menſchen menſchlich an einander bindet, und ſchließlich blieb ihr nichts mehr übrig als der ſouveräne Einzelmenſch, der ſich nach Belieben im Ge - nuſſe ungezählter Griſetten und Trüffelpaſteten ergehen konnte.

In ſeinen Kunſtberichten beſprach Heine die Ausſtellungen des Pariſer Salons mit feinem Verſtändniß; er lenkte die Blicke der Deutſchen zu - erſt auf die farbenfrohe Malerei der Franzoſen, und manches der neuen Gemälde begeiſterte ihn zu ſchönen, hochpoetiſchen Schilderungen. Doch überall drängte ſich ſein Ich anmaßend und gefallſüchtig vor; ſeine beſten Arbeiten verdarb er ſich durch Zoten oder Läſterungen, durch politiſche Kannegießerei oder unfläthige Ausfälle auf ſeine literariſchen Gegner, die422IV. 7. Das Junge Deutſchland.er mit der ganzen Unerſättlichkeit jüdiſchen Haſſes bis über das Grab hinaus verfolgte. Eben jetzt befand ſich die franzöſiſche Literatur in trüber Gährung, auf die kurze ſchöne Blüthezeit der Reſtauration folgte ein jäher Verfall. Der Kampf des Tages riß alle guten Köpfe in ſeine Strudel; zu reinem künſtleriſchen Schaffen vermochte in der allgemeinen Haſt faſt Niemand mehr ſich zu ſammeln, unter unzähligen lärmenden Mittel - mäßigkeiten brachte die neue Zeit nur einen einzigen ſtarken Dichtergeiſt hervor, die George Sand. Die claſſiſche Formenſchönheit des Zeitalters Ludwig’s XIV. wurzelte ſehr tief in den Gefühlen und Ueberlieferungen der Nation; darum führte der Kampf wider die akademiſchen Regeln hier nicht, wie vormals in Deutſchland, zu einem neuen freieren Idealismus, ſondern zur Auflöſung aller Kunſtformen, zur Zerſetzung aller Ideale. Die franzöſiſche Romantik ging in einem wüſten ſocialen Radicalismus zu Grunde. Sinnlich, unklar, weichlich, ſetzte ſie das Obſcöne und Gräßliche an die Stelle der Leidenſchaft, ſie bekämpfte den Staat, die Geſellſchaft, die Ehe, ſie wühlte in Blut und Koth, ſie ſchwelgte bald in begehrlichen Träumen bald in dem Weltſchmerz der Ueberſättigung und vermochte gleichwohl nichts Neues zu ſchaffen. Nur im Widerſpruche gegen die be - ſtehende Ordnung fand ſich die Willkür dieſes zügelloſen Subjectivismus zuſammen; ſeit Beranger und Chateaubriand ihre neue Freundſchaft ſchloſſen, gehörten die literariſchen Talente fortan alleſammt der Oppoſition.

Ohne Widerſtand überließ ſich Heine’s empfänglicher, unſelbſtändiger Geiſt allen den verworrenen Gedanken, welche dieſer fieberiſch erregten, und doch altersſchwachen, epigonenhaften Literatur entſtrömten. Begierig ſchlürfte er den Schaum von jedem Pariſer Feuertranke; ſogar die ſocia - liſtiſchen Hirngeſpinnſte des Vaters Enfantin begeiſterten ihn eine Zeit lang, bis ihn der äſthetiſche Widerwille des Dichters und des Weltkindes von dem ganz communen, feigenblattloſen Communismus wieder abzog. Von dauernden Ergebniſſen ließ dieſe zerfahrene Schriftſtellerei nichts zu - rück als einige ſchöne Lieder und eine Maſſe theils guter, theils gemeiner Witze; jedoch ihre augenblickliche Wirkſamkeit war ungeheuer. Heine wurde, die Franzoſen ſelbſt überflügelnd, der Meiſter des europäiſchen Feuilleton - ſtils, der Bannerträger jener journaliſtiſchen Frechheit, die alle Höhen und Tiefen des Menſchenlebens mit einigen flüchtigen Einfällen abthat. Seine internationalen Stammgenoſſen, die überall ſchon, vorerſt noch vorſichtig in zweiter Reihe, ihre Zeitungsgeſchäfte aufſchlugen, verherrlichten ihn darum über alles Maß hinaus. Man nannte ihn den anderen Ariſto - phanes, den ungezogenen Liebling der Grazien, und vergaß nur den hand - greiflichen Unterſchied, daß die ariſtophaniſche Ausgelaſſenheit der Ueber - kraft eines ſchöpferiſchen Genius entſprang, die Ungezogenheit Heine’s dem künſtleriſchen Unvermögen eines kleineren Geiſtes, der nichts Mächtiges ſchaffen konnte und ſich durch ſpöttiſchen Uebermuth ſelber tröſten mußte.

Seine verlaſſenen Landsleute bethörte Heine durch jenen Zauber des423Der neue Feuilletonſtil.Fremdartigen, dem die weitherzige deutſche Natur ſo ſelten widerſteht. So lange die Deutſchen dichteten, hatte ſich ihnen die ſchöne Form immer erſt aus dem reichen Inhalt ergeben, und wie viele unſerer großen Dichter waren nie dazu gelangt, für ihre hohen Gedanken die rechte künſtleriſche Form zu finden. In Heine erſchien uns zum erſten male ein Virtuos der Form, der nach dem Inhalt ſeiner Worte gar nicht fragte. Er rühmte ſich ſeiner göttlichen Proſa , einer Proſa, welche freilich, weil ſie beſtändig nach dem Effekt haſchte, mit den Jahren immer manierirter wurde, aber die ſorgſame Feilung nie vermiſſen ließ. Durch dieſen geſucht nachläſ - ſigen, ſchillernden, flunkernden Stil ſuchte er ſeinen Leſern Alles, gleich - viel was, mundgerecht zu machen. Er beſaß was die Juden mit den Franzoſen gemein haben, die Anmuth des Laſters, die auch das Nieder - trächtige und Ekelhafte auf einen Augenblick verlockend erſcheinen läßt, die geſchickte Mache, die aus niedlichen Riens noch einen wohlklingenden Satz zu bilden vermag, und vor Allem jenen von Goethe ſo oft verurtheilten unfruchtbaren Esprit, der mit den Dingen ſpielt ohne ſie zu beherrſchen. Das Alles war undeutſch von Grund aus. Geboren in Kämpfen des Gewiſſens, war die Sprache Martin Luther’s allezeit die Sprache des Freimuths und des wahrhaftigen Gemüthes geblieben; ſie nannte die Sünde Sünde, das Nichts ein Nichts, und Goethe erwies ſich wieder ein - mal als der Herzenskündiger ſeines Volkes, da er ſagte: Im Deutſchen lügt man wenn man höflich iſt. Aber gerade weil die Deutſchen fühl - ten, daß ſie in den Künſten des Pikanten und Charmanten mit dem ge - wandten Juden nie wetteifern konnten, ließen ſie ſich von ihm blenden, ſie hielten für künſtleriſchen Zauber, was im Grunde nur der prickelnde Reiz der Neuheit war.

Es währte lange, bis ſie ſich eingeſtanden, daß deutſchen Herzen bei Heine’s Witzen nie recht wohl wurde. War er doch ſchlechthin der ein - zige unſerer Lyriker, der niemals ein Trinklied gedichtet hat; ſein Himmel hing voll von Mandeltorten, Goldbörſen und Straßendirnen, nach Ger - manenart zu zechen vermochte der Orientale nicht. Es währte noch län - ger, bis man entdeckte, daß Heine’s Esprit keineswegs Geiſt war im deut - ſchen Sinne. Ueberall, wo er ernſthaft redete, ward er als ein falſcher Prophet erfunden; was er für todt hielt lebte, was er lebendig nannte war todt. Von den wahren Zeichen der Zeit, welche Thomas Carlyle damals ſchon in ſeinem tiefſinnigen Buche über die franzöſiſche Revolu - tion klar erkannte, von Frankreichs Verfall und dem ſtillen Erſtarken des preußiſchen Deutſchlands ahnte Heine nichts. Dann vergingen wieder Jahre, bis man endlich lernte, die flüchtige Zeitungsliteratur nach ihrem wirklichen Werthe zu ſchätzen; Heine’s Ruhm ſchrumpfte zuſammen, ſeit die Welt ſich gewöhnte, das Feuilleton nur zu durchblättern, ſeine Ein - tagsgedanken auch an einem Tage zu vergeſſen.

Für die zeitgenöſſiſchen Dichter aber ward das Beiſpiel des gefeierten424IV. 7. Das Junge Deutſchland.Pariſer Feuilletoniſten verderblich. Schon Lord Byron hatte durch die geniale Willkür ſeiner Abſchweifungen und Beſchreibungen die Reinheit der Kunſtformen oft gefährdet; doch er ſchrieb noch in Verſen, in Verſen von wunderbarer Schönheit, ſo daß der Adel der Poeſie niemals ganz verloren ging. Erſt Heine zerſtörte durch ſeinen Feuilletonſtil gänzlich die Schranken, welche Poeſie und Proſa ewig trennen werden. Er behing den nüchternen Stoff ſeiner Kunſturtheile und Stimmungsberichte, ſeiner literariſchen und politiſchen Erörterungen mit allerhand Flittern und Floskeln, die nicht poe - tiſch waren aber poetiſch wirken ſollten. Darum beehrte ihn ſein Bewun - derer Arnold Ruge mit dem lächerlichen Namen eines kritiſchen Dichters . Seine Proſa ſchritt nicht auf gerader Bahn dem Ziele zu, ſondern ſchlen - derte tändelnd und Blumen ſuchend ſeitab vom Wege dahin. Vor Zei - ten, ſo lange die akademiſchen Regeln herrſchten, wurde die Dichtung von der Proſa geknechtet und hieß bei den Franzoſen nur die ſchönſte Gat - tung der Proſa . Seitdem hatte in Deutſchland die Poeſie längſt auf eigenen Füßen zu ſtehen gelernt und auch die ungebundene Rede ſchon ſo viel geſchmeidige Kraft gewonnen, daß ſie ſich, ſobald ſie Geſtalten bildete, neue, bisher unerhörte Kühnheiten erlauben durfte. Was Heine ſchuf war aber nicht die berechtigte poetiſche Proſa des Romans oder der Novelle, ſondern ein krankhafter Zwitterſtil, weder Fiſch noch Fleiſch: proſaiſcher Stoff erſchien in proſaiſcher Form und erhob doch den Anſpruch als freies Kunſtwerk genoſſen zu werden. Kein Wunder, daß dem kritiſchen Dichter, der in ſeiner Eigenart doch unerreichbar blieb, bald in langer Reihe poetiſche Kritiker folgten, die ſich einbildeten Künſtler zu ſein, weil ſie einige Beuteſtücke aus dem reichen Bilderſchatze deutſcher Dichtung in ihre Urtheile verwebten. Manches ſchöne Talent verdarb in dieſer ſchil - lernden Proſa und entfremdete ſich gänzlich dem Wohllaut des Verſes.

Während Heine die wechſelnden Eindrücke des Pariſer Lebens zu eleganter Formenſpielerei verwerthete, redete Börne in ſeinen Pariſer Briefen als ſtarrer Fanatiker; er konnte keine neue Oper, keinen der leich - ten Romane Paul de Kock’s beſprechen ohne geſinnungstüchtig zu poltern. Wie Heine den ſocialen, ſo vertrat Börne den politiſchen Radicalismus. Irgend ein beſtimmtes Ziel verfolgte auch er nicht. Er ſchmähte nur auf Alles, was in Deutſchland beſtand und ſchwärmte im Allgemeinen für die Menſchenrechte , die über jedem Geſetze ſtehen ſollten. Ließ er ſich einmal herbei ſeinen Leſern etwas Thatſächliches zu bieten, ſo zeigte er ſich kind - lich urtheilslos; mehrere der apokryphen Aktenſtücke aus dem Archive des Bundestags, an denen ſich nachher jahrelang die liberale Legende nährte, wurden zuerſt in ſeinen Pariſer Briefen veröffentlicht. Da er immer auf demſelben Flecke blieb und ſchlechterdings nichts Neues mehr zu ſagen wußte, ſo mußte er ein gellendes Geſchrei anſtimmen. Türken, Spanier, Juden, ſo rief er, ſind der Freiheit viel näher als die Deutſchen. Sie ſind Sklaven, ſie werden einmal ihre Ketten brechen, und dann ſind ſie425Börne’s Pariſer Briefe.frei. Der Deutſche aber iſt geborener Bedienter; er könnte frei ſein, aber er will es nicht. Sein alter Grimm gegen Goethe ward zur heroſtrati - ſchen Wuth: tauſendmal lieber Kotzebue’s warme Thränenſuppen als Goethe’s gefrorener Wein. Er trieb es ſo arg, daß Karl Simrock, ſelbſt ein Liberaler, ihm zurufen mußte, durch die Beſudelung ihres erſten Mannes hoffe er wohl, die deutſche Nation ſelbſt zu vernichten:

Ihr letzter Halt, ihr Stolz und Ruhm wie keiner,
Wär der nicht mehr, zerſtöbe die Canaille.

Börne bekannte ſich zu der neuen radicalen Heilslehre, daß die Welt - geſchichte in dieſem aufgeklärten Jahrhundert plötzlich ihren Charakter ver - ändert habe und nicht mehr durch große Menſchen, ſondern durch die Vernunft der Maſſen ihre Thaten vollende. Darum nannte er das moderne, nach der Schablone gebildete Frankreich die Weltſchule, die große Eiſenbahn der Freiheit und Sittlichkeit , und immer unbegreiflicher ward ihm Deutſchland mit der Fülle ſeiner perſönlichen Kräfte, ſeiner mannichfaltigen und doch einigen Cultur. Weil alle echte Bildung ariſto - kratiſch iſt, ſo bekämpfte er unſere Wiſſenſchaft als die Feindin der Frei - heit und meinte: jede Univerſität macht das Land zehn Meilen in der Runde dumm, Wenige ſollen Alles wiſſen, damit Alle nichts wiſſen. In ſeinem Stile wurden die fein ausgeklügelten Bilder, die freilich immer nur aus dem Witze, nicht aus der Anſchauung ſtammten, allmählich ſel - tener; an ihre Stelle traten ſinnloſe demagogiſche Kraftworte, wie die ſauere Hand des ehrlichen Mannes, die bleiſüßen Herzen und verbuhlten Lavendelſeelen der Fürſtendiener. Seinem revolutionären Ingrimm be - hagte nur noch die Roheit; als ihm im Gedränge des Hambacher Feſtes ſeine Uhr geſtohlen wurde, da ſchrieb er hämiſch: jetzt endlich erwachen die Deutſchen zur Thatkraft, Tyrannen, zittert, wir ſtehlen auch! Zu - weilen überwältigte ihn die Wuth dermaßen, daß er allen Anſtand auf - gab und in jene Sprechweiſe verfiel, welche man in ſeiner Frankfurter Heimath als Mauſcheln zu bezeichnen pflegte: Ich habe keine Freiheit hinter mir und darum keine vor mir. Ich treibe weil ich werde getrie - ben, ich reize weil ich werde gereizt. Der Wind iſt heftig der mich ſchüt - telt. Iſt das meine Heftigkeit? Habe ich den Wind gemacht? Kann ich ihn ſchweigen heißen? In den ſtark beſuchten Vereinen der deutſchen Handwerksburſchen und Flüchtlinge entfaltete er eine emſige Thätigkeit, und obwohl dieſe Helden ihre Kampfluſt vorerſt nur in drohenden Reden oder im Umhertragen ſchwarzrothgoldener Fahnen bethätigten, ſo ward es doch für die Zukunft folgenreich, daß nun bald in jeder deutſchen Mittel - ſtadt einige Meiſter oder Geſellen hauſten, die auf der Hochſchule des Demagogenthums an der Seine ihre Grundſätze eingeſogen hatten.

Durch das beſtändige Zetern und Spotten ging ſein deutſches National - gefühl, das ohnehin nie eine ſtarke, naturwüchſige Empfindung geweſen war, ganz zu Grunde, und er verſank in ein radicales Weltbürger -426IV. 7. Das Junge Deutſchland.thum, das dem Landesverrathe ſehr nahe kam. Er gründete ein fran - zöſiſches Blatt La Balance und geſtand hier offen: ich bin ſo viel Fran - zoſe als Deutſcher, ich war Gott ſei Dank nie ein Tölpel des Patrio - tismus. In franzöſiſcher Sprache verhöhnte er die Deutſchen wegen ihrer National-Eitelkeit und fragte: Iſt der Egoismus eines Landes weniger ein Laſter als der eines Menſchen? Er bezeugte den Franzoſen, ſie hätten in drei Tagen das Werk eines Jahrhunderts gethan, die Deutſchen in drei Jahrhunderten gar nichts; ſie beſäßen an Voltaire und Rouſſeau große Geiſter, deren gleichen Deutſchland nie hervorbringen könne. Ja, als ob er ſie zu einem Rachekriege gegen ſein Geburtsland herausfordern wollte, betheuerte er ihnen feierlich, die deutſchen Höfe hätten nicht nur durch den Coalitionskrieg die Enthauptung Ludwig’s XVI., ſondern auch durch ihre geheimen Rathſchläge die Juli-Ordonnanzen Karl’s X. ver - ſchuldet eine freche Verleumdung, deren Nichtigkeit man in Frank - reich ſelbſt wohl kannte. Zugleich fuhr er fort, ſeine politiſchen Gegner als hündiſche Knechtsſeelen zu beſchimpfen. Da die liberale Preſſe dem Beiſpiele dieſes Geſinnungsterrorismus gelehrig folgte, ſo gewöhnte ſich die öffentliche Meinung bald, conſervative Grundſätze für ein Zeichen der Charakterſchwäche anzuſehen, und ein deutſcher Schriftſteller bedurfte ſchon einigen Muthes, wenn er ſeine monarchiſche Geſinnung offen aus - ſprach.

Wie in Frankreich alle Parteien der Oppoſition ſich zuſammenfanden, ſo hieß auch Börne Jeden willkommen, der die Monarchie bekämpfte. So - eben hatte Lamennais in Rom Buße gethan für die demokratiſchen Sünden ſeiner Zeitſchrift L’Avenir und demüthig die grimmige päpſtliche Encyclica vom 15. Aug. 1832 hingenommen, welche der argloſen Welt zuerſt un - zweideutig ankündigte, daß der ſtreitbare Geiſt der Gegenreformation im Vatican wieder erwacht war. Da hieß es: Aus dieſem ſtinkenden Quell der Gleichgiltigkeit fließt die gleich irrige Meinung oder vielmehr der Wahn - ſinn, daß man jedem Menſchen die Freiheit des Gewiſſens zuſichern und gewähren müſſe. Aber ſchon ein Jahr nach ſeiner Unterwerfung konnte der heißblütige Bretone ſich nicht mehr bezwingen und ſchrieb, zum Schrecken ſeines milderen Freundes Montalembert die Worte eines Gläubigen , ein Buch voll apokalyptiſcher Bilder, das mit flammenden Worten die Kinder Satans, die Könige bekämpfte: ſie fluchen dem Heiland, der die Freiheit auf die Erde geführt hat und in der Stadt Gottes keine Herrſchaft dulden will, ſondern nur die wechſelſeitige Verpflichtung Aller. Die Schrift ſtand durchaus auf dem Boden katholiſcher Weltanſchauung, ſie malte nur die alte auguſtiniſche Lehre vom Gottesſtaate mit phantaſtiſcher Ueberſchwäng - lichkeit aus und hatte mit den Gedanken des ungläubigen deutſchen Radi - calismus nicht mehr gemein, als etwa die Werke Mariana’s und der jeſuitiſchen Monarchomachen mit den Staatslehren der Hugenotten. Börne aber überſetzte das Buch und pries es den Deutſchen an; ſeine politiſche427Varnhagen’s hiſtoriſche Schriften.Bildung reichte nicht weit genug um die kirchlichen Grundgedanken des radicalen Franzoſen zu durchſchauen.

Mit unheimlicher Geduld ließen viele der deutſchen Liberalen die Schmähungen Börne’s über ihr Vaterland dahingehen; da er in wechſelnden Formen immer daſſelbe ſagte, ſo gewann er den Beifall aller jenen naiven Seelen, welche von dem Politiker nur verlangten, daß er ſein Glaubens - bekenntniß unwandelbar feſthalten müſſe. Selbſt Rotteck verzieh ihm groß - müthig ſeine perſönlichen Angriffe und hörte nicht auf, die Ueberzeugungs - treue des Pariſer Tribunen zu bewundern. Indeß fanden ſich auch im liberalen Lager Männer von feſterem Nationalſtolze, denen die jüdiſche Selbſt - verhöhnung ebenſo verächtlich war wie die Betriebſamkeit des Schimpfens. C. F. Wurm in Hamburg und der junge Berliner Dichter Wilibald Alexis, ſpäterhin auch Gervinus und andere ernſte Publiciſten traten gegen Börne in die Schranken; ſie wieſen ihm nach, daß er, jedes eigenen Gedankens baar, ſich nur in Gemeinplätzen wälze . Karl Simrock verſpottete in witzigen Gedichten das wohlfeile Heldenthum des Freiheitsapoſtels, der aus ſicherer Ferne ſeine vergifteten Pfeile abſchieße und dabei nicht einmal in ſeinem Geſchäfte Schaden leide, da die Deutſchen die gutmüthigen Thoren, ſeine Bücher dennoch kaufen . Auf die Lockrufe der revolutionären Propa - ganda erwiderte der rheiniſche Dichter ſtolz:

Götzen bau’n wir nicht Altäre.
Nur ein Spott der Fremden wäre
Freiheit ohne Vaterland!

Minder laut als Heine und Börne aber kaum minder erfolgreich wirkte der Kreis der Rahel Varnhagen für die Verbreitung neufranzöſiſcher Ideen. In ſeinen Büchern ſprach Varnhagen ſtets behutſam und unverfänglich. Er ſammelte mit großem Fleiß aber ohne jede Kritik den Stoff für ſeine Biographiſchen Denkmäler aus der preußiſchen Geſchichte, um dann als feierlicher Erzähler Wahres und Falſches, Thatſachen und Anekdoten in wohlabgezirkelten eintönigen Perioden vorzutragen. Behandelte er einen eleganten Hofmann, einen Beſſer oder Canitz, dann gelang ihm wohl ein ſauberes Bildchen, faſt ebenſo zierlich wie die ſchwarzen Figuren, die er im Salon mit feiner Scheere aus dem Papier auszuſchneiden pflegte. Für das Eichenholz heldenhafter Charaktere war ſeine Hand zu ſchwach; die Geſtalten Blücher’s und des alten Deſſauers, die ſich ohne Leidenſchaft und derben Humor gar nicht begreifen laſſen, erſchienen in Varnhagen’s glatter, geleckter Darſtellung leblos, ja abgeſchmackt. Der vornehmen Welt gefiel dieſe kühle Weiſe, und Metternich lobte den verunglückten Diplomaten als einen Meiſter des hiſtoriſchen Stiles, wohl nicht ohne die ſtille Abſicht, den unbequemen Mann von aller politiſchen Thätigkeit abzuſchrecken. Etwas deutlicher verriethen ſich Varnhagen’s liberale Anſichten in den Hegel’ſchen Jahrbüchern , die er, faſt ſo unermüdlich wie der Herausgeber Eduard Gans, mit kritiſchen Aufſätzen verſorgte.

428IV. 7. Das Junge Deutſchland.

Aber nur am Theetiſch ſeiner Rahel war er ganz er ſelber. Hier unter Schriftſtellern, Lebemännern, Diplomaten außer Dienſt ließ er ſeiner böſen Zunge freien Lauf und begönnerte, überall bewandert, immer dienſt - bereit, die jungen Talente. Hier entdeckte Gans, neben einer Menge neuer politiſcher Ideen, auch die große äſthetiſche Wahrheit: die Taglioni tanzt Goethe. Hier war Jeder verpflichtet geiſtreiche Einfälle vorzubringen und Alles beſſer zu wiſſen als andere Leute was dem wahren Berliner die Krone des Lebens iſt bis Rahel, die Thyrſusſchwingerin des Zeit - gedankens , die Blitze ihres Geiſtes über die weite Welt hin fahren ließ und die Eingeweihten zu verſtändnißinnigem Lächeln begeiſterte. Aus ihrem Weſen redete der ruheloſe Weltſchmerz eines edlen, aber tief unbefriedigten Frauenherzens, oder, wie ſie ſelbſt ſagte, eine beſondere Melancholie, ein Drängen nach vorwärts, eine Prätenſion, ein Erwarten, daß es angehe. Neues, Unerhörtes ſollte geſchehen. Mit dialektiſcher Kühnheit überſprang ſie alle die Schranken, welche Natur und Geſchichte der Menſchheit geſetzt haben; Vaterland und Kirche, Ehe und Eigenthum, Alles erlag ihrer zer - ſetzenden Kritik. Warum ſollte das Waſſer nicht auch einmal brennen, das Feuer fließen oder der Mann Kinder gebären? Wenn Fichte’s Werke Frau Fichte geſchrieben hätte, wären ſie ſchlechter? mit dieſem Satze erwies ſie ſiegreich die gleiche Begabung der beiden Geſchlechter. In der ſittlichen Welt ließ ſie allein die Willkür des perſönlichen Gefühles gelten; ſie fand es fürchterlich , daß manche eheliche Kinder ohne wahre Liebe erzeugt werden, und ſchloß daraus kurzab: Jeſus hat nur eine Mutter. Allen Kindern ſollte eine ideeller Vater conſtituirt werden, und alle Mütter ſo unſchuldig und in Ehren gehalten werden wie Maria. Solche Einfälle ließen ſich ertragen, wenn die gutherzige, geiſtvolle Frau ein flüchtiges Ge - ſpräch dadurch belebte; doch ſie erlangten eine unverdiente Bedeutung durch die jugendlichen Zuhörer, die ſchon bei ihrem Hegel gelernt hatten jedes ſittliche Geſetz als überwundenen Standpunkt abzufertigen und nun die Weisheitsſprüche der Mutter der jungen Literatur in ihren Schriften verwertheten.

Wilhelm Humboldt, der ſich auch eine Zeit lang an dem Zauber dieſer Geſpräche ergötzte, fühlte doch bald heraus, daß hier nur das an - maßende, jeder Hingebung an das Allgemeine unfähige Ich redete, und rief der Freundin zu:

Vertraut mit Allem, was die Bruſt durchwühlet,
Mit jedem ird’ſchen Tragen und Geneſen,
Bliebſt fremd Du dem was überirdiſch bindet.

Nach Rahel’s Tode veröffentlichte der Wittwer (1834) ihre Briefe und Geſpräche in einem Buche des Andenkens . Da ſtanden denn in ſelt - ſamem Durcheinander tiefe Gedanken und herzliche Worte der Bewunde - rung für echte Männergröße, aber leider auch ſchillernder Unſinn, hyſte - riſche Stoßſeufzer und leere Wortſpiele, die nur durch den gezierten Ausdruck429Rahel. Die junge Kritik.auf den erſten Blick verblüffen konnten. Das unglückliche Buch blieb lange eine Fundgrube für die aphoriſtiſchen Halbgedanken der Feuilletons.

Aus dieſen Pariſer und Berliner Quellen nährte ſich eine neue Lite - ratenſchule, welche von einem ihrer Mitglieder, Wienbarg, den Namen des Jungen Deutſchlands empfing, obgleich ſie weder jugendlich noch deutſch war. Alle ihre Genoſſen ſtammten aus Norddeutſchland, aus dem ge - bildeten aber bildloſen Theile des Vaterlandes, wie Goethe zu ſagen pflegte, und in Allen zeigte ſich die Verſtandesbildung ungleich ſtärker als die Macht der Phantaſie. Auch bisher war jede Revolution unſerer Literatur von dem rührigeren Norden ausgegangen, und immer hatten die neuen Ideale erſt durch die überlegene Dichterkraft der Oberdeutſchen ihre Vollendung erlangt, das claſſiſche Ideal durch Schiller und Goethe, das romantiſche durch Uhland und Rückert. Diesmal aber verhielten ſich Süd - und Mittel - deutſchland erſt gleichgiltig, dann feindſelig; denn hier im lieben, warmen Neſte deutſcher Dichtung und Sprachbildung witterte man raſch heraus, daß die neue literariſche Bewegung jüdiſch-franzöſiſchen Urſprungs war und mithin unfruchtbar bleiben mußte.

Da die lyriſche Begabung den jungen Schriftſtellern ſammt und ſon - ders fehlte, ſo machten ſie aus der Noth eine Tugend und behaupteten, nur die Proſa enthalte noch literariſche Keime . Lebendige Geſtalten zu ſchaffen, die ewigen Empfindungen des Menſchenherzens auszuſprechen überließen ſie den ideenloſen Handwerkern, die man vordem Künſtler genannt hatte; ſie wollten die Tendenzen des Zeitgeiſtes vertreten, und es kam ihnen nichts darauf an, ob ſie ihre zeitgemäßen Reflexionen in das Gewand einer Novelle, einer Reiſebeſchreibung einkleideten oder die allein angemeſſene Form der Feuilletonplauderei wählten. Die Dichtung ſollte nicht mehr durch ihre Ideale das Leben verklären, ſondern das Leben ſollte mit ſeinen endlichen Zwecken und Tageslaunen die Poeſie beherrſchen. Daher ſind auch die Schriften des Jungen Deutſchlands bis auf die letzte Zeile vergeſſen worden ſobald die Geſchichte über die Tendenzen der dreißiger Jahre hinwegſchritt. Die neuen Stürmer und Dränger verglichen ſich gern mit Lenz, Heinſe und den anderen Kraftgenies aus den Tagen des Werther; ſie bemerkten nicht, daß ſie ſelbſt nur offene Thüren einrannten, da die Herrſchaft des Philiſterthums durch Goethe längſt gebrochen war und die neue Geſellſchaft, wenngleich ſie noch zuweilen einem Anfalle zimperlicher Scheinheiligkeit unterlag, doch in der Regel dem heißen Blute der Jugend eine ſehr duld - ſame Nachſicht gewährte. Sie wähnten, ihre junge Kritik müſſe ebenſo ſchöpferiſch wirken, wie einſt Leſſing’s kritiſche Schriften, während die deutſche Dichtung in ihrer ſtolzen Ungebundenheit eines Befreiers längſt nicht mehr bedurfte. Ihr Radicalismus war erkünſtelt, ohne Ernſt, ohne nachhaltige Leidenſchaft; manches ihrer Schlagworte benutzten ſie nur als einen Unter - grund, von dem ſich die Größe ihres eigenen, zerriſſenen Ich wirkſam ab - heben ſollte.

430IV. 7. Das Junge Deutſchland.

Den Herold ihres Ruhmes ſpielte der Berliner Journaliſt Theodor Mundt. Der heimſte im Salon der Rahel die neuen Gedanken ein, beſprach in den Dioskuren und anderen kurzlebigen Zeitſchriften die Werke der jungen Titanen, verherrlichte in ſeiner Madonna das Recht der freien Liebe, wiederholte in den Modernen Lebenswirren die alten Börniſchen Witze über Hochwohlgeboren, über den Zeitpolypen, über Kleinweltwinkel, und erwies in einer langweiligen Schrift über die Einheit Deutſchlands, daß große Monarchen fortan weder möglich noch nöthig ſeien, da die con - ſtitutionelle Monarchie das Königthum phyſiognomielos mache und mithin nur den Durchgang zur Republik bilde. Geiſtreicher klangen die Aeſthe - tiſchen Feldzüge und die anderen kleinen kritiſchen Aufſätze des Holſten Ludolf Wienbarg. Sinnlichkeit und Verſtand betrachtete er als die Mächte der neuen Zeit; nachdem Luther den Verſtand befreit ſollten nunmehr auch die Sinne zu ihrem Rechte kommen. Darum blieb den modernen Deſtinsſchriftſtellern vorbehalten, die Dichtung ganz mit der Wirklichkeit zu erfüllen: Poeſie und Leben ſind Inſeparabeln, das Weibchen härmt ſich zu Tode wenn das Männchen von ihm getrennt. Dazu Aufklärung und Weltbürgerthum im Ueberſchwang, denn Pantheismus und Pan - civismus wachſen auf einem Stiel . Weder Mundt noch Wienbarg ver - mochte zu wachſen; jenem fehlte die Begabung, dieſem der Fleiß.

Mehr Lebenskraft beſaß Heinrich Laube; er brachte etwas ſchleſiſche Munterkeit in die blaſirte Berliner Schriftſtellerwelt. Leider trat er zu früh auf den literariſchen Markt hinaus, und da er noch nichts Eigenes bieten konnte, ſo mußte er durch Peitſchenknallen und burſchikoſe Großſprecherei Aufſehen erregen. In ſeinem Neuen Jahrhundert verſuchte er alles Mög - liche und Unmögliche dem Maßſtabe des Liberalismus anzuzwingen ſo geſtand er ſpäterhin als gereifter Mann: er feierte Rotteck als deutſchen Lafayette, erklärte die Vernunft für die Grundlage der liberalen Weltan - ſchauung, für die oberſte aller Rechtsquellen und bewunderte die polniſche Freiheit mit einer Unſchuld, die einem Schleſier wunderlich anſtand. Auch das junge Europa enthielt nur Feuilleton-Betrachtungen; er gab ihnen je - doch, wie er ſelbſt ſagt, eine Roman-Phyſiognomie , und bei den mehr aufrichtigen als anmuthigen Schilderungen der freien Liebe konnten jugend - liche Leſer wohl glauben, daß ſie eine Dichtung vor ſich hätten. Von künſtleriſcher Schönheit war nichts darin; nur der geſunde Menſchenver - ſtand, der zuweilen durchbrach, ließ errathen, daß der junge Poet dieſer vorlauten Prahlereien bald müde werden würde. Ueber Goethe ſprach Laube mit Bewunderung, aber auch mit dem Gefühle der Ueberlegenheit; denn das ſtand dem Jungen Deutſchland feſt, daß die neue Literatur über den alten genußſüchtigen Fürſtendiener unendlich weit hinausſchreiten müſſe: So lange Goethe’s Zeit klein war, war er groß; als ſie groß wurde, war er klein. Vielleicht wird aus ſeinem Sarge die Freiheit ſteigen. Mit allen Jungfrauen hat er gekoſt, aber mit dieſer ſchönſten nimmer.

431Gutzkow und Schleiermacher.

Noch früher, als Laube, ſchon mit einundzwanzig Jahren, verſuchte ſich Karl Gutzkow in der Schriftſtellerei, ein echter Berliner, der Natur entfremdet, ganz Verſtand, ganz Bildung, ſo daß ſelbſt ſeine Leidenſchaft einen doktrinären Zug zeigte. Wie ernſtlich er ſich auch ſpäterhin bemühte zu ſchauen, zu erleben, zu empfinden, ſein Tagelang hing es ihm nach, daß er in dieſer Großſtadt aufgewachſen war, wo ſelbſt der Pöbel kein ärgeres Schimpfwort kannte als den Namen ungebildeter Menſch , wo die Kinder ſich frühe ſchon in den Thierbuden ihrer eigenen Affenähnlichkeit bewußt wurden aber ſelten oder niemals eine deutſche Rinderheerde zu Geſicht bekamen. Immer mußte er geiſtreich ſein, einen einfachen Ge - danken einfach auszudrücken war ihm unmöglich. Er glühte von Ruhm - ſucht, die Erfolge Anderer wurmten ihn tief, und Fernſtehende konnten den nervöſen, im Grunde gutmüthigen Mann leicht für einen böſen Neid - hart halten. In raſcher Folge erſchienen eine Reihe von Novellen, alle arm an Geſtalten und überfüllt mit weltſchmerzlichen Betrachtungen; dann die Briefe eines Narren an eine Närrin, eine Gefühlsſpielerei in Jean Paul’s ſchwülſtigem Stile, nur ohne deſſen Gemüthlichkeit; dann Nero, ein formloſes Drama, das angeblich den bis auf unſere Tage noch un - entſchiedenen Kampf des Schönen mit dem Guten darſtellen ſollte, aber nur verworrene ſtarkgeiſtige Reden oder froſtige Späße vorbrachte und nicht einmal durch die Schilderung des Cäſarenwahnſinns ein Gefühl des Grauens erweckte.

Erſt durch einen großen literariſchen Skandal drang Gutzkow’s Name in weitere Kreiſe. Die beiden heißen wonnigen Weinjahre 34 und 35 ſollten unſerer Literatur ſchwere Stürme bringen. Im Herbſt 1834 ſtarb Schleiermacher. Die Kirche klagte um ihren großen Lehrer, und wer die ſtille Tragik eines Denkerlebens zu begreifen vermochte, blickte tief er - ſchüttert zurück auf die Laufbahn dieſes Mannes, der nur darum die be - ladenen Herzen ſo mächtig hatte tröſten können, weil er ſelbſt ſo ſchwer gelitten, den ewigen Schickſalsmächten ſo nahe geſtanden hatte. Wie wunderbar hatte Gott ihn geführt! Wie viele Kämpfe, bis dieſer Scheue ſeinen Widerwillen gegen alles öffentliche Wirken überwand und dann eine Macht ward in ſeinem Volke; wie viele Irrungen des Gefühls, wie viele Enttäuſchungen, mühſam verborgen unter ſcharfem Witze, bis dieſes reiche Herz, das alle ſeine Wurzeln und Blätter nach Liebe ausſtreckte, mit dem gebrechlichen, mißgeſtalteten Körper ſich vertragen lernte und endlich doch in einer reinen Neigung ſeinen Frieden fand; wie viele Zweifel, bis ſich ihm das Gefühl der Abhängigkeit von Gott zu dem frohen Be - wußtſein der Zugehörigkeit, der Gotteskindſchaft ſteigerte, bis der kühne Forſcher ſich mit ſeiner Kirche ganz einig wußte und auf dem Todesbette, nach ſeinem evangeliſchen Rechte, ſich ſelber und den Seinigen das Abend - mahl ſpendete.

Und an dieſem Grabe, vor dem ſelbſt Varnhagen in Ehrfurcht ſtand,432IV. 7. Das Junge Deutſchland.wagte Gutzkow’s jugendlicher Vorwitz eine Leichenſchändung. Um die ſal - bungsvollen Klagen der Theologen zu verhöhnen, ließ er plötzlich, gänz - lich unbefugt, die längſt vergeſſene ſchwächſte Schrift des Todten wieder erſcheinen, die einzige die ihres Verfaſſers nicht würdig war, die ver - trauten Briefe über Friedrich Schlegel’s Lucinde aus dem Jahre 1800. *)S. o. I. 206.Schleiermacher hatte ſie einſt niedergeſchrieben weil er ſeinem bedräng - ten Freunde Schlegel gegen die Angriffe der platten Moraliſten zu Hilfe kommen wollte; und ſchon während des Schreibens war ihm nicht wohl zu Muthe geweſen. Dieſe Myſtik der Liebe, die wohl manches holde Geheimniß enträthſelte, aber auch manches unzart entweihte, ſtammte nicht aus der Naturgewalt einer ſtarken Leidenſchaft, ſondern aus der halb unbewußten Sophiſterei einer überbildeten, fremdem Gefühle nach - gehenden Empfindung. Als Schleiermacher ſpäterhin der Romantik ent - wuchs, lernte er bald einſehen, wie unmöglich es iſt, die ſittlichen Ge - ſetze der Geſellſchaft allein aus der Idee der Perſönlichkeit heraus zu geſtalten. Doch gerade dieſe ſubjective Willkür des jugendlichen Roman - tikers behagte den Jungdeutſchen, wie ſie ja faſt überall nur alte Irrthümer in neuer Geſtalt vorzubringen wußten. Seine warme Vertheidigung der Sinnlichkeit bot ihren lüſternen Mäulern ſüße Schnabelweide, und Gutzkow vergröberte ſie zu jener geiſtloſen und unwürdigen Libertinage , welche der junge Schleiermacher ſelbſt ausdrücklich abgewieſen hatte. Er miß - brauchte den reinen Namen des Theologen um in einer langen Einleitung kurzab die Unzucht und die Gottloſigkeit zu predigen: Nicht wahr, Ro - ſalie? Erſt ſeitdem Du Sporen trägſt an Deinen ſeidenen Stiefelchen, weißt Du was es heißt: ich liebe Dich Komm her, Franz! Wer iſt Gott? Du weißt es nicht? Unſchuldiger Atheiſt, philoſophiſches Kind! Ach hätte die Welt nie von Gott gewußt, ſie würde glücklicher ſein! Und mit dieſem läppiſchen Gerede wähnte er wirklich eine befreiende That zu vollziehen. Meine Zähne umſchließen die deutſcheſten Laute, rief er feierlich, ich glaube an die Reformation der Liebe wie an jede ſociale Frage des Jahrhunderts, und mit Jubel hießen die Genoſſen dieſen ſonderbaren Reformator, der an alle Fragen glaubte, willkommen. Wienbarg ſchrieb entzückt: Das ſchönſte und geiſtreichſte Kind von Schleiermacher war bisher verſtoßen und verleumdet, weil es ein Kind der Liebe war und nicht ein - mal ſeines Vaters Namen trug.

Geleſen wurden die Schriften des Jungen Deutſchlands wenig, um ſo mehr beſprochen; und dies war ſchon ein Erfolg, da die moderne Ge - ſellſchaft ſich verpflichtet glaubt über Alles was ſie kennt oder nicht kennt mitzureden, alſo den gemachten Ruhm leichtgläubig hinnimmt. Mit den Ideen der neuen Pariſer Literatur drangen auch ihre betriebſamen Ge - ſchäftsgewohnheiten, alle ſchlechten Künſte gegenſeitiger Lobpreiſung über433Jungdeutſche Fremdbrüderlichkeit.den Rhein. Umſonſt verſpottete Scribe dieſe Unſitten in ſeinem feinen Luſtſpiele La Camaraderie; ſie wurden den Franzoſen unentbehrlich, zu - mal ſeit die Zeitungen, nach dem Vorbilde von Girardin’s Tageblatt La Presse, rein demokratiſche Formen annahmen, durch wohlfeile Preiſe und zahlreiche Geſchäftsanzeigen ſich maſſenhaften Abſatz zu ſichern lernten. So weit es unſere beſcheidenen Verhältniſſe geſtatteten, wußte auch das Junge Deutſchland für den Eintagsruf ſeiner Leute zu ſorgen. Mit Pauken und Trompeten wurde der junge Gutzkow durch Wienbarg der Nation vorgeführt, er, der geniale Verfaſſer des Maha Guru, der das epoche - machende Literaturblatt zum Phönix ſchreibt, der jugendliche Templer, der kühnſte Soldat der Freiheit und der anmuthigſte Prieſter der Liebe, den Deutſchlands Boden trägt . Kaum minder lächerlich klang es, wenn Heine den lärmenden jungen Laube wegen ſeiner weitaustönenden Ruhe und ſelbſtbewußten Größe pries. Auch manche kleine Leute, die nur im Troſſe des Jungen Deutſchlands mitliefen, ſchoſſen unter dem befruchten - den Regen dieſes wechſelſeitigen Selbſtlobes plötzlich zu literariſcher Größe auf. Da lebte in Leipzig der Herausgeber der Europa, Guſtav Kühne, ein harmloſer Mann, als Schriftſteller ſo trocken, daß der Leipziger Stu - dent wenn er ſich langweilte zu ſagen pflegte es kühnelt mich ; in ſeinem wohlgeordneten Hauſe fanden aber die jungen Literaten gaſtliche Aufnahme, darum prieſen ſie ihn als deutſchen Dichter, und noch heute wandert ſein Name als eiſernes Inventar aus einem literarhiſtoriſchen Handbuch in das andere hinüber, obgleich Niemand ſeine Werke kennt.

Welch ein Abſtand zwiſchen den Teutonen Jahn’s und dieſer neuen literariſchen Jugend. Dort Alles Kraft bis zur Roheit, hier ein ge - ſuchtes und geziertes Weſen, dort Glaube, hier Spott, und ſtatt des vater - ländiſchen Uebereifers der Sprachreiniger eine zur Schau getragene Sprach - mengerei, die ſelbſt das Wälſchen der ſüddeutſchen Kammerredner noch überbot. Die gewaltige Aneignungsfähigkeit unſerer Sprache war von jeher ein Zeichen unſerer Stärke, weil der Germane als geborener Er - oberer ſein Eigenthum nimmt wo er es findet; aber ſie iſt auch, wie jede große Begabung, oft ſündlich mißbraucht worden, und niemals frevelhafter als in dieſen Tagen. Lediglich aus Eitelkeit, weil ſie alles Franzöſiſche für vornehmer hielten und ſich den Anſchein geben wollten in Paris zu Hauſe zu ſein, beluden die Schriftſteller des Jungen Deutſchlands ihren ohnehin verkünſtelten Stil noch mit einer Maſſe geſchmackloſer wälſcher Prachtwörter. Als Wienbarg ein neues Bändchen herausgab, verkündigte er erhaben, er ſtelle ſein kritiſches Wirken unter die Reverbere des Buch - handels .

Dies arge Beiſpiel verdarb den deutſchen Zeitungsſtil um ſo gründ - licher, da der junge Nachwuchs der Tagesſchriftſteller ſchon zum Theil aus Juden beſtand, denen das Sprachgefühl faſt immer abging. Wie gewaltig war doch die Macht des Judenthums in wenigen Jahren ge -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 28434IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſtiegen! Börne und Heine, Eduard Gans und die Rahel gaben den Ton an im Jungen Deutſchland, dazu als Fünfter etwa noch Dr. Zacharias Löwenthal, der betriebſame Verleger in Mannheim. Das Weltbürger - thum und der Chriſtenhaß, der ätzende Hohn und die Sprachverderbniß, die Gleichgiltigkeit gegen die Größe der vaterländiſchen Geſchichte Alles war jüdiſch in dieſer Bewegung, obgleich das Junge Deutſchland niemals eine geſchloſſene Schule bildete, Börne mit der Mehrzahl ſeiner deutſchen Nachahmer nicht einmal brieflich verkehrte und Gutzkow die Juden zum Mindeſten nicht liebte. Wohl war die Zahl der orientaliſchen Chorführer nicht groß, aber der Jude beſitzt bekanntlich die räthſelhafte Gabe ſich zu vervielfältigen; wer in einer engen Gaſſe zwanzig Juden vor den Thüren ſtehen ſieht, ſchwört darauf, es müßten ihrer hundert ſein. Da jene Fünf zudem ihre germaniſche Gefolgſchaft wirklich überragten, ſo erlangte der jüdiſche Geiſt für kurze Zeit einen Einfluß auf die deutſche Literatur, wie ſeitdem niemals wieder. Wohl hat ſich die Zahl der jüdiſchen Schrift - ſteller mittlerweile ſtark vermehrt, aber ſie gewinnen nur dann noch die Achtung der Nation, wenn ſie ganz zu Deutſchen geworden ſind; der Ruhm eines Heine war nur möglich in einem Geſchlechte, das über ſeinen fremdbrüderlichen Träumen den uralten Gegenſatz ariſcher und ſemitiſcher Empfindung leichtſinnig vergeſſen hatte. Zu ſchaffen vermochte dieſer halb - jüdiſche Radicalismus nichts, jedoch er half die Grundfeſten von Staat, Kirche, Geſellſchaft aufzulockern, den Umſturz des Jahres 1848 vorzube - reiten; deshalb allein gebührt ihm eine Stelle in der Geſchichte.

Wie heillos alle ſittlichen Begriffe in dieſen jungdeutſchen Kreiſen ſich verwirrt hatten, das bekundete mit cyniſcher Frechheit Georg Büchner’s Drama: Danton’s Tod. Während die Polizei ihm ſchon auf den Hacken ſaß wegen ſeiner oberheſſiſchen Umtriebe*)S. o. IV. 310., vertiefte ſich der junge Poet mit fieberiſchem Eifer in die Zeitungen der Revolutionsjahre und ſchilderte dann in locker an einander gereihten dramatiſchen Scenen, getreu wie ein Chroniſt, das Treiben der Blutmenſchen des Conventes Zug für Zug nach dem Leben dies wiederauferſtandene unverfälſchte Keltenthum der Druidenzeiten mit ſeiner Blutleckerei, ſeiner Wolluſt, ſeinem finſteren Wahne und dem widrigen Zuſatz moderner Blaſirtheit. So erſchreckend wahr vermochte unter allen Zeitgenoſſen nur noch Carlyle die Greuel jener Tage darzuſtellen; aber während der Schotte ſeinen ſittlichen Ekel leidenſchaftlich ausſprach, wähnte der Deutſche alles Ernſtes, die Revolu - tion zu verherrlichen durch ein Werk, das doch nur Abſcheu erwecken konnte. Wer mag ſagen, ob dieſer begabteſte aller jungdeutſchen Poeten ſeinem troſtloſen Materialismus vielleicht noch hätte entwachſen können? Büchner ſehnte ſich nach künſtleriſcher Wahrheit, er haßte die Phraſe, ſelbſt das Pathos der Schiller’ſchen Dichtung widerſtand ihm, nur die naive435Büchner. Pückler-Muskau. Ch. Stieglitz.Innigkeit, die verhaltene Leidenſchaft des Volkslieds ließ er gelten. Als er in ſeiner Novelle Lenz die Lieblingszeit der Jungdeutſchen, die Epoche der Stürmer und Dränger behandelte, verſchmähte er jede Tendenz und erzählte mit grauſamer Wahrhaftigkeit, mit einem unheimlichen congenialen Verſtändniß, wie der ſtille Wahnſinn Herr ward über den Jugendfreund Goethe’s. Noch ehe das Gedicht vollendet war, ſtarb er plötzlich, im Fe - bruar 1836, wenige Tage nach Börne’s Tode, und der an Talenten ſo arme deutſche Radicalismus verſäumte nicht, ſich mit dieſem Namen zu brüſten. Der junge Herwegb beſang Büchner und Börne als die deut - ſchen Dioskuren.

Gleich Büchner hing auch Fürſt Pückler-Muskau nur mittelbar mit dem Jungen Deutſchland zuſammen, mehr durch die Verwandtſchaft der Geſinnung, als durch perſönlichen Verkehr. Indeß hatte er im Salon der Rahel ſeine Gabe liebenswürdiger Plauderei zum Virtuoſenthum ausge - bildet, und auf Varnhagen’s Rath ließ er die Briefe eines Verſtorbenen erſcheinen, eine geiſtreiche Reiſebeſchreibung, die den Jugendſchriften Gutz - kow’s oder Laube’s weit überlegen war; denn der vornehme Weltmann hatte Vieles wirklich erlebt, was Jene nur erkünſtelten, er ſagte über die Heuchelei der engliſchen Sitten manches treffende Wort, auch der leichte ſpöttiſche Ton ſeiner anmuthigen Erzählung entſprach ſeinem Charakter, und ſelbſt die Sprachmengerei, die er ſehr weit trieb, klang bei ihm nicht ſo unnatürlich wie bei den jungdeutſchen Plebejern, weil die ariſtokratiſche Geſellſchaft in der That noch in ſolchem Kauderwälſch zu reden pflegte. Als vorurtheilsfreier Weltbürger, als Verächter der langweiligen ehrbaren Mittelklaſſen, insbeſondere des preußiſchen Beamtenthums, wurde der Fürſt anfangs von den Kritikern des Jungen Deutſchlands willkommen geheißen. Auf die Dauer konnte er dem Fluche des Dilettantismus doch nicht entgehen. Da er die Feder nur mit läßlicher Geringſchätzung führte, ſo ſchrieb er ſich bald aus; ſeine wunderbaren Reiſeabenteuer in aller Herren Ländern, die wahren wie die erfundenen, verſchafften ihm für kurze Zeit einen Weltruf, ſchließlich begannen die Leſer der Weltgänge Semi - laſſo’s und ſeiner zunehmenden Blaſirtheit ſelber müde zu werden. Was er von ſchöpferiſcher Kraft beſaß, das zeigte er als Meiſter der Garten - kunſt in den herrlichen Parkanlagen ſeiner Schlöſſer Muskau und Branitz.

Der Zank vor Schleiermacher’s Grabe war noch nicht verſtummt, da rief ein neuer Todesfall die Kämpen des Jungen Deutſchlands ſchon zu neuen Thaten auf. Im December 1834 erdolchte ſich Charlotte, die ſchöne hochſinnige Gattin des jungen Poeten Heinrich Stieglitz; in einigen hinterlaſſenen Zeilen ſprach ſie dem Gatten den Wunſch aus, er möge glücklicher werden im wahrhaften Unglück , ſie ſchien zu hoffen, der un - geheure Schmerz würde ihm das dichteriſche Vermögen, die tragiſche Leiden - ſchaft ſtärken. Wer ſich auf Weiberherzen verſtand, konnte dieſen Selbſtmord kaum räthſelhaft finden. Heinrich Stieglitz zählte zu jenen bedauerns -28*436IV. 7. Das Junge Deutſchland.werthen Mittelmäßigkeiten, die durch glänzend beſtandene Examina zu un - berechtigtem Ehrgeiz verleitet werden; er übernahm ſich in künſtleriſchen Plänen, denen ſeine Kraft nicht gewachſen war. Seine ſtolze junge Frau theilte dieſe unfruchtbaren Qualen einige Jahre hindurch; dann ward ihr klar, daß der Mann ihrer Wahl ihren Idealen nicht entſprach, und ſie vermochte die Enttäuſchung nicht zu überleben. Um den Geliebten zu ſchonen und vielleicht auch weil ſie ſelbſt in krankhafter Selbſttäuſchung be - fangen war, verhüllte ſie dann die weiblichen Beweggründe ihres Ent - ſchluſſes mit ſtarkgeiſtigen Worten. Gleich den meiſten Selbſtmorden war auch dieſer der Schwäche, dem Kleinmuth entſprungen. Aber unmöglich konnte eine ſo einfache Erklärung dieſer nach nervöſer Aufregung lechzen - den Zeit genügen. Ganz Berlin betrachtete Charlotte Stieglitz als eine Heldin und fand in ihrer That, die doch nur menſchliches Mitleid ver - diente, die Offenbarung eines bisher unerhörten geiſtigen Opfermuthes, ein literariſches Märtyrerthum, das der Duldergröße der kirchlichen Heiligen gleich komme. Selbſt Rauch und andere ernſte Männer ließen ſich von der allgemeinen Bewunderung hinreißen; Böckh feierte in griechiſchen Diſtichen die neue Alkeſte, die zum Heil des Gemahls freiwillig zum Hades hinabſtieg. Theodor Mundt aber, der Freund des Hauſes, ſäumte nicht, das gräßliche Ereigniß geſchäftlich auszubeuten; er ſetzte der Todten ſofort ein biographiſches Denkmal, riß mit roher Hand alle Schleier hin - weg von den ſtillen Schmerzen dieſer tief unſeligen Ehe. Dann reiſte gar noch der Wittwer ſelbſt mit dem Dolche ſeiner Gattin durch Deutſch - land und prahlte mit ſeiner eigenen Schande. In ſeinen nachgelaſſenen Erinnerungen an Charlotte ſagte er: Ihre letzten Zeilen ſind fortan mein Diplom, meine höhere Promotion. Tiefe Gedanken konnte das Leid in dieſem Schwächling nicht wachrufen; er iſt nach Jahren in Italien als ein Reiſebeſchreiber gewöhnlichen Schlages geſtorben. Nicht die verzwei - felte That ſelbſt, wohl aber der Widerhall den ſie weckte, war ein trau - riges Zeichen der Zeit, ein Zeichen verſchrobener und durch Ueberbildung unzarter Empfindungen.

Durch Charlotte’s Tod wurde Gutzkow zu ſeinem Romane Wally angeregt. Mit dieſem Werke ſo ließ ſich der Chor der jungdeutſchen Kritik alsbald vernehmen wagten die neuen Stürmer und Dränger ihren kühnſten Wurf, wie einſt die alten mit Heinſe’s Ardinghello. Aber welch ein beſchämender Abſtand! Bei Heinſe die nackte, unverfälſchte Natur, lodernde Sinnlichkeit, leibhaftige Geſtalten und eine Kunſt lieb - licher Erzählung, die den Leſer über den frevelhaften Inhalt leicht hin - wegtäuſchte; dazu in den eingewobenen Kunſtbetrachtungen manche gute Gedanken, würdig einer Zeit, welche an die Schönheit noch begeiſtert glaubte. Bei Gutzkow nur ein Wuſt von Reflexionen, unreife, altkluge Redereien über die Rechte des Fleiſches, die Unnatur der Ehe, die Thorheit des Chriſtenthums; dazwiſchen hinein ein lendenlahmer, gelangweilter Held437W. Menzel und die Jungdeutſchen.und eine ebenſo abgeſchmackte, blaſirte Heldin, die ſich ihrer weiblichen Schamhaftigkeit als eines Vorurtheils ſchämt und dann vor ihren Ge - liebten nackt hintritt um ſich mit ihm ſymboliſch zu vermählen, während ſie zugleich mit einem ungeliebten Manne die Ehe eingeht; zum Schluſſe natürlich ein Selbſtmord. Und dieſe ekelhafte Schmutzerei ohne jeden Hauch kräftiger Leidenſchaft, ohne ein einziges natürliches Wort.

Ein ſolches Uebermaß unſauberer Frechheit konnte in einem ſittlichen Volke nicht ohne Widerſpruch hingehen. Im September 1835 eröffnete Wolfgang Menzel in den Spalten ſeines Stuttgarter Literaturblattes den Kampf gegen das Junge Deutſchland. Er zählte zu den eifrigſten Mit - gliedern der württembergiſchen Oppoſition, war Dutzbruder von Welcker und vielen anderen ſüddeutſchen Kammerrednern, hatte an der Boller Adreſſe der ſchwäbiſchen Liberalen eifrig mitgewirkt*)S. o. IV. 240. und ſich auch der mißhandelten Juden oft mit Wärme angenommen; doch er hielt feſt an ſeinem evangeliſchen Glauben und ließ ſich durch die Weisheit der Zei - tungen nicht beirren in der Einſicht, daß Frankreich ſinke, Deutſchland ſteige. Als er nun aus Gutzkow’s Wally das undeutſche, unchriſtliche Weſen des Jungen Deutſchlands klar erkannt hatte, da brach er los in ſeiner groben, hochmüthigen, polternden Weiſe, aber mit ehrenwerthem Muthe; er mußte ja wiſſen, daß die Mehrzahl ſeiner liberalen Partei - genoſſen der Kirche halb entfremdet war und ihm ſeine Vertheidigung des Chriſtenthums leicht verdenken konnte. Im Verlaufe des langen Streites, als ein Wort das andere gab, ſprach er endlich offen aus: das vaterlands - loſe Judenthum zerſetze und zerſtöre alle unſere Begriffe von Scham und Sittlichkeit, und wenn der Pöbelwahn des Mittelalters die Juden fälſch - lich der Brunnenvergiftung beſchuldigt hätte, ſo müſſe die alte Anklage jetzt mit vollem Rechte auf dem Gebiete der Literatur erneuert werden.

Mit moraliſcher Entrüſtung allein laſſen ſich die Verirrungen der Kunſt nicht bekämpfen. Gefährlicher als Menzel’s grundproſaiſche Sitten - predigten wurde dem Jungen Deutſchland der äſthetiſche Widerſpruch, der ſich aus dem Kreiſe der ſchwäbiſchen Sänger erhob.

Wo der Winzer, wo der Schnitter ſingt ein Lied durch Berg und Flur,
Da iſt Schwabens Dichterſchule, und ihr Meiſter heißt Natur

alſo ſang Juſtinus Kerner mit gerechtem Stolze. Wie die Schwaben einſt gegenüber der phantaſtiſchen Ueberſchwänglichkeit der Schlegel’ſchen Romantik ihre proteſtantiſche Verſtandesklarheit tapfer behauptet hatten, ſo wieſen ſie jetzt die Künſtelei des neuen Feuilletonſtiles tapfer zurück und bewahrten ſich den Wohllaut des Verſes, den Adel der lyriſchen Kunſtformen, die natürliche Unſchuld unverbildeter Sinnlichkeit. Ihre Muſe

Sang ein Lied nicht ohne Fehle,
Doch vom Staub der Erde rein
438IV. 7. Das Junge Deutſchland.

wie Guſtav Schwab mit liebenswürdiger Beſcheidenheit ſagte. Unter dem jungen Nachwuchs, der ſich um die beiden Patriarchen Uhland und Kerner ſchaarte, beſaß nur Einer, Eduard Mörike, die wunderſame Gabe Alles durch den Glanz der Poeſie zu verklären; aber auch den beiden Pfizer, auch Schwab und Karl Mayer gelang in guten Stunden zuweilen eine friſche Ballade, ein geiſtvolles Sinngedicht oder ein wohlgeſtimmtes Natur - bild, und ſie Alle betrachteten die Poeſie nicht, wie die weltſchmerzfrohen Jungdeutſchen, als einen quälenden Fluch, ſondern als eine lichte Himmels - gabe, die den Dichter ſelbſt beglücken und ihn befähigen ſollte, auch Andere beglückend über das Wirrſal des Lebens emporzuheben. Fröhliche Stunden, wenn die ſchwäbiſchen Poeten beim Schoppen zuſammenſaßen und die beiden jungen öſterreichiſchen Dichter Lenau und Auersperg oder die Gebrüder Adolf und Auguſt Stöber aus Straßburg, die tapferen Vorkämpfer deutſcher Sprache und Dichtung in der verwälſchten Weſtmark, zum Beſuch herüber - kamen. Hier war deutſches Leben, deutſche Kunſt und Laune; wie proſaiſch erſchien daneben die Betriebſamkeit der Gedankenverfertiger am Theetiſch der Rahel oder gar das alberne Griſetten-Gekicher bei Heine’s kleinen Diners.

Darum hielt ſich Guſtav Pfizer berechtigt, im Namen der deutſchen Kunſt gegen Heine und ſeine Gefolgſchaft zu Felde zu ziehen. In ſeinem poetiſchen Schaffen war er ſehr ungleich, die ſpröde Form wollte ſich dem reichen Gedankengehalt der meiſt betrachtenden Gedichte nicht immer fügen, nur einzelne ſeiner Geſtalten, wie der Hermes Pſychopompos, traten ewig ſchön und ewig heiter vor das Auge des Leſers; doch er beſaß ein ſicheres, durchgebildetes Verſtändniß für das Schöne, und Niemand durfte den Bruder Paul Pfizer’s, den erklärten Liberalen, des politiſchen Parteihaſſes beſchuldigen, als er in Cotta’s neuer Deutſchen Vierteljahrsſchrift (1838) die äſthetiſchen Sünden des Jungen Deutſchlands mit würdigen, gemeſſenen Worten ſchonungslos aufwies. Was ſei die gerühmte reizende Verwirrung des Heiniſchen Feuilletonſtiles denn anders als ein läppiſcher Verſuch, die längſt durch Leſſing feſtgeſtellten Grenzen von Poeſie und Proſa wieder einzureißen? und was anders als die Zerſtörung aller Schönheit müſſe erfolgen, wenn die jungen Poeten ſich im Wetteifer die Haare zurückſtrichen um ihre Faunenohren und Satyrshörner recht zu zeigen? Ganz Schwaben ſtimmte ihm zu. Selbſt der junge Aeſthetiker Viſcher, ein hitziger Radi - caler in Politik und Religion, wollte den geſunden Schönheitsſinn ſeines Stammes nicht verleugnen und ſprach ehrlich aus, ſolche Werke der Re - flexion wie die Novellen von Gutzkow oder Laube ſeien überhaupt keine Poeſie. Es war das Verdienſt der Schwaben, daß das Junge Deutſch - land niemals in unſerem Oberlande Fuß faßte, ſondern immer nur ein Sumpfgewächs der großen Städte des Nordens blieb. Und dieſer ſieg - reiche Widerſtand der nationalen Empfindung gegen die jüdiſch-franzöſiſche Zwitter-Literatur ging von demſelben liberalen Süden aus, der die poli - tiſchen Heilslehren der Franzoſen ſo willig aufnahm. Daraus ergab ſich439Einſchreiten des Bundestags.die tröſtliche Gewißheit, daß auch das politiſche Wälſchthum dieſen kern - deutſchen Stämmen doch nur die Haut geritzt hatte, und der deutſche Geiſt die conſtitutionellen Ideen dereinſt noch umgeſtalten würde. Aber wer hätte damals ſolche Hoffnungen ausſprechen können? Alle Welt ſuchte ja noch die Stärke der Süddeutſchen da wo ihre Schwäche lag, in dem wälſchen Wortgepränge ihrer Kammern.

Da Menzel’s Literaturblatt wegen ſeiner hochkirchlichen Richtung in den conſervativen Kreiſen viel geleſen wurde, ſo erregte ſein Angriff an den Höfen großes Aufſehen und beſchleunigte das ſchon längſt beabſichtigte Einſchreiten des Bundestags. Unglücklicherweiſe hatte Wienbarg, als er den Namen des Jungen Deutſchlands aufbrachte, nicht gewußt oder nicht bedacht, daß bereits ein anderes Junges Deutſchland beſtand, jener revo - lutionäre Geheimbund von Flüchtlingen und Handwerksburſchen, der mittler - weile in der Schweiz unter Mazzini’s Oberleitung entſtanden war. *)S. o. IV. 296.Dies Junge Deutſchland war den Frankfurter Demagogenverfolgern nur zu wohl bekannt, und wie nahe lag doch der allerdings ganz grundloſe Verdacht, daß die beiden gleichnamigen Verbindungen irgendwie zuſammenhängen müßten. Eben jetzt war der ruchloſeſte der zahlreichen Mordanſchläge gegen Ludwig Philipp mißlungen. Die Höllenmaſchine Fieschi’s verbreitete Schrecken in ganz Europa; ſtrenger denn je wurden die Umtriebe der Demagogen über - wacht. Da forderten Wienbarg und Gutzkow durch ein großſprecheriſches Manifeſt alle freigeſinnten Schriftſteller Deutſchlands auf, mitzuwirken bei einer Deutſchen Revue, welche Schiller’s Horen und die Revue des deux Mondes zugleich überbieten ſollte. Wie hätte der Deutſche Bund nach Allem was er gegen die politiſche Preſſe gethan, dies Unternehmen dulden können? Der neue preußiſche Bundesgeſandte General v. Schöler, ein Kenner der Literatur, gab dem Bundestage eine wenig ſchmeichelhafte, aber treffende Schilderung von dem Charakter dieſer neuen Literatur, die im Grunde nur die Lehren der Encyclopädiſten wiederhole, doch den Mangel an wahrem Witz und an Neuheit der Gedanken durch Gewandtheit des Aus - drucks und freche Verhöhnung des Heiligſten zu erſetzen verſtehe . Am 11. Dec. 1835 übernahmen ſodann, auf Oeſterreichs Antrag, alle Re - gierungen die Verpflichtung, die Verbreitung der Schriften des Jungen Deutſchlands mit allen geſetzlichen Mitteln zu verhindern. **)Schöler’s Berichte, 3. Nov. 1835 ff.Der Beſchluß war nach Bundesbrauch wieder ſo unbeſtimmt gehalten, daß Hannover einige Monate nachher anfragte, ob denn wirklich alle Schriften der Jung - deutſchen, auch die älteren, verboten werden ſollten. Schöler erwiderte, ſo ſchlimm ſei es nicht gemeint; aber ein erläuternder Beſchluß kam nicht zu Stande. ***)Schöler’s Bericht, 18. April 1836.

Alſo blieb Alles den Einzelſtaaten überlaſſen, und dieſe verfuhren440IV. 7. Das Junge Deutſchland.nach Gutdünken, die meiſten ſehr mild. Da und dort ſchritt man ein wider einzelne Bücher der Jungdeutſchen; in Preußen wurde ſogar der geſammte Verlag der Hamburger Firma Hofmann und Campe, die Heine’s Schriften herausgab, einige Jahre lang verboten. Aber die Ausführung der Verbote geſchah überall ſehr ſaumſelig und unterblieb endlich ganz. Die einzigen Schriften des Jungen Deutſchlands, nach denen die Leſewelt ver - langte, die Werke Heine’s und Börne’s, gelangten faſt unbehelligt in Jeder - manns Hände. Von einer ernſthaften Verfolgung war keine Rede; die jungdeutſchen Literaten kamen ungleich glimpflicher davon als die Heraus - geber der unterdrückten politiſchen Zeitungen. Trotzdem fuhr Heine fort den unglücklichen Verbannten zu ſpielen und verglich ſich mit Dante, der auch das ſalzige Brod der Fremde habe eſſen müſſen. Nur Gutzkow mußte etwas ſchwerer büßen, er wurde von dem Mannheimer Hofgerichte zu kurzer Haft verurtheilt, weil ſeine Wally unbeſtreitbar eine verächtliche Darſtellung der chriſtlichen Religion enthielt.

Wie erträglich auch dieſe Leiden waren, ſo genügten ſie doch die Häupter des Jungen Deutſchlands mit dem Heiligenſcheine des Martyriums zu zieren. Wer mit dem Bundestage in Händel gerieth behielt vor der öffent - lichen Meinung immer Recht; und war es denn nicht eine tief beſchämende Erfahrung, daß ſogar die ſchöne Literatur, die ſich in Deutſchland jeder - zeit unbeſchränkter Freiheit erfreut hatte, jetzt der Willkür der Polizei unter - worfen wurde? Darum trat der Heidelberger Paulus, der Anwalt aller Verfolgten, für Gutzkow’s Wally in die Schranken. An den gewundenen Sätzen merkte man freilich, wie ſchwer es dem alten Rationaliſten fiel das durchaus atheiſtiſche Buch in Schutz zu nehmen; auch andere Vertheidiger Gutzkow’s begnügten ſich mit der ſchmeichelhaften Behauptung, dieſer Roman könne Niemand verführen. Die Mehrzahl der Verfolgten ſelbſt zeigte den Regierungen gegenüber wenig Heldenmuth. Soeben hatten ſie ſich noch prahleriſch vermeſſen, die bürgerliche Geſellſchaft aus ihren Angeln zu heben; jetzt betheuerten ſie demüthig, wie harmlos ihre Geſinnung, wie gering ihr Wirkungskreis geweſen ſei. Heine richtete an den Bund ein Schreiben, das er ſelbſt vor Freunden einen kindlich ſyruplich ſubmiſſen Brief nannte; darin berief er ſich auf das Beiſpiel des Meiſters, des hochtheueren Mannes Martin Luther , und verſicherte in tiefſter Ehrfurcht , er werde immer den Geſetzen ſeines Vaterlandes gehorchen. Der Bundestag aber kannte ſeinen Mann und legte die Eingabe als ungeeignet zu den Akten. *)Schöler’s Bericht, 24. Mai 1836.Auch an Metternich ſendete Heine mit dem gleichen Erfolge die unterthänige Bitte, das ſiegreiche Oeſterreich möge großmüthig ſein und ihn aus ſeinem Elend ziehen. **)Maltzan’s Bericht, 1. Juli 1836.

Zaghaft vor den Behörden, ergoſſen die Jungdeutſchen ihren ganzen Zorn über Menzel’s Haupt. Er allein ſollte ſchuld ſein an der Ver -441Börne, Heine und die Schwaben.folgung; und doch hatte er lediglich ſeine Pflicht als Kritiker gethan und nur mit den ehrlichen Waffen literariſcher Polemik gefochten. Die Maß - regeln des Bundestags billigte er keineswegs; auch ſeine derbe Sprache war anſtändiger als die hämiſchen Verdächtigungen, mit denen die Ge - noſſen des Jungen Deutſchlands ihre Gegner zu beſudeln pflegten. Den - noch blieb er fortan fünf Jahre lang die Zielſcheibe für den Haß der radi - calen Literatur. Börne verdrehte ihm das Wort im Munde und ſchrieb das Büchlein Menzel der Franzoſenfreſſer , obgleich Menzel die Fran - zoſen durchaus nicht angegriffen, ſondern vielmehr dem vaterlandsloſen Deutſch-Juden den verdienten Vorwurf zugeſchleudert hatte: niemals würde ein Franzoſe ſo tief ſinken, ſein eigenes Volk vor Fremden in fremder Sprache zu beſchimpfen. Die Schrift war Börne’s Schwanengeſang und wurde einige Jahre hindurch ſelbſt in den Schulen als ein Meiſterwerk geprieſen; ſie bewies indeß nur, daß der Radicalismus dieſes Mannes ſchlechterdings keinen anderen Inhalt hatte als die öde Verneinung und die Wuth gegen alle Andersdenkenden. Iſt das ein braver Mann hieß es da der ſeine Geſinnung gegen ein öſterreichiſch Lächeln, eine preußiſche Schmeichelei, ein bairiſches Achſelklopfen und ein jeſuitiſches Lob verkauft? Und wieder: Darum iſt ein Feind Gottes, der Menſchheit, des Rechtes, der Freiheit und der Liebe wer Frankreich haßt oder es läſtert aus ſchnöder Gewinnſucht. Daß ein Deutſcher auch noch andere Gründe haben konnte das begehrliche Kriegsgeſchrei der Pariſer ſcharf zurückzuweiſen, kam dem Fanatiker gar nicht in den Sinn. Auch ein Schmerzensſchrei um das freie, jetzt von den Bundestruppen geknechtete Frankfurt fehlte nicht: die Frank - furter ſind Juden neben den chriſtlichen Oeſterreichern und Preußen, ſie müſſen vor ihnen Mores machen!

Noch unredlicher verfuhr Heine. Er hatte einſt mit Menzel und Jarcke in der Bonner Burſchenſchaft zuſammengelebt und kannte ihre ſtreng kirch - liche Geſinnung. Sein Scharfſinn konnte ſich nicht darüber täuſchen, daß der gegenwärtige Kampf eine Nothwendigkeit war, daß die romantiſchen und die radicalen Elemente, welche die alte Burſchenſchaft umſchloſſen hatte, ſich jetzt trennen mußten. Er mußte wiſſen, daß Menzel durchaus ehrlich han - delte; gleichwohl gab er ſeiner Entgegnung den lügneriſchen Titel: wider den Denuncianten. Weit vom Schuſſe wie er war, ließ er allen un - fläthigen Neigungen ſeiner Falſtaffs-Natur die Zügel ſchießen und nannte den Gegner einen Mouchard, einen Ehrloſen, einen Infamen, einen Gauner, einen Schurken, eine Memme. Er erreichte ſeinen Zweck; denn in ſolchen Tagen, die ſich überall durch den Druck der Polizei gequält fühlten, wirkte kein Schimpf furchtbarer als die Beſchuldigung der Denun - ciation. Heine’s empörende Verleumdung wurde alsbald von der geſammten liberalen Preſſe aufgenommen und trotz ihrer handgreiflichen Unwahrheit ſo hartnäckig wiederholt, daß ſie ſich noch heute in den meiſten Literatur - geſchichten wiederfindet.

442IV. 7. Das Junge Deutſchland.

In dem Schwabenſpiegel , den er gegen Pfizer hinausſendete, brauchte Heine einen anderen, ebenſo wirkſamen Kunſtgriff. Da die beiden größten Dichter des Südens, Uhland und Rückert, an den Kämpfen nicht per - ſönlich theilnahmen, ſo ſuchte er den Streit ſo darzuſtellen, als ob nur die neidiſche Mittelmäßigkeit kleiner Poeten gegen ſein eigenes überlegenes Talent, das zimperliche Spießbürgerthum des Oberlandes gegen die freie ſtarkgeiſtige Weltanſchauung des Nordens ſich auflehnte. In Wahrheit kämpfte die ſüddeutſche Poeſie gegen den jüdiſchen Witz. Nicht die mora - liſche Splitterrichterei, die dem lebensfrohen Volke unſeres Südens allezeit fremd war, ſondern der äſthetiſche Widerwille führte den Schwaben die Feder. Eine Schwäche der ſchwäbiſchen Dichter ließ ſich freilich nicht ver - kennen: wenn das Junge Deutſchland völlig in der Tendenz aufging, ſo ſtanden ſie den Leidenſchaften des Tages allzu fern, ihre ſinnige, friedliche Dichtung vermochte die Gedanken einer gährenden und kämpfenden Zeit nicht zu erſchöpfen. Dieſen Mangel wußte Heine gewandt auszubeuten; denn die Kunſt mit Halbwahrheiten diaboliſch zu ſpielen war das Einzige was er mit ſeinem Abgott Napoleon gemein hatte. Er ſchilderte die Schwaben als eine täppiſch ſpielende Kinderſchaar und brachte alſo einen Theil der Lacher auf ſeine Seite. Die radicale Jugend vollends war durch die Spöttereien der neuen Literatur ſchon ganz verwildert; ſie konnte ſogar lachen, wenn Heine von den Kackſtühlchen der ſchwäbiſchen Dichter ſprach oder ſeinen Gegner Pfizer unnatürlicher Sünden beſchuldigte. Immerhin war die Hochfluth der radicalen Feuilletons ſchon vorüber. Die ſchwächeren Talente des Jungen Deutſchlands geriethen bald in Vergeſſenheit; die lebensfähigen, Gutzkow und Laube, begannen in der Stille ſich zu ſammeln und ſühnten ſpäterhin die Thorheiten ihrer Jugend durch reifere Werke. Gutzkow ſchrieb noch während ſeiner Haft ein Büchlein über Philoſophie der Geſchichte, das, reich an hohlen Redensarten, doch ſchon den Anfang ſeiner Selbſtbeſinnung bezeichnete.

Die Pariſer Kolonie der Jungdeutſchen aber zeigte der Welt erſt ihr wahres Geſicht, als ihre Genoſſen unter einander in Händel geriethen. Börne und Heine hatten ſich nie recht vertragen, zwiſchen dem doktrinären Starrſinn und der geſinnungsloſen Leichtfertigkeit war keine Verſtändigung möglich. Börne ſprach ſich darüber ehrlich aus, Heine dagegen vermied den ritterlichen Kampf; er entledigte ſich ſeines lang angeſammelten Grolles erſt, als Börne geſtorben war und der franzöſiſche Republikaner Raspail den Helden der internationalen Demokratie in ſchwungvoller Leichenrede gefeiert hatte. Zum dritten male, wie einſt nach dem Tode Schleiermacher’s und der Charlotte Stieglitz, bekundete das Junge Deutſch - land ſein menſchliches Zartgefühl vor einem friſchen Grabe. Heine’s Schrift über Börne ſagte wieder manche geiſtreiche Halbwahrheiten; der Ton war aber ſo hämiſch, ſo gemein, daß nunmehr auch die liberale Preſſe in Zorn gerieth. Die Conſervativen und die Dichter mochte der liberale Ariſto -443Rückert im Alter.phanes nach Belieben beſchmutzen; daß er ſich an einem Volkstribunen verging, war unverzeihlich. Grimmige Schriften und Zeitungsaufſätze flogen herüber und hinüber. Der Zank ward völlig ekelhaft; die berufene Fehde zwiſchen Voß und Stolberg erſchien daneben wie ein liebevoller Gedanken - austauſch. Als nun gar Börne’s Freundin Frau Wohl ihre Briefmappen öffnete und geſchäftig Alles auskramte was Börne je vertraulich über Heine geäußert hatte, da zogen alle Düfte des Ghettos in dicken Schwaden über Deutſchland hin, und mancher ehrliche Germane begann jetzt erſt einzu - ſehen, vor welchen Götzen er einſt gekniet hatte.

Zeiten des literariſchen Kampfes ſind der Lyrik ſelten günſtig. Nur Wenige verſtanden wie Rückert den ſtillen Blumengarten ihrer Dichtung vor der ſchneidenden Zugluft des Tages ſorgſam einzuhegen. Die Form - loſigkeit der Feuilleton-Poeſie erſchien dem Meiſter der Verskunſt ebenſo verächtlich, wie ihr Geſpött und ihre unzüchtigen Gebärden ſeinen frommen Sinn anwiderten. Er wußte, daß alles Menſchenleben von Gott zu Gott führt, daß die Natur nur die Amme des Geiſtes iſt: ſie nährt ihn bis er fühlt, daß er von ihr nicht ſtamme. Solche Geſinnungen erfüllten ihn, als er die geheimnißvolle Welt ſeiner inneren Erfahrungen und Er - lebniſſe in der Weisheit des Brahmanen zuſammenfaßte. Da ſchien es wohl zuweilen, als ob der Dichter in die beſchauliche Ruheſeligkeit des Orients ganz verſänke, aber immer wieder brach der freie Weltſinn des Abendländers durch, und hoch über aller Weisheit Indiens ſtand ihm das königliche Gebot der chriſtlichen Liebe. Die Fahrten in das Morgenland entfremdeten ihn der Heimath nicht. Mit der alten unverwüſtlichen Sanges - luſt fuhr er fort ſich ſein ganzes Leben zum Kunſtwerk zu geſtalten; jedes Begebniß des Tages umſpann ſeine Phantaſie mit ihren goldenen Fäden. Alles ward ihm zum Gedichte, mochte er nun dem Flüſtern des Windes lauſchen oder ſeinen Kindern Märchen erzählen, oder ſeinem Jonathan, dem Erlanger Philologen Kopp ſeinen Hausſegen ſenden. Oft grollte er ins - geheim den Landsleuten, weil ſie hinter ſeinen orientaliſchen Formenſpielen das weite deutſche Herz, dem nichts Menſchliches fremd blieb, ſchwer er - kannten, und auch ſeine heimathlichen Gedichte nicht ſangbar, alſo nicht wahrhaft volksthümlich finden wollten; doch niemals hätte ſich ſein Künſtler - ſtolz herabgelaſſen, um die Gunſt des Haufens zu buhlen. Ueber den Zeitungsruhm der Götzen des Tages ſagte er noch im Alter frei und groß:

Sperlinge, Staaren
Fliegen in Schaaren.
Tauben in Lauben
Wollen ſich paaren.
Einſam der Adler
Schwebet im Licht,
Unten die Tadler
Achtet er nicht.
444IV. 7. Das Junge Deutſchland.

Auch Chamiſſo gehörte noch zu dem alten Adel unſerer Literatur, der auf das lärmende Selbſtlob des neuen Geſchlechtes ſtolz herabſah. Wenn der ernſte Mann mit den tiefdunklen Augen und den langen weißen Locken einſam durch die Straßen Berlins ſchritt, da betrachteten ihn die jungen Literaten verwundert wie ein Geſpenſt aus einer längſt verſunkenen Zeit, obwohl er doch eben erſt das fünfzigſte Jahr überſchritten hatte und jetzt erſt, nach dem Erſcheinen ſeiner geſammelten Gedichte, die Höhe ſeines Künſtlerruhms erreichte. Lebendig mit den Lebendigen, wie er immer ge - weſen, beſang er auch jetzt noch manche der politiſchen Umwälzungen der Zeit und verkündete ſeine Freude über den Sturz der bourboniſchen Pfaffen - herrſchaft in feurigen Verſen; doch zur Magd der Partei wollte er ſeine freie Muſe nicht entwürdigen. Verklagt die Mitwelt bei der Nachwelt nicht ſo rief er warnend den ſchmähſüchtigen jungen Poeten zu. Wie fühlte er ſich heimiſch in dem Hauſe ſeines Preußenlandes, das auf dem Felſen der Liebe feſt begründet ſtand; ehrwürdig war ihm der König, aus Gold der Treue ſchmiedend ſeine Krone . Als er noch in der Kraft der Mannesjahre ſtarb (1839), hatte ſein dankbares Herz nur die Em - pfindung, daß ihm das Leben Alles geboten habe was es an Liebe bieten könne, und mit den Worten ich liebe wohl geliebt zu ſein nahm er Abſchied von dieſer ſchönen Welt.

Wie anders endete Platen (1835). Er ſtarb, nach ſeiner Ahnung, wie Ulrich Hutten, verlaſſen und allein , in einem jener üppigen Blumen - gärten, die da und dort auf der meerumrauſchten öden Trümmerſtätte des alten Syrakus in den verlaſſenen Steinbrüchen tief eingebettet liegen. Aber nur traurig, nicht tragiſch war ſein Ausgang. Nicht das treuloſe Schlachtenglück hatte ihn, wie jenen Kriegshelden des Schwertes und der Feder, aus der Heimath hinweggeſchleudert. Nur der unfruchtbare Miß - muth ſeines ſtolzen Herzens trieb ihn unſtät im fernen Süden umher, und doch wollte das Land des Antichriſts , des Papſtes dem ſtrengen Proteſtanten nie recht vertraut werden. Das Tagewerk ſeines Lebens war gethan, obwohl er ſich noch mit dem kühnen Plane eines Hohenſtaufen - Epos trug. Seine dichteriſche Kraft begann zu verſiegen; in ſeinen letz - ten Hymnen, die er ſelbſt für ſeine beſten Werke hielt, ward die vollendete Kunſt des Versbaus ſchon zur Künſtelei.

Unterdeſſen trat Eduard Mörike als Lyriker auf, der begabteſte aus dem Nachwuchs der ſchwäbiſchen Dichterſchule, ein naiver Geiſt, der in dieſen Tagen der Ueberbildung und des Streites wie ein Wunderkind er - ſchien recht eigentlich ein zeitloſer Dichter, in Allem das Widerſpiel des Jungen Deutſchlands. Er war ganz Natur; in der poetiſchen Stim - mung und Anſchauung ging er völlig auf, Leidenſchaft und Gefühlsſelig - keit lagen ihm eben ſo fern wie Rhetorik und Tendenz. Schon als Stu - dent floh er das laute Treiben der Welt und lauſchte im Walde in dunk - ler Brunnenſtube dem Murmeln der jungen Quelle oder er verſammelte445Mörike. Anaſtaſius Grün.einen Orden vertrauter Genoſſen in einem ſtillen Weinbergshäuschen auf dem Oeſterberge und erzählte wunderſame Mären von Orplid, der ver - laſſenen Stadt der Götter. Dann lebte er als Pfarrer in einem Dorfe des Unterlandes, wo Schiller’s Mutter auf dem Kirchhofe begraben lag, mitten in den Rebgärten des Neckarthals, ſo recht in der Heimath ſchwä - biſcher Sage und Sangesluſt; und wenn er dort über ſeinen geliebten Alten ſaß oder träumend im Walde wanderte und die Vögel aus ihren Kehlen richtige Gold - und Silberfäden zogen , dann fühlte er nicht oft, aber immer mit der ganzen Macht unmittelbarer Eingebung wie der Genius in ihm jauchzte, dann wußte er was es heiße Gott ſelbſt zu eigen haben auf der Erde . Ihm ſelber galt der Spruch, den er einſt auf eine vergeſſene kunſtvolle Marmorlampe ſchrieb:

Was aber ſchön iſt, ſelig ſcheint es in ihm ſelbſt.

Jedem ſeiner Leſer blieb als letzter Eindruck das Gefühl, wie glücklich der Mann war, der alſo dichten konnte. In die Welt der Geſchichte wagte er ſich nicht hinaus, ſelbſt politiſche Geſpräche waren ihm unheimlich. Nur den einfachſten Empfindungen des Menſchenherzens galten ſeine Lieder und Balladen, Idyllen und Sprüche; aber wie neu und eigenthümlich er - klangen aus ſeinem Munde die tauſendmal beſungenen Geſchichten vom verlaſſenen Mägdlein, von dem Knaben, der ſchön Rohtraut’s Mund ge - küßt, von den entſchwundenen Freuden der Roſenzeit. Er gebot über die ſangbaren Weiſen des deutſchen Volksliedes und vermochte doch, wie die Idyllendichter der Hellenen, mit epiſcher Ruhe feſt umriſſene Geſtalten zu zeichnen. Die geheimnißvoll lockende Sprache der Elemente war ihm ſo vertraut wie nur dem jungen Goethe, dem Dichter des Fiſchers , und faſt ebenſo vertraut die unendliche Sehnſucht der Alles hoffenden Jugend:

Der Adler ſtrebt hinaus ins Grenzenloſe,
Sein Auge trinkt ſich voll von ſprüh’ndem Golde;
Er iſt der Thor nicht, daß er fragen ſollte,
Ob ſich ſein Haupt nicht an die Wölbung ſtoße.

Durch die Wärme der Stimmung, die Urſprünglichkeit des Ausdrucks, durch die heitere Freiheit ſeines ſchalkhaften Humors übertraf er zuweilen ſelbſt Uhland. Als Künſtler blieb er hinter dem Alten zurück, denn ſeine Muſe war ein Kind der Stunde; den Stoff zu runden und wirkſam ab - zuſchließen, gelang ihr nicht immer. Darum konnten doch nur einzelne ſeiner Lieder weit ins Volk hinaus dringen; die ſinnige Schönheit ſeiner Dichtung war zu ſtill, zu eigenartig um von der Maſſe, die immer zuerſt nach ſtofflichem Reize begehrt, verſtanden zu werden, ſie blieb immer nur der Liebling eines andächtigen Kreiſes feinfühlender Kenner.

Ungleich ſtärkeren Widerhall erweckten die Spaziergänge eines Wiener Poeten, die ein Sohn des öſterreichiſchen hohen Adels, der junge Graf A. A. Auersperg im Jahre nach der Julirevolution erſcheinen ließ. Seit den Befreiungskriegen und dem Wartburgsfeſte hatte ſich unſere politiſche446IV. 7. Das Junge Deutſchland.Lyrik ganz dem Auslande zugewendet, erſt die Spanier und die Griechen, dann die Franzoſen und die Polen verherrlicht; Anaſtaſius Grün führte ſie wieder in die Heimath zurück. Mit ihm begann die Fluth der patrio - tiſchen Zeitgedichte; ſie ſchwoll ſtärker an, als gegen das Ende der dreißi - ger Jahre für die Göttinger Sieben und das Hermannsdenkmal auf dem Teutoburger Walde geſammelt wurde, und überſchwemmte im folgenden Jahrzehnt den ganzen Büchermarkt. Von tiefen politiſchen Ideen beſaß der Wiener Poet nichts; er ſchwärmte nur treuherzig für die Freiheit des Wortes und der Gedanken, er neigte ſich in Ehrfurcht nicht blos vor dem Abgott aller liberalen Oeſterreicher, Joſeph II., ſondern ſogar vor Kaiſer Franz, und richtete ſeinen Zorn ausſchließlich gegen Metternich. An deſſen Thüre ſah er einen dürftigen Clienten ſtehn:

Oeſtreichs Volk iſt’s, ehrlich, offen, wohlerzogen auch und fein,
Sieh, es fleht ganz artig: Dürft ich wohl ſo frei ſein frei zu ſein?

Aber gerade dieſe unbeſtimmte Begeiſterung für die Freiheit entſprach den Geſinnungen der Zeit, und da Metternich für den Urheber alles deut - ſchen Elends galt, ſo bemerkte man auch kaum, daß der Wiener nur ſein Oeſterreich und die Stadt der Lerchen und des Doppeladlers im Auge hatte, an Deutſchland nur ganz nebenbei dachte. Die Süddeutſchen vor - nehmlich hießen ihn als Kampf - und Sangesgenoſſen willkommen; denn er ſtellte ſeine Lieder mit Worten treuer Liebe unter Uhland’s Schutz, ſeine friſchen bilderreichen Verſe verriethen überall den Einfluß der ſchwä - biſchen Schule, und wie viel traulicher als der Hohn des Jungen Deutſch - lands klang den Oberländern dieſe Sprache des Herzens.

Den proſaiſchen Lebensformen der modernen Welt, den Intereſſen und Gedanken der verwandelten Geſellſchaft vermochte die lyriſche Dichtung längſt nicht mehr zu genügen. Was die neue Zeit an poetiſchem Gehalte beſaß, konnte nur der Romandichter erſchöpfend ausſprechen, wenn er in ungebundener Rede den Kämpfen und Widerſprüchen des wirklichen Lebens nachging. Mochten die Aeſthetiker der Hegel’ſchen Schule immer - hin verſichern, daß die Ideale der Gegenwart im Drama allein die voll - endete künſtleriſche Geſtaltung empfangen müßten: die Erfahrung jedes Tages ſtrafte ſie Lügen. Die äſthetiſche Empfänglichkeit eines Volkes läßt ſich durch die Machtſprüche der Theorie eben ſo wenig meiſtern wie die Geſtaltungskraft der Künſtler. Der Roman wurde in Deutſchland für lange Jahre die zeitgemäße Form der Dichtung wie ein Jahrhundert zu - vor in England.

Das zeigte ſich, als Karl Immermann nach langen Irrfahrten end - lich den rechten Boden für ſein Schaffen fand. Von einem ſtrengen Vater noch ganz im Geiſte des alten fridericianiſchen Staates erzogen, war der ſtolze tapfere Niederſachſe von früh auf ſeines eigenen Weges gegangen. Gleich ſeine erſte Schrift war eine That des Charakters. Da er als Hallenſer Student einen mißhandelten Commilitonen gegen447Immermann.den Terrorismus einer Burſchenſchaft vertheidigte, rief er, allen Geſetzen des Comments zuwider, in einer Streitſchrift das öffentliche Urtheil an und brachte ſeine Beſchwerde bis vor die Stufen des Thrones; mochten die Gegner ihn verhöhnen, er hatte in dem Feldzuge von Belle Alliance wacker mitgefochten, ſeinen Muth durften ſie ihm nicht abſtreiten. *)S. o. II. 431.Nach - her lebte er lange als Richter, meiſt in Beamtenſtädten, faſt ohne künſt - leriſchen Verkehr, und ging, wie Platen ſpottete, Morgens zur Kanzlei mit Akten, Abends auf den Helikon. So in tiefer Einſamkeit verſchlang er die Kunſtwerke aller Zeiten und Völker, aber ſeine eigenen Dichtungen gelangten trotz ſeiner raſtloſen Arbeitskraft noch nicht weit über den an - empfindenden Dilettantismus hinaus. Keiner unſerer namhaften Dichter hat ſo viel Verfehltes oder Halbgelungenes geſchaffen. Die zarte muſi - kaliſche Stimmung des Lyrikers blieb ihm fremd. Seine Dramen wirkten, bei manchen Vorzügen, doch nicht überzeugend und konnten ſich nicht lange auf der Bühne behaupten; auch ſein Merlin, ein gedankenreiches Gedicht Fauſtiſchen Stiles, ſchreckte ab durch myſtiſche Formloſigkeit. Der ſtarke, wie zum Herrſchen geborene Mann trat im Geſpräche Jedem mit über - legener Sicherheit entgegen; in ſeinen Werken erſchien er oft wie ein ſklaviſcher Nachahmer, und zudem hegte er eine theoretiſche Vorliebe für die Phantaſieſpiele des jungen Tieck, während ſeine eigene Anlage ihn doch ganz auf die Darſtellung des wirklichen Lebens hinwies. Seinem kern - haften Weſen lag in Wahrheit nichts ferner als romantiſche Ueberſchwäng - lichkeit; mit ſüßlicher Frömmelei hatte ſein ſchlichter ernſter Gottesglaube nichts gemein, und auch die ſentimentale Naturſchwärmerei der Zeit war ihm ein Greuel. Er wußte aus der Geſchichte, daß die Blüthe der Menſch - heit in den Alpen nicht gedeiht; er empfand an ſich ſelber, daß die höchſte Pracht der Natur den Geiſt ebenſo leicht erdrücken wie erheben kann, und ſagte ehrlich: Ich kann nur mit der Natur Freundſchaft ſtiften, der ich es anſehe, daß menſchliche Kräfte leicht und frei auf ſie einwirken können.

Erſt als ihn ein freundliches Geſchick nach Düſſeldorf geführt hatte, begann er ſich von dem angelernten Bombaſt zu befreien und fand ein fruchtbares Arbeitsfeld auf dem Grenzgebiete zwiſchen Poeſie und Proſa. Dort unter dem leichtlebigen Düſſelvölkchen, das noch von den pfälziſchen Zeiten her Becherluſt und Mummenſchanz liebte, war ſeit der preußiſchen Herrſchaft einer jener kleinen Culturheerde entſtanden, denen das deutſche Leben ſeine Wärme dankt. Die neue Kunſtakademie ſtand auf der Höhe ihres Ruhms, die Concerte leitete der junge Felix Mendelsſohn-Bartholdy. Auf ſeinem Landgerichte traf Immermann zwei gleichgeſinnte Amtsgenoſſen, den Kunſthiſtoriker Schnaaſe und den ernſten frommen Dichter Friedrich v. Uechtritz. In dem kunſtſinnigen Hauſe des Geh. Raths v. Sybel ge - noß er heitere Gaſtlichkeit und bald herzliche Freundſchaft; auch der Hof448IV. 7. Das Junge Deutſchland.des Prinzen Friedrich von Preußen und die reichen Grundherren der Nachbarſchaft belebten im Winter die Geſellſchaft. Es war ein friſches, kräftiges Treiben, Werkeltag und Feſttag fröhlich verbunden, die Künſtler faſt alle noch jung und ſeliger Hoffnung voll. Wenn Mendelsſohn ein Muſikfeſt veranſtaltete oder die Maler einen Maskenzug aufführten, dann zogen die neuen Dampfer im Flaggenſchmuck rheinab und rheinauf, lange Wagenzüge bedeckten die ſchönen Straßen des volkreichen bergiſchen Lan - des, tauſende von Schauluſtigen eilten herbei wie zum Carneval im nahen Köln. In dieſen rheiniſchen Feſten kam der alte freie Humor unſeres öffentlichen Lebens, der in der Stubenluft des letzten Jahrhunderts ganz eingetrocknet war, zuerſt wieder zu ſeinem Rechte. Immermann aber fühlte ſich in dieſem neuen ſchöneren Studentenleben erſt wahrhaft frei, er wußte jetzt was er vermochte. Er trat an die Spitze des Düſſeldorfer Theaters; denn er traute ſich’s zu, der verwilderten deutſchen Bühne wiederzugewinnen, was ſie ſeit dem überhandnehmenden Virtuoſenthum faſt verloren hatte: das geordnete, ſtreng geſchulte Zuſammenſpiel aller Mitwirkenden und die lebendige Theilnahme der Beſtgebildeten der Nation. Und wirklich bewährte er ſich als dramaturgiſcher Meiſter; ſeine Einſicht und ſein eiſerner Wille brachte mit mittelmäßigen Schauſpielern Auffüh - rungen zu Stande, welche den ſtrengſten Anforderungen genügten. Leider währte dieſe glänzende Blüthe der Düſſeldorfer Bühne kaum drei Jahre, da die Geldmittel der Stadt nicht auslangten.

In ſolchem Getümmel von Amtsgeſchäften und Theaternöthen, in einer unruhigen Zeit, die nur dem fragmentariſchen Schaffen günſtig ſchien, fand Immermann noch die Kraft ſich für ſeine beiden reifſten Werke zu ſam - meln. Ein Glück für den Künſtler, daß die Tagespolitik ihn kalt ließ. Als conſervativer preußiſcher Beamter war er mit der beſtehenden Ordnung im Weſentlichen einverſtanden, obwohl ihre Mängel ſeinem ſarkaſtiſchen Blicke nicht entgingen; der Zeitungslärm der Liberalen ekelte ihn an, und von ſeinem Jugendfreunde Heine wandte er ſich ab ſeit er die Hohlheit des neuen Radicalismus durchſchaut hatte. Frei über den Parteien ſtehend wollte er in dem Romane die Epigonen den Werdegang der Zeit dar - ſtellen, und das Werk ward in der That als Geſchichtsbild noch bedeut - ſamer denn als Dichtung. Wohl hatte der Dichter die alte Unart der Reminiscenzen noch nicht ganz überwunden, die Anklänge an Wilhelm Meiſter ließen ſich nur zu deutlich hören; und bis zum Unleidlichen wider - wärtig erſchien an ſeinem Epigonen Hermann der faſt allen Romanhelden gemeinſame Charakterzug der beſtimmbaren Schwäche. Aber wie tief und geiſtvoll, Licht und Schatten gerecht vertheilend, ſchildert er den Umſturz der alten Geſellſchaft: hier den alten Adel, der mitten im ſelbſtverſchul - deten Untergange noch den äſthetiſchen Reiz der Vornehmheit behauptet, dort das aufſtrebende Bürgerthum mit ſeinem tüchtigen Fleiße, ſeiner Proſa, ſeiner phariſäiſchen Herzenshärtigkeit Alles treu nach dem Leben, denn449Die Epigonen. Münchhauſen.dort im Weſten ragten überall ſchon die neuen Fabrikſchlote aus den Dächern der Schlöſſer und der Klöſter empor. Ebenſo ſcharf, allerdings nicht ohne Bosheit, werden die Narrenſtreiche der jugendlichen Demagogen und die literariſche Ueberbildung der Berliner Geſellſchaft gezeichnet. Aus Alledem ergab ſich ein wenig erfreulicher Geſammteindruck: dieſem Geſchlechte von Epigonen war nach einer gewaltigen ſocialen und literariſchen Revolution, nach der Zerſtörung aller überlieferten Begriffe und Geſellſchaftsformen zunächſt nichts übrig geblieben als die ſchrankenloſe Freiheit des Einzel - menſchen, die doch nichts Neues geſchaffen hatte; auf die Barbarei der Unwiſſenheit war eine neue ärgere Barbarei gefolgt, ein Zuſtand geiſtiger Anarchie, wo Alle Alles zu wiſſen glaubten. In ſolchen düſteren Bildern ſpiegelten ſich weitverbreitete Stimmungen dieſer durchaus friedloſen Jahre deutlich wieder. Nur an einzelnen Stellen ließ ſich errathen, daß die Geſinnung des Dichters nicht ganz ſo hoffnungslos war wie der Titel ſeines Romans; er fühlte doch, daß auch ſchöpferiſche Kräfte in der Zeit arbeiteten, und deutete zuweilen an, die Majeſtät des Staatsgedankens könne vielleicht noch in dieſer Trümmerwelt einen neuen Idealismus er - wecken.

Zur freien Beherrſchung des Stoffs gelangte Immermann erſt in dem Romane Münchhauſen. Hier rief er das geſammte geiſtige Leben Deutſch - lands vor ſeinen Richterſtuhl und ließ den luſtigen Großmeiſter der Lüge ſeine Pritſche ſchwingen über allen Ungerechten, unterweilen auch, nach Dichterbrauch, über einigen Gerechten. Die Berliner Mutter Gans auf dem Capitole des plattirten Liberalismus, der reine Begriff der Hegelianer, Raupach’s dramatiſche Zopfgeflechte, Gutzkow’s welke Wally, Semilaſſo’s blaſirte Weisheit, Bettina’s Koboldſtreiche, Görres jacobiniſche Kapuziner - predigten, Juſtinus Kerner’s Poltergeiſter der ganze literariſche Wirr - warr der Zeit rauſchte in einem tollen Maskenzuge vor dem Leſer vorüber. Leider fehlte dem Dichter die anmuthige Leichtigkeit des Scherzes; unter ſeinen derben Händen ward das Komiſche nicht ſelten fratzenhaft, der Spaß zu breit, der Spott grauſam. Um ſo lichter hob ſich von dem ſatiriſchen Hintergrunde die Idylle des Oberhofes ab, ein treues, herzerwärmendes Bild des ehrenfeſten, bei aller Selbſtſucht kerngeſunden weſtphäliſchen Bauernlebens. Immermann ſah, daß die Empfindung in dieſen niederen Schichten des Volkes doch immer gebunden bleibt und einen Zug unäſthe - tiſcher Dumpfheit behält. Darum wies er mit ſicherem Kunſtgefühle ſeiner Dorfgeſchichte die Stelle an, die ihr in der modernen Romandichtung allein zukommt, die Stelle einer beſcheidenen, durch den Reiz des Contraſtes wirkſamen Epiſode. Er wollte ſich auch ſein Hochdeutſch durch die wohl - feilen Effecte des Dialekts nicht verderben, ſondern ließ nur zuweilen in den Reden ſeiner Bauern die Volksſprache leiſe anklingen; und eben weil er die grobſinnliche Wirklichkeit verſchmähte, erſchien die Geſtalt ſeines alten Hofſchulzen ſo gewaltig, ſo poetiſch wahr inmitten der feingebildeten Geſell -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 29450IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſchaft. Erſtaunlich, wie dem Niederſachſen hier aus dem heimathlichen Boden friſche Kraft zuſtrömte. Wie viel lebendiger war hier Alles als in ſeinen romantiſchen Mantel - und Degenſtücken, wie viel zuverſichtlicher als in den Epigonen ſprach er jetzt über ſeine große, der Wunder volle Zeit .

Brentano’s Erzählung vom ſchönen Annerl war einſt faſt unbemerkt vorübergegangen; der Münchhauſen kam zur rechten Stunde (1838), grade als die Nation, müde der romantiſchen Experimente und der jungdeutſchen Tendenzen, nach Geſtalten von Fleiſch und Blut verlangte. Er wurde das Vorbild für die neue Literatur der Dorfgeſchichten, die leider, ganz wider des Meiſters Abſicht, bald den Anſpruch erhob für eine ſelbſtändige Kunſt - gattung zu gelten. Die literariſchen Ausfälle des lügenſeligen Barons verſtand man nach wenigen Jahren ſchon nicht mehr vollſtändig, und da die ungeheuere Mehrzahl der Leſer immer nur die Theile, niemals das Ganze eines Kunſtwerks ſieht, ſo durfte die Betriebſamkeit des Buchhandels ungeſcheut, ſogar unter dem Beifall banauſiſcher Kritiker, ſich an der Dich - tung verſündigen. Der ſatiriſche Theil des Romans, der dem Ganzen Sinn und Namen gab, wurde einfach herausgeworfen, und die Idylle vom Ober - hofe, wohl ausgeflickt durch einzelne Lappen des anderen Theiles, allein dem Büchermarkte dargeboten. In dieſer verſtümmelten Geſtalt ward der Münchhauſen ein dauerndes Beſitzthum der Nation. Die Geſchichte aber, die auch im Künſtler den Helden ehrt, hält das Bild des ganzen Mannes feſt, ſo wie er war, nicht verſchwenderiſch begabt, oftmals irrend, doch raſtlos wuchernd mit ſeinem Pfunde und immer den höchſten Zielen zu - gewendet. Ihm bleibt der Ruhm, daß er in ſeinen beiden Romanen ſeinem Zeitalter den Spiegel vorhielt, wie vordem Goethe im Wilhelm Meiſter und nachher Freytag im Soll und Haben. Nur wer dieſe Zeitromane kennt, verſteht den inneren Zuſammenhang der drei Epochen unſerer neueſten Geſchichte.

Durch die Liebesgeſchichte des Oberhofs klang ein zarter, inniger Ton, der Immermann’s früheren Werken abging; denn während ſeine Künſtler - kraft ſich läuterte, ward er auch im Leben freier und glücklicher. Jahre - lang hatte er mit einer älteren Frau, der Gräfin Ahlefeldt, oft beglückt, öfter gepeinigt, eines jener unklaren Liebesverhältniſſe unterhalten, welche in den Kreiſen der romantiſchen Dichter als Kennzeichen des Genies galten. Da ergriff ihn übermächtig die Neigung für ein einfaches Mädchen.

Geſtorben war das Herz und lag im Grabe,
Dein Zauber weckt es wieder auf der holde

ſo rief er der Geliebten zu, und ſchrieb in der Glückſeligkeit ſeiner jungen Ehe Triſtan und Iſolde, ein Gedicht voll ſtarker Leidenſchaft und ſchöner ſinnlicher Wärme, dem nur der ſüße Wohllaut fehlte. Aber er ſo wenig wie einſt Meiſter Gottfried von Straßburg ſollte dies hohe Lied der Liebe vollenden. In der Blüthe der Jahre, mitten im fröhlichen Schaffen ward451Tieck. Sealsfield.er vom Tode ereilt (1840), einer der wenigen Künſtler, von denen ſich menſchlicherweiſe mit Sicherheit ſagen läßt, daß ſie zu früh ſtarben.

Noch ſtärker als Immermann fühlte ſich Tieck durch das Junge Deutſchland abgeſtoßen. Einige der jungen Leute hofften Anfangs, der alte Herr würde ſich ihnen anſchließen, weil ſie für die Lucinde ſchwärmten. Er aber ſah in ihrem Treiben nur eine ſchwächliche Nachahmung der Stark - geiſterei ſeiner Jugendjahre und tadelte insbeſondere ihre doktrinäre Hal - tung; denn nichts iſt mir mein Lebenlang verhaßter geweſen als der ab - ſprechende Ton des Syſtems, der mit Allem fertig iſt . Darum ward er von den Jungdeutſchen bald als Finſterling verrufen und ſehr roh an - gegriffen. Er rächte ſich, indem er in mehreren ſeiner Novellen in Eigenſinn und Laune, im Liebeswerben u. a. die deutſchen Radicalen wie ein Geſindel von Gaunern und Lumpen darſtellte. Ein reinerer Stil ließ ſich in dieſen ſpäteren Novellen nicht verkennen. Der Greis ſpielte nicht mehr ironiſch mit ſeinen Geſtalten; ſeine Ironie war jetzt nur noch, wie er es ſo oft verlangt aber ſelten befolgt hatte, die Kraft, die den Dichter über dem Stoffe erhält . Dafür zog freilich durch manche Werke ſeines Alters ein kühler Hauch, der die Leſer nicht recht froh werden ließ.

Sonſt ragte als erzählender Dichter nur noch einer über die Un - zahl der Unterhaltungsſchriftſteller empor: Charles Sealsfield, urſprünglich Poſtel geheißen, ein mähriſcher Mönch, der aus dem Kloſter entflohen nachher lange in Amerika umherzog und ſich auch das ſeltſame Kauder - wälſch der Deutſch-Amerikaner aneignete. Seine Romane: die Legiti - miſten und der Virey führten unſere Poeſie zum erſten male in den fernen Weſten, in jene Cultur - und Raſſenkämpfe Amerikas, an denen ſchon ſo viele Deutſche theilnahmen. Durch die brennende Pracht ſeiner tropiſchen Landſchaftsbilder und die Energie der Charakterzeichnung über - traf er Cooper bei Weitem, doch in allen ſeinen Schriften arbeitete eine fieberiſche Unruhe, die der Maſſe der Leſer unbequemer war als die Breite des Amerikaners. An ſolchen ungeſchulten ſtarken Talenten läßt ſich der Geiſt einer Epoche am ſicherſten erkennen; Sealsfield’s Schriften bewieſen, wie unaufhaltſam die Zeit dem Realismus zudrängte.

Dies bewährte ſich auch an den Zuſtänden des Theaters. In hellen Haufen drangen die Luſtſpiele Scribe’s und der anderen Pariſer Boule - vards-Dichter über den Rhein. Das deutſche Publikum war noch von der Weimariſchen Bühne her an ein äſthetiſches Weltbürgerthum gewöhnt und zudem jetzt für Frankreichs Freiheit begeiſtert. So ließ man ſich denn die ſtümperhaften Ueberſetzungen wohl gefallen; man lachte über feine Anſpie - lungen, die nur an der Seine ganz verſtanden werden konnten; man nahm es hin, daß manche einem Pariſer Schauſpieler auf den Leib geſchriebene Rolle dem deutſchen Nachahmer häßlich anſtand und das Alles nur, weil dieſe leichten Stücke doch ein Bild des wirklichen Lebens gaben. Von Alters her lag die Stärke der deutſchen dramatiſchen Kunſt in der Kraft29*452IV. 7. Das Junge Deutſchland.der Charaktere; auch unſere beiden einzigen claſſiſchen Komödien, Minna von Barnhelm und der Zerbrochene Krug, waren Charakterluſtſpiele. Die modernen Franzoſen hingegen hatten ſich von dem Muſter ihres Moliere längſt abgewendet und ſuchten die komiſche Wirkung weſentlich in den über - raſchenden Situationen. Für den Reiz der Intrige allein vermag ſich aber das deutſche Gemüth nicht recht zu erwärmen; daher währte es noch lange, bis ſich endlich einige Dichter fanden, die von der berechnenden Technik und der erfinderiſchen Gewandtheit der Franzoſen lernten ohne ihre nationale Eigenart aufzugeben. Was jetzt an neuen Luſtſpielen erſchien, war meiſt leichte Waare, ebenſo flach, nur bei Weitem nicht ſo zierlich wie die wälſchen Vorbilder; faſt allein der Wiener Bauernfeld verſtand, durch die Feinheit ſeiner Dialoge zu erſetzen was ihm an Erfindung fehlte. Die Hörer indeß ließen ſich Alles bieten, wenn man ſie nur in Spannung hielt und ihre Skandalſucht etwas reizte. Jenes kunſtverſtändige Parterre, das einſt jedem Worte Ekhof’s oder Iffland’s andächtig gelauſcht hatte, war längſt verſchwunden; das Theater bildete nicht mehr den Sammelplatz für die gute Geſellſchaft, die Kenner zogen ſich mehr und mehr zurück. Seit Schreyvogel vom Wiener Burgtheater vertrieben war, ſtand keine der großen deutſchen Bühnen mehr unter ſtrenger ſachverſtändiger Leitung. So lockerte ſich überall das Zuſammenſpiel; die Virtuoſen wollten allein gelten, ſie zerſtörten durch ihre Gaſtſpielreiſen jede Ordnung und lernten von den Franzoſen ſich der Claque oder einer ebenſo feilen Kritik zu be - dienen.

Auch die tragiſche Kunſt lag danieder. Grillparzer zog ſich unwirſch von der Bühne zurück, ſeit die Wiener eines ſeiner Dramen verhöhnt hatten; und von den jungdeutſchen Poeten beſaß noch keiner die ſittliche Kraft ſich den ſtrengen Regeln des Dramas zu fügen; ſie ſchüttelten alle ihre Einfälle leicht aus dem Aermel und wollten, wie einſt die jungen Romantiker, in der bühnengerechten Dichtung nur einen verächtlichen Frohndienſt ſehen. An dieſer Zuchtloſigkeit ging auch der unglückliche Weſtphale Chriſtian Grabbe früh zu Grunde; er mußte an ſich ſelber erleben was er einſt in einem lichten Augenblicke geſungen hatte: Kraft und Dauer wohnen nur in Be - grenzungen. Er ſchwelgte in gräßlichen Bildern und cyniſchen Witzen, Maß und Form blieben ſeinem umnachteten Sinne fremd; die beiden größten Dichtungen der Zeit verſuchte er in einem fratzenhaften Drama Don Juan und Fauſt zu vereinigen und zu überbieten. So ſtürmte er dahin, ein glühender deutſcher Patriot, ein Verächter alles Platten und Gewöhnlichen; keines ſeiner Dramen war ohne realiſtiſche Kraft, aber jedem fehlte der künſtleriſche Verſtand. Als er dann in ſeinen Laſtern unter - ging, und ſelbſt Immermann’s menſchenfreundlicher Beiſtand dieſe Natur in Trümmern nicht halten konnte, da zeigte ſich wieder die Vorliebe der Zeit für alles Krankhafte und Verdrehte. Die Feuilletons hoben den Todten auf den Schild und verglichen ihn gar mit Heinrich v. Kleiſt, der himmel -453Grabbe. Raupach.hoch über ihm ſtand; ſie beſprachen geheimnißvoll die Verwandtſchaft des Genius mit dem Wahnſinn, die doch nur bei dem unfertigen Genie vor - handen iſt, und Niemand gedachte mehr der tiefen Worte des alten Goethe: Das Genie gehorcht dem Geſetze am willigſten, weil es begreift, daß Kunſt nicht Natur iſt.

Da die jungen Talente der Bühne fern blieben, ſo konnte Ernſt Raupach ein volles Jahrzehnt hindurch das Berliner Theater beherr - ſchen ein ernſthafter, ſchroffer, kalt verſtändiger Geſchäftsmann ohne jede dichteriſche Ader, aber ein geſchickter Macher, der durch zahlloſe dra - matiſche Gedichte ernſter und komiſcher Gattung wie er ſie ſelber bezeichnend nannte die unerſättliche Gier des Publikums nach neuen Stoffen mit leidlichem Anſtande zu befriedigen wußte. Sein ehrbares Weſen und ſeine tapfere monarchiſche Geſinnung verſchafften ihm die Gunſt des Hofes, auch Hegel beſchützte ihn als einen Widerſacher der Romantiker. Und was konnte auch aller Romantik ſchärfer widerſprechen als dieſe entſetzlichen ſechzehn Hohenſtaufen-Tragödien jedes Stück in fünf Akten mit einem Vorſpiele die den Rationalismus Friedrich v. Raumer’s noch einmal verwäſſerten? Mit einer Gründlichkeit, welche den Hiſtoriker ſelbſt beſchämte, wurde der geſammte Thatbeſtand erſchöpft; nichts, gar nichts ward den Hörern erlaſſen; unerbittlich ging es weiter bis zu dem letzten Augenblicke, da Konradin ſein Haupt auf den Block legte, und die Zuſchauer mußten dem grauſamen Dichter noch danken, daß er nicht auch noch den Kopf des letzten Hohenſtaufen leibhaftig über die Bretter rollen ließ. Namentlich die gereimten Gemeinplätze am Ende der Auftritte und Akte zeichneten ſich durch zuverſichtliche Plattheit aus, und noch lange lebte im Gedächtniß der Berliner der Schlußvers: Das Glück war niemals mit den Hohenſtaufen. Und dennoch wirkten die Stücke; die grob gezeichneten Charaktere boten begabten Schauſpielern manche dankbare Aufgabe, falſche Declamation verbot ſich von ſelbſt in dieſer nüchternen Welt. Einmal wurde im Schauſpielhauſe ſogar der ganze Cyclus hintereinander aufgeführt, und ein zahlreiches gebildetes Publikum hielt mehr als zwei Wochen lang Abend für Abend ſtandhaft aus um das jambiſche Collegium über die Kaiſergeſchichte des Mittelalters voll - ſtändig zu hören.

Siebzig Jahre zuvor hatte Leſſing die moraliſirende Poetik vernichtet; jetzt war durch Ueberbildung der Schönheitsſinn wieder ſo abgeſtumpft, daß Raupach dreiſt behaupten durfte, der Zweck der Bühne ſei das Volk zu belehren. Immerhin ſtellte er durch die Maſſe ſeiner Dramen den hereinbrechenden Pariſer Fluthen noch einen Damm entgegen; und das nämliche Verdienſt erwarb ſich auch die gemüthliche Schwäbin Charlotte Birchpfeiffer. Sie zählte, wie Iffland, zu den dichtenden Schauſpielern, deren das moderne Theater nicht entbehren kann weil es für den Haus - bedarf aller ſieben Wochenabende ſorgen muß. Ihre meiſt nach Novellen454IV. 7. Das Junge Deutſchland.gearbeiteten brauchbaren Bühnenſtücke waren wärmer empfunden als Rau - pach’s Werke, ganz deutſch gedacht, niemals unwahr oder unnatürlich, freilich auch ſo harmlos, daß Schiller wohl wieder hätte fragen können: Warum entfliehet ihr euch, wenn ihr euch ſelber nur ſucht?

Sogar die Oper empfand den wachſenden Einfluß Frankreichs. Der erſte Dramatiker unter den Tonſetzern, der Berliner Giacomo Meyerbeer war nach Paris gezogen und betrieb von dort aus ſeine internationale Kunſtthätigkeit, immer in Fühlung mit den Stimmungen der Franzoſen. Sein Robert der Teufel, der die lange Reihe ſeiner europäiſchen Triumphe eröffnete, war der Neuromantik Victor Hugo’s nahe verwandt, und als nachher die kirchlichen Gegenſätze ſich verſchärften, griff er zu dem wirk - ſamen Stoffe der Hugenotten. Durch prächtige theatraliſche Effecte und reizende Melodien riß er die Maſſen widerſtandslos mit ſich fort; alle möglichen Formen und Stile miſchte er durch einander wenn ſie nur die Nerven aufregten. Von der ſchlichten Großheit deutſcher Kunſt war nichts in ihm.

Da ſeine Manier allen ſchlechten und einigen guten Neigungen der Zeit entſprach, ſo hätte ſie wohl auch in Deutſchland die Alleinherrſchaft erlangt, wenn ihr nicht ein überlegener Geiſt entgegengetreten wäre. Wie Meyerbeer war auch Felix Mendelsſohn in den verwöhnten Kreiſen des Berliner Reichthums aufgewachſen, aber ſeine reine, liebenswürdige Natur nahm nur die guten und tüchtigen Züge des Berliner Weſens an: die viel - ſeitige Bildung, den freien Blick, die geſellſchaftliche Gewandtheit und die Gabe der beredten Mittheilung. Ein Deutſcher vom Wirbel bis zur Zehe, konnte er ſich ſelbſt in dem Zauber der ſüdlichen Landſchaft nicht auf die Dauer wohl fühlen, und von allen Ausländern haben ihn nur die ger - maniſchen Engländer, niemals die Franzoſen ganz verſtanden. Er er - weckte durch ſeinen Paulus das Oratorium der Proteſtanten zu neuem Leben und gab dem deutſchen Liede einen tiefen, weihevollen muſikaliſchen Ausdruck. Faſt ebenſo folgenreich wie dieſe Compoſitionen, die ihn weit über alle lebenden Tonſetzer emporhoben, wurde ſeine Thätigkeit in den Concertſälen. Als zwanzigjähriger Jüngling wagte er zuerſt (1829) in Berlin Sebaſtian Bach’s vergeſſene Paſſion aufzuführen, und ſeitdem be - mühte er ſich unabläſſig, die edlen echt deutſchen Kunſtformen der Sym - phonie, des Oratoriums, der Sonate den Gebildeten wieder an’s Herz zu legen. Die Werke Bach’s und Händel’s, auch Beethoven’s letzte Sym - phonien, die lange für ungenießbar gegolten hatten, erſchloß er dem Ver - ſtändniß der Nation. Seit er, überall in Deutſchland gekannt und geliebt, zu Berlin, Düſſeldorf, Frankfurt, Leipzig ſeinen Taktſtock ſchwang, wurde die faſt zum Zeitvertreibe herabgeſunkene Muſik wieder als hohe Kunſt geehrt. Ihm dankten die Deutſchen, daß ſich in der Hörerſchaft immer noch ein Kern reinen Geſchmackes erhielt auch als die Anarchie in der Oper einriß. So führte ein Deutſcher jüdiſcher Abſtammung unſere gebildete Geſell -455Meyerbeer. Felix Mendelsſohn.ſchaft zu den alten Ueberlieferungen ihrer nationalen Kunſt zurück, eben in den Tagen da die Pariſer Deutſch-Juden ſich ſo frevelhaft an unſerem Volksthum verſündigten. Mendelsſohn’s edles und großes Wirken bewies für alle Zukunft, daß der deutſche Jude nur dann wahren Ruhm erringen kann, wenn er ganz und ohne Vorbehalt im deutſchen Leben aufgeht.

Auch die Malerei wurde von dem realiſtiſchen Zuge der Zeit er - griffen. Die Welt bedarf immer einer langen Friſt, bis ſie die Schran - ken erkennt, welche der Begabung ſchöpferiſcher Geiſter geſetzt ſind. Glück - lich der Künſtler, der wie Schiller von rohen, unreifen Jugendwerken ſtätig aufſteigt, ſeinen Genius immer freier entfaltet und dahingeht ſobald das Volk ihn ganz zu verſtehen beginnt. Ein anderes, ein tragiſches Geſchick war Cornelius beſchieden. Schwung, Adel, Großheit, eine Welt von neuen Ideen hatte er der erſtarrten bildenden Kunſt gebracht; die Deutſchen be - trachteten ihn als einen anderen Goethe, König Ludwig ſtellte ihn faſt über die Maler des Cinquecento, und noch im Jahre 1831 wurde er, als er aus Italien heimkehrte, wie ein Fürſt eingeholt, die Münchener Künſt - ler ſpannten ihm die Pferde vom Wagen. Einmal doch mußte dieſer Ueberſchätzung ein Rückſchlag folgen. Cornelius war nur der Klopſtock unſerer neuen Malerei, reicher wohl, gewaltiger als der Dichter des Meſ - ſias, aber gleich jenem mehr ein Bahnbrecher als ein Vollender, und leider ſollte nach ihm kein Goethe kommen, der alle die Strahlen des neu entdeckten Lichtes in einem Brennſpiegel vereinigte. Ihm fehlte die wahrhaft male - riſche Phantaſie, die unbefangene Freude am Spiele der Formen und der Farben; immer ſtieg ihm zuerſt ein großer poetiſcher Gedanke auf, dann ſuchte er erſt nach den Geſtalten, in denen dies frei geſchaffene Ideal ſich verkörpern ſollte. Darum blieb ihm der Humor fremd, und auch die Schönheit des Weibes reizte ihn wenig, da ſie ſelten Ideen ausſpricht. Das Lehren gelang ihm wenig, weil er die allein lehrbare Technik gering - ſchätzte und den eigentlichen Zauber ſeiner Werke, die Macht ſeiner großen Perſönlichkeit, kleineren Geiſtern nicht mittheilen konnte. So ſchritt er einſam fürbaß, der ernſte kleine Mann mit dem ſtrengen, gewaltigen Denkerkopfe, vergöttert von ſeinen Schülern, von wenigen ganz verſtanden. Er ſagte wohl: die Natur iſt die Frau, der Genius der Mann; doch er war ein herriſcher Gatte, ſich in das Leben ſeines Weibes liebevoll zu verſenken fiel ihm nicht bei. Wer nur ſchlicht und recht malte und dem grandioſen Gedanken des Zuſammenwirkens aller Künſte nicht zu folgen vermochte, ward von dem ſtolzen Meiſter als ein Fächler verachtet. Was focht es ihn an, daß er in München niemals heimiſch wurde? die Baiern blieben ihm Barbaren. Was kümmerte ihn der Tadel der Franzoſen, die ihm vorwarfen, er dichte nur, er male nicht? ſie waren Fremde und konn - ten deutſche Kunſt nicht begreifen.

In ſolcher Stimmung empfing er den Auftrag, die neue Ludwigs - kirche mit Fresken zu ſchmücken, und ſofort entwarf ſein Dichtergeiſt den456IV. 7. Das Junge Deutſchland.Plan zu einem dritten großen Bildercyklus, der die beiden erſten noch überbieten ſollte, zu einem chriſtlichen Epos, einer gemalten Göttlichen Komödie. Vieles von dem Entwurfe ward durch den Bauherrn geſtrichen; was übrig blieb war noch gewaltig genug, und vor Allem in dem Bilde des Jüngſten Gerichts, dem größten Freskobilde der Welt hoffte der Künſt - ler den Geiſt des geläuterten Chriſtenthums auszuſprechen. Ein Viertel - jahrhundert zuvor, als er noch in Rom mit den jungen Nazarenern ſchwärmte, wäre ihm vielleicht ein Werk gelungen, ſo einfach ſtreng, ſo tief gläubig wie Memling’s Danziger Bild; doch ſeitdem war er auf einem weiten Bildungsgange durch die Welt des Fauſt, der Nibelungen, des Homer, durch das ganze Gebiet der Kunſtgeſchichte hindurchgeſchritten. Wie konnte er noch mit ganzer Seele in einer Vorſtellung leben, die unter allen chriſtlichen Mythen der Gegenwart am unbegreiflichſten bleibt? denn ſo gewiß das Gefühl der Verantwortlichkeit vor Gott mit der reifenden Geſittung ſich verſchärft, ebenſo gewiß muß die Trennung der Böcke von den Schafen und die ſinnliche Ausmalung der Höllenſtrafen einem men - ſchenkundigen, gebildeten Jahrhundert kindlich erſcheinen. An dieſem Ana - chronismus ſcheiterte auch Cornelius Genie. Sein Werk ward frömmer, reicher an religiöſem Gefühle als die verwandten Gemälde des Michel Angelo und Rubens, die beide nur einen Titanenkampf ſchilderten, und er - reichte ebendeshalb weder die dämoniſche Erhabenheit des Einen noch die ſinnliche Kraft des Anderen. Selbſt ſein oft bewährtes Compoſitions - talent, ſeine wunderbare Gabe, in wenigen Geſtalten ein großes Ereigniß erſchöpfend darzuſtellen, verleugnete ſich diesmal; das Bild zerfiel in Grup - pen, einzelne Geſtalten der Engel und der Seligen offenbarten noch die alte Größe, der Höllenfürſt aber und ſeine Teufel erweckten kein Grauſen.

Es ſchwebte ein Unſtern über dem ganzen Unternehmen; das fröhliche Künſtlertreiben, das einſt die Malergerüſte der Glyptothek mit ſeinem Lärm erfüllt hatte, erneuerte ſich nicht in der Ludwigskirche. Der königliche Bau - herr aber konnte ſeine Enttäuſchung nicht bergen, als er das mißlungene, mangelhaft gemalte Bild betrachtet hatte; er meinte ſcharf: Ein Maler muß malen können. Die Zeit war längſt dahin, da Kronprinz Ludwig einſt beſcheiden zu Tieck geſagt hatte: Heiße auch Ludwig. Große Ehre für mich, ebenſo zu heißen wie ein ordentlicher Dichter. Seit er die Krone trug, war ſein Selbſtgefühl hoch geſtiegen; ſogar als Künſtler glaubte er ſeinen Malern und Bildhauern gewachſen zu ſein, da ſeine unglück - lichen Gedichte ſo viel ſchmeichelnde Bewunderer fanden. Cornelius war nicht der Mann, ſich eine ſchnöde Behandlung bieten zu laſſen. Bald nach jenen Aeußerungen königlicher Ungnade verließ er München für immer, und mit ihm verſchwand auch ſeine Schule. Das hohe Pathos ſeines Idealismus genügte der verwandelten Zeit nicht mehr.

Schon während ſeiner Münchener Herrſchaft hatten einzelne der jungen Künſtler ihre Eigenart tapfer behauptet. Peter Heß und der fröhliche Lands -457Cornelius und ſeine Schule.knecht Albrecht Adam ſchufen ihre Schlachtgemälde friſch nach dem Leben. Der Uhland unſerer Malerei, Moritz Schwind, malte im Schloſſe Hohen - ſchwangau am einſamen Alpenſee Bilder aus der romantiſchen Sagenwelt, voll inniger Empfindung und ſchalkhafter Laune. Ueber Riedel’s römiſchen Mädchenbildern lag der brennende Glanz der ſüdlichen Sonne, auch Rottmann’s griechiſche Landſchaften zeigten eine Pracht der Farben und des Lichtes, die den ſtrengen Cornelianern fremd war. Selbſt von Cor - nelius vertrauten Schülern ging der begabteſte, Wilhelm Kaulbach, bald ſeinen eigenen Weg. Nachdem er in dem furchtbaren Bilde des Narren - hauſes zuerſt ſeine Gabe ſcharfer Charakteriſtik bewährt, zeigte er ſich als Meiſter der Satire in ſeinem ſchönſten Werke, dem Reineke Fuchs. Er - ſtaunlich, wie treu er die Thiergeſtalten nachbildete und wie frei er ſie zu - gleich als Hülle des Menſchenlebens verwendete. Auch dies Werk wurde, wie einſt der niederdeutſche Reinhart des fünfzehnten Jahrhunderts, ein Sturmvogel der Revolution; der demokratiſche Geiſt der alten Volksdichtung ſprach aus Kaulbach’s Bildern ungleich lauter und dreiſter als aus der menſchlich heiteren, die ſociale Tendenz zurückdrängenden Goethiſchen Be - arbeitung, und der ungetheilte Beifall, den dieſe übermüthige Verhöhnung der Höfe, des Adels, der Kirche in den gebildeten Klaſſen fand, bewies genugſam, daß in Deutſchland ſchon faſt jeder geiſtreiche Mann dem Lager der Unzufriedenen angehörte. Unterdeſſen begann Kaulbach die Arbeit an ſeinen großen Geſchichtsbildern, die ihn von ſeinem verlaſſenen Meiſter bald noch weiter abführen ſollte.

Keine dieſer jungen, aus dem alten Stamme der Münchener Malerei aufſproſſenden Kräfte wirkte ſo tief auf das Volksleben ein wie die neue Düſſeldorfer Malerſchule. Hier war jetzt Wilhelm Schadow, der Sohn des Bildhauers, als Direktor thätig, ein geborener Organiſator, der in ſeinen eigenen Kunſtwerken ſelten glücklich, doch wunderbar verſtand Talente zu finden, zu wecken, zu leiten. Niemand widerſtand ihm ſo leicht, wenn der bewegliche Mann, die Taſchen immer vollgepfropft von Plänen und Entwürfen, mit eindringlicher Beredſamkeit ſeine Lehren entwickelte. Die monumentale Kunſt fand in der beſcheidenen niederrheiniſchen Stadt keinen Boden. Der König, der nach dem alten Berliner Brauche das Porträt bevorzugte, beſtimmte auch ausdrücklich, daß an ſeiner Akademie nicht das Fresco, ſondern die Oelmalerei zuerſt gepflegt werden ſolle; und Alles was an der Kunſt lehrbar iſt wußte Schadow in der That ſeinen eifrigen Schülern mitzutheilen. So blieben die Düſſeldorfer von Haus aus eine Malerſchule, faſt ohne Verkehr mit den anderen bildenden Künſten.

Sie konnten ihre Kundſchaft nur unter den Privatleuten ſuchen, und da die Zahl der kaufenden Kunſtfreunde in dem verarmten Deutſchland noch ſehr gering war, ſo traten allmählich, nach dem Vorgange Münchens (1823), in den meiſten großen Städten Kunſtvereine zuſammen, die alljährlich ihre Ausſtellungen und Verlooſungen veranſtalteten. Manche dieſer Vereine458IV. 7. Das Junge Deutſchland.waren im Anfang nicht viel mehr als Wohlthätigkeitsanſtalten, und der arme Ludwig Richter meinte bitter, man wiſſe nicht recht ob Künſtlerhunger oder Kunſthunger ſie gegründet habe. Schwer genug hielt es oft, die aller Formenluſt entwöhnte Geſellſchaft für ideale Genüſſe zu erwärmen, am ſchwerſten im nüchternen Niederſachſen. Als in Hannover 1833 zum Ge - burtstage des geliebten Vicekönigs die erſte Kunſtausſtellung eröffnet wurde, ſah ſich der Bürger für vier Groſchen die Bilder einmal an, der Edel - mann aber und der Beamte löſte anſtandshalber für einen Thaler eine Eintrittskarte, die zu beliebigem Beſuche berechtigte, und wie oft erklang nun die Klage: jetzt muß ich noch zweimal hingehn, dann hab ich meine Karte abgelaufen! Mit den Jahren ward die Mode zur Freude, die Zahl der Theilnehmer wuchs, und bald entſtanden aus den Sammlungen der Kunſtvereine neue ſtädtiſche Gallerien, die vom Gemeinſinn der Bürger eifrig gefördert, mit den alten Bilderſchätzen der Reſidenzen zu wetteifern ſuchten. So erzog ſich die Kunſt ihr Publikum, freilich mußte ſie auch ſeinem Geſchmacke ſich anſchmiegen.

Die Düſſeldorfer malten was der Durchſchnittsbildung zuſagte, Land - ſchaften, Genrebilder, und mit Vorliebe die Geſtalten der Dichtung. Bei den meiſten Völkern geht die claſſiſche Literatur der Blüthezeit der bildenden Künſte voraus, ſie findet überall zuerſt die neuen Ideale; aber nirgends hat die Malerei ſo Vieles unmittelbar von den Dichtern entlehnt wie in Deutſchland. Eben jetzt waren die Werke unſerer Claſſiker und der wieder - belebte Shakeſpeare der Maſſe der Gebildeten erſt vertraut geworden, ſie ſtanden noch Allen in friſcher Erinnerung, und mit kindlicher Begeiſterung wurden die Bilder der Mignon, der beiden Leonoren, der Söhne Eduard’s begrüßt, denn unwillkürlich fanden die Beſchauer in den Gemälden den Zauber der Gedichte wieder. Den Meiſtern Sohn, Hildebrandt, Schirmer folgte eine Schaar treufleißiger junger Leute, die mit ihren empfindſamen Genoveven, Aſchenbrödeln und Rothkäppchen der Damenwelt heiße Thränen entlockten; manche von ihnen ſchienen zu glauben, daß der einfache Gegen - ſatz von Brünetten und Blondinen, verwitterten Männern und roſigen Jünglingen den ganzen Reichthum des Menſchenlebens erſchöpfe.

Gleichwohl blieben in der friſchen rheiniſchen Luft der Farbenſinn und das Naturgefühl immer lebendig. Schadow’s Schule brachte die Technik der Malerei, den liebevoll in’s Einzelne dringenden Künſtlerfleiß wieder zu Ehren, und wie die Düſſeldorfer nicht verſchmähten von den Franzoſen zu lernen, ſo gewannen ſie auch der deutſchen Kunſt zuerſt wieder den Beifall des Auslands. Einige ihrer kräftigſten Talente wagten ſich auch ſchon in die hiſtoriſche Welt hinaus. Etwas empfindſam, aber wahr und tief er - faßte der junge Bendemann den poetiſchen Gehalt großer geſchichtlicher Kataſtrophen in ſeinen Erſtlingswerken, den trauernden Juden und dem Jeremias; der glänzende Erfolg bewies, wie viel gemeinverſtändlicher als das Frescogemälde der maleriſche Reiz des Oelbildes den modernen Men -459Die Düſſeldorfer Maler. Franz Krüger.ſchen erſchien. Erſt auf weiten Umwegen gelangte auch der Schleſier Karl Leſſing zur hiſtoriſchen Kunſt, ein frühreifer, ernſter, ſtreng gewiſſenhafter Künſtler, der von dem mannhaften Freimuth ſeines Großoheims, des Dichters viel geerbt hatte. Sein Bild von dem trauernden Königspaare, das ſchon weit mehr war als eine gemalte Illuſtration und den Vergleich mit Uhland’s Ballade nicht zu ſcheuen brauchte, verſchaffte ihm zuerſt einen Namen; Chamiſſo ſang entzückt:

Ich küſſe Dir die Hand, der Greis dem Knaben!

Unbeirrt durch den Beifall, bildete er ſich raſtlos weiter aus, zunächſt als Landſchafter. Italien und die Alpen beſuchte er niemals, weil er ſeine Phantaſie nicht verwirren und ſich die Liebe zu ſeinen deutſchen Mittel - gebirgen nicht verderben wollte. Dieſe kannte er aus dem Grunde, nament - lich den ſchwermüthigen Zauber der öden vulkaniſchen Eifellandſchaften, die er durch hiſtoriſche Staffagen zu beleben liebte. Nun erſt eröffnete er mit der Huſſitenpredigt die Reihe ſeiner hiſtoriſchen Gemälde, die alleſammt bedeutende, dem Gefühle der Gegenwart verſtändliche Kämpfe behandelten und von den rheiniſchen Clericalen, ganz mit Unrecht, als proteſtantiſche Tendenzbilder verrufen wurden.

Es war das Verdienſt dieſes kräftigen und wahrhaftigen Mannes, daß die Düſſeldorfer Schule nicht in der Kleinmalerei verkam. Auch der Humor fehlte nicht, der dem gefühlsſeligen Weſen die Wage hielt. Der Märker Adolf Schrödter verhöhnte die weinerlichen Romantiker in dem Bilde der trauernden Lohgerber, er ſchuf die Typen des Falſtaff und des Don Quixote, wie ſie ſich ſeitdem in der deutſchen Kunſt erhalten haben, und in dem Triumphzuge des Weines faßte er alle die tollen Schwänke zuſammen, die ſich die jungen Künſtler zum Beſten gaben, wenn ſie auf ihren rheiniſchen Studienreiſen Abends im Goldenen Pfropfenzieher zu Oberweſel beim feurigen Engehöller beiſammenſaßen. Nach wenigen Jahren zeigte ſich aber ſchon ein Zwieſpalt in dem glücklichen Künſtlerkreiſe. Schadow war in Rom zur katholiſchen Kirche übergetreten und begünſtigte mehr und mehr ein neues Nazarenerthum, das techniſch geſchickter aber noch geiſtloſer war als das alte. Mit dieſen ſüßlichen Madonnenbildern konnte ſich der Proteſtant Leſſing unmöglich befreunden; die Zeit nahte heran, da der moderne Rea - lismus ſich von den Epigonen der Romantik offen losſagen mußte.

Solche Parteikämpfe waren für das kindliche Gemüth des Weſtpreußen Eduard Meyerheim kaum vorhanden. Der lebte in Berlin ganz ſeiner Staffelei und der Muſik, wanderte im Sommer in die Berge, nach Thü - ringen oder auf den Harz, und ſuchte ſich dort unter Kleinbürgern und Bauern ſeine Stoffe. Zarter und weicher als wir heute empfinden, aber frei von falſcher Gefühlsſeligkeit ſchilderte er die Anmuth des Herzens, welche das ſchlichte Volksleben verklärt; ſeine anheimelnden Bilder wurden den Be - ſuchern der Ausſtellungen bald ſo unentbehrlich wie die Dorfgeſchichten den Leſern. Franz Krüger dagegen bewegte ſich ganz auf den Höhen der Ge -460IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſellſchaft; er war der Künſtler der vornehmen Welt, malte die Prinzen und die Hofleute ebenſo vortrefflich wie ihre edlen Roſſe, Alles ohne Schön - färberei, treu und wahr, mit jener Freude am Wirklichen, welche Chodo - wiecki zuerſt unter den Berliner Malern erweckt hatte. In den großen Paradebildern, die ihm der Hof auftrug, mußte er den denkbar ungünſtig - ſten Stoff bewältigen, die ſchnurgeraden Fronten der Grenadiere mit ihren häßlichen Fräcken und ſteifen Halsbinden, die hohen Federhüte der Generale und die Stutzſchwänze ihrer Pferde. Wie reich, bedeutſam, markig er - ſchienen gleichwohl ſeine Gemälde; welche Fülle des Lebens lag in der Ge - ſchichte dieſes Staates, wenn man ſie nur zu packen verſtand. Niemand wußte das beſſer als der junge Adolf Menzel, der noch wenig beachtet einherging. Sein Genie ſollte dereinſt vollenden was die Berliner Realiſten Chodowiecki und Krüger begonnen hatten; auf die Sittenbilder und die Paradebilder folgten die Heldenbilder der preußiſchen Geſchichte.

Auch in Rauch’s Herzen glühte dieſer preußiſche Stolz. In tiefſter Seele hatten ihn einſt die Tage des Unheils und dann die wunderbare Erhebung ergriffen. Immer war es ihm eine Luſt wenn er die Bilder der Männer, die bei jenen Kämpfen mitgewirkt, in Erz oder Marmor geſtalten durfte. Er nannte ſein edles Handwerk die eigentlich hiſtoriſche Kunſt und wiederholte gern das Goethiſche Wort: Das beſte Monument des Men - ſchen iſt der Menſch. Selbſt aus Schleiermacher’s unſchönem Kopfe fand er das Lebendige, das Unſterbliche heraus. In die Züge des Königs, der ihm auch als Menſch immer theuerer wurde, hatte er ſich ganz eingelebt; eine Büſte folgte der anderen, wie er auch das Grabbild ſeiner Königin, blos um ſich ſelber genug zu thun, noch einmal ausführte. Für ſein Preußen war ihm keine Arbeit zu gering. Immer wieder formte er den Adler für Feſtungsthore und Brückenpfeiler, bis das geliebte Wappenthier endlich die rechte monumentale Geſtalt erhielt; auch die ſchwarzen Huſaren empfingen von ſeiner Hand die verſchönerten Todtenköpfe für ihre Kolpaks. Mit Freuden übernahm er das Standbild Friedrich Wilhelm’s I. für die Stadt Gumbinnen; es that ihm wohl, daß er dort in der dankbaren Oſtmark den geſtrengen Soldatenkönig in ſeiner menſchlichen Güte, als Litthauens Wiederherſteller darſtellen durfte. Gleichwohl blieb er zu ſehr ein Claſſiker um ſich ganz heimiſch zu fühlen in dieſer formloſen nordiſchen Welt. Seine liebſten Erinnerungen hingen doch an Italien, an jenen glücklichen Jugend - tagen, da die neue germaniſche Völkerwanderung in die ewige Stadt ein - gezogen war um die entartete Kunſt zu retten wie vordem die entartete Kirche. Wie war ihm dort die Seele weit geworden, wenn er unter den Statuen des Vaticans einherwandelte oder in Carrara die ſchneeweißen, gleich Zuckerhüten in die blaue Luft ragenden Berggipfel beſtaunte und dann mit ſeinem Freunde Tieck durch die Schluchten kletterte um den edelſten Marmor auszuſuchen.

Darin liegt die ſelten verſtandene hohe Schönheit der neuen deut -461Rauch und ſeine Schüler.ſchen Geſchichte, daß alle die kleinen Bäche der Stammesgeſchichten nach und nach, wie durch eine geheimnißvolle Naturgewalt getrieben, zu einem Strome zuſammenfließen, bis ſchließlich jeder Theil der Nation an der Größe des Vaterlandes ſeinen Antheil gewinnt. So gewiß der Süden an dichteriſcher Geſtaltungskraft den Norden überbot, ebenſo gewiß waren die Nordgermanen im Verſtändniß wie in der Kunſt der Plaſtik den Ober - ländern überlegen. Die Niederdeutſchen Winckelmann und Carſtens, Schinkel und Rauch erweckten uns zuerſt den Sinn für die Formenſchön - heit der Antike; neben ihnen die ſtammverwandten Dänen Thorwaldſen und Zoega der Archäolog. In Berlin fühlte ſich Rauch nirgends glück - licher als bei Wilhelm Humboldt, der ihm noch von Rom her ein treuer Gönner war, und bei Schinkel, denn Beide glaubten wie er ſelbſt an die Wahlverwandtſchaft des helleniſchen und des germaniſchen Genius. Es war ſein Stolz, daß Preußen mehr als irgend ein anderer Staat für das Studium der Antike that; die neuen Gyps-Muſeen an den Univerſitäten Bonn, Königsberg, Breslau förderte er eifrig, auch ein großes Lager von Marmorblöcken ließ er in Berlin zuſammenbringen.

Mit den Jahren wuchs ſeine Freude an den claſſiſchen Formen. Darum empfand er es faſt wie eine Erlöſung, als ihm König Ludwig den Auftrag gab die Regensburger Walhalla mit ſechs koloſſalen Victorien zu ſchmücken. Nun konnte er doch endlich die ewigen Pantalons der preußiſchen Feld - herrnſtatuen in den Winkel werfen und an dem edlen Nackten ſein Auge weiden. Dieſe herrlichen Frauengeſtalten blieben ſein Lebensglück für viele Jahre. Daneben fand er noch Zeit für das ganz realiſtiſch gedachte Nürn - berger Dürer-Denkmal; und den Bibelſpruch Laſſet die Kindlein zu mir kommen verkörperte er, rührend einfach, in dem Standbilde des frommen Francke zu Halle. Auch die Nachklänge der Romantik berührten ihn einmal leiſe, als er die liebliche Statuette der auf dem Hirſche reitenden Jungfrau von Tangermünde ſchuf. Langſam gereift gelangte er erſt als er den Sech - zigern nahe war zur Vollkraft ſeines Schaffens. Mit peinlicher Sorg - falt, als hätte er noch gar nichts geleiſtet, bereitete er ſeine Werke vor. Auf der Reiſe bemerkte er jeden wohlgeformten Baum, jeden anmuthigen Hügel, nur wenn die Dunkelheit hereinbrach fühlte er ſich unglücklich; ſeiner Tochter in Halle mauerte er bei jedem Beſuche Reliefs in die Wände ihres Vorſaals, ein plaſtiſches Stammbuch, das ſie an des Vaters Leben und Denken erinnern ſollte. Die Kunſt war ihm Alles, und ganz wie ein König fühlte er ſich in ſeinem Reiche; alle Leute ſahen ihm nach, wenn er zur Winterzeit, in ſeinen hellen faltenreichen Mantel gehüllt, majeſtätiſch die Linden hinunterſchritt. Unter ſeiner ſtrengen Leitung wurde die Berliner Bildhauerſchule auf ein Menſchenalter hinaus die erſte der Welt. Viele tüchtige Künſtler, faſt durchweg Nord - und Mitteldeutſche, gingen aus ihr hervor: ſo Drake aus dem Waldecker Genieländchen , das auch das Geburtsland von Rauch ſelbſt, von Kaulbach und Bunſen war, ſo Kiß,462IV. 7. Das Junge Deutſchland.Bläſer, Wolff und, Alle überragend, der Kurſachſe Ernſt Rietſchel, ein ſanfter, romantiſch geſtimmter Geiſt, der erſt durch Rauch in die antike Welt eingeführt, dann aber ſchnell erſtarkt des Meiſters Lieblingsſchüler wurde.

Wie ſchwächlich erſchien neben dieſem claſſiſchen Realismus der Ber - liner Schule die Schnellfertigkeit Schwanthaler’s. Er war und blieb ein Romantiker; das mußte Jeder fühlen, der ihn auf ſeiner Burg Schwaneck hoch über der Iſar nach mittelalterlichem Ritterbrauche leben ſah. Den entſagenden Fleiß, den die Strenge der Antike ihren Schülern aufzwingt, kannte er nicht. Wahrhaft lebendig war in der Münchener plaſtiſchen Kunſt nur die Erzgießerei. Sie erlangte einen Weltruf, ſeit Miller die Leitung des Gießhauſes übernommen hatte; ſelbſt die Amerikaner beſtell - ten ſich dort die ehernen Thüren für ihr Capitol.

Ein Glück für Rauch, daß ihm die Baiern ſo viel Beſchäftigung gaben. Preußen mußte jetzt mit Aufträgen kargen, da die Kriegsrüſtungen alle verfügbaren Mittel verſchlungen hatten; was für die Kunſt noch übrig blieb, wurde großentheils für die Vollendung des Muſeums dahingegeben. So konnte auch Schinkel nur noch einmal eine Aufgabe bewältigen, die ſeines Genius würdig war. Widerwillig hatte er ſich bei den meiſten ſeiner Bauten bisher mit dem Blendwerk der Verputzung beholfen. Er wußte wohl, daß die Werke ſeiner geliebten Alten ihre majeſtätiſche Wirkung nicht blos dem Adel der Formen, ſondern auch der tadelloſen Gediegenheit des Rohſtoffes verdankten. Da die Staatskaſſen den Hauſtein nicht zu er - ſchwingen vermochten, ſo griff er zurück zu der volksthümlichen, natur - gemäßen Bauweiſe der Ebene und ſchuf in der Berliner Bauakademie das edle Vorbild für den Backſtein-Rohbau, der ſeitdem in ſeiner alten norddeutſchen Heimath wieder aufzublühen begann. Es war vielleicht das eigenthümlichſte ſeiner Werke, ein mächtiger Würfel, trutzig wie die floren - tiniſchen Paläſte des Mittelalters, und doch voll Anmuth; blaue Back - ſteinſtreifen belebten die düſter-rothen Wände ein ganz neuer Verſuch in dieſen des Farbenſinnes entwöhnten Tagen; die claſſiſchen Terracotten - Ornamente fügten ſich in die Flachbogen der breiten Fenſter harmoniſch ein.

