PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I][II]
Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte.
Sechsten Bandes erste Abtheilung.
Göttingen,beyJohann Friedrich Röwer. 1821.
[III]
Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte.
Sechster Band.
Göttingen,beyJohann Friedrich Röwer. 1822.
[IV][V]

Inhaltsverzeichniſs des sechsten Bandes.

  • Geschichte des physischen Lebens. Neuntes Buch. Verbindung des physischen Lebens mit der intellectuellen Welt. S. 3.
  • Erster Abschnitt. Gebiet und Stufenfolge des Beseelten in der lebenden Natur. S. 5.
  • Zweyter Abschnitt. Verhältnisse der Seelen - kräfte zu den organischen Kräften der thierischen Natur. S. 28.
  • Dritter Abschnitt. Verhältnisse der Seelen - kräfte zur Form und Mischung des Organi - schen. S. 64.
  • Erstes Kapitel. Allgemeine Bemerkungen. S. 64.
  • Zweytes Kapitel. Vergleichende Bildungsgeschichte der Organe des geistigen Lebens. S. 74.
  • Drittes Kapitel. Versuch einer Bestimmung des Ver - hältnisses der verschiedenen Hirnorgane zu den verschiedenen Aeuſserungen des geistigen Le - bens. S. 110.
  • Zehntes Buch. Die äuſsern Sinne. S. 171.
  • Erster Abschnitt. Allgemeine Bemerkungen über die äuſsern Sinne. S. 175.
  • Zweyter Abschnitt. Das Getast. S. 202.
  • Dritter Abschnitt. Der Geschmack. S. 225.
  • Vierter Abschnitt. Der Geruch. S. 251.
  • Erstes Kapitel. Der Geruch im Allgemeinen. Geruchssiun des Menschen und der Säug - thiere. S. 251.
  • Zweytes Kapitel. Geruchssinn der Vögel, Amphi - bien und Fische. S. 286.
  • VI
  • §. 1. Die Vögel. S. 286.
  • §. 2. Die Amphibien. S. 292.
  • §. 3. Die Fische. S. 297.
  • Drittes Kapitel. Geruchssinn der wirbellosen Thiere. S. 307.
  • Fünfter Abschnitt. Das Gehör. S. 321.
  • Erstes Kapitel. Modifikationen des Schalls und Empfänglichkeit der verschiedenen Thiere für hörbare Eindrücke. S. 321.
  • Zweytes Kapitel. Eintheilung der Thiere nach der Verschiedenheit ihrer Hörwerkzeuge. S. 342.
  • Drittes Kapitel. Aufnahme und Fortpflanzung der hörbaren Eindrücke durch die Werkzeuge des Gehörs. S. 361.
  • §. 1. Organische Bedingungen der Gradationen des Gehörs. Das äuſsere Ohr. S. 368.
  • §. 2. Der äuſsere Hörgang, das Trommelfell und die Gehörknöchel chen. S. 36.
  • § 3. Die Trommelhöhle und die Eustachische Röhre. S. 382.
  • §. 4. Das Labyrinth. S. 395.
  • Sechster Abschnitt. Das Gesicht. S. 421.
  • Erstes Kapitel. Das Sehen im Allgemeinen. Stu - fenleiter der Ausbildung des Gesichtswerkzeugs im Thierreiche. S. 421.
  • Zweytes Kapitel. Das Sehen von der objektiven Seite. S. 440.
  • §. 1. Das Sehen in Beziehung auf die Nähe und Ferne der Gegenstände. S. 440.
  • §. 2. Schärfe des Gesichts. S. 465.
  • §. 3. Einrichtungsvermögen des Auges nach den verschiedenen Entfernungen der Gegenstände. S. 496.
  • §. 4. Richtungsvermögen des Auges nach der ver - schiedenen Lage der Gegenstände. S. 543.
  • Drittes Kapitel. Das Sehen von der subjektiven Seite. S. 554.
Ge -[1]

Geschichte des physischen Lebens.

Neuntes Buch.

VI. Bd. A[2][3]

Neuntes Buch. Verbindung des physischen Lebens mit der intellektuellen Welt.

Wir nähern uns wieder einem Gebiet, worüber tiefe Dunkelheit liegt. Manche suchten dasselbe bey Betrachtung des physischen Lebens zu um - gehen. Aber die Seitenwege, die sie einschlu - gen, führten nicht zum letzten Ziel der Biologie. Andere drangen, der Dunkelheit und des schwan - kenden Bodens nicht achtend, rasch und zuver - sichtlich vor, und geriethen in das Land der Träume, des Aberglaubens und der Schwärme - rey. Möge ein günstigerer Stern unsere Schritte lenken!

Es giebt eine doppelte Ansicht der Verbin - dung des Physischen mit dem Intellektuellen. Entweder geistige und materielle Kräfte sind ein - ander ganz ungleichartig; am Körper des Beseel -A 2ten4ten ist der Geist als ein fremdartiges Wesen ge - fesselt. Oder das Geistige und das Körperliche sind nicht nur mit, sondern auch durch einan - der. Beyde Hypothesen sind mehrerer Modifika - tionen fähig. Wir können für jetzt dieselben unerörtert lassen und uns begnügen, die Voraus - setzung zum Grunde zu legen, daſs der Cha - rakter alles Beseelten Bewuſstseyn seiner Exi - stenz und Freyheit seiner Handlungen ist. Ob diese Freyheit von moralischer Seite vielleicht nur scheinbar ist, braucht uns nicht zu küm - mern. Es reicht für uns hin, wenn die Hand - lungen in physischer Rücksicht frey genannt werden können. An jene Voraussetzung knüpfen sich die Fragen: Wie weit sich das Gebiet des Beseelten in der lebenden Natur erstreckt? Wel - che Stufenfolge in diesem Gebiet statt findet? Und in welchem Verhältniſs die Seele zu den organischen Kräften der thierischen Natur und zur Organisation steht? Mit diesen Fragen ist uns der Weg bey unsern Untersuchungen vor - gezeichnet.

Erster5

Erster Abschnitt. Gebiet und Stufenfolge des Beseelten in der lebenden Natur.

Der Ursprung alles Lebens liegt in einem Prin - cip, dessen Wesen Selbstthätigkeit ist.

Diese Selbstthätigkeit äuſsert sich ursprüng - lich als Bildungstrieb und ist blos immanent.

Sie dauert auch an dem schon gebildeten Organismus fort und äuſsert sich durch fernere Ausbildung und Erhaltung desselben.

Mit der Entstehung einer individuellen Form des Lebens treten aber Wirkungen auf die äuſsere Welt ein, die zugleich Bedingungen der Fortdauer jener Form sind. Diese Wirkungen geschehen nicht ohne vorhergegangene äuſsere Einflüsse. Insofern also das Leben nicht blos ein immanenter Zustand ist, besteht es nicht in reiner Selbstthätigkeit.

Jene Einflüsse sind von dreyerley Art:

1) Reitze, Einflüsse, die unmittelbar Reak - tionen veranlassen, mit deren geringern oderA 3gröſsern6gröſsern Stärke die denselben zum Grunde lie - gende Empfänglichkeit des lebenden Körpers für eben diese Eindrücke (die Reitzbarkeit) zu - oder abnimmt.

2) Exaltirende und deprimirende Po - tenzen, Ursachen, welche die Beziehungen der Reitzbarkeit auf die Auſsenwelt und die Wir - kungsart der Bildungskraft abändern.

3) Dynamische Einwirkungen. Ein - flüsse, denen der lebende Körper insofern aus - gesetzt ist, als er ein Glied in dem Organismus der ganzen lebenden Natur ist. Gegen diese reagirt er nicht nach den Gesetzen der Reitzbar - keit. Alle Thätigkeit, die er in Beziehung auf sie äuſsert, hat, gleich der des ursprünglichen Bildungstriebs, den Charakter der Zweckmäſsig - keit und scheinbarer Selbstbestimmung zum Han - deln.

Diese Autonomie ist der thierischen Natur eigen, und das ihr zum Grunde liegende Prin - cip ist der Instinkt, im allgemeinsten Sinne genommen. Der Organismus, der sie besitzt, handelt vermöge derselben mit dem Schein des Bewuſstseyns und der Freyheit, und doch unbe - wuſst und nach nothwendigen Gesetzen.

Es läſst sich nicht bestimmen, wie weit sich dieser Mangel an Bewuſstseyn im Thierreiche er -streckt.7streckt. Nur in uns selber kennen wir mit vol - ler Gewiſsheit ein bewuſstes Leben. Bey den übrigen thierischen Wesen nimmt die Wahr - scheinlichkeit, daſs sie Bewuſstseyn ihres Daseyns haben, desto mehr ab, je mehr ihre Lebens - äuſserungen blos automatischer Art sind, und je weniger sie ihre instinktartigen Handlungen nach den äuſsern Umständen zu modifiziren ver - mögen.

Allenthalben im Thierreiche aber, wo dieses Modifikationsvermögen zugegen ist, findet eine, schon von Aristotelesa)Hist. animal. L. IX. c. 10. der Toulouser Ausg. anerkannte und für jeden, der die Natur mit unbefangenen Sinnen beobachtet, unverkennbare, psychologische Aehn - lichkeit stattb)Man vergl. Autenrieth’s Bemerkungen in Wie - demann’s Archiv für Zoologie und Zootomie. B. 3. St. 1. S. 225.. Diese Analogie ist die einzige Grundlage, worauf sich bey Untersuchungen über das Gebiet und die Stufenfolge des Beseelten im Thierreiche bauen läſst. Wir finden bey man - chen Thieren unter ähnlichen Umständen ein verschiedenes Verhalten, doch nur dann, wenn die Verschiedenheit ihrer Organisation eine ab - weichende Handlungsweise nothwendig macht. Man vergleiche den Affen mit dem Menschen;manA 48man lese die Nachrichten zuverlässiger Beobach - terc)Wie F. Cuvier’s in den Annales du Mus. d’Hist. nat. T. XVI. p. 46. und Tilesius’s in Krusenstern’s Reise um die Welt. Th. 3. S. 109. von den Geistesfähigkeiten des Orang-Ou - tang: den Abstand zwischen diesem und dem Menschen wird man allerdings groſs finden. Aber den Besitz ähnlicher, wenn auch weit mehr be - schränkter, geistiger Kräfte, als dem Menschen verliehen sind, wird man dem Affen nicht ab - sprechen können.

Das Thier scheint zu suchen und zu mei - den, zu begehren und zu verabscheuen, zu lie - ben und zu hassen, wie der Mensch. Diese Aeuſserungen lassen sich vielleicht ohne Voraus - setzung einer andern, als einer bewuſstlos wir - kenden Kraft erklären. Aber das Thier erinnert sich auch des Vergangenen, welches ohne Be - wuſstseyn der Existenz nicht möglich wäre, und handelt da, wo der Instinkt allein dasselbe nicht leiten kann, mit Ueberlegung und Wahl der Mit - tel, also mit Freyheit. Die Bienen suchen im Frühlinge den Ort wieder auf, wo sie im Herbst mit Honig gefüttert sindd)F. Huber Nouv. observat, sur les abeilles. Ed. 2. T. II. p. 375.. Beyspiele von einer Klugheit dieser Thiere, die sich nicht aus dem bloſsen Instinkt erklären läſst, enthält fast jededer9der vielen Schriften über die Haushaltung der - selben. Der Sperling und die Schwalbe bauen bey uns, wo sie von Affen, Schlangen und an - dern kletternden und kriechenden Thieren nichts zu fürchten haben, ihre Nester offen. Im süd - lichen Afrika umzäunt jener sein Nest mit Dor - nen, und diese verfertigt unter den Dachrinnen oder in den Felsenritzen einen röhrenförmigen Zugang zu ihrem Nest, welcher sechs bis sieben Zoll in der Länge hate)Barrow’s Reisen in das Innere von Südafrika in den J. 1797 u. 1798. (Leipz. 1801.) S. 399.. Die Bieber richten ihren Bau nach der verschiedenen Tiefe des Wassers ein. In einem kleinen Bach, dessen Zuflüsse durch den Frost leicht erschöpft werden, ziehen sie in einer gewissen Entfernung von ih - ren Wohnungen einen sehr festen Damm queer über das Wasser; in tiefern Gewässern bauen sie sich blos Wohnungen. Hat das seichte Wasser wenig Zug, so ist der Damm beynahe gerade; ist der Strom stärker, so macht der Damm ei - nen Bogen, dessen convexe Seite der Richtung des Stroms entgegenstehtf)Hearne’s Reise nach dem nördl. Weltmeere. Uebers. von M. C. Sprengel. S. 157..

Was der Mensch vor dem Thiere als den - kendes Wesen voraus hat, ist das Vermögen,allge -A 510allgemeine Begriffe zu bilden, Wahrheit und Recht zu erkennen und ein Uebersinnliches zu ahnen. Nicht die Sprache giebt ihm diesen Vorzug. Sie ist Folge, nicht Ursache desselben. Auch der Papagey, die Elster und der Rabe bil - den artikulirte Töne und doch ist ihnen die Sprache ein unnützes Werkzeug. Leibnitz sahe sogar einen Hund, der seinem Herrn Wörter nachzusprechen gelernt hatte, damit aber nicht klüger als andere Hunde geworden warg)Hist. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1715. p. 4. der Octav-Ausgabe.. Der Mensch würde, wenn ihm das Vermögen zu sprechen versagt wäre, sich anderer willkührli - cher Zeichen für seine Begriffe bedienen. Dem taub und blind Gebornen J. Mitchell hatte dessen Schwester Zeichen für seine Tastorgane erfunden, durch die sie ihn zurechtweisen und sein Betragen leiten konnte. Er drückte dage - gen seine Wünsche und Gefühle durch Gebehr - den aush)History of J. Mitchell, a boy born blind and deaf etc. by J. Wardrop. Edinb. 1813. Stewart in den Transact. of the royal Society of Edinburgh. Vol. VII. p. 1.. Das Thier läſst sich zwar ebenfalls durch willkührliche Zeichen leiten. Aber seine Begierden und Gefühle giebt es nur durch un - willkührliche Bewegungen zu erkennen.

Rora -11

Rorarius schrieb einen Beweis, daſs die Thiere oft vernünftiger handeln als der Menschi)H. Rorarii quod animalia bruta saepe ratione utantur melius homine libri II. Helmstadii 1729.. Seine Abhandlung ist das Werk eines guten Red - ners, aber nicht eines tiefen Denkers. Man würde ihm Recht geben müssen, wenn er manche Thiere in Betreff einer gewissen Art von Klug - heit über den Menschen erhoben hätte. Auch würde er die Wahrheit auf seiner Seite haben, wenn er behauptet hätte, unter vielen Tausen - den des Menschengeschlechts und in vielen Men - schenaltern würde oft nicht Einer geboren, der sich aus eigener Kraft zu allgemeinen Ideen zu erheben vermöchte, der zur klaren Einsicht des Rechts und der Wahrheit gelangte, in welchem die Ahnung des Ewigen und Unendlichen er - wachte. Aber daſs von Zeit zu Zeit in Einzel - nen der göttliche Funke zur Flamme auflodert, daſs das Feuer dieser Einzelnen sich Andern mittheilt, von Geschlecht zu Geschlecht weiter angefacht wird: eben dies beweist, daſs jeder Mensch, stehe er auf einer noch so niedrigen Stufe der geistigen Bildung, ein höheres Etwas, wenn auch nicht als Kraft, doch als Vermögen zur Mitgift erhielt.

Unter12

Unter den Individuen des Menschengeschlechts giebt es eine unendliche Mannichfaltigkeit in Betreff der Qualität sowohl, als des Grades der geistigen Kräfte. Bey den Thieren unterschei - den sich nur die Arten in der verschiedenen Qualität dieser Kräfte; die Individuen einer und derselben Art weichen blos in der Verschiedenheit des Grades derselben von einander ab. Jene Qualität ist aber auch bey jeder einzelnen Thier - art weit beschränkter als beym Menschen. Jede zeichnet sich nur durch Eine der Eigenschaften aus, deren viele dem Menschen angehören. Dies war es ohne Zweifel, was Aristotelesk)A. a. O. L. IX. c. 1. meinte, wenn er sagt: die Thiere, deren Sitten wir näher kennten, schienen eine gewisse, den ein - zelnen Fähigkeiten der Seele entsprechende Kraft zu besitzen, wie Klugheit, Einfalt, Muth, Feig - heit, Sanftmuth, Bosheit u. dergl. Und hierin liegt der Grund, warum der Mensch einer viel - seitigen Bildung, das Thier nur einer einseitigen Abrichtung fähig ist.

Bey den Thieren läſst sich jedoch nicht im - mer bestimmen, welche Handlungen durch ein Princip hervorgebracht werden, das sich seiner Thätigkeit bewuſst ist, und welche von dem bloſsen Instinkt herrühren. Es hält daher schwer, sie unter sich und mit dem Menschen in Be -treff13treff der Seelenkräfte zu vergleichen. Wer z. B. die Rückkehr der wandernden Vögel nach der nämlichen Gegend, wo sie im vorigen Jahr ih - ren Aufenthalt hatten, blos für Wirkung des Ge - dächtnisses und Erinnerungsvermögens hielte, würde vielleicht unrichtig urtheilen. Daſs aber diese mitwirkend bey jener Rückkehr und be - sonders beym Wiederauffinden des Nestes sind, leidet auf der andern Seite auch keinen Zwei - fell)Daſs die Schwalben im Frühjahr zu ihren alten Nestern zurückkehren, beweisen Frisch’s und An - derer, in Buffon’s Hist. nat. des oiseaux (T. XII. p. 265. 275. der Octav-Ausgabe) angeführte Beob - achtungen..

Gedächtniſs und Erinnerungsvermögen sind überhaupt die am weitesten in der thierischen Natur verbreiteten Seelenkräfte. Selbst die In - sekten geben deutliche und zum Theil auffal - lende Beweise von dem Besitz derselben, wie unter andern die Bienen bey ihrer schon erwähn - ten Rückkehr im Frühjahr zu den Stellen, wo sie im Herbste gefüttert wurden.

Erinnerungsvermögen ist nicht ohne repro - duktive Einbildungskraft denkbar. Diese muſs daher ebenfalls den Thieren zukommen. Ob sie auch produktive Einbildungskraft besitzen, ist eine Frage, die mit einer andern zusammen -hängt,14hängt, nämlich der, ob die Thiere, welche Kunst - triebe besitzen, die Werke, die sie hervorbrin - gen, auszuführen vermöchten, wenn nicht ein Bild ihres Kunstprodukts mit dem Erwachen des Triebes in ihnen aufstiege und ihnen bey ihrer Arbeit vorschwebte? Entweder wir müssen auf jede Erklärung der thierischen Kunstprodukte Verzicht thun, oder wir müssen sie aus diesem Gesichtspunkte betrachten. Entsteht denn auch auf andere Weise das Werk des Künstlers? Und ist es nicht erlaubt, aus Aehnlichkeit in allen Aeuſserungen auf eine analoge Ursache zu schlieſsen? Mit Recht sagte ein Denker, der die Selbstthätigkeit des Princips alles lebendigen Daseyns erkannt hatte: selbst das Regen eines Wurms, dessen dumpfe Lust und Unlust, könn - ten nicht entstehen ohne eine, nach den Gesetzen seines Lebensprincips verknüpfende, die Vorstel - lung seines Zustandes erzeugende Einbildungs - kraftm)Jaconi an Fichte S. 61.. Zwischen dem thierischen Kunsttrieb und der schaffenden Kraft des Künstlers bleibt doch darum ein sehr weiter Abstand. Jener wirkt unwillkührlich, erschöpft sich an einem einzigen Produkt, welches für alle gleichartige Individuen stets das nämliche ist, und vollbringt nur das Zweckmäſsige. Diese kann der Wille wecken und lenken; ihre Wirkungen sind dauernd und der mannichfaltigsten Richtungen fähig, undin15in ihnen spiegelt sich das Ewige und Unend - liche.

Jene Bilder der produktiven Einbildungs - kraft sind in gewisser Rücksicht für das Thier, was für den Dichter und Künstler dessen Ideale. Sie flieſsen jenem nicht aus der Sinnenwelt zu, sondern gehen der Erfahrung vorher und bilden eine eigene Welt, in deren Anschauung die See - lenkräfte schon einen gewissen Grad von Uebung erlangt haben, bevor noch das Thier mit der äuſsern Natur genau bekannt geworden ist. Da - her die groſse Sicherheit in allen Handlungen, die sich auf den Kunsttrieb beziehen, und die frühe Aeuſserung dieser Sicherheit in einer Le - bensperiode, wo bey dem Menschen alle geistige Kräfte noch sehr wenig entwickelt sind.

Bey diesen Bildern, diesen Lebensidealen, ist mit dem Erwachen des Instinkts zugleich der Gegenstand desselben im Geiste vorhanden. An - dere Triebe, z. B. der Geschlechtstrieb, sind auf ein noch unbekanntes Etwas gerichtet, das aber als entsprechend demselben gleich erkannt wird, sobald es in der Wirklichkeit vorkommt, und dessen Gegenwart in manchen Fällen nicht blos einen einzigen, sondern jeden der äuſsern Sinne auf eine dem Triebe angemessene Weise auf - regt. Einen Beweis für diese Art der Aufregunggeben16geben unter andern die von Higgins im Edin - burgher Philosophical Journal (1819. Nro. 1. June p. 171.) mitgetheilten Beobachtungen über den taub und blind Gebornen David Tate, ei - nen fünf und zwanzigjährigen, zu Fetlar, einer der Shetländischen Inseln, lebenden jungen Men - schen, der auf einer so niedrigen Stufe des menschlichen Daseyns stand, daſs er selbst die aufrechte Stellung nicht anders als gezwungen annahm, und dessen ganze Gemeinschaft mit der äuſsern Welt nur durch den Tastsinn vermittelt wurde. Bey ihm geschahe durch diesen Sinn die Einwirkung auf den Trieb, womit sonst bey dem Menschen der Sinn des Gesichts, bey den meisten Säugthieren der des Geruchs, und bey den Inseken der den Fühlhörnern eigene Sinn in Beziehung stehtn)Genitalia ipsa, sagt Higgins von jenem Unglück - lichen, solito ampliora videbantur Mater confite - tur, se saepius admiratam esse, qua cupiditate ma - nus ejus muliebribus cruribus adhaerent, et quanta maxima celeritate per summam omnem cutem, haud vestimentis earumdem contectam tactuique ideo sub - jectam, digiti aberrarent; interea in miseri corpore notae veneris mare desideratae (scilicet priapismus) in oculos parentis vel adstantium sese manifestas darent..

In der Befriedigung beyder Arten von Trie - ben findet das Thier den Zweck seines Daseyns. Ist17Ist es ihm unmöglich gemacht, die Ideale sei - nes Lebens auſser sich darzustellen, oder den Gegenstand seines Instinkts zu erreichen, so äuſsert sich bey ihm blos noch das sinnliche Be - gehrungsvermögen im Allgemeinen, und selbst dieses ist oft dann erstorben. Für die mehrsten Thiere ist jene Darstellung oder Erreichung an eine gesellschaftliche Verbindung, oder an Zeiten und Umstände gebunden. Manche, die im Zu - stande der Freyheit Klugheit verrathen, sind deswegen höchst stumpfsinnig in der Gefangen - schaft. Ein eingesperrter Bartgeyer, über wel - chen Scheidlin Beobachtungen mitgetheilt hato)Annalen der Wetterauischen Gesellsch. für die ge - sammte Naturk. B. IV. S. 109.. verhielt sich oft wie völlig stupide. Selbst einer der mächtigsten Triebe bey den Thieren, die Liebe für die Jungen, hängt bey einigen Arten, z. B. den Schwalben, von localen Verhältnissen abp)Buffon a. a. O. T. XII. p. 304.. Die Wachtel bauet im Käfig kein Nest mehr, wenn ihr auch aller Stoff dazu gegeben ist, und läſst ihre Eyer fallen, ohne dafür wei - ter zu sorgen. Nur der Wanderungstrieb er - wacht bey ihr zur Frühlings - und Herbstzeit auch in der Gefangenschaft mit der gröſsten Heftigkeitq)Buffon ebendas. T. IV. p. 198. 180..

DerVI. Bd. B18

Der Naturtrieb bestimmt ursprünglich, un - angeregt von noch nicht gefühlter Lust und Un - lust, ohne Einmischung der Urtheilskraft, die zur Darstellung oder Erreichung seines Gegen - standes nöthige Art von Selbstthätigkeit. Sobald aber Hindernisse eintreten, deren Wegräumung oder Umgehung zur Ausübung dieser Thätigkeit nothwendig ist, verräth sich bey den Thieren auch Urtheilskraft. In solchen Fällen, wo Maaſs - regeln gegen den Zufall zu nehmen sind, kann nicht mehr der Instinkt, sondern nur Urtheils - kraft das Thier leiten. Aber dieses verfährt dann oft ohne Anleitung und ohne Erfahrung, und doch ist kein Urtheil ohne allgemeine Be - griffe möglich. Besitzt also etwa das Thier ur - sprüngliche, nicht aus der Erfahrung abgeleitete Begriffe? Ohnstreitig hat dasselbe, so gut wie das Kind, reine Verstandesbegriffe. Warum wür - den beyde einem Gegenstande ihres Verlangens nicht in einer krummen Linie zueilen, wenn nicht der Begriff der geraden Linie, als der kür - zesten zwischen zwey Punkten, ihre Bewegun - gen bestimmte? Aber das Thier hat noch mehr als das Kind; es besitzt auch ererbte Erfahrungs - begriffe. Denn von welchen andern Ursachen als solchen Begriffen ist es abzuleiten, daſs bloſse Varietäten einer und derselben Thierart, z. B. der Hühnerhund, das Windspiel, der Dachs -hund19hund u. s. w. sich unter gleichen Umständen so ganz verschieden benehmen?

In allen diesen Eigenschaften ist zwar der Mensch verschieden von dem Thier, doch auch nicht so verschieden, daſs alle Aehnlichkeit zwi - schen beyden aufgehoben wäre. Er besitzt, gleich dem Thier, angeborne Triebe, und diese äuſsern sich bey ihm um so heftiger, je mehr das moralische Gefühl bey ihm unentwickelt bleibt. Es giebt Thiere, welche morden um zu morden, verwüsten um zu verwüsten, und da - mit Werkzeuge zu höhern Zwecken der physi - schen Weltordnung sind. Das Menschenge - schlecht bringt nicht selten ähnliche Unglückliche hervor, die, obgleich Auswürfe der moralischen Welt, doch mit ihren Trieben dem Organismus der Natur dienen. Diese Fälle gehören zwar unter die Seelenkrankheiten. Sie beweisen aber darum nicht weniger eine Aehnlichkeit des Men - schen mit den Thieren in geistiger Hinsicht. Ein solches lebendiges und regelmäſsiges Er - wachen jener Bilder, die wir Lebensideale ge - nannt haben, wie mit mehrern Trieben der Thiere verbunden ist, findet zwar beym Men - schen nicht statt. Doch Jeder wird mit Anlagen und Neigungen geboren, zwischen welchen und jenen Trieben der Unterschied nicht so groſs ist, wie er obenhin angesehen scheinen mag. B 2Jeder20Jeder empfängt beym Eintritte in das Leben von der Natur ein Pfund, womit er zu wuchern hat. Nur Wenige werden sich dieser Gabe in dem Drange und der Noth des Lebens bewuſst, und deſswegen ist das Daseyn der Meisten wie das zwecklose Umherirren einer zerstreuten Bie - nenschaar. Bey Einigen erwacht das Bewuſst - seyn ihrer Mitgift vor der Zeit der Reife, und diese eben zeugen für das Angeborne gewisser Lebensideale bey dem Menschen wie bey vielen Thieren, obgleich sonst ihre frühreifen Früchte selten oder nie des Aufhebens werth sindr)Hierher gehören unter andern William Crotch, das musikalische, und Zarah Colburn, das arith - metische Wunderkind. Jenes (geboren am 5. July 1775) äuſserte an einem Abend im August 1776, als es die Orgel spielen hörte, eine ungewöhnliche Unruhe, die nicht eher aufhörte, als bis man es zur Orgel trug, deren Claves es mit einer Art von Entzücken schlug. Als es am folgenden Tage wie - der davor hingesetzt war, spielte es zum Erstaunen der Eltern ganze Verse aus Liedern, die es von Andern hatte spielen hören. Nach dem Antritt des zweyten Jahrs spielte es fast täglich, lernte mehrere Stücke und fing an, mitunter etwas von seinen ei - genen Compositionen einzumischen (Lichtenbero’s vermischte Schriften. B. IV. S. 433.). Zarah Col - burn, ein amerikanisches Kind, welches 1812 in London lebte und damals acht Jahre alt war, be -saſs,Ob21Ob übrigens nicht auch in den Träumen der Jugendzeit Ideale aufsteigen, die uns unbewuſst den gröſsten Einfluſs auf das ganze künftige Le - ben haben, ist eine Frage, die sich mit mehr Wahrscheinlichkeit bejahend als verneinend beant - worten läſst. Stutzte doch selbst ein so kalter Forscher, wie Boerhaave war, bey Erwägung der Beyspiele von Menschen, die ihr Leben an die Aufsuchung einer Traumgestalt setztens)Exempla sunt, historica fide comprobata, quod homines dormientes impressionem acceperint ima - ginationis pulchrae foeminae, quam adeo deperie - bant, ut non potuerint sanari, nisi inventa foemina, isti imagini quam simillima. Boerhaave praelect. de morbis nervorum. p. 342..

Wie

r)saſs, ohne je Unterricht in der Arithmetik erhalten zu haben, ja ohne nur die Zeichen der Zahlen zu kennen, die merkwürdige Gabe, die schwersten arithmetischen Fragen beantworten zu können. Es wuſste keinen Bescheid von seiner Rechnungsweise zu geben, sondern erklärte, daſs ihm die Antwor - ten unmittelbar, wie durch Inspiration zukämen. In Nicholson’s Journal of natur. Philosophy (Januar. 1813.) sind auffallende Beyspiele von der Fertigkeit des Kindes angeführt und mehrere achtungswürdige Gewährsmänner für die Wahrheit der Erzählung ge - nannt. Man vergleiche auch Schweigger’s neues Journal für Chemie und Physik. B. XI. H. 1. S. 96.

B 322

Wie bey dem Thier, so treten ferner auch bey dem Menschen manche Wirkungen des selbst - thätigen Princips nur im Zustande des geselligen Lebens hervor. Der isolirte Mensch würde nie eine Sprache erlangt haben. Diese kann nur in gesellschaftlicher Verbindung entstanden seyn, ob - gleich der gesellige Mensch so wenig als der iso - lirte sie erfinden konnte und Niemand die Art ihrer Entstehung anzugeben im Stande ist. Sie steht in naher Verbindung mit dem moralischen Gefühl, welches ebenfalls nur in der Gesellig - keit sich ganz entwickelt und wovon selbst in die wildesten der Thiere zuweilen Funken von ihm überzugehen scheinen, sobald sie durch Wohlthaten an ihn gefesselt sind und Genossen seiner Wohnung werdent)Des Taubgebornen, der in spätern Jahren plötzlich das Gehör erhielt und dessen Geschichte in der Hi - stoire de l’Acad. des sc. de Paris (A. 1703. p. 22. der Octav-Ausgabe) von Felibien erzählt ist, be - mächtigten sich gleich, nachdem seine Genesung be - kannt geworden war, die Geistlichen und prüften ihn über Gott, die Seele, die Moralität der Hand - lungen u. dergl. Man fand aber bald, daſs er gar keine Begriffe von diesen Sachen hatte, obgleich es ihm nicht an Geist fehlte und die Gebräuche der katholischen Kirche von ihm mechanisch mit - gemacht waren. Der.

Wie23

Wie bey dem Thier, so ist endlich auch bey dem Menschen die Wirkungsart des selbstthäti - gen Princips von Zeit und Umständen mehr oder weniger abhängig. Aretäusu)De causis et signis diuturn. morborum. L. I. erzählt von ei - nem Zimmermann, der ganz vernünftig und ein geschickter Arbeiter war, so lange er sich in seiner Werkstätte befand, der aber wahnsinnig wurde, sobald er diese verlieſs und nach dem Forum oder einem andern öffentlichen Platz ging. Marcus Herz, der bekannte Arzt und Schrift -steller,t)Der Geschichten von wilden Thieren, welche Menschen zugethan wurden und Dankbarkeit gegen diese zu äuſsern schienen, giebt es viele, denen es aber zum Theil sehr an Beglaubigung fehlt. Zu - verlässiger und mit mehr Umsicht gemacht sind die in Buffon’s Histoire natur. des oiseaux, T. XI. p. 86. der Octav-Ausgabe, mitgetheilten Beobachtun - gen über einen zahmen Bussard (Falco Buteo), ei - nen Vogel, den man der Anhänglichkeit au den Menschen und des Begriffs von fremdem Eigenthum nicht für fähig halten sollte, und welcher doch deutliche Zeichen von beyden äuſserte, indem er zu seinem Herrn immer zurückkehrte, obgleich ihm die Freyheit nicht genommen war, auf dessen Pfei - fen hörte und dieses beantwortete, nie dem Feder - vieh desselben schadete, wohl aber oft die Haus - vögel fremder Höfe tödtete, und keinen andern Raubvogel in der Gegend seines Hofes duldete.B 424steller, wurde in dem Augenblick von einem nach einer schweren Krankheit zurückgebliebe - nen Delirium befreyet, als man ihn in sein Stu - dirzimmer brachtev)Brandis über psychische Heilmittel u. Magnetis - mus. S. 82.. So groſs wie in diesen Fällen ist der Einfluſs der gewohnten Umgebun - gen zwar nicht auf den gesunden Menschen. Aber ganz unabhängig ist davon Keiner. Die Verhältnisse, in welchen der Mensch aufgewach - sen ist, verlieren ihre Macht über ihn erst nach der überstandenen Krankheit des Heimwehs.

Man hat die Stufen, die der Mensch von seinem Entstehen an bis zu seiner vollendeten Ausbildung in physischer Rücksicht durchläuft, mit den allgemeinen Entwickelungsstufen des Thierreichs von den Infusorien an bis zum Men - schen verglichen. Es läſst sich eine ähnliche Vergleichung zwischen jenen und diesen Stufen auch in Betreff der geistigen Kräfte anstellen. Das Zoophyt ist in dieser Hinsicht, was der Mensch vor seiner Geburt ist, und über den Zu - stand, worin sich seine Seelenkräfte befinden, ehe er der Sprache mächtig wird, erhebt sich von gewissen Seiten keines der übrigen Thiere und selbst nicht derer, die ihm in der Organi - sation am nächsten stehen.

Diese25

Diese Vergleichung ist indeſs in Betreff des Geistigen wie des Physischen nur von einer ein - zigen Seite passend. Es giebt so wenig in je - nem als in diesem eine einfache Stufenleiter. Der Abstand zwischen dem Menschen und den Säugthieren ist noch weit gröſser im Geistigen als im Körperlichen. Bey den Säugthieren, und nächst diesen bey den Vögeln, finden wir im All - gemeinen eine vielseitigere Ausbildung der See - lenkräfte als im übrigen Thierreiche. Aber ein - zelne Arten derselben stehen hierin auf einer so niedrigen Stufe, daſs Niemand Bedenken tragen wird, sie unter den Bienen und manchen andern Arten aus der Classe der Insekten herabzusetzen. Die Amphibien und Fische lassen sich ebenfalls nicht über die Insekten, und die Raubthiere im Allgemeinen nicht über die Herbivoren stellen. Die Classe der Amphibien enthält keine Arten, die irgend eine hervorstechende, geistige Eigen - schaft besitzen. Die Schlangen stehen zwar im Ruf der Klugheit. Sie haben aber ihren Ruhm wie manche Menschen, ohne daſs jemand sagen kann, woher und warum. Das Höchste von Klugheit, was man den Fischen nachgerühmt hat, ist die Art, wie einige, und namentlich die Froschfische, sich ihrer Bartfasern bedienen sol - len, um andere Fische herbeyzulocken. Eine sehr alte Erzählungw)Aristotelis Hist. animal. L. IX. c. 48., und doch wohl nur einMähr -B 526Mährchen! Unter den Raubthieren der beyden höhern Thierclassen sind zwar manche durch List und Schlauheit bekannt. Aber blos diese Eigenschaften können nur Dem Kennzeichen ei - ner höhern Intelligenz seyn, welchem Lebens - klugheit das Höchste in der moralischen Welt ist. Hingegen gehören in allen Thierclassen die - jenigen Arten, die sich durch die kunstreich - sten Werke auszeichnen, meist zu den Herbi - voren. Ein System der Thiere nach ihren gei - stigen Kräften ist also sehr verschieden von ei - nem natürlichen, auf ihrem Körperbau begrün - deten System. Daher ist es nicht ganz wahr, was man gesagt hat, das Thier sey durchaus mit seinem Leibe Eines und Dasselbe, so daſs Seyn und Bewuſstseyn in ihm auf das voll - kommenste in einander fallen, und man eher von ihm sagen dürfe, sein Leib regiere die Seele, als seine Seele den Leibx)Jacobi von den göttlichen Dingen und ihrer Of - fenbarung. S. 163.. Auch das Thier besitzt gleich dem Menschen eine Kraft, die selbstthätig und nicht durchaus abhängig von der Organisation ist. Auch im Thiere ist Weissagung und nur eine höhere im Menschen. So schrieb derselbe Weise, der den vorigen Ausspruch thaty)Ebendas. S. 18., und er übersah, daſs erhiermit27hiermit seine vorige Behauptung widerlegte. Doch wir brechen von diesem Gegenstande ab, um weiter unten an einem passendern Orte darauf zurückzukommen.

Zwey -28

Zweyter Abschnitt. Verhältnisse der Seelenkräfte zu den orga - nischen Kräften der thierischen Natur.

Aus den Untersuchungen, die wir im vorigen Buchez)Biologie, Bd. 5. S. 429 fg. über das Verhältniſs des Instinkts zur bildenden und erhaltenden Kraft des thierischen Körpers, und im vorigen Abschnitt über das Wir - ken der Seelenkräfte bey den instinktartigen Handlungen angestellt haben, geht als Resultat hervor, daſs es die nämliche Kraft ist, die den Körper aus formloser Materie bildet, als erhal - tende und heilende Kraft der Natur nach seiner Bildung in ihm wirkt, sich als Instinkt äuſsert und von geistiger Seite als produktive Einbil - dungskraft die Erzeugerin der Ideen ist. Es giebt scheinbare Schwierigkeiten bey dieser Hy - pothese. Man wird fragen: Wo die Beweise für einen Einfluſs bloſser Ideen auf das Wirken der bildenden Kraft im Körperlichen sind? Wie eine Kraft, deren uns bewuſste Wirkungen re -gellos29gellos und unzweckmäſsig sind, sobald sie nicht von dem Verstande und der Vernunft beherrscht werden, ohne unser Bewuſstseyn unendlich zweckmäſsiger als unter Leitung der höhern See - lenkräfte wirken kann? Warum Bilder, die sich auf den innern Zustand des Körpers, oder auf das Verhältniſs desselben zur äuſsern Welt be - ziehen und wodurch zweckmäſsige Handlungen veranlaſst werden, bey dem Thier im gesunden, bey dem Menschen aber nur im krankhaften Zu - stande, oder in seltenen Fällen ohne Zuthun der höhern Seelenkräfte entstehen? Dem, der die erste dieser Fragen thut, können wir auf die im vorigen Buchea)Biologie. Bd. 5. S. 465 fg. enthaltenen Bemerkungen über Muttermäler verweisen, und für Den, welchem Beweise für ein geistiges Wirken der Mutter auf die Bildung der Frucht hier nicht hinrei - chend sind, führen wir folgende Beyspiele an.

Hoffmann schrieb eine eigene Ahhandlungb)Morbus convulsivus a viso spectro. Jenae 1680. über einen jungen Menschen, der nach dem ver - meinten Anblick eines Gespensts Convulsionen mit Geistesverwirrung bekam, wobey der son - derbare Umstand statt fand, daſs der Fuſs, woran er von dem Gespenst ergriffen zu seyn glaubte, entzündet wurde und in Eiterung überging.

Tissot30

Tissotc)Traité des nerfs. T. 3. erzählt von einem Bauer, der, als er von einer Schlange träumte, die sich um seinen Hals geschlungen hatte, eine heftige Be - wegung machte und von dieser Zeit an täglich Zuckungen in dem nämlichen Arm hatte.

Parryd)Elements of Pathology and Therapeutics. Vol. I. p. 284. kannte eine Frau, in deren Brüsten eine starke Absonderung von Milch eintrat, so oft sie ein Kind schreyen hörte, obgleich sie schon lange nicht mehr gestillt hatte.

Eine Frau, die schon dreyzehn mal geboren hatte, glaubte, wie Klein erzählte)Hufeland’s und Harles’s Journal der praktischen Heilkunde. 1815. St. 9. S. 65., alle Symp - tome der Schwangerschaft wieder an sich zu spüren, litt an allen den Unpäſslichkeiten, die sie sonst unter diesen Umständen gehabt hatte, und bekam genau am Ende ihrer Rechnung die stärksten, mit Convulsionen verbundenen Wehen, die augenblicklich aufhörten, als zwey Geburts - helfer ihr erklärten, daſs sie gar nicht schwan - ger sey.

Wesener versichertf)Ebendas. 1818. St. 4. S. 28., eine Kranke zu ken - nen, die am Morgen die deutlichsten Striemenauf31auf dem Rücken und den Armen zeigte, nach - dem ihr Nachts geträumt hatte, sie sey heftig geschlagen worden.

Den nämlichen Grund haben alle sympathe - tische Curen, die Heilungen schwerer Krankhei - ten durch Aerzte und Arzneyen, die nichts - ren ohne den festen Glauben der Einfalt, und der Tod in der festen Erwartung des Sterbens. Diese und ähnliche Ereignisse sind gewiſs noch weit häufiger und auffallender unter den Natur - menschen als den cultivirten Völkern; nur gehen sie bey jenen meist für den Beobachter verloren. Merkwürdig ist in dieser Hinsicht Hearne’sg)A. a. O. S. 152. Erzählung von den Wirkungen des unter den Wilden des nördlichen Amerika herrschenden Glaubens an die Wunderkraft ihrer Zauberer. Das Zutrauen zu dem guten Willen der letztern heilt sie von den schwersten Krankheiten, und die Furcht vor der Bosheit derselben stürzt sie in Krankheiten, die oft ihrem Leben ein Ende machen. Einer der Wilden, Matonabbi, der auch Hearne’n im Besitz übernatürlicher Kräfte glaubte, ersuchte diesen, einen Menschen, auf den er einen Haſs geworfen hatte, durch Be - zauberung zu tödten. Hearne, um ihm gefäl - lig zu seyn und ohne übele Folgen zu ahnen, zeichnete verschiedene Figuren auf ein Papierund32und gab dieses an Matonabbi mit der Weisung, dasselbe so bekannt wie möglich zu machen. Der Feind Matonabbi’s, der sich vollkommen wohl befand, hatte kaum von dem Papier ge - hört, als er trübsinnig wurde, sich weigerte Nah - rung zu nehmen und in wenig Tagen starb. Gebt mir einen festen Punkt, sagte Archime - des, und ich will die Erde bewegen! Gleich ihm kann der Unwissendste unter den Aerzten sprechen: Gebt mir eine Handvoll Sand und den festen Glauben der Menschen, dieser Sand sey eine Panacee, und ich will mit jedem Korn desselben eine schwere Krankheit heilen!

Auch bey den Thieren beobachten wir die - ses Gesetz der physischen Wirkungen fixer Ideen. Eine Folge desselben ist es, was Aristotelesh)A. a. O. L. IX. c. 75. bemerkte, daſs in manchen Fällen die Neigungen der Thiere sich nach gewissen Handlungen ver - ändern, so wie sonst ihre Handlungen sich nach ihren Neigungen richten, und daſs jene Verän - derung zuweilen selbst einen Einfluſs auf die Organisation hat. Dies, sagt der Stagirit, ist vorzüglich bey den Vögeln der Fall. Hühner, die einen Hahn überwunden haben, krähen, und versuchen nach Art der Männchen andere Hühner zu besteigen. Auch wächst ihnen der Kamm und der Schwanz, so daſs man nicht mehr33 mehr leicht unterscheiden kann, ob sie Weib - chen sind. Bey einigen sah man sogar kleine Spornen entstehen. Man hat auch Hähne beob - achtet, die, nach dem Verlust der Mutter, für die Jungen mütterliche Sorge trugen, sie her - umführten und fütterten, und aufhörten so - wohl zu krähen, als sich zu begatten. Auf dem nämlichen Gesetz beruht endlich auch die, durch J. Hunter’s Versuche bestätigte Erfahrung, daſs bey der Eselin die Absonderung der Milch nur in Gegenwart ihres Füllens fortdauert, nach der Wegnahme desselben aber aufhörti)Journal of science and the arts. Vol. I. p. 165..

Die zweyte der obigen Fragen, welche die Zweckmäſsigkeit des unbewuſsten und das Regel - lose des bewuſsten, nicht durch Verstand und Vernunft gezügelten Wirkens der bildenden Kraft betrifft, läſst sich aus den im vorigen Buchek)Biologie. Bd. 5. S. 451 fg. enthaltenen Lehren über die dynamische Wech - selwirkung, worin alle lebende Organismen ge - gen einander stehen, beantworten. Wie jene Kraft als Erzeugerin der Ideen durch den Ver - stand und die Vernunft beschränkt und geleitet wird, so ist der dynamische Einfluſs, den die übrige lebende Natur auf sie äuſsert, das Re - gelnde und Bestimmende für sie bey ihrem ma -teriellenVI. Bd. C34teriellen Wirken. In diesem herrscht um so mehr Gleichförmigkeit und Beständigkeit, je viel - seitiger jener Einfluſs ist, wie bey den höhern Thieren. Die materiellen Produkte der bildenden Kraft werden den Produkten der ungezügelten Phantasie um so ähnlicher, je weniger Berüh - rungspunkte sie mit den übrigen lebenden We - sen hat, wie bey den Infusorienl)Die obige Frage warf schon J. C. Scalicer auf, der sich in seinen Exercitat. de subtilitate als den Vorgänger Stahl’s zeigt, indem er die Seele zur wirkenden Ursache aller körperlichen Veränderun - gen macht, und, um die unbewuſsten und doch zweckmäſsigen Handlungen dieses Princips zu er - klären, zwischen Ratio und Ratiocinatio unterschei - det. Einen ähnlichen Unterschied nahm Stahl zwischen λόγος (Intellectus simplex, simplicium, imprimis autem subtilissimorum) und λογισμὸς (Ra - tiocinatio atque comparatio plurium et insuper qui - dem per crassissimas circumstantias sensibiles, vi - sibiles atque tangibiles notorum) an (Theoria me - dic. vera. p. 266.). Gegen diese dunkele Unterschei - dung läſst sich aber erinnern, daſs von Vernunft (Ratio, λόγος) so wenig als von Urtheilen (Ratio - einatio, λογισμὸς) die Rede seyn kann, wo nicht Bewuſstseyn zugegen ist, daſs indeſs wohl eine von der Vernunft verschiedene, jedoch gemeinschaft - lich mit dieser wirkende Kraft unabhängig von der Vernunft Wirkungen hervorbringen kann, dieden.

Frägt35

Frägt man weiter, warum die bildende Kraft nur bey den Thieren im gesunden Zustande ohne Zuthun der höhern Seelenkräfte Vorstellun - gen erzeugt, die sich auf ein zweckmäſsiges Wirken derselben im Materiellen beziehen, bey dem Menschen aber solche Vorstellungen selten anders als in Krankheiten entstehen, so ist die Antwort, weil das Sensorium des Thiers in ei - nem andern Verhältniſs zur äuſsern Welt als das des Menschen steht. Der innere Sinn des letztern ist im gewöhnlichen Zustande blos durch die äuſsern Sinne zugänglich für Eindrücke der Auſsenwelt. Bey dem Thier giebt es in diesem Zustande einen unmittelbaren, dynamischen Ein - fluſs der äuſsern Welt auf den innern Sinn; es wirken Eindrücke auf diesen, wodurch die pro - duktive Einbildungskraft zur Erzeugung von Bildern veranlaſst wird, die ihrer äuſsern Ur - sache entsprechen, denen aber die Objektivität der Sinnesvorstellungen mangelt. Dem Schla - fenden entfällt die Decke, und er träumt von kal - ten Winden, die ihn anwehen, oder von Ver - sinken in beeistem Wasser. Wie hier zu einem sinnlichen Eindruck, dessen sich die Seele nichtbewuſstl)den Schein von Werken der Vernunft haben, in - dem sie nur das Zweckmäſsige hervorzubringen ihrer Natur oder ihren äuſsern Verhältnissen nach gezwungen ist.C 236bewuſst ist, die Phantasie sich ein Bild schafft, das der Ursache des Eindrucks ähnlich ist, so könnte es auch Fälle geben, wo ein äuſserer, nicht zum Bewuſstseyn gelangender Eindruck die Entstehung eines Bildes veranlaſste, das der einwirkenden Ursache nicht blos ähnlich, son - dern selbst gleich wäre. Solche Fälle finden im Schlafwandel statt, und diesem ist der Zustand des instinktmäſsig handelnden Thiers verwandt. Dem innern Sinn des Schlafwandlers schweben seine Umgebungen vor, obgleich seine äuſsern Sinne verschlossen sind: denn er handelt auf gleiche Weise und selbst mit gröſserer Sicher - heit, wie der Hörende und Sehende. So sieht der Vogel, in welchem der Wanderungstrieb er - wacht, das ferne Land vor dem innern Auge, ohnerachtet seine äuſsern Sinne von keinen Ein - drücken getroffen werden, welche dieses Gesicht verursachen könnten. Sein Zustand ist der des Heimwehs, aber des Sehnens nach einer Hei - math, die er, wenn jener Trieb zum ersten mal in ihm erwacht, nur aus traumartigen Bildern kennt. Seine äuſsern Sinne schlafen zwar nicht, wie die des Schlafwandlers, während er den ihm vorschwebenden Phantasien gemäſs handelt. Aber sein Handeln bezieht sich auch nicht, wie das des letztern, auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft, und es ist nicht unwahrschein - lich, daſs auch bey dem Vogel und überhauptbey37bey den Thieren die innere Erscheinung, die den Antrieb zu instinktartiger Thätigkeit aus - macht, zuerst im schlafenden, oder in einem schlafähnlichen Zustande vor den innern Sinn tritt.

Im Schlafwandel findet eine gänzliche Ab - weichung des Lebensverhältnisses der Organe ge - gen einander und gegen die Sinnenwelt von dem gewöhnlichen Zustande statt. Diese ist bey dem Menschen krankhaft, weil gröſsere Kraft und Selbstständigkeit des geistigen Princips das Entstehen derselben im gesunden Zustande ver - hindert. Bey dem Thiere ist ein periodisches Eintreten einer solchen Abweichung dem gesun - den Zustande gemäſs, weil ein weniger mächti - ges und selbstständiges geistiges Princip ihr ent - gegenwirkt. Die Abweichung selber tritt vor - züglich zwischen der Lebensthätigkeit des Sen - soriums und der Zeugungsorgane ein. Ein Vo - gel, der sein Nest gebauet und eine gewisse Zahl Eyer gelegt hat, beschäftigt sich fortan nur mit dem Ausbrüten und Aufziehen seiner Jun - gen, ohne in dieser Zeit weiter zu legen. Wird sein Nest nebst seinen Eyern zerstört, so bauet er jenes von neuem und fängt wieder an zu legen, und wiederholt dieses selbst zum dritten mal, wenn auch die zum zweyten mal gelegtenC 3Eyer38Eyer verloren gehenm)Buffon a. a. O. T. I. p. 55.. Hier ist ein Wechsel von Kraftäuſserungen, die theils physischer, theils geistiger Art sind, ein Wechsel, der die nahe Verwandtschaft und die enge Verbindung des körperlichen und geistigen Zeugungsvermögens auſser Zweifel setzt. So ist auch nur der ge - schlechtslosen Biene und Ameise Kunsttrieb ei - gen. Er fehlt gänzlich der Bienenkönigin und der Drohne, die Zeugungsvermögen und Zeu - gungstrieb besitzen.

Wir haben das Beyspiel der Schlafwandler zur Unterstützung unserer Meinung angeführt. Ehe wir weiter gehen, wird eine Rechtfertigung der Befugniſs, aus mehrern Erscheinungen des Schlafwandels Schlüsse in Beziehung auf unsern Gegenstand herzuleiten, nicht überflüssig seyn.

Es giebt einen von selbst entstehenden, und einen durch Kunst, vermittelst des sogenannten thierischen Magnetismus, zu erregenden Schlaf - wandel. Beyde sind im Wesentlichen nicht ver - schieden. Man findet bey den Schlafwandlern der erstern Art die nämlichen Erscheinungen, welche denen der letztern Art eigen sind, man - che von diesen aber auch in andern Nerven - krankheiten wieder. Ich selber habe eine Kranke zu behandeln gehabt, die, während der Ent -wickelungs -39wickelungsperiode von Convulsionen befallen, nach und nach ohne Anwendung des thierischen Magnetismus in so hohem Grade Schlafwandle - rin wurde, daſs sie fünf Tage und Nächte in diesem Zustande zubrachte, ohne weder zu er - wachen, noch in den natürlichen Schlaf zu ver - fallen.

In allen diesen Fällen von Somnambulismus und besonders in denen, die künstlich hervor - gebracht sind, ist der Mensch mit allen seinen Schwachheiten, Fehlern und Lastern der Gegen - stand der Beobachtung. Die Reinheit der letz - tern wird unfehlbar bald getrübt, indem sich, vorzüglich beym weiblichen Geschlecht, Eitelkeit mit ins Spiel mischt. Männer, die durch Be - schäftigung mit Physik, Chemie und ähnlichen Wissenschaften, wo Strenge der Beobachtung unerläſslich ist, die Erfordernisse sicherer Erfah - rungen kennen gelernt hatten, haben daher die Realität vieler Erscheinungen des Somnambulis - mus bezweifelt, und manche ihrer Zweifel sind allerdings gegründet. Indeſs, die Bedingungen der Erfahrung sind andere für den Arzt, als für den Physiker und Chemiker. Dieser kann die Natur auf die Probe stellen, jener sie nur be - lauschen. Wer da meint, mit dem Menschen umgehen zu können, wie mit dem Teufelchen des Cartesius, das mit dem Kopf oder mit denC 4Füſsen40Füſsen ins Wasser gesteckt immer wieder auf - taucht, hat keinen Begriff von der Erfahrung in der Physiologie. Der Arzt kann nur auf dem Wege der Induktion zu Resultaten gelangen, und für die Sicherheit seiner Erfahrungen kann ihm nur die Beständigkeit der Erscheinungen bey ver - schiedenen Individuen und unter verschiedenen Umständen bürgen. Nach diesen Kennzeichen geprüft, stehen viele Erfahrungen über den Som - nambulismus so fest, wie irgend eine der Heil - kunde. Wer die zahllose Menge der vorhande - nen magnetistischen Beobachtungen gröſstentheils für leere Spreu erklärt, hat gewiſs das Recht auf seiner Seite; wer dem thierischen Magnetis - mus als Heilmittel einen weit eingeschränktern Werth beylegt, als demselben zugeschrieben ist, hat ebenfalls wohl nicht Unrecht; wer aber alle Erscheinungen jenes Zustandes bezweifelt, oder aus den dürftigen Lehren eines psychologischen Compendiums erklären zu können glaubt, würde nicht glauben, wenn er auch selber zum Hell - seher gemacht würde, oder hat von der physi - schen und geistigen Natur des Menschen sehr enge Begriffe. Man hat gemeint, jene Erschei - nungen erklärt zu haben, wenn man sie für Wirkungen einer exaltirten Einbildungskraft aus - gab. Allerdings sind sie dies zum Theil auch, nur nicht Wirkungen der beschränkten Kraft, die gewöhnlich Einbildungskraft heiſst, sondern einerKraft,41Kraft, welche die Erzeugerin der Ideen im Gei - stigen, wie des Organischen im Körperlichen ist; die von der Auſsenwelt durch die Sinnesorgane Eindrücke empfängt, aber nicht leidend diese aufnimmt, sondern selbstthätig ein Inneres her - vorbringt, was dem Aeuſsern entspricht; auf die es in gewissen Zuständen einen andern, unmit - telbaren Einfluſs, als durch die äuſsern Sinne, sowohl der materiellen als der geistigen Auſsen - welt giebt, und welche bey ihrem, nicht durch die Sinneswerkzeuge vermittelten Wirken, auf andere Weise als im gewöhnlichen Zustande ab - hängig von Zeit und Raum ist.

Diese Sätze machen die Basis einer Psycho - logie aus, die für die Naturgeschichte des phy - sischen Lebens Werth hat. Wir werden für jede derselben unsere Gründe angeben.

1. Die produktive Einbildungskraft ist das erzeugende Princip der Ideen im Geistigen wie des Organismus im Körperlichen.

Ueber diesen Punkt haben wir uns schon im Vorhergehenden hinreichend erklärt.

2. Diese Kraft wirkt selbstthätig bey der Aufnahme aller Eindrücke, die sie aus der Sinnenwelt empfängt.

C 5Wie42

Wie die Einbildungskraft die Bilder der Ver - gangenheit reproducirt, so schafft sie auch die der Gegenwart. Daſs wir den letztern Objek - tivität beylegen, hat seinen Grund in dem durch eigene Organe vermittelten Ursprung der - selben. Aber bey dieser Entstehung ist doch Al - les, was sich als Gemeinschaftliches der Vorstel - lung mit dem vorgestellten Gegenstande nach - weisen läſst, blos Gleichheit der Bilder bey Gleichheit der äuſsern Eindrücke. Die Seele sieht nicht das Gemählde auf der Netzhaut wie der Zuschauer die Gestalten in der Camera ob - scura, empfängt nicht die Vorstellung des Schalls von den zitternden Bewegungen des Labyrinth - wassers wie der Zuhörer von den Schwingungen der Saiten einer Zitter. Oft treten selbst Phan - tome vor den innern Sinn, die allen Schein der Objektivität haben und welchen dennoch nichts Objektives entspricht. Ein Trugbild beschied den Brutus zum Wiedersehen bey Philippi; mit einem Trugbilde unterhielt sich Tasso im Kerker. Warum waren diese und ähnliche Er - scheinungen Täuschungen? Doch nur, weil die Vernunft in ihnen die Gesetze der Succession und der Causalität nicht erkannte, unter welchen alle Erscheinungen der Sinnenwelt stehen. Also nur Verstandesbegriffe unterscheiden Wirklichkei - ten von Truggestalten. Jene sind nicht minder als diese Erzeugnisse der schaffenden Einbil -dungs -43dungskraft, aber Erzeugnisse, die nach allgemei - nen, für alle Individuen gleichen Gesetzen ent - stehen, dauern, sich verändern, verschwinden, und von andern veranlaſst, begleitet und ver - drängt werden. An diese Gesetzmäſsigkeit ist das Bewuſstseyn einer Auſsenwelt und einer Ob - jektivität jener Erzeugnisse geknüpft. Die Auſsen - welt bedingt nur das Schaffen der produktiven Kraft im Geistigen wie im Körperlichen; sie ist so wenig Erzeugerin der Vorstellungen, als des körperlichen Organismus.

3. Nicht alles Wissen von der sinnli - chen Welt gelangt zum vorstellenden Princip durch diejenigen äuſsern Sinne, vermittelst welcher wir ein solches Wissen im gewöhnlichen Zustande er - langen. Es giebt Zustände des Men - schen und der Thiere, wo Sinnesvor - stellungen, die objektive Gültigkeit ha - ben, von der produktiven Einbildungs - kraft erzeugt werden, ohne durch die ihnen sonst entsprechenden Sinnesein - drücke erregt zu seyn.

Neue Meinungen, Entdeckungen und Wahr - heiten, die nicht mit den, Generationen hindurch herrschend gewesenen Grundsätzen und Ansich - ten übereinstimmten, hatten immer das Schick -sal,44sal, lange und von allen Seiten angefochten zu werden. In diesem Sträuben gegen das Neue liegt nichts, was der menschlichen Natur zur Unehre gereicht. Durch dasselbe wird mancher Irrthum im Entstehen unterdrückt, und der Sieg der Wahrheit nur aufgehalten, nicht verhindert. Aber es giebt ein anderes Verfahren gegen das Neue in den Wissenschaften, das sich nicht so rechtfertigen läſst: die Gründe des Gegners un - beachtet lassen, oder sogar diese ohne nähere Prüfung als widerlegt behandeln. So benahm man sich gegen die obige Lehre, und so be - nimmt sich Mancher noch gegen sie. Wien - holtn)Ueber den natürlichen Somnambulismus in dessen Heilkraft des thierischen Magnetismus. Th. 3. Ab - theil. 1. S. 1. gab Beweise für sie, die nicht umge - stoſsen sind und denen sich schwerlich erheb - liche Einwürfe entgegensetzen lassen. Und doch ist in den meisten physiologischen und anthro - pologischen Lehrbüchern nicht die Rede von ihr!

In dem sowohl mit, als ohne Hülfe der Kunst entstandenen Somnambulismus werden Handlun - gen von dem Schlafwandler vorgenommen, die den Gebrauch der äuſsern Sinneswerkzeuge, be - sonders des Auges, vorauszusetzen scheinen, und wobey doch jede Möglichkeit dieses Ge - brauchs aufgehoben ist. Er legt weite Wege mitUm -45Umgehung aller ihm aufstoſsenden Hindernisse, und oft rascher als im Wachen zurück. Er be - steigt Mauern, Dächer und andere gefährliche Oerter, worauf den Wachenden schwindeln würde. Er macht Sprünge, Tänze und andere Bewegun - gen mit einer Kraft und Behendigkeit, die weit gröſser als im natürlichen Zustande sind, und an Stellen, die er wachend nicht zu betreten wagen würde. Er unterscheidet Farben, schreibt Aufsätze, Briefe und Musiknoten, und das nicht etwa wie der Sehende, dem die Augen verbun - den sind, mit wankender Hand, sondern gerade, leserlich und mit Beobachtung des gehörigen Zwischenraums der Zeilen, sieht die beendigte Schrift durch und fügt die nöthigen Verbesse - rungen hinzu. Bey diesen und ähnlichen Hand - lungen ist das Auge entweder offen, oder ver - schlossen, aber in beyden Fällen der Augapfel krampfhaft umgewälzt, so daſs nur der Rand der Iris unter dem obern Augenliede hervor - scheint, die Pupille erweitert, und die Netzhaut unempfindlich selbst gegen die heftigsten Reitz - mittel. Kehrte auch auf Augenblicke das Sehe - vermögen zurück, oder fände, wie in der Ver - zuckung, nur Empfänglichkeit des Sehenerven für diejenigen Eindrücke statt, die dem jedesma - ligen Wirkungskreise der Phantasie gerade ent - sprechen, so würde ein solches Sehen doch zur Vollziehung so anhaltender, mannichfaltiger undsicherer46sicherer Handlungen, wie die Schlafwandler wirk - lich vollziehen, ganz unnütz seyn.

Nicht weniger als im Auge ist bey manchen Schlafwandlern auch in den übrigen Sinnesorga - nen alle Reitzbarkeit aufgehoben. Bey andern verhält es sich zwar nicht so. Aber wenn auch das Gehör, das Gefühl u. s. w. in allen Fällen nicht nur ungeschwächt bliebe, sondern selbst noch so sehr an Feinheit zunähme, so würde doch keiner dieser äuſsern Sinne den Schlafwand - ler bey seinen Handlungen leiten können, so lange jener auf die dem Zustande des Wachens gemäſse Art wirkte. Ein Sinn läſst sich durch einen andern bis auf einen gewissen Grad er - setzen, aber bey dieser Wirkungsart nicht plötz - lich, sondern nur allmählich und nach langer Uebung. Der Blinde wird mit dem feinsten Ge - fühl, Gehör u. s. w. auf unbekannten Wegen immer tappend gehen. Der Gang des Schlaf - wandlers aber ist kein Herumtappen, und seine übrigen Handlungen verrathen nichts Erlerntes.

Alles dies ist schon von Wienholt in sei - ner angeführten Schrift weitläuftiger ausgeführt. Ihm schienen auch die Handlungen mancher Thiere, denen die Augen fehlen, oder welche dieser beraubt sind, auf einem ähnlichen Grund wie die des Schlafwandlers zu beruhen. Einigeder47der Beyspiele, die er anführt, lassen wohl eine andere Erklärung zuo)Daſs, wie Wienholt (a. a. O. S. 83.) sagt, das Auge des Maulwurfs nach meinen Untersuchungen eine undurchsichtige, einfache Masse sey, ist eine auf einem Miſsverständniſs beruhende Angabe.. Manche, auf die wir im folgenden Buch zurückkommen werden, sind aber allerdings den Erscheinungen des Somnam - bulismus verwandt.

Welche Erklärung dieser Thatsachen man auch aufsucht, bey keiner wird man volle Be - friedigung finden können. In allen jenen Fällen ist ein Theil der Wirkungen hyperphysischer Art, also einem Gebiet angehörig, in welchem keine Erklärungen möglich sind. Wienholt glaubte eine solche in der Voraussetzung einer den lebenden Körpern eigenen Wirkung in die Ferne, einer Lebenssphäre, gefunden zu haben. Allein diese Hypothese erklärt nicht mehr, als was sich auch erklären läſst, wenn man nicht blos dem lebenden Körper, sondern jeder Materie einen, sich über ihre körperlichen Gränzen hin - aus erstreckenden Wirkungskreis zuschreibt. Nur so viel ist wahrscheinlich, daſs bey jenen Er - scheinungen das veränderte Gefühl auf eine un - gewöhnliche Art von sinnlichen Gegenständen gerührt wird, diese aber nicht der Rührung, son - dern dem Eindrucke gemäſs, den sie unter an -dern48dern Umständen auf ein anderes, für sie jetzt verschlossenes Sinnesorgan hervorgebracht haben würden, vorgestellt werden. Es können z. B. Nerven des Getastes Empfänglichkeit für die Schallschwingungen der Luft erhalten. So lange das Verhältniſs des Organismus zur äuſsern Na - tur im Uebrigen nicht verändert ist, wird der Eindruck des Schalls auf solche Nerven nur als Rührung des Tastsinns empfunden werden. Fin - det aber eine Veränderung jenes Verhältnisses statt, so wird die Seele die Vorstellungen, die sie auf diesem Wege erhält, von Einwirkungen auf den Sinn des Gehörs ableiten, ohne sich je - doch des Ursprungs derselben bewuſst zu seyn.

4. Unter den Thieren besitzen viele in gewissen Perioden, unter den Men - schen manche zu einigen Zeiten, vor - züglich im Schlafwandel, eine Ahnung des Fernen und des Zukünftigen, und ein Wissen dessen, was im gesunden Zustande zu ihrer oder ihrer Nachkom - men Erhaltung, oder in Krankheiten zu ihrer Heilung zu suchen und zu meiden ist.

Niemand hat jene Ahnung und dieses Ge - fühl den Thieren abzusprechen gewagt. Man begriff beyde unter dem Worte Instinkt, denman49man anerkannte, ohne ihn schärfer ins Auge zu fassen. Aber beym Menschen hielt man das Ge - biet desselben für so beschränkt, daſs man kaum seiner in der Naturlehre des menschlichen Organismus Erwähnung zu thun nöthig fand. Indeſs gab es doch schon der Beobachtungen viele von auffallenden Aeuſserungen des Instinkts in Krankheiten des Menschen, und an diese reihete sich eine groſse Zahl der wunderbarsten Erscheinungen seit der Entdeckung des thieri - schen Magnetismus als eines Mittels zur Hervor - bringung des Schlafwandels. Es ist jetzt keiner Widerrede mehr unterworfen, daſs auch im Men - schen unter gewissen Umständen ein höchst re - ger Instinkt erwachen kann. Nur über die Grän - zen dieser Kraft können noch Zweifel statt fin - den. Man kann fragen: Ob bey dem Erwachen derselben Empfindungen, Gefühle und Ahnungen entstehen können, denen nie analoge Erregun - gen der äuſsern Sinne vorhergingen? Ob Rüh - rungen des innern Sinns von Gegenständen mög - lich sind, die sich in einer, weit über die Grän - zen der äuſsern Sinne hinaus liegenden Ferne befinden? Ob sich die Möglichkeit wahrer Vor - empfindungen von künftigen Ereignissen darthun läſst?

Wenn es wahr ist, daſs es noch einen an - dern Zugang der äuſsern Welt zum Empfin -VI. Bd. Ddungs -50dungs - und Vorstellungsvermögen als durch die äuſsern Sinne giebt, und wenn sich aus der Thierwelt Beyspiele von einem Wissen ohne vor - hergegangene Erfahrung, von Empfindungen, die sich auf Dinge in einer Entfernung beziehen, wohin das schärfste Sinnesorgan nicht reichen kann, und von Vorgefühlen des Künftigen an - führen lassen, so ist die Möglichkeit ähnlicher Erscheinungen auch bey dem Menschen bewie - sen, und die Glaubwürdigkeit mancher Beobach - tungen über diese Phänomene gerechtfertigt. Ein solches Beyspiel giebt aber der Wanderungstrieb der Vögel. Das Erwachen dieses Triebes läſst sich aus den Evolutionsgesetzen des thierischen Organismus ohne sonstige Voraussetzungen ab - leiten. Aber daſs derselbe, unangeregt von Einflüssen aus dem Kreise der Umgebungen des Thiers, Handlungen verursacht, die sich nicht nur auf entfernte Gegenstände, sondern auch auf Ereignisse, welche noch nicht vorhanden sind, beziehen, läſst sich nicht ohne ein Ahnungsver - mögen des Fernen und des Künftigen erklären.

Hiernach kann auch über die Möglichkeit von Empfindungen des den Gränzen der äuſsern Sinne Entrückten, von Vorstellungen ohne frü - here analoge Erfahrungen, und von Vorgefühlen beym Menschen keine Frage mehr seyn. Eine andere Frage ist: Ob die vielen Erfahrungen,welche51welche die Wirklichkeit dieser Erscheinungen beym Menschen beweisen sollen, eine strenge Kritik aushalten? Zu einer solchen Prüfung ist hier natürlich der Ort nicht, und ein groſser Theil jener Beobachtungen verdient dieselbe auch nicht. Im Allgemeinen scheint mir so viel ge - wiſs, daſs es keinen zuverlässigen Beweis für Vorgefühle dessen giebt, was ganz der Sphäre des Zufälligen angehört. Das Thier hat keine Vorempfindungen künftiger Ereignisse als nur solcher, welche durch die Gegenwart schon be - dingt sind. Bey dem Menschen verhält es sich wahrscheinlich nicht anders. Doch was zufällig und nicht zufällig ist, wird freylich immer eine schwer zu beantwortende Frage seyn, und daher läſst sich auch nicht jede Erfahrung von Vor - empfindung des scheinbar Zufälligen für ver - werflich erklären.

Es ist ferner wahrscheinlich, daſs das Ein - treffen vieler, den Gang der Krankheit, den Ein - tritt der Paroxysmen und die Zeit der Heilung betreffender Vorhersagungen der Schlafwandler und einiger anderer Kranken aus dem körperli - chen Einfluſs fixer Ideen zu erklären sind; daſs das Vorgefühl nicht durch das künftige Ereigniſs, sondern das letztere durch jenes bestimmt wird. Diese, schon von Brandisp)A. a. O. S. 102. 107. 116. geäuſserte MeinungistD 252ist aber gewiſs nur in vielen, nicht in allen Fäl - len richtig. Manche körperliche Veränderung ist zwar von Ideen abhängig; oft kann die Hei - lung der ganzen Krankheit durch diese gesche - hen. Aber Manches, worauf sich Vorgefühle in Krankheiten beziehen, ist so sehr durch äuſsere Einflüsse bedingt, daſs zwischen der Ahnung und diesen Einflüssen ein Causalverhältniſs statt finden muſs.

Es ist endlich auch nicht zu läugnen, daſs das Wissen gewisser Dinge und der Trieb zu gewissen Handlungen, wozu es nichts Analoges unter den Erfahrungen des vergangenen Lebens giebt, nur aus der Einwirkung des Geistigen auf das Geistige verschiedener Individuen erklärt werden kann. Man hat diese Meinung, die zuerst Villers als einen Erklärungsgrund vieler psychischer Erscheinungen des künstlichen Schlaf - wandels benutzte, ausschweifend genannt. Aber was man auch dagegen einwenden mag, es bleibt doch wahr, daſs viele Kranke in diesem Zu - stande bey ihren Vorhersagungen, Verordnungen und Erklärungen von den Meinungen und dem Sy - stem dessen geleitet werden, unter dessen Einfluſs sie stehen, und zwar geleitet werden, ohne jene aus mündlichen oder schriftlichen Aeuſserungen kennen gelernt zu haben. Und findet denn nicht auch etwas Aehnliches bey den Thierenin53in dem Uebergange der Neigungen, Triebe und Fertigkeiten der Eltern auf die Jungen statt? Woher sonst die gänzliche Verschiedenheit der geistigen Anlagen und Fähigkeiten unter den ver - schiedenen Hunderaçen bey deren gemeinschaft - licher Abkunft von einem einzigen Stamm, der ursprünglich gewiſs ganz andere Naturtriebe hatte? Der Neufundländische Hund hat eine nicht zu zähmende Begierde, Schaafe zu wür - gen und deren Blut zu trinkenq)Annals of Philosophy, by Thomson. 1819. Decbr. p. 473.. Und doch waren seine Voreltern die nämlichen, wie die des treuen Bewahrers der Schaafheerden, des Schäferhundes. Es läſst sich einwenden, daſs es in diesen und ähnlichen Fällen nur Anlagen, Nei - gungen und Fähigkeiten, nicht aber Vorstellun - gen sind, die von den Erzeugern auf die Er - zeugten fortgepflanzt werden. Allein es giebt keine Anlage und Neigung ohne ursprüngliche, obgleich dunkele Vorstellungen. Der Ente, die sich beym ersten Anblick des Wassers in dieses ihr Element stürzt, wenn sie auch von einer Henne aufgezogen und mit deren Jungen auf - gewachsen ist, muſs schon, ehe sie noch ihr Element jemals erblickt hat, ein dunkeles Bild desselben vorschweben: denn nur das Wahrneh -menD 354men dieses Bildes in der Wirklichkeit kann es seyn, wovon es herrührt, daſs sie sich nicht versuchsweise, sondern mit voller Zuversicht ei - nem, bisher ihr fremdartigen Elemente hingiebt.

5. Aus dem Schlafwandel und jedem andern Zustande, wo die Seele, von den äuſsern Sinnen geschieden, in einer Ideenwelt lebt, findet entweder gar keine, oder nur eine dunkele Erinne - rung im gewöhnlichen Sinnenleben statt. Hingegen ist umgekehrt die Erinnerung aus dem letztern im Schlafwandel nicht nur ungeschwächt, sondern selbst oft erhöhet.

Der Schlafwandel des höhern Grades ist be - ständig von dem wachenden Zustande so ganz getrennt, daſs nichts aus demselben in diesen übergeht. Im Somnambulismus des niedern Gra - des findet dieser Mangel an Erinnerung nicht immer statt. Es giebt hier Anomalien, die sich bis jetzt noch nicht unter ein Gesetz bringen las - sen. Das Traumleben und der Zustand der Ek - stase zeigen ähnliche Erscheinungen. Von Ho - ven erzählt in seinem Versuch über die Ner - venkrankheiten (S. 116.) eine Geschichte von ei - nem in der Entwickelungsperiode befindlichen Studirenden, der mehrere Wochen lang, sobalder55er eingeschlafen war, laut zu reden anfing. Der Gegenstand seiner Reden war ein zusammenhän - gender Traum, der in der folgenden Nacht im - mer da wieder anfing, wo er in der zunächst vorhergehenden stehen geblieben war. Der junge Mensch lebte in diesem Traum ein eigenes, von dem wirklichen ganz verschiedenes Leben. Nach dem Erwachen wuſste er sich nichts aus dem Traum zu erinnern. Der Zustand, wobey er übrigens gesund zu seyn schien, verlor sich mit dem Aufhören der Entwickelungsperiode.

Wir kommen jetzt auf unsere Hauptlehre zu - rück, daſs die Kraft, die in uns Ideen erzeugt, die nämliche ist, welche den Bieber seine Dämme, den Vogel sein Nest, die Biene ihre Zellen bauen heiſst, die des Herzens steten Schlag und des Bluts immerwährenden Kreislauf unterhält, die den Embryo aus formloser Materie bildet und denselben nach mannichfaltigen Verwandlun - gen seiner ursprünglichen Gestalt zur höchsten Stufe des physischen Lebens erhebt. Aus den angeführten Thatsachen folgt, daſs die Wirkun - gen dieser Kraft dreyfacher Art sind: physische, die sich blos auf den Organismus beziehen und nicht zum Bewuſstseyn gelangen; physiche, de - ren sich das denkende Princip bewuſst wird, und geistige, die der Sphäre des letztern ange - hören. Auf den Wirkungen der zweyten ArtD 4beruht56beruht der Instinkt. Ob auch jede Wirkung der ersten Art unter gewissen Umständen Gegenstand des Bewuſstseyns werden kann, läſst sich weder bejahen noch verneinen. Auf keine aber, deren sich das denkende Ich bewuſst wird, hat dieses einen unmittelbaren Einfluſs. Es läſst sich ein Zustand als möglich annehmen, wo eine krank - hafte Funktion des Darmcanals, der Leber u. s. w. ihrer Art nach der Seele bewuſst wird. Aber die heilenden Bestrebungen der Natur werden dennoch in diesem Falle, wie in allen übrigen, unabhängig von Schlüssen und Urtheilen erfolgen. Aller unmittelbare Einfluſs des überlegenden, wollenden, begehrenden und verabscheuenden Princips auf den Organismus besteht in Reitzun - gen und in Veränderungen des Grades oder der Qualität der Reitzbarkeit. In dieser Hinsicht ist die moralische Welt eben so wohl etwas Aeuſse - res für den lebenden Körper als die physische. Doch sind ihre Einwirkungen allerdings in meh - rern Beziehungen von einer eigenen Art, die eine nähere Betrachtung verdient.

Jede reitzende Einwirkung des denkenden Princips auf den Körper geschieht durch den Willen. Bloſse Vorstellungen haben keinen Ein - fluſs auf den Organismus, als insofern durch sie Affekten oder Leidenschaften erregt werden, wel - che erhöhend, herabstimmend und qualitativ ver -ändernd57ändernd auf die Reitzbarkeit und auf die Thä - tigkeit der Bildungskraft wirken, und zwar vor - züglich oder ausschlieſslich auf die Reitzbarkeit und Bildungskraft einzelner, für jede Art von Gemüthsbewegung verschiedener Organe. Dieses ist das allgemeine Gesetz, nach welchem alles Wirken des denkenden Ichs auf den Organismus geschieht.

Als Reitz wirkt der Wille auf ähnliche Art wie alle übrige Irritamente. Doch besitzt er das, keinem äuſsern chemischen oder mechani - schen Reitz eigene Vermögen, die ihm unterwor - fenen Muskeln in einem bestimmten Grade von Zusammenziehungr)Force de situation fixe des molécules des fibres musculaires vivantes von Barthez (Nouveaux Elé - ments de la science de l’homme. T. I. p. 77.) ge - nannt. zu erhalten. Nur gewisse innere Reitze wirken auf ähnliche Weise im Te - tanus und der Catalepsie.

Alles willkührliche Wirken auf den Organis - mus findet nur da statt, wo das Resultat des - selben als etwas Objektives durch die äuſsern Sinne zum Bewuſstseyn gelangt. Auf Verände - rungen, die blos subjektiv und nicht Gegen - stände der äuſsern Sinne sind, hat zwar derWilleD 558Wille auch einen Einfluſs, doch nur einen mit - telbaren, indem er Aufmerksamkeit und Erwar - tung erregt. Diese Spannung des innern Sinns ist ein Affekt, der in dem Theil, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist, eine Erhöhung der Reitzbarkeit und so eine Veränderung bewirkt, die zwar in ihrem Erfolg den Schein der Will - kühr haben kann, aber in ihrer Entstehung von den eigentlichen willkührlichen Handlungen ver - schieden ist. Auf diese Weise entstehen alle die innern Veränderungen der Sinnesorgane, welche zum Zweck haben, die letztern dem von ihnen aufzunehmenden Eindrucke anzupassen. Nie - mand ist sich der Anspannung der Muskeln des innern Ohrs beym Horchen auf leise oder ent - fernte Töne, sondern blos des Horchens bewuſst. Den Vögeln hat man das Vermögen zugeschrie - ben, ihre Pupille willkührlich zu verengern und zu erweitern. Das Wahre aber ist, daſs die Iris dieser Thiere sich in einer beständigen Oscilla - tion befindet, worauf jeder Affekt einen weit gröſsern Einfluſs als bey den Säugthieren hat.

Den Affekten und Leidenschaften sind zu - nächst die Organe des vegetativen Lebens, wie dem Willen die dem sensitiven Leben dienen - den Muskeln unterworfen. Jene wirken also auf Theile, die dem Einfluſs der Nervenreitze durch Ganglien entzogen sind. Es ist schon aus die -sem59sem Grunde nicht wahrscheinlich, daſs ihre Ein - wirkung von reitzender Art ist. Die Umwand - lungen, die sie in der Stimmung der Empfin - dungsorgane hervorbringen, beweisen aber auch deutlich, daſs die Reitzbarkeit selber von ihnen verändert wird. Von dem Geschlechtstriebe wird die Reitzbarkeit der Zeugungsorgane, von der Eſslust die der Zungenwärzchen erhöht. Man spricht von getrübten Sinnen, und es giebt in der That eine, zuweilen von körperlichen, öfte - rer aber von Affekten und Leidenschaften ver - ursachte Stimmung der Sinneswerkzeuge, worin kein Schall in seiner Reinheit gehört, kein Ge - genstand in seiner wahren Gestalt erblickt, kurz jeder Reitz anders als im gesunden Zustande empfunden wird.

Jede Gemüthsbewegung wirkt auf den Blut - umlauf und das Athemholen, und zwar entwe - der excitirend oder deprimirend. Beyde Wirkun - gen erstrecken sich entweder auf die Empfäng - lichkeit für Reitze, oder auf das Reaktionsver - mögen, und die Depression tritt entweder un - mittelbar nach dem Affekt, oder als Folge der vorhergegangenen Excitation ein. Eine dauernde Excitation beyder Faktoren der Reitzbarkeit wird von Frohsinn und Hoffnung, eine vorübergehende, welche Depression nach sich zieht, von über - mäſsiger Freude und Zorn hervorgebracht. Schrecken60Schrecken schwächt sowohl die Empfänglichkeit für Reitze, als das Rückwirkungsvermögen; durch Furcht, Kummer und Gram wird dieses eben - falls geschwächt, jene aber oft erhöht. Die Wir - kungen des Schreckens auf die Bewegung des Herzens haben eine merkwürdige Aehnlichkeit mit dem Einfluſs, den das plötzliche Einstoſsen eines Griffels in das Rückenmark auf diese Be - wegung äuſsert. Von der erstern sowohl als der letztern Ursache ist der Erfolg erst Hem - mung des Herzschlags, und dann Abnahme der Stärke desselhen.

Nach dieser Analogie zu schlieſsen würde die Einwirkung der Affekten auf die hämatodi - schen und anapnoischen Bewegungen von den Nerven unmittelbar auf die Reitzbarkeit der zur Hervorbringung dieser Bewegung dienenden Muskeln geschehen. Zum Theil findet eine sol - che unmittelbare Veränderung auch wohl statt. Doch zum Theil scheint jene Einwirkung mit - telbar als Folge einer Abweichung der bildenden Kraft des Bluts und der übrigen thierischen Säfte von ihrer regelmäſsigen Thätigkeit einzutreten. Diese steht ohne allen Zweifel unter dem di - rekten Einfluſs der Gemüthsbewegungen. Von dem Zorn, dem Aerger und Verdruſs wird die Absonderung der Galle, von der Wuth die des Speichels, von der Traurigkeit die der Thränen,und61und von der Furcht die der Darmsäfte ver - mehrt. Hierauf allein beschränkt sich aber nicht die Wirkung der Affekten. Auch die abgeson - derten Säfte selber erleiden Veränderungen, und zwar nicht blos in ihrer Mischung, sondern auch in ihren dynamischen Eigenschaften, Ver - änderungen, bey welchen in manchen Fällen ein Uebergang des Geistigen in das Materielle nicht zu läugnen ist. Dieser zeigt sich deutlich bey der Fortpflanzung der Gemüthseigenschaften des Vaters auf die Kinder. Eine ähnliche Uebertra - gung der Idee auf das Körperliche scheint es aber auch zu seyn, wodurch der Speichel - thender Thiere und selbst des Menschen in ein Gift verwandelt wird, das in dem Gebissenen die Wasserscheu zu verursachen geeignet ists)So erzählt Pouteau, daſs ein Mensch einen andern in heftigem Zorn gebissen habe, der darauf wasser - scheu geworden sey, und die Philosophical Trans - actions enthalten einen Fall von einem Menschen, der an der Wuth starb, nachdem er sich nach ei - nem Spiel, worin ihm Alles verloren gegangen war, aus Verzweifelung in die Hand gebissen hatte..

Stahl sah in den körperlichen Wirkungen der Affekten und Leidenschaften Bestrebungen der thierischen Natur, den nachtheiligen Folgen der Gemüthsbewegungen vorzubeugen, oder dem Einfluſs der letztern eine günstige Richtung fürden62den Organismus zu geben. Unter seinen Lehren ist es vorzüglich diese, die, so allgemein ausge - drückt, wie sie von ihm vorgetragen wurde, sich am leichtesten angreifen läſst und auch am häu - figsten angegriffen ist. Doch, auf gewisse Weise modifizirt, läſst sie sich rechtfertigen. Viele jener Wirkungen, die in einigen Thierfamilien für das Individuum, worin sie vorgehen, zwecklos oder selbst nachtheilig sind, haben in andern Familien allerdings eine Beziehung auf die Erhaltung des Individuums oder der Gattung. Der von Zorn oder Wuth in ein heftiges Gift verwandelte Gei - fer mancher Thiere dient ihnen als Mittel, sich zu vertheidigen, oder ihrer Beute habhaft zu wer - den. Die Lähmung aller Kräfte, die von der Furcht verursacht wird, ist bey einigen Thieren eine Art von Scheintod, wodurch sie sich ihren Verfolgern entziehen, und vermöge des Einflus - ses, den eben dieser Affekt auf die vermehrte Ab - sonderung und Ausscheidung der Darmsäfte hat, excerniren andere eine Flüssigkeit, die ihnen zum Schutz und zur Wehr gegen ihre Feinde dient. Die Wirkung ist also im Thierreiche überhaupt, aber die Zweckmäſsigkeit derselben nur bey ein - zelnen Familien oder Gattungen vorhanden. Es verhält sich mit diesen Erscheinungen auf glei - che Weise, wie mit vielen andern der lebenden Natur. Was die bildende Kraft bey gewissen Formen als Mittel zu bestimmten Zwecken her -vor -63vorbrachte, ist von ihr in geringerm Grade auch verwandten Formen verliehen, obgleich oft bey diesen jene Zwecke dadurch nicht erreichbar sind. Sie gab auch dem Manne die für denselben zwecklosen Brustwarzen. Der Grund liegt in der nothwendigen Beschränktheit alles indivi - duellen Lebens, womit nur relative Zweckmäſsig - keit bestehen konnte, und wobey die Hervorbrin - gung des Zweckmäſsigen dem Gesetz der Bil - dung und Entwickelung des Organischen nach gewissen Urformen untergeordnet ist.

Drit -64

Dritter Abschnitt. Verhältnisse der Seelenkräfte zur Form und Mischung des Organischen.

Erstes Kapitel. Allgemeine Bemerkungen.

Jeder ist geneigt, von dem Aeuſsern auf das Innere zu schlieſsen. Niemand kann sich ent - halten, über den Charakter und die Fähigkeiten eines Unbekannten Vermuthungen nach dessen Gesichtsbildung zu wagen. Wir finden uns oft in diesen Muthmaſsungen getäuscht, und doch läſst sich der Hang zu denselben nicht ganz unterdrücken. Eine Art zu schlieſsen, die unse - rer Natur so gemäſs ist, muſs auf etwas Wah - rem beruhen. Aber bey den vielen Irrthümern, wozu sie verleitet, kann doch die Befugniſs zu jenem Schluſs nicht anders als sehr beschränkt seyn. Es wäre Sache einer wissenschaftlichen Physiognomik, jenes Wahre aufzusuchen, unddiese65diese Beschränkung näher zu bestimmen. Doch alle Versuche, eine solche zu begründen, waren bisher fruchtlos und muſsten es seyn, weil Mit - telglieder zwischen dem Aeuſsern und Innern vorhanden sind, deren Beziehungen auf beyde vorher zu bestimmen gewesen wären, aber un - bestimmt blieben. Unter diesen Mittelgliedern ist das erste und wichtigste das Gehirn nebst dem Rückenmark und den Nerven. Giebt es einen treuen Ausdruck der Kraft in der Bildung des Organs, so muſs derselbe in diesen unmittelba - ren Seelenorganen zu suchen seyn. Manche Gründe unterstützen auch die Hoffnung, ihn hierin zu finden. In der Form und Mischung, kann man sagen, offenbart sich jede Kraft ihrer Art und Energie nach. Das geistige Princip mag sich gegen den Organismus als Ursache oder als Wirkung verhalten, so wird doch des - sen Thätigkeit durch diesen immer bedingt seyn. Die Neigungen und Anlagen der Eltern gehen auf die Kinder über, welches ohne eine Abhän - gigkeit des Geistigen vom Materiellen nicht ge - schehen könnte. Manche Menschen besitzen An - lagen und Fähigkeiten, die offenbar mit gewis - sen Krankheiten, z. B. der Rachitis, in dem Ver - hältniſs von Ursache und Wirkung stehen. Ver - änderungen in der Organisation des Gehirns und der Nerven haben auf das geistige Princip einen Einfluſs, sie mögen von innern oder von äuſsernVI. Bd. EUrsachen66Ursachen herrühren. Die Seele entwickelt sich mit ihren Organen, altert mit denselben und wird mit denselben zerrüttet. Mit den verschie - denen geistigen Eigenschaften der verschiedenen Thierarten sind Verschiedenheiten in der Bil - dung des Gehirns und Nervensystems verbun - den. So läſst sich eine Hoffnung rechtfertigen, deren Erfüllung für die Biologie von hohem Werthe seyn würde, und von ähnlichen Grün - den gingen Gall und Spurzheim bey ihrer Schädellehre aus.

Indeſs, je mehr wir zu hoffen haben, um so gerathener ist es, die Stützen der Hoffnung streng zu prüfen, ehe wir dieser ganz vertrauen und uns den Gefahren der Täuschung hingeben. Eine nähere Untersuchung jener Gründe wird also auf jeden Fall ein verdienstliches Werk seyn, sollte auch der Gewinn mehr in negativen als in positiven Resultaten bestehen.

Zuvörderst ist bey dieser Prüfung zwischen dem sinnlich Erkennbaren und Nicht-Erkennba - ren zu unterscheiden. Wenn man auch ein - räumt, daſs die Form mit der Mischung, und die letztere mit der Kraft in genauer Verbindung steht, so ist doch der Schluſs von dem sinnlich Erkennbaren in der Form und Mischung auf die Kraft noch nicht gerechtfertigt. MehrereBey -67Beyspiele stehen dieser Folgerung entgegen. Selbst in der todten Natur, im Mineralreiche, entspricht nicht immer der Mischung die Form und der Kraft die Mischung, und noch mehr ist dies im Pflanzenreiche der Fall. Unter den Solaneen und den Schirmpflanzen (Umbelliferae), zwey Familien, die zu den natürlichsten des Sy - stems der Vegetabilien gehören, stehen die gif - tigsten Kräuter neben den mildesten. Ist es hier schon so unsicher, von dem Aeuſsern auf das Innere zu schlieſsen, um wie viel gröſser muſs nicht diese Unsicherheit da seyn, wo es die Be - stimmung geistiger Kräfte nach der äuſsern Bil - dung gilt!

Fände aber auch im Mineral - und Pflanzen - reiche allenthalben eine für uns wahrnehmbare, enge Verbindung zwischen dem Aeuſsern und den inwohnenden Kräften statt, so ist doch die Entfernung der intellektuellen Welt von der leb - losen Natur und dem Reiche des unbewuſsten Lebens so groſs, daſs nichts unerlaubter seyn kann, als darum anzunehmen, die erstere müsse sich in der Bildung des Gehirns und der Ner - ven offenbaren. Das Princip des bewuſsten Le - bens steht nicht in einem leidenden Verhältniſs gegen die äuſsere Natur. Daſs diese Kraft Ein - drücke der Sinnenwelt empfängt, und gegen die - selben zurückzuwirken vermag, ist Folge derE 2Organi -68Organisation. Aber daſs sie die äuſsern Ein - drücke nicht aufnimmt und nicht zurückwirft, wie der todte Spiegel die Strahlen der äuſsern Gegenstände, ist Folge einer Selbstthätigkeit, die keine Analogie von der Organisation abzuleiten gestattet.

Allein auch dies bey Seite gesetzt, so blei - ben doch noch andere groſse Schwierigkeiten übrig. Bey den mehrsten der übrigen Organe auſser dem Gehirn giebt es mechanische Zwecke, für welche die Form vorhanden ist. Beym Ge - hirne fehlen diese ganz. Nirgends ist deshalb die Mischung so sehr das Höhere, und die Form das Untergeordnete, als bey diesem Eingeweide. Aber die Mischung desselben kennen wir selbst im Allgemeinen nur höchst oberflächlich, und ihre Verschiedenheit bey den verschiedenen Ar - ten der Thiere und in den verschiedenen Thei - len des Gehirns dürfen wir kaum hoffen, je so weit kennen zu lernen, als nothwendig seyn würde, um irgend ein erhebliches Resultat aus dieser Kenntniſs abzuleiten. Daher ist die Form das Einzige, woraus sich beym Gehirn etwas folgern läſst; aber daher werden auch diese Folgerungen immer sehr beschränkt bleiben. Es ist ferner möglich, daſs im Gehirn und Nerven - system, wie in andern Theilen, gewisse Bildun - gen bey einigen Thieren Folgen von Verwandt -schafts -69schaftsgesetzen sind, welchen die bildende Kraft bey ihrer Thätigkeit unterworfen ist, ohne daſs diese Formen mit denjenigen Funktionen in ge - nauer Beziehung stehen, wofür sie bey andern Thieren bestimmt sind, wie z. B. mit den Brustwarzen des männlichen Geschlechts der Fall ist. Die Bestimmung dieses Verhältnisses muſs weit mehr Schwierigkeiten beym Gehirn wie bey allen übrigen Theilen haben, und so wird die physiologische Erforschung des letztern auch von dieser Seite erschwert seyn.

Wir wissen nichts von den wechselseitigen Einwirkungen des selbstthätigen Princips ver - schiedener Individuen. Deswegen läſst sich auch von dem Angeerbten in den Fähigkeiten und Neigungen kein Beweis für eine Abhängigkeit der letztern von der Organisation hernehmen. Es ist eben so wohl möglich, daſs eine unmittel - bare Einwirkung der Seele des Vaters und der Mutter auf die Seele des Erzeugten beym Zeu - gungsakt, und selbst nach demselben noch statt findet, als daſs dieser Einfluſs mittelbar, durch das Materielle, geschieht.

Die frühere und stärkere Entwickelung der Geisteskräfte in gewissen Krankheiten beweist ebenfalls nichts für eine enge Verbindung des Geistigen mit der Materie; sie läſst sich viel -E 3mehr70mehr zum Beweise des Gegentheils anwenden. Ist die Psyche nichts ohne den Körper, so kann sie nur im gesunden Zustande des letztern mit voller Energie wirken. Besitzt sie eine von diesem unabhängige Selbstthätigkeit, so läſst sich einsehen, wie sie da, wo ihre Wirksamkeit we - niger auf das Organ gerichtet ist, freyer in der Ideenwelt ihre Flügel schwingen kann.

Wichtiger sind die Gründe, die sich von der, mit der Ausbildung und dem Altern des Gehirns in gleichem Verhältniſs fortschreitenden Zu - und Abnahme der Geisteskräfte, von der Zerrüttung der letztern bey Verletzungen des Gehirns, und von der Verschiedenheit der Bil - dung dieses Eingeweides bey den verschiedenen Thierarten hernehmen lassen. Indeſs auch diese Thatsachen lassen sehr verschiedene Folgerungen zu. Es ist eine Annahme, die keiner Erfahrung widerspricht, womit sich im Gegentheil manche Erscheinungen des Schlafwandels in Ueberein - stimmung bringen lassen, daſs der Mensch in seinem irdischen Zustande ein zweyfaches Le - ben führt, ein Leben in der Sinnenwelt wäh - rend des Wachens, und ein anderes in der Welt der Ideen während des tiefen, von Träu - men freyen Schlafs. Die Mittelstufe zwischen beyden ist das Träumen. Aus dem einen Da - seyn findet keine Erinnerung in dem andern,wie71wie aus dem Zustande des Hellsehens der Schlaf - wandler keine im Wachen, statt. Vor dem Le - ben in der Ideenwelt hängt eine nie gelüftete Decke. Vielleicht ist dieses um so reicher, je mehr sich die Seele im Alter von der Sinnen - welt zurückzieht. Dieſs ist zwar nur eine Mög - lichkeit, aber eine solche, der sich nur Möglich - keiten wieder entgegensetzen lassen, und welche hinreicht, um die Voraussetzung einer Selbst - thätigkeit des geistigen Princips zu rechtfertigen, eine Voraussetzung, womit alle Schlüsse von der Organisation der Seelenorgane auf die Seele selber unzuverlässig werden. Den pathologischen Erscheinungen, die sich weiter anführen lassen, um die Abhängigkeit der Seele von dem Ge - hirne darzuthun, stehen eben so viele entgegen, wo die bedeutendsten Verletzungen dieses Ein - geweides ohne bedeutende Störung der Geistes - verrichtungen zugegen waren, so wie andere, wo bey den schwersten Seelenkrankheiten keine Veränderungen der Organisation des Gehirns zu entdecken waren, und noch andere, wo nach Geisteskrankheiten, die Jahre lang gedauert hatten und mit den gröſsten organischen Zer - rüttungen des Gehirns verbunden waren, plötz - lich vor dem Tode oder allmählig in Fie - bern Bewuſstseyn und Vernunft zurückkehrten, von welcher Rückkehr unter andern Scheuch -E 4zer,72zert)Annal. phys. med. Vratislav. Tent. 24., Marshalu)Untersuchungen des Gehirns im Wahnsinn und in der Wasserscheu. Uebers. von Romberg S. 99. und S. Tookev)Zeitschrift für psychische Aerzte, herausgegeben von Nasse. 1820. 3tes Viertelj. S. 677. Beyspiele aufgezeichnet haben. Die Form des Gehirns ist allerdings verschieden bey den verschiedenen Thierarten. Allein diese Verschiedenheiten ste - hen in näherm Zusammenhang mit der übrigen körperlichen Bildung, besonders mit der Struk - tur der Sinneswerkzeuge, als mit den höhern geistigen Kräften. Die Aehnlichkeit der Thiere unter sich von psychologischer Seite ist in man - cher Hinsicht gröſser, und in anderer geringer, als man nach der Aehnlichkeit oder Unähnlich - keit ihres Hirnbaus erwarten sollte.

So wäre denn jedes Forschen nach der Ver - bindung des Geistigen mit der Organisation ein eitles Beginnen? Diese Folgerung würde zu voreilig seyn. Immer bleibt es doch wahr, daſs gewisse Formen der geistigen Thätigkeit mit ge - wissen Bildungen des Gehirns und Nervensy - stems bey den verschiedenen Thiergattungen ver - bunden sind. Wir können allerdings hoffen, auf jenem Felde positive Wahrheiten zu entdecken. Nur ist es nothwendig, nie die Selbstthätigkeit der Kraft, deren Verhältnisse zur Organisationwir73wir zu bestimmen wagen, aus den Augen zu lassen, nie zu vergessen, daſs diese Verhältnisse nur in so weit bestimmbar sind, als jene Kraft bey ihrer organischen Thätigkeit von der Sin - nenwelt abhängig ist, nicht aber in so fern sie sich selber zur Thätigkeit anzuregen vermag. Was z. B. der Mensch als Art in Vergleichung mit den übrigen Thieren nach seiner sinnlichen Natur ist, wird sich vielleicht aus der Bildung seines Gehirns und seiner Nerven erklären las - sen. Aber schwerlich wird es je gelingen, hier - aus die Stufe zu bestimmen, die er als Indivi - duum seinen geistigen Anlagen und Fähigkeiten nach einnimmt; und gelänge auch dies, so würde es doch nur möglich seyn, anzugeben, was der einzelne Mensch ist, nicht aber, was aus ihm werden kann und werden wird. Welches aber auch das Ziel dieser Forschungen seyn mag, so wird ihnen immer eine vergleichende Geschichte der Bildung des Gehirns und Nervensystems auf den verschiedenen Stufen der thierischen Natur zur Grundlage dienen müssen.

