PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Denkwuͤrdigkeiten und vermiſchte Schriften
[II][III]
Denkwürdigkeiten und vermiſchte Schriften
Zweiter Band.
Mannheim. Verlag von Heinrich Hoff. 1837.
[IV][V]

Inhalt des zweiten Bandes.

Aus eignen Denkwürdigkeiten.
  • Herkommen. Erſte Jugend3
  • Jugendfreunde25
  • Die Univerſitaͤt86
  • Rahel151
  • Die Schlacht von Deutſch-Wagram179
  • Das Feſt des Fuͤrſten von Schwarzenberg252
  • Am Hofe Napoleons292
Kritiken.
  • Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Von Goethe. Vierter Theil. Nemo contra deum nisi deus ipse. Stutt¬ gart und Tuͤbingen, Cotta, 1833. 12. 311
  • Kritiſche Tagesworte332
  • Immermann:
    • 1. Trauerſpiele von Karl Immermann. Hamm und Muͤnſter, 1822. 8. 340
    • 2. Brief an einen Freund uͤber die falſchen Wanderjahre. Von Karl Immermann. Muͤnſter, 1823. 8. 345
    • 3. Cardenio und Celinde. Trauerſpiel von Karl Im¬ mermann. Berlin, 1826. 8. 349
  • Helene von Tournon. Erzaͤhlung von Amalia von Hel¬ vig, geborne Freiin von Imhof. Berlin, 1824. 12. 355
  • VI
  • Beitraͤge zur Poeſie, mit beſonderer Hinweiſung auf Goethe. Von Johann Peter Eckermann. Stuttgart, bei Cotta, 1824358
  • Das Maͤdchen von Andros, eine Komoͤdie des Terentius, in den Versmaßen des Originals, uͤberſetzt von F. M. B. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von K. W. L. Heyſe. Berlin, 1826. 4. 360
  • Das Leben der Frau von La Mothe-Guyon, von ihr ſelbſt beſchrieben. Aus dem Franzoͤſiſchen uͤberſetzt von Hen¬ riette von Montenglaut, geb. von Cronſtain. Drei Theile. Berlin, Sander, 1826. 8. 364
  • Magnus Gottfried Lichtwer’s Schriften. Herausgege¬ ben von ſeinem Enkel Ernst Ludwig Magnus von Pott. Mit einer Vorrede und Biographie Lichtwer’s, von Fried¬ rich Cramer. Halberſtadt, 1828. 12. 369
  • Rußland in der neueſten Zeit. Eine Skizze von E. Pabel. Dresden und Leipzig, 1830. 8. 373
  • Wanderung durch Vaterhaus, Kriegeslager und Akademie zur Kirche. Mittheilungen aus dem bewegten Leben eines evan¬ geliſchen Geiſtlichen. Magdeburg 1832. 8. 378
  • Notice sur Goethe. Genève,1832. 8. 382
  • Ueber Goethe's Fauſt, als Einleitung zu Vortraͤgen daruͤber. Von Dr. K. E. Schubarth. Hirſchberg, 1833. 4. 386
  • Memoiren eines deutſchen Staatsmannes aus den Jahren 1788 1816. Leipzig, 1833. 8. 391
  • Memoiren eines preußiſchen Offiziers. Herausgegeben von C. Herloßſohn. Leipzig, 1833. Zwei Theile 12. 396
  • Biographiſche Nachrichten von der Graͤfin Maria Aurora Koͤnigsmarck. Erzaͤhlt von Dr. Friedrich Cramer. Mit einem Facſimile. Quedlinburg und Leipzig, 1833. 8. 400
  • Zwei Jahre in Petersburg. Ein Roman aus den Papieren eines alten Diplomaten. Leipzig, Brockhaus 1833. 8. 403
  • Erzaͤhlungen, Skizzen und Gedichte von Ludwig Rell¬ ſtab. Berlin, Duncker und Humblot, 1833. Drei Theile. 8. 407
  • VII
  • Die Xenien aus Schiller's Muſenalmanach fuͤr das Jahr 1797. Geſchichte, Abdruck und Erlaͤuterung derſelben. Danzig, 1833. 12. 411
  • Abendſtunden; herausgegeben von Dr. Franz Theremin. Berlin 1833. Duncker und Humblot 8. 415
  • Goethe's Fauſt. Andeutungen uͤber Sinn und Zuſammen¬ hang des erſten und zweiten Theils der Tragoͤdie. Von Dr. F. Deycks. Koblenz, 1834. 8. 423
  • Friedrichs des Zweiten Anti-Machiavel, nach einer Original-Handſchrift herausgegeben. Hamburg, 1834. Friedrich Perthes. 8. 420
  • Veranlaſſung und Geſchichte des Krieges in der Mark Bran¬ denburg im Jahre 1675. Nach Archivalien des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin u. ſ. w., bearbeitet von H. von Gansauge. Berlin, bei G. Reimer 1834. 8. 436
  • Le Monde comme il est; par le marquis de Custine. Paris, chez Eugène Renduel. 1835, 2 Vols. 8. 444
  • Die drei Perioden der koͤniglich preußiſchen Akademie der Wiſſenſchaften, und: Koͤnig Friedrich der Zweite als Ge¬ ſchichtſchreiber. Zwei akademiſche Reden von Friedrich Wilken. Berlin, 1835. Bei Duncker und Humblot, 8. 455
  • Erinnerungen an Winckelmann. Abhandlung von A. Krech. Berlin, 1835. 4. 461
  • Leben des koͤniglichen preußiſchen Geheimen Rathes und Doctors der Arzneiwiſſenſchaft Ernſt Ludwig Heim. Aus hinter¬ laſſenen Briefen und Tagebuͤchern herausgegeben von Georg Wilhelm Keßler. Leipzig, Brockhaus, 1835. Zwei Theile. 12. 464
  • Facſimile von Handſchriften beruͤhmter Maͤnner und Frauen. Bekannt gemacht und mit hiſtoriſchen Erlaͤuterungen begleitet von Dr. Wilhelm Dorow. Auf Stein ge¬ ſchrieben im lithographiſchen Inſtitute des Verlegers. Erſtes Heft. Berlin, 1836. Verlag von L. Sachſe und Comp. 4. 471
VIII
Gedichte.
  • Epigramme des Platon479
  • Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen486
  • Die Bruͤder Warnawa in Hameln487
  • An eine ſchoͤne Frau488
  • Maͤdchenſpiegel490
  • Romanze492
  • Betrachtung494
  • Herbſtgefuͤhl495
  • An den Ueberſetzer Voß496
  • Weſentliches501
  • Verlorne Gegenwart503
  • Auf der Reiſe506
  • Der Edelknabe der Kaiſerin Kunigunde509
  • Johanna Stegen in Luͤneburg519
  • Der Fuͤrſtengarten521
  • Stimme des Kranken523
  • Die Ruſſen in Holland525
  • An der Nordſee527
  • Sand529
  • Wie es geht530
  • Uebereinſtimmung532
  • Fiat applicatio! 533
  • Falſche Goͤtter535
  • Goethe's Werke536
  • Friedrich Auguſt Wolf's Marmorbuͤſte537
  • In Rauch's Werkſtatt538
  • Tieck's Gedichte aus Italien539
  • Verſagt und gewaͤhrt543
  • Nur weiter544
[1]

Aus eignen Denkwürdigkeiten.

II. 1[2][3]

Herkommen. Erſte Jugend.

Familiennachrichten und Geſchlechtsregiſter hat man bisher hauptſaͤchlich nur aus Abſichten der Eitelkeit und des aͤußern Vortheils geſammelt und aufgeſtellt, es iſt aber kein Zweifel, daß ſolche auch zu einer tiefen und wichtigen Belehrung gereichen koͤnnten, wenn man ſie ſie zu ſolchem Behuf einrichtete. Die Aufeinanderfolge, Verbreitung und Dauer eines Geſchlechts, die Miſchun¬ gen, welche es durch Aufnahme und Abgabe von Glie¬ dern erfaͤhrt und bewirkt, die Verpflanzungen nach andern Orten und Laͤndern, die Wandlungen der aͤußern Verhaͤltniſſe, die Geſtaltungen der Karaktere und der Talente, alles dies wuͤrde, in gehoͤriger Maſſe beſtimm¬ ter Einzelheiten uͤberſichtlich dargelegt, der Gegenſtand ungemein anziehender und lehrreicher Betrachtungen ſein. Solche Faͤden des Privatlebens, denn auch die Koͤnigsgeſchlechter duͤrften in dieſem Sinn keine andre Auffaſſung anſprechen, durch groͤßere Zeit¬ raͤume fortgefuͤhrt, muͤßten ſelbſt den Lauf der weltge¬1 *4ſchichtlichen Ereigniſſe in einer eignen, neuen Verwe¬ bung und Faͤrbung zeigen. Die fortſchreitende Wiſſen¬ ſchaft der geſelligen Lebensverhaͤltniſſe, wozu doch, aus ihren geringen Anfaͤngen, die ſtatiſtiſchen Bemuͤhungen ſich kuͤnftig emporheben muͤſſen, haͤtte die neuen That¬ ſachen zu ergreifen, und wuͤrde unfehlbar die außer¬ ordentlichſten, uͤberraſchendſten Folgerungen und An¬ wendungen daraus gewinnen. Es entſtuͤnde ſolcherge¬ ſtalt eine neue Art die Genealogie zu treiben, in einem hoͤheren Sinn und zu edlerem Zweck, als die bisherige, nur der aͤußern Vornehmheit duͤrftig und nicht ſelten unwahr dienende. Freilich kaͤme hierbei alles auf den eindringenden Blick und die ordnende Hand des Bearbeiters an. Ich will keineswegs ein ſolches Muſter zu geben hier unternehmen, inzwiſchen moͤgen im Sinne des Geſagten einige fluͤchtige Familiennachrichten, die ſich grade darbieten, meiner eignen Lebensſchilderung vorangehen.

Der Stamm, dem ich angehoͤre, iſt altſaͤchſich, in Weſtphalen von fruͤhſten Zeiten heimiſch und ausge¬ breitet. Das uralte, beruͤhmte, ritterliche Geſchlecht von Enſe, wie der weſtphaͤliſche Geſchichtſchreiber von Steinen es nennt, theilte ſich fruͤh in zwei Linien, deren eine, mit Beibehaltung des goldnen Wappen¬ feldes, von der im Walde bei Arensberg gelegenen und in der Soeſter Fehde zerſtoͤrten Burg Varnhagen ſich mit dieſem Namen nannte, die andre ein ſilbernes Feld5 und den Namen Schnidewindt annahm. Schon vom dreizehnten Jahrhundert an kommen die von Enſe, als Ritter, Burgherren, Droſten, fuͤrſtliche Raͤthe, Dom¬ herren und Freiſtuhlherren, im Kreiſe der weſtphaͤliſchen Heimath zahlreich vor, bald kriegeriſch bewegt, bald friedlich ſeßhaft. Gleich darauf erſchienen auch die bei¬ den Linien, von welchen die Varnhagen’ſche ſich als die hervorragende zu erkennen giebt. Im fernern Ver¬ laufe der Zeit finden wir dies Geſchlecht von den Waffen und Fehden des Ritterlebens mehr und mehr ablaſſend, hingegen deſto ſtaͤrker dem geiſtlichen und gelehrten Stande nachgehend, wo mit nicht geringern Ehrenvor¬ zuͤgen ſich Wohlfahrt und Bildung vereinigten. Dieſe Richtung gewann entſchiednere Staͤtigkeit durch Konrad von Enſe genannt Varnhagen, koͤlniſchen Kanonikus, der als Paſtor zu Iſerlon daſelbſt im Jahre 1520, mit Vollmacht des Kurfuͤrſten-Erzbiſchofs von Koͤln, eine Blut - und Erbvikarie zu St. Martin ſtiftete, und mit Grundbeſitz und fuͤr die damalige Zeit betraͤchtlichem Einkommen ausſtattete. Dieſe Predigeranſtellung beſteht noch heutiges Tages mit mannigfachen Vortheilen, als ausſchließlicher Beſitz der Familie Varnhagen. Gleich der erſte Inhaber jedoch, Johann von Enſe genannt Varnhagen, nahm eifrigen Antheil an der durch Luther bewirkten Glaubens - und Kirchenreformation, fuͤhrte ſie, nach manchem Widerſtreit, in Iſerlon ſiegreich ein, und mit ihm wurde, unter Zuſtimmung des Stifters,6 ſowohl die Vikarie als auch die uͤbrige Familie pro¬ teſtantiſch. Die naͤchſte Folge war die Verheirathung des bisher eheloſen Vikarius. Seine erſte Frau, denn er heirathete ſpaͤter zum zweitenmal war eine von Kettler, Schweſter des nachherigen Herzogs von Kurland, Gotthard von Kettler, und aus dieſer Ver¬ bindung entſprang die Reihe meiner naͤheren Vorfahren, die nun faſt ohne Ausnahme, indem auch jene Stif¬ tung fortwaͤhrend einwirkte, ſich vorzugsweiſe dem ge¬ lehrten, und, neben dem geiſtlichen, beſonders noch dem aͤrztlichen Stande widmeten. Befriedigt in heimi¬ ſchem Anſehn, mittlerem Wohlſtand und gedeihlichem Wirken, lebte die Familie lange Zeit ſtill fort, ohne aus dem engen vaterlaͤndiſchen Bezirk herauszutreten. Durch erwaͤhlten Stand und Verhaͤltniſſe dem Buͤrger¬ thume zugewendet, hegte ſie auch einen dieſem ent¬ ſprechenden Freiſinn, dem der kleine ruͤckwaͤrts liegende Schimmer nicht ſchadete; dieſer mochte erloͤſchen oder ſich erneuen, beides ſchien nicht ſehr erheblich.

Das fruͤhſte Beiſpiel eines in weiterer Welt ſich verſuchenden Sinnes gab einer von Johann von Enſe’s Enkeln, der waͤhrend des dreißigjaͤhrigen Krieges in Roſtock ſtudirt hatte, dann des Koͤnigs Guſtav Adolph von Schweden und ſpaͤter der Koͤnigin Chriſtina Leib¬ arzt geworden war; er ließ ſich in Schweden haͤuslich nieder, und hatte daſelbſt eine anſehnliche Nachkommen¬ ſchaft, deren Fortbeſtehen noch in neuern Zeiten kund7 war, und erſt in den neuſten aus Mangel an Nach¬ richten ungewiß geworden iſt.

