PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Denkwuͤrdigkeiten und vermiſchte Schriften
[II][III]
Denkwürdigkeiten und vermiſchte Schriften
Erſter Band.
Mannheim. Verlag von Heinrich Hoff. 1837.
[IV]

Druck von Hoff & Heuſer in Mannheim.

[V]

Inhalt des erſten Bandes.

Biographiſches.

  • Denkwuͤrdigkeiten Juſtus Erich Bollmanns1
  • Zum Andenken Friedrich Auguſt Wolf’s136
  • Graf Schlabrendorf, amtlos Staatsmann, heimathfremd Buͤrger, beguͤtert arm142
  • Kaiſer Alexander von Rußland198
  • Denkwuͤrdigkeiten des Philoſophen und Arztes Johann Ben¬ jamin Erhard204
  • Friedrich Wilhelm Meyern304
  • Ludwig Achim von Arnim313
  • Wilhelm Nolte, koͤniglicher wirklicher Oberkonſiſtorialrath319
  • Ludwig Robert327
  • Wilhelm Neumann345
  • Chriſtian Guͤnther, Graf zu Bernſtorff358
  • Angelus Sileſius397
  • Saint-Martin404
VI

Goethe.

  • Im Sinne der Wanderer 413
  • Beſuch bei Goethe426
  • Rameau432
  • Werther's fuͤnfzigjaͤhriges Jubilaͤum440
  • Goethe's natuͤrliche Tochter. Madame Guachet444
  • Fraͤulein von Klettenberg456
  • Briefwechſel zwiſchen Goethe und Schultz463
  • Geſpraͤche mit Goethe in den letzten Jahren ſeines Lebens. Von Johann Peter Eckermann472
  • L'amour est un vrai recommenceur 499
  • Frauen in Mannskleidern503

Biographiſches.

[1]

Denkwuͤrdigkeiten Juſtus Erich Bollmanns.

I.

Wir nennen hier einen Namen, der dem groͤßten Theil unſrer Leſer, und beſonders den juͤngern, unbekannt klingen wird. Doch iſt er einſt laut genug erſchollen, und hat ſeinen Tag erlebt, der ihn fuͤr Europa und Amerika zum Gegenſtande der aufgeregteſten Theilnahme machte. In den Schriften der Frau von Staël, in den Denkwuͤrdigkeiten des Generals Lafayette, iſt er ehrenvoll aufgezeichnet. Aber auch nach der augenblick¬ lichen Beruͤhmtheit, welche die unternommene Befreiung Lafayette's aus dem Staatsgefaͤngniſſe zu Olmuͤtz ihm gab, hatte Bollmann fernerhin merkwuͤrdige Schickſale, wirkte mit großartiger Thaͤtigkeit in bedeutenden Ver¬ haͤltniſſen, und ſein ſpaͤteres, wenn gleich ſtilleres und minder beſprochenes Leben geſtaltete ſich nicht weniger betrachtungswerth, als das fruͤhere jugendliche. Durch den Reiz ſeiner Sinnesart und ſeines Geſchickes, durch die Richtung ſeiner Kenntniſſe und den Umfang ſeiner12Verbindungen, ſtellt er eines der ausgezeichnetſten Le¬ bensbilder dar, welche ſein Zeitalter aus deutſcher Hei¬ math in auswaͤrtigen Stroͤmungen zur Erſcheinung kommen ließ.

Das die Welt bewegende Ereigniß am Schluſſe des achtzehnten Jahrhunderts war die franzoͤſiſche Revolution. Alle Staaten und Voͤlker empfanden dieſe Bewegung, an welcher uͤberall die regſameren Geiſter Theil nahmen, als waͤre ſie eine auch ihnen heimiſche Angelegenheit. Deutſche Kraͤfte ſind zahlreich eingeſtroͤmt in jene nach¬ barlichen Bahnen, und durch wirkſames Handeln wie durch geiſtiges Ausbilden, ſowohl foͤrderlich als gegneriſch, haben wir von Anfang einen bedeutenden Beitrag zu den Kaͤmpfen und Entwickelungen geliefert, welche ſpaͤter allerdings im vollſten Sinne auch die unſrigen werden mußten. Allein die Verflechtung deutſcher Geſinnungen und Schickſale in den Lauf der franzoͤſiſchen Revolution behielt faſt immer eine beſondere Eigenthuͤmlichkeit, in welcher die Merkmale des Urſprungs unverkennbar blie¬ ben, und hieraus entſteht fuͤr jene Bezuͤge ein eigner Reiz, der uns wohl auffordern duͤrfte, ſie naͤher zu be¬ trachten und zu behandeln. Wir haben ihnen aber bisher nur wenige Aufmerkſamkeit gewidmet. Die Geſchicht¬ ſchreibung des Tages ſucht ſich der großen Begeben¬ heiten und Wandlungen, ſo gut ſie kann, zu bemaͤchti¬ gen, die perſoͤnlichen vernachlaͤſſigt ſie, oder weiß ſie nicht aufzufinden. Doch liegt in dieſen letztern nicht3 ſelten ein naͤherer Aufſchluß fuͤr jene, und immer eine Fuͤlle von Farben und Lichtern, ohne welche die allge¬ meinen Schilderungen kalt und leblos bleiben. Eine genauere Ueberſicht der Verhaͤltniſſe, die ſich aus der Wechſelwirkung deutſcher Einfluͤſſe in Frankreich und franzoͤſiſcher in Deutſchland ergeben haben, wuͤrde die fruchtbarſten Betrachtungen hervorrufen. Allein faſt alles fehlt uns dazu. Ueber Georg Forſter, Schlabrendorf und Oelsner ſind einige ſchaͤtzbare Nachrichten mitge¬ theilt worden, die jedoch nur den Wunſch nach voll¬ ſtaͤndigern wecken. Von andern bedeutenden Namen wiſſen wir faſt nichts, als was die franzoͤſiſchen Erzaͤh¬ lungen daruͤber im Vorbeigehen abwerfen. Eine lebendige Darſtellung der deutſchen Revolutionsverſuche in Mainz und Koblenz mangelt noch ganz, und doch koͤnnte das treue Bild dieſer Vorgaͤnge wirkſamer, als manches andre Mittel, fuͤr die Gegenwart zur Lehre dienen.

Die franzoͤſiſche Revolution, in ihrem zerſtoͤrenden Fortgange, verbrauchte und zerbrach ſehr ſchnell ihre eignen Werkzeuge, nur die geſchmeidigſten und wandel¬ barſten durchdauerten den Wechſel der ſtuͤrmiſchen Ent¬ wickelungen. In demſelben Maße, wie ſich in Frank¬ reich die Meinungen und Anſichten veraͤnderten, geſchah dies auch in Deutſchland. Jede ſpaͤtere Geſtalt der Re¬ volution buͤßte einen Theil der Anhaͤnger ein, welche die fruͤhere gewonnen hatte. Gentz und Stolberg ſagten ſich ſchon bei den fruͤheſten Wendungen los, Klopſtock1*4und Buͤrger wurden erſt durch die Graͤuel der Jako¬ binergewalt zuruͤckgeſchreckt, Fichte'n machte Napoleons unterdruͤckende Eroberung zum Gegner; wir nennen die Schriftſteller, weil durch ihre bekannte Namen und Bei¬ ſpiele am leichteſten ganze Klaſſen bezeichnet werden. So ließ die in raſchen Verwandlungen ſtets wachſende Bewegung keinen Augenblick nach, ihre deutſchen An¬ haͤnger abzuſtoßen und zu verlieren, bis endlich ſelbſt die hartnaͤckigſten bekehrt oder erſchoͤpft waren. Nicht gerade die beſſere Geſinnung und reifere Einſicht beding¬ ten jedesmal das fruͤhere Loslaſſen; die perſoͤnlichen Ein¬ fluͤſſe, Lagen, Ausſichten und Erfahrungen wirkten auf die mannigfachſten Gemuͤthsarten, wie auf die uͤber¬ kommenen und gewaͤhlten Denkweiſen, ſehr verſchieden ein. Die wunderbarſten Wahlverwandtſchaften wurden wach, die groͤßten Widerſpruͤche hielten ſich eng ver¬ knuͤpft, und der innerſte Antrieb verbarg ſich unter den raͤthſelhafteſten Erſcheinungen. Merkwuͤrdig iſt es, in dieſem vielverſchlungenen Gemiſch und Wechſel die Haupt¬ zuͤge des deutſchen Karakters im Weſentlichen faſt immer verfolgen und faſt als unzerſtoͤrbar nachweiſen zu koͤnnen, woraus auch den truͤbſten Verirrungen noch ein leuch¬ tender Funken bleibt, dem die reinſte Theilnahme ſich widmen kann.

Dieſe Theilnahme wird unſtreitig auch dem Manne nicht fehlen, mit welchem die nachfolgenden Denkblaͤtter ſich beſchaͤftigen. Wir haben die eignen Briefſchaften5 deſſelben, fuͤr deren Darbietung wir manchen Dank er¬ warten, aus muͤndlicher Mittheilung und eigner Kennt¬ niß zu vervollſtaͤndigen geſucht, ohne deßhalb den An¬ ſpruch zu machen, das hier unvermeidliche aber auch genuͤgende Fragmentariſche zur eigentlichen Lebensbe¬ ſchreibung zu erheben.

II.

Juſtus Erich Bollmann wurde geboren im Jahre 1769 zu Hoya im Hannoͤver'ſchen, wo ſeine Eltern in geachteten und wohlhabenden Verhaͤltniſſen lebten. Er zeichnete ſich fruͤh durch Faſſungskraft und Lebhaftigkeit aus; mit friſchem Geiſtesmuthe verband er koͤrperliche Geſundheit und Ruͤſtigkeit, er galt fuͤr einen kraͤftig¬ ſchoͤnen Knaben, und man zweifelte nicht, daß er in der Welt ſein Gluͤck machen wuͤrde. Zu den Studien beſtimmt, ließ er es an ſtrengem Fleiß nicht fehlen, und bemaͤchtigte ſich leicht und gruͤndlich der Kenntniſſe, die ihm dargeboten wurden. Seine Einbildungskraft aber war nicht hervorbringend; in den Werken der Dich¬ ter ſuchte er weniger ihre Geſtalten, als einen allge¬ meinen Reiz und Schwung fuͤr unbeſtimmtes Große und Schoͤne. Mit dieſer Richtung jedoch verband er thatfertige Einſicht und feſte Beſonnenheit, ſobald es Verhaͤltniſſe der Wirklichkeit zu behandeln gab. Aus dieſen Eigenſchaften, deren Verknuͤpfung faſt immer zu6 bedeutenden Ergebniſſen fuͤhrt, beſtimmten ſich fruͤh ſein Karakter und ſeine Schickſale. Die Umſtaͤnde trugen dazu bei, ſeine Eigenheiten noch ſchaͤrfer auszubilden. Die Familie war zahlreich, und es galt als erwuͤnſchte Erleichterung des Hauſes, daß angeſehene und freund¬ liche Verwandte im ſuͤdlichen Deutſchland ſich erboten, einen der Soͤhne zu fernerer Fuͤrſorge und Ausbildung bei ſich aufzunehmen. Juſtus Erich wurde hiezu erſehen, und kam in das Haus ſeines Vetters, des badiſchen Staatsraths Brauer, nach Karlsruhe. Er fand hier anmuthige, dem norddeutſchen Juͤnglinge beſonders zu¬ ſagende Lebensverhaͤltniſſe, in welchen neben ſtrenger Ehrbarkeit und Ordnung eine freimuͤthige Sinnesart gedeihen konnte. Beſonders wichtig wurde ihm auch das Haus des beruͤhmten Lehrers der Staatswirthſchaft und Gewerbkunde, des Hofraths Boͤckmann, der ihm gleichfalls verwandt war, und durch deſſen Unterricht und Verkehr in ihm fruͤhzeitig die Neigung zu dieſen wichtigen Faͤchern geweckt wurde. Die Kenntniſſe und Fertigkeiten, deren er ſich in dieſer Richtung hier ohne Muͤhe bemaͤchtigen konnte, und fuͤr welche das nahe Murgthal mit ſeiner vielartigen Betriebſamkeit den Reiz noch erhoͤhen mußte, fingen ſchon damals an, mit ſeinen aͤrztlichen Studien, fuͤr welche er ſich entſchieden hatte, zu wetteifern. Er legte aber auch in dieſen letztern ſchon hier einen vortrefflichen Grund, und bezog darauf, wohlvorbereitet, die Univerſitaͤt Goͤttingen.

7

Unter den jungen Maͤnnern, mit welchen er hier Freundſchaft knuͤpfte, waren manche, deren Namen nach¬ her beruͤhmt geworden. Eine hoͤhere Gedankenrichtung im Betrachten der Natur und des Lebens, und ein kuͤhnerer Drang, die Welt im Großen anzuſchauen, vereinigte ihn mit dem Arzte und Naturforſcher Link, der bald nachher als oͤffentlicher Lehrer nach Roſtock berufen wurde. Vorzuͤglich aber ſchloſſen ſich an Boll¬ mann mehrere junge Englaͤnder innigſt an; ſie ſchienen in ſeinem Weſen alle Vorzuͤge des engliſchen Karakters wiederzufinden, ohne den Stolz und die Schroffheit deſſelben. In der That hatte er fruͤhzeitig eine ſtarke Hinneigung zu der engliſchen Sinnes - und Handlungs¬ weiſe, und befeſtigte ſich leicht in den Anſichten, welche ihm daher uͤberkamen. Fuͤr engliſche Sprache und Litera¬ tur war ſeine Vorliebe ſchon hier entſchieden.

Nachdem er in Goͤttingen die Wuͤrde eines Doktors der Arzneiwiſſenſchaft empfangen, begab er ſich im Herbſt 1791 nach Mainz, wo er den Unterricht des beruͤhmten Arztes Hofmann und des großen Anatomen Soͤmmering benutzte. Er kam hier auch mit dem Weltumſegler Georg Forſter, der als Bibliothekar und Profeſſor in Mainz angeſtellt war, und mit dem liebenswuͤrdigen Schriftſteller Huber, der daſelbſt als ſaͤchſiſcher Diplo¬ mat lebte, in vertraute Bekanntſchaft, und nahm an dem Gegenſtande, der dieſe beiden Maͤnner begeiſterte und bald ausſchließlich beſchaͤftigte, den regſten Antheil. 8Die franzoͤſiſche Revolution ſchien eine Verkuͤndigung an das ganze Menſchengeſchlecht, und ihre Bewegungen ſchritten wie im Innern ſo auch nach außen unauf¬ haltſam vorwaͤrts. Bollmann hegte zwar gemaͤßigtere Denkart als ſeine neuen Freunde, und verwarf man¬ ches, was ſie billigten, allein im Allgemeinen ſtimmte er den Wuͤnſchen und Beſtrebungen der Freiheitsfreunde eifrigſt bei, und die Gluth ſeiner edlen Geſinnungen ſetzte bereitwillig eben ſolche uͤberall voraus, wo nur eine Staͤtte dafuͤr moͤglich ſchien.

Er begab ſich von Mainz wieder nach Karlsruhe, wo er im Kreiſe ſeiner Verwandten und Freunde einige Zeit angenehm verlebte. Doch gab er ſich, bei dem Mangel eingreifender Vorgaͤnge und anziehender Be¬ ſchaͤftigung, allzuſehr den Zerſtreuungen jugendlichen Umgangs hin. Er gefiel auch beſonders den Frauen, und ſeine aufgereizte Eitelkeit konnte ihn leicht auf Ab¬ wege fuͤhren. Allein der romantiſche Schwung, welchen ſeine Lebensvorſaͤtze genommen hatten, und die ſittlichen Anſpruͤche, die er an ſich ſelbſt machte, bewahrten ihn vor groͤßeren Verirrungen. Eine verheirathete Frau verliebte ſich in ihn, und wußte durch ihre Leidenſchaft ihn ſo weit zu gewinnen, daß er ſich von dem ſchmei¬ chelhaften Wohlgefallen einige Zeit befangen ließ; als aber dieſer Austauſch von Empfindung und Vertrauen fuͤr die beſtehenden Verhaͤltniſſe wirklich ſtoͤrend zu wer¬ den drohte, erwachte in Bollmann der Stolz ſeiner9 Grundſaͤtze, und er wandte die Macht, welche er aus¬ uͤbte, mit Erfolg dazu an, die Frau zu ihrem Gatten zuruͤckzuleiten. Er glaubte, wie er ſelbſt nachher ſagte, recht weiſe zu thun, als er nach vielen ſchoͤnen Reden es dahin brachte, ſie ihrem Manne in Thraͤnen ſchwim¬ mend in die Arme zu werfen. Auf ſolche Weiſe mit Selbſtverlaͤugnung Handlungen des Edelſinns und der Großmuth auszuuͤben, war tief in ſeinem Karakter be¬ gruͤndet, in welchem lebhafte Reizbarkeit und ernſte Ueberlegung ſich gegenſeitig nicht unterdruͤckten. Seine ſpaͤteren Handlungen, Unfaͤlle und Erfolge, laſſen ſich alle aus dieſer Miſchung ableiten.

Inzwiſchen war ihm durch dieſe und andre Mi߬ verhaͤltniſſe, welche in dem kleinen Kreiſe gar leicht ent¬ ſtanden und gewichtig wurden, der Aufenthalt in Karls¬ ruhe verleidet. Zudem war es Zeit, daß er ſeiner Be¬ ſtimmung folgte und in der großen Welt ſich eine Lauf¬ bahn waͤhlte. Der naͤchſte Blick mußte natuͤrlich auf Frankreich und deſſen Hauptſtadt gerichtet ſein, wo von jeher fuͤr deutſche Aerzte ein guͤnſtiger Boden war, und obgleich Bollmann durch den Gang, welchen die fran¬ zoͤſiſche Revolution in der damaligen Zeit genommen, laͤngſt nicht mehr angezogen war, vielmehr gegen die dort herrſchende Tagesgewalt eine entſchiedene Abnei¬ gung fuͤhlte, ſo war doch das Verlangen, ſich in dieſer großen Welt umzuſehen und die Gelegenheit des Wir¬ kens und des Gluͤcks aufzuſuchen, fuͤr ihn um ſo be¬10 ſtimmender, als auch die Seinigen ihm dieſen Weg anriethen, und ein in Frankreich lebender Oheim den¬ ſelben ſehr zu erleichtern verſprach.

An Empfehlungen und vorausgeknuͤpften Bezuͤgen mangelte es nicht, und ſo reiſte Bollmann im Anfange des Jahres 1792 von Karlsruhe hoffnungsvoll nach Straßburg, und bald darauf nach Paris. Seine fer¬ neren Verhaͤltniſſe und Wendungen gehen aus nachſte¬ henden, an ſeine verehrungswuͤrdige Freundin und Baſe, die Staatsraͤthin Brauer, in die Heimath nach Karls¬ ruhe geſchriebenen Briefen hervor, welche wir in der Zuverſicht, daß ihr Inhalt und Ausdruck gleicherweiſe zu lebhaftem Antheil auffordern, unveraͤndert hier fol¬ gen laſſen.

1.

Liebe Frau Baſe! Ich habe Ihnen ſogleich nach meiner An¬ kunft hier geſchrieben, aber bis jetzt auf dieſen Brief noch keine Antwort erhalten, vermuthlich auch nicht zu erhalten verdient; denn ich errinnere mich, daß ich ſehr munter war, indem ich ihn ſchrieb, ſollt 'ich es zu ſehr geweſen ſein, ſo bitte de߬ wegen um Verzeihung!

Sie werden ſich wundern, daruͤber ſowohl, daß ich noch hier bin, als daß ich Ihnen noch nicht geſandt habe, was Sie ſchon laͤngſt erwarten konnten. Beides iſt mir ſelbſt ſehr unangenehm, doch bin ich's unvermoͤgend zu aͤndern. Auf drei Briefe nach Paris erhielt ich immer keine Antwort, und erſt geſtern erfahre11 ich vom Freunde meines Onkels, an den die Briefe adreſſirt ſind, er ſei bis jetzt noch nicht in Paris angekommen. Meine Briefe liegen alſo noch bei dieſem Freunde; daß mein Onkel ſie aber nicht ſchriftlich abgefordert, iſt wenigſtens ein Beweis, daß er nach Paris kommen wird. Irgend etwas muß ihn auf¬ gehalten haben; Sie wiſſen indeß, wie ich von Ihnen wegging, koͤnnen ſich alſo das Unangenehme meiner gegenwaͤrtigen Lage denken, und werden mich entſchuldigen.

Die Unannehmlichkeiten abgerechnet, worein man ſich fuͤgen muß, befind ich mich wohl. Das genauere Studium der fran¬ zoͤſiſchen Geſchichte, vorzuͤglich in den letzten Jahrhunderten, und die Verfolgung des Spiels menſchlicher Leidenſchaften, im Gewirre der Gegenwart, machen meine Zeit intereſſant und nuͤtzlich; und der Umgang in der Familie des Herrn von Tuͤrckheim, worin einige ausgezeichnet gute Menſchen ſich befinden, und verſchiedene junge Frauenzimmer, von denen es ſchwer faͤllt zu entſcheiden, ob ſie mehr ſchoͤn oder witzig ſind gewaͤhrt mir mehr ver¬ gnuͤgte Stunden, als ein genuͤgſamer Mann zur gluͤcklichen Exi¬ ſtenz von Rechts wegen noͤthig hat. Noch vollhaltiger an Intereſſe und Lebhaftigkeit wuͤrden dieſe Geſellſchaften ſein, haͤtten nicht die politiſchen Unruhen ihnen verſchiedene der beſten Mitglieder entwandt. Ueberall iſt Uneinigkeit und Spaltung, uͤberall begeg¬ net man den traurigen Folgen davon die Demokraten ſagen, das ſind unvermeidliche Uebel aber die guten Fruͤchte der gegen¬ waͤrtigen Verfaſſung ſucht man vergeblich. Die Demokraten ſelbſt ſind uneins. Die Mitglieder des deutſchen Klubs geriethen vor ſechs Tagen ſo heftig aneinander, daß die Wache kommen mußte, ſie zu beruhigen. Seitdem ſind uͤber die Haͤlfte der Mitglieder Halb-Ariſtokraten in eine neue Geſellſchaft zuſammenge¬ treten. Viele ſind gegen den Maire aufgebracht, ſtuͤndlich erſchei¬ nen Broſchuͤren fuͤr und wider. Die Haͤlfte der Buͤrger glaubt12 uͤberzeugt zu ſein, daß die Konſtitution der Kabale Thuͤr und Thor oͤffne. Menſchen, die nichts zu verlieren haben, Fremde zum Theil, wovon niemand weiß, woher ſie kommen, draͤngen ſich vor. Die beſten Koͤpfe fuͤhlen ſich beleidigt und treten zuruͤck. Von achttauſend Aktivbuͤrgern in Straßburg gingen nur vierhun¬ dert zu den Wahlen. Von ſechzigtauſend in Paris nur zehntau¬ ſend. Und ſo iſt es verhaͤltnißmaͤßig durch ganz Frankreich. Ein Gemeiner unter der Nationalgarde bekoͤmmt taͤglich fuͤnfzehn Sous. Ein Gemeiner von den Linientruppen taͤglich acht Sous. Die undiſciplinirten Nationalgarden haben den Rang in allem vor den alten, bewaͤhrten Truppen. Daher die aͤußerſte gegen¬ ſeitige Erbitterung. Daher ſind die Linientruppen faſt alle gegen die Konſtitution. Nicht minder ſtark iſt die Religionserbitte¬ rung. Die Kirchen der geſchwornen Prieſter ſind leer; und die ungeſchwornen laſſen heimlich nichts unverſucht, ihren Anhang zu vergroͤßern. Zu allem dem koͤmmt noch der Mangel an Geld und der entſetzliche Verluſt der Aſſignaten; ſie verlieren vierzig Prozent. Alle ſchlechte Menſchen nehmen dieſen Zeitpunkt wahr, um ihre Schulden abzutragen, die zum Theil in baarem Gelde gemacht wurden. Kurz, die Ungerechtigkeiten ſind ohne Zahl, die Kabalen ohne Maß, die Zerruͤttungen ohne Graͤnzen. Noth und Erbitterung iſt allgemein, und nur eine gewaltſame, blutige Kriſe in deren Wuͤnſchung allein ſich alle, alle Koͤpfe, aus Hoffnung und Verzweiflung, vereinigen wird den Jammer zu gleicher Zeit auf’s aͤußerſte treiben und endigen koͤnnen. Doch glaub ich, daß Jahrhunderte erfordert werden, die Spuren der traurigen Tage ganz zu verwiſchen! Ich ſchriebe gern noch weiter, aber die Poſt geht fort, und ich moͤchte gern den Brief noch heute fortſenden. Leben Sie alſo wohl. Empfehlen Sie mich dem Herrn Vetter, den lieben Kleinen, dem Gries¬ bach’ſchen Hauſe und bleiben Sie ein bischen gut Ihrem Sie13 herzlich liebenden Vetter Juſtus Erich Bollmann. (Chez M. Jean de Tuͤrckheim.)

2.

Gleich nach Abgang meines letzten Briefs an Sie, liebe Frau Baſe! erhielt ich Nachricht von meinem Onkel, ſparſames Reiſe¬ geld, und ſtrengen Befehl, ſogleich nach Paris zu ihm zu kom¬ men. An Ort und Stelle war ich gezwungen, in demſelben Gaſthofe und auf demſelben Zimmer mit ihm zu wohnen. Sie wiſſen, er iſt ein ſehr braver Mann; aber er iſt ein vierzigjaͤh¬ riger Hageſtolz, ein Kaufmann und ein Englaͤnder, folglich iſt er rauh und unbekannt mit vielen Freuden des Lebens, geld¬ liebend und ein Freund von Eſſen und Trinken. Drei Wochen lang kam ich nicht von ſeiner Seite, und was macht 'ich in die¬ ſer Zeit? Er war uͤber und uͤber voll von Plaͤnen, deren Ausfuͤhrung mich zum reichen Mann machen ſollten. Schon Morgens im Bette fing er mir ſie vorzutragen an, und ſelten hatt' ich bis zu zwoͤlf Uhr Zeit genug, um ſie gruͤndlich zu wider¬ legen. Petersburg, meint 'er, London, Philadelphia ꝛc. waͤren ſehr gute Plaͤtze fuͤr mich, und ich zweifle nicht, daß ſeine red¬ lichen Wuͤnſche fuͤr mein Wohl mich unverzuͤglich nach Sibirien verpflanzen wuͤrden, wenn man ihn uͤberzeugen koͤnnte, es ſei da viel zu verdienen. Um zwoͤlf Uhr wurde gefruͤhſtuͤckt, dann ſpaziren gegangen, dann gegeſſen, oder geſchmauſt vielmehr, bis um fuͤnf Uhr, dann das Schauſpiel beſucht, dann zu Nacht geſpeiſt, dann Punſch getrunken. Den folgenden Tag dieſelbe Wiederholung, und ſo ging's fort, ohne daß ich ſonderlich etwas gewonnen haͤtte, es ſei denn einen kleinen Zuwachs in der Fer¬ tigkeit, ſich in die graͤmlichen und zuweilen ein bischen despoti¬ ſchen Launen eines Mannes zu fuͤgen, dem man Dankbarkeit14 und Liebe ſchuldig iſt, und der im Ganzen ſie verdient. Da mir's indeſſen nicht ſo leicht wurde, wie's billigerweiſe mir haͤtte werden ſollen, ſo war ich recht ſehr aus meiner Behaglichkeit herausgeworfen, gab alſo auch meinen Freunden in Straßburg keine Nachricht von mir denn Unthaͤtigkeit iſt von Unzufriedenheit eine natuͤrliche Folge und ſo kam's denn, daß ich Ihren Brief vom 14. Februar erſt heute erhielt. Die Wahrheit zu ſagen, ich hab' ihn nicht erwartet. Der Mangel an Antwort auf mein erſtes an Sie Erlaſſenes (um kaufmaͤnniſch zu reden), die Ueber¬ zeugung, meine Zeit in Karlsruhe nicht ganz ſo regelmaͤßig zu¬ gebracht zu haben, wie ich's geſollt haͤtte, und ein gewiſſer Hang zu melancholiſchen Ideen, der aus alten Zeiten Ihnen noch bekannt ſein wird, ließen das Schlimmſte mich fuͤrchten. Aeußerſt gefreut hat mich daher Ihr lieber, Ihr guter, Ihr herzlicher Brief, weil er mich aͤußerſt uͤberraſchte. Er hat mich mehr entzuͤckt, wie das erſte geſehene große pantomimiſche Ballet in der hieſigen großen Opera welches ſehr ſtark geſagt iſt, und dennoch nicht weniger wahr.

Mein Aufenthalt in Paris wird fuͤnf bis ſechs Monate dauern, weil ich gern dieſe Stadt ganz kennen lernen und der Sprache ganz maͤchtig werden moͤchte. Ich werde einige Vorleſungen uͤber Chemie und Phyſik hoͤren, in der Entbindungskunſt unter Bau¬ deloque's Anleitung mich praktiſch vervollkommnen, und die Hoſpi¬ taͤler beſuchen, um zu ſehen, wie man nicht praktiſiren muß. Um mir indeß Erfahrung in einem Zweige meiner Kunſt zu ver¬ ſchaffen, den ich vorzuͤglich liebe, um mich unabhaͤngiger von meinem Onkel zu machen, um deſſen eigene Wuͤnſche zu erfuͤllen, und um Geld zu verdienen, werd 'ich mich in den oͤffentlichen Blaͤttern als Okuliſten ankuͤndigen und dem geneigten Publiko meine Dienſte gegen baare Bezahlung entbieten. Der gluͤckliche oder ungluͤckliche Erfolg dieſes Projekts haͤngt von vielen Um¬15 ſtaͤnden ab, und laͤßt ſich ſchwerlich vorausſehen. Die Wahr¬ ſcheinlichkeit indeſſen fuͤr's erſte iſt ein bischen groͤßer. Ich habe juſt Hoffnung genug, um thaͤtig zu ſein, und doch keine ſo ge¬ ſpannte Erwartung, um mich zu aͤrgern, wenn's nicht ginge. Geld verdienen alſo! mit den feiſten Hamburgern zu reden, bin ich noch nichts werth, aber es geht darauf zu, um etwas werth zu werden. Die neuen Staarmeſſer liegen vor mir; ſie ſollen das Hebezeug werden, um die Boͤrſen meiner Nebenmen¬ ſchen zu lichten, und meine Hand ſoll dieß Hebezeug dirigiren! Es faͤllt mir ein bischen ſchwer, mich aus dieſem Geſichts¬ punkte zu betrachten. Es iſt traurig, daß alles, alles In¬ tereſſe beinahe zuletzt bis auf's Geldgewinnen zuſammenſchrumpft. Wer das Herz zu weit hat und den Kopf zu helle, um ſich bis auf dieſen Punkt beſchraͤnken zu koͤnnen, der bringt nie was recht Betraͤchtliches vor ſich! O! ich darf nicht ſagen, wo mich uͤberall der Schuh druͤckt! Wie gut, daß die meiſten Leute die engen Graͤnzen unſrer Kunſt nicht wiſſen! Der Glau¬ ben der Leute an die Kunſt des Arztes muß das Brod geben, der Menſch in ihm muß nutzen. Man muß ſich des Glaubens an die Kunſt bedienen, um dem Menſchen einen Wirkungskreis zu verſchaffen. Man muß ſich die ſcheinbaren Dienſte bezahlen laſſen, um das Leben fuͤr die unbezahlbaren zu friſten! Das alles iſt nicht ganz ſtrenge wahr, aber es iſt doch wahr im Gan¬ zen, und es iſt zugleich der Troſt des redlichen Mannes!

Sie erwarten wohl, liebe Frau Baſe! viel Wichtiges uͤber Paris, dieſem großen Mittelpunkte der Wiſſenſchaften, des Ge¬ ſchmacks, des Luxus und der Verhandlung der Rechte der Menſch¬ heit! aber die Wahrheit zu ſagen, ſo kenn 'ich's noch zu we¬ nig, um viel Vernuͤnftiges davon zu ſagen. Der erſte Anblick dieſer ungeheuren Stadt muß jedem eckelhaft ſein! Die Straßen ſind zwar gerade, aber entſetzlich enge, und die Haͤuſer entſetzlich16 hoch. Man glaubt ſich in einer Felſenſpalte fortzubewegen. Wer nicht im fuͤnften Stock wohnt, der kann den Himmel nicht ſehen, es ſei denn, daß er ruͤckwaͤrts den Kopf zum Fenſter hinausſtreckt und ſenkrecht uͤber ſich ſchaut. Dieß verſchafft indeſſen nicht wenigen Leuten den Vortheil, daß ſie bei hellem Tage, wie aus einem tiefen Brunnen, die Sterne ſehen koͤnnen. Dieſe engen Straßen haben nur Eine Gaſſe; das Pflaſter laͤuft abwaͤrts von den Haͤuſern zur Mitte; ſie ſind mit einem ſehr dicken Kothe bedeckt; Karren, Pferde, Kutſchen, Menſchen und Eſel arbeiten denſelben gemeinſchaftlich durcheinander, denn Fußbaͤnke ſucht man zur Seite vergebens. Ich habe mich ſehr lange bemuͤht, die vortheilhaften Seiten dieſer Unannehmlichkeiten auszufinden, um mich beſſer damit vertragen zu koͤnnen, und ich bin endlich ſo gluͤcklich geweſen, zu entdecken, daß die erſten Gruͤnde des franzoͤſiſchen Nationalkarakters in dieſen engen Straßen, in die¬ ſem Mangel an Fußbaͤnken, und in dieſem Kothe zu finden ſind. Jedermann weiß, Gewandtheit des Koͤrpers und Schlauheit der Seele ſind die Hauptzuͤge deſſelben; iſt es aber zu verwundern, daß man gewandt wird, wenn man beſtaͤndig auf den Fußſpitzen huͤpfen, wenn man unter allen nur denkbaren Stellungen und Windungen ſich um Savoyarden, Peruͤckenmacher, Mehlkraͤmer und Laternenweiber jeden Augenblick wegſchieben muß, damit man das Ausſehen eines reinlichen und rechtlichen Mannes nicht ver¬ liere! iſt es zu verwundern, wenn man zu gleicher Zeit im¬ mer vorwaͤrts und ruͤckwaͤrts ſehen muß, um nicht geraͤdert zu werden? Lachen Sie nicht, liebe Frau Baſe! der Karakter des Volks bildet ſich nach dem Karakter der Hauptſtadt; dieß kann man in Deutſchland ſehen, wo weder eins noch das andre Statt hat; kleine Urſachen, aber die unablaͤſſig wirken, erzeugen große Effekte; ſelbſt zufaͤllig erworbene Eigenſchaften werden zu¬ letzt erblich hinter dieſen drei Bollwerken bin ich fuͤr jeden17 Einwurf ſicher! Es ſtehe indeß mit der Wahrheit dieſer Be¬ merkungen, wie's wolle, genug, auf die Originalitaͤt derſelben bin ich ſtolz, und eben deßwegen bin ich durch Vermittlung der bekannten Selbſtliebe jetzt ausgeſoͤhnt mit den ſchmutzigen Stra¬ ßen. Sollten ſich uͤbrigens in Ihrer Bekanntſchaft Melancho¬ liſche und Truͤbſinnige befinden, ſo geben Sie ihnen den Rath, ſich auf eine Zeit lang nach Paris zu verfuͤgen, und zugleich den ſtrengen Befehl, in den engen Gaſſen taͤglich einige Stunden ſpaziren zu gehen. Entweder der nothwendige ſchnelle Uebergang von einer Idee zur andern kurirt ſie, oder auch, man faͤhrt ſie todt, und ſie entweichen alsdann aus einmal der Suͤnde des Selbſt¬ mords und einem laͤſtigen Leben. Dies Mittel iſt auf jeden Fall zweckmaͤßig, und weil ich's in keinem Schriftſteller noch angefuͤhrt finde, ſo werde ich daſſelbe der gelehrten Welt in einem kleinen Traktate bekannt machen. Dies Werkchen wird fruͤher erſcheinen, als das bewußte, und da Sie natuͤrlicherweiſe auf die verſprochene Dedikation aͤußerſt begierig ſind, ſo bin ich geſonnen, ſie dieſem Vorſchlag eines neuen Mittels gegen die Melancholie vordrucken zu laſſen. Ich hoffe Ihren Beifall hierdurch um ſo mehr zu ver¬ dienen, da der menſchenliebende Inhalt dieſes Werkes mit Ihrem menſchenfreundlichen Herzen ſich weit beſſer vertraͤgt, als ſich die Gruͤbeleien eines andern vertragen wuͤrden mit dem einfachen und liebenswuͤrdigen Gang Ihres Verſtandes!

Vom Palais-Royal, den Tuillerien u. ſ. w. ſag 'ich Ihnen heute nichts. Eben ſo wenig von den Schauſpielen, aber ich werde mich bemuͤhen, dies nachzuholen, wenn meine Sachkennt¬ niß gruͤndlicher iſt, wie jetzt.

Die Nationalverſammlung und ihre einzelnen Mitglieder ſind bald der Gegenſtand der Anbetung, bald des Geſpoͤtts, bald der Verachtung. Im Ganzen iſt es ein wuͤthendes Chor. Ein gro¬ ßer Haufe leidenſchaftlicher, uͤbelunterrichteter, eigennuͤtziger, ehr¬218geiziger Menſchen, unter denen einige Brave in Unthaͤtigkeit be¬ graben ſind. Die Klubs tyranniſiren das Volk. Ihre Mit¬ glieder ſind der neue Adel. Man faͤngt an, vorzuͤglich die Jakobiner zu haſſen. Ariſtokraten gibt's in Menge, Demokraten noch mehr, und dennoch ſind nur hier und da zwei und zwei Koͤpfe einig. Es gibt ſo viel Arten von Demokraten, als es Modefarben gibt. Der kluͤgſte Theil iſt der beſcheidenſte, und ſeufzt im Stillen. Viele Demokraten ſind dies aus Eigenſinn und Verzweiflung. Viele ſind wirklich hingeriſſen von der ideali¬ ſchen Schoͤnheit der franzoͤſiſchen Conſtitution. Sie ſehen nicht ein, daß ſie nur ein Ideal iſt, wie die Republik des Plato. Sie meinen, es muͤſſe und muͤſſe gehen koͤnnen; da doch ein Werk wie die Conſtitution, bei einem Volke, wie das franzoͤſiſche, ſo viele Reibung gibt, daß ſie ewig nicht gehen kann. Der einzelnen Unordnungen, die aus dem Zuſtande des Gouver¬ nements fließen, ſind viel; aber die Franzoſen ſind von Natur ſanft und freundlich und geſittet, ſonſt wuͤrden ſie ohne Graͤn¬ zen ſein. Wer nicht unvernuͤnftig iſt, kann ſehr ungeſtoͤrt hier leben. Und fuͤr den Beobachter iſt der Aufenthalt ſehr intereſſant. Es wimmelt von auswaͤrtigen Kaufleuten, die we¬ gen der Wohlfeile der Waaren, in Ruͤckſicht auf den niedrigen Kurs des Papiergeldes, beim Einkauf der franzoͤſiſchen Produkte ihre Rechnung finden, und welche die Thaͤtigkeit der Manufaktu¬ ren und Fabriken des Landes faſt erſchoͤpfen. Der Tod des Kaiſers hat viele Koͤpfe auf einige Tage ſchwindlich vor Freude gemacht. Die Jakobiner betrauern ihn mit ſcharlachrothen Muͤtzen.

Ich danke nochmals, liebe Frau Baſe! fuͤr Ihren guͤtigen Brief, deſſen Zurechtweiſungen ich mir gewiß zu Nutzen machen werde, nur muß ich Sie bitten, ſowohl in dieſem als in allen meinen Briefen, der Eile, womit ſie geſchrieben werden, etwas19 zu gute zu halten. Meine Korreſpondenz wirb immer weit¬ laͤufiger, und uͤberdem gibt's in Paris der Zerſtreuungen und Beſchaͤftigungen ſo viele!

Empfehlen Sie mich dem Herrn Vetter und den uͤbrigen Verwandten und Freunden herzlich!

Mit meinem Onkel, der meine Angelegenheiten kennt und der noch hier iſt, kann ich nicht zur Abrechnung kommen bis jetzt, und muß ſehr ſaͤuberlich mit ihm umgehen. Er verreiſt indeß in einigen Tagen, und dann werd 'ich ſogleich das Bewußte nach dem Kurs der Zeit in Aſſignaten ſenden, die Herr Wil¬ liard auf Straßburg leicht verhandeln wird! Meine Sa¬ chen haͤtt' ich hier gern, doch will ich noch einige Zeit warten, bevor ich ſie nachkommen laſſe!

Einem neuen Brief von Ihnen, und vorzuͤglich Ihrem ſanf¬ ten und ſcherzhaften Tadel, der mich vorzuͤglich gefreut hat, und der mich beſſern ſoll, ſeh 'ich mit Vergnuͤgen und Begierde ent¬ gegen. Ich habe immer viel Freude darin gefunden, von Damen mich zurechtweiſen zu laſſen, und waͤre anders dieſe Vorſicht noͤthig, ſo wuͤrd' ich einige Fehler mit Fleiß erhalten, um dieſes Genuſſes nie zu entbehren.

3.

So eben, liebe Frau Baſe! war ich Augenzeuge einiger nicht unintereſſanter Auftritte! Nehmen Sie noch, als Zugabe, davon die kurze Beſchreibung. Man gab dieſen Abend, auf dem Théatre de la Nation, la mort de César , ein Trauer¬ ſpiel von Voltaire. Caͤſar, durch viele Siege groß und maͤch¬ tig geworden, droht die republikaniſche Verfaſſung des roͤmiſchen Reiches umzuſtoßen. Brutus, Caͤſar's Sohn, und Caſſius, deſ¬2 *20ſen Freund, zwei unbiegſame Stoiker voll rauher Tugend und uͤbermenſchlicher Staͤrke der Seele, beſchließen den Staat zu retten. Sie verſchwoͤren ſich gegen Caͤſar’s Leben, dieſer erfaͤhrt es, und fuͤrchtet ſich nicht. Er will die Herzen gewinnen und ſiegen. Er verachtet ein Leben, das er zu beſchuͤtzen haͤtte. Er ehrt die Groͤße im Karakter ſeines Sohn’s, und will ſie durch Gegengroͤße beugen. Brutus wußte noch nicht, daß er Caͤſars Sohn ſei; wie alle Gruͤnde, alle Bitten ſogar umſonſt ſind, dies ſtolze Herz zu erweichen, ſo entdeckt er’s ihm. Die Kaͤmpfe zwiſchen Natur und Grundſatz in der Seele des maͤchtigen Brutus veranlaſſen die ſchoͤnſten Scenen des Stuͤcks. Caſſius verhaͤr¬ tet wieder den ſchon halb Erweichten. Vaterlands - und Frei¬ heitsliebe ſiegen, und Caͤſar faͤllt. Vermoͤge der Natur des Stuͤcks iſt es voll Beziehung auf Frankreichs jetzige Lage. Und eben deßwegen ſtroͤmte eine Menge von Menſchen zu ſeiner Vor¬ ſtellung hin. Ein großer Platz vor dem Hauſe war ſchon von halb vier Uhr an mit Leuten uͤberſaͤet; zwanzig und dreißig wurden zu gleicher Zeit hineingelaſſen, und noch um halb ſechs Uhr war nicht alles darin. Vorzuͤglich draͤngten die Jakobi¬ ner mit den rothen Muͤtzen ſich zu; viele dieſer Leute ſind bezahlt, um den Ton anzugeben. Kein Bienenkorb iſt voller von ſeinen Bewohnern, als dieſes ſehr geraͤumige Schauſpielhaus es von Menſchen war; und vorzuͤglich war auf dem Parterre, welches allein mehrere Tauſend enthielt, ein Kopf auf dem an¬ dern gedraͤngt. Eben ſo war’s in den Logen, deren ſechs uͤber¬ einander dennoch nicht Raum genug enthielten fuͤr die zudring¬ liche Menge! Kaum war das Parterre voll, ſo begann dieſe dichte und kaum einer Bewegung faͤhige Maſſe unruhig zu wer¬ den. Die rothen Muͤtzen wurden auf langen Stoͤcken geſchwun¬ gen. Einige bruͤllende Stimmen erhoben ſich in patriotiſchen Liedern, und nach wenig Minuten ſang die ganze Geſellſchaft. 21 Indeß verſammelte ſich das Orcheſter. Tauſend Stimmen ſchrien durcheinander ça ira, ça ira; und dies Geſchrei ließ nicht nach bis zum Gehorſam der Virtuoſen. Man klatſchte den Takt zu dieſer Arie, das ganze Parterre war nur ein Handſchlag, man glaubte eine Maſchine vor ſich zu ſehen, die ein einziger Zug bewegte! Mehrere Lieblingsarien folgten dieſer. Sie wur¬ den vom gleichen Freudenſchall begleitet. Endlich begann das Stuͤck! Nicht wohl mehr wie hoͤchſtens zwanzig Worte konnte Brutus hintereinander reden, dann unterbrach ihn das Klatſchen. Oft eine Viertelſtunde hielt dies an, dann ſprach er wieder, dann begann das Klatſchen von neuem. Aber nicht genug, daß man klatſchte man vermehrte das Getoͤſe des Beifalls durch eigne dazu mitgebrachte Becken, nach Art der Becken bei Feldmuſik! Man ſchlug ſie uͤber den Koͤpfen zuſammen, und ein fuͤrchterli¬ ches vielfaches Bravo machte das Getoͤſe noch voller. Caͤſar wurde wenig applaudirt, doch rief man zuweilen bravo acteur! Uebrigens kann man ſich in Deutſchland keinen Begriff von der Vollkommenheit einer ſolchen Vorſtellung machen. Wir bewundern einen Iffland und Schroͤder! wir bewundern die Ein¬ zelnen, hier ſollte man fragen, wo iſt der Akteur, der’s ſchlechter macht, geſchweige der vielen, die ſie uͤbertreffen! Endlich wird Caͤſar ermordet, aber hinter der Buͤhne. Man bringt ſeinen Leichnam. Antonius ſteht vor ihm, Caͤſars Freund; ihn umringen die uͤbrigen Senatoren. Antonius uͤberlaͤßt ſich ſeinem Schmerz, er ſchildert Caͤſars Groͤße, Caͤſars Guͤte; er ſchildert das Verbrechen ſeines Sohnes; er fordert die Senatoren zur Rache. Der Akteur ſprach warm und gut, und Voltaire hatt ihm eine Rede gegeben voll Geiſt und Kraft. Er for¬ derte die Senatoren zur Rache uͤber Brutus! Zwei Maͤnner, wovon der eine dicht hinter mir und der andere in der erſten Loge unmittelbar neben mir ſaß, wurden ſehr hingeriſſen; ſie

22vergaßen ſich und klatſchten! Auf einmal entſtand ein graͤßli¬ cher Laͤrm im Parterre. Herunter, herunter, ſchrien ſie, der Mann im rothen Kleid herunter! Er blieb; das fuͤrchter¬ lichſte Geſchrei wiederholte ſich von neuem; es hielt eine halbe Stunde lang an, und endlich wich der Mann zu meinem nicht geringen Verdruß! Er haͤtte NB. uͤber dieſe Zeilen ſeh ich einigen intereſſanten Bemerkungen und freundſchaftlichen Verwei¬ ſen entgegen er haͤtte von der Loge herunter das Wort ver¬ langen, er haͤtte auf die Freiheit, auf die Rechte, die ihm die Conſtitution zuſichert, ſich berufen ſollen. Er haͤtte fragen ſol¬ len, wo das Geſetz ſei, das dem Einzelnen ſeinen Beifall zu geben verbiete. Er haͤtte erklaͤren ſollen, daß er ſich eher wuͤrde umbringen laſſen, als zuruͤckgehen. Er haͤtte die kaum beklatſch¬ ten Worte aus Brutus Munde auffaſſen und ſich damit ſchuͤtzen koͤnnen. Er haͤtt es verſtehen muͤſſen, dieſe Feſtigkeit ſelbſt der gegenwaͤrtigen Stimmung der Gemuͤther anzuſchmiegen, und ſo wuͤrd er mit Ehren ſeinen Platz behauptet haben, ſtatt wie eine feige Memme zu entweichen. Den Klatſcher neben mir hatte man zum Gluͤck nicht bemerkt, und er blieb ſitzen. Endlich endigte das Stuͤck. Ein Jakobiner erhob ſich; er that den Antrag, Voltaire’s Buͤſte mit der Muͤtze der Freiheit zu kroͤnen. Nichts, ſagt er, fehl ihm ſonſt noch zu ſeinem Ruhme. Dieſe Idee verſchlang urploͤtzlich alle Gemuͤther! Ein fuͤrchterli¬ ches, anhaltendes, immer ſteigendes Bravo ſtuͤrzte von allen Sei¬ ten her gegen das Theater ſo lange zuſammen, bis die Acteurs Anſtalt machten, um in’s Werk zu ſetzen, was der einmuͤthige Wille gebot! Man brachte ein Fußgeſtell; man ſetzte Voltaire’s Buͤſte darauf von Gyps. Ein Jakobiner warf ſeine rothe Trauermuͤtze auf’s Theater. Man bemuͤtzte damit den grinzenden Voltaire, und ſo paradirt er waͤhrend einem ganzen Luſtſpiele, das man nach dem Trauerſpiele noch gab, auf dem Theater! 23 Guter Voltaire, wie wuͤrdeſt du lachen, wenn du auferſtuͤndeſt aus deinem Grabe!

Armes geblendetes Voͤlkchen! wo ſind denn eure Cato's, eure Caſſius, eure Brutus? wie viele zeigt uns denn die Ge¬ ſchichte ſo ſchoͤne Ungeheuer? und was vermochten ſie im uͤppigen Rom? wo ſind ihre Thaten? Oder wollt ihr zu der nuͤchter¬ nen Maͤßigkeit des alten Roms zuruͤckkehren? das wollt ihr! und die erſten Freudenmaͤdchen dieſer Stadt ſind von den Deputirten, euren Geſetzgebern, euren Vaterlandsvaͤtern, gepachtet? verjagt die zuvor! zertruͤmmert die Denkmaͤler der Kunſt! verjagt eure Kaufleute; verbrennt eure Schiffe! zerſtoͤrt eure Staͤdte! macht euch dagegen Huͤtten! pflanzt Kohl, pflanzt Ruͤben! pflanzt Waͤlder, um jagen zu koͤnnen! Huͤtet eure Heer¬ den! und geſetzt, daß es euch dann gelingt, das ſchwere Mittel halten zwiſchen Menſchlichkeit und Viehheit; geſetzt, daß ihr das hohe Ideal von Freiheit in dieſen Zuſtand mit hinuͤbernehmen, geſetzt, daß ihr es realiſiren koͤnnt! wie lange wuͤrd 'es dauern? oder vermoͤgt ihr dem menſchlichen Geiſte Feſſeln anzulegen, der euch zu gleicher Zeit verfeinert, veredelt und entnervt! nicht weil's an und fuͤr ſich ſo ſein muͤßte, ſondern um der Schwach¬ heit willen der menſchlichen Organiſation! Bollmann.

4.

Liebe Frau Baſe! Auf meinen von Paris aus, und mit deutſchen Buchſtaben an Sie geſchriebenen Brief hab 'ich keinen Gegenbrief erhalten, und ich habe dieſe Grauſamkeit um deſto tiefer gefuͤhlt, je willkommner mir ein freundliches Wort in einer Lage geweſen ſein wuͤrde, mit deren Unannehmlichkeiten ich Sie bekannt gemacht hatte; weil aber nichts von einmal gefaßten Vorſaͤtzen uns abwendig machen muß, ſo bleib' ich meinem Ver¬24 ſprechen, wenigſtens aus jeder großen Stadt einmal an Sie zu ſchreiben, getreu; und ich erklaͤre feierlich, daß ich dies immer thun werde, wenn Sie's mir nicht feierlich unterſagen.

Mein Onkel, dieſes traurige, bemitleidenswerthe Gemiſch von Gutheit und Stolz, Anmaßung und Kleinheit, verließ mich bald nach Abgang meines letzten Briefes an Sie, und ließ mich das wohlthaͤtige Gefuͤhl der Freiheit, wiewohl einer ſehr noth¬ duͤrftigen, nach langem Entbehren derſelben, endlich wieder koſten. Feſt entſchloſſen, mich kuͤnftig ohne denſelben zu behelfen, mußt 'ich nach Arbeit mich umſehen, und ein gichtbruͤchiger Ludwigs¬ ritter, behaftet mit dem Spleen des uͤbermaͤßigen Glaubens an auslaͤndiſche Aerzte, verſchaffte mir bald eine ziemlich betraͤcht¬ liche gichtbruͤchige Bekanntſchaft, wodurch ich in den Stand geſetzt wurde, zuerſt wenigſtens rechtlich zu exiſtiren, und hernach auch Nutzen von den Anſtalten in Paris zu ziehen, Kollegia und Hoſpi¬ taͤler zu beſuchen, Merkwuͤrdigkeiten zu beſehen u. ſ. w. Ich wuͤrde dieſe Exiſtenz vermuthlich noch lange fortgeſetzt haben, allein der Tod, welchem ich bisher foͤrmlichen Widerſtand gelei¬ ſtet und den ich mehreremal gluͤcklich zuruͤckgeſchlagen hatte, nahm auf Einmal alle ſeine Wuth wider mich zuſammen. Nicht zufrie¬ den, vermittelſt der Hoſenloſen alle brave Schweizer ſich ſchlach¬ ten zu laſſen, ſchlug er mit ſchrecklichem Schlagfluß alle meine gichtbruͤchigen Ritter zu derſelben Stunde, wo das Blut der Schweizer noch dampfte! Alle meine Kunden ſtarben am 10. Auguſt vor Schreck! Was ſollt' ich nun foͤrder in Paris noch thun? was konnt 'es mir helfen, mir neue Kunden zu verſchaf¬ fen, an einem Orte, wo ſo viel wilde Auftritte es platterdings unmoͤglich machten, die Seelendiaͤt, den wichtigſten Theil meiner Kunſt, gehoͤrig zu beſorgen? was ſollt' ich noch laͤnger der Ver¬ weſung entgegenarbeiten, an einem Orte, wo ſie entſchloſſen ſchien, kuͤnftig hauſen zu wollen? Sie war mir uͤberdies zu25 verſchiedenenmalen ſelbſt auf den Hacken, vorzuͤglich am 10. Au¬ guſt, wo mir eine Pike aufgedrungen und ich fortgeriſſen wurde mitten in's Gefecht! Ich faßte den Entſchluß, ihr das Feld zu laſſen und mich ehrerbietig zuruͤckzuziehen! Aber wie und wohin? meine erſchlagenen Ritter nahmen zum Theil ihre Schul¬ den an mich in's zweite Daſein mit hinuͤber, und Billets de confiance, auf jene Welt ausgeſtellt, konnten mir in einem Lande nichts helfen, wo man an jene Welt nicht mehr glaubt! Haben Sie keine Sorge fuͤr mich, liebe Frau Baſe! Unkraut verdirbt nicht; und Sie werden bald ſehen, daß ich, der Mord¬ ſucht eine Beute entwendend, worauf ſie am meiſten geluͤſtig war, mich koͤniglich aus der Affaire zog.

Unter den verſchiedenen in Paris gemachten Bekanntſchaften war auch die der Frau von Staël, die Gemahlin des ſchwediſchen Geſandten, die Tochter Neckers, die Verfaſſerin der Briefe uͤber Rouſſeau, die ſie in ihrem ſiebzehnten Jahre ſchrieb. Sie haben wahrſcheinlich jene Briefe geleſen, und folglich haben Sie eine Idee vom Geiſt und von den uͤberwiegenden Faͤhigkeiten dieſer Frau; aber von ihrem Herzen wuͤrd 'ich mich umſonſt bemuͤhen, Ihnen einen wuͤrdigen Begriff zu machen; denn wenn ich Ihnen auch erzaͤhlte, wie raſtlos thaͤtig ſie in den Tagen der Bedraͤng¬ niß fuͤr ihre Freunde war, wie ſie ſich ſelbſt ausſetzte, wie ſie die aͤußerſten Schritte wagte, auch da, wo durchaus nur das reinſte freundſchaftliche Intereſſe, nur der Wunſch Gutes zu thun, ſie leiten konnte wenn ich Ihnen das alles erzaͤhlte, Sie wuͤr¬ den einen Roman, aber keine hiſtoriſche Wahrheit zu leſen glau¬ ben; und folglich verfehlt' ich immer meinen Zweck. Die Frau von Staël hat einen Freund, und dieſer Freund iſt Narbonne, ehemaliger Kriegsminiſter, und dieſer Narbonne iſt einer der liebenswuͤrdigſten Maͤnner, die ich jemals geſehen habe. Bei einer ſehr weitausgebreiteten Menſchen -, Welt - und Literaturkenntniß,26 bei einem unerſchoͤpflichen Fonds von Heiterkeit und Laune, bei einem Geiſt, der unablaͤſſig durchblitzt in allem, was er ſagt und thut, hat er dieſe gaͤnzliche Verlaͤugnung ſeiner ſelbſt, dieſe anſpruchsloſe Hingebung an die Umgebenden, welche gewoͤhnlich nur bei dem reinen Bewußtſein innern Werths ſtattfindet, und dieſe altritterliche Offenheit, welche in unſern Tagen ſo ſelten, und in der großen Welt ein Wunder iſt. Dies vorausgeſetzt, werden Sie eben nicht unnatuͤrlich finden, daß die Frau von Staël ihren Freund Narbonne lieb hat, und um ſo weniger, wenn ich Ihnen ſage, daß dieſe Frau von Staël nicht ver¬ heirathet, ſondern gekuppelt iſt an einen Mann, der nicht ein¬ mal die Zubereitung eines Kartoffelgerichts, und alſo noch viel weniger das Pulver erfunden haben wuͤrde. Sie werden ferner nicht unnatuͤrlich finden, daß Narbonne, bei einer hinlaͤnglichen Anzahl von Scheingeſchaͤften, um ſeine Vernunft mit ſeinem Her¬ zen einſtimmig zu machen, die Armee verlaſſen hatte, um nach Paris zu kommen und ſeine Freundin zu ſehn. Wenn Sie ſich nun erinnern, daß die Jakobiner Todfeinde von Lafayette, von Narbonne und von allen wackern Leuten ſind, die ihnen anhaͤn¬ gen, wenn Sie ſich erinnern, daß der 10. Auguſt die unum¬ ſchraͤnkteſte Gewalt in die Haͤnde dieſer Horde von Boͤſewichtern gegeben hatte, und wenn ich Ihnen zu dem allen noch ſage, daß Narbonne, deſſen Gegenwart in Paris man wußte, der erſte auf der Liſte der Schlachtopfer war, deren ihr Blutdurſt habhaft zu werden ſuchte : ſo werden Sie ſich ungefaͤhr eine Vorſtellung von der Angſt machen koͤnnen, worin ich die Frau von Staël antraf, als ich den 14. Auguſt morgens in ihr Zimmer trat. Narbonne war bei ihr; man ſah mich bald als das einzige Mittel an, ihn zu retten. Eine Menge von Motiven, wozu jedoch die Schoͤnheit der Frau von Staël nicht gerechnet werden kann, zu meiner nicht geringen Beruhigung, denn ſie iſt haͤßlich 27 ſtuͤrmten auf meine Seele los, und die Freude, dieſen Mann retten zu koͤnnen, der ſo ſchoͤn, ſo edel und ruhig vor mir ſtand, und der ſuͤße Gedanke, dieſer Frau die Ruhe wiedergeben zu koͤnnen, die ſie fuͤr ihren Freund verlor, und die ſie fuͤr ſich ſelbſt nicht verloren haben wuͤrde, und die Genugthuung des unbe¬ ſchraͤnkten Vertrauens, welches man in dieſer kitzlichen Sache auf mich ſetzte, dies alles, dem ich nichts als die augenſchein¬ liche Gefahr meines eignen Kopfes entgegenzuſetzen wußte, wirkte ſo maͤchtig auf mich, daß die erſte Idee der Moͤglichkeit ſehr bald zur Feſtigkeit des Entſchluſſes reifte! Die Sache ein¬ mal unternommen, wurde auf ihre Ausfuͤhrung durch ruhige und uͤberlegte Maßregeln hingearbeitet; ich hatte, was mir niemals gefehlt hat, Freunde, auf die ich zaͤhlen konnte, Deutſche uͤber¬ dies, alſo Leute von kaltem Blut und Courage; Gluͤck, Gegen¬ wart des Geiſtes und Muth ließen uns manche Gefahren uͤber¬ winden, wir kamen gluͤcklich nach Boulogne, waͤhrend man vor uns und hinter uns andere Fluͤchtlinge arretirte; wir flogen im Sturm uͤber die See, und liefen wohlbehalten am 20. Auguſt abends um 6 Uhr in dem Hafen von Dover ein. Wir ſetzten hernach unſere Reiſe weiter fort bis hieher, wo wir uns bei der Madame de la Châtre, einer ſehr liebenswuͤrdigen Franzoͤſin, logirten. Kaum hatten wir uns von der Reiſe ein bischen er¬ holt, ſo bekam unſre freundliche Wirthin die traurige Nachricht von der Arreſtation verſchiedener Perſonen in Paris, die ſie ſehr nahe angingen, und die ſehr liebte. Von Natur ſehr zart und empfindlich, fiel ſie bei Leſung des Briefes in fuͤrchterliche Kraͤmpfe, die ſich von Stunde zu Stunde erneuerten; und das ging zwei Tage lang ſo fort. Nach und nach kam Hoffnung und Ruhe wieder; gluͤcklicherweiſe waren die Freunde der Madame de la Châtre am Abend vor der Ermordung der Gefangenen aus der Abbaye entkommen; man erwartet ſie jetzt mit noch verſchiednen28 Andern; auch die Frau von Staël wird in kurzem hieher kom¬ men; alle dieſe Leute zuſammen, vermuthlich der Kern von Frank¬ reich, reine Freunde der Revolution, und gleichweit entfernt vom Wahnſinn der Emigrirten in Koblenz und von der Wuth der Jakobiner, werden, eine kleine franzoͤſiſche Kolonie, in der Naͤhe von London ſich etabliren, und den weitern Gang der Angele¬ genheiten ihres Vaterlandes, dem ſie jetzt nicht dienen koͤnnen, abwarten!

Verhaͤltniſſe wie die obigen, zuſammen und gegenſeitig huͤlf¬ reich miteinander durchlebt, machen die Scheidewaͤnde ploͤtzlich fallen, welche die Eitelkeit und der Wahn oft zwiſchen Menſchen und Menſchen ſetzt; man ruͤckt ſich naͤher; man koͤmmt auf ein¬ mal mit vielen Punkten heruͤber und hinuͤber in Beruͤhrung, und der Neuling, der Fremdling, tritt in den Platz bejahrter Freunde. Dies iſt gegenwaͤrtig ungefaͤhr mein Fall. Ich habe mich nicht weigern koͤnnen, mit dieſen Menſchen, von denen ich uͤberzeugt bin, daß ſie mich lieben, eine Zeit lang zu leben. Ich werde mit ihnen einige Monate auf dem Lande zubringen, und waͤhrend dieſer Zeit der engliſchen Sprache und Literatur in gluͤck¬ licher Ruhe mich widmen.

Die unbegraͤnzte Guͤte Narbonne's und der Frau von Staël ſetzen mich uͤberdies in den Stand, meinen erſten Reiſeplan zu verfolgen, und hernach meine Praxis anzufangen, ohne um die erſten Augenblicke in Verlegenheit zu ſein; denn ich habe doch von dieſen Umſtaͤnden und dem, was damit in Verbindung ſteht, red 'ich Ihnen ein andermal. Es wuͤrde mich heute zu weit fuͤhren, und ich fuͤrchte ſo ſchon Ihre Geduld zu mißbrauchen. Genug, ich glaube einen weſentlichen Schritt gethan zu haben, nicht nur um mein eignes, ſondern auch um das Gluͤck mancher meiner Freunde zu gruͤnden; und ich kann die Fruͤchte deſſelben um ſo ruhiger genießen, je weniger ich dieſelben vorherſah, je29 weniger ich um ihretwillen handelte, und je ſorgfaͤltiger ich mich auch fuͤr die geringſten Anſpruͤche huͤtete!

Ueberzeugt, liebe Frau Baſe! von dem guͤtigen Antheil, den Sie und der Herr Vetter u. ſ. w. an meinem Schickſal nehmen, wuͤrd ich ein Verbrechen zu begehn geglaubt haben durch Vor¬ enthaltung dieſer Nachrichten. Ich ſehe mich endlich auch im Stande, meine Schuld, mit herzlichem Dank fuͤr Ihre Guͤt 'und Nachſicht, Ihnen abtragen zu koͤnnen. Sie werden dieſelbe von Boͤckh bezahlt erhalten, dem ich heute eine Anweiſung auf Stra߬ burg zuſende. Sollt Ihnen dieſer ſchuldig geblieben ſein bis jetzt, ſo fall' Ihr Unwill 'auf mich. Das durchaus unvorherge¬ ſehene Betragen meines Onkels verzoͤgerte eine Bezahlung an ihn auf ſo viel Monat, als ich auf Tage rechnete; doch wuͤrd' ich andre Anſtalten getroffen haben, haͤtt 'er mir nicht geſchrie¬ ben, es geh' ihm wohl! Mein Aufenthalt in Frankreich war mir ſehr nuͤtzlich und von unbezahlbar wohlthaͤtigem Einfluß auf mein ganzes Leben. Ich habe die Menſchheit im Großen arbeiten geſe¬ hen mit denſelben Triebfedern, womit ſie im Kleinen wirkt. Ich bin mit dem Detail vieler Begebenheiten und Verhaͤltniſſe bekannt geworden, worin ich fremd ſein um vieles nicht moͤchte. Sehr gerne wuͤrd 'ich Ihnen manches uͤber die franzoͤſiſche Revolution, uͤber die Haupttriebfedern derſelben und uͤber den Karakter der wichtigſten handelnden Perſonen mittheilen, erlaubte der enge Raum eines Briefes auch nur einigermaßen ertraͤglich von dieſen Dingen zu reden. Sollten indeß dieſe oder jene Punkte Sie oder den Herrn Vetter vorzuͤglich intereſſiren, ſo werd' ich auf beſtimmte Fragen mit vielem Vergnuͤgen und mit moͤglichſter Vollſtaͤndigkeit antworten. Ich habe Paris um ſo lieber verlaſ¬ ſen, weil in den Augenblicken meines Weggehens durchaus alle Lehranſtalten in Unordnung geriethen, und weil, vorzuͤglich in meinem Fache, nichts mehr zu profitiren war, man moͤchte denn30 die Amputation des Kopfs fuͤr etwas rechnen, die haͤufig zu ſehn war, die aber in der gewoͤhnlichen Praxis nicht vorzukommen pflegt. Hier bin ich in der gluͤcklichſten Ruhe, in der ausge¬ ſuchteſten Geſellſchaft, und in dem angenehmſten Wechſel von Arbeit und Zerſtreuung!

Sie werden mich recht ſehr erfreuen, wenn Sie mir bald¬ moͤglichſt einige Nachricht von ſich zukommen laſſen; in der an¬ genehmen Erwartung derſelben bin ich, liebe Frau Baſe, Ihr Sie kindlichliebender Pflegeſohn J. E. Bollmann. (Chez M. Talleyrand-ancien Evêque d'Autun, Kensington - Square.)

5.

Gute, inniggeliebte, vernachlaͤſſigte, aber nie vergeſſene Freundin! Der Ueberbringer dieſes Briefes iſt Herr Pannifex, ein guter braver Landsmann von Ihnen, welchen ich in London kennen lernte, und mit dem ich vergnuͤgt und angenehm von dort bis hieher reiſte. Ihren Brief, den einzigen, welchen Sie mir nach London geſchrieben, hab 'ich richtig erhalten; ich hab' ihn oft beantworten wollen, und ich wuͤrd 'es mir zum Ver¬ brechen rechnen, es nicht gewollt zu haben, aber die Ausfuͤhrung des guten Vorſatzes iſt immer verzoͤgert worden, vorzuͤglich da¬ durch, daß ich immer den Augenblick abwarten wollte, um Ihnen eine gewiſſe angenehme Nachricht geben zu koͤnnen, und daß eben dieſer Augenblick nicht kam. Ich bin gegenwaͤrtig auf einer Reiſe nach Berlin begriffen, die ich eigentlich nicht ſowohl zum Vergnuͤgen als in Geſchaͤften unternommen habe; von wo aus ich wieder nach London zuruͤckkehren werde, wohin meine heißeſten Wuͤnſche mich ziehn. Ich bin ſo ſehr eilig, daß ich nicht einmal die Freunde in Offenbach ſehn kann. Ich werde von hier bis31 Berlin Tag und Nacht reiſen! Verzeihen Sie daher, liebe Freun¬ din, daß ich dieſen Brief ſo kurz abbreche; ich verſpreche Ihnen einen langen und ausfuͤhrlichen, auf mein heilig Wort, von Berlin aus!

Einſtweilen ſein Sie verſichert, daß, obwohl verwickelt in mancherlei Verhaͤltniſſen und mannichfaltig ausgeſetzt geweſen, dennoch keine der Beſorgniſſe gegruͤndet geweſen iſt, die Sie in Ihrem Brief an mich aͤußerten. Ich glaube vielmehr, daß ich beſſer geworden bin! Mein Herz und mein Karakter ſollen immer rein und meiner herzlichlieben Pflegemutter wuͤrdig bleiben!

(Meine beſten Empfehlungen an den lieben Herrn Better und die Freunde. In groͤßter Eile!) I. E. Bollmann.

6.

Ich hoffe, liebe Frau Baſe! daß Sie durch Herrn Pannifex einen Brief erhalten haben, welchen ich in Frankfurt an Sie ſchrieb. Ich verſprach Ihnen darin einen ausfuͤhrlichen, und mein Verſprechen waͤre ſchon erfuͤllt, haͤtte ich mir nicht ge¬ ſchmeichelt, Sie perſoͤnlich zu uͤberraſchen. Ich glaubte naͤm¬ lich von Berlin aus zur Armee gehn zu muͤſſen, ich war ſogar ſchon auf dem Wege! aber gekommen bis Fulda erhielt ich Nach¬ richten, welche mich noͤthigten wieder umzukehren; dies wird Ihnen unten deutlicher werden!

Ich bin willens, liebe Freundin, Ihnen recht weitlaͤufig zu ſchreiben, um die Liebe zu Ihrem Pflegeſohn und das Vertrauen auf ſein gutes Herz zu retten, welche ſonſt ſchwankend werden duͤrften, und die mir doch unendlich theuer ſind. Bevor ich aber von dem ſpreche, was mir in Frankreich und in England be¬ gegnete, erlauben Sie mir einen Augenblick auf die Zeit meines32 letzten BeiIhnenſeins zuruͤckkommen zu duͤrfen; nicht um Ihnen etwas Neues zu erzaͤhlen, ſondern nur um der Genugthuung willen, Ihnen ſelbſt geſagt zu haben, was Sie durch eigne Beobachtung und durch andre Perſonen zum Theil vermuthlich ſchon wiſſen.

Mir war nicht ſo wohl bei Ihnen in der letzten Zeit, als wie im Anfange; ich war weniger offen, weil mein Betragen weniger fehlerfrei war. Ueber mein Billardſpielen und uͤber mein Verhaͤltniß mit B. macht ich mir Vorwuͤrfe, und uͤber beides verdient ich Tadel. Meine Finanzen waren durch Billard¬ ſpielen zerruͤttet; ich brauchte mehr Geld, um nach Straßburg zu kommen, als wie ich hatte. Indeſſen waren meine Be¬ muͤhungen, dem Freunde Geld zu verſchaffen, darum nicht weniger ehrlich; ich wuͤrde ohne die eigne Verlegenheit eben ſo gehan¬ delt haben, nur waren wir uͤbereingekommen, daß er mir etwas abgeben ſollte, obwohl er die ganze fuͤr ihn geſuchte Summe noͤthig hatte. Ich hofft ihm dieſes von Straßburg ſogleich wie¬ derſchicken zu koͤnnen, indem ich nicht auf das lange Ausbleiben der Briefe vom Onkel und nicht darauf rechnete, daß er mir nur eben wuͤrde zukommen laſſen, was nothduͤrftig war, um bis Paris zu kommen. Dieſe unedle Leidenſchaft des Spiels iſt erſtorben, wo ſie entſtanden war, und ich freue mich, Sie ver¬ ſichern zu koͤnnen, daß ich ſeitdem nie wieder, außer einige wenige mal mit guten Freunden, ſpielte!

In Straßburg macht ich durch Boͤckmanns Empfehlung die Bekanntſchaft von Tuͤrckheims, welche mich ſehr lieb, ſo lieb gewannen, daß ſie mir auf ihre Beihuͤlfe zu zaͤhlen erlaubten, als der Onkel in Paris mich verlaſſen hatte. Seit kurzer Zeit haben Umſtaͤnde, hoffentlich nur voruͤbergehend, uns von einander entfernt, welche ich ſelbſt noch nicht kenn und nicht begreife, und wovon ich alſo nicht reden kann.

33

In Paris wiſſen Sie wie’s ging. Sie glauben aber, Ihrem Briefe nach, ich habe meinen Onkel falſch beurtheilt. Ich verſichre Sie, liebe Frau Baſe, auch jetzt, da alle Verbindungen zwiſchen uns ſchon laͤngſt aufgehoͤrt haben, denk ich noch von ihm wie damals. Er hat alle die Anmaßung eines kleinſeeligen Emporgekommenen, und die ſchreckliche Indifferenz der Leute, deren Kopf und Herz leer ſind. Er macht beſtaͤndig ſein Gluͤck und ſeine Arbeitſamkeit geltend; ſeine Wohlthaten ſind druͤckend, das Betragen deſſelben gegen meinen juͤngern Bruder, der bei ihm iſt, der beſte Junge von der Welt, und neuere Vorfaͤlle zwiſchen mir und ihm haben dies nur zu ſehr beſtaͤtigt! Sein Wille mag nicht boͤſe ſein, aber ſeine Handlungs - und Denkungs¬ art iſt roh, und die vernuͤnftigſte Maßregel mit ihm die: alle Verbindungen und Verhaͤltniſſe moͤglichſt ſorgfaͤltig zu vermeiden! Er hatt etwas angefangen, was er nicht konnt oder wollte. Ich bat ihn alſo, mir nur noch wenigſtens etwas zu geben. Er gab mir ſechshundert Livres in Aſſignaten, und uͤberließ mich Gott und meinem Schickſal in einer ungeheuren Stadt, deren Sprach ich erſt lernen mußte, um mir ſelbſt etwas verdienen zu koͤnnen. In dieſer Zeit ſchrieb ich Ihnen meinen zweiten Brief; ein Hausknecht, der ihn auf die Poſt trug, hatte das Porto mir angerechnet, aber nicht bezahlt. Daher der Zufall, daß er Ihnen ſo ſpaͤt erſt zu Handen kam, und darum hab ich auch Ihre Antwort nicht empfangen, deren Verluſt ich recht ſchmerzlich bedaure.

Ich hatt in Straßburg einen gewiſſen Philipp Heiſch kennen gelernt, der in dem Tuͤrkheim’ſchen Hauſe freundſchaftlich um¬ ging. In Paris trafen wir uns wieder. Er begleitete dorthin ſeinen Bruder Friedrich Heiſch, einen jungen Kaufmann, welcher bei einem der erſten Banquiers einen ſehr guten Platz bekommen hatte. Er blieb ungefaͤhr drei Wochen bei ſeinem Bruder und334ging dann wieder zuruͤck nach Straßburg. Friedrich Heiſch war ein junger Mann von einundzwanzig Jahren, ein wahres unſchuldiges Naturkind. Er hatte die Handlung in einem guten Hauſe in Straßburg ſieben Jahre lang gelernt, war fuͤnf davon in ſeine Prinzipalin verliebt geweſen, und ſprach ihren Namen nicht aus ohne Erroͤthen. Seine Seele war rein wie Kryſtall, er wußte von allem Boͤſen nichts wie die Namen, und hatt 'ein ſehr gefuͤhlvolles Herz, das ganz ungetheilt und mit vollem Ver¬ trauen ſich hingab! Sie koͤnnen leicht denken, daß eine ſo ſeltene Erſcheinung mir nicht gleichguͤltig war; wir ſchloſſen uns bald aͤußerſt feſt aneinander, und nahmen ein gemeinſchaftliches Zim¬ mer, feſt entſchloſſen, Freud' und Leid miteinander zu theilen.

Mein Heiſch war nur Mittags und Abends zu Hauſe, folg¬ lich hatte ich beinahe den Alleingenuß der Wohnung. Ich wen¬ dete alles moͤgliche an, um franzoͤſiſch zu lernen, bot deutſchen Buchhaͤndlern Ueberſetzungen franzoͤſiſcher Werke an, hoͤrte zwei Kollegia, ließ mich in den oͤffentlichen Blaͤttern als Augen - und Hautkrankheiten-Doktor fuͤr nothleidende Arme ankuͤndigen, bekam ſechs bis ſieben deſperate Patienten, die nicht arm waren, dok¬ terte eine lange Zeit muͤhſam und nach beſten Kraͤften, brachte einige ein bischen zur Beſſerung und wurde von keinem bezahlt. Zuletzt fiſcht 'ich einen Abbé auf, der ſich die kleine Zehe wegen der uͤbeln am Gehen hindernden Anheilung derſelben, nachdem ſie gebrochen geweſen war, wollte abſchneiden laſſen. Wir wur¬ den eins fuͤr hundert Livres. Aber kurz vor der Operation fiel mein Abbé in eine Ohnmacht, aus der er ſich nur wieder erholte, um mich auf den Knien zu bitten, fuͤr diesmal das Abſchneiden noch zu verſchieben. Ich ging und hab' ihn nicht wieder geſeh'n! Dies iſt die Geſchichte meiner poetiſchen Laufbahn in Paris.

Dieſe Zeit wuͤrde aͤußerſt traurig geweſen ſein, haͤtten nicht die politiſchen Begebenheiten angefangen mich zu intereſſiren. Die35 damalige Lage Frankreichs war fuͤr mich ein weites Feld; ich ſuchte der Geſchichte der Revolution beſtmoͤglichſt inne zu werden, beobachtete ſoviel ich konnte, und erkannte bald (ohne mich fuͤr irgend eine der verſchiedenen Partheien zu erhitzen), in dem Sturme des Ganzen die fuͤrchterlichſte Kriſe eines ſeit langer Zeit durch die Folgen aller moͤglichen Ausſchweifungen ſchwer kranken Staatskoͤrpers. Ich ſah einen Haufen, den wilder Enthuſiasmus zu großen Bewegungen fortriß; aber nirgends ſah ich Freiheit, Geſetzkraft, Ordnung. Ueberall arbeiteten Privatleidenſchaften, vorzuͤglich Habſucht und Herrſchſucht, durch und wider einander. Ueberall war das oͤffentliche Beſte ausgeſtecktes, faſt nirgends war es wirkliches Ziel! Schon damals glaubt ich, daß nichts von Beſtand ſein wuͤrde; ich ſah ein uͤppiges, ſittenloſes Volk; die Knaben, ſagt ich, muͤſſen erſt wieder aufwachſen unter Schlachten und Blut, die Maͤdchen unter Truͤbſal und Thraͤnen eher wird’s nicht beſſer! Und noch jetzt iſt mein Wunſch, daß die Kriſe austoben, aber nicht erſtickt werden moͤge, damit die feindlichen Elemente wahrhaftig ſich zerſtoͤren, damit die Gluth der Krankheit nicht in’s Innere ſich verſchraͤnke, ſondern wirklich erloͤſche, denn nur unter dieſen Bedingungen, daͤucht mich, kann dauerhaftes Wohl aus der allgemeinen Zerruͤttung hervorgehn! Ob’s die Habſucht der Großen erlauben wird, weiß ich nicht!

Wenn ich nicht hell in dieſen Dingen geſehn habe, ſo lag die Schuld wenigſtens nicht an den Duͤnſten der Unmaͤßigkeit, denn ein magres Mittageſſen fuͤr dreißig Sous, ein Endivien¬ ſalat abends, und Rettige mit Butterbrot morgens dies war unſre taͤgliche Koſt. Meine ſechshundert Livres waren alle, und wir fingen nun an, von der Einnahme des guten Heiſch gemein¬ ſchaftlich zu leben, immer in der Hoffnung, daß bald eine Gele¬ genheit auch fuͤr mich ſich zeigen wuͤrde, um was zu verdienen;3[]36aber beinahe haͤtte der 10. Auguſt aller Noth und aller Hoffnung auf Einmal ein Ende gemacht. Wir hoͤrten in der Nacht das Laͤuten der Glocken, und ſahn am Morgen das Gewuͤhl des be¬ waffneten Volks. Mein Heiſch mußte zur Arbeit; ich ſelbſt ging mit einem Freund in den Garten der Tuilerien. Wir ſahen uͤberall viel Bewegung. Zuletzt kam der Koͤnig mit ſeiner Familie, umgeben von Soldaten, aus dem Schloſſe, und ging zur Assem¬ blée nationale, deren damaliger Verſammlungsſaal an jenen Garten ſtieß. Wir fanden Mittel, uns mit hinein zu draͤngen. Der Koͤnig war wie einer, der nicht weiß, was mit ihm iſt und mit ihm werden ſoll, betaͤubt und kraftlos. Die Koͤnigin, voll Hoheit und Wuͤrde, ſchien nur Bedauern fuͤr ihre Kinder zu haben, nur Verachtung fuͤr die Verſammlung und keine Sorge fuͤr ſich ſelbſt! Man verhandelte dies und jenes, als auf Einmal die erſten Schuͤſſe fielen. Die ganze Verſammlung verlor den Kopf, mein Freund auch! Er rannte fort wie beſeſſen, natuͤr¬ lich rann ich mit, denn trotz meiner Bemuͤhungen ließ er ſich nicht halten. Wie wir draußen waren, ging die Noth erſt an; uͤberall Waffen und Schießen; wir konnten nicht vor - und nicht ruͤckwaͤrts. Mein Freund rettete ſich in eine kleine Huͤtte, wo er in den Schornſtein kroch, ich ſelbſt entkam durch's Ge¬ tuͤmmel!

Einige Tage nachher kam der Herr Gambs zu mir, der Prediger an der ſchwediſchen Kapelle. Er ſprach von der Rettung eines Ungluͤcklichen, in großer Gefahr Schwebenden; ich errieth, wer’s ſei. Er fuͤhrte mich zur Gemahlin des ſchwediſchen Ge¬ ſandten, Madame de Staël. Eine hochſchwangere, um ihren Geliebten jammernde Frau wirkte ſtark auf meine Einbildungs¬ kraft. Sie koͤnnen ſich's denken, wie ſehr ſie jammerte, denn ihr Geliebter ſeit neun Jahren, ſollte eigentlich bei der Armee ſein. Er war in Paris nur auf ihr Bitten und heimlich,37 aber man wußte ſeine Anweſenheit, man war begierig auf ſeinen Kopf, man forſchte nach ihm, und man ſprach von Durchſuchung des Hauſes. Eine Frau in Thraͤnen, ein Mann in Lebens¬ noth, die Hoffnung der Freud 'einer gelungenen Rettung, die Ausſicht auf England, die Moͤglichkeit einer Verbeſſerung meiner Lage, der Reiz des Außerordentlichen dies alles wirkte zu¬ ſammen. Mein Entſchluß war bald gefaßt. Ich uͤbernehm' es, ſagt 'ich, und will meinen Plan bringen . Auch dieſer war bald fertig! Nur den zweiten Paß zu bekommen hielt ſchwer. Ich lief drei Tage lang zu allen Englaͤndern, zu allen Freunden, die ich kannte nichts! Keiner wollt' es wagen! Zuletzt erſt fiel mein guter Heiſch mir ein. Wir gingen zum engliſchen Ge¬ ſandten; Heiſch mußte ſich fuͤr einen Hannoveraner ausgeben. Wir bekamen einen Paß. Er wurde gegen einen andern einge¬ tauſcht von Lebrun, Miniſter der auswaͤrtigen Angelegenheiten, dann unterſchrieben von Petion, dem Maire, und ſo war's richtig! Der Name von Heiſch war zum Gluͤck auf dem Paß verſchrieben, und er mußte ſich auch verborgen halten am Tage der Flucht. Er ſchied von mir mit der Verſicherung, mir ſobald wie moͤglich zu folgen; die Staël hatte ihm ein Geſchenk gemacht, waͤhrend er noch in Paris war.

Narbonne ſchlief bei mir die letzte Nacht vor der Abreiſe. Morgens um 4 Uhr ging's fort. Wir mußten auf die Wachſtube voll Menſchen gehn, bevor wir zur Stadt hinaus konnten. Das Wort Englaͤnder und unſre Freimuͤthigkeit verblendeten die Augen. Geplauder uͤber die Meinung der Englaͤnder von der Revolution zerſtreute die Aufmerkſamkeit. Unſre Paͤſſe wurden endlich unter¬ ſchrieben. Wir fuhren fort. Verſchiedene Wiederholung derſelben Scene unterwegs. Wir kamen gluͤcklich nach Boulogne. Wir flogen im Sturm uͤber's Meer. Wir ſchliefen die zweite Nacht38 ruhig in Dover. Wir waren am dritten Abend zu Kenſington, dem Ziel unſrer Reiſe.

Narbonne iſt ein ziemlich hoher, etwas plump gebauter ſtarker Mann, aber deſſen Kopf etwas Auffallendes, Großes, Ueberlegenes hat. Er iſt unerſchoͤpflich an Witz, an Reichthum von Ideen. Er iſt vollendet in allen geſellſchaftlichen Tugenden. Er verbreitet Anmuth uͤber das Duͤrrſte. Er reißt unwiderſteh¬ lich fort, und macht, wenn er will, einen Einzelnen wie eine ganze Geſellſchaft trunken! Es war nur ein Mann in Frank¬ reich, der ihm in dieſer Ruͤckſicht an die Seite geſetzt wurde, und der ihn, meiner Meinung nach, noch bei Weitem uͤbertrifft, dies iſt ſein Freund, Monſieur de Talleyrand, ehemals Evêque d'Autun. Narbonne gefaͤllt, aber er ermuͤdet auf die Laͤnge. Man koͤnnte Talleyrand Jahre lang zuhoͤren. Narbonne arbeitet und verraͤth Beduͤrfniß zu gefallen, Talleyrand entſchluͤpft, was er ſpricht, und es umgiebt ihn beſtaͤndig eine leidenſchaftloſe Be¬ haglichkeit und Ruhe. Was Narbonne ſagt, iſt mehr glaͤnzend; was Talleyrand ſagt, mehr anmuthig, fein, niedlich. Narbonne iſt nicht durchaus fuͤr alle Leute, ſehr empfindſame moͤgen ihn nicht, er hat uͤber ſie keine Herrſchaft. Talleyrand, ohne weniger moraliſch verdorben zu ſein, als Narbonne, kann die ſelbſt bis zu Thraͤnen ruͤhren, welche ihn verachten! Ich weiß hievon merkwuͤrdige Beiſpiele!

Alle Franzoſen, vorzuͤglich die der großen Welt, ſtreben nach obigen Vollkommenheiten, haben mehr oder weniger davon, und dieſe Vorzuͤge ſind meiſtens das Beſte, was ſich an ihnen auffinden laͤßt. Vorzuͤglich fehlt ihrem Ruhme großherzige Sim¬ plicitaͤt und geſunde Vernunft. Sie koͤnnen nichts grad und natuͤrlich betreiben, ſie wollen immer Gewandtheit mit in's Spiel bringen, und durch's Beſtreben, recht fein zu handeln, gehn die meiſten von ihren Unternehmungen zu Grunde. Sie wollen immer39 uͤber die Dinge mit viel Geiſt ſprechen, ſie vertiefen ſich daher blitzſchnell in die feinſten, entlegenſten Verhaͤltniſſe derſelben, ſehn daruͤber die viel weſentlichern nicht, welche dicht vor ihren Augen liegen, und ſchließen meiſtens falſch. Es fehlt ihnen uͤberdies Feſtigkeit und Ausdauer. Sie ſind uͤbrigens gutherzig und han¬ deln ſelten anders ſchlecht, als aus Schwaͤche. Waͤhrend meinem Aufenthalte in Kenſington, wo ſich in der letzten Zeit alles, was vormals in Paris den glaͤnzendſten Zirkel ausmachte, verſammelte, hab 'ich ſehr viel Gelegenheit gehabt, Belege zu obigen Schil¬ derungen zu finden. Sie glauben nicht, liebe Frau Baſe, wie verſchieden von jenen Menſchen die Englaͤnder in ihrem Karakter und Weſen ſind.

Narbonne uͤberhaͤufte mich unterwegs mit Freundſchaftsver¬ ſicherungen, mit wiederholten Aeußerungen ſeiner Dankbarkeit, mit einem Strom von ſchoͤnen Worten, die ich bewunderte, aber wobei ich mich unwillkuͤrlich zuruͤckzog. Ich ſah darin nur die Beſtrebungen, eine vermeintliche Pflicht zu erfuͤllen aber es war darin nichts Herziges, Narbonne kannte mich nicht; er konnte mich weder ſchaͤtzen noch lieben. Alſo war ich waͤhrend der ganzen Reiſe zuruͤckgezogen und ernſt, und zuweilen heiter uͤber den gluͤcklichen Ausgang des Wagſtuͤcks!

Unter dieſer Stimmung kamen wir nach Kenſington, und logirten uns ein bei Madame de la Châtre. Dieſe lag im Bett 'und war krank; ich verſchrieb ihr was, und ſuchte mich um die Wirthin verdient zu machen. Sie wurde wieder beſſer, und ſchenkte mir nachher ein Dutzend der feinſten engliſchen Schnupf¬ tuͤcher fuͤr meine Bemuͤhungen. Ich macht' ihr ein Gegengeſchenk mit einer feinen engliſchen Scheere, deren ſie bedurfte. Narbonne fuhr fort in ſeinem Betragen wie unterwegs. Ich ſagt 'ihm geradezu: Sie ſind zu gut, Sie machen mich beklommen; Sie kennen mich noch nicht; Sie wiſſen noch nicht, ob ich Freundſchaft40 verdiene. Er antwortete, ich ſei ein Original, und ließ mich ruhig! Ich habe nachher gemerkt, daß es ihm unangenehm geweſen war, mich nicht gewinnen, nicht gleich an ſich feſſeln zu koͤnnen.

Einige Tage nachher war Narbonne am Morgen fruͤh aus¬ gegangen, und ich fruͤhſtuͤckte allein mit Madame, die der fran¬ zoͤſiſchen Sitte gemaͤß noch im Bette lag. Verheirathet nur aus Convenienz, wie das bei allen Damen in Frankreich der Fall iſt, und uͤberdies noch mit einem alten grauhaͤrigen Manne, ſtand ſie ſchon ſeit neun Jahren in der engſten, vertrauteſten Verbindung mit einem gewiſſen Monſieur de Jaucourt, einem der Abgeordneten an der zweiten Aſſemblee. Madame de la Châtre bekam einen Brief, waͤhrend wir noch Thee tranken, und ſie hatt 'ihn kaum halb geleſen, ſo fiel ſie in Convulſionen, die bald auf einen fuͤrchterlichen Grad zunahmen. Sie ſchrie, ſie weinte, ſie ſchlug mit Haͤnden und Fuͤßen, ſie wollte ſterben, ſie wollte fort auf der Stelle nach Paris. Ihr Kammermaͤdchen und ihr Sohn ſtuͤrzten herein, ein Knabe von zehn Jahren, und machten noch mehr Laͤrm wie die Kranke ſelbſt. Ich ſchickte ſie fort, um Narbonne zu ſuchen. Die arme Frau fiel aus einem Paroxysmus in den andern, ſie rief unablaͤſſig: Es iſt vorbei, er iſt verloren, ſie haben ihn feſtgenommen; ſie werden ihn um¬ bringen! Ich ſchloß aus dem Allen, daß Jaucourt arretirt worden ſei, und das war auch wirklich der Fall. Ihr Zuſtand fing nun an, mich doppelt zu intereſſiren, denn ich dachte, die haͤtt' eine ſehr gute Gattin werden muͤſſen unter andern Um¬ ſtaͤnden, welche nach neunjaͤhrigem Umgang noch ſo heftig fuͤr Jemand fuͤhlt, dem ſie gut iſt! Ich wurde von dieſem Augen¬ blick an verliebt in Madame de la Châtre.

Ihre Anfaͤlle wurden immer aͤrger, ich hatte nie ſo was Fuͤrchterliches geſehn und wußte mir keinen Rath mehr; als41 endlich Narbonne kam. Sein Erſtes war, von den augen¬ blicklichen Anſtalten zur Reiſe nach Paris zu ſprechen; das Zweite, daß man einen Courier hinſenden muͤſſe, der Courier wurde gleich geholt und fortgeſchickt; das Dritte, es ſei am beſten, nur bis Dover ſelbſt zu reiſen, und da die Zuruͤckkunft des Couriers abzuwarten! Sein Benehmen war unuͤbertrefflich ſchoͤn; er fuͤhrte ſie in Zeit von anderthalb Stunden wieder zuruͤck zur Vernunft und Ruhe, und ſeine geiſtvolle Geſchaͤftigkeit um Madame herum waͤhrend der fuͤnf folgenden Tage war eins der ſchoͤnſten Schauſpiele, die man ſich denken kann.

Am ſechſten kam die Nachricht von Jaucourt's Freilaſſung. Madame de Staël war zu Manuel gefahren, damals Procureur de la Commune. Sie hatt 'ihn beinahe fußfaͤllig gebeten, ſich fuͤr Jaucourt zu verwenden. Manuel, ſtill, finſter, in ſich ge¬ kehrt, von Kindsbeinen an Republikaner, war uͤbrigens kein boͤſer Menſch. Er that das Seinige, und Jaucourt entkam aus der Abbaye am Abend vor dem Gemoͤrd' am 2. September. Es wuͤrde Schad 'um ihn geweſen ſein, haͤtt' er ſterben muͤſſen. Er iſt ein guter Mann, in dem kein Falſch iſt.

Dieſe gute Nachricht von Jaucourt's Freilaſſung errieth ich nur, foͤrmlich mitgetheilt wurde ſie mir nicht. Ich hatte einigen Antheil an dem Kummer von Madame de la Châtre genommen, und da ſie mich ſehr zu intereſſiren anfing, ſo ver¬ droß mich's um ſo mehr, daß man mich nicht Theil an der Freude nehmen ließ. Ich wollte auf der Stell 'aus dem Hauſe, und verſchwieg Narbonne nicht, warum. Sie werden mir dieſe Kraͤnkung nicht anthun, ſagt' er, die Weiber ſind ſchamhaft mit ihren Geliebten; der Schmerz treibt uͤber alle Schranken hinaus, aber mit der Ruhe kehrt die Ueberlegung wieder. Er hatte gleich mit Madame de la Châtre geſprochen, ſie nahm den erſten Anlaß, um mir weitlaͤufig und vertraulich von den42 erhaltenen guten Nachrichten zu ſprechen. Ich blieb! Von dieſem Augenblick an ſagten ſie, ich ſei empfindlich und ſonderbar wie Jean Jaques Rouſſeau, und dieſen Karakter hab 'ich hernach behalten.

Indeſſen war ich verdammt, die ſchoͤne Madame de la Châtre vom Morgen bis zum Abend zu betrachten. Ihr Weſen war nicht ſanft, nicht guͤtig, nicht empfindſam, ſie war vielmehr raſch, lebhaft, mannhaft, heftig ſchneidend zuweilen, und dieſe Frauenzimmer ruͤhren mich ſonſt nicht; aber ſie war ehrlich, fein, offen, hatte die ſchoͤnſte, vollkommenſte weibliche Form, Haͤnd 'und Fuͤße zum Mahlen, und eine Haut ſo weiß und fein, daß es ſogar in England vergeblich geweſen ſein wuͤrde, eine ſchoͤnere aufzuſuchen. Ich ſah ſie morgens ehe ſie aufſtand, abends ehe ſie einſchlief, und den ganzen Tag uͤber bald ſitzend, bald ſtehend, bald liegend auf dem Sopha in den ſchoͤnſt-moͤglichſten Attituͤden, immer voll Leichtigkeit und Anmuth in ihren Bewegungen, ſie begegnete mir uͤberdies ſehr freundſchaftlich, und hatte die Art von Freud' an mir, die man an einem Weſen von beſondrer Art hat, deſſen Freimuͤthigkeit gefaͤllt. Es war mir nicht moͤglich, unter dieſen Umſtaͤnden gleichguͤltig zu bleiben.

Nach und nach kamen von Paris Talleyrand, Jaucourt, Montmorency, und eine große Menge andrer Herren. Die Zirkel bei Madame de la Châtre wurden ſehr brillant. Wir ſpeiſten oft zu achtzehn bis zwanzig Perſonen. Gegenſtaͤnde aller Art wurden verhandelt, Syſteme aller Art wurden vertheidigt, Anek¬ doten aller Art erzaͤhlt. Witz und Laune wurden vergoſſen! Natuͤrlicherweiſe konnt 'ich mit dieſen Herrn in ihrer Art nicht wetteifern; ich hielt mich daher deſto, genauer an meine eigne; ich war ſo unfranzoͤſiſch wie moͤglich. Meiſtens kalt, ſtreng wahr in allem, was ich ſagte, naiv aufrichtig, unverbindlich in Wor¬ ten, und aͤußerſt zuvorkommend, wo ich gefaͤllig ſein konnte,43 vorzuͤglich fehlte meiner Madame de la Châtre keine Nadel, kein Etwas, ſo unbedeutend es auch ſei, das ich ihr nicht entgegen¬ trug, treffend zuweilen in meinen Bemerkungen, vorzuͤglich wenn die Herren im Disputiren ſich erhitzten und gegenſeitig einander nicht verſtanden, uneitel, ſtolz-maͤnnlich, verſchafft ich mir eine Art von Exiſtenz, die mir nicht unangenehm war, wobei mein wirklicher Karakter, glaub ich, gewann, und die ſich beſſer fuͤhlen als beſchreiben laͤßt.

Ob indeß dies Leben auf die Dauer gut fuͤr mich geweſen waͤre, weiß ich nicht. Ich las Voltaire und Rouſſeau, ſtudirte die franzoͤſiſche Sprache und die Menſchen, die um mich waren, aber meine naͤrriſche Leidenſchaft machte mich zuweilen mißmuthig, und ſtoͤrte die Freiheit meiner Seelenkraͤfte. Zum Gluͤck zerſtreute ſich die ganze Geſellſchaft. Narbonne, Madame de la Châtre, Jaucourt, Montmorency, hatten ein Landhaus gemiethet, wo natuͤrlicherweiſe fuͤr mich nichts zu thun war. Die Uebrigen gingen anderswo hin, und ich ſelbſt ging nach London, wo mein guter Heiſch eben angekommen war.

Kurz zuvor hatt ich einen ſehr freundſchaftlichen Brief von Madame de Staël erhalten, worin ſie mich bevollmaͤchtigte, zu jeder Zeit meines Lebens, dies ſind ihre eignen Worte, die Rechte eines Bruders, eines Freundes, eines Wohlthaͤters auf ſie gel¬ tend zu machen! Die Folge hat bewieſen, daß dieſer Brief ſehr ehrlich geſchrieben war.

Ich erhielt auch einen Brief von Zimmermann in Hannover, welcher mich mit Lobſpruͤchen uͤberhaͤufte, mir die ſchoͤnſten Aus¬ ſichten oͤffnete und ſogar ſchrieb, der Koͤnig wuͤrde mich ſprechen, und hernach wuͤrde mein Gluͤck gemacht ſein. Ich gab den Brief Narbonne zu leſen, er war geſcheidter wie ich, und ſagte nur blos: Der Mann ſchreibt ſehr gut franzoͤſiſch ! Wie¬44 wohl er Recht haben mochte, ſo hab 'ich dennoch ihm lange Zeit dieſe Antwort nicht verziehen.

Ueberhaupt hatte Narbonne, zuverlaͤſſig aus dem oben an¬ gegebenen Grunde, ſeit geraumer Zeit ſich ſehr zuruͤckgezogen; er hatt 'auch uͤbel genommen, daß ich ihm von meinen Empfin¬ dungen fuͤr Madame de la Châtre nichts ſagte, von denen er ſah, daß ſie mich quaͤlten. Bei verſchiedenen freundſchaftlichen Unterhaltungen, die ich in der letzten Zeit in Kenſington mit ihm einzuleiten ſuchte, blieb er kalt. Er verließ mich uͤbrigens unter vielen Freundſchaftsverſicherungen, verſprach, mich in London zu beſuchen, mich zu Lord Grenville zu fuͤhren, an meinem Gluͤcke zu arbeiten, u. ſ. w. Heiſch, der ihn beſuchte, hatt' er mit vieler Artigkeit empfangen und ihn gebeten, von ſeinen Empfeh¬ lungsbriefen noch keinen Gebrauch zu machen, indem er ſelbſt bei verſchied'nen angeſehenen Kaufleuten in London von ſeiner Bekanntſchaft ſich bemuͤhen wolle, ihm einen guten Platz zu ver¬ ſchaffen. Heiſch war erfreut daruͤber, und verſprach, Nachricht von ihm zu erwarten.

Die Trennungen in Kenſington gingen wie im Sturm, ich habe ſeitdem Madame de la Châtre, welche bald darauf nach Frankreich zuruͤckkehrte, wo ſie noch iſt, nicht wiedergeſehn. Ich logirte mich vorlaͤufig mit Freund Heiſch in London-Coffee¬ house, Ludgate-hill, einem großen Gaſthof in London, und freute mich bald recht koͤniglich meiner wiedererlangten morali¬ ſchen Freiheit.

Ich hatte damals fuͤnfzig Louisd'or, welche man mir in Paris gegeben hatte, um nicht ohne alle Huͤlfsmittel zu ſein, im Falle wir arretirt wuͤrden, oder daß uns ſonſt etwas zuſtieße. Ich ſprach in Kenſington vom Zuruͤckgeben, Narbonne fragte mich ſtatt aller Antwort, ob ich nicht geſcheidt ſei?

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Dies fuͤhrt mich, liebe Frau Baſe, wieder auf Ihren Brief. Sie ſchreiben: In Paris war Ihnen der Gedanke bitter, Ihren Nebenmenſchen gegen baare Bezahlung zu kuriren und doch. Geſetzt, ich haͤtte Narbonne geradezu fuͤr’s Geld gerettet, ſo ſehe ich kaum, was in der Sache juſt Unmoraliſches waͤre. Alles ehrliche Geldverdienen in der Welt iſt Verdienen durch Dienſt¬ leiſtungen, die hoͤheren Pflichten nicht widerſprechen, und mich daͤucht nicht, daß es mehr ſtrafbar iſt, fuͤr ein gerettetes Leben mit Gefahr des eignen ausgezeichnete Belohnung zu empfangen, als fuͤr ein gerettetes Leben durch ein kuͤhnes Aderlaß, ein kuͤhnes Brechmittel mit Gefahr des guten Rufs. Sein Leben vernuͤnftig zu wagen, d. h. mit der Wahrſcheinlichkeit es davon zu bringen, und fuͤr[einen] hinlaͤnglich wichtigen Zweck, iſt ſo wenig einer Pflicht zuwider, als vernuͤnftigerweiſe ſeinen guten Ruf zu wagen. Aber die Staël war ſchwanger, und Nar¬ bonne’s Tod waͤre zuverlaͤſſig der Untergang dreier Geſchoͤpfe geweſen! Das Einzige, was ein feines Gefuͤhl dabei Bedenk¬ liches findet, und was auch Sie, liebe Freundin, bei Ihrem Briefe geleitet hat, iſt die Bemerkung, daß es gewiſſe Dienſt¬ leiſtungen giebt, die zu edel ſind, um bezahlbar zu ſein, und die man nach Rouſſeau nicht fuͤr Geld thun kann, ohne ſich ſelbſt und die Sache zu erniedrigen! Dies iſt unſtreitig wahr! Aber ich hab auch mit Narbonne keinen Handel gemacht; es iſt nicht mit Einer Silbe von Geld als von Motiv unter uns die Rede geweſen. Ich bin innig uͤberzeugt, daß ich nicht um ein haarbreit verſchieden gehandelt haben wuͤrde, ſelbſt bei der Ge¬ wißheit, keinen Pfennig dadurch zu gewinnen; aber ich geſteh auch eben ſo aufrichtig, daß unter dem Berechnen der moͤglichen Folgen jener Handlung der Gedanke mir lieb war, meine Gluͤcks¬ umſtaͤnde dadurch vermuthlich zu verbeſſern. Ich wollte mir einen Freund auf Koſten der groͤßten Gefahr machen, deſſen46 Ueberfluß ich nicht umhin konnte als vortheilhaft fuͤr mich ſein koͤnnend mir vorzuſtellen, aber ich wuͤrde das Geld nicht als Beweggrund haben denken koͤnnen, ohne mich vor mir ſelbſt zu ſchaͤmen. Ich habe deßwegen in jener Ihrer Aeußerung die zaͤrt¬ liche Freundin tief gefuͤhlt, habe uͤber Ihre Liebe, uͤber Ihre Beſorgniſſe mich gefreut, und ich wuͤrde dieſen weitlaͤufigen Brief, dies Stuͤck Roman nicht ſchreiben, fuͤrchtet ich nicht, daß Sie von manchen Vorfaͤllen ſchief unterrichtet ſein moͤchten, und wuͤnſcht ich nicht, Sie zu uͤberzeugen, daß ich, trotz der mancherlei begangnen Fehler, doch wenigſtens die Gefahren nicht gelaufen bin, fuͤr welche Sie am meiſten zu fuͤrchten ſcheinen.

Ich fing nun an, mit meinem treuen braven Heiſch, den ich wieder zu haben mich freute, London zu beſehn, legte mich mit Eifer auf die Sprache, ſtudirte die Zeitungen, um das Volk kennen zu lernen, worunter ich mich befand.

Acht Tage waren ungefaͤhr ſo verfloſſen, als mir Narbonne eine gerichtliche Obligation zuſchickte, worin er ſich und ſeine Erben verpflichtete, mir Zeit meines Lebens fuͤnfzig Louisd’or jaͤhrlich zu bezahlen, als einen Beweis, wie es in der Obligation hieß, ſeiner Dankbarkeit fuͤr meine ihm geleiſteten Dienſte. Dies Papier war von einem Billet begleitet, worin er mich in ſehr hoͤflichen Ausdruͤcken bat, das Beikommende anzunehmen, worin er es bedauerte, daß Geſchaͤfte ihn verhindert haͤtten, mich zu beſuchen, und worin er am Ende ſagte, nichts wuͤrd ihn ab¬ halten koͤnnen, in den naͤchſten Tagen zu mir zu kommen und mich zu ſehn. Ich war geſonnen, ſeine Obligation zu behal¬ ten, im Fall ich ſie, durch Narbonne’s kuͤnftiges Betragen be¬ rechtigt, als ein freundſchaftliches Geſchenk wuͤrde anſehn koͤnnen, und ſchrieb ihm daher zuruͤck, ich ſaͤhe ſeinem Beſuche, um ihm meine Dankbarkeit beweiſen zu koͤnnen, mit heißer Erwartung entgegen. Ich war dies um ſo mehr berechtigt zu ſchreiben,47 da Narbonne ſelbſt in ſeinem Billet mir anzeigte, er ſei gegen¬ waͤrtig bald hier, bald dort, und da das Landhaus, wo er eigent¬ lich zu ſuchen war, zwanzig engliſche Meilen von London lag.

Um die Zeit machte ich im Coffeehouse durch einen Dritten, den ich ſchon in Paris gekannt hatte, die Bekanntſchaft eines gewiſſen Erichſen, eines ſchwerreichen Kaufmanns aus Kopenhagen. Es war ein ſehr huͤbſcher Mann, frei, offen, ſtolz, großmuͤthig in ſeinem Weſen, dreißig Jahr alt, aber ſeit ſeinem dreizehnten beſtaͤndig auf Reiſen; er war zweimal in Oſtindien geweſen, war, ohne gelehrte Kenntniſſe zu haben, durch eigne Erfahrung uͤber unendlich viele Dinge aͤußerſt richtig und umſtaͤndlich be¬ lehrt. Er verſtand ſich gut auf Menſchen, und kannte vorzuͤglich England, wo er wie zu Hauſe war, mit allen ſeinen Verhaͤlt¬ niſſen durch und durch! Nach einigen Unterhaltungen fing er an, ſich fuͤr mich zu intereſſiren, und dies Intereſſe wuchs bald zu einem ſolchen Grade, daß er ohne mich nicht fertig werden konnte. Er nahm ſich vor, mich London kennen zu lehren. Wir beſahen eine Merkwuͤrdigkeit nach der andern, gingen taͤglich ins Schau¬ ſpiel, beſuchten alle oͤffentlichen Haͤuſer, alle oͤffentlichen Zuſammen¬ kuͤnfte, und drei Wochen verflogen ſo im Taumel. Erichſen ver¬ ſtand in einem hohen Grade die Kunſt, zu beobachten. Sein Ver¬ ſtand brachte mannigfaltig zuſammen alles, was ſeinen Blicken be¬ gegnete. Er ſah nichts ohne zu denken, und uͤberraſchte mich oft in großen Zirkeln mit Aufſchluͤſſen uͤber einzelne Perſonen, die es unmoͤglich ſchien ohne genaue Bekanntſchaft mit denſelben geben zu koͤnnen, und die er doch, wie er mir nachher bewies, nur aus einzelnen Bemerkungen ſchoͤpfte. Er machte mich aufmerkſam auf alles, was einem jungen Reiſenden merkwuͤrdig ſein kann, er fuͤhrte mich zur Kenntniß engliſcher Sitten und engliſchen Karak¬ ters; er ſprach mir von der engliſchen Staatsverfaſſung und von den eingeſchlichnen Mißbraͤuchen in dieſelbe, mit Einem Worte

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ich war keinen Augenblick bei ihm, ohne etwas Nuͤtzliches zu er¬ beuten! Von den Koſten unſrer Zerſtreuungen bezahlt 'ich kaum nur den fuͤnften Theil, er wollte durchaus nicht, daß ich alles zur Haͤlfte bezahlte, auch haͤtt' ich's nicht koͤnnen! Er ſagt ', ihm mache das alles nichts aus, ſein Gluͤck ſei gemacht, er wuͤnſche mich zur Geſellſchaft zu haben, und ſo weiter, und er that alles mit einer ſo guten Art, daß mir darum, weil ich ihm Verbindlichkeiten ſchuldig ward, auch nicht ein bischen in ſeinem Umgange weniger leicht, weniger behaglich war!

Heiſch hatt 'unterdeß Gebrauch von ſeinen Empfehlungs¬ briefen gemacht und wieder einen ſehr guten Platz bekommen. Narbonne ließ durchaus nichts von ſich hoͤren, und das verdroß mich um ſo mehr, weil dadurch ſeine Obligation das Anſehn einer Bezahlung erhielt. Ich wollte ſie zu wiederholtenmalen zuruͤckſenden, aber Erichſen hielt mich immer davon zuruͤck. Er ſagte: Die Großen taugen nichts; ihr Geld iſt beſſer wie ſie ſelbſt; Narbonne wuͤrde ſich freuen, ſein Papier wieder zu haben, und Sie noch obendrein auslachen; behalten Sie, was Sie haben, und begehn Sie keine Thorheit aus falſcher Delikateſſe. Dieſe Gruͤnde verzoͤgerten wohl die Ausfuͤhrung meines Vor¬ habens, aber ſie befriedigten mich nicht, die Obligation war mir druͤckend.

Erichſen faßte den Entſchluß, nach Paris zu gehn, um eine Unternehmung in Getraide zu machen. Er hatt 'einen eignen Reiſewagen und folglich einen leeren Platz. Er dacht' in drei Wochen wieder nach London zuruͤckzukommen, und drang heftig in mich, ihn zu begleiten. Es ging mir mit Paris, wie's oft geht; wenn man aus einem Orte weg iſt, faͤllt 'einem erſt bei, was man noch haͤtte erforſchen, wornach man haͤtte ſehn, wovon ſich unterrichten koͤnnen; drum war mir ein neuer kurzer Auf¬ enthalt in Paris ſo unrecht eben nicht. Die Gefahr war uͤber¬49 dies nur geringe, denn theils kannte man meine Geſchichte mit Narbonne nur wenig, theils wußt' ich, daß man Niemand ohne Nutzen verfolgt. Die Gelegenheit war ſchoͤn; ich entſchloß mich und gab mein Verſprechen! Erichſen war froh daruͤber. Er ſagte, die ganze Reiſe, mein Aufenthalt in Paris, alles kurzum, ſolle mir keinen Pfennig koſten, er habe mir fuͤr's Mitgehn, nicht ich ihm fuͤr's Freihalten Verbindlichkeit.

Alles waͤre gut gegangen, wenn wir allein geblieben waͤren, aber es war in London ein gewiſſer Herr Rilliet, Banquier von Paris, mit ſeiner Frau. Er war ſo halb und halb mit Auf¬ traͤgen nach England geſandt worden, aber die Sache war nicht ganz klar. Er fuͤrchtete ſich ein bischen, wieder nach Frankreich zu gehn, weil man ſchon harte Dekrete gegen die Ausgewander¬ ten gegeben hatte. Er hatte Erichſen kennen gelernt, und bat ihn, in ſeiner Geſellſchaft reiſen zu duͤrfen, weil er dies fuͤr einen kleinen Schutz hielt; Erichſen war's zufrieden. Wir fuhren ab in zwei Reiſewagen, Rilliet mit ſeiner Frau und einem Kammer¬ maͤdchen, Erichſen und ich; ein Bedienter war zu Pferde. Wir wechſelten auf jeder Station die Plaͤtze! Natuͤrlicherweiſe kam ich auf meiner Tour bei Madame Rilliet zu ſitzen, und ich ent¬ deckte bald an ihr einen koͤſtlichen Schatz. Sie war nicht ſehr groß, aber aͤußerſt fein gebaut und ohne Fehler im Verhaͤltniß. Ihre gebogene Naſe allein haͤtte ein bischen kleiner ſein koͤnnen, aber der Mund darunter war deſto huͤbſcher, und ihre großen ſchwarzen, nie ſtummen, ſanften Augen waren unbeſchreiblich ſchoͤn! Sie war auferzogen worden zugleich mit Madame de Staël von dem beruͤhmten Abbé Raynal, welcher nichts verſaͤumt hatte, ihrem von Natur ſchon regen und thaͤtigen Geiſte Reich¬ thum und Bildung zu geben. Sie hatte uͤberdies, was mehr werth war, ein ſehr empfindſames Herz, eine reine fleckenloſe Seele und einen ſehr feinen Sinn fuͤr's moraliſche Schoͤne.

450

Alle dieſe Genußfaͤhigkeiten und Kraͤfte blieben in ihrem taͤglichen Leben ungebraucht und unbefriedigt, denn ihr Mann, den ſie hatte nehmen muͤſſen, war nur ein guter Kaufmann. Sie war vier und zwanzig Jahr alt. Sie war eine vertraute Freundin von Madame de Staël, wiewohl ſie nicht alle Handlungen der¬ ſelben billigte. Sie kannte den Dienſt, welchen ich derſelben geleiſtet hatte. Sie war ſehr beklommen, wieder nach Frankreich zu gehn, und ſehr traurig, weil ſie in England einen vielgelieb¬ ten Sohn zuruͤcklaſſen mußte, der erſt drei Jahr alt war. Nehmen Sie alles dieſes zuſammen, und urtheilen Sie ſelbſt, ob unſre Unterhaltungen im Wagen lange gleichguͤltig bleiben konnten!

Ich bin nie verliebt geworden in Madame Rilliet, aber ſie wurde meine innigſte Freundin. Sie ſind ein Mann aus mei¬ nem Lande, ſagte ſie, nachdem wir ein paar Tage beiſammen geweſen waren, und ich fuͤhlte, daß ſie eine Frau aus dem mei¬ nigen war. Nie hab 'ich eine ſchoͤnere Reiſe gemacht; ſie dauerte ſehr lange; wir waren beinahe vierzehn Tage unterwegs. Die Rilliet hatte ſich davor gefuͤrchtet, und ihre Furcht wurde be¬ trogen. Ich hatte mir Vergnuͤgen verſprochen, aber ſo viel nicht!

Wie viel haͤtt 'ich zu thun, wollt' ich Ihnen nur halb mit¬ theilen, was all Intereſſantes und Schoͤnes zwiſchen uns vorfiel!

Ungeſtoͤrt blieb indeſſen die Freude nicht lange. Erichſen war zu fein, um nicht bald zu merken, wieviel die Rilliet anfing auf mich zu halten. Er hielt ſelbſt zu viel auf ſie, und war zu ehrgeizig, um nicht eiferſuͤchtig zu werden. Ich haͤtte ſeine ſchwache Seite ſchonen ſollen, aber ich kannte ſie nicht, und nachdem ich ſie kennen gelernt hatte, war es zu ſpaͤt. Er fing an kalt zu werden, fing an, ſich gern an mir zu reiben und bitter zu dispu¬ tiren. Manche Umſtaͤnde trugen dazu bei, ſeine uͤble Stimmung zu vermehren!