E 5Zwey -74

Zweytes Kapitel. Vergleichende Bildungsgeschichte der Organe des geistigen Lebens.

Die räthselhaften Gestalten der geheimen Kam - mer, worin die geistigen Kräfte der thierischen Natur weben und wirken, sind für den Natur - forscher, was die Hieroglyphen der grauen Vorzeit sind für Den, der die Dunkelheit des Alterthums zu erhellen sucht. Dieser steht sinnend vor ei - ner Schrift, mit deren Entzifferung ein Licht in der Geschichte der Vergangenheit angezündet seyn würde; er sucht ihren Schlüssel, und kann nicht ablassen, ihn zu suchen, wie verborgen derselbe auch seyn mag. So reitzen auch jene Gestalten immerfort zu ihrer Betrachtung Den, der sie ein mal hat kennen gelernt. Auch ich habe lange und angestrengt nach ihrer Deutung geforscht. Was mir in Betreff derselben ausge - macht scheint, werde ich hier so gedrängt mit - theilen, als es bey der Schwierigkeit des Ge - genstandes möglich seyn wird. Wegen einiger Punkte, deren umständliche Auseinandersetzung mehr Raum erfordern würde, als die Gränzendieses75dieses Werks zulassen, sey es mir erlaubt, auf meine Untersuchungen über den Bau und die Funktionen des Gehirns, der Ner - ven und der Sinneswerkzeuge in den verschiedenen Classen und Familien des Thierreichsw)Im 3ten Theil der Vermischten Schriften anato - mischen und physiologischen Inhalts von G. R. und L. C. Treviranus. zu verweisen; dagegen werde ich manche andere hier mittheilen, die ich erst seit der Herausgabe dieses Werks bey fortgesetzter Zergliederung des Gehirns verschie - dener Thiere gemacht habe.

Je mehr eine Funktion thierischer Art ist, desto mehr steht sie mit der Organisation des Gehirns und Nervensystems in Verbindung. Je mehr sie dem Gebiet des bewuſsten Lebens an - gehört, desto weniger genau ist sie mit dieser verbunden. Von der Beziehung der Organisation auf die thierischen Funktionen werden daher un - sere Untersuchungen ausgehen müssen.

Diese Funktionen sind theils vegetativer, theils sensitiver Art. Die vegetative Sphäre hat ihre eigenen Nerven, die sensitive ebenfalls. Das Gehirn gehört gröſstentheils dieser an. Das verlängerte Mark und das Rückenmark sind die Verbindungsorgane zwischen dem Nervensystemder76der vegetativen Sphäre und den Hirnorganen und Nerven des sensitiven Lebens.

Das Nervensystem der vegetativen Sphäre hat zwey Hauptstämme. Den einen bildet der sympathische Nerve, den andern der Stimm - nerve. Gleichartig mit diesen wirken diejenigen Nervenzweige, die mit ihnen durch Knoten oder Geflechte verbunden sind. Zum System des sympathischen Nerven gehören daher auch alle mit demselben in organischem Zusammenhange stehende Zweige der Nerven des fünften, sechs - ten, siebenten und zwölften Paars, so wie zu dem des Stimmnerven vorzüglich der Zungen - schlundnerve und der Beynerve, nächst diesem aber auch zum Theil der Antlitznerve und der Zungenfleischnerve. Beyde Systeme sind auch unter einander durch Knoten und Geflechte ver - einigt. Die aus diesen Verbindungen entstehen - den Aeste gehören beyden Systemen gemein - schaftlich an.

Der sympathische Nerve hat bey den Wir - belthieren im Rückenmark, der Stimmnerve im verlängerten Mark seine Wurzeln. Jener ist in den obersten Classen dieser Thiere ausgebildeter und weiter verbreitet, als in den niedern Classen. Dieser ist von gröſserer Ausdehnung bey den Fischen, als bey den übrigen Wirbelthieren.

Eine77

Eine ganz andere Bildung tritt bey den wir - bellosen Thieren ein. Die Spinalganglien bey - der Seiten vereinigen sich hier unter sich und mit dem Rückenmark, indem sie in Verglei - chung mit allen übrigen Theilen ein weit gröſse - res Volumen als bey den höhern Thieren erhal - ten, das Rückenmark hingegen in einen bloſsen Verbindungsstrang dieser Knoten verwandelt wird. Der sympathische Nerve bildet nur noch im Kopfe und im Vordertheile des Rumpfs ein eigenes, doch sehr beschränktes System, dessen Stamm der, zuerst von Swammerdamm bey den Insekten unter dem Namen des rücklaufen - den beschriebene Nerve ist. Das Stimmnerven - system besteht aus mehrern Nervenpaaren des verlängerten Marks, deren Gröſse und Verbrei - tung in den verschiedenen Classen und Familien der wirbellosen Thiere sehr verschieden ist.

Die Organe der sensitiven Sphäre gehören mehrern Stufen an. Die niedrigste Sphäre be - greift die Nerven des bloſsen Gefühls und der willkührlichen Bewegung. Diese gehen gemein - schaftlich mit den Nerven des vegetativen Le - bens aus allen Theilen des verlängerten Marks und Rückenmarks hervor. Eine höhere Stufe nehmen die, aus dem verlängerten Mark ent - springenden Nerven der Zunge ein. Einer noch höhern Sphäre gehören die Nerven des Geruchs,Gesichts78Gesichts und Gehörs an, deren Entstehungsort das Gehirn selber ist.

Bey den wirbellosen Thieren entspringen diese höhern Sinnesnerven mit den übrigen des Kopfs aus einem Fortsatz des verlängerten Marks, welcher, als Hirnring, den Schlund umfaſst. Bey den Würmern und den niedrigern Familien der Mollusken ist dieses Gehirn eine noch we - nig ausgebildete und von den Spinalganglien nur wenig an Gröſse verschiedene Masse. Mehr ausgebildet zeigt sich dasselbe in der Familie der Sepien und bey den Insekten. Bey denen Arten der letztern, die Kunsttriebe besitzen, be - sonders den Hymenopteren, besteht dasselbe aus mehrern Anschwellungen von verschiedener Gröſse und Gestalt, deren jede einem Sinnes - nerven zum Ursprunge dient, und die sich in zwey gröſsern Hemisphären vereinigenx)M. vergl. Biolog. Bd. 5. S. 336.. Diese Halbkugeln flieſsen unmittelbar mit einander zu - sammen, ohne durch ähnliche Commissuren, wie die Hemisphären des Gehirns der Wirbelthiere enthalten, unter sich verbunden zu seyn. Sie haben keine Ventrikel wie die letztern, und je - der sinnesnerve empfängt nur einen einzigen Nerven, der bey einigen Insektenlarven ein bloſser Zweig eines andern Stamms ist. Es ist hiernach zu vermuthen, daſs die sämmtlichenHirn -79Hirnnerven der wirbellosen Thiere den Zweigen des fünften Nervenpaars der Wirbelthiere zu vergleichen sind, welches zum Theil aus dem Mittelpunkte der niedrigsten Sphäre des sensiti - ven Lebens, aus dem verlängerten Marke, ent - springt, und welches bey allen Wirbelthieren ebenfalls zu den sämmtlichen Sinnesorganen geht, indem aber hier auſserdem noch jedes von diesen einen eigenen Hauptnerven aus dem groſsen Gehirne empfängty)M. vergl. Verm. Schriften von. G. R. und L. C. Tr. Th. 3. S. 57..

In der Lage, Gestalt, Verbindung und Gröſse der verschiedenen Theile des Nervensystems der wirbellosen Thiere finden eben so groſse Ver - schiedenheiten wie in dem Bau ihres ganzen Körpers statt, und jene stehen immer mit die - sem in sehr genauer Beziehung. Das Gehirn ist immer auf beyden Seiten von symmetrischer Bildung. In der Lage, Verbindung und Gestalt der Spinalganglien findet ebenfalls Symmetrie bey den Insekten und Würmern statt, nicht aber bey den Mollusken. Bey den letztern ha - ben auch nicht alle, auf beyden Seiten des Ge - hirns entspringende Nerven, sondern nur dieje - nigen, die zu symmetrischen Organen gehen, z. B. in der Familie der Sepien und Schnecken die Sehenerven, eine gleiche Bildung. Die Lageund80und Verbindung der Spinalganglien richtet sich immer nach der Gestalt des Rumpfs. In denje - nigen Familien der Insekten und Würmer, die einen cylindrischen, aus gleichartigen Ringen be - stehenden Rumpf besitzen, machen diese Kno - ten in ihrer Vereinigung einen geraden Strang aus, der eben so viele Knoten hat, als es Ringe giebt. Bey den Spinnen und Phalangien, deren Körper sich in der Gestalt dem Oval oder der Kugel nähert, und nicht gegliedert ist, liegen sie entweder strahlenförmig um einen gemein - schaftlichen Hauptknoten, oder paarweise zu beyden Seiten des Körpers. Alle Insekten und Würmer haben auch Spinalganglien, die gleich dem ganzen Körper aus symmetrischen Hälften bestehen. In der Classe der Mollusken hingegen fehlt auch diese Symmetrie an mehrern jener Ganglien.

So weit steht die Form des Nervensystems bey den wirbellosen Thieren mit der Beschaffen - heit der übrigen Organisation in Verbindung. Aus der Zahl und Gröſse der Sinnesnerven, der gröſsern oder geringern Ausbildung und der Ver - schiedenheit der Anschwellungen des Gehirns, woraus sie entspringen, dem Verhältniſs dieser Theile gegen die Centralmasse des letztern, und des ganzen Gehirns gegen die Knoten und Ner - ven des Rückenmarks, besonders gegen die Ner -ven81ven des vegetativen Lebens, läſst sich auch im Allgemeinen auf die Stufe schlieſsen, die das Thier in Betreff der sensoriellen Fähigkeiten ein - nimmt. Aber die Art, wie diese Fähigkeiten bey jeder Gattung modifizirt sind, ist hieraus nicht für uns erkennbar.

Bey den Wirbelthieren treten Veränderungen des ganzen Nervensystems ein, die gröſser als in einem der übrigen organischen Systeme sind. Die Spinalganglien sondern sich vom Rücken - marke ab, und jeder einzelne trennt sich in zwey verschiedene Knoten, die auſserhalb dem Canal der Wirbelsäule zu beyden Seiten derselben ihre Stelle erhalten. Sie bekommen zugleich ein sehr geringes, dem, welches sie bey den wir - bellosen Thieren hatten, ganz entgegengesetztes Verhältniſs gegen das Rückenmark. Dieses wird zu einem unmittelbaren, von keinen ungleichar - tigen Theilen unterbrochenen Fortsatz des ver - längerten Marks, und bekömmt nebst den Spi - nalganglien seine Lage nicht mehr unterhalb dem Darmcanal, sondern längs dem Rücken. Der sympathische Nerve, der bey den wirbellosen Thieren sich nur bis zum Magen erstreckt und mit den Spinalganglien des Bauchs keinen Zu - sammenhang hat, verbreitet sich durch den gan - zen Rumpf und tritt mit jedem dieser Knoten in Verbindung. Das Gehirn bildet nicht mehrVI. Bd. Feinen82einen Ring, durch welchen der Schlund dringt, sondern liegt ganz oberhalb demselben und be - steht aus mehrern ungleichartigen Theilen, die mit einander so verbunden sind, daſs sie Höh - lungen (Ventrikel) einschlieſsen. Alle Wirbel - thiere haben wenigstens fünf solcher Haupttheile: zwey vordere Hemisphären, zwey hintere, und ein kleines Gehirn. Mit der Basis des Gehirns ist ein Hirnanhang, mit der obern Seite eine Zirbel verbunden. Von den gleichartigen Thei - len beyder Hirnhälften stehen mehrere durch eigene Verbindungsorgane (Commissuren) mit einander in Zusammenhang. Jedes Sinnesorgan, mit Ausnahme der Organe des Getastes, erhält auſser Zweigen des fünften Nervenpaars noch einen eigenen, blos für dasselbe bestimmten Nerven, von welchen der des Geruchs an den vordern Hemisphären, der des Gesichts an den hintern Hemisphären, und der des Gehörs in der Nähe des kleinen Gehirns entspringt.

Diese gemeinschaftlichen Charaktere sind nach der höhern oder niedrigern Stufe, auf welcher jede Familie und Gattung der Wirbel - thiere steht, verschiedentlich abgeändert. Das verlängerte Mark nimmt in Verhältniſs gegen das übrige Gehirn desto mehr sowohl an Um - fang als an Masse ab, je höher diese Stufe ist, und unter den Dimensionen jener Organe ist esbey(Zu S. 83. Note z)). Erste Tafel. Gewichtsverhältnisse der Haupttheile des Gehirns, und des Rückenmarks verschiedener Thiere, nach des Verfassers Abwägungen.

(Zu S. 83. Note z)). Zweyte Tafel. Dimensionen der Haupttheile des Gehirns verschiedener Thiere, nach des Verfassers Ausmessungen.

83bey den meisten die Breite, bey einigen aber auch die Länge, deren Veränderungen den Ver - änderungen ihrer Masse vorzüglich entsprechenz)Belege zu diesen Sätzen und zu dem, was ich über das Verhältniſs der verschiedenen Hirntheile und des Rückenmarks zum verlängerten Mark noch weiter bemerken werde, enthalten die beyden, zur gegenwärtigen Seite gehörigen Tafeln. In beyden ist bey allen Thieren das Hinterhauptsloch für die hintere, und bey den Säugthieren ein senkrechter, durch den hintern Rand der Brücke gemachter Durchschnitt für die vordere Gränze des verlänger - ten Marks angenommen. Ferner ist bey den Säug - thieren die Brücke mit zum groſsen Gehirn gerech - net, und das Gewicht aller Theile nach möglichst sorgfältiger Absonderung ihrer Hänte und der aus ihnen entspringenden Nerven bestimmt. Die Thiere sind darin nach ihren Classen, und in jeder Classe nach dem Gewichtsverhältniſs des verlängerten Marks zum übrigen Gehirn geordnet, doch mit einigen Ausnahmen bey den Vögeln, wo dieses Verhältniſs nach dem Alter und Geschlecht sehr wechselt. Die erste senkrechte Zahlenreihe der ersten Tafel ent - hält das absolute Gewicht des verlängerten Marks in Granen Nürnberger Apothekergewichts. In den acht folgenden Reihen ist, zur Ersparung des Raums, blos das relative Gewicht der übrigen Hirn - organe in Decimaltheilen des = 1 gesetzten Ge - wichts des verlängerten Marks angegeben. In den eilf ersten, senkrechten Zahlenreihen der zweytenTafel. MitF 284Mit jener Abnahme wird der Fortgang der Hirn - schenkel in den hintern und vordern Hemisphä - ren immer mehr unterbrochen. Bey den nie - drigsten Gattungen der Fische haben diese Halb - kugeln das Ansehn von bloſsen Seitenanhängen der Hirnschenkel; bey den Säugthieren sind die letztern mit denjenigen Organen, welche an die Stelle jener Hemisphären treten, gänzlich ver - flochten. Auf den untern Stufen der Wirbel - thiere hat jeder einzelne Hirntheil eine Höhlung: aber alle zusammen schlieſsen nicht eine ge - meinschaftliche Cavität ein; auf den höhern Stu - fen ist umgekehrt das Einzelne solide, und das Ganze hat Zwischenräume zwischen den äuſsern Flächen der einzelnen Theile. Indem diese ge - meinschaftlichen Zwischenräume entstehen, bil - det sich zugleich eine gemeinschaftliche, aus Hirnsubstanz bestehende Decke für die hintern und vordern Hemisphären. Die Commissuren beyder Hirnhälften werden vergröſsert und ver - vielfältigt, und auſserdem treten auch alle un - gleichartige Theile in immer nähere Verbindung durch Radiationen (Ausbreitungen der Fasern ei -nerz)Tafel ist die gröſste Breite des verlängerten Marks für die Einheit angenommen, und unter den drey Dimensionen jedes Organs sind diejenigen zu Ver - hältniſszahlen ausgewählt, deren Veränderungen mit den Veränderungen der Masse des Organs am näch - sten übereinstimmen.85ner Anhäufung von Mark), besonders durch gröſsere Ausbildung und weitere Verbreitung des Fornix. Die Hirnnerven, vorzüglich die - hern Sinnesnerven, erlangen immer mehr Zu - sammenhang mit dem ganzen Gehirn, so daſs jeder in gewissen einzelnen Hirnorganen nur seinen Hauptursprung hat, keiner aber aus die - sem allein entspringt.

Jede Classe der Wirbelthiere besitzt ferner charakteristische Eigenthümlichkeiten in der Bil - dung des Gehirns und Rückenmarks.

Bey den Fischen finden wir ein sympathi - sches System, welches weit weniger entwickelt ist, als bey den höhern Thieren, und woran die Ganglien entweder ganz fehlen, oder doch sehr klein sind. Um so gröſser ist hingegen das herumschweifende Paar, und vorzüglich zeichnet sich dasselbe durch einen, längs der ganzen Sei - tenlinie des Körpers fortgehenden Zweig aus, vermöge welchem der Einfluſs dieser Nerven nicht blos, wie bey den Säugthieren und - geln, auf die Eingeweide der Brust und der Oberbauchsgegend beschränkt ist. Am groſsen Gehirn haben die hintern Hemisphären an inne - rer Ausbildung, und häufig auch an Umfang, den Vorrang vor den vordern. In jenen giebt es Organe, die mit den Vierhügeln der SäugthiereF 3eine86eine groſse Aehnlichkeit haben. Die vordern Hemisphären sind beym Ursprunge der Geruchs - nerven oft durch Queereinschnitte in mehrere Anschwellungen getheilt. Doch ist jede Abthei - lung von einförmigem innerm Bau. Das kleine Gehirn hat bey vielen Arten eine nicht geringe Masse in Verhältniſs zum groſsen Gehirn, ist aber gewöhnlich sowohl im Aeuſsern, als im In - nern sehr wenig ausgebildet.

Mit den untersten Ordnungen der Amphi - bien (den Fröschen, den Salamandern, dem Pro - teus und den Schlangen) haben die Rochen und die Hayen, wie in mehrern andern Stücken, so auch in neurologischer Hinsicht eine sehr nahe Verwandtschaft. Auf der andern Seite gränzt die Classe der Amphibien durch ihre höhern Ordnungen (die Crocodile und Schildkröten) in eben dieser Rücksicht nahe an die Vögel. Der sympathische Nerve ist hier schon weit gröſser und entwickelter, der Stimmnerve hingegen in seiner Verbreitung mehr beschränkt, als bey den Fischen. Die vordern Hemisphären treten in Hinsicht auf ihren Umfang und ihre innere Entwickelung in ein Verhältniſs, welches das entgegengesetzte von dem ist, worin sie zu die - sen bey den Fischen stehen. Sie sind hier hohle, leere, von einer aus Mark und Rinde bestehen - den Decke umschlossene, unmittelbar in einanderüber -87übergehende Blasen. In jeder vordern Hemi - sphäre hingegen giebt es einen eigenen Kern, und beyde Halbkugeln sind nicht, wie bey den Fischen, blos durch einfache, eine vordere Com - missur ausmachende Fasernstränge, sondern auch durch eine länglichrunde oder halbmondförmige Platte, ein Rudiment des Fornix der höhern Thiere, mit einander verbundena)Früher habe ich geglaubt, die Gegenwart des For - nix sey auf die Säugthiere und Vögel beschränkt (Verm. Schriften. Th. 3. S. 38.). Bey Untersuchun - gen des Crocodilgehirns fand ich aber das obige Organ, das mit dem Fornix des Vogelgehirns ganz übereinkömmt, und dessen Stelle bey den übrigen Amphibien eine halbmondförmige Platte einnimmt.. Das kleine Gehirn ist bey vielen Arten in Verhältniſs zum groſsen Gehirn weit kleiner, bey den übrigen in dieser Rücksicht nicht gröſser, wie bey vielen Fischen.

Am Gehirn der Vögel ist ein Hauptcharakter ein groſses Uebergewicht der vordern Hemi - sphären über alle übrige Theile dieses Eingewei - des sowohl an Masse, als an Umfang. In und an dem Kern, den jene Organe enthalten, giebt es strahlenförmige Ausbreitungen von Marksub - stanz, die bey den niedern Thierclassen noch nicht deutlich bemerkbar sind. Die vordereCom -F 488Commissur ist hier weit stärker und das Ge - wölbe mehr entwickelt, als bey den Amphibien. Die strahlige Scheidewand, welche die Decke beyder vordern Hemisphären mit dem Gewölbe verbindet, ist die Vorbildung des Balkens der Säugthiereb)Verm. Schriften von G. R. und L. C. Tr. Th. 3. S. 25. 26.. Die hintern Hemisphären bestehen auswendig aus abwechselnden Schichten von Mark und Rinde, inwendig aus einem, gröſs - tentheils markigen Kern. Sie gehen nicht un - mittelbar in einander über, sondern jede dersel - ben hat einen soliden Vordertheil, der mit den Hirnschenkeln und dem Kern der vordern He - misphären seiner Seite zusammenflieſst. Die Ver - bindung zwischen beyden geschieht durch eine breite, zahlreiche markige Queerfasern enthal - tende Binde, die sich hinten in eine, dem vier - ten Nervenpaar zum Ursprunge dienende Hirn - klappe fortsetzt, und unter sich, auf dem Grunde des Ventrikels, den sie bedeckt, zwey Paar kleine Hervorragungen hat, die in Verbindung mit ihr bey den Säugthieren sich zu den Vierhügeln entwickelnc)Ebendas. S. 30.. Unter oder vor dem vordern Ende dieser Binde liegt eine einfache oder dop - pelte hintere Commissur, die den Amphibien und Fischen noch fehlt. Das kleine Gehirn ist durchparal -89parallele Queereinschnitte abgetheilt und enthält inwendig einen Lebensbaum, hat aber statt der groſsen Seitentheile des kleinen Gehirns der Säugthiere auf jeder Seite blos eine zapfenför - mige Hervorragung, worin sich jene Einschnitte mit spiralförmiger Krümmung endigen, und ist blos dem Wurm des Cerebellum der Säugthiere zu vergleichen. An dem verlängerten Mark tre - ten die Fortsätze zum kleinen Gehirn deutlicher als bey den Amphibien und Fischen hervor; das hintere Ende desselben geht nicht so allmählig wie bey diesen in das Rückenmark über.

Bey den Säugthieren hört der Unterschied zwischen vordern und hintern Hemisphären des groſsen Gehirns auf. Die innern Organe dieser Theile werden von einer gemeinschaftlichen, auswendig aus Rinde, inwendig aus Mark be - stehenden Decke umschlossen, und es bildet sich unter dieser Decke ein groſses Vereinigungsor - gan beyder Hälften des groſsen Gehirns, der Bal - ken. Der Kern jeder hintern Hemisphäre des Vogelgehirns nebst dessen Schenkel geht in den Sehehügel (Thalamus nervi optici) überd)Verm. Schriften von G. R. und L. C. Tr. Th. 3. S. 26 fg.. Aus dem hintern Theil des Kerns der vordern He - misphären des Vogelgehirns entsteht bey den Säug -thierenF 590thieren der gestreifte Körper. An der Auſsen - seite des Sehehügels und des gestreiften Körpers zeigt sich ein Organ, das in den vorhergehen - den Thierclassen noch gar nicht, oder nur erst sehr undeutlich zu erkennen ist, der gerollte Wulst (Hippocampus, Cornu Ammonis). Das bey den Vögeln noch sehr kleine Gewölbe wird ein weit sich verbreitendes und mehrere verschie - dene Hirntheile, besonders die weiſslichen - gel (Eminentiae candicantes), die vordern und hintern Lappen des groſsen Gehirns, den Balken und die gerollten Wulste mit einander verbin - dendes Organ. Aus der Queerbinde der hintern Hemisphären des Vogelgehirns und den, unter derselben liegenden, vier kleinen Erhöhungen entwickeln sich die Vierhügel. Das kleine Ge - hirn bekömmt runde Seitentheile, die bey vielen Säugthieren das Mittelstück (den Wurm) an Masse weit übertreffen, und im Innern eine ähn - liche baumförmige Verzweigung des Marks in der Rinde wie das letztere enthalten. Mit die - sen Seitentheilen erscheint auf der Basis des Gehirns ein besonderes Verbindungsorgan dersel - ben, die Varolische Brücke, durch welche zu - gleich die aus dem verlängerten Mark kommen - den Markbündel dringen. Das verlängerte Mark besteht aus zahlreichern Faserbündeln, als bey den Thieren der untern Classen, und bey al - len Säugthieren lassen sich an demselben Py -rami -91ramidalstränge und strickförmige Körper erken - nen.

Wir würden die Gränzen dieses Werks weit überschreiten, wenn wir die Modifikationen der sämmtlichen einzelnen Theile des Gehirns und Nervensystems durch alle Familien jeder Thier - classe verfolgen wollten. Es würde uns hierzu auch noch an hinreichenden Beobachtungen feh - len. Nur für die verschiedenen Ordnungen der Säugthiere werden wir neurologische Charaktere anzugeben versuchen. In Betreff der übrigen Thierclassen müssen wir uns auf einige allge - meine Bemerkungen einschränken.

Bey den wirbellosen Thieren, wo das Ge - hirn noch auf einer geringen Stufe der Ausbil - dung steht, ist dessen Bau zwar in jeder ein - zelnen Ordnung von eigener Art. Doch bezie - hen sich die Verschiedenheiten dieses Eingewei - des vorzüglich nur auf das Verhältniſs der Masse desselben gegen die der übrigen Theile des Nervensystems, auf die Zahl der daraus ent - springenden Nerven, auf die Gröſse der einzel - nen Anschwellungen, aus welchen diese hervor - kommen, und auf die Weite der Oeffnung, durch welche der Schlund geht. Abänderungen im in - nern Bau sind, wenn auch hier vorhanden, doch nicht für uns erkennbar. Die meisten und gröſs -ten92ten Unterschiede des Gehirns finden sich in den verschiedenen Familien und Geschlechtern der Insekten. Auffallender als am Gehirn zeigen sich an den Rückenmarksknoten der wirbellosen Thiere die Verschiedenheiten der Ordnungen und Geschlechter. Die Zahl und Gröſse dieser Ganglien steht immer mit der äuſsern Organisa - tion in sehr genauer Beziehung.

Es ist merkwürdig, daſs unter den Wirhel - thieren die Mannichfaltigkeit der Struktur des Gehirns in den verschiedenen Familien und Ge - schlechtern jeder Classe nicht von dem Grade der Ausbildung abhängt, den dasselbe in dieser Classe besitzt. Jene Mannichfaltigkeit ist gerade am gröſsten auf der untersten Stufe der Aus - bildung des Gehirns, bey den Fischen. Selbst Arten eines und desselben Geschlechts dieser Thiere weichen oft mehr im Baue des Gehirns von einander ab, als verschiedene Geschlechter der höhern Classen.

Die generische Verschiedenheit der Gehirne ist bey den Amphibien ebenfalls noch groſs, doch nicht so groſs mehr die specifische. Das einfachste Gehirn besitzen in dieser Classe die Amphisbänen. Zusammengesetzter wird es bey den übrigen Schlangen, mit welchen der Proteus, die Salamander, die Frösche und Kröten imHirn -93Hirnbau zunächst verwandt sind. An die letz - tern schlieſst sich die Familie der Schildkröten näher als die der Eidechsen an. Einige Ge - schlechter von diesen haben zwar ein einfache - res Gehirn als manche Schildkröten; andere aber, besonders die Crocodile, kommen in der Struk - tur des Gehirns sehr nahe mit den Vögeln überein.

Bey den Vögeln herrscht eine gröſsere Ein - förmigkeit in diesem Bau als bey allen übrigen Thieren. Die Verschiedenheit ihres Gehirns be - ruht fast ganz auf dem verschiedenen Gröſsen - verhältniſs der Theile desselben. Nur an den Einschnitten ihres kleinen Gehirns findet auch ein verschiedenes Zahlenverhältniſs statt. Der Unterschied des Verhältnisses der Hirnorgane in Betreff der Masse beträgt selbst bey Arten, die einander im äuſsern Bau und in der Lebens - weise sehr unähnlich sind, oft nur einen gerin - gen Theil des zur Einheit angenommenen Ge - wichts des verlängerten Marks, und wechselt weit mehr, als bey den Säugthieren, nach der Verschiedenheit des Alters und Geschlechts. Es hält unter diesen Umständen schwer, blos nach dem Hirnbau die Stufenfolge dieser Thiere an - zugeben. Im Allgemeinen lassen sie sich indeſs nach der Gröſse des verlängerten Marks in Ver - hältniſs zum übrigen Gehirn, und des groſsenGehirns94Gehirns zum kleinen Gehirn, ordnen. Das eine Ende der Reihe, die sie bilden, nehmen die Raubvögel ein, die ein sehr kleines verlängertes Mark in Vergleichung mit dem groſsen sowohl, als dem kleinen Gehirn haben; das andere die Schwimmvögel, deren verlängertes Mark in die - ser Beziehung sehr groſs ist. Bey den Raub - vögeln hat das groſse Gehirn ein groſses Mas - senverhältniſs gegen das kleine Gehirn. Auf sie folgen die Klettervögel, die sperlingsartigen - gel, die Familie der Hühner, und die Sumpf - vögel. Bey den Wasservögeln nimmt das kleine Gehirn, verglichen mit dem groſsen, und zu - gleich das verlängerte Mark in Vergleichung mit dem ganzen übrigen Gehirn, wieder an Gewicht zu. Die hühnerartigen Vögel, die Sumpfvögel und die Schwimmvögel unterscheiden sich auch von den übrigen Ordnungen noch darin, daſs bey ihnen das verlängerte Mark allmählig ver - schmälert in das Rückenmark übergeht, da hin - gegen bey den übrigen Vögeln das untere Ende des verlängerten Marks viel breiter als der An - fang des Rückenmarks ist.

Die Säugthiere lassen sich, wenn man den Menschen an ihre Spitze stellt, in Rücksicht auf den Hirnbau in zwey Reihen ordnen, deren Glieder so übereinstimmend mit ihrem Habitus und ihrer Lebensweise auf einander folgen, daſsdie95die hohe Wichtigkeit der encephalotomischen Charaktere bey der Eintheilung der Wirbelthiere dadurch aufs einleuchtendste bewiesen wird. In der ersten Reihe folgen zunächst auf den Men - schen die Affen, und dann die Makis (Lemur). Diesen steht zunächst der Coati (Nasua Narica Storr. ), dessen naher Verwandter der Waschbär ist. An den letztern schlieſst sich der Bär, von welchem der Dachs den Uebergang zu dem Hunde, dem Fuchs, der Katze, dem Marder und Iltis macht. Die nächste Stelle nehmen der Igel, der Maulwurf und die Spitzmaus (Sorex), und den untersten Platz dieser ersten Reihe die Fle - dermäuse ein, die eben so im Hirnbau wie in der äuſsern Gestalt ein Bindungsglied der Säug - thiere mit den Vögeln sind. In der zweyten Reihe erhebt sich wieder die Organisation des Gehirns von niedrigen Stufen zu höhern, auf denen mehrere Hirntheile ein anderes gegensei - tiges Verhältniſs als auf den vorigen haben, wel - che jedoch immer unter den höhern Stufen der ersten Reihe bleiben. Sie fängt mit den Nage - thieren an, geht von diesen durch den Hasen zu den Wiederkäuern und Einhufern über. Dann folgen die schweineartigen Thiere (Bel - luae Blumenb. Pachydermata Cuv. ), die Robben und Wallrosse, und endlich die Wallfische. Welche Plätze in dieser Folge den Beutelthieren, den Faulthieren, Ameisenbären, Gürtel -, Schup -pen -96pen - und Schnabelthieren gebühren, werden künftige Untersuchungen lehren.

Das oberste Glied der ersten Reihe, der Mensch, besitzt ein gröſseres sowohl groſses als kleines Gehirn in Verhältniſs zum verlängerten Mark, als alle übrige Glieder sowohl dieser er - sten als der zweyten Reihe. Das groſse Gehirn besteht aus vordern, mittlern und hintern Lap - pen. Die Windungen desselben sind zahlreicher als bey allen übrigen Thieren, und in beyden Hirnhälften unsymmetrisch. Das Innere jeder dieser Hemisphären enthält mehr Mark in Ver - gleichung mit der Masse der grauen Substanz, und die Farbe beyder Substanzen ist mehr von einander abstechend, als in dem Gehirn eines andern Thiers. Das kleine Gehirn hat ein gröſse - res Verhältniſs der Seitentheile zum Wurm in Betreff des Umfangs und der Masse, so wie auch ihrer Breite zur Höhe des Ganzen, und zahlreichere Blätter, als im ganzen übrigen Thier - reiche. Von den verschiedenen Lappen dessel - ben sind die Mandeln ein ausschlieſsliches Ei - genthum des Menschen. Am verlängerten Mark giebt es nur bey ihm Hervorragungen, die von wirklicher olivenförmiger Gestalt sind und einen Kern von ausgezeichneter Gestalt enthalten. Auf der Basis des Gehirns findet man eine gröſsere Brücke als bey allen übrigen Säugthieren, dage -gen97gen aber einen sehr beschränkten Raum zwischen der Vereinigung der Sehenerven und dem vor - dern Rand der Brücke; zwey nur kleine, doch deutlich von einander getrennte und kugelför - mige, weiſsliche Erhabenheiten, und Geruchs - nerven, die während ihres ganzen Verlaufs mit den vordern Hirnlappen in keiner Verbindung stehen. Von den innern Organen des Gehirns haben der Balken, die gestreiften Körper und die Sehehügel, nicht aber die gerollten Wulste und die Vierhügel, eben so wie das ganze groſse und kleine Gehirn und wie die Brücke, ein gröſseres Verhältniſs zum verlängerten Mark als auf den übrigen Stufen der Säugthierclasse. Das Gewölbe ist in Vergleichung mit dem gan - zen Gehirn länger, aber nicht breiter, als bey den untern Thieren. Die vordere Hirncommis - sur geht zur Sylvischen Grube, ohne mit den Wurzeln der Geruchsnerven unmittelbaren Zu - sammenhang zu haben. Die Sehehügel stehen auf ihrer ganzen untern Fläche mit den Hirn - windungen in Verbindung. Die gerollten Wulste erstrecken sich nicht weiter als bis zur äuſsern Hervorragung dieser Hügel. Von den Vierhü - geln ist das hintere Paar von ähnlicher, läng - lichrunder Gestalt, und fast von demselben Um - fange, wie das vordere.

VI. Bd. GDiese98

Diese Charaktere des Menschengehirns ver - ändern sich auf folgende Art bey den übrigen Gliedern der beyden erwähnten Reihen.

In der ersten Reihe nimmt von dem Men - schen an bis zu den Fledermäusen das groſse Gehirn mehr, oder doch eben so sehr, wie das kleine, in Verhältniſs gegen das verlängerte Mark an Masse ab. In der zweyten Reihe tritt wie - der eine Zunahme sowohl des groſsen als des kleinen Gehirns in Vergleichung mit dem ver - längerten Mark ein. Doch bleiben beyde in die - ser Beziehung immer weit kleiner, als bey den höhern Thieren der ersten Reihe.

Die Abnahme des groſsen Gehirns geschieht durch Verkürzung desselben nach allen Dimen - sionen. Indem es in der Länge abnimmt, ver - schwinden die hintern Lappen desselben, welche blos noch die Affen mit dem Menschen gemein haben, und die obere Fläche des kleinen Ge - hirns wird immer mehr von jenen entblöſst, so daſs bey den Fledermäusen nicht nur diese Fläche, sondern auch die Vierhügel unbedeckt liegen.

Hiermit verändern sich zugleich die Win - dungen des groſsen Gehirns in Betreff ihrer Zahl und Symmetrie. Bey den Affen sind sie schon weit weniger zahlreich als beym Menschen, undgröſsten -99gröſstentheils in beyden Hemisphären symme - trisch. Bey allen folgenden Gliedern der ersten Reihe, nur mit Ausnahme des Bären, der ziem - lich viele Windungen besitzt, werden sie immer einfacher und symmetrischer. Das Gegentheil tritt aber wieder bey den Gliedern der zweyten Reihe ein. Die Oberfläche des groſsen Gehirns der meisten Nagethiere ist eben so einfach als die der Fledermäuse, des Maulwurfs und des Igels. Bey dem Hasen zeigen sich wieder Spu - ren von Windungen. Diese nehmen bey den Wiederkäuern, den Einhufern u. s. w. bis zu den Wallfischen immer mehr an Ausbreitung und Menge zu. Sie bleiben bey den Wiederkäuern noch symmetrisch, verlieren aber ihre Gleichheit in beyden Hemisphären bey den Wallfischen.

Auſser den Windungen erleiden auch die gröſsern Abtheilungen des groſsen Gehirns Ab - änderungen in den verschiedenen Familien, und diese Veränderungen stehen vorzüglich mit der Bildung der Riechfortsätze (Processus mammil - lares) in Verbindung. Die Affen haben ähnliche Geruchsnerven wie der Mensch. Bey dem Coati, dem Bären und allen folgenden Thieren der er - sten und zweyten Reihe, mit Ausnahme der Robben und Wallfische, giebt es an der Stelle der Nerven des ersten Paars auf jeder Seite ei - nen längslaufenden Markstreifen, der mit einemG 2eigenen100eigenen Hirnlappen innigst verbunden ist. Die - ser Lappen entsteht über den Wurzeln der Sehe - nerven aus den mittlern und vordern Hirnlappen, ist weiterhin von den letztern getrennt, und en - digt sich mit einer rundlichen Anschwellung, aus welcher die Aeste der Riechnerven entspringen, vor der Siebplatte des Riechbeins. Längs seiner Axe hat er eine Höhlung. Seine Masse besteht aus abwechselnden Schichten von Mark und Rinde. Die innern Markfasern seines Vorder - theils entspringen vorzüglich aus den gestreiften Körpern und aus der vordern Commissur, wel - che letztere bey den mit diesen Riechfortsätzen versehenen Thieren anders als bey dem Men - schen und den Affen verläuft. Bey dem Igel, dem Maulwurf, der Spitzmaus, den Fledermäu - sen und mäuseartigen Nagethieren finden einige Abweichungen von diesem Bau statt. Es giebt hier keine vordern Hirnlappen. Die Riechfort - sätze liegen daher unbedeckt in der vordern Höhlung des Schädels. Die mittlern Hirnlappen sind durch eine, rings um sie laufende, dem Umfange des Balkens entsprechende Furche in einen obern und untern, und die Riechfortsätze durch einen ringförmigen Queereinschnitt in ei - nen vordern und hintern Theil geschieden. Die letztere Scheidung hört bey dem Hasen wieder auf, und findet sich auch nicht weiter bey den Wiederkäuern und dem Schwein. Diese Thierebekom -101bekommen zugleich wieder vordere Hirnlappen. Die Robben besitzen wahre Geruchsnerven, de - ren vordere Anschwellungen aber mit dem äuſser - sten Vorderrande der Hemisphären des groſsen Gehirns verschmolzen sind, und mit diesen ge - meinschaftlich die in die Nasenhöhlen dringen - den Nervenfäden abgeben. Bey den Wallfischen sind die Nerven des ersten Paars zarte, mit bloſsen Augen kaum sichtbare Fäden.

Am kleinen Gehirn verändern sich ebenfalls auf den verschiedenen Stufen beyder Reihen der Säugthiere sowohl die gröſsern als die kleinern Abtheilungen. Bey den Affen sind statt der ih - nen fehlenden Mandeln die Flocken sehr ver - gröſsert. Die übrigen Lappen haben weit we - niger Blätter, der Wurm aber ist breiter, als beym Menschen. Am kleinen Gehirn einiger Af - fen, z. B. des Simia Paniscus, tritt auf jeder Seite ein kurzer, kegelförmiger Fortsatz hervor, zu dessen Aufnahme das Felsenbein eine eigene Höhlung hat. Bey den Raubthieren und den untersten Gliedern der ersten und zweyten Reihe werden die Blätter immer weniger zahlreich, aber durch Queereinschnitte vielfach getheilt. Bey dem Maulwurf und dessen Verwandten, den Fle - dermäusen und den Nagethieren, nimmt aber auch diese Theilung wieder ab, indem dafür zu bey - den Seiten des kleinen Gehirns ähnliche, jedochG 3ver -102verhältniſsmäſsig weit gröſsere Fortsätze, wie bey einigen Affenarten, hervortreten. In der Fa - milie der Wiederkäuer und in den folgenden Ordnungen der zweyten Reihe mehren sich wie - der sowohl die gröſsern, als die kleinern Abthei - lungen jenes Eingeweides; die Seitenfortsätze sind hier nicht mehr vorhanden; der Wurm macht eine schlangenförmige Krümmung, und das hintere Ende desselben ist bey einigen Geschlech - tern so stark nach der einen Seite gebogen, daſs die beyden Hemisphären des kleinen Gehirns da - von eine unsymmetrische Lage haben.

Am verlängerten Mark werden auf den nie - drigern Stufen beyder Säugthierreihen die Oli - ven immer undeutlicher. Dagegen giebt es von den Affen an in allen folgenden Familien gleich hinter der Brücke, zu beyden Seiten des obern Endes der Pyramiden, einen viereckigen, von parallelen, zu den Wurzeln der Nerven des sie - benten und achten Paars gehenden Markfasern bedeckten Raum, den ich das Trapezium nenne, und dessen Ausdehnung bey dem Igel, dem Maulwurf, den Fledermäusen und den Nagethieren in eben dem Verhältniſs zunimmt, in welchem die Brücke immer kleiner wird.

Die Länge, Breite und Wölbung der Brücke steht immer mit der Gröſse der Hemisphärendes103des kleinen Gehirns in Verhältniſs. Sie wird daher, mit dem ganzen übrigen Gehirn ver - glichen, in der ersten Reihe von dem Menschen an immer kleiner, in der zweyten Reihe hinge - gen von den Nagethieren an bis zu den Wall - fischen wieder gröſser, wobey sie jedoch in Verhältniſs gegen das verlängerte Mark stets un - ter dem bleibt, welches sie zu diesem bey dem Menschen hat.

Vor der Brücke, zwischen den vordern En - den der Hirnschenkel und den Wurzeln der Sehenerven, liegt eine graue Fläche, die graue Hervorragung des Trichters (Tuber ci. nereum), von deren Mitte der Trichter herab - hängt und deren hinteres Ende bey dem Men - schen die weiſslichen Hügel (Eminentiae candi - cantes) einnehmen. Diese Fläche hat bey allen übrigen Säugthieren eine weit gröſsere Ausdeh - nung, als bey dem Menschen und den Affen - Besonders groſs ist sie bey dem Igel, dem Maul - wurf, den Fledermäusen und den Nagethieren. Bey ihrer Vergröſserung werden die weiſslichen Hügel immer flacher, und vereinigen sich immer mehr zu einer einzigen Masse. In der Familie der Affen giebt es noch zwey derselben, die von ähnlicher Gestalt und Lage wie beym Menschen sind. Die meisten Raubthiere haben nur noch eine einfache Erhabenheit dieser Art. Auf denG 4unter -104untersten Stufen der Säugthiere ist sie gar nicht mehr vorhanden. In den höhern Ordnungen der zweyten Reihe erscheint sie wieder, doch in sehr veränderter Gestalt, nämlich bey den Wiederkäuern als eine länglichrunde, an ihrem hintern Ende durch einen Einschnitt getheilte Hervorragung.

Diese höhern Thiere der zweyten Reihe be - sitzen einen groſsen Hirnanhang und eine groſse Zirbel in Verhältniſs zum groſsen Gehirn. Bey den Nagern und den niedrigern Gliedern der ersten Reihe ist die Zirbel sehr klein, der Hirnanhang breit, aber sehr platt, und einer an einem dünnen Bande von der Mitte der grauen Hervorragung des Trichters herabhängenden Scheibe ähnlich. Auf den höhern Stufen dieser ersten Reihe bekömmt der Hirnanhang wieder eine runde Gestalt, und nimmt mit der Zirbel in Verhältniſs gegen das verlängerte Mark, nicht aber in Vergleichung mit dem übrigen Gehirn, an Masse zu.

Bey den erwähnten Veränderungen der Ba - sis des Gehirns tritt ferner eine nähere Vereini - gung des Chiasma der Sehenerven mit der hin - ter ihnen liegenden grauen Hervorragung des Trichters ein, als bey dem Menschen und den Affen statt findet. Diese hat auf den unternStufen105Stufen der ersten und zweyten Reihe einen markigen Vordertheil, mit welchem das Chiasma zusammenflieſst, und worin sich bey einigen Nagern ähnliche abwechselnde Streifen von Mark und Rinde, wie in der Verbindung der Gesichts - nerven bey den Vögeln, zeigen.

Die im Innern des Gehirns unter den Windungen und dem Balken liegenden Theile lassen sich in Betreff der Veränderungen, die sie auf den verschiedenen Stufen beyder Reihen der Säugthiere erleiden, unter zwey Abtheilungen bringen. Zur einen gehören die gestreiften Kör - per und die Sehehügel; zur andern die Vierhü - gel, die Knollen der Hirnschenkel, die gerollten Wulste und der Fornix.

Die Organe der erstern Abtheilung nehmen in der ersten Reihe vom Menschen an bis zu den Nagethieren in Vergleichung mit dem ver - längerten Marke an Umfange ab, jedoch in ei - nem weit geringern Verhältniſs als die Windun - gen des groſsen Gehirns, der Ealken, die He - misphären des kleinen Gehirns und die Brücke. Vergleicht man sie mit diesen Theilen, so fin - det vielmehr eine Zunahme, als eine Verminde - rung ihres Umfangs vom Menschen bis zu den untersten Gliedern der ersten Reihe statt. In der zweyten Reihe werden sie von den Nage -G 5thieren106thieren bis zu den Wallfischen in Verhältniſs ge - gen diese Theile wieder kleiner, hingegen wach - sen sie wieder etwas in Verhältniſs gegen das verlängerte Mark. Die äuſsere Gestalt der ge - streiften Körper verändert sich hierbey nicht be - deutend. Inwendig aber treten desto stärkere Bündel von Markfasern aus ihrem Vordertheil hervor, je gröſser die Riechfortsätze in Verhält - niſs gegen die übrigen Lappen des groſsen Ge - hirns sind. Gröſsere Verschiedenheiten finden in der äuſsern Gestalt der Sehehügel statt. Man kann an diesen einen vordern und hintern Theil unterscheiden, von welchen jener auswendig eine weiſsere Farbe als dieser hat, und die inwendig durch einen Markstreifen getrennt sind. Der hintere Theil steht bey allen Säugthieren, die keine hintere Hirnlappen haben, nicht mehr, wie bey dem Menschen und den Affen, in Verbin - dung mit den Hirnwindungen; er ist dabey ku - gelförmiger, und stärker an der Seite des Gehirns über dem gestreiften Körper hervorragend, als bey den letztern Thieren, und nähert sich in dieser Gestalt und Lage dem Theil, worin er bey den Vögeln übergeht, der hintern Hemi - sphäre derselben.

Einem andern Verhältniſs folgen von man - chen Seiten die Organe der zweyten Abthei - lung.

Die107

Die Vierhügel und die Hirnschenkelknollen (unter welchen letztern ich die Organe verstehe, die man bey dem Menschen sehr uneigentlich die äuſsern knieförmigen Körper genannt hat) folgen im Allgemeinen bey ihrem Wachsen und Abnehmen in den verschiedenen Familien der Säugthiere demselben Gesetz, nach welchem die Zu - und Abnahme des verlängerten Marks ge - schieht.

Die Vierhügel werden, mit der gröſsten Breite des verlängerten Marks verglichen, länger in der ersten Reihe der Säugthiere von dem Menschen an bis zu den Fledermäusen, hinge - gen kürzer in der zweyten Reihe von den Na - gethieren bis zu den Wallfischen, während ihre Breite sehr veränderlich ist. In den einzelnen Familien der Säugthiere wechselt die Länge des hintern Paars gegen die des vordern nach einem festen Gesetz. Von den Raubthieren an bis zu den Fledermäusen und weiter in der zweyten Reihe der Säugthiere von den Nagethieren bis zu den Wiederkäuern verkürzt sich das hintere Paar gegen das vordere. Die gröſste Kürze er - reicht jenes bey den Wiederkäuern. Bey dem Schwein nimmt die Länge des hintern Paars ge - gen die des vordern wieder zue)Die letzte senkrechte Zahlenreihe der obigen zwey -ten. Bey demMen -108Menschen und den Affen ist das Verhältniſs der Länge des hintern Paars gegen die des vordern fast das nämliche wie bey den Raubthierenf)Doch finden bey dem Menschen in diesem Ver - hältniſs groſse Abweichungen statt, wie sich aus den von Haller (Elem. Physiol. T. IV. L. X. S. 1. §. 13. p. 63.) gesammelten und von Greding (Verm. med. u. chirurg. Schriften, S. 183.) aus eige - ner Erfahrung mitgetheilten Beobachtungen ergiebt.; in der Gestalt beyder Paare nähern sich jene mehr den Nagethieren.

Die gerollten Wulste und das Gewölbe wer - den ebenfalls in gleichem Verhältniſs mit dem verlängerten Mark gröſser und kleiner in denver -e)ten Tafel zeigt, daſs, wenn man die Länge des vordern Paars der Vierhügel = 100 setzt, das Ab - nehmen und Wachsen der Länge des hintern Paars gegen jene Länge bey dem Fuchs, dem Coati, Igel und Maulwurf, der Ratze, dem Hasen, Schaaf und Chinesischen Schwein durch folgende Zahlen aus - gedrückt wird: 120, 88, 82, 76, 67, 29, 23, 64. Diese Verhältnisse, die ich erst seit der Heraus - gabe meiner Untersuchungen über den Bau und die Funktionen des Gehirns u. s. w. in Zahlen genau zu bestimmen Gelegenheit gefun - den habe, dienen mit zur nähern Bestimmung des - sen, was ich dort (S. 71 fg. ) über die Veränderun - gen der Vierhügel in den verschiedenen Säugthier - familien bemerkt habe.109verschiedenen Säugthierfamilien. Jene haben in den untersten Familien beyder Reihen der Säug - thiere zusammengenommen nicht viel weniger Masse als das kleine Gehirn. Sie und das Ge - wölbe sind zwar, mit der gröſsten Breite des verlängerten Marks verglichen, nicht so lang bey den übrigen Säugthieren, als bey dem Menschen und den Affen, dafür aber desto breiter. Beym Hippocampus findet diese gröſsere Breite vor - züglich an dem hintern Theil desselben statt, der bey allen Säugthieren, die Riechfortsätze haben, nicht, wie bey denen, welche Geruchsnerven besitzen, in dem absteigenden Horn der Seiten - höhle, sondern auf dem Sehehügel liegt, und in den niedrigern Ordnungen der ersten und zweyten Reihe nicht nur diesen Hügel, sondern zum Theil auch den gestreiften Körper bedeckt.

Drit -110

Drittes Kapitel. Versuch einer Bestimmung des Verhält - nisses der verschiedenen Hirnorgane zu den verschiedenen Aeuſserungen des geistigen Lebens.

Die im vorigen Kapitel erklärten Verschieden - heiten sind die wichtigsten, die das Gehirn und die Haupttheile des Nervensystems auf den ver - schiedenen Stufen des Thierreichs zeigen. Wir werden jetzt die Folgerungen entwickeln, die sich daraus in Hinsicht auf die Funktionen der Hirnorgane ergeben, und mit diesen vergleichen, was pathologische Erscheinungen, Versuche an lebenden Thieren und Untersuchungen der Tex - tur des Gehirns hierüber lehren. Vorher aber ist es nothwendig, uns über zwey wichtige Punkte zu erklären, über die Befugniſs, aus die - sen Erscheinungen und Versuchen Schlüsse in Betreff der Funktionen des Gehirns zu ziehen, und über die Frage: Ob die Verbindungen, worin die Hirnorgane durch die Verbreitung der Markfasern mit einander gesetzt sind, mit denVer -111Verrichtungen derselben in näherer Beziehung stehen?

Die Schriften der praktischen Aerzte sind voll von Beobachtungen, wo bald die gröſsten Zerrüttungen des Gehirns ohne bemerkbare See - lenstörungen zugegen waren, bald diese in ho - hem Grade statt fanden, ohne daſs nach dem Tode bedeutende Veränderungen der Struktur des Gehirns entdeckt wurden, und bald schon geringe Verletzungen des letztern schwere Gei - steskrankheiten nach sich zogen. Eben so ab - weichend und zum Theil widersprechend sind die Resultate der bisherigen Versuche an Thie - ren über den Einfluſs des Gehirns auf den übri - gen Körper. Wer eine, ohne Kritik gemachte, Zusammenstellung dieser Erfahrungen liest, muſs gänzlich an der Möglichkeit verzweifeln, Ein - heit in ein solches Chaos zu bringen. Wer sie aber nach richtigen Grundsätzen sichtet, wird finden, daſs, wenn auch des Unerklärbaren im - mer Vieles zurückbleibt, dessen doch so viel nicht ist, wie es beym ersten Anblick scheint. Ein groſser Theil jener Beobachtungen ist ohne allen Werth, indem derselbe entweder von blos praktischen Aerzten herrührt, die nicht genug den Bau des Hirns kannten und nicht genug in der Zergliederung desselben geübt waren, um Abweichungen vom regelmäſsigen Bau gehörigbeur -112beurtheilen zu können, oder von Anatomen, die zwar angeben konnten, was sie am Leichnam gefunden hatten, um die vorhergegangene Krank - heit aber nur vom Hörensagen wuſsten. Die letztere wurde auch, so weit sie den Geistes - und Gemüthszustand des Kranken betraf, von den praktischen Aerzten selten mit der nöthigen Aufmerksamkeit beobachtet. Man begnügte sich mit der Bemerkung, und konnte freylich in vie - len Fällen auch nicht mehr bemerken, als daſs der Kranke nach einer schweren Verletzung des Gehirns fortfuhr, sich vernünftig zu benehmen und in Betreff der Gegenstände des alltäglichen Lebens keinen Mangel an Gedächtniſs zu ver - rathen. Wie sich sein Erinnerungsvermögen in Hinsicht auf Dinge, die auſser seinem gewöhnli - chen Kreise lagen, wie sich seine Einbildungs - kraft vor und während der Krankheit verhielt, blieb unbestimmt und lieſs sich selten bestim - men. Meist endigte sich auch die Krankheit früher mit dem Tode, ehe Beobachtungen über den Einfluſs des Physischen auf das Geistige möglich waren. Alle Organe, deren Funktionen nicht blos mechanischer Art sind, ertragen fer - ner beträchtliche Verletzungen ohne plötzlichen Stillstand des regelmäſsigen Ganges ihrer Ver - richtungen. Es läſst sich vermuthen, daſs unter gewissen Umständen das Gehirn um so mehr bedeutende Zerrüttungen ohne schnelle Unter -brechung113brechung der gewöhnlichen Thätigkeit desselben wird erleiden können, da hier die Duplicität der meisten Organe, die gänzliche Abwesenheit aller mechanischen Verrichtungen, ein Haupthinder - niſs der Reproduktion bey Verletzungen aller übrigen Theile, und die durch längern und tie - fern Schlaf erleichterte Restauration der Kräfte die Fortsetzung dieser Thätigkeit begünstigen. Auch in der Wandelbarkeit der nach Hirnver - letzungen eintretenden Symptome liegt nichts, was nicht das Gehirn mit allen übrigen Organen, die andern als blos mechanischen Zwecken die - nen, gemein hätte. Die Form und der Grad der Krankheit wird in jenen wie in diesen durch Alter, Geschlecht, Temperament, Idiosynkrasien, vorhergegangene Krankheiten u. s. w. modifizirt, und in jenen wie in diesen sind Veränderungen der Mischung und der feinern Textur aus in - nern Ursachen oft von weit schwerern Folgen, als Verletzungen der Form durch äuſsere Kräfte. Nur die letztern aber zeigen sich dem Zerglie - derer. Was endlich die bisherigen Versuche am Gehirn lebender Thiere betrifft, so wird Keiner, der mit den groſsen Schwierigkeiten derselben aus eigener Erfahrung einigermaſsen bekannt ist, sich über die Widersprüche in den Resultaten derselben wundern. So viel ist also richtig, daſs es sehr schwer hält, pathologische Beobachtungen über die Funktionen des Gehirns zu machen,VI. Bd. Hdie114die den Forderungen einer strengen Kritik genü - gen, daſs es wenige giebt, welche diesen For - derungen entsprechen, und daſs sich aus den meisten der vorhandenen nicht viel mit Sicher - heit schlieſsen läſst. Demohngeachtet aber sind manche derselben von Werth und lassen sich, mit Umsicht benutzt, zur Entwickelung wichti - ger Sätze anwenden.

In Hinsicht des zweyten Punkts, den wir zu untersuchen haben, giebt es zweyerley That - sachen, die uns Aufklärung geben können. Die erste ist der Eintritt halbseitiger Lähmungen nach örtlichen Krankheiten des Gehirns und Rückenmarks.

Es ist eine alte, schon von Hippokrates und Aretäus erwähnte Beobachtung, daſs Ver - letzungen der einen Hälfte des Gehirns Lähmun - gen der entgegengesetzten und Zuckungen der gleichseitigen, Verwundungen des Rückenmarks aber Lähmungen der gleichseitigen und Convul - sionen der entgegengesetzten Hälfte des Systems der willkührlichen Muskeln des Rumpfs und der äuſsern Glieder zur Folge haben. Bis auf Val - salva galt dieser Satz vorzüglich nur von Läh - mungen, die nach Wunden des Gehirns ent - stehen. Valsalvag)Tractat. de aure. C. 5. Opp. Ed. 4. p. 68. dehnte ihn auch auf Feh -ler115ler des Gehirns aus innern Ursachen aus, und hielt ihn für ein allgemeines Gesetz, das nur scheinbare Ausnahmen hätte. Morgagnih)Epistol. anat. XIII. §. 14 sq. p. 488 sq. De sedibus et causis morb. L. I. Epist. 11. Edit. 2. p. 164. sam - melte in seinem Commentar über die angeführte Stelle des Valsalva die wichtigsten Beobachtun - gen der frühern Schriftsteller in Betreff jener Erscheinung, und fügte mehrere eigene Erfahrun - gen hinzu; führte aber unter diesen auch einen Fall an, wo mit einem Fehler in der rechten Hirnhälfte eine Lähmung der nämlichen Seite des Körpers ohne alle krankhafte Veränderung der linken Hirnhemisphäre verbunden war. Nach Morgagni wurden noch manche andere Fälle von beyden Arten bekannt gemacht, welche Hal - leri)Elem. Physiol. T. V. L. X. S. 2. §. 29. 331. und Arnemannk)Versuche über das Gehirn und Rückenmark. S. 173 fg. gesammelt haben; jener aber, wie überhaupt in dem Theil seiner Phy - siologie, welcher das Gehirn betrifft, nicht im - mer mit strenger Kritik. Neuere Beyträge zu diesen Beobachtungen sind von Caldanil)Saggi di Padova. T. I. p. 1.,Wen -H 2116Wenzelm)De penitiori cerebri struct. p. 97., Yellolyn)Medico-chirurgical Transact. published by the med. and chirurg. Soc. of London. Vol. I. p. 183. und Lallemando)Recherehes anatomico-pathologiques sur l’Encé - phale et ses dépendances. Paris 1820. ge - liefert.

Vergleicht man diese Beobachtungen mit ein - ander, so erhält man folgende Resultate.

Verletzungen eines innern Theils der einen Hirnhälfte, der oberhalb der Stelle des verlän - gerten Marks liegt, worin sich die Pyramidal - stränge kreuzen und zu welchem sich Fortsätze dieser Stränge erstrecken, sind gewöhnlich mit Lähmungen der ungleichseitigen Muskeln der äuſsern Glieder und des Mundes, oft auch, doch nicht immerp)Z. B. nicht in dem, aus Roghoux’s Recherches sur l Apoplexie von Lallemand (a. a. O. p. 60.) ange - führten Fall, wo, bey einer Erosion des gestreiften Körpers der rechten Seite, das Auge der nämlichen Seite amaurotisch war, die Lähmung aber auf der linken Seite statt fand., mit einer Amaurose des ungleich - seitigen Auges, hingegen mit Paralysen der Mus - keln nicht des ungleichseitigen, sondern des gleichseitigen Auges verbunden. In den meisten Fällen, wo man jene Hemiplegie der entgegen -gesetz -117gesetzten Hälfte des Körpers beobachtet hat, war es einer der beyden gestreiften Körper, an wel - chem die Verletzung statt fand. Dieser war in allen den Beobachtungen solcher Hemiplegien, die Peyronnieq)Mém. de l Acad. des sc. de Paris. A. 1741. p. 281. Obs. 4. p. 282. Obs. 5. p. 294. Obs. 12. p. 295. Obs. 14, der Octav-Ausg. gesammelt hat, der leidende Theil. Caldanir)A. a. O. nahm bey achtzehn Thieren einen Theil des gestreiften Körpers der einen Seite weg, und sah jedesmal hiernach eine Lähmung der entgegengesetzten Seite erfolgen. Auch bey fünf Leichen von Menschen, die am Schlagfluſs gestorben waren, fand er Zerstörun - gen in dem gestreiften Körper der entgegenge - setzten Seite. Die Gebrüder Wenzels)A. a. O. beobach - teten unter acht Fällen von halbseitiger Lähmung fünf, wo ebenfalls die Ursache der Krankheit in diesem Organ lag. Unter den in Lalle - mand’s angeführter Schrift enthaltenen Beobach - tungen ist keine, wo bey einer halbseitigen Läh - mung der obern und untern Gliedmaſsen nicht der gestreifte Körper der entgegengesetzten Seite wäre krankhaft verändert gefunden worden. Oft war mit einem der gestreiften Körper auch der Sehe -hügelH 3118hügel seiner Seite verletzt. Valsalva machte eine Beobachtung, wo nach einer Lähmung der linken Seite und einer intermittirenden Verdun - kelung des linken Auges die Hauptverletzung am rechten Sehehügel gefunden wurdet)Morcagni epist. XIII. p. 494.. In dem von Yelloly beschriebenen Fall war die rechte Seite des Körpers und der abziehende Muskel des linken Auges paralytisch, der Mund etwas verzogen und stammelnd, der Puls an der gelähmten Seite schwächer als an der ge - sunden. Der Kranke sah die Gegenstände dop - pelt, und vor dem Tode traten allgemeine Zuckun - gen ein. Bey der Leichenöffnung fand man an der linken Hälfte der Varolischen Brücke eine Geschwulst von der Gröſse einer Haselnuſs, die sich bis zu den Pyramidalkörpern dieser Seite erstreckte, auf den linken Nerven des sechsten Paars drückte und mit der Basilararterie ver - wachsen war. Die Substanz des ganzen Gehirns war fester wie gewöhnlich. Die Hirnhöhlen enthielten ohngefähr eine halbe Unze Wasser. Sonst fand sich nichts Krankhaftes in der rech - ten Hirnhälfte. Hier war also ein Druck auf die linke Seite der Brücke, auf den linken Py - ramidalkörper und auf den linken abziehenden Nerven die Ursache der Lähmung des linken ab - ziehenden Augenmuskels und der äuſsern Theileder119der rechten Seite. Dagegen läſst sich aus kei - ner sichern Beobachtung schlieſsen, daſs orga - nische Fehler der Windungen des groſsen Ge - hirns, des Balkens, der Vierhügel, des kleinen Gehirns, der Zirbel, des Hirnanhangs und des Trichters ähnliche Lähmungen zur unmittelbaren Folge haben. Mehée de la Toucheu)Lésions de la tête. p. 97. behaup - tet zwar, Verletzungen des kleinen Gehirns hät - ten auf die entgegengesetzte Seite einen groſsen Einfluſs. Seine Angabe ist aber von Beobach - tungen nach Wunden des kleinen Gehirns ab - geleitet, wobey sich nicht unterscheiden läſst, was mittelbare und was unmittelbare Folge der Verletzung ist.

Diese Sätze haben zwar Ausnahmen. Es giebt allerdings auch Erfahrungen, wo nach Ver - letzungen des Gehirns oberhalb der gedachten Durchkreuzungsstelle die gleichseitige Hälfte des Körpers unterhalb dem Kopf gelähmt war. Aber die Zahl dieser Beobachtungen ist gering gegen die der vorigen. Arnemannv)A. a. O. S. 175. bemerkte bey seinen Versuchen an Thieren nie andere als un - gleichseitige Lähmungen. Die meisten jener Er - fahrungen sind auch keinesweges entscheidend. Zu den wichtigsten derselben gehören die, wel -cheH 4120che Forestw)Observat. L. X. Obs. 11. T. I. p. 542., Bonetx)Sepulchret. L. I. Sect. 15. Obs. 27., De Haeny)Rat. med. P. IV. Ed. 2. p. 202., La Peyronniez)A. a. O. p. 294. Obs. 12. und Morgagnia)A. a. O. p. 501. aufgezeichnet haben. Forest versichert ausdrücklich, daſs nur die rechte Hälfte des Gehirns, auf deren Seite sich die Lähmung befand, verletzt, die linke aber völlig gesund war. Indeſs, Forest hatte bey Lebzeiten des Kranken vorhergesagt, man würde am Gehirn eine Verletzung auf der rech - ten Seite finden. Unter diesen Umständen kann man nicht allen Verdacht unterdrücken, daſs ihn vielleicht der Wunsch, seine Prognose zu recht - fertigen, verleitet hat, die linke Hirnhälfte nicht mit gehöriger Umsicht zu untersuchen. In dem von Bonet erzählten Fall scheint die Zergliede - rung des Gehirns nur oberflächlich geschehen zu seyn. De Haen’s Erfahrung, in welcher bey ei - ner völligen Lähmung der rechten Seite die ganze weiche Hirnhaut varikös war und sich al - lenthalben von der Hirnsubstanz getrennt hatte, und der rechte Seitenventrikel Wasser enthielt, ist ganz unentscheidend, da hier ein allgemeines Leiden des Gehirns statt fand und De Haen selber zweifelt, ob nicht das Wasser vor demOeffnen121Oeffnen des Gehirns beym Drücken auf die linke Hemisphäre zum Theil aus dem linken Ventrikel in den rechten übergegangen sey. Nur gegen Peyronnie’s und Morgagni’s Beobachtun - gen lassen sich keine gegründete Einwendungen machen. Wenigstens so viel bleibt also gewiſs, daſs die ungleichseitige Lähmung die gewöhn - liche, die gleichseitige eine seltnere Folge von Verletzungen der obern Theile des Gehirns ist.

Nach Verletzungen der einen Hälfte des verlängerten Marks, in der Nähe des Hinter - hauptlochs, und des ganzen Rückenmarks sind weder bey absichtlichen Versuchen an Thieren, noch bey zufälligen organischen Fehlern an Men - schen andere als gleichseitige Lähmungen wahr - genommenb)Galen de anatom. administrat. L. VIII. Sect. 6. Hailer a. a. O. p. 334. Arnemann a. a. O. S. 175. Yelloly a. a. O. p. 198., auſser in einem von Portalc)Cours d Anat. médicale. T. IV. p. 116. erzählten Fall, wo nach einer Paralyse des lin - ken Beins die rechte Hälfte des Rückenmarks weicher als die linke gefunden wurde. Es zeigte sich hier aber auch eine Entzündung beyder Hälften dieses Organs und zugleich der beyden innern Hirnhäute, weshalb jener Fall nicht ent - scheidend ist.

IchH 5122

Ich glaube jetzt beweisen zu können, daſs in diesen Erscheinungen nichts enthalten ist, was sich nicht aus dem Lauf der Markbündel des Gehirns und Rückenmarks erklären lieſse.

Nachdem zuerst Mistichellid)Trattato dell Apopl. L. I. c. 9. eine Kreu - zung der zu den Pyramidalkörpern gehenden Fasern auf der vordern Seite des verlängerten Marks beobachtet hatte, fanden einige der ersten Anatomen seine Entdeckung bestätigte)F. Petit, Lettres d un Medecin des hôpitaux du Roi. I. p. 14. Winslow, in Palfyn’s Anat. chirurg. T. IV. no. 110. Lieutaud, Essais anatom. p. 399. Santorini, Observat. anat. p. 61. Ejusd. Septende - cim tabulae. p. 28.; Andere aber sahen entweder die Kreuzung gar nichtf)Haller, El. Phys. T. IV. L. X. S. 3. §. 1. p. 80. Girardi, in Santorini’s Septend. tabul. XVII. p. 29, 30. Boyer, Traité compl. d Anat. T. IV. p. 63., oder wollten sie nicht für eine solche gelten lasseng)Morgagni, a. a. O. p. 495. Vicq-D’Azyr, Traité d Anat. et de Physiol. p. 110. Sabatier, Mém. de l Acad. des sc. de Paris. A. 1783. p. 68.. Unter den Zergliederern der neuesten Zeit haben auch noch Chaussierh)Exposit, sommaire de la structure de l’encéphale. p. 143. und Gor - doni)Human Anat. T. I. p. 177. sie geläugnet. Alle neuere Anatomen, diein123in der feinern Zerlegung des Gehirns geübt sind, namentlich Sömmerringk)Hirn - und Nervenlehre. 1te Ausg. §. 73., Gall und Spurz - heiml)Anat. et Physiol. du Système nerveux. Vol. I. p. 192., Rosenthalm)Beytrag zur Encephalotomie. S. 25., Tiedemannn)Anatomie und Bildungsgeschichte des Gehirns im Foetus. S. 95. und J. F. Meckelo)Handbuch der menschl. Anatomie. Th. 3. S. 441. haben sie aber als ausgemacht angenommen. In der That kann auch die Wirk - lichkeit derselben Keinem zweifelhaft seyn, der sie einmal gesehen hat und wieder aufzufinden weiſs. Die, welche sie ganz läugneten, suchten sie an untauglichen Gehirnen, oder verstanden nicht sie zu suchen, und Die, welche sie nicht für eine wirkliche Kreuzung hielten, haben den Lauf der Fibern nicht weit genug verfolgt, oder diese durch ein gewaltsames Verfahren in Un - ordnung gebracht. Man erblickt sie an jedem, nicht zu weichem Gehirne, wenn man, nach be - hutsamer Wegnahme der weichen Hirnhaut, die äuſserste Markschicht auf der vordern Fläche des verlängerten Marks unter den Pyramiden ablöst. Man sieht hier die von dem Rückenmark zu den Pyramiden heraufsteigenden Faserbündel von der rechten zur linken, und von der linken zur rechten Seite gehen, und zwar so, daſs siesich124sich bey ihrem Uebergange spalten und wech - selseitig in ihre Spalten aufnehmen. Die hin - tern Stränge des verlängerten Marks nehmen an dieser Kreuzung keinen unmittelbaren Antheil. Die Seitenstränge scheinen mir aber einige Fa - sern oben aus ihr zu erhalten, und unten an sie abzugeben.

Die Pyramidalstränge gehen durch die Brücke und durch die Hirnschenkel in die, von Reil unter dem Namen des Stabkranzes beschriebene, groſse Radiation der gestreiften Körper und der Sehehügel. Aus der Kreuzung jener Stränge läſst sich also erklären, warum Verletzungen der gestreiften Körper, der Sehehügel und der Brücke oft eine Lähmung der entgegengesetzten Seite nach sich ziehen müssen. Aber mit den Pyramidalbündeln breiten sich auch zum Theil die übrigen, sich nicht kreuzenden Stränge des verlängerten Marks in dem Stabkranze aus. Es ist daher begreiflich, warum eine solche halb - seitige Lähmung keine beständige Folge jener Verletzungen ist. Daraus, daſs die Seitentheile des verlängerten Marks, woraus die Nerven des fünften, sechsten und siebenten Paars entsprin - gen, nur geringen Antheil an der Kreuzung neh - men, die Nerven des dritten und vierten Paars aber oberhalb der Kreuzungsstelle erzeugt wer - den, ergiebt sich ferner, warum die Lähmungder125der Muskeln des Angesichts und der Augen nicht auf der entgegengesetzten Seite der Ver - letzung erfolgt.

Diese Erklärung gab schon Morgagnip)A. a. O. p. 502. §. 26.. Da er sich indeſs von der wirklichen Kreuzung der Pyramidalstränge nicht überzeugt hatte, so dünkte ihn, eine andere Voraussetzung sey wahr - scheinlicher, nämlich die, daſs eine Verletzung der einen Hemisphäre eine Lähmung der gleich - seitigen Hälfte des Körpers nebst einer organi - schen Krankheit der andern Hemisphäre verur - sachen könne, und daſs bey fortdauernder Läh - mung die erstere Verletzung sich verliere, ohne sichtbare Spuren zurückzulassen, die letztere hingegen bis zum Tode immer mehr zunehme. Aber mit dieser Hypothese ist nicht der Umstand zu vereinigen, daſs bey Versuchen an Thieren nach Verletzungen der einen Hemisphäre des Gehirns die entgegengesetzte Seite nicht erst nach längerer Zeit, sondern plötzlich gelähmt wird. Es läſst sich auch gegen sie einwenden, daſs die nachfolgende Verletzung eben so gut wie die ursprüngliche eine Lähmung der gleich - seitigen Muskeln des Körpers verursachen würde, so daſs nach Verwundungen der einen Hemi - sphäre erst die gleichseitige und dann auch die andere Hälfte des Körpers paralytisch werdenmüſste,126müſste, welches nicht der Erfahrung gemäſs ist. Gegen die andere, von der Kreuzung der Pyra - midalstränge hergenommene Erklärung hingegen läſst sich kein gegründeter Einwurf machen, als der, daſs die Zahl und Gröſse der sich kreu - zenden Faserbündel nicht so beträchtlich ist, wie man bey dem häufigen Eintritt der un - gleichseitigen Lähmung erwarten sollte. Indeſs, wenn man den Fortgang jener Stränge durch die Brücke und die Hirnschenkel bis zu den gestreiften Körpern und ihre Verstärkung auf die - sem Wege betrachtet, so überzeugt man sich, daſs sie doch die Hauptverbindungsorgane der gestreiften Körper, also der Theile, nach deren Verletzung die Lähmung der entgegengesetzten Seite am häufigsten eintritt, mit dem untern Ende des verlängerten Marks und des Rücken - marks sind. Es ist aber auch noch nicht aus - gemacht, ob es nicht noch eine andere Kreu - zung unter den Fasern der im Innern der vier - ten Hirnhöhle liegenden Faserbündel giebt. San - toriniq)Obseryat. anat. p. 61. Septendecim tabulae. p. 29. nahm einen Uebergang dieser Fasern von der einen Seite zur andern an. Girardir)In Santorini’s Septend. tab. p. 29. und alle folgende Anatomen lieſsen hier nur verbindende, nicht sich kreuzende Fasern gelten. Allein obgleich es wahr ist, daſs sich die Kreu -zung127zung nicht wahrnehmen läſst, so macht doch der Lauf jener Fasern, die divergirend aus der mit - telsten Spalte des vierten Ventrikels hervorkom - men, es wahrscheinlich, daſs im Innern des ver - längerten Marks, oberhalb der Brücke, eine De - cussation derselben statt findet.

Es ist noch eine zweyte Stelle am Gehirn vorhanden, in welcher etwas Aehnliches vor - geht, aus deren innerm Bau sich ebenfalls viele pathologische Erscheinungen erklären lassen, und wodurch also auch die Befugniſs, aus dem Lauf und der Verbindung der Hirnfasern auf die Funktionen der Hirnorgane zu schlieſsen, ge - rechtfertigt wird. Diese Stelle ist das Chiasma der Sehenerven. Man nahm hierin von Ga - len’s Zeiten her bald gar keine, bald eine gänz - liche und bald eine partielle Kreuzung der Sehe - nerven an, und brachte für jede dieser Meinun - gen Gründe bey. Zu Gunsten der ersten Mei - nung sprechen Fälle, wo das Schwinden des einen Sehenerven beym schwarzen Staar sich durch das Chiasma bis zum Sehehügel der näm - lichen Seite erstreckte. Aus einer merkwürdi - gen, von Vesal gemachten Beobachtung, wo bey unveränderter Sehekraft gar keine Verbin - dung der Sehenerven vorhanden gewesen war, lieſse sich sogar auf gänzlichen Mangel an Zu - sammenhang zwischen beyden Sehenerven schlie -ſsen.128ſsens)Haller (Elem. Physiol. T. V. L. XVI. S. 2. §. 2. p. 348.) führt eine ähnliche Beobachtung aus Loe - sel’s Schrift De renibus mit den Worten an: Ne - que credo serio Loeselium vidisse nervos opticos non conjunctos. Vesal’s Erfahrung muſs ihm beym Niederschreiben dieser Worte entfallen gewesen seyn; er würde sonst über Loesel milder geurtheilt haben.. Diese Folgerung haben indeſs nur We - nige gewagt. Die Meisten, die auch keine[Kreuzung] zugaben, nahmen doch, wegen der genauen, zwischen beyden Sehenerven stattfin - denden Sympathie, eine Verbindung dieser Ner - ven im Chiasma an. Den obigen Fällen stehen aber andere entgegen, wo Veränderungen des einen Sehenerven sich nicht auf den gleichsei - tigen Theil desselben hinter der Vereinigungs - stelle, sondern auf den der entgegengesetzten Seite fortgepflanzt hatten. Noch andere Erfah - rungen lehren, daſs bey organischen Veränderun - gen des einen Sehenerven oft beyde hinter dem Chiasma in gleichem Verhältniſs, doch in min - derm Grade als vor dem Chiasma, krankhaft verändert gefunden werden, auch daſs der äuſsere Theil des einen Nerven krank, der in - nere gesund seyn, und die Krankheit jenes Theils an derselben Seite hinter der Vereinigungsstelle auswendig am Nerven fortgehen kannt)Nachweisungen wegen der Schriften, worin dieseErfah -.

Es129

Es giebt nur zwey Wege zur Erklärung dieser Anomalien. Man muſs entweder voraus - setzen, daſs bey den einzelnen Individuen des Menschengeschlechts und der ihm zunächst ste - henden Thiere eben so groſse Abweichungen in der Verbindung der Sehenerven herrschen, wie bey den mancherley Arten der Fische, deren einige sich über einander hinlegende, andere sich nicht kreuzende Sehenerven haben; oder es ist anzunehmen, daſs im Chiasma dieser Ner - ven einige Fasern mit einander verflochten sind, andere sich kreuzen, und noch andere durch das Chiasma ohne Ablenkung von ihrem geraden Wege zum Auge ihrer Seite gehen. Die erstere Hypothese läſst sich mit Einschränkung ver - theidigen. Es ist allerdings möglich, daſs bey verschiedenen Menschen Abweichungen im Ver - lauf jener Fasern statt finden. Aber es ist un - wahrscheinlich, daſs diese Verschiedenheiten be - deutend seyn können. Durch mikroskopische Untersuchungen des Innern horizontal durch - schnittener Verbindungsstellen der Sehenerven an menschlichen Leichen entdeckte dagegen schon Vicq-D’Azyru)Mém. de l Acad. des sc. de Paris. A. 1781. p. 554. einen Lauf der Fasern dieserNer -t)Erfahrungen enthalten sind, findet man in J. F. Meckel’s Handb. der menschl. Anatomie, Th. 3. S. 745 fg. gesammelt.VI. Bd. I130Nerven, welcher der zweyten Hypothese günstig ist. Er fand, daſs die Markfasern des äuſsern Randes an der obern und untern Fläche des Chiasma sich gerades Weges nach dem Auge der nämlichen Seite begeben, die Mitte der Ver - einigungsstelle aber ein einförmiges Gewebe ent - hielt. Noch näher kommen jener Voraussetzung Caldani’sv)Opusc. anat. p. 37. Beobachtungen, nach welchen in dem Chiasma von Sehenerven, die in Salpeter - säure gelegen hatten, die äuſsern Markfasern zu dem gleichseitigen, die innern aber, bündelweise und ästig getheilt, zum entgegengesetzten Auge gingen. Die Gebrüder Wenzelw)De penitiori cerebri struct. C. XI. p. 109. sahen gleich - falls die äuſsern Fasern der Wurzel jedes der beyden menschlichen Sehenerven durch die Ver - einigungsstelle in den gleichseitigen Nerven über - gehen, ohne sich mit denen der andern Seite zu verbinden. Diese äuſsern Fasern machten den gröſsern Theil der ganzen Masse aus. Der klei - nere innere Theil der Fasern beyder Wurzeln bildete im Innern des Chiasma eine Verflechtung; der Lauf dieser Fasern war von dem der äuſsern verschieden, und offenbar nach der ent - gegengesetzten Seite hingerichtet. Eben so zeigte sich mir der Lauf der Fasern in dem wagerecht durchschnittenen Chiasma einer Simia Aygula. Hier aber waren der innern, mit einander ver -floch -131flochtenen Fasern weit mehr, als der äuſsern, welche ohne Verbindung mit denen der entge - gengesetzten Seite zum gleichseitigen Auge fort - gingen. Diejenigen Fasern, die zunächst unter den äuſsern lagen, schienen mir eine wirkliche Kreuzung zu bilden, die innersten aber blos mit einander verflochten zu seynx)Vermischte Schriften von G. R. u. L. C. Trevi - ranus. Th. 3. S. 168.. In allen diesen Beobachtungen ergab sich also eine Textur der Sehenerven in der Verbindungsstelle, die mit dem, was sich aus krankhaften Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit folgern läſst, so weit übereinstimmte, als es bey Untersuchungen von einer solchen Feinheit möglich ist.

Wir wenden uns nach diesen Vorbereitungen zur Entwickelung der Sätze, die sich aus der vergleichenden Hirn - und Nervenlehre, aus Beob - achtungen über die Textur des Gehirns und aus pathologischen Phänomenen ableiten lassen.

Das erste und wichtigste dieser Resultate ist, daſs die Organisation des Gehirns und Ner - vensystems mit der ganzen übrigen Organisation in enger Beziehung steht, diese ihr äuſserer Ab - druck ist. Die ganze Organisation wird aber bey den höhern Thieren vorzüglich durch dieSinnes -I 2132Sinnes - und Bewegungsorgane bestimmt. Durch jene wirkt die äuſsere Natur auf das Thier, und durch die letztere das Thier auf die Auſsenwelt zurück. Die Funktionen des vegetativen Lebens erhalten die Mittel zu ihrer Fortdauer bey je - nen Thieren vermittelst derer des sensitiven Le - bens, und das Hauptorgan des letztern ist das Gehirn. In diesem also müssen die Sinnes - und Bewegungsnerven ihren gemeinschaftlichen Mit - telpunkt haben, und in diesen muſs die Form und Wirkungsart derselben ausgedrückt seyn. So verhält es sich auch. Die Nerven des Ge - sichts, Geruchs, Gehöre und Geschmacks sind unmittelbare Sprossen des Gehirns; die des Ge - tastes und der Bewegungsorgane gehen unmit - telbar oder vermittelst des Rückenmarks in das verlängerte Mark über. Je mehr Ausbildung des Muskelsystems und körperliche Stärke, desto gröſser ist das letztere in Verhältniſs zum übri - gen Gehirn; je mehr Mannichfaltigkeit der höhern Sinnesvorstellungen, desto gröſser ist umgekehrt das übrige Gehirn zum verlängerten Mark. Zu den Bewegungsorganen gehören aber in diesem Sinne nicht nur die äuſsern Gliedmaſsen, son - dern überhaupt alle Theile, worauf der Wille einen Einfluſs hat, also auch die Werkzeuge, wodurch die Speisen aufgenommen, zermalmt und verschluckt werden, und die Respirations - organe, insoweit dieselben der Willkühr unter -worfen133worfen sind; und unter Sinnesvorstellungen be - greife ich hier überhaupt alle, die in den äuſsern Sinnen ihren ersten, obgleich nur entfernten Ursprung haben, mithin auch die der Erinne - rung und der Einbildungskraft.

Die Stränge des verlängerten Marks erstrecken sich fast in gerader Richtung durch die Brücke und die Hirnschenkel bis in die gestreiften Kör - per und in den vordern Theil der Sehehügel, woraus sie, durch eine groſse Menge neuer Fa - sern verstärkt, sich als Stabkranz in beyden Hemisphären strahlenförmig ausbreiten. Nach tiefern Verletzungen der gestreiften Körper hört, den oben erwähnten Erfahrungen zufolge, die Herrschaft des Willens über die denselben un - terworfenen Theile aufy)Cum aliquoties cadavera quorundam, a longa pa - ralysi et gravissima nervorum resolutione defuncto - rum, aperuerim, deprehendi semper corpora striata prae aliis in cerebro minus firma, instar amorcae discolorata et striis multum obliteratis. Willisii Anat. cerebri. C. 13. Opp. p. 43.. Man kann das groſse Gehirn bey lebenden Thieren von den Seiten aus bis zu einer beträchtlichen Tiefe verletzen, bey Hunden mehr als funfzehn Gran von der Sub - stanz der Windungen wegnehmen, ohne daſs weiter etwas als eine geringe Lähmung entsteht,dieI 3134die sich zuweilen binnen einigen Tagen wieder verliert. Erstreckt sich aber die Verletzung bis zu den Organen der Seitenhöhlen, so erfolgt völlige Lähmung, und bald nachher der Todz)Arnemann a. a. O. S. 173.. Die gestreiften Körper und die vordern Theile der Sehehügel sind also die Organe, von wel - chen der erste Impuls zu willkührlichen Bewe - gungen ausgehen kann. Daſs derselbe immer von ihnen ausgeht, folgt aber nicht. Physische Einwirkungen können auch von jeder andern Stelle aus, welche in der Ausbreitung der Stränge des verlängerten Marks liegt, oder mit diesen in naher Verbindung steht, unwillkühr - liche Muskelbewegungen und Lähmungen ver - ursachen. Ueberhaupt scheint bey höherer Reitz - barkeit jede heftige, örtliche Reitzung, welchen Theil des Gehirns sie auch trifft, zu den Bewe - gungsorganen fortgepflanzt zu werden, woraus sich der so sehr verschiedene Erfolg erklären läſst, den Reitzungen und Verletzungen der ver - schiedenen Hirnorgane bey lebenden Thieren haben.

Aus der Radiation des verlängerten Marks, die sich aufwärts bis in die gestreiften Körper und die Sehehügel, und nach unten durch das Rückenmark erstreckt, entspringen nicht nur alle Nerven der willkührlichen Bewegung, sondernauch135auch die Sinnesnerven erhalten aus ihr Wurzeln. Die Nerven des Getastes kommen vom Rücken - mark, die des Geschmacks vom verlängerten Mark. Mit dem letztern steht auch der Gehör - nerve in Verbindung. Der Gesichtsnerve wird gröſstentheils von Fasern der Sehehügel gebil - det, und zum Geruchsnerven gehen Fasern der gestreiften Körper. So sind die Theile des Ge - hirns, die in der Ausbreitung der Schenkel des verlängerten Marks liegen, Organe der willkühr - lichen Bewegungen und der Sinnesvorstellungen, und der Uebergang dieser Vorstellungen in jene Bewegungen, besonders durch die gestreiften Körper, ist aus anatomischen Gründen so be - greiflich, daſs er Keinem bey genauerer Unter - suchung des Gehirns entgehen kann, und auch schon dem, ungeachtet vieler Hypothesen, wel - che die Farbe seines Zeitalters tragen, doch um die Lehre vom Baue und Leben des Gehirns höchst verdienten Willis nicht entginga)Corpora striata, uti sensuum omnium impetus, ita motuum localium spontaneorum primos instinctus suscipiunt. Willis l. c..

Auf den niedrigern Stufen des Thierreichs entsteht jeder Sinnesnerve mehr unmittelbar aus der Ausbreitung der Faserbündel des verlänger - ten Marks, und diese ist weniger unterbrochen,alsI 4136als auf den höhern Stufen. Schon bey den - geln ist nicht mehr die Brücke vorhanden, wel - che den Fortgang jener Bündel bey den Säug - thieren unterbricht. Bey den Amphibien und Fischen besteht das Gehirn aus Theilen, die bloſsen Seitenanschwellungen der Schenkel des verlängerten Marks ähnlich, und weit weniger eng als bey den Säugthieren unter sich verbun - den sind. Daher wird das Thier weit mehr von einzelnen sinnlichen Eindrücken beherrscht, als der Mensch, und jeder dieser Eindrücke hat um so schneller willkührliche Bewegungen zur Folge, die ihm, aber auch blos ihm entsprechen, je einfacher die Organisation des Gehirns ist.

Die höhere Organisation des Gehirns giebt sich vorzüglich durch gröſseres Uebergewicht der Masse des übrigen Gehirns über die des verlän - gerten Marks, durch zahlreichere und mannichfalti - gere Hirnorgane und durch vervielfältigte Vereini - gung aller dieser Organe zu einem einzigen Gan - zen zu erkennen. In dem Uebergewicht der Masse des übrigen Gehirns über die des verlängerten Marks steht der Mensch höher als alle andere Thiere. Dieses gröſsere Verhältniſs findet aber bey ihm nicht in allen Theilen seines Gehirns, sondern vorzüglich nur in den Windungen des groſsen und den Hemisphären des kleinen Ge - hirns statt. Es giebt nichts als die in Verglei -chung137chung mit allen übrigen Hirntheilen so sehr überwiegende Masse jener Windungen und dieser Hemisphären, was einigermaſsen den höhern Geisteskräften des Menschen entsprechen könnte. Von Manchen sind darum dieselben für die Or - gane der letztern angesehen worden, und diese Meinung scheint auch von einigen andern Grün - den unterstützt zu werden. Beym angebornen Blödsinn fand man oft eine kleinere Masse der Windungen des groſsen Gehirns, als im gesun - den Zustandeb)Z. B. bey dem Blödsinnigen, von dessen Gehirn Willis (a. a. O. p. 14. fig. 4.) eine Abbildung ge - liefert hat.. Ich traf bey einem zweyjähri - gen Kinde, das von der Geburt an aller Thä - tigkeit der höhern Sinne beraubt gewesen war, wenig Ueberbleibsel davon an, während die übri - gen Theile des Gehirns vorhanden warenc)Dieses Kind wurde mit abgeplattetem Vordertheil des Schädels und über einander geschobenen Schä - delknochen geboren. Es sog indeſs, und die Schä - delknochen erhoben sich allmählig, so daſs einige Monate nach der Geburt, wo ich dasselbe sah, die Gestalt des Kopfs der natürlichen ziemlich nahe kam. Aber weder in der ersten Lebenszeit, noch späterhin, zeigte sich irgend eine Spur von Empfäng - lichkeit der Sinnesnerven des Gehirns für äuſsere Eindrücke. Die Augen waren völlig amaurotisch. Das Gehör schien ebenfalls ganz zu fehlen. DieUn -. DieI 5138Die Hirnwindungen sind auch nicht nur gröſser an Masse, sondern zugleich zahlreicher beymMen -c)Unempfindlichkeit des Geschmacksorgans verrieth sich durch das Verschlingen aller in den Mund gebrachten Substanzen, ohne Zeichen von Wohlge - fallen oder Widerwillen. Ueber die Beschaffenheit des Geruchssinns habe ich mir keine Nachrichten verschaffen können. Bey alle dem gingen das Athemholen, die Verdauung und die Ernährung un - gestört vor sich. Einige Monate vor dem Tode brachen drey Schneidezähne hervor. Sowohl mit den obern als den untern Gliedmaſsen machte das Kind häufige Bewegungen, die zwar blos automa - tisch seyn konnten, doch die Abwesenheit von Lähmung in diesen Theilen bewiesen. In den letz - ten Lebenswochen zeigte sich Wasseranhäufung im Gehirn mit den gewöhnlichen Zufällen. Bey der Untersuchung des Gehirns, wozu ich die Gelegen - heit der Güte des Herrn Dr. Töpken in Bremen verdanke, fand ich das kleine Gehirn, die Brücke, das verlängerte Mark und die aus dem letztern ent - springenden Nerven natürlich gebildet. Die übri - gen Hirnnerven waren ebenfalls vorhanden, die Ge - ruchsnerven aber ungewöhnlich weich, und die Ge - sichtsnerven etwas dünner wie im regelmäſsigen Zustande. Von dem groſsen Gehirn traf ich blos Bruchstücke an. Auf der obern Seite desselben wa - ren nur die Hirnschenkel, die Vierhügel, die hin - tere und die mittlere Commissur zu unterscheiden. Der Balken, das Gewölbe, die gestreiften Körperund139Menschen, als bey allen übrigen Thieren. Ma - lacarned)Neuroencefalotomia. will ferner bey geistreichen Menschen eine gröſsere Zahl Blätter am kleinen Gehirn, als bey Geistesarmen gefunden haben. Ich fand bey einer Simia Aygula L. auf der Grundfläche jeder Halbkugel des kleinen Gehirns nur zwölf gröſsere Queereinschnitte. Bey dem Menschen giebt es deren ungefähr dreyſsig. Diese Zahl nimmt mit der abnehmenden Ausbildung des Gehirns im - mer mehr ab. Bey den Amphibien und Fischen hat das kleine Gehirn gar keine Einschnitte mehr.

Jene Meinung läſst sich indeſs, wenn sie ohne nähere Bestimmung und ohne Einschrän - kung vorgetragen wird, mit noch mehr undwichti -c)und die Sehehügel machten eine einzige, plattge - drückte, einförmige, mit den Hirnhäuten fest ver - wachsene Masse aus. Auf der untern Seite zeigte sich die Höhlung des Trichters sehr erweitert, und dieser mit den Markkügelchen zu einer einfachen Hervorragung ausgedehnt. Von den Windungen waren nur noch in den vordern und hintern Lap - pen einige Bruchstücke mit einem Rest des rechten Ammonshorns vorhanden. Die Stelle der übrigen Hirnmasse nahm Wasser ein, umschlossen von der weichen Hirnhaut, die auf ihrer innern Fläche ei - nen dünnen Ueberzug von Rinde hatte.140wichtigern Gründen bestreiten, als beweisen. Der Abstand zwischen dem Menschen und den Affen ist in Rücksicht auf die höhern Geisteskräfte wahrlich weit gröſser, als etwas gröſsere und zahlreichere Windungen und Blätter des groſsen und kleinen Gehirns ausfüllen können; hingegen steht der Affe gewiſs nicht so hoch in Betreff der Geisteskräfte überhaupt über den untersten der Säugthiere, als bey jener Meinung der Fall seyn müſste. Der Affe hat schwerlich im All - gemeinen mehr Intelligenz als der Fuchs; der Delphin hat noch weniger, und doch besitzt so - wohl der Affe als der Delphin mehr Masse der Hirnwindungen und der Seitentheile des kleinen Gehirns in Verhältniſs zum verlängerten Mark, und weit zahlreichere Hirnwindungen, als der Fuchs. Die Thatsachen, die sich für die obige Meinung anführen lassen, sind aber auch noch anderer Deutungen fähig. Es wäre z. B. mög - lich, daſs der Mensch darum so viel gröſsere und zahlreichere Hirnwindungen hätte, weil er bey seiner höchst zusammengesetzten Organisa - tion doch ein verhältniſsmäſsig starkes, und da - bey immer reges Zeugungsvermögen besitzt.

Doch dieſs ist eine bloſse Möglichkeit und soll auch nur für eine solche gelten. Ist sie wirklich gegründet, so kann doch jenes physi - sche Verhältniſs nicht das einzige der erwähntenTheile141Theile seyn, sondern es muſs zugleich geistige Beziehungen derselben geben. Und so verhält es sich auch. Die Windungen der mittlern und hintern Lappen des groſsen Gehirns sind vor - züglich für den Gesichtssinn gebildet; die der vordern Lappen beziehen sich auf den Geruchs - sinn, doch mehr bey denjenigen Thieren, die Riechfortsätze besitzen, als beym Menschen und den Affen; die Seitentheile des kleinen Gehirns sind besonders des Gehörssinns wegen vorhan - den. Allein es ist nicht so sehr Schärfe dieser Sinne, als das Vermögen, alle Modifikationen und alle Abstufungen dieser Modifikationen der Sin - nesgegenstände wahrzunehmen, die empfangenen Eindrücke aufzubewahren, sie mit einander zu verknüpfen und zu reproduciren, wofür gewisse Hirnorgane der höhern Thiere mehr Masse und Ausbildung haben. Wir müssen überhaupt, um über die Funktionen der Hirnorgane mit Erfolg Untersuchungen anstellen zu können, eine nie - dere und höhere Sphäre des sensitiven Lebens unterscheiden. Die Organe der niedern Sphäre beziehen sich blos auf das Auffassen der Sinnes - eindrücke, die der höhern aber auf die Modali - tät, Aufbewahrung und Verknüpfung derselben. Diese höhere Sphäre steht nicht mit der abso - luten Gröſse der Nerven in nothwendiger Ver - bindung; sonst würden manche Fische, deren Sehenerven sowohl absolut, als in Vergleichungmit142mit dem übrigen Gehirn und dem Auge, eben so groſs, oder selbst weit gröſser als die Sehe - nerven mancher Säugthiere sind, die mit ihnen einerley Masse des ganzen Körpers haben, weit reicher an Gesichtsvorstellungen als die letztern seyn müssen. Eine gewisse Gröſse des Gesichts - nerven muſs jedoch allerdings auch zum Reich - thum an diesen Vorstellungen nothwendig seyn, da im ganzen Thierreiche mit der abnehmenden oder aufhörenden Verrichtung eines Sinnesorgans der Nerve desselben kleiner wird und selbst ganz verschwindet, wie unter andern die Augenner - ven des Maulwurfs, der Amphisbänen und des Proteus, so wie die Geruchsnerven des Delphins zeigen.

Bey denjenigen Thieren nun, wo das Ge - sicht ein sehr untergeordneter Sinn ist, finden wir immer eine weit geringere Masse von Win - dungen des groſsen Gehirns, mit Ausnahme de - rer, die den Riechfortsätzen angehören, als bey den verwandten Arten, die mehr in der Welt des Gesichts leben. So hat der Maulwurf bey seinen, dem bloſsen Auge kaum bemerkbaren Sehenerven, statt aller obern Hirnwindungen nur noch eine dünne, ganz ungefaltene, gröſsten - theils aus Rinde bestehende Decke der Seiten - höhlen. Auch bey der Ratze, der Maus, dem Hamster, dem Igel und den Fledermäusen, Thie -ren,143ren, die insgesammt sehr dünne Sehenerven be - sitzen und wenig durch den Gesichtssinn gelei - tet werden, ist diese Decke noch sehr wenig gewölbt und auf der obern Seite ohne alle Windungen, obgleich sie schon mehr Masse und Wölbung als beym Maulwurfe hat. Hingegen beym Eichhörnchen, dem Hasen und allen übri - gen Nagethieren, die gröſsere Sehenerven be - sitzen und mehr von den Augen Gebrauch machen, ist sie weit entwickelter, und beym Ha - sen schon gefalten. Die ganze äuſsere Masse des groſsen Gehirns ist gröſser und von zusam - mengesetzterm Bau als im ganzen übrigen Thier - reiche bey dem Menschen, den Affen und dem Delphin, also bey denen Geschlechtern der Säug - thiere, die mehr in und durch Vorstellungen des Gesichts als des Geruchssinns leben.

Wo sich Riechfortsätze bilden, nimmt die übrige äuſsere Hirnmasse ab. Doch auch diese Organe stehen keinesweges ihrem ganzen Um - fange nach mit der Schärfe des Geruchs in Ver - hältniſs, sondern es ist vorzüglich die Breite des auf ihrer untern Fläche an derselben Stelle, wo der Geruchsnerve des Menschen liegt, be - findlichen Markstreifen, von dessen Ausdehnung diese Schärfe abhängt. Was also die Riechkör - per noch sonst an Hirnmasse enthalten, dient zuandern144andern Zwecken, als zur unmittelbaren Auffas - sung der Geruchseindrücke.