Sonſt wurden ihm nur noch kleinere Arbeiten zugewieſen, und ſehr ſchmerzlich empfand er, wie die Ungunſt der Zeit ihm die Schwingen beſchnitt, denn er ſtellte die Kunſt ſogar noch höher als die Sprache; der Sieg der helleniſchen Cultur über die Nacht der Urzeit, den er in den Zeichnungen für die Vorhalle des Muſeums ſchilderte, war ihm der eigentliche Inhalt aller Geſchichte. Aber auch bei unſcheinbaren Werken blieb er immer treu ſeinem Spruche: die Kunſt iſt überhaupt nichts, wenn ſie nicht neu iſt, überall wo man ſucht iſt man wahrhaft lebendig. Mochte er für die Berliner Vorſtadt Moabit oder für das entlegene Litthauer Städtchen Darkehmen eine Kirche bauen, immer ſuchte er auf neue Weiſe die Frage zu löſen, wie ſich die praktiſchen Bedürfniſſe des evangeliſchen Cultus mit den Ge -463Berliner und Münchener Baukunſt.ſetzen der Schönheit vertragen ſollten, und begreiflich, daß ihm die Ant - wort dann am glücklichſten gelang, wenn er zu ſüdländiſchen Formen griff. Die kirchliche Gothik lag dieſem proteſtantiſchen Hellenen fern; in dem nüchternen Bau der Werderſchen Kirche war von der himmelanſtrebenden, überſchwänglichen Myſtik des gothiſchen Stiles wenig zu ſpüren. Uner - ſchöpflich arbeitete Schinkel’s Phantaſie, wenn er ein Schloß mitten in einen grünen Park hineinſtellen ſollte; denn darin empfand er ganz germaniſch, daß er die höchſte Schönheit nur da erkannte, wo ſich die Werke der Menſchen - hand unmittelbar in die Fülle der Natur einfügten. Nur wenige dieſer Bauten ſo die liebliche Villa Charlottenhof wurden noch von ihm ſelbſt, andere ſo die Schlöſſer Babelsberg und Camenz erſt ſpäter - hin von fremder Hand ausgeführt; die meiſten aber blieben Entwürfe, auch der märchenhaft ſchöne Plan für das Schloß Orianda. Am Berliner Opernplatze wollte er die Bibliothek einreißen und dem Prinzen Wilhelm ein herrliches Terraſſenſchloß bauen; doch die beſchränkten Mittel des Prin - zen reichten nicht von fern aus, und Schinkel mußte ſich darein ergeben, daß ſein Freund Langhanns an der ſchmalen Ecke des Platzes einen edlen, aber überaus beſcheidenen kleinen Palaſt ausführte. Nur ein kleiner Bruchtheil ſeiner ungeheueren Kraft brachte dem deutſchen Leben Frucht. Bis in die Zeiten der Revolution hinein ließ ſich die Nachwirkung ſeines Genius noch an den neuen Kirchen und Muſeen erkennen, auch an manchen der freund - lichen Landhäuſer, die allmählich, bei ſteigendem Wohlſtand, vor den Thoren der großen Städte ſich erhoben. Dann aber ging das ſtille, friedliche Ge - ſchlecht, dem er ſeine Arbeit gewidmet hatte, zu Grabe; die neue Zeit des lärmenden Weltverkehrs, der Bahnhöfe, der Ausſtellungen, der Banken ſtellte der Baukunſt völlig veränderte Aufgaben.

Gehemmt und gebunden wie ſie war, griff Schinkel’s Thätigkeit doch ungleich tiefer in die nationalen Sitten ein als die fieberiſche Bauluſt des Münchener Hofes. An dem Rheinländer Gärtner hatte König Ludwig endlich einen Baumeiſter gefunden, wie er ihn brauchte, einen beweglichen, ſchnellfertigen Künſtler, der unbedenklich Alles lieferte, was der ungedul - dige Bauherr verlangte. In raſcher Folge entſtanden nun die romaniſchen Prachtbauten der Ludwigſtraße, die meiſten kahl und langweilig, wenn - gleich es dem Treppenhauſe der Bibliothek nicht an maleriſchem Reize fehlte. Zum Glück ward an das eine Ende der öden Straße das dem Conſtan - tinsbogen nachgebildete Siegesthor geſetzt; an das andere Ende kam eine wenig gelungene, aber aus der Ferne ſtattlich wirkende Nachbildung der florentiniſchen Loggia dei Lanzi. Dieſen Raum nannte man die bairiſche Feldherrnhalle und ſtellte die Bildſäulen Tilly’s und Wrede’s darin auf zum Ergötzen der nachbarlichen Spötter, denn der eine war kein Baier, der andere kein Feldherr. Das gemachte und geſuchte Weſen dieſer monu - mentalen Kunſt auf geſchichtsloſem Boden zeigte ſich nirgends greller als an dem ehernen Obelisken, der den 30,000 in Rußland gebliebenen bairi -464IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſchen Soldaten errichtet wurde. Es war ein Meiſterſtück der Erzgießerei; am Fußgeſtell prangten die Widderköpfe altrömiſcher Mauerbrecher und die Inſchrift: Auch ſie ſtarben für des Vaterlandes Befreiung. Die Mün - chener Bürger aber, die von der römiſchen Aries nichts wußten, fragten mit verzeihlichem Erſtaunen, warum ihr Monarch ſeine tapferen Krieger durch vier große Schafköpfe ehren wolle, und als Czar Nikolaus ſich den Obelisken beſah, mußte König Ludwig ſeine ganze Beredſamkeit aufbieten, um dem Ruſſen zu beweiſen, daß die Inſchrift wirklich einen Sinn hätte. Indeß bewieſen Ziebland’s Bonifacius-Baſilica und Ohlmüller’s gothiſche Kirche in der Au, daß die Münchener Bauhütte auch geſunde Talente zu erziehen wußte. Manche Unternehmungen des kunſtſinnigen Königs, die den Zeitgenoſſen noch ſonderbar erſchienen, fanden erſt nachträglich ihre Rechtfertigung, ſeit der Verkehr wuchs und freundliche Bürgerhäuſer die Prachtbauten rings umſchloſſen.

Die redenden wie die bildenden Künſte konnten ſich den krankhaften Stimmungen des Zeitalters nicht entziehen; die Wiſſenſchaft hingegen be - wahrte das Mark des deutſchen Genius faſt unverſehrt. Sie übernahm jetzt die Erbſchaft der großen Ueberlieferungen der claſſiſchen und der romantiſchen Epoche zugleich, und es bezeichnet den verſchlungenen Ent - wicklungsgang dieſes vom Himmel auf die Erde niederſteigenden Volkes, daß die Deutſchen auch in der politiſchen Geſchichtſchreibung anderen Na - tionen vorausſchritten zu einer Zeit, da die ſchlichte Tüchtigkeit der preu - ßiſchen Staatskunſt, arm wie ſie war an glänzenden Erfolgen, weder daheim noch auswärts irgend gewürdigt wurde. Leopold Ranke hatte mitt - lerweile ſeine Wanderjahre angetreten. In Wien lernte er Gentz kennen und befeſtigte ſich auf’s Neue in der Einſicht, daß der Staat zuerſt Macht iſt, die Herrſchaft über Europa durch das Einverſtändniß der großen Mächte ausgeübt wird. Dort entſtand auch, unter dem friſchen Eindrucke der Aufzeichnungen und Geſpräche des ſerbiſchen Patrioten Wuk die Ge - ſchichte der ſerbiſchen Revolution , ein Muſter lebendiger, das Ferne und Fremde vergegenwärtigender Erzählungskunſt, ganz frei von der Schwer - fälligkeit deutſcher Zunftgelehrſamkeit und doch kritiſch geſichtet und geſichert.

Dann ging er nach Rom, und hier, wo die Kunſt und die Alterthums - kunde der Deutſchen neues Leben geſchöpft hatten, ſollte auch die Forſchung der neueren Geſchichte ihren Jungbrunnen finden. Im ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert, die noch lange Ranke’s bevorzugtes Arbeitsfeld blieben, umſpannte die Politik der Päpſte noch die Welt; von Rom und Venedig aus konnte er den Wandel der internationalen Machtverhältniſſe nicht vollſtändig, aber mit annähernder Sicherheit überſehen, die in Italien geſammelten archivaliſchen Schätze bildeten den Grundſtock ſeiner unver - gleichlichen diplomatiſchen Gelehrſamkeit. Alſo ausgerüſtet ſchuf er das465Ranke’s Geſchichte der Päpſte.ſchönſte ſeiner Werke, die Geſchichte der Päpſte ein Buch, das nur ein Deutſcher und unter den Deutſchen nur Ranke ſchreiben konnte. Die Viel - ſeitigkeit ſeines Erkennens und Verſtehens war bedingt durch eine geniale Einſeitigkeit der Charakteranlage, wie ſie ſich ſonſt faſt nur bei ſchroffen und harten Naturen findet. Mit einem lebhaften und empfänglichen Geiſte verband er von früh auf eine gelaſſene Ruhe des Gemüths, die ſelbſt das Geſchehende wie ein Geſchehenes hinnahm. Als Jüngling auf der Schulpforte hatte er einſt die Schlachten von Großgörſchen und Leipzig nahe vor Augen geſehen, nicht gefühllos, aber auch unberührt von jener glühenden vaterländiſchen Begeiſterung, welche damals ſo viele andere junge Kurſachſen unter die Fahnen der Verbündeten führte. Dann wurde er durch die Theilung Sachſens ein Preuße, und dankbar erkannte er die Ordnung, die Gerechtigkeit, die Bildung des neuen Heimathſtaates an; doch das kurz angebundene preußiſche Weſen, der eigenthümliche Muck der Märker blieb ihm ebenſo fremd wie der reizbare Stolz preußiſcher Staatsgeſinnung, und ſoweit ſich in ſeiner durchaus ſelbſtändigen Auf - faſſung deutſcher Geſchichte die Spuren alter Ueberlieferungen erkennen ließen, wieſen ſie nach Kurſachſen zurück, nicht nach Preußen. So ward er auch zur Wahl ſeines Berufes nicht durch Lebenserfahrungen beſtimmt, wie die Mehrzahl der bedeutenden Männer, ſondern durch die Arbeit des Erkennens ſelbſt; er las Geſchichtswerke ohne Zahl, und erſt aus der Fülle des Wiſſens erwuchs ihm der Entſchluß, der Welt die Wirklichkeit des hiſtoriſchen Lebens zu zeigen, rein, zuverläſſig, beſtimmt, ſo daß er ſelber hinter dem Bilde ganz verſchwände.

Als er die Geſchichte der Päpſte begann, ſchlug er die augenblickliche Macht des Vaticans ſehr niedrig an. Das Verhältniß der päpſtlichen Gewalt zu uns, ſagte er gleichmüthig, übt keinen weſentlichen Einfluß weiter aus. Die Zeiten wo wir etwas fürchten konnten ſind vorüber, wir fühlen uns allzu wohl geſichert. Es war ein Irrthum, den er mit der geſammten Zeit theilte; in ſpäteren Jahren nahm er ihn ſelbſt zurück und geſtand, eine neue Epoche des Papſtthums habe begonnen. Aber jenem glücklichen Gefühle der Sicherheit verdankte ſein Buch den künſtleriſchen Zauber. Mit einer Unbefangenheit, die in der allezeit ſtreitbaren Kirchengeſchichte ohne gleichen daſtand, ſchilderte er die große Tragödie der Gegenrefor - mation und übertrug Niebuhr’s kritiſche Methode zum erſten male in die Erforſchung der neuen Geſchichte. Mochte er freien Blicks die weithin über die Erde verzweigten Pläne der geiſtlichen Weltherrſchaft überſchauen oder Art und Unart der handelnden Männer mit feinen, ſauberen Strichen zeichnen, das Große wie das Kleine der hiſtoriſchen Welt war ihm gleich vertraut. Zum erſten male ſeit Schiller’s gewaltigen hiſtoriſchen Charakter - ſchilderungen ſchuf ein deutſcher Geſchichtsſchreiber wieder die Bilder leben - diger Menſchen, aber nicht blos mit künſtleriſcher Phantaſie, ſondern auch mit gelehrter Sachkenntniß. Hinter der leichten Anmuth der ErzählungTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 30466IV. 7. Das Junge Deutſchland.verbarg ſich ein dem Goethiſchen Geiſte verwandter Tiefſinn. An den Alt - meiſter erinnerte nicht blos die Weltfreude, die nichts Menſchliches von ſich abwies, ſondern auch die wiſſenſchaftliche Grundanſchauung, die alles hiſto - riſche Werden aus dem Zuſammenwirken der allgemeinen Weltverhältniſſe und der freien perſönlichen Kräfte erklärte. Dies Buch zeigte wirklich was Goethe ſich einſt auf der Heimkehr aus Rom noch zu ergründen vorge - nommen hatte: wie aus dem Zuſammentreffen von Nothwendigkeit und Willkür, von Antrieb und Wollen, von Bewegung und Widerſtand ein Drittes hervorgeht was weder Kunſt noch Natur, ſondern Beides zugleich iſt, nothwendig und zufällig, abſichtlich und blind.

Kein Zufall wahrlich, daß dieſe erſte claſſiſche Geſchichtserzählung des neuen Deutſchlands gerade der Univerſalgeſchichte angehörte. Für ein nationales Geſchichtswerk großen Stiles war die Zeit noch nicht ge - kommen; uns fehlten noch die allgemein anerkannten politiſchen Ideale und der ſichere Inſtinkt des unangreifbaren, in Fleiſch und Blut ein - gedrungenen Nationalſtolzes. Jener freie Weltbürgerſinn der deutſchen Dichtung, der alles Große anderer Zeiten und Völker als ſein Eigen - thum betrachtete, bewährte jetzt auch in der politiſchen Geſchichtſchrei - bung ſeine Kraft; und da nun andere begabte Hiſtoriker dem Beiſpiel Ranke’s folgten, ſo gewöhnten ſich die Ausländer bald anzunehmen, daß jeder tüchtige deutſche Gelehrte, der über andere Nationen ſchriebe, dies fremde Volksthum auch kenne, während weitum im Auslande nur ein einziger Mann lebte, der die deutſche Geſchichte verſtand: Thomas Carlyle. Deutſchland denkt für Europa, ſagte der Amerikaner Emerſon, dieſe Halb - griechen umfaſſen die Wiſſenſchaft aller anderen Völker. Ranke’s Werk errang der deutſchen Geſchichtſchreibung zuerſt einen Weltruf. Niebuhr’s römiſche Geſchichte hatte doch nur die Philologen, die überall in kosmo - politiſcher Luft leben, begeiſtert; jetzt aber ſprach auch ein ganz moderner Menſch, der Deutſchland weder kannte noch liebte, Macaulay ſeine Be - wunderung aus.

In der Heimath ſelbſt war der Beifall keineswegs ungetheilt. Die Hochgebildeten und Welterfahrenen vermochten die vornehme Ruhe des Hiſtorikers zu begreifen, aber nicht blos die rohen Radicalen, denen nur die plumpe Tendenz willkommen war, ſchmähten auf ſeine Mattherzigkeit; auch unverbildete junge Männer wie Guſtav Freytag fühlten ſich in ihrer teutoniſchen Empfindung verletzt, und mit vollem Rechte. Sie ahnten dunkel, daß dieſem vollendeten Kunſtwerke doch noch ein letzter Zug hiſtoriſcher Wahrheit fehlte, daß die ſittliche Welt rettungslos untergehen müßte, wenn alle Menſchen ſo dächten wie dieſer geiſtvolle Beobachter. Der Hiſtoriker und der Philoſoph vermag, was kein anderer Gelehrter kann, durch ſeine Wiſſenſchaft den ganzen Menſchen zu ergreifen. Von dieſem edlen Vor - rechte machte Ranke ſelten Gebrauch; er hielt nicht nur ſein eigenes ſitt - liches Urtheil faſt immer zurück, er ging auch ſo gänzlich auf in der Weltan -467Ranke’s Schule.ſchauung der geſchilderten Zeit, daß manche ſeiner Charakterſchilderungen faſt den Eindruck erweckten, als ob zwei ſchlaue Monſignori des ſiebzehnten Jahrhunderts ſich einander vorſtellten. Von den Höfen, denen er ſeine diplomatiſche Kunde verdankte, blickte er ungern hinab in die Niederungen der Geſellſchaft. Und doch iſt das Licht der evangeliſchen Wahrheit in ſo vielen edlen Völkern unzweifelhaft nicht durch die diplomatiſchen Künſte kluger Cardinäle wieder ausgelöſcht worden, ſondern durch die rohen Kräfte der Dummheit, des Aberglaubens, der Gewohnheit, des Haſſes, die in den blinden Maſſen arbeiteten und von den Staatsmännern des Vati - cans nur benutzt wurden. Dieſe thieriſchen und dämoniſchen Mächte der Geſchichte beachtete Ranke wenig; weder die wiehernde Blutgier der Mord - banden der Bartholomäusnacht noch das fanatiſche ni olvido ni perdon der ſpaniſchen Soldatesca führte er den Leſern dicht unter die Augen. Er zeigte nicht, weßhalb Martin Luther den gekrönten Prieſter für den Anti - chriſt halten mußte; und auch die radicale Unvernunft des Jeſuitenordens, der doch alle Staaten, in denen er herrſchte, zuletzt unfehlbar zu Grunde richtete, trat nicht grell genug heraus. Die ernſte Frage, warum die brutale Macht einen halben Sieg über die Idee davontragen konnte, ward alſo nicht vollſtändig beantwortet.

Während der Arbeit fühlte Ranke ſelbſt, daß die ſittliche Ueberlegen - heit des germaniſchen Proteſtantismus in ſeinem Buche nicht recht zur Geltung kam, und faßte ſchon den Plan, in einem neuen Werke, einem Gegenbilde, die große Zeit der Anfänge der deutſchen Reformation darzu - ſtellen. Wie viel ſchwerer dies ſei, wußte er wohl. So etwas können wir nicht zu Stande bringen, ſagte er einmal über ein Buch von Aug. Thierry, denn die Fülle des Moments aus der vaterländiſchen Vergangen - heit herauszugreifen mußte den Franzoſen allerdings leichter gelingen als den Deutſchen. Doch er traute ſich’s zu, durch die Wärme ſeines reli - giöſen Gefühls zu erſetzen was ihm an patriotiſcher Leidenſchaft abging. Unterdeſſen nahm er ſeine Berliner Vorleſungen wieder auf und begrün - dete dort das erſte der hiſtoriſchen Seminare, welche ſeitdem, durch ſeine Schüler weitergebildet, auf allen unſeren Univerſitäten die methodiſche Quellenforſchung gepflegt haben. Seine Schule wurde die Pflanzſtätte einer neuen Generation von Hiſtorikern. Waitz, Sybel und viele andere aufſtrebende Talente ſchloſſen ſich ihm an, auch die Bönhaſen konnten ſich der Einwirkung ſeines ſchöpferiſchen Geiſtes bald nicht mehr entziehen. Da die Stiftung Stein’s, das große Sammelwerk der Monumenta Ger - maniae unter Pertz’s Leitung rüſtig vorgeſchritten war, ſo regte Ranke die jungen Männer zur Verwerthung des Rohſtoffes an, und mit den Jahrbüchern des deutſchen Reichs unter dem ſächſiſchen Hauſe begann eine lange Reihe gründlicher Arbeiten, die den Thatbeſtand unſerer mittel - alterlichen Geſchichte ganz anders ſicher ſtellten als Raumer es einſt ver - mocht hatte.

30*468IV. 7. Das Junge Deutſchland.

Der freie Geiſt, der unter den Hiſtorikern ſich regte, drang nun end - lich auch in die Staatslehre ein. Es ward hohe Zeit; denn da die Schüler Niebuhr’s, Savigny’s, Eichhorn’s ſich faſt alleſammt der Philologie oder der Rechtsgeſchichte zuwendeten, ſo blieben die bahnbrechenden Ge - danken der hiſtoriſchen Juriſten der zünftigen Staatswiſſenſchaft lange ganz unbekannt. Die liberalen Staatsgelehrten graſten vergnüglich auf der Gemeinweide ihres Naturrechts und rühmten ſich des Fortſchritts, wäh - rend ſie arge Reaction trieben. Was für Plattheiten brachte der Leipziger Pölitz in ſeinem Buche über das conſtitutionelle Leben zu Markte: alles irdiſche Daſein ging ihm in den beiden Begriffen Religion und Bürger - thum auf, und nur ſchriftliche Verfaſſungsurkunden ohne Papier ging es nicht konnten die Freiheit des Bürgerthums ſichern. Noch weit bedenklicher erſchien die wiſſenſchaftliche Verwahrloſung des deutſchen Liberalismus in dem Staatslexikon, das Rotteck und Welcker ſeit dem Jahre 1834 herausgaben. Das wohlberechnete und klug geleitete Unter - nehmen zählte faſt alle namhaften Männer des ſüddeutſchen Liberalismus, daneben auch viele Norddeutſche, zu ſeinen Mitarbeitern und fand unter den Mittelklaſſen ſogar noch größere Verbreitung als vordem Rotteck’s Weltgeſchichte. Wie viel leichter als eine ausführliche Geſchichtserzählung ließen ſich doch dieſe kurzen Artikel leſen, in der bequemen alphabetiſchen Ordnung, die ſchon ſeit dem Brockhauſiſchen Converſationslexikon dem großen Publikum mundgerecht war; der geſinnungstüchtige Philiſter brauchte ja nur das Stichwort aufzuſchlagen, um ſofort zu wiſſen, was er über jede politiſche oder kirchliche Frage zu urtheilen habe. Gegen die untrüg - liche Sicherheit dieſes Orakels kam kein Widerſpruch auf; Rotteck vermaß ſich im Vorwort kurzab nur ſolche Lehren vorzutragen, daß deren An - feindung als Aeußerung der Böswilligkeit erſcheinen müſſe .

In jedem Landtagshauſe, in allen Redactionszimmern und Leſecabinets prangte die lange Bändereihe des Staatslexikons; der Kronprinz von Preu - ßen aber und ſeine romantiſchen Freunde bezeichneten fortan alle Verir - rungen des Zeitgeiſtes mit dem Schimpfnamen Rotteck-Welcker. Das Sam - melwerk enthielt einige brauchbare Arbeiten, namentlich gute volkswirthſchaft - liche Aufſätze von Liſt und Mathy; aber der Grundgedanke war unhaltbar und veraltet, die leidenſchaftlichen und weitſchweifigen leitenden Artikel der beiden Herausgeber ſangen immer nur das alte Lied von dem allein wahren Vernunftrechte der franzöſiſchen Revolution, dem das poſitive und das hiſtoriſche Recht nun endlich weichen müßten. Nun gar in den hiſtoriſchen Artikeln tummelte ſich der liberale Philiſtergeiſt mit einer Selbſtgefällig - keit, als ob Niebuhr nie gelebt hätte. Wie ein ſparſamer Familienvater ſeinen liederlichen Sohn, ſchalt der Pfälzer Radicale Kolb den großen Friedrich aus, weil er ſo viel Geld und Blut an die Eroberung Schle - ſiens verſchwendet hatte. Ein ſolches Werk konnte wohl der liberalen Partei neue Anhänger werben, die politiſche Bildung der Nation förderte469Das Staatslexikon. Dahlmann’s Politik.es wenig, am wenigſten in Oeſterreich, wo das Gegengewicht einer leben - digen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft noch faſt ganz fehlte. Die denkfaule Maſſe der Leſer wurde dadurch nur beſtärkt in ihrer Neigung, über unverſtan - dene Dinge mit einigen ſchallenden Schlagworten abzuſprechen, in jenem blinden und zugleich bildungsſtolzen Autoritätsglauben, der die Jahrhun - derte der Vielwiſſerei ſo viel häßlicher erſcheinen läßt, als die naiven gläu - bigen Jugendzeiten der Geſittung.

Da entriß Dahlmann die Staatslehre dem Bannkreiſe der natur - rechtlichen Formeln durch ſein Buch: die Politik (1835). Indem er die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zuſtände zurück - führte, hob er die entgeiſtete conſtitutionelle Doctrin mit einem male auf die freie Höhe, welche die Geſchichtsforſchung längſt erreicht hatte und gab dem deutſchen Liberalismus zuerſt einen feſten wiſſenſchaftlichen Boden. Gleich ſeinem Freunde Niebuhr verwarf er die Hirngeſpinſte vom Naturzuſtande und Staatsvertrage, er faßte den Staat als eine urſprüngliche Ordnung, einen nothwendigen Zuſtand, ein Vermögen der Menſchheit ; aber wäh - rend die hiſtoriſchen Juriſten den conſtitutionellen Staat bisher als eine Ausgeburt der naturrechtlichen Wahnbegriffe bekämpft hatten, gelangte Dahlmann gerade durch ſeine hiſtoriſche Methode zu dem Schluſſe, daß die conſtitutionellen Formen ſich aus der Entwicklung des deutſchen Staats - lebens mit innerer Nothwendigkeit ergäben. So ward endlich mit wiſſen - ſchaftlicher Strenge erwieſen, was in den Staatsſchriften der Stein’ſchen Reformperiode nur angedeutet war. Dieſe völlig neue Beweisführung wirkte ſo überzeugend, daß ſelbſt Heinrich Leo, der leidenſchaftliche Feind des Liberalismus, für kurze Zeit, leider nicht für immer, bekehrt wurde und verwundert ſagte, durch Dahlmann habe er erſt gelernt, daß dieſe conſtitutionellen Formen tüchtiges politiſches Leben einſchließen können.

Das kühne Unternehmen, das geſammte Staatsweſen hiſtoriſch zu be - trachten, konnte freilich nicht gleich beim erſten Anlaufe vollſtändig gelingen; denn die Staatslehre muß Gattungsbegriffe und Imperative zu finden ſuchen, während in der Geſchichte doch überall die unberechenbare Freiheit der Machtkämpfe und des perſönlichen Wollens wirkt. Dieſen Widerſpruch zu überwinden vermochte Dahlmann nicht überall. Unwillkürlich fiel er zu - weilen in die Methode des Naturrechts zurück, die den lebendigen Staat nur als das Ergebniß eines Denkproceſſes auffaßte; und obwohl er nach - drücklich ausſprach der Idealiſt löſt Räthſel, die er ſich ſelber aufgegeben , ſo nannte er doch ſelbſt die conſtitutionelle Monarchie ſchlechthin den guten Staat , als ob er an das Wahngebilde eines abſoluten Staats - ideales glaubte. Solchen Nachwirkungen der alten abſtrakten Rechtsphilo - ſophie konnte ſich in jenen Jahren noch kein Denker ganz entziehen. Auch von dem britiſchen Staate, den er noch immer wie vor zwanzig Jahren für das Muſterbild der Freiheit hielt*)S. o. II. 111., gab er nur ein unvollſtändiges470IV. 7. Das Junge Deutſchland.Bild, da der hochariſtokratiſche Charakter der altengliſchen Selbſtverwal - tung und Parteiregierung in Deutſchland noch nirgends recht verſtanden wurde; und über die drohenden ſocialen Gegenſätze des Zeitalters urtheilte er noch ganz im Sinne des ſelbſtgefälligen liberalen Bürgerthums alſo: Faſt überall im Welttheil bildet ein weit verbreiteter, ſtets an Gleich - artigkeit wachſender Mittelſtand den Kern der Bevölkerung.

Doch was bedeuteten dieſe Mängel neben den neuen, lebendigen Ge - danken des Buchs! Rotteck’s Schule war durch die Lehre der Volks - ſouveränität und durch die erbitternden Kämpfe des Tages längſt dahin geführt worden, daß ſie die monarchiſche Gewalt nur noch als ein nothwen - diges Uebel betrachtete. Dahlmann aber nannte die Monarchie das ein - zige Band der Gewohnheit in der deutſchen Staatenwelt, während für alle anderen politiſchen Elemente der Schwerpunkt erſt im Werden ſei; er hielt den Lobrednern der Barrikaden das ſtrenge Wort entgegen: jede Revolution iſt nicht nur das Zeichen eines ungeheueren Mißgeſchicks, ſon - dern ſelbſt ein Mißgeſchick, ſelbſt ſchuldbelaſtet; er dachte ſehr beſcheiden von der gerühmten Freiheit des, wenn man ſo will, conſtitutionellen Deutſchlands und verlangte für Preußens künftige Reichsſtände nur ſolche Rechte, die ſich mit dem lebendigen Königthum vertragen könnten. Das Alles in einer edlen, gedankenreichen, die Gewiſſen packenden Sprache, die lebhaft an Jakob Grimm’s monumentalen Stil erinnerte; und dazu überall ein helles Verſtändniß für die Freiheit der hiſtoriſchen Größe, für den Adel unſerer claſſiſchen Bildung, für die frommen, den Staat erhalten - den Kräfte des Gemüths ein vornehmer Sinn, der mit dem vorlauten Hochmuth der Aufklärung nichts gemein hatte. Darum fand dies Be - kenntniß des gebildeten Liberalismus zuerſt im Norden Anklang, wo die monarchiſche Geſinnung noch naturwüchſig, die Geſetzgebung Stein’s noch unvergeſſen war. Dahlmann glaubte an eine auch äußerliche Vollen - dung der menſchlichen Dinge am Ende der Geſchichte, und dieſer Glaube, den in unſeren erfahrungsreicheren Tagen nur noch jugendliche Schwär - mer hegen, gab ſeinen Worten eine ſtolze, den Zeitgenoſſen unwiderſteh - liche Zuverſicht. Schwerer trennten ſich die Süddeutſchen von ihrem Ver - nunftrecht; indeß entſtand auch dort allmählich eine gemäßigt liberale Partei, die mindeſtens von den radicalen Schlagworten der alten Lehre, von der Volksſouveränität, dem Geſellſchaftsvertrage und dem Rechte der Revolution nichts mehr hören wollte. Leider blieb Dahlmann’s Buch un - vollendet. Der wortkarge Mann entſchloß ſich zum Schreiben faſt noch ſchwerer als zum Reden, und er fand auch in der Wiſſenſchaft keinen Nachfolger, denn der Weg, den er gewieſen, war nur für ungewöhnliche Talente gangbar. Bis zum heutigen Tage beſitzen wir noch kein Werk, das wirklich das geſammte Staatsleben aus den gegebenen Zuſtänden her - aus erklärte und ſtatt ſubjectiver politiſcher Behauptungen nur erweisbare hiſtoriſche Wahrheiten aufſtellte.

471Dahlmann’s däniſche Geſchichte. Schloſſer.

Bald nachher ſchrieb er die Geſchichte Dänemarks für die vielbändige von Heeren und Ukert herausgegebene Europäiſche Staatengeſchichte, deren Verbreitung bewies, wie richtig der umſichtige Verleger Perthes die neu erwachte hiſtoriſche Wißbegierde der Zeit geſchätzt hatte. Dahlmann’s Werk war die Perle der Sammlung. Seine alten Feinde ſelbſt, die Dänen mußten ihm zugeſtehen, daß noch Niemand die norwegiſch-isländiſche, die däniſche, die niederſächſiſche Cultur und die aus ihrer Wechſelwirkung ent - ſtandenen eigenartigen Rechtsbildungen ſo gründlich durchforſcht, ſo an - ſchaulich geſchildert hatte. Er glaubte ſelbſt aus ſchwediſchem Geſchlechte zu ſtammen und hatte faſt ſein ganzes Leben in den Grenzgebieten der deutſchen und der ſkandinaviſchen Welt verbracht; alſo fühlte er ſich warm und heimiſch dort im Norden. Auch von der hochpoetiſchen Schönheit der nordiſchen Sagas konnte er Einiges in ſeine Erzählung aufnehmen, weil er unter den alten Ueberlieferungen zwar mit Niebuhriſcher Unbefangen - heit aufräumte, doch ſie nicht gänzlich zu verwerfen brauchte. Ueber die Handelnden ſprach er ſtreng, aber mit wohlwollender Menſchenkenntniß und mit jenem gemüthlichen Humor, der zum Verſtändniß germaniſcher Naturen unentbehrlich bleibt. Immer zur rechten Zeit trat er ſelbſt her - vor, um mit ſeinen ernſten tiefen Augen das Ergebniß der Entwicklung zu überblicken; denn der Hiſtoriker kann nicht, wie der epiſche Dichter, in einer freierfundenen Fabel die Nemeſis walten laſſen, darum ſoll er ſelbſt freimüthig ausſprechen, was das Gewirr der Thatſachen für die ſittliche Welt bedeute, darum liegt die ergreifende Macht eines Geſchichtswerkes immer in der ſtarken Perſönlichkeit des Erzählers. Auch dies Buch blieb unvollendet, und der entlegene Stoff lockte die Maſſe der Leſer nicht an.

Weit ſtärker als Ranke oder Dahlmann wirkte Schloſſer auf die öffentliche Meinung durch das eigentlich populäre Geſchichtswerk der Epoche, die neue Ausgabe der Geſchichte des achtzehnten Jahrhunderts. Hier fan - den die Mittelklaſſen was ſie bei Jenen vermißten: einen allgemein ver - ſtändlichen Stoff, ſchonungsloſes ſittliches Urtheil und den derben frieſi - ſchen Trotz, der allen Gewaltigen der Erde mit ſichtlicher Freude, demo - kratiſch die Wahrheit ſagte. Die furchtbaren Anklagen wider die Fürſten und die Unglücklichen, die als Miniſter alle Untugenden der Miniſter zeigten , behagten den verbitterten Leſern, obgleich ſie unzweifelhaft ein falſches Bild gaben von einem reichen Jahrhundert, das gerade durch ſeine abſolute Fürſtengewalt, durch monarchiſche, den Gedanken der Völker vor - auseilende Reformen die Geſittung der Menſchheit gefördert hatte. An den Höfen ſelbſt ward man dem Menſchenfreunde, dem contemplativen Philoſophen , wie er ſich gern nannte, nie ganz gram, die Großher - zogin Stephanie von Baden ſchenkte ihm ihre treue Gunſt; denn ſeine beſtändige ſittliche Entrüſtung entſprang einem tiefen, warmen Gemüthe, und in dem kleinlichen Parteihaſſe der Zeit bewahrte ſich der greiſe Polterer noch immer viel von der weitherzigen Humanität des alten Jahrhunderts.

472IV. 7. Das Junge Deutſchland.

Auch die ungeſchlachte Plumpheit ſeiner Darſtellung ward ihm nicht angerechnet; man bewunderte vielmehr ſeinen geſinnungstüchtigen Muth, wenn er alle Eleganz und Milde abſichtlich zu verſchmähen erklärte, und bemerkte nicht, wie nahe ſich dieſe rohe Formloſigkeit mit der fri - volen Formenſpielerei Heinrich Heine’s berührte. Schloſſer wie Heine hielt den Stil für einen Mantel, den man dem Inhalt nach Belieben umhängen oder auch abnehmen könne. Sie wußten nicht, was Goethe doch längſt gezeigt hatte, daß der ſtill ausgereifte Gedanke den richtigen Ausdruck ſo nothwendig hervorbringt, wie die Blüthe die Frucht, und die ſchöne Proſa aus der vollkommenen Beherrſchung des Stoffes ſich ganz von ſelbſt ergiebt. Schloſſer ward formlos, weil er den entſagenden Fleiß Ranke’s verachtete und über Halbverſtandenes mit moraliſchen Kraftworten haſtig hinwegſtürmte. Die härteſten ſeiner vielen ungerechten Urtheile ent - ſprangen der Unwiſſenheit. Wenn er kurzab meinte, das Aushebungs - ſyſtem Friedrich Wilhelm’s I. hätte leicht beſſer und gerechter eingerichtet werden können, ſo wußte er nicht was er ſagte; er ahnte nicht, welchen un - überwindlichen Widerſtand die rohen Maſſen des Volkes ſchon der be - ſchränkten Cantonspflicht entgegengeſetzt hatten. Mehr Sachkenntniß und darum auch mehr Billigkeit zeigten die literariſchen Abſchnitte, die beſten und beliebteſten des Werkes. Freilich gelang ihm bei dieſem erſten Ver - ſuche noch nicht, den inneren Zuſammenhang, die beſtändige Wechſelwir - kung des literariſchen Lebens und der politiſchen Machtkämpfe nachzu - weiſen. Beides ſtand bei ihm noch unvermittelt nebeneinander; und zu - dem lagen die entſcheidenden Jahre ſeiner eigenen Bildung noch hinter der Blüthezeit unſerer Dichtung zurück; darum ſtellte er Leſſing den Anfänger und Vollender deutſcher Bildung hoch über Schiller und Goethe, und die Schriften der engliſch-franzöſiſchen Aufklärung waren ihm offenbar vertrauter als ſpätere, größere Werke.

Und wunderbar, dies ganz altväteriſche Buch ſchwamm doch mitten im Strome des modernen Lebens. Gerade weil Schloſſer der liberalen Partei immer fern ſtand, hielten die Zeitgenoſſen ſeine grauſame, oft empörend un - billige Strenge für die Gerechtigkeit eines unbeſtechlichen Richters; er erſchien ihnen wie ein Bußprediger des Mittelalters, ſeine dröhnende Stimme klang wie die Todtenglocke, die das Nahen der von ſo Vielen erſehnten Revolution ankündigte, und wenngleich er zuweilen auch gegen dieſe ſchlaffe, unfreie Generation in Bauſch und Bogen eiferte, ſo blieb den Leſern doch der willkommene Eindruck, als ob alles Uebel nur von den Höhen der Ge - ſellſchaft herabfließe. Obwohl er den Unterſchied öffentlicher und häus - licher Sittlichkeit zu kennen behauptete, ſtellte er doch alle Helden der Ge - ſchichte erbarmungslos unter den Maßſtab ſeiner Kantiſchen Privatmoral; die Freiheit des Genius blieb ihm ſo unfaßbar wie das Recht der retten - den That, nur der unlauteren Größe Napoleon’s geſtand er zu, was er einem Friedrich nicht einräumte. Ihm fehlte der hiſtoriſche Sinn, der die473Leo.Wandelbarkeit der ſittlichen Ideale der Menſchheit beſcheiden erkennt und darum, ſtatt dem ewigen Richter vorzugreifen, jede Zeit nur nach ihren eigenen, endlichen Zwecken beurtheilt. Ariſtokrat in Leben und Neigung, reizte er arglos den Groll der Mittelſtände wider die beſtehende Ordnung. Ein Verächter des akademiſchen Zunftgeiſtes förderte er ebenſo arglos die Selbſtüberhebung der Gelehrten; denn aus der ſchlammigen See fürſtlicher Nichtswürdigkeit, die er ſeinen Leſern ſchilderte, ragten als einſame Felſen nur einige große Schriftſteller hervor. Hier allein fand er Wahrheit, Einfalt, ſtilles Leben, Selbſtbeherrſchung, den beſcheidenen Wandel und die Tugend, ohne welche die Freiheit ein Traum, das Recht ein Schatten bleibt. Hier allein glaubte er reine Luft zu athmen und fühlte nicht, daß dies beſchauliche ſtille Leben auch ſeinen Hochmuth, auch ſeine Sün - den und Verſuchungen hat, die nur minder grell in die Augen fallen als die Sünden der Handelnden. Verzeihlich alſo, daß der junge Gervinus und andere ſeiner Schüler ſich den Staatsmännern auch im Handeln un - endlich überlegen däuchten, und die Profeſſoren in Deutſchland bald eine ähnliche Rolle ſpielten wie in Frankreich die Rechtsanwälte; denn nicht Jeder vermochte wie Schloſſer ſelbſt, zugleich die Politiker zu meiſtern und ſich vom öffentlichen Leben beſcheiden zurückzuhalten. Sein ſtarkes ſitt - liches Pathos, das man doch nicht vornehm überſehen konnte, bewahrte die deutſche Geſchichtſchreibung vor blutloſem Kaltſinn; aber ſeine Werke veralteten ſchnell, ſobald die erregte Stimmung der Zeit ſich beſänftigte.

Seit die Geſchichtſchreibung wieder politiſch geworden war konnte es ihr auch an erklärten Parteimännern nicht fehlen. Heinrich Leo hatte ſich, nach - dem der wilde Radicalismus ſeiner Burſchentage verbrauſt war, eine Zeit lang der Hegel’ſchen Philoſophie ergeben und war dann wieder zurückge - gekehrt zu der romantiſchen Weltanſchauung, die ſeiner Natur entſprach. *)S. o. II. 441.Er entfaltete in Halle eine überaus fruchtbare Thätigkeit als Lehrer wie als Schriftſteller ein Feuergeiſt von überſprudelnder Kraft, ehrlich und liebenswerth ſelbſt in ſeiner unerſättlichen Kampfluſt, aber maßlos in Allem, ſo beherrſcht von der Leidenſchaft, daß ihm trotz ſeiner reichen Gelehr - ſamkeit ganze Epochen der Geſchichte unverſtändlich bleiben mußten. Ledig - lich die Welt des Mittelalters und namentlich ihr farbenreiches Städte - leben war ihm ganz vertraut; das zeigte ſelbſt ſein beſtes Werk, die italieniſche Geſchichte, noch deutlicher nachher die niederländiſche und die Univerſalgeſchichte. Die Formenreinheit der Antike ſchien ihm ſeelenlos, und in den neueren Jahrhunderten ſah er nur einen fortwährenden Verfall , nur die proſaiſche Herrſchaft der materiellen Intereſſen als ob dieſe Intereſſen nicht auch das Städteweſen des Mittelalters beſtimmt hätten. Tiefſinnig ſchilderte er die ſtürmiſche Ehe Deutſchlands und Ita - liens in den ſtaufiſchen Zeiten: der Mann voll Kraft, Muth und Präten -474IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſionen, die Frau voll Liſt, Gewandtheit und in allen Spielen Meiſterin; Beide können einander nicht laſſen, und doch regen ſie einander fortwährend auf. Aber wie dann die alte Schickſalsgemeinſchaft der beiden großen Nationen in der modernen Geſchichte ſich erneuerte, wie die Patrioten dieſſeits und jenſeits der Alpen ſich für gleiche Ideale begeiſterten, wie Piemont das Preußen Italiens wurde, dies wunderbare Schauſpiel blieb ihm ganz verborgen, obgleich ſich der Vorhang doch ſchon zu heben begann. Er wollte in den neuen Jahrhunderten nur eine atomiſtiſch - mechaniſche Richtung erkennen, und weil er ihre ſchöpferiſchen Kräfte nicht würdigte, darum blieb auch fruchtlos was er mit vollem Rechte gegen ihre Verirrungen ſagte. Wenn er der gefühlsſeligen Ueberfeinerung mit mar - kigen Worten die Herrlichkeit des Krieges, die Nothwendigkeit ſtrenger Straf - geſetze vorhielt oder unerſchrocken erklärte, die Franzoſen würden durch das Geſpenſt der hohlen Freiheit für die Frevel ihrer Revolution ge - züchtigt, ſo meinte die liberale Welt, um das Brüllen des halliſchen Löwen brauche man ſich nicht zu kümmern. Sein herausforderndes Weſen brachte ihn um manche wohlverdiente Anerkennung, und da er überall die Autorität, im Mittelalter alſo die römiſche Kirche vertheidigte, ſo gerieth der treue Anhänger des preußiſchen Königthums ſogar in den Ruf katho - liſcher Geſinnung; er dachte aber, wie er ſelbſt geſtand, viel zu frei, um ſich einer ſo durch Hochmuth bornirten Gemeinſchaft anzuſchließen .

Inzwiſchen fanden auch die Ultramontanen in Friedrich Hurter end - lich ihren Parteihiſtoriker. Aus ſeiner Geſchichte Innocenz’s III. ſprach der clericale Fanatismus ſo vernehmlich, daß ſein alter Freund Haller zufrie - den ſagte, kein proteſtantiſches Wörtlein ſei darin enthalten. In der Kirche iſt alles, außer ihr kein Heil ſo wiederholte er unabläſſig; die fin - ſtere Glaubenswuth des Jahrhunderts der Bettelorden und der Inquiſi - tion galt ihm für die Blüthe der chriſtlichen Liebe, und je roher er der freien Bildung in’s Geſicht ſchlug, um ſo zuverſichtlicher betheuerte er: Das iſt das Urtheil der Geſchichte, nicht der Dogmatik oder Polemik. In langen Jahren vorbereitet, bot das Buch reichen Stoff, aber keine ein - dringende Kritik, die Darſtellung war trotz der maſſenhaft angeſammelten maleriſchen Einzelzüge ſchwerfällig und ohne Leben, die Grundanſicht falſch. Nur eine geiſtloſe, äußerliche Anſchauung konnte den Papſt, unter deſſen Herrſchaft die Kirche ihre höchſte Macht erreichte, darum auch für den größten aller Kirchenfürſten halten; hinter den erhabenen kirchlichen Ideen des erſten oder des ſiebenten Gregor ſtand Innocenz’s harte Herrſchſucht ebenſo weit zurück, wie hinter der kühnen nationalen Politik Alexander’s III. Und wenn der Lobredner Innocenz’s gar über den irdiſchen Beſitz der Kirche klagte, ſo offenbarte er nur die Schwäche ſeines hiſtoriſchen Urtheils, denn gerade ſein Innocenz hat den Kirchenſtaat erſt geſchaffen.

Eine ſolche Verherrlichung des Todfeindes unſerer Stauferkaiſer mußte den Clericalen um ſo willkommener ſein, da ſie aus der Feder eines hoch -475Hurter. Grimm’s Mythologie.geſtellten evangeliſchen Geiſtlichen kam. Ein Ruf des Beifalls und der Schadenfreude ſcholl durch das ultramontane Lager; Möhler in Tübingen brachte das Buch ſogleich in den Hörſaal um ſeinen geiſtlichen Hörern zu erklären, was wahre Geſchichtſchreibung ſei. Die Evangeliſchen aber zeig - ten anfangs ihrem abtrünnigen Glaubensgenoſſen jene haltloſe Nachſicht, welche jederzeit die natürliche Schwäche proteſtantiſcher Geiſtesfreiheit ge - blieben iſt. Bei mehreren katholiſchen Buchhändlern hatte Hurter ver - geblich angeklopft, ſie alle hatten ſich geſcheut, die aufklärungsſtolze Leſer - welt vor den Kopf zu ſtoßen; der ehrliche Proteſtant Perthes dagegen ver - legte das Buch ſo unbedenklich, wie er einſt Stolberg’s Religionsgeſchichte verlegt hatte, er hoffte noch harmlos auf eine Verſtändigung der beiden Schweſterkirchen. Dann feierte Leo den Gegner der Ghibellinen in den Berliner Jahrbüchern. Hurter’s ſtreng-reformirte Landsleute in Schaff - hauſen erwählten ihn, nachdem der erſte Band (1834) erſchienen war, zum Antiſtes, zum erſten Geiſtlichen des Cantons, und die Baſeler evan - geliſche Facultät, der Männer wie de Wette und Hagenbach angehörten, ernannte ihn ſogar zum Ehrendoctor wegen der bewieſenen reichen Kennt - niß der Kirchengeſchichte . Wenn Hurter von dem Geiſte der evangeliſchen Gemeindekirche etwas ahnte, ſo durfte er als ehrlicher Mann keine Stunde mehr einen Glauben predigen, deſſen Grundwahrheiten er rundweg ab - leugnete. Sogar Haller beſchwor den Freund, offen mit der Ketzerei zu brechen, weil ſeine Stellung unhaltbar werde; der alte Herr mochte jetzt wohl mit Scham der Zeiten gedenken, da er einſt ſelbſt ſeinen Uebertritt feige geheim gehalten hatte. *)S. o. II. 96.Der Schaffhauſener Antiſtes aber lebte ganz in den Anſchauungen jener alten ſchweizer Herrengeſchlechter, die vor - mals als Landvögte in den Vogteien der Eidgenoſſenſchaft gehauſt hatten, und übertrug dieſe Herrſchaftsgedanken kurzab in die Kirche; er wähnte ein Prieſter zu ſein und mithin befugt zur Ausübung ſeiner hierarchiſchen Gewalt, gleichviel was die verirrte Heerde denke. Plump, unbelehrbar, ſtierköpfig wie die meiſten ſchweizer Reactionäre, blieb er in ſeinem evan - geliſchen Amte und ſchrieb zugleich an ſeinem Werke weiter, das mit jedem neuen Bande fanatiſcher wurde. Er trat in Verbindung mit dem Papſte, mit Nuntien und Biſchöfen, mit allen Führern der clericalen Partei in Süddeutſchland, und trieb ungeſcheut ultramontane Politik, bis nach Jahren endlich im proteſtantiſchen Volke der Unwille erwachte über ein Treiben, das nur noch eine freche Lüge war.

Während die namhaften politiſchen Hiſtoriker erſt auf Umwegen, aus der Univerſalgeſchichte an die deutſchen Dinge herantraten, lebte und webte Jakob Grimm ganz in der Heimath; wie ein frommer Prieſter das an - vertraute Heiligthum, hütete er die Schätze unſerer Urzeit. Er wollte das Vaterland erheben, weil ſeine Sprache, ſein Recht und ſein Alterthum476IV. 7. Das Junge Deutſchland.viel zu niedrig geſtellt waren, und weil er vorausſah, daß die Zukunft an der Gegenwart jede Geringſchätzung der Vorzeit rächen werde . Darum hatte er ſeinem Volke einſt erwieſen, daß unſere Voreltern eine wohlge - füge Sprache redeten und eines ſinnvollen Rechtes pflagen, und nun zeigte er durch das dritte ſeiner grundlegenden Werke, die Deutſche Mytho - logie (1835), daß ſie auch des beſeligenden Glaubens an Gott und Götter voll waren, nicht dumpf brütend vor Götzen und Klötzen niederfielen. Wärmer, gemüthlicher hatte er noch nie geſchrieben. Seinem liebevollen Herzen that es wohl, da wieder aufzubauen, wo die verſtändnißloſe Kritik des Rationalismus nur zerſtört hatte. Er wußte, daß aller Sage Grund der Götterglaube iſt und die Sage ewig wiedergeboren wird, während die überall neue und friſche Geſchichte ſich niemals wiederholt. Er erkannte zuerſt, wie nach der Bekehrung der Germanen das Chriſtenthum darnach trachtete, die heidniſchen Ideen herabzuſetzen, das Heidenthum ſich unter chriſtlichen Formen zu bergen ſuchte und alſo Vieles von dem alten Hei - denglauben in dem Hexen - und Teufelsglauben des Mittelalters verzerrt wiederkehrte, aber auch die heiligen Geſtalten des chriſtlichen Glaubens manche Züge der alten Götter annahmen, die Freya in der Maria, Thor in Petrus, die Aſen in den Apoſteln fortlebten. So, aus der umfaſſen - den Erforſchung heidniſcher und chriſtlicher Ueberlieferungen, geſtaltete ſich ihm das Bild der germaniſchen Götterwelt, wie ſie wirklich war, unklarer, formloſer, phantaſtiſcher als die Götter des Olymps, aber der claſſiſchen Mythologie überlegen durch den allezeit lebendigen Glauben an die Fort - dauer nach dem Tode und die ſittliche Verantwortlichkeit der Sterblichen, überlegen durch ihre Verwandtſchaft mit dem Chriſtenthum, überlegen auch durch ihre naive, natürliche Treuherzigkeit, denn wie viel heimlicher und zutraulicher erſchienen doch die Zwerge, Elben und Rieſen der Deutſchen als die vornehmen, durch die Kunſtpoeſie ausgeſchmückten Nymphen, Kabiren und Kyklopen der Hellenen. Alle gelehrte Syſtemſucht wies er hinweg von dieſer Welt lebendiger Geſtalten, die ein wagendes Heldenvolk mit Sieges - freude und Todesverachtung erfüllt hatten. Weder den Pantheismus wollte er unſeren Vätern andichten laſſen, da ſie doch viele Götter von verſchie - dener Macht und Würde verehrten, noch den Dualismus, da die milden, gütigen Götter in ihrem hoffnungsreichen Glauben zu ſehr überwogen.

Kein anderes Volk beſaß noch eine ſo lebensvolle, ſo tiefgründige Dar - ſtellung des Seelenlebens ſeiner Urzeit. Ebenſo unvergleichlich erſchien in der Weltliteratur die Abhandlung über die Verſchiedenheit des menſchlichen Sprachbaues , Wilhelm Humboldt’s letztes Werk, in dem ſich die genialen Kräfte zweier Zeitalter, die philoſophiſche Univerſalität des alten und die ſtrenge Einzelforſchung des neuen Jahrhunderts noch weit glücklicher ver - einigten als einſt in dem Aufſatze über die Aufgabe des Geſchichtſchreibers. Die tiefſten Räthſel alles Daſeins berührend, entwarf Humboldt hier in kühnen Antitheſen das philoſophiſch-hiſtoriſche Bild vom Weſen der477W. v. Humboldt und die Sprachwiſſenſchaft.Menſchheit, das ihn ſein Lebtag beſchäftigt hatte, und zeigte: wie der Menſch nur Menſch iſt durch die Sprache, doch gewiß nicht ihr Schöpfer, da er ſchon Menſch ſein müßte um ſie zu erfinden; wie das Räthſelhafte der Sprache nicht im Reden liegt, ſondern im Verſtehen, das nur be - griffen werden kann, wenn man erkennt, daß Ich und Du wahrhaft iden - tiſche Begriffe ſind; wie die Sprache zugleich der Seele fremd und ihr angehörig iſt, abhängig von den Denkgeſetzen und doch frei, da ſich das Widerſinnige nicht denken wohl aber ſagen läßt; wie der Organismus der Sprache durch die ganze Nation geſchaffen wird, ihre Cultur hingegen durch die Einzelnen und ſie alſo zugleich national iſt und individuell, be - herrſcht durch eine alte Vergangenheit und neu in jedem Augenblicke, nicht ein Werk, ſondern eine Thätigkeit, ſtufenweiſe fortſchreitend in der Regel, doch zuweilen auch plötzlich durch die unmittelbare ſchöpferiſche Kraft des Genies, die in ganzen Völkern ſich ebenſo mächtig zeigt, wie in den Ein - zelnen; wie ſie wiſſenſchaftlich behandelt werden kann lediglich als ein Zeichen für den Gedanken, aber auch lebendig, redneriſch für jede Erkennt - niß, welche die ungetheilten Kräfte des Menſchen fordert, und darum auf Poeſie, Philoſophie, Geſchichte alle eigentliche Bildung unſeres Geſchlechtes beruht.

Vor Jahren hatte der alte Blumenbach die Materialiſten auf’s Haupt geſchlagen durch die einfache Bemerkung: Warum kann der Affe nicht ſprechen? Weil er nichts zu ſagen hat. Was Jener nur witzig an - gedeutet, wurde durch Humboldt endgiltig erwieſen: daß die Sprache mit der Vernunft, dem Selbſtbewußtſein unmittelbar gegeben, der Begriff vom Worte nicht zu trennen und Verſchiedenheit der Sprache nichts an - deres iſt als Verſchiedenheit der Weltanſicht. Aus der Fülle ſeines un - vergleichlichen ſprachlichen Wiſſens heraus zeigte er dann im Einzelnen, wie der Gedanke durch das Zeitwort in die Wirklichkeit übertritt, wie der Relativſatz nur die Eigenſchaft eines Hauptworts bezeichnet und ſo weiter, lauter ſchöpferiſche Ideen, welche der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft auf lange hinaus die Richtung wieſen. Es war das letzte Vermächtniß jenes alten ſtolzen deutſchen Idealismus, der einſt die Tage von Weimar und Jena durchleuchtet hatte. Humboldt ſtarb (8. April 1835) noch vor der Vollendung des Werkes über die Kawi-Sprache, das durch jene Ab - handlung eingeleitet werden ſollte; mit heiterer Ruhe, erhaben über alles Schickſal, ertrug er die Qualen ſeiner letzten Krankheit. Neben ſeinem Tegeler Schloſſe, auf der Höhe über dem blauen See hatte er ſchon vor Jahren ſeiner Gattin und ſeinem treuen Lehrer Kunth eine weihevolle Ruheſtätte bereitet. Nordiſche Fichten umgrenzten den ſtillen Raum, und von ſchlanker Säule ſchaute das Marmorbild der Spes, ein Werk Thor - waldſen’s, auf den Epheu der Gräber nieder. Dort ward auch er be - ſtattet, der große Hellene germaniſchen Stammes.

Schon war ein Menſchenalter vergangen, ſeit der Baum der hiſto -478IV. 7. Das Junge Deutſchland.riſchen Forſchung zuerſt wieder zu ſaften anfing, und noch immer ſetzte er mit unerſchöpflicher Triebkraft friſche Zweige an. Soeben entſtanden wieder zwei neue ſelbſtändige Wiſſenſchaften, da Schnaaſe die Kunſtge - ſchichte, Gervinus die deutſche Literaturgeſchichte als ein Ganzes, in ihrer nothwendigen Entwicklung, darzuſtellen unternahm. Inzwiſchen eroberte ſich auch die claſſiſche Philologie ein neues Gebiet durch die große Samm - lung der griechiſchen Inſchriften, die ſeit 1824 unter Böckh’s Leitung her - auskam; noch während der Geldnoth der napoleoniſchen Kriege hatte König Friedrich Wilhelm die Mittel dazu bewilligt, denn für die Pflege des Alter - thums wußte er immer Rath zu ſchaffen. Nun erſt erſchien die helleniſche Welt den Modernen greifbar, perſönlich, unmittelbar lebendig in ihrem alltäglichen Treiben und Wirken, in der Mannichfaltigkeit ihrer Volks - ſprachen, die ſich aus der vornehmen Literatur nur ahnen, nicht erkennen ließ. Noch anſchaulicher geſtaltete ſich das Bild des antiken Lebens, als Böckh in ſeinen Metrologiſchen Unterſuchungen den orientaliſchen Stamm - baum des helleniſchen Maß - und Münzweſens entdeckte und alſo den Zu - ſammenhang abendländiſcher und morgenländiſcher Cultur, von dem einſt Creuzer und die Symboliker nur geträumt hatten, durch genaue Einzel - forſchung erwies; denn glücklich verband ſich in Böckh’s Geiſte der ſtrenge, nüchterne Zahlenſinn mit einem freien Schönheitsgefühle, das ſelbſt dem dithyrambiſchen Schwunge Pindar’s zu folgen vermochte.

Dieſe kühnen Entdeckerfahrten der Sach-Philologen betrachtete der alte Helleniſt Gottfried Hermann mit wachſender Beſorgniß. Ihm war, als ob ein reißender Strom hereinbräche in die friedliche Welt der Kritik und Grammatik; manches Stück fruchtbaren Erdreichs wurde wohl angeſchwemmt, das gab er zu, aber das ganze Land ward unwohnlich! Seine Schule fühlte ſich in ihrem alten Beſitzſtande bedroht, ſie bekämpfte die philologiſchen Hiſto - riker mit ungerechter Gehäſſigkeit, während doch beide Richtungen einan - der nicht ausſchloſſen, ſondern ergänzten, und verfiel allmählich, ganz wider des Meiſters Abſicht, in eine ideenloſe Mikrologie. Der claſſiſche Unterricht auf den Gymnaſien begann zu kränkeln; manche Pädagogen aus der Leipziger Schule betrachteten die Homeriſchen Gedichte nur noch als ein Lehrmittel, an dem ſie die grammatiſchen Regeln der Eliſion, der Kraſis, des Jota ſubſcriptum erweiſen konnten. Seit dem Ende der drei - ßiger Jahre ließ ſich bereits bemerken, wie die Freude an der claſſiſchen Welt unter den Schülern abnahm. Alſo begannen die alten feſten Grund - mauern des deutſchen gelehrten Unterrichts ſchon leiſe zu wanken, zu der - ſelben Zeit, da die Naturwiſſenſchaften fröhlich aufblühten und die Inter - eſſen der erſtarkten Volkswirthſchaft gebieteriſch nach neuen Bildungsſtoffen verlangten.

Als der Rheinländer Lejeune-Dirichlet im Jahre 1822 die Univerſität bezog, mußte er nach Paris gehen, denn in ganz Deutſchland konnte nur ein Mathematiker ſeinen hohen Anſprüchen genügen, und dieſer eine,479Böckh und Hermann. Die Naturforſchung.Gauß, verſchmähte zu lehren. Wie anders ſtand es jetzt; wie viele kräf - tige Talente waren auf allen Gebieten der exacten Wiſſenſchaften aufge - treten, ſeit Alexander Humboldt wieder in Deutſchland weilte. Die Herr - ſchaft der träumenden Naturphiloſophen ging zu Ende. Zum letzten male, im Jahre 1827, ließen ſie an dem geiſtvollen Phyſiker Ohm ihren Ueber - muth aus; der hatte den Zorn der Hegel’ſchen Jahrbücher erregt, weil die wohlgeſicherten Ergebniſſe ſeiner Theorie des Galvanismus mit den Hirngeſpinſten des Syſtems nicht ſtimmen wollten, und wurde daraufhin von den Hegelianern des Cultusminiſteriums ſo geringſchätzig behandelt, daß er gekränkt ſein Lehramt in Köln aufgab. Seitdem war das Selbſt - gefühl der jungen Naturforſcher, die ſich unter Humboldt’s Banner zu - ſammenfanden, beſtändig gewachſen; ſie fühlten ſich froh als die Träger eines ſicheren, in Allem erweisbaren Wiſſens und lachten über die will - kürlichen Conſtructionen der Philoſophen, während dieſe kaum noch einen offenen Angriff wagten. Wohl wurde Hendrik Steffens, der in Schel - ling’s Weiſe Naturphiloſophie lehrte, nach Berlin berufen, weil der Kron - prinz ihn den widerwärtigen Händeln der Breslauer Altlutheraner ent - ziehen wollte. Sein fürſtlicher Gönner glaubte, daß ein Mann wie Stef - fens des Lebens in der Hauptſtadt zu ſeinem eigenen Beſten bedarf, ebenſo ſehr wie die Hauptſtadt an ihm die Acquiſition eines ihr fehlenden Cha - rakters unter den ausgezeichneten Lehrern der Hochſchule machen würde . *)Kronprinz Fr. Wilhelm an Altenſtein, 23. Oct., 30. Decbr. 1831, 15. Jan. 1832.Aber der Einfluß des begeiſterten Schwärmers auf die Berliner Wiſſen - ſchaft blieb gering, obwohl ſeine warme Beredſamkeit manche Zuhörer anzog. Es klang wie ein wehmüthiger Abſchiedsgruß der alten an die neue Zeit, als er beim Doctor-Examen (1837) dem jungen Geologen Beyrich bezeugte: die Antworten bewieſen, daß der Candidat ſich mehr mit den Gegen - ſtänden ſelbſt als mit dem Abſoluten beſchäftigt hat. Die anderen Exa - minatoren kehrten ſich an dieſen Tadel nicht, ſie huldigten alleſammt ſchon der ketzeriſchen Anſicht, daß dem Naturforſcher das Abſolute ſich erſt aus der Erkenntniß der Gegenſtände ergeben dürfe.

Wie gründlich dieſe neue Wiſſenſchaft dereinſt noch alle Lebensge - wohnheiten der Nation verwandeln mußte, das ließ ſich bereits an der jugendlichen deutſchen Induſtrie erkennen. Im Jahre 1785 war in den Hettſtedter Kupferbergwerken in der Grafſchaft Mansfeld die erſte ganz von Deutſchen gebaute Dampfmaſchine aufgeſtellt worden; jetzt konnte ſchon in den meiſten Gewerbszweigen der Großbetrieb ohne Dampfkraft nicht mehr gedeihen, und auch die Landwirthſchaft ſpürte längſt die belebende Kraft der neuen Erkenntniß. Schon unter Friedrich dem Großen hatte der Berliner Chemiker Marggraf den Rübenzucker dargeſtellt; doch erſt in dem neuen Jahrhundert begann man die Erfindung praktiſch zu verwerthen, und im Jahre 1840 beſaß der Zollverein bereits 145 Rübenzuckerfabriken,480IV. 7. Das Junge Deutſchland.die aus 4,8 Mill. Ctr. Rüben über 284,000 Ctr. Zucker erzeugten. Die zünftigen Nationalökonomen, die noch faſt ſämmtlich in den Banden der engliſchen Theorien lagen und arglos die Intereſſen der britiſchen Handels - politik vertheidigten, klagten und zürnten über dieſe künſtliche Induſtrie. Indeß die Magdeburgiſchen Rübenbauer erfreuten ſich der ſteigenden Guts - erträge, die Verzehrer der ſinkenden Zuckerpreiſe, und bald erlebte man, daß in rüſtigen Zeiten eine Erfindung immer die andere weckt. Da die Rübe ihre Wurzeln faſt viermal tiefer in die Erde ſenkt als das Getreide, ſo mußte der Rübenbauer den Acker tiefer umpflügen, und ganz von ſelbſt ergab ſich der Schluß, daß der Körnerbau dieſem Beiſpiel folgen, die Kräfte des Bodens ohne ſie zu erſchöpfen gründlicher ausnutzen könne.

Hoffnungsvoll wie ein Jüngling begrüßte Alexander Humboldt die große Zeit der Naturforſchung, die jetzt herannahte. Er ſchrieb in dieſen Jahren ſeine Bücher über Centralaſien, die mit Ritter’s aſiatiſchen For - ſchungen glücklich zuſammentrafen, und bereitete den Kosmos vor; unver - droſſen ſaß der weltberühmte Alte in Paris und Berlin mitten unter den Studenten, um von Haſe, Champollion, Böckh zu lernen, was ihm an philologiſch-hiſtoriſchem Wiſſen noch fehlte. Zugleich blieb er der hilfs - bereite Gönner aller aufſtrebenden Talente. Seiner Fürſprache verdankte Juſtus Liebig den Zutritt zu Gay-Luſſac’s Laboratorium. Dort lernte der feurige, leidenſchaftlich überſprudelnde junge Heſſe die Ehrfurcht vor dem Wirklichen; er ſchüttelte den Hochmuth der Naturphiloſophie von ſich ab, und als er nach Gießen heimkehrte (1826), gab er der Chemie, die in Deutſchland noch kaum zu den Wiſſenſchaften gerechnet und gern den Apo - thekern überlaſſen wurde, ſofort eine neue Lehrmethode: nicht im Hörſaal, ſondern durch das Experiment, am Heerde und vor den Retorten, ſollten ſeine Schüler ihr Beſtes lernen. Anfangs faſt allein auf ſeine eigenen dürftigen Mittel angewieſen, nachher durch die heſſiſche Regierung unter - ſtützt, errichtete er das erſte allgemein zugängliche Laboratorium, das der kleinen Gießener Univerſität einen europäiſchen Ruhm verſchaffte. Weit ſpäter erſt fand ſein Herzensfreund Wöhler in Göttingen ein leidliches Unterkommen für ſeine Verſuche; Preußen aber blieb in der Pflege der Chemie lange zurück, denn auf die ſtarken Anſprüche dieſer neuen Wiſſen - ſchaften war das alte ſparſame Syſtem, das allein die Erhaltung von ſechs Univerſitäten ermöglicht hatte, durchaus nicht eingerichtet. Auf Augen - blicke unterlag Liebig’s hochſtrebender vielſeitiger Geiſt wohl jenen ſchwer - müthigen Stimmungen, welche den Chemiker in der ſchlechten Luft des Laboratoriums, beim Einerlei mühſamer Experimente ſo leicht anwandeln. Dann meinte er verzweifelnd: Die Chemie iſt doch im Grunde nur ein Rechenexempel; zuletzt iſt ihr Zweck weiter nichts als eine gute Stiefel - wichſe oder die Kunſt zu finden das Fleiſch gar zu kochen. Aber Wöh - ler’s ruhiger Zuſpruch richtete ihn immer wieder auf, und wie vieler ſchönen Erfolge konnten ſich die beiden Freunde ſchon jetzt erfreuen. Liebig481Liebig. Wöhler. Joh. Müller.erfand die Kunſt die Kohlenſäure ſofort zu wiegen und entdeckte das Chloroform, deſſen Nutzbarkeit erſt nach Jahren ganz gewürdigt wurde. Wöhler aber eröffnete einen überraſchenden Einblick in die letzten Geheim - niſſe der Natur, als er den Harnſtoff aus den Elementen, ohne Mitwir - kung der thieriſchen Lebenskraft, herſtellte; damit war ein tauſendjähriger Irrthum widerlegt und der Beweis geführt, daß zwiſchen der organiſchen und der unorganiſchen Welt eine feſte Schranke nicht beſteht.

Noch weiter, bis zu jenen Höhen wo Phyſik und Metaphyſik ſich be - rühren, ſchritt der geniale Phyſiologe Johannes Müller in ſeinen Unter - ſuchungen über den Geſichtsſinn (1825): er zeigte durch naturwiſſenſchaft - liche Beobachtung, was Kant auf dem Wege der Speculation gefunden hatte, daß wir die Dinge nicht ſehen wie ſie ſind, ſondern wie ſie uns nach der Beſchaffenheit unſerer Organe erſcheinen müſſen. Gleich Liebig hatte ſich auch Müller von den anmaßenden Vorausſetzungen der Natur - philoſophie erſt losgeriſſen; jetzt ſtand er feſt auf dem Boden der exacten Unterſuchung, erzog ſich in Berlin einen glänzenden Schülerkreis und fand für die vergleichende Anatomie die phyſiologiſchen Grundlagen. Wenn neue Gedanken in das deutſche Leben einſchlagen, fordert auch immer das Gemüth ſein Recht. Eine ſchöne, herzliche Freundſchaft verband die meiſten der jungen Berliner Naturforſcher: Dove, Mitſcherlich, Magnus, die Ge - brüder Roſe; wenn ſie bei dem Chemiker Poggendorff in dem Thurmbau der alten Sternwarte auf der Dorotheenſtraße zuſammenſaßen, dann über - kam ſie die Ahnung einer großen Zukunft. Die Gegenwart war freilich noch ſehr beſcheiden; dieſe werdenden Wiſſenſchaften mußten ſich die Gleich - berechtigung erſt erkämpfen. Nur die alteingebürgerte Aſtronomie galt für ein vornehmes Fach; für ſie hatte auch der Staat immer offene Hände. Er hatte einſt mitten im Elend der napoleoniſchen Kriegszeiten die Königs - berger Sternwarte errichtet, wo dann Beſſel die Poſition der Fundamen - talſterne berechnete und alſo die Einheit der aſtronomiſchen Beſtimmun - gen ſicherte; jetzt baute Schinkel die neue Berliner Sternwarte, die unter Encke’s Leitung eine Muſteranſtalt wurde. Auch dabei half Humboldt’s Fürwort mit; er war die wärmende Sonne dieſes Planetenkreiſes. Aber erſt in den vierziger Jahren trat die deutſche Naturforſchung in ihre Blüthezeit und zeigte ſich ſtark genug, die Franzoſen erſt zu erreichen, dann zu überholen.

Während die Erfahrungswiſſenſchaften alſo ihre ſtolze Siegesbahn be - ſchritten, war die Lebenskraft der alten deutſchen Philoſophie ſchon ge - brochen. Ihre claſſiſche Zeit endete an Hegel’s Grabe. Wer nur von fern hinſchaute, mochte freilich wähnen, daß der hohe Tag der Hegel’ſchen Philoſophie erſt nach dem Tode des Meiſters gekommen ſei, denn jetzt erſt erlangte ſein Name den höchſten Ruhm, ſeine Schriften die weiteſte Ver -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 31482IV. 7. Das Junge Deutſchland.breitung. Seine Sonne leuchtete noch als ſie längſt am Horizonte ver - ſunken war. Hegel’s alter Freund Altenſtein beklagte tief, welcher Stern erſter Größe für die Welt untergegangen ſei, und wollte nun mindeſtens der Lehre des Verſtorbenen die Herrſchaft auf den preußiſchen Hochſchulen ſichern. Umſonſt verlangten der Kronprinz und ſeine romantiſchen Freunde, unterſtützt von den Brüdern Humboldt, daß Schelling als der einzige ebenbürtige Nachfolger auf den verwaiſten Berliner Lehrſtuhl berufen würde. Der Miniſter und ſein getreuer Johannes Schulze widerſtanden hartnäckig, denn Schelling hatte ſich ſeit Jahren von dem Freunde ſeiner Jugend getrennt und ſoeben erſt öffentlich ausgeſprochen, das Hegel’ſche Syſtem ſei ein Rückfall in die Scholaſtik, eine wenig fruchtbare Epiſode der deutſchen Philoſophie. Altenſtein hielt ſich von Amtswegen verpflichtet, in der Kirche den wahren Glauben, in der Wiſſenſchaft den reinen Be - griff zu beſchützen; er erklärte dem Könige (1835): In den preußiſchen Staaten hat ſchon ein tiefer begründetes philoſophiſches Syſtem dem an - maßlichen unheiligen Treiben ein Ende gemacht. Für eine andere Philo - ſophie kann das Miniſterium die Bürgſchaft nicht übernehmen, beſonders nicht für die Schelling’ſche. Nach langen Verhandlungen berief man endlich die verhängnißvolle Gabel , wie Alexander Humboldt ſpottete: den Bayreuther Rector Gabler, einen trockenen, hochconſervativen Hege - lianer, der auf jedes Wort des Meiſters ſchwor und einen Widerſpruch zwiſchen der Identitätsphiloſophie und der chriſtlichen Offenbarung nirgends zu entdecken vermochte. Niemand ſprach mehr von ihm, ſobald die erſte Ueberraſchung verwunden war.

Durch dieſe lächerliche Berufung wurde Hegel’s Lehre förmlich als preußiſche Staatsphiloſophie anerkannt. Seine ſämmtlichen Werke gab Johannes Schulze im Vereine mit Gans, Hotho u. A. heraus, und die Sammlung fand unzählige Bewunderer. Im Auslande fühlten ſich namentlich die vornehmen Ruſſen und Polen von der gewaltigen Selbſt - gewißheit dieſes Syſtems angezogen, weil ihre Halbbildung nach einer feſten Autorität verlangte. Unterdeſſen bemühten ſich die Schüler das Lehrgebäude in allen ſeinen Theilen auszubauen; mit heiligem Eifer, im Bewußtſein einer weltgeſchichtlichen Aufgabe, ſchritten ſie an’s Werk, denn nicht umſonſt hatte ihnen der ehrlich begeiſterte alte Lützower Fritz Förſter am Grabe des Meiſters zugerufen: der Alexander der Wiſſenſchaft ſei dahin, nun ſollten ſeine Generale ſich als Diadochen in ſein Reich theilen. Die Univerſalität des Syſtems und ſeine in alle Sättel gerechte Methode erleichterten in der That die Arbeitstheilung. Der beſcheidenſte aller Hegelianer, Karl Roſenkranz in Königsberg, ein edler, um die humane Bildung Altpreußens hochverdienter Mann, führte die pſychologiſchen und äſthetiſchen Unterſuchungen Hegel’s weiter, während der Schwabe Friedrich Viſcher in ſeinen äſthetiſchen Abhandlungen neue, aus der Fülle des an - geſchauten Lebens gewonnene Gedanken ausſprach, die nur darum nicht483Zerfall der Hegel’ſchen Schule.zur vollen Wirkung gelangten, weil ſie in die Formeln des Syſtems müh - ſam eingeſpannt waren.

Die meiſten der anderen Diadochen zeichneten ſich freilich nur durch grenzenloſen Uebermuth aus; ihrer Schulweisheit war zwiſchen Himmel und Erde nichts mehr räthſelhaft, für jede Frage hielten ſie einen Para - graphen bereit. Wie hart wurde Roſenkranz als unphiloſophiſcher Kopf von den Hegelianern der ſtrengen Obſervanz angelaſſen, als er unbefangen ein - geſtand, der Philoſoph könne die Zukunft nicht a priori conſtruiren, ſon - dern müſſe Ehrfurcht hegen vor dem Gott, der in dem Unvermutheten der Geſchichte ſich kundgebe. Ueber ſolche Empfindungen war der Ber - liner Michelet längſt hinaus. Der nahm den Hegel’ſchen Ternarius kurzer - hand in die Philoſophie der Geſchichte hinüber, ſchilderte zum erſten die unbekannte Urwelt, zum zweiten das geſchichtliche Leben, zum dritten die Geſchichte der Zukunft, und konnte alſo den reinen, durch keinerlei Sach - kenntniß beſchwerten Begriff ſich in der weiten Wüſte des erſten und des dritten Abſchnitts völlig frei ergehen laſſen. Mit der gleichen Sicherheit bekämpfte er den Pöbel der empiriſchen Naturforſcher, insbeſondere Dove’s geiſtvolle Unterſuchungen über die Farbenlehre; er fühlte ſich auch keines - wegs beſchämt, als Alexander Humboldt, diesmal den artigen Hofmann verleugnend, ihm rundweg antwortete: zu dieſem Pöbel gehöre ich ſelbſt.

Trotz ſolcher lärmenden Prahlereien brachte die Schule Hegel’s kaum noch eine neue Idee zu Tage. Niemand empfand dies ſchmerzlicher als der ehrliche Roſenkranz, der ſchon fünf Jahre nach des Meiſters Tode in ſein Tagebuch ſchrieb: Ueber gegebene Philoſophie zu reflectiren, verſtehen wir Heutigen ganz leidlich, aber in eigenen Gedanken ſind wir jetzt nur Dilet - tanten. Es war nicht anders, die deutſche Philoſophie hatte in einer wunderbar ſtätigen Entwicklung Stufe für Stufe die kühnſten Gedanken, welche der ſittliche Geiſt zu denken vermag, erreicht: als Kant ſeine Pflich - tenlehre begründete, als Fichte die Erhebung des Ich über die Sinnen - welt forderte, als Hegel in der Geſchichte den Tempel des allgegenwärtigen Gottes fand. Aber mit Hegel hatte dieſer verwegene Idealismus, der unſerem Volke für alle Zukunft die Stelle neben den Hellenen ſichert, auch ſein letztes Wort geſprochen. Ueber ein Syſtem, das die Einheit von Sein und Denken gefunden zu haben behauptete, führte kein Weg mehr hinaus. Die Philoſophie konnte nur noch fortſchreiten, wenn ſie zuvor von den ſtolzen Selbſttäuſchungen der ſpäteren Syſteme wieder zu ihrem Ausgangspunkte, zu Kant, zurückkehrte; und dieſer Schritt geſchah, als der junge Trendelenburg (1839) in ſeinen Logiſchen Unterſuchungen den Grundgedanken der Hegel’ſchen Lehre, allerdings noch nicht vollſtändig, widerlegte. Er erwies, daß reines Denken ſchlechthin unmöglich iſt, daß alles Denken ſich nicht durch ſich ſelbſt, ſondern durch die Anſchauung fortentwickelt und mithin auch nicht das Wirkliche aus ſich heraus erzeugen kann. Er ſprach nur aus, was die hellen Köpfe der empiriſchen Wiſſen -31*484IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſchaft längſt im Stillen fühlten; doch es währte noch lange, bis ſein Widerſpruch von den Philoſophen recht beachtet wurde. Auch das war ein Zeichen des beginnenden Umſchwungs, daß Herbart in Göttingen ſich in dieſer Zeit erſt eine Schule zu bilden begann, der ſtrenge Denker, der ſchon vor Jahren in Königsberg die erſte Anregung zur mathematiſchen Pſychologie, zur naturwiſſenſchaftlichen Beobachtung der Vorgänge der ſubjektiven Erfahrung gegeben hatte.

Die Maſſe der Hegelianer hielt an dem alten Banner feſt; ſie wieder - holten unabläſſig die fertigen Formeln des Syſtems und ſuchten durch Uebertreibung und Umſchreibung, durch mannichfache ſophiſtiſche Künſte zu erſetzen, was ihnen an ſchöpferiſcher Kraft abging. Da der tiefſinnige Satz von der Wirklichkeit des Vernünftigen entgegengeſetzte Auslegungen geradezu herausforderte, ſo traten jetzt die beiden Parteien, welche ſich ſchon bei Hegel’s Lebzeiten geſchieden hatten, ſcharf und ſchärfer auseinander. Die Junghegelianer ſo nannte man die Radicalen und die Hegel’ſche Rechte behaupteten beiderſeits mit einem Eifer, der einer größeren Sache würdig war, daß ſie allein den Geiſt Hegel’s begriffen hätten. Dieſer gedankenloſe Streit um den Namen des Meiſters bewies nur zu deutlich, daß die Schule mit ihrer Weisheit am Ende war; und auch Michelet be - ſtätigte nur den Bankbruch des Syſtems, wenn er triumphirend ausrief: eine Partei bewährt ſich erſt dadurch als die ſiegende, daß ſie in zwei Parteien zerfällt. Hegel ſelbſt hatte die Liberalen allezeit leidenſchaftlich bekämpft und dieſe conſervative Geſinnung ſoeben noch durch ſeine ſchönen Aufſätze über die engliſche Reformbill bethätigt. Er ſah in der Juli-Revo - lution die Buße für die Sünden des Liberalismus; er lebte in dem Wahne, ſein pantheiſtiſches Syſtem entſpreche der chriſtlichen Dreieinigkeitslehre, und freute ſich herzlich, als Göſchel und Gabler ſeine Philoſophie den Streng - gläubigen mundgerecht zu machen ſuchten; er äußerte noch kurz vor ſeinem Tode ſeinen Abſcheu über die radicale Unduldſamkeit, welche jeden Vertheidiger von Staat und Kirche als einen Denuncianten verdächtigte, und obwohl er einzelne Reformen verlangte, ſo war er doch ſtets darauf bedacht, zunächſt das Vernünftige des Wirklichen, die innere Nothwendig - keit der beſtehenden Ordnung aufzuweiſen. Die Männer der Hegel’ſchen Rechten durften ſich alſo mit Recht für die Erben des Meiſters anſehen, obgleich dabei manche Selbſttäuſchung mit unterlaufen mochte, und Michelet war vollſtändig im Irrthum, wenn er dieſe conſervativen Hegelianer als die Hinausgegangenen und nicht mehr Schüler ſein Wollenden in Ver - ruf erklärte.

Das Wirkliche als vernünftig hinzunehmen, widerſtrebt aber dem ewig vorwärts drängenden menſchlichen Geiſte, zumal in Zeiten einer be - rechtigten Unzufriedenheit. Darum konnten in dem nun entbrennenden Streite die Junghegelianer auf den Beifall des Haufens zählen, wenn ſie, dem Meiſter das Wort im Munde verdrehend, überall in den beſtehen -485Die Junghegelianer. A. Ruge.den Zuſtänden das Unvernünftige aufſpürten und durch ihre ſouveräne Kritik als unwirklich aufzuheben ſuchten. Hatte Hegel die Einheit des gött - lichen und des menſchlichen Lebens als eine ſittliche Forderung aufgeſtellt, ſo erklärten ſeine radicalen Nachtreter den concreten Menſchen ſelbſt für einen Gott; hatte er die conſtitutionelle Monarchie als ein Staatsideal bezeichnet, ſo behaupteten ſie, alle Philoſophen müßten conſtitutionell und alle Conſtitutionellen bald auch Philoſophen ſein. Sie hatten mit dem conſervativen Meiſter in Wahrheit nichts gemein als ſeine dialektiſche Methode, die freilich Alles beweiſen konnte, und fanden doch überall Glau - ben, als ſie dreiſt behaupteten, daß ſie allein ihn ganz verſtünden. Wie einſt Napoleon, der Bändiger der Revolution, die ſogenannten Ideen von 89 erſt in Europa verbreitet hatte, ſo wurde Hegel’s Syſtem erſt durch ſeine abtrünnigen radicalen Schüler den gebildeten Durchſchnittsmenſchen vertraut, und dieſe tiefſinnige Lehre von der geſchichtlichen Offenbarung Gottes erſchien den Nachlebenden als die Doctrin des geſchichtsloſen Ra - dicalismus. So hart, ſo übermäßig hart beſtrafte ſich an dem großen Denker die tragiſche Schuld ſeiner ſophiſtiſchen Dialektik.

Als Sammelplatz der Junghegelianer dienten ſeit 1838 die von Ruge und Echtermeyer herausgegebenen Halliſchen Jahrbücher. Arnold Ruge war, nachdem er ſeine demagogiſchen Jugendthorheiten in langer Kerker - haft abgebüßt, zwei Jahre lang ruhig ausgewandert in das neu entdeckte Land des neueſten Geiſtes und meinte ſich nun berufen, dieſe Hegel’ſche Philoſophie, wie er ſie auffaßte, die wahre Wirklichkeit, das Zeitbewußt - ſein, das echt poſitive, das letzte hiſtoriſche Reſultat kämpfend zu ver - treten, denn Krieg iſt Leben, und Leben muß ſein . Mit ſeinen Jahr - büchern dachte er allen noch wirklich treibenden und lebendigen Kräften der Zeit einen ganz neuen Mittelpunkt der Anziehung zu bieten, und da die jüngeren Profeſſoren eifrig mitarbeiteten, ſo glaubte er bald, ſein Halle ſei ein anderes Weimar geworden. Durch und durch ehrlich, gemüthlich bis zur Weichheit, ein liebenswürdiger Geſellſchafter und treuer Hausvater, beſaß er doch weder Kenntniſſe noch fruchtbare Gedanken. Seine Stärke lag lediglich in der dialektiſchen Gewandtheit, die Alles, was je gedacht worden, als überwundenen Standpunkt, als aufgehobenes Moment zu ne - giren , alle Gegner als wiſſenſchaftlich Zurückgebliebene und Unmündige abzufertigen wußte. Da er in Halle Hausbeſitzer und Stadtverordneter war, ſo hatte er die preußiſche Verwaltung aus der Nähe kennen gelernt und geſtand ſeinen buchgelehrten Genoſſen aufrichtig: unſer[Staatsweſen] iſt ein freies, gerechtes. Die Verehrung der Liberalen für die Juden theilte er auch nicht; die Rahel, das eklige Menſch war ihm nicht werth negirt zu werden , und wenn er unter Freunden mit ſeinem breiten pommer - ſchen Lachen über die Pferdsköpfe der Gegner ſich luſtig machte, dann erhielten auch die Knoblauchfreſſer unfehlbar ihren Theil. Es lag aber im Weſen dieſer leeren, zum Selbſtzweck gewordenen Kritik, daß ſie ſich486IV. 7. Das Junge Deutſchland.beſtändig überſtürzen und von einem überwundenen Standpunkt auf den anderen fallend ſchließlich in den Tiefen des vaterlandsloſen jüdiſch-fran - zöſiſchen Radicalismus anlangen mußte.

Die Jahrbücher brachten anfangs manchen verſtändigen Aufſatz, ſie vertheidigten Preußen als den Staat der Intelligenz, des Proteſtantismus, die Zucht ſeiner Beamten als ein nothwendiges Moment der Zukunft. Doch nicht lange, da entdeckten ſie ſchon, daß Preußen von ſeiner eigent - lichen Miſſion vielfach abgefallen ſei; ſein Beamtenthum ſei die ſchlecht - hin gefangen gegebene Vernunft, ſein ganzes Staatsweſen noch katholiſch, denn der Abſolutismus ſtehe und falle mit dem Katholicismus. So ging es weiter, unaufhaltſam, in raſender Eile. Dieſen Kritikern ſchwieg die Stimme des Gewiſſens; ſie fühlten ſich nie freier, als wenn ſie heute für ſchwarz erklärten, was ſie geſtern für weiß gehalten. In einem diktato - riſchen Manifeſte vernichtete Ruge die Romantik, insbeſondere die hiſto - riſche Schule. Bald darauf ſchleuderte er auch den Proteſtantismus ſelber den Romantikern in den Abgrund nach: nur die Aufklärung ſollte noch wahrer Proteſtantismus ſein und mit ihr die neue Geſchichte anheben. Jeder lebendige Menſch war nur noch ein Princip und wurde in einem der unzähligen Schubfächer, worauf die Begriffe des Syſtems angeſchrieben ſtanden, untergeſteckt und begraben. Gentz verſchwand als Princip der Genußſucht, Tholuck als Princip des Myſticismus, Leo als Princip des hierarchiſchen Pietismus, der wieder mit dem Jeſuitismus genau zuſammen - treffen ſollte; nun gar in dem conſervativen Erdmann zu Halle verkör - perte ſich ſchlechthin die Verderbniß der Hegel’ſchen Philoſophie .

Nach altem akademiſchem Brauche erhoben ſich alsbald geharniſchte Feinde wider das ſtreitluſtige Blatt. Leo beſchuldigte die Hegelingen der Gottloſigkeit, in einem grimmigen Büchlein, das neben ſtarken Uebertrei - bungen auch manche bittere Wahrheit ſagte. Der Verleger der Jahrbücher aber, der radicale Buchhändler Otto Wigand, gewährte in Leipzig unter dem Schutze der milden ſächſiſchen Cenſur allen Junghegelianern eine Freiſtatt, und eine Zeit lang gewann es den Anſchein, als ſollte die zerfahrene deutſche Publiciſtik ſich an der Pleiße einen neuen unnatürlichen Mittelpunkt ſchaffen. Eine Maſſe von Streitſchriften ergoß ſich über den verhallerten Pietiſten Leo und ſeinen Kampfgenoſſen, den jungen Theologen Kahnis. Die Jahr - bücher ſtimmten tapfer mit ein; ſie verhöhnten die Profeſſoren der mittel - deutſchen Univerſitäten in draſtiſchen Artikeln, die erſichtlich den liebreichen Federn verkannter Privatdocenten entſtammten, und brandmarkten, ganz in Heine’s unritterlicher Weiſe, jede Gegenſchrift als eine neue, niedrige Denunciation wider die Hegel’ſche Schule . Schließlich blieb dieſe gewal - tige akademiſche Klopffechterei ebenſo unfruchtbar wie einſt das burſchikoſe Toben der Oken’ſchen Iſis. Aber mit der Hitze des Streites und der Kraft der Schmähworte wuchs der Radicalismus der Ideen; ſchon ließ ſich vorausſehen, daß die abſolute Kritik bald auch Vaterland und Volks -487Halliſche Jahrbücher. L. Feuerbach.thum, jede dem Menſchen geſetzte objective Ordnung als aufgehobene Mo - mente negiren würde.

Unter den philoſophiſchen Mitarbeitern der Jahrbücher that ſich durch die Schönheit ſeiner Sprache Ludwig Feuerbach hervor, ein Sohn des großen Juriſten, ein edler feuriger Schwärmer, der mit unerbittlicher Logik aus den Sätzen des Meiſters, wie er ſie verſtand, die allerletzten Folge - rungen zog und endlich, in dem Buche über das Weſen des Chriſtenthums (1841), zur Vernichtung aller Religion gelangte. Die dialektiſche Methode handhabte er mit blendender Geſchicklichkeit; von dem hiſtoriſchen Sinne freilich, der das Hegel’ſche Syſtem durchgeiſtigte und manche ſeiner Irr - thümer entſchuldigte, beſaß Feuerbach gar nichts. Er ſah im chriſt - lichen Glauben lediglich das ſtarre Princip der Weltverneinung; die pro - teiſche Kraft des Chriſtenthums, das ſich die Jahrhunderte hindurch un - abläſſig fortgebildet und ſeit der Reformation auch die antiken Ideen der Weltfreudigkeit in ſich aufgenommen hatte, blieb ihm unfaßbar. Darum hielt er jede Philoſophie kurzab für unchriſtlich. Wirklicher Gotteserkennt - niß hatte ſich die Kirche ſelbſt nie vermeſſen; das Evangelium verhieß ja nur denen, die reinen Herzens ſind, daß ſie dereinſt Gott ſchauen ſollten. Die denkenden Theologen aller Parteien wußten längſt, daß der Menſch ſich der Idee Gottes nur zu nähern vermag, indem er das Höchſte was er kennt, das Menſchliche, noch zu ſteigern verſucht, und mithin in jeder Gotteslehre einige anthropomorphiſche Vorſtellungen enthalten ſein müſſen. Dieſe allbekannten und eigentlich nie beſtrittenen Erfahrungen bewieſen eben nur die Beſchränktheit des menſchlichen Denkvermögens. Feuerbach aber ſchloß daraus kurzab, die Gottesidee ſei ein Wahnbegriff, alle Theo - logie ſei Anthropologie und müſſe ſobald dies erkannt worden augenblick - lich verſchwinden; die Idee offenbare ſich nicht in Gott, ſondern in der Gattung der Menſchheit. Die ganze wundervolle Kirchengeſchichte, die ſo viele Jahrhunderte mit Geiſt und Leben erfüllt hat, war alſo nur eine entſetzliche Krankheit; und da kein Menſch ohne Glauben zu leben ver - mag, ſo blieb dem vollendeten Atheiſten allein übrig, an den Staat zu glauben, den wahren Menſchen, der freilich erſt in der Form der Republik ſeine Vollkommenheit erreichen ſollte. Kein Wort in dieſen ungeheuer - lichen Trugſchlüſſen, das nicht der Lehre Hegel’s ſchnurſtracks zuwiderlief; aber ſie waren alleſammt mit Hilfe der Hegel’ſchen Dialektik gefunden, und ſie wurden mit ſo warmer Begeiſterung vorgetragen, daß ſie das her - anwachſende Geſchlecht, zumal die jungen ehrgeizigen Naturforſcher, leicht bethören konnten.

Das weitaus bedeutendſte, das einzige wahrhaft folgenreiche Werk der Junghegelianer war das Leben Jeſu von David Friedrich Strauß, das in dem verhängnißvollen Jahre 1835 wie ein Blitzſtrahl in die theo - logiſche Welt hineinſchmetterte. Die Theologie befand ſich, obwohl nicht arm an tüchtigen Männern, doch in einem Zuſtande der Unwahrheit,488IV. 7. Das Junge Deutſchland.der ſchlechterdings nicht dauern konnte. Der alternde Rationalismus war unmerklich in einen rohen Buchſtabenglauben zurückgefallen, er hielt die Worte der heiligen Schrift feſt und zerſtörte ihren idealen Sinn durch platte, geſchmackloſe Auslegungskünſte, er glaubte an die Erſcheinung der Taube und bezweifelte die Ausgießung des heiligen Geiſtes. Die conſervati - ven Hegelianer andererſeits verſuchten das Dogma aus dem Begriffe abzu - leiten, die Anhänger Schleiermacher’s ebenſo vergeblich, die Thatſachen der evangeliſchen Geſchichte als Ausſagen des chriſtlichen Bewußtſeins darzu - ſtellen. Indem man Widerſprüche verſchleierte, Ungeſchichtliches beſchönigte, entgegengeſetzte Berichte in einander ſchob, ſuchte man eine Harmonie zu ſchaffen, welche weder das gläubige Gemüth noch den kritiſchen Verſtand befriedigen konnte. Was der ehrwürdige Daub in Heidelberg über die dogmatiſche Theologie jetziger Zeit ſchrieb (1833), war nach Form und Inhalt rein ſcholaſtiſch: das Dogma wurde als ein Gegebenes hinge - nommen und dann mit einem großen Aufwande unfruchtbarer Gelehr - ſamkeit ſpeculativ begründet. Da mußte es denn wie eine befreiende That wirken, als Strauß die ſtrenge Methode hiſtoriſcher Kritik, welche bei der Behandlung der vorchriſtlichen Zeiten wie der ſpäteren Jahrhunderte der Kirchengeſchichte ſchon längſt gehandhabt wurde, auch auf die erſten Zeiten des Chriſtenthums anwendete. Er ſagte im Grunde wenig Neues, ſon - dern ſtellte nur in umfaſſender Ueberſicht alle die Widerſprüche der evan - geliſchen Berichte zuſammen, die ſeit den Tagen Leſſings und des Wolfen - büttler Fragmentiſten vorlängſt erkannt, doch immer wieder künſtlich ver - deckt worden waren; und eben darin, daß er mit radicaler Härte herausſagte was Unzählige insgeheim dachten, lag die verblüffende Wirkung ſeines Buches.

Strauß war in kleinbürgerlichen Verhältniſſen aufgewachſen und blieb ſein Tagelang in ſeiner ganzen Lebensführung ein ſchwäbiſcher Philiſter; er hatte den beengenden Zwang der württembergiſchen Kloſterſchulen er - tragen und, wie vormals der junge Schiller, eine glühende Sehnſucht nach Freiheit ſich angeeignet, weil ſein ſtolzer Sinn den Druck dieſes evange - liſchen Kloſterlebens nicht ertragen konnte. Mit ſeinen ſiebenundzwanzig Jahren gebot er ſchon über eine reiche, gründliche Gelehrſamkeit; ſein kri - tiſcher Scharfſinn war bewunderungswürdig, ſein Stil immer lebendig, anziehend, geiſtreich, und manche ſinnige Gedichte zeigten, daß ihm auch die Phantaſie nicht ganz verſagt war. Aber die Macht einer großen, ur - ſprünglichen und darum beſtändig wachſenden Perſönlichkeit, die ihm ſeine blinden Verehrer andichteten, beſaß er nicht. Er zählte vielmehr zu jenen tief unglücklichen Talenten, die ſich in abſteigender Linie entwickeln; ſein erſtes Buch blieb ſein beſtes, und wenn ihm ſeine orthodoxen Gegner, ſelbſt der milde Perthes, vorausſagten, er werde ein ſchlechtes Ende nehmen, ſo haben ſie ſchließlich doch Recht behalten. Mit jugendlicher Kühnheit wagte er ſich an ein Unternehmen, das weit über ſeine Kräfte hinausging,489Strauß’s Leben Jeſu.und daran kränkelte ſein ganzes Leben. Nirgends, in allem Klugen und Geſcheidten was er geſchrieben, findet ſich ein Wort, das einen Mann in innerſter Seele zu erſchüttern vermag, eine jener Offenbarungen genialer Naturgewalt, bei denen der Leſer ausruft: das war er, ſo konnte nur er ſprechen. Seinem weſentlich kritiſchen Geiſte fehlte das liebevolle Verſtänd - niß für Menſchenſchickſal und für Menſchenthun, ihm fehlte die Geſtaltungs - kraft des ſchöpferiſchen Hiſtorikers, der nicht ruht, bis er aus dürftigen oder getrübten Quellen ein lebendiges Bild des Geſchehenen gewonnen hat.

Er verſuchte nicht einmal den Charakter des rein wiſſenſchaftlich betrachtet größten aller Männer darzuſtellen und zu zeigen, warum dies wunderbare kurze Leben die Weltgeſchichte in zwei Theile geſpalten, eine ſchlechthin unvergleichliche Wirkung auf die Geſchicke der Menſchheit ausgeübt hat. Statt eines Lebens Jeſu gab er lediglich ſcharfſinnige kri - tiſche Einzelunterſuchungen, die in beſtändiger Wiederholung immer nur das Eine erwieſen, daß die Evangelien keine reine Geſchichte enthalten ein armſeliges Ergebniß, woran denkende Hiſtoriker nie gezweifelt hatten. Die bewegende Kraft aller Geſchichte, die Macht der Perſönlichkeit und ihres lebendigen Schaffens blieb dieſem Kritiker unfaßbar; an ihre Stelle ſetzte er ein doctrinäres mythenbildendes Princip , das aus Nichts Etwas geſchaffen haben ſollte, mithin noch viel wunderbarer war als die Wunder - geſchichten der Evangelien. Und wie oberflächlich verfuhr dieſe ſcheinbar ſo unwiderlegliche Unterſuchung. Sie brachte nur eine Kritik der evan - geliſchen Geſchichte, nicht eine Kritik der Evangelien ſelbſt. Die Frage war, wie das Evangelium des Johannes, das den Theologen bisher für die lauterſte Quelle der älteſten chriſtlichen Geſchichte gegolten hatte, ſich zu den ſynoptiſchen Evangelien verhalte, wann und durch wen dieſe ver - ſchiedenen Berichte entſtanden ſeien; und dieſe entſcheidende Frage wurde von Strauß gar nicht aufgeworfen. Er hörte auf wo er anfangen mußte; er wähnte ſein Werk gethan, wenn er die unleugbaren Widerſprüche der evangeliſchen Erzählungen aufdeckte und daraus den plumpen Schluß zog, das Alles ſei nur Mythus. Niemals begriff er, daß die Idee des Gott - menſchen in einem eingeborenen, unausrottbaren Drange unſerer Seele wurzelt und alſo eine Forderung der praktiſchen Vernunft iſt, daß alle Liebe, Alles was Menſchenherzen beſeligt, auf der Vorſtellung beruht, irgendwie müſſe ſich das Ideal verwirklichen. Darum leugnete er das Ge - wiſſe und behauptete das Ungewiſſe. Er beſtritt, daß die Idee der Menſch - heit ſich in einem Manne verkörpern könne, und verſicherte, die ſündhaften Menſchen ſeien gleichwohl als Gattung untadelhaft, in einem beſtän - digen Fortſchreiten begriffen, während doch der Augenſchein lehrt, daß ein Homer, ein Phidias niemals wiederkehren kann, daß alle Culturſprachen zwar reicher und verſtändiger, aber auch häßlicher werden, und mithin der gerühmte Fortſchritt unſeres Geſchlechts beſtenfalls nur ein bedingter und beſchränkter iſt.

490IV. 7. Das Junge Deutſchland.

Von dem Weſen der Religion hatte der ſcharfſinnige Theolog gar keine Ahnung. Gleich allen Hegelianern ſah er in ihr nur ein un - fertiges Denken, obwohl die Geſchichte der Jahrtauſende bewies, daß die empfindenden Frauen allezeit religiöſer waren als die denkenden Männer. So gelangte er unmerklich zu der Meinung jener buchſtabengläubigen Orthodoxen des ſiebzehnten Jahrhunderts, welche die Religion allein im Fürwahrhalten einiger dogmatiſchen Lehrſätze ſuchten. Er wähnte das Chriſtenthum ſelbſt überwunden zu haben, weil er nachgewieſen hatte, daß einige der evangeliſchen Erzählungen mythiſch ſind. Welch ein tragiſcher Widerſpruch in dem Leben dieſes reich begabten Mannes! Im Kampfe, im berechtigten Kampfe wider den theologiſchen Zunftzwang der Tübinger Stiftler-Gelehrſamkeit hatte er ſich errungen, was er die Freiheit ſeines Geiſtes nannte; und doch war ſein Buch ſelbſt nur ein echtes Kind jener verhockten Stubengelahrtheit, welche nicht faſſen konnte, daß alle theo - logiſche Kritik nichtig iſt neben den praktiſchen Pflichten des Seelſorgers, der die Mühſeligen und Beladenen tröſten ſoll aus der Fülle der Ver - heißung, daß vor der Majeſtät des lebendigen Gottes der ſpitzfindige Ge - lehrte ebenſo bettelarm daſteht wie der einfältige Bauersmann.

Aber dem tapferen Streiter blieb das Verdienſt, daß er in eine offene Wunde der deutſchen Theologie den Finger gelegt hatte. Darum erregte ſein Buch eine Entrüſtung, wie kaum jemals ein gelehrtes Werk. Wenige Wochen nach dem Erſcheinen des erſten Bandes wurde er ſchon vom - binger Stifte entfernt und auf eine Lehrerſtelle verſetzt. Dann ſendete Eſchenmayer, deſſen naturphiloſophiſche Träumereien vor Jahren den jungen Strauß ſelbſt bezaubert hatten, ſeine Streitſchrift wider den Iſchariotis - mus unſerer Tage hinaus, ein fanatiſches Libell, das der wiſſenſchaft - lichen Theologie ſchlechthin jede Berechtigung abſprach. Auch Paulus er - hob ſich aus dem Großvaterſtuhle des Rationalismus, um den Ketzer zu bekämpfen, der ſo gar nicht einſehen wollte, daß die Juden zu Chriſti Zeiten die unangenehme Gewohnheit gehabt hätten, ihre Angehörigen leben - dig zu begraben, und mithin die Todtenerweckungen des Neuen Teſtaments auf ganz natürliche Weiſe zu erklären ſeien; er ſprach indeß würdiger als der alte Tübinger Supranaturaliſt Steudel. Die württembergiſchen Pietiſten, die in Calw und Kornthal ihre Beſtunden hielten, die ſtillen Stunden - leute , geriethen in Bewegung, und in ihrem Namen ſtritt Straußens Studiengenoſſe Wilhelm Hoffmann gegen den verlorenen Freund. Hengſten - berg’s Berliner Kirchenzeitung tobte, und die Miniſter erwogen bereits, ob man nicht das gefährliche Buch in Preußen verbieten ſolle; da erklärte Joh. Neander in einem trefflichen Gutachten, nach evangeliſchem Brauche dürften Gründe nur durch Gründe bekämpft werden. Das Leben Jeſu, das der fromme Mann bald nachher dem Buche des Schwaben entgegenſtellte, war jedoch leider mehr ein Werk der Liebe als des kritiſchen Scharfſinns. Aller dieſer Gegner erwehrte ſich Strauß in einer Reihe ſchlagfertiger Streitſchriften.

491Der Züriputſch.

Seine wiſſenſchaftliche Ueberlegenheit war ſo groß und die Bewun - derung der akademiſchen Weltkinder für den unerſchrockenen Kämpfer ſo lebendig, daß ihm auf die Dauer ein philoſophiſcher Lehrſtuhl kaum ent - gehen konnte. Der ſchwäbiſche Starrkopf verlangte aber nach einer theo - logiſchen Profeſſur, obgleich er ſchon faſt alle Grundlehren des Chriſten - thums in Frage geſtellt hatte; es war genau daſſelbe, wie wenn Martin Luther gefordert hätte, mitſammt ſeiner Frau Katharina General des Auguſtinerordens zu werden. Und wirklich fanden ſich einige akademiſche Heißſporne bereit, dies ſonderbare Begehren zu unterſtützen. In Zürich hatte die neue radicale Regierung kürzlich eine Univerſität gegründet, die alsbald mehrere tüchtige Gelehrte aus der dichten Schaar der deutſchen Demagogen und Unzufriedenen an ſich zog. Lorenz Oken, der ſich in München nach ſeiner Gewohnheit wieder mit den Behörden überworfen hatte, wurde ihr erſter Rector und ſchrieb dort ſein beſtes Werk, die Na - turgeſchichte. Warum ſollte dies neue Limmat-Athen, das mit unend - licher Verachtung auf die deutſchen Fürſtenknechte herabſchaute, nicht auch dem beſtgehaßten Manne der deutſchen Theologenzunft den Lehrſtuhl der Dogmatik anvertrauen? Einige der Züricher Radicalen hofften ſchon, auf die vollendete politiſche Umwälzung werde eine neue kirchliche Reformation folgen. Nach heftigem Widerſpruch wurde die Berufung bei den Canto - nalbehörden durchgeſetzt und Strauß erklärte ſich ſofort bereit, ihr zu folgen (1839). Doch unmöglich konnte die Heimath Zwingli’s einen ſolchen Ab - fall von allen ihren alten Ueberlieferungen gelaſſen hinnehmen. In der behaglichen Anarchie dieſes demokratiſchen Staatsweſens meinte ſich jeder Gaisbub berechtigt, über die Befähigung theologiſcher Profeſſoren ſein ſach - verſtändiges Gutachten abzugeben. Einige rechtgläubige Eiferer erhoben den Schreckensruf die Religion iſt in Gefahr , Hurter und die Ultra - montanen der Nachbarcantone ſtimmten kräftig ein, das geſammte Bauern - volk am See wurde aufſäſſig, und die gemäßigte Partei in der Stadt, an deren Spitze der junge liberale Freimaurer J. C. Bluntſchli ſtand, ſchloß ſich der Volksbewegung an. Die Regierung erſchrak, ſie nahm ihren Beſchluß zurück und fand ſich mit dem Berufenen ab durch eine Jahres - penſion von 1000 Franken, welche Strauß, auf ſein Recht trotzend, un - bedenklich annahm, aber zu wohlthätigen Zwecken verwendete. Den ſpar - ſamen Seebauern dagegen erſchienen dieſe einem Ausländer gewährten tauſend Franken als eine frevelhafte Verſchwendung, da ihr Canton nie - mals Penſionen zahlte; ſie lärmten wider die Straußen und ruhten nicht, bis ſie durch offenen Aufruhr, durch den Züriputſch die radicale Regierung geſtürzt hatten.

Dieſe tragikomiſche Revolution brachte den Namen des ſchwäbiſchen Theologen gänzlich in Verruf; keine der deutſchen philoſophiſchen Facul - täten wagte mehr, dem Beſcholtenen einen angemeſſenen Wirkungskreis für ſein glänzendes Lehrtalent anzubieten. Aber auch er ſelbſt wurde durch492IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſo trübe Erfahrungen verbittert und in einen bodenloſen Radicalismus hinein getrieben. Sein zweites großes Werk, die Chriſtliche Glaubens - lehre (1840), in der Form noch gewandter als das erſte, enthielt ſchon eine offene Kriegserklärung gegen das Chriſtenthum und bewies lediglich, daß dieſer Mann wohl ein ſcharfſinniger Kritiker, aber weder ein Philo - ſoph noch ein Hiſtoriker war. In einer Zeit, da die Macht der römiſchen Kirche ſich wieder ſtreitbar erhob, ſtellte er die doctrinäre Behauptung auf, der Gegenſatz von Proteſtantismus und Katholicismus bedeute nichts mehr neben dem Kampfe der rechtgläubigen und der ſpeculativen Theologie. Ganz ſo beſchränkt in ſeinem Parteihaſſe wie Rotteck oder Hengſtenberg, wollte er alſo auf der weiten Welt nur noch die zwei Völker der Ungläu - bigen und der Gläubigen, der Freien und der Knechtiſchgeſinnten er - kennen. Er dachte, wie er ſich bezeichnend ausdrückte, für das Hand - lungshaus der Chriſtenheit die Bilanz zu ziehen und gelangte zu dem ein - fachen Ergebniß, daß dieſe alte Firma längſt bankrott ſei. Wie Hegel ſelbſt betrachtete er die Dogmen als abſtrakte Begriffe und bemerkte nicht, was doch ſchon Schleiermacher nachgewieſen hatte, daß dieſe Anſicht alle evangeliſche Freiheit aufhebt, weil ſie den Wiſſenden, den Gelehrten eine päpſtliche Gewalt über die Unwiſſenden, die in der Regel die Frömmſten ſind, einräumt. So ward denn Schritt für Schritt jedes Dogma als der Ge - danke einer überwundenen Weltanſchauung aufgelöſt . Die Offenbarung war ihm nur noch eine Rinde, welche ſich am Baume der Menſchheit dereinſt angeſetzt hätte, aber jetzt verholzt ſei und abbröckele. Von der Kraft der Ergebung und Erhebung wußte er nichts; darum hielt er das Gebet für eine Selbſttäuſchung und geſtattete nur eine Contemplation, die ſich in die kühlende Tiefe des einen Grundes aller Dinge verſenke.

Nach Auflöſung aller Glaubensſätze blieb alſo für die moderne Kirche gar keine ſelbſtändige Aufgabe mehr; ſie ſollte vom Staate verſchlungen werden, ſobald man ſich nur erſt entſchließe, den katholiſchen Standpunkt ganz zu verlaſſen. Dieſe letzte Folgerung aus den Vorderſätzen ſeiner Religionsphiloſophie hatte Hegel ſelbſt als ein Kenner des Staatslebens niemals ziehen wollen; ſein ſchwäbiſcher Schüler zog ſie unbedenklich, weil er in ſeinem Stubenleben der Welt entfremdet war und nicht einſah, daß die zwingende Gewalt des Staates, wenn ſie ſich je des Gemüths - lebens bemächtigt, nothwendig tyranniſch wird. In der Theologie ſah er mithin nur die Wiſſenſchaft des unwiſſenden, idiotiſchen Bewußtſeins ; wer ſie recht kannte, mußte ſie als leeres Geſchwätz aufgeben ein er - ſtaunliches Geſtändniß im Munde eines Gelehrten, der ſich ſoeben ſelbſt um eine Profeſſur des idiotiſchen Bewußtſeins bemüht hatte. Religiöſe Idioten und theologiſche Autodidakten ſo rief er aus das ſind die Geiſtlichen der Zukunft; bis dahin werden freilich noch viele arme Knabenſeelen durch den Speck der Stiftungen in die theologiſche Mauſe - falle gelockt werden.

493Die Tübinger Schule.

Bis zu dieſem blöden Haſſe, der dem Fanatismus Eſchenmayer’s nichts nachgab, war der geiſtreiche Mann in fünf Jahren harter Kämpfe herabgeſunken; nannten ſeine Feinde ihn einen Iſchariot, ſo ſchimpfte er ſie Idioten. Aus der Fülle ſeiner Beleſenheit ſuchte er zu erweiſen, daß im Grunde alle großen modernen Denker dieſelbe Meinung über das Chriſtenthum gehegt hätten, und wollte der Beweis gar nicht glücken, ſo verſchmähte er auch ſchlechte Sophiſtenkünſte nicht. Wenn Leſſing geſagt hatte: trotz aller Zweifel des Verſtandes bleibe doch die Reli - gion unverrückt in den Herzen derjenigen Chriſten, welche ein inneres Gefühl von dem Wahrhaften derſelben erlangt hätten eines jener herrlichen, urſprünglichen Worte, aus denen ſich abnehmen läßt, wie hoch Leſſing über der gemeinen Aufklärung ſeiner Tage ſtand ſo meinte Strauß kurzab, das ſei nicht ernſt gemeint, ſondern lediglich ein dialek - tiſcher Fechterſtreich. Nachdem er alſo haarklein bewieſen hatte, daß es mit dem Chriſtenthum nichts ſei, hielt er ſich zwanzig Jahre lang von allen theologiſchen Arbeiten fern. In dieſem negirenden Kritiker lag gar nichts von der geſtaltenden Kraft, von dem ſittlichen Ernſte des Refor - mators, der ſein Herzblut dahingiebt, bis er der widerſtrebenden Welt ſeine Gedanken aufgezwungen hat; er warf die Feder aus der Hand, ſobald er gefunden zu haben glaubte, daß die Geſchichte von achtzehn reichen Jahr - hunderten nichts als ein großer Irrthum geweſen ſei.

Die Einwirkung dieſer Schriften auf die Zeitgenoſſen war zwei - ſchneidig, zugleich wohlthätig und tief verderblich. Strauß erweckte die Theologie aus einer falſchen Ruheſeligkeit, er machte die natürlichen Wun - dererklärungen und die künſtelnde Harmoniſtik für immer unmöglich. Sein Tübinger Lehrer Ferdinand Chriſtian Baur, ein minder glänzender, aber ungleich ſtärkerer und tieferer Geiſt, der trotz ſeiner wiſſenſchaftlichen Kühnheit an der ewigen Wahrheit des Chriſtenthums nie verzweifelte, wurde durch das Auftreten des Schülers veranlaßt, die hiſtoriſchen Unter - ſuchungen über die Anfänge des Chriſtenthums, an denen er ſeit Jahren gearbeitet, weiter zu führen. Baur gab endlich, was bisher noch ganz ge - fehlt hatte, eine Kritik der Evangelien ſelber und gelangte zu dem Ergebniſſe, das urſprüngliche Judenchriſtenthum ſei erſt durch den Apoſtel Paulus zu einer Weltreligion geworden. Mehrere tüchtige junge Gelehrte, Zeller, Schwegler, Köſtlin ſchloſſen ſich ihm an. Dieſe neue Tübinger Schule bereitete durch ernſte ſcharfſinnige Forſchungen erſt den wiſſenſchaftlichen Boden für eine hiſtoriſche Darſtellung der erſten chriſtlichen Zeiten, ob - wohl ſie für die Macht der hiſtoriſchen Perſönlichkeit auch nur wenig Ver - ſtändniß zeigte, und viele ihrer Behauptungen heute ſchon längſt wider - legt ſind.

Die Pietiſten dagegen und die Orthodoxen, überhaupt Alle, denen die Offenbarung oder die theologiſche Standesehre am Herzen lag, mußten durch Straußens Angriff auf die chriſtlichen Idioten erbittert werden; ſie ſahen494IV. 7. Das Junge Deutſchland.ſich durch dieſe maßloſe Polemik faſt gezwungen, alle wiſſenſchaftliche Kritik zu verdammen und das credo quia absurdum auf ihre Fahne zu ſchreiben. Zudem waren ſie gegen die neue Richtung von Haus aus ſo ſcharf, ſo verfolgungsſüchtig aufgetreten, daß ſie nicht mehr zurückkonnten. Die von den liberalen Zeitungen beherrſchte öffentliche Meinung ſtand durchweg auf der Seite des verfolgten Schwaben, obſchon Strauß ſelbſt ſich immer zu gemäßigten politiſchen Grundſätzen bekannte. Wie freundlich hatte einſt Voß in ſeiner Luiſe das evangeliſche Pfarrhaus als eine Stätte des Frie - dens und der Bildung geſchildert, und noch in der alten teutoniſchen Bur - ſchenſchaft waren Sand, Riemann und andere der Gottesgelahrtheit Be - fliſſene immer obenauf geweſen. Anders jetzt. Faſt ſchien es, als ſei der chriſtliche Glaube fortan durch eine gähnende Kluft von der modernen Bildung getrennt. Die beliebten Zeitromane pflegten jeden Geiſtlichen als einen Heuchler oder einen blöden Thoren darzuſtellen, und auf den Uni - verſitäten wurde der Theolog überall mit ſpöttiſcher Geringſchätzung be - trachtet. Mit Schadenfreude ſpürte man jede menſchliche Schwäche der Kirchlichgeſinnten auf und fühlte nicht, daß die Spötter durch den be - liebten Hohnruf: der Mann iſt ſo gläubig und doch ſo ſchlecht ſelber die ſittliche Ueberlegenheit der religiöſen Geſinnung anerkannten; denn noch Niemand hatte je geſagt: der Mann iſt ſo ungläubig und doch ſo ſchlecht . Jene Verachtung kirchlicher Dinge, die ſich einſt aus der eigen - thümlichen Entwicklung unſerer claſſiſchen Literatur ergeben hatte*)S. o. II. 39., er - langte nunmehr die Herrſchaft in den gebildeten Kreiſen. Da ſolche Vor - urtheile nur durch das Leben überwunden werden können, ſo behauptete ſie ihre Macht ſcheinbar ein volles Menſchenalter hindurch, bis die Deutſchen in einer Zeit weltverwandelnder Geſchicke plötzlich erfuhren, daß ihre ſtärkſten und klügſten Männer alleſammt gläubige Chriſten waren, ihre heldenhafte Jugend mit Gottvertrauen in den Tod ging.

Seit der geſammte Radicalismus für die ſpeculative Theologie ein - trat, mußten die Regierungen die ſtrenge Rechtgläubigkeit begünſtigen. Selber allem poſitiven Glauben entfremdet, aber durchdrungen von der Ueberzeugung, daß er kraft ſeines Amtes jede Kirche bei ihrem alten Be - kenntniß erhalten müſſe, ſtand Altenſtein dieſen theologiſchen Kämpfen rath - los gegenüber. Daher erlangte der ſtrenggläubige Kronprinz, der in der europäiſchen Politik kaum mitreden durfte, über den weichmüthigen Cultus - miniſter eine ſolche Macht, daß ſelbſt die Begünſtigung der Althegelianer allmählich aufhörte und alle wichtigen Stellen der preußiſchen Landeskirche fortan mit Orthodoxen beſetzt wurden. Auf die Fürſprache des Kronprinzen wurde der Leipziger Hahn, der Todfeind der Rationaliſten, nach Breslau berufen**)Dieſer Thatſache gedenkt der Kronprinz ſelbſt in einem Briefe an Altenſtein vom 4. März 1834.; durch ihn erhielt Hengſtenberg, ungewöhnlich früh, eine ordent -495Die Orthodoxen. Goßner. Gerlach.liche Profeſſur in Berlin. Er war es auch, der dem vielverfolgten Pater Johannes Goßner endlich eine würdige Wirkſamkeit in Berlin eröffnete.

Dieſer edle Mann, ein geborener Kanzelredner voll feuriger Glaubens - kraft und kindlicher Einfalt, hatte ſich einſt in Baiern der myſtiſch-evangeli - ſchen Richtung des Biſchofs Sailer zugewendet; er war dann, weil er die Bibelgeſellſchaften förderte, aus Rußland vertrieben worden und hierauf förmlich zur evangeliſchen Kirche übergetreten. In Berlin herrſchte aber der Rationalismus noch ſo unumſchränkt, daß unter allen Geiſtlichen allein Schleiermacher ſich bereit fand, dem Convertiten ſeine Kanzel zu über - laſſen. Endlich erlangte Goßner doch, daß der Prediger Moblank an der Luiſenſtädtiſchen Kirche ihn für einige Monate mit ſeiner Vertretung be - auftragte. Die Folge war, wie der Kronprinz ſchrieb, daß eine Kirche, die ſeit fünfzig Jahren leer geſtanden, die Zahl der Andächtigen nicht mehr faſſen konnte, weil ein Märtyrer der evangeliſchen Wahrheit, wie ſie Luther gepredigt, dort Gottes Wort verkündigt. Das Conſiſtorium jedoch verbot dem Eindringling die Kanzel und verlangte von dem fünfundfünf - zigjährigen ordinirten Prieſter, er müſſe erſt ſeine Befähigung nachweiſen. O wie ſind ſie mir umgegangen ſagte Goßner traurig daß ſich Gott erbarmen möge! Ich alter Eſel mußte mich von fünf Räthen examiniren laſſen und nachdem ich dreißig Jahre in aller Welt gepredigt, eine Probe - predigt halten! Dann wurde er endlich von der frömmſten Gemeinde der Hauptſtadt, den böhmiſchen Brüdern der Bethlehemskirche, zum Paſtor erwählt, und nun ſo ſchrieb der Kronprinz an Altenſtein muß es ſich zeigen, ob er auf dem rechten Wege iſt oder nicht, ob er der aus - gezeichnete Mann iſt, für den ich ihn gewiß halte, oder der Schleicher, der falſche Pfaffe, der verkappte Jeſuit oder Janſeniſt, oder was weiß ich, wo - für Sie ihn halten. *)Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 14. Jan. 1828, 20. Jan. 1829.Der Erfolg ſeiner derben, urkräftigen, volksthüm - lichen Beredſamkeit war beiſpiellos, und nicht minder fruchtbar ſeine chriſt - liche Liebesthätigkeit: den Männer-Krankenverein, das Eliſabethkrankenhaus, eine Menge von Kinderbewahranſtalten und Miſſionsgeſellſchaften rief er in’s Leben.

In gleichem Sinne wirkte der Freund des Kronprinzen Otto v. Ger - lach, der auf die Fürbitte ſeines hohen Gönners eine Predigerſtelle in der Roſenthaler Vorſtadt erhielt**)Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 22. Jan. 1834., nachdem der König ſich entſchloſſen hatte, dort in den beſtändig wachſenden ärmſten Stadttheilen Berlins vier neue Kirchen zu erbauen. Da gab es denn geiſtlicher Arbeit die Fülle; durch Hausbeſuche und Hausandachten, durch Handwerkervereine und Sparkaſſen, durch Beſchäftigung der Erwerbloſen und Vertheilung frommer Bücher ſuchte der begeiſterte junge Seelſorger der Verwilderung der armen Arbeiter des Voigtlandes entgegenzuwirken. Mit beſonderer Sorge betrachtete der496IV. 7. Das Junge Deutſchland.Kronprinz die Hochburg des preußiſchen Rationalismus, die Provinz Sachſen: auf keinen Fall ſollte der von Altenſtein begünſtigte Leipziger Großmann die Stelle des Biſchofs und Generalſuperintendenten in Magdeburg er - halten. Ich halte es für undenkbar, ſchrieb der Prinz, daß ein Mann, der als flacher, herzloſer, eitler Rationaliſt bekannt, deſſen nackter Quaſi - Jacobinismus ihn ſelbſt in Leipzig! zum Geſpött ſeiner Collegen macht, daß ſolch ein Mann zu ſolcher Stelle in dieſer Provinz vor - geſchlagen werden und noch viel weniger vom Könige genehmigt werden könnte. *)Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 15. Nov. 1831.Der Thronfolger erreichte in der That, daß Dräſeke aus Bremen nach Magdeburg berufen wurde. Der neue Biſchof riß durch ſeine mächtige Beredſamkeit alle Hörer hin, und als er auf dem Lützener Schlachtfelde bei der Enthüllung des Guſtav-Adolf-Denkmals die Weihe - predigt hielt, da ging ein Jubelruf religiöſer Begeiſterung durch die vor - dem ſo nüchterne Provinz.

So begann allmählich ein neuer Geiſt in das preußiſche Kirchen - regiment einzuziehen. Hengſtenberg’s Kirchenzeitung ſprach ſchon in einem Tone, als ob ihrer Partei allein die Herrſchaft über die Kirche zuſtände, und ihre Macht ward durch die Tübinger Bewegung nur noch befeſtigt. Wenige Monate nach dem Erſcheinen des Lebens Jeſu ſchrieb der Kron - prinz dem Miniſter: jetzt ſcheine es hoch an der Zeit, einen gläubigen Theo - logen nach Halle zu berufen, wo Tholuck ganz allein ſtehe: Mehr als zwei Drittel der jungen Studenten ſaugen Grundſätze ein, die dem Ra - tionalismus (dem Machwerk menſchlicher Satzungen und Meinungen), nicht aber dem lauteren Worte Gottes angehören, und verpeſten mit dieſen Grundſätzen, ausgeſendet und angeſtellt, als Boten des Heils das ganze Land; die Berufung Baur’s ſei ganz unmöglich, denn er habe ſich neuerdings den Anſichten eines Dr. Strauß angeſchloſſen! **)Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 20. April 1836.

Ueberall in Deutſchland erſtarkten der Pietismus und die Orthodoxie, die man allmählich für gleichbedeutend anſah; ſie bekämpften die ſpecula - tive Theologie auf Tod und Leben, ſie vertheidigten bis auf den letzten Buchſtaben das Wort und das Wort allein und nichts als das Wort , ſie bewährten ihre Kraft in den Werken des praktiſchen Chriſtenthums. Während von Baſel aus das deutſche Oberland mit einem Netze chriſt - licher Miſſionsanſtalten überſpannt wurde und die ſchwäbiſchen Pietiften in Calw durch geſchmackloſe Tractätchen, aber auch durch Werke der Barm - herzigkeit die gläubigen Gemüther zu gewinnen ſuchten, erbaute der fromme F. W. Krummacher die armen, gequälten Arbeiter des Wupperthales durch liebevolle Seelſorge und durch tiefgemüthliche Kanzelreden, welche der alte Goethe freilich für narkotiſche Predigten erklärte. Vor den Thoren Ham - burgs errichtete Hinrich Wichern im Rauhen Hauſe eine Rettungsanſtalt497Wichern und das Rauhe Haus.für verwahrloſte Kinder (1833); aus dieſem unſcheinbaren Keime entſtand dann, wunderbar ſchnell aufblühend, ein freier proteſtantiſcher Orden, der für Erziehung und Armenpflege, für Gefängniſſe und Hoſpitäler Großes leiſtete. Wichern wollte keiner theologiſchen Partei angehören; er bewahrte ſeinem Lehrer Schleiermacher allezeit treue Verehrung und verwarf jede Verfolgung der Rationaliſten. Er war aufgewachſen in der naiven, volks - thümlichen Frömmigkeit des hamburgiſchen Kleinbürgerthums, er hatte als - dann in der Muſikerin Luiſe Reichardt und in der unermüdlich wohlthätigen Amalie Sieveking zwei Frauen von apoſtoliſcher Sinneseinfalt kennen ge - lernt. Ein durchaus praktiſcher Geiſt, dachte er der Welt zu beweiſen, daß die lutheriſche Kirche, die bisher in allem Handeln hinter der Werkheiligkeit der römiſchen und der Thatkraft der calviniſchen Kirche weit zurückgeblieben war, auch für die Armen im Geiſt zu ſorgen vermöge; und es gelang ihm.

Alles wirkſame Leben der Kirche ging fortan auf in der Thätigkeit der ſtrengen Schriftgläubigen. Sie allein predigten vor gefüllten Gottes - häuſern, während den Reden der ſpeculativen Theologen Niemand zuhören wollte; ſie allein labten die Verſchmachtenden und tröſteten die Elenden, während mehrere der Genoſſen der Tübinger Schule, nach Straußens Vorgang, bald die Theologie aufgaben, weil ihnen an der Kirche wenig lag. Und ſo gewiß die Religion nicht in der Gelehrſamkeit wurzelt, ſon - dern in der Empfindung, in der lebendigen Kraft der Liebe, ebenſo gewiß war dieſe wiſſenſchaftlich ſehr mangelhafte Rechtgläubigkeit als kirchliche Macht den gelehrten theologiſchen Kritikern weit überlegen.

Die Kluft zwiſchen beiden Parteien erweiterte ſich von Jahr zu Jahr, Achtung und Schonung gingen hüben und drüben bald verloren. Viele Orthodoxe verleugneten das evangeliſche Recht der freien Forſchung ſo gänzlich, daß ſie jede vorausſetzungsloſe hiſtoriſche Kritik in der Theologie kurzab für heidniſch hielten. Und andererſeits, welch ein Zerrbild des ſchwäbiſchen Pietismus entwarf doch der Tübinger Aeſthetiker Viſcher in ſeinen geiſtreichen Aufſätzen über Strauß und die Württemberger; in dieſem Bilde war kaum noch ein menſchlicher Zug. Die liberalen Zeitungen ge - brauchten den Namen der Frommen nur noch ironiſch, als ob Fröm - migkeit eine Schande wäre; ſie verläſterten das Rauhe Haus und alle die anderen fröhlich aufblühenden Werke der chriſtlichen Liebe als Anſtalten von Heuchlern für Heuchler. Der Kampf zwiſchen den Wiſſenden und den Glaubenden war an Mißverſtändniſſen und Verdrehungen ebenſo reich wie der gleich unfruchtbare Streit zwiſchen dem Vernunftrecht und dem hiſtoriſchen Recht; er lähmte den deutſchen Proteſtantismus eben in dem Augenblicke, da das Papſtthum wieder zum Angriff vorſchritt; er ver - ſchärfte auch die politiſchen Gegenſätze alſo, daß ſchon nach wenigen Jahren die Ausſicht auf Verſöhnung ſchwand, und ein gewaltſamer Umſchwung unvermeidlich wurde.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 32[498]

Achter Abſchnitt. Stille Jahre.

Seit der literariſche Streit ſich mit dem politiſchen verkettete, Dichtung und Philoſophie von der Tendenz beherrſcht wurden, ſtand unter den deut - ſchen Liberalen die Meinung feſt, daß der Kampf der Freiheit wider die Knechtſchaft, des Lichtes wider die Finſterniß den ganzen Inhalt der neuen Geſchichte ausmache. Der Gang der europäiſchen Politik, die zunehmende Spannung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten des Welttheils ſchien dieſe Anſichten zu beſtätigen. Die Stärke unſerer Cultur liegt aber in dem beſtändigen Wechſel ihrer mannichfaltigen Intereſſen, Ideen und Macht - verhältniſſe. Immer war es nur ein Zeichen verſchrobener, unhaltbarer Zuſtände, wenn einmal ein einziger kahler Gegenſatz, wie im Zeitalter der Religionskriege, die Parteiung dieſer vielgeſtaltigen Staatengeſellſchaft beſtimmte. Nun gar der Gegenſatz von Oſt - und Weſteuropa, der jetzt von nahezu allen Parteien als eine hiſtoriſche Nothwendigkeit angeſehen wurde, beſtand in Wahrheit nicht; er beruhte weſentlich auf der Einbildung, auf den formalen Lehrſätzen conſtitutioneller und abſolutiſtiſcher Theorien, welche die lebendigſte Kraft des Jahrhunderts, den Drang nach nationaler Staatenbildung, völlig verkannten. Doch dieſe Doktrinen beherrſchten und bethörten die Welt denn nichts iſt ſicherer, als die niederſchlagende Wahrheit, daß die öffentliche Meinung ganzer Zeitalter ſich im Irrthum bewegen kann und weil die Zeit im Doktrinarismus befangen war, darum konnte Palmerſton’s kaufmänniſches Geſchick die Wirren auf der pyrenäiſchen Halbinſel, die für Europa ſo wenig bedeuteten, als willkommene Hand - habe benutzen, um das Feſtland beſtändig in Unruhe zu halten, die Kluft zwiſchen dem Oſten und dem Weſten argliſtig zu erweitern.

In Portugal regierte, nachdem das Tochterland Braſilien ſich von dem Mutterlande losgeriſſen hatte, die minderjährige Tochter des braſili - aniſchen Kaiſers Pedro, Maria da Gloria. Aber ihr Oheim Don Miguel, der für ſie die Regentſchaft führen und dereinſt ihr Gatte werden ſollte, bemächtigte ſich ſelbſt der Krone (1828), und nun brach über das Land ein clericales Schreckensregiment herein, das ſelbſt die Gräuel der ſpani - ſchen Reaktion noch überbot. Der fanatiſche, rohe, halbthieriſche Wütherich499Don Miguel.meinte ſich berufen nach dem Vorbilde des Erzengels Michael die Satans - brut der Liberalen zu vernichten, er warf die Verfaſſung über den Haufen, ließ tauſende ſeiner Gegner hinrichten, einkerkern, ins Elend jagen. Ob - wohl unzweifelhaft ein Uſurpator erfreute er ſich doch der geheimen Gunſt Metternich’s denn wer eine Verfaſſung brach behielt in der Hofburg immer Recht und ſeit der Juli-Revolution begegnete er den beiden libe - ralen Weſtmächten mit der ganzen Feindſeligkeit des reaktionären Partei - hauptes. Alſo gerieth der freiſinnige Gönner aller Revolutionen, Lord Palmerſton, in die ſonderbare Lage, ſich der legitimen Rechte der jungen Königin annehmen zu müſſen. Unmöglich konnte er dulden, daß dies ſeit vier Menſchenaltern, ſeit dem Methuenvertrage, der britiſchen Handels - herrſchaft unterthänige Portugal, dies alte Jagdgebiet der Fabrikanten von Glasgow und Mancheſter, jetzt durch einen feindſeligen Uſurpator der engliſchen Flagge verſperrt würde; die ſchwache Regierung eines unmün - digen Mädchens verſprach dem engliſchen Intereſſe unvergleichlich größere Vortheile, und das Weiberregiment war, wie die Dinge ſtanden, zugleich die Sache der Freiheit, der Verfaſſung.

Unter dem jubelnden Beifall der Liberalen auf beiden Ufern des Canals erklärte ſich der engliſche Miniſter alſo für die verfaſſungsmäßige Regierung der unmündigen Königin. König Wilhelm IV. freilich geſtand in einer geheimen Denkſchrift mit ſeiner gewohnten beſchränkten Ehrlich - keit: von einer Verfaſſung wolle die große Mehrzahl der Portugieſen nichts wiſſen, indeſſen halte er die Herrſchaft Don Miguel’s für das größere und dem Intereſſe Englands ſchädlichere Uebel . Eine offene Inter - vention zu Gunſten des legitimen Rechts durften die Weſtmächte jetzt noch nicht wagen, nachdem ſie ſoeben den Grundſatz der Nichteinmiſchung feier - lich verkündigt hatten, doch auf Schleichwegen konnten ſie ihr Heil leicht erreichen, da die liberale öffentliche Meinung ſich ſtürmiſch gegen den portugieſiſchen Uſurpator ausſprach. Als Don Pedro im Jahre 1832 nach Europa heimkehrte, um ſeiner Tochter die Krone zurückzugewinnen, da ſtellte ihm Frankreich ſofort jene portugieſiſchen Kriegsſchiffe zur Verfügung, welche vor Kurzem, in Folge eines Streites mit Don Miguel, aus dem Tejo hinweggeführt worden waren, und zahlreiche franzöſiſche Freiwillige traten unter ſeine Fahnen. In England wurde öffentlich für ihn geworben, obgleich das Geſetz jede Anwerbung für fremden Kriegsdienſt unterſagte. Engliſche Seeoffiziere und Blaujacken bildeten den Stamm ſeiner Seemacht; der Engländer Napier befehligte die Flotte, als beim Cap St. Vincent, auf der alten Stätte britiſchen Waffenruhms, die Schiffe Don Miguel’s vernichtet wurden. Frohlockend meldete eine officiöſe Flugſchrift, deren prahleriſcher Stil die Feder Palmerſton’s ſelber leicht erkennen ließ: Britiſche Tapfer - keit war wie gewöhnlich mit portugieſiſcher Freiheit verbündet, St. Vincent hat nochmals die Thaten des Seeheldenthums geſehen. Zugleich erging an alle Höfe die inbrünſtige Verſicherung, daß England in dieſen Händeln32*500IV. 8. Stille Jahre.die ſtrengſte Neutralität gewiſſenhaft einhalte. Zwei Jahre währte dann noch der portugieſiſche Bürgerkrieg. Von Franzoſen befehligt, durch Frei - willige aus beiden Weſtmächten verſtärkt, drängten die Truppen der jungen Königin das Heer Don Miguel’s mehr und mehr in die Enge.

Unterdeſſen ſtarb König Ferdinand von Spanien (1833) und hinter - ließ ſeinem Volke, als Vermächtniß eines ſchmachbedeckten Lebens, den Bürgerkrieg. Drei Jahre vor ſeinem Tode war er durch ſeine vierte Ge - mahlin, die muntere, geſcheidte, leichtlebige Neapolitanerin Chriſtine be - wogen worden, das ſaliſche Geſetz aufzuheben, das in dem ſpaniſchen Bourbonenhauſe während des achtzehnten Jahrhunderts mit einigen Ein - ſchränkungen unbeſtritten geherrſcht hatte. Fortan ſollte wieder das Thron - folgerecht der Weiber gelten, das altnationale Recht, dem einſt die katho - liſche Iſabella und nachher die Habsburger ihre Herrſchaft verdankt hatten, und mithin nach Ferdinand’s Tode ſeine kleine Tochter Iſabella, unter der Vormundſchaft ihrer Mutter Chriſtine, die Krone tragen. Daß der recht - mäßige Thronfolger, Ferdinand’s Bruder Don Carlos ſich einem ſolchen Staatsſtreiche nicht gehorſam fügen konnte, war leicht vorherzuſehen, und ſchwer beſorgt ſagte Graf Bernſtroff, ſobald er von dieſer neuen Prag - matiſchen Sanction der ſpaniſchen Krone erfuhr: um die Lage Europas zu vereinfachen fehlt uns nur noch ein neuer ſpaniſcher Erbfolgekrieg.

Don Carlos war Don Miguel’s Schwager, bigott wie dieſer und dem finſterſten Aberglauben ergeben, ein blöder beſchränkter Menſch, das aner - kannte Haupt der apoſtoliſchen Partei, während Königin Chriſtine durch die Macht der Verhältniſſe den Feinden der Prieſterherrſchaft in die Arme getrieben wurde. In Portugal vertrat die legitime Maria, in Spanien die illegitime Iſabella den Liberalismus. Doch was fragte der leitende Staatsmann Englands nach dem hiſtoriſchen Rechte? Palmerſton ſah ſcharfſinnig voraus, daß die Königin-Regentin Chriſtine ſich bald gezwungen ſehen würde die Hilfe ihres Oheims Ludwig Philipp anzurufen; und dann konnten die beiden illegitimen Bourbonenhöfe von Madrid und Paris vielleicht jenen Familienvertrag erneuern, welcher einſt, zu Englands Schaden, ſo lange zwiſchen ihren legitimen Vorgängern beſtanden hatte. Um dieſe Gefahr abzuwenden gab es nur ein Mittel: England ſelbſt mußte ſich zwiſchen die beiden Höfe eindrängen und, zur Erbauung aller liberalen Gemüther, den hochherzigen Beſchützer der illegitimen Iſabella ſpielen. So ließ ſich auch hoffen, daß der ſpaniſche Bürgerkrieg ins Un - endliche währte und dem britiſchen Gönner die Möglichkeit bot, der be - drängten Regentin vortheilhafte Handelsverträge abzupreſſen; überdies wurde der immer mit ſtillem Argwohn betrachtete franzöſiſche Bundes - genoſſe durch den Krieg jenſeits der Pyrenäen lahm gelegt und auch die Oſtmächte dermaßen beſchäftigt, daß ſie kaum noch bemerken konnten, wie England mittlerweile ſeine Handelsherrſchaft über die halbe Welt hin er - weiterte. Und alle dieſe glänzenden Gewinnſte ließen ſich erreichen ohne501Die Quadrupel-Allianz.einen gefährlichen Krieg, nur durch mittelbare Unterſtützung der Königin und durch ein unaufhörliches Selbſtlob, das der bethörten liberalen Welt den Hochſinn der freiheitbeſchützenden Britannia anpreiſen mußte.

Raſch entſchloſſen ging Palmerſton auf ſein Ziel los. Am 22. April 1834 brachte er mit Talleyrand und Chriſtinens Geſandten Miraflores ſein Meiſterwerk zu Stande, die Quadrupel-Allianz. Die Regierungen der beiden jungen Königinnen verpflichteten ſich, Don Miguel und Don Carlos aus der Halbinſel zu vertreiben; England wollte ſie mit ſeiner Flotte unter - ſtützen, und auch Frankreich, das ſich während der Verhandlungen vor - ſichtig zurückhielt, ſollte nöthigenfalls, nach gemeinſamer Verabredung, mit den Waffen eingreifen. Frecher konnte der Grundſatz der Nichteinmiſchung nicht verleugnet, die Interventionspolitik des alten Vierbundes nicht über - boten werden. Die Beſchlüſſe des Laibacher Congreſſes hatten ſich doch noch auf unzweifelhafte Vertragsrechte berufen, welche dem Hauſe Oeſter - reich in Italien zuſtanden; hier aber ward die bewaffnete Unterſtützung einer legitimen und einer illegitimen Königin zugleich beſchloſſen, ohne den Schatten eines Rechtsgrundes, lediglich nach der augenblicklichen Convenienz der Weſtmächte, und dieſe völlig rechtswidrige Intervention ſchmückte ſich mit dem Namen der Freiheit. Palmerſton verkündete ſogleich, dieſer neue Vierbund ſolle ein mächtiges Gegengewicht gegen die heilige Allianz des Oſtens bilden, er nannte ihn ſein eigenſtes Werk und ſpöttelte vor den Vertrauten: ich hätte wohl Metternich’s Geſicht dabei ſehen mögen. Das halbamtliche Journal des Debats erklärte: die Quadrupel-Allianz ſei die Antwort des freien Weſtens auf den Congreß von Münchengrätz und die Wiener Miniſterconferenzen; jetzt gebe es keine Pyrenäen mehr, da die Gleichheit der Staatsform ſowie die Schickſalsverwandtſchaft der Dynaſtien Spanier und Franzoſen verbände; nicht lange, ſo würden Belgien und die Schweiz, nachher auch das conſtitutionelle Süddeutſchland, Piemont, Neapel, Griechenland ſich dem Bunde der vier freien Nationen anſchließen. Und ſolche windige Prahlereien fanden Glauben: zunächſt bei den hochmüthigen Spaniern, die ja ohnehin überzeugt waren, daß ſich ſeit den Zeiten Philipp’s II. nichts in der Welt geändert hätte, und nun befriedigt an der Spitze der Civiliſation einherſchritten; die Inſchrift de las cuatro naciones auf den Schildern ſpaniſcher Kaufläden und Gaſthöfe erinnert noch heute an jene Zeiten des weſteuropäiſchen Größenwahns. Auch die deutſche liberale Preſſe ſtimmte in die Triumphrufe der Weſt - mächte fröhlich ein: daß der freie Portugieſe hoch über dem geknechteten Preußen ſtehe, ſchien allen Gebildeten ſelbſtverſtändlich. Zu den Unge - bildeten zählte freilich auch Prinz Wilhelm der Jüngere von Preußen; er ſagte ſcharf: durch die Quadrupede ſei die europäiſche Politik für einige Zeit monſtrös geworden.

Das Glück war den Verbündeten günſtig. Schon wenige Tage nach der Unterzeichnung der Quadrupel-Allianz mußte Don Miguel, in502IV. 8. Stille Jahre.deſſen Kriegslager ſich auch Don Carlos befand, bei Elvora capituliren. Er verzichtete auf die angemaßte Krone gegen ein Jahresgehalt und ging nach Italien, ſpäterhin nach Baiern, wo er mit den Ultramantanen aller deutſchen Staaten unabläſſig geheime Ränke anſpann. Alſo war Portugals Schickſal entſchieden, die engliſche Handelsherrſchaft am Tejo wieder hergeſtellt. Selbſt Metternich zuckte die Achſeln, als Ancillon jetzt noch nachträglich mit dem prieſterlichen Vorſchlage herausrückte, Don Miguel ſolle die ihm einſt verſprochene Hand Donna Maria’s nunmehr fordern um durch ein fröhliches Ehebündniß die beiden Parteien Portugals zu verſöhnen*)Ancillon, Weiſung an Brockhauſen, 5. Oct. Brockhauſen’s Bericht, 11. Oct. 1834.. Palmerſton war Herr der Lage und er verſtand für das eheliche Glück der jungen Königin zu ſorgen. Kaum war ſie mannbar, ſo wurde ſie mit dem Herzog von Leuchtenberg vermählt, der als Napoleonide dem Tuilerienhofe verdächtig und eben deshalb den engliſchen Freunden hochwillkommen war. Der junge Herzog ſtarb einige Monate nach der Hochzeit, und nunmehr konnte die coburgiſche Hauspolitik einen neuen glücklichen Schachzug wagen. Dank dem Glaubenswechſel der Coburg - Koharys war König Leopold von Belgien in der angenehmen Lage, auch katholiſchen Königinnen brauchbare coburgiſche Gatten anzubieten. Von Palmerſton unterſtützt, ſchlug er ſeinen Neffen Ferdinand vor, und bald nachher (1836) kam der glückliche junge Coburger am Bord eines eng - liſchen Kriegsſchiffes nach Liſſabon um ſeinem hochzeitsfrohen Hauſe die zweite Königskrone zu gewinnen. Das unſelige Land lernte unterdeſſen den ganzen Jammer des romaniſchen Parlamentarismus kennen: Aemter - jagd, Beſtechung und Verſchwörung, Parteikampf und Miniſterſturz, Ver - faſſungsbruch und Verfaſſungsverleihung in eintönigem Wechſel. Immer - hin waren die Zuſtände etwas erträglicher als einſt unter dem Henkerbeile Don Miguel’s, und England mindeſtens konnte ſich der neuen conſtitutio - nellen Herrlichkeit aufrichtig freuen: die Portugieſen lieferten ihm wieder den unentbehrlichen Portwein und wurden zum Dank in der Entwicklung ihres Gewerbfleißes durch den übermächtigen britiſchen Wettbewerb gänz - lich darniedergehalten.

Durch die Capitulation von Elvora war auch Don Carlos in die Hände der Verbündeten gefallen, und nahm man die Verſprechungen der Quadrupel-Allianz ernſt, ſo mußte man auch ihn entweder zur Verzicht - leiſtung nöthigen oder auf andere Weiſe unſchädlich machen. So konnte der kaum erſt entbrannte ſpaniſche Bürgerkrieg ſchon im Keime erſtickt und die Königin-Regentin Chriſtine von ihrem einzigen gefährlichen Feinde be - freit werden. Dann aber war nur zu wahrſcheinlich, daß die beiden ver - wandten Höfe von Madrid und Paris ſich freundlich aneinanderſchloſſen, und dies entſprach keineswegs dem engliſchen Intereſſe. Darum wurde Don Carlos, ohne daß man ihm irgend eine Verpflichtung auferlegte, auf503Der Carliſtenkrieg.einem engliſchen Kriegsſchiffe nach London abgeführt, und die Briten er - wieſen ihm ſogar die Gefälligkeit, einen geheimen Brief an ſeine Getreuen in den baskiſchen Provinzen pünktlich zu beſorgen. In London fand König Karl V. bei den faſt durchweg carliſtiſch geſinnten Torys warme Huldigungen und geheime Hilfe. Palmerſton aber ließ ihn ohne jede Be - dingung frei, der unſchuldige Lord meinte: wir können ihn nicht als Ge - fangenen behandeln. Nach wenigen Tagen war Don Carlos verſchwunden, wie alle Welt vorausſah. Er reiſte ohne Gefährde durch Frankreich; denn dort ſpielten die Anhänger Karl’s X. und Karl’s V. längſt unter einer Decke, auf jedem Paßbureau, auf jeder Poſtſtation ſaßen geheime car - liſtiſche Agenten.

Am 9. Juli erſchien er plötzlich an der einzigen Stelle wo er eine Macht war, unter ſeinen Getreuen in Navarra, denen er durch ſeinen Brief aus Elvora ſchon ſeine bevorſtehende Ankunft mitgetheilt hatte. Das ganze Spiel war eine plumpe Faſtnachtspoſſe, und nur die Taubenunſchuld der deutſchen Liberalen konnte glauben, daß Palmerſton die Rückkehr des Prä - tendenten, die Verlängerung des ſpaniſchen Bürgerkriegs wirklich nicht ge - wünſcht hätte. Als Heerführer völlig untauglich, war Don Carlos doch Mannes genug um die Strapazen und Nöthe ſeiner Leute als ehrlicher Kriegsmann zu theilen, und dies genügte dem ſchlichten Naturvolke der Pyrenäen; die Anweſenheit des legitimen katholiſchen Königs erfüllte die Heerſchaaren der Carliſten mit flammender Begeiſterung.

Welch ein Verhängniß, daß die fleißigſten, ſchönſten, liebenswür - digſten Bewohner der Halbinſel, die einzigen, die nach europäiſcher Weiſe den Fremdling menſchenfreundlich aufnehmen, daß gerade dies edle Basken - volk in den Kampf für die Prieſterherrſchaft hineingezwungen wurde. Ihres blauen Blutes froh ſchauten die Basken von Alters her mit der gleichen Verachtung auf die Franzoſen wie auf die Caſtilianer hernieder; unter dem Schutze ihrer uralten Fueros führten ſie ein Sonderleben, das von ſpani - ſchen Beamten, Steuern, Zöllen unbehelligt blieb, und nun ſollten die Sonderrechte der vier baskiſchen Provinzen durch die neue liberale Ver - faſſung, welche die Königin-Regentin im April 1834 verkündigen ließ, mit einem Schlage vernichtet werden. Wie ein Mann erhob ſich das baskiſche Volk für ſeine Fueros und den rechtmäßigen König, der ſie beſtätigt hatte; ſieben entſetzliche Jahre hindurch widerſtand dieſe halbe Million freier Menſchen der vereinigten Macht Spaniens und ſeiner geheimen Verbün - deten. Eine Zeit lang nahmen auch die Aragonier und die Catalanen an dem Kampfe theil; ſie konnten es nicht verwinden, daß die Caſtilianer der Coronilla von Aragon ſo oft ihre Geringſchätzung bezeigten. Doch die Hoch - burg des Carlismus blieb das tapfere Baskenland, und der einzige große Charakter, der ſich aus dem fürchterlichen Einerlei dieſes Gemetzels empor - hob, Zumalacarreguy war ein Baske. Abermals erlebte unſer bildungs - ſtolzes Jahrhundert einen Krieg, deſſen teufliſche Grauſamkeit dem Agon der504IV. 8. Stille Jahre.Hellenen faſt gleichkam; die brütende Wildheit des Volkes der Autos da Fe und der Stiergefechte entlud ſich noch einmal. Die tauſende liberaler Flüchtlinge, welche König Ferdinand einſt in die Fremde getrieben, fochten jetzt heimgekehrt, Mina voran, unter den Fahnen der Criſtinos und kühlten den alten Haß im Blute der Carliſten. Die Klöſter verſilberten ihre unermeßlichen Schätze zum Beſten des katholiſchen Königs, bis der Tauſchwerth der Edelſteine auf dem Amſterdamer Diamantenmarkte durch das übermäßige Angebot gedrückt wurde. Hüben und drüben maßloſe Wuth und die ganze Kunſt romaniſcher Verlogenheit: wenn man den Kriegsbe - richten der Criſtinos Glauben ſchenkte, ſo waren in vier Jahren ſchon mehr Carliſten getödet worden, als das geſammte Baskenland an Ein - wohnern beſaß.