51

Widrige Winde hielten uns hier Tage lang in Dover zuruͤck. Die Rilliet war neugierig, meine Verhaͤltniſſe mit Narbonne zu[kennen], und ich erzaͤhlt ihr alles, wie wir nach und nach ver¬ trauter zu werden anfingen. Sie unterſtuͤtzte ſehr den Entſchluß, die Obligation an Narbonne zuruͤckzugeben. Ich ſchrieb an ihn auf der Stelle, ſeine Obligation wuͤrde mir lieb geweſen ſein, haͤtt ich ſie betrachten koͤnnen als wie ein Geſchenk, ſo wie es ein Freund dem andern giebt, ſelbſt ohne vorhergegangene be¬ ſondre Dienſtleiſtung; ſeine Zuruͤckgezogenheit mache daraus eine Bezahlung; ich ſei aber nicht gewohnt, mit aͤhnlichen Handlungen zu wuchern, und ſende ihm ſein Papier zuruͤck, um mich von einer Sache zu befreien, die mich nicht weniger druͤcke als ent¬ ehre; zu gleicher Zeit bekannt ich mich als ſeinen Schuldner fuͤr die fuͤnfzig empfangenen Louisd’or, und bedauert es recht ſehr, ſie nicht gleich zuruͤckgeben zu koͤnnen. Heiſch, an welchen ich dieſen Brief ſandte, mußte die Obligation beifuͤgen, und alles an die Behoͤrde befoͤrdern!

Erichſen merkte, was geſchehen war, und ob er gleich nichts ſagte, ſo haben doch ſpaͤtere Aeußerungen mir bewieſen, daß die Hintanſetzung ſeines Raths ihn nicht wenig gekraͤnkt hatte.

Es zeigte ſich endlich ein guͤnſtiger, wiewohl ſehr ſchwacher Wind, und wir ſchifften uns ein des Abends um 10 Uhr.

Es war eine truͤbe, halbhelle, ziemlich rauhe Novembernacht; die Rilliet befuͤrchtete ſehr, krank zu werden, und ich bewog ſie daher, auf dem Verdecke zu bleiben, weil man ſich da gewoͤhnlich beſſer befindet. Sie ſetzte ſich wohl eingehuͤllt auf eine Art von niedrigem Stuhl. Ich gab ihr hernach noch meinen Oberrock und meinen Mantel. Ich ſetzte mich ſelbſt hinter ſie auf einen erhoͤhten Theil des Schiffes, und ſie mußte Schultern und Kopf auf meine Knie legen, um das Schwanken des Schiffes weniger zu fuͤhlen. Sie lag auf meinem Schoß wie eine aͤgyptiſche Mumie,4 *52und ich bot alle Kraͤfte meiner Seele auf, um durch eine inter¬ eſſante Unterhaltung ſie von der Idee der Gefahr abzuwenden. Mitunter kam Schneegeſtoͤber; der Schaum der uͤbereinander¬ ſtuͤrzenden Wellen phosphoreszirte. Herr Rilliet lag in der Kajuͤte und war krank. Erichſen, gleich einem alten Seehelden, ſaß mitten auf dem Verdeck bei einer Lampe, ſchnitt Roaſtbeef vor, und theilte Portwein aus. Es war eine der ſchoͤnſten Naͤchte meines Lebens, wiewohl vor Froſt meine Kniee zitterten und meine Zaͤhne klappten!

Erichſen fand ſehr ſonderbar fuͤr einen Doktor, in einer kalten Novembernacht, mit bloßem Rock und ohne Unterweſte, ſich ſo preiszugeben. Die Rilliet wollte durchaus, daß ich meine Bedeckungen wiedernaͤhme, und ſie in die Kajuͤte gehn ließe. Ich demonſtrirt aber aus Leibeskraͤften, daß mir wohl ſei; daß ſie dann in der Kajuͤte unfehlbar krank werden wuͤrde, und daß die Kaͤlte allein noch Niemand geſchadet habe. Erichſen fuͤtterte mich und traͤnkte mich, und es gelang mir, das zarte Geſchoͤpf¬ chen vollkommen wohl nach Calais zu bringen, woran ihre Be¬ ſorgniſſe fuͤr mich keinen geringen Antheil hatten.

Kaum angekommen, erhob ſich ein fuͤrchterlicher Sturm, und wir freuten uns nicht wenig, in Sicherheit zu ſein.

Wir hatten nicht mit dem großen Schiffe bis Calais kommen koͤnnen, weil Ebbe war, und der Anblick entzuͤckt uns, wie wir, in einer kleinen Barke davon fliegend, das Packetboot ſchwebend auf der Fluth zuruͤckließen. Nach und nach kamen wir bis Rouen, wo die Rilliets blieben, und Erichſen und ich ſetzten die Reiſe fort bis Paris.

Wir beſahen da vieles und verlebten waͤhrend drei Wochen manche intereſſante Augenblicke, aber die alte Harmonie kam nicht wieder. Wir entfernten uns vielmehr immer weiter von ein¬ ander, und dazu trug die Verſchiedenheit unſrer politiſchen Mei¬53 nungen und die fortdauernde Korreſpondenz zwiſchen mir und der Rilliet nicht wenig bei. Erichſen war wuͤthender Republikaner, und kannte nur wenig die geheime Geſchichte der Revolution und die Schlechtigkeit der Menſchen, welche anfingen, ſich derſelben zu bemaͤchtigen. Unſre Urtheile waren daher faſt immer ſich ent¬ gegengeſetzt, und das war um ſo trauriger, weil man beſtaͤndig uͤberall faſt nur politiſche Gegenſtaͤnde verhandelte. Sein Auf¬ enthalt zog ſich uͤberdies in die Laͤnge, wir mußten uns trennen; wir thaten es ohne Bitterkeit, aber das gegenſeitige Verhaͤltniß zwiſchen uns war ſo ſehr veraͤndert, daß ich unwillkuͤrlich ſagte, ich woll 'ihm hundert und fuͤnfzig Livres in Aſſignaten, unge¬ faͤhr drei Louisd'or in Gold, die er mir zur Reiſe gab, weil ich mit Geld nicht reichlich mich verſehen hatte, in London zuruͤck¬ geben. Er antwortete nichts hierauf, und ich reiſte fort.

Meinen Weg nahm ich, wiewohl es Erichſen ſonderbar fand, uͤber Rouen, wo ich einige koͤſtliche Tage zubrachte. Sehn Sie, ſagt 'eines Tages die Rilliet, welche nach und nach meine ganze Lage kennen gelernt hatte, ſehn Sie, dieſe Boͤrſe iſt im eigentlichen Sinne mein unbeſchraͤnktes Eigenthum; betrachten Sie dieſes als das Ihrige, denn wenigſtens bin ich's nicht un¬ werth, daß Sie von mir nehmen, und die Thraͤnen liefen ihr uͤber’s Geſicht. Ich druͤckt' einen gluͤhenden Kuß auf ihre Hand, die groͤßte Kuͤhnheit, welche ich mir jemals mit ihr erlaubte, entwand mich ſo gut ich konnt ', und verſprach, mich ihrer zu erinnern, wenn ich jemals in Verlegenheit kommen ſollte.

Ich ſchiffte mich zu Dieppe ein, landete nach ſechsunddreißig Stunden morgens fruͤh am 23. Januar in Brigthelmſtone, und kam noch am Abend deſſelben Tages nach London.

Ich richtete mich mit Heiſch wieder auf denſelben Fuß ein, wie in Paris, ſuchte Bekanntſchaften zu machen, beſuchte Ho¬54 ſpitaͤler, legte mich ganz auf's Engliſche, ſtudirte die Geſchichte, die politiſchen Verhaͤltniſſe, die Sitten des Landes, und brachte ſo vier Monate, ich darf ſagen, fleißig zu. Ich darf von Eng¬ land nicht anfangen zu reden, ſonſt wuͤrde dieſer Brief, welcher ſo ſchon zu einer ungeheuren Groͤße anſchwillt, vollends ein Buch. Es iſt mit Einem Worte das Land der Freiheit, der geſunden Vernunft, der Maͤnnlichkeit, der Großmuth und Behaglichkeit. Das Gouvernement verflicht ſich uͤberall in die Sitten und in den Karakter der Voͤlker, und ohne zu wiſſen, daß man uͤber die Graͤnze gekommen iſt, darf man zuweilen nur einen Bauern, ein Dorf anſehn, um ſich zu uͤberzeugen, daß man auf dem Gebiet eines andern Landesherrn iſt. Nirgends iſt dies auffallender, als wie in England. Ordnungsſinn, Reſpekt fuͤr's Ganze, Halten auf Regel, Beſcheidenheit, Feſtigkeit, Formgang, Ruhe, Ehr¬ furcht fuͤr die Sitte der Vorvaͤter, Nationalſtolz, laſſen ſich beinahe in jedem Einzelnen vernehmen. Es giebt in England Mißbraͤuche, ſo gut wie anderswo, und wer ſich Muͤhe geben will, der kann davon ein wahres und haͤßliches Gemaͤlde zuſam¬ menbringen. Aber das verſteckte wenige Haͤßliche muß aufgeſucht werden, das vorwiegende, uͤberall verbreitete Schoͤn 'und Gute bietet ſich entgegen! Sie koͤnnen denken, liebe Freundin, daß, von den Vorzuͤgen Englands innig durchdrungen ſein und der Wunſch dort ſich anzubauen, fuͤr einen jungen Mann in meiner Lage nicht lange zwei geſonderte Dinge ſein konnten; nur wie dieſer Wunſch auszufuͤhren ſei? Das war die große Frage! Ich hatte wieder angefangen unter guten Bekannten zu prak¬ tiziren, und hatte ſogar einige gluͤckliche Kuren gemacht, die aber geheim gehalten wurden, um aͤltere, umſonſt ſich bemuͤht habende Hausaͤrzte nicht zu beleidigen. Aber theils begriff ich, daß ein großes Kapital dazu erfordert wuͤrd', um es auszu¬ halten bis zum entfernten Zeitpunkt, wo nach und nach er¬55 wordene große Bekanntſchaft, Ruf und Gluͤck mir eine hinlaͤng¬ liche Praxis verſchafft haben wuͤrden, um davon anſtaͤndig leben zu koͤnnen; theils war die Liebe zu meinem Fach, durch naͤhere Bekanntſchaft damit, ſchon ſeit geraumer Zeit betraͤchtlich er¬ kaltet. Die Arzneikunſt hat wirklich keine feſten Prinzipien, und kann keine haben und keine erhalten, weil wir wohl die groben Theile unſers Koͤrpers, aber nicht die feinere Struktur deſſelben kennen, nicht die innern bewegenden Kraͤfte, nicht die Art und Weiſe, wie die Zerruͤttungen in ihnen entſtehen, weil wir eben ſo wenig die innere Natur der Heilmittel und ihrer naͤchſten Wirkungen erforſchen koͤnnen, und weil es nicht moͤglich iſt, in der Medizin reine Erfahrungen zu machen, indem die[ungeheure] Menge der nicht in Anſchlag zu bringenden mitwir¬ kenden Umſtaͤnde und Zufaͤlle die vorſichtigſten Schluͤſſe der beſten Logik ſchwankend und unzuverlaͤſſig macht. Die Erfahrung be¬ weiſet dies Raiſonnement! Glauben Sie mir auf mein Wort, liebe Frau Baſe, in demſelben Falle, wo man in Deutſchland purgirt, laͤßt man zu Ader in Frankreich und gibt Opium und China in England. Letzteres in Deutſchland thun, hieße toͤdten, und dort werden die Leute geſund davon, und wuͤrden es hoͤchſt wahrſcheinlich noch beſſer, wenn ſie gar nichts naͤhmen. So viele geſcheidte, weiſe Leute haben ſeit zweitauſend Jahren ge¬ dacht, geforſcht und geſchrieben, und dennoch lacht noch immer der von heute uͤber den von geſtern, und nicht einmal uͤber die Behandlung eines einfachen Fiebers iſt man in’s Reine! Um in der Laufbahn eines praktiſchen Arztes gluͤcklich zu ſein, muß man entweder keinen Verſtand haben, oder ſeinen Verſtand gefangen nehmen, und glaͤubig werden an Ein Syſtem, oder roh genug ſein, um vom Vorurtheil der Leute Nutzen ziehn, das Geld in den Beutel ſtreichen, und in’s Faͤuſtchen lachen zu koͤnnen.

56

Alle praktiſchen Aerzte befinden ſich entweder durch Kaͤrg¬ lichkeit der Natur, oder durch Gewohnheit und Nothwendigkeit, oder durch die Nichtswuͤrdigkeit ihres Karakters in einem der drei beſagten Faͤlle, und die wenigen edeln, welche nur ge¬ zwungen und vermoͤge der Ueberzeugung, daß es beſſer iſt, irgend ein ehrbares Handwerk, als gar keins zu treiben, auf der un¬ wiſſend gewaͤhlten Laufbahn fortgehn, geſtehn unter vier Augen mit Kummer ihre Bedraͤngniß. Von allen vier Klaſſen hab 'ich kennen gelernt!

Geſetzt aber auch, die obigen Bemerkungen waͤren nicht wahr, geſetzt, die praktiſche Arzneikunſt waͤr 'eine feſtgegruͤndete Wiſſenſchaft, ſo wuͤrde die Nuͤtzlichkeit derſelben dennoch nur gering ſein, indem die hitzigen Krankheiten ſich meiſtens von ſelbſt kuriren, und indem die langwierigen ihren Grund faſt immer in phyſiſchen, moraliſchen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſen haben, die abzuaͤndern außer der Gewalt des Arztes liegt!

Alle dieſe Vorwuͤrfe treffen indeß nur die innere Heilkunde vorzuͤglich; in der Wundarzneikunſt iſt mehr Gewiſſes, ihr Nutzen iſt mehr außer Zweifel; aber theils wuͤrde die Ausuͤbung der¬ ſelben immer empoͤrend fuͤr mein Gefuͤhl ſein, theils erfordert ſie eine lange Uebung, die ich nicht Gelegenheit gehabt habe mir zu verſchaffen.

Auch weiß ich wohl, daß trotz der Ungewißheit der Heil¬ kunde im Ganzen dennoch die Kurart von einigen wenigen Uebeln ziemlich ſicher iſt. Aber die Anzahl derſelben iſt ſo aͤußerſt gering, daß zuverlaͤſſig unter hundert verſchriebenen Rezepten keine acht ſind, deren Zweckmaͤßigkeit, bei einer gewiſſenhaften und voll¬ ſtaͤndigen Unterſuchung, beweisbar waͤre. Und wie gering, wie kuͤmmerlich iſt dieſe Genugthuung fuͤr ein ſo muͤhſames und trau¬ riges Leben, als das eines praktiſchen Arztes, wenn er ein fuͤh¬ lendes Herz hat!

57

Ich begreift endlich, daß die Aerzte in der Welt, wie ſie nun einmal beſchaffen ſind, nothwendig ſind, waͤr's auch nur wegen des einmal verbreiteten Glaubens an die Kunſt. Ein Arzt rettet ſchwerlich mehr Leiber, als ein Prediger Seelen, aber aus der gegenwaͤrtigen Ordnung der Dinge laſſen ſich Pre¬ diger ſo wenig als Aerzte verbannen.

Und dazu koͤmmt noch, daß ein weiſer Arzt ſchon darum Gutes thut, weil er das Boͤſe, das ein ſchlechter an ſeinem Platz thun wuͤrde, verhindert, und weil er unendlich viel Gelegenheit hat, als Menſchenfreund noch heilſam zu wirken, wo ſeine Kunſt ihn verlaͤßt.

Dieſe verſchiedenen Gruͤnde ſind hinreichend, um einen ge¬ ſcheidten Mann zu verhindern, nicht wider die Aerzte im Allge¬ meinen zu Felde zu ziehn, und um den zu beruhigen, welcher nun einmal das Ungluͤck hat, Arzt ſein zu muͤſſen; aber ſie ſind zu ſchwach, fuͤr mich wenigſtens, um nicht begierig ein andres Handwerk zu ergreifen, wenn es vernuͤnftigerweiſe geſchehn kann.

Ja, wenn man gleich ein Arzt mit gemachtem Ruf und alſo von Autoritaͤt ſein koͤnnte, aber das muͤhſelige Quaͤlen bis man dahin koͤmmt, das Wartenmuͤſſen auf Arbeit, die man ſich menſchenfreundlicherweiſe nicht einmal wuͤnſchen darf, der beſtaͤndige und ſo gefaͤhrliche Gegenſatz des eignen Vortheils und des Vortheils des Kranken, der ewige Kampf mit den mancherlei Vorurtheilen, die Nothwendigkeit, den Charlatan zu machen! Ich moͤchte beſoldeter, von der Polizei angeſetzter Geſundheits¬ rath ſein, aber ein praktiſcher Doktor, der zu den Kranken um's Brod laͤuft, deſſen Einnahme mit der Menge der Rezepte im Verhaͤltniß ſteht, und der um dieſer ſchaͤndlichen Sklaverei willen faſt niemals ſagen und thun darf, was er moͤcht 'und ſollte! Die Praxis oͤffnet auch kein beſtimmtes, regelmaͤßiges Feld der Thaͤtigkeit, vorzuͤglich im Anfange nicht, und dies iſt vorzuͤglich58 fuͤr mich etwas ſehr Nothwendiges. Bald giebt's etwas zu thun, bald wieder nichts; man muß immer warten auf Be¬ ſcheerung!

Manche dieſer Unannehmlichkeiten finden auch bei andern Faͤchern ſtatt, aber durchaus bei keinem haͤufen ſie ſich ſo zu¬ ſammen, als wie bei der praktiſchen Heilkunſt. Ich bin indeſſen nie aus dieſem Fache ganz herausgetreten, liebe Frau Baſe, ſondern habe das Erlernte behalten und zu vermehren geſucht; aber zugleich haben die obigen Betrachtungen, unterſtuͤtzt von meinen Meinungen und Wuͤnſchen, mich bewogen, alles Moͤgliche anzuwenden, um fuͤr die politiſche Karriere mich geſchickt zu machen. Ich habe geſucht in eins der Bureaus von Pitt oder Grenville zu kommen, und auf dieſen Zweck los arbeit 'ich noch!

Ich machte vom Januar an bis zu Ende Mai ziemlich viel, mehr oder weniger intereſſante Bekanntſchaften, aber im Ganzen lebt 'ich ſehr eingezogen und ſtill.

Sophia Hoffmann darf ich nicht uͤbergehn. Ich lernte ſie kennen durch eine Empfehlung, welche Heiſch an ihren Mann hatte; wir wurden beide, Heiſch und ich, ſehr bald im Hauſe derſelben wie Kinder. Sie iſt eins der ſeltnen Geſchoͤpfe, deren natuͤrlicher Liebenswuͤrdigkeit die Kunſt nichts wuͤrde hin¬ zuſetzen koͤnnen. Ohne ſchoͤn zu ſein, iſt ſie aͤußerſt intereſſant. Sie hat ein ſehr warmes Herz, und einen gewiſſen romantiſchen Schwung, der ihre Geſellſchaft aͤußerſt angenehm macht. Sie iſt uͤberdies ſehr lebhaft; mit einem Worte, ſie gleicht einem deutſchen Fraͤulein der guten alten Ritterzeit!

Ich hab 'ihr pflegemuͤtterliche Rechte uͤber mich eingeraͤumt, und ſie hat die Pflichten, welche daraus entſprangen, mit einer Guͤte, mit einer Sorgfalt, mit einer Aufopferung erfuͤllt, welche59 ein mehr foͤrmliches Denkmal von mir verlangen wuͤrden, waͤren dies weniger fluͤchtige Zeilen.

Erſt im Mai kam Erichſen aus Frankreich wieder. Er ließ mich ſeine Ankunft wiſſen. Mein Herz pochte, denn ich hatt ihn lieb. Ich ging nicht, ſondern ich flog zu ihm. Er empfing mich freundlich, aber mit Herablaſſung, welches meine Stim¬ mung ſo blitzſchnell veraͤnderte, daß ich mich vor’s Kaminfeuer ſtellte und von Muͤdigkeit ſprach. Er hatte wirklich ein Feuer, weil der Morgen ſehr kalt war.

Es fehlte Erichſen, um ein ganz liebenswuͤrdiger oder we¬ nigſtens mein Mann zu ſein, eine gewiſſe edle Erhebung der Seele. Mein Blick beim Hereintritt, mein Gluͤhn der Freude haͤtt ihn entwaffnen ſollen, ſelbſt im Fall eines begangnen Ver¬ brechens, aber er behauptete ſich, und mein Zuruͤckfahren wie Jemandes, der ſich verbrannt hat, haͤtte ſeine Rache ſein koͤnnen, waͤr anders ſein Betragen Kunſt und nicht Temperamentsfolge geweſen.

Ich ſah ihn waͤhrend ſeiner fuͤnftaͤgigen Anweſenheit in London noch einigemal, aber nur fluͤchtig. Ich wagte nicht im eigentlichen Sinne von den drei Louisd’or zu ſprechen, die er mir Reiſegeld gegeben hatte; er ſchrieb mir ein halb ſatiriſches Billet und forderte ſie. Ich ſandte ſie ihm auf der Stell, und ſah ihn ſeitdem nicht wieder. Dieſe Art Demuͤthigung war ſeine wirkliche Rache.

Er ſchiffte ſich noch denſelben Tag ein und fuhr nach Ko¬ penhagen wo ihn ſeine Frau ſehnlichſt erwartete, und in einem eignen, fuͤr fuͤnftauſend Guineen gekauften Schiffe.

Es hat mir oft leid gethan, mit ihm zerfallen zu ſein. Ich habe verſchiedenemal an ihn ſchreiben wollen; nicht ſein Forderungsbillet, aber ſeine Mienen beim erſten Wiederſehn haben mich immer davon abgehalten.

60

Waͤhrend dieſer ganzen Zeit hoͤrt 'ich durchaus nichts von Narbonne. An die Staël hatte ich gleich nach Zuruͤckgabe der Obligation von Rouen aus ſie war damals in Genf ge¬ ſchrieben und ihr alles aufrichtig erzaͤhlt. Mit der Rilliet blieb ich im Briefwechſel, ſo lange bis die Aufhebung aller Verbindung zwiſchen Frankreich und England die Fortſetzung deſſelben un¬ moͤglich machte.

In den erſten Tagen des Juni kam die Staël nach London. Sie ſchrieb mir ein freundſchaftliches Billet, worin ſie mich nur bat, ſie zu beſuchen.

Ich ging. Sie war mit Narbonne. Willkommen, will¬ kommen, mein lieber Bollmann, rief die Staël. Sie ſind ein boͤſer Mann, ſagte Narbonne, Sie haben mir einen kleinen Streich geſpielt; Sie ſchrieben mir, Sie gingen nach Frankreich, und ſind hier. Er wußte ſehr wohl mein Gehn und Wieder¬ kommen. Dies war alſo eine von den franzoͤſiſchen nichtsſagenden Reden, worauf ich nichts erwiederte.

Wir muͤſſen allein zuſammen ſprechen, ſagte die Staël, und ſomit nahm ſie mich beim Arm und fuͤhrte mich die Treppe hinunter zu ihrem Wagen, denn ſie war gerad im Begriff, einen nothwendigen Beſuch abzulegen. Als wir eben einſteigen wollten, kam der genfer Geſandte, um ihr aufzuwarten; ſie gab ihm gleichfalls Audienz in dem Wagen. Angekommen, wo ſie hin¬ wollte, ging der Geſandte fort; die Staël ſtieg aus, bat mich, im Wagen zu warten, und ließ mich ſo eine halbe Stunde allein. Als ſie wiederkam, brachte ſie die Freundin mit, welche ſie beſucht hatte, um ſie anderswo niederzuſetzen, dann fuhren wir nach Hauſe.

Sie war im Morgenhabit, und als wir auf ihre Stube kamen, rief ſie ihr Maͤdchen, um ſich entkleiden zu laſſen nun endlich61 waren wir allein, denn in den franzoͤſiſchen Sitten ſind die Do¬ meſtiken ſo gut wie Niemand. Ich ſtand an der einen Ecke des Kamins, ſchwarz angezogen von Kopf bis zu Fuß, gar herr¬ lich gepudert, und meinen Hut in der Hand haltend; ſie an der andern im Unterroͤckchen und bloßen Hemde, ein[Stuͤckchen] Pa¬ pier zwiſchen den Fingern rollend, ohne welches ſie nie ſein kann. Sie ſteht damit auf, und geht damit zu Bette. Unter dieſen Umſtaͤnden fing ſie an, Narbonne's Vertheidigung und Lobrede zu machen, mit einer ſeltnen Waͤrm 'und einer außerordentlichen Fluth von Worten. Ich wußte dem allem nichts entgegenzu¬ ſetzen, als: die Obligation habe mich gedruͤckt, ich wiſſe nicht warum, ich habe ſie zuruͤckgegeben, nicht um Jemand zu kraͤnken, ſondern um von einer Laſt mich zu befreien. Sie ſind empfind¬ lich wie Jean Jaques Rouſſeau, ſagte ſie, und damit war unſre Unterhaltung fuͤr diesmal zu Ende. Beim zweiten Beſuch war ſie vertraulich, ſie erzaͤhlte mir manches aus der Geſchichte ihres Lebens, ſprach vorzuͤglich viel von ihrer ungluͤcklichen Verheira¬ thung, von ihren dermaligen Verhaͤltniſſen mit Monſieur de Staël, und beklagte vorzuͤglich das Schickſal der Großen, die, mehr Sklaven wie Jemand, mannichfaltigem Druck unterworfen waͤren, woraus vielerlei Uebel entſpraͤngen. Sie ſagte, Narbonne ſei ihre erſte, ihre einzige Liebe; er hab' umſonſt um ſie geworben als Maͤdchen; er ſei ihr Mann, u. ſ. w.

Beim drittenmal, wo Narbonne zugegen war, ſagte ſie: wir ſind alle gute Kinder, und muͤſſen nicht zuſammen kritteln. So war die Geſchichte wieder in Ordnung. Wir waren noch einige Tage zuſammen in London; hernach ging die Staël mit Narbonne auf's Land, wo ich ſie mehrmals beſucht habe. Sie unterließ nicht, mir ſcherzend ſehr ſanfte italieniſche Arien vor¬ zuſingen und vorzuſpielen, wir wurden nach und nach ganz freundſchaftlich, und alles Vergangene wurde vergeſſen.

62

Die Staël iſt ein Genie. Eine außerordentliche, excentriſche Frau in allem was ſie macht und thut. Sie ſchlaͤft nur wenige Stunden, und iſt die ganze uͤbrige Zeit hindurch in einer unun¬ terbrochenen fuͤrchterlichen Thaͤtigkeit. Ihre Reden ſind Abhand¬ lungen, oder eine zuſammengehaͤufte Maſſe von Laune und Witz. Sie kann nur nicht alltaͤgliche Leute um ſich leiden. Waͤhrend ſie friſirt wird, waͤhrend ſie fruͤhſtuͤckt, im Ganzen genom¬ men ein Drittel von jedem Tag bringt ſie mit Schreiben zu. Sie hat nicht Ruhe genug, um das Geſchriebene wieder vorzuneh¬ men, um auszubeſſern, um zu vollenden; aber ſelbſt die rohen Ausguͤſſe ihrer unablaͤſſig gedraͤngtvollen Seele ſind von dem aͤußerſten Intereſſe, und enthalten Bruchſtuͤcke voll des feinſten Scharfſinns und der lebendigſten Kraft. Sie hat mehrere Werke von ſehr ernſtem Inhalte fertig zum Druck liegen, und arbeitet immer noch fort. Ich habe manches von ihren Sachen geleſen, indem ſie's ſchrieb. Ihre Briefe uͤber Rouſſeau, herausgegeben, als ſie ſiebzehn Jahr alt war, ſind bekannt. Sie hat manche Fehler, aber auch manches, das bei Andern Fehler ſein wuͤrde, iſt bei ihr keiner. Sie erfordert ihren eignen Maßſtab.

Sie iſt ziemlich gut gewachſen, aber ihr Geſicht iſt nicht ſchoͤn. Sie iſt ein bischen kupferig und hat einen etwas aufge¬ worfenen Mund. Sie iſt nichts weniger als eitel. Sie hat durchaus nicht das Anſehen einer gelehrten Frau. Sie hat ein offenherzig freimuͤthiges, ganz ungezwungenes und durch einen gewiſſen Karakter von Biederkeit und Wahrheit ſehr fuͤr ſie ein¬ nehmendes Weſen. Sie thut ſich durchaus nichts auf ihr Wiſſen zu Gute, und ich habe ſie ſehr naiv ſagen hoͤren: Einem Manne gegenuͤber, der nur Geiſt hat, behaupt 'ich mich; einem gegen¬ uͤber, der nur unterrichtet iſt, auch; aber wer beides verbindet, laͤßt mich fuͤhlen, daß ich doch nur ein Weib bin!

63

Sie ſuchte mir nuͤtzlich zu ſein, und machte mir verſchiedene Bekanntſchaften. Unter andern die eines gewiſſen Herrn Lox, eines reichen Guͤterbeſitzers, eines Mannes voll Geiſt und Kennt¬ niß, welcher ſeiner ſchwaͤchlichen Geſundheit halber von allen oͤffentlichen Geſchaͤften entfernt, zwanzig engliſche Meilen von London auf einem Gute, das Norbury heißt, ſich ſelbſt und ſei¬ ner Familie lebt. Er iſt allgemein geſchaͤtzt,[und] hat zwei er¬ wachſene Soͤhn 'und zwei Toͤchter, wovon die juͤngſte Emilie heißt. Ich hatt' ihn hier anfuͤhren wollen, weil er in einer Fortſetzung dieſer Geſchichte wieder vorkommen duͤrfte.

Sie lehrte mich auch den beruͤhmten Grafen de Lally-To¬ lendal und eine gewiſſe Prinzeſſin von d'Hénin kennen. Beide aus Frankreich, aber die jetzt in England leben.

Ungefaͤhr nach ſechs Wochen verließ Madam de Staël Eng¬ land. Ich habe ſeitdem wieder einen Brief von ihr erhalten. Narbonne betrug ſich waͤhrend ihrer Anweſenheit und auch nach¬ her ſo aͤußerſt freundſchaftlich, daß wir vollkommen gut zuſam¬ men geworden ſind. Ich habe ſogar in einer kleinen Verlegenheit einmal Geld von ihm gefordert, welches ihn entzuͤckt hat. Er iſt nicht boͤs, aber ſo aͤußerſt leichtſinnig, daß er ſeine Staël ſelbſt vergeſſen koͤnnte. Ueberdies gewohnt, viel Einfluß zu ha¬ ben, großmuͤthig, verſchwenderiſch zu ſein, und alles zu koͤnnen, war ihm nicht ganz wohl in England, wo er nichts konnte, und er hatte mir zu mancherlei verſprochen, um mich nicht zu meiden. Ich hatt 'ihn uͤberdies gleich anfangs in Verlegenheit geſetzt, indem er mir nicht genugzuthun wußte. Auch konnt' er mir nicht genugthun, denn ich wollte Herzlichkeit, und das iſt gerade das Einzige, was er nicht hat.

Tolendal und d'Hénin fingen an, ſich fuͤr mich zu intereſ¬ ſiren. Die letztere, eine Dame von vierzig Jahren, eine nahe Verwandte und vertraute Freundin von Lafayette, iſt was man64 geradezu eine ſehr gute Frau zu nennen pflegt. Sie hat nie den Ruf der ſtrengſten Sittlichkeit verloren. Sie meint es redlich mit jedermann und vorzuͤglich mit ihren Freunden. Sie wuͤrde noch vollkommner in dieſem Karakter ſein, und vorzuͤglich davon die ſchoͤne Außenſeite mehr tragen, wenn ſie keine Franzoͤſin waͤre.

Tolendal iſt von Allen, die ich aus Frankreich habe kennen gelernt, der Mann, welchen ich am meiſten ſchaͤtz 'und liebe. Er iſt ein Tugendfreund, ein redlicher, gefuͤhlvoller, mit Einem Wort', ein herziger und wackrer Mann. Er iſt ein ſy¬ ſtematiſcher Denker, ein fleißiger Arbeiter, ein warmer Patriot; er hat Beharrlichkeit in ſeinen Unternehmungen, und bleibt ſei¬ nen Ueberzeugungen treu! Von ſeiner Geſchichte kann ich hier nicht weitlaͤufig reden.

Er ſpielt 'eine glaͤnzende Rolle im Anfange der franzoͤſiſchen Revolution. Er war Eines Sinnes mit Clermont-Tonnere, Mounier und noch einigen Andern. Seine Mémoires à mes Commettans und ſeine Schutzſchrift fuͤr den ungluͤcklichen Lud¬ wig den Sechzehnten, die beſte von allen, welche erſchienen ſind, kennt man uͤberall.

Meine Verbindungen mit dieſen zwei Leuten ſind ſehr enge geworden, und es iſt in ihren Angelegenheiten, oder wenigſtens durch ihre Beſtrebungen fuͤr einen Dritten ſchon genannten Un¬ gluͤcklichen, fuͤr Lafayette, daß ich gegenwaͤrtig in Deutſchland bin. Tolendal hat eine Abhandlung gemacht, welche die Unſchuld des ſchaͤndlich Gefangengenommenen und ungerecht Gefangenge¬ haltenen auf die ſchoͤnſte Art an den Tag legt, und welcher eigen¬ haͤndige Briefe, zwiſchen ihm und dem Koͤnig in den erſten Tagen des Auguſt 1792 gewechſelt, als Belege beigefuͤgt ſind. Ich ſoll dieſe Abhandlung auf eine geſchickte Art an ihre Behoͤrde, an den Koͤnig von Preußen befoͤrdern, ſoll ſie bei den Miniſtern65 perſoͤnlich unterſtuͤtzen, ſoll Einwuͤrfen begegnen, ſoll die Sache in Bewegung ſetzen, mich nach allen Umſtaͤnden erkundigen, und ſo weiter.

Man giebt mir die Reiſekoſten, aber ich weiß nichts von einer andern Belohnung. Ich mußte zuerſt zu Prinz Heinrich gehn in Rheinsberg, dem Bruder des vorigen Koͤnigs. Ich habe bei ihm zehn Tage zugebracht, die ich unter die ſchoͤnſten meines Lebens rechne, aber das Ausfuͤhrliche davon, ſo wie von allem, was ſeit dem 1. Auguſt vorgefallen iſt, muß ich bis auf ein andermal verſchieben! Ich habe große Wahrſcheinlichkeit, den Zweck meiner Sendung zu erreichen. Eingezogene Nachrichten, die Lage der politiſchen Verhaͤltniſſe, der Umſtand, daß manche Leidenſchaften erkaltet, und manche Perſonen, die naͤchſten Werk¬ zeuge des ungluͤcklichen Schickſals des Gefangenen, außer Kredit gekommen ſind, laſſen es vermuthen.

Tolendal iſt naher Verwandter von dem Lardkanzler, La¬ fayette hat viele Freunde in England, und die Staaten von Nordamerika rechnen ihn als einen ihrer Erretter; Pitt und Grenville wiſſen um die Sache, und ich erwarte von dieſen durch Tolendal Briefe, um das Unternehmen zu unterſtuͤtzen. Dies Unternehmen ſelbſt iſt gerecht und edel. Die Geſchichte mit Nar¬ bonne hat mir keinen uͤbeln Kredit verſchafft, und ich ſuche durch mein gegenwaͤrtiges Geſchaͤft den Ruf der Brauchbarkeit und die Aufmerkſamkeit der Leute mir zu verſchaffen, die mir nuͤtzlich ſein koͤnnen, hierauf gruͤnden ſich meine Ausſichten und Hoff¬ nungen!

Ich erwarte die Zuruͤckkunft des Koͤnigs von Preußen aus Polen, werd aber uͤbermorgen ſchon nach Berlin abgehn.

Da haben Sie, liebe Freundin, im Kurzen meine ganze Geſchichte vom Januar 1792 an bis jetzt. Ich habe drei Tage daran geſchrieben und ohne Ermuͤdung, weil ich mir dacht,566Ihnen damit eine Freude zu machen, nicht ſo wohl durch die Sachen, manches, welches nicht angenehm und ſchoͤn iſt, wie manche Umſtaͤndlichkeiten im Betragen der Staël, hab 'ich nur angefuͤhrt, um Sie mit den Perſonen bekannter zu machen, als durch die Genugthuung, welche entſteht, wenn man umſtaͤnd¬ lich von Jemand hoͤrt, dem man gut iſt. Manches haͤtte beſſer geſagt ſein koͤnnen, und ich finde beim Wiederdurchleſen, daß hie und da franzoͤſiſche Wendungen in meinen Brief gekommen ſind, halten Sie eins und das andere mir zu gut, denn ich habe nicht Zeit zum Wiederabſchreiben und Verbeſſern. Vieles Ueber¬ gangene und viele unterdruͤckte Ausfuͤhrungen wuͤrden das Ganze intereſſanter gemacht haben, aber ich bin gezwungen geweſen, mich moͤglichſt kurz zu faſſen, und habe nur ſagen wollen, was mir das Nothwendigſte ſchien, um Sie wieder mit mir bekannt zu machen, und um Sie in den Stand zu ſetzen, mich ſelbſt und meine gegenwaͤrtige Lage zu beurtheilen.

Ich weiß, daß ich uͤber vieles Tadel verdiene, aber ich hoffe, Sie werden nicht zweifeln, daß ich wenigſtens nicht noch gut, brav, und unverdorben ſei. Ich liebe das Schoͤn 'und Gute noch eben ſo warm als jemals, und ſuch' es mir taͤglich mehr zu eigen zu machen. Ich bemuͤhe mich, aus meinen Fehlern zu lernen, und glaube gewonnen zu haben als Menſch und Mann; ob ich nicht zunaͤchſt fuͤr den kuͤnftigen Staatsbuͤrger meine Zeit haͤtte beſſer anwenden koͤnnen, weiß ich nicht! Ich erwarte nun ſehnlichſt einen recht langen Brief von Ihnen; aber ſchreiben Sie ja recht freundſchaftlich, ſonſt komm 'ich ſelbſt, und wie boͤſe Sie dann auch ſein moͤgen, Sie ſollen mich nicht ſehn, ohne mich wieder zu lieben.

Vorzuͤglich inſtaͤndig bitt 'ich um den Rath des lieben Herrn Vetters. Der Weg, den ich vor mir habe, ſcheint mir ſchoͤn zu ſein. Die Weite des Wirkungskreiſes, wozu er fuͤhren koͤnnte;67 die Unabſehbarkeit ſeines Endes; die beſtimmte und große Thaͤtig¬ keit, die er mir verſpricht, ſobald ich nur einmal feſten Fuß darauf gefaßt habe; die Gelegenheit, alle meine Kraͤfte zu uͤben und mich ſelbſt immer mehr zu bereichern; die Freude, mich einem großen und edeln Volke einzuverleiben; die Genugthuung, mir ſelbſt eine kuͤhne Bahn gebrochen zu haben; die Ueberzeugung, meinen Freunden und meinen Bruͤdern, die ich innig liebe, kuͤnf¬ tig aͤußerſt nuͤtzlich ſein zu koͤnnen, und wozu mein bloßer Auf¬ enthalt in London mir ſchon manche kleine Gelegenheit gegeben hat, wovon ich gern erzaͤhlte; das Angenehme endlich einer mir bald zu verſchaffenden regelmaͤßigen, wenn ſchon kleinen Einnahme, dies ſind die Reize, welche mich locken! Zweifel und Beſorg¬ niſſe heben ſich aber auch mitunter, und ich weiß ſehr wohl, was ich auf das Obige einem Freund' antworten wuͤrde, welchen ich das Intereſſe haͤtte von der beſagten Laufbahn abzuziehen. Vieles macht mich kuͤhn wieder. Das Sonderbare meines bis¬ herigen Schickſals ſelbſt, und die Umſtaͤnde, ſcheinen mich zu ermuntern. Faſt noch kein Plan, kein Unternehmen iſt mir bis¬ her mißlungen!

Der Gruͤnd 'und Gegengruͤnde ſind ſo viel, daß ich entweder durch einen Machtſpruch der Unterſuchung ein Ende machen, oder mich ganz der Entſcheidung eines Dritten uͤberlaſſen muß. Der Beifall und die Aufmunterung eines guten, mich liebenden, einſichtsvollen Mannes, wie des Herrn Vetters, wuͤrde mir dop¬ pelte Kraft und doppelte Feſtigkeit geben! Ich habe Staͤrke genug, um ruhig bei einem Unternehmen zu Grunde zu gehn, ſobald ich nur uͤberzeugt bin, vernuͤnftig gewollt zu haben; aber darauf koͤmmt's an!

Zuruͤck kann ich noch! ich kann nach geendigtem Geſchaͤfte und nach einer kurzen Anweſenheit in England, wo ich wieder hin muß, nach Bremen gehn, um dort zu praktiziren! Wollen5 *68Sie mich nach Bremen zur Ruhe verweiſen, lieber Herr Vetter? gefolgt wuͤrden Sie vermuthlich Sie ſehn, daß ich ehrlich bin, aber zuverlaͤſſig koſtete mich dieſer Entſchluß eine ſehr bittre halbe Stunde!

Ich wiederhole noch Einmal, daß ich Briefen aus Karlsruhe mit vieler Sehnſucht entgegenſehe.

Ich bitt ausdruͤcklich, in Ihren Briefen keine Perſonen zu nennen, und von der Angelegenheit, welche mich gegenwaͤrtig beſchaͤftigt, nur fuͤr mich verſtaͤndlich zu reden; auch Nie¬ mand vor der Hand muͤndlich etwas davon anzuvertrauen, von deſſen Diskretion Sie nicht auf’s vollkommenſte uͤberzeugt ſind. Viele Gruͤnde machen dieſe Bitte von Wichtigkeit!

Ich wuͤnſche ferner, daß Sie mir Empfang dieſes Briefes ſo ſchnell wie moͤglich, waͤr’s auch nur mit zwei Worten, be¬ ſcheinigen moͤchten, weil ich bis dahin uͤber die richtige Ueber¬ kunft deſſelben etwas in Sorgen ſein werde.

Mein guter Vater, welcher mich ſehr, ſehr liebt, und welcher mein Thun und Laſſen ganz mir ſelbſt uͤbergeben hat, wird in dieſen Tagen an Sie ſchreiben. Seine Antwort iſt dadurch ver¬ zoͤgert worden, daß er nicht wußte, was von mir ſagen? ich hab ihn gebeten, ſich nur auf dieſen meinen Brief zu berufen. Haben Sie die Guͤte, ihm nichts zu ſchreiben, was ihn meinetwegen beſorgt machen koͤnnte. Er iſt von meiner gegenwaͤrtigen Reiſe und von der Urſache derſelben, ſo wie von allem, was mir bisher begegnet iſt, unterrichtet.

Schreiben Sie mir auch vor allen Dingen recht umſtaͤndlich, wie’s Ihnen geht und was die Kleinen, was die Offenbacher machen, u. ſ. w., damit auch Sie und was Ihnen angehoͤrt mir nicht fremd werden moͤge.

Leben Sie, meine liebe, unvergeßliche Freundin und Pflege¬ mutter, herzlich, herzlich wohl, und gruͤßen Sie all die guten69 Leute von mir, welche ſich noch freundſchaftlich meiner er¬ innern! I. E. Bollmann.

N. S. Ihren Antworten ſeh 'ich entgegen unter Couvert der Herren Fetſchow und Jury in Berlin!

Haben Sie die Guͤte, dieſen Brief aufzuheben, weil der Fall kommen koͤnnte, daß ich bei der einen oder andern Gelegenheit, wenigſtens auf eine kurze Zeit, daruͤber verfuͤgen zu koͤnnen wuͤnſchen wuͤrde.

7.

Ich bin, liebe Freundin, wieder auf meiner Ruͤckreiſe nach England begriffen. Morgen gehe ich von Helvontſluis und dann von da nach Harwich. Weil es mit dem Waſſer allemal etwas mißlich iſt, ſo will ich lieber zuvor noch fuͤr Ihren guͤtigen, lieben, herzlichen Brief vom 31. October Ihnen danken. Giebt's dann ein Ungluͤck nun wohl! ſo werde ich doch dermaleinſt wenig¬ ſtens nicht mit Vorwuͤrfen empfangen!

Meine Bemuͤhungen ſind vergeblich geweſen, und haben es ſein muͤſſen aus dem ſimpeln Grunde, weil die gewoͤhnlichen Menſchen keinen Glauben an Tugend haben, ſondern jeden un¬ gefaͤhr fuͤr eben ſo ſchlecht halten, als ſich ſelbſt, und andere Leute, die in ihrer Gewalt ſind, deßwegen behandeln, wie ſie ſelbſt behandelt zu werden verdienten. Meine Reiſe iſt indeſſen meinen Committenten indirekt nuͤtzlich geworden. Ich ging von Berlin nach Hamburg, wo ich ſechs Wochen zugebracht habe. Am 11. reiſete ich von dort ab; ſah im Vorbeigehn meinen Schwager in Luͤneburg, meinen Vater in Hoya, meinen Vetter in Bremen, fuhr dann Tag und Nacht durch, kam am 17. nach Amſterdam, und bin nun hier. Ich bin in groͤßter Eile, um nach London zu kommen!

70

Die weitlaͤufige Geſchichte dieſer letzten vier Monate behalte ich Ihnen vor, und verſichere nur einſtweilen, daß ſie in ſehr vieler Ruͤckſicht Sie ſehr intereſſiren wird. Vorzuͤglich von Ham¬ burg habe ich Ihnen recht ſehr viel zu erzaͤhlen.

Ihr Brief ſowohl als der vom Herrn Vetter hat mir ſehr viele Freude gemacht. Der Ihrige hat mich in vielen Stellen geruͤhrt. Gute, liebe Freundin! Sein Sie feſt uͤberzeugt, daß meine innige, liebvolle Anhaͤnglichkeit durch nichts wird erſchuͤt¬ tert, wird lau gemacht werden koͤnnen. Sie haben Recht, wenn Sie ſagen, daß mein Herz weit ſei. Es kann viele Edle ſtark und dauerhaft umfaſſen.

Dem lieben Herrn Vetter danke ich herzlich fuͤr ſeinen großen ſchoͤnen Brief. Er iſt mir ſchon nuͤtzlich geweſen, und wird es noch oft in der Folge ſein koͤnnen! Es iſt nichts darin, was mir nicht Freude gemacht haͤtte, ausgenommen der Ausdruck, welcher eine kleine Bezweiflung der guten Aufnahme deſſen zu verrathen ſcheint, was er uͤber religioͤſe Dinge ſchrieb. Wie auch meine gegenwaͤrtigen Grundſaͤtze in dieſem Punkt beſchaffen ſein moͤchten, ſo ſtuͤtzen ſie ſich wenigſtens auf ehrliche Ueberzeu¬ gung, nicht auf Haͤngen an Mode. Wie abweichend ſie auch von denen mancher Anderen ſein moͤgen, ſo werden ſie mich doch nie verhindern, die Ueberzeugungen Anderer als ſolche zu reſpek¬ tiren. Der Herr Vetter haͤtte mir ſtatt des philiſophiſchen Brie¬ fes, den ich empfangen habe, kraß abſurde Sachen ſchreiben koͤnnen, und ſein Brief wuͤrde noch Gefuͤhle des Dankes erregt haben. Das innige Bewußtſein der wohlwollenden Abſicht haͤtte jeden hohnlaͤchelnden Gedanken ſchon in der Ferne erſtickt. Uebri¬ gens erlaubt meine Zeit mir gegenwaͤrtig nicht, ſeinen Brief weitlaͤufig und gruͤndlich, ſo wie ich’s gerne moͤchte, zu be¬ antworten. Einſtweilen meinen ehrlichen Dank, das andre kuͤnftig!

71

Leben Sie herzlich wohl! ich glaube ſtark, auf dem Wege zur zeitlichen Ruhe zu ſein! Mein naͤchſter Brief ſoll Sie hoffent¬ lich mit angenehmen Nachrichten uͤberraſchen! Ich bin ſehr eilig!

I. E. Bollmann.

N. S. Mein Bruder Ludwig iſt, durch meine Bemuͤhungen, vom Onkel weg, und zu einem Manne, einem ſehr anſehnlichen Kaufmann in London, gekommen, den ich genau kenne, den ich als vortrefflichen Menſchen und erfahrenen Geſchaͤftsmann hochſchaͤtze und liebe. Er bekoͤmmt hundert Pfund Sterling Gehalt.

8.

Ich habe den lieben Roſenfels hier gefunden! Sie erfahren alſo, daß ich hier bin das wird der Fortſetzung meines Romans um eine Ueberraſchung Schaden thun aber, nun dem ſo iſt, warum erfuͤhren Sie's nicht eben ſo gut auch durch mich ſelbſt?

Nicht viel diesmal! Nur blos, daß ich wohl bin und daß mir's gut geht! Freilich bleibt da noch immer viel zu wuͤnſchen, aber wer moͤchte auch ſchon am Ende ſein? Vor mir wird die Ausſicht immer ſchoͤner, weiter, heller; hinter mir der Ruͤckblick immer intereſſanter. Ich bin mit der Gegenwart zufrieden; mein Wirkungskreis wird groͤßer! Kleine Succeſſe ſpannen meine Thaͤtigkeit! Ich bin in den letzten Jahren ſehr viel reicher ge¬ worden an Leuten, die mich lieben, und habe keinen von denen, die mich ſchon vorher liebten, verloren. Der Fonds angenehmer, wohlthaͤtiger Ruͤckerinnerungen, den ich mir ſammle, iſt ſo groß, daß ich meine innerliche Unabhaͤngigkeit zunehmen fuͤhle, und uͤberzeugt bin, auch ungluͤcklich wenigſtens Jahre lang in der Vergangenheit Entſchaͤdigung und Freude finden zu koͤnnen!

72

Ich bin wieder auf Reiſen! Es iſt eine ſchoͤne Exiſtenz, liebe Freundin, ſo von Ort zu Ort zu den beſten, den denkend¬ ſten Menſchen ſich zu naͤhern! In dem weiten Gebiete der Wiſſen¬ ſchaften von Gegenſtand zu Gegenſtand mit ihnen fortzugehn; von dem, was jeder uͤber jeden dann das Beſte gedacht, gefuͤhlt oder gelernt hat, ſich gegenſeitig zu entbinden; in Lieblingsideen, in ſeltnen Geſichtspunkten, ſich einig zu begegnen; ſich anzu¬ ſchließen, liebzugewinnen, liebgewonnen zu werden, und ſo mit den Vortrefflichſten ſeines Zeitalters gleichſam eine unſichtbare Kirche zu ſtiften! Da haben Sie, was ich als Nebenſache treibe, von der Hauptſache in der kuͤnftigen Fortſetzung meines großen Briefes!

Wenn ich nur Allen ſo wohl machen koͤnnte, wie mir iſt! Wenn ich nur Sie recht wohl wuͤßte! Aber ich bin uͤber¬ zeugt, die ſanfte Freundin der Ruhe und des ſtillen Genuſſes wird in dieſen ſtuͤrmiſchen Zeiten manche bange Stunde haben! Aber nur getroſt, liebe Frau Baſe! nur nicht zu finſter ge¬ ſehn! Glauben Sie mir, wir leiden weit mehr von den Uebeln, die wir nie erfahren, als an denen, die uns wirklich befallen! Denken Sie nicht daran, was es wohl geben wuͤrde, wenn die boͤſen Nachbarn einmal nach Karlsruhe kaͤmen, ſondern daran, was Sie wohl empfinden wuͤrden, wenn unerwartet Ihr Pflege¬ ſohn einmal wieder vor Ihnen ſtaͤnde. Ich will nicht vorberei¬ ten, um Sie, wenn's koͤmmt, angenehm uͤberraſchen zu koͤnnen, und wollte, daß ich deſſen eben ſo gewiß waͤre, als ich gewiß bin, daß, wenn die andern kommen ſollten, ſie ſich artiger und gebuͤhrlicher auffuͤhren wuͤrden, als Sie wohl denken.

I. E. Bollmann.

73

III.

Wir haben Bollmann in ſeinen eignen Briefen bis nach Wien begleitet, muͤſſen aber nun fuͤr ihn die Er¬ zaͤhlung wieder aufnehmen, und den Zuſammenhang ſeiner Abſichten und Ereigniſſe durch einige fruͤhere Be¬ zuͤge erlaͤutern, ehe wir zu ſeinen ferneren Schickſalen uͤbergehen.

Die zu Gunſten Lafayette's eingeleitete Unterhand¬ lung war fehlgeſchlagen. Die von Lally-Tolendal ver¬ faßte Denkſchrift, welche die Ungerechtigkeit der Ver¬ haftung Lafayette's darſtellen ſollte, und alle Beweg¬ gruͤnde zu ſeiner Freilaſſung eindringlich vortrug, hatte dem Prinzen Heinrich von Preußen ungemein gefallen und deſſen lebhafteſte Theilnahme angeregt; er hatte ſeine eifrigſte Unterſtuͤtzung verſprochen. Wie in Rheins¬ berg war Bollmann auch in Berlin guͤnſtig angehoͤrt, und ihm von angeſehenen und einflußreichen Perſonen gute Hoffnung gemacht worden. Die herrſchende Stim¬ mung, welche ſogar in den hoͤchſten Kreiſen laut fuͤr die Sache Frankreichs und wider den Krieg zu ſprechen wagte, hatte hieran nicht minder Theil, als die bedeu¬ tenden Empfehlungen Pitt's und Grenville's, und der perſoͤnliche Eindruck ſelber, welchen der jugendliche Sach¬ walter machte. Koͤnig Friedrich Wilhelm der Zweite, an welchen die erwaͤhnte Denkſchrift gerichtet war, hatte wenigſtens von ihrem Inhalte denn ſie ſelbſt konnte nicht uͤbergeben werden Kenntniß genommen, und74 erklaͤrt, er wolle nicht, daß das Verhaßte dieſer Ge¬ fangenſchaft laͤnger auf ihm haften ſolle; auch ſonſt waren ſeine Aeußerungen im menſchenfreundlichſten Sinne der Sache guͤnſtig, wie auch der Sendung und Perſon Boll¬ mann's insbeſondere. Allein der Gefangene befand ſich nicht mehr in preußiſchem Gewahrſam, ſondern war in oͤſterreichiſchen ausgeliefert worden, weil man von dieſer Seite den Umſtand geltend gemacht hatte, daß Lafayette, bei ſeinem Heruͤberkommen aus Frankreich, zuerſt auf oͤſterreichiſche Vorpoſten geſtoßen, und von dieſen auf¬ genommen, dann aber nur zufaͤllig durch preußiſche Truppen weitergefuͤhrt worden ſei. Das Begehren er¬ ſchien begruͤndet, und wurde gewaͤhrt. Lafayette war jetzt oͤſterreichiſcher Staatsgefangener, und wurde zu Olmuͤtz in ſtrenger Haft gehalten. Auf ſein Schickſal konnte Preußen keine unmittelbare Einwirkung mehr haben; hoͤchſtens war eine diplomatiſche Verwendung zu verſuchen, deren Erfolg bei den in Wien herrſchen¬ den Geſinnungen ſehr zu bezweifeln ſchien, und obwohl es Perſonen gab, welche zu ſolchem Verſuche eifrig riethen, ſo fand die Ausfuͤhrung doch gerade bei den¬ jenigen Staatsmaͤnnern, welche dabei haͤtten amtlich auf¬ treten muͤſſen, zu große Bedenklichkeiten, und die Sache blieb auf ſich beruhen.

Doch hatte Bollmann genug erkannt, wie allgemein die Theilnahme fuͤr den Gefangenen auch in den Laͤn¬ dern und Kreiſen, die man ihm als feindlich geſinnt75 vorausſetzen mußte, verbreitet war, wie guͤnſtig und ſchmeichelhaft der Eifer fuͤr ihn uͤberall aufgenommen wurde, und wie geneigt auch die ſonſt unbiegſamſten Geſinnungen ſchienen, Alles ſchoͤn zu finden und gut zu heißen, was ſeine Befreiung foͤrdern konnte. Dies entzuͤndete Bollmann’s Hoffnungen auf’s neue, und er glaubte auf kuͤhneren Wegen erreichen zu koͤnnen, was er auf dem bisherigen glimpflichen verſagt ſehen mußte. Sein Entſchluß war ſchnell reif, ſein Plan ausgedacht.

Fuͤr die Beurtheilung der reizbaren und leidenſchaft¬ lichen Stimmung, welcher ſein Gemuͤth in dieſer Zeit hingegeben war, iſt es wohl bemerkenswerth, daß er waͤhrend dieſer bewegten Zuruͤſtungen, die ihn auch in Leipzig eine Weile feſthielten, daſelbſt ein verliebtes Abentheuer beſtand. Eine fluͤchtige Bekanntſchaft, in aller Lieblichkeit unbefangener Jugend ſich darbietend, war die erſte, welche den bisher ſtrengen jungen Mann zugleich mit ſinnlichen Lockungen umſtrickte. Zwanzig Jahre ſpaͤter, als er in Wien waͤhrend des Kongreſſes durch einen liebenswuͤrdigen Brief einer ihm bis dahin unbekannt gebliebenen Tochter an jene fruͤhere Zeit er¬ innert wurde, ſprach er noch mit dankbarer Innigkeit und lebhaften Schilderungen von der Anmuth des idyl¬ liſchen Begegniſſes, und wandte gern den Ausdruck ſeiner liebevollen Sorgfalt darauf zuruͤck. Waͤhrend des naͤchſt¬ folgenden Zeitraums aber hatte der Leichtſinnige dies Abentheuer bald vergeſſen, nachdem ihn ſein Geſchaͤft76 ſchnell wieder von Leipzig abgerufen und nach Hamburg gefuͤhrt hatte. Hier im Gegentheil verliebte er ſich neuerdings, und hegte ein zartes Gluͤck reinſter Zunei¬ gung im erfriſchten Herzen! Nichts aber vermochte ſeinen Eifer in dem gefaßten Vorſatze zu ſchwaͤchen, keine Neigung und Leidenſchaft ihn von der Ausuͤbung abzuziehen. Er verließ Hamburg ſobald es die Um¬ ſtaͤnde erforderten, widmete den Orten, wo er liebe Angehoͤrige mit treuem Sinn aufſuchte, nur die noͤthig¬ ſten Stunden, und eilte uͤber Rotterdam nach London, wo fuͤr ſeinen neuen Plan die ſchluͤßlichen Verabredun¬ gen zu nehmen waren.

Die Freunde Lafayette's waren hier in groͤßter Be¬ eiferung. Sie hatten auf wunderbar geheimen Wegen dringende Briefe des Gefangenen erhalten, der flehent¬ lich bat, fuͤr ihn zu wirken, ihn zu befreien. Aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika gingen die ſtaͤrk¬ ſten Aufforderungen ein, Alles fuͤr Lafayette zu wagen, dem die dortigen Buͤrger als dem Kaͤmpfer fuͤr ihre Freiheit ſich zur hoͤchſten Dankbarkeit verpflichtet hielten. Der amerikaniſche Geſandte in London betrieb die Sache mit Lebhaftigkeit, alle Huͤlfsmittel wurden berathen, vorbereitet, die Theilnehmer erboten ſich wetteifernd zu jedem Opfer, zu jeder Thaͤtigkeit. Jedoch erkannte man zuletzt nur Eine Auskunft uͤbrig, die einer gewalt¬ ſamen Befreiung; und kein Andrer vereinigte ſo alle Eigenſchaften zu dem verzweifelten Unternehmen, wie77 Bollmann. Er ſelbſt hatte den Gedanken ausgeſprochen, den vorlaͤufigen Plan hingeworfen, er ſchien der Einzige, dem die Ausfuͤhrung gelingen koͤnne. Er wurde auf¬ gefordert, die Sache zu wagen; der Ruhm des Gelin¬ gens mußte ihn uͤberſchwaͤnglich belohnen, in Deutſch¬ land, Frankreich und England erwarb er ſich die Zu¬ ſtimmung von Tauſenden, in den Vereinigten Staaten die unabweislichſten Anſpruͤche auf jede Dankbarkeit; im Falle des Mißlinges blieb ihm der Ruhm des kuͤhnen Wagniſſes, und in dem Anſehn und den Mitteln ſeiner Freunde noch manche Zuflucht und Rettung offen. Seine Begeiſterung fuͤr Lafayette brauchte nicht geſteigert zu werden, er ſah in ihm das ſchuldloſe Opfer der redlichen Denkart, den wahren Vermittler und Herſteller des Koͤnigthums und der Freiheit, den Feind aller Graͤuel und Zerruͤttungen, in welche die Revolution ausgeartet war. Dieſen Mann aus der Gefangenſchaft zu befreien, in welche, wie man behauptete, er wider alles Recht, mit Verletzung von Treu und Glauben, die man den Schutzbeduͤrftigen ſchuldig ſey, geworfen worden, ſollte keine unmoraliſche Handlung heißen; und wenn dabei eignes und fremdes Leben auf das Spiel geſetzt wurde, ſo ſollte dies nur als ein Fall gelten, wie er im Kriege ſich jeden Tag ereignet. Mit ſolchen Vorſtellungen ging Bollmann, den wir als einen Gegner revolutionairen Schwindels, als einen Freund geſetzlicher Ordnung ge¬ ſehen, der ſo fruͤh und beſonnen von den franzoͤſiſchen78 Bewegungen ſich abgewendet, in groͤßter Seelenruhe und heitrer Entſchloſſenheit einem Unternehmen entgegen, vor dem er, in nur wenig anders geſtelltem Verhaͤlt¬ niſſe, und bei minderer perſoͤnlichen Bezauberung, als vor einem Staatsverbrechen geſchaudert haͤtte!

Mit Empfehlungen und Wechſeln reichlich verſehen, reiſte Bollmann im Sommer des Jahres 1794 von London wieder nach dem Feſtlande. Die zuruͤckbleiben¬ den Vertrauten gelobten das tiefſte Schweigen; Lafayette’s Name wurde nicht mehr genannt, er ſollte moͤglichſt vergeſſen ſcheinen; man koͤnne nichts fuͤr ihn thun, hieß es, man muͤſſe den Frieden abwarten; ihm ſelbſt aber kamen zwei Worte zu, welche ihn benachrichtigten, ſein Retter ſei unterwegs.

Als naturforſchender und neugieriger Reiſender nahm Bollmann ſeinen Weg durch das noͤrdliche Deutſchland nach Schleſien, wo er ſich einige Zeit aufhielt, man¬ cherlei Ausfluͤge machte, und viele Bekanntſchaften an¬ knuͤpfte, darunter auch ſolche, die ihm fuͤr ſeinen Zweck wichtig werden konnten. Er gewann einige Freunde, auf deren Herz er rechnen konnte, denen er aber durch ſein Vertrauen nicht voreilig und unnuͤtz eine Laſt auf¬ legen wollte, und daher ſeine Abſichten noch verſchwieg. Er beſuchte Tarnowitz, an der polniſchen Graͤnze, und beſah die dortigen Bergwerke; dann begab er ſich uͤber Ratibor nach Olmuͤtz. Hier war er an einige Perſonen empfohlen, unter dieſen an einen Arzt, mit dem er79 durch wiſſenſchaftliche Anregungen ſogleich in lebhafte und bald auch trauliche Verbindung gerieth. Nach eini¬ gen Tagen, da von pſychologiſchen Erſcheinungen die Rede war, bemerkte Bollmann, als kaͤme dieſer Einfall ihm nur eben jetzt, hier muͤſſe ja der beruͤhmte Lafayette gefangen ſitzen. Man wiſſe den Namen nicht, wurde erwiedert, aber einige Franzoſen ſeien unter den Staats¬ gefangenen, die in dem ehemaligen Jeſuitercollegium ſtreng bewacht wuͤrden, und die Vermuthung, daß La¬ fayette unter ihnen ſei, habe viel fuͤr ſich; ſoviel ſei gewiß, daß einer derſelben ſehr niedergeſchlagen und in tiefe Traurigkeit verſunken ſei. Bollmann meinte, da duͤrfte der Verſuch, dem Gefangenen einige Schriftzuͤge in engliſcher Sprache vorzulegen, leicht Aufklaͤrung ver¬ ſchaffen; ſei es Lafayette, ſo wuͤrde der bloße Anblick von Worten in der ihm von Amerika her wohlbekann¬ ten Sprache ihn ploͤtzlich erheitern, und es muͤßte intereſſant ſein, die Wirkung eines ſolchen Eindrucks zu beobachten, wie ſtark dieſelbe ſei, welchen Vortheil ſie bringe, wie lange ſie daure. Nach einigen Bedenklich¬ keiten ſchien die Sache thunlich, es fand ſich eine Ver¬ mittelung, dem Gefangenen, der nur durch ſeine Num¬ mer bezeichnet und Niemand namentlich bekannt war, ein beſchriebenes Blatt zuzuſtellen. Bollmann ſchrieb auf der Stelle einige Worte nieder, und der Arzt, nachdem er ſie mit pruͤfendem Bedacht geleſen und ganz unverfaͤnglich befunden, verſprach ihre Beſorgung.

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Sie enthielten den Spruch eines engliſchen Dichters, worin der Leſer aufgefordert wurde, die Schwermuth zu fliehen; jedoch hatte Bollmann, als rede noch der Dichter fort, die Mahnung hinzugefuͤgt, dieſen Zuruf nicht kalt, ſondern mit der noͤthigen Waͤrme aufzuneh¬ men. Als Lafayette, denn die Nummer, unter der man ihn vermuthete, traf richtig zu, dieſes Blatt zu leſen bekam, verſtand er ſogleich den geheimen Sinn, ließ ſich aber nichts merken, ſondern that, als ob hiebei fuͤr ihn weiter kein Bezug ſei. Sobald er aber allein war, hielt er das Papier vorſichtig uͤber ſein Lam¬ penlicht, und durch die Waͤrme deſſelben traten neben den offenbaren die geheimen Schriftzuͤge hervor, in welchen Bollmann ihn von Allem unterrichtete, was ihm zu wiſſen noth war; er fand in unzweifelhaften Zeichen die Beglaubigung, daß er dem von ſeinen Freun¬ den Abgeſendeten unbedingt vertrauen koͤnne, er fand den Plan zu ſeiner Befreiung hinreichend angedeutet, und beſchloß, ohne Zoͤgern ſich dieſer Leitung hinzu¬ geben. Er gab ſtatt des empfangenen Zettels eine Zeile Antwort zuruͤck, die gleichfalls in einem Spruche, doch nur ganz allgemein, eine feſte Bejahung ausdruͤckte. Bollmann ſah, daß er verſtanden worden; er freute ſich gegen den Arzt des gelungenen pſychologiſchen Ver¬ ſuchs, und ließ die Sache vorlaͤufig ruhen. Nach ein paar Tagen aber kam er darauf zuruͤck, und wuͤnſchte einen zweiten Zettel auf gleiche Weiſe zu befoͤrdern. 81Wir wiſſen nicht, ob auch dieſesmal die Mittelsperſon arglos geblieben, oder in ſtillſchweigendem Einverſtaͤnd¬ niß, vielleicht auch nur aus der unvermeidlichen Fol¬ gerung gehandelt, die ſich durch die erſte Gefaͤlligkeit fuͤr die zweite zu ergeben ſchien, genug, der Zettel wurde befoͤrdert, ohne daß Bollmann ſein Geheimniß auszuſprechen oder einen Mitſchuldigen zu gewinnen brauchte. Nachdem er auf ſolche Weiſe den Gefangenen unterrichtet, was er in der naͤchſten Zeit thun und er¬ warten ſolle, mit dem freundlichen Arzt aber zur Fort¬ ſetzung der angeknuͤpften Unterhaltungen einen vertrau¬ lichen Briefwechſel verabredet hatte, reiſte er von Ol¬ muͤtz nach Wien. Unterwegs, in Bruͤnn, ſchloß er mit dem ruͤhmlich bekannten Erzieher und Wirthſchafter André, der ſeine gemeinnuͤtzige Thaͤtigkeit von Schnepfenthal nach Maͤhren verpflanzt hatte, und viele Jahre ſpaͤter nach Stuttgart uͤbertrug, einen engen Freundſchafts¬ bund; ſie hatten viele gemeinſame Beruͤhrungspunkte, ihre Geſinnungen und Gemuͤthsarten ſtimmten zuſam¬ men; es war fuͤr Bollmann wichtig, hier einen Mann zu haben, dem er ganz vertrauen duͤrfte; doch wollte er auch dieſen Freund, der Manches errathen konnte, nicht ohne Noth durch gefahrvolles Mitwiſſen beun¬ ruhigen.

In Wien angekommen, wurde Bollmann als wohl¬ empfohlener und durch ſeine ganze Erſcheinung ein¬ nehmender Gelehrter in den angeſehenſten Lebenskreiſen682bald einheimiſch; er fand nach allen Seiten die guͤnſtig¬ ſten Verhaͤltniſſe, und ſchien außer den wiſſenſchaftlichen Gegenſtaͤnden kein andres Intereſſe zu haben, als in den Zerſtreuungen des Tages mitzuleben. Er ſelbſt aber war unaufhoͤrlich mit ſeinem Vorhaben beſchaͤftigt, und harrte voll Ungeduld auf Nachrichten. Sie ſagten blos, Lafayette ſei krank, und werde immer kraͤnker; dies war ein willkommenes Zeichen, daß Bollmann's Rath wirkte, allein der entſcheidende Wink, daß der zum Handeln guͤnſtige Augenblick erſchienen ſei, blieb aus. Der letzte Theil des Sommers verſtrich, ohne daß Bollmann ſich gefoͤrdert ſah. Nur der Herbſt war noch uͤbrig; blieb auch dieſe Jahreszeit unbenutzt, ſo mußte das Unternehmen, das durchaus nicht im Winter zu vollbringen war, bis zum naͤchſten Fruͤhjahr aufgeſchoben werden. In dieſer Verlegenheit reiſte Bollmann ſelbſt wieder nach Olmuͤtz. Hier empfing er am 10. Oktober den erſten und einzigen Brief von Lafayette, der ihn dringend bat, ohne Verzug zu handeln. Der Gefangene hatte ſich mehr und mehr erkranken laſſen, und weil durchaus kein andres Mittel helfen wollte, war der Arzt endlich dahin gekommen, den Genuß der freien Luft als die einzig noch moͤgliche Rettung vorzuſchlagen. Wollte man Lafayette'n nicht als Opfer des Grams und der Kerkerluft ſterben laſſen, ſo mußte man ihm Spazierfahrten erlauben. Aber nur erſt gegen Ende des Septembers war die Erlaubniß ertheilt, und erſt83 wenige Fahrten, unter gehoͤriger Vorſicht und Bedeckung, waren verſucht worden. Bollmann ertheilte den Rath, Lafayette moͤchte nun den guten Erfolg dieſer Ausfahr¬ ten allmaͤlig merkbar werden laſſen, auf dieſen geſtuͤtzt, ſie haͤufiger begehren, durch ausgeſprochene Vorliebe fuͤr eine beſtimmte Gegend ihnen moͤglichſt immer dieſelbe Rich¬ tung geben, und ſie in moͤglichſt weite Entfernung von der Stadt auszudehnen ſuchen. Da dies zu gelingen ſchien, ſo kehrte Bollmann nach Wien zuruͤck, um dort die letzten Anſtalten zu bereiten.

Bis jetzt hatte er in Oeſterreich keinen eigentlichen Mitwiſſer, außer einem jungen Arzt aus Sachſen, Doctor Karl Weigel, der ſein vertrauter Freund geworden war, und voll feurigen Muthes ſich bereit erklaͤrte, jedes Wagſtuͤck mit ihm zu theilen. Ruͤchſichten jedoch, deren Verletzung Bollmann ſeinem Freunde um keinen Preis zumuthen wollte, mußten dieſen abhalten, an einem gewaltſamen Handſtreiche, wobei es Leib und Leben galt, unmittelbar Theil zu nehmen. Er begab ſich aber nach Olmuͤtz, um an Ort und Stelle durch Kundſchaft und Wachſamkeit nuͤtzlich zu ſein. Bollmann fand in Wien einen andern Helfer, der ganz nach ſeinem Sinne und in allen Beziehungen geeignet war, bei dem Unter¬ nehmen ſein Gefaͤhrte zu ſein. Ein Amerikaner aus Suͤd-Karolina, Namens Huger, ein Juͤngling voll Eifer und Muth, der auf Reiſen zufaͤllig in Wien war, und ſchon den gluͤhendſten Antheil fuͤr Lafayette aus¬6 84geſprochen hatte, ging auf die Eroͤffnungen Bollmanns lebhaft ein, und meinte, wenn er fuͤr Lafayette ſein Leben wage, ſo zahle er damit nur eine Schuld ſeines Vaterlandes, deſſen Freiheit jener habe erkaͤmpfen helfen. Die Kuͤrze der Zeit, innerhalb welcher die Sache voll¬ fuͤhrt werden mußte, wenn ſie noch vor dem Winter ſtatt haben ſollte, erlaubte nicht, alle Maßregeln ſo genau und umſtaͤndlich anzuordnen, wie es zur Sicherung des Erfolges noͤthig geweſen waͤre. Allein der Ausgang konnte durch vervielfaͤltigte Anſtalten und groͤßere Zahl der Theilnehmer einerſeits zwar ſicherer gemacht, andrer¬ ſeits aber auch gefaͤhrdet werden; nach reifer Ueberle¬ gung beſchloſſen die beiden Freunde, nur zu Zweien das Wagniß zu beſtehen, und ihren Plan in groͤßter Einfachheit zu halten. Sie betrieben ihre Abreiſe ganz offen, ließen ihre Paͤſſe nach Maͤhren und Schleſien ſtellen, und verließen Wien gegen Ende des Oktobers. Sie fuͤhrten ihren Wagen bei ſich, außerdem aber auch zwei Reitpferde nebſt einem Reitknecht; der letztere war gewoͤhnt worden, bald mit dem Wagen, bald mit den beiden Pferden vorauf zu gehen, je nachdem die Rei¬ ſenden es vorzogen, gemaͤchlich der Straße zu folgen, oder zu Pferd und nach Umſtaͤnden zu Fuß querfeldein auf Merkwuͤrdigkeiten und Schoͤnheiten der Gegend aus¬ zugehen. Um den Mangel eines dritten Pferdes zu erſetzen, deſſen ſie in der Folge benoͤthigt ſein mußten, und das ſie doch nicht rathſam fanden, zu ihren beiden85 hinzuzufuͤgen, hatten ſie das eine derſelben abgerichtet, zwei Reiter zu tragen. So vermieden ſie moͤglichſt jeden Verdacht; ſie galten fuͤr naturforſchende Englaͤnder, und durchſtreiften einen großen Theil von Maͤhren, indem ſie allmaͤlig Olmuͤtz naͤher kamen, wo ſie am 7. November eintrafen. Ein verabredetes Zeichen benachrichtigte den Gefangenen von ihrer Ankunft, der naͤchſte Tag war einer der zu den Spazierfahrten feſtgeſetzten, und wurde daher ſogleich als gute Gelegenheit gewaͤhlt.

Am 8. November ſandten die beiden Freunde Mor¬ gens um 11 Uhr ihren Wagen mit dem Reitknecht fuͤnf Meilen weit nach Hoff, auf der Straße nach Schleſien, und ließen dort Poſtpferde um 5 Uhr bereit halten. Nachmittags gegen 2 Uhr ſetzten ſich Bollmann und Huger zu Pferde, um Lafayette aufzuſuchen, der gleichfalls auf jener Straße und wohl eine Stunde weit zu fahren pflegte. Sie trafen ihn ziemlich fern von der Stadt, er ſaß in einem bedeckten Wagen, ihm zur Seite ein Stabsprofoß, ein Soldat als Kutſcher auf dem Bock, ein andrer ſtand hinten auf. Augen¬ blicklich ſprengten die beiden Freunde heran, geboten dem Kutſcher Halt, und waͤhrend Huger abſaß, um die Pferde bereit zu halten, that Bollmann desgleichen, um Lafayette aufzunehmen. Dieſer hatte auf den An¬ ruf ſeiner Befreier ſchon den Kutſchenſchlag aufgeſtoßen, und warf ſich mit ſeinem Begleiter, der, entſchloſſen genug, ſich an ihn hing, gewaltſam hinaus auf den86 Weg. Beide lagen ringend am Boden. In demſelben Augenblick aber ſtuͤrzte Bollmann herzu, machte La¬ fayette’n los, und hielt den Gegner, den er entwaff¬ nete, mit ſtarker Hand niedergedruͤckt. Inzwiſchen war der eine Soldat hinten vom Wagen abgeſprungen, und in das Feld geflohen, der andre auf dem Bock, ſobald er ſich unbeachtet ſah, hatte den Wagen umgelenkt, und jagte zur Stadt zuruͤck. Schon hatte Bollmann auch ſeinen Gegner losgelaſſen, der allein und ohne Waffen nichts thun konnte, als dem Wagen nacheilen. So ſtand denn der befreite Lafayette mit ſeinen nie vorher geſehenen Freunden auf der offnen Landſtraße, und es galt nun fuͤr alle drei ſchleunige Flucht. Allein im Augenblicke des Ringens waren die Pferde wild geworden, hatten ſich gebaͤumt, und als Huger, um Bollmann beſorgt, dieſem helfend naͤher treten wollte, war ihm das eine Pferd entſprungen, und lief nun im Felde umher. Zeit war nicht zu verlieren, in Olmuͤtz mußte bald Laͤrm werden, und Eifer und Mittel zum Nachſetzen konnten dort nicht fehlen. Ueberdies hatten eine Menge Landleute, die auf dem Felde be¬ ſchaͤftigt waren, den Vorgang zum Theil ganz in der Naͤhe mit angeſehen; noch ſtanden ſie unthaͤtig, aber wie leicht konnten ſie ſich beſinnen und weitere Flucht erſchweren! In dieſem Drange war Lafayette’s Ret¬ tung das einzige Augenmerk. Bollmann gab ihm kurze muͤndliche Weiſung uͤber das Naͤchſtnoͤthige, einen Zettel87 mit ausfuͤhrlicheren ſchriftlichen Angaben, eine Boͤrſe mit Geld, und beſchwor ihn, das eine noch vorhandene Pferd zu beſteigen, und allein fortzureiten, auf der großen Straße bis Hoff, dort eine halbe Stunde auf die Andern zu warten, ſie wuͤrden Mittel ſuchen, ihm zu folgen; kaͤmen ſie aber in dieſer kurzen Friſt nicht nach, ſo moͤchte er fuͤr ſich allein weiter nach Schleſien zu kommen ſuchen; Orte, wo er ſichre Zuflucht faͤnde, waren ihm namhaft gemacht. Nach einigem Wider¬ ſtreben, dem aber ſeine großmuͤthigen Retter nachdruͤck¬ lich ein Ende machten, ritt er ſpornſtreichs davon, und war ihnen bald aus dem Geſicht.

Inzwiſchen hatte nur dreihundert Schritt von dem Tummelplatz ein Bauer das entlaufene Pferd aufgefan¬ gen; Bollmann und Huger eilten dorthin; der Bauer gab das Pferd fuͤr ein Trinkgeld willig zuruͤck. Jetzt ſchien ihre eigne Rettung nicht zweifelhaft; allein das ungebaͤrdige Thier wollte durchaus keinen zweiten Reiter aufſitzen laſſen; das hiezu abgerichtete Pferd hatte La¬ fayette bekommen. Da kein Zwang und keine Kunſt half, und die groͤßte Eile draͤngte, ſo rief Huger: das Unheil mit den Pferden verſchulde er, er ſei auch weiter nicht fuͤr die Sache noͤthig, Bollmann ihr aber noch fernerhin unentbehrlich, derſelbe ſolle fuͤr ſich und La¬ fayette ſorgen, er ſelbſt werde ſchon zu Fuß durchkom¬ men. Und ohne weiter Antwort abzuwarten, entfernte er ſich raſchen Laufes dem Walde zu.

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Bollmann ſpornte ſein Pferd, und kam ohne Auf¬ enthalt nach Sternberg; nur zehn Minuten vor ihm war der Reiter, nach dem er fragte, durchgekommen. In groͤßter Haſt folgte ihm Bollmann. Als er aber nach Hoff kam, fand er ihn nicht, derſelbe mußte einen falſchen Weg eingeſchlagen haben. Zuruͤckzukehren waͤre fruchtlos geweſen, ja konnte ſogar fuͤr Lafayette ſchaͤd¬ lich werden; noch war die Hoffnung vorhanden, ihn am naͤchſten Zufluchtsort in Schleſien gluͤcklich wieder¬ zufinden. Um 10 Uhr Abends war Bollmann jenſeits der oͤſterreichiſchen Graͤnze, um 1 Uhr Nachts traf er in Ratibor ein, um 7 Uhr des andern Morgens konnte er in Tarnowitz ankommen. Dies war das erſte Ziel, wohin er Lafayette in Sicherheit bringen wollte, dort konnten ſie unbeſorgt drei Wochen verſteckt bleiben, und alle Zeit fuͤr weitere Maßregeln gewinnen. Sie konnten auch gleich durch Polen nach Danzig gehen, wofuͤr im voraus Paͤſſe und Empfehlungen bereit lagen. Die Umſtaͤnde des Augenblicks wuͤrden beſtimmt haben, wel¬ cher Entſchluß waͤre vorzuziehen geweſen. Fuͤr die eigne Sicherheit haͤtte Bollmann den Weg nach Danzig ſogleich waͤhlen muͤſſen. Allein er dachte nicht an ſich, ſondern nur an Lafayette. Nach vergeblichem Harren, da Nie¬ mand kam, da ſich an keinem der Orte, wo ſichre Kundſchaft zu erwarten war, die geringſte einfand, nicht von Lafayette ſelbſt, aber auch nicht von ſeinem Ent¬ weichen, und noch zum Troſte eben ſo wenig von ſeiner89 Wiedereinfangung, ſo faßte Bollmann die Hoffnung und Beſorgniß, derſelbe koͤnne auf einem andern Wege uͤber die Graͤnze gekommen ſein, und nun ohne Huͤlfe umherirren. Dieſe Vorſtellung bewog ihn, ſich alsbald wieder aufzumachen, und von Ratibor laͤngs der Graͤnze hin mehr als zwanzig Meilen weit nach Waldenburg zu gehen. Dort hatte er einen Freund, deſſen Pferde er nehmen, und mit einem der Gegend kundigen Mann dieſe durchſtreifen wollte, um Lafayette aufzuſuchen, ihm fortzuhelfen. Er traf die mannigfachſten Anſtalten zu dieſem Zwecke, ſuchte ſeine Mittel fuͤr alle denkbare Faͤlle einzurichten. Doch ſchon fuͤr jenen zu ſpaͤt, und fuͤr ihn ſelber ungluͤcklich! Lafayette war bereits wieder in Gefangenſchaft, und Bollmann wurde, als er kaum ſeine kuͤhnen Nachforſchungen beginnen wollte, verhaftet und zuerſt nach Olmuͤtz, dann aber nach Wien abgefuͤhrt. Wir muͤſſen uns nach Lafayette umſehen. Dieſer war von Sternberg, gleich vom Thore ab, einer falſchen Richtung gefolgt; nicht ganz aus Irrthum, er wollte einem oͤſterreichiſchen Reiterregiment, welches zufaͤllig auf dem Marſche ſich in dieſer Gegend befand, aus¬ weichen, und ſpaͤterhin auf die große Straße wieder einlenken. Durch den ſtarken Ritt aber war ſein Pferd erſchoͤpft, und ſtuͤrzte zuſammen; er mußte es liegen laſſen, und ſeinen Weg zu Fuß fortſetzen. Von einem Bauer, dem er einige Goldſtuͤcke bot, erhandelte er bald ein andres Pferd, und ritt ſo gut es gehen wollte90 weiter. In der Naͤhe von Braunſeifen wurde er des Weges unſicher, ſeine Erkundigungen machten ihn ver¬ daͤchtig, er wurde angehalten und vor den Dorfſchulzen gefuͤhrt. Dieſer wußte nichts von Staatsgefangenen, hielt aber den Fremden fuͤr einen Landſtreicher, und wollte ihn nicht ſogleich losgeben. Lafayette benahm ſich jedoch ſo klug und gemeſſen, daß man ſchon im Begriff war, ihn wieder fortreiten zu laſſen, als ihn ein Ladendiener, vielleicht der einzige Menſch in der ganzen Gegend, der ihn ſo genau geſehen hatte, erkannte und namhaft machte. Man hielt ihn nun auf's neue feſt, ohne jedoch ſeine Wichtigkeit zu ahnen. Aus Olmuͤtz hatte man ihm auf der großen Straße nach¬ geſetzt, und glaubte, in Bollmanns Spur die ſeinige zu haben; an die Nebenſtraße hatte Niemand gedacht. Drei Tage lang ſaß er hier, wo die Kuͤhnheit und Gewandtheit ſeiner Freunde ihn noch allenfalls haͤtten freimachen koͤnnen; erſt am vierten Tage kam auf die ſpaͤt empfangene Meldung ein Commando von Olmuͤtz, um ihn dahin abzuholen. Er wurde in ſtrengſten Ge¬ wahrſam genommen, und in ſein fruͤheres Gefaͤngniß zuruͤckgebracht. Dies war fuͤr ihn der Ausgang des allzu kuͤhnen und doch wunderbar ſchon halb gelungenen Unternehmens! Bekanntlich blieb er ſeitdem noch drei Jahre in Gefangenſchaft, bis die oͤſterreichiſche Regierung endlich einwilligte, ihn gegen andre Gefangene, welche die franzoͤſiſche Republik fuͤr ihn losgab, auszuwechſeln.

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Huger entkam aller Verfolgung gluͤcklich; ſeine Perſon und ſein Name hatten die wenigſte Aufmerkſamkeit auf ſich gezogen; er ging bald nach Amerika zuruͤck, und lebte in ſeinem Vaterlande, wo er die Stelle eines Oberſten bei der Miliz erhielt, in angeſehenen Verhaͤlt¬ niſſen; wegen ſeiner Theilnahme an dem Verſuche zu Lafayette’s Befreiung wurde er dort allgemein geprieſen; Lobreden und Gedichte feierten ſeinen Ruhm noch ſpaͤt bei allen wiederholten Gelegenheiten, wo die Begeiſterung fuͤr Lafayette ſich in den Vereinigten Staaten ſo glaͤn¬ zend ausſprach. Weigel wurde verhaftet, da er jedoch bei dem Unternehmen nicht perſoͤnlich zugegen geweſen, auch die Schriften und Geldſummen, welche ihm fuͤr moͤgliche Faͤlle anvertraut waren, ſchon in Sicherheit gebracht hatte, und ſich unter ſeinen Papieren nichts Verdaͤchtiges fand, ſo wurde er bald wieder frei gelaſſen, und er entging weiteren Verdrießlichkeiten durch die Anſtellung, die er bei dem portugieſiſchen Geſandten am daͤniſchen Hofe, dem Grafen Souza-Coutinho, er¬ hielt, der ihn als Arzt in portugieſiſche Dienſte und mit nach Italien nahm, wohin er ſelber ſeiner Geſund¬ heit wegen alsbald abreiſte.

Das haͤrteſte Loos ſchien fuͤr Bollmann fallen zu muͤſſen; er war der Urheber und Anfuͤhrer eines raͤu¬ beriſchen Ueberfalles, eines Angriffs gegen die oͤffentliche Gewalt, welchen dieſe nicht ungeſtraft laſſen konnte. Seine Freunde zitterten fuͤr ſein Leben; das gelindeſte92 Urtheil ſchien ewige Gefangenſchaft uͤber ihn ausſprechen zu muͤſſen. Er wurde in Ketten gelegt; kein Licht er¬ hellte ſeinen Kerker; Alles um ihn her war ſtumm, jede Verbindung mit der Welt abgeſchnitten. Gleich bei ſeinem erſten Verhoͤr machten aber ſeine ruͤckhaltloſe Aufrichtigkeit, ſein freimuͤthiges Bekenntniß, und die edle Staͤrke ſeines ruhigen und einfachen Weſens einen fuͤr ihn hoͤchſt vortheilhaften Eindruck. Seine That er¬ regte in der Welt unglaubliches Aufſehen, uͤberall wurde ſie beſprochen, geruͤhmt und bewundert, letzteres faſt am meiſten in Wien ſelbſt, wo die beſondern Umſtaͤnde des romantiſchen Abentheuers mit lebhafter Begier ver¬ nommen wurden, und bald auch das Ergebniß der Verhoͤre nicht mehr geheim blieb. Eine Menge von Menſchen ſprachen fuͤr ihn mit waͤrmſtem Eifer, ſuchten ihn zu rechtfertigen, zu entſchuldigen, beſonders zeigten die Frauen großen Antheil. Perſonen vom hoͤchſten Range, durch menſchenfreundliche Regung aufgefordert, verwandten ihren ganzen Einfluß zu ſeinen Gunſten; manche ſcheuten nicht, ihre ſonſtigen Grundſaͤtze einen Augenblick zu verlaͤugnen, und hier eine Ausnahme zu verlangen; die Richterſtrenge ſelbſt fuͤhlte ſich erſchuͤttert. Durch die Kraft dieſer allgemein verbreiteten Stimmung, und durch andre Einwirkungen, deren letzter Zuſammen¬ hang noch jetzt mit dem Schleier des Geheimniſſes be¬ deckt, wahrſcheinlich aber in menſchenfreundlichen Ver¬ bruͤderungen zu ſuchen iſt, geſchah das Wunder, welches93 beſonders in den damaligen Zeitumſtaͤnden als ſolches gelten muß, daß Bollmanns Geſchick, dem nur die dunkelſte Wendung vorbehalten ſchien, unvermuthet die gluͤcklichſte nahm. Die oͤſterreichiſche Regierung, welche im Praktiſchen von jeher einen freien Geiſt gezeigt, der bei außerordentlichen Dingen nicht karg am Hergebrachten haftet, behandelte Bollmanns Sache in ganz beſondrer Weiſe. Nach ſieben Monaten Gefaͤngniß und Unter¬ ſuchung, die leicht eben ſo viele Jahre werden konnten, wurde er ploͤtzlich weniger ſtreng gehalten, und ihm bald nachher unerwartet angekuͤndigt, daß er frei ſei, und gehen koͤnne, wohin er wolle, ohne andre Strafe, als daß man ihm auferlegte, die oͤſterreichiſchen Staaten ſogleich zu verlaſſen und kuͤnftighin zu meiden.

Dieſe wunderbare Milde, welche nur ihn perſoͤnlich betraf, aber auf Lafayette nicht uͤberging, ſetzte mit Recht alle Welt in Erſtaunen, und der Dank vieler Herzen wandte ſich ſegnend dahin, wo ein ſo großartiges Verfahren entſtehen konnte. Wie Bollmann lange nach¬ her die Schuld der Dankbarkeit werkthaͤtig abgetragen, werden wir ſpaͤter zu ſagen haben.

Bollmanns damalige Stimmung und Anſicht in Betreff des Vergangenen und ſeiner naͤchſten Zukunft erkennen wir zum Theil aus dem Bruchſtuͤck eines Briefes, den er an dieſelbe bewaͤhrte Freundin richtete, in deren Vertrauen wir ihn ſchon die fruͤheren Bekennt¬ niſſe niederlegen ſahen. Zwei ſpaͤtere Briefe geben uns94 einen Blick auf den ferneren Verlauf ſeines Lebens, welchem jenſeits des Weltmeers ein neuer Wirkungskreis ſich gluͤcklich eroͤffnete.

9.

Alſo von Karlsruhe aus waͤre die erſte Nachricht meiner wiedererlangten Freiheit nach Bremen gekommen! Und wer denn, liebe Freundin, iſt Ihr Correſpondent in Olmuͤtz? Warum hat er mich nicht beſucht, da ich doch in den letzten vierzehn Tagen Freunde ſehen durfte? Oder iſt's wohl gar der gute Roſenfels geweſen, der Ihnen die erſte frohe Nachricht gab? Schreiben Sie mir daruͤber, denn ich bin recht ſehr neugierig, das zu wiſſen!

Daß ich nicht bei Ihnen ſein kann! Ich haͤtte Ihnen ſo viel zu erzaͤhlen! Meine Plane haben ſich ſeit 1793 nicht ge¬ aͤndert. Mit den Memoiren ging's nicht, konnte es nicht gehen, um der Schlechtigkeit einiger einzelner Menſchen willen. In Hamburg, wo ich ſchon vorhatte, was in Maͤhren fehlgeſchlagen iſt, wurde ich von einem Manne, der Aufſehen in der literari¬ ſchen Welt macht, auf's ſchaͤndlichſte hintergangen. Lafayette hatte dann von neuem dringende Briefe geſchrieben. Der Mini¬ ſter der Vereinigten Staaten intereſſirte ſich fuͤr die Sache. Er und Viele glaubten, ich ſei der Einzige aus ihrer Bekanntſchaft, der nuͤtzlich werden koͤnne; ſie forderten mich auf! Ich liebte Lafayette, ich hatte durch die fehlgeſchlagene Reiſe nach Berlin noch mehr Enthuſiasmus fuͤr ſeine Freiheit bekommen. Ich hielt die Handlung, wozu man mich aufforderte, eben der Frucht¬ loſigkeit aller andern angewandten Mittel wegen, weil nur Pri¬ vatrache, Furcht, ſich ein Dementi zu geben, und eine thoͤrichte Politik ihn verfolgte, weil ſeine Gefangenſchaft an und fuͤr ſich hoͤchſt ungerecht war, weil man mit der groͤßten Verletzung95 von Treu und Glauben ſich ſeiner bemaͤchtigt hatte, weil eben deßwegen ſogar beim Frieden ſich wenig fuͤr ihn hoffen ließ, nicht fuͤr moraliſch unrecht.

Zu fragen wuͤrden Sie viel noch haben. Sie wuͤrden ſehn, daß man mir keinen gegruͤndeten Vorwurf machen kann; daß ich that, was ich thun mußte; was ſich unter den gegebenen Umſtaͤnden nicht beſſer thun ließ. Ausfuͤhrlich kann ich jetzt nicht ſchreiben!

Ich habe Ketten getragen! Ich bin ohne Licht, ohne Luft, ohne Bette, ohne Buch, ohne irgend eine Nachricht von meinen Freunden, fuͤr eine geraume Zeit geweſen. Man behandelt im Preußiſchen einen Straßenraͤuber beſſer, als ich im Anfang in Olmuͤtz behandelt wurde. Dennoch bin ich immer geſund und heiter geweſen; ich habe nicht gelitten. Man leidet mehr von Uebeln, die man fuͤrchtet, als die man erfaͤhrt. Jeder ungluͤck¬ liche Zuſtand traͤgt in ſich ſeine Huͤlfsmittel. Das Geringfuͤ¬ gigſte iſt ein Schatz, wenn man durchaus in der groͤßten Be¬ raubung ſich befindet. Darin liegt Huͤlfe. Um keinen Preis gaͤbe ich die gemachten Erfahrungen. Es war ſehr conſequent, zu leiden, gefangen zu ſein. Aber ich bin ſehr gluͤcklich geweſen. Meine Gefangenſchaft von Anfang bis zu Ende war ein Tri¬ umph der Freundſchaft. Sonſt verliert man Freunde im Ungluͤck. Ich habe neue gemacht. Mir iſt Huͤlfe von Menſchen gekom¬ men, die ich vorher nie kannte, deren Thaͤtigkeit, um mir nuͤtz¬ lich zu werden, außerordentlich mit Aufopferung verbunden ge¬ weſen iſt. Wie waͤre ich auch ſonſt ſchon frei? Daß ich daruͤ¬ ber nicht mehr ſchreiben kann, nicht mehr ſchreiben darf! Das Geſchoͤpf, welches mir auf der Welt am liebſten iſt, und zuverlaͤſſig eines der gebildetſten Maͤdchen in Deutſchland ach! daß Sie ſie kennten, liebe Freundin! ſie wohnt in Hamburg mit dem habe ich, eben der Ungewißheit meines Schickſals wegen,96 nie correſpondiren wollen! Ich hatte mich ihr gebunden ſie war frei! Auch ſie wollte mir, durfte mir, um ihrer El¬ tern, ihrer Freunde willen, nie ſchreiben. Mein Ungluͤck uͤber¬ kam ihre Grundſaͤtze! Hundert Mittel wurden verſucht, doch mit Vorwiſſen des Mannes ihrer Schweſter, meines Freundes. Endlich den erſten Brief an mich, den erſten, den ich je von ihr ſah er war in die Haͤnde meines Richters gefallen, er las ihn mir vor! Bald hernach erhielt ich einen andern von ihr, innerhalb der Mauern meines Gefaͤngniſſes! Ich hatte in Gedanken Abſchied von meiner Freundin genommen, wie man mich nach Olmuͤtz brachte! Sie ſo wiederzufinden! ich glaubte, ich ſollte ſterben vor Freude! Bin ich nicht zu beneiden? Iſt's nicht der Muͤhe werth, ſo ungluͤcklich zu ſein? Und was liegt nun vor mir? Selbſt um Lafayette's willen wollte ich nicht, daß nicht geſchehen waͤre, was geſchehen iſt! Es wird Alles gut, ſehr gut werden! Zwei meiner Bruͤder ſind im Be¬ griff, nach Amerika abzugehn! Wenn ich Sie nur ſehn koͤnnte, und den lieben Herrn Vetter! Warum ſind Sie auch nicht ein bischen naͤher! Die freundſchaftlichen Genuͤſſe, die ich jetzt habe, bei ſo Vielen, die ſich freuen, daß ich wieder da bin, ſind unbeſchreiblich! Ich gehe uͤber Deſſau, Braunſchweig, Han¬ nover nach Hoya, dann, wie Sie wohl denken koͤnnen, nach Hamburg; dann nach England! Von dort aus mehr! Verzeihen Sie dieſen wilden Brief, liebe Freundin; ich habe zu viele zu ſchreiben, um ruhiger ſchreiben zu koͤnnen! Er wird Ihnen dennoch, hoffe ich, lieb ſein. Gruͤßen Sie herzlich Ihre ganze Familie. Auch die Offenbacher. Alle die Lieben, die mir gut ſind!

Was macht Boeckh? In Wien habe ich einen Brief von ihm erhalten, worauf ich nicht antworten konnte, eben weil ich ſah, daß er mit Allem gaͤnzlich unbekannt war. Er glaubte,97 ich ſei in Wien als Arzt! Ich moͤchte, aus manchen Gruͤn¬ den, den Faden mit ihm gern wieder anknuͤpfen! Wenn Sie ihn doch den weſentlichſten Inhalt meiner Briefe wiſſen laſſen koͤnnten. Er iſt ja nicht weit von Ihnen; koͤmmt vermuthlich zuweilen nach Karlsruhe! Er mag immer, wenn Sie’s erlau¬ ben, meinen großen Brief ganz leſen! Was macht Ihre Schweſter, Schwager, Bruder? was Ihre Kinder? Luiſe habe ich in Offenbach im letzten Jahre geſehn. Sie iſt immer das gute, ſanfte, liebe Maͤdchen! Ich ſchlich mich damals nur durch Frankfurt! Mir war ſonderbar. Es iſt unangenehm, wenn man heimlich ſein muß, wo man offen gern ſein moͤchte. Wenn man keine klare Rechenſchaft von ſich ſelbſt geben kann!

Leben Sie recht wohl. Vermuthlich ſchreibe ich Ihnen noch Einmal von Hamburg. Sie ſollen mich gewiß nie verlieren; erhalten Sie mich auch huͤbſch bekannt mit Ihrem Hauſe. Wer weiß, wo Sie und ich, oder ich und die Ihrigen, uns noch be¬ gegnen?

Briefe nach Hamburg adreſſirt, kommen mir immer zu, ſelbſt wenn ich nicht in Hamburg bin, die gegebne Adreſſe iſt bleibend. Adieu, liebe, theilnehmende Freundin! Adieu, lieber Herr Vetter!

Glauben Sie nicht, daß Ehrgeiz oder wilde Begierde mich treiben oder mich trieben. Ich glaube, conſequent gehandelt zu haben. Die Umſtaͤnde warfen mich wider Willen in ſonderbare Lagen. Auf dem kuͤrzeſten Wege moͤchte ich gern dem haͤuslichen Gluͤck und der ſtillen Freude zueilen. Ich glaubte und glaube noch, ſie ſo auf dem kuͤrzeſten Wege zu finden. Selbſt die dabei intereſſirt ſind, die ſie theilen ſollen, denken ſo. Drum geſchah, was geſchehn iſt. Mehr kann ich daruͤber nicht ſchreiben.

J. E. Vollmann.

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10.

Ihren Brief, liebe Freundin, vom 16. Auguſt, habe ich richtig erhalten. Er hat mir viel Freude gemacht. Gern haͤtte ich den verſprochenen vom Herrn Vetter noch erwartet. Er iſt nicht gekommen, und ich muß nun fort. Es ſind noch ſon¬ derbare Dinge ſeit meinem letzten Briefe vorgefallen. Eine un¬ gluͤckliche Verbindung von Umſtaͤnden hat mich in Hamburg von dem Gegenſtand geriſſen, deſſen Andenken, deſſen Briefe im Ge¬ faͤngniß mir Troſt waren. Ob auf immer, auf wie lange, das weiß ich nicht! Wir ſind aber Freunde, alle Freunde. Sie glaubte ſich ihrer Pflicht opfern zu muͤſſen, und das kann man ja nicht tadeln!

Ich gehe mit ſchoͤnen Erwartungen, an denen ich jedoch nicht haͤnge , mit vielen Mitteln nach Amerika. Was ich ſelbſt und die Umſtaͤnde daraus machen koͤnnen, muß die Zeit lehren. Auf jeden Fall werde ich mit den ausgezeichnetſten Men¬ ſchen dort bekannt werden, und Gelegenheit haben, mich von Vielem zu unterrichten. Die Gewalt der Umſtaͤnde wird auch Lafayette bald befreien. Ich hoffe, in Geſchaͤften bald wieder nach Europa zuruͤckzukommen.

Es ſchmerzt mich, daß Boeckh nicht gluͤcklich iſt; mehr noch, daß er keine Ausſicht hat, es zu werden. Alles um ihn herum muß ihm verdrießlich ſein. Wo man einmal ſehr ungluͤcklich ge¬ weſen iſt, da hat man die Meinung wider ſich; da koͤmmt man zu nichts mehr. Fort in’s Weite, das waͤre am beſten! Ich wollte, daß ich Ausſichten in Amerika fuͤr ihn finden koͤnnte. Dahin kommen kann man leicht. Neue Umgebungen machen einen neuen Menſchen. Wo ein reiner Anfang, da iſt ein beſſe¬ rer Fortgang! Die Kriegsunruhen umgeben Sie nun wieder. 99Ich hoffe, daß Sie davon nicht leiden! Sollte ein Krieg zwiſchen England und Amerika ausbrechen, ſo iſt es beſſer, die Briefe fuͤr mich an Herrn Sieveking in Hamburg zu ſenden, mit der Bitte, ſie zu beſorgen. Die Sachen, wobei viele kleine intereſſante Dinge ſind, liegen mir ſehr am Herzen. Danken Sie ja dem lieben Roſenfels recht herzlich in meinem Namen. Ich glaube, er hat in Bruͤnn die Akten gern ſehn wollen. Ich denke, meine Unternehmung wird noch nuͤtzliche Folgen haben. Mein Gehn nach Amerika wird dadurch veranlaßt. Schreiben Sie mir ja, liebe Freundin, wenigſtens zweimal im Jahr, und dann huͤbſch von Allem. Sie und die Ihrigen muͤſſen mir nicht fremd werden; ich will's eben ſo machen. Nichts iſt unange¬ nehmer, als wenn man durch Entfernung ſich allmaͤhlich ab¬ ſtirbt. Amerika iſt ein ſchoͤnes, vielverſprechendes Land, das große Vortheile vereinigt; das keine Vorurtheile, keine alte fehler¬ hafte Einrichtungen, und die zahllos daraus entſpringenden Schwie¬ rigkeiten zu bekaͤmpfen hat; daher von den Erfahrungen der ver¬ floſſenen Jahrhunderte mehr Nutzen ziehn kann, wie nie kein Land noch konnte!

Die liebe Griesbach muß ſich mehr ermuͤden, muß allein, in einem luftigen, geraͤumigen Zimmer ſchlafen. Sie muß ſich mit dem eignen Verſtande mehr als mit Medizin kuriren; muß haͤrter leben, zuweilen durch dick und duͤnn waten. In Leipzig wurde eine allerliebſte Dame, die zehnjaͤhrige Noth ihrer Aerzte, geſund, wie der Mann Bankrott machte! Es ſollte mich nicht wundern, wenn die Nachbarſchaft der Franzoſen fuͤr den verſchleimten Magen gut waͤre! Sie ſehn, ich kann das Doktern noch nicht laſſen. In jedem Rath iſt meiſtens etwas Gutes. Nehmen Sie ſo vorlieb!

Leben Sie wohl, meine gute, inniggeliebte Freundin! Leben Sie wohl, mein lieber Herr Vetter. Sein Sie uͤberzeugt,7 *100daß ich auch jenſeits der Meere und uͤberall treu und unwandel¬ bar Ihr und der Ihrigen Freund ſein werde!

J. E. Bollmann.

N. S. Ich muß heute kurz ſein. Morgen geht's zu Schiff; und es iſt aͤrger, wie eine Vorbereitung zum Tode; ſo viel Ein¬ richtungen hat man zu machen, wenn man in eine andere Welt geht, die noch zu dieſer gehoͤrt.

IV.

Bevor Bollmann nach Amerika uͤberſchiffte, hatte er noch in Betreff Lafayette's eine große Unannehm¬ lichkeit zu erleiden, welche ihm der Unbedacht eines Freundes zuzog. Die erwaͤhnte Denkſchrift, welche zu Gunſten Lafayette's dem Koͤnige von Preußen hatte uͤberreicht werden ſollen, war durch Bollmann von Hamburg aus, mit Lally-Tolendal's und Clermont - Tonnere's Vorwiſſen, abſchriftlich an Huber geſandt worden, der damals in der Schweiz lebte. Derſelbe ſollte ſie jedoch geheim halten, und nur dann erſt im Druck mittheilen, wenn ihm von den Leitern dieſer An¬ gelegenheit deßfalls eine beſtimmte Weiſung zugegangen waͤre. Auch beging Huber gegen dieſe Vorſchrift keinen Fehler, machte jedoch einen weit gefaͤhrlicheren Mi߬ brauch. Georg Forſter, ebenfalls Bollmanns Freund, aber in die franzoͤſiſche Revolution tiefer verflochten, und mit der heftigen Parthei fortſchreitend, in deren Augen die gemaͤßigte, zu welcher Bollmann und ſeine franzoͤ¬ ſiſchen Freunde gehoͤrten, ſchon als Feinde und Ver¬ raͤther galten, war von Paris an die ſchweizeriſche101 Graͤnze geſandt worden, und hatte dieſe, um Huber und ſeine eigne bei demſelben lebende Familie in Travers zu beſuchen, ohne Erlaubniß uͤberſchritten. Hieraus konnte ihm in Paris ein Todesverbrechen gemacht wer¬ den, und er ſann auf eine guͤltige Ausrede. Huber hatte ihm die Denkſchrift fuͤr Lafayette gezeigt, ſie ent¬ hielt mancherlei, was den damaligen Gewalthabern in Frankreich wichtig ſein konnte, unter andern den Be¬ weis, daß der Feldmarſchall Luckner als General der franzoͤſiſchen Republik gegen dieſe einen Verrath began¬ gen habe. Luckner war ſchon ſeiner Befehlfuͤhrung ent¬ ſetzt, die Anklage gegen ihn vollſtaͤndig, ſein Todes¬ urtheil gewiß; ihm konnte demnach nichts mehr ſchaden; Forſter hielt es aber fuͤr ſich nuͤtzlich, wenn er eine Abſchrift jenes Aufſatzes, fuͤr den Fall, daß er ſelbſt angeklagt wuͤrde, vorzeigen, und den Zweck, ſich dieſe Abſchrift zu verſchaffen, als den ſeines Beſuches bei Huber angeben koͤnnte. Huber gab ihm die Abſchrift, welche zwar gluͤcklicherweiſe nicht als das Zeugniß gegen Luckner, der bereits guillotinirt war, noch fuͤr Forſter, der unangeſchuldigt blieb, zu dienen brauchte, allein durch deſſen bald erfolgten Tod, in fremde Haͤnde ge¬ rieth, und in Paris unter dem Titel: Mémoire de Lally-Tolendal au roi de Prusse, pour réclamer la liberté de La Fayette, oͤffentlich im Druck erſchien. Groß war das Aufſehn, welches dieſe Bekanntmachung verurſachte, und der Verdruß Bollmanns, der dieſelbe102 unmittelbar von Huber ausgegangen glaubte. Er machte dieſem daher bittre Vorwuͤrfe. Huber konnte ſich recht¬ fertigen, daß wenigſtens die Bekanntmachung nicht durch ihn unmittelbar verſchuldet worden; er theilte den ganzen Hergang dem Freunde aufrichtig mit, und dieſer war, in Betracht der ſchwierigen Verhaͤltniſſe, und daß es ſich um Forſter’s Rettung gehandelt, fuͤr das Ver¬ gangene leicht befriedigt, entnahm aber auch dieſem Verdruſſe die warnende Lehre, wie gefahrvoll die beſte Meinung ſich verwickle, wenn ſie, anſtatt ſtrengen Pflicht¬ geboten zu folgen, willkuͤrlichem Gutduͤnken ſich uͤberlaͤßt.

11.

Mit vielem Vergnuͤgen, liebe Freundin, ſehe ich aus den letzten Briefen von Hamburg, daß das Schiff daſelbſt ange¬ kommen, und meine Briefe vom 31. Juli Ihnen und Boeckh alſo wahrſcheinlich geworden ſind. Als einen Beweis meiner Aufmerkſamkeit und meines Andenkens, und weil ich weiß, daß Sie an meinem Geſchicke Theil nehmen, bin ich ſo frei, Ihnen ein Exemplar eines gedruckten Zirkularbriefes zuzuſenden, welcher ſelbſt Ihnen vermuthlich nicht ganz unintereſſant ſein duͤrfte, und wovon ich mir viele Vortheile verſpreche.

Unſer junges Etabliſſement hat uͤbrigens einen guten[und] gluͤcklichen Fortgang, daß wir unſere Erwartungen zuweilen uͤbertroffen fuͤhlen, und wenn nur unſer Vater einwilliget und unſre Mittel etwas vergroͤßert, ſo hoffe ich bald ihm noch mehr Reſpektabilitaͤt und Soliditaͤt durch eine Verbindung zu geben, die ſo vernuͤnftig ſein wird, als wenn ſie nur Konvenienzſache, und ſo herzlich, als wenn ſie nur romantiſch waͤre. Wir103 kennen uns ſeit achtzehn Monaten, und ſeit zwoͤlf arbeite ich dieſem Plan entgegen.

Dann ſind meine groͤßten Sorgen einſtweilen voruͤber, und dann will ich Ihnen auch recht lange Briefe ſchreiben.

Der beikommende Brief war ſchon vor ſechs Monaten ge¬ druckt. Aber Nachfrage und einige andere Umſtaͤnde veranlaßten uns, davon eine vermehrte und verbeſſerte Auflage zu machen. Haben Sie die Guͤte, ihn meinem Freund Boeckh mitzutheilen.

Ich bedaure auch um Ihrentwillen, daß der Frieden von Deutſchland noch nicht nahe ſcheint. Aber Sie entwichen ſchon ſo mancher Gefahr, daß ich hoffe, Ihr gutes Geſchick wird Sie und die Ihrigen foͤrderhin unverſehrt erhalten.

Ich hoffe, bald von Ihnen, vom Herrn Vetter, von Boeckh, von allen Freunden zu hoͤren wo iſt Herr von Roſenfels jetzt? und empfehle mich einſtweilen der Fortdauer Ihrer Liebe. I. E. Bollmann.

N. S. Sollten vermoͤgende Leute aus Ihrer Gegend und in Ihrer Bekanntſchaft, etwa der Kriegsunruhen halber, wie das der Fall ſein koͤnnte, ihre Kapitale in einem fremden Lande in Sicherheit zu bringen wuͤnſchen, ſo bitte ich den Herrn Vet¬ ter, ſolchen dieſen Brief mitzutheilen, und unſer Haus ihnen zu empfehlen. Kaspar Voght und Sieveking in Hamburg Maͤnner von der erſten Reſpektabilitaͤt , werden, wenn es er¬ forderlich waͤre, unſern kaufmaͤnniſchen guten Karakter bezeugen. Ich ſchreibe dies ſehr ernſtlich. Man hat bisher Gelder in Holland und England angelegt. Sie werden wiſſen, und auch aus unſerem Briefe ſehn, warum ſie da nicht mehr ſicher ſind. Nichts ſcheint vernuͤnftiger, als ſie in den Vereinigten Staaten anzulegen. Wir koͤnnen hier beſſer beurtheilen, wie ſie hier gut untergebracht werden koͤnnen, als wie ſich das in Europa thun laͤßt. Die Art, wie ſich Gelder uns am fuͤg¬104 lichſten uͤbermachen laſſen, iſt im Brief angegeben. Wir empfehlen uns daher, wenn Gelegenheiten vorkommen, der vor¬ zuͤglichen Aufmerkſamkeit des Herrn Vetters. Es iſt ſonderbar genug, wie Dinge herumkommen. Unſre vorzuͤglichſten Geſchaͤfte ſind jetzt mit Schleſien, deſſen Manufakturwaaren wir zugeſchickt erhalten und hier verkaufen. Meine Abenteuer in dem Revier verſchafften mir dort Zutrauen und Freunde!

Sie wundern ſich wohl ein bischen, liebe Freundin! Sein Sie unbeſorgt! Wiewohl ein Wucherer, wenn Sie wollen, kein Roſt von niedrigem Eigennutz ſoll jemals auf meinem Karakter haften!

Intereſſen berechnen, Preisverzeichniſſe ſtudiren, Proben ſammeln, Briefe ſchreiben, Verkaͤufe machen, das wechſelt ab mit Dichter leſen, Aufſaͤtze ſchreiben, Politik ſtudiren; dies iſt ein gutes Leben genug. Und ſoviel weiß ich wenigſtens, daß ſelbſt das ſpirituellſte Metier ſeinen guten Antheil von Tage¬ loͤhnerarbeit hat.

Außer Lewis iſt noch ein juͤngerer Bruder, Andreas Boll¬ mann, mit uns, der unſerm Entwurf zufolge ſich kuͤnftig mit uns verbinden wird. Er iſt erſt ſiebzehn Jahr alt, und lernt die Handlung jetzt!

Es freut mich oft, daß der Herr Vetter vom kaufmaͤnni¬ ſchen Stand eine ſo gute Meinung hatte.

Bleiben Sie meine Freundin, liebe Baſe. Sie ſollen noch Freude an mir erleben!

V.