Für die Beziehung der Hemisphären des kleinen Gehirns auf den Gehörssinn ist ein wich - tiger Beweis der Umstand, daſs sie nur in der Classe der Säugthiere ausgebildet vorhanden sind, also bey denen Thieren, deren inneres Ohr eine Schnecke hat, und daſs von ihnen wie von die - ser bey den Vögeln nur noch Rudimente vor - handen sind. Die Masse derselben ist ferner, wie die der Windungen des groſsen Gehirns, bey dem Menschen, dessen höhere sensitive Sphäre sich eben so sehr auf das Hörbare wie auf das Sichtbare der äuſsern Natur erstreckt, gröſser in Verhältniſs zur Masse des verlänger - ten Marks, als bey irgend einem andern Thier. Sie ist in dieser Hinsicht weit gröſser als die des groſsen Gehirns, nach Abzug der Riechfort - sätze, bey dem durch einen groſsen Hörapparat für die Beschränktheit seines Gesichtssinns ent - schädigten Maulwurf. Vielleicht wird es noch einst gelingen, eine nähere Beziehung zwischen der Bildung der Hemisphären des kleinen Ge - hirns und der Organisation des Ohrs nachzu - weisen. Uebrigens ist auch eine organische Ver - bindung der Hörnerven mit dem kleinen Gehirn nicht zu bezweifeln. So oft ich bey Säugthieren, wo die von den Gebrüdern Wenzel unter demNamen145Namen der grauen Leisten beschriebenen Anfänge dieser Nerven sehr hervorragen, zu welchen vor - züglich mehrere Nagethiere, unter andern das Meerschwein, gehören, den Ursprung dieser Leisten verfolgte, sahe ich sie neben dem Ueber - gang der strickförmigen Körper in das kleine Gehirn, auf der innern Seite derselben, aus dem letztern hervorgehen.

Diese Beziehung des Gehörssinns findet aber, welches nicht zu übersehen ist, nur auf die Hemisphären des kleinen Gehirns statt. Der mittlere Theil des letztern (der Wurm) steht mit keiner Eigenschaft jenes Sinns in Verhältniſs, hingegen richtet sich die Gröſse desselben nach der Gröſse der strickförmigen Körper des ver - längerten Marks, in deren Nähe keine Sinnes - nerven, wohl aber alle, zum herumschweifenden System gehörige Nerven entspringen. Aus dieser Nähe und einigen minder wichtigen Gründen schloſs Willise)A. a. O. C. 17. p. 55. auf eine Abhängigkeit der Funktionen, welche durch dieses System unter - halten werden, vom kleinen Gehirn überhaupt. Seine Meinung läſst sich in dieser Ausdehnung nicht vertheidigen, besonders nicht gegen den Einwurf, daſs nicht alle Verletzungen des kleinen Gehirns von so gefährlichen Folgen sind, wie siebeyVI. Bd. K146bey derselben seyn müſsten. Wohl aber sprechen auſser jener Nähe noch andere Thatsachen für einen Einfluſs des Wurms auf alle anapnoische und unmittelbar von den anapnoischen abhängige Bewegungen. Das Athemholen hat nur einen festen Rhythmus bey den Säugthieren und Vögeln, also in den beyden Thierclassen, wo der Wurm noch ein bedeutendes Verhältniſs zum verlänger - ten Mark hat und ein baumförmig verzweigtes Mark enthält, und auch nur diese vermögen artikulirte oder melodische Töne hervorzubringen. Alle Amphibien und Fische stehen in der relati - ven Gröſse und der Ausbildung dieses Organs tief unter den Säugthieren und Vögeln. Manche Arten, deren Respiration sehr beschränkt ist, z. B. die Frösche und Salamander, besitzen nur noch ein geringes Rudiment desselben.

Nach einem andern Gesetz als die bisher erwähnten Organe verändern sich auf den ver - schiedenen Stufen des Thierreichs die Vierhügel. Sie finden sich am ausgebildetsten bey den Säugthieren. Sie wachsen oder bleiben unver - ändert in dieser Thierclasse bey der Verminderung der ganzen Masse des groſsen und kleinen Gehirns in Vergleichung mit dem verlängerten Mark, und verändern sich in ihrer Gestalt und ihrem wechselseitigen Verhältniſs in den ver - schiedenen Familien jener Thiere. Bey den -geln147geln verwandeln sie sich in eine bloſse Queer - binde, und bey den Amphibien verschwinden sie ganz. Sie erscheinen von neuem bey manchen Fischen, doch nur bey wenigen in ähnlicher Gestalt, wie bey den Säugthieren. Sie gehen seitwärts in die Sehehügel, hinten in das kleine Gehirn über. Von der auswendigen Seite des obern Paars kommen Markfasern, die sich mit denen verbinden, welche von der Oberfläche der Sehehügel entstehen, um die Wurzeln der Sehe - nerven zu bilden. Von der nämlichen Seite des hintern Paars erstreckt sich zu eben diesen Wur - zeln ein Markbündel, der sich an dem hintern Rand derselben bis zum Chiasma verfolgen läſst. Einen andern Fortsatz sah ich bey mehrern Thieren von der Oberfläche des hintern Paars nach dem vordern Rand der Brücke gehen und sich in der Nähe des Ursprungs der Nerven des dritten Paars verlieren. Mit dem vordern Paar steht die Markleiste in Verbindung, welche an dem innern Rand der Oberfläche des Sehehügels liegt, und die sich bey dem Menschen und den Affen bis in die Nähe des Ursprungs der innern Wurzel des Geruchsnerven, bey den Säugthieren, die Riechfortsätze besitzen, bis in diese Körper verfolgen läſst. Aus der mit dem hintern Paar ein Ganzes ausmachenden Markklappe entstehen die pathetischen Nerven. Zum Innern beyder Paare gehen die zu beyden Seiten der Pyrami -K 2den148den liegenden Bündel, auf welchen die Zungen - fleischnerven ihre Wurzeln haben, und woraus zum Theil auch die Nerven des fünften und sechsten Paars ihren Ursprung nehmen.

Bey diesem, meist unmittelbaren Zusammen - hang der Vierhügel mit allen am Gehirn ent - springenden Nerven der Sinneswerkzeuge ist nicht zu zweifeln, daſs in ihnen gewisse, ent - weder zur Bildung dieser Nerven beytragende, oder die Verrichtungen derselben auf irgend eine Art modifizirende Faserstränge ihren gemeinschaft - lichen Mittelpunkt haben. Die von ihnen zu den Augen - und Nasennerven gehenden Stränge ent - springen aber nur aus ihrer Oberfläche, und weder von diesen, noch von ihren Fortsätzen zum kleinen Gehirn kann die Gröſse ihres Ver - hältnisses zum verlängerten Mark bey den nie - dern Säugthieren herrühren. Diese läſst sich nur von ihrer Verbindung mit den Wurzeln der Zungennerven ableiten. Die Ab - und Zunahme ihres Volumens überhaupt richtet sich in der That auch bey den Säugthieren nach der Stärke der Zungenfleischnerven und der zur Zunge gehenden Zweige des fünften Nervenpaars, und aus unsern obigen Untersuchungen über die Ver - änderung des Verhältnisses der Länge des vordern Paars dieser Hügel gegen die des hintern in den verschiedenen Säugthierfamilien ergiebt sich, daſsdie -149dieselbe mit der Nahrungsweise der Thiere, also mit Eigenthümlichkeiten, die verschiedene Modi - fikationen des Geschmackssinns voraussetzen, in naher Beziehung steht. Die Vögel haben eine weit weniger bewegliche Zunge und einen weit stumpfern Geschmack, als die Säugthiere. Bey ihnen besteht deswegen das Vierhügelgebilde fast nur noch in einer Markbinde. In der Classe der Amphibien, wo in einigen Familien die Zunge gar keine Beweglichkeit mehr hat, in andern bey mehr Bewegungsvermögen schwerlich noch als Geschmacksorgan dienen kann, und alle übrige Sinnesorgane auf einer sehr viel niedri - gern Stufe der Ausbildung als in den beyden höhern Thierclassen stehen, sind gar keine Vier - hügel mehr vorhanden. Daſs diese Theile sich wieder bey den Fischen, doch nur mit einem sehr geringen Volumen, zeigen, scheint auf Modifikationen anderer Sinne als des Geschmacks zu beruhen.

Wie die Vierhügel, so haben auch die Am - monshörner bey den Säugthieren ein desto gröſse - res Verhältniſs zum groſsen und kleinen Gehirn, je kleiner diese beyden Eingeweide zusammen - genommen gegen die Masse des verlängerten Marks werden. Sie richten sich aber auch in ihrem Wachsen und Abnehmen nach der Ab - und Zunahme der Geruchsnerven oder der Riech -K 3fort -150fortsätze. Ihr unteres Ende flieſst in der Gegend der Sylvischen Grube mit der Marksubstanz zu - sammen, aus welcher diese Nerven oder Fort - sätze zum Theil entspringen; ihr innerer Rand geht in den Balken über, und über ihre aus - wendige Fläche breitet sich eine fasrige Scheide von den zwischen den gestreiften Körpern und den Sehehügeln liegenden Fortsätzen des Gewöl - bes aus.

Beobachtungen an Miſsbildungen sprechen ebenfalls für diese unsere Meinung von der Be - ziehung der Ammonshörner auf die Riechnerven oder Riechfortsätze.

Tiedemann sah, wie er mir schreibt, in zwey mit Wolfsrachen gebohrnen Kindern die Riechnerven gänzlich fehlen. Die beyden He - misphären des groſsen Gehirns waren nach vorn durch Windungen verbunden, die von einer Hemisphäre quer zur andern liefen. Die Am - monshörner und der Fornix waren nicht ausge - füllt. In einem andern Kinde, das ohne Nase zur Welt kam und bey welchem die Augen nicht entwickelt waren, fand er ebenfalls keine Riech - nerven. Die Sehenerven waren sehr dünn; das groſse Gehirn hatte keine Furchen und Windun - gen; die Ammonshörner und der Bogen waren auch hier nicht ausgebildet.

Rudol -151

Rudolphi hat das Gehirn von einem Kinde beschriebenf)Abhandl. der physikal. Klasse der Königl. Preussi - schen Akad. der Wissensch. aus den J. 1814 15. S. 185., woran der Riechnerve, der Sehe - nerve, der Nerve des dritten, vierten und sechs - ten Paars der rechten Seite ganz fehlte, die Nerven der linken Seite und die übrigen der rechten Seite vorhanden und, mit Ausnahme des linken Riechnerven, der ohne Wurzeln gleich als ein starker Nerve aus dem Theil des Gehirns, welcher den gestreiften Körper umfaſst, her - vortrat, regelmäſsig gebildet waren. Mit dieser Abwesenheit des Geruchsnerven und der Augen - nerven der rechten Seite standen folgende Miſs - bildungen des Gehirns in Verbindung. An der rechten Hemisphäre des groſsen Gehirns waren die Windungen viel tiefer wie gewöhnlich einge - schnitten, so daſs zwischen den Windungen mehrere groſse Höhlen vorkamen; an der linken Halbkugel war blos die Sylvische Grube fehler - haft gebildet und zu klein. Der Balken erstreckte sich auf der rechten Seite lange nicht so weit nach hinten als auf der linken. Die rechte Sei - tenhöhle zeigte sich kleiner als die linke; ihr vorderes Horn war kürzer; das hintere und das absteigende fehlten fast ganz. Statt des rechten Sehehügels fand sich eine starke birnförmigeMasse,K 4152Masse, die sich in den Anfang des rechten hin - tern Hirnlappens dieser Seite verlief. Das rechte Ammonshorn war sehr schwach und versteckt. Von der sich in diesen Theil ausbreitenden Tänia und dem rechten vordern Schenkel des Gewölbes war fast nichts vorhanden. Die graue Hervorragung des Trichters war auf der linken Seite gröſser als auf der rechten. Das rechte Markkügelchen (Eminentia candicans) fehlte. Die Hirnschenkel, die Vierhügel, die Klappe, das Marksegel und die Pyramiden hatten den regel - mäſsigen Bau. Das kleine Gehirn war sehr klein, allein in den Hälften gleich, die Varolische Brücke ebenfalls klein und etwas zusammenge - drückt, aber auch auf beyden Seiten ziemlich gleich, hingegen der linke Olivarkörper kleiner als der rechte.

Dieser letztere Fall beweist zwar für sich nichts in Betreff der Beziehung des Hippocampus auf den Geruchsnerven; aber in Verbindung mit den übrigen Gründen ist er ebenfalls beweisend. Er enthält zugleich mehrere Umstände, wodurch die übrigen unserer obigen Sätze bestätigt und erläutert werden. Auf der nämlichen Seite, wo die Nerven des ersten Paars und die der Augen fehlten, waren die Windungen des groſsen Ge - hirns, der Sehehügel und der Hippocampus in ihrer Entwickelung zurückgeblieben. Aber Ueber -bleibsel153bleibsel von diesen Theilen waren doch noch zugegen. Beyde Hirnhälften müssen daher in einer wechselseitigen Abhängigkeit stehen. Daſs das kleine Gehirn nicht die gewöhnliche Gröſse hatte, jedoch in beyden Hälften gleichmäſsig ent - wickelt war, ist ein Beweis für eine Wechsel - wirkung desselben mit dem groſsen Gehirn, wobey aber keine nähere Gemeinschaft der einen Hälfte desselben mit der gleichseitigen Hälfte des letztern statt findet. Wenn übrigens Rudolphi an den Vierhügeln keine Abweichung vom ge - sunden Bau bemerkt zu haben versichert, so spricht auch dies für unsere Meinung, daſs die - selben sich vorzüglich auf das Geschmacksorgan beziehen, dessen Nerven in dem obigen Fall den regelmäſsigen Bau hatten. Da indeſs von ihnen wenigstens zu den Sehenerven deutliche Markstreifen gehen, welche dort auf der linken Seite gefehlt haben müssen, so ist es doch un - wahrscheinlich, daſs nicht auch an ihnen die linke Hälfte etwas kleiner als die rechte gewesen seyn sollte.

Merkwürdig ist, daſs der linke Olivarkörper an der Miſsbildung der rechten Hälfte des groſsen Gehirns Theil nahm. Wären diese Körper, gleich den übrigen Theilen des verlängerten Marks, auf beyden Seiten gleich groſs gewesen, so würde sich eine Verbindung derselben mit den Tast -organen154organen vermuthen lassen, denjenigen Sinnes - werkzeugen, bey denen sich eine Wechselwirkung mit dem verlängerten Mark annehmen läſst, und in deren Ausbildung der Mensch eben so sehr von den übrigen Thieren, als in der Bildung jener Körper, verschieden ist. Bey dieser Bezie - hung würden aber wahrscheinlich die Bildungs - fehler der einen Hälfte des groſsen Gehirns kei - nen Einfluſs auf die eine der beyden Oliven ge - habt haben. Daſs der kleinere dieser Körper sich auf der entgegengesetzten Seite der übrigen Miſsbildungen befand, deutet auf eine noch unbekannte organische Verbindung jeder Olive mit der entgegengesetzten Hemisphäre des groſsen Gehirns hin.

In Rudolphi’s Fall hatte der Mangel an Entwickelung der Geruchs - und Augennerven der rechten Hirnhälfte und der mit jenen Nerven in Gemeinschaft stehenden Hirnorgane dieser He - misphäre auch auf die Ausbildung der gleichsei - tigen Hälfte sowohl des Balkens als des Ge - wölbes Einfluſs gehabt, und in den von Tie - demann gemachten Beobachtungen war mit dem Mangel an beyden Geruchsnerven ein unent - wickelter Zustand des ganzen Gewölbes verbun - den. Hiernach müssen auch diese Theile, vor - züglich derjenigen Hirnfunktionen wegen, die von dem Geruchs - und Gesichtssinn erzeugteVorstel -155Vorstellungen betreffen, vorhanden seyn. Ihrem Bau nach sind sie Verbindungsorgane, und zwar vereinigt der Balken meist gleichartige, das Ge - wölbe ungleichartige Theile. Durch jenen ist ein Zusammenhang der Hirnwindungen und der ge - streiften Körper beyder Hemisphären vermittelt. Von dem grauen, zwischen den Vordertheilen der gestreiften Hügel liegenden Körper des Gewölbes gehen Markfortsätze nach vorne zu dem Ursprung der Geruchsnerven, oder bey den vierfüſsigen Säugthieren in die Riechfortsätze, nach unten zu den weiſslichen Erhabenheiten; seitwärts erstrek - ken sich aus ihnen die Tänien theils zum An - fange der Sehenerven, theils zu den Ammons - hörnern; hinten sind sie durch die Leyer, und oben vermöge der durchsichtigen Scheidewand mit dem Balken verbunden. Zur Vereinigung gleichartiger Theile beyder Hirnhälften dienen mit dem Balken auch die Brücke, die vordere und hintere Commissur, und, wie durch die Fortsätze des Gewölbes, so sind auch durch Markfortsätze, die sich von einer über der grauen Hervorragung des Trichters liegenden An - sammlung von Mark nach mehrern Richtungen erstrecken, ungleichartige Theile des Gehirns mit einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt verbunden.

Diese Verbindungstheile sind aber nur im Allgemeinen als vereinigende Organe einanderähnlich.156ähnlich. In ihrer Bildung und gewiſs auch in ihren Funktionen finden groſse Verschiedenheiten unter ihnen statt. Der Balken enthält in seinem mittlern Theil längslaufende Fasern, welche das hintere Ende der Hemisphären des groſsen Ge - hirns mit dem vordern verbinden. Diese machen aber nur einen geringen Theil seiner Masse aus. Er besteht gröſstentheils aus parallelen, gedrängt an einander liegenden, von seiner Mittellinie in die Hirnwindungen und in den äuſsern Rand der gestreiften Körper übergehenden Markplatten. Die übrigen Commissuren haben nicht eine sol - che blättrige Textur und eine weit geringere Masse. Der Balken scheint daher mehr als bloſses Verbindungsorgan zu seyn. Reil fand bey der Untersuchung des Gehirns einer Frau von dreyſsig und einigen Jahren, die sonst ge - sund, aber stumpfsinnig war, doch von dem Dorfe, wo sie wohnte, für Andere in die Stadt gehen und gewöhnliche Aufträge ausrichten konnte, und plötzlich am Schlagfluſs gestorben war, daſs der mittlere und freye Theil des Bal - kens in seinem ganzen Verlauf fehlte, die Sehe - hügel blos lagen, und die beyden Hirnhälften nur durch die vordere und hintere Commissur, die Haube der Hirnschenkel vor der Brücke und die Vierhügel zusammengehalten wurden. Das Ge - wölbe entsprang und verlief auf die gewöhnliche Art; nur floſs es zu beyden Seiten über dervordern157vordern Commissur mit der Decke der Hirnhöhle zusammen, die unmittelbar unter den Längen - windungen fortgeht, und bildete mit ihr einen glatten, abgerundeten Randg)Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. XI. S. 341.. Wäre der Bal - ken seiner ganzen Masse nach blos eine Com - missur, so würde in diesem Falle wohl nicht so sehr Armuth an Ideen, als Verwirrung des Geistes statt gefunden haben.

Nach allen mir bekannten Beobachtungen über die Folgen von Verletzungen des Balkens zu schlieſsen, ist das Gedächtniſs von keinem Hirnorgan so abhängig, als von diesem. Plater fand bey einem Mann, der zwey Jahre lang an Störung der Geistesthätigkeit litt, in den letz - ten sechs Monaten seines Lebens völlig stumpf - sinnig wurde, fast beständig schlief, aufgeweckt und befragt Worte ohne Zusammenhang ant - wortete, und selbst Nahrung nur gezwungen zu sich nahm, eine runde Geschwulst von der Gröſse eines mittelmäſsigen Apfels auf dem Bal - kenh)Boneti Sepulchr. T. I. Obs. 4. p. 256.. Auf eben diesem Theil traf Panarolus bey einem Priester, der plötzlich blödsinnig wur -deVI. Bd. L158de und zuletzt am Schlagflusse starb, runde, weiſse, mit einer schleimigen Flüssigkeit ange - füllte Blasen ani)Boneti Sepulchr. T. I. Obs. 12. p. 259.. La Peyronnie führt aus - drücklich den gänzlichen Verlust des Gedächtnis - ses in zwey Fällen von Verletzung des Balkens an. In dem einen Fall, wo bey einem Mann von zwey und dreyſsig Jahren fast der ganze obere Theil des Balkens in Eiterung übergegan - gen und die Organisation des übrigen Theils desselben höchst zerrüttet, sonst aber kein Feh - ler, als starke Anhäufung des Bluts in den Hirngefäſsen, zu entdecken war, trat dieser Verlust nach einem halbjährigen Kränkeln sechs Monate vor dem Tode ein. In dem andern Fall verlor ein funfzigjähriger Mann das Ge - dächtniſs schon zwey Jahre vor dem Tode. Bey der Leichenöffnung fand sich in der rechten Hirnhemisphäre unter der Vereinigung der Pfeil - nath mit der Kronnath ein Geschwür, das sich bis in den Balken erstreckte, dessen gröſster Theil, besonders auf der rechten Seite, zugleich bleich und schlaff wark)Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1741. p. 288. 289 der Octav-Ausg. Obs. 8 et 9.. Bey allen diesen Kranken wurden keine paralytische und andere Zufälle bemerkt, die ein Leiden der gestreiften Körper und der übrigen, unmittelbar mit demverlän -159verlängerten Mark verbundenen Hirnorgane an - zeigen. In andern Fällen von organischen Krank - heiten des Balkens waren noch andere geistige und körperliche Funktionen verletztl)Z. B. bey Peyronnie in der 10ten Beobachtung und den folgenden. A. a. O. p. 290.. Aber hier litten mit dem Balken mehrere andere Theile des Gehirns. Nimmt man zu diesen Gründen noch, daſs auch nicht etwa die Sinnesnerven Organe des Gedächtnisses seyn können, indem Atrophie und Lähmung derselben keinen noth - wendigen Einfluſs auf diese Kraft hat, und selbst ein Wechsel zwischen Lähmung der Or - gane des Gedächtnisses und der Sinnesnerven eintreten kannm)Willis (De anima brut. c. 4. Opp. p. 25.) kannte einen Mann, der lange an groſser Schwäche des Gedächtnisses und der Einbildungskraft litt, und von dieser Krankheit genas, als er blind wurde.. so wird man die Vermuthung dessen nicht verwerflich finden, der in den zahllosen Markplatten des Balkens die Blätter eines Buchs sieht, bezeichnet mit den Hiero - glyphen des Empfundenen, Gedachten und Ge - wollten, der Leiden und Freuden des irdischen Daseyns der Psyche.

Wie durch den Balken die Hemisphären des groſsen Gehirns, so sind durch die Brücke dieSeiten -L 2160Seitentheile des kleinen Gehirns mit einander vereinigt. Hierauf beschränkt sich aber auch alle Aehnlichkeit dieser beyden Organe. Die Brücke geht nicht, wie der Balken, blos mit ihren Rändern in die Hirnsubstanz über, sondern wird auch ihrer ganzen Ausdehnung nach von den zu den Hirnschenkeln gehenden Strängen des verlängerten Marks durchkreutzt, bey welchem Durchgange dieselben zugleich einen Zuwachs an Masse erhalten. Vermöge dieses Zusammenhangs stehen jene Stränge unter dem Einfluſs nicht nur des groſsen, sondern auch des kleinen Ge - hirns, und zwar scheint das letztere vorzüglich insofern, als es Organ der Vorstellungen von hörbaren Eindrücken ist, auf den vordern Theil des verlängerten Marks, der sich in alle Nerven der willkürlichen Bewegung durch das Rücken - mark fortsetzt, mit einzuwirken.

Die vordere und hintere Commissur können nach ihrer einfachen, blos fasrigen Struktur und der ganz isolirten Lage ihrer Mittelstücke nur Verbindungsorgane seyn. Jene erstreckt sich bey den Thieren, die Riechfortsätze besitzen, ganz bis in die äuſsersten Enden dieser Theile; bey dem Menschen verliert sie sich auf jeder Seite zwischen dem vordern Theil der Radiation des gestreiften Körpers in der Gegend des Ursprungs der Riechnerven. Diese vereinigt die innernTheile161Theile der Sehehügel. Beyde haben ein weit gröſseres Verhältniſs zum ganzen Gehirn bey den niedern Wirbelthieren, als bey den höhern. Sie sind daher bey jenen von gröſserer Wich - tigkeit als bey den letztern, und wahrscheinlich Surrogate für die bey den Vögeln, Amphibien und Fischen ganz fehlenden, oder doch weniger ausgebildeten, übrigen Verbindungsorgane beyder Hirnhälften der Säugthiere.

Die innige Vereinigung aller ungleichartigen Hirnorgane unter sich und mit der im Innern der Hirnmasse über der grauen Hervorragung des Trichters liegenden Ansammlung von Mark vermittelst des Gewölbes und der sich nach allen Seiten erstreckenden Fortsätze dieser Masse giebt einen Grund zur Erklärung der Einheit des Bewuſstseyns bey aller Mannichfaltigkeit der Empfindungen und zur Beantwortung der Frage: Wie ein Eindruck auf einen einzelnen Sinnes - nerven Erinnerungen, Gefühle und willkürliche Handlungen veranlassen kann, die sich auf Ge - genstände von ganz verschiedener Beschaffenheit beziehen? Die übrigen Säugthiere haben jene Organe mit dem Menschen gemein. Bey den niedrigern Wirbelthieren aber verschwinden die - selben immer mehr, und in eben dem Maaſse wird auch die Vereinigung der gleichartigen Organe beyder Hirnhälften immer schwächer. L 3Hier162Hier findet deshalb nicht immer Einheit der Empfindung bey der Thätigkeit gleichartiger Sin - nesorgane statt, wie viele Vögel, Amphibien und Fische beweisen, die nach der Lage und Bewegung ihrer Augen häufig mit diesen ver - schiedene Gegenstände zu gleicher Zeit sehen müssen. Daher auch die um so geringere Fähigkeit der Thiere, sich von dem Menschen zu dessen Zwecken abrichten zu lassen, je ent - fernter sie von ihm in der Organisation des Gehirns stehen.

An der Stelle der Basis des Gehirns, über welcher die erwähnte, sich nach allen Seiten fortsetzende Ansammlung von Mark liegt, ist der Hirnanhang befestigt, und ihr gegenüber, auf der obern Seite des Gehirns, hängt die Zirbel mit einer Stelle zusammen, an welche das vordere Paar der Vierhügel gränzt, un - ter der die Sehehügel durch die hintere Com - missur mit einander verbunden sind, und die der Ursprungsort der beyden, den innern Rand der Sehehügel begränzenden, sich bis in den Vordertheil des Gehirns erstreckenden Marklei - sten, so wie der von der Oberfläche der Sehe - hügel zum Ursprung der Sehenerven gehenden Markfasern ist. Wir finden beyde Organe in allen Classen der Wirbelthiere, aber mit man - nichfaltigen Abänderungen ihrer Gestalt, in ver -schie -163schiedenem Verhältniſs ihrer Gröſse gegen die übrigen Hirntheile, und ohne daſs sich ein Gesetz angeben läſst, nach welchem diese Abän - derungen erfolgen. Sie erleiden in Krankheiten häufige und groſse Umwandlungen ihrer Form und Textur. Man hat selbst in einigen Fällen die Zirbel ganz vermiſstn)Georget de la folie. (Paris. 1820.) p. 490.. Allein diese Ab - weichungen vom gesunden Bau sind nicht auf gewisse Krankheiten beschränkt. Beyde Organe waren im Wahnsinn, im Blödsinn und bey der Fallsucht oft krankhaft verändert; doch oft lieſs sich in eben diesen Krankheiten keine Unregel - mäſsigkeit an ihnen entdecken, wohl aber in andern, bey denen keine Störung der Hirn - funktionen statt gefunden hatte. Was sich in Betreff ihrer Verrichtungen mit einiger Wahr - scheinlichkeit angeben läſst, beschränkt sich nur darauf, daſs sie das zu einer gewissen Art von Thätigkeit des Gehirns erforderliche Blut vorbereiten und in Bereitschaft halten, und daſs hiermit bey dem Menschen die Absonderung einer steinigen Materie in Verbindung steht, die zwar vorzüglich an der Zirbel statt findet und auf derselben den Hirnsand bildet, welche aber auch am Hirnanhang bemerkt isto)Bichat Anat. descript. T. III. p. 75., und von derenStö -L 4164Störung vielleicht die bey vielen Geisteskran - ken vorkommende Verdickung des Schädels, so wie die zu den seltenern Erscheinungen ge - hörende Erzeugung von erdartigen Concretionen im Innern des Gehirns, abzuleiten istp)Merkwürdig ist in dieser Hinsicht ein, von Kerk - rino (Spicil. anatom. Obs. 35. p. 76.) beschriebe - ner Fall, wo bey einem Blödsinnigen ein 13 Gran schwerer Stein in einer der Seitenhöhlen des Ge - hirns gefunden wurde, und keine Zirbel vorhanden war..

Eine Vorbereitung des Bluts zu gewissen, in der Marksubstanz sich ereignenden, organi - schen Processen scheint überhaupt in aller Rinde des Gehirns, des Rückenmarks und der Nerven - knoten statt zu finden. Es hält aber schwer zu bestimmen, von welcher Beschaffenheit diese Processe sind. Die Rinde fehlt an markigen Theilen, durch welche blos Fortpflanzung empfan - gener Eindrücke geschieht, und welche während ihres Verlaufs nicht an Masse zunehmen. Sie findet sich daher nicht an der vordern und hintern Commissur, und nicht an den Bewegungs - und Sinnesnerven, mit Ausnahme des Geruchs - nerven. Auch dem Balken ist sie in geringer Menge beygemischt. Hingegen scheint der sym - pathische Nerve nicht nur in seinen Knoten,sondern165sondern auch in seinen Zweigen allenthalben graue Substanz zu enthalten. Im Gehirn steht ihre Quantität nicht immer mit der des Marks in Verhältniſs. In den vordern Hemisphären des Gehirns der Vögel giebt es sehr wenig Mark bey sehr viel Rinde; hingegen in den hintern Hemisphären derselben ist eben so viel, wo nicht mehr, Mark als Rinde befindlich. Mechani - sche Verletzungen und örtliche organische Fehler der letztern haben keinen, weder extensiv, noch intensiv so groſsen Einfluſs auf das übrige Ge - hirn und auf den ganzen Körper, als ähnliche Verletzungen und Fehler des Marks. In allen den Fällen, wo Wunden und Vereiterungen so - wohl innerer, als äuſserer Theile des Gehirns ohne bedeutende Störung einer Funktion vor - handen waren und selbst wieder geheilt wurden, erstreckte sich die Verletzung wohl nur auf eine gewisse Masse von grauer Substanz. Hingegen glaube ich nicht, daſs eine allgemeine krankhafte Veränderung der ganzen Rinde des Gehirns ohne ein Mitleiden der Marksubstanz und ohne groſse Störung der Geistesthätigkeit möglich ist. Bey allen Wahnsinnigen und Blödsinnigen, deren Ge - hirn ich zu untersuchen Gelegenheit gehabt habe, fand ich immer, was auch Rosenthalq)In Horn’s, Nasse’s u. Henke’s Archiv für modic. Erfahrungen. B. I. S. 412.undL 5166und Marshalr)Untersuchungen des Gehirns im Wahnsinn u. s. w. als ein Hauptresultat ihrer Leichenöffnungen von Menschen, die an Ge - müthskrankheiten verstorben waren, angeben, die Rinde von bleicherer und das Mark von nicht so weisser Farbe, wie im natürlichen Zu - stande.

Ich glaube, die Rinde ist Bedingung jeder Selbstthätigkeit des Gehirns und Nervensystems überhaupt und der einzelnen Theile desselben. Je reiner sie vom Mark abgesondert ist, und je gröſser der Gegensatz zwischen beyden Substan - zen ist, desto mehr ist diese Selbstthätigkeit objektiver Art; je mehr hingegen beyde mit ein - ander vermischt sind, desto mehr ist die letztere subjektiv. Da alle instinktartige Handlungen ei - nen mehr subjektiven als objektiven Grund haben, und da der Instinkt ein allgemeineres Princip der Selbstthätigkeit bey den Vögeln, Amphibien und Fischen als bey den Säugthieren, und bey diesen mehr herrschend als beym Menschen ist, so läſst sich hieraus erklären, warum das Gehirn bey den Wirbelthieren der drey niedern Classen mehr Rinde in Verhältniſs zum Mark als bey den Säugthieren, und bey den letztern mehr als beym Menschen enthält. Auch ist aus dieser Hypothese begreiflich, weswegen alle Nerven dessym -167sympathischen Systems, dessen Wirkungen in einer blos subjectiven Selbstthätigkeit zu bestehen scheinen, eine grauere Farbe als die übrigen haben.

Zu einer nähern Bestimmung der Funktionen des Marks und der Rinde würde eine tiefere Kenntniſs der Wirkungen des Bluts bey der Thätigkeit der Hirnorgane und des Nervensy - stems nothwendig seyn, als wir bis jetzt besitzen. Diese fehlt uns noch so sehr, daſs selbst der Grund der ausgezeichneten Organisation mancher Blutgefäſse des Gehirns uns noch dunkel ist. Von einer solchen Bildung ist vorzüglich das Adergeflechte. Ich finde dieses Gefäſsnetz bey den Säugthieren, den Vögeln und den höhern Geschlechtern der Amphibien, z. B. bey der Midasschildkröte. Bey den Schlangen, Fröschen und den Fischen sind nur noch schwache Spuren davon übrig. Aher unter den Säugthieren sind auch nicht alle Arten damit versehen. Bey dem Maulwurf und mehrern Nagethieren liegt an der Stelle desselben in den Seitenhöhlen des Gehirns ein Strang von Gefäſsen, der keine netzartige oder verschlungene Bildung hat. Dagegen be - sitzen alle Vögel ein Adergeflecht von sehr aus - gezeichneter Struktur. Bey den gröſsern Arten, z. B. dem Schwan, sieht man deutlich mit Hülfe des Vergröſserungsglases, daſs die Venendessel -168desselben sich allenthalben während ihres Verlaufs zu blinden Säcken erweitern, indem die sich neben den Venen hinschlängelnden Arterien keine ähnliche Erweiterungen zeigen. An dem Ader - netz des Menschen und mehrerer Säugthiere haben diese Ausdehnungen das Ansehn von Bläs - chen, die krankhaft ausgeartet in Wasserblasen oder in drüsenförmige Körper übergehen. Die Bildung dieses Netzes ist im Wesentlichen über - einstimmend mit der, welche die Blutgefäſse der fachigen Körper (Corpora cavernosa) und ande - rer, einer Turgescenz fähigen Theile besitzen, und so scheinen in demselben ebenfalls zum Behuf gewisser Thätigkeiten des Gehirns, die eine partielle Anhäufung des Bluts erfordern, Anschwellungen einzutreten.

Einige Aehnlichkeit mit dem Adergeflecht hat das Wundernetz mehrerer Säugthiere. Wie jenes mit der Zirbel, so steht dieses mit dem Hirn - anhang in näherer Verbindung. Bey dem Wun - dernetz ist indeſs ein mechanischer Zweck nicht zu verkennen. Vieussenss)Neurograph. L. I. c. 7. bemerkte schon, daſs diejenigen Thiere dasselbe besitzen, die mit herabhängendem Kopfe gehen, und daſs diesen die Blutbehälter fehlen, die beym Menschen im Keilbein unter dem Türkensattel liegen. DerZweck169Zweck des Wundernetzes ist also Brechung des Andrangs des Bluts bey der durch die Wirkung der Schwere beschleunigten Bewegung desselben. Es besteht dasselbe aber auch blos aus Arterien, statt daſs die Haupttheile des Adergeflechts Venen sind, und an den Gefäſsen des Wundernetzes giebt es keine solche Erweiterungen, wie an den Adern dieses Geflechts vorhanden sind. Die Funktionen beyder Theile müssen also sehr ver - schieden seyn.

[I][II]

Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte.Sechsten Bandes zweyte Abtheilung.

Göttingen, bey Johann Friedrich Röwer. 1822.

[170][171]

Geschichte des physischen Lebens. Zehntes Buch.

VI. Bd. M[172][173]

Zehntes Buch. Die äuſsern Sinne.

Erster Abschnitt. Allgemeine Bemerkungen über die äuſsern Sinne.

Vermöge der äuſsern Sinne besitzt jedes Indi - viduum des Menschengeschlechts und der Thier - welt ein Bewuſstseyn von andern Naturen als der seinigen und von der Qualität dessen, was auf die seinige einwirkt. Alle Sinnesempfin - dungen sind objektiv. In dieser Objektivität allein besteht indeſs noch nicht das Unterschei - dende derselben. Das bloſse Lebensgefühl be - ruht ebenfalls auf dem Bewuſstseyn eines Gegen - satzes zwischen dem Innern und dem Aeuſsern, ohne jedoch unmittelbar von Empfindungen derM 2auſsern174äuſsern Sinne abzuhängen. Ein anderer Cha - rakter der Sinne ist auch das Vermögen, die Beschaffenheit der äuſsern Dinge willkührlich durch sie zu erforschen. Daher lassen sich jene nicht blos nach den verschiedenen Quali - täten der äuſsern Einwirkungen eintheilen. Für gewisse Eindrücke der Aussenwelt sind eigene Sinneswerkzeuge gebildet. Jedes dieser Organe besitzt aber zugleich Empfänglichkeit für ver - wandte Eindrücke. Man kann nicht für jeden der letztern einen eigenen Sinn annehmen, ohne die eigentliche Bedeutung dieses Worts ganz zu verändern. Bey dem Menschen sind nur die fünf Sinne vorhanden, die man von jeher als solche anerkannt hat. Vielleicht besitzen manche Thiere für einige Eindrücke besondere Organe. Wir können aber hier, wie in vielen andern Theilen der Biologie, nur von der menschlichen Organisation ausgehen, und nach der Aehnlich - keit oder Unähnlichkeit der Bildung und der Handlungen mit dem Menschen die übrige Thierwelt beurtheilen.

Der sowohl im Thierreiche, als auf der Oberfläche jedes Thiers am weitesten verbreitete Sinn ist der des Getastes. Dieser unterrich - tet im Allgemeinen von der mechanischen Ein - wirkung der Körper. Bey dem Menschen und einigen Thieren verschafft er auch Vorstellungenvon175von der Gestalt der äuſsern Gegenstände und der Beschaffenheit ihrer Oberfläche. Man setzt aber dem Gebiet desselben viel zu enge Gren - zen, wenn man ihn nur da annimmt, wo er blos diese Verrichtung ausübt. Mit mehr Recht lassen sich die Grenzen des Getastes erweitern. Jede mechanische Wirkung hat andere physi - sche oder chemische Wirkungen zur Folge, die wir ebenfalls und auch da, wo sie ohne vor - hergegangene mechanische Eindrücke statt fin - den, durch die Nerven des Getastes wahrneh - men. Vorzüglich wirkt auf diese Nerven Wär - me und Kälte. In gewissem Grade aber be - sitzen sie auch Empfänglichkeit für den Einfluſs des Lichts und des Schattens. Die Armpolypen, die Actinien und Asterien haben das feinste Gefühl für das Licht und gehen demselben nach, obgleich nichts an ihnen aufs Entfernteste Augen zu vergleichen ista)Trembley Mém. pour servir à l’Hist. d’un genre de Polype etc. p. 66. Baker Nat. Hist. of Polype. p. 68. No. 81. Dicqulmare, Philos. Transact. Y. 1775. Tiedemann in J. F. Meckel’s Archiv f. d. Physiol. B. 1. S. 175.. Die Regenwürmer fliehen dagegen das Licht, wofür sie doch eben - falls kein eigenes Organ haben. Configlia - chib)Monografia del proteo anguino di Laurenti. p. 33. fand, daſs wenn sich diese Würmer zurHälfteM 3176Hälfte auſserhalb der Erde des Gefäſses, worin er sie erhielt, befanden und er die Fensterladen ohne alles Geräusch öffnete, sie sich sogleich unter die Erde zurückzogen*)Montegre’s Beobachtungen (Mém. du Mus. d’Hist. nat. T. I. p. 243. 247. ), nach welchen ein sehr helles Licht keinen Eindruck auf den Regenwurm macht, wenn nicht der Zutritt desselben mit einer Erschüt - terung des Erdbodens verbunden ist, scheinen zwar hiermit nicht übereinzustimmen. Allein Montegre stellte seine Versuche mit diesem Wurm zur Zeit der Paarung desselben an, in welcher jedes Thier sehr unempfänglich für alle äuſsere Einwirkungen ist, die nicht mit dem Geschlechtstriebe in unmittel - barer Beziehung stehen.. Digbyc)Tractat. de natura corporum. C. 28. N. 7. er - zählt von einem Blinden, auf dessen Augen das hellste Sonnenlicht keinen Eindruck machte, daſs derselbe durch eine feine Empfindung am ganzen Körper wahrnehmen konnte, ob das Wetter helle oder trübe war. So ist auch bey Taubstummen oft der ganze Körper, besonders die Magengegend, gegen Geräusch sehr empfind - lichd)Mémoire sur les Sourds-Muets de naissance. Par Bouviers-Desmortiers. Paris. An. VIII.. Ich kenne ein Frauenzimmer, die in den Jahren des Mannbarwerdens völlig taub ge - worden und an beyden Füſsen gelähmt ist, und welcher doch jedes stärkere Geräusch sehr un - angenehme Empfindungen verursacht.

Auf177

Auf ähnliche Art besitzen die übrigen Sin - neswerkzeuge ebenfalls auſser der Empfänglich - keit, die jedem von ihnen ausschlieſslich eigen ist, zugleich Receptivität für Nebeneindrücke, und bey allen läſst sich eine Abstammung von dem Tastsinne bemerken. Die Zunge und die Nase verschaffen uns Empfindungen von der chemischen Einwirkung der im Wasser und in der Luft aufgelösten Körper. Aber die Zunge ist zugleich Tastorgan. Der blind - und taub - geborne J. Mitchell, dessen Geschichte von Wardrop beschrieben iste)History of J. Mitchell, a boy born blind and deaf. By J. Wardrop. Edinb. 1813., untersuchte alles, was ihm vorkam, durch das Getast und den Geruch. Groſse Gegenstände überstrich er mit den Fingern, kleine und solche, die seine Neu - gierde mehr rege machten, brachte er an die Zähne, oder berührte sie mit der Zungenspitze. Auf das Innere der Nase wirkt auſser den riechbaren Materien auch der mechanische Ein - druck der eingezogenen Luft. Das Ohr ist ebenfalls für eine Art von mechanischer Ein - wirkung empfanglich, insofern es im Allgemei - nen von den Schwingungen der Luft gerührt wird und blos die quantitative Verschiedenheit des Schalls wahrnimmt. Nur die Empfindung der Qualität des letztern ist Folge einer specifi -schenM 4178schen Erregbarkeit dieses Organs. Die Ge - sichtsempfindungen lassen sich gleichfalls als Folgen einer mechanischen Einwirkung gewisser Schwingungen auf die verschiedenen Punkte der Netzhaut denken, in so weit sie blos den Grad des Lichts, die Gröſse und den Umriſs der sichtbaren Dinge betreffen. Eigenthümlich dem Auge ist nur die Empfänglichkeit desselben für den Unterschied der Farben.

Man hat von dem Getast das Vermögen, wodurch die Seele den Zustand ihres Körpers wahrnimmt, unter dem Namen des Gemein - gefühls unterschiedenf)Coenaesthesis; diss. quam praes. J. C. Reil, de - fendit C. F. Hubner. Halae. 1794., aber ohne hinrei - chenden Grund. Was Reil unter diesem Na - men begriff, gehört entweder dem allgemeinen Lebensgefühl an, oder ist Folge des mechani - schen Einwirkens der Organe auf das Nerven - system, (wie z. B. das Gefühl von Leichtigkeit und Schwere der Glieder; die mit den Muskel - bewegungen verbundenen Empfindungen u. d. gl.). Mit mehr Recht läſst sich ein allgemeiner Sinn annehmen, welcher allen übrigen zum Grunde liegt, der jeden von diesen unter ge - wissen Umständen einigermaaſsen ersetzen kann und bey gewissen Thieren wirklich ersetzt, und woraus sich diese in der Reihe der Thiere vonden179den untersten Stufen an entfalten. Mit dem - selben aber ist der Tastsinn einerley, voraus - gesetzt, daſs man den letztern in der Allge - meinheit nimmt, worin wir ihn oben bestimmt haben. Um indeſs Miſsverständnissen vorzu - beugen, wollen wir uns im gegenwärtigen Ab - schnitt jener Benennung des allgemeinen Sinns für denselben bedienen.

Ersatz eines besondern Sinns ist durch die - sen allgemeinen Sinn immer nur dann möglich, wenn er Empfänglichkeit für die Art von Ein - drücken, wofür jener organisirt ist, besitzt oder erhält. Ersatz wird auch nur dann statt finden, wenn diese Art von Eindrücken durch Vermitt - lung des allgemeinen Sinns als verschieden von allen andern Eindrücken empfunden wird. Daſs aber die Empfindung die nehmliche Form habe, die sie besitzt, wenn sie durch jenen besondern Sinn erregt wird, ist nicht nothwendige Be - dingung des Ersatzes. Es bedarf z. B. vielleicht zur Empfindung eines sichtbaren Gegenstandes als eines solchen eines Sehenerven, der seinem Ursprunge und Verlauf nach dem menschlichen ähnlich ist, und welcher sich in einem zur Darstellung des Bildes dieses Gegenstandes or - ganisirten Theil ausbreitet. Es giebt aber kei - nen Grund, anzunehmen, daſs nicht auch jede andere, dem Lichte zugängliche Nervenausbrei -M 5tung180tung empfänglich für die von sichtbaren Din - gen zurückgeworfenen Strahlen seyn, und von diesen auf eine eigenthümliche Art gerührt werden könnte. Die zusammengesetzten Augen der Insekten sind im Wesentlichen nichts anders als ähnliche, nur mit einer durchsichtigen Ober - haut bedeckte Nervenpapillen, wie man an den Fingerspitzen und auf der Zunge des Menschen findet.

Aus dieser Voraussetzung lassen sich, wie schon im vorigen Buche gezeigt ist, die den äuſsern Verhältnissen entsprechenden Handlun - gen der Schlafwandler bey verschlossenen Augen zum Theil erklären. In einigen Fällen von Blindheit scheint ebenfalls ein vicariirender Sinn zu erwachen. Man nimmt hier gewöhnlich nur Verfeinerung des Getastes an, und oft ist es auch wohl nur diese, welche die Stelle des fehlenden Gesichts einigermaaſsen ersetzt. So erzählen Boyleg)Tractat. de color. p. 42. und Pechlinh)Observat. physico-med. p. 408. von einem blinden Organisten aus Amersfort, der, wenn er nüchtern und die Luft nicht zu trocken war, die Farben durch das Getast zu unterscheiden vermochte. Die schwarze Farbe erkannte er an der Rauhheit. Dann folgten Weiſs, Grün, Blau und Roth, welches letztere ihm am glätte -sten181sten schien. Auf ähnliche Weise vielleicht er - kannte ein anderer Blinder, dessen Grimaldii)Tractat. phys. matb. de lum. et color. L. I. prop. 43. n. 59. gedenkt, die verschiedenen Farben eines bunten, doch allenthalben gleichförmig gewebten Seiden - zeugs. Aber H. Sloane’s in der Encyclopaedia britannica mitgetheilte Beobachtungen an einem Frauenzimmer, welches in spätern Jahren Ge - hör und Gesicht verlor, lassen sich nicht blos aus Verfeinerung des Tastsinns erklären. Diese unterschied nicht nur die Hauptfarben, sondern auch Varietäten einer und derselben Farbe. Sie beschäftigte sich gewöhnlich mit der Nadel und arbeitete mit bewundernswürdiger Feinheit und Genauigkeit. Das Sonderbarste und ein Beweis, daſs hier nicht blos gröſsere Feinheit der übri - gen Sinnesorgane das Gesicht ersetzte, sondern daſs etwas Aehnliches von Gesichtsempfindungen statt fand, war, daſs sie entdecken konnte, ob sie einen Buchstaben ausgelassen hatte, und daſs sie ihn genau über die Stelle, wo er stehen muſste, mit einem beygefügten Zeichen setzte.

Aehnliche Beyspiele giebt es von Taubhei - ten, wobey, die des Gehörs Beraubten hörbare Eindrücke durch andere Theile als das Ohr vernehmen. Schon oben ist erwähnt worden, daſs auf Taube überhaupt ein stärkerer Schalloder182oder Ton erschütternd wirkt. Pfingstenk)Vieljährige Erfahrungen über die Gehörfehler der Taubstummen. Kiel. 1802. S. 32. hatte eine Taubstumme unter seiner Aufsicht, die jedesmal anzeigte, wenn die Hausthür ge - öffnet und wieder zugemacht wurde, und selbst, wenn dies noch so leise geschahe, ohngeachtet sie gegen das Geklingel der Thürglocke ganz unempfindlich war. Bey näherer Untersuchung fand sich, daſs der Stuhl, worauf sie saſs, durch das Oeffnen und Verschlieſsen der Thür eine gewisse Erschütterung bekam, die von ihr in den Schenkeln empfunden wurde. Noch weit feiner war dieses Gefühl bey einer andern Taubstummen, die mit einer Magd, mit der sie in Einer Kammer schlief, des Abends im Dun - keln lange Gespräche führte, indem sie durch ihre, auf die bloſse Brust der letztern gelegte Hand deren Worte vernahm. Als Pfingsten, um sich von dieser Art der Mittheilung bey einem Mädchen, von deren völligen Taubheit er hinreichende Beweise hatte, zu versichern, den Versuch in seiner Gegenwart machen lieſs, wurde von der Taubstummen jedes Wort der Magd richtig widerhohlt.

Die Schlüsse, die sich aus diesen Erfah - rungen ergeben, werden durch Thatsachen der vergleichenden Anatomie unterstützt, wo Zweigeder183der Nerven des fünften Paars die eigentlichen Sinnesnerven zum Theil, oder selbst ganz er - setzen.

Zum Innern des sehr kleinen, doch im Uebrigen eben so wie überhaupt bey den Säug - thieren gebauten Auge des Maulwurfs geht ein so dünner, fadenförmiger Sehenerven mit einem so starken Zweige des fünften Hirnner - ven, daſs der letztere nothwendig eine weit wichtigere Funktion beym Sehen jenes Thiers als der erstere haben muſs*)Biologie. Bd. 5. S. 340. 472. Tab. III. Fig. 1. 2. Ver - mischte Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus. B. 3. S. 137. Seit der Herausgabe der an diesen Stellen enthaltenen Beobachtungen habe ich den Ur - sprung und Verlauf der Hirnnerven noch weiter an mehrern Maulwürfen mit aller mir möglichen Ge - nauigkeit untersucht, und gefunden, daſs der zum Auge des Maulwurfs gehende, dem Augenast des fünften Hirnnerven der übrigen Wirbelthiere analoge Zweig des Trigeminus sich ohnweit dem Auge in mehrere Fäden theilt, welche die Sclerotica in der Nähe des Ursprungs der Retina durchbohren. Ob diese Ciliarnerven aber zur Bildung der Netzhaut mit beytragen, oder ob dieselbe auf die gewöhnliche Art blos von dem Sehenerven abstamme, habe ich nicht entdecken können. Ein Knoten, worin, wie ich sonst mit Carus vermuthete, der Sehenerve mitjenem.

Hier184

Hier läſst sich indeſs dem eigentlichen Sehe - nerven einiger Antheil an der Funktion des Sehens noch nicht absprechen. Beym Proteus anguinus fehlen aber die Nerven des zweyten Paars ganz. Das Auge dieses Thiers ist blos eine sehr kleine, kugelförmige, in einer sehnen - artigen Kapsel unmittelbar unter der Oberhaut liegende Crystalllinse, auf deren hintern, mit einem schwärzlichen Pigment bedeckten Fläche sich ein Zweig des fünften Hirnnerven aus - breitetl)Eine umständlichere, durch Abbildungen erläuterte Beschreibung dieses Baus enthält meine Abhandlung De protei anguini encephalo et organis sensuum im 4ten Bande der Commentat. Soc. Reg. scient. Gotting. recent..

Eben

*)jenem Augenast des Trigeminus sich zur Bildung der Netzhaut verbände, zeigte sich mir nirgends. In Betreff der übrigen Augennerven muſs ich meine frühere Behauptung, daſs sie zum Theil beym Maul - wurfe vorhanden seyen, zurücknehmen. Die Ner - ven des dritten, vierten und sechsten Paars fehlen allerdings, wie Carus richtig angegeben hat, dem Maulwurfe ganz. Die kleinere Portion der Nerven des fünften Paars ist hier aber von der gröſsern so scharf abgesondert, daſs man einige ihrer getrennten Fäden leicht für Nerven des dritten und vierten Paars halten kann, und diese müssen es auch ge - wesen seyn, die ich früher dafür angesehen habe.

185

Eben diese Abwesenheit eines Sehenerven findet nach meinen Untersuchungen bey einer, von Hemprinm)Verhandlungen der Gesellsch. naturforschender Freun - de in Berlin, B. 1. S. 129. unter dem Namen Amphis - baena scutigera beschriebenen, Brasilianischen Amphisbäne statt. Die Augen derselben liegen auch, wie beym Proteus anguinus, unter der Oberhaut. Sie sind etwas gröſser und zusam - mengesetzter als bey dem letztern, indem sich eine Sclerotica, eine Hornhaut und eine Pupille daran unterscheiden läſst. Dennoch aber habe ich keine Spur von Nerven des zweyten Paars bey jener Schlange entdecken können.

Die Nerven, welche in diesen Fällen die Stelle der Sehenerven vertreten, sind die nehm - lichen, wovon auch bey allen übrigen Wirbel - thieren die Organe des Gehörs, des Geschmacks und Geruchs Hülfszweige erhalten. Sie haben bey allen jenen Thieren an den Funktionen des Geschmacks und Geruchs einen unmittelbaren, an denen des Gehörs und Gesichts wenigstens einen mittelbaren Antheil. Sie ersetzen in den obigen Fällen die Stelle der Sehenerven nicht nur in anatomischer, sondern auch in physio - logischer Rücksicht. Der Proteus anguinus ist so empfindlich gegen das Licht, daſs ihn schon ein schwacher, bey Oeffnung des Deckels seinesBehäl -186Behälters auf ihn fallender Lichtstrahl fliehen machtn)Conficliachi a. a. O. S. 25. 26.. Diese Empfindlichkeit scheint bey ihm zwar nicht blos auf das Auge beschränkt, sondern über den ganzen Körper verbreitet. Doch ist es ohne Zweifel mit das Auge, wo - durch seine Bewegungen geleitet werden. Zweige des fünften Nervenpaars gehen auch zu den Barthaaren der meisten Säugthiere, zu den Cirrhen, vieler Fische und zu mehrern andern Theilen, die Organe entweder des wirklichen Getastes, oder doch eines dem Getaste ver - wandten Sinnes sind.

Alle diese Thatsachen leiten auf den Schluſs, daſs vorzüglich die Nerven des fünften Paars der Sitz jenes Sinns sind, den wir den allge - meinen genannt haben, und hieran schlieſst sich der im vorigen Bucheo)S. 78, 79 dieses 6ten Bandes der Biologie. aus anatomischen Gründen gefolgerte Satz, daſs bey den wirbel - losen Thieren die sämmtlichen Hirnnerven den Zweigen des Trigeminus der Wirbelthiere ana - log sind. Die meisten jener Thiere äuſsern Handlungen, die ohne Geruch und Gehör nicht vor sich gehen könnten, und doch giebt es bey keinem derselben ein ähnliches Geruchsorgan, wie bey den Thieren der höhern Classen, und bey wenigen eigene Hörwerkzeuge, die abersehr187sehr einfach sind. Die mehrsten besitzen zwar Augen, und selbst zahlreichere als irgend eines der Wirbelthiere. Allein diese Theile sind meist im Wesentlichen blos mit einer durchsichtigen Haut bedeckte Nervenenden. Sie würden dem Aeuſsern nach Tastorgane seyn, wenn ihre Bedeckungen undurchsichtig wären. Sie gehen wirklich auch bey verwandten Geschlechtern in Werkzeuge über, welche zu einem Tasten ohne unmittelbare Berührung dienen. Die Weinberg - schnecke (Helix Pomatia L.) trägt an dem Ende jedes der beyden gröſsern Fühlfäden ein Auge, worin sich ein eigener Sehenerve auf der hin - tern Fläche einer mit einer Hornhaut bedeck - ten Crystalllinse ausbreitet. Bey der schwarzen Wegschnecke (Limax ater L.), die ebenfalls vier Fühlfäden, zwey gröſsere und zwey klei - nere, besitzt, fand ich in jedem der gröſsern einen Nerven, der seinem Ursprunge, seinem Verlauf und seiner Gestalt nach mit dem Sehe - nerven der Weinbergschnecke ganz übereinkam, sich aber nicht hinter durchsichtigen Theilen endigte, sondern in einer undurchsichtigen Haut, einem Fortsatz derselben Membran, welcher die Seitentheile der Fühlfäden überzieht. Mit diesen zum Sehen ganz unfähigen Werkzeugen kundschaftet die Wegschnecke beym Kriechen alle ihr vorkommende Gegenstände eben so ohne unmittelbare Berührung, wie die Weinberg -VI. Bd. Nschnecke188schnecke mit ihren Augen, aus. Sie bewegt dieselben nach allen Seiten hin und zieht sie schon in der Entfernung eines halben Zolls von Körpern, denen sie nahe kommen, zurück. Auf eben diese Thiere wirken, wie Bonvincini bemerkte*)Voigt’s Magazin f. d. Neueste aus der Physik u. s. w. B. X. St. 4. S. 175. Unrichtig aber ist es, wenn Bonvincini im Allgemeinen angibt, die Weinberg - schnecken wichen erst dann von ihrem Wege ab, wenn sie an Körper, die ihnen in den Weg gelegt wären, mit den Fühlfäden stieſsen. Dies ist nur dann der Fall, wenn sie geängstigt werden und zu entfliehen suchen. und wie ich gleichfalls beobachtet habe, in noch gröſsern Entfernungen stark rie - chende Sachen, z. B. Kampher, Alcohol u. d. gl. Sie zogen ihre gröſsern Fühlfäden schon ein, wenn ich diesen die flüchtige Valeriana - Tinktur bis auf zwey Zoll näherte.

Organe, die ihrer äuſsern Bildung nach zum Tasten bestimmt scheinen, finden wir überhaupt bey den wirbellosen Thieren um so mehr ver - vielfältigt, je weniger Spuren von Sinneswerk - zeugen ähnlicher Art, wie die Wirbelthiere be - sitzen, bey ihnen übrig sind, und diese Theile zeigen sich nicht nur bey den Wegschnecken, sondern auch bey mehrern jener Geschöpfe als empfindlich gegen andere als gröbere mechani -sche189sche Eindrücke. Manche Insekten, z. B. die Ichneumoniden, verrathen deutlich durch die Art, wie sie ihre Fühlhörner immerfort nach allen Seiten hinkehren, ohne einen Gegenstand wirklich damit zu betasten, daſs sie aus der Ferne damit fühlenp)An Introduction to Entomology. By W. Kirby and W. Spence. Vol. II. p. 312.. Die zu Pagurus Fabr. gehörigen Krebse halten ihre Fühlhörner und Palpen in immerwährender Bewegung, sie - gen sich im Wasser oder auſserhalb demselben befindenq)Risso Hist. nat. des Crustacés des environs de Nice. p. 54.. Ueberhaupt sind bey allen Insekten die Fühlhörner in gröſserer Thätigkeit, wenn das Thier sich bewegt, als wenn es in Ruhe istr)Knoch’s Neue Beyträge zur Insektenkunde. B. 1. S. 36.. Sie würden sich anders damit verhalten, wenn sie nicht mit denselben von Ferne kund - schafteten*)Knoch (A. a. O. S. 40.) erzählt einen Versuch, wo das Fühlhorn eines Ptinus Fur in Bewegung gerieth, so oft der Spitze desselben ein Haarpinsel bis auf eine Viertellinie genähert wurde. Bey dieser Beob - achtung war aber so leicht Täuschung möglich, daſs ich nicht darauf bauon mag.. Hierzu kömmt, daſs, nach Hu -ber’sN 2190ber’ss)Nouv. observat. sur les abeilles. Ed. 2. T. II. p. 367. 394. Versuchen, die Bienen bey ihren Hand - lungen durch die Fühlhörner auf eine Art ge - leitet werden, wie der bloſse Tastsinn sie zu leiten nicht hinreichen würde. Die Biene, sagt Huber, bauet ihre Zellen im Dunkeln, gieſst ihren Honig in die Magazine, ernährt ihre Jungen, beurtheilt deren Alter und Bedürfnisse, erkennt ihre Königin, alles dies vermittelst der Fühlhörner, deren Gestalt doch weit weniger als die unserer Hände zum Tasten eingerichtet ist. Durch die Antennen benachrichtigen sich die Bewohner eines Bienenstocks von dem Ver - lust ihrer Königin. Sie machen vorzüglich zur Nachtzeit von diesen Organen Gebrauch. Sie verlieren das Vermögen, ihre Gliedmaaſsen zweckmäſsig zu gebrauchen, hören auf zu ar - beiten, suchen das Licht auf und verlassen ihren Schwarm, wenn ihnen beyde Fühlhörner ganz abgeschnitten sind.

Der allgemeine Sinn ist, wie wir gezeigt haben, vorzüglich den Nerven des fünften Paars eigen. Er kömmt ihnen aber nur vorzüglich, keineswegs allein, bey den Thieren überhaupt und besonders bey denen der niedern Classen zu. Viele Insekten und die zweyschaaligen Mollusken tragen in der Nähe der Geschlechts -theile191theile oder des Afters Organe, die ihrer Bil - dung nach mit Fühlhörnern und Fühlfäden übereinkommen und auch wohl nur als solche dienen können, deren Nerven aber nicht aus dem Gehirn, sondern aus einem der letzten Ganglien des Bauchstrangs entspringen. Von dem Besitz jenes allgemeinen Sinns finden wir selbst Beweise an mehrern Lebensäuſserungen der un - tersten Arten des Reichs der Zoophyten, bey welchen nichts Nervenähnliches zu unterscheiden ist. Alle diese Wesen empfinden nicht nur die Gegenwart des Lichts, und diejenigen, die das Vermögen haben, ihren Ort zu verändern, gehen nicht nur dem Lichte nach, sondern die Hydern und Actinien erkennen auch die Gegenwart von Substanzen, die ihnen zur Nahrung dienen, schon in einer beträchtlichen Entfernung, wenn nicht zwischen ihnen und diesen eine Scheide - wand liegt. Olivit)Memorie della Societa Italiama, T. VII. p. 478. senkte in einem Gefäſs mit Meerwasser, worin sich eines dieser Zoo - phyten befand, ein Insekt oder ein Stück von irgend einem Thier mit der gröſsten Behutsam - keit herab. Die Thierpflanze brachte dann den Strudel, wodurch sie ihre Beute an sich zieht, schon hervor, wenn der Gegenstand noch 6 bis 8 Zoll weit von ihr entfernt war. War aber das Gefäſs durch eine Scheidewand von demrein -N 3192reinsten Crystall in zwey Abtheilungen geschie - den, und befand sich die Thierpflanze in der einen, die ihr zur Nahrung dienende Substanz in der andern Abtheilung, so blieb jene immer in Ruhe, wenn diese ihr auch noch so nahe lag. Olivi wiederholte den Versuch mit klei - nen Thieren, welche Augen besitzen, und fand, daſs diese ihre Beute in einer viel geringern Entfernung als die Zoophyten wahrnahmen.

Es läſst sich nicht für unmöglich erklären; daſs nicht die Thierpflanze durch ein höchst feines Getast〈…〉〈…〉[d]ie Nähe ihrer Nahrungsmittel, vermöge der Undulationen, welche diese im Wasser erregen, wahrnimmt. Allein die letz - tern finden doch nur statt, wenn die Beute des Zoophyts ein lebendes Thier ist; sie fehlen ganz, wenn der Polyp nach leblosem Fleische hascht. Die Hydern wissen auch zu unter - scheiden, ob eine leblose Substanz ihnen zur Nahrung dienen, oder nicht dienen kann. Sie strecken, wenn sie auch sehr ausgehungert sind, häufig ihre Arme nach einem Gegenstande der letztern Art gar nicht ausu)Trembley a. a. O. p. 107.. In Purchas’s Pilgrims, so wie in Forster’s und Spren - gel’s Beyträgen zur Völker - und Länderkunde (Th. 1. S. 54.) wird von einer Thierpflanze er - zählt, die auf Sumatra in dem flachen Wassersan -193sandichter Buchten wachsen und sich, wenn man sie anzurühren versucht, sogleich in den Sand zurückziehen soll. Gehört diese Nachricht nicht zu den Märchen, so läſst sich vermuthen, daſs jedes andere Zoophyt ebenfalls sowohl aus - serhalb als innerhalb dem Wasser bey der Näherung fremder Körper Zeichen von Wahr - nehmung derselben durch Ausstrecken oder Zu - sammenziehen geben würde, wenn die übrigen Thierpflanzen auſserhalb dem Wasser ihre Or - gane gebrauchen könnten.

Wir können nach allen diesen Thatsachen jetzt weiter schlieſsen, daſs Thiere und Thier - pflanzen Handlungen zu äuſsern vermögen, die ähnliche Empfindungen voraussetzen, wie wir durch unsere Sinneswerkzeuge erhalten, ohne daſs ihre Empfindungen darum wirklich mit den unsrigen einerley sind und von Organen, die mit den unsrigen übereinkommen, hervorge - bracht werden. Sie können sehen, hören, rie - chen und schmecken, ohne Augen, Ohren, eine Nase und Zunge zu besitzen. Doch ihr Sehen, Hören u. s. w. muſs allerdings von dem unsri - gen sehr verschieden seyn und kann sich nur auf eine Sphäre erstrecken, die in Rücksicht auf die Mannichfaltigkeit der Sinnesempfindun - gen weit beschränkter ist als die unsrige, wenn gleich einzelne Eindrücke lebhafter auf jene Thiere als auf uns wirken.

N 4Durch194

Durch diese gröſsere Beschränktheit unter - scheiden sich auch die den unsrigen ähnlichen, aber einfachern Sinnesorgane der niedern Thiere in ihren Funktionen von den unsrigen. Wir werden unten zeigen, daſs es bey mehrern In - sekten Theile giebt, worin sich der Sitz eines Gehörsinns vermuthen läſst. Diese Organe sind von sehr einfachem Bau. Allein ihre Empfäng - lichkeit für hörbare Eindrücke erstreckt sich auch nur auf Töne, die mit dem Instinkt der Insekten in einer gewissen Verbindung stehen. Schlägt man auf die Tafel, worauf ein Bienen - korb steht, so bewegen gleich alle Bienen die Flügel. Bläst man in eine Oeffnung des Kor - bes, so hört man einige Bienen ununterbrochene, scharfe Töne hervorbringen, und gleich darauf sieht man andere Arbeitsbienen in Bewegung gerathen und nach der Oeffnung, worin die Luft eingedrungen ist, hineilen. Ueberhaupt geben diese Insekten verschiedenartige Töne von sich, wodurch sie sich unter einander verständ - lich zu machen scheinen. Aber auf eben diese Thiere macht das Getöse des Donners und der Knall eines abgeschossenen Feuergewehrs gar keinen Eindruckv)Huber a. a. O. T. II. p. 414. Ramdohr im Ma - gazin der Gesellsch. naturf. Freunde zu Berlin. Jahrg. 5. S. 388..

Diese195

Diese Beschränktheit nimmt von den wirbel - losen Thieren an bis zum Menschen immer mehr ab und mit ihrer Abnahme erhalten die Sinnesorgane, besonders die höhern, immer mehr Ausbildung. Die zusammengesetzten Au - gen der Insekten bestehen aus Hornhäuten, hinter welchen sich die Sehenerven endigen, und haben keine, oder nur eine sehr geringe Be - weglichkeit. Die einfachen Augen dieser Thiere und die Augen mehrerer Schnecken enthalten zwischen der Hornhaut und dem Sehenerven auch eine Linse. Bey den Schnecken ist das Auge beweglich, doch nur vermittelst des Stiels, worauf es sich befindet, nicht innerhalb seiner Höhle. Die Sepien besitzen auſser einer Horn - haut und einer Linse auch einen Glaskörper, doch noch keine wäſsrige Feuchtigkeit, keine Iris und keine Augenmuskeln. Diese Theile zeigen sich bey den Fischen. Aber die Iris ist noch keiner Zusammenziehung und Erweiterung fähig, und der Augapfel, seiner Muskeln ohn - geachtet, wenig beweglich. Nicht viel höher als die Fische stehen in der Bildung des Aug - apfels die meisten Amphibien. Doch sind die - ser Thierclasse äuſsere Bedeckungen des Auges eigen, die den mehrsten Fischen noch fehlen. Bey den Vögeln findet Beweglichkeit des Auges bey ausgebildetern Ciliarfortsätzen als in den beyden vorigen Classen und eine höhere Aus -N 5bil -196bildung der Augenlieder statt. Allein die Bewe - gungen des Augapfels in seiner Höhle sind noch sehr beschränkt. Bey den Säugthieren verhalten sich alle Theile des innern und äuſsern Auges in ihrer Bildung und in ihren Funktionen auf ähnliche Art wie beym Menschen. Die Pupille verengert sich mit groſser Schnelligkeit nach dem Grade des Lichts; der Augapfel ist ver - möge seiner Muskeln jeder Richtung fähig und durch Augenlieder vollständig bedeckt.

Die erste Bildung des Ohrs fängt bey den Insekten mit einer bloſsen gespannten Haut an. Bey den Krebsen und Sepien gesellt sich hierzu eine Blase, die bey den erstern blos eine wäſsrige Flüssigkeit, bey den letztern auch eine steinige Materie enthält. Dieser Steinsack bleibt noch den Fischen und den Amphibien eigen; aber es verbinden sich mit ihm in diesen Thier - classen halbcirkelförmige Canäle. Bey den Amphibien entsteht auſserdem eine Eustachische Röhre, ein Vorhof mit einem Gehörknöchel - chen, und bey einigen auch ein Rudiment einer Schnecke. Die Steinsäcke verschwinden bey den Vögeln; die Schnecke bleibt hier ein noch wenig ausgebildetes Organ; die höhere Stufe des Ge - hörssinns zeigt sich bey ihnen in der Andeutung eines äuſsern Ohrs, in einem Spannungsapparat des Trommelfells und in einer mit vielen undgroſsen197groſsen Höhlungen des Schädels zusammenhän - genden Trommelhöhle. Die Ausdehnung dieser Höhlen verminderte die Natur bey den Säug - thieren. Sie gab diesen dafür eine Schnecke von sehr zusammengesetzter Bildung, drey Ge - hörknöchelchen, die beweglich durch eigene Muskeln sind, und ein äuſseres, zur Auffassung und Leitung des Schalls eingerichtetes Ohr.

Die Stufenfolge in der Ausbildung des Ge - ruchsorgans äuſsert sich vorzüglich in der zu - nehmenden Ausdehnung der Fläche, worauf sich die Geruchsnerven verbreiten, und in dem Grade des Vermögens, dem Medium der Ge - rüche Zugang zu dieser Fläche zu verschaffen. Bey den Fischen besteht jenes Organ in einer wenig geräumigen, mit einer gefaltenen Riech - haut bedeckten Höhle, die das Thier vermittelst einer Klappe gegen das eindringende Wasser verschlieſsen kann, worin dasselbe aber nicht willkührlich das Wasser aufzunehmen vermag. Vermöge dieser willkührlichen Einwirkung auf das Medium der Gerüche, die von dem Athmen durch Lungen und von der Verbindung des Geruchswerkzeugs mit den Respirationsorganen abhangt, stehen die Amphibien, Vögel und Säugthiere auf einer höhern Stufe der Vollkom - menheit. Auſserdem nimmt in diesen Thier - classen auch die Fläche, die den Geruchsnervenzur198zur Ausbreitung dient, beträchtlich an Ausdeh - nung zu; sie ist, einzelne Ausnahmen abge - rechnet, gröſser bey den Säugthieren als bey den Vögeln, und gröſser bey den letztern als bey den Amphibien.

Die Zunge ist ein weit allgemeiner im Thierreiche verbreiteter Theil, als die dem Gesicht, Gehör und Geruch dienenden Werk - zeuge. Allein der Hauptsitz des Geschmacks ist sie in keiner ganzen Thierclasse als in der der Säugthiere. Sie wirkt in den übrigen Clas - sen eben so sehr, oder mehr für das Getast, als für den Geschmack, und dieser scheint in objectiver Hinsicht vom Menschen abwärts im - mer stumpfer zu werden.

An dem Tastsinn läſst sich diese Stufen - folge nicht mehr in jeder Beziehung nachwei - sen. Betrachtet man ihn von Seiten des Ver - mögens, die Gestalt der Körper zu erforschen, so stehen in Rücksicht auf denselben der Mensch und die Affen über allen übrigen Thieren. Sieht man aber dabey im Allgemeinen auf das Ver - mögen, die Gegenwart äuſserer Gegenstände, vermittelst ihrer mechanischen Einwirkungen auf denselben, wahrzunehmen, so besitzen viele Thiere der untersten Stufen und die meisten Zoophyten einen feinern Tastsinn als die höhern Thiere und selbst als der Mensch.

Eine199

Eine ähnliche höhere Ausbildung für ein - zelne Zwecke fehlt jedoch auch nicht bey den übrigen Sinneswerkzeugen. Die Vögel z. B. besitzen in ihrem Auge den schwarzen Fächer, ein Organ, vermittelst welchem sie von ihrem Gesichtswerkzeug unter Umständen Gebrauch machen können, worunter der Mensch und die Säugthiere am Sehen verhindert sind, und man - che Grätenfische haben, bey allen übrigen Unvollkommenheiten ihrer Gehörswerkzeuge, doch verhältniſsmäſsig gröſsere halbcirkelförmige Canäle als die höhern Thiere und, nach We - ber’s Entdeckung, auch Gehörknöchelchen. Es läſst sich deswegen so wenig in Betreff der Sinnesorgane, als in Hinsicht auf alle übrige organische Systeme, eine gleichmäſsige und un - unterbrochene Stufenfolge im Thierreiche ange - ben. Der Unterbrechungen einer solchen Reihe und der Abweichungen von derselben werden desto mehrere und desto gröſsere, je mehr man nicht nur den Grad der körperlichen Ausbil - dung des Sinnesorgans, sondern auch die Funk - tionen desselben in Anschlag bringt. Die letz - tern hängen eben so sehr von dem Grade der Empfänglichkeit des Sinnesnerven für äuſsere Eindrücke, als von der Entwickelungsstufe der Theile ab, worin sich der Nerve ausbreitet, und sie sind auſserdem noch durch die Stufe der geistigen Kräfte des Thiers bedingt. DerMensch200Mensch steht auf der höchsten dieser Stufen, und er kann darum einen weit mannichfaltigern Gebrauch von seinen Sinnen als irgend ein Thier machen. Aber es ist nicht wahr, was einige Schriftstellerw)Unter andern Metzoer in dem Aufsatz des 3ten Bandes seiner Vermischten medicinischen Schriften über die körperlichen Vorzüge des Menschen vor den Thieren. behauptet haben, er be - sitze einen Vorzug vor den Thieren in Rück - sicht auf die Schärfe jedes einzelnen Sinns. Man setzt, um diese Meinung zu beweisen, Vorzüge des Menschen auf Rechnung seiner Sinne, die Folgen seines höhern Vermögens sind, Vergleichungen anzustellen, Aehnlichkei - ten zu entdecken, zu urtheilen und zu folgern. So beweist z. B. Metzgerx)A. a. O. S. 312. die gröſsere Schärfe des Gesichts beym Menschen daraus, daſs derselbe eine Strecke von vielen tausend Schritten mit geometrischer Genauigkeit zu be - stimmen im Stande ist. Diesen Vorzug aber besitzt der Mensch nicht wegen gröſserer Voll - kommenheit seiner Augen, sondern wegen der höhern Urtheilskraft, die er vor den Thieren voraus hat. Manche Thiere, besonders alle Raubthiere, die ihre Beute fliegend oder sprin - gend erhaschen, haben ein eben so gutes und von manchen Seiten noch besseres Augenmaaſsals201als der Mensch. Vespertilio proterus Kuhl. (V. Noctula d’Aubent. ) stürzt sich oft, nach Kuhl’s Beobachtung, mit der gröſsten Schnel - ligkeit und Gewandtheit zwanzig Fuſs und noch höher herab, um ein Insekt zu fangen, wobey diese Fledermaus ihren Flug immer so genau zu lenken weiſs, daſs sie selten ihr Ziel ver - fehlty)Annalen der Wetterauischen Gesellsch. für die ge - sammte Naturk. B. IV. H. 1. S. 16.. Nur so viel läſst sich annehmen, daſs zwar viele Thiere den Menschen an Schärfe des Gesichts, Gehörs u. s. w. von gewissen Sei - ten übertreffen, doch bey keinem alle Sinne mit so gleichmäſsiger Schärfe wie bey ihm entwik - kelt sind.

Zu diesen Schwierigkeiten bey der Aufstel - lung eines Systems der Thiere nach der Voll - kommenheit der Sinne kömmt noch, daſs einige Thiere Sinne zu besitzen scheinen, die von eigener Art und den fünf Sinnen des Men - schen nicht vergleichbar sind. Einem solchen eigenen Sinn dienen ohne Zweifel die im 5ten Bande der Biologie, S. 177, erwähnten Organe der Rochen und Hayen, worüber wir im Fol - genden noch einige weitere Bemerkungen mit - theilen werden.

Zwey -202

Zweyter Abschnitt. Das Getast.

Der Tastsinn ist seiner ursprünglichen Bedeu - tung nach der Sinn für mechanische Eindrücke. In dieser Bedeutung wird er auch von uns hier genommen und zuerst betrachtet werden. Von ihm hängt ohne Zweifel im ganzen Thierreiche zugleich das Empfindungsvermögen für Wärme und Kälte ab, welches daher ebenfalls hier mit zu untersuchen seyn wird. Auſser den mecha - nischen Eindrücken im Allgemeinen sind auch Gegenstände desselben alle Modifikationen dieser Einwirkungen, die von der verschiedenen Ge - stalt der Körper, der Beschaffenheit ihrer Ober - fläche, ihrer Cohärenz, ihrer Schwere und Be - weglichkeit herrühren.

Nicht immer läſst sich dieser Sinn von denen unterscheiden, durch welche das Thier ohne unmittelbare Berührung Empfindungen von entfernten Gegenständen durch andere als me -chani -203chanische Wirkungen erhält. Wo sich indeſs annehmen läſst, daſs die Gegenwart von Kör - pern durch mechanische Reitzung gewisser Ner - ven wahrgenommen wird, da sind die Arten der Mittheilung des Eindrucks: unmittelbare Berührung, Erschütterungen fester Körper, Be - wegungen der Luft, oder Erschütterungen des Wassers.

Zur Empfindung der unmittelbaren Be - rührung eines Körpers bedarf es blos der Ausbreitung von Nerven unter der Oberhaut des Thiers. Der Regenwurm, der Blutigel, mehrere andere Würmer und Insekten sind höchst em - pfindlich für Berührungen, obgleich sie entweder gar keine Hautwärzchen und ähnliche, den höhern Thieren zum Tasten gegebene Organe haben, oder diese doch nicht an allen, für mechanische Eindrücke empfänglichen Theilen ihres Körpers vorhanden sindz)Von der äuſsern Haut der Weidenraupe bemerkt Lyonnet (Traité de la chenille du saule p. 68.) ausdrücklich, daſs sie keine Nervenwärzchen hat.. Den meisten Thieren aber hat die Natur Theile verliehen, die entweder für sich unempfindlich, jedoch an ihrer Basis von nervenreichen Häuten umgeben und von starrer Textur, jede Erschütterung zu diesen Häuten fortpflanzen, oder welche selber ver -mögeVI. Bd. O204möge Nerven, die sich in ihnen zerästeln, Empfänglichkeit für Reitzungen besitzen.

Theile der erstern Art sind die Haare, Federn, Schuppen und Hörner. Besonders zei - gen sich die Barthaare vieler Säugthiere als deutliche Empfindungswerkzeuge. Bey dem Maulwurf finde ich auf dem vordern, behaarten Ende des Rüssels gröſsere und kleinere, kegel - förmige, von einer dicken, zähen Haut gebildete Kapseln, die auf der Oberhaut hervorragen und eine weiche Substanz enthalten, in deren Mitte die Wurzel eines Barthaars enthalten ist. Ein ähnlicher Bau scheint beym Robben statt zu findena)Rudolphi in den Abhandl. der plrysikal. Classe der Königl. Preuſsischen Akad. der Wissensch. J. 1814 15. S. 175.. Nur ist hier die Kapsel des Barthaars hornartig.

Aeuſsere harte, gegen Berührungen empfind - liche Theile, in welchen sich Nerven verbrei - ten, sind der Schnabel der Vögel und die Fühl - hörner der Insekten.

In den Schnabel der Vögel, besonders der Sumpf - und Wasservögel, dringen durch eigene Canäle des Schädels Zweige der Nerven des fünften Paars und endigen sich gröſstentheilsauf205auf der äuſsern Haut des Schnabels. Bey der Ente, der Cans und den verwandten Vögeln dienen die drey Hauptäste des Trigeminus, die hier von auffallender Dicke sind, fast ganz den Schnabelnerven zum Ursprung; ihre übrigen Zweige sind in Vergleichung mit diesen nur sehr klein und es entstehen deren nur wenige aus ihnen.

Daſs die Hauptfunktion der Fühlhörner der Insekten ein unmittelbares Tasten ist, läſst sich zwar nach den im vorigen Abschnitte ange - führten Thatsachen bezweifeln. Sehr empfäng - lich für mechanische Eindrücke sind sie indeſs allerdings. Sie zeigen diese Reitzbarkeit vor - züglich bey sterbenden Insekten, wo sie nach Berührungen noch in Bewegungen gerathen, wenn alle übrige Theile kein Leben mehr äuſsernb)Knoch’s Neue Beyträge zur Insektenkunde. Th. 1. S. 37.. Doch können sie diese Empfäng - lichkeit nur für die Erschütterungen besitzen, die ein solcher Reitz in ihren hornartigen Be - deckungen hervorbringt. Ich habe viele Insek - ten aus allen Familien in dieser Hinsicht so - wohl lebend, als nach dem Eintauchen in heiſses Wasser, worin sonst turgescirende Theile der Insekten hervorzutreten pflegen, untersucht, abernieO 2206nie an den Fühlhörnern derselben andere wei - che Theile, als die Verbindungshäute der ein - zelnen Glieder, entdecken können. Basterc)Opusc. subseciv. T. II. L. I. p. 8. erzählt zwar, daſs bey lebenden Hummern aus Oeffnungen der längern Fühlhörner kleine weiſse Fäden hervortreten, und nach Knochd)A. a. O. S. 34. sollen überhaupt an den Fühlhörnern der Insekten Nervenwärzchen zugegen seyn. Ich kann aber nicht anders, als die eine Angabe für eben so irrig als die andere erklären*)Gegen Baster’s Beobachtung hat auch schon M. C. G. Lehmann (De antennis insector. diss. prior. Londin. et Hamburg. 1799. §. 28.) Erinnerungen ge - macht. Mir zeigten sich an den längern Fühl - hörnern des Hummers keine Spuren von Oeffnungen, wohl aber sahe ich an dem vordern Rande jedes ihrer ringförmigen Glieder eine Reihe kleiner horn - artiger, bräunlicher Wärzohen. Aus jeder Papille der hintern, gröſsern Glieder ragt ein einfaches Haar hervor; die Wärzchen der vordern, kleinern Glieder tragen Büschel von mehrern Haaren. Auf diesen vordern Gliedern giebt es auch noch an andern Stel - len als am Rande solche Wärzchen. Das Innere der Fühlhörner besteht aus einem Gewebe von Fasern, Gefäſsen und Nerven, welches unter der Schaale mit einer ähnlichen, auf ihrer äuſsern Fläche roth ge - färbten Schleimhaut, wie der übrige weiche Körperdes.

Ver -207

Vermittelst ihrer Haare und Federn sind viele Thiere sehr reitzbar gegen jede Bewegung der Luft. Betrachtet man die äuſserst zarten und höchst beweglichen Haare an den Fühlhörnern mancher Insekten, besonders aus der Familie der Zweyflügler, so kann man nicht zweifeln, daſs schon ein sehr leiser Luftzug auf diese Thiere wirken muſs, und nimmt man hierzu noch, daſs die Haare und Federn auch für hygro - metrische und elektrische Einwirkungen sehr empfänglich seyn müssen, so läſst es sich eini - germaaſsen erklären, wie manche Thiere auf eine blos physische Art Vorgefühle oder Empfin - dungen aus der Ferne von Eindrücken haben können, die von unsern Sinnesorganen nicht wahrgenommen werden.

Mit

*)des Hummers, bedeckt ist. Der Nervenstamm jedes Fühlhorns theilt sich, nachdem er in dasselbe einge - treten ist, in mehrere Zweige, die parallel neben einander fortgehen, sich bey ihrem Fortgange noch weiter in gleichlaufende, dünnere Zweige spalten und auf ihrem Wege Seitenfäden an die vordern Reihen der Glieder, auf welchen die erwähnten Papillen befindlich sind, abgeben. Wahrscheinlich waren es diese Wärzchen, was Baster für Oeffnun - gen hielt, und die kleinen Haare, womit die Wärz - chen besetzt sind, was er für weiſse Fäden ansahe.

O 3208

Mit Organen von anderer Art sind die Wasserthiere zur Empfindung der Bewegungen ihres Elements versehen. Die meisten besitzen zu diesem Zwecke zarte, im Wasser schwim - mende Häute, die entweder unmittelbar am Körper in der Gestalt von gefranzten Anhängen befestigt sind, oder Fortsätze äuſserer, willkühr - licher Bewegungen fähiger Theile ausmachen. Jene Anhänge finden sich unter andern häufig am Saume des Mantels vieler Mollusken. Zu den Organen der letztern Art gehören die Cirrhen vieler Fische. Bey dem Stöhr, an welchem ich diese Theile näher untersucht habe, hängen sie als vier lange, dünne, von der Basis zur Spitze allmählig verschmälerte Fortsätze zu beyden Seiten der untern Kinnlade vor dem Munde herab. Inwendig enthalten sie eine von Muskeln umgebene Sehne und Zerästelungen von Zweigen des fünften Nervenpaars; auswendig sind sie an der Basis mit Nervenwärzchen, nach oben mit höchst zarten, ausgezackten Häu - ten gedrängt besetzt.

Bey den Rochen und Hayen, die keine Bartfasern besitzen, und bey welchen, wie beym Stöhr, die Augen eine solche Lage haben, daſs sie Gegenstände, die sich unterhalb ihrem Kör - per vor dem Munde befinden, nicht sehen kön - nen, geschieht vielleicht die Wahrnehmung derBewe -209Bewegungen des Wassers durch die, schon von Malpichie)Opp. posthuma. Venet. 1698. p. 25. entdeckten, im 5ten Bande der Biologie (S. 177.) erwähnten und umständlicher von mir im 5ten Bande der Vermischten Schrif - ten (von G. R. und L. C. Treviranus S. 141.) beschriebenen, mit einer gelatinösen Materie angefüllten Röhren, in deren Basis Zweige der Nerven des fünften Paars dringen und deren äuſseres Ende offen auf der Oberfläche des Körpers liegt. Daſs die Gallerte dieser Röhren der Erzitterung von jeder leisen Bewegung des Wassers fähig ist und daſs ihre Oscillationen sich zu den Nerven des innern Endes der Röhre fortpflanzen können, leidet keinen Zwei - fel. Ob indeſs die Funktion jener Organe sich nur auf ein solches Tasten beschränkt, ist eine Frage, zu deren Beantwortung es an Erfah - rungsgründen fehlt.

Zur Erforschung der Formen der Kör - per ist der Tastsinn vorzüglich bey dem Men - schen und den Affen organisirt. In Beziehung auf diesen Punkt hatte Buffonf)Hist. nat. T. IV. p. 379. der Zweybrücker Ausg. Recht, wenn er behauptete, daſs nicht darum die Finger - spitzen der Hauptsitz des Tastorgans sind, weil sie mehr Nervenwärzchen und ein zarteres Ge -fühlO 4210fühl als die übrigen Theile haben, sondern weil sie eine Verbindung von mehrern Theilen aus - machen, die, insgesammt beweglich und bieg - sam, alle zu gleicher Zeit wirken und dem Willen gehorchen. Allein mit Unrecht glaubte er, daſs wenn die Hand in eine noch gröſsere Anzahl von Fingern getheilt wäre und jeder Finger eine noch gröſsere Anzahl von Gelenken und Bewegungen hätte, der Tastsinn noch weit vollkommener seyn müſste, als er jetzt ist. Wir würden bey einer solchen Bildung in ein - zelnen Fällen die Gestalt eines Körpers viel - leicht schneller, doch nicht vollkommener als bey unserer jetzigen Organisation erforschen können, und in manchen Fällen würde jene gröſsere Zahl die Betastung mehr hindern als fördern.

In minderm Grade besitzen diese Modifika - tion des Tastsinns auch einige andere Thiere. Aber es sind nicht Thiere aus einer der höhern Classen, sondern die Insekten, bey denen wir dieselbe finden. Ihnen sind die Freſsspitzen (Palpen) deutliche Tastorgane. Das äuſsere Ende dieser Organe ist von der hornartigen Oberhaut entblöſst, und bey solchen Insekten, die man lebend in heiſses Wasser getaucht hat, zeigt sich hier ein weicher, hervorragender Ballen, der gewöhnlich von weiſser, bey eini -gen,211gen, z. B. den Heuschrecken, von bräunlicher Farbe ist, der angeschwollenen Eichel eines männlichen Gliedes einigermaaſsen gleicht, meh - rere Zweige von zwey Hirnnerven erhältg)Marcel de Serres, Ann. du Mus. d’Hist. nat. T. XVII. p. 437. und sich, nach Knoch’sh)A. a. O. S. 30. Beobachtungen, bey dem lebenden Insekt hebt und senkt. Jedes mit Kauwerkzeugen versehene Insekt betastet mit diesen Organen die Substanz, die es verzehren will, vor dem Anbeiſsen und während dem Nageni)Wie C. M. Coch (Von den Freſsspitzen der Insekten. Leipz. 1778. S. 14.) und Knoch (A. a. O. S. 32.) an verschiedenen Käfern, Ramdohr (Magaz. der Gesellsch. naturf. Freunde in Berlin. Jahrg. 4. S. 287.) an den Bienen bemerkten und wie ich ebenfalls an mehrern Insekten beobachtet habe.. Es kann seyn, daſs in denselben auch ein Sinn vorhanden ist, vermittelst wel - chem das Thier nicht nur die äuſsere, sondern auch die innere Beschaffenheit einer solchen Substanz zu prüfen vermagk)Ramdohr (A. a. O.) hält die Freſsspitzen auch für die Theile, mit welchen die Bienen die Fruchtbarkeit ihrer Königinnen auskundschaften.. Allein die Art, wie sich die Insekten dieser Theile bedienen, indem sie damit den zu untersuchenden Gegen -standO 5212stand drehen, wenden und von allen Seiten be - rühren, beweist, daſs sie auch das Aeuſsere eines solchen Körpers dadurch auskundschaften.

Mau hat von dieser, zur Erforschung der Gestalt der Körper dienenden Modifikation des Tastsinns geglaubt, daſs sie mit dem Grade der geistigen Bildung in naher Beziehung stehe und daſs mit darum der Mensch nebst den Thieren, die Hände besitzen, die geistreichsten Geschöpfe seyen, weil ihnen der Sinn für Formen ver - liehen istl)Buffon a. a. O. p. 381.. Soviel ist zwar richtig, daſs die Thiere, die keine Hände oder Surrogate der Hände haben, sich nicht so deutliche Begriffe von der Gestalt der Körper machen können, als die, welche mit solchen Tastorganen ausge - stattet sind. Aber die mit vier Händen versche - nen Affen haben doch im Allgemeinen nicht mehr Geist, sondern nur Geist von anderer Art, als der Hund, der Fuchs, der Bieber u. s. w.

An den erwähnten fleischigen Enden der Insektenpalpen habe ich keine Nervenwärzchen entdecken können. Die Richtigkeit der Beob - achtung Knoch’sm)A. a. O. S. 30., der die Haut dieser Theile unter starken Vergröſserungsgläsern aus Papillenzusam -213zusammengesetzt will gefunden haben, muſs ich sehr bezweifeln. Auch fand ich sie nicht, wie sie Marcel de Serresn)A. a. O. beschreibt, durch - löchert. Hiernach zu urtheilen sind also Ner - venwärzchen nicht nothwendig zur Erforschung der Gestalt der Körper. Hingegen zu der Modifikation des Tastsinns, wodurch die Be - schaffenheit der Oberfläche eines Ge - genstandes geprüft wird, scheint ihre Gegen - wart allerdings erforderlich. Sie sind bey dem Menschen vorzüglich an den Fingerspitzen, den Lippen und der Zunge zugegen. Bey vielen Säugthieren finden sie sich auf dem unbehaarten Theil der Schnauze. Besonders deutlich und in regelmäſsigen Reihen gestellt zeigen sie sich hier beym Maulwurf. Nach Cuviero)Leçons d Anat. comp. T. II. p. 356. sind sie auch auf dem Rüssel des Elephanten und auf dem Schwanz der Didelphis cancrivora vor - handen. Ruyschp)Thesaur. anat. I. p. 61. fig. 8. 9. V. p. 38. no. 80. fand sie an den Brüsten des Wallfisches. Unter den Vögeln besitzen die Enten und Papageyen groſse Nervenwärzchen unter den Fuſssohlen. An dieser Stelle giebt es solche Papillen auch bey mehrern der eidech - senartigen Amphibien. Hingegen habe ich eben so wenig als Hellmannq)Ueber den Tastsinn der Schlangen, S. 15. ahnliche Organeauf214auf der Zunge der Schlangen angetroffen, wel - che doch bey diesen Thieren ein Tastwerkzeug zu seyn scheintr)Hellmann ebendas. S. 42.. Bey der Amphisbaena scutigera Hempr., wovon ich oben bemerkt habe, daſs ihren, unter der undurchbohrten Oberhaut liegenden Augen der Sehenerve fehlt, entdeckte ich auf der Zunge ähnliche häutige Säume, wie an den Cirrhen des Stöhrs. Sie waren von halbmondförmiger Gestalt und lagen dachziegelförmig über einander. Etwas Aehn - liches, kleine gelbliche, gefranzte und nach hinten gebogene häutige Anhänge, bemerkte Hellmanns)Ebendas. S. 15. an beyden Seiten der Zunge einer Boa Constrictor. Diesen Schlangen scheint also die Zunge, so wie dem Stöhr die Cirrhen, zur Empfindung der Erschütterung des Wassers organisirt zu seyn. Vorzüglich in diesem Ele - ment ist es auch, wo mehrere Schlangen sich der Zunge als Tastorgan bedienent)Ebendas. S. 45.. Auſser - halb dem Wasser kann sie ihnen nur Empfin - dungen von der Gegenwart eines Körpers ver - schaffen, ohne die Beschaffenheit der Oberfläche desselben anzugeben. Unter den Fischen besitzt die Meerlamprete (Petromyzon marinus) faden - förmige Tastorgane auf ihrer ringförmigen Lippe und auf der ganzen Fläche ihres Vorderkopfs. Die215Die Lippe ist allenthalben mit solchen Papillen, die ohngefähr eine Linie lang sind, dicht be - setzt. Am Vorderkopfe kommen sie erst nach behutsamem Abstreifen der Oberhaut zu Ge - sichte.

Obgleich aber die Anwesenheit von Nerven - wärzchen nothwendig ist, um die Beschaffenheit der Oberfläche eines Gegenstandes zu erforschen, so läſst sich doch nicht umgekehrt von der Gegenwart solcher Papillen auf das Vorhanden - seyn dieser Art des Tastsinns in dem damit versehenen Theile schlieſsen. Auch die Eichel des männlichen Gliedes ist mit denselben besetzt und hier dienen sie blos, um die Empfindlich - keit im Allgemeinen zu erhöhen. Sie sind aber selbst hierzu nicht unumgänglich nothwendig. In Narben, die nach Wunden oder Geschwüren zurückbleiben, ist ohne sie die Empfänglichkeit der Haut für Eindrücke des Tastsinns oft sehr erhöht. Marshallu)Untersuchungen des Gehirns im Wahnsinn und in der Wasserscheu. Uebers. von Rombero. Berlin. 1820. S. 163. führt sogar ein Beyspiel von einem Menschen an, bey welchem der Stumpf des demselben weggeschossenen männ - lichen Gliedes die eigenthümliche Empfindlich - keit der Eichel erhielt. Es läſst sich daher nicht mit Sicherheit annehmen, daſs in demRüs -216Rüssel, dem Wickelschwanz und andern Theilen mancher Thiere, auf welchen Nervenwärzchen zugegen sind, die nehmliche Modifikation des Tastsinns wie in unsern Fingerspitzen statt findet.

Die Struktur jener Wärzchen giebt hierüber keinen Aufschluſs. Wir wissen von dieser noch nicht mehr, als was Ruysch und B. S. Albin mit einigen seiner Schüler daran entdeckten. Ruyschv)A. a. O. untersuchte sie an den Brüsten des Wallfisches und fand, daſs jede durch Macera - tion in einen Büschel feiner Fäden aufgelöst wird. Mir erschienen ebenfalls die fadenförmigen Papillen am Vorderkopfe und der Lippe des Petromyzon marinus nach der Maceration als Büschel weiſser Fäden. Albin’s Schüler, Kaauw-Boerhaavew)Perspiratio dicta Hippocrati. Lugd. Bat. 1738., verfolgte an mensch - lichen Leichen die Enden der Hautnerven bis zu den Hautwärzchen; ihre Ausbreitung in die - sen konnte er aber nicht entdecken. Albin selber fand auch beym Menschen in den Wärz - chen der hohlen Hand, der Fingerspitzen und der Fuſssohle solche Fäden, wie Ruysch beym Wallfisch. Er erkannte aber so wenig diese, als ähnliche, die er in den Wärzchen der Zunge entdeckte, für Nervensubstanz an, undnicht217nicht mit Unrecht, da sie weder so zerreiblich, noch so leicht auflöslich durch Maceration wie das Nervenmark sindx)Albini Annotat. acad. L. VI. Cap. 10. L. I. C. 15.. Neben jedem der Fäden lief dessen Länge nach ein Blutgefäſs, und aus den Enden dieser Gefäſse drang ge - färbte Injektionsmaterie mit Zurücklassung des Färbestoffs unter der Oberhaut hervor. Jene Papillen der hohlen Hand, der Fingerspitzen und der Fuſssohlen sind fadenförmig, die der übrigen Haut mehr rundlich, und die letztern erscheinen nach Einsprützung der Arterien auf der Oberfläche blos mit röthlichen Punkten be - setzty)Albin ebendas. L. VI. C. 10.. Fadenförmig sind aber auch die unter den Nägeln längs der Fläche derselben liegenden Papillenz)Ebendas. L. H. C. 14., welche doch bey der Art von Betastung, wodurch wir die Rauhheit und Glätte der Körper zu erforschen suchen, nicht unmit - telbar mitwirken. Es läſst sich also von der Gestalt der Nervenwärzchen nicht mit Sicher - heit auf ihre Funktion schlieſsen.