Da die ſtille Zeit ſonſt an aufregenden Ereigniſſen nichts bot, ſo warf ſich der verhaltene Parteihaß der Nachbarvölker auf dieſe ſcheußlichen Kämpfe, die dem Leben Mitteleuropas doch ganz fern lagen. Mit Eifer verſchlang man die Märchennachrichten aus den Pyrenäen, jeder Liberale mußte ſich für die Criſtinos erklären. Als endlich, nach beſchämenden Niederlagen, der glückliche Espartero die Truppen der Königin zum Siege führte, da wurde dieſer zweifelhafte Held von den geſammten Liberalen Europas ſo überſchwänglich geprieſen, wie einſt Bolivar oder Riego; zu - mal in Deutſchland ſchlug die fremdbrüderliche Begeiſterung wieder hohe Wellen. Mancher liberale kurſächſiſche Lehrer quälte ſeine armen Buben, die von Dennewitz und der Katzbach kein Wort erfuhren, mit den unaus - ſprechlichen Namen aller der Schlachtfelder, auf denen der unvergleichliche Herzog von Victoria geſiegt haben ſollte.

Aber auch Don Carlos fand warme Verehrer, an den Höfen, unter dem Adel, überall wo die weitverzweigte internationale Legitimiſten-Partei ihre Genoſſen hatte. Moritz v. Haber, ein Sohn des einflußreichen jüdi - ſchen Hofbankiers in Karlsruhe, diente ihm als Geſchäftsreiſender. Aus allen Ländern eilten ihm Freiwillige zu, darunter manche, die ſich dereinſt noch einen Namen machen ſollten. Aus Frankreich kam Bazaine, aus Oeſter - reich der abenteuernde Prinz Schwarzenberg, der ſich ſelbſt den Landsknecht nannte, aus Deutſchland der Militärſchriftſteller v. Rahden. Auch den feu - rigen jungen Auguſt v. Göben litt es nicht länger in der friedlichen Garniſon zu Neu-Ruppin; Thatendurſt, royaliſtiſche Begeiſterung und ein leidenſchaft - licher Haß gegen England trieben ihn hinaus in das Heer der Carliſten, wo er, vom Unglück ebenſo beharrlich verfolgt wie ſpäterhin vom Glücke, unter namenloſen Kämpfen und Leiden ſchon die Heldengröße des künftigen Feld - herrn bewährte. Am meiſten Aufſehen erregte der ſchöne, übermüthige Wildfang Fürſt Felix Lichnowsky. Der hatte unter den Berliner Damen, nebenbei auch unter den Juwelieren und Pfandleihern ſo ungewöhnliche Ver - heerungen angerichtet, daß er ſich in der Armee nicht mehr halten konnte. Umſonſt verſuchte Prinz Wilhelm ihm eine Stelle in der preußiſchen505Deutſche Carliſten.Diplomatie zu verſchaffen; der Prinz ahnte, wie viel Geiſt und Muth in dieſem Tollkopf lebte, und bat ſeinen königlichen Vater freimüthig, daß man jugendlichen Leichtſinn nicht ungerügt hingehen laſſen dürfe, dagegen aber deshalb einen jungen Mann nicht ganz fallen laſſen dürfe, ſondern ihm Anleitung zum Ergreifen eines beſſeren Lebenswandels gäbe. *)Prinz Wilhelm an König Friedrich Wilhelm, 18. Febr. 1837.Die ſittenſtrengen Miniſter Ancillon und Rochow wollten von Nachſicht nichts hören. Lichnowsky mußte ausſcheiden und ging zu Don Carlos, der ihn raſch zum General und Generaladjutanten beförderte. Der Anblick des kopfloſen, in Hoffart und Lippendienſt ganz erſtarrten Königs ernüchterte den begeiſterten deutſchen Royaliſten bald; er begann zu fühlen, wie fremd dies hispaniſche Weſen unſerem freien Weltſinne war. Im Lager der Criſtinos fochten nur vereinzelte Deutſche, ſo der preußiſche Ingenieur - Offizier Höfken; der lernte freilich die ſpaniſche Redlichkeit ſo gründlich kennen, daß er den Staub des Landes ſchnell von ſeinen Füßen ſchüttelte.

Das Kriegsglück ſchwankte lange, einmal gelangten die Schaaren der Carliſten bis dicht vor die Thore von Madrid, und durch den langwierigen Kampf mußten unausbleiblich in beiden Lagern die extremen Parteien obenauf kommen. Don Carlos war bald nur noch ein Werkzeug in den Händen fanatiſcher Prieſter, er ernannte die allerheiligſte Jungfrau dos Dolores zum Feldmarſchall ſeines Heeres. In Madrid aber wurden die Liberalen von den radicalen Exaltados überwältigt, bis endlich ein finger - fertiger Jongleur , wie Ancillon ihn nannte**)Ancillon an Maltzan, 13. Juli 1836., der börſenkundige jüdiſche Bankier Mendizabal ans Ruder kam und die Aufhebung aller Klöſter durchſetzte (1836). Wunderbare Gerechtigkeit des Schickſals: ein frecher jüdiſcher Spieler führte den vernichtenden Schlag gegen dieſe ſpaniſche Kirche, die ſich einſt durch die grauſame Vertreibung der fleißigen Mauren und Juden ſo unvergeßlich ſchwer verſündigt hatte! Nun raſte der Kloſter - ſturm durch das rechtgläubige Land, wo überall an den Pfeilern der Wall - fahrtskirchen die wächſernen Ohren, Naſen, Brüſte, die Weihgeſchenke eines heidniſchen Götzendienſtes, in dicken Bündeln hingen, wo jede Vorbedin - gung eines freien, denkenden, evangeliſchen Chriſtenthums fehlte und nur die Wahl blieb zwiſchen der ſtumpfſinnigen Unterwerfung und der frevel - haften Gottesläſterung. Der ſtärkſte Pfeiler der alten Kirchenherrſchaft war gebrochen. In dem Gewirr der Verſchwörungen, Staatsſtreiche, Soldatenverſchwörungen ging auch die neue Verfaſſung zu Grunde; der heilige Codex vom Jahre 1812 trat wieder in Kraft, um alsbald durch ein drittes Grundgeſetz verdrängt zu werden.

Derweil dieſe Gräuel, die unvermeidlichen Folgen der Leidensgeſchichte dreier Jahrhunderte, das ſpaniſche Land heimſuchten, trat Palmerſton leichten Herzens alles Völkerrecht mit Füßen. Ein engliſches Heer wagte506IV. 8. Stille Jahre.er nicht nach Spanien zu ſenden, weil er weder die Oſtmächte reizen, noch dieſen willkommenen Bürgerkrieg verkürzen wollte. Aber Englands Schiffe blokirten den Meerbuſen von Biscaya, ſie unterſtützten gelegentlich die Truppen der Regentin in den Kämpfen gegen die Heerhaufen der Basken und lieferten zuweilen eine Schaar wehrloſer carliſtiſcher Gefangener zur Niedermetzelung an die Criſtinos aus. Das Verbot der ausländiſchen Werbungen wurde außer Kraft geſetzt und eine ſogenannte ſpaniſche Legion gebildet, welche den Criſtinos ganz ebenſo zu Hilfe kommen ſollte, wie einſt Canning die ſüdamerikaniſchen Republiken unter der Hand durch engliſche Freiwillige unterſtützt hatte. Ihr Offizierscorps beſtand aus vor - nehmen Abenteurern und vereinzelten liberalen Enthuſiaſten, ihre Mann - ſchaft aus dem Auswurfe des Pöbels von London, Glasgow, Mancheſter; Palmerſton aber rühmte ſie im Parlamente als eine Schaar von hochſinnigen Männern, welche nicht durch die Ausſicht auf Gewinn, ſondern durch eine ehrenwerthe Begeiſterung für die conſtitutionelle Sache angetrieben würden. In den rothen Röcken des königlichen Heeres, durch engliſche Drill-Sergean - ten geſchult, mit engliſchen Fahnen und Tower-Gewehren ausgerüſtet, ſegelten dieſe Leute nach dem Baskenlande, wo ſie von den ergrimmten Carliſten, nach mannichfachen Wechſelfällen, ſchließlich faſt alleſammt nieder - gehauen wurden. Währenddem verſicherte der Miniſter beharrlich, das britiſche Heer nehme an dem ſpaniſchen Kriege durchaus keinen Antheil. Wellington aber warnte im Oberhauſe tief empört: England darf ſeine Ehre nicht beflecken. Zu ſpät; ſie war ſchon befleckt. Die britiſchen Soldatengräber an den Felsabhängen der Mota, der meerumbrandeten Hafenfeſte von S. Sebaſtian, verkündeten weithin Englands Schande.

Doch die Schande war ein gutes Geſchäft. Durch dieſen verhüllten Krieg, durch Waffenlieferungen und geheime Unterſtützungen feſſelte Pal - merſton die Regentin an ſich, und ſie gewährte ihm mehrmals vortheil - hafte Handelsverträge, zum Schaden der jungen catalaniſchen Induſtrie. In der Regel begünſtigte er die Exaltados, Mendizabal vornehmlich war ihm ganz ergeben; denn je ſchärfer ſich die Gegenſätze zuſpitzten, um ſo länger mußte dieſer einträgliche Bürgerkrieg währen. Im Parlamente ward ſeine Sprache immer übermüthiger, zuletzt rein demagogiſch. Er er - klärte offen, ſchon ſeines Handels wegen müſſe England die Königin Iſa - bella begünſtigen; er nannte Don Carlos einen bloßen Prätendenten, der einen Thron verlange, auf dem er nie geſeſſen , und die Londoner Börſe, die in den fragwürdigen Staatspapieren der Königin-Regentin glänzende Geſchäfte machte, betrachtete den freiſinnigen Lord mit herzlichem Wohl - gefallen. Dem uneingeweihten Theile des Unterhauſes ſuchte er den dynaſtiſchen Zank der beiden gleich erbärmlichen Bourbonenhäuſer als einen großen Principienkrieg darzuſtellen, und ſagte am 19. April 1837 geradezu: Es iſt unerläßlich, daß in jedem Staate die Macht beſtehe, im Nothfalle das Staatsoberhaupt zu wechſeln. Auf dieſes Princip wurde507Spannung zwiſchen den Weſtmächten.unſere Regierung 1688 gegründet, derſelbe Grundſatz hat 1830 die neue Regierung in Frankreich geſchaffen, die Regierung Iſabella’s beruht auf dem nämlichen Grundſatze. Alſo verkündigte er leichtfertig das Recht der Revolution, er beſtritt das Grundrecht der Monarchie, die Unabſetz - barkeit der auf eigenem Rechte ruhenden Staatsgewalt. Wenn die Libe - ralen, die ja faſt alle wider Wiſſen einer halbrepublikaniſchen Staats - theorie huldigten, dieſen Lehren zujauchzten, ſo hatten Graf Maltzan und die anderen Diplomaten der alten feſtgeordneten Monarchien des Oſtens ſicherlich guten Grund, die unbegreifliche, verabſcheuungswürdige Rede des Lords zu verwünſchen. *)Maltzan’s Berichte, April 837.

Aber auch der Tuilerienhof wurde durch Englands aufreizendes Ge - bahren zur Beſinnung gebracht. Eine feſtländiſche Macht war nicht in der Lage ſich Alles zu erlauben wie das unangreifbare Inſelreich; ſie mußte auch fühlen, daß die Machtverhältniſſe der Staatengeſellſchaft nicht durch hohle Schlagworte beſtimmt werden. Ludwig Philipp kannte die Spanier und ihren hoffärtigen Fremdenhaß; er wußte, daß die Inter - vention des Jahres 1823 nur durch außerordentliche Glücksfälle gelungen und ſchließlich doch zu Frankreichs Schaden ausgeſchlagen war. Sollte er ſich in dieſe unüberſehbaren Wirren einmiſchen, auf die Gefahr hin, entweder zwiſchen zwei Feuer zu gerathen oder mit den ſpaniſchen Exal - tados gemeinſame Sache zu machen, mit den Geſinnungsgenoſſen der Pariſer Republikaner, der Feinde ſeines Hauſes? Wie viel klüger doch, wenn er verſuchte ſich den Oſtmächten zu nähern und alſo die Zukunft ſeiner Dynaſtie zu ſichern. Die Quadrupel-Allianz hatte er nur ungern unter behutſamen Vorbehalten, genehmigt, und für ihre Ausführung that er lediglich, was die liberale öffentliche Meinung gebieteriſch zu fordern ſchien. Gleich nach der Unterzeichnung geſtand er dem öſterreichiſchen Geſandten Apponyi: ganz wider Willen ſei er beigetreten, und niemals ſollten franzöſiſche Truppen den Boden Spaniens betreten. **)Brockhauſen’s Bericht, 20. Mai 1834.Er über - ließ der Regentin die algeriſche Fremdenlegion, die von den Basken bald aufgerieben wurde, und verſperrte den Carliſten die Pyrenäengrenze. Weiter wollte er durchaus nicht gehen. Nun, da er ſich endlich feſt im Sattel fühlte, leitete er die auswärtige Politik über die Köpfe ſeiner Miniſter hin - weg, nach eigenem Ermeſſen. Die mediterraniſchen Intereſſen der beiden Weſtmächte ließen ſich durch ſchöne Reden nicht in Einklang bringen, in Spanien wie im Oriente trat der natürliche Gegenſatz grell hervor, die gerühmte entente cordiale erkaltete ſichtlich.

Auch der alte Talleyrand, der den Londoner Hof jetzt gründlich kennen gelernt, ſagte zu Ludwig Philipp: die britiſche Allianz hat ihre Dienſte gethan, wir haben von England nichts mehr zu erwarten als die Revo -508IV. 8. Stille Jahre.lution. *)Maltzan’s Bericht, 3. Juni 1835.Als Thiers in lärmender Rede verlangte, Frankreich müſſe ſich überall mit conſtitutionellen Staaten umgeben, da war der König über ſeinen kriegsluſtigen Miniſter kaum minder entrüſtet als Ancillon, der zornig ausrief: dieſer Menſch hat von Neuem das Banner der Propa - ganda aufgepflanzt! **)Ancillon, Weiſung an Brockhauſen, 18. Dec. 1834.Ludwig Philipp ruhte nicht, bis Thiers beſeitigt war, und ließ nachher durch ſeinen Kronprinzen dem Wiener Hofe ver - ſichern: ſelbſt wenn er noch zwanzig Miniſterwechſel überſtehen müßte, würde er ſich doch nicht in das ſpaniſche Abenteuer ſtürzen. Je dreiſter die Radicalen in Madrid ihr Haupt erhoben, um ſo höher ſtieg ſein Miß - trauen gegen die Criſtinos und ihre engliſchen Gönner. Metternich hielt ihn ſchon für ganz bekehrt und ließ in den Tuilerien vertraulich anfragen, ob es nicht endlich an der Zeit ſei, das ſaliſche Geſetz und Don Carlos offen anzuerkennen. ***)Maltzan’s Bericht, 31. Mai 1836.Auch die Geſandten der Kleinſtaaten, die in der großen Politik immer nur läuten, aber nicht zuſammenſchlagen hörten, ſagten jetzt mit gewichtiger Amtsmiene: Ludwig Philipp iſt bekanntlich für Don Carlos. †)So der hannöverſche Geſandte v. Münchhauſen in Berlin (Bericht v. 28. Sep - tember 1837).Einen ſolchen Geſinnungswechſel konnte der Thron - räuber freilich nicht wagen; indeß bemühte er ſich angelegentlich um das Vertrauen der beiden deutſchen Großmächte. Er begann mit Metternich einen geheimen Briefwechſel und betheuerte, nicht immer ſehr würdevoll, ſeine guten Abſichten, wofür ihn der Oeſterreicher mit weiſen Ermahnungen belohnte. Ich will nichts von Herrn Thiers wiſſen, ſagte er zu dem öſterreichiſchen Geſchäftsträger Hügel, nichts von dieſen amerikaniſchen Ideen, welche Europa vergiften; wenn mich nur Preußen und Oeſterreich kräftiger unterſtützten, ſo könnte ich viel mehr für die Sache der Ordnung thun. Die Diplomaten ſahen bald, wie merklich dieſe commérage poli - tique der beiden alten Herren auf die Geſinnungen des Bürgerkönigs ein - wirkte, und Ancillon freute ſich herzlich, daß Ludwig Philipp an Metternich einen ſolchen politiſchen Prediger gefunden habe: ein wohlthätiges Phä - nomen in der Geſchichte der Diplomatie! ††)Berichte von Maltzan, Sept. 1837; von Werther, 18. Oct.; Ancillon an Maltzan, 10. Febr. 1837.

In Wien und Berlin wurden die Betheuerungen der Orleans mit herablaſſendem Wohlgefallen aufgenommen, ſie verſtärkten nur den Un - willen über Palmerſton’s ruheloſes Wühlen. Während man in Frankreich die Staatsgewalt zu befeſtigen ſucht meinte Ancillon betreibt man in England offen, ohne Scham und Reue, die Revolution. Als Palmerſton einmal (1835), in einem Augenblicke der Verlegenheit verſuchte, ſich durch die Vermittlung des Königs Leopold von Belgien den deutſchen Mächten509Niederlage des Carlismus.anzunähern und deren Argwohn gegen Rußland aufzuſtacheln, da erfuhr er die ſchnödeſte Zurückweiſung. Wenn Palmerſton an meine Thür klopft, ſagte Metternich höhniſch, dann muß er in den letzten Zügen liegen. *)Ancillon an Maltzan, 17. Aug.; Maltzan’s Bericht, 12. Juni 1835.Nur einem Tory-Cabinet wollten die deutſchen Mächte Vertrauen ſchenken; aber die Torys gelangten nur einmal, im Herbſt 1834, auf wenige Mo - nate ans Ruder, ohne die engliſche Politik in andere Bahnen leiten zu können. Palmerſton behauptete ſich in der Herrſchaft, und ſeit er in ſeinen Reden den Bund der freien Nationen verherrlichte, trugen ihn die Wellen der Volksgunſt.

Alſo von England mit Eifer, von Frankreich nur lau unterſtützt, er - rangen die Criſtinos erſt im Jahre 1839 entſcheidende Erfolge. Elende Ränke und Zwiſtigkeiten hatten die Kraft der Carliſten längſt geſchwächt, da wurde Don Carlos durch den Verrath eines ſeiner Generale gezwungen, nach Frankreich zu flüchten, wo er in Bourges, dem Wohnſitze des grol - lenden legitimiſtiſchen Adels, ſeinen feierlich ſteifen Hofhalt aufſchlug. Noch ein Jahr lang ſuchte der wilde Cabrera, dem die Criſtinos die Mutter erſchoſſen hatten, den Krieg hinzuhalten; jedoch das Baskenvolk war er - ſchöpft von dem ungleichen Kampfe, weithin durch die Berge klang der Ruf Paz y fueros. Die Regentin entſchloß ſich endlich, die Sonderrechte der baskiſchen Provinzen zu beſtätigen, und nunmehr wurde die Herrſchaft der jungen Königin Iſabella im ganzen Lande anerkannt. Aber dies neue Königthum blieb unrechtmäßig von Haus aus denn die Rechtsgründe der Criſtinos wogen ſehr leicht und konnte niemals auf die Empfindung angeſtammter Treue zählen. Das alte Spanien war vernichtet, ein neues nicht begründet. Der Carlismus ſchlummerte, todt war er nicht. Von der verheißenen Glückſeligkeit des conſtitutionellen Lebens zeigte ſich keine Spur. Das Heer war durch Parteiung zerriſſen, die Verwaltung durch - aus verderbt. In den Cortes tobte die Aemterjagd, am Hofe rangen die Geſandten Englands und Frankreichs um die Herrſchaft. Wie die Spa - nier einſt für die Idee des katholiſchen Weltreichs ſich faſt verblutet hatten, ſo boten ſie jetzt wieder den entſetzlichen Anblick einer lediglich politiſiren - den Nation. In dem wüſten Gezänk der Parteien ging alle Kraft dieſes verſchwenderiſch begabten Volkes auf; für Kunſt, Forſchung, Volkswirth - ſchaft, für alle ſchöpferiſche Cultur blieb nichts übrig. Erſt nach Jahr - zehnten ſollten ſich die ſchwachen Anfänge eines geſünderen Volkslebens zeigen.

Was mit dieſem unheilvollen Kriege irgend in Berührung kam ver - fiel nothwendig dem Fluche der Unwahrheit. Auch die Politik der Oſt - mächte blieb davon nicht frei; immerhin verfuhren ſie ehrlicher, ruhiger als die Weſtmächte. Sie ſtanden mit ihren Wünſchen auf Don Carlos Seite, nicht blos weil er der legitime König war, ſondern auch weil ſie noch immer auf einen Weltkrieg gefaßt ſein mußten und für dieſen Fall510IV. 8. Stille Jahre.nur auf die Bundesgenoſſenſchaft eines carliſtiſchen Spaniens zählen konnten. In Berlin ſprach ſich der Kronprinz beſonders lebhaft für Don Carlos aus; ſein Vertrauter Oberſt Radowitz vertheidigte das legitime ſpaniſche Thronfolgerecht in einer Flugſchrift. Da Palmerſton überdies den ſpaniſchen Krieg von vornherein als einen Kampf der Revolution gegen das Fürſtenrecht anpries, ſo blieb den drei Mächten kaum eine Wahl. Sie riefen ihre Geſandten aus Madrid ab zum ſchweren Schaden für die armen Weber des Rieſengebirges, die in Spanien ein wichtiges Abſatz - gebiet verloren; ſie verboten dem Könige von Belgien, Werbungen für die Criſtinos zuzulaſſen; jedoch eine förmliche Anerkennung Karl’s V. wagten ſie nicht auszuſprechen, weil ſie als Landmächte nicht ohne Frankreichs Bei - hilfe eine Einmiſchung verſuchen konnten. Auf eine völlige Umkehr Ludwig Philipp’s hoffte man am Berliner Hofe nicht; man kannte ſeine bedrängte Lage und wußte, daß er die nationale Eitelkeit in dem Glauben erhalten müſſe, als ob Frankreich eine Art friedlicher Dictatur ausübe. *)Ancillon an Brockhauſen, 14. Juli 1834.Um ſo mehr erwartete man von den Waffenerfolgen der Carliſten; denn Don Carlos Agenten, die an allen deutſchen Höfen ihr Weſen trieben, hatten dort überall die Meinung erweckt, daß der legitime König auf die unge - heure Mehrheit der Nation rechnen dürfe. Nach jedem Siege der Basken berieth man insgeheim, ob man nicht jetzt den König Karl anerkennen ſolle, um ſchließlich immer wieder zu beſchließen, daß man erſt ſeinen Ein - zug in Madrid abwarten müſſe. So lief denn Alles hinaus auf einen unfruchtbaren Depeſchenwechſel. Als die engliſche Regierung ſich einmal unterſtand, dem Berliner Hofe die Legitimität der Königin Iſabella zu erweiſen, wurde ſie durch ein gründliches Gutachten des Berliner Aus - wärtigen Amts ſiegreich widerlegt. **)Memorandum on Spain, begutachtet durch Frhrn. v. Miltitz, 19. März 1839.Ancillon fühlte ſich bei dieſen Wort - gefechten wie der Fiſch im Waſſer. Unaufhaltſam predigte er dem Tuilerien - hofe in lehrhaften Noten ſeine Weisheit; er ſcheute die ſtärkſten Ausdrücke nicht, aber den Ton des Popilius ſo geſtand er ſelbſt wollte er auf keinen Fall anſchlagen. ***)Ancillon an Brockhauſen, 23. April 1835.

Keiner unter den drei verbündeten Monarchen zeigte ſich gegen Don Carlos ſo kühl wie Czar Nikolaus. Sein Haß galt noch immer dem Straßenkönig und dem Bluſenkönig , wie er die beiden Gewalthaber in Paris und Brüſſel zu nennen liebte; nach wie vor hoffte er auf einen Weltkrieg, der alle Schöpfungen der Juli-Revolution mit Stumpf und Stiel vertilgen ſollte. Neben dieſen großen Entwürfen erſchien ihm die ſpaniſche Bewegung kaum der Beachtung werth. Für Don Carlos habe ich nur Eiſen, aber kein Gold, ſagte er hochmüthig. †)An dieſe allen Höfen wohlbekannte Aeußerung des Czaren erinnert Maltzan in ſeinem Berichte vom 14. Jan. 1837.Als echter Sohn des511Die Oſtmächte und Don Carlos.Hauſes Holſtein-Gottorp hatte er aber auch bei dieſen legitimiſtiſchen Kraft - reden ſeine Hintergedanken. Die Schirmherrſchaft über den Sultan, die ſich Rußland durch die Verträge von Adrianopel und Hunkiar-Iskeleſſi errungen hatte, gerieth ſchon ins Wanken; die engliſche Diplomatie gewann am Bosporus wieder Boden, und der Czar wollte den gefährlichſten Gegner ſeiner orientaliſchen Pläne nicht ohne Noth aufreizen. Deshalb berührte er die ſpaniſchen Händel nur ungern, und Metternich konnte gar nicht begreifen, warum Nikolaus das britiſche Cabinet, die ſchlechteſte aller ſchlechten Regierungen ſo rückſichtsvoll, ja zärtlich behandelte. *)Maltzan’s Bericht, 26. Dec. 1835.

Unter ſolchen Umſtänden vermochte Don Carlos nicht einmal eine erhebliche Geldunterſtützung von den drei Monarchen zu erlangen. Die Liberalen freilich glaubten ſteif und feſt, daß der Krieg der Carliſten weſent - lich mit dem Gelde der Oſtmächte geführt würde; zumal die Oeſterreicher erzählten ſich Wunderdinge von den ungeheuren Summen, die alljährlich nach den Pyrenäen abſtrömen ſollten. Nichts konnte irriger ſein. Selbſt König Friedrich Wilhelm, der ſtreng carliſtiſch geſinnt und über die Lau - heit ſeines Schwiegerſohnes ſehr ungehalten war, weigerte ſich entſchieden, die Bürgſchaft für eine carliſtiſche Anleihe zu übernehmen, wie der alte franzöſiſche Legitimiſt Blacas ihm vorſchlug; ſo offen ſollte ſein Staat nicht Partei nehmen. **)Lottum, im Namen des Königs, an Ancillon, 23. April 1834.Erſt nach langem Bitten erklärte er ſich zu einer Baarzahlung bereit, die allenfalls als ein Almoſen oder als ein Beweis perſönlicher Freundſchaft betrachtet werden konnte. Auf ſeinen Befehl mußte die Seehandlung in tiefem Geheimniß nach und nach insgeſammt 473,624 Thlr. 8 Sgr. zu einem beſonderen Zweck unverzinslich vor - ſchießen; die Gelder gingen, zum Theil durch Metternich’s Vermittlung, als Geſchenk an Don Carlos ab und wurden nachher aus dem Staats - ſchatz erſetzt. ***)Cabinetsordres an Rother, 25. Nov. 1836, an Lottum, 11. Aug. 1838. Rother an Lottum, 5. März 1838.Die Summe war ſehr hoch für einen knappen Staats - haushalt, der mit 51 Mill. jährlich ſeine regelmäßigen Ausgaben beſtreiten ſollte, aber lächerlich gering als Beihilfe zu einem ſiebenjährigen Kriege, welcher ſogar die Juwelenſchätze der ſpaniſchen Klöſter erſchöpfte. Nachher zahlten auch die Hofburg und, nach langem Sträuben, ſelbſt Czar Niko - laus, aber Beide gaben nur etwa ebenſo viel wie der König von Preußen, ſo daß die geſammten Spenden der drei Höfe ſich auf 4 Mill. Franken belaufen mochten. Dabei blieb es. Größere Zahlungen erlaubte der Zuſtand der preußiſchen Finanzen nicht mehr, und kleine Summen wollte man nicht geben, weil man jetzt ſchon aus ſchmerzlicher Erfahrung wußte, daß dieſe regelmäßig in den Taſchen der carliſtiſchen Granden verſchwan - den. Nach der Niederlage der Carliſten wurde in der Berliner vornehmen Welt noch einmal für die Trümmer des geſchlagenen Heeres geſammelt;512IV. 8. Stille Jahre.Prinz Karl und die Miniſter Wittgenſtein, Rochow, Werther betheiligten ſich, doch der Ertrag bezifferte ſich nur auf 1100 Thaler. *)Berliner Berichte der hannöverſchen Geſandten v. Münchhauſen, 28. Sept. 1837, v. Berger, 30. Oct. 1839.Bedeutende Zahlungen leiſtete unter ſämmtlichen Monarchen allein König Karl Albert von Sardinien, der ſich als der eifrigſte aller Legitimiſten gebärdete und überdies durch ſeine dynaſtiſchen Intereſſen mit Don Carlos verbunden war. Die Oſtmächte thaten nur nothdürftig was der Anſtand zu for - dern ſchien. Indeß dieſe ſchwächliche Hilfe genügte, um ihre Geſinnungen zu verrathen; und als der Carlismus am Boden lag, da jauchzte die libe - rale Welt: die Heilige Allianz ſei durch den Bund der vier freien Nationen aufs Haupt geſchlagen.

So trat der feine und ſcharfe Gegenſatz, der ſeit der Juli-Revolution die preußiſche von der ruſſiſchen Politik trennte, in allen Fragen erkenn - bar hervor. Die perſönliche Freundſchaft der beiden Höfe blieb dabei unverändert. Im Herbſt 1834 ging Prinz Wilhelm nach Petersburg, um der Einweihung der Alexanderſäule beizuwohnen; gleich darauf kam der Czar mit ſeinem Thronfolger nach Berlin, wo er, im ſchlichten Rock die Straßen durchwandernd, durch Leutſeligkeit und reiche Einkäufe die Laden - beſitzer entzückte. Seinen Schwiegervater überſchüttete er mit den gewohn - ten zärtlichen Schmeicheleien und beredete ihn zu einem ſeltſamen thea - traliſchen Unternehmen, das der Quadrupel-Allianz die unverbrüchliche Freundſchaft Preußens und Rußlands handgreiflich vor die Augen ſtellen ſollte. Im September 1835 bezogen die ruſſiſchen und einige tauſend Mann preußiſcher Truppen ein gemeinſames Lager bei Kaliſch; ein ruſſi - ſches Corps kam zu See nach Danzig um durch Weſtpreußen nach der polniſchen Grenzſtadt zu marſchiren, und die Danziger ließen am Eingange ihres ſchönen Rathskellers neben dem Artushofe das lebensgroße Conterfei eines acht Fuß langen moskowitiſchen Tambourmajors abmalen, der den Europäern die Größe des Czarenreichs veranſchaulichen mußte. In Kaliſch ging es hoch her. Kaiſer und Kaiſerin empfingen den König mit kindlicher Ehrfurcht, Nikolaus küßte ihm wiederholt die Hände und die Aermel. Tſcherkeſſen und Koſaken zeigten ihre barbariſchen Reiterkünſte, ein ruſ - ſiſches Grenadierregiment verſtand ſogar den Parademarſch hüpfend aus - zuführen; prächtige Schmäuſe und Feuerwerke wechſelten ab mit den kriege - riſchen Uebungen. Damit ſein Schwiegervater ſich ganz zu Hauſe fühle, hatte der Czar die beſten Berliner Schauſpieler kommen laſſen, und als zum Schluß das Kaliſcher Schloß erſtürmt wurde, erſchien die Czarin in hellen Gewändern auf dem Altane um als Friedensengel dem Kampfe Einhalt zu gebieten.

Nachher wurde zu Ehren der Castra Calissiensia Russo-Borussica noch eine Denkmünze geſchlagen mit den Bildern der beiden Monarchen und513Das Lager von Kaliſch.zweier Ritter, welche die Fahnen der beiden Nationen trugen. Trotz alle - dem trat gerade bei dieſer Heerſchau grell zu Tage, daß die Verbrüderung der beiden Reiche lediglich auf dynaſtiſchen Gefühlen und politiſcher Be - rechnung, keineswegs auf den Neigungen der Völker beruhte. Recht be - friedigt waren von allen Preußen nur Oberſt v. Rauch, der Militär - bevollmächtigte in Petersburg, des Czaren erklärter Liebling, der fortan durch viele Jahre das Haupt der Ruſſenfreunde blieb, und der Herausgeber des Soldatenfreundes, der Schauſpieler Louis Schneider, ein glühender Verehrer des Czaren; der fühlte ſich ſelig, als Nikolaus dem königlich preußiſchen Unteroffizier Leontin Abrahamowitſch Schneider eine Voll - macht zur Beſichtigung der Lagers gegeben hatte, und ſendete der Staats - zeitung bedientenhafte Berichte über die moskowitiſchen Herrlichkeiten. Die Anderen im Stillen auch der König ſelbſt fühlten ſehr lebhaft, daß dies nutzloſe militäriſche Gepränge ein politiſcher Fehler war. Eine ſo innige Freundſchaft, wie ſie hier zur Schau getragen wurde, kann zwiſchen unabhängigen Staaten nur während eines gemeinſamen Krieges, im Frieden niemals beſtehen. Da Preußen nach der Meinung der Welt der ſchwächere Theil war, ſo ſetzte es ſich der üblen Nachrede aus, daß der Czar in Berlin gebiete. Die liberale Preſſe ſäumte nicht dieſe Schwäche auszubeuten. Zu - gleich erging ſie ſich in pathetiſchen Klagen über die unſinnige Verſchwen - dung der nordiſchen Despoten; wußte man doch, daß ſelbſt Fürſt Wittgen - ſtein geäußert hatte, ſolche Paradefeſte gehörten in die Zeit Auguſt’s des Starken, nicht in die Gegenwart. Daß der König die außerordentlichen Koſten auf ſeine Chatoulle übernahm, blieb den Zeitungen unbekannt.

Den preußiſchen Offizieren ward nicht wohl bei den beharrlichen Freundſchaftsverſicherungen des Czaren, der ihnen immer wieder betheuerte: Sie glauben gar nicht wie glücklich ich mich unter Ihnen fühle. Nur zu gut war ihnen bekannt, welche brutale Härte dieſer Liebenswürdige unterweilen zeigen konnte, und ſie rühmten gern, wie freimüthig ihr General Wrangel kürzlich den tapferen General Karl Noſtitz und deſſen Koſaken gegen den ſchimpfenden Kaiſer in Schutz genommen hatte; das ſei ein ungerechter Tadel, hatte der Preuße geſagt, einen ſolchen kurzen Paradegalopp dürfe man ungeſchulten Steppenpferden nicht zumuthen. Sie wollten ſich auch kein Herz faſſen zu dieſen ruſſiſchen Kameraden, die ent - weder aller Cultur entbehrten oder durch franzöſiſche Salonbildung glänzten. Sie bemerkten bald die mangelhafte Bewaffnung, die elende Verpflegung, die unmenſchliche Mannszucht in vielen ruſſiſchen Regimentern, und ob - wohl ſie ſich ſelbſt in der langen Friedenszeit an manche unlebendige Manövrirkünſte gewöhnt hatten, ſo ſahen ſie doch mit Verwunderung, wie der Czar jede Bewegung der kämpfenden Truppentheile Zug um Zug ſelber leitete, ſeine Generale nur die überbrachten Befehle mechaniſch weitergaben. Noch weniger konnte ſich ein kameradſchaftliches Verhältniß zwiſchen den Mannſchaften bilden, obgleich die preußiſchen Garden beimTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 33514IV. 8. Stille Jahre.Einmarſch von den ruſſiſchen umarmt und nach der widerlichen ſlaviſchen Sitte abgeküßt wurden: hier junge Männer aus allen Ständen der Nation, dort alte Soldaten, meiſt ausgehoben aus jenen zweifelhaften Schichten der Geſellſchaft, welche von den Behörden für entbehrlich erklärt wurden, und dazu die Verſchiedenheit der Sprache, der Lebensgewohnheiten, der Ehrbegriffe. Als die Preußen von Kaliſch über die nahe Grenze zurück - kehrten, hatten ſie das volle Gefühl der Ueberlegenheit; die Offiziere ver - bargen ihren Widerwillen kaum, und manche fragten bitter: warum man ſie gerade hier habe Gaſtrollen geben laſſen, in dieſer vormals preußiſchen Stadt, wo noch am Kadettenhauſe und anderen öffentlichen Gebäuden die leicht übertünchten Namenszüge zweier preußiſchen Könige zu leſen ſtanden?

Die politiſche Haltung der beiden Mächte wurde durch dies Ver - brüderungsfeſt nicht verändert. Während Nikolaus den Bürgerkönig nach wie vor mit ausgeſuchter Ungezogenheit behandelte, befeſtigte ſich Friedrich Wilhelm mehr und mehr in der Ueberzeugung, daß man mit den neuen franzöſiſchen Zuſtänden nüchtern rechnen müſſe. Seit den Münchengrätzer Verhandlungen bezweifelten die kleinen deutſchen Höfe nicht mehr, daß Preußen feſt entſchloſſen war, nur einen deutſchen Krieg, niemals einen legitimiſtiſchen Principienkrieg zu führen. *)Frankenberg’s Bericht, 10. Oct. 1833.Wahre Achtung konnte der Thronräuber zu Berlin freilich nicht finden, in den vertraulichen Schreiben der preußiſchen Diplomaten wurde er immer nur Ludwig Philipp, faſt nie - mals König genannt. Aber er war am Ruder; ſo lange er herrſchte, ſchienen Ordnung und Frieden geſichert. Platen ſprach nur die allge - meine Meinung der gemäßigten Parteien aus, da er ſang:

Viel hangt an ihm. Nie war ſo heilig
Irgend ein fürſtliches Haupt als ſeins iſt.

Die conſervative Geſinnung des Bürgerkönigs ließ wenig zu wünſchen übrig. Man wußte in Berlin und Wien ſehr genau, wie abſichtlich er die ewigen Miniſterwechſel des Parlamentarismus beförderte um alſo alle Staatsmänner zu vernutzen und den Franzoſen ſeine eigene Unentbehr - lichkeit zu erweiſen. **)Graf Maltzan’s Bericht, 21. März 1837.Seit Fieschi ſeine Höllenmaſchine gegen Ludwig Philipp gerichtet hatte, bekannte ſich der König offen zu der Politik des Widerſtandes und ließ durch die Septembergeſetze die Partei der Be - wegung ſtreng darnieder halten. So ſcharf war ſeit Napoleon keine franzöſiſche Regierung gegen die Unruheſtifter eingeſchritten; denn jene Blutthat erſchien nicht nur ſchreckhaft durch ihre damals beiſpielloſe, heute freilich längſt überbotene Roheit; ſie bewies auch, daß die Radicalen nicht den Monarchen perſönlich, ſondern das Königthum ſelbſt auf Tod und Leben bekämpften. Und wie haltlos, wie blaſirt, wie unfähig zum Widerſtande gegen neue Revolutionen zeigte ſich die Pariſer Geſellſchaft515Preußen und die Orleans.Angeſichts eines ſolchen Verbrechens! In Schaaren ſtrömten die ſkan - dalſüchtigen Großſtädter herbei um für zwei Franken Eintrittsgeld eine häßliche Dirne zu betrachten, die ſich als Geliebte des Banditen Fieschi öffent - lich zur Schau ſtellte.

Unter ſo unheimlichen Eindrücken ward Ludwig Philipp von Tag zu Tag beſorgter und hörte bereitwillig auf die Rathſchläge Metternich’s, der ihm außer den üblichen ſalbungsvollen Ermahnungen unterweilen auch eine treffende Bemerkung ſagte. Einmal fragte ihn der Oeſterreicher, ob er denn nicht ſehe, daß in Frankreich eine neue Klaſſenherrſchaft ent - ſtanden ſei; wenn die Mittelklaſſe ſelbſt regiere, dann höre ſie eben auf der Mittelſtand zu ſein. *)Maltzan’s Bericht, 21. Mai 1837.Für Europa wünſchte der Bürgerkönig nichts ſehnlicher als die Wiederherſtellung des alten Aachener Fünferbündniſſes, das ſeine Dynaſtie nach beiden Seiten hin gedeckt hätte, und in dieſem Wunſche begegnete er ſich mit der Friedensliebe Friedrich Wilhelm’s. **)Maltzan’s Bericht, 26. März 1836.Aber wie ließ ſich an einen Bund der fünf Mächte denken, ſo lange der Czar ſeine Schmähungen gegen das Julikönigthum, Palmerſton ſeine revolutionären Brandreden fortſetzte? Rußland und England waren die Friedensſtörer. Am meiſten empörte den König von Preußen, daß der Londoner Hof unter der Hand unternahm, Oeſterreich zu den Weſtmächten hinüberzuziehen; er ver - langte und erreichte die Abweiſung dieſer Verſuche, damit den Prahlereien des engliſchen Miniſteriums ein für allemal ein Ende gemacht werde . ***)Randbemerkung des Königs zu Maltzan’s Bericht v. 1. Mai 1836.England gab er für jetzt preis; mit Frankreich aber wollte er in ehrlicher Freundſchaft leben ſo lange dort eine geordnete Regierung beſtände.

Noch immer ſtanden die Orleans in der großen Familie der euro - päiſchen Fürſten wie Geächtete da; nur mit dem Coburger in Brüſſel unterhielten ſie geſelligen Verkehr. Bei mehreren Höfen hatte Ludwig Philipp ſchon vergeblich um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger ge - worben; überall waren ihm Rußlands Drohungen in den Weg getreten, und er klagte nachher: der Czar hat meine Familie zu einer thatſäch - lichen Caſtration verdammen wollen. †)Maltzan’s Berichte, Sept. 1837.Friedrich Wilhelm ſah ein, daß dieſer Zuſtand nicht dauern durfte; nachdem man die Orleans einmal anerkannt, mußte man ihnen auch die geſellſchaftliche Stellung einräumen, welche der Krone Frankreichs gebührte. Er erklärte ſich alſo gern bereit, die jungen franzöſiſchen Prinzen in ſeinem Schloſſe zu empfangen, und nach - dem Metternich im Jahre zuvor den unwillkommenen Beſuch unter aller - hand Vorwänden noch glücklich abgewendet hatte, unternahm der Herzog von Orleans mit ſeinem Bruder Nemours im Mai 1836 die Reiſe an die beiden großen deutſchen Höfe. Der Kronprinz von Preußen ſchrieb verzweifelnd: das iſt ſo ſchwer für mich, daß ich weinen möchte. Sein33*516IV. 8. Stille Jahre.Vater aber beſtand darauf, daß der Anſtand ſtreng gewahrt wurde, und kam den Gäſten mit väterlicher Güte entgegen. Die Berliner jubelten, weil die Zeitungen ſo viel Herrliches von dem freien Frankreich erzählten. Selbſt Ancillon, den der König zu den geheimen Vorverhandlungen nicht zugezogen hatte, machte gute Miene zum böſen Spiele und verſicherte dem Wiener Hofe, die jungen Herren hätten manches Vorurtheil entwaffnet. *)Ancillon an Maltzan, 26. Mai 1836.

In der That benahm ſich der franzöſiſche Thronfolger als ein liebens - würdiger, gebildeter, verſtändiger Mann; er gefiel, obwohl man ſeinen lauernden Augen die Falſchheit der Orleans anmerkte. Noch immer die Hoffnung der Kriegspartei, hatte er doch den prahleriſchen Ton des Na - tionalgardiſten ſchon längſt abgelegt und bewegte ſich in gemeſſenen höfiſchen Formen, in fürſtlicher Haltung; auf dem gefährlichen Berliner Boden ließ er ſich gern durch Al. Humboldt leiten. Beim Abſchied von dem Könige ſchien er tief gerührt: mein Vater, rief er aus, hat mir befohlen, nicht heimzukehren ohne die wohlthätige Hand geküßt zu haben, die zwanzig Jahre lang der Welt den Frieden bewahrt hat. In Wien war der Empfang viel kühler; die Erzherzöge hielten ſich zurück, ein Theil des hohen Adels hatte die Stadt verlaſſen. Auf den Feſten verriethen ſich unverkennbar Steifheit, Verlegenheit, ſchlechte Laune, die Fürſtin Metternich trug ihre legitimiſtiſche Geſinnung mit gewohnter Hoffart zur Schau. **)Maltzan’s Bericht, 25. Juni 1836.Dem ungeachtet wagte der Herzog von Orleans um die Hand der Erz - herzogin Thereſe, der Tochter des Erzherzogs Karl anzuhalten und empfing eine höfliche Abſage. Der greiſe Feldherr ſelbſt hätte gern eingewilligt, war er doch niemals ein Feind Frankreichs geweſen. Aber der geſammte übrige Hof erklärte ſich dawider, und nicht blos aus legitimiſtiſchem Stolze; die öſterreichiſchen Heirathen galten in Frankreich von Alters her für unheilvoll, und mit gutem Grunde glaubte Metternich, eine ſolche Familien - verbindung könne den Julithron eher erſchüttern als ſtützen.

Ueber dieſen Mißerfolg zeigte ſich Ludwig Philipp dermaßen aufge - bracht, daß man in Berlin ſchon zu fürchten begann, er werde ſich von den deutſchen Mächten abwenden und wieder in das Fahrwaſſer der revo - lutionären Propaganda einlenken. Darum entſchloß ſich König Friedrich Wilhelm, wieder ohne Ancillon’s Vorwiſſen, dem franzöſiſchen Thronfolger eine Gemahlin aus einem mindermächtigen, aber vornehmen, altfürſtlichen Hauſe zu verſchaffen; und als ihm der franzöſiſche Geſandte Breſſon von der anmuthigen Prinzeſſin Helene von Mecklenburg-Schwerin ſprach, über - nahm er ſofort ſelbſt die Vermittlung. Metternich fand nichts einzuwenden; er meinte höhniſch, dieſe Braut ſei politiſch völlig geruchlos (anodine). ***)Maltzan’s Berichte, Febr. 1837.Prinzeſſin Helene war die Schweſter von Friedrich Wilhelm’s Schwiegerſohne, dem lebensluſtigen, pracht - und kunſtliebenden Großherzog Paul Friedrich,517Die Heirath des Herzogs von Orleans.der ſoeben in Schwerin die Regierung angetreten hatte. Der Stolz des mecklenburgiſchen Hauſes, das ſchon fünf Königinnen unter ſeinen Töchtern zählte, ſträubte ſich lange. Da ließ der König ſeinem Schwiegerſohne durch Graf Lottum vorſtellen: ſeinen perſönlichen Gefühlen wolle er nichts vor - ſchreiben, aber die Heirath aus politiſchen Gründen auszuſchlagen, ſei ein Fehler; bis jetzt habe die Diplomatie mit Glück dahin gewirkt , Ludwig Philipp zu den conſervativen Mächten hinüberzuziehen; weiſe man die Werbung ab, ſo erbittere man ihn und noch mehr den reizbaren Thronerben, eben dies wünſchten die deutſchen und die polniſchen Revolutionäre. *)Lottum, Promemoria über die mecklenburgiſche Heirath, 28. Jan. 1837.Hier - auf wurde Miniſter Kamptz als Rechtsrath nach Schwerin geſendet, und wie gänzlich umgewandelt erſchien dort plötzlich dieſer geſtrenge Royaliſt, der ſich kürzlich für ſein altes Wappen die neue Deviſe: Regi et principio conservativo gewählt hatte. Der Befehl ſeines Königs und der Wunſch, dem angeſtammten mecklenburgiſchen Hauſe neuen Glanz zu verſchaffen, bezauberten ihn völlig. In einer vertraulich verbreiteten Schrift ſtellte er Rechtsſätze auf, die an ſich unhaltbar, in ſeinem Munde ganz unge - heuerlich klangen: er ſuchte die Quaſi-Legitimität der Orleans zu beweiſen, da Ludwig Philipp ein legitimes Thronfolgerecht beſeſſen habe, aber freilich noch nicht an der Reihe geweſen ſei.

Dawider erhob ſich der ehrliche alte Strelitzer Miniſter Aug. v. Oertzen. **)S. o. III. 571.Der weilte, auf den Tod erkrankt, in Berlin und konnte nicht ruhig ſterben, ehe er ſein Fürſtenhaus gewarnt hatte. Schon im Privatleben, ſagte er nach ſeiner patriarchaliſchen Weiſe, entſchließt man ſich nicht, den Genuß ſogenannter Glücksgüter zu theilen, wenn die Rechtmäßigkeit ihrer Erwerbung irgend zweideutig erſcheint. Er widerlegte die Behauptungen Kamptz’s in einer geharniſchten Denkſchrift, die er ebenfalls unter der Hand bei Hofe verbreiten ließ. Bisher, ſo äußerte er, haben Legitimität und Revolution nur neben einander beſtanden, ſie haben ſich gegenſeitig ge - duldet, und äußerlich mit einander Frieden gehalten; hinfort werden ſie ſich mit einander vermiſcht und vermählt haben. Daß des Königs Schwager bei dieſer Arbeit irgendwie betheiligt war, galt für ſicher; in der diplo - matiſchen Welt hielt man ihn ſogar für den eigentlichen Verfaſſer. Herzog Karl verhehlte ſeine Entrüſtung über den Heirathsplan nicht; er wäre in ſeiner Wuth bald zum Teufel gefahren, ſo meinte Wittgenſtein, der ſelber den Befehlen des Königs unbedingt folgte. Darauf antwortete Kamptz durch biſſige Anmerkungen , die ſich auf das Beiſpiel der Waſas, der Welfen, Wilhelm’s III., Napoleon’s beriefen und den Verfaſſer der Denkſchrift mit der äußerſten Geringſchätzung behandelten. ***) Bemerkungen , mecklenburgiſche Denkſchrift, mit Anmerkungen von Kamptz (lithographirt, Frühjahr 1837).Der Streit zwiſchen den höchſten Würdenträgern der Monarchie wurde ſehr ärgerlich. Herzog Karl518IV. 8. Stille Jahre.bekam die Ungnade des Königs lebhaft zu empfinden; er verlangte wieder einmal, wie ſo oft ſchon, ſeine Entlaſſung aus dem Staatsrathe, ein Bruch ſchien unvermeidlich, und nach Allem, was geſchehen, war es faſt ein Glück für ihn, daß er bald nachher erkrankte und ſtarb (Sept. 1837). Auch der Kronprinz beſtürmte ſeinen Vater mit Klagen. Czar Nikolaus ſetzte ebenfalls alle Hebel ein, er ſendete ſeinen Günſtling Oberſt Rauch nach Berlin und ließ in Schwerin die Prinzeſſin, ſeine Nichte, beſchwören, daß ſie von ihrem ausgeſprochenen Entſchluſſe abſtehen möge was Ancillon als einen unge - hörigen Eingriff in deutſche Angelegenheiten entſchieden zurückweiſen mußte. *)Münchhauſen’s Berichte, 21. Febr., 11. 12. April 1837.

Bei all dieſem Getöſe behielt der alte König ſeinen Gleichmuth; er blieb dabei, daß der europäiſche Friede ein ſolches Opfer verlange: eine preußiſche Prinzeſſin würde er den Orleans freilich nicht preisgegeben haben. Im Mai 1837 fand die Braut auf der Durchreiſe nach Paris im Potsdamer Schloſſe freundliche Aufnahme und gewann ſich an A. Hum - boldt einen Freund für das Leben. Im Juni wurde die Hochzeit gefeiert und zugleich in Verſailles das Muſeum à toutes les gloires de la France eröffnet, eine Sammlung, deren prahleriſche Schlachtenbilder zu dem fried - fertigen Weſen des Bürgerkönigthums allerdings wenig ſtimmten. Ludwig Philipp ſchwamm in Freuden, er ernannte ſeinen Geſandten Breſſon zum Pair; denn nunmehr war ſein Haus, Dank dem Könige von Preußen, feierlich in die Gemeinſchaft des europäiſchen Fürſtenſtandes aufgenommen. Er ſäumte auch nicht, ſeine Dankbarkeit durch Thaten zu bewähren. Im Jahre 1838 wurden die Franzoſen aus Ancona, die Oeſterreicher aus Ferrara zurückgerufen, und vorläufig ſchien jede Kriegsgefahr beſeitigt.

Die gleiche Mäßigung bewährte Friedrich Wilhelm auch bei den ſchwei - zeriſchen Händeln, die ſein Fürſtenthum Neuenburg noch immer beunruhig - ten. Nachdem ſieben demokratiſche Cantone einen Sonderbund zum Schutze ihrer neuen Verfaſſungen gebildet hatten, ſchloſſen die Neuenburger Roya - liſten mit fünf anderen conſervativen Cantonen den Sarnerbund um das alte Bundesrecht aufrecht zu erhalten. Der Streit verſchärfte ſich dergeſtalt, daß der Neuenburger Geſetzgebende Körper im Sommer 1833 beſchloß, beim Könige förmlich den Austritt aus der Eidgenoſſenſchaft zu beantragen. So war die Meinung der großen Mehrzahl der Gebildeten. Unter den Maſſen dagegen beſaß die ſchweizeriſche radicale Partei der ſo - genannten Patrioten ſchon ſtarken Anhang, und als ſie ſofort eine Gegen - petition veranſtaltete, fand ſie leicht einige tauſend Unterſchriften. Der König ließ dieſe Petenten kurz bedeuten, daß er nur in der Meinung der geſetzmäßigen Abgeordneten die Stimme des Volkes erkennen könne. Die Abgeſandten des Geſetzgebenden Körpers hingegen, an ihrer Spitze der feurige Royaliſt Baron Chambrier, wurden in Berlin ſehr freundlich aufgenommen, ſie zeigten dem Könige ein wahrhaft kindliches Vertrauen ,519Neuenburger Wirren.wie Ancillon gerührt erzählte. Friedrich Wilhelm war jedoch nicht gemeint, auf ihre leidenſchaftlichen Vorſchläge ohne Weiteres einzugehen; denn un - möglich konnte dies zwiſchen Frankreich und der Schweiz eingepreßte Jura - ländchen ſich als europäiſche Macht behaupten. Die preußiſche Regierung verkannte nicht, wie ſchwierig die Verhältniſſe des kleinen Fürſtenthums ſich geſtalten mußten, wenn der Radicalismus in der Schweiz auch ferner - hin überhandnahm und vielleicht bald eine feſtere Form der Bundeseinheit begründet wurde; aber ſie wußte auch, daß Neuenburg durch ſeine geo - graphiſche Lage wie durch eine althiſtoriſche Verbindung auf die Schweiz angewieſen war, und verfiel daher auf den Gedanken, ob ſie dem Ländchen nicht ſeine frühere Stellung in der Eidgenoſſenſchaft wieder ver - ſchaffen ſolle. Wenn Neuenburg wieder wie vormals ein zugewandter Ort der Schweiz wurde, ohne Stimmrecht auf der Tagſatzung, nur Geld und Truppen für die Eidgenoſſen ſtellte und dafür von dieſen militäriſch ge - ſchützt wurde, dann konnte die unheilvolle Reibung zwiſchen Royaliſten und Republikanern wahrſcheinlich beendigt werden.

Es war ein ſtaatsmänniſcher Gedanke, er bot vielleicht das einzige Mittel, um die unnatürliche Doppelſtellung des fürſtlichen Cantons noch für längere Zeit zu ſichern; er widerſprach jedoch der beſtehenden und von allen Großmächten verbürgten neuen ſchweizeriſchen Bundesverfaſſung. Darum fragte Ancillon bei den vier Mächten an, ob Preußen auf ihre Unterſtützung rechnen könne, falls die Schweiz ſich auf ſolche Verhand - lungen einließe. *)Ancillon, Weiſungen an Brockhauſen und Schöler, 22. Oct. 1833.Rußland erwiderte ſofort: in Allem, was der König über Neuenburg beſchließe, dürfe er ſich auf die Zuſtimmung des Czaren ver - laſſen. **)Schöler’s Bericht, 6. Nov. 1833.Metternich hingegen hegte Bedenken; er fand den Augenblick ungünſtig und wollte, getreu ſeiner kurzſichtigen conſervativen Politik, an den Verträgen von 1815 womöglich gar nichts ändern. ***)Brockhauſen’s Bericht, 28. Oct. 1833.Unter ſolchen Umſtänden war von den Weſtmächten auch keine Unterſtützung zu erwarten. Mittlerweile begann der Zank in der Schweiz nachzulaſſen; der Sarner - bund unterwarf ſich der Tagſatzung, die Radicalen vertagten vorläufig die Ausführung ihrer Bundesreformpläne. Der Friede ſchien zurückzukehren; der König gab den Plan auf und ſuchte ſeine Getreuen zu beſchwich - tigen, aber ſchon nach Jahresfriſt verlangte der Staatsrath von Neuen - burg wieder vergeblich das Verhältniß zur Schweiz müſſe geändert werden. †)Ancillon an Brockhauſen, 25. Sept. 1834.So ſchleppten ſich die Dinge hin. Die radicale Mehrheit der Tagſatzung konnte ſich mit den royaliſtiſchen Patriciern Neuenburgs ſchlechterdings nicht vertragen; immer wieder mußte der preußiſche Geſandte vermitteln und verſöhnen.††)Die Mémoires politiques des Neuenburger Patrioten Louis Grandpierre

520IV. 8. Stille Jahre.

Währenddem begannen die Machtverhältniſſe in der Allianz der Oſt - mächte ſich zu verändern durch den Tod des Kaiſers Franz (2. März 1835). Wenig genug hatte der alte Herr freilich geleiſtet in dieſen letzten Jahren, wo er, mißtrauiſch gegen ſich ſelber wie gegen Jedermann, alle Neuerungs - vorſchläge bei Seite zu ſchieben pflegte mit der gelaſſenen Bemerkung dar - über muß man ſchlafen. Aber die laufenden Geſchäfte erledigte er noch mit ſeiner gewohnten ſubalternen Emſigkeit. Er allein hielt die zahlreichen neben - und übereinander geſchichteten Centralbehörden dieſes unförmlichen Staates zuſammen; und obwohl er Metternich in der auswärtigen Politik, den Grafen Kolowrat in der inneren Verwaltung ziemlich frei gewähren ließ, ſo fiel doch keine ernſte Entſcheidung gegen ſeinen Befehl, der immer darauf hinauskam, daß ſchlechterdings nichts geändert werden dürfe. Was ſollte jetzt werden, da ſelbſt dieſe mechaniſch leitende und hemmende Kraft des monarchiſchen Willens fehlte? Der neue Kaiſer Ferdinand war grund - gutmüthig, fromm, wohlthätig, ehrlich, ſogar unterrichtet in einigen jener Wiſſenſchaften, welche mehr den Spieltrieb als den Wahrheitsdrang be - friedigen, jedoch ein armer, kaum zurechnungsfähiger epileptiſcher Kranker, zum Wollen wie zum Denken gleich unbrauchbar. Darum hatte man ſelbſt an dieſem Hofe, der doch an traurige Monarchen gewöhnt war, ernſtlich erwogen, ob ein ſolcher Unglücklicher regieren dürfe. Aber ſein Bruder Erzherzog Franz Karl beſaß, obwohl nicht krank, auch nur über - aus beſcheidene Fähigkeiten, und deſſen Sohn Franz Joſeph war noch ein kleines Kind. Ohne die Mitwirkung des ungariſchen Reichstags ließ ſich zudem weder eine Abdankung noch eine förmliche Regentſchaft durchſetzen; und wer ſollte unbotmäßigen Reichsſtänden ſo ſchwierige Fragen vorzulegen wagen? Eben in dieſen Jahren begann der magyariſche Adel ſeine na - tionale Bewegung: er wollte ſich ſelber die Herrſchaft über die deutſch - ſlaviſch-walachiſche Mehrheit der Bevölkerung Ungarns und zugleich der Stephanskrone die volle Selbſtändigkeit neben der Kaiſerkrone ſichern. Schon hatte er erreicht, daß die magyariſche Sprache, ſtatt des altge - wohnten neutralen Lateins, fortan im amtlichen Verkehre allein ange - wendet werden ſollte; und als der Palatinus Erzherzog Joſeph erkrankte, da beſchloß die Mehrheit der Abgeordneten zu Preßburg insgeheim, ge - gebenen Falles ſofort den Führer der ariſtokratiſchen Oppoſition, den Grafen Szechenyi zum Palatin zu erwählen. *)Maltzan’s Bericht, 8. Febr. 1836.

In ſolcher Lage ſchien es nicht rathſam, an der unbeſtreitbaren Erb - folgeordnung irgend zu rütteln. Der bedauernswerthe Thronfolger wurde von den Ungarn im Voraus als König Ferdinand V. gekrönt**)S. o. IV. 48. und beſtieg vier Jahre darauf den Kaiſerthron. Ein Anblick zum Erbarmen, wenn††)(Neuchatel 1877) ein mehr durch groben Parteihaß als durch Zuverläſſigkeit ausge - zeichnetes Buch geben über alle dieſe Verhältniſſe ſehr wenig Auskunft.521Kaiſer Ferdinand I. dieſe gebrechliche Geſtalt mit dem großen, blöde lächelnden Waſſerkopfe in die Runde der Hofgeſellſchaft eintrat und ſich, um ja Keinem den Rücken zuzuwenden, wie ein Kreiſel um ihre eigene Achſe drehte; dann faßte die Kaiſerin oder ein Hofwürdenträger den Kaiſer am Frackſchoß und führte ihn zu einigen der anweſenden Fremden, denen er ein paar unverſtänd - liche Worte zuraunte. Als man den Armen gar nöthigte, die herkömm - lichen öffentlichen Audienzen zu halten, da ſagte bald ſelbſt der gemeine Mann in Wien, der gute Nandl ſei ein Trottel. Ein Glück nur, daß der neue Kaiſer nichts unterzeichnete, was ihm nicht ſeine beſtallten ober - ſten Räthe vorlegten; dieſe Regel hatte man ihm beigebracht, und er hielt redlich daran feſt, bis auf einen einzigen, ſogleich bereuten Ausnahmefall.

Ein ſolcher Thronwechſel erinnerte an die Zuſtände des byzantiniſchen Reichs. Metternich aber verſicherte dem preußiſchen Hofe erhaben: Alles bleibe unverändert, Oeſterreichs großartige Ruhe ſei eine Lehre für alle vom Fortſchritt gepeinigten Völker;*)Brockhauſen’s Berichte, 4. 9. März 1835. niemals ſollten ihm die revolutionären Leidenſchaften, die er jetzt gern mit einer ſiebenten Metapher als moraliſche Cholera bezeichnete, dies Reich des Friedens verheeren. Ancillon ſtimmte ihm wie gewöhnlich zu und verſtieg ſich in ſeinem unterthänigen Eifer ſogar zu einer hiſtoriſchen Vergleichung, deren Verwegenheit der arme Ferdinand ſelbſt wohl am wenigſten verſtehen konnte; er meinte, von dem öſterreichiſchen Staatsſchiffe könne man ſagen: es trägt den Cäſar und ſein Glück. **)Ancillon an Brockhauſen, 16. März 1835.Der König war im Stillen ſehr beſorgt und ſendete ſofort ſeinen Sohn den Prinzen Wilhelm zu dem neuen Kaiſer, um alſo die Feſtigkeit des Bundes der Oſtmächte vor der Welt zu bekunden. In Wien wurde der Prinz bei Hofe wie im Volke auf’s wärmſte begrüßt, und er täuſchte ſich nicht über die Gründe dieſer Zärtlichkeit. Offener und glänzender ſo ſchrieb er aufrichtig konnte wohl es nicht ausgeſprochen werden, daß, wenn ſelbſt ſolcher Herr Kaiſer ſei, alle Verhältniſſe zu ihm unverändert bleiben würden. In den kurzen Tagen des Wiener Aufenthalts bemerkte er mit ſeinen hellen Soldatenaugen ſogleich, welche Gefahren dem kaiſer - loſen Staate drohten, und ſeine Befürchtungen fanden durch die Geſandt - ſchaftsberichte volle Beſtätigung. Nach dem Tode des Freiherrn von Maltzahn wurde die preußiſche Geſandtſchaft faſt zwei Jahre lang von dem Frei - herrn v. Brockhauſen vorläufig verwaltet, bis im Mai 1835 der neue Ge - ſandte Graf Maltzan ankam, ein geiſtreicher Mann, der in Hannover, Darmſtadt und an anderen kleinen Höfen die deutſchen Verhältniſſe gründ - lich kennen gelernt hatte. Beide Diplomaten zählten zu den conſervativen Freunden Oeſterreichs, aber ſie beobachteten ſcharf und vergaben der Ehre ihres Staates nichts. Beide meldeten übereinſtimmend, welche heilloſe Verwirrung in der Hofburg herrſchte.

522IV. 8. Stille Jahre.

Obgleich Kaiſer Franz den Zuſtand ſeines Sohnes richtig würdigte, ſo konnte er ſich doch niemals entſchließen, eine bindende Vorſchrift für die Formen der künftigen Regierung zu geben. Die Wiener freuten ſich auf ſein Teſtament, wie die Kinder auf den Weihnachtsbaum. Sie äußer - ten laut ihre Enttäuſchung, als ſie endlich blos die väterlichen Worte zu leſen bekamen: Meine Liebe vermache ich Meinen Unterthanen; und wer den Reichthum des kaiſerlichen Herzens gekannt hatte, konnte dieſem Vermächtniß allerdings nur einen beſcheidenen Werth beilegen. Noch pein - licher überraſcht waren die Staatsmänner, da ſich in dem Teſtamente nur einige ganz allgemein gehaltene politiſche Lehren vorfanden, obenan natür - lich der bewährte Grundſatz: regiere und verändere nicht. Im Einzelnen wurde dem Thronfolger lediglich anempfohlen, daß er ſich an den Rath Metternich’s und ſeines Oheims Ludwig halten möge. Erzherzog Ludwig war unter den zahlreichen Brüdern des Kaiſers Franz der jüngſte und weit - aus der unfähigſte; darum hatte er dem Herzen und dem Kopfe des Ver - ſtorbenen immer am nächſten geſtanden. Im Kleinen emſig, im Großen völlig urtheilslos, ähnelte er dem alten Kaiſer ſehr und machte, obwohl er erſt fünfzig Jahre zählte, ſchon den Eindruck eines erſtarrten Greiſes. Da alſo jede feſte Vorſchrift fehlte, ſo ſuchte Metternich, entſchloſſen und gewandt, die Alleinherrſchaft an ſich zu reißen. Er fühlte längſt, daß die ver - kommene Verwaltung ſo nicht dauern konnte, und ſeit er das unheimliche Schauſpiel des erſtarkenden preußiſchen Zollvereins vor Augen ſah, hielt er einzelne Reformen für unerläßlich. Leider fehlte ihm jede Sachkenntniß. Was er von Neuerungen plante, konnte wohl den allezeit bereiten Beifall Ancillon’s finden;*)Ancillon an Maltzan, 5. Jan. 1837. im Grunde lief doch Alles auf allgemeine Redensarten hinaus, ganz wie ſeine Reformvorſchläge vom Jahre 1829. **)S. o. III. 747.Nur für die Armee erreichte er mehrere Verbeſſerungen. Sein Liebling, Graf Clam - Martinitz, Berliner Andenkens, wurde zum Generaladjutanten und Chef der militäriſchen Abtheilung des Staatsraths ernannt, ſo daß der berüch - tigte bureaukratiſche Hofkriegsrath etwas von ſeiner Macht verlor. Ein tüchtiger Offizier von ſtreng ariſtokratiſcher Geſinnung, bewirkte Clam, daß einige von Radetzky verfaßte neue Reglements eingeführt wurden; freilich zog er auch in dem Heere einen Geiſt des Hochmuths groß, den das fried - liche alte Oeſterreich nie gekannt hatte. In Mailand aber durfte Feld - marſchall Radetzky fortan ziemlich frei ſchalten, und die Manöver, die er mit ſeinen wohlgeſchulten Truppen, den beſten der öſterreichiſchen Armee, bei Verona abzuhalten pflegte, fanden bald allgemeine Anerkennung.

Gegen die Selbſtherrſchaft Metternich’s erhob ſich nun ein zwei - facher mächtiger Widerſtand. Graf Kolowrat wollte ſich die Machtſtellung, die er bisher in der inneren Verwaltung behauptet hatte, nicht durch einen523Die bairiſchen Schweſtern. Erſte Teplitzer Zuſammenkunft.diplomatiſchen Dilettanten rauben laſſen. Als Gegner Metternich’s galt er für liberal; in Wahrheit war er nur ein Bureaukrat des gemeinen Schlages, wohl erfahren in allen Künſten der geheimen Polizei, mäßigen Reformen nicht abgeneigt und, wie alle Beamten der alten öſterreichiſchen Schule, ein entſchiedener Gegner der Clericalen, aber kleinlich, geizig, ſchwunglos, nur durch techniſche Sachkenntniß, nicht durch ſtaatsmänniſche Einſicht dem Nebenbuhler überlegen. Weit mehr bedeutete der ſtille Un - wille der kaiſerlichen Familie. Nun, da der Kaiſer fehlte, waren die Erz - herzöge nicht mehr geſonnen, hinter dieſem Rheinländer und ſeiner unleid - lich hochmüthigen Gemahlin zurückzuſtehen; den Damen des Hofes erſchien Metternich überdies als Weltkind verdächtig. Die Kaiſerin Wittwe Caroline Auguſte und ihre Schweſter Sophie, die Gemahlin des Erzherzogs Franz Karl, hielten treu zuſammen; ſie hatten ſchon den alten Kaiſer in ſeinen letzten Jahren bewogen, ſich den Jeſuiten gnädiger zu erweiſen, und jetzt richtete die geſammte clericale Partei in Deutſchland ihre hoffenden Blicke zu ihnen empor.

Von dieſen Tagen an begann die ſtille, verhängnißvolle Wirkſamkeit der fünf bairiſchen Schweſtern. Die beiden öſterreichiſchen Fürſtinnen ſtanden in herzlichem ſchweſterlichem Verkehre mit der Kronprinzeſſin von Preußen, der Königin Marie und der Prinzeſſin Johann von Sachſen. Alle fünf zeichneten ſich aus durch reiche Bildung und lebendiges Ver - ſtändniß für ernſte Gedanken; ſie konnten, jede nach ihrer Weiſe, ungemein liebenswürdig erſcheinen. Prinzeſſin Johann fühlte ſich glücklich als liebe - volle Mutter und nahm an den politiſchen Geſchäften nur ſelten theil; die preußiſche Kronprinzeſſin durfte, ſeit ſie zur evangeliſchen Kirche über - getreten war, die Beſtrebungen der Clericalen nicht mehr offen unterſtützen; allen fünf aber war jene hochconſervative, bourboniſche Geſinnung ge - mein, welche an dem Hofe des alten Aufklärers Max Joſeph insgeheim immer gepflegt wurde. Durch Ehrgeiz und Thatkraft überragte Erzherzogin Sophie die anderen Schweſtern; Maltzan nannte ſie einmal den Mann der kaiſerlichen Familie. *)Maltzan’s Berichte, Jan. 1838.Sie zeigte einen lebhaften und eigenwilligen Geiſt, der an der Seite eines ſolchen Gatten nur immer ſelbſtändiger werden mußte, und meinte ſich berufen, den verwaiſten Thron zu beherrſchen. Daß ihr die Fürſtin Metternich tief zuwider war, ließ ſich trotz der be - hutſam geſchonten höfiſchen Formen leicht erkennen.

So entſpann ſich in der Hofburg ein gefährlicher ſtiller Parteikampf, und als die beiden verbündeten Monarchen im September 1835, gleich nach den Kaliſcher Manövern, in Teplitz eintrafen, um den neuen Kaiſer zu begrüßen, empfingen ſie beide einen niederſchlagenden Eindruck. Wohl wurde das ruſſiſche Denkmal auf dem nahen Kulmer Schlachtfelde ge - meinſam eingeweiht, und Friedrich Wilhelm fühlte ſich tief gerührt, da er524IV. 8. Stille Jahre.allein noch übrig war von den drei Monarchen jener großen Tage. Aber irgend ein großes Ergebniß konnte dieſe Zuſammenkunft nicht bringen. Das Beſte blieb, daß der Czar mit ſeinen noch immer feſtgehaltenen krie - geriſchen Plänen kaum herausrücken durfte*)Maltzan’s Bericht, 27. Oct. 1835.: der Anblick Ferdinand’s und der Rathloſigkeit am öſterreichiſchen Hofe war gar zu kläglich. Ueber den Austauſch trefflicher Grundſätze kam man nicht hinaus; und Ancillon, der auf ſolche akademiſche Erörterungen hohen Werth legte, verkündete nachher den Geſandtſchaften triumphirend: Unſere Haltung vereinigt in ſich wahr - haft ungeheuere materielle Kräfte und die der Einigkeit entſpringende mo - raliſche Macht; ſie iſt gewaltig und furchtbar gerade durch ihre Ruhe, ſie erlaubt uns die Ereigniſſe zu beobachten und abzuwarten. **)Ancillon, Rundſchreiben an die Geſandtſchaften, 9. Oct. 1835.Neſſel - rode meinte freilich, nach ruſſiſcher Anſicht ſei dieſe Ruhe nur nothge - drungen, mithin ein Zeichen der Schwäche.

Die Friedenspolitik des Berliner Hofes trug alſo in Teplitz einen neuen Sieg davon. Selbſt Ludwig Philipp konnte dieſe harmloſe Zu - ſammenkunft nicht mit Beſorgniß betrachten; er äußerte nur mit halb unterdrückter Empfindlichkeit: gern hätte er ſelbſt theilgenommen, noch lieber einem Congreſſe aller fünf Mächte beigewohnt. ***)Maltzan’s Bericht, 2. Nov. 1835.Weit lebhafter als die europäiſche Politik beſchäftigte den Czaren für jetzt die Sorge um Oeſter - reichs Zukunft. In erregten Geſprächen mit Metternich und Clam erklärte er unumwunden: ſo ohne feſte Leitung müſſe Oeſterreich einer unerwartet ausbrechenden italieniſchen Revolution ſicher erliegen. Sein Hintergedanke dabei war, Metternich’s Macht einzuſchränken, denn trotz der in München - grätz ausgetauſchten Zärtlichkeitsbetheuerungen traute er dem Staatskanzler noch nicht ganz. †)An dieſe dem Könige wohlbekannten Geſpräche erinnert Maltzan in dem Bericht vom 18. Dec. 1835.Als dieſe Unterredungen fruchtlos blieben, reiſte er plötzlich in höchſter Eile nach Wien, angeblich um der Kaiſerin-Wittwe ſeine Theilnahme auszuſprechen. Seine unerwartete Ankunft erregte auch das ſtaunende Aufſehen, das ſeiner Eitelkeit immer ſchmeichelte, jedoch zu einem durchgreifenden Entſchluſſe konnte er die Damen des Hofes nicht bewegen, und ſichtlich verſtimmt kehrte er nach kurzem Aufenthalt zurück.

Alſo blieb die kaiſerliche Regierung noch während eines vollen Jahres in einem rechtlich ungeordneten, chaotiſchen Zuſtande. Metternich und Kolowrat rangen mit einander um die Herrſchaft, und der gewandte Staatskanzler erkannte bald, daß er ſich mit den frommen Damen ver - bünden mußte, wenn er ſeinen Nebenbuhler beſiegen wollte. Dieſer Ent - ſchluß fiel ihm um ſo leichter, da er ſich neuerdings, auf das Andringen ſeiner Gemahlin Melanie, den Clericalen ſchon merklich genähert hatte. Auch hegte er ſeit dem Erſtarken des Zollvereins einen reizbaren Argwohn525Streit in der Hofburg. Rückkehr der Jeſuiten.gegen Preußens Ehrgeiz; mit Maltzan ſprach er über die europäiſchen Fragen offenherzig, über Deutſchland ſehr wenig. *)Maltzan’s Bericht, 26. Dec. 1835.Er hoffte das wan - kende Anſehen des alten Kaiſerſtaates zu befeſtigen, wenn Oeſterreich wieder als die Schutzmacht des deutſchen Katholicismus aufträte. Darum kam er, unbekümmert um Kolowrat’s Widerſpruch, einem alten Herzenswunſche der beiden bairiſchen Schweſtern gefällig entgegen, und erklärte ſich bereit, eine geheime Zuſage einzulöſen, welche Kaiſer Franz ſchon vor acht Jahren dem General des Jeſuitenordens gegeben hatte. Zu Maltzan ſagte er beſchwichtigend: die Jeſuiten ſind ja ſchon längſt unter uns, als kluge Ligorianer. **)Maltzan’s Bericht, 8. Febr. 1836.Im März 1836 wurden die Jeſuiten wieder zugelaſſen, die bisher unter ihrem wahren Namen nur in Galizien gehauſt und dort, durch gehäſſige Zänkereien mit den vereinzelten evangeliſchen Gemeinden des Landes, den confeſſionellen Frieden ſchon arg geſtört hatten. ***)Entſchließung Sr. k. k. Majeſtät vom 19. März 1836. Maltzan’s Bericht, 6. April 1836.Sie ſäumten nicht dem Rufe zu folgen; in Tirol, in Steiermark, in der Lom - bardei, in Wien errichteten ſie ihre Häuſer; ihre Lehrer bedurften keiner Staatsprüfung, ihre jungen Theologen lebten nach der ratio studiorum des Ordens. So zog die Geſellſchaft Jeſu in Oeſterreich triumphirend ein, zur ſelben Zeit, da in Preußen ſchon der folgenſchwere Streit zwiſchen Staat und Kirche begann; und je ſchärfer die Gegenſätze in Norddeutſchland ſich zuſpitzten, um ſo mehr befeſtigte ſich Metternich in ſeiner neugewonnenen clericalen Geſinnung, zur Herzensfreude ſeiner Gattin, die in kirchlichen Dingen mit ihrer mächtigen Feindin, der Erzherzogin Sophie durchaus über - einſtimmte. Den Wienern freilich, zumal den leichtlebigen Herren vom hohen Adel, war dies ungewohnte pfäffiſche Weſen ſehr widerwärtig. Der witzige Fürſt Dietrichſtein beſang in einem franzöſiſchen Gedichte den jeſuitenfreund - lichen Staatskanzler; er feierte die Macht des ehelichen und des päpſt - lichen Pantoffels: Qui sous la pantoufle se plaît, voudrait nous voir tous sous la mule.

Auch bei den Berathungen über das Heerweſen unterlag Kolowrat. Er wünſchte dem greiſen Erzherzog Karl den Oberbefehl zu übertragen und den Beſtand des Heeres herabzuſetzen, weil durch die Rüſtungen der letzten Jahre ſchon ein jährliches Deficit von mindeſtens 30 Mill. fl. entſtanden war. Met - ternich aber wollte weder ſeinen Vertrauten Clam fallen laſſen noch ange - ſichts der Kriegsgefahren das Heer vermindern, und Erzherzog Ludwig gab ihm Recht. Als Kolowrat hierauf das ſtarre Prohibitivſyſtem, zunächſt durch eine Erleichterung der Zuckerzölle, zu mildern verſuchte, da ſetzte Erzherzog Ludwig die bereits erlaſſene Verordnung nachträglich außer Kraft. Kolowrat nahm Urlaub, er dachte ſeine Entlaſſung zu fordern und wagte es doch nicht im Ernſt. Da auch Metternich die Sachkenntniß ſeines Gegners in526IV. 8. Stille Jahre.Finanzſachen nicht entbehren konnte, ſo kam endlich, nach langem, wider - wärtigem Streite ein Vergleich zu Stande. Im December 1836 wurde die alte Staatsconferenz als höchſte Behörde der Monarchie neu geordnet. Mitglieder waren, außer dem Kaiſer und ſeinem Bruder, den Niemand beachtete: Erzherzog Ludwig, Metternich und Kolowrat. Dieſe bildeten fortan das regierende Triumvirat, ſo ſpotteten die Wiener. Metternich’s Anhänger frohlockten, und er ſelbſt meinte ſtolz: der Czar werde jetzt wohl von ſeinen Vorurtheilen zurückkommen, dies Regierungsſyſtem ſei für Oeſterreich das einzig mögliche*)Berichte von Bockelberg, 26. Sept., von Maltzan, 15. 24. Oct., 13. 25. Nov., 10. 18. Dec. 1836.. Seine Freude ſollte indeß nicht lange währen. Erzherzog Ludwig zeigte ſich im Verneinen und im Nichtsthun ebenſo halsſtarrig wie ſein verſtorbener Bruder; und wenn Metternich ge - hofft hatte ſich des Erzherzogs gegen Kolowrat zu bedienen, ſo mußten die beiden erfahrenen alten Staatsmänner bald gegen den Erzherzog gemein - ſame Sache machen. Vergeblich; jede noch ſo beſcheidene Aenderung, die ſie vorſchlugen, ward an Ludwig’s gemüthlichem Phlegma zu Schanden.

So wurde denn wieder, wie zu Franzens Zeiten, im Innern gar nicht regiert, obwohl die Gährung in Italien, in Ungarn, in Böhmen bedrohlich wuchs. Es war, als ob Kaiſer Franz noch dreizehn Jahre länger gelebt hätte; nur fehlte der dreiköpfigen Gerontokratie wie man ſie an den Höfen nannte das geſicherte Anſehen, das der alte Kaiſer doch immer behauptet hatte. Selbſt in der vormals ſo harmloſen Hauptſtadt erklang jetzt der Tadel oft ſehr laut und höhniſch; die Spaziergänge des Wiener Poeten und die deutſchen liberalen Zeitungen waren, den Verboten zum Trotz, in Jedermanns Händen. Um das Volk durch höfiſche Pracht zu blenden, führte man den unglücklichen Ferdinand noch zur Krönung nach Prag, dann nach Mailand. Hier begrüßten ihn huldigend die Fürſten Italiens (1838), auch ein Theil des lombardiſchen Adels bezeigte ſeine Unter - thänigkeit. Die gebildete Jugend aber ſtand grollend abſeits, ſie ließ ſich ſelbſt durch das Gnadengeſchenk der Amneſtie nicht verſöhnen; und in ihrem Namen verwünſchte G. Giuſti in einer mächtigen Satire dieſe kleinen Despoten, die ihres Volks vergeſſend vor dem Fremden knieten:

Dem Narren gleich, der mit den Fäuſten ſchlägt,
Wenn ein Barmherz’ger ihm zu Hilfe rennt,
Das Neſſuskleid, das auf dem Leib ihm brennt,
Stolz lächelnd trägt!

Angeſichts dieſer Nichtigkeit des öſterreichiſchen Staatsweſens wuchs der Hochmuth des Czaren maßlos; er fühlte ſich als den erſten Mann des Oſt - bundes und bekundete oft in rückſichtsloſen Worten, zum Entſetzen der Diplo - maten, wie tief er die kaiſerliche Hofburg verachtete. **)Maltzan’s Berichte, 4. Oct. 1837 ff.Am Wiener Hofe ſelbſt beſtand eine kleine ruſſiſche Partei. Ihr Haupt war Fürſt Alfred Windiſch -527Das Triumvirat. Zweite Teplitzer Zuſammenkunft.grätz, ein ſtrenger, hochmüthiger Soldat von hartconſervativen Grundſätzen; der hatte im Jahre 1831 den geheimen Auftrag erhalten, nöthigenfalls mit einer Brigade in das aufrühreriſche Sachſen einzurücken, und erfreute ſich der beſonderen Gunſt des Czaren. Gleichwohl übte Rußland auf die innere Verwaltung des Nachbarreichs durchaus keinen Einfluß. Geleitet von dem greiſen Triumvirate arbeitete die Maſchine in der alten gedankenloſen Weiſe weiter; Erzherzog Ludwig ſagte mit türkiſcher Gelaſſenheit zu jedem Reformvorſchlage Nein, und ein ſtrengeres Regiment, wie Nikolaus es wünſchte, wäre doch auch eine Neuerung geweſen.

Unterdeſſen verſuchte Metternich nach wie vor den drei Monarchen als Mentor zu dienen. Nachdem er im Jahre 1837 den König von Preußen im Teplitzer Bade beſucht hatte, wußte er’s im Jahre darauf einzufädeln, daß die beiden nordiſchen Herrſcher wieder in Teplitz mit ihm zuſammen - trafen. Der arme Kaiſer Ferdinand wurde ferngehalten, weil er das letzte mal eine gar ſo armſelige Rolle geſpielt hatte, und zum Scheine durch ſeinen Bruder Franz Karl vertreten. *)Maltzan’s Berichte, Mai 1838.Hier wie bei allen dieſen Zuſammen - künften wahrte man ſorglich den Schein der Eintracht, und Metternich ſagte beim Abſchied verbindlich zu dem Czaren: wenn man in die eine Wag - ſchale die ruſſiſche Politik legte, in die andere die öſterreichiſche, ſo würde das Zünglein nicht ſchwanken. **)Maltzan’s Bericht, 5. Sept. 1838.In Wahrheit beſtand der alte Gegenſatz fort. Die Friedenspolitik der beiden deutſchen Mächte blieb dem Czaren ein Greuel. Meine religiöſe Erziehung, ſo betheuerte er dem preußiſchen Miniſter Werther, hat mir einen tiefen Abſcheu eingeflößt wider Alle, die mit frevelnder Hand die geheiligten Rechte der legitimen Souveräne an - taſten. Rußland iſt ſo groß und reich, daß es ſich um die ganze Welt nicht zu kümmern braucht. Wenn ich es könnte, ſo würde ich mein Reich mit einer Mauer umſchließen. Aber die Anerkennung Ludwig Philipp’s war ein Fehler, nie werde ich ihn Mein Bruder nennen. Einmal, viel - leicht erſt unter dem Herzog von Orleans, wird ein Krieg der drei con - ſervativen Mächte gegen das illegitime Frankreich doch nöthig werden. Für jetzt haben wir zwei Dinge zu thun: die Revolution zu unterdrücken, und zu verhindern, daß die neue Ordnung in Frankreich ſich befeſtige! Dar - auf erging er ſich wieder in den gewohnten Zärtlichkeitsbetheuerungen: ich liebe den König nicht nur wie ein Sohn, ich verehre ihn auch, als wäre ich ſein Unterthan und er mein Souverän! Der König ließ ſich durch dieſe plumpen Schmeicheleien nicht blenden, ſondern ſprach nachdrücklich ſein Bedauern aus über die unverſöhnliche Geſinnung des Schwiegerſohnes. ***)Werther’s Bericht an den König, 31. Mai 1838 mit Randbemerkungen des Königs. Werther an Maltzan, 6. Juni 1838.

Nur in den orientaliſchen und den polniſchen Händeln konnte Nikolaus auf die unbedingte Unterſtützung ſeiner Bundesgenoſſen rechnen. Obwohl528IV. 8. Stille Jahre.Metternich zuweilen Rußlands neugewonnene Machtſtellung an der Donau - mündung mit einiger Beſorgniß betrachtete*)Maltzan’s Bericht, Juli 1837., ſo beſchwichtigte er doch immer wieder ſich ſelbſt und Andere durch jene leichtſinnigen Hoffnungen, die er ſeit dem Vertrage von Hunkiar Iskeleſſi gefaßt hatte; er meinte, die orientaliſche Frage beſtehe nicht mehr, unter des Czaren wohlwollen - dem Schutze müſſe die Pforte wieder zu Kräften kommen. Sein Inter - nuntius in Stambul ging mit dem ruſſiſchen Geſandten ſtets Hand in Hand und überließ es den Diplomaten der Weſtmächte, durch kleine Ränke die ruſſiſche Schirmherrſchaft zu bekämpfen, die ſich ſeit dem letzten Kriege auch über Perſien, über ganz Vorderaſien erſtreckte.

Noch feſter hielten die Oſtmächte gegenüber den Polen zuſammen; hier ſtanden ſie einer für alle. Was ſie im Jahre 1831, nach der Nieder - werfung des polniſchen Aufruhrs verſucht hatten um auch in Krakau die Ordnung wieder herzuſtellen, erwies ſich bald als verlorene Arbeit. **)S. o. IV. 89.Die kleine Republik fuhr fort, ihre Neutralität beharrlich zu brechen, die pol - niſchen Flüchtlinge zu beherbergen, die Nachbarlande zu beunruhigen; und wie konnte dieſer heilloſe Zuſtand ſich ändern, ſo lange der halbſelbſtän - dige polniſche Kleinſtaat noch beſtand? Daher ſprachen die drei Schutz - mächte ſchon in Münchengrätz ihre Meinung dahin aus, daß die Bildung dieſes Heerdes ewiger Unruhen ein ſchwerer Mißgriff des Wiener Congreſſes geweſen ſei, und auf der erſten Teplitzer Zuſammenkunft (1835) beſchloſſen ſie einmüthig, die Republik zunächſt durch Waffengewalt zu beruhigen um ſie ſodann bei günſtiger Gelegenheit zu vernichten. Es war der einzige greif - bare Erfolg der unfruchtbaren Teplitzer Unterredungen.

Nach allen den Umtrieben der Pariſer Propaganda konnten die drei Theilungsmächte in den Polen nur noch ihre unverſöhnlichen Feinde ſehen. Auf der Rückreiſe von Teplitz hielt Nikolaus den Vertretern der Stadt Warſchau eine drohende Rede; ihre demüthige Anſprache, ſo herrſchte er ſie an, wolle er nicht annehmen, um ſie nicht zum Lügen zu verführen; Gehorſam, Unterwerfung, das allein verlange er, bei Strafe der Vernich - tung. Während die Preſſe der Weſtmächte noch in Entrüſtung ſchwelgte wegen dieſer Worte des Czaren, wurde in Berlin am 14. Oct. 1835 ein in Teplitz verabredeter geheimer Vertrag unterzeichnet, der rundweg aus - ſprach, der Beſtand der Krakauer Republik ſei für ihr eigenes Volk wie für die Sicherheit der Nachbarſtaaten ſchädlich. Demnach verpflichteten ſich die Schutzmächte zu erwägen, wie auf den freien Wunſch der Republik ſelber die Einverleibung Krakaus in den öſterreichiſchen Staat herbeige - führt und der Widerſpruch der anderen Mächte beſchwichtigt werden ſolle. Zwingende Gründe der Nothwehr rechtfertigten dieſe Verabredung; aber wie grauſam verurtheilte die Politik der ſtarren Legitimität ſich ſelbſt,529Vertrag über die Einverleibung Krakaus.wenn eben die drei Mächte, welche die Unantaſtbarkeit der Wiener Ver - träge auf ihr Panier ſchrieben, ſich zu einem ſolchen Gewaltſtreiche ent - ſchloſſen! Der Wechſel der Dynaſtie in Frankreich, ja ſelbſt der Abfall der ſüdlichen Niederlande verletzte die Grundſätze des legitimen Rechts nicht ſo ſchwer, wie die hier geplante gänzliche Vernichtung eines euro - päiſchen Staates, der keineswegs, wie Metternich behauptete,*)Metternich an Graf Alfred Potocki, 8. Juli 1836. durch die drei Schutzmächte allein geſchaffen war, ſondern durch den Art. 6 der Wiener Congreßakte, durch die Zuſtimmung aller europäiſchen Mächte. Vernehmlicher konnte die Staatsweisheit, welche dem ewigen Wandel der menſchlichen Dinge durch den Buchſtaben der Verträge Halt zu gebieten wähnte, ihren Bankbruch nicht ankündigen.

Darauf, im Frühjahr 1836, beſetzten Truppen der Oſtmächte das Krakauer Gebiet. Die Flüchtlinge verſchwanden, die Behörden und die Volksvertretung wurden umgeſtaltet, und unter der ſtrengen Aufſicht von Commiſſären der drei Schutzmächte beruhigte ſich die Stadt wieder, ſo daß die letzten Ruſſen nach einigen Monaten abziehen konnten. In der Preſſe und den Parlamenten der Weſtmächte ertönte alsbald wieder der herkömm - liche polniſche Schmerzensſchrei. Die Cabinette aber fühlten beide, wie wenig ſich gegen dieſe Beſetzung einwenden ließ; denn das neutrale Krakau war durch die Verträge ausdrücklich verbunden, Flüchtlingen und Ver - brechern keine Zuflucht zu gewähren, und hatte dieſe Verpflichtungen mit Füßen getreten. Daher ließ Ludwig Philipp in Wien unter der Hand mit - theilen, er hoffe die leidige Sache ſtill zu begraben. Palmerſton glaubte, aus Furcht vor dem Unterhauſe, einen Schritt weiter gehen zu müſſen. Er verſuchte durch Lord William Ruſſell dem Berliner Hofe einen förm - lichen Proteſt zu übergeben, und als Ancillon die Annahme kurzerhand verweigerte,**)Ancillon an Maltzan, 1. Mai 1836. ſendete er den drei Oſtmächten eine mit Vorwürfen und Verwahrungen ſtattlich ausgeſchmückte Depeſche (15. April). Zugleich ver - kündigte er ſeine Abſicht, in Krakau einen engliſchen Conſul anzuſtellen, der dort natürlich nur Unruhen anzetteln konnte. Während er alſo wieder einmal den Beifall der liberalen Welt einerntete, ſchrieb er vertraulich an Metternich: England könne nicht anders verfahren, indeſſen werde der Handel hoffentlich keine Folgen haben; und dem bairiſchen Geſandten geſtand er gar: ich würde in Krakau ganz wie die Theilungsmächte handeln! ***)Maltzan’s Bericht, 28. April; Dönhoff’s Bericht, München 26. Mai 1836.Die Folge war, daß die Oſtmächte Palmerſton’s Einſpruch ebenſo ſchnöde zurückwieſen, wie ſie einſt Englands Proteſte gegen die Sechs Artikel, gegen die Beſetzung Frankfurts, gegen den Vertrag von Hunkiar Iskeleſſi abge - fertigt hatten; und gewohnt wie er war vor jedem entſchloſſenen Feinde zu - rückzuweichen, nahm der Lord die Demüthigung gelaſſen hin.†)Maltzan’s Bericht, 10. Mai 1836. ImmerhinTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 34530IV. 8. Stille Jahre.genügten dieſe Erfahrungen, um die drei Schutzmächte beſorgt zu ſtimmen. Wenn ſchon die vorübergehende Beſetzung Krakaus ſo viel Lärm erregte, wie mußte dann gar die verabredete Einverleibung wirken? Man beſchloß alſo beſſere Zeiten abzuwarten, und der Berliner Vertrag blieb ein un - verbrüchliches Geheimniß, bis er nach elf Jahren zur allgemeinen Ueber - raſchung plötzlich ausgeführt wurde.

Wie Metternich, trotz ſeines dringenden Wunſches dem Czaren zu gefallen, doch durch die Unbehilflichkeit des öſterreichiſchen Staatsweſens zu einer Haltung gezwungen wurde, welche dem moskowitiſchen Selbſt - herrſcher nur halb genügte, ſo war auch König Friedrich Wilhelm mit nichten geneigt, ſich einer fremden Leitung zu fügen. Seine Politik verfolgte nur den beſcheidenen Zweck, die neu errungene wirthſchaftliche Einheit der Nation durch die Erhaltung des Weltfriedens und den Ausbau der Zoll - vereinsverträge zu ſichern; ſie verfuhr behutſam und beſcheiden, aber preußiſch war ſie. Im Frühjahr 1837 ſtarb Ancillon, und Metternich rief dem getreuen Verehrer wehmüthig nach: mir iſt, als hätte ich die Deckung meiner rechten Flanke verloren. *)Metternich an Trauttmansdorff, 5. Mai 1837.An ſeine Stelle trat Werther, der vor ſechs Jahren in richtiger Selbſterkenntniß den Miniſter - poſten abgelehnt hatte;**)S. o. IV. 193. und es zeigte ſich bald, daß dieſer kluge diplo - matiſche Beobachter zum Befehlen nicht geſchaffen war. Neue Gedanken vermochte er der großen Politik Preußens nicht einzuflößen; ihre Unab - hängigkeit jedoch wahrte er weit ſtrenger als ſein Vorgänger, weil er in Paris die diplomatiſchen Umtriebe der beiden Kaiſerhöfe zur Genüge kennen gelernt hatte. Das Verhältniß zu der Hofburg blieb, wie ſtreng man auch die freundſchaftlichen Formen einhielt, ziemlich kalt. Metternich konnte den Ingrimm über Preußens Handelspolitik nicht verwinden, und doch ver - mochte er nichts dawider, da Erzherzog Ludwig zu keiner Verbeſſerung des Zollweſens zu bewegen war. Ueberall in Oeſterreich ſagte man ſchon gleichmüthig, ſeit der Stiftung des Zollvereins habe Preußen die Herr - ſchaft in Deutſchland erlangt. ***)Maltzan’s Bericht, 29. Juni 1837.Als Rotteck im Jahre 1838 nach Wien kam, fragte ihn Metternich gemüthlich: woher kommt dieſer wachſende Ein - fluß Preußens? Der ehrliche Liberale antwortete: Von ſeiner verſtändigen, beharrlich fortſchreitenden Verwaltung. Und wie können wir dem ent - gegenwirken? Wenn Sie dem preußiſchen Vorbilde folgen! Am Ende der langen Unterredung waren die Beiden nur darin einig, daß ſie Preu - ßens ſteigende Macht und die Bedrängniß der katholiſchen Kirche inbrün - ſtig bedauerten. †)Maltzan’s Bericht, 30. Aug. 1838.

Ebenſo wenig wie der Hofburg gelang es dem ruſſiſchen Cabinet die preußiſche Politik zu beherrſchen. Der Czar perſönlich wurde vom Hofe wie531Preußens Verhältniß zu Rußland.vom Volke mit Ehrenbezeigungen überhäuft. Als er im Jahre 1838 wieder einmal nach Berlin kam, ernannte ihn der unterthänige Magiſtrat zum Ehrenbürger der Hauptſtadt, was den boshaften Großfürſten Michael zu der Aeußerung veranlaßte: wenn mein Bruder ſeine Krone niederlegen ſollte, ſo kann ihn Niemand hindern in Berlin Schornſteinfeger zu werden. Nikolaus bedankte ſich durch eine reiche Geldſpende und ließ unter den Linden den Ruſſiſchen Palaſt erbauen um vor aller Welt zu zeigen, wie heimiſch er ſich an der Spree fühle. Aber bei dieſem Austauſch perſönlicher Höf - lichkeiten blieb es auch. Daß Preußen in der polniſchen Frage mit Ruß - land Hand in Hand ging, ergab ſich von ſelbſt aus der natürlichen In - tereſſengemeinſchaft der beiden Höfe. Desgleichen war es ein altbewährter Grundſatz der preußiſchen Politik, die Ruſſen am Bosporus ſo weit als irgend möglich frei gewähren zu laſſen. Noch zuverſichtlicher als die Hof - burg glaubte der Berliner Hof, daß die Pforte unter Rußlands freund - licher Schirmherrſchaft wieder erſtarken würde, und als der Geſandte in Konſtantinopel, v. Martens einmal eigenmächtig verſuchte, mit den Weſt - mächten zuſammenzugehen, erhielt er ſofort eine ſcharfe Zurechtweiſung.

In allen den Fragen hingegen, welche das preußiſche Intereſſe un - mittelbar berührten, ging der Berliner Hof ſeines eigenen Weges. Der König blieb bei ſeiner wohlerwogenen Meinung, daß Lord Palmerſton der eigentliche Unruheſtifter in Europa ſei und der friedfertige Tuilerienhof die Unterſtützung der Oſtmächte verdiene; die leidenſchaftlichen Klagen ſeines Schwiegerſohnes über die Heirath des Herzogs von Orleans ließen ihn kalt. Dieſen Anſichten ſeines königlichen Herrn durfte auch Ancillon nicht zuwiderhandeln. Der erging ſich wohl gern in doktrinären Betrachtungen über das geheimnißvolle Wort: Legitimität, das man ſeinem wohlthätigen Halbdunkel nicht entreißen dürfe, ganz wie man fürchten müſſe die Wurzeln eines Baumes an das helle Tageslicht zu bringen ; aber auf dieſe legi - timiſtiſchen Erörterungen ließ er ſofort die höchſt illegitime Behauptung folgen: wir dürfen Ludwig Philipp nicht mehr fragen, woher er kommt, ſondern wohin er geht, oder vielmehr, wir müſſen ihm immer zeigen wohin er gehen ſoll. *)Ancillon an Maltzan, 31. Jan. 1837.Preußen war ehrlich entſchloſſen, mit dem Julikönigthum als einer gegebenen Thatſache zu rechnen; und ſeit Werther das Auswärtige Amt übernommen hatte, blieb das Einvernehmen zwiſchen den beiden Höfen mehrere Jahre hindurch ganz ungetrübt. Werther weigerte ſich geradezu, den Czaren zu unterſtützen, als dieſer unter heftigen Drohungen ſtrenge Maßregeln wider die polniſchen Flüchtlinge in Paris verlangte; er meinte, jede Nachgiebigkeit würde den Selbſtherrſcher nur zu neuen Thorheiten ermuthigen. **)Werther an Maltzan, 24. Aug., 9. Oct. 1837.Dieſe neuen Thorheiten blieben gleichwohl nicht aus. Im Jahre 1839 veranſtaltete Nikolaus große Manöver an der Moskwa. Er34*532IV. 8. Stille Jahre.führte dort, zum ſtillen Ergötzen der kriegserfahrenen ausländiſchen Zu - ſchauer, die Schlacht von Borodino noch einmal auf, Zug für Zug, aber mit einigen ſelbſterfundenen Aenderungen, welche die Fehler Napoleon’s und Kutuſow’s berichtigen ſollten; zugleich erließ er an ſein Heer einen prahleriſchen Tagesbefehl, der faſt wie eine Kriegserklärung klang und nicht blos den franzöſiſchen Geſandten zu ernſten Beſchwerden ver - anlaßte, ſondern auch am Berliner Hofe ſcharfen Tadel fand. *)Berger’s Berichte, 26. Sept., 25. Oct. 1839.Kein Wunder alſo, daß die ruſſiſchen Diplomaten beſtändig über Preußens Kleinmuth klagten.

Ueber die innere Politik des Nachbarſtaates urtheilten ſie freilich anders. Hier fanden ſie die Haltung des preußiſchen Beamtenthums hals - ſtarrig, ja ſtierköpfig; denn der hochmüthige Ton, den ſie jetzt nach dem Vorbilde ihres Herrſchers anzuſchlagen liebten, machte auf die nüchternen Berliner Geheimen Räthe gar keinen Eindruck, und ſobald der Czar ſich unterſtand, über die inneren Zuſtände Preußens zu reden, wurde er ſtets nachdrücklich in ſeine Schranken zurückgewieſen. Bei den Manövern von Wosneſensk (1837) ſagte er zu General Natzmer, er empfehle ſeinem Schwiegervater die Veränderung der demokratiſchen, revolutionären Land - wehr. Da fuhr der alte König zornig auf: Ich will dieſe Vorſchläge gar nicht hören. Ich bin mit meiner Landwehr im Krieg und Frieden zu - frieden. Dieſe ruſſiſchen Drohungen mit der Revolution dauern ſchon viele Jahre, ſie haben ganz andere Gründe. Ich halte Geſetz und Ord - nung aufrecht ohne Rußlands Hilfe und Rathſchläge. Möge Kaiſer Niko - laus nur dafür ſorgen, daß ſich in Rußland nicht die Soldatenmeutereien von 1825 und 1830 erneuern! Selbſt die hochconſervative Partei war dem Czaren keineswegs unbedingt ergeben; ihr Berliner Wochenblatt führte vielmehr einen lebhaften Federkrieg gegen die Petersburger Hof - publiciſten, weil eben damals die erſten Angriffe des Moskowiterthums gegen die Privilegien der baltiſchen Provinzen begannen, und die preußi - ſchen Conſervativen dort wie überall für das hiſtoriſche Recht eintraten.

Ganz unverſöhnlich ſtanden die handelspolitiſchen Intereſſen der beiden Nachbarlande einander gegenüber. Der für Preußen ſo ungünſtige Han - delsvertrag von 1825 lief jetzt ab. **)S. o. III. 476.Man verlängerte ihn noch um ein Jahr, bis 1836, um Zeit für neue Unterhandlungen zu gewinnen. Der König aber geſtand ſeinem Schwiegerſohne unumwunden, ein neuer Han - delsvertrag ſei nur möglich auf der Grundlage ehrlicher Gegenſeitigkeit; und wie konnte dieſe Gegenſeitigkeit beſtehen zwiſchen zwei Staaten von ſo verſchiedener Geſittung? In Preußen herrſchte ein mildes Zollgeſetz, das, mit Ausnahme des Salzes und der Spielkarten, keiner einzigen Waare die Einfuhr verbot, in Rußland ein hartes Prohibitivſyſtem, ſo läſtig für533Preußiſch-ruſſiſcher Handelsverkehr.die Nachbarn, daß die erbitterten Oſtpreußen zu ſagen pflegten: durch ſeine Grenzſperre will uns Nikolaus zwingen die Vereinigung mit ſeinem Reiche zu verlangen. Die preußiſche Grenze durfte Jedermann an allen beliebigen Stellen überſchreiten; die ruſſiſche war verſchloſſen, nur an den ſehr weit auseinanderliegenden Zollämtern fand man Einlaß in das Czaren - reich, und ſie behandelten zwar die Perſonen nicht ganz unmenſchlich, doch die Waaren mit ausgeſuchter Bosheit; ſelbſt die Durchfuhr nach Odeſſa, die noch in leidlicher Blüthe und darum den Moskowitern beſonders ver - dächtig war, erſchwerten ſie aufs Aeußerſte. Auf eine Aenderung dieſes Syſtems ließ ſich nicht hoffen; denn man wußte in Berlin, daß der Finanz - miniſter Cancrin und einige der mächtigſten Männer des Petersburger Hofes ſelbſt große Fabriken beſaßen. *)Frankenberg’s Bericht, 12. Febr. 1836.Darum erklärten ſich die preußiſchen Miniſter einmüthig gegen den Abſchluß eines neuen Handelsvertrags; wider einen ſolchen Nachbarn müſſe man ſich wohl oder übel ſelbſt zu ſchützen ſuchen. **)Promemoria, den Handelsvertrag mit Rußland betr., 1836. (Vermuthlich von Beuth.)Die ruſſiſchen Unterhändler baten und drängten; aber was hatten ſie zu bieten? Sie verſprachen zwei neue Zollämter zu errichten ſtatt der zwanzig oder dreißig, deren der Verkehr noch bedurfte ; ſie erboten ſich die Zölle auf Eiſen, Leinwand und andere preußiſche Aus - fuhrwaaren, die nahezu 250 % des Werthes betrugen, um etwa ein Fünftel herabzuſetzen; dafür verlangten ſie, daß Preußen ſeine mäßigen Durch - fuhrzölle noch erniedrigen und die Durchfuhr polniſcher Wolle ſelbſt dann geſtatten ſolle, wenn in Polen die Viehſeuche herrſche.

Solche Zumuthungen waren für einen geſitteten Staat kaum ernſt - haft zu nehmen. Preußen lehnte Alles rundweg ab, und fortan ward niemals wieder ein Handelsvertrag mit Rußland abgeſchloſſen. Der preu - ßiſche Schleichhandel blühte wie nie zuvor denn was konnte man aus Rußland nach Preußen hinüberſchmuggeln? Es war umſonſt, daß der Czar den Grenzbezirk von 7 auf 30 Werſt verbreiterte und den Grenz - wächtern für jeden eingebrachten bewaffneten Paſcher 150 Rubel verſprach. Allen Grenzbewohnern erſchien der Schmuggel als ein gutes Recht, da Rußland ſogar den altgewohnten Durchfuhrhandel nach China verboten hatte. Endlich, im Jahre 1838, erklärte ſich Preußen bereit, einen Com - miſſär zur Ueberwachung des Schleichhandels nach Memel zu ſenden. Sobald aber Nikolaus ſich freundnachbarlich erbot, auch einen ruſſiſchen Commiſſär nach Memel zu ſchicken, da erwiderte Werther ſofort: nunmehr werde Preußen gar nichts thun; der Schmuggel ſei die natürliche Folge des unvernünftigen ruſſiſchen Zollſyſtems und werde überdies durch unred - liche ruſſiſche Beamte ſelbſt insgeheim befördert. Nikolaus war empört über dieſe ungehörige Bemerkung, weil er ihre Wahrheit fühlte; jedoch534IV. 8. Stille Jahre.er gab nach und erbot ſich, einen preußiſchen Commiſſär in einen ruſſi - ſchen Grenzplatz einzulaſſen. Auch dies wurde rundweg abgelehnt. Fürſt Galitzin und Graf Benckendorff, die der Czar nach Berlin ſchickte, mußten unverrichteter Sache heimkehren. Auf Nikolaus dringende Bitten ſendete der König einen ſeiner Flügeladjutanten, um gemeinſam mit einem Adju - tanten des Czaren die Grenze zu bereiſen. Da ergab ſich denn, daß die preußiſchen Beamten überall ihre Amtspflicht erfüllt hatten; der ruſſiſche Flügeladjutant hingegen benutzte dieſe Dienſtreiſe um ſelber für einige tauſend Thaler franzöſiſche und engliſche Waaren in ſein Vaterland hin - überzupaſchen.

Nach dieſer Probe moskowitiſcher Zuverläſſigkeit wagte der Geſandte Ribeaupierre noch zu verlangen, daß jeder preußiſche Kaufmann, der im Grenzbezirke an ruſſiſche Unterthanen zollpflichtige Waaren verkaufe, als Schmuggler beſtraft würde. Der Finanzminiſter aber erwiderte, dann würde Preußen ein Vaſallenſtaat Rußlands, und gab nur die trockene Ver - ſicherung, man werde jeden auf handhafter That ergriffenen Schmuggler ohne Unterſchied beſtrafen. *)Stockhauſen’s Bericht, 10. Aug. 1838.Das ſagte gar nichts; denn da Preußen keine Ausfuhrzölle erhob, ſo ließ man auch den Ausfuhrverkehr nicht über - wachen. Alſo wurde, zu Nikolaus Entrüſtung, jeder ruſſiſche Antrag von der Hand gewieſen. Die preußiſche Regierung wollte ihren Unterthanen die Nothwehr gegen den barbariſchen Nachbarſtaat nicht unterſagen, ob - gleich ſie ſehr wohl wußte, daß dieſer Schleichhandel auch die oſtpreußiſche Grenzbevölkerung entſittlichte. Als Neſſelrode dem Berliner Hofe vorhielt, Preußen ſorge doch für die Verhinderung des Schmuggels in den Staaten des Zollvereins, da erfolgte die ironiſche Antwort: mit Rußland habe der König keinen Zollverein geſchloſſen, auch fühle er ſich durchaus nicht ver - pflichtet, für die Durchführung eines ausländiſchen Zollgeſetzes zu ſorgen.

Nun verſuchte Nikolaus (1840) durch eine Eiſenbahn von der Memel nach Liebau das preußiſche Gebiet zu umgehen; ſein Schwiegervater aber befahl alsbald, dieſe Eiſenbahnpapiere dürften an der Berliner Börſe nicht gehandelt werden, und dadurch empfing das Unternehmen den Todesſtoß. Oberpräſident Schön meinte verächtlich: warum wolle man ſich ſo ſehr er - eifern? dieſe Moskowiter brächten ja doch nichts zu Stande; ſeit den Zeiten Katharina’s planten ſie ſchon einen Kanal von der Memel nach Liebau; die Chauſſee von Tauroggen nach Mitau hätten ſie in elf Jahren noch nicht vollendet, obgleich die preußiſche Strecke bis zur Grenze längſt gebaut ſei und Nikolaus perſönlich die Sache betreibe. **)Schön an Lottum, 27. März 1840.Der gewiegte Kenner der ruſſiſchen Verwaltung ſollte Recht behalten; die anarchiſchen Zuſtände an der Grenze blieben durch viele Jahre unverändert. Die Ruſſen benutzten den Vortheil, welchen die Barbarei vor der Civiliſation535Czar Nikolaus in Kreuth.immer voraus hat; ſie erlaubten ſich zuweilen nach altem Litthauer Reiter - brauche eine freche Grenzverletzung, weil ſie, namentlich in Schleſien, faſt immer auf die Langmuth des preußiſchen Beamtenthums zählen konnten. Doch im Weſentlichen hielt der König das Anſehen ſeines Staates auf - recht; er vermied grundſätzlich Alles, was die vertragsbrüchige Nachbar - macht in ihrer Handelspolitik fördern konnte, und die öffentliche Meinung ſtand auf ſeiner Seite.

Auch an den kleinen deutſchen Höfen errang Rußland, ſo lange der alte König lebte, nirgends die Herrſchaft. Sie wünſchten wohl alle dem Selbſtherrſcher zu gefallen; aber der Zollverein, deſſen Segnungen ſich gerade in dieſen erſten Jahren mit Händen greifen ließen, band ſie an Preußen, und die hochmüthige Gönnermiene des Czaren beleidigte ihren Stolz. *)Blittersdorff’s Bericht, 14. Oct. 1838.Als Großfürſt Michael Deutſchland bereiſte, entwarf er ſeinem kaiſerlichen Bruder eine troſtloſe Schilderung von dem Zuſtande der kleinen deutſchen Armeen. Das Frankfurter Kriegsheer nannte er begreiflicherweiſe un peu mince; in Naſſau mußte er erleben, daß der Herzog die geſamm - ten Beurlaubten ſeines Heeres plötzlich einberief um nur eine leidliche Parade veranſtalten zu können; die Württemberger fand er ſchmutzig, die bairiſchen Truppen mit ihren uralten Stabsoffizieren und unvollſtändigen Bataillonen ganz erbärmlich. In Folge dieſes Berichtes bat Nikolaus die deutſchen Großmächte, ſie möchten ihre kleinen Bundesgenoſſen zur Erfül - lung ihrer militäriſchen Verpflichtungen ernſtlich anhalten; die Sache gehe ihn ſelber ſehr nahe an, denn ſeine Ruſſen dieſer Lieblingsſatz durfte natürlich nicht fehlen würden im Kriegsfalle die Reſerve des deutſchen Heeres bilden. **)Blittersdorff’s Bericht, 26. October 1835. Miniſterialſchreiben an Maltzan, 29. Juni 1837.Solche Mahnungen machten nur böſes Blut, zumal bei dem empfindlichen Könige von Baiern; ſie fruchteten gar nichts, denn die kleinen Höfe konnten, wenn ſie ihre Truppen vernachläſſigten, auf den Beifall ihrer haushälteriſchen Landtage zählen.

Wie wenig Liebe der Czar erworben hatte, das zeigte ſich deutlich, ſobald ſeine Kinder in das heirathsfähige Alter eintraten. Als die kaiſer - liche Familie im Jahre 1838 über Berlin nach dem Wildbade Kreuth reiſte, da wußte an den Höfen Jedermann, daß jetzt folgenreiche Ehebündniſſe bevorſtänden; die Diplomatie ſprach laut und unehrerbietig von dem großen ruſſiſchen Heirathscongreſſe. In Kreuth nahmen die Feſtlichkeiten kein Ende. Drei Kaiſerinnen waren dort verſammelt, außer der ruſſiſchen die beiden kaiſerlichen Wittwen von Oeſterreich und von Braſilien; und dazu im nahen Tegernſee die Königin Mutter Karoline mit den bairiſchen Herr - ſchaften. Der ruſſiſche Hof entfaltete eine Pracht, die von den patriar - chaliſchen Zuſtänden des ſtillen Hochalpenthals widerwärtig abſtach. Er536IV. 8. Stille Jahre.ſpendete die Imperialen mit vollen Händen, ſagte den Baiern überſchwäng - liche Schmeicheleien, ließ in den Münchener Kunſtwerkſtätten großartige Einkäufe veranſtalten, und faſt ſchien es, als wolle er die anderen Fürſtlich - keiten abſichtlich verdunkeln. Sehr vernehmlich und ohne Zartgefühl gab Nikolaus zu erkennen, daß er die Hand des bairiſchen Kronprinzen für eine ſeiner Töchter wünſche. Kronprinz Max war eine zarte, ſinnige Gelehrten - natur, er lebte ganz der Wiſſenſchaft und zeigte, wie die meiſten Wittels - bacher, wenig Sinn für das Kriegsweſen; die Paradeluſt des Czaren wurde ihm ungemüthlich, und nach langen Verhandlungen geſtand er mit deutſchem Gradſinn: einen ſolchen Schwiegervater könne er ſich nicht wünſchen. *)Dönhoff’s Berichte, 12. 16. 19. Aug., 17. Sept., 13. 20. Oct. Frankenberg’s Bericht, 28. Aug. 1838.

Das einzige Ergebniß der verunglückten Reiſe war eine überaus be - ſcheidene Heirath, die in den Kreiſen der ſtrengen Legitimiſten gerechtes Befremden erregte. Eine Schweſter der verſchmähten Großfürſtin verlobte ſich mit dem Herzog von Leuchtenberg, einem Napoleoniden von zweifelhafter Ebenbürtigkeit. So traten die Beauharnais in das ruſſiſche Kaiſerhaus ein, und fortan galt am Petersburger Hofe der ſonderbare Glaubensſatz, daß die Napoleons an dem legitimen Rechte weniger gefrevelt hätten als die Orleans; darum wurde auch der bisher ſo geringſchätzig behandelte König von Schweden Bernadotte jetzt von Nikolaus gefliſſentlich ausge - zeichnet und ſogar mit einem Beſuche beehrt. Das zugleich anmaßende und zudringliche Weſen der Moskowiter hatte in Süddeutſchland allgemein mißfallen; man athmete auf als die Gäſte abzogen. Der preußiſche Ge - ſandte Graf Dönhoff ſprach ſich darüber freimüthig aus, und der König belobte ihn ausdrücklich wegen ſeiner verſtändigen Berichte. **)Dönhoff’s Berichte, 14. 27. Nov. 1838.Dem alten Herrn war bei dieſer prunkenden Freier-Reiſe überhaupt nicht wohl zu Muthe. Er fand das Benehmen ſeines Schwiegerſohnes taktlos und verbot ſeinem Thronfolger ausdrücklich nach Kreuth zu reiſen. Er mißbilligte, daß Nikolaus ſich ſo aufdringlich um die Freundſchaft des Münchener Hofes bewarb, eben jetzt, da Preußen wegen der kirchlichen Wirren mit König Ludwig verfeindet war; und als nun gar ſeine Enkeltochter mit einem Beauharnais verlobt wurde, da fühlte er ſich tief gekränkt, denn nirgends hatte der Name der Napoleoniden einen ſchlimmeren Klang als in Berlin. Dieſer Hochzeit durfte keiner ſeiner Prinzen beiwohnen; er ſelbſt ließ ſich, zum Kummer des Czaren, nur durch ſeinen Flügeladju - tanten Major Brauchitſch vertreten.***)Stockhauſen’s Bericht, 12. Aug. 1839.

Alles in Allem war die Freundſchaft der drei Oſtmächte bei Weitem nicht mehr ſo innig wie zu Anfang der zwanziger Jahre. Gleichwohl ent - ſtand gerade in dieſem Jahrzehnt die Legende von der Herrſchaft Ruß - lands im Oſtbunde; denn überall verlangt der politiſche Haß nach einem537Die polniſche Legende.Manne, an den er ſich anklammern kann. Da Nikolaus die beiden anderen Monarchen durch Hochmuth und Willenskraft überragte, ſo dich - teten ihm die erbitterten Liberalen jetzt ſchon eine Macht an, die er in Wahrheit erſt in den vierziger Jahren, durch die Willensſchwäche Fried - rich Wilhelm’s IV., und auch dann niemals vollſtändig erlangt hat. Die erſten Urheber dieſer, wie ſo vieler anderen politiſchen Mythen der Zeit waren die polniſchen Flüchtlinge. Bezaubert von der ſarmatiſchen Bered - ſamkeit vermochten die deutſchen Liberalen gar nicht mehr zu begreifen, daß die gemeinſame polniſche Politik der Oſtmächte ſich aus den früheren Ereigniſſen mit unerbittlicher Nothwendigkeit ergab; überall witterten ſie ruſſiſche Ränke und ruſſiſches Gold. Mit Jubel begrüßte man Platen’s Gedicht auf den reiſenden Rubel :

Seit außer Curs die Tugend iſt,
Curſirt der Rubel ſehr!

Als der Dichter dieſe Zeilen ſchrieb, 1833, beſaß Rußland gar keine Macht über Deutſchland; eben damals, nach der Münchengrätzer Zuſammen - kunft, machte Preußen die politiſchen Pläne des Petersburger Cabinets zu Schanden. Und wenn er dann zornig ausrief:

Erſt gab’s nur einen Kotzebue,
Jetzt giebt’s ein ganzes Schock

ſo ließ ſich wohl fragen, wer denn dieſe neuen Kotzebues ſein ſollten? Doch ſicherlich nicht der ehrliche Stägemann oder die anderen preußiſchen Beamten, die in der Staatszeitung dem verblendeten Liberalismus Ver - nunft zu predigen ſuchten? Aber ſolche Fragen warf man gar nicht auf; man ſchwärmte für den Kampf deutſcher Freiheit gegen moskowitiſche Knecht - ſchaft, und dachte ſich dabei nicht viel mehr als der Dichter ſelbſt, der Deutſchlands künftigen Helden mit dem Heilruf begrüßte:

Dir, Siegender, möge dann
Mongolenblut aus jeder Locke
Ueber den faltigen Mantel triefen!

Dieſer phantaſtiſche Ruſſenhaß konnte nur die Schwärmer bethören, welche auf die Schlagworte des polniſch-franzöſiſchen Radicalismus ſchwuren. Weit verderblicher wirkte eine andere politiſche Legende, die von England ausging; ſie trat in ſtaatsmänniſchem Gewande auf und verführte gerade die gemäßigten, die denkenden Liberalen. Der junge engliſche Diplomat David Urquhart hatte ſich einſt für die Hellenen begeiſtert, dann aber im Verkehre mit vornehmen Türken eine überaus hoffnungsreiche Anſicht von der Lebenskraft des osmaniſchen Reiches gewonnen; denn die Sünden der Herren ſind andere als die Sünden der Knechte, unter den würdevollen, ſauberen, ehrlichen Türken befand er ſich wohler als unter den gierigen Raubvogelgeſichtern der mißhandelten Rajah-Völker. Alſo kehrte er zu - rück zu der altengliſchen Anſicht, daß die Herrſchaft des Halbmonds über538IV. 8. Stille Jahre.die Chriſten der Balkanhalbinſel eine europäiſche Nothwendigkeit ſei und Rußlands orientaliſche Politik mit jedem Mittel bekämpft werden müſſe. Mit der Hartnäckigkeit eines religiöſen Fanatikers vertiefte er ſich in dieſen Gedankengang, bis er endlich zu der Ueberzeugung gelangte, daß neben der Zukunft Conſtantinopels alle anderen Intereſſen Europas verſchwän - den. Sein Ziel war die Weltherrſchaft des britiſchen Handels, und mit wohlthuender Ehrlichkeit ſprach er aus: in ſeiner gegenwärtigen mächtigen Stellung leidet England unter allen Ereigniſſen, die es nicht nach ſeinem Willen zu leiten vermag. Alle anderen Völker waren alſo lediglich ver - pflichtet, die britiſche Weltmacht zu fördern und mußten es als eine Gnade betrachten, wenn ihnen die Meereskönigin noch irgend eine Kolonie gönnte.

Dergeſtalt berührten ſich Urquhart’s Anſichten mit der Meinung Lord Palmerſton’s, der damals (1836) im Parlamente rühmte, wie großmüthig ſich England gegen ſeine verrathenen alten Bundesgenoſſen benommen habe, und zufrieden lächelnd ſagte: Wir konnten Holland Alles nehmen und wir haben nur das Cap, Ceylon und Surinam behalten; Java haben wir wieder herausgegeben. Aber auf die Dauer vermochte der geiſtreiche Heißſporn die Politik Palmerſton’s, die doch immer mit den Thatſachen rechnete, nicht zu ertragen; er wurde bald ein leidenſchaftlicher Gegner des Lords, bezichtigte ihn der Feigheit und brandmarkte ihn endlich gar als einen geheimen Bundesgenoſſen des Czaren. In allen ſeinen Schriften lagen Geiſt und Narrheit dicht bei einander. Er erkannte ſcharfſichtig, daß die Quadrupel-Allianz ein Fehler war und die Freundſchaft der Weſt - mächte unvermeidlich ſchwächen mußte; aber ſeine fixe Idee ließ ihn nie - mals zu einem unbefangenen Urtheile gelangen. Ueberall wähnte er Ruß - lands unterirdiſche Arbeit zu entdecken; ſogar den Zollverein, der dem fanatiſchen Briten natürlich ein Gräuel war, ſollte Czar Nikolaus ge - ſchaffen haben, um Deutſchland erſt zu zerſpalten und dann Rußlands Dictatur in Mitteleuropa zu befeſtigen.

Zur Verbreitung dieſer ſeltſamen Anſichten ließ Urquhart in den Jahren 1833 37 das Portfolio erſcheinen, eine Sammlung geheimer diplomatiſcher Aktenſtücke mit entſprechenden Erläuterungen, eine der wirk - ſamſten politiſchen Schriften des Jahrhunderts. Durch dies Buch wurde in den gebildeten Klaſſen Mittel - und Weſteuropas jene grundfalſche An - ſchauung der orientaliſchen Frage begründet, welche fortan zwei Jahrzehnte hindurch, bis zu der großen Enttäuſchung des Krimkriegs vorherrſchte. Urquhart wollte zunächſt den Oſtbund ſprengen, namentlich Oeſterreich, das in England noch von alten Zeiten her als natürlicher Verbündeter be - trachtet wurde, mit Preußen und Rußland entzweien. Schlag auf Schlag veröffentlichte das Portfolio die Depeſchen und Denkſchriften, welche Pozzo di Borgo während des letzten türkiſchen Krieges nach Petersburg geſendet hatte; die Abſchriften waren zur Zeit des Warſchauer Aufruhrs in dem Palaſte des Großfürſten Conſtantin aufgefunden und dem gewandten Her -539Das Portfolio.ausgeber, der überall in Europa gute Verbindungen unterhielt, mitgetheilt worden. *)Frankenberg’s Bericht, 12. Febr. 1836.Dieſe Enthüllungen erregten an den Höfen ein unbeſchreib - liches Aufſehen. Mit einem male ward klar, auf wie ſchwachen Füßen der Bund der Oſtmächte ſtand. Daß Metternich in den Zeiten des Frie - dens von Adrianopel durchaus feindliche Abſichten gegen Rußland gehegt hatte, ließ ſich jetzt nicht mehr leugnen. Vergeblich verſuchte er ſich vor dem Petersburger Hofe zu rechtfertigen. Pozzo, der mittlerweile den Geſandt - ſchaftspoſten in London angetreten hatte, wurde von dem Czaren gefliſſent - lich, um die Hofburg zu kränken, ausgezeichnet, und es währte ſehr lange, bis die Verſtimmung zwiſchen den beiden Kaiſerhöfen ſich legte. **)Maltzan’s Berichte, 19. 29. Febr., 5. April, 27. Juni 1836.

Noch vollſtändiger erreichte Urquhart ſeinen zweiten Zweck, die Bearbei - tung der öffentlichen Meinung. Offenbar war das Portfolio zumeiſt für Deutſchland beſtimmt; denn hier in dem Lande der ſchwärmeriſchen Fremd - brüderlichkeit konnte auch die neue Heilslehre, welche dem britiſchen Kauf - mann die Weltherrſchaft ſichern ſollte, am leichteſten Eingang finden. In der That wurde die Sammlung ſofort in Leipzig überſetzt und blieb viele Jahre hindurch allen liberalen Zeitungen ebenſo unentbehrlich wie das Staats - lexikon. Auf das überſpannte Philhellenenthum der zwanziger Jahre folgte eine Zeit der Türkenſchwärmerei. Wer jetzt noch auf der Höhe der Zeit ſtehen wollte, mußte mit ſtaatsmänniſchem Naſenrümpfen auf das himmel - ſchreiende Elend der chriſtlichen Rajah-Völker herabſchauen; viele der libe - ralen Blätter redeten, als ob die Eunuchen und die Serailknaben des Sultans die Bannerträger der europäiſchen Geſittung wären. Auch dieſe Verirrung, die ſich als kühle Realpolitik gebärdete und dem hochherzigen deutſchen Idealismus häßlicher anſtand als vormals die helleniſche Be - geiſterung, entſprang im Grunde wie jene nur den unberechenbaren Stim - mungen des Gemüths: man verherrlichte die Osmanen, weil man den ruſſiſchen Despoten haßte und den Briten eine niemals erwiderte Liebe widmete. Seit man zu merken anfing, daß Frankreich ſtatt der verheißenen Freiheit nur die Klaſſenherrſchaft der Bourgeoiſie erlangt hatte, galt Eng - land wieder, für den conſtitutionellen Muſterſtaat und folglich für Deutſch - lands wärmſten Freund, obgleich die Erfahrung jedes Tages lehrte, wie gehäſſig die Briten dem beſten Werke der deutſchen Politik, dem Zollver - eine entgegenwirkten. Da auch die zahlreichen Freunde und Agenten des Hauſes Coburg in der Stille mithalfen, ſo fanden die Märchen der bri - tiſchen Ruſſophoben bei den gebildeten Deutſchen leicht Glauben; mancher wackere Patriot beſchäftigte ſich ſo liebevoll mit den Schickſalen des Bos - porus und der oſtindiſchen Compagnie, daß er des Vaterlandes faſt ver - gaß. Einer unſerer geſcheidteſten und ehrlichſten Publiciſten, C. F. Wurm in Hamburg ſchrieb für das Portfolio als Germanicus Vindex grimmige540IV. 8. Stille Jahre.Artikel wider Preußens Handelspolitik. Die klugen Londoner Kaufleute hörten mit Herzensluſt auf die abſtrakten Freihandelslehren des gelehrten Schwaben; er aber hatte ſich in das hanſeatiſche Weltbürgerthum ſchon ganz eingelebt, er fühlte kaum, wie ſchwer er ſich an Deutſchland ver - ſündigte, wenn er in einem engliſchen Organe die wirthſchaftliche Einheit ſeiner Nation bekämpfte und das Ausland vor Preußens friedlichen Erobe - rungen warnte.

Von deutſchen Dingen verſtand Urquhart, wie alle Briten, ſehr wenig; ſein gutes Glück ſpielte ihm aber zwei Schriften von Guſtav Kombſt in die Hände: Der Deutſche Bundestag gegen Ende des Jahres 1832 und Authentiſche Aktenſtücke aus den Archiven des Deutſchen Bundes . Kombſt war Beamter bei der preußiſchen Bundesgeſandtſchaft, ein gemeiner, eitler, wüſter Menſch; die Lebenserinnerungen, die er nachher als Flüchtling ſchrieb, gewährten einen lehrreichen Einblick in die ſittliche Verwilderung der jungdeutſchen Radicalen. Er wurde wegen Ungehorſams ſeines Amtes entlaſſen und ſtahl zum Abſchied aus Nagler’s Papieren eine Reihe ge - heimer Aktenſtücke, die er ſofort in Straßburg mit geſinnungstüchtigen Zuſätzen drucken ließ. Die Schriftſtücke waren ſämmtlich echt, nur die Namen der Verfaſſer hatte der unwiſſende Herausgeber oft falſch ange - geben. Daher beſchloſſen die peinlich überraſchten Regierungen zu ſchweigen; die beiden Schriften wurden ſtreng verboten und verſchwanden bald ganz vom Büchermarkte. *)Berichte von Blittersdorff, 29. Juli, von Maltzan, 7. Aug. 1835.Erſt Urquhart brachte ſie wieder in Umlauf, indem er ſie im Portfolio großentheils überſetzen ließ. Der Lärm war gewaltig; denn der Brite hatte nur ausgewählt was die deutſchen Großmächte vor den Liberalen verdächtigen mußte. Alſo ward ihm und dem engliſchen Volke die Freude, daß die Deutſchen ſich wieder einmal wegen abgethaner Dinge untereinander verklagten und verleumdeten.

Urquhart’s Werk rief eine lange Reihe ruſſiſcher Gegenſchriften her - vor: ſo die Causeries sur le Portfolio, die mit kindlicher Treuherzigkeit die harmloſe Friedensliebe des Petersburger Hofes rühmten, und das viel - beſprochene anonyme Buch Die europäiſche Pentarchie (1839), von Gold - mann, einem jener gewandten polniſchen Juden, welche Rußland gern als geheime Agenten gebrauchte. Der Pentarchiſt verſicherte inbrünſtig, daß er in keiner Verbindung zu irgend einer Regierung ſtehe , und in der That ſcheint das an plumpen Erfindungen ſehr reiche Buch wohl auf Geheiß des ruſſiſchen Hofes geſchrieben, doch nicht vorher in Petersburg geprüft worden zu ſein; manche ſeiner Behauptungen verriethen nur die vorlaute Zudringlichkeit eines betriebſamen Strebers. In einer Denk - ſchrift über Deutſchlands Zuſtand und Zukunft , die dem Portfolio ver - rathen und allgemein für ein Werk Neſſelrode’s gehalten wurde, hatte Goldmann ſchon vor fünf Jahren den Gedanken ausgeführt, daß Ruß -541Der Pentarchiſt.land der wohlwollende Protector der kleinen deutſchen Staaten werden müſſe. *)Als Verfaſſer dieſer Denkſchrift (Portfolio Nr. II. ) bekannte ſich der Pentarchiſt ſpäterhin ſelbſt in ſeinem Buche: Europas Cabinette und Allianzen, Leipzig 1862.Denſelben Gedanken entwickelte auch die Pentarchie in vor - ſichtigen Andeutungen. Schwerlich hat Czar Nikolaus ſelbſt dieſen Plänen zugeſtimmt. Er wünſchte wohl, wie alle Fürſten des Auslandes, den Fort - beſtand der deutſchen Kleinſtaaterei, damit die Schwäche Mitteleuropas dauere, und jede Unterthänigkeit unſerer Kleinfürſten hieß er willkommen; doch er war zu ſehr Soldat, um auf dieſe waffenloſen Höfe viel Werth zu legen. Sein Uebermuth trachtete nach Größerem, er hoffte zur rechten Zeit die deutſchen Großmächte ſelbſt in den Kampf gegen die Revolution zu führen.

Indeſſen die Andeutungen des Pentarchiſten und jener angeblichen Neſſelrodiſchen Denkſchrift genügten, um wieder eine Welt von ruſſopho - biſchen Fabeln hervorzurufen. Alle politiſchen Halbwiſſer ſchworen darauf, daß die Geſandten des Czaren an jedem deutſchen Hofe den Ton angäben; und Wurm ſprach nur die vorherrſchende Anſicht aus, als er ſagte, der ruſſiſche Einfluß ſei in Deutſchland überall mit Händen zu greifen. Alſo ſtritten ſich Rußland und England um die Beherrſchung unſerer öffent - lichen Meinung, und beide Theile fanden ergebene Genoſſen. Doch nir - gends erhob ſich eine deutſche Stimme, nirgends ein Mann, der dieſer zerriſſenen Nation unbarmherzig ſagte, daß ſie von dem Golde der Briten ebenſo wenig zu hoffen hatte, wie von den Lanzen der Koſaken, daß ſie dieſe kindiſche Fremdbrüderlichkeit, dies würdeloſe Kannegießern über die Intereſſen des Auslandes endlich aufgeben und alle ihre Leidenſchaft auf die eine hohe Idee richten müſſe, die ſeit der Neujahrsnacht von 1834 kein leerer Traum mehr war: auf die Idee ihrer Einheit.

Unterdeſſen begann ſich in Preußens inneren Zuſtänden bereits jene Abſpannung zu zeigen, welche am Ende einer langen Regierung faſt immer eintritt. Wohl verdiente der feſtgeordnete alte Beamtenſtaat nicht den galligen Tadel der Freunde Varnhagen’s, die ihn ſchon ſeit zwanzig Jahren beſtändig auf dem Wege von Jena nach Auerſtädt zu ſehen glaub - ten, und noch weniger die rohen Schmähreden der Demagogen. Seit dem Zollvereine nahm der Preußenhaß in den Kreiſen des Radicalismus ge - waltig überhand. Wer für Deutſchlands künftige Einheit ſchwärmte, hielt ſich verpflichtet, die werdende Einheit, den lebendigen deutſchen Staat zu beſchimpfen; und Niemand unter den Flüchtlingen verſtand mit ſo geſin - nungstüchtiger Entrüſtung, mit ſo hagebüchener Grobheit zu poltern, wie der Rheinländer Jakob Venedey, ein ehrlicher teutoniſcher Träumer von542IV. 8. Stille Jahre.hohem Selbſtgefühl, aber geringer Bildung und noch geringerem Ver - ſtande. Er hatte bei den Unruhen des Jahres 1833 mitgeholfen und trieb ſich jetzt unter den deutſchen Handwerkern in Paris umher. In ſeinem Buche Preußen und das Preußenthum (1839) erklärte er kurzab: Der Anti-Geiſt der Freiheit hat Preußen geſchaffen. Preußen wird untergehen, ſobald das deutſche Volk erwacht. Alle Inſtitutionen Preußens haben nur einen Zweck, den, unter dem Scheine des Volkswohls, der Aufklärung, des Fortſchritts und der Freiheit, die Ausbeutung der Mehrzahl des Volks durch eine bevorzugte Minderzahl, Verdummung, Rückſchritt, Knechtsſinn und Knechtſchaft zu begründen. Solchen Feinden gegenüber behielt der geiſtreiche alte Geheimrath K. Streckfuß freilich Recht, als er in der Schrift über die Garantien der preußiſchen Zuſtände mit dem ganzen Selbſt - gefühle des preußiſchen Beamten ausführte: dieſer Staat der Gerechtig - keit, der Bildung, der Ehrlichkeit und der kriegeriſchen Kraft brauche weder mit Frankreich noch mit England den Vergleich zu ſcheuen. Er irrte nur, wenn er zuverſichtlich hinzufügte: unſere Zuſtände ſind durch ſich ſelbſt und ihren inneren Zuſammenhang vollkommen geſichert.

Unverkennbar nahte ein großer Umſchwung langſam heran. Mit ſeiner letzten großen That, mit der Schöpfung des Zollvereins war die Lebens - kraft des alten Syſtems erſchöpft. Es hielt ſich nur noch, weil überall an zweiter Stelle ausgezeichnete Kräfte thätig waren; aber ihm fehlte die feſte Leitung. Der König alterte ſichtlich; was er noch an Thatkraft beſaß, ging völlig auf in den peinlichen diplomatiſchen Händeln um die Erhal - tung des Weltfriedens. Seit dem Tode von Motz und Maaſſen ſaß im Miniſterium Niemand mehr, der den Namen eines Staatsmannes ver - diente. Die Leitung des Staatsraths erhielt nach dem Tode des Herzogs Karl General Müffling, der ſein Amt ganz in dem hochconſervativen Sinne ſeines Vorgängers führte, aber wenig Einfluß gewann, da der Staatsrath ſeine alte Macht verloren hatte. Der neue Miniſter des Innern v. Brenn hatte ſich als ſächſiſcher Beamter und dann als Regierungspräſident vor - trefflich bewährt; eigener Gedanken zeigte er ſo wenig, daß bald alle Par - teien ihn für einen unfähigen Miniſter erklärten. *)Herzog Karl v. Mecklenburg an Wittgenſtein, 8. Juli 1831.Die Polizei überließ er ganz dem berüchtigten Demagogenverfolger Geh. Rath Tzſchoppe, und ſeitdem begann auch im Beamtenthum ſelber ein widerwärtiges Spüren, das allen guten altpreußiſchen Sitten widerſprach: mancher Subalterne ſuchte ſich bei dem Miniſter lieb Kind zu machen, indem er die Geſin - nung ſeiner Vorgeſetzten anſchwärzte. **)Nach Kühne’s Aufzeichnungen.In dem Eckhauſe der Charlotten - ſtraße, wo Tzſchoppe zwei Treppen hoch wohnte, fanden ſich alle die ſchroffen Gegenſätze des Berliner Lebens freundnachbarlich beiſammen. Im Erdgeſchoſſe arbeitete Gans bei offenem Fenſter an ſeinem Stehpulte,543Brenn. Rochow. Alvensleben.und mancher der vorüberwandelnden Bürger warf dem ſtadtbekannten Freiheitshelden bewundernde Blicke zu. Mitten zwiſchen den Beiden, im erſten Stockwerk, hauſte der alte Stägemann, der ſelber von den Polen - freunden arg verleumdet, im königlichen Cabinette immer bemüht war, jede Verfolgung von den Liberalen abzuwenden; wer noch auf die humane alte Berliner Bildung hielt, freute ſich an dem edlen Greiſe, und zum Jubelfeſte brachte Chamiſſo dem Kanzler und dem Sänger gleich im Einen ſeine Huldigung dar. Nach kaum vier Jahren mußte Brenn zurücktreten. Sein Nachfolger wurde G. A. R. v. Rochow, ein conſer - vativer Ariſtokrat, der einſt die altſtändiſchen Anſchauungen lebhaft ver - theidigt,*)S. o. III. 227. nachher in der Selbſtverwaltung der Provinzialſtände und als Staatsbeamter ein ungewöhnliches Verwaltungstalent bethätigt und man - ches Vorurtheil abgeſtreift hatte; er zeigte ſich als tüchtiger Fachminiſter, erwarb ſich namentlich um das Gefängnißweſen große Verdienſte und genoß in den erſten Jahren allgemeiner Anerkennung, jedoch über die bequemen alten Herren Lottum, Wittgenſtein, Altenſtein vermochte der kräftige, jüngere Amtsgenoſſe nichts.

Auch an dem neuen Finanzminiſter fand er keine feſte Stütze. Als Maaſſen ſtarb, wurde im Publikum der unermüdliche Unterhändler der Zollvereinsverträge, Kühne allgemein als der gegebene Nachfolger betrachtet. Er ſtand aber am Hofe des Kronprinzen im Rufe eines Jacobiners, weil er gegenüber den Anſprüchen der Mediatiſirten ſehr ſcharf für das Recht der Staatseinheit eingetreten war, und hatte auch ſonſt, Dank ſeiner ſcharfen Zunge, zahlreiche Feinde. Nach langen Erwägungen fiel die Wahl des Königs auf den Grafen Alvensleben, denſelben, der ſoeben auf den Wiener Conferenzen den Miniſter des Auswärtigen vertreten hatte. Für ſein neues Amt war Alvensleben keineswegs geeignet. Er hatte bisher dem Finanzweſen fern geſtanden und beſaß weder das Talent noch den Fleiß um ſich in ein neues Fach einzuarbeiten. Wie die meiſten Edel - leute der Altmark, hegte er ein ſtilles Mißtrauen gegen die liberalen Be - amten, die mit ihrer Zollvereinspolitik das gewohnte Getriebe altpreußiſcher Sparſamkeit ſo bedenklich ſtörten. Daher ſah ſich Kühne aus der Ver - trauensſtellung, die er unter Motz und Maaſſen behauptet hatte, bald hinausgedrängt. Subalterne Naturen, wie der General-Steuerdirektor Kuhlmeyer und der Geh. Rath Offelsmeier waren dem neuen Miniſter bequemer; ſie beſtärkten ihn auch in ſeiner Scheu vor der Oeffentlichkeit. Wie oft war Motz, ſchon als Oberpräſident, gegen den Unfug der ſum - mariſchen, nur auf Grund zweifelhafter Vermuthungen zuſammengeſtellten Budgets aufgetreten. **)Motz an Lottum, 21. Dec. 1824.Noch kurz vor ſeinem Tode hatte er durch ein freimüthiges Rundſchreiben die anderen Miniſter aufgefordert, ihm jetzt544IV. 8. Stille Jahre.endlich ganz genaue Etats vorzulegen, damit die Preußen auch ohne conſtitutionelle Formen die wirkliche Lage ihres Staatshaushalts kennen lernten. Damals war die Reform an der Aengſtlichkeit des Grafen Lottum geſcheitert, und ſeit Alvensleben am Ruder ſtand, wagte das Finanzmini - ſterium, zu Kühne’s Verzweiflung, ſelbſt nicht mehr auf ſeine wohlberech - tigte Forderung zurückzukommen.

Und doch beſtand durchaus kein Grund mit der Wahrheit hinter dem Berge zu halten. In den Jahren von 1830 bis einſchließlich 1840 be - trugen die außerordentlichen Ausgaben außer den 39,28 Mill., welche die Mobilmachung der Revolutionsjahre verſchlungen hatte 27,8 Mill. Thaler, wovon beinahe 15 Mill. für die Chauſſeebauten daraufgingen. Dies ergab, da Rußland die Verpflegung der übergetretenen Polen mit 3,9 Mill. vergütete, insgeſammt für elf Jahre einen außerordentlichen Auf - wand von 63,222,527 Thaler. Die Summe war keineswegs bedenklich; denn unvermeidlich mußten ſich die Bedürfniſſe des Staatshaushalts all - mählich vermehren, weil der Verkehr wuchs und die Bevölkerung bis zum Jahre 1840 auf nahezu 15 Mill. Köpfe ſtieg. Der Ertrag der neuen Abgaben überſchritt die Voranſchläge des Budgets bei Weitem, und die General-Staatskaſſe deckte den größten Theil der außerordentlichen Aus - gaben (faſt 41 Mill.) aus ihren baaren Beſtänden: über 25 Mill. durch die Steuer-Ueberſchüſſe, über 15 Mill. durch den Verkauf von Domänen und Grundzinſen. Außerdem wurden in dieſen elf Jahren mehr als 31 Mill. von der Staatsſchuld getilgt. *)Ueberſicht über die außerordentlichen Ausgaben d. J. 1830 40, von Rother, Alvensleben, Voß, 11. Febr. 1841.Die Schuld verminderte ſich in den Jahren 1820 33 von 217 auf 175 Mill., wovon 163½ Mill. ver - zinslich; die verzinsliche Staatsſchuld ſank dann bis zum Jahre 1843 weiter bis auf 138½ Mill., die Verzinſung von 9,3 auf 7,74 Mill. jähr - lich. **)Rother, Denkſchrift über die Verzinſung der Staatsſchuld, 16. Februar 1841. Ueberſicht über die Staatsſchuld 1833 40, für die Landtagsmitglieder.Gleichwohl konnte ſich Alvensleben in ſeiner bureaukratiſchen Aengſt - lichkeit nicht entſchließen, dieſe durchaus günſtigen Ergebniſſe vollſtändig bekannt zu machen. Der veröffentlichte Etat für 1838 ſchloß in Einnahme und Ausgabe mit 52,681 Mill. netto ab; mit Zurechnung der Erhebungs - und Betriebskoſten ſtellte ſich alſo der Bruttobetrag der Ausgaben etwa auf 84 Mill. Niemand hielt dieſe Zahlen für ganz richtig; denn wer ſollte glauben, daß ſich die Ausgaben ſeit 1820 wirklich nur um 1,8 Mill. ver - mehrt hätten?

Selbſt die Einheit der Finanzverwaltung, welche einſt Motz nach ſo ſchweren Kämpfen durchgeſetzt hatte, ging unter Alvensleben wieder ver - loren. Den ſtrengen Hallerianern in der Umgebung des Kronprinzen war die Veräußerung entbehrlicher Domänen ſchon längſt ein Dorn im Auge, obgleich Motz und Maaſſen dabei ſehr behutſam verfuhren und der Ge -545Witzleben Kriegsminiſter.ſammtertrag des Kammerguts nicht geſchmälert wurde. Sie beſchuldigten das Finanzminiſterium, durch dieſe Domänenverkäufe werde die Selbſtän - digkeit der Krone untergraben; auch Schön, der ſich ſelber für den allein berufenen Finanzminiſter hielt, und der alte, in die Oberrechnungskammer verbannte Ladenberg ſtachelten den Kronprinzen auf. *)Nach Kühne’s Aufzeichnungen.Zur unglücklichen Stunde veröffentlichte nun der Direktor der Domänenverwaltung Geh. Rath Keßler in Ranke’s Zeitſchrift einen Aufſatz, der ziemlich unverblümt ausſprach, daß der Staat mit Ausnahme der Forſten keines Grundbeſitzes bedürfe. Keßler zählte, wie die liberalen Geheimen Räthe faſt alleſammt, zu den unbedingten Verehrern Adam Smith’s, die beiden Miniſter ver - ſtanden jedoch als gewiegte Praktiker ſeinen doktrinären Eifer zu zügeln. Sein Aufſatz erregte am Hofe des Kronprinzen allgemeine Entrüſtung. Als Alvensleben den Miniſterpoſten erhielt, mußte er ſich’s gefallen laſſen, daß die Verwaltung der Domänen und Forſten unter Ladenberg’s Leitung dem Hausminiſterium zugetheilt wurde. Keßler ging als Regierungspräſi - dent nach Arnsberg. Ladenberg aber ſetzte ſeinen Stolz darein das Kam - mergut ganz ungeſchmälert zu erhalten; er gab eine Veräußerung nur noch ausnahmsweiſe zu, wenn etwa in Neuvorpommern oder Poſen kleine Bauern angeſiedelt werden ſollten. Alſo verlor der Finanzminiſter die freie Verfügung über eine wichtige Einnahmequelle; das Handels - und Ge - werbsweſen wurde ebenfalls einer ſelbſtändigen Verwaltung, unter Rother’s Leitung, zugewieſen, und der alte widerwärtige Streit der Departements entbrannte von Neuem.

Ein eigener Unſtern waltete auch über dem Kriegsminiſterium. Wäh - rend der Revolutionsjahre trug die falſche Sparſamkeit des Miniſters v. Hake ſchlimme Früchte: die Mobilmachung ward nur darum ſo koſt - ſpielig, weil man jetzt in Eile Vorräthe anſchaffen mußte, die ſchon im Frieden hätten vorhanden ſein ſollen. Unter den Generalen war nur eine Stimme der Zufriedenheit, als Hake (1833) endlich den Abſchied nahm und Witzleben ſein Nachfolger wurde. Alle meinten, daß der König die beſte Wahl getroffen habe; auch auf die Haltung des Geſammtminiſteriums konnte Witzleben’s furchtloſer Freiſinn nur günſtig einwirken. Die über - mäßige Arbeit im Cabinet hatte aber die Kräfte des erſt fünfzigjährigen Generals bereits erſchöpft, als er die ihm gebührende Stellung erlangte. Er fühlte ſich ſchon krank, da er ſein Amt antrat, und bis zu ſeinem Tode (1837) ward er nie wieder ganz geſund. So ſind die großen Hoff - nungen, welche die Armee mit gutem Grunde auf den hochverdienten Mann ſetzte, doch nicht in Erfüllung gegangen, und ſein Nachfolger, der gelehrte Ingenieur-General v. Rauch war ſchon zu alt, um die Kriegsverwaltung mit friſchem Geiſte zu beſeelen.

Die ſchwere Frage, wie die allgemeine Wehrpflicht vollſtändig verwirk -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 35546IV. 8. Stille Jahre.licht werden ſollte, war noch immer nicht gelöſt. Da die Armeecorps alle gleich ſtark waren, ſo konnte es nicht ausbleiben, daß die einzelnen Pro - vinzen, je nach der Vermehrung und der körperlichen Tüchtigkeit ihrer Be - völkerung verſchieden belaſtet wurden, und wiederholt beſchwerten ſich die Civilbehörden über dieſe Ungleichheit. Auf ſolche Klagen legte der König mit Recht wenig Werth; er meinte, der Uebelſtand werde vollkommen ausgeglichen durch die große Erleichterung, die darin liege, daß die Mehr - zahl der Mannſchaften in ihrer Heimath diene. *)Cabinetsordres an Brenn, 11. Sept. 1832, 4. Sept. 1833.Weit bedenklicher er - ſchien ihm, wie allen ſeinen Generalen, die übergroße Zahl der Dienſt - pflichtigen, welche, gegen den Sinn und Wortlaut des Geſetzes, thatſächlich zurückgeſtellt werden mußten. Bisher hatte man ſich damit beholfen, die Ueberſchüſſigen nothdürftig eine kurze Zeit lang bei der Landwehr auszu - bilden. Dieſe Landwehr-Rekruten bewährten ſich leider ſehr ſchlecht, als ſie während der polniſchen Wirren an die Grenzen berufen wurden, und alle Sachverſtändigen ſtimmten dahin überein, daß die Wehrpflichtigen fortan alleſammt durch die Schule des Heeres gehen müßten. Aber an eine Erhöhung des regelmäßigen Militärbudgets ließ ſich jetzt gar nicht denken, nachdem die Rüſtungen der Revolutionsjahre ſo große Summen verſchlungen hatten; alſo blieb nur noch ein überaus gefährliches Aus - kunftsmittel übrig, die Herabſetzung der Dienſtzeit. Unter den Laien herrſchte noch immer die Meinung, daß die Handgriffe des Exercierplatzes ſich ſpielend erlernen ließen; ſelbſt die harmloſen Reaube’ſchen Jahrbücher fragten: warum wolle man nicht jedem Wehrpflichtigen geſtatten, ſich ſelber auf die militäriſchen Uebungen vorzubereiten, und ihn dann befreien falls er gut beſtünde? Auch in militäriſchen Kreiſen wurden ſeltſame Vor - ſchläge laut: man rieth, einen Theil der Mannſchaften zwei Jahre, einen anderen ſechs Monate dienen zu laſſen, ſo daß die durchſchnittliche Dienſt - pflicht etwa 16 Monate betrüge.