In Amerika war Bollmann mit offenen Armen auf¬ genommen worden; die zahlreichen Freunde und Ver¬ ehrer Lafayette's hatten ſich ſogleich ihm angeſchloſſen, ihm ihre waͤrmſte Dankbarkeit bezeigt, und ihm die eifrigſten Anerbietungen gemacht. Sein thatkraͤftiger105 Sinn, ſein ruhiges feines Benehmen, und ſeine beſchei¬ dene Selbſtſtaͤndigkeit erweckten allgemeines Wohlwollen. Mannigfache glaͤnzende Vorſchlaͤge, die man ihm that, lehnte er ab, und wollte ſein Fortkommen nur auf die eigne freie Thaͤtigkeit gruͤnden. Nur Raum fuͤr dieſe und vorlaͤufiges Zutrauen wuͤnſchte er, und beides fand er reichlich. Wir haben geſehen, daß er mit ſeinen Bruͤdern in Philadelphia ein Handlungshaus gruͤndete. In dem ſchon erwaͤhnten Umlaufſchreiben, durch welches das Haus ſeine Errichtung anmeldete, ertheilte Boll¬ mann umſtaͤndlichen Bericht vom allgemeinen Zuſtande der Dinge in den Vereinigten Staaten, von dem Um¬ fange und den Bedingniſſen der dort moͤglichen Geſchaͤfte, von den perſoͤnlichen Verbindungen und Ausſichten, welche ſich ſeinen Unternehmungen guͤnſtig zeigten. Dieſe Darſtellung, vier Druckbogen ſtark, iſt ein merkwuͤrdiges Zeugniß der gruͤndlichen Kenntniß und des reifen Sin¬ nes, ſo wie der rechtlichen Denkart des jungen Ver¬ faſſers und noch juͤngeren Geſchaͤftsmannes, und duͤrfte wohl verdienen, bei andrer Gelegenheit wieder abgedruckt und als ein ſprechendes Bild der damaligen, jetzt unge¬ meſſen fortgeſchrittenen Verhaͤltniſſe bewahrt zu werden. Das Unternehmen hatte den gluͤcklichſten Erfolg, und Bollmann ſtand bald in der mannigfachſten und ausgebreitetſten Geſchaͤftsthaͤtigkeit. Dabei ſtudirte er unablaͤſſig die Natur in allen ihren Richtungen, die Bezuͤge der Kunſtfertigkeiten, des allgemeinen Verkehrs,106 des Staatslebens, und ſelbſt der Religion. Die that¬ ſaͤchlichen Anſchauungen ſtuͤtzten ſein Denken, dieſes gab jenen ein helleres Licht. Das Gluͤck beguͤnſtigte ihn; er gelangte zu bedeutendem Anſehn und Wohlſtand, und lebte geſchaͤtzt und geliebt unter ſeinen neuen Mitbuͤr¬ gern, in deren Mitte er ſich nun auch durch die Hand einer edlen und liebenswuͤrdigen Frau heimathlich feſt¬ gehalten ſah. Seine gluͤckliche Ehe gab ihm zwei Toͤch¬ ter. Sein Wirkungskreis erweiterte ſich fortwaͤhrend: er machte eine große Reiſe durch die ganze Ausdehnung der Vereinigten Staaten, durch die Urwaͤlder, zu den fernſten Bergen, uͤber die Seen. Er nahm nicht minder Theil an dem politiſchen Leben ſeines neuen Vaterlan¬ des, wo ſich in den damaligen Umſtaͤnden zwei beſtimmte Partheien einander gegenuͤberſtellten, die Demokraten und die Foͤderaliſten. Bollmann gehoͤrte zu den letztern, in welchen ſich vorzugsweiſe die Hinneigung zu Eng¬ land und zu gemaͤßigtem Freiheitsſinne zeigte, dem ſogar ein ariſtokratiſches Element nicht zuwider war. Mit den Haͤuptern dieſer Parthei, hoͤchſt achtungswuͤrdigen und bedeutenden Maͤnnern, ſtand er in naher Verbindung, und durfte erwarten, auch als Staatsmann einſt in angeſehener Wirkſamkeit aufzutreten.

Inzwiſchen hatte die franzoͤſiſche Revolution in Euro¬ pa die wunderbarſten Wandlungen durchlaufen, und in Napoleons Herrſchaft den hoͤchſten Gipfel ihrer dem Anfange ſchon laͤngſt ungleichartigen Erſcheinungen er¬107 reicht, bis endlich auch dieſe Geſtalt zuſammenſtuͤrzte, und eine gluͤckliche Zukunft in der Wiederherſtellung ehemaliger Zuſtaͤnde und allgemeinen Friedens verheißen wurde. Schon oft hatte Bollmann gewuͤnſcht, Europa wiederzuſehen, und ſeine lieben Verbindungen dort, welche durch den Krieg faſt ganz unterbrochen worden, zu erneuern. Er hatte das Ungluͤck gehabt, ſeine Gat¬ tin zu verlieren, und fand ſich dadurch um ſo mehr gemahnt, die noch lebenden Angehoͤrigen in Deutſchland aufzuſuchen. Aber auch der Umfang und die Bedeu¬ tung ſeiner Geſchaͤfte, und neue Unternehmungen, die ſich ihm eroͤffneten, machten ſeine Gegenwart in der alten Welt nothwendig. Er hatte wichtige Entdeckun¬ gen im Gebiete der praktiſchen Phyſik und Chemie gemacht, aus welchen große Vortheile zu ziehen ſein konnten. Die bedeutendſten Auftraͤge wurden ihm an¬ vertraut. Ja ſogar politiſche Zwecke konnten von ſeinem Beobachtungsgeiſte foͤrderliche Ausbeute hoffen. Er kam nach England, wo er mit den erſten Staats¬ maͤnnern ſogleich in Verbindung trat; fuͤr die Geſchaͤfte des Handels und betriebſamer Unternehmungen bot ihm das große Haus Baring einen feſten Anhalt, der jeden andern entbehrlich machte. In Frankreich, wohin er ſich dann begab, lebte noch ſein Andenken im beſten Ruhme bei den alten Freunden fort, die zum Theil jetzt in den hoͤchſten Aemtern und im groͤßten Einfluſſe ſtan¬ den. Auch hier eroͤffneten ſich ihm eine Menge von108 Verhaͤltniſſen, die gewoͤhnlich dem Einwirken des Privat¬ mannes verſchloſſen ſind, deren Behandlung aber in dem Lande, wo ſich ein Franklin entwickeln konnte, der aͤchten Buͤrgerbildung, wie anderswo der Amtswuͤrde, zuſtaͤn¬ dig und gelaͤufig wird. Doch London und Paris konn¬ ten ihm nicht genuͤgen; nicht nur ein romantiſcher Trieb, der ſich leicht begreifen laͤßt, ſondern auch geſchaͤftliche Anlaͤſſe von großer Wichtigkeit, denen er zu folgen hatte, zogen ihn durchaus nach Wien, wo zum großen Con¬ greſſe die machtvollſten und glaͤnzendſten Vertreter der europaͤiſchen Welt ſich ſchon verſammelten.

Eingedenk der fruͤheren Verwarnung, fragte er bei dem oͤſterreichiſchen Geſandten an, ob ihm der Zutritt in Oeſterreich wohl erlaubt werden moͤchte? Wie fern lag jener alte Vorgang dem jetzigen Zuſtande, wie tief begraben in der Erinnerung! Der Buͤrger der Ver¬ einigten Staaten, der wirkſame Geſchaͤftsmann, der von Lord Caſtlereagh und von dem Fuͤrſten Talleyrand eifrig Empfohlene, hatte nichts mehr gemein mit jenem tollkuͤhnen Abentheurer; der Mann, fuͤr den er Leben und Freiheit gewagt, war kaum noch ein Gegenſtand der Aufmerkſamkeit, geſchweige denn des Haſſes. In der Noth des Kampfes und in der Freude des Sieges waren ganz andre Ausſoͤhnungen erfolgt, ganz andre Unbilden vergeſſen worden! Bollmanns vorſichtige An¬ frage wurde daher ſehr gut aufgenommen, und durch die Verſicherung beantwortet, er duͤrfe ohne Scheu nach109 Oeſterreich reiſen, Niemand werde ihn dort wegen der alten Geſchichte beunruhigen. Er empfing die noͤthigen Paͤſſe, und reiſte nach Wien.

Im Oktober 1814 traf er daſelbſt ein, als die Ge¬ ſchaͤftsarbeiten noch wenig im Gang, das Gedraͤnge der geſelligen Bewegung aber am groͤßten war. Hier, wo die glaͤnzendſten Perſoͤnlichkeiten ſo leicht verblichen, fand der einfache, aber mit Sachkunde und Bildung auf¬ tretende Buͤrger alsbald die ausgezeichnetſte Beach¬ tung. Er hatte der oͤſterreichiſchen Regierung mancherlei Antraͤge zu machen, bei welchen er theils in eignem Namen, theils in dem des Hauſes Baring auftrat. Mit den Haͤfen des adriatiſchen Meeres hatte Oeſter¬ reich einige Linienſchiffe zuruͤckbekommen; in Idria lag Queckſilber angehaͤuft, das ſeit mehreren Jahren wegen des Krieges nicht hatte nach Amerika verſchifft werden koͤnnen; dieſe Gegenſtaͤnde, im Betrage ſehr großer Summen, wollte er ankaufen; auf der Donau ſollte die Dampfſchifffahrt eingefuͤhrt, und daruͤber ein Vertrag abgeſchloſſen werden. Waͤhrend Bollmann dieſerhalb Unterhandlungen anknuͤpfte, wurde ſeine Aufmerkſamkeit auf den Zuſtand der Finanzen hingezogen, und beſon¬ ders auf die große Maſſe Papiergeldes, welche aus den fruͤhern Kriegsjahren uͤbrig war und das Land als ein empfindliches Uebel druͤckte. Der Finanzminiſter Graf von Stadion, an welchen Bollmann wegen ſeiner Ge¬ ſchaͤfte gewieſen war, gewann bald ein großes Vertrauen110 zu deſſen Einſichten und praktiſchen Faͤhigkeiten, und klagte uͤber den ſchwierigen Kampf, den er gegen dieſes unaufhoͤrlich ſchwankende Papiergeld zu fuͤhren habe; die Verminderung deſſelben ſei durchaus nothwendig, nur vermoͤge man die beſten Huͤlfsmittel dazu noch nicht aufzufinden. Bollmann verfaßte hierauf eine Denkſchrift, worin er buͤndig und klar, in der einfachſten Darſtel¬ lung, dieſe Huͤlfsmittel angab. Seine Anſichten und Vorſchlaͤge machten Eindruck, und wurden von allen oͤſterreichiſchen Staats - und Geſchaͤftsmaͤnnern, denen ſie mitgetheilt wurden, durchaus gebilligt. Der Fuͤrſt von Metternich nahm den Urheber perſoͤnlich mit großem Wohlgefallen auf, und aͤußerte den Wunſch, derſelbe moͤchte durch den Praͤſidenten der Vereinigten Staaten eine dauernde diplomatiſche Anſtellung in Wien erhalten. Gentz, der auch in den Finanzſachen oͤfters zu Rath gezogen wurde, konnte nicht aufhoͤren, Bollmanns Ein¬ ſicht zu ruͤhmen, und ſuchte eifrig ſeinen Umgang. Auch der Banquier Freiherr von Eskeles, durch vertraute Kenntniß der Oertlichkeit und innern Verhaͤltniſſe, ſo wie durch umſichtige Geſchaͤftskunde und durchdringen¬ den Scharfſinn hoͤchſt ausgezeichnet, erklaͤrte ſich einver¬ ſtanden mit dem vorgelegten Plane. Wirklich wurden in den nachherigen heilſamen Finanzmaßregeln, ſo wie bei den Grundlagen der bald hervortretenden National¬ bank, einzig Bollmanns Angaben und Entwuͤrfe befolgt, und er iſt ſonach als der eigentliche Stifter dieſer in111 den oͤſterreichiſchen Finanzen neuen Epoche zu betrachten, deren ſegenreiche Wirkſamkeit noch ſtets fortdauert. Er arbeitete ohne Eigennutz und Belohnung, aber mit dem ſuͤßen Gefuͤhl, dem Staate nuͤtzlich und dankbar zu ſein, in deſſen obrigkeitliche Gewalt er einſt freventlich eingegriffen, und der ihn dafuͤr mit Großmuth und Nachſicht behandelt hatte!

Nicht nur den Staatsmaͤnnern Oeſterreichs, auch denen andrer Laͤnder wurde Bollmann in Wien vor¬ theilhaft bekannt. Der preußiſche Finanzminiſter, Frei¬ herr von Buͤlow, beſprach mit ihm den Plan, durch Dampfſchiffe die Elbe zu befahren. Der ruſſiſche Finanz¬ miniſter, Graf Gurieff, trat in Briefwechſel mit ihm uͤber den Vorſchlag, aus Platina Geld zu muͤnzen, der viele Jahre ſpaͤter in Rußland wirklich zur Aus¬ fuͤhrung kam, und wozu Bollmann eine damals noch geheime Verfahrungsart anzubieten hatte. Auch der hannoͤverſche Staatsminiſter, Graf von Muͤnſter, freute ſich ſeines ausgezeichneten Landsmannes, und ſetzte großes Vertrauen in ihn. Mit Cotta, der zu Wien in einem großen, ſowohl politiſch als literariſch bedeutenden Kreiſe wirkte, fand Bollmann viele Anknuͤpfungspunkte. Der deutſche literariſche Zuſtand aber befriedigte ihn im Gan¬ zen wenig; Goethe’n ausgenommen, waren die neueſten Dichter und Philoſophen ihm faſt unzugaͤnglich, und er verhehlte nicht, wie ſehr ſie ihn befremdeten. Dagegen war er einer der Erſten, der in jener Umgebung mit112 lebhaftem Ruͤhmen von Walter Scott und mit hoher Begeiſterung von Lord Byron ſprach.

Der Gang aller Verhandlungen und Geſchaͤfte war weitausſehend; Bollmann konnte ihre Entwickelung fuͤr jetzt in Wien nicht abwarten, denn andre wichtige Ver¬ haͤltniſſe forderten dringend ſeine Gegenwart in England. Er reiſte vor beendigtem Congreſſe dahin ab.

Die Ruͤckkehr Napoleons von der Inſel Elba nach Frankreich, welche die Voͤlker Europas in abermalige Verwirrung geſetzt hatte, wurde nach kurzer Dauer durch den Sieg Bluͤchers und Wellingtons bei Bellealliance wieder ausgeloͤſcht, und der Thron der Bourbons zum zweitenmale hergeſtellt. Waͤhrend der hundert Tage dieſer zweiten Herrſchaft Napoleons war aber auch La¬ fayette aus ſeiner Zuruͤckgezogenheit hervorgetreten, und als Mitglied der Repraͤſentantenkammer das eigentliche Werkzeug der zweiten Abdankung des Kaiſers und ſei¬ ner Entfernung aus Paris geworden, zugleich hatte er fuͤr die Unabhaͤngigkeit Frankreichs, und gegen die Ein¬ miſchung der Verbuͤndeten in deſſen innere Angelegen¬ heiten, ſich ſtark erhoben und ſich zu dieſem Zweck eine ſchwierige Sendung mit uͤbernommen. Bollmann, der in dieſer Zeit eine kurze Anweſenheit in Paris machen mußte, ſah den alten Freiheitsfreund ganz in alter Weiſe handeln, in denſelben Grundſaͤtzen wie ehemals, und fand nicht nur dieſe folgerecht, ſondern auch das Benehmen des vielgepruͤften Mannes tadellos. Dieſer113 hatte jedoch an der Spitze der Angelegenheiten nur eben erſcheinen, aber nicht ſich behaupten koͤnnen, wie dies ihm und allen denjenigen immer begegnet iſt, welche in den wogenden Ereigniſſen nicht dem Strome, ſondern unnachgiebig einer ſtarren Richtung folgen wollen. Der Haß und Unglimpf aller Partheien ſchuͤttete ſich darauf heftig gegen ihn aus, man ſagte laut, neben begruͤn¬ detem Tadel, auch die falſcheſten Dinge von ihm. Dies wollte Bollmann nicht leiden, und ſo grobe und un¬ wahre Anklagen ſeinem theuern Lafayette abwehren. Er ſchrieb zu dieſem Behuf eiligſt einen Aufſatz unter dem Titel: Einige hiſtoriſche Notizen, die neuerlichen Er¬ eigniſſe in Frankreich betreffend, ſandte denſelben an Cotta, und dieſer ließ ihn in der Allgemeinen Zeitung und in den Europaͤiſchen Annalen, an letzterem Orte mit hinzugefuͤgten Belegen, ſofort abdrucken. In der Fluth politiſcher Stimmen machte ſich dieſe bemerklich genug; ſie fiel durch ſchlichte Entſchiedenheit auf, und brachte Thatſachen und Anſichten zur Sprache, welche tief in den Streit der Partheien eingriffen. Gentz erhob ſich als Gegner, und ſchrieb heftig gegen den unbe¬ kannten Verfaſſer, nicht ahnend, daß dieſer derſelbe Mann ſei, mit welchem er eifrig Briefe wechſelte, und welchem Oeſterreich eine ſeiner wichtigſten Angelegen¬ heiten vertraut hatte! Bollmann laͤchelte zu dem wun¬ derlichen Zuſammentreffen, und mochte den Streit nicht weiterfuͤhren, da kein Ergebniß davon zu hoffen ſein8114konnte. Ihn ſelbſt beſchaͤftigten wieder ganz andre Gegenſtaͤnde. Er war bereits wieder in England, und ſchiffte ſich nach Amerika ein, um ſeine dortigen Ange¬ legenheiten zu ordnen, und ſeine beiden Toͤchter nach Europa abzuholen.

Hier ſchließen ſich aus dieſer und der naͤchſtfolgen¬ den Zeit einige an Varnhagen gerichtete Briefe an, aus welchen die Geſinnungen, Verhaͤltniſſe, Thaͤtigkeiten und Ausſichten, in welchen Bollmann unermuͤdet ſtrebte, einigermaßen zu erſehen ſind. Sie machen uͤbrigens keinen andern Anſpruch, als die Zuͤge ſeines Bildes, die wir von ſeiner Juͤnglingshand mitgetheilt haben, durch einige hinzugefuͤgte Striche von der Hand des gereiften Mannes zu vervollſtaͤndigen.

12.

Sie wollen mir alſo keine Ausſchnitte ſenden? wollen nichts dazu beitragen, daß ich meinen Toͤchtern zeigen koͤnne, wie vie¬ lerlei Talente es in Deutſchland giebt!

Und Frau von Varnhagen iſt Sie mit Ihnen geſund heiter? das Letzte iſt ſchwer in der Mitte von ſo viel bedraͤng¬ ten und ſo viel eklichen Leuten ich verſtehe hierunter nicht die Pariſer.

Ich wollte, ſie waͤre hier. Wenn Ihr in Wien des alten wuͤrdigen Pouthon's Thaͤtigkeit zuſagte, ſo wuͤrde ſie hier nicht aus der Ekſtaſe kommen, wenn Sie ſaͤhe, wie man groß ſein kann in der Arbeit, und magnifik in Anſtalten des Nuͤtzlichen! Demungeachtet ſind die Englaͤnder beſchraͤnkt, kalt, ſteif, wenn Sie wollen. Es laͤßt ſich ſchwer alles vereinigen!

115

Der Prinz-Regent ſagt nun laut, man habe Unrecht gethan, den alten Koͤnig hinzuſetzen denn er verhindert uns, ſetzt er hinzu, Exempel zu ſtatuiren! Die Welt liegt im Argen!

Ich laſſe Frau von Varnhagen bitten, ſich vor den Docto¬ ren zu huͤten ſelbſt vor Koreff, wiewohl einer der Beſten. Meinen Gruß an Oberſt von Pfuel. Ich bedaure, daß ich ihn ſo kurze Zeit gekannt habe. Und recht viel Schoͤnes, Herzliches an Schlabrendorf. Auch ſeinetwegen verlaſſ ich Europa un¬ gern, und glichen ihm Viele, ſo ſollte nichts mich abhalten, zu¬ ruͤckzukommen, ſelbſt auf Kartoffeln und Waſſer!

Was wollen denn Sie Sie Alliirte zuletzt noch in Frankreich anfangen? Haben Sie von Cotta gehoͤrt?

E. Bollmann.

13.

Ihren Brief, lieber Varnhagen, vom 25. September, mit den ſchoͤnen Ausſchnitten, erhielt ich erſt in Amerika, ſpaͤt im Fruͤhjahr. Er war mir recht erfreulich, und meine Maͤdchen haben die Ausſchnitte ſehr bewundert.

Sie ſehn, daß ich Wort halte. Am 16. Mai gingen wir von Philadelphia ab, am 12. Juni waren wir in Liverpool nach einer kurzen, ſchoͤnen Ueberfahrt nur waͤren wir am 10. an der Kuͤſte von Irland beinahe geſcheitert. Ein dichter Nebel verbarg das Land, der Kapitaͤn war unvorſichtig, und verlor nachher alle Gegenwart des Geiſtes, wie wir umringt waren mit Felſen und nicht wußten, wohin uns wenden. Die Maͤdchen benahmen ſich recht heroiſch, und wir zogen uns gluͤck¬ lich aus der boͤſen Lage.

Seit drei Wochen ſind wir hier. Ich ſchrieb gleich an Schlabrendorf, zu erinnern, wo Sie waͤren, er hat aber nicht8 116geantwortet. Ich laſſe dieſen Brief auf’s Gerathewohl nach Berlin gehn.

Mehrere Angelegenheiten werden mich fuͤr’s Erſte hier auf¬ halten. Meine weiteren Bewegungen werden von Umſtaͤnden abhaͤngen. Die Abſicht iſt, wenigſtens einige Jahre in Europa zuzubringen. Da meine Toͤchter nun mit mir ſind, ſo zieht mich nichts mehr ſtark nach Amerika zuruͤck, es ſei denn beſſere Aus¬ ſichten fuͤr dieſe. Es erſchreckt mich zuweilen, ſie nun in einer Welt zu ſehn, wo, außer mir, ſie Niemand kennt und liebt, und wo ſie Niemand angehoͤren. Mein Leben ſchien mir nie ſo nothwendig. Weibliche Geſchoͤpfe, vorzuͤglich wenn ſie mehr Werth als Schoͤnheit beſitzen, vertragen das Verpflanzen nicht gut. Ich denke oft an Sie, und Ihre liebe Frau, und wollte, wir waͤren uns naͤher.

Stadion wie ich ſo eben gehoͤrt bringt nun alle meine Plaͤne zur Ausfuͤhrung. Bedeutend iſt dieſe Revolution doch ge¬ wiß, und von mir ging ſie aus, wiewohl mich in der Sache Niemand nennt, und mir auch daraus bis jetzt noch nicht der mindeſte Vortheil entſprungen. Mein Plan iſt in allen Zuͤgen im Weſentlichen, wie im Beſondern, beibehalten worden, nur hat man ſich Eine Abweichung erlaubt, die mir gefaͤhrlich ſcheint. Die allmaͤhlige Einziehung der im Umlauf bleibenden Scheine, nach Errichtung der Bank, ſollte nach meiner Idee durch den Verkauf der neuen 2½ Prozent tragenden Staatsobligationen bewirkt werden. Die Bank ſollte dieſe gegen Scheine verkaufen, und der Staat der Bank fuͤr die ſo eingezogenen Scheine neue Obligationen geben die ſie dann haͤtte wieder verkaufen koͤn¬ nen und ſo fort. Dann haͤtte man den Gang des Geſchaͤfts in ſeiner Gewalt behalten, der Staat haͤtte den Vortheil des Markts genoſſen, und der Kours haͤtte ſich allmaͤhlig gehoben. Statt deſſen erbietet man ſich, $$\frac{2}{7}$$ baar Geld den Inhabern zu117 bezahlen, und $$\frac{5}{7}$$ zu 1 Prozent zu fundiren. Die ganze Pa¬ piermaſſe duͤrfte ſich alſo ploͤtzlich zur Umgeſtaltung verdraͤngen das iſt weniger vortheilhaft, ja gefaͤhrlich wenn man nicht wenigſtens 50 bis 60 Millionen in Muͤnze in Bereitſchaft hat, und es koͤnnen daraus viel Unbequemlichkeiten fuͤr’s Publikum entſtehn. Hat man indeſſen die Muͤnze, ſo bin ich’s zufrieden; im entgegengeſetzten Fall, und waͤre man der Nothwendigkeit ausgeſetzt, zu den Eingeladenen ſagen zu muͤſſen: ihr muͤßt wie¬ derkommen, halte ich den guten Erfolg des ganzen Syſtems fuͤr gefaͤhrdet, ihr Knaben huͤtet euch, die Klugheitslinie auch nur ein Haar breit zu verfehlen! An Stadion und Gentz habe ich ſeit meiner Ankunft hier geſchrieben. Ob ſie mich wohl brauchten? Eſterhazy hier war dieſen Morgen ausnehmend freundlich fragte mich auch gleich, ob ich wohl Luſt haͤtte, nach Wien zu gehn? Das muͤßte ſich aber doch der Muͤhe verlohnen, und dann iſt Berlin nicht weit davon das waͤre recht ſchoͤn. An einen bleibenden regelmaͤßigen Aufenthalt in Wien wuͤrde ich nicht denken. Das Schoͤne iſt weg, ſobald man Jemand im Wege ſteht, und Sie wiſſen, es kommt nicht leicht wieder.

Der Aufſatz uͤber die Vereinigten Staaten blieb in Gentz’s Haͤnden. Was daraus geworden, weiß ich nicht!

Iſt Adam Muͤller jetzt in Leipzig? und wo iſt Wieſel? und Schlegel? Was erwarten Sie vom Kongreß in Frank¬ furt? Alles dies wuͤßt ich gern, und von Ihnen, aber vor allen Dingen, und ganz beſonders, und vorzugsweiſe ſchreiben Sie mir recht viel von Ihrer lieben Frau wo ſie iſt, und wie ſie iſt, und wo ſie ſein wird, damit ich berechnen koͤnne, wie ich mich bewegen muß, um Ihnen Beiden recht bald wieder zu begegnen!

118

Machen Sie keinen Gebrauch von dieſem Brief, der Jemand in Wien in uͤble Laune ſetzen koͤnnte, ich habe mich uͤber Nie¬ mand zu beſchweren.

Ich ſetze hier Verſchiedenes in den Kuͤnſten in Gang, das mir ſehr vortheilhaft werden duͤrfte.

An Ihre Frau viel Hochachtungsvolles, Schoͤnes und Liebes von meinen Toͤchtern und mir ſelbſt. Schreiben Sie mir recht bald initiiren Sie mich in dem Bedeutenden, das vorgeht, und ſich zubereitet ein freundlich Wort an Auguſte, wenn ſie in Ihrer Naͤhe iſt. Der Ihrige, wie immer, warm und wahr.

E. Bollmann.

Wo iſt Carl Sieveking?

14.

Ihren freundſchaftlichen Brief vom 8. Auguſt ſo lange nicht beantwortet zu haben, iſt durchaus unverzeihlich. Sie haͤtten indeſſen Sie Beide ganze Baͤnde von mir zu durchleſen, wenn man niederdenken koͤnnte ſtatt niederſchreiben. Ich bin ſehr beſchaͤftigt, um ein großes chemiſches Etabliſſement zu orga¬ niſiren, das mir die Mittel abwerfen ſoll, kuͤnftig herumzureiſen, zu thun und zu ſagen, was mir gefaͤllt, und was ich fuͤr Recht halte, ohne mich um Jemand zu bekuͤmmern. Es laͤßt ſich auch an, als ob mir das vollkommen gelingen ſollte.

So weit war ich gekommen, wurde unterbrochen, und der Brief blieb unvollendet. Dieſen Morgen empfing ich Ihren zwei¬ ten vom 23. Oktober, welcher nicht der dritte iſt, denn die Ita¬ liaͤner haben ſich noch nicht ſehen laſſen. Die Gewiſſensbiſſe wer¬ den nun zu groß. Ich ſetze mich alſo gleich hin, und will nicht aufſtehn bis der Brief expedirt iſt.

119

Im Juli, als ich Ihnen zuerſt ſchrieb, hielt ich's fuͤr wahr¬ ſcheinlich, daß man mich veranlaſſen wuͤrde, nach Wien zu gehn, und dann hofft 'ich Sie zu ſehn. Die Erwartung hab' ich aber laͤngſt fahren laſſen. Die Sachen gefallen mir uͤberhaupt mehr und mehr beſſer wie die Menſchen, und im chemiſchen Manufak¬ turfach iſt hier noch Vieles zu thun. Einer meiner Freunde hat das Raffiniren der Zucker ſo ſehr vervollkommt, daß er 1 / 5 mehr Ertrag erhaͤlt, als nach der gewoͤhnlichen Art. Man bot ihm fuͤr ſeine patentirte Erfindung 40,000 Pfund Sterling, die er ausſchlug. Er veraͤußerte aber, an Einzelne, das Recht, ſich derſelben zu bedienen, und hatte ſich ſchon ein jaͤhrliches Ein¬ kommen von 6000 Pfund Sterling verſchafft, als ihn der Tod abholte. Er ſtarb vor einigen Wochen. Eine Tochter und ſein Bruder, der Herzog von Norfolk, ſind untroͤſtlich uͤber ſeinen Verluſt. Ich fuͤrchte mich, ich weiß nicht warum, vor einem aͤhnlichen Schickſal. Wenn mir's in weltlichen Dingen mal recht gelingt, ſo wird's gewiß nicht lange dauern. Dies hindert mich aber nicht, fortzuarbeiten. Seit ich hier bin, hab 'ich eine Aſſociation zu Stande gebracht zwiſchen mir ſelbſt, einem reichen jungen wiſſenſchaftlichen Mann, deſſen Steckenpferd die Chemie iſt, und einem Schwaben, der in Frankreich zu großen chemiſchen Operationen erzogen worden. Wir kauften ein großes Eta¬ bliſſement an der Themſe, eine halbe deutſche Meile von der Stadt, deſſen Beſitzer kuͤrzlich ſtarb. Da deſtillirt und reinigt man Holzeſſig nach einer neuen patentirten Methode, und fabri¬ zirt alle die Waaren oder Artikel, die mit Eſſig was zu thun haben als Spangruͤn, Bleizucker, auch Soda und viele andere. Der Gewinn darauf iſt von 100 bis 200 Prozent, ſo viel einfacher, ſchneller und beſſer iſt unſere Art zu arbeiten. Es fehlt aber an Schwierigkeiten nicht. Die Nachbarn ſagen, die Fabrik verfaͤlſcht die Luft, und wollen uns forttreiben, vor¬120 zuͤglich weil unſere Arbeiter alle Deutſche ſind. Die Conſum¬ teurs ziehn die gekannte, ſchlechte, theuere Waare der ungekann¬ ten, wohlfeileren, ſchoͤnern vor, u. ſ. w. und dieſe Schwierig¬ keiten machen vorzuͤglich mir zu ſchaffen, denn der Englaͤnder giebt das Geld, der Schwabe dirigirt die Fabrik, und ich das Ganze. Ueberdies hab ich noch ſelbſt ein Laboratorium, wo ein Arbeiter unter meiner Anleitung den Chromat von Blei fabrizirt, die ſchoͤne neue gelbe Farbe, wozu ich die Ma¬ terialien mit von Amerika brachte. Wir haben auch ein Pa¬ tent fuͤr eine neue Art, das Holz zu verkohlen. Man erleuch¬ tet hier mit Steinkohlengas die Stadt. Mit dem Holzgas verkohlen wir das Holz. Das eingeſchloſſene Holz iſt oben. Sein herunter geleitetes Gas wird Flamme unten. Es verkohlt ſich mit ſeiner eigenen Hitze. Ich verhandle jetzt mit dem Gouver¬ nement die Anwendung dieſer Erfindung in ſeinen Pulverfabriken. Und ſo bin ich denn den ganzen Tag, von 8 Uhr Morgens auf den Beinen, waͤhrend die Maͤdchen leſen, ſchreiben, ſpielen, ſingen, Muthwillen treiben u. ſ. w. um 5 Uhr wird gegeſſen von 7 bis 9 nehmen die Geſchaͤftsſchreibereien weg um 9 Uhr wird Thee getrunken, von 9 bis 12 Uhr beſchaͤftigen wir uns mit Phyſik, Mineralogie, und dergleichen, machen allerlei Experimente mit Luftpumpen, elektriſchen Maſchinen u. ſ. w., und amuͤſiren uns hoͤchlich. Gegen 1 Uhr gehen wir zu Bette und ſchlafen ohne uns zu ruͤhren. Dies ich buchſtaͤblich unſere Tagesgeſchichte, worin nur gelegentlich das Schauſpiel, die Oper, ein Ball, eine Einladung, eine Spazierfahrt einige Veraͤnde¬ rungen machen. Es ſoll mir indeſſen kuͤnftig, wenigſtens an Sie und Ihre liebe Frau zu ſchreiben, ein Stuͤndchen uͤbrig bleiben. Ich freue mich der vielen Dinge, die ich in den letzten 12 Monaten in Anregung gebracht, und zum Theil zu Stande gebracht habe. Wenn mir’s vollkommen gelingt, ſo habe121 ich fuͤr meine uͤbrigen Lebenstage Ruhe. Auch hoffe ich, waͤh¬ rend des Winters die Maſchine ſo vollkommen und regelmaͤßig in Gang zu bringen, daß wir im Sommer eine Ausflucht nach Frankreich und Deutſchland machen koͤnnen, wonach uns Allen recht luͤſtet.

Von Gentz habe ich, ſeit fuͤnf Wochen, einen noch unbeant¬ worteten Brief von dreizehn Seiten. Er ſelbſt habe ſich in das Finanzfach geworfen, da doch die Politik jetzt nicht viel zu thun gebe die vielen Gruͤnde, warum man im Plan die von mir mißbilligte Veraͤnderung (oder vielmehr den Zuſatz) habe machen muͤſſen, wuͤrden ein Buch erfordern. Die Leute ſeien ſo dumm, das Mißtrauen ſei ſo groß, das Andringen ſo unbaͤndig. Es ſolle indeſſen Alles gut werden am Ende. Mein Hinuͤber¬ kommen waͤre recht ſchoͤn. Auch woll 'er, bei der Zuruͤckkunft nach Wien (er war im Bade) gleich ſehn, daß man mir zur Reiſe Luſt mache u. ſ. w. u. ſ. w. Der Zuſatz hat, fuͤr die gute Sache, beinahe Alles unwiederbringlich verdorben, wenig¬ ſtens das Erreichen des guten Zwecks unendlich erſchwert. Mit einem ungeheuern baaren Geldvorrath waͤre die Maßregel kaum vernuͤnftig geweſen; mit einem beſchraͤnkten (wo denn die ſchon erfolgte Einſtellung derſelben unausbleiblich) war ſie ganz ungeheuer dumm. Die Bank ſollte das Mittel, das Werkzeug der ruhig durchzufuͤhrenden, großen Operation werden. Guten Glauben und Vertrauen wieder zu begruͤnden, war die erſte Ruͤck¬ ſicht. Der Ueberfluß des geſunkenen Papiergeldes disponirte das Publikum, zur Bank begierig zu unterſchreiben. Der Muͤnz¬ vorrath des Gouvernements konnte der neuen Inſtitution Gewicht und Kraft geben. Statt dieſe guͤnſtigen, zum Zweck ſchnell fuͤh¬ renden Umſtaͤnde klug zu benuͤtzen, wirft man die Alternative hin, laͤßt durch's angebotene Abbezahlen der (der Kours war zwiſchen 300 und 360) einen augenblicklichen Gewinn von 30122 bis 40 Prozent wahrnehmen, ohne die Obligationen fuͤr die auch nur in Anſchlag zu bringen. Die Bankſubſcription wird nun vernachlaͤſſigt, auf die ſtuͤrzt ſich Alles hin die Bank¬ noten ſind dem Publikum nur Anweiſungen auf Geld, um ſo mehr, weil doch Jeder ſchon fuͤhlt, es koͤnne ſo nicht fortgehn. Das Gouvernement muß endlich die Maßregel zuruͤcknehmen, die Zahlungen einſtellen, und der Kredit der Bank wird ſchon zer¬ treten, ehe ſie einmal angefangen hat zu exiſtiren, und dies haͤtte Gentz nicht vorhergeſehen? Die Erſten, welche im Ge¬ heimniß waren, die Erſten fuͤr die an der Thuͤr waren doch in großem Vortheil ! Daß meine ehrlich gemeinten, un¬ eigennuͤtzigen, vernuͤnftigen Vorſchlaͤge eine Einleitung, ein In¬ ſtrument zu Privatſpekulationen geworden ſind iſt doch aͤrger¬ lich, wenn man ſich uͤber's Alltaͤgliche und Gemeine aͤrgern duͤrfte! Es iſt aber ſehr natuͤrlich, daß man nicht ſehr begierig ſein kann, mich in Wien zu ſehn. Wenn ich Zeit haͤtte, und es der Muͤhe ſich lohnte, ſo ließe ſich ein recht intereſſantes Pamphlet uͤber dieſe Geſchichte ſchreiben.

Meinen Aufſatz gegen Niebuhr hat Gentz noch. Ich ſchreib 'ihm, ihn zu verbrennen. Niebuhr iſt abweſend, und der Zeit¬ punkt voruͤber. Daß der Aufſatz von Paris aus den Eindruck gemacht, und die Bewegung veranlaßt hatte, wovon Sie ſchrei¬ ben, war mir ganz unbekannt. Ich waͤre gern in Deutſchland, wo ich doch Vieles faͤnde, das mir fehlt auch Sie Beide und wo mir's recht wohl ſein wuͤrde, vorzuͤglich wenn ich Alles mitbraͤchte wo ich auch noch manches wirken koͤnnte aber es iſt am beſten, jetzt hier fortzuarbeiten, um mich, vielleicht, nach einiger Zeit dort in der gewuͤnſchten Lage zu befinden, wenn ich nicht alt werde, und ſteif und kalt, eh’s ſo weit kommt.

Es uͤberraſchte mich recht, Sie in Karlsruhe zu wiſſen. Da machte ich meine erſten Studien. Der vor einiger Zeit ver¬123 ſtorbene Staatsrath Brauer (dort in hohem Andenken) war mein Vetter. Mit ihm lebt 'ich drei Jahre im Hauſe. Auf der Reiſe nach Wien nach zwanzigjaͤhriger Abweſenheit kam ich durch Karlsruhe. Ich kam an in der Nacht. Der Vetter todt. Hofrath Boͤckmann den ich ſehr geliebt, dem ich Vieles dankte todt. Dieſer todt jener todt nur Titel, der Kirchenrath (Logiker, Metaphyſiker), an dem hing noch Le¬ ben. Wenn die Gekannten, Geſchaͤtzten, ſo allmaͤhlig ſterben, bemerkt man's nicht, aber nach ſo langer Abweſenheit iſt's wie eine Schlacht. Ich wanderte im Dunkeln durch die wohlbe¬ kannten Straßen durch die Schneckengaͤnge und Alleen im Garten hinter dem Schloß die Baͤume, die Sitze, waren noch da, die Atmoſphaͤre herum war dieſelbe die Sterne ſtanden auf den alten Plaͤtzen, und die Erinnerung erſter romantiſcher Gefuͤhle und Abentheuer war in mir lebendig. Aber ich fuͤhlte mich aͤußerſt allein was ich noch liebte, jenſeits des Meeres ich fuhr in derſelben Nacht noch weiter. Jetzt bin ich hier, und die ſind mit mir; und Sie in Karlsruhe!

Ueber dies Land und Vieles haͤtte ich Ihnen viel zu ſagen. Dies muß ich verſparen.

Mein Vetter Brauer hat eine Wittwe hinterlaſſen, eine zweite Frau, die eine vortreffliche Frau ſein ſoll, die ich nie perſoͤnlich kannte. Sie koͤnnen vielleicht mit ihr bekannt wer¬ den. An ihre Vorgaͤngerin, meine Pflegemutter, ſchrieb ich im Jahre 1703 von Leipzig aus, einen ſehr langen Brief, ein Stuͤck Biographie von dreißig bis vierzig Seiten, das viel Eindruck machte, und das ich gern haͤtte, wenn's noch exiſtirt.

Die Domeyer war kuͤrzlich in Cheltenham, und erkundigte ſich nach mir. Wenn ſie zur Stadt koͤmmt, will ich ſie auf¬ ſuchen. Graf Bentheim hat London ſchon lange verlaſſen. Paul Eſterhazy iſt ein guter Menſch, und recht freundlich. Das etwas124 herzliche, oͤſterreichiſche Weſen der huͤbſchen Fuͤrſtin ſticht mit der engliſchen Kaͤlte recht ab. Graͤfin Muͤnſter hat ein kleines Maͤdchen, ſehnt ſich nach Deutſchland.

Prinz Coburg und ſeine Prinzeſſin ſind recht buͤrgerlich in einander verliebt. Die ungluͤckliche Lage, worin dieſe aufge¬ wachſen iſt, hat ſie gluͤcklich erzogen, das heißt, hat die hoͤfiſche Abnutzung und Veraͤrmlichung verhindert, die im Hoch¬ leben ſo gemein ſind. Sie fuͤhlt ſtark, und will ſtark. Im Trauer¬ ſpiel weint ſie Guͤſſe, lacht im Luſtſpiel, daß der Buſen ſchuͤttert. Sie nickt auch im Schauſpiel ohne Umſtaͤnde denen zu, welchen ſie wohl will eine ſonderbare Prinzeſſin, aber ein intereſſantes Geſchoͤpf. Prinz Coburg hat mich gefragt, wo Profeſſor Roͤſel ſei? Wiſſen Sie’s?

Herr Kuͤper Hofprediger hier vormals ſechs Jahre Lehrer oder Hofmeiſter in meines Vaters Hauſe, war viel um die Prinzeſſin Charlotte, und unterrichtete ſie im Deutſchen. Ich habe viel Intereſſantes, ſie betreffend, von ihm gehoͤrt.

Adam Muͤller ſchreibt in Leipzig allerlei, das mir nicht ge¬ faͤllt, allerlei Beſchraͤnktes. Die ungeheuren Ausgaben Englands auf den Kontinent waͤhrend des Krieges, brachten den Kours her¬ unter, in natuͤrlichen Worten machten engliſches Geld, machten Pfund Sterling ſpottwohlfeil; folglich kamen auch die engliſchen Waaren dem auswaͤrtigen Conſumenten wohlfeil zu ſtehn; folg¬ lich war der Abſatz groß; folglich vermehrte ſich unverhaͤlt¬ nißmaͤßig die fabrizirende Klaſſe; folglich fuͤtterten indirekt, aber doch recht wirklich, die ungeheuern, von den Bemittelten bezahlten, im Auslande ausgegebenen, als Praͤmie auf Ausfuhr operirenden Taxen die arbeitenden Aermeren. Der Krieg, die Taxen hoͤren auf, oder vermindern ſich, der Kours wird beſſer (wie man zu ſagen pflegt), alſo engliſche Waaren theurer, und die Ausfuhr bedeutend geringer. Man findet, daß man fuͤr die125 regelmaͤßigen Weltverhaͤltniſſe, und Englands natuͤrlichen Antheil an der allgemeinen Thaͤtigkeit, ein paar Millionen Menſchen hier zu viel hat die Noth und Elend allmaͤhlig aufreiben muß. Dies iſt die wahre Erklaͤrung des jetzigen Zuſtandes der Dinge hier. Dazu kommt noch, daß des Kriegs Aufwand und Ver¬ ſchwendung nicht mehr exiſtiren; daß die vorzuͤglich leiden muͤſſen, welche davon lebten; und daß immer die neuen Leidenden ſchreien, und Laͤrm machen, waͤhrend die Leidensgewohnten in der ver¬ gangenen Zeit, und denen es nun wohl wird, ſich ganz ruhig halten. Es giebt hier viel einzelne Bewegungen, und wird deren noch mehr geben, aber das Lebensprincip des Staats iſt ſtark und ungeſchwaͤcht, und Alles wird ſich ins Reine ar¬ beiten.

Waͤhrend dieſer Kriſe iſt es ganz natuͤrlich, daß die, in un¬ gebuͤhrlicher Menge verfertigten, angehaͤuften Waaren verſchleu¬ dert, weggegeben werden, aber es iſt nothwendig, daß dieſer Zuſtand voruͤbergehend ſein muß. Warum erhebt denn Adam Muͤller ſeine Stimme, und macht anerkannt wahren Grundſaͤtzen den Krieg? Wenn Manufakturiſten voruͤbergehend leiden, ſo befinden ſich auf der andern Seite die Conſumirenden die groͤßere Anzahl um ſo viel beſſer. Ein Staatsmann ſollte auch Ohren haben fuͤr die Stillen!

Daß in der Staatenfamilie, wie in der einzelnen Stadt, Jeder mache, was er am beſten verſteht, und daß ſich die Pro¬ dukte frei und ungeſtoͤrt vertauſchen: das iſt die wahre Lehre; dabei kommt ungezweifelt heraus das Beſtbefinden der Maſſe; daran ſollte man ſich halten, wie ſich die Natur an die großen Grundſaͤtze haͤlt, trotz gelegentlicher Erderſchuͤtterungen und Pe¬ ſtilenzen. Wer immer den fluͤchtigen Umſtaͤnden begegnen will, wird nie fertig, und erzielt nichts am Ende.

126

Hier wird man gewahr, daß der Handel nicht wegen des Syſtems, ſondern trotz des Syſtems gebluͤht hat, und daß das Syſtem nichts taugt. Und Adam Muͤller predigt, man ſolle das Syſtem nachahmen!

Hier wird man gewahr, daß, wer abſetzen will, auch brauchen muß; daß aller auswaͤrtiger Handel daß aller Handel ſich in Tauſch aufloͤſt. Daß, wenn eine Nation nur verkaufen will, der Kours nothwendig ſich ſo heben muß, daß aller Abſatz aufhoͤrt; daß man alſo keine Art von Induſtrie zwangs¬ weiſe haben muß, wenn man einen geſunden Handel haben will, ſondern Alles gehen laſſen muß ſeinen natuͤrlichen Gang. Nach dieſer Anſicht hat man im letzten Tractat mit Amerika gehandelt nach dieſer moͤchte man immer handeln, nur daß man vom langbefolgten fehlerhaften, alten, kurzſichtigen Syſtem auf Einmal nicht abkommen kann. Und dies Syſtem will nun Muͤller den Deutſchen anempfehlen, den Deutſchen aufbuͤrden! Oder iſt die chineſiſche Mauer wuͤnſchenswerth? Das will mir nun einmal nicht in den Sinn, denn die Reibung indi¬ viduell, oder national bringt den Menſchen doch eigentlich erſt heraus, und vollendet ihn, und erhebt ihn! Ich muß wohl aufhoͤren, die Maͤdchen kommen immer herein, und den¬ ken, daß ich ungebuͤhrlich lange ſitze. Auch haben Sie fuͤr diesmal wohl genug! Ich habe nicht Zeit das Geſchriebene zu durchleſen entſchuldigen Sie mein Deutſch u. ſ. w.

Laſſen Sie Ihren Brief nicht regiſtriren. Der letzte machte mir die Reiſe einer deutſchen Meile, und beinahe eine halbe Guinee Unkoſten, doch war das Vergnuͤgen wohlfeil erkauft. Leben Sie Beide herzlich wohl.

E. Bollmann.

127

15.

Beide Ihre Briefe, lieber Varnhagen, und den von Ihrer lieben Frau, habe ich richtig erhalten. Wie ſoll ich Ihnen er¬ klaͤren, daß ich den erſten ſo lange nicht beantwortet? Ich bin immer in einem Gedraͤnge von Geſchaͤften geweſen ich ſchrieb mehrmals mehrere Seiten wurde unterbrochen nachher paßte das Geſchriebene nicht mehr zu den veraͤnderten Umſtaͤnden der veraͤnderten Stimmung. So gerieth die Antwort denn in Aufſchub, und Sie wiſſen, wie's in ſolchen Faͤllen geht.

Ich danke Ihnen recht ſehr fuͤr Ihre Bemuͤhungen in Be¬ treff der Papiere. Sie ſind in guten Haͤnden. Wenn Sie wieder eine Gelegenheit haben, wie die mit Buͤlow, ſenden Sie mir dieſelben zu.

Meine Lage hier iſt noch immer zu ungewiß, ich bin ſelbſt hier zu wenig feſt, um dem von den Karlsruhern Empfohlenen dienen zu koͤnnen; als junger Mann war er uͤberdies von ſehr beſchraͤnkten Faͤhigkeiten, und fluͤchtig. Wie er ſich ausgebildet haben mag, weiß ich nicht.

Mein intimſter Jugendfreund, Doctor Boeckh, wohnt in Loͤrrach, ohnweit Baſel. Ich moͤchte gern ſeine Art von Exiſtenz und gegenwaͤrtigen Verhaͤltniſſe kennen. Wenn Sie in die Ge¬ gend kommen, beſuchen Sie ihn! Mein Name iſt genug. Wir wechſelten einige Briefe, wie ich in Wien war. Er iſt gebuͤrtig von Karlsruhe.

Ich habe, ſeit ich Ihnen zuletzt ſchrieb, viel Muͤhe und Arbeit gehabt. Einen fatalen Aſſocié in meinen Geſchaͤften hatte ich los zu werden Vorurtheile wider neue Conſumtions¬ artikel zu bekaͤmpfen mit der Excis-Behoͤrde (Excise-Office) mich abzufinden beunruhigte Concurrenten zu beſaͤnftigen128 u. ſ. w. Alles das habe ich nun ziemlich in’s Reine ge¬ bracht, und wenn die Maſchine einmal gehoͤrig im Gange iſt, ſo wird ſie wohl von ſelbſt gehn; oder nur wenig unmittelbarer Aufſicht benoͤthigt ſein. Ich bilde jetzt einen geſetzten Mann, dem ich dann die Leitung anvertrauen kann, damit meine eigenen Bewegungen frei bleiben, welches ich vorzuͤglich wuͤnſche.

Ihr letzter Brief, und der recht liebe von der Frau, fanden mich krank im Bette ein Herbſtfieber, das den Maͤdchen mehr Noth machte, als mir. Ich wußte nicht, ob’s nicht an¬ ſteckend ſein koͤnnte, und es war doch unmoͤglich, ſie von mir abzuhalten. Wie ich beſſer war, ging ich nach Paris nur auf eine Woche, ein Geſchaͤft mit A. Baring abzumachen mich zu erfriſchen. Beſonderes fiel nichts vor. Indeſſen hoͤrte ich die Catalani ſingen, und Schlabrendorf ſprechen. Das ver¬ lohnt ſich ſchon der Muͤhe. Ich habe auch Henriette Mendels¬ ſohn geſehen, A. W. Schlegel, die Herzogin Broglie, und einige Andere.

Die franzoͤſiſche Sache ſcheint allmaͤhlig Geſtalt und Fe¬ ſtigkeit zu gewinnen, aber die deutſche giebt es denn eine deutſche Sache? Es gaͤhrt doch gewaltig, und wenn ich etwas von moraliſcher Chemie verſtehe, ſo muß es beim Gemiſch ſo mancher heterogener Elemente bald zum Aufbrauſen und Platzen kommen. Dann wird’s allerlei dramatiſches Spektakel geben, und das wird Ihnen eben recht ſein.

Herrn von Humboldt habe ich vor ein paar Tagen geſehn, er iſt recht freundlich, findet die engliſchen Nebel ganz anders wie die deutſchen ſie ſind pittoresk und impoſant. Uebrigens ſcheint er ſich dem Allgemeinen hinzugeben, und wuͤrde auch in der groͤßten Spannung noch das Alberne und Groteske des zweckloſen Gedraͤnges bemerken. Buͤlow ſcheint ein wackerer junger Mann zu ſein. Graf Muͤnſter hat zwei Kinder, und129 nimmt ſich haͤuslich ſehr wuͤrdig aus, auch arbeitet er viel: Seine Frau mit allen Vortheilen fuͤhlt ſich doch verpflanzt, und ſehr verpflanzt.

Der Tod der Prinzeſſin Charlotte hat viel ungeheuchelte Thraͤnen fließen gemacht. Meine Toͤchter konnten, viele Tage durch, die gewohnte Herzensruhe nicht wiederfinden, und dieſe Stimmung war allgemein. Das ſchoͤne Beiſpiel einer moraliſch reinen und hoͤchſt gluͤcklichen Exiſtenz hatte fuͤr die Prinzeſſin und den Prinzen ein ſehr großes, allgemeines, lebhaftes Intereſſe erweckt, dem viele, nun zerſtoͤrte Hoffnungen ſich anſchloſſen. Eine ganze Reihe von Ideen und Gefuͤhlen treiben ſich nun im Leeren herum, ohne ſich wo anſchließen zu koͤnnen. Denn mit der kuͤnftigen Succeſſion ſieht's nun weitlaͤufig aus. Prinz Coburg ſteht ſchoͤn vor der Nation da. Wenn er in der oͤffent¬ lichen Meinung die Aſſociation mit der geliebten Verſtorbenen nicht unterbricht, und hervorſtechend der edle Mann, von unbe¬ ſcholtenen Sitten, unter dem corrumpirten Geſindel bleibt, ſo koͤnnen, meiner Meinung nach, weitere Ereigniſſe ſeine Tage ſehr bedeutend machen. Aber da liegt noch ſo viel dazwiſchen, und ſo Wenige bleiben unter veraͤnderten Umſtaͤnden dieſelben!

Es freut mich recht, daß Ihnen liebe Freundin die Englaͤnder in Bruͤſſel ſo gefielen. Das Sinnige, Vernuͤnftige, Gutbeſorgte, Ueberlegte, Geordnete, der Regel, ſtatt der Will¬ kuͤr und Laune Unterworfene wuͤrde Sie hier in Allem im Vieh wie im Menſchen, im Lebloſen wie im Belebten an¬ ſprechen. Sie wuͤrden uͤberall bemerken, daß es hier zu Lande gerichtliche Gerechtigkeit giebt fuͤr ein mißhandeltes Pferd, fuͤr eine mißhandelte Ziege (man hat juſt zwei ſolche Prozeſſe ent¬ ſchieden), wie fuͤr einen mißhandelten großen Herrn, und ſelbſt den Straßen und Heerſtraßen ſehen Sie's an, daß der Fußgaͤnger im Staat eben ſo viel gilt, als der ſich in Karoſſen Herum¬9130treibende, oder doch etwas, und was Bedeutendes gilt. In dem Allen in der durchgaͤngigen Herrſchaft der Regel, ſtatt des Anſehns und der Willkuͤr, liegt eben das Freie. Das moͤchten ſie auch jenſeits der See wohl, aber das geht doch aus dem Geweſenen hervor, und kann auch nur aus dem Geweſenen bleibend hervorgehn. Das ſcheint man nicht begreifen zu koͤnnen! Deßwegen ſetzt ſich der Deſpotismus ſublimer Conzeptionen, die dann doch auch an Narrheit graͤnzen, ſo oft an die Stelle des Deſpotismus verjaͤhrten Duͤnkels, und wird in ſeiner Ruhe bald wieder ein Opfer des kraͤftigern Deſpotismus gemeiner Raͤnke, und grundſatzloſer Conſequenz. Alles bleibt am Ende oft beim Alten, weil man anfaͤngt, wo man endigen ſollte. Moͤchten doch Ihre wackeren Studenten auf drei oder vier Jahre unter den engliſchen Bauern auf Univerſitaͤt gehen!

Ich liebe die Englaͤnder in Maſſe, und wer ſie nur im Auslande einzeln ſieht, der kennt ſie nicht. Das Nationalgefuͤhl iſt indeſſen weſentlich zur gluͤcklichen Exiſtenz[unter] ihnen. Mir Fremden wiewohl ich's nun kaum bin iſt fuͤr den Lebens¬ genuß das heitere Frankreich lieber. Ein Englaͤnder iſt mir immer nur ein Theil eines Ganzen, dem ich nicht angehoͤre, und der mich nicht braucht, waͤhrend im Deutſchen und Fran¬ zoſen oft ein Ganzes mich anſpricht, dem ich viel ſein kann. Ueberdies iſt Vieles auf dem feſten Lande ſo gemuͤthlich und zu¬ ſagend, mir wenigſtens, der fruͤheren Aſſociationen wegen! Kurz, ich ſuche hier frei zu bleiben, und mich ſo einzurichten, daß ich bald vielleicht naͤchſten Sommer meinen Toͤchtern das Vergnuͤgen einer Reiſe nach Frankreich und Deutſchland machen kann. Wenn ich mit einem Frauenzimmer bekannt werden koͤnnte, das etwas Schoͤnheit, etwas Geld und viel Ver¬ nunft beſaͤße, und mich leiden moͤchte, ſo wuͤrde ich mich wieder verheirathen denn ſo allein zu ſein in der Welt mit zwei131 jungen Dingern hat viel Unbequemes, und der Gedanke, kuͤnftig, ohne ſie, noch mehr allein zu bleiben, iſt wenig erfreulich. Laſſen Sie mich alſo immer wiſſen, wo Sie ſind, damit wir Sie finden, und Ihnen begegnen koͤnnen.

Politiſch iſt Alles hier ſehr ruhig. Der Wohlſtand hebt ſich. Die Folgen des ſchnellen Ueberganges vom langen Kriege zum allgemeinen Frieden die Stockungen und partielle Noth, die dadurch veranlaßt wurden, vermindern ſich taͤglich, wie die Induſtrie in einen regelmaͤßigen, dem verminderten Zuſtand der Zeiten angemeſſenen Gang zuruͤcktritt.

Iſt Malthus letzte (dritte) Ausgabe ſeines Werks On population in's Deutſche uͤberſetzt und geleſen worden? Wie ſteht's denn mit Adam Muͤller? Es ſcheint mir, als ob ihm etwas den Kopf verdreht haͤtte! Gentz ſchreibt mir viel Artiges man brauche in dieſen verkehrten Zeiten ruhige, ſin¬ nige Leute, wie ich u. ſ. w. das ſagt ſich wohl, doch ſcheint es Niemand zu wollen.

Wenn Sie's nicht muͤde ſind, an mich zu ſchreiben hal¬ ten Sie mich unterrichtet mit dem, was in Deutſchland vorgeht, und das ich aus anderen Quellen nicht lernen kann. Ich werde kuͤnftig mehr Muße haben zum Antworten.

Leben Sie recht herzlich wohl, erfreuen Sie mich bald wieder mit einem Brief und laſſen Sie mich wiſſen, daß Sie Beide ſo wohl und gluͤcklich ſind, wie ich's wuͤnſche. Briefe, ganz einfach an mich adreſſirt, werden mir ungeoͤffnet zukommen. Auch koͤn¬ nen Sie mir, wenn Sie Gelegenheit haben, durch die engliſche oder hannoͤverſche Geſandtſchaft ſchreiben, oder auch durch die preußiſche, wenn Sie's vorziehn.

E. Bollmann.

9 *132

16.

Sie werden daraus, daß ich Ihren und Ihrer lieben Frau Gemahlin Briefe ſo lange nicht beantwortet habe, hoffentlich nicht ſchließen, daß ſie mir gleichguͤltig waren. Im Gegentheil, ich habe ſie recht mit Freude geleſen, aber zum Schreiben und Antworten kann ich oft nicht kommen. Es liegt mir ſo Vieles auf, das beſorgt ſein will und dann denke ich immer, ich werde Sie Beide bald ſehn. Aber der gewuͤnſchte Augenblick, wiewohl er ſich immer zu naͤhern ſcheint, will immer noch nicht kommen.

Ich habe kuͤrzlich uͤber die bedeutende Frage der Zuruͤckkehr zu Muͤnzzahlungen an der Bank ein kleines Werk geſchrieben, worin ich ſage, was Viele denken, aber doch zu ſagen ſich fuͤrchten. Ich ſchickte einige Exemplare an Treuttel und Wuͤrtz in Paris, mit der Bitte, Ihnen eins davon zukommen zu laſſen. Ich hoffe, Sie haben’s erhalten.

Die Frage iſt hier, wie alle aͤhnliche, Partheifrage gewor¬ den, und das rein Vernuͤnftige wird hoffnungslos gepredigt, und der Prediger nicht auspoſaunt, weil ſich die regen Leidenſchaften ſolcher Lehre am innigſten anſchließen. Die Oppoſition wor¬ unter ich meine beſten Freunde hier habe ſucht vor Allem und in Allem, was das Miniſterium in Noth bringen koͤnnte das Gemeinbeſte iſt nur Nebenſache. Das Miniſterium ſucht vor Allem und durch Alles ſich zu erhalten, und deßwegen wagt auch Vanſittaert, mit den Uebrigen, nicht die beſte Maßregel auszuſprechen, und zu ſuchen, wenn er denkt, ſie koͤnnte der Menge doch mißfallen, die noch aberglaͤubiſch, und mit engliſcher Zaͤhigkeit, an der Idee des Goldes haͤngt. Indeſſen werden meine Verhaͤltniſſe immer intereſſanter, und die Schrift erman¬ gelt nicht, viel Aufmerkſamkeit zu erregen.

133

Ich ſehe, Sie haben kuͤrzlich Kouriere abgefertigt, ſagen Sie mir denn doch, ob man dieſe That Sand’s als eine indivi¬ duelle betrachten muß, oder als den erſten Ausbruch einer Dis¬ poſition, die ſich weiter, vielfaͤltiger, und erſchuͤtternder aͤußern wird. Laſſen Sie mich doch wiſſen, wie Sie das Alles anſehn?

Wieſel, wie ich von Gentz hoͤre, iſt von Wien abgegangen. Ich ſtelle mir vor, er hat bei Ihnen angeſprochen, auf ſeinem Wege hierher, und vielleicht iſt er noch in Ihrer Naͤhe. In dem Fall ſagen Sie ihm doch, die Idee der Ueberkunft aufzu¬ geben. Er wird Zeit und Muͤhe und Geld verlieren, denn ſeine Erfindung iſt nichts werth.

Meine Toͤchter ſind geſund und wohl, und beſchaͤftigen ſich jetzt mit der Erlernung der deutſchen Sprache. Wer wird denn hierher kommen an Humboldt’s Stelle, und was macht dieſer?

Es iſt alles hier in England ſo geſpannt, daß einige be¬ deutende Fehler, von der Adminiſtration begangen, und ſie iſt deren faͤhig leicht ſerioͤſe Folgen haben koͤnnten. In Amerika iſt es anders. Der junge Staatskoͤrper iſt dort ſo voll von na¬ tuͤrlicher Lebenskraft, daß ſelbſt Unordnung und ein bischen wuͤſtes Leben ihm nichts anhaben koͤnnen.

Gruͤßen Sie Ihre liebe Frau recht herzlich von mir. Dieſen Sommer ſehn wir uns vielleicht. Laſſen Sie mich Ihre wahr¬ ſcheinlichen Bewegungen kennen, und ſagen Sie mir auch, was fuͤr Gedanken Sie denn jetzt am meiſten beſchaͤftigen. Leben Sie herzlich wohl, und antworten Sie mir prompt, ich will auch gewiß ein beſſerer Korreſpondent ſein kuͤnftig.

E. Bollmann.

134

VI.

Mit dieſem letzten Briefe hoͤren unſre Nachrichten auf; nur durch die oͤffentlichen Blaͤtter erfuhren wir nach einiger Zeit, daß Bollmann im Jahre 1821 eine neue Reiſe nach Amerika unternommen, und zwar dies¬ mal nach Weſtindien und den ehemaligen ſpaniſchen Beſitzungen des Feſtlandes, um wichtigen Anleihe - und Waaren-Geſchaͤften, bei welchen wiederum das Haus Baring betheiligt war, perſoͤnlich vorzuſtehn. Im Laufe dieſer Betreibungen, denen ein unermeßliches Feld eroͤffnet, und großer Gewinn vorauszuſehen war, ereilte ihn unvermuthet der Tod. Er ſtarb am 10. De¬ zember 1821 zu Kingſton in Jamaika an einem hitzi¬ gen Fieber, das er ſich durch zu große Arbeitſamkeit zugezogen hatte. Seine beiden Toͤchter, Karoline und Eliſabeth, waren in London geblieben, und ſind ſpaͤter¬ hin, nachdem ſie das Ableben ihres theuern Vaters tief betrauert, wie wir hoͤren, in gluͤcklichen Verhaͤlt¬ niſſen nach Nordamerika zuruͤckgekehrt. Wir aber ſchließen unſern Abriß mit der Betrachtung, daß, wie es als das ſchoͤnſte Loos des Menſchen erſcheint, wenn ſeinem eingebornen Streben aus allen Verwirrungen der Welt die richtige Bahn ſich immer wieder klar hervorhebt und unabſehbar neue Zielpunkte zeigt, wir es auch in dem Scheiden Bollmann's troͤſtlich aner¬ kennen duͤrfen, daß er, ſeinem Sinne, ſeinen Faͤhig¬ keiten und Wuͤnſchen gemaͤß, bis zuletzt in ſeinem135 Elemente kraͤftig fortſchwimmt, und nicht in trauriger Abnahme, ſondern in freudiger Steigerung ſeines Wir¬ kens und Hoffens, bei noch friſchem Wetteifer der Geiſtes - und Lebenskraͤfte, zum dunkeln Uebergange abgerufen wird, welchen als den verheißungsvollen Eintritt zu hoͤheren Entwickelungen und Thaͤtigkeiten er laͤngſt gewohnt war feſt und muthig anzuſchauen.

[136]

Zum Andenken Friedrich Auguſt Wolf's. Am 28. Auguſt 1824.

Sei es erlaubt, an dieſem Ehrentage, der uns hier zu froher Feier verſammelt hat, auch des Mannes zu gedenken, der, Goethe's Freund und Genoſſe, vor einem Jahre an unſerer Spitze ſtand, und durch ſeine Geiſtes¬ art uns heiter anregte, jetzt aber nicht nur dieſem Kreiſe fehlt, ſondern auch der Welt fuͤr immer entriſſen worden.

Friedrich Auguſt Wolf ſtarb am 8. Auguſt zu Mar¬ ſeille, wohin er gereiſ't war, um einer beginnenden Krankheit zu entfliehn. Er unterlag ſchon im 66. Jahre ſeines Alters, nicht unvertraut mit dem Gedanken eines ſolchen nahen Ausgangs, den das Feuer und die Feſtig¬ keit ſeines ernſten Willens, allzuthaͤtig nach Entſcheidung ſeines Zuſtandes ſtrebend, vielleicht beſchleunigt haben.

Von den Verdienſten ſeiner gelehrten Laufbahn ſoll hier nicht die Rede ſein. Was er im Felde der Alter¬137 thumsforſchung geleiſtet hat, iſt der Welt bekannt. Er iſt Urheber und Vorbild einer neuen, großartigen Be¬ handlung dieſer Wiſſenſchaften geworden, die aus dem verjaͤhrten Staube der Schule durch ihn mit geiſtvoller Gruͤndlichkeit in die freie Gemeinſchaft aller Bildungs¬ kreiſe emporgefuͤhrt worden. Den Scharfſinn ſeiner Unterſuchungen, den Umfang und die Tiefe ſeiner Kennt¬ niſſe, den Werth ſeiner zahlreichen und mannigfachen Schriften, vor allen ſeiner unſterblichen Forſchungen uͤber die homeriſchen Geſaͤnge, moͤgen die Berufenen des Faches wuͤrdig darſtellen. Auch von den großen, ſchwer zu uͤberſchauenden Arbeiten, der beſeelten Thaͤtig¬ keit und ergreifenden Wirkung, welche er als Univerſi¬ taͤtslehrer durch eine lange Reihe von Jahren ausgeuͤbt, worin er mehr als 50 verſchiedene Lehrgaͤnge, und deren manche in doppelt und dreifach, ja bis zu zehn¬ mal wiederholten Vortraͤgen, vor einer zahlreichen, durch ihn der Weihe des klaſſiſchen Alterthums zugefuͤhrten Jugend mit ſtets belebter Kraft gehalten; von ſeinem antiken Geiſte und von ſeinem klaſſiſchen Talent, in welchem die Welt der Griechen und Roͤmer eine neue Staͤtte des Lebens und Wirkens gefunden; von ſeiner bildneriſchen Beweglichkeit endlich, die ihm erlaubte, nach dargelegten Werken einer in roͤmiſchen Formen ſich ausſprechenden Genialitaͤt, dann auch in deutſcher Zunge mit ſchoͤpferiſcher Meiſterſchaft eigenthuͤmlich auf¬ zutreten: von allem dieſen, wovon jedes Einzelne hin¬138 reichte, den herrlichen Ruhm eines preiswuͤrdigen Mannes zu begruͤnden, uͤberlaſſen wir Andern zu reden.

Deſto eifriger aber moͤgen wir hier die Zuͤge feſt¬ halten, die den Mann ſelbſt in ſeiner Perſoͤnlichkeit uns vor Augen ſtellen, und ſein entruͤcktes Daſein uns noch fuͤr Augenblicke vergegenwaͤrtigen.

Was ihn auszeichnete, war die hohe Eigenthuͤmlich¬ keit ſeiner vollſtaͤndigen, durch und durch in alle Bezuͤge ſeines Weſens gedrungenen, gleichmaͤßig nach allen Richtungen ſeines Wollens und Thuns belebten, un¬ unterbrochenen Geiſtesbildung. In der Lebensaͤußerung dieſer Eigenthuͤmlichkeit gab es keine Luͤcken, keine Still¬ ſtaͤnde; er hatte ſich immer ſelbſt, er hatte ſich immer ganz, und keine ſeiner Eigenſchaften war ihm nur frag¬ mentariſch verliehen.

Daher die große Geiſtesgegenwart, die große Ueber¬ legenheit, mit welcher er allen Begegniſſen des geiſtigen Lebensverkehrs gegenuͤberſtand, ſie pruͤfend aufnahm, mit treffendem Urtheil an ihren Platz ſtellte, und mit geiſtreichen Zuͤgen feſthielt oder entließ. Daher die heitre Gelaſſenheit, in welcher er dem Witze, der ihm zu Zeiten entgegentrat, den Verlegenheiten, welche Zufall oder Abſicht ihm zuwenden mochte, mit gluͤcklichem Ueber¬ bieten ſtets ſo leicht und ſiegreich zu entſteigen wußte.

Gedacht hatte er uͤber alles; die Gebiete des Lebens wie der Wiſſenſchaften konnten einem ſo lebendigen Sinne nicht fremd bleiben; in dem Lichte ſeines Geiſtes139 erleuchtete ſich auch jede zufaͤllige Umgebung; ſeine Eigenſchaften wirkten nach allen Seiten. Die Wendung ſeines Geiſtes war in den geringſten Dingen merk¬ wuͤrdig; ja bis in den kleinlichſten, durch die er bis¬ weilen, mehr der ſcherzenden Nachrede doch, als dem eigentlichen Tadel, Raum gab, blieb ſie noch immer mit dem Reize ſeiner Groͤße behaftet.

Er war umgaͤnglich und mittheilend; allzu reich, um zu kargen, gab er willig jeder Anſprache von ſeinen geiſtigen Schaͤtzen, und verſchmaͤhte nicht zu empfangen, wo er ſchon laͤngſt beſaß. Eine neuerſchloſſene Anſicht, ein bedeutend leitendes Wort von ihm, hat bis auf die letzte Zeit Maͤnner und Juͤnglinge in ſeiner Umgebung mehr als manche anderweite vielfache Anſtrengung ge¬ foͤrdert.

Nie vergaß er ſeiner Wuͤrde, er hielt darauf in an¬ geborner Vornehmheit; in ihr ſtellte er die Ehre des Gelehrten dar, wie in dem Fleiße deſſen Tapferkeit. Seinen Werth kannte er, wie jeder Tuͤchtige aus innerer Thatſache ſich als ſolchen fuͤhlt und kennt. Und wie haͤtte er ſeinen Ruhm nicht kennen ſollen, der ihm aus allen Laͤndern Europa's zuruͤckſtrahlte, aus allen Ge¬ bieten der Wiſſenſchaft und Kunſt, ſei es, daß ihn die beruͤhmteſten Anſtalten in ihre Mitte begehrten, ſei es, daß Goethe in den Elegien verherrlichend ihn gruͤßt, oder Alexander von Humboldt einen koſtbaren Ertrag ſeiner naturwiſſenſchaftlichen Forſchungen ihm zueignet! 140Seine Schuͤler, Freunde und Verehrer ſind uͤber das ganze Gebiet der Wiſſenſchaften ausgeſaͤ’t; ſie hingen ihm mit einer Treue und Liebe, mit einer Begeiſterung und Zuverſicht an, deren Dokumente in Hunderten von Schriften oͤffentlich daſtehn, und noch viel glaͤnzender und reicher in den Schaͤtzen eines Briefwechſels auf¬ bewahrt ſind, deſſen Umfang und Inhalt neue Regio¬ nen ſeines Geiſtes erblicken laͤßt.

Sein Herz, reich an Empfindung und Antheil, ent¬ zog ſich der weichen Offenheit gewoͤhnlicher Aeußerun¬ gen; aber nicht Allen ſeiner Freunde blieb hinter dem Walle von Witz, launiger Schaͤrfe und vornehmer Er¬ ſcheinung, womit er es verwahrte, deſſen leichte Erreg¬ barkeit verborgen. In ſchmerzlicher Wehmuth allgemein menſchlicher Betrachtungen, in geruͤhrten Thraͤnen inni¬ ger Theilnahme, konnte er durch langverſchwiegene Waͤrme den ſtaunenden Entdecker uͤberraſchen.

Der theure Mann, deſſen Verluſt wir beklagen, hatte innige Freunde, unter ihnen die Angeſehenſten und Groͤßten ſeiner Zeit. Ein ſtrebender und bewegen¬ der Geiſt, wie er, blieb auch nicht ohne Gegner. Leider wurden ihm, wie das Geſchick der Welt es ja ſo oft unvermeidlich mit ſich fuͤhrt, auch aus Freunden ſolche. In den Verwickelungen, welche die Verſchiedenheit der Richtungen und Anſichten, in den Reibungen und Feh¬ den, welche das Zuſammentreffen ſtarker und eigen¬ thuͤmlicher Geiſtesarten unter den Genoſſen gleicher141 Bahnen hervorgebracht, moͤge jetzt niemand das Urtheil verlangen; das Recht und Unrecht trage die Zeit hin¬ uͤber zu kuͤnftigen Richterſtuͤhlen, vor denen die Sache ohne gehaͤſſige Zuthat perſoͤnlicher Leidenſchaft erſchei¬ nen kann.

Der Hingeſchiedene hat Allen, Freunden und Fein¬ den, als Vermaͤchtniß eine große, niederſchlagende Auf¬ gabe hinterlaſſen, die: ihn zu erſetzen!

Uns aber ſei hier die Zuverſicht geſtattet, daß das Andenken des großen Mannes, bei der Nachricht ſeines fruͤhen Hintritts, in der Wuͤrdigung edler Geiſter uͤber jede Beruͤhrung hinweggehoben iſt, die nicht Trauer waͤre und Verehrung.

Und ſo leb 'er denn fort und fort in unſrem Ge¬ daͤchtniß, der Mann, der endlich vom Namen Homeros kuͤhn uns befreiend, uns noch ſtets ruft in die vollere Bahn!

[142]

Graf Schlabrendorf, amtlos Staatsmann, heimathfremd Bürger, begütert arm.

Zuͤge aus ſeinem Bilde.

Kaum war im Sommer 1824 aus Marſeille die Trauer¬ nachricht von dem Ableben des großen Philologen Fried¬ rich Auguſt Wolf zu uns gekommen, und ſchon erſcholl uns von Paris her eine neue Todesbotſchaft, die den Hintritt eines andern Landsmannes meldete, der, gleich jenem, zu den merkwuͤrdigſten und bedeutendſten unſrer vaterlaͤndiſchen Ehrennamen zu ſtellen iſt! Wer von unſern Landsleuten, der in den letzten Jahrzehnden Paris beſucht, haͤtte nicht in dieſer gewuͤhlvollen Hauptſtadt alles europaͤiſchen Lebens und Treibens auch den ſelt¬ ſamen Einſiedler, den ehrwuͤrdigen Raͤthſelgreis der Rue Richlieu kennen gelernt, oder doch von ihm ge¬ hoͤrt, und ſeinen Eigenheiten theilnehmend nachgefragt? Wir wollen von dieſem auch uns perſoͤnlich theuer ge¬ weſenen Manne eine kurze Schilderung verſuchen!

143

Guſtav Graf von Schlabrendorf war zu Stettin den 22. Maͤrz 1750 geboren. Sein Vater, Vice¬ praͤſident der pommerſchen Kriegs - und Domainen¬ kammer daſelbſt, wurde im Jahre 1755 als dirigirender Miniſter nach Schleſien verſetzt, wo er waͤhrend des gleich im folgenden Jahre ausgebrochenen ſiebeniaͤhrigen Krieges durch treffliche Anſtalten und kraͤftige Maßregeln zur Behauptung dieſer Provinz eifrig mitwirkte, und Friedrichs des Großen Beifall und allgemein ausge¬ zeichneten Ruhm erwarb. Der Sohn, welcher vom fuͤnften Lebensjahre ſeine Jugend nunmehr in Schleſien verlebte, rechnete deßhalb in der Folge ſtets mit Vor¬ liebe ſich dieſer Provinz angehoͤrig. Seine Erziehung war ſorgfaͤltig und fruchtbar; auf die haͤusliche folgte die oͤffentliche; zum Studium der Rechte beſtimmt, be¬ ſuchte er die Univerſitaͤt zu Frankfurt an der Oder, und nachher die zu Halle. Die gruͤndlichſten Kennt¬ niſſe in alten und neuen Sprachen, ſowie in mannig¬ fachen Gebieten der Wiſſenſchaft und Kunſt, begleiteten ihn bald auf den lebenvollen Schauplatz der großen Er¬ fahrungswelt. In ſeinem zwanzigſten Jahre verlor er ſeinen Vater, und die fruͤhe Unabhaͤngigkeit, bei guͤnſti¬ gen Standesverhaͤltniſſen und ſehr anſehnlichem Ver¬ moͤgen, erlaubte ihm, ſeinem regen Triebe nach freiem Forſchen und Umherblicken in den verſchiedenſten Zwei¬ gen des Erkennens und in mannigfachen Lebensraͤumen ungehemmt zu folgen. Nachdem er Deutſchland und144 die Schweiz durchreiſt und Frankreich vorlaͤufig geſehen, begab er ſich nach England, wo er ſechs Jahre zubrachte, und eine Zeitlang den Freiherrn vom Stein auf ſeinen Reiſen im Innern dieſes Landes zum Begleiter hatte. Auch lernte er hier im Jahre 1786 den Philoſophen Friedrich Heinrich Jacobi kennen und ſchloß eine herz¬ liche Freundſchaft mit ihm. Die Staatsverfaſſung und ganze Lebenseinrichtung der Englaͤnder wurde Haupt¬ gegenſtand ſeiner Betrachtung, zugleich widmete ſein frommer Sinn religioͤſen und philanthropiſchen Anſtalten ſchon damals lebhafte Theilnahme.

Noch vor dem Ausbruche der franzoͤſiſchen Revolu¬ tion kam Schlabrendorf nach Frankreich zuruͤck, und lebte ſeitdem bis zu ſeinem Tode faſt unausgeſetzt in Paris. Mit einem fuͤr die Menſchheit gluͤhenden Herzen, mit einem hohen und kraͤftigen Geiſte, ſtand er alsbald im draͤngenden Gewuͤhle des gewaltigen politiſchen Lebens, das vom Jahre 1789 an immer ſtuͤrmiſcher emporſtieg. Leidenſchaftlich ergriff er die fruͤhen Hoffnungen, welche ſich dem neuen Gange der Begebenheiten in den Herzen ſo vieler Zeitgenoſſen anknuͤpften, und mochte dieſelben auch zuletzt noch nicht aufgeben, als ſie fuͤr die meiſten Theilnehmer laͤngſt wieder entſchwunden waren; perſoͤn¬ liche Thaͤtigkeit aber widmete er nur dem, was auf dem Schauplatze ſo wechſelnder Ereigniſſe inmitten ſo vieler Verbrechen und Graͤuel ſich als wahrhaft gut und rechtlich behaupten ließ. Wohlthaͤtig und menſchen¬145 r eundlich war er uͤberall eifrig bei der Hand, wo fuͤr Einzelne oder fuͤr Gemeinſames in dieſer Richtung ſich irgend ein Wirken eroͤffnet zeigte. In perſoͤnlicher Be¬ kanntſchaft ſtand er nach und nach mit den hervor¬ ragendſten Maͤnnern der Revolution, und wirkte auch wohl nach Umſtaͤnden auf ihre Anſichten und Wege durch ſeinen Geiſt und Karakter ein; aber niemals fand er ſich bewogen, ſelber eine ſogenannte Rolle zu ſpielen, wie vielfach und dringend auch die Lockungen dazu ſein mochten. Das Schickſal ſo vieler Deutſchen, welche ein Opfer ſolchen Strebens entweder alsbald ſelbſt wur¬ den, oder in ſpaͤter Enttaͤuſchung ihren beſten Sinn und Willen als ſolches dargebracht ſehen mußten, be¬ weiſt nur, wie richtig Schlabrendorf ſeine Eigenſchaft als Fremder bei dieſen franzoͤſiſchen Vorgaͤngen, in aller Begeiſterung fuͤr ſie, doch erkannt und bewahrt hat. Mit den Redlichen unter ſeinen Landsleuten hielt er innig zuſammen, mochten auch ihre Wege von den ſei¬ nigen verſchieden ſein. Georg Forſter ſchrieb im Mai 1793 an ſeine Frau von ihm: Einige Deutſche, die ſich hier aufhalten, kommen oͤfter mit mir zuſammen; unter andern iſt ein Graf Schlabrendorf aus Schleſien, der Dich, als Du als Maͤdchen mit Onkel Blumen¬ bach reiſteſt, in Zuͤrich geſehen hat; ein junger Oelsner, eben daher, der auch in Chriſtie’s Haus bekannt; ein junger Schwabe, Namens Kerner, der fuͤr die ham¬ burger Zeitung hier Nachrichten ſchreibt. Schlabren¬10146dorf, in dem geſetzten Alter von vierzig Jahren, iſt ein ſehr kluger, einſichtsvoller Demokrat und ein Mann von reifer Erfahrung. Er kennt Europa ſehr genau, beſonders England. Vornehmlich Oelsner und Kerner knuͤpften mit Schlabrendorf enge Freundſchaft. Waͤhrend der Schreckenszeit wurde dieſer, wie jeder ausgezeichnete Mann, ſchon als Auslaͤnder und Graf, beſonders aber auch als Freund von Condorcet, Mercier und Briſſot, den damaligen Gewalthabern verdaͤchtig, und mußte achtzehn Monate im Kerker zubringen, fruͤher in der Conciergerie, nachher im Pallaſt Luxemburg, Tag fuͤr Tag des Beils der Guillotine gewaͤrtig, ohne daß dieſer Zuſtand ſein Gemuͤth erſchuͤtterte oder ſeine Anſichten wankend machte. Seine Haare wurden jedoch grau, und ſein langer Bart erſchien ihm hier zuerſt als eine maͤnnliche Zierde, die er ungern wieder ablegte, als ſie ihm nicht mehr aufgedrungen war.

In dem Gefaͤngniſſe fand ſeine Geſpraͤchigkeit, ſeine Umgangsguͤte reiche Nahrung. Er gab Rath, er leiſtete Huͤlfe aus ſeinen Geldmitteln, er ſetzte die Vertheidi¬ gungsſchriften die ſtets vergeblichen mancher Mit¬ gefangenen auf, er unterrichtete die Lernbegierigen zum Nutzen und zur Unterhaltung in Sprach - und Sach¬ kenntniſſen. Eine Zeitlang wußte er ſich durch den Banquier Schuͤtz uͤber Baſel einige Summen aus dem Vaterlande zu verſchaffen; da er faſt alle Baarſchaft unter die duͤrftigen Mitgefangenen austheilte, ſo gaben147 ihm dieſe den Beinamen des Wohlthaͤtigen. Als ihm der Tod auf dem Blutgeruͤſte ſchon unvermeidlich er¬ ſcheinen mußte, uͤbergab er ſein betraͤchtliches Vermoͤgen, ſo weit es verfuͤgbar war, in Wechſeln, ſeinem Freunde Oelsner, der noch frei war und ihn beſuchen konnte, aber ſchon ſelbſt bedacht ſein mußte, durch Entfernung die ſteigende Gefahr zu meiden. Nehmen Sie das Geld, ſagte ihm Schlabrendorf, und fliehen Sie, da Sie es noch koͤnnen. Brauchen Sie es als das Ihre; ſehen wir uns wieder, ſo geben Sie mir zuruͤck, was noch da iſt; werd ich guillotinirt, ſo gehoͤrt es Ihnen ganz. Oelsner kam gluͤcklich uͤber die Graͤnze, und lebte eine Zeitlang in Oberitalien verborgen, litt manche Noth und Bedraͤngniß, aber hungerte lieber, als daß er den Schatz angegriffen haͤtte, und unverſehrt lieferte er ihn ſpaͤter mit tauſend Freuden dem Gerette¬ ten wieder aus. Denn durch ein Wunder entkam Schla¬ brendorf dem Henkerbeil, und zwar knuͤpfte ſeine Ret¬ tung ſich an ſeine unbefangene Eigenart. Eines Mor¬ gens kam, wie gewoͤhnlich, der Karren zur Abholung der fuͤr den Tag zum Hinrichten beſtimmten Perſonen; auch Schlabrendorf’s Namen wurde ausgerufen, und er machte ſich ohne Widerſtreben und Klagen ſofort auf, um ſeinem Schickſale zu folgen; Faſſung und Gleich¬ guͤltigkeit waren damals in ſolchem Falle ganz allge¬ mein, ihm aber vorzuͤglich eigen. Angekleidet war er bald, nur ſeine Stiefel fehlten; er ſuchte ſie, ſuchte ſie10*148mit allem Eifer, der Kerkermeiſter half ſuchen, allein vergebens, ſie waren entwandt, vertauſcht oder in einen Winkel geſtellt, genug, nicht zu finden. Voll Verdruß, nach vielem Bemuͤhen, ſagte Schlabrendorf endlich zu dem Kerkermeiſter: Nun, ohne Stiefel kann ich doch nicht fort, das ſehen Sie ein. Wiſſen Sie was, ſetzte er mit harmloſer Treuherzigkeit hinzu, nehmen Sie mich morgen ſtatt heute, es koͤmmt ja auf den einen Tag nicht an! Der Kerkermeiſter fand den Vorſchlag richtig: ein andrer Gewinn, als der klaͤgliche eines Aufſchubs von vierundzwanzig Stunden, fiel dabei Niemanden ein. Der Karren, deſſen Ladung durch Einen Kopf mehr oder minder nicht merklich veraͤndert erſchien, fuhr mit ſeinen Schlachtofern ab, und Schla¬ brendorf blieb zuruͤck. Am andern Morgen erneute ſich die Abholung; der Verſaͤumte, jetzt mit Stiefeln ver¬ ſehen, war, gleich den Gerufenen dieſes Tages, ganz bereit zur traurigen Fahrt, aber ſieh da! ſein Name kam nicht vor; auch den dritten und vierten Tag nicht, und uͤberhaupt nicht! Sehr natuͤrlich, er war mit der Liſte des erſten Tages abgethan fuͤr immer; wer konnte ſo genau nachzaͤhlen? Man nahm den Gerufenen als ab¬ geliefert und als guillotinirt an, die Verſaͤumniß kuͤm¬ merte Niemanden, fuͤr jeden folgenden Tag hatte man ſchon andern Vorrath genug! Der Kerkermeiſter war kein boͤſer Menſch, er wollte nicht grade den Angeber machen, aber eben ſo wenig haͤtte er den Gefangenen149 nun freilaſſen moͤgen. Dieſer blieb alſo im Kerker vergeſſen, bis der Sturz Robespierre’s, gleich vielen Andern, auch ihm endlich die Freiheit wiederbrachte.

Die ferneren Erſcheinungen der Revolution entzuͤn¬ deten auf’s Neue ſeinen ungeſchwaͤchten Antheil an den Hoffnungen eines herrlichen Buͤrgerſtaats. Waͤhrend er ſolchen Idealen in den wirklichen Begebenheiten mit Eifer nachſtrebte, richtete er zugleich die Kraͤfte ſeines edlen Geiſtes und anſehnliche Geldmittel auf die Be¬ foͤrderung gemeinnuͤtziger, menſchenfreundlicher Unter¬ nehmungen. Um die Stereotypie in Gang zu bringen, wandte er betraͤchtliche Summen auf. Zur Ermunterung mancherlei Gewerbfleißes, fuͤr die Verbeſſerung des oͤffent¬ lichen Unterrichts, wie ſpaͤter fuͤr den Verein zur Foͤr¬ derung der chriſtlichen Moral, fuͤr die Bibelgeſellſchaft und andre Verbindungen zu aͤhnlichen Zwecken, waren ſeine großen Beitraͤge wie ſein geiſtiger Antheil hoͤchſt erſprießlich. Die proteſtantiſche Gemeinde in Paris konnte jederzeit auf ſeine Fuͤrſorge rechnen, die Schulen und das Armenweſen dieſer Glaubensgenoſſen insbeſondere verdankten ihm bedeutende Wohlthaten. Was er fuͤr Einzelne unermuͤdet gewirkt und geleiſtet, in dieſer wie in jeder Zeit ſeines Lebens, waͤre unmoͤglich aufzuzaͤhlen. Doch tritt dies Alles in Schatten vor der leuchtenden Wirkſamkeit ſeines eben ſo tiefen als reichen und leben¬ digen Geiſtes, der durch den Zauber der hinreißendſten Beredſamkeit unaufhoͤrlich in das umgebende Leben150 uͤberſtroͤmte, und beſonders fuͤr die zahlreichen Deutſchen, die er in einer langen Reihe von Jahren aus allen Staͤnden und Klaſſen, Vornehme wie Geringe, zu ſeinem Umgange ſich draͤngen ſah, in tauſend Beziehungen lehrreich und heilſam wurde. Mit einer unglaublichen Geſchichts - und Weltkenntniß ausgeruͤſtet, zu den tief¬ ſten Quellen der Staatskunde gedrungen und mit ihren fluͤchtigſten Erſcheinungen vertraut, im Mittelpunkte der lebendigen Fuͤlle der Tagesgeſchichte, ſprach er beſonders gruͤndlich, ſcharfſinnig, ja prophetiſch uͤber die politiſchen Gegenſtaͤnde; ſeine Einſicht, ſein Urtheil, die fuͤr Jeder¬ mann offen ſtanden, waren nicht ſelten die Zuflucht der auswaͤrtigen Diplomaten und die Huͤlfe deutſcher und franzoͤſiſcher Gelehrten; mancher Bericht, mancher Aufſatz, der unter anderm Namen daheim Aufſehn und Bewunderung erregt haben mag, war nur der Abfall ſeiner reichhaltigen, taͤglich friſch erſtroͤmenden Reden und Geſpraͤche. Das beruͤhmte Buch: Napoleon Bona¬ parte und das franzoͤſiſche Volk unter ſeinem Konſulate, welches zu ſeiner Zeit (1804) am truͤben politiſchen Himmel wie ein Lichtmeteor erſchien, von Goethe und von Johann von Muͤller ſogleich ruͤhmende Beachtung erfuhr, und fuͤr Deutſchland faſt die erſten enttaͤuſchen¬ den Aufſchluͤſſe uͤber den ſelbſtſuͤchtigen, verderblichen Gang des nach Alleinherrſchaft ringenden Korſen gab, iſt weſentlich ſein Werk, aus ſeinem Geiſt und aus ſeinen Mittheilungen, und dem groͤßeren Theile nach151 unſtreitig auch aus ſeiner Feder gefloſſen; dem Kapell¬ meiſter Reichardt, den man lange als Verfaſſer insge¬ heim, und ſpaͤter, als die Gefahr geſchwunden war, oͤffentlich genannt hatte, gebuͤhrt nur das Verdienſt, dem Buche ein muthvoller (wenngleich anonymer) Her¬ ausgeber geweſen zu ſein, und dem Texte vielleicht hin und wieder einen Zuſatz oder eine im Einzelnen noͤthig erachtete Ausdrucksveraͤnderung gegeben zu haben.

Unter Napoleons Herrſchaft hatte Schlabrendorf ſeine heitern Freiheitshoffnungen faſt ganz in duͤſtern Haß gegen den ſelbſtſuͤchtigen Zerſtoͤrer derſelben zuſam¬ mengezogen. Wie fruͤh er deſſen wahre Art und Be¬ deutung in Betreff der franzoͤſiſchen Zuſtaͤnde erkannt, berichtet uns ſchon vom Jahre 1801 her ſehr artig Jacobi, der in einem ſpaͤteren Briefe an Klinger ſagt: Ein in jeder Abſicht ausgezeichneter Mann, ein Deutſcher, der die ganze franzoͤſiſche Revolution zu Paris durchgelebt und durcherfahren hat, er wurde ſchon 1786 in London mein Freund, und ich fand ihn vor nun zwei Jahren in Frankreich wieder, dieſer ſagte zu mir: Es war acht Jahre lang hier Alles drunter und druͤber gegangen, wie in einer Bauern¬ ſchenke, einem Saufgelage, wo Einer den Andern uͤber¬ ſchreit, eine Pruͤgelei die andere abloͤſt. Da trat Bona¬ parte mit ſeinem Holla! auf. Holla! rief er, und nur ein Holla machte er. Sein Erſtes war, alle Lichter auszublaſen. Er brachte keine Entſcheidung, ſondern152 nur ein Ende aller Fragen. Gleichviel, ſchrie er: Frei¬ heit oder keine Freiheit, Religion oder keine Religion, Moral oder keine Moral; es iſt Alles einerlei; liberté, égalité, dabei bleibt es; und daß jetzt nur Keiner mehr das Maul daruͤber aufthue, und ſich anders ruͤhre, als man es ihn heißt; denn wie es nun iſt, ſo ſollte es werden, und ſo muß es bleiben! Dieſelbe Rede, nur nach den Umſtaͤnden ein wenig veraͤndert, hat der große Mann ſeitdem an das ganze Europa gerichtet: Das einzige noch uͤbrig gebliebene Jakobinerneſt, Eng¬ land, ſoll zerſtoͤrt werden, und dann wird es ſich mit dem unverſchaͤmten Selbſtdenken und Selbſtwollen uͤberall wohl geben, und alles draußen ſich ebenſo gemaͤchlich fuͤgen, wie es im Innern ſich wirklich ſchon gefuͤgt hat. Mit dem deutſchen Vorwitz hat es ohnedies nichts zu ſagen; man droht nur mit dem Stock und ſogleich iſt alles ſtill. Auch in der Folge hoͤrte Schlabrendorf nicht auf, gegen Napoleon immerfort mit allem Nach¬ druck ſeiner unbeſtechlichen Wahrheitsliebe ſich auszu¬ ſprechen. Der daͤniſche Dichter Baggeſen wurde durch ihn in gleicher Richtung vorzuͤglich beſtaͤrkt und ange¬ feuert. Schlabrendorf entging der Verfolgung des Macht¬ habers vielleicht nur durch die Zuruͤckgezogenheit und Sonderbarkeit ſeiner Lebensweiſe, die fuͤr ihn das vor¬ theilhafte Zeugniß der Unſchaͤdlichkeit ablegen mochte. Im Hôtel des Deux-Siciles in der Rue Richelieu, wo der Poſtillon ihn bei ſeiner Ankunft aus England153 zuerſt hingefahren, bewohnte er nach langen Jahren noch daſſelbe Zimmer im zweiten Stock, das er nie verſchloß und immer ſeltener verließ. Ohne alle Be¬ dienung, umgeben von ſpaͤrlichem, zerfallendem Haus¬ rath, in zerriſſener Kleidung, mit allem Zubehoͤr einer cyniſchen Gewoͤhnung, empfing er, Diogenes von Paris, wie er ſcherzend ſelbſt ſich nannte, in ſeiner Tonne taͤg¬ lich zahlloſe Beſuche von Menſchen aller Staͤnde und aller Nationen, willig jede Arbeit ſogleich unterbrechend, und jedem Geſpraͤche, das auf die Bahn kam, mit allem Reichthum ſeines Innern ſich hingebend. Keine Ruͤckſicht konnte ihn hemmen, ſelbſt dem unbeſcheidenen Frager gab er, wenn auch unwillig, die ergiebigſte Aus¬ kunft; haͤufiger freilich kam er den Fragen zuvor; zu¬ weilen vier, ja fuͤnf und ſechs Stunden lang konnte er ununterbrochen, im ſchoͤnſten Gedankenzuſammen¬ hange, mit beweglichſter Einbildungskraft und mit ſtei¬ gendem Reiz, durch ſeine reiche Rede den Hoͤrer feſſeln, uͤber die Stunden durch die Annehmlichkeit der Mit¬ theilung taͤuſchend; man erzaͤhlt, daß er, am fruͤhen Abend mit dem Lichte in der Hand einen Freund (Wil¬ helm von Humboldt) zur Treppe geleitend, mit dem¬ ſelben am hellen Tage noch im Geſpraͤch begriffen an ſolcher Stelle gefunden worden. In ſeiner Offenheit verhehlte er ſelbſt den abgeſchickten Spaͤhern, die ihn zu Zeiten aufſuchten, ſeine Geſinnung und Denkart nicht; ein ſolcher Mann, der frei und grade ſeinen154 rechtſchaffenen Wandel verfolgte, nichts insgeheim und auf Nebenwegen herbeizufuͤhren ſuchte, fuͤr ſich ſelbſt nichts Weltliches erſtrebte, keinen Einfluͤſterungen unbe¬ dacht Gehoͤr gab, an keinerlei Raͤnken jemals Theil nahm und dabei als ein Sonderling erſchien, duͤnkte den damaligen Gewalthabern eher zu belachen als zu fuͤrchten, und die Polizei Napoleons, die mit dringen¬ deren Sachen beſchaͤftigt war, ließ ihn unangefochten.

Seine bedeutenden Einkuͤnfte wendete er, da er fuͤr ſich faſt gar nichts brauchte, meiſt ganz im Stillen zu wohlthaͤtigen Zwecken. Als er in Preußen wegen ſeines Außenbleibens mit dem Verluſte faſt ſeines ganzen Ver¬ moͤgens bedroht war, blieb ſein gleichmuͤthiger Sinn ungeſtoͤrt, und ſelbſt die fuͤr eine Zeit wirklich einge¬ tretene Entziehung der Einkuͤnfte konnte ihn nicht be¬ wegen, durch irgend einen Schritt, der ihm als Zwang erſchien, ſolchen Nachtheil abzuwenden. Er geſtand je¬ doch ſelbſt, daß er die Verguͤnſtigung, die einem Staats¬ buͤrger zum Aufenthalt im Auslande billigerweiſe gewaͤhrt ſein mag, fuͤr ſich bis zum Mißbrauche verwendet habe. In beinahe vierzigjaͤhriger Abweſenheit hoͤrte er indeß nicht auf, durch Geſinnung und Theilnahme ein Deut¬ ſcher, ein Preuße und noch insbeſondere ein Schleſier zu ſein, als ob er immerfort im Vaterlande geblieben waͤre, und er wußte und kannte alles genau, was dort in[Staatsverwaltung], Rechtspflege, Erziehung, Sitten¬ art und Literatur gethan und betrieben wurde. Kant,155 Fichte, Klopſtock, Peſtalozzi, Lichtenberg, Schiller, Richter, Voß, den er ſehr liebte, und Goethe, der auch ihm als groͤßter Stern leuchtete, waren inmitten von Paris und der Revolution ſeine treuen Begleiter. Seine Huͤlfe, ſeine Unterſtuͤtzung erſtreckte ſich vielfach auf die Angelegenheiten der fernen Heimath. Als Domherr von Magdeburg ſchloß er auch dieſe Stadt in den en¬ geren Kreis ſeiner Neigungen ein, und bewies dortigen Anliegen der Einzelnen wie des Gemeinweſens ſeine vorzuͤgliche Theilnahme. Große Summen ließ er wie¬ derholt an die preußiſchen Kriegsgefangenen in Frank¬ reich austheilen. Jede Noth und Verlegenheit fand bei ihm Gehoͤr und Huͤlfe. Er betrachtete ſich als einen in der Fremde angeſtellten Armenpfleger ſeiner Lands¬ leute; Gelehrte, Kuͤnſtler, beſonders Handwerksburſchen ohne Zahl, empfingen ſeine oft nach Umſtaͤnden aͤußerſt betraͤchtlichen Spenden, ohne daß irgend ein Unterſchied galt, als der der Beduͤrftigkeit. Im Jahre 1813 endlich nahm er ſich ernſthaft vor, an der kriegeriſchen Erhebung Preußens, die ſeine heißeſten Wuͤnſche und freudigſten Hoffnungen belebte, perſoͤnlichen Antheil zu nehmen; allein boͤſe Raͤnke wußten ſeine Abreiſe zu verhindern, ihm wurden keine Paͤſſe bewilligt, und er mußte die Ereigniſſe in Paris abwarten. Doch hemmte dies ſeinen Eifer und ſeine Mitwirkung nicht; was er nur an Geld und Gut aufzubringen vermochte, große Summen, durch die Bedraͤngniß der damaligen Zeit in156 ihrem Werthe noch erhoͤht, brachte er ruͤckſichtslos dem Vaterlande dar. Wichtige Dienſte leiſtete er der Sache der Verbuͤndeten noch nach dem Einzuge in Paris. Die angeſehenſten Staatsmaͤnner und Feldherrn beſuch¬ ten ihn dort. Sein edler Vaterlandseifer empfing zur Belohnung das eiſerne Kreuz, welches ihm, der ſonſt kaum auf Orden und Ehrenzeichen achtete, als eine durch Stiftung und Bedeutung vor allen andern aus¬ gezeichnete Zierde galt. Nach dem zweiten Einzuge der Verbuͤndeten in Paris, im Jahre 1815, regte ſich haͤu¬ figer in ihm der Wunſch und die Neigung, nach Deutſch¬ land zuruͤckzukehren, und ſeine Tage im Vaterlande zu beſchließen. Gewohnheit hielt ihn jedoch in Paris feſt, und er unterließ jene Ruͤckkehr, wie ſo Vieles, was er eifrig gewollt, und lebhaft beſprochen, indem die Thaͤ¬ thigkeit, die ſich ſo leicht dem Durchdenken von Ab¬ ſichten und Planen zuwandte, nur ſchwer oder gar nicht zu den Anſtalten der Ausfuͤhrung uͤberging.

Seine Lebensart blieb im Ganzen dieſelbe, nur daß die Beſuche, die er empfing, jetzt auch aus den unteren Klaſſen haͤufiger wurden, ohne daß die der Vornehmen ſich merklich[verringerten]; leider auch mit manchen Wichten und Lumpen gab er ſich nur allzu guͤtig ab, und hatte ſpaͤter wenig Dank davon. Aus Bequem¬ lichkeit ließ er ſeinen Bart wachſen, bald wurde dies eine Liebhaberei, und zuletzt eine ernſtliche Hauptſache bei ihm, die er muͤndlich und ſchriftlich mit Lebhaftigkeit157 vertheidigte und anempfahl. Mehr als fruͤher befliß er ſich jetzt auch des Schreibens. Als Schriftſteller wollte er zwar nicht auftreten, aber gern ließ er ſeine Blaͤtter und Hefte ſchriftſtelleriſchen Zwecken Anderer dienen. Gradezu verſchenken mochte er geiſtiges Eigenthum bis¬ weilen, wie anderes, und die Empfaͤnger durften, ja mußten ſogar daſſelbe nun als Eigengehoͤriges behaupten. Sein Reichthum an Gedanken und Erſchauungen war ſo groß, daß er alles Ausgeſprochene ſogleich der Welt uͤberließ, und ſeinen Mittheilungsbedarf gleichſam jeden Augenblick ſelbſtthaͤtig aus friſchen Vorraͤthen erneute. Nach manchen Vermuthungen, denen wenigſtens die Schreibart und der Gehalt maͤchtig zuſtimmen, duͤrfte auch die in Leipzig 1816 erſchienene kleine Schrift: Einige entferntere Gruͤnde fuͤr ſtaͤndiſche Verfaſſung von Schlabrendorf herruͤhren, obwohl man dies gelaͤug¬ net, und den Profeſſor Hegewiſch in Kiel als Verfaſſer wiederholt genannt hat. Von Schlabrendorf iſt ganz beſtimmt der Artikel Horne Tooke in der Biographie universelle, vielleicht auch noch andere Abſchnitte dieſer Sammlung.

Die Eigenthuͤmlichkeit ſeiner Anſichten zeigte ſich meiſt ſehr auffallend; auch wo die Reſultate nicht neu erſchienen, waren es faſt immer die Wege, auf denen man ihn dazu gelangen ſah. Seine tiefſinnigen Er¬ gruͤndungen hatten in ſeinem Kopfe ein vollſtaͤndiges, eigenthuͤmliches Syſtem des Staats ausgearbeitet, eine158 Art von Urbild wie Platon’s Republik, deſſen Rich¬ tung jedoch das gerade Gegentheil der revolutionairen Beſtrebungen war, die ſich unter ſeinen Augen in ſo ſchreckliche Abwege verirrten. Aber auch in andern Gebieten des Denkens verſuchte ſein reicher Geiſt ſich mit fruchtbarem Erfolge; ein Werk uͤber allgemeine Sprachlehre hatte er der Vollendung nahe gebracht, ſeine Forſchungen uͤber Wortabſtammung, ſeine Ver¬ ſuche in deutſcher Sprachbildung, waͤren ſehr der oͤffent¬ lichen Mittheilung werth. Einige theils ihm entlehnte, theils in ſeinem Sinne geiſtvoll vorgetragene und weiter¬ gebildete Entwickelungen uͤber Sprachſachen liefert das gehaltvolle und empfehlenswerthe Werk: Ueber die Sprache (Heidelberg, 1828), welches ein wuͤrdiger Freund und Verehrer Schlabrendorf’s mit ausdruͤcklich angedeuteter Beziehung auf ihn geſchrieben hat. Denk¬ wuͤrdigkeiten uͤber die franzoͤſiſche Revolution, im Sinne der Diskurſe des Machiavelli uͤber den Livius, ſchweb¬ ten ihm lange als eine Lieblingsaufgabe vor; geſprochen hat er gewiß mehrmals ihren ganzen Inhalt, aber zum Niederſchreiben kam er nicht. Sinnvolle Kernſpruͤche, in deren oft ſeltſames Gefuͤge er die Ergebniſſe ſeiner ſittlichen und geſchichtlichen Anſichten einzupreſſen be¬ muͤht war, beſchaͤftigten heiter manchen ſeiner ſpaͤtern Tage. In ſolcher Art machte er auch verſchiedene Grab¬ ſchriften auf ſich ſelbſt; eine davon, in lateiniſcher Sprache, Civis civitatem quaerendo obiit octogenarius.

159

In ſeinen letztern Jahren beſchaͤftigte ihn auch die Sammlung von Buͤchern und Schriften in Bezug auf die franzoͤſiſche Revolution. Er hatte viele tauſend zum Theil allerſeltenſte Sachen zuſammengebracht, und be¬ abſichtigte dieſen einzigen Schatz geſchichtlicher Quellen einer preußiſchen Univerſitaͤt zu ſchenken. Aber auch ſein Teſtament war ein Werk, mit dem er ſich lange trug, ohne damit ins Reine zu kommen; er wollte eine allgemeinere Schulſtiftung mit einem Familienfideicom¬ miß vereinigen, allein ſeine zahlreichen Plane hierzu ſchwankten noch unentſchieden, als der Tod ihn uͤber¬ eilte, und ein aufgefundenes fruͤhzeitiges Teſtament, zu Bentheim ſchon im Jahre 1785 niedergelegt, vor Ge¬ richt zur Sprache kam, und den Sinn des Abgeſchie¬ denen jetzt nur in unreifen und dabei doch ſchon ver¬ alteten Beſtimmungen darſtellte.

Schlabrendorf erkrankte naͤmlich im Sommer 1824, und verließ, auf dringendes Verlangen ſeiner Freunde und ſeines Arztes Dr. Spurzheim, die dumpfe Stadt, um eine laͤndlichheitre Wohnung unter Obhut eines franzoͤſiſchen Arztes in Batignoles zu beziehen. Dort verſchlimmerte ſich jedoch ſein Zuſtand, indem er ſchon Beſſerung zu verſprechen ſchien, und der edle Greis, bis in ſeinen letzten Stunden von hohen Vorſtellungen und reichen Gedanken umgeben, verſchied am 21ſten Auguſt 1824. Baares Geld fand ſich nur ſo wenig vor, daß die preußiſche Geſandtſchaft die Begraͤbnißkoſten160 groͤßtentheils vorſchießen mußte. Der Praͤſident des proteſtantiſchen Conſiſtoriums zu Paris, Herr Prediger Goepp, hielt uͤber den Text: Das Andenken der Ge¬ rechten bleibt im Segen eine wuͤrdige Leichenrede, und die Beſtattung erfolgte auf dem Kirchhofe des Père La Chaise unter großem Zudrang von Theil¬ nehmenden. Die betraͤchtliche Hinterlaſſenſchaft, wor¬ unter die Herrſchaft Kolzig in Schleſien, wurde Gegen¬ ſtand mehrer Proceſſe, da man das vorgefundene fruͤhe Teſtament von mehren Seiten anfocht. Die Buͤcher¬ ſammlung wurde verſteigert, und ging ſo dem gehabten Zweck auf immer verloren! Moͤchte der handſchriftliche Nachlaß, in wohlbeſorgter Herausgabe mit anderweiti¬ gen Beitraͤgen verbunden, auch dem groͤßern Kreiſe von Landleuten, die den Verewigten nicht perſoͤnlich gekannt, ein gerechtes Denkmal ſeines Namens werden!

Wir geben hier vorlaͤufig einige Bauſteine zu einem ſolchen Denkmal. Zuerſt laſſen wir den fluͤchtigen Um¬ riſſen ſeines Lebens, wie wir ſie eben mitgetheilt haben, einige Zuͤge aus den Hunderten folgen, die ſich von den Eigenheiten des trefflichen Mannes ſammeln ließen, aber nicht alle ſchon jetzt erzaͤhlbar ſein duͤrften.

Von ſeiner menſchenfreundlichen Hingebung in jeder Art an Huͤlfsbeduͤrftige und Ungluͤckliche gibt nachſtehende Geſchichte ein ſprechendes Beiſpiel. Waͤhrend Schla¬ brendorf in England war, geſchah es, daß ein deutſcher Handwerksburſch daſelbſt wegen verſuchten Straßenraubs161 vor Gericht geſtellt wurde. Der Ungluͤckliche war auf der That ergriffen, die Sache ſelbſt keinem Zweifel unterworfen, dem Ausſpruch des Geſetzes unentfliehbar; es half nichts, daß der Arme nur im Augenblicke der ſchrecklichſten Noth und ohne Waffen zu jenem verzwei¬ felten Verſuche geſchritten war; die Todesſtrafe wurde ausgeſprochen. Kaum hatte Schlabrendorf von dem bevorſtehenden Schickſale des ihm ſonſt unbekannten Landsmanns gehoͤrt, als er ſich des Verlaſſenen eifrigſt annahm, ihn wiederholt beſuchte, und zuletzt, um ſeine Huͤlfe und Troͤſtung wirkſamer darbieten zu koͤnnen, mit ihm das Gefaͤngniß ganz und gar theilte. Die Hinrichtung war nicht abzuwenden; Schlabrendorf aber, in ſeiner menſchenfreundlichen Sinnesart muthig aus¬ harrend, begleitete den armen Suͤnder, in Ermangelung eines Geiſtlichen von deſſen Glauben, zur Hinrichtung, und blieb unter frommem Zuſpruch an des Ungluͤcklichen Seite, bis derſelbe den Geiſt aufgegeben hatte. Der Koͤnig Georg der Dritte erfuhr dieſen ſchoͤnen Zug hoch¬ herziger Menſchenliebe; wurde lebhaft davon ergriffen, und bezeigte dem edlen Grafen ſeitdem eine ganz be¬ ſondere Hochachtung. Ein anderer Fall zeigt ſeine Gro߬ muth in nicht weniger hellem Lichte. Ein magdebur¬ giſcher Kaufmann befand ſich in Paris wegen Schulden in Verhaft. Seine dreizehnjaͤhrige Tochter wurde ver¬ anlaßt, ſich an Schlabrendorf zu wenden, und that dies nicht vergebens. Die erforderliche Summe betrug11162achttauſend Franken, und Schlabrendorf hatte deren nur viertauſend zur Verfuͤgung, aber augenblicklich ſchaffte er die fehlenden viertauſend durch ein Anlehn herbei, und die Tochter hatte das Gluͤck, ihren Vater ſofort in Freiheit zu ſehn. Merkwuͤrdig war auch ſonſt ſein Be¬ nehmen in Betreff des Geldes. Er beſuchte, ungefaͤhr um die Zeit des Anfangs der franzoͤſiſchen Revolution, in Karlsruhe den Markgrafen Karl Friedrich, mit wel¬ chem vortrefflichen Fuͤrſten er in der ſchoͤnſten, innigſten Bekanntſchaft ſtand. Der Naturforſcher Gmelin fuhr mit Schlabrendorf nach Raſtatt, wo ſie uͤber Nacht bleiben wollten. Das Wirthshaus war aber ganz be¬ ſetzt und voller Bewegung. Mit Muͤhe erlangte Gmelin von dem Wirthe ein kleines Stuͤbchen gleicher Erde neben der Hausthuͤre, das ſonſt gar nicht in Betracht zu kommen pflegte. Zur Nacht ſich entkleidend haͤngt Schlabrendorf ſeinen Rock laͤſſig an den Thuͤrpfoſten, und legt ſich ruhig ſchlafen. Gmelin wollte die Thuͤre ſchließen, da verſicherte Schlabrendorf, er koͤnne durch¬ aus nicht in einem verſchloſſenen Zimmer ſchlafen, und die Thuͤre blieb alſo unverſchloſſen. Schlabrendorf ſchlief als¬ bald ein, Gmelin aber, der die fortdauernde Bewegung im Hauſe hoͤrte, auch manchmal die Stubenthuͤre durch Irrthum anfaſſen und aufklinken hoͤrte, und Ueberfall von Fremden, vielleicht auch Dieberei fuͤrchtete, that faſt kein Auge zu. Als er dies am andern Morgen163 ſeinem Schlafgenoſſen klagte, lachte dieſer, und zeigte aus ſeinem Rocke hervor einige Rollen Gold und fuͤr dreißigtauſend Gulden Wechſel, die ruhig am Thuͤr¬ pfoſten mitgehangen hatten, ohne daß ihm darum bange geweſen! Als Gegenſtuͤck dieſes Falles, wo das Geld der aͤngſtlichen Sorge um daſſelbe nicht werthgeachtet erſcheint, noch ein anderer Zug, in welchem die Vor¬ ſtellung von Recht und Unrecht dem Theile mehr Werth als dem Ganzen beilegt. Ein Wechſelhaus in Deutſch¬ land hatte an Schlabrendorf eine Summe von etwa zwanzigtauſend Franken zu uͤbermachen, und zeigte ihm an, daß dieſes Geld nach beigelegtem Ausweiſe zu ſeiner Verfuͤgung bereit liege. An der Berechnung fand er eine Kleinigkeit auszuſetzen, er glaubte die Gebuͤhren um ein Geringes uͤberſchritten, und mit allem Unwillen eines Gekraͤnkten und Mißhandelten that er Einſpruch. Vergebens ſuchte ſich das in wohlerworbenem Rufe ge¬ achtete Wechſelhaus zu rechtfertigen, er blieb dabei, man habe ihn uͤbertheuert, und war nicht zu bewegen, das Geld zu beziehen; lieber, als in ſolches, nach ſeiner Meinung, ihm zugefuͤgtes Unrecht einwilligen, ließ er alles fahren, und lange Jahre hindurch blieb auf dieſe Weiſe bei den betroffenen Leuten die ganze Summe ungenutzt liegen. Welchen Ausgang die Sache zuletzt genommen, iſt uns nicht bekannt geworden. Meh¬ reres, was Niemeyer im zweiten Theile ſeiner Depor¬ tationsreiſe nach Frankreich aus dem Jahre 1807 von11 *164Schlabrendorf Anmuthiges und Gefaͤlliges erzaͤhlt, moͤge dort nachgeleſen werden.