Ein Bruder dieſes nach Schweden gegangenen Varn¬ hagen hatte die Rechte ſtudirt und war Buͤrgermeiſter in Altena geworden; ſein Sohn, mein Aeltervater, folgte ihm in dieſem Amte, war aber zugleich Doctor der Arzneikunde, die er nach dem Vorgange jenes Oheims ebenfalls in Roſtock ſtudirt hatte, und deren Wuͤrden und Ausuͤbung fortan in dieſer Linie ſich durch alle Geſchlechtsfolgen herab vererbten.

Doch geſchah in andrer Hinſicht eine wichtige Un¬ terbrechung des gewohnten Familienganges durch meinen Urgroßvater Johann Bernhard, der ſich als Arzt in Paderborn niederließ, und daſelbſt durch das uͤberwie¬ gende Einwirken der Jeſuiten, welche von jeher viel Anziehendes fuͤr gelehrte und kluge Leute hatten, zur katholiſchen Kirche uͤbertrat. Dieſer Glaubensweg lei¬ tete nun natuͤrlich auch ſeine Nachkommen, und zwar aͤußerlich trennend genug von dem proteſtantiſch geblie¬ benen Theil der Familie, innerlich aber nicht ohne die ſtarke Zugabe eines freien Unterſuchens und Zweifelns, mitunter ſogar eines in Scherz und Ernſt muthvollen Widerſpruchs, welchen die herrſchenden Einfluͤſſe der ſpaͤtern Zeit ohnehin maͤchtig hervorriefen, und den die Beſchaͤftigung mit Natur - und Heilkunde auch nur noch foͤrderte.

8

Mein Großvater ſtudirte gleich wieder auf einer proteſtantiſchen Univerſitaͤt, zu Leyden in Holland; machte dann große Reiſen, beſuchte Rußland und Oeſterreich, und wollte Wien zu ſeinem Wohnort er¬ waͤhlen, wo aber ſeine Niederlaſſung durch ausgebro¬ chene Verdrießlichkeiten mit dem beruͤhmten und ein¬ flußreichen Arzte van Swieten geſtoͤrt wurde. Er kam darauf nach Duͤſſeldorf, wurde kurpfaͤlziſcher Rath da¬ ſelbſt, und nahm, ungewoͤhnlich in der Familie, eine Frau aus weiter Fremde, die Tochter eines Kaufmanns aus St. Petersburg. Das gute Anſehen, in welchem er bei Stadt und Regierung geſtanden, verſchafften ſeiner Wittwe nach ſeinem fruͤhzeitigen Ableben die nicht unbedeutende Hofſtelle einer Oberkammerfrau (Garde des Dames) bei der Gemahlin des Kurfuͤrſten Karl Theodor von der Pfalz, deſſen Hof in Mannheim durch Kunſtbildung und Glanz ſich vor vielen aus¬ zeichnete.

Mein Vater genoß zwar auch zuerſt bei den Jeſuiten den gewoͤhnlichen Schulunterricht, doch ohne daß ihre Leitung und Geſinnung ihn einnehmen konnten, er ſtudirte dann, dem Beiſpiele der Voraͤltern folgend, die Arzneiwiſſenſchaft, erſt in Heidelberg, darauf in Straßburg und Paris, heirathete, nicht ohne Bedenken ſeiner ſehr katholiſchen Mutter, eine Proteſtantin, aus Straßburg, mit der er ſich ſchon waͤhrend der Univer¬ ſitaͤtsjahre verlobt hatte, und ließ ſich in Duͤſſeldorf9 nieder. An dieſem Orte kam ich den 21. Februar 1785 zur Welt.

1785.

Daß die Stellung der Himmelskoͤrper im beſtimmten Augenblicke der Geburt eines Menſchen auf deſſen ganzes Geſchick einen entſcheidenden Einfluß uͤbe, kann man ſchon gelten laſſen; wenigſtens liegt in dieſer An¬ nahme der Sinn eines großen Verhaͤltniſſes, in welchem der Mikrokosmus zu dem Makrokosmus unmittelbar zu ſtehen ſich wohl beruͤhmen darf. Naͤher indeß, als die Berechnung und Deutung jenes Einfluſſes der Ge¬ ſtirne, draͤngt ſich uns heutiges Tages als bedingend fuͤr das anhebende Einzelleben die Stellung der Ge¬ ſchichtsbahnen auf, in welche die neue Geburt eintritt; und von Goethe’n hierzu angeleitet, muͤſſen wir dieſen einige Betrachtung widmen, um den nachherigen Ver¬ lauf klarer einzuſehen.

Das Jahr 1785 bezeichnet, wie jeder Zeitpunkt der Geſchichte, eine ganz beſtimmte Stufe von Ge¬ wordenem und Werdendem, und darin fuͤr jeden, der dieſem Moment angehoͤrt, ein unwiderruflich gegebenes Schickſal. Was auch die Umſtaͤnde ſonſt, guͤnſtig oder unguͤnſtig, darbieten, wie auch Geſinnung und Kraͤfte innerhalb des freigelaſſenen Raumes auf die Schranken ſelbſt zuruͤckwirken, immer bleibt die allgemeine Noth¬ wendigkeit jenes beſondern Moments das Umfaſſende10 und Bedingende, dem nicht zu entfliehen iſt. Auch in meinen Lebensereigniſſen kann ich das Entſcheidende jenes Anfangspunktes uͤberall deutlich genug verfolgen, und daß ich damals, dort, und unter ſolchen Umſtaͤnden geboren wurde, erkenne ich, wenn auch nicht als meine erſte That, wie ein Freund es einſt allzuſtark aus¬ druͤcken wollte, doch als meine erſte Habe und unver¬ lierbare Mitgift, deren Signatur in allen meinen Be¬ gegniſſen ſich wiederfindet.

Das achtzehnte Jahrhundert hatte ſeine weitaus¬ ſehenden, mit allgemeiner Anſtrengung verfolgten Auf¬ gaben bereits tuͤchtig gefoͤrdert, das Muͤhſamſte und Undankbarſte ſeiner Arbeiten war gethan, das Wuͤn¬ ſchenswertheſte glaubte man nah, die bewegteſte Ent¬ wickelung war im Gange, die gewaltſamſten Erfolge aber ſtanden noch bevor. Die eigentliche Mitte, von woher eine gaͤnzliche Umwandlung aller europaͤiſchen Lebenszuſtaͤnde betrieben wurde, war Frankreich; reli¬ gioͤſe Denkart, Staatsverfaſſung, Erziehung, Geſellig¬ keit, alles wollte ſich auf neuen Grundlagen voͤllig veraͤndert erheben, die alten Verhaͤltniſſe wichen, der Staat ſelbſt erwies ſich alsbald fuͤgſam, und die leb¬ hafte, geiſtreiche, fuͤr Umgang und Mittheilung hoͤchſt ausgebildete Nation wirkte durch ihre Gaben und Thaͤ¬ tigkeit unwiderſtehlich auf die andern Laͤnder ein, ſelbſt Polen und Rußland nicht ausgenommen, welche weder entlegen genug, noch ſo weit zuruͤck waren, um ſich11 dem anmuthigen und verheißenden Einfluß entziehen zu koͤnnen. Die neue Richtung gewann die Haͤupter der Nationen, die Kaiſer, Koͤnige, Fuͤrſten, und hatte ſich der hoͤheren Staͤnde laͤngſt vollkommen bemaͤchtigt, ehe ſie zu den mittlern und untern gelangen konnte. In Nordamerika hatte dieſer Einfluß zu einer neuen Frei¬ heitsgeſtalt mitgewirkt, gegen welche die in England und Holland, in der Schweiz, und zum Theil auch in Deutſchland, beſtehenden Formen der Freiheit nur noch als ein Schein galten.

Man wuͤrde jedoch ſehr irren, wenn man den An¬ theil der Deutſchen an der umfaſſenden Arbeit dieſes Jahrhunderts fuͤr geringer halten wollte, als den der Franzoſen, obgleich der Glanz des voranſchreitenden Thuns meiſt bei dieſen war; jene hatten nicht minder einen voͤllig neuen Lebensinhalt hervorgearbeitet, der ſeiner neuen Formen harrte, und inzwiſchen nachhaltig uͤberall einwirkte, wo dieſe daheim und in der Fremde ſich oͤffneten. Der preußiſchen Monarchie leuchtete noch das letzte Jahr Friedrichs des Großen, fuͤr die oͤſter¬ reichiſchen Erblande und das deutſche Reich wirkten ſchon die lichten Beſtrebungen Kaiſer Joſephs des Zweiten. Auf groͤßeren und kleineren Thronen ſah man die Zoͤg¬ linge der Menſchenfreundlichkeit, der Aufklaͤrung, der Duldungs - und Gleichſtellungslehren; in vieljaͤhrigem Frieden war Wohlſtand, Verkehr, Unterſuchung und Einſicht aller Art gewachſen; alle Staͤnde befleißigten12 ſich der Bildung, der Ablegung von Vorurtheilen, und die Nation hatte fuͤr ihren allgemeinen Aufſchwung, fuͤr ihre Geſinnung, fuͤr ihre Gemuͤths - und Gedankenkraft, eben jetzt in Litteratur, Sprachausbildung und Kunſt¬ beſtreben ſo gluͤckliche als harmloſe Organe errungen. Indeß hielten die alten Einrichtungen noch vor, und das Leben wogte friſch und kraͤftig, aber zugleich be¬ ſcheiden und erfreulich, zwiſchen ſeinen oft ſeltſam ver¬ bauten oder ganz vernachlaͤſſigten Ufern hin.

Am Niederrhein ſchlugen die Wellen dieſer deutſchen Fluthen beſonders lebhaft und vielartig. Dem Han¬ delsverkehr mit Holland und England offen, nach Frankreich in beſtaͤndiger Theilnahme an dortiger Bil¬ dung und Mode hingewandt, von Oeſterreich in Belgien, noch naͤher von preußiſcher Macht beruͤhrt, aus fuͤrſt¬ lichen Gebieten, freien Reichsſtaͤdten, erzbiſchoͤflich-kur¬ fuͤrſtlichen und andern geiſtlichen Herrſchaften zuſammen¬ geſetzt, ritterſchaftliche, moͤnchiſche, buͤrgerfreie Elemente vereinend, boten dieſe Gegenden das wunderbarſte Ge¬ miſch von lebendiger Wechſelwirkung.

Duͤſſeldorf ragte in mancher Beguͤnſtigung hervor. Fruͤher eine fuͤrſtliche Reſidenz, und noch ſtets, wiewohl die kurpfaͤlziſche Hofhaltung immer in Mannheim blieb, als ſolche angeſehen und gehalten, als Hauptſtadt der Herzogthuͤmer Juͤlich und Berg der Sitz einer eigenen Landesregierung, nach bequemer Lage am Rheinhandel theilnehmend, heiter gebaut und fortwaͤhrend erweitert13 und verſchoͤnert, durch gebildete Einwohner von freiem und muntrem Sinn, durch zahlreiche Beamte, Militaͤr, benachbarten reichen Adel und viele Fremde belebt, welche zum Theil wegen der beruͤhmten Bildergalerie verweilten, im Winter auch wohl um des zu Zeiten wohlbeſetzten Schauſpiels willen kamen, durfte dieſe Stadt unter die vorzuͤglichſten und angenehmſten am Rhein gezaͤhlt werden. Als namhafte Repraͤſentanten dieſes Lebenskreiſes kann ich zuvoͤrderſt den Kanzler Grafen von Neſſelrode nennen, der mir als ein edles Bild hoher Amtswuͤrde und milder Vornehmheit noch vor Augen ſteht, dann ſeinen Sohn, der innig befreun¬ det mit Jakobi und in brieflichem Verkehr mit dem Grafen von Mirabeau war, den Freiherrn von Hom¬ peſch, den Hofkammerrath Beuth, der eine ſchoͤne Kunſt - und Naturalienſammlung beſaß, den Medizinalrath Brinkmann, den Regimentsarzt Naͤgele, ferner manche Offiziere, Kaufleute, Kuͤnſtler und Schauſpieler, die durch Talent und feines Betragen zu der beſten Geſell¬ ſchaft Eingang hatten; als Frauen von hoͤchſter Aus¬ zeichnung ſind zwei Graͤfinnen von Hatzfeldt, die beiden Schweſtern Jakobi’s und die juͤngere Graͤfin von Neſſel¬ rode, ſchon aus anderweitigen Erwaͤhnungen bekannt; unter den gebildeten Damen der vornehmen Klaſſe fehl¬ ten aber auch ſolche nicht, deren glaͤnzende Vorzuͤge nicht immer guͤnſtig zu beurtheilen waren.

14

Durch Jakobi’s Nennung iſt ſchon ein Mittelpunkt bezeichnet, mit dem die erſten Geiſter des Vaterlandes in Verbindung ſtanden, und deſſen Strahlen ſogar uͤber Deutſchland hinaus ſich verbreiteten. Zunaͤchſt aber ge¬ hoͤrte er durchaus dem Niederrhein und deſſen Nachbar¬ ſchaft an, indem mit Koͤln, Aachen, Koblenz, und auf andrer Seite mit Elberfeld, Duisburg, Xanten, Muͤn¬ ſter, der lebhafteſte Verkehr unterhalten wurde. In Pempelfort, neben einer bedeutenden Fabrikanſtalt, gab ein ſchoͤnes großes Wohnhaus und angenehmer Garten die reichſte Gelegenheit zur edelſten Gaſtfreundſchaft, die ſelten in ſolcher Ausdehnung mit gluͤcklichem Maß, und ohne allen Prunk ſo reichlich, ausgeuͤbt worden. Dies Verhaͤltniß war fuͤr Duͤſſeldorf, wo Jakobi ſeines Am¬ tes wegen eben ſo wie in Pempelfort zu Hauſe war, uͤberaus belebend, und Geſelligkeit, Litteratur und Kunſt¬ bildung hatten ihren feſten Anhalt an ihm. Ich habe ſpaͤterhin oft bedauert, daß von dieſem Hauſe, mit wel¬ chem doch mein Großvater ſchon wohlbekannt geweſen, mein Vater ſich aus einer ich weiß nicht welcher ſtolzen Verſtimmung zuruͤckgehalten hat. Er pflog niemals Umgang nach jener Seite hin, wiewohl er die Perſonen nach Gebuͤhr achtete, und von ihrem Daſein und Wir¬ ken vielfach beruͤhrt ſeyn mußte.