In ſolcher Lage hielten die tüchtigſten Generale, Prinz Wilhelm, Witz - leben, Natzmer, Müffling trotz ſchwerer Bedenken für rathſam, den Ver - ſuch der zweijährigen Dienſtzeit zu empfehlen; ſelbſt General Boyen, der jetzt endlich die Gunſt des Königs wieder erlangt hatte und zu den Ver - handlungen zugezogen wurde, ſtimmte dem Vorſchlage bei. Am 15. October 1833 beſtimmte der Kriegsminiſter durch eine vorläufige Verfügung, daß die Dienſtzeit bei der Linien-Infanterie fortan zwei Jahre währen ſolle, bei der Fuß-Artillerie , bei der Garde und allen reitenden Truppen, wie bisher, drei Jahre. Die Landwehrrekruten fielen hinweg, dafür traten bei der Linie mehr Wehrpflichtige ein. Das Bataillon der Linien-Infanterie zählte nunmehr im Frieden 522 Mann: 200 aus dem erſten, 200 aus dem zweiten Jahrgang, dazu 122 Unteroffiziere und Capitulanten. So ward es möglich, trotz der vermehrten Rekruten-Einſtellung den Aufwand für das547Die zweijährige Dienſtzeit.Heer faſt unverändert zu erhalten: er betrug im Jahre 1838 nahezu 23½ Mill. Thaler, wenig mehr als im Jahre 1820. Aber dieſer finanzielle Gewinn wurde durch ſchwere militäriſche Nachtheile erkauft. Die Ueberzahl der Rekruten nahm die Kräfte der Offiziere und Unteroffiziere unmäßig in Anſpruch. Während bisher, unter der Regel der dreijährigen Dienſtzeit, der tüchtige Infanteriſt hoffen konnte, zum Lohne für ſeine gute Führung ſchon bald nach Ablauf ſeines zweiten Dienſtjahres beurlaubt zu werden, fiel dieſer Stachel des Ehrgeizes, der in Volksheeren beſonders wirkſam iſt, jetzt hinweg, da Jeder ohne Ausnahme ſeine zwei Jahre abdienen mußte. Sehr bald bemerkten die Generale, daß die dreijährige Lehrlings - zeit, die in den meiſten deutſchen Handwerken beſtand, auch im Krieger - handwerke der Regel nach nicht entbehrt werden konnte. Namentlich die Felddienſtübungen erſchienen ihnen oft ſehr mangelhaft. Während der einen Hälfte des Jahres, ſo lange die Rekruten noch nicht für den Feld - dienſt reif waren, konnte das Bataillon jetzt nur mit 250 Mann, einem Viertel ſeiner Kriegsſtärke ausrücken. Ein ſo ſchwaches Häuflein war aber nur eine Compagnie, nicht ein Bataillon, und die immer nahe liegende Gefahr, daß Friedensübungen ein falſches Bild vom wirklichen Kriege geben, ließ ſich unter ſolchen Umſtänden kaum vermeiden. Die günſtigen Erwartungen, welche der Chef des Generalſtabs, General Krauſeneck bei der Einführung der zweijährigen Dienſtzeit gehegt hatte, erfüllten ſich nicht.

Wohl wurde die Ausbildung des einzelnen Mannes eifrig gefördert und namentlich das Scheibenſchießen mit einer Sorgfalt gepflegt, welche die Bewunderung der franzöſiſchen Offiziere erregte. Jeden Fortſchritt der Technik ſuchte das Kriegsminiſterium gewiſſenhaft zu benutzen. Das preu - ßiſche Heer war das erſte in Europa, das durchweg mit den neuen Per - cuſſionsgewehren bewaffnet wurde, und bereits begann man Verſuche mit dem Zündnadelgewehre, der Erfindung des Fabrikanten Dreyſe in Söm - merda. In den Cadettenhäuſern hatte ihr langjähriger Leiter, der Freund des Prinzen Wilhelm, General Brauſe, ein kräftiges Leben erweckt; ſie lieferten der Linie faſt immer guten Erſatz. Um ſo ſchlimmer ſtand es bei der Landwehr; unter ihren 3000 Offizieren vermochte wohl nur noch die Hälfte ſtrengen militäriſchen Anforderungen zu genügen, da die Kriegserfah - renen nach und nach ausſchieden, die Landwehrübungen um der Erſparniß willen ſehr verkürzt wurden; und doch konnte eine Truppe, die im Frieden nur aus Cadres beſtand, ausgezeichneter Offiziere am wenigſten entbehren.

Früherhin hatte der König ſelbſt durch ſein ſcharfes Eingreifen bei den Manövern manchen Mißſtand beſeitigt; jetzt im Alter wurde er nach - ſichtiger und zeigte ſich mit Allem zufrieden nicht zur Freude ſeines Sohnes Wilhelm, der ſeit dem Tode des Herzogs Karl das Gardecorps mit unnachſichtlicher Strenge befehligte. Erſtorben war der Geiſt der Befreiungskriege nicht. Das erkannte Jedermann, als die alten freiwil - ligen Jäger am fünfundzwanzigſten Jahrestage des Aufrufs vom 3. Febr. 35*548IV. 8. Stille Jahre.ihre Erinnerungsfeſte hielten. Im Gürzenich zu Köln waren ihrer drei - hundert verſammelt, General Pfuel commandirte den Aufmarſch, Immer - mann feierte in einem ſchwungvollen Feſtgedichte die ſilberne Hochzeit des Volkes in Waffen: Boruſſia blieb friſch und ſchön, und unſer Muth blieb auch beſtehn. Als darauf der alte Arndt, feierlich eingeladen, im Saale erſchien, da drängten ſich die Generale und die hohen Beamten mit warmen Grüßen zu dem beſcholtenen Demagogen. Gleichwohl blieb auch dies volksthümlichſte aller Heere von der Schlaffheit der langen Friedenszeit nicht unberührt. Geborene Helden wie Hauptmann Moltke und Leutnant Göben vermochten das mechaniſche Einerlei des Garniſon - dienſtes auf die Dauer nicht zu ertragen und ſuchten ſich im Auslande ein Ziel für ihren Thatendrang. Gemeine Naturen verführte die ewige Langeweile zu Verirrungen, ſelbſt zu Verbrechen. Im Jahre 1837 wurde der Fähnrich v. Arnſtedt vom Leib-Regimente, der ſeinen Vorgeſetzten ermordet hatte, zu Frankfurt a. O. mit dem Beile hingerichtet, und die ſtrenge, durchaus gerechte Strafe erregte in der vornehmen Frauenwelt viel ſchwächliches Mitleid. Ernſte Männer aber fühlten, daß ſich in ſolchen Freveln nur das allgemeine Leiden der müden Zeit verrieth: die unbändige Jugend wußte in dem eintönigen Leben gar nichts mehr mit ſich anzufangen.

Den denkenden, älteren Offizieren hingegen brachten dieſe ſtillen Jahre ein unſchätzbares Geſchenk, das nachgelaſſene Buch des Generals Clauſe - witz Vom Kriege . Es war das theoretiſche Vermächtniß der Befreiungs - kriege, das Meiſterwerk der Militärwiſſenſchaft des Jahrhunderts. Jene politiſche Auffaſſung des Krieges, welche Napoleon, Scharnhorſt, Gneiſenau einſt durch Thaten bewährt hatten, wurde hier mit durchſichtiger Klarheit wiſſenſchaftlich begründet: der Krieg iſt die gewaltſame Form der Politik, das Mittel um dem Feinde unſeren politiſchen Willen aufzuzwingen, ſein nächſter Zweck alſo die Vernichtung der feindlichen Streitmacht. Aus dieſem Vorderſatze ergab ſich dann Schlag auf Schlag die Unhaltbarkeit jener alten, bisher noch immer nicht ganz beſeitigten Doctrinen, welche in kunſtvollen Manövern, in der Beſetzung von Waſſerſcheiden und Gebirgs - kämmen, in der Benutzung der inneren Operationslinien die Aufgabe des Feldherrn ſuchten. Dann und wann ſchien Clauſewitz ſelbſt noch in dieſe Anſchauungen einer überwundenen Vergangenheit zurückzufallen und die Vertheidigung als die ſicherere Form des Kampfes zu überſchätzen; ſchließlich kam er doch immer wieder auf den Satz zurück, daß der poſitive Zweck des Krieges ſich nur durch den Angriff erreichen laſſe. Einen von vorn - herein gefaßten, ſtreng feſtgehaltenen Kriegsplan erklärte er für unmöglich, weil dem Feldherrn ſtets der lebendige Wille des Feindes gegenüberſtehe; jeder Corpsführer müſſe vielmehr entſchloſſen ſein, auf eigene Gefahr den Feind aufzuſuchen, dem Donner der Kanonen entgegenzuziehen. Das ſchöne Capitel über den Kriegsplan und die abſolute Geſtalt des Krie -549Clauſewitz, vom Kriege.ges klang faſt wie eine Weiſſagung der Kämpfe von 1870: der wahr - haft kriegeriſche Krieg , ſo führte er hier aus, muß auf die Zertrüm - merung der feindlichen Streitkraft ausgehen, zu einem ſolchen Erfolge gehört ein umfaſſender Angriff oder eine Schlacht mit verwandter Front. Nach den bisherigen Erfahrungen glaubte Clauſewitz noch, in den meiſten Fällen würde ſich der Krieg nur beſchränktere Zwecke ſetzen; unmöglich konnte er vorherſehen, daß dereinſt überall nach Preußens Vorbilde große Nationalheere entſtehen, und dadurch das Ideal des abſoluten Kriegs zur Regel werden ſollte.

Seine Ideen entſprachen dem natürlichen Heldenſinne der Deutſchen und der Verfaſſung des preußiſchen Heeres, die in Allem auf raſche, durch - ſchlagende Entſcheidungen berechnet war; einfach und groß, wie die Kriegs - kunſt ſelbſt, drückten ſie nur mit wiſſenſchaftlicher Schärfe aus, was die tüchtigeren deutſchen Offiziere längſt ahnten. Darum nahm man das Buch überall mit Bewunderung auf; mannichfache populäre Bearbei - tungen ſo die Militäriſchen Briefe eines Verſtorbenen von dem ſächſi - ſchen Militärſchriftſteller Pönitz machten es auch den mindergebildeten Offizieren zugänglich; die geſammte deutſche Kriegswiſſenſchaft nährte ſich daran, viele ſeiner Sätze galten bald als Gemeinplätze. Alſo wurden die Gedanken der napoleoniſchen Kriegführung im preußiſchen Generalſtabe unabläſſig weitergebildet, während ſie bei den Franzoſen ſelbſt faſt in Ver - geſſenheit geriethen. Das franzöſiſche Heer war jetzt in gutem Stande, dem auswärtigen Feinde gegenüber unbedingt zuverläſſig, trotz der Parteikämpfe, welche das Offizierscorps zerſpalteten; aber die Ausbildung der Mann - ſchaften erfolgte bei Weitem nicht ſo gewiſſenhaft wie in Preußen, die zahlreichen altgedienten Unteroffiziere ſchadeten durch Trunkſucht und ſchlechte Kaſernenſitten faſt mehr als ſie durch ihre techniſche Fertigkeit nützten, und durchaus verderblich wurden dem Geiſte des Heeres die in Algier er - fochtenen Siege. Die afrikaniſchen Generale erlangten ein unverdientes Anſehen, obgleich ihre rohe Kriegführung gegen einen geſitteten Feind offen - bar nicht genügen konnte; die ohnehin wenig zuverläſſige Armeeverwaltung gewöhnte ſich in Algier an Diebſtahl und Unredlichkeit; die Truppen ver - wilderten in dem Kampfe wider ein barbariſches Volk und wütheten, als ſie nachher die Arbeiteraufſtände in Lyon und Paris unterdrückten, mit teufliſcher Grauſamkeit gegen ihre eigenen Landsleute. Trotz aller Miß - ſtände, welche der lange Frieden hervorrief, blieb Preußens Heer dem fran - zöſiſchen überlegen durch Treue, Mannszucht, Bildung, Menſchlichkeit und einen friſchen kriegeriſchen Sinn, der ohne zu prahlen ſich’s doch zutraute die alten Siegesbahnen in das Herz des feindlichen Landes wiederzufinden.

Unter den vielen Enttäuſchungen ſeiner alten Tage empfand es der König beſonders ſchwer, daß er die Umarbeitung der fridericianiſchen Ge - ſetzbücher, die ihm unter allen Reformen am nöthigſten ſchien, nicht mehr erleben ſollte. Derweil Miniſter Mühler durch ſeine ſtramme Juſtizver -550IV. 8. Stille Jahre.waltung ſich in den alten Provinzen hohes Anſehen erwarb und ſelbſt die verfallenen Patrimonialgerichte, ſoweit dies noch möglich war, in leidlichen Stand brachte, rückte das große Werk der Geſetzreviſion unter Kamptz’s Leitung nicht von der Stelle. An Eifer gebrach es weder dem ſchwer - gelehrten Miniſter, noch der Commiſſion ausgezeichneter Juriſten, die mit ihm zuſammenarbeitete. Binnen acht Jahren wurden die Entwürfe für das Strafgeſetzbuch, die Proceßordnung, die Gerichtsverfaſſung und die Anfänge des bürgerlichen Geſetzbuchs vorgelegt, dazu die ungeheure Samm - lung der Provinzialrechte, ein erſtaunliches Werk deutſchen Gelehrten - fleißes. Doch das Alles blieb nur Vorarbeit, Kamptz verſtand nicht zur rechten Zeit abzuſchließen. Nur ein einziges, die Rechtspflege wahrhaft förderndes Geſetz kam unter ſeiner Verwaltung zu Stande, und auch dies nur auf die perſönliche Mahnung des Königs. Der Berliner Rechtsan - walt Marchand hatte in einer Flugſchrift die unendliche Weitläufigkeit der Bagatellproceſſe geſchildert und ſeine Arbeit dem Monarchen eingeſendet. Friedrich Wilhelm fühlte ſich betroffen durch die überzeugende, gemeinver - ſtändliche Darſtellung, und befahl ſofort Abhilfe. Im Jahre 1833 er - ſchien die Verordnung über den ſummariſchen Proceß, die für einfache Rechtsſtreitigkeiten ein abgekürztes mündliches Verfahren, wie es ſchon in Poſen beſtand*)S. o. II. 222., vorſchrieb und alſo den Weg zeigte zur Reform des ge - ſammten Civilproceſſes.

Sonſt blieb die gewaltige Arbeit der Geſetzreviſion unfruchtbar; und in der rheiniſchen Juſtizverwaltung, die ihm übertragen war, ſtiftete Kamptz nur Unfrieden. Den Rheinländern ſchien der harte Demagogenverfolger von vornherein verdächtig. Bald brachte er auch den geſammten preußi - ſchen Richterſtand gegen ſich auf, als der König einen Naumburger Ober - landesgerichtsrath, der wegen eines thörichten Trinkſpruchs auf die Polen zu einer Freiheitsſtrafe verurtheilt worden war, aus dem Amte entließ und Kamptz mit gewohntem Ungeſtüm dies Verfahren öffentlich vertheidigte. Die allerdings ſchlecht redigirten und nicht ganz unzweideutigen Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts waren bisher immer dahin ausgelegt worden, daß der Richter nur durch Urtheil und Recht entlaſſen werden könne; nun gar am Rheine galt die Unabſetzbarkeit der Richter für ein Bollwerk der Volks - freiheit. Seitdem betrachteten die Rheinländer ihren Juſtizminiſter als ihren geſchworenen Feind. Sie ſchalten wieder über Cabinetsjuſtiz, als der König noch zweimal, wie einſt im Proceſſe Fonk, ein von den rheiniſchen Ge - ſchworenen gefälltes Todesurtheil nicht beſtätigte; nimmer wollten ſie ſich darein finden, daß der Monarch nach preußiſchem Rechte nicht blos be - gnadigen durfte, ſondern auch kraft ſeiner oberſtrichterlichen Gewalt befugt war, jedem Todesurtheile die Beſtätigung zu gewähren oder zu verſagen. **)Dieſen Umſtand, der das Verfahren des Königs im Proceß Fonk erklärt, habe551Kamptz und das rheiniſche Recht.Aber auch zu berechtigten Beſchwerden gab ihnen Kamptz reichlichen An - laß. Dieſer ſeltſame rheiniſche Juſtizminiſter hatte ſeines Haſſes gegen den Code Napoleon kein Hehl und begann wider die rheiniſchen Gerichte einen kleinen Krieg, der die Provinz nur in ihrer Vorliebe für das franzöſiſche Recht beſtärken konnte. Er befahl den rheiniſchen Oberprocuratoren, gegen alle Erkenntniſſe der Polizeigerichtshöfe ſofort Einſpruch zu erheben, weil man ſich auf dieſe Gerichte nicht verlaſſen könne*)Kamptz, Erlaß an die rheiniſchen Oberprocuratoren, 13. Dec. 1834., und gebrauchte das ihm zuſtehende Recht der Strafmilderung ſo rückſichtslos, daß die rheini - ſchen Richter ſich in ihrer Amtsehre beleidigt fühlten; denn das rheiniſche Recht, ſo ſagte er oft, iſt mit Blut geſchrieben.

Da trat ihm der Düſſeldorfer Oberprocurator v. Ammon in den Weg, ein tapferer Liberaler, der ſeine preußiſche Geſinnung als Freiwilliger im Befreiungskriege bewährt hatte und in den rheiniſchen Aſſiſen ein Kleinod deutſcher Volksfreiheit ſah. Ammon wendete ſich an den König ſelbſt und beſchwor ihn, den miniſteriellen Eingriffen ein Ziel zu ſetzen; wenn er das fremde Recht vertheidige, ſo geſchehe es nur weil manche fremde, aber urſprünglich aus deutſcher Wurzel entſproſſene Juſtiz-Einrich - tungen beſſer ſeien als die heimiſchen. **)Ammon, Darſtellung der rheiniſchen Criminal-Rechtspflege, dem Könige über - ſendet 1. Febr. 1835.Nun entſpann ſich ein langer, gehäſſiger Streit; durch mannichfache Kränkungen ſuchte ſich Kamptz an dem unbotmäßigen Untergebenen zu rächen. Der König aber entſchied gegen den Miniſter; er nahm ihm das Recht, die Strafurtheile zu mil - dern***)Cabinetsordre vom 23. März 1835., und mißbilligte ernſtlich die gegen Ammon erwieſene Härte. †)Cabinetsordres an Kamptz, 12. Juli 1835; an Ammon, 19. Oct. 1836.Durch ſolche Händel gerieth Kamptz am Rhein dermaßen in Verruf, daß der Oberpräſident Bodelſchwingh, ein Vetter Ammon’s, dem Könige end - lich offen ausſprach, dieſer Feind des rheiniſchen Rechts könne nicht länger mehr rheiniſcher Juſtizminiſter bleiben. Kamptz ſträubte ſich lange; erſt auf Bodelſchwingh’s ſtürmiſches Zureden legte er ſein rheiniſches Amt nieder, um fortan ausſchließlich den Arbeiten der Geſetzreviſion zu leben (Dec. 1838). ††)Berichte von Frankenberg, 6. Dec., von Berger 6. Dec. 1838.

Nunmehr übernahm Mühler die Juſtizverwaltung für das ganze Staats - gebiet; für das rheiniſche Recht wurde eine beſondere Miniſterialabtheilung gebildet und der gefeierte Kölner Juriſt Ruppenthal zu ihrer Leitung be - rufen. Damit war unzweideutig ausgeſprochen, was ſich aus den frucht - loſen Arbeiten der Geſetzreviſion ohnehin ergab, daß die Rheinländer ihr Sonderrecht noch lange behalten würden. Welch ein Wandel der Mei -**)ich früher (III. 384) überſehen. In der dritten Auflage iſt der Irrthum inzwiſchen be - richtigt worden.552IV. 8. Stille Jahre.nungen. Nach dem Kriege hätte Niemand für möglich gehalten, daß die Befreier des Rheinlandes die Geſetzgebung des fremden Eroberers auf die Dauer beſtehen laſſen würden. Jetzt galt ſie ſchon faſt für unantaſtbar, ſo mächtig hatten die franzöſiſchen und belgiſchen Ideen hier im Weſten um ſich gegriffen. Die Regierung ſtand dieſen Zeitſtimmungen hilflos gegenüber; denn ein nationales, den Bedürfniſſen der modernen Geſell - ſchaft genügendes Geſetzbuch konnte, bei dem unfertigen Zuſtande der deut - ſchen Rechtswiſſenſchaft und der Wucht der Parteivorurtheile hüben wie drüben, unmöglich bald zu Stande kommen. Ammon und die klügeren rheiniſchen Juriſten ſahen wohl ein, daß mindeſtens ein gemeinſames Strafgeſetzbuch für die Staatseinheit der Monarchie unentbehrlich ſei wenn nur das rheiniſche Schwurgericht erhalten bliebe. Die Maſſe der Laien aber wollte jetzt gar nichts mehr geändert ſehen und ſelbſt den Code pénal mit allen ſeinen Härten behalten, weil er rheiniſch hieß. Welch ein Lärm im Provinziallandtage, als einmal die dringend nöthige Abänderung des Waſſerrechts und ähnlicher Beſtimmungen in Frage kam; ſogleich fürch - teten die Abgeordneten wieder die Herſtellung der alten kölniſch-trieriſchen Sonderrechte, und nur ſchwer ließen ſie ſich beſchwichtigen. *)Bericht des Gf. Anton Stolberg an Lottum, 23. Nov. Kamptz an Lottum, 27. Nov. 1833.Alle Beamte berichteten übereinſtimmend, der Code Napoleon ſei das Lebenselement der Rheinländer ; ſelbſt Miniſter Rochow hielt es für bedenklich, die Ge - fühle der Provinz zu verletzen, obgleich er die franzöſiſche Geſetzgebung verabſcheute.

In der That war der Fortbeſtand des rheiniſchen Rechts vollkommen gerechtfertigt, ſo lange die Krone den Rheinländern zum Erſatze nur ein veraltetes Geſetzbuch zu bieten hatte. Aber bald wich die Regierung noch weiter zurück; eingeſchüchtert durch den Trotz des rheiniſchen Particula - rismus, ließ ſie den Grundgedanken der Geſetzreviſion fallen und wagte kaum noch, die dringend nöthige Rechtseinheit der Monarchie mindeſtens für die Zukunft vorzubereiten. Kamptz und ſeine Räthe dachten ſchon an zwei neue Geſetzbücher, für die öſtlichen und die weſtlichen Provinzen; und der Landtagsabſchied vom Jahre 1839 ſagte ſchüchtern: der König behalte ſich vor, unter Mitwirkung der Provinzialſtände zu beſtimmen, ob dem revidirten Allgemeinen Landrecht nach ſeiner Vollendung auch für die Rheinprovinz Giltigkeit ertheilt werden ſolle . Zugleich wurde eine amt - liche Ueberſetzung der fünf Codes anbefohlen, und dies kleine dicke Buch mit den blauweißrothen Streifen auf dem Bandſchnitt blieb fortan die politiſche Bibel jedes echten Rheinländers. Siegreich in der Vertheidigung, ſchritten die rheiniſchen Juriſten alsbald zum Angriff vor; immer lauter und dreiſter erklang der Ruf: die Rechtseinheit der Monarchie laſſe ſich ſehr leicht herſtellen, wenn der zurückgebliebene Oſten dem vorgeſchrittenen553Sondergeiſt der Rheinländer.Weſten folge und die franzöſiſche Geſetzgebung bei ſich einführe. Cleri - cale und liberale Beſtrebungen fanden ſich in dieſen Kreiſen zuſammen; man begeiſterte ſich für die vier Freiheiten des belgiſchen Muſterlandes, die Freiheit der Kirche, der Schule, der Preſſe, der Vereine. Die alt - ländiſchen Beamten traten ſolchen zuverſichtlichen Wünſchen nur kleinlaut entgegen, weil ſie alle fühlten, daß die öffentliche Meinung des geſammten Südens und Weſtens hinter den Rheinländern ſtand, und die Krone dieſe wichtigſte ihrer neuen Provinzen um jeden Preis ſchonen wollte.

Bei ſeinen Gebietserweiterungen hat Preußen bis zum heutigen Tage oftmals erfahren, daß die jüngere Generation, die immer nur Klagen über die neue Ordnung gehört hat, ſich feindſeliger zu dem deutſchen Staate ſtellt, als die ältere unter dem Drucke der alten Zuſtände aufgewachſene. So hatte ſich auch im Rheinland die Stimmung mit den Jahren unver - kennbar verſchlechtert. An einen Abfall dachte freilich Niemand, da der Wohlſtand der Provinz unter den Schwingen des Adlers ſo fröhlich ge - dieh. Selbſt ein Gefühl dynaſtiſcher Anhänglichkeit begann ſich in den alten Krummſtabsgebieten zu regen, als der Kronprinz im Herbſt 1833, ſehr zur rechten Zeit, dies ſein Lieblingsland wieder beſuchte. Da eilte alle Welt nach Coblenz, Viele wohl um ſich an den Strahlen der auf - gehenden Sonne zu wärmen, aber Manche auch voll ehrlicher Treue. Im Ahrthal war den Fluß entlang eine neue Landſtraße erbaut und bei Alten - ahr durch die Grauwackenfelſen der Breitlei ein 192 Fuß langer Durch - bruch getrieben worden; die Arbeit hatte ein volles Jahr gewährt und faſt 14,000 Thlr. gekoſtet. Nun kam der Kronprinz um den Durchſchlag des Tunnels mit anzuſehen; die ganze Provinz feierte den großen Tag, die Zeitungen prieſen dies prachtvolle, durch Kunſt gefertigte Natur - gewölbe , das der königlichen Regierung zu ſo hoher Ehre gereiche wenige Jahre bevor die Eiſenbahnen alle die Herrlichkeit der guten alten Zeit in Schatten ſtellten. Zum Abſchied ſendeten die Provinzialſtände dem Thronfolger einen herzlichen Gruß, der ebenſo warm erwidert wurde. Gleichwohl war der Sondergeiſt im Wachſen. Wenn die Rheinländer beim Schoppen ſaßen, dann ſprachen ſie gern von einem rheiniſch-weſt - phäliſchen Vicekönigreich, das nach dem Code Napoleon regiert und mit dem junkerhaften Oſten nur locker verbunden werden ſollte. Die Strei - tigkeiten zwiſchen den Eingeborenen und den Prüß nahmen kein Ende; ſie drangen ſelbſt in die friedlichen Räume der Düſſeldorfer Akademie. Dort ward ſorgſam nachgerechnet, wie viele Bilder der Kunſtverein den Oſtländern abgekauft habe, wie viele den rheiniſch-weſtphäliſchen Malern; und an dieſem kindiſchen Zanke betheiligte ſich mit zwei Druckſchriften ſogar der Richter Fahne, der verdiente Geſchichtsforſcher, der auf ſeiner Fahnenburg am Abhang der bergiſchen Waldhügel das Künſtlervolk zu fröhlichen Feſten zu verſammeln pflegte.

Im Miniſterium fühlte man längſt, daß die Verwaltung am Rhein554IV. 8. Stille Jahre.doch gar zu ſchlaff und nachſichtig verfuhr. Da Ingersleben’s Nachfolger, der kränkliche Oberpräſident Peſtel ſein Amt nicht ausfüllte, ſo wurde Ernſt v. Bodelſchwingh (1834) an ſeine Stelle berufen, ein ausgezeichneter, noch kaum vierzig Jahre alter Beamter von gemäßigt conſervativen Grundſätzen, der frühe ſchon die Aufmerkſamkeit Stein’s erregt hatte und durch ſeine ungekünſtelte Einfachheit, durch Ernſt, Wohlwollen, Umſicht, hinreißende Be - redſamkeit den Rheinländern bald ſo wohl gefiel, daß ſie ihm ſogar ſeine weſtphäliſche Abſtammung und ſeine ſtrenge evangeliſche Gläubigkeit faſt verziehen. *)Bericht des Geſammtminiſteriums an den König, 25. Juni, mit Separat-Votum des Kronprinzen vom 3. Juli 1833.Auch an die Spitze der Regierungen wurden jüngere rüſtige Männer geſtellt: nach Düſſeldorf kam Graf Anton Stolberg, der Freund des Kronprinzen, nach Aachen ſpäterhin Cuny. Die Provinzialſtände zeigten ſich trotzdem unwirſch, mißtrauiſch gegen Alles, was aus dem Oſten kam. Auf dem Landtage von 1833 wurde zwar das Verlangen nach Reichsſtänden mit Entrüſtung abgewieſen, weil man bei Lebzeiten des alten Königs doch keinen Erfolg erwartete; dem königlichen Commiſſär, dem Grafen Stolberg, gelang es auch durch vertrauliches Zureden, einige geplante Anträge auf Preßfreiheit, Oeffentlichkeit der Landtage, Einführung einer Nationalgarde ſtill zu beſeitigen. **)Stolberg’s Berichte an Lottum, 16. Nov., an den König, 2. Dec. 1833.Als er aber den Entwurf einer Landgemeindeordnung vorlegte ein wohlgemeintes Geſetz, das die Herrſchaft der napoleoniſchen Maires endlich brechen, den rheiniſchen Dörfern die Selbſtverwaltung bringen ſollte da ſtieß er auf unüberwindlichen Widerſtand. Wir wollen keine Trennung von Stadt und Land, hieß es allgemein, auch die neufranzöſiſchen Bürgermeiſtereien müſſen beſtehen bleiben.

Die Hauptbeſchwerden der Provinz richteten ſich gegen den angeb - lichen Steuerdruck. Da faſt kein Rheinländer ſich herabließ, die alten Provinzen kennen zu lernen, ſo entſtanden allmählich abenteuerliche Vor - ſtellungen über die Steuerfreiheit der Ritterhufen des Oſtens, die in Wahr - heit ſehr wenig bedeutete. Jeder Rheinländer glaubte, die reichſte und leiſtungsfähigſte Provinz ſei zu Gunſten des Oſtens überbürdet. Die Mei - nung war ganz ebenſo grundlos wie das Geſchrei der radicalen Neuen - burger über die preußiſchen Erpreſſungen. Aber ſie beſtand und ſie er - hielt neue Nahrung durch das Buch David Hanſemann’s Preußen und Frankreich (1833). Welch ein Mißgeſchick, daß gerade dieſer treue preu - ßiſche Patriot auf den Einfall kommen mußte, über unverſtandene Ver - hältniſſe mit der Sicherheit des Halbkenners zu ſchreiben, und alſo ſeine Landsleute in ihren gehäſſigen Vorurtheilen noch beſtärkte. Hanſemann hatte mit großem Fleiße eine Menge ſtatiſtiſcher Tabellen zuſammen - getragen; was ihm dann noch an Kenntniſſen fehlte, erſetzte er durch Schätzungen und verfuhr dabei mit einer Leichtfertigkeit, die ſich der kluge Kaufherr bei den Rechnungen ſeines eigenen Geſchäfts ſicherlich nie555Steuerklagen der weſtlichen Provinzen.erlaubt hätte. So ſchätzte er das Haupt-Nationalvermögen der Provinz Sachſen um 13 Mill. Thlr. höher als das rheiniſche, und auf Grund dieſer ungeheuerlichen Behauptung ließ ſich dann die Ueberbürdung der Rheinprovinz leicht erweiſen. Noch rückſichtsloſer als einſt in ſeiner Ver - faſſungsdenkſchrift*)S. o. IV. 187. vertrat er hier die Klaſſenſelbſtſucht der neuen bür - gerlichen Geſellſchaft: Schonung des Capitals erſchien geradezu als höchſter Zweck des Staates, der ſeinen Haushalt einfach nach der Bequemlichkeit der Steuerzahler einrichten ſollte. Von den ſchon ſo knapp bemeſſenen Staatsausgaben wollte Hanſemann beinahe ein Drittel, ziemlich 16½ Mill., ſofort ſtreichen, von den Heereskoſten allein 9 Mill. Thlr.; wurde dann noch mit der Tilgung der Staatsſchuld fortgefahren, ſo konnte bald eine gründliche Steuererleichterung eintreten, auf jeden Fall aber ſollte die reiche Rheinprovinz für den Kopf der Bevölkerung einen halben Thaler weniger Abgaben zahlen als die armen Oſtprovinzen! Als leuchtendes Gegenbild wurde der preußiſchen Verwaltung das vorgeblich wohlfeile napo - leoniſche Präfecturſyſtem vorgehalten; denn ſchon war ganz vergeſſen, wie ſchwer die Provinz einſt unter den Hungergehalten und der dadurch be - dingten Unredlichkeit der franzöſiſchen Subalternbeamten gelitten hatte.

Die vielgeleſene Schrift gab den ſüddeutſchen Liberalen ein völlig fal - ſches Bild von den preußiſchen Zuſtänden; im Rheinland wurde ſie eine Macht, da ihre gewaltigen Zahlenreihen den urtheilsloſen Laien unwider - leglich ſchienen. Kaum war ſie herausgekommen, ſo erklärten die Provin - zialſtände, die früher nur vermuthete Ueberbürdung des Rheinlands ſei jetzt zur Gewißheit geworden, und verlangten kurzab, daß die Grundſteuer für die weſtlichen Provinzen ſogleich um ein Viertel ermäßigt würde. Einige Gegenſchriften, von dem freimüthigen alten Benzenberg und dem Bonner Profeſſor Kaufmann, machten keinen Eindruck; ſelbſt eine meiſter - hafte Denkſchrift, welche Maaſſen noch kurz vor ſeinem Tode verfaßte, beſchwichtigte die erregten Gemüther nicht. Auf dem nächſten Landtage, 1837, kehrten die alten thörichten Beſchwerden wieder, und da auch der Clerus, ſeit er den belgiſchen Prieſterſtaat vor Augen ſah, ſeinen Haß gegen das evangeliſche Königshaus kaum noch verhehlte, ſo begann die Stimmung in der Provinz recht bedenklich zu werden.

In Weſtphalen war die Klage über den Steuerdruck ebenfalls allgemein. Die ſchwierige Arbeit der Kataſtrirung, die den weſtlichen Provinzen an 5 Mill. Thlr. koſtete, mußte manche wirkliche oder vermeintliche Intereſſen verletzen, weil eine völlig genaue Abſchätzung des beſtändig wechſelnden Bodenwerthes unmöglich iſt. Geh. Rath Rollhauſen, der ſie leitete, hieß bei den Edelleuten der commissaire général und konnte oft nur durch Vincke’s ſtarke Hand gegen grobe Anfeindungen beſchützt werden. Auf den Landtagen äußerte ſich der Groll zuweilen ſehr ungeſtüm, ſeit Stein die556IV. 8. Stille Jahre.Abgeordneten nicht mehr in Zucht hielt. Wie ſich ſpäterhin herausſtellte, zahlte Weſtphalen allerdings mehr Grundſteuer vom Reinertrage als die Rheinprovinz, aber nicht mehr als Sachſen und weniger als Schleſien. Gleichwohl behaupteten die Landſtände beharrlich, die Provinz ſei um ein volles Drittel zu hoch eingeſchätzt. Der Zorn legte ſich auch nicht, als endlich, 1839, nach vollendeter Kataſtrirung, das verſtändige Grundſteuer - geſetz für die weſtlichen Provinzen erſchien; denn die Geſammtſumme der Grundſteuer blieb natürlich unverändert, da die Lage des Staatshaushalts jeden Steuererlaß verbot. Einig in der Oppoſition, hegten die beiden weſt - lichen Provinzen doch, nach alter Gewohnheit, grundverſchiedene Geſinnungen. Während die Rheinländer, ihres modernen Codes froh, auf die reaktionären Oſtländer herabſchauten, beargwöhnte die conſervative Mehrheit der Weſt - phalen das Berliner Cabinet wegen ſeiner jacobiniſchen Neigungen. Der Entwurf der Landgemeindeordnung wurde auch auf dem Münſterſchen Landtage beanſtandet, aber nur weil er den Weſtphalen zu liberal ſchien; ſie fanden es unerhört, daß fortan alle Einwohner mit ſelbſtändigem Haus - halt das Stimmrecht erhalten ſollten, und verlangten von jedem Gemeinde - bürger einen angemeſſenen Grundbeſitz .

Die Geſinnungen des Adels bekundeten ſich in einer Schrift über die Grundlagen unſerer Verfaſſung , welche der Freiherr Werner v. Haxt - hauſen während des Landtags von 1833 unter den Abgeordneten verbreiten ließ. Haxthauſen war einer der Stifter des Tugendbundes, hochbegeiſtert für Deutſchlands Größe, edel, geiſtvoll, reichgebildet, mit Steffens und den Brüdern Grimm nahe befreundet, aber in Politik und Religion durchaus Romantiker. Er forderte die alten Landtage von Paderborn, Münſter, Ravensberg zurück, er verdammte als ſtrenger Katholik die Seculariſationen, er verwarf das geſammte moderne Staatsleben, ſogar die neue Städteord - nung und betrachtete das Beamtenthum als eine Schmarotzerpflanze, die der kräftigen weſtphäliſchen Eiche den Saft ausſauge. Wenn ein guter Preuße alſo redete, was ließ ſich vollends von den vaterlandsloſen Domherren - geſchlechtern des Münſterlandes erwarten? Oder gar von der Cleriſei, die hier noch dreiſter als am Rhein den proteſtantiſchen Behörden ihre Geringſchätzung zeigte? Es fehlte nur ein Funke, um einen gefährlichen Brand zu entzünden. *)Tzſchoppe an Wittgenſtein, 3. Sept. 1833, mit Stimmungsberichten aus Rhein - land und Weſtphalen.So ſchwer beſtrafte ſich die unnatürliche, durch die Provinzialſtände verſchärfte Trennung der Provinzen; den bürgerlichen und proteſtantiſchen Elementen, welche Weſtphalen in ſeinen Induſtrie - bezirken beſaß, fehlte jede Gelegenheit, ſich mit den verwandten Kräften des Oſtens zu verſtändigen.

Den weſtlichen Provinzen begegnete die Regierung mit Schonung, in Poſen aber ging, nach Allem, was man an den Polen erlebt, ſelbſt die557Flottwell und Grolman in Poſen.preußiſche Langmuth zu Ende. Dahin waren jene hoffnungsvollen Tage, da die deutſchen Beamten mit den polniſchen Edelleuten ſich in dem gaſt - freundlichen Hauſe des Fürſten-Staatthalters harmlos zuſammengefunden hatten. Fürſt Radziwill fühlte ſelbſt, wie gänzlich er ſich über die Geſin - nungen ſeiner Landsleute getäuſcht; er legte ſeine Statthalterwürde nieder und ſtarb bald darauf. Fortan war der Oberpräſident der alleinige höchſte Vertreter der Staatsgewalt, und auf dies wichtige Amt berief der König den tapferen Mann, der dem preußiſchen Namen in den Landen des weißen Adlers zuerſt ein feſtes Anſehen verſchaffen ſollte. Oberpräſident Flottwell war in Oſtpreußen geboren, zu Königsberg in der Schule von Kant und Kraus erzogen und hatte dann unter Schön’s Leitung in der altpreußiſchen Verwaltung die Polen gründlich kennen gelernt. Aufrichtig ſprach er aus, das alte Syſtem der Nachſicht und der Zugeſtändniſſe habe ſich überlebt, der Adel und der Clerus ſeien Preußens geſchworene Feinde; nicht die Liebe, nur die Achtung der Polen könne ſich eine deutſche Regierung erwerben; dies werde ihr gelingen, wenn ſie ohne Ungerechtig - keit die deutſche Cultur fördere und damit die menſchliche Geſittung der Provinz hebe. Nicht frei von der Leidenſchaftlichkeit ſeines edlen Stam - mes, urtheilte er doch milder, billiger als ſein Lehrer Schön. Er wollte ſtrenge Geſetze für die meuteriſche Provinz, aber mit ſorgfältiger Rück - ſicht auf die beſtehenden Verhältniſſe; denn der Mangel an einer ſolchen Rückſicht bringt die Regierung in die Lage, von den gegebenen Vorſchriften abzuweichen und ſich dadurch den gerade in dieſer Provinz ſehr gefähr - lichen Vorwurf der Inconſequenz und Schlaffheit in der Verwaltung zu - zuziehen . *)Flottwell an Lottum, 24. Juli 1832.Durch ſeinen furchtloſen Freimuth hatte er ſich das perſön - liche Vertrauen des Königs und des jungen Prinzen Wilhelm erworben. Da alle Slaven jene beiden Tugenden, welche ihnen ſelbſt die Natur verſagt hat, Gradſinn und Feſtigkeit, mit ſtiller Ehrfurcht betrachten, ſo kam er im perſönlichen Verkehre ſelbſt mit den polniſchen Edelleuten leid - lich aus, obgleich ſie in ihm ihren politiſchen Todfeind ſahen.

Die Deutſchen und die polniſchen Bauern verehrten ihn als ihren Beſchützer, und mit ihm ſeinen Freund, den commandirenden General Grolman, der von den Polen faſt noch grimmiger gehaßt wurde. Grol - man’s freiem Heldenſinne waren die Untreue und die Undankbarkeit dieſer unwürdigen Provinz ein Greuel; er konnte nicht, wie Gneiſenau, mit vornehmer Verachtung über die krummen Wege der Sarmaten hinweg - blicken, er verabſcheute dieſe Bande der Geſetzloſigkeit, der Liederlichkeit und des Schmutzes und wollte mit dazu helfen, daß ihre polniſche Natur ſich zu einer menſchlichen ausbildete . Was kümmerte es ihn, daß die Liberalen, die ihn zur Zeit der Karlsbader Beſchlüſſe auf den Schild gehoben hatten, ihm jetzt reaktionäre Geſinnung vorwarfen? Die Armee558IV. 8. Stille Jahre.betrachtete ihn ſeit Gneiſenau’s Tode als ihren erſten Mann. Während des polniſchen Aufſtandes hatte man die Landwehr-Zeughäuſer ausräumen und die polniſchen Regimenter aus der Provinz entfernen müſſen; auf Grolman’s Rath wurde jetzt beſtimmt, daß die niederſchleſiſchen Regimenter des fünften Armeecorps fortan in Poſen, die poſener regelmäßig im deut - ſchen Schleſien Garniſon erhielten.

Um Neujahr 1833 ging Flottwell nach Berlin, um dem Miniſter - rathe die Ergebniſſe ſeiner Beobachtungen vorzulegen. In den nächſten Monaten erſchien dann Schlag auf Schlag eine Reihe tief einſchneidender Verordnungen. Alle Klöſter der Provinz wurden ſeculariſirt, die Einkünfte nebſt einem erheblichen Zuſchuſſe des Staats für die Schulen und die geiſtlichen Lehranſtalten verwendet. Da viele Edelleute durch die Theil - nahme an dem Aufſtande ihr Vermögen zu Grunde gerichtet hatten und zahlreiche Landgüter unter den Hammer kamen, ſo wurde dem Oberpräſi - denten 1 Mill. Thaler zur Verfügung geſtellt, um dieſe Güter aufzukaufen und an Erwerber deutſcher Abkunft zu veräußern. Der Erfolg war günſtig, etwa dreißig deutſche Rittergutsbeſitzer kamen neu ins Land; an eine gründliche Auskaufung des polniſchen Großgrundbeſitzes, wie ſie Grol - man dringend anrieth, konnte der bedrängte Staatshaushalt freilich nicht denken. Die von den Kreisſtänden erwählten Landräthe hatten ſich wäh - rend der Revolutionszeit ſchlecht bewährt, manche den Aufruhr unterſtützt, andere ihr Amt gröblich vernachläſſigt; daher wurde den Kreiſen das ſo übel benutzte Wahlrecht vorläufig entzogen und den Bezirksregierungen übertragen.

Noch ſchlimmer ſtand es um die ländliche Polizei. Viele der adlichen Woyts mißbrauchten ihre Amtsgewalt um die Bauern zu bedrücken; Will - kür und Nachläſſigkeit überall; es kam vor, daß der Woyt nicht blos poli - tiſche, ſondern ſelbſt gemeine Verbrecher vor der drohenden Verfolgung vertraulich warnte. Nachdem ein vermittelnder Reformverſuch keine Beſſe - rung gebracht, entſchloß ſich die Krone endlich (1836) durch einen radi - calen Eingriff Wandel zu ſchaffen. Die Kreiſe wurden in Diſtrikte von 6 9000 Einwohnern getheilt; in jedem Diſtrikte übernahm ein vom Ober - präſidenten ernannter königlicher Commiſſär, unter der Aufſicht des Land - raths, die Polizeiverwaltung. Unter dem Diſtriktscommiſſär ſtanden mit beſchränkten Befugniſſen die kleinen Ortsobrigkeiten. Den Schulzen er - wählte in den Dörfern, welche die bäuerlichen Laſten noch nicht abgelöſt hatten, der Gutsherr, in den bereits regulirten Ortſchaften die Geſammt - heit der ſelbſtändigen Grundbeſitzer; denn Flottwell wußte, daß der pol - niſche Bauer ſeit Jahrhunderten gewöhnt war, in dem adlichen Pan ſeine Obrigkeit zu ſehen, und dieſe Meinung erſt wenn er von allen Herrendienſten befreit ſei aufgeben würde. *)Flottwell an Brenn, 21. Juli 1832.Die 130 Diſtriktscommiſſäre, meiſt alte Offi -559Reformen in Poſen.ziere oder Unteroffiziere, und ihre vorgeſetzten Landräthe führten fortan ein feſtes bureaukratiſches Regiment, ſie beſchützten den Bauern gegen den Edelmann, ſie ſicherten die Durchführung der Geſetze bis in die niederſten Schichten der Geſellſchaft und erwarben ſich faſt überall den Haß des Adels, die Achtung der kleinen Leute. Der ſtrenge Beamtenſtaat verdrängte die Adelsherrſchaft. Die Selbſtverwaltung des flachen Landes ward nahezu vernichtet; wie konnte ſie auch hier gedeihen, da ihre Vorbedingungen, Treue und geſetzlicher Sinn, dem polniſchen Adel gänzlich fehlten?

Auch die Gerichte erhielten eine verbeſſerte Einrichtung und den ge - meſſenen Befehl, bei polniſchen Eingaben und Verhandlungen ſtets eine deutſche Ueberſetzung zu verlangen. Den zahlreichen, durch den Adel ſchwer bedrückten Mediatſtädten brachte das an Reformen ſo fruchtbare Jahr 1833 die Ablöſung der grundherrlichen Abgaben. Die Befreiung vollzog ſich ſehr raſch, da die Krone die Ablöſungscapitalien vorſchoß, und ihre wohlthätigen Folgen wurden bald ſelbſt an den Sitten des verkommenen Kleinbürgerthums erkennbar; denn mit jenen Abgaben fiel auch der Getränkezwang, eine der ſtärkſten Säulen der ſarmatiſchen Adels - libertät. Unter der polniſchen Republik hatten die Edelleute ſich wetteifernd bemüht, ihren Dörfern Stadtrecht zu verſchaffen, weil ſie dann ſelbſt das Propinationsrecht, den Branntweinſchank, erhielten und dieſe Befugniß durch die Einrichtung von Jahrmärkten kräftiglich ausbeuten konnten. So war es gekommen, daß die Provinz mit ihren 1,1 Mill. Einwohnern 145 Städte zählte, deren Mehrzahl ihr Daſein ausſchließlich dem Branntwein der Grundherren verdankte. Dies Unweſen ward nun hinweggefegt; und da die Regierung zugleich in allen größeren Städten die Städteordnung einführte, auch durch zahlreiche neue Bürgerſchulen für einen leidlichen Unterricht der Jugend ſorgte, ſo gab ſich Flottwell der Hoffnung hin, daß mit der Zeit hier ein ſelbſtbewußter, fleißiger Mittelſtand, dem altdeutſchen ähnlich, entſtehen würde.

Durch die raſche Beſeitigung der grundherrlichen Abgaben in den Städten wurde auch das Ablöſungswerk auf dem flachen Lande beſchleu - nigt. Im Jahre 1837 waren ſchon 21,000 dienſtpflichtige Bauern zu freien Eigenthümern geworden, und der Segen dieſer Reform ließ ſich mit Händen greifen; ſchon am Anblick der Häuſer und der Felder konnte der Wanderer ein regulirtes Dorf von einem zinspflichtigen ſofort unter - ſcheiden. Die Ablöſung beſchränkte ſich hier, wie überall ſeit der Decla - ration vom 29. Mai 1816, auf die ſpannfähigen Bauernſtellen, die Acker - nahrungen, weil der Staat die Großgrundbeſitzer der im Oſten unent - behrlichen Tagelöhnerſchaaren nicht ganz berauben wollte. Im Uebrigen verfuhr er in Poſen weit ſchärfer als in den alten Provinzen; denn auf die Klagen des allezeit unzufriedenen polniſchen Adels gaben die Beamten wenig, und auch auf die Intereſſen der Pfandbriefgläubiger brauchten ſie hier nicht, wie in den alten Provinzen, ängſtliche Rückſicht zu nehmen. 560IV. 8. Stille Jahre.Die Pfandbriefsanſtalt war in Poſen noch neu, in den alten Provinzen aber hatten ſchon Tauſende ihr Vermögen in Pfandbriefen angelegt, und die Regierung mußte ſich dort hüten, den ohnehin durch das Sinken der Getreidepreiſe ſchwer erſchütterten Credit der Großgrundbeſitzer ganz zu zerſtören.

Mittlerweile erhielten auch die Juden, die damals noch gemeinhin mit den Deutſchen gegen die Polen zuſammenhielten, erweiterte Rechte: ſie ſollten Synagogen-Gemeinden bilden mit Corporationsrechten und der Ver - pflichtung, für die Jugenderziehung zu ſorgen; zum Militärdienſte wurden ſie fortan zugelaſſen, wenn ſie nicht vorzogen, das althergebrachte Rekruten - geld zu zahlen; wer ſich in leidlich geordneten bürgerlichen Verhältniſſen befand, konnte auch die förmliche Naturaliſation, und damit den Zutritt zu den meiſten Gemeindeämtern erlangen. So hoffte die Staatsgewalt den finſteren Haß gegen die Gojim, der auf der Liſſaer Judenſchule gepflegt wurde, allmählich zu überwinden; doch ſelbſt dieſe vorſichtig beſchränkte Reform ſchritt den Anſichten des Landes weit voraus und rief auf dem Landtage heftigen Widerſpruch hervor. In den Dörfern wurden binnen zehn Jahren über zweihundert Volksſchulen errichtet, die meiſten mit pol - niſcher Schulſprache und mangelhaftem deutſchen Unterrichte denn weiter wagte auch dieſe wegen ihrer Strenge verrufene Regierung noch nicht zu gehen , dazu zwei neue Gymnaſien mit geiſtlichen Alumnaten, ein katholiſches Predigerſeminar und eine Reihe evangeliſcher Pfarreien. Bei ſeinem Amtsantritt fand Flottwell vier Meilen Chauſſeen vor; nach einem Jahrzehnt war das große Straßennetz, das die Stadt Poſen mit Berlin, Altpreußen, Schleſien verband, nahezu vollendet.

Noch niemals war dies Land ſo gerecht, ſo einſichtig, ſo ſorgſam regiert worden; doch die Nachſicht, welche der König den Theilnehmern an dem polniſchen Aufſtande erwies, galt dem Adel für ein Zeichen der Schwäche. *)S. o. IV. 209.Die Begnadigten traten mit herausforderndem Trotze auf, dem Kröbener Kreiſe mußte die Krone wegen grober Geſetzwidrigkeiten das Wahlrecht für die Provinzialſtände vorläufig entziehen, und auf dem Landtage von 1834 wurden wieder die alten maßloſen Beſchwerden über die Vergewaltigung der polniſchen Sprache vorgebracht. Drei Viertel der Ritterſchaft ſtimmten dafür, von den Abgeordneten der Städte nur zwei, von den Bauern nur einer. Da verlangte der Adel die itio in partes, die nur zur Wahrung der ſtändiſchen Sonderrechte geſtattet war; er brachte ſeine Klage eigenmächtig vor den Thron, obgleich die Mehrheit Einſpruch erhob und feierlich erklärte, ſie wolle keine politiſche Abſonde - rung von den übrigen Provinzen. Der König aber ſprach der proteſtiren - den Mehrheit ſeine Billigung aus und erklärte kurzab, den geſetzwidrigen Antrag der Ritterſchaft betrachte er als nicht vorhanden.

561Nationale Gegenſätze in Poſen.

Unabläſſig waren die Verſchwörer am Werke. Unter den Flüchtlingen in Paris hatte die Partei der Rothen das Uebergewicht erlangt und einen polniſch-demokratiſchen Verein gegründet mit Sektionen und Bundesgerichten, mit regelmäßigen Abgaben und der eidlichen Verpflichtung zu unbedingtem Gehorſam. Seine geheimen Agenten trieben überall ihr Weſen, in den Caſinos zu Poſen, Gneſen, Samter und auf allen den Adelsſchlöſſern, wo ſich die Edelleute nach altpolniſchem Brauche zur Winterszeit wechſel - ſeitig zu beſuchen pflegten, bis in Küche und Keller die letzten Vorräthe verzehrt waren. Nur ſelten erlangte die Regierung einige Kunde von dieſem unterirdiſchen Treiben;*)Flottwell’s Berichte an Brenn, 7. Febr., 11. März 1832. Tzſchoppe an Flott - well 18. Oct. 1834. und wer ſollte gar alle die ſchlechten Ver - führungskünſte kennen, denen die Pflichttreue der deutſchen Beamten täglich widerſtehen mußte? Nicht jeder Richter blieb ſtandhaft, wenn der polniſche Edelmann am Vorabend des Proceßtages den landesüblichen Vortermin hielt und durch ein gewaltiges Zechgelage die Gemüther der Beamten be - arbeitete. Als der König die vom polniſchen Aufſtande heimkehrenden jungen Beamten und Aspiranten begnadigte, verſetzte er ſie, auf den Rath ſeiner Miniſter, alleſammt in andere Provinzen**)Tzſchoppe’s Votum über die Begnadigung der Beamten, 15. Oct. 1832. und ſagte dem Provinzial - landtage rundweg: dieſe verführten jungen Leute müßten ſich an das deutſche Leben gewöhnen, die Sitten eines geſetzliebenden Volkes erſt kennen lernen.

Gefährlicher als alles Andere blieb doch die unverſöhnliche Feind - ſeligkeit des katholiſchen Clerus, an deſſen Spitze erſt der eifrige polniſche Patriot Wolicki, nachher der unberechenbar ſchwache Erzbiſchof Dunin ſtand. Faſt in jedem Lande gemiſchten Volksthums begünſtigt das römiſche Prieſter - thum die minder gebildete Sprache; wie viel mehr hier, wo das Polniſche zugleich die Sprache der katholiſchen Mehrheit war. Auch die deutſchen Prieſter konnten ſich der vorherrſchenden Geſinnung des Clerus ſo wenig entziehen, daß Flottwell, nachdem er ein halb Jahr im Lande war, zum Entſetzen des allezeit vertrauensvollen Miniſters Altenſtein ehrlich ein - geſtand: einen ganz zuverläſſigen Geiſtlichen habe ich bisher noch nicht ge - ſehen. ***)Flottwell’s Bericht an Altenſtein und Brenn, 17. März; Altenſtein an Brenn, 8. April 1831.Alle katholiſchen Deutſchen ſaßen zwiſchen zwei Stühlen. Unter den Bambergern, den aus Franken eingewanderten katholiſchen Bauern, wühlte der Clerus ſchon im Stillen, vorerſt noch ohne ſichtbaren Erfolg; und wenn ein Deutſcher eine Polin heirathete, ſo ging die Nachkommen - ſchaft regelmäßig dem Deutſchthum verloren, weil in den Ehen der Durch - ſchnittsmenſchen die Frau über Volksthum und Glauben der Kinder zu entſcheiden pflegt. Auch die ſocialen Verhältniſſe der Bevölkerung waren den Deutſchen nicht günſtig; denn die Mehrzahl der Polen gehörte denTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 36562IV. 8. Stille Jahre.niederſten Schichten der Geſellſchaft an, ſie rechtfertigte hier wie überall den Namen der Proletarier und vermehrte ſich ſchneller als der deutſche Mittelſtand.

So geſchah es, daß die deutſche Geſittung trotz der beträchtlichen Ein - wanderung doch nur langſam vorwärts ſchritt, und ungeduldige Deutſche ſchon an ſchärfere Mittel dachten. General Grolman empfahl gleich nach dem polniſchen Aufſtande die Vernichtung der Provinz Poſen, dergeſtalt daß ihre Trümmerſtücke den drei benachbarten treuen Provinzen zugetheilt würden; und der vom Bundestag her bekannte Legationsrath Küpfer, ein geborener Poſener, rieth der Krone, unter der Oberleitung einer königlichen Immediatcommiſſion eine große Aktiengeſellſchaft zu bilden, welche den ge - ſammten Grundbeſitz des polniſchen Adels aufkaufen ſollte. *)Küpfer, Denkſchrift über die Germaniſirung des Großherzogthums Poſen. An Lottum überreicht 27. Jan. 1838.Es war der Schatten kommender Ereigniſſe; das gegenwärtige Geſchlecht mit ſeinem knappen Staatshaushalte konnte ſich ſo kühner Pläne nicht unterwinden. Aber der Zuſtand in der Provinz ward immer unleidlicher. Die beiden Nationen haßten ſich nicht nur, ſie verachteten einander auch; wie der Deutſche alle Niedertracht und Unredlichkeit mit dem Worte polniſche Wirthſchaft bezeichnete, ſo konnte ſich der Pole den ſparſamen Ordnungs - ſinn der Deutſchen nur aus einem angeborenen Bedientengeiſte erklären.

Niemand empfand dieſe Verſchärfung der nationalen Gegenſätze ſchmerz - licher als die wenigen vornehmen Polen, welche weder ihr Volksthum ver - rathen noch von dem preußiſchen Staate abfallen wollten. So der alte tapfere General Chlapowski und der beſtgebildete Mann unter den preu - ßiſchen Polen, Graf Eduard Raczynski. Wie viele Arbeit hatte der kunſt - ſinnige Graf aufgewendet um ſein Heimathland zu bilden und zu ſchmücken; er hatte der Stadt Poſen ihre ſchöne Bibliothek und ihre Waſſerleitung geſchenkt; er bemühte ſich, durch eine landwirthſchaftliche Schule, durch eine Zuckerfabrik, durch Verbeſſerungen der Technik des Landbaues ſeine Stan - desgenoſſen zu geregelter Thätigkeit zu ermuthigen, und mußte doch erleben, daß ſeine geſammte Verwandtſchaft ſich in Verſchwörungspläne verlor, die er weder fördern noch hindern wollte. Unter ſo ſchwierigen Verhältniſſen führte das preußiſche Beamtenthum den Markmannenkrieg für unſer Volks - thum, für Recht und gute Menſchenſitte, und bei dieſen Kämpfen war ihm Deutſchlands öffentliche Meinung entſchieden feindlich. Wenn eine liberale Zeitung ſich ja einmal herabließ der friedlichen Eroberungen in der deutſchen Oſtmark zu gedenken, ſo brachte ſie einen Aufſatz aus der Feder eines un - zufriedenen polniſchen Edelmanns, der die Befreiung des Poſener Land - volks als eine preußiſche Gewaltthat verunglimpfte.

In den anderen Provinzen des Oſtens wurde das Stillleben dieſer Jahre faſt allein durch kirchliche Wirren geſtört. In Königsberg hielt die563Die Königsberger Mucker.Sekte des myſtiſchen Theoſophen Schönherr noch immer ihre ſeltſamen An - dachtsübungen. An ihrer Spitze ſtand jetzt der Prediger Ebel, ein ſchöner, feuriger, beredter Mann, der auf die Weiber einen unwiderſtehlichen Zauber ausübte und in geheimnißvollen Andeutungen von der Verklärung der irdi - ſchen Liebe ſprach; mit überſtrömender ſüßlicher Zärtlichkeit pflegten die Gläubigen einander zu begrüßen. Ein Kreis angeſehener Männer und Frauen aus den erſten Geſchlechtern der Provinz ſchaarte ſich um den be - geiſterten Schwärmer, darunter auch zwei Schwägerinnen des Oberpräſi - denten Schön; der aber verabſcheute Alles was von der Kritik der reinen Vernunft abwich, und belegte die Gemeinde der Erweckten mit dem Namen der Mucker , der ſich ſeitdem das Bürgerrecht in der deutſchen Sprache erworben hat. Nicht lange, ſo entſtanden finſtere Gerüchte über das geheime unzüchtige Treiben der Mucker, und bei der tiefen, heißen Leidenſchaftlichkeit oſtpreußiſcher Naturen ſchien es keineswegs unmöglich, daß die alte räthſel - hafte Verwandtſchaft von Sinnlichkeit und religiöſer Ekſtaſe ſich auch bei dieſer Sekte gezeigt hätte. Es fehlte nicht an Verdachtsgründen; doch irgend ein Beweis lag nicht vor und iſt auch bis zum heutigen Tage nicht zu erbringen. Der Haupt-Belaſtungszeuge war erſt vor Kurzem aus der Ge - meinde ausgeſtoßen worden und darum ſchon wenig glaubwürdig. Bei der Unterſuchung verfuhr das Conſiſtorium, das durchweg aus Schön’s ratio - naliſtiſchen Geſinnnungsgenoſſen beſtand, offenbar parteiiſch. Der Ober - präſident hielt ſich in ſeinem Gewiſſen verpflichtet, die verhaßte Gemeinde mit Stumpf und Stiel auszurotten; er trat ſo heftig auf, daß die Gläu - bigen ihn mehrmals in Berlin verklagten. Die Miniſter aber hielten zu ihm, weil nach Altenſtein’s kirchenpolitiſchen Grundſätzen jede Sektirerei vom Uebel war. *)Eingaben an das Staatsminiſterium: von Frau v. Bardeleben, 18. März, vom Prediger Dieſtel, 11. Nov.; Altenſtein’s Votum, 29. April 1837, nebſt Voten von Mühler, Rochow, Rother.In letzter Inſtanz erklärte das Kammergericht endlich die behaupteten unzüchtigen Handlungen für unerwieſen, und verurtheilte den Sektirer Ebel nur wegen Verletzung ſeiner geiſtlichen Amtspflicht. **)Das ſkandalſüchtige Buch von W. H. Dixon, Spiritual Wives, London 1868 iſt reich an falſchen Angaben und für den Hiſtoriker kaum benutzbar.

Sieben Jahre hindurch beſchäftigte dieſer Muckerproceß die ohnehin erregte Provinz und verbitterte die Gemüther auf’s Aeußerſte. Nichts konnte der werdenden Oppoſition willkommener ſein als ein Skandal unter Geiſtlichen und Edelleuten. Obwohl Ebel keineswegs auf dem Boden des Augsburger Bekenntniſſes ſtand und die Orthodoxen von jeher ſeine erklärten Feinde waren, ſo wurden ſie doch von dem herrſchenden Rationalismus der Mitſchuld bezichtigt; jeder Kirchlichgeſinnte hieß bei den aufgeklärten Königs - bergern ein Mucker und Heuchler. Der Adelshaß der Liberalen ſchwelgte in kühnen Erfindungen und erzählte Unglaubliches von der Sittenverderbniß der ehrenfeſten oſtpreußiſchen Ariſtokratie. Auch die Judenſchaft Königs -36*564IV. 8. Stille Jahre.bergs, die bereits ihre Macht zu fühlen begann und an dem Dr. Jacoby einen ſchlagfertigen Wortführer beſaß, hatte ihrer Schadenfreude kein Hehl. Schön aber war nicht der Mann die Parteien zu beſchwichtigen. Mit dem orthodoxen neuen General-Superintendenten Sartorius lebte er in offener Fehde, und ſelbſt der milde, bürgerfreundliche commandirende General v. Natzmer mußte über den liberalen Oberpräſidenten Beſchwerde führen, als dieſer einem Landſtande, der in ſeiner Landwehruniform er - ſchienen war, in Gegenwart eines Generals geſagt hatte: Sie können den Rock eines freien Mannes tragen, und tragen den Rock eines Dieners! Der König gab dem beleidigten Offizierscorps Genugthuung durch eine Cabinetsordre und ertheilte dem Oberpräſidenten einen ſehr milden Verweis wegen ſeines beſtändig herausfordernden Betragens, indem Sie ſich tadelnde und verunglimpfende Urtheile über die An - ordnungen der oberen Behörden und Aeußerungen geſtatten, wodurch der Autorität der Regierung Abbruch geſchieht und gegen Ihre Abſicht Mißvergnügen in der Provinz verbreitet wird . Schön dankte gerührt für die Gnade des Monarchen und betheuerte, die Unzufriedenheit ſei in Preußen geringer als in den anderen Provinzen. *)Schön’s Eingaben an den König, 11. Febr., 11. März. Cabinetsordre an Schön, 25. Febr. 1834. Schön’s ſpätere Erzählung (Aus den Papieren III. 125) verdunkelt den wirklichen Hergang.Nichtsdeſtoweniger fuhr er fort, auf Alles was in Berlin zu Stande kam, öffentlich zu ſchelten, insbeſondere auf den Zollverein, der allerdings dieſer abgelegenen Provinz wenig Vortheil brachte. Er wußte, daß der König ſeiner bewährten Treue ſehr viel nachſah, und ließ es ſich wohl gefallen, wenn die Liberalen Oſtpreußens ihn als ihr Parteihaupt verherrlichten. Der altpreußiſche Freiheitsſtolz, der Zorn über die Mucker und die Grenzſperre, die Unge - duld thatenloſer Tage und die allezeit rege Königsberger Kritik wirkten zuſammen; die alte Krönungsſtadt wurde der Heerd einer unmuthigen, geiſtreichen, unerſättlich tadelſüchtigen Oppoſition, die um ſo weiter um ſich griff, da ſie ſich noch nicht im Handeln bewähren konnte.

Die Mark erlebte einige kirchliche Wirren, als das neue Berliner Geſangbuch eingeführt wurde, das Werk einer theologiſchen Commiſſion, der auch Schleiermacher und Biſchof Neander angehörten. Die Auswahl aus dem reichen Liederſchatze der evangeliſchen Kirche war wohl gelungen, der Wortlaut der alten Geſänge nur an wenigen Stellen, welche dem modernen Geſchmack Anſtoß zu geben ſchienen, mit ſchonender Hand ge - ändert, und der König hoffte, die Gemeinden würden das Buch freiwillig annehmen. Altenſtein aber verſuchte wieder durch Befehle einzugreifen. Da nahm ſich der Kronprinz des Rechtes der Gemeinden nachdrücklich an; er verlangte, daß den Gemeinden ihr Schatz von Liedern, der recht eigent - lich ihr Eigenthum ſei , erhalten bleibe: es giebt meiner Ueberzeugung zu Folge Dinge, die ſich ganz von ſelbſt verſtehen und die gar keines Ge -565Das neue Geſangbuch.ſetzes bedürfen. Es gelang ihm auch, den Streit glimpflich beizulegen. Freilich kam ſein Eifer für die Gewiſſensfreiheit immer nur den Alt - gläubigen zu gute; ſeinem hiſtoriſchen Sinne war das Geſangbuch nicht alterthümlich genug. Ich finde ſo ſchrieb er das Buch eben als Buch, ohne alle Nebengedanken, ein gutes Buch, welches hundert Meilen über dem ſkandalöſen früheren neuen Geſangbuch ſteht. Aber als Werk, als Produkt aus gegebenen Größen, finde ich es, ohne allen Umſchweif zu reden, ſchlecht, nicht etwa wegen Mängel an der Arbeit daran, wovon ich hier nicht reden will, ſondern ganz allein darum, weil nach meiner felſenfeſt ſtehenden Anſicht und Geſchmack der Homer, der Mahabarat, die Nibelungen etc. etc. etc. nach ſolchen Grundſätzen geändert, wie hier die alten teutſchen Lieder, und zwar von der Hand eines Erzengels, nothwendig eine Mißgeburt werden müſſen. Das iſt ſo ein Grundſatz, der in ſich eines und ſo mit meiner Individualität verwachſen iſt, daß ſich darüber mit mir gar nicht ſtreiten läßt. *)Kronprinz Fr. Wilhelm an Altenſtein, 24. Oct. 1829, 2. Mai 1830.

Noch weit ſchmerzlicher berührte den Kronprinzen die kleinliche Be - drückung der Altlutheraner; er hielt ſich verpflichtet, und mit Recht, dem befreundeten Miniſter offene Oppoſition anzukündigen. Allerdings beſtand kein vernünftiger Grund für den Austritt der Altlutheraner aus der unirten Landeskirche; denn die Union ließ die Glaubenswahrheiten unberührt, und auch die ſtrenglutheriſchen Cultusformen konnten ganz unverändert fort - beſtehen, da die Gemeinden und ihre Geiſtlichen zwiſchen den zahlreichen altlutheriſchen Formularen, welche der Anhang der neuen Agende enthielt, frei wählen durften. Aber wann hätte der religiöſe Glaube je nach Ver - nunftgründen gefragt? Unterwarfen ſich die Altlutheraner der Agende, ſo erkannten ſie die Reformirten als ihre evangeliſchen Brüder an, was der Meinung Luther’s unzweifelhaft zuwiderlief; und zu einem ſolchen Zugeſtändniß konnte ſie der Staat ſo wenig zwingen, wie er die Katho - liken verhindern konnte, die Proteſtanten für Ketzer zu halten. Die armen, verblendeten, durch fanatiſche Prediger aufgewiegelten Menſchen, meiſt kleine Leute aus Schleſien, hielten ſich in ihrem Gewiſſen verpflichtet, keinerlei kirchliche Gemeinſchaft mit den Reformirten einzugehen, und wie beſchränkt, hart, unduldſam ihr Glaubenseifer auch erſcheinen mochte, ſie bewährten ſich doch als die Erben jener tapferen alten Schleſier, welche einſt den kaiſerlichen Seligmachern getrotzt hatten. Die Breslauer Alt - lutheraner glaubten nur dem Gebote Gottes zu gehorchen, als ſie den König um die Erlaubniß baten, unter der Führung ihres gottſeligen Pre - digers Scheibel eine ſelbſtändige kleine Kirche zu bilden. Friedrich Wilhelm ließ ſie abweiſen; er meinte wie Altenſtein, die Bittenden behaupteten ja ſelbſt Proteſtanten zu ſein und gehörten mithin von Rechtswegen der evan - geliſchen Landeskirche an.

566IV. 8. Stille Jahre.

Erbittert durch dieſe Härte ſchritten die Gottſeligen bald zur Verletzung des Geſetzes: ſie ernannten eigenmächtig Repräſentanten, ſie maßten ſich die Verwaltung des Kirchenvermögens an, ließen durch Unberechtigte geiſt - liche Amtshandlungen verrichten. Umſonſt verſuchte Altenſtein durch per - ſönliche Ermahnungen und ausgeſendete Commiſſäre die Aufgeregten zu beſchwichtigen was er ſelbſt für einen Beweis ungewöhnlicher Lang - muth hielt. Umſonſt verſicherte eine Cabinetsordre vom 28. Febr. 1834: zur Union werde Niemand gezwungen, nur die Agende müſſe als unver - brüchliche Regel in der Landeskirche gelten. Eine ſolche Halbheit konnte die Widerſpänſtigen nicht gewinnen; denn unleugbar war die Agende nur der liturgiſche Ausdruck der Union, und zum Ueberfluß wiederholte der König ſtreng: daß die Feinde der Union ſich als eine beſondere Reli - gionsgeſellſchaft conſtituirten , dürfe als unchriſtlich nicht geduldet wer - den. Da die alten Rationaliſten noch in den meiſten hohen Kirchenämtern ſaßen, ſo führten die Conſiſtorien von Stettin und Breslau einen unab - läſſigen Krieg gegen Alles was ſie für ſektireriſch hielten. Dort wurde dem Freiherrn v. Senfft-Pilſach unterſagt, vor ſeiner Heerde ſelbſt zu predigen, hier den Peylauern verboten, bei den Herrnhutern im nahen Gnadenfrei das Abendmahl zu empfangen, da den Judenmiſſionaren durch einen un - freundlichen Conſiſtorialerlaß die Arbeit erſchwert. Den Pfarrer Hirſchfeld wollte das Breslauer Conſiſtorium abſetzen, weil er zwar die Agende an - nahm, aber die Formel Vater Unſer beibehielt. Da meinte der Kron - prinz: ihn deshalb aus ſeinem ſegensreich geführten Amte zu verſtoßen, wäre geradezu gräßlich; er verlangte, Altenſtein ſolle die Sache ein - ſchlafen laſſen . Unabläſſig nahm er ſich der Verfolgten an und ſagte dem Miniſter voraus, dies Zerren und Reizen werde den ſektireriſchen Geiſt nur ſtärken. *)Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 2. Mai 1830, 30. December 1831, 26. Juni 1833.

So kam es auch. Seines Breslauer Amtes entſetzt, eröffnete Scheibel von Sachſen aus einen grimmigen Federkrieg, insbeſondere gegen die Schrift des Königs über die Agende; freilich ſtellte er ſich an, als ob er den Biſchof Eylert für den Verfaſſer hielte. Er tobte ſo lange, bis die Führer der Orthodoxen, Hengſtenberg, Hahn, Olshauſen ſich förmlich gegen den Separatismus erklärten; von den namhaften Theologen ſchloß ſich nur einer, der Hallenſer Guericke den Sektirern an, und auch er verſöhnte ſich nach einigen Jahren wieder mit der Landeskirche. Die ſchleſiſchen Alt - lutheraner aber hielten aus; ſie beſchloſſen auf einer Synode zu Breslau (1835) ihre Sonderkirche nimmer aufzugeben. Als ein unirter Geiſtlicher ſtatt des abgeſetzten altlutheriſchen in die Pfarrei des ſchleſiſchen Dorfes Hönigern eingeführt werden ſollte, da rottete ſich die geſammte Gemeinde, die Frauen voran, ſchreiend und jammernd vor der verſchloſſenen Kirche567Die Altlutheraner.zuſammen; Soldaten mußten die Thüre ſprengen und blieben dann noch eine Weile auf Einquartierung. Bei allen dieſen traurigen Vorgängen handelte die Regierung ſtreng nach dem Buchſtaben des Geſetzes; aber wie deutlich zeigten ſie, daß die Kirchenpolitik des alten Territorialſyſtems ſich gänzlich überlebt hatte. Evangeliſche Freiheit war nur noch möglich, wenn eine neue Kirchenverfaſſung das gute Recht der Gemeinden ſicher ſtellte.

Nach langem Streit und Leid entſchloß ſich endlich ein Theil der Altlutheraner, insgeſammt mehr als tauſend Köpfe, zur Auswanderung. Ihren Glauben und ihren Cultus taſtete Niemand an, nur das evan - geliſche Recht der Gemeindebildung ward ihnen verſagt, und ſo wähnten ſie für die Religion zu leiden, während doch lediglich ein ungeheueres Miß - verſtändniß und ihr unduldſamer Haß gegen die Reformirten ſie aus dem Lande trieben. Welch ein Tag, als vierhundert dieſer armen Schleſier auf ihren Spreekähnen durch Berlin kamen und dann die Havel abwärts am Potsdamer Stadtſchloſſe vor den Fenſtern des Königs vorüberfuhren; ihre lutheriſchen Lieder klangen weithin über das ſtille Gewäſſer. Schien es nicht, als ob jene Zeiten des großen Kurfürſten wiederkehrten, da Paul Gerhardt, auch er ein Märtyrer mehr der Unduldſamkeit als des Glau - bens, die Mark hatte verlaſſen müſſen? Was aber damals, in dem harten Jahrhundert der Religionskriege, die Noth erzwang, das hätte jetzt, in weltlichen Tagen, eine kluge und weitherzige Kirchenpolitik leicht vermeiden können. Welch ein Widerſpruch! Friedrich Wilhelm fühlte ſich als den Beſchützer des evangeliſchen Glaubens in Deutſchland; ſo nannten ihn auch der fromme G. H. Schubert und die anderen bairiſchen Proteſtanten, denen er bei allen ihren kirchlichen Unternehmungen gern zu Hilfe kam. *)Eingaben an König Friedrich Wilhelm: von der Münchener Evangeliſchen Ge - meinde, 14. Jan. 1834; von G. H. Schubert, 10. Jan. 1836.Er feierte in dieſen Tagen tief bewegt den dreihundertjährigen Gedenktag der brandenburgiſchen Reformation. Und doch ward unter dem frommen Fürſten eine Verfolgung möglich, die aller evangeliſchen Freiheit widerſprach.

Im Lande erzählte man, der gute König wiſſe nichts von dem harten Verfahren ſeiner Beamten. Er wußte es wohl. Er verfolgte die kirchlichen Wirren tief bekümmert, mit geſpannter Aufmerkſamkeit und ließ ſogar den Auswanderern insgeheim Unterſtützung ſpenden; doch an ſeiner Kirchenpolitik ward er keinen Augenblick irr. In dieſem Jammer be - drängter und beirrter Gewiſſen ſah er nur eine ſtrafbare Auflehnung gegen das von Gott verordnete Kirchenregiment und fragte immer wieder ganz verwundert: wie ſind ſolche Verirrungen möglich in einem Lande unbe - ſchränkter Gewiſſensfreiheit? Er ahnte nicht, wie die deutſchen Nachbarn über dieſe Verfolgungen dachten. Die Lutheraner in Sachſen, Mecklen - burg, Baiern hatten bisher auf den ſchwächlichen Synkretismus der Union568IV. 8. Stille Jahre.geſcholten. Jetzt konnten ſie mit einigem Scheine behaupten, dies edle Unternehmen evangeliſcher Freiheit ſei im Grunde nur ein Werk der Ge - wiſſenstyrannei. Das Wachsthum der Union war auf lange Zeit hinaus gehemmt. Als die Tage der ſchlimmſten Quälerei überſtanden waren, faßte ſich der Kronprinz endlich ein Herz und verlangte im Staatsminiſterium, von Mühler unterſtützt (1839): den Sektirern müſſe eine Art Anerken - nung gewährt werden; verleihe man dann der evangeliſchen Kirche ſelbſt größere Freiheit, ſo werde dies Irrweſen bald in ſich verfallen . *)Kronprinz Friedrich Wilhelm an Altenſtein, 4. Febr. 1839.Aber ſo lange der alte Herr lebte war an keine Aenderung zu denken.

Wie ward dem frommen Steffens zu Muthe, als er um dieſe Zeit (1837), noch tief erſchüttert von dem Abſchied ſeiner lutheriſchen Glaubens - genoſſen, das Land Tyrol bereiſte, und ihm droben in den Alpen ein anderer Auswandererzug begegnete, mit hochbeladenen Wagen, Männer, Weiber und Kinder, über vierhundert Köpfe, auch zwölf ſteinalte Leute von mehr als ſiebzig Jahren zogen mit. Es waren die proteſtantiſchen Ziller - thaler, die letzte Glaubenskolonie der Hohenzollern; ein tapferer Bauer, Johann Fleidl führte ſie an. Die öſterreichiſche Regierung hatte ihnen den Aufenthalt in dem Lande der Glaubenseinheit nicht mehr geſtattet, weil die fanatiſche Cleriſei den ehrenfeſten Lutheranern unheimliche ſektireriſche Ausſchweifungen andichtete, und ſie endlich aufgefordert, ihren Wohnſitz in ein anderes Kronland, etwa nach Siebenbürgen zu verlegen. Daß Tyrol deutſches Bundesland war, kam in Wien natürlich nicht in Betracht; auch der Bundestag verlor kein Wort über die offenbare Verletzung des Art. 16 der Bundesakte, und kein deutſcher Publiciſt warf die Frage auf, ob dies Oeſterreich mit ſeinen Sonderrechten wirklich noch zu Deutſchland gehöre. Unter den Evangeliſchen des Hochgebirges aber hatte der preußiſche Name noch von den Zeiten der Salzburger Emigranten her einen guten Klang; nach dem nahen Baiern wollten ſie nicht ziehen, weil ſie der ultramon - tanen Geſinnung des Münchener Hofes mit Recht mißtrauten. Die Zillerthaler wendeten ſich an den alten König. Er verhandelte mit ihnen durch ſeinen Hofprediger Strauß und bot ihnen dann eine neue Heimath bei Schmiedeberg, am ſchönen Abhang des Rieſengebirges, wo ſie das ſchönere alte Heim doch nicht zu ſchmerzlich vermiſſen ſollten. **)Dönhoff’s Berichte, 18. 28. Mai, 1. Juli 1837.Die Koſten der Anſiedelung in dem dicht bevölkerten Schleſien ſtellten ſich freilich ſehr hoch, faſt fünfmal höher als die Zuſchüſſe, welche König Friedrich einſt ſeinen Koloniſten zu bewilligen pflegte. Die fromme hochherzige Gräfin Reden trat auf Friedrich Wilhelm’s Befehl an die Spitze eines Ausſchuſſes, der den Einwanderern über die böſe Zeit des Ueberganges hinweghalf, und nach Jahresfriſt waren ſie alle in den drei Dörfern des neuen Zillerthales untergebracht, ein treues, arbeitſames und bei allem Glaubenseifer lebens -569Die Zillerthaler.frohes Völkchen. In ihren ſchmucken Tyroler Häuſern, mitten unter den grünen Matten fühlten ſie ſich bald glücklich; ihre jungen Leute wurden bei den Görlitzer Jägern gern als Rekruten aufgenommen, und mancher zog nachher in die norddeutſche Ebene, um durch die heimiſche Milchwirth - ſchaft ſein Glück zu ſuchen. Mit dem königlichen Hauſe blieben ſie immer in naher Verbindung; Prinz Wilhelm der Aeltere und die Prinzeſſin Marianne kamen aus dem nahen Fiſchbach oft herüber, und außer ihrer Bibel war den Exulanten nichts ſo ehrwürdig wie das Bild des alten Königs in der Gemeindeſchule. Gott ſegne den König Friedrich Wilhelm III. ſo lautete die Inſchrift auf dem Söller des erſten Hauſes in Mittel - Zillerthal.

Die Provinzialſtände der öſtlichen Provinzen bereiteten der Regierung wenig Ungelegenheiten, ſie beſorgten mit treuem Fleiße ihre unſcheinbaren Geſchäfte. Die altſtändiſche Oppoſition gegen die Hardenbergiſche Geſetz - gebung regte ſich noch zuweilen, aber minder lebhaft als in früheren Jahren, und als die langwierigen Berathungen über den Entwurf der neuen Gewerbeordnung begannen, da zeigte ſich’s, daß die Grundſätze der Freizügigkeit und der Gewerbefreiheit den Preußen ſchon in Fleiſch und Blut gedrungen waren. Die Wiederherſtellung des alten Zunftzwanges wagte ſelbſt der conſervativſte aller Landtage, der brandenburgiſche nicht zu verlangen; man wünſchte nur freie Innungen mit ſtrengerer Zucht für Lehrlinge und Geſellen. Die Stände fühlten ſelbſt, wie wenig die öffent - liche Meinung nach ihnen fragte, und beantragten mehrmals, in Preußen, Sachſen, Schleſien, daß ihre Verhandlungen dem Volke zugänglicher ge - macht würden. Die neuen Gedanken freilich, welche im Bürgerthum zu gähren begannen, konnten in dieſer Vertretung des Grundbeſitzes keinen Ausdruck finden; ihre ſtill wachſende Macht ließ ſich nur an der freieren Sprache der Provinzialpreſſe errathen. Während die Berliner Zeitungen noch in dem alten Stumpfſinn verharrten, brachte der junge National - ökonom Schön in der Schleſiſchen Zeitung ſchon zuweilen ſcharfe Leit - artikel über innere Angelegenheiten. Mit ihm ſuchte Frhr. v. Vaerſt in der Breslauer Zeitung zu wetteifern; die Königsberger Zeitung aber diente den oſtpreußiſchen Liberalen zum Sprechſaal, ſoweit es die geſtrenge Cenſur erlaubte.

Sobald ein neuer politiſcher Gedanke ſich im Völkerleben durchgeſetzt hat, bewirkt die Kraft des Beharrens regelmäßig einen Rückſchlag der verletzten Intereſſen und Meinungen. Auch dem Zollvereine ſollte dieſe Erfahrung nicht ganz erſpart bleiben. Wohl ſtieg der Geſammtertrag der neuen Zölle von Jahr zu Jahr, und die ſüddeutſchen Finanzmänner hatten guten Grund, ſich ihres Entſchluſſes zu freuen. Baiern, das aus dem bairiſch-württembergiſchen Zollvereine kaum 2 Mill. fl. jährlich bezogen570IV. 8. Stille Jahre.hatte, empfing ſchon im erſten Jahre (1834) von dem Deutſchen Zollver - eine faſt das Doppelte, 3,895 Mill. fl. Im Jahre 1840 hatte ſich die zur Vertheilung gelangende Geſammteinnahme des Vereins ſeit 1834 ſchon um mehr als die Hälfte geſteigert; ſie war von 12,18 auf 19,01 Mill. Thlr. gewachſen. Und wie wenig bedeuteten dieſe finanziellen Gewinnſte neben dem gewaltigen Umſchwunge, der ſich überraſchend ſchnell in der Volkswirth - ſchaft des Südens vollzog. Preußens altbefeſtigte Großinduſtrie gewann durch den Zollverein nur ein etwas vergrößertes Abſatzgebiet. Der junge ſüddeutſche Gewerbfleiß dagegen erlangte mit einem male, was ihm bis - her ganz gefehlt hatte, einen weiten freien Markt, er erlangte Zölle, welche zwei - bis viermal höher ſtanden als die bairiſch-württembergiſchen und in der That einen genügenden Schutz gewährten; denn ſeit dem Jahre 1818 hatten ſich die preußiſchen Zölle nur wenig geändert, während die meiſten ausländiſchen Fabrikwaaren im Preiſe erheblich geſunken waren.

Unter ſo günſtigen Anzeichen erſtarkte die wirthſchaftliche Thatkraft des Südens zuſehends. Eine Menge neuer Unternehmungen entſtanden; um Lahr, Mannheim, Ludwigshafen, Eßlingen, Augsburg, Nürnberg bil - deten ſich ganze Fabrikbezirke; die Süddeutſchen erfuhren zum erſten male, was man im Norden ſchon kannte, daß verwandte Induſtriezweige ſich an einem Orte zuſammenzudrängen pflegen. Während der Jahre 1834 42 ſtieg die Einfuhr der zur Verarbeitung beſtimmten rohen Baumwolle im Zollvereine auf mehr als das Doppelte, von 121,000 auf nahezu 243,000 Centner. Da dieſe neuen Fabriken noch nicht feſt auf ihren eigenen Füßen ſtanden, ſo riefen ſie nach Schutz, und ganz plötzlich verſchob ſich die Stellung der volkswirthſchaftlichen Parteien. Vor Kurzem erſt hatten die Süddeutſchen über Preußens hohe Zölle geklagt, weil man in Berlin be - greiflicherweiſe nicht geneigt war, zugleich mit dem Wagniß des Zollvereins auch eine erhebliche Herabſetzung des Zolltarifs zu verſuchen. Kaum war der Verein geſchloſſen, ſo erſchien ſein Zollſchutz ſchon ungenügend. Süd - deutſchland wurde die Wiege einer ſchutzzöllneriſchen Partei, die den frei - händleriſchen Häfen und Handelsplätzen des Nordens ſcharf entgegentrat und ſchon jetzt ſtark genug war, jede Ermäßigung der Zölle zu verhindern. Die wenigen Veränderungen, welche der Zolltarif in den dreißiger Jahren erlitt, waren faſt alleſammt Zollerhöhungen; ſo wurden die Zölle auf Leinenzwirn, Seidenzwirn, Garn, gefärbte Seide etwas heraufgeſetzt, offen - bar um den Wünſchen der ſüddeutſchen Fabrikanten entgegenzukommen. Es rächte ſich aber jetzt, daß Süddeutſchland in ſeiner Gewerbegeſetzgebung ſo weit zurückgeblieben war. Selbſt manche wohlberechtigte Wünſche der Augsburger und Stuttgarter Schutzzöllner erſchienen den Berliner Ge - heimen Räthen verdächtig, weil der Süden für das claſſiſche Land alt - väteriſcher zünftleriſcher Vorurtheile galt.

Während die Producenten ſich alſo ſehr raſch in den Zollverein ein - lebten und nur die Milde ſeiner Geſetzgebung beklagten, begannen auch571Süddeutſche Schutzzöllner. Die Münzconvention.die ſüddeutſchen Kammern von ihrem thörichten Widerſtande endlich abzu - laſſen. Die beſchämende Niederlage des parlamentariſchen Liberalismus ließ ſich nicht mehr ableugnen; wie viel klüger, weitſichtiger, patriotiſcher als ſelbſt Paul Pfizer hatte ſich doch der unpolitiſche Geſchäftsmann Cotta während der Entſtehungsjahre des Zollvereins gezeigt. Im badiſchen Land - tage fiel noch manches böſe Wort über das Fabrikproletariat und die zu - nehmende Theuerung, über wirkliche oder vermeintliche Mißgriffe der Zoll - politik*)Blittersdorff, Weiſung an Frankenberg, 24. April 1839., und Preußen warf auf den Zollconferenzen ſchon das Bedenken auf, ob man den Landtagen geſtatten dürfe, über jede Einzelheit des Zoll - weſens mitzuentſcheiden. Indeß hielten beide Theile bald für klüger, ſo peinliche Fragen nicht zu berühren. Die Landtage gewöhnten ſich, die Zollpolitik den Regierungen allein zu überlaſſen, und in der That ver - liefen die drei erſten Zollconferenzen zu München, Dresden, Berlin alle - ſammt friedlich, nachdem Kühne in München zuerſt (1836) den rechten Ton wohlwollender, ſachlicher Erörterung angeſchlagen hatte.

Mehr als eine verſtändige Behandlung der laufenden Geſchäfte ließ ſich von dieſen Verſammlungen, wo das liberum veto herrſchte, freilich nicht verlangen. Daß die Einheit des Marktes auch die Einheit der Münzen und Maße bedinge, wurde erſt von Wenigen eingeſehen. Selbſt Dahlmann meinte noch, die althiſtoriſchen Münzen zerſtören, heiße den Glauben des Volks antaſten; weit ſchädlicher als die Mannichfaltigkeit des Geldes er - ſchien ihm die Verſchiedenheit der deutſchen Staatsverfaſſungen. Als der Wirrwarr des Münzweſens in den Guldenländern ganz unerträglich wurde, beſchloſſen die ſüddeutſchen Regierungen einen Theil der unterwerthigen alten Brabanter Münzen einzuziehen, worauf ſich ſofort der Schreckensruf erhob: das ſei der erſte Schritt zur Einführung des preußiſchen Thalers, den freilich Jedermann im Verkehre gern annahm. Das kluge Haus Coburg benutzte dieſe Gelegenheit, um ſeine berüchtigten Sechſer ſelber in Verruf zu erklären; die Baiern aber waren über dieſen Beweis nach - barlicher Redlichkeit ſehr aufgebracht und bezeigten dem Coburger Herzog, als er nach München kam, auf offener Straße ihren Unwillen. **)Berichte von Galen, Darmſtadt, 26. April 1837, von Dönhoff, München, 11. Mai, 16. Juni, 16. Juli, 25. Dec. 1837, 19. Dec. 1838.Ein Jahr nachher (1838) ſchloſſen die Staaten des Zollvereins eine Münzcon - vention, welche mindeſtens das Werthverhältniß zwiſchen dem Thaler und dem Gulden feſtſtellte. Das einzige wirkſame Heilmittel, die allgemeine An - nahme der Thalerwährung, war unmöglich, weil die Süddeutſchen, König Ludwig voran, faſt alleſammt glaubten, die Wohlfeilheit der Guldenländer rühre von ihrem elenden Münzweſen her und würde durch den unheimlichen Thaler zerſtört werden. Einem ſo mächtigen Vorurtheile wagten die weiter blickenden Finanzmänner nicht zu trotzen. Nur der Doppelthaler, gleich fl., im Volke Champagnerthaler genannt, ſollte von allen Staaten572IV. 8. Stille Jahre.geprägt werden und blieb fortan durch viele Jahre die einzige deutſche Vereinsmünze. Damit war nichts gebeſſert. Da die ſüddeutſchen Staaten ihren rheiniſchen Gulden noch niemals gemünzt hatten und auch jetzt noch ſtets zu wenig Guldenſtücke prägen ließen, ſo überſchwemmten unzählige fremde Münzen ihr Gebiet, nicht blos die unaufhaltſamen preußiſchen Thaler, ſondern auch alte Brabanter Kronenthaler, öſterreichiſche und fran - zöſiſche Münzen; wunderbar geduldig löſte das Volk täglich ſchwierige Rechenaufgaben mit Stücken von 2 fl. 42 Xr., 1 fl. 45 Xr., 1 fl. 10 Xr. Das Papiergeld vollends und die Banknoten galten nur in ihren Heimath - ſtaaten als geſetzliche Zahlungsmittel, und doch liefen ſie in allen Ver - einslanden um, weil der Verkehr ihrer nicht entbehren konnte. Wer eine Zahlung in Papier annahm, mußte wohl aufmerken, daß ihm nicht einige jener bedenklichen wilden Scheine mit untergeſchoben wurden, welche die kleinen Thüringer Landesväter im Vertrauen auf die Gutmüthigkeit der Nachbarn maſſenhaft anzufertigen liebten.

Aber wie viel auch noch an der Einheit des deutſchen Marktes fehlte, ein ungeheuerer Erfolg war doch erreicht. Was Stein einſt vergeblich erſtrebt hatte, als er während des Befreiungskrieges den Kriegsimpoſt in allen deutſchen Häfen einzuführen ſuchte, das gemeinſame Grenzzollweſen beſtand jetzt wirklich. Eine Maſſe widrigen Gezänks, das unſere Macht geſchwächt und den Charakter des Volkes geſchädigt hatte, war mit einem Schlage aus der Welt geſchafft. Die Nation zeigte ſich zufrieden; ſie fühlte, daß die Natur der Dinge zu ihrem Rechte gelangt ſei. Von dem Zollkriege der alten Sonderzollvereine wollte Niemand mehr hören; man lächelte nur, als Dr. Emminghaus zu Weimar jetzt noch, nach der Ent - ſcheidung, in einer gelehrten Schrift bewies, nach römiſchem Rechte ſeien Sachſen und Thüringen allerdings befugt geweſen, den mitteldeutſchen Handelsverein zu verlaſſen. Die Geſchäftswelt lebte ſich in die neuen Formen der Zollverwaltung bald ein und zeigte den Behörden ein ehrlich erwidertes Zutrauen. Im Jahre 1826 gewährte die Magdeburger Pro - vinzialſteuerdirektion den großen Firmen nur für 13,000 Thlr. Zoll - und Steuercredit; nach wenigen Jahren wuchs dieſe Summe ſchon auf mehr als eine Million, und ſie blieb im Steigen, da die geſtundeten Beträge ſtets pünktlich am Verfallstage eingingen. Unterdeſſen hatten die Kauf - mannſchaften der großen Plätze des Oſtens ſchon während der zwanziger Jahre Corporationsrechte erhalten, und neuerdings wurden auch in den Städten der weſtlichen Provinzen Handelskammern gebildet, in Elberfeld und Barmen 1831. So erlangte der Handelsſtand die Mittel, ſeine Wünſche und Beſchwerden nachdrücklich geltend zu machen. Wie lange hatten die Deutſchen über ihr unfindbares Bundesrecht und die Nichtigkeiten ihrer kleinen Landtage ziellos hin und her geſtritten. Nunmehr entſtand endlich eine wirkliche und wirkſame öffentliche Meinung, die in den Intereſſen - fragen der nationalen Handelspolitik gebieteriſch ihr Recht forderte.

573Der Zuckerkrieg.

Die Stärke dieſer neuen Macht offenbarte ſich ſofort zur Ueberraſchung des Beamtenthums, als der Zollverein ſeinen erſten Handelsvertrag mit dem Auslande ſchloß, den Vertrag mit den Niederlanden vom 21. Januar 1839. Seit dem Abfall Belgiens hofften die Holländer jene alte Handels - politik wiederherzuſtellen, welche ihnen einſt zur Zeit des römiſchen Reichs ſo reichen Gewinn gebracht hatte: ſie dachten Deutſchland mit Colonial - waaren und Fabrikaten zu verſorgen und dafür ihre Rohſtoffe aus dem armen Hinterlande zu beziehen. Um zunächſt den deutſchen Zuckermarkt zu beherrſchen, ſtellten ſie ein Halbfabrikat her, den Lumpenzucker, der bei den Zollämtern als Rohzucker declarirt wurde. Aber die Zeit war nicht mehr, da die Deutſchen wähnten, nur auf fremden Krücken gehen zu können; der Zollverein ſetzte ſich zur Wehr und verfügte, daß der Lumpenzucker fortan gleich dem raffinirten Zucker, mehr als doppelt ſo hoch denn bisher, verzollt werden ſollte (1836). Darauf folgten mehrjährige, verwickelte Unterhand - lungen: Holland gewährte der deutſchen Rheinſchifffahrt neue willkommene Erleichterungen und verlangte dagegen die Herabſetzung der Zölle auf ſeinen Lumpenzucker. Der König der Niederlande ſelbſt und ſeine Tochter die Prinzeſſin Albrecht von Preußen betrieben das Geſchäft mit Feuereifer; ſie meinten, die Oranier dürften jetzt doch einige Rückſicht erwarten, nach - dem man ihnen gegen die Belgier keine Hilfe gewährt habe. *)Berichte von Münchhauſen, 23. April, 3. Juni 1837; von Frankenberg, 23. April, 25. Mai 1837, 6. Dec. 1838, 25. Jan. 1839; von Berger, 27. März 1839.Graf Alvensleben gab ſchließlich nach und bewilligte, daß der Zoll auf den hol - ländiſchen Lumpenzucker bis zur Hälfte ermäßigt wurde; er befürchtete ſonſt einen zu großen Ausfall in den Zolleinnahmen, und gleich ihm ließen ſich auch die anderen Vereinsregierungen durch fiscaliſche Erwä - gungen beſtimmen. Die Entſcheidung erfolgte erſt nach heftigem Streite, einer der erſten preußiſchen Finanzmänner, Geh. Rath Windhorn nahm deshalb ſeinen Abſchied. **)Nach Kühne’s Aufzeichnungen.Aber kaum war ſie gefallen, ſo erhob ſich ein Sturm in der geſammten Preſſe; alle Welt rief entrüſtet, das heiße Deutſch - lands Intereſſen dem Auslande opfern. Die deutſchen Siedereien und die Rübenzuckerfabrikanten betheuerten, unter ſolchen Umſtänden könnten ſie den holländiſchen Wettbewerb nicht mehr beſtehen, und der Erfolg gab ihnen Recht. Die zwei großen Stettiner Siedereien kamen dem Untergange nahe; auch die Hanſeſtädte, denen der Zollverein die gleiche Vergünſtigung bewilligte, vermochten das ſiegreiche Holland nicht mehr aus dem Felde zu ſchlagen.

Nur zu bald lag es klar am Tage: die erſte diplomatiſche That der neuen nationalen Handelspolitik war ein ſchlimmer Mißgriff und zugleich eine Verletzung der Grundſätze des Zollvereins, der ſonſt alle Differentialzölle verwarf, diesmal aber einem unfreundlichen Nachbarlande574IV. 8. Stille Jahre.gefährliche Vorzugsrechte gewährte. Die Nation hatte mithin guten Grund zur Klage, und ſie ſprach ihren Unwillen ſo entſchieden aus, daß die Regierungen ſich ſchon nach zwei Jahren genöthigt ſahen, den unbe - dachten Vertrag aufzukündigen. Alſo errang die öffentliche Meinung einen erſten wohlverdienten Erfolg. Nirgends verrieth ſich ein Gefühl der Ueber - hebung, obwohl es natürlich nicht an ſcharfen Ausfällen auf Mynheer und die Politik des jusqu à la mer fehlte; überall nur das geſunde Selbſt - vertrauen einer ſtarken Nation, die endlich Herr im Hauſe ſein wollte. Der Zuckerkrieg bewies, wie viel politiſches Urtheil und nationalen Stolz dies Volk entfalten konnte, wenn ſich ihm nur ein ernſthafter Gegenſtand darbot; er bewies auch, daß der Zollverein ſchon zu einer volksthüm - lichen Macht geworden war, deren Wohl und Wehe Jeden berührte. Mit gutem Grunde ſang damals Hoffmann von Fallersleben den Stiftern des Zollvereins zu:

Denn Ihr habt ein Band gewoben
Um das deutſche Vaterland,
Und die Herzen hat verbunden
Mehr als unſer Bund dies Band.

Selbſt den Gegnern begann allmählich einzuleuchten, daß eine ſo ſtätig und ſicher erſtarkende Gemeinſchaft ſich nicht wieder auflöſen konnte. Wie Oeſterreich ſeinen Kampf gegen den Zollverein in der Stille einſtellte, ſo mußten auch die ſtolzen deutſchen Großbritannier lernen, mit der voll - endeten Thatſache zu rechnen, obgleich ihr gefeierter Publiciſt Rehberg ſo - eben noch zuverſichtlich erklärt hatte, der Zollanſchluß Sachſens an Preußen ſei eine baare Unmöglichkeit. Der neue hannöverſche Steuerverein ver - ſuchte eine Zeit lang den Schmuggel von Braunſchweig nach dem Zoll - vereinsgebiete zu unterſtützen; doch auf Preußens entſchiedene Forderung wurde der Unfug abgeſtellt,*)Frankenberg’s Bericht, 11. Jan. 1836. und bald fühlten beide Theile, daß ſie ſich weit wohler befanden, wenn ſie einander gegenſeitig bei der Verfolgung des Schleichhandels unterſtützten.

Schwerer gewöhnte ſich England an die neuen deutſchen Zuſtände. Palmerſton äußerte ſich hoch entrüſtet über den Zollverein, als auch Frank - furt ſich den Banden der britiſchen Handelspolitik entwand. Da erwiderte ihm der befreundete Hamburger Syndicus Sieveking: an Alledem ſei England ſelbſt mitſchuldig. **)Blittersdorff’s Bericht, 21. Juli 1835.In der That hatten die britiſchen Kornzölle bei dem Ausbau der deutſchen Zolleinheit als unfreiwillige Bundesgenoſſen kräftig mitgeholfen. Hätte England nach dem Befreiungskriege den ſchutz - loſen deutſchen Staaten durch kluge Handelsverträge die Einfuhr ihrer Naturerzeugniſſe erleichtert, ſo wäre der überlegenen britiſchen Induſtrie wohl noch für lange Zeit die Herrſchaft auf dem[deutſchen] Markte ge - ſichert, unſerem Gewerbfleiße die Selbſtändigkeit erſchwert worden. Der575Mecklenburgiſch-franzöſiſcher Handelsvertrag.Kornzoll bildete aber einen der Pfeiler, auf denen die alte ariſtokratiſche Parlamentsherrſchaft ruhte. Er blieb beſtehen und belaſtete den deutſchen Landbau ſchwer, den Getreidehandel insbeſondere durch die Wandelſcala; da die Zollſätze ſich nach den Marktpreiſen veränderten und die Schiffe noch ſehr langſam ſegelten, ſo konnte der deutſche Schiffer den Zoll für ſeine Getreideladung nie voraus berechnen. Alſo verſagte die britiſche Handelspolitik den Deutſchen das einzige werthvolle Zugeſtändniß, das ſie ihnen bieten konnte, und hoffte gleichwohl die Handelsherrſchaft über Deutſchland zu behaupten, indem ſie unſere Zwietracht ſchürte. Nun da der günſtige Augenblick längſt verſäumt war, trat ihr plötzlich der unan - greifbare neue nationale Handelsbund entgegen; die Deutſchen hatten ge - lernt, ſich durch vereinte Kraft zu ſchützen, die Zeit der engliſch-deutſchen Sonderbünde war dahin. Noch einmal verſuchten England und Frank - reich ihr altes Spiel zu erneuern. Während der Zollconferenzen von 1839 erſchienen Palmerſton’s Agent Dr. Bowring und der vielgewandte fran - zöſiſche Conſul Engelhardt aus Mainz als ungebetene Gäſte in Berlin, um durch Lockungen und Verheißungen einige der kleinen Staaten, vor - nehmlich Baden, gegen den Zollverein aufzuregen. Sie fanden aber eine ſehr kühle Aufnahme, Bowring’s anmaßende Zudringlichkeit mißfiel all - gemein, Beide mußten unverrichteter Dinge abziehen. *)Berichte von Frankenberg, 19. Juli, von Stockhauſen, 10. Aug. 1839.

Nur Mecklenburg gab ſich noch zum Werkzeuge ausländiſcher Ränke her, weil es in ſeinem Sonderleben verharren wollte, und ſchloß am 19. Juli 1836 mit Frankreich einen Handelsvertrag, der offenbar den Zweck verfolgte, den franzöſiſchen Weinen einen einträglichen Schleichhandel nach den benachbarten preußiſchen Provinzen zu ſichern. Die Vereinsregierungen waren empört; König Ludwig ſchalt heftig auf die undeutſche Geſinnung der Mecklenburger, auch Czar Nikolaus ließ in Schwerin ſeinen Unwillen ausſprechen, weil er jede Annäherung an den Bürgerkönig verabſcheute. **)Berichte von Frankenberg, 3. Nov. 1836, von Münchhauſen, 14. Febr., von Dönhoff, 4. März 1837.Indeſſen gelang es durch ſorgſame Grenzbewachung die üblen Folgen des Vertrags von dem Zollvereine abzuwenden. Es war nicht anders; die Weſtmächte mußten ſich darein ergeben, daß ſie den deutſchen Handels - bund nicht mehr auflockern, ſondern nur noch Macht gegen Macht mit ihm rechnen konnten. Und wie ſchwer es hielt, von einem ſo vielköpfigen, ſo mannichfaltige Intereſſen umſchließenden Vereine Zugeſtändniſſe zu er - langen, das erfuhr England jetzt ſchon bei vertraulichen Vorverhandlungen. Palmerſton ließ in Berlin unter der Hand die Ermäßigung der engliſchen Holzzölle anbieten, falls der Zollverein ſeine Zölle auf Baumwoll-Waaren herabſetze. Ein ſolcher Vorſchlag wäre früherhin, ſo lange Preußen allein ſtand, ſicherlich angenommen worden; jetzt aber lautete die kühle Antwort:576IV. 8. Stille Jahre.die Ermäßigung der Holzzölle bringe zunächſt dem engliſchen Schiffbau ſelber Vortheil, in Deutſchland nur den öſtlichen Provinzen Preußens, und dieſen wolle man die Intereſſen der ſächſiſchen Baumwoll-Induſtrie nicht aufopfern. *)Frankenberg’s Bericht, 31. März 1836.

Alſo wuchs das neue Deutſchland kräftig heran, zum Schrecken aller Mächte, die auf Mitteleuropas Schwäche zählten. Und doch war der Beſtand des Zollvereins gerade in dieſen erſten Jahren ſeines fröhlichen Aufblühens ernſtlich bedroht. Diesmal kam die Gefahr aus Preußen ſelbſt. Das fiscaliſche Intereſſe, das durch den Idealismus der Politik unleugbar ſchwer geſchädigt war, erhob ſich zur Abwehr. Die für Süd - deutſchland ſo günſtigen Ergebniſſe der Zollvereinsabrechnungen brachten den preußiſchen Staatskaſſen zunächſt nur Verluſte; die Vertheilung der Einnahmen nach der Kopfzahl erwies ſich als eine offenbare Ungerechtig - keit, zu Preußens Schaden. Preußens Zolleinnahmen betrugen im Jahre 1833 auf den Kopf der Bevölkerung 20 Sgr.; im folgenden Jahre, nach der Gründung des Zollvereins ſanken ſie faſt um ein Viertel, auf 15½ Sgr., und erſt im Jahre 1838 wurde der frühere Satz annähernd wieder er - reicht. In fünf Jahren einer unerhörten Verkehrsſteigerung erlitt Preu - ßens Finanzverwaltung alſo nur Einbußen. Von den 12,18 Mill. Thlr., welche der Zollverein in ſeinem erſten Jahre unter die Bundesgenoſſen vertheilte, warf Preußen allein 8,99 Mill. Thlr. ein, während Baiern nur 950,000, Württemberg nur 270,000 Thlr. an Reinertrag eingenommen hatte. Und dies ungeheuerliche Mißverhältniß zwiſchen den Einnahmen der Verbündeten ſteigerte ſich ſogar mit den Jahren. Bis zum Jahre 1840 wuchſen die Summen, welche Preußen zur Vertheilung einwarf, faſt um die Hälfte, bis auf 12,95 Mill., während Baierns reine Einnahme ſich nur auf 1,21 Mill. erhob, das Zolleinkommen Württembergs in den Jahren 1838 40 ziemlich gleichmäßig auf der Summe von 427,000 Thlr. verblieb. Allein in dem verkehrsreichen Sachſen ſtiegen die Einnahmen noch ſchneller als in Preußen, binnen ſieben Jahren von 1,07 auf 1,94 Mill. Thlr.; die übrigen Vereinsſtaaten erhielten alleſammt von Preußen beſtändig wachſende Auszahlungen.

Angeſichts dieſer Thatſachen ließ ſich gar nicht leugnen, daß Preußens Staatshaushalt von den ſüddeutſchen Verbündeten beſtändig übervortheilt wurde, wenngleich ein Theil der in Preußen verzollten Waaren ſpäterhin nach dem Süden weitergehen mochte, und mithin eine genaue Abrechnung unmöglich war. Miniſter Rother, der ſeit 1835 das Handelsamt als ein ſelbſtändiges Miniſterium verwaltete, und die anderen geſtrengen Finanz - männer der alten Schule fragten empört: ob jemals ein mächtiger Staat ſolche Opfer gebracht habe für eine erhabene Idee? Wo waren denn die erhofften politiſchen Vortheile des Zollvereins? Wer nur von oben hin577Die Finanzpartei gegen den Zollverein.ſah, konnte ſie nirgends entdecken; die Profeſſoren der Staatswiſſenſchaft waren mit ihrem Urtheil längſt im Reinen und diktirten in ihren Colle - gien alleſammt, der Zollverein ſei lediglich ein wirthſchaftlicher Bund, ohne jede politiſche Bedeutung. Er verhinderte ja nicht, daß die Abſtimmungen der Vereinsſtaaten am Bundestage oft ſehr weit auseinandergingen, daß Preußen und Baiern während der kirchlichen Wirren ſich ſcharf befehdeten. Bald ſchloß ſich Alvensleben der Meinung Rother’s an; desgleichen Schön und Ladenberg, die alten eigenſinnigen Gegner der Ideen Eichhorn’s; dazu endlich die reactionäre Partei am Hofe, die von deutſcher Politik überhaupt nichts hören wollte. *)Berger’s Bericht, 27. Aug. 1839.Sie Alle ſchalten auf den Süden, der ſo wenig Colonialwaaren verzehrte, auf die Leipziger Meßprivilegien und den im Erzgebirge noch immer blühenden Paſchhandel. Ueberall in Preußen, wo man die volkswirthſchaftlichen Segnungen des Zollvereins nicht unmittel - bar im eigenen Geſchäfte verſpürte, wurde die Klage laut: der großmüthige König laſſe ſich von ſeinen ſüddeutſchen Freunden auspumpen . Auch der junge Otto v. Bismarck theilte dieſe im Landadel weit verbreitete Anſicht.

Nach dem Rechnungsabſchluß vom Jahre 1834 erſtattete Alvensleben dem Könige einen Bericht, der den alten Herrn tief verſtimmte. Der Miniſter rechnete wie ein guter Hausvater ſo ſagten ſeine altmär - kiſchen Verehrer und deutete ſchon an, das ungünſtige Ergebniß des Rechnungsjahres ſei allein dem Zollvereine zuzuſchreiben. Schon damals war er entſchloſſen, den Zollverein verſuchsweiſe zu kündigen um beſſere Bedingungen für Preußens Staatshaushalt zu erlangen. **)Nach Kühne’s Aufzeichnungen.Der Kron - prinz jedoch trat ihm mit warmer patriotiſcher Leidenſchaft entgegen, und Kühne ſchrieb in Ranke’s Zeitſchrift eine Abhandlung über den deutſchen Zollverein , welche die volkswirthſchaftliche Bedeutung des Handelsbundes in das rechte Licht ſtellte. So ward die Gefahr für jetzt noch abgewendet. Die Finanzpartei aber gab ſich nicht zufrieden; ſie klagte ganz ſo wie ſie einſt über das neue Zollgeſetz von 1819 und den Untergang der einträg - licheren alten Acciſe geklagt hatte. Der General-Steuerdirektor Kuhlmeyer ſaß grimmig brütend über ſeinen Tabellen, und Alvensleben betheuerte: ich bin eher Preuße als Deutſcher. Im December 1839 überraſchte der Miniſter die Vereinsregierungen durch eine Denkſchrift, welche ſich über die Fortdauer des Zollvereins äußerte: zum mindeſten müſſe Preußen einen anderen Maßſtab für die Vertheilung des Weinzolles verlangen, da der ausländiſche Wein faſt ausſchließlich in Preußen verzehrt wurde, und des - gleichen für die Vertheilung der Branntweinſteuer. Auch die junge Rüben - zuckerinduſtrie wollte der hausväterliche Miniſter mit einer neuen Abgabe belegen und die Steuer womöglich den Einzelſtaaten zuweiſen, weil nur Preußen einen beträchtlichen Rübenbau beſaß. ***)Berger’s Bericht, 4. April 1839.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 37578IV. 8. Stille Jahre.

Durch dieſe an ſich keineswegs unbilligen Forderungen wurde doch das Daſein des Zollvereins ſelbſt bedroht; denn erlangte ein Staat Vor - zugsrechte, ſo konnten ſie auch anderen nicht verweigert werden, und dann ging die Grundlage dieſes Handelsbundes, die Gleichberechtigung ſeiner Mitglieder verloren. Alvensleben fühlte ſelbſt was auf dem Spiele ſtand, er lud den Sachſen Zeſchau und den Thüringer Gersdorff zu einer Unter - redung ein, um mit ihnen über die mögliche Auflöſung des Vereins zu verhandeln. Da faßte ſich Kühne ein Herz und widerlegte die Bedenken der fiscaliſchen Sparer in einer beredten Denkſchrift über die bisherigen Erträge und Erfolge des Zollvereins . Zum Glück war ſoeben der Rech - nungsabſchluß für das Jahr 1838 erſchienen, der zuerſt wieder auch für Preußen günſtig lautete und zu der Hoffnung berechtigte, daß die Aus - fälle der letzten Jahre binnen Kurzem gedeckt ſein würden. Da der Miniſter den erſten Fachmann des Zollvereins neuerdings über Zollſachen gar nicht mehr befragte, ſo berieth ſich Kühne mit ſeinem Freunde Beuth und ließ, allem bureaukratiſchen Brauche zuwider, ſeine Denkſchrift veröffentlichen. Im Mai 1840, kurz vor dem Tode des alten Königs, überreichte er ſie dem Kron - prinzen. Der aber ſprach dem ſonſt wenig geliebten liberalen Geheimen Rathe ſeine herzliche Zuſtimmung aus: nimmermehr ſollte dies Werk langjähriger Kämpfe, der erſte Anfang der praktiſchen deutſchen Einheit, die beginnende Blüthe der nationalen Wirthſchaft durch fiscaliſchen Klein - ſinn zerſtört werden. Alſo ließ ſich jetzt ſchon vorherſehen, daß der Zoll - verein auch dieſe Kriſis überſtehen und der preußiſche Staat fortfahren würde, der nationalen Handelspolitik ſchwere Opfer zu bringen. Auf den Dank der Nation konnte er freilich nicht zählen. Die Zeitungen küm - merten ſich noch wenig um ſtatiſtiſche Tabellen, und der liberale Philiſter lebte nach wie vor des Glaubens, daß die pfiffigen Preußen vom Zoll - vereine den Rahm abſchöpften.

Trotz der großen Fortſchritte dieſer Jahre blieb Deutſchland, den Weſt - mächten gegenüber, noch immer ein armes Land. Der Zinsfuß ſtand hoch, auf bis 5 Procent; größere Unternehmungen mußten ihre Capi - talien oft aus England entleihen, wo ſie für bis 3 Procent zu er - langen waren. Die Berliner Börſe war für das Ausland noch kaum vorhanden; ſie handelte faſt ausſchließlich mit inländiſchen Pfandbriefen, nur mit den ſpaniſchen Papieren wurde zur Zeit des Carliſtenkrieges eine ſchwindelhafte Speculation getrieben. Der geſammte Verkehr mit dem Auslande, zumal der überſeeiſche, hing noch, völlig ungeordnet, von tau - ſend Zufällen ab. Wenn der alte Goethe ſeinem getreuen Carlyle ein Käſtchen mit Geſchenken ſenden wollte, ſo mußte er oft Monate lang warten, bis ein befreundeter Hamburger Rehder ein Schiff nach Edinburg ab - gehen ließ; im Winter hörte dieſer Verkehr gänzlich auf. Und dazu die ſchlechthin unberechenbaren Koſten. Wer ſich nicht vorſah, konnte Wunder erleben. Im Jahre 1834 kaufte der ſächſiſche Conſul zu Neuyork im Auf -579Deutſchlands Armuth.trage ſeiner Regierung die neueſten Schriften über das amerikaniſche Eiſenbahnweſen; die Bücher koſteten 17½ Thlr., als aber die Kiſte end - lich über Havre in Sachſen anlangte, war ſie mit einer Frachtrechnung von 265 Thlr. 18 Gr. 3 Pf. belaſtet. Der Schiffsverkehr des Zollvereins unterlag jenen plötzlichen, räthſelhaften Schwankungen, welche immer das Kennzeichen unfertiger Zuſtände ſind. Im Pillauer Hafen waren im Jahre 1830 mehr als tauſend Schiffe ein -, und ebenſo viele ausgegangen; dann ſank der Verkehr beſtändig, im Jahre 1834 liefen nur 354 Schiffe ein, erſt gegen das Ende des Jahrzehnts wurde der frühere Stand wieder erreicht. An den Odermündungen erſtarkte die Schifferei nach langem Siechthum wieder, da die Getreideausfuhr nach England und Amerika zu - nahm, und die Raubzüge der Barbaresken ſeit der Eroberung Algiers auf - hörten. Bisher hatte der Stettiner Rehder ſeine Schiffe nie über Bor - deaux hinaus gehen und ſie regelmäßig daheim überwintern laſſen; fortan ſegelten ſie zur Winterszeit, Dank den Franzoſen, im ſicheren Mittelmeere. Auf der Elbe fuhren ſeit 1837 Dampfſchiffe zwiſchen Magdeburg und Hamburg; ſie beförderten aber blos Perſonen, Güter nur nebenbei, auch die kräftig anwachſende rheiniſche Dampfſchifffahrt diente noch faſt aus - ſchließlich dem Perſonenverkehre.

Jetzt, da das Verkehrsbedürfniß überall erwachte, empfanden die Deutſchen ſehr ſchmerzlich, daß ihr Land in dem claſſiſchen Zeitalter der Kanalbauten, im ſiebzehnten Jahrhundert ſo ganz verarmt und hilflos dageſtanden hatte. Deutſchland beſaß keine Kanäle mit einziger Aus - nahme der Marken und ihrer öſtlichen Vorlande, denen die Thatkraft des großen Kurfürſten und des großen Königs trotz der Ungunſt der Zeiten einige brauchbare künſtliche Waſſerwege geſchenkt hatte. Der größte Theil ſeines weiten Gebiets ſah ſich alſo allein auf den Wagenverkehr angewieſen, und die Koſten der Verfrachtung auf der Achſe ſtellten ſich auch auf den neuen Chauſſeen noch ſo hoch, daß umfängliche, ſchwer ins Gewicht fallende Waaren, Steine, Kohlen, Holz, ſelbſt das Getreide im Binnenlande nur auf kurze Entfernungen verſendet werden konnten. Das reiche Leipzig ent - behrte noch immer der Bürgerſteige, weil man die ſchweren Granitplatten aus den entlegenen Steinbrüchen nur zu unerſchwinglichen Preiſen her - beizuſchaffen vermochte. Was frommten der Landwirthſchaft die befreien - den Agrargeſetze, was der Zollverein, ſo lange ihre Erzeugniſſe vom großen Verkehre faſt ausgeſchloſſen waren? Durch die Fortſchritte der Technik war der Landbau längſt zu einem kunſtreichen Gewerbe geworden; und der Sachſe F. G. Schulze vertrat bereits die Meinung, die der alte Thaer noch bekämpft hatte, daß der große Landwirth akademiſcher Bildung be - dürfe. Er gründete in Jena 1826, dann auf dem alten Kloſtergute Eldena bei Greifswald, 1834, landwirthſchaftliche Lehranſtalten, die mit den be - nachbarten Univerſitäten in Verbindung ſtanden. Der Sprit, den das preußiſche Zollgeſetz von 1818 noch gar nicht kannte, galt jetzt ſchon für37*580IV. 8. Stille Jahre.ein wichtiges Brennmittel, die Brennerei ward dem Großgrundbeſitzer ſchon wegen der Schlempe und des Düngers unentbehrlich. Der Rübenbau nahm zu, und Amtsrath Koppe zu Wollup im Oderbruch, ſeit Thaer’s Tode wohl der erſte Landwirth Norddeutſchlands, erwies den Theoretikern der Freihandelsſchule mit ſchlagenden Gründen, daß die Erzeugung eines unentbehrlichen Genußmittels im eigenen Lande doch keine Künſtelei ſei, ſondern eine wirkliche Vermehrung des Volksvermögens. Gleichwohl konnte die durchgebildete Arbeitstheilung des Großbetriebs in die Landwirthſchaft noch nicht recht eindringen. Jedes große Landgut bildete gleichſam einen iſolirten Staat, der durch wohlberechneten Fruchtwechſel, durch die Ver - bindung von Ackerbau und Viehzucht die verlorenen Bodenkräfte ſtets ſelber neu zu erzeugen ſuchte. In dieſer Kunſt, ein Landgut durch ſich ſelber zu unterhalten, war Koppe der anerkannte Meiſter. Für den großen Markt zu arbeiten, einzelne Zweige der Landwirthſchaft mit virtuoſer Ein - ſeitigkeit zu pflegen und die Dungſtoffe von auswärts herbeizuſchaffen, ſchien ſelbſt dem unternehmenden Grundherrn unmöglich wegen der hohen Frachtkoſten.

Und wie dürftig, eng, kleinſtädtiſch blieb noch immer die Induſtrie, trotz der beſſeren Zeiten. An Stahl erzeugte ganz Preußen im Jahre 1826 nur 62,000 Ctr., an Gußſtahl 1832 gar nur 94 Ctr. Schienen und andere Eiſenwaaren, die nur mit Cokes hergeſtellt werden konnten, kamen aus England, weil die deutſchen Werke meiſt mit den Holzkohlen aus den nahen Waldungen heizten und die Fracht für die Steinkohlen nicht zu zahlen vermochten. Von Weſtphalens mächtigen Steinkohlenlagern wurde, wieder wegen der Frachtkoſten, nur ein kleiner Theil ausgebeutet. Im Bochumer Revier waren 130 Gruben im Betrieb, 400 ruhten; ſo rechnete 1833 Friedrich Harkort, der beliebte Volksmann Weſtphalens. Harkort ſelbſt leitete in Wetter an der Ruhr, Aſton in Magdeburg eine große Maſchinenfabrik. Jedoch im Jahre 1837 beſaß Berlin erſt 29 Dampf - maſchinen mit 392 Pferdekräften, ganz Preußen ihrer 419 mit 7355 Pferde - kräften; das Wagniß der koſtſpieligen Anſchaffung erſchien auch muthigen Gewerbtreibenden oft zu groß. Da und dort verſuchte man ſchon eine Gewerbeausſtellung zu veranſtalten, aber wie ſchwach war die Theilnahme; viele Fabrikanten trauten dem neuen Weſen nicht recht, die meiſten ſcheuten ſich ihre Werke dem rückſichtsloſen öffentlichen Urtheil auszuſetzen. Die Breslauer Ausſtellung von 1832 fand in einem Stockwerk eines mittel - großen Hauſes genügend Raum, und der Ausſchuß beſtimmte 100 Thlr. für den Ankauf der auserleſenen Prachtſtücke. Bis gegen das Ende des Jahrzehnts merkte die Maſſe des Volks noch ſehr wenig von dem Nahen einer neuen Zeit. Der Bauer ging dreimal jährlich in die Stadt auf den Jahrmarkt um neue Stiefeln oder was an Werkzeug fehlte einzu - kaufen; in der Tabaksbude fand er den Bedarf für ſeine lange Pfeife, und nebenan hielt, mit der Schwammmütze auf dem Kopfe, der vom Volks -581Die erſten Eiſenbahnen.liede viel beſungene arme Schwammmann ſeine Zündwaaren feil; dann gab es noch Pulsnitzer, Thorner oder Braunſchweiger Pfefferkuchen für die Kinder, und wenn es hoch herging, zeigten eine ſtarke Dame oder ein Affe auf dem Kameel ihre Künſte.

Erſt die Eiſenbahnen riſſen die Nation aus ihrem wirthſchaftlichen Stillleben, ſie vollendeten erſt was der Zollverein nur begonnen hatte, ſie griffen in alle Lebensgewohnheiten ſo gewaltig ein, daß Deutſchland ſchon in den vierziger Jahren einen völlig veränderten Anblick darbot; und immer wird es eine frohe Erinnerung unſeres Volkes bleiben, wie raſch, thatkräftig, entſchloſſen dies arme, politiſch zerſplitterte Geſchlecht ſich der weltumgeſtaltenden neuen Erfindung bemächtigte. Vieles traf zu - ſammen, was den Deutſchen den Entſchluß erſchwerte. Vor wenigen Jahren erſt hatte man die neuen preußiſchen Schnellpoſten wie ein Wun - derwerk angeſtaunt; der Chauſſeebau war überall erſt im Gange; ganze Landestheile, ſelbſt das reiche Vorpommern, entbehrten noch völlig der Steinſtraßen. Dies neue Straßennetz auszubauen und mit Schnellpoſten auszuſtatten, erſchien Allen als die nächſte Aufgabe; und ſie war ſchwierig genug, da der Zollverein die Waarenzüge vielfach verändert, eine Menge neuer Verkehrsbeziehungen geſchaffen hatte. Wer hätte es nicht für toll - kühn halten ſollen, in einer ſolchen Zeit der wirthſchaftlichen Umwälzung auch noch eine Erfindung einzuführen, welche den Poſtbetrieb völlig um - zugeſtalten, die Chauſſeen zum alten Eiſen zu werfen drohte?

Nach der Eröffnung der Bahn von Liverpool nach Mancheſter (1826) begannen in England wie in Nordamerika große Eiſenbahnbauten. Das britiſche Parlament hielt ſich aber noch lange mißtrauiſch zurück: ſein Comité erklärte es für unzuläſſig, der Eiſenbahnen wegen Opfer zu bringen oder das Nationalvermögen zu verſchleudern. Auf dem Conti - nente ging Belgien voran. Hier lagen die Verhältniſſe ſehr einfach. Der junge Staat bedurfte durchaus einer Bahn von Antwerpen nach dem Rheine um ſeinen Scheldehafen gegen den Wettbewerb der feindſeligen Holländer zu decken; da die reiche Bourgeoiſie die Kammern vollſtändig be - herrſchte, die großen Städte alleſammt nahe bei einander lagen, auch der Bau in der Ebene geringe Schwierigkeiten bot, ſo wurde ſchon 1834 ein Staatsbahnſyſtem für das ganze Land, nach Stephenſon’s Plänen, be - ſchloſſen. Die Franzoſen zauderten lange; ſelbſt der ſanguiniſche Thiers meinte noch im Jahre 1830, eine Eiſenbahn könne höchſtens zum Spiel - zeug für Großſtädter dienen. Nachher übernahmen ſie ſich in kühnen Ent - würfen, jedoch die Corruption ihres Parlamentarismus verhinderte raſches Gelingen. Die großen Geſellſchaften, die alleſammt von Paris aus nach den Grenzen zu ihre Bahnen bauen wollten, durften während langer Jahre keine Theilſtrecken eröffnen, weil die Regierung aus Furcht vor den Wählern keinen Landestheil bevorzugen wollte. So geſchah es, daß Frankreich noch in den vierziger Jahren nur eine Eiſenbahn beſaß, die582IV. 8. Stille Jahre.kleine Luſtbahn, welche die Pariſer in die Verſailler Gärten führte, und erſt unter der Herrſchaft des dritten Napoleon ſeine großen Bahnlinien eröffnen konnte, zu einer Zeit, da die deutſchen Hauptbahnen ſchon ſeit einem Jahrzehnt im Betriebe waren. Deutſchland ſchritt in dieſem fried - lichen Wettkampfe allen Völkern des Feſtlandes, mit der einzigen Aus - nahme Belgiens, weit voran, dem centraliſirten Frankreich ſo gut wie dem reichen Holland.

Schon im Jahre 1828 hatte Motz an eine Eiſenbahn zwiſchen den Stromgebieten des Rheins und der Weſer gedacht, um alſo die hollän - diſchen Rheinzölle zu umgehen*)S. o. III. S. 465.; der noch gänzlich unreife Plan ward aber aufgegeben, ſobald die Niederlande in dem Zollſtreite zurückwichen. Aus demſelben Grunde, um Holland zu bekämpfen, verlangte der weſt - phäliſche Landtag 1831 eine Bahn von Lippſtadt nach Minden. Zwei Jahre darauf forderte der rheiniſche Landtag eine Bahn von der belgiſchen Grenze zum Rheine und zum Kohlenbecken der Ruhr, eine zweite von Elberfeld nach dem Rheine; die Stände wünſchten, der Staat ſolle den Bau entweder ſelbſt unternehmen, oder einer Aktiengeſellſchaft eine Ver - zinſung von 4 % verbürgen. Größer gedacht war der Plan einer Bahn von Köln nach Minden, welchen Friedrich Harkort in einer Druckſchrift begründete und den weſtphäliſchen Ständen vorlegte. Aber wie konnte der König in dieſem Augenblicke, da die Verhandlungen über den Zollverein noch ſchwebten, ſich auf ſo weit ausſehende Entwürfe einlaſſen? Er er - widerte den Rheinländern, ihr Handelsſtand würde, ſo hoffe er, ſelber die Mittel für jene Bauten zu finden wiſſen. Unterdeſſen hatte der rührige Unternehmer Gerſtner in Böhmen die Budweis-Linzer Eiſenbahn zu Stande gebracht (1828); ſie diente jedoch lediglich der Abfuhr des Salzes aus dem Salzkammergute, wurde nur mit Pferden betrieben und konnte als große Verkehrsſtraße nicht benutzt werden. Eine Menge von Projecten tauchten auf, alle noch ſo unklar und nebelhaft, daß ſelbſt der unternehmende ruſ - ſiſche Finanzminiſter Cancrin zu Gerſtner ſpöttiſch ſagte: in hundert Jahren werde für dergleichen wohl die Zeit kommen. Die Staatsmänner klagten ſämmtlich über die tolle Eiſenbahn-Manie . Noch war man ja nicht ein - mal über die techniſchen Vorbedingungen einig. Hauptmann v. Prittwitz in Poſen, einer der tüchtigſten Ingenieure des deutſchen Heeres, empfahl ſtatt des Stephenſon’ſchen Syſtems die Anlage ſchwebender Eiſenbahnen in der Art der Drahtſeilbahnen. Vornehmlich ward bezweifelt, ob große Bahnſtrecken in dem armen Deutſchland überhaupt einen Ertrag bringen könnten; die Meiſten glaubten, nur zwiſchen nahe benachbarten größeren Städten, wie Berlin und Potsdam, würde ſich die Unternehmung lohnen.

Mit feuriger Begeiſterung, wie er jeden neuen Gedanken ergriff, wendete ſich König Ludwig von Baiern den Eiſenbahnplänen zu. Er beſaß583Nürnberg-Fürther Eiſenbahn.an dem Bergrath Joſeph v. Baader, dem Bruder des Philoſophen, einen geiſtreichen Sachverſtändigen, der gern in kühnen Plänen ſchwelgte und ſich ſelbſt den Veteran des deutſchen Eiſenbahnweſens nannte. Er ließ ſich auch nicht beirren, als ſein Ober-Medicinal-Collegium ihm beweglich vorſtellte, der Dampfbetrieb werde bei den Reiſenden wie bei den Zu - ſchauenden unfehlbar ſchwere Gehirnerkrankungen erzeugen, und damit mindeſtens die Zuſchauer Schutz fänden, müſſe der Bahnkörper mit einem hohen Bretterzaune umgeben werden. Ludwig ſendete ſeinen Architekten Klenze nach England, Belgien und Frankreich, um ſich über das Eiſenbahn - weſen zu unterrichten, und hörte es gern, wenn ihm Feldmarſchall Wrede von einem bairiſchen Kriegsbahnnetze ſprach, das in der Feſtung Ingolſtadt ſeinen Mittelpunkt finden ſollte. *)Dönhoff’s Berichte, 7. Dec. 1835, 25. Juni 1836.Am ſtärkſten lockte ihn der Gedanke einer großen Bahn von Lindau nach Hof, die ſich über Leipzig und Magde - burg bis Hamburg fortſetzen, den Zollverein zuſammenhalten, Deutſch - lands Hauptverkehr in die Richtung vom Norden nach dem Süden, von der Elbe zum Bodenſee ablenken ſollte; ſo ſollte ſein Baiern die Vor - hand im nationalen Handel erlangen. Er ließ deshalb ſchon in Berlin anfragen, empfing aber zur Antwort nur warmen Dank und die Ver - ſicherung, daß man den bairiſchen Vorſchlag reiflich erwägen werde. **)Ancillon, Weiſung an Dönhoff, 13. Febr.; Dönhoff’s Berichte, 27. Jan., 3. Oct. 1836.Von einer Eiſenbahn zwiſchen Ulm und Augsburg wollte er freilich nichts hören; ſie konnte den ſchwäbiſchen Nachbarn bedenkliche Vortheile bringen. Auch einen Schienenweg zwiſchen Würzburg und Frankfurt fand er bedenklich: das würde den Verkehr mit den gefährlichen Franzoſen zu ſehr erleichtern. Nun gar der Plan einer Bahn zwiſchen dem Elſaß und der Pfalz, den ihm der franzöſiſche Geſandte unabläſſig anempfahl, erweckte ſein patriotiſches Mißtrauen; ſo nahe an die Mainzer Bundesfeſtung wollte er die Straß - burger Garniſon nicht heran laſſen. ***)Dönhoff’s Bericht, 29. Mai 1837.Wichtiger als alle Eiſenbahnen erſchien ihm doch der ſo lange geplante Ludwigskanal. Der große Ge - danke, das Werk Karl’s des Großen zu vollenden, die Nordſee mit dem Schwarzen Meere zu verbinden, übte auf ſein romantiſches Gemüth einen unwiderſtehlichen Zauber; und als nun Rothſchild dienſtbefliſſen 8 Mill. fl. Kanalaktien an der Börſe unterbrachte, auch der Landtag ſich dem könig - lichen Lieblingsplane willfährig zeigte, da wurden die Eiſenbahnpläne über der Fossa Carolina bald faſt vergeſſen. †)Dönhoff’s Berichte, 23. Nov. 1835, 22. Aug. 1836.

Gleichwohl erlebte er die Genugthuung, daß in ſeinem Baiern die erſte deutſche Dampfbahn eröffnet wurde, die Bahn von Nürnberg nach Fürth, eine Strecke von einer Meile, die man mit Dampf in 15, mit Pferden in 25 Minuten durchlaufen konnte. Sie war das Werk des wackeren Nürnberger Bürgerthums. Joh. Scharrer brachte das Unter -584IV. 8. Stille Jahre.nehmen in Gang, Plattner verſchaffte das Aktien-Kapital von 175,000 fl., der Ingenieur Paul Denis leitete den Bau. Die Behörden zeigten ſich wenig günſtig, weil ſie für den Ludwigs-Kanal fürchteten; die Ansbacher Regierung kaufte nur zwei Aktien zu 100 fl. Erſt als die Unternehmer auf den ſchlauen Gedanken kamen, ihren Schienenweg Ludwigsbahn zu nennen, wurde die amtliche Welt etwas freundlicher. Groß war der Jubel, als am 7. Dec. 1835 der erſte Bahnzug unter Kanonendonner abfuhr; ein Denkſtein und ein Geſchichtsthaler verherrlichten Deutſchlands erſte Eiſenbahn mit Dampfwagen . Aber mit dieſer kleinen, nur für Perſonen beſtimmten Stadtbahn, die ſich bald mit 6 % verzinſte, war die Frage nach der Möglichkeit großer Eiſenbahnen noch nicht beantwortet.

Alle dieſe wohlgemeinten Entwürfe waren doch nur auf das Wohl einzelner Städte oder Landſchaften berechnet, und faſt ſchien es, als ſollten die Deutſchen durch den Fluch ihres Particularismus verhindert werden, die große Erfindung mit großem Sinne zu benutzen. Da trat Friedrich Liſt hervor mit dem Plane eines zuſammenhängenden, ganz Deutſchland umfaſſenden Eiſenbahnnetzes und zeigte durch die That, durch die glück - liche Vollendung einer großen Bahnlinie, daß ſein den Durchſchnitts - menſchen faſt unfaßbares Ideal ſich verwirklichen ließ. Als der Bahn - brecher des deutſchen Eiſenbahnweſens erwarb er ſich ſein größtes Ver - dienſt um die Nation, ſeine Stellung in der vaterländiſchen Geſchichte. Als er vor Jahren für die deutſche Zolleinheit gearbeitet, hatte er doch nur muthig ausgeſprochen, was die Mehrzahl der Zeitgenoſſen ſchon er - ſehnte, und in der Wahl der Mittel vielfach fehlgegriffen; jetzt aber, mit ſeinen Eiſenbahnplänen, eilte er allen Landsleuten weit voraus und be - währte überall die geniale Sicherheit ſeines Seherblicks. Nach ſeiner Flucht vom Hohenasperge hatte er mehrere Jahre in Nordamerika verbracht, und dort, in den glücklichſten Zeiten der jungen Union, ging ihm ein neues Leben auf; er ſah das gewaltige Ringen des Menſchengeiſtes mit der Macht der Elemente, eine Kühnheit der Unternehmungsluſt, wovon ſein ſtilles Vaterland ſich noch nichts träumen ließ; er ſah die vornehmſten und höchſt - gebildeten Männer der Nation ihre beſte Kraft der Volkswirthſchaft wid - men, was daheim im Lande der Gelehrten und Beamten ganz unmöglich war. Derweil er in den Blauen Bergen nach Kohlenminen ſuchte, träumte der arme Flüchtling von einem deutſchen Eiſenbahnſyſtem und ſagte: Im Hintergrunde aller meiner Pläne liegt Deutſchland.

Zur Zeit der Juli-Revolution kehrte er zurück, ungaſtlich empfangen von der alten Heimath. Der Hamburger Senat trug Bedenken, den ver - rufenen Demagogen als amerikaniſchen Conſul anzuerkennen, die Kauf - herren aber zuckten die Achſeln, als er von ſeinen Bahnplänen ſprach; denn ſoeben hatte ihnen der Engländer Elliot bewieſen, in Deutſchland ſei nur eine einzige Eiſenbahn möglich, die Bahn von Hamburg nach Han - nover, und daß ein Deutſcher gegen einen Briten unmöglich Recht haben585Liſt’s deutſcher Eiſenbahnplan.konnte, verſtand ſich in dieſer Stadt der künſtlichen Engländer ganz von ſelbſt. Bei König Ludwig klopfte er ebenſo vergeblich an; er ſuchte ihm zu beweiſen, ein Kanal vermöge doch nur gegebene Punkte zu verbinden, wäh - rend die Eiſenbahnen ein zuſammenhängendes Netz bilden könnten, auch ſei die erſehnte Verbindung zwiſchen der Nordſee und dem Schwarzen Meere ja ſchon längſt vorhanden, der beſte Weg führe durch die Straße von Gibraltar. Zugleich arbeitete er unermüdlich für die Zeitungen und nannte ſich ſelbſt gern Dr. Möſer den Jüngeren; ſeine Kunſt, ſchwere volkswirthſchaftliche Fragen leicht, lebendig, anſchaulich zu behandeln, er - innerte in der That an Juſtus Möſer’s ſchalkhafte Weiſe, nur daß be - dem ſtreitbaren Schwaben die Leidenſchaft immer wieder durchbrach. Wenig gelehrt, aber reich gebildet und im Leben erfahren, überragte er alle an - deren volkswirthſchaftlichen Publiciſten ſo weit wie ſein Landsmann Paul Pfizer die politiſchen. Die herrſchende abſtrakte Freihandelsdoctrin, die ſich gleich der Naturrechtslehre einen durch Naturgeſetze bedingten Normal - zuſtand der Volkswirthſchaft conſtruirte, ward ihm immer verhaßter. Er begann ſchon das wirthſchaftliche Leben hiſtoriſch zu betrachten, wie Savigny das Recht, und ſuchte die Geſetze der Volkswirthſchaftspolitik aus den wech - ſelnden ſocialen Zuſtänden abzuleiten.

Ein gütiges Geſchick führte ihn endlich nach Leipzig, eben in dem Augenblicke, da die Bürgerſchaft dem Anſchluß an den Zollverein entgegen - ſah und, ohne Waſſerſtraßen wie ſie war, ängſtlich nach neuen Verkehrs - wegen ſuchte. Hier oder nirgends, das ſah er auf den erſten Blick, mußte der Grundſtein des deutſchen Eiſenbahnſyſtems gelegt werden; wenn hier mit den Capitalien der bedrängten reichen Handelsſtadt eine große Ver - kehrsbahn entſtand, ſo konnte ihr in dem gewerbreichen Lande der Erfolg nicht fehlen, und der Anſchluß neuer Bahnen nach dem Norden und Weſten ergab ſich dann faſt von ſelbſt aus Leipzigs centraler Lage. Die wohl - wollende ſächſiſche Regierung geſtattete ihm den Aufenthalt, unbekümmert um die Warnungen der Wiener Hofburg und des unverſöhnlichen Königs von Württemberg. *)Frankenberg’s Bericht, 20. Jan. 1835.Sofort ließ er nun ſein Büchlein über ein ſächſiſches Eiſenbahnſyſtem als Grundlage eines allgemeinen deutſchen Eiſenbahn - ſyſtems (1833) erſcheinen. In großen Zügen entwarf er hier, mit wunder - barem Scharfblick faſt überall das Rechte treffend, ein Bild von dem Eiſenbahnweſen der Zukunft: Lindau und Baſel, Bremen und Hamburg, Stettin, Danzig und Breslau ſollten vorläufig die Endpunkte des deut - ſchen Bahnnetzes bilden, ganz wie es ſich nachher erfüllte. In Berlin, das er nur oberflächlich kannte, ſah er doch ſchon den Mittelpunkt des deutſchen Verkehrs; ſechs große Bahnlinien, die alleſammt ſpäterhin ge - baut worden ſind, wollte er dort einmünden laſſen. Sein Plan galt nur dem Zollvereine und deſſen Vorlanden; Oeſterreich ließ er, mit Ausnahme586IV. 8. Stille Jahre.der einen Linie Dresden-Prag, vorläufig unberückſichtigt, weil er einſah, daß dort ganz eigenartige Verhältniſſe vorlagen.

Durch dieſe Schrift wurden vier unternehmende junge Leipziger Kauf - leute für den Plan der Leipzig-Dresdner Eiſenbahn gewonnen: Wilhelm Seyfferth, A. Dufour-Feronce, C. Lampe und der Bruder des weſtphäli - ſchen Volksmannes, Guſtav Harkort. Sie veranſtalteten eine Verſamm - lung, dann eine Eingabe an die Regierung, und König Friedrich Auguſt ging gütig und einſichtig auf die Pläne ein. Nun erließ Liſt einen feu - rigen Aufruf zur Betheiligung an dieſer Nationalangelegenheit . Mit der Begeiſterung des Reichsſtädters redete er von der neuen Blüthezeit, die unſeren alten Städten jetzt kommen werde; ſeit dem glücklich voll - endeten Zollvereine bedürften die Deutſchen nur noch des wohlfeilen und ſchnellen Transports um ſich auf die Stufe der gewerbfleißigſten Nationen der Erde emporzuſchwingen . Für das Comité, das ſich nunmehr bildete, erſtattete Liſt dem Publikum fortlaufende Berichte, und hier ſprach er ſchon zuverſichtlich aus, was den Meiſten noch wie Wahnſinn klang: die Eiſen - bahnen müſſen auf den großen Routen zum ordinären Transportmittel werden. Er meinte ſogar hoffnungsvoll, die Eiſenbahnen würden die ſtehenden Heere beſeitigen oder vermindern. Glücklicherweiſe unterſchätzte man beträchtlich die Koſten, ſonſt wäre das Wagniß in der armen Zeit ſchwerlich begonnen worden. Liſt, der wie alle Prophetennaturen von aben - teuerndem Leichtſinn nicht frei war, meinte mit einer halben, höchſtens mit einer Million Thaler auszukommen. Das vorſichtigere Comité gab für Mill. Aktien aus und mußte ſich bald überzeugen, daß man der drei - fachen Summe bedurfte. Mittlerweile war aber das Unternehmen ſchon weit gefördert, Niemand wollte mehr zurück, und auch die Drillinge fanden jetzt Abnehmer.

Liſt empfahl den geraden Weg über Meißen durch das ſchöne volk - reiche Bergland der Mulde; ein engliſcher Ingenieur J. Walker warnte jedoch vor den Schwierigkeiten einer Gebirgsbahn, und man wählte den Umweg durch die Ebene über Rieſa, weil man der jugendlichen deutſchen Technik nicht zu viel zumuthen wollte. Dann begann das ſchwere Werk des Bodenankaufs, das der Staat durch ein verſtändiges, den Vorſchlägen Liſt’s entſprechendes Enteignungsgeſetz erleichterte. Zahlloſe Proceſſe mußten überſtanden werden. Ein Windmüller klagte, weil ihm die Bahn den Wind abfange, ein anderer, weil ſie die Ackerflur ſeiner Bauern und da - durch ſeinen Verdienſt geſchmälert habe; in einigen Dörfern leiſtete das Landvolk ſogar thätlichen Widerſtand. Unterdeſſen leitete Hauptmann Kunz den Bau umſichtig und thatkräftig. Eine Lokomotive, der Komet, wurde in England angekauft und eine Weile für Geld zur Schau geſtellt; auch der Wagenbauer und der erſte Lokomotivenführer kamen aus Eng - land. Im April 1837 konnte endlich die erſte Strecke von Leipzig nach einem nahen Dorfe befahren werden; dicht gedrängt ſtanden die Maſſen587Der Telegraph.zu beiden Seiten der Bahn, kein lautes Wort ließ ſich hören, ſo ſchreck - haft wirkte der unerhörte Anblick. Dann mußte der Einſchnitt bei Machern ausgeſchaufelt werden, durch eine Bodenwelle, welche der Rei - ſende heute kaum bemerkt; von weither kamen die Fremden, auch der länderkundige Frhr. v. Strombeck um das Wunderwerk zu betrachten und gründlich zu beſchreiben. Der ſchwierigſte Kunſtbau der Bahn, der Tunnel bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute ganz nach Bergmanns - brauch wie ein Stollen von vier niedergeſenkten Schachten aus in An - griff genommen; als Alles beendet war, bildeten die Knappen in ihrem Paradeanzug, mit Fackeln in der Hand, im Tunnel Spalier, um den erſten durchbrauſenden Zug mit dem alten Glückauf-Ruf des Erzgebirges zu begrüßen.

Die Herrſchaft des Geiſtes über die materielle Welt ſchreitet mit einer ſtets beſchleunigten Kraft vorwärts , ſo ſchrieb damals Babbage, der Theoretiker des engliſchen Maſchinenweſens. Ein techniſcher Fortſchritt folgte dem andern. Im Jahre 1839 brachte Hoſſauer das erſte Daguer - reotyp aus Paris in den Berliner Gewerbeverein; es war der beſcheidene Anfang einer neuen culturfördernden Induſtrie. Die eigenthümliche Wage - luſt des Jahrhunderts trat immer zuverſichtlicher auf, hoffnungsvoll ſah das heranwachſende Geſchlecht einer unermeßlichen Zukunft entgegen. Der - weil die Deutſchen ſich noch an ihrer erſten großen Eiſenbahn abmühten, verſuchte ſchon eine andere folgenſchwere Erfindung, die deutſche Erfindung der elektro-magnetiſchen Telegraphie ſich Raum zu ſchaffen. Das alte optiſche Telegraphenweſen hatte in Preußen während der jüngſten Jahre eine hohe Ausbildung erlangt. Auf eine Anfrage aus Berlin traf die Antwort aus Coblenz ſchon binnen vier Stunden ein, freilich nur bei hellem Wetter. Wenn das hohe Balkengerüſte auf dem Thurmhauſe in der Dorotheenſtraße einmal den ganzen Tag hindurch ununterbrochen ſeine räthſelhaften Bewegungen ausführte, dann meinten die Berliner be - denklich, die Zeiten würden ſchlimm. Aus Petersburg konnten die Nach - richten durch den Telegraphen und durch Kuriere in fünfzig Stunden be - fördert werden, und man hoffte noch auf größere Beſchleunigung, da der Czar ſoeben bei Fraunhofer in München 450 Fernröhre für die ruſſiſchen Telegraphen beſtellt hatte. Aber der optiſche Telegraph diente ausſchließlich den Behörden. Ein raſcher Nachrichtendienſt für den allgemeinen Gebrauch ward erſt möglich, als der junge Wilhelm Weber nach Göttingen kam und Gauß entzückt ausrief: der Stahl ſchlägt auf den Stein. Der Phy - ſiker und der Mathematiker verfolgten ſelbander die geniale Entdeckung Sömmering’s weiter*)S. o. II. 83.; ſie verbanden den elektro-magnetiſchen Apparat ihrer Sternwarte durch einen 3000 Fuß langen Draht, über den Thurm der Johanniskirche hinweg, mit dem Phyſikaliſchen Cabinet (1833). Ein echt588IV. 8. Stille Jahre.deutſches Bild: dieſe gewaltige Erfindung zuerſt in einer ſtillen Gelehrten - ſtadt, deren behäbige Bürgerſchaft ſich vom Welthandel gar nichts träumen ließ! Die beiden Gelehrten behaupteten, ihr Telegraph müſſe auch auf weite Entfernungen, Länder und Völker verbindend, mit der gleichen Sicher - heit wirken, und Wilhelm Weber erbot ſich (1836), neben der Leipzig - Dresdener Bahn, zunächſt bis Wurzen, eine Drahtleitung anzulegen; die Koſten des Verſuchs ſchätzte er auf 2000 Thlr. Das ſparſame Comité wollte aber eine ſolche Summe nicht an einen zweifelhaften Erfolg wagen. So blieb die deutſche Erfindung liegen, bis die Amerikaner nach Jahren ſich ihrer bemächtigten und ſie dem Weltverkehre dienſtbar machten.