Merkwuͤrdig und unterhaltend wird es dem Leſer ſein, den edlen Greis aus der Feder ſeines Freundes Oelsner, um deſſen allzufruͤhen Abſchied wir auch ſchon trauern muͤſſen, mit aller Unbefangenheit vertrauli¬ cher Mittheilung ruͤckhaltlos geſchildert zu finden. Er ſchreibt:

Bei meiner Ruͤckkehr von Plombieres fand ich Schlabrendorf nicht mehr. Obwohl ich ihn krank wußte, laͤnger und gefaͤhrlicher, als er ſelbſt glaubte, hatte ich doch nicht gefuͤrchtet, daß er ſchon ſo fruͤh entſchlum¬ mern wuͤrde. Vielleicht iſt gefehlt worden, daß man ihn, ohne Uebergang, aus der verdickten Atmoſphaͤre ſeiner Wohnung in ein luftiges Krankenhaus verſetzte. Ihm ſelbſt wird vorgeworfen, er habe, der Bedenklich¬ keit ſeines Zuſtandes inne, die Mittel der Geneſung uͤbertrieben. So alt er auch geworden, hat er doch eigentlich ſein Leben abgekuͤrzt durch die thoͤrichte Lebensweiſe, in welche er, aus einer Art von Sparren, verſunken war. Nur eine ſehr geſunde und kraͤftige Natur konnte, ohne zu wanken, das Einſitzen, den Schmutz, die elende Koſt, zehn Jahre lang, aushalten. Zuverlaͤſſig war ſein Koͤrper auf Dauer organiſirt. Es iſt unglaublich, was dieſer zu entbehren vermochte. In fruͤheren Jahren hat ihm Schlabrendorf bisweilen, zur Probe, zweimal vierundzwanzig Stunden, und mehr,165 alle Nahrung verweigert. Ebenſo machte unſer Freund an ſich moraliſche Experimente. Er iſt dadurch zu einer inneren ungewoͤhnlichen Ausbildung gelangt. Schade, daß dieſe und ſeine andern Mittel keinen, ſeinen uͤbri¬ gen Verhaͤltniſſen angemeſſenen Wirkungskreis gefunden. Wie unendlich viel haͤtten da ſein guter Wille, ſeine Redlichkeit, ſeine edle Uneigennuͤtzigkeit, ſeine mannig¬ faltigen Kenntniſſe und Einſichten genuͤtzt! Im Pflicht¬ verkehr mit der Außenwelt wuͤrde eine gewiſſe Ueber¬ ſpannung, die ſeinen Begriffen anhing, zu maͤßigerem Niveau herabgeſtiegen ſein. Sein Leben ſtand im Wi¬ derſpruche mit den Grundſaͤtzen, die er ſich gemacht hatte, und die er predigte. Auch fuͤhlte er ſehr, daß er es zu keinem ihm ſelbſt genuͤgenden Zwecke ver¬ wandt. Unſchluͤſſigkeit, Hingebung in das Intereſſe des Augenblicks, zu große Willfaͤhrigkeit fuͤr Andere, Geſelligkeit, Geſpraͤchigkeit, mitunter Stolz, insbeſon¬ dere aber bis zur geringſten Umſtaͤndlichkeit ausgeſpon¬ nene Entwuͤrfe ſind ſchuld, daß keiner ſeiner Lebens¬ plaͤne zur Ausfuͤhrung gekommen. Zuletzt troͤſteten ihn uͤber das verfehlte Sein die Verkehrtheit der Welt und die Ueberzeugung, daß er doch nicht viel wuͤrde aus¬ gerichtet haben. Ernſtlicher konnte er ſich damit troͤſten, eine lebendige Wohlthaͤtigkeitsanſtalt fuͤr Arme und Huͤlfsbeduͤrftige zu ſein. Dieſe wandten ſich nie ver¬ gebens an ſeine weichherzige Freigebigkeit. Fuͤr ſie war bei ihm beſtaͤndig Almoſen bereit, Empfehlung und166 guter Rath. Allein da er nie in Noth geweſen, und blutwenig perſoͤnliche Beduͤrfniſſe hegte, ſo erkannte er die der Andern nur inwiefern ſie ihm geklagt wurden. Er iſt Jahre lang auf einem vertrauten Fuß mit Leuten umgegangen, denen er wohlwollte, und gern gedient haͤtte, wenn ſie den Muth gehabt, ſich uͤber ihre Lage auszuſprechen, von der ihm nichts ahnete. Selten ſich einer oͤffentlichen Subſcription entzogen und faſt immer erkleckliche Beitraͤge ausgeworfen zu haben, wird er der Oſtentation bezuͤchtigt. Man muß, daͤucht mich, dem Gemeingeiſte ſeine Schwaͤchen zu gut halten. An ſich ſelbſt ſparte, ja knauſerte er. Das Wohlfeilſte war ihm das Liebſte. So trank er z. B. ſchlechten Wein, und war nicht zu bewegen, beſſern anzuſchaffen. Die paarmal, da in ſeinen beſſern Zeiten ihn die Luſt an¬ gewandelt, ſeine Freunde zu bewirthen, laſſen ſich an den Fingern abzaͤhlen. Dem, der in die Vielſeitigkeit des menſchlichen Gemuͤths einzudringen und die Wider¬ ſpruͤche deſſelben auszugleichen weiß, darf ich es ſagen, daß Schlabrendorf, bei aller ſeiner Freigebigkeit, einen natuͤrlichen Hang zum Geize beſaß. Die betraͤchtlichen Summen, welche er zehn, zwanzig Jahre, und laͤnger, ohne Nutzung in fremden Haͤnden liegen und lieber ſchwinden ließ, als ſie verlieh oder verſchenkte, unter¬ ſtuͤtzen meine Behauptung. Bis in ſein hohes Alter blieb er, trotz ſeines Schmutzes, liebenswerth und gefiel den Frauen. Es iſt zu bedauern, daß keine ihn ge¬167 feſſelt hat. Seine, nicht eben hackele, Sinnlichkeit zu reizen und zu beſchaͤftigen, hielt nicht ſchwer. Zu ſei¬ nen Idealen gehoͤrte eine kinderreiche Ehe. Ihm waͤre ſie ein wahrer Segen geweſen. Bei meinem erſten Aufenthalte in Paris lernte er durch mich eine junge, ſehr anziehende Schottlaͤnderin kennen, Miß Chriſtie, die, vor einiger Zeit noch, gluͤcklich verheirathet zu Inverneß lebte. Mit ihr verſprach er ſich. Die Paͤſſe lagen bereit, ſie, ihrem Bruder und ihre Schwaͤgerin nach der Schweiz zu begleiten, um dort die Ehe zu ſchließen, als Schlabrendorf verhaftet ward. Durch ſeine Gefangenſchaft und ihre nothgedrungene Abreiſe aus Frankreich zerſchlug ſich die Sache. Dieſes Mi߬ geſchick ſcheint ihm nicht ſonderlich zu Herzen gegangen zu ſein. Perſoͤnliche Anhaͤnglichkeiten waren bei ihm nie ſehr ſtark. Deſtomehr beſaß er allgemeines Wohl¬ wollen. Er ſahe mich gern, er ſchaͤtzte mich und be¬ zeigte Achtung fuͤr meine Anſichten und Urtheile; auch war er zu jeder Gefaͤlligkeit geneigt, die ich haͤtte ver¬ langen koͤnnen. Allein ich konnte wegbleiben, ihn un¬ beſucht laſſen, ſo lang ich wollte, ohne daß er es be¬ merkte. Unſer hauptſaͤchlicher Verkehr beſtand in Con¬ verſation. Ich brauche Ihnen ſeinen Umgang nicht zu ſchildern. Nachſicht und Vertraͤglichkeit, offener, fuͤr jede moͤgliche Situation empfaͤnglicher Sinn, Theil¬ nahme und Mittheilung aus einer reichmoͤblirten Denk¬ kraft machten Schlabrendorf zu dem anmuthigſten und168 einnehmendſten Geſellſchafter, deſſen unbefangene Seele, deſſen Selbſtvergeſſenheit ihm die Herzen gewann. Kein Menſch iſt je, wie er, aller Art von Umtreiberei fremd geblieben. Und doch haͤtte er, in ſeinen letzten Tagen noch, dem Polizeiweſen in die Haͤnde gerathen koͤnnen. Ein junger Maler hat vor einigen Jahren ein wohlgetroffenes Bildniß von ihm verfertigt. An jenen wandten ſich einige junge Deutſche, zuerſt ſchmei¬ chelnd, dann mit Gelderbietungen. Sie verlangten Kopie. Der Kuͤnſtler, dem die Erlaubniß zu malen nur unter der Bedingung bewilligt worden, daß er Niemanden Abſchrift liefre, iſt ein zu ehrlicher Mann, um nicht Wort zu halten, oder ſich beſtechen zu laſſen. Alſo wurden die Verſuche abgewieſen. Die vielfaͤltige Wiederholung derſelben erregte indeß ſeine Neugier, zu wiſſen, warum man den Gegenſtand mit ſolcher Hart¬ naͤckigkeit beziele. Er erfuhr, daß die Thorheit wuͤnſche, den herrlichen Kopf mit ſeinem Barte in ihren Ver¬ ſammlungen aufzuſtellen. Denken Sie ſich die Folgen fuͤr den unſchuldigen Greis, wenn ſein Bildniß als eine Art von Baphomet irgendwo entdeckt wurde!

Der ſonderbare Mann hat die geringfuͤgigſten Papierſchnitzel aufbewahrt. Ein maͤchtiger Schwall von Schriften zeigt ſich in ſeinem Nachlaß. Ich habe den Wunſch geaͤußert, daß Hrn. die ſchriftſtelleriſchen Arbeiten, die moraliſch-politiſchen wenigſtens, zur Sich¬ tung uͤberantwortet werden. Die linguiſtiſchen zeigen169 einen ungeheuern, oft unleſerlichen Kram. Aber mit wieviel Allotrien ſich der gute Mann doch auch be¬ ſchaͤftigt hat! Ganze lange Liſten von Ordensgliedern zu kopiren! Tag fuͤr Tag ſind die Beſuche angemerkt, die er erhalten hatte. Wollte er ſie dereinſt vielleicht wiedererſtatten? Den zahlreichſten Papierſtoß bilden die Huͤlfsgeſuche. Man ſiehet daraus, daß er viel wohl¬ gethan, und wie ſein Ruf bis in die entlegenſten Ho¬ ſpitaͤler gedrungen. Bei alledem war es ein verfehltes Leben. Er hat es oft ſelbſt gefuͤhlt. In einer der mehreren Grabſchriften druͤckt er den Gedanken aus, daß mit ihm nichts als Projekte, aber unermeßlich viele und unglaubliche zu Grabe gehn.

Schlabrendorf wollte im Handeln vorſichtiger ſein und kluͤger, als die ganze uͤbrige Welt. Niemand hat je in Hinſicht ſeiner ſelbſt ungluͤcklicher fehlgegriffen. Im Widerſpruche mit ſeiner Natur machte er ſich zum Klausner, waͤhrend er nicht ohne Umgang leben und denken konnte; denn Verkehr mit Andern wirkte auf ihn wie magnetiſche Reibung, er gerieth dann wachend in einen Zuſtand von Somnambulism, der, ſeinen Geiſt aller unmittelbaren Umgebung entruͤckend, wahre Ge¬ nialitaͤt in ihm erzeugte. Sich ſelbſt uͤberlaſſen hin¬ gegen war der ſeelengute, wohlwollende, aͤcht fromme Greis von tauſend Bedenklichkeiten umfangen, die ſeine Eingezogenheit ihm laͤſtig, oͤde, traurig machten. Stolz verſperrte den Austritt; man wollte nicht eingeſtehn,170 geirrt zu haben. Wie ſehr ihn die thoͤrichte Lebensart druͤckte, zeigt die ſtete Bereitwilligkeit, den Pult, an dem er Silben zaͤhlte, zu verlaſſen, um ſich dem erſten beſten unbedeutenden Beſuche auf halbe Tage hinzu¬ geben. Waͤre ſein Gedanke nach innen gerichtet, ſtark oder leidenſchaftlich an einen Gegenſtand der Betrach¬ tung gefeſſelt geweſen, ſo haͤtte er unmoͤglich an dem langen Eroͤrtern und oft zweckloſen Geplauder Behagen gefunden. Doch Friede und Ehre ſchwebe uͤber ſeiner Aſche! Kein Sterblicher hat es mit Zeit und Nachwelt beſſer gemeint.

Schließlich theilen wir von Schlabrendorf ſelbſt hier einige der ſchon erwaͤhnten Kernſpruͤche, oder Ein¬ zelblicke, wie er ſie nannte, in der Faſſung und Geſtalt mit, wie er ſie eigenhaͤndig aufgeſetzt und zu verſchiedenen Zeiten uns freundlich zugefertigt hat. Die Wunderlichkeit des Ausdrucks und der Sprachfuͤgung wird freilich oͤfters Anſtoß geben. Er fuͤhlte ſelbſt das Mißliche, und wuͤnſchte ſich durch den Beifall der Freunde geſtaͤrkt und gerechtfertigt zu ſehen. Oelsner, dem er ſolche Proben zur Beurtheilung vorgelegt, ſchrieb ihm unverhohlen wie folgt:

Einiger Bedenklichkeiten wußte ich mich nicht zu erwehren bei Leſung des Blattes, von deſſen hohem Werthe ich uͤbrigens durchdrungen bin, denn der Lehre gehet das Muſter zur Seite, beide wie nur ein Tief¬ forſcher ſie uns geben kann. Zuerſt entſtand die Frage,171 wird der Vortrag Eingang finden? Es iſt faſt un¬ moͤglich, daß ein ſehr gedraͤngter in gleichem Verhaͤlt¬ niſſe buͤndig und fließend ſei. Geſuchte Wendung, un¬ noͤthiger Zwang ſind anſtoͤßig. Man ſieht keinen Grund z. B. des fuͤnften Karls dem uͤblichen und daher allgemein verſtaͤndlicheren Karls des Fuͤnften vorzu¬ ziehen. Sinnſpruͤchen, die entweder einen politiſchen Satz, doch nicht ohne Ruͤckhalt kund thun, oder eine moraliſche Betrachtung ans Gemuͤth legen ſollen, wie die mir gefeierten Einzelblicke, ſind der pythiſche Ton und Rhythmos gluͤcklich angemeſſen. Sollten dieſe aber nicht fuͤr einen rein didaktiſchen Gegenſtand allzu gra¬ vitaͤtiſch ſein? Ganz gewiß erſchweren ſie den mi߬ trauiſchen Gang auf neugebrochener, uneingetretener Bahn. Daß Anwendung der ertheilten Vorſchriften mannigfaltigen Nutzen ſtiften werde, unterliegt keinem Zweifel. Aber laufen wir nicht Gefahr, die Zeugungs¬ kraft unſrer Sprache uͤber Maß zu wecken? Leicht koͤnnte ſie in polypenartige Geilheit ausſchweifen, und wir geriethen dann in nicht geringe Verwirrung. An¬ drerſeits iſt eine vollkommen ſchulrechte Sprache noch darum keine anmuthige. Ich kann irren; aber mir ſcheint, daß, wenn jeder Vorſtellung ein ſtreng abge¬ zeichneter Ausdruck beſchieden waͤre, dieſe Einmarkung ihrer Regſamkeit hoͤchlich ſchaden wuͤrde. Erſt ſeitdem ſich unſre Sprache in ihren Formen und Gebaͤrden den ausgebildeteren Nachbarinnen genaͤhert hat, iſt ſie um¬172 gaͤnglicher geworden. Deſſenungeachtet hauſet ſie im Mittelpunkte von Europa noch immer ziemlich verlaſſen. Dem Auslande behagt ſie wenig. Ich fuͤrchte, wenn wir ihr die altgothiſche Tracht gar zu eng anſchnuͤren, daß ſie noch mißfaͤlliger wird. Ihren modernen Schwe¬ ſtern muß ſie ſich huͤten fremd zu werden. Der leben¬ dige Verkehr zwiſchen den europaͤiſchen Voͤlkern ſorgt dafuͤr, und macht eine gaͤnzliche Reform unmoͤglich. Iſt der Vortheilt einer voͤllig homogeneu Sprache wirk¬ lich ſo groß, wie wir uns einbilden? Denken die deutſchen Koͤpfe heller in ihrer Urſprache, als der Eng¬ laͤnder in ſeiner aus den fremdartigſten Elementen zu¬ ſammengeſetzten? Zu beſtimmen waͤre, wie weit ſich die Spracheinigung erſtrecken ſoll. Bannen wir Woͤrter, wie Komplott, Magiſtrat, Proviant, ſo kann am Ende man auch Kehraus machen mit Ordnung, Fenſter, Bi¬ ſchof und dergleichen. Aufnahme auslaͤndiſcher Sub¬ ſtantiven bereichert die deutſche Sprache mit Endigun¬ gen, deren ſie keine große Mannigfaltigkeit beſitzt. Die meiſte Huͤlfe thut dem Zeitworte noth. Wer das ge¬ lenker machen koͤnnte! Auch erſetzt die Leichtigkeit, Deri¬ vativen zu ſchaffen, ganz und gar nicht, was uns hier an Stammwoͤrtern gebricht. Zuletzt ſaͤhe ich unſre Sprache lebensgern von einer Menge nichtsſagender Sylben gereinigt. Vielfach bitte ich um Nachſicht, auf Belehrung hoffe ich.

173

Wiefern die hier ausgeſprochenen Bedenken und Warnungen Guͤltigkeit haben, beurtheile jeder kundige Leſer ſelbſt. Daß ſie im Ganzen gegen die Vorliebe und beinah Leidenſchaft, mit denen die verfuͤhreriſche Richtung einmal ergriffen und die im buͤrgerlichen Leben mißbilligte Herrſchwillkuͤr auf das Sprachgebiet geworfen war, wenig ausgerichtet hat, werden die Spruͤche ſelbſt, welche nun folgen, auch ihrem ſonſtigen Goͤnner noch oft genug darthun. Daß bei manchem Gelungenen hier vieles Mißrathene ſtehe, wollen wir auch unſrer¬ ſeits gar nicht laͤugnen.

I.

Der cherubiniſche Wandersmann von Angelus Sile¬ ſius uͤberraſchte mich um ſo mehr, als der zum See¬ lenarzt gewordne kaiſerliche Leibarzt, eine Umwandlung, die auch heut ſo uneben nicht duͤnkt, mir noch voͤllig unbekannt war. Allein beim erſten Durchblaͤttern fand ich mich oft ganz wie zu Hauſe, wovon ich dem geiſt¬ reichen Dollmetſcher, als Belaͤge meines Dankgefuͤhls, nur einige Nummern hier anfuͤhren will. Ja, bald erinnerte ich mich auch, wohl ſchon manches, freilich nach meiner Art, und ich bin weder Seelen - noch Leib¬ arzt, dem Papiere laͤngſt anvertraut zu haben. Hier¬ von ebenfalls ein paar Belaͤge.

174

1.

Der Prieſter, Angelus Sileſius:

Die ſchönſte Weisheit.

Menſch! ſteig 'nicht allzu hoch, bild' dir nichts uͤbrigs ein;
Die ſchoͤnſte Weisheit iſt, nicht gar zu weiſe ſein.
Der Laie, Eremita Pariſienſis:

Ausflug und Reiſegewinn.

Der Meßkunde Borhof, der Staatsweisheit Hei¬ ligthum, ſtempelt Kinderwahrheiten: wer ſein Forſchen nie kindlich begann, wird kein Meßkuͤnſtler; wer es nie kindlich abſchloß, kein Staatsweiſer.

2.

Wiederum der Prieſter:

Die volle Seligkeit.

Der Menſch hat eher nicht vollkommne Seligkeit,
Bis daß die Einheit hat verſchluckt die Anderheit.
Und der Einſiedler:

Weltenmuſterung.

Was Sinnlichkeit vereinzelt, ſoll der Menſch wieder aneinen, Liebe ſtets umfaſſen: drum, wie beide wachſen, durch neuen Bezug, hoͤheren Zweck, gliedert ſich fri¬ ſches Geein; wohl nur der Hausnaͤchſten zuerſt; dann auch der Gemuͤthsnaͤchſten; der Lichtgenoſſen; bald viel¬ leicht der Buͤrger; einſt der Voͤlker; endlich der Welten; und ſogar der Zeiten: oder ſchuf Urwille nicht die un¬ abſehliche Stufenleiter perſoͤnlicher Enteinzlung?

175

Indem ich das Letzte abſchreibe, werde ich freilich gewahr, daß ich mir erlaubt habe, die biedre Mutter¬ ſprache nach meinem Sinne umzuformen, und das geht denn nicht immer gluͤcklich ab; wenigſtens gefaͤllt ſelten der erſte Eindruck. Dennoch koͤnnte ich mich nie ent¬ ſchließen, ein buntdeutſcher (auch ein ſelbſtgepraͤgtes Woͤrtchen) Schriftſteller zu werden. Uebrigens erin¬ nert, glaub 'ich, meine Weltenmuſterung nicht blos an den herzlichen Angelus Sileſius, ſondern auch an den eben nicht leichtglaͤubgen Leſſing, der eine kleine Ab¬ handlung ſchließt: Und wo hoͤrt die Reiſe auf? Im Schooße Gottes!

3.

Angelus Sileſius:

Durch die Menſchheit zu der Gottheit.

Willſt du den Perlenthau der edlen Gottheit fangen,
So mußt du unverrückt an ſeiner Menſchheit hangen.
Eremita Pariſienſis:

Aller Entweihungen ärgſte.

Entſchwebt nicht Zauberſinn ſchon, ſobald Kunſt muß dienen, wie Schemen, zu erſchnappen Tagesbe¬ darf? Auch Gotteslehr, auch Gotteshuldigung, dient etwa je nur ſtolzer Willkuͤr ſie zum Wehrſchild, ſie zum Strafſchwert, verlaͤugnet ihre Himmelskraft; zeugt im Duͤnkel nie Gottinnigkeit! Auf Erden hoͤher nichts, als Menſchenwuͤrde; wer am Zeitgeiſte ſie haßt, mag176 der fromm noch heißen vorm Schoͤpfer? Rein bleibt kein Zweck, gilt uns fuͤr Mittel bloß das Heiligſte.

4.

Angelus Sileſius:

Ein wachendes Auge ſiehet.

Das Licht der Herrlichkeit ſcheint mitten in der Nacht;
Wer kann es ſehn? Ein Herz, das Augen hat und wacht.
Eremita Pariſienſis:

Lebensergebniß.

Beengt ſei, oder noch ſo rieſenhaft, des Menſchen Umblick; wie mag auf des Grundes Tiefe ſich ihm be¬ waͤhren zuletzt wohl jede Anſicht hienieden? Wie Rau¬ penhuͤlle zwar, wie Seifenblaſe, wie Schattenbild nur! Doch Licht und Leben unerſaͤttlich einſaugend, uͤber¬ ſchwaͤnglich zuruͤckſtrahlend, je wie unſer Geiſt hinein¬ zulegen verſtand mehr gediegene Wahrheitskoͤrner; unſer Gefuͤhl zu aͤrnten begehrte mehr unvergaͤnglicher Freude.

5.

Angelus Sileſius:

Des Weiſen Adel.

Des Weiſen Adel iſt ſein göttliches Gemüthe,
Sein tugendhafter Lauf, ſein chriſtliches Geblüte.
Eremita Pariſienſis:

Gilt kein Heldenblut, gilt Heldenſinn.

Wer uͤberzaͤhlt die Geſtalten, miſſet jeden Umriß, ordnet jede Farbe, unter deren Zauberhuͤlle das Edle,177 das Erhabene, uns Erdengeiſter ſchon beſuchte, beſuchen darf? Fand es im Ritterhelme dein Stammvater, athmet in dir noch ſein Geiſt, muß auch bannen ſich dieſer in jene Einzelform? lebendige Tugend nur ſpuken heut im Leichentuch?

6.

Angelus Sileſius:

Die Einigkeit.

Ach, daß wir Menſchen nicht, wie die Waldvögelein,
Ein Jeder ſeinen Ton mit Luſt zuſammenſchrein!
Eremita Pariſienſis:

Schattenriß.

Volkleben iſt Bethaͤtigungsverein als Selbzweck; daher ſoll's auch Kunſtgeſchick ſein, Willensvielartigkeit ungelaͤhmt anzueinen: Hauptgraͤnzen pflanzt Urſatzung; naͤhere jedes Umſtandsgeſetz, durch wie fuͤr Alle: ſo be¬ graͤnzt, herrſchen kraͤftge Staatsgewalten; abgeſtuft wie's der Tag heiſcht; nicht anders einzeln gezuͤchtet; nur zuletzt Alle, durch Aller Augen.

7.

Angelus Sileſius:

Die Augen der Seele.

Zwei Augen hat die Seel ': eins ſchauet in die Zeit,
Das andre richtet ſich hin in die Ewigkeit.
12178
Eremita Pariſienſis:

Des Freiſinns Verzücktheit.

Wachſenden Tagesdruck miſſet Erdenblick ſchnell; doch eben ſo ſtirbt er auch hin! Daͤmmernden Fern¬ ſchutz erſpaͤht Vernunftblick allgemach; aber lebt ewig! Dieſen quaͤlt Ungeduld nie; bloß jenen ſtets: unſerm Fernrohr entnebelt Weisheit ein Ziel, reicht muͤhſelger Forſchweg die Mittel; drum ſcheint ihm nichts frech: nur Tageshand ſoll buͤßen fuͤr Einzelthat, gleichviel wie hoch ſtrebend. Will Tagesrolle dennoch entſcheiden vor¬ weg; nicht minder untruͤglich, unerbittlich alsbald, wie Ferngeſchick einſt; raubt heut ſchon deine Suͤnderhand oben zoͤgerndes Rachſchwert, o dann verhaͤngt in dir ein Gott, vollſtreckt hienieden ein Verbrecher.

Ein Gericht, drei Fragen.

Den Meuchelſtahl zuͤckt heut auch Biederſinn? ... wo noch herrſcht der Stimmen fortan wohl mehr als Eine!

Nur Eine uͤber Thatſchuld; ſo wills des Rech¬ tes Urgrund, Buchſtabe, Nothdrang.

Und Thaͤter?

Geſetz ergreife, richt 'und vernicht' ihn; ſein Wahn ſcheuche Jugend; den furchtbar Haſtigen beweine, wer Thraͤnen kennt; gebuhlt um ſein Herz haͤtte ſelbſt ... der Opfergreis.

Allein des Suͤnders Nachlohn?

179

Klang fuͤr Erdenpilger es gar zu frech, hier zerſchmettern wie Himmelsfuͤrſt, um ſo frecher klingt’s wahrlich, dort ſchon allrichten wie Er! *

* Hugo in der Schuld : Seht ihr wohl, ſo iſt der Menſch! Drum, wenn Einer iſt gefallen, Mag der Andre weinen; aber Nicht zu richten ſich erkühnen.

1

8.

Angelus Sileſius:

Zufall und Weſen.

Menſch, werde weſentlich! denn wann die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg, das Weſen, das beſteht.
Eremita Pariſienſis:

Tageslauf und ewiges Ziel.

Sinnlich erwacht und entſchlaͤft irdiſches Einzelleben; ja ſelbſt im edelſten Nu geiſtiger Kraft bleibt's noch ſinnlich gemiſcht: doch auf hohem Zeitenmeere bildet endlich auch der Menſchheit Lebenslauf ſich rein geiſtig; ſtoͤßt von ſich das Vergaͤngliche, das Ordnungswidrige, das Unwahre; und Wahrheit allein, wirkt ſie minder gerecht wohl morgen als heut? Iſt denn im Geſchoͤpfe ſie nicht des Urweſens Athemzug?

II.

1. Wortlob und lebendiges.

Des Alterthums unſterbliche Weiſen und Helden, o wie viel Großes haben ſie thaͤtlich uns gelehrt!

12 *180

Noch magſt du's allenfalls ruͤhmen, nur waͤhne deßhalb nie, es duͤrf 'ein mit uns athmender Geiſt un¬ geſtraft ſich regen, wie ſonſt Jene: denn Traͤumer be¬ gruͤßt man ſofort dich; bald auch Heuchler; vielleicht Weltſtuͤrmer ſchon; oder gaͤlt' etwa nicht fuͤr Hoͤllen¬ ſpuk ſo mancher altverehrten Buͤrgeraſche friſch auf¬ loderndes Jugendfeuer?

Selbſt neuerlich klang edler nichts, aus der Ferne, als Nordamerika's unadlicher Freiſinn! bis er, zu uns heruͤberſchiffend, nun bloß wie Scheuche droht, jeder erbtraͤgen Knechterei, jedem aufgedunſ'nen Herrſchling.

Umſonſt fuͤr uns erwacht jetzt Hellas ſo ſpaͤt! oder ſoll wohl der Nachbarn alte Geiſteserbſchaft, lange freilich entruͤckt, durch des Turbans Schwertrecht, den¬ noch unvertilgbar, und mit jedem Feſſelroſt, wie leiſ 'auch, uͤberliefert, ſich drum fuͤr gluͤcklich're Enkel neu begruͤnden, durch des Vernunftrechts, des Rieſen¬ glaubens Heldenkampf? *

* Was hat euch nun, ihr Völker, ſo ſcheu und bang gemacht? Der Geiſt, den ihr beſchworen, er ſteigt aus tiefer Nacht Empor in aller Größe, und beut euch ſeine Hand Erkennt ihr es nicht wieder, das freie Griechenland? Die Funken in der Aſche, in der ihr oft gewühlt, Die Funken, deren Gluthen ihr oft in euch gefühlt, Sie ſchlagen luſtig lodernd zu hohen Flammen aus Kleinmüthige, ihr ſeht es und euch erfaßt ein Graus! O weh, ſo habt ihr, Freunde, mit Namen nur geſpielt? 181 Was ihr erträumt ſo lange, leibhaftig ſteht es da, Es klopft an eure Pforte ihr ſchließt ihm euer Haus Sieht es denn gar ſo anders, als ihr es träumtet, aus?
(Wilhelm Müller. )
2

2. Einzelwunſch und Geſammtblick.

Kann es geben oͤffentliche Meinung, Volkswillen, Gemeingeiſt?

Ernſter wohl keine Frage: verneint ſie ein Staats¬ mann, woher noch fernweiſes Ziel, naͤchſtkluger Vor¬ ſchritt! Nirgend freilich ſchaut Erdenſinn Geiſt, waͤhrend dieſer maulwurfsartig ſpukt uͤberall, wie Hamlets Vater¬ geſpenſt *: ja, was heimlich begehrt jeder Wuͤſtling, verwirft er in jedem Schaukreiſe doch, als Mitbuͤrger ſtets und laut **; denn wer Pflicht nie hoͤrte fuͤr ſich, erkennt Rechtsheil dennoch fuͤr alle: drum nicht aus lichtſcheuer Willkuͤr, nein aus offnem Freiheitsdrange, quillt aͤchtes Geſetz; und ſo wohnt im Volkmunde Him¬ melswort, ſollt 'auch Erbduͤnkel es nennen Verſchwoͤrung.

* Für Aug 'und Ohr gibt es keine Geiſterwelt, ſondern nur die Körperwelt, in welcher jene waltet und erſchafft.
(Jean Paul.)
3

** Solch eine Thatſache konnt 'auch einem Beobachter wie Lichtenberg ſchwerlich entſchlüpfen. In eins ſeiner Gedankenbücher, alſo freilich nur unter der Form eines abgeriſſenen Einfalls, hat er ſie niedergelegt; und mit jener Laune, die zu den Eigenheiten dieſes ſeltnen Geiſtes gehörte. Doch hier ſeine Worte ſelbſt:

Wenn ein toller Kopf des Teufels Streiche anfängt, iſt es deßwegen eine Folge, daß auch jede Rathsverſammlung von zwölf182 ſolchen Leuten eben ſolches Zeug anfangen würde? Keineswegs, ich bin vielmehr überzeugt, daß zwölf tolle Köpfe etwas beſchließen könnten, das ausſehen müßte, als käme es von zwölf klugen.

4

3. Kinderfrage, Thronfehde.

Gemeinwohl, kann's Gemeinblick tragen? wer ſchlich¬ tet den langen Zwiſt? kein Gewaltſchlag, kein Ver¬ nunftbruͤten allein: Erfahrenheit nur beſchwichtiget Lei¬ denſchaft, erhebt zum Allbeduͤrfniß endlich der Geſammt¬ regel Unantaſtbarkeit: dann ſteht das Unmoͤgliche da, lichtſcheue Macht erſt maͤchtig vorm Lichte; laͤngſt Wahres im Kleinen, bald noch wahrer im Großen; und man vergiſſet allmaͤhlig den Preis, der heute billig erſchreckt.

4. Waltungskreis.

Wohin? lehrt Weisheit; woher? Geſchichte; Staats¬ kunde ſieht das Heute; Staatsklugheit regelt das Morgen; wie? abgeſtuft nach jenem Wohin. Feſtnageln will Thorheit; nach Neuerung ſpringt Leidenſchaft; denn friſch wieder aufputzen haltloſes Erbgetruͤmmer mißbe¬ hagt viel zu bald jedem: doch Meinungsgewitter zuͤndet, gern Schlag auf Schlag; alles ertraͤnken moͤchte Loͤſch¬ wuth; immer taucht Buͤrgerſinn auf: waͤhrend noch Starrduͤnkel ſich aͤfft, und Vermorgung ſich laͤhmt; bis Herrſchgrimm wuͤrfelt, grauer Trug endlich ſtuͤrzt. Denn nur Gemeinziel macht weiſe; nur dorthin, auch Schritt¬ maß erſt klug. *

183
* Jedes Herrſchgebäude zur Unterjochung der Menſchen, von Machthabern ausgebildet, ſei’s in Staat oder Kirche, muß end¬ lich den freien, immer regen, nie ganz ſchlummernden Geiſtes¬ kräften des Menſchen weichen. Werden dieſe ganz wach und laut, ſo bleibt nichts übrig, als nur mit ihnen zu wirken, oder, war man früh genug ſchon weiſe und vorſehend, ſo ließen ſie auch urſprünglich ſofort bloß auf einen beſtimmt edlen Zweck ſich leiten. Erſt der Widerſtand zwingt ihnen eine gefährliche Rich¬ tung auf, und ſpielt ſie Leuten in die Hand, die ſolche Zeitum¬ ſtände perſönlich zu nützen verſtehn.
(General von Klinger.)
5

5. Zung und Ohr, Waltung und Volkſinn.

Zum ſchulgerechten Singen wie Reden fuͤhrt unſrer Klang - und Hoͤrwerkzeuge Brudergefuͤhl nur: zwar haͤufet bloße Stimmgebaͤrkraft manch derben Verſuch; doch mitfuͤhlender Sinn erſt miſſet ihn ſicher, leitet ihn ſtreng, bis zur Hoͤhe menſchlicher Kunſt: taͤglicher An¬ reiz zum Pruͤfen bildet das Ohr; wie allpruͤfendes Horchen die Stimme.

Anders nicht erklimmt ſein Hochziel auch Waltungs¬ beruf: darf pruͤfen kein Waltungshoͤriger, woher dann jedes Pruͤfſinns gedeihlicher Wachsthum? und woher je Vollreife der Waltung, darf ihrer Haͤupter Pruͤfſchau ſich einſchanzen fuͤr immer? Schon zu hoͤren dachte Holberg’s Kannengießer, wo Keiner ihm vorſang; eben ſo glaubt richtig zu ſingen, wer kaum hoͤrt.

184

6. In naͤmlicher Mundart Partheiſinn.

Schwanken nicht jene uͤppig-aͤrmlichen Buͤrger, denen Hofgunſt Obdach erbaut, noch im Sprachbau unfindig, zwiſchen Mir zeitlebens und Mich?

O nein, in beide haben ſie laͤngſt ſich foͤrmlich getheilt; denn ausſchließlich gehoͤrt den Vornehmſten ihr ewiges Mir; drum bleibt auch der rohen Menge nichts weiter, als das geringere Mich: und warum belaͤchelt ihr Spoͤtter den ſtillen Vertrag? Theilt Recht und Pflicht man wohl anders! Fuͤhlt zum Herrſcher erſt jemand den Ruf, gleich kennt er ſonſt nichts, als ſein Recht, doch weh dem Machtloſen, der ſtets nur be¬ herrſcht wird; ihm gebuͤhrt bloß zu wiſſen, zu uͤben, ſeine Pflichten allein.

7. Bruderzeichen und Sammelort.

Das noch Geſtaltloſe, wer zeichnet’s! dennoch ahn¬ den wir fern hinaus geiſtiges Menſchthum, ſchon nicht raſtend mehr heut, und ewig nicht mehr: nur verhuͤllt ein heiliges Dunkel oft uns der Weihe Pfad zum hehren Bundeskreiſe: liegt doch ſein raͤthſelhaftes Wo und Wie nicht bloß hienieden und nicht jenſeits allein; denn immerfort, zwiſchen beiderlei Welten, ſchwebet und ſchwanket der aͤchte Menſch*: drum blickt er, bald mit¬ leidsvoll, herab auf die eine, bald verzagend, hinauf nach der andern; und ſo ſchwingt, uͤber manch irdiſche Argheit, gern ſich Vernunftſtolz; ja ſo ſchmiegt auch185 unter der Staubhuͤlle an himmliſche Reinheit, gern und heitrer alsbald, ſich Herzensdemuth.

* Des Menſchen Seele
Gleicht dem Waſſer:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel ſteigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechſelnd.
(Goethe. )

8. Fernſpur und Fußraum.

Auf unbegraͤnztem Zeitenmeere gehorcht des Menſch¬ thums Entdeckungsfahrt unſerm engen Regelſinne zwar nicht: doch bedarf im ſterblichen Leben der Gattungs¬ keime vielartiges Saatfeld mancher eindaͤmmenden Schutz¬ wehr; uns Erdbewohnern heißend, geſetzliche Freiheit des Buͤrgers: drum erweitert mehr ſich dieſe und mehr durch wachſende Kunſt unſers Fernblicks; pruͤft Recht und Pflicht aller ſinnlichen Waltung, bis ausgemeſſen, abgewogen daſtehn, fuͤr lebende Buͤrgerwelt, des juͤngſt¬ gebildeten Tages rechtliche Hemmkraft; haͤrter nie zuͤgelnd, als heut noch billig, denn ſinnlichen Zoͤgling geiſtiger Ewigkeit. *

* Bedürfniß, Noth und Gefahr, trieben zwiſchen des Mittelalters Ritter - und Pfaffenthum einen dritten Stand her¬ vor, der gleichſam das arme Blut unſers großen, wirkſamen Staatenkörpers ſein muß, oder es fällt der Körper in Verweſung. 186Dies iſt der Stand der Wiſſenſchaft, der nützlichen Thätigkeit, des wetteifernden Kunſtfleißes; durch ihn ging beiden jenen Par¬ theien der Zeitabſchnitt ihrer Unentbehrlichkeit auch nothwendig, aber nur allmählig zu Ende. Hieraus wird demnach ſichtbar, welcher Art die neue Ausbildung Europa's ſein konnte. Nur ein Geiſtesanbau der Menſchen, wie ſie waren und ſein wollten; ein Fortſchreiten durch Betriebſamkeit, Wiſſenſchaften und Künſte. Wer dieſer nicht bedurfte, wer ſie verachtete oder mißbrauchte, blieb wer er war; an eine durch Erziehung, Geſetze und Grund¬ verfaſſung der Länder allgemein durchgreifende Bildung ſämmt¬ licher Völker und Stände war damals noch nicht zu gedenken .... und wann wird daran zu gedenken ſein? Indeſſen geht die Ver¬ nunft, und die verſtärkte gemeinſchaftliche Thätigkeit der Men¬ ſchen, ihren unaufhaltbaren Gang fort, und ſiehet's eben als ein gutes Zeichen an, wenn auch das Beſte nicht zu frühe reifet.

Herder.

6

III. Kuͤnſtlermaͤhrchen aus der Urzeit, wie noch kuͤrzlich ein ſechsundſechzigjaͤhriger Graubart es humoriſtiſch nachzuerzaͤhlen vermochte. 1815.

? renascentur quae jam cecidere,

Nachdem jenes Altmuͤtterchen, das im Munde ihrer ſpaͤtern Abkoͤmmlinge, wenn nicht vielmehr Abartlinge, heutigen Tages nur ſchlechthin noch Natur betitelt wird, ſich bereits durch kraͤftige und liebliche Vollendung ſo mancher Menſchenform hinlaͤnglich in der Bildhauerei ver¬ ſucht hatte, fing die Gute auch an zu mahlen; Haut,187 Naͤgel, Lippen, Augen und Haar. Ob ſie es damals ſchon verſtand, gehoͤrig Farbe zu wechſeln und zu ver¬ ſchmelzen, das mag an ihren ziemlich ungleich ausge¬ mahlten Enkeln jeder Kunſtkenner mit noch ſo eigen¬ liebigem Forſchglaſe, wenn nur ſtets nach allguͤltigen Grundſaͤtzen vom neueſten Zuſchnitt, in Augenſchein nehmen. Doch ſogar aufputzen mußte nothwendig eine Mutter, und am fruͤhen Morgen ſchon, ihre juͤngſten Kinder; ſo entſtand denn bald hier ein Lockenſpiel, bald dort ein Wellenſchlag, der Haupthaare und des maͤnn¬ lichen Bartes.

Aber welcher tiefere Meiſterſinn mag wohl vorzuͤg¬ lich ihre bildende und ſchmuͤckende Hand geuͤbt, ihr liebendes Auge ergetzt haben? Darf man der Sage trauen, ſo war es jene zarte und ſtrenge Sonderung der Geſchlechter, beide vor ihrer voͤlligen Reife nie zu grell abſtechend, und nur deſto greller hinterdrein.

Eben daher geſchah fuͤr den vollkraͤftigen Mann noch ein Uebriges. Als ihn der Kuͤnſtlerin Scharfblick mit jener vorrechtlichen Zierde ſeines baͤrtigen Kinnes beſchenkte, da verbot ſie ihm nicht allein, je weiblich, geſchweige denn weibiſch oder kindiſch zu erſcheinen, ſon¬ dern ſtempelte ſogar an dieſer augenfaͤlligen Lebensuhr aller Mannhaftigkeit jede ſpaͤtere Jahrziffer mit haͤrterem Nachdruck: damit, unter noch ſo verſchiedenartigen Be¬ zuͤgen, ſtets der fortgeſchlichene Schattenweiſer auch den aͤchten Naturſohn beſtimmt ankuͤndigen muͤſſe, wie jeder188 laͤngere Erfahrungslauf eben gebeut, daß er in Sinn und That wirklich ſei.

Laͤchelnd ſprach darauf das Muͤtterchen: Begegnen ſich nun meine Soͤhne und Enkel, in noch ſo weitem Kreiſe, zum aͤmſigen Geſchaͤft, zum frohen Genuß, ei, ſo lieſet auch der Juͤngſte ſofort, im unverkennbar ab¬ geſtuften Jahrſchmuck aller Mitgeſellen, was er an gei¬ ſtiger Bildung und Kraft ſich von jedem Einzelnen verſprechen duͤrfe.

Doch fuͤr des Tages herrſchende Empfindungsweiſe ſchon von jener Altmaͤhre ſicherlich zu viel; und ſelbſt fuͤr den gutmuͤthigſten unſerer bartſcheuen Zeitgenoſſen wenigſtens genug. Denn Ruͤckblicke dieſer Art ſind ja in der feinen Welt nur geſchmackloſe, widerſinnige Traum¬ geſichte, aus einer unertraͤglich rohen Vorzeit. Wer, im kluͤgſten der Jahrhunderte, glaubt noch an weiſe Bedeutſamkeit einer angeblichen Naturzierde, die, kraft altvererbter Sitte, niemand mehr aufzeigen darf! Wer von unſern Geſchmackpredigern erinnert und erfreuet ſich wohl noch der kunſtſinnigen Vorſorge, die ſo bedachtſam einſt am maͤnnlichen Antlitz jenen ſtattlichen Schleier zwar uͤber den Sitz nahrungsgieriger Sinnlichkeit fallen ließ, nur uͤber keinen der beſeelten Zuͤge, wo im ent¬ wildeten Menſchthiere Gefuͤhl oder Gedanken zu leſen ſind!

Nein, ſtatt ſolcher unfreundlichen Denkſtreifereien oder Empfindungsfluͤge durch Altvaterwelten, die außer¬189 halb eines engen Gehirns doch nunmehr unbeſchaulich bleiben, laſſet uns lieber mit wachen Augen, auf ſo mancher lockenden Prunkbuͤhne, unſere Tageswelt er¬ forſchen, die allein der Mehrheit fuͤr wirklich gilt; laſſet uns jedes that - und genußreiche Erfahrungsleben durch¬ wandern, und dort Umfrage halten, ob heute wohl der vollreife Mann ſich darnach ſehne, daß mit jeder hoͤheren Sproſſe ſeiner Lebensleiter auch ſtets das Eigenthuͤm¬ liche der abgeaͤnderten Beſtimmung eben ſo ſchnell und ſicher in die Auge falle, als, mit Beihuͤlfe unſerer Trachten, der Geſchlechtsunterſchied? Wuͤrde in unſern aͤndrungsbeduͤrftigen Tagen etwa jenes uͤberſtrenge Ur¬ geſetz wieder allgemein anerkannt, und ploͤtzlich einge¬ fuͤhrt, wie gar wenige nur von den Feinergeſitteten vermoͤchten fernerhin ihres geſelligen Umkreiſes froh zu werden!

Dank alſo, kindlichen Dank der liebreichen Ur¬ kuͤnſtlerin! daß ſie, aus Nachſicht fuͤr die unaufhaltbare Bewegſamkeit irdiſcher Sittenzuſtaͤnde, nicht allgebiete¬ riſch verwehren mochte, bald in dieſem, bald in jenem Erdbezirk oder Volkſchwarm, ihren muͤtterlichen Wink ein paar Jahrhuͤndertchen lang zu verkennen; ja, daß ſie die Widerſpaͤnſtigen, obgleich meiſtens beſtimmt, dem aͤrgſten Witterungsabſtich zu trotzen, wenn nicht gar die ungleich¬ artigſten Himmelſtriche zu durchfliegen, haͤrter nicht, als etwa durch leidendes Kinn - und Zahngebein, erinnern wollte an die eigenwillig abgemaͤhete Beſchirmung!

190

IV. Maͤnnerbart.

1 5.
Im Bann liegt Bart! kein Rechtsfreund blieb ... als Geſchicht 'und Natur.
Mannheit, Lebenshöh', Eigenausdruck ... erſt Bartgeſtuf mahlt's!
Hüllt Bart als Schleier doch Nahrungsgier der Sinnlichkeit nur.
Wetterbeſchirmt wär 'Kinngebein; entblößt's Junggezier nicht.
Wer mahlt, wer boßlet, Götter - und Rieſenkraft ... je bartlos?
6 10.
War heil'ger ſonſt nicht Schwur beim Bart, als jüngſt ... Kawlirparrol?
Gleich Schnauzhaar Cid's kein Pfand! Statt Ring, mehr gölt Sankt Petri Bart.
Schnell rührt auf bärt’ger Wang 'uns Thrän'; auch Bartlipp 'erſt ... küßt friſch.
Welch grauem Bartpelz ziemte Leichtſinn, Frechgier, Glei߬ nerblick?
Wer darf auftreten ſilberbärtig, ein Hofſpaßmacher?
11 15.
Knieend vor Mädchen, vor Staatswaltren, ekelt ein Schneebart.
Nie Leidenſchaft, nur Vernunftmilde, kleidet bärt'gen Greis.
Vom Barte nie, zum Glattkinn 'nur, paſſen Kunſtlock' und Zopf.
Schlicht entlarvt Kopfhaar den Nimmergreis halb; Bartſchmuck erſt ganz.
Kräuslerſalb 'und Staub verſchmähſt du? ſchabſt dir Jungfren¬ kinn doch.
191
16 20.
Dünkt mit Recht ſich ganz frei? wer kinngeſchabt .., höhnt ſtets Natur.
Ohnbart, Altdeutſchen ehrlos, wollt äffen Franzthrons Knaben.
Bart noch ſchreckt Europa! wo’s nicht lacht ... als wär’s bloß falſcher.
Stempel des Selbſts mit Bart; drum Popanz geprägſcheuer Zeit.
Unſtät Nunbrauch! gab’s Franzhof doch ... frauenlos und bärtig.
21 25.
Bald Pflicht und bald Fluch ward Prieſtren Bart, wie Schädel¬ krauſe.
Wüthet langer Krieg, wächſt auch Bart! warum dem Schiffer¬ volk nicht?
Naturmahlerei belauſchend, dürft Künſtler Bart verſchmähn?
Erwecken mißkannte Naturſitt, ziemt’s nicht dem Neſtor?
Bart liebt, wer Jugendlarven fremd, einſam ſchaut himmelwärts.

V. Volkthuͤmlichkeiten.

1 5.
Mehr wird, und ſchädlicher, Völkern gehöfelt ... als Fürſten.
Volkthümlichkeit, Bürgerſinns Urhauch, ſtürmt menſchenfeindlich.
Bürgerſinn ſchmelzen in Menſchenthum, der Aufgaben höchſte!
Kindiſch bleibt Gränzrain, ſinnlich verſtümmelnd geiſt’gen Allkreis.
Nur in Schranken dreiſt, lähmt einſeit’ger Zweck ... auf Rie¬ ſenbahn.
6 10.
Erſt Alle, dann ſich, hemmt Volk, das ausſchließlich möcht viel ſein.
192
Bild 'auch Schrift manchen Einſiedler, welch Reich? ... iſt's ummauert!
Oft grell trennt Völkerabſtich; ſchaal widert Hofnämlichkeit.
Zu bilden ungleich, Geſammtwunſch zu dämpfen, zerſtückle!
In üpp'ger Volksanlage, mehrt Irrſal auch Verderbtheit.
11 15.
Wird gar zu ſchnell reich ein Volk, hinkt Geiſt wie Herz hinter¬ drein.
Volkswohl ſteigt nur, wo mit Sinnenglück Schritt hält auch geiſt'ges.
Pfaffenjoch erdrückt Volkſinn, wie Gottinnigkeit ihn hebt.
Tief befreunden ſich Bürgerthum und Gottesgemeine.
Geſetzliches Freithum bahnt himmliſches; hier Schirm wie dort.
16 20.
Früh und ſpät half dem Staat ſonſt jeder; treibt nun ... ſein Scharwerk.
Wer Griechen hieß Weiſer, ſtets auch Bürger; Buchklecker uns!
Erſpäht Europa ... Geiſt jedes Welttheils; träumt ſich's dran ſatt.
Wiſſen allein auf Wiſſen geſä't, trocknet Gemüth aus.
Sinnvoll ſchuf Europer ſein Kunſtwerk; Aſjens Hand ... äfft's nach.
21 25.
Aſjens Bettliebſte, uns Göttin! bis Magd? Geißel? Hausglück?
Hofluft berauſcht Frauen, daß Haus ſie verkennen und Staat.
Längſt Amerika's Bürger ... dann Staat frei! Menſchthum dort wann?
Nicht Geſetzform, nicht Staatsglück allein, vollbringt unſren Ruf.
Namlos ... Volkſtaat überm Meer! Reichsnam 'ohn' Volk¬ ſinn ... gnügt uns.
193
26 30.
Amerika's Pflug gewinnt Land; Europens Schwert ... Knechte!
Wer Herren ſtets wechſelt, ſieht Käufer nur, fühlt ſich Waare.
Erſt in der Ahnung lebt manch Volk! denn wie ſonſt wär 'man deutſch?
Träumt Deutſchblut gar kühl, jagt Forſchtrieb es über die Sterne!
Ergriffen glaubt Deutſchland oft, womit's gern Blindkuh ſpielt.
31 35.
Selbſt kaum gelenk, ſinnt ſchon auf Seherwagniß Teut's Jugend.
Liebevoll iſt deutſcher Ernſt! drum ernſt auch ... deutſche Liebe?
Beim Trunk herzt ſich Ruſſe; traut ſchon Britte; rechten Deutſche.
Pole fröhnt wo er muß, tanzt wo er darf, balgt ſich wie's kömmt.
Franze witzelt; ſchlau forſcht Italjer; Zweck erwägt Britte.
36 40.
Gleichthum wünſcht Frankreich, beim Schoß, zum Amt, vorm Recht, im Frohkreis!
Freiheit erſt Geiſteserſchau; vorbei ſchießt Sinnenherrſchaft.
Sind Franzen eitel, ſtolz Britten, dünkelhaft gern Deutſche.
Britten, als Inſelvolk groß, werden zur Inſel oft ſelbſt.
Hochadlig verlumpt, Mönchshimmel hoffend, ruhweilt Spanjer.
41 45.
Eh 'nächtliches Antlitz ſchien Menſch; wollt's doch bleiben nie Knecht.
Hieß kaum Schwarzgeblüt frei; wußt's Reich und Schul' auch zu ordnen.
Erbknecht, bleib's ewig! rief ſonſt Schweiz; ruft türk'ſcher Chri¬ ſtenbund.
13194
Pfahlbürger liebt Alleinrecht; nagelt’s morgenländiſch feſt.
Gegen Schöpfungszweck ſtemmt ſich Verſchwörung ... ihr Weil¬ chen ja.
46 50.
Weltfreithum ſchwebt höher, denn bloß der Altvordern Kriegsglück.
Welch Buntgemiſch! Afriſch noch Spanjen; Rußland meiſt aſiſch.
Wo Volk auf ächtem Pfade? ſcheut’s noch Einſicht der Menge.
Mag Strafgeſetz erziehn? Schafft erſt Bürger, beſſert Sträfling.
Kein Staat erfüllt ſchon die Urpflicht! Kirche ſelbſt hindert’s oft.
51 55.
Mich dauert weltflücht’ges Volk! mehr doch Welt, thront einſt Flüchtling.
Für Hof nahm Joſeph alles dem Volk: Hof ... ſein Stamm nun ſelbſt!
Daß Herrſchgier kneble Freiſinn, plündert Judenliſt ... Nachwelt.
Dienſtämſig lief Gold umher; heut wird Allherrſchaft ihm gar!
Todten Stoff überfliegt Geiſt, wie blieb Obmacht ſtets jenem?
56 60.
Herrſcher alle für Einen! dürften’s Völker nie äffen?
Zeit lohnt Machtübergipflung: ſpornen bloß konnt Jugendrauſch.
Wodurch behält Vernunft je Recht? weil ſacht ſie reifen läßt.
Kein Volksmuth, kein Geſchäftsblick, mag enträthſeln Europa.
Müh des Entwirrens übernimmt ... allgeduld’ge Natur.

VI.

1 10.
Edles kömmt ſchnell; Einfaches braucht Weile.
Wahrheit ſuch, und erſchauter folge treu! Wer kann mehr?
195
Halt aus im Leiden; im Genuß halt ein!
Auf Schickſal lehnt ſich Folgwille; geſchleppt ſein will Starrſinn.
Himmel ſuch ', wie Hölle, in des Wollens Tiefen nur.
Genügſam iſt Geiſtesruh, Wohlwollen ... vergnügt in ſich.
Umgang will Ausgleich; ſtrenger Grundſatz ... heiſcht mildes Gewand.
Unverſtändlich bleibt Gefühl, weckts noch gar kein ähnliches.
Ohn' Selbſtvertraun, woher noch der Umwelt Zutraun?
Verloren iſt der Menſch erſt, wird er ſich ſelbſt untreu.
11 20.
Vom Thurm ſieht jedes Auge frei; vom Thron ... was Nächſt¬ kreis beut.
In Einem iſt kein Hofmann falſch; nie giebts Recht ... nur Gnade.
Maſtung unterm Riegel, deucht Hofrechtskund'gen ſchönes Loos.
Recht haben überviel, gilt für der Sünden kleinſte nie.
Thierſchlund fraß Denkfrevler ſonſt; richtendes Partheimaul heut.
Gegen herrſchende Meinung wird Machtkampf ... Heuchlerſchule.
Seis Kloſter, ſeis Hof; der Ränke Liſt ... wird Ränkeluſt.
Verzweifelt ein Hof, möcht 'er ausgleichen ... Lüg' und Wahrheit.
Argen Machtſtreich hüllt der höchſten Willkühr edler Wortſchall.
Menſchen zeigt Geſchäftstummel; Götter heiſcht ... zuchtfreie Macht.
21 30.
Erzeugt hat Schriftblei mehr, als zu tilgen vermag Schußblei.
Sonſt floh Wahrheit den Hof, nun wird ſie Landes verwieſen.
Gewohnter Freiheitstrank beſeelt, Einzeltropfen berauſcht.
Edles Wollen iſt ahnender Blick auf große Zukunft.
Was ſonſt wär Freiſinn, als des Menſchthums reinſte Verehrung?
Wer nur mit Weltklugen lebt, mißtraut jedem Bürgerſinn.
13 *196
Wie Bürgerkrieg ſich melde? gilt Meinung für Hochverrath.
Biedrer Hellblick nur faßt Freiheit, Rechtsgleichheit ahnt jeder.
Der Güter beſte, ſinds nicht Heimfrieden und Wohlwollen?
Langweil nur Theilnahmſcheu; drum lebwier'ge ... nur Ge¬ müthsfroſt.
31 40.
Recht haben ſofort ſchon? oder zuletzt? wählen thut noth.
Menſchgleich, beugt als Kind ſich Meinung, erwachſen gebeut ſie.
Gegen Wind und Fluth kein Schiff! gegen Vernunft wohl Herrſch¬ gier.
Alt und neu gilt Manchem für ewig-alt und ewig-neu.
Wie im Bilde, reizt am Kiel auch, nur was Leben uns zeigt.
Statt Sechszehn-Felder und - Ender, freut Vierzehnſilber mich.
Unheilbar ſchlecht glauben die Welt, heiſcht weder Blick noch Kraft.
Sich ſelbſt hemmt Edelſinn, will zu raſch hier, zu laut er dort.
Heitres giebt Muth, Ernſt ſchafft Dauer, Heil'ges birgt Ewigkeit.
Nur in der Ahnung lebt manch Volk! denn wie ſonſt wär man deutſch?
41 50.
Nennt Recht man der Obmacht, deucht ihr man wolle ſie ſchelten.
Jungfren und Gewalthabren koſtet Vernunft viel Seufzer.
Amts - wie Hofadel, Oſt und Weſt, mau'rt ein den Gebieter.
Schreckt Geiſtesflug den Thron, dünkt Sinnentand Weltziel allein.
Selbſt nie ſich putzen das Licht, wird's für Herrſcher nicht Unſtern?
197
Bürgerſinn zwar Gemeingut, doch Hofweisheit nimmts in Pacht.
Zunftſtolz zeigt Ritter, Gemeinbund Waſhington wie Franklin.
Ruhmgier’ge Thaten ohn geiſt’ges Ziel ſind ... Rieſen¬ puppen.
Für Kopf wie Herz läßt auch nur dem Reichen ſich geben viel.
Zum Ritter ſtempeln mag nur des Gemeinnutzens Jagdluſt.
[198]

Kaiſer Alexander von Rußland. December 1825.

Die Welt hat einen großen Todesfall zu beweinen. Alexander der Erſte, Kaiſer von Rußland und Koͤnig von Polen, verſchied am 1. December zu Taganrog, dem jetzigen Aufenthalte ſeiner erhabenen Gemahlin, der Kaiſerin Eliſabeth. Die Groͤße des Verluſtes, der in dieſem Ereigniſſe zu beklagen iſt, ermißt ſich nicht aus den gewoͤhnlichen Umſtaͤnden allein, welche den Hintritt eines großen Monarchen immer begleiten; ſondern es treten hier die außerordentlichen Beziehungen hinzu, welche aus der Verknuͤpfung der groͤßten Welt-Ereigniſſe und der edelſten Perſoͤnlichkeit fuͤr die Betrachtung ſo reich hervorgehen. In der That bildet der Verein der ſel¬ tenſten Eigenſchaften des Geiſtes und des Gemuͤthes, wie ſie je auf dem hoͤchſten Standpunkte des irdiſchen Daſeins erſchienen ſind, im Konflikt mit den Erſchuͤt¬ terungen eines tiefbewegten Welttheils, eine Reihe von großen, folgenreichen Wirkungen, deren ſegenvollen Fort¬ ſchritt an den Begebenheiten ſelbſt zu entwickeln, wir199 dem kuͤnftigen Geſchichtſchreiber uͤberlaſſen, jedoch in dem Bilde, welches im Wiederſcheine des Karakters des Hin¬ geſchiedenen ſich davon faſſen laͤßt, einen Augenblick hier feſthalten wollen.

Von fruͤher Jugend durch weiſe Fuͤrſorge mit allen Elementen der hoͤheren Bildung umgeben, eignete er ſich vorzugsweiſe alles an, was der Feinheit eines edlen Sinnes, der Anmuth einer wohlwollenden Seele, dem Beduͤrfniß eines hellen Geiſtes entſprechen konnte. Doch wurde auch ſchon in fruͤher Zeit dieſe ſchoͤne und heitre Bildung durch truͤbe Eindruͤcke verduͤſtert, ſowohl der Welt im Allgemeinen, die ſich in Kampf und Zerſtoͤrung darſtellte, als auch der eignen perſoͤnlichen Erfahrung, deren Pruͤfung ihm in großen Maßen beſchieden war.

Fuͤr edle Gemuͤther ſind Pruͤfungen zugleich Staͤr¬ kungen. Nur groͤßer und reiner ging Alexander aus ihnen hervor. Den innern Kern einer wahrhaften, tiefen Religioſitaͤt vermochten alle widerſtreitenden Bewegungen der Zeit, die verwirrenden Ereigniſſe und ſchwankenden Umſtaͤnde, welchen auch der ſonſt Maͤchtigſte nicht immer zu gebieten noch zu entgehen vermag, niemals in ihm zu erſchuͤttern. Dieſer Kern entfaltete ſich vielmehr im Gedraͤnge der Schwierigkeiten, von welchen jede politiſche Richtung umgeben war, nur immer kraͤftiger, und wurde ihm zur Weihe ſeiner weltgeſchichtlichen Beſtimmung, die in den Jahrbuͤchern wenige ihres Gleichen finden duͤrfte.

200

Was er fuͤr Rußland gethan, im Innern dieſes weiten, von mannigfaltigem Leben erfuͤllten Reiches, in ununterbrochener Sorgfalt des Menſchenfreundes, in ſegenvollſter Thaͤtigkeit des Monarchen, nach außen zu des Landes Schutz, Erweiterung und Ruhm, das alles wird den dankbaren Voͤlkern, die ſein Zepter vereinte, in fortdauernder Wirkung noch lange gegenwaͤrtig blei¬ ben, und ihrer Anerkennung wollen hier unſre Worte nicht vorgreifen. Aber nicht Rußland allein, ſondern ganz Europa Deutſchland, Preußen ſeien hier ins¬ beſondere genannt haben ihm Großes zu verdanken, und in ſofern gehoͤrte er uns Allen an, wie jetzt uns Alle ſein Verluſt betrifft. Hoͤchſt ſelten wohl erſcheint eine Regierung durch ſo umfaſſende, glorreiche Welt¬ ereigniſſe ausgezeichnet, wie es die ſeinige war. Von keinem falſchen Ehrgeize getrieben, keiner eitlen Selbſt¬ ſucht huldigend, hat er im Waffenkampfe groͤßere Triumphe errungen, als ſonſt dem leidenſchaftlichſten Streben in dieſer Bahn zu Theil werden. Nachdem ſo viele Verſuche der Entgegenſetzung wie der Verſoͤh¬ nung erſchoͤpft worden, um die unerſaͤttliche Begier der wilden Eroberungsſucht, den Zwang treuloſer Willkuͤr, unter welchen Europa ſeufzte, zu ſtillen, zu beſchraͤn¬ ken, erſchien endlich dieſen Geſchicken ein Ziel durch den heldenmuͤthigen Entſchluß und die großherzige Beharr¬ lichkeit Alexanders in dem rieſenhaften Kampfe, der in dem Jahre 1812 begann, einem Kampfe, deſſen Groͤße201 und Bedeutung durch keinen ſpaͤtern verdunkelt werden wird, und in welchem die Schickſale der Welt zu neuen Richtungen uͤbergingen. Das innere Bewußtſein und die gottvertrauende Zuverſicht, welche den Kaiſer bei ſeinem Entſchluß und in ſeiner Beharrlichkeit leiteten und ſtaͤrkten, wurden ihm zur Weihe des großen Be¬ rufs, daß an ſeinem Widerſtande zuerſt die revolutio¬ naͤre Gewalt einer alles zerſtoͤrenden Uebermacht gebro¬ chen wurde, und daß in ſeiner maͤchtigen und kraͤftigen Bundesgenoſſenſchaft das vereinte Europa jenes verderb¬ liche Unheil voͤllig uͤberwaͤltigte.

Auch in dieſen glaͤnzenden Erfolgen, wie in den fruͤher beſtandenen Pruͤfungen, verlaͤugnete ſich der edle Karakter Alexanders keinen Augenblick. Die Forderungen der Staatsklugheit ſcharf erwaͤgend und beachtend, wußte er dieſelben ſtets mit den Regungen der Großmuth zu verbinden; edles Wohlwollen und milde Menſchenfreund¬ lichkeit bezeichneten uͤberall ſein Wirken. Immer ſchoͤner und feſter, je nachdem der Raum dieſes Wirkens ſich erweiterte, entfaltete ſich in ſeinem Staatshandeln die reine und große Geſinnung, welche ihn fuͤr das Gute und Rechte beſeelte. Durch ihn zum erſtenmal ſah die Welt die Stiftung eines Bundes, der in der Politik einzig die Grundſaͤtze der Religioſitaͤt, des Friedens, der allgemeinen Wohlfahrt anerkennt, und der bei aller Unvollkommenheit, welche den menſchlichen Abſichten in ihrer Anwendung beigegeben iſt, fuͤr immer das ehren¬202 vollſte Denkmal ſein wird, wie Sieg und Macht den reinſten Zwecken huldigen. Die Moͤglichkeit eines ſol¬ chen Bundes konnte ſich nur auf die gleiche Geſinnung der Mitverbuͤndeten gruͤnden, auf ihre gleich religioͤſe, menſchenfreundliche, friedliebende Denkart; dieſe erkannt und gewuͤrdigt, dieſe vereint zu haben in gemeinſame, ausgeſprochene Verpflichtung, bleibt das hohe Verdienſt Alexanders.

Dieſer geſtifteten, mit Recht heilig genannten Bun¬ desgenoſſenſchaft, immer ſtrenger, immer gewiſſenhafter anzugehoͤren und zu folgen, in ihr immer thaͤtiger und reiner zu wirken, wurde ſein entſchiedenſtes Bemuͤhen. Ihr wußte er Opfer zu bringen, die ſeiner Neigung ſchwer fallen konnten, aber ſeinem Gewiſſen nicht. Doch er war nicht nur der Bundesgenoſſe ſeiner Mitverbuͤn¬ deten, er war als ſolcher zugleich ihr Freund. In dieſer Beziehung duͤrfen wir Preußen insbeſondere anerkennend preiſen, welche Bande wechſelſeitiger Zuneigung, bereit¬ williger Dienſte, treuer Gemeinſchaft und feſter Ver¬ bindung unter ſo gluͤcklichen Auſpizien beiderſeits geknuͤpft worden!

Nach einer ſo herrlich und ruhmvoll zuruͤckgelegten Laufbahn, deren begluͤckenden Einfluß noch ſpaͤte Ge¬ ſchlechter dankbar empfinden werden, duͤrfen wir den Kaiſer Alexander mit Wahrheit den edelſten und groͤßten Monarchen beizaͤhlen, deren die Weltgeſchichte gedenkt. Sie zeigt uns in ihm ein ſeltenes Beiſpiel den203 frommen, den menſchenfreundlichen, den friedliebenden Beherrſcher des groͤßten Reiches in dem nichtgeſuchten, aber uͤberreich erlangten Schmucke des glorreichſten Sie¬ geslorbeers, deſſen Rußland ſeit Peter dem Großen in der Reihe ſeiner zahlreichen Kriegserfolge ſich ruͤhmen darf, und den der reine und große Sinn Alexanders nur einzig der Befeſtigung des Friedens, der Segnung der Welt geweihet hat. Mit Recht mag Europa den Hintritt eines ſeiner Wohlthaͤter beweinen, welchen es jetzt, nachdem er nicht mehr unter den Lebenden wan¬ delt, am wenigſten wird verkennen wollen.

[204]

Denkwuͤrdigkeiten des Philoſophen und Arztes Johann Benjamin Erhard.

Zueignung an Hegel.

Indem ich dieſe Denkwuͤrdigkeiten eines aͤlteren Freun¬ des herausgebe, und dabei erwaͤge, in welcher Ferne ſchon die Anſichten und Geiſtesrichtungen uns liegen, zu denen er ſich bekannte, welch andere Bildungswelt, als die war, in welcher er ſeine Bluͤthezeit erlebte, dieſe Blaͤtter empfaͤngt: ſo hab ich wohl Anlaß genug, ſorglich umherzublicken, welcherlei Verſtaͤndniß und Auf¬ nahme einer ſolchen Erſcheinung in unſrer Zeit irgend zu hoffen ſein mag.

In hoͤchſt werthvollen und merkwuͤrdigen Perſoͤn¬ lichkeiten zeigt ſich hier die Kantiſche Philoſophie, das hoͤchſte Licht jener Tage, aus der Schule zum Leben ſelbſt uͤbergehend. Dieſes Licht, welches ſchon in jenen205 Perſoͤnlichkeiten ungenuͤgend wird, theils ſie zum Still¬ ſtande befangen haͤlt, theils duͤſtern Irrwegen und Ab¬ gruͤnden ausgeſetzt laͤßt, iſt ſeitdem auch in der Wiſſen¬ ſchaft voͤllig erloſchen, ſofern daſſelbe nicht in die nach¬ gefolgten Einſichten aufgenommen und mit hoͤheren Strahlen vereinigt worden. Nun aber wird es immer bedenklich ſein, die Aufmerkſamkeit eines vorwaͤrtsge¬ ſchrittenen, anſpruchsvollen und reichen Geſchlechts auf eine fruͤhere Stufe zuruͤckzuverſetzen, deren Erinnerung feſtzuhalten und deren Werth anzuerkennen die Mehr¬ zahl wenig Neigung zu haben pflegt, wenn nicht eine richtigſtellende Kritik vermittelnd zu Huͤlfe kommt.

Die ſolchergeſtalt begruͤndeten Zweifel loͤſen ſich mir aber in Beruhigung und Zuverſicht beim Anblick der ſo tiefſinnigen als lichtvollen Wuͤrdigung, welche von dem Hochpunkte geiſtiger Forſchung in unſeren Tagen ſowohl den uͤberſtiegenen Stufen des allgemeinen Ganges, wie den abweichenden Windungen einzelner Nebenwege, mit freieſter Umſicht und wahrer Billigkeit ſo wohl¬ meinend zugewendet wird.

Erlauben Sie, Hochverehrter, daß ich durch Nen¬ nung Ihrer vortrefflichen, ſo ſcharfen zugleich als milden Karakteriſtiken von Solger und Hamann, in welchen Sie die heutige Bedeutung und das Recht andrer Zei¬ ten und Verhaͤltniſſe gleichmaͤßig beruͤckſichtigt haben, das ſchoͤnſte Vorbild derjenigen maßvollen und gehalt¬ reichen Kritik bezeichne, in deren Kreis ich dieſes Buch206 am liebſten niederlegen moͤchte, und deren Vermittlung ihm zumeiſt gewuͤnſcht ſein darf, um daſſelbe weder unhaltbar geprieſen, noch ungerecht verworfen, ſondern nach ſeinen geſchichtlichen Standpunkten wahrhaft ge¬ wuͤrdigt zu ſehen!

Vorrede.

Ich erfuͤlle durch die Herausgabe gegenwaͤrtiger Denkblaͤtter eine Pflicht der Pietaͤt, die mir durch fuͤnf¬ undzwanzigjaͤhrige Freundſchaftsgeſinnung des Verſtor¬ benen wie durch das Vertrauen ſeiner Angehoͤrigen und aͤlteren Freunde auferlegt iſt. Erhard hat ſeine Lebens¬ geſchicke, Anſichten, Stimmungen und Wuͤnſche, und ſo auch die Herausgabe ſeines Lebenslaufs und andrer dahin einſchlagender Mittheilungen, die er noch ſelbſt auszufuͤhren hoffte, ſo vertraulich und wiederholt mit mir beſprochen, daß ich mir wohl erlauben darf, mich in den Sinn und Geiſt, in welchem er ein ſolches Ge¬ ſchaͤft von einem Nachlebenden vollbracht wuͤnſchen koͤnnte, als hinlaͤnglich eingeweiht zu betrachten. In gleicher guͤnſtigen Vorausſetzung haben ſeine Hinterbliebenen zu ſolchem Behuf mir ſeine ſaͤmmtlichen Papiere uͤber¬ wieſen, und entfernte Freunde den Vorrath durch ihre Zuſendungen bereitwillig vermehrt.

207

Meine Aufgabe bei dieſem Unternehmen hat ſich mir hauptſaͤchlich unter zwei Geſichtspunkte geſtellt, welche beide gleicherweiſe dahin wirken mußten, die be¬ abſichtigte Mittheilung eher reichlich als kaͤrglich anzu¬ ordnen. Der Stoff ſelbſt bot fuͤr das daraus zu Lie¬ fernde einen zweifach wichtigen Inhalt dar. Zuerſt einen Beitrag fuͤr die Bildungs - und Litterargeſchichte des achtzehnten Jahrhunderts, ſodann die Schilderung einer merkwuͤrdigen Perſoͤnlichkeit.

Die Litteratur der Deutſchen hat zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts als ein großes, in ſich leben¬ diges, fortwachſendes und ſelbſtbewußtes Ganzes zuerſt eine Haltung gewonnen, die auch nach außen ein ſichres Auftreten erlaubt, und alles kuͤndet an, daß die naͤchſte Folgezeit den Bildungskreis derſelben noch mehr er¬ weitern, und fortwaͤhrend zu neuen, fruchtbaren und anſehnlichen Verhaͤltniſſen erheben wird. Was aber immer in ſolcher Art Außerordentliches erfolgen moͤge, grade dieſes wird uns immer noͤthigen, auf unſre An¬ faͤnge zuruͤckzugehen, und auch das Ausland, nach Maßgabe, daß es unſrer Geiſtesbildung mehr und mehr Seiten abgewinnt, wird durch jedes Neueſte und Groͤßte, das wir ihm darbieten, ſich veranlaßt fuͤhlen, auch das Aeltere zu beruͤckſichtigen. Nun iſt aber mag man es auch nur geſchichtlich nehmen der Grund und Kern unſrer litterariſchen Entwicklung die Philoſophie, welche in dieſem Bezug eigentlich mit Kant anhebt,208 und daher wird alles, was deſſen Zeitalter betrifft, bei unſern Nachkommen noch langehin ein Gegenſtand aufmerkſamer Betrachtung bleiben. So werden die Schriften und das Wirken nicht nur der erſten Meiſter, ſondern auch der zweiten und dritten, welche ſich bei uns als eine hoͤchſt ehrenwerthe Klaſſe darſtellen, und als Beiſpiele des Lebens und des Schreibens oft in erſter Reihe ſtehen, in der Folge eine ſteigende Theil¬ nahme finden, und wir duͤrfen hoffen, mit den Werken Kant's, Fichte's und ihres Gleichen, auch die Schrif¬ ten Mendelſohn's, Garve's, Maimon's, Reinhold's, und inſonderheit auch Erhard's, des nicht Geringſten unter dieſen, als Zeugniſſe der vielfachſten, treuſten, philoſophiſchen Bemuͤhungen, geſammelt und herausge¬ geben zu ſehn, ja vieles dieſer Art moͤchte von den Entfernteren ſogar ſorgfaͤltiger aufgenommen und be¬ wahrt werden, als es von den Mitlebenden geſchah, und den noch Naheſtehenden jetzt moͤglich ſein will. Sollte ich befuͤrchten, daß mir zum Tadel gereichen koͤnnte, bei dieſer Herausgabe ſo weitausſehenden Gedanken einige Einwirkung geſtattet zu haben?

Aus den eignen Lebensurkunden eines bedeutenden Mannes deſſen treues Geiſtesbild hervorzuordnen, iſt ohne mancherlei tiefer eingehende Mittheilungen, fuͤr deren Zulaͤſſigkeit jede Sinnesart ihren eignen Maßſtab hat, nicht denkbar. Es galt hier noch inſonderheit die Schilderung eines Mannes, der in einer gewiſſen Voll¬209 ſtaͤndigkeit ſeines eigenthuͤmlichen Weſens erſcheinen mußte, wenn nicht das ganze Bild zur Unwahrheit verſchoben werden ſollte; denn eine große Mannigfaltigkeit zuſam¬ menhaͤngender Zuͤge laͤßt ſich nicht durch wenige allge¬ meine Umriſſe wiedergeben, und ein Karakter, der nach allen Seiten hin ſtark ausgedruͤckt iſt, ſich nicht blos von einer oder zweien Seiten genuͤgend auffaſſen. Hiezu kommt, daß dieſem Manne ſelbſt die Wahrheit uͤber alles ging, und daß es zu ſeinen Ehren und in ſeinem Sinne verfahren heißt, manche ſeiner Zuͤge nicht um deßwillen, weil ſie ihn vielleicht in den Augen manches Beſchauers weniger guͤnſtig erſcheinen laſſen, ſofort zu unterdruͤcken. Die Schmeichelei der Verſchweigung iſt hier nicht beſſer, als die der Andichtung; moͤge der Menſch ſich zeigen, wie er geweſen, das iſt auch im ſchlimmen Falle noch Vortheil genug, denn fuͤr den liebevollen Menſchenkenner vermindern die Fehler und Schwaͤchen des Menſchen nicht deſſen Werth, ſondern dieſer wird ihm nur gehoben durch jene, indem ſie als Hinderniſſe zu betrachten ſind, trotz deren er dennoch dahin gediehen, wo wir ihn wahrnehmen. Dieſemnach hat mich die feige Angſt mancher Ueberzarten wenig bekuͤmmern koͤnnen, denen der Schein zur Hauptſache des Lebens wird, und die jedes Perſoͤnliche als ein Heiligthum gehalten wiſſen wollen, damit nur ihre eigne Jaͤmmerlichkeit hinter der gleißneriſchen Decke wohlge¬ hegt bleibe. Solchen Leuten alle Anſtoͤßigkeit erſpart14210zu haben, will ich mich nicht ruͤhmen, aber die gegruͤn¬ dete Ruͤckſicht und wahre Schonung, welche die beſtehen¬ den Lebensverhaͤltniſſe mit Recht anſprechen duͤrfen, glaube ich darum keineswegs gefliſſentlich außer Acht geſetzt zu haben.

Ueber das Bekanntmachen vertraulicher Briefe hat es von jeher ſehr entgegengeſetzte Meinungen gegeben; man hat in Deutſchland uͤber einige Freigebigkeit hierin ohne Noth gar großen Laͤrm erhoben, und ſcheint noch vieler Orten in dem Maße empfindlich uͤber jede Oeffent¬ lichkeit, als man ihrer beduͤrftig ſein mag. Durch die Herausgabe von Jacobi’s Schriften und Briefwechſel iſt uns endlich ein Beiſpiel gegeben worden, wie in ſolchem Falle Freimuͤthigkeit und Beſcheidenheit verbun¬ den werden koͤnnen; wir ſollten daſſelbe zur feſtſtehen¬ den Regel erheben, auf welche man ſich als ein guͤl¬ tiges Maß des Rechts und der Sitte in ſolcher Be¬ ziehung kuͤnftig berufen duͤrfte. Ich bekenne, daß ich jenem Vorbilde gern habe nachſtreben wollen, obgleich die große Verſchiedenheit der Richtungen, in welchen dort und hier das Eigenthuͤmliche zu verfolgen war, fuͤr den aͤußeren Anſchein nicht immer das Gleiche darbieten konnte. Von noch lebenden Perſonen habe ich, jenem Muſter getreu, ein paar Ausnahmen unverfaͤnglichen und dabei doch nicht gern entbehrten Inhalts abgerech¬ net, keine Briefe mitgetheilt, an noch lebende nur mit deren eigner Zuſtimmung.

211

Iſt unter dem Mitgetheilten dennoch manches auch nach meinem Gefuͤhl Bedenkliche und Unangenehme, ſo moͤge man darin den Zwang erkennen, welchen ein ſolches Geſchaͤft auch dem beſten Willen auferlegt; ich durfte ſolche Stellen um ſo weniger unterdruͤcken, als ſie an ſich bedeutend und merkwuͤrdig erſchienen; ſo bin ich weit entfernt, die mancherlei harten und ſeltſamen Urtheile, z. B. uͤber Fichte, die Anſicht von dem Kampfe der Griechen, und manche auffallende Aeußerung uͤber religioͤſe Gegenſtaͤnde zu unterſchreiben: allein um de߬ willen hielt ich mich noch nicht befugt, dergleichen aus¬ zuloͤſchen, denn meine Pflicht hier iſt nicht die Ver¬ tretung oder Berichtigung von Erhards Irrthuͤmern, wohl aber die Darlegung ſeiner Eigenheiten. Uebrigens duͤrfte nichts beſſer die Guͤte und Staͤrke einer Sache beweiſen, als daß ſie Mißurtheile ruhig ertragen kann, und inzwiſchen nur fortfaͤhrt, ſich als das zu bewaͤhren, was ſie ſein ſoll. Moͤchte dieſe Bemerkung verhaͤltni߬ maͤßig auch auf dieſes Buch einſt ihre guͤnſtige Anwen¬ dung zu finden haben!

Johann Benjamin Erhards eigne Lebensbeſchreibung.

Ich bin 1766 den 8. Februar geboren. Mein Vater, Jakob Reinhard Erhard, iſt Scheibenziehermeiſter in14 *212Nuͤrnberg. Meine Mutter war eine Rothſchmieddrech¬ ſelmeiſters Tochter. Ich war das einzige Kind, das ſie gebar, weil ſie ein heftiger Blutverluſt im Wochen¬ bette auf immer ſchwaͤchte. Mein Vater verlor ſeinen Vater ſchon im zehnten Jahre, und mußte von dieſem Jahre an ſich ſchon ſelbſt zu ernaͤhren ſuchen. Eine gute Stimme kam ihm dabei zu ſtatten, und er wurde Chorſchuͤler. Seine Anlage zur Muſik, und deßgleichen ſeines juͤngern Bruders, der es beſonders auf dem Waldhorn zu einer ausgezeichneten Fertigkeit brachte, und den mein Vater accompagniren lehrte, fuͤhrte ihn in gebildetere Geſellſchaften ein, als ſonſt Leute ſeines Standes gewoͤhnlich kommen. Dieſer Umgang und die Bildung meines Großvaters, der, ein vertrauter Freund Doppelmeiers, mit dieſem die fruͤheſten elektriſchen Ex¬ perimente machte, und ſeinem Sohn ſchon eine fruͤhe Neigung zu Wiſſenſchaften beibrachte, ließen bei meinem Vater eine große Liebe zu Kuͤnſten und Wiſſenſchaften entſtehen, ob ihn gleich ſeine Duͤrftigkeit verhinderte, ſich darin auszubilden, und die Unterſtuͤtzung, die er ſeiner Mutter gewaͤhren mußte, ihn in die Nothwen¬ digkeit verſetzte, ſeines Vaters Profeſſion, ſobald ſeine Kraͤfte hinreichten, noch neben dem Singen zu treiben.

Die Muſik war ihm aber das Angenehmſte, was er kannte, und der Himmel haͤtte ihm keine groͤßere Gnade erzeigen koͤnnen, als wenn er ihm einen Sohn geſchenkt haͤtte, der ein Virtuoſe geworden waͤre. Es213 geſchahe aber nicht alſo, und ich hatte nicht die geringſte Anlage dazu. Er gab ſich alle moͤgliche Muͤhe mit mir, aber es zeigte ſich bald, daß ich nicht zum Vir¬ tuoſen beſtimmt war.

Die viele Muͤhe, die ſich mein Vater mit mir gab, brachte mich aber doch in der Muſik ſo weit, daß ich die Scala ſingen und ein Inſtrument rein ſtimmen lernte. Es iſt dies ein Beweis, wie viel unverdroſſener Fleiß beim Unterricht bewirken kann; denn ich erinnere mich noch ſehr wohl, wie ich anfangs gar nicht hoͤren konnte, ob ein von mir meinem Vater nachgeſungener Ton der naͤmliche, oder ein anderer war. Das Gefuͤhl der ſtaͤr¬ keren oder ſchwaͤcheren Anſtrengung meiner Stimm¬ organe und die groͤßere oder kleinere Hebung des Luft¬ roͤhrenkopfes, wodurch ich endlich nach meines Vaters Ausſpruch den Ton traf, wurden mir das Maß von der Hoͤhe und Tiefe der Toͤne, und endlich fuͤhlte ich, ob ich den gleichen Ton mitſang oder nicht. Bei dieſem Gefuͤhl blieb ich auch ſtehen, und nur dies Gefuͤhl der Aenderung meiner Stimmorgane, um den gleichen Ton hervorzubringen, kann mich entſcheiden laſſen, welcher unter wenig verſchiedenen Toͤnen der hoͤhere oder tiefere iſt. Dieſe Muͤhe, die es mir koſtete, Hoͤhe und Tiefe der Toͤne zu unterſcheiden, hatte ich aber nicht noͤthig, mir zu geben, um die ſpecifiſche Art des Klanges zu unterſcheiden; nie, nachdem ich einmal ein Inſtrument gehoͤrt hatte, verwechſelte ich dieſes ungeſehen mit einem214 andern. Das Gefuͤhl, wodurch wir einen hoͤhern und tiefern Ton unterſcheiden, muß alſo von dem, wodurch wir aͤhnliche und unaͤhnliche Klaͤnge, z. B. Trompete und Floͤte, unterſcheiden, verſchieden ſein, und von unterſchiedenen Theilen unſers Gehoͤrorgans abhaͤngen. Naͤhere Beobachtung hieruͤber, die ich gemacht habe, kann ich hier nicht mittheilen. Beſſer als mit der Muſik gelang es meinem Vater mir Luſt und Liebe zu den bildenden Kuͤnſten und der Matheſis beizubrin¬ gen, und ſehr fruͤhe entwickelte ſich die Wißbegierde in mir.

Meine Erinnerungen gehen in einigen Dingen bis in mein erſtes Jahr zuruͤck, und werden in meinem zweiten in vielen Dingen nur dadurch ungewiß, daß ich bis in mein viertes oͤfters meine Traͤume mit wirk¬ lichen Anſchauungen verwechſelte. Es kam bisweilen zwiſchen mir und meinen Aeltern zu einem lebhaften Streit, wenn ich oͤfters behauptete, daß gewiſſe Per¬ ſonen uns beſucht, oder gewiſſe Dinge vorgefallen waͤren, wovon es mir doch nur getraͤumt hatte.

Noch in ſpaͤtern Jahren hatte ich einigemal noͤthig, Traum und Wachen nach klaren Vorſtellungen meiner vergangenen Handlungen und den Geſetzen der Kauſal¬ verbindung, und nicht durch das bloße Gefuͤhl der leb¬ haftern oder ſchwaͤchern Erinnerung der Eindruͤcke zu unterſcheiden. Noch im Jahre 1798, da ich mich in Ansbach aufhielt, war dies der Fall. Es traͤumte mir,215 ich haͤtte bei einem Mechanikus in Nuͤrnberg ein Teleſkop und ein Mikroſkop beſtellt, und als mir es dieſer brachte, ſo konnte ich es ihm nicht bezahlen, woruͤber dieſer, nach ſeiner Schilderung, in aͤußerſt große Verlegenheit kam; und beim Erwachen war mir die genaueſte Ruͤck¬ erinnerung von Allem, was ich ſeit einem Jahre in Nuͤrnberg gethan hatte, noͤthig, um mich zu uͤberzeugen, daß es ein Traum war. Aber noch war es damit nicht abgemacht; ein halbes Jahr lang aͤngſtigte mich oͤfters der Gedanke, daß die Sache doch wahr ſein koͤnnte, und ich mußte mich von neuem von ihrer bedingten Unmoͤglichkeit uͤberzeugen. Aus dieſem Vorfall iſt mir wahrſcheinlich, daß bei einer Krankheit des Senſoriums, welche die Erinnerungskraft ſchwaͤcht, oft ein Traum die Urſache der Verruͤckung eines Menſchen werden kann. Der entgegengeſetzte Fall iſt bei dem Nachtwandeln, wo wirklich veruͤbte Handlungen ganz aus dem Bewußt¬ ſein verſchwinden. Die genauere Entgegenſtellung dieſer Zuſtaͤnde iſt einer groͤßern Aufmerkſamkeit werth, als bisher darauf verwandt worden; ſo iſt z. B. bei dem lebhaft Traͤumenden die Waͤrme ſeines Koͤrpers uͤber die gewoͤhnliche erhoͤht, bei dem Nachtwandler bis zur auffallenden Kaͤlte deſſelben vermindert. Ich kann hier die Sache nicht weiter verfolgen, und komme wieder zu meiner fruͤhern zuruͤck.

Außer der fruͤhen Liebe zu Kuͤnſten und Wiſſen¬ ſchaften, welche mir mein Vater einfloͤßte, verdanke ich216 ihm auch die Freiheit von aller Furcht vor Geſpenſtern, denn niemand durfte mich durch eine Drohung dieſer Art ſchrecken, und einigen Nachbarinnen, welche mich durch den Mann draußen und den großen Hund be¬ ſaͤnftigen wollten, wurde gleich die Thuͤre gewieſen. Die Ueberzeugung von der Nichtigkeit der Geſpenſter konnte nicht im geringſten durch die Erzaͤhlungen meiner Großmutter muͤtterlicher Seite geſtoͤrt werden. Dieſe hatte, nebſt der Eigenſchaft Geſpenſter zu ſehen, noch eine, welche Manchem fehlte, der keine glaubt, naͤmlich die, ſich nicht im geringſten vor ihnen zu fuͤrchten. Sie erzaͤhlte die Auftritte, die zwiſchen ihr und den Geſpen¬ ſtern vorfielen, ſo unbefangen wie den Beſuch einer Nachbarin; und ihr Glaube, daß es Geſpenſter gebe, konnte daher, wenn es auch haͤtte meinen Unglauben wankend machen koͤnnen, doch keine Furcht bei mir hervorbringen. Ich war vielmehr ſo begierig, ihre Aus¬ ſagen durch die Erfahrung zu pruͤfen, daß ich in mei¬ nem dritten Jahre oft bei ihr ſchlief, um das Geſpenſt zu ſehen. Allein nie ließ es ſich ſehen, wenn ich da war, und ich glaubte daher, gegen ſie den Sieg uͤber ihren Glauben errungen zu haben. Dies war aber ver¬ gebens, denn ſie behauptete, daß ich einen unſichtbaren guten Geiſt bei mir haͤtte, vor dem ſich der andere fuͤrchtete. So lernte ich fruͤhe, daß es ungeraͤumt iſt, gegen Behauptungen, welche die Bedingungen moͤglicher Erfahrung aufheben wuͤrden, durch die Erfahrung ſtrei¬217 ten zu wollen, denn ſie laſſen ſich immer durch eine eben ſo ungereimte Vorausſetzung, als die Behauptung ſelbſt iſt, vertheidigen. Der Aberglaube kann durch Erfahrung wohl in gewiſſen Faͤllen beſchaͤmt, aber nicht uͤberzeugt werden, weil er immer durch das Nichter¬ fahrbare ſich entſchuldigen kann. Ich machte auch nach¬ her in meinem ganzen Leben nicht mehr den Verſuch, etwas ſehen zu wollen, was, wenn ich es ſaͤhe, mir nur den Verluſt meines Verſtandesgebrauchs anzeigen koͤnnte.

Nachdem ich voͤllig drei Jahre alt war, wurde ich in eine gewoͤhnliche Schule geſchickt. Hier glaubte ich nun die gewoͤhnlichen Dogmen eben ſo leicht, als ich die Geſpenſter nicht glaubte; denn mein Vater hatte ſich nicht gegen ſie erklaͤrt. Mit Demuͤthigung erinnere ich mich noch, daß ich gar nichts Empoͤrendes darin fand, daß ein Menſch, der an dem Glaubensbekenntniß des heiligen Athanaſius zweifelte, eben ſo behandelt wuͤrde, als wenn er die groͤßten Uebelthaten begangen haͤtte. Mein Vater, der damals nichts weniger als ein Zweifler war, wollte mich dadurch Toleranz lehren, daß er in der angenommenen Rolle eines Ketzers oder eines Frei¬ geiſts gegen die Dogmen mit mir disputirte, und ich vergoß haͤufig Thraͤnen, wenn es mir an Gruͤnden fehlte, ihn zu widerlegen. Der Grund meiner leichten Ueberzeugung lag in dem Gefuͤhle fuͤr Wahrhaftigkeit; ich konnte nicht ahnen, daß Millionen Menſchen eine218 Ungereimtheit glauben und die Entdeckung derſelben als ein Verbrechen anſehen koͤnnten. Haͤtte ſich mein Vater ſo in eigner Perſon dagegen erklaͤrt, wie gegen die Geſpenſter, ſo wuͤrde ich ihm freilich mehr als den Mil¬ lionen geglaubt haben. Nichts iſt dem Menſchen wohl ſchwerer als Toleranz in Glaubensſachen, ich halte ſie fuͤr unmoͤglich; und nur die feſte Ueberzeugung, daß der Andre wohl in dieſer oder jener Welt, auch ohne unſer Zuthun, die Wahrheit unſers Glaubens wird an¬ erkennen muͤſſen, kann den Schein von Toleranz geben. Der wahrhaft Ueberzeugte handelt daher, als waͤre er tolerant, und uͤberlaͤßt im feſten Vertrauen, daß es geſchehen werde, die Bekehrung oder Verdammung Gott; der aber durch den Nichtbeifall noch in ſeiner Ueber¬ zeugung, die zu heucheln er ſich Maxime gemacht hat, geſtoͤrt wird, ſucht den Zweifler ſelbſt, wenn er es kann, zu vertilgen.

So viel Schwierigkeit ich fand, Hoͤhe und Tiefe der Toͤne zu unterſcheiden, ſo leicht war es mir, die Artikulation derſelben zu unterſcheiden, und ich danke es nur dem ſehr ſchlechten Dialekt meiner Vaterſtadt, daß ich nicht zu einer ganz reinen und deutlichen Aus¬ ſprache meiner Mutterſprache gelangte. So gut mein Gedaͤchtniß war, ſo zeichnete ich mich doch in meiner Schule nicht dadurch aus, denn ich ſtrebte nur, den Inhalt einer Sache zu wiſſen, ohne mich aͤngſtlich um die Worte zu bekuͤmmern. Ich erinnere mich noch,219 daß mein Schulmeiſter, als ich die Evangelien auswen¬ dig lernen ſollte, und ſie ihm herſagte, oft aͤrgerlich ausrief: So ſpricht er ohne Anſtoß fort, und lauter andere Worte, als im Buche ſtehen. Waͤhrend ich noch in die gewoͤhnliche Schule ging, erhielt ich Unter¬ richt in der lateiniſchen Sprache, und kam in meinem neunten Jahre in die zweite Klaſſe der lateiniſchen Schuͤler, wie man in Nuͤrnberg die oͤffentliche Schule, auf welcher ſich die Juͤnglinge zur Beziehung der Uni¬ verſitaͤt vorbereiten ſollen, nennt; die erſte Klaſſe iſt die, von der man auf die Univerſitaͤt geht, und, ſo viel ich weiß, zaͤhlt man auf allen proteſtantiſchen Schulen ſo, da hingegen auf der katholiſchen Schule die erſte Klaſſe (infima) die entfernteſte von der Univerſitaͤt iſt. Woher mag dieſe verſchiedene Art zu zaͤhlen kommen? ſollte es auch von den Proteſtanten zum Unterſcheidungs¬ zeichen von den Katholiken geſchehen ſein, wie die erſten Chriſten den erſten Wochentag zum Sabbath machten? In dieſer Klaſſe wurde ich, da ich der juͤngſte war, der vielleicht je darin wer, nicht der Erſte, und es wurde mir daher von Andern voruͤberſetzt; dies war die Urſache, daß ich in der Latinitaͤt nicht die geringſten Fortſchritte machte, denn mein gutes Gedaͤchtniß ließ mich das voͤllig behalten, was ich einmal gehoͤrt hatte, und ſo erſparte ich mir die Muͤhe, zu uͤberſetzen, und ſagte bloß, obgleich nicht ganz woͤrtlich, nach. Etwas von der griechiſchen Sprache, welche meine Aufmerkſam¬220 keit reizte, weil ſie mir ganz neu war, war das einzige, was ich aus dieſer Schule herausbrachte. Ich blieb nur zwei Jahre darin, weil eine erduldete Beſchimpfung mir ſie ſo verbitterte, daß ich nicht nachließ, bis mich mein Vater herausnahm. Die Schuͤler mußten naͤmlich alle Sonntage in die Predigt gehen, und der Prediger ſprach ſo leiſe, daß man ihn an dem Ort, wo die Schuͤler ſaßen, ſchlechterdings nicht verſtehen konnte; ich nahm daher, um der Langweile zu entgehen, Buͤcher zum Leſen mit. Dies wurde dem Prediger angezeigt, und er gab mir deßwegen bei der Austheilung einer Stiftung einen oͤffentlichen Verweis, und daruͤber ward ich ſo aufgebracht, daß ich nicht mehr in der Schule bleiben mochte. Dieſer Vorfall iſt wohl das groͤßte Gluͤck, das mir in meinem Leben aufſtieß! denn obgleich mein Vater nicht die Abſicht hatte, mich dem gelehrten Stande zu widmen, ſo wuͤrde ein laͤngerer Aufenthalt in der Schule mich doch zum Profeſſioniſten verdorben, und mir das Studentenleben als das hoͤchſte Gut vor¬ geſpiegelt haben, und ich wuͤrde dann in meinem ſechs¬ zehnten Jahre auf Univerſitaͤt gegangen, und da der Ehrgeiz, mich auszuzeichnen, mich zum beſtaͤndigen Sitzen uͤber Buͤchern wuͤrde verleitet haben, ein fruͤhes Opfer der ſitzenden Lebensart und der einſeitigen Ausbildung des Gedaͤchtniſſes geworden ſein.

Waͤhrend ich in die lateiniſche Schule ging, lernte ich in der deutſchen Schule rechnen. Ich faßte dies221 ziemlich ſchnell, und mit Huͤlfe einiger Buͤcher, die ich hatte, uͤbte ich dem muͤndlichen Unterricht ſo weit zu¬ vor, daß ich, bis ich in der Schule, wo der Unterricht mir dadurch verdrießlich gemacht wurde, daß ich die berechneten Exempel in ein Buch, welches der Buͤrger¬ meiſter hieß, ſauber einſchreiben ſollte, zum zehnten Theil des Rechenbuches kam, ſchon das ganze Buch zu Hauſe durchgerechnet hatte.

So weit meine Erinnerungen auch in meine fruͤheſte Jugend zuruͤckgehen, ſo erinnere ich mich doch nicht, daß ich zaͤhlen lernte; es iſt mir, als haͤtte ich es von jeher gekonnt. Eben ſo wenig kann ich mich erinnern, wann ich das Sprechen von ſich ſelbſt in der dritten Perſon, welches den Kindern ſo eigen iſt, mit dem Ich vertauſchte. Wahrſcheinlich folgt das Zaͤhlen bei dem Kinde erſt auf das Ich; denn ehe es ſich als Einheit nicht bloß fuͤhlt, ſondern ſich, im Gegenſatze mit allen Andern, auch ſo denkt, hat es kein feſtes Schema von Eins; es ſieht wohl einzelne Sachen, aber es ordnet ſie nicht nach dem abſtrakten Begriffe von Eins. Es kann, bei dem Zaͤhlen, der Begriff von der Moͤglichkeit der Faͤhigkeit, es wirklich zu vollbringen, nicht voraus¬ gehen, und daher kein Bewußtſein des Nichtkoͤnnens ſtattfinden.

Eine Begebenheit hatte in meiner fruͤhen Jugend ſehr großen Einfluß auf meinen Karakter der nord¬ amerikaniſche Krieg. Mein Vater las die Zeitungen222 meiner Mutter zu Gefallen laut, und hatte fuͤr die Staaten Partei genommen. Mich intereſſirten ſie daher ſo fruͤhe, als ich nur einen Vortrag einigermaßen be¬ greifen konnte, und es wurde dadurch eine Vorliebe fuͤr eine wahrhaft republikaniſche Verfaſſung, deren we¬ ſentlicher Karakter darin beſteht, daß die Regierung, von welcher Form ſie uͤbrigens ſei, alle Angelegenheiten der Menſchen als eine res publica und nicht als ihre res privata behandelt, gegruͤndet, die nie, als mit mei¬ nem Leben, verloͤſchen wird. Das Leſen der Schrift¬ ſteller, aus denen die Jugend nur Latein und Griechiſch lernen ſoll, befeſtigte dieſe Neigung noch mehr, und ich werde ſie nie verlaͤugnen, da ich, getreu meinen einge¬ gangenen Verbindlichkeiten, gehorche, wo ich Unterthan bin, und meine innern Wuͤnſche und Hoffnungen der Vorſehung anheim ſtelle, die ich allein als den Rich¬ ter daruͤber anerkenne, und keine Regierung mir Ver¬ letzung der Wahrhaftigkeit und des Rechts befehlen wird und darf. Dies Gefuͤhl fuͤr Freiheit war aber auch außerdem eine nothwendige Folge meiner Erziehung. Bei aller Neigung, welche mir von meinem Vater zu den Kuͤnſten und Wiſſenſchaften eingepflanzt worden, war nie von ihm in mir der Gedanke erweckt worden, daß ich je etwas Andres zu meinem Lebensunterhalt treiben ſollte als ſeine Profeſſion. Alles, was ich lernte, lernte ich, weil ich Vergnuͤgen daran fand, oder mei¬ nem Vater zu lieb, denn ich liebte meinen Vater ſo223 ſehr, daß ich keinen mir angenehmern Spielkameraden kannte als ihn. Wenn mein Vater von ſeinen gewoͤhn¬ lichen Geſellſchaften auf meine Bitte zu Hauſe blieb, um ſich mit mir zu beſchaͤftigen, ſo war dies ein Feſt fuͤr mich, dem kein andres gleich kam. Dieſe Erziehung, welche mich Kuͤnſte und Wiſſenſchaften um ihrer ſelbſt willen lieb gewinnen ließ, erweckte in mir ein ſolches Gefuͤhl fuͤr Freiheit von allem aͤußern Zwang, daß ich in der Wahl meiner Beſchaͤftigungen immer nur meiner Neigung, oder der von mir erkannten Pflicht folgte, und alle andern Ruͤckſichten, am erſten die auf aͤußern Vortheil, vernachlaͤſſigte.

Bei dieſer mir fuͤr meinen Karakter ſo vortheilhaften Erziehung fuͤhrte mein Temperament aber doch einen Nachtheil herbei, den ich, da meine Lebensbeſchreibung, ſo weit ich ſie, ohne in das Leben andrer Perſonen unerlaubter Weiſe einzugreifen, fortfuͤhren kann, doch nur als ein paͤdagogiſches Experiment Werth haben kann, nun der vielleicht noch nicht genug auf dieſen Gegen¬ ſtand geleiteten Aufmerkſamkeit der Erzieher nicht ver¬ ſchweigen darf: denn es iſt ſehr wichtig, daß man lerne, den freien Gang der Entwickelung, ſo lange er zum Guten fortſchreitet, nicht zu unterbrechen, ohne deßhalb die Aufmerkſamkeit auf den Weg, den er nimmt, zu vernachlaͤſſigen. Mich fuͤhrte gerade das, was man am erſten ſeinen eigenen Gang nehmen zu laſſen fuͤr rath¬ ſam halten koͤnnte, naͤmlich der religioͤſe Karakter, der224 mir von meiner zarteſten Jugend an eigen war, auf ſonderbare Ausſchweifungen. Ein altes Buch mit Holz¬ ſchnitten, das die Geſchichte der Heiligen der Monats¬ tage enthielt, von der ihre ſich auferlegten Buͤßungen und die wegen ihres Glaubens erduldeten Martern im¬ mer den groͤßten Theil ausmachten, erweckte in mir den Hang zur Selbſtzuͤchtigung, und ich legte mir wegen der Vergehungen, deren ich mich ſchuldig glaubte, aller¬ lei Buͤßungen auf. So ſehr ich mich fuͤr verbunden hielt, jede Vergehung durch koͤrperlichen Schmerz zu buͤßen, ſo ſehr war ich uͤber die Zuͤchtigungen, die mir einigemal von meinem Vater und in der Schule wider¬ fuhren, aufgebracht: denn ich war feſt uͤberzeugt, daß mir jedesmal unrecht geſchah, und ich weinte immer mehrere Naͤchte daruͤber. Eine bigotte Erziehung haͤtte mich wahrſcheinlich zu einem Heiligen gemacht, und ich wuͤrde den gewoͤhnlichen Karakter der Heiligen, ſich ſelbſt der groͤßten Verworfenheit zu beſchuldigen, und zu pre¬ digen, daß man nicht werth ſei der geringſten Gnade Gottes, waͤhrend man jeden, der dies einem auf's Wort glauben, und einen ſo behandeln wollte, fuͤr einen Ab¬ geſandten des Teufels erklaͤrt, in ſeiner ganzen Staͤrke gezeigt haben. Dieſe Selbſtzuͤchtigungen erzweckten in meinem eilften Jahre eine Empfindung in mir, die ich noch nicht haͤtte haben ſollen, und welche, von mir gaͤnzlich mißverſtanden, die Veranlaſſung wurde, daß ich meine Peinigungen bis zu dieſem Punkte trieb. Dies225 hatte auf meine Geſundheit einen ſchlimmen Einfluß. Dieſen Nachtheil zog mir die Verdachtloſigkeit meiner Aeltern zu, welche nichts Arges ahneten, wenn ich allein in einer entlegenen Kammer oder auf einem Bo¬ den mich aufhielt. Als ich endlich den Nachtheil dieſer Peinigungen, durch das Leſen mediciniſcher Buͤcher, in¬ dem fruͤher ſchon durch die Aeußerungen viel aͤlterer Jungen meine Aufmerkſamkeit darauf erweckt worden war, einſahe, ſo koſtete es mir große Muͤhe, mir dies als Unart abzugewoͤhnen, was ich mir als ein verdienſt¬ liches Werk angewoͤhnt hatte.

Als ich aus der lateiniſchen Schule kam, ſo dachte ich an keine andere Beſtimmung, als meines Vaters Profeſſion einſtens zu treiben; ich arbeitete darauf, und kuͤmmerte mich bis in mein dreizehntes Jahr wenig um Buͤcher, ſondern trieb mich in den freien Stunden mehr mit meinen Spielkameraden herum. Bloß im Zeichnen, im Klavierſpielen, in franzoͤſiſcher und italieniſcher Sprache, hatte ich einigen Unterricht. Da mein Vater gepreßten Draht machte, ſo hielt er es fuͤr noͤthig, daß ich die Walzen ſelbſt ſchneiden koͤnnte; ich lernte daher graviren, und dies war mittelbar die Urſache, daß ich, wie ich etwas weiter unten zeigen werde, wieder dem Hang zu den Wiſſenſchaften mehr nachhing.

Meine Aeltern waren nicht wohl im Stande, mir außer den noͤthigen Schulbuͤchern noch andere anzu¬ ſchaffen, und meine Wuͤnſche in dieſem Falle zu befrie¬15226digen; was mir ſo, um ganz geringen Preis, auf den Troͤdel in die Haͤnde kam, waren meine erſten Quellen, aus denen ich lernte. Unter dieſen waren die Welt in einer Nuß und Hederichs Lehrbuͤcher die er¬ ſten, die mir in die Haͤnde kamen; ich erwarb mir dar¬ aus meine fruͤheſten mathematiſchen und hiſtoriſchen Kenntniſſe; darauf folgte Imhofs hiſtoriſcher Bil¬ derſaal. Wolfs Anfangsgruͤnde und Kruͤgers Naturlehre. Wolfs Elementa Matheseos in 4., die ich ſpaͤter auf dieſem Wege erhielt, waren der Grund, daß ich wieder anfing, Latein zu lernen. Aus dieſen Schriften mochte ich lernen; die eigentlichen Kin¬ derſchriften, die damals in die Mode kamen, und die ich bei einigen meiner Kameraden fand, waren meinem Geſchmacke zuwider; es kam mir vor, als wenn mich der Autor zwingen wollte, kindiſch zu ſein, was ich doch durchaus nicht ſein wollte. Kaͤſtners Epigramm auf Raff's Naturgeſchichte fuͤr Kinder:

In dieſem Buch ſpricht bald die Ziege, bald der Aff;
Der Eſel nur allein kann nicht zum Worte kommen,
Denn deſſen Stelle hat der Autor ſelbſt genommen,

war mir recht aus der Seele geſchrieben*)In den erſten Ausgaben dieſes Buches erzählen die Thiere, außer dem Eſel, ihre Geſchichte ſelbſt. .

Nun ereignete ſich ein Vorfall, der auf meine fernere Entwickelung großen Einfluß hatte. Von meiner fruͤhe¬ ſten Jugend an war ich ſehr heftigem Naſenbluten aus¬227 geſetzt, und als ich in meinem dreizehnten Jahre mehre¬ mal Blut auf meinem Kopfkiſſen fand, ſo glaubte ich daher, daß mir die Naſe im Schlaf geblutet haͤtte; doch da ich endlich ſtarke Schmerzen in der Zunge empfand, ſo wurde ich aufmerkſam, und entdeckte, daß ich mich in die Zunge gebiſſen hatte. Ich dachte daruͤber nicht weiter nach, bis ich in meinem vierzehnten Jahre bei Tage einen Anfall von Epilepſie, und kurz darauf in der Oſterwoche 1780 in zwei Tagen dreizehn Anfaͤlle bekam. Meine Aeltern waren daruͤber in der groͤßten Beſtuͤrzung, und konſultirten einen Arzt, Herrn Dr. Beyer, daruͤber. Dieſer verordnete, daß ich kein Bier mehr und außer Meliſſenthee auch kein warmes Getraͤnke trinken, daß meine Aeltern mir keine Lehrſtunde mehr geben laſſen, und mich von allem Leſen und Rechnen abhalten ſollten. Dies wurde getreulich erfuͤllt, und ich hatte ein Halbjahr, laͤnger hielt ich es nicht aus, keine andre Beſchaͤftigung, als meine Profeſſion, dabei ſehr ſtark Fleiſch und Obſt, und trank viele Milch. Dieſe Diaͤt beobachtete ich, mit wenigen Ausnahmen, bis in mein dreiundzwanzigſtes Jahr. Was mein Arzt und meine Aeltern aber nicht wußten, und ich oben er¬ zaͤhlte, ſchien mir die Haupturſache meiner Zufaͤlle, und ich trug nun von meiner Seite wohl eben ſo viel zu meiner Kur bei, als mein Arzt durch die angeordnete Diaͤt. Ich bekam zwar keinen Anfall von Epilepſie mehr, behielt aber, bis ich nach und nach zu einer15 *228etwas erregenden Lebensart uͤberging, eine große Nerven¬ ſchwaͤche, und hatte haͤufige Ohnmachten, und bei jeder Gemuͤthsbewegung heftiges Naſenbluten. Von dieſer Zeit an lernte ich ein Gefuͤhl kennen, was mir bisher voͤllig fremd war, die Furcht in einſamer Dunkelheit. Ueberall ſah ich Geſtalten, die ich zwar als Geſchoͤpfe meiner Phantaſie anerkannte, die mich aber deßwegen um nichts weniger aͤngſtigten. Gaͤnzliches Verſchließen der Augen, oder die Bewaffnung mit meinem Stock, Degen, oder auch nur einen Rappier, waren die Mittel, wodurch ich dieſe Furcht beſiegte. Erleuchtung der Zim¬ mer, oder des Weges, den ich ging, half aber auch nicht immer, wenn ich allein war, und beſonders aͤng¬ ſtigte mich, wenn ich ſpaͤt Abends noch Klavier ſpielte, eine große weibliche Figur in einer ſchwarzen Saloppe, welche zur Thuͤr herein kam, und uͤber meine Schultern und in die Noten ſahe. Dieſe Figur erſchien mir zum letztenmale 1791 in Kopenhagen, wo ich mir ein Klavier gemiethet hatte. So lebhaft die Geſichtsvorſtellung von dieſer Figur war, ſo erſchien ſie doch nie vor meinen Augen. Die Taͤuſchung war hier alſo nicht unmittelbar von der Schwaͤche der Augen abhaͤngig, ſondern von der Staͤrke meiner Phantaſie, gegen welche die Verneinung ihrer Vorſpiegelungen durch meine Augen nichts ver¬ mochte. Die Eindruͤcke meiner Sinne waren ſchwaͤcher als meine Vorſtellungen, und doch waren meine Sinne ſehr reizbar. Wenn ich an einer Mauer ging, ſo ſchien229 ſie auf mich zu fallen; waren bei truͤbem Himmel und nach einem Regen die Pflaſterſteine ſehr bald trocken und dadurch ſehr weißſcheinend geworden, ſo ſchien es mir, daß ſie mir bis an den Hals gingen, und daß ich durch ſie, wie durch dicken Schlamm, waten muͤßte; und bei Nacht hoͤrte ich das Echo meiner Tritte an den Mauern ſo ſtark, daß es mir vorkam, als wenn immer jemand mir auf dem Fuße nachfolgte. Mein Geiſt war uͤbrigens ſtark genug, meine Urtheile richtig zu erhalten, aber die aͤngſtlichen Gefuͤhle konnte er nicht abhalten. Ich finde, daß mein Zuſtand gegen den meiner Gro߬ mutter, die Geſpenſter zu ſehen glaubte, ohne aͤngſtlich zu ſein, ſich zu meinem auf aͤhnliche Art verhielt, wie der des Nachtwandlers gegen den, den ſeine Traͤume noch nach dem Erwachen aͤngſtigen. Sie wurde durch die geglaubten Erſcheinungen gar nicht anders afficirt, als wenn es gewohnte Sinneneindruͤcke geweſen waͤren, ob ſie in die Reihe der objektiven Kauſalverbindung paßten, das kuͤmmerte ſie nicht. Der Nachtwandler verliert ſeine ganze That aus dem Gedaͤchtniß, hier bleibt zwar die Erſcheinung und die dadurch veranlaßten Hand¬ lungen im Gedaͤchtniß, aber ſie bleiben außer dem Ge¬ biet der Reflexion. Das aͤngſtliche Gefuͤhl, was in mir entſtand, war gar keine Folge der Erſcheinungen, die ich hatte, denn ich haͤtte mich nicht gefuͤrchtet, wenn ich ſie gleich als wirkliche Dinge genommen haͤtte, ſon¬ dern der Reflexion, daß ſie nicht wirklich ſein ſollten. 230Wenn ich kolorirte und gekleidete Wachsfiguren in Le¬ bensgroͤße ſehe, ſo iſt mein Gefuͤhl, obgleich etwas ſchwaͤcher, genau daſſelbe, was ich damals hatte. Per¬ ſonen, die ſie, wie ich einigemal erfahren hatte, fuͤr lebendig hielten, hatten kein aͤngſtliches Gefuͤhl, es ent¬ ſtand erſt, als ſie ſich uͤberzeugten, daß jene es nicht waͤren. Die Angſt entſteht daher aus der Schwierigkeit, zu einem objektiv guͤltigen Urtheil zu gelangen, das zu¬ gleich ſubjektive Evidenz fuͤr uns hat. Eine merkwuͤr¬ dige Erſcheinung, die hieher gehoͤrt, iſt das Alpdruͤcken, welches mich auch manchmal, aber ſelten, befiel; hier glaubt man zu wachen, waͤhrend man ſchlaͤft, man ſtellt Proben an, kneipt ſich, reflektirt, um gewiß zu werden, ob man wache oder ſchlafe, erhaͤlt immer das Reſultat, daß man wache und ſich nicht bewegen koͤnne, und alles zuſammen iſt Traum. Viele Perſonen, wie ich gefun¬ den habe, glauben nicht, daß alles Traum iſt, und ſind ſchwer davon zu uͤberzeugen, daß ihre Ueberzeugung, daß ſie nicht traͤumten, auch nur Traum war; mich fuͤhrte dieſer Zuſtand nicht irre, eine kurze Reflexion war hinlaͤnglich, mich davon zu uͤberzeugen. Nach die¬ ſer kleinen Ausſchweifung will ich nun wieder auf meine Juͤnglingsjahre zuruͤck kommen.

Durch das Graviren fing ich nun an einiges Geld zu verdienen, und da ich gar keine andern Beduͤrfniſſe hatte, als Kupferſtiche und Buͤcher, ſo vergroͤßerte ſich meine Bibliothek. Von einigen Wiſſenſchaften fanden231 ſich nun zufaͤllig auf dem Troͤdel nur lateiniſche Buͤ¬ cher; ich mußte daher mich wieder auf’s Lateiniſche legen. Ich that dies aber nur zum Behuf meiner Buͤ¬ cher, und verſtand daher Wolf und Baumgarten ſehr gut, ohne daß ich einen Vers im Virgil verſtand.

Ein Jahr nach meinem letzten Anfalle von Epilepſie uͤberließ ich mich meinem Hange zum Studiren wieder ungehindert, nur hatte ich, außer im Zeichnen und Klavier, in keiner Sprache oder Wiſſenſchaft mehr einen Lehrmeiſter. Ich verſahe auch von der Zeit an meinem Vater ſein ganzes Geſchaͤft.

Von meiner fruͤheren Jugend an war der Hang, mich zu unterrichten, mit dem verbunden, Andere zu lehren; ich hatte beſtaͤndig in allen Faͤchern, worin ich etwas wußte, wieder Schuͤler, die ich unterrichtete. Dies war ein großer Vortheil fuͤr mich, weil ich mich nicht wohl mit einem dunkeln Bewußtſein von der Sa¬ che behelfen konnte; denn da meine Schuͤler in einer Sache oft wieder meine Lehrer in einer andern waren, ſo ließen ſie ſich nicht mit leeren Behauptungen von mir abſpeiſen, ſondern ich mußte mich gruͤndlich und deutlich erklaͤren.

Meine fruͤhe Bildung war Urſache, daß ich meiſtens Umgang mit aͤltern Knaben hatte, dies erzeugte bei mir eine fruͤhe Bekanntſchaft mit der Liebe. Es war von meinem zwoͤlften bis zum ſechszehnten Jahre gera¬ de die Siegwart-Wertheriſche Epoche in meiner232 Vaterſtadt herrſchend. Einer meiner Bekannten hatte ſich erſchoſſen, und ein anderer, Namens Doͤrrbaum, mit dem ich am innigſten vertraut war, hatte nebſt vie¬ len ſehr guten Eigenſchaften einen ſehr phantaſtiſchen Liebeshandel. Dies ſteckte mich an, und ich waͤhlte mir auch eine Dame, und ſchwaͤrmte in Geſellſchaft mit meinem Freunde. Keine von dieſen Damen erfuhr aber etwas von meiner Liebe zu ihr, und erſt 1784 machte ich die erſte Liebeserklaͤrung. Fruͤher hatte ich aber ſchon mich zur engſten Freundſchaft mit obenerwaͤhntem Doͤrrbaum verbunden, und 1781 hatten wir meinen bis jetzt noch unveraͤnderlich getreuen Freund Oſterhau¬ ſen in unſern Bund mit aufgenommen. Im Jahre 1782 ſtarb Doͤrrbaum, und ich und Oſterhauſen ſchloſ¬ ſen ſich nun noch inniger aneinander. Keine Fuͤgung des Schickſals hat ſeitdem unſre Herzen getrennt, kein Schein von Glauben an Untreue uns in unſerm Ver¬ trauen irre gemacht, und wenn wir zwar einigemal mit einander unzufrieden waren, ſo war doch nie der leiſeſte Verdacht von Unredlichkeit in unſere Seele gekommen.