Meine fruͤheſten Eindruͤcke und Erinnerungen ſind nicht aus dem ſtaͤdtiſchen Leben, ſondern von Garten und Fluſſe her. Das kleine Haus, welches wir in einer15 Seitenſtraße bewohnten, ging ruͤckwaͤrts auf den Rhein, dem hier noch grade ſo viel Boden abgewonnen war, um ein Gaͤrtchen und ein ſchmales Weidenufer zu bil¬ den, durch einige vorgelagerte Felſenſtuͤcke gegen den Andrang des Stromes, ſelbſt bei einigem Schwellen deſſelben, ziemlich geſchuͤtzt. Aus einem Fenſter des Wohnzimmers fuͤhrten Treppenſtufen in dieſen Raum hinab, der in ſeiner engen Umhegung, nach kleinſtem Maßſtabe mit Raſen und Beeten, Straͤuchern und Baͤumchen verſehen, bei großem Himmelsblick und rei¬ cher Ausſicht aufwaͤrts auf die maͤchtig voruͤberſtroͤmende Waſſerfluth und ihre jenſeitigen Ufer, bei naͤhrend ge¬ ſunder Luft von Sonnenwaͤrme und friſchem Hauche zugleich getroffen, in ſeiner ſtillen, gedraͤngten Abge¬ ſchloſſenheit uns Kindern ein wirkliches Paradies war, und als ſolches mir noch jetzt vor Augen ſchwebt. Ich erinnere mich deutlich des genoſſenen reinſten Gluͤcks, der unſchuldigſten Freudigkeit des Gemuͤths, des klar¬ ſten Auffaſſens der Welt und des harmloſeſten Verbrin¬ gens ſchoͤner Tage. Meine Schweſter, Roͤschen genannt, um anderthalb Jahr aͤlter, gewaͤhrte mir das Gluͤck einer lieblichen, in Spiel und Ernſt gleich wohlthaͤtigen Genoſſen¬ ſchaft, und dabei eines reiferen Vorbildes, fuͤr Rath und Anhalt immer bei der Hand. Wir liebten uns wahrhaft, hatten ein unbeſchraͤnktes Kindervertrauen zu einander, und wenn ja kleine Zaͤnke eintraten, deſſen ich mich doch kaum erinnere, ſo gingen ſie ſchnell und ſpurlos voruͤber.

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Selten wagten wir die Hecke des Gaͤrtchens gegen das Waſſer hin zu uͤberſchreiten, die Gefahr ſtellte ſich uns um ſo erſchreckender vor Augen, als eines Morgens ſich ergab, daß ein Rabe, der zahm und redend uns ſo vertraut geworden als wunderbar geblieben war, ſein Gitterhaus uͤber Nacht durchbrochen, und wahrſcheinlich, da er nicht fliegen konnte, ſeinen Tod im Rhein ge¬ funden hatte. Um ſo reizender war es, wenn wir denn doch zuweilen, unter Aufſicht des Vaters, uͤber die ſtrenge Graͤnze vorgingen, das mit Weiden und Gebuͤſch bewachſene Ufer durchſtoͤrten, die daran feſtgelegten ſchwimmenden Floßbalken betraten, moͤglichſt nah die großen Schiffe und die ungeheuern Floͤße, die von vie¬ len hundert Armen fortgerudert nach Holland hinabgin¬ gen, ſtolz vorbeiziehen, Nachen heranrudern, zuweilen Schwimmer ſich ergoͤtzen ſahen, oder auch nachſinnend zu unſern Fuͤßen das lebendige Spiel der Wellen und Wirbel betrachteten, und wohl gar in das reine Waſſer unſre Stuͤcken Weißbrod eintauchten, die ſo benetzt uns das labendſte Gericht duͤnkten.

Von meinem dritten Jahre ungefaͤhr bis uͤber mein fuͤnftes hinaus ſind meine Erinnerungen in dieſer Gar¬ tenluſt zuſammengedraͤngt, als das Bild eines ununter¬ brochenen großen Sommers, ſo wie die dazwiſchenlie¬ genden Winter gleichfalls zu einem zuſammenhaͤngenden Ganzen ſich mir ausgeſchieden haben. Die Zeitbeſtim¬ mung meines fuͤnften Jahres wird mir durch den Um¬17 ſtand ſicher, daß mir ein anhaltendes allgemeines Glockengelaͤut, welches aus den kurkoͤlniſchen Ortſchaften, und beſonders, von Neuß her, lange Zeit tagtaͤglich in regelmaͤßigen Friſten erſchallte, durch ſein betruͤbendes Einerlei, das der Rhein als Leiter nur allzuhell heran¬ fuͤhrte, zur unleidlichſten Qual wurde, dieſes Gelaͤut aber geſchah wegen des Ablebens Kaiſer Joſephs, der am 20. Februar 1790 geſtorben war.

Mit dieſer ſtillen Gartenluſt wetteiferte bald ein buntes Theilnehmen an lebhafterem Verkehr. Der ſchoͤne Hofgarten wurde mit beiden Eltern und der Schweſter haͤufig beſucht, ich fing an, den Vater auf vielen ſeiner Ausgaͤnge zu begleiten, zu ſtaͤdtiſchen Beſuchen, auf das Land zur geſelligen Einkehr in nahen Gaͤrten und Doͤrfern, oder auch zu entfernteren Ortſchaften, nach Grafenberg, Benrath, Neuß, Ratingen, Zons, wohin den Vater zum Theil Amtsberuf, zum Theil das Be¬ duͤrfniß groͤßern Ausflugs fuͤhrte. Auch in das Theater, welches jeden Herbſt in Duͤſſeldorf ſich einfand, wurde ich fruͤhzeitig mitgenommen, und habe zwiſchen Mutter und Schweſter, obwohl ich ſogar letztere manchmal dar¬ uͤber laͤcheln ſah, bei ruͤhrenden Vorgaͤngen, die ich doch nur im Allgemeinen als ſolche faſſen konnte, heiße Thraͤnen geweint.

Was aber inmitten aller dieſer Dinge meinen Sinn und ganzes Daſein außerordentlich erhob, und meinem Bewußtſein einen ungewoͤhnlichen Schwung gab, warII. 218die Sonderbarkeit, daß ich, wenigſtens zum Ausgehen, als Tuͤrke gekleidet war. Das achtzehnte Jahrhundert hatte in ſeinen Zuͤgen, ehe ſie ſchrecklich wurden, unge¬ mein viel Kindiſches, beſonders in Deutſchland, wo die Vorſtellungen und Triebe eines lebhaft angeregten Beſſern, zu dem man ſtrebte, fuͤr die Ausuͤbung in die engſten Schranken geklemmt waren, und da, wo ſie ſich nun doch Luft machten, oft nur als naͤrriſche Spie¬ lereien hervorkamen. Sprachbildung und Kinderzucht waren die jedem Thaͤtigen am naͤchſten offnen Gebiete; wer ſonſt nichts konnte, machte ſich eine eigne Ortho¬ graphie, worin die Deutſchen, zwiſchen den ſiebzig und neunziger Jahren, zahlloſe Verſuche angeſtellt, oder bearbeitete ſeine Kinder, was niemand wehren konnte. Durch Jean Jacques Rouſſeau's dringende Mahnungen war man auf bequeme, der Geſundheit vortheilhafte Bekleidung der Kinder allgemein bedacht, er ſelbſt trug ſich armeniſch, die orientaliſche Tracht uͤberhaupt hatte unlaͤugbare Vorzuͤge, und mit ihr ſtimmten die neuauf¬ gebrachten Kleidungsſtuͤcke wenigſtens in Weite und Fuͤlle uͤberein. Es war nur ein Schritt auf dieſem Wege weiter, machte aber dennoch allgemeines Aufſehn, als mein Vater, mit eigengeſinnter Kuͤhnheit, ſeinen Kna¬ ben voͤllig tuͤrkiſch gekleidet einhergehen ließ. Ich war lange Zeit fuͤr Erwachſene und Kinder ein Gegenſtand des Staunens, des Bewunderns, wohl auch des Nei¬ des, denn mein Kaftan und meine Schaͤrpe leuchteten19 in buntem Glanz, und mein Bund war mit Perlen und Steinen reich beſetzt. Das Aergerniß einiger pfaͤffiſch¬ geſinnten Leute, welche von ſolcher, den Unglaͤubigen nachgeahmten, Kleidung auch auf die unchriſtlichen Grundſaͤtze ſchließen wollten, die ſich darin argwoͤhnen ließen, konnte nur den Trotz verſtaͤrken, und die Be¬ friedigung erhoͤhen, welche mein Vater dabei empfand, daß dieſer Augenſcherz auch ein erfreuliches Bild ſein wolle, das auf die allgeprieſene Toleranz ſo gluͤcklich hindeutete.

Ein Gefuͤhl von Einſamkeit, das ich freilich damals mir nicht deutlich zu machen wußte, begleitete mich aus der Stille auch in Geraͤuſch und Laͤrm. Ich hatte keine eigentliche Spielkammeraden, nur gelegentlich und auf abgeriſſene Stunden fand ich ſolche Geſellſchafter; meine Sinnesart und Tagesgewoͤhnung aber floß nie mit der ihrigen zuſammen, ich behielt in der groͤßten aͤußern Hingebung innerlich etwas Fremdes gegen ſie, wie uͤber¬ haupt etwas Abſonderndes gegen die Welt und ihre Darbietungen. Meinem Vater hing ich mit der groͤ߬ ten Zaͤrtlichkeit an, und ich hatte ein unbegraͤnztes Ver¬ trauen zu ihm; allein daſſelbe ſollte ſchon fruͤh durch einen Vorfall betraͤchtlich leiden.

Eines Tages, bei ſchoͤnem Sonnenwetter, trafen wir auf dem Grafenberg eine muntere Geſellſchaft, wor¬ unter auch mehrere unſrer Schauſpieler und Schauſpie¬ lerinnen. Nichts konnte reizender fuͤr mich ſein, ich2 *20fand unter dieſen wunderbaren Weſen meine Lieblinge leicht heraus, und konnte mich beſonders an einer Ma¬ dame Lange gar nicht ſatt ſehen. Ich hatte fuͤr ſie ein ſo eignes und ſtarkes Gefuͤhl, daß ich dem Beduͤrfniſſe, davon zu reden, nachgeben mußte, ich zog meinen Va¬ ter abſeits, und vertraute ihm ſo bewegt als verſchaͤmt, daß ich in dieſe Dame verliebt ſei. Schon ſein Lachen uͤber die Eroͤffnung machte mich betroffen, nichts aber glich meiner Beſtuͤrzung und meinem Aerger, als er, der Geſellſchaft mich wieder zufuͤhrend, der Dame vor dem ganzen Kreiſe nun laut mittheilte, welche Erobe¬ rung ſie gemacht, und ich darauf mich den Gegenſtand vielfachen Scherzes werden ſah. Ich war empoͤrt uͤber dieſen Mißbrauch meiner Zutraulichkeit, und verdachte meinem Vater um ſo mehr ſein gegen mich begangenes Unrecht, als mir auch hoͤchſt empfindlich auffiel, daß die ſchoͤne Frau durch jene Entdeckung zu keiner weitern Aufmerkſamkeit fuͤr den Knaben veranlaßt wurde; haͤtte ſie mich wenigſtens an ſich gezogen, mir geliebkoſt und mich gekuͤßt, wie ich es nun faſt erwartete, ſo haͤtte ich mir den Erfolg der Sache noch gefallen laſſen, die mir jetzt, da ſie durch Gleichguͤltigkeit von der einen und Scherz von der andern Seite nur verwundend fuͤr mich war, den Reſt des Tages verdarb. Ich hatte nun ſchnell und gruͤndlich gelernt, daß es Regungen gebe, die man, um ſicher zu ſein, ganz fuͤr ſich bewah¬ ren und gegen niemand aͤußern muͤſſe. Die Erfahrung21 wurde von andrer Seite her durch Eindruͤcke verſtaͤrkt, wo Nachdenken und Schweigen vereint die Folge waren.

In meine fruͤhere Kindheit faͤllt auch ein Beſuch im Kloſter zu St. Barbara-Garten in Rheinberg, wo meines Vaters Schweſter Eleonora Nonne war. Dieſes fuͤr adelige Fraͤulein beſtimmte Kloſter war ihr durch die Gunſt des Hofes eroͤffnet worden, wiewohl ſie keine Ahnenprobe ablegen konnte, und leicht entſchloß ſich die jugendlich Unerfahrne zum dargebotenen Seligkeitswege. Schon als Novize jedoch ſoll ſie ihren Entſchluß bereut haben, den ſie aber dennoch, aus Scham und Rath¬ loſigkeit, unwiderruflich ausfuͤhrte. Wir fanden ſie noch jugendlich ſchoͤn, freundlich vornehmen Weſens, gefaßt und leidlich zufrieden. Sie ſpielte die Orgel vorzuͤglich gut, zeichnete und ſchrieb vortrefflich gut, und wußte ſich auch außer ihrem geiſtlichen Berufe ſo wuͤrdig als angenehm zu beſchaͤftigen. Mein Vater, den ſie Herr Bruder und Sie nannte, ſprach mit ihr allein, fragte genau nach ihrem Zuſtande, und erbot ſich, ihr aus dem Kloſter herauszuhelfen, ſobald ſie es verlange; er machte ſich anheiſchig, dieſes, wenn nicht im Guten, wie er hoffte, auch mit Liſt und Gewalt durchzuſetzen, und fuͤr ſolchen aͤußerſten Fall gewaͤhrte die Naͤhe der preußiſchen Graͤnze die beſte Zuflucht und Sicherheit. Das Anerbieten wurde indeß mit Dank abgelehnt, die Tante hatte ſich in ihr Verhaͤltniß gefunden, und wußte ein anderes ſich weder vorzuſtellen noch zu wuͤnſchen.

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Dies alles wurde mir natuͤrlich erſt ſpaͤterhin er¬ zaͤhlt; damals erfuͤllte mich nur der Eindruck der ſchoͤnen Raͤume, die gute Bewirthung und froͤhliche Beſuchge¬ ſellſchaft, die ſich von mehreren Seiten zahlreich einge¬ funden hatte, ſo wie die einladenden Spielplaͤtze in Hof und Garten, wo man den ſchoͤnſten Nachmittag im Freien genoß. Ein ſchauerlicher Reiz von Ernſt und Abgeſchloſſenheit, worauf doch manches in dem Kloſter¬ weſen deutete, ſo wie einzelne Worte von Mitleid und Bedauern, die ich fuͤr die armen Nonnen hatte aͤußern gehoͤrt, machten mir doch am Abend die Ruͤckfahrt ganz lieb.