Wie andere der schon gedachten Modifika - tionen des Tastsinns, so ist auch das Gefühl für die Schwere und Beweglichkeit der Körper unabhängig von der Gegenwart der Nervenwärzchen. Bedingung dieses Gefühls istaber218aber ein Apparat von Muskeln, welcher dem einwirkenden Körper entgegenwirkt. Nach dem Aufwande von Muskelkraft, der hierbey erfor - derlich ist, schätzen wir jene Eigenschaften der Körper. Nur dann aber ist eine nähere Schät - zung möglich, wenn die Gegenwirkung von unserer Seite durch willkührliche Bewegungs - organe geschieht. Auch ein innerer, krankhaft beschaffener Theil bringt durch seinen Druck auf die benachbarten Muskeln ein Gefühl von Schwere, doch nur ein dunkles und unbestimm - tes, hervor. Zur genauern Abwägung leichter Körper bedürfen wir der äuſsern Gliedmaaſsen, und bey leichtern Körpern der äuſsersten Glie - der der mittlern Finger. Die Feinheit des Sinns für Schwere steht also mit der Zahl der Glieder eines äuſsern Bewegungsorgans und der Länge desselben in einem gewissen Verhältniſs. Der Elephant, der in seinem weit hervorste - henden, höchst beweglichen Rüssel, und die Spinne, die in ihren langen, vielfach geglieder - ten Beinen diese Erfordernisse in einem höhern Grade als die meisten der übrigen Thiere be - sitzen, haben daher gewiſs ein sehr feines Ge - fühl für die Schwere und Leichtigkeit der Körper. Auch in den langen, aus zahlreichen Artikulationen bestehenden Fühlhörnern der In - sekten muſs dieses Gefühl sehr zart seyn. Kein Insekt macht zwar von seinen Antennen einen,auf219auf die Untersuchung der Schwere äuſserer Gegenstände abzweckenden, willkührlichen Ge - brauch. Aber bey denen Arten, deren Fühl - hörner mit vielen und langen Haaren besetzt sind, z. B. den Mücken und manchen Phalänen, müssen diese als hygrometrische Körper nach dem Feuchtigkeitsgrade der Luft ihr Gewicht ändern und so auf die Empfindlichkeit des Thiers einen verschiedenen Eindruck machen, von welchem vielleicht das verschiedene Beneh - men derselben bey Aenderungen der Witterung zum Theil abhängt.

Vermittelst dieses Sinns für die Beweglich - keit und Schwere der Gegenstände unterscheidet auch das Thier in so weit tropfbar flüssige Substanzen von festen Körpern, als die Flüssig - keit in der leichtesten Verschiebbarkeit der klein - sten Theile besteht. Das Gefühl für Nässe und Trockenheit aber beruht hierauf nicht allein, sondern auch theils auf einer chemischen Reitzung der Hautnerven von dem die Ober - haut durchdringenden Wasser, theils auf der verschiedenen Temperatur, die eine flüssige, feuchte, oder trockene Substanz diesen Nerven mittheilt. In der Wasserscheu ist dasselbe krank - haft erhöht und oft auf einen solchen Grad, daſs schon die geringste Berührung der Haut von Wasser Convulsionen verursacht. DieVI. Bd. PDurch -220Durchdringlichkeit der Oberhaut von flüssigen Substanzen zeigt sich bey der Resorbtion des Wassers im Bade und äuſserlich eingeriebener, flüssiger Arzneymittel. Nach den Versuchen eines gewissen Miel wird selbst der Schmelz der Zähne von Flüssigkeiten durchdrungen, und es rührt hiervon das Gefühl von Stumpfheit der Zähne nach dem Genuſs von zusammenziehen - den Säuren hera)Magendie Précis élément. de Physiologie. T. I. p. 151.. Aus dem Durchgange, den die Oberhaut der Nässe gestattet, ist es auch zu erklären, warum die Empfindung von Wärme oder Kälte nach der Berührung einer Flüssigkeit nicht gleich nach dem Abtrocknen der Haut, wie nach dem Aufhören der Berührung eines festen Körpers, sich verliert.

Der Sinn für die Temperatur der Körper ist mit der allgemeinste unter den Modifikationen des Tastsinns. Alles Leben ist vorzüglich durch einen gewissen Grad von Wärme bedingt, und für jede der äuſsern Bedin - gungen des Lebens hat das Thier einen Sinn empfangen, der dasselbe in den Stand setzt, diese aufzusuchen und sich anzueignen. Einer gewissen Temperatur bedürfen auch alle Theile des Thiers ohne Ausnahme. Daher ist jener Sinn nicht nur allgemein im Thierreiche, son -dern221dern auch allgemein im Körper jedes einzelnen Thiers verbreitet. Doch sind die Nerven des sympathischen Systems im gesunden Zustande, wie gegen alle mechanische und chemische Ein - wirkungen, so auch gegen den Einfluſs der Wärme und Kälte weniger empfindlich, als die übrigen und vorzüglich die Hautnerven, wie man unter andern beym Verschlucken heiſser Speisen bemerkt, die im Magen weit weniger das Gefühl von Hitze als an den Lippen und im Munde erregen.

Die Oberfläche des Körpers ist um so empfänglicher für die Eindrücke der Tempera - tur, je dünner und nackter die Oberhaut auf ihr ist. Kein Thier fühlt deswegen auf jedem Punkt dieser ganzen Fläche so leicht jeden Wechsel der Temperatur als der Mensch. Nur an einzelnen Stellen, wo die Oberhaut dünn und unbedeckt liegt, z. B. an der Nase, werden vielleicht manche Thiere von diesem Eindruck eben so sehr oder noch stärker als der Mensch gerührt. Es ist selbst möglich, daſs einige Thiere vermöge der Empfänglichkeit einzelner ihrer Organe für Wärme und Kälte die innere Beschaffenheit der Körper unterscheiden und die Gegenwart derselben aus einer gewissen Ent - fernung wahrnehmen können, indem jeder Kör - per seine specifische Temperatur hat, derenP 2Sphäre222Sphäre sich über die Grenzen desselben hinaus erstrecken muſs. Indeſs hierüber, so wie über - haupt über die Feinheit des Sinns für Wärme und Kälte, hält es schwer, bey den Thieren nach den Aeuſserungen derselben zu urtheilen. Thiere der heiſsen Climate sind gegen Kälte, so wie Thiere der Polargegenden gegen Wärme empfindlicher als der Mensch. Es kann aber demohngeachtet bey beyden jener Sinn stumpfer als beym Menschen seyn und ihr Uebelbefinden in einer andern, als der ihnen angemessenen Temperatur, eben so wohl von ihrem Unver - mögen, in einer zu kalten oder zu warmen Luft Athem zu holen, als von dem Eindruck der Wärme und Kälte auf ihre Hautnerven herrühren.

Kein Sinn täuscht aber leichter als der Sinn für die Temperatur. Man hat ohnlängst, und mit Recht, Wärme nach dem Gefühl und Wär - me nach dem Thermometer unterschieden. Jene hängt theils von dem Wärmeleitungsvermögen des Medium, worin wir uns befinden, theils von dem Zustande des Nervensystems ab. Die Luft kann bey einerley Wirkung auf den Wärmemesser nach ihrem verschiedenen Gehalt an Feuchtigkeit, nach ihrer chemischen Ver - schiedenheit und je nachdem die Hautausdün - stung durch sie befördert oder zurückgehaltenwird,223wird, dem thierischen Körper mehr oder weni - ger Wärme entziehen, und im ersten Fall das Gefühl von Kälte, im letztern die Empfindung von erhöhter Temperatur hervorbringenb)Seguin, Aunales de chimie. T. VIII. p. 1.. Luft von gleicher Wärme nach dem Thermo - meter scheint uns kalt, wenn sie viel Feuch - tigkeit enthält, warm, wenn sie trocken ist. Vielleicht erregen auf diese Art das kohlensaure Gas, Stickgas und Ammoniakgas das Gefühl von Wärmec)Orioli, Opuscoli scientifici. T. II. Bologna. 1818. p. 398..

Alle diese Ursachen wirken indeſs noch auf andere Art als blos durch ein chemisches Verhältniſs. Sie verändern den Zustand des Nervensystems und mit diesem den der Lebens - thätigkeit, von welchem der Sinn für Tempera - tur abhängig ist. Wir können Hitze und Kälte ohne alle äuſsere Erhitzung und Abkühlung, blos vermöge einer Umstimmung der Nerven - thätigkeit empfinden und dieses Gefühl selbst in einzelnen Nerven haben. Ein solches ist unter andern die Aura epileptica, ein scheinbarer kalter Luftzug, der bey einer Art der Fallsucht von dem äuſsern Ende eines Nerven längs dem Stamme desselben bis zum Gehirn hinaufsteigtund,P 3224und, sobald er dieses erreicht hat, den epilepti - schen Anfall nach sich zieht. In einer Schrift meiner Jugendzeitd)Physiologische Fragmente von G. R. Treviranus. Th. 1. S. 105. stellte ich die Vermuthung auf, daſs die Täuschung, wo wir Kälte und Frost ohne äuſsere Veranlassung empfinden, von einer Zusammenziehung der Nervenscheiden herrühre. Ich glaube auch jetzt noch, daſs sich die epileptische Aura, wovon ich Beyspiele in jener Schrift (S. 132 fg. ) gesammelt habe, das Schauern von innern Ursachen, und ähnliche Gefühle befriedigend aus dieser Voraussetzung erklären lassen, für welche auſserdem noch dies spricht, daſs Zusammenziehung in den häutigen Theilen der Oberfläche des Körpers immer das Gefühl von Kälte, und umgekehrt das letztere jene zur Folge hat.

Drit -225

Dritter Abschnitt. Der Geschmack.

Das Geschmacksorgan ist das feinste aller Reagentien gegen jede Substanz, die der Auf - lösung im Speichel fähig ist. Die Empfänglich - keit desselben für den Eindruck solcher Materien ist so groſs, daſs selbst die am schwersten auflöslichen Körper, z. B. Steine und Metalle, nicht ohne Wirkung auf die Zunge sind. In dieser Feinheit ist der Geschmackssinn Prü - fungsmittel der nährenden Substanzen. Als sol - cher dient er aber blos dem Menschen, der, vermöge der Bildung und Beweglichkeit seiner Lippen und seiner Zunge, das Gekostete, das ihm widrig ist, durch willkührliches Auswerfen wieder von sich zu entfernen vermag. Die übrigen Thiere scheinen bey der Auswahl ihrer Speisen mehr durch den Geruch, als durch den Geschmack geleitet zu werden, und den letztern vorzüglich nur als eine Quelle angenehmer Empfindungen zu besitzen. Aus ihren Hand -P 4lungen226lungen allein läſst sich darum nur selten auf die Gegenwart dieses Sinns, und noch seltener auf den Grad der Feinheit desselben bey ihnen schlieſsen. Das einzige Mittel, hierüber Aus - kunft zu erhalten, ist, sie nicht nur in Betreff ihres Verhaltens bey der Einwirkung verschie - dener Substanzen auf das Geschmacksorgau, sondern auch in Rücksicht der Bildung dieses Sinneswerkzeugs, mit dem Menschen zu ver - gleichen.

Der Hauptsitz des Geschmacks bey dem Menschen ist bekanntlich die Zunge. Sie ist aber nicht einziges Organ dieses Sinns. A. Jussieue)Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1718. p. 6. der Octav-Ausg. erzählt von einem Mädchen, die den Geschmack der Nahrungsmittel unterschei - den konnte, obgleich sie statt der Zunge blos einen fleischigen Knollen besaſs. Ein anderes Mädchen, deren Geschichte von Bredotf)Act. Helvet. Vol. VIII. p. 184. be - schrieben ist, unterschied ganz ohne Zunge, die sie in ihrem siebenten Lebensjahr bey den Blattern verloren hatte, sehr gut den Geschmack sowohl der Speisen, als anderer Substanzen, z. B. des Salmiaks. Doch schien sie langsamer und nicht so scharf als Personen, die im Besitzder227der Zunge sind, zu schmecken. Blumenbachg)Handb. der vergl. Anatomie. 1te Ausg. S. 330. beobachtete einen Menschen, welcher, ohne Zunge geboren, dennoch vermittelst des Gau - mens den Geschmack verschiedener Auflösungen bey verbundenen Augen unterschied und jedes - mal nachher schriftlich angabh)Noch andere ähnliche Fälle finden sich in den Miscell. Acad. Nat. Curios. Dec. 1. A. 3. 1672. p. 559. und in Le Cat’s Traité des sens. p. 225.. Es läſst sich also aus der Abwesenheit der Zunge bey gewis - sen Thieren nicht auf die Abwesenheit des Ge - schmackssinns schlieſsen.

Umgekehrt beweist aber auch die Gegen - wart einer Zunge nicht die Gegenwart dieses Sinns. Bey dem Menschen ist die Zunge nicht nur Geschmackswerkzeug, sondern auch Tast - organ, und auſserdem dient sie zur Ingestion der Nahrungsmittel und zur Bildung der Stim - me. Die letztere Funktion hat sie bey den Thieren zwar nicht, oder doch nur in geringem Grade. Aber bey den meisten ist sie deutlich zur Aufnahme und Fortbewegung der Speisen, bey vielen auch zum Tasten gebildet.

Die Zunge besitzt indeſs vielleicht als Sitz des Geschmacks Eigenthümlichkeiten, aus derenGegen -P 5228Gegenwart oder Mangel Folgerungen in Hinsicht auf die Verbreitung jenes Sinns bey den Thie - ren abzuleiten sind. Ob dies der Fall ist, wer - den wir zuvörderst zu untersuchen haben.

Seit Bellini’s Schrift über das Geschmacks - organi)Gustus organum novissime deprehensum. Bonon. 1665. erschien, ist es eine fast allgemein angenommene Meinung, daſs der Hauptsitz des Geschmacks die Nervenwärzchen der Zunge sind, deren man gewöhnlich drey Arten annimmt: kleinere, kegelförmige, die auf der ganzen Oberfläche der Zunge zerstreut stehen; mittlere, pilzförmige, die aus einem cylindrischen Stiel mit einem breitern, rundlichen Oberende bestehen und zwischen den kegelförmigen liegen, und gröſsere, abgestumpfte, die sich von ihrer Basis in der Gestalt eines umgekehrten, abgestumpften Kegels erweitern und die hintere Gegend des Rückens der Zunge einnehmen, jedoch nur in geringer Zahl vorhanden sind. Hallerk)Elem. Physiol. T. V. L. XIII. S. 1. §. 3. p. 103. hat gegen diese Eintheilung erinnert, daſs viel Willkührliches darin ist, indem ein allmähliger Uebergang der einen Art jener Wärzchen in die andere statt findet, und daſs manche Papillen sich zu keiner derselben rech - nen lassen. Sie verdient aber doch beybehaltenzu229zu werden, da die Formen der meisten Zun - genwärzchen unter ihr begriffen sind, nur mit Ausnahme der fadenförmigen, welche sich zwischen den conischen finden und sowohl ihrer Einfachheit als ihrer Gestalt wegen für eine eigene, vierte Art von Sömmerringl)Abbildungen der menschl. Organe des Geschmacks u. der Stimme. S. 3. 7. mit Recht angenommen sind.

B. S. Albinm)Annot. acad. L. I. C. 15. p. 59. fand in allen diesen Wärz - chen neben einander liegende Fäden, die eine von einer weiſsen Substanz umgebene Arterie enthielten. Aus dem Ende der Arterie drang die Einsprützungsmaterie hervor, ohne in eine Vene überzugehen. Die gröſsern Wärzchen be - standen aus einer gröſsern Zahl solcher Fäden; in den einfachsten schien sich nur ein einziger zu befinden. Bis zu den Papillen erkannte Albin den Fortgang der letzten Nervenfäden; ob aber die weiſse Substanz, die in ihnen neben den Arterien lag, Nervensubstanz war, ver - mochte er nicht zu unterscheideṅ. Sömmerring’s Abbildungen und Beschreibungenn)A. a. O. weichen von diesen Beobachtungen Albin’s darin ab, daſs jedes fadenförmige Zungenwärzchen eine Arterie enthält, die sich an der Spitze derPapille230Papille umbiegt und zur Basis der letztern zu - rückkehrt; daſs die Arterien der einfachen Fäden, woraus die pilz - und kegelförmigen Wärzchen bestehen, mehr geschlängelte Bogen als die der kegelförmigen machen, und daſs die abgestumpften Wärzchen nicht aus einfachen Fäden zusammengesetzt scheinen. Mehr als dies sahe Keiner, dessen Aussage von Gewicht ist. Aber eben dies und weiter nichts fand man auch in den Nervenwärzchen der Haut. Man hat also eben so viel für sich, die Zungen - wärzchen für Tastorgane anzusehen, als den Sitz des Geschmacks in ihnen anzunehmen.

Erwägt man alle Umstände näher, so er - scheint am wahrscheinlichsten, daſs, wie Per - raulto)Oeuvres de Phys. et de Mechan. p. 555. schon vermuthete, die Zungenwärz - chen nur zur Erhöhung des Geschmackssinns beytragen, ohne nothwendige Bedingung dessel - ben zu seyn, und daſs sie sich im Allgemeinen mehr auf das Getast als auf den Geruch be - ziehen. Zur gehörigen Zermalmung der Spei - sen, zur Unterscheidung des Zermalmten von dem Ungekäuten, und zur Verhütung des Ver - schluckens von Substanzen, die den Verdau - ungsorganen auf mechanische Art nachtheilig seyn könnten, war dem Menschen und solchen Thieren, deren Magen keine bedeutende reibendeKraft231Kraft besitzt und deren gastrischer Saft zur Auflösung unzerkäuter Substanzen nicht gemacht ist, ein zartes Tastvermögen der Zunge noth - wendig. Es ist nach der Analogie der übrigen, mit Nervenwärzchen versehenen Tastwerkzeuge begreiflich, in welchem Verhältniſs gegen dieses Getast die Zungenwärzchen stehen. Hingegen ist nicht einzusehen, welches nothwendige Ver - hältniſs dieselben als Nervenwärzchen gegen den Geschmack haben können. Dieser kann nicht auf der äuſsersten Oberfläche der Zunge vor sich gehen. Die schmeckbaren Substanzen müs - sen, um als solche empfunden zu werden, auf - gelöst diese Oberfläche durchdringen. Zu dem letztern Zweck besteht die Zunge aus einem so lockern, schwammigen Gewebe. Aber Nerven - wärzchen sind für denselben keine nothwendige Bedingung. Wohl würde freylich die Durch - dringung beschleunigt werden und sich über einen gröſsern Raum ausbreiten, wenn die Pa - pillen einsaugende Organe wie die Flocken des dünnen Darms wären. Als solche sind sie in der That auch zu betrachten. Diejenigen von ihnen, die wir unter dem Namen der faden - förmigen als eine eigene Art unterschieden haben und aus welchen, als den einfachsten, die übrigen zusammengesetzt sind, kommen in ihrer Gestalt sehr mit den Darmzotten überein. Im ganzen Thierreiche findet auch zwischen derSchleim -232Schleimhaut der Zunge und der einsaugenden Haut des dünnen Darms eine groſse Ueberein - stimmung statt, wie sich vorzüglich bey meh - rern Amphibien zeigt, wo die Zunge statt der Wärzchen mit einem ähnlichen Netzwerk, wie die innere Wand des dünnen Darms statt der Zotten, besetzt ist. Die Zungenwärzchen dienen also als einsaugende Organe dem Geschmack. Sie sind aber darum nicht eigentliches, oder wenigstens nicht erstes Geschmackswerkzeug.

Eine zweyte Eigenthümlichkeit, worin viel - leicht der unterscheidende Charakter der Zunge als Geschmacksorgans zu finden wäre, sind die Nerven derselben. Bey dem Menschen und den verwandten Thieren erhält sie diese von drey verschiedenen Paaren der Hirnnerven: vom fünften Paar, von den Zungenschlundkopf - und den Zungenfleischnerven. Der gewöhnlichen, schon von Galenp)De usu partium. L. IX. C. 13., Vesalq)Opp. anat. p. 807. und Vieus - sensr)Neurographia. p. 173. vertheidigten Meinung nach, hängt der Geschmack von dem Unterkinnladenzweig des Trigeminus, die willkührliche Bewegung und das Tastvermögen der Zunge aber von den Nerven des neunten und zwölften Paars ab. Wil -233Williss)De anima brutorum C. 12. Opp. p. 59. wich von dieser Theorie ab und nahm an, daſs die Zungenfleischnerven gemein - schaftlich mit den Nerven des fünften Paars dem Sinne des Geschmacks dienten, weil es ihm sonst nicht erklärbar war, weshalb die ganze Masse der Zunge mit so vielen Zweigen des Zungenfleischnerven durchwebt ist. Boer - haavet)Praelect. academ. Edid. Haller. Vol. III. §. 486. p. 13. schrieb die Geschmacksempfindung blos dem zwölften Nervenpaare zu, doch nur, weil diese Nerven zu keinen andern Theilen als zur Zunge gehen. Dumasu)Principes de Physiologie. T. II. p. 5[7]9. vermuthete, die Nervenzweige, die sich in den Muskeln der Zunge verlieren, dienten zur Bewegung, die aber, welche in die auſsere Substanz der Zunge dringen, zum Geschmack, sie mögen vom fünf - ten, neunten oder zwölften Paar herrühren. Autenriethv)Handbuch der empirischen menschl. Physiologie. Th. 3. S. 112. sieht den Zungenschlundkopf - nerven und den Zungenast des fünften Paars für die Geschmacksnerven an und schreibt den - selben Empfanglichkeit für entgegengesetzte Ge - schmackseindrücke zu. Er erklärt aus dieser Voraussetzung, warum der Eindruck des Süſsen und Sauren schon mit der Zungenspitze, der des Bittern und Alkalischen mehr nach derZun -234Zungenwurzel hin empfunden wird, und warum der durch den positiven Pol der Galvanischen Elektricität erregte Geschmack vorzüglich nur auf der Spitze der Zunge sauer ist, hingegen weiter hinten, auf der Zungenwurzel, ange - bracht, manchen Menschen sogar alkalisch zu seyn scheint.

Hier sind der Streiter um den ächten Ring mehr als in Nathan’s Erzählung, und doch besitzt vielleicht auch hier Keiner das ächte Kleinod. Für die Funktion des Zungenzweigs vom Trigeminus als Geschmacksnerven sprechen allerdings wichtige Gründe. Parryw)Elements of Pathology and Therapeutics. Vol. I. London. 1815. p. 254. führt einen Fall an, wo das Vermögen, zu sprechen und zu schlucken, ohne äuſsere Ursache sehr vermindert war, und einen zweyten, wo diese Verminderung nach einem Sturz auf den Kopf eintrat, während in beyden der Geschmack un - geschwächt fortdauerte. Hiernach ist also der letztere unabhängig von dem Bewegungsvermögen der Zunge. Daſs aber der Geschmack von dem Zungenast des fünften Hirnnerven abhangt, er - giebt sich aus einem dritten, von Parry beob - achteten Fall, wo der Geschmack in der einen Hälfte der Zunge von einem Druck, den jener Nervenzweig auſserhalb der Schädelhöhle erlitt,verlo -235verloren gegangen, hingegen die willkührliche Bewegung und das Tastvermögen unverändert geblieben war.

Diesen Erfahrungen steht indeſs eine von Heuermannx)Physiologie. Th 2. S. 295. gemachte Beobachtung entgegen, wo der Geschmack zum Theil verloren ging, nachdem der Zungenfleischnerve bey der Ex - stirpation einer scirrhösen Drüse durchschnitten war. J. F. Meckely)Lehrbuch der menschl. Anatomie. B. 3. S. 678. hat zwar gegen den Schluſs, der sich aus diesem Beyspiel in Betreff der Mitwirkung des Zungenfleischnerven beym Schmecken ziehen läſst, eingewendet: die Ver - letzung habe hier blos wegen der Verbindung des Hypoglossus mit dem Trigeminus störend auf die Geschmacksverrichtung wirken können, und die Beobachtung beweise zu viel, da der Zungenfleischnerve seiner und des Zungenasts vom fünften Paar Verbreitung nach nicht allein Geschmacksnerve seyn könne, was aus Heuer - mann’s Erfahrung folgen würde, wenn man sie als einen Beweis für die Geschmacksver - richtung jenes Nerven ansähe. Mit dem erstern Grund läſst sich aber eben so gut die Beweis - kraft der Fälle, wo der Geschmack nach Ver - letzung des Zungennerven vom fünften Paarverlo -VI. Bd. Q236verloren ging, entkräften. Der letztere Einwurf ist ungültig, weil Heuermann nicht gänz - lichen Verlust des Geschmacks nach der Durchschneidung des Zungenfleischnerven beob - achtete, und sich also freylich aus seiner Erfah - rung nur schlieſsen läſst, daſs dieser Nerve Antheil an der Funktion des Schmeckens hat, nicht aber, daſs derselbe einziger Geschmacks - nerve ist. Für diese Folgerung spricht auch die Verbindung der Aeste des Zungenfleischnerven mit den Zungennerven vom fünften Paar, ein Umstand, der bey allen Nerven, wobey er statt findet, auf Gleichartigkeit der Verrichtungen hindeutet. Es ist hier um so mehr verstattet, aus dieser Verbindung auf einen Antheil beyder Nerven an jener Funktion zu schlieſsen, da in den Organen des Geruchs, Gehörs und Gesichts die Zweige des fünften Hirnnerven offenbar blos Hülfsnerven sind, der sonstige Hülfsnerve also in der Zunge aller Analogie zuwider ein - ziger Sinnesnerve seyn würde, wenn nicht gleichartig mit ihm der Zungenfleischnerve wirkte.

Meckel beruft sich zur Unterstützung sei - ner Meinung auf einen von Columbus erzähl - ten Fall, wo angeborner Mangel des Geschmacks vorhanden gewesen seyn soll, weil sich der Zungenast vom fünften Paar nicht in der Zunge,son -237sondern am Hinterhaupte verbreitet habe. Er hat hiermit aber eine Stütze ergriffen, die schon Hallerz)A. a. O. L. XIII. S. I. §. 10. p. 112. mit groſsem Recht als unzuverläſsig verwarf. Hallera)A. a. O. und ebendas. §. 4. p. 104. führt dagegen als Beweis für die Verrichtung des Schmeckens durch jenen Zungenast an, daſs nur Zweige des Trigeminus bis zur Spitze der Zunge gelangen, wo der schärfste Geschmack ist, und daſs nur diese sich bis in die Nervenwärzchen verfolgen lassen. Mit dieser Angabe stimmen zwar auch Söm - merring’sb)A. a. O. S. 5. Tab. I. Fig. 4. Beobachtungen überein. Allein es läſst sich dagegen erinnern, daſs es bey der Vereinigung des Zungennerven vom fünften Paar mit dem Zungenfleischnerven ungewiſs ist, welchen Beytrag der letztere zu den Nerven - fäden der Zungenwärzchen liefertc)Cuvier (Leçons d’Anat. comp. T. II. p. 697.) findet die Anastomosen der Zungenzweige vom fünften Paar und der Aeste des Zungenfleischnerven in der ganzen Ausdehnung der Zunge so zahlreich, daſs er es für unentschieden hält, welcher Nerve den mei - sten Antheil an der Bildung der zur Oberfläche der Zunge gehenden Fäden hat., und daſs es, wenn man auch annimmt, es gehen zu den Papillen der Zungenspitze blos vom fünftenNer -Q 2238Nervenpaar entspringende und blos unter dessen Einfluſs stehende Fäden, doch zweifelhaft bleibt, ob solche Fäden nicht Nerven des Tastsinns der Zunge sind, von dem sich mit mehr Recht als von dem Geschmackssinn behaupten läſst, daſs er vorne an der Zunge am zartesten ist.

Es läſst sich also nach allen bisherigen Gründen der Sitz des Geschmacks in keinen der beyden gedachten Nerven allein setzen. Aber auch dem Zungenschlundkopfnerven läſst sich eine unmittelbare Funktion beym Schmek - ken nicht absprechen. Sömmerringd)A. a. O. S. 5. verfolgte ihn beym Menschen bis in die abgestumpften Zungenwärzchen. Bey den Vögeln giebt, wie Tiedemanne)Anatomie u. Nat. Gesch. der Vögel. B. 1. S. 31. bemerkt und wie ich ebenfalls bey der Gans und bey der Ente gefunden habe, der dritte Ast des fünften Nervenpaars über - haupt keinen Zweig an die Zunge, sondern blos an die Gaumenwärzchen. Der Zungenschlund - kopfnerve aber läuft bey dem Specht, dem Wendehals und ähnlichen Vögeln, die ihre Zunge weit aus dem Munde hervorstrecken, in der häutigen Scheide, welche dieses Organ um - giebt, bis zur pfeilartigen Spitze desselben fort, wo er sich in der Haut endigt, indem er zu - gleich während seines Verlaufs feine Fäden andie239die Scheide abgiebtf)Tiedemann ebendas. S. 35.. Daſs diese Nervenendi - gung nicht zum Schmecken, sondern blos zum Tasten diene, läſst sich nicht mit Wahrschein - lichkeit annehmen, da bey allen Vögeln schon der Schnabel ein deutliches Tastwerkzeug ist.

Hiernach wäre denn unter den obigen Mei - nungen über den eigentlichen Geschmacksnerven die von Dumas geäuſserte in so weit die richti - gere, als in ihr die sämmtlichen, zur Zunge gehenden Nerven für mitwirkend beym Schmek - ken angenommen werden. Unrichtig aber ist es, wenn Dumas blos die zu den Zungen - wärzchen gehenden Zweige für Geschmacksner - ven erklärt. Ob nun alle jene Nerven auf gleiche Weise zur Geschmacksverrichtung bey - tragen, oder ob jeder Zungennerve einer eige - nen Modifikation dieser Funktion vorsteht, ist eine Frage, zu deren Beantwortung es noth - wendig ist, den Geschmack in einen subjek - tiven und objektiven zu unterscheiden. Der subjektive Geschmack beruht auf dem Gefühl des Hungers und Durstes, und ist ein bloſser Sinnenkitzel bey der Ingestion dessen, was auf angemessene Art zur Stillung dieser Gefühle dient. Der objektive Geschmack unterscheidet ohne Beziehung auf ein körperliches BedürfniſsdieQ 3240die Qualitäten der im Speichel aufgelösten Sub - stanzen. Der letztere ist wohl durch die Ver - bindung der Zunge mit dem fünften Hirnner - venpaar bedingt, welches der höhern sensitiven Sphäre des Gehirns naher als das neunte und zwölfte Paar entspringt und mit den Nerven der Verdauung nicht in unmittelbarer Verbin - dung steht. Der subjektive Geschmack hingegen scheint mehr von dem Zungenschlundkopfnerven und dem Zungenfleischnerven abzuhängen, wel - che ihren Entstehungsort näher dem Ursprunge der Nerven des vegetativen Lebens haben und mit dem System sowohl der herumschweifenden Nerven, als des sympathischen Nerven durch Verbindungszweige unmittelbar verflochten sind. Möglich ist es auch, daſs, nach Autenrieth’s Vermuthung, der Glossopharyngæus für andere Geschmackseindrücke als der Zungenast des Trigeminus organisirt ist. Doch finde ich in der Empfänglichkeit der verschiedenen Stellen der Zunge für verschiedenartige Einwirkungen so wenig Uebereinstimmung bey verschiedenen Menschen, daſs ich den Erfahrungen, worauf sich Autenrieth zum Beweise seiner Meinung beruft, wenig Gewicht beylegen kann. Ueber - haupt geben alle Versuche über den Einfluſs verschiedener Substanzen auf einzelne Stellen der Zunge unsichere Resultate, wenn man sie bey geöffnetem Munde auf der ausgestrecktenZunge241Zunge anstellt, weil durch die hierbey statt findende Spannung der letztern ihre Reitzbarkeit sehr vermindert wird.

So giebt es denn von der Gegenwart des Geschmackssinns im Allgemeinen keine andere organische Kennzeichen, als die Gegenwart einer am Eingange des Nahrungscanals befind - lichen, von einer hier abgesonderten Flüssigkeit leicht zu durchdringenden, schwammigen Fläche, unter welcher sich Nervenzweige endigen, die analogen Ursprungs wie die Zungennerven des Menschen sind; Aehnlichkeit jener Flüssigkeit mit dem Speichel in Rücksicht auf die auflö - sende Kraft und die indifferente Mischung der - selben, und unmittelbare Berührung der zu schmeckenden Substanz mit der nervenreichen Fläche nach vorhergegangener Befeuchtung der Substanz mit dem speichelartigen Saft. Diese Merkmale sind aber freylich so unzureichend und die Aeuſserungen der Thiere sowohl im natürlichen Zustande, als bey Versuchen, denen man sie unterworfen hat, oft so zweydeutig, daſs in vielen Fällen nicht mehr als bloſse Vermuthungen über die Verbreitung des Ge - schmackssinns in den verschiedenen Classen und Familien des Thierreichs möglich sind. Am wenigsten läſst sich über das Verhältniſs des Speichels zum Geschmackssinn bey denQ 4Thie -242Thieren urtheilen. Gerade dieses aber würde, wenn es erkennbar wäre, ein wichtiges Kenn - zeichen der Gegenwart und Beschaffenheit des Sinns für schmeckbare Substanzen abgeben. Der menschliche Speichel reagirt oft alkalischg)Biologie. Bd. 4. S. 329., und dieser alkalischen Beschaffenheit desselben ist es vielleicht zuzuschreiben, daſs Laugensalze nicht so heftig als Säuren auf die Zunge der meisten Menschen wirken. Jene Reaktion ist aber immer nur schwach und oft fehlt sie ganz. In dieser Indifferenz der Mischung des mensch - lichen Speichels liegt wahrscheinlich mit ein Grund der Zartheit des Geschmacks beym Men - schen.

Ein gewisser Grad des subjektiven Ge - schmacks läſst sich keinem Thier, von dem Menschen an bis zu dem untersten der Wür - mer, ganz absprechen. Wie weit sich der objektive Geschmack vom Menschen abwärts im Thierreiche erstreckt, ist auf keine Weise zu bestimmen. Daſs aber überhaupt der Geschmack in der Zunge bey allen Säugthieren weit stum - pfer als beym Menschen seyn muſs, erhellet daraus, weil auf ihr unter der Oberhaut in den Zwischenräumen der Wärzchen ein fibröses Gewebe liegt, das von den letztern durchbohrt wird, abgelöst von der Zunge die Gestalt einesNetzes243Netzes hat und nicht geeignet zu seyn scheint, Flüssigkeiten durchzulassen. Bey vielen Ge - schlechtern und selbst ganzen Familien dieser Thierclasse können auch viele der Zungenpapil - len, ihrer hornartigen Beschaffenheit wegen, keine Empfänglichkeit für Geschmackseindrücke besitzen. Solche hornartige Papillen giebt es bey mehrern Fledermäusen, den sämmtlichen Arten der Katzenfamilie, den Beutelthieren und den Wiederkäuern. Bey den katzenartigen Thieren sind die hornartigen Spitzen der Zun - genwärzchen den menschlichen Nägeln sehr ähnlich, so daſs sich hier eine nahe Verwandt - schaft mit den Tastorganen des Menschen zeigt. Noch weniger Empfänglichkeit für Geschmacks - eindrücke läſst sich in der langen, dünnen und glatten Zunge der Gürtel - und Schuppenthiere und der Ameisenbären annehmen. Diese Thiere verschlucken aber auch ihr Futter ungekäuet, und mit dem Grade der Zermalmung des letz - tern steht die Organisation der Zunge als Sitzes des Geschmackssinns bey allen Thieren, die sich von festen Substanzen nähren, in Ver - hältniſs. Sie ist darum von ähnlicher, zum Schmecken wenig geeigneter Beschaffenheit bey den meisten Vögeln, besonders den körnerfres - senden. Nur die, welche von saftigern Früch - ten leben, besonders die Papageyen, haben eine breitere, mehr schwammige, mit gröſsern, wei -Q 5chen244chen Papillen besetzte Zungeh)Wegen ausführlicherer Beschreibung der Zunge und der Zungenwärzchen bey den Säugthieren und Vögeln muſs ich auf Cuvier’s Leçons d’Anat. comp. T. II. p. 686. 691., auf die Citate in Blumenbach’s Handb. der vergl. Anat. §. 230., aus welchen Cuvier’s Be - schreibungen zum Theil geschöpft sind, und Tiede - mann’s Anat. und Nat. Gesch. der Vögel, B. 1. S. 114., verweisen.. Indeſs ist bey allen Vögeln und vielleicht auch bey denen Säugthieren, die ihnen im Bau der Zunge ähn - lich sind, der weiche Gaumen und der Eingang zum Schlunde ebenfalls ein Sitz des Geschmacks - sinns. An jenem vertheilen sich bey den - geln Fäden vom dritten Ast des fünften Ner - venpaars und am Schlundkopfe Zweige des Zungenfleischnerveni)Tiedemann a. a. O. S. 125.. Es ist selbst nicht un - wahrscheinlich, daſs bey manchen Säugthieren die Backentaschen und bey vielen Vögeln der diesen Taschen analoge Kropf empfänglich für den Geschmack der Nahrungsmittel sind, die in diesen Behältern erweicht und zum Theil auf - gelöst werden.

Unter den Amphibien, und selbst auch unter den Fischen, stehen vielleicht einige Arten in Betreff des subjektiven Geschmackssinns der Zunge höher als manche Vögel. Viele jenerThiere245Thiere verschlucken zwar auch wie diese ihr Futter, ohne es zu käuen; aber von mehrern wird dasselbe doch vor dem Verschlingen zer - malmt, so daſs der Saft der thierischen oder vegetabilischen Substanzen, wovon sie sich näh - ren, auf die Geschmackswerkzeuge wirken kann, und selbst diejenigen, die in der Wahl ihrer Kost keine Auswahl zeigen und diese unzer - malmt verschlingen, z. B. die Frösche, äuſsern demohngeachtet Zeichen von Geschmacksempfin - dung, indem sie die ihnen unpassenden Dinge wieder auswerfenk)Rösel’s natürliche Historie der Frösche. S. 56.. Die Zunge hat zwar bey den meisten Amphibien keine Papillen mehr. Doch ist sie bey vielen weich, schwammig, zur Durchdringung von Flüssigkeiten geeignet und statt der Wärzchen oft mit einem ähnlichen Netzwerk, wie die innere Fläche ihres dünnen Darms, bedeckt. Unter den Fischen giebt es nur wenig Arten, deren Zunge die Organisation eines Sinneswerkzeugs hat. Aber hinten am Gaumen beym Eingang des Schlundes liegen bey ihnen zwey lange, sehr weiche und blutreiche Anhänge, woran ich beym Schellfisch, bey dem ich sie näher untersucht habe, zwar keine Wärzchen, doch auch keinen drüsenartigen Bau fand, und zu welchem Zweige des Nerven gingen, der bey den Fischen die Stelle des Glossopharyngæus vertritt. Ich glaube nicht zuirren,246irren, wenn ich in diesen, schon von A. Mon - rol)Vergleichung des Baues und der Physiologie der Fische u. s. w. Uebers. von Schneider. Tab. XVII. f. 1. 2. J. S. 126. bemerkten und mit den Mandeln der Säugthiere verglichenen Organen den Sitz des Geschmackssinns vermuthe.

Kein Theil, der der Sitz eines Sinns ist, hat eine so weite Verbreitung im Thierreiche als die Zunge. Sie findet sich nicht nur bey den meisten Mollusken, Insekten und Würmern, die Kauwerkzeuge haben, sondern auch bey manchen Wesen der untersten Stufen dieses Reichs, deren Mund keine hornartige Theile enthält, z. B. beym Regenwurm. Bey dem letztern entdeckte ich eine weiche, cylindrische Zunge in einer Vertiefung der innern Wand des Schlundes, die von einer wulstförmigen Hervorragung umgeben und auf ihrer inwendi - gen Fläche mit der Substanz des Schlundes verwachsen, also unbeweglich ist. Der letztere Umstand beweist. daſs sie keine Verrichtung bey der Ingestion der Nahrungsmittel, sondern nur die eines Sinneswerkzeugs haben kann. Bey manchen Mollusken und Insekten hat die Zunge vielleicht blos mechanische Funktionen. Aber sie ist gewiſs auch bey vielen Werkzeug des Geschmacks. Nur darf man bey den In -sekten247sekten nicht das für die Zunge ansehen, was von den Entomologen und selbst von manchen Anatomen so genannt wird*)So schreibt Cuvier (A. a. O. T. III. p. 347.) den Coleopteren, den Orthopteren und den Odonaten unter den Neuropteren ein der Zunge der Säugthiere analoges Organ zu, obgleich gerade bey diesen Insekten die Zunge weit weniger ausgebildet ist, als bey den Hymenopteren, für deren Zunge er mit den Entomologen unrichtig den Rüssel ansieht, da doch schon Reaumur (Mém. pour servir à l Hist. des Ins. T. V. P. I. Mém. 6. p. 317.) die wahre Zunge bey der Biene erkannt hatte.. Wo sie in die - ser Thierclasse vorhanden ist, nimmt sie die Stelle über dem Eingauge des Schlundes ein. Bey den Wespen, Hornissen und andern Hy - menopteren giebt es zwey Zungen, eine äuſsere und eine innere. Die äuſsere ist knorpelartig und kann blos mechanische Zwecke haben. Die innere hingegen ist fleischig, weich, mit einer zarten Haut überzogen und in jeder Rück - sicht zum Schmecken organisirtm)Man vergl. Verm. Schriften anat. u. physiol. In - halts von G. R. u. L. C. Treviranus Th. 3., wo ich S. 125. Tab. XIII. fig. 1. 4. 7., und Tab. XIV. fig. 1. bey L, die innere Zunge der Erd - und Moosbiene, und Tab. XV. fig. 5. 7. 8. 9. bey L, L, beyde Zungen der Hornisse näher beschrieben und abgebildet habe. Von der Zunge mehrerer anderer Insekten habe ichin. Jene Insek -ten248ten verrathen aber auch unzweydeutig durch ihre Handlungen den Besitz des Geschmacks - sinns, indem sie Honig, Zucker und Syrup lieben, den süſsesten Früchten in den Obstgär - ten nachgehen, das reife Obst dem unreifen vorziehen und von dem Genuſs ihrer Lieblings - speisen nach einmaligem Kosten gleich wieder abstehen, wenn diese verdorben, oder mit wi - drigen Sachen vermischt sindn)M. C. G. Lehmann de sensibus externis animal. exsangnium. Gotting. 1798. p. 35.. Eine so fleischige Zunge wie bey diesen Thieren findet man zwar in den meisten der übrigen Insek - tenfamilien gewöhnlich nicht. Sie ist aber auch in diesen häufig zugegen, nur oft unter einer veränderten Form*)Unter andern fand ich beym Dytiscus marginalis auf der inwendigen Fläche der Oberlippe, vor dem Anfang des Schlundes, auf jeder Seite einen zitzen -förmi -. Bey mehrern Arten istsiem)in eben diesem Werke und in meiner Schrift Ueber den innern Bau der Arachniden, Beschreibungen und Figuren geliefert, namentlich von der Zunge des Phalangium Opilio (Verm. Schr. Th. 1. S. 27. 28. Tab. III. fig. 14. 15. l.), des Skorpions (Ueber den innern Bau der Arachn. S. 5. Tab. I. fig. 2. l.) und der Spinne (Ebendas. S. 23. Tab. II. fig. 15. u. 24. h.). Die Zunge der Melolontha vulgaris Fabr. hat Knoch (A. a. O. Th. 1. S. 32. Tab. I. fig. 30.) vorgestellt.249sie zwar vorne knorpel - oder hornartig; doch hinten fand ich sie immer fleischig*)So ist sie z. B. bey der Schabe (Blatta orientalis).. Eben diese fleischige Beschaffenheit hat ihr hinterer Theil auch bey den Molluskeno)Cuvier a. a. O. T. III. p. 346., wo sie vorne mit hornartigen Spitzen oder hervorragenden Rippen besetzt ist.

Eine andere Meinung von dem Sitz des Geschmackssinns bey den Insekten hat Knochp)A. a. O. Th. 1. S. 32. geäuſsert. Dieser hält die Lippenpalpen dersel - ben für das Geschmacksorgan. Es ist allerdings wahr, daſs die mit Freſswerkzeugen versehenen Insekten während dem Fressen ihre Speise da - mit betasten. Allein Heuschrecken, bey wel - chen man die Bewegungen dieser Theile am deutlichsten beobachten kann, sahe ich Zucker, woran ich sie nagen lieſs, damit berühren, ohne denselben vorher befeuchtet zu haben, während sie mit der Oberlippe die Speise fest - hielten und beym Verschlucken lenkten. DiePal -*)förmigen, weichen Hügel mit einer kleinen, kner - pelartigen Spitze. Diese Theile scheinen bey jenem Käfer die Stelle der Zunge zu vertreten, die bey ihm nicht vorhanden ist, obgleich es hier, wie über - haupt bey den Käfern, ein Zungenbein giebt, woran der Schlund befestigt ist.250Palpen können ihnen also nur zum Tasten dienen, wozu auch ihre Bildung weit passender als zum Schmecken ist. Soviel ist aber wohl richtig, daſs schon bey den Insekten der Ge - schmack und das Getast weit weniger verschie - dene Sinne als bey den höhern Thieren sind, und bey den Mollusken und Würmern einander noch gleichartiger werden, bis sie bey den Zoophyten zu einem einzigen allgemeinen Sinn sich vereinigen.

Vierter251

Vierter Abschnitt. Der Geruch.

Erstes Kapitel. Der Geruch im Allgemeinen. Geruchssinn des Menschen und der Säugthiere.

Wie alles Schmeckbare nur in tropfbar flüssi - ger Auflösung als solches wahrgenommen wird, so wirkt jede riechbare Substanz nur in gas - förmiger Auflösung auf den Geruchssinn. Man sagt zwar, für die Wasserthiere sey das Medium der Gerüche das Wasser. Ob sich dies aber wirklich so verhält, ist eine Frage, die noch eine nähere Prüfung verdient. Findet in der That eine Wirkung der nämlichen Stoffe, die durch die Luft auf die Geruchsorgane der Landthiere wirken, durch Vermittelung desVI. Bd. RWas -252Wassers auf die Fische statt, so ist der Sinn, den diese dafür besitzen, nicht Geruchs -, son - dern Geschmackssinn.

Vermuthlich sind alle Körper von einer riechbaren Atmosphäre umgeben. Selbst Metalle und Steine werden riechbar durch Reiben. Viele Dinge, die für uns geruchlos sind, wirken auf die Geruchsnerven der Thiere. Linnéq)Amoenit. acad. Vol. II. p. 262. stellte zahlreiche Versuche an, um auszumitteln, wel - che Kräuter von den Ochsen, Ziegen, Schaafen, Pferden und Schweinen gefressen werden und welche von ihnen unberührt bleiben. Unter den letztern sind sehr viele, die auf unsern Geruchssinn gar keinen Eindruck machen. Die Ziege unterscheidet sogar den einer Weintraube anhängenden Hauch eines Menschen und wählt unter einem Haufen Trauben, wovon einige angehaucht sind, die unangehauchtenr)Hanwood’s System der vergl. Anat. und Physiol. Uebers. von Wiedemann. S. 48.. Selbst schon in weiter Entfernung wird die riechbare Atmosphäre solcher Körper, die für uns wenig oder gar keinen Ceruch haben, von manchen Thieren empfunden. Das Reh wittert einen Menschen schon auf dreyhundert Schrittes)Nat. Gesch. der in der Schweiz einheimischen Säug - thiere, von Römer u. Schinz. S. 305.. Ein253Ein Thier, das jeden Körper durch den Geruch wahrzunehmen und von andern zu unterschei - den vermöchte, würde schon durch diesen Sinn allein im Handeln geleitet werden.

Von einer solchen Schärfe ist wahrschein - lich der Geruchssinn bey keinem Wesen. Wir finden nie, daſs, bey groſser Empfänglichkeit dieses Sinns für mannichfaltige Gerüche, zu - gleich die riechbaren Ausflüsse der Körper, aus weiten Entfernungen kommend, oder schwach wirkend, auf ihn Eindruck machen. Indeſs giebt die Thatsache, daſs viele Dinge, die auf unsere Riechnerven keinen Einfluſs haben, für manche Thiere riechbar sind, einen Schlüssel zur Erklärung mehrerer, sonst schwer zu er - klärender Erscheinungen, z. B. des geselligen Lebens einiger Arten und der Ungeselligkeit anderer; der engen Grenzen des Aufenthalts verschiedener Gattungen, worin sie weder durch Hindernisse, die ihnen Berge, Flüsse, Meere u. d. gl. entgegensetzen, noch dadurch, daſs innerhalb derselben eine eigene Temperatur der Luft herrscht, oder besondere Nahrungsmittel vorhanden sind, gehalten werden; des plötz - lichen Auswanderns mancher Thiere, die sonst nicht zu den wandernden gehören, und des Stillstandes derselben auf ihren Zügen. Die Geselligkeit und Ungeselligkeit der IndividuenR 2sowohl254sowohl einer und derselben Art, als verschie - dener Gattungen, hängt wohl nicht in allen Fällen, doch wahrscheinlich in manchen, von dem wechselseitigen Einfluſs der Individuen auf ihren Geruchssinn, so wie das Verhalten eini - ger Arten in Hinsicht auf ihre Verbreitung von der Einwirkung riechbarer Ausflüsse des Bodens ab.

Der Mensch besitzt mehr Empfänglichkeit für mannichfaltige, das Thier mehr für einzelne Gerüche. Man hat zwar behauptet, der Mensch stehe den Thieren an Schärfe des Geruchs überhaupt nur darum nach, weil der Geruchs - sinn von ihm nicht geübt werde, und zur Unterstützung dieser Meinung Sagen von einzel - nen Menschen und selbst von ganzen Nationen angeführt, die das Spürvermögen der Hunde sollen besessen haben. Allein die Gewährs - männer für diese Erzählungen verdienen wenig Zutrauen. Neuere, zuverlässige Reisende er - wähnen nur eines scharfen Gesichts und Ge - hörs, nicht aber einer besondern Feinheit des Geruchs mancher Völker*)Beyspiele von groſser Schärfe des Geruchs bey Menschen haben Haller (Elem. Physiol. T. V. L. XIV. S. 3. §. 4. p. 179.) und Wiedemann (in seinen Zusätzen zu Harwood’s System der vergl. Anat. S. 94.). Gewisser ist es,daſs255daſs der Mensch Fleischgerüche feiner zu un - terscheiden vermag als die pflanzenfressendenThiere,*)S. 94.) gesammelt. Unter andern sollen die Einge - bornen von Canada, obgleich sie Hunde haben, sich doch seltener auf diese, als auf ihren eigenen Ge - ruchssinn beym Aufspüren des Wildes verlassen. Carver (Reisen durch die innern Gegenden von Nordamerika. A. d. Engl. Hamburg. 1780. S. 209.) erzählt zwar auch von der groſsen Fertigkeit der Nordamerikanischen Wilden im Aufspüren von Men - schen und Thieren. Er schreibt ihnen aber nicht eine ausgezeichnete Feinheit des Geruchs, sondern nur Schärfe der Sinne im Allgemeinen zu. Sie er - langen, sagt er von ihnen, durch Uebung und scharfe Beobachtung viele Vollkommenheiten, die den Europäern fehlen. So gehen sie z. B. durch einen Wald oder eine Ebene von 200 Meilen Breite und kommen genau an den Punkt, den sie sich vorgesetzt hatten, ohne irgend einen beträchtlichen Umweg zu machen, und es ist ihnen völlig gleich - gültig dabey, ob das Wetter heiter oder dunkel ist. Eben so genau können sie die Stelle be - stimmen, wo die Sonne am Himmel ist, wenn sie auch völlig von Wolken oder Nebel verdeckt wird. Sie können mit eben so groſser Fertigkeit die Spuren von Menschen oder Thieren auf Laub oder auf Grase ausfindig machen, und da - her entgeht ihnen auch ein fliehender Feind nichts leicht. Sie haben diese Eigenschaften nicht blos der Natur, sondern einer auſser -R 3256Thiere, wenn er diesen auch in der Unter - scheidung mancher Pflanzen vermittelst des Geruchs nachsteht, und daſs er einen feinern Sinn für Pflanzengerüche als die fleischfressen -den*) auſserordentlichen Schärfe ihrer Sinne zu danken, die sie blos durch eine un - aufhörliche Anstrengung und Aufmerk - samkeit erlangen. Auch Sparrmann und Barrow bemerken nichts von einer ausgezeichneten Schärfe des Geruchssinns bey den Eingebornen des südlichen Afrika. Der letztere aber erzählt, daſs die Hottentotten eine auſserordentliche Geschicklichkeit im Nachspüren von Menschen und Thieren vermit - telst Unterscheidung der Fuſsstapfen durch das Gesicht besitzen. Es giebt, sagt Barrow, kein dem Hottentotten bekanntes Thier, dessen Fuſsstapfen er nicht unterscheiden könne. Die Fuſs - stapfen irgend eines seiner Gefährten würde er unter Tausenden ausfindig machen. (Barrow’s Reisen in das Innere von Südafrika in den J. 1797. u. 98. Leipz. 1801, S. 452.). Azara (Voyages dans l Amérique méridionale, T. II. ) sagt von den Char - ruas, einer Nation des südlichen Amerika: Sie haben ohne Widerrede ein doppelt so weites und besseres Gesicht als die Europäer. Auch sind sie uns in Betreff des Gehörs weit überlegen. Des Geruchssinns erwähnt er ebenfalls nicht, und eben so wenig finde ich in der Reise des Prinzen Maximilian von Wied-Neuwied nach Brasilien etwas über diesen Sinn bey den Botocuden und an - dern Brasilianischen Wilden.257den hat, obgleich er nicht die dem Spürhunde und andern dieser Thiere eigene Empfindlich - keit gegen die schwächsten thierischen Gerüche besitzt.

Mit dem Menschen ist wohl der Affe in Rücksicht auf den Geruchssinn am nächsten verwandt. Bey den übrigen Säugthieren, mit Ausnahme der Cetaceen, über deren Riechver - mögen es ganz an Beobachtungen fehlt, äuſsert sich dieser Sinn als das Vermögen entweder zu spüren, oder zu wittern. Der Geruchssinn als Vermögen zu spüren wird von riechbaren Stoffen nur in der Nähe, doch hier schon von der bloſsen, einer Materie anhängenden, riech - baren Atmosphäre eines andern Körpers aufge - regt. Als Vermögen zu wittern empfindet er riechbare Ausflüsse schon in groſser Entfernung von der Substanz, wovon diese ausgehen, doch nur, wenn die Bewegung der Luft von dem ausdünstenden Gegenstande zum Thier, das dieses Vermögen besitzt, gerichtet ist. Eine ent - gegengesetzte Bewegung der Luft, so wie Nebel und Regen, hindern die Ausübung des letz - ternt)Römer u. Schinz a. a. O. S. 304.; durch Durst wird dasselbe erhöhetu)Von Humboldt’s und Bonpland’s Reise in die Aequinoctialgegenden des neuen Continents. Th. 3. S. 274..

DerR 4258

Der Unterschied zwischen diesen beyden Vermögen ist tief in der Natur der Thiere gegründet. Alle katzenartige Thiere z. B. sind unfähig, ihre Beute oder ihre Feinde in der Ferne zu riechen. Der Löwe geht andern Thieren nicht mit Hülfe des Geruchs nachv)Sparrmann’s Reise nach dem Vorgeb. der guten Hoffn. Uebers. von Groskurd. S. 373.. Doch ist er im Stande, die Spur eines Men - schen durch den Geruch sehr weit zu verfol - genw)Barrow a. a. O. S. 484. 485.. Hingegen alle Wiederkäuer und schweineartigen Thiere riechen nicht die Spur eines Menschen, der sie verfolgt, oder von ihnen verfolgt wird, desto schärfer aber die ihnen von dem Winde zugeführte Ausdünstung desselben. Dem Winde entgegen kann ihnen der Jäger sehr nahe kommen, ohne von ihnen bemerkt zu werdenx)Die Schärfe des Vermögens zu wittern bey den Wiederkäuern und dem Schweine ist allgemein be - kannt. Sparrmann (A. a. O. S. 292. 423. 559. ) be - obachtete sie auch beym Elephanten, Nashorn und Fluſspferd..

Bey allen Landthieren geschieht das Riechen vermittelst des Einathmens durch die Nase. Nur der Mensch athmet zugleich durch die Naseund259und durch den Mund, jedes der übrigen Land - thiere blos durch die Nase. Die Funktion des Geruchssinns ist daher mit einer zur Fortdauer des Lebens unumgänglich nothwendigen und stets fortdauernden Verrichtung aufs engste ver - bunden, und noch enger bey den Thieren als beym Menschen damit verknüpft. 〈…〉〈…〉s giebt unter den mit einer Nase versehenen Säug - thieren keine, welche das Eindringen der Luft in dieses Organ willkührlich verhindern können, als die Robben, denen wegen ihres, oft langen Verweilens unter dem Wasser ein Mechanismus zum Verschlieſsen der Nasenlöcher nothwendig war.

Ohne Einathmen durch die Nase findet auch kein Riechen, oder doch nur ein sehr schwa - ches, statt. Perraulty)Oeuvres de Phys. et de Mechan. p. 341. und Lowerz)Bey Needham de formato foetu. p. 165. be - merkten bey Hunden, denen, nach Unterbin - dung der Luftröhre, in dieser eine Oeffnung unter dem Bande gemacht war, wodurch die geathmete Luft eindrang, ohne durch die Nase zu gehen, keine Zeichen von Fortdauer des Geruchs. In Lower’s Versuchen soll das Riechvermögen so ganz verloren gegangen seyn,daſsR 5260daſs auch die stärksten Gerüche keinen Eindruck auf das Thier weiter machten. Von dieser Angabe ist vielleicht etwas abzurechnen. Der Versuch, worauf man sich oft berufen hat, um die Nothwendigkeit des Einathmens zum Riechen zu beweisen, daſs beym Anhalten des Athems keine Gerüche mehr auf die Nasennerven wir - ken, ist, wie schon Casseriusa)Pentaesthes. L. III. S. 2. c. 3. mit Grund eingewandt hat, von keinem Gewicht, da alles Anhalten des Athems aus kurzen Inspirationen und Exspirationen besteht, wobey die kaum in die Nase gedrungene Luft gleich wieder ausge - stoſsen wird. Doch soviel ist allerdings gewiſs, daſs nur eine schwache und langsame Wirkung der mit riechbaren Stoffen geschwängerten Luft auf den Geruchssinn möglich ist, wenn diese nicht durch Einathmen in die engen Canäle der Nase getrieben wird.

Durch stärkeres Einathmen, Aufnahme einer gröſsern Menge Luft, als beym ruhigen Athem - holen in die Nase tritt, wird der Geruch ver - stärkt. Die Respirationsorgane der Säugthiere aber gestatten kein stärkeres Einathmen ohne unangenehme Empfindungen, und was hierbey von denselben mehr an Luft aufgenommen wird, als das gewöhnliche Maaſs beträgt, ist so groſs nicht, daſs der Geruch dadurch bedeutend ver -mehrt261mehrt werden kann. Ueberhaupt würde die Luft bey jedem Athemzug viel zu schnell durch die Nasencanäle strömen, als daſs ihre riech - baren Stoffe gehörig auf das Geruchswerkzeug wirken könnten, wenn nicht Organe vorhanden wären, wodurch ein Theil der eingezogenen Luft von dem geraden Wege nach den Lungen abgeleitet würde. Solche Organe sind die Höh - lungen und Zellen der Gesichtsknochen. Die Mündungen, wodurch diese sich in die Nase öffnen, liegen an den innern Enden der in den Muschelbeinen und den Fortsätzen des Siebbeins enthaltenen Canäle, also an Stellen, die jener Ableitung ganz entsprechen. Sie feh - len, wie wir unten sehen werden, den Thier - classen, die entweder andere Organe zu diesem Zwecke besitzen, oder deren Geruchswerkzeuge wenig ausgebildet sind. Einige von ihnen man - geln zwar auch manchen Säugthieren, z. B. die Stirnhöhlen der Ratze, der Maus, dem Haasen, der Fledermaus u. s. w. Aber bey diesen sind die Sinus mit den Nasenhöhlen selber vereinigt und die letztern in Verhältniſs gegen den ganzen Kopf geräumiger, als bey den meisten derer, welche Sinus besitzen. Zum Theil werden auch bey allen, mit zitzenförmigen Fortsätzen des Gehirns versehenen Thieren die Sinus schon durch die vielen und verwickelten Canäle der Muschelbeine und der Fortsätze des Siebbeinsersetzt,262ersetzt, und es ist auffallender, daſs die mehr - sten dieser Thiere hierbey dennoch Neben - höhlen der Riechorgane besitzen, als daſs man - che derselben damit nicht ausgestattet sind.

Vielleicht giebt es auſser der obigen Bezie - hung noch andere Nebenzwecke der Sinus. Die in sie eindringende Luft erleidet gewiſs auf der gefäſsreichen Haut, womit sie inwendig über - zogen sind, einem unmittelbaren Fortsatz der Schleimhaut der Nase, ähnliche Veränderungen wie in den Lungen, und diese Respiration hat vielleicht einen Einfluſs auf das Gehirn. Wris - bergb)Observat. de animale. infusor. p. 1. fand in den Stirnhöhlen eines Hundes, der seit einem halben Jahr Zeichen von Stupi - dität geäuſsert hatte, drey Würmer, die er für Blutegel hielt. Diese Beobachtung läſst sich nicht ohne Voraussetzung eines Einflusses der in den Stirnhöhlen befindlichen Blutgefäſse auf das Gehirn erklären: denn Nerven giebt es in diesen Höhlen nicht, die auf das Gehirn hätten wirken könnenc)Auch Gerard hat in seiner Anatomie des animaux domestiques der das Innere der Nase bedeckenden Haut eine dem Athmen ähnliche Verrichtung zuge - schrieben.. Hingegen daſs die Stirn - höhlen, nach Blumenbach’sd)De sinibus frontalibus. Gotting. 1779. Vermuthung,ver -263vermöge der wäſsrigen Feuchtigkeit, die in ihnen abgesondert werde und in die Nase ab - flieſse, mit dem Geruchssinn in Beziehung ste - hen, ist nicht wahrscheinlich. Die Schleimhaut der Nase sondert selber schon so stark ab, und auſserdem liefern die Sekretionsorgane der Thränen so viele in die Nase sich ergieſsende Flüssigkeit, daſs es keiner weitern Quellen zur Befeuchtung der Nasenhöhlen bedurfte. Auch haben einige Thiere, z. B. der Igel, eine immer feuchte Nase, ohne Stirnhöhlen zu besitzen, und die Wände dieser Sinus sind an frischen Men - schenköpfen immer glatt und feuchte)In cranio hominis haec ossis frontis caverna semper inanis est, nec ullum humorem coercet, sed est ad - modum tersa et splondida. C. V. Schneider de osse cribriformi. p. 117. 118.. Eine unmittelbare Funktion beym Riechen läſst sich übrigens den Höhlungen der Gesichtsknochen auf keinen Fall zuschreiben. Niemand empfin - det den Eindruck riechbarer Stoffe in diesen Höhlen, und bis in die Stirnhöhlen lassen sich keine Nerven verfolgenf)Blumenbach a. a. O. Scarpa anatom. annotat. p. [5]0. 65..

Die eingezogene Luft wirkt zunächst auf die Schleimhaut der innern Nase, eine bey allen luftathmenden Wirbelthieren vorhandene, dieCanäle264Canäle der letztern auskleidende Membran, die sehr reich an Nerven, Blutgefäſsen und Schleim - bälgen ist, auf ihrer auswendigen Oberfläche einen Ueberzug von kurzen, höchst zarten Flocken hat, und sowohl von dem Schleim ihrer Schleimbälge, als von der Flüssigkeit der Thränendrüsen, die ebenfalls bey allen jenen Thieren zugegen sind, immer feucht erhalten wird. Diese Feuchtigkeit ist ein nothwendiges Erforderniſs zum Riechen. Der für ihre Nothwendigkeit oft angeführte Grund, daſs bey der Trockenheit der Nase im Catarrh der Ge - ruch abgestumpft ist, läſst sich zwar nicht für gültig annehmen, da schon blos die Entzün - dung der Schleimhaut, ohne das sie begleitende Symptom der Trockenheit dieser Haut, Ursache der Abstumpfung seyn kann. Aber wahr ist es, daſs die in der Luft aufgelösten riechbaren Stoffe nur durch feuchte Körper angezogen wer - den, und daſs bey vielen luftathmenden Wir - belthieren die in die Nase abflieſsenden Thränen in gröſserem Maaſs abgesondert werden, als wahrscheinlich der Fall seyn würde, wenn die Absonderung derselben nicht eben so sehr, oder noch mehr, des Geruchsorgans als der Augen wegen geschähe.

Die zahlreichen, sich unmittelbar unter der Schleimhaut verzweigenden Nerven der innernNase265Nase kommen theils vom ersten, theils vom fünften Paar. Beym Menschen breiten sich jene auf der Scheidewand der Nase und den obern Muschelbeinen aus. Die sich zur Scheidewand begebenden Fäden entspringen auf der innern, die zu den obern Muscheln gehenden auf der äuſsern Seite der Riechnerven. Bis zu den untern Muscheln lassen sich keine Fortsätze der - selben verfolgen. Hierzu begeben sich blos Zweige des fünften Paars, von welchem andere auch zum untern Theil der obern Muschel und der Scheidewand gehen, und sich mit den von den Nerven des ersten Paars herrührenden letzten Fäden verbinden. Diese Zweige des Trigeminus entstehen von dem ersten und zwey - ten Hauptast desselben. Die Nasenhöhlenzweige des erstern dringen von vorn, die Gaumen - zweige des letztern von hinten in das Innere der Nase, und beyde umschlieſsen mit ihren Verzweigungen die von den Nerven des ersten Paars bedeckten Flächen.

Man hat von den verschiedenen Zungen - nerven die vom fünften Paar entspringenden für die eigentlichen und einzigen Geschmacks - nerven angenommen, doch, wie oben gezeigt ist, nicht mit hinreichendem Grunde. Für die eigentlichen Sinnesnerven des Geruchs hat man umgekehrt die des ersten Paars mit Ausschluſsder266der Nasenzweige des fünften Paars erklärt. Daſs jene beym Menschen die Hauptorgane sind, wodurch Gerüche auf das Sensorium wirken, läſst sich nicht leugnen. Wer aber den übrigen Nasennerven alle Empfänglichkeit für riechbare Eindrücke abspricht, hat keinen andern Grund für sich, als einen von Loderg)Progr. de tumore scirrhoso in organo olfactus. Jenae. 1779. beschriebe - nen Fall, wo sich in der Leiche eines Men - schen, der des Geruchs völlig beraubt gewesen war, die Nerven des ersten Paars durch einen auf dem Siebbeine liegenden Knoten fast ganz zerstört fanden, die Nasenzweige des fünften Nervenpaars hingegen keine krankhafte Verän - derungen zeigten. Eben so sehr als dieser Fall für jene Meinung, spricht indeſs für das Gegen - theil eine Beobachtung Mery’s von callösen und zerstörten Nerven des ersten Paars bey einem Menschen, dessen Geruch ungeschwächt gewesen seyn sollh)Progrès de la Médécine. A. 1697. p. 25.. Blos aus Erfahrungen solcher Art wird sich überhaupt die Frage über den Antheil der Nasennerven des fünften Paars an der Geruchsfunktion schwerlich je entschei - dend beantworten lassen. Wir werden, um hierüber Aufschluſs zu erhalten, die Resultate vergleichender Zergliederungen der Geruchs - organe in Betrachtung ziehen müssen.

Bey267

Bey allen Sängthieren, die zitzenförmige Fortsätze des Gehirns besitzen, dringen die Fäden derselben nach ihrem Durchgange durch die Oeffnungen der Siebplatte des Riechbeins in hohle Fortsätze dieser Platte, die von den Zel - len des menschlichen Riechbeins ihrer Lage, Gestalt und Verbindung nach sehr verschieden sind. Sie fehlen bey den Affen wie beym Menschen. Sie zeigen sich beym Robben, bey welchem es noch keine wahre Riechfortsätze giebt, jedoch die Riechnerven an ihrem vordern Ende mit dem vordern Ende des Gehirns in - nigst verbunden sindi)Verm. Schriften von G. R. und L. C. Treviranus. B. 3. S. 5. F. Tiedemann Icones cerebri simiarum et quorundam mammalium rariorum. p. 17. Tab. II. f. 8.. Doch bilden sie hier nur erst wenig zahlreiche und enge Canälek)Harwood’s System der vergl. Anat. und Physiol. Tab. VIII. f. 2. D.. Bey allen Raubthieren, Nagern, Wiederkäuern, Einhufern und schweineartigen Thieren nehmen sie den ganzen hintern Raum der innern Nase ein und stellen im frischen Zustande entweder cylindrische, geschlängelte und ästige Canäle, deren Aeste divergirend fortgehen, oder becher - förmige, gerade, parallel und gedrängt nebenein -VI. Bd. S268einander liegende Behälter vor*)Vorstellungen dieser Theile vom Hunde, der Katze, dem Fuchs, Schweine, Pferde und Reh findet man in Harwood’s angeführtem Werke, doch blos nach trockenen Knochen, nach dem vertikalen Durch - schnitt und zum Theil unrichtig gezeichnet. Deut - licher zeigt sich die Bildung derselben an frischen Köpfen nach Wegnahme der Nasenknochen und des Nasenfortsatzes des Stirnbeins. Auf diese Art zube - reitet hat sie Casserius (Pentaesthes. L. III. Tab 5. 6. ) von einigen Thieren abgebildet. Nach Cuvier’s Angabe (Leçons d Anat. comp. T. II. p. 645.) besitzt der Hase statt der Fortsätze des Siebbeins blos ein unregelmäſsiges, den Ethmoidalzellen des Menschen ähnliches Zellgewebe. Ich finde beym Hasen die nehmlichen Fortsätze, wie bey den ihm verwandten Säugthieren. Nur sind sie bey ihm von unregel - mäſsiger Weite und zum Theil durch Queerscheide - wände unterbrochen.. Ihre Zahl und Gröſse richtet sich nach dem Volumen des vordern Endes der Riechfortsätze. Bey den meisten Nagethieren sind sie in weit geringerer Anzahl als bey den Raubthieren, Wiederkäuern und schweineartigen Thieren vorhanden. Bey jenen ist aber auch das an die Siebplatte des Siebbeins stoſsende Ende der zitzenförmigen Fortsätze verhältniſsmäſsig kleiner, als bey den letztern, wie man sieht, wenn man die vordere Höhlung des Schädels, worin dieses Ende liegt, bey Thieren der erstern und letztern Art, dieohn -269ohngefähr von gleicher Gröſse sind, z. B. bey der Ratze und dem Maulwurf, oder beym Ha - sen und Igel, vergleicht.

In nicht so genauem Verhältniſs stehen mit der Gröſse der Riechfortsätze die obern Mu - scheln. Diese haben bey allen Säugthieren die Gestalt einer Platte mit umgerollten Seitenthei - len. Bey mehrern Raubthieren, wo die Fort - sätze des Siebbeins sehr entwickelt sind, z. B. beym Fuchs, machen sie blos die längsten die - ser Fortsätze aus. Hingegen bey den Wieder - käuern und schweineartigen Thieren, wo diese Fortsätze in Verhältniſs gegen den ganzen Ap - parat der Riechwerkzeuge nicht sehr groſs sind, haben die obern Muscheln eine groſse Ausdeh - nung. Ihre Entwickelung scheint also mit der Ausbildung jener Fortsätze in einem gewissen Antagonismus zu stehen.

Die untern Muscheln entwickeln sich nach andern Gesetzen als die obern und als die Fortsätze des Siebbeins. Man kann sie mit Harwood in gewundene und ästige ein - theilen, wenn man den Ausdruck gewunden in weiterer Bedeutung nimmt und auch die prismatische Form darunter begreift, die sie bey den Ameisenbären und Makis (Lemur) haben. Aber ihre gewundene Form ist nicht, wieS 2Har -270Harwoodl)A. a. O. S. 25. glaubte, ein allgemeiner Charakter der pflanzenfressenden Thiere, und ihre ästige Gestalt kein ausschlieſsliches Kennzeichen der Carnivoren. Sie sind auch ästig beym Hasen, der sich blos von Kräutern nährt, und ge - wunden bey dem Alles fressenden Schwein. Manche Thiere, die untere Muschelbeine von ästiger Gestalt haben, gehen eben so wohl vegetabilischer, als thierischer Nahrung nach. Beyspiele geben der Bär, der Dachs, der Fuchs und der Marder. Bey eben diesen Thieren sind die untern Muscheln gröſser und ästiger als beym Löwen, der Katze und ähnlichen, blos von thierischer Kost lebenden Gattungen.

Soviel ich nach meinen eigenen Beobach - tungen und den Beschreibungen Anderer urthei - len kann, bilden die Säugthiere mit gewunde - nen untern Muscheln folgende Stufenfolge: Der Mensch; die Affen; die Makis; die zahnlosen Säugthiere (Bradypus, Dasypus, Manis u. s. w.); die Wiederkäuer; die Einhufer; die schweine - artigen Thiere (Pachydermata Cuv. ); das Sta - chelschwein; die mäuseartigen Nager.

In dieser Reihe hat der Mensch die ein - fachsten untern Muscheln. Bey den Affen sind sie in Verhältniſs gegen die obern Muscheln länger als beym Menschen, doch übrigens vonähn -271ähnlicher Bildung. Bey den Makis und den zahnlosen Säugthieren nähert sich ihre Gestalt der, die sie bey den Wiederkäuern und Einhu - fern haben. In den beyden letztern Familien sind sie von sehr verwickeltem Bau. Sie be - stehen hier aus zwey Blättern, die mehrere male umgerollt, inwendig mit Queerscheidewän - den besetzt und bey den Einhufern allenthalben durchbrochen sind. Bey dem Pferde sind mit ihnen die obern Muscheln fast von gleicher Länge, und beyde haben hier eine gröſsere Ausdehnung als bey allen übrigen Säugthieren. Bey den folgenden Gliedern jener Reihe wird der Bau der untern Muscheln wieder einfacher, und bey den mäuseartigen Thieren bekommen die obern Muscheln über die untern das Ueber - gewicht.

Zwischen dieser und der folgenden Reihe stehen die Fledermäuse, der Maulwurf und der Igel in Rücksicht auf die Riechwerkzeuge über - haupt, und vorzüglich auf den Bau der untern Muscheln, in der Mitte. Es giebt hier, wie bey den Thieren der vorigen Reihe, ein um - gebogenes Hauptblatt dieser Muscheln. Aber die Biegung, die dasselbe macht, ist nur ein - fach, und die davon eingeschlossene Höhlung enthält längslaufende Scheidewände. Bey dem Maulwurf hat das Hauptblatt allenthalben Durch -S 3löche -272löcherungen, wie die untere Muschel des Pfer - des. Bey der Fledermaus ist in Beziehung auf den ganzen Apparat der Riechwerkzeuge die obere Muschel gröſser, die untere hingegen kleiner als bey allen übrigen Säugthieren. Der Igel steht in der Bildung der Riechmuscheln den Thieren der folgenden Reihe sehr nahe. Die obere Muschel macht bey ihm den gröſsten der Fortsätze des Siebbeins aus. Die untere besteht aus schmalen, länglichen, über einander liegenden Blättern, welche längslaufende Canäle einschlieſsen.

Indem diese Canäle sich verzweigen, ent - stehen die ästigen untern Muschelbeine der übrigen Säugthiere, die sich nach der Ausdeh - nung dieser Knochen auf folgende Art ordnen lassen: Der Hase; das Eichhörnchen; der Bieber; die sämmtlichen Raubthiere; die Robben und die Wallrosse.

Bey allen Thieren dieser Reihe, die Robben und Wallrosse ausgenommen, sind die Fortsätze des Siebbeins und die untern Muschelbeine die Haupttheile der Geruchswerkzeuge, und die obern Muscheln von geringer Ausdehnung. Bey den Robben und Wallrossen fehlen die letztern fast ganz; die Fortsätze des Siebbeins sind aber hier ebenfalls wenig ausgebildet, die untern Mu - scheln hingegen desto gröſser.

Man273

Man sieht, daſs in den Reihen, worin sich die Thiere nach der verschiedenen Gestalt ihrer Riechwerkzeuge ordnen lassen, mehrere Glieder ganz andere Stellen einnehmen, als in denen, worin sie nach der Gestalt ihres Gehirns und nach ihrer äuſsern Form auf einander folgen. Dieser Reihenfolge entsprechen keine andere Eigenthümlichkeiten der Thiere so genau, als das Vermögen aus der Ferne zu wittern, oder in der Nähe zu spüren. Das Vermögen zu wittern ist den Säugthieren eigen, deren untere Riechbeine muschel - oder schneckenförmig ge - wunden sind. Spürend gehen diejenigen ihrer Beute nach, die ästige untere Muscheln be - sitzen.

Diese Sätze gelten freylich nur so weit, als die Säugthiere in Hinsicht auf den Geruchssinn näher bekannt sind. Ich glaube aber, daſs sie sich auch bey denen, die wir noch nicht von Seiten des letztern kennen, bey weitern Be - obachtungen bestätigen werden, vorausgesetzt, daſs man diese umsichtiger machen wird, als manche der bisherigen gemacht sind. In eini - gen Schriften ist z. B. den Robben das Vermö - gen zu wittern zugeschrieben. Liest man aber, was Steller, O. Fabricius und Péron über diese Thiere geschrieben haben, so findet man, daſs es nicht der Geruch, sondern dasS 4Gehör274Gehör ist, wodurch sie Eindrücke aus der Ferne empfangen*)Steller (Beschreibung von sonderbaren Meer - thieren) gedenkt des Geruchssinns der Robben gar nicht. Péron (Entdeckungsreise nach den Südlän - dern. Uebers. von Hausleutner. B. 2. S. 39.) er - wähnt ebenfalls nichts von einem Vermögen zu wittern bey der von ihm beobachteten Phoca pro - boscidea. Fabricius (Schriften der naturf. Gesellsch. zu Kopenhagen. B. 1. Abth. 1. S. 73. Abth. 2. S. 69.) bemerkt ausdrücklich bey mehrern der Grönländi - schen Phoken, daſs sie vermittelst des Gehörs und Gesichts aus der Ferne kundschaften, was aber in Betreff des Gesichts wohl irrig ist. Wenn übrigens Steller (A. a. O. S. 187.) von der Meerotter er - zählt: sie halte, weil sie auf dem festen Lande wenig sehen könne, die Nase gegen alle umlie - gende Gegenden, ehe sie schlafen gehe, um durch den Geruch zu erfahren, ob nicht etwa Menschen in der Nähe seyen, so leitet er gewiſs unrichtig von dem Geruch her, was Folge des Gehörs ist, indem kein witterndes Thier mit der Nase nach allen Richtungen, sondern blos gegen den Wind, spähet..

Bey allen vierfüſsigen Landthieren beyder Reihen sind die untern Muscheln weit wichti - gere Theile des Apparats der Riechwerkzeuge als beym Menschen und den Affen; bey den Robben und Wallrossen sind sie die Haupt -organe275organe des Geruchs. Gehen zu ihnen bey den übrigen Säugthieren, wie beym Menschen, blos, oder auch nur vorzüglich, Aeste des fünften Paars, so läſst sich nicht zweifeln, daſs diese nicht nur einen unmittelbaren Antheil an der Funktion des Geruchs haben, sondern auch bey einigen Thieren Hauptnerven des Geruchs sind. Es fehlte hierüber bisher ganz an Untersuchun - gen. Ich habe in dieser Hinsicht das Seekalb (Phoca vitulina) untersucht und gefunden, daſs in den Canälen der untern Muscheln desselben sich sehr starke Zweige des fünften Nervenpaars ausbreiten, welche bey ihrer Vertheilung den Zerästelungen jener Knochen folgen. Ich kann nicht behaupten, daſs mit ihren Endigungen nicht Zweige der Nerven des ersten Paars in Verbindung stehen. Aber der Raum, den sie einnehmen, ist so groſs, daſs sie auf jeden Fall für die Hauptnerven der untern Muscheln ange - sehen werden müssen.

Die Geruchsnerven der Säugthiere zeigen aber noch eine andere Verschiedenheit des Baus, die eine Verschiedenheit ihrer Verrichtungen vermuthen läſst. Bey einigen sind es bloſse Nerven, bey andern unmittelbare Fortsätze des Gehirns, die sich im Innern der Nase ausbrei - ten. Zu den erstern gehören der Mensch, die Affen und die Cetaceen. Den letztern hat manS 5in276in neuern Lehrbüchern der vergleichenden Ana - tomie die Geruchsorgane ganz abgesprochen. Man hat sogar behauptet, das Riechbein der - selben sey ganz undurchlöchert. Camperm)In seinen Zusätzen zu Monro’s Vergleichung des Baus u. der Physiol. der Fische u. s. w. S. 153. hatte indeſs schon ausdrücklich bemerkt, daſs bey den Wallfischen das Siebbein viele kleine Löcher hat. Ich fand eben diese Oeffnungen sowohl an dem Siebbeine des Delphins, von dessen Geruchsnerven ich im 5ten Bande der Biologie (Tab. IV. ) eine Abbildung geliefert habe, als an zwey andern Schädeln dieser Thierart. Seit nun beym Delphin auch die Geruchsnerven entdeckt sind, kann es nicht mehr zweifelhaft seyn, daſs auſser sehr starken Zweigen des fünften Nervenpaars, deren Ver - breitung in dem der Nase analogen Theil der Cetaceen Hunter und Campern)Observat. anat. sur la structure intérieure et le squelette de plusieurs espécas de Cétacées. p. 149. untersucht haben, auch Nerven des ersten Paars zu der von Ray, Tyson, Monroo)A. a. O. Tab. XXXV. und Camperp)A. a. O. p. 148. beschriebenen und abgebildeten Riechhaut dieses Organs gehen, welche hier, zahlreiche Falten bildend, auf ähnliche Art in drey Säcken, wiedie277die Riechhaut des Menschen in drey muschel - förmigen Höhlungen, enthalten ist.

Riechfortsätze (Corpora mammillaria) des Gehirns besitzen alle vierfüſsige Säugthiere. Die Fäden dieser Fortsätze dringen auf eben die Art, wie die der Riechnerven, durch die Löcher des Siebbeins in das Innere der Nase. Weit - brechtq)Commentar. Acad. scient. Petrop. T. XIV. p. 276. erneuerte zwar die schon von Pic - colhomini, Hoffmann und Spiegel behaup - tete Meinung, und auch Scarpar)Anatom. annotat. p. 33. stimmte ihm darin bey, daſs blos der auf der Basis dieser Fortsätze befindliche Markstreifen der eigentliche Riechnerve sey, und daſs die Riech - fortsätze diesem blos zur Befestigung und Stütze dienen. Allein wer die Gehirne mehrerer Säugthiere aus verschiedenen Familien genau untersucht, wird finden, daſs dieser Markstrei - fen keineswegs abgesondert von den Riechfort - sätzen durch die Oeffnungen der Siebplatte geht, sondern nur bis zur vordern Anschwel - lung der Riechfortsätze, die bey mehrern Thieren, vorzüglich dem Maulwurf, von der hintern durch einen sehr tiefen Einschnitt ge - trennt ist, sich als ein besonderer Theil ver - folgen läſst, mit jenem Vordertheil aber sich aufs innigste zu einer gleichartigen Substanz ver -bindet,278bindet, aus welcher die in die Oeffnungen der Siebplatte übergehenden Fäden entspringen. Bey mehrern Säugthieren, z. B. dem Bären, Dachs und Fuchs, ist auch der Markstreifen auf seinem ganzen Verlauf von der umliegenden Substanz der Riechfortsätze nicht so scharf ab - gesondert, daſs man ihn mit dem Geruchsnerven des Menschen vergleichen kann.

Soviel ist allerdings wahr, daſs die Schärfe des Geruchs mehr mit der Breite dieses Strei - fens, als mit dem Volumen der Riechfortsätze überhaupt, in Verhältniſs steht. C. V. Schnei - ders)De osse cribriformi. p. 158. 326. führt als einen merkwürdigen Umstand an, daſs die Spürhunde wohl zahlreichere und mehr gewundene Riechbeine, aber keine gröſsere Riechfortsätze, als andere Hunde haben. Ich finde die Riechfortsätze des Fuchses, der doch von vielen Seiten einen schärfern Geruch als das Schaaf hat, von denen des letztern in Verhältniſs zum übrigen Gehirn nicht sehr an Gröſse verschieden; hingegen finde ich den Markstreifen dieser Fortsätze beym Fuchs viel breiter, obgleich nicht so deutlich von der um - liegenden grauen Substanz geschieden, als beym Schaafe. Auch der Mensch steht nicht so tief unter den übrigen Säugthieren in Hinsicht auf die Schärfe des Geruchssinns, als vermuthlich279 der Fall seyn würde, wenn bey den letztern die ganze Masse der Riechfortsätze zum bloſsen Auffassen der Geruchseindrücke gemacht wäre. Wenn jener das Vermögen zu spüren und zu wittern gar nicht, oder nur in geringem Grade besitzt, so hat dafür sein Geruchssinn mehr Empfänglichkeit für Mannichfaltigkeit der Ge - rüche, als der der Thiere.

Bemerkenswerth ist es ferner, daſs zu den Fortsätzen des Siebbeins, die eine Eigenthüm - lichkeit der mit Riechkörpern des Gehirns ver - sehenen Säugthiere sind, und in welchen sich ein groſser Theil der Nervenfäden dieser Kör - per zu endigen scheint, die eingeathmete Luft erst nach Umwegen und langsam gelangt. Jene Fortsätze sind von den vordern Nasenhöhlen durch eine eigene, in vertikaler oder schiefer Richtung von oben nach unten herabsteigende Queerscheidewand gesondert, worin es nur wenig Oeffnungen giebt, durch welche die Luft zu ihnen gelangen kann. Sie werden also von der durch die Nase eingeathmeten Luft erst berührt, nachdem diese ihre riechbaren Stoffe schon an die Schleimhaut der Nasenscheide - wand und der Muschelbeine gröſstentheils abge - setzt hat.

Das Resultat aller der bisherigen Unter - suchungen ist, daſs die Zweige der innern Nasevom280vom fünften Paar, die Nerven des ersten Paars und die Riechkörper, insoweit diese mehr als bloſse Geruchsnerven sind, verschiedene Funk - tionen beym Riechen haben. Die ersten und zweyten dieser Nerven beziehen sich unmittelbar auf den Geruch. Ihre Beziehung ist gewiſs verschiedener Art. Worin aber diese Verschie - denheit besteht, ob vielleicht beyderley Nerven für entgegengesetzte Gerüche gebildet sind, wage ich nicht zu entscheiden. Hierüber wird sich dann erst etwas bestimmen lassen, wenn genane Beobachtungen über den Geruchssinn der Cetaceen gemacht seyn werden, hey welchen die Nerven des ersten Paars so klein, die Nasenzweige des fünften Paars hingegen so groſs sind, daſs bey ihnen nur diese die Haupt - nerven jenes Sinns seyn können. Die Riech - körper sind ohne Zweifel Organe, vermittelst welcher alle Gerüche für die Thiere einen hohen Grad von subjektiver Wirkung, einen weit höhern als für den Menschen, haben, und wodurch auf das Gehirn der Thiere eine eigene, von dem Gehalt an riechbaren Stoffen unabhän - gige Wirkung der atmosphärischen Luft statt findet.

Vermöge jener subjektiven Wirkung ist für das Thier der Geruchssinn die vornehmste und unmittelbarste Triebfeder der Handlungen des -selben.281selben. Sie wird bey den meisten Thieren noch dadurch erhöhet, daſs die riechbaren Ausflüsse der Körper, indem sie die Geruchsnerven reit - zen, zugleich auf einen andern, sehr subjekti - ven Sinn, auf den des Geschmacks, Eindruck machen. Dieser Einfluſs geschieht durch den Stensonschen, von der Nase zum Munde füh - renden Canal. Auf dem Grunde der Nasen - höhle, zu beyden Seiten des Kamms dieser Fläche (Crista nasalis), liegt die Oeffnung eines Canals, der sich an der Gaumennath hinter den Schneidezähnen öffnet, nachdem er sich entwe - der, beym Menschen und einigen andern Thie - ren, mit dem der andern Seite zu einem ge - meinschaftlichen Gang verbunden hat, oder auch von diesem getrennt bleibt. Die beyden Canäle enthalten eine knorpelige Röhre, welche in - wendig mit einem sehr schwammigen Fortsatz der Nasenschleimhaut überzogen ist, und in diesem Fortsatz vertheilt sich sowohl ein Fa - den des von Scarpa unter dem Namen des Nasopalatinus beschriebenen Zweiges vom zwey - ten Hauptast des fünften Nervenpaars, als einer von denen Zweigen der Riechkörper, welche auf der Nasenscheidewand fortgehn, und zwar ein Zweig, der sich durch die gelbliche oder bräunliche Farbe seines Ursprungs, durch seine Länge und Dicke vor den übrigen auszeichnet. Beyde Röhren haben ihren Ausgang am Gau -men282men in einer Papille, welche ebenfalls Fäden von den Nasengaumennerven empfängt und eine solche Lage hat, daſs sie beständig von der Zungenspitze berührt wird.

L. Jacobson, der Entdecker des eigentli - chen Baus jener Röhren, fand sie beym Men - schen und Pferde immer verschlossen, bey allen übrigen Säugthieren aber offent)Annales du Mus. d’Hist. nat. T. XVIII. p. 412.. Santorini und Andere wollen sie auch beym Menschen offen gefunden haben. Mir scheinen die Beob - achtungen der Letztern das meiste Zutrauen zu verdienen. Man trifft wohl Canäle, die wäh - rend des Lebens offen waren, an der Leiche verschlossen an; es entstehen aber nicht an Stellen, wo Verwachsungen im Leben vorhan - den waren, nach dem Tode Oeffnungen. Auf wessen Seite aber auch das Recht seyn mag, so bleibt doch soviel gewiſs, daſs der Ausgang der erwähnten Röhren bey den meisten Thieren, besonders den Nagethieren und den Wieder - käuern, eine beträchtliche Weite hat. Sten - sonu)Observat. anatom. p. 107., der diese Weite beym Schaaf und Ochsen bemerkte, glaubte mit Recht, daſs die Feuchtigkeit der Nase durch die Röhren in den Mund abflieſse. Die Lage und Richtung der Canäle spricht ganz für diese Meinung und ganzgegen283gegen Jacobson’s Vermuthung, in ihnen werde eine zur Befeuchtung der Nase dienende Flüs - sigkeit abgeschieden. Stenson irrte aber gewiſs auch, wenn er die Canäle für bloſse Ausfüh - rungsgänge ohne weitere Beziehung ansah. Ihr eigentlicher Zweck ist offenbar Verbindung des Geschmacks - und Geruchssinns. Die Nasen - feuchtigkeit, welche der Luft riechbare Stoffe entzogen hat, erregt, indem sie bey ihrem Eintritt in die Röhren die Nerven des ersten und fünften Paars reitzt, Geruchsempfindung, und wirkt unmittelbar nachher auch auf die Geschmacksnerven des Gaumens und der Zunge.

Vorausgesetzt, daſs auch beym Menschen die Ausgänge der Stensonschen Canäle im Munde offen sind, so ist es jetzt erklärbar, wie, nach Schneider’sv)De osse cribriformi. p. 513. Erzählung, ein Mann, der seit vielen Jahren den Geruch verloren hatte, die Ausflüsse stark riechender Substanzen auf der Zunge empfinden konnte, und woher Jeder, der bey verschlossenem Munde sehr fein ge - pulverten Wermuth in die Luft stäubt, erst den Geruch dieses Krauts in der Nase und dann auch den Geschmack desselben auf der Zunge fühltw)Schneider ebendas. p. 493.. Es ist ferner erklärbar, wie diepflan -VI. Bd. T284pflanzenfressenden Thiere giftige Kräuter von heilsamen, ohne Berührung derselben, durch den Geruch und zugleich durch den Geschmack zu unterscheiden im Stande sind. Diese Unter - scheidung kann indeſs nicht, wie Tenon, La - cepede und Cuvierx)In ihrem Bericht über Jacobson’s Abhandlung. A. a. O. p. 423. vermutheten, ohne ihre Vermuthung aus der Bildung der Stensonschen Canäle zu beweisen, erster, sondern nur unter - geordneter Zweck dieser Canäle seyn. Ihre Haupthestimmung bleibt Erhöhung des subjekti - ven Eindrucks der Geruchsempfindungen durch gleichzeitige Rührung des Geschmackssinns, und in dieser Beziehung dienen sie auch den fleisch - fressenden Thieren, die so wenig giftige, als heilsame Kräuter berühren.

Durch die zweyte der beyden oben ge - dachten Wirkungen der Luft auf die Riechfort - sätze des Gehirns steht das Thier in näherer Verbindung mit der Beschaffenheit des Luft - kreises, als der Mensch, und wird auch durch bevorstehende Veränderungen der Atmosphäre im Handeln geleitet. Das Vorempfinden der Witterung ist es jedoch keineswegs allein, worauf sich diese Funktion der Riechkörper beschränkt. Es giebt noch andere Erscheinungen im Thierreiche, die sich von keinen andern,als285als atmosphärischen oder cosmischen Einflüssen ableiten lassen, und doch auch nicht von Ge - ruchsempfindungen entstehen können. Hear - ney)Reise nach dem nördl. Weltmeere. Uebers. von M. C. Sprencel. S. 139. erzählt, daſs in den kalten Gegenden von Nordamerika die Rehe in beständiger Bewegung von Osten nach Westen und von Westen nach Osten sind. Vom November bis in den Mai bleiben die Männchen westwärts in den Gehöl - zen; um diese Zeit sprossen ihre Hörner und nun ziehen sie ostwärts, und die Weibchen, die sich den ganzen Winter in den östlichen Gegenden aufgehalten haben, eilen ihnen nach Westen entgegen, um ihr Geschlecht fortzu - pflanzen. Bey diesen Wanderungen können jene Thiere nicht von dem gewöhnlichen Ge - ruchssinn geleitet werden, der unmöglich auf so weite Entfernungen, wie hier zwischen den Männchen und Weibchen liegen, wirken kann und zu dessen Wirksamkeit eine entgegenge - setzte Richtung des Windes nöthig seyn würde, die einem der beyden wandernden Geschlechter immer fehlen muſs. Was hier indeſs die wir - kende Ursache ist, bleibt künftigen Zeiten zur Entdeckung vorbehalten.

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Zweytes Kapitel. Geruchssinn der Vögel, Amphibien und Fische.

§. 1. Die Vögel.

Bis auf Scarpaz)Anat. disquis. de auditu et olfactu. S. III. C. 4. §. 20. 21. schrieb man den Vögeln bald einen sehr stumpfen, bald einen sehr scharfen Geruch zu. Dieser stellte hierüber Versuche an, indem er Vögeln von verschiede - nen Familien in verdeckten Gefäſsen, deren Deckel durchlöchert waren, Futter vorsetzte, wovon Einiges mit riechenden Substanzen ver - mengt, das andere ohne Zusatz war, und das Benehmen der Vögel in Hinsicht auf diese ver - schiedenen Speisen beobachtete. Der Erfolg war, daſs die hühner - und sperlingsartigen Vögel den stumpfsten, die Klettervögel, beson - ders der Papagey, einen feinern, die Raub - und Schwimmvögel einen noch schärfern, und die Sumpfvögel den schärfsten Geruch ver - riethen.

Alle287

Alle Vögel scheinen zu wittern. Darum, und nicht, wie Azaraa)Voyages dans l’Amérique méridion. T. III. p. 14. glaubt, damit der Wind ihr Gefieder nicht in Unordnung bringe, fliegen alle Vögel so viel wie möglich gegen den Wind und halten ruhend ihren Schnabel der Richtung desselben und des Regens entge - genb)Schneider de osse cribrif. p. 197.. Die Enten und andere Wasservögel machen zwar mit ihrem Schnabel Bewegungen, die bey flüchtiger Ansicht auf die Vermuthung bringen können, daſs sie das Vermögen zu spüren besitzen. Bey näherer Beobachtung wird man aber finden, daſs diese Bewegungen auf ein Tasten mit dem Schnabel abzwecken, indem sie denselben mit den zu untersuchenden Gegen - ständen in unmittelbare Berührung bringenc)Blumenbach’s Handb. der Nat. Gesch. 10te Ausg. S. 147.. Wie stark das Vermögen zu wittern bey man - chen Vögeln ist, beweist der Umstand, daſs Raubvögel aus meilenweiten Entfernungen durch faulende Leichname herbeygelockt werdend)Home, Philos. Transact. Y. 1796. Reise nach Bra - silien des Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied. B. 1. S. 55. der 8. Ausg.. Dieses Vermögen läſst sich selbst den sperlings - artigen Vögeln nicht absprechen, die keinenschar -T 3288scharfen Geruch für nahe Gegenstände verrathen: denn was kann es seyn, als der Geruchssinn, wodurch sie veranlaſst werden, sich aus ent - fernten Gegenden da schaarenweise zu versam - meln, wo sie ihre Lieblingsspeise finden, z. B. die Sperlinge Kirschen, die Kernbeisser Nüsse u. s. w.? Daſs die meisten dieser Früchte für uns wenig oder gar keinen Geruch haben, er - laubt nicht zu schlieſsen, daſs sie auch für die Vögel geruchlos sind. Selbst die für uns ge - ruchlosen Ausdünstungen des Wassers müssen auf die Riechnerven der Wasservögel sehr stark wirken, da sie diesem ihrem Element aus so weiter Ferne zueilen.

Jener Modifikation des Geruchssinns gemäſs sind die Riechwerkzeuge der Vögel organisirt. Die den Muschelbeinen des Menschen ver - gleichbaren Riechknorpel derselben sind bey allen, in Betreff der Nase bisjetzt untersuchten Vogelarten gewunden. Die Vertheilung der Nerven des ersten und fünften Paars ist im Wesentlichen die nehmliche bey den Vögeln, wie bey den Säugthieren. Die Hauptnerven der innern Nase sind hier immer die Nerven des ersten Paars, die sich, ohne durch eine Sieb - platte zu dringen, in die Nase begeben. Die Nerven der innern Nase vom fünften Paar sind bey keinem Vogel verhältniſsmäſsig so groſs,wie289wie bey mehrern Säugthieren. Man kennt die Bildung dieser Theile und der übrigen Geruchs - organe der Vögel vorzüglich aus Scarpa’s Meisterwerke über das Gehör und den Geruch, dessen Beschreibungen nur Zusätze, nicht Ver - besserungen von Erheblichkeit gestatten, über dessen Deutungen verschiedener von jenen Thei - len und Vergleichungen derselben mit andern sich jedoch einige Bemerkungen machen lassen.

Scarpae)A. a. O. §. 4. nennt die Höhle der innern Nase bey den Vögeln, nach Verhältniſs der Gröſse ihres Körpers, weiter und geräumiger, als bey den Thieren irgend einer andern Classe. Weit und geräumig ist sie allerdings. Daſs sie es aber mehr als bey allen Säugthieren ist, läſst sich eben so wenig behaupten, als Malacarne’s Meinungf)Memorie della Societa Italiana. T. VI. p. 114., daſs bey den meisten Vögeln weder die Geruchsnerven so groſs, noch die Organe, über welche sich diese verbreiten, so ausgedehnt sind, als selbst bey den kleinsten der Säug - thiere, so allgemein ausgedrückt zu vertheidi - gen ist.

Nach Scarpa’s Schilderung giebt es obere, mittlere und untere Riechfortsätze bey denVögelnT 4290Vögeln wie beym Menschen, von welchen die untern nur klein, die mittlern die gröſsten sind. Seine Beschreibungen dieser Theile sind ganz der Natur gemäſs. Allein wenn er an - nimmtg)A. a. O. §. 17., daſs die obere Muschel nebst der Nasenscheidewand die vornehmsten, und selbst die einzigen Riechorgane der Vögel seyen, weil nur auf ihnen sich die Riechnerven verbreiten, so muſs ich dagegen erinnern, daſs nach mei - nen, vorzüglich am Falco aeruginosus gemach - ten Beobachtungen, die Fäden des Riechnerven bis zur mittlern Muschel zu reichen scheinen. Erhielte diese Muschel keine Zweige vom ersten Paar, so würde sie, die nächst der Nasen - scheidewand die gröſste unter den innern Ge - ruchswerkzeugen ist, und deren Gröſse mit der Schärfe des Geruchssinns der Vögel in Ver - hältniſs steht, das am wenigsten nervenreiche unter diesen Organen seyn, indem die gröſsten der Nasenzweige des fünften Paars nicht zu ihr, sondern zur untern Muschel gehen.

Die obere Muschel enthält einen Canal, der sich in eine unter den Backenmuskeln befind - liche, beym Einathmen anschwellende Höhlung öffnet. Scarpa erwähnt keiner Nervenzweige, die sich zu diesem Canal begeben, und ich habe keine Zweige der Nerven des ersten Paars zuden -291denselben verfolgen können. Der Canal und die Höhlung ist also für ähnlich den Riech - beinzellen und den Oberkieferhöhlen des Men - schen anzusehen. Weitere Höhlen zur Auf - nahme einer gröſsern Menge Luft beym stär - kern Einathmen bedurfte es bey den Vögeln nicht, da ihre Lungen mit Säcken in Verbin - dung stehen, die eines verschiedenen Grades von Ausdehnung fähig sind.