Doͤrrbaum hatte außer einem nicht ganz guten Ein¬ fluß auf meine Gefuͤhle, weil er mich zu verliebten Schwaͤrmereien zu fruͤhe verleitete, einen ſehr guten auf meine Urtheilskraft. Als ich nach meiner Krankheit wieder zu ſtudiren anfing, ſo gab mir dieſer etwas Unterricht im Griechiſchen. Wir exponirten das Neue Teſtament, und er legte es nach der damals gangbaren233 kuͤhnen Exegeſe aus. Dies ſchwaͤchte in mir den Glau¬ ben an die unbedingte Guͤltigkeit der Lutheriſchen Ueber¬ ſetzung, an der richtigen Ableitung der in den Luthe¬ riſchen Katechismus aufgenommenen Dogmatik aus der Bibel, und an der Richtigkeit meiner Religionsbegriffe. In meinem dreizehnten Jahre empfing ich mit vieler Andacht das Abendmahl, und bis in mein fuͤnfzehntes hatte ich keinen Begriff, daß man in dem Dogma der Euchariſtie anders denken koͤnne, als die evangeliſche Lutheriſche Kirche, und doch noch an die Bibel glauben. Dieſen Begriff erhielt ich durch Doͤrrbaums Exegeſe, aber ich ging ſchnell weiter, und bald folgten auf meh¬ rere Hypotheſen uͤber den wahren Zweck des Todes Jeſu kuͤhnere an der gaͤnzlichen Ungewißheit dieſer Ge¬ ſchichte an ſich, und der Akkomodation derſelben nach den Begriffen der an Opfer gewoͤhnten Voͤlker. Ich ſahe in der Erzaͤhlung, daß aus der Seite Jeſu Blut und Waſſer floß; die Nachahmung des Homers, der den Goͤttern auch kein rothes Blut vergießen laͤßt, und die Abſicht, dadurch, daß Blut und Waſſer floß, den Heiden recht einleuchtend zu machen, daß er Gott und Menſch ſei, und dergleichen Erklaͤrungen, warum ſo oder anders erzaͤhlt wuͤrde, fand ich ſehr viele; kurz, wie mein Aufklaͤrer ſtarb, war ich gegen ihn ſchon ein Freigeiſt. Aus dieſem Beiſpiel mag man ſehen, wie ſchwer es iſt, den Glauben zu laͤutern, ohne ihn auf¬ zuheben. Der meinige wurde nicht veredelt, nicht mit234 der Vernunft uͤbereinſtimmender gemacht, ohne daß ſich meine Vernunft nicht uͤber ihn erhoben und ihn zum Gegenſtand einer[pſychologiſchen] Aufgabe, ſeine Moͤg¬ lichkeit zu begreifen, gemacht haͤtte. Man wuͤrde aber ſehr uͤbereilt die Lehre daraus ziehen, daß man nie Glaubensſachen vor den Richterſtuhl der Vernunft zie¬ hen muͤßte, denn nur, was dieſe wahr findet, iſt es, und macht unſer wahres Leben aus, weil es die Ein¬ heit unſers Bewußtſeins bewirkt. Alles andere, was nicht aus dem von der Vernunft Erkannten entſpringt, iſt iſolirt, wie Thaten des Nachtwandlers, oder die geglaubten Geſpenſtererſcheinungen. Der Glaube haͤngt von den zufaͤlligen Eindruͤcken ab, uͤber die wir nicht denken, und es kann daher wohl Einheit im gedanken¬ los ausgeſprochenen Glaubensbekenntniß, aber nie in dem Glauben ſelbſt geben. Nur die Vernunft bringt Einheit hervor; wo ſie noch nicht entſcheiden kann, er¬ laubt ſie zu glauben; ſie ſtoͤrt daher nie den Glauben, ohne etwas Beſſeres, Erkenntniß, dafuͤr zu geben; aber der Glaube, der herrſchen will, ſtoͤrt die Vernunft, um das Schlechteſte in den Menſchen, Verzicht auf Einſicht, bei den Menſchen hervorzubringen. Waͤhrend dieſer Religionsunterſuchungen ſtudirte ich zugleich wie¬ der Mathematik, und es gelang mir in meinem funf¬ zehnten Jahre, die erſte mathematiſche Evidenz zu em¬ pfinden. Ich hatte bis dahin die mathematiſchen Lehren eben ſo gelernt, wie man Sprachregeln und Regenten¬

235folgen in der Geſchichte lernt. Ich wollte durchaus die mathematiſchen Saͤtze aus den Begriffen mir erklaͤ¬ ren, und hatte mich bis zur Ohnmacht mit dem Ver¬ ſuche gequaͤlt, aus den Begriffen der geraden Linie, des Raumes und des Einſchließens, ſchlußgerecht zu beweiſen, daß zwei gerade Linien keinen Raum ein¬ ſchließen koͤnnen. Dieſe logiſche Bemuͤhung, die Ma¬ thematik zu begreifen, hatte mir vorzuͤglich Wolf mit¬ getheilt, denn ich ſahe damals noch nicht ein, daß die¬ ſer ſo verdiente und noch nicht nach Verdienſt geſchaͤtzte Mann die Taͤuſchung hatte, als haͤtte er die mathema¬ tiſche Methode in die Philoſophie eingefuͤhrt, da er vielmehr ſich eben ſo vergebens beſtrebt hatte, die dog¬ matiſch philoſophiſche in die Mathematik zu uͤbertragen. Endlich ging mir bei dem Lehrſatz, daß Parallelogram¬ me von gleicher Baſis zwiſchen zwei Parallelen einander gleich ſind, auf Einmal Licht auf, und mit einem mir noch unvergeßlichen Gefuͤhle fuͤhlte ich mich nun durch Anſchauung uͤberzeugt, und hatte das Bewußtſein des Unterſchiedes zwiſchen mathematiſcher Evidenz und logi¬ ſchem Ueberweiſen. Ich empfand nun, daß Mathematik immer uͤberzeugt, ſobald ihre Beweiſe gefaßt werden, und Logik oͤfter zum Rechtgeben zwingt, ohne daß man ſich uͤberzeugt fuͤhlt. So ſehr ich dieſen Unterſchied empfand, ſo konnte ich mir doch noch nicht Rechenſchaft davon geben; dies lernte ich erſt aus Kant. Eine aͤhnliche Bewandtniß, wie mit der Entwickelung des236 Gefuͤhls der mathematiſchen Evidenz, hatte es bei mir mit der Einſicht in die nothwendige Unterwerfung unter das ſtrenge Recht, welche jenem Gefuͤhl der Evidenz erſt ein Jahr nachher erfolgte. Sehr fruͤhe hatte ich die Erzaͤhlung aus Xenophons Cyropaͤdie von den beiden Knaben, deren beide Roͤcke ſich verwechſelt paßten, ge¬ leſen, aber bis in mein ſiebenzehntes Jahr konnte ich die Richtigkeit des Urtheils des Perſers uͤber Cyrus Entſcheidung nicht einſehen. Ich erinnere mich aber keines ſo ploͤtzlichen Ueberganges zur Einſicht, wie bei der Mathematik. Das Leſen der Gedichte Oſſians und der Schriften Shaftsbury's, um welcher beiden Schriftſteller willen ich Engliſch verſtehen zu lernen ſuchte, hatte den ſtaͤrkſten mir erinnerlichen Einfluß auf die Bildung meiner moraliſchen Gefuͤhle, und bereitete die deutlichere Einſicht vor.

Ehe ich aber noch Kant's Kritik der reinen Vernunft las, ſo wurde ich durch Mendelſohn's ſchoͤne und Sulzer's klare Darſtellung mehrerer Saͤtze der Wolfiſchen Philoſophie immer mehr fuͤr ſie gewon¬ nen, und ich bemuͤhte mich, ſie unumſtoͤßlich zu be¬ gruͤnden. Das Studium von Lambert's Organon, von Spinoza's nachgelaſſenen Schriften, und vor allem eine Fertigkeit in der Dialektik, die ich mir in den Disputiruͤbungen mit meinem Freunde erworben hatte, fuͤhrten mich[auf] viele Maͤngel in Wolf's Syſtem, und beſonders empfand ich, ſeitdem ich die Evidenz der237 Geometrie fuͤhlte, den Unterſchied zwiſchen ihr und der Art Ueberzeugung, welche aus Wolf’s demonſtrativer Methode hervorgehen ſollte. So wie es mir in der Geometrie mit dem Satze der Gleichheit der Parallelo¬ gramme ging, ſo ging es mir mit dem Beweiſe, den Baumgarten in ſeiner Metaphyſik von dem Satz des zureichenden Grundes giebt: ich fuͤhlte das Spiel mit Worten, aber aufloͤſen konnte ich den dialektiſchen Schein noch nicht. Ich zweifelte an allen Saͤtzen der Wolfi¬ ſchen Philoſophie, nur nicht an der Richtigkeit ihrer Methode. Ich verſuchte immer noch ihre evidente Be¬ gruͤndung: und ich verſuchte ſie vorzuͤglich durch die Konſtruktion des Realen oder in der Anſchauung Er¬ kennbaren, durch das bloße Denken, worauf mich die Wolfiſche Erklaͤrung der Wirklichkeit, die ich als richtig vorausſetzte, brachte. Von dem Satz: ich denke mich, wollte ich durch Entwickelung deſſen, was ich nothwen¬ dig denke, wenn ich mich denke, zu allen nur denkbaren Praͤdikaten einer Subſtanz, und von da aus, durch Aufhebung der Schranken dieſer Praͤdikate, zu Gott, und, durch das Beſtimmen der Grade dieſer Schranken und der Kombinationen dieſer ſo beſtimmten Praͤdikate, zur Welt gelangen. An dieſem abſoluten Dogmatis¬ mus, der Gott und die Welt aus mir hervorgehen ließ, und den ich immer noch nur als die Vollendung der Wolfiſchen Philoſophie anſah, ob es gleich eigentlich Spinozismus haͤtte werden muͤſſen, ſobald es nicht als238 analytiſch aus dem Erkenntnißvermoͤgen abgeleitet, ſon¬ dern ſynthetiſch als Dogmatismus dargeſtellt, von mir gedacht worden waͤre, arbeitete ich, als mir von einem meiner Freunde geſagt wurde, er haͤtte eine Anzeige von Kant’s Schriften geleſen, aus der hervorginge, daß Kant die Unmoͤglichkeit der Begruͤndung des Wol¬ fiſchen Dogmatismus zeigen wollte. So wie ich dies hoͤrte, ſo war auch mein Vorſatz gefaßt, Kant’s Schriften zu leſen und zu widerlegen, um fuͤr mein Syſtem Raum zu gewinnen. Dies war im Fruͤhjahr 1786.

Was Kant in der transcendentalen Aeſthetik vor¬ trug, das ſchien meinem Syſtem nicht entgegen, denn an die Idealitaͤt des Raums und der Zeit hatte mich die Leibnitziſche Art zu philoſophiren gewoͤhnt, und ich begriff nicht ſogleich, wie ſehr dieſer die Kantiſche Dar¬ ſtellung entgegen war, zumal da ich nach Lamberts Erinnerung, daß Leibnitz in ſeiner Erklaͤrung des Raums, er ſei die Ordnung der Dinge außer uns, in dem Worte außer uns ja ſchon den Raum vorausſetze, an dieſer Erklaͤrung gekuͤnſtelt hatte. Ich fand daher in der ganzen Analytik wenig Anſtoß, und erſt die Paralogismen der reinen Vernunft machten mich auf die gaͤnzliche Verſchiedenheit des Wolfiſchen Dogmatis¬ mus mit Kants Kriticismus aufmerkſam, aber ich gab noch die Hoffnung, ihn da, wo er jenem entgegen ſtehe, zu widerlegen, nicht auf. Die Antinomien weckten meine hoͤchſte Anſtrengung, und ich entdeckte die Wortſpiele239 in den Beweiſen, welche eine unvermeidliche Folge der Behauptung ſind, daß Raum und Zeit Gegenſtaͤnde fuͤr einen Begriff waͤren, und aus dem Begriff wieder erkannt werden koͤnnten; aber mit dieſer Einſicht ſchwand auch der dialektiſche Schein, welcher in Wolf’s Syſtem herrſcht, welchem eine im Gehorſam des Glaubens erzogene Vernunft, die dieſen Gehorſam als Wahl der Freiheit beſchoͤnigen will, nothwendig unterliegen muß. Nun belebte mich der Geiſt von Kant’s Kritik der reinen Vernunft, der mich anfangs zu toͤdten ſchien, nun fuͤhlte ich mich erſt als denkendes Weſen, unbe¬ ſchraͤnkt durch alles, was die Menſchen gut fanden, einander glauben zu machen, und ungeſtoͤrt in meinem der Vernunft nicht widerſprechenden Glauben durch den Vorwurf, daß ich ihn nicht ſchulgerecht beweiſen konnte. Ich fuͤhlte ein neues Leben und Streben in mir, die Gegenſtaͤnde meines Wiſſens und Glaubens waren mir beſtimmt, und keine fruchtloſe Anſtrengung verzehrte mehr meine Kraͤfte.

Kant’s Prolegomena zu einer jeden kuͤnftigen Me¬ taphyſik waren mir nur angenehme Wiederholung der Lehren ſeiner Kritik, und ich las ſeine Grundlegung der Metaphyſik der Sitten mit dem Vergnuͤgen, das eine Unterhaltung mit einem vertrauten, aber an Weis¬ heit uns vorausgeſchrittenen Freund giebt. Aller Genuß aber, den ich in meinem Leben erhielt, ſchwindet gegen die Durchbebung meines ganzen Gemuͤths, die ich an240 mehreren Stellen von Kant’s Kritik der praktiſchen Vernunft empfand. Thraͤnen der hoͤchſten Wonne ſtuͤrz¬ ten mir oͤfters auf dies Buch, und ſelbſt die Erinnerung dieſer gluͤcklichen Tage meines Lebens naͤßt jederzeit meine Augen, und richtete mich auf, wenn nachher widrige Ereigniſſe und eine traurige Stimmung meines Gemuͤths mir alle frohe Ausſicht in dieſem Leben ver¬ ſperrten. Sollte mein Leben eine Begebenheit in der Geſchichte der Menſchen werden, und nicht blos ein Mittel zur Erhaltung der Menſchengattung ſein; werde ich ausdauern im Kampfe mit dem niederſchlagenden Gedanken, den mir die Geſchichte der Zeit ſo oft, wie ein feindſeliger Daͤmon, in die Seele blaͤſt: der Glaube an Entwickelung der Menſchheit im Gewuͤhle des Trei¬ bens und Thuns des Menſchen iſt ein Ammenmaͤhrchen, um das Kind vom Mittreiben und Mitlaufen auf der Straße des rohen Genuſſes abzuhalten, und ein leerer Troſt uͤber den verſaͤumten Jubel ſeiner Kameraden, werde ich ihm widerſtehen, dieſem geiſterdruͤckenden Gedanken, ſo iſt es dein Werk, mein Lehrer, mein Vater im Geiſte! Fuͤhle ich mich nach dieſem oͤfter wiederkehrenden Fieberanfall der Gemeinheit fortdauernd noch durch das Bewußtſein geſtaͤrkt: ich bin, der ich bin, kein Anderer hat meine Pflichten, kein Anderer darf fuͤr mich denken, die Welt, die ich anſchaue, iſt die Aufgabe fuͤr mein Wiſſen, das Gefuͤhl der Freiheit in mir iſt allein der Richter meines Werths; was ich241 im Laufe der Welt nuͤtzte, iſt Aufgabe der Unterſuchung kuͤnftiger Menſchen; was ich ſein wollte, iſt allein mein Eigenthum: ſo iſt es dein Werk, mein Lehrer, mein Vater im Geiſte!

Hier ſchließt ſich meine philoſophiſche Erziehung, ich ging nicht mehr zuruͤck auf die erſten Gruͤnde, ſondern ſuchte vielmehr in den andern Wiſſenſchaften von meiner Philoſophie zulaͤſſigen Gebrauch zu machen. Kant's Kritik der Urtheilskraft gab mir unendliches Vergnuͤgen, aber keine mich befremdende Lehre mehr, ſie erweiterte noch meine Einſicht, aber ſie zeigte mir keinen neuen Weg mehr.

Die Art meiner Bildung, wie der Leſer wohl ſchon ſelbſt bemerkt haben wird, ſchloß die Uebung in ſchrift¬ lichen Aufſaͤtzen ganz aus, und meine erſten Verſuche waren einige Aufſaͤtze, die ich in einer Geſellſchaft, von welcher Doͤrrbaum und Oſterhauſen die Stifter waren, verfertigte. In dieſer Geſellſchaft, die woͤchentlich zu¬ ſammen kam, mußte jeder nach der Reihe einen Aufſatz liefern, und jedes Mitglied die Woche darauf eine Re¬ cenſion daruͤber mitbringen. Dieſe Geſellſchaft dauerte aber nur bis 1783, da mein Freund Oſterhauſen und einige andere Mitglieder auf Univerſitaͤt gingen. Der Briefwechſel mit meinem Freunde war nun meine einzige Uebung im Schreiben, bis mich auch die Liebe veran¬ laßte, oͤfters zu ſchreiben. Dieſe wenige Uebung im Schreiben, welche mir das Mechaniſche des Schreibens16242ſchon zu einem unangenehmen Geſchaͤft machte, hatte auf mein ganzes Leben großen Einfluß. Da ich ſehr ungern ſchrieb, ſo ſtrebte ich nach moͤglichſter Kuͤrze, und meine Freunde, welche den Gang meiner Ideen kannten, fanden dieſe Kuͤrze ſelten dunkel, aber um ſo mehr ward ich es fuͤr Andere. Ferner hatte ich den Styl nur in meinen Gedanken, aber nicht in meiner Feder, und viele zur Sprachrichtigkeit gehoͤrige Kennt¬ niſſe, die eine fruͤhe Uebung im Styl ausuͤben lernt, ohne daß man ſie deutlich denkt, dachte ich mir ſehr deutlich, ohne ſie in Ausuͤbung zu bringen. Dieſe Kargheit im Schreiben war Urſache, daß ich in einigen meiner Schriften mehr einen kurzen Inhalt von dem, was ich dachte, als das Gedachte ſelbſt lieferte, und daß ich ſelten einen Grund angab, warum ich dieſe oder jene Anſicht der Sache nicht billigte, ſondern nur die wahre darſtellte. Ohne Freundſchaft und Liebe haͤtte ich wahrſcheinlich das Schreiben verlernt. Der in mir geweckte Hang zur romanhaften Liebe hatte durch meine philoſophiſchen Unterſuchungen uͤber die Liebe ſelbſt eine eigene Wendung genommen. Ich hielt es zu meiner gaͤnzlichen Unabhaͤngigkeit fuͤr nothwendig, eine Geliebte zu haben. Meinen Geſchlechtstrieb hatte ich mir unter¬ worfen, und ich ſuchte blos freundſchaftliche Liebe, bis meine aͤußere Lage es mir geſtatten wuͤrde, Vater von Kindern zu ſein; aber ich wußte durch meine aͤltern Freunde, daß dieſer Trieb noch ſtaͤrker in mir erwachen243 wuͤrde, und ich wollte daher ihm ſeinen Gegenſtand noch bei ruhigerer Gemuͤthsſtimmung waͤhlen. Die voll¬ kommenſte freundſchaftliche Eintracht in den Zwecken des Lebens, und die, wenn es die Umſtaͤnde erlauben, durch den wechſelſeitigen Sinnengenuß vor aller Be¬ herrſchung durch den Trieb geſicherte Freiheit, war das Ideal meiner Liebe. Ich glaubte dies Ideal zu reali¬ ſiren, und wenn ich auch nach einigen Jahren meine Taͤuſchung erkennen mußte, ſo moͤchte ich doch um nichts dieſe Jahre ſeliger Traͤume aus meiner Erinnerung verlieren. Noch fuͤhrt mich jede helle Mondnacht in dieſen ſuͤßen Wahn zuruͤck, ach nein, es war nicht Wahn, es war damals Wirklichkeit, dieſes feſte Ver¬ trauen auf Harmonie unſerer Seelen, dieſe Abgeſchie¬ denheit von allem Koͤrperlichen in unſerer Vereinigung, dies Vollendete in unſerm Sein! Frei fuͤhlte ich mich von allem Einfluß der Welt auf mich an deiner Seite, und unendlich ſtark, auf ſie zu wirken! In dieſem Kraftgefuͤhl entſtand die kuͤhne Idee in mir, eine voll¬ ſtaͤndige Theorie der Geſetzgebung liefern zu koͤnnen, und dies zur Beſtimmung meines Lebens zu machen, weil ich noch nicht daran dachte, von was, ſondern nur, fuͤr was ich leben wollte.

Bald nachdem mein Oſterhauſen auf die Univerſitaͤt gegangen war, machte ich Bekanntſchaft mit Herrn von Grundherr, der damals Lieutenant bei den nuͤrnbergi¬ ſchen Truppen, der zehn Jahr aͤlter als ich, und mir16 *244in Sprachkenntniſſen weit uͤberlegen war. Mit ihm las ich Epiktet und Cebes zuerſt; Marc Antonin hatte ich ſehr fruͤhe in einer franzoͤſiſchen Ueberſetzung geleſen, und ehe ich noch Kant's Moralprincip kannte, hatte ich mir ſchon die aͤchten Stoiker zum Muſter gewaͤhlt, und mir meine Heftigkeit, mein Weinen, wenn es mir nicht nach Wunſche ging, abgewoͤhnt. Rollin's Ma¬ nière d'enseigner les belles lettres war mir ſchon in meinem vierzehnten Jahre in die Haͤnde gekommen, und weckte in mir das Verlangen nach klaſſiſcher Lit¬ teratur, und mit meinem Freunde von Grundherr fand ich die Gelegenheit, es zu ſtillen. Dieſen konnte ich bei Schwierigkeiten, die mir in lateiniſchen und griechi¬ ſchen Schriftſtellern aufſtießen, zu Rathe ziehen, und er verlangte dafuͤr oͤfter meinen Rath bei mathematiſchen und philoſophiſchen. So ſehr entſchieden ſeine Ueber¬ legenheit war, wo ich ſeiner bedurfte, ſo problematiſch war die meinige, da, wo er meiner zu beduͤrfen glaubte. Unbedingte Liebe zur Wahrheit kettete uns an einander, und ſeine Freundſchaft fuͤr mich, die ſich auf dieſe Ein¬ ſtimmung des Karakters gruͤndete, ließ es nicht zu, daß er der uneigennuͤtzige Wohlthaͤter gegen mich ſchien, er wollte von mir bezahlt ſcheinen. Wir lebten mehrere Jahre viele gluͤckliche Stunden mit einander, und ohne daß unſere Herzen ſich getrennt haben, ſind wir doch durch einige ungluͤckliche Ereigniſſe in unſerm Verhaͤlt¬ niſſe geſtoͤrt worden. Dieſe Jahre der Freundſchaft245 und Liebe, wo mir das Forſchen nach Wahrheit der einzige Zweck meines Lebens, die Mittheilung meiner Entdeckungen an meine Freunde meine einzig gewuͤnſchte und erhaltene Belohnung, und die Unterhaltung mit meiner Geliebten uͤber Freundſchaft und Liebe der vollen¬ dete Genuß der Liebe war, dieſe Jahre machen bis jetzt noch mein wahres Leben aus; thaͤtig werde ich ſein, ſo lange ich lebe, und vieles Vergnuͤgen habe ich ſeit¬ dem noch empfunden, aber mein Leben ſelbſt, ohne alles Einzelne ſeiner Verhaͤltniſſe, als unmittelbaren Genuß des Seins, hatte ich nur damals, als ihr, meine mir ewig Unvergeßlichen, meine ganze Welt, fuͤr die ich da ſein wollte, ausmachtet!

Bei der freien Wahl meiner Gegenſtaͤnde der Er¬ kenntniß traf ich auch auf die Heilkunde; als Theil der Phyſik lag ſie in dem Kreis, den ich fuͤr mein Wiſſen als den nuͤtzlichſten ausgezeichnet hatte, und die beſtaͤn¬ dige Kraͤnklichkeit meiner Mutter und meine eigenen Zufaͤlle lenkten meine Aufmerkſamkeit auch noch beſon¬ ders auf ſie. Aus den Buͤchern, die mir in die Haͤnde fielen, hatte ich ſo viel gelernt, daß ich meine Mutter im Jahre 1785 von einer falſchen Lungenentzuͤndung gluͤcklich heilte.

Da in Nuͤrnberg ein anatomiſches Theater iſt, auf dem zu Zeiten Vorleſungen fuͤr die Chirurgen gehalten werden, ſo hatte ich ſehr fruͤhe Gelegenheit, die Knochen -, Muskel - und Eingeweidelehre einigermaßen kennen zu246 lernen, und ich begriff dadurch ſehr leicht Haller’s kleine Phyſiologie. Die Anlage meines Geiſtes, von ſynthe¬ tiſcher Darſtellung vorzuͤglich angezogen zu werden, die der Wolfiſchen Methode bei mir ſogleich Eingang ver¬ ſchaffte, mußte mich in der Heilkunde ſo bald fuͤr Boer¬ have’n gewinnen, als ich ihn kennen lernte, und Gau¬ bius mir in der Medicin werden, was mir Baumgarten in der Philoſophie war. Doch konnte meine Anhaͤng¬ lichkeit, da ich einmal zweifeln gelernt hatte, nicht ſo lange dauern, und nachdem ich mir einige Kenntniſſe in den theoretiſchen Theilen der Heilkunde erworben hatte, wandte ich meine Dialektik gegen die Heilkunde an, und fand ſie ſehr ſchwach begruͤndet. Dies for¬ derte mich zur Unterſuchung ihrer Grundſaͤtze auf, und dieſe Unterſuchung wurde der Gegenſtand mehrerer im Jahre 1786 mit meinem Oſterhauſen gewechſelten Briefe. Mit den Reſultaten, die ich damals fand, bin ich noch einverſtanden, und was ich nachher von meinen ent¬ worfenen Organen der Heilkunde bekannt machte, iſt eine weitere Ausfuͤhrung der Briefe. Eine Beſchaͤfti¬ gung des Geiſtes, die durch die Zeitgeſchichte veranlaßt wurde, lenkte mich von der Fortſetzung dieſer Unter¬ ſuchungen ab; naͤmlich durch die damalige Verfolgung und Aufhebung des Illuminatenordens wurde meine Aufmerkſamkeit auf geheime Geſellſchaften gelenkt, und ich unterhielt mich mit meinen Freunden daruͤber. Da es ſo ſehr leicht iſt, zu bemerken, daß die Menſchen247 ſelten ſind, wie ſie nach einem moraliſchen Ideal ſein ſollten, und die Eitelkeit uns veranlaßt, ſich zu den Beſſern zu zaͤhlen, ſo ſtieg in mir der Wunſch auf, die andern Menſchen ſo gut zu machen, als ich nebſt meinen Freunden zu ſein glaubte, und einen Plan zu einem Bunde aller beſſern Menſchen zur Erziehung der uͤbrigen zu entwerfen. Mein Plan erhielt den Beifall meiner innigſten Freunde, aber wie er ins Werk zu ſetzen, das wußte keiner, denn alle aͤußern Vortheile, welche geheime Geſellſchaften dem groͤßern Haufen wuͤn¬ ſchenswerth machen, waren daraus verbannt, und wir konnten dadurch nicht inniger vereint werden. Die Kritik, die mir einer meiner fruͤhern Lehrer, ein Jugendfreund meines Vaters, Rektor Lederer, als ich ihm den Plan meines Bundes zur Erziehung des Menſchengeſchlechts vorlas, daruͤber mit den Worten machte: Ach Gott, wie leid thut es mir, daß ich keine Mitglieder dazu vorzuſchlagen weiß! ſchlug meine Hoffnung nieder und erweckte die Ueberzeugung, daß es zu dem wahren Guten keiner andern Verbindung, als der eines tugend¬ haften Wandels beduͤrfe.

Mit vieler Wehmuth erfuͤllte mich aber der Gedanke, daß es unmoͤglich ſei, in meiner Lage etwas fuͤr die Menſchheit Wichtiges zu beginnen. Das Streben nach idealiſcher Groͤße in meinem Innern und die Unmoͤg¬ lichkeit, durch meine Thaten ſie auch fuͤr andere ſchein¬ bar zu machen, hatte mich ſchon fruͤher manchmal ſchwer¬248 muͤthig gemacht, und nur die Erkenntniß, daß ich mei¬ nem Ideale ſelbſt noch nicht Genuͤge leiſtete, erhielt mich in fortdauerndem Streben nach Vervollkommnung. Oft aber ſtieg meine Unzufriedenheit mit der Welt zu einem Grade, der mir den Gedanken des Selbſtmordes eingab, und mich vielleicht auch haͤtte dahin fuͤhren koͤnnen, wenn nicht Freundſchaft und Liebe mich wieder erheitert und mir den Geſchmack am Leben erhalten haͤtten. Eben ſo viel trug aber auch dies dazu bei, mich von dieſem Verbrechen abzuhalten, daß ich uͤber die Unrechtmaͤßigkeit des Selbſtmordes bei kaltem Nach¬ denken entſchieden, und ich es mir uͤberhaupt zur Maxime gemacht hatte, in allen Kaͤmpfen der Leidenſchaft nicht mehr zu vernuͤnfteln, ſondern die von meinen fruͤhern Unterſuchungen im Gedaͤchtniß behaltenen Reſultate als unbedingte Gebote zu beobachten. Es iſt eine prag¬ matiſche Regel fuͤr jeden Menſchen, wenn ihn eine Ge¬ muͤthsbewegung zu etwas treibt, ſich nach den fruͤheren Reſultaten ſeiner Unterſuchungen ſchlechterdings zu richten, oder wenn er ſich keiner bewußt iſt, ſeiner Neigung, ohne zu vernuͤnfteln, zu folgen, denn dann kann er Andern oder ſich nur Schaden zuziehen, den er abbuͤßen kann, wenn ſie wider Recht oder Klugheit iſt; aber will er, waͤhrend die Neigungen ihn ziehen, erſt unter¬ ſuchen, ſo bringen ſie gewiß ſeine Urtheilskraft unter ihren Fuß, und er ſetzt ſich der Gefahr aus, anſtatt249 nur eine ſchlechte Handlung begangen zu haben, ein ſchlechter Menſch geworden zu ſein.

Nun entwickelte ſich endlich meine Beſtimmung. Fruͤher, im Jahre 1785, machte ich die Bekanntſchaft des Hofraths von Siebold auf einer ſeiner Reiſen durch Nuͤrnberg. Dieſen fuͤr ſeine Kunſt einzig lebenden Mann gewannen meine wenigen mediciniſchen und chirurgiſchen Kenntniſſe, er ermahnte mich, mich ganz der Heilkunde zu widmen, und verſprach mir, wenn ich Wuͤrzburg zu meinem Aufenthalte waͤhlen wollte, mich auf das moͤglichſte zu unterſtuͤtzen. Ich dachte aber nicht daran, bis im Jahr 1787 meine Mutter ſtarb. Nach beſtaͤn¬ digem Kraͤnkeln fand ich ſie eines Morgens mit einer rothlaufaͤhnlichen Geſchwulſt am Kopfe und im Geſichte ohne Beſinnung im Bette, und meine Verſuche, ſie ihr zu geben, waren fruchtlos, ſie ſtarb noch am naͤm¬ lichen Tage. Ich habe bisher noch keinen Kranken in aͤhnlichem Zuſtande geſehen, und kann daher auch nicht ſagen, ob ich ſie richtig oder falſch behandelt; ich waͤhlte zur verſuchten Heilung Blutegel, Blaſen¬ pflaſter und Klyſtiere. Der Tod meiner Mutter ver¬ anlaßte mich, uͤber meine kuͤnftige Lebensart reiflicher, als bisher, nachzudenken. Ich fand es billig, daß mein Vater nochmals heirathen ſollte, und daß ich, um ihm nicht im Wege zu ſein, das Haus verließe. Ich er¬ innerte mich Siebold's Verſprechen und ging im Herbſte 1788 mit meinem Freunde Oſterhauſen nach Wuͤrzburg. 250Hofrath von Siebold hielt mir Wort. Ich genoß von ihm allen Unterricht, den er ertheilte, unentgeltlich, ich ward von ihm wie ein Sohn behandelt, und er gehoͤrt unter die wenigen Perſonen, denen ich fuͤr ge¬ noſſene Wohlthaten verpflichtet bin, und wo mir die Erinnerung derſelben noch ſo angenehm iſt, als wenn ich ſie erzeigt, anſtatt genoſſen haͤtte.

Zwei Jahre verlebte ich in Wuͤrzburg in einem Kreiſe von Juͤnglingen, denen es ein Ernſt war, ſich zu unterrichten, und dies gab unſeren Freuden, die wir uns nicht verſagten, die Wuͤrde verdienter und nothwendiger Erholung von unſerer Anſtrengung.

Durch meine Art mich zu bilden zu ſehr gewohnt, den theoretiſchen Unterricht nur von Buͤchern zu em¬ pfangen, beſuchte ich außer Siebold’s Vorleſungen und dem praktiſchen Klinikum von Hofrath Wilhelmi keinen andern Lehrvortrag, ſondern widmete meine Zeit der Beſorgung von Patienten unter Siebold’s Leitung, den Anatomien, dem Leſen, dem Nachdenken und dem Briefwechſel uͤber wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde mit mei¬ nen Freunden. Der Verkehr mit meinen Freunden milderte in etwas den nachtheiligen Einfluß, welchen das ausſchließliche Lernen aus Buͤchern auf meinen Karakter hatte. Was man aus Buͤchern lernt, dafuͤr glaubt man niemand verbindlich zu ſein, es bildet ſich ein ſtolzes Gefuͤhl von ſelbſterworbenem Werthe, und man beurtheilt alle Menſchen nur nach dem, was ſie251 einem ſagen koͤnnen, das noch in keinem Buche ſteht. Man achtet nur das geniale Selbſtdenken und ver¬ achtet zu ſehr das zu den wirklichen Vorfaͤllen des menſchlichen Lebens nothwendige Ausuͤben deſſen, was man weiß, wenn es auch kein voͤllig gruͤndliches Wiſſen iſt. Man ſetzt das Brauchbare mit dem Gemeinen in eine Klaſſe und ſtrebt nur nach dem Bewunderns¬ wuͤrdigen, wenn es auch dem Menſchen nichts nuͤtzen kann.

Im Jahr 1790 im Fruͤhjahr verließ mich zuerſt mein Freund Oſterhauſen, um eine weite Reiſe zu machen, und im Sommer darauf verließ ich auch Wuͤrzburg. Ich reiſ'te nach Frankfurt am Main, um die Wahl und Kroͤnung Kaiſer Leopolds zu ſehen, und hatte davon den Nutzen, daß ich allen Geſchmack, ſol¬ chen koſtbaren Ceremonien nachzulaufen, verlor, und ging mit reiflicherer Erwaͤgung des Spruchs: Alles iſt eitel, zuruͤck, als ich gekommen war. Meine Ge¬ muͤthsſtimmung war in dieſer Zeit trauriger, als ſie bisher noch je war, denn nun ſollte ich waͤhlen, wie ich der Welt nuͤtzlich ſein und mich ſelbſt ernaͤhren wollte. Meine Wahl des mediciniſchen Studiums war mehr ein ſchneller Entſchluß als eine durch Ueberlegung auf Anregung beſtimmter Neigung getroffene Wahl. Alles, was ich gelernt hatte, lernte ich, weil ich Ge¬ ſchmack daran fand. Was ich that, that ich ohne alle Ruͤckſicht auf Belohnung, weil es mir gefiel. Dies252 freie Spiel meiner Kraͤfte mußte nun aufhoͤren, ich ſollte arbeiten, um mein Brod zu verdienen, und zwar nicht mit meinen Haͤnden, wie es in meines Vaters Hauſe geſchehen war, ſondern mit meinem Geiſt. Fuͤr das, was meine Haͤnde leiſteten, Geld zu nehmen, das kam mir natuͤrlich vor, weil ich es von Jugend auf von meinem Vater geſehen hatte, und ward in meinem Gefuͤhle noch dadurch veredelt, daß ich von dieſem Gelde keinen andern Gebrauch, als fuͤr die Bildung meines Geiſtes, machte; aber dies freie Spiel meiner Geiſteskraͤfte einzuſchraͤnken, und das nur durch ſie hervorzubringen, was von andern Menſchen des Gel¬ des werth gehalten wird, dies ſchien mir unmoͤglich. Haͤtte meines Vaters Geſchaͤft zwei Haushaltungen er¬ naͤhren koͤnnen, ſo waͤre mein Entſchluß gefaßt geweſen, ich waͤre bei meiner Profeſſion geblieben und haͤtte die Wiſſenſchaften und Kuͤnſte zu meiner Erholung getrieben; aber ſo haͤtte ich auch hier ein anderes Fach waͤhlen und nicht blos fuͤr Geld arbeiten koͤnnen, ſondern mir erſt Kundſchaft machen und meine Abneigung gegen alle Kol¬ liſſion in Erwerbsſachen mit andern Menſchen uͤberwinden muͤſſen. Die Stimmung meines Gemuͤths neigte ſich gaͤnzlich zur Melancholie, und der Gedanke, verhungern zu muͤſſen, der mich ſchon in der Periode meiner Nerven¬ ſchwaͤche manchmal aͤngſtigte, waͤre wahrſcheinlich zur fixen Idee geworden, wenn meine vielſeitige Bildung mir nicht uͤberall Gegenſtaͤnde zur Zerſtreuung gezeigt253 und meine Religion nicht den Gedanken in mir lebendig erhalten haͤtte, daß, wenn mein Leben in den Plan der Vorſehung zur Erziehung der Menſchheit gehoͤrte, ſie auch fuͤr daſſelbe ſorgen wuͤrde, und wenn es nur ein Glied in der Kette der Naturweſen ſein ſollte, es fuͤr mich auch keinen Werth haben und ich nichts daran ver¬ lieren koͤnnte. Dieſer Gedanke war ſtets mein Troſt in allen Gefahren, und damals erhielt er meine Kraft, daß ich, ohne mich um die entfernteſte Zukunft zu be¬ kuͤmmern, mich entſchloß, ein Reiſe zu machen und den Zufall uͤber mich walten zu laſſen. Um meinen Leſern meine Schwermuth begreiflich zu machen, muß ich noch bemerken, daß ich eine ſtarke Abneigung hatte, unter den Aerzten meiner Vaterſtadt zu leben, weil ſie mich, ſo wie die uͤbrigen Fakultaͤtsgelehrten, zu haſſen ſchienen; daß ich auf keinen einzigen Goͤnner zu rechnen hatte, weil ich nur daran dachte, die Freundſchaft derer, die ich achtete, aber mir die Gewogenheit derer, die mir nuͤtzen konnten, zu erwerben. Um dieſen Zug meines Karakters zu erklaͤren, muß ich noch einmal auf die Umſtaͤnde meiner fruͤhern Bildung zuruͤckgehen.

Mein Vater hatte bei einer froͤhlichen Laune das Talent, die meiſten Menſchen bis zur Taͤuſchung nach¬ zuahmen. Ich erinnere mich noch, daß ein Bierwirth, als er an der Thuͤre ſeiner Schenkſtube ſtand, waͤhrend mein Vater, der immer ſeine Rolle ſpielte, mit aͤngſt¬ licher Verlegenheit ausrief: Nun weiß ich nicht, bin254 draußen oder drinn! Da mein Vater deßwegen von luſtiger Geſellſchaft geſucht wurde, und ich daher von Jugend auf uͤber die laͤcherlichen Gebrechen Andrer ſpot¬ ten hoͤrte, ſo erwachte in mir ein Hang zur Satyre, der ſich vorzuͤglich fruͤhe zur Ironie ausbildete. Dieſe Art des Spottes war aber bei mir, ſo wie in der Ge¬ ſellſchaft, wo ich ihn lernte, ohne alle Boͤsartigkeit, und jeder ertrug ihn eben ſo gutmuͤthig, wenn er uͤber ihn ergoſſen wurde, als er ihn muthwillig bei irgend einer Gelegenheit uͤber Andre ergehen ließ. Dies ver¬ leitete mich, den Spott bloß als eine Gelegenheit, ſeinen Witz zu zeigen und gar nicht als eine Beleidigung an¬ zuſehen, die jemand uͤbel nehmen koͤnnte. Meine Nach¬ forſchungen uͤber wiſſenſchaftliche Gegenſtaͤnde gaben mir eine ernſthafte Miene, und meine Gleichguͤltigkeit gegen alles Gewoͤhnliche im menſchlichen Leben, das unter dem Namen von Neuigkeiten die Unterhaltung vieler Menſchen ausmacht, machte mich ſtill und gab mir fuͤr Viele das Anſehen von Einfaͤltigkeit. Ich ſprach nur dann einige Worte, wenn ſich mir Gelegenheit zu witzi¬ gem Spott zeigte, und beleidigte dadurch, ohne daß ich es wollte, um ſo tiefer, da es ganz unerwartet kam und mein Spiel des Witzes fuͤr einen Ausfluß eines boshaften Herzens gehalten wurde. Ich machte mir dadurch viele heimliche Feinde, ohne daß ich es wußte, und jeder, der mich nicht ganz kannte, und dies waren ſehr wenige, machte es ſich zum Geſchaͤft, mich zu255 demuͤthigen, oder, wenn dies nicht gelang, mich noch Mehreren verhaßt zu machen. So lange ich nicht daran dachte, daß man ohne Gunſt ſeiner Mitbuͤrger nicht gluͤcklich unter ihnen leben kann, ſo lebte ich dar¬ uͤber in gaͤnzlicher Sorgloſigkeit; aber nun, da ich meine Lebensart mir waͤhlen ſollte, fing ich es an zu fuͤhlen, und es vermehrte meine Aengſtlichkeit uͤber mein kuͤnf¬ tiges Schickſal, ohne den lebendigen Entſchluß hervor¬ zubringen, mich zu aͤndern, ſondern ich fing vielmehr an, diejenigen, uͤber deren Fehler ich bisher nur ge¬ ſpottet hatte, zu verachten. Nur mein unbedingtes Vertrauen auf meine Freunde, und die Gewißheit, daß dieſe mich liebten, rettete mich von der Klippe, an der Rouſſeau ſcheiterte: mich auf der einen und alle andern Menſchen auf der andern Seite als zwei Parteien zu betrachten. Ich entſchloß mich alſo, eine Reiſe zu machen und meinen Lieblingsgedanken auszufuͤhren, Kant zu ſehen und zu ſprechen. Reinhold in Jena hatte mich durch ſeine Theorie des Vorſtellungsvermoͤgens ſehr an¬ gezogen, und ich verſprach mir eine Erweiterung meiner philoſophiſchen Kenntniſſe durch ſeinen Umgang; ich be¬ ſchloß daher, den Winter in Jena zuzubringen. Ich fand hier Reinhold ſo liebenswuͤrdig, als ich mir ihn vorgeſtellt hatte, und ſein Haus war mein liebſter Aufent¬ halt. Ich kam in vertraulichen Umgang mit Schiller und erlangte die Freundſchaft Wielands. Dies war Lohn genug fuͤr dieſe kleine Reiſe, aber es war mir256 noch mehr beſchieden, ich fand dort einen Baron Herbert aus Klagenfurt, den die Liebe zum Wiſſen allein bis dorthin gefuͤhrt hatte, und der daher meine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich zog. So wie das In¬ tereſſe am Vergaͤnglichen die Menſchen theilt und Zwie¬ tracht unter ſie bringt, ſo einigt ſie das Intereſſe am Unvergaͤnglichen, d. h. an Wahrheit, Kunſt und Recht, und verbindet ſie zur Freundſchaft. Wir wurden daher bald die innigſten Freunde, und die ſeligen Stunden, die wir in Geſellſchaft verlebten, erſetzten mir meinen Oſterhauſen. Ich verſprach ihm, nach meinem Beſuch bei Kant zu ihm zu kommen.

Durch Schillers Bekanntſchaft wurde ich veranlaßt, ihn in Rudolſtadt bei ſeinem Schwager zu beſuchen. Ich verlebte hier einige der gluͤcklichſten Tage meines Lebens, unter lauter gebildeten Menſchen, die mich an aͤußerer Bildung alle uͤbertrafen, und die doch Guͤte genug hatten, mir meine innere als einen Erſatz fuͤr die aͤußere anzunehmen. Die Prinzen und Prinzeſſinnen kamen beſtaͤndig in dieſes Haus, und meine geringe Fertigkeit im Zeichnen und Kenntniß des Generalbaſſes erwarb mir ihre Gunſt. Ich wurde hier zum erſtenmal Schriftſteller und ſchrieb den Anfang einer Sammlung von Geſpraͤchen, wozu ich den Plan ſchon fruͤher ge¬ macht hatte. Sie wurden unter der Aufſchrift: Mi¬ mer und ſeine jungen Freunde in der Thalia ab¬ gedruckt.

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Der Ton, der hier herrſchte, war die unſchuldigſte Geſelligkeit, die ich bisher geſehen hatte. Ich war eines Abends auf dem Schloſſe und phantaſirte auf Verlangen auf einem Fortepiano; meine Laune gab mir deutſche Taͤnze ein, und dieſe wirkten auf die Geſellſchaft ſo, daß ſie zu tanzen anfing und ich meine Taͤnze fort¬ ſpielen mußte. Reinhold, der auch auf Beſuch hier war, ſagte mir in's Ohr: Nun erfahre ich, was ich in meinem Leben nicht erwartet habe, daß ein Hof nach der Muſik eines Philoſophen tanzt ; es hoͤrte es aber doch ein Naheſtehender, der Scherz wurde in der Ge¬ ſellſchaft verbreitet und gefiel jedermann. O mein Vaterland, was koͤnnte die Menſchheit von dir hoffen und was erlebe ich an dir!

Mit dem Buchhaͤndler Goͤſchen ging ich zu Fuß zuruͤck nach Jena, und fand auch in ihm einen Freund. Unſere Hoffnungen von der deutſchen Literatur waren groß. Er leiſtete fuͤr ſie, was kaum zu erwarten war, und ich blieb in meinen Verſprechungen, doch nicht ganz mit meiner Schuld, zuruͤck. Auf unſerm Wege be¬ ſchaͤftigte uns der Plan einer Bibeluͤberſetzung als Toi¬ lettenbuch. Die Ueberſetzung wurde von uns vertheilt, und wir ſahen im Geiſte die Fruͤchte dieſes Unterneh¬ mens der groͤßern Mittheilung dieſer Geſchichte der Menſchheit, welche dieſes Buch nicht ſowohl durch die Erzaͤhlungen ſelbſt, als vielmehr durch die Art, wie er¬ zaͤhlt wird, und durch das Umfaſſende in der Darſtel¬17258lung aller Situationen, in welche die Menſchen als Naturweſen kommen muͤſſen, liefert. Wir ergoͤtzten uns an dem Einfluß, den das Studium der Bibliothek des aͤlteſten uns bekannten Volks auf die Bildung der Menſchen haben wuͤrde, wenn man es einmal als ein in den Plan der goͤttlichen Vorſehung gehoͤriges Mittel zur Verſtaͤndigung des Menſchen mit ſich ſelbſt, und nicht mehr als von Gott eingegebenen Buchſtaben be¬ trachten wuͤrde. Der Weg wurde uns durch dieſe Be¬ trachtungen ſo angenehm, wie ein Weg zur ewigen Seligkeit. Aus dem Vorhaben iſt zwar nichts gewor¬ den, aber es hat ſich doch hinlaͤnglich durch den Genuß, den mir die Erinnerung noch giebt, belohnt.

Von Jena reiſ’te ich uͤber Goͤttingen durch den Harz und uͤber Hamburg und Kiel nach Kopenhagen, wo ich von Reinhold an Profeſſor Baggeſen empfohlen war, und von dieſem in das Haus des Miniſters Schimmel¬ mann eingefuͤhrt wurde. Mein Aufenthalt daſelbſt ge¬ hoͤrt auch unter meine ſeligen Erinnerungen. Von Kopenhagen ging ich zur See nach Memel, und von da nach Koͤnigsberg. Hier genoß ich den Umgang Kants und lebte ſelige Tage. Die Art, wie ich mit Kant uͤber ſeine Werke ſprach, ſchien ihm unerwartet zu ſein, ich verlangte von ihm keine Erlaͤuterungen, ſondern dankte ihm nur fuͤr die Wonne, die ſie mir verſchafft hatten, und ſagte ihm kein ſchmeichelhaftes Wort de߬ wegen. Dieſe Leichtigkeit ihn zu verſtehen, die ſich in259 mir ausdruͤckte, ſchien ihn anfangs zweifelhaft zu machen, ob ich ſeine Werke geleſen haͤtte, aber bald verſtaͤndigten wir uns und fanden uns als fuͤr einander paſſende Geſellſchafter. Es troͤſtete mich uͤber manches widrige Urtheil, das manche Gelehrte uͤber mich faͤllten, daß mir Kant, nachdem ich wieder in meiner Vaterſtadt angelangt war, ſchrieb: Unter allen Perſonen, die ich bisher nah kennen lernte, wuͤnſchte ich mir keinen mehr zum taͤglichen Umgange, als Sie. Von Koͤ¬ nigsberg ging ich, nach einigem Aufenthalt in den merk¬ wuͤrdigſten Staͤdten, wo ich mehrere mir intereſſante Bekanntſchaften machte, zu meinem Freund Herbert nach Klagenfurt, der mich durch Venedig, Verona und Tyrol nach meiner Vaterſtadt begleitete. Auf dieſer Reiſe lernten wir uns ganz kennen. Unſere Freund¬ ſchaft wurde fuͤr die Ewigkeit geſchloſſen, kein Schwan¬ ken wurde daher in ihr angetroffen, und ich danke ihm meine bisherige Unabhaͤngigkeit von allem, was nicht den Beifall meines beſſern Selbſts hat. Wenn ich es erleben ſollte, daß ich meinen Lebenslauf weiter, als bis zu dieſer Epoche, mit der Genauigkeit in der Ent¬ wickelung der Einfluͤſſe auf mein Schickſal und meine Bildung fortfuͤhren kann, ohne unbefugter Weiſe in die Lebensverhaͤltniſſe noch lebender Perſonen einzugreifen, ohne mich nothwendig parteiiſchen Richtern preiszugeben: dann kann ich erſt ſagen, was ich meinem Herbert ver¬ danke! Mit der erworbenen Freundſchaft meines Her¬17 *260berts ſchließe ich die Geſchichte meines innern Lebens und erzaͤhle mein aͤußeres mit aller Wahrhaftigkeit in dem, was ich erzaͤhle, aber auch mit Weglaſſung von allem, was ich nicht ganz wahrhaft ſagen zu duͤrfen glaube. Ich erzaͤhle nun nicht weiter, was nur ich wiſſen kann, ſondern was auch jemand, der mich be¬ obachtet, wiſſen koͤnnte, und ich ſollte von nun an auch in dem Tone des Geſchichtſchreibers von mir reden, aber der Gleichfoͤrmigkeit wegen werde ich in dem naͤm¬ lichen Tone von mir zu erzaͤhlen fortfahren.

Ob ich gleich, wie ich oben ſchon erwaͤhnte, in Nuͤrn¬ berg nicht praktiziren wollte, ſo promovirte ich doch auf der Univerſitaͤt Altdorf. Meine Disputation wurde uͤber eine Diſſertation, die einen Theil von meinem Or¬ ganon der Heilkunde unter dem Titel: Idea organi medici enthielt, gehalten, welche nun, da ich meine Gedanken, durch meine Ungeſchicklichkeit latein zu ſchrei¬ ben, entſtellte, vergeſſen iſt, und es auch bleiben muß. Mein Examen konnte mir wenig Ehre bringen, denn ich ſagte meinem Examinator in der Anatomie, daß es eilf Paar Gehirnnerven gebe, und dieſer wußte nur neun; dem in der Chemie, daß reines Kali zur Seife gehoͤrte, und dieſer hielt das kauſtiſche fuͤr verunreinig¬ tes; und ein dritter, der mich uͤber mitgebrachte Pflan¬ zen examinirte, die ich gerade kannte, nahm es mir uͤbel, daß ich uͤber die Frage, welche Kraͤfte, ob ape¬ rativas, carminativas, incidentes u. ſ. w. ſie beſaͤßen,261 lachen mußte, und wurde noch boͤſer, als ich, da er mit hochweiſer Miene uͤber mein thema de nutritione bemerkte, daß ich darinnen der membrana ruyschiana nicht einmal erwaͤhnt haͤtte, ihm ſagte, daß zu ihrer Erzeugung keine Gelegenheit im geſunden lebenden Koͤr¬ per ſich faͤnde. Ich wurde aber doch zur Disputation zugelaſſen und promovirt. Ich weiß mir nur aus mei¬ ner melancholiſchen Gemuͤthsſtimmung, die ich oben ſchilderte, und die mich verhinderte, frei uͤber die Be¬ gebenheiten zu reflektiren, zu erklaͤren, daß mich mein Examen weniger belehrte, als mein Streit mit meiner Großmutter uͤber die Geſpenſter, und daß ich erſt ſeit kurzem lernte, daß, ſo wie der Aberglaube nicht durch Erfahrung, der Eigenduͤnkel der Gelehrſamkeit auch nicht durch gruͤndliche Beurtheilung der von ihm nachgebeteten angeblichen Erfahrung zu bezwingen iſt. Nach erlangter Doctorwuͤrde heirathete ich, und wollte mich einer bloß ſchriftſtelleriſchen Laufbahn widmen, um meinen ſehr fruͤhe gemachten Entwurf einer Theorie der Geſetzgebung auszufuͤhren. Mein Organon der Heilkunde, eine Un¬ terſuchung uͤber die Verruͤckungen, und der philoſophiſche Roman: Mimer und ſeine jungen Freunde, ſollten in Zwiſchenzeiten zur Erholung ausgearbeitet werden, da¬ mit mein Geiſt nicht durch Einfoͤrmigkeit des Gegen¬ ſtandes erlahmte. Durch ein freies Spiel meiner Gei¬ ſteskraͤfte mit allen Gegenſtaͤnden des Wiſſens und Koͤnnens, unter dem Titel: Arkeſilas, wollte ich mich262 theils auch erholen, theils der Welt meine Staͤrke in der Dialektik zeigen. Durch Aufforderungen wurde ich auch Recenſent. Unter meine Recenſionen rechne ich die uͤber Herrn Profeſſor Schmids Moral in der All¬ gemeinen Jenaer Literaturzeitung, wo ich den Begriff vom Recht in ſeiner ganzen Sphaͤre darzuſtellen ſuchte, zu den gehaltreichſten. Als Schriftſteller ſetzte ich Mimer und ſeine jungen Freunde in der neuen Thalia fort und arbeitete fuͤr den neuen Merkur eine Abhandlung uͤber die Alleinherrſchaft aus. Ich wurde zu dieſer Abhand¬ lung durch eine Rede des Boettie, die ſich als Anhang bei Montagne's Verſuchen findet, veranlaßt. Ich machte mir zuerſt die bloß dialektiſche Aufgabe, ſie zu wider¬ legen, und hielt es dann aber auch fuͤr nothwendig, weil es zur Theorie der Geſetzgebung gehoͤrt, um aus philoſophiſchen Principien die Zulaͤſſigkeit oder Verwerf¬ lichkeit der Alleinherrſchaft zu unterſuchen. Ich fand bald, daß alle moraliſchen Principien in der Lehre von der beſten Regierungsform ohne direkten Gebrauch ſind, weil hier der Menſch nicht nach dem genommen werden kann, was er ſein ſoll, ſondern nach dem, was er iſt und nicht ſein ſoll; ferner, daß die Form der Regie¬ rung keine Garantie fuͤr die wirkliche Guͤte derſelben ſein kann, und alſo die Form der Regierung keinen andern Werth haben kann, als daß ſie ein ſchoͤnes Sym¬ bol der Achtung fuͤr Menſchenrechte iſt. Ich leitete daher, was ich noch bei keinem politiſchen Schriftſteller263 fand, die Form der Regierung aus der Form eines moraliſchen Entſchluſſes ab. Meine Abhandlung gefiel Wieland und wohl auch noch einigen Leſern, aber kein Recenſent bemerkte das Eigenthuͤmliche derſelben. Viel¬ leicht war auch das Reſultat, daß die Alleinherrſchaft ſo ſtatt finden koͤnne, daß ſie alle Forderungen, die der moraliſche Menſch an eine Regierung machen kann, be¬ friedige, nicht in dem Geiſte des Jahrzehents, bei einem Theile der gelehrten Welt, und die freie Unterſuchung daruͤber nicht nach dem Geſchmack des andern. Der Antheil, den ich von fruͤher Jugend an den Welthaͤn¬ deln nahm, wenn ſie die Rechte der Menſchheit betrafen, machte die franzoͤſiſche Revolution zu einem wichtigen Gegenſtand meiner Aufmerkſamkeit, aber ſo groß meine Freude uͤber das Unternehmen war, kosmopolitiſche Ideen zu realiſiren, ſo wenig konnte mir die Ausfuͤh¬ rung gefallen; ich zitterte fuͤr Deutſchland und fuͤrchtete mich vor der Verlegenheit, eine Partei ergreifen zu muͤſſen, wo ich beide haßte, die eine, nach damaligem Sprachgebrauch die ariſtokratiſche, wegen dem, was ſie wollte, und die andere, die demokratiſche, wegen dem, was ſie that. Meine buͤrgerliche Lage gefiel mir auch nicht, und ſo hegte ich den Wunſch, Europa verlaſſen zu koͤnnen. In dieſer Stimmung wurde mir von Wuͤrz¬ burg aus ein Menſch empfohlen, der ſich fuͤr einen amerikaniſchen Oberſten ausgab, ſich William Pearce nannte und mit allen noͤthigen Zeugniſſen dieſes Karakters264 verſehen war. Wie dieſer Menſch zu dieſen Urkunden kam, womit er ſich auch in Muͤnchen und an der oͤſter¬ reichiſchen Graͤnze legitimirte, kann ich mir noch nicht befriedigend erklaͤren. Kurz dieſer Menſch gewann durch ſeine Urkunden mein Zutrauen, ich glaubte ihm, daß er mir eine Regimentschirurgenſtelle in amerikaniſchen Dienſten verſchaffen koͤnnte, und war entſchloſſen, mit ihm nach den Vereinigten Staaten zu gehen. Mein Schwiegervater gab ihm auf ausgeſtellte Anweiſungen Geld, ich reiſ’te mit ihm nach Muͤnchen und Salzburg, von wo er nach Linz und ich zu meinem Freund Her¬ bert, um Abſchied zu nehmen, nach Klagenfurt reiſ’te. In Salzburg wollte er mich wieder erwarten. Bei meiner Ankunft in Salzburg fand ich nicht ihn, ſondern einen Brief, in dem er mir ſagte, daß er gleich nach Muͤnchen abgereist ſei, und in Muͤnchen fand ich anſtatt ſeiner die Gewißheit, daß er ein Betruͤger war. Hier fand ich nun das erſtemal in meinem Leben den Schmerz, ſich in ſeinen Hoffnungen getaͤuſcht und dem Spott preisgegeben zu ſehen. Wo ich mich hinwenden, was ich beginnen ſollte, das war mir im Anfang unmoͤglich zu entſcheiden; endlich faßte ich den Entſchluß, zu mei¬ nem Freund Herbert, der eine Reiſe nach Italien machte, zu ſtoßen und ihn in Verona zu erwarten. Dieſer Ent¬ ſchluß rettete mein Leben, und ich lernte in den Armen meines Freundes mich uͤber den Betrug troͤſten; der mich nur aͤrmer gemacht und dem Hohn meiner Feinde265 einige Zeit preisgegeben, aber an meinem Karakter nichts aͤndern, meinen wahren Werth nicht vermindern konnte. Ich finde nun wahr, was mir der Geiſtlicherath Ober¬ thuͤr in Wuͤrzburg ſagte: Ich bin von Ihnen uͤber¬ zeugt, daß Sie fuͤr das Geld, was Ihnen dieſe Geſchichte koſtet, genug Unterricht erhalten haben, und daß Sie ſie einſt nicht mehr unter ihre Ungluͤcksfaͤlle zaͤhlen werden.

Bei meiner Ruͤckkehr nach Nuͤrnberg beſchaͤftigte ich mich wieder mit meinen litterariſchen Planen, und be¬ ſonders mit meiner Theorie der Geſetzgebung, von der ich einzelne Abſchnitte ausarbeitete. Die Beſtimmung des formalen Princips iſt in den Horen abgedruckt, unter dem Titel: Ueber die Idee der Gerechtigkeit als Princip der Geſetzgebung. Die Eroͤrterung der Geſetzgebung in der Idee entgegengeſetzten Princips, oder die bloß materielle Beſtimmung des Willens, iſt in Niethammers Journal unter dem Titel: Apologie des Teufels abgedruckt. Ich waͤhlte dieſe Einkleidung, um zu ſehen, wie geſchickt die Herren Recenſenten waͤren, Einkleidung und Stoff zu unterſcheiden, und fand, daß ſie das nicht konnten. In eben dieſem Journal finden ſich die Eroͤrterung uͤber das materielle Princip der Geſetzgebung und uͤber die Unſchuld. Der Abhandlung uͤber die Unſchuld, oder den durch die Natur der Ge¬ ſetzgebung unterworfenen, ſollte ſogleich eine zweite fol¬ gen, uͤber das Verderben oder den durch die Natur gegen die Geſetzgebung empoͤrten Willen.

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Zu gleicher Zeit arbeitete ich auch einen Abſchnitt von meinem Arkeſilas aus und ließ ihn in den deutſchen Merkur einruͤcken. Es war der uͤber die Heilkunſt. Hatte ich durch meine Apologie des Teufels die philo¬ ſophiſchen Recenſenten in Verſuchung gefuͤhrt, ſo zeigten ſich die mediciniſchen hier in voller Bloͤße, und die Angſt, daß ſich die Leute nun weniger Recepte, als ſonſt, von ihnen verſchreiben laſſen duͤrften, raubte ihnen alle liberale Anſicht, mit der dieſer Aufſatz beurtheilt werden mußte. Von den angefuͤhrten Recenſenten nehme ich aber die, von welchen die Reviſion der philoſophi¬ ſchen, theologiſchen und mediciniſchen Litteratur in den Ergaͤnzungsblaͤttern der Allgemeinen Litteraturzeitung herſtammt, aus.

Nachſchrift.

So weit nur hat der Verfaſſer ſeine Lebensgeſchichte fortgefuͤhrt. Sie war durch eine im Jahr 1805 von einem Zeichner unternommene Sammlung der Bildniſſe berliniſcher Gelehrten, zu welchen dieſe ſelbſt ihre bio¬ graphiſchen Umriſſe liefern ſollten, veranlaßt worden; Johann von Muͤller hatte den Anfang gemacht, einige Andre waren gefolgt, und auch Erhard wollte ſeinen Beitrag nicht verſagen, als aber das Unternehmen nach geringem Fortgange ſtockte, ließ er auch ſeinerſeits die267 Arbeit alſobald ruhen, und ſo blieb ſie, wiewohl noch oft mit Vorliebe bedacht und ſelbſt fuͤr ausfuͤhrliche Um¬ arbeitung zu einem ſelbſtſtaͤndigen Werk in's Auge ge¬ faßt, unvollendet liegen. Aber auch als Bruchſtuͤck, wie ſie hier gegeben worden, beſteht ſie in feſtem, viel¬ fache Vergleichung aushaltendem Werthe, und darf ohne Frage den ſchaͤtzenswertheſten Mittheilungen ſolcher Art beigezaͤhlt werden. Sie findet in der nachfolgenden Auswahl von Briefen theils ihre umſtaͤndlichere Erlaͤu¬ terung, theils ihre weitere Ergaͤnzung. Wir werden von unſerer Seite in beiderlei Hinſicht am gehoͤrigen Orte manche Bemerkung einzuſchalten haben, duͤrften aber zweckmaͤßig hier ſogleich die hauptſaͤchlichſten aͤußeren Zuͤge des ferneren Lebensganges in raſche Ueberſicht zuſammenfaſſen.

Erhard hatte anderthalb Jahre zu Wuͤrzburg ſtudirt, und die Unterſtuͤtzung, die ſein Vater ihm zukommen ließ, war bei ſeiner Lebensweiſe, die jeden unnuͤtzen Aufwand mied, fuͤr ihn zureichend geweſen. Allein das Gewerbe des Vaters erfuhr mißliche Stoͤrung, und die Huͤlfsmittel fuͤr Erhard hoͤrten von dieſer Seite auf; ihm blieben jetzt wegen ſeiner ferneren Studien nur betruͤbte Ausſichten. Sehr gelegen kam unter dieſen Umſtaͤnden das Anerbieten des wohlhabenden Kaufmanns und nuͤrnbergiſchen Buͤrgers Golling, dem ausgezeich¬ neten jungen Manne, der ſo große Erwartungen erregte und zum Theil ſchon erfuͤllte, zur Vollendung ſeiner268 wiſſenſchaftlichen Bildung und zur Ausfuͤhrung einer groͤßeren Reiſe, die ihm als ein ſchoͤnſtes Ziel der Be¬ friedigung vor der Seele ſchwebte, die noͤthigen Geld¬ ſummen darzuleihen; eine Tochter Gollings, mit welcher ſchon freundliche Bekanntſchaft beſtand, war hierbei naͤherer Antrieb, ihre Neigung gewann Erwiederung, und Erhard trug kein Bedenken, ſeine geiſtigen Hoff¬ nungen wie ſeine haͤuslichen Geſchicke durch denſelben Entſchluß feſtzuſetzen. Er ſtudirte noch ein halbes Jahr in Jena und trat dann ſeine große Reiſe an, nach deren Beendigung er im Juli 1792 zu Altorf die Doctorwuͤrde annahm, und unmittelbar darauf zu Nuͤrn¬ berg ſich mit ſeiner bisherigen Braut verheirathete.

In Nuͤrnberg hatte er mannigfachen Verdruß. Die dortigen Aerzte verweigerten ihm die Aufnahme in ihr Kollegium unter dem Vorwande, daß er nicht her¬ koͤmmlich drei Jahre auf Univerſitaͤten gelebt. Die aͤrzt¬ liche Praxis, in welcher ihm als einem autodidakten Neuerer der zunftmaͤßige Widerſpruch nicht erſpart blieb, machte ihm keine Freude. Nur allein von Schrift¬ ſtellerei zu leben, mußte ſich bald als ſchwierig aus¬ weiſen. Mancherlei Plane kamen unter dieſen Umſtaͤn¬ den in Anregung; ein akademiſches Lehramt waͤre ſeinem Wunſche wie ſeinen Faͤhigkeiten gemaͤß geweſen, aber weder in Jena, noch in Erlangen, noch in Straßburg zeigten ſich befriedigende Ausſichten; eine Niederlaſſung in Polen, wo ſchon ein Bruder ſeiner Frau anſaͤſſig269 war, blieb gleichfalls unausgefuͤhrter Vorſchlag. Die zuletzt getroffene Wahl einer vermeintlichen Anſtellung in nordamerikaniſchen Dienſten hatte den ungluͤcklichſten Erfolg. In dieſer Kataſtrophe nahm Erhard, wie er ſelbſt erzaͤhlt, ſeine Zuflucht zu ſeinem Freunde Herbert, mit dem er nochmals eine Reiſe nach Oberitalien machte. Wieder nach Nuͤrnberg zuruͤckgekehrt, fand er daſelbſt ſeine Verhaͤltniſſe um nichts gebeſſert; er blieb in aͤrzt¬ lichen und ſchriftſtelleriſchen Thaͤtigkeiten bemuͤht, ohne dabei buͤrgerlich zu gedeihen.

Ein Freund wurde die Veranlaſſung, ihm endlich einen andern Wirkungskreis zu eroͤffnen. Der als ſachſen¬ koburgiſcher Miniſter verſtorbene, damals aber in Bai¬ reuth bei der preußiſchen Staatsverwaltung thaͤtige Ge¬ heimerath Kretſchmann, mit welchem er ſchon fruͤh in litterariſcher Verbindung geſtanden, machte ihn im Jahre 1795 mit dem preußiſchen Staatsminiſter Freiherrn von Hardenberg, damaligen Provinzialminiſter der fraͤnki¬ ſchen Fuͤrſtenthuͤmer, perſoͤnlich bekannt. Dieſer geiſtes¬ rege Staatsmann freute ſich des kenntnißreichen Selbſt¬ denkers, ließ ſich gern mit ihm in freiſinnige Unter¬ ſuchungen ein, und forderte ihn auf, von ſeiner Theorie der Geſetzgebung zunaͤchſt den Theil zu bearbeiten, der die mediciniſche Geſetzgebung betrifft; wegen ſeines ge¬ aͤußerten Wunſches, in preußiſche Dienſte zu treten, verſprach er ihm bei der bevorſtehenden Organiſation des Medicinalweſens in den Fuͤrſtenthuͤmern die beſte270 Beruͤckſichtigung. Wirklich wurde Erhard im Jahre 1797 durch ein Miniſterialſchreiben aus Berlin foͤrmlich nach Ansbach berufen, allein nicht zu Medicinalgeſchaͤften, ſondern um verſchiedene ſtaatsrechtliche Arbeiten, ins¬ beſondere die Widerlegung der ſeit einiger Zeit erſchiene¬ nen oͤffentlichen Angriffe in Betreff der Ausuͤbung der brandenburgiſchen Landeshoheit in den fraͤnkiſchen Fuͤr¬ ſtenthuͤmern, zu uͤbernehmen, wofuͤr ihm eine Beſoldung von jaͤhrlich 1500 Gulden, eine den Verhaͤltniſſen da¬ maliger Zeit nach betraͤchtliche Summe, ausgeſetzt wurde. Doch dieſe Beſchaͤftigung konnte ihrer Art nach nur eine voruͤbergehende ſein, und da ſich in Franken nicht ſogleich eine ſeiner wuͤrdige Stelle fand, ſo faßte er mit Hardenberg’s Rath und Empfehlung den Entſchluß, geradezu nach Berlin zu gehn, dort als Arzt aufzu¬ treten und kuͤnftige weitere Anſtellung abzuwarten.

Erhard kam gegen Ausgang des Jahres 1799 nach Berlin und machte daſelbſt den vorgeſchriebenen ana¬ tomiſchen und kliniſchen Kurſus. Wegen des erſtern gab es ſogleich ein Aergerniß; denn die Behoͤrde, dem in eigengeſtalteten Anſichten eben ſo ſtrengen als er¬ giebigen Autodidakten vorweg nicht ſonderlich hold ge¬ ſtimmt, erlegte ihm auf, den einen ſeiner Vortraͤge, weil er, ſeinem Urtheile nach, vieles Wichtige und Noͤthige von ſeinem Thema gar nicht vorgetragen, manches Unwahre geſagt, und ſich dagegen mit dem Vortrage mancher dahin eigentlich nicht gehoͤrenden271 Dinge eingelaſſen, nochmals zu halten, welches er denn endlich auch zur Zufriedenheit vollbrachte. In der oͤffentlichen Pruͤfung hingegen beſtand er als vor¬ zuͤglich gut, und wurde demnach im Fruͤhjahr 1800 zur aͤrztlichen Praxis zugelaſſen. Durch die Brown'ſche Methode, die er in Berlin zuerſt laut verkuͤndigte und folgerecht anwandte, machte er Aufſehn, fand mancher¬ lei Anhang, aber auch Gegner; doch da ihm der Ruf großen Scharfſinns und ausgebreiteten Wiſſens, der ihm vorangegangen, ſtets zur Seite blieb, ſo konnten ihn die letztern an ſeinem Emporkommen auf die Dauer nicht hindern. Im Anfange hatte er jedoch oͤfters mit Verlegenheiten zu kaͤmpfen, wobei ſein Freund Herbert ihm nach Kraͤften beiſtand. Gleich im Spaͤtwinter 1800 machte Erhard auch den Verſuch, im Lehramte aufzutreten. Er unternahm, nach erlangter hoͤchſter Erlaubniß, Vorleſungen fuͤr Mediciner uͤber die wich¬ tigſten Lehren der praktiſchen Heilkunde, und zugleich fuͤr das groͤßere gebildete Publikum beiderlei Geſchlechts Vortraͤge uͤber phyſiſche Erziehung, Lebensordnung und Krankenpflege, jedoch ohne den gewuͤnſchten Erfolg, weil die Mediciner damals in Berlin zu gering an Zahl und die wenigen zu zunftmaͤßig waren, das groͤßere Publikum aber dergleichen allgemeinen Vor¬ traͤgen noch nicht ſo entſchieden, wie ſpaͤter nach ver¬ vielfachten Beiſpielen, oͤffentlichen Antheil widmete. An ſchriftſtelleriſchen Arbeiten lieferte Erhard in den272 erſten Jahren ſeines Aufenthalts zu Berlin, außer Auf¬ ſaͤtzen in ſeines Freundes Roͤſchlaub Magazin fuͤr die Heilkunde, und in Hufeland's Journal fuͤr die prak¬ tiſche Heilkunde, ſeine Theorie der Geſetze, die ſich auf das koͤrperliche Wohlſein beziehen, und ſeine Schrift uͤber hoͤhere Lehranſtalten, in welcher letztern er Ge¬ danken ausſpricht, die im gelehrten Kreiſe damals wenig Beachtung fanden, ſeitdem aber in der buͤrgerlichen Welt zu tiefeingreifender und weitausſehender Wirk¬ ſamkeit gekommen ſind. Seine Praxis breitete ſich all¬ maͤhlig aus, mehrere gluͤckliche Kuren, oft in außer¬ ordentlichen Faͤllen, wo andre Aerzte ſchon keine Huͤlfe mehr hoffen ließen, begruͤndeten fortan ſeinen unbe¬ ſtrittenen Ruf. Ungeachtet ſeiner Eingenommenheit fuͤr die Saͤtze Brown's ließ er doch am Krankenbette ganz der Erfahrung ihr Recht, und befolgte deren Vor¬ ſchriften auch dann, wenn ſie mit jenen Saͤtzen noch nicht in Zuſammenhang zu ſtellen waren. Sein durch¬ dringender Scharfſinn, der unter dem Gewirr der Er¬ ſcheinungen leicht und ſicher die weſentlichen erkannte, ſein ungeheures Gedaͤchtniß, welches alles Geſehene oder Geleſene fuͤr immer feſthielt und in jedem Augen¬ blick des Bedarfs darbot, leiſteten ihm hier die groͤßten Dienſte. Seine Art hatte etwas Beſonderes, Trocknes, Stilles; ſeiner Fragen waren wenige, aber faſt immer trafen ſie den weſentlichen Punkt, oft bis zur hoͤchſten Ueberraſchung des Kranken, der das Eigenthuͤmlichſte273 und Verborgenſte ſeines Zuſtandes errathen ſah, be¬ vor noch deſſen muͤhſame Schilderung begonnen hatte. Er konnte zerſtreut ſcheinen, wahrend er ſehr aufmerk¬ ſam war, von fremdartigen Dingen reden, waͤhrend ſeine volle Theilnahme dem Kranken gewidmet blieb. Zutrauen und Anhaͤnglichkeit floͤßte er jedem ein, der ſeine Huͤlfe erfuhr. Sein ſchlichtes, unbekuͤmmertes Weſen, das auf die aͤußeren Formen des geſelligen Umgangs wenig Werth legte, ihn Schmeicheleien weder ausuͤben noch annehmen ließ, ihn von den niedrigen Kuͤnſten der Sucht zu gelten, der heuchleriſchen Welt¬ klugheit und des ſchnoͤden Eigennutzes fern hielt, und dabei die klare Sicherheit und Beſtimmtheit ſeines Ur¬ theilens und Handelns, kamen auch ſeiner aͤrztlichen Wirkſamkeit zu gut. In ſpaͤteren Jahren verließ er, wie ſchon vor ihm Roͤſchlaub, das Brown'ſche Syſtem, welches durch anhaltende Erfahrung bei ihm erſchuͤttert worden war, doch gab er nicht zu, daß er den Saͤtzen deſſelben aus bloßem Irrthum angehangen, ſondern meinte, die Stimmung des menſchlichen Organismus und der Karakter der Krankheiten ſelbſt veraͤndre ſich, und es ſei daher gar wohl anzunehmen, daß eine aͤrzt¬ liche Methode, die wir jetzt verwerfen muͤſſen, zu ihrer Zeit vollkommen zweckmaͤßig geweſen ſei. Den Wunder¬ kuren, dem magnetiſchen Treiben war er ſtets feind. Gleichwohl hatte er in der Phyſik, mit der er ſich vor¬ zugsweiſe gern beſchaͤftigte, die eigenthuͤmlichſten Ideen,18274welche, was bei ſeiner auf Erfahrungswiſſenſchaften und Mathematik gegruͤndeten Naturforſchung ſehr merkwuͤrdig iſt, ihn uͤber die Graͤnzen dieſer Wiſſenſchaften weit hinausfuͤhrten, und ihn demjenigen naͤherten, was ihm als Myſtik ſonſt verhaßt war.

Die Zeit der franzoͤſiſchen Bedruͤckung ſtoͤrte Erhard's beginnenden Wohlſtand ſehr; die Zerruͤttung ſo vieler Verhaͤltniſſe, die Unſicherheit andrer, die Unvereinbar¬ keit ſo mancher fremden eindringenden und dawider auf¬ geregten einheimiſchen Richtungen mit ſeiner beſtimmten Denkweiſe, alles dieſes wurde ihm Grund zu vielfacher Unzufriedenheit. Um ſo lebhafter nahm er in der Folge Theil an den großen Ereigniſſen, welche die Wieder¬ herſtellung Preußens, Deutſchlands bewirkten, und auch ihn dem preußiſchen Leben, das wieder mit dem ſuͤd¬ deutſchen zu vertauſchen er wohl in einigen Augenblicken verſucht geweſen war, nun fuͤr immer feſt verbanden. Eine Anſtellung im Staatsdienſte hat er nicht geſucht; allein der ausgezeichnete Geiſt und die nuͤtzliche Thaͤtig¬ keit des trefflichen Mannes blieb von Seiten des Staats nicht unberuͤckſichtigt. Im Jahre 1817 wurde er zum Mitgliede der mediciniſchen Ober-Examinations-Kom¬ miſſion ernannt, im Jahre 1822 zum Ober-Medicinal¬ rath. Sein redliches Wollen, ſein thaͤtiger Eifer be¬ waͤhrten ſich auch in dieſem Verhaͤltniſſe. Eine beſondre Ehrenauszeichnung widerfuhr ihm durch den Koͤnig der Niederlande, der ihm, als ſeinem bewaͤhrten Arzte, aus275 eigner Bewegung den Ritterorden vom belgiſchen Loͤwen verlieh, welchen anzulegen ſein gnaͤdigſter Landesherr ihm huldreichſt erlaubte. Seine zunehmende Praxis ließ ihm wenig Zeit mehr zu ſchriftſtelleriſchen Arbeiten; auch liebte er das Schreiben immer weniger. Doch gab er noch im Jahre 1821 ſeinen Aufſatz uͤber die Alleinherrſchaft in neuer Bearbeitung und vermehrt mit geiſtreichen Abhandlungen uͤber Ritterthum, Buͤrgerthum und Moͤnchthum heraus. Ein durch dieſe Schrift ver¬ anlaßter Brief, worin er mit freier Aufrichtigkeit den geaͤußerten Einwendungen ſeines Kritikers Buchholz voͤllig Recht gab, iſt das Letzte, was unter ſeinem Namen im Druck erſchienen iſt.

Allzufruͤh entriß den trefflichen Mann ſeinem viel¬ beſchaͤftigten Leben und ſegensreichen Beruf ein Schlag¬ fluß, der ihn am 25. November 1827 waͤhrend eines Gaſtmahls im Thiergarten, wo die ſchon kalte Jahrs¬ zeit doppelt empfindlich war, unerwartet traf, und trotz aller angewandten Huͤlfe ſchon am 28. toͤdtlich wurde. Die Heiterkeit ſeines Gemuͤths, die ruhige Klarheit ſeines Sinnes, die Eigenheit ſeiner Denkweiſe, zeigten ſich hier bis zum letzten Schimmer des Bewußtſeins, das ihn erſt am dritten Tage verließ, ganz als dieſelben, die ſie waͤhrend ſeiner kraͤftigſten Lebenszeit geweſen waren. Er ſtarb mit dem Troſte des Rechtſchaffenen; die gefaßte Hingebung in den Willen des Hoͤchſten hatte ihn ſchon immer auf ſeiner Bahn geleitet. Sein Leichen¬18 *276begaͤngniß gab die große Anzahl und die innige Trauer ſeiner Freunde und Verehrer zu erkennen. Er hinterließ einen Sohn und zwei Toͤchter, ſaͤmmtlich verheirathet, und acht Enkel; ein wuͤrdiger Familienkreis, in deſſen Mitte er ſeine gluͤcklichſten Stunden zugebracht. Auch die Gegenwart einer Schweſter, in welcher ein dem ſeinigen verwandter Karakter ihn mit großer Innigkeit anſprach, hatte ſeinen letzten Lebensjahren erhoͤhte An¬ nehmlichkeit gegeben. Seine Frau war nach langwieri¬ ger Kraͤnklichkeit ſchon vor mehreren Jahren ihm vor¬ angegangen.

Ueber Erhards perſoͤnlichen Karakter herrſcht bei Allen, die ihn kannten, nur Eine Stimme. Als tief¬ ſten Grund aller ſeiner Anſichten, ſeines Strebens und Wirkens muͤſſen wir die ſtrengſte Sittlichkeit angeben, auf die er alles zuruͤckfuͤhrte; ſein ganzes Denken und Trachten blieb unter allen Umſtaͤnden zuerſt auf Wahr¬ heit und Recht hingewandt, verbunden mit der aͤchte¬ ſten Menſchenfreundlichkeit, die er wohlwollend und un¬ eigennuͤtzig, aber auch fern von aller gleißneriſchen Ziererei, fuͤr alle ſeine Mitbruͤder hegte und bewies, deren Tauſende in ihm nicht bloß den geſchickten Arzt, ſondern auch den bewaͤhrten Freund und Rathgeber, den guͤtigen Wohlthaͤter ehrten. Sein großer Verſtand, ſeine unermeßliche Gelehrſamkeit, ſein freundlicher, an¬ ſpruchloſer und doch koͤnnte man ſagen ſtolzer Sinn machten ſeinen Umgang eben ſo lehrreich als an¬277 ziehend. Seine Anſichten, von eignen Geſichtspunkten ausgehend und mit geiſtreicher Dialektik vorgetragen, entfernten ſich meiſt auffallend von den herrſchenden Tagesmeinungen, denen er ſelten beiſtimmte, und auch dann nur aus Gruͤnden, die faſt ihm allein gehoͤrten. Wie oft er auch durch ungewoͤhnliche Kombinationen uͤberraſchte, ſo fand man doch bei naͤherer Pruͤfung ſtets einen feſten Gedanken in ihm dafuͤr zu Grunde liegen, denn ein bloßes Spiel willkuͤrlicher Verknuͤpfungen war ihm verhaßt. Wenn er z. B. anmerkte, wie viele und große Muͤhe ſich die Menſchen zu geben pflegen, nur um nicht zu arbeiten, ſo wirkte die Sache ſelbſt in ihm den Witz, welchen das Wort hier ausdruͤckt. Von ſei¬ nen Eigenheiten im Leben pflegte ſchon Schiller zu er¬ zaͤhlen; unter anderm, daß er in Nuͤrnberg, als ihm durch Erbſchaft ein kleines Haus zugefallen, beim erſten Hineintreten nichts Eiligeres zu thun gehabt, als gleich in die Kuͤche zu gehen und auf dem Heerde Feuer anzuzuͤnden, um durch dieſe Handlung recht eigentlich ſein Beſitzergreifen auszudruͤcken. Mehr als alle Ge¬ lehrſamkeit und Bildung war ihm der ſchlichte geſunde Menſchenverſtand lieb und werth; ihn auszubreiten und aufzuſuchen ermuͤdete er nie; daher ſuchte er ſeine Er¬ holung gern an ſolchen Orten, wo ſich bei maͤßigen Abendgenuͤſſen einfache Buͤrgersleute zuſammenfanden, deren zwangloſe Unterhaltung nicht nur von ihm ge¬ wann, ſondern auch ihm ſelbſt manchen Gewinn treffen¬278 den Urtheils und richtiger Einſicht wiedergab. Alles was den Verkehr, die Gewerbe, die Sitten und Kennt¬ niſſe des untern Volkes betraf, hatte fuͤr ihn den groͤ߬ ten Reiz. In dieſer Hinſicht duͤrfte er wohl mit Frank¬ lin verglichen werden, dem er auch in religioͤſer Denkart und Empfindungsweiſe aͤhnlich war. Bemerkenswerth iſt es, daß der Kirchenglaube, die Myſtik, der Mag¬ netismus, und was er ſonſt verneinte, dennoch große Wirkung auf ihn hatte. Die geiſtlichen Spruͤche des Angelus Sileſius entzuͤckten ihn, und er ſagte deren viele auswendig, in welchen er oft nur einen ſolchen Inhalt zu finden glaubte, der ſeinen eignen Meinungen zuſtimmte; aber dieſe, wie ſchroff ſie auch haͤufig er¬ ſchienen, vereinten ſich in ihm mit den froͤmmſten, kind¬ lichſten Ueberzeugungen, die er in bewegten Stimmungen gern und innig ausſprach.

Zwiſchenworte zur Briefſammlung.

l.

Briefe des ſiebenzehnjaͤhrigen Juͤnglings Erhard an ſeinen Freund Oſterhauſen, der ſchon auf der nahen Univerſitaͤt ſtudirt, eroͤffnen die Reihe. Sie ſind um ſo merkwuͤrdiger, als der Schreiber damals dem aͤußeren Stande nach nichts weiter als ein junger Handwerker iſt, der vor allem ſeine Arbeit thut, daneben aber in279 ſeinem Geiſt und Herzen das vornehmſte Leben fuͤhrt, und aus eignen, alleinigen Kraͤften, in fortgeſetzten ſchwelgeriſchen Genuͤſſen, eine Bildung erreicht, deren eine beguͤnſtigtere Stellung zur Welt unter beeifertem, vielfachen Mitwirken noch ſich zu ruͤhmen haben koͤnnte. Von dieſer erſten Geſtalt ſeiner anhebenden Entwickelung bleibt Erhards ganzes folgendes Leben bezeichnet, die Art ſeines Geiſtes und ſeines Gemuͤths, ſeine Hand¬ lungs - und ſeine Erſcheinungsweiſe, alles nimmt und behaͤlt von daher ſein Gepraͤge. Er iſt ein Autodidaktus im vollen Sinne, den das Wort haben kann; er genießt und leidet alle Bedingungen dieſer ausgezeichneten und in ihrem Werthe gleichwohl oft zweifelhaften Eigenſchaft. Selten werden uns von einer ſolchen Laufbahn ſo fruͤhe Urkunden geboten, die mit den ſpaͤteſten noch ſo ſehr uͤbereinſtimmen. Aber wenn dieſe Briefe vor allem das perſoͤnlich Karakteriſtiſche darlegen, ſo muͤſſen ſie demnaͤchſt doch wieder auch darin gelten, was ſie als Ausdruck ihrer Zeit ſind. Dieſes Allgemeine damaliger deutſcher Gemuͤthswelt ſtroͤmt gewaltig in dieſen Be¬ ſonderheiten. Denn wenn auch in jedem Jugendgeſchlecht ein Streben ſich wiederholt, welchem das Mißverhaͤltniß des Wollens und der Stoffe immer einen aͤhnlichen Karakter verleiht, ſo iſt doch dieſes ſittlich-geiſtige Ver¬ arbeiten der kleinſten Begebniſſe, dieſes Eroͤrtern der Begriffe, dieſes Abfragen und Sichten der Gefuͤhle, dabei das Trockne, Einfaͤrbige, der bei allem redlichſten280 Bemuͤhn unzulaͤngliche Ausdruck, ganz entſchieden jener Zeit angehoͤrig, wo der Verſtand der Deutſchen und ihre Empfindſamkeit aus truͤber Vernachlaͤſſigung muͤhſam zu neuer Bildung aufrangen.

Die Art, wie hier Philoſophie und Liebesneigung gleiches Schrittes in den Juͤnglingen ſich entfalten, er¬ hoͤht durch wechſelſeitige Ruͤckſtrahlen den Glanz jeder einzelnen von dieſen beiden Richtungen. Wir gewinnen dabei den Vortheil, mit dem Bilde der Hauptperſon auch eine weitere Umgebung derſelben zu erſehen, ja mit einem Theile des buͤrgerlichen Lebens von einer Seite bekannt zu werden, die ſich in ſolch urſpruͤnglicher Geſtalt ſelten dem Beobachter darbietet. Dieſe viel¬ fachen hoͤheren Beſtrebungen und dieſe gebildeten Ver¬ haͤltniſſe in einer Klaſſe, die im Ganzen auf Bildung wenig Zeit zu verwenden und Anſpruch zu machen hat, beſtaͤtigen die guͤnſtigſte Vorſtellung von unſrem deut¬ ſchen Mittelſtande, der von jeher in ſich die beſten Eigenſchaften der Nation hegte, und waͤhrend einer langen Zeit faſt allein bewahrte. Zugleich duͤrfen wir die treuherzige Sitteneinfalt dieſer guten damaligen Reichsſtadt preiſen, in welcher ohne fremde wie ohne eigne Bedenklichkeit die reizenden Buͤrgermaͤdchen mit den muntern Juͤnglingen harmloſen Umgang pflegen, und weder an ſchoͤnen Sommerabenden einſamen Spa¬ ziergang, noch bei andrer Gelegenheit zeugenloſen Beſuch ſcheuen, dagegen aber auch in freimuͤthiger Zaͤrtlichkeit281 vor Freunden und Aeltern weder Zwang noch Arg finden. Zwar bleibt auch hier, ſobald erſt Aufmerk¬ ſamkeit oder gar Neid erregt wird, die ſchlimme Nach¬ rede nicht aus, und ſtiftet Verdruß und Hinderniß, aber die Neigungen gewinnen in ſolchen Stoͤrungen oft nicht weniger, als ſie verlieren koͤnnen, und ein tuͤch¬ tiger Karakter weiß auch zu trotzen. Der junge Phi¬ loſoph, im Gedraͤnge dieſer mannigfachen, theils wirk¬ lichen, theils nur als moͤglich gedachten Liebeshaͤndel, nimmt ſich uͤbrigens wunderlich genug aus, und man erachtet leicht, wie bei dem ungemeinen Erfolg und herrſchenden Anſehn, die ihn begleiten, manche uͤble Verwicklung eintreten koͤnnte, waͤre nicht ſein Sinn rein und ſtark vor allem auf Sittliches und Edles geſtellt.

II.

Wir gelangen zu dem Zeitpunkt, wo die Kantiſche Philoſophie dem Juͤngling aufgeht und ihn mit allen Entzuͤckungen uͤberſtroͤmt, welche die kundige Sehnſucht in ihrer vollen Gewaͤhrung finden mag. Nicht auf eine fremde Bahn fuͤhlt Erhard ſich gerufen durch das neue Licht, vielmehr auf der bisherigen ſelbſteignen nur gluͤck¬ licher an’s Ziel gefoͤrdert. Alles wird ihm nun gewiß und feſt, fuͤr das ganze Leben ſind ſeine Ueberzeugungen entſchieden, faſt koͤnnte man ſagen erſtarrt, durch dialek¬ tiſches Bemuͤhen nicht mehr aufzuloͤſen. Alsbald wen¬ det ſich nun die Macht der mit der Fackel der Kritik282 durchleuchteten Vernunft in das Leben; als Lehre, Bei¬ ſpiel, Botſchaft dringt ſie nach allen Seiten vor, alle Gebildeten, Strebenden nehmen daran Theil, es iſt gleichſam eine neue Religion, die ſich ausbreitet. Unſre Briefſammlung liefert in dieſer Hinſicht bedeutende Zeugniſſe und Proben; hier iſt die Kantiſche Philoſophie in Handlung und Wirkſamkeit; wir ſehen ſie als Gegen¬ ſtand der hoͤchſten Beziehungen und Beduͤrfniſſe eines weiten Menſchenkreiſes von Koͤnigsberg uͤber ganz Deutſchland bis nach Hamburg und Kopenhagen und bis nach Wien und Trieſt ausſtrahlen, ſehen, wie ſie erweckt, befeuert, das Hoͤchſte verheißt, und zuletzt doch nur eine mißliche Befriedigung gewaͤhrt. Die redlichſten, begabteſten Maͤnner und Juͤnglinge, ja auch Frauen, durchwandeln mit Eifer dieſe Bahn, erreichen auch das Ziel; aber nach der erſten Freude finden ſie ſich bald in unleidlichem Zwieſpalt, in fuͤrchterlicher Enge. So lange ſie unterſuchen, iſt alles gut, aber mit ihrem Ergebniß wiſſen ſie nichts anzufangen, und moͤchten es doch zu allen Leiſtungen gebrauchen. In die Breite des Lebens folgt ihnen kein Gewinn, in der Wiſſenſchaft wird jeder Fortſchreitende ihr Feind, ihrer eignen Phi¬ loſophie nach muͤſſen ſie aufhoͤren zu philoſophiren. Sie haben weggeraͤumt, was in ihrem Ruͤcken lag; was vor ihnen aufkeimt, muͤſſen ſie verneinen; aber die Le¬ bensfluthen des Vorhergegangenen wie des Nachfolgen¬ den uͤberſtroͤmen unaufgehalten die machtloſe Verneinung. 283Wie dieſes Schickſal der Kantiſchen Philoſophie, ſich nicht als ethiſches Heil der Menſchheit zu legitimiren, verbunden mit der Enttaͤuſchung, welche die Geſchichte dem Wahn, in der franzoͤſiſchen Revolution ein ſolches materielles Heil alſogleich zu erleben, durch deren eigne Entwickelung ſpielt, wie dieſes Geſchick von den einzel¬ nen Betheiligten getragen und verarbeitet wird, iſt hier in merkwuͤrdigen Verſchiedenheiten dargelegt. Wir ſehen dem Tode gewaltſame Opfer fallen, ſehen das beweg¬ liche Talent ſich in neue Geſtaltungen hinuͤberwinden, zarteres Gemuͤth nur hoher Liebesinnigkeit pflegen, andern Sinn ſich zur gemeinen Welt zuruͤckwenden. Erhard war einer der beharrlichſten Anhaͤnger ſeines großen Meiſters; aber auch ihn draͤngte ſeine hauptſaͤchliche Lebensthaͤtigkeit zu andern als philoſophiſchen Gegen¬ ſtaͤnden, und ſeine noch uͤbrige philoſophiſche Beſchaͤfti¬ gung ging, darin aͤcht Kantiſch, nicht auf eigentliche Spekulation mehr aus, denn dieſe ſollte abgethan ſein, und in ihren Ergebniſſen gleichſam als angewandte Philoſophie nur fortſchreiten. Haͤtte er ſtaͤrkeren Antrieb oder mehr Muße gehabt, ſpekulativem Denken ſich fort¬ waͤhrend hinzugeben, ſo wuͤrde ſein ſcharfer Geiſt, wir zweifeln nicht, zu neuen Wegen eigenthuͤmlich durchge¬ brochen, oder doch in den Bahnen von Kants großen Nachfolgern zu neuen Ergebniſſen ſelbſtſtaͤndig mitge¬ ſchritten ſein.

284

III.

Der Trieb zur Aſſociation, welcher bei den Fran¬ zoſen vorzugsweiſe Kotterien angenehmer Geſelligkeit, bei den Englaͤndern Societaͤten fuͤr Zwecke des buͤrgerlichen Fleißes hervorruft, hat ſich bei den Deutſchen von jeher mit vorherrſchender Gewalt auf innerliche Bezuͤge, auf Gegenſtaͤnde ſittlicher und geiſtiger Bildung gewandt. Beſonders in dem letzten Drittheil des achtzehnten Jahr¬ hunderts, wo die kirchlichen Anſtalten nur ein mattes Licht warfen, Koͤrperſchaften und andres Genoſſenthum ſich allmaͤhlig aufloͤſte, war das Beduͤrfniß geſelligen Zuſammenſtehens und gemeinſamer Foͤrderung zum Beſſern faſt ganz im Freien, und jener Trieb zeigte ſich in wuchernder Thaͤtigkeit. Die Freimaurer, die Illuminaten, die Univerſitaͤtsorden nahmen fortwaͤhrend moraliſche Beſtrebungen in Pflege. Aber auch in klei¬ neren Formen und geſonderteren Kreiſen nahmen Vereine und Buͤnde uͤberhand, um einen geiſtigen Mittelpunkt jeder Art fanden ſich leicht Maͤnner und Frauen zu¬ ſammen, man wollte ſich gegenſeitig bewachen, ermahnen, ſtaͤrken, ausbilden, und nach Befund auch wohl welt¬ lich foͤrdern; Zuſammenkuͤnfte und Briefwechſel wurden angeordnet, Geheimſprache und Ziffern fehlten nicht, und ſo muͤhten oder taͤndelten ſich viele Perſonen, unter welchen manche durch Geiſt und Wirkſamkeit nachher beruͤhmt gewordene, eine Zeitlang in ſolchen Formen,285 wenn auch ohne ſonderlichen Gewinn, doch nicht ohne Annehmlichkeit umher. Hat ſpaͤterhin manches dieſer Art ſich in's Gemeine verloren, oder zu bedenklichem Gebieten gewagt, ſind auch oͤfters dabei ſelbſtſuͤchtige und betruͤgliche Raͤnke eingemiſcht worden, ſo waren doch die Anfaͤnge gewiß in den meiſten Faͤllen edel und unſchuldig. Auch in Erhards Kopfe regten ſich der¬ gleichen Vorſtellungen, und zwar die reinſten und erha¬ benſten; er ſtellte ſich das allgemeine Ziel, die Menſch¬ heit durch Tugend und Wahrheit zu veredeln. Darauf das Beſtreben naͤher in's Auge faſſend, wollte er einen Frauenzimmerbund ſtiften, der nichts Geringeres zum Zwecke hatte, als dem halben Menſchengeſchlechte ſeine verlorenen, Jahrtauſende lang verkannten Rechte durch geiſtige Ausbildung und ſittliche Foͤrderung wiederzugeben. Einem feurigen Geiſte, einem ſtarken Gemuͤth wie Er¬ hard, durfte das Gelingen eines ſolchen Planes ſehr nahe liegen; Juͤnglinge und Maͤdchen huldigten ſeinem ſtrengen Karakter und fuͤgten ſich ſeiner geiſtigen Ueber¬ legenheit, indem ſie ſich ſeinem warmen Herzen an¬ ſchloſſen. Die Aufſaͤtze, welche ſich von Erhards Hand hieruͤber noch vorfinden, ſind zu merkwuͤrdig, als daß ſie nicht aufbewahrt bleiben ſollten, zum vergleichenden Ruͤckblick aus welchem ja der ſinnende Menſch immer die wahre Geſchichtsbelehrung uͤber die Welt wie uͤber ſich ſelbſt zu ſchoͤpfen hat auf die Ver¬ ſchiedenheit, welche jeder Zeitabſchnitt des allgemeinen286 Lebensganges auch fuͤr den einzelnen in Stoffen und Richtungen bedingt.

IV.

Den Briefen an Wilhelmine muͤſſen wir einen Blick zuwenden, um das Verhaͤltniß im Ganzen zu betrach¬ ten, damit nicht das Einzelne, wie es nach und nach hervorgetreten, uns in irriger Anſicht befangen halte. Die ganze Verbindung iſt nur von Einer Seite be¬ urkundet, da von den Briefen Wilhelminens ſich nichts vorfindet, indeß vereinigt ſich auch ſchon auf jener Einen Seite alles, um uns von der Geliebten ein uͤberaus vortheilhaftes Bild zu geben: ein guͤnſtiges Aeußere, beſonders die ſchoͤne Geſtalt und ſchoͤne Augen, dazu eine anmuthige Lebhaftigkeit des Benehmens, werden uns als begleitende Erſcheinung der edelſten Empfindungen, der reinſten Gedanken und wuͤrdigſten Vorſaͤtze dargezeigt. Solchem Verein von Eindruͤcken war nicht zu widerſtehen, der philoſophirende Juͤngling, der in pruͤfender Annaͤherung noch lange zu uͤberlegen und zu waͤhlen meinte, fand ſich ſchon fortgeriſſen, und erfuhr das ganze Uebergewicht eines lebhaften, reizenden Maͤdchens, zu welchem die abſtrakten Wuͤnſche und Vorſaͤtze, die ſich herniederzulaſſen waͤhnten, vielmehr hinaufſtreben mußten. In der That wird Geiſt und Gemuͤth des Juͤnglings ganz entzuͤndet, er bittet der Geliebten jeden Zweifel, jede Verkennung ab, er ſieht287 in ihr das Vollkommenſte, er erwartet von ihr jede geiſtige Erhebung und ſittliche Foͤrderung, er ſchwelgt in Bewunderung und leidenſchaftlicher Zuneigung. Sein Geiſt macht inzwiſchen große Fortſchritte, ſeine Denk¬ art entſcheidet ſich zu feſter Beſtimmtheit, er iſt zwar fuͤr die Welt noch nicht, aber fuͤr ſich zum Manne ge¬ worden, und auch dieſe Gewinnſte ſaͤmmtlich haben die innigſte Verknuͤpfung mit ſeiner Liebe, die an ihnen gebend und empfangend Theil hat. Und dennoch, bei allem Feuer, bei aller Begeiſterung, bei aller Zaͤrtlich¬ keit, welche hier ausgedruͤckt wird, fehlt im Grunde, wir muͤſſen es ſagen, doch eigentliche Liebe ganz! In Wahrheit, dies iſt, wenn auch oft ihr Wort, nicht ihre, Art und Richtung. Das Leidenſchaftliche, die Span¬ nung, das Beduͤrfniß, die Vertraulichkeit, dies alles entbehrt, wie wir wenigſtens hier es ſehen, des einen Vorzuges, der einzig den Karakter wahrer Liebe aus¬ macht, der Nothwendigkeit dieſer beſtimmten Per¬ ſoͤnlichkeit! Das unbedingt Individuelle des Menſchen, als tiefſter Grund der unerklaͤrbaren Zuneigung, er¬ ſcheint hier nicht als Gegenſtand; Eigenſchaften ſind es vielmehr, die mit Bewußtſein gefaßt, geſchaͤtzt ſind, vielleicht vorausgeſetzt. Koͤnnte dem aͤußeren Sinne die Taͤuſchung bereitet, dem Bewußtſein die Verſetzung entzogen werden, ſo ließe ſolche blos auf Eigenſchaften gerichtete allgemeine Leidenſchaft mit all ihrem Zubehoͤr ſich auf die verſchiedenſten Perſonen leichtlich uͤbertra¬288 gen, ohne daß etwas dabei vermißt wuͤrde, ſobald nur die Einbildungskraft ſich nicht geradezu abgewieſen findet. Wir koͤnnen in ſolchem Falle nur das arme Maͤdchen bedauern, welches, anſtatt wirklicher Gegen¬ ſtand perſoͤnlicher Liebe zu ſein, nur gleichſam einer metaphyſiſchen Erhitzung zum Gegenbilde, zum Nicht - Ich, dienen muß; es kann dabei in keiner Art ein wahres Gluͤck herauskommen, wenn auch ein voͤlliges Ungluͤck wohl vermieden bleibt. Erhard ſelbſt begruͤn¬ det in ſeinen Briefen einen Unterſchied von Lieben und Verliebtſein; was er unter dem einen und dem andern zu verſtehen ſcheint, wuͤrde erſt verbunden das Gefuͤhl bilden, das er auf die eine Seite allein feſtſetzen will; die Trennung fuͤhrt aber auf beiden Seiten zum Un¬ genuͤgenden. Er muß dieſes wohl gewahr werden; da er die Geliebte nicht liebt, wie ſie iſt, ſondern wie ſie ſein ſoll, oder wenigſtens werden ſoll mit ihm und durch ihn, ſo ſchwindet alle ſichre Gegenwart in un¬ gewiſſe Zukunft. Die Verſuche, Pruͤfungen, Bildungs¬ arbeiten, welche eine Zeitlang der Empfindung foͤrder¬ lich geweſen, uͤberdraͤngen dieſe, wie ſehr auch guter Wille und freundliches Eingehn die Schaͤrfe mildern. Noch andre Stoffe werden herbeigezogen, der Spiel¬ raum wird erweitert, die Freunde ſollen mitwiſſen und mitleben in dem Liebesbunde, aber jemehr hinzukommt, deſto bedenklicher wird der Zuſtand, es entſtehen Ein¬ miſchungen, Gerede, Benachrichtigungen, Rathſchlaͤge,289 der entſcheidende Nachtheil andauernder perſoͤnlicher Ab¬ weſenheit macht alle dieſe Uebel unheilbar, und am Ende muß die voͤllige Unvereinbarkeit des beiderſeitigen Weſens und Treibens in ausgeſprochenem Bruch ſich offen darlegen. Solchem Gange dieſer Liebesgeſchichte hatte unſre Betrachtung bisher zu folgen, und wenn der unerfreuliche Schluß von dem einen Theile dem andern als Folge der enthuͤllten Unwuͤrdigkeit ange¬ rechnet werden will, von dem andern aber jenem viel¬ leicht als Erkaltung und grundloſe Haͤrte vorgeworfen ſein mag, ſo wollen wir, fuͤr beide Theile billiger, den ſo gewordenen Ausgang als einen ſchon im Anbeginn begruͤndeten und ſonach unvermeidlichen bezeichnen.

V.

Baggeſen gehoͤrt zu den abenteuerlichen Naturen, in welchen der ganze Menſch an ein Talent, ſei es nun ein groͤßeres oder kleineres , auf - und dran¬ gegeben iſt; anfangs gedeiht das Talent uͤppig von ſolcher allzu koſtbaren Nahrung, nachher aber ſiecht und welkt es um ſo ſchneller dahin, denn die thoͤrichte Gefaͤlligkeit, die ihm allen Willen laͤßt, wird ihm als ſchaͤdliche Ungebuͤhr zuletzt verderblich. Solche Naturen koͤnnen hoͤchſt reizend erſcheinen, ihre bewegte Perſoͤn¬ lichkeit beſchaͤftigt und unterhaͤlt eine geſellige Aufmerk¬ ſamkeit, bei welcher das Verdienſt klarer Bildung und feſten Karakters eiliger abgefertigt wird. Baggeſen19290hat dieſen Reiz der im Talent ſchwelgenden Perſoͤn¬ lichkeit in hoͤchſten Maßen ausgeuͤbt, gebraucht, und dann auch verbraucht; geiſtig ſchoͤner und menſchlich liebenswuͤrdiger als Zacharias Werner und Hoffmann, hat er mit dieſen ſeinen unlaͤugbaren Vettern doch zu¬ letzt gleiches Schickſal gehabt. Die guͤnſtige Theil¬ nahme fuͤr eine beſeelte und vielverſprechende Eigenart mußte nach und nach dem Eindruck einer leeren Ver¬ zerrung weichen; ein ſchmerzliches Bedauern konnte den Freunden noch verbleiben, das Widerwaͤrtige mußte aber auch ſie abſtoßen. Fuͤr Baggeſen, der, berauſcht in Kantiſcher Philoſophie und franzoͤſiſcher Revolution, ſeine kuͤhnſten Launen im Leben wie in Schriften mit Anmuth, um derentwillen ſie ſogar am Hofe verziehen wurden, geltend gemacht hatte, behielt Erhard immer eine große Vorliebe, ſeiner Erinnerung an die fruͤhere Gegenwart miſchte ſich gern ein Laͤcheln bei; allein das mehr als dichteriſche Spiel, das jener mit ſich ſelbſt und Andern bis zum Uebermaße trieb, konnte einer fortgeſetzten Verbindung zwiſchen zwei ſo voͤllig ver¬ ſchiedenen Naturen durchaus nicht Boden ſichern. Wir durften dieſen Denkwuͤrdigkeiten das Hereinſchimmern der dargebotenen Strahlen dieſes Meteors nicht wohl verſagen.

VI.

Wir ſehen Erhard bisher in dem Kreiſe ſeiner jedesmaligen Umgebung perſoͤnlich hervorragen, die An¬291 dern ihm huldigen, ihn verehren, von ihm Lehre und Beiſpiel ſtets erwarten. Die Selbſtſtaͤndigkeit ſeiner Geiſtesbildung und die Feſtigkeit ſeines auf jene gegruͤn¬ deten Karakters erzeugten dieſe ungeſuchte Wirkung, die ſich nicht nur in dem beſchraͤnkten Kreiſe des Ju¬ gendumgangs in Nuͤrnberg zeigt, ſondern auch auf dem freien Schauplatze der belebteſten Univerſitaͤtsſtudien, und ſelbſt auf der Hoͤhe der vornehmen großen Welt behauptet. Selbſt wo ſeine Anſicht mehr Verwunde¬ rung als Beifall, ſein Benehmen nicht volle Billigung erfaͤhrt, bleibt dieſe anerkennende Verehrung ungeſchwaͤcht. Allein jedem, der eines perſoͤnlichen Anſehens genießt oder bedarf, iſt als Bedingung geſetzt, daſſelbe fort¬ waͤhrend in der Welt durch Erfolge zu rechtfertigen; Ungluͤck und Fehlſchlagen laſſen es ſchwer beſtehen. Doch giebt es Ausnahmen, und Erhard gehoͤrt zu die¬ ſen. Die Kataſtrophe, aus welcher ſein Brief an Wa¬ ſhington hervorgegangen, war zerſchmetternd fuͤr jeden Stolz, der ſich auf weltliches Wirken beziehen wollte; welches Vertrauen, welche Fuͤhrerſchaft durfte der wohl anſprechen, der eben ſelbſt ſo groͤblich und verderblich getaͤuſcht worden? Jener Stolz erſcheint auch wirklich in dem Schreiben an Waſhington voͤllig gebeugt, aber das ergriffene Huͤlfsmittel ſelbſt iſt ſchon wieder ganz des Mannes wuͤrdig, der zu kaͤmpfen weiß, er nimmt alle Kraft ſeiner inneren Eigenthuͤmlichkeit und das klarſte Bewußtſeyn der aͤußeren Umſtaͤnde zuſammen,19 *292und wendet ſich damit ſo kuͤhn als frank unmittelbar an die Behoͤrde, deren Namen gegen ihn ſo betruͤglich mißbraucht worden war. Konnte dieſer Schritt auch ſchwerlich zum Ziele fuͤhren, wir wiſſen nicht, ob das Schreiben wirklich abgegangen und angelangt ſei, auch im letzteren Fall aber durfte ein ſo ferner Huͤlfe¬ ruf in ſeinem Deutſch kaum hoffen beachtet zu werden , ſo zeigte er doch den unverlorenen Kern des edelſten Selbſtgefuͤhls, das die beſchaͤmende Demuͤthigung zwar empfindet, aber nicht in ihr untergeht, ſondern ſie ein¬ geſtehend abwirft, und nach wie vor zu Hoͤherem ſtrebt. Wirklich beſteht das Anſehn Erhards unter ſeinen Freun¬ den auch nach dieſer Kataſtrophe faſt ungeſchwaͤcht fort; ihn zu tadeln, ihm ſogenannten guten Rath zu erthei¬ len draͤngt ſich niemand herbei, ihm wahrhaft zu helfen iſt die tuͤchtigſte Freundeshand bereit. Nur ſein Freund Grundherr, durch redlichen Eifer und ſittliche Ruhe mehr als durch Talente[ausgezeichnet], nimmt in dem nach¬ folgenden Briefe aus dem Ungluͤck Erhards nothgedrun¬ gen Anlaß, ihm mancherlei vorzuhalten, was mit jenem Irrſal naͤher zuſammenhaͤngt, und ſo ihm den einzigen Gewinn, der bei ſolchem Sturze noch zu erraffen iſt, hervorzuheben und zu wahren. Auch von Schiller fin¬ det ſich ſpaͤter ein Brief, der die hochfliegenden That¬ gedanken in ſtillere, gelaſſene Wirkſamkeit herabzuſtim¬ men ſucht. Doch beherrſcht die hohe Meinung, welche die Freunde von ihm haben, immer den guten Willen,293 den ſie ihm bezeigen. Perſoͤnliche Lebensbedingungen und die allgemeine Lage der Welt uͤbten hierin groͤßere Macht, als der Rath und die Warnung der Freunde, und es ſchien in ſpaͤteren Jahren kaum denkbar, daß grade bei ihm, der vor allem das Naͤchſte, das Auf¬ erlegte, das dem ausgeſprochenen Beruf Gemaͤße that, das Entlegne oder Weitfuͤhrende dagegen willig der Vorſehung anheimgab, ſolcher Zuruf je haͤtte anwend¬ bar duͤnken koͤnnen.

VII.

Herberts erſtem Briefe, den dieſe Sammlung dar¬ bietet, ſenden wir einige Worte voraus, welche das Verhaͤltniß Erhards zu ſeinem Freunde naͤher andeuten moͤgen. Die Art von Geheimniß, welches Erhard in ſeinem biographiſchen Aufſatze durch die Erklaͤrung be¬ merklich macht, daß er ſeine innere Lebensgeſchichte mit der erworbenen Freundſchaft Herberts abzuſchließen habe, findet jetzt nicht mehr den fruͤher beſtandenen Grund. Daſſelbe vollſtaͤndig aufzuhellen, duͤrfte jedoch auch ge¬ genwaͤrtig weder in unſrem Berufe, noch ſelbſt in unſe¬ rem Vermoͤgen ſeyn. Allein wir ſehen uns in Gemaͤ߬ heit einer durch vieljaͤhriges Vertrauenverhaͤltniß fuͤr dieſen Gegenſtand geleiteten Beurtheilung wohl befugt, den Leſer hier wenigſtens um einige Schritte weiter zu fuͤhren, da wir ihn alsdann auf gehoͤrigem Standpunkte ſeiner eignen Sehweiſe wieder uͤberlaſſen. Das Geheim¬294 nißvolle, Verſchwiegene, in dem Verfolg der inneren Lebensgeſchichte Erhards, kann nur die unabweislichen Verwickelungen betreffen, zu welchen mit der inneren Geiſtes - und Gemuͤthswelt die widerſprechenden aͤußeren Lebensgeſtaltungen ſich verflechten. Seine Verheirathung, ſeine buͤrgerliche Stellung, ſeine Vermoͤgensumſtaͤnde, mußten einer Menge von Beziehungen nach außen ihr nahes Ziel ſetzen, welche von innenher mit allen Be¬ dingniſſen eines lebendigen Fortſchreitens noch behaftet waren. Statt eines fortgeſetzten Aufſchwungs, ſo weit die reinſten und edelſten Kraͤfte zu eignem wie zu aller Menſchen Gewinn nur irgend kommen koͤnnten, trat eine allſeitige Reſignation ein, die uͤberall hemmen mußte, aber doch nirgend vernichten konnte. Solche Konflikte, welche, nach Erhards Geiſtesart, ſogleich eine innere Verarbeitung in erhoͤhtem Selbſtbewußtſein und erwei¬ terter Weltanſicht empfingen, fanden ihre vertrauteſte Staͤtte, ihre moͤglichſte Erledigung, fuͤglich in einer Freundſchaft, welcher ohnehin ſchon jeder kuͤhnſte Ge¬ dankenflug ſich leicht vereinte. In den Bildern und Gefuͤhlen, die den eigentlichen, ſtets erneuten Kern des Lebens bilden, welchen die Meiſten freilich unenthuͤllt durch ihre dunkeln Tage tragen, mag Erhard das gleich¬ geſtimmte Weſen Herberts, welches genug Reize der Aehnlichkeit und Verſchiedenheit darbot, als groͤßten Lebenstroſt in ſich genaͤhrt und durchlebt haben, wenn auch ausdruͤckliche Bekenntniſſe daruͤber nicht vorhanden295 ſind, noch vielleicht je ſtatt fanden. Daß Herbert auch aͤußerlich ſeinem Freunde zum feſten Anhalt gedient, ihn, wie auch manchen Andern, nach Kraͤften durch Geld¬ mittel unterſtuͤtzt, in welcher Hinſicht die großartigſte Unbefangenheit zwiſchen ihnen waltete, darf hiebei nur als Nebenſache anzumerken ſeyn. War Erhard aus freiem Geiſteswirken, wie es ihm vorgeſchwebt und zum Theil ſchon wirklich geworden, zur ſtrengen Ausuͤbung einer beſonderen buͤrgerlichen Thaͤtigkeit herabgedraͤngt, die er bei ihren reichen geiſtigen Beſtandtheilen doch nur hinnehmen, nicht mit ſeinem hoͤchſten Berufe fuͤr eins halten konnte, ſo war die Wendung, welche die Geſchichte ſeines Herzens nahm, nicht guͤnſtiger. In ſeinem idealen Streben voruͤbergehend geſtoͤrt, aber dar¬ um weder der hoͤchſten Anſpruͤche deſſelben ledig, noch ſelbſt ihre erſcheinenden Geſtalten entbehrend, knuͤpfte er ein Band, welches ſeinen augenblicklichen Neigungen zwar genuͤgen, aber jene nicht ausloͤſchen, noch zu ihnen zuruͤckfuͤhren konnte. Hier war der Knoten von Erhards Schickſal unaufloͤslich geſchuͤrzt, durch abwei¬ chende Art und Richtung ein weiter Raum des inneren Zwieſpalts eroͤffnet, und dem Betrachter duͤrfte bei die¬ ſem Beiſpiele vielleicht wie bei manchem andern der nachdenkliche Ausſpruch einleuchten, daß fuͤr Maͤnner, die irgend einem Hoͤchſten unbedingt leben wollen, ein ſolches Band uͤberhaupt nicht ſtatt finden duͤrfe, da ein durchaus entſprechendes im einzelnen Fall kaum gehofft296 werden koͤnne. Wir geben dieſer Betrachtung fuͤr un¬ ſern Fall, wiewohl alle Perſonen, die er betrifft, ſchon verſtorben ſind, hier keine weitere Ausfuͤhrung, und fuͤgen nur noch hinzu, um ſie nicht ſchlimmer deuten zu laſſen, als ſie an ſich iſt, daß Erhard ſpaͤterhin noch ſeine Frau fuͤr die einzige erklaͤrte, in die er im eigent¬ lichen Sinn verliebt geweſen, und daß wir unter ſeinen hinterlaſſenen Schriften die Briefe derſelben aus den erſten Jahren ihrer Verheirathung durch die Aufſchrift aus nicht viel ſpaͤterer Zeit bezeichnet fanden: Lettres of a dear wife. Was Herberts eignes Schickſal betrifft, ſo wird auch daruͤber mancher Aufſchluß im Folgenden zu wuͤnſchen bleiben; der Selbſtmord indeß, mit dem er endigte, liegt in den phyſiſchen und meta¬ phyſiſchen Zuſtaͤnden, deren dieſe Briefe erwaͤhnen, ſchon fruͤhzeitig angedeutet. Wir koͤnnen dem edlen und kuͤh¬ nen Geiſte, der ſo, indem er auf den Hoͤhen der Spe¬ kulation ſchwebt, ſich freventlich in ihren Abgrund ſtuͤrzt, unſer Bedauern wie unſere Bewunderung nicht verſagen.