Das Geſchick der guten Tante erfuhr ſpaͤterhin noch die trauervollſte Wendung. Sie erblindete, und ihre Geiſteskraͤfte wurden ſchwach. Sei es, daß ihrem Zu¬ ſtande an ſich eine ſtrenge Behandlung in den Augen der uͤbrigen Nonnen gemaͤß duͤnkte, ſei es, daß eine aus fruͤherer Abneigung gegen das Kloſter jetzt wieder¬ erwachende Unzufriedenheit ſich in Aeußerungen zeigte, die man als widerſpenſtige beſtrafen zu duͤrfen glaubte, genug die Ungluͤckliche wurde von den Schweſtern grau¬ ſam in ein abgelegenes, dunkles, faſt unterirdiſches Gemach verſtoßen, wo ſie in troſtloſer Einſamkeit unter den haͤrteſten Entbehrungen viele Jahre zubrachte. Ihr juͤngerer Bruder, als Profeſſor in Koͤln lebend, wollte ſie mehrmals beſuchen, konnte aber nie bis zu ihr drin¬ gen, wie ſehr er auch darauf beſtand, ſie wenigſtens zu23 ſehen. Nachdem aber die Franzoſen jene Laͤnder als Sieger beſetzt hatten, nahm er die Gelegenheit wahr, und eines Tages, von franzoͤſiſchen Beamten und Gen¬ darmen begleitet, forderte er unvermuthet im Namen der Obrigkeit augenblicklichen Einlaß, der nun nicht zu verweigern war; die Nonnen fanden keine Friſt zu irgend einer Vorbereitung, man draͤngte ſie, und folgte ihnen auf dem Fuße, und ſo mußten ſie ungemildert den jammervollſten Anblick offenbaren. Auf bloßer Erde ſaß die Unſelige ohne alle Bekleidung; kein Gewand, kein Stroh, weder Tiſch noch Stuhl, nur die nothduͤrf¬ tigſten Gefaͤße! Man brachte ihr zu eſſen, die Nonnen boten ihr zwar Loͤffel und Gabel dringend an, ſie aber achtete nicht darauf, ſondern nahm die Speiſen eilig mit den Fingern, ſchon laͤngſt jener Werkzeuge entwoͤhnt, wie ſich jetzt deutlich ergab, ſo gern die harten Schwe¬ ſtern es verbergen wollten. Als der Bruder ſie anre¬ dete, erkannte ſie ſogleich ſeine Stimme, weinte, be¬ jammerte ihren Zuſtand, wollte aber niemand anklagen, und wuͤnſchte nur, es moͤchte ihr fortan etwas beſſer gehen. Sie war allerdings ſchwachſinnig und abge¬ ſtumpft, wer weiß ob nicht zumeiſt in Folge der langen ſo ſchrecklich hingebrachten Leidensjahre, aber durchaus nicht raſend, wodurch allein ſolche Einkerkerung und Entbloͤßung noch waͤre ſcheinbar zu begruͤnden geweſen; ihre Freundlichkeit und Sanftmuth, im Gegentheil, blie¬ ben ſich durch alle Folgezeit unveraͤndert gleich, und24 Werke der Andacht und frommer Milde fortdauernd ihre troͤſtliche Beſchaͤftigung. So lebte ſie zu Koͤln in einer Stiftung, wohin ſie auf Koſten des Kloſters verſetzt worden war, noch viele Jahre in ſchwachem doch leidli¬ chen Zuſtande, ſtill und ſanft, erfreut durch den oͤftern Beſuch des Bruders und der Frau und Kinder deſſel¬ ben, mit denen ſie ſich zwar wenig aber doch gern unterhielt, und ſtarb eines ſeligen Endes verſichert um das Jahr 1814 in hohem Alter.

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Jugendfreunde.

Berlin, 1803. 1804.

Selten moͤgen einem Menſchen ſo begluͤckte Lebensauen ſich ausbreiten, als mir der Zeitraum darbot, in wel¬ chen ich, vom Ende des Maimonats bis tief in den Sommer hinab, mit allen Kraͤften und Entzuͤckungen der Jugend jetzt einging! Durch mein Verhaͤltniß fand ich mich grade nur in ſo weit gebunden, um Anhalt und Maß fuͤr das hoͤchſte Freiheitsgefuͤhl zu haben, meine Pflichten bezeugten mir nur meine Selbſtſtaͤndigkeit, ich genoß zum erſtenmal die Vollempfindung des perſoͤn¬ lichen Daſtehens und Geltens. Was ich war, dachte, urtheilte, wuͤnſchte und that, rechnete mir niemand mit fremder Vorſchrift in der Hand nach, ſuchte niemand durch aͤußere Ruͤckſichten und Zwecke beengend nieder¬ zuhalten; meine Eigenſchaften, die bisher gleichſam hin¬ ter ihrem Ertrag und ihrer Leiſtung hatten zuruͤckſtehen muͤſſen, konnten nun als ſie ſelbſt hervortreten, mein eignes ungeſtoͤrtes Weſen durfte mir Quell und Spie¬26 gel jedes Antriebs und jeder Handlung ſein. Dieſes Gefuͤhl haͤtte in jedem Fall das Ergebniß meiner ver¬ aͤnderten Lebensſtellung ſein koͤnnen, daß ihm aber durch eine Dauer von Monaten eine nur ſtets geſteigerte Ge¬ waͤhrung entſprach, war die Folge des gluͤcklichſten Zu¬ ſtroͤmens von Beguͤnſtigungen, wie ſie nicht oft ſich vereinigen wollen!

Ich muß zuerſt als eines wunderbaren Reizes, der in taͤglich erneutem Werthe ſich als unſchaͤtzbar erwies, der Lokalitaͤt gedenken, welche nicht gluͤcklicher ſein konnte. Schloßartige Wohnung, weit uͤber das Beduͤrfniß hin¬ aus geraͤumig und vielfach, im Innern mit allem Behoͤr einer behaglichen, theils hollaͤndiſchen, theils engliſchen Lebensart verſehen, erhob ſich, auch fuͤr den aͤußern Anblick bedeutend und geſchmackvoll, zwiſchen tiefem Vorhof und ausgedehntem Garten. Von der Straße zuruͤckgezogen wandte ſich das ganze Leben des Hauſes um ſo entſchiedener nach der Gartenſeite hin. Schattige Gaͤnge, Raſenplaͤtze, hochſtaͤmmige Baͤume und mannig¬ faches Gebuͤſch, Blumenbeete, Obſt - und Kuͤchenpflan¬ zungen, zuletzt ein Pavillon zwiſchen Treibhaͤuſern, gaben dem weiten Raume in ſinniger Anordnung die heiterſte Mannigfaltigkeit, und dieſer gruͤnende und bluͤhende Bezirk gab jedem Tag und jedem Augenblicke die nahe, offne und lockende Gelegenheit zu dem reinſten Genuſſe, welcher das Herz erfreuen kann, zu dem Genuſſe der Jugend und des Sommers in ihrem ſchoͤnſten Verein.

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Waͤhrend der erſten Zeit ſchlief ich nach dem Gar¬ ten hinaus, in einem Saale, der als phyſikaliſches Ka¬ binet diente. Mit dem fruͤhſten Tage, vom Glanze der bewegten Wipfel, von den Stimmen der Voͤgel, dem erquickenden Morgenhauche getroffen, ſtand ich lebens¬ froh auf, eilte in das thauige Gruͤn, fruͤhſtuͤckte dort oder am offenen Fenſter des Bibliothekzimmers, und hatte mit wechſelndem Entzuͤcken ſchon viel geluſtwandelt und geleſen, wenn nach und nach das uͤbrige Haus erſchien, und die Geſchaͤfte und Pflichten des Tages ſich mahnend einſtellten. Faſt kein Tag verging ohne Geſellſchaft, theils in der Stadt, theils auf dem Lande. Graf Alexander zur Lippe, Profeſſor Darbes, Graf Caſa-Valencia von der ſpaniſchen Geſandtſchaft, die herrliche Saͤngerin Marchetti-Fantozzi nebſt dem italiaͤ¬ niſchen Dichter Filiſtri, lernte ich in dieſem Kreiſe kennen, auch dem damals jugendlichen und geiſtesregen Adam Muͤller und der von ihm gefuͤhrten Madame San¬ der, die als ſchoͤne Frau durch den Ruf mir ſchon be¬ kannt war, begegnete ich hier zuerſt, nicht ohne wech¬ ſelſeitige Anziehung. Graf Alexander zur Lippe, edel, zartſinnig, gebildeten und ſtrebenden Geiſtes, aber auch wirrkoͤpfig, einbilderiſch und abſchweifend, lebte in em¬ pfindſamſter Seelenſchwingung, und verbreitete Ruͤhrung und Innigkeit um ſich her, die aber bei leiſen Anlaͤſſen wunderlich aus der unbefriedigten Spannung auch in Schaͤrfe und Saͤure umſchlugen, womit er ſich und28 Andre dann nicht wenig quaͤlte, bis man ihn wieder, was nicht ſchwer wurde, auf Scherz und Laune zuruͤck¬ brachte. In erhabenen Freundſchaften lebte er mit edlen Frauen; einen abweſenden Freund, Herrn von Brockes, fuͤhrte er bei jeder Gelegenheit zaͤrtlichſt im Munde; auch mit mir tauſchte er jetzt Haͤndedruck und Ver¬ trauensworte, und durchflocht meine Neigungen und ſeine; die Leidenſchaft, zu welcher eine jugendliche Schoͤne ihn entflammt hatte, verbarg er keineswegs, wenn auch die letztere ſelbſt als ein zartes Geheimniß verſchwiegen blieb.

Einen neuen Mitſtrebenden entdeckte und gewann ich in einem jungen Manne, der in dieſem Hauſe von Kind¬ heit an lebte, wie ein Sohn gehalten wurde, und auf dem Komtoir beſchaͤftigt war, aber ſich außer den be¬ ſtimmten Zeiten wenig ſehen ließ, und uͤberhaupt in ſeiner ſchweigſamen Stille ſich kaum bemerkbar machte, obgleich er fuͤr durchaus klug und kundig galt. Eines Tages fuͤhrte zufaͤlliges Geſpraͤch uns naͤher zuſammen, wir vertieften uns in Betrachtungen des Lebens und der Poeſie, ſeine Verſchloſſenheit hielt gegen meine an¬ dringende Waͤrme nicht aus, er bekannte mir, daß auch er dichte, und wollte mir ſeine Erzeugniſſe nicht vor¬ enthalten. Seine Gedichte waren klar und empfindungs¬ voll; ſie entzuͤckten mich; und als ich den Andern meine gemachte Entdeckung mittheilen, ihnen die Verſe wieder¬ holt vorleſen durfte, wollte man das Wunder kaum29 glauben; vereinigte ſich aber bald in Lob und Beach¬ tung des aus ſeinem bisherigen Inkognito hervorge¬ tretenen Dichters, und ich genoß die reinſte Freude, in Wilhelm Neumann einen ſo wuͤrdigen als faͤhigen Freund erworben zu haben. Daß er eine Neigung im Herzen hegte, war nicht aus ſeinen Gedichten allein zu ge¬ wahren; ſeine Gewoͤhnung zu ſchweigen ließ jedoch kei¬ nen naͤheren Aufſchluß erfolgen, erſt ein Jahr ſpaͤter wurde dieſer mir durch ungluͤckliche Umſtaͤnde enthuͤllt; inzwiſchen war die ganze Gemuͤths - und Geiſtesſtim¬ mung von dieſer innern Waͤrme belebt und erhoͤht.

Neues Zuſtroͤmen erfolgte zu dieſen ſchon anſchwel¬ lenden poetiſchen und ſentimentalen Fluthen durch die Bekanntſchaft, die mir nach einiger Zeit in Charlotten¬ burg mit einem preußiſchen Offizier zu Theil wurde, der, auf die erſten leiſen, gleichſam freimaureriſchen Zeichen einer ſolchen Bruͤderſchaft, ebenfalls ganz un¬ vermuthet ſich mir als Dichter enthuͤllte, und zwar als einer von der ſeltſamſten Art, die groͤßtentheils ſchon darin begruͤndet lag, daß dieſer deutſche Dichter eigent¬ lich ein Franzoſe war. Herr von Chamiſſo hatte als Knabe mit ſeinen Aeltern die Heimath beim Ausbruche der Revolution verlaſſen, war als Emigrirter nach Ber¬ lin gekommen, hier bei der verwittweten Koͤnigin als Page und darauf als Offizier im Infanterieregiment von Goͤtz angeſtellt worden, und in dieſem Verhaͤltniſſe ge¬ blieben, waͤhrend ſeine Familie, gleich den meiſten andern30 Emigrirten, denen es geſtattet war, begierig das Vater¬ land wieder aufgeſucht hatte. Den Franzoſen konnte Chamiſſo in keinem Zuge verlaͤugnen. Sprache, Be¬ wußtſein, Sinnesart, Memoiren und Wendungen, alles erinnerte an ſeine Herkunft, nur war ſein ganzes Weſen dabei mit einer beſondern, ſeinen Landsleuten ſonſt nicht grade eignen Ungeſchicklichkeit behaftet, die doch viele Gewandtheiten und Fertigkeiten gar nicht ausſchloß, ſondern ihnen nur etwas Wunderliches zugeſellte, wor¬ aus denn allerlei hervorging, was er ſelbſt oder Andre als Unfall oder Uebelſtand zu tragen hatten. Seine langen Beine, die knappe Uniform, der Hut und Degen, der Zopf, der Stock und die Handſchuhe, alles konnte ihm unvermuthet Aergerniß machen; am meiſten aber und ſichtbarſten kaͤmpfte er mit der Sprache, die er unter gewaltigen Anſtrengungen mit einer Art von Meiſter¬ ſchaft und Gelaͤufigkeit radebrechte, welches er auch in der Folge zum Theil beibehalten mußte. Er hatte deutſche Lieder und Elegieen gedichtet, ſogar einen Fauſt in Jamben angefangen, und ich hoͤrte mit Staunen und Bewunderung, was er davon mit ſeiner zerquetſchenden Ausſprache, in einer Thuͤr ſtehend, und den Durchgang hemmend, mir aus dem Gedaͤchtniß herſagte. Auch dieſer Poeſie wurde ich ſogleich ein ruͤhmender Verbreiter, und alsbald des Dichters, der ſich als der bravſte Kerl von der Welt zu erkennen gab, vertrauter Herzens¬ bruder. Die deutſche Bildung und Sprache waren der31 Gegenſtand ſeiner tiefſten Verehrung und Sehnſucht, und unſre Beſtrebungen in dieſem Gebiete arbeiteten ſeitdem im foͤrderlichſten Verein. War aber ſein Geiſt durchaus den Deutſchen zugewandt, ſo hatte doch in ſeinem Herzen eine ſchoͤne Landsmaͤnnin den Vorzug behalten, welche durch Schickſale hierher verſchlagen war; ſie vereinte mit tiefer Schoͤnheit eine ſeltne Bildung, wie ſie denn Engliſch und Italiaͤniſch vollkommen ſprach, und eben ſo den Shakſpeare und Taſſo wie ihren Racine las. Ihre Auszeichnung und Lage deutete auf hoͤhere, doch ungluͤckliche Verwickelungen, deren Geheimniß aber, aller Forſchungen ungeachtet, ſtets bewahrt geblieben.