Die Schleimhaut der innern Nase bey den Vögeln wird von Scarpah)Ebendas. §. 10. mit Recht tomen - tos genannt. Sie ist von dieser Beschaffenheit mehr noch in dieser Thierclasse, als bey den Säugthieren, und scheint dadurch zur schnellern Aufnahme der riechbaren Stoffe geeignet.

Die beyden, auf der Grundfläche der Riech - fortsätze liegenden Markstreifen, die bey vielen Säugthieren bis zum Anfange des vordern Theils dieser Fortsätze an den Seiten scharf begränzt sind, zeigen sich bey den Vögeln weit weniger genau von der umliegenden grauen Substanz abgesondert. Sie gehen eben so wenig bey den Vögeln, als bey den Säugthieren, getrennt von der letztern, sondern innigst mit ihr vermischt, in die Nase über. Bey mehrern Vögeln, z. B. demT 5292dem Psittacus Erithacus, erstreckt sich auch auf beyden Seiten der Mittellinie der Basis des Gehirns noch ein anderer hervorragender Mark - fortsatz zum vordern Ende der Riechkörper, der ebenfalls zur Bildung der Geruchsnerven beyträgt. Es ist also nicht zu billigen, wenn Scarpai)Ebendas. §. 12. behauptet, jener Streifen habe mit den Riechkörpern bey den Vögeln, wie bey den Säugthieren, nichts weiter gemein, als daſs er mit ihr von der weichen Hirnhaut umschlos - sen ist.

§. 2. Die Amphibien.

Die Amphibien sind in Betreff der Aeuſse - rungen des Geruchssinns noch sehr wenig beob - achtet. Die Frösche verschlingen Alles, was sich bewegt und was sie zu verschlingen im Stande sindk)Rösel’s natürliche Historie der Frösche. S. 56.. Sie scheinen also bey der Auswahl ihrer Speisen wenig oder gar nicht durch jenen Sinn geleitet zu werden. Doch verrathen sie den Besitz desselben in der Paa - rungszeit, während welcher die Männchen von dem Geruch einer in das Wasser getauchten Hand, womit man ein Weibchen berührt hat, aus der Ferne angelockt werden. Der Geruchs - sinn ist daher bey diesen Thieren stumpf inBezie -293Beziehung auf ihre Nahrungsmittel, hingegen scharf in Betreff dessen, was mit ihrer Ge - schlechtsfunktion in Beziehung steht, und so bestätigt sich hier, was von allen Sinnen gilt, daſs sie eine weniger vielseitige, aber für einzelne Einwirkungen gröſsere Empfänglichkeit bey den niedern als bey den höhern Thieren besitzen. Da die Ausdünstungen der Frösche für uns geruchlos sind, so giebt diese Erfahr - rung zugleich einen neuen Beweis unserer, schon öfter im Obigen gemachten Bemerkung, daſs der Wirkungskreis der thierischen Sinne von manchen Seiten sehr verschieden von dem unsrigen ist.

Der Typus, nach welchem die Geruchs - werkzeuge der Amphibien gebildet sind, ist mit wenigen Ausnahmen der nehmliche, wie bey den Säugthieren und Vögeln. Die Hauptnerven der innern Nase sind auch hier die des ersten Paars, und ähnliche Zweige des fünften Paars, wie bey den letztern Thieren, gehen bey ihnen zu den Geruchsorganen. Bey den meisten Amphibien findet sich auch eine Scheidewand der Nase und etwas Aehnliches von den Riech - knorpeln der Vögel. Diese sind indeſs noch einfacher bey jenen, als bey den Vögeln, und der Grad ihrer Ausbildung entspricht sehr nahe dem Grade der Verwandtschaft, den dasGe -294Gehirn der Amphibien mit dem der Vögel zeigt. Sie sind sehr ähnlich den Muscheln der Vögel bey den Crocodilenl)Carus Lehrbuch der Zootomie. S. 246., einfacher bey den Schildkröten und Schlangen, und nur noch bloſse Hervorragungen bey den Fröschen und Salamandern. Das Hauptorgan des Geruchs - sinns ist hier die Scheidewand der Nase. Auf dieser verbreitet sich der gröſsere Theil des Geruchsnerven, der sich bey den Fröschen darin auszeichnet, daſs er schon bey seiner Trennung vom Gehirne aus abgesonderten Fäden besteht. Bey den Schildkröten, die nur zwey Riechmuscheln haben, breitet sich auf der obern gröſsern der übrige Theil dieses Nerven mit einem Zweig des Ethmoidalnerven vom fünften Paar aus; die untere empfängt einen andern Zweig dieses Nasennerven, ohne mit den Ner - ven des ersten Paars in Verbindung zu ste - henm)Scarpa a. a. O. S. III. Cap. 3. §. 2. 3. Bojanus in der Russischen Samml. für Naturwissensch. u. Heil - kunde. Von Crichton, Reiimann und Bojanus. B. 2. H. 4..

Verschieden von diesem Bau des Geruchs - organs der meisten Amphibien fand ich den - selben beym Proteus anguinus. Jedes der bey - den sehr kleinen, an der Oberlippe liegendenNasen -295Nasenlöcher dieses Thiers führt zu einem häu - tigen, cylindrischen, etwas gewundenen, am hintern Ende verschlossenen, durch eine Oeff - nung seiner untern Wand in den Rachen über - gehenden Schlauch, dessen obere Wand paral - lele, in gleichen Zwischenräumen von einander entfernte, spiralförmige Einschnitte hat, wel - chen auf der entgegengesetzten, innern Seite Hervorragungen entsprechen, wodurch die in - nere Fläche desselben vergröſsert wird. Von der untern Seite dringen in ihn die verhältniſs - mäſsig groſsen Geruchsnerven, nachdem sie sich vorher in mehrere Aeste getheilt haben, und mit ihnen Zweige der Nerven des fünften Paarsn)M. vergl. meine Disquis. zootom. de protei anguini encephalo etc. in Commentat. Soc. reg. scient. Got - ting. recentior. Vol. IV..

Das Geruchsorgan der Amphibien hat im Aeuſsern noch das Merkwürdige, daſs der Zugang zum Innern desselben durch Muskeln verschlossen werden kann. Unter den Säug - thieren besitzen die Robben einen ähnlichen Mechanismus, dessen Zweck kein anderer seyn kann, als den Zugang des Wassers zur innern Nase beym Untertauchen zu verhindern. Es ist hiernach unwahrscheinlich, daſs, wie Scar -pa296pao)A. a. O. §. 4. vermuthet, die Amphibien sowohl im Wasser, als in der Luft riechen können. Scarpa führt zur Unterstützung seiner Meinung die erwähnte Erfahrung von dem Anlocken der männlichen Frösche durch die Ausdünstungs - materie der Weibchen an. Allein es ist nicht bewiesen, daſs die Männchen diese Materie im Wasser riechen. Scarpa findet auch eine Aehnlichkeit des Geruchsorgans der Amphibien mit dem der Fische. Ich kann diese aber bey keinem andern jener Thiere als beym Proteus erkennen.

Von den Sinus und Zellen der Kopf - knochen, womit die Nasenhöhlen bey den Säug - thieren in Verbindung stehen, giebt es noch weniger Ueberbleibsel bey den Amphibien, als bey den Vögeln, und diese würden hier auch überflüssig seyn, da die Respirationsorgane der Amphibien zur Aufnahme einer bald gröſsern, bald geringern Menge Luft gebildet sind. Es verdient indeſs untersucht zu werden, ob die zu beyden Seiten des Kopfs liegenden Blasen, wodurch die männlichen Frösche ihren Gesang hervorbringenp)Camper’s kleinere Schriften. Uebers. von Hekbkl. B. 1. St. 1. S. 143., nicht von den häutigen Säcken, worin sich die obern Muschelbeine der Vögel öffnen, abzuleiten sind.

§. 3.297
§. 3. Die Fische.

Es giebt einige Fische, z. B. die Lampreten und die Hayfischeq)O. Fabricii Fauna groenlandica. p. 129., welche faulendem Fleische nachgehen; andere werden vorzüglich durch gebratene thierische Substanzen angelockt, und für noch andere sind frische Insekten und Würmer, oder blutiges Fleisch die beste Lock - speiser)Die Cariben, eine Salmart des Stroms von Apure in Südamerika, halten sich im Grunde des Wassers auf; sobald aber einige Blutstropfen sich ins Wasser ergieſsen, sammeln sie sich zu Tausend auf der Ober - fläche. Von Humboldt’s u. Bonpland’s Reise in die Aequinoctialgegenden des neuen Continents. Th. 3. S. 382.. Schon Aristoteless)Hist. animal. L. IV. C. 8. schloſs aus mehrern dieser Thatsachen auf einen Geruchs - sinn der Fische, und bis auf, die neuesten Zeiten trug man kein Bedenken, ihm beyzu - stimmen. Man wollte auch beobachtet haben, daſs, wenn die Fische stärker riechen wollen, sie sich erst von dem Strome forttreiben lassen und dann demselben wieder entgegenschwim - ment)Scarpa a. a. O. S. III. C. 2. §. 16.. Aber in diese Erfahrung und manche ähnliche hatte man etwas gelegt, was nicht reine Beobachtung war. Ein wichtigerer Grundfür298für die Gegenwart eines Vermögen, Eindrücke aus der Ferne durch die Riechfortsätze des Gehirns zu erhalten, bey den Fischen, wie bey den höhern Thieren, ist die Thatsache, daſs manche Zugfische, die im Winter ein und dasselbe Meer bewohnen, im Sommer ganz verschiedene Flüsse zu ihrem Aufenthalte wäh - lenu)Merkwürdige Beobachtungen hierüber finden sich in Pallas’s Reise durch verschiedene Provinzen des Russischen Reichs. Th. 3. S. 79. u. 289. In dem Siberischen Flusse Ob, so erzählt Pallas, giebt es verschiedene Fische, besonders Weiſsfische, die man sonst nirgends antrifft; dagegen aber werden solche Lachs - und Forellenarten, die in andere Siberische und zum Theil auch Russische Gewässer aus der See heraufkommen, im Obflusse nicht gefunden. Der Omul (Salmo autumnalis Pall. ) ist durch den Jenisei und die Angara bis in den Baikal, und durch die Tuba bis in den Gebirgsee Medshar ge - drungen; aber im Ob wird dieser Fisch nie be - merkt, ohngeachtet er im Eismeere gemein ist und in den Karischen und andere Meerbusen, welche steinige Gebirgbäche aufnehmen, häufig zum Laichen eindringt. Der kleine Lachs (Salmo Eriox) wird an der Ingrischen Küste häufig gefangen und tritt in den Petschorafluſs ein; aber weder dieser, noch der Rothlachs, hält sich im Ob auf. Der Tschir oder Kegchull (Salmo Nasus Pall. ) ist ein gemeinerFisch. Der Sinn des Gehörs und Gesichtskann299kann sie bey dieser Wahl nicht leiten, und der Geschmackssinn ist wegen seiner geringen Aus - bildung bey den Fischen hierzu noch weniger tüchtig. Durch den Tastsinn können sie sich nur in ihrer Wahl bestimmen lassen, wenn die Temperatur der verschiedenen Flüsse, die sie im Sommer besuchen, sehr verschieden ist. In einigen Fällen mag darunter ein Unterschied statt finden; aber allgemein ist dieser gewiſs nicht, und wo er vorhanden ist, hat er doch wohl keinen groſsen Einfluſs auf die Verbrei - tung der Fische, die den Nachtheilen derWär -u)Fisch im Obischen Meerbusen, kömmt aber nie den Strohm herauf. Es fohlen diesem Fluſs auch die im Jenisei, der Lena und dem Amur so häufigen Weiſsforellen, welche im östlichen Siberien bekannte Fische sind. Jedoch ist dieser Fisch einzeln durch den Ob und Jenisei bis in die steinigen Bäche am altaischen Gebirge gerathen, wo er sich erhält und vermehrt. Diejenigen Omuln (Salmo autum - nalis), die den Baikal bewohnen, besuchen häufig den Dschida, gehen in den Tschikoi bis über Urluk und in Selenga bis an den Orchon hinauf, und keh - ren gegen den Eisgang entkräftet und erschöpft zum Baikal zurück. Aber nie gehen sie in den Uda, so wenig wie in den Chilok, obgleich sie an deren Mündungen häufig gefangen werden, und nie kom - men sie in die von Norden her in den Baikal rinnenden Bäche und in die untere Angara.VI. Bd. U300Wärme und Kälte immer dadurch ausweichen können, daſs sie sich weiter in die Tiefe des Wassers begeben, oder mehr der Oberfläche desselben nähernv)Bloch’s oekonom. Nat. Gesch. der Fische Deutschl. Th. 1. S. 10..

Die Annahme des Geruchssinns bey den Fischen schien allen Naturforschern um so mehr begründet, nachdem bey diesen Thieren auch Organe entdeckt waren, welche ganz die Erfordernisse von Geruchswerkzeugen hatten. Casseriusw)Pentaesthes. L. IV. Tab. 12. f. 4. p. 218. fand sie zuerst beym Hechte, hielt sie aber unrichtig zugleich für das Trom - melfell der Gehörorgane und erkannte nicht ihre Nerven. Stensonx)Myolog. specimen. Tab. VII. f. 1. p. 141. entdeckte ihren Zu - sammenhang mit den Nerven des ersten Paars bey einem Hayfisch, und Morgagniy)Epist. anat. XVII. §. 41. p. 293. zeigte, daſs bey allen Fischen eine solche Verbindung vorhanden ist. Unrichtig aber nahm dieser keinen Uebergang der Nerven des fünften Paars zu ihnen an, obgleich schon Schneiderz)De catarrhis. L. III. S. 2. C. 3. glaubte wahrgenommen zu haben, daſs noch andere Nerven als die des ersten Paars zu den Geruchswerkzeugen der Fische gehen. Col -lins301linsa)System of Anatomy. p. 1043. sah die Ethmoidalzweige des fünften Paars, beging aber den Fehler, sie für zuge - hörig zu den Nerven des ersten Paars anzu - nehmen. Monrob)Vergleichung des Baues u. der Physiol. der Fische. S. 51. und Camperc)In seinen Zusätzen zu Monro’s Werke. S. 156. bemerkten den eigentlichen Ursprung jener Nasenzweige. Doch schrieb der letztered)Kleinere Schriften. B. 1. St. 2. S. 13. dem Kabljau noch doppelte Nerven des ersten Paars zu. Scarrae)A. a. O. S. III. C. 1. 2. berichtigte und bestimmte endlich in diesem, wie in vielen andern Theilen der vergleichen - den Anatomie, was bis auf ihn oberflächlich untersucht war, und durch seine Beobachtungen wurde die Aehnlichkeit der Geruchsorgane der Fische mit denen der höhern Thiere noch mehr bestätigt. Bey allem dem blieb es räthselhaft, wie das Wasser ein Medium der Gerüche seyn könne. Dumerilf)Bulletin des sc. par la Soc. philom. de Paris. A. 1797. p. 34. Journal. de la Soc. des Pharmaciens de Paris. T. I. p. 18. erwog diese Frage näher und behauptete mit Recht, daſs Stoffe, die im Wasser aufgelöst sind, nicht auf den Geruch, sondern nur auf den Geschmack, als Gegen -ständeU 2302stände eines Sinnesorgans wirken können. Ihm schienen daher Geschmacksorgane, was man für Geruchswerkzeuge der Fische gehalten hatte. Seine Meinung fand indeſs wenig Beyfall, weil ihr der, allerdings wichtige Grund entgegen - stand, daſs diese Theile eine nicht zu leugnende und groſse Analogie mit denen der höhern Thiere haben. Die Wahrheit liegt hier ohne Zweifel, wo sie bisher nicht gesucht ist. Um sie zu finden, werden wir zuvörderst die Struk - tur jener Organe näher in Betrachtung ziehen.

Ich habe die Geruchswerkzeuge mehrerer Rochen - und Hayenarten, des Stöhrs, des Lumps (Cyclopterus Lumpus), des Nadelfisches (Syngnathus Acus), der Flufs - und Meerlam - prete, des Aals, Hechts, Schellfisches und Schollen (Pleuronectes Platessa) näher unter - sucht. Nach diesen meinen Zergliederungen und den Beobachtungen meiner Vorgänger enthalten folgende Sätze das Wichtigste dessen, was bisjetzt von der Struktur jener Theile bekannt ist.

Bey allen Fischen sind die Geruchswerk - zeuge in einer einfachen oder doppelten Höh - lung des Kopfs enthalten. Einfach ist sie blos bey den Lampreten, und hier liegt sie auf dem Gipfel des Kopfs. Bey allen übrigen Fischen giebt es auf jeder Seite des letztern, zwischen dem Munde und den Augen, eine solche Cavi -tät,303tät, die entweder nur eine einzige äuſsere Oeff - nung, wodurch das Wasser sowohl aufgenom - men, als ausgestoſsen wird, oder eine beson - dere Mündung zum Auslassen des Wassers hat. Einen einfachen Ausgang dieser Höhle giebt es unter andern bey den Rochen, den Hayen und dem Aal, einen doppelten bey dem Stöhr, dem Lump, dem Nadelfisch und Schellfisch. Beyderley Fische besitzen Muskeln der Geruchs - höhle. Die, welche eine einfache Mündung dieser Höhle haben, können dadurch sowohl den Eintritt, als den Austritt des Wassers ver - hindern. Bey denen, wobey es zwey Mündun - gen giebt, ist blos die zum Auslassen des Wassers dienende Oeffnung der Verengerung und Erweiterung fähig. Beym Schellfisch finde ich den zum Auslassen des Wassers dienenden Canal von der Geruchshöhle durch eine Klappe getrennt, die den Rückgang des Wassers ver - hindert. Etwas Aehnliches ist wohl bey allen, mit einem solchen Canal versehenen Fischen zugegen. Bey mehrern dieser Thiere ragt die eine der beyden Mündungen des Geruchsorgans in der Gestalt einer cylindrischen, oder coni - schen Röhre hervor, die bey einigen, z. B. beym Lophius piscatorius, ziemlich lang ist. Bey keinem Fisch findet eine Verbindung der Geruchshöhle mit dem Schlunde, wie bey den höhern Thieren, statt. Man hat zwar eineU 3solche304solche bey den Lampreten gefunden zu haben geglaubtg)Carus in Meckel’s Archiv f. d. Phyaiol. B. 2. S. 609.. Allein bey der Meerlamprete, die ich in Hinsicht auf diesen Bau untersucht habe, traf ich zwar auf jeder Seite der Geruchshöhle einen Canal an, der aus ihr zu entstehen schien. Dieser öffnete sich aber nicht in den Schlund, sondern ging hinter der Augenhöhle in einen unter der äuſsern Haut liegenden blinden Sack über, der vielleicht ein Rudiment der Nebenhöhlen ist, worin sich die Geruchs - organe der höhern Thiere öffnen. Etwas Aehn - liches schienen mir auch beym Schellfische Zellen, die sich in einem sehnigen, gleich hin - ter der Geruchshöhle liegenden Gewebe befinden.

Die Geruchshöhlen enthalten bey allen Fi - schen häutige Blätter, welche mit einer ähnli - chen schleimabsondernden Haut, wie die Riech - beine der höhern Thiere, bedeckt sind. Bey den Lampreten liegen diese Lamellen parallel neben einander, der Länge des Fisches nach. Bey den Rochen und Hayen, dem Aal. dem Schellfisch u. s. w. giebt es zwey Reihen paral - leler Blätter, die mit dem einen Ende an der innern Wand der Geruchshöhle, mit der andern an einer Scheidewand, wodurch die letztere in zwey Fächer abgetheilt wird, befestigt sind. Bey dem Stöhr, dem Lump, dem Froschfisch(Lo -305(Lophius), dem Hecht, Karpfen u. s. w. gehen sie, wie die Radii eines Cirkels, von einer in der Geruchshöhle befindlichen Hervorragung nach dem Umkreise dieser Cavität aus. Ihre Zahl steht mit der Gröſse der Nasennerven in Verhältniſs, und ihre Ausdehnung wird bey einigen Fischen noch durch Fortsätze vergröſsert. Bey den Rochen und Hayen bildet die Schleim - haut auf jedem Blatt Verdoppelungen, die sich von der Mitte des untern Randes jeder Lamelle strahlenförmig auf derselben ausbreiten, und beym Schellfisch ist der obere Rand jedes Blatts in einen dreyeckigen, frey im Wasser schwe - benden Fortsatz verlängert. Unter der Schleim - haut dieser Blätter verzweigen sich die Nasen - nerven. Die Fäden der Nerven des ersten Paars gelangen zu ihnen aus dem Grunde der Geruchshöhle, die Nasenzweige des fünften Paars von den Seiten dieser Cavität. Die Stämme der erstern bilden bey den meisten Fischen vor ihrem Eintritt in die Nasenhöhle eine Anschwellung, die dem aschfarbigen Kno - ten des menschlichen Geruchsnerven nicht un - ähnlich ist. Auſser Nerven breiten sich zugleich auf den Blättern, und zwar auf beyden Seiten derselben, sehr zahlreiche Blutgefäſse aus, bey manchen Fischen so zahlreiche, daſs die ganze Oberfläche der Blätter, gleich den Kiemenblät - tern, roth gefärbt ist.

U 4Nach306

Nach dieser Schilderung läſst sich eine groſse Aehnlichkeit der Geruchswerkzeuge der Fische mit den Respirationsorganen derselben nicht verkennen. Jene haben, wie diese, einen blättrigen Bau und einen groſsen Reichthum an Blutgefäſsen, und das Wasser wird durch jene, wie durch die Kiemenhöhlen, aufgenommen und wieder ausgeleert. Vermittelst der Kiemen aber athmen die Fische nicht das Wasser, sondern die im Wasser enthaltene Luft. Etwas Aehnliches geschieht wahrscheinlich auch durch die Nase dieser Thiere. Es giebt keinen Grund, anzunehmen, daſs es die im Wasser selber aufgelösten Stoffe sind, wodurch die Riech - nerven der Fische gereitzt werden. Ihre Nase würde, wenn dies der Fall wäre, nicht Ge - ruchs -, sondern Geschmacksorgan seyn, dann aber nicht einen Bau haben, der zwar in man - cher Rücksicht von der Bildung des Geruchs - werkzeugs der höhern Thiere verschieden, doch auch in andern dieser so ähnlich ist, daſs die Voraussetzung einer Verschiedenheit des Elements der Gerüche bey den Fischen von dem der luftathmenden Thiere keine Wahr - scheinlichkeit hat.

Drittes307

Drittes Kapitel. Geruchssinn der wirbellosen Thiere.

Die Aeuſserungen des Geruchssinns werden bey den Thieren der niedrigern Stufen immer undeutlicher, während das Organ dieses Sinns, die Zunge, bis zu den Würmern herab vor - handen bleibt. Mit dem Geruchssinn und des - sen Organen verhält es sich umgekehrt. Die Gegenwart dieses Sinns giebt sich durch un - zweydeutige Zeichen bey vielen wirbellosen Thieren zu erkennen; aber der Sitz desselben läſst sich bey vielen nur vermuthen.

Blos bey den krebsartigen Thieren sind Theile vorhanden, die mit den Riechwerkzeu - gen der Wirbelthiere Aehnlichkeit haben. Gerade bey diesen Crustaceen aber fehlt es noch an Beobachtungen über die Aeuſserungen des Geruchssinns. Man weiſs nur, daſs sie gleich manchen Fischen Aesern nachgehen, sich auch wie diese mit Lockspeisen von rohem Fleisch fangen lassen, und wenn sie aus dem Wasser, worin sie geboren und aufgewachsen sind, inU 5ein308ein anderes versetzt werden, dieses bald wieder verlassenh)De Geer Mém. pour servir à l’Hist. des Ins. T. VII. p. 361. 392. 382..

Organe des Geruchssinns entdeckte Rosen - thal beym Krebs und Hummeri)Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. X. S. 433.. Er fand auf der obern, hornartigen Wand des ersten Gliedes der mittlern Fühlhörner des Fluſskreb - ses eine von Haarborsten umgebene Oeffnung, die zu einer Höhlung mit einem muschelförmi - gen Körper führte. Die untere, inwendige Fläche dieser Muschel enthielt eine bogenför - mige Vertiefung, von deren Rändern feine Striche ausgingen, und in der Vertiefung lag ein Nerve, der sich in den Strichen über die Muschel zu verbreiten schien. Der nämliche Bau zeigte sich noch deutlicher beym Hummer.

Ich habe mehrere Exemplare des letztern in Betreff jenes Organs untersucht und Rosen - thal’s Entdeckung bestätigt gefunden. Die er - wähnte Höhlung ist beym Hummer sehr ge - räumig. Sie nimmt mehr als die Hälfte des innern Raums der Röhre ein, welche das erste Glied der mittlern Fühlhörner ausmacht. Unter ihr liegen in dem übrigen Raum der Nerve,die309die Muskeln und die Gefäſse der folgenden Glieder dieser Antennen. Ihrer Gestalt nach ist sie der innern Höhlung eines Muschelbeins der höhern Thiere ähnlich. Sie ist inwendig mit einer zarten, weiſslichen Haut bedeckt, die das Ansehn einer Schleimhaut hat. Der zu ihr gehende Nerve, ein Ast des nämlichen Stamms, wovon die Muskeln jener Fühlhörner Zweige erhalten, verbreitet sich in ihr auf die von Rosenthal angegebene Art. Als ich sie unter Wasser öffnete, drangen aus ihr Luft - blasen hervor.

Alles dies sind Umstände, die den Sitz des Geruchssinns in jenem Organ sehr wahrschein - lich machen. Es ist aber auch nicht zu ver - kennen, daſs dasselbe blos zum Riechen in der Luft dienen und auch für diesen Zweck nur von sehr beschränktem Gehrauche seyn kann. Die äuſsere Oeffnung der Höhle ist sehr eng, und die Luft kann von dem Thier nicht will - kührlich eingelassen und wieder ausgestoſsen werden. Ich fand auch bey einem der von mir untersuchten Hummer die untere Fläche der Höhle, auf welcher sich der Nerve aus - breitet, mit feinem Sande ganz bedeckt, woraus folgt, daſs es an der Oeffnung der Cavität nicht einmal eine Valvel, oder eine sonstige Einrich - tung giebt, welche andern Materien als derLuft310Luft den Eintritt in das Organ ganz verwehren könnte.

Wenn indeſs bey einem Thier, dessen eigentliches Element das Wasser ist, Organe zum Riechen in der Luft vorhanden sind, so darf man um so mehr bey demselben auch Geruchswerkzeuge, die für das Wasser gebildet sind, anzutreffen erwarten. Theile dieser Art von gleicher Gestalt, wie die Fische besitzen, giebt es bey dem Krebs und Hummer zwar nicht. Aber Theile, die mit den blättrigen Riechorganen der Fische einerley Verrichtungen haben, scheinen mir bey den krebsartigen Thie - ren die Lamellen zu seyn, die zwischen den Freſswerkzeugen und den Kiemen liegen. Hier findet man auf jeder Seite des Halses eine Vertiefung, worin ein Glied befestigt ist, mit dessen äuſserm Ende platte, dreyeckige Lamel - len artikuliren, die sich unter dem Vergröſse - rungsglase als sehr gefäſsreich und mit einem schleimigen Ueberzuge bedeckt zeigen. Sie lie - gen vor der vordern Kiemenöffnung und bilden vor dieser, zusammengefalten, eine Art Klappe. Bey lebenden Hummern und Krebsen sind sie in beständiger Bewegung und treiben, wenn die Thiere sich auſserhalb dem Wasser befinden, einen, viele und groſse Luftblasen enthaltenden Schaum hervor. Sie unterscheiden sich zwarin311in ihrer Lage und Befestigungsart von den Blättern des Geruchsorgans der Fische. Aber diese Unterschiede sind unwesentlich und lassen sich darauf zurückführen, daſs bey den Fischen das Wasser auf das Geruchswerkzeug, bey den krebsartigen Thieren umgekehrt dieses auf jenes wirkt.

Bey den übrigen Crustaceen und den In - sekten lassen sich ähnliche Organe nicht nach - weisen. Aber desto deutlicher äuſsert sich bey diesen die Gegenwart des Geruchssinns durch ihr Benehmen gegen riechbare Substanzen, und vorzüglich sind es die mit Saugwerkzeugen versehenen geflügelten Insekten, also die Lepi - dopteren, Dipteren und Hymenopteren, welche den Besitz dieses Sinns zu erkennen geben.

Die männlichen Lepidopteren verrathen ein scharfes Vermögen, ihre Weibchen zu wittern. Spallanzanik)Physikal. u. mathemat. Abhandl. S. 221. wurde von einem Männchen des Schmetterlings der Ulmenraupe auf dem Felde verfolgt, als er ein Kleid trug, das bey einem Kasten gelegen hatte, worin er einige Weibchen jenes Schmetterlings aufbewahrte. Rösell)Insektenbelustigung. B. 1. Tagvögel. 2te Cl. S. 19. sah ein Männchen des Papilio cra - taegi zu einer verschlossenen, vor dem Fensterstehen -312stehenden Schachtel fliegen, in welcher sich Weibchen dieses Schmetterlings befanden, im - mer zu derselben zurückkehren, obgleich er einige mal verjagt wurde, und, nachdem die Schachtel geöffnet war, sich mit einem der Weibchen paaren.

Die Dipteren und Hymenopteren werden vorzüglich durch Gerüche von Substanzen, die ihnen oder ihrer Brut zur Nahrung dienen, angelockt. Faulendes Fleisch zieht die Fliegen herbey, wenn es auch noch so sehr versteckt ist. Eben diese Thiere legen ihre Eyer auf das Arum Dracunculus L., durch den fauligen Geruch desselben getäuscht. Als Perraultm)Oeuvres de Phys. et de Mechan. p. 337. einen Löwen zergliederte, sammelte sich um das todte Thier eine unzählbare Menge Fliegen von einer eigenen Art, die mehrere Meilen weit hergekommen seyn muſsten. Die Bienen, Wespen und mehrere andere Insekten gehen begierig dem Geruch des Honigs nachn)Lehmann de sensib. extern. animal. exsang. p. 28.. Hu - bero)Nouv. observat. sur les abeilles. Ed. 2. T. II. p. 371. setzte Honig auf ein Fenster, dessen Laden nur so weit offen waren, daſs Bienen hereinkommen konnten, in die Nachbarschaft eines Bienenstocks. Binnen weniger als einer Viertelstunde hatten sich vier Bienen, einSchmet -313Schmetterling und mehrere Stubenfliegen bey dem Honig eingefunden. Der Versuch wurde auf die Art abgeändert, daſs der Honig in Schachteln von verschiedener Farbe und Gestalt verschlossen wurde, deren Deckel Oeffnungen hatten, worunter sich Klappen von Kartenblatt befanden, und daſs man diese Schachteln zwey - hundert Schritt von dem Bienenstocke hinstellte. Nach einer halben Stunde hatten sich bey den - selben Bienen versammelt, welche die Zugänge zu dem Honig suchten, diese auch bald fanden und die Klappen öffneten. So wurde auch, nach Christ’sp)Nat. Gesch. der Hymenopteren. S. 101. Erzählung, eine sehr sorg - fältig versteckte Bienenkönigin von den Arbeits - bienen entdeckt, welches ebenfalls nur durch den Geruch möglich war und mit ältern, schon von Aristotelesq)Hist. anim. L. IX. c. 27. erwähnten Erfahrungen übereinkömmt. Verscheucht werden hingegen die Bienen durch jeden Rauch, besonders Ta - backsrauch, und durch den Dunst des Terpen - tinöls, der mineralischen Säuren, des Ammo - niakgas und des Camphers. Weniger scheint ihnen der Geruch des Moschus, und noch we - niger der der Asa foetida zuwider. Den Wi - derwillen gegen den Campher überwiegt bey ihnen der Reitz des Honigs. Durch den Ge - ruch des Safts ihres Giftbeutels, und vielleichtauch314auch durch die Ausdünstungen mancher Men - schen, werden sie in Wuth gesetztr)Huber a. a. O. p. 376. 380. Goeze’s Natur, Men - schenleben und Vorsehung. Th. 2. S. 131..

Unter denjenigen Insekten, die blos Kau - werkzeuge haben, sind es wohl nur die Dung - käfer und die übrigen, sich von fauligen Sub - stanzen nährenden Arten, deren Handlungen auf einen scharfen Geruch schlieſsen lassens)In Südamerika giebt es, nach der Erzählung Aza - ra’s (Voyages daus l’Amérique mérid. T. I. p. 210.) eine Art von Mistkäfern, die so scharf wittern, qu’avant qu’une personne ait achevé de faire ses besoins en plein champ, plusieurs de ces insectes se sont déja rendus sur le lieu.. Bey den übrigen finden sich weniger deutliche, und bey den meisten Larven keine andere Zeichen desselben, als daſs einige die ihnen angemessene Nahrung unter andern Substanzen ausfinden, z. B. die Wolfsmilchraupen Euphor - bienblätter untern andern Kräuternt)Lehmann a. a. O. p. 40..

Daſs nach diesen Thatsachen die Insekten den Sinn des Geruchs besitzen müssen, läſst sich nicht in Zweifel ziehen. Die Frage, wo die Organe desselben zu suchen sind? ist aber auf so verschiedene Weise beantwortet worden,daſs315daſs es auſser den Beinen und Flügeln wenig Glieder am Körper der Insekten giebt, worin man nicht den Sitz jenes Sinns angenommen hat. Röselu)Insektenbelustigung. B. 2. Heuschrecken u. Grillen. S. 51., Reaumurv)Mém. pour servir à l’Hist. des Ins. T. I. p. 283., Lyonnetw)Traité de la chenille du saule. p. 48. und mehrere Andere suchten ihn in den Fühl - hörnern; Bonsdorfx)De fabrica et usu palporum in insectis. Aboae. 1792. nahm die Palpen über - haupt, Knochy)Neue Beytr. zur Insektenk. Th. 1. S. 32. die hintern, an der Lippe sitzenden Freſsspitzen für die Organe desselben an; Marcel de Serresz)Annales du Mus. d’Hist. nat. T. XVII. p. 436. schränkte Knoch’s Meinung blos auf die Orthopteren ein; Ba - stera)Verhandel. door de Holl. Maatschap. te Haarlem. D. XII. p. 612., Reimarusb)Ueber die Triebe der Thiere. 5te Ausg. S. 308. und Dumerilc)Bulletin des sc. par la Soc. philomathique. Août. 1797. No. 5. ver - setzten ihn in den Eingang der Tracheen; Rosenthald)Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. X. S. 436. glaubte bey der Musca carnaria in einer braunröthlichen Haut, die ihm nachZurück -VI. Bd. X316Zurücklegung des Gehirns und der Sehenerven zu Gesicht kam, sich an der Basis des Schild - chens da, wo die Fühlhörner mit ihren Wur - zeln befestigt sind, in vielen zarten Falten an - heftete, und von der Spitze des Gehirns zwey dünne Nerven erhielt, eine Riechhaut zu er - blicken; ähnliche Häute scheinen es gewesen zu seyn, was Comparettie)De aure interna comparata. p. 292 sq. bey mehrern Insekten für Riechhäute erklärte; Ramdohr äuſserte in einem frühern Aufsatzef)Magazin der Gesellsch. naturf. Freunde in Berlin. Jahrg. 5. S. 386. die Mei - nung, daſs gewisse häutige Säcke, worin der innere Canal des Rüssels der Biene übergeht, Geruchswerkzeuge seyen, widerrief aber in der Folge diese Hypothese, nachdem er jene Säcke für Speicheldrüsen erkannt hatteg)Germar’s Magazin der Entomologie. B. 1. S. 135..

Für keine dieser Vermuthungen giebt es entscheidende Beweise. Auf mehr als bloſse Vermuthungen führen Huber’sh)A. a. O. T. II. p. 376. 378. Erfahrungen au Bienen, in Verbindung mit den Resultaten meiner Untersuchungen über die Saugwerkzeuge der Insekten. Die Bienen fürchten sehr den Geruch des Terpentinöls. Wenn Huber einen mit dem letztern bestrichenen feinen Pinsel denStig -317Stigmaten oder irgend einem andern Theil ihres Körpers, mit Ausnahme des Mundes, näherte, so lieſsen sich Bienen, die Honig verzehrten, nicht im mindesten dadurch stören. Sobald er aber der unter dem Rüssel befindlichen Mund - höhle damit nahe kam, wichen sie gleich zu - rück, verlieſsen ihr Essen und schickten sich zum Wegfliegen an. Die Folgerung aus diesem Versuche, daſs der Geruchssinn in oder an ihrem Munde befindlich ist, wurde noch da - durch bestätigt, daſs, nach Verklebung des Mundes mit Kleister von Stärkemehl, der Ge - ruch des Terpentins und anderer, stark riechen - der Sachen keinen widrigen, so wie der des Honigs keinen angenehmen Eindruck mehr auf die Bienen machte.

Ganz übereinstimmend mit diesen Huber - schen Beobachtungen ist ein Gesetz, welches ich bey meinen Insektenzergliederungen ent - deckte und woraus ich schon früher, ohne die Versuche Huber’s zu kennen, auf den Sitz des Geruchssinns im Munde oder im Schlunde der meisten Insekten schloſs, daſs nämlich alle mit Saugwerkzeugen des Mundes versehene Insek - ten, also diejenigen, bey welchen sich die Gegenwart jenes Sinns am deutlichsten äuſsert, eine Saugblase besitzen, die entweder (bey den Hymenopteren) einen Theil des NahrungscanalsX 2aus -318ausmacht, oder (bey den Dipteren und Lepi - dopteren) mit der Speiseröhre durch einen Canal verbunden ist, und wodurch sowohl Luft, als tropfbare Flüssigkeiten eingesogen werdeni)Vermischte Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus. B. 2. S. 153.. Es ist hiernach glaublich, daſs sich bey diesen Insekten in der Höhle des Mundes oder des Schlundes die Werkzeuge des Geruchs und Geschmacks zugleich befinden, und daſs jener beym Einsaugen von Luft, dieser bey der Aufnahme tropfbarer Materien erregt wird. Vielleicht stehen mit jenen Höhlungen Neben - höhlen in Verbindung, zu welchen eigene Riechnerven gehen, und möglich ist es, daſs die von Rosenthal bey der Musca carnaria bemerkte, gefaltete Haut eine solche Neben - höhle einschlieſst. Bey den übrigen. Insekten, die keine Saugwerkzeuge haben, giebt es nichts im Baue des Nahrungscanals, was der Annahme widerspricht, daſs sie Luft zu verschlucken vermögend sind, und daſs auch bey ihnen die Organe des Geruchssinus, wo diese vorhanden sind, am Eingange des Nahrungscanals ihre Stelle haben.

Eben diese Sätze würden auf die luftath - menden Mollusken und Würmer anwendbar seyn, wenn es bewiesen wäre, daſs alle dieseThiere319Thiere den Geruchssinn als einen eigenen Sinn besitzen. Unter den Würmern giebt es bekanntlich viele, die durch den Mund einsau - gen. Einige sind auch mit einer ähnlichen Saugblase, wie die saugenden Insekten, ver - sehen, z. B. die von A. G. Ottok)De sternaspide thalassemoideo et siphostomate di - plochaito, vermibus duobus marinis. Vratislav. 1820. p. 14. unter dem Namen Siphostoma Diplochaitus beschriebene Wurmart. Obgleich aber manche Lebensäuſse - rungen dieser Thiere aus Geruchsempfindungen zu entstehen scheinen, so ist es doch sehr wohl möglich, daſs der Geruchssinn bey ihnen bloſse Modifikation desjenigen ist, den wir im ersten Abschnitt des gegenwärtigen Buchs den allgemeinen Sinn genannt haben. Mehrere Mollusken hingegen geben deutliche Beweise von der Gegenwart des Geruchssinns. Schnek - ken ziehen, wie schon oben erzählt ist, ihre Fühlfäden ein und lenken von ihrem Wege ab, wenn man ihnen, während sie kriechen, Cam - pher und andere stark riechende Sachen ent - gegenhält; sie kommen aber oft schnell aus ihrem Gehäuse hervor, wenn man die Nahrungs - mittel, die sie lieben, in ihre Nähe bringtl)Swammerdamm Bibl. Nat. T. I. p. 110.. Diese Thiere nähren sich zwar nicht durchEin -X 3320Einsaugen. Allein sie besitzen eine Art von Rüssel, den sie hervorstrecken und wieder ein - ziehen können, und bey dessen Einziehung wohl immer eine gewisse Quantität Luft mit verschluckt wird. Mehrere Schnecken, z. B. Planorbis Purpura Müll. und Buccinum palustre M., öffnen und verschlieſsen auch beym Krie - chen beständig den Mund, als ob sie Luft da - durch aufnähmen. Wenn daher bey diesen Mollusken der Geruchssinn ein eigener Sinn ist, so läſst sich bey ihnen, wie bey den Insekten, das Innere des Mundes für den Sitz desselben annehmen.

Fünfter321

Fünfter Abschnitt. Das Gehör.

Erstes Kapitel. Modifikationen des Schalls und Empfäng - lichkeit der verschiedenen Thiere für hörbare Eindrücke.

Wir kennen ziemlich genau die Gesetze des Schalls. Allein die Erklärung der Natur des Gehörssinns ist darum nicht weniger schwierig und führt selbst auf noch mehr Räthsel, als die Lehre vom Leben der übrigen Sinneswerkzeuge. Der Grund der Schwierigkeiten liegt vorzüglich in unserer Unbekanntschaft mit der Ursache der verschiedenen Qualitäten des Schalls. Wir wissen nur, daſs Töne überhaupt von zittern - den Bewegungen elastischer Körper entstehen, und daſs die Höhe und Tiefe derselben vonX 4der322der Geschwindigkeit dieser Bewegungen abhängt. Hingegen über die Entstehung des Lauts, der verschiedenen Modifikation jedes Tons nach der Verschiedenheit des tönenden Körpers, sind wir im Dunkeln. Und doch ist es vorzüglich mit die Unterscheidung des Lauts, wofür die Hör - werkzeuge der höhern Thiere gebildet sind. Diese Schwierigkeiten sind von einigen Schrift - stellernm)Z. B. von Cuvier. (Leç. d’Anat. comp.) T. II. p. 447. noch vermehrt worden, indem sie auch die Artikulationen der Töne für eine besondere Modifikation des Schalls angenommen haben, indeſs mit Unrecht. Die menschliche Sprache würde sich nicht durch künstliche Werkzeuge nachahmen lassen, wenn dies der Fall wäre. Artikulirte Töne sind ungleichartige hörbare Schwingungen, deren Ungleichartigkeit aber nicht von innern Beschaffenheits-Verände - rungen der Materie, wodurch sie hervorgebracht werden, sondern von gewissen Gestalts-Verän - derungen dieser Materie abhängt.

Daſs die Empfänglichkeit des Gehörssinns für die verschiedenen Modifikationen der Töne mit der Erregbarkeit desselben durch den Schall überhaupt nicht immer in genauer Verbindung steht, finden wir schon beym Menschen. Man hat bey manchen Personen Empfänglichkeit fürgewisse323gewisse Töne bey gänzlicher Unempfänglichkeit für andere beobachtet. F. Hoffmann hat ein Beyspiel von einem jungen Menschen, der weiter keinen Schall als von einem Kuhhorn vernahmn)Kritter u. Lentin über das schwere Gehör. Her - ausgegeben von Nicäus. S. 2.. Rosenthalo)In Horn’s, Nasse’s u. Himly’s Archiv für med. Erfahrung. J. 1820. July. S. 18. kannte einen Musiker, der nur bey sehr verstärkter Stimme des Sprechenden dessen Worte deutlich ver - nahm, dagegen in einem vollständig besetzten Concert jeden falschen Ton sogleich bemerkte. Er war Virtuose im Violinspiel und ertheilte auch darin sehr guten Unterricht. Mir ist ebenfalls ein junges Frauenzimmer bekannt, das, obgleich so harthörig, daſs es sich nur ver - mittelst eines Hörrohrs mit Andern unterhalten kann, doch ein sehr musikalisches Gehör hat und sehr gut das Clavier spielt. Manche Per - sonen, von denen alle mittlere und tiefe Töne sehr gut vernommen werden, hören hohe Töne, z. B. das Singen der Heuschrecken und das Pfeifen der Fledermäuse, gar nicht. Man kann diese Unempfindlichkeit gegen hohe Töne auf einen Augenblick künstlich bey sich her - vorbringen, wenn man bey zugehaltener NaseundX 4324und verschlossenem Munde Anstrengungen zum Athemholen machtp)Wollaston, Philos. Transact. Y. 1820. p. 306..

Es läſst sich daher sowenig in Hinsicht auf den Sinn des Gehörs, als auf jeden der übrigen Sinne, eine einfache Stufenleiter der Thiere angeben. Das Gebiet desselben wird zwar von dem Menschen an bis zu den Würmern immer beschränkter und verliert sich bey den letztern in den allgemeinen Sinn. Aber in den engern Sphären hat er für manche Eindrücke eine gröſsere Empfänglichkeit, als auf dem weitern Gebiet.

Die Verhältnisse des Gehörssinns sind theils objektiver, theils subjektiver Art. Jene beziehen sich auf das Medium, durch welches der Schall zum Ohre fortgepflanzt wird, die Verschieden - heit des Lauts, die Stärke und Schwäche, Nähe und Entfernung des Schalls, die Höhe und Tiefe der Töne, die Nähe und Entfernung des Schalls, die Richtung, in welcher der Schall zum Ohre gelangt, und die Unterscheidung gleichzeitiger Schallschwingungen. Subjektiv sind die Wirkungen, welche gewisse Töne oder gewisse Verbindungen von Tönen auf das Gei - stige oder Körperliche haben.

Das325

Das Medium der hörbaren Eindrücke ist für die Landthiere vorzüglich die Luft, für die Fische und die übrigen unter dem Wasser lebenden Thiere das Wasser. Erfahrungen, die das Hörvermögen der Fische beweisen, findet man schon bey Aristotelesq)Hist. animal. L. IV. C. 8., Aelianr)De nat. animal. L. VI. C. 32. L. IX. C. 7. und Pliniuss)Hist. nat. L. X. C. 70.. Der Letztere erzählt unter andern, und die Wahrheit seiner Erzählung wird durch ähnliche, von spätern Schriftstel - lernt)Severinus de respirat. pisc. Disput. I. p. 51. Boyle Philos. Works. P. III. p. 41. Rondelet in Wil - lughbey’s Hist. pisc. p. 228. Klein Hist. pisc. Miss. I. §. 9. angeführte Beyspiele gerechtfertigt, es gäbe Fische in den Kaiserlichen Teichen zu Rom, die, einzeln bey Namen gerufen, her - beykämen. Der Hayfisch (Squalus Carcharias) zeigt sich, wie O. Fabriciusu)Fauna Groenland. p. 129. berichtet, in den Grönländischen Meeren an der Oberfläche des Wassers, wenn er das Geräusch von Men - schen hört: die Fischer hüten sich daher, über tiefen Stellen des Meers, wo er seinen Aufent - halt hat, zu schreien, damit ihnen die Fische nicht von ihm verjagt werden.

Auſser -326

Auſserhalb den Classen der Wirbelthiere äuſsert sich das Vermögen, von Schallschwin - gungen der Luft und des Wassers gerührt zu werden, noch als ein eigener Sinn bey den Krebsen, mehrern geflügelten Insekten und den Sepien. Die Krebse werden, nach Aelian’sv)A. a. O. L. VI. C. 31. Erzählung, durch Musik angelockt. Das Näm - liche versichert ein späterer Schriftsteller, Val - vasorw)Ehre des Herzogthums Krain. B. 3. Kap. 36.. Man hat sogar eigene Melodieen, welche diesen Thieren vorzüglich gefallen sol - lenx)Krünitz’s oekonom. Encyklop. B. 48. S. 247. Tab. 7.. Dies sind indeſs Sagen, denen es an Glaubwürdigkeit fehlt. Zuverlässiger sind Mi - nasi’sy)Dissertat. su i timpanetti del Paguro. p. 21. Beobachtungen. Dieser fand, daſs Krebse (Paguri), die am Ufer ihrer Beute nachgingen, bey einem Geräusch gleich um - kehrten und sich ins Wasser stürzten. Einige derselben, die er in einem Gefäſs mit Meer - wasser unterhielt und welche darin des Nachts sehr unruhig waren, hörten gleich auf sich zu bewegen, wenn eine Glocke angeschlagen wurde. Uebereinstimmend mit diesen Erfahrungen ist es, was der Prinz Maximilian von Wied - Neuwiedz)Reise nach Brasilien. B. 1. S. 86. der 8. Ausg. von einer in Brasilien unter dem Namen Guayamù bekannten Krabbenart erzählt:sie327sie wären schwer zu fangen, denn schon bey dem leisesten Geräusch zögen sie sich in ihre Höhlen zurück. Ich habe ebenfalls bey meh - rern Hummern bemerkt, daſs sie bey einem Schall, der mit keiner Erschütterung des Ti - sches, worauf sie lagen, verbunden war, zu - sammenfuhren, obgleich sie schon mehrere Tage auſserhalb ihrem Element, dem Seewas - ser, gewesen und sehr abgemattet waren.

Für das Hörvermögen vieler Insekten spre - chen tägliche Erfahrungen. Fliegen werden durch Geräusch, nicht aber durch eine Erschütterung der Luft, die von keinem Schall begleitet ist, verscheuchta)Perrault Oeuvres de Phys. et de Mechan. p. 336. Reimarus über die Triebe der Thiere. 3te Ausg. S. 308. Smellie’s Philosophie der Nat. Gesch. Th. 1. S. 106.. Von den Grashüpfern (Locusta viridissima Fabr.) ist es bekannt, daſs sie ihren Gesang auf dem Felde gleich unterbrechen, sobald sie ein Geräusch hören. Brunellib)Comment, instituti Bononiens. T. VII. p. 199. stellte mehrere Versuche über das Gehör dieser Thiere an, woraus sich ergab, daſs die Männ - chen, die allein mit Singorganen versehen sind, antworten, wenn man ihren Gesang nachahmt, aber gleich schweigen, wenn sie einen fremd - artigen Schall hören. Ein Männchen, das eran328an dem einen Ende seines Gartens eingeschlos - sen hielt, lockte durch seinen Gesang ein Weibchen herbey, das er an dem andern Ende ins Freye gesetzt hatte. Eben diese Wirkung der Töne des Männchens auf das Weibchen hat man an Gryllusc)Fabricii Philos. entomol. p. 168., Cicadad)Fabricius, Nye Danske Videnshapers Selskaft Skr. D. 2. p. 376., Termes pul - satorius und Hemerobius pulsatoriuse)Fabricius ebendas. Baster, Verhandel, der Maatsch. te Haarlem. D. XII. p. 163. beob - achtet. Sehr deutliche Aeuſserungen von dem Besitz des Gehörssinns geben auch die Bienen. Huber’s Bemerkungen hierüber haben wir schon im ersten Abschnitt dieses Buchs ange - führt. Nach Christ’sf)Nat. Gesch. der Hymenopteren. S. 145. Erfahrungen rufen sich diese Insekten durch gewisse Töne zu Hülfe, wenn es nöthig ist, sich gemeinschaftlich gegen einen Feind zu vertheidigeng)Die meisten literarischen Nachweisungen über das Gehör der Insekten hat schon Lehmann (De sensib. extern, animal. exsang. ) gesammelt..

Ueber das Hörvermögen der Sepien fehlt es noch an Beobachtungen. Daſs sie aber das - selbe besitzen, ist nicht zu bezweifeln, da sie, wie wir unten sehen werden, mit deutlichenHör -329Hörwerkzeugen ausgestattet sind. Bey den übri - gen Mollusken scheint dieses Vermögen nicht mehr zugegen zu seyn. Swammerdammh)Bibl. nat. T. I. p. 111. und Lehmanni)A. a. O. p. 45. bemerkten keinen Eindruck von einem Geräusch oder einem starken Schall auf Schnecken.

Auſser der Luft ist auch jeder feste, elasti - sche Körper fähig, den Schall zum mensch - lichen Ohre fortzupflanzen. Jeder aber modi - fizirt den Schall bey der Fortleitung desselben auf eine eigenthümliche Weise, und einige verstärken, andere, z. B. der Marmor, schwä - chen dessen Intensitätk)Perolle, Mém. de l’Acad. de Turin. T. V. p. 195. b.. Auf dieser Eigen - schaft solcher Körper beruht das, schon von Ingrassiasl)Commentar. in Galenum de ossibus. C. 2. T. 8. p. 97. edit. Panorm. 1603. beobachtete und in neuern Zei - ten von mehrern Schriftstellernm)Z. B. J. Jorissen diss. in qua explicatur nova methodus, surdos reddendi audientes. Halae. 1757. I. II. Winkler progr. de ratione audiendi per dente. Lips. 1759. untersuchte Hören in einigen Arten von Taubheit durch Ansetzung eines Stabs an die Zähne. Der Schall gelangt hierbey von dem Stab durch dieKopf -330Kopfknochen unmittelbar zu den Hörnerven. Man hat geglaubt, auch die Schallschwingungen der Luft könnten zum Theil durch diese Knochen auf ähnliche unmittelbare Weise zu den Hörnerven geleitet werdenn)Autenrieth u. Kerner in Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol, B. IX. S. 360.. Allein beym Menschen findet eine solche Leitung gewiſs nicht statt. Bey völlig verstopften Gehörgängen müſste, wenn jene Meinung wahr wäre, nicht alles Hören aufgehoben seyn, welches doch allerdings der Fall ist. Wohl aber ist es mög - lich, daſs die Thiere, die unter der Erde leben, oder welche bey ihren Bewegungen mit dem Kopfe die Erde berühren, z. B. der Maulwurf und die Schlangen, auf eine solche Art von Schallschwingungen der Luft gerührt werden.

Nicht jeder Schall aber wirkt als solcher auf jede Thierart. Zur Wahrnehmung aller Verschiedenheiten des Lauts und der feinern Abstufungen desselben scheint nur das mensch - liche Hörwerkzeug vollkommen gebildet. Ohne das Vermögen, diese zu unterscheiden, würde keine Mittheilung der Gedanken durch artiku - lirte Töne unter den Menschen statt finden können. Auch die Thiere unterscheiden zwar den Laut; auch sie lassen sich im gezähmten Zustande durch Worte regieren und manchelernen331lernen artikulirte Töne nachsprechen. Allein immer bleibt die Zahl der Worte, die für sie Bedeutung erhalten, oder die sie nachzuahmen fähig sind, sehr gering. Möglich und selbst wahrscheinlich ist es indeſs, daſs es Töne giebt, wofür nicht unsere Hörwerkzeuge, wohl aber die einiger Thiere Empfänglichkeit besitzen, und die Wirkung solcher Töne auf sie kann sie zu Handlungen veranlassen, deren Grund für uns verborgen ist. Bey allen den chemi - schen und physischen Veränderungen, die un - aufhörlich in jeder Materie vor sich gehen, finden ohne Zweifel auch schwingende Bewe - gungen statt. Diese sind viel zu schwach für unser Ohr. Es läſst sich aber die Möglichkeit denken, daſs es weit schärfere Hörwerkzeuge als die unsrigen gäbe, welche dieselben wahr - zunehmen vermöchten. Einem Wesen, das ein so feines Gehör besäſse, würde jeder Gegen - stand erklingen, und dieser Sinn würde ihm die Stelle des Gesichts ersetzen können. Ein solcher Ersatz würde sich bey geblendeten Fledermäusen annehmen lassen, die sich, nach Spallanzani’s bekannten Versucheno)In dessen Lettere sopra il sospetto d un nuovo senso nei Pipistrelli 1794. Gren’s Journal der Physik. B. 1. S. 399., eben so benehmen, als hätten sie noch den GebrauchderVI. Bd. Y332der Augen, und Jurine’s Erfahrung, daſs der Flug dieser Thiere unsicher wird, wenn ihnen mit dem Gesicht auch das Vermögen zu hören geraubt istp)Journ. de Physique, par Delametherie. T. III. p. 145., würden mit dieser Vorausset - zung übereinstimmen, lieſsen Jurine’s gewalt - same Versuche einen sichern Schluſs zu und läge nicht die Voraussetzung selber zu sehr auſserhalb den Grenzen der Wahrscheinlichkeit. Doch soviel bleibt gewiſs, daſs manche Vibra - tionen hörbar für gewisse Thiere sind, die für unser Ohr verloren gehen. Durch das schwa - che Geschrey des Weibchens der Wachtel, das wir nur in einer geringen Entfernung hören, wird das Mäunchen derselben aus der Entfer - nung von mehr als einer halben Französischen Meile (demi-lieue) herbeygelocktq)Buffon Hist. nat. des ois. T. IV. p. 198. der Zwey - brücker Ausg.. Auf alle Thiere, die unter der Erde leben, besonders den Maulwurf, oder welche beym Kriechen die Erde mit dem ganzen Körper berühren, und auf die Wasserthiere wirken Schallschwingungen des Erdbodens oder des Wassers ohne Zweifel ebenfalls aus sehr weiten Entfernungen.

Bey einigen Thieren scheint das Gehör mehr für hohe, bey andern mehr für tiefe Töne empfänglich zu seyn. Die äuſsersteGrenze333Grenze des Sinns für hohe Töne erstreckt sich beym Menschen nicht weiter als bis auf sechs Octaven über dem mittlern E des Pianoforte. Von manchen Personen werden schon Töne nicht mehr vernommen, die um vier Octaven höher als dieses sindr)Wollaston a. a. O. p. 312.. Ueber den Eindruck hoher und tiefer Töne auf das Gehör der Thiere hat Kerners)A. a. O. p. 337. Versuche angestellt, aus welchen folgen würde, daſs die Katze, der Hund, der Igel, die Hausmaus und das Ka - ninchen empfindlicher gegen hohe als tiefe Töne sind, das Schwein, die Kuh, das Schaaf und das Pferd von beyden gerührt werden, wenn nicht der Einwurf gültig wäre, daſs alle solche Versuche nur den Schluſs zulassen, dieses oder jenes Thier werde von gewissen Tönen auf eine angenehme oder unangenehme Art aufgeregt, oder bleibe dagegen gleichgültig, nicht aber, dem Gehör desselben fehle über - haupt dafür die Empfänglichkeit.

Die Richtung, in welcher der Schall zu uns gelangt, erkennen wir an dem verschiede - nen Eindruck, den derselbe auf beyde Ohren hervorbringt, oder, wenn wir uns nur des einen Ohrs bedienen, an der veränderten Stärkedessel -Y 2334desselben bey veränderter Richtung des Ohrs. Nach Venturi’s sehr richtigen Erfahrungent)Voict’s Magazin f. d. Neueste aus der Physik u. s. w. B. 2. St. 1. S. 1. läſst sich, wenn man beyde Augen verbunden hat, den Kopf unbeweglich hält und beyde Ohren offen sind, nicht entscheiden, ob ein Schall, der gerade vor oder hinter uns erregt wird, von vorne oder von hinten kömmt, solange man den Kopf nicht bewegt. Sobald man diesen dreht, wirkt er auf das eine Ohr stärker als auf das andere. Wenn man bey verbundenen Augen das eine Ohr verstopft hat und den Kopf nicht bewegt, so scheint der Schall immer von der Seite des offenen Ohrs zu kommen. Wendet man das letztere nach allen Richtungen, während der Schall mit gleicher Stärke fortdauert, so wird dieser um so stärker gehört, je mehr sich die akustische Axe der geraden Linie nähert, die von dem Ort der Entstehung des Schalls zum Innern dieses Ohrs geht. Ob ein Ton von oben oder von unten kömmt, beurtheilen wir ebenfalls nach dem verschiedenen Eindruck desselben auf eines der beyden Ohren bey verschiedener Stellung des Kopfs, doch zugleich auch nach der verschiedenen Wirkung, die er in dem einen und dem andern Fall auf beyde Ohren hervorbringt. Was die Entfernung betrifft,von335von welchem ein Schall ausgeht, so schätzen wir dieselbe blos nach der verschiedenen Stärke des letztern. Diese Bestimmung ist nur bey Tönen, die uns schon aus längerer Erfahrung bekannt sind, oder, wo dies nicht der Fall ist, nach ihrer Verwandtschaft mit verwandten - nen möglich. Ueberhaupt also wird die Rich - tung, worin sich der Schall fortpflanzt, und die Entfernung, aus welcher er kömmt, nicht unmittelbar empfunden, sondern beurtheilt.

Man hat die Meinung geäuſsert, Schall - schwingungen der Luft könnten auch, indem sie durch die Schädelknochen zu den Hörnerven fortgepflanzt würden und bey dieser Fortpflan - zungsart in verschiedenen Richtungen zu den letztern gelangten, eine unmittelbare Empfin - dung von der Richtung der Schallstrahlen er - regenu)Autenrieth u. Kerner a. a. O. S. 360.. Allein wir haben schon oben er - innert, daſs die hierbey zum Grunde gelegte Voraussetzung irrig ist. Wäre sie aber auch richtig, so würde doch, da der Schall durch die Schädelknochen nicht in einer einzigen geraden Linie fortgepflanzt werden könnte, son - dern sich nach allen Seiten über diese Knochen verbreiten müſste, im Grunde nichts weiter geschehen, als was ohnehin auch geschieht,daſsY 3336daſs wir mit dem, der geraden Richtung des Schalls nähern Ohr ihn schärfer als mit dem andern hören. Kernerv)Ebendas. führt zur Unter - stützung jener Meinung an, daſs, als er auf einem stillen und einsamen Felde bey verbun - denen Augen einen Andern, welcher seinem rechten Ohr gegenüber stand, die Flöte blasen hörte, der Schall bey allmähliger Verstopfung des rechten Ohrs gleichsam in einem halben, um das Hinterhaupt beschriebenen Cirkel auf die entgegengesetzte linke Seite zu wandern, nie aber diesen Halbkreis um die Stirn herum zu beschreiben schien. Der Erfolg dieses Ver - suchs läſst sich aber ohne die Voraussetzung einer Fortpflanzung des Schalls durch die Kopf - knochen schon daraus hinreichend erklären, daſs die Hörwerkzeuge mehr nach dem Hinter - haupte, als nach der Stirn hin liegen. Ferner sagt erw)Ebendas. S. 361.: es zeige sich eine beträchtliche Ver - schiedenheit zwischen der Fortpflanzung der Schallerschütterungen durch den Vorkopf nach hinten und der Fortpflanzung eben dieser Er - schütterungen durch das Hinterhaupt nach vorn schon dadurch, daſs wir bey bedeckten Augen, aber offenen Ohren, immer unterscheiden kön - nen, ob unter den angegebenen Umständen der Flötenbläser sich vor oder hinter uns gestellthabe.337habe. Bey dieser Erfahrung aber vermischen wir, wie bey vielen ähnlichen, Urtheil und Empfindung. Der Schall wird anders empfun - den, wenn er von vorne kömmt, als wenn er von hinten zu uns gelangt, doch nur, weil er im erstern Fall anders als im letztern zum Gehörgang reflektirt, und durch diese verschie - dene Zurückwerfung auf verschiedene Art mo - difizirt wird. Das Weitere hierbey ist Urtheil, nicht Empfindung. Auf ähnliche Art täuschen wir uns, wenn wir beym leisen Streichen über den Rand eines auf dem Kopfe befindlichen runden Huts die Stelle der Berührung durch das Gehör zu unterscheiden glaubenx)Lentin’s Beyträge zur ausübenden Arzneywissensch. B. 2. S. 118.. Das Gehör wird in diesem Falle gerührt, indem die Erschütterung des Huts durch die Schädelkno - chen auf die Hörnerven wirkt. Aber zugleich mit diesen Nerven erleiden auch die Haut - nerven des Schädels eine Erschütterung, und wir glauben die berührte Stelle durch das Gehör wahrzunehmen, da es in der That doch der Tastsinn ist, der uns davon unterrichtet.

Auch die Thiere zeigen, indem sie beym Auffassen eines von der einen Seite kommen - den Schalls das eine Ohr nach dieser Seitehin -Y 4338hinwenden, daſs sie die Richtung des Schalls nach dem verschiedenen Eindruck desselben bey veränderter Stellung des Kopfs beurtheileny)Venturi a. a. O.. Diese Bestimmung wird ohne Zweifel durch die verschiedene Stellung und Bildung der äuſsern Ohren erschwert oder erleichtert. Nach Ker - ner’s Versuchenz)A. a. O. S. 363. scheinen die Kuh, das Pferd, das Schwein und das Kaninchen wenig Gefühl für die Richtung der Töne zu besitzen. An dem Hund bemerkte er, was auch mit meinen Erfahrungen übereinstimmt, ebenfalls weniger Unterscheidungsvermögen dieser Rich - tung, als dem Menschen eigen ist. Die Katze hatte nur Sinn für die Richtung hoher Töne. Der Fuchs merkte auch bey tiefen Tönen mehr auf die Richtung derselben als die Katze. Ein Maulwurf zeigte sich auſserhalb der Erde wenig durch Töne erregbar, doch vielleicht nur wegen der Angst und Betäubung, worin er sich unter diesen Umständen befand; unter der Erde aber, in einem flachen, mit Erde angefüllten Gefäſs, konnte man ihn vollkommen in seinem Gange leiten, je nachdem man von der einen oder der andern Seite auf einem musikalischen Instru - ment einen Ton angab.

Ein Vermögen, das dem Hörsinn des Men - schen, aber wahrscheinlich auch nur diesemzu -339zukömmt, ist endlich noch das Unterschei - dungsvermögen gleichzeitiger Schall - schwingungen verschiedener Art. Auf diesem beruhet der Sinn für Harmonie, den kein anderes Thier mit dem Menschen gemein hat, so viele auch gleich ihm Sinn für Melodie besitzen. Jeder Vogel singt nur für sich; nie hörte man mehrere zugleich einen harmoni - schen Gesang anstimmen. Wie weit die Em - pfänglichkeit für Melodie noch bey andern Thieren als dem Menschen und den Singvögeln vorhanden ist, läſst sich nicht bestimmen. Die Alten erzählten viel von dem Eindruck der Musik auf manche Thiere, deren Hörwerkzeuge von den unsrigen sehr verschieden sind, z. B. auf den Delphin und, wie schon oben bemerkt ist, auf gewisse Seekrebse. Man hat auch neuere Beyspiele von Hunden und andern Hausthieren, die Wohlgefallen an einigen Arten von Musik zu finden scheinen. Buffona)Hist. nat. T. XI. p. 143. der Zweybr. Ausg. hat mehrere derselben gesammelt, denen sich noch eine spätere Beobachtung von R. Archer bey - fügen läſst, wo eine Maus durch Flötenspiel deutlich angezogen seyn sollb)The American medical Recorder. Vol. 1. Philadelphia. 1818. No. 1. p. 18.. Allein es läſst sich hieraus nicht schlieſsen, was Buf -fonY 5340fonc)A. a. O. daraus schloſs, daſs die Empfindung des Vergnügens, welches die Musik gewährt, ein Eigenthum aller, mit dem Gehörsinn begabter Wesen sey. Den meisten Thieren erregt Musik mehr unangenehme, als angenehme Gefühle. Nur von einzelnen Tönen, oder von einer Folge weniger einzelner Töne scheinen manche angezogen zu werden.

Die meisten, für uns wohllautenden Töne wirken ganz anders auf viele Thiere. Bey Kerner’s Versuchend)A. a. O. S. 339. schienen den Hunden die hohen Töne einer Violine, eines Zinken, einer Flöte, eines mit nassem Finger gestriche - nen Glases und eines kleinen Metallglöckchens unerträglich zu seyn. Sie flohen dieselben theils mit dem gröſsten Geheule, theils zitterten sie krampfhaft am ganzen Leibe, oder bewegten den Kopf immer hin und her, oder gähnten dabey beständig. Doch war hierin bey den verschiedenen Individuen eine Verschiedenheit, die beweiset, daſs auch bey den einzelnen Thieren einer und derselben Art, wie bey den Menschen, die subjektiven Wirkungen der Töne sehr verschieden sind. Andere Thatsachen lassen nicht zweifeln, daſs für die Thiere man - che Töne höchst anziehend seyn müssen, dieauf341auf unser Ohr den widrigsten Eindruck machen. Ein alltägliches Beyspiel giebt das Geheul der Katzen zur Brunstzeit. Ueberhaupt wirkt gewiſs die lockende Stimme der Individuen des einen Geschlechts auf das Innerste derer des andern Geschlechts zur Zeit der Paarung, und für jedes Thier giebt es Töne, wodurch unmittelbar Affekten und Leidenschaften in demselben erregt werden. So versetzt das Brüllen des Löwen alle Hausthiere, und selbst solche, die diesen Feind noch gar nicht kennen gelernt haben, in die äuſserste Unruhee)Sparrmann a. a. O. S. 363. 364.. Man hat von einer Sprache der Thiere gefabelt. Aber der unmit - telbare Ausdruck der Gemüthsbewegungen durch Töne ist noch sehr weit von jeder Sprache entfernt. Diese besteht aus Symbolen; jene hat nichts mit Symbolen gemein. Doch hiervon werden wir in der Folge umständlicher zu reden Gelegenheit haben.

Zwey -342

Drittes Kapitel. Eintheilung der Thiere nach der Verschie - denheit ihrer Hörwerkzeuge.

Es liegt für jetzt nicht in unserm Plan, alle Verschiedenheiten, welche die Hörwerkzeuge auf den verschiedenen Stufen der thierischen Organisation zeigen, zu erklären. Wir werden hier nur die allgemeinern Unterschiede dersel - ben zu bestimmen suchen, die Veränderungen aber, welche jeder einzelne Theil der Organe des Gehörs in den verschiedenen Thierclassen zeigt, bey Untersuchung der Funktionen dieser Theile betrachten, und auch hiervon nur dieje - nigen berücksichtigen, die für die Biologie von Wichtigkeit sind.

Die erste und wichtigste Verschiedenheit der Thiere in Betreff der Hörwerkzeuge beruht auf der Gegenwart und Abwesenheit der halb - cirkelförmigen Canäle. Einige besitzen diese nebst einer Schnecke oder einem Surrogat einer Schnecke; andere sind blos mit einem Theil ausgestattet, welcher die Stelle der Schneckever -343vertritt. Zu den erstern würden alle Wirbel - thiere gezählt werden können, wenn nicht die Lampreten (Petromyzon) eine Ausnahme mach - ten; zu den letztern gehören auſser diesem Fischgeschlecht alle wirbellose Thiere, bey wel - chen bisjetzt Hörorgane entdeckt sind.

Die Unterabtheilungen dieser Classen lassen sich von der Bildung der Schnecke oder des Surrogats derselben hernehmen. Es giebt

1) Thiere, die mit dem Menschen eine wahre Schnecke gemein haben. Diese sind die sämmt - lichen Säugthiere.

2) Bey andern finden wir statt einer gewun - denen Schnecke einen kegelförmigen, inwendig hohlen Körper, dessen Höhlung durch eine Scheidewand abgetheilt ist. In Besitz eines sol - chen Organs sind die Vögel und die Crocodile.

3) Die übrigen Amphibien und die Fische haben statt einer Schnecke häutige Säcke, die entweder bey diesen Amphibien, den Rochen, Hayen und einigen andern Knorpelfischen eine weiche, kalkartige Materie, oder bey den Grä - thenfischen Steine enthalten.

Mit der Gegenwart einer gewundenen Schnecke oder eines schneckenartigen Kegels ist der Besitz eines äuſsern Hörgangs und meistauch344auch eines äuſsern Ohrs verbunden. Jenen haben alle Säugthiere und Vögel. Dieses fehlt unter den Säugthieren nur dem Maulwurf, einigen Spitzmäusen, einigen Geschlechtern aus der Familie der Zahnlosen, den Robben, Wall - rossen und Wallfischen, also nur einem kleinen Theil jener Thiere und nur solchen, die unter der Erde oder im Wasser leben. Den meisten Vögeln ist zwar kein häutiges äuſseres Ohr verliehen. Aber die um die äuſsere Oeffnung des Gehörgangs stehenden Federn ersetzen die Stelle desselben.

Bey allen diesen, mit einem äuſsern Gehör - gang versehenen Thieren führt derselbe zu einer Trommelhöhle, die im Schläfenbein befindlich und nach auſsen mit einem Trommelfell be - deckt ist. Das Vorhandenseyn einer solchen Trommelhöhle ist indeſs nicht blos auf die Säugthiere und Vögel beschränkt; sie findet sich auch ohne einen äuſsern Gehörgang und ohne eine wahre Schnecke, oder einen schnecken - förmigen Kegel bey den Schildkröten, Eidech - sen, Fröschen, Kröten und einigen Schlangen, z. B. der Blindschleiche. Diese Thiere athmen insgesammt durch Lungen. Aus ihrer Trom - melhöhle geht immer eine Eustachische Röhre in den Rachen, und zwischen dem Trommel - fell und dem ovalen Fenster des Vorhofs findeteine345eine Verbindung durch ein einfaches Gehör - knöchelchen, oder durch eine Kette mehrerer solcher Knochen statt. Jenes ist bey den Vögeln und den mit einem Trommelfell versehenen Amphibien, dieses bey den Säugthieren der Fall. Ein Uebergang von jener Art der Ver - bindung zu dieser zeigt sich bey den Schnabel - thieren und dem Känguruh. Die Schnabelthiere haben statt des Steigbügels ein ähnliches cylin - drisches Gehörknöchelchen (Columella) wie die Vögel, das jedoch nicht wie bey den letztern durch einen Knorpel, sondern durch ein Rudi - ment eines Hammers mit dem Trommelfell zusammenhängt. Beym Känguruh ist der Steig - bügel durch die Länge und cylindrische Gestalt seines obern Theils dem einfachen Gehör - knöchelchen der Vögel ebenfalls sehr ähnlich. Doch hat dieses Thier auch einen Hammer und Amboſse*)Carlisle, Philos. Transact. Y. 1805. p. 204..

Aus dem Vorhandenseyn einer Eustachi - schen Röhre läſst sich umgekehrt auch be - ständig auf die Gegenwart einer Trommelhöhle schlieſsen, zu deren Trommelfell die äuſsere Luft unmittelbar oder durch einen äuſsern Ge - hörgang Zutritt hat. Gehörknöchelchen hin - gegen giebt es auch bey Thieren, die keine Trommelhöhle haben. Die meisten Schlangenbesit -346besitzen einen Vorhof ohne Trommelhöhle, an dessen ovales Fenster ein Gehörknochen be - festigt ist, der mit dem entgegengesetzten Ende die Kinnladen berührt. Mehrere Fische, na - mentlich alle Arten von Cyprinus, Silurus Glanis, Cobitis fossilis und Cobitis Barbatula, haben, nach E. H. Weber’sf)De aure et auditu hominis et animalium. P. I. Lips. 1820. Entdeckung, drey Gehörknöchelchen, die zu beyden Seiten der drey ersten Halswirbel in einer Höhlung derselben liegen und sowohl unter sich, als mit diesen Wirbeln artikuliren. Der dem Steig - bügel zu vergleichende Knochen ist an eine knöcherne Platte befestigt, die den Eingang zu einer Cavität des ersten Halswirbels (Atrium sinus imparis Web. ) verschlieſst. Diese Höh - lung vereinigt sich mit der der andern Seite zu einem einfachen, in der Mittellinie des Hinterhauptknochens liegenden Gang (Sinus impar W.), und der letztere theilt sich nach vorn in einen rechten und linken, zum Laby - rinth jeder Seite gehenden Canal. Das entge - gengesetzte Ende dieser Reihe von Gehör - knöchelchen stöſst aber nicht an ein nach auſsen liegendes Trommelfell, sondern der Hammer ist mit der Schwimmblase verbunden, welche die Stelle dieser Membran vertritt.

Alle347

Alle übrige Wirbelthiere haben blos einen Vorhof ohne Trommelhöhle und ohne Gehör - knöchelchen. Bey einigen derselben gelangt der Schäll zum Labyrinth durch eine an der Oberfläche des Schädels liegende, mit einer Haut bedeckte Oeffnung, welche dem runden Fen - ster der höhern Thiere zu vergleichen ist. Zu diesen gehören unter den Amphibien die Sala - mander und der Proteus, unter den Fischen die Rochen und Hayen. Bey den Rochen liegt auf jeder Seite des Schädels gleich unter der Oberhaut ein mit einem weiſsen Saft ange - füllter Sack (Sinus auditorius externus Web. ), welcher sich durch einen weiten membranösen Canal in das häutige Labyrinth öffnet, und woraus zugleich mehrere Ausführungsgänge je - nes Safts zur Auſsenseite des Kopfs gehen. Auſserdem giebt es hier auf jeder Seite des Hinterkopfs noch eine zweyte Oeffnung, über welche ebenfalls eine Haut ausgespannt ist, die aber nicht unmittelbar zum Labyrinth, sondern zur Schädelhöhle führt*)Der letztere wurde von Camper und Scarpa, der Versicherung A. Monro’s entgegen, daſs noch ein zweyter, unmittelbarer Zugang zum Labyrinth vor - handen sey, für die einzige äuſsere Oeffnung desGehör -. Die Hayen besitzen bloſs den letztern dieser Zugänge.

BeyVI. Bd. Z348

Bey den meisten Fischen wird der Schall ohne Vermittelung eines solchen äuſsern Zugangs zum Labyrinth fortgepflanzt. Es giebt aber unter diesen Thieren mehrere, deren Schwimm - blase mit dem Labyrinth so in Berührung steht, daſs Schallschwingungen derselben dem letztern unmittelbar mitgetheilt werden. Bey Sparus Salpa und Sparus Sargus theilt sie sich, nach Weber, vorne in zwey Canäle, deren Enden an dem Rand zweyer ovaler, auf der rechten und linken Seite des Schädels liegender, durch eine Haut verschlossener Canäle befestigt sind. Einen ähnlichen Bau habe ich beym Schellfisch gefunden. Beym Hering dringen zwey enge Röhren, worin die Schwimmblase vorne über - geht, auf beyden Seiten des Hinterhauptsbeins in zwey knöcherne Gänge; jeder von diesen spaltet sich in einen doppelten Canal, der sich in einer vordern und hintern knöchernen Kapsel endigt; in die Canäle und beyde Kapseln ge - langen die Fortsätze der Schwimmblase; in jeder vordern Kapsel ist zugleich ein Anhang des häutigen Labyrinths enthalten, der in der - selben mit dem Fortsatz der Schwimmblase zusammenstöſst, und verêinigt mit diesem eine häutige Scheidewand bildet. Bey dem nämlichenFisch*)Gehörorgans der Rochen und Hayen angegeben. Waber (A. a. O. p. 95.) fand aber Monro’s Ent - deckung bestätigt.349Fisch hängt auch das häutige Labyrinth der einen Seite mit dem der andern durch eine häutige, quer unter dem Gehirn weggehende Röhre so zusammen, daſs ein freyer Uebergang von dem einem zum andern statt findetg)Weber a. a. O. p. 73..

Mit der Vereinfachung der übrigen Organe des Gehörs werden auch die Muskeln des innern Ohrs immer einfacher. Nur bey den Säug - thieren, und vielleicht auch nicht einmal bey allen diesen, giebt es vier Theile in der Trom - melhöhle, die man gewöhnlich für Muskeln hält. Drey derselben gehören dem Hammer an; einer bewegt den Steigbügel. Die Vögel haben nur einen einzigen innern Hörmuskel, der theils an dem obern Fortsatz des Gehörknöchel - chens befestigt ist, theils sich über das Trom - melfell ausbreiteth)Galvani, Commentar. Bonon. T. VI. p. 422.. Am Gehörknöchelchen der grünen Eidechse, des Frosches und des Chamäleon glaubte Comparettii)Observat. anat. de aure interna compar. p. 206. 216. 219. Muskelfasern bemerkt zu haben. Er fand aber keine am Gehörknochen der Viperk)Ebendas. p. 223.. Scarpal)Anat. disquis. de auditu et olf. S. I. C. 4. §. 5. gedenktblosZ 2350blos eines Ligaments an diesem Knochen, und er erinnert ausdrücklichm)Ebendas. §. 9., keine Muskelfasern in der Trommelhöhle der Schildkröte ange - troffen zu haben. An den Gehörknöchelchen der Fische sind ebenfalls noch keine Muskeln entdeckt worden. Auf der innern Wand der Höhlung, worin diese Knochen bey den Cy - prinusarten liegen, giebt es zwar Muskeln, die vom Hinterhauptknochen nach dem zweyten und dritten Halswirbel gehenn)Weber. A. a. O. p. 52.. Sie haben aber mit den Gehörknöchelchen keine Verbin - dung, und es scheint mir zweifelhaft, ob ihnen, wie Weber glaubt, eine Funktion beym Hören zukömmt. In näherer Beziehung hiermit müs - sen Muskelfasern an den Gehörorganen der Rochen und des Schellfisches stehen, auf die wir im folgenden Kapitel zurückkommen werden.

Die Ausbreitung des eigentlichen Hörnerven und des Antlitznerven im Ohre wird ebenfalls in demselben Verhältniſs beschränkter, je ein - facher die innern Hörorgane werden. Indeſs zeigen sich bey allen Thieren der drey obern Classen der Gehörnerve und der Antlitznerve als eigene Hirnnerven, und bey allen geht nur jener zu den halbcirkelförmigen Canälen, zu dem Gehörkegel oder dem Gehörsack, währenddieser351dieser die Muskeln der Gehörknöchelchen mit Zweigen versorgt, wo solche Muskeln vorhan - den sind, und einen andern, der Saite des Trommelfells (Chorda tympani) analogen Ast bey den Säugthieren und Vögeln abgiebt*)Galvani (A. a. O.) fand diese Saite bey den - geln. Nach Scarpa (A. a. O. §. 14.) verläuft auch bey den Schildkröten der Antlitznerve nach seiner Trennung vom Hörnerven quer durch die Trommel - höhle. Bojanus (in der Russischen Samml. für Naturwissensch. u. Heilk. von Crichton u. s. w. B. 2. H. 4.) hingegen fand, daſs er bey der Testudo lutaria nicht durch das Tympanum, sondern an demselben vorbey geht..

Bey den Fischen zeigen sich manche Ab - weichungen von dieser Bildung. Die Nerven des siebenten Paars sind zwar auch hier immer noch eigene Hirnnerven und nicht, wie Scar - pao)A. a. O. S. I. C. 2. §. 18. C. 3. §. 5. glaubte, blos Zweige der Nerven des fünften Paarsp)Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus. B. 3. S. 62. Weber a. a. O. p. 17. 83.. Der Antlitznerve hingegen hat bey den verschiedenen Fischgeschlechtern nicht einerley Ursprung. Bey vielen Fischen, z. B. beym Stöhr, ist er ein Zweig eines Ner - ven, von welchem ein Verbindungszweig zu den Kiemennerven geht und der ohne Zwei -felZ 3352fel dem Glossopharyngaens verglichen werden muſsq)Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Tr. B. 3. S. 52. 53.. Bey andern, z. B. dem Aal, Hecht, Wels und der Quappe, entspringt er dicht neben dem Hörnerven. Doch giebt es bey dem Hecht und dem Wels auch zwischen ihm und den Kiemennerven einen verbindenden Zweig. Bey der Quappe hingegen hat er mit dem letz - tern keine Gemeinschaft. Bey dem Karpfen und der Karausche entsteht er aus einem groſsen, auf der Grundfläche des Schädels liegenden Knoten eines dicken Zweiges des Trigeminusr)Weber a. a. O. p. 36.. Hierbey ist zugleich der Umstand bemerkens - werth, daſs der Antlitznerve der Fische sich mit dem Hörnerven in die unmittelbaren Or - gane des Gehörs ausbreitet, wobey jedoch auch Verschiedenheiten in dieser Thierclasse statt finden. Gewöhnlich geht der eigentliche Hör - nerve zu dem vordern und horizontalen halb - cirkelförmigen Canal und zum mittlern Theil des Steinsacks, der Antlitznerve zum hintern halbcirkelförmigen Canal und zum vordern Theil des Steinsacks, oder, wenn deren zwey vorhanden sind, beyder Säcke. Bey Scorpaena Scropha, Sparus Salpa, Sparus Sargus und Gadus Lota hingegen empfängt, nach Webers)A. a. O. p. 35.,der353der hintere halbcirkelförmige Canal und der hintere Steinsack Zweige vom Hörnerven, der vordere vom Antlitznerven. Beym Zitterrochen, dem Hayfisch und den Neunaugen ist es blos der Hörnerve, der sich im innern Ohr aus - breitett)Weber ebendas. p. 103. 104. 134.. Bey diesen Verschiedenheiten haben aber alle Fische dies mit einander und mit den sämmtlichen Thieren der höhern Classen ge - mein, daſs die Nerven der halbcirkelförmigen Canäle sich in den Erweiterungen dieser Röh - ren scharf begränzt endigen, ohne sich weiter in denselben zu verbreiten, die der Schnecke oder der Hörsäcke hingegen sich büschel - oder netzförmig verzweigen*)Nach Weber (A. a. O. p. 134.) unterscheiden sich die Nerven der halbcirkelförmigen Canäle von denen der Steinsäcke auch darin, daſs jene härter als diese sind. Mir scheint dieser Unterschied nicht bey allen Fischen und noch weniger bey den übrigen Thieren statt zu finden. Scarpa (A. a. O. S. 2. C. 4. §. 14.) nennt die Endigungen der Nerven in den halbcirkel - förmigen Canälen: mollissimam pulpam, re〈…〉〈…〉 inae oculi perquam similem..

Die Lampreten (Petromyzon), bey welchen es blos Hörsäcke ohne halbcirkelförmige Canäle giebt, sind die Uebergangsstufen von den Wir - belthieren zu den Crustaceen und Mollusken inBe -Z 4354Betreff der Hörwerkzeuge. Wir kennen bisjetzt nur bey wenig wirbellosen Thieren Organe, die sich für Sitze des Gehörssinus mit Wahr - scheinlichkeit annehmen lassen. Wo aber bey den Thieren dieser Classen solche Theile am ausgebildetsten vorhanden sind, bestehen sie in bloſsen, unter einer elastischen Haut, oder in einer hornartigen Kapsel liegenden Säcken.

In der Gestalt eines Schlauchs, über wel - chem eine elastische Haut ausgespannt ist, zeigt sich das Ohr der krebsartigen Crustaceen. J. C. Fabriciusu)Skrifter det Kiöbenh. Selsk. Nye Saml. D. 2. S. 375. und Minasiv)Dissert. su li timpanetti dell udito etc. entdeckten dieses Organ bey Cancer Maenas L. und Cancer Pagurus L. Cavoliniw)Ueber die Erzeugung der Fische und Krebse. S. 133. fand nach ihnen dasselbe bey Cancer Phalangium Fabr. Scar - pax)A. a. O. S. 1. C. 1. §. 2 sq. und Webery)A. a. O. p. 8 sq. beschrieben dasselbe ge - nauer vom Fluſskrebs. Ich habe es bey Cancer Gammarus L. und Cancer Maenas L. unter - sucht und bey diesen Arten im Wesentlichen den nämlichen Bau wie beym Fluſskrebs ange - troffen. Bey allen diesen Thieren liegen auf der untern Seite des Kopfs, hinter den Wur - zeln der gröſsern Fühlhörner, zwey hohle,war -355warzenförmige Hervorragungen, die aus einer sehr harten, steinartigen Substanz bestehen und eine, mit einer festen, elastischen, nach auſsen convexen Haut bedeckte äuſsere Oeffnung haben. Unmittelbar unter dieser Membran, in der Höhlung der Warzen, liegt ein häutiger Schlauch, welcher eine wäſsrige Flüssigkeit enthält und in dessen inneres Ende der, gemeinschaftlich mit den Nerven der gröſsern Fühlhörner aus dem Gehirn entspringende Hörnerve dringt*)Cavolini spricht von zwey Gehörknöchelchen, von Muskeln und von zuckenden Bewegungen, die er an und in dem häutigen Schlauch des Gehör - organs beym Cancer Phalangium gesehen haben will. Daſs aber, wie Weber (A. a. O. p. 107.) er - innert hat, Alles, was Comparetti über das Ohr der Krebse geschrieben hat, aus lauter Unrichtig - keiten besteht, muſs allerdings Jedem einleuchten, der dieses Organ untersucht hat..

Zwey ähnliche, in knorpelartigen Kapseln eingeschlossene häutige Säcke, von welchen jeder einen eigenen Nerven aus dem Gehirn empfängt, sind die, von J. Hunterz)Philos. Transact. Y. 1782. p. 380. entdeckten und von A. Monroa)A. a. O. S. 87., Scarpab)A. a. O. S. I. C. 1. §. 9 sq., Cuvierc)Mém. pour servir à l Hist. des Mollusques. p. 49.,PohlZ 5356Pohld)Expos. gener. anatom. organi auditus. p. 1 sq. und Webere)A. a. O. p. 10 sq. an Sepia Loligo, Octopus und officinalis weiter untersuchten Hör - organe der Sepien. Die beyden Kapseln be - finden sich in dem ringförmigen Knorpel, der das Gehirn und den Oesophagus umgiebt. Sie haben keine äuſsere Oeffnung. In jedem der Säcke, die sie enthalten, giebt es ein ähnliches Steinchen, wie in den Hörsäcken der Gräthen - fische. Der kleine und kurze Hörnerve ent - springt aus dem Vordertheile des Gehirns zwi - schen den Nerven der Füſse und der Bauch - eingeweide.

Daſs diese Organe der Krebse und der Sepien wahre Hörwerkzeuge sind, hat alle Wahrscheinlichkeit für sich. Nicht so sicher ist es, ob in einigen Theilen anderer wirbel - loser Thiere, woran sich Bedingungen jener Werkzeuge nachweisen lassen, wirklich der Sitz des Hörsinns angenommen werden darf.

Bey der Biene glaubt Ramdohrf)Magazin der Gesellsch. naturf. Freunde zu Berlin. J. 5. S. 388. das Organ des Gehörs in den Kinnbacken gefunden zu haben. Die Kinnbacken der Biene, sagt er, sind hohle Röhren, an ihrem äuſsern, abge -stumpf -357stumpften Ende mit einer ziemlich dicken Haut überspannt, über deren Mitte ein starkes, her - vorstehendes Hornband geht. Vor ihrer innern Oeffnung erhebt sich eine eyförmige, blasen - artige Erhöhung von der Länge der Kinnbak - ken, aber in der Dicke stärker als diese. Sie wird von einer sehr elastischen, an sich durch - sichtigen, aber inwendig mit einer undurch - sichtigen Masse bekleideten Haut bedeckt und enthält einen Tropfen einer wasserhellen, ein wenig gelblichen, auf dem Wasser schwimmen - den Flüssigkeit. An ihrem obern Ende ist diese allenthalben verschlossene Haut zugewölbt; ihr unteres Ende geht in die innere Bekleidung der Kinnladen über. Der Nerve, den Ram - dohr für den Gehörnerven hält, ist ein Ast der Nerven der Kinnbackenmuskeln. Er theilt sich bandförmig in vier Zweige, die, wie Ram - dohr glaubt, die Gehörhaut durchboren.

Ich muſs gestehen, daſs ich bey meinen Zergliederungen der Biene in den gedachten Theilen der Kinnbacken die Aehnlichkeit mit einem Hörorgan, die Ramdohr darin sieht, nicht habe finden können. An dem dicken vor - dern Ende der Kinnbacken sahe ich eine Ver - tiefung, die freylich in der Mitte ein hervor - stehendes Hornband und an den Seiten dieses Bandes eine etwas dünnere Haut als an andernStellen358Stellen hatte. Aber das Hornband schien mir blos zum Zerreiben der Nahrungsmittel, und die Vertiefung zur Aufbewahrung der zerriebenen Substanzen bestimmt. Im Innern der Kinn - backen konnte ich nur die Muskeln derselben und die zu diesen Muskeln gehenden Nerven, nicht aber die Blase und den Gehörnerven, die Ramdohr darin entdeckt zu haben versichert, bemerken. Das Hörorgan der Biene würde aber auch bey Ramdohr’s Meinung in ein Organ verlegt seyn, das immerfort in Bewe - gung, beständigen Reibungen ausgesetzt, und also zum Vernehmen aller, von auſsen kommenden Schalleindrücke sehr wenig geeignet ist.

Ich fand dagegen bey der Schabe (Blatta orientalis) einen Theil, der mir seiner Gestalt und Lage nach den Erfordernissen eines Hör - werkzeugs besser zu entsprechen scheint. Hier liegt auf der obern Seite des Kopfs, in dem Winkel zwischen den groſsen halbmondförmi - gen Augen und der Oeffnung, in welcher sich die Wurzeln der Antennen befinden, eine an - dere runde Oeffnung, worüber eine weiſse, elastische, in der Mitte vertiefte Haut ausge - spannt ist, und unter der letztern eine Her - vorragung des Gehirns, welche mit ihr in Be - rührung zu stehen scheintg)Annalen der Wetterauischen Gesellsch. für die ge - sammte Naturk. B. 1. H. 2. S. 170.. Diese Haut istganz359ganz zur Ausfassung von Schallschwingungen gemacht und kann schwerlich zu einem andern Zweck als hierzu bestimmt seyn.

Etwas Gleiches habe ich zwar bey keinem andern Insekt angetroffen. Etwas Aehnliches aber besitzen auch andere Insekten. Bey der Libellula vulgata traf ich über der Stirn, in dem Zwischenraum zwischen den beyden zu - sammengesetzten Augen, den drey einfachen Augen und den Fühlhörnern eine runde, mit Haaren besetzte Erhöhung an, auf deren Gipfel zu beyden Seiten eine, sich durch ihre bräun - liche Farbe auszeichnende runde Stelle liegt, die mit einer weichern Haut als die übrige Her - vorragung bedeckt ist. Die letztere enthält eine Höhlung, aus welcher, als ich sie öffnete, eine wäſsrige Feuchtigkeit hervordrang, und an deren Seiten die Nerven der einfachen Augen zu diesen hinlaufen. Bey der Biene fand ich unter der ganzen obern Wölbung des Schädels eine Höhlung, die durch eine mittlere, längs - laufende Scheidewand in eine rechte und linke Hälfte getheilt ist, und auf deren Boden sich eine glänzende weiſse Haut befindet, unter wel - cher Luftsäcke liegen. Ob sich in diesen Höh - lungen der Libelle und der Biene eigene Ner - ven ausbreiten, habe ich nicht entdecken kön - nen. Giebt es solche in ihnen, so haben siedie360die Erfordernisse von Hörwerkzeugen der ein - fachsten Art. Es ist übrigens nicht glaublich, daſs allen Insekten besondere Organe des Ge - hörs verliehen sind. Die meisten sind wohl nur empfänglich für Schallschwingungen durch den allgemeinen, im ganzen Nervensystem ver - breiteten Sinn, welcher vermöge ihrer äuſsern hornartigen Bedeckungen und des Zugangs, den die Luft zu jedem Punkt ihres Innern hat, mehr bey ihnen, als bey allen übrigen Thieren, von diesen Schwingungen gerührt zu werden fähig ist.

Drittes361

Drittes Kapitel. Aufnahme und Fortpflanzung der hörbaren Eindrücke durch die Werkzeuge des Gehörs.

§. 1. Organische Bedingungen der Gradationen des Gehörs. Das äuſsere Ohr.

Nach den uns bekannten Gesetzen der Fort - pflanzung des Schalls würde das einfachste Hör - werkzeug eine gespannte Haut, eine horn - oder knorpelartige Platte seyn, unter welcher sich ein Hörnerve ausbreitete. Die am Schluſs des vorigen Kapitels mitgetheilten Beobachtungen lassen vermuthen, daſs durch Organe von sol - cher Einfachheit mehrere Insekten Empfindungen von Schallschwingungen erhalten. Bey dieser Bildung kann indeſs das Gebiet des Hörsinns nur sehr beschränkt seyn. Feste Körper sind nicht fähig, bey unveränderter Spannung ver - schiedenartige Schallschwingungen der Luft un - verändert fortzupflanzen, und die Rührung eines Nerven, der mit einem solchen Körper in un - mittelbarem Zusammenhange steht, kann nichtsehr362sehr verschieden von einer Empfindung des bloſsen Getasts seyn. Damit jene sich hiervon ganz unterscheide, muſs der Nerve in einer Flüssigkeit schwimmen, die von einem festen, des Vibrirens fähigen Körper berührt wird. Aber jeder sowohl feste, als flüssige Körper setzt die Schwingungen, in die er von einem einfachen Schall versetzt wird, noch eine Zeit - lang fort. Das Gehör wird also immer noch sehr unvollkommen seyn, wenn es nicht einen Mechanismus giebt, wodurch dieses Fortschwin - gen verhindert wird, und auch hierbey wird demselben Feinheit mangeln, wenn nicht über - dies eine Einrichtung vorhanden ist, wodurch die zur Aufnahme des Schalls dienende Haut nach der Verschiedenheit desselben in einen verschiedenen Grad von Spannung versetzt wird. Zum leisen Gehör wird es endlich noch eines äuſsern Organs bedürfen, welches die Schallschwingungen auffängt, concentrirt und nach den innern Hörwerkzeugen zurückwirft.

Diese Erfordernisse finden wir an dem Ohr der höhern Thiere. Was dasselbe noch auſser - dem vor dem Ohr der niedern Thiere voraus hat, steht theils mit den gedachten Funktionen, theils wohl mit der Empfänglichkeit für die Verschiedenheit des Lauts in Beziehung. Wir werden, um uns hierüber näher zu erklären,die363die einzelnen Werkzeuge des Gehörs nach ein - ander betrachten und dabey von dem äuſsern zum innern Ohr fortgehen.

Der Zweck des äuſsern Ohrs, die Schall - schwingungen zu sammeln und sie concentrirt in den äuſsern Gehörgang zu reflektiren, ist bey vielen Säugthieren, z. B. dem Pferde, den Fle - dermäusen, den Nagethieren u. s. w. so klar, daſs darüber kein Zweifel statt finden kann. Diese Thiere haben ein sehr leises Gehör und ihr äuſseres Ohr hat ganz die Form eines Hörrohrs. Sie vernehmen ohne Zweifel den Schall aus desto gröſserer Ferne, je weiter die äuſsere Mündung und je gröſser die Höhlung dieses Organs ist. Bey der entgegengesetzten Bildung kann sich der Wirkungskreis des Ge - hörssinns nur auf Schallschwingungen der Luft, die in der Nähe erregt sind, erstrecken. Die, zum Theil mit so ungeheuern Ohren begabten Fledermäuse müssen bey ihrer Lebensweise die Insekten, die ihre Hauptnahrung ausmachen, schon aus der Ferne an deren Tönen ent - decken; ein enges äuſseres Ohr hingegen haben die Maki (Lemur) und die mehrsten zahnlosen Säugthiere, welche ebenfalls gröſstentheils von Insekten leben, diesen aber nur aus der Nähe nachgehen können.

VI. Bd. A aBey364

Bey vielen Thieren sieht man auch eine Uebereinstimmung der Stellung des äuſsern Ohrs mit ihrem Charakter und ihrer Lebens - weise. Der Hase und das Kaninchen, wehr - lose, flüchtige Geschöpfe, tragen die Oeffnungen ihrer äuſsern Ohren gewöhnlich nach hinten gerichtet; hingegen der Löwe, die Katze, die Fledermäuse und andere Raubthiere, die ver - folgend umherstreifen, halten sie meist nach vorne gekehrth)Haller Elem. Physiol. T. V. L. XV. S. 1. §. 2. p. 187.. Diese Richtung ist freylich wohl nicht bey allen Thieren Folge eines be - sondern Baus des Ohrs: denn die meisten kön - nen dasselbe auch nach jeder andern Richtung bewegeni)Cuvier Leç. d Anat. comp. T. II. p. 516.. Aber es kömmt hier nicht darauf an, wie die Haltung dieses Theils seyn kann, sondern wie sie im gewöhnlichen Zustande ist. Bey einigen Thieren, z. B. bey Vespertilio Spasma, wo die Ohren mit ihrem innern Rand unter sich zusammenhängen, hat sie allerdings auch einen anatomischen Grundk)Wie Cuvier (A. a. O. p. 517.) selber zugiebt..

Die Bestimmung des äuſsern Ohrs verräth sich ferner bey einer Vergleichung mehrerer Hausthiere mit deren ungezähmten Verwandten in Hinsicht auf diesen Theill)Haller a. a. O.. Diejenigen,deren365deren Gehör in der langen Knechtschaft, worin sie sich fortgepflanzt haben, nicht mehr geübt worden ist, z. B. die Schaafe, haben lange, schlaff herabhängende, die dem Schaaf sehr verwandten, aber freyen Arten, der Muflon und Argali, hingegen weit kürzere, zugespitzte und aufrecht stehende Ohrenm)M. vergl. z. B. die Abbildung des Argali (Ovis Ammon L.) in Pallas Spicil. Zoolog. Fasc. XI. Tab. I..