VIII.

Die Briefe der hochgeſinnten und liebenswuͤrdigen Frau, welche in der Sammlung durch den Namen Eliſe bezeichnet erſcheint, wird kein Gefuͤhlvoller ohne den lebhafteſten Antheil durchleſen koͤnnen. Dieſe tiefe Er¬ gebenheit, dieſes unerſchuͤtterliche Vertrauen, welche ſich297 ein ganzes Leben hindurch zu einem entfernten, jedem Wiederſehen entruͤckten und dadurch gewiſſermaßen ſchon abgeſchiedenen Freunde gleichbewahren, der einſt als junger Mann der eben erweckten, geiſt - und lebendur¬ ſtigen Jungfrau als Lehrer der Weisheit und Tugend in allem Zauber dieſes Verhaͤltniſſes erſchienen, und ihr fortdauernd als ein Vorbild ſittlichen Wandels und rein¬ ſten Wahrheitsdienſtes gegenwaͤrtig iſt, dieſes innige, in der Gattin, Mutter und Matrone gleich ungeſchwaͤcht ergluͤhende Herzensfeuer hat in der einfachnatuͤrlichen Sprache der Briefe, welche hier vorliegen, einen Ka¬ rakter von Kindlichem zugleich und Erhabenem, der die innerſte Seele zu tiefer Ruͤhrung fortreißt. Keine Lie¬ besneigung im gewoͤhnlichen Sinn iſt hier vorhanden, wiewohl alles ihr Verwandte und was ſonſt ihrem Ele¬ mente ſich verſtaͤrkend beimiſcht, aus reicher Quelle ſtroͤmt; das Perſoͤnliche fehlt inmitten dieſer Gebilde, oder iſt kaum ſchwach angedeutet; an deſſen Statt er¬ ſcheint die anſpruchsloſe Entſagung, die in reinſter Ver¬ ehrung zaͤrtlichſte Freundſchaft, die aufrichtigſte Wen¬ dung zu einem Hoͤheren, die herzlichſte Beachtung und Pflege des naͤchſten Dargebotenen. Wir glauben nicht noͤthig zu haben, dem ſinnvollen Leſer hieruͤber noch mehreres zu ſagen. Dem Bilde Erhards aber wuͤrde ein ſchoͤnſter und weſentlichſter Zug fehlen, wenn wir nicht dieſe Zeugniſſe eines Eindrucks mittheilten, der ſeine perſoͤnliche Erſcheinung beſonders in ſeinen fruͤheren Jah¬298 ren unwiderſtehlich begleitete, und ihn bei Juͤnglingen und Maͤdchen, bei dem Weiſen von Koͤnigsberg wie bei Staatsmaͤnnern und gebildeten Frauen der vorneh¬ men Welt, gleicherweiſe empfahl, hier aber in ſeiner ſchoͤnſten und volleſten Wirkung als das Hochbild eines ganzen Lebens am dauerndſten ſich ausgepraͤgt hat.

IX.

In Goethe’s weſt-oͤſtlichem Divan wird der Houri, welche vor Mahomet’s Paradieſe Wache haͤlt, um nach des Propheten Satzung vorzugsweiſe die Helden und Kaͤmpfer einzulaſſen, von dem angehaltenen Dichter keck erwiedert:

Laſſ 'mich immer nur herein!
Denn ich bin ein Menſch geweſen,
Und das heißt ein Kämpfer ſein.

Iſt demnach jeder Menſch uͤberhaupt als Krieger anzu¬ nehmen, ſo bedarf es keiner beſonderer Herleitung, daß auch kein Gelehrter ohne Polemik recht zu denken ſei; die Friedensliebe mag Angriffskriege unterlaſſen, aber zum Vertheidigungskriege wird auch der Nichtwollende genoͤthigt, und da litterariſche Verhaͤltniſſe vielfach mit den buͤrgerlichen ſich durchflechten, ſo werden oͤfters auch dieſe mit jenen zuſammen auf den Kampfplatz gerathen. Hier gilt es denn nicht mehr allein, welche Sache, ſondern auch, welche Waffen man fuͤhrt, und mit Recht ſtehen die Maͤnner in beſtem Anſehn, welche mit einer299 guten Sache und bei redlicher Liebe zum Frieden doch, ſo oft es gilt, die tuͤchtigſte Kriegsfertigkeit verbinden.

Erhard’s erſtes Auftreten faͤllt in eine Zeit der hef¬ tigſten Kaͤmpfe im litterariſchen Deutſchland. Der Durch¬ bruch tieferen Geiſtes und freieren Sinnes fand in der Oberflaͤchlichkeit eines an Einſichten beſchraͤnkten und an Duͤnkel ſchrankenloſen Autorengeſchlechts den feind¬ lichſten Widerſtand. Die Art, wie Goethe’n, Schiller’n, Jacobi’n und allen vorzuͤglichſten Koͤpfen, inſonderheit aber Kanten begegnet und mitgeſpielt wurde, war ohne Zorn wirklich nicht anzuſehen. Das Benehmen der Nicolai und Andrer dieſes Gleichen, welche mit alberner Anmaßung die hoͤchſten Beſtrebungen in den niedrigen Kreis ihrer poͤbelhaften Beurtheilung zogen, verdiente Zuͤchtigung, und ſie wurde ihnen richtig zu Theil. Was Schiller und Goethe durch die Xenien, was Fichte durch die Lebensbeſchreibung Nicolai’s, hierauf die beiden Schlegel, Tieck und Andre durch andres aͤhnlicher Art in Deutſchland gethan, kann in ganzem Werth nur dem Sinne einleuchten, welcher ſich alle Umſtaͤnde und Lagen jener Zeit zu vergegenwaͤrtigen im Stande iſt. Unſre Litteratur hat ſolchen abwehrenden Arbeiten nicht weniger zu verdanken, als den gruͤndenden, und zwei¬ mal im achtzehnten Jahrhundert, in der Mitte deſſelben gegen die Gottſchede, und zu Ende deſſelben gegen die bezeichnete Maſſe der Gemeinen, iſt ſie aus der drohen¬ den Gefahr des traurigſten Verkommens gerettet worden;300 denn jene Erſcheinungen, uͤber die wir jetzt lachen, waren in der That von dringender Gefahr, indem auch die Beſſern und die Beſten, wie es bei allgemeinen Einfluͤſſen unvermeidlich iſt, ſich in den ſchlechten Rich¬ tungen mehr oder minder hintreiben ließen, und daher auch ihres Theils von den hereinbrechenden Reinigungs¬ wettern mitgetroffen werden mußten. So war z. B. der ſonſt hochverdiente Herder, ſeinen Beruf und ſeine Faͤhigkeit bedauernswerth verkennend, in der Philoſophie als Gegner Kant’s mit unwuͤrdigſten Waffen aufge¬ treten; ſein Name war jedoch einer der groͤßten, und wenn derſelbe ſeinen vorigen Glanz ſeitdem nie voͤllig wiedergewonnen hat, ſo zeigt dies, wie ernſt und nach¬ druͤcklich der Streit gegen ihn gefuͤhrt werden mußte.

Schon als Juͤngling hatte Erhard mancherlei Anlaͤſſe zu polemiſcher Uebung; ſpaͤterhin ſtand er mit wiſſen¬ ſchaftlichen Autoritaͤten in ausgeſprochenem Zwiſt; ſeine erſten litterariſchen Arbeiten erfuhren uͤbermuͤthige und haͤmiſche Angriffe. In allen dieſen Faͤllen bewies er die entſchloſſenſte Tapferkeit, immer zur Entſcheidung vordringend, in der Sache ganz ohne Schonung, und alle Kraft der Einſicht und des Ausdrucks zur moͤglich¬ ſten Wirkung zuſammennehmend, und wiewohl ſo ruͤſtig, doch immer zum Frieden bereit, ſobald er das Noͤthige geſagt glaubte. Mehrmals perſoͤnlich verletzt, traf er auch wohl den Gegner perſoͤnlich, und bei der Schaͤrfe ſeiner Waffen oͤfters toͤdtlich; aber aus eigner Wahl301 verließ er nie die Sache, um die Perſon aufzuſuchen. Auch Nicolai hatte ihn perſoͤnlich und ſogar buͤrgerlich verunglimpft, eine Antwort mußte erfolgen, und ſie erfolgte mit Bitterkeit. Dem oͤffentlichen Schreiben an Nicolai fuͤgte er noch ein handſchriftliches bei, welches eine Milderung bedeuten wollte, aber ſelbſt bei ſolcher Abſicht nicht vermochte, ohne Ironie zu bleiben. Die ſpaͤtere Druckſchrift an Jean Paul Richter und an Herder muß gleichfalls in der Tagesbeleuchtung jener Zeit be¬ urtheilt werden; ſie iſt ihr nicht eben unguͤnſtig. Wie gemeſſen, nachgiebig und doch kraͤftig Erhard buͤrgerliche Beleidigungen zu behandeln wußte, ſehen wir aus ſeiner Antwort an einen Arzt in Berlin, der ihn uͤbereilt und grundlos einer Ungebuͤhr beſchuldigt hatte. Ueberhaupt ſtritt er, wo es Erkenntniß galt und eine Sache aus¬ zumitteln war, ſtrenger und hartnaͤckiger; in Faͤllen andrer Art glaubte er oft lieber ein Unrecht oder einen Nachtheil halb oder ganz hinnehmen zu koͤnnen, als ſich in Kampf einzulaſſen, oder den begonnenen voͤllig durchzufechten. Seine ſpaͤteren Lebensjahre waren im Ganzen milde und nachſichtig im geſelligen wie im buͤr¬ gerlichen Verkehr, ohne darum der Strenge ſeines Ur¬ theils und der Beharrlichkeit ſeiner Anſicht das Geringſte zu vergeben; wer dieſe unmittelbar herauszufordern verſucht war, konnte leicht eine ſcharf treffende, in ihrer Wirkung ſchnoͤde abfertigende Zurechtweiſung von ihm erfahren, er muͤßte denn ſelbſt eine Aenderung302 ſeines Behauptens als richtig anerkannt haben, wie in der durch Friedrich Buchholz veranlaßten Eroͤrterung geſchah, deren ſpaͤter noch gedacht werden wird. Und ſo duͤrfen wir in Betreff der polemiſchen Seite unſre Karakteriſtik Erhard’s fuͤglich in den Ausſpruch zuſam¬ menfaſſen: er kaͤmpfte viel, in Vergleich ſeiner wenigen Neigung, und in Betracht ſeiner erfolgſichern Kraft, wenig.

X.

Erhard war zu ſehr Philoſoph, um aͤußerer Ehre und ihren Gebraͤuchen, welchen er innerem Werthe gegenuͤber doch nur eine untergeordnete Stelle zuge¬ ſtehen wollte, jede zu verſagen. Den Unterſcheidungen und Zeichen, die er freilich nicht erfunden haben wuͤrde, wußte er, da die Welt ſie einmal hat, ihre Schaͤtzung nach den Verhaͤltniſſen der Welt richtig anzuweiſen; auch das ſelbſtſtaͤndigſte Werthgefuͤhl mag eine aͤußere Beglaubigung ſich gefallen laſſen, wenn gleich dieſe bei Thoren und Schwachen auch gar die Sache ſelber werden moͤchte, mit der ſie doch immer nur unter Zu¬ laſſung moͤglichen Irrthums zuſammenhaͤngt. Wie in allen Dingen, ſo ſuchte Erhard auch bei dieſem Gegen¬ ſtande vor allem den aͤchten Grund der Sache hervor¬ zuwenden, und hielt ſich an dieſen. So empfing er die von dem Koͤnige der Niederlande ihm durch den Ritterorden vom belgiſchen Loͤwen gewaͤhrte Auszeich¬303 nung nicht ohne Freude, und druͤckte ſeinen Dank in einem Schreiben an den Koͤnig nach einer beſonderen Weiſe gebuͤhrend aus. Eben ſo eigenthuͤmlich iſt das Schreiben abgefaßt, durch welches er bei ſeinem Lan¬ desherrn, dem Koͤnige von Preußen, die Erlaubniß nach¬ ſucht, den fremden Orden annehmen und tragen zu duͤrfen. So wußte der in ſeiner Art wohlgegruͤndete Mann bei dargebotener Gelegenheit bis an den Stufen des Thrones die eigenſte Denk - und Empfindungs¬ weiſe nicht weniger ſchicklich als freimuͤthig darzulegen.

[304]

Friedrich Wilhelm Meyern.

Die Zeitungen meldeten im Mai 1829, am 13. deſſel¬ ben Monats ſei zu Frankfurt am Main der oͤſterreichiſche Hauptmann Friedrich Wilhelm Meyern, Verfaſſer der Dya-Na-Sore, im achtundſechzigſten Jahre geſtorben. Seine Leiche ſei nach Mainz gebracht, und dort von ſeinen Waffenbruͤdern zur Erde beſtattet worden.

Vergebens haben wir, ſeit dieſer einfachen Anzeige, nach einem groͤßeren, das Andenken des trefflichen Mannes wuͤrdig belebenden Aufſatz in unſern zahlreichen Blaͤttern uns umgeſehn. Jede fernere Kunde ſchweigt. Bereitet eine Freundeshand uns vielleicht ein ausfuͤhr¬ liches Bild des Lebens und Karakters des edlen Ver¬ ſtorbenen, vielleicht mit Huͤlfe ſeiner nachgelaſſenen, uͤberaus zahlreichen, aber freilich an vielen Orten zer¬ ſtreuten Papiere? Oder war in ſeinen letzten Jahren ihm niemand nah, der als Vertrauter ſeines Geiſtes und Sinnes die Faͤhigkeit und Pflicht zur Uebernahme eines ſolchen Ehrengedaͤchtniſſes haͤtte vereinen koͤnnen? 305Wie dem auch ſei, wir glauben unſrerſeits Dank zu verdienen, wenn wir zur Schilderung des Mannes einen Beitrag liefern, den der Zufall gerade in unſre Haͤnde ſpielt.

Es iſt dies der Brief eines damaligen oͤſterreichiſchen Offiziers, der nach dem Wiener Frieden in Paris die Bekanntſchaft des durch ſeinen Geiſt und ſeine Sonder¬ barkeit beruͤhmten Grafen von Schlabrendorf gemacht hatte, und an den einen wunderlichen Alten das Bild eines andern Urvogels zu uͤberſchicken ſich gedrungen fuͤhlte.

Wir laſſen hier, mit Uebergehung der erſten Seiten des Briefes, deſſen eigne Worte folgen.

Zumeiſt dürften jetzt wohl die auf den Staat gerichteten Strebungen und Fähigkeiten ihre Mühen und Bedrängniſſe haben, ja von ihrem Berufe ganz ausgeſchloſſen bleiben. Gewiß ſind die Völker und die Zeiten zu beklagen, die ſolche Kräfte hervor¬ brachten, ohne ſich ihrer Wirkungen zu erfreun; aber noch mehr die Staatsmänner ſelbſt, die im Stillen hingelebt, ohne den Stoff ihrer höchſten und ſchwerſten Kunſt gefunden zu haben, weil ſie ihn auf ſchlechten, unvaterländiſchen Wegen verſchmähten. Um ſo inniger hängt mein Herz an denen, die ich in dieſem Geſchick erkannt habe, und in denen vielleicht auch meinem Eifer das Bild geſetzt iſt der Beſchränkung, in welcher auch mein Streben erfolglos verkommen ſoll. Mein Leben kann noch tauſendfältigen Wechſel erfahren; ich bleibe ihm wider Willen hingegeben, ſo lange um mich her nichts Stätiges iſt; was man Freude und20306Glück nennt, erwarte ich wenig, ſo lange dieſe Richtung der Zeiten fortdauert; vielleicht ſieht das fernſte Ziel meines Lebens das nicht im geringſten erfüllt, wonach ich ſtrebe; aber meine ſpäteſte Zukunft wird dennoch für meinen Blick erhellt, wenn ich mir denke, ich könne in hohem Alter, nach überſtandenen Kämpfen und im Schmerz über ihr Mißlingen, ſtill und feſt ſo daſtehn, wie ich Sie, Verehrungswürdiger, geſehn habe! Es iſt mir, falls ich lange lebe, ein tröſtliches Bild hoch aufgeſtellt ich wünſche dann ſo zu ſein, wie ich Sie, und wie ich Meyern jetzt ſehe, die mir verſtändlichere Lebensbilder ſind, als die Muſter der Vorwelt, von denen auch nur die auf uns gekommen ſind, die in früherem oder ſpäterem Erfolg die Kraft und Frucht ihres politiſchen Wollens zu zeigen vermocht! Ich machte mir ſchon oft zum Vorwurf, Ihnen damals von dieſem Meyern nicht geſprochen zu haben, und ich will es jetzt thun, um mich zugleich zu rechtfertigen, daß ich ihn neben Sie geſtellt habe, obgleich ſeine Weiſe und beſonders die Lebensbahn, die er durchgangen, von der Ihrigen ganz verſchieden iſt, und nur in der politiſchen Tugend, die ich nirgends größer geſehn, will ich die Einheit ge¬ funden haben! Ich machte ſeine Bekanntſchaft vorigen Winter in Prag, und es traf ſich glücklicherweiſe, daß er einige Monat hindurch mit mir daſſelbe Zimmer bewohnte. Er war beim Aus¬ bruche des letzten Kriegs in öſterreichiſche Dienſte getreten, und Hauptmann bei der Landwehr geworden. Von ſeinen früheren Verhältniſſen habe ich nur wenig, und durch ihn ſelbſt, unge¬ achtet wir ziemlich vertraut waren, beinahe nichts erfahren, weil ſeine Perſönlichkeit überall hinter die Sachen zurücktrat, und er ſich ſelbſt nie bedachte, ſondern nur die Dinge, die er geſehn, und die Gedanken, die er gefaßt, bei ſeinen Geſprächen vor Augen hatte. Dazu ſtimmte auch ſein äußeres Leben, das nach Selbſtwahl in jeder Art enthaltſam, ſtreng und hart iſt;307 er bedarf wenig Schlafs, geringer Koſt, ſeine Kleidung zeigt, daß er ein Mann iſt, der ihrer zu keinem Scheine braucht. Be¬ ſchwerden, Arbeiten, Gefahren, ſcheut er nicht, und hat die Art von Vertrautheit damit, die auf männliche Weiſe jedes Unnöthige zu umgehn, und das Unternommene ſtandhaft zu Ende zu führen weiß. Der Ruhm und das Glück ſeines Volkes ſind ihm das Einzige und Höchſte; er würde dieſes auch auf ungerechte Art herbeizuführen ſuchen; was dem entgegen iſt, das iſt ihm feind; das tiefſte Unglück iſt ihm, und faſt das einzige, ſein Volk ſchmachvoll unterjocht zu ſehn. Dieſe Geſinnung hat er feurig und edel in einem Jugendwerke ausgeſprochen, in einem politi¬ ſchen Roman, Dya-Na-Sore genannt, einem Buche, das mehrere Auflagen erlebt hat, und zu einem großen Rufe gelangt iſt, das in ſeiner etwas wunderlichen Form die edelſten und tiefſten Ge¬ danken darſtellt, und das gediegene Gemüth, und den geſchicht¬ lichen Blick ſeines Verfaſſers nicht verkennen läßt. Durch dieſen ſelbſt hätte ich aber wohl nie etwas von dieſem Buche erfahren; er betrachtete ſich davon wie abgelöſt, und wurde verdrießlich, wenn die Rede darauf kam. Seine ſtrenge Rechtſchaffenheit, ſeine thätige Menſchenfreundlichkeit, ſeine Kenntniſſe und Talente, ſein Schweigen, wo Reden unnütz geweſen wäre, und ſeine Anſpruchloſigkeit grade in den Dingen, in welchen die Menſchen gewöhnlich am meiſten durch Wetteifer beleidigt werden, haben ihn ſeit langer Zeit den Großen angenehm gemacht, und bei der ausgebreitetſten Bekanntſchaft unter ihnen genießt er überall die größte innere Achtung, die ihn der etwa mangelnden äußeren Auszeichnung leicht entbehren läßt. Er hat große Reiſen mit Geſandten, Generalen und andern wichtigen Perſonen gemacht, Deutſchland in allen Richtungen durchwandert, England und Schottland beſucht, Ungarn und Polen geſehn, Italien in allen ſeinen Theilen durchſtrichen, ſieben Monate auf Sicilien gelebt,20 *308und ſich lange in Griechenland, in Konſtantinopel und auf der Küſte von Kleinaſien aufgehalten. Ueberall hat er die Völker ſtudirt und die Natur der Länder erforſcht; ich kann nicht ſagen, mit welcher inneren Freude ich ihm zugehört habe, wenn er Abends mir, ſeinem jüngeren Freunde, belehrend erzählte, gleich¬ ſam durch mein Hören aus ſeinem Schweigen geriſſen, und bald von Bergwerken, von Brücken, Wäldern und Flüſſen, bald von venezianiſchen Sitten, von dem Leben der engliſchen Matroſen (die er überaus liebt), vom Schiffsweſen, von dem Zuſtande der Neugriechen und dem des türkiſchen Reiches, bald von militäriſchen Operationen und alten Schlachtfeldern, lebhaft, ruhig, ſicher, geiſtvoll und treffend erzählte, daß ich oft un¬ willkürlich an den freundlichen Herodotos denken mußte! Die Kriegskunſt verſteht er in allen ihren Zweigen; er würde Sol¬ daten nicht nur anzuführen, ſondern auch zu bilden wiſſen. Alle dahin bezüglichen Gegenſtände ſind ihm ſo vertraut, und geläufig, daß ihm die richtige Kombination von Menſch und Natur zum Behuf des Kriegs in jedem gegebenen Falle wie von ſelbſt verſtehn müßte, und er gewiß immer das Eine nothwen¬ dige träfe. Der Fürſt Ypſilanti wollte einmal durch ihn ſeine kleine Kriegsmacht, die größtentheils erſt geſchaffen werden ſollte, gegen den Paswan Oglu führen laſſen; die eingetretenen, fried¬ lichen Verhältniſſe nahmen ihm dieſe Gelegenheit, wirklich zu zeigen, was er im Felde vermocht hätte. Alles was den Staat angeht, die Anordnung und Erzeugung allgemeiner Geſellſchafts¬ verhältniſſe, hat er mit tiefem Sinn durchdacht; die große Be¬ zwingung der Natur zu menſchlichen Zwecken, die vielen Bau¬ werke, die gegen ihre Feindſeligkeiten der Menſch unternommen, das Weſen der Landwirthſchaft und des Handels, die Kraft der Finanzen, alles hat er in ſeinem klaren Geiſte bearbeitet, alles vielfach geſehn, und in Erfahrungen geprüft. Der Geſchichte iſt309 er kundig, und vorzüglich der deutſchen: Poeſie in Kunſtform ſteht ihm fern, aber vom Staat und von der Geſchichte aus hat er den Shakespeare ausgefunden. Im Gegenſatze der katholi¬ ſchen Umgebung, in der er ſich meiſt befunden, iſt er ſtets ein ſtrenger Proteſtant. Von der Welt will er nichts; ſein Leben iſt ihm gleichgültig; freie Völker, und vorzugsweiſe freie Deutſche zu ſehn, wäre ihm der einzige Troſt: er hatte früher mit den Engländern unterhandelt, Deutſche als Koloniſten nach Sicilien zu führen, wo ſeiner Ausſage nach für mehr als dreißigtauſend Menſchen unbebautes Land liegt; zu einer Auswanderung fände ſonſt er Candia am beſten, das wenige Plätze zum Angriff, und faſt überall gute Vertheidigung darbietet; daß dort aus geret¬ teten Deutſchen gegen die Unterdrücker des Mutterlandes eine Art Malteſerorden ſich feſtſetzte, gehört unter die Ideen, die er vielfach genährt hat, und deren Nicht-Ausführung noch nichts gegen ihre Ausführbarkeit beweiſt. Dieſer treffliche Mann, der wohl, wenn irgend einer, zum Staatsmann geboren ward, nur daß er nicht auch die Umſtände, die ſeinen Gaben nöthig waren, ſchaffen konnte, und ſeiner Perſönlichkeit keine glänzende Erſcheinung zu geben wußte, der nun über fünfzig Jahre alt iſt, und wohl unzählige Schmerzen und Leiden in ſeiner Laufbahn erfahren hat, wie jeder, der mit hellem Geiſte die Verkehrtheit der Handelnden erkennt, und ſein leiſes Reden und Warnen, bei allem Fehlſchlagen ſeiner Mühe, doch immer wieder erneuern muß, hätte auf verſchiedene Weiſe dreimal die Schlacht von Wagram entweder unmöglich gemacht, oder für uns ent¬ ſchieden, wenn man ihn gehört hätte! Er benutzte ſeine Be¬ kanntſchaft und gewohnten Umgang mit Generalen und Vorneh¬ men, um anſpruchslos, wie er war, Einzelnen, die ihm freund¬ lich Gehör gaben, folgende Vorſchläge zu thun, die insgeſammt unbeachtet blieben. Erſtens gab er eine Zeichnung ein, wie ver¬310 mittelſt einiger Balken jeder Donaukahn zum Kanonierboot um¬ gewandelt werden konnte, eine Einrichtung, die er vom engli¬ ſchen Seeweſen her kannte, und mit einigen alten Schiffern völlig ins Werk zu ſetzen ſchon verabredet hatte. Alsdann waren auch wir im Beſitz einer Flottille, wie die Franzoſen, und dieſe konnten nicht ſo leicht Meiſter des Fluſſes werden. Zweitens gab er eine Art von Telegraphen für die Linie unſerer Armee an, die es unmöglich gemacht hätten, daß der Erzherzog Johann den Befehl, nach Wagram zu rücken, zu ſpät erhielt. Drittens hat er oft die einflußreichſten Perſonen dringend aufmerkſam darauf gemacht, wie ſehr es nöthig ſei, das Gebirge Hohenlei¬ then zu verſchanzen; dann war unſer linker Flügel beim erſten Weichen nicht gleich bloßgeſtellt, wodurch die Schlacht eigentlich verloren ging. Welche Tugend gehört dazu, um in einem Leben, das faſt unaufhörlich in ſolchem vergeblichen Wiſſen und Bemühen ſich hinſchleppt, doch wieder thätig und freudig einzu¬ greifen, ſo oft nur der geringſte Keim des Beſſern ſich leiſe regt! Und wie wäre dieſer Mann vielleicht in einer günſtigen Lage erſt erſchienen? Wer will ergründen, welche Kraft dann entfaltet worden wäre? Was wir ſehn, ſind gerettete Trümmer; von ihnen haben wir auf das mögliche Ganze zu ſchließen! Sie ſehn, Verehrungswürdiger! daß jener nicht unwerth iſt, neben Ihnen genannt zu werden, und daß ich nicht unbillig ſeinen treuen ſtillen Ernſt, und ſein geſchichtliches Daſtehn mit dem verglich, das aus Ihnen zu mir ſprach, und mir iſt es, als hätte ich mich einer längſt verſchuldeten Pflicht entledigt, daß ich Ihnen von dieſem Mann endlich geſprochen habe! Die Geſchichte rauſcht vorüber im Sturme, und die Nachwelt erfährt nicht, welches Licht im Verborgenen dieſe Zeit durchleuchtete; ſie trägt wohl gar die Klage und den Vorwurf mit hinüber, daß arm die Deutſchen in ihr geweſen an großen Talenten für311 den Staat, und eine auf Bücherweſen gerichtete Geiſtesbildung, mehr in Wort als in That, das einzige ſei, was in dieſen Zei¬ ten uns gegeben worden; und dennoch ſcheint die ganze Ge¬ ſchichte doch nur um ſolcher Männer willen da zu ſein! War nicht auch der Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen ein junger Held, den ungünſtige Schickſale den Anſprüchen ſeines Volkes ſchon zerſtört und verzehrt hatten, als er anfangen ſollte, ſpät dieſelben zu erfüllen? Ich weiß es; Sie lieben dieſen Prinzen nicht, und ich erinnere mich wohl, daß Sie ihn hart beſchul¬ digten; aber Sie kannten ihn nicht, und niemand wurde jemals ſo wie er von wahrhaftigen Gerüchten dennoch nur verläumdet, weil dieſe Gerüchte wohl die äußere Thatſache zum ſcheinbaren Beleg hatten, aber nicht die inneren Gründe zur wahrhaften Erklärung. Deßhalb auch würde ein Dichter in einem Trauer¬ ſpiel dieſen Prinzen treuer darſtellen können, als ein noch ſo begabter, aber undichteriſcher Geſchichtſchreiber.

So weit unſer Brief. Auch in den ſpaͤtern Ereig¬ niſſen oͤffnete ſich fuͤr Meyern die Bahn der Thaͤtigkeit nicht, auf der ihm ein Blatt in der Geſchichte der Ereigniſſe haͤtte werden moͤgen! Aber Denkwuͤrdig¬ keiten ſeines Lebens und Wirkens waͤren wohl zu einem Buche zu ſammeln, das einen edlen Menſchen uns zu reicher, aufweckender und troͤſtlicher Unterhal¬ tung aufbewahrte. Er lebte ſpaͤter in Wien, dem großen Generalſtab angehoͤrig, und unter der Leitung des geiſt¬ vollen Generals Grafen von Radetzky, fuͤr militaͤriſche Bildung und Geſetzgebung vielfach thaͤtig.

312

Im Jahre 1815 war er mit den Truppen in Paris, wo er den Grafen von Schlabrendorf perſoͤnlich kennen lernte. Beide achteten ſich gegenſeitig, zogen einander jedoch nicht an. Meyern erhielt den Auftrag, die aus den oͤſterreichiſchen Staaten in Paris befindlichen Kunſt¬ werke in ihre Heimath zuruͤckzuſenden. Spaͤter lebte er in Rom, der dortigen oͤſterreichiſchen Botſchaft bei¬ gegeben. In Frankfurt am Main war er, ſo viel uns bekannt, der Bundes-Militaͤrkommiſſion zugetheilt. Im Jahre 1809 war er Hauptmann, nach zwanzig Jahren war er es noch; freilich fuͤhrte er den ſchoͤnen Namen mit der That, und bedurfte fuͤr ſeine eigne Zufrieden¬ heit keines hoͤheren!

(Seitdem iſt eine treffliche Lebensbeſchreibung des wuͤrdigen Mannes von edler und feſter Hand in den Zeitgenoſſen (Leipzig bei Brockhaus) erſchienen, und hoͤchſt ſchaͤtzbare, anziehende und gehaltreiche Nachrichten von ihm hat Theodor Mundt in der Zeitſchrift Zodiakus und in dem erſten Theile ſeiner Dioskuren dankenswerth mitgetheilt.)

[313]

Ludwig Achim von Arnim.

Ludwig Achim von Arnim verſchied zu Wiepersdorf, im Laͤndchen Baͤrwalde, am 21. Januar im zweiundfuͤnf¬ zigſten Jahre ſeines Alters durch einen ploͤtzlichen Ner¬ venſchlag.

Schon fruͤh durch wiſſenſchaftliche Kenntniſſe und gebildeten Geiſt ausgezeichnet, lieferte er bereits als Juͤngling im Gebiete der Naturforſchung bedeutende Ar¬ beiten, deren Werth noch jetzt anerkannt wird und erſt neuerdings wieder zur Sprache gekommen iſt. Sodann feuriger zur Poeſie gewendet, nahm er in ihr einen eben ſo kuͤhnen, als wunderbaren Schwung, der ſeine eignen Bahnen ſuchte und fand.

Seine Weltanſchauung erweiterte er darauf durch Reiſen und Aufenthalt in der Fremde, ſowohl im Aus¬ lande, als auch beſonders in Deutſchland ſelbſt, deſſen verſchiedene Laͤnder und Volksſtaͤmme ihm durch Neigung und Einſicht ganz eigen vertraut und heimiſch wurden. Aus dieſer tiefen Empfindung und Wuͤrdigung deutſcher314 Volksart ging ſein verdienſtliches und fruchtbares Be¬ muͤhen um die Lieder hervor, deren herrliche Sammlung er gemeinſchaftlich mit Clemens Brentano, ſeinem nach¬ herigen Schwager, in dem beruͤhmten, auch von Goethe mit gebuͤhrendem Preis angezeigten Werke, des Knaben Wunderhorn genannt, mit geiſtreicher Sorgfalt heraus¬ gegeben.

Aber auch ſeine eigene Poeſie entfaltete nun ihre Schwingen glaͤnzender. Die Graͤfin Dolores, Halle und Jeruſalem, die Novellen und Schauſpiele mannigfacher Geſtalt, welche nach und nach erſchienen, ſind Werke eines ſo heitern, als tiefen Genius, dem es jedoch be¬ ſchieden war, in einer auffallenden Sonderbarkeit gegen das Publikum dazuſtehen, welche aufzuheben dieſes keinen Drang und der Dichter ſelbſt kaum den Willen hatte, daher das Verhaͤltniß zwiſchen beiden nicht das lebendig durchgreifende und ausgebreitete werden konnte, wozu doch die Anlagen ſonſt ſo uͤberſchwenglich vorhanden waren und einige Nachgiebigkeit von einer oder der andern Seite nothwendig haͤtte fuͤhren muͤſſen.

Inzwiſchen hatten ſchwere und langwierige Unfaͤlle das Vaterland betroffen, und Arnim wurde von ihren Wirkungen in ſeinem Gemuͤthe wie in ſeinen perſoͤnlichen Verhaͤltniſſen ernſtlich heimgeſucht. Ein ungluͤcklicher Vorfall wirkte verhaͤngnißvoll auf ſein ganzes folgendes Leben. Als Grundbeſitzer und Landwirth dem Drucke der Zeitumſtaͤnde vorzuͤglich ausgeſetzt, hatte er mit allen315 Verwicklungen und Bedraͤngniſſen zu kaͤmpfen, welche den ausdauernden Haushalter, den Vaterlandsfreund, den ſorgſamen Familienvater wechſelsweiſe in Anſpruch nahmen.

Unter großen Sorgen und Arbeiten, mit Selbſtver¬ laͤugnung dem glaͤnzenderen Anreiz entſagend, und nur die unerlaͤßlichſte, naͤchſte Pflicht erfuͤllend, ſah er end¬ lich die Tage der Befreiung, die Herſtellung des gelieb¬ ten Vaterlandes, deſſen großer Sache er die reinſte Geſinnung gewidmet hatte, wenn gleich ein beſonderes Mißgeſchick ihn fuͤr daſſelbe thaͤtig aufzutreten immer verhindert hatte.

Ein neues Aufleben begann in dem wieder gewon¬ nenen Lebensraum nun auch der deutſchen Literatur. Arnim hatte die ſchoͤnſten und gehaltreichen Gaben, die er im Sturm und in der Stille der Zeiten gleicherweiſe gepflegt, den erwartungsvollen Landsleuten darzubieten; allein die Befremdung, um nicht zu ſagen die Ent¬ gegenſetzung, zwiſchen Autor und Publikum hatte ſich auf keiner Seite gehoben und wollte ſich auch jetzt nicht ausgleichen; die belebende Wechſelwirkung zwiſchen beiden trat wohl mit ungemeiner Staͤrke, doch nur in verein¬ zelten Kreiſen ein, der entſprechende allgemeine Erfolg unterblieb, und eine neue Stockung war nicht zu ver¬ meiden. Doch werden die Kronenwaͤchter, die Gleichen und ſo manche andere erzaͤhlende und dramatiſche Dich¬ tung Arnims immer bedeutende Denkmale einer gro߬316 artigen Phantaſie und außerordentlichen Dichterkraft bleiben, deren volle Anerkennung vielleicht nun nicht mehr fern iſt und gewiß nur um ſo glaͤnzender zu er¬ warten ſteht, als ſie den Spaͤterlebenden ſich neben dem Unwerthe ſo vieles Gleichzeitigen nur immer deutlicher hervorheben muß. Immer jedoch wird es tief zu bekla¬ gen ſein, daß ein ſo großes dramatiſches Talent ſeine volle Entfaltung und Wirkſamkeit, aus Mangel einer eingreifenden und begeiſternden Schaubuͤhne, unſerem gerade in dieſem Fache ſo uͤbelberathenen Zeitalter nicht beweiſen durfte!

Ihn ſelbſt vermochten in ſeiner einfachen Haltung, in ſeinem Gleichmuthe, der niemals einem Scheine nach¬ hing, ſondern unter allen Bedingungen nur dem innern Genius folgte, keine aͤußerliche Mißſtaͤnde noch Stoͤrun¬ gen zu beugen. In den Wiſſenſchaften, in der Dicht¬ kunſt, in den Geſchaͤften des buͤrgerlichen Lebens, wie in den Vergnuͤgungen der Geſelligkeit, uͤberall nur dem Schoͤnen und Geiſtigen, der Redlichkeit und Bildung zugewandt, war er eine ſtets erfreuende Erſcheinung, deren Naͤhe Gehaͤſſiges verſcheuchte und Geringes nieder¬ hielt, und das Element, in welchem er lebte, auch fuͤr Andre darbot.

Doch, was Arnim durch hohen und ſchoͤnen Sinn, durch dichteriſches Talent, durch perſoͤnliches Handeln und Anregen, als Stifter und Genoſſe mannigfach loͤb¬317 licher Thaͤtigkeit, ſowohl im Leben, als in der Litera¬ tur, nach den verſchiedenſten Richtungen gewirkt und geleiſtet, iſt hier nicht umſtaͤndlich darzulegen. Hier ſei nur noch erwaͤhnt, daß er ſo thaͤtig als anſpruchslos, ſo eifrig als gelaſſen, allen Verhaͤltniſſen ein uneigen¬ nuͤtziges, freies und kraͤftiges Gemuͤth zubrachte, allem Menſchlichen offen, insbeſondere aber dem Vaterlaͤndi¬ ſchen hold war, in deſſen feſtem Grunde ſein Weſen tief wurzelte und dabei uͤber jede Schranke mit dem Geiſte doch frei hinausblickte.

Durch Verwandtſchaft, Freundſchaft und jedes andere Band eines reichen Lebens den erſten und bedeutendſten Maͤnnern der Nation verknuͤpft, zaͤhlt ſein Name in allen Gegenden von Deutſchland verehrende Freunde und Angehoͤrige, die ſich vereinigen werden, um ſein ehrenvolles Andenken mit treuer Neigung auch als ein allgemeines zu bewahren und zu erhoͤhen.

Wir ſchließen unſere Anzeige mit folgendem ſchoͤnen, aus den Kronenwaͤchtern entlehnten Gebete des Dich¬ ters, welches nun als eine merkwuͤrdig prophetiſche Grabſchrift, beſonders auch durch die letzte Zeile, erſchei¬ nen darf:

Gieb Liebe mir und einen frohen Mund,
Daß ich Dich, Herr, der Erde thue kund,
Geſundheit gieb bei ſorgenfreiem Gut,
Ein frommes Herz und einen feſten Muth:
318
Gieb Kinder mir, die aller Mühe werth,
Verſcheuch die Feinde von dem trauten Heerd;
Gieb Flügel dann und einen Hügel Sand,
Den Hügel Sand im lieben Vaterland,
Die Flügel ſchenk 'dem abſchiedſchweren Geiſt,
Daß er ſich leicht der ſchönen Welt entreißt!
[319]

Wilhelm Nolte, Königlicher wirklicher Oberkonſiſtorialrath. Geſtorben zu Berlin, den 2. Juli 1832.

Wir haben den Verluſt eines unſerer edelſten Mitbuͤr¬ ger, eines liebevollen und thaͤtigen Menſchenfreundes, in dem Hinſcheiden des Mannes zu betrauern, deſſen ehrwuͤrdiger Name Ueberſchrift dieſer Zeilen bildet, und wir fuͤhlen uns um ſo eifriger gedrungen, ihm einen Nachruf des Schmerzes und der Anerkennung oͤffentlich zu widmen, als er ſelbſt, waͤhrend eines ſchoͤnen und verdienſtvollen Lebens, welches fuͤr die Welt durch ſeltene Eigenſchaften des Geiſtes und Herzens die ſegenreichſten Wirkungen raſtlos ausuͤbte, fuͤr ſich keinen Gewinn in Ruhm und Namen ſuchte, ſondern in ſtiller Wuͤrde und reinem Wandel beſcheiden dahin lebte. Doch muͤſſen wir an dieſem Orte fuͤrerſt uns begnuͤgen, den Umriß ſeines Lebens und Karakters in gedraͤngtem Ueberblicke darzulegen.

320

Johann Wilhelm Heinrich Nolte wurde am 27. No¬ vember 1786 zu Berlin geboren. Er ſtammte aus einer achtbaren Buͤrgerfamilie, und der Vater, ein uͤberaus redlicher und mit ungewoͤhnlicher Klarheit in die Ver¬ haͤltniſſe des Lebens blickender Mann, ſorgte eifrig dafuͤr, durch guten Unterricht die fruͤhzeitig ſichtbaren Anlagen des Sohnes zu entwickeln. Dieſer beſuchte von der zarteſten Jugend an die Realſchule, ging mit einem reichen Vorrathe von Kenntniſſen und Fertigkeiten zu dem mit dieſer Schule in enger Verbindung ſtehenden Paͤdagogium, dem nachmaligen Friedrich-Wilhelms - Gymnaſium, uͤber, und gewann hier inſonderheit das Studium der aͤlteren und neueren Sprachen lieb, worin er bald die ausgezeichnetſten Fortſchritte machte. Ohne hinlaͤngliche Mittel, eine Univerſitaͤt zu beziehen, und fuͤr die Erweiterung ſeiner Vorkenntniſſe eifrig, haͤtte er gern noch laͤnger die Schule beſucht, als ein guͤnſti¬ ger Umſtand ihn unerwartet zur Univerſitaͤt befoͤrderte. Die Oberkonſiſtorialraͤthe Teller, Buͤſching und Gedike pruͤften ihn gleichzeitig mit ſeinem Jugendgenoſſen Kieſe¬ wetter und einigen Anderen, und die Folge war, daß ihm das kurmaͤrkiſche Stipendium auf drei Jahre und gleich darauf noch ein zweites zu Theil wurde. Er ging daher Oſtern 1785 nach Halle, waͤhlte das Studium der Theologie und hoͤrte die wichtigſten theologiſchen Vorleſungen bei Noͤſſelt, Knapp und Niemeyer, philo¬ ſophiſche und philologiſche bei Eberhard, Jakob und321 Friedrich Auguſt Wolf, aber auch die Naturwiſſenſchaf¬ ten und die Geſchichte zog er mit Eifer in den Kreis ſeiner Studien.

Um Oſtern 1788 nach Berlin zuruͤckgekehrt und noch ſchwankend, ob er die theologiſche Laufbahn ver¬ folgen oder ſich ganz dem Lehr - und Erziehungsfache widmen ſolle, nahm er, jedoch nur auf kurze Zeit, eine Lehrerſtelle in einem vornehmen Hauſe an, worauf er, dem Miniſter Grafen von Hertzberg durch ſeine perſoͤn¬ liche Erſcheinung und ſeine vielverſprechenden Faͤhigkeiten empfohlen, bei dieſem beruͤhmten Staatsmanne Sekre¬ tair wurde. Eine Anſtellung in dem auswaͤrtigen De¬ partement konnte ihm hier nicht entgehen, und es iſt kein Zweifel, daß in dieſer Bahn ſeine Faͤhigkeiten volle Anerkennung gefunden haben wuͤrden; allein der Aus¬ tritt ſeines Goͤnners aus den Geſchaͤften vereitelte dieſe Hoffnungen. Er ließ ſich dies nicht allzu leid ſein, und kehrte gern zu dem Unterrichtsfache zuruͤck, wo ihm, wenn auch minder glaͤnzende, doch um ſo gruͤndlichere Erfolge beſtimmt waren. Er wurde im Jahre 1791 Lehrer an dem Paͤdagogium und der Realſchule, wo er ſowohl in den gewoͤhnlichen Schulgegenſtaͤnden, als auch im Franzoͤſiſchen und Engliſchen den vortrefflichſten Unterricht ertheilte. Im Jahre 1798 empfing er die Stelle eines Profeſſors am Friedrich-Wilhelms-Gym¬ naſium, wie auch eines Lehrers der deutſchen Sprache, der Geographie und Geſchichte bei der Koͤniglichen21322medeziniſch-chirurgiſchen Pepinière. Seine Klarheit im Vortrage, ſein unverdroſſener Eifer und ſeine freundliche Sanftmuth machten ihn ſeinen Zuhoͤrern eben ſo nuͤtz¬ lich als werth und angenehm, und ſelten hat ein Lehrer von einer gemiſchten Jugend ſo allgemeinen Dank und allgemeine Zuneigung eingeerntet.

Sein ausgezeichnetes Verdienſt in dieſer bis zum Jahre 1804 ſo gluͤcklich fortgeſetzten Thaͤtigkeit blieb aber auch hoͤheren Ortes nicht unbemerkt noch unbelohnt. Man ſchaͤtzte ſeine Kenntniſſe und Lehrgaben, mehr aber noch die ſchoͤnen ſittlichen Eigenſchaften, welche ihn da¬ bei beſeelten, den reinen Antrieb und Eifer, die Gewiſ¬ ſenhaftigkeit, den Fleiß, den ſicheren und feinen Takt in Behandlung der Geſchaͤfte und Menſchen, den hellen Verſtand und die feſte Ausdauer, welche er in kleinen wie in groͤßeren Dingen bewies. Er wurde deshalb in die Oberbehoͤrde des geſammten Unterrichtsweſens berufen und in dem damaligen Koͤniglichen Oberkonſiſtorium und Oberſchulkollegium zuerſt als Aſſeſſor, dann im naͤmlichen Jahre ſchon als Oberkonſiſtorialrath angeſtellt. Hier begann eine neue, ihm hoͤchſt erwuͤnſchte und unter ſeinen Haͤnden uͤberall fruchtbare Geſchaͤftsthaͤtig¬ keit, in welcher er ſein uͤbriges Leben hindurch getreu geblieben iſt.

Die Unfaͤlle des Jahres 1806 erſchuͤtterten ihn ſehr, ſtaͤrkten aber zugleich ſeinen Muth in treuer Anhaͤnglich¬ keit an Koͤnig und Vaterland zu ſtets erneuter Hoff¬323 nung und zu jeder erhoͤhten Anſtrengung und Hingebung. Bei Gelegenheit der neuen Organiſation der Staatsbe¬ hoͤrden, und da in Folge derſelben auch das ſeitherige Oberkonſiſtorium aufgeloͤſt wurde, erhielt er im Jahre 1809 eine neue Stellung in der geiſtlichen und Schul¬ kommiſſion der Koͤniglichen Regierung zu Potsdam.

Im Jahre 1816 trat er in das neu errichtete Kon¬ ſiſtorium der Provinz Brandenburg uͤber, bei welchem er ſeitdem verblieb. Im Januar des folgenden Jahres geruhte der Koͤnig, ihm unter ehrenvoller Anerkennung ſeiner vielfachen Verdienſte den rothen Adlerorden dritter Klaſſe zu verleihen. Im Jahre 1826 erhielt er die Auszeichnung, zum wirklichen Oberkonſiſtorialrath er¬ nannt zu werden.

Unmoͤglich waͤre es, hier die Mannigfaltigkeit, den Umfang und die Schwierigkeit der Geſchaͤfte und Ar¬ beiten aufzuzaͤhlen, die ihm in dieſer Stellung theils von Amts wegen oblagen, theils durch das Vertrauen ſeiner Mitbuͤrger zugewendet wurden, theils durch frei¬ williges Anbieten ſeines gepruͤften Rathes und ſeiner thaͤtigen Huͤlfe ſich anhaͤuften. Einige der gemeinnuͤtzi¬ gen Anſtalten, wir nennen hier vor allen die Louiſen¬ ſtiftung, das Friedrichsſtift und die Gewerbsſchulen, welchen er Mitvorſteher und Theilnehmer war, haben in oͤffentlichen Blaͤttern bereits ausgeſprochen, was ſie ihm verdanken, wie ſie ihn vermiſſen; und von wie vielen Seiten noch koͤnnten aͤhnliche Bekenntniſſe geſchehen,21 *324wenn uͤberall der Gedanke und das Gefuͤhl ſogleich die beredten Worte faͤnde!

Obgleich waͤhrend ſeines ganzen Lebens vorzugsweiſe durch, die naͤchſten Pflichtarbeiten und in praktiſchen Ver¬ haͤltniſſen ſtets und ſtark beſchaͤftigt, wußte der treffliche Mann doch einige Muße auch zu litterariſchen Arbeiten zu benutzen. Er haͤtte als Schriftſteller, waͤre ihm ver¬ goͤnnt geweſen, eigene groͤßere Kompoſitionen zu liefern, unſtreitig ſehr bedeutend werden koͤnnen, und ſeine Schreibart gehoͤrt auch jetzt zu den muſterhafteſten im Deutſchen; allein er hatte auch hier zunaͤchſt den prak¬ tiſchen Zweck der Verbreitung von Kenntniſſen und der Erleichterung des Unterrichts im Auge. So entſtanden außer einer ſchon in vielen Auflagen wiederholten Chreſto¬ mathie zum Ueberſetzen aus dem Deutſchen in's Fran¬ zoͤſiſche, einer mit Anmerkungen verſehenen ſehr ſchaͤtz¬ baren Ausgabe des Vicar of Wakefield und einer aͤhnlichen des Macbeth, insbeſondere die trefflichen Hand¬ buͤcher der franzoͤſiſchen und engliſchen Litteratur und Sprache, die er in Gemeinſchaft mit ſeinem Freunde Ideler bearbeitet und herausgegeben, und worin die gedraͤngten, aber alles Nothwendige und Karakteriſtiſche gluͤcklich zuſammenfaſſenden Lebensbeſchreibungen der Autoren in ſolchen gegebenen Rahmen nicht ſelten wahre Meiſterſtuͤcke geworden ſind.

Seine aͤußeren Lebensverbindungen waren ſehr ein¬ fach. Er hatte das Gluͤck, ſeinen wackeren Vater, der325 in dem Sohne ſo ſchoͤne Hoffnungen erfuͤllt ſah, bis zu dem Lebensalter von zweiundachtzig Jahren bei ſich zu pflegen. Verheirathet war er nie. Mit einer einzigen Schweſter, die ihn eben ſo heiß liebte, als ſie ihn ein¬ ſichtig zu wuͤrdigen verſtand, lebte er in edlem haͤusli¬ chen Verhaͤltniſſe gluͤcklich vereint.

Einem reichen Kreiſe bewaͤhrter Freunde brachte er ſtets unveraͤnderte Innigkeit und Treue zu; auch die Beziehungen der allgemeineren Geſelligkeit belebten und erhoͤhten ſich in ſeinem Umgange; die wohlwollende Hei¬ terkeit ſeines Gemuͤthes, ſein angenehmer Sinn und reich ausgeſtatteter Verſtand aͤußerten ſich in den feinſten und gebildetſten Formen, und ſein ganzes Benehmen und Geſpraͤch ſtellten einen Mann dar, deſſen auch die hoͤchſten Klaſſen der Geſellſchaft ſich haͤtten ruͤhmen duͤrfen. Seine Guͤte und Sanftmuth, welche doch dem Ernſt und der Feſtigkeit, deren das Recht oder die Wahrheit bedarf, niemals Eintrag thaten, blieben ſich auf hoͤheren und niederen Stufen vollkommen gleich. Dieſe Eigenſchaften waren bei ihm durchaus Tugenden, keiner Schwaͤche entſpringend, noch ſolche erzeugend, mit dem erfreuenden Anſchein auch das wohlthuende Weſen verbindend. Von ihm kann die ſeltene Verſicherung gelten, daß er waͤhrend ſeiner ganzen Laufbahn niemals einen Mitmenſchen gekraͤnkt, ihm aus Abſicht oder Leichtſinn geſchadet, ihn gehaßt, verkleinert oder gehemmt326 habe; vielmehr erſchien er ſelbſt Gegnern wohlmeinend, behuͤlflich und zu jedem Guten freudig.

In den Herzen derer, die ihn gekannt und geliebt, die mit ihm gearbeitet, die durch ihn gewonnen haben, wird er unvergeßlich fortleben, wie in dem Wirken ſelber, das von ihm ausgegangen, und deſſen Segen noch beſtehen wird, wenn auch der theure Name dabei nicht mehr im Einzelnen uͤberall deutlich genannt zu werden vermag!

[327]

Ludwig Robert.

Ludwig Robert wurde geboren zu Berlin im December des Jahres 1778. Die wohlhabende und geachtete Familie, der er angehoͤrte, fuͤhrte damals den Namen Levin, den ſie ſpaͤter mit dem Namen Robert-Tornow vertauſchte. Er genoß im elterlichen Hauſe, das durch geiſtige Bildung und geſellige Verhaͤltniſſe vor vielen andern ausgezeichnet war, eine ſorgfaͤltige Erziehung, und den Unterricht, welcher ſeinen vorzuͤglichen Anlagen zu entſprechen ſchien. Sodann beſuchte er das franzoͤ¬ ſiſche Gymnaſium. Den Verſuch, ſich dem Kaufmanns¬ ſtande zu widmen, weßhalb er nach Breslau und Ham¬ burg reiſ'te, gab er ſehr bald auf, und lebte fortan ganz den freien Studien und dichteriſchen Arbeiten, zu welchen er die entſchiedenſte Neigung trug. In dem Geſellſchaftskreiſe ſeiner Schweſter Rahel fand er hiezu jede Anregung und Foͤrderniß durch den belebten Um¬ gang der intereſſanteſten Maͤnner und Frauen, welche damals in Berlin zu finden waren. Sein Sinn war328 aber in gleicher Weiſe dem philoſophiſchen Nachdenken wie dem aͤſthetiſchen Bilden zugewendet, und neben Goͤthe wurde ſchon fruͤh Fichte ſein Leitſtern auf dem Wege des Lebens und der Wiſſenſchaft. Eine beſondre Selbſtſtaͤndigkeit bewies er darin, daß er ſich von dem Einfluſſe der Schlegel, die er beide perſoͤnlich wohl zu wuͤrdigen verſtand, nicht fortreißen oder beherrſchen ließ, ſondern eine Bahn verfolgte, welche dem Karakter der fruͤheren deutſchen Litteratur mehr entſprach, und zu dem auch die ſpaͤtere, in den ausgezeichnetſten Ta¬ lenten der Nation, wieder zuruͤckkehrte.

Die lyriſchen Erſtlinge ſeiner Dichtkunſt erſchienen in dem Muſenalmanach von Chamiſſo und Varnhagen fuͤr das Jahr 1804. Sie wurden weniger guͤnſtig auf¬ genommen, als ſie verdienten; vielleicht, weil ſie auch in der Form weniger, als die der andern jungen Ge¬ noſſen, jener Schule huldigten. Sein Eifer wandte ſich aber bald vorzugsweiſe der Buͤhne zu. Ein Luſt¬ ſpiel, die Ueberbildeten, dem er die Précieuses ridi¬ cules von Molière ſehr gluͤcklich zum Grunde gelegt, wurde in Berlin mit Beifall aufgefuͤhrt, wiewohl die ſatiriſchen Scherze uͤber die Schlegel'ſche Schule und die Parodirung ihrer Formen ihm auch viele Gegner weckten. Der Muſik wohl kundig, dichtete er eine Oper, die Sylphen, die von dem Kapellmeiſter Himmel komponirt wurde, aber bei der Auffuͤhrung nur theilweiſe gefiel, weil Dichter und Muſiker alles329 Maß auch des Guten und Beſten, was man dem Pu¬ blikum an Einem Abend anfzunehmen zumuthen darf, uͤberſchritten hatten. Das Gedicht aber iſt mit großer Sorgfalt entworfen und ausgearbeitet, und darf auch ohne Huͤlfe der Kompoſition, als dramatiſches Erzeug¬ niß, mit vollem Rechte fuͤr ſich beſtehen.

Nachdem Robert einen Theil von Deutſchland ge¬ ſehen, und auch in Wien einen laͤngeren Aufenthalt gemacht, beſuchte er die Univerſitaͤt Halle, wo er jedoch den Vorleſungen wenig Geſchmack abgewann, ſondern meiſt eignen Studien und edlem Freundesumgange lebte. Er machte hierauf eine Reiſe nach Holland, und begab ſich dann nach Paris, wo er ein dichteriſch genußreiches und fleißiges Leben fuͤhrte, bis ihn die Ungluͤcksfaͤlle Preußens im Jahre 1806 nach Berlin zuruͤckriefen. Fuͤr die Buͤhne lieferte er hier zunaͤchſt wieder eine Ueberſetzung, die des Trauerſpiels Omaſis von Baour-Lormian, welche, in trefflichen Alexandri¬ nern gearbeitet, dieſer Versart fuͤr den tragiſchen Ge¬ brauch im Deutſchen neuen Eingang verſchaffen wollte. Eigne Hervorbringungen hielt er, wiewohl ſehr frucht¬ bar und ſonſt auch gern mittheilend, aus der Oeffent¬ lichkeit immer lange zuruͤck; auch konnte die Ruͤckſicht auf das Publikum ihn ſelten bei ſeinen Arbeiten be¬ ſtimmen, die er im Gegentheil voͤllig frei, nach ganz perſoͤnlichen Antrieben und Stimmungen, oft nur fuͤr einzelne Gelegenheiten, oder fuͤr einen kleinen Kreis330 von Hoͤrern abſichtlich einrichtete, und grade an ſolchen Erzeugniſſen das meiſte Behagen fand. Doch uͤbergab er der Buͤhne nun bald nach einander zwei eigne Werke, Jephtha’s Geluͤbde, ein Trauerſpiel in Jamben, das in Berlin, Weimar, Hamburg, Mannheim und andern Orten mit Beifall gegeben wurde, und dann die Macht der Verhaͤltniſſe, ein Trauerſpiel in Proſa, welches auf allen Buͤhnen Deutſchlands eine große Wirkung hervorbrachte, und heutiges Tages hervor¬ bringt; daſſelbe iſt ohne Zweifel die gehaltreichſte, eigen¬ thuͤmlichſte und kraftvollſte ſeiner dramatiſchen Arbeiten.

In dieſer Zeit hatte er ſich auch durch Fichte’s Umgang und Lehre vollkommen in deſſen philoſophiſchen Anſichten befeſtigt, mit welchen er ſeine gluͤcklichſten Ueberzeugungen verbinden konnte, und denen er zu¬ gleich den leichteſten Uebergang zu den Lehren des Chriſtenthums verdankte, welchen er ſeitdem mit ernſter Wahrhaftigkeit, aber auch mit aller Freiheit eines pro¬ teſtantiſchen Forſchers, anhing.

Die fruchtbare Thaͤtigkeit ſeines philoſophiſchen und dichteriſchen Geiſtes wurde durch die Kriegsbewegungen des Jahres 1812 unterbrochen. Geſchaͤfte, welchen er ſich aus Ruͤckſicht fuͤr Andre frriwillig unterzog, fuͤhrten ihn auf einige Zeit nach Polen, von wo er krank zu¬ ruͤckkehrte. Im Fruͤhjahr 1813, als Preußen ſich gegen den Feind erhob, war auch Robert fuͤr die Sache des Vaterlandes begeiſtert, und verbreitete, noch unter des331 Feindes Herrſchaft, und nicht ohne Gefahr, einen kraͤf¬ tigen Aufruf zum Kampfe. Er ſelbſt hatte fruͤher rit¬ terliche Uebungen ſehr geliebt, als Fechter und Turner große Geſchicklichkeit gezeigt; in juͤngeren Jahren wuͤrde der Kriegsdienſt ihm eine willkommene Laufbahn ge¬ weſen ſein. Jetzt, nicht jung genug, um unter den freiwilligen Jaͤgern zu dienen, getrennt von den Freun¬ den, bei welchen er eine ihm gemaͤße Stellung haͤtte finden koͤnnen, krank und mißmuthig im Gefuͤhl per¬ ſoͤnlichen Zuruͤckſtehens, mußte er ſich der Verknuͤpfung unguͤnſtiger Umſtaͤnde fuͤgen, und einen andern Aus¬ weg waͤhlen, ſeine Geſinnung und ſeinen Eifer zu be¬ thaͤtigen. Er benutzte das Anerbieten des ruſſiſchen Geſandten Grafen Goloffkin, der bei ſeiner Miſſion in Stuttgart ihm eine diplomatiſche Thaͤtigkeit eroͤffnete, welche fuͤr die gemeinſame Sache auf dieſem Punkte ſo wichtig als erſprießlich ſein mußte.

Mit ehrenvollſter Anerkennung ſeiner geleiſteten Dienſte ſchied er noch waͤhrend des Sommers 1814 aus dieſem angenehmen und zu vertraulicher Freund¬ ſchaft gewordenen Verhaͤltniſſe, indem er zu der freien Muße gern zuruͤckkehrte, die ſeiner Lebensgewoͤhnung mehr als andre Vortheile noͤthig geworden war. Den großen Ereigniſſen hatte inzwiſchen auch ſeine Dichtung eigenthuͤmliche Darſtellungen und Erguͤſſe gewidmet, und ein Theil der begeiſterten Geſaͤnge, welche ſpaͤter unter dem Titel Kaͤmpfe der Zeit im Druck her¬332 auskamen, waren in Stuttgart gedichtet, und von dem Verfaſſer dort in gewaͤhlten Kreiſen, und auch am Hofe, unter groͤßtem Beifall vorgeleſen worden.

Nach einigem Aufenthalt in Frankfurt am Main, ſah er zuvoͤrderſt Berlin wieder, lebte dann einige Zeit in Breslau, wo er in Verbindung mit ſeinem Freunde Schall eine heilſame Wirkung auf die Schaubuͤhne moͤglich glaubte, wohin ſeine Neigung, ſein Nachdenken und ſeine Thaͤtigkeit noch ſtets gerichtet waren. Doch lebten in ſeiner Erinnerung die angenehmen Eindruͤcke des Aufenthalts in Suͤddeutſchland fort, und als ſeine Schweſter ihren Wohnort auf laͤngere Zeit in Karls¬ ruhe hatte, folgte auch er den Einladungen, welche ihn dorthin und nach Stuttgart zuruͤckriefen.

Hier lebte er darauf mehrere Jahre, im Genuſſe der gluͤcklichſten Freiheit, angeſehen und beliebt in den erſten Kreiſen, die er doch faſt mied und ſtets ver¬ nachlaͤſſigte, einzig ſeinen dichteriſchen Beſchaͤftigungen nachhaͤngend, und in vertraulichem Freundſchaftsum¬ gange nur ſeiner gemuͤthlichen Neigung folgend. Da¬ bei nahm er an den Bewegungen der Zeit lebhaften Antheil, und ſprach ſeine Geſinnung, die ſtets den Fortſchritten der allgemeinen Entwicklung, dem Men¬ ſchenwohl, der Sache vernuͤnftiger Freiheit und aͤchter Bildung gewidmet war, bald in ſtrengem Ernſte, bald in ſcharfem Witz und heitern Scherzen aus. Der Wechſel des Aufenthalts in den nahe liegenden Staͤdten333 Stuttgart, Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg, Baden, Straßburg, erhoͤhte den Reiz eines Dichterlebens, dem nichts in der Welt zu fehlen ſchien, und das gleich¬ wohl ſeinen beſten Gewinn noch erſt finden ſollte.

Im Jahre 1818 lernte er ſeine kuͤnftige Gattin kennen, Friederike Braun, ausgezeichnet durch bewun¬ dernswuͤrdige Schoͤnheit, ſo wie durch ſeltne Vorzuͤge des Herzens und einnehmende Geiſtesgaben. Robert hatte fruͤher nie an ein Heirath gedacht; jetzt war ſein Entſchluß, als er ſeine Neigung erwiedert fand, un¬ widerruflich entſchieden. Doch erſt im Jahre 1822 konnte die gewuͤnſchte Verbindung erfolgen, und gleich darauf wurde eine Reiſe nach Norddeutſchland ange¬ treten.

Er begab ſich zuerſt nach Dresden, wo er ſeine Schweſter Rahel fand, welche den Aufenthalt in Karls¬ ruhe ſeit ein paar Jahren wieder mit dem in Berlin vertauſcht hatte; auch zog der Umgang mit Ludwig Tieck ihn beſonders an. Hierauf lebte er einige Jahre in Berlin, und ſeine dichteriſche Thaͤtigkeit wurde nun mehr und mehr auch eine litterariſche, wozu die ſchon fruͤher angeknuͤpfte freundſchaftliche und geſchaͤftliche Ver¬ bindung mit Cotta reiche Gelegenheit gab. Er nahm beſtimmten und geregelten Antheil an mehreren Zeit¬ ſchriften; beſonders aber blieb die Schaubuͤhne ſein Augenmerk, fuͤr welche er nicht nur durch eigne groͤßere und kleinere Erzeugniſſe, die zum Theil, wie das Luſt¬334 ſpiel Blind und lahm, allgemeines Gluͤck machten, zum Theil, wie das ſatiriſche Stuͤck Kaſſius und Phantaſus, dem gemiſchten Publikum nicht eingaͤng¬ lich genug werden konnten, ſondern auch durch Ueber¬ nahme von mancherlei Arbeiten, zu welchen Talent und Selbſtverlaͤugnung vereint ſein mußten, durch willi¬ gen Beirath, durch belehrenden Unterricht und durch oͤffentliche Kritik, wirkſam blieb.

Dieſe Thaͤtigkeit und Richtung erlitten durch eine abermalige Veraͤnderung ſeines Aufenthalts, den er im Jahre 1824 auf einige Zeit wieder in Karlsruhe nahm, wenig Unterbrechung. Die Schaubuͤhnen von Karls¬ ruhe und Mannheim erfreuten ſich ſeiner wohlmeinen¬ den uneigennuͤtzigen Theilnahme. Eine mit ſeiner Gattin nach Paris unternommene Reiſe blieb ebenfalls nicht ohne Frucht fuͤr die Angelegenheiten der Buͤhne und der Litteratur uͤberhaupt.

Im Jahre 1827 kam Robert wieder noch Berlin, um ſich daſelbſt, wie es ſchien, gaͤnzlich feſtzuſetzen. Ihm waren hier durchaus guͤnſtige Lebensverhaͤltniſſe beſchieden; er genoß des reinſten und vollſtaͤndigſten haͤuslichen Gluͤckes durch ſeine liebenswuͤrdige und liebe¬ volle Gattin; ſeine Schweſter war ihm eine ſorgſame, zaͤrtliche Freundin; er fand Achtung und Anſehn in jedem Kreiſe, den er beſuchen mochte; ſein Ruf als Dichter hatte ſich ausgebreitet und befeſtigt. Auch in ſeinem Wirken fuͤr die Buͤhne zeigte ſich erwuͤnſchte335 Foͤrderniß, und ſeine Arbeiten fuͤr das Koͤnigsſtaͤdtiſche Theater ſchienen dieſem einen neuen Aufſchwung zu verheißen. Allein dieſe letztere Ausſicht beſtand nicht lange, und auch fuͤr das Koͤnigliche Theater, wo man durch friſchen Willen die großen Huͤlfsmittel bisweilen zu einer wuͤrdigen und fruchtbaren Kunſtanſtalt orga¬ niſirt zu ſehen hoffte, mußten die eifrigſten Beſtrebun¬ gen ſich meiſt als vergebliche bekennen.

Die Juli-Revolution in Frankreich und die Zer¬ ruͤttungen, welche ſie in den Niederlanden und Polen zur Folge hatte, ſo wie die Unruhen, die in mehreren deutſchen Laͤndern ausbrachen, wirkten auf Roberts Gemuͤth ſehr verduͤſternd. Seine Freiheitsliebe knuͤpfte ſich an geſetzliche Formen, er wollte Eroͤrterung, Fort¬ ſchritt durch Einſicht; rohe Gewalt und wilde Zerſtoͤ¬ rung waren ihm verhaßt. Die Sache des Vaterlandes und des vaterlaͤndiſchen Koͤnigthums erregte ſeinen tief¬ ſten Antheil, ſeinen reinſten Eifer. Indeß mußte er bald erfahren, daß Zeiten der Unruhe und Verwirrung es am meiſten durch das Verkennen ſind, welches ſo¬ wohl die richtigen Grundſaͤtze im Allgemeinen, als auch die Denkungs - und Verfahrungsart des Einzelnen trifft. Er ſah die Mehrzahl der Menſchen von ganz andern Geſichtspunkten ausgehen, als die ſeinigen waren; ſeine Aeußerungen wurden mißverſtanden, ſeine Triebfedern nicht begriffen; zwiſchen heftigen und blinden Partheimeinungen fand er fuͤr ſeine Ueberzeugungen336 und Urtheile ſelten eine Staͤtte. Mißmuthig zog er ſich mehr und mehr in ſein Innres und auf einen kleinen Kreis des Umgangs mit ſeiner Schweſter, mit einigen juͤngeren Verwandten und bewaͤhrten Freunden zuruͤck.

In ſolcher tiefen Verſtimmung uͤberkam ihn noch der Eindruck der ſteten Annaͤherung des furchtbaren aſiatiſchen Uebels, welches von Rußland und Polen her ganz Europa in Schrecken ſetzte. Als es unvermeidlich zu werden ſchien, daß die Cholera ſich auch dieſſeits der Oder ausbreiten wuͤrde, faßte Robert den Entſchluß, Berlin zu verlaſſen, und fuͤrerſt noch einige Zeit ruhi¬ gen Lebens und Dichtens zu gewinnen, fern von den Stuͤrmen der politiſchen Welt und den Angriffen der moͤrderiſchen Seuche. Die Seinigen redeten ihm leb¬ haft zu, ja er konnte glauben, ſie durch ſein Beiſpiel zur heilſamen Nachfolge zu bewegen. So reiſ'te er im Sommer 1831 ab, und nahm ſeinen Aufenthalt in Baden, wo er auch den Winter zubringen wollte.

Die gehoffte Ruhe jedoch fand er auch hier nicht. Verdaͤchtigungen ſeiner Denkart und abentheuerliche Mißreden folgten ihm aus der Heimath nach, und er glaubte oͤffentlich dagegen auftreten zu muͤſſen. In Baden ſelbſt waren die Gemuͤther hoͤchſt erregt, die Aeußerungen heftig und ſchrankenlos; er ſah ſeine Mei¬ nung mit der ihn umgebenden noch mehr in Wider¬ ſpruch, als dies in Berlin der Fall geweſen war, und337 mußte es geſchehen laſſen, daß Leichtſinn und auch mitunter Bosheit ſeinen redlichen Sinn laut verun¬ glimpften. Stille dichteriſche Thaͤtigkeit und ſein gluͤck¬ liches Gattenverhaͤltniß wurden in dieſer Zeit um ſo mehr ſeine Zuflucht.

Der allgefuͤrchteten Krankheit ſchien er gluͤcklich entgangen, aber in dem bisher bewahrt gebliebenen Lande ſchlich ihn ein andres Uebel todbringend an. Er erkrankte im Juni des Jahres 1832 an einem Ner¬ venfieber, das durch einen Ruͤckfall toͤdtlich wurde. Er entſchlief, nach vorausgegangenem mehrwoͤchentlichen Kampfe, gefaßt und ſanft am 5. Juli, unter der treuen Pflege der troſtloſen Gattin, die ſchon nach wenigen Wochen, von der gleichen Krankheit ergriffen, ihm nachfolgte!

Der Eindruck dieſes doppelten Todesfalles wurde allgemein tiefſchmerzlich empfunden. Dem ausgezeich¬ neten Dichter und edlen Menſchen, der ſchoͤnen, holden Frau und lieblichen Dichterin, denn auch ihr war die Gabe des anmuthigen Liedes verliehen, folgten aus der Naͤhe und Ferne viele herzliche Klagelaute, voll Anerkennung, Bedauern und Sehnſucht. Von den oͤffentlichen Nachrufen, welche uns bekannt gewor¬ den, fuͤgen wir als Zeugniß ehrenvoller Theilnahme hier die beiden nachſtehenden an, einen deutſchen und einen franzoͤſiſchen, die zugleich als bezeichnende Wuͤr¬ digung des Dichtertalents dienen moͤgen, deſſen kritiſche22338Eroͤrterung und Feſtſtellung wir unſrerſeits hier nicht verſuchen.

Noch im naͤmlichen Monate, da Robert geſchieden war, ſprach W. Haͤring uͤber ihn im Freimuͤthigen unter andern Folgendes.

Der Schmerz um einen bewaͤhrten Freund, einen geiſtreichen Dichter, einen werthen Mitarbeiter dieſer Blaͤtter iſt zu neu, unſere Zeit zu gemeſſen, um dieſe Nachricht fuͤr unſere Leſer mit mehr als wenigen An¬ deutungen zu begleiten.

Ludwig Robert iſt in Berlin geboren, in den letzten ſiebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, von beguͤ¬ terten Aeltern. Seine ausgebreitete Familie lebt hier im Wohlſtande und ehrenvollen Stellungen. Auch er ſelbſt gehoͤrte zu der gluͤcklichen Minderzahl deutſcher Dichter, welche nicht mit dem Beduͤrfniß zu kaͤmpfen haben. Ohne reich zu ſein, konnte er ſein Leben hin¬ durch eine unabhaͤngige Stellung behaupten.

Seine Erziehung und ſeine Studien hat er groͤ߬ tentheils in Berlin vollendet. Vielleicht laͤßt ſich im guten Sinne behaupten, daß ſein beißender Witz nach ſeiner Vaterſtadt ſchmeckt. Natuͤrlich hatte er ihn auf ſeine geiſtreich feine Weiſe ausgebildet.

Robert arbeitete langſam. Gedankenloſes Phan¬ taſiren war ihm zuwider. Er mußte ſich uͤber alles, was er ſchuf, volle Rechenſchaft geben koͤnnen. Nur in dem Cyklus von Gedichten nach Napoleons Sturz,339 die Kaͤmpfe der Zeit, erhob ihn die Bedeutung des Momentes zu dithyrambiſchem Schwunge, und dieſe Geſaͤnge ſind wohl poetiſch das Werthvollſte, was Ro¬ bert geleiſtet.

Sonſt war ſeine Muſe eigentlich eine epigramma¬ tiſche, ein Kind unſeres reflektirenden Geſchlechtes. In kurzen Sinngedichten, die von Mund zu Munde gehen, z. B. Was iſt das Publikum? in kritiſchen Paro¬ dieen, z. B. das Geſpraͤch der Koͤniginnen, hat er Ausgezeichnetes geleiſtet.

Es darf nicht gelaͤugnet werden, daß ein großer Mißmuth, der bis zur Bitterkeit ging, dem Dichter das Leben verkuͤmmerte. Die Mißverhaͤltniſſe des deut¬ ſchen Theaters tragen hievon die Hauptſchuld. Er hatte ſich viel von deſſen Fortſchreiten verſprochen, er hatte viel gehofft fuͤr daſſelbe zu wirken, (er hatte es in ſeiner Bluͤthe kennen gelernt!) und er mußte Zeuge ſein ſeines ſchnellen Verfalls.

Der Unmuth, wie man in blinder Thorheit die Rechte der Dichter verkannte, verſchwendend in Garde¬ robe, Dekorationen und dem anhangenden Tand, zu profitiren glaubte, indem man die laͤngſt kuͤmmerlichen Honorarſaͤtze fuͤr die Dichtungen, noch herabſetzte (!) und dadurch dem Kunſtwerthe des Inſtituts den Stab brach, uͤbermannte ihn. Er konnte, lange von ſuͤßen Hoff¬ nungen genaͤhrt, einem ihm ſehr werthen Inſtitute nicht ſo ſchnell und gelaſſen den Ruͤcken kehren, wie die mei¬22 *340ſten unter den beſſern deutſchen Dichtern, die es laͤngſt aufgegeben, fuͤr die bunte Schau - und Gaukel-Anſtalt, heut noch Theater genannt, ihre beſſern Kraͤfte zu ver¬ geuden. Er hoffte noch lange, er wollte nicht ohne Kaͤmpfe davon gehen, und das war ehrenwerth.

Beſonders hatte er durch das neue Koͤnigsſtaͤdtiſche Theater zu wirken gehofft. Er fand nicht genuͤgende Unterſtuͤtzung. Auch war der Ruin dieſes Theaters ſchon durch die zu breite Grundlage, auf der es errichtet, ausgeſprochen. Indeß war die Zeit, wo er mitwirkte, die Bluͤthezeit des Schauſpiels dort. Haͤtten die da¬ maligen Direktoren nur ſo viel als den einjaͤhrigen Gehalt Einer Saͤngerin angewandt, um die produktiven Kraͤfte der Luſtſpieldichter einmal aufzumuntern und einiger¬ maßen nur fuͤr die Arbeit zu entſchaͤdigen, ſo wuͤrde dieſe Anſtalt vielleicht mit geringſten Koſten fortgedauert und gebluͤht haben.

Unter ſeinen Luſtſpielen haben wohl diejenigen den meiſten innern Werth, welche im Publikum am wenig¬ ſten anſprechen, eine Erſcheinung, die ſehr nahe liegt, weil eine bittere Zeitſatire, wo das negative Element vorwaltet, wie z. B. ſein Phantaſus und Kaſſius und ſein: Er wird zur Hochzeit gebeten, vom Theater herab nicht anziehen kann.

Ein geiſtreicher Mann wie Robert, deſſen reflek¬ tirendes Dichtertalent ringsum nach Gegenſtaͤnden fuͤhlte, konnte auch nicht fremd bleiben dem oͤffentlichen Leben. 341Er trat nicht poſitiv als Politiker auf, aber ſeine Schrif¬ ten ſind voller politiſchen Anſpielungen; ſeine ſatiriſche Geißel flog ruͤſtig umher ohne zu beleidigen. Allein ein Dichter und Politiker aus Fichte’s Schule, der an Perfektibilitaͤt glaubte und ihr Herannahen in jedem Zeitumſchwunge zu gewahren meinte, mußte auch darin in der allerletzten Zeit bittere Taͤuſchungen erfahren.

Robert gehoͤrt zu den außerordentlichen deutſchen Dichtern, welche nicht jede Zeile, die ſie ſchreiben, fuͤr den Druck beſtimmen. Er dichtete fuͤr ſich; viele Sa¬ tiren, Xenien, ganze Parodieen, lagen in ſeinem Pulte, die er nur vertrauteſten Freunden dann und wann mit¬ theilte. Es gehoͤrte zu ſeiner inneren Genugthuung, ſich gelegentlich ſo Luft zu machen; dann aber wurde es verſchloſſen, um niemand zu beleidigen.

Er ſelbſt war oft bitter, ſeine Satire aber blieb nur witzig und ſcharf. Und doch darf von dem Menſchen Robert geſagt werden, daß, wo er jener Bitterkeit Herr wurde, er liebenswuͤrdig war und ein edles, wohlwol¬ lendes Gemuͤth zeigte. Friede ſeiner Aſche!

Die zweite, franzoͤſiſche, Stimme iſt die eines jun¬ gen liebenswuͤrdigen Schriftſtellers, Eduard de la Grange, welcher noch in der letzten Lebenszeit Roberts deſſen Umgang in Baden genoſſen hatte, und in der Revue des Deux-Mondes ſich uͤber den Hingeſchiedenen alſo vernehmen ließ:342 Genève, 10. Aout 1832.

Permettez-moi, monsieur, de consacrer, dans votre Revue, un souvenir à la mèmoire de Louis Robert, de Berlin, qu'une mort prèmaturée vient d'enlever à ses amis. Il n'y a pas encore six semaines que, nous promenant sous les délicieux ombrages de Baden-Bade, nous devisions en¬ semble sur la poésie et la littérature germaniques. Gra¬ vissant ces montagnes hérissées de noirs sapins, au milieu de ruines pittoresques des châteaux du moyen âge, il me lisait des vers que lui avaient inspirés les Orientales de Victor Hugo, et se plaisait a me faire remarquer la sin¬ gulière facilite avec laquelle la langue allemande peut s'approprier les beautés de nos chefs-d'oevre romantiques; quelquefois, par une transition soudaine, s'élançat des régions de la poésie à celles de la philosophie, il me commentait des passages de Fichte, dont il avoit èté le disciple et l’ami. Sa conversation ètait tout-à-la-fois pi¬ quante et instructive, son esprit aimable et enjoué, il y avait de la finesse dans ses observations et de l'atticisme dans ses critiques; mais elles glissaient sur le individus sans faire grâce aux ridicules. Robert appartenait au passé par les goûts et les liaisons de sa jeunesse. Vèteran de l’ecole de Gœthe et de Tieck, dont il se montrait l'admi¬ rateur passionné il avoit milité pour eux, pendant vingt ans, dans les feuilles littéraires, comme une soldat qui défend ses chefs et ses drapeaux. Il a composé plusieurs comédies: l'une d'elle, die Ueberbildeten, dont le canevas est tiré des Précieuses ridicules de Molière, mais revêtu de couleurs empruntées aux mœurs et aux localites allemandes, a été jouée, pour la première fois avec beaucoup de sucies,343 en 1804; depuis elle a été rajeunie dans ses détails et n’a pas obtenu moins de faveur: je citerai encore Cassius et Fantasus, pièce allégorique et satirique, dont le sujet est purement littéraire: Cassius est la caisse, et Fantasus l’imagination; enfin une tragédie bourgeoise, die Macht der Verhältnisse (la puissance des raports), qu’on représente aujourd’hui sur plupart des théâtres de l’Allemagne.

En 1817, Robert paya son tribut à l’enthousiasme de l’epoque, par un volume de poésies sur les grands événe¬ mens qui, depuis 1813, avoient changé la face de l’Europe; mais sa lyre ne connut jamais la flatterie, il ne venait pas bravement au secours des monarques vainquers, sa voix généreuse s’élevait comme celle de Jean-Paul en faveur des peuples: véritable patriote dans le bon sens de ce mot, et sincère ami d’une sage liberté, il tirait du passé des leçons pour l’avenir. Il publia ensuite successivement plu¬ sieurs nouvelles qui rappellent, par leur côté satirique, la manière de Cervantes, et les poésies, épigrammatiques[ qu’il] inséra dans les Rheinblüthen, en 1824 et 1825, sont presque toujours, présentées sous la forme la plus heureuse.

Robert écrivait dans les Annales critiques de Berlin, et plus fréquemment encore dans le Morgenblatt, ou, depuis 1830, il avoit publié les Nouvelles lettres d’un mort. C’était une suite à celles du prince Puͤckler, qui eurent tant de vogue en Allemagne; Robert sut s’approprier ce cadre in¬ génieux: il datait cette correspondance, tantôt de l’autre monde, et tantôt de celui-ci, soit que l’ombre du dandy voyageur erre encore sur cette terre, soit qu’elle se pro¬ mène de planète en planète. La veille du jour de notre séparation, il me montra une de ces lettres qu’il venait de terminer, elle était écrite de Saturne; j’y remarquai quel¬344 ques allusions à Bœrne et au journal de l'église évangélique de Berlin; la tendance de cette feuille est une sorte de jesui¬ tisme protestant, et Robert a toujours été l'antagoniste le plus d'ecidé des pietistes et des mystiques modernes. Cette épitre est d'ailleurs entièrement politique: c'est une argu¬ mentation judicieuse et serrée qui s'attaque également eux théories radicales et absolutistes. Les lettres précédentes traitait des théatres et de la littérature. Peu de temps avant que la mort ne le frappât, Louis Robert avait composé un prologue pour une représentation que les acteurs de Carls¬ ruhe donnèrent à la mémoire de Gœthe. Ce sont les der¬ niers vers qui soient sortis de sa plume. A le voir dans son intérieur, si plein d'aménité, et environné de tant de bon¬ heur domestique, aurais-je pu croire qu'une existence si paisible et si douce se fût si tôt brisée? Je lui avais fait lire Stello; il fut saisi d'un tel enthousiasme pour le talent original et la verve creatrice de ce livre si profondément pensé et animé de couleurs si vives, que, malgré sa répug¬ nance habituelle pour les traductions, il avait entrepris de le faire passer dans la langue allemande, croyant ne pou¬ voir plus richement doter la littérature de son pays qu'en y naturalisant un tel ouvrage.

[345]

Wilhelm Neumann.

Friedrich Wilhelm Neumann, geboren zu Berlin den 8. Januar 1781, war der Sohn eines Kaufmanns, der fruͤh ſtarb und kein Vermoͤgen hinterließ; bald nach¬ her ſtarb auch die Mutter, und der aͤlternloſe Knabe kam zu einem Stiefgroßvater, der ein anſehnliches Buch¬ haͤndlergeſchaͤft betrieb. Bis in ſein vierzehntes Jahr beſuchte er das Gymnaſium und machte gute Fortſchritte; weil aber die aͤußern Mittel zur Fortſetzung der Studien fehlten, mußte er ſich wider ſeine Neigung den Han¬ delsgeſchaͤften widmen; ein bedeutendes Haus nahm ihn wohlwollend auf, und waͤhrend zehn Jahren, die er hier verweilte, erwarb und uͤbte er eine große Geſchaͤfts¬ einſicht, die ihm ſpaͤterhin auch im Staatsdienſte nuͤtz¬ lich wurde. In der Familie wurde er wie ein Sohn des Hauſes angeſehen, und konnte an allen Vortheilen eines reichen Lebens Theil nehmen. Da jedoch man¬ ches in der Umgebung ſeinem Sinne widerſprach, ſo gewoͤhnte er ſich fruͤh an ſchweigſame Zuruͤckgezogenheit346 und widmete ſeine Muße am liebſten der Erwerbung von Kenntniſſen, wie ſein Verhaͤltniß dies nur irgend geſtattete. Er beſchaͤftigte ſich mit Muſik und Dicht¬ kunſt, mit Philoſophie und Geſchichte, las die beſten Schriftſteller in franzoͤſiſcher und engliſcher Sprache, mit deren gruͤndlicher Kenntniß er auch ſehr bald die der hollaͤndiſchen und italiaͤniſchen verband. In dem erwaͤhnten Hauſe machte er im Jahre I803 die Be¬ kanntſchaft Varnhagen’s, mit welchem ihn bald die engſte und treuſte Freundſchaft verknuͤpfte, und gleich darauf er¬ oͤffnete ſich ihm ein weiterer Freundſchaftskreis, zu welchem Chamiſſo, Eduard Hitzig, Koreff, Ludwig Robert, Graf Alexander zur Lippe, Franz Theremin und noch mehrere Andere gehoͤrten, denen insgeſammt die Poeſie und hoͤhere Lebensbildung das vereinigte Ziel war. Unter dem Titel eines Muſenalmanachs gaben Chamiſſo und Varnhagen mit ihren eignen die Gedichte der Freunde heraus, und Neumann’s Beitraͤge erſchienen dabei nicht unvortheilhaft.

In jener Zeit hielt Auguſt Wilhelm Schlegel zu Berlin Vorleſungen vor einem auserleſenen Kreiſe von Zuhoͤrern und Zuhoͤrerinnen; der Zuſtand der Litteratur und Kunſt uͤberhaupt, ihre bisherige und kuͤnftige Ent¬ wickelung, waren der reiche Stoff dieſer Vortraͤge, welche nicht ohne bedeutende Wirkung blieben, beſonders weil viele gleichzeitige Beſtrebungen Friedrich Schlegel’s, Tieck’s, Schleiermacher’s und ſelbſt Fichte’s, ſich damit347 zu verbinden ſchienen. Es war eine Art Verkuͤndigung neuen Aufſchwunges zum Dichten und Leben, wozu hauptſaͤchlich die ſtrebende Jugend ſich berufen fuͤhlte. Was man gemeinhin die neue Schule nannte, und wozu allerdings die Schlegel'ſchen Lehren und Beiſpiele den Kern lieferten, war jedoch weit entfernt, nur aus ſtren¬ gen Bekennern dieſes Namens zu beſtehen. Der ge¬ heime Zwieſpalt, welcher von Beginn her die Haͤupter trennte, war noch weit mehr unter den Juͤngern zu finden, und trat in vielfachen Abweichungen deutlich hervor. Weder Neumann ſelbſt, noch ſeine obengenann¬ ten Freunde, einen einzigen vielleicht ausgenommen, konnten als eigentliche Schlegelianer gelten, obgleich im Ganzen die Richtungen befolgt wurden, fuͤr welche die beiden Schlegel ſelbſt nicht ſowohl Meiſter und Fuͤhrer als vielmehr Organe geworden waren. Neumann in¬ ſonderheit hat niemals die Bekanntſchaft Auguſt Wil¬ helm Schlegel's gemacht oder geſucht; ſeine groͤßte Ver¬ ehrung war vielmehr Fichte'n eifrig zugewandt, der die Annahmen und Behauptungen von jenem groͤßtentheils verwarf und dies unverholen ausſprach. Ueberſchwaͤng¬ lich aber, bis zum Mißbrauch, war die Nachbildung der poetiſchen Reimformen, welche die neue Schule von den Italiaͤnern und Spaniern entlehnt hatte, und durch welche auch Neumann derſelben anzugehoͤren ſchien.

Durch Erbſchaft war ihm eine Summe Geldes uͤber¬ kommen, welche er ſogleich anwandte, um ſeine Neigung348 zu den Studien vollſtaͤndiger zu befriedigen. Er fuͤhlte, daß er einen feſtern Grund, als ihm bisher moͤglich geweſen war, in den alten Sprachen gewinnen muͤſſe, und die Umſtaͤnde fuͤgten es, daß er dieſen Gewinn in Hamburg ſuchte, wo die Leitung und der Unterricht des trefflichen Gurlitt, der ihn ſehr liebte und ſeinen Karakter wie ſeine Faͤhigkeiten vollkommen wuͤrdigte, ihm die erfolgreichſte Foͤrderung waren. Im Jahre 1806 bezog er gemeinſchaftlich mit Varnhagen und Auguſt Wilhelm Neander, deſſen Freund und Taufpathe er ge¬ worden war, die Univerſitaͤt Halle. Hier hoͤrte er Friedrich Auguſt Wolf mit großem Fleiße, doch leider nur ein halbes Jahr, denn das Kriegsunheil vertrieb die Studirenden von Halle, und Neumann wandte ſich mit Neander nach Goͤttingen, wo er neben den philo¬ ſophiſchen auch theologiſche Vorleſungen hoͤrte, und durch dieſe Studien auch mit Geſenius naͤher bekannt wurde. Nach einiger Zeit traf er doch wieder in Halle ein, und trieb neben ernſtlichen Arbeiten auch die ſcherzhafte, mit einigen Freunden einen Roman zu ſchreiben, der im folgenden Jahre unter dem Titel: Die Verſuche und Hinderniſſe im Druck erſchienen iſt. Schon vorher hatte er an einer ſatiriſchen Druckſchrift gegen den ver¬ rufenen Kritiker Garlieb Merkel Theil genommen, ſo wie an der Herausgabe vermiſchter Schriften unter dem Titel: Erzaͤhlungen und Spiele. Auch der Kreis der Freunde hatte ſich inzwiſchen ſehr erweitert, und349 ſind hier vorzuͤglich Fouqué, Achim von Arnim und Alexander von der Marwitz namhaft zu machen.

Da die Vorleſungen in Halle fortwaͤhrend unterſagt blieben, ſo wandte ſich Neumann mit mehreren Freun¬ den wieder nach Berlin, wohin auch Wolf und Schleier¬ macher zogen. Jedoch der Krieg, welcher alle Verhaͤlt¬ niſſe zerruͤttete, erſchoͤpfte auch fruͤher, als es ſonſt geſchehen waͤre, die Huͤlfsquellen Neumann's, und er war genoͤthigt, den Ausfall durch Erwerb zu decken. Vertraut mit den italiaͤniſchen Schriftſtellern und be¬ ſonders eingenommen von Machiavelli, begann er deſſen florentiniſche Geſchichte zu uͤberſetzen, wozu Johann von Muͤller eine Vorrede und Anmerkungen zu liefern ver¬ ſprach, aber nicht lieferte, weil er bald nachher Berlin verließ und dann in weſtphaͤliſche Dienſte trat. Die Ueberſetzung, eines ſo wichtigen und ſchon angekuͤndigten Beitrags entbehrend, gelangte nun um ſo ſchwieriger zum Druck, und erſchien erſt im Jahre 1809 in zwei Baͤnden, die, weil der Verleger fallirte, wenig in den Buchhandel kamen, aber in Wien nachgedruckt wurden.

Des ungewiſſen litterariſchen Erwerbes uͤberdruͤſſig, trat Neumann hierauf in das angeſehene Haus des Hofmarſchalls Grafen von Redern als Erzieher der bei¬ den Soͤhne deſſelben. Es bezeichnet eben ſo ſehr den Werth des wackern Erziehers, als den edeln und tuͤch¬ tigen Sinn dieſer achtungswuͤrdigen Familie, daß das voruͤbergehende Verhaͤltniß eine dauernde Verbindung350 der Anhaͤnglichkeit und des Wohlwollens begruͤndete, welche fuͤr beide Theile bis zuletzt erfreulich beſtand, und auch uͤber den Tod hinaus noch fortwirkt!

Bald auf's neue in den Stand geſetzt, die unter¬ brochenen Studien wieder aufzunehmen, glaubte Neu¬ mann die Philoſophie und Theologie verlaſſen und da¬ gegen die Kameralwiſſenſchaften erwaͤhlen zu muͤſſen. Zwei Jahre lang widmete er auf der inzwiſchen zu Berlin errichteten Univerſitaͤt angeſtrengt dieſem Studium. Nebenher beſorgte er im Jahre 1811 eine Zeit lang die Redaktion des Preußiſchen Vaterlandsfreundes und gab im Jahre 1812 mit Fouqué die Zeitſchrift Die Muſen heraus. Im Anfange des Jahres 1813, als die Noth der Zeit auch ihn abermals bedraͤngte, fand er eine erwuͤnſchte Freiſtaͤtte bei ſeinem Freunde Hitzig, in deſſen Buchhandlung er ein thaͤtiger Gehuͤlfe wurde.

Als das Fruͤhjahr 1813 alle Preußen zu den Waffen rief, war auch Neumann bereit, ſich in die Reihen der vaterlaͤndiſchen Streiter zu ſtellen, ſeine Geſinnung war voll Eifer und Muth, ſeine Koͤrperbeſchaffenheit jedoch mußte ihn vom Kriegsdienſt abhalten, denn, wenn auch uͤbrigens wohlgebaut und eines nicht unangenehmen Aeußern, ſah er doch allzu ſchwaͤchlich aus, und haͤtte auch den Anſtrengungen des Feldlebens ſchwerlich lange widerſtehen koͤnnen. Um aber dennoch der vaterlaͤndi¬ ſchen Sache zu dienen, meldete er ſich zu einer Stelle351 bei dem Feld-Kriegskommiſſariat, und ließ ſich durch die untergeordnete, die ihm anfangs zu Theil wurde, nicht abſchrecken. Seine Geſchicklichkeit, ſein ſorgſamer Fleiß, ſeine unerſchuͤtterliche Rechtſchaffenheit, und, man darf es zur Ehre ſeiner Vorgeſetzten ſagen, auch ſeine ausgezeichnete Bildung und ſein feines, taktvolles Be¬ tragen, blieben waͤhrend der drei Feldzuͤge, die er mit¬ machte, nicht unbemerkt noch fruchtlos. Er wurde im August 1815 zum ſtellvertretenden Kriegskommiſſair be¬ foͤrdert und ſtand als ſolcher, anderthalb Jahre hindurch, theils in Koblenz, theils in Trier, mit groͤßtem Eifer den ihm zugewieſenen Geſchaͤften vor. Seine Erholung blieben auch in dieſer Laufbahn Poeſie und Litteratur, und ſelbſt das Studium der Alten ſetzte er inmitten aller Stoͤrungen fort.

Der Oberpraͤſident Graf von Solms-Laubach, auf¬ merkſam gemacht auf Neumann's ſeltne Geiſtesbildung und eben ſo ſeltne Geſchaͤftsbrauchbarkeit, hegte fuͤr ihn die guͤnſtigſten Abſichten und wuͤnſchte ihn zu der Lan¬ desverwaltung heruͤberzuziehen, wo ihm ohne Zweifel bedeutende Vortheile und ein raſcheres Aufſteigen eroͤff¬ net geweſen waͤren, als in ſeiner bisherigen Bahn zu hoffen ſchien. Allein der gute Wille jenes Staatman¬ nes fuͤhrte zu keinem Erfolg, weil Neumann ſo wenig damals, wie zu irgend einer Zeit, ſich entſchließen konnte, fuͤr ſeine eignen Angelegenheiten den Eifer und die Thaͤtigkeit zu haben, die er ſeinen Dienſtgeſchaͤften352 widmete, ſondern lieber in untergeordneten Verhaͤltniſ¬ ſen blieb, als nach hoͤheren gefliſſentlich zu ſtreben und ſich perſoͤnlich geltend zu machen.

Im Jahre 1818 nach Berlin verſetzt, fand er ſich hier ſehr gluͤcklich im Kreiſe der alten Freunde, denen ſich auch neue anſchloſſen. Er lernte die Tochter des einſt vielverſprechenden und durch ein hoͤheres Geiſtes¬ ſtreben ausgezeichneten, aber fruͤh geſtorbenen Dichters Johann Jakob Mnioch kennen, die bald darauf ſeine Gattin wurde. Seine Ehe war gluͤcklich und durch fuͤnf Kinder geſegnet, die ſeine zaͤrtlichſte Liebe erfuh¬ ren, aber auch ſeine thaͤtige Fuͤrſorge in erhoͤhten An¬ ſpruch nahmen.

Im April 1822 wurde Neumann zum Koͤniglichen Intendantur-Rath bei der Intendantur des dritten Ar¬ meekorps ernannt und behielt ſeitdem ſeinen feſten Wohnſitz in Berlin, von wo nur oͤftere Dienſtreiſen im Bereiche ſeines Amtes ihn auf kuͤrzere Zeit abriefen. Wie ausgezeichnet er in dieſem ſeinem Berufe wirkte, und wie ſehr ſeine Faͤhigkeit und ſein Verdienſt von wuͤrdigen Vorgeſetzten anerkannt wurde, beweist folgen¬ des Zeugniß derſelben, welches der hoͤhern Behoͤrde, ohne daß er ſelbſt darum wußte, im Jahre 1831 vor¬ gelegt wurde: Der Rath Neumann gehoͤrt unſtreitig zur Zahl unſerer vorzuͤglichſten Raͤthe, denn er verei¬ nigt Geſchaͤftstreue mit wiſſenſchaftlicher Bildung, leich¬ tes und richtiges Urtheil mit Gruͤndlichkeit, gefaͤlligen353 Formen, wegen Dienſteifer und einer hoͤchſt achtungs¬ werthen Haltung. Die uͤberhaͤuften Geſchaͤfte der Ab¬ theilung fuͤr das Kaſſen - und Rechnungsweſen, welchen er mit ſo vieler Auszeichnung vorſteht, haben beſonders im letzten Jahre den hoͤchſten Grad der Anſtrengung erfordert. Nur ein in aller Beziehung ſo tuͤchtiger un¬ ermuͤdet thaͤtiger Geſchaͤftsmann konnte die ihm gewor¬ dene ſchwierige Aufgabe ſo ruͤhmlich loͤſen. Ueberhaupt war es ein eigner und bemerkenswerther Zug in ſeinem Weſen, daß ihm, der in fruͤhern Jahren wohl eines Hanges zu gleichguͤltiger Laͤßigkeit beſchuldigt wurde, gleich die eifrigſte Anſtrengung und der eiſernſte Fleiß natuͤrlich waren, ſobald er aus innerer Neigung oder in beſtimmter Pflicht arbeitete.

Fuͤr Wiſſenſchaft und Litteratur war ſein Sinn un¬ ausgeſetzt rege geblieben, doch zu eignen Hervorbrin¬ gungen fanden ſich Muße und Antrieb ſeltner vereinigt. Die Aufmunterung ſeiner Freunde und der Wunſch, aus ſeinen Gaben einigen Ertrag zu erndten, erneuten aber auch ſeine litterariſche Thaͤtigkeit. Die von Hitzig ge¬ ſtiftete Mittwochsgeſellſchaft, ein Verein von Freunden der Poeſie, welchem er ſich eifrigſt anſchloß, gab ihm Gelegenheit zu Gedichten und Aufſaͤtzen mancher Art, auch nahm er Theil an Hitzig's Zeitſchriften fuͤr Kri¬ minalrechtspflege, an den Jahrbuͤchern fuͤr wiſſenſchaft¬ liche Kritik in Berlin, und an den Blaͤttern fuͤr lite¬ rariſche Unterhaltung in Leipzig. Der Karakter ſeiner23354ſchriftſtelleriſchen Erzeugniſſe, die ihm, auch wenn er auf Erwerb dabei Ruͤckſicht zu nehmen hatte, niemals zum bloßen Gewerbe werden konnten, iſt aͤchter Gehalt mit feiner Bildung vereinigt. Dies gilt von ſeinen Gedichten wie von ſeiner Proſa, von ſeinen fruͤhern launigen Verſuchen, wie von ſeinen ſpaͤtern kritiſchen Arbeiten. Alles in dieſen hat eine feſte Grundlage, iſt eigenthuͤmlich gedacht und geſtaltet. Er ſchrieb nicht, wenn er nichts zu ſagen hatte; hohle Redensarten wa¬ ren ihm unmoͤglich; dagegen glaubte er nicht, jedesmal Auffallendes und Ueberſchwaͤngliches ſagen zu muͤſſen, ihm genuͤgte, das Verſtaͤndige und Angemeſſene auszu¬ ſprechen. Sein Scharfſinn und Takt in Erfaſſung des Individuellen wurden beſonders fuͤr ſeine kritiſchen Ar¬ beiten mehr und mehr bedeutend. Durch Beſonnenheit, verſtaͤndige Einſicht, klare gebildete Sprache, treffendes Urtheil und ſchickliche Freimuͤthigkeit reihen ſich ſeine Kritiken den beſten unſerer Literatur an. Man fuͤhlt es gleich beim Leſen derſelben, daß ihm bei Beurthei¬ lung des Einzelnen ſtets der Bezug auf ein groͤßeres Ganzes des litterariſchen Bildungszuſtandes gegenwaͤrtig bleibt, und daß auch wieder dieſer letztere ihm mit einem hoͤhern geiſtigen Geſammtleben eng verbunden iſt. Seine Aufſaͤtze fanden uͤberall verdiente Anerkennung. Als Goͤthe von mehreren Seiten angeregt wurde, ein oͤffentliches Wort uͤber die Gedichte des Koͤnigs Ludwig von Baiern zu ſagen, lehnte er es mit dem Bemerken355 ab, daß er doch nur wuͤrde wiederholen koͤnnen, was Neumann daruͤber in den Jahrbuͤchern fuͤr wiſſenſchaft¬ liche Kritik erſchoͤpfend geſagt habe. Ein anderer ge¬ ſchaͤtzter Beurtheiler ruͤhmt von ihm, daß er jeden Werth, der ihm begegnete, willig anerkannte, auch wenn die Anſicht der ſeinigen widerſprach, und daß er, ein Mann des Fortſchreitens, aber keiner der Bewegung im fran¬ zoͤſiſchen politiſchen Sinne, doch auch Werke, die aus dieſem Sinne hervorgegangen, mit Unabhaͤngigkeit und Milde zu wuͤrdigen wußte, ſobald ſie nur wahre Ueber¬ zeugung und innere Tuͤchtigkeit zeigten. Eine groͤßere Arbeit uͤber den Saint-Simonismus, die er ſich vor¬ geſetzt hatte, wuͤrde den Anfang und die Kraft ſeiner Gedanken uͤber die Richtung und die Entwickelungsſtufe unſers Zeitalters am beſten dargethan haben.

Durch ein ehrenvolles Vertrauen wurde Neumann in den letzten Jahren auch berufen, als Mitglied eines durch die Behoͤrde eigends hiezu ernannten Ausſchuſſes, an der Pruͤfung der fuͤr die Koͤnigliche Schaubuͤhne eingereichten dramatiſchen Arbeiten Theil zu nehmen. Doch ſchied er aus dieſem Verhaͤltniſſe bald wieder, weil ihm ſeine anderweitigen Geſchaͤfte dafuͤr zu wenig Zeit ließen.

Als die Freunde Tieck's in Berlin dem abweſenden Dichter zu deſſen ſechszigjaͤhrigen Geburtstag ein oͤffent¬ liches Ehrenfeſt veranſtalteten, war Neumann einer der erſten Unternehmer und Befoͤrderer dieſer durchaus in23 *356dem beſten Sinne geleiteten Angelegenheit. Auch bei andern Vorgaͤngen, wo Gemeingeiſt und Geſelligkeit ſich angeſprochen fanden, bezeigte er lebhaften Eifer und heitern Sinn, den ſichtbar zu truͤben ſchon ein ernſter und bedeutender Anlaß erfodert wurde.

So durfte Neumann bei arbeitsvollen Muͤhen, aber leidlicher Geſundheit und gutem Muth, in haͤuslichem Gluͤck und frohem Freundesumgang noch manches Le¬ bensjahr zu genießen, noch vielerlei zu bilden und ge¬ deihen zu ſehen hoffen, als ihn, unerwartet ihm ſelbſt und den Seinen, im vierundfuͤnfzigſten Jahre der Tod abrief. Er ſtarb auf einer Dienſtreiſe, von Magdeburg zuruͤckkehrend, am 9. Oktober 1835 zu Brandenburg, nach kurzer Krankheit, unter der Pflege einer befreun¬ deten Familie, die den Erkrankten liebevoll aufgenom¬ men hatte.

Sein reiner und ſo guͤtiger als feſter Karakter war ſich ſtets gleich geblieben und hatte ihm in Allen, die ihn kannten, nur Freunde erworben; ſein perſoͤnliches Andenken laͤßt nirgends einen feindlichen Stachel zuruͤck. Von Natur ſchweigſam und verſchloſſen, doch nie ver¬ ſtockt; wenig ſelbſtthaͤtig; aber leicht erregbar, beſchei¬ den und nachgiebig, doch freimuͤthig und feſt, bei ſtil¬ lem Ernſte ſtets aufgelegt zu Witz und Laune; mit die¬ ſen Eigenſchaften noch die tiefern und werthvollern der Wahrheitsliebe, des hoͤchſten Strebens und der edelſten Geſinnung vereinigend, konnte er nur eine freundliche357 Erſcheinung ſeyn, die man hoͤchſtens unbemerkt laſſen, aber nicht unangenehm noch laͤſtig finden konnte. In ſeiner ganzen Eigenthuͤmlichkeit wird er immer eine merkwuͤrdige Geſtalt in dem Bildungsgange ſeines Zeit¬ alters ſeyn, deren Daſein und Wirken nicht der Ver¬ geſſenheit anheimfallen kann, auch in der Litteratur nicht, wenn gleich das von ihm Geleiſtete weder durch großen Umfang, noch durch ſeltſame Geſtalt hervorleuchtet.

[358]

Chriſtian Günther, Graf zu Bernſtorff.

Der Name Bernſtorff, einem uralten edlen Geſchlecht in Hannover und Mecklenburg angehoͤrig, glaͤnzt ſeit vielen Geſchlechtsfolgen in den ſchoͤnſten und reinſten Erinnerungen deutſchen Lebens. Im Anfange des vori¬ gen Jahrhunderts hatte die Staatsklugheit und Thaͤ¬ tigkeit des Freiherrn Andreas Gottlieb von Bernſtorff weſentlichen Antheil an den Verhandlungen, durch welche das Haus Hannover zur Thronfolge in Großbritannien gelangt iſt. Spaͤter ſehen wir den Grafen Johann Hartwig Ernſt von Bernſtorff in daͤniſchen Staatsdien¬ ſten die hoͤchſten Ehrenſtufen erreichen, und als Freund und Beſchuͤtzer Klopſtock's ſich ein dauerndes Denkmal in der deutſchen Geiſtesbildung ſtiften. Sein Neffe, Andreas Petrus Graf von Bernſtorff, vermehrte dieſen Ruhm, und zeigte als Staatsmann eine ſeltene Groͤße der Einſicht und des Karakters, durch die er waͤhrend ſtuͤrmiſcher und drangvoller Zeiten Daͤnemark in gluͤck¬ licher Friedensruhe und geachtetem Anſehen erhielt. Die¬359 ſem großen Vater entſproß der wuͤrdige Sohn, deſſen Leben hier in gedraͤngten Umriſſen zu vergegenwaͤrtigen die Abſicht nachſtehender Zeilen iſt.

Chriſtian Guͤnther Graf von Bernſtorff, geboren zu Kopenhagen am 3. April 1769, war der dritte Sohn aus ſeines Vaters erſter Ehe mit Henrietten Graͤfin zu Stolberg-Stolberg. Seine Erziehung im Hauſe der Eltern, theils in Kopenhagen, theils auf dem Familien¬ gute Dreiluͤtzow in Mecklenburg, wurde mit liebevoller Sorgfalt in dem Geiſte geleitet, welcher dieſen Kreis von jeher auszeichnete. Der Juͤngling fand in der hei¬ miſchen Umgebung die trefflichſten Vorbilder edler Ge¬ ſinnung und Wirkſamkeit. Seine Oheime, die beiden Grafen zu Stolberg, ſchon als Dichter beruͤhmt, die ſtete Verbindung mit Klopſtock, und der Zutritt vieler andern Maͤnner von hoͤherer Bildung und Wuͤrdigkeit, erhoͤhten den geiſtigen Glanz des Hauſes. Wiſſenſchaft¬ lichen Unterricht empfing er durch Privatlehrer. Seine ausgezeichneten Faͤhigkeiten entwickelten ſich fruͤh. Der Tod der geliebten Mutter, die er in ſeinem dreizehnten Jahre verlor, ließ den Gang dieſes haͤuslichen Lebens unveraͤndert, und bei den guten Fortſchritten des Juͤng¬ lings wurde der Beſuch einer oͤffentlichen Anſtalt nicht fuͤr noͤthig erachtet. Dagegen war der Vater fruͤhzeitig bedacht, die vielverſprechenden Anlagen ſeines Sohnes durch ausuͤbende Thaͤtigkeit zur Reife zu bringen. Kaum achtzehn Jahr alt, verſuchte dieſer ſich bereits in man¬360 nigfachen diplomatiſchen Arbeiten, unter der unmittel¬ baren Aufſicht und zur großen Zufriedenheit des Vaters, der ihn zu ſeiner Belehrung alsbald auch eine Reiſe nach Schweden machen ließ, wo gerade der Reichstag eroͤffnet war, und ſodann, nach der Ruͤckkehr von die¬ ſem erſten Ausfluge, im Jahre 1789, ihn bei dem daͤni¬ ſchen Geſandten in Berlin, ſeinem Oheim, dem Gra¬ fen Friedrich Leopold zu Stolberg, als Legationsſekretaͤr anſtellte.

Hier zeichnete er ſich ſowohl durch ſeine Arbeiten, als auch durch ſein perſoͤnliches Benehmen ſo vortheil¬ haft aus, daß er in kurzer Zeit zum Geſchaͤftstraͤger ernannt wurde, und ſchon im Jahre 1791 die Befoͤr¬ derung zum bevollmaͤchtigten Miniſter erhielt. Die durch Glanz und Bildung hervorragende Geſelligkeit Berlins ſah in Bernſtorff eine ihrer ſchoͤnſten Zierden; ſeine jugendliche Erſcheinung war ſo wuͤrdevoll als an¬ muthig; ſein offener, redlicher Sinn floͤßte das ſicherſte Vertrauen ein; ſein freundliches Wohlwollen erwarb jede Zuneigung, und der guͤnſtige Eindruck, welchen ſein damaliger Umgang den trefflichſten Menſchen aus allen Staͤnden hinterließ, hat aus jener fruͤhen Zeit bis in die ſpaͤteſte fuͤr ihn unausloͤſchlich fortgedauert.

Im Sommer des Jahres 1794 machte er in Be¬ gleitung ſeines juͤngeren Bruders, des Grafen Joachim von Bernſtorff, eine Urlaubsreiſe in die Schweiz, wurde jedoch unerwartet von hier abgerufen, um den daͤniſchen361 Geſandtſchaftspoſten in Stockholm zu uͤbernehmen. Bei¬ nahe zwei Jahre hatte er dieſem Poſten vorgeſtanden, als er im Sommer 1796 Befehl erhielt, mit beſondern Auftraͤgen ſeines Hofes ſich nach St. Petersburg zu begeben, wo ſein Aufenthalt aber nur von kurzer Dauer war. Nach Stockholm zuruͤckgekehrt, wurde er im Mai 1797 ſchleunigſt nach Kopenhagen berufen, weil ſein Vater ſchwer erkrankt war, und er fuͤr dieſen, ſo lange derſelbe verhindert bliebe, die Leitung der Geſchaͤfte uͤbernehmen ſollte. Die Krankheit jedoch endete den 21. Juni mit dem Tode des großen Mannes, und ſein Sohn, zum Staatsſekretair fuͤr die auswaͤrtigen Ange¬ legenheiten mit Sitz und Stimme im Geheimen Konſeil ernannt, trat unmittelbar als Nachfolger fuͤr ihn ein.

Bernſtorff verwaltete das ihm uͤbertragene Amt in demſelben Geiſt und Sinne, welcher bisher fuͤr Daͤne¬ mark ſo heilſam und fruchtbringend ſich erwieſen hatte. Er wußte verſoͤhnliche Milde und ſtrenge Feſtigkeit zu vereinigen, und es gelang ihm, das politiſche Anſehen, welches ſein Vater erworben hatte, ungeſchwaͤcht fort¬ zuſetzen. Im Sommer 1800 wurde er zum Staats¬ miniſter und Miniſter der auswaͤrtigen Angelegenheiten ernannt, und ihm ſein Bruder, Graf Joachim von Bernſtorff, als Direktor des auswaͤrtigen Departements zum erwuͤnſchten Gehuͤlfen beigegeben.