Unſer verſtaͤrkter Bund gerieth nun in thaͤtige Be¬ wegung, wir bereicherten durch Austauſch unſre Gefuͤhle und Anſichten, theilten einander unſre Schriftſteller mit, und ſuchten uns gemeinſchaftlich zur Hoͤhe der Littera¬ tur emporzuheben. Ich begann Klopſtock, Voß und Wieland weniger feſtzuhalten, wiewohl ich ſie nicht auf¬ gab, ſondern ihren ſchon mißkannten Werth noch mit Gluͤck behauptete, ſelbſt einmal gegen Adam Muͤller, der mir auch Hoͤlty, Salis und andre ſolche noch ein¬ raͤumen mußte. Dagegen ſtieg Schiller maͤchtig empor, und alle uͤberragte mehr und mehr Goethe, deſſen Schriften, und beſonders Wilhelm Meiſter, unſre Haupt¬ buͤcher wurden. Die Paradoxen des Athenaͤums und die Spruͤche des Novalis fuͤhrte hauptſaͤchlich Lippe bei uns ein, die Gedichte von Wilhelm Schlegel las ich32 ſtill und laut zu vielenmalen. Neumann hatte ſich man¬ ches von Tieck erſehen; Schleiermacher wurde genannt, ich erhielt ſeine Monologen zum Geſchenk, und dieſer ſtrenge, aber ſchwungvoll ausgedruͤckte wiſſenſchaftliche Inhalt wurde mit dem lyriſch-ſentimentalen des Hoͤl¬ derlin’ſchen Hyperion als gleichartige Erquickung von uns Duͤrſtenden genoſſen. Wir hatten Alle erſtaunlich viel zu lernen, und nicht bloß nach innen, ſondern auch nach außen hin zu lernen, um unſrem geiſtigen Erſchauen die erforderliche Unterlage zu geben, und dieſes Lernen konnte fuͤr uns nur aus fortwaͤhrendem Erleben und Betreiben hervorgehen. Wir ſahen einander bei allen Gelegenheiten; jeder ſonſt gleichguͤltige Beſuch, jede Fahrt uͤber Land, jedes Geſchaͤft wurde uns bedeutend und fruchtbar, und wir waren weit entfernt, dieſe Bildungs¬ ſchule unangenehm zu finden, ſo ſehr wir deren Maͤn¬ gel in Betreff der wuͤnſchenswerthen gelehrten Kennt¬ niſſe und Uebungen einſahen. Die Geſellſchaft gewann durch dieſe geiſtige Bewegung zuſehends an Leben und Reiz, und die Spruͤche des paradoxen Ernſtes, die Ein¬ faͤlle der Laune und des Witzes fielen ſo reichlich ab, daß wir anfingen, ſie in ein kleines, zu dieſem Zwecke gehaltenes blaues Heft zu ſammeln, wo beſonders die wunderlichen und oft ungemein treffenden Schlagworte Lippe’s ſich anhaͤuften. Die Frauen behaupteten in dieſem Treiben ihre Stelle, und waren ihm nach Kraͤf¬ ten foͤrderlich, wiewohl ſchon mitunter einige Regungen33 zuckten, die wegen des Weitergehens bedenklich machen konnten, denn eine der erſten Wirkungen unſrer wett¬ eifernden Thaͤtigkeit mußte ſein, daß wir gewahr wur¬ den, wir ſeien bisher, wie in der Litteratur, ſo auch im Leben, allzu zahm und billig geweſen, und nun annahmen, wir duͤrften vieles keck als gemein und ge¬ ring verwerfen, was wir bisher geachtet, und muͤßten uns, um nicht als geduldige Haſenfuͤße zu gelten, als ſtoͤßige Boͤcke gebaͤrden. Die Schlegel’ſchen Geſinnun¬ gen und Beiſpiele hatten viel Verfuͤhreriſches fuͤr junge Leute, welchen, bei ſchon befeſtigter Bildung, ihre ab¬ getragenen Unarten als etwas doch vielleicht Geniales zum nochmaligen Wiederanprobiren noch nicht zu entfernt lagen. Aber wir hielten, gutgeartet und brav, uns bei allen Lockungen doch beſcheiden genug.

In dieſe chaotiſche Gaͤhrung, aus der ſich nach Zu¬ fall und ohne Ziel und Ordnung alles neu geſtalten ſollte, fiel uns zum Gluͤck bald ein ſtaͤrkeres Licht der Autoritaͤt, durch welche, neben ſo vielem Schwankenden und Verworrenen, auch wieder Feſtigkeit und Zuſammen¬ hang vor Augen ſtand. Ich lernte naͤmlich Fichte’n kennen. Eine Dame, die ich oͤfters beſuchte, lud mich mit ihm zuſammen in ihre Loge, um die Braut von Meſſina zu ſehen. Spaͤterhin ſahen wir ebenſo die Eugenie von Goethe. Mit Ehrfurcht huldigte ich dem tiefen Geiſt und großen Karakter, mit Freimuͤthigkeit forderte und beſtritt ich ſeine Ausſpruͤche, ſoweit meineII. 334Kraͤfte reichten. Er ließ mich freundlich gewaͤhren, und beſchied mich wohlwollend in ſeine Wohnung. Hier ſah ich einen Weiſen, deſſen Handlungen mit ſeinen Worten und Lehren Eins waren, und der vom Lichte der Ge¬ danken wie von ſittlicher Wuͤrde ſtrahlte. Willig gab er mir Beduͤrftigen ſeine leitenden Rathſchlaͤge, ließ ſich auf das Einzelne meiner Lage und meiner Studien mit mir ein, empfahl mir dringend das klaſſiſche Alterthum, ſagte mir gradezu, ich muͤſſe vollſtaͤndiger die Roͤmer und gruͤndlich die Griechen kennen lernen, zeigte mir Ziel und Weg, gebot ſtrengen Wandel und eiſernen Fleiß, und wies mich dagegen fuͤr jetzt noch von aller Bemuͤhung mit eigentlicher Philoſophie entſchieden zuruͤck. Ich glaubte einen goͤttlichen Mann vor mir zu ſehen, wenn er ſo ſprach, die Gradheit und Redlichkeit leuch¬ teten ihm aus den Augen, und liebevolle Guͤte beglei¬ tete ſeinen erhabenen Ernſt. Wenn ſeinen Ermahnungen ganz nachzuleben auch weder mein Sinn noch ſelbſt die Gelegenheit erlaubte, ſo blieb doch dies Vorbild tief in meiner Seele, und ich nahm von Zeit zu Zeit immer meine Zuflucht zu dem herrlichen Mann, der dann jedesmal mit Nachſicht und Kraͤftigung meinem guten Willen beiſtand. Auch Chamiſſo machte ſeine Bekannt¬ ſchaft und erfuhr gleiche Einwirkung von ihm, die andern Freunde nicht minder, und fuͤr uns Alle blieb fortan uͤber allem truͤben irren Gewoge des Lebens dieſer Stern in hellem Glanze leuchtend und leitend, zu dem wir35 zuverſichtlich emporblickten, um uns zum Rechten und Wahren zu vereinigen und zu ſtaͤrken.

Fuͤr mich gab es in meinen Verhaͤltniſſen fortwaͤhrend Ertrag genug, um von dem, was ſich Widriges und Laͤſtiges andraͤngte, mich nicht gaͤnzlich befangen zu laſſen. Eine Fahrt nach Potsdam ließ uns heitre geſellige Freude an dieſem ſchoͤnen Orte genießen, und ich wurde mit dieſem denkwuͤrdigen Aufenthalt eines großen Koͤnigs umſtaͤndlich bekannt. Ich ſah Fichte'n von Zeit zu Zeit, und immer mit nachhaltiger Herzſtaͤrkung. Mit den juͤngern Freunden ging der poetiſche Verkehr lebhaft fort, und unſre Poeſie athmete nicht blos in unſern Gedichten, ſie war das Element, in welchem wir lebten. Mit Chamiſſo knuͤpften ſich die Bande ſtets feſter. Da¬ gegen war mit Lippe mehrmals Gefahr voͤlliger Ent¬ zweiung, er nahm alles uͤbel, auch die Erwiederung deſſen, was er doch ſelbſt eben veruͤbt hatte, und einſt ging er in duͤſtrer Wuth grimmig von mir weg, weil ich ihm den ſchlechten Spaß, daß er mir den Knoten der Halsbinde im Geſpraͤch neckend geloͤſt hatte, nicht ohne die gleiche Vergeltung hingehen ließ; da er dann ſchmerzlich bei Chamiſſo klagte, daß ich ihn haͤtte erwuͤrgen wollen, bis dieſer von mir den Anlaß erfuhr, und mit mir daruͤber lachte, ja ſogar einige heroiſche Verſe da¬ ruͤber lieferte. Dergleichen beguͤtigte ſich doch auf der Stelle wieder, und ſolche Vorfaͤlle und Begegniſſe trugen3 *36unſrem Zuſammenleben nur eine ſtaͤrkere Unterlage von Geſchehenem und Verarbeitetem zu.

Aber auch an wichtigen Gegenſtaͤnden konnt ich meine Betrachtung in dieſer Zeit uͤben. Unerwartet fand ich mich mit der Freimaurerei beſchaͤftigt. Ich hatte gehoͤrt, daß Fichte, nachdem er weder bei den Gelehrten noch beim großen Publikum hatte durchdrin¬ gen koͤnnen, zu dem Verſuche gekommen war, ſeine Lehre dem Freimaurerorden zur Pflege und Ausbreitung zu uͤbergeben, und dieſem ſelbſt dadurch eine neue Weihe zu verſchaffen. Der Gedanke, dieſe geheimnißvolle Ge¬ ſellſchaft, die ſich in ihrer eignen Geſchichte und Bedeu¬ tung laͤngſt nicht mehr zurecht zu finden ſchien, und deßhalb nach Umſtaͤnden, bald abentheuerlicher Sehnſucht, bald menſchenfreundlichen Allgemeinheiten ihre weite Form und bequeme Maſſe leihen mußte, dieſen in allen Welt¬ theilen wirkſamen Bund von Verbruͤderten zu einem Organ der Philoſophie zu machen, die Stufen ſeiner Weihe nach dem Lichte der Wiſſenſchaft beſtimmen zu laſſen, und gleichſam ein Pythagoraͤiſches Inſtitut in unſrer Zeit wieder hervorzurufen, ein ſolcher Gedanke hatte allerdings etwas Großes und Lockendes, womit grade ein Fichte die hoffnungsvollſten Ausſichten ver¬ binden durfte. Freilich war die Sache gleich bei der erſten Beruͤhrung voͤllig geſcheitert, und es zeigte ſich, daß man uͤber die Faͤhigkeit des Ordens wie uͤber die Stimmung der Mitglieder durchaus falſch geurtheilt hatte,37 und daß die Zwecke, Gewohnheiten, Liebhabereien und Kaͤmpfe der Loge auf tauſend Meilen von der Wiſſen¬ ſchaftlehre abſtanden. Aber daß Fichte auch nur einen Augenblick hatte glauben koͤnnen, hier feſten Grund zu finden, gereichte noch immer bei uns der Maurerei zum Ruhme, und durfte das Intereſſe naͤhren, mit welchem gelegentlich die Geheimniſſe zur Sprache kamen, uͤber die man am liebſten doch perſoͤnlich zu erfahren wuͤnſchte, wie es damit beſchaffen und was eigentlich daran ſei. Meine Aufmerkſamkeit war durch obige Erwaͤhnung wieder auf die Freimaurerei gewandt, und ich aͤußerte wohl einmal die Ungeduld, noch nicht das in Preußen geſetzlich erforderte fuͤnfundzwanzigſte Lebensjahr erreicht zu haben, um zu dieſen Myſterien zutrittfaͤhig zu ſein.