Bey dem Menschen scheinen die Muskeln des äuſsern Ohrs gar keine bewegende Kraft zu haben. Man führt zwar Beyspiele von Personen an, welche die Ohren bewegen konntenn)Haller a. a. O. §. 4. p. 190. Cooper, Philos. Transact. Y. 1800. p. 156. Der Letztere sahe die äuſsern Ohren bey einem jungen Menschen beweg - lich werden, dem das Trommelfell beyder Ohren verletzt war.. Perraulto)Oeuvres de Phys. et de Mechan. p. 258. hat aber erinnert, und seine Be - merkung scheint gegründet zu seyn, daſs in diesen Fällen die Bewegung des Ohrs nicht durch die Ohrmuskeln, sondern durch den an seinen Seitentheilen sehr fleischigen Hautmuskel des Kopfs bewirkt wurde. Meines Wissens lassen sich auch keine zuverläſsige NachrichtenvonA a 2366von ganzen, im Zustande der Wildheit lebenden Völkern mit beweglichen Ohren aufweisen*)Valsalva (Tractat. de aure C. 4. §. 3.) meinte, die Funktion der Muskeln des äuſsern Ohrs bestehe beym Menschen nicht in Zusammenziehungen, sondern in tonischen Bewegungen. Was er sich hierunter aber dachte, hat er nicht näher erklärt..

Das äuſsere Ohr hat jedoch nicht allent - halben, wo es vorhanden ist, oder wenigstens nicht in allen seinen Theilen die bloſse Be - stimmung eines Hörrohrs. Wozu die Leisten, Hervorragungen, Furchen und Höhlungen des äuſsern Ohrs beym Menschen? Nach Boer - haavep)Praelect. academ. Vol. III. p. 184. ersetzen dieselben die, den übrigen Thieren eigene Beweglichkeit dieses Organs. Er lieſs das Ohr eines scharfhörenden Mannes in Wachs abdrucken und fand, daſs, wenn er von irgend einem tönenden Punkt eine gerade Linie zu irgend einem Punkt einer der knorpe - ligen Hervorragungen dieses Ohrs zog und einen Reflektionswinkel abmaaſs, der dem Ein - fallswinkel gleich war, der reflektirte Schall - strahl endlich nach mehrern Zurückwerfungen in den äuſsern Hörgang gelangte, so daſs in diesem der gemeinschaftliche Focus aller der krummen Linien lag, welche die Windungen des äuſsern Ohrs bilden. Der Versuch wäreeiner367einer Wiederholung werth. Ich weiſs aber nicht, ob das Resultat ganz übereinstimmend mit Boerhaave’s Angabe ausfallen würde. Daſs die auf die Ohrmuschel fallenden Schallschwin - gungen in den äuſsern Gehörgang reflektirt werden, ist freylich einleuchtend. Daſs aber die, welche die kahnförmige Grube und die ungenannte Vertiefung treffen, zum innern Ohr kommen, leuchtet mir nicht ein. Verhallet etwa in diesen Vertiefungen ungehört ein Theil der zum ganzen äuſsern Ohr gelangenden Schwin - gungen, der, wenn er in den Gehörgang dränge, die Reinheit des Tons oder Lauts trü - ben würde? Auf jeden Fall ist soviel gewiſs, daſs der Mensch und mit ihm alle die Thiere, deren äuſseres Ohr dem Kopfe platt anliegt, bey einerley Bildung des innern Ohrs zwar kein so scharfes Gehör für leise und ferne Töne haben können, als diejenigen, bey welchen jenes trichterförmig hervorragend ist, daſs sie aber die verschiedenen Abstufungen und den Laut stärkerer Töne besser als die letztern müs - sen unterscheiden können, indem solche Töne auf das innere Ohr der letztern eben so wirken müssen, wie ein blendendes Licht auf das Auge bey offener Pupille. Auch ist klar, daſs die erstern Thiere weit fähiger seyn müssen, die Richtung des Schalls gleich beym ersten Ein - druck zu unterscheiden, als diejenigen der letz -A a 3tern,368tern, deren äuſseres Ohr nicht sehr beweg - lich ist.

§. 2. Der äuſsere Hörgang, das Trommelfell und die Gehör - knöchelchen.

Der von der Muschel des äuſsern Ohrs zu - rückgeworfene Schall gelangt durch den äuſsern Gehörgang zum Trommelfell. Wenn man nach dem urtheilen darf, was mit dem Schall in Hörröhren geschieht, so läſst sich annehmen, daſs nur die Weite, nicht aber die Länge und Krümmung dieses Gangs auf das Gehör Einfluſs haben kann. Was sich über jenen Punkt nach den bisherigen Beobachtungen sagen läſst, ist aber zu wenig, um etwas Sicheres daraus zu schlieſsen*)Comfaretti (De aure int. compar. p. 142. 143. ), der Einzige, der die Weite des Gehörgangs bey seinen Ausmessungen berücksichtigt hat, bemerkt blos, daſs dieser Gang bey mehr Kürze eine gröſsere Weite bey dem Hunde, der Katze und Maus, als beym Kalbe, Pferde und Schaaf, und eine noch gröſsere als beym Hasen und Kaninchen hat. Cuvier (A. a. O. p. 513.) hat über die beyden minder wichtigen Punkte, über die Länge und Krümmung des Gehörgangs, mehrere Beobachtungen gesammelt, die Weite dessel - ben aber ganz übergangen.. Das Mehr oder Weniger jener Weite kann auch nicht für sich, sondern nurin369in Beziehung auf die Ausdehnung des Trommel - fells von Wichtigkeit seyn, dessen Funktion also zuvörderst zu untersuchen ist.

Welchen Zweck hat das Trommelfell? Die Antwort bey der bisherigen Theorie des Hörens war: die Schallschwingungen aus dem Gehör - gange aufzufangen. Aber wozu dieses Auffan - gen? Um, sagt man, nach dem verschiedenen Grade der Spannung desselben die deutliche Wahrnehmung des Unterschieds der Töne mög - lich zu machen. Allein eben dies hätte sich durch stärkere und schwächere Spannung der Häute beyder Fenster des Vorhofs möglich ma - chen lassen. Hier ist offenbar eine Lücke in der bisherigen Erklärung des Wirkens der in - nern Gehörwerkzeuge, zu deren Ausfüllung es nöthig seyn wird, diese Theorie näher zu prüfen.

Von dem Trommelfell kann die Fortpflan - zung der Schallschwingungeni zum Labyrinth entweder blos durch die Kette der Gehörknö - chelchen, oder durch die Luft der Trommel - höhle, oder durch beyde zugleich geschehen. Daſs sie allein durch die Gehörknöchelchen, ver - mittelt wird, läſst sich auf keinen Fall anneh - men: denn wozu wäre das, mit dem Trommel - fell in keiner Verbindung stehende runde Fen - ster gemacht, als um von den SchwingungenA a 4der370der Luft in der Trommelhöhle gerührt zu werden? Und wie wäre dann möglich gewesen, was doch nach vielen Erfahrungen oft der Fall war, daſs nach aufgehobener Verbindung der Gehörknöchelchen, oder selbst nach gänzlichem Verlust des Hammers und Ambosses, das Gehör doch noch fortdauerte?q)Riolani Enchirid. anat. L. IV. C. 4. Valsalvae tract. de aure. C. V. §. 5. (Opp. p. 64.). Calda[d]i in Epistol. ad Hallerum script. Vol. VI. p. 142. 145. Torraca, Giorn. di Medic. p. 321.. Die Gehörknöchel - chen können höchstens nur mitwirkend bey jener Fortpflanzung seyn. So wurden sie von Coiterr)De auditus instrum. C. 9. und nach ihm von vielen andern Physiologen betrachtet. Allein es gilt gegen diese Ansicht mit vollem Recht, was schon zum Theil Fabricius ab Aquapendentes)De aure. P. III. C. 5. erin - nerte, daſs alle hörbare Schwingungen leichter durch die Schädelknochen, als durch die Kette der Gehörknöchelchen, dem Labyrinth mitge - theilt werden müſsten, wenn sie ohne Vermitt - lung der Luft der Trommelhöhle zu diesem gelangen könnten, weil mehrere feste Körper, die durch weiche Substanzen mit einander ver - bunden sind, den Schall bey weitem nicht so gut leiten, als er durch einen einzigen, nicht unterbrochenen Körper geleitet wird. Selbstbey371bey denjenigen Fischen, mit deren Labyrinth die Schwimmblase durch Gehörknöchelchen in Verbindung steht, hängt diese eben so wohl mit der Wirbelsäule, als mit den Gehörknöchelchen zusammen, und der Schall wird gewiſs leichter durch die erstere, als durch die letztern fort - gepflanzt. Die Schwierigkeiten jener Meinung sind auch nicht gehoben, wenn man mit Val - salvat)A. a. O. C. V. §. 2. Morgagni Epist. anat. XIII. §. 8. annimmt, daſs die Gehörknöchelchen bey der Leitung der Schalleindrücke als eine Verbindung von Hebeln wirken, in welcher durch die leiseste Bewegung des einen zugleich die übrigen bewegt werden. Eine solche me - chanische Bewegung ist sehr verschieden von den Schwingungen, welche den Schall aus - machen. Für diese kann eine Kette von Hebeln kein besserer Leiter als jede andere Kette seyn. Wenn es zuverläſsig ist, was Homeu)Philos. Transact. Y. 1820. p. 150. gefunden zu haben versichert, daſs beym Dugong der Steigbügel mit dem eyförmigen Loch des Vor - hofs nicht in Verbindung steht, so wird sich auch hiervon ein Grund gegen die obige Mei - nung hernehmen lassen. Mir kömmt jedoch diese, an einem trocknen Schädel gemachte Be - obachtung sehr verdächtig vor. Uebereinstim -mendA a 5372mend mit meinen Untersuchungen und ein eben so wichtiger Grund gegen jene Meinung ist aber P. F. Meckel’sv)De labyrinthi auris contentis. p. 20. Bemerkung, daſs beym Ha - sen die sehr kleinen Gehörknöchelchen in einer häutigen Blase eingeschlossen und darin von einer röthlichen, gelatinösen Flüssigkeit umge - ben sind. Man kann eine Fortpflanzung der Schwingungen des Trommelfells durch diese Flüssigkeit, aber nicht durch die Gehörknöchel - chen, bey einer solchen Umgebung derselben, annehmen.

Eine Funktion bey der Fortpflanzung des Schalls zum Labyrinth kann also den Gehör - knöchelchen nicht zukommen, wenigstens nicht bey den Thieren, die ein Trommelfell haben. Hingegen daſs sie als Spannungsapparat des Trommelfells dienen, ist so klar, daſs es kei - nes ausführlichen Beweises dafür bedarf. Doch eben so klar ist auch, daſs dieser Zweck durch den Hammer allein zu erreichen gewesen seyn würde, und daſs gleichzeitig mit jener Span - nung eine Wirkung auf die Haut des ovalen Fensters eintreten muſsw)M. vergl. Morgagni. A. a. O. §. 10.. Aber worin besteht diese Wirkung? Ist sie, wie Duverneyx)Tract. de organo auditus. (L. B. 1730.) p. 25. und Morgagniy)A. a. O. meinten, eine bloſse Span -nung,373nung, so läſst sich fragen: Wozu es denn noch der Spannung einer zweyten Haut, des Trom - melfells, bedarf, und wozu denn überhaupt das Trommelfell vorhanden ist?

Die Lösung dieses Problems hängt mit einer andern Frage zusammen, die ich bey keinem Schriftsteller auſser Cotunniz)De aquaeduet, auris human. p. 168. beachtet finde. Die Luft der Trommelhöhle und das Wasser des Labyrinths können nicht dem Gesetze ent - zogen seyn, unter welchem alle übrige feste und flüssige Körper bey ihren Vibrationen ste - hen, daſs die Schwingungen nach aufhörender Einwirkung der ersten Ursache, wodurch sie erregt wurden, noch eine Zeitlang fortdauern, wenn sie nicht durch eine gegenwirkende Ur - sache gehemmt werden. Demohngeachtet findet im gesunden Zustande kein Nachklingen statt. Welche Kraft wirkt im Ohre diesem entgegen? Cotunni glaubte, die Weichheit der Hörner - ven und die Flüssigkeit, wovon sie umgeben sind, verhindere dasselbe. Aber eben diese Flüssigkeit pflanzt ja die Schallschwingungen zu den Hörnerven fort und die Erzitterungen des Labyrinthwassers sind doch gewiſs ohne eine Gegenwirkung eben so wenig momentan, als die jedes andern Wassers. Ich sehe nicht, worin eine solche Wirkung anders zu suchenist,374ist, als in einem, durch die Anziehung des Steigbügels vermittelten Druck der Haut des eyförmigen Fensters gegen jenes Wasser, und ich glaube, daſs aus dieser Voraussetzung meh - rere Umstände in der Organisation des innern Hörwerkzeugs erklärbar sind, wovon sonst schwerlich eine Erklärung möglich ist, wie sich bey der weitern Betrachtung der einzelnen Theile dieses Organs zeigen wird.

In Betreff des Trommelfells ist vorläufig zu bemerken, daſs dieses nur Bedingung zum feinern Gehör, nicht zum Gehör im Allgemei - nen ist. Zahlreiche Erfahrungen kommen darin überein, daſs Verletzungen dieser Haut bald wieder heilen, daſs aber oft das Gehör unmit - telbar nach der Verwundung, wenn noch keine Heilung eingetreten seyn konnte, und selbst wenn die Verletzung sehr bedeutend und blei - bend war, fortdauerte. Wo das Gegentheil statt fand, lag wahrscheinlich die Ursache der Taub - heit nicht so sehr an der Verletzung des Trom - melfells, als an andern, bey oder nach dersel - ben eingetretenen Veränderungen der Organisa - tion des innern Ohrs, z. B. Blutergieſsungen in der Trommelhöhle, Zerreiſsung der Haut des ovalen Fensters u. d. gl .a)Die ältern, hierher gehörigen Erfahrungen vonWil -.

Das375

Das Trommelfell würde vielmehr ein zweck - loses Hinderniſs beym Hören, als ein Beförde - rungsmittel desselben seyn, wenn es nicht die Bestimmung hätte, das Hören einzelner Töne vor andern dadurch möglich zu machen, daſs es durch den Hammer, und, wenn die Fasern, die bey mehrern Thieren in jener Haut von dem Befestigungspunkt des Handgriffs dieses Knöchelchens strahlenförmig ausgehen, in der That Muskelfasern sinda *)Home, Philos. Transact. Y. 1800. p. 2., auch durch diese angespannt wird. Ein gewisser Grad von An - spannung muſs bey jedem Hören statt finden, weil keine Vibration des Trommelfells und der Luft der Trommelhöhle eintreten kann, ohne daſs zugleich die Saite des Tympanum gerührt wird, mit welcher der Nerve, durch welchen die Spannung geschieht, in unmittelbarem Zu - sammenhange steht. Diese Saite geht auch nur bey den Säugthieren und Vögeln, also blos bey denjenigen Thieren, die einen vollständigen Apparat zum Spannen des Trommelfells haben, durch die Mitte der Trommelhöhle. Die Span - nung ist ganz automatisch. Sie wird verstärktdurcha)Willis, Schellhammer, Schneider, Plemp und Valsalva hat Morgaoni (A. a. O. §. 11. 12. ) ge - sammelt. Uebereinstimmend mit diesen sind im Wesentlichen neuere Beobachtungen von A. Cooper. (Philos. Transact. Y. 1800. p. 151. Y. 1801. p. 435.).376durch das Horchen auf gewisse Töne. Doch auch in diesem Fall ist sie nicht unmittelbare Wirkung der Willkühr, sondern des Affekts der Aufmerksamkeit. Sie geschieht, indem die Mitte des Trommelfells durch den mit ihr verbundenen Handgriff des Hammers nach innen gezogen wird. Für die bewegende Kraft bey dieser Anziehung hat man, und ohne Zweifel mit Recht, die Zusammenziehung des innern Hammermuskels (Tensor tympani) angenom - men. Weniger richtig scheint es mir, die bey - den übrigen, Muskeln ähnlichen Anhänge des Hammers für Erschlaffer des Trommelfells zu halten. Ich sehe nicht, wozu es hier eigener Erschlaffer bedarf, da schon auf das Nachlassen der Zusammenziehung des innern Hammermus - kels eine Erschlaffung dieser Membran folgen muſs. Es ist auch nicht bewiesen, daſs die sogenannten Erschlaffer wirkliche Muskeln sind. Valsalva, Morgagni, Cassebohm, P. F. Meckel und Haller konnten keine Muskel - fasern darin entdecken, und der kleinere dersel - ben ist vielleicht nicht einmal bey allen Men - schen vorhandenb)Haller Elem. Physiol. T. V. L. XV. S. 1. §. 21. p. 218 sq.. Mir scheinen diese Theile blos zur Befestigung des Hammers bey der Drehung zu dienen, die von dem Spanner des Trommelfells an ihm hervorgebracht wird. Ohne377Ohne sie würde er von dem letztern herabge - zogen, nicht aber gedrehet werden, und die Folge würde eine ungleichförmige Spannung des Trommelfells seyn. Sie wirken ohne allen Zweifel auf diese Weise bey den Vögeln, wo sie offenbar bloſse Ligamente sind.

Es giebt mehrere Verschiedenheiten im Bau dieser Membran und in ihrem Verhältniſs zu den übrigen Hörwerkzeugen bey den verschie - denen Thierarten, die ohne Zweifel mit der Verschiedenheit des Hörsinns in Beziehung ste - hen. Sie ist bey dem Menschen und den mei - sten Säugthieren nach auſsen concav, bey dem Pferde, dem Maulwurf, den Schildkröten und Fröschen flach, bey den Vögeln und den Eidech - sen nach auſsen convex, doch weniger bey den Raub - und Sumpfvögeln, als bey den Hühnern und Sperlingenc)Scarpa de structura fenestrae auris. p. 110. Com - paretti de aure interna comp. p. 161. Home a. a. O. p. 6.. Die Gestalt ihrer Ober - fläche scheint also von der Länge oder Kürze des äuſsern Gehörgangs und von dem Element, durch welches der Schall zu ihr fortgepflanzt wird, abzuhängen.

Eine andere Verschiedenheit des Trommel - fells besteht in der mehr kreisförmigen odermehr378mehr ovalen Gestalt desselben und darin, daſs bey einigen Thieren die äuſserste Hervorragung dieser Haut, mit welcher der Handgriff des Hammers verbunden ist, ihrem Mittelpunkt mehr oder weniger nahe liegt. Kreisförmig, oder wenigstens der Form des Kreises sehr nahe kommend, ist ihre Gestalt bey dem Men - schen, dem Ameisenbär, dem Maulwurf, der Gavia Cobaya und Paca, und dem Schwein; oval oder elliptisch bey dem Hunde, der Katze, dem Igel, der Maus, dem Kaninchen, den Wiederkäuern, dem Elephanten, den Vögeln und Eidechsend)Comparetti a. a. O. p. 161. 205. Cuvier Leç. d Anat. comp. T. II. p. 497. 498. Home a. a. O. p. 4. 6. Autenrieth u. Kerner in Reil’s u. Autenrilth’s Archiv f, d. Physiol. B. IX. S. 357 fg.. Nach Autenrieth’s und Kerner’s Meinunge)A. a. O. S. 334 fg. hängt von dieser Gestalt das Vermögen der Wahrnehmung hoher und tiefer Töne ab. Sie setzen voraus, daſs die Theile des Trommelfells, die zwischen dessen Peripherie und den Seitenrändern des Handgriffs vom Hammer liegen, eine Reihe von Saiten vorstellen, welche bey Trommelfellen von ver - schiedener Gestalt eine verschiedene Länge ha - ben und nach der Verschiedenheit ihrer Länge eine höhere oder niedere Octave eines und desselben Tons durch ihre Schwingungen er -zeugen.379zeugen. Je kreisförmiger das Trommelfell eines Thiers ist, ein desto gröſserer Theil desselben wird nach dieser Ansicht durch seine Schwin - gungen tiefen Tönen entsprechen; je elliptischer es ist, desto mehr wird es in Einklang mit höhern Tönen stehen. Mit dieser Meinung finden jene Schriftsteller auch ihre, im ersten Kapitel des gegenwärtigen Abschnitts erwähn - ten Versuche über die Empfänglichkeit des Ge - hörs mehrerer Thiere für hohe und tiefe Töne übereinstimmend. Gegen die Voraussetzung, daſs es verstattet sey, die Radii des Trommel - fells als eben so viele gespannte Saiten anzu - sehen, läſst sich indeſs schon Manches erinnern. Cooperf)Philos. Transact. Y. 1800. p. 154. 155. erzählt ein Beyspiel von einem jungen Manne, dem das Trommelfell beyder Ohren durch Eiterung sehr verletzt war, und welcher zwar nicht in solcher Ferne wie Per - sonen mit gesundem Ohr hörte, aber dennoch sehr gut die Flöte blies und sogar in Concerten mitspielte. Nach diesem Fall ist also das Trommelfell nur Bedingung des Vermögens, ferne Töne zu vernehmen, nicht aber der Em - pfänglichkeit für hohe und niedere Töne. Wenn man aber auch jene Annahme gelten läſst, so ist doch bey der obigen Folgerung auſser Acht gelassen, daſs der Hammer nicht bey allenThie -VI. Bd. B b380Thieren auf einerley Art mit dem Trommelfell verbunden ist. Das letztere kann kreisförmig seyn, und doch können viele der, zwischen der Peripherie desselben und dem Handgriff des Hammers liegenden Theile weniger Länge als bey einem elliptischen Trommelfell von glei - chem Flächeninhalt haben, wenn der Handgriff eine mehr excentrische Befestigung an dem kreisförmigen als an dem elliptischen Trommel - fell hat. Bey vielen Vögeln liegt das äuſsere Ende der Columella auſserhalb dem Mittelpunkt des Trommelfellsg)Comparetti a. a. O. p. 161., und jene hat hier drey knorpelartige, mit dem letztern verwachsene Fortsätze. Diese und ähnliche Bildungen müs - sen Verschiedenheiten in der Spannung der Theile des Trommelfells verursachen, die nicht von der Form des Umfangs desselben allein ab - hängen und schwer zu bestimmen sind. Daſs übrigens Kerner’s Versuche an Thieren wenig entscheidend sind, ist schon oben (S. 333.) be - merkt worden.

Verschieden ist endlich bey den verschiede - nen Thieren die Neigung der Ebene, worin sich der Umfang des Trommelfells befindet, gegen den Horizont. Cuvierh)A. a. O. p. 496. nimmt als Gesetz an, daſs ein Thier desto schärfer hört,je381je gröſser diese Neigung und je ausgedehnter die Fläche des Trommelfells ist. So allgemein ausgedrückt läſst sich aber dieser Satz nicht vertheidigen. Der Neigungswinkel jener Ebene steht mit der Lebensweise jedes Thiers in Be - ziehung. Bey Thieren, die vorzüglich auf Töne zu horchen haben, welche von unten kommen, oder sich längs dem Erdboden fortpflanzen, liegt das Trommelfell mehr horizontal als bey andern; ihr Gehör ist aber darum nicht immer feiner als bey den letztern. Durch ein gröſseres Trommelfell kann die Schärfe des Gehörs nur insoweit bedingt seyn, als damit ein weiterer äuſserer Gehörgang verbunden ist. Mehr Ein - fluſs auf das Gehör hat die Neigung der Ebene des Trommelfells gegen die Axe des äuſsern Gehörgangs. Bey einerley Weite des letztern und einerley Gröſse jener Haut wird der näm - liche Schall einen desto stärkern Eindruck ma - chen, je mehr sich der Einfallswinkel der Schallschwingungen auf das Trommelfell dem rechten Winkel nähert. Die Natur hat jedoch Einrichtungen getroffen, vermöge welcher da, wo jener Winkel sehr spitz seyn muſste, der Eindruck des Schalls erhöht wird. Beym Maul - wurf z. B., dessen Trommelfell sehr schief gegen die Axe des äuſsern Gehörgangs liegt, erweitert sich dieser Gang nach innen zu einer knöchernen Blase, wodurch die Schallschwin -B b 2gun -382gungen auf das Trommelfell zurückgeworfen werden.

§. 3. Die Trommelhöhle und die Eustachische Röhre.

Die von einem Schall erregten zitternden Bewegungen theilen sich der Luft der Trom - melhöhle mit, und, unsern obigen Bemerkungen zufolge, ist es blos diese Luft, nicht aber die Kette der Gehörknöchelchen, wodurch der Schall auf das Labyrinth wirkt. Damit diese Wir - kung ungeschwächt bleibe, oder auch verstärkt werde, ist die Trommelhöhle mit Nebenhöhlen, mitklingenden knöchernen Platten und Säulen, reflektirenden Cavitäten und einem Ableitungs - canal der in ihr befindlichen Luft versehen.

Beym Menschen sind die einzigen Neben - höhlen, womit die Trommelhöhle in unmittel - barer Verbindung steht, die Zellen des zitzen - förmigen Fortsatzes. Hingegen bey vielen an - dern Säugthieren, z. B. den Nagethieren, dem Maulwurf, dem Elephanteni)Home a. a. O. p. 19. und Hippopota - musi *)Cuvier a. a. O. p. 488., sind die Wände der Trommelhöhle an mehrern Stellen durchbrochen, und die Durch - brechungen führen zu einer Menge kleiner Zellen und Sinus. Am Maulwurf habe ichbeob -383beobachtet, daſs der Hammer und Amboſs aus einer sehr dünnen Knochenplatte bestehen, die eine nach auſsen offene Höhlung einschlieſsen. Die gröſsten Nebenhöhlen der Trommelhöhle besitzen unter allen Thieren die Vögel, beson - ders die Raubvögel, und unter diesen die Eulen. Nur ein kleiner Theil des hinter dem Trom - melfell liegenden Raums führt hier zum Laby - rinth. Der Zugang zu dem letztern besteht in einem knöchernen Tubus, Antivestibulum von Galvanik)Commentar. instituti Bonon. T. VI. p. 421. genannt, in dessen Grund das runde und das eyförmige Fenster liegt. Neben der Mündung dieses Tubus (Porta antivestibuli Galvan. ) giebt es eine eben so groſse obere und eine noch weit gröſsere untere Oeffnung der Trommelhöhle, welche zu den vielen, in der obern, hintern und untern Wand des Schä - dels enthaltenen Zellen führen. Ein ähnliches Antivestibulum ist auch den Schildkröten eigen. Bey diesen öffnet sich aber die Trommelhöhle nur in eine einzige Nebenhöhle.

Wer die Gestalt betrachtet, welche die Trommelhöhle der mit jenen Zellen und Sinus versehenen Thiere hat, wird sich überzeugen, daſs bey manchen der letztern alle von dem Trommelfell ausgehenden Schallschwingungen,dieB b 3384die nicht das runde Fenster treffen, und welche zurückgeworfen einen Wiederhall verursachen würden, in jenen Höhlungen sich ungehört verlieren müssen. Diese Verhütung eines Wie - derhalls ist wohl einziger Zweck der Zellen des zitzenförmigen Fortsatzes beym Menschen, wo sie entfernt vom Labyrinth liegen und ihre Wände mit diesem in keiner nähern Verbin - dung stehen. Hingegen bey den Vögeln nehmen die Nebenhöhlen der Trommelhöhle eine so groſse Menge Schallschwingungen auf, ihre Aus - dehnung ist so beträchtlich und es liegen zwi - schen ihnen so viele und so elastische, sich bis zum Labyrinth erstreckende Platten und Säulen, daſs hier noch ein anderer Zweck statt finden muſs, der kein anderer seyn kann, als den Schall durch Resonanz zu verstärken. Eben diese Bestimmung scheinen auch die offenen Höhlungen des Hammers und Amboſses beym Maulwurfe zu haben.

Hiervon verschieden ist die Funktion einer halbkugelförmigen Erweiterung, welche die Trommelhöhle bey den meisten Säugthieren mit Ausnahme des Menschen und der Affen, und bey mehrern Schildkröten, z. B. bey Testudo clausa Gmel., bildet. Untersucht man diese knöcherne Blase z. B. beym Hasen, so findet man sie inwendig regelmäſsig gekrümmt, glattund385und in einer solchen Stellung, daſs alle durch den Gehörgang zum Trommelfell gelangende Schallschwingungen von ihr aufgenommen und gegen das Labyrinth zurückgeworfen werden müssen. Der knöcherne Gehörgang ragt zu dem Ende ziemlich weit in ihr hinab. Neben dem Labyrinth liegen auch noch mehrere groſse Zellen, welche diejenigen Schallschwingungen, die nicht zum häutigen Labyrinth dringen kön - nen, aufnehmen und verschlucken. Bey meh - rern Raubthieren, Wiederkäuern und noch eini - gen andern Säugthieren ist die Höhlung der Blase inwendig nicht glatt, sondern durch dünne knöcherne Scheidewände in Fächer abgetheilt, und zwar so, daſs diese Fächer insgesammt mit ihren Oeffnungen sowohl gegen das Trommelfell, als gegen das Labyrinth gerichtet sind. Hier geschieht nicht nur eine Zurückwerfung des Schalls, sondern auch ein Mitklingen der Schei - dewände. Alle diese Verstärkungsmittel des Schalls müssen jedoch die Stärke desselben auf Kosten seiner Deutlichkeit, besonders der Un - terscheidbarkeit des Lauts, erhöhen. Keines der Thiere, die wir näher kennen, kömmt daher dem Menschen im Unterscheidungsvermögen des Lauts gleich, wenn sie ihn auch in anderer Rücksicht an Schärfe des Gehörs übertreffen. Hunde auf dem Lande beantworten oft in stil - len Nächten das Bellen anderer Hunde in Ent -B b 4fer -386fernungen, wobey dasselbe für unser Ohr kaum vernehmlich ist. Aber eben diese Thiere er - kennen nicht immer ihren Herrn in der Dun - kelheit, solange sie blos seine Stimme hören und der Geruch ihnen nicht zu Hülfe kömmt.

Auf noch andere Art wirkt zum Behuf des Gehörs die Eustachische Röhre. Der Zweck dieses Canals kann kein anderer seyn, als die Luft der Trommelhöhle mit der äuſsern At - mosphäre in Verbindung zu setzen, und diese Verbindung auf eine solche Weise zu bewerk - stelligen, daſs nur eine Luft, welche die Tem - peratur des Körpers angenommen hat, in die Trommelhöhle dringen kann. Ohne einen sol - chen Zugang würde die Luft der letztern sehr bald in eine Mischung von Stickgas und koh - lensaurem Gas ausarten, Gasarten, wodurch der Schall gedämpft wird*)Chladni und Jacquin fanden den Schall in Stick - gas um einen halben Ton, in kohlensaurem Gas um eine groſse Terze tiefer als in der atmosphärischen Luft. (Chladni’s Akustik. S. 226. der 1ten Ausg.). Perolle’s Versuche beweisen, daſs der Schall in kohlensaurem Gas etwas tiefer und dumpfer und nicht so weit hörbar als in gemeiner Luft ist. (Mém. de l Acad. de Turin. A. 1786 87.). Priest - iey (Vers. u. Beobacht. über versch. Theile derNa -. Bey den warmblüti -gen387gen Thieren würde diese Luft auch von der Wärme des Körpers ausgedehnt werden und einen dem Hören sehr nachtheiligen Druck auf das Trommelfell sowohl, als auf die Haut des runden und eyförmigen Fensters verursachen, wenn es nicht für sie einen ableitenden Canal gäbe. Es läſst sich hieraus erklären, wie Ver - stopfung der Eustachischen Röhren Harthörig - keit verursachen muſs. Oft ist selbst völlige Taubheit damit verbunden. Diese rührt dann aber wohl nicht unmittelbar von der Verstopfung her. In allen Fällen, wo mehr als Harthörig - keit dabey statt fand, waren Polypen, Ge - schwulste des Gaumens, Entzündungen der Mandeln und ähnliche Uebel zugegen, von de - nen sich voraussetzen läſst, daſs sie noch andere krankhafte Veränderungen als blos jene Ver - stopfung nach sich gezogen haben. Saundersl)Anatomy of the human Ear. Horn’s, Nasse’s u. Henke’s Archiv für medic. Erfahrung. B. 1. S. 433. glaubt, und wohl mit Recht, die nach der Ver - schlieſsung der Eustachischen Röhre in der Trommelhöhle eingeschlossene Luft werde ein -geso -*)Naturl. B. 3.) giebt zwar den Klang in kohlensaurem Gas für lauter als in der atmosphärischen Luft an. Seine Beobachtung verdient aber nicht das Zutrauen als die Resultate jener neuern, sorgfältiger angestell - ten Versuche.B b 5388gesogen und durch Schleim ersetzt. Eine solche Schleimanhäufung fand er in zwey Leichen, in welchen diese Röhren verstopft waren.

Die letztere der beyden obigen Bestimmun - gen schrieb schon Boerhaavem)Praelect. acad. Vol. III. p. 215. der Eusta - chischen Röhre zu. Er verband aber mit die - ser Meinung noch eine zweyte, die, obgleich auch von manchen spätern Schriftstellern wie - derholt, sich doch keineswegs vertheidigen läſst, indem er annahm, durch die Eustachische Röhre würden auch die Schallschwingungen, die in die Mundhöhle gelangen, zum innern Ohr ge - leitet. Die einfache Thatsache, daſs man bey vollig verstopften Ohren das Schlagen einer Taschenuhr nicht hört, die man in den offenen Mund hält, ohne die Zähne damit zu berühren, würde allein schon das Gegentheil beweisen, wenn auch nicht der ganze Bau der Eustachi - schen Röhre, besonders der Umstand, daſs ihre Mündung nicht nach der Mundhöhle hin ge - richtet ist, ihr geringer Durchmesser und der schleimige Ueberzug ihrer innern Fläche, jener Meinung widersprächenn)Köllner in Reil’s Archiv. f. d. Physiol. B. 2. S. 18.. Man hat sich auf die Thatsache berufen, daſs Kinder, Ungebildete und Harthörige beym aufmerksamen Hören denMund389Mund offen halteno)Haller Elem. Phys. T. V. L. XV. S. III. §. 5. p. 285.. Allein es giebt andere Ursachen dieser automatischen Bewegung als das Zulassen von Schallschwingungen zu den Eustachischen Röhren. Durch das Offenhalten des Mundes wird die Concha des äuſsern Ohrs weiter aus einander gezogen und in den Stand gesetzt, mehr Schallschwingungen aufzuneh - menp)Saissy, Diction, des sciences médic. T. 38.. Zugleich wird die Schärfe des Gehörs durch die Erschlaffung der Gesichtsmuskeln be - fördert, wie daraus erhellet, daſs man bey hef - tigem Zusammenziehen der Augenlieder ein Trommeln und bey festem Zusammendrücken der Zähne ein Sausen hört.

Die eben erwähnten Gründe streiten auch gegen die von Bressa vorgetragene Modifika - tion der Meinung Boerhaave’s, nach welcher das Hören durch die Eustachischen Rohren auf die eigene Stimme beschränkt seyn sollq)Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. 8. S. 67.. Man hört freylich seine eigene Stimme noch, wenn beyde Ohren verstopft sind; aber die Fortpflan - zung des Schalls geschieht in diesem Falle blos durch die festen Theile des Körpers, denen sich die zitternden Bewegungen des Kehlkopfs beym Sprechen mittheilen. Wäre hierbey dieLuft390Luft der Eustachischen Röhren das leitende Medium, so würde auch bey dem erwähnten Versuch mit einer Taschenuhr das Schlagen derselben noch einigen Eindruck auf die Hör - nerven machen müssen. Unter den Thatsachen, die Bressa für seine Meinung angeführt hat, sind übrigens keine, die nicht eine andere Er - klärung, als die von ihm gegebene, zulassen.

Giebt es noch eine sonstige Verrichtung der Eustachischen Röhre auſser den beyden obigen, so wird diese nur in der Ableitung der von einem sehr heftigen Schall erschütterten Luft der Trommelhöhle bestehen könnenr)Haller a. a. O. p. 287.. Für die Annahme einer solchen Ableitung scheint der Kitzel im Schlunde zu sprechen, den der nahe Knall abgebrannter Feuergewehre bey manchen Menschen im Schlunde hervorbringts)Köllner a. a. O. S. 24 u. B. 4. S. 115.. Doch läſst sich diese Thatsache auch eben so befrie - digend aus dem unmittelbaren Eindruck eines solchen Schalls auf die Saite des Trommelfells und aus deren Verbindung mit den Schlund - muskeln erklären. Jene Verrichtung wird, wenn sie statt findet, immer nur für eine unterge - ordnete gelten können.

Ehe wir die Trommelhöhle verlassen, ver - dienen noch die in ihr befindlichen Nerven eineBe -391Betrachtung. Zu diesen gehört zuerst die ge - dachte Saite des Trommelfells nebst den Ner - ven der Muskeln des innern Ohrs. Jene ent - springt mit den letztern aus dem Antlitznerven, und alle diese Nerven haben in der Trommel - höhle eine solche Lage, daſs jede schwingende Bewegung des Trommelfells und der Luft der Trommelhöhle mit auf sie wirken muſs. Der Nervenstamm, woraus sie ihren Ursprung ha - ben, steht unmittelbar oder durch die zwischen ihm und den Nerven des fünften und zehnten Paars statt findenden Anastomosen mit der gan - zen Oberfläche des Gesichts, mit den Zähnen und mit den Respirationsorganen in Verbindung. Er vereinigt sich auch mit dem groſsen sym - pathischen Nerven, und die Saite des Trommel - fells geht, nachdem sie die Trommelhöhle ver - lassen hat, in den Zungenast des Trigeminus über. Auſser dieser Saite und den Nerven der Muskeln des innern Ohrs läuft auch noch frey durch die Trommelhöhle ein Nerve, der eine Verbindung zwischen dem Oberkinnladenast des Trigeminus, dem Zungenschlundnerven und dem sympathischen Nerven ausmachtt)L. Jacobson, Act. societ. reg. Hafniens. Vol. V. p. 292..

Hieraus erklären sich einige Thatsachen, die sich zum Theil nicht befriedigend aus andernUrsa -392Ursachen ableiten lassen. Köllneru)A. a. O. B. 2. S. 22. erzählt von einem Schwerhörenden, daſs derselbe deut - licher hörte, wenn man zu ihm gegen den Mund, und, bey Zunahme seines Uebels, gegen die auf einander gesetzten, entblöſsten Zähne re - dete. Jener hält für den Grund dieser Er - leichterung des Hörens die Fortpflanzung der Schallschwingungen durch die Zähne und von diesen weiter durch die Nerven des fünften Paars und den Antlitznerven zum Gehörner - ven, welche beyde letztern, wie er glaubt, mit einander verbunden sindv)Köllner ebendas. S. 21 u. B. 4. S. 107.. Allein eine solche Verbindung hat das Zeugniſs aller Ana - tomen gegen sich. Es lieſse sich in jenem Falle eine Fortpflanzung des Schalls durch die Kopf - knochen zum Hörnerven vermuthen. Aber in andern Fällen war es der Scheitelw)Cotunni de aquaeduct. auris hum. p. 53. P. Da Castro u. C. Schott angeführt in Lentin’s Beytr. zur ausübenden Arzneywissensch. B. 2. S. 116., die hin - tere Seite des Kopfsx)Panarolus bey Lentin a. a. O., oder eine der beyden Wangeny)Stahl ebendas. S. 117., gegen welche geredet werden muſste, um sich Tauben verständlich zu machen. J. Swanz)Medico-chirurgical Transact. Vol. IX. p. 422. fand, daſs bey regelmäſsiger Fort -pflan -393pflanzung des Schalls durch den äuſsern Gehör - gang und regelmäſsigem Bau des Schädels, des Antlitzes u. s. w. der Schall einer Uhr nach Verstopfung der Ohren bey einigen Menschen nur von gewissen Stellen des Kopfs, bey andern von keiner aus vernommen wurde. Ein Taub - stummer hörte den Schlag einer Uhr, wenn diese die linke Seite seines Gesichts berührte, nicht aber, wenn man sie an die rechte Seite hielt. Ein Mann, der auf dem linken Ohre taub geworden war, hörte bey verstopftem rechten Ohr deutlich den Schlag bey Anlegung der Uhr an die rechte Wange; hingegen hörte er ihn kaum, wenn die linke Wange damit be - rührt wurde. Swan bemerkt mit Recht, daſs, wäre hier der Schall blos mechanisch durch das Fleisch und die Knochen zum Ohr geleitet, die Verschiedenheit in der Leitung nicht so groſs hätte seyn können, wie sie bey diesen Erfah - rungen war. Er nimmt aber, um die Ver - schiedenheit zu erklären, mit Unrecht zu der Annahme einer Verbindung des Antlitznerven mit dem Hörnerven seine Zuflucht. Die Lei - tung geschieht ohne Widerrede durch Nerven - verbindungen zum Antlitznerven. Es ist aber hinreichend, vorauszusetzen, daſs die von dem Schall bewirkte Reitzung des letztern sich auf die Nerven der Muskeln des innern Ohrs fort - pflanzt, und daſs diese Muskeln, hierdurch auf -geregt,394geregt, eine stärkere Spannung des Trommel - fells und der Haut des eyförmigen Fensters hervorbringen.

In dem Uebergang der Saite des Trommel - fells zu den Zungennerven vom fünften Paar und der weitern Verbindung des Antlitznerven mit dem Zungenschlundnerven, dem Stimm - nerven und dem sympathischen Nerven liegt vielleicht mit ein Grund sowohl der genauen Verbindung zwischen dem Gehör und der Stim - me, als des unmittelbaren Einflusses mancher Töne auf das ganze Nervensystem. Findet dieser Grund wirklich statt, so wird die Reak - tion der Stimmwerkzeuge und des Nervensy - stems gegen Eindrücke des Gehörs zum Theil ohne Vermittlung des Gehirns auf eine blos automatische Art geschehen können, und es werden sich hieraus die von mehrern zuver - lässigen Aerzten beobachteten Fälle von Wurm - kranken erklären lassen, die bey jeder Musik Bangigkeit, Angst und Zittern bekamena)J. P. Frank de curandis homin. morbis. L. VI. P. 2. p. 242.. Auf jeden Fall wird man annehmen dürfen, daſs durch die Saite des Trommelfells jeder Schall unmittelbar auf die Muskeln der Gehörknöchel - chen wirkt und daſs die Spannung, welche diese beym Hören erleiden, zwar durch Rück -wir -395wirkungen des Gehirns erhöhet werden kann, aber auch ohne Mitwirkung des letztern eintritt.

§. 4. Das Labyrinth.

Wir betrachten jetzt die Wirkung des Schalls auf die im Labyrinth befindliche Aus - breitung des eigentlichen Hörnerven. Wenn keine Leitung des Schalls durch die Gehör - knöchelchen zum Vorhof geschieht, so wird das runde Fenster der Hauptzugang seyn müssen, durch welchen die Schallschwingungen der Luft zum Hörnerven gelangen. Das, von der Basis des Steigbügels gröſstentheils verschlossene ovale Fenster ist wegen dieser Verschlieſsung zur Aufnahme und Fortpflanzung der Schallein - drücke weniger geeignet. Bey den meisten Säugthieren und Vögeln ist auch das runde Fenster gröſser und deswegen ebenfalls hierzu passender, als das eyförmige*)Comparetti de aure int. comp. p. 151. 173. 198. Scarpa (De structura fenestrae rotundae auris. p. 94 sq.) nennt den Hasen, den Maulwurf und die Fledermaus als Säugthiere, bey denen das runde Fenster kleiner als das eyförmige ist. Er glaubt, daſs die Gröſse des erstern mit dem Umfange der Schnecke und die des letztern mit der Gröſse der halbcirkelförmigen Canäle in Verhältniſs steht. Alleinbey. Aller AntheilanVI. Bd. C c396an jener Leitung läſst sich dem letztern aber nicht absprechen. Durch die Haut desselben kann wenigstens an den Stellen, wo sie nicht von der Knochensubstanz des Steigbügels bedeckt ist, der Schall fortgepflanzt werden**)Wäre Du Verney’s Beobachtung gegründet, daſs zwischen den Schenkeln des Steigbügels eine Haut ausgespannt ist, die mit der Membran des eyförmi - gen Fenst[ers]zusammenhängt, so würde jene ebenfallsvon. DieHaupt -*)bey dem Hasen giebt es einen eigenen Canal, der zum runden Fenster führt, und bey dem Maulwurf fehlt der Vorhof fast ganz. Beyde lassen sich wegen dieser Abweichungen mit den übrigen Säugthieren nicht vergleichen. Ob bey der Fledermaus wirklich das runde Fenster dem ovalen an Gröſse nachsteht, muſs ich dahin gestellt seyn lassen. Nach Cuvier’s Angabe (Leç. d’Anat. comp. T. II. p. 489.) soll gerade das Gegentheil statt finden. Ist Scarpa’s Beobach - tung die richtige, so hat die Fledermaus ein rundes Fenster von einem geringen Umfang in Vergleichung mit dem eyförmigen bey einer sehr groſsen Schnecke in Verhältniſs gegen die halbcirkelförmigen Canäle, und diese Thatsache widerspricht dann dem obigen, von ihm aufgestellten Gesetz, wogegen sich auſser - dem auch das Beyspiel der Vögel anführen läſst, bey denen durchgängig das runde Fenster gröſser als das ovale ist, obgleich bey den meisten die halbcir - kelförmigen Canäle ein groſses Uebergewicht über die Schnecke haben.397Hauptbestimmung dieser Membran ist jedoch, unsern obigen Bemerkungen zufolge, bey jeder Anspannung und Erzitterung des Trommelfells von dem Steigbügel gegen das Labyrinthwasser gedrückt zu werden, um das Fortschwingen des letztern nach einem Impuls desselben und das Nachklingen der Töne zu verhindern. Diese Meinung ist freylich für jetzt nur hypothetisch. Sie hat aber nichts wider sich; hingegen spricht für sie, daſs sich aus ihr erklären läſst, was sonst keine Erklärung zuläſst, das Nachtönen und das Klingen vor den Ohren unter Umstän - den, wobey wahrscheinlich die Muskeln des innern Ohrs geschwächt sind oder unregelmäſsig wirken. Zur Entscheidung über die Richtigkeit unserer Ansicht würden Beobachtungen erfor - derlich seyn, die uns fehlen, über die Modifi - kation des Gehörs bey Unbeweglichkeit des Steigbügels, oder bey Verknöcherung der Haut eines der beyden Fenster des Labyrinths, Val - salvat)Tract. de aure. C. 2. §. 10. hat zwar einen Fall, wo das ovaleFen -**)von den Schallschwingungen der Luft der Trommel - höhle gerührt und dieser Haut ihre Vibrationen mit - theilen können. Carlisle (Philos. Transact. Y. 1805. p. 202.) fand aber Duverney’s Wahrnehmung nicht bestätigt. Er vermuthete, daſs es Schleim war, was dieser für eine Haut ansahe.C c 2398Fenster verknöchert war, und Cotunniu)De aquaed. auris hum. p. 132. ein Beyspiel von Verschlieſsung des runden Fensters durch einen Knochen, wobey zugleich die Ge - hörknöchelchen doppelt so groſs wie gewöhnlich waren. Aber in Valsalva’s Fall fand wäh - rend des Lebens völlige Taubheit statt, die vielleicht noch andere Ursachen als blos jene Verknöcherung hatte, und Cotunni giebt nicht an, wie in dem von ihm beobachteten Fall das Gehör beschaffen gewesen war.

Durch den Druck des Steigbügels auf die Haut des ovalen Fensters wird zugleich eine Anspannung der Membran des runden Fensters hervorgebracht. Nach Cuvier’sv)A. a. O. p. 510. Meinung geschieht diese Spannung, indem von jenem Druck das Labyrinthwasser gegen die Haut des runden Fensters gedrängt wird. Ein solches Drängen kann hierbey aber nicht in bedeuten - dem Grade eintreten. Die Natur hat dasselbe verhütet, indem sie allen, mit einem Spannungs - apparat des ovalen Fensters versehenen Thieren die Wasserleitungen des Labyrinths gab, deren Bestimmung ist, das Labyrinthwasser bey dessen Zusammendrückung abzuleiten*)Nach Cotunni (A. a. O. p. 127.) ist die Wasserlei - tung des Vorhofs bey allen Säugthieren vorhanden,bey. Die Anspan -nung399nung der gedachten Haut wird wahrscheinlich durch dasselbe Mittel bewirkt, wodurch die Be - wegung der Haut des ovalen Fensters nach in - nen geschieht, durch den Druck des Steigbü - gels. Diese Vermuthung hat die Analogie des Baus der Vögel für sich, bey welchen die Membran des runden Fensters mit dem Steig - bügel so zusammenhängt, daſs sie von diesem, bey seiner Bewegung nach innen, ausgedehnt wird.

Bey den meisten Thieren, die keine Gehör - knöchelchen besitzen, kennen wir keinen, dem gedachten ähnlichen, auf das Labyrinth wirken - den Apparat, und auch bey denjenigen Gat - tungen der Amphibien und Fische, welche mit diesen Knochen versehen sind, scheinen die letztern doch weniger durch eigene Muskeln, als durch den Druck anderer Organe, womit sie verbunden sind, z. B. bey den Fischen durch die Ausdehnung der Schwimmblase, in Bewe - gung gesetzt zu werden. Einige Fische sindindeſs*)bey keinem aber, nur das Pferd und den Ochsen ausgenommen, so groſs als beym Menschen; hinge - gen fehlt dieselbe den Vögeln. Comparetti (A. a. O. p. 201.) fand jedoch beyde Wasserleitungen auch bey den Vögeln, so wie Cuvier (A. a. O. p. 477.) bey allen Säugthieren, unter andern auch beym Delphin.C c 3400indeſs mit Muskeln ausgestattet, wodurch der nämliche Zweck erreicht wird, für welchen die Gehörknöchelchen mit ihren Muskeln bey den Säugthieren und Vögeln gemacht sind. We - berw)De aure et auditu hom. et anim. p. 95. entdeckte bey den Rochen einen Muskel, der am Umfange des runden Fensters ent - springt, und bey Raja Torpedo und R. Aquila an dem von jenem Fenster zum Labyrinth führenden Sinus, bey R. Miraletus und R. cla - vata an der den Sinus bedeckenden Haut befe - stigt ist. Die Bestimmung dieses Muskels ist die nämliche, wie die des Steigbügels, den Sinus zusammenzudrücken und dessen Flüssig - keit nach dem häutigen Labyrinth hinzutreiben. Einen andern Mechanismus zu einem ähnlichen Zweck hat der Sehellfisch. Hier fand ich auf der von der Basis des Schädels geöffneten Höhle der Geruchswerkzeuge, an der nach innen gerichteten Wand dieser Cavität, einen längslaufenden Muskel, dessen Fasern zur Haut des Steinsacks gingen, und der keine andere Funktion haben kann, als bey seiner Zusam - menziehung den innern Raum des Steinsacks zu verengern. Auf die nämliche Art wirkt viel - leicht auch der von Camperx)Kleinere Schriften. B. 2. St. 2, S. 22. am Steinsack des Hechts bemerkte und mit dem Namen des Tensor bursae belegte Muskel. Wo es wedersolche401solche Muskeln, noch einen sonstigen Span - nungsapparat giebt, scheint der Steinsack selber ein Zusammenziehungsvermögen zu besitzen, welches durch die Erschütterung der in ihm be - findlichen Steine in Thätigkeit gesetzt wird.

Von den Häuten der beyden Eingänge des Labyrinths der höhern Thiere werden die Schallschwingungen durch das Wasser desselben dem sich darin ausbreitenden Hörnerven mit - getheilt. Dies lehrt der Bau des Labyrinths. Was man bisher weiter über die Verrichtung der verschiedenen Theile des letztern vorgetra - gen hat, sind Vermuthungen, die meist auf sehr schwachen Gründen beruhen. Vielleicht werde ich die Zahl derselben vermehren. Ich werde indeſs Gesichtspunkte anzugeben versuchen, woraus jene Theile noch nicht betrachtet sind.

Der Hörnerve breitet sich bey den höhern Thieren theils in der Schnecke, theils im Vor - hof und in den halbcirkelförmigen Canälen aus. Er vertheilt sich zwischen den beyden Blättern der Schnecke strahlenförmig und mit büschelförmigen Enden, hingegen als eine mehr zusammenhängende, ungefaserte Substanz in den Anschwellungen (ampullae) der halbcirkelför - migen Canäle, und mit divergirenden, doch unter einander verbundenen Filamenten in denC c 4Blasen402Blasen des Vorhofs. Diese Verschiedenheit herrscht auch da noch, wo es keine Schnecke mehr giebt, bey den Amphibien und Fischen. Mit ihr ist eine Verschiedenheit in der Farbe der Zweige des Hörnerven verbunden, die man vorzüglich bey den Vögeln wahrnimmt, wo sich diese Zweige im frischen Zustande leichter als bey den Säugthieren untersuchen lassen. Bey jenen sind die Nerven der Schnecke viel weiſsery)Comfaretti a. a. O. p. 201. als die der halbcirkelförmigen Canäle.

Diese Unterschiede der Zweige des Hörner - ven und die ganz verschiedene Bildung der Theile, worin sie sich ausbreiten, deuten auf eine Verschiedenheit ihrer Funktion bey der Aufnahme der Schalleindrücke hin. Jede sinn - liche Empfindung, die sich auf qualitative Un - terschiede der Sinneseindrücke bezieht, wird durch das gemeinschaftliche Wirken ungleich - artiger Nerven hervorgebracht. So gehen bey den Wirbelthieren drey verschiedene Nerven - stämme zu den Werkzeugen des Geschmacks und zwey zu den Organen des Geruchs. Eben dieses Gesetz werden wir am Auge bestätigt finden, und unter demselben steht auch die un - gleichartige Beschaffenheit der Nerven des in - nern Ohrs und deren Verbreitung in verschie - denen Organen. Die quantitative Verschieden -heit403heit des Schalls aber ist der Laut. Das Ohr hat also einen Vorhof, eine Schnecke und halb - cirkelförmige Canäle, und es begeben sich zu diesen Theilen Nervenzweige von verschiedener Beschaffenheit, um die Empfindung des Lauts möglich zu machen. Je deutlicher der Laut empfunden wird, desto leichter ist es auch, gleichzeitige, aber ungleichartige Töne als un - gleichartig wahrzunehmen. Diese Wahrneh - mungsvermögen sahe auch Scarpaz)De auditu et olfactu. S. II. C. 4. §. 14. für eine Folge der verschiedenen Ausbreitungen des Hörnerven an. Er nahm dasselbe aber nicht an, wofür es zu halten ist, für Nebenwirkung den Unterscheidung des Lauts. Es gilt übrigens gegen unsere Meinung nicht der Einwurf, daſs den Vögeln, unter welchen viele doch ein so musikalisches Gehör besitzen, nur eine sehr unvollkommene Schnecke eigen ist. Sie haben, wie schon oben gezeigt ist, zwar Sinn für Me - lodie, aber gewiſs sehr wenig für Harmonie. Nur dieser aber, nicht jener, steht in genauer Verbindung mit dem Unterscheidungsvermögen des Lauts.

Scarpaa)Ebendas. äuſserte noch eine andere Mei - nung über die Funktionen der verschiedenenNer -C c 5404Nerven des Labyrinths. Er glaubte, die Nerven der halbcirkelförmigen Gänge würden leichter von Schalleindrücken gerührt, als die der Schnecke. Gründe für seine Meinung waren ihm die Voraussetzungen, daſs jene Nerven schon blos von den Bewegungen des Steigbügels auf - geregt werden, diese hingegen den Eindruck des Schalls sowohl von dem Steigbügel, als von der Haut des runden Fensters empfangen. Wir haben indeſs bewiesen, daſs keine Fortpflanzung des Schalls durch die Gehörknöchelchen mög - lich ist. Wenn man aber auch diese Möglich - keit gelten läſst, so ist doch nicht einzusehen, warum die Nerven der Schnecke nicht eben sowohl mittelbar von den Bewegungen des Steig - bügels, als die Nerven der halbcirkelförmigen Canäle von den Schwingungen der Haut des runden Fensters sollten gerührt werden. Hierzu kömmt noch, daſs die Schwingungen des runden Fensters den Nerven der Schnecke geradezu durch das Labyrinthwasser mitgetheilt werden können, hingegen der Zugang von dem ovalen Fenster zu den Nerven der halbcirkelförmigen Canäle durch die Säcke des Vorhofs unterbro - chen ist.

Mir scheint bey dem jetzigen Stande unsers Wissens von der Fortpflanzung des Schalls und dem Wirken der Nerven nur dies sich aussagenzu405zu lassen, daſs die Nerven der halbcirkelförmi - gen Gänge mehr für die Empfindung des Schalls überhaupt, die der Schnecke mehr für die Wahrnehmung der Modifikationen desselben be - stimmt sind. Daſs mit dieser verschiedenen Bestimmung der Zweige des Hörnerven der Bau der Schnecke und der Bogengänge in Beziehung steht, leidet keinen Zweifel. Aber diese Bil - dung ist so ausgezeichnet, daſs man eben so wenig zweifeln kann, es müssen noch andere Geheimnisse hinter derselben verborgen seyn.

Die Schnecke mit den, zwischen ihren Spiralblättern sich strahlenförmig ansbreitenden und von ihrer Basis bis zum Gipfel allmählig an Länge abnehmenden Nerven hat eine nicht zu verkennende Aehnlichkeit mit einem Saiten - instrument. Für ein solches wurde sie auch von Duverneyb)Tract. de organo auditus. p. 28. und Valsalvac)Tract. de aure. C. 7. §. 9. angenom - men, und mehrere spätere Schriftsteller traten dieser Meinung bey. Le Catd)Theorie de l’ouie. Paris. 1767. meinte, es gebe keinen Ton, der nicht mit einem Theil des Spiralblatts der Schnecke in Einklang stehe. Den Einwurf, der sich gegen seine Meinung von der Unvollkommenheit der Schnecke bey den Vögeln hernehmen läſst, suchte er durchdie406die Voraussetzung zu heben, daſs der ganze, nicht mit so vielen Muskeln wie bey den Säug - thieren bedeckte Kopf der Vögel wiedertönend wie eine Pauke sey, und, wenn sie hierbey noch eine vollkommene Schnecke erhalten hät - ten, ihre Empfänglichkeit für harmonische Mo - dulationen bis zur Leidenschaft gesteigert seyn würde. Gegen diese sehr unbefriedigende Aus - flucht sind Gründe von Gall und Spurz - heime)Auat. et Physiol. du Systême nerveux. Vol. I. p. 164. angeführt worden, und es war sehr leicht, solche aufzufinden. Jener Einwurf aber läſst sich doch sehr wohl beantworten. Wir können das Gehör der Vögel nur nach ihrer Stimme und nach ihrem Gesange beurtheilen. So melodisch auch der Gesang vieler unter ih - nen ist, so beschränkt ist doch ihre Tonleiter. Man kann Vollkommenheit des Gehörs inner - halb gewisser Grenzen bey einer weit weniger vollkommenen Schnecke, als die menschliche ist, gelten lassen, und doch behaupten, daſs eine gleichförmige Empfänglichkeit sowohl für nie - drige, als für hohe Töne nur bey dem Grade von Ausbildung, den die Schnecke des Men - schen hat, möglich ist. Indeſs Le Cat’s Mei - nung erklärt nur die Beziehung der Schnecke gegen die quantitative Verschiedenheit der Töne, nicht aber, worauf es hier doch vorzüglich an -kömmt,407kömmt, ihr Verhältniſs zu dem Vermögen der Unterscheidung des Lauts.

Die halbcirkelförmigen Canäle kannte man ihrem innern Bau nach vor Scarpa zu wenig, als daſs man früher eine einigermaaſsen befrie - digende Deutung ihrer Bestimmung zu geben im Stande war. Scarpaf)A. a. O. §. 15. hielt für den Zweck derselben, Aufnahme der durch die Schädel - knochen fortgepflanzten Schallschwingungen. Autenrieth und Kernerg)Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. 9. S. 350 fg. faſsten diese Muthmaſsung auf und schmückten sie weiter aus, indem sie voraussetzten, jeder Schall würde zum Theil durch die Schädelknochen fortge - pflanzt, die Bogengänge nähmen diesen Theil auf und wir erhielten durch sie eine unmittel - bare Empfindung von der Richtung des Schalls. Der Bau der halbcirkelförmigen Gänge ent - spricht, ihrer Ansicht nach, ganz der Bestim - mung, die Richtung des Schalls bemerklich zu machen. Es giebt, sagt Kernerh)A. a. O. S. 362., bey allen Thieren drey derselben, welche so gelagert sind, daſs sie den drey Dimensionen des Cubus entsprechen und daſs jeder, in einer dieser drey Dimensionen ankommende Schall immer deneinen408einen Canal senkrecht auf seiner Axe, den an - dern nach der Länge derselben trifft; zugleich liegen die Canäle so, daſs die, welche sich auf beyden Seiten des[Kopfs] entsprechen, doch in keiner Hinsicht einander ganz parallel sind, daſs also jeder Schall, der in irgend einer Richtung den Kopf trifft, doch immer nur vor - züglich stark auf einen halbcirkelförmigen Canal der einen Kopfhälfte auffällt. Mit dieser Mei - nung steht eine zweyte Hypothese jener Schrift - steller über die Bestimmung der Schnecke in Verbindung. Sie glauben, die Ursache des Lauts bestehe in rotirenden Bewegungen der Theil - chen des schallenden Körpers, und diesen Be - wegungen entspreche die Schraubenform der Schneckei)A. a. O. S. 318. 355..

Die letztere Meinung gründet sich auf einer Hypothese, wofür es durchaus keine Beweise giebt. Jene würde, wenn diese auch dargethan wäre, damit doch keine festere Stütze haben, indem der Schluſs auf ein Causalverhältniſs zwi - schen den drehenden Bewegungen, worin die Ursache des Lauts liegen soll, und der Schrau - benform der Schnecke sehr gewagt seyn würde. Der Vermuthung, daſs die halbcirkelförmigen Canäle zur Aufnahme von Schallschwingungen bestimmt seyen, welche durch die Kopfknochenzum409zum Hörnerven gelangen, läſst sich die Frage entgegensetzen: Warum die Fortpflanzung sol - cher Schwingungen zum Hörnerven nicht eben so gut durch die Spindel der Schnecke, als durch die Bogengänge geschehen kann? Es ist wahr, die letztern sind mit dem Schädel ge - nauer als die Schnecke verbunden und von der steinartigen Masse des Felsenbeins ganz umge - benk)Autenrieth u. Kerner a. a. O. S. 359.. Allein durch diese Umgebung wird vielleicht der unmittelbare Uebergang der Schall - erschütterungen durch die Schädelknochen zum Labyrinth mehr verhindert als befördert. Der Marmor ist bey seiner Härte doch einer der schlechtesten Leiter des Schallsl)Perolle, Mém. de l’Acad. de Turin. A. 1791 92.. Vielleicht kömmt jene Masse mit dem Marmor in diesem geringen Leitungsvermögen überein, und es ist dann sehr wahrscheinlich, daſs Schallschwin - gungen, die durch die Schädelknochen fortge - pflanzt werden, nicht gerades Weges zum La - byrinth gehen, sondern eben so wie die zittern - den Bewegungen der äuſsern Luft erst durch Vermittlung des Tympanum dem Labyrinth mitgetheilt werden. Aber auch jene unmittel - bare Fortpflanzung zugegeben, so läſst sich doch, wie schon oben gezeigt ist, kein Fortgang des Schalls aus der Luft durch die Kopfknochen zuden410den Hörnerven annehmen, welcher statt finden müſste, wenn die halbcirkelförmigen Canäle auf die von Autenrieth und Kerner angegebene Weise zur Wahrnehmung der Richtung des Schalls dienen sollten. Und auch einen solchen Fortgang eingeräumt, so läſst sich hier, wo man Endursachen als Beweise für eine Meinung anführt, noch einwenden, daſs eine passendere Organisation zu dem angeblichen Zweck als die vorhandene möglich gewesen wäre. Eine Aus - breitung des Hörnerven in vielen, strahlen - förmig nach allen Seiten gerichteten Canälen würde allem Anschein nach demselben besser entsprochen haben, als die Verbindung dieses Nerven mit drey bogenförmigen Röhren, deren Enden in einander übergehen und von welchen keine eine Erschütterung erleiden kann, wo - von nicht auch die übrigen mittelbar getroffen werden.

Ich glaube nicht, daſs bey unsern geringen Kenntnissen von der Fortpflanzung des Schalls durch Flüssigkeiten und bey unserer gänzlichen Unbekanntschaft mit der Natur des Lauts eine ganz genügende Beantwortung der Fragen, wozu die so eigene Gestalt der Bogengänge vor - handen ist und welche Bedeutung die dreyfache Zahl der letztern hat? möglich ist. Einige Aufklärung hierüber scheint mir jedoch dieVor -411Voraussetzung zu geben, daſs ein Mittel vor - handen seyn muſste, wodurch das Fortschwin - gen des Labyrinthwassers nach jedem, von einem einfachen Schall bewirkten Eindruck ver - hindert wird, und daſs dieses in dem Druck des Steigbügels gegen die Haut des eyförmigen Fensters zu suchen ist. Die Schallschwingungen der Luft des Tympanum, welche die Haut des runden Fensters treffen, werden durch diese dem Wasser mitgetheilt, das in dem untern Gang der Schnecke (Scala tympani) enthalten ist; den Schwingungen dieses Wassers wirkt die Bewegung entgegen, welche das im Schnecken - gang des Vorhofs befindliche Wasser von dem Druck des Steigbügels empfängt, und diese Be - wegung hebt jene Schwingungen in dem Zu - sammenfluſs beyder Schneckengänge auf. In dem Vorhof und den Bogengängen kann keine solche Gegenwirkung zwischen den Bewegungen des Labyrinthwassers, die von den Schallschwin - gungen entstehen, und denen, die von dem Steigbügel verursacht werden, eintreten. Die häutigen halbcirkelförmigen Canäle und die Säcke des Vorhofs werden, indem der Steigbügel das Labyrinthwasser nach innen drängt, durch das - selbe von allen Seiten zusammengedrückt. Die Pressung ist von allen Seiten gleichförmig wegen der Verbindung, worin alle, sowohl knöcherne, als häutige Theile des Vorhofs und der Bogen -VI. Bd. D dgänge412gänge unter einander stehen. Sie erfolgt aber gleichzeitig mit jeder Schallschwingung. Diese wird also von ihr verändert, und daher können die Nerven des Vorhofs und der Bogengänge keine so reine Empfindung der Qualitäten des Schalls, als die der Schnecke, hervorbringen.

Das Wesentliche der Schnecke überhaupt besteht hiernach in zwey Canälen, von welchen der eine dem runden, der andere dem eyför - migen Fenster zugekehrt ist, und deren ersterer Zweigen des Hörnerven zur Ausbreitung dient. In dieser einfachen Gestalt finden wir sie bey den Vögeln. Ihre spiralförmige Gestalt ist im Allgemeinen nichts Wesentliches, sondern dient nur, den beyden Canälen in dem kleinsten Raum eine so groſse Länge und Breite wie möglich zu geben.

Für die halbcirkelförmigen Canäle ist ohne Zweifel die dreyfache Zahl derselben wesentlich. Worin diese aber ihren Grund hat, gestehe ich, nicht angeben zu können. Ich habe hier - über Aufklärung bey der vergleichenden Anato - mie gesucht, aber nicht gefunden. Selbst über die Beziehung, worin die verschiedene Gröſse der Schnecke und der Bogengänge und das verschiedene Verhältniſs beyder gegen ihre Um - gebungen zum Gehör steht, giebt diese nurwenig413wenig Aufschluſs. Was sich aus den hisherigen Untersuchungen dieser Theile folgern läſst, scheint mir in folgenden Sätzen enthalten zu seyn.

1. Mit der Vollkommenheit des Gehörs, die in vielseitiger Empfänglichkeit für hörbare Ein - drücke besteht, ist Gleichheit der Capacität der Schnecke und der halbcirkelförmigen Canäle verbunden.

Jene Vollkommenheit dürfen wir bey dem Menschen voraussetzen. Bey ihm nähert sich aber auch das Verhältniſs dieser Capacitäten weit mehr dem der Gleichheit als bey einem der übrigen Thierem)Scarpa de aud. er olf. S. II. C. 4. §. 11..

2. Bey einseitiger Vollkommenheit des Gehörs ist die Schnecke auf Kosten der halbcirkelför - migen Canäle vergröſsert, oder die letztern sind es auf Kosten der Schnecke, und diese einseitige Ausbildung steht mit dem Element, worin sich das Thier aufhält, in einer gewissen Verbin - dung; auch v[er]hindert sich hiernach die Be - schaffenheit der Substanz, in welcher die Bogen - gänge und die Schnecke eingeschlossen sind.

Unter den Säugthieren hat die gröſsten halbcirkelförmigen Canäle in Verhältniſs gegendieD d 2414die Schnecke der Maulwurf, die kleinsten die Fledermaus. Bey beyden Thiergattungen liegen diese Organe, wie bey den Vögeln, fast ganz frey auf der innern Fläche des Felsenbeins. Die Cetaceen haben, wie die Fledermaus, sehr kleine halbcirkelförmige Canäle in Vergleichung mit der Schnecke. Bey ihnen aber ist das La - byrinth von einer härtern Masse als bey allen übrigen Thieren umgeben. Von jenen Thier - gattungen hat gewiſs jede für ihre Lebensweise ein sehr vollkommenes Gehör. Aber die Voll - kommenheit erstreckt sich nur auf Schallein - drücke einer gewissen Art.

5. Bey vielen Säugthieren ist auch die Zahl der Windungen, welche die Schnecke macht, so wie das Verhältniſs des Durchmessers ihrer Basis zu ihrer Höhe, und bey allen Thieren das Capacitätsverhältniſs der halbcirkelförmigen Canäle gegen deren Erweiterungen (ampullae) und gegen die Säcke des Vorhofs, das Gröſsen - verhältniſs jedes einzelnen C[an]als gegen die beyden übrigen, und die Art, wie die häutigen Bogengänge unter sich und mit den Säcken des Vorhofs verbunden sind, verschieden von dem, welches beym Menschen statt findet, und ver - schieden nach der Organisation des ganzen übri - gen Körpers.

Die415

Die Schnecke macht bey den Säugthieren anderthalb bis drey Windungen. Jene Zahl findet sich beym Maulwurf, diese beym Fuchs und Hunde. Dem Maulwurf zunächst steht in dieser Rücksicht die Fledermaus, deren Schnecke zwey Windungen hat; dann folgt das Pferd, bey welchem die Zahl der letztern zwey und ein Viertel beträgt, und hierauf der Mensch, der Ochse, das Schwein, das Kaninchen und die Katze, welche drittehalb Schneckenwindun - gen habenn)Nach Autenrieth’s und Kerner’s Untersuchungen. A. a. O. S. 350 fg.. Die halbcirkelförmigen Canäle, sowohl die knöchernen, als die häutigen, sind weit kleiner, hingegen die Erweiterungen der - selben eben so groſs beym Ochsen und Pferde als beym Menscheno)Scarpa a. a. O. S. II. C. 2. §. 4.. Die längsten Bogen - gänge bey den kleinsten Säcken des Vorhofs fand ich beym Cyclopterus Lumpus; hingegen sind jene sehr kurz und diese von beträchtlicher Länge beym Hering.

Es ist zu vermuthen, daſs auch diese Ver - schiedenheiten auf gewisse Modifikationen des Gehörs Bezug haben. Frägt man, auf welche? so gestehe ich, keine befriedigende Antwort zu haben. Wer es wagt, hierauf zu antworten,demD d 3416dem liegt zugleich ob, zu erklären, warum manche andere Thiere, die in Rücksicht auf das Gehör gewiſs sehr verschieden sind, doch keine so groſse Verschiedenheit im Bau der Schnecke und der Bogengänge zeigen. Ich habe die Nachtigall und die Sprehe in Betreff dieser Organe verglichen und den Unterschied dersel - ben dem Sinn für Musik, den man bey der Nachtigall voraussetzen darf, und der Abwesen - heit desselben bey der Sprehe so wenig ent - sprechend gefunden, daſs ich nicht zweifele, dieser Sinn müsse nicht so sehr in der Bildung der Theile, worin sich der Hörnerve verbreitet, als in einer eigenen Stimmung des Hörnerven begründet seyn.

4. Es giebt an den Bogengängen und wahr - scheinlich auch an der Schnecke nicht nur generische und specifische, sondern auch indivi - duelle Verschiedenheiten. Hingegen zeigen diese Organe in beyden Ohren eines und desselben Individuum die gröſste Uebereinstimmung.

Valsalvap)A. a. O. C. 3. §. 7. stellte viele Untersuchungen an, um das wechselseitige Verhältniſs der halb - cirkelförmigen Canäle beym Menschen zu be - stimmen. Er traf aber keine zwey Individuen an, bey welchen dasselbe einerley war. Co -tun -417tunniq)De aquaeduct. aur. hum. p. 11. fand diese Beobachtung bestätigt. Autenrieth und Kernerr)A. a. O. S. 367. bemerkten auch Verschiedenheiten der halbcirkelförmigen Canäle in Hinsicht auf deren Weite bey den verschie - denen Hunderaçen. Valsalvas)A. a. O. entdeckte fer - ner, daſs bey einem und demselben Menschen die drey Canäle nicht nur in beyden Ohren genau das nämliche Verhältniſs gegen einander haben, sondern auch einzeln in dem einen Ohr genau so groſs als in dem andern sind, ja daſs eine angebohrne Abweichung des Canals der ei - nen Seite von der gewöhnlichen Form sich auch an demselben Canal der andern Seite zeigt.

Diese letztere Beobachtung enthält vielleicht einen Grund zur Erklärung der Einheit der Empfindung bey der Einwirkung des Schalls auf beyde Ohren. Die individuellen Verschieden - heiten der Bogengänge stehen wahrscheinlich mit individuellen Verschiedenheiten des Gehörs in Verbindung, aber mit welchen? diese Frage läſst sich bisjetzt um so weniger beantworten, da wir noch nicht einmal die Beziehung der Unterschiede des Gehörs mit den generischen Verschiedenheiten der Hörorgane anzugeben im Stande sind.

5.D d 4418

5. Die Gröſse der Schnecke oder des Theils, der die Stelle der Schnecke vertritt, hat weder zur Gröſse der übrigen Hörwerkzeuge, noch zur Gröſse des ganzen Thiers ein beständiges Verhältniſs. Es giebt für jede Thierclasse ge - wisse Grenzen, worin jene eingeschlossen ist, und innerhalb dieser Grenzen erleidet sie bey den verschiedenen Thierarten Veränderungen, die nicht durch die übrige Organisation bedingt sind.

Wer von der Gröſse des ganzen Körpers oder des äuſsern Ohrs bey dem Pferde, vielen Wiederkäuern u. s. w. auf die Gröſse der Schnecke und der Bogengänge schlösse, würde sich sehr getäuscht finden. Die Wallfische ha - ben bey ihrer groſsen Trommelhöhle doch kei - neswegs eine groſse Schnecke und noch weniger groſse Bogengänge. Bey der Nachtigall finde ich diese Canäle nicht kleiner als bey dem, so sehr viel gröſsern Holzheher (Corvus glanda - rius).

Diese Thatsachen sind sehr der Beachtung werth. Sie beweisen, daſs jeder Schalleindruck durch das Labyrinthwasser nur intensiv und in einzelnen Punkten auf den Hörnerven wirkt, woraus sich weiter folgern läſst, daſs die Ver - änderung des Nervenmarks, welche die Empfin -dung419dung des Schalls hervorbringt, nicht etwa eine chemische Wirkung ist. Wäre sie dies, so würden chemische Analysen des Labyrinthwas - sers der verschiedenen Thierarten vielleicht einige Aufklärung in der Theorie des Gehörs geben können. So aber ist wenig Belehrung von diesen zu erwarten. In der That haben auch W. Krimer’st)Physiologische Untersuchungen. Leipz. 1820. S. 256 fg. Versuche mit dem La - byrinthwasser einiger Säugthiere kein weiteres Resultat geliefert, als was schon nach P. F. Meckel’su)De labyrinthi auris contentis. p. 29. Erfahrungen zu erwarten war, daſs diese Flüssigkeit aus Wasser und etwas Eyweiſs - stoff besteht, eine Säure enthält, die Kohlen - säure zu seyn scheint, und leicht ammoniaka - lisch wird.

6. Ein gewisses Causalverhältniſs zum Gehör hat die Quantität der in der Schnecke und den halbcirkelförmigen Canälen sich verbreiten - den Nervenmasse. Sie richtet sich nach der Dicke des Hörnerven bey seinem Eintritt in den innern Gehörgang, und diese Dicke ist, absolut genommen, im Allgemeinen beträchtlicher bey den gröſsern als bey den kleinern Thierarten. Bey jenen muſs also von einer gewissen Seite das Gehör schärfer als bey den letztern seyn. Wahr -D d 5420Wahrscheinlich besteht diese gröſsere Schärfe in dem Vermögen, von dem Schall aus weitern Entfernungen gerührt zu werden. Das Weib - chen des Elephanten hört die Stimme ihres Jungen aus einer Entfernung, worin von dem menschlichen Ohr nichts vernommen wirdv)Philos. Transact. Y. 1800. p. 20..

Hierbey kann sich indeſs jede andere Modi - fikation des Gehörs auf einer sehr niedrigen Stufe befinden. Für diese übrigen Modifikatio - nen ist nur die relative Gröſse des Hörnerven und derjenigen Hirnorgane, die zunächst mit dem Sinn des Gehörs in Beziehung stehen, gegen die des verlängerten Marks und der übri - gen Hirnorgane, ein Maaſsstab. Die Zahl mei - ner Beobachtungen über diese Punkte ist aber noch nicht hinreichend, um sichere Schlüsse daraus zu ziehen, und denen, die Krimerx)A. a. O. S. 231 fg. darüber bekannt gemacht hat, kann ich keinen Werth beylegen*)Krimer wandte den von ihm etwas veränderten Arnemannschen Gehörmesser bey mehrern Thieren an, verglich mit den Resultaten, die er durch dieses Mittel erhielt, die Länge, Breite, Schwere und Härte des Hörnerven, von dessen Austritt aus demGehirn.

Sechster421

Sechster Abschnitt. Das Gesicht.

Erstes Kapitel. Das Sehen im Allgemeinen. Stufenleiter der Ausbildung des Gesichts - werkzeugs im Thierreiche.

Wie jeder der übrigen Sinne, so läſst sich auch der des Gesichts von einer gewissen Seiteauf*)Gehirn bis zu seinem Eintritt in den innern Gehör - gang, so wie die Länge des ganzen Gehirns, und folgert aus dieser Vergleichung eine ziemlich ge - naue Uebereinstimmung der relativen Dicke, Länge und Masse, und der Härte jenes Nerven mit der Schärfe des Gehörs. Allein jene Versuche mit dem Gehörmesser sind sehr unzuverläſsig; sie würden, wie Kerner’s ähnliche Erfahrungen, nur etwas beweisen,wenn422auf das Getast zurückführen. Sehen ist Tasten aus der Ferne, vermittelt durch das Licht. Dieses*)wenn sie bey mehrern Individuen einer und derselben Art oft und unter sehr verschiedenen Umständen angestellt wären, und doch auch dann nur einen Schluſs auf gröſsere oder geringere Empfänglichkeit für den Ton des Schallmessers allein zulassen. Aus der Länge des Hörnerven, sowohl der absoluten, als der relativen, läſst sich nichts schlieſsen; diese Di - mension ist bey keinem Sinnesnerven, der nicht während seines Verlaufs Seitenzweige abgiebt, von Wichtigkeit. Das Verhältniſs der Dicke des Hörner - ven zur bloſsen Länge des Gehirns lehrt ebenfalls nichts: denn bey einerley Länge des letztern können die übrigen Dimensionen desselben sehr verschieden seyn. In der Härte der verschiedenen Nervenpaare finden zwar Abstufungen bey einem und demselben Individuum statt; aber bey verschiedenen Individuen wechselt die Härte eines und desselben Nerven so sehr, daſs eine sehr groſse Zahl von Beobachtungen erforderlich seyn würde, um die Unterschiede, die es in dieser Hinsicht unter den Arten der Thiere giebt, mit einiger Zuverlässigkeit auszumachen. Das Gewichtsverhältniſs des Hörnerven zum ganzen Ge - hirn giebt eben so wenig Aufschlüsse über die Be - schaffenheit des Gehörs; jedes einzelne Hirnorgan kann bey einerley Exponenten dieses Verhältnisses auf die mannichfaltigste Weise abgeändert seyn. Ue - brigens finde ich auch, wenn ich aus den von Krimer angegebenen Ausmessungen und Abwägun -gen423Dieses Tasten beschrankt sich indeſs nur auf die Erkennung der räumlichen Verhältnisse der Körper. Die Unterscheidung der Farben ge - schieht durch einen höhern Sinn als den des bloſsen Getastes. Beyde sind nicht nothwendig mit einander verbunden. Es giebt mehrere Beyspiele von Menschen, denen die Empfäng - lichkeit für den Eindruck der verschiedenen Farben ganz oder zum Theil fehlte, ohngeachtet sie die Gestalten der Gegenstände sehr gut zu erkennen vermochteny)Turberville, Philosoph. Transact. n. 164. p. 736. Huddart, ebendas. Y. 1777. p. 260. Scott, ebendas. Y. 1778. p. 611. Nicholl, Med. chirurg. Transact. publ. by the med. and chirurg. Soc. of London. Vol. VII. p. 477. Derselbe ebendas. Vol. IX. p. 359. War - drop Essays on the morbid anat. of the hum. eye. Vol. II. p. 196.. Die von Turberville und Huddart beobachteten Personen unter - schieden blos Schwarz und Weiſs, Hell und Dunkel. In den übrigen, zahlreichern Beyspie -len*)gen Proportionalzahlen berechne, und dabey in An - schlag bringe, daſs bey Abwägungen der Nerven und des Gehirns Unterschiede von ¼, ¾ und Gran, wie er gefunden haben will, sich auf keine Weise be - stimmen lassen, zwischen der aus seinen Versuchen folgenden Stufenleiter der Gehörfähigkeit und jenen Zahlen nicht einmal eine ziemlich genaue, sondern eine sehr geringe Uebereinstimmung.424len dieser Art, die bisjetzt aufgezeichnet sind, erstreckte sich aber der Mangel an Unterschei - dungsvermögen nur auf gewisse Farben. Das Auge sahe nur Blau, Gelb und zuweilen auch Roth auf ähnliche Art wie ein gesundes Auge. Alle übrige Farben erschienen als Abänderungen oder Abstufungen von diesen. In dem einen der beyden Fälle, die Nichols beschrieben hat, erkannte ein eilfjähriger Knabe durch ein Prisma nur drey Farben: Roth, Gelb und Purpur. In dem andern erschien einem Manne von neun und vierzig Jahren der Regenbogen als eine Mischung von Gelb und Blau; die Mitte war ihm gelb; gegen die Ränder zu sahe er ihn blau. In den meisten dieser Beyspiele war die unvollkommene Beschaffenheit des Gesichts ein Familienfehler.

Unter den räumlichen Verhältnissen der Körper sind die Gröſse, Gestalt, Lage, Entfer - nung und Bewegung derselben begriffen. Wir sehen diese Attribute der Körper als Attribute derselben; aber wir erkennen sie als Verhältnisse nur, indem wir sie zugleich auf unsere übrige Sinne, besonders auf den des Getastes, bezie - hen. Dieses Beziehen geschieht durch Urtheile, jedoch durch Urtheile, die Resultate eines ange - bohrnen, bewuſstlos und bey allen Individuen auf gleiche Art wirkenden Vermögens sind. Der425Der völlig blind Gebohrne, der in spätern Jah - ren das Gesicht erhält, wird in den ersten Augenblicken des Sehens jene Verhältnisse als solche nicht zu erkennen im Stande seyn. Die - ses Unvermögen zeigte sich auch bey dem Knaben, der, ohne einen Begriff von sichtbaren Gegenständen zu haben, im dreyzehnten Jahre seines Alters durch Cheselden’s Kunst plötz - lich in die sichtbare Welt versetzt werdez)Philos. Transact. Y. 1728. p. 447.. Ein vorhergegangenes, sehr unvollkommenes Sehen wird aber den, welcher zum völligen Gebrauch der Augen gelangt, schon fähig ge - macht haben können, in den ersten Augen - blicken des aufgeschlossenen Sinns die räum - lichen Verhältnisse der Dinge zu begreifen, in - dem er sich vorher schon Begriffe von sicht - baren Gegenständen bilden und diese mit dem, was ihn der Sinn des Getastes lehrte, in Ue - bereinstimmung bringen konnte. So war der Fall bey dem siebenjährigen Knaben, den Ware durch die Staaroperation sehend machte, nach - dem derselbe seit seinem ersten Lebensjahr zwar nicht die Umrisse, doch die Farben der Gegenstände hatte unterscheiden könnena)Ebendas. Y. 1801. p. 382.. Cheselden’s Knaben waren zwar auch bey sehr starkem Lichte Farben erkennbar gewesen. Er war aber ohne allen Zweifel weit blinderund426und vielleicht weniger eitel als Ware’s Kran - ker, der gleich nach der Operation die Bedeu - tung der ihm vorgezeigten Dinge häufiger erra - then als erkannt zu haben scheint.

Locke, von Molyneux befragt, ob ein sehend gewordener Blinder eine Kugel von einem Würfel durch das Gesicht zu unterschei - den im Stande seyn werde, wenn er auch ihren Unterschied durch das Getast kennen gelernt hätte? verneinte diese Frage. Molyneux stimmte ihm bey und Jeder wird ihm beystim - men müssen, vorausgesetzt, daſs die Unterschei - dung der Kugel von dem Würfel sich auf das Verhältniſs dieser Körper gegen den Sinn des Getastes und des Gesichts zugleich beziehen soll. Der Sehendgewordene wird zwar durch das Gesicht einen Unterschied zwischen der Kugel und dem Würfel entdecken. Aber was Kugel und was Würfel ist, wird er erst nach Unter - suchung derselben durch das Getast bestimmen können. Vor Vergleichung der Empfindungen des Gesichts mit denen des Getasts und der übrigen Sinne ist die sichtbare Welt für ihn ein Buch voll unbekannter Charaktere, die er zu unterscheiden, aber nicht zu deuten vermag. Auch der verwandelte Schmetterling verräth in den ersten Stunden des neuen Daseyns durch seine Betäubung, seine langsamen Bewegungenund427und seinen unsichern Flug, daſs ihm die Be - deutung des Sichtbaren noch nicht klar gewor - den ist. Es giebt eine prästabilirte Harmonie jedes Sinns mit allen übrigen. Aber durch sie kann nicht das nie Gekannte unmittelbar be - griffen, sondern nur bewuſstlos auf schon Er - kanntes bezogen werden. Diese Operation setzt den ursprünglich ungeschwächten Gebrauch der Geisteskräfte voraus. Haslama)Observat. on madneſs and melancholy. Ed. 2. p. 187. erzählt von einem siebenjährigen Knaben, der von seiner Geburt an verrückt war, daſs derselbe die Ent - fernungen der Dinge, vorzüglich derer, die sich in der Höhe befanden, nicht zu schätzen im Stande war, und z. B. nach einem Nagel an der Decke, oder nach dem Monde griff.

Wie bey manchen Menschen, so kann es auch bey den Thieren ein vollkommeneres und unvollkommeneres Sehen geben. Der nie - drigste Grad wird das bloſse Wahrnehmungs - vermögen des Lichts seyn. Auf den höhern Stufen wird der Gesichtssinn diejenigen Eigen - schaften der Körper, woraus deren räumliche Verhältnisse erkannt werden, und auf noch höhern mit diesen auch die Farben derselben vorstellen. Sind wirklich solche Abstufungen im Thierreiche vorhanden, so muſs ihnen einevoll -VI. Bd. E e428vollkommenere oder unvollkommenere Organi - sation der Sehewerkzeuge entsprechen. Eine Gradation in der Ausbildung dieser Theile be - merken wir allerdings auch, und die Beziehung, worin die Bildung zur Funktion steht, ist beym Gesichtssinn auf den meisten der niedrigern Stufen sehr einleuchtend, da es sich bey den übrigen Sinnen nicht so verhält.

Die Grundbedingung des Sehens im Allge - meinen ist Zutritt des Lichts zu den äuſsern Enden von Nerven, die Empfänglichkeit für die Einwirkung des Lichts besitzen. Wo die Haut - nerven diese Empfänglichkeit haben und die Oberhaut durchsichtig genug ist, wird die ganze Oberfläche des Körpers Gesichtsorgan seyn. Auf solche Art sind vielleicht die Zoophyten zum Sehen organisirt, doch aber nur zu dem un - vollkommensten Sehen, das sich blos auf die Unterscheidung von Licht und Farben erstrecken kann.

Wahrnehmung von Gegenständen kann nur durch eine durchsichtige Fläche geschehen, deren inwendige Seite mit einer Nervenausbreitung bedeckt ist, auf welcher letztern jeder einzelne Punkt entweder nur von Einem der sämmtlichen Strahlen, die jeder Punkt eines erleuchteten Gegenstandes nach allen Seiten aussendet, oder von einer Vereinigung aller dieser Strahlen ge -trof -429troffen wird. Die erstere Art des Sehens ist nur durch eine durchsichtige Bedeckung der Nervenausbreitung, die eine solche Gestalt hat, daſs blos senkrechte, oder von dem senkrechten Einfall wenig abweichende Strahlen von ihr durchgelassen, alle übrige aber reflektirt werden, die letztere blos vermittelst Durchlassung der Strahlen zur Nervenausbreitung durch ein bi - convexes, durchsichtiges, dem Linsenglase einer Camera obscura ähnliches Organ möglich. Diese Stücke, eine eigene Nervenausbreitung (eine Netzhaut) und eine convexe oder polyedrische Bedeckung derselben (eine Hornhaut), oder eine vor ihr liegende biconvexe Linse, sind die allgemeinsten und einfachsten Erfordernisse eines eigenen Sehewerkzeugs. Wo dieselben sich finden, dürfen wir ein solches Organ anneh - men. Da diese Bedingungen in den meisten Fällen ohne groſse Schwierigkeiten zu entdecken sind, so können wir beym Untersuchen der Verbreitung des Sehewerkzeugs im Thierreiche einen Weg gehen, welcher sich bey den übri - gen Sinnesorganen, deren eigenthümliche Cha - raktere schwerer zu bestimmen sind, nicht ein - schlagen läſst und dasselbe von den untersten der Thiere bis zum Menschen verfolgen.

Die ersten Rudimente eines solchen Organs zeigen sich bey den Würmern. Doch giebt esE e 2nur430nur zwey Thiere dieser Classe, die von Ran - zanic)Opuscoli scientifici. T. I. Bologna. 1817. p. 105. unter dem Namen Phyllodoce maxillosa beschriebene Art und Otto’s Aphrodite hepta - cerac*)A. G. Otto Conspectus animalium quorundam ma - ritimorum, nondum editorum P. I. Vratislav. 1821. p. 16., wobey man Augen annehmen darf, die bey beyden gestielt sind. Man hat zwar auch die glänzenden Punkte, die man nicht nur bey den Blutegeln. Naiden und Nereiden, son - dern selbst bey mehreren Cercarien, bey Enche - lys Pulvisculus und den Furcularien findetd)Nitzsch’s Beyträge zur Infusorienkunde. S. 10. Du Trochet, Ann. du Mus. d’Hist, nat. T. XIX. p. 355., für Augen gehalten. Ich habe aber gegen diese Meinung schon im 1ten Bande der Biologie (S. 385.) Einwendungen gemacht, deren Gewicht durch neuere Versuche und Beobachtungen von Braune)Systematische Beschreibung einiger Egelarten. S. 6. und Kunzmannf)Anatomisch-physiolog. Untersuchungen über den Blutegel. S. 11 fg. noch verstärkt wird. Braun setzte unter andern mehrere Blutegel in ein Glas voll Wasser und verfin - sterte dasselbe soviel wie möglich. Durch eine kleine Oeffnung bemerkte er, wann die Wür - mer sich beruhigt und an welcher Stelle sichdie431die meisten festgesogen hatten. Hier stellte er ein Licht daran und nahm dann schnell die Bedeckung weg. So oft dies ohne Stoſs oder ohne Bewegung des Glases geschahe, äuſserten alle Egel nicht die mindeste Empfindung. Eben so wenig wurden sie in einem verfinsterten Zimmer durch angezündetes Schieſspulver, wel - ches rings um das Glas, worin sie sich befan - den, gestreuet war, beunruhigt. Wurde aber durch eine solche Explosion irgend eine Stelle des Glases, an welcher sich ein Egel befestigt hatte, erwärmt, so entfloh derselbe augenblick - lich. Kunzmann wiederholte diese Versuche und fand sie völlig bestätigt.

Sehr allgemein sind dagegen wahre Augen bey den Insekten vorhanden. Sie zeigen sich hier in doppelter Gestalt: entweder als einfache Augen (stemmata), oder als zusammengesetzteg)Biol. Bd. 1. S. 357 fg.. Das einfache Insektenauge kannte man sonst nur als eine einfache Hornhaut, unter welcher sich ein kurzer, einfacher, mit einem farbigen Pigment bedeckter Fortsatz des Gehirns befindet. D. W. Sömmerringh)De oculorum hominis animaliumque soetione hori - zontali. p. 73. 74. entdeckte bey Libellula grandis und Aranea avicularia zwischen jenerHautE e 3432Haut und diesem Pigment eine fast kugelför - mige Linse. Dieses Auge ist also der erste Anfang der Werkzeuge des Sehens vermöge Brechung der Lichtstrahlen durch eine biconvexe Linse. Das zusammengesetzte. Auge ist eine polyedrische Hornhaut, hinter deren einzelnen, höchst zahlreichen, aber sehr kleinen Flächen sich eben so viele Sehenerven endigen, die bey den nächtlichen Insekten blos an den Rändern, bey denen aber, die am Tageslichte ihrer Nah - rung nachgehen, auch vorne einen farbigen Ueberzug haben. Bey der Schabe (Blatta orien - talis) und vielleicht auch bey den übrigen nächt - lichen Insekten liegt zwischen jeder Fläche der Hornhaut und deren Sehenerven noch eine durchsichtige, gallertartige Materie. Die Sehe - nerven jedes dieser Augen haben einen gemein - schaftlichen Ursprung aus dem Gehirne. Nach - dem sie durch eine, der Hornhaut gegenüber liegende, häutige Scheidewand gedrungen sind, die viele Tracheen enthält und von der sie einen Ueberzug zu bekommen scheinen, zeigen sie sich als einzelne Fäden. Was man noch weiter am innern Bau dieser Augen beobachtet haben willi)Marcei de Serres sur les yeux composés et les yeux lisses des Insectes. Montpellier. 1813., habe ich nicht bestätigt gefunden. Beyderley Augen sind immer unbedeckt und inder433der Regel unbeweglich. Nur bey den krebs - artigen Crustaceen haben die zusammengesetzten Augen vermöge des Stiels, worauf sie sitzen, einen geringen Grad von Beweglichkeit, und bey den Daphnien ist das aus mehrern ein - fachen Augen bestehende Gesichtsorgan der Zu - rückziehung durch vier Muskeln fähigk)Straus, Mém. du Mus. d’Hist. nat. T. V. p. 397.. Der zusammengesetzten Augen giebt es stets zwey, und sie liegen immer zu beyden Seiten des[Kopfs]. Die Zahl und Stellung der einfachen Augen ist verschieden in den verschiedenen Familien der Insektenl)Lehmann de sensib. extern. anim. exsang. p. 16.. Sie nehmen, in viel - facher Zahl gedrängt an einander liegend, bey mehrern flügellosen Insekten die sonstige Stelle der zusammengesetzten Augen ein.

Weit weniger allgemein als bey den Insek - ten ist die Gegenwart des Gesichtswerkzeugs bey den Mollusken. Wir finden dasselbe nur in der Familie der Schnecken (Gasteropoden) und der Sepien (Cephalopoden), und auch in jener Familie sind bey weitem nicht alle Ge - schlechter damit versehen. Der Bau des Schnek - kenauges kömmt dem der einfachen Insekten - augen am nächsten. Das Wesentliche desselben ist eine gallertartige Linse, die vorne von einerHorn -E e 4434Hornhaut bedeckt, hinten von einer becherför - migen Ausbreitung des Sehenerven umfaſst und am Seitenrande von einem dunkelfarbigen Pig - ment umgeben istm)Stiebel in Meckel’s Archiv f. d. Physiol. B. V. S. 296.. Eigenthümlich diesem Auge ist dessen Verbindung mit dem Kopf durch einen hohlen, fleischigen, nach allen Seiten beweglichen Cylinder, worin dasselbe durch Muskeln zurückgezogen wird. Der letz - tere tritt hierbey zu gleicher Zeit ungestreift in den Körper der Schnecken)Swammerdamm Bibl. Nat. T. I. p. 101 sq. Cuvier, Annales du Mus. d’Hist. nat. T. VII. p. 153.. Beym Nachlaſs der Muskeln streckt er sich durch eine Tur - gescenz wieder aus, die vielleicht durch Ein - dringen von Luft in seine Höhlung vermöge eines noch unbekannten Mechanismus unterstützt wird.

Bey den Sepien beginnt die Bildung des Auges der Wirbelthiere. Es giebt hier auſser einer Hornhaut und einer Linse noch eine dritte, zwischen dieser und der Ausbreitung des Sehe - nerven liegende durchsichtige Substanz, einen Glaskörper; eine Sklerotika, die den ganzen Augapfel umfaſst und zu einem isolirten Gan - zen macht; ein Rudiment einer Choroidea, welche die Ausbreitung des Sehenerven, dieReti -435Retina, von der Sklerotika scheidet, und einen ähnlichen, um den Eintritt des Sehenerven lie - genden rothen Körper, wie die Fische besitzen. Aber es fehlen noch die wäſsrige Feuchtigkeit, die Iris, die Ciliarnerven, das Gefäſsnetz der Choroidea, das Pigment dieser Aderhaut, statt dessen hier, wie bey den Insekten, die Retina nach Innen einen farbigen Ueberzug hat, und die sechs Muskeln des Augapfels, für welche hier blos ein oberer und unterer fleischiger Strang vorhanden isto)Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus. B. 3. S. 154..

Der Besitz dieser, dem Sepienauge fehlen - den Stücke in Verbindung mit dem, was das - selbe vor den Augen der übrigen wirbellosen Thiere voraus hat, charakterisirt das Auge der Wirbelthiere, und die Zunahme in der Ausbil - dung desselben giebt sich vorzüglich dadurch zu erkennen, daſs die den sämmtlichen wirbello - sen Thieren fehlende wäſsrige Feuchtigkeit an Masse zunimmt, indem die Crystalllinse statt der Kugelform eine flachere Gestalt erhält, der ganze Augapfel hingegen immer mehr sphärisch wird.

Die Stufenfolge beruhet aber blos auf Ver - schiedenheiten dem Grade nach. GegensätzezeigenE e 5436zeigen sich in derselben besonders an der Ge - genwart oder Abwesenheit von Absonderungs - werkzeugen der Thränen. Alle Säugthiere, die Cetaceen ausgenommen, alle Vögel und die meisten Amphibien besitzen diese Organe. Die Gegenwart derselben ist Kennzeichen der grö - ſsern Beweglichkeit des Augapfels und der - hern Ausbildung des Gesichtsorgans.

Wo diese Drüsen zugegen sind, giebt es zugleich eine, der Zusammenziehung und Er - weiterung fähige Iris und in der Regel auch bewegliche Augenlieder. Einige Fische haben zwar, obgleich ihnen Thränendrüsen fehlen, doch eine gespaltene Augendecke, deren Oeff - nung sich erweitern und verengern läſst. Aber es fehlt ihnen die Beweglichkeit der Iris.

Wo die Iris diese Eigenschaft hat, ist fer - ner stets auch ein Strahlenkranz am Umfange der Linse, eine Verbindung dieses Kranzes und der Iris mit Ciliarnerven, und eine ihrer ganzen Ausbreitung nach völlig geschlossene Retina vorhanden. Es finden sich zwar auch bey eini - gen Fischen Ciliarfortsätze, doch nur als Rudi - ment des Strahlenkranzes der höhern Thiere. Die Unterbrechung des Zusammenhangs der Netzhaut zeigt sich im Auge der Fische als eine von dem Eintritt des Sehenerven bis zur Linsegehende437gehende Spalte dieser Haut, (die sehr uneigent - lich so genannte sichelförmige Falte, pro - cessus falciformis) in welcher das schwarze Pig - ment der Choroidea von ihr unbedeckt liegt.