Der zwiſchen Großbritannien und Frankreich mit erbitterter Anſtrengung gefuͤhrte Seekrieg brachte damals362 das neutrale Daͤnemark in die unangenehmſten Verwicke¬ lungen; die Englaͤnder nahmen daͤniſche Schiffe weg, und bedrohten Kopenhagen durch ihre Flotte. Die feſte Sprache und geſchickte Unterhandlung Bernſtorff's wand¬ ten fuͤrerſt das Unheil eines Krieges noch ab; der zwei¬ unddreißigjaͤhrige Staatsmann vertrat mit Erfolg das Recht gegen die Uebermacht, und die Englaͤnder mu߬ ten ſogar die Ruͤckgabe ſaͤmmtlicher genommenen Schiffe zugeſtehen. Das folgende Jahr aber ſah dieſelben Ver¬ wickelungen nur heftiger wiederkehren, und es erfolgte am 2. April 1801 die Schlacht vor Kopenhagen, wor¬ auf dieſe Hauptſtadt ſelbſt von dem Feinde bombardirt wurde. Auf einer Baſtion der Feſtungswerke ſtand Bernſtorff mit dem Kronprinzen-Regenten, jetzigen Koͤ¬ nige Friedrich dem Sechsten, den Gang des Kampfes naͤher zu beobachten, die Bomben flogen in allen Rich¬ tungen uͤber ſie hin, und eine fiel und zerplatzte dicht neben ihnen, gluͤcklicherweiſe ohne zu beſchaͤdigen. Der Sieg entſchied ſich, trotz der Tapferkeit der Daͤnen, zu Gunſten der Englaͤnder, und Daͤnemark mußte fuͤr den Augenblick nachgeben; die ſchwierigen und raſchen Un¬ terhandlungen aber, welche mit den engliſchen Befehls¬ habern gepflogen wurden, fuͤhrte Bernſtorff ſo kraͤftig und vortheilhaft, daß er guͤnſtigere Bedingungen erlangte, als man damals zu hoffen wagte. Schon erkrankt, aber ſich gewaltſam aufrecht erhaltend, brachte er den Waffenſtillſtand noch zum Abſchluſſe, kaum aber war363 dies geſchehen, ſo brach die Maſernkrankheit bei ihm aus, und er mußte jede Thaͤtigkeit aufgeben. Noch nicht voͤllig geneſen, uͤbernahm er, zur ſchließlichen Feſt¬ ſtellung der Verhaͤltniſſe mit England, eine außerordent¬ liche Sendung nach London, wo er mehrere Monate zubrachte.

Im Jahre 1806 ereignete ſich durch beſondere Ver¬ haͤltniſſe der Anlaß, daß Bernſtorff auf einige Zeit ſich wiederum nach Berlin begab. Die guͤnſtigſten Eindruͤcke blieben auch von dieſer zweiten Anweſenheit Bernſtorff's daſelbſt am Hofe und in den Geſellſchaftskreiſen zuruͤck.

Daſſelbe Jahr brachte ihm die Begruͤndung ſeines eigenen haͤuslichen Gluͤckes; er vermaͤhlte ſich im Som¬ mer 1806 zu Emkendorf mit ſeiner Nichte, der Graͤfin Eliſabeth von Dernath.

Dieſes und die naͤchſtfolgenden Jahre war Bernſtorff durch die Zeitumſtaͤnde genoͤthigt, im Gefolge des Kron¬ prinzen-Regenten groͤßtentheils in Kiel zuzubringen, wo eine daͤniſche Truppenmacht zum Schutze Holſteins auf¬ geſtellt war. Daͤnemark fand ſich zwiſchen den entge¬ gengeſetzten Zumuthungen der kriegfuͤhrenden Maͤchte in der mißlichſten Lage, und beſonders gab der fortdau¬ ernde Seekrieg theils neuen Anlaß zu widerwaͤrtigen Eroͤrterungen und Spannungen, die zu beſeitigen immer weniger gelingen wollte. Am 9. Auguſt 1807 hatte Bernſtorff die entſcheidende, in der diplomatiſchen Ge¬ ſchichte beruͤhmt gewordene Unterredung mit dem engli¬364 ſchen Geſandten Jackſon, in welcher die unſtatthaften Forderungen Englands zuruͤckgewieſen wurden. Die Folge war der Friedensbruch und unerwartete Angriff auf Kopenhagen, durch welchen die Englaͤnder ſich der daͤniſchen Kriegsflotte bemaͤchtigten und ſie nach Eng¬ land abfuͤhrten.

Die Wendung der Angelegenheiten war ungluͤcklich, aber die Standhaftigkeit und Wuͤrde, mit welcher Bern¬ ſtorff das Recht und die Ehre des daͤniſchen Staates vertreten hatte, wurde von allen Seiten ruͤhmend an¬ erkannt, und von ſeinem Koͤniglichen Herrn durch Ver¬ leihung des Elephanten-Ordens belohnt.

Die Treue und Geradheit, die er in ſeinem Dienſt¬ verhaͤltniſſe wie in jedem andern Lebensbezuge gewiſſen¬ haft uͤbte, war durch kein Mißgeſchick zu erſchuͤttern, und ſollte bald auch von einer andern Seite her eine ſeltene Pruͤfung beſtehen. Eine Angelegenheit, welche nicht unmittelbar den Staat, ſondern zunaͤchſt die per¬ ſoͤnlichen Verhaͤltniſſe eines Dritten betraf, hatte ihn zu einer Vorſtellung veranlaßt, durch welche er ein Unrecht abwenden zu muͤſſen glaubte, und da er auf Schwie¬ rigkeiten ſtieß und nicht durchdringen konnte, ſo zwei¬ felte er keinen Augenblick, daß er der Ehre ſeiner Ueber¬ zeugung ein Opfer bringen und ſeinem Amte entſagen muͤßte. Er nahm im Mai 1810 ſeine Entlaſſung, ohne Trotz und Groll, wie ohne Ungunſt. Der Koͤnig blieb von ſeiner treuen Verehrung und Anhaͤnglichkeit innig365 uͤberzeugt und ihm mit aller fruͤheren Zuneigung ge¬ wogen.

Um jedoch nicht unthaͤtig zu ſeyn und um ferner dem Staate zu nuͤtzen, erbot ſich Bernſtorff, durch be¬ ſondere Umſtaͤnde ihm ſelbſt unerwartet dazu veranlaßt, im folgenden Jahre zur Uebernahme der daͤniſchen Ge¬ ſandtſchaft zu Wien, die ſich gerade offen fand, und ihm auch ſogleich gewaͤhrt wurde. In dieſer Anſtellung hoffte er neben ſeiner amtlichen Thaͤtigkeit einiger Ruhe und Erholung zu genießen, deren er auch nach ſo wech¬ ſelvollen und bewegten Jahren, in welchen auch ſeine Geſundheit ſehr gelitten hatte, wohl bedurfte. Gleich das naͤchſte Jahr aber bereitete durch Napoleons Zug nach Rußland nur neue und groͤßere Bewegungen, von denen auch Daͤnemark hart beruͤhrt werden ſollte.

Nach den Ungluͤcksfaͤllen, welche die Franzoſen in Rußland erlitten, blieb Daͤnemark ihrer Sache durch verhaͤngnißvolle Umſtaͤnde anfangs noch verknuͤpft, und von der großen Verbuͤndung gegen Napoleon ausge¬ ſchloſſen. Bernſtorff, deſſen Amtsverrichtungen in Wien zufolge der Ereigniſſe des Jahres 1812 aufhoͤren mu߬ ten, ſah ſich den Ruͤckzug nach Daͤnemark durch die Kriegsheere verſperrt, und wollte mit ſeiner Familie nach Mannheim abreiſen, um hier die weitere Wendung der oͤffentlichen Angelegenheiten ſtill abzuwarten. Der edle Kaiſer Franz, hiervon benachrichtigt, ſchickte zu ihm, ließ ihm die Verſicherung ſeiner beſondern Achtung366 ertheilen, und zugleich den Wunſch ausdruͤcken, daß er ſeinen Aufenthalt in Wien, wo ihn Niemand ſtoͤren wuͤrde, fortſetzen moͤchte. Im Anfange des Jahres 1814 ſchloß Daͤnemark ſich der Sache der Verbuͤndeten foͤrm¬ lich an, und Bernſtorff trat wieder in ſeiner vorigen Eigenſchaft auf. Er folgte dem Kaiſer in das große Hauptquartier, und traf nach dem Sturze Napoleons im April zu Paris ein, wo er den Friedens-Verhand¬ lungen beiwohnte, und fuͤr die Sache Daͤnemarks, be¬ ſonders auch durch ſeine Perſoͤnlichkeit, ſo vortheilhaft einwirkte, als es unter den damaligen Umſtaͤnden irgend moͤglich war.

Demnaͤchſt wurde er beauftragt, in Gemeinſchaft mit ſeinem Bruder an den Verhandlungen des Kongreſſes zu Wien Theil zu nehmen, und beſonders auch zu der allgemeinen Anordnung der deutſchen Verhaͤltniſſe thaͤtig mitzuwirken. Hier und bei dem zweiten Aufenthalte zu Paris, wohin Bernſtorff den verbuͤndeten Monarchen folgte, bei denen ſaͤmmtlich er jetzt beglaubigt war, gelang es ſeinem regen und beharrlichen Eifer, den daͤniſchen Intereſſen uͤberall die guͤnſtigſte Beruͤckſichti¬ gung zu erhalten.

Seine Ruͤckreiſe von Paris nahm er durch die Schweiz, beſuchte dann in Weſtphalen ſeinen Oheim Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, und fand ſich mit dem Schluſſe des Jahres 1815 auf dem Gute Dreiluͤtzow, wohin auch Stolberg zum Beſuche kam, mit ſeiner367 Familie, die er in Wien verlaſſen hatte, wieder ver¬ einigt. Auf der Weiterreiſe nach Kopenhagen gerieth er in Lebensgefahr, der er jedoch gluͤcklich entging,

Er war mit ſeiner Stellung in Wien aͤußerſt zu¬ frieden, und genoß in den diplomatiſchen wie in den geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſen jeder Auszeichnung und Annehmlichkeit. Jedoch hatte er bisweilen wohl im Vertrauen geaͤußert, daß er einen dem Vaterlande naͤhe¬ ren Poſten vorziehen wuͤrde, wenn ein ſolcher ſich zeigen ſollte. Als nun die Geſandtſchaft am preußiſchen Hofe dem Grafen Joachim von Bernſtorff angetragen wurde, wuͤnſchte dieſer, voll Zartgefuͤhl und Fuͤrſorge fuͤr den geliebten Bruder, daß demſelben die Wahl zwiſchen beiden Poſten, den Geſandtſchaften zu Wien und Berlin, freigeſtellt wuͤrde. Hoͤchſten Ortes wurde dies gern be¬ willigt, und der aͤltere Bruder waͤhlte allerdings Berlin, nicht ohne ſeine alte Anhaͤnglichkeit an den Hof und das Land, ſo wie ſeine Vertrautheit mit Sitten und Lebensweiſe der ihm ſo ſehr befreundeten Stadt, bei dieſem Entſchluſſe weſentlich in Rechnung zu bringen. Er ahndete nicht, wie ſehr dieſe Antriebe ſich in der naͤchſten Zeit bewaͤhren und zu welcher feſten Geſtalt ſie gedeihen ſollten!

Im Januar 1817 verließ er Holſtein und kam mit den Seinigen nach Berlin. Hier fand er alles ſeinen Wuͤnſchen gemaͤß; die groͤßte Zuneigung und Hochach¬ tung begegneten ihm von allen Seiten, und waͤhrend368 ſeine edle Erſcheinung und hohe Liebenswuͤrdigkeit offen hervortraten, konnten auch die hellen Einſichten und reinen Geſinnungen des vielerfahrenen Staatsmannes nicht verborgen bleiben. Dieſer Verein ſeltener Eigen¬ ſchaften erzeugte und rechtfertigte den Gedanken, daß die Leitung der politiſchen Geſchaͤfte Preußens in den damaligen Zeitumſtaͤnden keinen beſſeren Haͤnden anver¬ traut werden koͤnnte, als Bernſtorff’s, der durch be¬ ſonnene Haltung und maßvolle Kraft den Erforderniſſen des Tages am meiſten zu entſprechen ſchien, und in Berlin ſchon laͤngſt nicht mehr als ein Fremder anzu¬ ſehen war.

Die erſten Eroͤffnungen hinſichtlich eines Uebertrittes in den preußiſchen Staatsdienſt wurden ihm bereits im April 1818 gemacht, und gleich im folgenden Monat mit groͤßtem Nachdruck wiederholt. Bei dieſer wichtigen Angelegenheit, welche fuͤr ihn mehr eine Sache großen Pflichtberufs, als lockenden Ehrgeizes war, wollte Bern¬ ſtorff nicht ſelbſtthaͤtig eingreifen, ſondern unterwarf die Entſcheidung unbedingt ſeinem Herrn, dem Koͤnige von Daͤnemark. Dieſer guͤtige Fuͤrſt mißte den treuen Staats¬ diener ſehr ungern, wollte denſelben aber ſo ehrenvollem Rufe und großen Wirken nicht entziehen, ſondern ertheilte dem angeregten Uebertritte ſeine volle Genehmigung. Bernſtorff reiſte darauf nach Holſtein, um perſoͤnlich Abſchied von dem Koͤnige zu nehmen, der ihm die gnaͤdigſten Geſinnungen unveraͤndert bewahrte. Unmit¬369 telbar nach ſeiner Entlaſſung trat er in preußiſche Dienſte als Geheimer Staats - und Kabinetsminiſter und Chef des Departements der auswaͤrtigen Angelegenheiten.

Auf dem Kongreſſe von Aachen erſchien er zuerſt in dem neuen Verhaͤltniſſe, mit und neben dem Staats¬ kanzler Fuͤrſten von Hardenberg. Beide Staatsmaͤnner, ſchon aus fruͤherer Zeit befreundet, und die edlen Formen der hohen Lebenskreiſe, denen ſie beide durch Geburt und Bildung angehoͤrten, auf ihre amtlichen Bezuͤge uͤbertragend, wirkten eintraͤchtig zur Loͤſung der diplo¬ matiſchen Aufgaben, die ihnen gemeinſam geſtellt waren, und wobei die etwanigen Meinungs-Verſchiedenheiten, welche nach andern Seiten beſtehen mochten, groͤßten¬ theils unberuͤhrt bleiben konnten. Bernſtorff empfing hier auch gleich im Beginne ſeiner neuen Laufbahn das ſchmeichelhafteſte Zeugniß der Achtung und der Gnade von Seiten des Koͤnigs, ſeines nunmehrigen Dienſt¬ herrn, durch Verleihung des Schwarzen Adler-Ordens, waͤhrend der Kaiſer Alexander von Rußland ihn gleich¬ zeitig mit dem hoͤchſten ruſſiſchen Orden, dem des Hei¬ ligen Andreas, als dem Zeichen ſeines hohen Vertrauens, ſchmuͤckte. Nach der Ruͤckkehr von Aachen trat Bern¬ ſtorff in Berlin an die Spitze des ihm untergebenen Departements, und uͤbernahm die Leitung der diplo¬ matiſchen Geſchaͤfte.

Gleich im naͤchſten Jahre rief ihn der Gang der Ereigniſſe zu dem Kongreſſe deutſcher Bevollmaͤchtigten24370nach Karlsbad, wo zur Sicherſtellung des deutſchen Gemeinweſens gegen ruheſtoͤrende Bewegungen die Be¬ ſchluͤſſe vorbereitet wurden, welche ſpaͤterhin durch die deutſche Bundesverſammlung zur Oeffentlichkeit gelang¬ ten. Dem neuen Kongreſſe, der hierauf in Wien zur Befeſtigung und Erweiterung der deutſchen Bundesver¬ haͤltniſſe gehalten wurde, wohnte Bernſtorff gleicher¬ weiſe als Bevollmaͤchtigter von Seiten Preußens bei, und ſeine beſonnene Klarheit wie ſein redlicher Eifer blieben auch hier nicht ohne fruchtbare Einwirkung.

Die neuen politiſchen Verwickelungen, welche in Folge der ſpaniſchen Revolution nach und nach hervor¬ traten, gaben in den naͤchſtfolgenden Jahren Anlaß zu den Kongreſſen von Troppau, Laybach und Verona, wo die wichtigſten und fuͤr Europa folgenreichſten Be¬ ſchluͤſſe zu Stande kamen, zugleich aber auch die er¬ hoͤhten Schwierigkeiten ſichtbar wurden, welche fortan in dem Gange der europaͤiſchen Politik ſich geltend machten. Bernſtorff nahm an den Verhandlungen dieſer Kongreſſe Theil, in welchen das Intereſſe und die Sprache Preußens ſtets folgerecht in der gewaͤhlten Richtung zu beharren wußten.

Nicht leicht duͤrfte die neuere Geſchichte einen Zeit¬ raum darbieten, wo die politiſchen Aufgaben groͤßer, die diplomatiſchen Wirkſamkeiten wichtiger und zarter geweſen waͤren, als die fuͤnfzehn Jahre, waͤhrend welcher in Frankreich der Kampf der Revolution gegen die Re¬371 ſtauration ununterbrochen fortdauerte, und alle politiſchen Verhaͤltniſſe Europa's durch dieſen Kampf durchkreuzt und bedingt wurden. Die Ereigniſſe dieſes Zeitraums und die ihnen entſprechenden oͤffentlichen Maßregeln ſind bekannt, die Thaͤtigkeiten aber, welche darauf ein¬ gewirkt haben, der Antheil und das Verdienſt, die hierbei den einzelnen Kabineten und den mit ihrer Geſchaͤftsleitung beauftragten Staatsmaͤnnern zuzurech¬ nen ſind, in Rettung und Foͤrderung des Guten und Rechten, in Abwendung und Milderung der Uebel, dieſe Einwirkungen koͤnnen ihrer Natur nach nur einem engen Kreiſe von Mitwiſſenden vertraut ſein, und es bleibt kuͤnftiger Geſchichtſchreibung vorbehalten, dieſe noch ver¬ huͤllten perſoͤnlichen Bezuͤge einſt genau zu erforſchen und darzulegen. Wir beſcheiden uns, hier nur im All¬ gemeinen auf die haltungsvolle und gedeihliche Friedens¬ ſtellung hinzudeuten, welche Preußen waͤhrend jenes Zeitraums immerfort behauptet hat, auf das Anſehen und Vertrauen ſeines Kabinets, auf die guten Fruͤchte, welche dieſem Boden entſproſſen ſind, und wir duͤrfen mit Zuverſicht, ohne irgend ein anderes Verdienſt damit beſchraͤnken zu wollen, die Ueberzeugung ausſprechen, daß die von Bernſtorff gefuͤhrte Geſchaͤftsverwaltung im Einzelnen wie im Ganzen durch jede kuͤnftige Be¬ leuchtung nur immer ehren - und ruhmvoll fuͤr ihn ſich darſtellen wird.

24 *372

Und hier iſt der Ort, wo wir vor andern Eigen¬ ſchaften, die er beſaß, der einen gedenken muͤſſen, die allen uͤbrigen zur feſten Mitte diente, und die ihm ſelbſt die gluͤcklichſte Befriedigung und ſeinem ganzen Wirken eine erhoͤhte Kraft und Sicherheit verlieh! Bernſtorff war in ſeiner Denkart und Geſinnung durchaus monar¬ chiſch; ſein innerſtes Weſen und jede ſeiner Handlungen folgten dieſer Richtung. Seinem Koͤniglichen Dienſt¬ herrn und Gebieter mit hoͤchſter Liebe und Verehrung zugethan, ſtrebte er vor Allem, den beſtimmten Willen deſſelben zu vernehmen und auszufuͤhren, und dem Sinn und der Anſicht des Monarchen im Allgemeinen nach¬ zufolgen. Dieß that der offenen Darlegung und frei¬ muͤthigen Eroͤrterung ſeiner eigenen Anſicht keinen Ein¬ trag; er wuͤrde dieſe niemals zu verhehlen faͤhig geweſen, und in manchen, hier undenkbaren Faͤllen lieber ganz zuruͤckgetreten ſein; aber wo das Gewiſſen geſichert war, fand ihn die Pflichttreue des Dienſtes immer zur Selbſt¬ verlaͤugnung bereit.

Mehrmals im Verlaufe dieſer Jahre ſah Bernſtorff ſeine Thaͤtigkeit durch heftige und langwierige Krank¬ heitsleiden unterbrochen. Ein erbliches Uebel, die Gicht, pflegte ſeit fruͤher Zeit, in laͤngern oder kuͤrzern Friſten wiederkehrend, ihn zu befallen. Die Leitung der Ge¬ ſchaͤfte fuͤhrte er auch noch vom Krankenbette mit gluͤck¬ lichem Erfolge fort, nur in ſeltneren Faͤllen mußte er kuͤrzere Zeit auf alle Thaͤtigkeit verzichten. Wiederholt373 ſuchte er, wo nicht Geneſung, doch Linderung, in heil¬ ſamen Baͤdern und im ſtillen Kreiſe der Seinen. Die erneuten Kraͤfte aber widmete er mit erhoͤhtem Eifer ſogleich wieder ſeinem Dienſtberufe.

Schon im Jahre 1824 aͤußerte er gegen Freunde im Vertrauen, daß ſeine Kraͤnklichkeit ihn wohl bald noͤthigen wuͤrde, ſeinem Amte zu entſagen, und zwei Jahre ſpaͤter glaubte er, dieſen Zeitpunkt wirklich ein¬ treten zu ſehen; allein das hoͤchſte Zutrauen, welches in ihn geſetzt wurde, und die ſtrenge Pflichtgeſinnung, mit der er ſolches erwiederte, bewogen ihn ſtets wieder, dieſen Schritt noch aufzuſchieben, und das Zureden ſei¬ ner Freunde wie die oͤftere Beſſerung ſeiner Geſund¬ heitsumſtaͤnde ließen ihn nach uͤberſtandener Unterbrechung jedesmal friſchen Muthes die Geſchaͤfte wieder aufnehmen.

In ſolchem Wechſel war der Sommer des Jahres 1830 herangekommen, und Bernſtorff nach abermaligen ſchweren Leiden in das Bad zu Nenndorf gereiſt, deſſen Gebrauch ſich ihm ſchon, fruͤher wohlthaͤtig erwieſen hatte. Jedoch kaum angelangt, empfing er die raſch auf ein¬ einander folgenden Nachrichten von der in Paris aus¬ gebrochenen neuen Revolution, deren Umfang und Er¬ gebniß mit jedem Tage ſich bedeutender darſtellte. Der Eindruck dieſer zerſtoͤrenden Ereigniſſe wirkte ſo gewalt¬ ſam auf ſein Gemuͤth, daß er auf's neue erkrankte; ſein Geiſt und Wille aber blieben ungebeugt, er vertrieb den heftigen Gichtanfall durch heiße Baͤder, und eilte374 nach Berlin, wo er in der Mitte des Auguſt noch ſehr leidend eintraf. Er uͤbernahm ſogleich mit ruͤſtiger Kraft die Leitung der Geſchaͤfte. Die politiſche Lage mit klarer Beſonnenheit uͤberſchauend, wirkte er mit feſtem Eifer in derjenigen Richtung, welche den Umſtaͤnden des Augenblicks die einzig angemeſſene erſchien, und in welcher, zu verſtaͤrkter Kraft und Verbuͤndung, die ver¬ ſchiedenſten Anſichten zuletzt ſich vereinigten.

Die Erſchuͤtterung in Frankreich wirkte weit uͤber die Graͤnzen dieſes Landes hinaus, von allen Seiten erhoben ſich Bewegungen, die durch Klugheit zu be¬ ſchraͤnken, durch Einſicht zu meiſtern oder durch Gewalt zu hemmen waren. Bernſtorff zagte keinen Augenblick, auch unter dem Zuſammentreffen der verwirrendſten Eindruͤcke nicht, ſondern wandte gegen jede neue Gefahr nur kaͤltere Faſſung und erhoͤhte Vorſicht. Die Ereig¬ niſſe nahmen in der That bald wieder eine minder drohende Geſtalt, die Hauptkriſis gelangte durch ihre eigenen Gegenwirkungen zum Stillſtande, und die wich¬ tigſten Streitfragen wurden allmaͤlig in die Schranken friedlicher Verhandlung eingelenkt, wo das Anſehen und die Macht der erhaltenden Grundſaͤtze ſich der Re¬ volution gegenuͤber im uͤberwiegenden Vortheil finden mußte.

Dieſer Stand der Dinge war vorbereitet, allein noch keineswegs vollendet, als Bernſtorff in Folge der unausgeſetzten Anſtrengung und Thaͤtigkeit aufs neue375 ernſtlich erkrankte, und nun entſchieden glaubte, den vielen weiteren Kaͤmpfen, die ſich vorausſehen ließen, mit ſeinen geſchwaͤchten Kraͤften nicht mehr gewachſen zu ſein. Doch ließ er deshalb in ſeinem Pflichtberufe keineswegs nach; die heftigſten Fieberanfaͤlle, die ſchmerz¬ lichſten Kopfleiden durften ihn nicht abhalten, die Ge¬ ſchaͤftsarbeiten regelmaͤßig fortzufuͤhren, und insbeſondere auch die muͤndlichen diplomatiſchen Verhandlungen taͤglich zu beſtehen. Ganz in den Leiſtungen lebend, welche die Zeitumſtaͤnde von ihm forderten, achtete er nicht ſeiner eigenen Hinopferung. Erſt nachdem ſein Zuſtand, durch dieſe Anſtrengung ſelbſt, endlich dahin gebracht war, daß er glaubte, den Aufgaben ſeiner Stellung mit ſeinen geſchwaͤchten Kraͤften nicht mehr gewachſen zu ſein, reifte der Vorſatz in ihm, ſich aus dem Staats¬ dienſte zuruͤckzuziehen. Auch die guͤnſtigere Ausſicht, zu welcher im Allgemeinen die politiſchen Angelegenheiten nicht ohne ſeine thaͤtige Mitwirkung zuruͤckgefuͤhrt waren, ſchien ein ſchicklicher Abſchnitt fuͤr die eigne Laufbahn, und er aͤußerte im Fruͤhjahr 1831 den beſtimmten Wunſch, von derſelben abzutreten. Doch ſein Wunſch wurde noch nicht gewahrt, ſondern einſtweilen durch die Ernennung eines Staatsſekretairs fuͤr die auswaͤr¬ tigen Angelegenheiten nur eine erleichternde Geſchaͤfts - Anordnung eingerichtet.

Als jedoch die Krankheitsleiden, anſtatt nachzulaſſen, in der naͤchſten Zeit nur immer haͤufiger eintraten, und376 gleichwohl der oͤffentliche Zuſtand eine fortdauernd ge¬ ſteigerte Aufmerkſamkeit erforderte, da hielt Bernſtorff es fuͤr ſeine Pflicht, den Zeitpunkt nicht abzuwarten, wo ihn die bisherige Klarheit des Ueberblicks verließe, ſondern ſeine Geſchaͤftsfuͤhrung ungetruͤbt einem kundigen Nachfolger zu uͤbergeben, und von einem Poſten abzu¬ treten, deſſen Aufgaben und Verantwortung die naͤchſte Zukunft noch vergroͤßern konnte. Er bat im Fruͤhjahr 1832 mit beſcheidenem, doch dringenden Ernſt um ſeine Entlaſſung; und erhielt zwar dieſe nicht, aber die Er¬ nennung eines Amtsnachfolgers entband ihn aller eigent¬ lichen Departementsgeſchaͤfte. Der Koͤnig behielt ſich vor, in geeigneten Anlaͤſſen ihn fortwaͤhrend zu Rath zu ziehen, und wollte ihn deßhalb auch fernerhin zu ſeinen wirklichen Staatsdienern gerechnet wiſſen. Dank¬ baren Herzens erkannte Bernſtorff die huldvolle Gnade und das ehrende Vertrauen des geliebten Monarchen, und durfte mit innerer Befriedigung auf eine Laufbahn zuruͤckblicken, die mit nicht minderer Auszeichnung ſchloß, als ſie begonnen hatte.

Nur allzubald nach ſeiner Zuruͤckziehung beſtaͤtigte ſich leider die Beſorgniß, die ihn zu jener bewogen hatte; am 10. Maͤrz 1833 erlitt er einen erſten Anfall von Schlagfluß. Doch erholte er ſich wieder, und die Ruhe und Muße, deren er nunmehr genoß, wirkten ſo guͤnſtig auf ſeine Geſundheit, daß er ſogar auch an ein¬ zelnen Geſchaͤften wieder Theil nehmen konnte, fuͤr377 welche ſeine Einſicht und Erfahrung begehrt wurden. Im Sommer 1834 fuͤhlte er ſich ſo weit geſtaͤrkt, daß er einem ſehnlichen Wunſch, den er lange gehegt, will¬ fahren zu koͤnnen glaubte, und mit den Seinigen eine Reiſe nach Kopenhagen unternahm. In dieſer fruͤheren Heimath fand er ſich durch liebe Erinnerung und Gegen¬ wart doppelt angeregt, und freute ſich insbeſondere auch des Wiederſehens und der Huld des Koͤnigs von Daͤne¬ mark, der den treuen Sinn ſeines ehemaligen Dieners mit Ruͤhrung anerkannte.

Von Kopenhagen im Herbſte nach Berlin zuruͤckge¬ kehrt, empfand er bald wieder die Nachtheile der rauhe¬ ren Jahreszeit, doch gab ein wechſelvoller Zuſtand auch Zeitabſchnitte, in denen er eine zunehmende Beſſerung hoffen konnte. In ſolchen Zeiten hegte ſein Gemuͤth beſonders Ein Verlangen, das er wiederholt und mit Lebhaftigkeit aͤußerte; er wuͤnſchte herzlich, noch Einmal den Koͤnig ſeinen Herrn zu ſehen! Ihn ſeiner innig¬ ſten Ehrfurcht und Dankbarkeit verſichern, ſie perſoͤnlich ausdruͤcken zu koͤnnen, war ihm ein Beduͤrfniß, dem in ſeiner Seele jede tiefe und zarte Empfindung ſich verknuͤpfte. Die Erfuͤllung dieſes Wunſches vermochte er nicht mehr zu erreichen. Zwar traten wiederholt guͤnſtigere Tagesreihen ein, und die Heiterkeit ſeines Geiſtes wie die Waͤrme ſeines Gemuͤths erwieſen ſich noch im Anfange des Jahres 1835 in erhoͤhter Lebens¬ friſche, allein gerade in ſolchem verſprechenderen Zuſtande378 uͤberfiel ihn unerwartet am 18. Maͤrz ein erneuter Schlagfluß. Die Huͤlfe der Aerzte war vergebens. Von treuer Liebe der Seinen umgeben, erfuͤllt mit dem reinen Bewußtſein eines tugendhaften Lebens, und er¬ hoben durch frommes Gottvertrauen, entſchlief er am 28. Maͤrz im beinahe vollendeten ſechsundſechzigſten Jahre ſanft und ruhig zu einem hoͤhern Daſein, an das er geglaubt, mit dem er ſich ſtets heiter beſchaͤftigt hatte.

Die Beſtattung geſchah am 1. April mit allem Glanz und herkoͤmmlichen Ehren, die dem innegehabten Range und der Stellung des Hingeſchiedenen gebuͤhr¬ ten; doch mehr als jene bezeichneten der ungeheuchelte Schmerz und die tiefe Trauer aller Edeln, die ihn ge¬ kannt und ihn zu wuͤrdigen vermocht, die Groͤße ſeines Werthes, ſo wie des Verluſtes, den ſein Scheiden uns empfinden ließ.

In der That mag ſelten eine Perſoͤnlichkeit ſo aus¬ gezeichnete Uebereinſtimmung des aͤußern Erſcheinens und des innern Weſens darbieten, als dieß in ihm der Fall war. Der liebevolle, menſchenfreundliche Sinn, die ſtrenge Rechtſchaffenheit, die hohe Bildung des Geiſtes und die reiche Welterfahrung vereinigten ſich in ihm zu dem ſchoͤnſten Ausdruck echten Menſchenadels, dem Ehrerbietung und Zuneigung nie zu verſagen waren.

Bernſtorff's Karakter als Staatsmann iſt in obigen Umriſſen ſeines Lebens und Wirkens den Hauptzuͤgen nach bereits mitgeſchildert. Erwaͤhnen muͤſſen wir noch,379 daß er in jedem Geſchaͤft mit feſter Beſtimmtheit nur auf die Sache ging, dem redlichen Zwecke nie andere als redliche Mittel waͤhlte, und daß er die kuͤnſtlichen Ge¬ webe diplomatiſcher Feinheiten ſehr wohl kannte, doch weder brauchte noch fuͤrchtete. Von ſelbſtſuͤchtigen An¬ trieben, von eigenem Ehrgeiz und Vortheil findet ſich in ſeiner zwiefachen Dienſtlaufbahn wohl ſicherlich keine Spur!

Perſoͤnliche Verhandlungen pflegte er nicht ohne Lebhaftigkeit, aber ſtets in verſoͤhnlicher Geſinnung zu fuͤhren. Die Klarheit ſeiner Anſichten gewann leicht Eingang, und ſeine Gruͤnde beredeten nicht, ſondern uͤberzeugten. Von ſeinen Gehuͤlfen, wie er ſeine Raͤthe und Untergebenen nannte, forderte er viel; aber das Geleiſtete wuͤrdigte er dankbar, und freute ſich jedes Lobes, das er ertheilen konnte. Er wußte zu befehlen; ließ aber zugleich die zarteſten Ruͤckſichten der Billigkeit und Schonung walten. In ſeinen eigenen ſchriftlichen Arbeiten leiſtete er alles ſelbſt, was er von Anderen forderte; ſie vereinigten die gruͤndlichſte Darlegung der Sache und die angemeſſenſte Ausdrucksweiſe. Sein Takt fuͤr Schicklichkeit, Praͤciſion und Anmuth in jeder Art von Abfaſſung war bewundernswuͤrdig, und die ſchwierigſten und bedenklichſten Aufſaͤtze gingen klar und gediegen aus ſeiner Redaktion hervor.

Der aͤſthetiſche Sinn, deſſen er von fruͤher Jugend her theilhaftig war, und den ſeine ganze Geiſtes - und380 Lebensbildung treulich gepflegt hatte, zeigte ſich in ſpaͤte¬ ren Jahren auch durch eigene Hervorbringungen, welche einen ernſten Inhalt, Gedanken und Bilder frommer Liebe, mit dichteriſchem Ausdruck bekleideten. Bis zu¬ letzt war ſein Geiſt mit ſolchen Gegenſtaͤnden beſchaͤftigt, bald die Schoͤnheit der Darſtellung, bald die Macht der Gedanken erfaſſend; er wußte auch die ihm frem¬ deſten Denkarten und Sinnesweiſen zu durchdringen, und in ihnen den Kern des Geiſtes und des Talents hervorzuheben und zu ſchaͤtzen. Sein eigenſter Geiſtes¬ weg aber fuͤhrte ihn immer auf's neue zu dem Troſte und der Beruhigung zuruͤck, die ihm, wie ſeinem gleich¬ geſinnten Naͤchſtenkreiſe von fruͤheſter Zeit durch evan¬ geliſchen Glauben verliehen waren, mit deſſen Kern er ſeine eigenthuͤmlichen Forſchungen und Anſichten durch umfaſſendes Gefuͤhl leicht vereinigte.

Wir haben bereits ſeiner Verheirathung zu erwaͤh¬ nen gehabt; ſeine Ehe war ein ununterbrochenes Gluͤck, ein ſchoͤnes Vorbild hoher und ſegenreicher Verbindung. Seine Wittwe und ſeine noch uͤbrigen Geſchwiſter be¬ trauern den liebevollſten Gatten und Bruder, ſeine hinter¬ laſſenen beiden Toͤchter den zaͤrtlichſten Vater; in dieſem Kreiſe kann der Schmerz um den theuren Abgeſchiedenen nie verſiegen, deſſen ſchoͤne Seele ſich hier am lichtvollſten und begluͤckendſten entfaltete. Drei Soͤhne in fruͤhen Jahren und eine ſchon verheirathete Tochter gingen ihm voran.

381

Das Andenken des herrlichen Mannes wird fort¬ leben, und mit den Jahren, wir ſind es gewiß, nur mehr und mehr hervorleuchten. Der Name Bernſtorff, ſchon ſo vielfaͤltig ruhmvoll und dankbar genannt, iſt durch ihn fortan auch in Preußen unvergeßlich.

Wie bei dem Grafen von Schlabrendorf wollen wir auch von dem Grafen von Bernſtorff einige Proben ſeiner Geiſtesart und Ausdrucksweiſe beifuͤgen. Die einfach milden, aber ſinnigen und feinen Reimſpruͤche, welche hier folgen, ſind zwar ſchon gedruckt, aber wenig bekannt, und manches verwandte Herz wird die paar Blaͤtter, welche ſie einnehmen, gern hier finden.

Stimmen aus Gräbern.

Vorwort.

Es iſt oft gefragt worden, ob die Lehre des Welt¬ erloͤſers, dieſe Lehre der Liebe, des Lichtes und des Heils, nicht bei ihrer erſten Verbreitung, in den Ge¬ ſinnungen und Beduͤrfniſſen der beſſeren Menſchen, auch unter den Voͤlkern, denen jede unmittelbare Offenbarung des Goͤttlichen fremd geblieben war, ſchon einen Grund fand, in dem ſie leicht und gluͤcklich Wurzel faſſen und ſchnell zum weithinſchattenden Baume emporwachſen konnte. Daß dieſes wirklich der Fall geweſen, war382 immer meine Ueberzeugung, und wie die nachſtehenden Verſuche zum Theil aus dieſer Anſicht hervorgegangen ſind, ſo wuͤnſche ich auch, um Mißdeutungen vorge¬ beugt zu ſehen, daß meine anſpruchsloſe Arbeit nur von der naͤmlichen Anſicht aus beurtheilt werden moͤge.

Heidengräber.

1828.

1.
Mich dünkt der Erde Laſt nicht ſchwer,
Mir wird im engen Hauſ 'nicht bang;
Ich ſehnte mich nach Ruhe ſehr.
Wohl mir! es war mein letzter Gang.
2.
Nach dem, was ſcheidend ich empfunden,
Und nach dem Jenſeits forſchet ihr?
Was ich gefühlt und was gefunden,
Erfragt ihr nicht am Grabe hier.
Die Zukunft ihr im Herzen tragt!
Denn ob er ſchafft, ob er vernichtet,
Hat, eh 'ſein letzter Morgen tagt,
Schon längſt der Menſch ſich ſelbſt gerichtet.
3.
Bis einſt ich bin mit euch vereint,
Die ihr an meinem Grabe weint,
Scheint, in des Himmels Herrlichkeit,
Mir lang der bittern Trennung Zeit.
383
4.
Was frech und ruchlos ich verſchuldet,
Was zart und liebend ich geduldet,
Wer nimmt mir das Bekenntniß ab?
Wohl birgt es das verſchwiegne Grab.
5.
Von treuer Liebe Kraft gezeugt,
An zarter Liebe Bruſt geſäugt,
Erfuhr ich Liebe nur und Schmerz,
Und Liebe brach das bange Herz.
Sie war des Lebens Gluth und Licht,
Und Erde kühlt die Liebe nicht.
6.
Was folgt uns aus dem ird’ſchen Leben,
Nachdem des Geiſtes Hülle fiel?
Was iſt der Frommen einzig Streben,
Der Weiſen letztes höchſtes Ziel?
Was ſchmücket mehr als Heil’genſchein?
Des Herzens Lauterkeit allein.
7.
Was ſchreckt mich noch bis in den Sarg?
Die Sünde iſt’s, die ſich verbarg.
Die Schuld, die laut der Menſch bekennt,
Schon halb ihm das Gemüth befreit;
Die Lüge, die im Innern brennt,
Ihn ewig mit ſich ſelbſt entzweit.
384
8.
Wie heiß mir auch im Herzen brenne
Die Sehnſucht nach Unſterblichkeit,
Ich dankbar doch und laut erkenne
Der ird’ſchen Tage Seligkeit.
9.
Hier grub man eine Jungfrau ein;
Ihr Geiſt ſtieg auf zum ew’gen Licht.
Da fühlte ſich kein Engel rein,
Sie deckten zu ihr Angeſicht.
10.
Tiefbrennend iſt der Kinder Schmerz,
Wenn ſie vereint der Aeltern Grab;
Denn ſchwer nur löſet ſich das Herz
Von ſeines Lebens Wurzeln ab.
Doch blutet heißer noch die Wunde,
Wenn theure Mitgeborne ſchwinden,
Wenn die Gefährten jeder Stunde
Sich nun auf Erden nicht mehr finden.
Was aber gleichet deſſen Leiden,
Der holde Kinder überlebt,
Dem Gegenwart und Zukunft ſcheiden,
Der Glück und Hoffnung ſich begräbt?
11.
Wo ſich der Menſchheit Räthſel löſen,
Wo Gutes ſcheidet rein vom Böſen,
385
Wo ſich des Herzens Sehnſucht ſtillt
Der Frommen Hoffnung ſich erfüllt,
Wo ſich kein Frevel bergen kann,
Rufſt Du umſonſt Vernichtung an.
12.
Was ihr geglaubt, wie ihr gehandelt,
Gilt wenig auch im Reich der Klarheit.
Gezählt wird euch, ob ihr gewandelt
Im Lichte ſelbſtbewußter Wahrheit.
12.
Was hefteſt Du ſo ſtarr den Blick
Auf mein ſchon halb bemoostes Mahl?
Kehr in dich ſelbſt den Blick zurück,
Da heilt allein des Herzens Qual.
Das Höchſte wurde Dir verſagt
Seitdem du, trotzig und verzagt,
Des innern geiſt'gen Sinns beraubt,
Das Unſichtbare nicht geglaubt.
14.
Wen deckt in dieſer Bäume Schatten
Das traulich ſtille Doppelmahl?
Hier ruh'n vereint die treuen Gatten,
Und dieſer Platz war ihre Wahl.
Ihr Glück war jedes Tags Gewinn,
Und hätten ſie, nach eignem Sinn,
Sich einen Himmel ſchaffen ſollen,
Sie hätten ſo nur bleiben wollen.
25386
15.
Sehr wohl, du grünbelaubte Erde!
Sehr wohl, du bitterſüßes Leben!
Wie immer auch ich mich gebehrde,
Ich kann nicht ohne Widerſtreben
Von euch mein Herz auf ewig wenden.
Ihr Geiſter abgeſchiedner Stunden,
O helfet mir den Kampf vollenden,
Bis eure letzte Spur verſchwunden.
16.
Was forſcheſt du von Stein zu Stein?
Was ſollen lehren dich die Todten?
Verſtummt in ſtarrendem Verein
Sind wir dir keine Rettungsboten.
Doch höre eines Todten Rath.
Der Menſch, der immer Wort und That
Nach Strafe nur und Lohn bemißt,
Und nur des Todes nicht vergißt,
Weil er ſich ſtreng bedrohet glaubt,
Hat halb ſich ſchon des Lohns beraubt.
Gehorche du dem ew'gen Recht,
Was auch es dir für Früchte trage,
Und ſorge nicht, ob gut, ob ſchlecht
Sich ſtelle dir des Richters Wage.
17.
Nach Wahrheit ringt, in Furcht und Schmerz
Dein Geiſt in Blindheit noch gebunden.
387
Belüge nie dein eignes Herz,
So haſt die Wahrheit du gefunden.
18.
Verſchone mich mit deinem Dank.
Was mich ſo feſt an dich gebannt,
War unſrer Herzen inn'rer Zwang.
Der Liebe Macht ſei nicht verkannt;
Denn wo ſie herrſcht und wo ſie ſchafft,
Verliert die Willkür jeden Raum,
Und nur aus ihrer Zauberkraft
Erblüht des Lebens ſchönſter Traum.
Sich immer gleich und ohne Reue
Glühn wahrer Liebe ſüße Schmerzen.
O, willſt du halten mir die Treue,
So bleibe treu dem eignen Herzen.

Chriſtengräber. 1828.

1.
Wie! Chriſtus willſt du angehören?
Auf ſeinen Namen darfſt du ſchwören?
Haſt du mit ihm in Ernſt gerungen,
In ſtiller Demuth dich bezwungen?
Haſt du beſiegt der Erde Luſt,
Der Selbſtſucht Wurm in eigner Bruſt
Erbarmet dich der Brüder Noth,
Geſtrebt für ſie bis in den Tod?
25 *388
2.
Weil Jeſus eure Schuld gebüßt,
Wähnt ihr, euch ſei die Sünde frei?
Ihr ſeid es, die ſein Blut vergießt.
Denn wer, in frecher Heuchelei,
Nach ihm und ſeinem Wort ſich nennt,
Und dieſes Namens Pflicht verkennt,
Sagt los ſich von des Vaters Huld,
Und ruft auf ſich zurück die Schuld.
3.
Wen meldet uns die Glocke an?
Und horch! ſchon wogt der Zug heran.
Es folgt die ganze Dorfgemeine;
Der treuen Seelen fehlt nicht eine.
Sie zieh’n dem theuren Lehrer nach,
Der ihnen Jeſus Wort verkündet,
Und, wenn er von dem Meiſter ſprach,
In Liebe jedes Herz entzündet.
Doch ſieh! ſchon nimmt ihm, Stück vor Stück,
Die Heerde ab der große Hirt.
Er zählet freudig ſie zurück;
Kein Schäflein hat ſich ihm verirrt.
4.
Wer hat wie Jeſus uns gelehrt,
Was liebend Gott von uns begehrt,
Und was zu ihm uns ſicher führt?
Auch was der ird'ſchen Macht gebührt,
389
Der Gott, nach ſeiner Weisheit Rath,
Vertraut den Willen und die That?
Und hat er uns gewieſen nicht
Der Bruderliebe ſüße Pflicht,
Und wie der Demuth ſtille Krone
Des Herzens ſchwerſte Opfer lohne?
Er hat der Ehe heilig Band
Gelegt in Gottes Vaterhand,
Doch mild der Frevlerin geſchont,
Der Reue noch im Herzen wohnt;
Das Maß, mit dem der Heiland mißt,
Endlos wie ſeine Liebe iſt.
O, Herr des Lichtes und des Lebens,
Uns, uns beriefſt du nicht vergebens.
Und hätte deiner Wunder Kraft
Dem Worte Glauben nicht geſchafft,
Wir hätten doch den Sohn erkannt,
Vom Vater gnadenvoll geſandt.

Neue Gräber.

1. Die Zukunft.
In friſcher, voller Lebensgluth
Des ſichern Todes zu gedenken,
Und ſtets mit ungebrochnem Muth
Den feſten Blick dorthin zu lenken,
Das heiſcht des Menſchen ernſtes Loos.
Ach, wenig flücht'ge Tage nur,
390
Und euch empfängt der Erde Schoß,
Und ſchnell verſchwindet eure Spur.
Der Menſch allein ſein Schickſal kennt;
Doch das bekundet ſeinen Geiſt,
Was tief in ſeinem Innern brennt.
Ihm ſeiner Hoffnung Ziel verheißt.
2. Die Verführte.
Zurück! zurück! was ſuchſt du hier?
Ein glühend Opfer fiel ich dir;
Und noch, noch lockt dein Flammenblick
Mich in die Sinnenwelt zurück.
3. Die ewige Jugend.
Was klaget ihr, daß ſchnell verblühet
Des Lebens erſte Frühlingspracht?
Wem tief im Buſen Liebe glühet,
Der trotzt der Zeit und ihrer Macht.
Denn jeden Alters iſt die Liebe,
Und unverſiegbar ihre Kraft.
Wenn ſie in euren Herzen bliebe,
Von Selbſtſucht frei und Leidenſchaft,
So ſchwände eurem Leben nimmer
Der friſchen Jugend Roſenſchimmer.
391
4. Rath.
Wollt ihr die Erde überwinden,
Den Himmel an die Erde binden,
So ſchließet gleich den Bund der Liebe,
Wie euer Herz euch dazu triebe,
Wenn heute ſchon der Tod euch fände,
Des Lebens letzter Tag euch ſchwände.
5. Die Treue.
Getreu zu ſein bis in den Tod,
Getreu in Glück, getreu in Noth,
Das iſt des Herzens erſter Ruhm,
Der Seele höchſtes Heiligthum.
Doch wollt ihr rein und ohne Reue
Erringen euch den Preis der Treue,
So forſchet, eh 'ihr handelt, nicht,
Ob ſüß der Trieb, ob ſchwer die Pflicht.
6. Die Selbſtverdammung.
Erbarmungsvoll, aus freier Huld
Zu ſühnen ſeiner Sünden Schuld,
Dem ſchwachen ſterblichen Geſchlecht,
War ſtets der Götter Luſt und Recht.
Doch dein Gewiſſen dir befrei'n,
Auslöſchen dir die inn're Pein
392
Der Scham, die keine Reue bannt,
Vernichten, was vorlängſt erkannt,
Des eignen Herzens Vehmgericht:
Das können euch die Götter nicht.
Du haſt dein Urtheil ſelbſt geſprochen,
Und ewig iſt die Schuld gerochen.
7. Die Braut.
Was ich in heißen Prüfungsjahren
An Hoffnung, Furcht und Schmerz erfahren,
Begreift nur wer die Liebe kennt.
Doch keine Menſchenzunge nennt
Die Seligkeit, die ich empfand,
Als mir der letzte Zweifel ſchwand.
Doch ach! mein Herz erlag der Wonne,
Und als ſich hob die dritte Sonne,
Empfing ein düſtres Thurmgeläute
Den Sarg der glücklichſten der Bräute.
Des armen Menſchen duldſam Herz
Erträgt den ſtaubverwandten Schmerz;
Nicht ſo der Freude Himmelsgluth;
Sie wogt und ſchäumt wie Meeresfluth,
Sie weckt in tieferregter Bruſt
Der Sehnſucht ungeſtüme Luſt.
Sie ſtrebt nach gränzenloſer Fülle
Und bricht des Geiſtes ſchwache Hülle.
393
8. Der Geiſt.
Woher ihr kommt, wohin ihr geht,
Ihr wißt es nicht, und wo ihr ſteht,
Da forſchet ewig ihr vergebens
Nach eures räthſelvollen Lebens
Geheimem Grund und letzten Ziele.
Seid preisgegeben ihr dem Spiele
Des Zufalls, oder blind geſtellt
In das Geſetz der Körperwelt?
Doch nein! ihr habt es längſt erkannt,
Der freigeſchaff'ne Geiſt, verwandt
Der unſichtbaren Himmelskraft,
Die ewig wirkt und ewig ſchafft,
Verſchmäht, was nur den Stoff geſtaltet.
Er wählt und ſondert, mißt und waltet
Nach ſtrengem, ſelbſtgewognem Recht,
Bekennt ſich dieſes Rechtes Knecht,
Verkündet laut das Heil der Wahrheit,
Und gründet ſich ein Reich der Klarheit.

Freundesgräber.

1.

Den 21. Juni 1797.

Hier zog ein großer Todter ein.
Vergebens ſpräche hier der Stein.
394
Wie ſcharf du ätzen magſt, dem Bilde,
In ſeiner Hoheit, ſeiner Milde,
Kann wahre Dauer doch nur geben,
Was tief ein ſegenreiches Leben
In reger Sorge ſtets bewegt,
In Aller Herzen hat geprägt.
Vom Vater erbt der Sohn das Wort,
Es pflanzt von Mund zu Mund ſich fort.
2.

1817.

Der Trauer um den hohen Greis
Geſelle ſich kein herber Schmerz.
Was er gelehrt der Freunde Kreis,
Durchdringe kräftig Aller Herz.
Sein Geiſt war kühner Adlersflug.
Entſchwand er uns in Sonnenhöhen,
So war des Himmelsſtürmers Zug
In Flammenbahnen noch zu ſehen.
Mit dieſem Geiſte ſeltner Art
War feſt das treuſte Herz gepaart.
3.

Den 18. Januar 1821.

Ich ſuchte dich, ich flehte dir,
Jetzt ſteh ich klopfend an der Thür.
Erkennt ihr dieſe Stimme nicht,
Die rührend aus dem Sarge ſpricht?
395
O laßt uns hier die Kniee beugen!
Für ihn, für ihn wir Alle zeugen.
Denn treuer war kein menſchlich Herz.
Wohl liebte er den freien Scherz;
Doch ward das Ernſte, Heil'ge nimmer
Geopfert ſeinem reichen Witze,
Und ſpurlos gleich verſchwand der Schimmer
Auch ſeiner hellſten Geiſtesblitze.
Seit ihm der theure Bruder fehlte
War ihm des Lebens Reiz erblaßt,
Und wer ihn ſah, ſich nicht verhehlte,
Daß ſchon der Tod ſein Herz erfaßt.
Denn heiß geſchärft war dieſer Schmerz,
Es hatte tief ſein Zwillingsherz
Ein giftgetränkter Dolch verletzt,
Von falſcher Freundeshand gewetzt.
4.

Den 24. Auguſt 1831.

Ob ſich mit ſchon ergrautem Haare
Noch Jünglingsanmuth lieblich paare;
Ob tiefe, ernſte Seelengröße
Von Mitgefühl das Herz entblöße;
Ob treuer Freundſchaft Heiligthum
Sich einen mag mit Heldenruhm:
So frage nicht, wer ihn gekannt,
Den dieſe Worte ſchon genannt.
396
5.

Den 9. Januar 1832.

Ich ſuchte Worte, ſuchte Farben,
Des Freundes Bild mir zu geſtalten,
Doch bald die Worte mir erſtarben
Und auch die Farben mir erkalten,
Seit mir, wie nie es Worte ſagen,
Tief aus der Seinen heißen Klagen
Ein Bild hervorgegangen war,
So liebewarm, ſo ſpiegelwahr,
Daß, traun! dem Zeugniß ſolcher Zähren
Nur Schatten zu geſellen wären.
[397]

Angelus Sileſius.

Johannes Angelus Sileſius hieß eigentlich Johann Scheffler, und hatte den Namen Angelus, den er als Dichter fuͤhrte, von einem ſpaniſchen Myſtiker des ſechs¬ zehnten Jahrhunderts, dem Franziskaner Johannes ab Angelis, entlehnt, den Zunamen Sileſius aber von ſeinem Vaterlande. Er war geboren zu Breslau im Jahre 1624. Von ſeinen Aeltern iſt nichts bekannt, nur wenig von ſeinen Studien. Man berichtet, ſchon in ſeiner Jugend habe er einen entſchiedenen Hang zu tiefen Geiſtesforſchungen gezeigt, und beſonders des teutoniſchen Philoſophen Jakob Boͤhmens, ſo wie Va¬ lentin Weigels und Schwenkfelds Schriften fleißig ſtu¬ dirt. Die Heilkunde war das Fach, dem er auf der Univerſitaͤt ſich widmete, und worin er auch die Doc¬ torwuͤrde empfing. Er ging ſodann auf Reiſen, hielt ſich beſonders in Holland laͤngere Zeit auf, wo er die Verſammlungen der Frommen fleißig beſuchte, und wahrſcheinlich wurde er hier auch in die Gemeinſchaft398 der Eingeweihten foͤrmlich aufgenommen, welche in Amſterdam fuͤr die Lehre Jakob Boͤhmens als Wiſſende ſich zu einer Art Loge vereinigt hatten. Nach ſeiner Ruͤckkehr in's Vaterland erlangte er bei Kaiſer Ferdi¬ nand III. den Titel und bei dem Herzoge von Wuͤr¬ temberg-Oels die Anſtellung als Leibarzt. In Oels hielt er gute Freundſchaft mit Abraham von Frankenberg, Jakob Boͤhmens vertrautem Schuͤler, der auch das Le¬ ben ſeines Meiſters geſchrieben hat. Nach Frankenbergs Tod erbte Scheffler von ihm den Beſitz wichtiger und ſeltner Buͤcher, ſo wie die handſchriftliche Ueberlieferung mancher Geheimniſſe, welches alles er aber ſpaͤterhin dem Feuer uͤbergab, vielleicht um einen moͤglichen Mi߬ brauch zu verhuͤten, aber wohl auch weil ſeine Denkart mit dem Weſen jener Richtung nicht mehr ganz uͤber¬ einſtimmte.

Denn bereits im Jahre 1653, alſo in ſeinem neun¬ undzwanzigſten Lebensjahre, war in ihm der Entſchluß zur That gereift, die proteſtantiſche Kirche zu verlaſſen, und zur katholiſchen uͤberzutreten, deren Dienſt er ſich fortan auch ganz widmete. Der bisherige Leibarzt wurde Prieſter und biſchoͤflicher Rath in Breslau, entſagte jedoch dem letztern Amte bald wieder, und zog ſich zu den Kreuzbruͤdern mit dem rothen Stern in ein Kloſter zuruͤck. Aus dieſer Abgeſchiedenheit aber ſuchte er nur um ſo eifriger fuͤr das Gedeihen der katholiſchen Kirche thaͤtig zu ſein. Er ſchrieb zuerſt eine kleine Schrift399 Urſachen und Motiven weßhalb er katholiſch geworden , die noch im Jahre 1653 in Olmuͤtz an das Licht trat. Darauf ließ er unermuͤdet eine Menge Gelegenheits - und Streitſchriften ausgehen, meiſt unter erdichtetem Namen, und griff in die damaligen theologiſchen Kaͤmpfe heftig ein. Kurz vor ſeinem Tode, der am 9. Juli 1677 zu Breslau erfolgte, erſchien eine Sammlung der vorzuͤglichſten dieſer Schriften in zwei Folianten, und zum Theil bezeugen ſchon die dort aufgereiheten Titel der einzelnen Aufſaͤtze, mit welcher Wuth und in wel¬ cher Mißgeſtalt dieſe Eroͤrterungen in jener Zeit gefuͤhrt wurden. Sein Hauptgegner in dieſen Kaͤmpfen war der Profeſſor Adam Schertzer in Leipzig, mit dem er viele Streitſchriften wechſelte. Als beſonderer Feind ſtand ihm aber auch der Hofprediger Chriſtoph Freitag in Oels entgegen, der auch den Druck der Schriften deſſelben in Schleſien moͤglichſt hinderte. Dagegen hatte Scheffler den Triumph, daß im Jahre 1662 in Breslau ſelbſt, groͤßtentheils durch ſeine Bemuͤhung, die katho¬ liſche Geiſtlichkeit den Frohnleichnamstag mit oͤffentlicher Prozeſſion, wobei er ſelber die Monſtranz trug, unter Trompeten - und Paukenſchall feiern durfte, welches dort ſeit der Reformation nicht geſchehen war.

Die Tiefe und Schoͤnheit unſres Autors ſind nicht in jenen Schriften zu ſuchen, noch in dieſen Verhaͤlt¬ niſſen der aͤußern Lebensſtellung, ſondern vielmehr in ſeinen reingeiſtigen, dichteriſchen Erzeugniſſen ausgedruͤckt. 400Unter dieſen ſind die geiſtlichen Lieder, welche unter dem Titel Heilige Seelenluſt oder die verliebte Pſyche zuerſt im Jahre 1657 zu Breslau, geſammelt und mit Muſik des biſchoͤflichen Muſikus Georg Joſephi verſehen, herauskamen, am bekannteſten geblieben. We¬ niger hat ſich das Gedicht, Betrachtung der vier letzten Dinge , welches zu Schweidnitz im Jahre 1675 erſchien, im Andenken erhalten. Das wichtigſte aber und genialſte ſeiner Werke, der cherubiniſche Wandersmann , das zuerſt in Breslau und zugleich in Wien im Jahre 1657 gedruckt wurde, und faſt ein Jahrhundert hindurch ein weitverbreitetes Erbauungsbuch war, wie deſſen zahl¬ reiche Ausgaben bis zum Jahre 1737 bezeugen, ſank um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in voͤllige Vergeſſenheit hinab. Der Aufmerkſamkeit der Gelehrten ſcheint dieſer Schatz am fruͤhſten entſchwunden zu ſein, und eine Zeit lang wenigſtens noch im ſtillen Beſitze der Frommen ſich erhalten zu haben, bis er auch hier im Wechſel der Dinge allmaͤhlig unterging. Schon Zinzendorf, der die Lieder des Angelus kannte, und eine Auswahl neu herausgeben wollte, gedenkt des cherubiniſchen Wandersmannes nicht. Die litterariſchen Notizen, welche ſich uͤber den Autor haͤtten finden laſſen, lagen unbeachtet, den Namen wie die Werke deſſelben kannte keiner unſrer neueren Dichter noch Dichterfreunde. Hoͤchſtens wurde noch, an hiezu geeigneten Orten, der geiſtlichen Lieder gedacht, die zum Theil unter dem401 Schutze der ſchwerlich zu erweiſenden Angabe, daß die meiſten vor des Verfaſſers Uebertritt zur katholiſchen Kirche gedichtet worden ſeien, in proteſtantiſchen Geſang¬ buͤchern Aufnahme gefunden hatten. Die erſten Wieder¬ erwaͤhnungen des cherubiniſchen Wandersmannes ſprachen von ihm als von einer neuen Entdeckung, und wußten fuͤr dieſelbe noch gar keine Anknuͤpfungspunkte.

Friedrich von Schlegel war es, der zuerſt wieder von dieſem Buche volle Kenntniß und gleichſam geiſtigen Beſitz nahm. Durch ihn empfingen wir davon die erſte Nachricht und Mittheilung. Bald wurde die auch andrerſeits ge¬ weckte Aufmerkſamkeit thaͤtig, es erſchienen mehrfache Proben, und da nicht zu hoffen war, daß durch Schlegel ſelbſt eine Herausgabe ſo bald zu Stande kommen wuͤrde, die auch eigentlich kaum in ſeiner Abſicht lag, indem er es vorzog, einzelne Spruͤche durch religioͤſe Betrach¬ tungen zu erlaͤutern: ſo waltete kein Bedenken, das aͤußerſt ſeltne Beſitzthum wieder dem Gemeingute zu naͤhern, und eine dem naͤchſten Beduͤrfniß entſprechende Auswahl fuͤr befreundete Leſer dem Druck zu uͤbergeben.

Sie wurde mit groͤßter Gunſt auch in weiteren Krei¬ ſen aufgenommen. Daß hier eine außerordentliche und tiefſinnige Geiſtesart ſich offenbarte, eine Genoſſenſchaft der Weihe, die in Tauler und andern Geiſtern dieſer Ordnung verehrt wird, mußte im Allgemeinen bald einleuchten. Blieb auch das Verſtaͤndniß des Einzelnen ſchwieriger, und ſchienen Gedanken und Bild bisweilen26402eines beſondern Schluͤſſels zu beduͤrfen, der das Innre eroͤffnete, ſo war hier der Leſer bei unſerm Autor doch nur in aͤhnlichem Falle, wie bei allen Schriftſtellern dieſer Art, und ſelbſt bei den eigentlichen Philoſophen, deren nothwendigſte und ergiebigſte Bezeichnungen von jeher den Schein der Unverſtaͤndlichkeit und ſelbſt des Widerſinns tragen mußten. Aber auch genug allgemein Verſtaͤndliches iſt hier vorhanden, und dem Ganzen darf mit groͤßtem Recht ein aͤhnliches Vorurtheil zu Gute kommen, wie jenen Schriften des Herakleitos, bei denen der weiſe Leſer aus der Vortrefflichkeit des ihm Einleuch¬ tenden auf eine nicht geringere des annoch Dunklen ſchloß.

Wuͤnſchenswerth erſchiene nun allerdings, daß uͤber das Leben und die Schriften des Angelus Sileſius eine umfaſſende kritiſche Arbeit geliefert wuͤrde. Die Be¬ zeichnung ſeines Geiſtes, ſeiner Stellung in Zeit und Leben, insbeſondere ſeines Standpunktes in der Reihe fruͤherer und ſpaͤterer Gleichgeſinnten, endlich eine Wuͤr¬ digung ſeiner Eigenſchaften als deutſcher Schriftſteller und Dichter, waͤre ein reicher Gegenſtand der Unter¬ ſuchung und Darſtellung. Derſelben haͤtte ſodann eine neue vollſtaͤndige Ausgabe des cherubiniſchen Wanders¬ mannes zu folgen, ferner eine gute Auswahl geiſtlicher Lieder und ſonſtigen Gedichte, endlich von den proſaiſchen Schriften das Wichtigſte in Bruchſtuͤcken, Auszuͤgen oder Berichten, und wir beſaͤßen, in wenigen Baͤndchen, wuͤrdig und wohlbewahrt einen Schriftſteller, der in der Reihe unſrer bedeutendſten nie mehr auszulaſſen iſt.

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Inzwiſchen hat ſeit einer Reihe von Jahren, durch unſre Anregung, die Aufmerkſamkeit in Deutſchland fuͤr den Angelus Sileſius ungemein zugenommen. In Baiern ſind zwei Ausgaben des cherubiniſchen Wan¬ dersmannes, wie auch ein neuer Abdruck der geiſtlichen Lieder an’s Licht getreten. Jedoch haben auch ver¬ ſchiedene Urtheile ſich vernehmen laſſen, welche den Sinn fuͤr eine ſo maͤchtige Erſcheinung noch in Unſicherheit und Mißtrauen befangen zeigen, und einen Mangel nicht nur des innern Aufſchwunges, ſondern auch ſogar der gelehrten Einſicht darthun. So hat man unter an¬ dern den Vorwurf pantheiſtiſcher Anſichten, der eben ſo bequem ſcheint als er meiſtens leer und grundlos iſt, auch hier anbringen wollen. Wir machen dagegen nur auf den Umſtand aufmerkſam, daß die katholiſche Kirche ſchon die erſten Abdruͤcke des Angelus Sileſius geneh¬ migt hat, und daß proteſtantiſche Geiſtliche nicht minder fuͤr die Verbreitung deſſelben thaͤtig geweſen ſind. Nur ſchwaͤcher und zaghafter, nicht ſtrenger, als die katho¬ liſchen und proteſtantiſchen Theologen jener fruͤhern Zeit, erſcheint hier der Eifer unſrer Tage.

Wir laſſen aber dieſen Gegenſtand gerne ruhen, und begnuͤgen uns, dieſe Blaͤtter fernerhin als eine perſoͤn¬ liche Gabe der Liebe, der Freundſchaft und der Ver¬ ehrung denen zu widmen, die ſich an ihnen ohne Aer¬ gerniß erfreuen und erbauen!

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Saint-Martin.

Ludwig Claudius von Saint-Martin wurde den 18. Ja¬ nuar 1743 zu Amboiſe geboren. Seine Eltern trugen die groͤßte Sorgfalt fuͤr ſeine Erziehung, die in jeder Hinſicht vortrefflich war: beſonders eine Stiefmutter ruͤhmt er als die Quelle all ſeines Gluͤckes, indem ſie ihm die Sanftmuth, Aufmerkſamkeit und Froͤmmigkeit mitgetheilt habe, durch die er Gott und Menſchen lieb geworden ſei. Weniger ſcheint der Vater ſeinem Ge¬ muͤthe verwandt geweſen. Obgleich von ſchwachem Koͤr¬ perbau, und außerordentlich reizbar, ertrug er doch mit Erfolg alle Anſtrengungen, welche das Ringen nach Kenntniſſen und eine bewegte Lebensart ihm auferlegten. Sein Vater hatte ihn zum Rechtsgelehrten beſtimmt, und ungeachtet entſchiedener Abneigung fuͤr dieſen Stand war der Juͤngling auf dem Kollegium von Pontlevoi in Kenntniſſen bald ſo ausgezeichnet fortgeſchritten, daß er in Tours eine Anſtellung empfing. Allein ſeine Neigung fuͤhrte ihn unter allen Studien und Geſchaͤften405 zu dem hoͤheren Gebiete innerer Forſchungen und frommer Weisheit empor, dem er ſchon in ſeinem achtzehnten Jahre durch ſelbſtſtaͤndigen Entſchluß in eigenthuͤmlicher Bahn ſich gewidmet hatte. Die gewoͤhnlichen Wiſſen¬ ſchaften und Buͤcher ließen ihn unbefriedigt; noch auf der Schule las er ſchon mit Entzuͤcken das Werk von Abadie l'art de se connaître, welches ihn fuͤr hoͤhere Dinge entſchied; ſpaͤter regten Burlamaqui's Schriften ihn maͤchtig an. Seine Anſtellung in Tours war von keiner Dauer; abermals dem Willen ſeines Vaters fol¬ gend, trat er in ſeinem zweiundzwanzigſten Jahre in das Regiment von Foix als Offizier. Hier zeichnete er ſich durch ſtrenge Erfuͤllung ſeiner Pflichten und durch ſittlichen Lebenswandel aus; ſeine Kammeraden waren uͤber ſeine Grundſaͤtze verwundert, fanden ſein Betragen ſonderbar, aber gewannen ihn bald lieb, und ließen ihn in ſeiner Art gewaͤhren, manche ſogar ſchloſſen ſich ihm naͤher an. Seine Hauptbeſchaͤftigung machten nun die alten und die neuen Sprachen, die ſchoͤnen Kuͤnſte und beſonders die hoͤheren Wiſſenſchaften. Muſik und laͤndliche Wanderungen wurden ſeine liebſte Erholung. Von groͤßter Wichtigkeit aber war fuͤr ihn die Bekannt¬ ſchaft, die er zu Bordeaux, wo ſein Regiment in Be¬ ſatzung lag, durch einige ſeiner Kammeraden mit dem in die hoͤheren Kenntniſſe eingeweihten Martinez Pas¬ qualis machte, der ihn zu ſeinem Schuͤler aufnahm. Leidenſchaftlich fuͤr die Wahrheit ergluͤht, widmete er406 ſich ganz ihrer Erforſchung und Ausbreitung; er ver¬ ließ den Kriegsdienſt um fernerhin nur ihrem Dienſte zu leben; er machte verſchiedene Reiſen zu ſeiner Be¬ lehrung; Studien und ſtille Wohlthaͤtigkeit erfuͤllten alle ſeine Zeit. Inzwiſchen hatte ihn ſein Weg in allerlei Verbindungen mit Geſellſchaften gefuͤhrt, die nach der¬ ſelben Richtung zu ſtreben ſchienen; ſein uͤberlegener Geiſt ließ ihn bald entdecken, was fehlte und was noͤthig war; er trat ſelbſt als Stifter einer Geſellſchaft auf, die nach und nach in weiten Raͤumen ſich ausgebreitet, aber auch in mancher Weiſe von dem Geiſte des Stif¬ ters ſich wieder entfernt hat. In dieſer Sache iſt vieles dunkel geblieben, was wohl niemals voͤllig zu erhellen ſein mag. Indeß war das neue Unternehmen wahr¬ ſcheinlich der erſte Antrieb zu ſeinen nachher zahlreich gewordenen Schriften und zu ſeinen groͤßeren Reiſen in Italien, Deutſchland und England. Sein erſtes Werk, das beruͤhmte Buch des erreurs et de la vérité, ſchrieb er um das Jahr 1774 zu Lyon, wo er ſich mehrere Jahre aufhielt, und ſeine Grundſaͤtze in der Freimaurer¬ loge vortrug; er verfertigte das Buch innerhalb vier Wintermonaten, am Feuerherde der Kuͤche, weil er kein warmes Zimmer hatte. In Rom, Bern, Straßburg, London und Paris ſetzte er abwechſelnd ſeine Arbeiten fort; uͤberall fand er Verehrer und Freunde; angeſehene und ausgezeichnete Perſonen huldigten ſeinem Geiſt und ſeinem Gemuͤthe. Maͤchtige Goͤnner erboten ſich, ihm407 das Ludwigskreuz mit einem Jahrgehalte zu verſchaffen, allein er lehnte beides ab. Mitten in dieſem großen Weltverkehr blieb er dennoch einſam und zuruͤckgezogen; ſeine Beſcheidenheit und ſein Ernſt hielten den Ruhm ſeines Geiſtes von ſeiner Perſoͤnlichkeit ab, und die aͤußere Welt war lang in Zweifel, wer unter dem Na¬ men des unbekannten Philoſophen, den er ſich in ſeinen Buͤchern gegeben, verborgen ſein wollte. Nach der Ruͤckkehr von ſeinen Reiſen lebte er zu Paris in dem Hauſe der Herzogin von Bourbon, die ihn mit Guͤte uͤberhaͤufte. Sie war eingeweiht in die Lehren der Myſtiker, und bewegte ſich darin mit eine Art muntrer Freigeiſterei, die ſie ſpaͤter, nachdem ſie in Spanien geweſen, mehr und mehr ablegte, ſo wie ſie auch nach Saint-Martin’s Tode ſich ganz den Vorſchriften der katholiſchen Kirche hingab, und im Jahre 1824 das erſehnte Loos hatte, betend in der Kirche der Heiligen Genoveva todt hinzuſinken. Saint-Martin befand ſich abermals im Auslande, und grade auf einer Reiſe in Italien, als die franzoͤſiſche Revolution ausbrach. Er eilte nach Paris, wo er von ſeinem hohen Standpunkte den großen Bewegungen unerſchuͤttert zuſah, und dieſe eigenthuͤmlich deutete. Den auferlegten Pflichten des neuen Buͤrgerthums entzog er ſich nicht, ſondern verſah mit Genauigkeit ſeinen Dienſt als Gemeiner bei der Nationalgarde, welches jedoch die einzige Thaͤtigkeit blieb, durch die er an der Revolution wirklich Theil nahm. 408Er ſtand unter andern zum letztenmal Schildwacht am Tempel, wo der Dauphin gefangen gehalten wurde, ein Umſtand, der ſein Inneres tief ergreifen, und ihm nur deſto bedeutender ſein mußte, als er fruͤher zum Lehrer des jungen Prinzen vorgeſchlagen worden war! Durch eine Verfuͤgung, welche die Adlichen betraf, wurde er genoͤthigt Paris zu verlaſſen, und ſeinen Aufenthalt in Amboiſe zu nehmen. Er gab ſeinen Mitbuͤrgern immer das Beiſpiel der Unterwerfung unter die Geſetze, der Rechtſchaffenheit, des Wohlthuns; zugleich aber auch des edelſten Muthes fuͤr die Wahrheit, denn inmitten der gefahrvollſten Stuͤrme der Revolution wagte er ſeine kuͤhnſten Schriften herauszugeben, und es iſt ein Wun¬ der, daß er unangefochten blieb. Nachdem die Zeiten wieder ruhiger geworden waren, kehrte er nach Paris zuruͤck, und lebte von neuem ſeinen Freunden und den Studien. Seine Wißbegierde breitete ſich nach allen Richtungen aus; bei ſeinem großen Geiſte verſchmaͤhte er doch keine Gelegenheit auch von Geringern zu ler¬ nen, und ſelbſt wenige Monate vor ſeinem Tode beſuchte er noch oͤffentliche Vorleſungen. Er hatte das Heran¬ nahen ſeines Todes geahndet, und ſeinen Freunden an¬ gekuͤndigt; mit ruhigem Bewußtſein ſah er ſeine letzte Stunde kommen, und mit Freuden ſogar ſchien er ſeine irdiſche Huͤlle zu verlaſſen. Er ſtarb gegen 11 Uhr Abends den 13. Oktober 1804 zu Autray bei Chatillon, in dem Landhauſe des Senators Lenoir-Laroche, wohin409 er am naͤmlichen Tage aus Paris zum Mittageſſen ge¬ kommen war. In ſeinen nachgelaſſenen Schriften ſagt er vom 18. Januar 1803: Dieſer Tag, der meine ſechziz Jahre erfuͤllt, hat mir eine neue Welt eroͤffnet. Meine geiſtlichen Hoffnungen wachſen immer mehr. Ich naͤhere mich, Gott ſei es gedankt, den großen Genuͤſſen, die mir ſeit langer Zeit angekuͤndigt ſind, und durch welche die Freuden aufs Hoͤchſte ſteigen werden, von denen mein Daſein in dieſer Welt wie beſtaͤndig begleitet geweſen. Sein Hinſcheiden war ſanft und freudig. Einen Prieſter, den man herzugerufen, wollte er nicht annehmen, durch die Weihe ſeiner geheimen Wiſſen¬ ſchaften und Verbindungen, wie er glaubte, ſchon hoͤheren Graden einer Hierarchie einverleibt, in welcher die Kirche ſelbſt nur als Mitbeſtandtheil angeſehen wurde. Wir laſſen die Geheimniſſe dahingeſtellt, und halten uns an ſeine offenbare Erſcheinung. Er war ein reiner und edler Menſch, ſeine Tugenden entſprachen ſeinem Geiſte; beſcheiden und ſtill verhehlte ſein Aeußeres die Schaͤtze, die ſein Inneres hegte; mild und freundlich in ſeinem Benehmen, heiter und lebhaft im Geſpraͤch, konnte er unter Freunden hinreißend liebenswuͤrdig ſein. Er ge¬ hoͤrt zu den auserwaͤhlten Geiſtern, die von Zeit zu Zeit gleich Weſen einer hoͤheren Ordnung unter den Menſchen wandeln, damit deren urſpruͤngliche Wuͤrde und Schoͤnheit in Abbildern ſichtbar bleibe. Seine zahl¬ reichen Schriften tragen das Zeichen eines eigenthuͤm¬410 lichen Geiſtes von außerordentlicher Kraft und Tiefe, aber ſeine Wiſſenſchaft iſt in Geheimniſſe eingehuͤllt, die einen großen Theil dieſer Schriften verdunkeln, und in welche auf gewoͤhnlichem Wege einzudringen nicht moͤg¬ lich iſt. Dem Unbefangenen wird jedoch immer genug Vortreffliches darin verſtaͤndlich ſein, um fuͤr das Un¬ verſtaͤndliche kein uͤbereiltes Verdammungsurtheil zu ge¬ ſtatten. Die in ſeinen Oeuvres porthumes erſchie¬ nenen kurzen Saͤtze, Bekenntniſſe und Bemerkungen, duͤrften die beſte Einleitung zu ſeiner naͤheren Bekannt¬ ſchaft ſein.

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Goethe.

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Im Sinne der Wanderer.

Als vor beinahe dreißig Jahren, im Gedraͤnge ſo vieler Urtheile, Betrachtungen, Studien und Deutun¬ gen, zu welchen Wilhelm Meiſters Lehrjahre damals in der deutſchen gebildeten Welt den unerſchoͤpflichen Stoff boten, auch zuerſt der Spruch verlautete: Das ganze Buch ſei gleichſam eine Frucht, reich und ſchoͤn um den Kern herumgewachſen, der in ihm durch Text¬ ſtellen gebildet werde, von denen die eine bedeutungs¬ voll ausdruͤckt, wie die Erde in der alten Welt uͤberall ſchon in Beſitz genommen ſei, und die andre ſchmerzlich beklagt, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches Unmoͤgliche, ſondern auch ſo manches Moͤgliche verſagt worden; als dieſer Spruch zuerſt vernommen wurde, konnte er faſt nur befremden: denn der leichte Sinn der meiſten Leſer wird im Genuſſe des Einzelnen durch jede Hindeutung auf ein inneres Ganze faſt immer un¬ angenehm geſtoͤrt, und ſelbſt der tiefere ſcheut gar oft vor dem Gedanken zuruͤck, der ihm als ungewohnte414 Geſtalt und auf noch unbetretenem Pfade erſcheint. So wurde denn jene Aeußerung, obwohl von einer Seite her kommend, der man ſonſt gern urſpruͤngliche und lichte Wahrheit, einfaches und gradedurchgehendes Er¬ ſchauen anzuerkennen gewohnt war, von den Meiſten als ein ſeltſames, nicht zu verſtehendes Paradoxon mit bloßem Verwundern angehoͤrt, oder als ein willkuͤr¬ licher, nicht begruͤndbarer Einfall mit Kopfſchuͤtteln beſeitigt.

Doch haͤtte ſchon damals ein weiteres Entfalten der hier zum Grunde liegenden Gedankenverbindung ſehr gut geſchehen und der Eingang zu allgemeinerem Verſtaͤndniſſe ſich leicht eroͤffnen laſſen, wenn jemand des Sinnes geweſen waͤre, auf den Gehalt jenes Werkes eben ſo kritiſch Augenmerk und Fleiß zu rich¬ ten, als bis dahin vorzugsweiſe nur dem Stoffe und der Geſtalt deſſelben zu Theil geworden war. In dem Buche ſelbſt lagen noch Elemente und Beziehun¬ gen genug aufzufinden und zu vereinigen, welche jenen Gedanken tragen und haben mußten, und die beiden Textſtellen konnten in mehr oder minder verhuͤllten Variationen dem leiſen Aufmerken noch oft vernehmbar durchklingen. Weſſen Sinn auf inneren Zuſammenhang und tiefere Bedeutung gerichtet war, mußte wohl dun¬ kel fuͤhlen, daß es mit den merkwuͤrdigen Bekenntniſſen und Ausbruͤchen, welchen die Alte bei Erzaͤhlung von Marianens Tod uͤber deren und ihre eignen Verhaͤlt¬415 niſſe ſich uͤberlaͤßt, und worin der Zuſtand der Prole¬ tarien, der Verwahrloſten und Bedruͤckten, in erſchuͤt¬ ternder Nacktheit gezeigt wird, noch etwas ganz anderes auf ſich hat, als durch ein groteskes Nachtſtuͤck die dichteriſche Wirkung wechſelvoll zu erhoͤhen.

Auffallend und bedeutend mußte es auch erſcheinen, als unvermuthet nachgewieſen wurde, was einer neuen Entdeckung gleichkam, daß jene beiden Texte, auf welche ein ſo großer Werth gelegt werden ſollte, von Goͤthe’n ſelbſt im Stillen ſchon mit einem beſondern Nachdruck verſehen waren, indem er ſolche bei anderm Anlaſſe wiederholt, und beide an verſchiedenem Orte nochmals der Betrachtung ausgeſtellt hatte, den einen naͤmlich in den Unterhaltungen deutſcher Ausgewander¬ ten, und den andern in den Beilagen zu Cellini’s Lebensbeſchreibung. Vieler nicht ſo unmittelbaren Hin¬ deutungen oder Anklaͤnge zu geſchweigen, die ſich in ſeinen Schriften auch ſonſt fuͤr dieſes Thema zahlreich finden ließen.

Eine ſtarke Sammlung wuͤrde es geben, wollte man alles vereinigen, was uͤber Wilhelm Meiſters Lehrjahre, ſeit der erſten Erſcheinung dieſes Romans, geſchrieben und vorgetragen, mit einſichtiger Wuͤrdigung gedacht und belehrend ausgeſprochen, oder auch mit unzugaͤnglichem Vermoͤgen gefabelt und vernuͤnftelt worden. Der Dichter hat alles dieſes, den Tadel wie das Lob, den guten wie den boͤſen Willen, ſchweigend416 voruͤbergehen laſſen, und ſich niemals uͤber ein Urtheil, wiefern er ihm beiſtimme oder nicht, erklaͤrt. Die richtige Deutung und das hellere Verſtaͤndniß ſeines Werkes bereitete er auf die ſicherſte und buͤndigſte Weiſe durch deſſen Fortſetzung, die denn auch endlich, nach mehr denn zwanzigjaͤhrigem Zwiſchenraume, als Wilhelm Meiſters Wanderjahre an das Licht trat.

Hier fand ſich unvermuthet, zum Wunder und Staunen derer, welche jener Textſtellen eingedenk waren, die eine derſelben, die Betrachtung uͤber den ſchon ge¬ nommenen Beſitz alles Bodens, in neuer Wendung wiederholt, und die Beſtaͤtigung, welche dadurch fuͤr die Wichtigkeit jener Stelle ausgedruͤckt wurde, mußte um ſo groͤßer ſein, als Goͤthe'n nicht unbekannt ge¬ blieben war, zu welchem Werthe man ſie hatte erheben wollen. Als nach abermaligem Verlauf einer Reihe von Jahren das ganze Werk in veraͤnderter und vollerer Geſtalt nochmals erſchien, kam jene Wiederholung darin ſogar doppelt vor.

Mehr aber, als dieſes buchſtaͤbliche Zeugniß, ſprach nunmehr der geſammte Gang und Inhalt des Werkes, wie ſolche nun jedem Auge ſichtbar werden konnten, fuͤr das Daſein eines tief eingreifenden, aus dem Zu¬ ſtande der Welt geſchoͤpften und in das Leben zuruͤck¬ wirkenden Gedankens, wie er in jenen Textworten allerdings nach beiden Hauptſeiten, nach der materialen und nach der idealen hin, ausgedruͤckt worden.

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Und auch auf die Lehrjahre fiel jetzt eine neue Be¬ leuchtung zuruͤck; ein bisher wenig vortretender, ein oft ganz uͤberſehener Inhalt erſchien inmitten der zarten Herzens - und Geiſtesangelegenheiten wirkſam, und zeigte ſich in unmittelbarer, ſtrenger Beziehung mit den deutlicher herausgearbeiteten derartigen Beſtandtheilen der Wanderjahre. Wir haben dies ſchon vor laͤngerer Zeit ausgeſprochen und die Meinung aufgeſtellt: die zwei letzten Buͤcher der Lehrjahre ſonderten ſich bereits merklich von den fruͤheren ab, und reiheten ſich faſt ſchon den Wanderjahren zu.

Bevor wir nun weiter ſchreiten, laſſen wir einige allgemeine Betrachtungen, die ſich aufdraͤngen, hier vorangehen, da ſie unſern Weg auf dieſe Art nur erleichtern.

Was man von Shakſpeare geſagt hat, daß er auf den Scheidewegen und Uebergaͤngen zweier Zeitalter ſtehe, gilt im Grunde von jedem Dichter, dem dieſer Name im großen Sinne des Wortes zukommt, und dieſe Stellung gehoͤrt recht eigentlich zu den Bedingun¬ gen, welche ſein Erſcheinen tragen, ſeiner Ausbil¬ dung und Wirkſamkeit die Mittel darbieten, und ihm die reife widerſtrebende Welt, ſo wie die unreife har¬ rende, gleichſam als die Stoffe ſeiner Kunſt in die Haͤnde liefern.

Goͤthe's Leben und Dichten gehoͤrt ohne Frage einem der Zeitabſchnitte an, die im Gegenſatze des Er¬27418bauens und Vereinens mit Recht vom Zerfallen und Zerſetzen den Namen erhalten koͤnnen, und die letzte Haͤlfte des achtzehnten nebſt dem Anfange des neun¬ zehnten Jahrhunderts ſind unſtreitig als ein Gipfel ſolcher weither vorbereiteten Epoche anzuſehen. Man glaubte die Reformation des ſechzehnten Jahrhunderts laͤngſt abgeſchloſſen, ihrem Weiterwirken feſte Schranken geſtellt, als dieſes grade mit Rieſenſchritten ſich fort und fort ausbreitete. Daſſelbe hatte den kirchlichen Boden, den es der fruͤher allgemeinen Kirche gluͤcklich abgekaͤmpft, nur verlaſſen, um ſich mit voller Kraft in alle weltlichen Gebiete zu ergießen, und dort glei¬ cherweiſe aufzuraͤumen. Von dem in jener Bewegung empfangenen Anſtoße laſſen ſich in ſtrenger Folge alle fernere Bewegungen ableiten, welche die Mitte des europaͤiſchen Lebens ſeitdem ergriffen und gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in einen allgemeinen Kampf gedraͤngt haben, der noch keineswegs geſchlichtet iſt, ſondern ſeinen Zwieſpalt nur ſtets in hoͤhere Grundſaͤtze und Intereſſen uͤberleitet. Es darf uns nicht irren, daß der Gegenſatz zweier Zeitalter, eines weichenden und eines andringenden, ſelber zu einer hohen Bildung gedient hat, indem der Geiſt der Wiſſenſchaft und der Dichtung ſich des Kampfes bemeiſterte und ſich uͤber ihn erhob; das wirkliche Leben mußte darum nicht weniger die tiefſten Leiden uͤberſtehen, mußte vom Sturm hart ergriffen und vielfaͤltig zerſchellt werden.

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Das Bild dieſes Lebens konnte deßhalb nur um ſo reicher ausfallen, die Poeſie vor allem erfuͤllte den Auftrag, daſſelbe zu erfaſſen und in ihren ewigen Ge¬ ſtalten veredelt aufzubewahren, ſo redlich als glaͤnzend.

Goͤthe's ganze Dichtung iſt faſt nur das Bild der Zerruͤttungen einer mit ſich ſelber in Zwieſpalt gerathe¬ nen Welt, und wenn er auf der einen Seite die Ge¬ ſtaltungen dieſes Zwieſpalts durch den Zauber und die Anmuth ſeines kuͤnſtleriſchen Genius mildert, jedes Vorhandene durch die ihm inwohnende Wahrheit in ſeiner Berechtigung zum Daſein darſtellt, und ſomit gleichſam verſoͤhnt und harmoniſirt, ſo wird ihm von anderer Seite nicht erlaſſen, kraft eben derſelben Kunſt und Wahrheit auch manchen noch im Verborgenen ruhenden Widerſtreit aus dem geheimen Dunkel her¬ vorzuziehen und grell und ſcharf an das Tageslicht zu bringen. In dieſer Stellung und Aufgabe des Dichters liegt vollſtaͤndig der Schluͤſſel zu allen verkehrten An¬ forderungen und Vorwuͤrfen, welche ein beſchraͤnkter und von allem Unverſtandenen beunruhigter Sinn von jeher dem Dichter in Betreff der Sittlichkeit machen will, die doch ſeinen Werken im hoͤchſten Grade inwohnt, auch wo er ſie fuͤr bloͤde Augen zu verletzen ſcheint.

Denn gerade die Zerruͤttung und Aufloͤſung der alten Lebensformen, welche laͤngſt krank und ſchadhaft das friſche Leben an ihren Tod feſſeln moͤchten, und dieſes neue Werdende, welches noch keine Sanktion27 *420hat, die unerkennbar gewordene Verwicklung der ewigen Legitimimaͤt mit deren zeitlicher Uſurpation, gerade dies iſt ja der Stoff, den die Poeſie einer ſolchen Epoche aufnehmen und verarbeiten muß, wenn ſie ſelber nicht auf das Leben verzichten will. Die Maſſe der Zeitge¬ noſſen vermag daher den Dichter wohl zu bewundern, aber nicht vollſtaͤndig zu verſtehen; ſie wird ſeine Be¬ richte wie ſeine Intentionen tadeln; doch eine ſpaͤtere Zeit ſtellt unfehlbar auch in dieſer Hinſicht die Gerech¬ tigkeit her, und erkennt an, wie in allen Wagniſſen des Herzens und Freveln des Geiſtes der Kuͤnſtler un¬ ſchuldig und fromm, in aller Sinnlichkeit keuſch und rein bleibt, gleich dem geiſtlichen Lehrer, der ohne Scheu jedem Uebertritt und Irrthum nachgeht, ihre Namen und Eigenſchaften nennt, und ſelbſt in die Ab¬ gruͤnde der Nacht ſich verſenkt, um mit dem ihnen entriſſenen Leben bereichert zu dem Lichte wieder auf¬ zutauchen. Nicht anders thut der Dichter, inſofern er es wahrhaft iſt; er kann nur aufhoͤren ſittlich zu ſein, wo er aufhoͤrt Dichter zu ſein.

Fruͤhzeitig empfand Goͤthe die Verwickelungen einer in ſich ſelbſt uneinigen Welt, in deren Mitte ſein eignes Leben erwacht war und emporſtieg. Die erſten Werke ſeines Genius, Werther, Goͤtz, Fauſt, Stella, enthalten den Drang eines innern Lebens, das mit den ihm von der aͤußern Welt angebotenen Formen unruhig kaͤmpft, ſie nicht mehr erfuͤllen noch von ihnen421 umfaßt werden kann, und doch der neuen Formen noch durchaus entbehrt, in welchen es ſich frei entfalten und befriedigen duͤrfte. Dieſer Kampf, ein unaufhoͤrlich wiederkehrendes Grundthema, ſetzt ſich durch alle fol¬ genden Goͤthe’ſchen Werke in den mannigfachſten und hoͤchſten Geſtalten fort; Egmont, Taſſo, Hermann und Dorothea, die natuͤrliche Tochter, ja ſogar Iphigenia durch dasjenige, was in dieſem ſchoͤnen Aufruf antiker Welt doch als geheimer Lebensathem der Gegenwart weht und wirkt die Wahlverwandtſchaften, und be¬ ſonders Wilhelm Meiſter, ſind in ſolchem Betracht nur engverbundene Glieder einer und derſelben Reihe.

Daß der Menſch unſers Zeitalters nicht in ein naturfreies Leben, ſondern in eine kuͤnftige Welt hin¬ eingeboren wird, die, uͤberall von Schranken durch¬ ſchnitten und abgetheilt, zum voraus laͤngſt in Beſitz genommen und durch Anhaͤufung todter Stoffe beengt, den Anſpruͤchen der Entwickelung und des Berufs taub oder gar feindlich iſt, daß das neueintretende Daſein ohne Boden in kuͤnſtlich ſchwebende vielfach verworrene Gewebe abgeſetzt wird, worin deſſen beſter Theil nur allzu oft untergeht oder traurig dahin ſiegt, dieſe Ein¬ ſicht war ſchon dem Verfaſſer des Werther eigen. Hier aber ſtehet die Verzweifelung noch ohne andern Aus¬ weg, als den die gewaltſame Selbſtzerſtoͤrung ihr bietet. In ſpaͤtern Werken geſellt ſich ihr ſchon eine Beigabe von Troſt und Heil. In Fauſt und Wilhelm Meiſter422 arbeitet ſich dieſe Richtung vollſtaͤndig zu Tage. Dort wird im Geiſtigen der Sieg bis zur Ruͤckfuͤhrung und Verſoͤhnung des zuerſt Abtruͤnnigen geſteigert; hier werden dem Irdiſchen neue Formeln eines nach innen und nach außen gleichmaͤßig befriedigten Daſeins an¬ gedeutet.

Der Dichter, in deſſen mittlere Lebenshoͤhe das ungeheure Ereigniß der franzoͤſiſchen Revolution faͤllt, die mit ihm in gleichem Stoffe, jedoch mit den gewalt¬ ſamſten und furchtbarſten Werkzeugen, arbeitet und wuͤhlt, nimmt im ſteten Gegenſatze derſelben nur die Bildung, die Einſicht und das Wohlwollen in Anſpruch, um die große Aufgabe zu loͤſen, welche der Welt vor¬ liegt, und wenn er Waffen fuͤhrt, ſo iſt es nur gegen die revolutionaͤren Gewalten ſelbſt, die ihm unter jeder Form verhaßt ſind, weil ſie die eigne Sache nur zer¬ ſtoͤrend foͤrdern. Aber das Fortſchreiten in lebendiger Entwickelung, die Veredlung und Erhebung alles deſſen, was beſteht, die Reinigung und Harmoniſirung der Welt beſeelen ſeinen Eifer unausgeſetzt, und das Vor¬ waͤrtsſchauen in eine reiche Zukunft trennt ihn fuͤr immer von den Wahnvollen, welche einer verſchwindenden Ver¬ gangenheit als einem wiederzugewinnenden Heile nach¬ ſtarren. Die Lichtſtrahlen, welche ſchon in den Lehr¬ jahren auf den Unterſchied der Staͤnde, auf die Ver¬ haͤltniſſe des Grundbeſitzes und auf die Uebereinſtim¬ mung der Faͤhigkeiten und Berufswahlen hingeworfen423 ſind, haben ſelten gehoͤrige Beachtung, oft voͤllige Mi߬ deutung erfahren. Der Dichter will nicht das Ver¬ altete dem Gange der Natur zum Trotz feſthalten, nicht die Forderungen eines neuen Aufſtrebens abweiſen, aber er will das Vorhandene ergreifen, das Neue ihm ſicher verknuͤpfen und beides auf ſein wahres Ziel richten. Er ſchaͤtzt und preiſt das Dauernde, und goͤnnt ihm Ausdehnung, nur weiß er daſſelbe auch im Wechſel zu finden, und erkennt als das eigentliche Element der Menſchheit das Bewegliche, worin ihre hoͤchſten Guͤter ſchweben, wie das ganze Weltſyſtem ja ſelber nur auf ununterbrochenes allgemeines Umſchwingen und Kreiſen gegruͤndet iſt.

In den Wanderjahren wird dies klar ausgeſprochen, und uͤberhaupt ein umfaſſendes Gebild neuer Lebens¬ ordnungen in feſten, doch nicht aͤngſtlichen Umriſſen mit dichteriſcher Freiheit aufgezeigt. Hier liegen fruchtbare Keime fuͤr eine Zukunft ausgeſtreut, welche den Dich¬ ter, nach Maßgabe, daß jene aufgehen, noch weithin¬ aus eben ſo fuͤr den ihrigen halten wird, als er uns durch die ſchon entfalteten Bluͤthen der Gegenwart angehoͤrt. Die eindringliche und erlaͤuternde Ueberſicht, welche Hotho in den Berliner Jahrbuͤchern fuͤr wiſſen¬ ſchaftliche Kritik von dem Inhalt und der Geſtalt dieſes Werkes ſo gluͤcklich gegeben hat, uͤberhebt uns des Ver¬ ſuchs einer neuen Analyſe, da wir auf jene als auf eine durchaus gelungene und genuͤgende zuruͤckweiſen koͤnnen.

424

Wir wollen nur erinnern, wie das Buch nun nicht mehr als ein Spiel heitrer Willkuͤr, die Einbildungskraft zu vergnuͤgen, daſteht, ſondern den ganzen Ernſt und die volle Schwere der Wirklichkeit in ſeine Dichtung hinuͤbergezogen hat, ein im groͤßten Sinne didaktiſches Werk geworden iſt. Die Nothwendigkeiten des irdi¬ ſchen Lebens nehmen darin ihren Rang neben den hoͤch¬ ſten Vergeiſtigungen; in gelaͤuterter Froͤmmigkeit wirkt das Chriſtenthum; die Erziehung breitet ihre Anſtalten auf eignem Boden maͤchtig und allumfaſſend aus; die Bildung zur Kunſt, reich ausgeſtattet im Beſondern, wird allgemeine Gabe; das Gewerbliche, aus zerſtoͤren¬ dem Wetteifer in weiſe Ordnung geleitet, ruͤckt ohne Scheu zu Seiten der Kunſt heran, ſeiner Berechtigung und Ehre neben dieſer gewiß; Beruf und Faͤhigkeit be¬ ſtimmen und adeln jede Verrichtung; in richtigen Ehe¬ buͤndniſſen, hier vorzugsweiſe die ungleichen Staͤnde zuſammenfuͤgend, ſchwindet das Mißverhaͤltniß der Frauen, deren Erſcheinung ſogar zum freien, prieſterlichen Se¬ genswirken geſteigert iſt; eine neue Wuͤrdigung der Dinge und Thaͤtigkeiten, eine neue Wahl und Aus¬ theilung der Lebenslooſe, ein neuer Sinn des Schoͤnen und Guten, eroͤffnen, vermittelſt einer großen, uͤber den Erdboden hin ſich verbreitenden, nach allen Rich¬ tungen edel thaͤtigen, die hoͤchſten Gegenſtaͤnde und die geringſten beachtenden, Noth und Schlechtigkeit uͤberall tilgenden, frei beweglichen und dabei hierarchiſch geord¬425 neten Aſſociation, die reiche Ausſicht einer in Arbeit und Bildung fortſchreitenden Menſchheit, deren hoͤchſten Ausdruck wir zuletzt allerdings wieder auf die zwiefache Textformel zuruͤckfuͤhren moͤgen: Im Irdiſchen fuͤr jedes ihrer Mitglieder einen richtigen Antheil am Beſitz und Genuſſe der vorhandenen Guͤter zu gewaͤhren, im Gei¬ ſtes - und Gemuͤthsleben aber, bei ſo vielem Unmoͤg¬ lichen, welches ewig verſagt bleiben muß, das verſagte Moͤgliche aus den zerbrechbaren Feſſeln zu befreien.

Wir gedenken ſchließlich auch der wunderbaren Er¬ ſcheinung, daß mit dieſen Bildern gleichzeitig, doch voͤllig unabhaͤngig von ihnen und einander gegenſeitig voͤllig unbekannt, aus ganz andern Kraͤften und Re¬ gionen, unter demſelben Nachthimmel der Weltereig¬ niſſe fortſchreitend verhuͤllt, nachbarliche Gedankenreihen verwandten Geiſtes aufſtiegen, als Lehre ſich geſtalteten, und ſogar den Verſuch wagten, in ausuͤbender Ver¬ wirklichung die Welt unmittelbar anzuſprechen.

Hier aber halten wir inne. Fuͤr Betrachtungen aller Art erweitert ſich der Raum unabſehbar; die Urtheile und Einſichten jedoch, welche hier zu gewinnen ſind, werden nur demjenigen fruchtbar ſein, welcher dieſen Raum mit eignen Schritten zu durchmeſſen keine Muͤhe ſcheut.

[426]

Beſuch bei Goethe. November, 1817.

(Aus einem Briefe.)

Ein Gegenſtand fordert und nimmt ſich ſein Recht; indem ich dieſe Zeilen an Sie, verehrteſter Freund, be¬ ginne, draͤngt es ſich mir unwiderſtehlich auf, Ihnen vor allen andern Dingen zu ſagen, daß ich Goethe’n perſoͤnlich kennen gelernt habe; zum erſtenmal in meinem Leben hab ich ihn geſehn, kaum der Gefahr entwunden, ihn unbeſucht vorbeizureiſen, aber freilich auch nicht ahn¬ dend und vermuthend, welcherlei Gut mir dadurch un¬ zugetheilt geblieben waͤre! Ich kam Nachmittags gegen 4 Uhr in Weimar an, unmuthig, durchfroſtet, nach ſchlechten Nachtfahrten, auf verdorbenen Wegen, voll ungeduldiger Eile; in dieſer Stimmung beſchloß ich dennoch zuletzt mein Heil zu verſuchen, ließ mich mel¬ den und wurde zu 5 Uhr angenommen. Ein Gang von wenigen Schritten, aber in welcher Erregung legte ich427 dieſe zuruͤck! Es war mir, als wenn alles, was ich bei dem Namen je gedacht und empfunden, ſich noch eiligſt aufloͤſen, und zu einer Perſoͤnlichkeit verkoͤrpern ſollte, die ſich ſogleich an der wirklichen, leibhaftig mir gegenuͤberſtehenden, zu pruͤfen haben wuͤrde. Aber welcher Empfang ſtand mir bevor! Ich mußte, als ich Goethe'n vor mir hatte, alles fahren laſſen, was die langjaͤhrige, tiefgenaͤhrte Bekanntſchaft mit dem Dichter mir einfloͤßen gekonnt, um nur mit dem neubekannten, wirkſamen Menſchen beſchaͤftigt zu ſein, der mild, freund¬ lich, treuherzig, anmuthig, geiſtvoll, kraftreich, mir das Bild eines ganzen Menſchen wenn dieſer geringe Ausdruck der hohen Bedeutung faͤhig iſt, in voll¬ ſtaͤndig ausgebreiteter großartiger, ſchoͤner Lebensent¬ wickelung vergegenwaͤrtigte. Das ſeltene Gluͤck hier wohl unverdient, doch nicht unwuͤrdig empfangen einer ſo milden und biedern Aufnahme, als ſei ich ein alter Freund, der laͤngſt erwartet worden, mußte mich um ſo mehr uͤberraſchen, als ich die ſcheue Zuruͤckhal¬ tung, die ihm ſo oft vorgeworfen worden, in den ſchrift¬ lichen Beruͤhrungen, die ich mit ihm gehabt, nicht ganz hatte vermiſſen koͤnnen. Nach der erſten Begruͤßung, wobei er mir die Hand reichte, ſprachen wir gleich ſehr vertraut, und bald nachher hielt er inne, hielt mir ſeine Hand hin, und rief mit Innigkeit: Sie muͤſſen mir nochmal die Hand geben! Vergebens wuͤrde ich Ihnen den Gang, den Inhalt, oder auch nur die Art428 des alsbald lebhaften Geſpraͤchs zu ſchildern ſuchen, es war wie ein Stuͤck Leben, in tauſend Wellen fließend, ein Gefuͤhl im Ganzen wirkend ohne die einzelnen Be¬ zuͤge geſondert feſthalten zu laſſen; jedes Wort eine Bluͤthe am Zweige des Baumes, aus der tiefen dun¬ keln Wurzel her, aber ſelber doch nur als luftigheitres Gebild des Augenblickes erſchloſſen. Wie jenen helleni¬ ſchen Fremden zu Athen, die nach mehreren mit Plato verlebten Tagen ihn erſuchten, ſie nun auch zu ſeinem beruͤhmten Namensvetter, dem Philoſophen zu fuͤhren, ſo ging es faſt mir, der ich in taͤuſchender Beſinnung leicht dieſen herrlichen Mann haͤtte bitten koͤnnen, mir nun auch die Bekanntſchaft des ihm gleichnamigen Schriftſtellers zu verſchaffen. Ich blieb auf Goethe’s wiederholtes Anmahnen den ganzen Abend bei ihm, bis Mitternacht ſogar; ſein Sohn und deſſen neuvermaͤhlte Gattin waren die einzigen Mitgenoſſen eines Theils dieſer Stunden. Schwer wuͤrde ich einige beſondere Spruͤche aus dem lebenreichen Ganzen ausſondern! die feſteſten, kraͤftigſten Aeußerungen, die feinſten, erfreu¬ lichſten Wendungen, voll Geſtalt im Hervorkommen, zerfloſſen mir unter den Haͤnden, wenn ich ſie dem Ge¬ daͤchtniſſe zum Behalten und Ueberliefern einpraͤgen wollte. Wir ſprachen uͤber alles, Goethe mit unge¬ woͤhnlichem er ſagt es ſelbſt Zutrauen von Din¬ gen, die ſeine Denkart ſonſt lieber uneroͤrtert laſſen mag; auch uͤber den Geiſt und die Richtung der Ent¬429 wickelung der Gegenwart, uͤber die Geſtalten der naͤch¬ ſten Vergangenheit, Napoleon, Franzoſen, Deutſchland Preußen; wie freut ich mich des unerſchuͤtterlichen Ver¬ trauens, das ich trotz aller Zwiſchendinge ſtets in unſres vaterlaͤndiſcheſten Dichters Vaterlandstreue geſetzt! Wie gerecht, einſichtig und unſchuldig waren ſeine Aeußerun¬ gen in dieſer Hinſicht, von wahrem Geſchichtsgefuͤhl, ſo des Augenblicks wie der Jahrhunderte, beſeelt! Er ſieht nur fruͤh und ſchnell die Dinge ſo, wie die Meiſten erſt ſpaͤt ſie ſehen; er hat vieles ſchon durchgearbeitet und beſeitigt, womit wir uns noch plagen; und wir verlangen, er ſoll unſre Kindereien mitmachen, weil wir ſie noch als Ernſt nehmen! Goethe kein deut¬ ſcher Patriot? ein aͤchter und wahrhafter, wie es jemals einen geben kann! In ſeiner Bruſt war alle Freiheit Germaniens fruͤh verſammelt, und wurde hier, zu unſer Aller nie genug erkanntem Frommen, das Muſter, das Beiſpiel, der Stamm unſrer Bildung. In dem Schat¬ ten dieſes Baums wandeln wir Alle. Feſter und tiefer drangen nie Wurzeln in unſern vaterlaͤndiſchen Boden, maͤchtiger und aͤmſiger ſogen nie Adern an ſeinem markigen Innern. Unſere waffenfrohe Jugend, die hoͤhere Geſinnung, die in ihr wirkte, ſtehen wahrlich bezugreicher zu dieſem Geiſte, als zu manchem andern, der dabei beſonders thaͤtig geweſen ſein will. Iſt doch nicht alles Freiheit, was ſo ausſieht, was einen Augen¬ blick ſo genannt wird; und manches franzoͤſiſche Wort430 iſt deutſcher, als das, welches man an die Stelle von jenem bringen will! Das Leben in kleineren Staͤd¬ ten, von groͤßeren Mittelpunkten der neuern Zeit entfernt, hat fuͤr Goethe'n vielleicht manche Anſicht nicht ſogleich in volle Beleuchtung treten laſſen, manche Anſchauung dunkel gehalten: aber wie nimmt der weiſe Sinn den kleinſten Schimmer aͤchten Lichtes, das ihm dargeboten wird, ſicher auf, und vertheilt ihn mit Blitzesſchnellig¬ keit uͤber das ganze Bild! Uebrigens iſt Goethe alt, und grade darin jung, daß er die Weſenheit des Alters mit gleicher Friſche und Wahrheit in ſich aufnimmt, wie er jung die Jugend in ſich aufnahm; es iſt eine Freude des Lebens, im Hintergrunde der Jahre ſolche Alte moͤglich zu ſehn, wie Schlabrendorf und Goethe ſind. Schoͤn von Antlitz und Bildung, kraͤftig von Hal¬ tung und mit hoffnungsvoller Geſundheit ſteht letzterer noch mitten in des Lebens Thaͤtigkeit, auf Nahes be¬ dacht wie auf Fernes, aber die Zeit beiſammenhaltend, und nicht das groͤßere Zuruͤckgelegte verkennend. Im Ganzen giebt das Werk uͤber ſein Leben dieſe ge¬ haltreichſten Denkwuͤrdigkeiten, in welchen die tiefſinnige Kuͤrze des alten Philoſophen mit der homeriſchen Fuͤlle des alten Dichters vereinigt iſt den Standpunkt, auf welchem er ſich als Menſch jetzt befindet, ſeine Art und Weiſe des Daſeins, ziemlich vollſtaͤndig und ungefaͤlſcht zu erkennen. Mehrere Theile werden noch folgen; eine Art Erſatz fuͤr ſo vieles, das nicht geſchrieben zu haben431 er jetzt bedauert! Dieſes Uebergewicht, das die er¬ wartete Wirkung des Dichters ſo ganz der Wirkung des Menſchen unterordnete, und mich von dem erſteren zwar vieles, aber faſt nur in Bezug auf den letzteren ſehen ließ, wurde mir gleichſam zum Triumphbilde des Mannes, von deſſen Anſchauen ich die folgenden Tage mit einer ſanften Gluth erfuͤllt blieb, wie nur die außer¬ ordentlichſten Begegniſſe der innern Welt ſie uͤber die Seele verbreiten koͤnnen, und fuͤr das ganze Leben, kann ich nun ſagen, bin ich um ein großes Gut reicher!

[432]

Rameau.

Das geiſtvolle Buch Diderot's hat uns unter dieſem Namen in ſinnreicher Schaͤrfe einen Karakter dargeſtellt, deſſen ſittliche Verkehrtheit, Konſequenz und Durchfuͤh¬ rung faſt mit der politiſchen des Fuͤrſten Michiavelli wetteifern kann. Die meiſten eigenthuͤmlichen Zuͤge ſcheint Diderot wirklich von jenem Rameau, dem Nef¬ fen des Muſikers, entlehnt zu haben, aber nur daß ihre Zuſammenſtellung hier eine Nichtswuͤrdigkeit und Ver¬ worfenheit hervorbringt, die jener ſonderbare Menſch keineswegs trug, dem vielmehr eine gewiſſe Unbefan¬ genheit eigen war, die dem Boͤſen entgegen iſt, und das Gute nur in der allgemeinen Verderbniß nicht fin¬ den kann. Wenn ſchon an ſich ein ſolcher Karakter zur Unterſuchung reizt und jede genauere Kenntniß deſſelben willkommen iſt, ſo muͤſſen bei dem Aufſehn und Ver¬ gnuͤgen, das bei uns Goethe's reich ausgeſtattete Ueber¬ ſetzung des Diderot'ſchen Buchs erregt hat, folgende Nachrichten, die von dem wirklichen Rameau ſich bei433 zweien wackern Franzoſen finden, einen doppelten Reiz haben. Der erſte iſt der fromme und liebenswuͤrdige Cazotte, der in dem zweiten Baͤndchen ſeiner Oeuvres choisies et badines ſo von ihm ſpricht:

Rameau war unter allen Menſchen, die ich ge¬ kannt habe, derjenige, der von Natur der ergoͤtzlichſte war. Er war Neffe des beruͤhmten Muſikers, und auf der Schule mein Kamerad geweſen; er hatte zu mir eine Freundſchaft gefaßt, die ſich nie, weder von ſeiner Seite noch von der meinigen, erkaltet hat. Dies Men¬ ſchenkind, der ſonderbarſte Mann, den ich gekannt habe, war mit einem natuͤrlichen Talent zu mehr als einem Fache geboren, was ihm aber der Mangel von Haltung und Ruhe in ſeinem Geiſte nie erlaubte auszubilden. Ich kann ſeine Art des Scherzens nur der vergleichen, die der Doktor Sterne in ſeiner empfindſamen Reiſe aufthut. Die Einfaͤlle Rameau's waren Einfaͤlle aus Inſtinkt von einer ſo pikanten Art, daß es noͤthig waͤre ſie zu mahlen, um ſie wiedergeben zu koͤnnen. Es wa¬ ren keine Wizworte, es waren treffende Strahlen, die aus der tiefſten Kenntniß des menſchlichen Herzens her¬ vorzubrechen ſchienen. Seine Geſichtszuͤge, die in der That poſſirlich waren, gaben dieſen Einfaͤllen, die von ihm deſto unerwarteter kamen, als er gewoͤhnlich nur albernes Zeug ſchwazte, ein außerordentliches Salz. Er, der ein eben ſo großer und vielleicht groͤßerer Mu¬ ſiker als ſein Oheim, geboren war, konnte ſich nie in28434die Tiefen der Kunſt verſenken; aber er war geboren reich an Geſang, und hatte die wunderbarſte Leichtigkeit, fuͤr welche Worte man immer wollte, aus dem Steg¬ reif angenehmen und ausdruckvollen Geſang zu finden: nur haͤtte ein wahrer Kuͤnſtler ſeine Phraſen ordnen und verbeſſern, und ſeine Partitionen ſetzen muͤſſen. Er war von Geſicht eben ſo graͤulich als luſtiglich haͤ߬ lich, ſehr oft langweilig, weil ſein Genie ihn ſelten begeiſterte; aber wenn ſeine Gluth ihm zu Gebote ſtand, machte er lachen bis zu Thraͤnen. Er lebte arm, da er keinen Erwerb verfolgen konnte. Seine vollkommene Armuth machte ihm in meinem Sinn Ehre. Er war nicht ganz ohne Vermoͤgen geboren, aber er haͤtte ſei¬ nen Vater des Vermoͤgens ſeiner Mutter berauben muͤſ¬ ſen, und er floh den Gedanken, den Urheber ſeines Lebens, der wieder geheirathet und Kinder hatte, ins Elend zu verſetzen. Er hat bei mehreren andern Gele¬ genheiten Proben von der Guͤte ſeines Herzens gegeben. Dieſer ſeltſame Menſch lebte leidenſchaftlich fuͤr den Ruhm, den er doch in keinem Fache erlangen konnte. Eines Tages dachte er Dichter zu werden, um zu ver¬ ſuchen auf dieſe Weiſe von ſich ſprechen zu machen. Er verfertigte ein Gedicht auf ſich ſelber, das er die Ra¬ meïde nannte, und das er in allen Kaffehaͤuſern her¬ umbrachte: aber kein Menſch ging es beim Drucker zu holen. Ich machte ihm den Scherz eine zweite Rameëde abzufaſſen. Der Buchhaͤndler verkaufte ſie zu ſeinem435 Beſten, und Rameau nahm nicht uͤbel, daß ich uͤber ihn geſcherzt hatte, weil er ſich ziemlich gut getroffen fand. Dieſer Menſch, geliebt von einigen unter denen, die ihn gekannt hatten, ſtarb in einer geiſtlichen Anſtalt, wo ihn ſeine Familie untergebracht hatte, nach vierjaͤh¬ riger Zuruͤckgezogenheit, die ihm lieb geworden war, und nachdem er das Herz aller derer gewonnen hatte, die anfangs nur ſeine Aufſeher geweſen waren. Ich halte hier mit Vergnuͤgen ſeine kleine Leichenrede, weil ich noch an dem Bilde haͤnge, das er mir von ſich ge¬ laſſen hat. So ſpricht Cazotte, und welcher Leſer dieſer Schilderung ſieht nicht mit geruͤhrter Theilnahme den grauſamen Scherz, den ſich die Natur in dieſer ſonderbaren Miſchung von einander widerſprechenden Gaben gemacht zu haben ſcheint? Dieſer Rameau mit ſeinem einzigen Talent fuͤr Muſik und mit ſeiner lie¬ benswuͤrdigen Gutmuͤthigkeit muß ſich mit ſeinem haͤ߬ lichen Geſicht, ſeiner Laͤcherlichkeit und Unbehuͤlflichkeit in einem widrigen Leben verbrauchen, und niemand hat gehoͤrt, wenn ſein Inneres aufgeſeufzt hat! Hoͤren wir nun auch den wohlmeinenden Mercier, der weniger in¬ nig iſt als Cazotte, aber doch auch freier ſieht, als die meiſten ſeiner Landsleute. Die Stelle iſt aus dem zwoͤlf¬ ten Bande des Tableau de Paris und lautet wie folgt:

Ich habe Rameau's Neffen gekannt der halb Abbé war, halb Laye, in den Kaffehaͤuſern lebte, und alle28 *436Wunder der Tapferkeit, alle Werke des Genie’s, alle Hingebungen des Heldenmuths, kurz, alles, was man Großes in der Welt thut, auf das Kauen zuruͤckfuͤhrte. Ihm zufolge hatte alles dieſes keinen andern Endzweck, noch anderes Ergebniß, als etwas unter die Zaͤhne zu ſchaffen. Er predigte dieſe Lehre mit einem ausdruck¬ vollen Geſtus, und mit einer ſehr mahleriſchen Bewe¬ gung der Kinnlade; und wenn man von einem ſchoͤnen Gedicht, von einer großen That, von einer Verordnung ſprach, alles das, ſagte er, von dem Marſchall von Frankreich an, bis zum Schuhflicker, und von Voltaire bis zu Chabanes oder Chebanon, geſchieht unbezweifel¬ bar um etwas in den Mund zu ſtecken zu haben, und die Geſetze des Kauens zu erfuͤllen. Eines Tages, im Geſpraͤch, ſagte er, mein Oheim der Muſiker iſt ein großer Mann, aber mein Vater der Geiger war ein noch viel groͤßerer Mann als er; ihr moͤgt urtheilen! Der wußte unter die Zaͤhne zu bringen! Ich lebte in dem vaͤterlichen Hauſe mit vieler Sorgloſigkeit, denn ich war immer ſehr wenig neugierig die Zukunft auszu¬ lauern; ich war uͤber volle zweiundzwanzig Jahr alt, als mein Vater zu mir ins Zimmer trat, und ſo redete: Wie lange willſt du noch ſo leben, in Faulheit und Nichtsthun? es ſind zwei Jahre, daß ich auf deine Ar¬ beiten warte; weißt du, daß ich zu zwanzig Jahren gehangen war, und einen Stand hatte? Da ich ſehr muntrer Laune war, ſo antwortete ich meinem Vater:437 Gehangen zu ſeyn, das iſt ſchon ein Stand; aber wie wurdet Ihr gehangen, und noch mein Vater? Hoͤr zu, ſagte er; ich war Soldat und Maraudeur; der Großprofoß erwiſchte mich, und ließ mich an einen Baum knuͤpfen; ein kleiner Regen hinderte den Strick ſo zu¬ zuglitſchen, wie er ſollte, oder vielmehr wie er nicht ſollte; der Henker hatte mir das Hemd gelaſſen, weil es zerriſſen war; Huſaren kamen vorbei, die mir auch noch nicht das Hemd nahmen, weil es nichts taugte, aber mit einem Saͤbelhieb den Strick abſchnitten, daß ich auf die Erde fiel. Die Kuͤhle machte, daß ich zu mir ſelbſt kam; ich lief im Hemde nach einem benach¬ barten Flecken, ich ging in eine Schenke, und ſagte zu der Frau: Erſchreckt nicht mich im Hemde zu ſehn, ich habe mein Gepaͤck zuruͤck; Ihr werdet hoͤren .... Ich verlange von Euch nur eine Feder, Tinte, vier Blaͤtter Papier, ein Solsbrod und einen Schoppen Wein. Mein durchloͤchertes Hemd ohne Zweifel bewegte die Frau der Schenke zur Erbarmung; ich ſchrieb auf die vier Blaͤt¬ ter Papier: Heute großes Schauſpiel gegeben von dem beruͤhmten Italiener; die erſten Plaͤtze zu ſechs Sols, die zweiten zu drei; jedermann kommt herein gegen Bezahlung. Ich verſchanzte mich hinter einer Tapete, ich borgte eine Geige; ich ſchnitt mein Hemd in Stuͤk¬ ken; daraus machte ich fuͤnf Puppen, die ich mit Tinte und ein wenig von meinem Blut bemahlt hatte, und da laß ich nun wechſelsweiſe meine Puppen reden, ſinge,438 und ſpiele auf der Geige hinter meiner Tapete. Ich hatte praͤludirt, indem ich meiner Geige einen ganz außerordentlichen Ton gab. Der Zuſchauer kam, der Saal war voll; der Geruch aus der Kuͤche, die nicht weit entfernt war, gab mir neue Kraͤfte; der Hunger, der ehemals den Horaz begeiſterte, wußte auch deinen Vater zu begeiſtern. Waͤhrend einer ganzen Woche gab ich jeden Tag zwei Vorſtellungen. Ich ging aus der Schenke mit einem Rock, drei Hemden, Schuhen und Struͤmpfen, und genug Geld, um uͤber die Graͤnze zu kommen. Eine kleine Heiſerkeit, die von dem Haͤngen gekommen war, war voͤllig vergangen, ſo daß man in der Fremde meine wohltoͤnende Stimme bewunderte. Du ſiehſt, ich war beruͤhmt zu zwanzig Jahren, und hatte einen Stand; du biſt zwei und zwanzig Jahr alt, du haſt ein neues Hemd auf dem Leibe; hier ſind zwoͤlf Franken, jetzt kannſt du gehn. So entließ mich mein Vater. Ihr werdet geſtehn, daß es mehr hieß, da heraus zu kommen, als Dardanus zu machen, oder Caſtor und Pollux. Seit der Zeit ſah ich alle Leute ihre Hemden nach ihrer Weiſe zerſchneiden, und vor dem Publikum mit Puppen ſpielen, alles, um ihren Mund zu ſtopfen. Das Kauen, nach mir, iſt das wahre Re¬ ſultat der erleſenſten Dinge dieſer Welt. Rameau's Neffe, von ſeiner Lehre erfuͤllt, beging Thorheiten, und ſchrieb dem Miniſter um etwas zu kauen zu bekommen, als Sohn und Neffe zweier großen Maͤnner. Der Graf439 von Saint-Florentin, der als Miniſter, wie bekannt, eine ganz abſonderliche Art hatte, ſich die Leute vom Halſe zu ſchaffen, ließ ihn einſperren, als einen unbe¬ quemen Narren, und ſeit der Zeit hab 'ich nicht mehr von ihm reden gehoͤrt. Dieſer Neffe Rameau's hatte an ſeinem Hochzeittage alle Leiermaͤdchen von Paris, jede fuͤr einen Thaler, gedungen, und ſo trat er mit¬ ten unter ihnen einher, ſeine Neuvermaͤhlte am Arm, zu der er ſagte: Ihr ſeid die Tugend, aber ich habe gewollt, daß ſie noch gehoben wuͤrde durch die Schat¬ ten, die Euch umgeben. Rameau war einſt bei einer ſchoͤnen Dame zum Beſuch, ſtand ploͤtzlich von ſeinem Stuhl auf, ergriff von dem Schooße der Dame einen kleinen Hund, und wirft ihn ſchleunigſt zum Fenſter hinaus vom dritten Stock. Die Dame fragt erſchro¬ cken: Nun, was machen Sie denn? Er bellt falſch! ſagt Rameau, und geht auf und ab mit dem Unwillen eines Mannes, deſſen Ohr verletzt worden iſt.