Dies war nicht unbeachtet geblieben. Profeſſor Darbes, ein nicht ungeſchickter Portraitmahler, vorzuͤg¬ lich aber als heitrer und kundiger Lebemann geſchaͤtzt und geſucht, war in der Berliner Geſellſchaftswelt ſehr ausgebreitet; ſeine Kunſt, ſein unterhaltender Humor, ſeine gewandte Sprechfertigkeit, und beſonders auch die Freimaurerei, welche er von Grund aus zu kennen und mit Eifer zu treiben im Rufe ſtand, gaben ihm in den vornehmſten wie in den mittlern Kreiſen leichten Zutritt und ein gewiſſes Anſehn. In Kopenhagen geboren, von katholiſchen Aeltern ſtammend, die ihn zum geiſt¬ lichen Stande beſtimmt hatten, aber bald verwaiſt und fruͤh in die Weltſchule gekommen, hatte er ſich in38 St. Petersburg und Riga, wo er am meiſten gelebt, fran¬ zoͤſiſche Denkweiſe, Bildung und Betragen, wie ſie in der vornehmen Geſelligkeit andrer Nationen wiederzu¬ finden waren, und ebenſo den vollkommen freien Ge¬ brauch der franzoͤſiſchen Sprache, gluͤcklich angeeignet; die Freimaurerei fuͤgte ſo vielen Leichtfertigkeiten einen gewiſſen Ernſt und feierlichen Hintergrund bei, wodurch die ganze Perſoͤnlichkeit eine vortheilhafte Bildung erhielt. Man konnte ihn fuͤr einen Abbé halten, fuͤr einen klugen und ausgearbeiteten, dem das Geiſtliche nur ein Mittel zum Weltlichen iſt. Er war ein kleiner, blonder, raſcher Mann, auf magern aber breit und feſt geſtellten Beinen mit zuruͤckgebogener Haltung einen etwas haͤngenden Leib und ein zugeſpitztes kahles Haupt tragend, von ſtrenggehaltener Miene, die ſich aber jeden Augenblick in die poſſenhafteſte Grimaſſe verziehen konnte, aus grauen lebhaften Augen feſt und keck umherblickend, dabei ſtets bereit zu reden und vorzutragen, ſei es, daß er Geſchichten erzaͤhlte, oder Lebensmaximen dozirte, oder auch, indem er die Geſellſchaft anredete, bald Ein¬ zelne heranzog, bald wieder allein ſprach, die wunder¬ lichſten Poſſen mehr auffuͤhrte als vortrug, und dies alles mit einem Sprudel von Humor und Gebaͤrden begleitete. Die Aufmerkſamkeit der Hoͤrer fehlte ihm nie, ihres Lachens war er gewiß, und ihr Beifall ent¬ ging ihm ſelten. Seine Hauptmaxime war, man muͤſſe es gut haben und froͤhlich ſein, und indem er ſich faſt39 zum Narren der Geſellſchaft machte, bezeigte er den groͤßten Abſcheu, der Narr des gemeinen Lebens zu ſein. Er hatte den Uebermuth, den vornehmen Leuten an ihrer reichbeſetzten Tafel mit heftiger Beredſamkeit begreiflich zu machen, daß er ja nur deßhalb zu ihnen komme, weil er ſich gerne hoͤren laſſe, und lieber bei ihnen Kapaunen und Champagner genieße, als fuͤr ſich allein magres Rindfleiſch und Weißbier. Seine betrieb¬ ſame Klugheit erſtreckte ſich auf hundert kleine Erfin¬ dungen und Vortheile, die er hoͤchlich anpries, und in allen kleinen Verlegenheiten des Lebens war er uner¬ ſchoͤpflich an Auskunft und Huͤlfsmitteln. Mit Stolz ruͤhmte er, daß ich weiß nicht welcher geiſtreiche Mini¬ ſter von ihm geſagt: C'est un grand homme dans les petites choses! Eben ſo wußte er ſich viel damit, daß er ſeine Dienſtfertigkeit ſtreng auf ſolche Faͤlle be¬ ſchraͤnke, wo dieſelbe als letzte Zuflucht in Anſpruch genommen werde, nur wenn man bei allen andern Freunden ſchon vergebens geweſen, dann erſt ſolle man zu ihm kommen, und dann ließ er ſich auch keine Muͤhe und Anſtrengung verdrießen. Von ſeinen Sonderbar¬ keiten und Einfaͤllen waͤre noch viel zu erzaͤhlen, der Stoff beduͤrfte aber eines Diderot, um nach allen Seiten gebuͤhrend ausgebildet zu werden. Denn neben dem oberflaͤchlichen Weltgetriebe war ihm eine tiefere Richtung nicht abzuſprechen, und im Grunde ſeines Weſens wohnte die menſchenfreundlichſte Gutmuͤthigkeit, rechtliche Ge¬40 ſinnung, und wahrhafte Tugenden der Geſelligkeit. Er hatte Zeiten der tiefſten Schwermuth, in denen er ſich aber nicht ſehen ließ, ſondern einſame Spaziergaͤnge machte, oder ſich auf ſein Zimmer verſchloß. Als ſeine Einkuͤnfte ſchwaͤcher wurden, ſchraͤnkte er ſich mit vielem Gleichmuth ein, ging zum Beiſpiel in das groͤbſte Tuch gekleidet, und zeigte ſich ſo mit Behagen in den Saͤlen der Reichen und Vornehmen, von denen er jede Geld¬ huͤlfe ſtolz verſchmaͤhte. Bei den Eindruͤcken, die ich von dem Manne ſo lange Jahre in der Seele trug, war es mir keine geringe Freude, als ich vor einiger Zeit ſeinen Namen unerwartet in des Architekten Wein¬ brenner Selbſtbiographie vorkommen fand, begleitet von Erzaͤhlungen und Zuͤgen, worin ich ihn ganz wieder¬ erkenne. Auch freut es mich, in Weinbrenners Buche die guten Eigenſchaften des Mannes, bei anfangs zwei¬ deutiger Erſcheinung, durch den Verfolg in helles Licht geſetzt zu ſehen.

Dieſer Mann erſuchte mich eines Nachmittags in Charlottenburg, wo er einige Zeit wohnte, ihm auf ſein Zimmer zu folgen, wo er geheim und vertraut mit mir zu reden habe. Wir ſetzten uns auf das Sopha, den Thuͤren gegenuͤber, die er weit offen ſtehen ließ, denn ſo, ſagte er, nicht durch Zuſchließen, ſichre man ſich am beſten gegen alles Lauſchen, indem man die Thuͤren des Vorzimmers im Auge habe, und jeden Kommenden gleich in der Ferne wahrnehme. Sie41 ſprachen neulich, ſo hob er an, von der Freimaurerei, und wuͤnſchten von ihren Geheimniſſen naͤher unterrichtet zu ſein. Ich kann Ihre foͤrmliche Aufnahme in den Orden nicht bewirken, weil hier das obrigkeitliche Verbot nicht zu umgehen iſt, und dann bin ich auch ſelbſt ohne Einfluß und Verbindung mit den hieſigen Logen, ſeit¬ dem die Feßler’ſche Spaltung, von der neulich die Rede war, ſein und mein Ausſcheiden zur Folge hatte. Allein ich kann dennoch Ihren Wunſch erfuͤllen. Hoͤren Sie mir zu! Seit langer Zeit ſchon fuͤhlen wir, die wir hoͤher im Orden ſtehen und tiefer eingeweiht ſind, daß ſeine Grundlagen veraͤndert werden muͤſſen. Die großen Geheimniſſe und der furchtbare Eid, ſie zu verſchweigen, kamen uns laͤngſt als veraltet vor, wir entbanden uns dieſer Feſſeln, und berechtigten uns gegenſeitig, mit dem Inhalte wie mit der Form der Sache im Intereſſe derſelben nach eignem freien Urtheil zu ſchalten. Was als weſentlich der Maurerei noch inwohnt oder mit Wahrheit ihr beigelegt werden kann, hat mit ihrer jetzigen Beſchaffenheit nur noch ſchwachen Zuſammen¬ hang. Man iſt nicht Maurer, weil man in die Loge aufgenommen worden, man kann es in hoͤherem, und ſelbſt von der Loge anerkannten Sinne, auch außerhalb derſelben ſein. Ich finde bei Ihnen alle Eigenſchaften, die Ihnen Anſpruch geben, dem Orden anzugehoͤren, und ich will, wenn es Ihnen genehm iſt, Sie in den¬ ſelben vollſtaͤndig einweihen. Dieſer Rede, die ich42 mit Dank und Eifer annahm, folgten weitlaͤufige Mit¬ theilungen aus der Geſchichte und uͤber die gegenwaͤr¬ tigen Verhaͤltniſſe der Freimaurerei, uͤber ihre Gebraͤuche, Einrichtungen, und andre Aeußerlichkeiten. Mir wurde empfohlen, der Sache weiter nachzudenken, und gegen niemand ein Wort davon zu reden. Dieſe Belehrungen wiederholten ſich, wobei meine Erwartung doch im Ganzen wenig befriedigt wurde; weder der eigentliche Urſprung der Geſellſchaft noch ihre beſtimmten Zwecke wollten recht hervortreten, die Zeichen und Worte und Ceremonien erſchienen als iſolirte Alterthuͤmer, deren Bedeutung in dem Schwall modernen Auslegens und Hinzumiſchens ganz untergegangen; das Vorhandene wurde groͤßtentheils als gemein und verwerflich vorge¬ ſtellt, das Beſſere als erſt in Kuͤnftigem zu hoffen. Und bei allen dieſen Gebrechen und Scheinſamkeiten ſollte das freimaureriſche Treiben uͤberhaupt doch in hoͤchſtem Werthe ſtehen, und die Neigung des ausge¬ ſtoßenen und abtruͤnnigen Bruders hielt, der Einſicht entgegen, an demjenigen feſt, was durch ſo lange Jahre die richtigſte und vertrauteſte Lebensgewoͤhnung, der Gegenſtand ſo vieler Thaͤtigkeit und die Quelle ſo mannigfachen Ertrages geweſen war! Aus dieſem Zwieſpalt der Zuneigung und des Widerwillens kam Darbes nicht heraus, wie ein Liebhaber, der die un¬ getreue Geliebte zugleich ſchelten und doch noch preiſen moͤchte, und in dem Mißgefuͤhle, welches ſich einſtellte,43 wenn ich dergleichen Widerſpruch nicht mitmachen konnte, fanden auch unſre Lehrſtunden nach und nach ihre Stockung. Mir aber war der Blick in ein weites Feld menſchlicher Thaͤtigkeiten und Beziehungen eroͤffnet worden, in die lockendſten Fluren der Begeiſterung und der Schwaͤrmerei, deren Eintritt mir nur als gleich¬ zeitige Enttaͤuſchung gewaͤhrt wurde, wie ſie wohl ſelten einem jungen Manne an ſolcher Schwelle vorausgege¬ ben wird.

Von einer andern Seite her ſollte nicht minder ein Streifen der Welthaͤndel aus ihren dunklen Wirrgaͤngen mich einen Augenblick hell anſchimmern. Ein engliſcher Jude Lewis Goldſmith, damals geruͤhmt als Verfaſſer freimuͤthiger politiſchen Schriften, dann als Herausgeber des zu Paris in engliſcher Sprache erſcheinenden Tage¬ blattes Argus bekannt, und ſpaͤter als Urheber der luͤgenhaften Schmaͤhſchrift uͤber den Hof von Saint - Cloud beruͤchtigt, kam waͤhrend des Sommers 1803 nach Berlin, und ſprach als alter Bekannter in unſerm Hauſe ein. Er ſchien mit Geld uͤberfluͤſſig verſehen und in großem Behagen zu leben, von den politiſchen Verhaͤltniſſen und Perſonen wußte er viel Merkwuͤr¬ diges mitzutheilen, und fuͤr den Erſten Konſul Bona¬ parte nahm er heftig Parthie, doch ſichtlich weniger aus Ueberzeugung als aus Prahlerei und Vortheil, denn er verhehlte nicht, daß er ſein Gluͤck auf jenen Mann geſtellt habe, und noch weniger, daß ſein Gluͤck44 in Wohlleben beſtehe. Seine Munterkeit gefiel ſich im Anſtoͤßigen und im Schadenfrohen, und ſo ſehr uns Andern dies widrig war, ſo ſehr unterhielt es den Hausherrn, dem der kecke Ton des Geſellen faſt nicht weniger imponirte, als die Sendung, auf welcher der¬ ſelbe jetzt begriffen war, und die er ihm als altem guten Freunde nicht hatte verhehlen wollen. Er befand ſich naͤmlich auf einer Reiſe nach Warſchau, mit ge¬ heimen Auftraͤgen Bonaparte’s und großen Vollmachten und Kreditbriefen verſehen, um den dort wohnenden franzoͤſiſchen Kronpraͤtendenten, nachherigen Koͤnig Lud¬ wig den Achtzehnten, zu verſuchen, ob er gegen große Geldvortheile, die ihm Bonaparte anbieten ließ, zu deſſen Gunſten auf die Krone von Frankreich wuͤrde verzichten wollen. Gleich nach der Abreiſe des Gold¬ ſmith vertraute mir der Hausherr dies Geheimniß, wo¬ durch er, zur Berichtigung meines geringſchaͤtzigen Ur¬ theils, ſeinen Freund mir recht hoch zu ſtellen meinte. In der That war die Sache bedeutend, und ſehr ge¬ heim; ſie gab einen fruͤhzeitigen Blick in die damals noch ſorgſam verhuͤllten Plane des Erſten Konſuls, und man hat ſpaͤter den Vorgang laͤugnen wollen. Der Mann kam nach einiger Zeit von Warſchau zuruͤck, ich ſah ihn auch dann wieder, aber nur fluͤchtig, ſeine mißmuthige Eile ließ genug errathen, daß er keinen Erfolg gehabt, wie denn auch ſeine eigne Ausſage be¬ ſtaͤtigte. Mir war in meiner damaligen Stimmung45 nichts gleichguͤltiger, als die politiſchen Angelegenheiten, ein Gedicht war mir wichtiger, als der ganze Staat, ein Ereigniß im Kreiſe unſrer Herzens - und Geiſtes¬ beſchaͤftigung bedeutender, als alle Schlachten und Friedensſchluͤſſe: aber gleichwohl war mir das nahe Vorbeigehen einer ſo beziehungsreichen Staatsſache zu merkwuͤrdig, als daß ich nicht vielfach daruͤber nachge¬ dacht und ein fruͤhes Vorbild fuͤr viele ſpaͤtere Erfah¬ rungen darin aufgefaßt haͤtte.