Bis hieher hat also das Gesichtsorgan nur auf den höhern Bildungsstufen positive Charak - tere. Doch fehlen diese auch an dem Auge der Fische nicht. Sie bestehen in der Gegenwart eines rothen Körpers zwischen der Sklerotika und der Choroidea, der in Gestalt eines Huf - eisens um den Sehenerven liegt; einer silber - farbenen Haut, welche unter der Sklerotika diesen Körper und die Choroidea bedeckt, und eines eigenen, in dem sichelförmigen Ausschnitt der Retina liegenden Nerven. Der letztere ist vorzüglich eine merkwürdige Eigenthümlichkeit des Fischauges. Man hat ihn für einen Fort - satz des Sehenerven gehalten und ich habe ihn auch sonst dafür angesehen. Es ist mir aber zweifelhaft geworden, ob er nicht eigentlich ein Ciliarnerve ist, der mit dem Sehenerven eine gemeinschaftliche Scheide hat. Er erstreckt sich bis zur Linse, und schwillt neben derselben zu einem kegelförmigen Knoten, welcher mit dem nämlichen schwarzen Pigment wie die innere Seite der Choroidea bedeckt ist, und mit diesem Ueberzug die sogenannte Campanula des Fisch - auges ausmacht.

Diese438

Diese positiven Charaktere fehlen dem Auge der sämmtlichen Amphibien, welches im Uebrigen bey einigen Geschlechtern dem Auge der Fische, bey andern dem der Vögel ver - wandt ist.

Das Auge der Vögel hat sehr unterschei - dende positive Merkmale an der Gegenwart des schwarzen Fächers (pecten plicatum), verbunden mit groſser Beweglichkeit des untern Augen - lieds. Die letztere ist zwar auch den Crocodilen und Schildkröten eigen. Allein der schwarze Fächer fehlt den Schildkröten ganz und ist bey den Crocodilen blos angedeutet. Ein weniger allgemein gültiges positives Kennzeichen des Vogelauges ist der knöcherne Ring, der den Theil desselben, in welchem sich die Linse be - findet, so weit, als sich die Ciliarfortsätze er - strecken, von auſsen umgiebt. Bey den krähen - artigen Vögeln findet man statt dessen blos eine Verdickung des vordern Theils der Sklerotika, wie es auch bey dem Bären, dem Dachs und mehrern andern Säugthieren giebt.

Wie bey den Vögeln das untere, so ist bey den Säugthieren das obere Augenlied das be - weglichere und mit mehr Muskelfasern als das obere versehen. Dieser Gegensatz macht den einzigen, allgemein gültigen, positiven Unter - schied zwischen den Augen der beyden ober -sten439sten Thierclassen aus. Alle übrige Verschie - denheiten zwischen ihnen sind entweder blos negativer Art, z. B. die Abwesenheit des gefal - tenen Kamms bey den Säugthieren, oder be - stehen in Abänderungen des Verhältnisses von Theilen, die beyden gemein sind. Wäre die Mannichfaltigkeit der Theile eines Organs allein ein richtiger Maaſsstab für die Vollkommenheit der Funktion desselben, so würden die Vögel in Rücksicht auf den Gesichtssinn über den Säugthieren und selbst über dem Menschen ste - hen. Allein nicht bey allen Organen und vor - züglich nicht bey dem Sehewerkzeug läſst sich von dem zusammengesetztern Bau auf eine - here Stufe der Thätigkeit desselben in jeder Beziehung schlieſsen. Schon von der objektiven Seite hat jener Sinn Modifikationen, die sich nicht auf bloſse quantitative Verschiedenheiten zurückführen lassen, und sehr verschieden ist auch das Verhältniſs seiner subjektiven Thätigkeit gegen die objektive. Diese sind bey dem Ge - sichtssinn schärfer als bey den übrigen Sinnen zu sondern, und ihre Trennung ist bey jenem auch leichter als bey den übrigen möglich. Wir werden zuerst das Sehen von der objektiven Seite betrachten und hierbey weiter ausführen, was wir bisher nur in Umrissen entworfen haben.

Zwey -440

Zweytes Kapitel. Das Sehen von der objektiven Seite.

§. 1. Das Sehen in Beziehung auf die Nähe und Ferne der Gegenstände.

Das einfachste Sehen ist das, welches durch das zusammengesetzte Auge der Tages-Insekten geschieht. Dieses geht, wie schon Swammer - dammp)A. a. O. p. 397. mit Recht behauptete, zum Theil nach catoptrischen Gesetzen vor sich. Nur diejenigen Strahlen der Objekte werden zum Sehenerven durchgelassen, die senkrecht auf eine von den vielen Flächen der vieleckigen Hornhaut fallen, alle übrige aber von dem glänzenden Pigment, welches sich unmittelbar unter dieser Haut be - findet, zurückgeworfen. Jeder Punkt eines Objekts wird daher nur durch Einen Strahl des ganzen Büschels, der von ihm zum Auge geht, sichtbar gemacht. Es kann also nur eine schwache Reitzung des Sehenerven, besonders von entfernten Gegenständen, statt finden, und alle Objekte, von welchen parallele Strahleneine441eine gröſsere Fläche der Hornhaut treffen, müs - sen dem Insekt an ihrem Umfange verkürzt und undeutlich erscheinen. Auch ist wegen des farbigen Pigments, welches die Ausbreitung des Sehenerven bedeckt, keine Unterscheidung der Farben für das Insekt möglich. Der einzige Vortheil, der für die Unvollkommenheit des Sehens bey diesem Augenbau einigen Ersatz giebt, ist die sehr weite Ausdehnung des Ge - sichtsfeldes.

Diese Sätze lassen sich zwar nicht unmittel - bar durch Erfahrungen darthun. Die bisherigen Versuche über das Sehen der Insekten, wobey man die zusammengesetzten Augen derselben entweder abschnittq)R. Hook Micrograph. p. 178. Rösel’s Insektenbeln - stigung. Th. 2. Mücken u. Schnecken. S. 51., oder mit undurchsichti - gen Materien bestrichr)Swammerdamm a. a. O. p. 501. Reaumur Mém. pour servir à l’Hist. des Ins. T. V. p. 287 der Ausg. in 410., lehren entweder gar nichts, indem das Verhalten der Thiere nach der Operation eben so wohl von dem heftigen Eindruck der Durchschneidung des Sehenerven auf das ganze Nervensystem, als von dem Ver - lust des Gesichts herrühren konnte; oder sie beweisen nur im Allgemeinen, daſs jene Augen wirklich Sehewerkzeuge sind. Die tägliche Er -fah -442fahrung zeigt indeſs, daſs selbst diejenigen In - sekten, welche die gröſsten zusammengesetzten Augen haben, z. B. die gröſsern Tagschmetter - linge und Neuropteren, nicht weitsehend seyn können. Auch die scheuesten dieser Thiere entfliehen nicht, wenn man sich ihnen nähert, ohne ihnen seinen Schatten zuzuwerfen und ohne Geräusch zu machen, solange man ihrer Vorderseite nicht bis auf 10, höchstens 15 Fuſs nahe kömmt. Manche Beobachtungen lassen vermuthen, daſs sie oft mehr durch den bloſsen Unterschied von Licht und Schatten, als durch das Wahrnehmen wirklicher Gegenstände bey ihren Handlungen geleitet werden*)G. Mackenzie bemerkte unter andern, daſs Hum - meln, die in einem dunkeln Hinterhause ihr Nest hatten, alle an der Grenze des Schattens der Thüre davonflogen, und zwar mehrere Fuſs weit von der Stelle, wo sie gewöhnlich ihren Aufflug zu nehmen pflegten, als die Thüre dieses Hauses zufällig offen stand. Er veränderte die Oeffnung der Thüre und fand, daſs die Grenze des Schattens immer die Stelle blieb, wo sie aufflogen, auch daſs das Oeffnen die Hummeln beständig in Verwirrung setzte. (The Edinburgh philosoph. Journ. No. V. p. 67.).. Die mei - sten geflügelten Insekten würden auch nicht neben den zusammengesetzten Augen noch Ge - sichtswerkzeuge anderer Art besitzen, wenn ih - nen jene zum Nahesehen hinreichend wären.

Organe443

Organe der letztern Art sind die einfachen Augen der Insekten und Schnecken. Das Sehen geschieht durch diese nach dioptrischen, wie durch die zusammengesetzten Augen nach ca - toptrischen Gesetzen. Durch sie gelanget nicht blos ein einfacher Strahl von jedem Punkt des Objekts zur Netzhaut, sondern der ganze, von diesem Punkt auf das Auge fallende Strahlen - kegel wird durch die Linse so gebrochen, daſs alle Strahlen desselben sich hinter der letztern zu Einem Punkte wieder vereinigen. Da auf diese Weise alle Strahlen jedes sichtbaren Punkts die Netzhaut rühren, so wird der Eindruck auf dieselbe weit stärker und das Sehen weit deut - licher als bey der erstern Art seyn. Wegen der groſsen Convexität sowohl der Hornhaut als der Linse des einfachen Auges ist aber die Vereinigung der gebrochenen Strahlen auf der Netzhaut nur bey sehr nahen Gegenständen möglich und der Gebrauch dieses Auges nur auf das Nahesehen und auf sehr kleine Objekte beschränkt. Darum sind die ungeflügelten Insek - ten, die des Weitsehens nicht bedürfen, denen aber das Gesicht für die Nähe von desto grö - ſserm Werthe ist, blos mit einfachen Augen, mit solchen aber auch in sehr groſser Zahl versehen, und darum kann man sich allen die - sen Insekten weit mehr als den geflügelten nähern, ohne sie zu verscheuchen, wenn manVI. Bd. F fnur444nur vermeidet, sie durch Geräusch, Luftzug oder plötzliche Beschattung aufzuschrecken. Daſs sie aber zum Theil ein gutes Gesicht für nahe Gegenstände und ein scharfes Augenmaaſs haben müssen, beweisen die wandernden Spinnen, die ihre Beute mit Einem Sprunge erhaschen und nie verfehlens)Lyonnet in Lesser’s Theol. des Ins. T. II. p. 4..

So konnte indeſs das Auge nur bey Thie - ren organisirt seyn, deren übrige Bildung eine groſse Ausdehnung oder Vervielfältigung des Auges gestattete, für die aber kein genaues Unterscheidungsvermögen der Farben und des Umrisses der Gegenstände nothwendig war. Wo hingegen das Gesichtswerkzeug auf einen klei - nern Theil des Kopfs eingeschränkt werden muſste, um Raum für die höhere Ausbildung der übrigen Sinnesorgane und des Gehirns zu erhalten, und wo bey dieser Beschränkung doch das Vermögen, in verschiedenen Entfernungen, nach verschiedenen Richtungen und bey ver - schiedenem Lichte zu sehen und die Farben zu unterscheiden, zugegen seyn sollte, bedurfte es einer andern Bildung des Auges. Die Natur erreichte diese Zwecke, indem sie dem letztern eine runde Gestalt gab und dasselbe mit Augen - liedern, einem eigenen Apparat von Muskeln, einer der Erweiterung und Verengerung fähigenPu -445Pupille, und durchsichtigen Theilen von sehr regelmäſsiger Gestalt und von verschiedener strahlenbrechender Kraft ausstattete.

Die erste und wichtigste unter diesen Ei - genthümlichkeiten des Auges der Wirbelthiere ist die Zusammensetzung des durchsichtigen Theils derselben aus Flüssigkeiten von ver - schiedener Dichtigkeit und Häuten von verschie - dener Ründung. Soweit der Zweck dieser Bil - dung sich auf die Darstellung von Bildern der äuſsern Gegenstände im Innern des Auges wie in einer Camera obscura bezieht, ist derselbe schon in frühen Zeiten, nachdem die Grund - gesetze der Dioptrik entdeckt waren, von Kep - ler und Scheiner erkannt worden. Man hat auch ohne Schwierigkeiten und befriedigend aus der verschiedenen Ründung der Cornea und der Cristalllinse das Vermögen, die Gegenstände in gröſsern oder geringern Entfernungen zu unter - scheiden, erklärt. Bey den Thieren sind ähn - licher Erklärungen noch nicht viele versucht worden und es giebt hierbey auch gröſsere Schwierigkeiten als bey der Theorie des mensch - lichen Sehens. Beym Menschen ist blos die Gestalt der Theile des Auges zu berücksichti - gen; die Dichtigkeit der verschiedenen Flüssig - keiten des letztern ist bey den verschiedenen Individuen des Menschengeschlechts so verschie -F f 2den446den nicht, daſs es nöthig wäre, sie mit in Anschlag zu bringen. Bey den verschiedenen Thierarten aber finden sich groſse Abweichungen in dieser Dichtigkeit, die schwer zu bestimmen und schwer mit in Rechnung zu bringen sind.

Soviel ist gewiſs, daſs unter den Thieren ein ähnlicher Unterschied in Rücksicht auf den Wirkungskreis des Gesichts herrscht, wie in Betreff der Sphäre, über welche sich der Ge - ruch und das Gehör erstreckt. Um hierüber etwas Näheres auszumachen, wird es nothwen - dig seyn, die Gröſse und Gestalt des Auges und das gegenseitige Verhältniſs der durchsichti - gen Theile desselben bey den verschiedenen Thieren im Einzelnen zu untersuchen.

Die Gröſse des Augapfels steht mit der Gröſse des Thiers in einem gewissen Verhältniſs, das jedoch in den verschiedenen Thierclassen verschieden ist. Den gröſsten Augapfel haben in jener Beziehung die Vögel, den kleinsten der Mautwurf, der Igel, die Fledermäuse und die mäuseartigen Nagethiere.

Bey den meisten Thieren ist der Durch - messer des Augapfels gröſser als die Axe. Ausnahmen hiervon machen manche Schlangen, die Fledermäuse, der Igel, der Waschbär, der Dachs, der Fuchs, der Luchs, die Robbe, dieAffen447Affen und der Mensch. Bey dem Menschen und den Affen ist die Gestalt des ganzen Aug - apfels mehr kugelartig, als bey allen übrigen Thieren.

Die Hornhaut ist verschieden in Betreff ih - rer Convexität, Gröſse und Dicke. Die flachste Cornea besitzen viele Fische, z. B. die Gadus - arten. In der Classe der Amphibien ist sie bey mehrern Schlangen ebenfalls sehr flach. Die Vögel haben eine Hornhaut von mittlerer Con - vexität. Am gröſsten ist in dieser Thierclasse der Radius derselben bey dem Strauſs und den gröſsern Raubvögeln, doch bey keinem dersel - ben so flach, als bey den gröſsern Arten der Säugthiere. Diese letztern machen in Rücksicht auf die Ründung ihrer Hornhaut eine Reihe aus, an deren einem Ende die Cetaceen, die schweineartigen Thiere, die Wiederkäuer und die Einhufer stehen, Thiere, bey welchen die Cornea sehr flach ist. Eine etwas gröſsere Ründung hat sie bey den Robben und den meisten Raubthieren. Runder wird sie bey den Nagern, und am convexesten findet man sie bey den Fledermäusen, dem Igel und dem Maulwurf.

Mit der Ründung der Hornhaut steht das Verhältniſs ihrer Gröſse zu der des ganzen Augapfels in keiner festen Beziehung. Ver -F f 3gleicht448gleicht man ihren Durchmesser mit dem des Augapfels, so findet man sie von geringerer Breite als im ganzen übrigen Thierreiche beym Wallfische. Etwas breiter ist sie bey dem Men - schen, den Affen, dem Elephant, dem Pferde, den meisten Vögeln, den Schildkröten und Eidechsen. Die gröſste Breite gegen die des Augapfels hat sie bey den Nagethieren, dem Dachs, den Fledermäusen, dem Maulwurf, dem Igel und den Schlangen.

Eine nähere Beziehung auf die Convexität der Cornea als jenes Verhältniſs hat das Ver - hältniſs des Kugelabschnitts, welchen sie bildet, zur ganzen Kugel, wozu dieser gehört. Klein ist dieser Abschnitt bey den Fischen und den meisten Amphibien, besonders den Schlangen, hingegen eine völlige Halbkugel bey dem Dachs, dem Igel und der Fledermaus. Eine Abwei - chung von dieser Regel zeigt sich indeſs bey dem Menschen und den Vögeln. Jener hat eine Hornhaut von mittlerer Convexität, die aber einen kleinern Kugelabschnitt als bey allen übrigen Säugthieren ausmacht. Unter den - geln ist selbst bey denen, die eine ziemlich flache Cornea haben, z. B. den Raubvögeln, dieser Theil ein groſses Kugelsegment*)Unrichtig ist von den Zootomen bisher die Gröſseder.

Die449

Die Dicke der Hornhaut hat man bey der Schätzung der strahlenbrechenden Kräfte des menschlichen Auges immer vernachlässigt, und bey diesem kann sie freylich auch auf die Re - fraktion keinen groſsen Einfluſs haben. Aber bey vielen Thieren ist sie so beträchtlich, daſs sie keinesweges unbeachtet gelassen werden darf. Ich fand unter andern ihre Dicke in Theilen der = 1 gesetzten Axe des innern Auges

  • bey dem Dachs .... = 0,17.
  • Bär ..... = 0,05.
  • Fuchs .... = 0,10.
  • Eichhörnchen ... = 0,15.
  • der Rostweyhe (Falco aeruginosus) = 0,09.
  • dem Bussard (Falco Buteo). = 0,05.

Die Dicke der Hornhaut macht also beym Dachs mehr als ein Sechstel der ganzen Axe des innern Auges aus, und ist nicht nur groſs beydie -*)der Cornea mit ihrer Convexität verwechselt. Jene wird durch das Verhältniſs der Sehne ihres gröſsten Bogens zum Durchmesser der Kugel, wozu sie ge - hört, diese durch die absolute Gröſse ihres Radius bestimmt. Ich muſs gestehen, daſs ich mich selber durch Haller’s (Opp. min. T. I. p. 249.) Authorität habe verleiten lassen, im 1ten Bande der Biologie (S. 237.) den Raubvögeln unrichtig eine sehr convexe Hornhaut zuzuschreiben.F f 4450diesem unterirdischen Thier, sondern auch bey mehrern Säugthieren, die eine ganz andere Lebensweise als der Dachs haben, und selbst bey den in den Lüften schwebenden und weit sehenden Falken.

Bey der Crystalllinse ist das Verhaltniſs ih - rer Axe zu ihrem Durchmesser, die gröſsere oder geringere Rundung ihrer vordern und hin - tern Fläche, das Verhältniſs ihrer Gröſse und Gestalt zu der der Cornea und des Augapfels, und ihre Entfernung von der Hornhaut und dem Hintergrunde des innern Auges zu be - trachten.

Aus dem Verhältniſs des Durchmessers der Linse zu ihrer Axe allein läſst sich wenig schlieſsen. Die Convexität ihrer vordern und hintern Fläche und ihre Gestalt können dabey sehr verschieden seyn. Bey jenem Verhältniſs ist zugleich die Gröſse des Radius der vordern und hintern Krümmung dieses Organs in An - schlag zu bringen.

Den gröſsten Durchmesser in Vergleichung mit der Axe hat die Linse im ganzen Thier - reiche beym Menschen. Diesem stehen hierin die Affen, der Strauſs, mehrere Falken, der Psittacus Aracanga und der Seidenschwanz am nächsten. Hierauf folgen das Pferd, das Mur - melthier, der Wallfisch, die Nebelkrähe, derSper -451Sperber, die Midasschildkröte und Lacerta Mo - nitor. Mehr nähern sich jene Dimensionen dem Verhältniſs der Gleichheit bey den meisten Raubthieren, Nagern, Wiederkäuern. hühner - artigen Vögeln, Sumpf - und Wasservögeln. Am nächsten kommen sie der Gleichheit bey dem Dachs, dem Robben, den specht - und sperlingsartigen Vögeln, vielen Amphibien, be - sonders den Schlangen, und den Fischen. Bey den letztern Thieren ist zugleich der Radius der vordern Fläche der Linse dem der hintern fast gleich und dieses Organ fast kugelförmig. Diese geringe Verschiedenheit in der Länge beyder Radien, doch bey einer nicht immer sphärischen Gestalt, finden wir überhaupt bey den im Wasser, im Wasser und in der Luft zugleich, oder unter der Erde lebenden Thie - ren*)Nach meinen Ausmessungen weicht auch der Wall - fisch von dieser Regel nicht so sehr ab, als nach D. W. Sömmerring’s Angabe (in dessen Commen - tatio de oculorum hominis animaliumque sectione horizontali. Götting. 1818.) der Fall seyn würde. Ich finde bey demselben den Unterschied zwischen den Halbmessern der vordern und hintern Fläche der Linse nur = 0,13; nach der Tafel in Sömmerring’s Schrift würde er = 0,9 seyn. Ich muſs um so mehr die Richtigkeit der Sömmerringschen Ausmes -sung. Bey den meisten Thieren aber hat dievor -F f 5452vordere Fläche der Linse einen gröſsern Ra - dius, also eine geringere Krümmung, als die hintere. Der Unterschied zwischen beyden Halbmessern ist am gröſsten bey dem Menschen und dem Strauſs, nächst diesem bey den Affen, welchen letztern in dieser Rücksicht der Stein - adler, die gröſsern Säugthiere aus den Familien der Schweine und der Wiederkäuer folgen. Die absolute Gröſse beyder Halbmesser und die Convexität der ganzen Linse steht im Allge - meinen mit der Gröſse des Thiers in Verhält - niſs. Eine wenig convexe Linse haben daher der Wallfisch, der Elephant, das Pferd und die gröſsern Raubvögel, eine sehr convexe die Fle - dermaus, der Maulwurf, der Igel, die meisten Nagethiere, die sperlingsartigen Vögel und der Frosch.

Von dem Verhältniſs der Gröſse der Cornea gegen die der Kugel, wovon sie einen Theil ausmacht, hängt die Gröſse des Gesichtsfeldes ab. Es wird diese zwar auch durch die tiefere oder mehr hervorragende Lage der Augen,durch*)sung bezweifeln, da ich auch beym Narhwal einen sehr geringen. Unterschied zwischen den Halbmes - sern beyder Flächen der Linse bemerkt habe. Unsere übrigen Ausmessungen des Wallfischauges stimmen ziemlich nahe überein. An der Verschiedenheit der von uns untersuchten Arten kann also die obige Abweichung nicht etwa liegen.453durch die Weite der Pupille und durch das Verhältniſs der Hornhaut zu den übrigen durch - sichtigen Theilen des Auges modifizirt. Jenes Verhältniſs ist jedoch ein Hauptfactor, nach welchem sich auch diese übrigen in gewissem Grade richten. Ein kleines Gesichtsfeld haben daher die Fische und die meisten Amphibien, besonders die Schlangen, ein sehr groſses die meisten Vögel, besonders der Kreutzschnabel, die Krähen und der Bussard, ferner die Fle - dermäuse, der Igel, die Nagethiere, mehrere Raubthiere und Wiederkäuer, vorzüglich der Bär und der Dachs. Beschränkter als bey den übrigen Säugthieren ist die Sphäre des Gesichts beym Menschen, in so weit dieselbe durch die Gröſse der Cornea bestimmt wird.

Die Convexität der vordern Fläche der Linse und der Hornhaut, und das Verhältniſs der Axe der Linse zu ihrem Durchmesser sind die Hauptmomente, welche zusammengenommen das Vermögen des Nahe - und Fernsehens be - stimmen. Auſserdem kommen hierbey aber auch noch die Beschaffenheit des Medium, worin sich das Thier aufhält, und das Brechungsvermögen der verschiedenen durchsichtigen Theile des Auges mit in Anschlag.

Für die unter dem Wasser lebenden Thiere ist die Crystalllinse das Hauptorgan, wodurchdie454die Brechung der Lichtstrahlen geschieht. Die Hornhaut und die wäſsrige Feuchtigkeit haben bey ihnen hierauf keinen so groſsen Einfluſs wie bey den Landthieren und Vögeln, weil die Dichtigkeit dieser Flüssigkeit von der des Was - sers, besonders des Meerwassers, nicht so ver - schieden als von der Dichtigkeit der Lust ist. Ihnen muſste daher die Hornhaut und die wäſs - rige Feuchtigkeit durch eine mehr kugelförmige Linse ersetzt werden. Bey den Land - und Lustthieren ist die Hornhaut und die wäſsrige Flüssigkeit von gröſserer Wichtigkeit. Ihnen kann für eine geringere Convexität und Dich - tigkeit der Linse eine gröſsere Ründung und Dicke der Hornhaut und eine gröſsere Dichtig - keit der wäſsrigen und gläsernen Feuchtigkeit Ersatz geben, und das Vermögen des Nahe - und Fernsehens kann bey ihnen, einer ver - schiedenen Gestalt und Brechungskraft der durchsichtigen Theile des Auges ohngeachtet, doch von gleicher Beschaffenheit seyn.

Die verschiedene Dichtigkeit der durchsich - tigen Theile des Auges in den verschiedenen Thierclassen zeigt sich vorzüglich an der Linse. Diese ist bey allen Thieren aus concentrischen Schichten zusammengesetzt. Bey vielen Vögeln sind dieselben mehr gleichartig, als bey den übrigen Thieren, und sowohl nach innen alsnach455nach auſsen aus einer weichen, fasrigen Sub - stanz gebildet. Bey den übrigen Thieren macht diese weiche Substanz blos den äuſsern Theil der Linse, eine Art von Schaale, aus, die einen weit härtern, in Branntwein die Farbe des Bernsteins annehmenden Kern enthält. In der Mitte dieses Kerns ist bey den Fischent)Rosenthal in Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. X. S. 409., und nach meinen Beobachtungen auch beym Wallfisch und Narhwal, noch eine dritte, sehr harte Substanz enthalten, die bey den Fischen nicht wie die bey den übrigen Thieren in Wein - geist und Säuren ihre Durchsichtigkeit verliert, hingegen bey jenen Cetaceen, in Branntwein erhärtet, auf dem Durchschnitt eine Perlmut - terfarbe und einen muschlichen Bruch zeigt. Die zweyte Substanz nimmt bey den meisten Thieren von Auſsen nach ihrer Mitte hin, bey einigen hühnerartigen Vögeln, z. B. dem Puter, aber umgekehrt von Innen nach Auſsen, an Härte zu und steht bey den verschiedenen Thieren in sehr verschiedenem Verhältniſs ge - gen die weiche Schaale. Auch wird sie bey manchen Thieren auf ihrer vordern oder hin - tern Fläche von einer weit dickern Lage der weichen, auſsersten Substanz bedeckt. Die Licht - strahlen erleiden also durch die Linse eine sehr vielfache Brechung. Ihr Weg durch diesenKör -456Körper ist eine krumme oder gebrochene Linie, und ihre Brechung nach dem Perpendikel hin ist desto stärker, je näher zur Axe der Linse sie einfallen, am stärksten bey den Fischen.

Ueber das verschiedene Brechungsvermögen der wäſsrigen und gläsernen Feuchtigkeit bey den verschiedenen Thieren fehlt es noch sehr an Beobachtungen. La Billardiere und - ronu)Entdeckungsreise nach den Südländern. Uebers. von Hausleutner B. 2. S. 39. fanden indeſs die Glasfeuchtigkeit der Phoca proboscidea Peron., so wie auch die Crystalllinse dieses Thiers, auffallend dicht bey einem sehr platten Auge. Daſs die Dichtigkeit des Glaskörpers im Thierreiche ebenfalls sehr verschieden seyn muſs, erhellet aus der ver - schiedenen Masse und Dichtigkeit der Glashaut und dem verschiedenen Grade der Zusammen - ziehung, welche dieselbe in Weingeist erleidet. In manchen Thieraugen, die eine längere Zeit in Weingeist gelegen haben, findet man nur eine sehr geringe Quantität derselben; in andern füllt sie die Höhlung des innern Auges hinter der Linse gröſstentheils aus. Was mir an Resultaten von zuverläſsigern Versuchen über die Dichtigkeit der verschiedenen Feuchtigkeiten des Menschen - und Thierauges bekannt gewor - den ist, enthält die nebenstehende Tafel, worindie457Dichtigkeit der Feuchtigkeiten des Auges bey dem Menschen, dem Ochsen und dem Kabljau.

458die Zahlen auf die von Brewster bestimmte Dichtigkeit des Wassers (= 1,5358) reducirt sind.

Bey dieser Tafel ist aber nicht zu übersehen, daſs das Brechungsvermögen der Feuchtigkeiten des Auges nicht mit ihrer Dichtigkeit allein in Verhältniſs steht. A. Monrov)Vergl. des Baues u. der Physiol. der Fische u. s. w. S, 78. fand, daſs der kugelförmige Kern der Linse des Kabljau sei - nen Brennpunkt um wenig mehr als seines Durchmessers hinter sich hatte; wäre der Kern von Glas gewesen, so würde die Entfernung des Brennpunkts von der hintern Fläche dessel - ben ¼ seines Durchmessers betragen haben. Da nun die sämmtlichen, bisher aufgezählten Um - stände auf den Grad des Vermögens jeder Thierart, nahe oder entfernte Gegenstände wahr - zunehmen, Einfluſs haben, und doch diese zum Theil völlig unbestimmt, zum Theil keiner ge - nauen Bestimmung fähig sind, so läſst sich der Grad jenes Vermögens aus ihnen nicht berech - nen. Es giebt aber eine, leicht zu messende Gröſse, nach welcher dasselbe geschätzt werden kann, nämlich die Entfernung der Linse von der in der Axe des Auges liegenden Stelle der Netzhaut. In dieser Gegend der Retina müssen beym deutlichen Sehen alle, von Einem PunkteinesZu S. 459. Dimensionsverhältnisse der Haupttheile des Auges in den ver - schiedenen Classen und Familien der Wirbelthiere. Erste Tafel.

Zu S. 459. Dimensionsverhältnisse der Haupttheile des Auges in den ver - schiedenen Classen und Familien der Wirbelthiere. Zweyte Tafel.

459eines Gegenstandes ausgehende Strahlen sich wieder vereinigen.

Nach dieser Voraussetzung sind in den bey - den, zur gegenwärtigen Seite gehörigen Tafeln die Wirbelthiere jeder Classe, deren Augen theils von D. W. Sömmerringw)De oculorum hominis animaliumque sectione hori - zontali., theils von mir in Rücksicht auf die Dimensionen des Auges untersucht sind, geordnet. Man findet hier für jede Thierart in der ersten senkrechten Reihe die Gröſse des, zwischen der hintern Fläche der Linse und der Retina enthaltenen Theils der Augenaxe in Pariser Maaſs. Die folgenden Reihen enthalten in demselben Maaſs den Radius des gröſsten Bogens beyder Flächen der Linse und der Hornhaut, das Verhältniſs der Axe der Linse und des Augapfels zu deren Durchmessern, so wie der Sehne des gröſsten Bogens der Hornhaut zum Durchmesser des Augapfels, und die Gröſse dieses Bogens der Cornea in Graden und Minuten. Diese Zahlen geben die Belege zu dem, was im Obigen über den Einfluſs der einzelnen durchsichtigen Theile des Auges auf das Sehen bemerkt ist. Es er - giebt sich zugleich daraus, daſs es vorzüglich die Gröſse des Radius der vordern Fläche derLinseVI. Bd. G g460Linse ist, womit der Grad des Fern - und Nahesehens in Verhältniſs steht, daſs aber auch viele Ausnahmen hiervon sind, in welchen sich dieser Grad als eben so abhängig von der hintern Krümmung der Linse und der Convexi - tät der Cornea zeigt, oder wo die Dichtigkeit und Mischung der Feuchtigkeiten des Auges einen nicht weniger groſsen Antheil, als die Formen der festen Theile desselben, an der Brechung der Strahlen haben müssen. Jene Zahlen können nicht auf mathematische Ge - nauigkeit Anspruch machen. Wer mit den Schwierigkeiten der Ausmessung des innern Auges einigermaaſsen bekannt ist, und bedenkt, daſs man die meisten Thiere zu dergleichen Untersuchungen nehmen muſs, wie sie der Zufall giebt, wird eine solche auch nicht er - warten. Zu Vergleichungen, um allgemeine Resultate zu ziehen, bedarf es ihrer aber auch nicht. Indeſs habe ich keine Messungen mit aufgenommen, in deren Richtigkeit ich Miſs - trauen zu setzen Ursache hatte*)So fand ich z. B. Sömmerring’s Ausmessung des Schwanenauges von der meinigen so abweichend, daſs ich beyde unterdrücken zu müssen geglaubt habe. Petit’s Ausmessungen (in den Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1730. p. 4. der Octav-Ausg. ) scheinen mir meist genau. A. Monro’s Einwurf ge -gen.

Die461

Die Stufenleiter der Thiere in den obigen Tafeln gilt von der Entfernung, in welcher die von jedem Punkt eines Gegenstandes ausgehen - den Strahlen auf der Netzhaut wieder vereinigt werden, die kleinern Theile des Objekts also dem Auge deutlich erscheinen. Je kürzer dieseEnt -*)gen ihre Richtigkeit (A. a. O. S. 77.), es sey un - möglich, mit den von Petit angegebenen Halb - messern Linsen von der Breite und Dicke zu be - schreiben, wie sie nach den Tafeln dieses Anatomen seyn sollen, ist sehr ungegründet. Die Linsen der meisten Thiere bestehen im Umriſs nicht aus zwey, sondern aus vier Bogen, einem vordern, einem hin - tern und zwey seitwärts gelegenen. Petit gab mit Recht nur den Halbmesser des vordern und hintern Bogens, und das Verhältniſs der Axe zum Durch - messer der Linse an, weil vorzüglich von diesen Gröſsen die brechende Kraft der Linse abhängt. Mit mehr Grund läſst sich einwenden, daſs bey den meisten Thieren die Bogen der Linse nicht Kreis - bogen, sondern krumme Linien anderer Art sind, und daſs es unmöglich ist, den Anfang und das Ende jedes Bogens genau zu bestimmen. Dieser Einwurf trifft aber nicht blos die Ausmessungen Petit’s, sondern auch aller übrigen Schriftsteller. Ich habe indeſs die von Petit gefundenen Zahlen nicht mit aufgenommen, weil sie blos die Linse be - treffen und keine Vergleichung mit den Dimensio - nen der übrigen Theile des Auges gestatten.G g 2462Entfernung ist, desto kurzsichtiger muſs das Auge seyn. Es läſst sich zwar einwenden: eine gröſsere Empfänglichkeit der Netzhaut für sicht - bare Eindrücke könne ersetzen, was diesen Eindrücken an absoluter Stärke abgeht. Allein die reitzbarere Retina kann nur von dem Ein - druck des Lichts und der Farben überhaupt leichter als die weniger erregbare gerührt wer - den; zur deutlichen Unterscheidung der Formen und räumlichen Verhältnisse der Gegenstände wird immer eine vollkommnere Organisation des äuſsern Auges die erste Bedingung seyn. Jene gröſsere Empfänglichkeit wird bey hellem Lichte diese Unterscheidung vielmehr hindern, als befördern. Das reitzbarere Auge vermag nur in der Dämmerung oder in der Dunkelheit die Gegenstände deutlich wahrzunehmen, und, da unter diesen Umständen von fernern Gegen - ständen keine Wirkung auf das Auge möglich ist, so muſs es immer kurzsichtig seyn. In den vorstehenden Tafeln nehmen daher auch die zur Nachtzeit ihrer Nahrung nachgehenden, oder in einem wenig erleuchteten Element lebenden Thiere die Stellen der Kurzsichtigen ein. Nur die Eule macht hiervon eine merkwürdige Aus - nahme. Sie bedarf zu ihrer Lebensweise der Presbyopie. Sie wird aber immer nur in der Dämmerung oder beym Mondlichte Gebrauch davon machen können, und nur zu dieser Zeit,nicht463nicht bey gänzlicher Dunkelheit, sucht sie auch ihren Unterhaltx)Buffon Hist. nat. des oiseaux. T. I. p. 77. der Zwey - brücker Ausg.. Alle übrige weitsehende Thiere hingegen leben in der freyen Luft und am Tageslichte, und gehen bey diesem ihrer Nahrung nach.

Nicht alle Stufen, welche die Thiere in den obigen Tafeln einnehmen, lassen sich in der Er - fahrung nachweisen, weil es uns hier, wie über - haupt in der ganzen vergleichenden Lebenslehre der Sinneswerkzeuge, zu sehr an Beobachtungen gebricht. Soweit diese aber reichen, stimmen sie mit der Folge in jenen Tafeln überein. So steht in denselben das Murmelthier, dessen Verwandten, die mäuseartigen Thiere, insge - sammt sehr kurzsichtig und nächtliche Thiere sind, über dem gemeinen Bär und dem Wasch - bär. Man weiſs aber auch, daſs das Murmel - thier am Tage seiner Nahrung nachgeht und wegen seines guten Gesichts schwer von den Jägern zu beschleichen ist, der Bär hingegen, sowohl der gemeine, als der Eisbär, und derWasch -G g 3464Waschbär, nur ein stumpfes Gesicht haty)Nat. Gesch. der in der Schweiz einheimischen Säug - thiere, von Römer u. Schinz. S. 55. 215. O. Fabri - cii Fauna Groenl. p. 23. D. G. Kieser de anamor - phosi oculi. p. 51.. Die weitsichtigsten Thiere sind nach unsern Tafeln der Strauſs, das Pferd, der Ochse, die Raubvögel und der Mensch. Ueber das Gesicht des Strauſses sind mir keine Beobachtungen be - kannt. Es ist aber wahrscheinlich, daſs er bey der weiten Entfernung seiner Augen von dem Erdboden, worauf er seine Nahrung zu suchen hat, und bey seinem Herumirren in weiten Sandmeeren, zu den sehr weitsichtigen Thieren gehört. Für einen hohen Grad von Pres - byopie des Pferdes und des Ochsens kann ich ebenfalls keine Beweise anführen. Zwey nahe Verwandten des Pferdes, den Dsiggetai (Equus Hemionus) und den wilden Esel (Equus Ona - ger), kennt man aber als sehr weitsehendz)Pallas, Neue Nordische Beyträge. B. 2. S. 8. 32.. Die Raubvögel, deren Presbyopie keinen Zwei - fel leidet und die derselben auch nicht entbeh - ren konnten, stehen in unsern Tafeln eine Stufe niedriger, als der Strauſs und das Pferd. Ihnen wird aber das Wahrnehmen entfernter Gegenstände durch die gröſsere Reinheit der Luft, aus welcher sie herabsehen, erleichtert. Sie können daher mit Augen, die weniger als die Gesichtsorgane der letztern Thiere für das Weitsehen gebildet sind, Gegenstände in gröſsern Entfernungen als diese erkennen. Daſs auchdas465das Gesicht des Menschen, solange er dem Naturzustande näher lebt, in sehr weite Fernen reicht, beweisen die im vorigen Abschnitt (S. 254. dieses Bandes) angeführten Zeugnisse. Was übrigens den Wallfisch und die Robbe betrifft, die nach der ersten Tafel mit zu den weit - sichtigen Säugthieren gehören, so können diese, als Wasserthiere, mit den neben ihnen stehen - den Landthieren freylich nicht ohne groſse Ein - schränkung verglichen werden.

§. 2. Schärfe des Gesichts.

Von dem Vermögen des Nahe - und Fern - sehens ist die Schärfe des Gesichts zu unter - scheiden, die zwar bey dem erstern wie bey dem letztern in einem gewissen Grade statt finden muſs, doch bey beyden einen höhern und niedern Grad haben kann. Sie besteht in dem genauen Wahrnehmungsvermögen aller Theile eines Gegenstandes in Rücksicht sowohl auf die Gestalt, als auf die Farben derselben. Bedingung dieser Schärfe ist völlig genaue Dar - stellung des Gegenstandes auf der Retina, wozu erfordert wird, daſs alle, von jedem Punkt des letztern ausgehende Strahlen sich in einerley Punkt der Netzhaut wieder vereinigen. Eine solche Vereinigung wurde aber, wenn das Auge blos die Einrichtung der Camera obscura hätte,G g 4nur466nur bey denjenigen Strahlenbüscheln möglich seyn, die in der Nähe der Augenaxe auf die Hornhaut fallen; alle übrige würden sich schon vor der Retina vereinigen. Wir nehmen nun freylich auch von jedem Gegenstande nur den Theil, welcher zunächst der Augenaxe liegt, deutlich wahr. Allein die übrigen Theile wür - den uns noch weniger deutlich erscheinen, als wirklich der Fall ist, wenn nicht die concentri - schen Schichten, woraus die Linse besteht, nach dem Mittelpunkte dieses Körpers an Dich - tigkeit zunähmen. Hierdurch geschieht es, daſs die der Augenaxe zunächst einfallenden, mitt - lern Strablenbüschel stärker, als durch eine Linse von gleichförmiger Dichtigkeit, gebrochen werden, und in ihrer Vereinigung früher, als sonst geschehen würde, die Netzhaut treffen, während die entferntern dem dichtern Mittel - punkt vorbeyfahren und verhältniſsmäſsig weni - ger als die mittlern Strahlen von ihrem Wege abgelenkt werdena)Porterfield Treatise on the Eye. Vol. I. p. 439.. So tritt eine Ausgleichung ein, die nur gering bey dem Menschen und den übrigen weitsehenden Thieren, welche mit ihm eine flache Hornhaut und eine flache Linse besitzen, weit gröſser bey den kurzsichtigen Thieren, deren Hornhaut und Linse eine grö - ſsere Convexität haben, ist und seyn muſs. Beydiesen467diesen enthält deswegen die Linse noch einen Kern, und bey den Fischen sogar einen doppel - ten Kern, der eine weit gröſsere Dichtigkeit als die Schaale hat und durch welchen die Bre - chung der mittlern Strahlen noch um Vieles vermehrt wird.

Eben diesem Zwecke entspricht auch die Gestalt des von der Retina bedeckten Hinter - grundes des innern Auges. Bey allen Thieren, die eine flache Crystalllinse ohne einen dichten Kern haben, z. B. bey dem Menschen, den Affen, dem Pferde, dem Strauſs, den Raub - vögeln, ist die hintere Fläche der Linse in der Augenaxe weiter als in jedem andern Punkte von dem, diesem gegenüber liegenden Punkte der Retina entfernt. Hingegen nimmt jene Entfernung um so mehr ab, während die letz - tere wächst, je kugelförmiger die Linse wird und je mehr deren Kern nach dem Mittelpunkte hin an Härte zunimmt. Daher ist bey den meisten Fischen das Verhältniſs der Axe des Augapfels gegen dessen Durchmesser das um - gekehrte dessen, worin jene gegen diese bey den höhern Säugthieren und den Raubvögeln steht. Bey den kurzsichtigen Thieren der höhern Classen nähert sich dieses Verhältniſs mehr dem der Gleichheit. Doch giebt es auch schon unter den Vögeln manche, die in demselben denG g 5Fischen468Fischen nahe stehen, z. B. den Storch, bey dem ich das Verhältniſs des Durchmessers des Aug - apfels zu dessen Axe = 1: 0,73 fand, da das - selbe beym Capuzineraffen = 1: 1,03 ist, indem sich zugleich die Entfernung der Linse von der Netzhaut in der Axe des Auges gegen die Entfernung des Randes der Linse von dem nächsten Punkt der Retina beym Storch wie 1: 1,67, beym Capuzineraffen wie 1: 0,55 verhält.

Der Undeutlichkeit des Bildes auf der Netz - haut, verursacht von Strahlenbüscheln, die sich nicht auf der Retina zu Einem Punkte wieder vereinigen, ist noch auf eine andere Art vor - gebeugt, der ähnlich, die wir bey Ferngläsern und Vergröſserungsgläsern anwenden. Den Rand der Linse umgiebt der auf beyden Seiten mit schwarzem Pigment bedeckte Ciliarkörper, und zwischen der Hornhaut und der Linse befindet sich die Iris, die auf ihrer hintern, von der Traubenhaut gebildeten Wand ebenfalls mit ei - nem solchen Pigment überzogen und zum Durch - gange für die Lichtstrahlen mit der Pupille ver - sehen ist.

Der Ciliarkörper ist in seiner einfachsten Gestalt, worin er bey den Fischen vorkömmt, nebst dem Strahlenblättchen (Zonula Zinnii) offenbar Befestigungsorgan der Linse, Scheide -wand469wand zwischen der vordern, mit der wäſsrigen Feuchtigkeit angefüllten Höhlung des Auges und der hintern, welche die Glasfeuchtigkeit ein - nimmt, und, vermöge seines schwarzen Pig - ments, Mittel zur Absorbtion der in schiefer Richtung nach dem Seitenrand der Linse ge - langenden Lichtstrahlen, die sonst zurückgewor - fen werden und die Deutlichkeit des Bildes auf der Netzhaut vermindern würden. In den - hern Classen der Wirbelthiere, wo er die, eine so ausgezeichnete Struktur zeigenden Ciliarfort - sätze besitzt, muſs ihm noch eine sonstige Funktion eigen seyn. Insofern er zu der er - wähnten Absorbtion dient, steht seine Gröſse mit dem Verhältniſs der Cornea zur Linse und der Gestalt beyder in Verhältniſs. Er ist in Vergleichung mit dem Augapfel sehr groſs bey der Robbeb)Zinn, Commentar. Soc. Reg. scient. Gotting. T. IV. p. 256. und den Eulenc)D. W. Sömmerring a. a. O. p. 51., die eine groſse Cornea bey einer fast kugelförmigen Linse ha - ben, hingegen bey dem Menschen und einigen Affen, deren Hornhaut einen kleinen Theil des Augapfels ausmacht und deren Linse sehr flach ist, kleiner als bey den mehrsten der übrigen Thiered)Zinn a. a. O..

Von470

Von der hintern Wand der Iris ist es eben - falls nicht zu bezweifeln, daſs sie vermittelst ihres schwarzen Ueberzugs das Licht, das der Schärfe des Sehens nachtheilig seyn würde, absorbirt. Sowohl dieses Pigment, als das, welches den Ciliarkörper bedeckt, ist im ganzen Thierreiche und auch da, wo die vordere Wand der Iris und die innere Fläche der Aderhaut anders gefärbt sind, von schwarzer Farbee)Zinn ebendas.. Die Iris ist aber nicht blos in dieser Eigenschaft Hülfswerkzeug beym Sehen; sie wirkt in den höhern Classen der Wirbelthiere hierbey auch, indem sie vermittelst einer lebendigen Thätigkeit die Pupille nach dem Grade des einfallenden Lichts erweitert und verengert. Bey den Säug - thieren geschieht ihre Zusammenziehung und Ausdehnung gleichförmig. An der Iris der Vögel nimmt man einen steten Wechsel von wellenförmigen Zusammenziehungen und Er - weiterungen ihres innern Randes wahrf)Kieser a. a. O. p. 62 sq.. Bey den Amphibien sind die Bewegungen dieses Organs weit schwächer. Doch fehlen sie auch bey ihnen nicht ganz. Ich habe zwar bey Fröschen und bey einer Testudo clausa Gmel. nicht finden können, daſs das Licht Einfluſs darauf hatte; auch sah Hallerg)Elem. Phys. T. V. L. XVI. S. 2. §. 12. p. 374. (l). keine Wir -kung471kung dieses Agens auf die Augen des Frosches. Petith)Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1737. p. 212 der 8. Ausg. bemerkte jedoch, daſs die runde Pu - pille des Frosches sich zu einer dreyeckigen Oeffnung zusammenzog, wenn er das Auge desselben berührte; Röseli)Hist. ranar. nostrat. p. 99. beobachtete bey der Rana bombina L eben diese Veränderung der Pupille bey der Einwirkung des Lichts, und nach D. W. Sömmerring’sk)A. a. O. p. 58. Erfahrungen am Laubfrosche ist dessen Pupille sehr ver - engert, wenn das Thier sich in völliger Ruhe befindet, hingegen erweitert sie sich selbst bey verstärktem Lichte, so oft der Frosch aufgeregt wird, erst zu einer dreyeckigen, dann zu einer runden Oeffnung. Es giebt also eine beweg - liche Iris bey allen Thieren, deren Ciliarkörper wirkliche Ciliarfortsätze hat, und es ist daher eine Verbindung zwischen dem Vorhandenseyn dieser Theile und der Beweglichkeit der Iris anzunehmen, welche letztere mit denselben in der That auch einerley Gebilde ausmacht. Die Ciliarfortsätze finden sich freylich auch bey ei - nigen Fischenl)Nach meinen Beobachtungen beym Stöhr und Lachs. Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus. B. 3. S. 162.. Es ist aber nicht ausgemacht,ob472ob nicht die Iris einiger Fische ebenfalls einige Beweglichkeit hat*)Haller (A. a. O. (m)) citirt eine Stelle aus Redi’s Esper. (p. 28.), nach welcher sich beym Zitterrochen die Pupille zusammenziehen soll. In der Lateini - schen Uebersetzung dieses Werks (Experimenta circa varias res naturales. Amstel. 1685.) finde ich zwar gesagt, daſs die Pupille des Zitterrochens sich schlieſse, wenn der convexe Theil der Iris in den Ausschnitt derselben tritt, nicht aber, daſs Redi das Schlieſsen wirklich am lebenden Fisch beobachtet hat..

Auſser dem Lichte wirken auf die Iris auch Gemüthsbewegungen, chemische Einflüsse und andere, das Nervensystem erregende Agentien. Die Abhängigkeit ihres Zusammenziehungsver - mögens von Gemüthsbewegungen ist vorzüglich sichtbar bey den Vögeln, wo sie überhaupt eine groſse Beweglichkeit hat. Daſs sie, wie man gesagt hat, bey diesen Thieren unter der Herr - schaft der Willkühr stehe, ist eine unbewiesene und unerweisliche Behauptung. Daſs sie sich aber bey einerley Lichte bald verengert, bald erweitert, je nachdem Furcht, Schrecken, Zorn u. s. w. auf den Vogel Einfluſs haben, läſst sich vorzüglich bey Papageyen leicht beobachten. Eben diese Ursachen wirken auf sie auch bey dem Menschen und den Säugthieren. Fonta -na473nam)Dei moti dell iride. Lucca. 1765. sah die bey hellem Lichte sehr ver - engerte Pupille einer Katze sich plötzlich aus - dehnen, als das Thier heftig erschreckt wurde. Hiervon ist es abzuleiten, daſs sich die Pupille bey angestrengter Betrachtung naher Gegen - stände erweitertn)Haller a. a. O. p. 375.. Purkinjeo)Beyträge zur Kenntniſs des Sehens in subjektiver Hinsicht. Prag. 1819. S. 123. versichert, er habe durch Uebung die Fertigkeit erlangt, ohne bestimmten Gegenstand ins Leere hinse - hend, diese Verengerung willkührlich hervor - zubringen. Aus seiner Beschreibung der Art, wie er sich die Fertigkeit erworben hat, er - hellet, daſs er sich im leeren Raum einen na - hen Gegenstand gedacht und darauf seine Auf - merksamkeit geheftet hat. Daſs auf solche Weise der Wille einen Einfluſs auf die Bewe - gung der Iris erlangen kann, ist freylich sehr wohl möglich. Aber dieser Einfluſs ist doch kein unmittelbarer, wie bey den eigentlichen willkührlichen Handlungen; er geschieht nur durch willkührliche Erregung des Affekts der Aufmerksamkeit.

Von mechanischen Reitzungen der Iris sahen Haller und mit ihm mehrere Andere keinenEin -474Einfluſs auf die Irisp)Haller a. a. O. §. 10. p. 371.. Doch zieht sie sich bey Reitzungen mit dem Skalpell allerdings krampfhaft zusammen, obgleich freylich auf an - dere Art als die willkührlichen Muskelnq)Blumenrach de oculis leucaethiopum et iridis motu. Götting. 1786. In Commentat. Soc. scient. Göttingens. Vol. 7. P. 1. p. 31. F. Muck de ganglio ophthalmico et nervis ciliaribus. Landshuti. 1815. p. 81.. Einen beständigern Einfluſs haben auf die Be - weglichkeit dieses Theils alle Ursachen, die auf das Gehirn, auf das sympathische System und auf die Ciliaruerven wirken. Die Pupille er - weitert sich sowohl bey der äuſserlichen An - wendung, als beym innerlichen Gebrauche nar - kotischer Substanzen, bey gastrischen Reitzen, bey dem Wasserkopfe, dem Schlagfluſs und in Ohnmachten. Die Wirkung, welche narkotische Substanzen, äuſserlich angewandt, auf sie haben, ist blos auf das damit bestrichene Auge ein - geschränkt; die Pupille des andern Auges scheint dabey vielmehr kleiner als gröſser zu werdenr)Wells, Philosoph. Transact. Y. 1811. p. 389.. Verengert wird die Pupille von Entzündungen des innern Auges, vom elektrischen Funken und vom Galvanischen Reitzs)Haller a. a. O. §. 12. p. 376. Muck a. a. O.. Sie durchläuft verschiedene Stadien der Erweiterung und Ver -enge -475engerung vom Todeskampf an bis zum völligen Erlöschen des Lebenst)Mery, Hist. de l’Acad. Roy. des sc. de Paris. A. 1704. p. 351 der 8. Ausg. Zinn, Commentat. societ. Reg. sc. Gotting. antiqu. T. I. ad ann. 1778. p. 56 sq. A. C. Mayer in Hufeland’s und Harles’s Journ. der prakt. Heilk. J. 1816. August. S. 81. 82..

Die Bewegung der Iris hängt also von Rüh - rungen der Ciliarnerven ab. Sie steht daher mit der Vertheilung dieser Nerven in Verbin - dung. Bey den Säugthieren, wo sie als eine gleichförmige Ausdehnung und Zusammenzie - hung des ganzen innern Randes dieser Haut erscheint, vertheilen sich die Ciliarnerven auf der letztern divergirend; bey den Vögeln hin - gegen, wo sie wellenförmig von einer Stelle des innern Randes der Iris zur andern fort - geht, umfassen diese Nerven den Umfang der letztern und bilden, indem sie sich mit einander verflechten, auf derselben einen kreisförmigen Plexusu)Kieser a. a. O. p. 42. 60. Tiedemann’s Anat, und Nat. Gesch. der Vögel. B. 1. S. 69..

Aber ein Lichtkegel wirkt nicht auf die Ciliarnerven, solange er blos die äuſsere FlächederVI. Bd. H h476der Iris trifftv)Haller a. a. O. §. 10. p. 371. Lambert Photometr. P. IV. C. 2. §. 830.. Die Zusammenziehung der Pupille tritt nur dann ein, wenn das Licht durch diese in das Innere des Auges dringt. Hier giebt es nur zweyerley Nerven, worauf dasselbe wirken kann: den Sehenerven und die Ciliarnerven. Man hat bisher fast allgemein jenen für den Theil des Nervensystems ange - nommen, welcher von dem einfallenden Lichte unmittelbar gerührt würde, und vorausgesetzt, die Verengerung der Pupille erfolge erst mittel - bar durch eine Rückwirkung des von der Rührung des Sehenerven erregten Sensorium auf die Ciliarnerven. Die Hauptgründe für diese Hypothese sind: die Abhängigkeit der Ausdeh - nung und Zusammenziehung der Iris von dem Zustande der Erregung des Sensorium und die völlige Unbeweglichkeit derselben bey Lähmung der Retina. Der erste dieser Gründe würde indeſs nur dann beweisend seyn, wenn die letztere Erfahrung allgemein gültig wäre, wel - ches aber nicht der Fall ist. Es giebt Beyspiele von vollkommenem schwarzem Staar, wobey die Beweglichkeit der Iris fortdauertew)De Haen Rat. med. P. VI. p. 255. Janin Mém. et observat. sur l’oeil. p. 371. Schmucker’s verm. chi -. Man hatdiese477diese Fälle mit der gewöhnlichen Meinung zu vereinigen gesucht, indem man annahm, der Sehenerve könne seine Empfänglichkeit für Ein - drücke von sichtbaren Gegenständen verlieren und doch fortfahren, den Eindruck des Lichts, wodurch die Bewegung der Iris verursacht wird, zum Sensorium fortzupflanzen. Allein es ist eine sehr unwahrscheinliche Voraussetzung, daſs der Sehenerve und durch ihn das Sensorium vom Lichte gerührt werden und doch das Be - wuſstseyn dieser Rührung fehlen könne. Mit der obigen Hypothese ist aber auch der Umstand nicht zu vereinigen, daſs beym grauen Staar die Beweglichkeit der Pupille ebenfalls noch fortdauert, wenn nur dabey die Linse nicht mit der Traubenhaut verwachsen, oder so ange - schwollen ist, daſs die Bewegung der Iris durch sie gehindert wird. Es mag hierbey immer noch etwas Licht zur Retina gelangen, so steht hier doch die Ursache mit der Wirkung nicht in dem Verhältniſs, worin sie stehen müſste, wenn die Zusammenziehung der Pupille ganz abhängig von Reitzungen der Netzhaut wäre. Diese Thatsache beweist hingegen, daſs der Eindruck des Lichts auf Theile, die sich in derhin -w)chirurg. Schriften. S. 13. Richter’s chirurg. Biblio - thek. B. 4. S. 63. Himly’s ophthalmolog, Beobachtun - gen. H. 1. S. 101.H h 2478hintern Augenkammer befinden, die Ursache der Zusammenziehung ist. Hier liegen aber nur die vom schwarzen Pigment entblöſsten Ciliarfort - sätze, worauf das Licht als solches wirken kann. Die übrigen, hier vorhandenen Theile, mit welchen die Iris durch Nerven in Verbindung steht, sind mit schwarzem Pigment bedeckt und meist auch dem Zugange des Lichts ganz entzo - gen. Einen Durchgang des Lichts durch die Retina und Choroidea zu den Ciliarnerven in der Nähe des Sehenerven, wie Troxlerx)Himly’s u. Schmidt’s ophthalmol. Bibliothek. B. 1. St. 2. S. 44. annahm, wird Keiner einräumen, der den Bau des Auges nicht blos beym Menschen untersucht und sich überzeugt hat, daſs bey den mehrsten Thieren die Choroidea eben so dick und das Pigment derselben eben so dunkel an jener Stelle, als an den übrigen ist. Gegen diese Hypothese streitet auſserdem die erwähnte Fort - dauer der Beweglichkeit des Augensterns beym grauen Staar. Mit unserer Voraussetzung hinge - gen ist zugleich der bisher so räthselhafte Zweck der Ciliarfortsätze erklärt und die Frage beant - wortet: Warum diese Fortsätze nur bey denen Thieren, die eine bewegliche Iris haben, vor - handen sind?

Es läſst sich gegen diese Meinung, wovon ich das Wesentliche schon in einer frühernSchrift479Schrifty)Physiolog. Fragmente, von G. R. Treviranus. Th. 2. S. 215. vorgetragen habe, einwenden, und man hat dagegen auch eingewandt: es seyen Fälle beobachtet, wo die Iris, obgleich unbe - weglich, doch mit den Ciliarnerven unverletzt, die Sehenerven aber krankhaft verändert gewe - sen wären; der Ciliarkörper liege zu versteckt hinter der Iris und zu weit entfernt von der Augenaxe, als daſs die Lichtstrahlen ihn er - reichen könnten; bey einer Amaurose, die blos das eine Auge betreffe, ziehe sich die Pupille desselben zusammen, wenn Licht in das ge - sunde Auge falle, sie bleibe aber unbeweglich, wenn bey Verschlieſsung des letztern blos das kranke Auge dem Lichte ausgesetzt seyz)Himiy in dessen ophthalmolog. Beobachtungen. H. 1. Troxler a. a. O. B. 1. St. 1. S. 27 fg.. Der erste dieser Einwürfe beruhet auf einer Angabe Zinn’sa)Zinn a. a. O. p. 5., der es an aller Beglaubigung fehlt. Mir ist kein Fall von Unbeweglichkeit der Iris bey unverletzten Ciliarnerven bekannt, und gäbe es einen solchen, so würde ich bey den Schwierigkeiten, die eine genaue Unter - suchung dieser zarten Nerven hat, nicht viel Gewicht darauf legen können. Die Antwort aufdenH h 3480den zweyten Einwurf ist, daſs nur die freyen Enden der Ciliarfortsätze vom Lichte erreicht zu werden brauchen, und auch diese nur von den, unter sehr schiefen Winkeln durch die Pupille gehenden Strahlen, um die Verengerung der letztern hervorzubringen. Einen solchen Zutritt des Lichts zu denselben wird aber Nie - mand, der den Bau des Auges und die Gesetze der Verbreitung des Lichts kennt, bezweifeln können. Die Erfahrung, von welcher der dritte Einwurf hergenommen ist, beweist blos, daſs die Regenbogenhäute beyder Augen in ge - nauer Sympathie stehen, und daſs die Ciliar - nerven eines amaurotischen Auges, dessen Pu - pille sich nicht anders als gemeinschaftlich mit dem Stern des gesunden Auges verengert, an der Krankheit des Sehenerven jenes erstern in der Unempfänglichkeit für den Eindruck des Lichts mit Theil genommen haben muſs. Das Weitere hierbey erklärt sich eben so befriedi - gend bey unserer Meinung aus der analogen Thatsache, daſs in gelähmten Gliedern die Em - pfänglichkeit für äuſsere Reitze verloren ge - gangen seyn kann, während Eindrücke des Sensorium fortwährend auf sie wirken, als aus der gegenseitigen Hypothese. Einige andere, gegen jene Meinung erhobene Einwürfe übrigens treffen nur die Art, wie ich sie in dem er - wähnten frühern Aufsatze vorgetragen habe,wo481wo ich eine Rührung der Nerven des Augen - sterns von dem, vermittelst der Ciliarfortsätze zur hintern Fläche der Iris zurückgeworfenen Lichte annahm. Ich glaube nicht mehr, daſs eine solche Zurückwerfung statt findet. Die Voraussetzung derselben ist aber auch unnöthig, da die Ciliarfortsätze Nerven von einerley Ur - sprunge mit denen der Iris besitzen und eine Rückwirkung jener auf diese eben so wohl hier, als bey vielen andern, aus einerley Stamm ent - springenden Nervenzweigen, vorgehen kann. Vielleicht bestätigt sich noch einst Kepler’s Vermuthunga*)Paralipomena ad Vitell. p. 176., daſs die unbefestigten, in der wäſsrigen Feuchtigkeit schwimmenden Enden der Ciliarfortsätze Ausdehnungen und Zusam - menziehungen äuſsern, die mit denen der Iris gleichzeitig sind.

Welche bewegende Kraft in der Iris selber die durch Reitzungen der Ciliarnerven verau - laſsten Veränderungen der Form dieses Theils hervorbringt, ist eine von Vielen untersuchte Frageb)Mery a. a. O. Demours, Mém. présentés à l’Acad. des sc. de Paris. T. 2. p. 586. Weitbrecht, Com - mentar. Acad. Petropol. T. 13. p. 349. Zinn a. a. O. p. 55. Fontana a. a. O. Blumenbach a. a. O. p. 29.. Die Beantwortung derselben beruhetaufH h 4482auf der Vorfrage: Ob die Ausdehnung oder die Zusammenziehung Wirkung einer lebendigen Kraft jener Haut ist?*)Um allen Miſsverständnissen vorzubeugen, bemerke ich, daſs ich unter Ausdehnung der Iris die Ver - änderung derselben, wodurch die Pupille verengert wird, unter Zusammenziehung derselben den entge - gengesetzten Vorgang verstehe.. Erwägt man alle, bey diesen Bewegungen vorkommende Umstände, so wird man sowohl die eine, als die andere für eine Lebensthätigkeit annehmen müssen. Die Erschlaffung der Iris ist weder Ausdehnung, noch Zusammenziehung, sondern ein mittlerer Zustand zwischen beyden. Sie erscheint in die - sem am Leichnam nach dem gänzlichen Erlö - schen alles Lebens, und sie hat dann eine ganz andere, welkere Beschaffenheit als im Leben. Ihre Ausdehnung ist gewiſs eine Wirkung der Vitalität: denn sie geräth darin durch den Ein - fluſs des Lichts, des elektrischen Funken, des Galvanischen Agens und mechanischer Reitzun - gen, also durch Einflüsse, die nicht Erschlaf -fungb)29. F. Hildebrandt de motu iridis. Brunsv. 1786. Dömlino in Reil’s Archiv f. d. Physiol. B. 5. S. 335. Caldani, Mem. della Società Italiana. T. XIV. P. 2. p. 101. Kluge in Wolfart’s Asklepieion. J. 1812. H. 4. S. S. Guttentag de iridis motu. Vrastislav. 1815. Litleton, London med. and physic. Journ. Vol. 36. p. 89.483fung verursachen. Ihre Zusammenziehung ist es eben so wenig: denn diese begleitet den Starrkrampf, wo alle contraktile Organe in Zusammenziehungen begriffen sind. Es giebt aber nur zwey Formen der lebendigen Bewe - gung fester Theile: Turgescenz, die mit ver - mehrtem Zufluſs der Säfte verbunden ist, und Verkürzung durch Verminderung der Dimensio - nen. Die Zusammenziehung der Iris läſst sich blos auf die letztere Form zurückführen. Ihre Ausdehnung kann sowohl Turgescenz, als Ver - kürzung seyn. In Verkürzung wird dieselbe bestehen, wenn die Iris an ihrem innern Rande ringförmige Fasern hat, die nach Art der Schlieſsmuskeln wirken. Ich glaube nicht, daſs alle bisherige Beobachtungen hinreichend sind, um in dieser Sache einen entscheidenden Aus - spruch zu thun. Für ein Anschwellen der Iris bey ihrer Ausdehnung spricht der Grund, daſs da, wo die Wirkungen des Lichts auf das Le - ben am deutlichsten erscheinen, im Pflanzen - reiche, Turgescenzen immer die Folgen von dessen Einflusse sind. Dagegen läſst sich frey - lich einwenden, daſs sich von den Erscheinun - gen der Pflanzenwelt nicht unbedingt auf die des Thierreichs schlieſsen läſst. Doch ist we - nigstens der Einwurf nicht gültig, daſs sich nach einigen Erfahrungen kein vermehrter Andrang des Bluts zu den Gefäſsen der Iris bey derH h 5Aus -484Ausdehnung derselben bemerken läſstc)Blumenbach a. a. O. p. 33.. Findet hierbey eine Turgescenz statt, so ist es wohl nicht rothes Blut, sondern farbenloses Serum, was der Iris stärker zuflieſst. Die Annahme einer Zusammenziehung der Iris bey ihrer Aus - dehnung durch ringförmige Fasern, nach Art der Schlieſsmuskeln, scheint durch die Beob - achtungen vieler der ersten Anatomen gerecht - fertigt zu werden. Es fehlt indeſs der Beweis, daſs die von ihnen wahrgenommenen Fasern wahre Muskelfasern waren, ein Beweis, der sich nur aus dem Vorhandenseyn der den or - ganischen Elementen der Muskelfasern eigenen Struktur an den Elementartheilen jener Fasern führen läſst. Ich fand diese Bildung an Fasern der Iris des Thurmfalkend)Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Treviranus. B. 3. S. 166.. Allein bey der starken Vergröſserung, deren ich mich dabey bedienen muſste, war es mir nicht möglich, zu bestimmen, ob die Theilchen, die ich sahe, ge - raden oder ringförmigen Fasern angehörten.

Von der Form der Iris und ihrer Bewe - gungsart hängen die Gestalt und die Verände - rungen der Pupille ab. Es läſst sich eine vier - fache Verschiedenheit dieser Oeffnung anneh - men. Bey den meisten Thieren hat sie einerunde485runde Gestalt. Bey den Thieren des Katzenge - schlechts und dem Crocodil ist sie ebenfalls im Zustande der Erweiterung rund; bey ihrer Ver - engerung aber verwandelt sie sich in eine ver - tikale Spalte. Die Wiederkäuer, die Einhufer, in minderm Grade auch einige Nagethiere, z. B. das Eichhörnchen, und die Wallfische haben eine länglichrunde Pupille, deren gröſsere Axe horizontal liegt. Eckig ist sie im Zustande der Verengerung bey den Fröschen und Kröten. Man hat eine Beziehung dieser verschiedenen Gestalten auf die Lebensweise der Thiere ange - nommene)Porterfield on the eye. Vol. I. p. 185. Vol. II. p. 267.; man hat behauptet, die horizontal - ovale Pupille sey ein Charakter der Tages - thiere, unter welchen die Wiederkäuer und Einhufer die oberste Stelle einnehmen, die perpendikulär-ovale ein Charakter der Nacht - thiere, deren Reihe mit dem Katzengeschlecht anfangef)Kieser de anamorph, oculi. p. 25 sq.. Ich zweifele zwar nicht an einer Verbindung der Form und Bewegung des Au - gensterns mit der Form und den Lebensverhält - nissen des ganzen Organismus. Ich glaube aber nicht mit Porterfield, daſs die Pupille senk - recht bey der Katze gespalten ist, weil dieses Thier mehr aufwärts als seitwärts zu sehen bestimmt ist, horizontal bey den Wiederkäuernund486und Einhufern, weil deren Blicke mehr nach den Seiten als aufwärts gerichtet seyn sollen. Alle Raubthiere haben eben so sehr rechts und links, als oberwärts zu spähen, um ihre Beute zu entdecken und zu verfolgen; die Blicke der Gemse und des Steinbocks müssen, so oft diese Thiere steile Felsen erklimmen, mehr aufwärts als nach den Seiten gerichtet seyn. Eine Be - ziehung der vertikalen und horizontalen Pupille auf das Sehen in der Dunkelheit und beym Lichte scheint mir ebenfalls nicht statt zu fin - den. Die meisten Thiere des Katzengeschlechts rauben so gut am hellsten Mittage als um Mitternacht; für das Pferd, den Esel, den Och - sen u. s. w. ist der Tag um nichts mehr die Zeit des Aufsuchens der Nahrung als für die Affen, den Bär, den Hund u. s. w. Das Wahre ist, daſs alle Säugthiere eine, der Verengerung zu einer engen Spalte fähige Pupille haben, die im vollsten Sonnenlichte, oder auf Ebenen, wo ihre Augen einem blendenden, reflektirten Lichte ausgesetzt sind, ihre Nahrung suchen müssen. Die Thiere des Pferdegeschlechts und das Camel leben ursprünglich in schattenlosen Steppen und Sandwüsten, viele Wiederkäuer der kalten Zo - nen auf Eis - und Schneefeldern, die meisten Katzenarten zwar an schattigen Plätzen, aber in sonnige Gegenden nach Beute hinblickend. Hingegen rund ist die Pupille bey den Mäuse -arten,487arten, den Fledermäusen, dem Igel, dem Maul - wurf und dem Dachs, deren Augen für die Dunkelheit bestimmt sind, und rund ist sie auch bey dem Menschen und den Affen, die das volle Sonnenlicht nicht ohne Blendung ertra - gen. Uebrigens steht die Gestalt der Pupille mit der Gestalt des ganzen Augapfels und des - sen Bewegung in Verbindung. Sie ist der Queere nach oval bey den Wiederkäuern, wie der ganze Augapfel dieser Thiere, der sich nur langsam nach den Seiten bewegen kanng)Briggs Ophthalmographia, C. 7. §. 6. p. 127..

Bey den Vögeln ist die Pupille rund, wie bey denjenigen Säugthieren, deren Augen sehr empfindlich gegen das Licht sind. Die Vögel sind aber unter allen Thieren gerade die, welche das blendendste Licht müssen ertragen können, um ihre Nahrung aufzusuchen und ihren Raub zu erbeuten. Ihre Augen sind dem von Schnee - und Eisfeldern, von dem weiſsen Sande bren - nender Wüsten, oder von dem Spiegel der Meere, Seen und Flüsse zurückgeworfenen Lichte beständig ausgesetzt. Viele Vögel fliegen selbst der Sonne gerade entgegen. Sie müssen dieses heftige Licht lange und ununterbrochen ertragen, und immer dabey ein weites Sehefeld behalten, um ihre Beute nicht aus den Augen zu verlieren. Diese Zwecke waren nicht durcheinen488einen höhern Grad von Verengerung der Pupille zu erreichen. Jenen Thieren gab die Natur ein Organ, das ihnen als durchsichtiger Schirm bey der Einwirkung des Lichts dient, den schwarzen Fächer (Pecten plicatum), eine dünne Haut, die gleich einem Fächer der Länge nach in mehr oder weniger zahlreiche Falten zu - sammengelegt, bey den meisten Vögeln rauten - förmig, mit der Basis unmittelbar an der Ein - trittsstelle des Sehenerven, mit der entgegen - gesetzten Seite entweder auch unmittelbar, oder durch einen dünnen Fortsatz an der hintern Fläche der Linse befestigt, von schwärzlicher Farbe und im ausgedehnten Zustande durch - sichtig ist. Bey allen Vögeln hat dieser Theil eine solche Stellung, daſs er einen Theil der untern und hintern, von der Netzhaut bedeck - ten Fläche des innern Auges beschattet. Das Verhältniſs seiner Länge und Höhe gegen die Axe und den Durchmesser der hinter der Linse liegenden Höhlung des innern Auges richtet sich nach dem Grade des Lichts, dem die Vögel ausgesetzt sind. Am kleinsten ist er in jener Beziehung bey den Eulen, am gröſsten bey denjenigen Tagesvögeln, die ihre Nahrung im Wasser suchen, während dessen Oberfläche das Sonnenlicht zurückwirft, z. B. den Mewen. Bey Larus canus ist sein oberer Rand so breit als die Linse, mit der er unmittelbar zusam -men -489menhängt. Nicht ganz so breit in Vergleichung mit dieser, doch auch mit einem groſsen Theil derselben zusammenhängend, ist er beym Storch. In dem Auge des letztern fand ich auſser dem Fächer noch ein zweytes, diesem verwandtes Organ, eine, parallel mit demselben durch den Glaskörper von der Linse zur Retina gehende, cylindrische Falle der Ciliarfortsätze. Per - raulth)Oeuvres de Phys. et de Mechan. p. 343. glaubte, die Farbe des Fächers sey desto schwärzer, je höher die Vögel fliegen und je weiter ihr Gesicht reicht. Mir schien frü - her ebenfalls dieser Satz allgemein gültigi)Verm. Schr. von G. R. u. L. C. Treviranus. B. 3. S. 163.. Später habe ich indeſs mehrere Beobachtungen gemacht, die nicht damit übereinstimmen. Ich fand z. B. den untern Theil des Fächers von sehr wenig schwarzer, fast grauer Farbe bey Falco aeruginosus, Corvus Cornix, Corvus glan - darius, Ardea stellaris und Picus viridis, also bey Vögeln aus ganz verschiedenen Familien und von sehr verschiedenem Bau. Der Fächer entfaltet sich übrigens an seinem mittlern Theil, wenn man den Augapfel in dessen Axe gelinde zusammendrückt.

Ich halte nach den angeführten Thatsachen den schwarzen Fächer für eine Art von Schleyer,durch490durch welchen der Vogel auch bey einem Lichte, wodurch sonst das Auge zum Sehen unfähig gemacht werden würde, zu sehen vermögend ist. Dieser Zweck war nicht durch die Nick - haut zu erreichen, welche durchsichtig wie die Hornhaut ist und das Licht nur bricht, ohne dessen Stärke bedeutend zu vermindern. Wäre sie von schwärzlicher Farbe, so würde zwar der Eindruck des Lichts durch sie ge - schwächt, aber auch das Vermögen, mit der einen Hälfte des Auges die Gegenstände in vol - ler Erleuchtung zu sehen, während die andere der unmittelbaren Einwirkung des Lichts aus - gesetzt ist, verloren gegangen seyn. Man wird übrigens voraussetzen müssen, daſs immer, wenn ein deutlicheres Sehen durch den Fächer statt finden soll, eine Entfaltung desselben vorherge - hen muſs, die nur durch eine Turgescenz die - ses Organs hervorgebracht werden kann. Ohne Durchsichtigkeit würde er bloſses Mittel zur Absorbtion des Lichts seynk)Wofür er von Petit gehalten wurde. Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1735. p. 197. 198 der 8. Ausg., zu einem Zweck, wozu es keines so künstlichen Baus bedurft hätte, und wobey der hinter ihm liegende Theil der Netzhaut ganz unfähig zum Sehen seyn würde.

In491

In einem ähnlichen Verhältniſs gegen das Licht wie die Augen der Vögel stehen die Sehewerkzeuge mehrerer Amphibien aus der Familie der Eidechsen. Diese leben gleichfalls an sehr sonnigen Plätzen und sind noch weniger als die Vögel durch bewegliche Augenlieder und eine bewegliche Pupille gegen den Eindruck eines heftigen Lichts geschützt. Bey Lacerta vulgaris, Lacerta Monitor und Lacerte Iguana ist daher ebenfalls ein vollständiger schwarzer Fächerl)Nat. Gesch. der Amphibien. von Tiedemann, Op - pel u. Liboschitz H. 1. S. 28. D. W. Sömmerring de oculorum et c. commentatio. p. 60. Tab. III., und beym Crocodil ein Rudiment desselben, ein runder schwarzer Fleck auf der Eintrittsstelle des Sehenervenm)D. W. Sömmerring a. a. O. p. 59. T. III., vorhanden.

Auf eine einfachere Weise, aber weit un - vollständiger, ist die Funktion des schwarzen Fächers bey den wirbellosen Thieren durch Be - deckung der Endigung des Sehenerven mit ei - nem farbigen Pigment ersetzt. Diesen Ueberzug giebt es, wie schon oben bemerkt ist, in den zusammengesetzten Augen der Insekten und im Auge der Sepien. In dem letztern fand Cu - viern)Mém. pour. servir à l’Hist. et à l’Anat. des Mollus - ques. auf der inwendigen Fläche der Netz -hautVI. Bd. I i492haut eine braune Substanz, bey deren Dicke ihm das Sehen der Sepien ein schwer zu lösen - des Räthsel ist. Nach meinen Untersuchungen besteht diese Materie aus Fäden, die dicht an einander liegend auf der innern Wand der Retina senkrecht stehen und nur an ihren äuſsern Enden mit einem braunen Pigment be - deckt sind. Wahrscheinlich sind diese Fäden Fortsätze der Netzhaut, und bey dieser Voraus - setzung ist es erklärbar, wie das Licht doch auf die letztere wirken kann. Für alle Thiere, deren Netzhaut einen solchen Ueberzug hat, ist aber helles Licht Bedingung des Sehens, und es giebt für sie keinen Unterschied der Farben.

Eine Wirkung von entgegengesetzter Art wie der schwarze Fächer und dieses Pigment verursacht die glänzende Tapete, die in dem Auge mehrerer Wirbelthiere hinter der Netz - haut liegt. Bey dem Menschen, den Affen, dem Känguruho)D. W. Sömmerring a. a. O. p. 29., den Nagethieren, den meisten Vögeln und Fischen, den Schildkröten, den mehrsten Eidechsenp)Unter andern auch bey Lacerta Monitor. Sömmer - ring ebendas. p. 60. und den Fröschen ist der Zwischenraum zwischen dieser Haut und der Choroidea allenthalben mit einem schwarzen oder schwarzbraunen Pigment überzogen. Hin -gegen493gegen bey den Raubthieren, den Wiederkäuern, den Einhufern, mehrern Thieren der Schweine - familie, den Robben, den Wallfischen, den Eulen, dem Crocodilq)Sömmerring ebendas. p. 59., den Schlangen und mehrern Knorpelfischen, z. B. dem Stöhr, den Hayen und Rochen, fehlt dieses Pigment ent - weder ganz, oder doch auf der Seite im Hin - tergrunde des Auges, die verschieden von der Eintrittsstelle des Sehenerven ist, und das un - ter dem Namen der Ruyschischen Haut be - kannte Blatt der Choroidea liegt hier unbedeckt und mit metallischen Farben schimmerd. Bey dem Ochsen und andern Wiederkauern lassen sich alle Farben des Regenbogens an dieser Tapete unterscheiden; ihre Hauptfarbe ist jedoch blau oder grün. Bey den übrigen Thie - ren ist sie am häufigsten gold - oder silberfarben. Bey den Säugthieren erstreckt sie sich nur über einen Theil der Choroidea, hingegen bey den Schlangen, dem Stöhr, den Rochen und Hay - fischen über den ganzen, von der Retina be - deckten Hintergrund des Auges. Zinnr)Commentarii Soc. Reg. scient. Gotting. T. IV. p. 253. glaubte, nach seinen Beobachtungen annehmen zu müs - sen, der Glanz dieser Tapete sey um so leb - hafter, je besser das Thier bey Nacht sehe. Es lassen sich aber die mäuseartigen Nagethiere,derI i 2494der Igel und der Maulwurf als Beyspiele von Thierarten anführen, die sich im Dunkeln als sehend benehmen und deren Augen doch die Tapete fehlt. Man wird zwar erwiedern kön - nen, daſs es ungewiſs ist, ob diese Arten nicht mehr durch andere Sinne, als durch das Ge - sicht, in der Finsterniſs geleitet werden. So - lange es uns aber hierüber an Gewiſsheit fehlt, kann die Gegenwart der Tapete nicht für eine nothwendige Bedingung des nächtlichen Sehens gelten; es läſst sich nur voraussetzen, daſs die - ses Sehen durch sie erleichtert wird, indem sie gleich einem Hohlspiegel das von den äuſsern Körpern ausströhmende Licht auf den in der Augenaxe liegenden Gegenstand zurückwirft. Diese Reflektion wird noch unterstützt durch den, bey vielen Thieren und auch bey manchen, welchen die Tapete fehlt, metallisch glänzenden Ueberzug der vordern Fläche der Iris. In dem Zurückstrahlen des Lichts von beyden Theilen liegt gewiſs mit eine Ursache des nächtlichen Leuchtens der Augen mehrerer Thiere. Daſs diese Erscheinung aber zum Theil auch phos - phorischer Art ist, muſs ich nach dem, was ich im 5ten Bande der Biologie (S. 118 fg. ) darüber gesagt habe, der von Rudolphis)Grundriſs der Physiologie. B. 1. S. 197. dagegen erhobenen Einwürfe ohngeachtet, für wahrscheinlich halten, da die Fälle von Men -schen,495schen, die unter gewissen Umständen das, ge - wiſs nicht blos von Zurückstrahlen abzuleitende Vermögen besaſsen, im Finstern zu sehen, nur aus einem phosphorischen Glanze ihrer Augen erklärbar sind*)Zu den im 5ten Bande der Biologie, S. 120, ge - sammelten Fällen dieser Art gehört auch noch ein Beyspiel, das Briggs (Ophthalmogr. C. 5. §. 12. p. 102.) von einem Manne erzählt, der Briefe in einer Dunkelheit las, worin Briggs das Papier derselben kaum erkennen konnte..

Hier würde noch der Ort seyn, die Mittel zu untersuchen, durch welche die Zerstreuung der Farben im Auge verhindert ist. Allein bey der sehr geringen Summe dessen, was wir von dem Grund der achromatischen Eigenschaft strahlenbrechender Materien wissen, läſst sich hierüber nichts Gewisses bestimmen. Man hat, durch eine von Euler herrührende Theorie verführt, die Zusammensetzung des Auges, vor - züglich der Crystalllinse, aus Substanzen von verschiedenem Brechungsvermögen für die Ur - sache der achromatischen Beschaffenheit dieses Organs gehalten. Spätere Erfahrungen aber haben bewiesen, daſs schon blos eine bestimmte Mischung einer durchsichtigen Materie die Far - benzerstreuung verhindern kann. Solange nichtaus -I i 3496ausgemacht ist, ob nicht die durchsichtigen Theile des Auges eine solche Mischung haben, können Untersuchungen über diesen Gegenstand zu keinen sichern Resultaten führen.

§. 3. Einrichtungsvermögen des Auges nach den verschiedenen Entfernungen der Gegenstände.

Bey allen den bisher aufgezählten Hülfs - mitteln würde doch völlige Schärfe des Sehens nur in der Entfernung des Gegenstandes mög - lich seyn, wo die von jedem Punkte desselben ins Auge fallenden Strahlen sich wieder zu Einem Punkte vereinigen, wenn eine solche ge - naue Vereinigung nothwendige Bedingung des deutlichen Sehens wäre, oder wenn es nicht Mittel gäbe, wodurch das Brechungsvermögen der durchsichtigen Theile des Auges nach den Entfernungen der Gegenstände abgeändert würde. Wir kommen hiermit auf eine Materie, die so reichhaltig und zugleich so schwierig ist, daſs wir sie zu erschöpfen bey den Grenzen unsers Werks nicht versprechen dürfen, auf das Problem von den innern Veränderungen des Auges beym Nahe - und Fernsehen. Die - sung dieser Aufgabe beruhet zum Theil auf subjektiven Erfahrungen. Wir werden deshalb unsere Untersuchungen beym menschlichen Auge anfangen müssen.

Der497

Der eigentliche Sinn der Aufgabe ist: Wie es geschieht, daſs wir einen und denselben Ge - genstand in einer Entfernung, wobey die von jedem einzelnen Punkt desselben auf die Horn - haut fallenden Strahlen nicht für parallel gelten können, doch bey bedeutenden Veränderungen dieser Entfernung mit gleicher Deutlichkeit er - blicken? Wird der Gegenstand über das Maxi - mum dieser Entfernung vom Auge weggerückt, so werden alle Strahlen, die von jedem Punkt desselben ausgehen, zwar nicht genau auf der Netzhaut, sondern vor derselben zusammentref - fen; aber die Zunahme des Abstands ihres Ver - einigungspunkts von der Retina wird sehr ge - ring seyn und mit zunehmender Entfernung des Gegenstandes immer geringer werden, weil sich die Strahlen bey dieser Zunahme dem völ - ligen Parallelismus immer mehr nähern. Wird hingegen das Objekt von jenem Maximum aus dem Auge zugerückt, so kommen die Strahlen hinter der Retina zusammen, und bey zuneh - mender Näherung des Gegenstandes entfernt sich ihr Vereinigungspunkt von der Netzhaut in einer weit stärkern Progression als im erstern Fallet)Porterfield Tr. on the Eye. Vol. II. p. 2..

AberI i 4498

Aber was heiſst völlige Deutlichkeit beym Sehen? Die unvollständige Beantwortung dieser Frage ist eine Quelle vieler Irrthümer in der Lehre vom Sehen gewesen Soviel lehrt die Erfahrung jedes Augenblicks, daſs wir zur Zeit immer nur Einen physischen Punkt völlig scharf begrenzt und in seiner lebhaftesten Farbe wahr - nehmen, und daſs die Entfernung, worin wir ihn betrachten müssen, um ihn in der schärf - sten Begrenzung und in der lebhaftesten Farbe zu erblicken, desto engere Schranken hat, je kleiner derselbe ist. Rücken wir ihn über diese Entfernung hinaus vom Auge weg, so erschei - nen sein Umriſs und seine Farbe immer nebli - ger; er flieſst, wenn er an mehrere gleichartige Punkte auf einerley Linie oder Ebene grenzt, erst mit den nächsten und dann mit den ent - ferntern zusammen; weiterhin erscheint die ganze, von solchen Punkten bedeckte Linie oder Ebene als ein einziger Punkt, und endlich ver - schwindet auch diese dem Auge. Die näm - liche Abnahme der Schärfe des Umrisses und der Lebhaftigkeit der Farbe tritt ein, wenn wir den Punkt von der erwähnten Entfernung an dem Auge immer mehr nähern; nur ver - schwindet er hierbey, ohne mit den benach - barten Punkten zu einem einzigen zusammen - zuflieſsen.

Diese499

Diese Thatsachen sind ohne Annahme inne - rer Veränderungen des Auges blos aus der Vor - aussetzung erklärbar, daſs es zu einer gewissen Breite des deutlichen Sehens nicht des Zusam - mentreffens aller Strahlen von jedem mathemati - schen Punkt eines Gegenstandes in einem sol - chen Punkt auf der Netzhaut bedarf. Eine Vereinigung dieser Art würde selbst bey dem vollkommensten Bau des Auges unmöglich seyn. Sie ist auch von Keinem derer, welche die Gesetze des Sehens zu bestimmen gesucht haben, angenommen worden; es läſst sich im Gegen - theil beweisen, daſs eine gewisse Breite des Vereinigungspunkts der Deutlichkeit des Sehens keinen Eintrag thutu)Jurin in Smith’s Lehrbegriff der Optik. Uebers. von Kästner. S. 485.. Nun aber giebt es kein Mittel, zu bestimmen, ob die Veränderungen dieser Breite innerhalb der Grenzen des deut - lichen Sehens so groſs sind, daſs das letztere aufgehoben seyn würde, wenn nicht in der Organisation des Auges Veränderungen einträten, wodurch jene Veränderungen beschränkt wür - den. Es läſst sich daher blos aus den Bre - chungsgesetzen der Lichtstrahlen die Nothwen - digkeit solcher Veränderungen des Auges nicht beweisen, und es frägt sich nur, ob sonstige Gründe dafür sprechen.

ManI i 5500

Man hat gesagt: Jeden überzeuge das schmerzhafte Gefühl, das mit der anhaltenden Besichtigung feiner Gegenstände verbunden ist, von einer Anstrengung des Auges, welche der von angestrengter Muskelbewegung herrühren - den Empfindung ähnlich sey; hieraus lasse sich auf innere Veränderungen des Auges beym Nahesehen schlieſsen. Diese Thatsache findet aber schon eine hinreichende Erklärung in der Schwierigkeit, einen kleinen und nahen Gegen - stand in die Axen beyder Augen zu bringen und darin festzuhalten, und in dem Andrange des Bluts nach dem Auge, einer Congestion, die jedesmal eintritt, so oft wir die Empfäng - lichkeit eines Sinnesnerven für einen gewissen Reitz willkührlich über ihre gewöhnliche Grenze erhöhen.

Wir sehen, sagt man weiter, einen Gegen - stand nur dann so deutlich, als es dessen Ent - fernung vom Auge zuläſst, wenn wir ihn ins Auge fassen; jeder andere, der hinter oder vor ihm liegt, erscheint uns hierbey unvollkommen begrenzt und nebligv)Porterfield a. a. O. Vol. I. p. 406.. Dieses Faktum ist aber ebenfalls aus andern Gründen erklärbar, die zum Theil schon von De la Hirew)Journ. des Sçavans. A. 1685. p. 404. ange - führt, von den Vertheidigern der gegenseitigenMei -501Meinung aber meist unbeachtet geblieben sind. Nämlich:

1) Wir nehmen immer nur den, gerade in der Augenaxe befindlichen Punkt deutlich wahr. Jedem andern, der vor oder hinter diesem ge - sehen wird, geht die Augenaxe vorbey; er würde sonst denselben bedecken, oder davon bedeckt werden. Ein solcher muſs also schon deswegen undeutlich erscheinen.

2) Wir besitzen das Vermögen, die Empfäng - lichkeit der Retina für den Eindruck von Strah - len, die von einem gewissen Punkt kommen, willkührlich zu erhöhen, wobey sie für die Einwirkung anderer Strahlen unempfänglicher wird. Ein ähnliches Erhöhungsvermögen findet auch bey allen übrigen Sinnesorganen statt. Ohne dasselbe würden wir nicht können, was uns doch möglich ist, von Gegenständen, die so entfernt sind, daſs die von ihnen kommen - den Strahlen für parallel gelten können, und daſs keine Aenderung in den brechenden Häu - ten und Flüssigkeiten des Auges ihrer Undeut - lichkeit abhelfen kann, uns durch schärferes Ansehen ein bestimmtes Bild zu verschaffen.

5) Die Pupille verengert sich bey der Be - trachtung naher, und erweitert sich beym Sehen ferner Gegenstände. Sie hat innerhalb derGren -502Grenzen des nicht parallelen Auffallens der Strahlen auf das Auge für jede bestimmte Ent - fernung eines Objekts einen bestimmten Durch - messer. Bey einem Abstand des Gegenstandes von einigen Ellen hört ihre Erweiterung, und bey einer zu groſsen Nähe desselben ihre Zu - sammenziehung auf. Im letztern Fall entsteht selbst wieder Erweiterungx)Hosack, Philos. Transact. Y. 1794. p. 196.. Olbers fand zwar diese Veränderungen geringer, als seiner Meinung nach der Fall seyn müſste, um mit De la Hirey)A. a. O., Le Roiz)Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1755. p. 594 der Ausg. in 4to. und Hallera)Elem. Phys. T. V. L. XVI. S. IV. §. 27. p. 516. blos in ihnen das Mittel suchen zu dürfen, wodurch die Deutlichkeit des Sehens in ver - schiedenen Entfernungen erreicht wird*)Nach den Messungen, die Olbers (De oculi mu - tationibus internis. p. 11 sq.) an seinem eigenen Auge anstellte, erweiterte sich bey ihm der Durchmesser der Pupille in dem Verhältniſs von 100: 136, wenn die Entfernung des Objekts sich von 4 bis 28 Pariser Zoll veränderte.. Allein sie würden nur dann hierzu nicht hinreichen, wenn das Auge ganz die Einrichtung der Ca -mera503mera obscura hätte. Zwischen jenem und dieser sind aber die wichtigen Unterschiede, daſs die Lichtstrahlen auf die Linse der Camera obscura unmittelbar aus der Luft und ungebrochen, auf die des Auges hingegen aus der wäſsrigen Flüs - sigkeit und erst nach vorhergegangener Bre - chung auffallen; daſs eine Ebene die Bilder der Camera obscura, eine hohle, kugelförmige Flä - che die des Auges auffängt, und daſs in dem letztern vor der Linse nicht nur die bewegliche Pupille liegt, sondern daſs es hier auch die Ciliarfortsätze giebt, deren Enden vielleicht sich gemeinschaftlich mit der Iris ausdehnen und zusammenziehen. Die Folgen dieser Verschie - denheiten lassen sich schwerlich durch Rech - nung bestimmen. Die Veränderungen des Ge - sichts bey der widernatürlichen Erweiterung der Pupille, sowohl der krankhaften, als der künst - lichen, die von der Anwendung des Hyoscya - mus, der Belladonna u. s. w. entsteht, beweisen aber, daſs der Iris eine wichtige Funktion beym Nahe - und Fernsehen zukommen muſs. Es dauert hierbey das Vermögen des Fernsehens fort, während das Vermögen, nahe Gegenstände deutlich zu erkennen, aufgehoben istb)Wells, Philos. Transact. Y. 1811. p. 378. Dung - lison, Annals of Philosophy. Y. 1817. Decbr. p. 432., unddie504die Gegenstände erscheinen dabey kleiner, als im gesunden Zustandec)Oribasii Synopsis L. VIII. c. 44. tii Tetrab. II. Serm. 2. c. 52. Pauli Aeginetae de re med. L. III. c. 22. Demours in den Medic. Vers. u. Bemerk. einer Gesellsch. in Edinburgh. B. 6. S. 201..

4) Die Ausdehnung und Verengerung der Pu - pille wird noch unterstützt durch eine gleich - mäſsige, automatische Zusammenziehung und Erweiterung der Augenlieder, und diese Bewe - gungen in Verbindung mit dem erwähnten Ver - mögen, die Empfänglichkeit der Netzhaut für einen bestimmten Gesichtseindruck zu erhöhen, scheinen mir zur Erklärung der obigen That - sache hinreichend.

Als ein dritter Grund für die Annahme innerer Veränderungen des Auges beym Nahe - und Fernsehen ist der Umstand geltend ge - macht, daſs uns, nach anhaltender und ange - strengter Betrachtung eines Gegenstandes in einer bestimmten Entfernung, Objekte in andern Ent - fernungen anfangs undeutlich erscheinen, und daſs eine Erhohlung und Accommodation des Auges nöthig ist, um uns dieselben deutlich darzustellend)Cartesii Dioptr. C. 3. §. 5.. Diese Thatsache bedarf aber keiner andern Ableitungsgründe als der Erfah -rungs -505rungssätze, daſs mit angestrengtem Nahesehen immer eine starke Congestion der S[e]ite zum Auge, besonders zur Iris, verbunden ist, wo - durch die zum deutlichen Sehen nöthige Ver - änderung der Pupille erschwert wird, und daf, nach jeder erhöhten Thatigkeit eines Theils, der dem sensitiven Leben dient, erst ein Zu - stand der Abspannung und Erhohlung eintreten muſs, bevor dieser Theil wieder zu einer an - dern Thätigkeit fähig ist.

Porterfielde)A. a. O. Vol. I. p. 410. gab einen Beweis für die Modifikation der innern Theile des Auges nach der Verschiedenheit der Entfernung des Objekts, der den Schein geometrischer Strenge zu haben scheint und gegen den auch nichts einzuwenden seyn würde, wenn die Erfahrungen, worauf derselbe beruht, richtig wären. Er behauptet, daſs, wenn man mit dem einen Auge durch zwey Oeffnungen eines Kartenblatts, die in ge - ringerer Weite, als der kleinste Durchmesser der Pupille ausmacht, von einander entfernt sind, einen Gegenstand doppelt sieht, während das Auge einer andern Entfernung als dem Abstande dieses Objekts angepaſst ist, und die eine Oeffnung verschlossen wird, das Bild auf der Seite dieser Oeffnung verschwindet, falls der Abstand des Gegenstandes mehr beträgt, alsdie506die Entfernung, worauf das Auge eingerichtet ist, auf der entgegengesetzten Seite, falls jener Abstand innerhalb dieser Entfernung liegt. Porterfield hat diese Erfahrung durch geo - metrische Construktionen erläutert, die allerdings zeigen, daſs in beyden Fällen zwey Bilder des Gegenstandes entstehen müssen, wovon sich das einfache Bild im erstern Falle hinter, im letz - tern vor der Netzhaut befindet. Nach meinen Versuchen ist indeſs die Erfahrung selber kei - neswegs so zuverläſsig, wie sie Porterfield angiebt. Nur ein Gegenstand, der nicht breiter ist, als der Zwischenraum der beyden Oeff - nungen, wodurch man ihn betrachtet, erscheint doppelt, und diese Erscheinung tritt nur dann ein, wenn man ihn gegen eine helle Fläche, oder bey einer gewissen Erleuchtung so hält, daſs er mit jenem Zwischenraum in der Axe des Auges liegt, und daſs er über die Grenze, wo die auſsersten, von ihm kommenden Strah - len sich auf der Netzhaut vereinigen, dem Auge genähert, oder von demselben weggerückt wird. Auf dieser Grenze erblickt man nur ein ein - faches Bild. Je näher er von derselben dem Auge kömmt, desto weiter entfernen sich die beyden Bilder von einander. Sehr nahe dem - selben verschwinden sie. Ueber die Grenze hinaus bleibt für mein Auge in jeder Entfernung ein einfaches Bild, wenn der Gegenstand nichtleuch -507leuchtend ist. Ein leuchtender Punkt erscheint mir wieder doppelt. Bey einer convexern Hornhaut und einer weitern Pupille, als die meinigen sind, tritt auch bey einem dunkeln Gegenstand unter diesen Umständen Verdoppe - lung einf)M. vergl. De la Motte’s Beobachtungen in den Versuchen u. Abhandl. der naturf. Gesellsch. in Dan - zig. Th. 2. S. 209.. Das eine Bild ist immer deutlicher als das andere, wenn die eine Oeffnung näher der Augenaxe als die andere liegt. Jenes wird durch die Strahlen, welche durch die erstere Oeffnung gehen, das andere durch die, welche durch die zweyte Oeffnung in schiefer Richtung auf das Auge fallen, hervorgebracht. Beym Verschlieſsen der einen Oeffnung scheint mir immer das nämliche Bild zu verschwinden, ich mag vor dem Versuch einen nähern oder fer - nern Punkt fixiren, wenn die Stellung des Aug - apfels, der Oeffnungen und des Gegenstandes unverändert bleibt und das Licht einerley Fall auf den Gegenstand, die Oeffnungen und das Auge behält. Es ist aber unmöglich, beym Verschlieſsen der einen Oeffnung den Augapfel ganz unverrückt zu halten. Von der Bewegung desselben entstehen Anomalien in dem Erfolg dieses Versuchs, wodurch Porterfield’s Er - fahrungen ganz unzuverläſsig gemacht werden. WennVI. Bd. K k508Wenn übrigens Porterfield zum Gelingen des Versuchs etwa verlangt hat, man solle während demselben das Auge auf die Bilder und zu - gleich auf einen nähern oder entferntern Gegen - stand richten, welches sich aus seinen Worten nicht deutlich ergiebt, so ist es eine noch gröſsere Unmöglichkeit, dieser Forderung Ge - nüge zu leisten, als den Augapfel immer un - beweglich zu halten, da allein schon das un - verwandte Betrachten der Bilder alle Thätigkeit des Auges in Anspruch nimmt.