Am 7. April 1839 wurde die ganze Bahn eröffnet, und noch lange erzählte ſich das Volk von den Abenteuern dieſer erſten Fahrten. Auf einer Station war ein Leipziger Student mitſammt einem unbezahlten Glaſe Bier dem Kellner hohnlachend davongefahren; in dem gefürchteten Tunnel pflegten die Damen reiferen Alters eine Stecknadel zwiſchen die Lippen zu nehmen, um ſich gegen die Liebkoſungen ausſchweifender Jüng - linge zu ſichern. Vorſichtige Aerzte wollten von der Tunnelfahrt, die faſt eine Minute währte, überhaupt nichts hören; ſie befürchteten, bei dem plötzlichen Luftwechſel müſſe ältliche Leute der Schlag rühren, und aller - dings waren die Wagen der dritten Klaſſe noch unbedeckt, die der zweiten ohne Fenſter. Daß die Schienen und die Räder durch die ungeheure Reibung nothwendig in Brand gerathen müßten, war die allgemeine An - ſicht; erſt die vollendete Thatſache ſchlug alle Befürchtungen zu Boden. Der Erfolg übertraf die kühnſten Erwartungen. Erſtaunlich wie dieſe erſte große Eiſenbahn auch auf den benachbarten Landſtraßen Mittel - deutſchlands ſofort die Reiſeluſt belebte; im Jahre 1828 beherbergten die Dresdener Gaſthöfe 7000 Fremde, in den erſten drei Vierteljahren 1839 bereits 36,000. Schon in ihrem erſten Jahre beförderte die Bahn 412,000 Perſonen und 3,85 Mill. Meilen-Centner. Im zweiten Jahre ſank der Perſonenverkehr um ein Geringes, weil ſich die erſte Neugierde etwas gelegt hatte; der Güterverkehr aber ſtieg mit einer ganz ungeahnten Schnelligkeit. Anfangs waren viele Frachtfuhrleute noch gemächlich auf der Landſtraße neben dem Dampfwagen hingefahren, weil die Spediteure die Koſten des Umladens ſcheuten. Erſt ſeit die Bahn Anſchlüſſe erhielt und die Anfuhr zu den Bahnhöfen erleichterte, riß ſie auch den Güter - verkehr an ſich, und nach einer Reihe von Jahren ergab ſich, daß ſie von den Gütern mehr einnahm als von den Perſonen. Dies widerſprach allen Vorherſagungen; hatte doch ſelbſt der berühmte Arago verſichert, eine Eiſen - bahn könne vielleicht Perſonen, doch unmöglich große Gütermaſſen befördern.

Leider erlebte Liſt an dieſem Triumphe ſeiner Ideen wenig Freude. Es giebt einſame Genies, die wohl durch ſchöpferiſche Gedanken ihre Nation erwecken und erheben können aber nicht fähig ſind, mit ihrer vollſaftigen urſprünglichen Kraft in dem alltäglichen kleinen Getriebe des öffentlichen589Leipzig-Dresdener Eiſenbahn.Lebens mitteninne zu wirken. Ihnen fällt meiſt ein tragiſches Loos. Wie einſt ſeinen Genoſſen in der württembergiſchen Kammer, ſo wurde Liſt auch dem Leipziger Eiſenbahn-Comité bald läſtig. Die Männer des Comités waren durchweg tüchtige, und keineswegs engherzige Geſchäftsleute, aber ſie dachten zunächſt an die Intereſſen ihrer guten Stadt, und wenn Liſt in den Generalverſammlungen von der großen Eiſenbahn Prag-Hamburg zu reden begann, ſo befürchteten ſie, nicht mit Unrecht, er werde die ängſt - lichen Philiſter abſchrecken. Der frohmuthige Mann bot, wenn er mit mächtigem Lachen ſeinen Löwenkopf ſchüttelte, ein Bild urkräftigen Be - hagens; doch zuweilen überfiel ihn eine furchtbare Hypochondrie, und dann war mit ſeiner unbändigen Grobheit kaum auszukommen. Alſo ſchob man ihn leiſe zur Seite und fand ihn ab mit einem Ehrengeſchenke von etwa 4000 Thlr., ohne ihm auch nur einen Antheil an den Aktien zu gewähren. Die braven Leipziger Kaufleute glaubten damit durchaus nicht kleinlich zu handeln; verfuhren ſie doch ſelber höchſt uneigennützig, ihre vier Direktoren bezogen 750 Thlr. Gehalt, ihr Präſident 1500. Jenem Engländer freilich, der ihnen den Weg durch die Ebene empfahl, zahlten ſie für ſeine kurze Reiſe faſt 7000 Thlr.; denn daß ein Brite höher ge - lohnt werden müſſe als ein Deutſcher, bezweifelte in dieſen fremdbrüder - lichen Tagen Niemand. Wie viel Unfug ſtiftete doch die deutſche Auslän - derei auch im Eiſenbahnweſen an. Nur aus Nachahmungsluſt wurde die allzu ſchmale Spurweite der Stephenſon’ſchen Bahn von der Leipzig - Dresdener Geſellſchaft und nachher, zum Schaden für die Nerven der Reiſenden, auch von den anderen deutſchen Bahnen angenommen. Und welche Fluth von franzöſiſchen oder franzöſiſch klingenden Wortungethümen drang jetzt in unſere Sprache ein, die doch gerade hier ihre ſchöpferiſche Kraft erproben konnte. Die Deutſchen hatten im Eiſenbahnweſen von den Franzoſen nichts zu lernen, ſondern ſchritten ihnen voran; und doch redeten ſie von der Compagnie, ihren Billet-Expeditionen und Conduc - teuren, von Perrons, Waggons, Coupés und Extra-Convois; es war leider die Zeit, da das Junge Deutſchland die Zeitungsſprache von Grund aus verwälſcht hatte.

Unerbittert durch ſeine Leipziger Erfahrungen arbeitete Liſt raſtlos weiter. Er gründete ein Eiſenbahn-Journal, das ſich freilich nicht lange halten konnte, weil es in Oeſterreich verboten wurde, und zwang durch ſein Beiſpiel die Preſſe, auf die ſo lange vernachläſſigten volkswirthſchaft - lichen Fragen gründlich einzugehen. Um ſeiner Bahn die Fortſetzung nach Norden zu ſichern, begab ſich Liſt 1835 nach Magdeburg, und die Kauf - mannſchaft, die erſt vor ſechs Jahren alle Eiſenbahnpläne abgewieſen hatte, nahm ihn jetzt mit offenen Armen auf; Allen voran der wackere Oberbürgermeiſter Francke, einer der angeſehenſten Bürger der Monarchie, denn wie im Süden die Abgeordneten, ſo galten im Norden die Gemeinde - beamten, Kospoth in Breslau, Bärenſprung in Berlin, Demiani in Görlitz,590IV. 8. Stille Jahre.als die eigentlichen Volksmänner. Die Magdeburger rühmten ſich: unſere Eiſenbahn nach Leipzig wird die erſte Bahn der Welt ſein, welche die Grenzen verſchiedener Staaten durchſchneidet! Francke trat an die Spitze eines Ausſchuſſes und ſendete nach Berlin eine Eingabe, welche das Mini - ſterium zwang, die Eiſenbahnfrage ernſtlich ins Auge zu faſſen. So brachte Liſt auch in Preußen die Kugel ins Rollen.

Mehrere andere Anfragen lagen bereits vor, wegen der Bahnen Berlin-Potsdam, Köln-Aachen, Düſſeldorf-Elberfeld, Düſſeldorf-Minden, Berlin-Stettin, und es ließ ſich jetzt ſchon erkennen, daß der preußiſche Verkehr vornehmlich einer raſcheren Verbindung des Oſtens mit dem Weſten bedurfte; die von Baiern befürwortete nord-ſüdliche Linie erſchien zunächſt noch minder dringend. Miniſter Rother aber konnte zu keinem der Entwürfe ein Zutrauen faſſen. Während faſt Jedermann noch glaubte, die Eiſenbahnen ſeien Wege wie andere auch, für Alle benutzbar, und könnten den Unternehmern nur ein hohes Wegegeld einbringen, erkannte der welterfahrene Bankdirector ſogleich, daß die Eiſenbahngeſellſchaften das geſammte Transportgeſchäft auf ihren Linien an ſich reißen würden; ein ſolches Vorrecht wollte er Privatgenoſſenſchaften nicht gewähren, er fürchtete den Mißbrauch des Monopols und einen ſchlimmen Aktienſchwindel. Aber auch der Staatsbau ſchien ihm nicht rathſam, denn er bezweifelte noch die Einträglichkeit der Eiſenbahnen und hielt den Staat für verpflichtet, weder die Poſt noch die beſtehenden Land - und Waſſerſtraßen zu ſchädigen. Sogar politiſche Beſorgniſſe ſtiegen ihm auf: durch die Bahnen nach dem Rhein, nach Baiern, nach Belgien werde Preußen vom Auslande ab - hängig. Daher ſchloß er ſeinen Bericht an den König mit der Erklärung: die Staatsregierung hat jetzt noch keine Veranlaſſung, Eiſenbahnen, welche als Handelsſtraßen dienen ſollen, auf eigene Koſten anzulegen, durch Be - theiligung mit verhältnißmäßig anſehnlichen Summen zu unterſtützen oder ihnen andere namhafte Opfer zu bringen und Vorrechte einzuräumen. *)Rother’s Immediatbericht, 16. Aug. 1835.

Verhielt ſich Rother nur kühl zuwartend, ſo trat der Generalpoſt - meiſter Nagler als entſchiedener Feind der Eiſenbahnen auf. Er hatte ſeit Jahren das Poſtweſen mit glänzendem Erfolge ausgebildet und hoffte für Seiner Majeſtät Fahrpoſt noch Größeres zu erreichen; was konnte er in dieſer neuen Erfindung anderes ſehen als eine ſchnöde Gewerbsbeeinträch - tigung? Auch das ſtrenge Rechtsgefühl des Beamtenthums erhob mannig - fache Bedenken. Nach dem Geſetze ſollte die Enteignung nur ausnahms - weiſe, um des öffentlichen Wohles willen, zugelaſſen werden; für die Chauſſeen und für ſolche Eiſenbahnen, welche den Staatszwecken dienten, wie etwa für die Magdeburg-Leipziger, konnte man ſie alſo mit gutem Gewiſſen be - nutzen, ſo meinten die alten geſtrengen Richter. Aber war es ſtatthaft, das Expropriationsrecht auch der geplanten Berlin-Potsdamer Bahn zu591Berathungen über das preußiſche Eiſenbahngeſetz.verleihen, die doch nur den frivolen Zweck verfolgte, den Berlinern das Luſtwandeln in den Potsdamer Gärten zu erleichtern? *)Frankenberg’s Bericht, 5. Febr. 1836.Der König ſelbſt zeigte ſich den Eiſenbahnen anfangs abgünſtig; er war zu alt um ſich noch für eine Erfindung zu erwärmen, welche die Freude ſeiner letzten Jahre, den Chauſſeebau zu ſtören drohte. Auch der durchaus demokratiſche Cha - rakter dieſes neuen Verkehrsmittels kam ihm ungelegen. Seit Jahrtau - ſenden hatte das ſchnelle Reiſen für ein natürliches Vorrecht der Fürſten und der Ariſtokratie gegolten; und dieſe uralten Sitten ſollten ſich jetzt mit einem Schlage ändern! So ſchlicht bürgerlich er auch dachte: daß er mit ſeinen Berlinern zuſammen in demſelben Zuge nach Potsdam fahren ſollte, ſchien ihm doch ſehr unanſtändig.

Der Thronfolger dagegen ſchwärmte für die Eiſenbahnen, noch weit feuriger ſogar als ſein Schwager König Ludwig. Es zählte zu den vielen Räthſeln dieſes ſo ſeltſam gemiſchten reichen Geiſtes, daß der Kronprinz die nüchternen Angelegenheiten der Volkswirthſchaft, die ſeiner romantiſchen Weltanſchauung ſo fern zu liegen ſchienen, immer mit beſonderem Eifer verfolgte und überraſchend richtig beurtheilte. Wie er den Zollverein ſtets gegen die Sparſamkeit der Finanzpartei vertheidigt hatte, ſo glaubte er auch feſt an die große Zukunft der Eiſenbahnen; er wollte die Bahnen am liebſten von Staatswegen bauen oder doch die Privatbahnen durch Zins - garantien, durch die erleichterte Enteignung und andere Vorrechte unter - ſtützen. Da der Thronfolger ſo ſtürmiſch drängte und die Anfragen der Eiſenbahngeſellſchaften ſich mehrten, ſo befahl der König eine gründliche Berathung über ein umfaſſendes Eiſenbahngeſetz, das die Stellung der Staatsgewalt zu der neuen Erfindung endgiltig regeln ſollte.

Die Verhandlungen währten ſehr lange. Eine Commiſſion aus Räthen aller Miniſterien ward gebildet; der Kriegsminiſter ſendete einen ſeiner beſten Offiziere, den gelehrten Oberſt Peucker. Dann berieth das Staats - miniſterium, endlich noch der Staatsrath. Der Streit ward ſehr lebhaft; die alten Miniſter hegten Zweifel, die jüngeren, Rochow, Mühler, Alvens - leben hielten zu dem Kronprinzen, weil ſie der Zukunft vertrauten. Es kam ſo weit, daß Rother nach einem heftigen Wortwechſel mit dem Thronfolger im April 1837 die Leitung der Handelspolitik niederlegte. Er beſchränkte ſeine Thätigkeit fortan auf die Seehandlung und auf die Bank, die er ſeit Frieſe’s Abgang übernommen hatte; das Handelsamt wurde wieder mit dem Finanzminiſterium vereinigt. **)Berichte von Münchhauſen, 8. 11. April, von Frankenberg, 11. April, 11. Sep - tember 1837.Der Gegenſtand war noch ſo neu, ſo unberechenbar, ſo gänzlich unerprobt, daß Niemand ſich einen Sach - kenner nennen durfte, und die tüchtigſten Männer in ihren Meinungen ſehr weit aus einander gingen. Der geniale Beuth, der doch noch in ſeinen592IV. 8. Stille Jahre.beſten Jahren ſtand und ſonſt jeden techniſchen Fortſchritt mit Feuereifer begünſtigte, betrachtete die Eiſenbahnen ſehr mißtrauiſch. Ihr erklärter Gegner aber war General Aſter, der erſte militäriſche Ingenieur des Zeit - alters, obwohl er doch ſelbſt bei ſeinen Feſtungsbauten ſchon oft kleine Eiſen - bahnen in Betrieb geſetzt hatte. Er meinte: die Eiſenbahnen halten wegen der Koſtbarkeit der Anlage und einer ziemlichen Ausſchließlichkeit des Ge - brauchs mit anderen weit wohlfeileren und in ihrer Anwendung theilbaren Erfindungen, wie z. B. Buchdruck und Schießpulver, den Vergleich nicht aus. Militäriſch brauchbar ſeien ſie nur dort, wo zufällig die Wege für den Krieg mit denen für die Induſtrie angelegten Bahnen zuſammen - paſſen; ein Eiſenbahnnetz nütze militäriſch nichts, weil es von der leiden - den Partei bald außer Betrieb geſetzt würde, auch der aktiven Partei zu wenig Sicherheit gewähre; und woher ſollten die Mittel kommen, um die zerſtörten Eiſenbahnen nach dem Kriege wieder herzuſtellen? *)Aſter, Bedenken über das Referat des Juſtizminiſteriums, 10. April; Aſter’s Separat-Votum, 30. April 1838. Frankenberg’s Bericht, 14. Juni 1837.Savigny erwiderte dem General wohl nicht ohne Zuthun des Kronprinzen, der wieder von Kühne Rathſchläge empfing: man beabſichtige lange, un - unterbrochene Eiſenbahnlinien, etwa von Berlin zum Rheine, und dieſe würden einem im Weſten kämpfenden Heere ſicherlich Vortheil bringen. **)Savigny, Erwiderung auf die Bedenken des Generals Aſter, 12. April 1838.

Mit der ganzen Feierlichkeit ſeiner Amtsmiene trat Nagler für ſein bedrohtes Poſtweſen ein und verſicherte: das gänzliche Lostrennen und Emancipiren eines höchſt beſchränkten und untergeordneten Communications - mittels der Eiſenbahnen von einer Staats-Inſtitution wie die Poſt, welche die wichtigſten Zweige der Communication für das Ganze leitet und fördert, kann nur höchſt nachtheilig ſein und muß den richtigen Standpunkt ganz verrücken. ***)Bericht des Staatsminiſteriums an den König, 1. Juli 1837.Noch einmal, in einer großen Denkſchrift legte er dem Könige ans Herz, daß das Poſtintereſſe den Eiſenbahn - Unternehmungen nicht aufgeopfert werden dürfe. †)Nagler, Denkſchrift über die Verhältniſſe der Poſt zu den Eiſenbahnen, April 1838.Noch langen Kämpfen begannen ſich die Meinungen doch zu klären. Den Staatsbau empfahl unter den hohen Beamten Niemand, obgleich David Hanſemann noch während der Berathungen in einer beredten Flugſchrift dringend vor den Gefahren der Privat-Eiſenbahnen warnte. Ein ſolches Wagniß erſchien zu groß für die beſchränkten Finanzen. Darum ward auch die ſchwere Frage, ob die Krone ohne Reichsſtände große Anleihen aufnehmen könne, für jetzt noch gar nicht erwogen. Andererſeits wollte der König auch nicht den Privatgeſellſchaften ein gemeinſchädliches Monopol gewähren; er er - klärte ausdrücklich: daß ſie zu ewigen Zeiten im Genuß der ihnen ein - geräumten Vorrechte verbleiben, iſt weder beabſichtigt noch zuläſſig. ††)Cabinetsordre an Müffling, 12. Sept. 1838.

593Das preußiſche Eiſenbahngeſetz.

Aus ſolchen Erwägungen entſtand, noch bevor die erſte große deutſche Eiſenbahn vollendet war, das preußiſche Eiſenbahngeſetz vom 3. Nov. 1838, eines der letzten denkwürdigen Werke des alten Beamtenſtaates, ein Geſetz, das zur Regelung ganz unbekannter Verhältniſſe beſtimmt war und doch ein halbes Jahrhundert voll ungeahnter Wandlungen lebenskräftig über - dauert hat. *)Cabinetsordre an Müffling, 3. Nov. 1838.Seine Stärke lag darin, daß die Staatsgewalt ſich ein ſehr weit ausgedehntes Aufſichtsrecht über die Privatbahnen, auch die Möglich - keit eines künftigen Staatseiſenbahnſyſtems vorbehielt und doch ſich weislich hütete, durch gehäufte Einzelvorſchriften einer noch nicht überſehbaren Ent - wicklung vorzugreifen. Alle Eiſenbahnen unterlagen der königlichen Geneh - migung, desgleichen im Einzelnen die Bahnlinie, der Bau der Bahn und ſeine Friſten, die Einrichtung der Wagen und Maſchinen; ſie mußten jederzeit in ſicherem und dem Zwecke entſprechendem Zuſtande erhalten werden. Der Staat ertheilte ihnen das Recht der Enteignung, wie den Chauſſeen, er prüfte ihre Rechnungen und beaufſichtigte ſie durch ſtändige Commiſſäre. Er behielt ſich vor, die Bahnen nach dreißig Jahren anzukaufen und be - legte ſie mit einer noch näher zu beſtimmenden Steuer, welche theils zur Amortiſation des Aktiencapitals, theils zur Entſchädigung der Poſt dienen ſollte. Die Höhe dieſer Entſchädigung blieb auch noch vorbehalten; vor - läufig ſchloß man mit den einzelnen Bahnen beſondere Verträge und ver - pflichtete alle zur unentgeltlichen Beförderung der Poſtſendungen eine wohlberechtigte Vorſchrift, welche allein der Poſt ermöglichte, auch unter veränderten Verhältniſſen ihre culturfördernde Arbeit zu vollziehen, doch freilich in der Folge zahlreiche, noch heute nicht beendigte Zwiſtigkeiten hervorrufen ſollte. Außerdem behielt die Krone das Recht, die Beſtim - mungen des Geſetzes nach freiem Ermeſſen abzuändern oder zu ergänzen, und die beſtehenden Geſellſchaften mußten ſich im Voraus ſolchen Aende - rungen unterwerfen. Alſo war dem Monopolgeiſte ein ſtarker Riegel vor - geſchoben. Die Geſchäftswelt klagte über die unmäßige Bevormundung; Hanſemann veröffentlichte eine ſcharfe Kritik und beſchwor die Regierung, die Capitalien des In - und Auslandes nicht abzuſchrecken. Aber die dehn - baren Vorſchriften wurden verſtändig gehandhabt, und ſie genügten für eine Reihe von Jahren, ſo lange der Staat noch nicht in der Lage war, ſelber den Bahnbetrieb zu übernehmen.

Inzwiſchen hatte auch in Preußen der Bahnbau begonnen. Zuerſt wurde die kleine Strecke von Düſſeldorf nach Erkrath eröffnet; dann folgte, noch im Jahre 1838, die Berlin-Potsdamer Bahn, und groß war das Erſtaunen, als dort täglich 2000, an Feſttagen ſogar 4000 Menſchen ver - kehrten. Schon nach Jahresfriſt mußte man dieſer Geſellſchaft geſtatten, daß ihre Züge auch in der Dunkelheit fahren durften, natürlich langſam und unter mannichfachen Vorſichtsmaßregeln. Dem Könige war das neueTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 38594IV. 8. Stille Jahre.Weſen noch immer nicht recht geheuer; er fuhr noch eine Zeit lang in ſeinem Wagen neben der Bahn her. Dann merkte er doch, daß ſelbſt ſeine edlen Trakehner Rappen mit der Lokomotive nicht Schritt halten konnten, und eines Tages erfuhren die Berliner zu ihrer freudigen Ueber - raſchung, Seine Majeſtät ſei heute früh mit dem Bahnzuge nach Potsdam gereiſt. Die Magdeburger Kaufmannſchaft rührte ſich kräftig. Derweil die Leipziger Bahn in Angriff genommen wurde, begannen ſchon erfolg - reiche Vorarbeiten für eine zweite Linie über Köthen nach Berlin und zu - gleich Verhandlungen wegen einer dritten Bahn nach Hamburg. Dort freilich zeigte ſich der Senat ſehr ängſtlich, er fürchtete die Abnahme der Elbſchifffahrt und die Verarmung der Schiffer. *)Berger’s Bericht, 24. Nov. 1838.

Sehr lange währten die Vorbereitungen für die wichtige Bahn von Köln zur belgiſchen Grenze. Da mußten ſich erſt zwei ſtreitende Geſell - ſchaften verſchmelzen. Dazwiſchen hinein ſpielten widerwärtige Verhand - lungen mit dem Brüſſeler Hofe, der damals, aufgeſtachelt durch die Weſt - mächte, dem preußiſchen Nachbarn eine wenig freundliche Geſinnung zeigte und, dem Geiſte der Neutralität zuwider, ſchon an eine umfaſſende Be - feſtigung ſeiner Oſtgrenze dachte. Der König ſchrieb deshalb ſelbſt an König Leopold und drohte mit dem Abbruch der diplomatiſchen Verbin - dungen (1837). Trotzdem ließ er, auf Werther’s verſtändigen Rath und die dringenden Bitten König Ludwig’s von Baiern, den Plan der Köln - Antwerpener Eiſenbahn nicht fallen. Die Bahn war zu werthvoll, nicht blos für den Handel der Rheinlande, ſondern auch für die deutſche Politik: ſie ſollte Hollands allezeit unberechenbare Zölle umgehen und das belgiſche Land feſter an Deutſchland anſchließen, da die Brüſſel-Pariſer Eiſenbahn immer noch nicht fertig wurde. **)Werther’s Berichte an den König, 27. Juni, 7. Oct.; Berichte von Münch - hauſen, 23. April, von Dönhoff, 29. Mai 1837.Endlich lenkte Belgien ein, und man ward handelseinig. Im Auguſt 1839, am Vorabend des königlichen Geburts - tages, eröffnete Ammon, der Vorſitzende der neuen Geſellſchaft, die erſte Bahnſtrecke. Er wußte, wie lebhaft Rother und mehrere der anderen Miniſter die Abhängigkeit vom Auslande fürchteten, und ſagte darum in ſeiner Feſtrede ſtolz: die deutſche Treue beruht auf feſtem Grunde, auf der angeſtammten Liebe für König und Vaterland, auf der klaren Erkenntniß unſerer nationalen Vorzüge, unſerer ſittlichen Volkswürde. Unterdeſſen beriethen die Kölner ſchon über die unentbehrliche große Eiſenbahn nach dem Oſten, nach Minden und Magdeburg.

Ungeheuer war der Umſchwung. Die Eiſenverzehrung des Zollver - eins ſtieg in den Jahren 1834 41 von 10,6 auf 18,1 Pfund für den Kopf der Bevölkerung, an Schienen, Roh -, Stab - und Schmiedeeiſen wur - den im Jahre 1834 erſt 367,000 Ctr. eingeführt, 1840 ſchon 1,203 Mill.;595Süddeutſche Eiſenbahnen.denn leider mußte man die Schienen noch aus dem Auslande beziehen. Wie die Welt ſich verwandelte, das lehrte das tragikomiſche Beiſpiel des Generalpoſtmeiſters Nagler. Dieſer Todfeind der Eiſenbahnen wollte jetzt, nach ſeiner Niederlage (1839), ſelber mit den Mitteln der königlichen Poſt eine Bahn von Halle durch die Goldene Aue nach Kaſſel bauen, mit Zweigbahnen nach Erfurt, Weimar, Gotha, und ſie zum Beſten des Poſt - Fiscus verwalten. Rother empfahl den Plan dem Könige aufs Wärmſte, da Poſt und Eiſenbahnen eigentlich denſelben Zweck verfolgten. Die an - deren Miniſter jedoch erklärten ſich dawider. Sie wollten das Monopol der Poſt nicht noch erweitern; und welch eine particulariſtiſche Thorheit, die uralte Handelsſtraße, die durch das innere Thüringen über Erfurt und Gotha führte, abſichtlich zu umgehen, blos weil der Weg durch die Goldene Aue mehr preußiſches Gebiet berührte! *)Rother, Denkſchrift über die Eiſenbahnen, dem Könige eingereicht Dec. 1839. Frankenberg’s Bericht, 25. Nov. 1839.

Als nunmehr auch Frankfurt in die Eiſenbahn-Bewegung eintrat, da zeigten ſich ſchon die dunklen Schattenſeiten der neuen Erfindung. Eine Uneigennützigkeit, wie ſie die Leipziger und die Magdeburger Kauf - leute bewieſen hatten, ließ ſich von der Reſidenzſtadt Rothſchild’s nicht erwarten; dort wurde der Kaufmannsgeiſt nicht durch eine monarchiſche Gewalt gezähmt. Schon die Frage, auf welchem Ufer des Mains die ge - plante Frankfurt-Mainzer Eiſenbahn angelegt werden ſollte, verurſachte ärgerlichen Zwiſt. Naſſau verlangte den Bau auf dem dichter bevölkerten rechten Mainufer, Heſſen begünſtigte ſein linkes Ufer; und der Bundes - tag erlaubte nicht, daß die Mainzer Feſtungsbehörden ſich unmittelbar mit der Geſellſchaft verſtändigten, obwohl der Feſtungsingenieur, der preußiſche Major Pientka ſogleich ein treffliches Gutachten abgegeben hatte. **)Berichte von Galen, 15. März, 3. Juni, von Sydow, 7. November 1837, von Schöler, 22. Juni 1838.Nach langem Streite ward endlich beſchloſſen, die Bahn auf dem rechten Ufer zwiſchen Frankfurt und Caſtel auszuführen (1838); denn eine Ueberbrückung des Rheins galt noch für unmöglich. Nun bot das gefällige Comité dem heſſiſchen Miniſter du Thil Aktien zum Kaufe an. Du Thil weigerte ſich, und auch Großherzog Ludwig erklärte: ich weiſe das weit weg, ſobald ihn ſein erfahrener Miniſter über die menſchenfreundlichen Abſichten der Un - ternehmer aufgeklärt hatte. Nur der Geh. Rath Knapp ging in die Falle und mußte dann, nach einer heftigen Interpellation in der Kammer, aus dem heſſiſchen Miniſterium ausſcheiden. Nachher wollte Rothſchild die heſ - ſiſche Regierung zwingen, den Plan binnen ſechs Wochen zu genehmigen, weil er für ſeine Speculationen den Zeitpunkt der Ausgabe der Aktien genau vorher wiſſen mußte. Auch dieſe Zumuthung wies du Thil entrüſtet zurück. So hielt ſich Heſſen die Frankfurter Börſenmänner tapfer vom Leibe. In Naſſau aber war der Präſident Magdeburg Comité und Re -38*596IV. 8. Stille Jahre.gierung in einer Perſon , und der Frankfurter Senat erließ ein, wie du Thil ſagte, haarſträubendes Expropriationsgeſetz, das den Grundbeſitzern eine viermal höhere Entſchädigung gewährte als das heſſiſche. Als die Taunusbahn endlich eröffnet war, wurde ſie gut verwaltet; ſie verlangte aber unbillige Preiſe, die höchſten in Deutſchland. Umſonſt verſuchte du Thil den Unfug abzuſtellen. Er ſcheiterte an dem Widerſpruche Frank - furts; denn in dieſer Republik, ſo ſagte er ſchwermüthig, iſt es einge - führt, daß ſtets eine Hand die andere wäſcht, und überdies waren zu viele Senatoren betheiligt. *)Nach du Thil’s Aufzeichnungen.Dieſe Frankfurter Erfahrungen blieben in Baden unvergeſſen. Dort berief die Regierung eine Notabeln-Verſammlung um über den Plan einer Eiſenbahn von Mannheim nach Baſel zu berathen. Der Gedanke fand Anklang, und Nebenius erwies den Notabeln in einer trefflichen Denkſchrift, die auch den anfangs widerſtrebenden Finanzminiſter Böckh überzeugte, daß der Staat, um den Aktienſchwindel und den Ein - fluß der Börſe fernzuhalten, die Bahn ſelber bauen müſſe. **)Otterſtedt’s Bericht, 23. Dec. 1837.Es war das erſte Programm des deutſchen Staats-Eiſenbahnweſens.

Die Größe der beginnenden ſocialen Umwälzung ließ ſich am ſicher - ſten daran erkennen, daß ſchlechterdings Niemand ihre Folgen genau vor - hergeſehen hatte. Nicht blos der Geſammtverkehr wuchs über alle Vor - herſagungen hinaus; hatten doch ſelbſt muthige Männer höchſtens gehofft, die Eiſenbahnen würden den Chauſſeen etwa ebenſo weit überlegen ſein wie dieſe vormals den alten Landwegen. Auch im Einzelnen kam faſt Alles anders als die klügſten Leute erwarteten. Der Betrieb der Eiſen - bahnen war unzweifelhaft ein Monopol, und jener Paragraph des preu - ßiſchen Eiſenbahngeſetzes, welcher auch anderen, nicht zur Geſellſchaft Ge - hörigen den Transport geſtatten wollte, erwies ſich ſogleich als ein todter Buchſtabe. Die Güter brachten mehr ein als die Perſonen, der Local - Verkehr mehr als der große, die dritte Wagenklaſſe mehr als die beiden erſten zuſammen; und wie verwundert hatte man noch vor Kurzem dem wackeren Friedrich Harkort zugehört, als er vorausſagte, der kleine Mann würde die Eiſenbahnkaſſen füllen wie den Steuerſäckel, ſchon um Arbeits - lohn zu gewinnen das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsſtraßen trennten ſich nicht ab von den Kriegsſtraßen, wie Aſter fürchtete, ſondern ſie zwangen den Krieg ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebeſtand nahm nicht ab, wie Jedermann glaubte; ſondern die Deutſchen erfuhren, daß in einem fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfniß neue Bedürfniſſe in unendlicher Folge weckt: die Nebenſtraßen beſchäftigten fortan mehr Pferde als früher die Hauptſtraßen.

Nun da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt auch erſt den Werth der Zeit zu ſchätzen, ja zu überſchätzen. Ein haſtiges,597Erſte Wirkungen der Eiſenbahnen.athemloſes Treiben nahm überhand, eine fieberiſche Begehrlichkeit nach dem Neuen und Unbekannten, ein Drang nach Genuß und Gewinn, der von dem überſpannten Idealismus des älteren Geſchlechts unheimlich ab - ſtach. Die Geſelligkeit verödete. Je mehr die Zahl der Briefe zunahm, um ſo dürftiger wurde ihr Inhalt, und ſeit die Zeitungen ſich mehrten, ſchrieb der gebildete Mann faſt nur noch Geſchäftsbriefe. Der anſchwel - lende Verkehr wirbelte alle Stände dermaßen durch einander, daß der Kaſtendünkel ſich kaum mehr halten konnte. Die Geſellſchaft demokrati - ſirte ſich, die Umgangsſprache ward kürzer, geſchäftlicher, aber auch grob und ungemüthlich. Der Durchſchnittsmenſch empfing eine Maſſe neuer Eindrücke und Kenntniſſe, doch je mehr ſie ſich drängten, um ſo weniger hafteten ſie. Das neue Geſchlecht krankte an einer vielſeitigen, oberfläch - lichen Bildung, an Ueberſättigung, Zerſtreutheit, Anmaßung. Die großen Städte wuchſen unaufhaltſam, manche der kleinen ſanken, eine krampfhafte Luſt an den großſtädtiſchen Genüſſen verbreitete ſich weithin im Volke, und mit der Macht der Maſſen-Capitalien ſtieg auch das Maſſen-Elend.

Für das zerriſſene Deutſchland war der Segen dieſer neuen Ver - hältniſſe doch ungleich größer als ihre Nachtheile. Der ſchreiende Wider - ſpruch geiſtiger Größe und wirthſchaftlicher Armſeligkeit konnte nicht fort - dauern ohne den Charakter des Volkes zu gefährden. Die werdende poli - tiſche Macht des neuen Deutſchlands bedurfte des Wohlſtandes und der kecken Unternehmungsluſt, das verhockte und verſtockte Treiben der Klein - ſtädter einer kräftigen Aufrüttelung. Der unwürdige polizeiliche Druck, der auf dem deutſchen Leben lag, konnte weder durch Kammerreden noch durch[Zeitungsartikel] überwunden werden, ſondern nur durch die phyſiſche Macht eines aller Ueberwachung ſpottenden gewaltigen Verkehres. Seit man das engere Vaterland in drei Stunden durchfuhr, kam auch dem ſchlichten Manne die ganze verlogene Niedertracht der Kleinſtaaterei zum Bewußtſein, und er begann zu ahnen was es heiße, eine große Nation zu ſein. Die Grenzen der Stämme und der Staaten verloren ihre tren - nende Macht, zahlloſe nachbarliche Vorurtheile ſchliffen ſich ab, und die Deutſchen erlangten allmählich, was ihnen vor Allem fehlte, das Glück einander kennen zu lernen. Darum nannte der deutſch-ungariſche Poet Karl Beck, in dem Feuilletonſtile der Zeit, die Eiſenbahn-Aktien Wechſel ausgeſtellt auf Deutſchlands Einheit . Auch dem Auslande gegenüber be - währte ſich dies erſtarkende Selbſtgefühl. Die erſten Eiſenbahnen wurden noch zum guten Theile mit engliſchem Capital erbaut. Nach und nach ver - ſuchte der deutſche Geldmarkt ſelbſtändiger zu werden und, was unendlich mehr bedeutete, ſeit die deutſchen Eiſenwerke wohlfeilere Kohlen erhielten, begannen ſie die engliſchen Schienen zu verdrängen. Erſt durch die billigen Eiſenbahnfrachten gelangte die Nation wirklich in Beſitz ihrer Eiſen - und Kohlenſchätze. Wieder einmal bewährte ſich das alte heilſame Geſetz des hiſtoriſchen Undanks. Deutſchland hatte von England gelernt und ſchob598IV. 8. Stille Jahre.nun, raſch erſtarkend, den Lehrer zur Seite. Große Fabriken entſtanden, die den Bahnen ihre Wagen und Maſchinen bauten. In Berlin gründete der junge Schleſier Borſig, nachdem er eine Zeit lang die Eiſengießerei der Firma Egells geleitet, eine Maſchinenfabrik für den Bau von Loko - motiven; mit 50 Arbeitern begann er, nach wenigen Jahren beſchäftigte er ihrer ſchon tauſend; er wußte, daß dem Muthigen die Welt gehört. In Nürnberg erweiterte ſich die kleine Wagenbau-Anſtalt der Fürther Eiſenbahn zu der großen Fabrik von Klett und Cramer. Ein neuer Stand von Ingenieuren und Eiſenbahntechnikern kam empor, ſehr reich an Talenten, unternehmend, ſtolz im Bewußtſein einer großen Cultur - aufgabe. Es war eine ſchöne friedliche Arbeit nationaler Befreiung; erſt im nächſten Jahrzehnt ſollte ſie ihre ganze Stärke offenbaren.

Unter jeder großen Umgeſtaltung des ſocialen Lebens müſſen einzelne Klaſſen und Gewerbe unfehlbar leiden. Eben in dieſen hoffnungsvollen erſten Jahren des Zollvereins und der Eiſenbahnen bekundeten ſich ſchon die Anzeichen des beginnenden Maſſenelends. An dem allgemeinen Auf - ſchwunge der Volkswirthſchaft nahm auch das Kleingewerbe theil. Doch nur die Zahl der Gehilfen wuchs beträchtlich, die der Meiſter wenig; ein ſelbſtändiges Geſchäft zu behaupten ward bei dem verſchärften Wettbewerbe immer ſchwieriger. Die Kleingewerbe der Seifenſieder, der Gerber, der Töpfer, der Handſchuhmacher gingen ſchon zurück, weil ſie den Kampf mit den großen Fabriken nicht aushalten konnten. Die Berliner Stadtver - ordneten klagten, daß die Koſten ihrer Armenverwaltung in den Jahren 1821 38 von 104,000 auf faſt 374,000 Thlr., weit ſchneller als die Bevölkerung, geſtiegen ſeien. Während die höheren Stände den ärmlichen Gewohnheiten der Kriegsjahre nach und nach entwuchſen, lebte der kleine Mann kaum beſſer denn zuvor; in vielen großen Städten nahm die Fleiſchverzehrung durchſchnittlich ab. Das Wachsthum der Städte ver - half manchem Hausbeſitzer plötzlich zum Reichthum, doch die Miethen, vor - nehmlich der kleinen Wohnungen, wurden unerſchwinglich. Großen Talen - ten wie Borſig eröffnete die junge Großinduſtrie eine glänzende Laufbahn; der Durchſchnitt der Arbeiter aber befand ſich in hilfloſer Lage. Der neue Stand der Fabrikanten, der ſich ſoeben erſt ſelbſt ſeine Stellung in der ariſtokratiſchen alten Geſellſchaft erobert hatte, gebrauchte ſeine Macht noch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit des Emporkömmlings. Es waren die Tage, da die engliſchen Fabrikanten ſich in ihren Verſammlungen gegen ihre Arbeiter geradezu verſchworen, einen höchſten Satz für den Arbeits - lohn, einen niederſten für den Preis der Waaren unter einander verab - redeten. Die durch Ricardo und Say im Geiſte der reinen Capitalsherr - ſchaft weitergebildete Lehre Adam Smith’s herrſchte noch überall; das Elend599Das Proletariat.der Arbeiter galt für ein unwandelbares Naturgeſetz, von Pflichten der Arbeitgeber war kaum die Rede.

Auch die Staatsgewalt, die in Preußen ſo oft ſchon durch ihre zwin - gende Gerechtigkeit ſociale Mißverhältniſſe ausgeglichen hatte, beachtete dieſe neuen Zuſtände noch wenig; denn überall lebt der Staat langſamer als die Geſellſchaft, er vermag ihren Wandlungen nur zu folgen. Was die Regierung durch ihre Schutzzölle, ihre techniſchen Lehranſtalten, durch die Darlehen der Bank und der Seehandlung für den Gewerbfleiß that, kam unmittelbar faſt allein den Unternehmern zu gute. Zumal die Noth der Hausinduſtrie in den Hungergebirgen Mitteldeutſchlands blieb den Blicken der Behörden noch beinah ganz verborgen. Dort war das Elend ſchon ſehr groß, tauſende fleißiger Menſchen litten unter den unberechenbaren Preis - ſchwankungen des Weltmarktes; in den armen Weberdörfern am Landes - huter Kamme ließ ſich ſchon bemerken, wie die durchſchnittliche Lebens - dauer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnahm. Alle dieſe ſocialen Gefahren waren erſt im Werden; ſelbſt in Englands unvergleichlich höher entwickelter Induſtrie gelangten die Arbeiter erſt nach dem Siege der Reformbill auf den Gedanken, eine eigene Arbeiterpartei zu bilden. Doch unverkennbar nahte die Zeit heran, da die arbeitenden Maſſen durch den Druck un - verſchuldeter Noth zum Selbſtbewußtſein erwachen, ganz neue Anſprüche an Staat und Geſellſchaft erheben mußten.

Einer der Erſten, welche dieſen Wandel der Dinge erkannten, war der an guten Einfällen allezeit reiche Philoſoph Franz v. Baader in München. Er veröffentlichte ſchon im Jahre 1835 eine Flugſchrift über das Miß - verhältniß der Vermögensloſen oder Proletairs ſo ſagte er mit einem bezeichnenden Fremdwort, denn ſeine beſten Gedanken ſchöpfte er aus der Beobachtung der reicheren Volkswirthſchaft Weſteuropas. Er ſah vor - aus, daß die ſocialen Fragen für die moderne Welt bald noch mehr be - deuten würden als die politiſchen, und verlangte, der Staat müſſe die Verhältniſſe der Arbeiter ordnen, nicht aus Wohlthätigkeit oder polizeilicher Vorſicht, ſondern um des Rechtes willen; als die berufenen Vertreter des Arbeiterſtandes betrachtete er freilich, nach ſeiner katholiſchen Weltanſchauung, die Prieſter. Mittlerweile drangen auch die Ideen des franzöſiſchen Socia - lismus langſam nach Deutſchland hinüber. Wie Heine eine Zeit lang mit dem Vater Enfantin zuſammenging, ſo ſchrieb Börne Beiträge für Raspail’s ſocialiſtiſche Zeitſchrift Le Réformateur. Den anderen Jung - deutſchen mußte die beſtehende Eigenthumsordnung ſchon darum wider - wärtig erſcheinen, weil ſie die Ehe bekämpften und überall Tiſch und Bett zuſammengehören; war doch bereits ihr Liebling Heinſe in ſeinem Ardin - ghello zu dem Ideale der Güter - und Weibergemeinſchaft gelangt. Wien - barg namentlich erging ſich gern im Preiſe der heiligen Armuth und verdammte die Ariſtokratie des Reichthums faſt noch härter als den Ge - burtsadel: Alle Roſen der Welt werden die Beute eines windigen Ge -600IV. 8. Stille Jahre.ſchlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien. Solche Schlag - worte der Feuilletons waren freilich nur Pariſer Reminiscenzen; ſie ver - riethen mehr den äſthetiſchen Widerwillen gegen die Proſa des Bürgerthums als eine durchgebildete Ueberzeugung. Zum entſchiedenen Socialismus bekannte ſich unter den Schriftſtellern des Jungen Deutſchlands nur Einer: Georg Büchner.

Das Verſtändniß für den Ernſt der ſocialen Frage war unter den Gebildeten noch kaum erwacht; wie ein Träumer wurde der junge Refe - rendar Schultze aus Delitzſch von ſeinen Amtsgenoſſen in Naumburg an - geſehen, wenn er ihnen ſeine ſtark ſocialiſtiſch gefärbten Anſichten über die Zukunft des Arbeiterſtandes vortrug. Wer aber in die Tiefen der Lite - ratur niederblickte, konnte nicht verkennen, daß es zu Ende ging mit dem friedlichen Stillleben der arbeitenden Maſſen; denn allezeit laſſen ſich die Wandlungen des ſocialen Lebens aus den Werken jener kleinen Schrift - ſteller, welche nur die Meinung aller Welt wiedergeben, am ſicherſten errathen. Bisher hatten die Schriftſteller der Leihbibliotheken den Unter - ſchied der Stände wenig beachtet; nur die Mißheirath, der natürliche Lieb - ling aller Putzmacherinnen und Ladenfräulein, bot allezeit einen willkom - menen Romanſtoff. Wie anders jetzt. Nichts harmloſer als die beliebten, fromm gemüthlichen Jugendſchriften des Dresdener Schullehrers Guſtav Nieritz; und doch, welch ein tiefer ſocialer Groll verbarg ſich darin: die armen Steindreher und Spitzenklöpplerinnen des Erzgebirges vertraten überall die mißhandelte Tugend, die Edelleute und Fabrikanten das hart - herzige Laſter, und faſt ſchien es, als ob Reichthum eine Sünde wäre. So ſpiegelte ſich das Leben in den Augen der bedrückten kleinen Leute. Derber und trotziger redete Adolf Glasbrenner in ſeinen Flugblättern: Berlin wie es iſt und trinkt , ein fröhlicher Geſell, dem man gleich anſah, daß er wirklich mit Spreewaſſer getauft war und nicht wie einſt Saphir ſeine Berliner Witze erkünſtelte. Da tauſchten der Eckenſteher Nante, die Droſchkenkutſcher, die Budiker, die Dienſtmädchen ihre Gedanken über Welt und Zeit aus; die Politik berührten ſie ſelten, aber allen Wider - ſprüchen und Lächerlichkeiten des ſocialen Lebens gingen ſie mit ihren ſcharfen Zungen zu Leibe, dreiſt, vorlaut, aufgeklärt, immer feſte auf die Weſte, immer in der ſtolzen Zuverſicht, daß der richtige Berliner Alles macht was gemacht werden kann. Der Witz iſt jederzeit demokratiſch, weil er Alles gleich ſtellt. Das erſtarkende Selbſtgefühl der Maſſen ſprach aus dieſen Berliner Sittenbildern ebenſo vernehmlich wie einſt aus dem Eulen - ſpiegel und den Grobiansſchriften des Zeitalters der Reformation.

Noch blieb der ſociale Friede überall ungeſtört; nur die Pforzheimer Goldarbeiter wagten einmal (1839) wegen Verlängerung der Arbeitszeit einen Aufruhr, den die Truppen niederſchlagen mußten. Was ſich aber von langer Hand her vorbereitete, das lehrte die Haltung der deutſchen Arbeiter im Auslande. Die große Mehrzahl der deutſchen Handwerks -601Mazzini in der Schweiz.burſchen in Paris und der Schweiz ging nach und nach in das Lager des extremen Radicalismus über. Ein ſolcher Umſchwung ließ ſich nur durch das ſociale Unbehagen erklären, da politiſche Sorgen dieſe Volksſchichten wenig bekümmern. Handwerksgeſellen bildeten den Stamm des Jungen Deutſchlands, das ſich im Jahre 1834 mit Mazzini’s Jungem Europa förmlich verbrüderte und den Wahlſpruch führte: Freiheit, Gleichheit, Huma - nität. Mazzini ſelbſt ſtand freilich auf einer Höhe, welche die Blicke der kleinen Leute kaum erreichen konnten. Sein leitender Gedanke war die Idee der Nationalität, und weil er dieſe lebendige Macht des neuen Jahr - hunderts mit Leidenſchaft ergriff, darum wirkte er tiefer, dauerhafter als alle anderen Demagogen des Zeitalters. Er ſagte ſich feierlich los von dem Weltbürgerthum der alten Carbonari und ihrer Pariſer Hohen Venta. In der Schrift Foi et Avenir, die er zur Antwort auf die franzöſiſchen Septembergeſetze (1835) erſcheinen ließ, verherrlichte er zwar den Aufruhr, den Kampf bis aufs Meſſer wider die beſtehenden Gewalten, den Bund der Unterdrückten gegen die Unterdrücker; aber nicht die Menſchenrechte der Jacobiner ſollten den Bürger begeiſtern, ſondern der Gedanke der Pflicht, der Hingebung, des Martyriums für das Vaterland; nicht die individualiſtiſche Demokratie von 1789 ſollte die Freiheit verwirklichen, ſondern ein ſociales Regiment, das jede Menſchenkraft in den Dienſt des Volkes, des Königs der Zukunft zwinge. Die franzöſiſche Revolution er - drückt uns, ſo rief er aus, wir äffen bisher nur dem Gebahren unſerer Väter nach und müſſen uns als religiöſe Partei wieder erheben; wir glauben an die heilige Allianz der Völker, wir glauben an die Freiheit und Gleichheit der Völker, wir glauben an die Nationalität, das Gewiſſen der Völker, wir glauben an das heilige Vaterland. Glauben und That! Uns gehört die Zukunft! Dies myſtiſche Evangelium der Verbrüderung gleichberechtigter Völker drang in mannichfachen Bearbeitungen weithin durch die Welt und entflammte nicht blos die Italiener, ſondern auch die unfertigen Nationen des Oſtens, Magyaren, Czechen, Serben, Rumänier.

Als Mittel zum Zweck hieß Mazzini jede Aufwiegelung willkommen; er hatte nichts dawider, wenn die Gebildeten unter den deutſchen Flücht - lingen, die ſich in Biel und Zürich zuſammenfanden, ihre Landsleute aus dem Handwerkerſtande durch rohe Brandſchriften bearbeiteten. Es waren meiſt alte Burſchenſchafter aus der Schule der Unbedingten: der Göttinger Rauſchenplatt, der Frankfurter Sauerwein, dann der Braunſchweiger Fein und der Heſſe Karl Becker, Beide berühmt als cyniſche Weltweiſe, denen das Waſchbecken und die Seife ebenſo verächtlich ſchienen wie das Hals - tuch und die Weſte. Auch der Bundestagsdieb Guſtav Kombſt fand ſich ein und erklärte, ganz im Geiſte Follen’s: wir Revolutionäre benutzen jedes Mittel, was unſerer Ueberzeugung nicht widerſpricht. In dieſen Kreiſen entſtand eine Zeitſchrift das Nordlicht , deren Sprache an Deutlichkeit nichts zu wünſchen übrig ließ: Ihr Arbeiter, Handwerker und Bauern,602IV. 8. Stille Jahre.Ihr ſeid der Kern des Volkes. Schüttelt ſie ab, die Feſſeln, die arbeits - ſcheue Müßiggänger Euch ſchmiedeten. Der Eine kommt ebenſo wenig mit Stiefeln und Sporen zur Welt, wie die Anderen mit Sattel und Zaum. Nur Vorurtheil und Willkür ſchaffen Herren und Knechte. Der Fürſt führt nicht weniger ſeinen Steiß bei ſich als die Anderen. Ein maſſen - haft verbreitetes Gedicht Hundert deutſche Handwerker , mit dem Bilde eines Gehenkten auf dem Umſchlage, führte der Reihe nach die Hand - werker vor, wie ſie bereit ſtanden, jeder mit ſeinem Werkzeuge, die Für - ſten einzuſperren, zu hängen, zu köpfen:

Ich bin der Hufſchmied Kilian,
Werd einen Käfig ſchmieden,
Drein man die Fürſten ſetzen kann,
Wenn ſie vom Thron geſchieden.
Das ſei die Volksmenagerie
Der aufgelöſten Monarchie.

Wehmüthiger erklang der Galgenhumor in dem Liede der Verfolgten des gutmüthigen, verbummelten Dichterleins Sauerwein:

Wenn die Fürſten fragen:
Was macht Abſalon?
Laſſet ihnen ſagen:
Ei, der hänget ſchon
Doch an keinem Baume
Und an keinem Strick,
Sondern an dem Traume
Einer Republik
Nichts blieb ihm auf Erden
Als Verzweiflungsſtreich
Und Soldat zu werden
Für ein freies Reich
Gebt nur Eure großen
Purpurmäntel her.
Das giebt gute Hoſen
Für das Freiheitsheer!

Eine Flugſchrift Geiſterſtimme der Gemordeten an Fränzchen, Fritz - chen, Nickel und deren Verbündete rechnete den Deutſchen die 300 oder 600 Mill. fl. ihrer Staatsausgaben vor Genaueres wußte der geſin - nungstüchtige Statiſtiker nicht anzugeben: Der Engländer zahlt ſeine Weltherrſchaft, ſeine Freiheit, der Franzoſe ſeinen Ruhm, ſeine Gleichheit, der Deutſche ſeine Knechtſchaft und ſeine Schande. Das iſt der Unter - ſchied. Durch ſeine geckenhafte Prahlerei that ſich unter den Verſchwörern der Nordfrieſe Harro Harring hervor; er nannte ſich Rebell aus Ueber - zeugung , verachtete Goethe als den beſternten Hofkoloß der Poeſie und bezeichnete in der Vorrede einer ſeiner zahlreichen Gedichtſammlungen ſeine eigene hiſtoriſche Stellung alſo: Die deutſche Bewegungspartei beſteht jetzt aus Studenten und Handwerksburſchen, und der Sänger dieſer Zeit -603Deutſche Flüchtlinge in der Schweiz.periode iſt Harro Harring. Ihm verdankten die Flüchtlinge das vielge - ſungene Lied:

Dreiunddreißig, Vierunddreißig,
Seid auf Euren Kopf bedacht,
Wenn das Volk einſt grimm und beißig
Der Geduld ein Ende macht!

Das Treiben wurde ſo zuchtlos, daß der beſonnene Karl Mathy, den die Thorheit der badiſchen Demagogenverfolger auch in die Schweiz ver - ſchlagen hatte, ſich bald ganz zurückzog. Mathy ſchrieb als Flüchtling eine ruhig und ſachlich gehaltene Preisſchrift über die Aufhebung des Zehnten, und pries ſich glücklich, als er in einer Lehrerſtelle bei Solothurn vor - läufig eine friedliche Unterkunft fand.

Den vertriebenen Polen war mit den frechen Worten nicht genug gethan; ſie brüteten über neuen Aufſtandsplänen, und obgleich ſie, be - fangen in der phantaſtiſchen Selbſttäuſchung der Flüchtlinge, ihre Macht ſtark überſchätzten, ſo vermochten ihre tollen Anſchläge den Nachbarſtaaten doch ernſte Ungelegenheiten zu bereiten. In dieſem Jahrhundert der bürger - lichen Kämpfe war der Beſtand eines gaſtfreien Staates, der allen ge - ſchlagenen Parteien ein Aſyl bot, eine europäiſche Nothwendigkeit. Wenn die Schweiz ihre Neutralität gewiſſenhaft einhielt und den Flüchtlingen jedes feindſelige Unternehmen gegen die Nachbarn ſtreng unterſagte, ſo konnte ſie in der neuen Staatengeſellſchaft eine ebenſo würdige Rolle ſpielen wie einſt die Republik der Niederlande im Zeitalter der Religions - kriege. Allein für dieſe Ehrenpflicht der Eidgenoſſen zeigte die radicale Partei, die in der Tagſatzung herrſchte, keinen Sinn; vergeblich mahnten Neuenburg und die anderen conſervativen Cantone an die Wiener Ver - träge. Im Februar 1834 unternahmen einige hundert Flüchtlinge, ge - führt von dem polniſchen General Ramorino, einen Einbruch in Savoyen; auch mehrere Deutſche waren mit im Haufen, ſo der allezeit wageluſtige Rauſchenplatt und die Gebrüder Breidenſtein. Die Empörung wurde raſch niedergeworfen, aber ohne die Pflichtvergeſſenheit der ſchweizeriſchen Be - hörden hätte ſie gar nicht beginnen können. Währenddem kamen bedenk - liche Nachrichten über verdächtige Bewegungen an der deutſchen Grenze. Baiern und Baden fürchteten einen Handſtreich und trafen Vorſichts - maßregeln; ihre Beſorgniſſe mochten übertrieben ſein, grundlos waren ſie nicht. *)Erlaß des bad. Miniſters Winter an die Kreisregierungen, 28. April; Dönhoff’s Bericht, München 3. April 1834.Auf einer Verſammlung der deutſchen Arbeiter im Steinhölzli bei Bern wurden die Fahnen der ſüddeutſchen Staaten in den Koth ge - ſtampft und das ſchwarzrothgoldene Banner feierlich emporgehoben, wäh - rend die Menge ſang:

Den Kopf, der frech ſich aus dem Volk erhebt,
Den trifft des Volkes Beil.
604IV. 8. Stille Jahre.

Unmöglich konnten die Nachbarſtaaten ruhig zuwarten, bis dieſe wüſten Geſellen einen neuen Ausfall wagten. Da der Wiener Hof für die Sicher - heit der Lombardei fürchtete, ſo erhob zunächſt der öſterreichiſche Geſandte Graf Bombelles Beſchwerde und erwarb ſich dadurch bei den Flüchtlingen den Beinamen des neuen Geßlers. Dann verlangte der Deutſche Bundes - tag durch eine auf den Wiener Miniſterconferenzen ſorgfältig vorberathene Note*)Brockhauſen’s Berichte, 25. 28. Febr.; Ancillon an Brockhauſen, 7. März 1834. die Ausweiſung aller der Deutſchen, welche mittelbar oder un - mittelbar die Ruhe der Bundesſtaaten zu ſtören ſuchten (6. März). Die Tagſatzung gab eine ausweichende Antwort; die Schweizer Radicalen tobten wider die Tyrannen, am lauteſten der Berner Profeſſor L. Snell, der vor Jahren dem Kreiſe der Unbedingten nahe geſtanden und mittlerweile das Schweizer Bürgerrecht erworben hatte. Ihm, wie ſo vielen anderen verlorenen Söhnen Deutſchlands, gereichte es immer zur Freude, wenn er ſein altes Neſt beſchmutzen konnte. In einer hochpathetiſchen Schrift das verletzte Völkerrecht an der Eidgenoſſenſchaft ſchilderte er den Kampf der freien Schweiz wider die Heilige Allianz; denn daß die Eidgenoſſen ſelber der Heiligen Allianz angehörten, war dieſem Völkerrechtslehrer ganz unbekannt. Ich könnte, ſo rief er aus, in einem großen Königreiche ein reicher und angeſehener Sklave ſein, aber ich habe meine Menſchenwürde in die Republik gerettet; in der Monarchie iſt die erſte Pflicht des Men - ſchen zu ſchweigen, in einem freien Lande ſoll er ſeine Stimme erheben und was der Großſprecherei mehr war. Auch Lord Palmerſton verſuchte durch ein Rundſchreiben an die deutſchen Höfe ſich in dieſe Händel ein - zumiſchen. Das Verhalten der Schweiz wagte er ſelbſt nicht zu verthei - digen, da ſie ſo offenbar Unrecht hatte, er warnte die Deutſchen nur vor Zwangsmaßregeln; dann ließ ſich hoffen, daß der angenehme Unfrieden an der Schweizer Grenze noch recht lange währte. **)Dönhoff’s Bericht, 27. April 1834.

Der Bundestag ließ ſich nicht beirren. Er erneuerte ſeine Forde - rungen in einer ſchärferen Note (1. Mai); auch Oeſterreich und die ſüd - deutſchen Grenznachbarn wiederholten ihre Beſchwerden. Der badiſche Geſchäftsträger Duſch, der dieſe Schriftſtücke überbrachte, mußte, obwohl den Schweizern wohl geſinnt, eine ſehr ſcharfe Sprache führen. Zugleich wurde an der Grenze eine ſtrenge Bewachung angeordnet, und im Noth - fall wollte man ſogar die Handelsſperre verkündigen. ***)Brockhauſen’s Berichte, 29. März, 17. Mai; Brockhauſen an Olfers in Bern, 5. Juni 1834.Da entfiel der Tagſatzung der Muth. Sie ſchickte eine Geſandtſchaft nach Chambery um ſich vor dem tief beleidigten Könige Karl Albert zu entſchuldigen, und er - widerte dem Deutſchen Bunde (24. Juni), daß ſie alle Flüchtlinge, welche die Ruhe anderer Staaten ſtörten, hinwegweiſen werde. Dem Wiener605Die Schweizer Flüchtlingshatz.Hofe betheuerten der Vorort Zürich und der Canton Bern ihre guten Vorſätze in einem Tone, welcher ſehr wenig republikaniſchen Stolz ver - rieth. *)Schreiben des Regierungsrathes von Bern, 21. Nov., des Vororts Zürich, 27. Nov. 1834 an den Geſchäftsträger Effinger in Wien.Nun begann die berüchtigte Schweizer Flüchtlingshatz . Nach Luſt und Laune, wie es den geängſteten Cantonalbehörden gerade einfiel, wur - den die Flüchtlinge, ſchuldige und unſchuldige, verhört, eingeſperrt, unter Aufſicht geſtellt, ihre Habe durchſucht, ihre Briefe erbrochen; ſelbſt manche Schweizerbürger griff man mit auf, und Mathy geſtand ehrlich, in Deutſch - land pflege man mit den Demagogen menſchlicher umzugehen. Die beiden Breidenſtein und viele Andere mußten die Schweiz verlaſſen. Auch Rau - ſchenplatt zog grimmig von dannen; der thatendurſtige kleine Mann hatte in jüngſter Zeit noch verſucht, in dem Baſeler Judendörfchen Dipflingen unter dem Schatten eines mächtigen Freiheitsbaumes eine unabhängige Republik einzurichten.

Eine ſo planloſe und willkürliche Verfolgung konnte die Ordnung nicht herſtellen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge, ſogar viele der Genoſſen des Savoyerzuges blieben im Lande; in Zürich, Bern, Genf, Lauſanne, Lieſtal entſtanden deutſche Leſevereine, welche die Handwerksburſchen in die Lehren des Radicalismus einführten, die geheime Preſſe unterſtützten und den Brüdern daheim in vertrauten Briefen ankündigten, daß der große Volksſchmaus losgehen werde. Mehrere Jahre hindurch mußten die deut - ſchen Garniſonen in der Nähe des Bodenſees beſtändig auf einen neuen Ausfall der polniſchen Legion gefaßt bleiben. **)Berichte von Frankenberg, 7. Februar, 22. Juni; von Dönhoff, 7. Februar, 4. März 1835.Der Depeſchenwechſel mit der Tagſatzung wurde ſehr widerwärtig; denn die ariſtokratiſche alte Schweiz hatte immer auf würdige Formen gehalten, die Sprache der neuen Demokratie ſchwankte zwiſchen Kleinmuth und plumper Grobheit. ***)Blittersdorff an Frankenberg, 30. Juli 1838.Der Bundestag half ſich nach ſeiner Weiſe durch thörichte Verbote. Er unter - ſagte den Beſuch der beiden neuen Univerſitäten Bern und Zürich; und allerdings waren ſogleich einige der eifrigſten deutſchen Demagogen, Sieben - pfeiffer, Hundeshagen, Snell auf die Berner Lehrſtühle berufen worden. Er unterſagte den Handwerksburſchen nach ſolchen Ländern zu wandern, wo politiſche Arbeiterbünde beſtänden (1835); aber die Ausführung blieb den Einzelſtaaten überlaſſen, und Baden ſah ſich zu Metternich’s Ent - rüſtung bald genöthigt, ſeinen Handwerkern den unentbehrlichen Verkehr mit den Schweizer Nachbarn wieder freizugeben. †)Frankenberg’s Bericht, 5. Aug. 1835.

Da man ſich auf die Behörden der Eidgenoſſen nicht verlaſſen konnte, ſo unterhielt Oeſterreich in der Schweiz eine Menge geheimer Agenten, die auch den Bundestag, den badiſchen und andere deutſche Höfe mit zweifel -606IV. 8. Stille Jahre.haften Nachrichten verſorgten*)Türckheim an Frankenberg, 19. März, 16. Juli 1835., und eifrig ſuchten die gehetzten Flüchtlinge nach Verräthern im eigenen Lager. Welch ein Lärm, als ein jüdiſcher Student Leſſing aus der Mark im Jahre 1835 zu Zürich ermordet wurde, ein gemeiner Menſch, der ſich unter den Geheimbündlern umhertrieb und bei Vielen für einen Späher galt. Die von dem Züricher Gerichte muſter - haft ſchlecht geführte Unterſuchung brachte kein Ergebniß. Sie erwies weder, daß Leſſing ein preußiſcher Spion geweſen, noch daß er politiſcher Rachſucht zum Opfer gefallen war; manche Anzeichen deuteten vielmehr auf ein ge - meines Verbrechen, der Leichnam war beraubt, in der Nähe eines verrufenen Hauſes aufgefunden worden. Trotzdem behaupteten die Schweizer Zei - tungen und zahlreiche Flugſchriften mit der höchſten Zuverſicht, die teuf - liſchen Anſchläge der preußiſchen Regierung lägen nunmehr klar zu Tage. Auch mit Frankreich gerieth die Tagſatzung in Streit, als Prinz Ludwig Napoleon den Aufruhr in Straßburg verſucht hatte und dann, zur Aus - wanderung nach Amerika begnadigt, gleichwohl in ſein ſchweizeriſches Schlöß - chen Arenenberg zurückgekehrt war (1838). Der Bürgerkönig verlangte ſofort ſeine Entfernung und ließ ſchon Truppen an der Oſtgrenze zuſammen - ziehen. Oeſterreich, Preußen, Baden unterſtützten Frankreichs Forderung**)Blittersdorff an Frankenberg, 30. Juli 1838., während die Schweizer Preſſe wieder einmal mit Tell und Winkelried prahlte und den Tyrannen verſicherte: Königsblut und Bauernblut, es iſt Beides gleich roth. Der kluge Prätendent aber wartete gemächlich ab, bis dieſe diplomatiſche Zwiſtigkeit ſeinen Namen wieder in den Mund der Leute gebracht hatte; dann ging er nach England und erklärte der Tag - ſatzung in einem großmüthigen Briefe, er wolle nicht durch längeres Ver - weilen die Sicherheit ſeiner zweiten Heimath gefährden. Alſo blieb das Verhältniß zwiſchen Deutſchland und der Schweiz, durch die Schuld bei - der Theile, lange ſehr unerquicklich; die deutſchen Höfe zeigten übermäßige Aengſtlichkeit, die Eidgenoſſen wenig Treue in der Erfüllung ihrer Ver - tragspflichten.

Unter den 13,000 Flüchtlingen aller Länder, die in Frankreich zu - ſammengeſchneit waren, ſpielten die Deutſchen nur eine beſcheidene Rolle, obgleich ſie die Bildung revolutionärer Geheimbünde faſt ſo eifrig wie die Polen betrieben. Als der Hambacher Preßverein in Paris durch die fran - zöſiſche Regierung aufgelöſt wurde, entſtand ſogleich der Bund der Ge - ächteten, der den Hambacher Geiſt unter neuen Formen pflegen ſollte. Er zerfiel, nach dem Vorbilde der Carbonari, in Zelte von je fünf Mitgliedern; die Eingeweihten bildeten den Berg , an der Spitze des Ganzen ſtand der Pariſer Brennpunkt . Durch die aus Paris heimge - kehrten Handwerker wurden auch in Berlin, Frankfurt, Mainz, in vielen anderen Städten Mitteldeutſchlands Zelte errichtet; die preußiſchen Be -607Die Geächteten in Paris.hörden glaubten, es gebe ihrer zweihundert. *)Mühler’s Denkſchrift über den Bund der Geächteten, 12. Nov. 1840.Metternich pflegte die Dema - gogen jetzt nur noch die Alten vom Berge zu nennen, und allerdings, wer die Programme dieſer Geheimbündler wörtlich nahm, konnte nicht be - zweifeln, daß ſie auf den Fürſtenmord und die allgemeine Revolution aus - gingen.

Das Glaubensbekenntniß eines Geächteten und deſſen Umſchrei - bung, die Erklärung der Menſchen - und Bürgerrechte begannen mit dem Satze: Der Herr ſchuf alle Menſchen nach ſeinem Bilde, er ſchuf ſie alle gleich. Sonach bleibt nur die demokratiſche Republik übrig. Sie verherrlichten den Widerſtand, der die Unterdrücker zu Boden ſchlage, als die heiligſte und dringendſte Pflicht der Bürger und ſagten ſchon, frei - lich nur in beſcheidenen Andeutungen: die Gleichheit der Rechte fordere auch Annäherung der Gleichheit in den äußeren Verhältniſſen , alſo Steuerfreiheit der kleinen Leute, Progreſſivſteuer, öffentliche Unterſtützung der Arbeiter. Zu den Mitgliedern zählte auch der Student Carl v. Bruhn, in ſpäteren Jahren ein eifriger Genoſſe Laſſalle’s. Die Zeitſchrift des Ver - eins Der Geächtete wurde von Jakob Venedey herausgegeben, der ſelber nicht der extremen Richtung der Demokratie angehörte, aber nach der Weiſe beſchränkter Köpfe jedes rohe Wort ſeiner Mitarbeiter willkommen hieß. Er glaubte wie ſein Abgott Börne, die Vaterlandsliebe durch unbändiges Schimpfen bethätigen zu müſſen: Deutſchland war ſeit Jahrhunderten das Land, von dem die Sklaverei über Europa ausging, und es iſt noch heute alſo. An der Knechtſchaft der Polen, der Ungarn, der Italiener, ſogar der Griechen und Spanier ſollten allein die Deutſchen ſchuld ſein; doch die unendliche Staatsſchuld wird abgetragen und die Schande Deutſch - lands geſühnt, gerächt werden . So wunderbar hatten ſich die Zeiten geändert: dieſem neuen Burſchenſchafter erſchien der Befreiungskrieg als eine Narrheit; mit wüthenden Schmähungen ſchalt er auf Arndt und die anderen Freiwilligen von 1813, die jetzt nur Knechte des Abſolutismus ſeien.

In dem nichtsnutzigen Müßiggange dieſes Verſchwörerlebens konnten perſönliche Zänkereien nicht ausbleiben. Nicht lange, ſo ſonderte ſich von dem Bunde der Geächteten ein Bund der Gerechten ab, nachher noch ein Bund der Deutſchen und ein Bund der Communiſten. Um das Jahr 1836 ging einer der Genoſſen, Schapper nach London und ſtiftete dort den radicalen Arbeiterverein, der noch heute als ein Brutneſt der Social - demokratie beſteht. Das Junge Deutſchland verlegte ſeinen Hauptſitz aus der Schweiz ebenfalls an die Themſe, und da England alle politiſchen Ver - ſchwörungen gegen das Ausland grundſätzlich unverfolgt ließ, ſo entſtand dort nach und nach noch eine Anzahl anderer deutſcher Geheimbünde, die mit Mazzini’s Jungem Italien, mit der franzöſiſchen Geſellſchaft der Menſchen -608IV. 8. Stille Jahre.rechte, der Demokratiſchen Geſellſchaft der Polen in Verkehr blieben. *)Hans (d. h. Cand. Curtmann aus Heſſen) an Rauſchenplatt, London 29. Sep - tember 1836. Polizeibericht aus London an die Bundes-Centralbehörde, 18. Aug. 1837.Machtlos für den Augenblick wurden die Geheimbündler doch für die Zu - kunft bedeutſam; ihre langjährige ſtill wühlende Arbeit half die Aufſtände des Jahres 1848 vorbereiten.

Mittlerweile zogen einzelne anſchlägige Köpfe aus der Lehre der un - bedingten Gleichheit ſchon die letzten, den Begierden der Maſſe einleuchten - den Folgerungen. Bereits zur Zeit der Juli-Revolution hatte der erfin - dungsreiche Techniker Gall derſelbe, der in ſpäterer Zeit durch das Galliſiren des Weines bekannt wurde den Plan entwickelt, die Macht des großen Capitals durch die Aſſociation des kleinen zu bekämpfen. Seine Worte verhallten noch ungehört. Ganz anderen Anklang fand nachher der erſte Apoſtel des reinen Communismus im neuen Deutſchland, der Schneider Wilhelm Weitling. Der war zu Magdeburg in den gedrückten Verhältniſſen des kleinen Handwerks aufgewachſen; dann fügte es der Humor des Schickſals, daß der hübſche, geſcheidte Schneidergeſell im Liebes - wettſtreit um ein Mädchen einen Erzherzog ausſtach. So lernte er die Schwächen und die Rachſucht der Mächtigen der Erde aus der Nähe kennen. In Paris ward er in die Lehren Cabet’s und Fourier’s eingeweiht und ging alsdann in die Schweiz, um die deutſchen Arbeiter zu entflammen. Sein Büchlein Die Menſchheit wie ſie iſt und wie ſie ſein ſollte (1838) war auf Faſſungskraft und Neigung der Maſſen wohl berechnet und nicht ohne Begeiſterung geſchrieben, obgleich das gute Eſſen und Trinken unter ſeinen Zukunftsidealen einen unbillig breiten Raum einnahm. Ausgehend von der apoſtoliſchen Einfachheit des älteſten Chriſtenthums verſicherte er kurzab: reich und mächtig ſein, heißt ungerecht ſein, und forderte zum Beſten der Arbeiter, der nützlichſten Menſchen des Erdbodens, den Zu - ſtand der geſellſchaftlichen Gleichheit, dergeſtalt, daß ſelbſt die beiden Geſchlechter gleich erzogen würden. In fünf, ſpäterhin in drei täglichen Arbeitsſtunden ſollte die Geſellſchaft ihre gemeinſamen Aufgaben erledigen; indeß ſtand Jedem frei, ſich durch außerordentliche Arbeiten, durch Com - merzſtunden noch beſondere Genüſſe zu verſchaffen. So werde die Welt ſich in einen Garten und die Menſchheit in eine Familie verwandeln . So liebliche Bilder mußten wohl manchen beladenen kleinen Mann bethören; der Prophet redete ſcheinbar ganz harmlos und vermied die Frage, wie der große Umſturz möglich werden ſolle.

Auch die Auswanderung nach Nordamerika wurde durch den Unfrieden der Revolutionsjahre mächtig gefördert. In dem Jahrzehnt bis 1840 nahmen die Vereinigten Staaten etwa 182,000 deutſch redende Auswan - derer auf, zwölfmal mehr als im vergangenen Jahrzehnt; die Jahresziffer ſank ſeit 1832 nicht mehr unter 10,000, im Jahre 1840 ſtieg ſie auf609Weitling. Amerikaniſche Auswanderung.34,000 Köpfe. Manchen dieſer Heimathloſen fiel ein trauriges Loos, und faſt alle erprobten die Wahrheit des Sprichworts: Niemand hat in Amerika Erfolg, ehe er ſein letztes europäiſches Geld verloren hat. Aber die Ent - täuſchten ſchwiegen aus Scham, während die Glücklichen mit dem ganzen Stolze der selfmade men ihre Erfolge den daheimgebliebenen Verwandten anzupreiſen pflegten. Es giebt im Völkerleben Zeiten der Seßhaftigkeit, und wieder andere, in denen der Wandertrieb wie eine dunkle elementa - riſche Macht auf das Gemüth der Menſchen wirkt. Wie einſt das Lied Naar Ooſtland wille wi varen verführeriſch durch die Dörfer Flan - derns klang, ſo träumten jetzt Unzählige von dem märchenhaften Glück, das jenſeits des großen Waſſers jedem Tüchtigen winken ſollte; und ſo wenig nüchterne Belehrung die Kreuzfahrer von der heiligen Reiſe zurück - halten konnte, ebenſo wenig vermochten jetzt Vernunftgründe gegen die unbeſtimmte Sehnſucht nach dem Weſten. Einem Volke ohne durchge - bildete Staatsgeſinnung, das in der Staatsgewalt nur den polizeilichen Dränger und Vormund ſah, mußte dieſe junge Welt, wo man den Staat kaum bemerkte, unwiderſtehlich verlockend erſcheinen.

Dort in der Fremde erfuhren die Deutſchen täglich, wie ſtark die innere Einheit unſeres Volksthums iſt. Alle Auswanderer deutſcher Zunge, auch die Elſaß-Lothringer, die Schweizer, die Oeſterreicher ſchloſſen ſich unwillkürlich als Landsleute an einander, während die Schotten und Iren den Engländern fern blieben. Die politiſchen Flüchtlinge aus den höheren Ständen waren ihre natürlichen Führer; unverkennbar hob ſich ihr Bil - dungsſtand und ihr Anſehen unter den Eingeborenen. Von den Gießener Radicalen kamen Paul Follen und Friedrich Münch, ein grundehrlicher Mann von ungewöhnlicher Thatkraft; von den Frankfurter Verſchwörern Guſtav Körner und die beiden Bunſen; aus der Pfalz die angeſehenen Geſchlechter Hilgard und Engelmann. J. G. Weſſelhöft, aus der Thü - ringer Burſchenſchafterfamilie, ließ in Philadelphia das größte deutſche Blatt der Union, Die alte und die neue Welt erſcheinen. Im fernen Weſten, wo die Deutſchen ſich beſonders zahlreich angeſiedelt hatten, gab ein anderer Jenenſer Burſchenſchafter, W. Weber, eine deutſche Zeitung heraus, die den Lynchgerichten, der Mißhandlung der Neger und anderen Sünden amerikaniſcher Herzenshärtigkeit oft tapfer entgegentrat. Dem alten Vaterlande gingen alle dieſe tüchtigen Kräfte unrettbar verloren. Die republikaniſche Geſinnung, die ſich in den Briefen der Ausgewan - derten ausſprach, mußte daheim, im monarchiſchen Deutſchland, die Be - griffe verwirren und namentlich den thörichten Haß gegen die ſtehenden Heere verſtärken. Allgemein, ſelbſt in gemäßigt liberalen Blättern wurde behauptet, dies glückliche Amerika ſchütze ſich ganz von ſelbſt, durch ſeine Freiheit und durch die Ehrlichkeit, die man ſeiner Verwaltung ſeltſamer - weiſe andichtete; Niemand bemerkte die einfache Thatſache, daß die Union keine gefährlichen Nachbarn beſaß und darum keiner Truppen bedurfte.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 39610IV. 8. Stille Jahre.

Unterdeſſen betrieb die deutſche Polizei unverdroſſen den Vernichtungs - krieg gegen die daheim gebliebenen Demagogen. Das Paßweſen, das einſt die Jacobiner zuerſt als eine Waffe gegen politiſche Feinde benutzt hatten, erlangte durch die Gegner der Revolution ſeine höchſte Ausbildung; ſelbſt die Lohnkutſcher durften keinen Reiſenden mehr befördern, wenn er ſich nicht über ſeine Perſon auswies. Ueberall ſpürten geheime Agenten und fahndeten auf verdächtige Briefe, auf dreifarbige Abzeichen, zuweilen auch auf republikaniſche Vollbärte. In Baiern, deſſen geheime Polizei von dem Cabinetsrath Grandauer ihre Weiſungen empfing, wurden einmal zwei ſolcher Leute zu gleicher Zeit als gemeine Betrüger entlarvt. Ein Bun - desbeſchluß (1836) verpflichtete alle Regierungen, feindſelige Unternehmungen gegen den Bund als Hochverrath zu beſtrafen und einander gegenſeitig die politiſchen Verbrecher auszuliefern. Nachdem die letzte radicale Zei - tung, die Neckarzeitung, in Stuttgart unterdrückt war, ging man gegen die Bücher vor; die freie Stadt Frankfurt verbot ſogar Sismondi’s Unter - ſuchungen über die Verfaſſungen freier Staaten.

In der Anarchie dieſes Staatenbundes konnte es gleichwohl nicht aus - bleiben, daß die Cenſoren nach ſehr verſchiedenen Grundſätzen verfuhren; und wenn Verfaſſer und Verleger ſich den Cenſurvorſchriften unterworfen hatten, dann blieben ſie, nach § 7 des Karlsbader Preßgeſetzes, von aller weiteren Verantwortung frei. Als nun die kurheſſiſche Cenſur eine ſehr radicale Petition deutſcher Bürger gegen die Preßſklaverei unbeanſtandet durchgelaſſen hatte, da behauptete Blittersdorff im Bundestage (1834): jene Vorſchrift des Preßgeſetzes beſage lediglich, daß der Bund die Schul - digen nicht mehr zur Verantwortung ziehen dürfe; den Landesregierungen ſtehe immer noch frei, die Verfaſſer cenſirter Schriften vor Gericht zu ſtellen. Die Mehrzahl der Bundesgeſandten, auch der bairiſche, ſtimmte dieſer ungeheuerlichen Auslegung zu. Da erklärte der Präſidialgeſandte mit überraſchender Ehrlichkeit: zu einem ſolchen Schluſſe ſei nur mittels einer gründlichen und weitläuftigen Deducirung zu gelangen . Der Wiener Hof verlangte mehr; er wollte durch ein förmliches neues Bundes - geſetz alle Schrecken der Cenſur und der gerichtlichen Verfolgung, der Prä - vention und der Repreſſion zugleich über die deutſchen[Schriftſteller] ver - hängen. Dazu konnten ſich die Mittelſtaaten doch nicht entſchließen; ſie halfen ſich nach alter Gewohnheit, ihre Inſtructionen blieben aus, und ein Bundesbeſchluß kam nicht zu Stande. Die Selbſtgenügſamkeit des alten Beamtenſtaates verſchmähte aber auch, den Liberalismus durch kleine volksthümliche conſervative Blätter zu bekämpfen, wie Otterſtedt dem preu - ßiſchen Hofe vorſchlug. Die Regierungen meinten genug zu thun, wenn ſie die Cenſur kräftig handhabten und ihre langweiligen, wenig geleſenen, vornehmen Staatszeitungen erſcheinen ließen. *)Otterſtedt, meine Wahrnehmungen von dem Wartburgfeſte bis zum heutigen Tage. Dem Könige überſendet 14. April 1833.

611Preußiſche Demagogen.

Insgeſammt wurden etwa 1800 Perſonen wegen der Umtriebe der Revolutionsjahre in Unterſuchung gezogen. Die neue Bundes-Central - behörde nahm von Allem Kenntniß; ſie zählte mehrere ausgezeichnete Rich - ter in ihren Reihen; Preußen namentlich war durch Eichmann, nachher durch Mathis und Strampff ſehr gut vertreten. Die Geſchäfte gingen jedoch langſam, denn viele Regierungen zeigten ſich ſaumſelig, die einen aus Zorn, die anderen aus Trägheit. *)Blittersdorff’s Berichte, 3. Mai, 5. Juli 1835.Nach mehreren Jahren (1835) beantragte Baden in Berlin die Auflöſung der Behörde, da ſie jetzt in ſtillerer Zeit nur noch die Gemüther aufreizen könne. Der preußiſche Hof aber beſtand darauf, erſt müſſe öffentlich Rechenſchaft abgelegt werden. **)Frankenberg’s Berichte, 26. März, 21. April 1835, 9. April 1836.Im Jahre 1839 erſchien endlich die Darlegung der Hauptreſultate der politiſchen Unterſuchungen, ein Bericht, der ſich vor den Arbeiten der alten ſchwarzen Commiſſion immerhin durch Ehrlichkeit auszeichnete; denn dies - mal lagen wirklich ernſte Thatſachen vor. Niemand konnte leugnen, daß die Verſchwörer von 1833 mit den Emiſſären Lafayette’s und der polni - ſchen Propaganda in Verbindung geſtanden hatten; und dieſer geheime inter - nationale Verkehr währte fort, noch im Jahre 1839 gründeten die Pariſer Radicalen eine literariſche Correſpondenz zur Vertretung der franzöſiſchen Intereſſen in Deutſchland. ***)Strampff, Bericht an die preuß. Miniſterialcommiſſion, Frankfurt, 26. Febr. 1840.Daneben fehlte es freilich nicht an Zügen kindiſcher Aengſtlichkeit: daß ein Küfer bei den Handwerksburſchen Stück - faß hieß, ein Schornſteinfeger Schwarzkünſtler, ein dritter Geſelle gar den ſchrecklichen Kriegsnamen Ochs führte, ſchien den Frankfurter Demagogen - verfolgern hochbedenklich.

In Preußen war Alles ruhig geblieben, und das Kammergericht, das unter der Oberaufſicht einer Miniſterial-Commiſſion die Unterſuchung führte, mußte ſich faſt allein an die unglücklichen Studenten halten. Kamptz verfügte als rheiniſcher Juſtizminiſter, daß Niemand eine Richterſtelle er - langen dürfe, der jemals einer Burſchenſchaft angehört habe. Gegen die Verhafteten ſelbſt zeigte er ſich wieder ſehr freundlich, freundlicher min - deſtens als ſein Amtsgenoſſe Rochow oder der geſtrenge Präſident des Kammergerichts v. Kleiſt; am härteſten verfuhren der berüchtigte Tzſchoppe und der Unterſuchungsrichter Dambach. Vor dies Tribunal kam unnach - ſichtlich jeder Burſchenſchafter, der den preußiſchen Behörden in die Hände fiel, ſelbſt wenn er ein Ausländer war und nie in Preußen ſtudirt hatte. Dem Berliner Polizeidirector Dunker, den alle Spitzbuben wie den Satan fürchteten, ging es faſt wider die Amtsehre, daß er ſich jetzt mit ſo vielen anſtändigen Leuten befaſſen ſollte. Auch Heinrich Laube mußte einige Monate in harter Haft verbringen, nicht wegen ſeiner literariſchen Sün - den, ſondern weil er vor langen Jahren in die Hallenſer Burſchenſchaft eingetreten war. Im Jahre 1836 endlich ſprach das Kammergericht ſein39*612IV. 8. Stille Jahre.Urtheil über 204 Studenten. 192 wurden verurtheilt, ihrer viele zum Tode. An die Möglichkeit ſolcher Hinrichtungen glaubte aber Niemand mehr; der König verwandelte die Strafe erſt in dreißigjährige, dann in achtjährige Feſtungshaft, gänzlich begnadigt wurden nur Wenige. Kamptz pflegte zu ſagen: Burſchenſchaft iſt Burſchenſchaft; darum durften auch der junge Hiſtoriker Max Duncker und die anderen gut königlich geſinnten Bonner Burſchenſchafter dem Gefängniß nicht entgehen.

Nicht ganz ſo unſchuldig war der engere Kreis der Jenenſer Ger - mania, dort wurden ſehr verwegene Reden geführt und wohl auch mit den Flüchtlingen thörichte Briefe gewechſelt. Doch die Mehrzahl auch dieſer Burſchenſchaft beſtand aus harmloſen jungen Leuten, die ſich ganz zu - frieden fühlten, wenn ſie nur die Farben des einigen Deutſchlands auf der Bruſt trugen. Zu ihnen zählte der Mecklenburger Fritz Reuter. Der hatte ſeine ganze Zeit gewiſſenhaft auf der Kneipe oder auf Spritzfahrten verbracht und wußte von den ruchloſen Anſchlägen ſeiner eingeweihten Ge - noſſen ſo gar nichts, daß der Unterſuchungsrichter ihn anfangs für einen ungewöhnlich verſtockten Verbrecher hielt; erſt allmählich wurde Dambach milder geſtimmt und ſagte: gefährlich ſcheint er nicht als Anhänger ſtaatsverderblicher Lehren, ſondern als Taugenichts. Sieben Jahre hin - durch wurde dem Armen der lebendige Strom ſeines Lebenswegs zu einem See aufgeſtaut ; erſt lange nach ſeiner Befreiung entſchloß er ſich, die Erinnerungen ut mine Feſtungstid niederzuſchreiben, und der treu - herzige, durch Thränen lächelnde Humor ſeiner harmloſen Erzählung be - leuchtete den Aberwitz dieſer Demagogenjagd faſt noch greller, als der ſal - bungsvolle religiöſe Ernſt der Kerkergeſchichte Silvio Pellico’s, le mie pri - gioni. Solche Martern, wie ſie die Grauſamkeit des Kaiſers Franz über Pellico verhängte, blieben den preußiſchen Demagogen freilich erſpart; aber wie viele der jungen Männer verkamen in dem zweckloſen Einerlei des Gefängnißlebens. Manche gingen unter in Trunk und Müßiggang, Manche verbitterten für immer; nur Wenige vermochten ſich ſo gewaltſam zu überwinden wie Max Duncker, der bald einſah, daß auch das unvernünf - tige Geſetz Gehorſam erheiſche, und ruhig ſagte: mit Recht mußte ich büßen, weil ich mich gegen das Geſetz des Staates verfehlt hatte.

Nachhaltige revolutionäre Leidenſchaft zeigten dieſe gutherzigen deutſchen Naturen ſehr ſelten; ſelbſt den erklärten Radicalen füllte die Politik doch nicht das ganze Leben aus. Da war Keiner, der, wie einſt der gefangene Mazzini in ſeinem Adlerneſte bei Savona hoch über dem Mittelmeer, Tag für Tag nur an die Befreiung ſeines Vaterlandes gedacht hätte. Wie drohend, wie aufrühreriſch hatte einſt Wilhelm Cornelius in ſeinem Straß - burger Conſtitutionellen Deutſchland geredet*)S. o. IV. 227. 233.; als er nach einigen Jahren Haft die Feſtung Graudenz verließ, erſchien er wie ausgetauſcht und ſchrieb613Die Abbitten vor König Ludwig’s Bilde.für das Bilderwerk Das maleriſche und romantiſche Deutſchland den Band über die Oſtſee, ein unſchuldiges Reiſegeplauder, das zumeiſt von Land - ſchaften, Mondſchein und lieblichen Mädchen handelte. Wer den Durch - ſchnitt unſerer Demagogen, der wirklichen wie der vermeintlichen, furchtlos betrachtete, der mußte einſehen, daß die Thatkraft des germaniſchen Cha - rakters in den Geheimbünden nicht zu Tage trat, und eine Revolution von unten den Bundestag ſchwerlich überwältigen konnte.

Weit härter als in Preußen wüthete diesmal die Verfolgung in Baiern, denn König Ludwig glaubte von den Liberalen, die ihn einſt vergöttert hatten, verrathen zu ſein. Jetzt kannte er keine Schonung mehr; er ließ ſogar Wirth’s Frau verfolgen, weil ſie die Vertheidigungsrede ihres Gatten verbreitet hatte, gab den Richtern durch Handſchreiben Anweiſungen wie ſie urtheilen ſollten, und ward auch nicht milder geſtimmt, als der trau - rige Kerkertod eines preußiſchen Studenten Kolligs ganz München mit Schrecken erfüllte. *)Dönhoff’s Bericht, 17. Dec. 1837.Ein Sendſchreiben Stimme aus dem Kerker an König Ludwig von dem radicalen Journaliſten Coremans erbitterte den Mon - archen tief; darin ſtand zu leſen, durch ſeine Gedichte habe ſich der könig - liche Poet ſelbſt zum erſten Opponenten im Lande erklärt . Unter den 142 bairiſchen Demagogen, die im Jahre 1834 ihres Urtheils harrten, war auch der Würzburger Altbürgermeiſter Behr, vor Zeiten Ludwig’s Ver - trauter. Der hatte in einer wortreichen Dringenden Erinnerung den Landtag von 1831 aufgefordert, die Reviſion der Verfaſſung und die Ver - eidigung des Heeres zu beantragen; die Schrift enthielt viel Thorheit, aber kein ſtrafbares Wort. Gleichwohl wurde der zweiundſechzigjährige Mann verurtheilt, vor dem Bilde des Königs knieend Abbitte zu leiſten eine em - pörende Strafe, die dem gekrönten Dichter beſonders nöthig ſchien und dann zu vieljähriger Haft auf die Paſſauer Feſtung geführt. Ein Gnaden - geſuch ſchlug der König ab, gerade weil er dem Verurtheilten früher ſo viel Vertrauen erzeigt habe. **)Dönhoff’s Bericht, 25. Juni 1836.Dieſelbe ſchimpfliche Strafe mußte der arglos geſchwätzige Dr. Eiſenmann erleiden; in ſeiner Wohnung wollte die Polizei einen Sammetmantel gefunden haben, den ſie für das Krönungskleid des künftigen Frankenherzogs hielt. Beiden Unglücklichen wurde im Kerker die Kraft des Leibes und der Seele gebrochen. Vergeblich bat der Landtag um Amneſtie für die politiſchen Verbrecher, und mit begreiflichem Ingrimm donnerte die Flüchtlingspreſſe wider das orientaliſche Strafverfahren des bairiſchen Sultans. Da Ludwig gar ſo hart verfuhr, ſo betrachtete man ſelbſt Oken’s Entlaſſung, die allein in der Unverträglichkeit des Natur - forſchers ihren Grund hatte, als eine politiſche Gewaltthat. Eine Ode von Schultheiß ſagte: der Dichterfürſt

Trieb aber lichtſcheu bald den Lichtheld
Achtlos hinweg aus der finſtern Mönchsſtadt.
614IV. 8. Stille Jahre.

Wegen des einen Wortes lichtſcheu wurde der junge Poet verurtheilt, vor dem Bilde des Königs zu knien und ſieben Wochen Haft auszuhalten, obgleich das Gedicht noch gar nicht gedruckt, ſondern in einem erbrochenen Briefe aufgefunden war.

Am längſten währten die Unterſuchungen im Großherzogthum Heſſen. In dem gelobten Lande der Kleinſtaaterei um Frankfurt hatte der Radi - calismus allmählich eine Macht erlangt, wie nirgendwo ſonſt in Deutſch - land; die Willkür der freien Stadt gegen ihre Bauern, die Mißregierung in Kurheſſen und Naſſau, die bureaukratiſche Strenge in Darmſtadt und nicht zuletzt der erbauliche Anblick des Bundestags mußten das Volk auf - regen. Daß Büchner und die oberheſſiſchen Verſchwörer im Jahre 1833 auf den Umſturz alles Beſtehenden ausgegangen waren, lag klar zu Tage*)S. o. IV. 310.; desgleichen, daß dort noch lange nach dem Frankfurter Wachenſturme ein Männerbund von ſtreng revolutionärer Richtung ſein Unweſen getrieben hatte. Der Darmſtädter Hof führte die Unterſuchung mit leidenſchaft - lichem Eifer. Großherzog Ludwig unterſchrieb eigenhändig zwei geheime Aktenſtücke, welche den Denuncianten Strafloſigkeit und ſelbſt Unſere Erkenntlichkeit zuſicherten; du Thil aber verſtand, ganz wie die bairiſche Regierung, durch rechtzeitige Verſetzungen dafür zu ſorgen, daß die Mehr - heit der Richter in politiſchen Proceſſen immer aus Anhängern des Mini - ſteriums beſtand. **)Ich benutze hier mehrfach die Aufzeichnungen des ſpäteren großh. heſſ. Geſandten Frhrn. v. Lepel, die mir ſein Sohn, Herr Oberſt Frhr. v. Lepel freundlich mitgetheilt hat.Viele der Angeklagten waren entflohen, auch der Gym - naſiallehrer Schüler, der ſich dann in der Schweiz als eifriges Mitglied dem Jungen Deutſchland anſchloß. Die noch übrigen Dreißig wurden im December 1838 ſämmtlich bis auf fünf verurtheilt, und der Groß - herzog erließ ihnen allen die Freiheitsſtrafen. Aber wie furchtbar war ihnen in der langen Unterſuchungshaft mitgeſpielt worden; der namhaf - teſte von allen, Pfarrer Ludwig Weidig hatte ſeinen Qualen ſelbſt ein Ende gemacht.

Weidig genoß allgemeine Achtung als rechtſchaffener Mann, als tüch - tiger Lehrer und Prediger, auch ſeine politiſchen Hoffnungen gingen nicht über ein parlamentariſches deutſches Kaiſerthum hinaus. Allein er hatte nicht umſonſt dem Bunde der Unbedingten als älterer Genoſſe angehört; wenn ein Zwieſpalt zwiſchen Staat und Volk entſtünde, dann hielt er, um des Sieges der Wahrheit willen, jedes, ſchlechthin jedes Mittel für er - laubt, darum trug er auch kein Bedenken, bei Büchner’s ſocialiſtiſchem Heſſiſchen Landboten mitzuwirken. Durch ſolche Grundſätze vergiftete er die Jugend, die er mit dämoniſcher Beredſamkeit an ſich zu feſſeln wußte. Beſtändig empfing er die Beſuche polniſcher und franzöſiſcher Emiſſäre; das kleine Butzbach blieb, ſo lange er dort als Rector wirkte, der Mittelpunkt einer geheimnißvollen Wühlerei. Die Regierung betrachtete ihn als ihren615Proceß Weidig.Todfeind, obgleich er die Theilnahme an dem hoffnungsloſen Frankfurter Attentate klüglich abgelehnt hatte, und beſtellte ihm zum Unterſuchungsrichter den Gerichtsrath Georgi, einen brutalen Mann, der nach dem Zeugniß der Gerichtsärzte am Delirium tremens litt. Durch die endloſen Verhöre ge - rieth der ohnehin leidenſchaftliche Angeklagte in eine fieberiſche Aufregung. Zuweilen erſchien er wie tobſüchtig; er ſagte dreiſte Unwahrheiten und be - nahm ſich ſo widerſpänſtig, daß Georgi ihn mit Körperſtrafen bedrohte; einmal ſtürzte er raſend mit einem Meſſer auf ſeinen Peiniger los. Dar - auf wurde er allem Anſchein nach mit dem Farrenſchwanz geprügelt; anders ließen ſich die Striemen, die man ſpäterhin an ſeiner Leiche ent - deckte, kaum erklären. Als der Gefängnißwärter bald nachher, am 23. Febr. 1837, in die Zelle tritt, findet er Weidig im Blute ſchwimmend, aber noch lebend auf dem Bette liegen. Der rohe Menſch wirft erſchrocken die Thür zu und eilt zu Georgi. Der kommt, betrachtet ſich den Jammer, befiehlt den Arzt zu rufen und geht von dannen. Nach anderthalb Stunden end - lich erſcheint der Arzt, gerade als der Unſelige den Geiſt aufgiebt. Weidig hatte ſich mit einem Glasſcherben die Adern an Armen und Füßen, zu - letzt den Hals durchſchnitten, und es blieb wenn auch unwahrſcheinlich, ſo doch denkbar, daß ihm der tödliche Schnitt erſt während jener letzten andert - halb Stunden gelungen war.

Ein Schrei des Entſetzens ging durch das Land; der Haß der Par - teien flammte auf. Manche der Liberalen verſicherten, der Unglückliche ſei durch fremde Hand ermordet worden, was nach Lage der Umſtände rein unmöglich war. Weidig’s zahlreiche Freunde und Schüler verherr - lichten ihn nicht nur als ein Opfer barbariſcher Rechtspflege; ſie behaup - teten auch, er habe an den Umtrieben der Verſchwörer niemals theilge - nommen, und ſie fanden Glauben bei Vielen, denn nicht leicht entſchließen ſich die Deutſchen zu der Erkenntniß, daß perſönlich ehrenhafte Männer in der Politik verſchlagen und gewiſſenlos handeln können. Wilhelm Schulz und Welcker bemächtigten ſich des grauenhaften Falles, um die Nichts - würdigkeit des geheimen Verfahrens nachzuweiſen. Die geſammte deutſche Preſſe gerieth in Bewegung. Die Züricher mediciniſche Facultät, die immer bereit ſtand Deutſchlands Blößen aufzudecken, erwies in einem Gutachten, Weidig ſei geprügelt worden; den Leichnam ſelbſt in Augenſchein zu nehmen, hatte freilich keiner dieſer geſinnungstüchtigen Gelehrten für nöthig ge - halten. Auch unter den heſſiſchen Richtern regte ſich die Scham. Der Hofgerichtsrath Freiherr v. Lepel, der weder zu den liberalen Parteimännern gehörte noch an Weidig’s politiſche Unſchuld glaubte, aber immer ehren - haft für die Unabhängigkeit der Gerichte eingetreten war, verlangte in einem Referate ſtrenge Unterſuchung gegen dieſe höchſt ſchuldvolle, kaum erklärliche Vernachläſſigung, welche das Vertrauen in die Juſtiz nothwendig gefährden müſſe. Georgi erwiderte grob: dem Gerichtsperſonal wird wohl Niemand zumuthen wollen, bei einem ſolchen gefährlichen Individuum616IV. 8. Stille Jahre.ſelbſt Wache zu halten; und du Thil unterſtützte ihn mit voller Kraft. Der kluge Miniſter hatte ſich in dem ewigen Kampfe mit den Liberalen ſchon dermaßen verhärtet, daß er ihnen ſchlechterdings nichts mehr glauben wollte. Er ſchilderte Georgi dem preußiſchen Geſchäftsträger als einen ſchändlich verleumdeten Märtyrer der guten Sache; die beiden Gerichts - ärzte hätten ſich nur durch die liberalen Abgeordneten verführen laſſen, ein unwahres Gutachten über Georgi’s Säuferkrankheit abzugeben. *)Sydow’s Berichte, 23. Aug., 7. Nov. 1837.Noch mehr, als ſein Schützling die Stirn hatte ſich um einen Sitz in der Kammer zu bewerben, gewährte er ihm den ſtillen Beiſtand der Behörden. Georgi wurde gewählt, und Gutzkow ſang:

Deutſchland, glückliches Land, wo der Wahnſinn ſitzt zu Gerichte,
Und in dem ſtändiſchen Saal taumelnd ein Trunkenbold lallt!

Die Inſchrift auf Weidig’s Grabe ließen die Behörden überkitten, weil ſie den Todten als heiligen Streiter rühmte. Unbelehrbar blieb du Thil bei ſeiner Anſicht. Noch lange Jahre nachher ſchrieb er in ſeinen Denk - würdigkeiten, als er Weidig’s wüthenden Anfall auf Georgi erwähnt hatte: Man kann ſehen, was der Parteigeiſt bewirkt, wenn man weiß, daß jenes Ungeheuer, das ſich am Ende ſelbſt entleibt hat, als Märtyrer betrachtet, faſt vergöttert worden iſt, und daß man ihm ein Denkmal geſetzt hat. Aber mit ſolchem Hochmuth bureaukratiſcher Selbſtgerechtigkeit ließ ſich der blu - tige Schatten nicht bannen. Das Gerücht ließ nicht ab, die Schriften über den gräßlichen Vorgang mehrten ſich; die öffentliche Meinung forderte ſtürmiſch, das Geheimniß müſſe gänzlich aufgedeckt werden. Als nun in Kurheſſen eine geheime politiſche Unterſuchung gegen Sylveſter Jordan eingeleitet wurde, erſt 1839, eben zu der Zeit, da die Demagogenverfolgung überall ſonſt einzuſchlafen begann, da erzählte man ſich bald, auch dieſer Volksmann werde mit der gleichen Grauſamkeit behandelt. Der Unwille ward allgemein. Die beiden Proceſſe Weidig und Jordan ſollten in der deutſchen Geſchichte eine große Bedeutung erlangen, ſie gaben dem ge - heimen Strafverfahren den Todesſtoß.

Wie konnten in ſo ſchwüler Luft Vertrauen und Frieden gedeihen! Die Verwaltung im Großherzogthum Heſſen arbeitete unter du Thil’s ein - ſichtiger Leitung vortrefflich. Für Schulweſen und Straßenbau geſchah ſehr viel; der Ertrag des landesfürſtlichen Kammergutes vermehrte ſich beträchtlich, obgleich ein Drittel der Domänen an den Staat abgetreten war. Die Ablöſung der bäuerlichen Laſten wurde ſo gerecht durchgeführt, daß ſelbſt die Mediatiſirten, die überall ſonſt in Süddeutſchland über die neuen Agrargeſetze klagten, hier allein zufrieden waren; die Solms und617du Thil’s Herrſchaft in Darmſtadt.Erbach benutzten die Ablöſungsgelder, um ihren Grundbeſitz zu vergrößern, aber auch ihre Gutsunterthanen freuten ſich der Erleichterung. Den Par - ticularismus hatte du Thil immer verachtet, und nach den Wiener Miniſter - conferenzen war er mehr denn je davon überzeugt, daß dies zerfahrene deutſche Weſen einer feſten Leitung bedürfe; im Stillen wünſchte er einen Kaiſer, der ohne Parlament, mit Beirath eines Reichstags deutſcher Fürſten, die Nation führen ſollte. Und dieſer geſcheidte Mann, der die meiſten Miniſter der kleinen Staaten weit überſah, war gleichwohl kleinlich miß - trauiſch wider die liberale Partei, empfindlich gegen jede freimüthige Kritik, ganz durchdrungen von jenem unnahbaren Dünkel, der das alte Beamten - thum auszeichnete. In der Hofburg galt er für den zuverläſſigſten aller kleinen Miniſter. Als Metternich 1834 eine geheime Centralſtelle in Süd - deutſchland einrichtete für die zahlreichen Agenten, welche der Wiener Hof in Italien und der Schweiz, in Belgien und dem deutſchen Süden unter - hielt, da wurde du Thil in das Geheimniß eingeweiht und empfing fortan regelmäßige Berichte, während die anderen deutſchen Höfe nur zuweilen einer vertraulichen Mittheilung gewürdigt wurden. Die niederen Agenten hielt er ſelbſt gutentheils für zweideutige Glücksritter; ihm genügte, daß der k. k. Oberbeamte, der von Zeit zu Zeit in Darmſtadt vorſprach, ſich wie ein feingebildeter Mann benahm und jedes Geldgeſchenk zurückwies. *)Nach du Thil’s Aufzeichnungen.Auf Preußens Freundſchaft konnte ſich der Mitbegründer des Zollvereins immer verlaſſen. Als er den Landtag von 1833 auflöſte, ſprach ihm An - cillon ſeine warme Zuſtimmung aus. **)Ancillon, Weiſung an Arnim, 11. Nov. 1833.

Der neue Landtag von 1834 zeigte ſich nicht gefügiger. Auch dies - mal hatte die Oppoſition die Mehrheit erlangt, und ſie trat, unter der Führung Heinrich v. Gagern’s, ſo ſcharf auf, daß einige ängſtliche Mit - glieder der Minderheit den Miniſtern erklärten, ſie wagten kaum noch in der Kammer zu erſcheinen, weil jedes ihrer Worte verhöhnt würde. Währenddem verweilte du Thil auf den Wiener Conferenzen. Sobald er zu bemerken glaubte, daß Hofmann und die anderen Miniſter ſich zu nach - giebig zeigten, erbat er ſich die Erlaubniß zur Rückkehr. Seine Taubheit verhinderte ihn im Landtage ſelbſt zu erſcheinen; er kannte ſeine Gegner kaum, traute ihnen das Aergſte zu und rieth dem Großherzog abermals zur Auflöſung der Kammer. Ein Anlaß fand ſich bald genug. Die Libe - ralen ſtellten einen Antrag auf Wahrung der Selbſtändigkeit des Richter - ſtandes und trafen damit die wunde Stelle des Regierungsſyſtems. Gagern erwies in hochpathetiſcher Rede, daß die Gerichte nur zu Gunſten einer Partei zuſammengeſetzt würden; dieſe Partei, ſo fuhr er fort, verſtehe das conſtitutionelle Princip nicht, ſie werde vorzugsweiſe durch das gegen - wärtige Miniſterium vertreten. Da erhob ſich zornglühend der Staats -618IV. 8. Stille Jahre.rath Knapp denn der Name: Partei hatte in den Kreiſen des Beamten - thums noch einen böſen Klang und verlangte, daß der Redner zur Ordnung gerufen würde. Als die Mehrheit dies Begehren abſchlug, ver - ließen die Regierungscommiſſäre den Saal, und am nächſten Tage wurde die Kammer aufgelöſt (25. Oct.). Du Thil war von ſeinem Rechte tief überzeugt und ſagte in einer Proclamation an das Volk: Ein Mitglied der zweiten Kammer erlaubte ſich einen ſo beleidigenden und herabwür - digenden Ausfall, daß dadurch das Anſehen und die Achtung, die jede Regierung anzuſprechen hat, im höchſten Grade gefährdet war.

Der preußiſche Geſchäftsträger Heinrich v. Arnim, der noch ganz in den politiſchen Anſchauungen ſeines Freundes, des Kronprinzen lebte, ſchrieb frohlockend: nach der gottvergeſſenen Idee der Volksſouveränität bedeute die Auflöſung des Landtags eine Appellation an das Volk; durch die wieder - holte Auflöſung ſei dieſer Wahn jetzt thatſächlich widerlegt. Auch Ancillon erklärte ſich einverſtanden*)Arnim’s Berichte, 25. 27. Oct.; Ancillon, Weiſung an Arnim, 6. Nov. 1834., und in der That war nunmehr der Hydra der Kopf abgeſchlagen , wie du Thil ſagte. Die neuen Wahlen fielen zu Gunſten der Regierung aus, und vierzehn Jahre hindurch gebot der dauer - hafteſte aller deutſchen conſtitutionellen Miniſter fortan über eine er - gebene Mehrheit. Selbſt die Enthüllung des Thorwaldſen’ſchen Guten - berg-Standbildes in Mainz (1837), ein Feſt, vor dem ſich der Hof leb - haft fürchtete, verlief in Frieden, obwohl viele unheimliche Demagogen her - beigekommen waren. Die Macht der Regierung ſchien für den Augenblick ſo feſt zu ſtehen, daß im Jahre 1838 zwei Führer der Oppoſition, Gagern und Langer entmuthigt aus der Kammer austraten.

Weit ernſter war die Lage in Kurheſſen. Wie richtig hatte doch Motz über ſeine Heimath geurtheilt, als er einſt, lange vor den Julitagen, vorausſagte, von Braunſchweig und Kurheſſen würde die deutſche Revo - lution ausgehen. In Braunſchweig war jetzt das Feuer gelöſcht, das Kur - fürſtenthum blieb des Deutſchen Bundes Unglückskind. Selbſt der neue preußiſche Geſandte, Frhr. v. Canitz, der dem geiſtreichen Berliner Freun - deskreiſe des Kronprinzen angehörte und als geborener Heſſe gern nach - ſichtig urtheilte, mußte ſchließlich geſtehen: das Land ſei nicht ſchlecht ge - ſinnt, die Oppoſition ungefährlich; die einzige Gefahr liege in der Perſon des Prinzregenten, die dem Braunſchweiger Karl nur zu ähnlich ſei, in ſeinem boshaften, mißtrauiſchen Charakter, in ſeiner Luſt, Allen wehe zu thun, die ſich nicht ſchützen können. **)Canitz’s Berichte, 3. Oct. 1836, 19. Aug. 1837.Sehr ſchwer beſtraften ſich die unfürſtlichen Familienverhältniſſe des Regenten. Er hat uns nur in Pachtung, ſagte man im Volke; Niemand traute ihm landesväterliche Liebe zu, weil er die Herrſchaft doch nicht auf ſeine Nachkommen vererben könne. Dieſer Verdacht mußte wachſen, als der Kurprinz von den Land -619Haſſenpflug.ſtänden die Bewilligung einer Dotation für ſeine unebenbürtigen Kinder forderte, und deutlich zu verſtehen gab, für ſolchen Preis wolle er ſich gern etwas von dem Militärbudget abhandeln laſſen. *)Canitz’s Berichte, 12. Juli, 23. Aug. 1834.Die Verhand - lungen zerſchlugen ſich. Die Ritterſchaft aber verſtand ihren Vortheil wahrzunehmen, ſie nahm die Grafen von Schaumburg in ihre Corpo - ration auf, ſo daß ihnen fortan heimfallende Ritterlehen übertragen wer - den konnten, und empfing dafür von dem dankbaren Vater mannichfache Begünſtigungen im Staats - und Hofdienſte. Währenddem fuhr der Kur - prinz fort, ſeine Mutter durch kleinliche Bosheit zu mißhandeln. Er ließ den Salon neben ihrer Theaterloge abbrechen und erwiderte auf ihre Be - ſchwerde, er ſei ja ſelbſt bei ihr nicht hoffähig. Nichts liebloſer als ſeine Briefe an die Kurfürſtin; als er ihr einen Kammerherrn, den ſie hoch - ſchätzte, wegnahm, ſchrieb er ihr trocken: übrigens beſitzeſt Du kein Rechts - mittel, ihn in Deinem Dienſte beizubehalten. **)Kurprinz Friedrich Wilhelm an Kurfürſtin Auguſte, 30. Nov. 1836.Erſt nach vieljährigem Streite überwand die ſtolze Fürſtin ihren Widerwillen, auf die dringenden Bitten des preußiſchen Geſandten, und entſchloß ſich den Beſuch ihrer Schwiegertochter zu empfangen. Seitdem wurde mindeſtens der äußere Anſtand bei Hofe wiederhergeſtellt. ***)Canitz’s Berichte, 28. Jan., 18. Febr. 1837.

Haſſenpflug, der jetzt die Seele der Regierung war, hatte einſt als Freiwilliger gegen Frankreich gefochten und in Göttingen einer Verbindung angehört, welche den patriotiſchen Ideen der ſpäteren Burſchenſchaft nahe ſtand. Frühe ſchon wendete er ſich den Lehren Haller’s zu, ſein ſcharfer juriſtiſcher Verſtand ſchrak ſelbſt vor den letzten Folgeſätzen des Syſtems der Reſtauration nicht zurück. Geiſtreich, vielſeitig unterrichtet, zeigte er in den erſten, beſſeren Jahren ſeines Wirkens lebhaften Eifer für die Blüthe der Wiſſenſchaften in Marburg. Der Verkehr mit ſeinen Schwä - gern, den Brüdern Grimm, die ihn auch mit Dahlmann zuſammen - brachten, hatte ihn gewöhnt ſich auf den Höhen der Bildung zu bewegen. Die beiden, allerdings kindlich gutherzigen, großen Gelehrten hielten ihn damals noch für durchaus redlich, nur fanden ſie ihn nicht frei von Einſeitigkeit und Ueberſpannung , und nannten es unrecht, daß er ſeiner eigenen Ueberzeugung zuwider die Rolle eines conſtitutionellen Miniſters übernommen habe. Er verhehlte gar nicht, daß er die Verfaſſung als ein Werk der Revolution verabſcheute und entſchloſſen war, ſie durch die allerſtrengſte Auslegung mit dem monarchiſchen Princip in Einklang zu bringen. Während dieſer Kämpfe ward er immer härter, ſchroffer, gewiſſen - loſer; in ſeinem ſchönen, geiſtreichen Geſichte ließen ſich bald die verkniffenen Züge des Fanatismus und der Herrſchſucht erkennen. Wenn er ſcharf, höhniſch, mit herausforderndem Hochmuth auf die tobende Kammer ein -620IV. 8. Stille Jahre.redete, dann ſchien es, als geize er nach dem Ruhme eines heſſiſchen Straf - ford; und in der That verkündete das Berliner Wochenblatt, das er durch ſeine Getreuen mit Beiträgen verſorgte: hier in Heſſen werde der geheime Krieg zwiſchen Fürſtenrecht und Revolution endlich zum Austrage kommen. So erwarb er ſich bald den Beinamen des Heſſenfluchs. Die Liberalen haßten ihn um ſo grimmiger, weil ſie ſeine Begabung nicht beſtreiten konnten: er erledigte die Geſchäfte leicht, ohne kleinliche Pedanterei und zeigte eine glückliche Hand in der Auswahl ſeiner Werkzeuge. Ganz uner - träglich war ihm der ſtehende Ausſchuß des Landtags, dieſe verkehrteſte Ausgeburt der neuen Verfaſſung; der Landtag aber erklärte gerade dieſe ſtändiſche Nebenregierung, die ſich mit der modernen Staatseinheit in der That nicht vertrug, feierlich für das Palladium der heſſiſchen Freiheit.

Zunächſt dachte der Miniſter den alten Uebelſtand des deutſchen Repräſentativſyſtems, die Beamten-Oppoſition auf dem Landtage, zu be - ſeitigen; Jordan vornehmlich, der Vater der Verfaſſung, ſollte entfernt werden. Darum verweigerte die Regierung, als für den Landtag von 1833 gewählt wurde, jedem des Liberalismus irgend verdächtigen Beamten unnachſichtlich die Erlaubniß zur Annahme der Wahl. Jordan aber, der Abgeordnete der Univerſität Marburg, ſuchte die Genehmigung des Mini - ſteriums nicht nach, ſondern trat in gutem Glauben ein; hatte er doch ſchon früher, ohne um Erlaubniß zu bitten, ſechzehn Monate lang die Hochſchule im Landtage vertreten. Als die Urheber der Verfaſſung einſt der Regierung das Recht der Urlaubsverweigerung zugeſtanden, hatten ſie unzweifelhaft nicht beabſichtigt, daß ſich dies Recht auch auf den Ab - geordneten der Univerſität erſtrecken ſollte; denn er mußte ein Profeſſor ſein, er vertrat eine Corporation, welche ſeit drei Jahrhunderten, kraft ihrer Prälatenwürde, immer frei aus ihrer Mitte gewählt hatte; durfte die Regierung auch ihm die Erlaubniß zum Beſuche des Landtags nach Be - lieben verſagen, ſo ging das alte Wahlrecht der Univerſität thatſächlich auf das Miniſterium über. Aber dieſe in Wahrheit ſelbſtverſtändliche Aus - nahme von der Regel war in der Verfaſſung nicht ausdrücklich ausge - ſprochen; der Art. 71 verpflichtete alle Staatsdiener ohne Unterſchied, nach ihrer Erwählung die Genehmigung der vorgeſetzten Behörde einzuholen. Der verſchlagene Miniſter konnte ſich alſo auf den Buchſtaben des Grund - geſetzes berufen, als er von der Kammer verlangte, ſie ſolle den Pro - feſſor Jordan, der keine Erlaubniß erhalten habe, von ihren Sitzungen ausſchließen. Der Landtag lehnte das Anſinnen ab, deſſen eigentlichen Zweck Jedermann durchſchaute, und wurde ſofort aufgelöſt.

Fortan blieb jede Verſöhnung unmöglich. Der Haß gegen den Mini - ſter ward ſo maßlos, daß ſelbſt der befreundete Canitz zuweilen meinte, Haſſenpflug müſſe um des Friedens willen zurücktreten. *)Canitz’s Berichte, 2. Juli 1833 ff.Der aber hielt621Haſſenpflug und der Landtag.aus und erreichte wirklich, daß der Landtag von liberalen Staatsdienern faſt ganz geſäubert wurde; was verſchlug es auch dieſem Tauſendkünſtler, daß die Verfaſſung vorſchrieb, der Urlaub dürfe nicht ohne erhebliche Ur - ſache verſagt werden? Nach Jordan’s Ausſcheiden fand die Oppoſition bald neue muthige Führer an dem wackeren Bürgermeiſter Schomburg, der als Landtagspräſident die ſtürmiſchen Verhandlungen mit würdigem Ernſt leitete, ſowie an den Juriſten Wippermann und Schwarzenberg, die ungleich heftiger auftraten. Der Zank nahm kein Ende. Von vier Land - tagen wurden unter Haſſenpflug’s Regiment zwei aufgelöſt, einer einfach entlaſſen in Formen, welche die Verfaſſung nicht kannte nur ein einziger gelangte zum ordnungsmäßigen Schluß. Waren die Stände nicht verſammelt, ſo kämpfte der Miniſter, noch leidenſchaftlicher, mit ihrem Ausſchuß. Hartnäckig, mit der Kunſt des vollendeten Sophiſten, beſtritt er ihnen jedes Recht, das nur irgend angezweifelt werden konnte. Als die Budget-Commiſſion einmal mehrere Streichungen vorſchlug, richtete die Regierung eine förmliche Beſchwerdeſchrift an die Kammer und be - ſchuldigte den Landtag, der noch gar keinen Beſchluß gefaßt hatte, der Ueberſchreitung ſeiner Befugniſſe. Zudem wurde im Lande jede Regung des öffentlichen Lebens durch harte Polizeigewalt darniedergehalten, ob - gleich die Unruhe der Revolutionsjahre längſt einer tiefen Abſpannung gewichen war. Das dreihundertjährige Jubelfeſt des Schmalkaldener Bun - des durfte hier in der Heimath Philipp’s des Großmüthigen nicht ſtattfinden, weil jener aufrühreriſche Bund wider die Obrigkeit den Heſſen nicht zur Ehre gereiche. Eines Tags erſchien der Miniſter feierlich im Landtage um die Abgeordneten an ihre vaterländiſchen Pflichten zu mahnen und die Erlaubniß zur Verfolgung eines Hochverräthers zu erbitten. Alles harrte geſpannt auf den Namen des Frevlers; da nannte Haſſenpflug einen der gutmüthigſten Philiſter des Hauſes, den Gaſtwirth Salzmann. Der wurde beſchuldigt, auf ſeiner Kegelbahn in Nauheim das aufrühre - riſche Gerede eines Genoſſen von Weidig ruhig mit angehört zu haben, und ſelbſt dieſer Hochverrath konnte nachher nicht erwieſen werden.

Unter ſolchen unfruchtbaren Wortgefechten ſtockten die Geſchäfte. Alle dieſe Jahre hindurch kam nur noch ein wichtiges Geſetz zu Stande, das verſtändige Gemeindegeſetz von 1834. Die Landſtände wurden durch die ewige Zänkerei empfindlich, gereizt, kleinlich. Sie beſchwerten ſich über Amtsehrenbeleidigung, weil ſie einmal bei einer öffentlichen Feierlichkeit zur linken Hand des Regenten geſtanden hatten; ſie markteten um jeden Flügeladjutanten, genau nach den Weisheitslehren des Staatslexikons, und wollten einſt ſogar den Gehalt des Zollvereinsbevollmächtigten ſtreichen ein offenbarer Vertragsbruch, der noch glücklich abgewendet wurde. Um die Verwirrung zu vollenden, ließ der Prinzregent auch noch an den Mini - ſtern ſeine Launen aus. Es wurde faſt zur Regel, daß Meiſterlin, Motz, Trott und die anderen Miniſterialvorſtände, die neben Haſſenpflug wenig622IV. 8. Stille Jahre.bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz - lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über dies Regierungsſyſtem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent - laſſungen bedeuteten nach heſſiſchen Verhältniſſen gar nichts, und fügte die weiſe Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit ſchützt nicht vor der Ungnade eines willkürlichen Fürſten. Wie verführeriſch mußte in einem ſolchen Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgeſetzes erſcheinen, der die Stände verpflichtete die Miniſter wegen Verletzung der Verfaſſung anzu - klagen. Die Landſtände ſahen ſo ſagte eine ihrer Klagſchriften daß Haſſenpflug gegen das lebendige Wirken und die geſetzliche Entwicklung der Verfaſſung unermüdlich ankämpfte. Doch ſo gewiß er den Geiſt der Verfaſſung zu zerſtören ſuchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er ſich klüglich; eine rechtliche Verſchuldung ließ ſich ihm nicht nachweiſen. Gleich - wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte; die eine der Anklageſchriften zählte allein dreizehn angebliche Verfaſſungs - verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen, die Landtagsauflöſungen ohne Landtagsabſchied, dazu eine Menge uner - heblicher Dinge, ſogar die verſpätete Einſtellung der Rekruten.

Zum erſten male ſeit dem Beſtande der neuen Verfaſſungen unter - nahm ein deutſcher Landtag die zweiſchneidige Waffe der Miniſteranklage zu gebrauchen, und es wurde verhängnißvoll für die Zukunft unſeres Par - lamentarismus, daß dieſer erſte Verſuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Vertheidigung des Mini - ſters, den er ſicherlich nicht liebte. Mohl hatte ſich ſchon als junger Mann durch ſeinen wiſſenſchaftlichen Freimuth die Ungnade des Bundestags zu - gezogen und ſeine conſtitutionelle Geſinnung ſoeben wieder in dem treff - lichen Lehrbuche des Württembergiſchen Staatsrechts bewährt, doch er ver - ſchmähte den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen und er erkannte, daß die deutſchen Landtage unbedacht ihr eigenes Anſehen untergruben, wenn ſie politiſche Machtfragen und Meinungsverſchiedenheiten auf dem Rechtswege zu entſcheiden ſuchten. In ſeiner Vertheidigungsſchrift ſprach er ſehr ſcharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beſchwor die Richter, Heſſens Verfaſſung frei zu halten von ſolchem Widerſinn, ſolcher Barbarei und ſolcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem unmöglich machenden Auslegung. Das Oberappellationsgericht, das zum guten Theile aus Liberalen beſtand und ſo oft ſchon fürſtlicher Willkür tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren - werthe Selbſtändigkeit. Haſſenpflug wurde in allen vier Fällen freige - ſprochen und veröffentlichte, zur Beſchämung des Landtags, ſämmtliche Aktenſtücke, die allerdings nur den Juriſten, nicht den Politikern ſeine Un - ſchuld darlegten. Der preußiſche Hof hielt ſich von dieſem Streite, wie von allen den inneren Zwiſtigkeiten der kleinen Staaten, behutſam zurück. 623Die Rotenburger Quart.Als der Kurprinz einmal ſeinem königlichen Oheim einen Plan einſendete, der die Landſtände zur Zurücknahme der Anklagen bewegen ſollte, da ließ der König antworten: er wünſche nicht, daß ſein Neffe mit ihm oder dem Kaiſer von Oeſterreich über ſolche Dinge unmittelbar Briefe wechsle, beide Höfe könnten als Bundesmächte doch nur gemeinſam handeln; ſo würde auch am ſicherſten jeder Anſchein einer Verkennung der Grundſätze der Verfaſſung vermieden . *)Entwurf für ein Reſcript des Kurprinzen an den Landtag, 1. Juli; Ancillon, Weiſungen an Canitz, 16. 17. Juli 1833.

Die Proceſſe gegen Haſſenpflug währten in das vierte Jahr hinein, bis zum Januar 1836, ohne das Land ſonderlich aufzuregen. Mittler - weile war aber ſchon ein neuer, dem Volke verſtändlicherer Kampf aus - gebrochen. Wieder einmal gerieth die Habſucht dieſes Fürſtenhauſes in Streit mit dem eigenen Lande. Um Neujahr 1835 erloſch die Neben - linie Heſſen-Rotenburg, die ein Viertel der alten Landgrafſchaft, die Roten - burger Quart mit 225,000 Thlr. jährlicher Einkünfte beſaß und dort die Patrimonialgerichtsbarkeit nebſt anderen niederen Regierungsrechten aus - übte. Eine Weile blieb es noch zweifelhaft, ob dieſer reiche Beſitz wirk - lich heimgefallen ſei; denn die Wittwe des letzten Rotenburgers, Landgräfin Eleonore meldete aus ihrem einſamen Schloſſe Zembowitz in Schleſien, daß ſie ſich Mutter fühle. Alsbald argwöhnte der mißtrauiſche Kurprinz, daß man einen Erben unterſchieben wolle, obgleich die Landgräfin ſich von freien Stücken bereit erklärte, ihr Wochenbett zu Rotenburg in Heſſen ab - zuwarten. Er erbat ſich durch ſeinen Geſandten vom Berliner Hofe die Anordnung der üblichen Sicherheitsmaßregeln. Nach deutſchem Fürſten - rechte ließ ſich dies unanſtändige Verlangen nicht abweiſen. Das Pu - pillen-Collegium in Ratibor ernannte nunmehr einen Landrath zum Cura - tor ventris für die Wittwe; der mußte die Landgräfin nach dem Schloſſe Rotenburg geleiten. Dort hatte der Kurprinz alle Zugänge vermauern laſſen; der eine, der offen blieb, wurde ſtreng bewacht. Die arme Land - gräfin, die unzweifelhaft in gutem Glauben war, bat den König von Preußen für alle Fälle um Schutz, weil dem Kurprinzen kein Fürſtenwort heilig ſei; da ſtellte ſich endlich heraus, daß ſie ſich über ihren Zuſtand getäuſcht hatte. **)Landgräfin Eleonore von Heſſen-Rotenburg an Ancillon, 12. Aug., an Canitz, Aug. 1835. Cabinetsordre an Ancillon, 28. Aug. 1835.

Nachdem der Prinzregent alſo ſeinen Verwandten ſeine ritterliche Ge - ſinnung gezeigt hatte, ließ er die Rotenburger Quart für ſein Hausfidei - commiß einziehen; die Koſten der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit über - wies er kurzerhand dem Staate und erbot ſich großmüthig 1500 Thlr. jährlich zuzuſchießen. Zugleich verſuchte er auch die großen preußiſchen Beſitzungen des Hauſes Rotenburg, die Fürſtenthümer Ratibor und Corvey, welche der verſtorbene Landgraf ſeinen Neffen, den Prinzen von Hohenlohe624IV. 8. Stille Jahre.vermacht hatte, widerrechtlich an ſich zu reißen. In Preußen wurden ſeine Anſprüche natürlich abgewieſen, um ſo hartnäckiger behauptete er ſie in Heſſen. Da die Verfaſſung alle Domänen für Staatsgüter erklärt hatte, ſo ver - ſtand es ſich von ſelbſt, daß auch die heimgefallenen Rotenburger Domänen, durchweg ſeculariſirte Kirchengüter, dem Staate gehörten, und das kur - fürſtliche Haus höchſtens eine entſprechende Erhöhung der Civilliſte fordern konnte. Darüber waren auf dem Landtage von 1830, als das Landes - vermögen getheilt wurde, die Vertreter der Regierung mit den Landſtän - den vollkommen einig geweſen. Auch jetzt erklärte der Landtag mit er - drückender Mehrheit, die Rotenburger Quart gehöre dem Staate. Die treuen bäuerlichen Abgeordneten zeigten ſich beſonders eifrig; ſie ſagten, jetzt ſei doch dem Kurhauſe endlich genug gezahlt worden. Doch leider enthielt die Verfaſſung keine Vorſchrift über die Streitfrage, und ſo konnte der landesübliche Zank von Neuem beginnen. Der Kurprinz blieb vor - läufig im Beſitze und ließ im Verlaufe der Händel einmal eine höchſt ver - dächtige Aeußerung fallen. Er ſchrieb den Ständen (1837): für den Fall ſeiner eigenen Thronbeſteigung behalte er ſich noch eine beſondere Er - klärung über Unſere Domänen vor. Sollte das heißen, daß er als Kurfürſt die ganze Vereinbarung vom Jahre 1830 wieder in Frage ſtellen und auch die kurheſſiſchen Domänen für ſich verlangen wolle? Niemand wußte es; die Ausſicht in die Zukunft ward immer düſterer.

Sie lichtete ſich auch nicht, als Haſſenpflug von dem unvermeidlichen Schickſal aller heſſiſchen Miniſter ereilt wurde. Er hatte ſeine Schuldig - keit gethan und begann dem Prinzregenten durch ſeine Herrſchſucht wie durch ſeine Ueberlegenheit läſtig zu werden. Auf einen Vorſchlag, den der Miniſter mit dem Beſten der Unterthanen begründete, erwiderte der Regent unwirſch: Ach was! Beſtes der Unterthanen! Da mag man noch ſo viel thun, da wird doch nicht dafür gedankt, und dann denkt Niemand dabei an Uns, es heißt doch, die Miniſter haben’s gethan. Man merkte bald, daß der Kurprinz die Gelegenheit zum Bruche ſuchte. Sie fand ſich auch ſchnell: es gab Streit über den Miniſtergehalt, und nachher wurden gar einige Hengſte aus dem Landesgeſtüt, ohne Anfrage beim Prinzregenten, zum Verkauf ausgemuſtert. Dies genügte. Durch ſchnöde Verweiſe be - leidigt forderte Haſſenpflug zweimal ſeine Entlaſſung. Am 1. Juli 1837 wurde er aufgefordert, das Miniſterium des Innern aufzugeben, das Juſtiz - miniſterium zu behalten; als er dies Schreiben zurückſchickte, erhielt er un - gnädigen Abſchied. Das war der Dank für den Mann, der ſo lange die eigenſten Gedanken des Prinzregenten mit tollkühner Dreiſtigkeit verthei - digt hatte. Haſſenpflug war während der letzten Wochen, wohl um ſich einen neuen Rückhalt zu ſuchen, im Landtage etwas milder aufgetreten. Darum fühlte er ſich gedrungen, dem Könige von Preußen in einer aus - führlichen Denkſchrift die wahren Gründe ſeiner Entlaſſung darzulegen. Nimmermehr wollte er ſich dem Verdachte ausſetzen, als wäre ein Aus -625Die ſchwäbiſchen Liberalen.prägen hyperconſtitutioneller Ideen in meinem Verfahren enthalten; das wäre für mich die ſchwerſte aller Anklagen. *)Haſſenpflug, kurze Darſtellung der Gründe meines Austritts aus dem kurheſ - ſiſchen Staatsdienſte. (Dem Könige überſendet durch Heinrich v. Arnim, 11. Dec. 1837.)

An Haſſenpflug’s Stelle führte nunmehr Staatsrath Scheffer das Wort für die Regierung. Der hatte ſich während der Revolutionsjahre durch radicalen Uebermuth ausgezeichnet; jetzt ſprach er ganz im Sinne ſeines Vorgängers, nur ohne deſſen Geiſt und Gewandtheit. Der Streit um die Rotenburger Quart währte fort. Im Jahre 1838 wurden zwei Landtage aufgelöſt, weil ſie die Einkünfte der Quart den Einnahmen des Staatsbudgets hinzurechnen wollten. Darauf wendeten ſich die Stände nach Frankfurt, um die Einberufung des Bundesſchiedsgerichts zu erbitten. Der Bundes - tag wies ſie ab, da das heſſiſche Compromißgericht noch nicht geſprochen habe. Die Abweiſung war der Form nach unanfechtbar ſchade nur, daß der Prinzregent die Einberufung des Compromißgerichts niemals zugeben wollte. Als nun gar noch Jordan wegen demagogiſcher Umtriebe ins Ge - fängniß geworfen wurde, da fragten die Heſſen ſchmerzlich, wo die Seg - nungen der liberalſten aller deutſchen Verfaſſungen geblieben ſeien.

In Württemberg hingegen erlangten König und Beamtenthum faſt unmerklich ihre alte Macht wieder. Der vormals verabſcheute Führer des liberalen reinen Deutſchlands wurde jetzt an den großen Höfen, mit beſſerem Grunde, als der erfahrene Neſtor der conſtitutionellen Fürſten be - lobt: Niemand verſtehe wie er, mit den Landſtänden ohne Geräuſch fertig zu werden. Bei den Neuwahlen, nach der Auflöſung des vergeblichen Landtags von 1833, ließ Staatsrath Schlayer alle Minen ſpringen. Als den liberalen Beamten der Urlaub verweigert wurde, forderte Ludwig Uhland die Entlaſſung aus ſeiner Tübinger Profeſſur, und die Regierung entblödete ſich nicht, dem größten aller lebenden Schwaben den Abſchied mit dem höhniſchen Zuſatz ſehr gern zu ertheilen. Auch der junge Kriegs - rath Friedrich Römer legte ſein Staatsamt nieder um in den Stuttgarter Halbrundſaal einzutreten, wo er ſich als das erſte praktiſche Talent der Oppoſition bewährte. Die Liberalen blieben in der Minderheit und ſie fühlten bald ſelbſt, wie wenig das ermüdete Land noch nach dem Kampfe wider die Bundesſchlüſſe fragte. Uhland ſagte einmal herb: Ich ſpreche dem Volke das Recht ab, über etwas unzufrieden zu ſein, was eine von ihm gewählte Kammer beſchloſſen hat. Es hat ſie ja ſelbſt ſo gewählt. Ein Antrag auf Herſtellung der Preßfreiheit wurde zwar angenommen, und Uhland ſprach dabei die Hoffnung aus: wenn jetzt alle Landtage ihre Pflicht thäten, ſo würde dereinſt eine deutſche Nationalverſammlung die Volksrechte noch wirkſamer wahren. Doch was halfen Worte gegen die anerkannten Bundesgeſetze? Pfizer verſuchte noch mehrmals das Verhält - niß zwiſchen Bundesrecht und Landesrecht zur Sprache zu bringen. ErTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 40626IV. 8. Stille Jahre.verlangte in feuriger Rede: jeder Landtag müſſe die gemeinſamen deut - ſchen Angelegenheiten als wahrhafte Landesangelegenheiten betrachten; dann werde die Nation ſich als Nation erkennen und nicht länger vor den Aus - ländern zu erröthen brauchen. Allein die Theilnahme blieb lau; als er ſeine Anträge zum vierten male einbrachte, begrub man ſie ſtillſchweigend in den Akten. Auch Römer’s tief durchdachte Reden gegen das neue, überaus harte Strafgeſetzbuch fanden wenig Anklang.

Die Oppoſition ſtand ausſichtslos im Winkel und verfiel allmählich, wie vormals die Altrechtler, jenem peſſimiſtiſchen Trotze, der die tiefen ſchwäbiſchen Gemüther ſo leicht bethört. In einer geiſtreichen Schrift über das Recht der Steuerverwilligung (1836) erwies Pfizer, dies Recht müſſe den Landſtänden als Mittel dienen, um auf die vollziehende Gewalt Ein - fluß zu gewinnen und Aenderungen im Regierungsſyſtem zu bewirken. Es war die altſtändiſche Anſicht vom power of the purse, eine grob naturaliſtiſche, mit der Staatseinheit ſchlechthin unvereinbare Lehre, welche das Weſen der Freiheit im beſtändigen Kampfe gegen die Regierung ſuchte. Dieſe ſtaatsfeindliche Doctrin, die einſt den alten Ständen Mecklenburgs und Württembergs zum Leitſtern gedient hatte, wurde jetzt von dem erſten Publiciſten des deutſchen Liberalismus als Grundſatz des modernen con - ſtitutionellen Staatsrechts aufgeſtellt, und ſeine gemäßigt liberalen Freunde ſchloſſen ſich ihm an. Sie ſtimmten alleſammt gegen das Budget, weil ſie wußten, daß die Mehrheit es doch bewilligen würde, und ſprachen ſelbſt feierlich aus, durch ihr Nein wollten ſie nur Verwahrung einlegen wider ein dem conſtitutionellen Princip ſo wenig entſprechendes Regierungsſyſtem . Doch unmöglich konnten ehrliche, geiſtvolle Männer bei Abſtimmungen, die nicht ernſt gemeint waren, ſich auf die Dauer beruhigen. Was mußte Pfizer empfinden, wenn er gegen den Zollverein ſtimmte oder gar den un - ſinnigen Satz vertheidigte: Landesrecht geht vor Bundesrecht! Er täuſchte ſich nicht über die Unwahrheit eines politiſchen Kampfes ohne Mittelpunkt und Ziel; von den Portfolio-Träumen ſeines Freundes Wurm wollte er auch nichts hören, weil er die Selbſtſucht der britiſchen Staatskunſt durch - ſchaute. Ueberdies hatte er an ſich ſelbſt erfahren, daß nur Männer, welche ganz im parlamentariſchen Leben aufgehen, in der Volksvertretung wahrhaft mächtig werden, nicht aber Publiciſten oder Denker, die auf an - deren Gebieten ſich ihren Namen erworben haben. Selbſt Uhland, deſſen politiſcher Blick nicht ſo weit reichte, erkannte beſchämt die Ohnmacht dieſer kleinen Landtage und ſagte: Wir ſtehen an der Grenze einer lebendigen Wirkſamkeit auf dieſem Wege. Der Bündel iſt nicht zu Stande gekommen, das Beil hat kein Heft, und die Stäbe liegen geknickt umher. Das Land regte ſich nicht, und es klang faſt wie Hohn, wenn Wurm und ſeine Genoſſen im Portfolio rühmten: der Stuttgarter Hof ſei ruſſiſch, die Oppoſition allein vertrete die wirkliche Meinung des Volks, das nach einem Bunde mit den Weſtmächten verlange.

627Rücktritt der württembergiſchen Oppoſition.

Verſtimmt und entmuthigt beſchloſſen die Führer der Liberalen 1838, den parlamentariſchen Kampf vorläufig aufzugeben; Pfizer, Uhland, Schott, Römer, Wolfgang Menzel ließen ſich nicht wieder wählen. In einem Briefe an einen ſeiner Geißlinger Wähler ſprach F. Römer die Verzweif - lung und Erbitterung, welche den ſüddeutſchen Liberalismus ergriffen hatte, ſtürmiſch aus. Da hieß es: Gerade die Starrheit, womit ich auf demjenigen beharre was ich für recht halte, macht mich zum württem - bergiſchen Volksvertreter gänzlich unfähig. Kann man es mit dem be - ſtehenden Rechte der Steuerverweigerung in Einklang bringen, einer Re - gierung, welche dem Volke gerade diejenigen Mittel vorenthält, die allein geeignet ſind, den Sinn für einen verfaſſungsmäßigen Rechtszuſtand zu wecken und zu erhalten, kann man es, ſage ich, mit jenem Rechte in Ein - klang bringen, einer ſolchen Regierung das Geld zu verwilligen, womit der Cenſor belohnt wird, weil er diejenigen Stellen ſtreicht, welche ſich auf die Rechte der Staatsbürger beziehen? das Geld zu verwilligen, womit der Polizeibeamte bezahlt wird, weil er gegen politiſche Verſamm - lungen einſchreitet? das Geld zu verwilligen, womit der Richter be - ſoldet wird, weil er den Widerſtand gegen ſolche Verfügungen beſtraft? So ſcheiterten alle Verſuche einen beſſeren Zuſtand zu begründen, an der Furcht vor dem Bunde! *)F. Römer’s Schreiben an einen ſeiner Geißlinger Wähler, 1. Nov. 1838. S. Beil. 23.

Solche Verzichte beſtrafen ſich in der Politik unfehlbar. Die neue Kammer von 1839 beſtand zumeiſt aus ergebenen Beamten und Schult - heißen; man nannte ſie die Amtsverſammlung, und ganz ungeſtört konnte Schlayer fortan mit dem Heere ſeiner Schreiber ſchalten. Er verfuhr ver - ſtändig und ſparſam; nur eine Minderung der Ueberzahl der Generale wagte er dem Großmachtsſtolze ſeines Monarchen nicht zuzumuthen. König Wil - helm nannte ſich ſelbſt gern einen alten Praktiker und ſorgte eifrig für den Landbau; ſein Liebling, die landwirthſchaftliche Akademie zu Hohenheim be - ſaß auch nachdem der verdiente Schwerz abgegangen war, immer treffliche Lehrer. Die völlige Entlaſtung des Bodens vermochte er freilich nicht durch - zuſetzen; denn ſeine Regierung konnte, obgleich Schlayer ſie als ein bür - gerliches Miniſterium rühmte, des Beiſtandes der erſten Kammer gegen die Liberalen nicht entbehren, und die Engherzigkeit der Standesherren wollte von befreienden Agrargeſetzen nichts hören. Mit Mühe wurde die Ablöſung der Frohnden und Beden, gegen eine ſehr hohe Entſchädigung, erreicht; die Zehnten blieben beſtehen, zum Leidweſen des Königs. Die Demagogenverfolgung betrieb er als nüchterner Geſchäftsmann nicht ſehr eifrig. Die Preſſe dagegen ward unerbittlich bedrückt; ſie durfte ſogar die Cenſurlücken nicht mehr durch Gedankenſtriche andeuten. Die große Treib - jagd des Bundestags hatte in Schwaben nur noch zwei politiſche Blätter am Leben gelaſſen: den Beobachter, der das Geſchäft des unterdrückten40*628IV. 8. Stille Jahre.radicalen Hochwächters fortzuſetzen ſuchte, und den gemäßigten, zuweilen von der Regierung ſelbſt benutzten Schwäbiſchen Mercur. Die Cenſoren aber pflegten ſo rechtlos war die Preſſe das Oppoſitionsblatt nach - ſichtiger zu behandeln als die befreundete Zeitung; denn was dort unbe - denklich erſchien, hätte hier leicht Aufſehen erregen können. So ſchien dies ſtramme bureaukratiſche Regiment noch auf lange hinaus geſichert; und zuverſichtlich ſagte Schlayer im Landtage, zehn Jahre vor der März-Revo - lution: Wann war Württembergs Zuſtand beſſer als jetzt? Aehnliche Aeußerungen der Selbſtzufriedenheit ließen ſich auch auf den Miniſter - bänken anderer Kleinſtaaten vernehmen. In der Enge ihres Berufslebens vermochten dieſe pflichtgetreuen Beamten nicht mehr zu begreifen, daß die Wohlthaten eines langen Friedens und einer geordneten Verwaltung ein edles Volk doch nicht über die ſchimpfliche Zerriſſenheit ſeines Geſammt - ſtaats tröſten konnten.

Während in Württemberg das alte Syſtem ſich nur wieder häuslich einrichtete, bekundeten ſich in Baden bald die erſten Anzeichen einer ge - fährlichen Reaktion. So lange Winter lebte, konnte der innere Friede freilich nicht ernſtlich geſtört werden. Der wackere Miniſter zählte zu jenen glücklichen Naturen, denen Niemand gram wird; ſeine derbe Offenherzig - keit war den Oberländern unwiderſtehlich. Er hatte auf Befehl des Bun - destags das neue Preßgeſetz aufgehoben; er hatte die Univerſität Freiburg geſchloſſen und ihre liberalen Profeſſoren abgeſetzt; er verweigerte die Be - ſtätigung, als die Freiburger nachher ihren Rotteck zum Bürgermeiſter wählten. Gleichwohl ward er in dem liberalen Ländchen immer beliebter, volksthümlicher faſt als die Führer der Oppoſition; ſelbſt Rotteck und Welcker, denen er ſo viel Leides angethan, verkehrten mit ihm freundlich, faſt herzlich. Niemand wollte glauben, daß er jene Thaten der Unter - drückung aus freiem Antriebe beſchloſſen hätte; ſagte er doch ſelbſt oft: ich fürchte die oben mehr als die unten. Das kleinliche Mittel der Urlaubsverweigerung verſchmähte er ſtets. Aber allen erwählten Beamten ſchärfte er ein: ſie ſollten auch als Abgeordnete ihrer Staatsdienerpflicht eingedenk ſein; wo nicht, ſo würde er nicht anſtehen, ihnen den Urlaub zu entziehen. Andere Abgeordnete bat er brieflich um Mäßigung, mit ſcho - nungsloſer Aufrichtigkeit. An Rotteck ſchrieb er einſt: Meinen Sie, irgend Jemand glaube, daß Sie gegen den Zollverein ſeien, weil Sie ihn für ſchädlich halten? Kein Menſch glaubt es, weil er an und für ſich Ihrem Syſtem entſpricht. Sie thun es aus Haß gegen Preußen, um, wenn Sie reuſſiren, die Hand emporhalten und ſagen zu können: Ihr Preußen, ihr habt den Hofrath v. Rotteck verfolgt, gekränkt, ſeine Schriften verboten ſelbſt ehe ſie noch gedruckt waren; ihr habt ihn wie einen Wurm zer - treten, aber dieſer Hofrath v. Rotteck iſt doch eine Macht! Sie ſpielen hiernach die Rolle O’Connell’s, nur iſt Ihnen das Terrain nicht günſtig Sie haben kein Irland. Und deſſen Allen ungeachtet, da Sie als ent -629Rotteck über den Zuſtand des Vaterlandes.ſchiedener Feind, nicht blos Opponent der Regierung auftreten, verlangen Sie noch ſchonlich behandelt zu werden? Nein, Herr Hofrath! So ſanft - müthig können und dürfen wir uns nicht benehmen, nicht aus Perſönlich - keit oder Rachſucht, nein, ſondern im Intereſſe der Regierung gegen Innen und Außen. So grob, ſo ungerecht ſogar durfte er reden denn Rot - teck’s Preußenhaß entſprang wirklich nicht perſönlicher Empfindlichkeit, ſondern dem doctrinären Starrſinn und doch verargte es ihm Niemand.

Einem ſolchen Manne konnte es nicht ſchwer fallen, die liberale Partei zu zerſpalten, ihre gemäßigten Mitglieder an ſich zu ziehen; ohnehin be - gann die Erregung der Revolutionsjahre ſchon zu ſchwinden. Seinem Schwager, dem liberalen Fürſten von Fürſtenberg redete der Großherzog perſönlich zu, auf Otterſtedt’s Bitten, und der Fürſt blieb ſchließlich eine Weile den Kammerverhandlungen fern. *)Otterſtedt’s Berichte, 16. Mai 1833, 22. April 1835.So verliefen denn die Land - tage von 1833 und 35 in leidlichem Frieden. Wohl verſuchte Rotteck in einer feierlichen Motion ein videant consules auszuſprechen; er verlangte eine Commiſſion um den Zuſtand des Vaterlandes in Erwägung zu ziehen , eine Rechtsverwahrung wider die Bundesbeſchlüſſe, obgleich der Großherzog in gemüthlicher Anſprache den Abgeordneten verſichert hatte, daß ſchlechterdings keine Verletzung der Verfaſſung beabſichtigt ſei. Die Kammer aber verwies den Antrag in die Abtheilungen zur ſtillen Beſtat - tung, und Winter verbot die Veröffentlichung; nur in den Protokollen, wo Niemand ſie las, durfte die Motion gedruckt werden. Dann kam Welcker mit einer ähnlichen Motion und redete gewaltig über den fünf - zigjährigen blutigen organiſchen Principienkampf zwiſchen Volksfreiheit und ſchrankenloſer Herrſchergewalt . Sogar die Schatten aus dem Teuto - burger Walde beſchwor er herauf und weiſſagte: wenn Fürſt und Volk einig ſeien, dann müſſe der neue Gegner deutſcher Freiheit ebenſo un - fehlbar unterliegen wie einſt Varus mit ſeinen Legionen; ſo weit ſich der Rede dunkler Sinn errathen ließ, ſchien der König von Preußen dieſer andere Varus zu ſein. Auch dies blieb vergeblich. Als Rotteck 1835 noch einmal eine Motion auf Sicherſtellung der Verfaſſung einbrachte, blieben die Hörer kalt, und der Antrag wurde nicht einmal in das Pro - tokoll aufgenommen; der tapfere Mann hielt unerſchütterlich bei der Stange aus und bemerkte nicht den Wandel der Zeiten. Starken Anforderungen war der Bürgermuth dieſes badiſchen Liberalismus keineswegs gewachſen. Sobald die liberalen Städte Freiburg und Mannheim das Mißwollen der Regierung bemerkten, ſuchten ſie alsbald durch glänzende Geburtstagsfeiern ihre badiſche Vaterlandsliebe zu erweiſen. Als der Kronprinz von Preußen nach Heidelberg kam, wurde er zu ſeiner großen Verwunderung ſchon draußen in Handſchuhsheim von berittenen Fackelträgern empfangen. Vor ſeinem Gaſthofe paradirte dann die Bürgergarde. Abgeſandte der Stadt630IV. 8. Stille Jahre.und der Univerſität betheuerten ihm wetteifernd ihre Ergebenheit; denn die preußiſche Regierung hatte kürzlich die Thorheit begangen, ihren Unter - thanen den Beſuch der Heidelberger Hochſchule zu verbieten, und die Preußen bildeten den Stamm der ſtudirenden Ausländer , von denen die liebliche Neckarſtadt damals noch lebte. *)Otterſtedt’s Bericht, 26. Nov. 1833.