Ein Staatsmann beſſerer Art und hoͤherer Ordnung wurde mir in dem portugieſiſchen Geſchaͤftstraͤger Pin¬ heiro-Ferreira vertraulich bekannt. Aeußerſt klein und ſchmaͤchtig von Geſtalt, faſt nur ein Knaͤbchen von Anſehn, ſo daß man von ihm ſagte, er ſei ein Kuͤchlein uͤber der Sparlampe ausgebruͤtet, wußte er doch durch gemeſſenes und feines Betragen, und durch einen ſchoͤnen Ernſt, wie er Suͤdlaͤndern oͤfters eigen iſt, einen wirk¬ ſamen Eindruck von Wuͤrde zu geben, und um ſich her Achtung zu gebieten. Ich weiß nicht, wodurch eigent¬ lich ſeine Zuneigung mir gewonnen wurde, allein er ſchenkte ſie mir in hohem Grade, und ſprach viel mit mir uͤber deutſche Dichter, denen er anhaltenden Fleiß widmete, ſo wie er mir auch von portugieſiſcher Litte¬ ratur vieles erzaͤhlte, und beſonders den Dichter Dinis anruͤhmte, von dem er Verſe mit Begeiſterung her¬ ſagte. Auch uͤber Homer und Homeriſche Mythologie nahm er unſre deutſchen Einſichten, ſo weit ich ſie mit¬46 theilen konnte, begierig auf, und bezeigte nur einiges Mißtrauen gegen das, was unmittelbar von den Schlegel herruͤhrte. Er machte mir kein Geheimniß von ſeiner politiſchen Lage, und ich erſchrack zu hoͤren, daß er ein Gefangener der Inquiſition geweſen, und vom ſichren Tode nur durch den großmuͤthigen Freiſinn des Prinz - Regenten von Portugal gerettet worden, der ihm eine diplomatiſche Anſtellung im Auslande zum Schutz ge¬ geben, welchen im Inlande dauernd ihm zu gewaͤhren alle ſeine Macht nicht ausgereicht haben wuͤrde. Die erlittenen Drangſale hatten ihm ein truͤbes Gewoͤlk auf der Seele zuruͤckgelaſſen, das ihn doch noch hinderte, auch den zarteren Gefuͤhlen ihr Recht zu geben. Denn das unſcheinbare Maͤnnchen hatte ſchon von Portugal einen huͤbſchen Knaben mitgebracht, der auf fruͤhere Verbindungen deutete; in Berlin aber durfte er ſich der Aufmerkſamkeit zweier Damen zu gleicher Zeit erfreuen, die gleichſam um ihn wetteiferten. Er hei¬ rathete ſpaͤter die eine derſelben und nahm ſie mit nach Braſilien, wo er zwanzig Jahre ſpaͤter als Miniſter der auswaͤrtigen Angelegenheiten, und darauf als ſolcher in Portugal ſelbſt, eine wichtige Rolle ſpielte, und den gemaͤßigten Konſtitutionellen angehoͤrte, bis die Umge¬ ſtaltung der Dinge ihn ſeinen Aufenthalt in Paris neh¬ men ließ. Ich las ſeinen Namen in den Zeitungen nie ohne innigen Antheil, und begruͤßte ihn fernhin47 mit Worten ſeines Lieblingsdichters Dinis, die er mir in mein Stammbuch geſchrieben hatte.

Hier iſt nun auch eines perſoͤnlichen Erſcheinens zu gedenken, deſſen erſter Eindruck mir in jener Zeit wurde. Eines Abends, da ich den zum Thee Verſammelten aus Wieland einiges vorlas, wurde Beſuch gemeldet, und bei dem Namen entſtand ſogleich die Art von Be¬ wegung, welche ſich der Erwartung von Ungewoͤhn¬ lichem und Guͤnſtigem verknuͤpft. Es war Rahel Levin oder Robert, denn auch den letztern Namen fuͤhrte ſie ſchon damals. Oft ſchon hatte ich ſie nennen hoͤren, von den verſchiedenſten Seiten her, und immer mit einem ſo beſondern Reize der Bezeichnung, daß ich mir dabei nur das außerordentlichſte, mit keinem andern zu vergleichenden Weſen denken mußte. Was von ihr in¬ ſonderheit Lippe und Frau von Boye mir geſagt, deutete auf ein energiſches Zuſammenſein von Geiſt und Natur in urſpruͤnglichſter, reinſter Kraft und Form. Auch wenn man einigen Tadel gegen ſie verſuchte, mußte ich im Gegentheil oft das groͤbſte Lob daraus nehmen. Man hatte von einer gerade jetzt waltenden Leidenſchaft viel geſprochen, die, nach den Erzaͤhlungen, an Groͤße und Erhebung und Ungluͤck alles von Dichtern Beſun¬ gene uͤbertraf. Ich ſah in geſpannter Aufregung, den Andern zum Laͤcheln, dem nahen Eintritte der Ange¬ kuͤndigten entgegen. Es erſchien eine leichte, grazioͤſe Geſtalt, klein aber kraͤftig von Wuchs, von zarten und48 vollen Gliedern, Fuß und Hand auffallend klein; das Antlitz, von reichem, ſchwarzen Haar umfloſſen, ver¬ kuͤndete geiſtiges Uebergewicht, die ſchnellen und doch feſten dunklen Blicke ließen zweifeln, ob ſie mehr gaͤben oder aufnaͤhmen, ein leidender Ausdruck lieh den klaren Geſichtszuͤgen eine ſanfte Anmuth. Sie bewegte ſich in dunkler Bekleidung faſt ſchattenartig, aber frei und ſicher, und ihre Begruͤßung war ſo bequem als guͤtig. Was mich aber am uͤberraſchendſten traf, war die klang¬ volle, weiche, aus der innerſten Seele herauftoͤnende Stimme, und das wunderbarſte Sprechen, das mir noch vorgekommen war. In leichten, anſpruchsloſen Aeußerungen der eigenthuͤmlichſten Geiſtesart und Launen verbanden ſich Naivitaͤt und Witz, Schaͤrfe und Lieb¬ lichkeit, und allem war zugleich eine tiefe Wahrheit wie von Eiſen eingegoſſen, ſo daß auch der Staͤrkſte gleich fuͤhlte, an dem von ihr Ausgeſprochenen nicht ſo leicht etwas umbiegen oder abbrechen zu koͤnnen. Eine wohl¬ thaͤtige Waͤrme menſchlicher Guͤte und Theilnahme ließ hinwieder auch den Geringſten gern an dieſer Gegen¬ wart ſich erfreuen. Doch kam dies alles nur wie ſchnelle Sonnenblicke hervor, zum voͤlligen Entfalten und Verweilen war diesmal kein Raum. Kleine Necke¬ reien mit Graf Lippe, der kuͤrzlich bei ihr nicht war angenommen worden, und deßhalb boͤſe thun wollte, erſchoͤpften ſich bald; der ganze Beſuch war uͤberhaupt nur ſehr kurz, und ich wuͤßte mich eigentlich keines49 beſtimmten Wortes zu erinnern, in welchem etwas aus¬ gepraͤgt Geiſtreiches, Paradoxes oder Schlagendes ſich zur Bewahrung dargeboten haͤtte, aber die unwider¬ ſtehliche Einwirkung des ganzen Weſens empfand ich tief, und blieb davon ſo erfuͤllt, daß ich nach der bal¬ digen Entfernung des merkwuͤrdigen Beſuchs einzig von ihm reden und ihm nachſinnen mußte. Man ſcherzte daruͤber, und weil der Scherz faſt verdrießlich wurde, ſo trotzt 'ich ihm deſto eifriger durch Nieder¬ ſchreiben eines Sonetts, das den empfangenen Eindruck begeiſtert ſchildern wollte, und das ich die Dreiſtigkeit hatte, eben weil man ſie mir bezweifelte, am andern Tage verſiegelt abzuſchicken, ohne daß ich weiterhin etwas von der Sache gehoͤrt oder ihr nachgefragt haͤtte. Rahel Levin ſelbſt wiederzuſehen war mir darauf Jahre lang nicht beſchieden. Ihr Namen aber blieb mir als ein ungeſchwaͤchter Zauber in der Seele, nur ahnete ich auf keine Weiſe, daß mit jenem fruͤhen Begegnen und jenen vorlauten Zeilen ein erſter Ring gefuͤgt worden, an welchen viele folgende ſich anreihen und die entſcheidenſte Wendung und die dauernſte Vereini¬ gung meines Lebens geknuͤpft ſein ſollte.

Alles und jedes mehrte nur immer unſre Gedichte, und ſie wuchſen bald allzu gedraͤngt, als daß ſie nicht endlich aus dem Pult unruhig an das Licht geſtrebt haͤtten. Der Gedanke des Druckenlaſſens ging mir und Chamiſſo'n ploͤtzlich auf, als wir am ſpaͤten AbendII. 450allein im Garten wandelten, wir vereinigten uns auf der Stelle zu gemeinſamer Ausfuͤhrung, zu welcher die Herausgabe eines Muſenalmanachs ſo bequem als anſtaͤndig erſchien. Wir theilten die Sache Neumann mit, der voll Eifer beitrat. Als wir aber unſre Vor¬ raͤthe naͤher unterſuchten, fanden wir das Meiſte wegen perſoͤnlicher Ruͤckſichten kaum mittheilbar, und da wir uͤberhaupt nur das Beſte liefern wollten, ſo fiel die Auswahl ſo klein aus, daß wir uns nach andern Zu¬ ſchuͤſſen umſehen mußten. Chamiſſo unternahm es auf Werbung auszugehen, und einige Freunde anzuſprechen, von deren poetiſchen Liebhabereien er ſchon Kenntniß hatte. Allein, noch ehe wir ſelbſt gedruckt waren, ſahen wir uns gleich zuerſt in Stolz und Macht des Richter¬ amts verſetzt, und mußten die erſten Beitraͤge, die uns angeboten wurden, des Druckes unwerth erklaͤren. Beſſer gelang es mit andern. Der damalige Referendarius beim Kammergericht, jetzige Kriminaldirektor Hitzig, uͤbergab willkommene Ueberſetzungen aus dem Spaniſchen, Engli¬ ſchen und Italiaͤniſchen nebſt ein paar eignen Stuͤcken unter ſeinem Vornamen Eduard; Ludwig Robert, Bruder von Rahel Levin, ſteuerte aus ſeinem Schatze reichlich bei; und Franz Theremin, Kandidat des Predigtamtes von der franzoͤſiſchen Kolonie, begluͤckte uns mit einigen Blaͤttern. Durch eine ungluͤckliche Nachgiebigkeit kam auch ein Gedicht von dem ſogenannten Naturdichter Gott¬ lieb Hiller hinein, das wir nachher hundertmal weg¬51 wuͤnſchten. Nun war ein leidliches Manuſcript bei¬ ſammen und geordnet, allein jetzt mußte damit ein Durchbruch bei irgend einem Verleger verſucht werden, und hier zeigten ſich große Schwierigkeiten. Chamiſſo’s und meine Bemuͤhungen bei Buchhaͤndlern, die wir kannten oder nicht kannten, ſchlugen ſaͤmmtlich fehl, man wagte nicht an der Vortrefflichkeit unſrer Gedichte zu zweifeln, aber man wollte Namen, die ſchon be¬ ruͤhmt und bekannt waͤren, und wir mußten voll In¬ grimm ſehen, daß man dafuͤr auch ſolche gelten ließ, uͤber die wir uns weit erhoben glaubten, und deren wir uns nur geſchaͤmt haͤtten. Endlich war nichts an¬ deres zu thun, wenn wir gedruckt ſein wollten, als es auf unſre Koſten zu werden, und es fand ſich ein guter Mann in Leipzig, der ſeine Firma dazu hergab. Chamiſſo war es eigentlich, der mit ſeinem Gelde das Unternehmen machte, und obgleich Neumann und ich einen Theil der Exemplare ihm abkauften, wird er doch, bei dem ſonſtigen geringen Abſatz, nicht ganz ohne Einbuße davon gekommen ſein. Genug, wir waren gedruckt, wir Alle zum erſtenmal, und das war keine Kleinigkeit!

Von dem litterariſchen Werthe dieſer Jugendver¬ ſuche kann gar keine Rede mehr ſein; ganz unabhaͤngig von dieſem aber verknuͤpfte ſich fuͤr uns Theilnehmer ein unendlicher Lebensgewinn mit dieſem gruͤnen Buche, wie es von der Farbe ſeines Umſchlags fortan hieß. 4 52Unſre Freundſchaft befeſtigte ſich durch dieſes gemein¬ ſame Auftreten, neue ſchloſſen ſich zahlreich an, ver¬ wandtes Streben und empfaͤnglicher Sinn nahm, wenn auch nur im Stillen, von uns Kunde, und in weiter Ferne und ſpaͤten Jahren begegneten uns noch werthe Wirkungen einer damals erregten guͤnſtigen Aufmerk¬ ſamkeit. Aber auch unmittelbar durften wir unſern Muth, unſre Zuverſicht und ſelbſt unſer Talent durch ein Erſcheinen erhoͤht fuͤhlen, das wir unter keines fremden Namens Gunſt und Schutz, ſondern als Neu¬ linge ſelbſtſtaͤndig in eigner Leitung gewagt. In den Stand eines Autors zu treten, waͤre es auch nur mit ſo geringen Mitteln, als die unſrigen damals, duͤrfte zu keiner Zeit, ſo lange nicht die litterariſchen Verhaͤltniſſe und ſelbſt die Sitten eine große Umwandlung erfahren, als etwas Gleichguͤltiges anzuſehen ſein. Die Ehre und der Reiz, welche damit verbunden ſind, ſchimmern lockend auch den Koͤnigen und Helden, und von allen Genuͤſſen, die dem Alter nach und nach abſterben, haͤlt dieſer am laͤngſten aus. Man denke daher, welch ein Schritt fuͤr uns Juͤnglinge dies war; wir empfingen damit eine neue Muͤndigkeit, die wir ſelbſt ausgaben; wir traten auf das Feld, wo die Kraͤnze lagen, und wenn wir Dichter zu ſein behaupteten, ſo mochte dies im aͤſthetiſchen Sinne noch ferner wie bisher bejaht oder verneint werden koͤnnen, im litterariſchen waren wir es aber einmal gewiß.