[440]

Werther's fünfzigjähriges Jubiläum. 1825.

Fuͤnfzig Jahre ſind es, daß Werthers Leiden in der deutſchen Litteratur hervortraten, die ganze Empfindungs¬ weiſe der Nation aufregten, und ſchnell durch ganz Europa eine Wirkung verbreiteten, deren wenige Buͤcher in der Welt ſich ruͤhmen koͤnnen. Die Macht des In¬ halts war ſo groß, daß ſie das Leben ſelbſt ergriff und eine praktiſche Gewalt ausuͤbte, gegen welche jeder bloß litterariſche Antheil in Schatten ſtehen mußte. England insbeſondere bewies innigſte Theilnahme fuͤr die neue Lebensfuͤlle dieſes Buchs, deſſen Stimmung allem ent¬ ſprach, was die moderne Zeit den Landsleuten Shak¬ ſpeare's in einem auslaͤndiſchen Geiſtesverwandten des¬ ſelben darbieten konnte.

Die Zeit jener Empfindſamkeit, deren Mittelpunkt Werther wurde, war eine nothwendige Epoche unſerer Kulturgeſchichte. In den bewegten Fluthen des ent¬ feſſelten Gefuͤhls mußten die ſtarren Formen eines in441 allen Bezuͤgen pedantiſch verengten Lebens ſich aufloͤſen, ehe daraus neue Geſtalten zu freier Bildung ſich ent¬ wickeln konnten. Wir Jetztlebenden alle haben unſern Antheil an dieſen Ergebniſſen, wir Alle genießen der Frucht jener Bemuͤhungen, auch wo wir es nicht wiſſen, noch ahnden. Jene Zeit iſt voruͤber als Epoche der Nation, aber dem Einzelnen wiederholt ſie ſich als Uebergang noch ſtets in eigner Lebenserfahrung. Den Eindruck, welchen Werther einſt auf die ganze Generation machte, bewirkt er noch heutiges Tages auf die einzelne Bildungsſtufe des liebenden Maͤdchens, des beſeelten Juͤnglings.

Wir ſind hinweg, wie uͤber jenen erſten allzu hef¬ tigen Eindruck des Buches, auch uͤber jene erſten Vor¬ wuͤrfe, welche denſelben begleiteten, und in Gegenſchriften, Verdammungsurtheilen und Warnungen uͤberſchwaͤnglich an den Tag kamen. Wir ſind hinweg uͤber die er¬ traͤumten Gefahren, welche die Schwaͤche auch hier zu finden glaubte, wie uͤberall, wo ihr Großes und Starkes begegnet, das ſie dafuͤr zur Vergeltung zu allen Zeiten ſo gern als Unſittliches bezeichnen wollte; die traurige Schwaͤche, welche da meint, die Tugend ſei zaghafte Furcht, und nicht muthige Tapferkeit! Denn welches aͤchte Buch, von nur irgend wahrem Gehalt und Kunſt¬ werth, waͤre nicht zuerſt immer von dieſer Seite ange¬ taſtet worden? Wir ſind bei dem Werther gottlob uͤber Aeußerlichkeiten aller Art hinweg; wir ſehen und leben ein Inneres in ihm, das uns niemand mehr verkuͤmmern darf.

442

In der That iſt es nicht ſowohl die vorgetragene Geſchichte, nicht das tragiſche Loos, zu welchem die Verirrung des Beſten im Menſchen hier gefuͤhrt wird, nicht die Kraft und Schoͤnheit einzelner Schilderungen, wie ſehr ſie uns auch hinreißen, was uns jetzt mit dem Buche zumeiſt verbindet; ſondern es iſt vielmehr der Geiſt und Sinn, in welchem das Ganze erfaßt und gegeben worden; und dieſer Geiſt iſt der der Natur und Wahrheit, dieſer Sinn der der Schoͤnheit und Liebe. Unſchuldig und hehr, in reiner Kunſtgeſtalt, tritt die edle Erſcheinung vor uns hin.

Aber ſie tritt wirklich vor uns hin, eben jetzt, in eigenſter Geſtalt; in einer neuen, ſtattlichen, handrechten Ausgabe, von der erſten Verlagshandlung nach fuͤnf¬ zig Jahren in faſt unveraͤndertem Abdruck neu an’s Licht gefoͤrdert! Es war ein ſchoͤner Gedanke, dieſes Buͤchlein, das bisher nur immer in der Sammlung der Goethiſchen Werke fuͤr das litterariſche Beduͤrfniß wiederholt wurde, zur Feier ſeines fuͤnfzigjaͤhrigen Lebens und Wirkens auch wieder abgeſondert hervortreten, und, gleichſam auf ſeine eignen Fuͤße geſtellt, aus eignen Kraͤften ſeine beſondere Bahn abermals durch¬ laufen zu laſſen. Und wahrlich nicht unausgeſtattet erſcheint es vor der Welt! Der hohe Dichter hat die Gluth der Jugend mit der Weisheit des Alters gekroͤnt. Wie einſt vier unerreichbar ſchoͤne Stanzen den Fauſt bei aͤhnlicher Gelegenheit dem Publikum erneuert vor¬443 fuͤhrten, ſo leitet hier den Werther ein wundervoller Prolog auf ſeine neue Bahn, ein Gedicht, vor dem man ſtaunend weilt, und fragt, in welcher Dichterbruſt noch ſolche Kraft des Gefuͤhls und ſolche Reife der Lebens¬ einſicht zuſammenwohne? Mit aller Friſche des Juͤnglings¬ lebens redet der Dichter den vielbeweinten Schatten an:

Es iſt als ob du lebteſt in der Fruͤhe,
Wo uns der Thau auf Einem Feld erquickt,
Und nach des Tages unwillkommer Muͤhe
Der Scheideſonne letzter Strahl entzuͤckt;
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,
Gingſt du voran, und haſt nicht viel verloren.

Und am Schluſſe heißt es:

Wie klingt es ruͤhrend, wenn der Dichter ſingt,
Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!
Verſtrickt in ſolche Qualen, halbverſchuldet,
Geb ihm ein Gott, zu ſagen was er duldet!

Die Verlagshandlung hat ein wohl getroffenes ſchoͤ¬ nes Bild von Goethe dem Buͤchlein vorangeſetzt, das ſich durch dieſe Mitgabe noch beſonders empfiehlt. In Weihnachts - und Neujahrsgeſchenken wird noch immer gern der Empfindſamkeit gehuldigt; die ſchlummernde zu wecken und die geweckte zu befriedigen mag denn auch Werther wieder einmal verſuchen! Moͤge ihm Heil widerfahren auf ſeinen Wegen, moͤge ihm in wuͤrdigen Kreiſen reich erneuerte Bluͤthe und Frucht gedeihen!

[444]

Goethe's natürliche Tochter. Madame Guachet.

Mit lebhaftem Antheil erſehen wir, daß die Memoiren der Stephanie Louiſe von Bourbon-Conti, welche den Stoff zu Goethe's Eugenie geliefert haben, jetzt eben in einer neuen deutſchen Ueberſetzung oder vielmehr Be¬ arbeitung erſchienen ſind. Eines der wunderbarſten tragiſchen Geſchicke breitet ſich hier vor unſern Augen aus, und gewaͤhrt die anregendſten Betrachtungen. Der Stoff war es werth, von Goethe'n ergriffen zu werden, und es bleibt ewig zu bedauern, daß er ihn nicht bis zum Schluſſe verarbeitet hat. Einem maͤchtigen und glaͤnzenden Koͤnigsgeſchlechte blutsverwandt zu ſein, jedoch von allen Vortheilen dieſes Verhaͤltniſſes ausge¬ ſchloſſen zu bleiben, dann ihretwegen verfolgt und in niedres Ungluͤck verſtoßen zu werden, aus dieſem aber nur aufzutauchen und den Koͤniglichen Verwandten ſich wieder anzuſchließen in dem Augenblicke, da dieſe ſelber ſchrecklich zu Grunde gehen: dieſe Verwicklung hegt in445 ſich ſelber einen Reiz, der durch die begleitenden Um¬ ſtaͤnde, durch den allgemeinen Sturm der Begebenhei¬ ten, worin das Ganze ſich verliert, und fuͤr uns auch noch durch die Naͤhe der Zeiten, denen wir noch kaum entwachſen ſind, erhoͤht wird.

Bei dieſer Gelegenheit hat ſich aber auch der Zwei¬ fel erneuert, ob nicht der Verlauf dieſer Geſchichten eine Erdichtung ſei, die Perſon ſelbſt, welche ſich als Verfaſſerin des Buches angiebt, gar nicht exiſtirt habe? Von mehreren Seiten iſt dieſe Meinung aufgeſtellt und mit mancherlei Gruͤnden unterſtuͤtzt worden. Man be¬ ruft ſich auf die Unwahrſcheinlichkeit, daß dieſe Perſon und ihr Schickſal nicht groͤßeres Aufſehen erregt habe, daß ſie ſpurlos habe verſchwinden koͤnnen, und weder von den Freunden des Koͤnigthums noch von deſſen Feinden eifriger und genauer beſprochen worden ſei. Uns duͤnkt indeß, daß dieſe Unterlaſſung nichts gegen die Aechtheit dieſer Geſchichte zu beweiſen braucht. Wenn man bedenkt, welch ungeheurer und allgemeiner Zu¬ ſammenſturz der war, in welchen dieſe einzelne, damals noch dunkle Exiſtenz mitfortgeriſſen wurde, wie viel groͤßere und folgenreichere Schickſale und unmittelbare Thaͤtigkeiten und Leiden ſich den Mitlebenden aufdraͤng¬ ten, und doch bald in ſchnellem Wechſel ebenfalls ver¬ ſchwanden und vergeſſen wurden, ſo kann man ſich nicht wundern, daß der Klageſchrei eines ungluͤcklichen huͤlf¬ loſen Weibes faſt ungehoͤrt verhallte. Die anerkannten,446 thronberechtigten Mitglieder der Familie Bourbon er¬ regten kaum noch Aufmerkſamkeit, ſuchten von Land zu Land eine Zuflucht, die ihnen zuletzt nur England noch gewaͤhrte, und als die wunderbarſte Wandlung der Dinge ſie unverhofft wieder zu Glanz und Macht berief, mußte man erſt wieder ihre verwandtſchaftlichen Stellungen und Namen lernen! Wie ſollte der um ſeine Aner¬ kennung noch kaͤmpfende, ausgeſtoßene, rechtloſe Sproͤ߬ ling eines Nebenzweiges jener Familie unter ſolchen Umſtaͤnden ſich behauptet haben? Nur der Dichter hatte Sinn und Achtſamkeit fuͤr ein ſeltnes Mißgeſchick, in welchem fuͤr ihn eine ganze Weltkataſtrophe ſich deut¬ lich abbildete! Daß dieſes Ohr ihren Schmerz vernahm, dieſes Gemuͤth ihr Verhaͤngniß auffaßte und dieſer Ge¬ nius es darſtellte, hat der unbeachteten und verkomme¬ nen Frau im Gebiete des Geiſtes glaͤnzenderes Daſein geſichert, als das groͤßte Gelingen in der wirklichen Welt ihr je haͤtte geben koͤnnen!

Daß aber eine ſolche Perſon, wie dieſe Memoiren vorausſetzen und als ihre Verfaſſerin angeben, wirklich exiſtirt habe, daruͤber koͤnnen wir aus zuverlaͤſſigen Nach¬ richten die beſtimmteſte Verſicherung ertheilen.

Unter den vielen franzoͤſiſchen Ausgewanderten, welche waͤhrend der Revolution ſich in Deutſchland um¬ hertrieben, und gegen Noth und Elend eine Zuflucht erſtrebten, kam auch eine Dame nach Berlin, welche ſich Madame Guachet nannte, und auch in ihrem Reiſe¬447 paß mit dieſem Namen bezeichnet war. Sie theilte mit ihren Ungluͤcksgefaͤhrten das allgemeine Loos, kein anderes Intereſſe mehr zu erregen, als das in den perſoͤnlichen Eigenſchaften oder Leiſtungen unmittelbar dargebotene; der hoͤchſte Rang, die groͤßten Verhaͤlt¬ niſſe, die edelſte Geburt, verſchafften keine beſſere Auf¬ nahme, als auch der geringe Abentheurer erwarten durfte; das Vergangene kam wenig in Betracht, wo die Huͤlfsmittel der Gegenwart es nicht mehr unter¬ ſtuͤtzten. Man war es ſchon gewohnt, daß jeder Fran¬ zoſe ſich fuͤr vornehm ausgab, es waͤre nutzlos und thoͤricht geweſen, der Herkunft eifrig nachzuforſchen, wo das Daſein ihr ſo gar nicht mehr entſprach; man hielt ſich an die Bildung, an die Talente, an das naͤchſte Betragen der Fremdlinge, ſo wie an ihre etwanige Brauchbarkeit, und ließ das Uebrige gern dahingeſtellt. Mad. Guachet war an einige Perſonen in Berlin em¬ pfohlen, die zur hoͤheren Geſellſchaft gehoͤrten, der Ma¬ jor von Gualtieri machte ſie mit Fraͤulein von Schuck¬ mann bekannt, und dieſe brachte ſie zu einigen ihrer Freundinnen, beſonders auch zu Rahel, aus deren Er¬ innerungen und Briefſchaften die folgenden Nachrichten entlehnt ſind.

Hier fand ſich die freundlich aufgenommene Fremde bald zu naͤherem Vertrauen hingezogen. Zwar nahm ſie auf den erſten Blick durch ausgezeichnete Schoͤnheit fuͤr ſich ein, ihr Betragen verrieth vornehme Bildung,448 ſie beſaß die mannigfachſten Talente und Kenntniſſe, welche einen ſorgfaͤltigen und reichen Unterricht voraus¬ ſetzten. Sie mußte ſchon weit uͤber dreißig Jahre alt ſein, hatte jedoch eine jugendliche Zartheit beibehalten, die ihr im Gegenſatze mit einer faſt maͤnnlichen Staͤrke und Gewandtheit, die ſich bisweilen nicht verhehlten, einen ungemeinen Reiz gab. Sie machte die feinſten Handarbeiten, kuͤnſtliche Bildwerke von Ton oder Teig, die ſchoͤnſten Blumen, zeichnete und malte, uͤbte Mu¬ ſik, und wußte ihre Dichter mit bewundernswuͤrdigem Ausdruck vorzuleſen. Aber ſie verſtand auch mit Pfer¬ den ruͤſtig umzugehen, zu reiten, zu fahren, ja ſogar zum Hufbeſchlag und Wagenſchmieren bekannte ſie ihre zarten Haͤnde nicht ungeuͤbt! Im Stichfechten und im Piſtolenſchießen war ſie bereit, es mit jedem Mann aufzunehmen! Als ihr uͤber dieſe ungewoͤhnliche Aus¬ bildung maͤnnlicher Faͤhigkeiten einiges Befremden be¬ zeigt, und die Erklaͤrung ſo ſeltſamen Vereins von Ei¬ genſchaften gewuͤnſcht wurde, glaubte ſie den Zweifeln, welche ſie erregt ſah, nicht beſſer begegnen zu koͤnnen, als durch Erzaͤhlung ihrer Lebensgeſchichte. Sie ſei aus dem Hauſe Bourbon, vertraute ſie der Freundin, dem Makel unehelicher Geburt ſei ſie durch Koͤniglichen Macht¬ ſpruch enthoben worden, aber ein feindliches Familien¬ verhaͤltniß habe dieſen Vortheil ihr zu vereiteln gewußt, bis die Revolution gekommen und Allen zum Verderben geworden ſei; ihr Vater, deſſen Liebling ſie geweſen,

449habe ihr dieſe ſonderbare Erziehung geben laſſen, ſie habe alles lernen muͤſſen, was ein Maͤdchen, und alles, was ein Knabe wiſſen ſolle, die beſten Lehrer, in allen Faͤchern ſeien ihr gehalten worden, unter andern ruͤhmte ſie ſich, Jean Jacques Rouſſeau’s Unterricht genoſſen zu haben. Dieſe Erzaͤhlung erklaͤrte das Ungewoͤhnliche durch nur noch groͤßere Sonderbarkeit, und konnte wenig Glauben finden. In den Geſichtszuͤgen allerdings war eine große Aehnlichkeit mit den Bourbons auffallend, allein dieſe Aehnlichkeit konnte auch nur Anlaß geworden ſein, ein Maͤhrchen zu erfinden, dem darin einige Be¬ glaubigung gegeben ſchien. In der Fremde ſich durch erdichtete Bedeutung und Schickſale guͤnſtig vorzuſtellen, einzuſchmeicheln, durchzuhelfen, lag den armen Fluͤcht¬ lingen ſo nah, wurde von ihnen ſo leichtſinnig und an¬ muthig geuͤbt, daß ein ſolcher Verſuch ſchon wenig mehr auffiel, noch fuͤr beſonders ſtrafbar gehalten wurde. Rahel mußte die Moͤglichkeit zugeben, daß die Sache ſich ſo verhielte, wie Mad. Guachet ſie erzaͤhlte; allein der Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit behielt die Oberhand, und anſtatt hoͤherer Theilnahme trat vielmehr einige Erkaltung ein. Das Geſchick, uͤber welches die Arme klagte, erwies wenigſtens in dieſem Zuge ſeine Tuͤcke aͤcht, daß das ausgeſprochne Ungluͤck keinen Glauben, und ſich dadurch nur verſchlimmert fand!

Den Zuſammenhang dieſer Verhaͤltniſſe zu erforſchen, waͤre damals in Berlin ſo ſchwierig als nutzlos geweſen. 29450Das Leben des Tages war von naͤheren Bezuͤgen er¬ fuͤllt; ein Maͤhrchen oder eine Geſchichte mehr zu den vielen, die man ſchon vernommen hatte, konnte die Aufmerkſamkeit nicht lange feſthalten. Mad. Guachet verließ auch Berlin bald wieder, und wollte nach Ru߬ land reiſen, wo ſie ſich guͤnſtige Ausſichten eroͤffnet glaubte.

Wir verlieren hier den Faden ihrer Geſchichte; ob ſie ſchon damals nach Rußland gekommen und mit ge¬ ſcheiterten Hoffnungen dorther zuruͤckgekehrt ſei, koͤnnen wir nicht angeben. Wir finden ſie aber in den Jah¬ ren 1800 und 1801 wieder bei ihrer Freundin Fraͤu¬ lein von Schuckmann, mit der ſie in Mecklenburg und Holſtein laͤngere Zeit engverbunden lebte. Auf dieſe Freundin wirkte ſie mit großer Anziehungskraft, ſie hatte ſich deren Herz und Sinn voͤllig angeeignet. Die Ungleichheit ſelbſt, in welcher ſie bald als herriſche Ge¬ bieterin befahl, bald als liebendes Kind ſich anſchmiegte, erhoͤhte den Reiz ihres Weſens, das in allem Aben¬ theuerlichen und Geringern, wozu ihre Lage ſie noͤthi¬ gen konnte, immer etwas von urſpruͤnglicher Hoheit behielt.

Unter Bonaparte’s Konſulat ſchienen in Frankreich fuͤr die Ausgewanderten neue Hoffnungen aufzugehen, und auch Mad. Guachet verlangte heftig, in ihre Hei¬ math zuruͤckzukehren, und ihre Anſpruͤche dort zu ver¬451 folgen. Fraͤulein von Schuckmann begleitete ſie, fand aber die Reiſe und das ganze Verhaͤltniß je laͤnger je mehr bedenklich und unbefriedigend. Als in Frankfurt am Main noch ein andres Frauenzimmer von guter Herkunft und einigen Mitteln, aber nicht erfreulichen Karakters ſich angeſchloſſen hatte, und kleine Raͤnke und Widrigkeiten das Zuſammenſein noch mehr verbitterten, erklaͤrte Fraͤulein von Schuckmann, die Reiſe nach Paris nicht fortſetzen zu wollen, und kehrte von Mainz allein zuruͤck. Sie behielt aber zeitlebens eine liebevolle An¬ haͤnglichkeit fuͤr die raͤthſelhafte Freundin, deren ungluͤck¬ liches Loos ſie noch in ſpaͤter Zeit mit ſchmerzlicher Theilnahme beklagte.

Mad. Guachet kam nach Paris, wo ſie jedoch die Umſtaͤnde ihren Abſichten nicht guͤnſtig fand. Bona¬ parte wuͤnſchte die alten adligen Familien fuͤr ſeine Herrſchaft zu gewinnen, aber die ehemals regierende Familie mußte er um ſo feindlicher ausſchließen. Ein zweideutiges, geheimnißvolles Mitglied des Hauſes Bour¬ bon konnte nur ſein Mißtrauen, ſeinen Widerwillen aufregen. Da Mad. Guachet in Paris mit einigen Leuten umging, die ſich in dem Kriege der Vendee thaͤtig erwieſen hatten, ſo vermehrte dies nur den Arg¬ wohn des damaligen Machthabers. Sie war in Paris, durch die fruͤhern Verhaͤltniſſe von Berlin her, mit Fried¬ rich Schlegel bekannt geworden, und lebte einige Zeit29 *452in großer Vertrautheit mit ihm. Er hat uns das obige Bild ihrer Erſcheinung und ihrer Eigenſchaften, wie ſie zuerſt von dem Berliner Aufenthalt her uns uͤberliefert worden, durchaus beſtaͤtigt. Doch wagte auch er uͤber die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Angaben hinſichtlich ihrer Abſtammung und Schickſale nicht ab¬ zuſprechen. Sie hatte ihm ihre Begebniſſe umſtaͤndlich vertraut, und wiewohl er ſie als leichtſinnige Frau kannte, die ſehr in das Weſen einer Abentheurerin ver¬ fallen war, ſo mochte er ſie doch nie fuͤr eine Betruͤ¬ gerin halten.

Sie hatte ihm unter andern erzaͤhlt, daß ſie auf ihren fruͤheren Irrfahrten auch nach Weimar gekommen ſei, und dort ihre Kenntniß der techniſchen Chemie zum Behuf eines bedeutenden Unternehmens habe anwenden wollen, das aber ohne Genehmigung und Unterſtuͤtzung des Herzogs nicht zu Stande kommen konnte. Deſſen Guͤnſtling und Rathgeber habe jedoch die Sache fuͤr eine Schwindelei gehalten, das Geſuch ſei abgewieſen, und ihr ſelber der laͤngere Aufenthalt in Weimar nicht geſtattet worden. Goethe ahndete nicht, daß er die Perſon, welche als Eugenie ſein Innres mit ihren Schickſalen erfuͤllen und befruchten ſollte, aus ſeiner Naͤhe verſtieß, und ein Ungluͤck, deſſen geiſtige Betrach¬ tung ihm Mitleid und Antheil einfloͤßte, in der Wirk¬ lichkeit noch vermehrte! Als ihm dieſer Umſtand lange453 nachher zufaͤllig eroͤffnet wurde, ſchien er von dem un¬ erwarteten Zuſammenhange tief ergriffen, ſagte aber kein Wort, ſondern ging erſt ſchweigend mehrmals im Zim¬ mer auf und nieder, bis er mit einer Art gewaltſamen Entſchluſſes ploͤtzlich einen andern Gegenſtand zu be¬ ſprechen anfing.

Mad. Guachet durfte nicht iu Paris bleiben; ſie wurde genoͤthigt, einen andern Aufenthalt zu waͤhlen. Nach mancherlei Verhandlungen wurde ihr geſtattet, unter Aufſicht der Polizei in Mainz, oder vielmehr in Laubenheim, anderthalb Stunden von der Stadt, zu wohnen. Hier galt ſie fuͤr eine Emigrantin, welche im Vendeekriege eine bedeutende Rolle geſpielt habe, und der Praͤfekt, Jean Leon Saint-André, hatte auf die myſterioͤſe Perſon, wie er ſie ſelbſt nannte, ein beſon¬ deres Augenmerk; auch ließ ihr die Regierung eine Art Penſion auszahlen.

Ein haͤßlicher Prozeß, in welchen ſie mit einem Emigranten Hubert Saint-Déſiré gerieth, fuͤr deſſen Gattin ſie ſeit einiger Zeit galt, gab ihrer Stellung vor der Welt den letzten Stoß. Einiges Vermoͤgen, welches bisher den angeblichen Eheleuten gemeinſam zu gehoͤren ſchien, war der Gegenſtand des Zwiſtes. Der Mann ließ eine Denkſchrift drucken und austheilen, worin er ſeine nunmehrige Gegnerin mit ſchonungsloſen Schmaͤhungen behandelte, und aus ihrem fruͤheren Leben454 allerlei Zuͤge anfuͤhrte, die ihr zum Nachtheil gereichen ſollten. Die Unterſuchung ihrer Papiere brachte jedoch kein Ergebniß gegen ſie; ihre Herkunft und fruͤheren Verhaͤltniſſe blieben zweifelhaft. Indeß urtheilte das Gericht in der Vermoͤgensſache zu Gunſten des Hubert Saint-Déſiré, und Mad. Guachet, um ſich den wei¬ tern Anſpruͤchen und Verfolgungen ihres Gegnes zu entziehen, verließ Mainz und begab ſich nach Frankfurt am Main, von wo ſie bald nachher in Geſellſchaft einer Schweizerin, mit der ſie ſchon in Mainz befreundet geweſen, eine abermalige Reiſe nach Rußland unter¬ nahm. Dort ſoll ſie mit dieſer Gehuͤlfin vereint eine Erziehungsanſtalt gegruͤndet haben. Alle weitern Nach¬ richten aber fehlen ſeitdem; wahrſcheinlich hat ſie ihren Namen veraͤndert, und iſt in der entlegenen Fremde unbekannt und unbeachtet geſtorben. Wenigſtens iſt zu vermuthen, daß ſie die Wiederherſtellung der Bourbons, wenn dieſes Ereigniß noch in ihre Lebenszeit gefallen waͤre, eifrigſt benutzt haben wuͤrde, um neue Hoff¬ nungen und Verſuche fuͤr ihre Anſpruͤche damit zu ver¬ knuͤpfen.

War dieſe Frau von ſo merkwuͤrdigen Eigenſchaften und Schickſalen nun wirklich eine Tochter des Prinzen von Bourbon-Conti, oder hatte ſie nur eine Taͤuſchung geſpielt, die jedenfalls eine traurige und unfruchtbare war, und aus der, bei den waltenden Umſtaͤnden ihre455 wirklichen perſoͤnlichen Vorzuͤge kaum eine Nachhuͤlfe hoffen konnten: ſo viel bleibt gewiß, daß die Memoi¬ ren der Stephanie Louiſe von Bourbon-Conti auf dem Grunde eines wirklichen Lebenslaufs, einer damit zu¬ ſammenhaͤngenden weiblichen Perſoͤnlichkeit beruhen, und wenigſtens inſofern keine litterariſche Erdichtung ſind.

[456]

Fräulein von Klettenberg.

In der Reihe der ſchoͤnen und lieblichen Menſchen¬ bilder, die gleich Sternen uns auf dem tiefblauen Grunde des Goethe'ſchen Lebens hervorſtrahlen, haben wir uns immer von zweien beſonders angezogen ge¬ fuͤhlt, die wohl mit gutem Recht aus aͤußerer Getrennt¬ heit zu gemeinſamer inneren Wirkung ſich freundlich vereinigen! Dieſe beiden ſind: Fraͤulein von Kletten¬ berg und Corona Schroͤter! Ueber Beide wuͤnſchten wir wohl beſondere Denkblaͤtter geſammelt, Umriſſe ihrer Erſcheinung, ihrer Gemuͤthsart, ihrer Begabung, ihrer Schickſale. Von der Hand eines geſchickten Zeich¬ ners wuͤrden hier zwei koͤſtliche Bilder zu erwarten ſein, beſonders auch durch die Zuſammenſtellung be¬ deutend und lehrreich, wie alles wahrhaft aus dem Leben Geſchoͤpfte und dem Leben Wiedergegebene. Wie ſchoͤn wuͤrde z. B. Theodor Mundt dieſe Aufgabe loͤſen, der in zarter, ſinniger Auffaſſung der Frauenkaraktere ſchon ſo Ausgezeichnetes geleiſtet hat!

457

Zu dieſer Betrachtung veranlaßt uns der Anblick einiger Blaͤtter von und uͤber Fraͤulein von Kletten¬ berg, die uns zufaͤllig in die Haͤnde kommen, und durch deren Mittheilung wir viele Leſer zu verpflichten hoffen.

Fraͤulein von Klettenberg, welche als Stiftsdame in Frankfurt am Main lebte und mit dem Goethe’ſchen Hauſe innig befreundet war, iſt bekanntlich das Vorbild zu der ſchoͤnen Seele im Wilhelm Meiſter, deren dort eingeſchaltete Bekenntniſſe eine der wunderbarſten Leiſtungen des dichtenden Genius ſind, indem derſelbe auch in den Gebieten, die ihm fremd ſcheinen, ſich vollkommen heimiſch und ſogar herrſchend erweiſt. Die reinſte Froͤmmigkeit, mit ihren zarteſten Wandlungen und Ausdruͤcken, iſt in jenen Bekenntniſſen nicht nur Schilderung, ſondern wirkliches Leben, ſo daß dieſes Buch als wahrhafte Erbauung dienen kann, und ſchon oft mit dieſer Wirkung geleſen worden iſt. Der Graf Leopold Stolberg ſonderte die Blaͤtter, welche dieſe Bekenntniſſe enthalten, von dem uͤbrigen Roman ſorg¬ ſam aus, ließ ſie einbinden, und hielt ſie wie ein Kleinod, deſſen Zuſammenhang mit dem ſonſtigen, fuͤr ihn abſtoßenden Inhalt des Wilhelm Meiſter er nicht anerkennen wollte! So viel iſt gewiß, ein ſchoͤ¬ neres, edleres, beruhigenderes Bild, als das dieſer von aͤchter Froͤmmigkeit durch die Wogen der Welt gluͤcklich durchgefuͤhrten Seele, vermag kein Dichter innerhalb458 der gegebenen Bedingniſſe aufzuſtellen. Es war naͤmlich nicht die Aufgabe, eine religioͤſe Heldin, eine begeiſterte Prophetin oder Maͤrtyrerin zu ſchildern, ſondern nur ein ſtilles Leben, ein Leben, das auf der gewoͤhnlichſten Weltlichkeit ruht, aber dennoch in der Froͤmmigkeit den Mittelpunkt findet, der es den hoͤchſten Lebensentwick¬ lungen gleichſtellt; Wilhelm von Humboldt hat Unrecht, die Schranken, in welche der Dichter ſeine Schilderung zuſammenfaßt, als eine Beſchraͤnktheit der geſchilderten Perſon anzuſehen, wie er dies in einem Briefe an an Schiller thut. Ueber Fraͤulein von Klettenberg hat ſich eine muͤndliche Erzaͤhlung erhalten, die merkwuͤrdig iſt. Was in den Bekenntniſſen einer ſchoͤnen Seele von einem ausgezeichneten Manne, der dort mit dem Namen Narciß bezeichnet iſt, und von ſeinem Verhaͤlt¬ niſſe zu der ſchoͤnen Seele geſagt wird, beruht auf thatſaͤchlichen Erlebniſſen, die durch dichteriſche Einklei¬ dung nur wenig ausgefuͤhrt worden. Der Mann, welcher Fraͤulein von Klettenberg heirathen wollte, und mehrere Jahre als ihr Braͤutigam in ihrer Naͤhe lebte, war ein Herr von Olenſchlager, ein geborner Frank¬ furter. Fraͤulein von Klettenberg hatte ſeinen Karakter fruͤh durchſchaut, und wußte es lange vorher, daß er ſich von ihr ganz zuruͤckziehen werde. Sie ſprach dies auch mehrmals unbefangen gegen ihn aus, und bat ihn nur um die einzige Aufrichtigkeit, daß er es ihr nicht verhehlen moͤchte, wenn er einem andern Frauenzimmer459 gewogen wuͤrde, ſie wuͤnſche dies zuerſt von ihm zu hoͤren, und wuͤrde ungern durch Andre damit uͤber¬ raſcht werden. Er war beſtuͤrzt, verlegen, und konnte und mochte doch den Ausſpruch, der ihn freigab und jene Moͤglichkeit ſetzte, nicht ablehnen. Er verſprach, den billigen Wunſch genau zu erfuͤllen, betheuerte, daß er jetzt noch keineswegs in dem vorausgeſetzten Falle ſei, und fuͤgte unaufgefordert, durch ſein boͤſes Gewiſ¬ ſen gereizt, die Verwuͤnſchung hinzu, wenn er falſch rede, ſolle ſein erſter Sohn taub und blind zur Welt kommen! Fraͤulein von Klettenberg ſchauderte, und verwies ihm den Frevel, den ſie nicht hoͤren wollte: zweifelte aber nun nicht an ſeiner Falſchheit. Sie ſah ihn nicht wieder. Nach einiger Zeit verheirathete ſich Herr von Olenſchlager, und traf eine ſeinem Sinn und ſeinen Verhaͤltniſſen ſehr entſprechende Parthie. Weitere Umſtaͤnde in Betreff ſeines Verſprechens gegen Fraͤulein von Klettenberg ſind nicht bekannt. Nur ergab ſich die ſchreckliche Thatſache, daß Frau von Olenſchlager in ihrem erſten Wochenbette mit einem Sohne nieder¬ kam, der taub und blind war!

Fraͤulein von Klettenberg hat ſich in Gedichten ver¬ ſucht. Man muß die Zeit, in welche ihre Jugendbil¬ dung und ihre Lebensbluͤthe faͤllt, in Anſchlag bringen, die Zeit Gottſched's, und darauf Gellert's! In einer unreifen, abgeſchwaͤchten Sprache, und in beſchraͤnkten Versarten, wußte ſie Zartheit ihres Sinnes und die460 Kraft ihres Gemuͤths eigenthuͤmlich auszudruͤcken. Man wird nicht ohne Ruͤhrung die nachſtehenden Zeilen leſen, die ſich von ihr erhalten haben, werthe Reliquien eines ſchoͤnen Daſeins, ſo viel uns bekannt die einzigen von ihrer eignen Hand noch uͤbrigen, denn vergebens haben wir nach mehreren Gedichten oder Briefen von ihr an manchen Orten geforſcht. Die drei erſten dieſer Ge¬ dichte gehoͤrten zu einer groͤßeren Sammlung, die ſie Anfangslieder genannt hatte. Das vierte, eines mehr weltlichen Inhaltes, ſchließt ſich doch ebenfalls der frommen Betrachtungsweiſe an, die in den erſtern herrſcht, und von welcher ſelbſt ihre heitern Launen und Scherze, denen ſie auch in Krankheitsleiden ernſter Art nicht entſagte, ſtets beſeelt geweſen ſein ſollen. Dieſe Gedichte haben ſich in den Papieren Rahel’s vor¬ gefunden, welche ſie in Frankfurt am Main bekommen zu haben ſcheint.

1.

Jeſus.

Lieber arm, als ohne Jeſus reich an Pracht und Herrlichkeit;
Lieber krank, als fern vom Heiland friſch die ganze Lebenszeit,
Ja, viel lieber nie geboren, als von dieſem Freund getrennt,
Eine Welt bei Ihm verloren, iſt Gewinn, wenn man ihn kennt.

2.

In meine Bibel.

Zuſchrift aus der Ewigkeit,
Brief von ſehr gelehrten Haͤnden,
461
Du kannſt alle Noth der Zeit,
Alle bangen Klagen enden.
Der, der meinen Geiſt entzuͤckt,
Den ich itzo noch nicht ſehe,
Hat aus der geſtirnten Hoͤhe
Mir die Zeilen zugeſchickt.

3.

An Ihn.

Wie kindlich darf ich mit ihm ſprechen!
Er goͤnnt mir ſtets ein offnes Ohr.
Ich trag ihm alle mein 'Gebrechen,
Und alle meine Klagen vor.
Wie leicht wird dann es meinem Herzen,
Denn Er, Er nimmt an meinen Schmerzen
Den zaͤrtlichſten und treuſten Theil.
Umſchließt er mich mit ſeinen Armen
Und troͤſtet mich durch ſein Erbarmen
So werden meine Wunden heil!

4.

An die Spindel.

Komm, Spindel, komm, ich laß den Pinſel liegen,
Der mir ſo viele Luſt gemacht.
Du, Spindel du, ſollſt mich anjetzt vergnuͤgen,
Geliebter Pinſel, gute Nacht.
Wer Schimmer, Reiz und Schoͤnheit nicht mehr ſchaͤtzet,
Wem ſelbſt die Roſe nicht mehr lacht,
Weß Auge kein Original ergoͤtzet,
Der ſagt der Schild'rung gute Nacht.
462
Komm, Spindel, komm, die Feder ſoll dir weichen,
Mach, Schreibtiſch, mir nicht ferner Muͤh;
Was ſollen mir noch der Gedanken Zeichen?
Geſchwinder denk 'ich ohne ſie.
Komm, Spindel, komm, ich kann nicht muͤßig ſitzen,
Das Nichtsthun iſt mir Qual und Tod,
Sollt ich mit feiner Arbeit mich erhitzen,
Das machte mir die Augen roth.
Doch Buͤcher! ja, die haͤtt 'ich bald vergeſſen,
Sehr wichtig dem, der ſie fuͤr noͤthig haͤlt,
Die Maͤuſe wollten meine freſſen,
Da hab' ich ſie in 'Schrank geſtellt.
Komm, Spindel, komm, froh ſoll die Hand dich lenken;
Du laͤßt mir Kopf und Herze frei;
Empfindungsvoll kann ich da fuͤhlend denken;
Das andre iſt doch Narrenthei.

Fraͤulein von Klettenberg.

Ueber die von Goethe gefeierte Corona Schroͤter, deren Leben antik Heitres mit andern Tragiſchem ver¬ bindet, und die als eine Muſe in dem hoͤchſten und geiſtreichſten Lebenskreiſe doch nur als eine Fremde erſchien, dieſes einſah, und ſich mit Faſſung und An¬ ſtand zuruͤckzog erſt aus dem Weltverkehr, dann aus dem Leben theilen wir vielleicht in der Folge einige naͤhere Betrachtungen mit.

[463]

Briefwechſel zwiſchen Goethe und Schultz. Bonn, 1836.

Der Briefe ſind nur wenige, und ſie beſchraͤnken ſich auf einen engen Zeitraum; ihr Inhalt aber iſt bedeu¬ tend, und der Beitrag wichtig, den ſie zur perſoͤnlichen Karakteriſtik liefern. In Betreff Goethe's iſt der letz¬ tere Gewinn leicht erfaßt, weil alles ſich an ſchon Be¬ kanntes anſchließt; aber fuͤr den zweiten Namen bedarf es einiger naͤheren Angaben, um den ganzen Mann ſehen zu laſſen, von dem ſich in den Briefen gleichſam nur eine Fingerſpitze zeigt, oder hoͤchſtens einmal die Hand vorſtreckt. Schultz aber war ein ſehr merkwuͤr¬ diger, im Leben ſich kraͤftig umthuender und nachdruͤck¬ licher Mann, der als Staatsrath, oder Geheimer Ober - Regierungsrath, wie der Titel ſpaͤterhin lautete, gar ſehr an ſeiner Stelle war, doch im Vaterlande die Be¬ dingungen, wobei ſein ganzes Weſen zur vollſten Ent¬ wicklung gekommen waͤre, gluͤcklicherweiſe nicht finden konnte; wir ſagen gluͤcklicherweiſe, denn dazu haͤtte es464 ſchwieriger Gewaltherrſchaft, heftiger Einſchreitungen und unnachſichtlicher Willensſtrenge bedurft, wie etwan ein Praͤfekt Napoleons ſie in vielen Faͤllen ausuͤben mußte, zu welcher Stellung Schultz gewiß trefflich getaugt haͤtte wiewohl er in ſeiner gegebenen Laufbahn, durchaus deutſchgeſinnt und ſeinem Fuͤrſten mit eifrigſter Treue zugethan, das Reich und den Herrſcher der Franzoſen mit gluͤhendem Haſſe ſtets bekaͤmpfte. In dem geord¬ neten, auf milde Gerechtigkeit geſtuͤtzten und friedlich und erſchuͤtterungslos auf ſtufenweiſe Fortbildung ange¬ wieſenen Staate war fuͤr die Kraftrichtung unſres Schultz keine Gelegenheit, und die Mißverhaͤltniſſe, in die ſein Karakter ihn gerathen ließ, mußten ihn erdruͤcken.

Aus einer altpreußiſchen ehrbaren Bauernfamilie ſtam¬ mend hatte Schultz die ſtarre, trockne Unerſchuͤtterlich¬ keit, welche den Landleuten ſo haͤufig eigen iſt, und auf ſolchem feſtem Grunde war bei ihm, der durch Schul - und Univerſitaͤtsſtudien ſich trefflich ausbildete, die feinſte und zarteſte Geiſtesbeweglichkeit hervorgewachſen, in wel¬ cher doch immer wieder, und oft im ganz unerwarteten Augenblick, der urſpruͤngliche Boden durchſchmeckte, und eine leiſe Biegung ploͤtzlich zur eiſernen Feſtigkeit er¬ ſtarrte. Schultz war ein ſchoͤner Mann, von einneh¬ mender Grazie, edel in ſeinen Triebfedern wie in ſeinen Gedanken, er ſtellte ſich von ſelbſt in die Reihe der ſitt¬ lich - und geiſtig-Beſten. Zuerſt in den fraͤnkiſchen Fuͤr¬ ſtenthuͤmern bei der Regierung angeſtellt, hatte er in465 dem Miniſter Freiherrn von Hardenberg ein ſchoͤnes Vor¬ bild einſichtiger und freundlicher Wirkſamkeit; auch ge¬ wann er durch das ſinnige und entſchloſſene Weſen, das in ihm durchblickte, die gute Meinung dieſes Staats¬ mannes, der ihn nicht wieder aus den Augen verlor.

Durch den Krieg nach Berlin zuruͤckgeworfen, rang Schultz waͤhrend der Ungluͤcksjahre muthig gegen die Drangſale des Vaterlandes; er war einer der entſchie¬ denſten und heftigſten Franzoſenfeinde, hatte jedoch den guten Sinn, bei bittrem Deklamiren ſich nicht lange aufzuhalten, ſondern wandte ſeinen Geiſt wie ſeine Thaͤ¬ tigkeit, wo fuͤr gemeinnuͤtzige Zwecke nichts unmittelbar zu leiſten war, alsbald auf hoͤhere Gegenſtaͤnde der Wiſ¬ ſenſchaft und der Kunſt, und ſchloß die mannigfachſten Wege in dieſen Gebieten fuͤr ſeinen Forſchungstrieb auf. Nach den Befreiungskriegen bekam er eine feſte Anſtel¬ lung in dem Kultusminiſterium. Hier wirkte er in Verein mit Hirt nachdruͤcklich zu dem Ankauf der Solly’¬ ſchen Gemaͤldeſammlung, ein Gegenſtand, an welchen noch viele Jahre hindurch ſich vielfacher Kampf und Wi¬ derſpruch leidenſchaftlich anknuͤpfte. Schultz war auch in den politiſchen Eroͤrterungen, die darauf eine Zeit lang die Menſchen uͤber Gebuͤhr beſchaͤftigten, einer der heftigen Eiferer, und bildete mit Schleiermacher und Andern eine Art doktrinairer Parthei.

Als aber, in Folge der Karlsbader Beſchluͤſſe, bei den Univerſitaͤten beſondere Aufſeher unter dem Namen30466Regierungsbevollmaͤchtigte gemacht und Schultz zu die¬ ſem wichtigen Amte fuͤr Berlin ernannt wurde, trennte er ſich von ſeinen bisherigen Freunden, und entſagte nicht nur jeder Oppoſition, ſondern verfolgte ſie mit allem Nachdruck. Die ihm eroͤffnete außerordentliche Wirkſamkeit nahm ihn gaͤnzlich hin, und der bisherige Liberale wurde zum grimmen Ultra. Die Demagogen, Buͤndler, Burſchenſchafter, und ihre Goͤnner und Unter¬ ſtuͤtzer, ſo wie die Schriftſteller, welche in der Oppo¬ ſition verharrten, bekamen in ihm den unerbittlichſten, beharrlichſten Feind; er wußte in ſeinem Eifer kein Maß, und achtete den Groll nicht, den er bei ſeinen ehmaligen Freunden durch ſeine nunmehrige Art erweckte. Sein Grimm, ſeine Starrheit, brachten ihn jedoch in Verwicklungen, wo er keinen Ausweg fand. In ſeinem Verdruſſe mißkannte er ſeine Stellung gegen hoͤhere Staatsbehoͤrden, er trotzte, beſchuldigte, klagte an, wo er nur haͤtte gehorchen und ſich fuͤgen ſollen. Zum Gluͤck fuͤr ihn war die hoͤchſte Staatsverwaltung nicht ſo ein¬ ſeitig ſtreng, ſo ruͤckſichtslos hart, wie er ſie haben wollte, wie er in ſeinem Wirken ſie auszudruͤcken ſuchte; anſtatt entlaſſen zu werden, wie er von ſolchen Obern, die ihm geglichen haͤtten, muͤßte erwartet haben, wurde er bloß von ſeiner Amtswirkſamkeit entfernt, und mit dem Genuſſe ſeiner vollen Beſoldung zur Ruhe geſetzt. Er war ſich ſeiner Redlichkeit bewußt, und dieſe war in der That fleckenlos, er trotzte auf ſeine Unentbehr¬467 lichkeit, doch hierin taͤuſchte ſein Stolz ihn allzuſehr; genug, zuͤrnend und grollend zog er ſich zuruͤck, uͤber¬ zeugt, daß man ihn bald wieder rufen muͤſſe, und waͤhlte ſich Wetzlar zum einſtweiligen Aufenthalt.

Hier warf er ſich, um ſeine ſelbſtauferlegte Bann¬ muße zu zerſtreuen, mit neuem Eifer auf wiſſenſchaft¬ liche Forſchungen, und hier beginnt auch die Mittheilung ſeines Briefwechſels mit Goethe. Schon laͤngere Zeit hatte er ſich dem Großmeiſter deutſchen Dichtens und Forſchens mit Liebe genaht, war in deſſen Angelegen¬ heiten eingegangen, hatte der Farbenlehre deſſelben hef¬ tig zugeſtimmt, in Beobachtungen der Atmoſphaͤre, in Alterthums - und Kunſtſachen, ſich ihm angeſchloſſen, und nach ſeiner leidenſchaftlichen Art eine wahre Innig¬ keit der Verehrung und Liebe fuͤr Goethe'n huldigend an Tag gelegt. In der jetzigen Lage, rauh und duͤſter gegen die uͤbrige Welt, wandte ſein Gemuͤth nur um ſo eifriger alle weiche Zaͤrtlichkeit auf dieſes Verhaͤltniß, das in der That keine geringe Geltung fuͤr die eigne Empfindung und die groͤßte fuͤr die Außenwelt haben mußte.

Schultz hatte den Trieb, ſich mit abſonderlichen, ſchwierigen Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen, und die Macht ſeines Genius ſollte durchaus zu großen Reſultaten durchdringen. Der Zufall fuͤhrte ihn auf roͤmiſche Bau¬ werke, ſodann auf die roͤmiſche Staatsverfaſſung. Un¬ gluͤcklicher konnte er ſeine Richtung nicht nehmen. In30 *468dieſen Gebieten, wo ein ungeheurer Vorrath durchar¬ beiteter Kenntniſſe noͤthig iſt, koͤnnen Scharfſinn und Divination ohne jene Grundlage wenig leiſten. Schultz war auf dieſem Boden ein dilettantiſcher Autodidakt, und ſein Eigenduͤnkel ging bis zur Verwegenheit. Ohne eigentliche Geſchichts - und Antiquitaͤten-Kenntniß, ohne Griechiſch und mehr als oberflaͤchlich Lateiniſch zu wiſ¬ ſen, meinte er die vorgefundenen Anſichten umſtoßen, und ein ganz neues Licht anzuͤnden zu koͤnnen. In den Briefen an Goethe legt er ſeine erſten Verſuche dieſer Art nieder. Er verwirft ohne weiteres die Authentie des Pomponius Mela, der ihm nicht in ſeine Vorſtel¬ lungen paßt, und eben ſo die Authentie des Vitruvius. Er taͤuſcht ſich ſelber, und meint, indem er ſeinen Ei¬ genſinn und ſeine Willkuͤr in Einzelheiten weiterausbil¬ det, dadurch gruͤndlich zu ſein. So weiß er bald ganz genau, daß der Pomponius Mela ein muthwilliges Jugendwerk des Boccaccio iſt, der dabei wahrſcheinlich eine im neunten oder zehnten Jahrhundert auf Monte Caſſino kompilirte Skizze zum Grunde gelegt; ſo weiß er nicht minder, daß Vitruvius im zehnten Jahrhundert, wahrſcheinlich von Pabſt Sylveſter II., als Abt Gerbert zu Bobbio, aus griechiſchen und roͤmiſchen Nachrichten kompilirt worden, mit vielen andern genauen Vermu¬ thungen, die ſich ihm ſogleich als Gewißheit feſtſtellen. Ihm iſt es ganz recht und lieb, mit der großen gelehr¬ ten Welt hier in offnen Widerſpruch und Krieg zu469 treten; er zweifelt nicht, die groͤßten Autoritaͤten unter ſeinen Scharfſinn zu beugen, ſie ſeinem Genius zu un¬ terwerfen!

Merkwuͤrdig iſt es, wie Goethe ſich hiebei gegen den leidenſchaftlichen Freund verhaͤlt! Er traut ihm Be¬ deutendes zu, er weiß, wie ſehr die Maͤnner vom Fach oft verblendet ſind, wie beſtritten und verlacht oft das Spaͤtbewaͤhrte anfangs hat auftreten muͤſſen; er mun¬ tert ihn daher auf, und ſtuͤtzt ihn, ſo weit er es ver¬ mag; allein er dringt mit Vorſicht auf ſtrenge Gruͤnd¬ lichkeit, und dieſe kann im vorliegenden Falle, bei dem Mangel an gelehrter Umſicht und Vollguͤltigkeit, nur in ſaͤchlich Poſitivem liegen. Auf dieſes weiſet daher Goethe gern zuruͤck, auf die beſtimmte roͤmiſche Mauer, die vor Augen iſt, auf den deutlichen Einzelbericht des Frontinus von Waſſerleitungen. In die Wagniſſe phi¬ lologiſcher Kritik geht er nicht ein, nur den Weg freier Anſchauung wuͤnſcht er fuͤr die Kritik offen zu erhalten.

Wir ſind unſrestheils uͤberzeugt, daß Schultz nicht in bloßem Wahne gefaſelt, ſondern etwas Richtiges wahrgenommen, aber mit Haſt und Gewalt uͤbel ver¬ arbeitet hat. Sein Karakter veruͤbte hier in der Wiſ¬ ſenſchaft, wie fruͤher in der Amtswirkſamkeit, die eigen¬ ſinnigſten Verkehrtheiten, und wie ſchon hier, ſo mußte noch ſchneller dort ſein Verfahren in den groͤßten Nach¬ theil fuͤr ihn ſelbſt umſchlagen. Sein ſpaͤteres Werk, uͤber roͤmiſche Verfaſſung, gegen Niebuhr, Savigny und Boͤckh470 gerichtet, kommt in dieſen Briefen noch nicht vor. Es iſt bekannt, wie er damit in der gelehrten Welt voͤllig verungluͤckt iſt; nicht einmal großen Laͤrm hat er damit bewirken koͤnnen. Er ging an ſeiner Vermeſſenheit, an ſeinem Stolz und Eigenſinn, buchſtaͤblich zu Grunde; der Tod uͤbereilte ihn im Groll ſeiner allſeitigen Zer¬ wuͤrfniß und Niederlage.

Schultz bleibt jedoch bei allen ſeinen Maͤngeln, an denen oft Andre leiden mußten, am meiſten aber er ſelbſt litt, ein Mann von hoͤchſt achtbaren Seiten. Sein Karakter hatte Großartiges, und wuͤrde in Verhaͤltniſ¬ ſen, die ihm ganz entſprochen haͤtten, das Außerordent¬ lichſte geleiſtet haben. Was er geiſtig zu Tage gefoͤr¬ dert, laſſen wir als problematiſch auf ſich beruhen, gewiß aber iſt nicht alles geradehin zu verwerfen, und es bleibt immer ein Verdienſt, ſo ruͤckſichtslos und mu¬ thig anzugehen, wie er gethan. Neben ſeiner Zankſucht und ſeinem Eigenſinn konnte er aber auch ſehr liebens¬ wuͤrdig ſein, aͤcht liebevoll und liebebeduͤrftig, wie die¬ jenigen wohl erfahren, die ihn naͤher gekannt! Auch Goethe kannte ihn von dieſer Seite, und legte gern ſein inniges Herzensvertrauen in das empfaͤngliche Gemuͤth ſeines Freundes und Anhaͤngers nieder. Zeugniß davon giebt beſonders der Brief vom 10. Januar 1829, der uͤber Goethe’s Verhaͤltniß zu ſeinen Werken und dieſer zu dem Publikum die gehaltvollſten Bekenntniſſe mit¬ theilt. In keinem Fall iſt der Briefwechſel hier ſchon471 vollſtaͤndig mitgetheilt. Es fehlt der Anfang und der Schluß, die man nach dieſer Darlegung des Karakteri¬ ſtiſchen, welches an der Perſon haftet und von ihr auf die Briefblaͤtter uͤbergeht, nur mit deſto groͤßerem An¬ reize begehren wird.

[472]

Geſpräche mit Goethe in den letzten Jahren ſeines Lebens. Von Johann Peter Eckermann.

Wir empfangen hier Goethe’s Konverſationen ein herrliches Geſchenk, fuͤr das wir Herrn Eckermann hoͤchlich verpflichtet ſind, anſtatt aber den Inhalt kritiſch zu eroͤrtern, und in dem Wolkenſpiel und Wet¬ terſtande der Unterhaltungen beſtimmte Formationen aufzuſuchen und geſetzliche Folgerichtigkeiten darin nach¬ zuweiſen, wollen wir lieber die Gelegenheit benutzen und hie und da ein Wort mitſprechen, alſo wirklichen Antheil an der Konverſation nehmen, ſie erweitern, fort¬ ſetzen, ergaͤnzen, zuſtimmend, erlaͤuternd, beſtreitend, wie es der Anlaß und der Stoff uns grade geſtatten moͤgen. Das Buch ſelber zu leſen, und nach indivi¬ duellem Maß in ſich aufzunehmen, und ſich davon an¬ regen und befruchten zu laſſen, wird ohnehin kein Freund deutſcher Bildung und Goethe’s verabſaͤumen.

473

I.

Merkwuͤrdig iſt vor allem das Verhaͤltniß Goethe's zu der ſogenannten neuen Schule, den beiden Schlegel, Tieck, Novalis und ihren Freunden. Er wird von ihnen geprieſen und vergoͤttert, ſo viel ſie nur koͤnnen; ſie ſuchen alle andern geruͤhmten Namen um ihn her auszuloͤſchen, um den ſeinen allein uͤbrig zu laſſen, dem hinfort ausſchließlich aller Weihrauch duften ſoll. Be¬ ſonders gehen ſie darauf aus, den Naͤchſten nach ihm, den ihnen Gefaͤhrlichſten und Unguͤnſtigſten unter allen Namhaften, ſeinen Freund Schiller zu untergraben. Dies gelingt ihnen auch zum Theil, zwar nicht bei dem großen Publikum, wohl aber bei den aͤſthetiſch Gebil¬ deten, wo Schillers Anſehn noch jetzt an jenen Herab¬ ſetzungen leidet, deren Ziel er ſo lange Zeit geweſen. Und wie treiben ſie es? Greifen ſie ihn wiſſenſchaftlich an? durch gruͤndliche Unterſuchungen, tief eingehende Pruͤfung ſeiner Erzeugniſſe? durch Beweisfuͤhrungen, denen nicht zu widerſprechen iſt? ſchreiben ſie Buͤcher, Abhandlungen, Kritiken gegen ihn? Nichts von allem dieſen. Sie ſetzen mit laͤchelnder Selbſtgefaͤlligkeit feſt, Schiller tauge nichts, ſie bemitleiden die Schwachen, die das nicht einſehn, ſie wiederholen ihren Satz uner¬ muͤdet, in Verſen, in Proſa, in Vorleſungen, im Ge¬ ſpraͤch, ſie rufen ihn beſonders der Jugend zu, die leicht¬ ſinnig und pruͤfungslos das Vernommene tauſendfach wiederholt. Erſt mit Schillers Tode, da ſeine Neben¬474 buhlerſchaft nicht mehr zu fuͤrchten iſt, bequemen ſie ſich zu einiger Anerkennung, zu der auch ſchon die oͤffent¬ liche Meinung ſie zwingt, denn es verlautet von vielen Seiten allzu herbe, daß Neid und Ohnmacht ihr ab¬ ſprechendes Urtheil einfloͤßen. Die Anerkennung Schillers ſteigt darauf mit jedem Jahr, je nachdem die neue Schule ſeiner mehr und mehr bedarf, um ihn Goethe’n entgegenzuſetzen, mit dem ſie unzufrieden iſt, den ſie auch gern wieder herabbringen und einſchraͤnken moͤchte, gegen den ſie allerlei Winkelzuͤge verſucht, den aber geradezu anzugreifen ſie weder den Muth noch die Faͤhigkeit hat! Man ſehe nur die Vorleſungen nach, in denen bald Wilhelm Schlegel, bald Friedrich ihre fruͤhern Lobſpruͤche fuͤr Goethe bedingen, mit Tadel verknuͤpfen, oder mittelbar zuruͤcknehmen! Die Urſache hiervon iſt kein Geheimniß. Goethe hat die Vergoͤtte¬ rung hingenommen, ohne dafuͤr zu danken; er hat die Talente der Schlegel gelten laſſen, er hat ihre beſſeren Beſtrebungen unterſtuͤtzt, aber die Lobſpruͤche, die ihm gegeben wurden, durch aͤhnliche zu erwiedern ließ er ſich nicht bewegen; ja er ſcheint fruͤh erkannt zu haben, daß die beiden Bruͤder weit mehr ſich ſelber meinten, als ihn, daß ſie den Raum zu gewinnen dachten, den ſie um Goethe herum ſaͤubern wollten, und es war gar nicht ihre Rechnung, daß er ſie nicht hereinrief, und als ſeines Gleichen aufnehmen wollte. Goethe hat nie ſeine Lober angereizt, nie ſie zur Fortſetzung auf¬475 gemuntert, nie durch Ungerechtigkeit oder Einſtim¬ mung in bloße Partheiſache ſich die Gunſt der Kritiker zu erhalten geſucht. Im Gegentheil, er zeigte es un¬ verholen, daß nur Wahrheit und Aechtheit ihn beſtim¬ men koͤnne, daß unreines Lob ihn eben ſo wenig angehe, als unreiner Tadel. Er behielt ſeinen geliebten Schiller in treuem Andenken, er wußte ſeinen Wieland zu ſchaͤtzen und zu ehren, und ſonderte ſich ſchon dadurch von der Schlegel'ſchen Parthei ſtreng ab, die ihn vergebens als ihr Haupt und als ihren Fuͤhrer vorſtellen wollte, er nahm die aufgedrungene Feldherrnſchaft niemals an, und blieb in ſeiner abgeſonderten, ſelbſtſtaͤndigen, freien Stellung. Erſt nachdem die Schlegel ſelber theils in den Hintergrund gewichen, theils zu andern Richtungen uͤbergegangen waren, traten Goethe's unbefangene Ur¬ theile uͤber ſie hervor, z. B. in den Briefen an Schiller, an Zelter, in den Jahres - und Tagesheften, wo er ſie nach Verdienſt wuͤrdigt, ſie in einigen Stuͤcken ruͤhmt und ſich ihnen zu Dank verpflichtet bekennt, ſie in andern tadelt, und an ihren Ort ſtellt. Zu bemerken iſt hierbei, daß Goethe nach dem Verſtummen des Schlegel'ſchen Beifalls in den ihm gebrachten Huldi¬ gungen keinen Abgang wahrnehmen konnte; die Zeit¬ genoſſen ſeiner fruͤheren Jahre blieben ſeine treuen Ver¬ ehrer, und unter den juͤngern Mitlebenden wandte ein zweites und drittes Geſchlecht ſich ihm nur ſtets enthu¬ ſiaſtiſcher zu. Die Schlegel erſchienen ganz uͤberfluͤſſig476 fuͤr ihn, und konnten bleiben oder gehen, fuͤr den Glanz ſeiner Stellung war beides unerheblich.

In dieſen Geſpraͤchen mit Eckermann wird dieſes Verhaͤltniß auch mehrmals beruͤhrt, und bei allem Tadel, der mitunter ausgeſprochen wird, iſt eine große Anerkennung, und ſelbſt eine wirkſame Vorliebe nicht zu verkennen. Ueberhaupt lobt Goethe lieber, als daß er tadelt, und wo letzteres vorkommt, iſt er gewiß dazu gezwungen. Die bedeutendſte Stelle in dieſem Betreff iſt unſtreitig die, wo von Tieck die Rede iſt. Goethe ſagt hier ganz unbefangen: Als die Schlegel anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu maͤchtig, und um mich zu balanciren, mußten ſie ſich nach einem Talent umſehen, das ſie mir entgegenſtellten. Ein ſolches fanden ſie in Tieck, und damit er mir gegen¬ uͤber in den Augen des Publikums genugſam bedeutend erſchiene, ſo mußten ſie mehr aus ihm machen, als er war. Dies ſchadete unſerm Verhaͤltniß; denn Tieck kam dadurch zu mir, ohne es ſich eigentlich bewußt zu werden, in eine ſchiefe Stellung. Tieck iſt ein Talent von hoher Bedeutung, und es kann ſeine außerordent¬ lichen Verdienſte niemand beſſer erkennen, als ich ſelber; allein wenn man ihn uͤber ihn ſelbſt erheben und mir gleichſtellen will, ſo iſt man im Irrthum. Hier wer¬ den die Gegner aufſchreien und ihn des Selbſtlobes beſchuldigen, des Hochmuths, der Anmaßung! Aber hoͤren wir ihn weiter! Er ſetzt ſogleich hinzu: Ich477 kann dieſes gerade herausſagen, denn was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es waͤre eben ſo, wenn ich mich mit Shakeſpeare verglei¬ chen wollte, der ſich auch nicht gemacht hat, und der doch ein Weſen hoͤherer Art iſt, zu dem ich hin¬ aufblicke und das ich zu verehren habe. Wo iſt wohl noch ein ſolches Wort geſprochen worden, in welchem Hoheit und Demuth ſo herrlich und fromm verbunden ſind?

2.

Einem harten ſchroffen Satz uͤber Uhland, in Goethe's Briefen an Zelter, ſtellen ſich hier mildere, anerken¬ nende und hochſchaͤtzende Aeußerungen zur Seite. Wir ſehen, daß Goethe den edlen ſchwaͤbiſchen Dichter voll¬ kommen gelten laͤßt, aber auch die Seite nicht ver¬ ſchweigt, von der ſeinem Talente Gefahr drohte, und ſeit einiger Zeit wirklich eingetreten iſt. Auffallend iſt in Uhland die ſeit ſechzehn Jahren ſtockende Produk¬ tivitaͤt, und zu dieſem Stocken findet ſich der Grund theils in ſeinem eignen Naturell, theils in den Lebens¬ umſtaͤnden, denen er ſich unterwerfen wollte. Doch ſcheint auch in Goethe ſelber ein Hinderniß zu walten, das ſeiner Anerkennung Uhlands immer noch einigen Eintrag thut. Er, der Meiſter lyriſcher Poeſie, der zu zwanzig und zu achtzig Jahren in ſeinen Liedern wie Friedrich Schlegel ſagt gleich vortrefflich iſt,478 ſcheint fuͤr fremde lyriſche Poeſie nicht den freien und erregbaren Sinn gehabt zu haben, den er fuͤr andere Dichtungsarten ſo herrlich bewaͤhrt. Ein Urtheil uͤber Paul Flemming, welches Eckermann mittheilt, beſtaͤtigt uns in dieſer Meinung. Dieſer große, jugendfriſche Lyriker, deſſen Gefuͤhl und Ausdruck uͤber zwei Jahr¬ hunderte hinaus noch heute dem hoͤchſten poetiſchen Be¬ duͤrfniſſe genuͤgen kann, befriedigt Goͤthe’n keineswegs, und faſt findet er ihn ungenießbar! Hierin koͤnnen wir ihm durchaus nicht beiſtimmen, obwohl wir es ihm ſonſt nicht verargen, ſondern im Gegentheil hoch an¬ rechnen, daß er einer bloß philologiſchen Bewunde¬ rung und Begeiſterung, mit der ſo viele Leute ſich be¬ helfen, gar nicht faͤhig war. Uebrigens verhehlen wir nicht, daß Flemming’s Talent uns dem Uhland’ſchen wohl zu vergleichen ſcheint, in ſofern beide einer Le¬ bensjahrszeit angehoͤren, welche den Liederbluͤthen guͤnſtig iſt, und nach deren Ablauf ſich dieſe verlieren. Denn, wiewohl Flemming dieſen Ablauf nicht erlebt hat, ſon¬ dern nach der Ruͤckkehr von ſeiner Reiſe in den Orient inmitten der ſchoͤnſten Jugend und reichſten Poeſie fruͤh¬ zeitig ſtarb, ſo macht uns doch alles den Eindruck, daß er in ſeiner Poeſie nicht ſo haͤtte fortfahren koͤnnen, ſondern daheim in eingerichteten Verhaͤltniſſen und ruhi¬ gen Geſchaͤften ſich mehr und mehr dem Dichten ent¬ zogen haben wuͤrde, bis dieſes zuletzt vielleicht verſiegt waͤre. Dies deutet allerdings darauf hin, daß der479 bloß lyriſche Dichter in unſrer modernen Zeit nicht mehr der Dichter par excellence ſein kann, ſondern nur eine einſeitige, untergeordnete Stellung in der Poeſie und eine kurze Bluͤthezeit hat, der wahre Dichter aber in univerſeller Aufnahme und Schilderung des Lebens nie des Stoffes noch der Formen entbehren wird, ſondern in ſtetem Wechſel immer neue Bluͤthen und Fruͤchte bringt!

3.

Einigemal ſind in Eckermann's Buche Sternchen angebracht, wo wir gerne den Namen ſaͤhen. Zum Beiſpiel, wenn es heißt: Noch in dieſen Tagen habe ich Gedichte von *** geleſen, und ſein reiches Talent nicht verkennen koͤnnen. Allein, wie geſagt, die Liebe fehlt ihm, und ſo wird er auch nie ſo wirken, als er haͤtte muͤſſen. Man wird ihn fuͤrchten, und er wird der Gott derer ſein, die gern wir er negativ waͤren, aber nicht wie er das Talent haben. Hier iſt der proſaiſche Kommentar zu dem vortrefflichen Xenien¬ ſpruch:

Ich laͤugne die Talente nicht,
Wenn ſie mir auch mißfallen.

Dieſer Spruch ſei allen Kritikern und Urtheilern, denen das Objekt in ihrer Subjektivitaͤt zu verſchwinden droht, zur Beherzigung empfohlen! Heine, der doch mit obigen Sternchen ohne Zweifel gemeint iſt, kann mit480 der Anerkennung ſeines Talents wohl zufrieden ſein; denn, daß ihm Goethe die Liebe abſpricht, damit iſt die Sache noch nicht ausgemacht, man kann auch von Goethe'n appelliren; und eine folgende Zeit und mit mehreren Akten verſehene Gerichtsbehoͤrde, der inzwi¬ ſchen mit dem Gegenſtande dieſer Liebe auch dieſe ſelber klar geworden, duͤrfte einen ganz andern Aus¬ ſpruch geben. (Nach zuverlaͤſſiger Auskunft iſt jedoch nicht Heine, ſondern Graf Platen gemeint.)

4.

Als eine Merkwuͤrdigkeit, die uns durch Eckermann's Buch neu beſtaͤtigt wird, iſt es vorlaͤngſt geruͤgt wor¬ den, daß Goethe nirgend in ſeinen vielfachen Schriften und Briefen, wo doch Tauſende ſeiner Zeitgenoſſen ge¬ nannt und wiedergenannt werden, den Prediger Schleier¬ macher erwaͤhnt, und auch in den muͤndlichen Memora¬ bilien kommt er nirgends vor. Dies Schweigen iſt aber gegenſeitig, und auch Schleiermacher gedenkt Goethe's nirgends ſoviel uns bekannt noch er¬ waͤhnte er deſſen gern im muͤndlichen Geſpraͤch. Wer bloß die Schriften haͤtte, und aus dieſen folgerte, koͤnnte in der Zukunft leicht auf die Behauptung kommen, beide haͤtten gar nicht gleichzeitig gelebt, oder wenig¬ ſtens nicht von einander gewußt. Duͤrfen wir eine Vermuthung wagen, ſo moͤchten wir den Schluͤſſel dieſer Seltſamkeit in dem Verhaͤltniſſe vorausſetzen,481 das Goethe mit Herder hatte. Dieſes hatte ſich be¬ kanntlich ſehr ungluͤcklich geſtellt. Herder konnte den ſteigenden Ruhm und den Geniusflug Goethe's nicht ertragen, und wo er etwa noch haͤtte glauben koͤnnen es ihm gleichzuthun, da hinderte ihn der geiſtliche Stand, der uͤberhaupt Herder's Ungluͤck war. Dieſe Hemmung wollte er ſich nun aber zur Tugend aus¬ legen, und machte daraus eine Wuͤrde und Heiligkeit, mit denen er ſeinen Freunden und Naͤchſten ſehr zur Laſt fiel, und ſich ſelber gegen die zunehmende Graͤm¬ lichkeit und Vertrocknung nicht rettete. Auch Schleier¬ macher war durch ſeinen Stand in ſeiner freien Ent¬ wickelung gehemmt, und der Gang der theologiſchen und kirchlichen Sachen zwang ihn, immer mehr in jene Hemmung ſich zu fuͤgen. Von ſolchem Mißverhaͤltniß wollte Goethe ein - fuͤr allemal unberuͤhrt bleiben, und wiewohl er Schleiermacher's Geiſt, Scharfſinn, Gelehr¬ ſamkeit und andre Gaben hoͤchlich anerkannte, ſo ſchau¬ derte ihn doch, mit ſolchen Gaben ſich einzulaſſen, die er gegen die Welt und gegen ihn ſelbſt unwiderruflich ſchiefgeſtellt wußte. Ein anderer Grund mag in der aͤußeren Perſoͤnlichkeit gelegen haben, welche fuͤr Goethe nothwendig Kraft oder Schoͤnheit haben mußte, wenn er ſich mit ihr befreunden ſollte. Jung, Klinger, Knebel, Meyer, Zelter, Wolf alle waren von großer wuͤrdiger Geſtalt, von tuͤchtigen Gliedern, kraͤftigem Auftreten.

31482

5.

Wir koͤnnen gar nicht zweifeln, daß in dieſer Stelle *** haͤtte bei ſeinem großen Talent, bei ſeiner weltumfaſſenden Gelehrſamkeit der Nation viel ſein koͤnnen. Aber ſo hat ſeine Karakterloſigkeit die Nation um außerordentliche Wirkungen und ihn ſelbſt um die Achtung der Nation gebracht, wir koͤnnen gar nicht zweifeln, wer durch dieſe Stelle bezeichnet iſt, wollen aber diesmal nicht indiskreter ſein, als der weimariſche Herausgeber.

Uns aber faͤllt dabei eine Antwort ein, worin Goethe einen andern Mann, deſſen Karakter ebenfalls in Mißverhaͤltniß mit ſeinem Talent und Wiſſen ſtand, einen unlaͤngſt verſtorbenen Gelehrten, der auch wohl als Freund Ubique wegen ſeiner Polypragmoſyne be¬ zeichnet worden iſt, mit guter Laune zwiſchen Anklage und Entſchuldigung klemmt. Eine Freundin Goethe's Frau von Grotthuß, ſtellte ihm einmal ſehr beweglich vor, daß man dem armen Manne doch eigentlich Un¬ recht thue, wie er doch außerordentliche Kenntniſſe aller Art beſitze, und alles ſo leicht und nutzbar zu behan¬ deln wiſſe. Lange ließ Goethe auf ſich einreden, und hoͤrte die zum Theil triftigen Gruͤnde ruhig an; endlich aber brach er ungeduldig aus: Sie haben gar nicht Unrecht, liebes Kind, es iſt ganz wahr, er brauchte auch gar kein Lump zu ſein, wenn er nicht durchaus wollte!

483

6.

Wir finden unter andern einige merkwuͤrdige Aeuße¬ rungen uͤber Voltaire, uͤber die Groͤße und Bedeutung ſeines Wirkens, die Macht ſeines Daſtehens, die Eigen¬ heit ſeiner Natur und die Vollkommenheit ſeines Ta¬ lents. Die Anekdote, wie Voltaire vor dem Einſteigen in den Wagen auf Verlangen von Kloſter-Penſionnai¬ rinnen noch ſchnell in allerliebſten Verſen einen Prolog zur beabſichtigten Auffuͤhrung eines ſeiner Trauerſpiele zu Papier gebracht, giebt den ſchoͤnſten Beweis ſeiner Fertigkeit, ſeiner Geiſtesfuͤlle und Gegenwart. Wenn jedoch Goethe von ihm ruͤhmt, er habe in ſeinem un¬ aufhoͤrlichen Schriftverkehr mit hohen und hoͤchſten Per¬ ſonen nie das rechte Maß verletzt und die zarteſte Schicklichkeit ſtets beobachtet, ſo muͤſſen wir einigen Widerſpruch erheben. Voltaire'n ſind manche ſtarke Uebertretungen vorzuwerfen, beſonders in ſeinem Brief¬ wechſel mit Friedrich dem Großen, woruͤber im Allge¬ meinen das treffliche Werk von Preuß nachzuſehen iſt. Freilich gehen Voltaire's Uebertretungen nicht aus Plump¬ heit oder Unwiſſenheit hervor, er fehlt nicht gerade aus Mangel an Takt, oder weil er ſich aus Irrthum ver¬ greift: es iſt vielmehr mit Bewußtſein und Abſicht, daß er ſeine freien Schalkheiten und verwegenen Neckereien uͤbt, es iſt der Uebermuth des Talents und ſeiner Stel¬ lung, der ihn antreibt, wie dies heutigen Tages von Heine geſagt werden kann, deſſen Grobheiten niemals31 *484unwillkuͤrliche, ſondern mit Wiſſen und Willen ausgeuͤbte ſind. Daß aber Voltaire in dieſer Art ſich Arges zu Schulden kommen ließ, davon wollen wir nur das eine Beiſpiel anfuͤhren, wo er im Mai des Jahres 1759 an den Koͤnig von Preußen ſo ungebuͤhrliche Scherze gerichtet hatte, daß dieſer am 10. Junius aus ſeinem Hauptquartiere zu Reich-Hennersdorf ihm ernſt und ſcharf antwortete, und ſchließlich in einer Nachſchrift dieſen Verweis ausdruͤckte: Mais êtes-vous sage à soixante et dix ans? Apprenez à votre âge de quel style il vous convient de m'écrire. Comprenez qu'il y a des libertés permises et des impertinences in¬ tolérables aux gens de lettres et aux beaux esprits. Devenez enfin philosophe, c'est-à-dire raisonnable. Puisse le ciel, qui vous a donné tant d'esprit, vous donner du jugement à proportion! Si cela pouvait arriver, vous seriez le premier homme du siècle, et peut-être le premier que le monde ait porté: c'est ce que je vous souhaiti. Ainsi soit-il. Die Zurechtweiſung war in der That wohlverdient, und Vol¬ taire fuͤhlte ihr Gewicht, doch ohne aus der Faſſung zu kommen. Was aber kann er darauf erwiedern, wie ſoll er ſich nun benehmen? Hier zeigt er ſich in der That bewunderungswuͤrdig und in ſeiner Natur und Rolle ſo feſt als anmuthig! Er ſchreibt, nachdem er alles Andere ruhig beſprochen, am Schluſſe ſeines naͤch¬ ſten Briefes: Je tombe des nues quand vous m'écri¬485 vez qui je vous ai dit des durétes; vous avez été mon idole pendant vingt années de suite, je l’ai dit à la terre, au ciel, à Gusman même; mais votre métier de héros et votre place de roi ne rendent pas le coeur bien sensible; c’est dommage, car ce coeur était fait pour être hamain, et sans l’héroisme et le trône, vous auriez été le plus aimable des hommes dans la société. En voilà trop, si vous êtes en présence de l’ennemi, et trop peu, si vous étiez avec vous-même dans le sein de la philosophie qui vaut encore mieux que la gloire. Comptez que je suis toujours assez sot pour vous aimer, autant que je suis assez juste pour vous admirer: reconnaissez la fran¬ chise, et recevez avec bonté le profond respect du suisse Voltaire. Alles in dieſer Erwiederung iſt geſchickt, einlenkend, ſchmeichleriſch, wahr, geiſtreich, und in der echteſten Manier des Schreibers, ſogar noch ein wenig dreiſt, weil dies in ſeine Art gehoͤrt, und weil er nicht allzu hart getroffen ſcheinen darf; die Hin¬ weifungen auf das Koͤnigthum und die Feldherrnſtellung des Empfaͤngers ſind meiſterhaft, und auch im tiefſten Grunde wahr, ſo daß der Koͤnig davon ergriffen und durch die Hoͤhe ſeines Standpunktes recht zur Nachſicht wieder geſtimmt werden muß. Auch verzieh der Koͤnig ſogleich und ſchrieb gleich im naͤchſten Briefe: Vous me dites deux mots, et le reproche expire au bout de ma plume. Solche Macht und Gewandtheit des486 Geiſtes wirkt unwiderſtehlich, und bezeugt ſich ſelber durch ihre Wirkung. Goethe's Ausſpruch wird ſo zu¬ letzt auch hier doch eigentlich beſtaͤtigt.

In Bezug auf Voltaire haben wir noch die nach¬ ſtehende Rechtfertigung dieſes Schriftſtellers beifuͤgen wollen, gegen eine Anklage, die auch Goethe mit Un¬ willen verwarf, und deren authentiſche Widerlegung ihn freute. Die Worte ſind einem Aufſatz entlehnt, der eine reiche Bluͤthen - und Fruchtleſe aus Voltaire's Briefen enthaͤlt, und kuͤnftig vielleicht vollſtaͤndig mit¬ zutheilen ſeyn wird.

Voltaire, eine der Puiſſancen des achtzehnten Jahr¬ hunderts wird im neunzehnten abermals zu einer ſolchen empor geſteigert, und zwar diesmal mehr durch die Gegner, als durch die Anhaͤnger, welche eigentlich von jenen erſt hervorgerufen werden. Dieſer einzig begabte und vielſeitig regſame Geiſt hatte Schwaͤchen und Fehler genug, an welchen ſeine Feinde auch nicht unterließen zu zerren und zu quaͤlen nach beſten Kraͤften. Allein der Partheigeiſt der Fanatiker, die er im Intereſſe der Menſchlichkeit zu bekaͤmpfen nicht muͤde ward, ſuchte ihm neben dem Tadel, den er verdiente, anderen, groͤ¬ ßeren anzuhaͤngen, den er niemals verſchuldet. Dies erneut ſich in unſeren Tagen mit verdoppelter Heftig¬ keit. Seine Aeußerungen werden entſtellt, vergiftet, verlaͤumderiſchen Vorausſetzungen Preis gegeben, wo die geringſte litterariſche Kritik, falls ſie angewendet wuͤrde,487 ſogleich den Ungrund der Beſchuldigungen darthun muͤßte. Ein merkwuͤrdiges Beiſpiel dieſes Verfahrens ſei hier angefuͤhrt!

Es iſt bekannt, daß Voltaire eine lange Zeit hin¬ durch ſeine Briefe an die vertrauteſten Freunde gern mit der abgekuͤrzten Formel écr. l'inf. ſchließen mochte; die¬ ſes écrasez l'infâme war die ſeinem Geiſte ſtets gegen¬ waͤrtige unablaͤſſige Mahnung zur Bekaͤmpfung des Fa¬ natismus und Aberglaubens, der zu Voltaire's Zeit eine noch furchtbarere, blutigere Geſtalt hatte, als ihm in ſpaͤterer Zeit wieder zu erlangen bisher noch moͤglich war. Im achtzehnten Jahrhundert hat niemand die Sache anders genommen. Was aber geſchieht im neun¬ zehnten? Franzoͤſiſche Schriftſteller und deutſche ſogar welche dadurch den Vorwurf der leichtſinnigſten Un¬ gruͤndlichkeit, den ſie gegen Voltaire ſo ſchnell bereit haben, im vollſten Maße auf ſich ſelbſt laden erdrei¬ ſten ſich zu der widerwaͤrtigen Behauptung, daß durch jene Formel die chriſtliche Religion ſelbſt gemeint ſei, ja was noch mehr iſt, einer jener Schriftſteller wagt mit Zuverſicht die abſcheuliche Anklage, Voltaire meine durch jene Formel mehr noch, als die chriſtliche Reli¬ gion; den zweideutigen apoſtrophirten Artikel auf ein nachfolgendes Hauptwort maͤnnlichen Geſchlechts bezie¬ hend! Und was wird zur Unterſtuͤtzung dieſer ſchaͤnd¬ lichen Auslegung angefuͤhrt? Nichts, gar nichts, als nur die wiederholte, eifrige Behauptung. Der frevel¬488 hafte Gedanke gehoͤrt ganz dem deutſchen Schriftſteller an, der ihn Voltaire’n andichtet. Ein fleißiger Leſer von Voltaire’s Schriften, der erſt neuerlich in deſſen Briefwechſel eine in ſolchem Maße kaum vermuthete Quelle der belehrendſten Unterhaltung gefunden, hat nirgends eine Spur entdecken koͤnnen, daß jener Formel ein ſolcher Sinn beizulegen waͤre; im Gegentheil, die meiſten Stellen erfordern geradezu jenen erſten, zu allen Zeiten und auch noch in unſern Tagen zu rechtfertigen¬ den Sinn, daß der Fanatismus, der Aberglaube, zer¬ ſtoͤrt werden ſollen; und jede andere Auslegung wird zu einer aufgezwungenen. Hierzu kommt noch die offenbare, unumwundene Erklaͤrung des Autors ſelbſt, die allein hinreicht, um jene verlaͤumderiſche Unterſchie¬ bung in ihrer Nichtigkeit bloßzuſtellen. In einem ver¬ trauten Briefe Voltaire’s an d’Alembert (vom Jahre 1760), deſſen Inhalt jeden Gedanken an gleißneriſche Beſchoͤnigung oder heuchleriſche Milderung voͤllig aus¬ ſchließt, heißt es zuletzt im Erguſſe innigſt verbundenen Vertrauens: Je voudrais que vous écrasassiez l'inf ..., c'est-là le grand point. Il faut la réduire à l'état elle est en Angleterre, et vous en viendrez à bout, si vous voulez: c'est le plus grand service qu'on puisse rendre au genre-humain. Vous pensez bien que je ne parle que de la superstition: car pour la religion, je l'aime et la respecte comme vous. Wo bleibt hier die boͤswillige Anklage? Die489 Anfuͤhrung von Englands Beiſpiel iſt ſchlagend; das Chriſtenthum ſteht in Englands Verfaſſung und Sitten im hoͤchſten, begruͤndetſten Anſehn, aber jede fanatiſche Wirkung auf den Staat und die buͤrgerliche Geſellſchaft iſt ihm abgeſchnitten; wer ſchwaͤrmen will, mag es dort auf eigne Hand und Gefahr thun, aber auch frei zu denken iſt ihm geſichert, und niemand hat von des Nach¬ bars Fanatismus und Aberglauben einen Zwang fuͤr ſich zu befuͤrchten. Dieſen Zuſtand wuͤnſchte Voltaire auch in Frankreich, ja in der ganzen Welt zu ſehen; iſt ihm dies zu verdenken? Wir, hierin gluͤcklicher, als er, ſehen dieſen Zuſtand uͤber einen großen Theil der Welt verbreitet, wahrlich zum groͤßten Gewinn der Re¬ ligion und Moral, und ſollten nicht vergeſſen, welchen Bemuͤhungen wir dieſes auch ſchon wieder hier und da bedrohte Beſſergewordene großentheils mitverdanken!

7.

Goethe ſchrieb im Februar 1814 an eine Freundin in Dresden folgende Worte uͤber das Werk von Frau von Staël de l'Allemagne, das er eine wohlbereitete geiſtige Speiſe nannte: Sie haben das Buch ſelbſt geleſen, und es bedarf alſo meiner Empfehlung nicht. Ich kannte einen großen Theil deſſelben im Manuſkript, leſe es aber immer mit neuem Antheil. Das Buch macht auf die angenehmſte Weiſe denken, und man ſteht mit der Verfaſſerin niemals in Widerſpruch, wenn man490 auch nicht immer gerade ihrer Meinung iſt. Alles was ſie von der Pariſer Societaͤt ruͤhmt, kann man wohl von ihrem Werke ſagen. Man kann das wunderbare Geſchick dieſes Buches wohl auch unter die merkwuͤrdi¬ gen Ereigniſſe dieſer Zeit rechnen. Die franzoͤſiſche Polizei, einſichtig genug, daß ein Werk wie dieſes das Zutrauen der Deutſchen auf ſich ſelbſt erhoͤhen muͤſſe, laͤßt es weislich einſtampfen; gerettete Exemplare ſchla¬ fen, waͤhrend die Deutſchen aufwachen, und ſich, ohne ſolch eine geiſtige Anregung, erretten. In dem gegen¬ waͤrtigen Augenblick thut das Buch einen wunderbaren Effekt. Waͤre es fruͤher da geweſen, ſo haͤtte man ihm einen Einfluß auf die naͤchſten großen Ereigniſſe zuge¬ ſchrieben, nun liegt es da wie eine ſpaͤtentdeckte Weiſ¬ ſagung und Anforderung an das Schickſal, ja es klingt, als wenn es vor vielen Jahren geſchrieben waͤre. Die Deutſchen werden ſich darin kaum wiedererkennen, aber ſie finden daran den ſicherſten Maßſtab des ungeheuern Schrittes, den ſie gethan haben. Moͤchten ſie, bei dieſem Anlaß, ihre Selbſterkenntniß erweitern, und den zweiten großen Schritt thun, ihre Verdienſte wechſel¬ ſeitig anzuerkennen, in Wiſſenſchaft und Kunſt, nicht, wie bisher, einander ewig widerſtrebend, endlich auch gemeinſam wirken, und, wie jetzt die auslaͤndiſche Skla¬ verei, ſo auch den innern Partheiſinn ihrer neidiſchen Apprehenſionen unter einander beſiegen, dann wuͤrde kein mitlebendes Volk ihnen gleich genannt werden491 koͤnnen. Um zu erfahren in wiefern dieſes moͤglich ſei, wollen wir die erſten Zeiten des bald zu hoffenden Frie¬ dens abwarten. Goethe urtheilte zu allen Zeiten ſehr billig uͤber Frau von Staël, und war von ihren großen Gaben leicht eingenommen; in ihren Schriften ſah er mehr das Weltwirkende, Konverſatoriſche, als das Kunſt¬ gebild oder Wiſſenſchaftliche, und gewiß kann man alles, was ſie dichtend oder unterſuchend und lehrend geſchrie¬ ben, als eine Fortſetzung und Erweiterung ihres Ge¬ ſpraͤchs und ihres perſoͤnlichen Geſellſchaft-Einfluſſes betrachten.

8.

Auf einem uns zufaͤllig vor Augen gekommenen Denkblatt fanden wir folgende wehmuͤthig-unwillige Klage von Ludwig Robert niedergeſchrieben: Haſt du nie etwas von deinen Arbeiten Goethe'n geſchickt? fragte mich ein Freund; Niemals, antwortete ich; denn, als ich einſt, ich glaube im Jahre 1804, bei ihm zu Tiſche war, kamen Almanache, der Chamiſſo-Varn¬ hagen'ſche war auch darunter, und Goethe nahm einen nach dem andern, hielt ſie an ſeine und ſeiner Frau Ohren, und fragte: Hoͤrſt du was? ich hoͤre nichts. Nun! wir wollen die Kupfer betrachten, das iſt doch das Beſte; und ſo legte man die Almanache bei Seite. Da nahm ich mir vor, nie ihm etwas zu ſchicken, und hab's auch gehalten, dieſe Art von Verachtung that492 mir zu weh. Iſt nur die Frage, ob der empfindliche Autor, der eine muthwillige Laune ſo uͤbel nimmt, ſich nie einer ſchlimmern Verhoͤhnung und Mißhandlung von Schriften ſchuldig gemacht, deren Inhalt er aus Vor¬ urtheil ungepruͤft verworfen, oder gar nicht in ſeinen Geſichtskreis fallen konnte?

9.

Im Jahre 1828 ſchrieb Goethe an Zelter: Ich freue mich, daß du meiner Anmahnung ein Ohr ge¬ liehen und dich zu Molière gewendet haſt. Die lieben Deutſchen glauben nur Geiſt zu haben, wenn ſie pa¬ radox, das heißt ungerecht, ſind. Was Schlegel in ſeinen Vorleſungen uͤber Molière ſagte, hat mich tief gekraͤnkt; ich ſchwieg viele Jahre, will aber doch nun eins und das andere nachbringen, um zum Troſt man¬ cher vor - und ruͤckwaͤrts denkenden Menſchen, jetziger und kuͤnftiger Zeit, dergleichen Irrſale aufzudecken. Aus derſelben Zeit ſind ein paar Aufſaͤtze in den nach¬ gelaſſenen Schriften Goethe’s, (W. Thl. 46. S. 151 ff. ) wo von Molière mit großem und wohlbegruͤndetem Lobe geſprochen, und unter andern geſagt wird: Wenn einmal Komoͤdie ſein ſoll, iſt unter denen, welche ſich darin uͤbten und hervorthaten, Molière in die erſte Klaſſe und an einen vorzuͤglichen Ort zu ſetzen. Denn was kann man mehr von einem Kuͤnſtler ſagen, als daß vorzuͤgliches Naturell, ſorgfaͤltige Ausbildung und493 gewandte Ausfuͤhrung bei ihm zur vollkommenſten Har¬ monie gelangten. Dies Zeugniß geben ihm ſchou uͤber ein Jahrhundert ſeine Stuͤcke, die ja noch, obſchon ſei¬ ner perſoͤnlichen Darſtellung entbehrend, die talentvoll¬ ſten, geiſtreichſten Kuͤnſtler aufregen, ihnen durch friſche Lebendigung genug zu thun. Und vom Miſanthropen deſſelben Autors wird bemerkt: Man beſchaue ihn, und frage ſich, ob jemals ein Dichter ſein Inneres vollkommener und liebenswuͤrdiger dargeſtellt habe. Wir moͤchten gern Inhalt und Behandlung dieſes Stuͤcks tragiſch nennen, weil dasjenige vor Blick und Geiſt gebracht wird, was uns ſelbſt oft zur Verzweiflung bringt, und wie ihn aus der Welt jagen moͤchte. Hier ſtellt ſich der reine Menſch dar, welcher bei gewonnener großer Bildung doch unnatuͤrlich geblieben iſt, und wie mit ſich, ſo auch mit Andern, nur gar zu gern wahr und gruͤndlich ſein moͤchte; wir ſehn ihn aber im Con¬ flikt mit der ſozialen Welt, in der man ohne Verſtellung und Falſchheit nicht umhergehen kann. In Eckerman's Geſpraͤchen (Thl. I. S. 241) findet ſich dieſes Urtheil uͤber Molière und die Bewunderung ſeiner Großheit und Macht ſchon zu Anfang des Jahres 1826 ausge¬ ſprochen, und wir ſehen aus allen dieſen verſchiedenen Stellen, daß Goethe's Anerkennung ſo großer Verdienſte von keinen Tageseinfluͤſſen abhaͤngig, ſondern immer auf's neue aus wahrer Wuͤrdigung hervorging. Gegen die Schlegel'ſchen tadlendes Urtheil hatten auch andre494 tuͤchtige Geſinnungen ſich unerſchuͤttert behauptet, in die Tagesmeinung nicht eingeſtimmt. So leſen wir bei Rahel, die 1808 an Varnhagen ſchreibt: Und Mo¬ lière, dieſe Sprache! die hatte ich wieder ver¬ geſſen die ſprudelnde Bewegung, dieſer Witz, der gar keiner mehr iſt; ſondern Leben, die Sache! O! ich bitte dich, goutire den! oder vielmehr, hoͤre ihn von Franzoſen, und du mußt es. Das Weitere iſt im Buch ſelbſt nachzuleſen. Wir aber, indem wir dieſe Urtheile, fuͤr Molière von Goethe und Rahel, wider ihn von Schlegel, vergleichend erwaͤgen, glauben uns berechtigt das Ergebniß feſtzuſtellen: fuͤr Molière ſpre¬ chen helle Kraft und Einſicht, wider ihn blinde Eigen¬ ſucht und duͤnkelhafte Schwaͤche.

10.

Im Jahre 1825 ſprach ein Reiſender bei Goethe'n ein, der folgende Aeußerungen von ihm in ſein Tage¬ buch niederſchrieb, und zu Hauſe den Freunden mit¬ theilte. Es war von Ségur's Geſchichte des Feldzuges nach Rußland die Rede, und daß man ihm manche Unrichtigkeiten vorwerfe; Goethe vertheidigte das Buch, das in Lebhaftigkeit der Schilderung und in Glanz des Ausdrucks kaum ſeines Gleichen habe, und ſagte: Wie ſoll es bei den Geſchichtſchreibern immer richtig ſein, die Welt ſelber iſt es ja oft nicht. Auch bemerkte er, daß aus einer Menge von Zuͤgen, die im Einzelnen495 nicht immer genau richtig ſeien, doch ein im Ganzen richtiges Bild entſtehen koͤnne. Seine Schwieger¬ tochter erinnerte ihn, er habe ihr etwas verſprochen. Ja, das iſt bei mir ſehr leicht, fiel er mit liebens¬ wuͤrdiger Laune ein, ich kann ſehr gut verſprechen, da ich nicht Wort halte als ob dies ſo eine zufaͤllige Eigenſchaft waͤre, fuͤr die er nicht koͤnne! Von Achim von Arnim's Schriften und Dichtungen ſagte er: Er iſt leider wie ein Faß, wo der Boͤttcher vergeſſen hat die Reifen feſt zu ſchlagen, da laͤuft's denn auf allen Seiten heraus!

11.

Im Sommer 1823 machte die Geheimraͤthin K. aus Berlin in den boͤhmiſchen Baͤdern die Bekannt¬ ſchaft Goethe's, wozu die Fuͤrſtin von Hohenzollern ihr die erſehnte Gelegenheit bot. Sie fand Goethe'n ſchoͤner von Geſicht, als alle ſeine Abbildungen, ſein herrliches braunes Auge nur am Rande der Iris durch einen blaͤulichen ſchmalen Streif geſchwaͤcht; uͤbrigens erſchien er ganz ruͤſtig, geſund, heiter, wie ein juͤngerer Mann. Sein Lieblingswort, das bei vielen Gelegenheiten vor¬ kam, war in dieſer Zeit: Wunderlich genug! und die Abwechslungen im Tone und in der Anwendung ſollen von ungemeiner Laune und anmuthigſtem Reize geweſen ſein. Die Fuͤrſtin fragte ihn, ob er denn noch nicht in Berlin geweſen ſei? Er verneinte es. Nach¬496 her war aber von Wilhelm von Humboldt die Rede und von ſeiner jetzt ſehr verſchoͤnerten Beſitzung in Tegel; Ach ja, meinte Goethe, da haben wir einſt einen frohen Tag verlebt. Die Fuͤrſtin rief aus: So? da waren Sie denn doch wohl auch in Berlin? worauf Goethe ganz gelaſſen und laͤchelnd erwiederte: Da ſehen Sie, wie man ſich doch zuweilen verſchnappt! Er wurde dann aber ſehr ernſt, und brach das Geſpraͤch ab; man ſah wohl, daß er an jene Anweſenheit nicht erinnert ſein wollte. Er war allerdings in fruͤherer Zeit in Berlin, wohin er den Herzog begleitet hatte. Naͤhere Angabe der Zeit findet ſich in den Briefen an Merck, ſo wie auch Einiges von der Stimmung, die er dort gehabt. Friedrich der Große jedoch wollte von ihm nichts wiſſen, und ſprach auch gar nicht mit ihm, weil er ihn als Verfaſſer des Werther und des Goͤtz von Berlichingen nur fuͤr einen Foͤrderer des Ungeſchmacks hielt. Die Gelehrten aber zu beſuchen, fiel Goͤthe’n gar nicht ein; was haͤtte er mit den Nicolai, Ramler, Engel, Zoͤllner, Gedike, Erman, Caſtilhon, und ſo weiter, fuͤr Geſpraͤch und Ausbeute haben koͤnnen? Moritz kannte er noch nicht, den lernte er erſt in Rom kennen. Humboldt beſuchte er in Tegel, aber dieſer war noch ein junger Mann, und zaͤhlte noch nicht unter die Notabilitaͤten. Dieſe aber, in ihrem Stolze gekraͤnkt, daß der geniale Dichter ſie voruͤberging, ſpuͤrten ihm nun eiferſuͤchtig ſeine andren Wege nach, und verbitter¬497 ten ihm durch uͤble Nachrede den kurzen Aufenthalt in Berlin vollends. Daher ſeine Abneigung, dies Andenken hervorzurufen und zu beſprechen.

12.

Wie ſehr Goethe ſein ganzes Leben hindurch befliſſen war, im ſchoͤnſten Sinne dankbar zu ſein, das heißt wahrhaft erkenntlich und liebevoll geſinnt fuͤr empfange¬ nes Gute, fuͤr jede Freude, Foͤrderung, Einſicht, deren er theilhaft geworden; wie ſehr er ſelbſt mit Vorſatz und Eifer dieſes Zuruͤckgehen auf die Quelle des Em¬ pfangenen geuͤbt und gelehrt: davon zeugen hundert und hundert Stellen ſeiner Schriften. Aber neben die¬ ſer großartigen Dankbarkeit, deren er ſtets erfuͤllt und befliſſen war, ging in den weichlichen Tugendlehren fruͤherer Zeit noch eine andre Art im Schwange, eine feige, heuchleriſche, treuloſe Dankbarkeit, die da rechnet und waͤgt und ſich nur immer aͤußerlich abfindet, be¬ ſonders aber ein Anſpruch an Andre ſein will und ein Schmuck und Glanz fuͤr den Inhaber. Dieſe niedrigen Scheintugenden, wozu auch das uͤbelverſtandene, ſchlechte Mitleid gehoͤrt, machten in der Moral, in der Poeſie und im Leben eine ſo haͤßliche Figur, daß die tuͤchtigen Leute ſie uͤberall hinauszuwerfen bemuͤht waren, und auf die Gefahr, ſelber verkannt und geſcholten zu wer¬ den, ihnen laut abſagten. So wollte Schleiermacher in ſeiner Ethik von Mitleid und Dankbarkeit als Tugen¬32498den nichts wiſſen, ſo ſprach Friedrich Schlegel der eitlen Beſcheidenheit Hohn, ſo verſpotteten Andre die Phili¬ ſterei der Wohlthaͤtigkeit, der Humanitaͤt, mit denen der erbaͤrmlichſte Plunderwucher getrieben wurde. Dies alles muͤſſen wir in’s Auge faſſen, um die folgende Aeußerung Goethe’s zu verſtehen, die auch ihm von ſchwachen Seelen arg mißdeutet worden iſt, jetzt aber wohl nur als ein neues Zeugniß ſeines großartigen tapfren Geiſtes gelten wird. Er warf einmal in einer kleinen Geſellſchaft mit guter Laune die Frage auf wie er wohl oͤfters zu thun pflegte was doch wohl am Menſchen eigentlich das Beſte ſei? Manche gaben mancherlei an. Endlich nannte Einer die Dankbarkeit, und unterſtuͤtzte ſeine Meinung mit ziemlich platten Gruͤnden. Da hielt ſich Goethe nicht laͤnger, O Phi¬ liſterpack! rief er aus, und langſam und mit Nachdruck und Wegwerfung ſetzte er hinzu: Die Dankbarkeit iſt ein Laſter, das man ertragen muß!

[499]

L' amour est un vrai recommenceur.

L'amour est un vrai recommenceur. Dieſen Spruch lieſt man in Goethe's Maximen und Reflexionen, und die fremde Sprache, ſo wie die Anfuͤhrungszeichen, laſſen keinen Zweifel, daß hier nichts Eigenes, ſondern, wie Goethe es nennt, Angeeignetes , von ihm mit¬ getheilt worden. Aber woher iſt der Spruch? Goethe liebt es, ſich mit mancherlei Geheimniß, Raͤthſel und Verhuͤllung zu umgeben, ſeine klaren Gedanken oft nur in Daͤmmerlicht zu ſtellen, ſeine hellen Bilder zuweilen in voͤlliges Dunkel ausgehen zu laſſen. Die Scheu, Beſcheidenheit, Vorſicht, oder wie man es nennen will, welche dieſem Verfahren zum Grunde liegt, und ein weſentliches Element in Goethe's kuͤnſtleriſcher Sittlich¬ keit iſt, uͤbt einen großen Reiz auf den Leſer, dem bei allem Reichthume der Andeutung noch immer ein groͤßerer des Angedeuteten eroͤffnet wird, und der ſich bald ge¬ woͤhnt, in jedem einfachen Ausdrucke eine große Man¬ nigfaltigkeit des Lebens vorauszuſetzen, die nur ent¬32 *500wickelt zu werden braucht. Man ſieht dies am voll¬ ſtaͤndigſten, wenn man z. B. vergleicht, wie Goethe ſeine Bekanntſchaft in Straßburg mit Jung-Stilling erzaͤhlt, und welche Schilderung dieſer ſelbſt von jenen Vorgaͤngen gibt. Nicht ſelten erſcheint dies Geheimni߬ volle oder Unerklaͤrte auch blos im Aeußerlichen und Oberflaͤchlichen, ohne Bezug auf die innere Bedeutung. Aber dem Behagen, ſich hinter eine Maske zu ver¬ ſtecken, oder im Halbdunkel zu wandeln, geht das andere zur Seite, das Verhuͤllte zu erkennen, das Zwei¬ felhafte hell zu beleuchten. Wie hat man ſich gequaͤlt, wie verſchieden und immer unrichtig gerathen, um her¬ auszubringen, warum die beiden ihrem Inhalte nach ganz verſtaͤndlichen Lieder kophtiſche uͤberſchrieben ſind! bis ſich endlich aus Goethe’s eigener Mittheilung ganz gelegentlich ergab, er habe ihnen dieſen Namen gegeben, weil ſie anfangs zu einer Oper: Der Groß - Kophta beſtimmt geweſen! Dieſen Reiz hat auch der obige Spruch erweckt, und in einer Geſellſchaft wurde viel daruͤber hin und her geſtritten, welchem Autor er wohl angehoͤren koͤnne? Scharfſinn, Beleſenheit, Witz und Scherz aller Art kamen an den Tag, man genoß der geiſtreichſten Unterhaltung, die Sache ſelbſt aber blieb im Dunkel. Man glaubte, jene Worte in jedem Falle bei einem neuern Autor ſuchen zu muͤſſen, viel¬ leicht bei einem der tiefern, weniger geleſenen, bei Saint-Martin, Maiſtre, Ballanche, aber ſie aufzu¬501 finden wollte nicht gelingen. Endlich kam ein Zufall zu Huͤlfe, und ein fleißiger Leſer, der aus dem wirren Feuerwerke der Tageslitteratur zu dem ſtillen Glanze der alten probehaltigen Schriften, zu dem ewig Werth¬ vollen, Leben - und Geiſt-Erfuͤllten, zuruͤckgekehrt war, brachte den freudigen Aufſchluß, daß jener Spruch in der Briefſammlung der Frau von Sevigné vorkomme, und zwar von dem Grafen von Buſſy-Rabutin zuerſt angeregt (Brief vom 3. Julius 1655), von ihr aber dann aufgenommen und fortgefuͤhrt. Wir ſehen aus dieſer unerwarteten Entdeckung auch ein Streiflicht auf Goethe's Lektuͤre fallen, und was fuͤr edle, fruchtbare und anmuthvolle Schriften er zur Erheiterung ſeiner alten Tage waͤhlen und ausbeuten mochte!

Aehnliche Schwierigkeit verurſachten zwei franzoͤſiſche Zeilen, welche gegen Ende des Buches Rahel ange¬ fuͤhrt ſind, und dort in hohen, eigenthuͤmlichen Werth geſtellt werden. Es ſind die beiden Alexandriner:

Il est assez puni par son sort rigoureux,
Et c'est être innocent que d'être malheureux.

Die gewiegteſten Kenner franzoͤſiſcher Litteratur, fran¬ zoͤſiſche Schriftſteller in Paris ſelbſt, welche die Frage vernahmen und ſie zu beantworten nun die eigenſinnigſte Beharrlichkeit aufboten, konnten die urſpruͤngliche Stelle jener Verſe nicht nachweiſen; ſie waren in Racine, Corneille, Voltaire, Crebillon nicht zu finden, und ſchienen doch einem aͤlteren und tragiſchen Autor ange¬502 hoͤren zu muͤſſen. Dieſer iſt nun endlich gefunden! Allerdings eines aͤltern und gewiß edlen Dichters, aber keines tragiſchen, ſondern eines heiter-anmuthigen, bei dem man ſie wohl am wenigſten geſucht haͤtte! Die beiden Zeilen ſind von Jean de La Fontaine, dem lie¬ benswuͤrdigen Fabeldichter; aber freilich aus einem Ge¬ dichte, das weniger geleſen wird als ſeine Fabeln, obwohl es ihn als Menſchen hoͤchlich ehrt und ſeines Dichterruhms keineswegs unwuͤrdig iſt. Er war ein treuer Anhaͤnger des von Ludwig's des Vierzehnten Ungnade hart getroffenen und grauſam verfolgten Finanz¬ miniſters Fouquet, zu deſſen Gunſten er ein ſchoͤnes elegiſches Gedicht herauszugeben wagte, und auf das harte Geſchick des Gefallenen jene beiden Verſe an¬ wandte, die allerdings die reinſte menſchliche Geſinnung athmen und die ſchoͤnſte ſittliche Milde gleichſam in einer Naturbetrachtung ſchoͤpfen.

[503]

Frauen in Mannskleidern.

Einem Leſer der Lehrjahre Wilhelm Meiſter's fiel es neulich als eine Sonderbarkeit auf, daß die intereſſan¬ ten Frauen dieſes Romans großentheils in Manns¬ kleidern erſcheinen. In der That, die liebliche Mariane, gleich im erſten Capitel, zeigt ſich uns als junger Officier, den ſie eben auf der Buͤhne dargeſtellt, und bleibt den uͤbrigen Abend in dieſem Coſtuͤm. Mignon wird ſogar fuͤr einen Knaben gehalten, ihrer Kleidung wegen, und wehrt ſich lange, dieſe mit weiblicher zu vertauſchen. Die ſchoͤne Baronin auf dem Schloſſe erſcheint als Jaͤgerburſche, ſpaͤterhin Natalie als Amazone zu Pferd, doch auch halbmaͤnnlich, und die wirthſchaftliche Thereſe kann auf ihren Wanderungen durch Feld und Wald der Maͤnnertracht gar nicht entbehren. Dieſe Sonderbar¬ keit, die allerdings eine iſt, und bisher noch nicht ange¬ merkt worden, auch ſich anderwaͤrts unſers Wiſſens nicht wiederholt, kommt jedoch weniger auf Rechnung des Dichters, als man etwa glauben moͤchte. Sie iſt504 vielmehr eine Wirkung des Zeiteinfluſſes, unter dem die Anfaͤnge jenes Romans entſtanden ſind, und der bei Herausgabe deſſelben noch nicht ſo fern und fremd geworden war, um eine Abaͤnderung dieſes Koſtuͤms zu bewirken. Die letzte Haͤlfte des achtzehnten Jahr¬ hunderts hatte naͤmlich den entſchiedenen Hang, ſich anders anzuziehen, als die vorhergegangene Zeit. Alles wurde verſucht, armeniſche, tuͤrkiſche Tracht, fuͤr Kinder die mannigfachſte Ausſtaffirung, zuletzt uͤberwog in Frank¬ reich die Maͤnnerkleidung der Englaͤnder, der einfache, fuͤr Herren und Diener gleichfoͤrmige Frack, und dieſe Mode, welche von den Vornehmſten des Hofes aus¬ ging, half nicht wenig den Unterſchied der Staͤnde auf¬ heben, der ſonſt durch die Verſchiedenheit der Kleidung bezeichnet war. In dieſe Bewegung fiel auch die Sucht der Frauen, ſich der nun ſo bequemen, jeder Freiheit guͤnſtigen Kleidung zu bedienen; ja es fehlte nicht an der Behauptung, die Maͤnnerkleidung ſei weit anſtaͤn¬ diger, fuͤr die Sitten guͤnſtiger und bewahrender als die bisherige Tracht der Frauen. (Bei uns hat Friedrich Schlegel in dieſer Hinſicht eine pikante Bemerkung in ſeinem verrufenen Roman angebracht!) In Frankreich war es bald allgemein guter Ton, daß vornehme Damen in Maͤnnertracht ausgingen, unbegleitet und recht eigent¬ lich emancipirt, lange vorher, ehe dieſes Wort gebraucht wurde! Die Koͤnigin Marie Antoinette machte große Promenaden auf dieſe Weiſe, beſuchte ſogar, was ſonſt505 nicht moͤglich geweſen waͤre, in ſolcher Verkleidung den Opernball. Die Kaiſerin Kathrine und andre Fuͤrſtin¬ nen erſchienen vor den Truppen in maͤnnlichem Kriegs¬ rocke. Natuͤrlich wurde die Mode in Deutſchland nach¬ geahmt, und ſie dauerte noch tief in die Zeiten der Revolution hinein. In Berlin ſah man eine angeſehene Dame, die fuͤr eine Freundin der Koͤnigin galt, ſehr oft in Maͤnnertracht ſpazieren reiten. So finden wir in dem Buche: Galerie von Bildniſſen aus Rahel's Umgang und Briefwechſel eine Graͤfin von Schlabren¬ dorf, die als Mann gekleidet reiſte. Sehr natuͤrlich, daß mit anderem Koſtuͤm der Zeit auch dieſes in den Roman uͤberging, der vor ſo vielen andern ein treues Bild der Zuſtaͤnde, der Sitten und der Denkart ſeines Zeitalters iſt, aus dem er hervorwuchs.

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TextDenkwürdigkeiten und vermischte Schriften
Author Karl August Varnhagen von Ense
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDenkwürdigkeiten und vermischte Schriften Erster Band Karl August Varnhagen von Ense. . [1] Bl., VI, 505 S. HoffMannheim1837.

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BBAW DWB/B4

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Prosa; core; ready; ocr

Editorial statement

Editorial principles

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Publication information

Publisher
  • dta@bbaw.de
  • Deutsches Textarchiv
  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)
  • Jägerstr. 22/23, 10117 BerlinGermany
ImprintBerlin 2019-12-10T09:32:48Z
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Holding LibraryBBAW
ShelfmarkDWB/B4
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