Die Verdienſte der Regierung ließen ſich nicht in Abrede ſtellen. Die Ablöſung der bäuerlichen Laſten gelang zur Befriedigung der Pflichtigen, ein verſtändiges Volksſchulgeſetz ordnete den Elementarunterricht; die neue große Polytechniſche Anſtalt in Karlsruhe erlangte raſch einen guten Ruf; Mannheim erhielt ſeinen Rheinhafen, ein unſchätzbares Geſchenk eben jetzt, da die Stadt in den großen Verkehr des Zollvereins eintrat; die ſchon im letzten Jahrzehnt nach den kühnen Plänen des Oberſten Tulla begon - nene Correction des Rheines ſchritt rüſtig vorwärts, obgleich die Bauern der Uferdörfer ſich zuweilen thätlich widerſetzten; auch die wilden Schwarz - waldflüſſe Elz und Dreiſam wurden gebändigt. Die Verwaltung erwarb ſich durch ihre einſichtige Thätigkeit ſo allgemeines Vertrauen, daß Winter ſogar eine Abänderung des neuen allzu radicalen Gemeindegeſetzes beim Landtage durchſetzen konnte.

Seit dem Herbſt 1835 begann man jedoch ſchon zu fürchten, daß dieſer Waffenſtillſtand der Parteien nicht lange dauern werde. Freiherr v. Türckheim forderte ſeine Entlaſſung. Er hatte ſich allezeit als treuer Patriot gezeigt und noch kürzlich dem Tuilerienhofe muthig die Zähne ge - wieſen, als dieſer während der Schweizer Wirren den Karlsruher Hof zu bedrohen wagte; zuletzt ward ihm die peinliche Mittelſtellung zwiſchen dem Bundestage und den Kammern doch verleidet. Sein Nachfolger wurde Blittersdorff, weil ſich Niemand ſonſt fand, und weil Miniſter Reizen - ſtein, der ſich mit den Jahren den Liberalen immer mehr entfremdete, der Hofburg einen unzweideutigen Beweis badiſcher Bundestreue geben wollte. Graf Münch, Blittersdorff’s Frankfurter Gönner, und der Geſandte in Wien, General Tettenborn, hatten insgeheim nachgeholfen. **)Dönhoff’s Bericht, 9. Nov. 1835.An Feind - ſeligkeiten gegen Preußen dachte der Großherzog ſicherlich nicht; er bewahrte dem alten Könige treue Ergebenheit und vergoß Thränen der Rührung, als er zum Chef eines preußiſchen Regiments ernannt wurde. ***)Otterſtedt’s Bericht, 8. Jan. 1833.Indeß zeigten ſich bald die Hintergedanken des neuen Miniſters. Sein Ideal war eine ſtarke, durch Oeſterreich geleitete Bundesgewalt, die den Land - tagen unerbittlich den Daumen auf’s Auge ſetzen ſollte. In der Stille näherte ſich der ungläubige Weltmann ſchon den Clericalen, denn ſie waren in Süddeutſchland die einzig mögliche Stütze des Abſolutismus, und der Wiener Hof hatte mit ihnen bereits ſeinen Frieden geſchloſſen. Neben631Winter’s Tod. Blittersdorff.dem volksbeliebten Miniſter des Innern kam Blittersdorff vorerſt noch nicht auf.

Da ſtarb Winter plötzlich in der Kraft der Jahre (März 1837). Von allen Diplomaten folgte allein der preußiſche Geſandte ſeinem Sarge; bei den anderen Höfen hatte der Miniſter immer im Geruche des Demagogen geſtanden. Das Land beweinte ihn aufrichtig und ehrte ihn ſpäterhin durch ein Denkmal; an ſeinem Namen haftete fortan die Erinnerung der glück - lichſten Zeiten des badiſchen Landtagslebens, obgleich er den Häuptlingen des Liberalismus ſo ſcharf entgegengetreten war. Staatsrath Nebenius, der jetzt das erledigte Amt übernahm, hatte bei allen Reformen der jüng - ſten Jahre thätig und ſachkundig mitgewirkt. Aber zu regieren verſtand er nicht. Dem Volke blieb der ſtille geiſtvolle Gelehrte fremd, und gegen Blittersdorff’s brennenden Ehrgeiz konnte der Schüchterne mit ſeiner nach - giebigen Milde wenig ausrichten. Er war der Verfaſſer der neuen Dienſt - pragmatik, die den Beamten eine ſehr wenig, unleugbar allzu wenig be - ſchränkte Selbſtändigkeit einräumte. Der hochfahrende Diplomat aber ſah, wie Metternich, in dieſer Unabhängigkeit der Staatsdiener das ſchlimmſte aller Uebel; er nannte das Beamtenthum ein todtes Werkzeug, das man nach Belieben müſſe zerbrechen oder wegwerfen können. Wie ſollten dieſe beiden Männer ſich vertragen? Man erzählte bald, der Jüngere habe ſchon ungeduldig ausgerufen: er oder ich! Blittersdorff fürchtete, die Libe - ralen würden ſich Nebenius zu einem zweiten Winter nachziehen . Bei der gutmüthigen Schwäche des Großherzogs durfte Blittersdorff’s That - kraft wohl auf den Sieg rechnen; und dann wurde der evangeliſche Hof in das Fahrwaſſer der Clericalen getrieben, dann mußten die kaum be - ſchwichtigten parlamentariſchen Kämpfe heftiger denn zuvor ſich erneuern.

In dieſelben unheilvollen Bahnen begann jetzt auch Baierns Politik einzulenken. Nirgends erſchien der Umſchwung der Stimmungen ſo auf - fällig. Der Landtag, der vor drei Jahren dem Könige Ludwig ſo viel Herzeleid bereitet hatte, benahm ſich überaus gefügig und beſcheiden, als er im Jahre 1834 wieder zuſammentrat, er erwählte ſich einen Miniſter zum Präſidenten, und kein Journaliſt wagte wieder, wie einſt Wirth, die Abgeordneten aufzuwiegeln. So kränkenden Verhandlungen, wie ſie der letzte Landtag über das königliche Einkommen geführt hatte, wollte ſich der Monarch nimmer wieder ausſetzen. Er verlangte vielmehr, daß ihm aus den Domänen ein ſelbſtändiges Krongut ausgeſchieden würde, und erſt als ſeine eigenen Miniſter dies für unmöglich erklärten, wollte er ſich mit einer ſtändigen Civilliſte begnügen. Dieſer Herzenswunſch ward ihm auch erfüllt. Unter brauſenden Hochrufen bewilligten die Stände dem könig - lichen Hauſe für alle Zeiten ein Jahreseinkommen, das ſich mit Einſchluß der Apanagen auf etwa 3 Mill. fl., ein Zehntel der geſammten Staats - ausgaben belief. Keine andere deutſche Dynaſtie ward verhältnißmäßig ſo reich ausgeſtattet, das preußiſche Königshaus begnügte ſich mit einem632IV. 8. Stille Jahre.knappen Zwanzigſtel der Staatseinkünfte. Ebenſo bereitwillig genehmigte der Landtag den außerordentlichen Aufwand für den Ludwigskanal, für die prächtige Bibliothek und für die bairiſche Centralfeſtung Ingolſtadt, die dem patriotiſchen Wittelsbacher doch weit näher am Herzen lag als die Befeſtigung des deutſchen Oberrheins.

Einträchtig fanden ſich Krone und Landtag zuſammen, als das Nieder - laſſungsgeſetz vom Jahre 1825 wieder zur Sprache kam. *)S. III. 348.Die beſchränkte Freizügigkeit, welche dies Geſetz gewährte, hatte unter den Pfahlbürgern des Landes viel böſes Blut erregt; zahlreiche Petitionen dawider waren eingelaufen. Die Kammer aber ahnte noch gar nichts von den drohenden ſocialen Gefahren der Zeit; roh und herzlos äußerte ſich der Hochmuth der beſitzenden Klaſſen über das heilloſe Geſindel der Nichtbeſitzenden. Wie viel menſchlicher und gerechter wurden dieſe Fragen zur ſelben Zeit auf dem brandenburgiſchen Landtage behandelt; wie weit ſtand der Süden in ſeiner volkswirthſchaftlichen Bildung noch hinter dem Norden zurück. Nach ſtürmiſchen Debatten kam ein neues Geſetz zu Stande, das für die Niederlaſſung einen ziemlich hohen Cenſus vorſchrieb; außerdem erhielten die Gemeinden noch ein abſolutes Veto gegen die Neu-Anziehenden, und frohlockend rief ein Abgeordneter: dieſe ſcharfe Waffe denken wir kräftig zu gebrauchen. Niemand fragte, was nun aus den vogelfreien Armen wer - den ſollte. Das Geſetz ſtand in offenbarem Widerſpruche zu der Verkehrs - freiheit des neubegründeten Zollvereins, aber es entſprach der vorherrſchen - den Stimmung des Volkes. Ueber ein neues Gewerbegeſetz konnte man ſich noch nicht einigen; indeſſen half die Regierung durch Verordnungen nach und unterband den freien Wettbewerb dermaßen, daß Baierns Hand - werke noch langehin weit hinter den norddeutſchen zurückblieben.

Bei allen dieſen Berathungen leiſtete die glatte, einſchmeichelnde Be - redſamkeit des neuen Miniſters, des Fürſten Wallerſtein treffliche Dienſte; König Ludwig war entzückt von dem Vielgewandten und überhäufte ihn mit Gnaden. Wallerſtein pflegte ſeinen Enthuſiasmus für freie Inſtitu - tionen dann immer am feurigſten zu betheuern, wenn er eine illiberale Maßregel vertheidigte. Feurig, beredt, nie verlegen, überreich an Einfällen und Plänen, ein feiner Kunſtkenner und eifriger Förderer des Landbaus, mußte der glänzende Cavalier, der ſo gern lebte und leben ließ, die Libe - ralen wohl bezaubern, ſo lange ſie ſeine windige Eitelkeit noch nicht durch - ſchauten. Sie bewunderten ihn, ſchon weil die Ultramontanen den leicht - fertigen Freigeiſt haßten, und weil er eine Mißheirath geſchloſſen hatte ein Verdienſt, das der adelsfeindliche Liberalismus jener Tage ſehr hoch anſchlug. Den Lapidarſtil bajuvariſcher Selbſtberäucherung handhabte er faſt ſo kühn wie der König ſelbſt. Wie prächtig klang es wenn er ſagte: Die athletenmäßig erwachte menſchliche Intelligenz, bei augenblicklicher633Miniſterium Wallerſtein.Raſt der politiſchen Gegenſätze in breiten Strömen dem Gebiete der exakten und techniſchen Beſtrebungen ſich zuwendend, hat in unſerem Staate keine hemmenden Dämme gefunden. *)Fürſt v. Oettingen-Wallerſtein an den Ausſchuß des bairiſchen polytechniſchen Vereins, 18. Nov. 1838.In den Geſchäften zeigte ſich der Fürſt thätig und geſchickt, nur daß er es mit der Wahrheit ſeiner Berichte nicht immer ſehr genau nahm. Als die Cholera in München einzog, hielt er ſich tapfer und erlaubte keinem Beamten von der Stelle zu weichen. Genug, König Ludwig konnte mit der kürzeſten und friedlichſten Ständeverſamm - lung, die er je erlebt, wohl zufrieden ſein und ließ zum Abſchied einen Geſchichtsthaler prägen mit der kranzgeſchmückten Inſchrift: Der Landtag von 1834. Ehre dem Ehre gebühret. Ueberhaupt hielt Niemand auf der Welt die Regierung dieſes Fürſten für ſo denkwürdig wie er ſelbſt. In jedem Jahre pflegte er durchſchnittlich zwei hiſtoriſche Münzen auszugeben; ſei es daß ein Handelsvertrag geſchloſſen oder ein neuer Orden geſtiftet war, ſei es daß man Gold in der Donau gefunden hatte, jede bajuvariſche Großthat, auch jedes Denkmal, das er enthüllen ließ, mußte auf geſchmack - vollen Geſchichtsthalern verewigt werden.

Trotzdem war König Ludwig keineswegs gemeint, zu den conſtitutio - nellen Idealen ſeiner Jugend zurückzukehren. Die bitteren Erinnerungen des Landtags von 1831 konnte er nimmer verwinden; die Verfaſſung war ihm nur ein nothwendiges Uebel, ſein despotiſcher Eigenwille ſcheute kaum noch die Schranken des formalen Rechts. Hatte er einmal einen ſeiner Miniſter, Schenk, dem Widerſtande des Landtags geopfert, ſo ſollten ſie fortan alle nur noch die blinden Werkzeuge ſeines perſönlichen Beliebens ſein. Von ihm allein ging Alles aus; darum durften auch die Zeitungen nicht mehr von dem Könige und der Regierung, wie von zwei getrennten Mächten reden. Hartnäckig blieb er dabei, daß die Armee ihre nothwen - digen Ausgaben zum Beſten der Walhallen und Obelisken erübrigen mußte. Von den Stabsoffizieren war ſchon die größere Hälfte nicht mehr dienſtfähig, und trotz der dringenden Vorſtellungen des Kriegsminiſters verblieb ſogar der ſiebenundachtzigjährige Artillerie-Commandant, der ſeit zwei Jahrzehnten kein Pferd mehr beſtiegen hatte, auf ſeinem Poſten, ob - gleich Baiern an General Zoller einen ausgezeichneten Fachmann beſaß, der die junge Waffe der reitenden Artillerie vortrefflich ausbildete. Seit vier - zehn Jahren hatten die Truppen kein Manöver mehr abgehalten, und als ſie nun endlich zu einem Uebungsheer auf dem Lechfelde verſammelt wurden, da erſchien dies Ereigniß ſo märchenhaft, daß die gute Stadt Augsburg, nach dem Vorbilde des Königs, eine hiſtoriſche Münze zum ewigen Ge - dächtniß prägen ließ. Lerchenfeld wurde ſchon nach Jahresfriſt aus dem Finanzminiſterium abermals entfernt; er hatte ſeiner Pflicht gemäß Ein - ſpruch erhoben, als der König ohne ihn zu fragen auf Staatskoſten einen634IV. 8. Stille Jahre.ſtilvollen Palaſt für das Münchener Poſtamt ankaufte, und mußte nun als Geſandter nach Wien gehen, angeblich um dort über einen Handels - vertrag, der nie zu Stande kam, zu unterhandeln. Der preußiſche Ge - ſandte aber ſchrieb: daran läßt ſich erkennen, wie hier die conſtitutionelle Verantwortlichkeit der Miniſter verſtanden wird. *)Dönhoff’s Berichte, 27. Sept. 1834, 7. Jan. 1835.

Mit der launiſchen Willkür des Königs wuchs auch ſeine Vorliebe für die Clericalen. Während er den Proteſtanten verbot, nach preußiſcher Weiſe den Namen der evangeliſchen Kirche zu führen, erlaubte er den römiſchen Prieſtern das Sanctiſſimum überall, ſogar in proteſtantiſchen Städten, durch die Straßen zu tragen und befahl, daß Reiter und Wagen davor anhalten ſollten. Die Klöſter mehrten ſich von Jahr zu Jahr; im Juli 1837 beſtanden ihrer ſchon 85; die Zuſage des Concordats, welche die Wiederherſtellung einiger Klöſter verhieß, war alſo längſt erfüllt. Der aufopfernden Liebesthätigkeit der barmherzigen Schweſtern verſagten auch die Proteſtanten ihre Anerkennung nicht; die terminirenden Bettel - mönche aber geriethen häufig in Streit mit den Polizeibeamten, die nach ihrer Amtspflicht das Betteln und Strolchen zu unterſagen hatten. In Augsburg übergab der König das Gymnaſium den Benedictinern und feierte dieſe That durch einen Geſchichtsthaler, der die Bavaria darſtellte, wie ſie zwei Knaben einem Mönche zuführte. Dann befahl Wallerſtein durch eine Verordnung, daß bei der Beſetzung der Gymnaſial-Lehrerſtellen die Geiſtlichen vorzugsweiſe berückſichtigt werden ſollten. Er that es aus Nachgiebigkeit gegen den König; im Stillen war der ſchmiegſame Miniſter von der Ueberlegenheit des weltlichen Unterrichts überzeugt und freute ſich herzlich, als der Führer der claſſiſchen Pädagogen, Thierſch in der Pfalz einige neue Lateinſchulen einrichtete. Wo das Mönchthum blühte, durften auch die Mirakel nicht fehlen. In der Nachbarſchaft Münchens tauchte eine Blutſchwitzerin Maria Mörl auf, und zahlreiche Andächtige ſtrömten herbei, um die Wundenmale Chriſti am Leibe der heiligen Frau zu betrachten.

Unterdeſſen hatte der Papſt (1832) ein ſtrenges Breve über die ge - miſchten Ehen erlaſſen. Auf die Bitten des ehrwürdigen Bamberger Erz - biſchofs Frhrn. v. Frauenburg und anderer Prälaten wurden dieſe harten Vorſchriften zwar durch eine Inſtruktion etwas gemildert; indeß blieb fortan Regel, daß der römiſche Prieſter die katholiſche Erziehung aller Kinder ver - langte und anderenfalls höchſtens die paſſive Aſſiſtenz leiſtete. In den pari - tätiſchen fränkiſchen Landſchaften, wo auf 16 neue Ehen oft 14 Miſchehen kamen, äußerte ſich der Unwille ſehr laut. Als aber das lutheriſche Con - ſiſtorium, um ſeine Gegenmaßregeln zu treffen, ſich von der Regierung die Mittheilung jener beiden Breven erbat, da wurde ihm ſein Geſuch mehr - mals abgeſchlagen. **)Dönhoff’s Berichte, 31. Mai 1834, 20. März 1835.Die Ausſichten verdüſterten ſich noch mehr, als635Die bairiſchen Clericalen.der Nuntius Graf Mercy d’Argenteau im Frühjahr 1837 abberufen wurde; er hatte ſich zehn Jahre hindurch redlich bemüht, ſo weit er durfte, den confeſſionellen Frieden zu wahren. *)Dönhoff’s Berichte, 30. Oct. 1834, 16. April 1837.Lange vorher ſchon hatte Hormayr, der boshafteſte und händelſüchtigſte unter allen Gegnern der Ultramon - tanen, die Gunſt des Königs verloren und mit dem unſchädlichen Han - növerſchen Geſandtſchaftspoſten vorlieb nehmen müſſen. Auch die wieder - holten römiſchen Reiſen des Königs und die häufigen Beſuche ſeiner Schweſter, der Kaiſerin Wittwe Karoline Auguſte mußten den Argwohn der Proteſtanten erregen.

Unter den clericalen Gelehrten that ſich Nepomuk Ringseis durch tapferen Freimuth hervor; gram konnte man ihm nicht werden, da er trotz ſeiner hartconfeſſionellen Geſinnung doch Jedem mit menſchlichem Wohlwollen begegnete und trotz ſeiner phantaſtiſchen Theorien als prak - tiſcher Arzt Ausgezeichnetes leiſtete. Er hatte beim Könige die Zulaſſung der barmherzigen Schweſtern durchgeſetzt; dann hielt er als Rector der chriſtlichen und legitimen Münchener Hochſchule (1833) eine Rede über den revolutionären Geiſt der Univerſitäten , die jede Beſchränkung der Lehrfreiheit entſchieden zurückwies und den Höfen ehrlich herausſagte, ſie ſelbſt ſeien mitſchuldig an den Sünden der Revolution. Das Idealbild des ſtändiſch gegliederten chriſtlich-germaniſchen Staates, das der Redner entwarf, hatte freilich gar nichts gemein mit der demokratiſchen Geſellſchaft des neuen Jahrhunderts, und mit gerechter Beſorgniß fragten die Libe - ralen, was von einer Partei zu erwarten ſei, deren freieſter Kopf alſo ſprach? Der Münchener ultramontane Kreis, dem das Volk aller Verwahrungen ungeachtet hartnäckig den Namen der Congregation beilegte, gewann mittler - weile einen mächtigen Zuwachs an dem gelehrten Rechtshiſtoriker Phillips, einem Königsberger von engliſcher Abſtammung, der gleich ſeinem Freunde Jarcke zur römiſchen Kirche übergetreten war und ſeinen Fanatismus hinter feinen geſellſchaftlichen Formen zu verbergen wußte. Clemens Bren - tano ſchlug ebenfalls ſein Wanderzelt an der Iſar auf, und während der Landtage erſchien auch der Abgeordnete der Würzburger Hochſchule Frhr. v. Moy, ein ſanfter liebenswürdiger Gelehrter von hart clericaler Ge - ſinnung.

Ein Theil der Biſchöfe bekannte ſich noch zu den duldſamen An - ſchauungen des frommen Sailer; doch ſeit dem Jahre 1836 gewann die ultramontane Partei auch unter den Prälaten die Oberhand. Ihr Haupt wurde der neue Biſchof von Eichſtädt, Graf Reiſach, ein wohl unterrich - teter, der Herrſchaft gewohnter Jeſuit, erfahren in der mönchiſchen Askeſe wie in allen höfiſchen Künſten. Reiſach hatte ſeine geiſtliche Erziehung im Germanicum empfangen und dann als Studien-Rector der römiſchen Propaganda die beſondere Gunſt des neuen Papſtes Gregor’s XVI. er -636IV. 8. Stille Jahre.langt. Sobald er den Hirtenſtab des heiligen Wilibald in Händen hielt, errichtete er ſofort ein Knabenſeminar eine jener gemeinſchädlichen, auf die Knechtung der kindlichen Gemüther berechneten Anſtalten, welche bis - her noch in keinem der paritätiſchen deutſchen Staaten Einlaß gefunden hatten. Wie hoch die Hoffnungen der Ultramontanen geſtiegen waren, das erhellte am ſicherſten aus der gedämpften, faſt diplomatiſchen Redeweiſe des alten Kämpen Görres, der jetzt außer einem phantaſtiſchen Buche über die chriſtliche Myſtik auch zahlreiche Flugſchriften und Artikel in der cleri - calen Zeitſchrift Eos veröffentlichte. Seinen Berſerkerhaß ergoß er aus - ſchließlich auf die Liberalen; das Miniſterium Wallerſtein bekämpfte er als ein Syſtem des Juſte-Milieu mit auffälliger Milde, und von der Perſon des Königs redete er ſtets im Tone der Ehrfurcht. Es war erſichtlich die Sprache einer Partei, die ſich ſchon anſchickte die Herrſchaft anzutreten.

Zunächſt blieben aber König Ludwig’s Gedanken ganz in die Ferne gerichtet. Sein alter Traum, der Plan eines bairiſch-griechiſchen Staates, ſchien jetzt wirklich in Erfüllung zu gehen. Seit Griechenlands Unab - hängigkeit geſichert war (1827), hatte Kapodiſtrias, der Vertraute des Czaren Alexander, der einzige Hellene von europäiſchem Namen, die Leitung des jungen Staates übernommen; doch in den wüſten Parteikämpfen des gänz - lich verarmten und maßlos begehrlichen Volkes vermochte der wohlmeinende Kybernetes ſich kaum zu halten. Die Capitäne der alten Freiheitskämpfer erhoben ſich wider ihn und fanden, da er ſich auf Rußland zu ſtützen ſuchte, bei den Geſandten der Weſtmächte geheime Hilfe. Nun beſchloſſen die drei Schutzmächte (Febr. 1830), daß Griechenland einen ſelbſtändigen Staat unter einem Fürſten aus ſouveränem Hauſe bilden ſollte. Aber der erwählte Throncandidat Leopold von Coburg lehnte ab, bald darauf wurde Kapodiſtrias meuchlings ermordet (1831), und die ſcheußliche Anarchie, die nun hereinbrach, zeigte genugſam, was man an ihm verlor. Als nach Jahren die Leidenſchaften ſich beruhigten, geſtanden die Hellenen ſelber, daß ſie doch niemals einen beſſeren Herrſcher geſehen hatten, als den vielver - leumdeten Baba Jannis.

In dieſer Zeit allgemeiner Verwirrung bereiſte Friedrich Thierſch das Land. Als glühender Bewunderer der Hellenen war der liebenswürdige Gelehrte überall wohlgelitten und er benutzte dieſe Volksgunſt, um zu ver - wirklichen, was er ſeit Jahren geplant, und den Sohn des gekrönten Phil - hellenen, den Prinzen Otto von Baiern als König der Hellenen zu em - pfehlen. Der Vorſchlag fand freundliche Aufnahme, König Ludwig’s Zu - ſtimmung verſtand ſich von ſelbſt, und da die Schutzmächte keinen anderen Rath wußten, ſo übertrugen ſie am 7. Mai 1832 dem jungen Prinzen die Herrſchergewalt, die ihm nachher durch den einſtimmigen Beſchluß der griechiſchen Nationalverſammlung feierlich beſtätigt wurde. König Ludwig ſchwamm in Freuden. Wie viel Geld und wie viel Lieder hatte er ſchon den Hellenen geſpendet; wie oft, wenn er ſein Land durchreiſte, hatte er637Die Baiern in Griechenland.ſich jeden Empfang verbeten und den Baiern anbefohlen, die Koſten der Ehrenpforten und Kränze den griechiſchen Kämpfern zu widmen. Nun ſah er das Land ſeiner Sehnſucht befreit und zugleich den Stolz ſeines Hauſes befriedigt. Er träumte ſchon von einer wittelsbachiſchen Groß - macht, die ſich, allerdings nicht ohne Unterbrechung, vom Fichtelgebirge bis zum Cap Matapan erſtrecken ſollte, und willigte nur ungern darein, daß ſein Sohn auf die bairiſche Thronfolge verzichten mußte. *)Dönhoff’s Bericht, 19. Mai 1832.Da ein Geſchichtsthaler für einen ſolchen Erfolg offenbar nicht ausreichte, ſo wur - den ihrer drei geprägt. Auch im bairiſchen Lande herrſchte anfangs ſtarke Begeiſterung, als die drei Abgeſandten der Hellenen in ihrer maleriſchen Nationaltracht auf dem Münchener Octoberfeſte erſchienen. Mancher brave Brauer ſchmückte ſein Wirthshaus mit der Inſchrift zur Stadt Nauplia . Die nach Hellas ausziehenden Grenadiere ſangen ein ſtolzes Lied: Ich bin ein Baier, ſtamm von tapfern Ahnen, das mit den Worten ſchloß: wir ſind ja Baiern, laßt uns Baiern ſein; und da das Preußenlied im Süden noch faſt unbekannt war, ſo hielt man dies Gedicht für ein echtes bajuvariſches Naturgewächs.

Die anderen Deutſchen lachten freilich nur über die wunderliche dyna - ſtiſche Schrulle des Baiernkönigs. So lange die Hellenen noch für ihre Freiheit fochten, wirkten ihre Geſchicke auch auf Deutſchland zurück, weil der Agon den erſten Stoß führte gegen das Syſtem der ſtarren Legitimität, und weil die deutſchen Philhellenen aus dieſen Kämpfen eine kräftige Be - geiſterung für das Recht der nationalen Selbſtbeſtimmung heimbrachten. Seit Griechenland dem wittelsbachiſchen Hauſe verfiel, war es für uns lediglich ein entlegenes kleines Land, nur noch darum bedeutſam, weil die helleniſche Staatskunſt der Krone Baiern die Briten, Ruſſen und Fran - zoſen beſtärken mußte in der hergebrachten Meinung, daß die Deutſchen für die Politik verloren ſeien. In der That ſtand das Verhalten des philhelleniſchen Königs wenig im Einklang mit dem Namen des Landes der Weiſen , welchen die lernbegierigen Griechen dem gelehrten Deutſch - land beizulegen liebten.

Prinz Otto war noch unmündig, ein gutmüthiger, ſittſamer junger Mann, aber wenig begabt, unentſchloſſen, mißtrauiſch, ſchüchtern; niemals erhob ſich ſein linkiſches Weſen zu jenem ſicheren Selbſtgefühle, das die Orientalen vor Allem von ihren Herrſchern verlangen. Bis zu ſeiner Volljährigkeit mußte ihm eine Regentſchaft beigegeben werden, und König Ludwig meinte ſehr klug zu handeln, wenn er mit dieſer wichtigen Auf - gabe Männer betraute, welche ganz außerhalb der griechiſchen Parteikämpfe ſtünden, alſo treue Baiern. Er ernannte zu Regenten ſeinen erſt kürz - lich in Ungnaden entlaſſenen Miniſter Grafen Armansperg, den gelehrten Profeſſor Maurer und den alten Philhellenen General Heideck; von allen638IV. 8. Stille Jahre.Dreien war nur Heideck des griechiſchen Landes und ſeiner Sprache einigermaßen kundig. Was ich in Ihre Hände lege ſchrieb Ludwig an Armansperg iſt nicht blos ein perſönliches, es iſt ein Intereſſe des bairiſchen Hauſes, des bairiſchen Volks, ein welthiſtoriſches Intereſſe. Auch eine Schaar von Unterbeamten zog mit hinüber. Darunter befanden ſich wie dies bei jeder plötzlichen Verſchiebung im Beamtenthum zu geſchehen pflegt einzelne hochſtrebende Idealiſten, aber noch mehr un - brauchbare Leute, die daheim nicht vorwärts kamen; ſie glaubten das Glück der Hellenen dann am ſicherſten zu begründen, wenn ſie ihnen einen Euro - taskreis und einen Iliſſuskreis getreu nach dem Vorbilde des heimiſchen Rezatkreiſes und Iſarkreiſes einrichteten. Wohl kamen einige Tage fröh - licher Hoffnung: als der junge König, leider nicht auf deutſchen Schiffen, ſondern nur als Gaſt auf der Flotte der Schutzmächte, an der maleriſchen Felſenküſte von Nauplia landete (3. Febr. 1833) ein prächtiges Schau - ſpiel, das der eigens dazu abgeſandte Peter Heß auf einem ſeiner beſten Gemälde verewigte und dann wieder, als die letzten Türken das Kaſtron von Athen räumten und die Hellblauen mit den Raupenhelmen triumphirend in der Akropolis einzogen. Doch nur zu bald zeigte ſich der Widerſinn dieſer Verbindung zweier Länder, die mit einander ſchlechterdings nichts gemein hatten als die zufällige Gleichheit der blauweißen Landesfarben.

Die Regentſchaft fand den Boden bereits beſetzt durch die Reſi - denten der drei Schutzmächte, die ſich hier, ganz wie ihre vornehmeren Genoſſen am Bosporus, ſchon einen diplomatiſchen Blocksberg eingerichtet hatten und, ganz wie jene, in endloſen Ränkeſpielen einander befehdeten. Da ſie längſt Beſcheid wußten, die treuherzige Regentſchaft aber den eigent - lichen Grund aller orientaliſchen Parteikämpfe, die Begehrlichkeit, noch nicht durchſchaut hatte, ſo geſchah es bald, daß jeder der drei Geſandten einen der bairiſchen Regenten für ſich gewann. Armansperg ging mit England, Heideck mit Rußland, Maurer und ſein getreuer Geh. Rath Abel mit Frankreich. Die Zwietracht ward vollkommen, als nachher auch noch der neue öſterreichiſche Geſandte Prokeſch ſich einmiſchte. Der preußiſche Hof hielt ſich dieſen Ränken meiſt fern; er blieb aber der Meinung, daß Armansperg’s engliſche Politik immerhin noch am wenigſten ſchade, denn Rußlands Einfluß würde die Eiferſucht der Weſtmächte, Frankreichs Ein - fluß die revolutionären Leidenſchaften aufſtacheln. *)Ancillon, Weiſung an Dönhoff, 28. Mai 1835.Der diplomatiſche Zank war um ſo gefährlicher, da die Schutzmächte die wirthſchaftliche Zu - kunft des völlig ausgeraubten jungen Staates in ihrer Hand hielten; ſie hatten zu Gunſten Griechenlands eine Anleihe von 60 Mill. Franken auf - genommen, wovon erſt zwei Drittel ausgezahlt waren, und ſobald die Haltung der Regentſchaft einer der drei Mächte mißfiel, erging ſofort die barſche Drohung, nunmehr müſſe man die Zahlungen einſtellen.

639Otto König der Hellenen.

Alſo eingepreßt zwiſchen den hadernden Schutzmächten und den furcht - bar erbitterten griechiſchen Parteien, mühten ſich die Regenten vergeblich ab eine geregelte Verwaltung herzuſtellen; zahlreiche Verordnungen er - ſchienen, alle nach bairiſchem Muſter, und Maurer verfertigte mit dem eiſernen Fleiße des deutſchen Profeſſors mehrere ſchöne Geſetzbücher. Aber der in unfertigen Völkern immer reizbare Nationalſtolz wollte von den Bavareſi bald nichts mehr hören; die fleißigen deutſchen Beamten blieben dem Lande ſo fremd, daß heute ſelbſt Armansperg’s Name unter den Hellenen faſt verſchollen iſt. Wie wenig ſie dies Volk kannten, das zeigte ſich bei dem langen Streite über die Verfaſſung. Gewiß war ein ein - ſichtiger Abſolutismus für die Culturſtufe der Hellenen die beſte Staats - form; aber dazu gehörte ein Monarch, der durch perſönliche Größe oder durch ein unantaſtbares hiſtoriſches Recht alle Unterthanen überragte. König Otto’s Nichtigkeit konnte in einer fremden Nation keine Ehrfurcht erzwingen, und ſein Thronrecht verdankte er, wie er ſelbſt geſtand, nächſt dem Vertrauen der Schutzmächte der freien Wahl des helleniſchen Volks . Eine alſo begründete Dynaſtie durfte, wie ſchwer das auch halten mochte, dieſem durchaus demokratiſchen Volke das Recht der verfaſſungsmäßigen Mitberathung nicht ganz verſagen. König Ludwig jedoch rieth dem Sohne dringend ab. Alles conſtitutionelle Weſen war ihm verleidet, und er ſchrieb: Nicht zu reiflich überdacht kann die Einführung einer Verfaſſung werden. Es iſt die Höhle des Löwen, aus der keine Fußtapfen gehen; ſie hat Folgen, die man gar nicht vorausſieht. O möchte doch die trau - rigen auch hierin gemachten Erfahrungen Baierns Hellas zu Rathe ziehen, indem es die Fehler vermeidet, die begangen wurden. Sein Rath ſchlug durch, und der unfähige junge Fremdling regierte weiter als abſoluter Herr ein Zuſtand der doch noch unleidlicher war als die Sünden eines verfrühten Parlamentarismus. So bildete ſich bald eine ſtarke liberale Oppoſition; ſie fand, da Palmerſton hier wie überall das conſtitutionelle Banner aufpflanzen ließ, geheime Hilfe bei dem engliſchen Geſandten, derweil die Vertreter Rußlands und Oeſterreichs den jungen Wittels - bacher in ſeinen abſolutiſtiſchen Grundſätzen beſtärkten.

Noch ſchwerer verletzten die Bavareſi das religiöſe Gefühl des ortho - doxen Volkes. Viele Klöſter wurden aufgehoben diesmal gegen den Rath König Ludwig’s die Zahl der Biſchöfe verringert, die Landeskirche von dem Patriarchen von Konſtantinopel abgetrennt; und doch gebot die Klugheit, die uralte kirchliche Gemeinſchaft der Orthodoxen auf der Balkan - halbinſel ſorgfältig zu ſchonen, wenn anders die Hoffnungen der Griechen auf die Kaiſerkrone von Byzanz ſich je erfüllen ſollten. Für dieſe ſtolzen nationalen Wünſche zeigten die friedfertigen, im Lande der Pinakotheken und Glyptotheken aufgewachſenen Regenten gar kein Verſtändniß. Offen - bar hatte der Agon der Hellenen ſein Ziel noch nicht erreicht; die Nation vermochte in den allzu engen Grenzen kaum zu athmen, ſie mußte danach640IV. 8. Stille Jahre.trachten, dereinſt noch die ganze, von helleniſcher Cultur beherrſchte Süd - hälfte der Halbinſel an ſich zu reißen. Solche Kränze winken nur dem Helden. Durch das Schwert geſchaffen, konnte der junge Staat auch nur durch das Schwert erhalten werden; und der Stamm ſeiner nationalen Wehrkraft beſtand bereits in den kampfgewohnten Banden der Palikaren. Es war ein wildes Kriegsvolk, ſehr kunſtfertig im Abſchneiden von Ohren und Naſen; die treuen, tapferen Männer wünſchten ſehnlich, ihrem Baſi - leus um geringen Sold zu dienen, und wenn man ſie nicht allzu ſtreng mit den Reglements der europäiſchen Exercirplätze plagte, ſo ließ ſich aus ihnen leicht ein tüchtiges Heer bilden. Die Regentſchaft aber fürchtete ſich vor den barbariſchen Unholden, König Otto ſchlug ihnen ihre Bitten ab, und ſo wanderten denn 5000 ſchwerbewaffnete Palikaren zornmuthig über die türkiſche Grenze, um dort im Gebirge das alte Klephten-Hand - werk von Neuem zu ergreifen. Dergeſtalt wurde das ſtreitbare Land durch die Aengſtlichkeit ſeiner eigenen Regierung entwaffnet. Ein Corps von 3500 Baiern mußte vorläufig die Ordnung aufrecht halten, und die Wackeren hatten hart zu arbeiten, bald im Kampfe gegen die Klephten, bald im Sonnenbrande beim Bau der Piräus-Straße; der giftige Raki - Schnaps und der ſchlechte geharzte Wein gaben keinen Erſatz für das edle heimiſche Bier. Nach einem Jahre zogen die bairiſchen Truppen heim. Nun ward aus Eingeborenen und aus geworbenen Baiern ein winziges reguläres Heer von zweifelhafter Kriegstüchtigkeit gebildet. Da ein Klein - ſtaat ohne Geld und Waffen der Tapferkeit keinen Raum mehr bot, ſo gelangten die beiden anderen vorherrſchenden Triebe des helleniſchen Volks - geiſtes, der Handelsſinn und der Wiſſensdrang zur alleinigen Herrſchaft. Das Heldenvolk der Türkenbeſieger verwandelte ſich wunderbar ſchnell in eine Nation von Kaufleuten und Gelehrten. Griechenland konnte bei den Todeszuckungen des türkiſchen Reichs kein Wort mehr mitſprechen, und die einzige naturgemäße Löſung der orientaliſchen Frage, die Wiederher - ſtellung des byzantiniſchen Kaiſerthums blieb zum Unheil für die Welt noch lange völlig ausſichtslos.

Währenddem war der Eifer der Baiern längſt erkaltet; in München nannte man das Land der Hellenen die bairiſche Botany-Bai, denn blos vom blauen Himmel und von ſchönen Landſchaften vermochten Germanen nicht zu leben. König Ludwig beſuchte noch ſelbſt das geliebte Volk und legte unter ſchallenden Zito-Rufen den Grundſtein für das atheniſche - nigsſchloß. Auch König Otto kam einmal in die alte Heimath, gaſtlich empfangen von der Muſe der Charlotte Birch-Pfeiffer, die ihm ein Feſt - ſpiel der Liebe Streit widmete. Da war es denn ſehr rührſam anzu - hören, wie ſich Bavaria und Hellas um ihren unvergleichlichen Otto ſtritten; zuletzt fielen die beiden kampfluſtigen Frauen einander verſöhnt in die Arme. Trotzdem wollte das Feuer nicht wieder aufflammen; wer irgend konnte von den bairiſchen Beamten in Hellas, kehrte ſchleunigſt heim. Nach -641Sturz des Miniſteriums Wallerſtein.dem König Otto ſeine Volljährigkeit erlangt, wurde die Regentſchaft auf - gelöſt, und Armansperg trat als Großkanzler an die Spitze eines helle - niſchen Miniſteriums, er legte aber ſeine Würde bald entmuthigt nieder. Auch ſein Nachfolger Ignaz Rudhart, der beliebte liberale Landtagsredner, gab ſchon nach Jahresfriſt das undankbare Amt auf (1837), obgleich er ſich unter allen den bairiſchen Staatsmännern, die in Griechenland wirkten, am beſten bewährte und gegen den anmaßenden engliſchen Geſandten manchen Strauß tapfer beſtand. Er ſtarb auf der Heimreiſe. Der Traum vom bairiſchen Hellas war ausgeträumt, König Otto regierte fortan allein mit griechiſchen Beamten. Baierns Finanzen hatten freilich durch die wittels - bachiſchen Großmachtsträume ſchwere Einbußen erlitten. Wie viel? das wußte Niemand genau, da der König die Erübrigungen des Staatshaushalts ſich zur freien Verfügung vorbehielt. Gewiß iſt nur, daß nach und nach ſehr bedeutende Vorſchüſſe, mindeſtens 4 5 Mill. Franken, an Griechenland gegeben wurden; einen Reſt, der ſchließlich ungedeckt blieb, bezahlte König Ludwig noch nach ſeiner Abdankung ehrenhaft aus ſeiner eigenen Taſche. Als der Pfälzer Kolb zwei geharniſchte Flugſchriften wider dies ſonderbare conſtitutionelle Finanzweſen hinausſandte, wurden beide Büchlein ſofort verboten.

Mittlerweile trat der Landtag im Jahre 1837 nochmals zuſammen, und Alles ließ ſich wieder ſo friedlich an wie vor drei Jahren. Als der neue Finanzminiſter Wirſchinger aber den Etat vorlegte, da mußten auch die Argloſen erkennen, daß die Einnahmen zu niedrig berechnet waren. Die Einkünfte aus dem Zollvereine ſtimmten ſchlechterdings nicht überein mit den richtigen Angaben, welche die Regierungen von Sachſen, Heſſen, Württemberg ihren Landtagen gemacht hatten. Die Kammer entſchloß ſich alſo die Einnahmen, mit Zurechnung einiger der beliebten Erübrigungen um etwa ½ Mill. fl. höher anzuſetzen, ſie erhöhte demgemäß auch die Aus - gaben für die Schulen und die ſündlich vernachläſſigten Landſtraßen. Das Verfahren war ungewöhnlich, doch ſelbſt der gefügige Wallerſtein konnte nicht umhin zu geſtehen, daß die Abgeordneten nur ihre Pflicht gethan hätten. Der König aber fühlte ſich tief beleidigt, und Metternich, der im Juli München beſuchte, beſtärkte ihn in ſeinem Grolle, wie der preußiſche Geſandte nachher von guter Hand erfuhr. *)Dönhoff’s Berichte, 1. 11. März 1838.Ludwig war tief verſtimmt über ſein mißrathenes griechiſches Unternehmen; nichts gelang ihm, überall glaubte er verkannt zu werden. In der That behandelte ihn die liberale Preſſe zuweilen ungerecht. Als er in dieſen Tagen auf den glücklichen Einfall gerieth, die abgeſchmackten franzöſiſchen Departements-Namen Donaukreis und Rezatkreis zu beſeitigen und die althiſtoriſchen Stammes - namen Schwaben, Pfalz, Niederbaiern wieder einzuführen ein Ent - ſchluß, der wieder durch einen Geſchichtsthaler verherrlicht wurde daTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 41642IV. 8. Stille Jahre.ſpotteten die Zeitungen über die romantiſchen Neigungen des Wittels - bachers.

Sein Unmuth wuchs, als die Kammer, deren große Mehrheit aus guten Katholiken beſtand, in ehrerbietiger Form die Bitte ausſprach, die Krone möge mit der beſtändigen Vermehrung der Klöſter endlich einhalten, die Stiftungsgelder nicht mehr widerrechtlich für Kloſterzwecke verwenden, auch das Terminiren der Bettelmönche verbieten. Der ſtille Groll des Landes über die wachſende Macht der Clericalen kam hier zum Durch - bruch, und vergeblich ſuchte der kürzlich aus Griechenland heimgekehrte Miniſterialrath Abel mit ultramontanem Feuereifer den Antrag zu be - kämpfen; ſein Vorgeſetzter Fürſt Wallerſtein gab deutlich zu verſtehen, daß er die Anſicht der Mehrheit theile. Nun riß dem Könige die Geduld; er ſchloß ſich ab, ſprach und hörte Niemand. Wohin war es doch gekommen mit dem begeiſterten Fürſten, der ſich einſt rühmte über einem freien Volke zu ſchalten! Im Miniſterrathe mußte Wallerſtein von ſeinem alten Gegner dem Feldmarſchall Wrede heftige Vorwürfe hören. Am 1. November er - hielt er plötzlich den Abſchied, unter Anerkennung der Verdienſte, die er ſich vor dem Landtage von 1837 erworben habe. Abel wurde ſein Nach - folger. Die erſte That des neuen Miniſters war ein ungnädiger Land - tagsabſchied, der den Ständen mancherlei Verirrungen in das Gebiet der königlichen Rechte vorwarf. So trat die clericale Partei zum erſten male an das Staatsruder des Königreichs Baiern, und ſie ſorgte bald ſelbſt dafür, daß die Wiederkehr ihrer unvergeßlichen Herrſchaft auf Jahr - zehnte hinaus unmöglich ward.

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Neunter Abſchnitt. Der welfiſche Staatsſtreich.

Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz ſeiner parlamentariſchen Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine ſocialen Ideen verbreiteten ſich in der Stille, ſie wurden allmählich zu Standesvor - urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das ſich jetzt, ſeit zu dem Wiſſen der neue Wohlſtand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation hielt. Die ſcheinbare geſellſchaftliche Gleichheit der Franzoſen und das Ge - ſetzbuch der durchgebildeten Geldwirthſchaft, der Code Napoleon fanden Bewunderung, nicht blos im Südweſten, auch in Thüringen, in Sachſen, in den Städten der alten preußiſchen Provinzen. In dieſe demokratiſirte, den alten Standesunterſchieden entfremdete Geſellſchaft ſchlug nun eine Gewaltthat hinein, welche auch die ſchlummernden politiſchen Leidenſchaften wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutſchen Bundesrechts den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsſtreich, ſo frevelhaft, ſo unent - ſchuldbar, ſo gemeinverſtändlich in ſeiner Roheit, daß der ſittliche Ekel faſt alle irgend ſelbſtändigen Männer zum Widerſpruche zwang und den Reihen der liberalen Oppoſition mit einem male neue Kräfte zuführte.

Am 20. Juni 1837 ſtarb König Wilhelm IV., und da nach deutſchem Rechte der Mannesſtamm den Weibern vorging, ſo zerriß jetzt, zum Segen für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunſchweigiſchen Lande durch vier Menſchenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für die Briten hatte dieſe Verbindung längſt allen Werth verloren. Die han - növerſchen Truppen für engliſche Zwecke zu verwenden war unter dem Deutſchen Bunde kaum noch möglich; ſeit der Entſtehung des preußiſchen Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr ſo viel wie im alten Jahrhundert. Seit der Zollverein geſichert war, konnte auch die handelspolitiſche Dienſtbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr nützen. Einzelne kleine Gewinnſte vermochte Palmerſton’s geſchickte Hand wohl noch aus dem deutſchen Nebenlande herauszuſchlagen; mit Han - novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelſtellung der Krone nur als eine Laſt: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der41*644IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.König von England und die Bundespolitik der Hofburg unterſtützte, dann mußte die britiſche Staatskunſt vor den Augen der Welt noch treuloſer erſcheinen als ſie wirklich war. Geſättigt von den Erfolgen des napo - leoniſchen Zeitalters, hatte ſich der Ehrgeiz der Nation ſeit einigen Jahren faſt ausſchließlich den überſeeiſchen Intereſſen, dem Oriente und den Ko - lonien, zugewendet. Die öffentliche Meinung verſtand den Grundſatz der Nicht-Einmiſchung, der von Palmerſton ſo mannichfach ausgelegt wurde, in buchſtäblichem Sinne; ſie wollte von den feſtländiſchen Wirren wenig hören, ſie verlangte, daß England wieder ein Inſelreich würde, und ſchon darum hieß ſie die Trennung von Hannover willkommen.

Mit der Thronbeſteigung der Königin Victoria errang die Politik der Reform für lange Zeit einen vollſtändigen Sieg. Die unerfahrene junge Fürſtin ſah ſich außer Stande, die ſchattenhafte monarchiſche Gewalt durch die Kraft eines ſelbſtändigen Willens neu zu beleben, ſie konnte ſich nur von dem Strome der vorherrſchenden nationalen Geſinnung treiben und tragen laſſen. König Wilhelm war den liberalen Ideen halb widerſtrebend gefolgt, Victoria gehörte ihnen ſchon durch die Geburt an, da ihr väter - liches Haus mit den Hochtorys ſtets in Feindſchaft gelebt hatte. Sie überließ ſich willig der Führung des Hauptes der Whigpartei, Lord Melbourne, und wurde zugleich von ihrem Oheim König Leopold mit politiſchen Rathſchlägen unterſtützt. Der kluge Coburger arbeitete bereits ſeit Jahresfriſt an einem neuen Heirathsplane, der ſeinem Hauſe die dritte Königskrone einbringen ſollte; er dachte ſeinem Neffen Albert die Stellung des engliſchen Prinz-Gemahls, die er einſt für ſich ſelber erhofft hatte, zu verſchaffen. Um ſich auf ſein hohes Amt vorzubereiten mußte der junge Prinz ein Jahr in Brüſſel verleben, denn in Berlin, ſo meinte Stockmar, könne man nichts lernen, Preußens Haltung gegen Deutſchland ſei weder politiſch noch ehrlich . Durch die coburgiſche Verwandtſchaft wurde die Königin auch dem Tuilerienhofe näher geführt; das gelockerte Bündniß der Weſtmächte ſchien ſich wieder zu befeſtigen, mit donnernden Hochrufen empfing das Londoner Volk bei der Krönung den franzöſiſchen Botſchafter Marſchall Soult, der ſich in Spanien ſo oft mit den Briten gemeſſen hatte. Die Reformbill hatte den Umbau des alten ariſtokra - tiſchen Staatsweſens nicht vollendet, ſondern erſt begonnen; eine Zeit großer ſocialer Neugeſtaltungen nahte unverkennbar heran. Das ahnte Jedermann, als die Königin in den erſten Tagen ihrer Regierung den reichen, menſchenfreundlichen Moſes Montefiore als Sheriff von London in den Ritterſtand erhob den erſten Juden, dem ſolche Ehre widerfuhr.

Während alſo in England unter einem willenloſen Königthum die öffentliche Meinung ihre unbeſchränkte Herrſchaft antrat, erhoffte das han - növerſche Volk von der Gnade des einheimiſchen Landesherrn ein unbe - ſtimmtes Glück. Unabläſſig arbeiteten die ſchöpferiſchen Kräfte der neuen deutſchen Geſchichte an der Zerſtörung der ſeit zwei Jahrhunderten ein -645Trennung von England und Hannover.gedrungenen Fremdherrſchaft. Was in Pommern, in Preußen, in Schleſien nur unter ſchweren Opfern und Kämpfen erreicht war, das gelang in Hannover durch die Gunſt des Zufalls, und alsbald zeigte ſich, wie wenig die lange Verbindung mit dem Auslande den Kern des niederſächſiſchen Volksthums verändert hatte. Die ſtarke engliſche Kolonie in der Stadt Hannover, einige britiſche Sitten und Familienverbindungen in der vor - nehmen Geſellſchaft, dazu die kriegeriſchen Erinnerungen der Veteranen und ein hohes Maß von Selbſtgenügſamkeit, das war in Wahrheit Alles was von dem ausländiſchen Weſen noch übrig blieb. Ohne Kummer gaben die Hannoveraner den Namen der deutſchen Großbritannier auf, um fortan ſich ſelbſt und ihrem endlich ſichtbaren Könige zu leben.

Ein Glück nur, daß ſie trotz ihrer britiſchen Neigungen ſelten eng - liſche Zeitungen laſen und von dem ſchlimmen Rufe ihres neuen Herr - ſchers wenig wußten. Mit der einzigen Ausnahme des Selbſtmords hat der Herzog von Cumberland ſchon jedes erdenkliche Verbrechen begangen ſo ſchrieb um jene Zeit ein radicales engliſches Blatt und ſprach damit nur in pöbelhaften Formen aus, welchen furchtbaren Haß dieſer unbelieb - teſte aller engliſchen Prinzen im Verlaufe eines ſechsundſechzigjährigen Lebens auf ſich geladen hatte. König Ernſt Auguſt war der begabteſte unter den ſieben Söhnen Georg’s III., aber ſchlecht erzogen, nicht blos aller Bildung baar, ſondern ein abgeſagter Feind der Wiſſenſchaft, die er dem Federvieh der Tintenkleckſer überließ; nur wer wohl geboren, wohl gekleidet und mäßig gelehrt war galt ihm, wie einſt den Römern, für einen anſtändigen Mann. Auf der Göttinger Hochſchule hatte er nicht einmal die deutſche Sprache erlernt, um ſo gründlicher die Reitkunſt. Als er dann in den niederländiſchen Feldzügen ein hannöverſches Dragoner - regiment befehligte, zeigte er ſich ſehr tapfer, aber auch ſo roh und grau - ſam, daß Scharnhorſt ſeinen Abſcheu kaum bezwingen konnte. Wiederholt verbot er ſeinen Reitern, ihm die verfluchten franzöſiſchen Republikaner gefangen einzubringen; Alles wollte er niederſäbeln, in einem wilden Hand - gemenge verlor er ſelbſt ein Auge. An den napoleoniſchen Kriegen be - theiligte er ſich nicht, nur in den Tagen der Schlacht von Kulm erſchien er für kurze Zeit im Hauptquartier der Verbündeten. Trotz dieſer ge - ringen Kriegserfahrung betrieb er das Soldatenhandwerk mit leidenſchaft - lichem Eifer, und unbeſchreiblich war ſeine Freude als König Friedrich Wilhelm ihn zum Chef der rothen Zieten-Huſaren ernannte. Neben dem ſteifen Dünkel des engliſchen Lords behielt er doch immer etwas von der naturwüchſigen Friſche des deutſchen Reiteroffiziers.

Im Oberhauſe ward er bald ein gefürchteter Führer der Hochtorys; bald drohend und lärmend, bald ſchlau belügend, bald leiſe hetzend wußte er ſeine Leute bei der Stange zu halten. Nur die hartreaktionären Grund - ſätze Lord Eldon’s fanden ſeinen Beifall; ſelbſt den eiſernen Herzog hielt er für einen gefährlichen Ränkeſchmied, weil Wellington ſich den Forde -646IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.rungen der Zeit doch nicht ganz verſagte. Die für ſo lange Jahre folgen - reiche Wiedererhebung der Torys im Jahre 1807 war zum guten Theile Cumberland’s Werk und blieb ihm bei den geſchlagenen Whigs unver - geſſen. In den folgenden Jahren bekämpfte er hartnäckig jeden Reform - vorſchlag, am heftigſten die Emancipation der Katholiken; denn ganz ſo buchſtabengläubig wie ſein Vater hielt er es für einen Eidbruch, wenn die verfaſſungsmäßigen Vorrechte der anglikaniſchen Kirche auf verfaſſungs - mäßigem Wege beſchränkt würden. Er wurde Großmeiſter des reaktionären Geheimbundes der Orangelogen, der unter dem Banner Thron und Kirche höchſt verdächtige Zwecke verfolgte und ſchon durch ſeine Heimlichkeit allen guten altengliſchen Ueberlieferungen widerſprach; manche Heißſporne unter den Verſchworenen hofften im Ernſt, den reformfreundlichen König Wil - helm zu beſeitigen und Cumberland auf den Thron zu erheben. Als die Wühlerei im Parlamente zur Sprache kam und der Herzog ſich genöthigt ſah die Logen aufzulöſen (1836), da betheuerte er heilig, vielleicht mit Recht, von ſolchen Plänen nichts gehört zu haben. Doch wer ſollte ihm Glauben ſchenken, wenn er, der Feldmarſchall und Großmeiſter, dann auch noch behauptete, ganz ohne ſein Wiſſen ſeien Offiziere in die Logen ein - getreten?

Die Briten kannten ihn ſchon. Aufrichtig war er nur, ſobald er unter Kameraden gemeine Witze riß oder ſeine Gegner mit ſchmutzigen Schimpf - reden überfluthete. Seine geſchmackloſen Ausſchweifungen und ſeine tolle Verſchwendung hätte man ihm gern verziehen, wenn ſich in dem wüſten Treiben auch nur ein Zug menſchenfreundlichen Humors gezeigt hätte. Er aber fand ſeine Luſt daran, den Freund gegen den Freund, den Gatten gegen die Gattin, die Geliebte gegen den Liebhaber aufzuſtacheln. Das eine kurzſichtige Auge, das ihm noch geblieben war, bemerkte jede Unord - nung, jede Schwäche, jede Lächerlichkeit, und feige, unritterlich den Vor - theil ſeiner hohen Stellung mißbrauchend, hechelte er dann mit ſeiner feinen Stimme ſeine Opfer durch; ſchlagfertige Erwiderungen, wie ſie der große Friedrich und alle wahrhaft witzigen Spötter liebten, donnerte er mit einem Fluche nieder. Jedem Menſchen trat er auf die Hühneraugen, ſo ſagten ſeine eigenen Brüder. Wenn er einen gebrechlichen greiſen Herrn recht lange ſtehen ließ oder einen Feinſchmecker durch eine plötzliche Ein - ladung vom leckeren Mahle hinwegſcheuchte oder an einer hellgekleideten alten Dame ſich den Rücken wärmte, als ob er ſie für einen weißen Ofen hielte, dann fühlte er ſich behaglich; und ſein getreuer Reverend Wilkinſon, den er nachher als Hofkaplan nach Hannover berief, bewun - derte dieſe brutalen Witze mit ſo bedientenhafter Freude, daß die Deutſchen glauben mußten, nach engliſcher Anſchauung beſtehe der Lebensberuf des Fürſten wirklich im Zertreten von Leichdörnern. Eine ſtattliche Erſchei - nung, wenn der ſtarke große Herzog mit dem meiſterhaft gewichſten grauen Schnurr - und Backenbarte auf ſeinem edlen Roſſe dahergeritten kam;647Ernſt Auguſt und ſeine Gemahlin.die Huſarenuniform ſaß ihm wie angegoſſen, aber in den ſcharfgeſchnit - tenen ſoldatiſchen Geſichtszügen lag ein ſo widerwärtiger Ausdruck von Hohn und Härte, daß Viele den unleugbar ſchönen Mann für abſchreckend häßlich erklärten. Wie oft warnte der Dichter der Whigs, Thomas Moore die engliſchen Mädchen vor der bärbeißigen Larve (grim phiz) des öden galoppirenden Herzogs:

Der edle Prinz, es trifft ſich gut,
Gleicht gar ſo ſehr in Fleiſch und Blut
Dem Chef des Hauſes Belzebub!

Während der letzten Jahre pflegte er bald in Berlin bald in London Hof zu halten. In Preußen galt er wenig; man erzählte nur beiläufig, daß er in den reaktionären Kreiſen der mecklenburgiſchen Partei ſehr laut zu reden liebte. In England wurde ſeine Stellung immer peinlicher ſeit die Whigs wieder obenauf kamen. Er haßte den König, der ihn zwang die Reformbill ohne Widerſtand hinzunehmen und ihm bei der Beſetzung der hannöverſchen Vicekönigs-Stelle den jüngeren Bruder Cambridge vor - zog; er haßte noch bitterer ſeine junge Nichte, die ihm den Weg zum längſt erhofften Throne vertrat; und trotz ſeiner cyniſchen Menſchenverachtung wurmte es ihn tief, daß die Londoner Geſellſchaft ihm ſchlechthin Alles zutraute, gräuliche, längſt widerlegte Skandalgeſchichten aus ſeiner Jugend - zeit immer wieder auftauchten. Die ihn näher kannten wußten wohl, daß Ernſt Auguſt auch ungewöhnliche Herrſchergaben beſaß. Wenn es ihm ernſt war, dann arbeitete er mit eiſernem Fleiße, wachſam, ſicher, ſorgfältig; ſein ſcharfer natürlicher Geſchäftsverſtand erſetzte vollauf die mangelnde Bildung, und wo der Vortheil ſeines Hauſes nicht ins Spiel kam zeigte er ſich ſogar gerecht. Selbſt ſein Gemüth war doch nicht ganz verödet, wie hätte er ſonſt ſeine Gemahlin Friderike ſo zärtlich lieben können. Die ſchöne Schweſter der Königin Luiſe hatte ſchon zwei Gatten beglückt, den Prinzen Ludwig von Preußen, nachher den Fürſten von Solms-Braun - fels, und im Wittwenſtande auch noch manche ſüße Stunde verlebt. In ihrem leichten, lachenden, liebreichen Weſen lag ein beſtrickender Zauber, dem ſelbſt der ſittenſtrenge König Friedrich Wilhelm nicht widerſtand; wenn man in früheren Jahren ſeine muntere Schwägerin bei ihm verklagte, dann ſagte er ärgerlich: Ach was! Andere auch nichts taugen! In den napoleoniſchen Zeiten hatte ſie ſich ſtets als gute Preußin gezeigt und mit den Führern der Patrioten feſt zuſammengehalten. Jetzt war ſie längſt geſetzter geworden, ſtreng kirchlich, wohlthätig, eine treue Gattin. Ihre dritte Ehe wurde durch die Weihe eines großen Schmerzes geadelt. Der einzige Sohn Prinz Georg konnte von der Wiege an mit dem einen Auge nicht ſehen und verletzte ſich dann, als er einen Geldbeutel im Kreiſe wirbeln ließ, das geſunde Auge ſo ſchwer, daß er rettungslos dem Erb - leiden der Welfen, der Blindheit zu verfallen ſchien. Dies Unglück be - ſtärkte den Vater in ſeiner religiöſen Empfindung. Der alte Eiſenkopf648IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.liebte den Gottesdienſt, nicht blos aus engliſcher Gewohnheit; nur mußte die Predigt kurz ſein, kräftig, ohne Prunk und Salbung. Er fühlte in ſeiner Weiſe ſehr lebhaft ſeine Verantwortlichkeit vor Gott, er betete ſtill bevor er einen ſchweren politiſchen Entſchluß faßte und erlangte dann ſtets die tröſtliche Gewißheit, daß die Wege Gottes mit den Rathſchlüſſen des Welfenhauſes genau zuſammenträfen.

So war der ſeltſame Sterbliche, der jetzt einen friedlichen, ihm faſt ganz unbekannten deutſchen Kleinſtaat regieren ſollte, ein geborener Tyrann, gewohnt, ſich ſelber Alles, Anderen nichts zu erlauben. Suscipere et finire hieß ſein Wahlſpruch. Den Deutſchen war er ſchon darum ein furchtbarer Gegner, weil ſie dieſen ſonderbar gemiſchten, durchaus eng - liſchen Charakter nicht ſogleich durchſchauten. In Deutſchland iſt die Grobheit faſt immer ehrlich. Dem polternden alten Huſaren traute Nie - mand eine Falſchheit zu; darum konnte er auch die hannöverſchen Miniſter ſo leicht überliſten, als er einſt die Annahme des Staatsgrundgeſetzes zu - ſagte und dann wieder hinausſchob. *)S. o. IV. 165 ff.Erſt nachdem das Lügenſpiel voll - endet war, erkannte unſer Volk, wie viel durchtriebene Argliſt ſich hinter den rohen Formen des Briten verſteckte, und der preußiſche Geſandte Oberſt Canitz merkte dann auch bald, daß der Welfe ſelbſt ſeine Wuthausbrüche zuweilen erkünſtelte um Andere einzuſchüchtern.

Gleich nach dem Tode ſeines Bruders huldigte Ernſt Auguſt knieend der neuen Königin; ſonſt hätte er ſeine Prinzenrechte und die Apanage von 21,000 verloren. Dann reiſte er ab, und die große Mehrzahl der engliſchen Zeitungen geleitete ihn mit dem Segenswunſche: hoffentlich würde man einander niemals wiederſehen. Er war jetzt engliſcher Thron - folger und ſo lange Victoria kinderlos blieb, hielt er eigenſinnig die Hoff - nung feſt, ihr plötzlicher Tod könnte ihm doch noch die engliſche Königs - würde verſchaffen**)Frankenberg’s Bericht, 1. März 1838.; hatte doch das Parlament für dieſen Fall ſchon durch ein Geſetz Vorſorge getroffen. Die kleinere Krone aber, die ihm vorläufig genügen mußte, ſollte ganz ſelbſtändig daſtehen: unabhängig nach außen darum nannte er ſich fortan mit Stolz einen ſouveränen deutſchen Fürſten, obgleich er den engliſchen Sitten treu blieb und immer nur ein gebrochenes Deutſch ſprach unabhängig auch im Innern. Bei ſeinen gelegentlichen Beſuchen in Hannover hatte er das bequeme alte Beamten - regiment, das Reich der Sekretäre oft mit ätzendem Spotte übergoſſen. Er wußte, daß dieſem Lande vornehmlich eine ſtarke monarchiſche Gewalt noth that, und er dachte ſie ihm zu bringen; er dachte ihm eine andere Verfaſſung zu geben und dann nach dieſer treulich zu regieren. Dies nannte er Ordnung, und betheuerte: Regierungswillkür war mir immer verhaßt!

649Ernſt Auguſt und Schele.

Wie die neue Verfaſſung beſchaffen ſein ſollte? das wußte er ſelbſt noch nicht, da er ſich um das Land nie bekümmert hatte; genug wenn ſie die Macht der Krone befeſtigte. Ein anderes Recht außer der Satzung ſeines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die Verfaſſungsgeſetze von 1814 und 1819 hatte er proteſtirt allerdings nur heimtückiſch, in der Taſche; das Staatsgrundgeſetz hatte er nicht förmlich angenommen. Folglich hielt er ſich an die Geſetze ſeiner Vor - fahren nicht gebunden und rüſtete ſich wohlgemuth zu einem Staatsſtreiche, deſſen Frechheit durch keinerlei Nothſtand beſchönigt werden konnte. Wenn der neue König ſeiner Pflicht gemäß die zu Recht beſtehende Verfaſſung beſchwor, dann mochte er faſt alle ſeine Wünſche auf geſetzlichem Wege durchſetzen. Das Staatsgrundgeſetz beſtand erſt ſeit vier Jahren und hatte noch keine tiefen Wurzeln geſchlagen; nicht blos der Adel murrte, auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erſte und die ſehr nach - giebige zweite Kammer ließ ſich zu einigen Verfaſſungsänderungen ſicherlich leicht bewegen, und ſobald erſt ruhig verhandelt wurde, dann mußte der geſchäftskluge Welfe bald ſelbſt einſehen, daß die Vereinigung der Steuer - kaſſe mit der Domänenkaſſe, die er jetzt als eine demagogiſche Neuerung verwünſchte, nur der Krone ſelbſt Vortheile brachte. Ihn aber verblendete die Leidenſchaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun - derdinge gehört über den Radicalismus des Staatsgrundgeſetzes, das in Wahrheit die Rechte des Königthums ſorgſamer ſchonte als irgend eine andere der neuen deutſchen Verfaſſungen, und nannte deshalb den Ca - binetsrath Roſe den hannöverſchen John Ruſſell. Wie er die engliſchen Reformer bekämpft hatte, ſo hoffte er in Hannover der Demokratie die Flügel zu beſchneiden ; und ſeltſam genug bei dem rohen Rechts - bruche wirkte auch die bornirte Gewiſſenhaftigkeit mit. Nach ſeiner Auf - faſſung des politiſchen Eides konnte Ernſt Auguſt das Staatsgrundgeſetz nicht beſchwören, weil er ſich dann verpflichtet geglaubt hätte keinen Buch - ſtaben mehr daran zu ändern. Um ſein eigenes Gewiſſen zu ſichern hielt er ſich berechtigt die Gewiſſen ſeiner Unterthanen zu bedrängen. Alſo ſtürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts denn ich bin ein Bock, ſo geſtand er ſelbſt und getröſtete ſich des altengliſchen Glau - bens, daß die Deutſchen zwar die beſten Soldaten der Welt ſeien, aber von ihren Fürſten Alles gelaſſen hinnähmen.

Drei Tage vor ſeiner Ankunft ſchritt die Bürgerſchaft von Hannover Abends in langem ſchweigendem Zuge hinaus nach dem Schloſſe Mont - brillant um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abſchied zu nehmen. Ihrem Wortführer, dem Bürgermeiſter Rumann, und dem guten Vicekönige verſagte faſt die Stimme; Alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die Anrede des Bürgermeiſters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und650IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.behielt die überreichten ſilbernen Schlüſſel der Stadt bei ſich; ſo that er fortan immer, in ſeiner Hut ſollte das Land ſicher aufgehoben ſein. Ohne die Beleuchtung der Hauptſtadt eines Blickes zu würdigen, arbeitete Ernſt Auguſt bis in die Nacht hinein zuſammen mit Schele. Der Name dieſes reaktionären Heißſporns ſagte Alles; und wenn man ihn nur für einen ehrlichen Fanatiker hätte halten können! Er war aber einſt trotz ſeiner legitimiſtiſchen Geſinnung freiwillig in den Staatsrath des Königs Jerome eingetreten; Vertrauen fand er nirgends. Am nächſten Tage verſammelte ſich der Landtag; Jedermann erwartete, der König werde nunmehr, wie das Staatsgrundgeſetz vorſchrieb, durch ein Patent ſeinen Regierungsan - tritt anzeigen und die Aufrechthaltung der Verfaſſung geloben. Statt deſſen erſchien plötzlich eine königliche Verordnung, welche die Landſtände vertagte. Die erſte Kammer gehorchte alsbald dem Befehle, in der zweiten fragte der Vorſitzende Rumann ſichtlich betroffen, ob Niemand etwas zu dem verleſenen Aktenſtücke zu bemerken habe. Da erhob ſich Stüve, noch völlig rathlos; er hatte einen Staatsſtreich für unmöglich gehalten, weil er mit ſeinem Machiavelli glaubte, daß die Menſchen weder ganz gut noch ganz böſe zu ſein verſtehen. *)Nach der oben angeführten Biographie Stüve’s.In ſeiner Verwirrung brachte er nur die Worte hervor, Seine Majeſtät habe die Regierung wohl noch nicht angetreten. Er hoffte, andere Abgeordnete würden ihm beiſtehen. Aber Alles ſchwieg beſtürzt: ein rechtsgiltiger Beſchluß war ohne die erſte Kammer unmöglich, und wer konnte denn wiſſen, ob nicht derweil man hier ſaß das königliche Patent ſchon erſchienen war? Auch die zweite Kammer ging ruhig aus einander.

Dergeſtalt hatte der ſchlaue Welfe durch eine wohlberechnete Ueber - raſchung die Stände verhindert das Recht des Landes feierlich zu ver - wahren. Inzwiſchen wurde Schele zum Cabinetsminiſter ernannt, und obwohl er ſelbſt ſchon als Geheimer Rath den Verfaſſungseid geleiſtet hatte, ſo ließ er ſich’s doch wohl gefallen, daß der König aus ſeinem neuen Dienſt - eide die Verpflichtung auf das Staatsgrundgeſetz eigenhändig ausſtrich. Schele blieb vor der Hand der einzige vertraute Rathgeber des Welfen. Auf Münſter’s Beiſtand war nicht zu rechnen; der Graf dachte doch zu vornehm um ſich an dem Gewaltſtreiche ſelbſt zu betheiligen, wenngleich er die Demüthigung ſeiner alten Gegner nicht ohne Schadenfreude betrachtete, und war überdies mit Cumberland’s Eigenwillen niemals gut ausgekommen. Der neue Miniſter rieth nun, der König möge ſofort den Landtag auf - löſen und die alte Verfaſſung von 1819 wieder in Kraft ſetzen, ſo gewinne man alsbald einen feſten Rechtsboden. **)So erzählt Schele ſelbſt in den Randbemerkungen zu den Berichten ſeines Sohnes v. 11. und 18. Aug. 1837.Dazu konnte ſich Ernſt Auguſt nicht verſtehen. Sogleich nach ſeiner Ankunft aus der Fremde die ge -651Das erſte Patent.ſammte Verfaſſung über den Haufen zu werfen ſchien ihm doch unmöglich; er brauchte Bedenkzeit um die unbekannten Verhältniſſe zu überſehen. Auch wußte er ſchon, daß eine neue Anleihe von 3 Mill. Thlr. bevorſtand, und die Schuldverſchreibungen ohne die Unterſchrift der landſtändiſchen Com - miſſion nichts galten. Darum wollte er, ohne die Verfaſſung ſelbſt anzu - erkennen, doch den gegenwärtigen Landtag beibehalten und mit ihm ſpäterhin über die nothwendigen Aenderungen gütlich verhandeln. *)Dies Alles berichtete Schele der Jüngere im Auftrage Ernſt Auguſt’s an Boden - hauſen, 18. Aug. 1837.Der Gedanke war eine ſtaatsrechtliche Ungeheuerlichkeit; denn erkannte der Monarch das Staatsgrundgeſetz nicht an, ſo konnte er auch die Landſtände, die nur kraft dieſes Geſetzes beſtanden, nicht einberufen. Aber was vermochten juriſtiſche Gründe über den alten Reitersmann? Er meinte in ſeinem Rechte zu ſein und ſagte in gutem Glauben zu dem engliſchen Geſandten Lord William Ruſſell, der aus Berlin herüberkam: ich beabſichtige einige Veränderungen, aber langſam und auf geſetzliche Weiſe. **)Frankenberg’s Berichte, Juli 1837.

Am 5. Juli unterzeichnete er ein Patent, das den getreuen Unterthanen zu wiſſen gab, der König halte das Staatsgrundgeſetz nicht für bindend und in vielen Beſtimmungen für ungenügend; er wolle daher prüfen laſſen, inwie - fern Abänderungen nöthig ſeien und dann ſeine Entſchließung dem Landtage eröffnen. Daneben ſtand noch offenbar als ein Zugeſtändniß an Schele’s urſprüngliche Abſicht die vieldeutige Beſtimmung: es ſolle auch erwogen werden, ob man nicht zu der glücklichen alten angeerbten Landesverfaſſung zurückkehren ſolle. Tags darauf wurde das Patent durch Schele den anderen Miniſtern vorgelegt. Dieſe beanſtandeten einzelne Stellen und verlangten namentlich, daß ausdrücklich geſagt würde, der König beabſichtige nur verfaſſungsmäßige Aenderungen. Ernſt Auguſt erwiderte barſch: ich fühle es Meine Würde nicht gemäß darauf einzugehen, und die Miniſter unterwarfen ſich. ***)K. Ernſt Auguſt an Schele, 7. Juli; Schele an das Cabinetsminiſterium, 7. Juli 1837.Sie nahmen es auch geduldig hin, daß ihnen ein nicht auf die Verfaſſung beeidigter Miniſter an die Seite geſtellt wurde, und dieſer allein dem Monarchen Vortrag hielt. Nachher (14. Juli) er - ſtatteten ſie auf Befehl des Königs noch ein Gutachten über die Ver - faſſungsfrage und gelangten, wie ſich von ſelbſt verſtand, zu dem Ergebniß, das Staatsgrundgeſetz beſtehe zu Recht, könne alſo auch nur auf ver - faſſungsmäßige Weiſe abgeändert werden. †)Gutachten des Staatsminiſteriums, 14. Juli 1837, gez. : Stralenheim, Alten, Schulte, v. d. Wiſch; gegengez. : Falcke.Damit glaubten ſie ihre Pflicht erfüllt zu haben. Ein vollendeter Verfaſſungsbruch lag ja noch nicht vor, und warum ſollten ſie auch, allen Grundſätzen kurhannöverſcher Anſtändigkeit zuwider, ohne Noth Ombrage erregen? Sie blieben behaglich im Amte652IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.und beruhigten ſich mit dem Troſte, daß ſie den Unzufriedenen kein böſes Beiſpiel geben dürften. Nur Ompteda, der deutſche Miniſter in London, forderte ſeine Entlaſſung und erhielt ſie in Gnaden, da ſein Amt durch die Thronbeſteigung von ſelbſt hinwegfiel; für Männer ſeines Schlages war unter dieſem Welfen kein Platz. *)Canitz’s Berichte, 15. Oct., 9. Nov. 1837.

Demnach erſchien das Patent unverändert, und ſo viel ging aus den gewundenen Sätzen doch klar hervor, daß der König, ohne irgend einen Grund anzugeben, die Verfaſſungsgeſetze ſeiner Vorfahren kurzerhand für unverbindlich erklärte. Ward ihm dies geſtattet, dann ſtand keine deutſche Verfaſſung mehr feſt. Daher erhob ſich ſofort ein Sturm in der ge - ſammten deutſchen Preſſe. Mit der einzigen Ausnahme der von Schele beeinflußten unſauberen Hannöverſchen Landesblätter war alle Welt der - ſelben Meinung. Die Nation empfand es wie einen Fauſtſchlag ins An - geſicht, daß dieſer Fremdling ſich erdreiſten wollte, nach ſeinem Gutdünken zu entſcheiden, ob in einem geſetzlich geordneten deutſchen Lande die gegen - wärtige Verfaſſung beſtehen ſollte oder die ältere oder vielleicht auch eine dritte. Der Hamburger Wurm verdammte in einer ſcharfen Flugſchrift die neue welfiſche Staatslehre; zahlreiche anonyme Büchlein und die allezeit behutſame Augsburger Allgemeine Zeitung redeten im gleichen Tone. Das ſtille Berlin ſogar gerieth in Bewegung: Gans lärmte auf dem Katheder, Dr. Friedenburg in der ſonſt ſo harmloſen Voſſiſchen Zeitung; ſelbſt das mit Schele befreundete Berliner Wochenblatt wagte nur die männliche Offenheit des Welfen zu loben und die Hoffnung auszuſprechen, daß die nothwendigen Verfaſſungsveränderungen ohne Rechtsverletzung gelingen möchten. Die beſte der Gegenſchriften ſtammte aus der Feder des wackeren weimariſchen Miniſters v. Gersdorff; leider wurde ſie nur anonym, in 25 Exemplaren gedruckt, ſo ſtark war ſchon die Furcht der kleinen Höfe vor dem brutalen Welfen. **) Anſicht des Verhältniſſes der Erklärung S. Maj. des Königs v. Hannover u. ſ. w., Weimar 1837. Den Verfaſſer nennt, offenbar richtig, Münchhauſen in ſeinem Berichte v. 16. Oct. 1837.Sie war in ruhigem Geſchäftsſtile gehalten und zeigte unwiderleglich, daß der Bundestag einſt, ohne nach der Zu - ſtimmung der Agnaten zu fragen, die Bürgſchaft für die weimariſche Ver - faſſung übernommen, daß Hannover ſelbſt am 15. Oct. 1830 bei den Frankfurter Verhandlungen über die braunſchweigiſche Verfaſſung nach - drücklich erklärt hatte: eine in anerkannter Wirkſamkeit beſtehende Ver - faſſung bedürfe nicht erſt der Zuſtimmung des neuen Regenten, denn ſonſt hinge es nur von deſſen Willkür ab geheiligte Rechte nach Gut - dünken zu vernichten .

Auch alle die Landtage, die gerade verſammelt waren, regten ſich ſogleich, weil ſie ſich in ihrem eigenen Rechte bedroht ſahen. In Karlsruhe verlangten Itzſtein, Rotteck, Duttlinger, daß man am Bundestage Ein -653Erſte Wirkungen des Patents.ſpruch erhebe, und einſtimmig pflichtete ihnen die Kammer bei. Blittersdorff ſelbſt widerſprach in der Sache nicht, obwohl er die Competenz des Land - tages beſtritt. In diplomatiſchen Kreiſen nannte er den welfiſchen Staats - ſtreich beim rechten Namen und ſagte voraus, welch ein unheimliches Miß - trauen nunmehr in der Nation überhandnehmen würde. *)Blittersdorff, Weiſung an Frankenberg, 5. Sept. 1837.Der ſächſiſche und der bairiſche Landtag ſchloſſen ſich dem badiſchen an. Auch in Dresden ſuchten die Miniſter nur mit verlegenen Worten zu beſchwichtigen. Einen Vertheidiger fand Ernſt Auguſt nirgends, und er verſtärkte nur den all - gemeinen Unmuth, als er dem ſächſiſchen Hofe die herriſche Erklärung zuſandte: er könne keiner Regierung, geſchweige denn einer Ständever - ſammlung geſtatten ſich in hannöverſche Angelegenheiten einzumiſchen . **)Schele d. J., im Auftrag des Königs, an Münchhauſen, 22. Aug. 1837.

Beſſer gelang ihm, die Zudringlichkeit des Auslands abzuweiſen. Die engliſchen Wahlen ſtanden vor der Thür, die Whigs beeilten ſich den Ge - waltſtreich des alten Toryhäuptlings auszubeuten, mit glänzendem Erfolge, wie ſich bald zeigte. Palmerſton wollte auch nicht zurückbleiben. Er wußte ſchon, daß die Pariſer Preſſe bereits von einer deutſchen Juli-Revolution ſprach und die franzöſiſche Regierung an eine gemeinſame Kundgebung der liberalen Weſtmächte dachte. Zunächſt fragte er bei Ompteda vertraulich an, wie der Rechtsboden des Staatsgrundgeſetzes eigentlich beſchaffen ſei. Da empfing er aus Hannover die ſchroffe Antwort: man verweigere amtlich alle Auskunft über einen Gegenſtand, welche jeder nichtdeutſchen Regierung fremd ſei . Mittlerweile hatte der preußiſche Geſandte dem Lord Melbourne das Zweckloſe und Ungehörige dieſer Einmiſchung ernſtlich vorgehalten. Palmerſton erſchrak und ließ durch ſeinen Unterſtaatsſekretär Fox die demüthige Verſicherung abgeben, er habe Se. Majeſtät nicht beleidigen wollen. ***)Palmerſton an Ompteda, 17. Juli; Schele d. J., Weiſung an Geh. Rath Lichtenberg in London, 25. Juli; Lichtenberg’s Bericht, 8. Aug.; Metternich an Maltzan, 6. Aug. 1837.Auch die franzöſiſchen Miniſter ließen den Plan fallen; denn der Bürgerkönig meinte, ein ſolcher Schritt würde allen Regierungen Un - gelegenheiten bereiten und nur den Radicalismus ermuthigen, auch ſcheine die Sache doch nur auf einen elenden Geldſtreit hinauszulaufen. †)Hügel’s Bericht an Metternich, Paris 1. Aug.; Werther’s Weiſungen an Maltzan, 3. Aug., 15. Sept. 1837.

Gegen die beiden deutſchen Großmächte zeigte ſich Ernſt Auguſt ſehr verbindlich. Er wünſchte ſich ihren Beiſtand für alle Fälle zu ſichern und ſagte zu dem preußiſchen Geſandten beim erſten Empfange: ich werde die viele Gnade, welche der König für mich gehabt hat, nie vergeſſen, und es wird ſtets mein Stolz ſein, mich auch künftig zu ſeiner Armee zu zählen. Aber irgend einen Einfluß auf den Willen des alten Eiſenkopfes konnte Niemand, auch der Freund nicht, gewinnen. Er hatte ſich vermeſſen, aus654IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.dem offenbaren Unrecht einen neuen Rechtszuſtand hervorgehen zu laſſen, daher wurden ſeine Entſchließungen bald unberechenbar. Da ſein Staats - miniſterium ſich für die Rechtsgiltigkeit des Staatsgrundgeſetzes ausge - ſprochen hatte, ſo berief er am nächſten Tage (15. Juli) eine beſondere Commiſſion, welche die Rechtsfrage von Neuem prüfen ſollte. Sie be - ſtand aus Schele und drei anderen hohen Beamten, Graf Wedel, Jacobi, v. Bothmer, und gelangte nach kaum vierzehn Tagen ſchon zu dem Schluſſe: der König möge den gegenwärtigen Ständen erklären, daß er unter ge - wiſſen Bedingungen das Staatsgrundgeſetz annehmen wolle. *)Schele an den Kanzleidirektor Graf Wedel und die Oberjuſtizräthe Jacobi und v. Bothmer, 15. Juli; Gutachten der Commiſſion, 28. Juli 1837.Mit dieſem Rathe war dem Welfen wieder nicht gedient. In ſeinen Geſprächen mit Schele, der in der Commiſſion überſtimmt worden war, hatte er ſich be - reits einen neuen Plan gebildet: er dachte jetzt die gegenwärtigen Stände einzuberufen und ihnen dann zuzumuthen, daß ſie die alte Verfaſſung von 1819 wieder einführten. **)Canitz’s Bericht, 17. Juli 1837.Dieſer zweite Plan war faſt noch ungeheuer - licher als der erſte, denn gegen die Verfaſſung von 1819 hatte Ernſt Auguſt ja ſelbſt, allerdings nur heimlich, proteſtirt!

Was ließ ſich wider den Starrſinn und die unergründliche Verlogenheit eines ſolchen Mannes mit friedlichen Mitteln ausrichten? Der preußiſche Geſandte Canitz that ſein Beſtes. Er beſchwor den Welfen gleich bei der erſten Audienz jeden Schein von unrechtmäßiger Gewalt zu vermeiden , und erläuterte ſeine Anſicht als Cavalleriſt: bei einer Reiter-Attake dürfe man dem Feinde nie die Flanke bieten. Ernſt Auguſt ſtimmte zu und verſicherte: ich werde mich ſchon vorſehen. Canitz war in ſchwieriger Lage: er wollte ſich das Vertrauen Schele’s, den er für ehrlich hielt, nicht ver - ſcherzen um nicht jeden Einfluß zu verlieren; und doch konnte ſich der ſtreng conſervative Diplomat nicht verbergen, daß hier in Hannover die Gefahr nicht von der Nachgiebigkeit, ſondern von der Willkür des Fürſten drohte, daß die conſtitutionellen Formen doch den Vorzug beſäßen die in kleinen Staaten beſonders ſchwer drückende Tyrannei zu verhindern, daß die von den Welfen zurückgewünſchte alte Kaſſentrennung allein der Krone ſelbſt Schaden gebracht hätte. In ſolchem Sinne äußerte er ſich***)Canitz’s Berichte, 1. 11. Juli, 11. Sept. 1837 ff., immer ſehr behutſam, denn der preußiſche Hof wußte noch gar nicht, was Ernſt Auguſt eigentlich beabſichtigte aus dem einfachen Grunde, weil es der Welfe ſelbſt noch nicht wußte. †)Münchhauſen’s Bericht, 13. Juli 1837.Aber ſogar dieſe vorſichtigen Andeu - tungen machten den alten Herrn ungeduldig; er zeigte ſich bald verſtimmt und behandelte den preußiſchen Geſandten ſo kühl wie es die Freundſchaft der beiden Höfe irgend erlaubte.

Im Hochſommer reiſte Ernſt Auguſt zur Kur nach Karlsbad. Er655Beſprechung in Königswarth.hoffte dort mit Metternich und einem der preußiſchen Staatsmänner zu ſprechen. Da er mit ſeinem getreuen Rathgeber noch nicht handelseinig war, ſo ließ er ſich, zu Schele’s Aerger, nicht von dem Miniſter ſelbſt begleiten, ſondern von deſſen Sohne; dieſer junge Mann führte den wohllautenden Titel Legationsrath, welchen die Mittelſtaaten den unbrauchbaren Söhnen ihres Adels anzuheften liebten. Metternich, der durch die hannöverſchen Nachrichten kaum minder peinlich betroffen war als der Berliner Hof, hatte ſich unterdeſſen in Teplitz mit König Friedrich Wilhelm und Miniſter Werther beſprochen. Die beiden Cabinette beſchloſſen, in der heiklen Sache gemeinſam vorzugehen; ſie wollten ſich aber auch nicht vorzeitig die Hände binden, ſondern zunächſt nur vertrauliche perſönliche Rathſchläge ertheilen. *)Metternich, Weiſung an Trauttmansdorff, 28. Juli 1837.Demgemäß ſchrieben Metternich und Werther beide (7. Aug.) an den älteren Schele, der ihnen eine Denkſchrift über das Patent geſendet hatte. Der Preuße mahnte freundſchaftlich, man möge in Hannover Alles vermeiden, was den Bundestag zum Einſchreiten zwingen könnte. Der Oeſterreicher verſicherte ebenſo behutſam, jedes rechtmäßige Streben nach Befeſtigung des monarchiſchen Princips ſei willkommen; man dürfe aber nicht ver - geſſen, daß die conſtitutionellen Bundesregierungen ſich auf den Wiener Conferenzen von 1834 ſehr entſchieden für die Unverbrüchlichkeit der be - ſtehenden Verfaſſungen ausgeſprochen hätten; er ſchloß mit dem Wunſche, daß es gelingen möge, die Verfaſſungsänderungen im ruhigen, friedlichen Wege, unter Beachtung aller jener Rückſichten, die einmal nicht umgangen werden können, in das Leben zu rufen. **)Werther an Schele, 7. Aug.; Metternich an Schele, 7. Aug. 1837.

So war die Stimmung der Höfe, als Maltzan und bald nachher Metternich bei dem Könige in Karlsbad vorſprachen. Beide waren freudig überraſcht, den gefürchteten Welfen ſo ruhig, einſichtig, maßvoll reden zu hören; er verſprach beſtimmt nur auf geſetzlichem Wege vorzugehen***)Maltzan’s Bericht, 7. Auguſt. Metternich an Trauttmansdorff, 12. Aug. 1837., und da ſie Beide von den früheren Verhandlungen nichts kannten, ſo mußten ſie ihm auch Glauben ſchenken, als er heilig betheuerte, daß er gegen das Staatsgrundgeſetz von vornherein proteſtirt hätte. Wer konnte auch für möglich halten, daß ein deutſcher Fürſt ſo ſchamlos löge? Nun - mehr war Metternich, deſſen ſtaatsrechtliche Kenntniſſe nicht ſehr weit reichten, feſt davon überzeugt, daß Ernſt Auguſt an das Staatsgrund - geſetz nicht gebunden ſei; er rechnete es dem Welfen ſogar zur Ehre an, daß er die Verpflichtung auf dies Geſetz ſo ritterlich von der Hand ge - wieſen hatte.

Aber wie nun friedlich weiter kommen auf der Bahn des Unrechts, das durchaus Recht ſein ſollte? Gleich nach den Karlsbader Geſprächen wurde auf Metternich’s Schloſſe Königswarth eine lange Berathung ge - halten (11. Auguſt). Theilnehmer waren außer dem Schloßherrn ſelbſt:656IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Münch, Hofrath Werner, Maltzan, der jüngere Schele und der hannö - verſche Geſandte in Wien, Bodenhauſen. Der einzige Weg, der aus dem Labyrinthe herausführte, ſchien jetzt ungangbar. Nachdem das Patent er - ſchienen, konnte Ernſt Auguſt nicht mehr das Staatsgrundgeſetz annehmen und dann verſuchen, ob bei dem rechtmäßigen Landtage einige Aenderungen durchzuſetzen ſeien. In eine ſolche Demüthigung hätte der ſtolze Welfe nie gewilligt. Da war es denn faſt lächerlich, wie Metternich ſich drehte und wendete um den welfiſchen Bevollmächtigten zu erweiſen, daß aus dem Staatsſtreiche doch noch ein Staatsrecht entſtehen könne. Er zeigte ihnen: wolle man zurück zu der alten Verfaſſung, ſo müſſe man auch die Stände von 1819 einberufen; verſammle man aber angekündigtermaßen die gegen - wärtigen Stände, ſo dürfe man ihnen auch nur das Staatsgrundgeſetz zur Abänderung vorlegen, denn unmöglich könnten in einem Staate zwei Ver - faſſungen zugleich beſtehen. Die beiden Hannoveraner, die ſich allerdings keineswegs durch diplomatiſchen Scharfſinn auszeichneten, wurden aus den gewundenen Sätzen nicht klug und mißverſtanden den Sinn ſo gänzlich, daß Metternich ſich nachher genöthigt ſah, wider ihre Berichte eine Entgegnung zu ſchreiben. *)Schele d. J., Notatum, Königswarth 11. Aug., Bodenhauſen’s Bericht, 14. Aug., Metternich an Trauttmansdorff, 7. Sept., nebſt einer Aufzeichnung für Bodenhauſen vom 11. Sept. 1837.Die Berathung brachte kein Ergebniß. Nur ſo viel war deutlich, daß der Oeſterreicher den ganzen Streit ſehr ungern ſah und ihn wo möglich dem Bundestage fern halten wollte. Darum brauchte Ernſt Auguſt doch nicht an der Hilfe der Hofburg zu verzweifeln; denn Metter - nich ſprach durchweg im Tone des beſorgten treuen Freundes, und ſagte noch nach der Königswarther Unterredung zu Maltzan: der König hat ganz Recht, er geht nicht einmal ſo weit als er gehen dürfte; wenn ich ſelbſt, der ich von Geburt an verſöhnliche Neigungen hege, dies bezeuge, ſo iſt damit Alles geſagt. Ueberdies hatte der Wiener Hofpubliciſt Jarcke bereits Befehl erhalten, den Welfen mit ſeiner Feder zu unterſtützen. **)Berichte von Maltzan, 16. Aug., von Bodenhauſen, 1. Sept. 1837.

An die ſüddeutſchen Höfe wurde der Bundesgeſandte Stralenheim geſendet, um ſie für Hannover günſtig zu ſtimmen. Er beſtach unterwegs die ultramontane Neue Würzburger Zeitung mit hundert Dukaten; Robert Peel aber, den er in Stuttgart ſprach, verſagte ihm rundweg jeden Bei - ſtand im Parlamente, und die Cabinette ſpeiſten ihn mit unverfänglichen Worten ab. Nur von dem Könige von Württemberg, der wieder einmal mit ſeinem Landtage unzufrieden war, glaubte Stralenheim ein freund - liches Verſprechen erhalten zu haben eine wunderliche Täuſchung, die ſich nur aus der Unfähigkeit des welfiſchen Diplomaten erklärte. ***)Stralenheim’s Berichte, 27. 31. Oct. 1837 ff.Der nachtragende König Wilhelm hegte gegen Ernſt Auguſt eine alte Abneigung, er führte mit der Krone Hannover ſeit Jahren einen ärgerlichen Rang -657Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes.ſtreit und war viel zu klug um einen muthwilligen Rechtsbruch zu be - günſtigen.

Die Zurückhaltung der Höfe ließ ſich wohl begreifen; ſie wußten nicht wo der Welfe hinaus wollte. Auch in Hannover blieb Alles ſtill. Man fühlte ſich gedrückt und verſtimmt, aber ſelbſt die Abgeordneten thaten nichts. Als die Georgia Auguſta im September das Jubelfeſt ihres hundertjährigen Beſtehens feierte, und faſt alle namhaften Männer des Landes in Göttingen zuſammentrafen, bot ſich faſt von ſelbſt die Gelegen - heit, gemeinſame Schritte zur Abwehr des drohenden Staatsſtreichs zu beſprechen. Auch dies ward verſäumt. Man ſchmauſte über Gräbern, ſagte Dahlmann bitter. Das Feſt verlief mit der gewohnten akademiſchen Pracht, Alexander Humboldt empfing die Huldigungen aller Facultäten, und die Philologen verabredeten ſich, nach dem Vorbilde der Naturforſcher, regelmäßig wiederkehrende Wanderverſammlungen zu halten. Auch der König erſchien auf einen Tag und bemühte ſich wenig, der Profeſſoren - welt ſeine Verachtung zu verbergen. Als die Bürgerſchaft vor der neuen Aula das Standbild ſeines verſtorbenen Bruders einweihte, drehte er in dem Augenblicke, da die Hülle fiel, mit ſcharfer Wendung dem Denkmal den Rücken zu*)Nach der Erzählung eines Augenzeugen.; die philoſophiſche Facultät aber erhielt einen ſchnöden Verweis, weil ſie Stüve zum Ehren-Doctor ernannt hatte.

Mit ſeinen politiſchen Plänen war Ernſt Auguſt noch immer nicht im Reinen. Je länger er zögerte, um ſo gewiſſer ward es, daß ihm der gegenwärtige Landtag keine wichtige Verfaſſungsänderung mehr bewilligen konnte. Da bot ſich ein Helfer. Weil die Gutachten des Miniſteriums und der Commiſſion nicht nach Wunſch ausgefallen waren, ſo wurde der Canzleidirector Leiſt mit einer dritten Prüfung der Rechtsfrage beauftragt, ein gelehrter alter Reichsjuriſt, der einſt wie Schele in weſtphäliſche Dienſte gegangen und auf höheren Befehl zu jeder Rechtsverdrehung gern bereit war. Der bewies jetzt, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, weil die Zu - ſtimmung der Agnaten fehle und König Wilhelm IV. nachträglich noch einige Paragraphen einſeitig geändert habe. **)S. o. IV. 163.Nun endlich begann dem Welfen einzuleuchten, daß Schele’s urſprüngliche Abſicht doch das Rechte getroffen hätte. Am 1. November wurde durch ein zweites Patent das Staatsgrundgeſetz aufgehoben, die alte Verfaſſung von 1819 wieder ein - geführt, das Beamtenthum oder, wie es fortan hieß: die königlichen Diener des Verfaſſungseides entbunden, endlich, als ob man das Volk beſtechen wollte, den getreuen Unterthanen die Summe von 100,000 Thlr. jährlich an den direkten Steuern erlaſſen.

So maßte ſich der welfiſche König das Recht an, ſeine Beamten eines nicht ihm geleiſteten Eides zu entbinden ein Recht, das in der römiſchenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 42658IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Kirche nur dem Papſte, in der evangeliſchen Keinem zuſteht. Auf einen ſolchen Frevel war trotz Allem was geſchehen Niemand gefaßt. An jeden einzelnen Beamten trat jetzt die Frage heran, ob er ſein Gewiſſen der Gewalt unterwerfen, den neuen Dienſteid ſchwören und damit den alten brechen dürfe. Während das Land unter dem Schlage noch wie betäubt lag, unterzeichneten am 18. November ſieben der namhafteſten Göttinger Profeſſoren eine Vorſtellung an das Univerſitätscuratorium, worin ſie ein - fach erklärten, daß ſie ſich auch jetzt noch an ihren Verfaſſungseid gebun - den hielten: Das ganze Gelingen unſerer Wirkſamkeit beruht nicht ſicherer auf dem wiſſenſchaftlichen Werthe unſerer Lehren als auf unſerer perſön - lichen Unbeſcholtenheit. Sobald wir vor der ſtudirenden Jugend als Männer erſcheinen, die mit ihren Eiden ein leichtfertiges Spiel treiben, ebenſo bald iſt der Segen unſerer Wirkſamkeit dahin. Und was würde Sr. Maj. dem Könige der Eid unſerer Treue und Huldigung bedeuten, wenn er von Männern ausginge, die eben erſt ihre eidliche Verſicherung freventlich verletzt haben? E. Albrecht, der als Lehrer unvergleichliche, als Schriftſteller leider wenig fruchtbare Juriſt, hatte den Gedanken zu - erſt bei Dahlmann angeregt*)So erzählte Albrecht ſehr beſtimmt, nachdem er die etwas abweichende Dar - ſtellung von Springer (Dahlmann I. 430) geleſen hatte., und Dahlmann darauf die Erklärung auf - geſetzt, die unverkennbar den Ausdruck eines tiefen ſittlichen Leidens trug. Es war, wie ihr Verfaſſer ſagte, eine Proteſtation des Gewiſſens, nur durch den Gegenſtand ein politiſcher Proteſt. Nachher unterzeichneten noch die Gebrüder Grimm, Wilhelm Weber, Ewald und der junge Gervinus. Von allen den Sieben hatten bisher nur Dahlmann und Gervinus am politiſchen Kampfe theilgenommen, und auch ſie ſtanden bei den Liberalen der Rotteck-Welcker’ſchen Schule im Rufe übertriebener Mäßigung.

Der alte Welfe gerieth in furchtbare Wuth, als er von dieſer That erfuhr, die doch nicht einmal offene Widerſetzlichkeit war; ihm fehlte jedes menſchliche Verſtändniß für den Edelſinn der Gegner. Er ſelbſt hatte fünf Monate lang geſchwankt und erſt zwei andere Pläne verworfen, be - vor er die Verfaſſung umſtieß; aber ſobald ſeine Entſcheidung gefallen war, meinte er Alles erledigt und forderte ſchweigenden Gehorſam. So faßte er ſeine königliche Machtvollkommenheit auf. Alsbald verfügte er (28. Nov.) eigenhändig in ſeinen rohen Schriftzügen: er habe vernommen, wie ſich die Profeſſoren nach erfolgter Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes daſſelbe gewiſſermaßen noch als giltig zu betrachten und aufrecht zu er - halten herausnehmen , und erſehe daraus, daß ſie augenfällig eine revo - lutionäre, hochverrätheriſche Tendenz verfolgen, welche ſie perſönlich ver - antwortlich macht: ſie ſcheinen daher der Macht des peinlichen Richters verfallen ; demnach ſollten die Behörden dieſem verbrecheriſchen Beginnen ſteuern und die Schuldigen zur Strafe ziehen. **)K. Ernſt Auguſt an Schele. 28. Nov. 1837, ſ. Beilage 24.Schele ſtimmte freudig659Die Göttinger Sieben.zu: ein abſchreckendes Beiſpiel ſei nöthig, damit die Uebelwollenden ſich nicht an die Erklärung der Sieben als an ein Panier anſchlöſſen; aber ſtatt der ausſichtsloſen peinlichen Unterſuchung empfahl er ein kürzeres Verfahren. Vergeblich baten die Miniſter Arnswald und Stralenheim als Curatoren der Univerſität, man möge mindeſtens die Vorſchriften der Bundesgeſetze achten und zunächſt den Bericht des Regierungsbevollmäch - tigten einfordern. *)Berichte an den König: von Schele 29. 30. Nov., von dem Univerſitätscura - torium 8. Dec. 1837.

Ein kurzes, von Leiſt entworfenes Reſcript verfügte die ſofortige Ent - ſetzung der Sieben, und der König befahl nachträglich noch ſelbſt, daß ihnen ihr Gehalt nur bis zum Tage der Entlaſſung ausgezahlt werden dürfe. **)Schele an das Curatorium, 31. Jan. 1838.Dahlmann, Jakob Grimm und Gervinus erhielten außerdem die Weiſung, das Land binnen drei Tagen zu verlaſſen, weil ſie die Erklärung einigen Freunden mitgetheilt hatten. Die Studenten hatten das Schriftſtück längſt überall verbreitet, ſie nahmen nach dem ſchönen Vorrechte der Jugend ungeſcheut Partei für die gute Sache und begrüßten Dahlmann als den Mann des Wortes und der That ; es kam ſchon zu Händeln mit der bewaffneten Macht. Nur einige Söhne des hannö - verſchen Adels ſchämten ſich nicht den Mißhandelten das Honorar durch den Stiefelputzer abzufordern. In der Nacht, bevor die drei Verbannten, von Küraſſieren bewacht, abreiſten, wanderten die Burſchen in Schaaren hinaus denn den Lohnkutſchern hatte die Polizeigewalt zu fahren ver - boten und drüben in Witzenhauſen, auf dem freieren heſſiſchen Boden, nahmen ſie Abſchied von ihren Lehrern. Als der kleine Sohn im Grenz - wirthshauſe ſich vor Jakob Grimm’s majeſtätiſchem Kopfe hinter dem Rocke der Wirthin verſteckte, ſagte die Mutter mitleidig: gieb dem Herrn die Hand, es ſind arme Vertriebene.

Mit Alledem war Ernſt Auguſt’s Rachgier noch nicht erſättigt. Kaum erfuhr er, daß Dahlmann’s Berufung nach Roſtock im Werke ſei, ſo ließ er alsbald nach Schwerin und Strelitz ſchreiben, was dieſer Mecklenburger Alles verbrochen habe: Se. Maj. haben geglaubt, den großherzoglichen Höfen Kenntniß von den Handlungen eines Mannes geben zu müſſen, der in einem Lehramte an einer Univerſität nur höchſt nachtheilig auf die ſtudirende Jugend wirken kann. Die mecklenburgiſchen Regierungen fürch - teten ſich vor der drohenden Sprache des Welfen; ſie betheuerten, der Wahrheit zuwider, die Verhandlungen ſeien längſt abgebrochen, und er - klärten, nunmehr könne von der Berufung natürlich gar nicht die Rede ſein . ***)Schele an die Miniſter v. Lützow in Schwerin, v. Dewitz in Strelitz, 7. Dec. Die Erwiderungen beide vom 16. Dec. 1837.Auf die Nachricht, daß Jakob Grimm die Seinigen in Göttingen heimlich beſuchen wolle, erging ſofort der Befehl, den Verbrecher durch42*660IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Landdragoner über die Grenze zu ſchaffen. *)Bericht des Prorectors Bergmann an das k. Cabinet, 30. Dec. 1837. Beſcheid, 2. Jan. 1838.Um die offenbare Ungeſetz - lichkeit ihrer Entlaſſung auf dem einzigen gerichtlichen Wege, der ihnen noch offen ſtand, zu erweiſen, klagten die Sieben auf Auszahlung ihres rückſtändigen Gehalts für das letzte Halbjahr. Da befahl der König der Juſtizcanzlei in Hannover durch ein Cabinetsſchreiben des allezeit willigen Leiſt: ſie ſolle die Klage einfach abweiſen. Als der redliche Canzleidirector v. Hinüber ſich dieſem rechtswidrigen Anſinnen widerſetzte, da befürchtete Leiſt, die Juſtizcanzlei würde das königliche Cabinet verurtheilen, oder auch die Profeſſoren könnten beim Bundestage wegen verweigerter Juſtiz klagen. Um Beides zu verhindern, beſchloß man den Competenzconflict zu erheben. Die Commiſſion, welche die Competenzconflicte zu entſcheiden hatte, war freilich durch die Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes vernichtet**)Schreiben der Juſtizcanzlei in Hannover an das k. Cabinet, 26. Nov. Leiſt an Schele, 2. Dec. 1838.; welches Recht ſtand denn noch feſt in dem zerrütteten Staate? Indeß gelang es die Sache ſo lange hinzuhalten, bis Ernſt Auguſt einen neuen Staats - rath gebildet hatte, und dieſer entſchied (1841): das Gericht dürfe die Klage nicht annehmen, weil Entlaſſung und Gehaltsentziehung zu den Hoheitsrechten des Landesherrn gehörten. Der Welfe hoffte noch lange, die Federfuchſer würden ſich demüthigen, und ſagte in Alexander Hum - boldt’s Gegenwart: Profeſſoren, Huren und Ballettänzerinnen kann man für Geld überall haben. Sobald Schele das falſche Gerücht hörte, daß Albrecht und Ewald das Geſchehene bedauerten, ſchrieb er ſogleich nach Göttingen: die Wiederanſtellung ſei nicht unmöglich, falls die Beiden wirk - lich Reue bezeigten. ***)Schele an Langenbeck, 28. Dec. 1837.

Leider gab die Haltung der anderen Profeſſoren dem Könige einigen Grund, ſo niedrig zu denken von dem Muthe der Gelehrten. Die Gelehr - ſamkeit der Georgia Auguſta hatte ſich den Kämpfen des öffentlichen Lebens von jeher grundſätzlich fern gehalten; manche der alten Hofräthe empfan - den es wie eine Beleidigung ihrer Amtsehre, daß ſie jetzt in die Wirren der Politik hineingeriſſen wurden. Wenige Tage nachdem die Erklärung der Sieben ruchbar geworden, fuhren der Prorector und die Decane nach dem Jagdſchloſſe Rotenkirchen im Solling, um dem Könige unterthänig aus - zuſprechen, daß ſie in dem Vertrauen zu den landesväterlichen Abſichten Sr. Maj. überall nicht wanken und niemals Geſinnungen hegen werden, welche dem entgegen ſind. †)Aufzeichnung des Prorectors Bergmann und der vier Decane, Rotenkirchen, 30. Nov. 1837.Sie wagten ſogar kein Wort der Erwiderung, als die amtliche Hannöverſche Zeitung nachher dem Prorector eine völlig ge - fälſchte, die That der Sieben entſchieden verwerfende Rede unterſchob. Nur661Ernſt Auguſt und die Sieben.ſechs jüngere Profeſſoren, Otfried Müller voran, entſchloſſen ſich, angeekelt durch dies Uebermaß der Lüge, zu der öffentlichen Erklärung, daß ſie den Schritt ihrer entlaſſenen Collegen nicht mißbilligten. Aber Niemand wollte ſich den Sieben rückhaltlos anſchließen. Der ſchon durch Rauſchenplatt’s Revolution verdunkelte Glanz der Univerſität verblich jetzt gänzlich, für viele Jahre; die auswärtigen Studenten mieden den verrufenen Ort, der Ab - gang ſo trefflicher Lehrkräfte ließ ſich nicht erſetzen. Ernſt Auguſt wünſchte vornehmlich die Lehrſtühle Dahlmann’s und Albrecht’s mit ergebenen Leuten zu beſetzen, damit den Studenten die neue Lehre von der unbeſchränkten Gewalt des alleinigen Dienſtherrn eingeprägt würde; allein ſolche Gelehrte waren in Deutſchland ſelten. Der Marburger Vollgraff, der in einigen verworrenen Schriften, nicht ohne Geiſt die Täuſchungen des Repräſen - tativſyſtems bloßgelegt hatte, genügte doch zu wenig den hohen wiſſen - ſchaftlichen Anſprüchen, welche das Orakel des Curatoriums, der greiſe Hiſtoriker Heeren an die Lehrer der Georgia Auguſta zu ſtellen pflegte, und man wagte nicht ihn zu rufen. *)Bericht des Univerſitäts-Curatoriums, 10. März 1838.Umſonſt baten die Univerſität und die Stadt in wiederholten Eingaben um die Rückkehr der Sieben. Selbſt der Gothaer G. Zimmermann, der einzige namhafte deutſche Publiciſt, der in die Dienſte des Welfenhofes gegangen war, hielt die Rückberufung für nöthig um das Land und die tief erbitterte gelehrte Welt zu beruhigen. Ernſt Auguſt blieb unerbittlich. Als man im Herbſt 1846 erzählte, Dahl - mann, Jakob Grimm und Gervinus wollten auf Beſuch nach Göttingen kommen, entſchied der Welfe kurzab: es bleibe bei den früheren Befehlen. **)Eingaben der Stadt Göttingen, 9. März, 8. Dec.; der Univerſität, 15. März; Prorector Gieſeler an Schele, 14. März; Erwiderungen aus dem k. Cabinet, 24. März, 22. December. G. Zimmermann an Schele, 9. Dec. 1839. Cabinetsſchreiben an das Cultusminiſterium, 29. Oct. 1846.

Wie gründlich täuſchte er ſich, als er in der erſten Schadenfreude zu Canitz ſagte: dieſe Leute haben meiner Sache eher genützt als ge - ſchadet. Es währte nicht lange, da rief er zornig: hätt ich gewußt was mir die ſieben Teufel für Noth machen würden, ſo hätt ich die Sache nicht angefangen. Seit der Juli-Revolution hatte kein Ereigniß mehr eine ſolche Aufregung hervorgerufen. Die Frage lag ſo einfach, ſie berührte ſo unmittelbar die empfindlichſte Seite des deutſchen Gemüths, die Treue, daß die ſchlichten Leute mit ihrem Urtheil raſch fertig wurden. Der Nation war zu Muthe, als ſei ein engliſcher Räuber plötzlich in ihren Garten eingebrochen. Der burſchikoſe junge Poet Hoffmann von Fallersleben ſagte nur grob heraus, was Tauſende empfanden, als er ſang: Friſch Knüppel aus dem Sack! Auf’s Lumpenpack! Auf’s Hundepack! Und wer noch irgend zweifelte, den mußten die Vertheidigungsſchriften der Sieben ge - winnen. Dahlmann’s Büchlein zur Verſtändigung war ein Meiſter - werk deutſcher Publiciſtik; die leidenſchaftlich bewegte Sprache blieb immer662IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.würdig und vornehm, und nirgends verleugnete ſich die gemäßigte Geſin - nung des Monarchiſten: Ich kämpfe für den unſterblichen König, für den geſetzmäßigen Willen der Regierung, wenn ich mit den Waffen des Ge - ſetzes das bekämpfe, was in der Verleitung des Augenblicks der ſterbliche König im Widerſpruch mit den beſtehenden Geſetzen beginnt… Ich traue nicht dem Muth des Liebeleeren und nicht der Liebe des Muthloſen. Hier gilt es Deutſchland. Kann eine Landesverfaſſung vor den Augen des Bundes wie ein Spielzeug zerbrochen werden, eine Verfaſſung, von der es unmöglich iſt zu leugnen, daß ſie in anerkannter Wirkſamkeit beſtanden hat, dann iſt über Deutſchlands nächſte Zukunft entſchieden, aber auch über die Zukunft, die dieſer folgen wird. Wie Dahlmann die politiſche, ſo zeigte Jakob Grimm die menſchliche Niedertracht des Staatsſtreichs in einem Schriftchen, das mit den Worten der Nibelungen anhob: war ſint die eide komen? Albrecht beleuchtete die Rechtsfrage in einer ſcharfſinnigen Erörterung, die um ſo ſtärker wirken mußte, weil der große Juriſt nie ver - hehlte, daß er die landläufigen liberalen Lehren vom ſogenannten Wider - ſtandsrechte für eitle Zirkelſchlüſſe hielt. Auch Gervinus und Ewald ſprachen ſich freimüthig aus, und von allen Seiten her kam ihnen Beiſtand.

Georg Beſeler, der ſich als Kampfgenoſſe wider die Dänen das Ver - trauen Dahlmann’s erworben hatte und jetzt an der Roſtocker Hochſchule lehrte, rechtfertigte die Sieben in volksthümlichen Briefen. Anaſtaſius Grün richtete an Jakob Grimm ein begeiſtertes Gedicht und wünſchte,

Daß bis Hannover hin der Sang ſich ſchwänge wundertönig
Ans Ohr des Herzogs Cumberland, der jetzt Hannovers König.
Verſteht er auch des Deutſchen Lied von deutſcher Ehre ſchwerlich,
Wird ſich wohl Einer finden dort, ihm’s zu verwälſchen ehrlich.

Ein Märchen Anno 1937 ſchilderte, wie die Großmutter dem Enkel von dem böſen König, dem zerriſſenen Freiheitsbriefe, den Sieben und den Dreien erzählte, und der Bube verwundert antwortete: das kann unmöglich möglich ſein! Ueberall hatten die Vertriebenen Mühe, ſich den Huldigungen und Zuſchriften zu entziehen. Die Bewegung ergriff alle deutſchen Gaue, bis zu den fernen Grenzmarken. Die Kieler über - ſchickten an Dahlmann, den alten Vorkämpfer des Holſtenrechts eine Dank - adreſſe; die Elbinger Bürger ſprachen ihrem Landsmann Albrecht ihre Zuſtimmung aus, und die Königsberger philoſophiſche Facultät ſendete ihm ein von Lobeck verfaßtes Doctor-Diplom. Ein Hamburger Rheder ließ in Cuxhaven ein auf Dahlmann’s Namen getauftes Schiff vom Stapel laufen. An den Fenſtern der Spielwaarenläden ſah man den Witzenhauſener Ab - ſchied in Bleifiguren dargeſtellt, auf den Jahrmärkten wurden Pfeifen - köpfe mit dem Bilde der Sieben feilgeboten. Und es blieb nicht bei den Worten und Bildern. Zum erſten male ſeit dem Befreiungskriege ver - anſtalteten die Deutſchen wieder eine Geldſammlung für ihre eigenen poli - tiſchen Zwecke; in den letzten zwanzig Jahren hatten ſie nur zu Gunſten663Sammlungen für die Sieben.der Griechen und der Polen freiwillig geſteuert. In Leipzig entſtand der Göttinger Verein, der ſich bald über ganz Deutſchland verzweigte und den Sieben bis zu ihrer Wiederanſtellung ihren alten Gehalt zahlte. Einige der unternehmenden Bürger, welche die erſte Eiſenbahn bauten, Guſtav Harkort und Dufour ſtanden an der Spitze, dazu die Beſitzer der Weid - mann’ſchen Buchhandlung Karl Reimer und der junge Schweizer Salomon Hirzel; in Berlin übernahm Gans die Leitung, in Baden Rotteck, in Königsberg der radicale Jakoby, in Jena der ſtreng kirchlich geſinnte Buch - händler Frommann, in Marburg ſein Geſinnungsgenoſſe V. A. Huber. Alle guten Kräfte des Bürgerthums fanden ſich zuſammen.

In der amtlichen Welt waren die Meinungen getheilt. Die Thaten des Welfen in Schutz zu nehmen, wagte faſt Niemand; nur da und dort jubelte ein übermüthiger Junker wie der Prinz von Noer, das ſei brav, daß man die Kerls fortgejagt habe. Aber nach den Anſchauungen des alten Beamtenſtaats erſchien das kühne Auftreten einfacher Profeſſoren, die kein obrigkeitliches Amt bekleideten, als eine gefährliche Anmaßung. Selbſt Canitz, der das Treiben am hannöverſchen Hofe mit wachſender Sorge be - trachtete und mit ſeinen Landsleuten den Brüdern Grimm auf freund - lichem Fuße ſtand, meinte doch ängſtlich: die Sieben hätten ſtill ihren Ab - ſchied fordern ſollen ohne die Gewiſſen Anderer zu verwirren. *)Canitz’s Bericht, 27. Nov. 1837.Dieſen Kleinmuth der Regierungen verſtand der Welfe ſehr geſchickt auszubeuten; er wußte aus ſeiner parlamentariſchen Erfahrung, wie viel die Frechheit über die Menſchen vermag. Seine Geſandten traten mit einer Zuverſicht auf, als ob ſich Hannover durch ſeinen Staatsſtreich beſondere Anſprüche auf Dank und Dienſt aller Kronen erworben hätte. Als Beſeler’s Schrift erſchienen war, ſendete Ernſt Auguſt den Prinzen Solms nach Schwerin um die Beſtrafung des Verfaſſers zu verlangen; der gutherzige Groß - herzog Paul Friedrich ordnete auch eine Unterſuchung an, er berief aber in die Commiſſion drei verſtändige Männer, die natürlich erklärten, daß keine ſtrafwürdige Handlung vorliege. Sobald er hörte, daß einige der Sieben in Leipzig Vorleſungen halten wollten, verbot Ernſt Auguſt ſeinen Unterthanen ſofort den Beſuch der Leipziger Univerſität, worauf ſich denn herausſtellte, daß nur ein einziger Hannoveraner an der Pleiße ſtudirte. Wo immer ein Buch zu Gunſten der Sieben oder des Staatsgrund - geſetzes erſchien, erhoben die welfiſchen Diplomaten alsbald Beſchwerde; der Geſandte General v. Berger in Berlin, ein alter Herr, der ſich ſogar unter ihnen durch Beſchränktheit auszeichnete, fand es immer wieder un - begreiflich, wie die Cenſur ſolchen Produkten das Ultimatum ertheilen könne ! **)Berger’s Bericht, 29. Sept. 1838.

Ganz ohne Erfolg blieben dieſe Einſchüchterungsverſuche nicht; Dahl - mann und Jakob Grimm mußten ihre Rechtfertigungsſchriften, zur Schande664IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Deutſchlands, in der Schweiz erſcheinen laſſen. Am willfährigſten zeigte ſich der däniſche Hof, weil er ſelbſt eine ſtreng conſervative Politik ver - folgte und wohl auch weil er einen alten Haß gegen Dahlmann hegte. Er ertheilte den Kieler Profeſſoren, welche den Sieben geſchrieben hatten, einen Verweis und forderte die Cenſoren Schleswigholſteins zur Wachſam - keit auf, da unzeitiges und böswilliges Ausſprechen der öffentlichen Mei - nung den Erfolg der in Hannover beabſichtigten Maßregeln gefährden könne. *)Rundſchreiben des däniſchen Min. d. a. A. an die Geſandten in Deutſchland, 16. Jan. 1838.In Berlin äußerte ſich Eichhorn ſehr freimüthig; er hoffte, der König würde die Brüder Grimm, vielleicht auch Dahlmann oder Albrecht an eine preußiſche Hochſchule berufen. Bettina v. Arnim ergriff den Ge - danken mit ihrem hochherzigen Eifer und ſuchte, unterſtützt von ihrem Schwager Savigny, den Kronprinzen dafür zu erwärmen. Miniſter Rochow dachte anders. Auch er mißbilligte das Verfahren des welfiſchen Hofes und war ſehr unglücklich, als er ſpäterhin, für einige dem Sohne der Königin Friederike erwieſene Gefälligkeiten, den Guelphen-Orden erhielt; für einen Bundesgenoſſen Ernſt Auguſt’s wollte er durchaus nicht gelten. **)Frankenberg’s Bericht, 1. April 1840.Aber die Einmiſchung Unberufener in die hohe Politik hielt er für ſtaats - gefährlich; nur unter der Hand durfte in Berlin für die Sieben geſam - melt werden. Da überſendete ihm der Kaufmann Jakob van Rieſen die Adreſſe, welche die Elbinger an Albrecht geſchickt hatten; der ehrliche alt - preußiſche Liberale hoffte arglos, den Miniſter dadurch für Albrecht’s Be - rufung günſtig zu ſtimmen. Rochow brauſte auf; er glaubte ſich verhöhnt, und heftig wie er war, unterzeichnete er eine Antwort, deren maßloſer bureaukratiſcher Hochmuth den preußiſchen Staat vor aller Welt bloßſtellte. Da hieß es: dem Unterthanen ziemt es nicht, die Handlungen des Staats - oberhauptes an den Maßſtab ſeiner beſchränkten Einſicht anzulegen und ſich in dünkelhaftem Uebermuth ein öffentliches Urtheil über die Recht - mäßigkeit derſelben anzumaßen. Die Thorheit ſollte ſich ſchwer beſtrafen. Die Fama geſtaltete aus dieſen Sätzen das geflügelte Wort vom be - ſchränkten Unterthanenverſtande , und fortan haftete an Rochow’s Namen unaustilgbar der Fluch der Lächerlichkeit. Man hielt den Miniſter für einen ausbündigen Narren, obwohl er ſich eben jetzt bei der Berathung des Eiſenbahngeſetzes ſehr verſtändig und neuen Ideen zugänglich zeigte.

Den conſtitutionellen Höfen war übel zu Muthe. Alle Welt rief, jetzt ſei es an ihnen, durch ſofortige Berufung der Sieben den alten Ruhm deutſcher akademiſcher Gaſtfreiheit von Neuem zu bewähren und dem be - leidigten Gewiſſen der Nation Genugthuung zu geben. Du Thil freilich blieb für ſolche Mahnungen taub und ſchrieb in ſeine Aufzeichnungen: mir träumte der Teufel , als Gervinus ſich um eine Stelle an dem heimiſchen Darmſtädter Archiv bewarb. Als entſchiedene Proteſtanten konn -665Federkrieg der Sieben.ten die Sieben auch von Baiern und Baden wenig erwarten ſeit dort die clericale Luft wehte. Der gütige König Friedrich Auguſt von Sachſen dagegen und ſeine Miniſter wünſchten lebhaft, die zur Zeit etwas erſtarrte Landesuniverſität durch eine großartige Verſtärkung der Lehrkräfte zu heben wenn ſie ſich nur nicht vor der Grobheit des Welfen, vor dem Un - willen der Hofburg gar ſo ſehr gefürchtet hätten. Wie viele diplomatiſche Widerwärtigkeiten hatte Miniſter Lindenau noch vor drei Jahren ertragen müſſen, als ihm die Zeitungen eine halb erfundene radicale Aeußerung in den Mund gelegt hatten. *)Schreiben des k. ſächſ. Min. d. a. A. an den Geſandten v. Uechtritz in Wien, 3. Nov. 1834 u. ſ. w.Solche Erfahrungen genügten, um den ab - hängigen kleinen Hof behutſam zu ſtimmen. Man ſagte den Sieben in Dresden freundliche, unzweifelhaft ehrlich gemeinte Worte, allein man wagte nichts, und zornig ſchrieb Dahlmann in der Vorrede zu Albrecht’s Vertheidigungsſchrift: So lange es bei uns nicht in politiſchen Dingen, wie ſeit dem Religionsfrieden Gottlob in den kirchlichen, ein lebendiges Nebeneinander der Glaubensbekenntniſſe giebt, [ſo lange die das beſte Ge - wiſſen haben könnten ſich gebährden als ob ſie das ſchlechteſte hätten, ſo lange der feigherzigſte Vorwand genügt um nur Alles abzuweiſen was an dem trägen Polſter der Ruhe rütteln könnte,] ebenſo lange giebt es keinen Boden in Deutſchland, auf dem Einer aufrecht ſtehend die reifen Früchte politiſcher Bildung pflücken könnte. Die eingeklammerten Worte ſtrich ihm der Leipziger Cenſor, Profeſſor Bülau, ein geiſtloſer Vielſchreiber, der den Sieben nicht an die Schultern heranreichte und ihnen nun wie Schul - buben das Concept corrigirte. Zu ſolchem Aberwitz führte das Karlsbader Preßgeſetz.

Nach langen Erwägungen erhielt Albrecht in der Stille die Erlaub - niß, an der Leipziger Univerſität Vorleſungen zu halten; nachher empfing er auch Gehalt, als geheimer Profeſſor, wie die Collegen ſpotteten, und erſt nach längerer Zeit, als die Luft wieder rein war, wurde er förmlich angeſtellt. Dahlmann freilich ſchien den Kurſachſen zu gefährlich; der politiſche Führer der Sieben lebte fortan mehrere Jahre lang ohne Amt in Jena und leitete von dort aus unverdroſſen den Federkrieg wider die hannöverſchen Gewalthaber. Unter allen deutſchen Fürſten wagte allein König Wilhelm von Württemberg dem Welfen offen entgegenzutreten. Er berief Ewald nach Tübingen, der als der einzige geborene Hannoveraner unter den Sieben dem welfiſchen Hofe beſonders verhaßt war. Natürlich verbot Ernſt Auguſt ſeinen Landeskindern ſofort den Beſuch der ſchwäbiſchen Hochſchule. Als die beiden Könige nachher in Berlin zuſammentrafen, fragte der Welfe grob: Warum haben Sie einen Profeſſor angeſtellt, den ich fortgejagt habe? Darauf der Württemberger: Ebendeswegen! **)Wangenheim an Hartmann, 13. April 1839.

Der welfiſche Staatsſtreich rüttelte die halb entſchlummerte öffentliche666IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Meinung wach und zwang die Deutſchen ihre politiſche Leidenſchaft wieder dem Vaterlande zuzuwenden. Seit dies Schandmal auf Deutſchlands eigener Stirn brannte, begann die Preſſe die Fragen des Bundesrechts wieder ernſtlich zu erörtern, die früher beliebten weltbürgerlichen Betrach - tungen über die Pariſer Kammern und die orientaliſchen Wirren erſchienen jetzt ſchal. Leider wurde die dringend nöthige Klärung unſeres verwor - renen Parteilebens durch dieſen wohlberechtigten ſittlichen Unwillen mehr gehemmt als gefördert. Die wilden Brandſchriften der Flüchtlinge aus Frankreich und der Schweiz mußten jedem Beſonnenen zeigen, daß die deutſche Oppoſition längſt zwei grundverſchiedene Parteien umſchloß, die auf die Dauer nicht zuſammenwirken konnten. Jetzt aber warf eine rein menſchliche Entrüſtung Alles, was nicht ſchlechthin ſervil war, Radicale, Liberale, gemäßigte Conſervative wieder in einen Haufen zuſammen. Seit es auch im Norden conſtitutionelle Märtyrer gab, verbreitete ſich die doctrinäre Ueberſchätzung der Verfaſſungsformen weithin über Deutſchland. Dahlmann’s politiſcher Takt empfand dies ſogleich. Auf den Feſtgelagen, mit denen man ihn ehrte, betrachtete er ohne Freude die radicalen Feuille - tonsſchreiber, mit denen wir doch nur ſehr zufällig in dieſelbe Geſellſchaft gerathen ſind. Den Freunden geſtand er: ich hoffe bald die Aehnlich - keit mit ſo Vielen, denen ich mich in keiner Weiſe verwandt fühle, abzu - ſtreifen. Beides gemeinſam, das Königthum und die bürgerliche Freiheit macht den Staat aus, ſo ſagte er in ſeinem Dankſchreiben an Johann Jacoby; der Staat wäre eine ebenſo flache und frivole Sache als er eine tiefſinnige und heilige iſt, wenn er nicht gerade dieſe Verbindung von Dingen zu leiſten hätte, die allein dem oberflächlichen Beobachter unver - einbar ſcheinen. Herrliche Worte, nur waren ſie leider an eine falſche Adreſſe gerichtet, an einen Radicalen, der ſie entweder nicht verſtand oder als klägliche Halbheit verdammen mußte. Doch wie konnten dieſe Gegen - ſätze ſich ſcheiden, ſo lange ein gemeinſamer edler Zorn ſie zuſammen - hielt? Dahin war es mit uns gekommen, daß die härteſten und wirk - ſamſten Anklagen gegen die beſtehenden Gewalten jetzt von treuen Mon - archiſten ausgingen.

Die Vertreibung der Sieben verwirrte und verwiſchte nicht blos die Parteigegenſätze, ſie begründete auch die politiſche Macht des deutſchen Profeſſorenthums, die erſt durch den Krieg von 1866 gebrochen werden ſollte. Als der Streit begann, ſagte eine engliſche Zeitung: In Deutſch - land ſind die Univerſitäten auch politiſche Mittelpunkte, welche dem übrigen Lande Impulſe geben; die Profeſſoren gelten als Magiſtrate, beauftragt die Rechte des Volks ſo gut wie die Grundſätze der Vernunft zu verthei - digen. Das Urtheil war verfrüht, denn bisher hatten nur die Hochſchulen von Jena, Kiel, Freiburg für kurze Zeit eine politiſche Rolle geſpielt, doch es ſollte ſehr bald durch die Thatſachen gerechtfertigt werden. Aus dem Göttinger Gewaltſtreiche entwickelte ſich ein großer Kampf der deutſchen667Erhebung des Profeſſorenthums.Gelehrtenwelt wider einen Despoten, der ſeine Geringſchätzung der Wiſſen - ſchaften höhniſch zur Schau trug; keine deutſche Univerſität, die den Sieben nicht irgendwie ein Zeichen der Zuſtimmung gegeben hätte. In dieſem Kampfe war alles Recht unzweifelhaft auf Seiten der Gelehrten; an ihrer Spitze ſtanden tapfere, makelloſe, ſchuldlos verfolgte Männer, während der Welfe ſich nur auf gemeine Knechte und auf die Aengſtlichkeit der deut - ſchen Höfe ſtützen konnte.

Wenn je im politiſchen Streite ein moraliſcher Sieg erfochten wurde, ſo war es hier. Ein ſolcher Erfolg mußte das ohnehin ſtarke Selbſt - gefühl der Gelehrten mächtig heben; von den Sieben blieben Fünf als Menſchen ſchlicht, edel, liebenswerth, in Gervinus aber und in Ewald verkörperte ſich der unausſtehliche Profeſſorendünkel. Die einmal erregte politiſche Leidenſchaft hielt an; die Gelehrten begannen durch Schriften und Reden unmittelbar an der politiſchen Erziehung der Deutſchen zu arbeiten, und da ſie gewohnt waren zur ganzen Nation zu reden, ſo drangen ihre Stimmen weiter als die Reden der Landtagsabgeordneten. Die Gelehrtenverſammlungen der nächſten Jahre wurden zu Vorparla - menten, in denen die Nation die großen Tagesfragen erörterte, und als nachher das wirkliche Parlament zuſammentrat, da drangen die Gelehrten in Schaaren ein, weil ſie faſt die einzigen Männer waren, welche ganz Deutſchland kannte. Es war eine tragiſche, durch keines Menſchen Willen abzuwendende Nothwendigkeit, daß dieſe idealiſtiſche Nation, indem ſie von den Höhen des literariſchen Schaffens langſam zur politiſchen Arbeit hin - abſtieg, auch noch die Durchgangsſtufe der Profeſſorenpolitik überſchreiten mußte. Durch dies Uebergewicht des Profeſſorenthums wurde der doctri - näre Zug, der die Politik der deutſchen Liberalen von jeher auszeichnete, ungebührlich verſtärkt, und es entſtand auch der falſche Schein, als ob der Liberalismus die Sache der Bildung verträte, während in Wahrheit die Helden der deutſchen Kunſt und Wiſſenſchaft, Goethe, Cornelius und Rauch, Niebuhr, Savigny und Ranke, großentheils dem conſervativen Lager angehörten.

Zu Thaten vermochte dieſe Gelehrtenpolitik ſich nicht zu erheben, denn in der Stille der wiſſenſchaftlichen Arbeit bilden ſich nicht leicht politiſche Charaktere; unter den Sieben ſelbſt war Dahlmann der einzige politiſche Kopf, auch er mehr ein Denker als ein Mann der That, während Gervinus ſtaatsmänniſches Talent nur in ſeiner eigenen Einbildung beruhte, und die übrigen alleſammt gar keinen politiſchen Ehrgeiz hegten. Aber an Ideen, an groß und tief gedachten Ideen war dies Menſchenalter des politiſiren - den Profeſſorenthums ſehr fruchtbar. Bei der Lampe deutſcher Gelehrten ſind die Pläne für die Einheit des Vaterlands zuerſt erdacht worden, welche nachher durch die ſchöpferiſchen Hände großer Praktiker ihre Geſtaltung empfangen ſollten. Die deutſche Wiſſenſchaft ſo ſtark und unverwüſt - lich war ihr Wachsthum erlitt durch die politiſche Leidenſchaft der668IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Gelehrten durchaus keinen Schaden. Unter der Mehrheit der Göttinger Profeſſoren befanden ſich einige, die nicht aus Furcht, ſondern grundſätzlich den Schritt der Sieben verwarfen, ſo Herbart, Hugo, Gauß. In einer nach - gelaſſenen Schrift Die Göttinger Kataſtrophe hat ſich Herbart über die Gründe ſeines Verhaltens freimüthig ausgeſprochen; er glaubte, der tiefe Ernſt, die geſammelte Stille des deutſchen akademiſchen Lebens würden verſchwinden, ſobald die Univerſitäten ſich in politiſche Kämpfe einließen. Dieſe im Munde des ſtrengen Philoſophen wohl begreifliche Befürchtung erwies ſich als irrig. Die Forſcher arbeiteten rüſtig weiter, und die Sieben ſelber gingen ihnen mit gutem Beiſpiele voran. Die hiſtoriſche Wiſſen - ſchaft gewann ſogar durch die politiſche Thätigkeit der Gelehrten. Ganz werthloſe hiſtoriſche Tendenzſchriften erſchienen während der nächſten Jahre ſelten, ſeltener ſicherlich als in dem Zeitalter des Rotteck-Welcker’ſchen Libe - ralismus; wohl aber viele tüchtige Werke, welche den Deutſchen ihre Ver - gangenheit wiſſenſchaftlich erklärten. Die Blüthe der politiſchen Geſchicht - ſchreibung in den vierziger und fünfziger Jahren, die Vertiefung unſerer hiſtoriſchen Selbſterkenntniß ward nur darum möglich, weil die Hiſtoriker der Welt der politiſchen Thaten ſo nahe, oft allzu nahe, getreten waren.

Dem Verfaſſungskampfe der Hannoveraner konnte die That der Sieben nur dann Vorſchub leiſten, wenn ſie Nachahmung fand, wenn die Mehr - zahl der Beamten den verfaſſungswidrigen Dienſteid verweigerte, wenn die Wahlen für den unrechtmäßigen Landtag nicht zu Stande kamen und nach Ablauf der geſetzlichen Friſt auch die Steuerzahlung unterblieb. Aber für ſolchen Einmuth paſſiven Widerſtandes fehlten alle Vorbedingungen. Es war das Verhängniß dieſes welfiſchen Staatsſtreichs, daß er faſt alle Gebrechen der beſtehenden Ordnung an den Tag brachte, den Aberwitz der Cenſur ſo gut wie die ſittliche Schwäche des alten Beamtenſtaats. Die Mißſtimmung reichte bis in die Kreiſe des Hofes hinein. Ernſt Auguſt’s Hofmarſchall Malortie geſtand ſeinem heißgeliebten Herrn traurig, auf dieſem Wege könne er ihm nicht folgen, und der Welfe nahm das hin, weil er den treuen Mann nicht entbehren mochte. Das Oberappellations - gericht in Celle leiſtete den neuen Dienſteid und behielt ſich die Verpflich - tung auf das Staatsgrundgeſetz ausdrücklich vor. Aehnlich handelten mehrere Mittelgerichte und viele einzelne Beamte. Schele war aber jetzt durch die Göttinger Erfahrungen gewitzigt, er legte die Vorbehalte ſtill - ſchweigend zu den Akten, und die Proteſtirenden gaben ſich alleſammt zu - frieden, wenn ſie nur insgeheim ihr Gewiſſen gewahrt hatten. Entſetzlich war die Selbſtentwürdigung der Cabinetsminiſter; ſie blieben in ihrer Stellung, nur daß ſie zu Departementsminiſtern degradirt und ihr alter Gegner Schele ihnen als alleiniger Cabinetsminiſter vorgeſetzt wurde.

669Haltung des hannöverſchen Volkes.

Die Maſſe der Beamten erwies ſich ebenſo unterwürfig; ſie war bereit, wie Dahlmann ſagte, Alles zu laſſen was ihr Herz hoch hielt um nur mit den Ihren das bittere Brot der Kränkung eſſen zu dürfen. Ich unter - ſchreibe Alles, ſagte Einer verzweifelnd, Hunde ſind wir ja doch. Auch an überzeugten Abſolutiſten fehlte es nicht; der Göttinger Pandektiſt Mühlen - bruch brachte auf die ſieben Narren ein Pereat aus, das die erbitterten Studenten an ſeinen Fenſterſcheiben beſtraften. Manche der älteren Be - amten lebten der Meinung, daß der Gehorſam gegen die Krone die ältere und höhere Pflicht ſei. Hoppenſtedt, der hochverdiente Förderer der Georgia Auguſta, legte ſich die Gewiſſensfrage alſo zurecht: der König hat einſt in meinen alten Dienſteid die Verpflichtung auf das Staatsgrundgeſetz ein - gefügt, folglich kann er ſie jetzt wieder ſtreichen, und ich bleibe nach wie vor ſein treuer Diener. Selbſt Roſe, der Haupturheber des Staats - grundgeſetzes ließ ſich von ſolchen Erwägungen beſtimmen. Dieſe Demü - thigung ſchützte den verhaßten Mann, der den Liberalismus in das Miniſterium eingeführt hatte , nicht vor der Rache des Welfen. Nach wenigen Monaten erhielt er den Abſchied. Die Entlaſſung erfolgte in ehrenvoller Form, weil Roſe ſich muthig erbot, alle ſeine Schritte vor dem Könige perſönlich zu rechtfertigen; aber der Eintritt in den Landtag ward ihm ausdrücklich unterſagt, und als er nach einigen Jahren aus Braun - ſchweig heimkehren wollte, da erfuhr er zu ſeinem Erſtaunen, daß der Welfe ihn vorläufig aus dem Königreiche verbannt hatte.

Im Volke zeigte ſich die Widerſtandskraft noch ſchwächer. Wie oft hatten einſt Deutſchlands alte Landſtände, in Preußen und Brandenburg, in Magdeburg, Mecklenburg und Württemberg, mit ausdauerndem Muthe ihre habenden Freiheiten vertheidigt; eben jetzt verſuchten die Stände Oſt - frieslands, die einen hannöverſchen Staat noch kaum anerkannten, den Wirrwarr im Welfenlande auszunutzen und die alten preußiſchen Sonder - rechte ihrer Landſchaft wieder zu erlangen. Auf ſolche Treue konnte eine moderne Repräſentativverfaſſung, welche keinem Stande Vorrechte gewährte, kaum rechnen, am wenigſten hier wo ſie den Maſſen noch kaum bekannt war. Der Adel, der in den altſtändiſchen Zeiten immer durch zähe Un - erſchrockenheit geglänzt hatte, hielt jetzt zu dem Landesherrn, er hoffte von der Krone die Wiederherſtellung ſeiner alten Macht. Die Wähler der zweiten Kammer ſtanden vor der troſtloſen Frage, wie aus der Zerſtörung alles Rechts ein neuer Rechtszuſtand hervorgehen könne? Sollte man wählen und alſo den Staatsſtreich ſcheinbar billigen, oder das Feld ohne Kampf den Liebedienern der Gewalt überlaſſen? Parteien beſtanden noch nicht, eine Verabredung hatte man arglos unterlaſſen; begreiflich alſo, daß die Entſchlüſſe der Wählerſchaften ſehr verſchieden ausfielen. Von den 78 berechtigten Wahlcorporationen wählten ſchließlich doch 61, die meiſten weil ſie Schlimmeres zu verhindern hofften, andere weil ſie auf ihr Wahl - recht nicht verzichten wollten oder den Verluſt der Garniſon, des Gerichts,670IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.der Landdroſtei befürchteten, einige auch unter ausdrücklicher Verwahrung des Verfaſſungsrechts.

Als der Landtag im Februar 1838 eröffnet wurde, erſchienen in der zweiten Kammer 48 Abgeordnete. Die Kammer war alſo beſchlußfähig, aber ſie bemerkte ſofort, daß der König nicht einmal auf dem Rechtsboden vom Jahre 1819, den er angeblich wiederherſtellen wollte, ehrlich beſtand: den Landtag von 1819 hatte er einberufen, doch nicht das von der alten Verfaſſung unzertrennliche Collegium der Schatzräthe, denn Stüve war Schatzrath, und dieſer gefährliche Mann mußte um jeden Preis dem Land - tage fern gehalten werden. Auch der den Ständen vorgelegte Verfaſſungs - entwurf wich von der alten Verfaſſung mehrfach ab. Bodenloſe Willkür überall, und dazu die nichtswürdigen, jeden redlichen Mann anwidernden Rechtsverdrehungen des Vertreters der Regierung Leiſt. Mit Entſetzen bemerkte Canitz, daß dieſer Landesvater ſeinem Volke eine Schlinge drehte; wenn die Abgeordneten ſich auf das Staatsgrundgeſetz beriefen, dann hieß es kurzab: Ihr habt durch Euer Erſcheinen den Rechtsboden vom Jahre 1819 ſchon anerkannt. *)Canitz’s Bericht, 2. Aug. 1838.Der Landtag wußte ſich nicht zu helfen, die Vermittlungsverſuche des Syndicus Lang vermehrten nur die allgemeine Rathloſigkeit; die führerloſe Oppoſition verdiente keineswegs die reichen Lobſprüche, welche die liberalen Zeitungen ihr ſpendeten. Das Volk aber erfuhr nichts von den geheimen Sitzungen. Eine Zeit lang war die Kammer beſchlußunfähig, weil viele Mitglieder die Hoff - nung aufgaben. Endlich trat ſie in die Verfaſſungsberathung ein, ſie verlangte jedoch zugleich, daß die neue Verfaſſung noch dem zu Recht beſtehenden Landtage des Staatsgrundgeſetzes vorgelegt werden müſſe. Dieſen Vorbehalt wollte Leiſt natürlich nicht gelten laſſen, und der unter - thänige Präſident Jacobi mahnte: man muß den Muth haben, ſich über den Rechtspunkt hinwegzuſetzen. Die Beſchwichtigungen fruchteten nichts. Die Kammer erklärte ausdrücklich, daß keine Handlung der jetzt verſam - melten Deputirten rechtlich Giltiges zu bewirken im Stande ſei, und wurde darauf ſofort vertagt. Nun ſchien nichts mehr übrig zu bleiben als eine Vorſtellung an den Bundestag, aber auch hierüber einigten ſich (28. Juni) nur 28 Mitglieder, eine Minderheit, die nicht im Namen der Kammer zu reden befugt war.

Währenddem ward es im Lande lebendiger. Die Städte Osnabrück, Hannover, Stade, Lüneburg, Hildesheim, Harburg, Celle, Münden ſprachen ſich in Verwahrungen und Adreſſen für die Rechtsgiltigkeit des Staats - grundgeſetzes aus. An der Spitze dieſer volksthümlichen Bewegung ſtand Stüve, jetzt Bürgermeiſter von Osnabrück, und wie heillos mußte dies Land zerrüttet ſein, wenn ein ſolcher Mann ſich zu demagogiſcher Thätig - keit gezwungen ſah. Er hatte mitſammt ſeinem Magiſtrate, nach vergeb -671Stüve und die Oppoſition.lichen Gegenvorſtellungen, den neuen Huldigungsrevers eingereicht, doch zugleich vor Notar und Zeugen gegen die Aufhebung des Staatsgrund - geſetzes proteſtirt, und da die Regierung immer neue Vorwände erſann um ihn vom Landtage auszuſchließen, ſo bewog er ſeine Stadt, ſich klagend an den Bund zu wenden. Andere Städte und Wahlcorporationen folgten dem Beiſpiele Osnabrücks. In ſeiner von Dahlmann herausgegebenen Vertheidigung des Staatsgrundgeſetzes wies Stüve überzeugend nach, daß dieſe verleumdete Verfaſſung in Wahrheit die Rechte der Regierung befeſtigt, die Macht der Krone verſtärkt habe. In dem Hannöverſchen Portfolio ſammelte er, unterſtützt von dem Rechtsanwalt Detmold, alle die Aktenſtücke, welche die Nation über die Rechtsfrage aufklären konnten. Auch das Leipziger Deutſche Staatsarchiv wurde von ihm und ſeinen Freunden mit Beiträgen verſorgt, und der neue Deutſche Curier in Stuttgart widmete faſt die Hälfte ſeiner Spalten der hannöverſchen Sache. Dieſe liberale Wochenſchrift erfreute ſich, da ſie über Schwaben wenig ſagte, der beſonderen Nachſicht der württembergiſchen Cenſur; daß ihr ge - wandter Herausgeber A. Weil wahrſcheinlich auch aus den geheimen Fonds der franzöſiſchen Regierung unterſtützt wurde, blieb den Hannoveranern unbekannt.

Da die Zeit der verfaſſungsmäßigen Steuerverwilligung zu Neu - jahr 1839 ablief, ſo richtete Stüve an mehrere juriſtiſche Facultäten die Anfrage, ob der Osnabrücker Magiſtrat dann noch berechtigt ſei die un - bewilligten Staatsſteuern zu erheben. Die Berliner Facultät verweigerte die Antwort, weil den preußiſchen Spruchcollegien unterſagt war ſich mit politiſchen Fragen zu befaſſen. Aus Jena aber, aus Heidelberg und Tübingen liefen umfaſſende Rechtsgutachten ein, welche ſich übereinſtimmend dahin ausſprachen, daß die Verfaſſung von 1833 noch zu Recht beſtehe. Das von dem jungen Germaniſten Reyſcher verfaßte Tübinger Gutachten erörterte ſehr ausführlich die Frage der Steuerverweigerung und ſagte manches treffendes Wort; im Grunde blieb es doch ein unmögliches Unter - nehmen, mit doktrinären Rechtsgründen nachzuweiſen was Rechtens ſei wenn das Recht aufhörte. Alſo ſtanden die verhaßten Profeſſoren abermals in Waffen wider die Welfen, und ganz Deutſchland ſtimmte ihrer Beweis - führung zu. Selbſt mit ſeiner Hauptſtadt gerieth Ernſt Auguſt in Händel. Sie verweigerte die Neuwahl, als ihr Abgeordneter aus dem Landtage ausgeſchieden war, und ſendete einen Proteſt an den Bundestag. Darauf ließ der König den Bürgermeiſter Rumann abſetzen und eine Unterſuchung gegen den Magiſtrat einleiten, der an Stüve einen ſchlagfertigen Ver - theidiger fand. Ein Amtmann wurde, dem Geſetze zuwider, an die Spitze der Stadtverwaltung geſtellt. Die Bürger aber drohten den Eindringling zum Fenſter hinauszuwerfen und zogen an einem ſchwülen Julitage 1839 in hellen Haufen vor das Schloß; ſobald der alte Welfe ſah, daß mit den verzweifelten Leuten nicht zu ſcherzen ſei, gab er weislich nach, betraute672IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.den Syndicus mit der Leitung der Gemeindeverwaltung und betheuerte die Paragraphen der Stadtverfaſſung nicht gekannt zu haben. Geſinnungs - genoſſen beſaß er noch immer nirgends. Sogar ſeine alten Freunde, die engliſchen Hochtorys fanden dieſe ſo muthwillig vom Zaune gebrochene Gewaltthat empörend. Außer Zimmermann, deſſen hochmüthige Sprache mehr erbitterte als überzeugte, wagte nur noch ein Schriftſteller für den Welfenhof eine Lanze zu brechen: der fanatiſche, halbtolle Legitimiſt Graf Corberon, der in Dahlmann und Stüve Sendboten der internationalen Propaganda zu erkennen glaubte. Von allen größeren deutſchen Zeitungen hielt allein das Berliner Wochenblatt bei dem Welfen aus; die Zeitſchrift wußte ſchon nicht mehr, wie dringend ſie noch kürzlich vor allen geſetz - widrigen Verfaſſungsänderungen gewarnt hatte.

Trotz Alledem ſchritt Ernſt Auguſt vorwärts. Bei der Eröffnung des Staatsrathes, den er ſich nach preußiſchem Muſter gebildet hatte, verkündete ſein Stiefſohn Prinz Bernhard zu Solms: unter der glorreichen Regierung König Ernſt Auguſt’s, in der patriarchaliſchen chriſtlich-germaniſchen Mon - archie ſollten gleich beſchirmt die Rechte des Königs von Gottes Gnaden, des Edlen, des Bürgers und des Bauern, in organiſcher Gliederung neben einander jedes in eigener Bahn, Wurzel faſſen, blühen und gedeihen . Und dieſe Zuverſicht war nicht grundlos. Eine leidenſchaftliche Volks - überzeugung, die den Welfen erſchrecken konnte, offenbarte ſich nirgends. Sobald die Rechtsgutachten der drei Facultäten erſchienen, verweigerten etwa hundert Osnabrücker Bürger die Steuerzahlung und ließen ſich dann gemüthlich auspfänden. Dabei blieb Alles ruhig. Bei ſeinen Reiſen durch das Land fand der König überall jubelnden Empfang, und die Depu - tationen der Provinzialſtände, die er ſich beſtellte, ſchwelgten in Verſiche - rungen der Unterthänigkeit. Als er die Garniſon von Hildesheim ver - minderte und nachher auf einer Reiſe draußen vor dem Thore, ohne die Stadt zu berühren, umſpannen ließ, da rotteten ſich die kleinen Leute vor dem Hauſe des liberalen Bürgermeiſters Lüntzel zuſammen und ſendeten dem erzürnten Monarchen eine Ergebenheits-Adreſſe. Die Hildesheimer Zeitung feierte Ernſt Auguſt als den einzig wahren Bürgerkönig , und ſelbſt Canitz konnte ſich der Bemerkung nicht enthalten: dies ſei ein wohl nicht ganz glücklich gerichteter Lobſpruch . *)Canitz’s Bericht, 16. Dec. 1838.

Von ſolchen Philiſtern ſtand wenig zu fürchten, und nun zeigte ſich doch, daß der alte Welfe nicht blos ein Tyrann war. In Allem was die Verfaſſungsfrage nicht berührte verfuhr er einſichtig und gewiſſenhaft. An - ſpruchslos im täglichen Leben, führte er einen glänzenden, wohlgeordneten Hofhalt, der durch Malortie’s Buch der Hofmarſchall einen europäiſchen Ruf erlangte; trotz allem politiſchen Groll konnten die Bürger Hannovers nicht leugnen, daß ihre gute Stadt durch den anweſenden König viel673Die Osnabrücker vor dem Bundestage.gewann und jetzt erſt anfing mit anderen deutſchen Reſidenzen zu wetteifern. Die Etikette ward freilich unerbittlich ſtreng gewahrt, und Ernſt Auguſt ruhte nicht, bis der bairiſche Geſandte Hormayr, der durch ſeine böſe Zunge auch hier wieder Unfrieden ſtiftete, in die Hanſeſtädte verſetzt wurde. Die Truppen hatten bisher engliſche Fahnen geführt, ganz wie einſt die Kur - ſachſen polniſche Feldzeichen trugen. Jetzt wurden die neuen weißgelben Landesfarben eingeführt, eine ganz unhiſtoriſche, allen Geſetzen der Heraldik widerſprechende Farbenzuſammenſtellung; aus den Aktenbündeln verſchwand der rothe Faden, der red tape der Briten. Die Infanterie erhielt, ſtatt der engliſchen rothen, blaue preußiſche Röcke, und die Artillerie verlor ihren Ehrenplatz auf dem rechten Flügel. Groß war der Jammer über dieſe Neuerungen, größer faſt als der Schmerz um das Staatsgrundgeſetz; ſelbſt der kluge alte General Sir Julius Hartmann vermochte ſich von den theueren alten Erinnerungszeichen nur ſchwer zu trennen, und König Ludwig von Baiern ſang in einem herzbrechenden Klageliede:

Denn der Hannoveraner iſt zu denken
Getrennt von ſeinem rothen Rocke nicht.