Porterfieldg)A. a. O. p. 408. beruft sich zur Begrün - dung seiner Meinung noch auf einen zweyten Versuch. Wenn man, sagt er, einen Gegen - stand mit beyden Augen doppelt sieht, weil dessen Entfernung kleiner oder gröſser ist, als die eines andern Gegenstandes, auf welchen die Augen gerichtet sind, so verschwindet nach Verschlieſsung des einen Auges das eine Bild im ersten Falle auf der entgegengesetzten, im zweyten auf der gleichnamigen Seite des offe - nen Auges. In dieser Erfahrung ist aber gar nichts enthalten, was für innere Veränderungen des Auges beym Nahe - und Fernsehen spricht. Es läſst sich weiter nichts damit beweisen, als was sich von selber versteht, daſs beym Sehenauf509auf nahe und ferne Gegenstände die Richtung der Axen beyder Augen sich verändert.

Einen andern Beweis für die Einrichtung des innern Auges nach dem Abstande des Ge - genstandes hat man von dem Beyspiel der Thiere hergenommen, die sowohl in der Luft als im Wasser leben. Man hat vorausgesetzt, das Auge derselben sey zum Sehen in beyden Elementen gebauet, und es müsse beym Ueber - gang aus dem einen in das andere eine innere Veränderung in demselben eintreten. Was man aber hierbey annahm, ist von Niemandem be - wiesen. Es ist im Gegentheile wahrscheinlich, daſs die Thiere, deren Augen für das Sehen unter dem Wasser gemacht sind, nur ein stumpfes Gesicht in der Luft, und die Land - thiere kein scharfes Gesicht unter dem Wasser haben. Man weiſs z. B. aus Péron’sh)Entdeckungsreise nach den Südländern. B. 2. S. 39. Er - zählung, daſs die Phoca proboscidea Per. auſser - halb dem Wasser die Gegenstände nur ganz in der Nähe unterscheiden kann. Zum Schnabel der Wasservögel, die untertauchend sich ihre Nahrung hohlen, würden nicht so groſse Zweige des fünften Nervenpaars gehen, wie wirklich der Fall ist, wenn diese Thiere unter dem Wasser durch ein scharfes Gesicht geleitet wür -den.K k 2510den. Wäre aber auch die obige Voraussetzung richtig, so würde damit doch nichts für die Annahme bewiesen seyn, daſs die Thiere, die nur ein einziges Element bewohnen, besonders der Mensch, ihre Sehkraft nach den Entfer - nungen verändern können.

Man kann sich endlich, um diese Annahme zu rechtfertigen, noch auf die Analogie der übrigen Sinneswerkzeuge, besonders derer des Gehörs, berufen, in welchen Veränderungen vorgehen, die dem Grade des äuſsern Eindrucks entsprechen. Aber ähnliche Veränderungen im Auge sind das Oeffnen und Schlieſsen der Augenlieder, die Richtung der Augenaxe nach dem Gegenstande, die Erweiterung und Ver - engerung der Pupille nach dem Grade des Lichts und der Entfernung des Objekts. Daſs sich im Auge noch etwas Weiteres beym Nahe - und Fernsehen ereigne, läſst sich aus jener Analogie nicht schlieſsen.

Wir sehen uns also genöthigt, der Meinung beyzutreten, wozu sich schon P. De la Hirei)A. a. O. p. 345. 398. und in dessen Diss. sur les différens accidens de la vue. Paris. 1694. bekannte, daſs sich, wenigstens beym Menschen, keine innere Veränderungen des Auges, die ausgenommen, welche die Pupille erleidet, alsnoth -511nothwendig beweisen lassen. Mit den bisherigen Gründen ist indeſs nicht dargethan, daſs solche Veränderungen nicht statt finden. De la Hire gründete seine Meinung vorzüglich auf die, schon in Scheiner’s Werke über das Augek)Oculus, hoc est fundamentum opticum. Oeniponti. 1619. ent - haltene Erfahrung von der Vereinigung des doppelten, durch zwey kleine, einander nahe Oeffnungen sich zeigenden Bildes zu einem ein - zigen bey einer bestimmten Entfernung des Gegenstandes. Er nahm diese Entfernung für den Punkt des deutlichen Sehens an, und meinte, daſs, wenn der letztere veränderlich wäre, der Vereinigungspunkt der beyden Bilder sich eben - falls verändern müſste, welches nach seinen Versuchen nicht der Fall sey. Perraultl)A. a. O. p. 580. erinnerte dagegen, und Porterfiedm)A. a. O. Vol. I. p. 395. führte diesen Gegengrund weiter aus, daſs die Ein - richtung des Auges nach der Verschiedenheit der Entfernungen beym Sehen durch eine enge Oeffnung wegfalle. Mir scheint diese Einwen - dung ungegründet. Man sieht durch eine enge Oeffnung die Gegenstände bey verschiedenen Entfernungen in dem nämlichen Verhältniſs der Deutlichkeit wie mit dem bloſsen Auge, nurmitK k 3512mit mehr Anstrengung. De la Hire’s Beweis ist aber von einer andern Seite nicht haltbar. Der erwähnte Vereinigungspunkt hat nach mei - nen Versuchen keinen so bestimmten Abstand vom Auge, wie er haben müſste, wenn De la Hire’s Folgerung gültig seyn sollte. Seine Entfernung verändert sich nach der verschiede - nen Erleuchtung des Objekts und des Auges. Sie ist bestimmter bey leuchtenden, als bey dunkeln Gegenständen. Diese Verschiedenheiten können von der verschiedenen Erweiterung der Pupille herrühren. Sie können aber auch in Veränderungen der strahlenbrechenden Kräfte des Auges ihren Grund haben.

Es giebt nur zwey Wege, worauf es mög - lich ist, über unsere Streitfrage etwas Gewisses auszumachen: man muſs entweder Veränderun - gen der gedachten Art in der Erfahrung nach - weisen, oder Umstände angeben, die nicht statt finden könnten, wenn nicht ein Theil des Auges sich beym Nahe - und Fernsehen verän - derte. Jeuen Weg schlugen Olbersn)A. a. O. p. 39. §. 54., Ho - meo)Philos. Transact. Y. 1795. p. 1. Y. 1796. p. 1. und Th. Youngp)Ebendas. Y. 1801. p. 23. ein. Olbers be - merkt blos im Allgemeinen, daſs er keine Ver - änderungen der Hornhaut an lebenden Menschenhabe513habe wahrnehmen können. Home beobachtete, unterstützt von Englefield und Ramsden, in einer ersten Reihe von Versuchen die Hornhaut eines Menschen, den er bald auf nähere, bald auf entferntere Gegenstände sehen lieſs, durch ein Vergröſserungsglas, das mit einem Mikro - meter versehen warq)A. a. O. Y. 1795. p. 12.. Eine zweyte Reihe von Versuchen stellte er auf die Art an, daſs er die Veränderungen eines von der Hornhaut zurückgeworfenen Bildes beym Nahe - und Fernsehen durch das Mikrometer eines Mikroskops zu messen suchter)A. a. O. Y. 1796. p. 2.. Er überzeugte sich auf beyderley Art von einer Zu - und Abnahme der Krümmung der Hornhaut beym Richten des Auges auf nähere und fernere Objekte. Er versichert, daſs, als Englefield sich zum Gegenstande der Untersuchung machte, und dieser vorsätzlich die Richtung seines Auges nach verschiedenen Objekten schnell und un - regelmäſsig veränderte, ohne dem Beobachter, Ramsden, ein Zeichen davon zu geben, der letztere ihm doch jede Veränderung, die er mit dem Auge vorgenommen hatte, auſs bestimm - teste anzeigen konnte.

Ich zweifele, daſs Jeder diese Erfahrungen so überzeugend finden wird, als sie für HomeselberK k 4514selber waren. Sie würden es seyn, wenn sich dabey das beweglichste aller Organe hätte un - beweglich machen lassen. Home schätzt bey einem seiner Versuche den Raum, durch wel - chen sich die Cornea bewegte, wenn das Auge von einem entfernten Gegenstand auf einen nähern gerichtet wurde, auf 1 / 800 eines Engli - schen Zolls. Was berechtigte den Beobachter, diesen geringen Bruch nicht vielmehr von der Veränderung in der Richtung der Augenaxe, die bey dem Hinblicken von dem einen Gegen - stand auf den andern unvermeidlich war, und wobey bald ein höherer, bald ein niedrigerer Punkt der Hornhaut in die Theilungslinien des Mikrometers treten muſste, als von einer ver - änderten Krümmung der Cornea abzuleiten? Konnte nicht schon die mit jeder Bewegung der Augenmuskeln verbundene Bewegung des Kopfs die Ursache der Differenz seyn? Gesteht doch Home selber, er und Ramsden hätten bey einem der Versuche, wobey er sein eigenes Auge von dem letztern beobachten lieſs, anfangs die Ursache der Veränderung am Mikrometer in der Bewegung des Kopfs nach vorne gesucht, weil sie eine ähnliche Veränderung durch eben diese Bewegung eines Spiegels, worin ein Bild mit dem Vergröſserungsglase am Mikrometer betrachtet wurde, hervorbringen konnten. Er setzt zwar hinzu, daſs in diesem Falle dieBewe -515Bewegungen häufiger, und eher bey ermüdetem Auge und Kopfe, als im Anfange des Versuchs hätten erfolgen müssen. Aber dieser Grund ist nicht von Gewicht. Die Bewegungen des Kopfs traten nicht häufiger ein, weil Home oder Englefield die Richtung des Auges nicht häu - figer veränderte, und sie wurden nicht so sehr vermehrt durch die Ermüdung des Kopfs und Auges, als durch die Spannung und gezwun - gene Lage, worin sich jener bey dem Versuche befand.

Young wiederhohlte die letztere Reihe der Homeschen Versuche, indem er sie noch auf verschiedene Weise abändertes)A. a. O. p. 55.. Bey seinen Beobachtungen erlitt die Hornhaut keine be - merkbare Zu - oder Abnahme ihrer Krümmung. Ob dieses Resultat mehr Zutrauen verdient als das, welches Home erhielt, können wir dahin gestellt seyn lassen. Daſs aber eine an - dere Erfahrung, die Young gegen Home an - führt, auf Zuverläſsigkeit Anspruch machen kann, muſs ich sehr bezweifeln. Er füllte eine kurze Röhre, die an dem einen Ende durch ein doppeltes Convexglas verschlossen war, zum Theil mit Wasser an, zwängte in das andere Ende die Hornhaut eines seiner Augen undbeob -K k 5516beobachtete dann durch die Röhre nahe und ferne Gegenstände. So will er gefunden haben, daſs der Grad des Nahe - und Fernsehens un - verändert bleibt, man mag durch Wasser oder durch die Luft sehen, und daſs also die Cornea auf das Nahe - und Fernsehen keinen Einfluſs hat. Ich gestehe, nicht zu begreifen, wie Young es angefangen hat, den Ausfluſs des Wassers aus der Röhre beym Hineindrücken des Augapfels und beym Richten des Auges nach einem Gegenstande zu verhindern, und noch weniger will es mir einleuchten, wie man glauben kann, das Auge lasse sich so gewalt - same Versuche ohne Stöhrung seiner Verrich - tungen gefallen.

Auf eine noch härtere Probe stellte Young sein Auge, um ausfindig zu machen, ob die Augenaxe bey veränderter Entfernung der Ge - genstände des Sehens verlängert oder verkürzt werdet)A. a. O. p. 58.. Er preſste, während das Auge so weit wie möglich nach innen gedreht war, einen eisernen Ring an die äuſsere und einen andern an die innere Seite des Augapfels, und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Kreis, der sich unter diesen Umständen am innern Augenwinkel zeigt, um zu bestimmen, ob sich dessen Ausdehnung beym Richten des Augesauf517auf Gegenstände von verschiedener Entfernung ändere. Die Gestalt blieb unverändert, und Young ist nun überzeugt, daſs die Länge der Augenaxe unwandelbar sey. Ich halte es für überflüssig, sowohl über den Versuch, als über die Folgerung etwas zu sagen. Nur die allge - meine Bemerkung möge hier eine Stelle finden, daſs mir jeder Versuch ohne beweisende Kraft scheint, wobey man einen Gegenstand fest ins Auge faſst und zu gleicher Zeit ein anderes Objekt dem nämlichen Auge gegenwärtig zu er - halten sucht.

Statt mit Home Veränderungen des Radius der Hornhaut und der Augenaxe anzunehmen, hält Young Verlängerungen und Verkürzungen der Axe des Crystallkörpers für das Mittel, wodurch die vorausgesetzten Accommodationen des Auges bewirkt werden. Er glaubt, seine Meinung werde durch die Veränderungen, die man an dem in einem Hohlspiegel sich darstel - lenden Bilde eines Lichts durch mehrere, ein - ander nahe Löcher eines Kartenblatts in ver - schiedenen, doch nahen Entfernungen erblickt, fast mit mathematischer Strenge bewiesenu)A. a. O. p. 68.. Zu einer unständlichen Darstellung und Prüfung seines Beweises ist hier nicht der Raum. Es wird hinreichend seyn, dagegen zu bemerken,daſs518daſs von Young weder auf die sehr beträcht - liche Veränderung der Pupille, die nicht fehlen kann, wenn man das Auge dem von einem Hohlspiegel zurückgeworfenen Lichte in der Nähe aussetzt, noch auf die Beugung, welche die Lichtstrahlen am Rande der Pupille erleiden müssen, noch auf den Einfluſs, den bey einem solchen Versuch die an der vordern Seitenfläche der Pupille in der wäſsrigen Flüssigkeit frey schwimmenden Enden der Ciliarfortsätze auf die Lichtstrahlen haben können, Rücksicht ge - nommen ist.

Eine Erwähnung verdient übrigens noch, daſs von beyden Vertheidigern entgegengesetzter Meinungen Jeder Thatsachen einer und dersel - ben Art zum Beweise seiner Meinung angeführt hat. Homev)A. a. O. Y. 1795. p. 5. Y. 1802. p. 1. schloſs aus Versuchen mit zwey Personen, denen an dem einen Auge der graue Staar operirt war, daſs auch nach Wegnahme der Crystalllinse das Auge noch in einem ge - wissen, doch geringern Grade als im gesunden Zustande, das Vermögen besitze, die Gegen - stände in verschiedenen Entfernungen deutlich zu sehen. Youngw)A. a. O. p. 66. machte ähnliche Versuche mit einem Manne von 63 Jahren, dem ebenfalls an dem einen Auge der Staar einige Jahrevor -519vorher operirt war, und folgerte daraus gerade das Gegentheil. Home’s Schluſs ist dem ge - mäſs, was man für wahrscheinlich halten muſs, wenn man auch kein Accommodationsvermögen der durchsichtigen Theile des Auges nach den Entfernungen annimmt, und mit manchen Er - fahrungen älterer Augenärzte übereinstimmendx)Haller El. Phys. T. V. L. XVI. S. 4. §. 25. p. 514.. Young’s Erfahrungen enthalten, näher betrach - tet, eben so viel, was dem Resultat der Ver - suche Home’s gemäſs ist, als was diesen wider - spricht, und es gilt auſserdem gegen sie, was Well’sy)Philosoph. Transact. Y. 1811. p. 381. erinnert hat, daſs bey den meisten Menschen das Vermögen des deutlichen Sehens in verschiedenen Entfernungen mit den Jahren immer eingeschränkter wird, und daſs der Mann, woran Young’s Erfahrungen gemacht wurden, vielleicht auch, wenn er nicht den Staar bekommen hätte, nicht viel anders als nach der Ausziehung der Linse gesehen haben würde.

Es sind also auf dem Wege der Beobach - tung des lebenden menschlichen Auges keine Gründe zur Entscheidung unserer Streitfrage zu finden. Der zweyte Weg, der uns noch offen steht, ist die Untersuchung der Theile des Auges in Beziehung auf ein, möglicher Weisedurch520durch sie vermitteltes Accommodationsvermögen desselben. Wir können hierbey als ausgemacht voraussetzen, daſs kein Theil am Auge des Menschen und keiner von denen, welchen die übrigen Thiere mit ihm gemein haben, als eige - nes für das letztere bestimmt sich aufweisen läſst. Von jedem dieser Theile wissen wir mit Gewiſsheit, daſs er auf andere Weise heym Sehen wirksam ist. Wir würden also einen oder mehrere derselben nur dann als thätig bey der Accommodation des Auges annehmen dür - fen, wenn diese als nothwendig dargethan wäre. Wie viel hieran aber noch fehlt, ergiebt sich aus den obigen Bemerkungen. Es ist mithin auch auf diesem Felde nichts für uns zu erndten.

Wer indeſs jene Nothwendigkeit auch als bewiesen gelten läſst, wird doch nach unbefan - gener Prüfung gestehen müssen, daſs keines der Mittel, welches man für wirkend bey der Accommodation des Auges gehalten hat, dem Zwecke entsprechend ist. Als solche hat man Zusammenziehungen der Ciliarfortsätze oder der Ciliarkrone, wodurch die Gestalt oder die Lage der Linse verändert würde, Ausdehnungen des Petitschen Canals, welche eben dies bewirken sollten, Contraktionen eines angeblichen ring - förmigen Muskels der Traubenhaut, der dieHorn -521Hornhaut convexer machte, Gestaltsveränderun - gen der Linse vermöge einer innern Muskel - kraft derselben, Verlängerungen oder Verkür - zungen der Axe des ganzen Auges oder des Krümmungshalbmessers der Hornhaut durch Zu - sammenziehungen der Augenmuskeln, eine Zu - nahme der Dichtigkeit des Crystallkörpers nach dem Hintergrunde des Auges hin, und Dichtig - keitsveränderungen der strahlenbrechenden Theile des Auges angenommen.

In den Ciliarfortsätzen, der Ciliarkrone, dem Petitschen Canal und einem Schlieſsmus - kel der Traubenhaut suchten Viele das Mittel, wodurch sich das Auge nach den Entfernungen einrichtet, schon von Kepler’s Zeit an bis zur Herausgabe der Hallerschen Physiologie. Man findet diese Hypothesen in dem letztern Werkez)T. V. L. XVI. S. 4. §. 20. p. 507 sq. und in Olber’s Abhandlung De oculi mutatio - nibus internisa)p. 14 sq. umständlich dargestellt und geprüft. Wer die Zartheit, die Schwäche aller jener Theile in der Natur näher kennen gelernt hat, und den Widerstand erwägt, den sie zu überwinden haben würden, wenn sie entweder die Linse aus ihrer Stelle rücken und gegen die gläserne oder wäſsrige Feuchtigkeit pressen müſsten, oder wenn die Substanz der Linsesel -522selber durch sie zusammengedrückt werden sollte, wird sie schon aus diesem Grunde allein höchst unwahrscheinlich finden. Die Anhänger dieser Meinungen, Kepler, Scheiner, Sturm, Descartes, Hartsoeker, Musschenbroeck, S’Gravensande, Porterfield, Jurin, waren auch Mathematiker oder Physiker, die den Bau des Auges mehr aus Beschreibungen, als aus der Natur kannten. Auf ihrer Seite standen freylich auch Perrault, Camper und Zinn. Aber Perrault, soviel er zergliedert hat, scheint sich doch nach dem feinern Bau des Auges wenig umgesehen zu haben. Camper trug seine Hypothese von der Wirkung der Ciliarkrone und des Petitschen Canals in einer, zwar schätzbaren, doch jugendlichen Schriftb)In seiner Inauguraldissertation De quibusdam oculi partibus. Lugd. Bat. 1746. vor, wobey er selber gesteht, daſs sie ihm nicht auszureichen scheinec)Ebendas. Quaest. IV. §. 5. Halieri collect. disputat. anat. select. Vol. IV. p. 301.. Zinn wieder - hohlte die seinige nicht in seinem spätern, vollendeten Werke über das Auge, nachdem er sie in einem frühern Programm De ligamentis ciliaribus geäuſsert hatte. Wenn noch einige neuere Physiologen auf ähnliche Meinungen zu -rück -523rückgekommen sindd)Home, Philos. Trans. Y. 1796. p. 8. Gräfe in Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. 9. S. 230., so überzeugt man sich beym Lesen ihrer Schriften bald, daſs sie Er - klärungen zu gehen gewagt haben, die von ih - nen selber bey hinreichender Kenntniſs der Ar - beiten ihrer Vorgänger sehr unzureichend wür - den befunden seyn.

Daſs die Crystalllinse durch eine, ihr selber eigene Muskelkraft in ihrer Gestalt verändert werde, ist ein Gedanke, dem vorzüglich Pem - berton im Anfange des vorigen Jahrhunderts nachhing, seit durch Leeuwenhoeck die Zu - sammensetzung der Linse aus fasrigen Blättern entdeckt war. In neuern Zeiten wurde diese Idee durch J. Huntere)Philos. Transact. Y. 1794. p. 21. und Th. Youngf)Ebendas. Y. 1793. p. 169. Y. 1801. p. 71. vertheidigt. Gründe hat man keine weitere für sie angegeben, als jene fasrige Struktur und die Analogie mehrerer Theile bey den Würmorn, Mollusken und Zoophyten, die sich kräftig zu - sammenziehen, obgleich sie ebenfalls, wie die Crystalllinse, farbenlos und durchsichtig sind. Allein einen ähnlichen innern Bau wie dieser Theil hat auch jeder Knorpel, und die Muskeln wirken ganz anders, als die Linse bey der Vor -aus -VI. Bd. L l524aussetzung, daſs sie ein Zusammenziehungsver - mögen besitze, wirken müſste. Die Contrak - tionen der Muskeln sind beständig mit Palpita - tionen ihrer Fasern verbundeng)Biologie. Bd. 5. S. 261. 262.; dieses Er - zittern nimmt um so mehr zu, je länger jene in einerley Spannung bleiben, und in den durchsichtigen Bewegungsorganen der erwähnten Thiere ist dasselbe noch weit bemerkbarer als in den Muskeln der Wirbelthiere. Die Linse gehorcht dabey nicht mechanischen Reitzen, nicht dem Einfluſs der Elektricität, kurz keiner der Einwirkungen, von denen jeder Muskel er - regt wird. Nur Säuren, Weingeist und Naph - ten, die auch den leblosen Eyweiſsstoff gerin - nen machen, bringen einige, und doch nur ge - ringe Zusammenziehung in ihr hervor.

Weit triftigere Gründe, als die bisher er - wähnten Meinungen, hat unter gewissen Ein - schränkungen die für sich, welche die Verände - rungen des Augapfels aus Zusammenziehungen der Augenmuskeln erklärt. Sie hatte zu Urhe - bern Rohault und Bayle, zu Vertheidigern Boerhaave, Petit, Santorini, Hambercer u. s. w. vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts, Olbersh)A. a. O., Hosacki)Philos. Transact. Y. 1794. p. 196. und Homek)Ebendas. Y. 1795. p. 10. in neuernZei -525Zeiten, und sie wird in den meisten neuern Lehrbüchern der Physiologie als ausgemacht vorgetragen. Was für sie gesagt werden kann, ist von Olbers gesagt worden. Home hat die Gründe, die für sie sprechen, nur durch un - unzuverläſsige Beobachtungen vermehrt, und Hosack’s Abhandlung ist nicht viel mehr, als ein Beweis der literarischen Unkunde ihres Verfassers. Man hat jene Hypothese auf ver - schiedene Weise modifizirt vorgetragen, indem man bald blos die geraden, bald auch die schiefen Augenmuskeln bey der Veränderung des Auges als wirkend annahml)Die letztere, von Rohault und Bayle herrührende Meinung wurde in neuern Zeiten auch noch von Autenrieth (Handb. der empirischen menschl. Phy - sielogie. B. 3. S. 150. 152. ) angenommen.. Olbers leitete mit Recht diese blos von einer gleich - zeitigen Verkürzung der vier geraden Augen - muskeln ab. Seiner Meinung nach wird durch den Druck, den diese Zusammenziehung auf den Umfang des Augapfels hervorbringt, der Glaskörper nach hinten und nach vorne ge - drängt, die Linse gegen die wäſsrige Flüssigkeit und diese gegen die Hornhaut gepreſst, und auf solche Weise sowohl der Abstand der Linse von der Netzhaut, als gleichzeitig die Krüm - mung der Hornhaut vergröſsert. Berechnungen,dieL l 2526die er über die Entfernung des Vereinigungs - punkts der Lichtstrahlen im Auge gemacht, beweisen, daſs das Maximum der Veränderungen dieser Entfernung nur 0,06 Theile eines Pariser Zolls zu betragen braucht, damit das Auge einer unendlichen Entfernung des Objekts und einem Abstande desselben von nur 5 Zoll ange - paſst wird. Mit der Vergröſserung und Ver - ringerung des Radius der Hornhaut steht hier - bey immer die Vermehrung und Verminderung des Abstands der Linse von der Netzhaut in geradem Verhältniſs, so daſs die Lichtstrahlen sich bey jeder Veränderung des Auges nach der Entfernung des Gegenstandes auf der Retina vereinigen müssen.

Alles dies ist von Olbers mit groſsem Scharfsinn weiter ausgeführt, und es sind man - che Schwierigkeiten, die seiner Meinung ent - gegenstanden, sehr glücklich gehoben. Indeſs, es sind doch noch Gründe gegen sie übrig, die ich nicht wegzuräumen weiſs. Olbers setzt voraus, der Druck der geraden Augenmuskeln geschehe von allen Seiten so gleichförmig auf den Augapfel, daſs der Glaskörper nur nach hinten und nach vorne ausweichen könne. Allein diese Muskeln umfassen den ganzen Umfang des Augapfels nur nach vorne, nicht in der Mitte, und gegen die letztere muſs dochder527der Druck eigentlich gerichtet seyn. Es kann also keine gleichförmige Pressung auf jeden Punkt der Seiten des Augapfels entstehen, und der Glaskörper wird nicht blos nach vorne und nach hinten, sondern auch nach den Zwischen - räumen der Augenmuskeln hingedrückt werden. Der Druck muſs ferner beym Menschen durch die sphärische Gestalt des Augapfels sehr ver - mindert werden. Dieser ist zwar nicht bey allen, doch bey vielen Menschen eine vollkom - mene Kugelm)Home a. a. O. Y. 1796., und bey den meisten weicht er von der völligen Kugelgestalt nur wenig ab. Olbers nimmt weiter an, der Druck brauche nur sehr sanft zu seyn, um die nöthigen Ver - änderungen der Augenaxe hervorzubringen. Aber wegen der Seitenausdehnung des Aug - apfels und der sphärischen Gestalt desselben beym Menschen wird jener schon nicht so ge - ring seyn dürfen. Wie stark er aber auch seyn mag, so bleibt noch die Frage, ob er hinrei - chen wird, die Hornhaut auch nur um 0,06 Theile eines Zolls auszudehnen. Daſs diese contraktil ist, zeigt freylich die Erfahrung; daſs sie sich aber durch einen mäſsigen Andrang der wäſsrigen Flüssigkeit über den Grad von Spannung, den sie unmittelbar nach dem Tode hat, ausdehnen läſst, muſs ich nach meinenEr -L l 3528Erfahrungen bezweifeln. Durch einen Druck auf den Augapfel, der diese Spannung zu über - winden vermögte, würde die Netzhaut in Falten gelegt, der Sehenerve und jeder der übrigen Augennerven gegen den Grund der Augenhöhle gedrängt und das Sehen gestöhrt werden. Noch mehr: Kann wirklich die gleichzeitige Zusam - menziehung der geraden Augenmuskeln einen Druck auf den Augapfel hervorbringen? Mir scheint dies nur möglich, wenn entweder bey der Verkürzung dieser Muskeln der Augapfel durch eine gegenwirkende Kraft zurückgehalten würde, oder wenn sie dabey eine Starrheit erhielten, die den Widerstand des Augapfels überwinden könnte. Eine solche gegenwirkende Kraft giebt es aber an dem Auge des Menschen und der ihm verwandten Thiere nicht, und zu diesem Grade von Starrheit sind die Augen - muskeln nicht geeignet. Die letztern gerathen ohne Zweifel, wie alle übrige willkührliche Muskeln, nach dem Tode in Erstarrung, und doch wird dadurch das Einsinken der Hornhaut nicht verhindert. Diese Einwürfe gelten nur gegen die obige Theorie, insofern dadurch das Vermögen des Nahe - und Fernsehens des Menschen und der Thiere, die mit diesem einer - ley Augenbau haben, erklärt werden soll. Ob es bey andern Thieren nicht ein solches Ver - mögen giebt, und ob an dessen Ausübung dieAugen -529Augenmuskeln nicht Antheil haben, werden wir unten sehen.

Nachdem J. F. C. Grimm in einer Abhand - lung über das Sehenn)Diss. de visu. Götting. 1758. die Zahl der bisher erwähnten Meinungen noch durch die Hypothese vermehrt hatte, daſs Dichtigkeitsveränderungen der Augenfeuchtigkeiten das Mittel seyen, wo - durch die Einrichtung des Auges nach dem Abstande der Gegenstände bewirkt würde, einen Einfall, den Olberso)A. a. O. p. 29. mit Recht keiner Wi - derlegung werth fand, hat einer der neuesten Schriftsteller über das Auge, Valléep)Journ. de Physiol. expériment. par Magendie. A. 1821. Avril. p. 144., die - sen Gedanken dahin modifizirt: der Glaskörper habe eine so starke brechende Kraft, daſs die von einem Punkt kommenden Lichtstrahlen sich schon in einer gewissen Entfernung vor der Retina vereinigen; jene Kraft nehme von der Linse an bis zum Hintergrunde des Auges im - mer zu; diese Strahlen beschreiben folglich bey ihrem Durchgange durch den Glaskörper krum - me Linien, und gehen, nachdem sie sich vor der Netzhaut vereinigt haben, in einer und derselben Linie zur letztern fort. Bey dieserVor -L l 4530Voraussetzung würde also das Auge schon ver - möge seines Baus, ohne innere Veränderungen, den verschiedenen Entfernungen der Objekte angepaſst seyn. Aber Jedem wird gleich ein - leuchten, daſs, wenn sie gültig seyn sollte, der hintere Theil des Glaskörpers noch eine weit stärkere brechende Kraft als die Linse selber haben müſste, indem die Radii eines Strahlen - büschels nach ihrer Vereinigung im Glaskörper weit stärker, als vor ihrem Eintritt in die Linse, divergiren. Gründe für seine Meinung hat Vallée bisjetzt nicht bekannt gemacht, und ich wüſste keinen, der sich dafür anführen lieſse, als etwa Magendie’sq)Précis élément. de Physiol. T. I. p. 59. angebliche Er - fahrung, daſs die Bilder auf der Netzhaut weiſser Mäuse, von deren Augen man die Skle - rotika abgesondert hat, bey verschiedenen Ent - fernungen des Gegenstandes keine Veränderung der Deutlichkeit erleiden.

Wenn wir nun unbefriedigt von allen bis - herigen Versuchen, die Art, wie eine Accom - modation des menschlichen Auges nach den Entfernungen der Objekte geschehen könne, zu erklären, auf unsere obigen Sätze, daſs die Nothwendigkeit einer solchen Einrichtung unbe - wiesen und die Voraussetzung derselben un - nöthig sey, zurückkommen, so wird es unserlaubt531erlaubt seyn, ein Vermögen zu dieser Accom - modation bey dem Menschen und den Thieren, deren Augenbau mit dem menschlichen überein - kömmt, als gar nicht vorhanden zu betrachten. Hiermit sey aber nicht behauptet, daſs es nicht andere Thiere giebt, die ihr Auge nach den verschiedenen Entfernungen der Gegenstände verändern können. Es lassen sich allerdings Eigenheiten im Augenbau mancher Thiere auf - weisen, die eine Beziehung auf innere Ver - änderungen des Gesichtswerkzeugs zu haben scheinen. Ich glaube indeſs nicht, daſs die meisten derer, welche bisher von den Natur - forschern hierauf bezogen sind, wirklich damit in Verbindung stehen.

Man hat geglaubt, die verschiedene Dicke der Zonen, woraus die Sklerotika mancher Thiere besteht, diene, um das Zusammendrücken des Augapfels durch die Augenmuskeln zu er - leichtern, und so nicht nur in verschiedenen Entfernungen, sondern auch durch das Wasser und durch die Luft sehen zu können. Tysonr)Anat. of a Porpeſs. und Blumenbachs)Do oculis leucaethiopum etc. p. 21. Dessen Handb. der vorgl. Anatomie. 1te Ausg. S. 384. sahen diese Bestimmung im Bau der Augen des Delphius und der Rob -ben.L l 5532ben. Rudolphit)Anatomisch-physiologische Abhandl. S. 7. wandte dagegen ein. daſs ein ähnlicher Bau auch dem Pferde, Ochsen, Hasen und Schweine, besonders dem letztern, eigen sey, Thieren, die doch blos in der Luft leben. Tyson’s Meinung wurde wieder von Albersu)Götting. gel. Anzeigen. J. 1803. S. 601. Abhandl. der Physikal. medic. Societät zu Erlangen. B. 1. S. 460., der den Augenbau der Robben auch beym Wallroſs fand, und von Lobsteinv)Journal de Médecine. Par Leroux. T. 39. p. 40., der ihn bey der Phoca Monachus Gm. unter - suchte, gegen Rudolphi vertheidigt. Was Rudolphi bemerkte, und noch mehr als dies, wurde schon von Morgagniw)Epist. anatom. XVI. §. 39 sq. gegen Tyson erinnert und von Zinnx)Commentar. Societ. reg. scient. Götting. T. IV. p. 248. bestätigt gefunden. Morgagni lehrte der Wahrheit ganz gemäſs, daſs bey allen Säugthieren, und man kann hin - zusetzen, auch bey allen Vögeln, der hintere und vordere Theil der Sklerotika dicker als der mittlere ist, daſs die Verdickung blos von der Anheftung der Augenmuskeln herrührt, und daſs der Unterschied der Dicke viel geringer in den Zwischenräumen dieser Muskeln, als unter deren Mitte ist. Wie die Verdickung mit der Accommodation des Auges durch die Augen -mus -533muskeln etwas gemein haben kann, sehe ich nicht ein. Diese soll ja in Verlängerung der Augenaxe bestehen. Das hintere Segment der Sklerotika würde also bey solchen Thieren, denen eine solche Verlängerung vorzüglich von Nutzen wäre, vielmehr dünner als dicker seyn müssen, um dem Druck, den dasselbe bey der Zusammenziehung der Augenmuskeln erleiden soll, desto leichter nachgeben zu können.

Bey den Vögeln ist zu einer Zusammen - drückung des Auges durch die geraden Augen - muskeln gar keine Möglichkeit, weil bey ihnen der Durchmesser des Augapfels durchgängig gröſser als die Axe ist, der von jenen Muskeln umgebene hintere Theil der Sklerotika höch - stens nur eine halbe Kugel, bey manchen Gat - tungen, z. B. den Eulen, noch weniger als eine Halbkugel ausmacht, und am vordern Theil der Sklerotika der hier liegende knorpelige oder knochenartige Ring jede Pressung verhindert. Albersy)Beyträge zur Anat. u. Physiol. der Thiere. H. 1. S. 105. glaubte zwar, die einzelnen Stücke, woraus dieser Ring besteht, lieſsen sich ziemlich stark über einander schieben und von einander entfernen, und Homez)A. a. O. Y. 1796. p. 14. 20. behauptet, der vordere,dün -534dünnere Theil des Reifs könne sich von ein - ander geben. Beydes geht freylich an, wenn man den Ring von allen seinen Umgebungen getrennt hat, aber nicht, wenn er noch mit der Sklerotika und Cornea fest verbunden ist. Mit der letztern hängt er durch ein kreisförmiges Ligament von einer Festigkeit zusammen, die jedes Auseinanderweichen seines vordern Ran - des unmöglich macht.

Eher als durch die geraden oder schiefen Augenmuskeln würde bey den Vögeln eine Zusammenpressung des Augapfels durch die Muskeln und Sehnen, vermittelst welcher die Nickhaut bewegt wird, möglich seyn, wenn nicht eine solche Pressung von der Natur ver - hindert wäre. Das Hervorziehen dieser Mem - bran aus dem innern Augenwinkel über die Hornhaut geschieht durch zwey, auf der hin - tern Fläche des Augapfels liegende Muskeln. Der eine läuft mit seiner Sehne in einem Winkel um den Sehenerven, und diese geht in das obere, bewegliche Ende der Nickhaut über. Der andere, sogenannte viereckige Muskel nimmt jenen in einer Rinne da auf, wo der - selbe einen Winkel macht. Beyde ziehen, gleichzeitig wirkend, die Sehne des erstern nach einer mittlern Richtung, und die Nickhaut brei - tet sich, der Sehne folgend, über das Augeaus535ausa)Parrault a. a. O. p. 345.. Bey einer noch stärkern Verkürzung beyder Muskeln müſste durch sie der Augapfel von hinten und durch die gespannte Nickhaut von vorne gepreſst werden. Aber es giebt nichts, woraus sich schlieſsen läſst, daſs diese Muskeln einer stärkern Zusammenziehung fähig sind, und gerade zum Abhalten des Drucks, den sie auf den Augapfel verursachen könnten, scheint der knöcherne Ring des Vogelauges mit zu dienen. Ich fand bey allen Vögeln, deren Auge ich näher untersuchte, die Stärke dieses Reiſs immer der Stärke der Nickhaut und ihrer Muskeln proportional. Bey den Eulen, wo diese Theile sehr stark sind, ist noch auſserdem die unmittelbare Wirkung jener Muskeln auf den Augapfel durch einen eigenen kleinen, mit dem Knochenreif zusammenhängenden Knochen verhindertb)C. L. Nitzsch’s osteographische Beytr. zur Nat. Gesch. der Vögel. S. 78..

Stände einer Zusammendrückung des Aug - apfels durch die Muskeln der Nickhaut nichts entgegen, so würde dadurch die Hornhaut fla - cher gemacht, die Augenaxe verkürzt, und das Auge zum Sehen in die Ferne eingerichtet wer - den. Eine solche Einrichtung ist nun zwar der gangbaren Meinung, nach welcher eine Accom -moda -536modation des Auges nur für nähere Objekte nöthig seyn soll, deren Strahlen nicht parallel auf die Hornhaut fallen, entgegen. Allein für die meisten Thiere würde jene Art der Ein - richtung weit zweckmäſsiger als diese seyn. Viele derselben, besonders diejenigen, die sich von Gräsern und Insekten nähren, bedürfen zwar des Vermögens, die Gegenstände in der Nähe zu erblicken. Allein hierzu ist ihnen schon ein Wahrnehmungsvermögen des bloſsen Umrisses und der Farben derselben hinreichend. Mikroskopische Augen können wenig Säugthieren und Vögeln von Nutzen seyn. Desto wichtiger aber ist es für die Herbivoren, ihre Feinde, für die Carnivoren, ihren Raub in einer so groſsen Entfernung zu erkennen, als die Gröſse und der Bau ihrer Augen nur immer zuläſst.

Man könnte jene Hypothese noch weiter ausschmücken und damit das Organ der Vögel in Verbindung setzen, das von Cramptonc)Annals of Philosophy. Y. 1813. Vol. 1. p. 170. als ein ringförmiger, um den Rand der Horn - haut liegender Muskel beschrieben ist. Bestände dieser Theil wirklich aus Muskelfasern, so würde durch ihn bey seiner Verkürzung die Hornhaut convexer gemacht werden müssen, da die Fasern desselben strahlenförmig nach der Mitte der Cornea gerichtet und mit dem einenEnde537Ende an den Ciliarring, mit dem andern an das innerste Blatt der Hornhaut befestigt sind. Er lieſse sich also als antagonistisch gegen die Muskeln der Nickhaut wirkend betrachten. Ich kann ihn indeſs nicht für einen Muskel aner - kennen. Ich habe ihn bey mehrern Vögeln aus verschiedenen Familien untersucht und immer seine Fasern den Muskelfasern sehr unähnlich, überhaupt aber so schwach gefunden, daſs ich eine Wirkung derselben auf die Spannung der Hornhaut, besonders bey den Falkenarten, deren Cornea eine Dicke von mehr als einer halben Pariser Linie hat, geradezu für unmög - lich erklären muſs. Ueber die eigentliche Be - stimmung dieses Theils kann ich mir noch nicht ein Urtheil erlauben. Daſs übrigens bey den Vögeln durch eine Zusammenpressung des Augapfels, sie geschehe auf welche Weise sie wolle, keine Einrichtung des Auges nach den Entfernungen hervorgebracht werden kann, er - giebt sich auch noch daraus, weil bey vielen dieser Thiere der schwarze Fächer mit der Linsenkapsel sehr fest und in einer beträchtli - chen Ausdehnung, jedoch nicht in der Augen - axe, sondern seitwärts verbunden ist, die Linse also bey jeder Veränderung sowohl des Durch - messers, als der Axe des Augapfels in einer schiefen Richtung zurückgezogen oder hervor - gedrückt werden muſs. Diesen Umstand habenMala -538Malacarned)Memorie della Societa Italiana. T. VII. p. 206. und Homee)A. a. O. Y. 1796. p. 16. nicht erwogen, als sie die Meinung äuſserten, die Linse des Vogelauges könne durch Zusammenziehungen des Fächers, vermöge einer vermeinten musku - lösen Beschaffenheit desselben, dem Grunde des Auges zum Behuf des Nahesehens genähert werden.

Was indeſs bey den Säugthieren und Vögeln im Allgemeinen nicht als nothwendig und als im Bau des Auges gegründet nachzuweisen ist, findet vielleicht bey einzelnen Arten der Thiere dieser Classen und bey manchen Fischen statt.

L. Thomasf)Philos. Transact. Y. 1801. p. 149. entdeckte im Auge des Rhi - noceros, zwischen der Sklerotika und Choroidea, vier muskelnähnliche Bänder, deren Sehnen auf der innern Fläche des hintern Theils der Skle - rotika in gleichen Zwischenräumen vom Sehe - nerven entsprangen und sich, allmählig breiter werdend, in der Gegend, wo der Durchmesser des Augapfels am gröſsten ist, mit der Choroi - dea vereinigten. Vielleicht dienen diese Theile, wenn sie in der That Muskeln sind, zur Ein - richtung des Auges auf sehr nahe Gegenstände, indem sie die Linse der Netzhaut näher brin -gen.539gen. Haben sie aber wirklich diese Funktion, so läſst sich gerade daraus, daſs dem Rhino - ceros eigene Organe hierzu verliehen sind, mit gröſserm Rechte auf die Abwesenheit, als auf die Gegenwart des Vermögens zu einer ähnli - chen Veränderung des innern Auges bey den übrigen Säugthieren schlieſsen.

Die meisten Fische sind wegen der kugel - förmigen Gestalt ihrer Linse und wegen der geringen Durchsichtigkeit des Medium, worin sie leben, sehr kurzsichtig. Aber diese Durch - sichtigkeit wechselt nach der Höhe und Tiefe des Wassers, wozu sie heraufsteigen oder sich herablassen, und hiermit verändert sich zugleich sehr der Druck des Wassers auf ihre sehr flache Hornhaut. Bey den meisten Gattungen derselben ist von den Augenmuskeln keine Wir - kung zum Behuf einer Einrichtung des Auges nach dieser Aenderung ihrer äuſsern Verhält - nisse möglich. Ihre Sklerotika ist gerade am hintern Theil des Augapfels, über welchen die geraden Augenmuskeln sich erstrecken, von einer solchen Dicke und Härte, daſs noch weit stärkere Muskeln als diese keine Biegung in ihr würden hervorbringen können. Ich vermuthe, daſs hier eine Accommodation des Auges durch Veränderungen im gegenseitigen Verhältniſs des Volumen und der strahlenbrechenden Kräfte derVI. Bd. M mdurch -540durchsichtigen Flüssigkeiten des Auges geschieht, und daſs der rothe, blutreiche, auf der Choroi - dea um den Sehenerven liegende Körper das Organ ist, wodurch diese Abänderungen ver - mittelt werden. Man hat dieses Organ für einen Muskelg)Haller Opp. min. T. III. p. 261. Home a. a. O., für eine Drüseh)Hovii Tract. de circulari humorum motu in oculis. p. 76. Cuvier Leçons d Anat. comp. T. II. p. 403. Rosenthal in Reil’s u. Autenrieth’s Archiv f. d. Physiol. B. 10. S. 400., oder für einen bloſsen Blutbehälter erklärti)Arbers in den Denkschriften der Akad. zu München. 〈…〉〈…〉8. S. 85.. Das Wahre ist, daſs er, unter dem Vergröſserungsglase be - trachtet, auſser einem Netz von groſsen und zahlreichen Blutgefäſsen faserähnliche Bestand - theile zeigt, die schwach vergröſsert Muskel - fasern ähnlich scheinen, unter einem stärkern Mikroskop aber sich als hohle Röhren darstel - lenk)Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Theviranus. B. 5. S. 157.. Er ist hiernach ein Sekretions - oder Absorbtionsorgan. Doch kann er schwerlich, wie Rosenthall)A. a. O. glaubt, zur Absonderung des Pigments zwischen der Choroidea und Netz - haut bestimmt seyn, das sich ja auch im übri -gen541gen Thierreiche findet und hier ohne ein sol - ches Organ secernirt wird. Vermöge seiner vielen Blutgefäſse und seines schlaffen Baus ist er aber auch einer Anschwellung fähig, wo - durch der auf ihm liegende Theil der Choroidea und Retina gegen die Linse gedrängt werden muſs. Er ist in der Gegend der Augenaxe am dicksten. Die Netzhaut wird also von ihm bey seiner Turgescenz gerade da am meisten der Linse genähert, wo die Näherung bey der Ac - commodation des Auges auf geringere Entfer - nungen geschehen muſs. Wirkt er hierbey zu - gleich als einsaugendes Organ auf die gläserne Flüssigkeit, so wird sich deren Volumen in eben dem Maaſse vermindern, wie der innere Raum der hintern Augenhöhle durch seine An - schwellung verengert wird. Nimmt man ferner an, daſs er den waſsrigen Theil der Glas - feuchtigkeit mit Zurücklassung ihrer öligen Be - standtheile absorbirt, so wird sich bey der Aenderung des Verhältnisses dieser gegen jene auch die brechende Kraft des Glaskörpers än - dern müssen. Hierbey wird die äuſsere Fläche der Choroidea mit der innern der Sklerotika von dem Eintritt des Sehenerven an bis zum Ciliarkörper nicht so eng wie bey den höhern Thieren zusammenhängen dürfen, weil sonst beym Anschwellen des rothen Körpers das Hervortreten der Choroidea und der Retina da -M m 2durch542durch gehindert werden würde. Dieser Zusam - menhang ist in der That auch bey den Fischen sehr schwach. Um die Choroidea und den rothen Körper möglichst zu isoliren, sind beyde von auſsen mit einem silberfarbenen Ueberzug bedeckt.

Diese Einrichtungsart des Auges kann aber nicht allen Fischen eigen seyn. In keiner Thierelasse hat sich die Natur für ähnliche Zwecke so verschiedener Mittel bedient, als in dieser. Die Aale, die Lampreten und noch mehrere andere Fische besitzen an der Choroi - dea ihrer Augen keinen rothen Körper. Mit dieser Abwesenheit eines Theils, den die mei - sten Fische besitzen, die eine dicke, knorpel - artige Sklerotika haben, sind noch andere Ei - genheiten in dem Augenbau jener Arten ver - bunden. Ihre Sklerotika ist sehr dünn, die der Aale so dünn, daſs sie schon dem geringsten Drucke weicht. Diese Haut ist zugleich von den Augenmuskeln weit enger als bey den vorigen Fischen umschlossen. Bey den Fluſs - neunaugen bilden dieselben einen muskulösen Ueberzug um den ganzen hintern Theil der Sklerotikam)Verm. Schriften von G. R. u. L. C. Tr. Bd. 3. S. 156.. Ferner ist hier die Oberhaut nicht, wie bey den höhern Thieren, als eineschlaffe543schlaffe Bindehaut um den Rand der Hornhaut zurückgeschlagen, sondern sie geht ausgespannt über den Augapfel weg, ist vor dem Auge durchsichtig und an dieser durchsichtigen Stelle mit dem Rand der Hornhaut verbunden. Hier giebt es also eine Gegenwirkung des durch die Oberhaut zurückgehaltenen Augapfels gegen die sich verkürzenden Augenmuskeln, und hier können daher Veränderungen des innern Auges nach der Verschiedenheit der Entfernungen oder des Medium sich ereignen, wozu bey den - hern Thieren wegen des Mangels an einer solchen gegenwirkenden Kraft keine Möglichkeit und auch kein Bedürfniſs ist.

§. 4. Richtungsvermögen des Auges nach der verschiedenen Lage der Gegenstände.

Die Gegenwart eines Accommodationsver - mögens des Auges nach der Entfernung der Objekte durch innere Veränderungen desselben ist nach den vorstehenden Bemerkungen viel - mehr ein Zeichen einer niedern, als einer - hern Bildungsstufe des Gesichtsorgans. Anders verhält es sich mit dem Vermögen des Auges, sich nach der verschiedenen Lage der Gegen - stände durch eigene Kräfte zu richten. Dieses ist dem menschlichen Auge in höherm Grade als dem der übrigen Thiere eigen, und nächstM m 3ihm544ihm stehen die Säugthiere in Rücksicht auf die Beweglichkeit des Augapfels über den Vögeln, Amphibien und Fischen.

Man weiſs, daſs der Mensch vier gerade und zwey schiefe Augenmuskeln besitzt, und jedes anatomische Handbuch lehrt, wie diese Muskeln, einzeln oder paarweise wirkend, den Augapfel nach jeder Richtung ziehen, drehen und wälzen. Die nämlichen Muskeln sind allen wirbellosen Thieren mit Ausnahme der Frösche und Kröten eigen; bey den übrigen Säugthie - ren, die Affen ausgenommen, den Schildkröten und Crocodilen ist sogar die Zahl derselben gröſser als beym Menschen: dennoch hat der Augapfel aller übrigen Thiere nicht nur keine gröſsere, sondern bey den Vögeln, Amphibien und Fischen eine geringere Beweglichkeit als der des letztern. Woher diese Verschiedenheit der Funktion bey einerley Organen?

Bey dem Menschen und den Affen läuft der obere schiefe Augenmuskel über eine Rolle, die allen übrigen Thieren an diesem Muskel fehlt. In dieser Einrichtung, in der kugelförmigen Gestalt des Augapfels, der horizontalen Lage desselben und der Abwesenheit einer Nickhaut liegt der Grund der groſsen Beweglichkeit des Augapfels bey dem Menschen und den Affen,beson -545besonders des höhern Vermögens, ihn zu rollen und zu wälzen. Bey den Säugthieren, die mit gesenktem Haupte gehen, wirkt diesen Muskeln die Schwere des Augapfels entgegen. Jene er - hielten deswegen noch andere Muskelfasern, die entweder, bey den Wiederkäuern und Einhufern zu einem einzigen, trichterförmigen Organ (Musculus bulbosus, s. suspensorius. Muscle cho - anoïde Petit. ) vereinigt, oder bey den übri - gen Säugthieren mehrere Bündel ausmachend, zwischen dem Sehenerven und den übrigen Augenmuskeln zur hintern Fläche des Augapfels gehen. Die Stelle dieser Organe würden aber schon bloſse Ligamente vertreten haben, wenn sie nicht auch als Rückzieher des Augapfels wirkten. Daſs sie auf solche Art thätig sind, zeigen vorzüglich die Frösche und Kröten, die auſser ihnen nur noch Einen geraden und Einen schiefen Augenmuskel haben, und bey welchen die Hauptbewegung des Augapfels in einer Zurückziehung desselben besteht. Hierbey tritt immer die Blinzhaut dieser Thiere hervor, deren Muskel bey der Verkürzung der Rück - wärtszieher mit angespannt wirdn)Petit, Mém. de l Acad. des sc. de Paris. A. 1737. p. 215 der 8. Ausg.. Bey den Säugthieren steht zwar der Muskel der Blinz - haut mit dem suspensorius nicht in Verbindung. EsM m 4546Es ist aber doch zu vermuthen, daſs auch hier dieser sich verkürzt, während durch jenen die Nickhaut hervorgezogen wird.

Bey den Vögeln und mehrern Amphibien wird die Blinzhaut durch den im vorigen §. beschrie - benen Mechanismus auf eine solche Art bewegt, daſs beym Hervor - und Zurückziehen dieser Haut der Augapfel nicht nach vorne und nach hinten, wohl aber nach den Seiten ausweichen kann. Sie bedurften daher keiner andern, als der nämlichen Augenmuskeln, welche der Mensch und die Affen haben. Diese würden ihnen jedoch auch bey einer noch geringern Beweglichkeit ihres Augapfels, als derselbe wirk - lich besitzt, nothwendig gewesen seyn, um ihn bey den Bewegungen der Nickhaut zu befesti - gen. Den Fischen aber fehlt eine Blinzhaut ganz, und der Augapfel vieler von ihnen scheint ganz unbeweglich zu seyn. In dieser Thier - classe kann sich daher die Funktion der Augen - muskeln nur darauf beschränken, den Augapfel in der gehörigen Lage zu erhalten und bey einigen Arten Veränderungen des innern Auges nach den Entfernungen der Gegenstände, oder nach der verschiedenen Beschaffenheit ihres Elements hervorzubringen.

Eine Folge der geringern Beweglichkeit des Auges der Vögel, Amphibien und Fische ist,daſs547daſs sie in vielen Fällen, oder selbst immer, einerley Gegenstand nur mit dem einen Auge sehen, und diesen nur durch Wendungen des Halses oder auch des ganzen Körpers in die Augenaxe bringen können. Bey allen Vögeln und Amphibien, deren Augen seitwärts liegen, geschieht nur dann das Sehen durch beyde Au - gen zugleich, wenn das Objekt in der Axe des[Kopfs] und in einer solchen Entfernung liegt, daſs die Strahlen von demselben zu beyden Au - gen gelangen. Sie erblicken dann aber dasselbe nie in den Axen beyder Augen. Nähere Ge - genstände nehmen sie immer nur mit dem einen Auge wahr, und sie drehen den ganzen Kopf, um ihn in die Axe dieses Auges zu bringen. Bey manchen Amphibien, besonders dem Chamäleon, wirken beyde Augen so wenig harmonisch, daſs sie das eine nach einem an - dern Gegenstande als das andere zu richten vermögeno)Goddard, Philos. Transact. n. 137. p. 930..

Porterfieldp)Treat. on the eye. Vol. II. p. 375. glaubte, den Vögeln werde durch Beweglichkeit der Crystalllinse ersetzt, was ihrem Augapfel an Beweglichkeit abgehe, und das Organ, wodurch die Lage ihrer Linse nach dem verschiedenen Fall des Lichts verän -dertM m 5548dert werde, sey der schwarze Fächer vermöge einer muskulösen Beschaffenheit desselben. Diese Meinung läſst sich, so ausgedrückt und auf alle Vögel ausgedehnt, nicht vertheidigen. Bey man - chen dieser Thiere, z. B. den Eulen, ist das obere Ende des Fächers so entfernt von der Linse, und dessen Zusammenhang mit der letz - tern durch so schwache Fäden von Zellgewebe vermittelt, daſs er auf keine Weise die Linse verrücken kann. Auch lassen sich nicht Zu - sammenziehungen des Fächers, deren dieser seinem ganzen Baue nach gewiſs nicht fähig ist, für das Mittel annehmen, wodurch derselbe auf die Linse wirken kann. Wohl aber sind Bewe - gungen dieses Theils vermittelst des Fächers bey denen Vögeln, bey welchen der letztere fester mit der Linse verbunden ist, entweder durch Anschwellungen desselben, oder durch eine, zwischen ihm und der Linse befindliche muskulöse Substanz möglich. Auf jene Art kann der Fächer die Linse bey den Wasser - und Singvögeln bewegen, wo er diese unmittel - bar in einer beträchtlichen Ausdehnung umfaſst. Auf die andere Weise wirkt er vielleicht bey den Reihern. Hier erstreckt sich der Fächer zwar nicht bis zur Linse. Er hängt aber doch mit ihrer Kapsel sehr fest zusammen, und bey der Rohrdommel fand ich zwischen beyden Or - ganen in der Substanz des Glaskörpers, aufder549der Seite, wo der Sehenerve in den Augapfel tritt, eine röthliche Substanz von muskelartigem Ansehen. Auch in unsern Augen läſst sich durch einen Druck auf den Augapfel die Linse verrücken, wodurch dann das harmonische Wirken beyder Augen, nicht aber das Sehe - vermögen in dem gedrückten Auge aufgehoben wird. Die Möglichkeit jener Bewegung läſst sich also nicht bestreiten. Sie kann indeſs nur bey den Vögeln gelten. In den übrigen Thier - classen giebt es kein Organ, das als bewegend auf die Linse wirken kann.

Mit dem Vermögen, dem Auge willkühr - liche Richtungen zu geben, steht noch eine andere willkührliche Bewegung an diesem Organ in einer gewissen Beziehung. Nur den Thie - ren, die jenes Vermögen besitzen, sind in der Regel auch Organe verliehen, wodurch sie den Zutritt des Lichts willkührlich abhalten können; mit Unbeweglichkeit des Augapfels hingegen ist Unvermögen, das Auge zu schlieſsen, verbun - den. Jene Unbeweglichkeit findet in der ganzen Classe der Insekten statt, und bey allen diesen Thieren giebt es auch nichts Aehnliches von Augenliedern. Den wenig beweglichen Augen der meisten Fische fehlen sie ebenfalls. Sie sind zwar bey den Schollen - und Lachsarten vorhanden. Ob sie aber wirklich, wie Por -ter -550terfieldq)A. a. O. p. 21. angiebt, bey den Schollen der Schlieſsung fähig sind, bedarf noch näherer Untersuchung. Bey den Lachsen sind sie unbe - weglich. Nur bey dem Mondfische (Tetrodon Luna) giebt es einen Ueberzug des Auges mit einer Spalte vor der Pupille, die durch einen Sphinkter verschlossen und durch strahlenför - mige Muskeln geöffnet werden kannr)A. a. O. T. II. p. 434.. Die Schnecken hingegen können ihre gestielten Au - gen willkührlich richten und zugleich diese, durch Zurückziehung derselben, dem Lichte willkührlich entziehen. In den drey obern Clas - sen der Wirbelthiere haben mit wenigen Ein - schränkungen alle Arten Augenlieder, wodurch sie die durchsichtige Hornhaut nach Willkühr bedecken und entblöſsen können. Nur bey den Wallfischen sind sie unbeweglich wegen des vielen, unter ihnen liegenden Fetts, und bey den Schlangen machen sie eine einzige durch - sichtige, den Augapfel bedeckende Haut auss)Cloquet, Mém. du Mus. d’Hist. nat. T. VII. p. 62..

Bey jenen, mit beweglichen Augendecken versehenen Wirbelthieren ist das bewegliche Augenlied entweder das obere, oder das untere, und diese Verschiedenheit beruht vorzüglich auf der Gegenwart oder Abwesenheit einer Blinz - haut und auf der Beschaffenheit des Mechanis -mus,551mus, wodurch dieselbe in Bewegung gesetzt wird. Dem Menschen und den Affen fehlt eine solche Haut. Für ihr unteres Augenlied giebt es keinen Muskel, als den ringförmigen, den dasselbe mit dem obern Augenliede gemein - schaftlich hat. Nur das letztere besitzt einen eigenen Aufhebemuskel. Bey den Säugthieren, die mit einer Blinzhaut ausgestattet sind, hat das untere Augenlied ein gröſseres Verhältniſs zum obern, als bey dem Menschen und den Affen, und auſser dem ringförmigen Muskel gehen zu demselben auch Fleischfasern von der Mus - kelhaut (Panniculus carnosus). Bey den Vögeln, den Schildkröten und Crocodilen hat das untere Augenlied mehr Beweglichkeit als das obere. Für dieses giebt es keine andere Muskeln als den Ringmuskel, für jenes hingegen einen eige - nen Auf - und Niederzieher, deren Wirkungen durch einen am Rande desselben liegenden Knorpel erleichtert werden. Hier ist aber auch eine Blinzhaut zugegen, die den ganzen Aug - apfel bedeckt und durch einen zusammengesetz - tern Muskelapparat als bey den Säugthieren in Bewegung gesetzt wird. Am Auge der Midas - schildkrote steht der Muskel der Blinzhaut durch einen Fortsatz mit dem untern Augenliede in unmittelbarer Verbindungt)Tiedemann in Meckel’s Archiv f. d. Physiol. B. 5. S. 351.. Hier ist also dieAb -552Abhängigkeit der Augenlieder von der Nickhaut, in Rücksicht auf die Beweglichkeit derselben, unverkennbar. In der Familie der Eidechsen wird die Bildung der Augenbedeckungen wieder einfacher, indem das obere und untere Augen - lied zu einer einzigen, der Queere nach ge - spaltenen Decke verwächst; hier bleibt auch von einer Blinzhaut nur noch ein Rudiment zurück.

Bey den Bewegungen des Augapfels und der Augenlieder entstehen zwischen diesen und jenem Reibungen, deren nachtheilige Folgen zu verhüten bey allen Thieren, die bewegliche Augapfel und Augenlieder haben, aber auch nur bey diesen, zwischen denselben lubricirende Säfte abgesondert werden. Die Sekretionsorgane der letztern sind beym Menschen die Thränen - drüsen, die Meibomischen Talgdrüsen und die Thränencarunkel. Eben diese Organe sind nicht nur den übrigen Säugthieren eigen, sondern es kömmt bey mehrern Arten auch noch die Har - dersche Drüse, das Absonderungswerkzeug eines dicken, weiſslichen Saftes, hinzu, die nach der unter der Blinzhaut befindlichen Lage ihres Aus - führungsgangs vorzüglich für die Bewegungen dieser Haut bestimmt seyn muſs. Die letztere Drüse findet sich daher auch bey den mit einer so ausgedehnten und so beweglichen Nick - haut versehenen Vögeln, und sie hat in dieserThier -553Thierclasse ein gröſseres Verhältniſs gegen die übrigen Augendrüsen, als bey den Säugthieren. Den Vögeln fehlt dagegen die Thränencarunkel, und die Meibomischen Drüsen sind bey ihnen nur noch durch das Vergröſserungsglas zu erken - nenu)Tiedemann’s Anat. u. Nat. Gesch. der Vögel. B. 1. S. 86.. Die von Jacobsonv)Nouv. Bulletin des sc. par la Soc. philom. A. VI. T. III. p. 267. und Nitzschw)Meckel’s Archiv f. d. Physiol. B. 6. S. 234. beschriebene Nasendrüse liegt zwar bey einigen in der Augenhöhle. Nach dem Verlauf ihres Ausführungsgangs kann sie aber blos mit dem Geruchsorgan in Beziehung stehen. Die Thrä - nendrüsen sind endlich auch bey den Amphi - bien, und selbst noch bey den Schlangenx)Cloquet a. a. O., vorhanden. Bey der Midasschildkröte zeichnen sie sich durch eine ästige Verzweigung ihres Ausführungsganges ausx*)Tiedemann in Meckel’s Archiv. B. 5. S. 354..

Drittes554

Drittes Kapitel. Das Schen von der subjektiven Seite.

Wäre die Netzhaut blos ein leidender Spiegel und empfinge der Geist die Bilder dieses Spie - gels ohne Gegenwirkung, so würden unsere Untersuchungen über das Sehen jetzt schon be - endigt seyn. Aber jene gaukeln uns auch im Traume vor, unerregt von äuſsern Gesichtsein - drücken. Wir bilden sie selbstthätig im Wachen wie im Traume, nur im Wachen nach den Ge - setzen einer äuſsern Welt. Sie gehen selbst bey dem Wachenden in bloſse Erzeugnisse seiner Organe über, wenn das Auge durch lebhafte Eindrücke gereitzt ist. Der Anblick einer um - geschwungenen feurigen Kohle, oder einer um - gedreheten Scheibe mit einer Oeffnung, hinter welcher ein Licht steht, giebt im Finstern die Empfindung eines feurigen Kreises, wenn die Zeit des Umschwungs nicht mehr als acht Tertien beträgty)D’Arcet, Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1765. p. 439.. Während dieser Zeit repro -ducirt555ducirt der Sehenerve die in ihm erregte Ver - änderung blos durch eigene Thätigkeit. Er scheint selbst jeden schwächern Eindruck so lange festzuhalten, als die Zeit des Blinzens der Augen beträgt; er würde sonst von dieser Be - wegung im Sehen gestöhrt werden müssenz)Purkinje’s Beytr. zur Kenntniſs des Sehens in sub - jektiver Hinsicht. S. 166.. Sieht man einen Fleck von einer lebhaften Farbe auf einem weiſsen Grunde lange und un - verwandt an, so entsteht nach und nach um denselben eine Krone von einer Farbe, welche der des Flecks entgegengesetzt ist, und blickt man hierauf von ihm weg auf den weiſsen Grund, so erscheint auf diesem ein Fleck, der mit dem erstern einerley Gröſse und Figur hat, dessen Farbe aber die nämliche entgegengesetzte ist, von welcher der erstere vorher umgeben war. Auf diese Weise geht Roth in Grün, Gelb in Violet, Grün in Purpur, Blau in Orange, Schwarz in ein glänzendes Weiſs, Weiſs auf schwarzem Grunde in ein noch dunk - leres Schwarz über. Der Sehenerve erhält sich also nicht nur die Urbilder; er verwandelt auch ihre Farben nach gewissen Gesetzen. Betrachtet man ein Viereck von hohem Roth auf weiſsem Grunde noch anhaltender als im vorigen Ver - such, so entsteht auf demselben nach einigerZeitVI. Bd. N n556Zeit ein Kreutz von noch höherm Roth, und bey noch längerm Anblicken tritt auch an die - ser Erscheinung Stelle eine neue, ein Rechteck von so brennendem Roth, daſs das Auge davon angegriffen wirda)Buffon, Mém. de l’Acad. des sc. de Paris. A. 1743. p. 151 der Ausg. in 4to. Wiederhohlungen und Ab - änderungen dieser Versuche Buffon’s enthalten D. F. W. Darwin’s und Himly’s Abhandlungen in den Philos. Transact. Y. 1786. p. 313., und in Himly’s u. Schmidt’s ophthalmol. Bibliothek. B. 1. St. 2. S. 1.. Mithin werden unter ge - wissen Umständen auſser den Farben auch die Gestalten der Urbilder durch die Thätigkeit des Sehenerven verändert.

Es giebt gewiſs ein Gemeinschaftliches aller Empfindungen und auch derer, die das Auge verschafft, bey allen thierischen Wesen. Aber es finden ohne Zweifel auch Modifikationen die - ser Empfindungen bey den Thieren jeder Classe, Familie und Art statt, die nicht nur durch die Verschiedenheit des Baus der Sinnesorgane, in - sofern davon die Wirkungsart des sinnlichen Eindrucks abhängt, sondern auch durch die verschiedene Bildung des Sinnesnerven und der Ausbreitung desselben bestimmt werden. Wir finden im Bau des Sehenerven und der Netz - haut bey allen Thieren Aehnlichkeiten, aber auch Abweichungen. Was sich in dieser Hin -sicht557sicht über den Sehenerven bemerken läſst, haben wir schon im vorigen Buche mitgetheilt. Die Netzhaut besteht bey den Wirbelthieren aus drey Blättern: einem äuſsern serösenb)A. Jacob, Philos. Transact. Y. 1819. p. 300., einem mittlern markigen und einem innern fibrösen. Diese Lamellen sind schwer beym Menschen, leichter bey den meisten Thieren von einander zu trennen. Die fibröse Lamelle ist im Allge - meinen von festerer Textur und deutlicher ge - fasert bey vielen Vögeln und den meisten Fi - schen, als bey den Säugthieren. Ihre Stärke steht mit der Dicke des Markblatts und diese mit der Dicke, die der Sehenerve in Verglei - chung mit dem Gehirne hat, in Verhältniſs. Beyde sind daher weit dicker bey vielen Vögeln und Fischen, als bey den Säugthieren, und das Markblatt ist am schwächsten bey den, mit einem sehr dünnen Sehenerven begabten mäuse - artigen Nagethieren. Das letztere hört bey al - len Thieren am Anfange des Ciliarkörpers mit einem verdickten Rande auf. Die fasrige La - melle aber geht über den vordern Rand des Glaskörpers fort, umfaſst die Crystalllinse und hilft das Strahlenblättchen (Zonula Zinnii) bil - den. Diese Ausbreitung des innersten Blatts läſst sich zwar schwer bey dem Menschen, doch leicht bey den gröſsern Fischen und Vögeln,nachN n 2558nach vorhergegangener Erhärtung des Auges in Weingeist, beobachten. Sie findet aber bey dem Menschen ebenfalls statt. Mehrere Zergliederer, die einen Fortgang der Netzhaut bis zur Linse annahmenc)Zinn descript. anat. human. Ed. Wrisberg. p. 102., haben für die ganze Retina an - gesehen, was in der That die fibröse Lamelle ward)Haller’s Beobachtungen über diesen Gegenstand (Elem. Phys. T. V. L. XVI. S. 2. §. 15. p. 683 sq.) habe ich ganz übereinstimmend mit der Natur ge - funden..

Auſser den Verschiedenheiten in der Textur der Netzhaut sind auch die verschiedene Ent - stehungsart dieser Membran aus dem Sehener - ven, der gelbe Fleck, die Falte und die durch - sichtige Stelle derselben bey dem Menschen und den Affen, und ihre sichelförmige Spalte bey den Fischen Umstände, die auf verschiedene Modifikationen des Sehens schlieſsen lassen. Wie die Netzhaut aus dem Sehenerven entspringt, darüber geben uns indeſs alle bisherige Zer - gliederungen keinen genügenden Aufschluſs. Sobald die Fasern des Sehenerven durch die Choroidea getreten sind, ist keine fibröse Tex - tur an der markigen Ausbreitung desselben wei - ter zu bemerken. Wir wissen blos, daſs beym Menschen und den ihm verwandten Säugthierendiese559diese Fasern, nach vorhergegangener Vermin - derung der Dicke des Sehenerven, bündelweise durch eine Siebplatte der Choroidea, hingegen bey den Fischen ohne eine solche Zertheilung in das Innere des Auges treten; daſs bey eini - gen Nagethieren, z. B. dem Hasen, bey den Vögeln und Fischen der Sehenerve zwischen der Sklerotika und Choroidea einen Fortsatz macht, von dessen Rändern die zur Bildung der Netz - haut dienenden Fasern ausgehen, und daſs bey mehrern Fischen dieser Fortsatz eine knoten - artige Anschwellung hat.

Die Retina ist aber nicht das einzige Organ, wodurch die subjektiven Wirkungen der Ge - sichtseindrücke bestimmt werden. Auch die Choroidea hat an dieser Bestimmung einen Antheil. Nach der bekannten Beobachtung Ma - riotte’s wird ein Objekt, welches eine solche Gröſse, Lage und Entfernung vom Auge hat, daſs dessen Bild eine gewisse Stelle der dem innern Augenwinkel zugekehrten Hälfte der Netzhaut bedeckt, dem Auge unsichtbar. Man hat den Versuch, worauf diese Erfahrung be - ruhet, auf verschiedene Weise angestellte)Haller a. a. O. S. 4. §. 4. p. 470 sq. Purkinje a. a. O. p. 70., und es lassen sich leicht noch neue Abänderungendes -N n 3560desselben auffinden. Die einfachste Art ihn zu machen ist, auf einem weiſsen Papier zur Rech - ten und zur Linken zwey schwarze Punkte zu zeichnen, den Punkt rechts etwas tiefer als den andern und beyde in einer geringern Entfernung von einander, als der Abstand der Pupille des einen Auges von der des andern beträgt, den Punkt zur Linken bey geschlossenem linken Auge mit dem rechten zu fixiren, ohne jedoch den Punkt zur Rechten unbeachtet zu lassen, und dann das Papier dem Auge langsam so zu nähern oder von demselben so wegzuziehen, daſs die Fläche desselben gegen die Axen bey - der Augen senkrecht bleibt. Der Punkt zur Rechten wird hierbey dem offenen Auge in einem geringern oder gröſsern Abstande des Papiers verschwinden, je nachdem man die bey - den Punkte auf demselben einander näher, oder weiter von einander entfernt gezeichnet hat. Mariotte vermuthete, und seine Muthmaaſsung wurde durch D. Bernoulli’s Versuche und Berechnungen bestätigtf)Commentar, Acad. sc. Petropol. T. I. p. 314., daſs die Stelle der Netzhaut, wo das Bild des Gegenstandes dem Auge entrückt wird, die Eintrittsstelle des Sehenerven ist. Jener schloſs hieraus, nicht die Retina, sondern die Choroidea sey das eigent - liche unmittelbare Organ des Sehens. Diese Folgerung wurde aber mit Recht verworfen. Wäre561Wäre auch sonst nichts, was sich mit ihr nicht vereinigen läſst, so würde sie doch schon durch den Grund widerlegt werden, den Hallerg)A. a. O. §. 5. p. 475. gegen sie anführte und der in neuern Zeiten von Troxlerh)Himly’s u. Schmidt’s ophthalmol. Bibl. B. 2. St. 2. S. 1. weiter hervorgehoben ist, daſs beym Auffallen des Bildes auf die Eintrittsstelle des Sehenerven der Gegenstand zwar verschwin - det, aber nicht, wie bey Mariotte’s Schluſs der Fall seyn müſste, ein schwarzer Fleck, sondern die Farbe der Fläche, die den Gegen - stand umgiebt, an dessen Stelle tritt. Die natürlichste Erklärung dieser Thatsache ist die, welche auch Haller schon gab, daſs der Sehe - nerve an seiner Eintrittsstelle zwar nicht selbst - thätig, doch wohl insofern er von den Theilen der Netzhaut, welche diese Stelle umgehen, in Mitwirkung gezogen wird, Gesichtsempfindungen hervorbringen kann. An dieser Stelle aber fehlt die Choroidea. Die Gegenwart der letztern ist daher allerdings Bedingung des selbstthätigen Wirkens der Netzhaut, und es ist anzunehmen, daſs mit den Verschiedenheiten ihrer Bildung im Thierreiche ebenfalls groſse Verschiedenheiten des subjektiven Sehens in Verbindung stehen.

DasN n 4562

Das Pigment, welches die Choroidea be - deckt, ist aber hierbey von nicht so groſser Wichtigkeit, als die Art, wie sich die Gefäſse in ihr verbreiten, und das Verhältniſs der La - melle, welche die letztern bilden, gegen das innerste Blatt derselben, gegen die Ruyschische Haut. Jenes fehlt in den Augen der Albinos, die doch blos in der Empfindlichkeit gegen das Licht, nicht in andern Funktionen, von regel - mäſsig gebauten Augen abweichen. Die Ver - theilung der Gefäſse in der Choroidea kennen wir inzwischen blos näher beym Menschen. In Betreff der Ruyschischen Haut läſst sich nur angeben, daſs sie leichter von der eigentlichen Gefäſshaut trennbar bey den mehrsten der Thiere als beym Menschen ist, und daſs ihre Stärke mit der der Netzhaut in Verhältniſs zu stehen scheint. Zur Bestimmung ihrer Funktion giebt es keine hinreichende Data. Das einzige Moment in der Struktur der unmittelbaren Or - gane des Sehens, woraus sich Folgerungen in Hinsicht auf die Verrichtungen dieser Theile ziehen lassen, ist das verschiedene Verhältniſs der Insertion des Sehenerven in das Auge gegen die Augenaxe. Wir sehen mit jedem Auge nur den Punkt deutlich, welcher in der Augenaxe liegt, und diese trifft bey uns die Netzhaut in ziemlich weiter Entfernung von der Eintritts - stelle des Sehenerven. Hingegen bey dem Bär,dem563dem Dachs und dem Waschbär geht sie durch die letztere. Diese Thiere sind also in der Augenaxe stumpfsichtig. Der Theil eines Ge - genstandes, worauf dieselbe gerichtet ist, wird von ihnen gar nicht wahrgenommen.

Die Ursache des deutlichern Sehens in der Augenaxe beym Menschen kann von doppelter Art seyn: entweder die Retina ist in der Au - genaxe am empfindlichsten; oder sie reagirt in dieser stärker, weil sie in derselben von weni - ger schiefen Strahlen getroffen wird. Der letz - tere Grund ist vielleicht nicht der einzige, doch der vorzüglichste: denn daſs auch jede andere, nicht in der Augenaxe liegende Stelle der Netz - haut die Gegenstände deutlich vorstellen kann, erhellet aus der Fortdauer des deutlichen Sehens bey einer solchen Verschiebung des Augapfels durch einen äuſsern Druck, daſs ein Objekt, welches sich vorher in der Augenaxe befand, aus dieser weggerückt wird. Welche jener Ur - sachen aber auch statt finden mag, sie hat auf das Sehen des Menschen einen sehr groſsen Einfluſs. Sein Auge ist in immerwährender Bewegung, um jede Sache, die seine Aufmerk - samkeit erregt, in die Augenaxe zu bringen. Diese folgt derselben, wie die Magnetnadel dem Eisen, und die Thätigkeit der ganzen Netzhaut concentrirt sich bey steigender AufmerksamkeitN n 5immer564immer mehr da, wo die Seheaxe sie trifft. Aller Bilder, die sich auſserhalb dieser Axe darstellen, sind wir uns um so weniger be - wuſst, je stärker und unverwandter der Blick auf den in ihr befindlichen Punkt geheftet ist. Sie entschwinden dem innern Sinne gänzlich, wenn die Gegenstände derselben durch ihre Ge - stalt und Farbe von dem Objekt der aufmerk - samen Beobachtung wenig abweichen. Von zwey Punkten, die sich auf einer weiſsen Flä - che befinden, entzieht sich der eine bey anhal - tender Heftung des Blicks auf den andern nicht weniger dem Gesicht, als bey dem Mariotte - schen Versuch, wenn auch ihre Stellung gegen den Beobachter ganz anders als bey dem letz - tern ist. Sind es Figuren von gleicher Farbe, aber verschiedenen Umrissen, von denen die eine unverwandt angesehen wird, so schwinden dem Auge die, welche von der letztern am wei - testen abstehen, früher als die nähern, und die nach auſsen liegenden früher als die der entge - gengesetzten Seite. Kömmt Verschiedenheit der Farben hinzu, so wird auch dadurch das Ver - schwinden modifizirt, und die Nebenbilder ver - lieren sich um so früher, je weniger abstechend ihre Farben gegen die des Hauptbildes sindi)Troxler a. a. O. S. 27 fg. Purkinje a. a. O. S. 76.. Durch dieses Uebergewicht der Sehkraft imAxen -565Axenpunkte der Netzhaut über die Sehkraft aller übrigen Punkte derselben ist das Gesicht des Menschen mehr zur Betrachtung des Ein - zelnen, als zum gleichzeitigen Auffassen des Mannichfaltigen gemacht. Bey den Thieren, deren Eintrittsstelle des Sehenerven in der Au - genaxe liegt, und wo dieses Uebergewicht nicht vorhanden ist, muſs das entgegengesetzte Ver - hältniſs statt finden. Ihrem Auge erscheint zwar das Einzelne weniger deutlich, aber dafür auch das gleichzeitig gesehene Mannichfaltige weniger undeutlich als dem Menschen.

Das menschliche Sehen unterscheidet sich in subjektiver Rücksicht von dem thierischen noch auf eine andere Art, die in der verschiedenen Richtung der Gesichtsaxen bey dem Menschen und den Thieren begründet ist. Wir betrach - ten jeden Gegenstand gleichzeitig mit beyden Augen, und die Axen derselben bleiben dabey einander parallel, wenn nicht der Gegenstand dem Auge so nahe ist, daſs er nur mit An - strengung erkannt wird, in welchem Falle eine Convergenz der Axen nach dem Gegenstande hin und ein Schielen eintritt. Beym ungezwun - genen Sehen ist von einer solchen Verdrehung der Augen nichts zu bemerken, und auch jene Convergenz der Seheaxen ist nie so stark, daſs der gesehene Punkt von beyden Axen gleich -zeitig566zeitig getroffen wird. Wir bringen ihn immer nur in die Axe des einen Auges, und sehen ihn mit diesem deutlicher als mit dem andern. Bey Menschen, deren eines Auge viel schwächer als das andere ist, ruhet oft das schwächere beym gleichzeitigen Gebrauch des andern ganz; bey solchen entsteht leicht Unabhängigkeit der Bewegung des einen Auges von der des andern und Schielenk)Home, Philos. Transact. Y. 1797.. Sind beyde Augen gleich stark, oder doch in der Stärke nicht sehr ver - schieden, so wird ein Gegenstand, den man anhaltend betrachtet, bald in die Axe des einen, bald in die des andern gebracht, indem beym Ermüden des einen das andere dessen Funktion übernimmt, und hieraus entsteht das Wanken der Objekte beym gemeinschaftlichen und an - gestrengten Wirken beyder Augen.

Diese gemeinschaftliche Thätigkeit ist wich - tig bey der Schätzung der räumlichen Verhält - nisse der Gegenstände. Wir können die Ent - fernung, Gröſse, Lage, Gestalt und Bewegung der Dinge sowohl mit Einem, als mit beyden Augen, doch auf die erstere Art nur unvoll - kommen beurtheilen. Die Schätzung der Ent - fernung geht immer jedem Urtheil über die übrigen jener Verhältnisse vorher. Sie läſst sich beym Gebrauche des einen Auges alleinnur567nur aus Vergleichungen der Bilder auf der Netzhaut abnehmen. Bey dem Gebrauche bey - der Augen zugleich dient uns auch als Mittel zur Schätzung die Gröſse des Winkels, den die Linien, in welchen der Gegenstand von beyden Augen gesehen wird, mit einander einschlieſsen. Die Neigung dieser zwey Linien gegen die vor - dere Fläche des Antlitzes, oder gegen die Ebene, durch welche das letztere der Länge nach halbirt wird, bestimmt zugleich die Lage des Objekts in Beziehung auf unsern Standpunkt. Vermit - telst des einen Auges allein lernen wir nur den Winkel kennen, den die eine beyder Linien mit einer dieser Flächen macht. Daher in dem Versuch, den schon Mallebranchel)Reoherche de la verité. L. I. ch. 9. zum Be - weise der gemeinschaftlichen Thätigkeit beyder Augen bey der Beurtheilung des Abstandes und der Lage eines Gegenstands anführt, die Schwie - rigkeit, bey Verschlieſsung des einen Auges das Ende eines gekrümmten Stabes durch einen, drey bis vier Schritte entfernten Ring zu stecken, welcher so gestellt ist, daſs man dessen Oeff - nung nicht sieht, und die Leichtigkeit, ihn durch den Ring zu bringen, wenn man sich beyder Augen dabey bedient. Zur Beurtheilung der Gröſse eines Objekts dienen uns als Data: die Entfernung desselben, die Gröſse des Win - kels, worunter er gesehen wird, und der Gradder568der Deutlichkeit, den er in Vergleichung mit andern, schon bekannten Objekten zeigt. Da nun die Entfernung durch beyde Augen genauer als durch eines erkannt wird, so ist schon die - ser Ursache wegen zur schärfern Bestimmung der Gröſse einer Sache das gemeinschaftliche Wirken beyder Augen nothwendig. Beym Sehen entfernterer Gegenstände kömmt hierzu noch, daſs der Grad ihrer Deutlichkeit sich genauer mit beyden Augen, als mit Einem schätzen läſst. Es bedarf übrigens keiner weitern Auseinander - setzung, wie unsere Urtheile über die Gestalt und Bewegung der Dinge ebenfalls von der Be - stimmung der Entfernung und Lage abhängig sind, und wie also auch dabey das Sehen mit beyden Augen wichtig ist.

Diese Art, die räumlichen Verhältnisse zu beurtheilen, ist aber nur dem Menschen, den Affen und überhaupt denjenigen Thieren mög - lich, die einen und denselben Gegenstand in die Axen beyder Augen bey unveränderter Stellung des Kopfs bringen können. Bey vielen Thieren haben die Augen eine solche Lage, daſs die Ge - sichtsaxen ein Objekt, welches sich vor dem Thier in der Axe des Körpers befindet, nicht erreichen. Gerade nach der Richtung dieser Axe aber richten die Thiere ihren Lauf, ihre Sprün - ge, kurz die meisten ihrer willkührlichen Be -wegun -569wegungen, und viele von ihnen, besonders die, welche ihre Beute im Sprunge oder im Fluge erhaschen, verrathen ein eben so gutes und selbst noch ein schärferes Augenmaaſs als der Mensch. Die Frage, wie das Vermögen, die Lage und Entfernung der Gegenstände in Be - ziehung auf die Axe des Körpers zu schätzen, mit jener Lage der Augen bestehen kann? ist eine der schwierigsten in der Lehre vom Sehen. Mir scheint die Beantwortung derselben nur unter der Voraussetzung möglich, daſs bey jenen Thieren der Eindruck von einem in der Axe des Körpers, aber auſserhalb der Gesichtsaxen befindlichen Gegenstand auf beyde Augen zu - gleich den überwiegt, oder wenigstens dem gleichkömmt, der unterdeſs auf jedes einzelne Auge von dem in dessen Axe befindlichen Ob - jekt gemacht wird. Diese Annahme wird da - durch gerechtfertigt, daſs nach optischen Geset - zen Strahlen, die in schiefer Richtung auf die Linse fallen, bey den meisten Thieren wegen ihrer convexern Linse verhältniſsmäſsig stärker als beym Menschen auf die Netzhaut wirken müssen. Hiernach wird das Thier die Lage einer Sache in Beziehung auf deren Umgebun - gen genauer als der Mensch schätzen können, indem dasselbe beym Sehen eines Gegenstandes mit beyden Augen das in der Axe jedes Auges liegende Objekt gleichzeitig und bey unverwand -tem570tem Blick zu einem Vergleichungspunkt hat, der Mensch hingegen den Blick immer verändern muſs, um den Hauptgegenstand mit den neben - liegenden Objekten zu vergleichen.

Allen unsern bisherigen Bemerkungen liegt der Satz zum Grunde, daſs, so zahlreich auch die Sehewerkzeuge eines Thiers seyn mögen, jeder Gesichtseindruck, von welchem alle gleich - zeitig getroffen werden, immer nur eine ein - fache Empfindung hervorbringt. Diese Voraus - setzung bedarf keiner Rechtfertigung. Das Leben des Thiers, wofür sie nicht Gültigkeit hätte, wäre ein zerrissenes Daseyn. Aber woher die Einfachheit der Anschauung jedes Objekts, da doch jedes Auge von demselben besonders ge - rührt wird? Diese Frage ist das zweyte groſse Problem in der Lehre vom subjektiven Sehen. Die Beantwortung derselben läſst sich nicht in der Ursache finden, worin sie von einigen Schriftstellern gesucht ist, daſs immer nur das eine Auge siehtm)Gassendr Physica. S. III. c. 3.. In der Regel sehen beyde Augen zugleich. Das rechte überschauet zur Rechten, das linke zur Linken einen Abschnitt des ganzen Gesichtskreises, der von dem andern nicht wahrgenommen wird. Ruhete das eine beym gewöhnlichen Sehen ganz, so würde die - ser Abschnitt dem andern entschwinden müssen,wel -571welches doch nicht der Fall ist. Trennt man die Gesichtskreise beyder Augen durch einen flachen Körper, den man in der Mitte zwischen ihnen vor dem Gesichte hält, so bleiben, indem man das eine auf einen Gegenstand heftet, der dem andern nicht sichtbar ist, dem letztern die Dinge in dessen Gesichtskreise doch fortwährend gegenwärtig, und jenes Objekt erscheint weniger deutlich, als mit beyden Augen gesehen. Diese geringere Deutlichkeit beym Gebrauche des ei - nen Auges allein wird man auch gewahr, wenn man einen Gegenstand erst mit beyden Augen zugleich und dann blos mit dem einen nach Schlieſsung des andern betrachtet. Doch ist es bey dem letztern Versuch zweifelhaft, ob die Veränderung der Deutlichkeit nicht von einer Veränderung der Pupille des offenen Auges her - rührt, die durch das Schlieſsen des andern ver - ursacht wird.

Die obige Frage läſst sich auch nicht blos aus der Voraussetzung, daſs ähnliche Eindrücke nicht unterschieden werdenn)Haller a. a. O. S. IV. §. 3. p. 486., beantworten. Drückt man den Augapfel auf die Seite, so zeigen sich die Gegenstände doppelt, obgleich die Eindrücke auf beyde Augen nach wie vor einander ähnlich sind. Dieses Doppeltsehen un -terVI. Bd. O o572ter Umständen, wo eine Disharmonie in der Thätigkeit beyder Augen statt findet, ist über - haupt eine der räthselhaftesten Erscheinungen beym Sehen.

Briggso)Nova visionis theoria in Ophthalmogr. p. 179. glaubte eine Erklärung des Ein - fachsehens in der Annahme gefunden zu haben, daſs die linke Hälfte des einen Auges der rech - ten Hälfte des andern und umgekehrt gleich - artig sey, und daſs die Rührung gleichartiger Stellen beyder Netzhäute durch ähnliche Ein - drücke Einfachheit der Empfindung zur Folge habe. Bey dieser Hypothese läſst sich zwar von der Verdoppelung des Bildes beym disharmoni - schen Wirken beyder Augen ein Grund ange - ben; hingegen läſst sich aus ihr nicht die Frage beantworten: Warum Doppeltsehen auch beym Schwindel, in der Trunkenheit und in Krank - heiten statt findet, wo doch die harmonische Bewegung beyder Augen nicht aufgehoben ist?p)Ein Beyspiel von krankhaftem Doppeltsehen, wo - bey nur zuweilen und blos als Folge dieses Zustan - des, Schielen eintrat, hat Buffon a. a. O. p. 245..

Der wahre Grund des einfachen Wirkens beyder Augen ist in der Selbstthätigkeit desSen -573Sensorium bey der Aufnahme der Gesichtsein - drücke zu suchen. Die Sinnesorgane sind nicht blos den Worten nach, sondern in der That Werkzeuge, Mittel für den Geist zu dessen Zwecken. Er schauet nicht leidend durch sie die äuſsere Welt an, sondern assimilirt sich die Eindrücke, die ihm durch sie gegeben werden. Bedingungen dieser Assimilation sind: unbe - schränkte Herrschaft des Geistes über jene Or - gane und ungeschwächte Selbstthätigkeit dessel - ben. Ist jene aufgehoben, entweder weil eine äuſsere Gewalt den Willen hindert, sich des Auges seinen Absichten gemäſs zu bedienen, oder weil dieses Organ krankhafte Veränderun - gen erlitten hat, so tritt Doppeltsehen ein. Aber dieselbe Duplicität entsteht auch, wenn die Selbstthätigkeit des Sensorium in der Trun - kenheit, beym Schwindel, oder in Gemüths - krankheiten geschwächt ist, oder wenn das Auge, unbeherrscht vom Geiste, hinstarret, ohne einen einzelnen Gegenstand zu fixiren, während der innere Sinn in sich selber zurückgezogen ist. Ist die Selbstthätigkeit an sich ungeschwächt, aber durch eine Unvollkommenheit des Auges beschränkt, so vermag sie sogar die Beschrän - kung, die anfangs Doppeltsehen verursachte, nach und nach wieder aufzuheben. So findet beym Schielen in der ersten Zeit oft Duplicität der Bilder statt; aber in der Folge werden dieO o 2Gegen -574Gegenstände wieder einfach gesehen, obgleich das Schielen fortdauertq)Smith’s Lehrbegr. der Optik. Uebers. von Kästner. S. 45..

Es ist hiernach glaublich, daſs sich der Schenerve des einen Auges nicht unthätig ver - hält, wenn dasselbe auch bey der Anwendung des andern geschlossen ist. Man kann sich von dieser gemeinschaftlichen Wirkung beyder Sche - nerven überzeugen, wenn man nach Schlieſsung des einen Auges mit dem andern eine Scheibe von lebhafter Farbe auf einem weiſsen Grunde lange und unverwandt ansieht. Schlieſst man dann auch das andere, so erscheint das zurück - bleibende Farbenbild nicht vor dem letztern, sondern in der Mitte zwischen beyden, und es hängt von unserer Willkühr ab, dasselbe durch stärkeres Zusammendrücken des einen Auges vor das andere zu bringen. Bey Personen, deren eines Auges schwächer und fernsichtiger als das andere ist, tritt diese Theilnahme des einen an der Thätigkeit des andern auch ein, wenn das stärkere bedeckt ist, während das schwächere einige Minuten lang gegen eine leichte Fläche gerichtet bleibt. Vor jenem erscheinen dann kleine runde weiſse Punkte, die nahe an ein - ander gedrängt auf einem schwarzen Grunde sich wirbelnd durch einander bewegenr)Purkinje a. a. O. S. 65..

Von575

Von dieser gemeinschaftlichen Thätigkeit der Sehenerven enthält wahrscheinlich die Vereini - gung derselben im Chiasma einen anatomischen Grund. Diese Verbindung ist nur da vorhan - den, wo beyde Augen ein gemeinschaftliches Gesichtsfeld haben, nicht aber bey denjenigen Fischen, deren Augen so liegen, daſs keines derselben in den Wirkungskreis des andern mit eingreifen kann. Aus ihr allein läſst sich aber freylich nicht die Einfachheit des Gesichtsein - drucks bey der Richtung beyder Augen auf einerley Gegenstand erklären, wie Porter - fields)A. a. O. Vol. I. p. 192. gegen Galen gezeigt hat.

Nach den Brechungsgesetzen der Licht - strahlen bilden sich die Gegenstände verkehrt auf dem Grunde des Auges ab. Die rechte Seite des Bildes entspricht der linken des Ob - jekts, die obere des erstern der untern des letz - tern, und umgekehrt. Ohne diese Umkehrung würde es nicht möglich seyn, die Augenaxe vermittelst bloſser Drehung des Augapfels nach allen Seiten zu richtent)Kepler Paralipom. ad Vitell. p. 206.. Warum uns hierbey doch nicht die Gegenstände umgekehrt erschei - nen, ist ebenfalls eine Frage, an deren Beant - wortung Viele ihren Scharfsinn versucht haben.

Ber -O o 3576

Berkeleyu)Essay towards a new theory of vision. p. 312. glaubte die Auflösung dieses Problems darin zu finden, daſs die Lage der Gegenstände etwas Relatives ist und keine Sache uns umgekehrt erscheinen kann, wenn es nicht eine andere giebt, die wir in gerader Stellung sehen, alle Bilder im Innern des Bildes aber umgekehrt sind. Gegen diese Erklärung würde sich nichts einwenden lassen, wenn uns blos das Auge von der Lage und Stellung der Ge - genstände unterrichtete. Aber warum stehen die Vorstellungen, die wir hiervon durch unsere übrigen Sinne, besonders durch das Getast em - pfangen, mit denen, die uns das Gesicht giebt, nicht in Widerspruch? Wie entsteht bey dem Insekt, in dessen einfachen Augen die Gegen - stände sich ebenfalls verkehrt darstellen müs - sen, während in den zusammengesetzten Augen desselben keine solche Umkehrung vorgehen kann, Uebereinstimmung zwischen den Empfin - dungen, die es von diesen verschiedenen Ge - sichtswerkzeugen erhält?

Diese Schwierigkeiten, von welchen die letztere bisher unbeachtet geblieben ist, werden durch keine der sonstigen Erklärungen, die man von der obigen Thatsache gegeben hat, gehoben. Sie läſst sich nicht, wie die Einfachheit der Empfindung bey der Doppeltheit der Gesichts -ein -577eindrücke, von der Selbstthätigkeit des Senso - rium ableiten: denn bey ihr sind nicht gleich - artige Eindrücke zu vereinigen, sondern Gegen - sätze aufzuheben. Die Macht der Gewohnheit kann diese Aufhebung nicht bewirken. Bey keinem Blindgebornen, der in spätern Jahren den Gebrauch der Augen erhielt, bemerkte man eine Disharmonie zwischen dem Gesicht und Getast. Diese würde sich aber gewiſs ge - zeigt haben, wenn man einen solchen gleich nach erlangtem Gesicht die Gegenstände durch optische Vorrichtungen in der entgegengesetzten Stellung, worin sie dem bloſsen Auge erschei - nen, hätte sehen lassen. Gegen zwey neuere Erklärungen des Sehens, von welchen die eine voraussetzt, nicht die Netzhaut, sondern die Hornhaut, auf welcher sich die Bilder der äuſsern Gegenstände aufrecht spiegeln, sey das wahre Organ des Sehensv)Annals of Philosophy. Y. 1820. April. p. 260., die andere das auf die Oberfläche des Gegenstandes durch die glatte Membran des Glaskörpers zurückge - worfene Bild für das eigentliche Objekt des Sehens annimmtw)Meckel’s Archiv f. d. Physiol. B. 5. S. 97., läſst sich zwar nicht ein - wenden, daſs durch sie diese Schwierigkeit nicht gehoben wird, wohl aber, daſs es schwerhältO o 4578hält zu sagen, welche von beyden die unge - reimteste ist.

Eine befriedigende Lösung des obigen Problems ist schwerlich möglich, wenn man nicht einen solchen Lauf der Fasern des Sehe - nerven annimmt, daſs jeder Eindruck auf ir - gend eine Stelle der Netzhaut von Fasern der entgegengesetzten Seite des Sehenerven fortge - pflanzt wird. Von der Kreutzung der Fasern im Chiasma läſst sich dieser Gegensatz nicht ableiten. Sie findet bey dem Menschen und den höhern Thieren nur an einem Theil bey - der Sehenerven stattx)M. vergl. S. 129. des vorigen 9ten Buchs.. Die Umbiegung der Fasern zur entgegengesetzten Seite, worauf sich hier eine Erklärung bauen läſst, kann erst beym Durchgange des Sehenerven durch die Choroi - dea eintreten. Man muſs voraussetzen, daſs die Fasern vom obern Theil des Sehenerven in den untern der Netzhaut, von der linken Seite des erstern zur rechten dieser Haut übergehen. Es giebt freylich keinen anatomischen Grund für diese Annahme. Es läſst sich aber auch keiner gegen sie anführen, und sie hat also bey dem Mangel an einem andern befriedigendern Grunde als Hypothese Gültigkeit.

Dies579

Dies sind die Hauptpunkte, die sich bey der Betrachtung des durch das Auge vermittelten Wirkens der äuſsern Natur auf das thierische Leben darbieten. Wären wir in Besitz hinrei - chender Erfahrungen, so würden wir noch die verschiedenen Verhältnisse, worin die Sinne von subjektiver Seite bey den verschiedenen Thier - arten gegen einander stehen, untersuchen. Aber aus dem, was uns von den Aeuſserungen des geistigen Lebens der Thiere bekannt ist, läſst sich in Hinsicht auf diesen Punkt sehr wenig schlieſsen, und die vergleichende Hirnlehre, die uns Auſschlüsse geben könnte, ist hierzu noch bey weitem nicht reich genug an Beobachtungen und Resultaten.

[580]

Druckfehler.

  • S. 16. In der Anmerkung: n). Z. 4. Statt adhaerent l. m. adhaererent.
  • S. 183. Z. 7. St. Sehenerven l. m. Sehenerve.
  • S. 213. Z. 21. St. Enten. l. m. Eulen.
  • S. 230. Z. 20. St. Geruch l. m. Geschmack.
  • S. 307. In der Ueberschrift. St. Drittes Kapitel. l. m. Zweytes Kapitel.
  • S. 307. Z. 1. St. Geruchssinns l. m. Geschmacks - sinns.
  • S. 325. Z. 11. St. gäbe l. m. gebe.
  • S. 339. Z. 20. St. scheinen l. m. schienen.
  • S. 346. Z. 12 u. 13. St. eine knöcherne Platte l. m. einer knöchernen Platte.
  • S. 347. Z. 20. St. welche l. m. welcher.
  • S. 355. In der Anmerkung: *). Z. 5. Nach will setze man hinzu: Die Richtigkeit dieser Be - obachtungen läſst sich mit Recht be - zweifeln, doch nicht geradezu vor - werfen.
  • S. 378. Z. 9. St. Gavia l. m. Çavia.
  • S. 390. Z. 17. Nach Menschen sind die Worte im Schlunde zu durchstreichen.
  • S. 441. In dem Citat: q). Z. 2. St. Schnecken l. m. Schnaken.
  • S. 480. Z. 19. St. muſs l. m. müssen.
  • S. 550. In dem Citat r) l. m. Cuvier a. a. O. u. s. w.
  • S. 558. In dem Citat c). Nach anat. setze man hinzu: oculi.

About this transcription

TextBiologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte
Author Gottfried Reinhold Treviranus
Extent605 images; 102811 tokens; 11991 types; 707345 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBiologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte Sechster Band Gottfried Reinhold Treviranus. . VI, 579, [1] S. RöwerGöttingen1822.

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