Sie ahnten nicht, daß der alte Welfe unbewußt im Dienſte des nationalen Gedankens arbeitete. Ernſt Auguſt verdrängte die Ausländerei und zog einen hannöverſchen Particularismus groß, aus dem vielleicht dereinſt eine deutſche Geſinnung erwachſen konnte; darum war die Abſchaffung der rothen Röcke die rühmlichſte That ſeiner erſten Regierungsjahre.

Aus eigener Kraft konnte dies halb gleichgiltige halb rathloſe Volk nicht zu ſeinem Rechte gelangen. Stüve fühlte das lebhaft und ſetzte darum ſeine ganze Hoffnung auf den Deutſchen Bund; durch die Petition der Stadt Osnabrück erzwang er was Oeſterreich und Preußen ſo ängſtlich zu verhindern geſucht hatten. Den beiden Großmächten kam der vollendete Staatsſtreich ganz unerwartet. Das hatten ſie, nachdem Ernſt Auguſt in Karlsbad ſo verſöhnlich geſprochen, unmöglich vorausſehen können; auch der engliſche Geſandte Sir Fred. Lamb war dort in Böhmen von dem biderben Welfen völlig überliſtet worden und fühlte ſich jetzt ſeinem eigenen Hofe gegenüber ſchmählich bloßgeſtellt. *)Maltzan’s Berichte, 16. Nov. 1837 ff.Nachdem das Unglück geſchehen war, bemühte ſich Canitz redlich, den König vor weiteren Gewaltſamkeiten zu warnen und ihm eine raſche Verſtändigung mit dem Landtage zu em - pfehlen. Er ſah ganz richtig, daß die Mißſtimmung wuchs je länger die Ungewißheit währte, daß Leiſt als Regierungsbevollmächtigter weder Achtung noch Vertrauen erwecken konnte, daß der Landtag für die künftige Volks - vertretung wirkſame Rechte, namentlich das Recht der Geſetzgebung, fordern mußte, daß die Autokratie nirgends gefährlicher war als in dieſem Lande, das keinen regierungsfähigen Thronfolger beſaß. **)Canitz’s Berichte, 17. Nov., 19. Dec. 1837, 4. Apr., 12. Mai, 28. Juli 1838.Doch einen beſtimmtenTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 43674IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Rathſchlag durfte er nicht ertheilen, weil man in Berlin den Eigenſinn Ernſt Auguſt’s kannte. So ward er dem Welfen nur immer unangenehmer; dies, meinte der badiſche Geſandte, begegnet Jedem, der Sr. Majeſtät Vernunft redet. *)Frankenberg’s Bericht, 28. Aug. 1838.

Und wie unmöglich blieb es doch, von einem Fürſten, deſſen ganze Haltung man verdammen mußte, Mäßigung im offenbaren Unrecht zu verlangen. Auch für Ernſt Auguſt galten die ſchönen Worte, welche Dahlmann der Oppoſition zurief: Alle Mäßigung beruht auf der nicht vollen Anwendung einer Kraft, die man ohne Rechtsverletzung auch ganz gebrauchen dürfte. Sobald man die Kraft der Landesverfaſſungen ſchließlich in bloße Redensarten auflöſt, verliert die Rede von Mäßigung ihren Sinn. An den kleinen Höfen war die Beſtürzung allgemein. Sogar der holſteiniſche Geſandte Pechlin, der eifrigſte Reaktionär des Bundestags, beſchwor den Welfen, mit ſeinem Landtage ſchleunigſt abzuſchließen, ſonſt könne der Bund nicht länger ſchweigen. **)Canitz’s Bericht, 2. Aug. 1838.Von allen Fürſten Europas lobten nur zwei den Staatsſtreich: der Kurprinz von Heſſen, der ſeelen - vergnügt zu Canitz ſagte: jetzt will ich meine Verfaſſung auch ändern, aber von dem Preußen ſogleich zur Ruhe verwieſen wurde***)Canitz’s Bericht, 23. Juli 1838. und Kaiſer Nikolaus. Der Czar traf mit Ernſt Auguſt im Sommer 1838 auf den preußiſchen Manövern zuſammen und überhäufte ihn mit Dank - ſagungen. Wirklichen Einfluß gewann auch er nicht; wer hätte den alten Herrn in ſeinem unermeßlichen Welfendünkel ſtören können?

Nun war der Handel trotz allen Verzögerungen doch noch vor den Bundestag gelangt, und über die Rechtsfrage konnten ehrliche Männer kaum ſtreiten. Daß die Verfaſſung von 1833 in anerkannter Wirkſamkeit beſtanden hatte, ließ ſich nicht leugnen; folglich war der Bund nach Art. 56 der Schlußakte verpflichtet ſie zu ſchützen. Wie nachdrücklich hatte die preußiſche Regierung einſt gegen Karl von Braunſchweig den Satz ver - fochten, daß der Thronfolger an die rechtmäßigen Handlungen des Vor - gängers gebunden ſei. Durfte ſie ſich jetzt ſelber ins Geſicht ſchlagen? Staatsrechtlich betrachtet war Ernſt Auguſt weit ſchuldiger als Karl; er hatte den Staatsſtreich, welchen dieſer nur plante, wirklich vollführt, und auch die menſchliche Niedertracht des welterfahrenen alten Parlamentariers wog ſchwerer als die halbnärriſchen Bubenſtreiche ſeines Neffen. Dennoch ſchwankte König Friedrich Wilhelm. Er wollte ſeinen Schwager nicht eigentlich unterſtützen das erlaubte ſein Gewiſſen nicht aber um jeden Preis ſchonen, und Miniſter Werther fand, trotz ſeiner beſſeren Ein - ſicht, nicht den Muth gradeswegs zu widerſprechen.

Unzweifelhaft wirkten bei dem verhängnißvollen Entſchluſſe des Königs perſönliche Rückſichten mit. Er liebte den Welfen wenig, doch ſeine675Gründe für Preußens Verhalten.theure Schwägerin Friederike dem Verderben preiszugeben war ihm ein furchtbarer Gedanke; Schele’s Schwager, General Müffling und die an - deren Genoſſen der mecklenburgiſchen Partei ſetzten auch alle Hebel ein. Den Ausſchlag gab indeß eine ernſte politiſche Beſorgniß. Wenn der Bundestag dem hannöverſchen Hofe die Wiederherſtellung des Staats - grundgeſetzes anbefahl, dann war völlig ſicher, daß der alte Welfe ſich nicht fügte, ſondern entweder der Bundes-Execution mit den Waffen entgegen - trat den Plan hatte er bereits entworfen oder die Krone nieder - legte und nach England heimkehrte. Was ward dann aus Hannover? Wer ſollte für den unmündigen blinden Thronfolger die Regentſchaft führen? Ganz gewiß keiner der beiden Oheime; denn der Herzog von Cambridge fürchtete ſich vor dem gewaltthätigen Bruder nicht weniger als der Herzog von Suſſex, obgleich beide alte Herren den Staatsſtreich miß - billigten. Ebenſo dachte der Herzog von Braunſchweig, der ja ſeines eigenen Thrones nicht ganz ſicher war; er zeigte ſich in dieſen Händeln ganz als Welfe und wollte den hannöverſchen Oheim unter keinen Umſtänden preis - geben. *)Canitz’s Bericht, 11. Febr. 1838.Demnach drohten dem hannöverſchen Lande unzweifelhaft ernſte Wirren, falls das gute Recht ſiegte. Und durfte man die Grundlagen des monarchiſchen Bundesrechts untergraben, einen ſouveränen deutſchen König zur Abdankung zwingen? Durfte man deshalb das ausdrücklich ver - abredete Einvernehmen mit dem Wiener Hofe preisgeben, der die Thaten des Welfen auch nicht billigte, aber weit milder beurtheilte als der preu - ßiſche? Ein Aufruhr, der wie einſt der braunſchweigiſche, mit jedem Mittel gedämpft werden mußte, war in Hannover nicht zu beſorgen.

Solche Erwägungen beſtimmten den Entſchluß Friedrich Wilhelm’s. Wie nichtig erſchienen ſie neben der unabweisbaren Forderung der Gerech - tigkeit! Wenn der Bund in dieſer ſonnenklaren Sache für die nackte Ge - walt Partei nahm, dann mußte die Nation an ihm verzweifeln; und wenn der preußiſche Hof hier das offenbare Unrecht unterſtützte, dann verlor er mit einem Schlage das wohlverdiente Anſehen, das er ſich durch die kluge Politik dieſer letzten zehn Jahre erworben hatte. Was er einſt für die Braunſchweiger gethan, lag in den Archiven vergraben; dieſe han - növerſchen Händel aber konnten nicht verborgen bleiben. Durfte er den noch immer nicht ausgeſtorbenen Verehrern der deutſchen Trias erlauben, daß ſie den alten Sirenenſang wieder anſtimmten und der Nation ver - ſicherten, nur bei den Mittelſtaaten fänden Recht und Freiheit der Deut - ſchen ehrlichen Schutz? Ueber die Geſinnung der conſtitutionellen Höfe war man in Berlin wohl unterrichtet. Graf Dönhoff berichtete ehrlich, die Süddeutſchen ſagten allgemein: in Hannover kämpft der König von heute mit dem von geſtern und das monarchiſche Princip mit ſich ſelber. **)Dönhoff’s Bericht, 4. Februar 1839.43*676IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Ueberall wo Kammern tagten, in Caſſel, Dresden, Darmſtadt, Stuttgart, Braunſchweig, bekundeten ſie ihre Entrüſtung über den Staatsſtreich; beſon - deres Aufſehen erregte eine Rede des Darmſtädter Abgeordneten Glaubrech, der treffend ausführte: wenn Ernſt Auguſt die Landesverfaſſung aufheben dürfe, dann könne er ſich auch vom Deutſchen Bunde ungeſtraft losſagen. Zwei Jahre hindurch ſpielten dieſe hannöverſchen Verhandlungen in den deutſchen Landtagen eine ähnliche Rolle wie die Polendebatten in den Pariſer Kammern. Unmittelbar bewirkten ſie nichts; die Reden des ſächſiſchen Landtags gab ein Patriot heraus mit dem ſtolzen Vorwort: Sachſen iſt nicht zurückgeblieben, aus den Sälen der Volksvertreter tönen weithin durch Deutſchlands Gauen die Rieſenklänge innigen, tiefen Mitgefühls.

Immerhin ertönten die Rieſenklänge ſo ſtark, daß die conſtitutionellen Fürſten kaum noch eine Wahl hatten. Mit Ausnahme des heſſiſchen Kur - prinzen und des Braunſchweiger Welfen gelangten ſie alle zu der Einſicht, daß dieſer Skandal nicht zu dulden ſei. König Ludwig ſchwankte keinen Augenblick. Wie ſtark ſich auch ſeine politiſchen Anſichten geändert hatten, über die Unverbrüchlichkeit der Staatsgrundgeſetze dachte er noch ganz ſo wie einſt als Kronprinz. Gerade weil es ihm ſelber jetzt hart ankam ſeine wenig geliebte Landesverfaſſung zu halten, verlangte er auch von ſeinen fürſtlichen Genoſſen die gleiche Selbſtüberwindung. Unter den württem - bergiſchen Staatsmännern waren die Anſichten getheilt. Graf Bismarck, der Geſandte in Karlsruhe, ſchrieb ſeinem alten Freunde Schele ſehr zärt - lich, und der Hannoveraner dankte ihm für ſeine Theilnahme an unſerer guten und heiligen Sache . *)Bismarck an Schele, 22. Jan.; Antwort 29. Jan. 1838.Indeß König Wilhelm’s geſunder Verſtand ließ ſich nicht irre machen; er ſagte zu du Thil halb ärgerlich: Jeder iſt ſich ſelbſt der Nächſte, ich kann nicht anders handeln, und nachdem er ſeinen Entſchluß gefaßt, trat er ſehr nachdrücklich auf. Auch der König von Sachſen wollte von dem Verfaſſungsbruche nichts hören; er reiſte plötzlich nach Dalmatien, um nur nicht bei den preußiſchen Manövern mit dem Welfen zuſammenzutreffen. Blittersdorff fühlte lebhaft, daß alle Hambacher Reden den Regierungen nicht ſo viel ſchadeten wie die hannö - verſche Sache, und ſprach dieſe Anſicht in einem Rundſchreiben an die badiſchen Geſandtſchaften unzweideutig aus. Zur Strafe bekam der badiſche Geſandte Frankenberg einen Tatzenſchlag des Welfen zu fühlen; von Berlin herübergekommen mußte er in Hannover mehrere Tage warten, bis man ihn zur Antrittsaudienz zuließ. **)Blittersdorff, Weiſungen an Frankenberg, Januar 1838; Frankenberg’s Bericht, 1. März 1838.Auch du Thil konnte ſich, wie gründlich er auch die liberalen Profeſſoren verabſcheute, doch nicht geradezu für den Staatsſtreich erklären. Alſo waren die Staaten, welche den Zoll - verein ſtützten, im Weſentlichen einig, und wenn Preußen die Bundes - politik der Hofburg und der Welfen ebenſo entſchloſſen zu bekämpfen677Abweiſung der Osnabrücker.wagte wie ihre Handelspolitik, ſo konnte ihm ein glänzender Erfolg nicht fehlen. Der König aber hatte ſchon anders entſchieden: der Welfe ſollte geſchont werden.

Sobald die Osnabrücker Beſchwerde dem Bundestage vorlag, verſuchte der hannöverſche Hof die Mitglieder der Reclamationscommiſſion für die ſofortige Abweiſung der Petition zu gewinnen und bat die Wiener Hof - burg, ihn bei ſeinen geheimen Bemühungen zu unterſtützen. Dieſe Zu - muthung fand ſelbſt Metternich allzu ſchamlos; er lehnte ſie rundweg ab, ſchon weil er für die Verhandlungen des engeren Raths freie Hand behalten wollte. *)Metternich’s Weiſungen an Kuefſtein in Hannover, 23. April, an Trauttmans - dorff, 5. Mai 1838.Nunmehr entfaltete Stralenheim in verſchiedenen Denk - ſchriften und Erklärungen eine ſophiſtiſche Kunſt, deren ſchlechterdings nur die Feder des alten Leiſt fähig war. Er ſollte nachweiſen, daß ſein König den Art. 56 der Schlußakte nicht verletzt habe, und drehte einfach den Spieß um, indem er zeigte, daß dieſer Artikel gerade durch den hannöver - ſchen Staatsſtreich verwirklicht worden ſei! Er bewies erſtens: zur Zeit der Wiener Schlußakte hätte in Hannover die alte Verfaſſung von 1819 beſtanden, und heute ſei ſie wieder ins Leben gerufen; er bewies zweitens: da ſich ein Landtag zuſammengefunden habe, ſo beſtehe die alte Verfaſſung in anerkannter Wirkſamkeit; er bewies drittens: durch das Staatsgrund - geſetz ſei die alte Verfaſſung auf unrechtmäßige Weiſe aufgehoben und folglich jetzt von Rechtswegen wiederhergeſtellt worden. Solche Advokaten - künſte waren ſelbſt im Bundestage, der doch ſchon manche juriſtiſche Kühn - heit erlebt hatte, ganz unerhört. Sie erbitterten allgemein, und die Gönner Hannovers verſuchten nur noch die Entſcheidung hinauszuſchieben, immer in der ſtillen Hoffnung, daß ſich Ernſt Auguſt mittlerweile mit ſeinem Landtage einigen und den Streit aus der Welt ſchaffen würde.

Als endlich im Juli 1838 zur Abſtimmung geſchritten wurde, brach der verhaltene Groll heftig aus; Vorwürfe und Verwahrungen, ſelbſt per - ſönliche Grobheiten wurden ausgetauſcht. Die Brutalität des Welfen ſchien anſteckend zu wirken. Bei ruhigerem Blute beſchloß man nachher dieſe anzüglichen Bemerkungen wechſelſeitig zurückzuziehen, ſo daß die Proto - kolle von den ſtürmiſchen Auftritten nichts verriethen. **)Schöler’s Bericht, 31. Aug. 1838.Am 6. Septbr. entſchieden neun Stimmen gegen ſieben, daß die Petition des Osnabrücker Magiſtrats wegen mangelnder Legitimation der Beſchwerdeführer zurück - zuweiſen ſei. Kurheſſen allein enthielt ſich der Abſtimmung, weil der Prinzregent mit ſeinem wackeren Miniſter Lepel nicht einig war; Hannover aber ſtimmte dreiſt in eigener Sache mit. Durch dieſen Beſchluß war noch nichts verdorben; Stüve ſelbſt erwartete als gewiegter Juriſt kaum eine andere Entſcheidung, denn mit guten Gründen ließ ſich bezweifeln, ob eine einzelne Stadt befugt ſei, vor dem Bundestage im Namen eines ganzen678IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Landes zu ſprechen. Der Welfe hatte ſein eigenes Volk unritterlich ent - waffnet, wie Canitz bitter ſagte, er hatte durch die Auflöſung des recht - mäßigen Landtags die einzige Körperſchaft vernichtet, welche unzweifelhaft berechtigt war, beim Bundestage die Wiederherſtellung des Staatsgrund - geſetzes zu verlangen. Doch unmöglich konnte der ernſte Streit mit ſolchen Formbedenken erledigt werden. Wenn das hannöverſche Volk nicht reden durfte, ſo war doch ſicherlich der Bund ſelbſt verpflichtet, den Art. 56 der Schlußakte aufrecht zu halten.

Demnach ſprach der Bundestag, indem er die Osnabrücker abwies, zugleich die Erwartung aus, daß Hannover noch eine weitere Erklärung über ſeine Verfaſſungsverhältniſſe abgeben werde, und Stralenheim ver - ſprach binnen vier bis ſechs Wochen dieſer Aufforderung zu genügen. Die entſcheidende Abſtimmung ſtand alſo noch bevor. Aber die Friſt verſtrich; Ernſt Auguſt hoffte noch immer die Dinge ſo lange hinzuhalten, bis er die Bundesverſammlung durch die vollendete Thatſache einer neuen han - növerſchen Verfaſſung zur Seite ſchieben könnte. Erſt am 29. November, in dem Augenblicke, da der Bundestag ſich auf mehrere Monate vertagte, zeigte Stralenheim an, die verſprochene Erklärung ſei jetzt den Bundes - regierungen zugegangen; er hatte ſie während der Sitzung den Bundes - geſandten ins Haus geſendet, und dieſe konnten, da ſie weder das Aktenſtück ſelber kannten noch von daheim eine Weiſung erhalten hatten, nicht einmal mehr gegen dieſe Verhöhnung des Bundestags ſich verwahren. Es war unmöglich eine ſchlechte Sache mit ſchlechteren Mitteln zu vertheidigen.

Die überraſchte Verſammlung trennte ſich ohne einen Beſchluß, der Unmuth vermochte ſich nur in leidenſchaftlichen Geſprächen zu äußern. General Schöler ſelbſt, den das welfiſche Treiben mehr und mehr an - widerte, wagte nur wehmüthig den dringenden Wunſch auszuſprechen, daß dieſer Vorgang bei dem großen Publikum nicht zur Vermehrung der ohnehin ſchon ſo weit gehenden Nichtachtung des Bundestags beitragen möge; er befürchtete ſehr ſchlimme Folgen für Deutſchland, wenn Ernſt Auguſt ſich nicht bald mit ſeinem Lande verſöhne. *)Schöler’s Berichte, 30. Nov., 5. Dec. 1838.Die hannöverſche Erklärung war nicht an den Bundestag gerichtet, ſondern an die einzelnen Regierungen, ſo daß ſie gar nicht in die Bundesprotokolle aufgenommen werden durfte und ſelbſt der immer bedächtige ſächſiſche Miniſter Zeſchau eine ſolche Un - gezogenheit ganz unerträglich fand. **)Jordan’s Bericht, 24. Jan. 1839.Sie beſtand aus zwei Denkſchriften, von denen die eine nochmals behauptete, die Verfaſſung von 1819 beſtehe zu Recht, weil der alte Landtag verſammelt ſei. Alſo mußte die gutmüthige Nachgiebigkeit ſeiner Unterthanen dem Welfen in der That als eine Schlinge dienen, wie Canitz vorausgeſagt. Die zweite Denkſchrift ſuchte zu be - weiſen, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, wegen ſeiner formalen Mängel679Neue Verhandlungen in Frankfurt.und wegen ſeines radicalen Inhalts. Darauf folgten ſcharfe Ausfälle gegen das ſüddeutſche Repräſentativſyſtem, das den Grundſätzen des deut - ſchen Ständeweſens widerſpreche und das monarchiſche Princip zerſtöre. Offenbar ſollte den conſtitutionellen Kronen die Luſt vergehen, ihrerſeits einen Angriff gegen den allein monarchiſchen Welfenhof zu wagen.

Die langen Ferien boten den Regierungen genügende Friſt um dieſe erſtaunlichen Aktenſtücke zu durchdenken. Am 28. Febr. 1839 eröffnete Schöler die Sitzungen wieder, aber Münch war noch immer nicht an - gekommen; Jedermann ſah, daß Oeſterreich wie Hannover die Entſchei - dung vertagen oder vereiteln wollte. *)Schöler’s Bericht, 1. März 1839.Die lange Pauſe, die nun eintrat, benutzte König Friedrich Wilhelm, um dem Welfen nochmals ins Gewiſſen zu reden: Erwägen Ew. Majeſtät, daß die Stellung Preußens als eines Bundesſtaats ihm Pflichten auferlegt und ihm Rückſichten vorſchreibt, von denen es ſich nicht losſagen kann ohne von den Grundſätzen abzuweichen, welche alle deutſchen Fürſten übereinſtimmend angenommen haben. **)K. Friedrich Wilhelm an K. Ernſt Auguſt, 20. April 1839.Das klang faſt, als ob Preußen nunmehr entſchloſſen ſei, die unzweideutigen Vorſchriften der Schlußakte zu vertheidigen. Auf den Welfen aber konnten ſo ſanfte, rückſichtsvolle Mahnungen keinen Eindruck machen. Er glaubte doch, und leider mit Recht, daß ſein gütiger Schwager ihn bei der letzten Entſcheidung nicht im Stich laſſen würde.

Als Münch endlich eingetroffen war, ſtellte Baiern, unterſtützt von allen ſüddeutſchen Höfen und von beiden Linien des ſächſiſchen Hauſes, am 26. April den Antrag, daß Hannover aufgefordert werden ſolle, gemäß dem Art. 56 der Schlußakte, den Rechtszuſtand aufrecht zu halten und etwaige Aenderungen nur auf verfaſſungsmäßigem Wege vorzu - nehmen. Der Antrag verlangte nur, was ſchon längſt hätte geſchehen ſollen, aber noch einmal wurde dem hannöverſchen Hofe eine Friſt be - willigt. ***)Schöler’s Bericht, 27. April 1839.Er überſchritt ſie, wie das ſeine Art war, und reichte erſt am 27. Juni eine Denkſchrift ein, die alle ſeine früheren Leiſtungen noch überbot. Ihr Verfaſſer war Geh. Rath Falcke, ein zierlicher, eleganter alter Junggeſell, berühmt durch die Schaar ſeiner ſchönen Hunde; der hatte im Jahre 1831 mit Ernſt Auguſt wegen des Staatsgrundgeſetzes verhandelt†)S. o. IV. 165. und nachher jahrelang neben Roſe die Regierung des Her - zogs von Cambridge vor dem Landtage vertreten. Dieſe Vergangenheit hinderte ihn keineswegs, ſich auch dem neuen Gewalthaber ſchmiegſam unterzuordnen, und jetzt wagte er, der die Verhandlungen ſelbſt geführt hatte, dem Bundestage zu betheuern, daß Ernſt Auguſt über das Staats - grundgeſetz nicht rechtzeitig unterrichtet worden ſei. Die Bundesregierungen waren freilich nicht in der Lage, die ganze Verlogenheit dieſer welfiſchen680IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Märchen zu erkennen, indeſſen fühlten ſie alle heraus, daß Hannover ihnen keinen reinen Wein einſchenkte; auch die wiederholten Schimpfreden wider den conſtitutionellen Schwindel der heutigen Zeit konnten die ſüddeut - ſchen Höfe nur beleidigen. Stüve widerlegte die Denkſchrift Falcke’s durch einen trefflichen Aufſatz im Hannöverſchen Portfolio.

Doch was galten hier Gründe? Die Mehrheit war entſchloſſen den Welfen nicht preiszugeben, weil er ſonſt in eine ganz unhaltbare Stellung gerathen müſſe. Als endlich abgeſtimmt wurde, da beſchloſſen am 5. Sept. zehn Stimmen gegen ſechs, dem bairiſchen Antrage keine Folge zu geben , ſie ſprachen aber zugleich die Erwartung aus, daß König Ernſt Auguſt mit ſeinen Landſtänden noch eine Vereinbarung treffen werde. Mit der Mehrheit ſtimmten außer den Großmächten und den beiden welfiſchen Höfen: Kurheſſen, Holſtein, Luxemburg, Mecklenburg und die zwei Curien der Allerkleinſten, die unter der Führung des getreuen Leonhardi gewöhn - lich mit Oeſterreich gingen. In der Minderheit ſtanden: Baiern, Sachſen, Württemberg, Baden, die Erneſtiner und die freien Städte. Nur Heſſen - Darmſtadt verſuchte mit einem Vermittlungsantrage mitten durch zu gehen. Die Verhandlungen waren für Hannover wenig ſchmeichelhaft; ſelbſt der öſterreichiſche Geſandte konnte nicht umhin einzugeſtehen, daß auch ſehr ehrenwerthe Geſinnungen ſich für das Staatsgrundgeſetz ausſprächen. Der Beſchluß ſelbſt lautete ſo unverfänglich wie möglich, er ſagte kein Wort der Billigung für die Thaten des Welfen, denn dazu wollte ſich Niemand verſtehen.

Wie man ſich auch drehen und wenden mochte, die furchtbare That - ſache blieb doch beſtehen, daß der Bundestag ſich pflichtwidrig geweigert hatte, das ganz unzweifelhafte Recht eines deutſchen Landes zu beſchützen. Von einer ſolchen Schmach konnte die längſt entwürdigte deutſche Central - gewalt ſich nicht mehr erholen; die Incompetenz-Erklärung des Bundes - tags , wie das Kauderwälſch der Zeitungen ſagte, blieb fortan der Lieb - lingsſtoff für alle Unzufriedenen. Und an dieſem ſchweren Unrecht war Preußens Regierung mitſchuldig. Sie hatte, ihre eigenen Grundſätze, ihre natürlichen Bundesgenoſſen verleugnend, zuſammengewirkt mit den alten Feinden ihrer Handelspolitik und alſo die köſtliche Gelegenheit verſäumt, das in Wahrheit verbündete Deutſchland , das einſt Motz in dem Zoll - vereine geahnt hatte, zu befeſtigen und vor der Nation zu rechtfertigen. Was wollte es nach dieſem verhängnißvollen Fehler bedeuten, daß Miniſter Werther ſich tief verſtimmt zeigte und ernſtlich daran dachte, ſeinen Ab - ſchied zu verlangen?

Der welfiſche Hof verſäumte nicht, den Bundesbeſchluß mit gewohnter Unredlichkeit auszubeuten. Er verkündete durch eine Bekanntmachung vom 10. Sept., daß der Bundestag die Verfaſſung von 1819 als zu Recht beſtehend anerkannt habe. Gegen dieſe offenbare Lüge verwahrten ſich wieder Baiern und die anderen Staaten der Minderheit in ſehr heftigen681Letzte Entſcheidung des Bundestags.Erklärungen. *)Schöler’s Bericht, 1. Oct. 1839.Darauf verlangte der Welfe auch noch, daß die Rechts - gutachten der drei Facultäten von Bundeswegen verboten würden; die Mehrheit ſtimmte zu, doch abermals erhob Baiern Einſpruch, und das Ende war, daß die verbotene Schrift faſt überall in Deutſchland frei um - laufen konnte. Gefliſſentlich gab ſich der hannöverſche Hof den Anſchein, als ob er mit dem preußiſchen in einer engen Freundſchaft lebte, welche in Wirklichkeit nicht beſtand. Nach dem Abſchluß eines Handelsvertrages zwiſchen den beiden Nachbarſtaaten verlangte Ernſt Auguſt für ſeinen Miniſter Schele ausdrücklich einen preußiſchen Orden, was als Gegen - leiſtung nicht abgeſchlagen werden konnte, und er erlebte die Genugthuung, daß die kleinmeiſterliche Preſſe dieſe Auszeichnung faſt ebenſo leidenſchaftlich beſprach wie vormals den berühmten rothen Adlerorden des Profeſſors Schmalz. Noch viele Monate hindurch währte der hoffnungsloſe Streit; immer wieder überreichte der unermüdliche Dr. Heſſenberg Beſchwerde - ſchriften hannöverſcher Städte, und es hielt ſchwer, die hadernden Parteien des Bundestags zuſammenzuhalten. **)Schöler’s Bericht, 5. März 1840.

In Wahrheit ging der hannöverſche Verfaſſungsſtreit ſchon zu Ende. Ohne die Hilfe des Bundes das hatte Stüve längſt vorausgeſehen konnte die ſchwache, weithin zerſtreute Oppoſitionspartei nicht mehr auf Erfolge zählen. Das Volk war der Händel müde. Die Regierung be - nutzte jedes Mittel, um wieder eine vollzählige Kammer zu Stande zu bringen; ſie ſcheute ſich nicht, ſogar die Wahlen der Minderheit der Cor - porationen für giltig zu erklären, ſo daß ſelbſt der Landtagsmarſchall Graf Münſter ſich nicht mehr fügen wollte. Chriſtiani und andere liberale Ab - geordnete wurden von Polizeiwegen aufgefordert, im Landtage zu erſcheinen, widrigenfalls die Behörde ſie aus der Stadt Hannover ausweiſen würde. Dergeſtalt erlebte Deutſchland das wunderbare Schauſpiel, daß man ſeine Volksvertreter auf dem Schub in die Kammer brachte. Durch ſolche Künſte ward der Landtag endlich beſchlußfähig, und im Sommer 1840 erklärte er ſich bereit, auf einen neuen Verfaſſungsentwurf der Regie - rung einzugehen. Ernſt Auguſt empfing jetzt ſeine getreuen Stände ſehr freundlich und ſagte: Ich fühle als einen Stein vom Herzen zu hören das was Sie mir ſagen. Wenn man ihm nur ſeinen Willen that, war er ja kein Böſewicht.

Am 6. Auguſt 1840 kam das Landesverfaſſungsgeſetz zu Stande. Die neue Verfaſſung gewährte dem Welfen Alles was er wünſchte: ein den Ständen nicht verantwortliches Miniſterium, einen Landtag mit ſehr be - ſchränkter geſetzgeberiſcher Befugniß, und vor Allem die längſt erſehnte Kaſſentrennung. Sie beſtimmte auch, was ihm faſt noch wichtiger war, daß nur Geiſteskrankheit vom Throne ausſchließen, und mithin der blinde682IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.Kronprinz, dem alten Brauche des Welfenhauſes zuwider, dereinſt die Regierung antreten ſollte. Alſo geſchah das Wunderbare, daß ein Fürſt, der anfangs ſelbſt nicht wußte was er wollte, von keinem einzigen bedeu - tenden Manne unterſtützt, gegen das Recht und gegen die öffentliche Mei - nung ſchließlich doch ſeine Macht behauptete. Der Sieg war freilich theuer erkauft. Unter dem Staatsgrundgeſetze herrſchte tiefer Friede; der neue Landtag, den ſich Ernſt Auguſt gebildet hatte, lebte in ewigem Hader mit der Regierung, und bald machte der Welfe auch die unliebſame Erfah - rung, daß ſeine ſelbſtändige königliche Kaſſe aus der Geldnoth nicht her - auskam.

Für Deutſchland bedeuteten dieſe hannöverſchen Händel fortan wenig. Unvergeßlich aber blieb der Nation der Bundesbeſchluß vom 5. Sept. 1839. Seitdem begannen auch die Gemäßigten zu fühlen, daß unter dem Deut - ſchen Bunde kein Recht mehr feſt ſtand, und in immer weiteren Kreiſen verbreitete ſich die Hoffnung auf einen gewaltſamen Umſchwung, der mit einem Schlage dem deutſchen Elend Wandel ſchaffen ſollte.

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Zehnter Abſchnitt. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.

Seit jenen Tagen, da der Freiherr vom Stein den Sultanismus der Könige von Napoleon’s Gnaden anklagte, war die Zerrüttung des öffent - lichen Rechts, die Zuchtloſigkeit der ſouveränen Fürſtengewalt dem kaiſer - loſen Deutſchland nicht wieder ſo beſchämend vor die Augen getreten wie in den Zeiten des welfiſchen Staatsſtreichs. Ein Frevel, der nicht wie einſt die Gewaltthaten der Rheinbundsfürſten durch das Gebot der Selbſt - erhaltung entſchuldigt werden konnte, fand in Deutſchland keinen Richter; die höchſte deutſche Behörde verſagte ſich feig ihrer Pflicht. Was man an den Höfen Ordnung nannte, war in Wahrheit die verewigte Anarchie, und das Verlangen nach einer ſtarken nationalen Centralgewalt, welche die Willkür der kleinen Gewalthaber bändigen ſollte, entſprang nicht der revolutionären Leidenſchaft, ſondern dem geſetzlichen Sinne. Wer jetzt noch die Stirn hatte den incompetenten Bundestag zu vertheidigen konnte ſich mit denen nicht mehr verſtändigen, die an der friedlichen Entwicklung dieſes entwürdigten Bundes verzweifelten. Die politiſchen Parteien be - kämpften einander ſo unverſöhnlich, wie in der Literatur Heine und die Schwaben, Schloſſer und Hurter, Strauß und die Orthodoxen. Selbſt muthige Männer wie Heinrich Leo fühlten ſich ſchier vom Alpdruck eines beängſtigenden Traumes gepeinigt, wenn ſie die unheimliche Gährung, die furchtbaren Gegenſätze des deutſchen Lebens betrachteten. Und in dieſer Welt des Unfriedens entbrannte auch noch ein kirchenpolitiſcher Streit, der alle Leidenſchaften des dreißigjährigen Krieges wieder zu erwecken, das theuerſte Gut der Nation, den ſchwer erkauften Frieden der Glaubens - bekenntniſſe zu vernichten drohte.

Der preußiſche Staat gerieth zum erſten male in offenen Krieg mit dem wieder erſtarkten Papſtthum und mußte nach einem kurzen Waffen - gange den Rückzug antreten. Er kämpfte, im Geiſte ſeiner Geſchichte, für den Gedanken der Parität, aber er kämpfte mit den Waffen des polizeilichen Zwanges und einer gänzlich veralteten Kirchenpolitik, ſo daß er vor der Welt als ein Bedränger der Gewiſſensfreiheit erſchien und überdies durch das Ungeſchick ſeiner Diplomaten in den Ruf der Zweizüngigkeit kam. 684IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.Die alte Beamtenregierung genügte nicht mehr. In derſelben Zeit, da ſie durch das Eiſenbahngeſetz noch einmal ihre alte Geſchäftstüchtigkeit be - währte, zeigte ſie ſich ängſtlich gegenüber den welfiſchen Gewaltthaten, völlig rathlos gegenüber der römiſchen Kirche. Am Ausgange eines Jahrzehntes, das der Friedenspolitik und den Zollvereinsplänen der Krone Preußen ſo viel verdankte, wurde unter den Freunden ſchon wieder die Beſorgniß laut, ob dieſer Staat auch auf feſten Füßen ſtehe; die Gegner aber ſchaarten ſich zu einer geſchloſſenen Partei um Alles wieder in Frage zu ſtellen, was die lebendigen Kräfte deutſcher Geſchichte in zwei Jahrhunderten ge - ſchaffen hatten.

Inmitten der Wirren des Aufruhrs von 1831 hatte der neue Papſt Gregor XVI. den heiligen Stuhl beſtiegen. So lange er regierte mußte er mit ſeinen fremden Söldnern und mit dem Landſturme der clericalen Partei, den Centurien der Sanfediſten beſtändig auf der Wacht ſtehen um das Hausgut Petri vor den Anſchlägen der patriotiſchen Verſchwörer zu behüten. Seit lange her ſtand der Kirchenſtaat in dem Rufe, daß er die ſchlechteſte aller Regierungen Europas beſitze, und noch niemals hatte er dieſem Rufe ſo vollkommen entſprochen wie jetzt, da die heißblutigen Romagnolen ſchon den alten Geuſenruf wiederholten: lieber türkiſch als päpſtlich. Als Papſt wie früherhin als General der Camaldulenſer führte Gregor das Leben eines vornehmen Mönches; beim Gelage unter den geiſtlichen Amtsbrüdern konnte der häßliche Mann mit den wulſtigen Lippen und dem großen Fiſtelgeſchwür auf der rothen Naſe faſt liebens - würdig erſcheinen, wenn er ſeiner ſatiriſchen Laune freien Lauf ließ. Auch ſeine Weltanſchauung blieb mönchiſch; noch ſchroffer und härter als ſeine beiden Vorgänger trat er der weltlichen Gewalt entgegen. Während der erſten Jahre ließ er ſich durch die behutſamen Rathſchläge des Staats - ſecretärs Bernetti, der noch aus Conſalvi’s ſtaatskluger Schule ſtammte, zuweilen etwas zügeln. Aber im Januar 1836 erhielt Bernetti ſeine Ent - laſſung, und ſein Nachfolger wurde Cardinal Lambruschini, das Haupt der Eiferer , der genueſiſchen Partei im Cardinalscollegium, ein Prieſter von ſtrengem Wandel, herriſch, leidenſchaftlich, ſchonungslos, unbeugſam in den Grundſätzen des harten Papalſyſtems. Er hatte einſt als Nuntius in Paris bei dem Staatsſtreiche Karl’s X. mitgeholfen und ſelbſt durch den Sturz der Bourbonen nichts gelernt. Unterdeſſen war der Nieder - länder Roothaan an die Spitze der Geſellſchaft Jeſu getreten, der fähigſte aller Jeſuitengenerale ſeit den Zeiten Aquaviva’s, ausgezeichnet durch Ver - ſchlagenheit, Welt - und Menſchenkenntniß, raſtloſen Thatendrang. Seit - dem ließ ſich die unterirdiſche Wirkſamkeit der Jeſuiten in allen Staaten verſpüren. Auch in Preußen; denn obwohl den preußiſchen Unterthanen ſeit dem Jahre 1827 der Beſuch auswärtiger Jeſuitenſchulen verboten war, ſo wußte doch am Rhein wie in Poſen jeder Kundige, daß viele der preußiſchen Theologen, welche die Univerſität München bezogen, dort plötz -685Gregor XVI. und der belgiſche Clerus.lich verſchwanden um nachher unter den Rothröcken des römiſchen Ger - manicums wieder aufzutauchen; kehrten ſie dann heim, ſo waren ihre Münchener Abgangszeugniſſe, Dank den unbekannten bairiſchen Gönnern, ſtets in beſter Ordnung.

Durch den glänzenden Sieg, welchen der römiſche Stuhl auf dem alten Schlachtfelde der Confeſſionen, in Belgien erfochten hatte, war das Selbſtvertrauen der Clericalen überall mächtig angewachſen; ſie nannten ſich jetzt ſelbſt die ultramontane Partei, und der Name iſt ihnen fortan geblieben. Welch ein unermeßlicher Vortheil, daß man fortan triumphirend auf jenes Land verweiſen konnte, das von den kurzſichtigen Liberalen als ein Muſterſtaat gefeiert wurde: die Alleinherrſchaft der römiſchen Kirche war alſo mit conſtitutioneller Freiheit nicht unvereinbar! Der belgiſche Clerus verleugnete ſeine hispaniſche Schule nicht; ſeine Sprache gegen die evangeliſche Kirche ward immer dreiſter und drohender. Einer der flandriſchen Biſchöfe, van der Velde, warnte ſeine gläubige Heerde in einem Hirtenbriefe vor den Verführern, welche das katholiſche Volk in der Faſten - zeit zu Tanzvergnügungen, zum Beſuche unzüchtiger Schauſpiele und zum Leſen der heiligen Bücher in der Volksſprache verleiteten; durch ſolche Mittel ſuchten die Bibelgeſellſchaften die Gewiſſen zu bethören, wie ihre würdigen Muſter im ſechzehnten Jahrhundert mit ſo ſehr zu beklagendem Erfolge gethan! So lange die franzöſiſche Revolution den Clerus unter - drückte und beraubte, ſtand die Curie im Lager der conſervativen Höfe; jetzt aber erhoben ſich überall revolutionäre Mächte, welche der Kirche günſtig ſchienen, und ſofort zeigte ſich, daß die römiſche Politik nur kirch - liche Ziele verfolgen darf, mithin alle politiſchen Parteien lediglich als Mittel behandeln kann. In Belgien ſtand die Cleriſei an der Spitze der Rebellen, und ſobald ſie die Theilung der Niederlande durchgeſetzt, wußte ſie alle die conſtitutionellen Freiheiten, welche der römiſche Stuhl ſo oft verdammt hatte, die Freiheit der parlamentariſchen Rednerbühne, der Preſſe, der Vereine mit großem Geſchick für ihre Zwecke auszunutzen. In Polen wie in Irland ſchürten die Ultramontanen den Aufruhr; auch in Frank - reich hielten ſie ſich bereit, jederzeit mit der radicalen Oppoſition zuſammen - zugehen, weil ſie trotz der Nachgiebigkeit, welche Ludwig Philipp ihnen er - wies, den durchaus unkirchlichen Charakter dieſes Bürgerkönigthums richtig erkannten. Am allerwenigſten wollten ſie die alte Pfaffengaſſe des deut - ſchen Reichs dem Staate gönnen, den ſie mit Recht für die Vormacht des feſtländiſchen Proteſtantismus hielten. Allen Rheinländern war wohlbe - kannt, daß überall geheime Späher des römiſchen Stuhles und der bel - giſchen Ultramontanen das Verhalten des Clerus ſorgfältig belauerten und jeden Mißgriff der Regierung ausbeuteten; manche Heißſporne empfahlen die Vereinigung des Rheinlands mit dem katholiſchen Belgien, Andere wünſchten das fromme Haus Wittelsbach, das zwei Jahrhunderte hindurch in Düſſeldorf und in Köln geherrſcht hatte, an den Rhein zurückzuführen.

686IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.

Derweil dieſe geheimen ultramontanen Umtriebe die ohnehin ver - ſtimmte Rheinprovinz beunruhigten, war die Krone Preußen bemüht, den einzigen Streit, der zwiſchen ihr und dem Papſte beſtand, endlich zu be - ſeitigen. Auf Bunſen’s Rath hatte ſie die Thorheit begangen, über die Behandlung der gemiſchten Ehen, in Wahrheit alſo über die Giltigkeit ihrer eigenen Landesgeſetze, mit dem römiſchen Stuhle zu verhandeln und ſchließlich das Breve vom 25. März 1830 erlangt, das aus der Feder des Cardinals Cappellari, des ſpäteren Papſtes Gregor’s XVI. ſtammte. *)S. o. III. 415.Bunſen’s Eitelkeit ſchmeichelte ſich dadurch einen glänzenden Sieg über die Curie davon getragen zu haben, und wohlgefällig ließ er ſich vom Erz - biſchof Spiegel zu ſeinen Triumph-Negotiationen Glück wünſchen. Als man aber in Berlin ſchärfer prüfte, entdeckte man bald, daß dies Breve ſchlechterdings kein unzweideutiges Zugeſtändniß an die Rechte des pari - tätiſchen Staates enthielt; denn die Curie darf niemals einen Grundſatz aufgeben, ſie kann höchſtens temporum ratione habita eine milde Aus - legung ihrer unabänderlichen Geſetze ſtillſchweigend geſtatten. Dem Könige ſchienen vornehmlich zwei Stellen des Breves unannehmbar; er hielt es für unchriſtlich und der Würde der evangeliſchen Kirche widerſprechend, daß die katholiſche Braut vor der Todſünde der gemiſchten Ehe feierlich verwarnt werden ſollte; und wenn er ſich auch zur Noth mit der paſſiven Aſſiſtenz des römiſchen Prieſters begnügen wollte, ſo verlangte er doch, daß die kirchliche Einſegnung der gemiſchten Ehen nicht geradezu verboten würde. Darum ließ er das Breve nach Rom zurückſenden (Febr. 1831), und Bunſen bemühte ſich nunmehr, durch langwierige Verhandlungen die Curie umzuſtimmen. Der Verſuch ſcheiterte. Rom hatte geſprochen, und eine Milderung ließ ſich um ſo weniger erwarten, da der neue Papſt Gregor ſelber der Verfaſſer des Breves war.

Trotzdem verlor der allezeit hoffnungsvolle Geſandte nicht den Muth. Seit er im Namen der europäiſchen Mächte den Papſt zu Reformen im Kirchenſtaate aufgefordert hatte**)S. o. IV. 68., hielt er ſich für den erſten Mann der römiſchen Diplomatie, ſeinem Selbſtvertrauen ſchien nichts mehr unerreich - bar. Er rieth, die Krone möge ſich insgeheim mit den Biſchöfen der weſt - lichen Provinzen über eine milde Auslegung und Handhabung des Breves verſtändigen. Alſo mit Hilfe des heimiſchen Epiſcopats die Beſchlüſſe des römiſchen Stuhles zu umgehen erſchien als ein natürliches Mittel der Nothwehr; die Staatsgewalten hatten es ſchon oftmals angewendet, ſobald ſie ſich gezwungen ſahen die unwandelbaren Satzungen der Theokratie mit dem ewigen Wandel der weltlichen Dinge in Einklang zu bringen. Solche immer gefährliche Verſuche waren aber bisher nur katholiſchen Fürſten gelungen, die ſich auf ihren Epiſcopat unbedingt verlaſſen konnten;687Geheimer Vertrag über die gemiſchten Ehen.auch ihnen nur in der alten Zeit vor den Seculariſationen, als die Kirche noch reich, der vornehme Clerus noch national geſinnt war und die Ge - heimniſſe der Cabinette ſich lange bewahren ließen. Wie durfte der evan - geliſche König Preußens von ſeinen Landesbiſchöfen eine ſo unverbrüchliche Treue erwarten, jetzt da jede Möglichkeit einer Nationalkirche geſchwunden war, und die monarchiſche Gewalt des Papſtes auch über den Epiſcopat faſt ſchrankenlos gebot? Nur Bunſen’s Leichtſinn konnte hoffen, daß in dieſer Epoche der anonymen Zeitungen und der ultramontanen Wühlerei die Vereinbarung mit den Biſchöfen auf die Dauer geheim bleiben würde, eine Vereinbarung, die offenbar alle Kraft verlor ſobald ſie bekannt ward.

Im Frühjahr 1834 wurde der erfindungsreiche Diplomat nach Berlin berufen, und obwohl die alten Miniſter zu ſeinen kühnen Plänen den Kopf ſchüttelten, ſo bewahrten ihm doch der König und der Kronprinz ihr unbeſchränktes Vertrauen. Er erhielt den Auftrag, zunächſt mit dem Erz - biſchof Spiegel zu verhandeln und fand ſeinen greiſen Gönner zu jeder Nachgiebigkeit bereit. Der milde, weltkundige Prälat ſah voraus, wie vielen Unfrieden die Forderung der katholiſchen Kindererziehung in der ſo bunt gemiſchten Kölner Erzdiöceſe hervorrufen mußte; er erkannte, daß nicht blos die evangeliſche Kirche beleidigt, ſondern auch die perſönliche Ehre jedes evangeliſchen Bräutigams beſchimpft wurde wenn man ihm die unwürdige Zumuthung ſtellte in ſeinen eigenſten und heiligſten Angelegen - heiten einem fremden Prieſter ein bindendes Verſprechen zu geben. Doch wie vertrugen ſich dieſe verſtändigen Anſichten mit dem päpſtlichen Breve? Aus deſſen abſichtlich gewundenen Sätzen ließ ſich mit Sicherheit nur das Eine herausleſen, daß dem Prieſter höchſtens die paſſive Aſſiſtenz geſtattet ſein ſollte falls die Brautleute nicht die katholiſche Erziehung aller Kinder verſprächen. Der Erzbiſchof ſchwankte lange und fühlte ſich in ſeinem Gewiſſen ſchwer bedrängt. Da fand ſich ein geiſtlicher Tauſendkünſtler bereit, Bunſen’s dreiſte Dialektik zu unterſtützen: der Domkapitular Mün - chen, ein gelehrter Kanoniſt, der in dieſen letzten Jahren eine große und, wie ſelbſt der Oberpräſident Vincke meinte, nicht immer wohlthätige Macht über den alternden Kirchenfürſten gewonnen hatte. *)Vincke an Altenſtein, 12. Dec. 1835.Der bewies in einem ſchwer gelehrten Gutachten denn was kann römiſche Hermeneutik nicht beweiſen? das Breve erlaube Alles was nicht ausdrücklich darin verboten ſei.

Nunmehr war Spiegel’s Gewiſſen beruhigt, und nach kurzen Verhand - lungen unterzeichnete er mit Bunſen am 19. Juni 1834 einen geheimen Vertrag, welcher Alles gewährte was der Staat für den confeſſionellen Frieden der weſtlichen Provinzen zu wünſchen hatte, aber weder mit dem neuen Breve des Papſtes noch mit den alten kanoniſchen Vorſchriften über - einſtimmte. Die kirchliche Einſegnung der gemiſchten Ehen ſollte fortan688IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.die Regel bilden, ohne Rückſicht auf die Erziehung der Kinder, und nur wenn die katholiſche Braut einen muthwilligen, ſträflichen Leichtſinn zeigte alſo vernünftigerweiſe niemals , wie Bunſen frohlockend ſchrieb mußte ſich der Prieſter auf die paſſive Aſſiſtenz beſchränken. Für dieſe großen, noch keinem Staate gewährten Zugeſtändniſſe gab die Krone ein Verſprechen, das kaum für eine Gegenleiſtung gelten konnte, weil König und Papſt ſich darüber ſchon ſeit Jahren geeinigt hatten. Sie verhieß, die bürgerliche Eheſchließung, die dem Monarchen längſt ein Greuel war, auf dem linken Rheinufer abzuſchaffen; und in der That legte ſie im Frühjahr 1837 dem rheiniſchen Provinziallandtage einen Geſetzentwurf dieſes Inhalts vor, die Stände beanſtandeten ihn aber, zu Friedrich Wilhelm’s großem Leidweſen, weil die bürgerlichen und die kirchlichen Ehegeſetze noch nicht im Einklang ſtünden. Der Erzbiſchof übernahm, ſeine Suffraganen für den geheimen Vertrag zu gewinnen. Er brauchte in Paderborn zwei, in Münſter drei Tage um die kirchlichen Bedenken des Biſchofs zu über - winden; auch der greiſe Biſchof Hommer von Trier ſtimmte zu, und der Abrede gemäß erließen die vier Prälaten hierauf gleichlautende Inſtruk - tionen an ihre Generalvicariate. Spiegel hoffte auf die ausgleichende Macht der Zeit; er wollte die neue milde Uebung ſich erſt eine Weile friedlich einbürgern laſſen und dann zur guten Stunde den Papſt um nachſichtige Genehmigung bitten. Er ſtarb aber ſchon am 2. Aug. 1835, und nur wenn ſich ein gleichgeſinnter Nachfolger fand, konnte der ſo mühſam, durch ſo zweideutige Mittel gewahrte Friede zwiſchen Staat und Kirche erhalten bleiben.

Im Cultusminiſterium ahnte man gar nichts von dem Ernſt der Lage. Der Referent für die katholiſchen Kirchenſachen, Geh. Rath Schmed - ding war unzweifelhaft ein preußiſcher Patriot, er hatte während der napo - leoniſchen Zeiten lockende Einladungen der bergiſchen Regierung ausge - ſchlagen, um im Dienſte ſeines Königs von der Ems nach dem Pregel zu gehen, was dem Weſtphalen nicht leicht fiel. Er bezweifelte nie, daß die Staatsgewalt ſouverän, der reine Dualismus von Staat und Kirche unmöglich ſei, und bemühte ſich eifrig, die kirchliche Einſegnung aller ge - miſchten Ehen bei dem Clerus durchzuſetzen. *)Schmedding, Promemoria über die gemiſchten Ehen, 12. Mai 1830.Gleichwohl trat er mit den Jahren der mächtig aufſteigenden ultramontanen Partei immer näher. Schmedding verabſcheute die vornehmen geiſtlichen Lebemänner der alten Generation als ein Geſchmeiß verweltlichter Pfaffen ; auch die Hermeſianer erſchienen ihm bald verdächtig, nur in den Lehren der Tübinger katholiſchen Schule, die ſoeben in Möhler’s Symbolik ihr reifſtes Werk geſchaffen hatte, fand er noch unverfälſchte chriſtliche Wahrheit. Der König betrachtete ihn nicht ohne Argwohn und überging ihn bei den üblichen Auszeichnungen.**)Schmedding an Altenſtein, 5. Dec. 1819, 23. Mai 1821, 22. Jan. 1826. Um689Spiegel’s Tod. Droſte’s Ernennung.ſo feſter ſtand er in der Gunſt ſeines Miniſters; er war die Seele jener Altenſtein’ſchen Kirchenpolitik, welche die römiſche Kirche nach ſtreng katho - liſchen Grundſätzen von Staatswegen zu gängeln ſuchte. Mit dem Erz - biſchof Spiegel, der ihm zu weltlich ſchien, vertrug er ſich wenig, und in Bunſen haßte er begreiflicherweiſe den unberufenen Nebenbuhler.

Durch wiederholte Reiſen ſuchte er ſich über das Leben der katholiſchen Kirche Deutſchlands zu unterrichten. Sie führten ihn nach Bamberg, wo er den milden Erzbiſchof Frauenburg als einen Freund Preußens und Be - wahrer des confeſſionellen Friedens hochſchätzen lernte*)Schmedding an Altenſtein, Bamberg 29. Sept. 1828., aber auch in ſeine Heimath, nach Münſter. Hier fühlte er ſich ganz bezaubert durch den Verkehr mit dem vormaligen Generalvicar Clemens Auguſt Droſte-Viſche - ring, dem blindeſten aller ultramontanen Eiferer, dem einzigen der preu - ßiſchen Prälaten, der bisher offene Auflehnung gegen die Staatsgewalt gewagt hatte. **)S. o. III. 216.Schon vor Jahren, während des Kampfes zwiſchen Droſte und der Regierung, war Schmedding der Meinung geweſen, daß die Be - hörden zu weit gegangen ſeien. ***)Schmedding an Altenſtein, 5. Mai 1818.Als er nun den frommen Prieſter unter den barmherzigen Schweſtern beten ſah, als er ſich mit ihm über das große Thema unſerer Zeit, die Wechſelwirkung von Staat und Kirche unterredete und immer nur ſalbungsvolle Antworten erhielt, da glaubte er, dem Entlaſſenen ſei ſchweres Unrecht widerfahren und er freute ſich ihm mindeſtens die Stelle eines Weihbiſchofs wieder verſchaffen zu können. Nach der Erledigung des Gneſener erzbiſchöflichen Stuhles, im Jahre 1826, ſchlug er Droſte unbedenklich als Nachfolger vor, und der Antrag ward nur deshalb nicht angenommen, weil Altenſtein auf dieſe Stelle einen Polen berufen wollte. †)Schmedding an Altenſtein, 2. Oct. 1826.

Kaum kam die Kunde von der tödlichen Erkrankung des Kölner Erz - biſchofs, ſo entwarf Schmedding ſchon am 25. Juli 1835, noch bevor Graf Spiegel die Augen geſchloſſen hatte, mit unanſtändiger Eile eine Denkſchrift, welche den Münſterſchen Weihbiſchof als den einzig möglichen Nachfolger empfahl: die preußiſchen Biſchöfe ſeien alleſammt entweder ungeneigt oder ungeeignet. Von den anderen deutſchen Prälaten war gar keine Rede; dagegen wurden Droſte’s gottſeliger Sinn, ſein reiner Wandel, ſeine Bil - dung an Geiſt und Herz, ſeine reiche ſeelſorgeriſche Erfahrung kräftig ge - prieſen und namentlich hervorgehoben, wie er in den letzten Jahren als ein Engel des Friedens nur für thätiges Chriſtenthum, alſo zum Beſten des Staates gewirkt habe. ††)Schmedding, geheimes Promemoria, die Krankheit des Erzbiſchofs von Köln betr., 25. Juli 1835.So ſollte denn in einem Augenblicke ſchwie - riger Verwicklungen auf die erſte geiſtliche Stelle der Monarchie gerade derTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 44690IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.Mann berufen werden, von dem ſich am ſicherſten vorausſehen ließ, daß er jede berechtigte oder unberechtigte Anforderung des Staates hartnäckig ab - weiſen würde. Altenſtein aber eignete ſich Schmedding’s Vorſchläge wörtlich an; nur den Engel des Friedens und einige ähnliche Lobpreiſungen, die doch allzu abenteuerlich klangen, ſtrich er behutſam aus. Geh. Rath Nicolovius erhob dann noch einige beſcheidene Einwendungen wegen der mönchiſchen Lebensweiſe des edlen, ernſten Mannes, die bei dem Nach - folger eines Grafen Spiegel nicht wenig auffallend ſein würde ; er ließ ſich jedoch ſchnell beſchwichtigen. Als Vincke, der Droſte von ſeinen früheren Kämpfen her kannte, ſchwere Beſorgniſſe äußerte, da erwiderte Altenſtein, er habe keinen anderen Candidaten gefunden, und ſchloß gemüthlich: der Himmel hat es bisher gut geſtaltet, und ich hoffe, es ſoll auch fernerhin gut gehen. *)Nicolovius Votum, 11. Aug. Altenſtein’s Antwort, 14. Aug. Altenſtein an Vincke, 30. Nov. 1835.

Sicherlich hätte weder der Miniſter noch ſein vortragender Rath ohne höheren Schutz einen ſo ungeheuerlichen Vorſchlag gewagt. Der König alterte, und die künftige Regierung warf ſchon ihre Schatten in die Gegenwart hinein. Der Kronprinz und Prinz Wilhelm der Aeltere mit ſeiner frommen Gemahlin Marianne hatten neuerdings Münſter beſucht und ſich in Droſte’s Clemens-Hospitale recht von Herzen erbaut, ſeine Kaſteiungen bewundert, ſeine Anleitung zum inneren Gebete , die er für die barmherzigen Schweſtern geſchrieben, wohlgefällig entgegengenommen; wie ſo viele Proteſtanten des Nordoſtens glaubten ſie arglos, dies römiſche Büßerweſen ſei der evan - geliſchen Rechtgläubigkeit verwandt. Nur einem ſo muſterhaft frommen Prieſter wollte der[Kronprinz] den Kölniſchen Stuhl anvertrauen; auch hielt er es für eine Ehrenpflicht des preußiſchen Thrones, die alten Domherren - geſchlechter, die einſt das ſtiftiſche Deutſchland beherrſcht hatten, dadurch zu entſchädigen, daß ihre Söhne die großen Prälaturen des Weſtens er - hielten. **)Dies erzählt u. A. der über katholiſche Dinge immer wohl unterrichtete Miniſter du Thil.Damit war für Altenſtein, der in kirchlichen Fragen dem Thron - folger ſtets nachgab, Alles entſchieden.

Um ganz ſicher zu gehen, ließ der Miniſter durch einen Münſterſchen Dom-Capitular anfragen, ob Droſte die mit Spiegel getroffene Ueberein - kunft einhalten wolle. Die Antwort bewies, daß der beſchauliche Sohn der rothen Erde trotz ſeiner weltverachtenden Heiligkeit durchaus nicht abge - neigt war den Hirtenſtab des Erzbiſchofs zu ergreifen. Droſte betheuerte (5. Sept.), er wünſche mit Allen im Frieden zu leben, die letzten Jahre ſeines Lebens noch recht zum Wohlthun zu verwenden; gelange er je zum biſchöflichen Amte, ſo werde er ſich wohl hüten, jene gemäß dem Breve ge - troffene Vereinbarung anzugreifen, ſondern ſie im Geiſte der Liebe, der Friedfertigkeit anwenden. Nunmehr war Altenſtein beruhigt. Er verſicherte691Droſte’s erſte Schritte.dem Monarchen, dieſer Clemens Auguſt ſei ungleich milder geſinnt als ſein älterer Bruder, der Biſchof von Münſter, Caspar Max*)Dies rügte der König ſpäterhin, in einer Randbemerkung v. Jan. 1838., und der König ertheilte ſeine Genehmigung. Cardinal Lambruschini aber, der ſeinen Mann kannte, ſagte zu Bunſen, in der unwillkürlichen Aufwallung des erſten Erſtaunens: Iſt Ihre Regierung toll? Und der gegen den Clerus immer nachſichtige Oberpräſident Bodelſchwingh meinte, als das Dom - capitel die Wahl vollzogen hatte: dies ſei der entſetzlichſte und unverant - wortlichſte Mißgriff.

Ganz ebenſo blind und ſtörriſch, ganz ebenſo durchdrungen von dem Bewußtſein ſeines göttlichen Rechtes wie Ernſt Auguſt von Hannover ſchritt Droſte-Viſchering auf ſein Ziel los: die weltliche Gewalt war für ihn einfach nicht vorhanden; und wenn er auch weder mit der Verlogenheit noch mit der Schlauheit des Welfen wetteifern konnte, ſo zeigte er ſich doch ganz ebenſo unbedenklich in der Wahl der Mittel. Wie ward plötzlich Alles anders in dem geiſtlichen Palaſte bei St. Gereon, ſobald der neue Oberhirt im Mai 1836 eingezogen war. Klöſterliche Stille herrſchte in den Sälen, wo vordem Spiegel ſeine heiteren, aber immer ehrbaren Gaſtmahle gegeben hatte. Die niederen Cleriker, die bei Spiegel ſtets einer welt - männiſch freundlichen Aufnahme ſicher waren, behandelte Droſte ſo ſtreng und mürriſch, daß ſie bald klagten, dieſe Härte widerſpreche den kanoniſchen Vorſchriften; in der Regel durfte ſein alter weſtphäliſcher Bedienter keinen Beſuch vorlaſſen. Die ſchöne, dem Dom-Capitel vermachte Bibliothek ſeines Vorgängers ließ er ſchleunigſt aus dem Hauſe ſchaffen. Mit ſolcher heid - niſchen Wiſſenſchaft wollte er nichts zu thun haben; außer der Tabaks - pfeife kannte er kein irdiſches Bedürfniß. Von den höheren Geiſtlichen, die faſt alleſammt zu Spiegel’s Schule gehörten, hielt ſich Droſte fern. Sein vertrauter Rathgeber war der junge Caplan Michelis, und mit Hilfe dieſes ultramontanen Heißſporns gelang es ihm, ſeine Laufbahn in kurzen anderthalb Jahren abzuſchließen.

Mit unverhohlener Schadenfreude begrüßten die belgiſchen Blätter, voran das ultramontane Journal de Liège, den Einzug ihres Geſinnungs - genoſſen. Gleich nach Spiegel’s Tode erſchien das Rothe Buch , ein in den Kreiſen der Aachener Cleriſei entſtandenes Libell, das von lügneriſchen Anſchuldigungen gegen die preußiſche Krone überfloß und den Berliner Staatsmännern ehrgeizige Pläne, welche ihnen nur zu fremd waren, an - dichtete: Preußen und Deutſchland ſcheinen ihnen ſchon identiſch. Als das Rothe Buch in Preußen unterdrückt wurde, that ſich in dem belgiſchen Städtchen Sittard, dicht an der Grenze, eine Winkelpreſſe auf, welche das verbotene Werk nachdruckte und außerdem noch eine Menge aufrühre - riſcher Flugſchriften in der Rheinprovinz verbreitete. **)Rochow’s Bericht an den König, 24. Mai 1837.Die in Sittard ver -44*692IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.legten Winterabend-Unterhaltungen am warmen Ofen ſchilderten den Rheinländern, wie ſie alleſammt Sklaven ſeien, auf preußiſch hinter’s Licht geführt, wie das Land vor fünfundzwanzig Jahren mehr Kronenthaler beſeſſen hätte als heute Silbergroſchen; wenn ein Proteſtant ſich auf den Glauben ſeiner Väter berufe, ſo ſei dies ganz das Nämliche als wenn ein ſchlechter Kerl ſage: meine Eltern waren auch ſchlechte Kerle. Dem evan - geliſchen Könige, der durch Seelenverkauf ſeine Schwiegertochter dem wahren Glauben entfremdet habe, wurde als leuchtendes Gegenbild der gerechte katholiſche Kaiſer Fränzel in Oeſterreich entgegengeſtellt.

Dem wilden clericalen Haſſe, der ſich in ſolchen Schriften ausſprach, boten zunächſt die Hermeſianer eine willkommene Zielſcheibe. Es rächte ſich jetzt, daß Spiegel, zu Altenſtein’s Leidweſen, die Schüler von Hermes parteiiſch begünſtigt hatte. Die ſo lange zurückgeſetzte gegneriſche Partei dürſtete nach Rache; ſie wußte, daß der neue Erzbiſchof mit Spiegel wie mit Hermes immer in Feindſchaft gelebt hatte. Er ſelbſt berechnete die Zahl der Hermeſianer unter dem Clerus ſeines Erzbisthums auf mehr als fünftauſend, und dazu gehörten faſt alle die älteren, der Staatsgewalt gehorſamen Geiſtlichen. Gleichwohl war dieſe mächtige Schule ſchon im Sinken, ganz wie der alte Rationalismus innerhalb der evangeliſchen Kirche. Für die neuen Ideen, welche die Romantik in der katholiſchen Welt ge - weckt hatte, zeigten die Hermeſianer kein Verſtändniß, und je kräftiger das kirchliche Bewußtſein ſich wieder regte, um ſo weniger konnte ihm eine Theologie genügen, welche die römiſchen Glaubensſätze auf die rein pro - teſtantiſche Lehre Kant’s zu ſtützen ſuchte. Vor Jahren ſchon hatte der ultramontane Generalvicar Fonck in Aachen die Bonner Theologen vor dem Königsberger Philoſophen gewarnt, was der Miniſter freilich als eine unbefugte Einmiſchung in die Wiſſenſchaft rügte. *)Fonck an Prof. Seber in Bonn, 18. Juli; Altenſtein an Rehfues, 22. Aug. 1823.Neuerdings führte die Aſchaffenburger Kirchenzeitung einen heftigen Federkrieg gegen die Halb - heiten der Hermeſianer, und nach Hermes Tode (1831) verſuchten ſeine Gegner, den römiſchen Stuhl zu einem Machtſpruche wider den Verſtor - benen zu bewegen. Jarcke in Wien betrieb die Denunciation mit dem fanatiſchen Eifer des Convertiten, die Wiener Redemtoriſten ſtellten ſo - gleich eine Reihe ketzeriſcher Sätze aus Hermes Schriften zuſammen. Dann bereiſte Jarcke das Rheinland um neue Beweismittel gegen die Bonner Theologenſchule zu ſammeln; er beredete ſeinen Gönner Metternich, die Anklage in Rom durch den Geſandten Graf Lützow, der auch zu der cleri - calen Schaar der evangeliſchen Renegaten gehörte, insgeheim zu unter - ſtützen. Die Hände des Wiener Hofpubliciſten ließen ſich überall ſpüren; er gab in dieſen Jahren dem Erbprinzen von Naſſau politiſchen Unter - richt, und mit ſolchem Erfolge, daß die Heimath der proteſtantiſchen Oranier nachher für lange Zeit den clericalen Einflüſſen verfiel. Nun wurden der693Der hermeſianiſche Streit.Bonner Arzt Windiſchmann und mehrere deutſche Theologen beauftragt, ihre Gutachten dem heiligen Stuhle einzureichen. *)Dies Alles ergab ſich aus den Nachforſchungen, welche Schmedding bei den Bonner Profeſſoren anſtellen ließ. (Altenſtein an Rehfues, 3. Juni 1836; Schmedding an Rehfues, 11. Febr., Rehfues Bericht, 21. Febr. 1837).

Graf Reiſach in Rom und der Jeſuit Perrone erſtatteten den Schluß - bericht, und im September 1835, bald nach Spiegel’s Ableben, wurden die Hauptſätze der Hermeſianer durch ein ſcharfes, von Gregor XVI. ſelbſt verfaßtes päpſtliches Breve als der Ketzerei verdächtig (haeresin sapientes) verdammt. Der König von Preußen trug Bedenken ſeine landesherrliche Genehmigung zu ertheilen. Aber in dieſem Zeitalter der Oeffentlichkeit hatte das Schwert des placet längſt keine Schneide mehr. Die Verord - nung des Papſtes erſchien in der Aſchaffenburger Kirchenzeitung, Freund und Feind mußten mit der vollendeten Thatſache rechnen. Groß war der Schrecken unter den gemäßigten Clerikern. Biſchof Bauſch in Limburg richtete an den Bonner Braun, der mit ſeinem Amtsgenoſſen Achterfeldt für das Haupt der Hermeſianer galt, einen wehmüthigen Troſtbrief und be - theuerte, daß in ſeiner Diöceſe Hermes Schüler ſich durchaus kirchlich und katholiſch benehmen, ſich durch einen geſitteten Lebenswandel auszeichnen und empfehlen. Noch heftiger klagte der Wiener Theolog Pabſt über dies Urtheil, das unſere nahe wiſſenſchaftliche Uebermacht über den Proteſtan - tismus vernichte, den reſpectabelſten Theil der katholiſchen Geiſtlichen Deutſchlands mit ſchwerem Kummer treffe. **)Biſchof Bauſch an Braun, 10. Nov.; Dr. Pabſt an Braun, 9. Oct. 1835.Metternich aber ermahnte den Papſt inſtändig, gegen die Hermeſianer feſt zu bleiben. ***)Metternich, Weiſung an Lützow, 10. Juni 1837.Um dem Papſte die Unſchuld des verſtorbenen Meiſters zu erweiſen, ging Braun mit ſeinem Freunde Elvenich ſelbſt nach Rom; dort wurden die Beiden an den Jeſuitengeneral verwieſen und, wie vorauszuſehen, unverrichteter Dinge heimgeſchickt. So mächtig war ſchon der Drang nach unbedingter Einheit in der erſtarkenden römiſchen Kirche, ſo ſchwach die ſittliche Kraft einer wohlmeinenden Gelehrtenſchule, welche das Unverſöhnliche verſöhnen wollte: nach kurzer Friſt unterwarfen ſich die Hermeſianer alleſammt, mit der einzigen Ausnahme von Braun und Achterfeldt. Ein Wort des Pon - tifex genügte, um den Lehrer, der ſo lange im deutſchen Weſten für eine Säule der Kirche gegolten hatte, aus der Heerde der Gläubigen hinaus - zuweiſen.

Daß die Krone ſich in dieſen rein dogmatiſchen Streit nicht ein - miſchen durfte, war dem Cultusminiſter von Haus aus unzweifelhaft. Wohl ſprach er aus, in ſolchen Händeln entlade ſich nur der alte Haß, welchen der römiſche Stuhl ſeit Luther’s Tagen gegen die deutſchen Univerſitäten hege; ſein Wunſch ging aber nur dahin, daß der Kampf mit Ruhe geführt werde und womöglich ſich in ſich ſelbſt verblute , denn theologiſch wahr694IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.oder falſch könne von einer Staats-Entſcheidung nicht abhängen . Auf keinen Fall wollte er ſich einen Eingriff der Staatsgewalt in das Heilig - thum des Glaubens oder eine Störung der ordnungsmäßigen Bewegung der vorgeſetzten geiſtlichen Autorität erlauben. *)Altenſtein an Rehfues, 29. Juni, 27. Oct. 1836, 8. Febr. 1837.Sein getreuer Schmed - ding betrachtete den Handel ſogar mit ſchlecht verhehlter Schadenfreude und rieth einem hermeſianiſchen Theologen halb ſpöttiſch, die Entwicklung dieſer Tragikomödie mit Gelaſſenheit abzuwarten. **)Schmedding, 8. März 1836, an einen hermeſianiſchen Geiſtlichen, deſſen Namen ich nicht kenne.Daher ließ Altenſtein, ob - gleich das Breve in Preußen noch gar nicht veröffentlicht war, die bethei - ligten Bonner Profeſſoren bei dem Curator Rehfues zuſammenrufen und ihnen das Verſprechen abnehmen, daß ſie über Hermes und ſeine Lehre in ihren Vorleſungen unverbrüchlich ſchweigen würden.

Weiter konnte der Staat in ſeiner Nachgiebigkeit unmöglich gehen. Der Erzbiſchof war befugt, das geſammte innere Leben des Bonner Con - victs, das amtlich als ein Beſtandtheil des Kölniſchen Prieſterſeminars ange - ſehen wurde, zu leiten, und wenn er dies Recht ebenſo kräftig handhabte wie ſein Vorgänger, ſo ließ ſich die hermeſianiſche Doctrin aus dem theolo - giſchen Unterricht kurzerhand hinausfegen. Droſte aber wollte nicht blos die Lehren, ſondern auch die Perſonen der verhaßten Hermeſianer beſeitigen. Welchen Weg ich einſchlage, ſo ſchrieb er an Rehfues, darüber bin ich mit mir noch nicht eins. Das aber ſteht feſt, daß ich das Einſchleichen der die Staaten ſo ſehr beunruhigenden Demagogie in die Kirche nicht dulde und von allen katholiſchen Prieſtern meiner Diöceſe, welche Stellung immer ſie einnehmen mögen, in kirchlichen Dingen Gehorſam fordere, weil ich ſolchen fordern muß und ſie ſolchen leiſten müſſen. Als ihn Altenſtein wegen eines belgiſchen Zeitungsartikels, der nur aus der Kölniſchen Kanzlei herrühren konnte, zur Rede ſtellte, da erwiderte er grob: Caplan Michelis hat Feinde, doch gewiß keine anderen als jene Hermeſianer, deren Dünkel nicht mit ſeiner Beſcheidenheit harmonirt. Es war als ob er Händel ſuchte, und der ſanftmüthige Miniſter bemerkte zu dem Schreiben: dieſer Ton kann ſehr weit führen, und es iſt daher die Frage was zu thun. ***)Droſte an Rehfues, 6. April 1837; an Altenſtein, 16. Dec. 1836.

Offenbar beabſichtigte der Erzbiſchof, das Bonner Convict, das die Theologen doch in einigen Verkehr mit der weltlichen Wiſſenſchaft brachte, ganz zu zerſtören. Früher, ſchrieb er dem Miniſter, wurde die Theologie hier im Kölniſchen Seminar gelehrt; da lernten die Alumnen gewiß nicht ſo viel Vernunftbeweiſe, aber ſie lernten Dogmatik, Moral u. ſ. w., lernten Theologie, lernten was ſie gebrauchen können, und ich danke Gott, daß ich noch Geiſtliche aus dieſer Zeit in der Erzdiöceſe habe. †)Droſte an Altenſtein, 22. Dec. 1836.Er wollte weder die Bonner Theologen perſönlich vernehmen, wie Rehfues ihm vorſchlug,695Droſte und das Bonner Convict.noch einen Commiſſär in ihre Collegien ſchicken, denn ſie würden ſich nur verſtellen; auch das ſtreng römiſche Liebermann’ſche Compendium nütze nichts als Leitfaden für die Vorleſungen, da die Profeſſoren doch nach Belieben darüber redeten. Während er alſo ſein unbeſtrittenes Aufſichtsrecht aus - zuüben gefliſſentlich verſchmähte, griff er, wie um die Staatsgewalt zu ver - höhnen, zu geſetzwidrigen Mitteln. Zunächſt verbot er ein Heft der von den Bonner Hermeſianern herausgegebenen Theologiſchen Zeitſchrift, ob - gleich er wiſſen mußte, daß den Biſchöfen nur die Cenſur über Erbauungs - ſchriften zuſtand. Sodann befahl er durch den Domdechanten den Bonner Geiſtlichen, ihren Beichtkindern das Leſen hermeſianiſcher Schriften und den Beſuch hermeſianiſcher Vorleſungen zu verbieten. Die päpſtliche Verfügung gilt, ſo ſchrieb er, und Niemand darf ſich damit entſchuldigen, daß ſie noch nicht veröffentlicht iſt, weil wofern jene Entſchuldigung wirklich entſchuldigend wäre, die weltliche Macht es durchaus in ihrer Gewalt hätte, die Wirk - ſamkeit des vom Heiland angeordneten centri unitatis völlig zu hemmen, was freilich den Hermeſianern, wie allen Sektirern, die ſich nur vermittelſt der weltlichen Gewalt, welche niemals in Beziehung auf Gegenſtände vor - liegender Art Richter ſein kann, mithin ſobald ſie Theil nimmt Partei iſt, halten können, nicht unlieb ſein dürfte. Der Stil ſeiner Briefe entſprach immer genau dem rohen, zänkiſchen Inhalt und der Plumpheit der Schrift - züge. Die natürliche Folge jener Verfügung war, daß im Convict alle Bande der Zucht zerriſſen; die Studenten ſpalteten ſich in Parteien und denuncirten ihre Lehrer bei dem Erzbiſchof, der ſolche Anzeigen unbedenklich annahm. Als ihm im Sommer 1837 der Lektionskatalog für das nächſte Semeſter vorgelegt wurde, ſtrich er ohne weitere Nachfrage ſämmtliche theologiſche Vorleſungen aus; nur der clericale Profeſſor Klee durfte Colleg halten. Damit war die zum Beſten der rheiniſchen Kirche errichtete könig - liche Stiftung zerſtört; die Mehrzahl der Studenten verließ das Convict und ſuchte im Kölner Seminar unterzukommen. Endlich ließ Droſte ſeinen jungen Clerikern noch achtzehn Theſen zur Unterſchrift vorlegen. Die letzte der Theſen ſtellte rundweg jedes Aufſichtsrecht des Staates in Abrede, ſie enthielt das Verſprechen, daß man von dem Erzbiſchofe nur an den Papſt appelliren wolle, und widerſprach ſo unzweifelhaft den preußiſchen Geſetzen, daß ſelbſt der clericale Juriſt Walter, amtlich befragt, ſie für bedenklich erklärte.

Dennoch wollte die langmüthige Regierung den widerſetzlichen Prä - laten ſchonen; erſt der wieder ausbrechende ernſtere Streit um die ge - miſchten Ehen zwang ſie zum Bruche. Kurz bevor Droſte ſein Amt an - trat, veröffentlichte ein clericales belgiſches Blatt den Hauptinhalt jener von den Biſchöfen an die Generalvicariate erlaſſenen geheimen Inſtruction; die Angaben waren im Weſentlichen richtig, nur glaubte der anonyme Ein - ſender, das Aktenſtück ſei eine Weiſung Spiegel’s an ſeine Suffraganen. Welch eine Genugthuung für den römiſchen Stuhl. Da er ſelbſt bei allen696IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.ſeinen diplomatiſchen Verhandlungen Hintergedanken hegt und hegen muß, ſo gereicht es ihm ſtets zur beſonderen Freude, wenn er einmal auch die weltliche Gewalt auf Schleichwegen antrifft. Mit hoher ſittlicher Ent - rüſtung fragte Cardinal Lambruschini den preußiſchen Geſandten (15. März 1836), ob dieſe Weiſung nicht den Vorſchriften des Breves offenbar zu - widerlaufe. Zugleich ſprach er die Hoffnung aus, ein päpſtlicher Nuntius in Berlin könne die Wiederkehr ſolcher Irrungen leicht verhindern. Dieſer letztere Wunſch wurde ſofort entſchieden zurückgewieſen. Auf keinen Fall wollte der König in ſeiner Hauptſtadt einen römiſchen Prälaten dulden, um den ſich die Oppoſitionspartei des polniſchen und weſtphäliſchen Adels vielleicht verſammeln konnte; Ancillon meinte ſogar, kein ſouveräner Staat dürfe einen ſolchen diplomatiſchen Vertreter einer Kirchengemeinſchaft zu - laſſen. Ebenſo offen mußte der preußiſche Hof, wenn er richtig rechnete, auch die erſte Anfrage wegen der Inſtruction beantworten. Das Ge - heimniß war verrathen, und nun blieb nur übrig, dem Papſte ehrlich her - auszuſagen: da er über das räthſelhafte Breve keine genügende Erklärung hätte abgeben wollen, ſo ſei die Krone genöthigt geweſen, ſich mit ihren Landesbiſchöfen zu verſtändigen. Bunſen aber dachte auch jetzt noch mit ſeinen beliebten kleinen Mitteln durchzukommen und erlaubte ſich eine ebenſo unwürdige als thörichte Sophiſterei.

In ſeiner Antwort vom 16. April betheuerte er feierlich, niemals habe Spiegel eine ſolche Weiſung erlaſſen. Die Verſicherung war buchſtäblich wahr, der Sache nach grundfalſch, und ſie ward dadurch nicht edler, daß ein Schwall frommer, tugendhafter Redensarten darauf folgte; in ſolchen Künſten diplomatiſcher Kanzelberedſamkeit durfte es der deutſche Theolog mit dem Cardinal wohl aufnehmen. Was nicht ausbleiben konnte, ge - ſchah. Die Curie ließ unter der Hand durch ihre Getreuen am Rhein weitere Nachforſchungen anſtellen, und als im November der ehrwürdige Biſchof von Trier auf dem Todesbette lag, unterſchrieb er, wahrſcheinlich durch ſeine geiſtlichen Umgebungen überredet, einen reuigen Brief, der den heiligen Vater um Verzeihung bat wegen jener geheimen Inſtruction. Bald darauf kannte der römiſche Stuhl ſchon den vollſtändigen Wortlaut der Vereinbarung zwiſchen Spiegel und Bunſen. In welchem Lichte ſtand nun Preußens Krone da! Dank den Mißgriffen ihres römiſchen Geſandten gerieth dieſe bei allen ihren Schwächen durchaus ehrliche Regierung in den Ruf der Verrätherei, und ſolche Nachrede war nirgends gefährlicher als am Rhein, wo alle Schoppenſtecher ſich längſt gewöhnt hatten die albernen Witze über die preußiſchen Pfiffe und Kniffe nachzuſprechen. Jetzt ſchimpften die Rheinländer auf den Lug-Bunſen und ſagten: wenn er weint, dann lügt er!

Wer hätte nach ſolchen Erlebniſſen den Erzbiſchof zurückhalten können auf ſeiner abſchüſſigen Bahn? In Köln wie einſt in Münſter befahl er ſeinen Geiſtlichen ganz unbedenklich, keine gemiſchte Ehe ohne das Verſprechen697Bunſen’s Ableugnungen. Die gemiſchten Ehen.katholiſcher Kindererziehung einzuſegnen, und dem Papſte gab er ſchon im September 1836 die Zuſage, daß er dem Breve unverbrüchlich nachkommen werde. Als die Regierung ihm vorhielt, er habe doch feierlich gelobt, die Inſtruction im Geiſte der Liebe zu befolgen, da ertheilte er die uner - wartete Antwort, dieſe Inſtruction hätte er gar nicht gekannt. Dieſe in jedem anderen Munde lächerliche Verſicherung wurde von der Regierung ſelbſt nicht in Zweifel gezogen; bei dem blinden Fanatiker war Vieles möglich, was klügere Männer nie gewagt hätten. Droſte lebte ganz in kirchlichen Vorſtellungen und verachtete von Grund aus die Staatsgewalt des proteſtantiſchen Königs; alſo blieb immerhin denkbar, daß er es wirk - lich nicht der Mühe werth gehalten hatte, die Inſtruction, deren Befolgung er heilig angelobte, auch nur eines Blickes zu würdigen. Nach den ge - wöhnlichen Anſichten menſchlicher Rechtſchaffenheit war er freilich ver - pflichtet, ſeine Würde niederzulegen, wenn er die Bedingungen nicht zu halten vermochte, unter denen ſie ihm anvertraut war. Aber wie konn - ten ſolche weltliche Ehrbegriffe den Hochmuth des Prälaten beirren? Wie er die Dinge anſah, verdankte er ſein Amt allein der Gnade Gottes und des heiligen Stuhles; daß die weltliche Gewalt dabei auch nur mitgeredet hatte, erſchien ihm ſchon als frevelhafte Uſurpation. Dem Miniſter Rochow erwiderte er trocken: die Kirche ſei dem Staate gleichgeordnet, jedes Auf - ſichtsrecht der Staatsgewalt unnütz und unbefugt; über Bildung, Anſtel - lung, Abſetzung der Geiſtlichen wie der theologiſchen Profeſſoren habe der Biſchof allein zu entſcheiden; das Convict müſſe nach Köln verlegt und dort auch ein erzbiſchöfliches Knabenſeminar errichtet werden. Das Alles im Namen der katholiſchen Kirchenfreiheit.

So warf er kurzerhand alle Kirchengeſetze der Monarchie über den Haufen, und ſchon im Frühjahr 1837 ließ der preußiſche Hof der Curie mittheilen, daß er ſich vielleicht gezwungen ſehen würde, den Unbelehr - baren, der freilich nur durch die Thorheit der Regierung ſein Amt erlangt hatte, wieder zu entfernen. Der Sommer verlief über vergeblichen Vermitt - lungsverſuchen. Umſonſt ging Cardinal Capaccini nach Köln, ein Kirchen - fürſt von milder Geſinnung, der allerdings kein zuverläſſiger Bundes - genoſſe der evangeliſchen Krone ſein konnte. Nachher, im September, ſuchten auch der aus Rom herbeigerufene Bunſen und Graf Anton Stolberg dem verſteinerten Prälaten ins Gewiſſen zu reden und ihm zu zeigen, daß er entweder ſein Amt aufgeben oder die Staatsgeſetze, die er förmlich aner - kannt habe, befolgen müſſe. *)Berichte an den König, von Bunſen 15. 23. Sept., von Stolberg 20. Sept. 1837.Alles vergeblich. Am 31. October ſchrieb Droſte dem Miniſter: an die Inſtruction halte er ſich nicht gebunden, ſo - fern ſie dem Breve widerſpreche. Eine ſolche Widerſetzlichkeit durfte der Staat nicht dulden. Eine Revolution wünſchten die Rheinländer freilich nicht, ſie wußten trotz aller Schmähungen nur zu wohl, wie viel ſie dem698IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.preußiſchen Staate verdankten. Aber ernſte Ruheſtörungen ſchienen aller - dings zu befürchten. Ein am Thore des Doms angeſchlagener Aufruf mahnte die rheiniſchen Katholiken das proteſtantiſche Joch abzuſchütteln, die belgiſchen Emiſſäre trieben überall ihr Unweſen, und Droſte ſelbſt nahm keinen Anſtand, den Kölnern durch die Pfarrer mitzutheilen, daß er die Rechte der Kirche gegen die Anſchläge der weltlichen Gewalt verthei - digen wolle. Sollte man warten, bis dieſe Aufwiegelung ihre Früchte trug? Der Oberpräſident Bodelſchwingh verſicherte beſtimmt, daß Droſte beabſichtige, ſich im Ornate vor dem Hochaltare des Domes gefangen nehmen zu laſſen, um dergeſtalt das der Kirche allezeit vortheilhafte Mar - tyrium mit geiſtlichem Pomp zu vollenden.

Am 14. November wurde ein großer Miniſterrath unter dem Vor - ſitze des Königs abgehalten. Bunſen wohnte der Berathung bei. Er war, gleich ſeinem Gönner dem Kronprinzen, zu jeder möglichen Nachgiebigkeit bereit und hatte ſoeben erſt durchgeſetzt, daß jene unbillige alte Verord - nung, welche die Soldaten alleſammt zum Beſuch der evangeliſchen Kir - chenparaden verpflichtete, vom Könige aufgehoben wurde; aber nach Allem was geſchehen glaubte er in Rom nichts mehr erreichen zu können, wenn nicht der Staat zuvor durch Thaten ſein Anſehen gewahrt habe. Dahin war es gekommen ſo ſagte ſelbſt der Freund des Kronprinzen, Anton Stolberg daß ſich einfach die Frage ſtellte, ob der König oder der Erzbiſchof das Ruder der Regierung führen ſolle. *)Stolberg an Cuny, 16. Dec. 1837.Demnach beſchloſſen die Miniſter, den Erzbiſchof aus ſeiner Diöceſe zu entfernen, wenn er ſein Amt nicht freiwillig niederlege; er ſollte in ſeine Münſterſche Hei - math, oder falls er ſich hartnäckig widerſetze, nach einem feſten Platze ab - geführt werden. **)Cabinetsordre an Bodelſchwingh, 15. Nov. 1837.Der Befehl wurde am 20. November durch Bodel - ſchwingh und General Pfuel gewandt, ohne unnütze Härte ausgeführt; Droſte verblieb vorläufig auf der Feſtung Minden, da er nicht in ſeine Heimath gehen wollte. Unzweifelhaft gebrauchte die Krone nur ihr gutes Recht. Da die altpreußiſche Geſetzgebung für politiſche Vergehen auch im Rheinlande galt, ſo war der König ebenſo befugt den widerſetzlichen Erz - biſchof durch einen Verhaftsbefehl unſchädlich zu machen, wie einſt Fried - rich der Große von Rechtswegen die Fürſtbiſchöfe Sinzendorf und Schaff - gotſch aus Breslau hatte entfernen laſſen. Aber die Zeit war verwandelt. Dies Recht der abſoluten Krone lebte nicht mehr im Rechtsbewußtſein des Volkes, ſondern erſchien bereits als Willkür; und was noch übler war, die öffentliche Meinung mußte glauben, daß der Staat katholiſche Prieſter zur Spendung des Sakraments der Ehe, das die Kirche doch nur nach ihrem eigenen Ermeſſen gewähren oder verſagen kann, durch zwingenden Befehl nöthigen wolle.

699Droſte’s Abführung. Die Allocution.

Dieſen Vortheil konnte ſich die Curie unmöglich entgehen laſſen, und was ihr die diplomatiſche Klugheit gebot, befriedigte zugleich ihren unaus - löſchlichen Haß. Wohl war der preußiſche Staat am früheſten unter allen proteſtantiſchen Mächten der römiſchen Kirche gerecht worden. Dennoch blieb er dem Papſtthum der Todfeind, der Hort und Halt des Proteſtan - tismus, ſeine Krone ruhte auf einem ſeculariſirten Kirchenlande; und bot ſich die Gelegenheit, das Vaterland Martin Luther’s in ſeinem politiſchen Kerne anzugreifen, dann mußten alle die ſo lange verhüllten Empfindungen des Vaticans zu Tage treten. Sofort nach den erſten Kölniſchen Nach - richten verſammelte Gregor die Cardinäle, ohne auch nur die ihm aus Berlin zugeſagten näheren Mittheilungen abzuwarten, und ſagte am 10. Dec. in einer grimmigen Allocution: Was Niemand ſich vorſtellen oder ausſinnen konnte, was auch nur leichthin zu muthmaßen ein Ver - brechen geweſen wäre, das iſt auf wohlberechneten Antrieb der weltlichen Gewalt geſchehen. Darum erhob er ſeine Stimme um die verletzte kirch - liche Freiheit, die verhöhnte biſchöfliche Würde, die mit Füßen getretenen Rechte der katholiſchen Kirche und dieſes heiligen Stuhles öffentlich klagend zurückzufordern . Ein Ton urkräftigen Behagens klang durch dieſe Ver - wünſchungen; Jedermann fühlte, hier ſprach das Herz des chriſtlichen Pontifex. Seit der Wiederherſtellung des Kirchenſtaates geſchah es zum erſten male, daß die Curie einen mächtigen Staat alſo zu beleidigen wagte; und da das leere Pathos der Allocutionen noch nicht, wie unter Gregor’s Nachfolger, durch beharrliche Wiederholung vernutzt war, ſo hallten die Flüche des Papſtes weithin in der katholiſchen Welt wieder.

Auf ſolche Beſchimpfungen gab es nur eine Antwort. Die Krone Preußen mußte ihren Geſandten aus Rom abberufen und, ohne den Vatican eines Wortes zu würdigen, ſofort die bürgerliche Eheſchließung einführen ein entſcheidender Schlag, worauf man in Rom am wenigſten gefaßt war. Dann bot die Lage des verwaiſten Erzbisthums wenig Schwierig - keiten. Die Mehrheit des Kölner Domcapitels war hermeſianiſch geſinnt und folgte den Rathſchlägen jenes Capitulars München, welcher einſt die kunſtvolle Auslegung des Breves verfaßt hatte. Das Capitel übernahm auf Verlangen der Staatsgewalt unbedenklich die vorläufige Verwaltung der Diöceſe, wählte den Domkapitular Hüsgen zum Generalvicar und be - ſchwerte ſich bei der Curie, natürlich nicht ohne die herkömmlichen Wehklagen, über die Härte des gefangenen Erzbiſchofs. Ein ſcharfer Verweis des Papſtes hatte keine fühlbaren Folgen. Als der Nuntius Spinelli in Brüſſel verſuchte die Wahl Hüsgen’s für unkanoniſch, ſeine Faſtenindulte für nichtig zu erklären, da ſchritt der König mit einem ſcharfen Verbote ein, und die Curie erwiderte verlegen, Spinelli habe ohne Auftrag gehandelt. *)Rochow’s Bericht an den König, 5. Apr.; Cabinetsordre v. 9. Apr. 1838.Auch die Vorleſungen am Bonner Convict durften, mit Erlaubniß des Dom -700IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.capitels, wieder eröffnet werden, da die Hermeſianer ſich der dogmatiſchen Entſcheidung des Papſtes unterwarfen. *)Protokoll des Domcapitels, 27. Nov. 1837.So ließen ſich die Zuſtände in der Erzdiöceſe wohl noch eine gute Weile hinhalten, wenn nur der Stein des Anſtoßes, der Streit um die gemiſchten Ehen, aus dem Wege geräumt wurde.

Die Regel der kirchlichen Eheſchließung wurde in einem paritätiſchen Staate ſchlechterdings unhaltbar ſobald die Eintracht zwiſchen Papſt und Krone aufhörte. Hielt der Staat auch dann noch an dieſer Vorſchrift feſt, ſo blieb ihm nur die Wahl, ob er die Gewiſſen der katholiſchen Prieſter tyranniſch mißhandeln oder ſeine eigenen Geſetze der Willkür der Landesbiſchöfe unter - werfen wollte. Dem preußiſchen Hofe und der Lehre vom chriſtlichen Staate, wie ſie in Berlin aufgefaßt wurde, war dieſe Einſicht fremd; die Frage lag überhaupt noch außerhalb des Ideenkreiſes der Zeit. Kein einziger unter den unzähligen Schriftſtellern, welche den Kölner Biſchofsſtreit beſprachen, er - örterte die Bedeutung der bürgerlichen Ehe mit eindringender Sachkenntniß. Der König hielt alſo die Fortdauer der kirchlichen Eheſchließung für ganz ſelbſtverſtändlich. Nun ſah er ſeine katholiſchen Unterthanen von ſchweren Gewiſſensbedenken gepeinigt, und er mußte anerkennen, daß die bürger - liche Ordnung, trotz der ſtarken Aufregung, welche namentlich die Frauen ergriffen hatte, in den Rheinlanden faſt ganz ungeſtört blieb. Die Ge - wiſſen zu bedrängen war ihm ja niemals in den Sinn gekommen, er hatte nur nach ſeiner königlichen Pflicht die freche Verhöhnung der Landes - geſetze verhindern wollen. Um die erregten Gemüther zu beſchwichtigen, unterzeichnete er alſo am 28. Jan. 1838 eine Cabinetsordre, welche in milden Worten ausſprach, den Geiſtlichen ſei nur unterſagt, ſich ein förmliches Verſprechen für die Erziehung der Kinder in der katholiſchen Religion geben zu laſſen ; beſcheidene Erkundigungen blieben den Prieſtern unverwehrt, und in zweifelhaften Fällen ſollten die Biſchöfe entſcheiden ohne daß ein Verfahren bei den Staatsbehörden ſtattfände . Dieſer offenbar wohlgemeinte Erlaß war doch nichts anders als ein vollſtändiger Rückzug der Staatsgewalt; er bewies nur, wie wenig man in Berlin den Sinn des Streites zwiſchen dem ſouveränen Staate und der kirchlichen Herrſchſucht verſtand. Den Biſchöfen blieb fortan die letzte Entſcheidung über die gemiſchten Ehen vorbehalten. Mehr wollte ja Droſte ſelbſt nicht; warum hielt man alſo den ultramontanen Heißſporn noch gefangen?

Noch weit ſchwerer als durch dieſen Rückzug ward das Anſehen der preußiſchen Krone durch die unglaubliche Thorheit ihrer Diplomaten in Rom geſchädigt. Lambruschini ſcheute ſich nicht, die Allocution dem Lega - tionsrath v. Buch, der den abweſenden Geſandten vertrat, zu überſenden eine neue, muthwillige Beleidigung, da die wuthſchnaubende Anrede des Papſtes gar nicht an den preußiſchen Hof gerichtet war. Buch war ein701Rückzug des Staates. Bunſen in Wien.wackerer märkiſcher Edelmann, ſo durchaus ehrlich, daß die geriebenen Monſignori des Vaticans quello barone tedesco als eine römiſche Merk - würdigkeit betrachteten; wie die meiſten ſeiner brandenburgiſchen Landsleute hatte er vom katholiſchen Weſen ſchlechterdings keinen Begriff und verwech - ſelte die gewaltige moraliſche Kraft dieſer Weltkirche arglos mit der lächer - lichen Schwäche des Kirchenſtaates. In ſeiner Erwiderung auf die Mitthei - lung des Cardinal-Staatsſecretärs (12. Dec.) bedauerte er höflich, daß der Papſt ſo vorſchnell gehandelt habe, und ſprach zugleich die Hoffnung aus, bei beſſerer Kenntniß der Thatſachen werde der römiſche Hof wohl ſein Urtheil über die fragliche Angelegenheit berichtigen und, dem Wunſche der königlichen Regierung willfahrend, ihr ſeinen Beiſtand leihen um eine geregelte Verwaltung im Kölner Bisthum herzuſtellen . Nach erneuter Prüfung fand er dieſe Antwort doch ſelbſt fragwürdig. Er ſendete Ab - ſchrift nach Berlin und fügte unſchuldig hinzu: Meine Erwiderung wird vielleicht zu ſchwach ſcheinen; aber die Ehre des königlichen Gouverne - ments kann ſchwerlich darunter leiden, da das Benehmen Preußens, einem ſo ohnmächtigen Gegner wie dem päpſtlichen Hofe gegenüber, wohl nie als ein Zeichen von Furcht und Schwäche, ſondern als ein Beweis von weiſer Mäßigung betrachtet werden kann . Was half es, daß Miniſter Werther dem gutmüthigen Geſchäftsträger nachträglich einen Verweis ertheilte? *)Buch an Lambruschini, 12. Dec. Buch’s Bericht an Werther, 14. Dec.; Werther, Weiſung an Bunſen, 29. Dec. 1837.Die Cardinäle erzählten ſich triumphirend, daß Preußen auf grobe Beſchimpfun - gen mit Höflichkeiten, ja mit einer Bitte geantwortet hatte.

Währenddem reiſte Bunſen auf ſeinen römiſchen Poſten zurück. So wenig kannten die Miniſter den Vatican: ſie ahnten gar nicht, wie der römiſche Stuhl die Verhaftung des Erzbiſchofs aufnehmen mußte, und da der Geſandte noch immer ſeine alte ſtolze Zuverſicht zur Schau trug, ſo begriffen ſie nicht einmal, daß Bunſen nach den Enthüllungen der jüngſten Monate in Rom ein unmöglicher Mann war. Er erhielt Befehl, die Curie über das Verfahren des Königs aufzuklären und mit ihr wegen der Wieder - beſetzung des Kölner Stuhles zu verhandeln. Ausdrücklich ward beſchloſſen, daß auf keine Weiſe je wieder an ein Abfinden mit dem Erzbiſchof und an ein Wiederzulaſſen deſſelben in ſeine Wirkſamkeit zu denken ſei. **)Bunſen’s Denkſchrift über die Miniſter-Conferenzen v. 9. u. 10. Nov. 1837.Bunſen nahm den Weg über Wien. Dort hatte er mit Metternich mehrere lange Unterredungen und mit gewohnter Selbſtgefälligkeit bildete er ſich wieder ein, den Fürſten faſt ganz gewonnen zu haben. Allerdings befand ſich der Oeſterreicher in einiger Verlegenheit, da der Preuße ganz beſtimmt verſicherte, Droſte würde den Kölner Dom niemals wiederſehen. Gegen den erklärten Willen des befreundeten Königs von Preußen offen vorzu - gehen wagte Metternich nicht. Wer aber den Wiener Hof und die dort702IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.herrſchende clericale Geſinnung näher kannte, mußte ſofort bemerken, daß der Staatskanzler mit allen ſeinen Wünſchen auf Seiten der Curie ſtand. Seine Gemahlin Melanie, die Erzherzogin Sophie und die beiden Kaiſerin - nen ergingen ſich in Wehklagen über die Leiden des Kölniſchen Märtyrers. Der bisher ſehr geringſchätzig behandelte belgiſche Geſandte O’Sullivan erlangte plötzlich hohe Gunſt bei dem ſtolzen kaiſerlichen Hofe, weil Belgien die feſte Burg der clericalen Partei war. *)Maltzan’s Bericht, 21. Dec. 1837.

An Maltzan richtete Metternich bald nach Bunſen’s Abreiſe ein langes Schreiben über die Kölniſchen Händel (19. Dec.) und ſchlug darin jenen orakelhaften Ton an, der ihm immer zu Gebote ſtand wenn er ſeine Ge - danken verbergen wollte: Dort wo Krieg im echten Sinne des Worts möglich iſt ſtehen die Sachen ſtets weniger böſe als dies der Fall iſt wo ſich Gewalten verzanken, welchen das Schlachtfeld, das materielle nämlich, nicht zu Gebote ſteht. Krieg kann allerdings aus ſolchem Gewebe werden, aber den führen ſonach Dritte .... Ich fühle, verzeihen Sie mir den Ausdruck, die Zukunft in der Gegenwart und gebe mich ſonach mit der letzteren nur in deren direkten Beziehungen auf die erſtere ab. Dies thue ich auch dermalen, und da Leidenſchaften nur der Gegenwart anheimfallen, ſo ſteht mir jede Färbung der Art ſtets fremd, ohne daß für mich auch das leiſeſte Verdienſt aus der Thatſache erflöſſe. So ging es weiter: lauter ſelbſtgefällige allgemeine Betrachtungen, nirgends eine beſtimmte Zuſage. **)Metternich an Maltzan, 19. Dec. 1837.Als Maltzan darauf den Staatskanzler bat, Oeſterreich möge die Bemühungen des preußiſchen Geſandten in Rom kräftig unterſtützen, da erwiderte Metternich: das können wir nicht; wir wollen neutral bleiben, um ſpäterhin für eine Ausſöhnung zu wirken. ***)Maltzan an Bunſen, 6. Jan. 1838.Noch deutlicher ſagte er nachher in einem Vortrage an ſeinen Kaiſer: die Kirchenpolitik und die Handelspolitik des Berliner Hofes hingen eng zuſammen, durch die evan - geliſche Union und durch den Zollverein ſuche Preußen die Suprematie im Deutſchen Bunde zu erlangen.

Gleichwohl war er kein unbedingter Gegner; einen förmlichen Bruch hätte er, nach ſeinen friedlichen Neigungen, gern vermieden geſehen. Darum gab er Bunſen den freundſchaftlichen Rath, jetzt nicht nach Rom zu gehen; in Wien wußte man beſſer als in Berlin, welche Luft im Vatican wehte. Bunſen ließ ſich jedoch in ſeinem kühnen Thatendrange nicht aufhalten. Er reiſte weiter, und als er in Ancona anlangte, fand er dort die Nach - richt von der Allocution des Papſtes. Dieſe dem preußiſchen Geſandten völlig unerwartete Wendung warf alle ſeine Berechnungen über den Haufen, und that er beſcheiden ſeine Pflicht, ſo mußte er zunächſt in Berlin an - fragen, wie er ſich in der gänzlich veränderten Lage zu verhalten habe. Solche Selbſtverleugnung war ihm fremd, und doch fühlte er ſich durch703Die Note von Ancona. Abberufung Bunſen’s.die herausfordernde Sprache der Curie eingeſchüchtert. Am 17. Dec. ſchrieb er in Ancona eine Note an Lambruschini, welche die harmloſen Thorheiten ſeines Vertreters Buch noch weit überbot. Er ſtellte ſich an, als ob er die Allocution, die jetzt in jedem Cafehauſe auflag, noch nicht genau kenne, und ſprach die Hoffnung aus, daß ſie wohl nicht das end - giltige Urtheil des Papſtes enthalten, weitere Verhandlungen nicht ab - ſchneiden ſolle. Dann verſicherte er ſeinen Weiſungen ſchnurſtracks zuwider der König habe den Erzbiſchof nur auf Zeit (temporairement) aus Köln entfernt und wolle ſich als klagender Theil (partie plaignante) dem kanoniſchen Urtheil des Papſtes unterwerfen. Welch eine Schmach für Preußen, wenn die Curie auf dieſe Anerbietungen einging! Zum Glück war Lambruschini zu hochmüthig; vielleicht ſchenkte er auch der un - erwarteten Demuth des vordem ſo zuverſichtlichen Geſandten keinen Glauben. Genug, er erwiderte ſchroff: zuerſt müſſe Droſte wieder eingeſetzt werden, dann erſt könne von neuen Verhandlungen die Rede ſein.

In Rom ward dem Geſandten ſogleich mitgetheilt, daß der Papſt ihn nicht empfangen wolle eine Nachricht, die nur ihn ſelber überraſchte. Zuerſt fühlte er ſich ganz niedergeſchmettert, dann raffte er ſich in leicht - fertiger Hoffnungsſeligkeit wieder auf, verſuchte nochmals mit Lambruschini anzuknüpfen und ertheilte der preußiſchen Regierung unerbetene Rathſchläge für ihre Kirchenpolitik. Aber ſeine Rolle in Rom war ausgeſpielt; von allen den Nadelſtichen, welche einen mißliebigen Diplomaten peinigen, blieb ihm keiner erſpart. Der Papſt und die Cardinäle zeigten ſich ganz un - verſöhnlich; ſelbſt Capaccini fiel in Ungnade, weil er in den Kölner Händeln zu vermitteln geſucht hatte. *)Bunſen’s Bericht, 10. Jan. 1838.Den Miniſtern in Berlin gingen nun endlich die Augen auf; ſie wußten, daß Metternich mit unverhohlener Schadenfreude von der Demüthigung des gelehrten preußiſchen Diploma - ten ſprach. Bunſen erhielt zuerſt den Auftrag, ſich jeder weiteren Erklä - rung zu enthalten, ſodann ſcharfe Verweiſe wegen der Uebertretung ſeiner Inſtructionen**)Werther an Bunſen, 19. Jan., 23. März, 31. Mai 1838., ſchließlich den gemeſſenen Befehl, die Anerbietungen ſeiner Anconer Note förmlich zurückzunehmen (rétracter). Auch dieſes Auftrags entledigte er ſich nicht mit der Würde eines Mannes, der einen began - genen ſchweren Fehler freimüthig eingeſteht; er ſagte dem Cardinal-Staats - ſekretär nur in gewundenen Sätzen, die früheren Vorſchläge ſeien durch die Erwiderungen des römiſchen Stuhls jetzt hinfällig geworden. ***)Bunſen an Lambruschini, 24. April 1838.So blieb ſein Verhalten unaufrichtig vom Anfang bis zum Ende. Im April 1838 ward er abberufen. Die wenigen Prälaten, die noch der geiſtreichen Geſelligkeit im Palazzo Caffarelli dankbar gedachten, durften nicht wagen, den Scheidenden zu beſuchen†)M. Mariano an Bunſen, 22. April 1838.; ſie fürchteten die Ungnade des Papſtes.

704IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.

Es rächte ſich doch, daß man in dieſe ſchwierige Stellung ſtatt eines kühlen Weltmanns einen evangeliſchen Theologen berufen hatte, der den harten Machtkampf zwiſchen Staat und Kirche nicht blos mit den Augen des Politikers betrachtete und darum ſchon der Curie verdächtig war. So - bald Bunſen ſeinen Sturz vorherſah, wallte die theologiſche Leidenſchaft in ihm auf, und er ſang, vom Capitol nach St. Peter hinüber:

Schau, hier im Fels, an dem Du ſollſt zerſchellen,
Der grolleſt auf dem Zauberberge drüben,
Iſt des Geſchickes Nagel eingetrieben,
Wie ſich’s gebührt, an Capitoles Schwellen
Und hinter ihm kannſt meinen Namen finden.

So maßlos war das Selbſtgefühl des Mannes: in dem Augenblicke, da er nach ſelbſtverſchuldeten diplomatiſchen Niederlagen das Feld räumen mußte, meinte er ein anderer Martin Luther zu ſein! In Berlin wollte man ihn vorerſt nicht empfangen; ſelbſt ſein Gönner Wittgenſtein konnte ihm nur väterlich rathen: vergeſſen Sie Rom und alle Unbilden! *)Werther an Bunſen, 22. Mai; Wittgenſtein an Bunſen, 1. April, 27. Mai, 10. Juni 1838.Aber ſein wunderbares Glück blieb ihm treu. Der König und der Kronprinz bewahrten ihm die alte Gunſt; ſie verziehen ihm Mißerfolge, welche jeden anderen Staatsmann vernichtet hätten. Nach kurzer Zeit ſchon wurde ihm, zum Erſtaunen der diplomatiſchen Welt, der Geſandtſchaftspoſten in der Schweiz anvertraut.

Am Berliner Hofe herrſchte allgemeine Beklommenheit, der Bankbruch des alten Syſtems der Kirchenpolitik kündigte ſich an. Wie feſt hatte der König auf Bunſen’s zuverſichtliche Rathſchläge gebaut. Nun kam Alles anders, nun mußte er erleben, wie die Wegführung des Erzbiſchofs in ſtiller Zeit mehr Lärm erregte als einſt die Gefangennehmung des Papſtes in den aufgeregten napoleoniſchen Zeiten. Daß ſeine katholiſchen Unter - thanen ihm Unduldſamkeit und Gewiſſenstyrannei zutrauten, bekümmerte ihn tief. Er kannte die Curie genugſam um zu wiſſen, daß man von ihr nie die Aufopferung eines Grundſatzes, ſondern nur ein ſtillſchweigendes Geſchehenlaſſen erwarten dürfe was er ſeinen Miniſtern beſtändig ein - ſchärfte. Doch viel weiter reichte ſeine Kenntniß der römiſchen Dinge nicht. Da er den Kirchenſtreit ſehr ernſt nahm, ſo befahl er, daß die drei Miniſter des Innern, des Auswärtigen, des Cultus ihm immer ge - meinſam darüber berichten ſollten. **)Entſcheidung des Königs auf Rochow’s Bericht v. 23. Jan. 1838.Leider war keiner von ihnen der Aufgabe gewachſen. Rochow betrachtete den Handel, nach altbranden - burgiſcher Weiſe, lediglich als eine Frage der bureaukratiſchen Ordnung. Werther beſaß, bei größerer Weltkenntniß, auch nur Sinn für die diplo -705Verlegenheit am preußiſchen Hofe.matiſche Seite der Angelegenheit. Altenſtein endlich, deſſen Stimme hier am ſchwerſten wog, kränkelte ſchon längſt und wankte dem Grabe ent - gegen; die Rathſchläge Schmedding’s, der ſich die Bedrängniß der Kirche ſehr zu Herzen nahm, konnten ihn unmöglich ermuthigen.

Seine natürliche Aengſtlichkeit, man merkte es bald, wurde noch ge - ſteigert durch die ſtille Furcht vor dem Thronfolger; die kommende Re - gierung warf ſchon ihren Schatten in die gegenwärtige hinein. Während der Kronprinz auf das evangeliſche Kirchenregiment längſt einen ſehr fühlbaren Einfluß ausübte, wurde er der katholiſchen Kirchenpolitik in der Regel fern gehalten, zumal jetzt, nachdem ſich die Empfehlung Droſte - Viſchering’s ſo übel bewährt hatte. Als um dieſe Zeit General Gröben und Oberſt Gerlach von Berlin hinwegverſetzt wurden, da behauptete man allge - mein, der alte Herr wünſche die Romantiker aus der Umgebung ſeines Sohnes zu entfernen. *)Berger’s Bericht, 6. April 1838.Weit entfernt, das Benehmen ſeines Schützlings zu billigen, ſagte der Thronfolger in einem bald veröffentlichten Schreiben an einen rheiniſchen Geiſtlichen ſehr ſcharf, hier handle es ſich einfach um die Erfüllung eines feierlich gegebenen Verſprechens. Die unſchickliche Sprache der päpſtlichen Allocution verletzte ſein fürſtliches Selbſtgefühl ſo tief, daß er im erſten Unwillen vorſchlug, der König möge die Zahlung der Dotation an die katholiſche Kirche vorläufig einſtellen. **)Kronprinz Friedrich Wilhelm an Lottum, 2. Febr. 1838.Gleichwohl äußerte er ſich mit der höchſten Verachtung über das ſchlechte, elende, verſtänd - nißloſe Benehmen der Regierung. Was er eigentlich wollte, wußte noch Niemand, er ſelbſt wohl am wenigſten; nur ſo viel war ſicher, daß er den Anſprüchen des Clerus ſehr weit entgegen zu kommen dachte. Dies genügte, um den greiſen Altenſtein mit ernſten Beſorgniſſen zu erfüllen. So geſchah es, daß dieſe ſchwierige Frage mit einer in Preußen beiſpiel - loſen Schlaffheit behandelt wurde. Faſt zu jedem Berichte der drei Mi - niſter bemerkte der ſonſt mit Marginalnoten ſehr ſparſame König ärger - lich: hätte längſt geſchehen ſollen; warum hat man nicht früher daran gedacht; ſehr zu mißbilligen, daß dies nicht ſchon angeordnet. Einmal ſagte er dem Cultusminiſter geradezu: Dieſe an ſich ſchon verwirrte und unangenehme Angelegenheit wird in einer Art behandelt, als wenn es Abſicht wäre ſie recht zu verwickeln. ***)Cabinetsordre an Altenſtein, 29. Febr. 1840.

Schon am 2. Febr. 1838 beantragte Werther die dringend nöthige Abberufung Bunſen’s, und nach drei Wochen ſtimmte der König zu. †)Werther’s Bericht an den König, 2. Febr. Cabinetsordre an die drei Miniſter 27. Febr. 1838.Dennoch währte es noch mehrere Monate, bis der unmögliche Diplomat, der jetzt in Rom nur Schaden ſtiften konnte, endlich die ewige Stadt ver - ließ. Ebenſo ſchwerfällig und zögernd verfuhr man auch gegen den ge -Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 45706IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.fangenen Erzbiſchof. Der ſaß jetzt in leichter Haft in einem Bürgerhauſe zu Minden; er theilte ſeine Zeit zwiſchen geiſtlichen Uebungen und ſtillen Betrachtungen bei der Tabakspfeife. Seine Wiedereinſetzung war undenk - bar, gleich undenkbar aber auch ein Verzicht des hartköpfigen Prälaten. Doch was nun? Konnte man ihn wirklich des Hochverraths bezichtigen? Altenſtein glaubte dies anfangs ganz beſtimmt. In einem Briefe an das Kölner Domkapitel ſagte er, Droſte’s Handlungen hingen zuſammen mit dem feindſeligen Einfluß von zwei revolutionären Parteien, und in einem, zur Belehrung der Rheinländer bald veröffentlichten Schreiben an den Ober - präſidenten Bodelſchwingh wiederholte er dieſen Vorwurf. Die Beſchul - digung ließ ſich nicht erweiſen. Der getreue Kaplan Michelis hatte unmittelbar vor der Verhaftung die wichtigſten Briefſchaften Droſte’s ver - brannt. Er ſelbſt wurde nachher nach Magdeburg abgeführt, und es fanden ſich auch einige Briefe, welche ſeine feindſelige, landesverrätheriſche Geſinnung außer Zweifel ſtellten und darum von der Regierung ſofort bekannt gemacht wurden. Doch der Thatbeſtand des verſuchten Hochver - raths lag nicht vor; um ſo weniger durfte man annehmen, daß Droſte’s heilige Einfalt, die doch nur von Anderen mißbraucht werden konnte, ſich mit politiſchen Plänen getragen hätte. Daß er ſein Amt nicht wieder er - langen konnte, fühlte Droſte nachgerade ſelbſt; aber niemals legte er ſich die Frage vor, ob er nicht ſeine beſchworene Pflicht gegen die Staats - gewalt verletzt habe.

Ohne jede Spur von Reue ſchrieb er im Auguſt 1838 an den König um ſich über ſeine Gefangenſchaft zu beklagen: Ob es vor Gott gerecht ſei und zum Guten führen könne, wenn Ew. Maj. jene Zwangsgewalt, welche Gott Eurer Maj. insbeſondere zur Beſchützung jedes Rechts, alſo auch zur Beſchützung der katholiſchen Kirche, ihres Epiſkopats und ihrer Mitglieder anvertraut hat, noch fernerhin gebrauchen um mich zu ver - hindern nach Köln zurückzukehren, um noch fernerhin die von Gott ge - knüpfte Verbindung, gleich dem ehelichen Bande, unter Hirt und Herde, unter Vater und Kindern zu hemmen, das wollen Ew. Maj. unter Gottes Beiſtand allergnädigſt zu erwägen geruhen. Als ihm darauf der Regie - rungspräſident im Namen des Königs eröffnete, ſeine Gefangenſchaft ſei nach dem Geſetze gerechtfertigt, ſeine Rückkehr unmöglich, da erwiderte der Erzbiſchof: vergeblich habe er gehofft, daß Fürſt Metternich den König umſtimmen würde; jetzt liege ihm nichts mehr an einem Amte, das er nicht mit Freudigkeit führen könne; nur auf vierundzwanzig Stunden wolle er nach Köln zurück um dort mit Zuſtimmung des heiligen Stuhls ſeine Würde feierlich niederzulegen. *)Droſte-Viſchering, Eingabe an den König, 24. Aug. Schreiben der drei Mini - ſter an Reg. -Präſident Richter in Minden, 31. Aug. Bericht der drei Miniſter an den König, 18. Oct. 1838.Dabei blieb er: die Krone ſollte707Droſte-Viſchering in Weſtphalen.ſich vor ihm demüthigen und, indem ſie ihm den Einzug in Köln geſtat - tete, ihr Unrecht förmlich eingeſtehen.

Auf ſolche Zumuthungen einzugehen fiel keinem der Miniſter bei; vielmehr erwogen ſie, ob der Prälat nicht durch Urtheil und Recht ab - geſetzt werden müſſe. Ohne Zweifel hatte er den Vorſchriften ſeines Amtes vorſätzlich zuwider gehandelt und mußte alſo nach dem Allgemeinen Land - rechte (Thl. II. Tit. 20 § 333) ſofort caſſirt werden . Aber war der Erzbiſchof wirklich nur ein Staatsbeamter? Hatte er nicht geglaubt, die Vorſchriften ſeines Amtes zu erfüllen, als er dem päpſtlichen Breve nach - kam? Und durfte man ihn beſtrafen, weil er, allerdings eigenmächtig und wortbrüchig, denſelben Rechtszuſtand hatte erzwingen wollen, der ſoeben durch die Cabinetsordre vom 28. Jan. 1838 im Weſentlichen anerkannt war? Jetzt zeigte ſich, daß die Vorſchriften des Allgemeinen Landrechts nicht mehr im Rechtsbewußtſein des Volkes, auch nicht des Richterſtandes lebten. Kamptz hielt für ſicher, daß jedes preußiſche Gericht den Erzbiſchof als einen pflichtvergeſſenen Staatsdiener verurtheilen würde; Mühler aber zweifelte daran. Auf Grund dieſer Gutachten ihrer Amtsgenoſſen ge - langten die drei Miniſter zu dem Ergebniß, eine gerichtliche Unterſuchung ſcheine zuläſſig, aber nicht rathſam, es ſei denn, daß Droſte ſelbſt ſie ver - lange. *)Bericht der drei Miniſter, 8. Mai, nebſt Rechtsgutachten von Kamptz, 26. Febr., von Mühler, 18. März 1839.Nach langwierigen Berathungen wurde Droſte endlich in ſeine Heimath Darfeld bei Münſter verwieſen, wo er ſtill ſeinen mönchiſchen Gewohnheiten lebte. Nach Alledem mußte das katholiſche Volk wohl zu dem Verdachte gelangen, die Krone ſelbſt glaube nicht an ihr Recht. Der weſtphäliſche, nachher auch der rheiniſche Adel ſchickten bald nach Droſte’s Wegführung Abgeſandte in die Hauptſtadt. Ueberall, auch beim Kronprinzen fanden ſie verſchloſſene Thüren; der König ließ ihnen ſehr ernſtlich die Er - wartung ausſprechen, daß ſie nunmehr, nachdem ſie die Thatſachen kennen gelernt, ſich beruhigen würden. **)Cabinetsordres vom 9. Jan. 1838, zur Erwiderung auf die Eingaben des Gf. Spee, des Frhrn. v. Mirbach u. A. vom 26. December 1837.Der Geſandte in Brüſſel Graf Galen legte ſein Amt nieder weil er die Anſichten der Regierung nicht mehr ver - treten könne; der junge Referendar Wilhelm v. Ketteler, der ſich von ſeinem geiſtlichen Berufe noch nichts träumen ließ, trat aus dem Staatsdienſte; der allgemein verehrte Freiherr Werner v. Haxthauſen verließ das Land und ſchloß ſich den grimmigſten Gegnern Preußens an. Bedenklicher war, daß die Biſchöfe von Paderborn und Münſter im Januar 1838 erklärten, nach der Allocution des Papſtes könnten ſie ſich an den geheimen Ver - trag über die gemiſchten Ehen nicht mehr binden. Als ſie nachher noch eine Fürbitte für Droſte wagten, wurden ſie vom Könige ſcharf abgewieſen. ***)Eingabe der Biſchöfe von Münſter und Paderborn an den König, 15. Dec. 1838. Beſcheid, 8. Jan. 1839.

45*708IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.

Bald ſchlug die clericale Bewegung auch in die öſtlichen Provinzen hinüber, wo man bisher ohne jedes Bedenken das Geſetz vom Jahre 1803 befolgt hatte. Am Rhein war die Mehrzahl der Geiſtlichen hermeſianiſch geſinnt und dem widerſetzlichen Erzbiſchof abgeneigt. In Poſen wurde der Erzbiſchof Martin v. Dunin durch den niederen Clerus fortgeriſſen, ein ſchwacher, ſehr wenig begabter, nachgiebiger Mann, der bisher dem Könige eine kriechende Unterwürfigkeit gezeigt hatte und darum auch nicht im Stande war zu widerſtehen, als jetzt der polniſche Adel und die Kapläne die Allocution des Papſtes benutzten um gegen das verhaßte Deutſchthum vorzuſtürmen. In tiefem Geheimniß, nur von dem Official Brodziszewski und einigen polniſchen Laien berathen, verfaßte Dunin im Januar 1838 einen Hirtenbrief, der den Geiſtlichen bei Strafe der Abſetzung verbot, gemiſchte Ehen ohne das Verſprechen katholiſcher Kindererziehung ein - zuſegnen. In Berlin erfreute ſich der Schmiegſame geringer Achtung. Gleichwohl wurde dieſe muthwillige, durch nichts veranlaßte Störung des confeſſionellen Friedens ſehr mild beurtheilt, da Dunin ſich bisher immer ruhig gehalten hatte. Die Regierung beſchloß, ihn wegen Verletzung der Staatsgeſetze vor Gericht zu ſtellen und ſeine Verordnung für nichtig zu erklären. *)Bericht der drei Miniſter, 29. März, Cabinetsordre v. 12. April 1838.Vorher ſollte Oberpräſident Flottwell verſuchen, den Erzbiſchof zur freiwilligen Zurücknahme des Hirtenbriefs zu bewegen. Der glatte Pole ſchien auch anfangs bereit; nachher nahm er, offenbar aufgeſtachelt durch ſeine adlichen Hintermänner, alle Zugeſtändniſſe wieder zurück. Der ungeſtüme gradſinnige Oſtpreuße aber konnte dieſe Winkelzüge nicht mehr mit anſehen und rief: Ich verachte Sie, Sie haben mich belogen. **)Flottwell’s Berichte, 19. 21. 23. April 1838.Auch die wiederholten freundſchaftlichen Vorſtellungen des Gerichtspräſidenten v. Frankenberg fruchteten nichts. Dunin ſtellte jetzt ſogar die Juſtizhoheit des Staates in Abrede und erklärte, daß er nur einem kanoniſchen Gerichte Rede ſtehen werde. Nunmehr fällte das Poſener Oberlandesgericht ſeinen Spruch; er lautete auf Amtsentſetzung und ſechs Monate Feſtungshaft.

Der Erzbiſchof war unterdeſſen im April 1839 nach Berlin gerufen worden. Erſt als er auch hier allen Mahnungen unzugänglich blieb, ver - kündigte man ihm das Urtheil und ſtellte ihm frei die Gnade des Monarchen anzurufen. Darauf ſchrieb Dunin einen höchſt unterthänigen, nichts - ſagenden Brief, den der König in ſeiner Langmuth als ein Gnadengeſuch anſah und mit dem Erlaß der Feſtungsſtrafe beantwortete. Vorläufig ſollte er, ohne Beſchränkung ſeiner Freiheit, in Berlin bleiben, bis die An - gelegenheiten ſeiner Diöceſe geordnet ſeien. ***)Dunin, Eingabe an den König, 23. Apr. Cabinetsordre an Dunin, 20. Mai 1839.Auf Grund der beſtehenden Geſetze konnte man ihn unmöglich milder behandeln. Aber dies harmloſe Mißgeſchick ihres Oberhirten genügte den polniſchen Edelleuten nicht; ſie709Erzbiſchof Dunin.brauchten nach dem rheiniſchen Muſter einen kirchlichen Märtyrer um das Landvolk gegen den proteſtantiſchen König aufzuwiegeln und bereiteten mit gewohnter ſchauſpieleriſcher Gewandtheit ein erſchütterndes Rührſtück vor. Am 3. October verſchwand der Erzbiſchof aus Berlin und eilte mit untergelegten Pferden, die ihm ſeine adlichen Freunde ſtellten, ſchnurſtracks nach Poſen; dort ward er vom Grafen Kwilecki und anderen Edelleuten empfangen und ſofort in den Dom geleitet, wo er zur tiefen Erbauung der Damen vom Sacré Coeur inbrünſtig betete. In einem ſchwülſtigen Briefe an den König berief er ſich auf das Beiſpiel des heiligen Apoſtel - fürſten Petrus, des großen Weltapoſtels Paulus und vieler heiligen Biſchöfe der erſten chriſtlichen Jahrhunderte . Auch die übrigen Akte der Komödie ver - liefen genau nach dem Plane der ſarmatiſchen Dramaturgen. Am Früh - morgen des 6. Oct. erſchienen die Beamten um die unvermeidliche Ver - haftung vorzunehmen. Der erzbiſchöfliche Palaſt auf der ſtillen Dom-Inſel war feſt verriegelt und mußte mit großem Lärm geöffnet werden. Die Eintretenden empfing Dunin’s Schweſter Scholaſtica mit jenem ſchrillen Jammergeſchrei, deſſen nur polniſche Lungen fähig ſind; der Erzbiſchof aber rief: Holen Sie Gensdarmen! Die Welt muß wiſſen, daß ich mit Gewalt von hier weggeführt werde. Dann wendete er ſich zu dem Haupt - mann Hacke, der ihm leiſe die Hand auf die Schulter legte: Sie ſind zu zart! Als ihm der Polizeidirector den Arm bot um ihn die Treppe hinabzugeleiten, ſagte er nochmals: Das iſt eine Gefälligkeit, das iſt keine Gewalt. Faſſen Sie mich nur an! *)Protokoll über die Verhaftung des Erzbiſchofs, vom Polizeirath Bauer u. A., 6. Oct. 1839.

Nun wurde er nach Colberg abgeführt und ſchrieb von dort ſogleich an den König im allerunterthänigſten Stile: er ſehe ſeine Haft als eine gerechte Fügung Gottes an und bitte nur, ihm eine andere Feſtung an - zuweiſen, wo ſich eine katholiſche Kirche befinde, damit ich wenigſtens den Troſt haben könnte, in einem, nach dem katholiſchen Ritus Gott geweihten Hauſe für das Wohl Ew. K. Majeſtät und für meine verwaiſte Heerde tagtäglich und inbrünſtiglich zu beten. Als ihn aber der König nunmehr aufforderte, wegen der vorläufigen Verwaltung des Erzbisthums Vorſchläge zu machen, die man gern berückſichtigen wolle, da ward er wieder ſtörriſch und antwortete: meine Vorſchläge gehen dahin, daß ich nach Poſen und mein ebenfalls entfernter Official Brodziszewski nach Gneſen zurückkehren muß. **)Dunin’s Eingaben an den König, 8. 25. October. Cabinetsordre an Dunin, 19. Oct. 1839.Wie häßlich erſchien dies bald kriechende, bald trotzige Benehmen des Polen neben der ehrenhaften Mannhaftigkeit des weſtphäliſchen Starr - kopfs. Die Poſener Katholiken veranſtalteten Kirchentrauer und andere Kundgebungen der Wehmuth; die Dekanate der Erzdiöceſe erklärten dem710IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.Miniſterium faſt alleſammt in tief unterwürfigen Eingaben, daß ſie den Weiſungen ihres Oberhirten folgen müßten. Unter den Deutſchen aber konnte Dunin’s Schickſal um ſo weniger Theilnahme erwecken, da er in den ſüddeutſchen Zeitungen einen höchſt unziemlichen Federkrieg gegen die Regierung unternommen hatte, und die polniſchen Grafen Raczynski, Grabowski, Lubinski natürlich nur als harmloſe Einzelne, nicht nach Verabredung jetzt in der Hauptſtadt erſchienen, um ſeine Befreiung zu erbitten. Seine Amtsbrüder freilich, die Biſchöfe Hatten von Erme - land und Sedlag von Culm geriethen in peinliche Verlegenheit; ſie waren Beide gute Preußen und bemühten ſich auch jetzt noch redlich den kirch - lichen Frieden aufrecht zu erhalten, während das blindgläubige Landvolk der Marienburger Gegend, von den Kaplänen aufgeregt, ſchon für den nächſten Charfreitag die Wiederherſtellung Polens erwartete. Aber nach - dem der Papſt ſo vernehmlich geſprochen hatte und der Erzbiſchof von Poſen vorangegangen war, konnten ſie nicht zurückbleiben, denn ein zwei - faches Eherecht in der preußiſchen Monarchie war offenbar unmöglich. Beide verlangten in Rundſchreiben an ihren Clerus, daß bei der Ein - ſegnung gemiſchter Ehen das päpſtliche Breve befolgt werden müſſe, und die Regierung ſah ſich genöthigt, auch dieſe Hirtenbriefe für unverbindlich zu erklären. *)Altenſtein an Biſchof Hatten, 5. Juli 1838. Schön’s Berichte, 13. April, 5. Mai, 26. Juli, 30. October 1838, 19. April 1839.

Unter allen Biſchöfen der Monarchie war nur noch einer, der das Geſetz vom Jahre 1803 und die ſeitdem beſtehende milde Uebung auch fernerhin anerkennen wollte: der Fürſtbiſchof von Breslau, Graf Sedlnitzky, ein edler Mann von milden, ariſtokratiſchen Formen, feingebildet, menſchen - freundlich, wohlthätig, in Allem ein Muſter chriſtlicher Liebe, aber bei Wei - tem nicht ſtark genug, um den Kampf mit dem römiſchen Stuhle aufzu - nehmen. Er ſtand ſchon damals den Anſchauungen der evangeliſchen Kirche ſo nahe, daß die ſtrengen Katholiken ihn kaum noch zu den Ihrigen rechnen wollten. Sobald er ſich weigerte dem Beiſpiele der anderen Biſchöfe zu folgen, ward er bei der Curie insgeheim angeſchwärzt. Darauf ſendete ihm der Papſt, das königliche Placet umgehend, durch die Vermittlung zweier vor - nehmer Damen der Provinz ein höchſt ungnädiges Schreiben; Gregor tadelte den Fürſtbiſchof hart, weil er die Rechte der Kirche ſaumſelig und gleich - ſam ſchläfrig vertheidigt habe, und forderte ihn auf das durch ſeine Schuld dem gläubigen Volke zugefügte Leid zu ſühnen. Friedfertig und ganz ohne Ehrgeiz, wie er immer geweſen, wollte Sedlnitzky jetzt ſogleich ſeine Würde niederlegen; nur auf des Königs ausdrücklichen Befehl vertagte er dieſen Entſchluß noch**)Cabinetsordre an Sedlnitzky, 7. Juli 1839. und ſuchte ſich vor dem heiligen Stuhle zu rechtfertigen (Juli 1839). Zur Antwort kam im Mai 1840 ein zweites noch ſchärferes711Haltung der Biſchöfe. Sedlnitzky.Schreiben des Papſtes, das den Fürſtbiſchof kurzerhand zur Abdankung aufforderte, weil er ſich die Gemüther der Gläubigen ganz entfremdet hätte. Einem ſolchen Befehle wagte der gutmüthige Prälat nicht zu widerſprechen, ſein Rücktritt war nur noch eine Frage der Zeit. Die ultramontane Partei im ſchleſiſchen Clerus bekämpfte ihn mit unverhohlenem Haſſe, und auf ſeine Heerde konnte ſich der längſt geſchwächte Epiſcopat nicht mehr ver - laſſen. So wunderbar hatte ſich, zur Ueberraſchung aller Regierungen, die Stimmung des katholiſchen Volkes in den letzten Jahrzehnten verwan - delt: wer noch gläubig an der Kirche hing, hielt unbedingt zum heiligen Vater.

Wenn Bunſen einſt gehofft hatte, die Curie mit Hilfe der Landes - biſchöfe zu bezwingen, ſo waren ſeine Pläne nicht nur geſcheitert, ſondern ins Gegentheil umgeſchlagen: jetzt führte die Curie den geſammten preu - ßiſchen Epiſcopat gegen die Krone ins Feld, und dieſer Streit verwickelte ſich ſo ſeltſam, daß ſelbſt eifrige Proteſtanten nicht mehr mit ungetheiltem Herzen auf Seiten des Königs ſtehen konnten. Gewiß mußte jeder treue Preuße billigen, daß die Krone offenbare Widerſetzlichkeit gegen die Staats - geſetze nicht dulden wollte. Ein ſachlicher Widerſpruch aber beſtand ſeit der Cabinetsordre vom 28. Januar 1838 nicht mehr. Die Curie verlangte das Verſprechen der katholiſchen Kindererziehung vor jeder kirchlichen Trauung; der Staat geſtattete den Pfarrern der weſtlichen Provinzen, beſcheidene Erkundigungen wegen der Kindererziehung anzuſtellen und über - wies dann die letzte Entſcheidung den Biſchöfen. Wo war hier ein erheb - licher Unterſchied? Die Staatsgewalt hatte in der Rheinprovinz den For - derungen der römiſchen Kirche nachgegeben und ſie konnte ſelbſt nicht mehr wünſchen, daß auf die Dauer im Oſten ein anderes Staatskirchenrecht gelte als im Weſten.

Wie ſollte eine Regierung, die neben einer Fülle von Talenten zweiten Ranges keinen einzigen beherrſchenden Kopf beſaß, aus ſolchen Irrwegen hinausgelangen? Der römiſche Stuhl ergriff jede Gelegenheit um die preußiſche Krone von Neuem zu reizen. Als der König gegen Dunin’s Widerſetzlichkeit zuerſt einſchritt, legte Cardinal Lambruschini ſofort Ver - wahrung ein wider dieſen Mißbrauch der weltlichen Gewalt. *)Lambruschini an Buch, 25. Juli; Buch’s Bericht, 25. Juli 1838.Dann hielt der Papſt, am 13. September 1838, eine zweite Allocution, die noch ge - häſſiger klang als die erſte: er empfahl Dunin’s unbeſiegte Mannhaftig - keit allen preußiſchen Biſchöfen als Vorbild und beſtritt ſogar das alte Recht des königlichen Placet. Im Juli 1839 folgte eine dritte Allocution ähnlichen Inhalts, und alle dieſe feindſeligen Anſprachen ſendete Lambrus - chini an den preußiſchen Geſchäftsträger. Buch erhielt zwar endlich Be - fehl, dergleichen Zuſendungen in Zukunft nicht mehr anzunehmen, aber der diplomatiſche Verkehr ward nicht abgebrochen; denn Altenſtein warnte712IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.vor einer offenen Kriegserklärung , und der König ſtimmte ihm bei, gegen den Rath der anderen Miniſter. *)Berichte der drei Miniſter, 10. Nov. 1838; 3. Nov. 1839.So mußte Buch ausharren, obgleich Verhandlungen vor der Hand ganz unmöglich waren, und nur weil er perſönlich vom Papſte hoch geſchätzt wurde, konnte er dieſen widerwärtigen Zuſtand eine Weile ertragen.

Der König fühlte ſich tief unglücklich und ſuchte ſeine Poſener Unter - thanen durch eine ernſte Anſprache zu beruhigen. Er hatte die unbeſtimmte Empfindung, daß irgend etwas geſchehen müſſe, und ſeine Miniſter im Finſtern tappten . Zur legislativen Feſtſtellung der zweifelhaft gewor - denen ſtaats - und kirchenrechtlichen Verhältniſſe bildete er ſchon im Februar 1838 eine Commiſſion, welcher neben anderen hohen Beamten auch der Rechtshiſtoriker K. F. Eichhorn angehörte. **)Cabinetsordre vom 17. Febr. 1838.Ihre Arbeiten wurden dann im Staatsrathe wie im Staatsminiſterium begutachtet; zur weiteren Be - rathung berief man noch ſechs Oberpräſidenten nach Berlin, denn nur zwei von den acht Provinzen, Brandenburg und Pommern waren von dem Kirchenſtreite unberührt geblieben. Nach Jahresfriſt etwa lagen ſechs Geſetzentwürfe fertig vor, darunter zwei Strafgeſetze wider ſolche Geiſt - liche, welche die Kanzel mißbrauchten oder den öffentlichen Frieden ſtörten, und ein ſehr ſtrenges Geſetz über die gemiſchten Ehen, das nicht nur, nach dem Geſetze vom Jahre 1803, die Erziehung aller Kinder im Bekenntniß des Vaters anbefahl, ſondern auch jede Abweichung von dieſer Regel un - bedingt verbot: ſelbſt die freie Uebereinkunft beider Eltern ſollte daran nichts ändern dürfen eine furchtbar harte Vorſchrift, welche in vielen Fällen zu ſchwerem Gewiſſensdrucke führen mußte. ***)Geſetzentwürfe über die gemiſchten Ehen; zur Ergänzung des Allgemeinen Land - rechts, Th. II. Tit. 11 § 66, Th. II. Tit. 20 § 151 u. 272 u. ſ. w.Der leitende Ge - danke der Entwürfe war die Einheit des Staatskirchenrechts für die ge - ſammte Monarchie.

Aber das hohe Beamtenthum ſelbſt zeigte ſich keineswegs einig. Der greiſe Stägemann und die Mehrzahl der Oberpräſidenten, vornehmlich Schön, Flottwell, Merckel, ſtanden noch ganz auf dem Boden des alten landrechtlichen Territorialſyſtems und verlangten dringend die ſofortige Einführung der ſechs Geſetze. Erbittert durch ſeinen langen Kampf gegen die Polen, empfahl Flottwell ſogar die Zertheilung des Gneſener Erz - bisthums, die doch ohne die Zuſtimmung des römiſchen Stuhles unmög - lich war. In einer, offenbar von Schön verfaßten Denkſchrift tadelten die Oberpräſidenten ſcharf, daß der Staat mit dem Papſte überhaupt ver - handelt habe, und noch ſchärfer Doctor Bunſen’s berüchtigte Note aus Ancona ; ſie ſahen in dieſem Biſchofsſtreite den Kampf des Lichtes mit der Finſterniß, deſſen glorreiche Führung wie früher ſo auch jetzt Euerer713Kirchenpolitiſche Geſetzentwürfe.k. Maj. erhabener Leitung vorbehalten iſt. Friedrich Wilhelm ſchrieb an den Rand: d. h. mit der gehörigen Vorſicht und ohne gewiſſe Grenzen zu überſchreiten; im Uebrigen dankte er ihnen für ihren höchſt lobenswerthen Freimuth . *)Denkſchrift der ſechs Oberpräſidenten vom 26. Nov. 1838.Er ahnte dunkel, daß die Dinge leider ſo einfach nicht lagen, daß die Staatsgewalt wirklich nicht für das Licht kämpfte, wenn ſie katholiſche Väter ſchlechterdings hindern wollte, ihre Kinder evangeliſch zu erziehen. Jenen ſtrengen Territorialiſten traten andere namhafte Beamte gegenüber, ſo Geh. Rath Göſchel, der hochconſervative Hegelianer, und der halbclericale Schmedding. Ueber Schmedding’s eigentliche Meinung ließ ſich ſchwer ins Klare kommen. Die rheiniſchen Ultramontanen trau - ten ihm keineswegs; Kaplan Michelis ſagte in einem jener aufgefundenen vertrauten Briefe: er war von jeher unter dem Scheine eines guten Katholiken die Peſt für unſere Kirchenfreiheit . Doch mit der Behand - lung der beiden Erzbiſchöfe war er durchaus nicht einverſtanden; er fand die Verhaftung Dunin’s ebenſo ungerechtfertigt, wie die Abſetzung, und wünſchte an den Berathungen über die Ausführung des Poſener Straf - Erkenntniſſes nicht theilzunehmen. Durch Gelegenheitsgeſetze einem augen - blicklichen Nothſtande abzuhelfen, hielt er für verkehrt: Schwerlich dürften eigentliche Geſetze aus der reinen hohen Atmoſphäre, der die Geſetz - gebung angehört, in den tieferen Dunſtkreis hinabzuziehen und als Streit - waffe zu gebrauchen ſein. **)Schmedding’s Denkſchriften, 2. März, 25. April; Schmedding an Altenſtein, 20. Juli 1839.

Da die Meinungen unter den Beamten ſo weit auseinandergingen und Altenſtein keinen durchſchlagenden Entſchluß fand, ſo wurde der König immer unſicherer und verſchob die Unterzeichnung der ſechs Geſetze. Um ſich genau zu unterrichten, ließ er bei den befreundeten deutſchen Höfen Erkundigungen über ihre Kirchenpolitik einziehen. Dieſe wohlge - meinten Anfragen ſollten für Preußen auf lange hinaus verhängnißvoll werden. König Wilhelm von Württemberg, der als Voltairianer dieſen leidigen Pfaffenſtreit gern aus der Welt geſchafft hätte, ging auf die Fragen des preußiſchen Geſandten v. Rochow eifrig ein und ſagte ihm: Mit einer Macht wie diejenige des Papſtes, die ſo viel heimliche Alliirte hat, iſt bös anzubinden; jeder katholiſche Einwohner iſt mehr oder weniger ein Agent dieſer fremden Macht; darum müſſe vor Allem das Mißtrauen des katho - liſchen Volks gegen die evangeliſche Dynaſtie überwunden werden; dies ſei nur möglich, wenn man, wie in Württemberg und Baden, die Auf - ſicht über die römiſche Kirche einem beſonderen Kirchenrathe anvertraue, der ausſchließlich aus katholiſchen Mitgliedern beſtehe. Sein erfahrener Miniſter Schlayer ſtimmte ihm lebhaft bei. Der kluge Württemberger hatte ganz Recht, wenn er dem Preußen ſagte: in Süddeutſchland kennt714IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.man Rom beſſer als bei Euch. *)Rochow’s Berichte, Stuttgart, 27. April, 18. Nov., 6. Dec. 1839.Doch leider kannte er ſelber die preußi - ſchen Zuſtände nicht. Das rein politiſche Recht der Kirchenhoheit in die Hände einer confeſſionellen Behörde zu legen, war an ſich ein falſcher Ge - danke, und wenn eine ſolche übermäßige Nachgiebigkeit in den kleinen Ver - hältniſſen ſüddeutſcher Mittelſtaaten vielleicht verſöhnend wirken konnte, ſo ſtand es in Preußen doch ganz anders. Wer konnte verhindern, daß der polniſche, der rheiniſche, der weſtphäliſche Adel ſich an den Berliner Kirchenrath herandrängten und die unparteiiſche Macht der ſtaatlichen Kirchenhoheit völlig verfälſchten? König Friedrich Wilhelm aber fand die Rathſchläge des ſchwäbiſchen Königs, weil ſie ſo gerecht und unbefangen ſchienen, höchſt beachtenswerth; er empfahl ſie ſeinen Miniſtern, und ſchon im Frühjahr 1839 ſtand der Entſchluß feſt, eine katholiſche Abtheilung im Cultusminiſterium zu bilden. Die Leitung ſollte, zu Schmedding’s Verzweiflung, der Unterſtaatsſecretär Düesberg, ein katholiſcher Weſtphale, erhalten.

Währenddem bemühte ſich der König eifrig, die anderen evangeliſchen Fürſten Deutſchlands zu einem gemeinſamen Vorgehen in Rom zu be - wegen. Dies war es, was die Curie am meiſten fürchtete. Sie wünſchte vor Allem, den preußiſchen Staat zu vereinzeln. Der fähigſte ihrer deut - ſchen Parteigänger, Biſchof Reiſach in Eichſtätt, ſchrieb ſchon im Januar 1838 vertraulich an ſeinen Freund Geiſſel in Speier: es iſt ein Wende - punkt für die Kirche in Deutſchland eingetreten und darum dringend nöthig, andere Regierungen nicht mit in den preußiſchen Krieg hereinzuziehen. In der That verhielt ſich der Clerus in den kleinen Staaten ganz ſtill und befolgte unbedenklich dieſelben Geſetze, die er in Preußen als tyranniſch bekämpfte. Wer durfte alſo den Schwachen zumuthen, daß ſie ſich ohne Noth Verlegenheiten bereiteten um dem Starken zu helfen? Die große Mehrzahl der evangeliſchen Fürſten war mit dem Verfahren des Berliner Hofes einverſtanden; der Großherzog von Baden dankte dem preußiſchen Geſandten aufs Wärmſte im Namen der politiſchen Ordnung und der evangeliſchen Kirche. **)Otterſtedt’s Bericht, 2. Jan. 1838.Aber an irgend eine Beihilfe dachte Niemand. Selbſt König Ernſt Auguſt, der gerade jetzt das Wohlwollen ſeines Schwa - gers am wenigſten entbehren konnte, befahl ſeinem Miniſter: Ich bin Willens, alle möglichen Mittheilungen und Erklärungen an den preußi - ſchen Hof zu geben, aber mit dieſer Bedingung, daß ſie blos als private Mittheilungen ſollen angeſehen werden und nicht öffentlich bekannt oder publicirt ſollen ſein. Und auf eine erneute Anfrage von Canitz erwiderte Schele: die größte Vorſicht ſei nöthig, damit nicht in den Staaten, welche bisher des kirchlichen Friedens genoſſen hätten, eine Spannung der Ge - müther entſtehe. ***)Schele an Canitz, 18. April 1838, 8. Jan. 1839.

715Görres Athanaſius.

Der Verſuch die kleinen Kronen zur Parteinahme zu bewegen ſchei - terte gänzlich, und er mußte ſcheitern, weil die deutſche Kirchenpolitik ſeit dem Wiener Congreſſe dem nackten Particularismus verfallen war. Auch von den geplanten Kirchengeſetzen kam in den dritthalb Jahren bis zum Tode des Königs nichts mehr zu Stande. Die beiden Erzbiſchöfe durften nicht zurückkehren, und doch hatte die Krone in dem Streite über die ge - miſchten Ehen ſchon faſt Alles zugeſtanden, was der römiſche Stuhl ver - langte. Bedenkliche Ruheſtörungen kamen freilich nicht vor; einige kleine Aufläufe in Münſter und anderen Orten der katholiſchen Provinzen be - deuteten wenig; ſie bewieſen nur, daß der Clerus den armen Leuten bei - gebracht hatte, der König wolle ſie lutheriſch machen. Gleichwohl ward die Verwirrung unerträglich. Jedermann fühlte, die Regierung verfuhr zugleich zu hart und zu nachgiebig; das Steuerruder der Kirchenpolitik war ihrer Hand entfallen.

Beide Höfe, der römiſche wie der Berliner, hielten für nöthig, ihr Verhalten durch Staatsſchriften vor der öffentlichen Meinung zu recht - fertigen. Der Erfolg dieſer Veröffentlichungen war für Preußen nicht durchweg günſtig, da Bunſen’s hinterhaltige Politik ſich unmöglich ent - ſchuldigen ließ. Auch in dem allgemeinen literariſchen Kampfe, der nun entbrannte, konnte keine Partei ſich eines vollſtändigen Sieges rühmen. Die Theilnahme war ungeheuer; binnen wenigen Jahren erſchienen an zweihundert Schriften für und wider, denn ein anderes Mittel der Er - örterung beſaß die Nation noch nicht, und ſie fühlte, daß mit dem con - feſſionellen Frieden die Grundfeſten ihrer Cultur bedroht waren. Den Streit eröffnete der alte Görres mit dem Athanaſius, dem wildeſten ſeiner Bücher, das die jacobiniſche Heftigkeit ſeiner Jugendſchriften noch überbot. Was war aus dem Patrioten des Rheiniſchen Mercurs geworden! Die evangeliſche Kirche überhäufte er mit wüthenden Schmähungen, die in einem paritätiſchen Volke faſt wie ein Aufruf zum Bürgerkriege klangen: nichts mehr wollte er in ihr ſehen als das narkotiſche Gift des Pietismus und das corroſive Gift des Rationalismus. Ebenſo dreiſt ſuchte er den Stam - meshaß der Rheinländer wider die Altpreußen aufzuwiegeln; ſein alter Ingrimm gegen die Litthauer vom rechten Elbufer brach wieder durch. Die Maßregeln der preußiſchen Regierung ſchilderte er als die rohen und ungeſchlachten Ausbrüche jenes ſtarren Knochenmannes, dem man zu viel Ehre anthut, wenn man einen Geiſt ihn nennt , und gedachte höhnend der Kämpfe zwiſchen Friedrich Wilhelm I. und dem Kronprinzen Friedrich. Von dem Geiſte des suum cuique, der die Geſchichte dieſes Staates erfüllte und ſich auch in jenen tragiſchen Kämpfen des Königshauſes nicht verleugnet hatte, wollte Görres nichts wiſſen; denn auf der römiſchen Kirche ruhte die ganze Ordnung der neuen Welt, darum bedurfte ihr Prieſter auch gar keiner Entſchuldigung, wenn er ſich der Staatsgewalt widerſetzte.

716IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.

Ein Heer meiſt anonymer clericaler Schriftſteller blies in daſſelbe Horn; der Naſſauer Lieber, der unter dem Namen eines praktiſchen Juriſten ſchrieb, zeichnete ſich unter ihnen durch Scharfſinn und Schroff - heit beſonders aus. Görres ſelbſt führte noch in mehreren Flugſchriften ſeine Nachhiebe. In der Kunſt des Verleumdens aber war der Heraus - geber der Neuen Würzburger Zeitung, Zander, Allen überlegen, ein evan - geliſcher Renegat aus dem Norden, derſelbe Menſch, der ſich durch König Ernſt Auguſt beſtechen ließ. *)S. o. IV. 656.Sein Blatt triefte von Schmähungen gegen die Hohenzollern; in dieſen Spalten wurde das Capital der antipreußiſchen Schimpfreden angeſammelt, mit dem die ultramontane Partei durch ein halbes Jahrhundert hausgehalten hat. Den vorläufigen Abſchluß dieſer Literatur bildete ein umfängliches Buch De la Prusse et sa domina - tion (Paris 1842), von Cazalès, einem franzöſiſchen Legitimiſten, der zu München lange in dem Görres’ſchen Kreiſe gelebt hatte. Hier wurde das preußiſche Regierungsſyſtem ein abgeſchmacktes Schaugerüſte von Miß - bräuchen, Decreten, tyranniſchen oder unmöglichen Befehlen genannt und der Kölniſche Biſchofsſtreit eine Erhebung der reinen germaniſchen Raſſe gegen das Slaventhum des Nordoſtens. Der Franzoſe ſcheute ſich auch nicht, den Bund der Kirche mit der Demokratie zu fordern und in der Weiſe Montalembert’s, aber ohne deſſen Geiſt, den Katholicismus als die Sache der Freiheit zu verherrlichen. Die Buchhandlungen von Hurter in Schaffhauſen und Manz in Regensburg, ſowie einige kleinere Firmen in Würzburg und Freiburg verbreiteten faſt allwöchentlich neue Brandſchriften in den Rheinlanden. Ein in Würzburg verlegtes neues Rothes Buch Rheinpreußiſches gab eine haarſträubende Schilderung von dem Wüthen der Preußen am Rheine und als Zugabe die Erklärungen des Poſener Erzbiſchofs Dunin.

Offenbar ging die Abſicht der Partei auf die Losreißung der alten Krummſtabslande von dem evangeliſchen Herrſcherhauſe. Der Hiſtoriker Böhmer in Frankfurt, der allerdings die Gründung des Zollvereins als eine perſönliche Beſchimpfung empfand, konnte gar nicht rührſam genug ſchildern, wie dieſe Fremden in der eroberten Provinz ſich häuslich ein - gerichtet hätten; er nannte die Grenzfeſtung Deutſchlands, den Ehren - breitſtein, das Zwing-Uri des Rheinlands und ſang ingrimmig: Die Tochter fremden Freiers Lohn, in die Kaſerne muß der Sohn! Die belgiſche Preſſe unterſtützte faſt einmüthig dieſe Beſtrebungen, ſie empfahl die Bildung einer rheiniſch-belgiſchen Conföderation, während die bairiſchen Ultramontanen ihrem Herrſcherhauſe die rheiniſche Königskrone wünſchten. Ein am Rheine maſſenhaft verbreitetes belgiſches Flugblatt ſagte: Stehet auf im Namen Euerer geſchändeten Religion, im Namen Euerer Freiheit, von Eueren Henkern mit Füßen getreten. Fürchtet den Deutſchen Bund717Süddeutſchland gegen Preußen.nicht! Oeſtereich und Baiern ſind geheime Feinde des Königs von Preußen, den wir gemeinſam bekämpfen! Alle ſolche Anſchläge erſchienen lächerlich gegenüber der ungeheueren Anziehungskraft des preußiſchen Staates und dem höchſt ehrenwerthen geſetzlichen Sinne der Rheinländer. Jener rohe Kampf zwiſchen Beichtſtuhl und Loge, der die Geſchichte Belgiens aus - machte, war am deutſchen Rhein unmöglich, weil in der katholiſchen Pro - vinz auch ein ſtarker, kerngeſunder Proteſtantismus blühte, und die ſociale Freiheit Preußens mit dem bairiſchen Zunftzwange zu vertauſchen konnte den klugen rheiniſchen Geſchäftsleuten nicht beikommen. Als der Kronprinz im Sommer 1838 die Manöver in den weſtlichen Provinzen abhielt, ge - wann er die tröſtliche Gewißheit, daß eine fünfundzwanzigjährige von Gott geſegnete Regierung, unter welcher das Land zu nie erhörter Blüthe ſich entwickelt, in deutſchen Herzen Dankbarkeit erzeugt.

Aber fruchtlos blieb dieſe, alle Niedertracht des Particularismus auf - regende clericale Wühlerei keineswegs; ſie erſchwerte auf Jahre hinaus die Verſtändigung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten. Und wie ſie in Süd - deutſchland wirkte, das zeigte ein thörichtes Büchlein Rotteck’s über den Kölner Streit. Der alte Feind Preußens fühlte ſich nur gedrungen gegen die Dictatur der Staatsgewalt in kirchlichen Dingen zu proteſtiren ; daß der Erzbiſchof ſeinen Eid und die Staatsgeſetze mit Füßen getreten hatte, kam vor dem Richterſtuhle des abſtrakten Vernunftrechts nicht in Betracht. Den ſicherſten Maßſtab für die Stimmung im Süden gab die Haltung der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Das Blatt ſchillerte nach ſeiner Gewohnheit in allen Farben. Sein gegenwärtiger Eigenthümer Georg v. Cotta erbat ſich von Bunſen geheime Mittheilungen, damit die Zeitung im Intereſſe Preußens und der guten Sache wirken könne;*)Georg v. Cotta an Bunſen, 30. Dec. 1837. er ge - ſtattete auch dem Münchener Philologen Thierſch zuweilen einen verſtän - digen Artikel zu ſchreiben und ſah ſich einmal ſogar genöthigt den Wiener Hof um Nachſicht zu bitten. Gleichwohl zeigte ſich die einflußreiche Zeitung dem preußiſchen Staate ſo entſchieden feindlich, wie bisher ſchon in allen großen Fragen der deutſchen Politik, mit der einzigen Ausnahme der Zoll - vereinshändel. In ihren Spalten erſchien zuerſt Alles was dem Berliner Hofe ſchaden konnte, und in jedem Wirthshauſe des Rheinlandes ward ſie eifrig geleſen.

Unterdeſſen ſah ſich Jarcke genöthigt, auf die Theilnahme am Berliner politiſchen Wochenblatt zu verzichten. In dieſer Kriſis kam an den Tag, daß die evangeliſchen Orthodoxen Preußens doch von anderem Schlage waren als die Junghegelianer behaupteten. Das Wochenblatt vertheidigte, ganz wie Hengſtenberg’s Evangeliſche Kirchenzeitung, muthig die Rechte der Staats - gewalt. Die Geiſter begannen ſich zu ſcheiden. Darum trat Jarcke aus, und auf ſeinen Rath ſchuf ſich die junge ultramontane Partei in München718IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.ein eigenes Organ, das den bezeichnenden Titel erhielt: Hiſtoriſch-politiſche Blätter für das katholiſche Deutſchland. Naiver ließen ſich die friedens - ſtöreriſchen Abſichten der Partei nicht ausſprechen. Evangeliſche Kirchen - zeitungen gab es längſt, ſo gut wie katholiſche; aber ein hiſtoriſch-politiſches Blatt für das evangeliſche Deutſchland zu ſchreiben war unter den weit - herzigen Proteſtanten noch Keinem in den Sinn gekommen, denn da die evangeliſche Kirche ſich als die allgemeine chriſtliche Kirche anſieht und auch darnach handelt, ſo wendet ſich jeder gute Proteſtant, der über deutſche Politik redet, an alle ſeine Volksgenoſſen. Die erſten Herausgeber der gelben Blätter, Phillipps und Görres Sohn Guido verfuhren nicht ohne Geſchick und ſuchten den äußeren Anſtand zu wahren, ſie vermieden in den erſten Heften abſichtlich die Kölniſchen Wirren zu berühren. Doch hinter den gebildeten Formen verbargen ſie einen Fanatismus, der nicht nur den kirchlichen, ſondern ſelbſt den bürgerlichen Frieden unmöglich machen mußte. Ihre evangeliſchen Landsleute erſchienen ihnen nur als die von der Kirche Getrennten , die wofern ſie eines guten Willens ſind zur Kirche zurückkehren müßten, und den tapferſten aller deutſchen Männer, Martin Luther betrachteten ſie als ein pſychologiſches Problem , das ſich nur aus einer Miſchung von Hochmuth und hypochondriſcher Muthloſig - keit erklären laſſe. Das akademiſche Studium der Theologen war ihnen ein Greuel, ſo gut wie die Milde des Fürſtbiſchofs von Breslau, und als leuchtendes Gegenbild ward der preußiſchen Krone der kloſterfreundliche Ludwig von Baiern vorgehalten.

Dieſer geſchloſſenen ultramontanen Maſſe gegenüber fochten die Pro - teſtanten als Einzelne, Jeder mit ſeinen eigenen Waffen, wie es die evan - geliſche Freiheit bedingt. In leidenſchaftlichen literariſchen Kämpfen läßt ſich die Bedeutung der einzelnen Schriften ſtets an der Zahl ihrer Gegner abmeſſen. Diesmal verdiente Heinrich Leo den Preis; ſein Sendſchreiben an Görres erregte ein unbeſchreibliches Wuthgeſchrei im clericalen Lager; denn er fand das treffende Wort, er ſagte den Gegnern rund heraus, ſie ſeien nicht Katholiken, ſondern Welfen , in ihrem Treiben offenbare ſich nur der uralte Haß der deutſchen Zuchtloſigkeit gegen jede feſte und ge - rechte Staatsbildung. Der Vorwurf traf um ſo ſchwerer, weil er aus dem Munde eines Mannes kam, der ſeine Achtung für die römiſche Kirche ſo oft, zuweilen über das billige Maß hinaus, bewieſen hatte. Viel milder, aber auch im Geiſte des poſitiven Chriſtenthums gehalten waren zwei geiſt - reiche Schriften des preußiſchen Geſandten Frhrn. v. Canitz in Hannover. Der Jenenſer Theolog Karl Haſe ſchrieb über die beiden Erzbiſchöfe eine hiſtoriſche Abhandlung, deren überlegene Ruhe den erhitzten Gegnern ganz unverſtändlich war. Der Bonner Curator Rehfues ſchilderte unter dem Namen eines Sammlers hiſtoriſcher Urkunden die katholiſche Kirche in der preußiſchen Rheinprovinz ; er wies nach, wie der König auf das Recht der Biſchofsernennung, das ihm als dem Nachfolger Napoleon’s719Proteſtantiſche Vertheidiger der preußiſchen Krone.unzweifelhaft zugeſtanden, freiwillig verzichtet und die römiſche Kirche mit einer alle katholiſchen Fürſten beſchämenden Hochherzigkeit behandelt habe. Der Theolog Marheineke in Berlin verfocht die Rechte der Staatsgewalt nach den Grundſätzen der Hegel’ſchen Philoſophie.

Zu dieſen ernſthaften Vertheidigern geſellten ſich aber auch Bundes - genoſſen, welche dem ſtrenggläubigen Könige höchſt verdächtig ſcheinen mußten. Die kurſächſiſchen Rationaliſten zeigten noch einmal, wie wenig ſie das ver - wandelte kirchliche Leben der Zeit verſtanden; ſie ſprachen in der Leipziger Allgemeinen Zeitung und anderen mitteldeutſchen Blättern noch ganz in der alten Weiſe verächtlich von der altersſchwachen Kreuzſpinne, die zwiſchen den zerbrochenen Säulen des Coloſſeums hauſe. Der alte rheinländiſche Burſchenſchafter Carové in Heidelberg, ein liebenswürdiger, für Völkerglück und ewigen Frieden begeiſterter Enthuſiaſt entwarf in einem Buche Papis - mus und Humanität ein verſchwommenes Bild von der kirchlichen Ein - tracht der Zukunft: die deutſchen Katholiken ſollten ſich von Rom losſagen, ſich ihren geiſtfreien Brüdern wieder in die Arme werfen ; und dabei blieb er ſelbſt im Schooße der römiſchen Kirche. Nun gar die Genoſſen des Jungen Deutſchlands benutzten die Gunſt der Stunde, um ihre er - loſchenen Lichtlein an den Flammen dieſes Kirchenſtreits wieder anzuzünden und ihren Haß gegen das Chriſtenthum ungeſtraft auszuſprechen: nach ihrer Geſchichtsphiloſophie waren ja die Reformatoren nur Vorläufer der franzöſiſchen Revolution, Bahnbrecher der jungdeutſchen Unzuchtslehre. Wie jubelten die Clericalen ſchadenfroh, als Th. Mundt in ſeinem Taſchen - buche Delphin ſagte: König Wenzel liebte Wein, Weiber und Geſang, wie Luther, deſſen erſte Proteſtation gegen den Katholicismus mit der Liebe zu einer Frau begann; als Ruge’s Jahrbücher den wahren Proteſtan - tismus für die Negation alles Kirchenglaubens ausgaben; als Gutzkow in einer gezierten Schrift die rothe Mütze und die Kapuze den preußiſchen Staat für den Staat der Abſtraktion erklärte und zufrieden verſicherte, der helle Klang des Glöckleins auf den Rheindampfſchiffen errege heutzutage mehr Theilnahme als der dumpfe Glockenhall vom Kölner Dome. Vor ſolchen Freunden mußten die Vertreter des chriſtlichen Staates in Berlin wohl beſorgt werden.

Die Gegenſätze ſpitzten ſich immer ſchärfer zu. Von den nichtkatho - liſchen Schriftſtellern, welche die Curie vertheidigten oder entſchuldigten, traten drei bald nachher zur römiſchen Kirche über: der Mecklenburger Franz v. Florencourt, ein ehrlicher, federgewandter, aber ziemlich verworrener Publiciſt, ſodann der oſtpreußiſche Juriſt Rintel und der Jude Joel Jacobi, ein zweifelhafter Charakter, dem Niemand recht traute. Wer jetzt noch zu vermitteln ſuchte, erntete Vorwürfe von beiden Seiten. Das erfuhr der alte Reichsfreiherr Hans Gagern, als er in einer beſänftigenden An - ſprache an die Nation dem Kölner Prälaten zurief: Sie ſind Erzbiſchof, Deutſcher, Europäer und Menſch! Für Europa und die Menſchheit720IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.hatten die Clericalen vielleicht noch ein Verſtändniß, für Deutſchland ſicher - lich nicht; mit Spott und Hohn fertigten ſie den Gutmüthigen ab, der ihnen ſagte, jeder Prieſter ſolle ein Lichtfreund ſein.

Die praktiſche Kirchenpolitik konnte aus dieſem endloſen Federkriege wenig Belehrung ſchöpfen. Die Ultramontanen verlangten den reinen Dualismus von Staat und Kirche, die Vernichtung der ſtaatlichen Kirchen - hoheit, den Verzicht des Staates auf ſeine Souveränität; ihre Gegner glaubten, daß die alleinſeligmachende Kirche durch Staatsgeſetze oder auch durch literariſche Ermahnungen zu einer Duldſamkeit, welche ihrem Geiſte widerſprach, gezwungen werden könne. Beides war in einem paritätiſchen Volke gleich unmöglich. Die Clericalen hatten jedoch den Vortheil, daß ſie ſich auf das Beiſpiel Belgiens berufen durften, das freie, denkende Männer freilich anwidern mußte, aber den liberalen Vorurtheilen der Zeit verlockend ſchien. Mit den Mitteln des alten Territorialſyſtems kam der Staat nicht mehr weiter. Die Aufgabe war, das innere Leben der Kirche einer unleidlichen Bevormundung zu entziehen, aber auch der Kirche jeden Uebergriff in das Gebiet des bürgerlichen Rechts unmöglich zu machen und das unveräußerliche Recht der ſtaatlichen Kirchenhoheit feſtzuhalten. Ueber dieſe ſchwierige Grenzberichtigung hatte zur Zeit noch Niemand ernſt - lich nachgedacht, und die confeſſionellen Leidenſchaften hüben wie drüben erſchwerten lediglich die Löſung der Frage. Nur eine wichtige und frucht - bare Erkenntniß blieb aus dieſem Biſchofsſtreite zurück: die evangeliſche Welt konnte nicht mehr in der alten trügeriſchen Sicherheit dahinleben; mit Ausnahme der ganz gedankenloſen alten Rationaliſten begriffen jetzt alle Proteſtanten, daß die wieder erſtarkte römiſche Kirche eine Macht war, arm an Ideen, aber reich an ſtreitbaren politiſchen Kräften und feſtgewurzelt in den Gefühlen der Maſſen. Mit dieſer Macht hatte der paritätiſche deutſche Staat fortan zu rechnen.

Unmöglich konnten die benachbarten katholiſchen Mächte dieſen Wirren fern bleiben. Von Brüſſel ſtand am wenigſten zu fürchten. Das Ver - hältniß zwiſchen dem preußiſchen und dem belgiſchen Hofe blieb allerdings mehrere Jahre hindurch ſehr unfreundlich*)S. o. IV. 594.; die brabanter Clericalen boten Alles auf um die endgiltige Ausgleichung mit Holland, die eben jetzt be - vorſtand, zu vereiteln und den Weltkrieg zu entzünden, der ſich zunächſt gegen das ketzeriſche Preußen richten ſollte. Mehrmals gewann es den Anſchein, als ob dieſe Verblendeten die ſchwache Regierung mit fortreißen würden;**)Bericht des Reg. -Präſ. v. Cuny an Rochow 19. Nov.; Abbé Moens an Cuny, Lüttich, 14. Nov. 1838. ſchließlich vermochte König Leopold’s Klugheit doch zwiſchen beiden Parteien hindurchzuſteuern und den Frieden mit dem mächtigen Nachbarn aufrechtzuhalten. Ganz anders ſtand es in Baiern. Welch ein721Baiern als Schirmherr der Ultramontanen.ſeltſames Zuſammentreffen! In denſelben Novembertagen des Jahres 1837, da Droſte-Viſchering verhaftet wurde, trat das Miniſterium Abel ſeine Herrſchaft in München an. An die Wiederherſtellung der rheiniſchen Herr - ſchaft des Hauſes Wittelsbach mag König Ludwig wohl nie im Ernſt gedacht haben; ſolche Pläne mußten ſelbſt der Phantaſie des philhelleniſchen Dichter - königs allzu verwegen erſcheinen. Aber jener Gedanke, den ihm einſt Görres bei ſeiner Thronbeſteigung ans Herz gelegt hatte, erfüllte ihn jetzt ganz und gar: er wollte als Nachfolger des gewaltigen Kurfürſten Maximilian der Schirmherr des deutſchen Katholicismus werden. Vor dieſem Ideale verblaßten alle die anderen Traditionen ſeines Hauſes: er vergaß, daß er auch der Erbe der evangeliſchen Pfalzgrafen war, daß ſein Baiern wie oft hatte er es doch ſelbſt ausgeſprochen! nur im Bunde mit Preußen ſich ſeine Stellung in der neuen deutſchen Geſchichte erworben hatte. Kopf - über ſtürzte er ſich in eine clericale Weltanſchauung, die ſeinem freien Sinne urſprünglich fremd war; ſein immerdar launiſches Weſen ward nahezu närriſch, dem Bewunderer des milden Sailer ließ ſich jetzt jede clericale Tollheit zutrauen. Graf Dönhoff ſchrieb: ein Fürſt, den wir von ultraliberalen zu ultramontanen, von den übertriebenſten conſtitu - tionellen Vorſtellungen zur ausgeſprochenen Willkürherrſchaft haben über - gehen ſehen, kann auch in jeder anderen Hinſicht noch ſeine Meinung wechſeln. Und König Friedrich Wilhelm bemerkte dazu: ein ſehr kurzes, aber ſehr treffendes Bild Sr. Majeſtät. *)Dönhoff’s Bericht, 11. März 1838.

Mit ſchamloſer Parteilichkeit begünſtigte der Münchener Hof von vorn - herein alle Feinde der preußiſchen Regierung. Während er die Schriften von Leo, Marheineke, Rehfues confisciren ließ und ſich in Dresden über die hartproteſtantiſche Sprache der Leipziger Allgemeinen Zeitung beſchwerte, geſtattete er der Neuen Würzburger Zeitung Majeſtätsbeleidigungen gegen die Krone Preußen, die in dieſem Zeitalter der Cenſur ganz unmöglich ſchienen. Jede Dreiſtigkeit ward den Ultramontanen nachgeſehen. Den Athanaſius nahm König Ludwig aus Görres eigenen Händen dankbar ent - gegen und belohnte den Verfaſſer durch einen Orden, den die Münchener Studenten mit Jubelrufen begrüßten; in dem Buche aber ſtand zu leſen, daß die Kinder gemiſchter Ehen zwieſchlächtige Baſtarde ſeien, und Ludwig ſelbſt lebte in gemiſchter Ehe wie ſein Vater König Max Joſeph. Am Namenstage der evangeliſchen Königin Thereſe veranſtalteten die barfüßigen Karmeliter in Würzburg, insgemein Reuerer genannt einen Gottesdienſt zu Ehren der heiligen und ſeraphiſchen Jungfrau und Mutter Thereſia und verkündeten in öffentlichen Anſchlägen: Wer an dieſem Tage dort um Frieden und Eintracht der Fürſten und Potentaten, um Ausreutung der Ketzerei und um Mehrung der chriſtkatholiſchen Kirche bittet, erhält voll - kommenen Ablaß. Für dieſe Verhöhnung ſeiner eigenen Gemahlin fandTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 46722IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.der König kein Wort der Rüge, er, der die Demagogen vor ſeinem Bilde knieen ließ. Unterdeß wurde die Schimpferei des Zander’ſchen Blattes ſo unfläthig, daß der preußiſche Geſandte ſich ernſtlich beſchweren mußte. *)Dönhoff’s Berichte, 2. 4. Dec. 1837, 12. März 1838.Als alle Vorſtellungen vergeblich blieben, beſchloß der preußiſche Hof, beim Bundestage das Verbot der Neuen Würzburger Zeitung zu beantragen, und er gewann auch in vertraulichen Vorbeſprechungen die Zuſtimmung ſämmtlicher Bundesregierungen zu dieſem, nach Lage der Geſetzgebung durchaus berechtigten Antrage. Nun erſt lenkte Baiern ein. Im Juni 1838 erklärte der Geſandte Graf Luxburg, ein verſtändiger Diplomat, der zu Berlin in verdientem Anſehen ſtand und ſich jetzt ſeines eigenen Hofes im Stillen ſchämte: König Ludwig verdamme das undeutſche und nichts - würdige Treiben des Redacteurs Ernſt Zander und habe den freiwilligen Entſchluß gefaßt, ihn von dem Blatte zu entfernen. **)Luxburg an Werther, 18. Juni; Werther an Luxburg, 17. Juni, an Otterſtedt, 18. Juni 1838.Die Zeitung ſelbſt wurde nicht verboten.

Werther beruhigte ſich bei dieſer halb ſpöttiſchen Genugthuung. Er wußte nicht, was auch der Geſandte Graf Dönhoff erſt nach Monaten erfuhr,***)Dönhoff’s Bericht, 5. März 1839. daß Miniſter Abel gleichzeitig ein vertrauliches Entſchuldigungs - ſchreiben an die bairiſchen Biſchöfe richtete. Da hieß es: die Neue Würz - burger Zeitung habe durch ihre Haltung in dem Kölner Streite ſich den allgemeinen Beifall aller Gutgeſinnten erworben, der katholiſchen Kirche weſentliche und dankenswerthe Dienſte geleiſtet; nur durch Zander’s Schmäh - artikel ſei die Regierung zum Einſchreiten gezwungen worden. Gleichwohl werde der König unerſchütterlich bei ſeinen kirchlichen Grundſätzen ver - harren. Allerhöchſtdeſſen Name wird in der Geſchichte fort und fort neben jenem ſeines großen Vorvordern Max I. erglänzen, und es werden ſpäte Enkel noch ſegnend ihre Dankgebete zu dem Ewigen dafür empor - ſenden, daß er ſeiner heiligen Kirche in den Zeiten hoher Bedrängniß zum zweiten male einen Schirmherrn aus dem Wittelsbacher Stamme gegeben, der für ihr gutes Recht mit unerſchüttertem Muthe eingeſtanden iſt und die Vertheidiger derſelben um ſich geſchaart, ermuthiget, gekräftiget und ſieg - reich zum Ziele geführt hat. So war jetzt wirklich die Geſinnung König Ludwig’s. Umſonſt hielten der verſtändige Thronfolger und die Königin Wittwe dem verblendeten Fürſten vor, was es auf ſich habe, die blutigen Schatten der finſterſten Zeit deutſcher Geſchichte heraufzubeſchwören. †)Dönhoff’s Berichte, 13. April 1838 ff.Die preußiſchen Staatsmänner aber waren peinlich überraſcht, als ihr Kron - prinz Friedrich Wilhelm, ſobald der Streit wegen der Würzburger Zeitung nothdürftig beigelegt war, den bairiſchen Hof in Kreuth beſuchte eine723Die Kniebeugung in Baiern.Reiſe, welche der alte König erſt ſtreng verboten hatte und auch jetzt noch ſehr ungern ſah. *)S. o. IV. 534.

Mittlerweile bekam auch das bairiſche Volk zu fühlen was clericale Parteiherrſchaft iſt. Wie maßlos hatten die bairiſchen Ultramontanen auf die preußiſchen Kirchenparaden geſcholten; auf Befehl König Friedrich Wil - helm’s war dieſer Mißbrauch nunmehr abgeſchafft. Zur Erwiderung gleichſam befahl König Ludwig durch eine Verordnung vom 14. Aug. 1838 den bairiſchen Truppen, daß ſie auf der Wache und beim Gottesdienſte vor dem Sanctiſſimum niederknieen ſollten. Die Armee beſtand zu einem vollen Drittel aus evangeliſchen Mannſchaften, und ihnen ward eine kirch - liche Ceremonie zugemuthet, welche jeder ſtrenge Proteſtant als ſündhaften Baalsdienſt verabſcheuen mußte! Hier verrieth ſich der wahre Geiſt der Partei, welche der preußiſchen Krone gegenüber die Gewiſſensfreiheit zu vertheidigen behauptete. Allgemein war die Erbitterung in den evange - tiſchen Landestheilen; ängſtliche Gemüther fürchteten ſchon, aus dem Streite zwiſchen Staat und Kirche werde ein Krieg der Confeſſionen hervorgehen.

Ein neuer Erfolg gelang den Ultramontanen in Baden. Im Herbſt 1839 wurde Nebenius aus dem Miniſterium verdrängt. Blittersdorff war nunmehr Herr der Lage, und ſein hartreactionäres Syſtem konnte ſich nur durch die Beihilfe der clericalen Partei behaupten. Bei Nebenius Sturze hatte der öſterreichiſche Geſandte Graf Dietrichſtein mitgewirkt;**)Otterſtedt’s Bericht, 15. Oct. 1839. überall arbeiteten die Diplomaten der Hofburg mit den Feinden Preußens be - hutſam zuſammen. Seit Bunſen’s Anconer Note glaubte Metternich nicht mehr recht an den Ernſt der preußiſchen Kirchenpolitik. In einem Augen - blicke ehrlichen Zornes fragte er Maltzan: Wollen Sie, daß ich die Rolle des Beſchützers der katholiſchen Kirche an Frankreich oder an Baiern über - laſſe? Das eine iſt unſer Nebenbuhler in Europa, das andere der an - ſehnlichſte katholiſche Staat in Deutſchland. ***)Maltzan’s Bericht, 15. Jan. 1838.Die beiden bairiſchen Schweſtern in Wien freuten ſich von Herzen der Haltung ihres königlichen Bruders; der Briefwechſel der Geſchwiſter war nie lebhafter geweſen. Ihrem Einfluß war es vermuthlich zu verdanken, daß die bisher ſtreng verbotene Neue Würzburger Zeitung, ſobald ſie den Kampf gegen Preußen begann, plötzlich in Oeſterreich zugelaſſen wurde. Metternich ertheilte dem Vatican beſtändig vertraute Rathſchläge, und Lambruschini ſagte dankbar zu Graf Lützow: wir überlaſſen uns gänzlich der weiſen Leitung des kaiſer - lichen Hofes. Ganz friedfertig mochten dieſe Rathſchläge ſchwerlich lauten, aber auch nicht offenbar feindſelig. Als Metternich im Juli 1838 mit dem Könige wieder in Teplitz zuſammentraf, erging er ſich nur in vorſichtigen all - gemeinen Betrachtungen; die Wiedereinſetzung Droſte’s wagte er der Krone46*724IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.Preußen nicht zuzumuthen, er ſagte ſanft: in dieſem Punkte haben beide Theile Recht. *)Geh. Cabinetsrath Müller, Aufzeichnung über eine Unterredung mit Fürſt Metternich, Teplitz, 22. Juli 1838.Offenbar ſchwankte er zwiſchen ſeinen, durch Fürſtin Melanie genährten clericalen Neigungen und ſeiner ſtaatsmänniſchen Ein - ſicht. Einen Bruch mit den Oſtmächten konnte er unmöglich wünſchen, und er wußte, daß Czar Ntkolaus die Kirchenpolitik ſeines königlichen Schwiegervaters unbedingt vertheidigte; auch graute ihm vor der Berſerker - wuth der Münchener Fanatiker und mehr noch vor den revolutionären Anſchlägen des belgiſchen Clerus. **)Maltzan’s Berichte, 21. Jan., 10. März 1839.Obgleich er, wie alle Söhne der rhei - niſchen Domherrengeſchlechter, die preußiſche Herrſchaft in den Krumm - ſtabslanden tief verabſcheute, ſo blieb er doch nüchtern genug um die Zu - ſtände dort nicht allzu ſchwarz zu ſehen. Die bairiſchen Clericalen hofften alleſammt auf eine Schilderhebung der Rheinländer oder auf irgend ein anderes großes Ereigniß. Metternich urtheilte kühler, und der Erfolg gab ihm Recht. Die großen Ereigniſſe blieben aus, die proviſoriſche Verwal - tung der beiden verwaiſten Erzbisthümer arbeitete ruhig weiter, die Krone Preußen ſtand unangreifbar da.

Und doch ward durch dieſen Biſchofsſtreit eine grundtiefe Verwand - lung des deutſchen Parteilebens bewirkt. Seit die neue ultramontane Partei ſich zuſammenſchaarte, begann der ſüddeutſche Particularismus ſich zu ver - ändern. Bisher hatte er liberale Farben getragen; die alten Rheinbündler und nachher die Genoſſen der Rotteck-Welcker’ſchen Schule ſahen verächtlich hernieder auf das zurückgebliebene Preußen, aber auch auf das zurückgeblie - bene Oeſterreich. Jetzt wurden plötzlich die halbverſchollenen öſterreichiſchen Traditionen des deutſchen Südens wieder lebendig; und wenngleich Metter - nich ſich noch zurückhielt, ſo mußte doch früher oder ſpäter die Zeit kommen, da die Wiener Politik ſich dieſen Vortheil zu nutze machte. Der erſte Grund war gelegt für die großdeutſche Partei der kommenden Jahre. Auch in Preußen bereitete ſich eine neue Parteibildung vor. Die rheiniſchen Juriſten, die ſchon ſo lange für die Rechtsgleichheit des Code Napoleon ſtritten, meinten jetzt auch allein zu wiſſen, was wahre Kirchenfreiheit ſei, und un - merklich begannen ihre belgiſchen Anſchauungen den Liberalismus der öſt - lichen Provinzen anzuſtecken. Das Schlimmſte blieb doch, daß Jedermann fühlte, die alte Regierung habe ſich überlebt. Als Maltzan in Florenz mit Cardinal Capaccini die Kölniſchen Händel beſprach, ſagte der Wälſche mit eigenthümlichem Lächeln: Wir müſſen alſo warten. ***)Maltzan’s Bericht, 6. Oct. 1838.

Ernſt, faſt düſter ſchloß König Friedrich Wilhelm’s vielgeprüftes Leben. Beinah alle die reichbegabten Männer, die ihm einſt bei der Erhebung und725Friedrich Wilhelm’s letzte Jahre.Wiederbefeſtigung des Staates zur Seite geſtanden, waren vor ihm dahin - gegangen. In dieſen letzten Jahren folgte ein Mißgriff dem andern. Der Bundestag entwürdigte ſich durch die hannöverſchen Beſchlüſſe dermaßen, daß Niemand mehr an eine friedliche Zukunft des Deutſchen Bundes glauben konnte; die preußiſche Kirchenpolitik ſuchte vergeblich einen Ausweg aus unleidlicher Verwirrung; und im Volke ſtieß das geſtrenge alte Be - amtenregiment auf einen ſtillen, beſtändig wachſenden Widerwillen, den allein die Ehrfurcht vor dem greiſen Monarchen noch darnieder hielt. Als Friedrich v. Gagern im Jahre 1839 den Berliner Hof beſuchte, da gewann er den Eindruck, dieſe Regierung halte ſich nur weil das Schickſal ſie neuerdings vor allzu heftigen Stößen bewahrt habe.

Der alte König ſelbſt verſtand die Zeit nicht mehr. Wie er den treuen Arndt, der doch neuerdings bei den Liberalen als reactionärer Franzoſen - freund verrufen war, noch immer unverſöhnlich dem Lehrſtuhle fern hielt, ſo wollte er auch von den conſtitutionellen Ideen jetzt ſogar noch weniger hören als in früheren Jahren.

In einem um das Jahr 1838 niedergeſchriebenen Teſtaments-Ent - wurfe verpflichtete er den Thronfolger zur Aufrechterhaltung der Union, der Agende, der Conſiſtorialverfaſſung und erklärte ſodann nachdrücklich, daß er die von den Vorfahren ererbte unbeſchränkte königliche Gewalt un - beſchränkt ſeinen Nachfolgern hinterlaſſen wollte. Die Erfahrung lehre, daß die Fürſten, welche auf einen Theil ihrer Rechte verzichteten, oft auch den anderen Theil einbüßten und ſelbſt die Möglichkeit Gutes zu thun ver - lören. Seine Unterthanen beſäßen in den Inſtitutionen, die er ihnen aus freiem Willen ertheilt, in der geregelten Staatsverwaltung, in dem Staatsrathe, in den Provinzialſtänden, in der Städteordnung, in den Communalverfaſſungen die Bürgſchaft für ungeſtörte Ordnung und Ge - ſetzlichkeit. Auf dieſer Unbeſchränktheit der königlichen Gewalt beruhe vor - zugsweiſe die Stellung Preußens im Staatenſyſtem; und da eine Aenderung dieſes Grundpfeilers der Monarchie letztere ſelbſt wankend machen würde, ſo beſtimme er hierdurch, daß kein königlicher Regent befugt ſein ſoll, ohne Zuziehung ſämmtlicher Agnaten in dem königlichen Hauſe irgend eine Aenderung oder Einleitung zu treffen, wodurch eine Veränderung in der Verfaſſung des Staates, namentlich in Beziehung auf die ſtändiſchen Verhältniſſe und die Beſchränkung der königlichen Gewalt bewirkt oder begründet werden könnte. Im Falle der Aufnahme einer neuen Anleihe ſo fuhr der König fort werde er nach der Vorſchrift des Staats - ſchuldengeſetzes von 1820 handeln, in jedem der acht Provinziallandtage je vier Abgeordnete wählen laſſen, dieſe Gewählten durch eine gleiche Anzahl von Mitgliedern des Staatsraths verſtärken und der alſo gebil - deten reichsſtändiſchen Verſammlung das Anleihegeſetz aber ſchlechter - dings keine andere Frage zur Berathung vorlegen. *)Aufzeichnungen K. Friedrich Wilhelm’s für ſein Teſtament. S. Beilage 25.Durch einen726IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.Landtag von vierundſechzig Köpfen und auch nur im Nothfalle ſollten mithin die alten Verheißungen, die einſt ſo viel Hoffnungen erweckt hatten, erfüllt werden. Friedrich Wilhelm wollte dieſe Vorſchriften den königlichen Prinzen als ein bindendes Hausgeſetz auferlegen, und er hatte ſchon den Fürſten Wittgenſtein beauftragt, die Aufzeichnungen zu einer förmlichen Urkunde zuſammenzuſtellen ein Befehl, der nur durch den Tod des Monarchen vereitelt wurde. Mit ſolchen Grundſätzen ließ ſich die verwandelte Welt nicht mehr regieren.

Währenddem begann auch in der europäiſchen Politik eine gefährliche Verwicklung. Die orientaliſche Frage entlud ſich noch einmal. Unter allen den Rathgebern, welche den bedrängten Sultan umringten, war Preußen allein uneigennützig, Dank ſeiner geographiſchen Lage, und darum allein ehrlich. Dem König von Preußen verdankte die Pforte den immerhin er - träglichen Friedensſchluß von Adrianopel, und ihm auch die einzige Reform, welche dem verſinkenden Staate noch halb gelang. Durch Hauptmann v. Moltke und einige andere ausgezeichnete Offiziere des preußiſchen General - ſtabs wurde die Kriegstüchtigkeit des türkiſchen Heeres wiederhergeſtellt. Aber noch bevor die neue Ordnung vollendet war entbrannte der Kampf mit Me - hemed Ali von Neuem, und mit einem male gewann es den Anſchein, als ſollte der ſeit zehn Jahren ſo mühſam abgewendete Weltkrieg nun doch über Europa hereinbrechen. So drängten ſich von innen und außen her neue Aufgaben an die Krone heran. Der greiſe König war ihnen nicht mehr gewachſen, und als das Schickſalsjahr der preußiſchen Geſchichte, das Jahr 40 heraufzog, da ahnte man im Volke überall, dieſe lange Regierung gehe zu Ende.

Nur an dem Schickſal langlebiger Männer kann das befangene Urtheil der Menſchen zuweilen deutlich erkennen, daß dem Sterblichen wird was er verdient, und ſelten hat ſich das Walten der göttlichen Ge - rechtigkeit ſo vernehmlich offenbart wie in dem Leben dieſes Königs. Als ein Friedensfürſt hatte er einſt ſeine Laufbahn angetreten. In den Be - kenntniſſen, die er als Kronprinz niederſchrieb, ſagte er einfach: Das größte Glück eines Landes beſteht zuverläſſig in einem fortdauernden Frie - den, und obwohl er den Werth einer formidabeln Armee ſehr hoch anſchlug, ſo wünſchte er doch aufrichtig dieſe ſchreckliche Waffe niemals gebrauchen zu müſſen. Ganz ſo waren ihm nach einem halben Jahr - hundert die Looſe gefallen. Er war der erſte der hohenzollernſchen Könige, der ſein Landgebiet kleiner hinterließ als er es von den Vorfahren über - kommen hatte; und ob Preußens Stimme im Rathe der Völker jetzt ebenſo ſchwer wog, wie in den Zeiten, da der Ruhm des großen Königs noch nachwirkte, das ward im Ausland mindeſtens beſtritten. Auch der Ruf der Unbeſieglichkeit der ſchwarzweißen Fahnen war trotz der ſtrahlenden Siege des Befreiungskrieges nicht wieder hergeſtellt; denn immer noch blieb den Nachbarn der Zweifel, was Preußen ohne Bundesgenoſſen leiſten727Tod König Friedrich Wilhelm’s.könne. Der Glanz des preußiſchen Namens hatte ſich unter der Herr - ſchaft dieſes ſchlichten Landesvaters nicht erhöht, aber wie wunderbar war die innere Kraft des Staates gewachſen. In keinem Staate der Welt beſtand eine ſo menſchliche, ſo ſorgſame, ſo gerechte Verwaltung, in keinem eine ſo volksthümliche, ſo ganz unerſchöpfliche Wehrbarkeit. Das deutſche Sparta war zu einem Lande der Bildung geworden, einer Bildung, die unendlich weit über des Königs anerzogene Nützlichkeitsbegriffe hinaus - reichte und doch von ihm nach ſeiner gewiſſenhaften Weiſe gefördert wurde. In glücklicher Sicherheit lagen die Fluren, die ſeit zwei Jahrhunderten immer und immer wieder der Hufſchlag fremder Roſſe zerſtampft hatte; eine Gemeinſchaft der Arbeit, wie ſie unſere Geſchichte nie gekannt, ver - band die Deutſchen, und Alle wußten, daß ein Rückfall in das Elend der Fremdherrſchaft unmöglich war, daß die Nation ſich wieder ſelbſt ange - hörte und nur noch vorwärts ſchreiten konnte. Und wie feſt war der preußiſche Staat jetzt mit dem Leben der Nation verwachſen. Auf ihn, auf ſeine Schuld und ſein Verdienſt ſchauten grollend oder freudig alle Deutſchen. Ihm dankten ſie den Frieden, ihm die Anfänge ihrer Ein - heit; ſein Streit mit der Kirche berührte Jeden wie ein perſönliches Er - lebniß, und nach dem hannöverſchen Staatsſtreiche wurde Preußen faſt härter angeklagt als der Welfe, denn Alle fühlten, daß dieſer Staat be - rufen ſei überall das deutſche Recht zu beſchirmen.

Im Anfange ſeiner Regierung ließ Friedrich Wilhelm das Schlüter’ſche Standbild des erſten preußiſchen Königs in Königsberg aufſtellen und wid - mete es dem edlen Volke der Preußen zum ewigen Denkmal gegenſeitiger Liebe und Treue . Herrlicher, als er es damals in der weichen Gefühls - ſeligkeit ſeiner Jugend ahnte, ſollte dies Wort ſich bewähren. Als die Tage des ſelbſtverſchuldeten Unglücks kamen, als die Preußen mit ihrem Könige den Hohn des Eroberers ertrugen, mit ihm um die ſchöne Königin klagten, als er dann, getrieben und getragen von ſeinem treuen Volke, die Erhebung wagte und endlich dem befreiten Lande ſo viele Jahre friedlichen Erſtarkens ſicherte, da ward in der ernſten, ſtrengen Geſchichte dieſes Staates eine neue ſittliche Kraft lebendig, die Macht der Liebe. Jeder Landwehrmann, der mitgeholfen, betrachtete das ruhmvoll wiederhergeſtellte Vaterland faſt wie ein Werk ſeiner eigenen Hände; die alte preußiſche Treue wurde freier, bewußter, inniger. Dem Könige zeigte das Volk der alten Provinzen eine zutrauliche Herzlichkeit, die ſich unter den beiden gewaltigen Herrſchern des achtzehnten Jahrhunderts nie recht herausgewagt hatte. Was er in den Jahren der Kriege gefehlt, war vergeſſen; man rechnete ihm nur zu was er gelitten, und erkannte dankbar an, daß er mit allen Schwächen und Schranken ſeines Weſens doch für die ſtille Arbeit dieſer Friedensjahre lange der rechte Leiter blieb, daß ſeine unerſchütterliche Rechtſchaffenheit ſo viele Gegenſätze der Stämme und der Landſchaften freundlich verſöhnte. Den großen Kurfürſten ſtellte Schlüter als einen mächtigen Cäſar auf728IV. 10. Der Kölniſche Biſchofsſtreit.feurigem Roſſe dar, denn in ſolcher Geſtalt lebte der kleine Fürſt mit der großen Seele im Gedächtniß ſeines Landes. Bald nach dem Tode des dritten Friedrich Wilhelm ſchuf Drake das andere der beiden Hohenzollern - Denkmäler, welche das Volk allein wirklich liebt und täglich betrachtet: ein Bild der Güte und der Treue erſchien der anſpruchsloſe König in ſeinem einfachen Uniforms-Ueberrocke, am Rande des ſtillen Gewäſſers, inmitten der alten Bäume des Thiergartens, und unter ſeinen Füßen ſpielten glückliche Kinder.

Tief und aufrichtig war der Schmerz, als ſich im Frühjahr 1840 die Kunde von der Erkrankung des Königs verbreitete. Am 1. Juni ließ er noch den Grundſtein legen für das ſo lange geplante Standbild Fried - rich’s des Großen. Der Kronprinz mußte den Vater bei der Feier ver - treten; nur als die Trommler drunten anſchlugen und die zerſchoſſenen alten Adlerfahnen ſich ſenkten, erſchien der kranke König im weißen Nacht - kleide auf einen Augenblick an ſeinem Eckfenſter. So ſahen ihn die Ber - liner zum letzten male. Am Nachmittage des Pfingſtfeſtes, 7. Juni, ſtanden die Maſſen dichtgedrängt auf dem weiten Platze vor dem kleinen Palaſte und harrten in tiefem Schweigen, bis von der Rampe herunter verkün - digt wurde, der König habe vollendet.

Sobald dieſe beiden Augen ſich ſchloſſen, brachen alle die lang ver - haltenen Klagen und Hoffnungen der Preußen übermächtig hervor, ſpru - delnd und ſchäumend wie das flüſſige Metall, wenn der Zapfen ausge - ſtoßen wird. Eine neue Zeit war gekommen, ſie forderte neue Männer.

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Beilagen.

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XVI. Baierns Politik in den Jahren 1819 f. Zu Bd. II. 580 f. III. 762 f.

Zur Ergänzung und Bekräftigung meiner Mittheilungen über die bairiſche Politik vor und nach den Karlsbader Beſchlüſſen gebe ich hier noch einige Auszüge aus mehreren neuerdings aufgefundenen Aktenſtücken. Es ſind ſämmtlich ſogenannte Dépêches royales, eigenhändig unterzeichnet von König Max Joſeph, gegengezeichnet von dem Miniſter des Auswärtigen, dem Grafen Rechberg.

Die erſte Depeſche, an den Geſandten in Berlin, Generalleutnant Gf. Rechberg gerichtet, ſchildert mit grellen Farben die demokratiſche Bewegung in Süddeutſchland und fährt dann fort (30. Mai 1819):

J’espère pouvoir clôturer la session à la fin du mois prochain. Il n’est pas douteux qu’il y aurait eu pendant cette séance un éclat formel, si ces hommes n’avaient craint de perdre leur cause en se démasquant complètement; ils ont dont ajourné l’exécution de leurs plus amples projets, espérant que dans l’intervalle de trois ans jusqu à leur réunion le système représentatif aura pris consistance en Allemagne. Je chercherai à déjouer ces projets en les dissol - vant par un acte qui annullera toutes les résolutions inconstitutionnelles qu’ils ont prises. Six années s’écouleront avant que le budget ne doive être voté, et encore n’ont ils le droit que de voter l’impôt direct. Cependant il est douteux, que ces précautions suffiront; et Je crois que l’expérience que J’ai faite et le ton que prennent les Etats de Bade doivent faire prendre la situation de l’Alle - magne en mûre considération et engager les Cours à convenir à Francfort ou partout ailleurs de principes uniformes à arrêter pour que l’art. 13 de l’Acte féderal ne fraie point la voie à un état de choses qui s’il s’empire ne pourra plus être arrêté.

Darauf wird der Geſandte beauftragt, die Rathſchläge Bernſtorff’s wegen dieſer Berathungen der deutſchen Höfe einzuholen. Alſo iſt erwieſen, daß der Münchener Hof die Karlsbader Conferenzen mit veranlaßt hat.

Die zweite Depeſche, vom 13. Dec. 1820, an den Grafen Bray in Wien gerichtet, giebt wieder ein lebhaftes Bild von dem unruhigen Geiſte in Italien und Süddeutſch - land, zumal in Darmſtadt, wo die Kammern ſich in eine conſtituirende Verſammlung verwandelt hätten, und ſchließt:

C’est de Troppau, c’est de cette union des puissances qui déjà a été vic - torieuse d’une grande révolution qu’il faut attendre les mesures propres à con - solider leur ouvrage. Le dépit que cette union cause aux agitateurs est la meilleure preuve de son efficacité.

Die dritte Depeſche, vom 27. Dec. 1820, an General Rechberg, bekundet ebenfalls die Freude des Münchener Hofes über den Troppauer Congreß und beſpricht alsdann das Manuſcript aus Süddeutſchland, ſowie die geheimen Beſtrebungen der württember - giſchen Regierung: On peut à peine se refuser de rapprocher ces différentes cir -732XVII. Canning und Deutſchland.constances avec les doutes, les suppositions et la politique du parti révolution - naire en Allemagne, et on se demande quelle peut être la tendance d’une opi - nion aussi peu fondée et aussi divergeante de celle que professent les autres cours d’Allemagne.

Demnach wird Rechberg angewieſen, das Verhalten Württembergs in Berlin ſcharf zu beobachten.

XVII. Canning und Deutſchland. Zu Bd. III. 264. IV. 27.

Das wunderliche Bild des weitherzigen, immer neue Welten zur Freiheit aufrufenden Kosmopoliten Canning würde aus der deutſchen Geſchichtſchreibung längſt verſchwunden ſein, wenn man bei uns die Satiren kennte, welche Canning in den Jahren 1797 und 98 für William Gifford’s Zeitſchrift The Anti-Jacobin ſchrieb. Der Anti-Jacobin iſt in Deutſchland ſchwer aufzutreiben, ich habe erſt nach langem Suchen ein Exemplar in der Bibliothek des Königs Georg zu Hannover aufgefunden. Die ſatiriſchen Gedichte aber, die er enthält, werden unter dem Titel The poetry of the Anti-Jacobin in England noch immer viel geleſen und neu gedruckt; ſie bildeten vor Jahren eine der Quellen, aus denen der general reader ſeine Anſichten vom deutſchen Leben ſchöpfte. Die Satire Canning’s The Rovers or the double arrangement nennt Niebuhr in den Vorleſungen über die Geſchichte des Revolutionszeitalters das infamſte Pasquill, das je auf Deutſchland ge - ſchrieben iſt, faſt ebenſo niederträchtig als Bahrdt mit der eiſernen Stirn : Liederlichkeit, Blutſchande, Atheismus würden hier als Charakter des deutſchen Weſens dargeſtellt, überhaupt verhöhne der Anti-Jacobin das Würdigſte des Auslandes auf das Schänd - lichſte . Niebuhr urtheilte offenbar nach Jugenderinnerungen; er entſann ſich noch, wie tief es ihn einſt gekränkt hatte, die erſten Werke unſerer werdenden claſſiſchen Dichtung durch das Toryblatt beſchimpft zu ſehen. Heute ſind wir weniger reizbar, aber auch wir erſtaunen noch über die inſulariſche Beſchränktheit, den verſtändnißloſen Hochmuth des Anti-Jacobin. Canning konnte kein Wort deutſch, wie die lächerlichen deutſchen Citate beweiſen. Er hat allem Anſcheine nach ſelbſt die Namen von Schiller und Goethe nicht gekannt, ſondern nur aus Zeitungsartikeln und ſchlechten Ueberſetzungen erfahren, daß in Deutſchland einige radicale Dichter ihr Weſen trieben; er ahnte dunkel die Verwandt - ſchaft zwiſchen den Ideen der Revolution und der Schwärmerei unſerer literariſchen Stürmer und Dränger. Da er unter den Torys Wunderdinge über das gottloſe Göttinger Burſchenleben gehört hatte, ſo glaubte er im Ernſt, daß die ganze Studentenſchaft einer deutſchen Hochſchule, begeiſtert durch die Räuber zur Wegelagerung auf die Landſtraßen hinausgezogen ſei. Goethe’s Stella, die bekanntlich in ihrer urſprünglichen Faſſung mit einer Bigamie endigte, Schiller’s Räuber, Kabale und Liebe und andere dem Briten nur dem Namen nach bekannte deutſche Werke boten ihm nun den Anlaß, in der Parodie The Rovers die deutſche Nation als eine Lumpengeſellſchaft zu ſchildern, die Jedem er - laube Alles zu thun, was, wo, wann und wie er wolle . Nur die deutſchen Flüche ließ er zartfühlend hinweg, weil engliſche Ohren daran noch nicht genugſam gewöhnt ſeien . Das Stück iſt nicht ohne Witz, an einzelnen Stellen ſogar treffend, aber nur eine Burleske des gemeinen Schlages, im Stile unſerer heutigen Witzblätter. Friſches Leben zeigt ſich faſt allein in den eingewobenen Schlemperliedern, ſo in dem bekannten, von der engliſchen Jugend einſt viel geſungenen:

Alas! Mathilda then was true.
At least I thought so at the U -
Niversity of Gottingen.
733XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.

Weit ernſter und bedeutender iſt die Satire New Morality. Sie bekämpft mit ſcharfen, zuweilen mit gewaltigen Worten das verſchwommene Weltbürgerthum der revo - lutionären Parteien:

A steady patriot of the World alone,
The friend of every country but his own.

Hier tritt Canning’s heiligſtes Gefühl hervor: der ſchroffe, in ſeiner Einſeitigkeit großartige Nationalſtolz, die Freude an dem einen Lande, das den Mächten des Verderbens furcht - los widerſtehe: una etenim in mediis gens intemerata ruinis. Dieſer Geſinnung iſt Canning ſein Lebelang treu geblieben, auch als ſpäterhin Scott und Byron den Briten das Verſtändniß der deutſchen Dichtung erſchloſſen. Seine Größe liegt darin, daß er das gerade Gegentheil des Weltbürgers war, zu dem ihn ſeine feſtländiſchen Bewun - derer ſtempeln wollten. Nur weil er ganz und gar engliſch empfand, vermochte er der Legitimitätspolitik Metternich’s zu widerſtehen. Die ſchönen in ſeine Reden eingefügten Worte von Völkerfreiheit ſollten und konnten ihm nur als ein Mittel dienen, um der harten engliſchen Handelspolitik den Beifall der öffentlichen Meinung des Feſtlandes zu gewinnen.

XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz. Zu Bd. IV. 165.

(Zuerſt abgedruckt in den Forſchungen zur brandenb. u. preuß. Geſchichte. Bd. 1.)

Das politiſche Urtheil über den Verfaſſungsbruch König Ernſt Auguſt’s von Han - nover kann unter rechtlichen Männern keinem Streite unterliegen. Was auch überfeiner Scharfſinn zur Entſchuldigung oder Erklärung vorbringen mag, es bleibt doch dabei, daß die kurze Geſchichte des ſelbſtändigen Königreichs Hannover mit einem frevelhaften Staats - ſtreiche begann; und wir Preußen beklagen als eine der trübſten Erinnerungen der Ge - ſchichte des Deutſchen Bundes, daß König Friedrich Wilhelm III. ſich nicht entſchließen konnte, dem hannöverſchen Welfen ebenſo feſt und ſtreng entgegenzutreten, wie kurz vorher dem braunſchweigiſchen Welfen Herzog Karl. Schwieriger erſcheint das perſönliche Urtheil. Iſt Ernſt Auguſt mindeſtens als ehrlicher Fanatiker verfahren? Hat er gegen das Staats - grundgeſetz, das er als König umſtieß, ſchon als Thronfolger beſtimmten, unzweideutigen Widerſpruch eingelegt, oder hat er ſeinen Rechtsbruch durch Hinterhaltigkeit und Winkel - züge vorbereitet? Zuverläſſige Antwort auf dieſe vielumſtrittenen Fragen geben einige Briefſchaften mit der Aufſchrift Erklärung des Herzogs von Cumberland zum Staats - grundgeſetz , welche ich kürzlich im k. Staatsarchiv zu Hannover aufgefunden habe und hier nach ihrem weſentlichen Inhalt mittheile.

Die bekannte, vom Geh. Cabinetsrath Falcke verfaßte Erklärung, welche Ernſt Auguſt am 27. Juni 1839 im Bundestage abgeben ließ, enthält folgende Verſicherung:

Der König Wilhelm IV. hatte eine vorgängige Berathung über das Staatsgrund - geſetz mit dem präſumtiven Thronerben nicht gewollt. Die Mittheilung der Verfaſſung an den damaligen Herzog von Cumberland fand auf des Königs Befehl nicht früher ſtatt, als nachdem die königlichen Entſchließungen über Inhalt und Form ge - faßt worden waren. Eine bei der erſten Kenntnißnahme von dem Thronerben ge - machte Ausſtellung mußte ſchon deshalb unbeachtet bleiben, weil eine den Ständen ge - gebene Zuſicherung des Königs Willen band. Von der erſten Berufung der allgemeinen Ständeverſammlung des Königreichs auf den Grund der neuen Verfaſſung, behufs der Theilnahme an den Sitzungen der erſten Kammer, am 16. October 1833 durch ein Mini -734XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.ſterialſchreiben in Kenntniß geſetzt, erwiderte der jetzt regierende König am 29. desſelben Monats: Von Allem, was dieſerhalb vorgekommen, ſei Er nicht gehörig unterrichtet und könne ſich deshalb auch durch das neue Geſetz noch nicht gebunden halten.

Dieſe kunſtvoll aus Wahrheit und Dichtung zuſammengewobenen Sätze ſollen offen - bar den Eindruck erwecken, als ob der Herzog erſt kurz vor dem Abſchluſſe des Staats - grundgeſetzes vom 26. September 1833, alſo etwa im Sommer 1833, davon Kenntniß erhalten hätte. Die Wahrheit aber iſt, daß König Wilhelm allerdings eine vorgängige Berathung mit dem Thronfolger gehalten hat, und zwar ſchon im October 1831, unter perſönlicher Mitwirkung des nämlichen Geh. Raths Falcke, der nachher die Erklärung für den Bundestag verfertigte. Bekanntlich hatte der König, auf die Bitte des Landtags von 1831, die Gewährung einer neuen Verfaſſung zugeſagt und zunächſt durch die Re - gierung und ihre Vertrauensmänner (Roſe, Dahlmann u. A.) einen Entwurf ausarbeiten laſſen, der im Herbſt dem Monarchen zur vorläufigen Genehmigung vorgelegt wurde. Dieſer Entwurf iſt ſpäterhin durch die ſtändiſchen Berathungen mannichfach umgeſtaltet worden; aber er enthielt bereits jene entſcheidende Reform, welche dereinſt dem Könige Ernſt Auguſt den Hauptvorwand für ſeinen Staatsſtreich bieten ſollte: er beſtimmte ſchon die dem Landtage verſprochene ſogenannte Kaſſenvereinigung, die Verſchmelzung der könig - lichen Domänenkaſſe mit der ſtändiſchen Steuerkaſſe. Der König befahl nunmehr dem Miniſter v. Ompteda und dem Geh. Rath Falcke, den Verfaſſungsplan dem gerade in England anweſenden Thronfolger mitzutheilen. Nicht ohne Beſorgniß ſah er der Ant - wort des Bruders entgegen, da die Verhandlungen über die Reformbill eben damals ſchwebten und der Hochtory Cumberland das Whigminiſterium ſcharf bekämpfte. Wider Erwarten bekundete aber der Herzog mündlich und ſchriftlich ſeine wärmſte Anerkennung für den Entwurf.

Am 30. October 1831 ſchrieb er aus Kew ſeinem jüngeren Bruder, dem Vizekönig von Hannover, Herzog von Cambridge, erzählte ihm, daß er durch Ompteda und Falcke den Entwurf erhalten habe, und fuhr fort: I must say, that it does both the King and the government the highest honour the manner in which they have drawn up their proposals, and there was not one single objection that I could find or alteration to propose except in three points. Nun zählt er ſeine drei Bedenken auf. Er verwirft zum Erſten die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, weil dann die demokratiſchen Mitglieder Reden für das Publicum halten würden. Es genüge nicht, daß die Regierung und jedes einzelne Mitglied die Abhaltung einer geheimen Sitzung verlangen dürfe; denn durch ſolche Anträge errege die Regierung nur Unmuth, der ein - zelne Abgeordnet aber werde a marked man. Zweitens tadelt der Herzog die Bewilli - gung der Tagegelder an die Mitglieder der zweiten Kammer, wegen der Gefahr der Zeit - vergeudung. Zum Dritten verlangt er, daß die beurlaubten Soldaten den Kriegsgeſetzen unterſtellt werden ſollten ein Bedenken, das eigentlich gar nicht zur Sache gehörte, da der Entwurf dieſe Frage nur mittelbar berührte. Dann ſchließt er: These are the only three points I have to remark upon, and the King, whom I saw on Friday and who had heard my remarks in a letter from Ompteda, said: He agreed most perfectly and entirely with me and had stated the same to Ompteda. It is impossible for any man to have behaved more nobly and disinterestedly than the King has done in this whole business, and both his head and heart have shone in this occasion. Ernest. Das Lob des Edelſinnes und der Uneigennützig - keit des Königs hatte guten Grund; denn der Verfaſſungsentwurf bemaß die Krondotation für das königliche Haus ſehr reichlich und beſtimmte, daß ſie dem im Lande wohnenden Nachfolger voll gewährt werden ſollte, während König Wilhelm, der in England blieb, ſich für ſeine Lebenszeit mit einer geringeren Rente begnügte.

Am folgenden Tage (Kew, 31. October 1831) ſchrieb der Herzog vertraulich (pri - vate) an den König ſelbſt, dankte ihm für die Sendung von Ompteda und Falcke und verſicherte: I cannot sufficiently declare my perfect satisfaction in all and every735XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.point. Niemand hätte edler und uneigennütziger handeln können als der König, proving thus that Your sole object is to place the finances of the country of Hanover on a footing that Your successors may not have difficulties. Darauf kommt er wieder auf ſeine drei Bedenken zurück, erkennt dankbar an, daß der König hierin mit ihm übereinſtimme, erwähnt ſodann, daß König Ludwig von Baiern ſelbſt nach ſchmerzlichen Erfahrungen die Oeffentlichkeit der Landtage mißbillige, und bemerkt über die Diäten: hier könne man vielleicht nachgeben; then at least the expence must fall upon the country and not on the sovereign, and with such restrictions that the States cannot protract the business in order to be paid so longer. Endlich ſetzte er mit militäriſcher Sachkenntniß auseinander, wie man es künftig mit den beurlaubten Sol - daten halten ſolle.

Auf dieſe beiden Briefe bezieht ſich offenbar die von L. Weiland (Rede auf Dahl - mann, Göttingen 1885, S. 34) mitgetheilte Erzählung Roſe’s; nur daß dem Wieder - erzähler Pertz dabei einige kleine Gedächtnißfehler mit untergelaufen ſind.

Der wohlmeinende König war überglücklich. Sein Thronfolger hatte gegen den Entwurf nur drei Bedenken erhoben, von denen er das zweite wegen der Diäten ſelbſt für unerheblich erklärte, während das dritte wegen der beurlaubten Soldaten kaum zur Sache gehörte; dagegen hatte er der einzigen Vorſchrift des Entwurfs, welche vielleicht der Zuſtimmung der Agnaten bedurfte, der Kaſſenvereinigung, mit überſtrömen - der Dankbarkeit zugeſtimmt. König Wilhelm meinte alſo fortan gegen weitere Einſprüche geſichert zu ſein und antwortete dem Bruder ſehr freundlich (Brighton, 3. Novbr. 1831). Er betheuerte, daß er bei dem Entwurfe beſonders an die Intereſſen ſeiner Nachfolger gedacht habe, Yourself and Your promising son. It had appeared to Me of the utmost importance to the welfare and prosperity of the country and to Your own comfort and tranquillity that You should be fully informed of what has been proposed to Me. Der Verfaſſungsplan ſei hervorgegangen aus einer gerechten und liberalen, aber hoffentlich nicht furchtſamen Betrachtung der Lage Hannovers, aus den allgemeinen Umſtänden, welche den Wunſch nach einer Verfaſſung hervorgerufen, und aus der Nothwendigkeit, die Kundgebungen der öffentlichen Meinung einzelner Klaſſen zu beachten. Die Bedenken wegen der Oeffentlichkeit und der Diäten ſolle Falcke mit dem Vizekönig und dem hannöverſchen Miniſterium nochmals beſprechen, and I have no doubt that such consideration will be given to them as circumstances may seem to admit. Auch die Stellung der beurlaubten Soldaten würde noch von Sachverſtändigen geprüft werden. Hierauf ließ der König die zwiſchen ihm und dem Herzog gewechſelten Briefe durch ſeinen Sekretär, Generalleutnant Sir Herbert Taylor, dem Vizekönige ſenden (Brighton, 7. November 1831): His Majesty considers it ad - visable that Your R. Highness and the Hanoverian government should be in possession of these documents, and He trusts they will prove satisfactory to you.

Die hannöverſche Regierung befolgte die Befehle des Königs gewiſſenhaft. Lediglich aus Rückſicht für den Thronfolger wurde die Zuſage der Diäten aus der Verfaſſung geſtrichen und in ein proviſoriſches Reglement verwieſen, das leicht wieder geändert werden konnte. Die Oeffentlichkeit der Landtagsverhandlungen ließ ſich allerdings nicht mehr ganz zurücknehmen, da der König ſie den Ständen bereits verſprochen hatte; ſie wurde jedoch, um den Thronfolger zufrieden zu ſtellen, dahin abgeſchwächt, daß die Kammern nur berechtigt, nicht verpflichtet ſein ſollten Zuhörer zuzulaſſen, und die Folge war, daß die erſte Kammer immer geheim tagte. Damit glaubten die Miniſter dem Herzoge, dem ja gar kein Mitregierungsrecht zuſtand, jede erdenkliche Nachgiebigkeit erwieſen zu haben und führten fortan unbeſorgt das Verfaſſungswerk weiter. Der Entwurf wurde im November 1831 einer aus Vertretern der Regierung und der Stände gemiſchten Com - miſſion, dann im Mai 1832 dem neuen Landtage und ſchließlich im Frühjahr 1833 nach mehrfacher Umarbeitung abermals dem Könige vorgelegt. Nachdem die alſo mit kur - hannöverſcher Gründlichkeit bearbeitete Verfaſſung im September 1833 veröffentlicht war,736XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.wurde ſie von dem hannöverſchen Cabinetsminiſterium am 16. October 1833 dem Herzog von Cumberland zugeſendet, nebſt der Anfrage, ob er geneigt ſei ſeinen Sitz in der erſten Kammer einzunehmen, während gleichzeitig Miniſter Ompteda in London an den Herzog von Suſſex die nämliche Frage ſtellte. Suſſex erhob keine grundſätzlichen Bedenken; Cumberland aber antwortete wie folgt:

Berlin, 29. October 1833. Meine Herren! Ich habe durch den Geſandten von Münchhauſen Ihr Schreiben vom 16. d. Mts. erhalten und verfehle nicht Ihnen für dieſe Mittheilung meinen Dank zu erſtatten. Jedoch kann ich nicht umhin Ihnen zu ſagen, daß ich im Jahre 1819 bei meinem ſeligen Bruder König Georg IV. gegen die Einführung der allgemeinen Stände proteſtirt habe, da dieſe nach meiner Anſicht nie hätten ſollen eingerichtet werden ohne vorherige Einwilligung und Zuſtimmung aller männlichen Agnaten, weil dadurch eine totale Veränderung der Verfaſſung des Landes bewirkt worden. Von allem, was weiter vorgekommen, bin ich nicht genügend unterrichtet und kann mich deshalb auch durch das neue Geſetz noch nicht gebunden halten.

Ihr ergebener Ernſt.

Die Miniſter, Stralenheim, Alten, Schulte, von der Wiſch, waren durchweg Edel - leute von der achtungswerthen, aber geiſtloſen althannöverſchen Schule. Begreiflich daher, daß ſie durch dieſe unerwartete Erklärung des Thronfolgers ganz außer Faſſung geriethen. Alle früheren Aeußerungen des Herzogs waren nur vertraulich geſchehen. Jetzt, in dem einzigen förmlichen Aktenſtücke, das er jemals über das Staatsgrundgeſetz geſchrieben hat, verweigerte er nicht nur, die früheren Verhandlungen einfach ableugnend, vorläufig ſeine Zuſtimmung zu dem neuen Staatsgrundgeſetze; er ſchien ſogar ſoweit ſeine Worte ſich deuten ließen zu den alten Provinzialſtänden, zu dem Zuſtande vom Jahre 1803 zurückkehren zu wollen; denn die allgemeine Ständeverſammlung, die er als unrecht - mäßig verwarf, war im Jahre 1819 nur verändert, aber ſchon im Jahre 1814, zur ſelben Zeit da die Königskrone Hannovers entſtand, begründet worden. In ihrer Angſt wagten die Miniſter nicht, dem Herzog kurzweg die Frage zu ſtellen, ob er das Staatsgrundgeſetz anerkenne oder eine förmliche Rechtsverwahrung einlegen wolle. Sie ſchrieben vielmehr an Ompteda, den hannöverſchen Miniſter in London (14. November 1833), erzählten ihm das Geſchehene und bemerkten dazu: von einem früheren Proteſte des Herzogs wüßten ſie gar nichts; auch hielten ſie für zweifelhaft, ob ein ſolcher Proteſt im Jahre 1819 überhaupt noch möglich geweſen, da die allgemeine Ständeverſammlung des Königreichs ſchon fünf Jahre früher einberufen worden ſei. Nicht minder zweifelhaft ſcheine es, ob dieſe Verfaſſungsänderungen der Zuſtimmung der Agnaten bedürften; bei der Union der Landſchaften Calenberg und Grubenhagen im Jahre 1801 habe man die Agnaten auch nicht befragt. Zudem laſſe ſich nicht leugnen, daß die alten Provinzial - ſtände größere, für die Krone gefährlichere Rechte beſeſſen hätten, als heute der allgemeine Landtag. Zum Schluß meinten ſie harmlos, die Bemerkungen des Herzogs ſchienen ſich doch wohl nur auf die Form, nicht auf den Inhalt des Staatsgrundgeſetzes zu beziehen; denn aus ſeinen Geſprächen mit Ompteda und Falcke, aus ſeinen Briefen an den König und den Herzog von Cambridge gehe klar hervor, daß er vor zwei Jahren den Ver - faſſungsentwurf gebilligt habe, mit einziger Ausnahme der Beſtimmungen über die Oeffent - lichkeit und die Diäten.

Der König zeigte ſich über die Sinnesänderung ſeines Bruders keineswegs über - raſcht; er wußte längſt, daß der Herzog mit dem Führer der hannöverſchen Adelspartei, Freiherrn von Schele, in Verbindung ſtand und ſich gegen den Geſandten Münchhauſen ſehr feindſelig über das Staatsgrundgeſetz geäußert hatte. Als ihm Geh. Legationsrath Lichtenberg am 28. November in Brighton Vortrag hielt, verſicherte er beſtimmt, daß er weder einen Proteſt des Herzogs aus dem Jahre 1819 kenne, noch von mündlichen737XVIII. Der Herzog von Cumberland und das Staatsgrundgeſetz.Erörterungen zwiſchen Cumberland und König Georg IV. etwas wiſſe. Er billigte die Meinung der Miniſter, daß ein Proteſt der Agnaten unzuläſſig ſei, und bemerkte mit deutlicher Anſpielung auf Cumberland’s bekannte Schuldenlaſt wie Allerhöchſt-Sie nicht beſorgten, die abweichenden Anſichten Sr. k. Hoheit würden dem Lande zum Nach - theil gereichen, allerdings aber Sich des Gedankens nicht zu erwehren vermöchten, es würden dieſelben eher zum Nachtheil als zum Vortheil Sr. k. Hoheit ſelbſt ausſchlagen. Der König wünſchte, daß der Vizekönig eine angemeſſene, ausgleichende Erwiderung an den Bruder ſchreiben ſolle, fügte aber hinzu, daß Sie ungern geſtehen müßten, einen günſtigen Erfolg davon kaum hoffen zu können . (Lichtenberg’s Bericht an das Cabinets - miniſterium, 3. December 1833.)

Hierauf traten die hannöverſchen Miniſter nochmals in Berathung und ſchrieben an Lichtenberg (Miniſterialſchreiben vom 13. December 1833): An und für ſich können wir zwar die gedachte Erwiderung ſo wenig ihrer Form als ihrem Inhalt nach für eine eigentliche Proteſtation gegen das Staatsgrundgeſetz halten; allein wir können allerdings die Beſorgniß nicht unterdrücken, daß dieſem Aktenſtücke früher oder ſpäter eine andere Abſicht untergelegt und es uns zum Vorwurf gemacht werden könnte, wenn wir daſſelbe mit Stillſchweigen angenommen hätten. Deshalb, und weil eine eigenhändige Erwide - rung des Königs der Sache mehr Wichtigkeit geben würde, als ſie haben ſolle, hätten die Miniſter ſich entſchloſſen, dem Thronfolger ſelbſt zu antworten, und hofften auf die nachträgliche Genehmigung des Königs.

Dies Erwiderungsſchreiben des Cabinetsminiſteriums an Cumberland (vom 11. De - cember 1833 datirt) war überaus zart gehalten, obgleich man wiſſen mußte, daß der Herzog mittlerweile dem Vizekönige (in einem Briefe vom 29. November) erklärt hatte, er werde mehreren Beſtimmungen des Staatsgrundgeſetzes, namentlich der Kaſſenvereinigung, nie ſeine Zuſtimmung ertheilen. Die Miniſter begnügten ſich dem Herzog zu bemerken, daß die Zuſtimmung der Agnaten zwar wünſchenswerth, doch nicht nothwendig ſei, und das Staatsgrundgeſetz jetzt überdies unter dem Schutze des Art. 56 der Schlußakte des Deutſchen Bundes ſtehe. Sie bewieſen ihm ſodann, daß die königliche Autorität durch die Kaſſenvereinigung nur verſtärkt werde, und erinnerten ihn daran, wie ſorgſam ſie ſein Bedenken wegen der Diäten berückſichtigt hätten: es iſt uns gelungen, jede des - fallſige Beſtimmung aus dem Staatsgrundgeſetze zu entfernen; auch die Oeffentlichkeit des Landtags ſei, dem Wunſche des Herzogs gemäß, wenigſtens ſtark beſchränkt worden. Damit ſchloſſen ſie. Auch jetzt wagten ſie nicht, dem Thronfolger zu ſagen, daß ſie nunmehr ein unzweideutiges Ja oder Nein von ihm verlangen müßten, um dann nöthigen - falls mit Hilfe des Landtags oder des Bundestags weitere Maßregeln zu ergreifen.

Der König ſprach zu dieſem Schreiben ſeinen ganzen Beifall aus (Lichtenberg’s Bericht, 17. Januar 1834). Der Thronfolger aber erwiderte nichts, da er das Schreiben in Folge eines Zufalls nicht erhalten hatte. Als Cumberland bald nachher wieder nach England kam, hielt Geh. Rath Lichtenberg am 24. Januar, 27. Februar und 24. März drei Unterredungen mit ihm über das Staatsgrundgeſetz, wobei er dem Herzog eine Abſchrift des verlorenen Schreibens vorlas (Lichtenberg’s Berichte vom 28. Februar und 27. März 1834). In dieſen Geſprächen offenbarten ſich die Hintergedanken des Herzogs ganz unverkennbar.

Derſelbe Fürſt, der vor zwei Jahren das Staatsgrundgeſetz bis auf drei Punkte gebilligt hatte, erklärte jetzt: Ich war immer gegen eine allgemeine Ständeverſammlung des Königreichs; ich habe dies 1814 in einer Denkſchrift dem Prinzregenten geſagt und ſpäterhin mündlich bei ihm dawider proteſtirt; ich habe deshalb im Jahre 1822 die Ständeverſammlung nicht empfangen, als ſie ſich mir durch den Grafen Merveldt vor - ſtellen laſſen wollte, ſondern ihr erwidert, daß ich nur die Einzelnen als Privatperſonen empfangen könne. Meine Anſicht iſt alſo notoriſch. Aus der Union von Calenberg und Grubenhagen folgt nicht, daß auch die ſtändiſche Union für das geſammte König - reich ohne Einwilligung der Agnaten eingeführt werden darf. Warum können wir nichtTreitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 47738XIX. Prinz Wilhelm und Prinzeſſin Eliſe Radziwill.Provinzialſtände haben wie Preußen? Das alles unter der feierlichen, dem alten Soldaten geläufigen Betheuerung: ich ſpreche meine Anſicht immer frei und offen aus, ich habe immer die Sache, nie die Perſon im Auge. Nachdem er früherhin erklärt hatte my perfect satisfaction in all and every point, except in three points, wagte er jetzt zu behaupten: wenn er gegen Ompteda und Falcke nur zwei Punkte hervor - gehoben habe, ſo werde daraus nie der Schluß gezogen werden können, daß Sie allem Uebrigen Ihren Beifall gegeben hätten . Am anſtößigſten erſchien ihm jetzt die Kaſſen - vereinigung, die er früher mit ſo inbrünſtigem Danke begrüßt hatte: dadurch werde das königliche Einkommen abhängig von der Bewilligung der Stände. Vergeblich hielt ihm Lichtenberg vor, daß die Krone vielmehr erſt jetzt durch die Krondotation ein völlig ſelb - ſtändiges Einkommen erhalte. Auch auf ſeine früheren Einwände kam der Herzog wieder zurück: Wenn man keine Diäten bewilligt hätte und die Stände wären deshalb nicht zuſammengekommen, ſo würde gerade dadurch das Gouvernement die Gelegenheit in den Händen gehabt haben, die Verſammlung nicht ferner zu berufen zu brauchen . Dann eiferte er noch gegen die Oeffentlichkeit des Landtags ſowie gegen die neue Organiſation der Cavallerie und ließ ſich auch nicht beruhigen, als Lichtenberg ihm vorſtellte, der Land - tag dürfe ja das Militärbudget nur in Bauſch und Bogen bewilligen. Selbſt der ehr - furchtsvolle Geheime Rath vermochte am Schluſſe ſeiner Berichte nur zu ſagen: daß, wenn der unterthänigſt gehorſamſt Unterzeichnete überhaupt wagen darf eine Anſicht über den Eindruck anzudeuten, welche die lange Unterredung auf Se. k. Hoheit hervor - brachte, derſelbe wenigſtens kein durchaus ungünſtiger zu ſein ſchien.

Damit ſchließen die Akten. Das Miniſterium beruhigte ſich bei dieſem ſchien des ſanften Lichtenberg und trieb in unbegreiflicher Sorgloſigkeit dem Staatsſtreiche ent - gegen. Die welfiſche Tragikomödie fand nachher ihren würdigen Abſchluß, als König Ernſt Auguſt ſeinem Lande eigenmächtig dieſelbe Verfaſſung vom Jahre 1819 wieder auf - erlegte, welche der Herzog von Cumberland einſt als völlig widerrechtlich verworfen hatte.

Dem Staatsgrundgeſetze folgte am 19. November 1836 das Hausgeſetz für das königliche Haus. Ueber deſſen Entſtehung weiß ich nichts Nenes zu berichten. Bekannt iſt nur, daß Dahlmann, der dies Hausgeſetz auszuarbeiten hatte, am 21. April 1834 vom Cabinetsminiſterium die amtliche Mittheilung erhielt: die Zuſtimmung der voll - jährigen königlichen Prinzen ſei erfolgt. Ebenſo bekannt, daß der Herzog von Cumber - land am 18. December 1835 an Geh. Rath Falcke ſchrieb: er könne als ehrlicher Mann das Hausgeſetz, das ſo feſt mit dem Staatsgrundgeſetze zuſammenhänge, für jetzt noch nicht unterzeichnen: I must have much more aid and advice before I can allow myself to take so serious a step as you propose me doing. Da jene Verſicherung des Miniſteriums unmöglich ganz grundlos ſein kann, ſo drängt ſich unabweisbar die Vermuthung auf, daß der Herzog beiden Geſetzen gegenüber auf dieſelbe Weiſe verfahren iſt: er hat zuerſt in unverbindlicher Form ſeine Zuſtimmung gegeben, um nachher nicht ehrlich zu proteſtiren, ſondern die Entſcheidung ins Ungewiſſe hinauszuſchieben.

XIX. Prinz Wilhelm und Prinzeſſin Eliſe Radziwill. Zu Bd. III. 393. IV. 197.

So lange Kaiſer Wilhelm I. lebte, hielt ich für ſchicklich, über ſeine unglückliche Jugendliebe nur das Unentbehrliche zu ſagen. Heute trage ich kein Bedenken mehr, meinen Leſern aus dem Briefe des Prinzen Wilhelm vom 23. Juni 1826 die Stellen mitzutheilen, welche ich vor Jahren den Tagebüchern des Generals Witzleben entnommen habe. Dieſe Herzensgeſchichte des Begründers unſerer Einheit hat für uns Deutſche739XIX. Prinz Wilhelm und Prinzeſſin Eliſe Radziwill.eine ähnliche Bedeutung wie einſt die Kämpfe Friedrich’s II. mit ſeinem Vater. Der Prinz ſchreibt:

Sie haben, theuerſter Vater, die Entſcheidung für mein Schickſal gegeben, die ich ahnden mußte, aber mich zu ahnden ſcheuete, ſo lange ein Strahl von Hoffnung mir noch blieb Leſen Sie in meinem Herzen, um in demſelben den unausſprech - lichen Dank zu finden, der es belebt für alle die unzähligen Beweiſe Ihrer Gnade, Liebe und Langmuth, die Sie mir in dieſen bewegten fünf Jahren gaben, vor Allem aber noch für den unbeſchreiblich tief mich ergriffen habenden Brief vom geſtrigen Tage. Welchen Eindruck er mir gemacht, bin ich nie im Stande zu ſchildern. Ihre väterliche Gnade, Liebe und Milde, Ihre liebevolle Theilnahme bei dem ſchweren Geſchick, das mich trifft, das Vorhalten meiner Pflichten in meinem Stande, die Anerkennung der Wür - digkeit des Gegenſtandes, dem ich meine Neigung geſchenkt habe, die Erinnerung an alle Verſuche, welche Ihre Liebe zu Ihren Kindern Sie unternehmen ließ, um die Wünſche meines Herzens zu erfüllen Alles, Alles dies in den Zeilen zu finden, die mein Schick - ſal entſchieden, miſchte in mein erſchüttertes Herz ſo viel Troſt und ſo unausſprechliches Dankgefühl, daß ich nur durch die kindlichſte Liebe und durch mein ganzes Verhalten in meinem künftigen Leben im Stande ſein werde, Ihnen, theuerſter Vater, meine wahren Geſinnungen zu bethätigen. Ich werde Ihr Vertrauen rechtfertigen, und durch Be - kämpfung meines tiefen Schmerzes und durch Standhaftigkeit in dem Unabänderlichen in dieſer ſchweren Prüfung beſtehen. Gottes Beiſtand werde ich anrufen. Er verließ mich in ſo vielen ſchmerzlichen Augenblicken meines Lebens nicht, Er wird mich auch jetzt nicht verlaſſen So ſchließe ich dieſe wichtigen Zeilen zwar mit zerriſſenem Her - zen, aber mit einem Herzen, das Ihnen, theuerſter Vater, inniger denn je anhängt! Denn Ihre väterliche Liebe war nie größer als in der Art der ſchweren Entſcheidung.

Ueber die vielbeſtrittene Rechtsfrage, welche in dieſer Familiengeſchichte mitſpielt, wage ich eine abſchließende Entſcheidung nicht zu geben. So weit ich aber zu urtheilen vermag, glaube ich allerdings, daß die Miniſter das Rechte trafen, als ſie ſich gegen die Ebenbürtigkeit der Prinzeſſin Radziwill ausſprachen. Wohl hatte einſt Luiſe Charlotte Radziwill, die reiche Erbin der Herrſchaften Tauroggen und Serrey, den Sohn des großen Kurfürſten, Markgraf Ludwig, nachher in zweiter Ehe den Pfalzgrafen Karl Lud - wig geheirathet, und weder im brandenburgiſchen noch im pfälziſchen Hauſe wurde die Ebenbürtigkeit dieſer Ehen je bezweifelt. Aber ſeitdem waren ſchärfere und härtere Rechts - begriffe im preußiſchen Königshauſe zur Herrſchaft gelangt. Friedrich II. verlangte von Kaiſer Karl VII. ausdrücklich, daß alle diejenigen fürſtlichen Heirathen ſchlechterdings für ungleich zu achten, welche mit Perſonen unter dem alten reichsgräflichen Sitz und Stimme in comitiis habenden Stande contrahirt werden . Dieſe Erklärung des Ober - hauptes der Dynaſtie war für die Nachfolger bindend, ſo lange ſie nicht durch ein Haus - geſetz beſeitigt war; und da die Fürſten Radziwill zwar den reichsfürſtlichen Titel, aber niemals Sitz und Stimme auf den Reichstagen erlangt hatten, ſo konnten ſie fortan, trotz ihres Reichthums und hiſtoriſchen Ruhmes, dem preußiſchen Königshauſe nicht mehr für ebenbürtig gelten. Prinz Wilhelm von Preußen war ſelbſt dieſer Anſicht. Er bat ſeinen königlichen Vater in einem Briefe aus Petersburg vom 12. Februar 1826, daß Prinz Auguſt von Preußen die Prinzeſſin Eliſabeth Radziwill, um ihr die Ebenbürtigkeit zu verſchaffen, an Kindesſtatt annehmen, und die Söhne des Königs dieſe Adoption ge - nehmigen ſollten. Dies bezeugt Fürſt Wittgenſtein in einem Schreiben an Graf Bern - ſtorff vom 28. März 1826.

47*740XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.

XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831. Zu Bd. IV. 215.

(Zuerſt abgedruckt in den Forſchungen zur brandenb. u. preuß. Geſchichte. Bd. 2.)

Als J. G. Droyſen in ſeinem lehrreichen Aufſatze Zur Geſchichte der preußiſchen Politik in den Jahren 1830 32 *)Zuerſt in der Zeitſchrift für Preußiſche Geſchichte 1874, dann in Droyſen’s Abhandlungen zur neueren Geſchichte 1876. zum erſten male eine aktenmäßige Darſtellung der Bundesgeſchichte jener Jahre gab, gelangte er zu dem Ergebniß, daß damals der poſi - tive und der negative Pol deutſcher Geſchichte, das Syſtem des engeren Bundes unter Preußens Führung und das Syſtem der alten Bundesverfaſſung unter öſterreichiſchem Präſidium , in aller Schärfe einander gegenübergetreten ſeien. Wie fern es mir auch liegt, gegen meinen verſtorbenen Lehrer und Collegen eine Polemik zu beginnen, ſo kann ich doch nicht verſchweigen, daß ich nach Einſicht der Akten dieſe Auffaſſung für über - trieben halte und den Verhandlungen, welche in jener Zeit über einen möglichen fran - zöſiſchen Krieg geführt wurden, eine ſo hohe Bedeutung nicht beizumeſſen vermag.

In ſeinem ſchönen patriotiſchen Eifer war Droyſen ſehr geneigt, die Ideen unſerer modernen nationalen Politik ſchon in älteren, anders empfindenden Zeiten aufzuſuchen. Augenſcheinlich iſt ſein Urtheil mitbeſtimmt worden durch eine nahe liegende und doch nicht zutreffende Vergleichung, durch die Erinnerung an das Jahr 1859. Damals hatte Oeſterreich in Italien ſchwere Niederlagen erlitten; der preußiſche Hof aber durfte nach menſchlichem Ermeſſen ſicher hoffen, das von Truppen ganz entblößte Frankreich zu be - ſiegen. Er war alſo in der Lage, ſeine Bedingungen zu ſtellen, als er, einer hochher - zigen, unpolitiſchen Regung folgend, dem bedrängten Nachbar ſeine Hilfe anbot; und wenn er die Führung des Bundesheeres für ſich verlangte, ſo konnte er auf die öffent - liche Meinung in Preußen ſelbſt wie in einem großen Theile des übrigen Deutſchlands zählen, da der Gedanke des Engeren Bundes ſeit dem Jahre 1848 längſt tiefe Wurzeln geſchlagen hatte. Begreiflich alſo, daß Oeſterreich durch den Vertrag von Villafranca die Lombardei dahingab, um dem nordiſchen Nebenbuhler nur nicht eine militäriſche Führerſtellung einzuräumen, die bei glücklichem Verlaufe des Krieges wahrſcheinlich Preu - ßens dauernde Hegemonie in Deutſchland begründet hätte. Wie anders die Lage im Jahre 1831! Auch damals hätte Oeſterreich, wenn der von allen Seiten erwartete Weltkrieg hereinbrach, den beſten Theil ſeiner Kriegsmacht gegen die Revolution in Italien und die dort vielleicht einrückenden franzöſiſchen Truppen verwenden müſſen; aber die ſchwerſte Laſt und die ſchwerſte Gefahr des Kriegs fiel auf Preußen; denn die Rhein - grenze war unzweifelhaft das letzte Ziel der Pariſer Kriegspartei. Dem Wiener Hofe gegenüber konnte Preußen alſo nicht nach freiem Ermeſſen verfahren, ſondern mußte zu - frieden ſein, wenn Oeſterreich überhaupt in der Lage war, ein Hilfsheer auf den deut - ſchen Kriegsſchauplatz zu ſenden. Nimmt man hinzu, daß der Gedanke der preußiſchen Hegemonie ſich weder in der Nation noch am Berliner Hofe irgendwie zur Klarheit ent - wickelt hatte, daß der einzige Staatsmann großen Stiles, Motz, ſchon im Juni 1830 geſtorben war, daß weder der König noch Bernſtorff oder Eichhorn hohen Ehrgeiz hegte, daß das Auswärtige Amt mit der Sicherung des Weltfriedens und der ſchwierigen Er - weiterung des Zollvereins vollauf beſchäftigt war, ſo läßt ſich nicht abſehen, woher Preu - ßens deutſche Politik die Kraft hätte nehmen ſollen, auch noch eine ſchöpferiſche Reform des Bundes-Heerweſens zu verſuchen.

Der Darſteller der alten oder der mittelalterlichen Geſchichte verſucht durch einen combinirenden Scharfſinn, deſſen Rechnungen jeder unterrichtete Leſer zu folgen ver - mag, aus einer lückenhaften Ueberlieferung ein annähernd vollſtändiges Bild des Ge -741XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.ſchehenen zu gewinnen. Wer die neue oder gar den unüberſehbaren Stoff der neueſten Geſchichte behandelt, verrichtet ſeine ſchwerſte Arbeit, bevor er zu ſchreiben anfängt, un - bemerkt von der Mehrzahl der Leſer; er muß den Wuſt ſeiner Aktenſtücke ſo lange durch - denken, bis er das Große von dem Kleinen zu unterſcheiden vermag und genau weiß, was aus dem Durcheinander diplomatiſcher Einfälle, Ränke und Seifenblaſen der hiſto - riſchen Mittheilung würdig ſei. Verſuchen wir den rechten Abſtand von dem Bilde zu gewinnen, ſo erſcheint der Verlauf jener Verhandlungen über einen möglichen Bundes - krieg ziemlich einfach, ihr hiſtoriſches Ergebniß nicht ſehr erheblich.

Die deutſche Kriegsverfaſſung vom Jahre 1821 war ein unter Oeſterreichs ſtiller Beihilfe errungener Triumph der Mittelſtaaten; ſie gewährte der Eitelkeit der kleinen Höfe die Genugthuung, daß ſie ſelbſt auf dem Papiere mehr Bundestruppen ſtellten als jede der beiden Großmächte: vier Corps mit 120,000 Mann, während Oeſterreich nur drei Corps mit 97,000 Mann, Preußen auch nur drei mit 80,000 Mann zu ſtellen hatte. An die Spitze dieſes Bundesheeres ſollte in Kriegszeiten ein vom Bundestage ernannter Bundesfeldherr treten, der, wie die Stimmen in Frankfurt ſtanden, nur ein Oeſterreicher oder vielleicht ein kleiner Prinz, aber unmöglich ein Preuße ſein konnte. An die förmliche Beſeitigung dieſer aberwitzigen Vorſchriften dachte Niemand, am wenigſten der preußiſche Hof; denn ſchon ſeit dem Anfang der Zwanzigerjahre befolgte Graf Bern - ſtorff den wohlerwogenen Grundſatz, daß alle gemeinnützigen Maßregeln für Deutſch - lands Sicherheit und Wohlfahrt nicht durch den Bund, ſondern durch Verabredungen der Einzelſtaaten bewirkt werden müßten. Aber auch an die Ausführung der Kriegs - verfaſſung ließ ſich nicht denken; vielmehr beſtand an allen Höfen der ſtillſchweigende Entſchluß, im Kriegsfalle nach den Umſtänden zu handeln und über jene leeren Para - graphen hinwegzuſehen. Jedermann wußte, daß Preußen durch jede Bedrohung des Bundesgebiets in ſeinem eigenen Daſein gefährdet und mithin gezwungen wurde, ſeine geſammten neun Armeecorps, das Dreifache ſeines Bundescontingents, auf den deutſchen Kriegsſchauplatz zu werfen, während Oeſterreich und die Kleinſtaaten vielleicht nicht ein - mal das Wenige leiſten konnten, was ihnen das Bundesgeſetz vorſchrieb.

Als nun die Juli-Revolution den Deutſchen Bund mit Krieg bedrohte, da hielten ſich die kleinen Höfe gegenüber den geheimen Lockungen der franzöſiſchen Diplomatie alleſammt ganz untadelhaft, die einen weil ſie deutſch dachten, die anderen weil ſie die Revolution haßten. Viel mehr als löbliche Geſinnungen hatten ſie dem Vaterlande freilich nicht zu bieten. Südlich von Mainz und Würzburg gab es keine Feſtung, weil der Bundes - tag ſich über die oberländiſchen Bundesfeſtungen nicht hatte einigen können; das weite Gebiet vom Böhmerwalde bis zum Oberrhein lag jedem Angriff offen, und die ſüddeut - ſchen Truppen waren durch die Sparſamkeit der Landtage ſo arg verwahrloſt, daß ſie damals unzweifelhaft noch weniger geleiſtet hätten als in dem Mainfeldzuge von 1866. Mit dem öſterreichiſchen Heere ſtand es kaum beſſer; die Rüſtungen dort ſchritten ſehr langſam vor, und bei der unheimlichen Gährung in Italien ließ ſich ſchwer abſehen, wie viele Truppen die Hofburg für den Schutz des deutſchen Südweſtens übrig behalten würde. In ſolcher Lage waren die ſüddeutſchen Höfe gern bereit, ſich nöthigenfalls durch Preußen retten zu laſſen; ſie beſprachen ſich vertraulich mit den preußiſchen Geſandten über mögliche gemeinſame Rüſtungen. Preußen verſuchte nun zunächſt den Wiener Hof vorwärts zu treiben; dort herrſchte jedoch eine tiefe Entmuthigung, die erſt im Herbſt 1831, nach dem Falle Warſchaus, einer friſcheren Stimmung weichen ſollte. Metternich verſprach, den Fürſten Schönburg, den Geſandten in Stuttgart, zu näheren Verhand - lungen an die ſüddeutſchen Höfe zu ſenden; aber Schönburg blieb ſeit dem November 1830 monatelang unthätig in Wien.

Da beſchloß man zu Berlin, den Vortritt zu übernehmen, und ſendete im December den General v. Röder in die Hofburg. Im Januar 1831 überreichte der General ſeine militäriſchen Vorſchläge (politiſche Aufträge hatte er nicht). Preußen erklärte ſich bereit, gegebenen Falles mit ſeiner ganzen Macht in den Krieg einzutreten, und verlangte, daß742XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.drei Heere gebildet würden: ein preußiſch-norddeutſches an der Moſel, ein ſüddeutſches, durch preußiſche Truppen verſtärkt, am Ober - und Mittelrhein, dazu ein öſterreichiſches Heer in Schwaben. Dieſe Vorſchläge gingen über alle älteren Forderungen Preußens ſehr weit hinaus. Drangen ſie durch, ſo wurde das nördliche Bundesheer unmittelbar, das mittlere wenigſtens mittelbar preußiſchem Befehle unterſtellt, und Oeſterreich mußte ſich mit der beſcheidenen Rolle einer Hilfsmacht begnügen, während Preußen bei den früheren Verhandlungen über das Bundeskriegsweſen immer nur die Zweitheilung des Bundesheeres gefordert hatte, ſo daß Oeſterreich die ſüddeutſchen, Preußen die nord - deutſchen Truppen führen ſollte. Aber dieſe neue ſtarke Zumuthung war rein militäriſch, ſie wurde ohne jeden politiſchen Hintergedanken ausgeſprochen, ſie bezog ſich nur auf den möglichen nächſten Feldzug; und da Metternich ſelbſt bezweifelte, ob Oeſterreich an dem deutſchen Kriege wirkſamen Antheil nehmen könne, ſo kam er anfangs den Vorſchlägen Röder’s freundlich entgegen. Gleich ihm auch Graf Gyulay mitſammt dem Hofkriegs - rathe. Nur auf die Ernennung eines Bundesfeldherrn wollte Metternich nicht gern ver - zichten; aber auch dieſen Gedanken hielt er nicht feſt, weil der alte Erzherzog Karl, dem man dieſe Würde zudachte, wenig geneigt war, ein ſo peinliches Amt zu übernehmen. Erſt als Feldmarſchallleutnant Langenau, vor Zeiten Preußens geſchworener Wider - ſacher am Bundestage, zu den Berathungen zugezogen wurde, da erſt begannen die Oeſterreicher ſich mißtrauiſch zu zeigen. Langenau verlangte die Bildung zweier Bundes - heere unter dem Oberbefehle Oeſterreichs und Preußens. Auch dies war ſchon ein großes Zugeſtändniß, da der Wiener Hof früherhin den Plänen des militäriſchen Dualismus immer insgeheim widerſtrebt hatte.

Während die Wiener Verhandlungen alſo ohne Entſcheidung ſich hinzogen und Fürſt Schönburg noch immer unthätig in der Hofburg weilte, entſchloß ſich König Friedrich Wilhelm, unmittelbar mit den ſüddeutſchen Bundesgenoſſen zu unterhandeln. General Rühle von Lilienſtern wurde im Februar nach München, dann zu den anderen Höfen des Oberlandes geſendet und dort überall ſehr herzlich aufgenommen. Man brauchte Norddeutſchlands Waffenhilfe, man mußte bei den ſchwebenden Zollvereinsverhandlungen auf Preußens Freundſchaft rechnen; überdies hofften Baiern und Baden, ihren Spon - heimer Erbfolgeſtreit durch die Vermittelung des Berliner Hofes auszutragen. König Ludwig von Baiern ſchrieb glückſelig nach Berlin (17. März): Ew. Kön. Maj. muß ich die durch General Rühle von Lilienſtern’s Sendung mir verurſachte Freude ausdrücken, der ich bald nach der vorjährigen Pariſer Revolution ſchon Rückſprache mit Preußen zu nehmen gewünſcht hatte. Ich kenne kein Nord - und kein Süd-Teutſchland, nur Teutſch - land bin der Ueberzeugung, daß blos in feſtem Anſchließen an Preußen Heil zu finden iſt. Meiner Anſicht nach haben beide Länder (was faſt bei keinem anderen der Fall) in nichts entgegengeſetzte Intereſſen, ſondern gemeinſame Richtung. Die ſüd - deutſchen Höfe waren mit der Bildung von drei Heeren ganz einverſtanden. Sie hielten namentlich für unerläßlich, daß ihre Truppen nach dem Maine zu ihren Rückzug nehmen müßten, nicht nach dem Lech, wie Langenau vorſchlug; denn ſie mißtrauten alleſammt der Leiſtungsfähigkeit, manche ſogar dem guten Willen Oeſterreichs und hatten die böſen Erfahrungen der Revolutionskriege noch in friſcher Erinnerung. Sie beſchloſſen, dem Feldmarſchall Wrede den Befehl über das bairiſche und das achte Bundesarmeecorps an - zuvertrauen; ſie thaten auch einiges, um dieſem achten Corps eine etwas gleichmäßigere Ordnung zu geben, und beriethen ſich vertraulich über Einzelheiten des möglichen Feld - zugsplanes. Aber dabei blieb es auch: ernſtlich zu rüſten wagten ſie nicht, während Oeſterreich jetzt eifrig ſein Heer zu verſtärken anfing, der größte Theil des preußiſchen Heeres ſchon zur Bewachung der belgiſchen wie der polniſchen Grenze aufgeboten war.

Mittlerweile begann die Stimmung in der Hofburg etwas gereizt zu werden, und dieſer Unmuth war nicht ganz grundlos. Gewiß hatte Oeſterreich allein durch ſeine Saumſeligkeit das einſeitige Vorgehen Preußens verſchuldet. Aber der Bund der drei großen Oſtmächte bildete nun einmal den Grundſtein der europäiſchen Politik Preußens;743XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.nur im Verein mit Oeſterreich wollte und konnte der Berliner Hof den Krieg gegen Frankreich führen, und da der alte Kaiſerſtaat trotz ſeiner augenblicklichen Schwäche doch ein ſchwereres Gewicht in die Wagſchale warf als die ganz ungerüſteten Kleinſtaaten, ſo mußte Kaiſer Franz es wohl als eine Kränkung empfinden, daß Preußen über ſeinen Kopf hinweg mit den Süddeutſchen unterhandelte. Die preußiſchen Generale ſelbſt waren über dieſe Frage verſchiedener Meinung. Der Chef des Generalſtabs, General Krauſeneck, der den liberalen Ideen nahe ſtand, erhoffte irgend ein unbeſtimmtes politiſches Glück von dem Bunde des aufgeklärten Preußens mit den conſtitutionellen Südſtaaten. General Clauſewitz dagegen, der immer zuerſt die europäiſche Politik ins Auge faßte, meinte ent - ſchieden: zunächſt müſſe man mit dem mächtigen Oeſterreich ins Reine gelangen, dann würden die Kleinen von ſelber kommen. Von einem tiefen grundſätzlichen Gegenſatze war bei allen dieſen kleinen Mißhelligkeiten gar nicht die Rede. Daß Preußen ſich unter der Hand die militäriſche Hegemonie erringen wollte, argwöhnte in Wien Niemand aus dem einfachen Grunde, weil der Berliner Hof ſolche Abſichten nicht hegte. Selbſt in den vertrauten Briefen der öſterreichiſchen Staatsmänner über dieſe militäriſchen Ver - handlungen findet ſich kein Wort des Aergers, das ſich nur von fern vergleichen ließe mit den leidenſchaftlichen und wohlbegreiflichen Zornreden, welche Metternich über die preußiſche Zollvereinspolitik auszuſchütten pflegte. Auch Gentz klagt vor ſeinem getreuen Rothſchild nur über die Formfehler, die Rückſichtsloſigkeit des preußiſchen Verfahrens. Man war verſtimmt, weil Preußen vorangeſchritten war, und ſuchte jetzt den Vorſprung wieder einzuholen.

Im April kehrte General Röder aus Wien heim, ohne einen Abſchluß erreicht zu haben. Kaiſer Franz gab ihm einen von Zärtlichkeit überſtrömenden Brief an den König mit auf den Weg (2. April). Darin dankte er dem Könige für das Vertrauen, das ihm durch Röder’s Sendung erwieſen ſei, und fuhr fort: Il n’est pas une de mes pensées qu’Elle ne connaisse, tout comme j’ai le sentiment de ne pas me tromper sur aucune des Siennes. Plus les dangers du jour sont grands, et plus je suis convaincu que le salut encore possible ne peut se trouver et ne se trouvera que dans l’union la plus intime et l’union la plus franche et la plus complète entre nous deux. Der Zweck dieſer Betheuerungen war natürlich, den König zu mahnen, daß er ſich zuerſt mit dem alten Herzensfreunde verſtändigen möge. In ähnlichem Sinne ſchrieb Metternich. Zugleich überbrachte Fürſt Schönburg, der nunmehr endlich auf ſeinen Poſten zurückkehrte, den ſüddeutſchen Höfen die Einladung zu vertraulichen militäriſchen Berathungen in Wien. König Ludwig aber lehnte das Anſinnen rundweg ab.

In Preußen ließ man ſich durch dieſe Anzeichen öſterreichiſcher Empfindlichkeit vorerſt nicht ſtören; war man doch ganz offen und ohne jede Feindſeligkeit gegen die Hofburg verfahren. Als General Witzleben am 1. Juli die Reiſeberichte Röder’s und Rühle’s dem Auswärtigen Amte überſendete, ſagte er mit warmen Worten, Preußen müſſe das Vertrauen unſerer ſüddeutſchen Brüder largement erwidern, das wahre deutſche Intereſſe werde allemal auch ein preußiſches ſein , und ſchloß arglos: Es leidet auch keinen Zweifel, daß man ſich darüber mit Oeſterreich leicht wird verſtändigen können. Am 15. Auguſt faßte Bernſtorff ſodann, in zwei Miniſterialſchreiben an ſeine ſüddeutſchen Geſandtſchaften, die Ergebniſſe von Rühle’s Sendung zuſammen und ſchlug vor, zur endgiltigen Vereinbarung möge in Wien, Berlin oder Würzburg, am beſten wohl in Baireuth, eine Conferenz von Offizieren zuſammentreten; Oeſterreich, Preußen, Baiern und vielleicht auch noch einige Offiziere der kleineren Staaten ſollten daran theilnehmen. Am 21. Auguſt wurde auch Oeſterreich (durch Weiſung an Maltzahn) eingeladen. Der Miniſter hoffte alſo offenbar, Oeſterreich würde ſich den Verabredungen, welche Rühle mit den ſüddeutſchen Höfen getroffen hatte, freundſchaftlich fügen und die Aufſtellung von drei Heeren bewilligen.

Aber in dieſen nämlichen Auguſttagen hatte ſich in der Stille ſchon eine neue Wendung vorbereitet. Als der König im Teplitzer Bade weilte, beſuchte ihn Hofrath744XX. Preußen und das Bundeskriegsweſen 1831.v. Werner, der Vertraute Metternich’s, und bat ihn, zu geſtatten, daß ein öſterreichiſcher Offizier nach Berlin käme, um zunächſt eine Verſtändigung zwiſchen den beiden Groß - mächten herbeizuführen. Peinlich überraſcht, gab der König doch nach; eine ſolche Bitte des alten Bundesgenoſſen ließ ſich ohne Beleidigung kaum abſchlagen, zumal da die Kriegsgefahr im Augenblick nicht drohend war. Die ſüddeutſchen Höfe wurden benach - richtigt, und im September traf General Graf Clam in Berlin ein, um mit Bernſtorff, Krauſeneck, Röder zu unterhandeln. Von Neuem begann der alte Streit: Zweitheilung oder Dreitheilung des Bundesheeres? Die Verhandlungen rückten nicht von der Stelle; die Schuld lag, ſo weit ich ſehen kann, weſentlich in der unausſtehlichen Perſönlichkeit des k. k. Bevollmächtigten, der immer redſelig, bald anmaßend, bald freundſchaftlich zu - dringlich, das Vertrauen der Preußen ſchlechterdings nicht zu gewinnen verſtand und den kranken, reizbaren Bernſtorff ſchließlich ſo ganz zur Verzweiflung brachte, daß der Miniſter im März 1832 ſich von der Theilnahme an den Verhandlungen entbinden ließ. Clam zählte, wie Prokeſch von Oſten, zu jenen diplomatiſchen Scheingrößen des alten Oeſterreichs, welche wohl in der Hofburg Bewunderung, unter deutſchen Männern nur Widerwillen erregen konnten. Da Krauſeneck und Rühle mit dem Oeſterreicher nicht fertig wurden, ſo gab der König ſeinem kaiſerlichen Freunde einen neuen Beweis ſeiner Willfährigkeit und beauftragte den General Kneſebeck, die Verhandlungen fortzu - führen. Aber auch dieſer treu ergebene Verehrer des Wiener Hofes konnte von Preußens beſcheidenen und ſachlich wohlbegründeten Forderungen nur wenig nachlaſſen. Auch er verlangte die Aufſtellung von drei Heeren; nur ſollte das mittlere Heer, bei Mainz, die Hauptarmee bilden und zu gleichen Theilen aus Oeſterreichern, Preußen und Kleinſtaats - Truppen beſtehen. So hätte Oeſterreich doch an zweien von den drei Heeren ſeinen Antheil erhalten.

Dieſem Vermittelungsvorſchlage fügte ſich Clam endlich, nachdem die Berathungen den ganzen Winter hindurch gewährt hatten, und nunmehr wurden zwei ſüddeutſche Generale auf den Mai 1832 zur Theilnahme eingeladen. Die Süddeutſchen zeigten ſich aber zäher als Preußen ſelbſt; ſie beſtanden auf der Annahme des urſprünglichen preu - ßiſchen Planes, weil ſie nicht für möglich hielten, daß Oeſterreich die deutſche Mittelarmee durch beträchtliche Truppenmaſſen verſtärken könnte. Im Juni wurden auch Sachſen und Hannover zugezogen; auch ſie ſtimmten den Süddeutſchen zu, und nun gab Oeſter - reich gänzlich nach. Beim Abſchluß der Verhandlungen, die ſich bis zum December 1832 hinzogen, errang Preußen einen vollſtändigen Sieg. Seine Pläne wurden faſt durchweg angenommen. Drei Heere ſollten gebildet werden, zwei aus Preußen und Bundestruppen gemiſchte am Nieder - und Mittelrhein, ein öſterreichiſches am Oberrhein. Das alles war freilich nur eine Verabredung für einen möglichen Kriegsfall, der niemals eintrat, und blieb ſo tief geheim, daß ſelbſt der Bundesgeſandte von Leonhardi in ſeiner halbamt - lichen Geſchichte der Bundeskriegsverfaſſung nichts darüber zu ſagen wußte.

Betrachtet man dieſe Verhandlungen nüchtern, ſo läßt ſich ein tiefer politiſcher Sinn darin unmöglich erkennen. Droyſen behauptet zwar, Preußen habe die politiſche Seite ſeiner Entwürfe geopfert, um die militäriſche zu retten; er ſagt aber nirgends, worin dieſe politiſche Seite beſtanden haben ſolle, und auch mir iſt es trotz langem Suchen nicht gelungen, in irgend einem der preußiſchen Aktenſtücke einen politiſchen Hintergedanken zu entdecken. Der Berliner Hof verfolgte nur die beſcheidene Abſicht, den nächſten Bundes - krieg, wenn er kam, alſo einzuleiten, daß mindeſtens für die Hauptmaſſe des Bundes - heeres die Einheit der Führung nothdürftig geſichert würde. Darum wollte Preußen das Nordheer unmittelbar, die zweite Armee mittelbar, durch ſeinen Einfluß auf die be - freundeten Südſtaaten, leiten und nur die dritte Armee der Führung Oeſterreichs an - heimgeben. Dieſer beſcheidene militäriſche Zweck ward auf den Berliner Conferenzen, nach mannichfachen Schwankungen, vollſtändig erreicht. Einen höheren Ehrgeiz konnte Preußen zur Zeit nicht hegen; denn wer durfte für möglich halten, daß die beiden auf ihre Souveränität gleich eiferſüchtigen Könige von Baiern und Württemberg oder gar745XXI. König Wilhelm von Württemberg an Miniſter Wangenheim.die Kronen Sachſen und Hannover ſich der dauernden militäriſchen Hegemonie Preußens freiwillig fügen würden? Der Rücktritt Bernſtorff’s im Mai 1832 hing mit dieſen Militärverhandlungen nicht zuſammen, auch nicht mittelbar. Er erfolgte einfach, weil der ſchwer erkrankte Miniſter ſein ſeit Jahren wiederholtes Abſchiedsgeſuch nochmals er - neuerte. Der König bewilligte die Entlaſſung ſehr ungern, unter allen Zeichen ſeiner Gnade, und behielt ſich ausdrücklich vor, den Rath des Grafen auch fernerhin einzuholen. Er hat von dieſem Vorbehalte auch Gebrauch gemacht; es war weſentlich Bernſtorff’s Verdienſt, daß Preußen im Jahre 1833, zur Zeit der Münchengrätzer Zuſammenkunft, die kriegeriſchen Pläne des Czaren Nikolaus abermals durchkreuzte. Bernſtorff’s Ent - laſſung war kein Syſtemwechſel, obgleich ſich natürlich die ſchwächliche Perſönlichkeit ſeines Nachfolgers Ancillon ſehr bald bemerkbar machte; der König behielt die Leitung der aus - wärtigen Angelegenheiten, die er ſeit der Juli-Revolution an ſich genommen hatte, nach wie vor in ſeiner Hand.

Hiſtoriſch bedeutſam iſt in dieſen militäriſchen Verhandlungen nur die ſtill wirkende Naturgewalt der deutſchen Einheit. Sobald die kleinen Kronen ſich ernſtlich bedroht fühlen, erkennen ſie auch, daß nur Preußen ſie zu ſchützen vermag, und zeigen ſich bereit, dem preußiſchen Staate für die Tage der Gefahr einige Vorrechte zuzugeſtehen. Aber keine Macht der Welt kann ſie bewegen, nun auch den logiſchen Schluß zu ziehen und durch Bundesbeſchluß die unbrauchbare Bundeskriegsverfaſſung abzuändern. So iſt es doch eine Nothwendigkeit geweſen, daß Preußens Waffen ſchließlich dies Bundesrecht, das einer geſetzlichen Entwickelung nicht fähig war, über den Haufen werfen mußten.

XXI. König Wilhelm von Württemberg an Miniſter Wangenheim. Zu Bd. IV. 289.

9. Sept. 1832.

Mein Herr von Wangenheim! Obſchon Ich während Ihrer Laufbahn als Miniſter mehrere Gelegenheiten hatte über Ihre wenige Discretion unzufrieden zu ſein, ſo war Ich doch weit entfernt ahnden zu können, daß Sie Sich beigehen laſſen würden, Meinen Ihnen eigenhändig geſchriebenen vertrauten Brief ohne Meine Erlaubniß öffentlich bekannt zu machen. Ich kann nicht anders, als Ihnen Meine ganze Indignation über ein Ver - fahren, das ſelbſt zwiſchen Privatleuten im höchſten Grade unerlaubt wäre, zu erkennen zu geben, wie viel weniger in einem Verhältniß, in dem Sie nie aufgehört haben gegen Mich zu ſtehen. Ebenſo unangenehm ſind Mir die Lobſprüche geweſen, die Sie über den - jenigen Theil Meines Briefes, den Sie nicht abgedruckt haben, beigefügt haben, indem unter den wirklichen Zeitumſtänden jedes günſtige Urtheil eines Mannes, der zu einer Partei gehört, zu der Sie Sich öffentlich bekannt haben, für Mich nur höchſt beleidigend ſein kann. Wilhelm.

XXII. Das Frankfurter Attentat. Zu Bd. IV. 299 f.

Aus der Erzählung des Dr. Eimer folgen hier einige Auszüge. Auf dem Burſchen - tag zu Stuttgart Weihnachten 1832 wurde unſeren Delegirten die Mittheilung gemacht, es ſei eine Revolution in Deutſchland im Werke und ſei dafür kommendes Frühjahr in Ausſicht genommen. Dabei zähle man auf die Betheiligung der Studenten und ſollten746XXII. Das Frankfurter Attentat.ſich überall die Burſchenſchaften darauf vorbereiten. Dies thaten wir nun in der Weiſe, daß ſich aus den Entſchiedenſten in der Verbindung ein politiſcher Club bildete, der ſpecielle Beſprechungen hielt zu obigem Zweck. Es kamen auch zu zwei malen alte Bur - ſchenſchafter aus Frankfurt, Körner und K. Bunſen, zu uns, um uns über den Stand der Sache Berichte zu bringen. Es ſeien, hieß es, die Burſchenſchaften faſt aller der Uni - verſitäten bereit zum Losſchlagen. Der Frankfurter Soldateska ſei man durch den Haupt - mann Jungmichel ſicher, ebenſo ſeien einige württembergiſche Regimenter, ſpeciell in Lud - wigsburg gewonnen, und an die Spitze würden die bewährteſten deutſchen Volksmänner treten. Schließlich wurde uns mitgetheilt, am 3. April ſollte der Aufſtand geſchehen, und zwar ſollten von den einzelnen Univerſitäten eine Anzahl Studenten nach Frank - furt kommen, um dort den Hauptcoup zu thun, den Bundestag bei voller Sitzung auf - zuheben. Der Bundestag hatte ſich in letzter Zeit mehr und mehr durch Polizei-Ukaſe Folgen des Hambacher Feſtes , durch die Bundesbeſchlüſſe vom Juni 1832, zunächſt durch Annullirung des badiſchen Preßgeſetzes, verhaßt gemacht. In den letzten Tagen des März fuhr ich in einer Retourkutſche nach Frankfurt in Begleitung von drei Heidel - berger Studenten, die mir unbekannt und die in die Ferien gingen. Unterwegs wurde auch politiſirt, wobei einer der Studenten in höchſt auffallender Weiſe als Ariſtokrat und Bundestags-Polizeimann ſich gerirte und mit uns Andern in Widerſpruch gerieth. Und wirklich wurde er auch nachher Actuar auf dem Polizeiamt in Frankfurt und hat dieſer Frankfurter Republikaner, er hieß Stellwag, als er mich ſpäter zu Geſicht bekam, im Spätjahr 1834, ſich meiner erinnert und in gehäſſigſter Weiſe gegen mich Ausſagen zu Protokoll gegeben, die mich als Revolutionär belaſten ſollten.

Ich kam zu früh, am 24. oder 25. März nach Frankfurt, da ich etwa bei dortigen Verwandten verweilen, oder auch nach Nahern und Kehnel zu den Pfarrers-Onkeln gehen konnte, wo man mich zu einem Beſuch während der Ferien erwartete. Ich ging aber zunächſt zu einigen mir dem Namen nach bekannten Verſchworenen, und Buchhändler Oehler nahm mich mit in eine Verſammlug der Frankfurter Revolutionäre, wo ich mich alsbald überzeugte, daß die Sache auf gar ſchwachen Füßen ſtehe und der Erfolg ſehr zweifelhaft ſei. Namentlich ſchien mir das Einverſtändniß mit dem Militär (man hoffte ſogar auf Abfall des Mainzer) ſehr prekär und am gewiſſeſten ſtellte ſich nur die Be - theiligung von kurheſſiſchem Landvolk nördlich von Frankfurt heraus, wo unter der Thätigkeit eines Advokaten, Neuhoff, eine ſehr revolutionäre Stimmung herrſchte. Zu - nächſt ergab ſich bei der Beſprechung, daß man der Betheiligung der Würzburger und Erlanger Burſchenſchaften nicht ſicher ſei, und erbot ich mich ſchließlich ſelbſt dahin zu reiſen, um zu ſehen, wie es dort ſtehe. Und ſo ging ich mit der Poſt am andern Tag nach Würzburg, wo ich im Hauſe des R. v. Wels wohnte. Von den Würzburgern wollten einige auf den 3. April nach Frankfurt kommen; ſie wollten auch ſofort Einen nach Erlangen ſchicken mit der Aufforderung der Betheiligung.

Am 1. April kam ich wieder nach Frankfurt zurück und beim Ausſteigen aus dem Poſtwagen liefen mir meine Heidelberger Bekannten, die eben über Rheinbaiern ange - kommen waren, in die Hände, und wir gingen zuſammen um Wohnung zu nehmen in den Donnersberg. Wir wurden aufgefordert, am 2. April Mittags nach Bockenheim zu kommen in ein Gaſthaus, wo wir in einem oberen Zimmer allein ſein könnten. Dort trafen wir Studenten mit einigen Frankfurtern, Dr. Bunſen, Körner etc. und dem Göttinger Rauſchenplatt zuſammen und es wurden die Rollen vertheilt. Wir wurden, etliche dreißig Studenten, in drei Rotten abgetheilt. Wir Heidelberger ſollten unter der Füh - rung von Bunſen von der Münze aus, wo wir uns Abends zu verſammeln hatten, die Hauptwache nehmen. Eine zweite Abtheilung ſollte die Conſtabler-Wache ſtürmen und das daneben liegende Zeughaus öffnen um die zwei Kanonen und Flinten herauszu - holen; zu dieſer Abtheilung wurden Einzelne, ſpeciell Baiern, die Artillerieſchulen durch - gemacht, gewählt, und Patronen für die Geſchütze waren gefertigt. Die dritte Rotte hatte einige kleinere Poſten zu beſetzen, ſpeciell auch den Pfarrthurm mit den Frank -747XXII. Das Frankfurter Attentat.furter Metzgern zu öffnen und das Sturmläuten zu beſorgen. Einzelne Frankfurter ſollten verſchiedene Herren der ſtädtiſchen Regierung und Polizei arretiren.

Am 3. Abends verſammelten wir von der erſten Rotte uns in der Wohnung Bunſen’s, in der Münze. Wir erhielten dort Flinten und eine Anzahl Patronen und Punkt 9 Uhr brachen wir, etwa 15 Mann hoch, auf über den Roßmarkt zur Haupt - wache, die ſtärker beſetzt war als gewöhnlich, denn die Frankfurter Behörden hatten Wind bekommen, es ſolle heute losgeſchlagen werden. Wir ſtürzten uns ſofort auf die außer - halb aufgeſtellten Flinten und nahmen ſie weg; es fielen einige Schüſſe. Der Leutnant, der auf der Wache das Commando hatte, flüchtete durch ein hinteres Fenſter als wir in die Stube drangen. Damit war hier die Sache fertig. Man hörte Sturmläuten. Eine Maſſe Volk ſammelte ſich vor der Hauptwache, aber Niemand ließ ſich bewegen von den Flinten zu ergreifen und mit uns zu helfen an der Befreiung Deutſchlands. Die entwaffneten Soldaten verhielten ſich ebenfalls paſſiv. Wir warteten nun eine Zeit lang unthätig den weiteren Verlauf der Dinge ab, bis wir von der Zeil her Schüſſe hörten und ſich das Gerücht verbreitete, es rücke Militär heran. Wir zogen nun die Zeil hinab gegen die Conſtabler-Wache und hier entſpann ſich ein kleines Gefecht; es wurde herüber und hinüber geſchoſſen. Die Kanonen konnten glücklicher Weiſe nicht verwendet werden, da der betreffende Herr den Schlüſſel zum Zeughausthor nicht fand. Wir paar Stu - denten, die noch vor der Conſtabler-Wache beiſammen waren, hielten bald für gerathen, der großen Ueberzahl zu weichen. Wir gingen die Allerheiligenſtraße hinaus bis zum Hanauer Thor, wo alles ſtill war; hier legten wir unſere Flinten vorläufig in einem im Bau begriffenen Hauſe ab und gingen wieder gegen die Zeil vor; wir fanden die Conſtabler-Wache ſtark von Militär beſetzt; ebenſo die Hauptwache; Patrouillen durch - zogen die Straßen und der regierende Bürgermeiſter kam in offener Chaiſe daher ge - fahren, an das Volk, das herbeigeſtrömt war, beruhigende Reden haltend. Schließlich ging ich etwa halb elf in den Gaſthof zurück, wo ich meine Freunde antraf. Wir be - riethen, was thun und waren der Anſicht, ruhig abzuwarten, was weiter geſchehe und für uns zu thun ſei. Ich ſpeciell dachte nicht daran mich zu verbergen, was ich wohl leicht hätte thun können bei unſeren Ebenauvettern. Wir gingen zu Bett. Als ich mich auszog, fand ſich mein linker Hemdärmel blutig und zerriſſen. In einer ziemlich ober - flächlichen Wunde am linken Oberarm ſtak eine breitgeſchlagene Kugel; ich hatte einen Prellſchuß erhalten und in der Aufregung nichts davon geſpürt. Ich ließ mir mittelſt Heftpflaſter, das ich bei mir trug, die Wunde verbinden, und war wenigſtens ſo vor - ſichtig, das blutige Hemd in den Abtritt zu werfen. Ich ſchlief gut. Mitten in der Nacht geweckt, ſah ich Polizeimänner vor meinem Bett ſtehen. Ich wurde nach meinem Namen gefragt und nach der Abſicht meines Hierſeins. Ich gab an, ich ſei auf der Reiſe zu Verwandten im Naſſauiſchen. Man bedeutete mir, ich ſei ſo gut wie arretirt, dürfe einſtweilen nicht weggehen. Polizeidiener bewachten uns in den Hausgängen. Am anderen Morgen wurden wir einzeln abgeholt und auf die Conſtabler-Wache geführt. Hier ward ich in ein Gefängniß geſperrt aus Mangel an Platz zu einem wegen Preß - unfug inhaftirten Frankfurter Bürger Namens Rottenſtein. Deſſen Frau brachte ihm täglich Bier und Mittags Kaffee. Er theilte dies, ſo wie ſein Bett, redlich mit mir. Die blecherne Kaffeekanne hatte einen doppelten Boden, und derart wurden kleine Be - dürfniſſe, Papier, Bleiſtift u. ſ. w. eingeſchmuggelt, und ich kam in Correſpondenz mit außen, insbeſondere mit einem Fräulein Stolze, die ich nie geſehen. So erhielten wir auch Nadel und Faden, womit mir Rottenſtein das Loch im linken Rockärmel ſehr kunſt - gerecht zunähte.

Am 5. April ſah ich von meinem Fenſter aus (es waren noch keine Kaſten davor angebracht) eine größere Zahl Bauern die Friedberger Straße her unter militäriſcher Be - deckung einziehen. Es waren das die Bauern, meiſt von Bonames, die am Abend des 3. April das Friedberger Thor geſtürmt hatten, und jetzt eingeſteckt wurden. Unter dem warmen Bedauern für dieſe armen Teufel, die jedenfalls ohne zu wiſſen wie zu Hochver -748XXII. Das Frankfurter Attentat.räthern wurden, vergaß ich ganz meine eigene Lage. In den nun folgenden Verhören gab ich natürlich immer an, ich ſei nach Frankfurt gekommen auf der Reiſe ins Naſſauiſche, und da von dort und von Haus daſſelbe gerichtlich erhoben wurde, war man nahe daran, mich frei zu laſſen.

Anfang Mai wurde Rottenſtein aus der Haft entlaſſen; die Correſpondenz ſpeciell mit Fräulein Stolze erlitt aber keine Unterbrechung, da der Barbier, der zwei bis drei mal wöchentlich zum Raſiren kam, Zettelchen heraus und herein beförderte, obſchon zwei Soldaten und zwei Wächter immer während der Operation um uns herum ſtanden und aufpaßten, und da in den ausgehöhlten Stöpſeln in den beiden Bierflaſchen, die mir von Frankfurter Wohlthätern täglich zugeſchickt wurden, immer Briefchen ſpedirt wurden. Einmal glaubte ich am Benehmen des Gefangenwärters zu bemerken, daß er auf die Stöpſel der Bierflaſchen fahnde, und ich meldete hinaus, man ſolle dieſen Beförderungs - Modus unterlaſſen und in Zukunft in die untere Höhlung im Boden dazu geeigneter Flaſchen die Zettel ſtecken und darüber eine Schicht ſchwarzen Pechs decken. So geſchah es. Noch etwa vierzehn Tage lang wurde derart correſpondirt, da wurde plötzlich ver - boten, ich dürfe kein Bier mehr zugeſchickt bekommen. Und im Verhör wurde mir ein Stöpſel vorgelegt, in den ein Zettelchen unerheblichen Inhalts geſteckt war, das ich ge - ſchrieben haben ſollte. Man hatte noch vierzehn Tage lang die Flaſchen mit den Zettel - chen im Boden auf das Verhöramt bringen laſſen und befördert, ohne etwas zu finden. Rottenſtein hatte mir einen kleinen Spiegel zurückgelaſſen, in deſſen hinterer ſeitlicher Wand ein verborgener Behälter angebracht war, in dem ich einen Bleiſtift mit etwas Papier verſteckt hatte, das ich derart immer bei den verſchiedenen Verſetzungen in andere Gefängniſſe wieder erhielt. Einmal wurde ein Kirſchkuchen für mich ins Gefängniß geſchickt, in den eine Uhrfederſäge eingebacken war. Der ſchlaue Gefangenwärter hatte Verdacht, durchſchnitt den Kuchen und fand die Säge. Ich wußte nichts von der Sache und erfuhr erſt ſpäter davon.

Nach einer längeren Schilderung des Kerkerlebens, der Verhöre, der wiederholten Fluchtverſuche heißt es dann weiter:

Gegen das Frühjahr 1834 wurde ein Befreiungsplan in großem Maßſtabe in Angriff genommen. Es ſollten alle gegen die Zeil und theilweiſe die Fahrgaſſe Inhaf - tirten zugleich ausbrechen. Es waren unſerer acht (zwiſchen je zwei war immer eine von uns nicht beſetzte Zelle, um Communication zu verhindern). Im Hof war ein neuer Abtritt gebaut und da fand ich unter dem Brillenbrett über der Mauer einen Raum. In dies Geheimfach wurden nun von unſeren Freunden draußen Uhrfeder - Sägen und die dazu nöthigen Monturen niedergelegt, wo dann ein Jeder ſeinen Bedarf holen konnte. Und in der That gelang es allen acht in einigen Wochen ſämmtliche Gitter zu durchfeilen, und zwar in jedem Gefängniß zwei, denn ein zweites, nicht leicht zu erreichendes Gitter war noch innerhalb des Fenſterkaſtens angebracht. Als alles vor - bereitet war, wurde die Ausführung auf den 2. Mai Abends zehn Uhr feſtgeſetzt. Wegen baulichen Veränderungen wurden wir zu dieſer Zeit nur von 6 7 Uhr ein Jeder je eine halbe Stunde zum Spazierengehen in den Hof geführt; das geſchah jeweils nach der Reihe und ungeſchickter Weiſe kam die Tour an dieſem Abend gerade an uns. Da klopften mir die drei vorne an mir inhaftirten Genoſſen, ſie ſollten in den Hof geführt werden, könnten aber abſolut nicht, da ſie ſonſt mit ihrer Arbeit nicht fertig würden. Da es nun aufs Höchſte verdächtig hätte werden müſſen, wenn wir alle heute nicht ſpazieren gehen wollten, worauf ſich ſonſt ein Jeder ſo ſehr gefreut, und da ich ſo ziem - lich fertig war, ſo ſagte ich den Andern, ich werde gehen, wenn dazu die Reihe an mich komme. Ich opferte mich für ſie. Denn als ich um 7 Uhr in mein Gefängniß zurück - kam, ward es bald dunkel; ich feilte jetzt zuerſt die Gitter vollends durch, dann kam ich bei ſtockfinſterer Nacht an die Bereitung des Stricks, an dem ich mich hinablaſſen wollte; ich verwendete dazu das in Riemen geriſſene Betttuch und einige Halstücher und Sack - tücher. Gegen 9 Uhr klopfte mir der außen an mir ſitzende Erlanger, Pfretſchner, er749XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.komme nicht durch die Gitteröffnungen hindurch, er ſei zu dick. Als ich mit Allem fertig war, ſtieg ich durch die Gitter in den Kaſten vorm Fenſter, machte dann das Draht - gitter über dem Kaſten los und band den Strick im Kaſten ſitzend feſt. Während der ganzen Zeit beſorgten unſere Freunde, daß fortwährend Rollwagen auf der Zeil hin und her fuhren, die einen argen Lärm machten, damit man unſere Arbeiten nicht hören könne. Weiter bekamen die Soldaten in der Wachtſtube, ich weiß nicht unter welchem Vorwand, ſo reichlich Wein zu trinken, daß ſie betrunken wurden. Jetzt, als die Stunde ausgeſchlagen hatte, ſtieg ich aus dem Kaſten auf das Geſimſe und hing mich an den Strick , und als ich am zweiten Tag wieder zum Bewußtſein kam, ſah ich mich wieder im Gefängniß mit Kopfſchmerz und Kopfwunden und einem Bruch des Schenkelhalſes. Der ſchlecht gemachte Strick war ganz oben geriſſen und ich war auf die Straße geſtürzt. Die betrunkenen Soldaten hatten mich wahrſcheinlich noch mißhandelt und hatten blind unter die herzugelaufene Menge geſchoſſen, Einige verwundet und einen gegenüber woh - nenden Bürger erſchoſſen. Nur einem von uns Studenten, ich hörte Lizius, gelang die Flucht; die andern waren zum Theil auch herabgeſtürzt und alle wieder ſofort einge - fangen worden. Ich lag nun ſchwer krank zu Bett an Hirnerſchütterung, maſſenhaftem Blutbrechen etc. Der Hausarzt, Phyſikus Keſtner, behandelte mich ſehr ſorgfältig; mit Zuzug eines Chirurgen wurde mir eine Hagedorn’ſche Maſchine an den gebrochenen Fuß gelegt, und ich bekam einen Krankenwärter. Am 6. Mai kam mein Bruder nach Frankfurt, und that alle möglichen Schritte mich beſuchen, oder nur von weitem ſehen zu dürfen. Das Appellationsgericht beſchloß in gar nichts zu willfahren. Mein Bru - der war umſonſt gekommen. Am 13. Mai, als ich außer Gefahr war, wurde ich über den Fluchtverſuch verhört. Ich ſollte ſagen, woher ich die Feilen bekommen etc. ich gab darauf keine Antwort; ebenſo machten es die andern Wieder-Inhaftirten und die Unterſuchung ergab gar keinen Anhaltspunkt gegen unſere Freunde draußen. Die Heilung des Knochenbruchs ging gut vor ſich und nach zwei Monaten konnte ich auf - ſtehen und Gehverſuche machen. Der Bruch war geheilt mit Verkürzung des Fußes um nur etwa einen halben Zoll, was ſpäter ſich ausglich ohne Hinken. Das Appellations - gericht hatte verfügt, daß den Ausgebrochenen über Nacht Ketten angelegt werden ſollten, um weitere Fluchtverſuche zu verhindern. Wiederholt hatte die Unterſuchungsbehörde beim Arzt angefragt, ob mir noch nicht Ketten angelegt werden könnten. Jetzt geſchah das, ich bekam Ketten an den linken Fuß und den rechten Arm eine abſcheuliche Barbarei; denn ich mußte erſt gehen lernen, und konnte mindeſtens noch ein Vierteljahr lang nur mit Krücken gehen. Und die nächtlichen Ketten blieben ſo lang ich in Frank - furt gefangen war.

XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838. Zu Bd. IV. 628 f.

Die Geſinnungen der ſchwäbiſchen Liberalen zu Ende der dreißiger Jahre finden beredten Ausdruck in einem Briefe, welchen Fr. Römer an einen ſeiner Geißlinger Wähler richtete. Die Hauptſtellen lauten:

Geehrter Herr! .... Ueber meine Leiſtungen brauche ich mich nicht beſonders zu äußern, da Sie wenigſtens meine Abſtimmungen und ſomit den Geiſt meiner Thätig - keit aus den öffentlichen Blättern kennen gelernt haben werden. Ebenſo wenig brauche ich Ihnen die Verſicherung zu geben, daß meine Abſtimmungen ſtets die Frucht meiner Ueberzeugung geweſen ſind.

Ob ſie auch mit den Anſichten meiner Wähler übereinſtimmen? ich weiß es nicht, aber ich ſchmeichle mir in ihrem Sinne geſprochen und gehandelt zu haben.

750XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.

Wäre es aber auch anders, hätte ich mich nicht nach ihrem Sinne benommen, ſo würde ich gleichwohl keine meiner Abſtimmungen zurücknehmen, eben weil ſie aus meiner Ueberzeugung hervorgegangen ſind.

Gerade dieſe Starrheit aber, womit ich auf demjenigen beharre, was ich für Recht halte, macht mich zum württembergiſchen Volksvertreter gänzlich unfähig.

Mögen auch die politiſchen Anſichten der Wahlmänner des Oberamtsbezirks Geiß - lingen ſeyn, welche ſie wollen, ſoviel iſt jedenfalls gewiß, daß die Mehrzahl des Volks meine Anſichten nicht theilt.

Mein Glaubensbekenntniß ſtützt ſich nämlich auf die Ueberzeugung, daß die Wieder - herſtellung oder vielmehr die Herſtellung des ſchon ſeit 1819 geſtörten Rechtszuſtandes die erſte und heiligſte Pflicht des Volks-Abgeordneten ſey und daß es nicht nur in ſeiner Befugniß, ſondern ſelbſt in der von ihm übernommenen eidlichen Verpflichtung liege, einer verfaſſungswidrigen Regierung die Mittel zu entziehen, womit ſie ihr geſetzwidriges Syſtem durchführt.

Zwar ſtehen dieſer Anſicht die Beſchlüſſe des deutſchen Bundes entgegen, allein eben deßhalb bekämpften wir ſie als verfaſſungswidrig.

Es iſt hier nicht der Ort, dieſe hochwichtige Frage einer weiteren Beleuchtung zu unterwerfen: aber es iſt Thatſache, daß ſich ſelbſt ſolche Abgeordnete, welche ſonſt für freyſinnig gelten, der parlamentariſchen Erörterung jener Beſchlüſſe widerſetzten, obgleich ſie auf unſere verfaſſungsmäßigen Verhältniſſe fortwährend den entſchiedenſten Einfluß ausüben.

Dieſe Abgeordneten handelten ſicherlich im Sinne ihrer Comittenten, allein nicht die Anſicht der Committenten, ſondern die eigene Ueberzeugung ſoll den Abgeordneten bey ſeinen Abſtimmungen leiten. Ich bin ferner weit entfernt, äußerſte Mittel, wie Steuer-Verweigerung, empfehlen zu wollen, ſo lange man die Hoffnung haben kann, daß gelindere Mittel zum Ziele führen werden.

Wenn aber zugegeben werden muß, daß ſich die Regierung in allen die öffentlichen Verhältniſſe betreffenden Haupt-Punkten zu irgend einer Nachgiebigkeit nicht nur nicht geneigt zeigte, ſondern daß ſie vielmehr die Angriffe der Oppoſition als ebenſoviele bös - willige Eingriffe in ihre Rechte bezeichnete, ſo wird hierdurch zugleich ausgeſprochen, daß die Anwendung jenes äußerſten Mittels vollkommen begründet war.

Oder, kann man es mit dem beſtehenden Rechte der Steuer-Verweigerung in Ein - klang bringen, einer Regierung, welche dem Volke gerade diejenigen Mittel vorenthält, die allein geeignet ſind, den Sinn für einen verfaſſungsmäßigen Rechtszuſtand zu wecken und zu erhalten, kann man es, ſage ich, mit jenem Rechte in Einklang bringen, einer ſolchen Regierung das Geld zu verwilligen, womit der Cenſor belohnt wird, weil er die - jenigen Stellen ſtreicht, welche ſich auf die Rechte der Staatsbürger beziehen; das Geld zu verwilligen, womit der Polizeibeamte bezahlt wird, weil er gegen politiſche Verſamm - lungen einſchreitet; das Geld zu verwilligen, womit der Richter beſoldet wird, weil er den Widerſtand gegen ſolche Verfügungen beſtraft?

Dem ungeachtet erwarb ſich die Staatsverwaltung den Beyfall ihrer Stände in ſo hohem Grade, daß die Anſicht der Oppoſition nicht mehr als 19 Stimmen gewinnen konnte! Leider mußte ich während meiner landſtändiſchen Laufbahn gar häufig die Erfahrung machen, wie der deutſche Bund bey faſt allen Fragen von höherem Intereſſe gleich einem Popanz vorgeſchoben wurde. Wollte die Oppoſition unter Berufung auf den tiefen Frieden das Militär-Budget herabſetzen, ſo rief man ihr entgegen: der Bund! Suchte ſie unter Berufung auf die diplomatiſche Bedeutungsloſigkeit des Königreichs die Koſten für auswärtige Angelegenheiten zu verringern, ſo tönte es wieder: der Bund! Eiferte ſie unter Berufung auf die Verfaſſung gegen die Cenſur: der Bund!

Und machte ſie gar Angriffe auf den Bund ſelbſt, dreimal: der Bund!

751XXIII. Stimmungen der württembergiſchen Oppoſition. 1838.

So ſcheiterten alle Verſuche, einen beſſeren Zuſtand zu begründen, an der Furcht vor dem Bunde. Ich weiß wohl, welche Einwendungen gegen die Grundſätze der Oppoſition geltend gemacht werden.

Württemberg iſt nach den Anſichten ſelbſt mancher Beſſergeſinnten zu unmächtig, um ſich dem Einfluße der abſoluten Großſtaaten beim Bunde widerſetzen zu können.

Indem man aber unſere Regierung auf ſolche Art entſchuldigt, bedenkt man auch, daß man eben hiermit das Verdammungs-Urtheil über die Kleinſtaaten ausſpricht? Denn ein Staat, der mit dem beſten Willen nicht im Stande iſt, dasjenige zu thun, was er in ſeinen grundgeſetzlichen Beſtimmungen ſelbſt für recht erklärt hat, kann vernünftiger - weiſe keinen Anſpruch auf Exiſtenz machen.

Ich halte jedoch die obige Einwendung nicht für richtig.

Vielmehr glaube ich, daß weder Oeſtreich noch Preußen einſchreiten würden, wenn es einer der conſtitutionellen Regierungen Deutſchlands gefiele, nach den Vorſchriften der Verfaſſung zu regieren. Denn unter welchem Vorwande ſollte eine Einſchreitung ſtatt - finden? Sie wäre eine Gewaltthat, deren Folgen ſicherlich auf ihre Urheber zurückfallen würden. Ueberdieß fürchten ſelbſt die Großſtaaten gegenwärtig nichts mehr, als die Ver - anlaſſung zu einer möglichen Störung des Friedens.

Die Rückkehr zum Geſetze müßte aber, auch dann, wenn ſie zunächſt auch nur von Einem Lande ausginge, auf alle übrigen Verfaſſungs-Länder günſtig zurückwirken, weil das gegebene Beiſpiel den Regierungen und Völkern die Möglichkeit eines geordneten freiſinnigen Rechts-Zuſtandes darthäte.

Ja ſelbſt die in ſolcher Richtung laufenden Beſtrebungen einer einzelnen Volks - Kammer müßten ſich am Ende eines ſiegreichen Erfolges erfreuen, ſobald das Ziel nicht nur von einer ſchwachen Minorität, ſondern von einer impoſanten Majorität mit Be - harrlichkeit verfolgt würde. Hierzu ſind nun freylich in Württemberg keine Ausſichten vorhanden und gerade dieſe traurige Gewißheit iſt es, welche die Oppoſition beſtimmt, fruchtloſe Verſuche nicht wieder zu erneuern.

Zwar wird man ihr den Vorwurf machen, ſie verlaſſe das Volk; man wird ihr zu bedenken geben, wenn ſie auch nicht Gutes zu Stande bringen könne, ſo vermöge ſie doch Schlimmes zu verhindern; man wird ſie darauf aufmerkſam machen: ihre Worte ſeyen nicht verloren; wenn ſie auch nicht im Augenblicke wirken, ſo werden ſie doch ſeiner Zeit Früchte tragen; und diejenigen, welche uns, ſo lange wir zu wirken ſuchten, auf jede Art verdächtigten und ſchmähten, werden ſich an die Spitze der Tadler ſtellen; aber, die Wohlmeynenden mögen bedenken, daß ohne Oeffentlichkeit nicht einmal eine moraliſche Wirkſamkeit möglich iſt. Man wende mir nicht ein, die Sitzungen der Kammer der Abgeordneten ſeien öffentlich. Denn wer partizipirt an dieſer Oeffentlichkeit? Zehn oder fünfzig Zuhörer und einige Zeitungsſchreiber, deren Berichte aber theils wegen der Cenſur, theils wegen des eigenen Geſchmackes der Berichterſtatter ſo unvollkommen, ſo entſtellt und wohl auch ſo partheyiſch ſind, daß es in vielen Fällen beſſer wäre, wenn auf dieſem Wege von den Leiſtungen der Oppoſition gar nichts ins Publicum gelangte.

Will man aber falſch dargeſtellte Aeußerungen berichtigen, ſo tritt der Cenſor ent - gegen, ſobald der Gegenſtand der Berichtigung unter die verpönten Dinge gehört.

Somit bleiben von der gerühmten Oeffentlichkeit nur noch die Protokolle übrig.

Aber wer lieſt dieſe? Wem kann man zumuthen, unter einer Maſſe von Spreu die Körner zu ſuchen?

Der Sinn für das Oeffentliche hat ſich nachgerade ſo abgeſtumpft, daß ſelbſt das Gedächtniß an die beſſere Vergangenheit verſchwunden iſt. Man braucht ſich daher nicht mehr von einem läſtigen Schaam-Gefühle meiſtern zu laſſen, ſondern kann fortan der ur -752XXIV. Handſchreiben König Ernſt Auguſt’s.ſprünglichen Neigung ungeſcheut folgen. Deßhalb wird jeder Verſuch, die Stellung des Bundes, die Verhältniſſe der Preſſe, die Verordnungen wider politiſche Vereine und Ver - ſammlungen, die Freyheit der landſtändiſchen Wahlen, kurz ſolche Dinge zur Sprache zu bringen, welche nothwendige Bedingungen eines konſtitutionellen Lebens ſind, gleich in der Geburt erſtickt werden. Wie auch der Geiſt der Wähler beſchaffen ſeyn mag, ſo wird man doch behaupten dürfen, daß auch ſie die Wahl eines landſtändiſchen Abge - ordneten nicht als ein Recht betrachten, ſondern als eine Laſt.

Und wie ſollten ſie anders, da ſie ſeit 1819 noch nicht in dem Falle geweſen ſind, die Segnungen der Verfaſſung an ſich ſelbſt zu erkennen? Die gegenwärtige Finanz - Verwaltung Württembergs iſt geordnet, Veruntreuungen des Staats-Eigenthums durch die Adminiſtration ſind nicht zu beſorgen, die Regierung wünſcht das Wohlſein ihrer Unterthanen und wenn es dieſen erlaubt wäre, ſich in politiſchen Dingen eine ſelbſtändige, eigene Meinung zu bilden und ſolche geltend zu machen, ſo wäre für den Württemberger als ſolchen kein gerechter Grund zur Klage vorhanden.

Aber dieſe Beſchwerde iſt nicht allgemein. Denn den Wenigſten wohnt das Gefühl ihrer ſtaatsbürgerlichen Bedeutungsloſigkeit inne und eben deßhalb haben ſie in dem be - ſchränkten Kreiſe, worinn ſie ſich bewegen dürfen, kein Verlangen nach einer Oppoſition, für die es ohne geiſtige Freyheit kein materielles Glück giebt.

Von dieſer Ueberzeugung bin ich durchdrungen und ſie iſt es, welche meinen jetzigen Entſchluß hervorgerufen hat.

Ich werde den Geſchicken meines Vaterlands auch ferner meine volle Theilnahme widmen, ich werde da nicht fehlen, wo ich hoffen darf, nützen zu können, aber ich werde unter den gegenwärtigen Verhältniſſen die Wahl zum landſtändiſchen Abgeordneten, wenn ſie auf mich fallen ſollte, nicht annehmen.

Stuttgart, den 1. November 1838.

F. Römer.

XXIV. Handſchreiben König Ernſt Auguſt’s. Zu Bd. IV. 651. 658.

Ein Schreiben an Schele vom 7. Juli 1837 über die Einwendungen, welche das Staatsminiſterium gegen das Patent vom 5. Juli erhoben hatte, beginnt alſo:

Nachdem Ich habe gehört und geleſen die Einwendungen fühle ich es Meine Würde nicht gemäß, daß in Zweifel zu laſſen was iſt Meine wahre Meinung und In - tention und deswegen bleibt es bei dem von mir vollzogenen Patent.

Ueber die Eingabe der Göttinger Sieben ſchreibt der König an Schele (Roten - kirchen, 28. November 1837):

Aus ihrem Inhalte habe ich entnommen, namentlich aus der Stelle, wo ſich die Profeſſoren nach erfolgter Aufhebung des Staatsgrundgeſetzes daſſelbe gewiſſermaßen noch als giltig zu betrachten und aufrecht zu erhalten herausnehmen und die auf verfaſſungs - mäßigem Wege von Mir und den Ständen des Jahres 1819 etwa zu vereinbarende Verfaſſung nicht anerkennen wollen, daneben auch von freventlicher Verletzung ihres Eides ſprechen daß die Profeſſoren augenfällig eine revolutionäre, hochverrätheriſche Tendenz verfolgen, welche ſie perſönlich verantwortlich macht: ſie ſcheinen daher der Macht des peinlichen Richters verfallen, und zweifle ich nicht, daß von allen betheiligten Be - hörden Alles werde gethan werden um dieſem verbrecheriſchen Beginnen nicht allein zu ſteuern, ſondern auch die Schuldigen zur Verantwortung und Strafe zu ziehen.

753XXV. Aus den Aufzeichnungen König Friedrich Wilhelm’s.

XXV. Aus den Aufzeichnungen König Friedrich Wilhelm’s. Zu Bd. IV. 725.

Meine Unterthanen beſitzen in der geregelten Staats-Verwaltung, in dem Staats-Rathe, in den Provinzial-Ständen, in der Städte-Ordnung, in den Communal - Verfaſſungen, die Garantie für die ungeſtörte Ordnung und Geſetzlichkeit; ich habe ihnen dieſe Inſtitutionen aus freiem Willen ertheilt und die Gewalt und Macht des Throns unbeſchränkt erhalten.

Auf dieſer Unbeſchränktheit der Königlichen Macht beruht vorzugsweiſe die Stellung, welche Preußen in dem allgemeinen Staaten-Syſtem einnimmt, und da eine Aenderung dieſes Grundpfeilers der Monarchie, letztere ſelbſt nachtheilig berühren und wankend machen würde, ſo beſtimme ich hierdurch, daß kein künftiger Regent befugt ſeyn ſoll, ohne Zu - ziehung ſämmtlicher Agnaten in dem Königlichen Hauſe eine Aenderung oder Einleitung zu treffen, wodurch eine Veränderung in der jetzigen Verfaſſung des Staats, namentlich in Beziehung auf die ſtändiſchen Verhältniſſe und die Beſchränkung der Königl. Macht be - wirkt oder begründet werden könnte.

In der Verordnung vom Jahre 1820 betreffend das Staats-Schulden-Weſen habe ich feſtgeſetzt, daß, wenn der Staat künftighin zu ſeiner Erhaltung oder zur Förderung des allgemeinen Beſten in die Nothwendigkeit kommen ſollte, zur Aufnahme eines neuen Darlehns zu ſchreiten, ſolches nur mit Zuziehung und unter Mitgarantie der künftigen Reichsſtände geſchehen könne. Sollte, ſo lange ich die Regierung führe, in dieſem einen nur erwähnten Falle die Nothwendigkeit eintreten, eine Reichsſtändiſche Verſammlung zu dieſem Behufe zuſammen zu rufen, ſo werde ich ſolche aus den Provinzialſtänden entnehmen. Es würde aus jedem der vier Stände der Provinzial-Stände-Verſamm - lung ein Abgeordneter nach der Mehrzahl der Stimmen durch das Plenum der Ver - ſammlung gewählt werden. Den Abgeordneten der Provinzial-Stände wird eine gleiche Anzahl von Mitgliedern des Staats-Raths nach meiner Wahl beigegeben; in der Verſammlung, deren Präſident ich ernennen werde, wird nach dem Geſchäftsreglement bei dem Staats-Rath verhandelt. Andere Fragen, als über den einen, oben erwähnten Gegenſtand, werde ich einer ſolchen Verſammlung nie vorlegen ..... Ich verpflichte hierdurch meine Nachfolger in der Krone, nach den vorangegebenen Beſtimmungen zu verfahren. Dieſe Anordnungen ſollen als ein Hausgeſetz betrachtet werden.

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 48

Druck von J. B. Hirſchfeld in Leipzig.

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TextDeutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert
Author Heinrich von Treitschke
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDeutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert Vierter Theil: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Heinrich von Treitschke. . VIII, 753 S. HirzelLeipzig1889. Staatengeschichte der neuesten Zeit 27.

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