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Aufſehen genug bewirkten wir, in unſrem naͤchſten Kreiſe das außerordentlichſte; die Frauen beſonders wa¬ ren gereizt und geſchmeichelt, an dem Schmuck unſrer Dichtung, der jetzt erſt gefaßt worden, ſo nahen Theil zu haben. Ein aͤlterer Mann von Gewicht und Anſehn unter uns war faſt empfindlich, und pruͤfte ſich, ob er ſelber nicht auch zu dem Muſenalmanach haͤtte bei¬ tragen koͤnnen, er wollte ſich das gar nicht verneinen, und gab zu verſtehen, ſein ſchlummerndes Talent haͤtte wohl gleiche Aufmerkſamkeit, wie das der juͤngeren ver¬ dient. Kieſewetter, den ich noch von Zeit zu Zeit ſah, fand unter meinen Gedichten zwar die Ueberbleibſel deſſen, was er an mir geruͤhmt und gefoͤrdert hatte, allein zugleich ein Sonett von Friedrich Schlegel, und uͤberhaupt ſo viel Sonette, daß er mich geradezu fuͤr verloren gab. Bald kamen aber auch die oͤffentlichen Kritiken, einige Tagesblaͤtter gaben uns ein maͤßiges Lob, andre ſetzten uns tief hinab. Man wußte nicht recht, was man aus uns machen ſollte; die Hauptfrage, ob wir der neuen oder der alten Schule angehoͤrten? war nicht leicht zu entſcheiden, da wir keine Fahne tru¬ gen, und ſowohl fuͤr das eine wie fuͤr das andre ſich Zeichen fanden. Einige Schlegelianer ſahen das Alte fuͤr uͤberwiegend an, und geißelten uns tuͤchtig, indem ſie auch das, was zu dem Neuen ſtrebte, fuͤr verfehlt erklaͤrten. Am ſchlimmſten aber verfuhr Garlieb Mer¬ kel mit uns, der verrufene kleine Kritiker, der den54 Verſtand und Geſchmack gegen die neue Schule zu ver¬ fechten unternommen hatte, und in dieſem Kampfe das poſſierlichſte Schauſpiel und die traurigſten Bloͤßen gab. Doch galt er bei vielen Leuten noch als eine Stuͤtze der guten Litteratur, und weil er uns unbedingt fuͤr Juͤn¬ ger der neuen Schule erklaͤrte, ſo mußten wir es auch ſein, obgleich weder durch litterariſche Richtung noch durch perſoͤnliches Anſchließen irgend einer von uns bis jetzt dahin zu rechnen war, ſondern bei Einigen viel¬ mehr noch Abneigung und Widerwillen beſtand. Der Fall, daß ich Partheifarbe tragen ſollte, die mir fremd war, hat ſich in der Folge oft wiederholt, und wird ſich da immer einfinden, wo ein redlicher Sinn dem eignen Lichte folgt, ohne dieſes ſo ſtark leuchten laſſen zu koͤnnen, daß Andre ihm folgen; denn nichts will die Welt ſchwerer glauben, als daß man nicht ſein Heil in der Menge ſuche, und daher, wenn man nicht Dienſte austheilen kann, ſolche nehme.

Ich kann es noch heute (1831), da achtundzwanzig Jahre ſeitdem verfloſſen ſind, mit tiefſter Wahrheit ebenſo wie damals betheuern, daß mir dieſe unguͤnſti¬ gen und zum Theil hoͤhniſchen Kritiken wenig Kummer machten, ſie empoͤrten mich eher, aber mich niederſchla¬ gen konnten ſie nicht. Der aͤchten Lebensquelle in mir war ich verſichert; daß ſie ſtroͤmte, war nicht meine Willkuͤr, ob meine Gedichte fuͤr ſich ſelbſt vor dem Publi¬ kum beſtehen konnten, oder nur zu dem Gedichte mei¬55 nes Lebens gehoͤren ſollten, das mußte ſich eben erwei¬ ſen, und wie ſehr ich das erſtere wuͤnſchen und hoffen mochte, ſo blieb doch das letztere auch noch ein gutes Loos. Auch wandten wir Freunde den Sinn von dem Publikum voͤllig ab, und ſuchten Gewinn und Luſt ein¬ zig im Innern unſres eignen Treibens, welches in ſich ſelbſt erhoben wurde, und auch von außen Zuwachs erfuhr.

Chamiſſo machte mich zuvoͤrderſt mit den Poeten des Almanachs, die mir perſoͤnlich noch fremd waren, be¬ kannt. Ich ſah Hitzig, Robert, und endlich auch The¬ remin, der mir ſogleich als ein hoͤherer Geiſt erſchien, und mich beſonders durch ſeine ſchoͤne, wohlklingende und edle Sprache einnahm. Was fuͤr Ideen wir aus¬ tauſchten, mit welchen Kenntniſſen wir einander gegen¬ ſeitig aushalfen, in was fuͤr Anſichten und Urtheilen wir uns abwechſelnd einigten und ſchieden, welche Ent¬ deckungen uns aufgingen, das ließe ſich fuͤr ſolche, die nicht Aehnliches erlebt haben, kaum darſtellen. Weil jeder den Tag uͤber ſeine Geſchaͤfte hatte, ſo verlegten wir unſre Zuſammenkunft auf den ſpaͤten Abend bis tief in die Nacht. Dieſe poetiſchen Thee's des gruͤnen Bu¬ ches, wie wir ſie nannten, weil daſſelbe die Grundlage und die Hauptbeziehung unſres Zuſammenkommens blieb, nahmen ihren Anfang ſehr einfach bei Hitzig, der vielen Raum hatte, und durch liebenswuͤrdigen Sinn und geſelligen Geiſt den anziehendſten Vereinigungspunkt56 bildete; und ſo gaben uns dieſe Zuſammenkuͤnfte durch innige Waͤrme der Freundſchaft und durch geiſtige Er¬ hebung ein reines Gluͤck zu koſten, welches die Nacht uns von den Sternen herabzurufen ſchien, im Gegen¬ ſatze des Tages, der die Verbundenen wieder in die mannigfachſten Geſchaͤfte einer Wirklichkeit zerſplitterte, die ſich auch noch von jenem geheimen Lichte moͤglichſt erhellen ſollte. Die ſpaͤteren Thee’s, die dann abwech¬ ſelnd auch bei Lippe, Robert und Theremin gehalten wurden, hatten ſchon die Einfachheit und Unſchuld der erſten nicht mehr, es draͤngten ſich ſchon mehr Anſpruͤche und Abſichten herzu. Auch hatte die Geſellſchaft ſchnell zugenommen. Ein ſinnvoller gutmuͤthiger Stubengenoſſe und nachheriger Schwager Hitzigs, von Uthmann, und ein liebenswuͤrdiger Schickſalsgefaͤhrte Chamiſſo’s, Graf von Lafoye, franzoͤſiſcher Emigrirter und preußiſcher Of¬ fizier wie er, und auch in Kenntniß und Uebung des Deutſchen ihm nachſtrebend, brachten dem urſpruͤnglichen Ton und Behagen keine Aenderung. Unruhiger, ver¬ ſchiedenartiger, belebter und zerriſſener wurden die Abende durch die Einfuͤhrung Koreff’s, eines jungen Arztes aus Breslau, der ſeine, Studien in Berlin vollendete, und ſeine univerſelle Genialitaͤt auch in Gedichten, uner¬ ſchoͤpflich aber in jeder Redeweiſe, in erhabenen, humo¬ riſtiſchen und poſſenhaften Ausbruͤchen, an den Tag legte; mit ihm gleichzeitig wurde auch Georg Reimer und darauf noch einige andre wirkliche oder angebliche57 Poeſiefreunde zu unſern Verſammlungen gezogen, wo nun die glaͤnzendſte Unterhaltung gepflegt wurde. In der Folge kehrte mehr Einfachheit und Innigkeit zuruͤck, die Geſellſchaft war kleiner, Koreff tiefer mit uns be¬ freundet und gefuͤhlvoll-ernſt in ſeinen Mittheilungen; meiſtens trafen wir bei Chamiſſo auf der Wache zuſam¬ men, wenn er ſie am Brandenburger oder Potsdammer Thore hatte, und zwiſchen militaͤriſchen Unterbrechungen hin verwachten wir halbe und ganze Naͤchte in Geſpraͤ¬ chen uͤber Poeſie oder Studien - und Lebensplanen, deren Ausfuͤhrung uns leider noch ferne lag.

Manches Aufmunternde kam uns waͤhrend dieſer Zeit noch von andern Orten zu. Zacharias Werner, Verfaſſer der Soͤhne des Thales, ſandte von Warſchau eine umſtaͤndliche Rezenſion unſres Almanachs an ſeinen Freund Hitzig mit einem begeiſterten Brief, er nahm jeden von uns einzeln vor, urtheilte mit verſchiedenen Modifikationen von jedem guͤnſtig, und belegte ſein Ur¬ theil durch angefuͤhrte Stellen; dies war ſo ſchmeichel¬ haft, als belehrend, und ſetzte uns in einige Bewegung, doch blieb die Rezenſion ungedruckt, weil wir den noͤthigen Betrieb nicht daran wandten. Auguſt Wilhelm Schlegel hatte ſich, ſo hoͤrten wir, aufmunternd fuͤr uns geaͤußert, und nahm als unzweifelhaft an, daß wir Juͤnger der neuen Schule ſeien, ſchon weil uns Merkel als Dahingehoͤrige geſchimpft hatte. Mit Bernhardi machten wir Bekanntſchaft, mit Winzer, der als Schrift¬58 ſteller Adolph Werden hieß, und damals einen ſtaͤrkern Schwung nehmen wollte, als er ausfuͤhren konnte. Auguſt Bode bezeigte von Weimar her ſeine Theilnahme fuͤr uns. Den groͤßten Werth aber behielt Fichte's Ur¬ theil, und daſſelbe war beſonders mir vortheilhaft, wie ich bei folgender Gelegenheit erfuhr. Als ich eines Tages die Treppe zu ihm hinauf ſtieg, hoͤrte ich hinter mir einen Offizier nach ihm fragen; wir wurden beide vorgelaſſen, und der Offizier uͤbergab einen Brief aus Warſchau von Mnioch. Es war ein Freund von Hitzig und Uthmann, und ſchon laͤngere Zeit von ihnen er¬ wartet. In dieſem rauhen Kriegshelden hatte ſich die ſchaͤumendſte poetiſche und philoſophiſche Begeiſterung angeſetzt, und trieb ihre Blaͤschen immerfort, bis zur groͤßten Berauſchung. Von Mnioch und Werner auf¬ gereizt, kam er nach Berlin, bloß um Fichte und Schle¬ gel zu hoͤren, und nebenher einige wilde Aufſaͤtze drucken zu laſſen, welche er wie Thaten behandelte, die fuͤr ihn und die Welt gleiche Wichtigkeit haͤtten. Er hat nachher im Kriege ſich ſehr brav gehalten, und dieſe Wirklichkeit ſcheint ihn von ſeinen Phantaſien geheilt zu haben. Damals aber mußte man ihm ſeinen guten Willen anrechnen, wie auch Fichte that. Dieſer nun fragte mich bei Gelegenheit dieſes Beſuchs, ob ich Mnioch kenne, welches ich verneinte. Aber aus ſeinen Schrif¬ ten wuͤrde ich ihn doch kennen, meinte jener, und als ich auch dies verneinte, und eine Art Befremden dar¬59 uͤber durch die Bemerkung beſeitigen wollte, daß ich erſt ſeit einigen Monaten freie Zeit habe, mich in der neueſten Litteratur umzuſehen, wunderte ſich Fichte und ſetzte unerwartet hinzu: Wenigſtens geſchafft haben Sie laͤnger, das ſieht man! Ein beſtimmtes Urtheil uͤber meine Gedichte, um welches ich jetzt ihn zu bitten wagte, wollte er weiter nicht geben, und meinte, es liege ſchon in dem vorigen; ſagte aber denn doch, er halte mich fuͤr den kunſtreichſten der Genoſſen, daß aber, um Dichter zu ſein, jetzt kleine lyriſche Stuͤcke nicht ausreichten, ſondern man muͤſſe ein groͤßeres Ganze, einen Roman, ein Epos oder ein Drama geliefert ha¬ ben. Das letztere nahm ich mir tief zu Herzen, dem erſtern Theil ſeines Spruches aber konnt 'ich im Innern nicht beiſtimmen, als hoͤchſtens in Betreff einiger pro¬ ſodiſchen Fertigkeit; fuͤr das Weſentliche der Poeſie ſetzt' ich Chamiſſo groͤßtentheils und Theremin unbedingt uͤber mich.

Da Auguſt Wilhelm Schlegel zum Winter aͤſthetiſche Vorleſungen ankuͤndigte, ſo ließen wir uns dieſe gute Gelegenheit nicht entgehen. Seine Ueberſicht der deut¬ ſchen Dichtkunſt in ihrer geſchichtlichen Entwicklung, und die Beiſpiele, die er aus fruͤheren Zeiten reichlich mit¬ theilte, waren mir von großem Nutzen. In den Wuſt von einzelnen Kenntniſſen und Anſichten, die ich nach Zufall aufgehaͤuft, kam mehr Ordnung und Zuſammen¬ hang, ich lernte auch fuͤr mein eignes Dichten feſtere60 Bahn betreten, und was zu vermeiden und zu erſtre¬ ben ſei, wurde mir klarer. Uebrigens muß ich geſtehen, daß Schlegel uns ſchon damals ſchien, mehr Talent als Geiſt zu haben, und wenn ihm auch Neumann und ich noch großes Zutrauen widmeten, ſo wollte er doch den Andern wenig mehr genuͤgen, und ſie ſprachen gering¬ ſchaͤtzig von ihm, welches ich ihnen als Uebermuth an¬ rechnete. Eine ſtarke Stuͤtze gab ihnen freilich das Ur¬ theil Fichte’s, der einmal unumwunden erklaͤrte, Tiefe fehle dem aͤltern Bruder und Klarheit dem juͤngern, ge¬ meinſam ſei ihnen beiden aber der Haß, welchen ſie allerdings gegen das Gemeine haͤtten, und die Eiferſucht, die ſie gegen das Hoͤhere empfinden, welches ſie ſelbſt doch weder zu ſein noch zu laͤugnen vermoͤchten, und daher aus Verzweiflung uͤbermaͤßig lobten, ſo ihn ſelbſt und Goethe’n. Unwillkommen ſchloſſen ſolche Aeußerun¬ gen mir das zerruͤttete Innere von litterariſchen Zuſtaͤn¬ den und Verhaͤltniſſen auf, die ich fuͤr die reinſten und eintraͤchtigſten gehalten hatte. Allein mir ſchien, daß auch der Eigenheit Fichte’s etwas nachzuſehen ſei, und ich wollte daher die Sachen nicht ſo ganz ſchlimm glau¬ ben, als er ſie ausſprach, und am wenigſten konnt ich den andern zugeſtehen, ihrerſeits ſo zu richten und zu verdammen, wie dies etwa Fichte thun durfte, weil er eben Fichte war.

Einen luſtigen Abend brachte uns die Auffuͤhrung von Roberts Ueberbildeten nach Moliere’s Précieuses61 ridicules, die er ſehr artig bearbeitet und den neueſten Thorheiten angepaßt hatte. Wir waren ſaͤmmtlich im Theater, und obwohl die Ausfaͤlle auf die neue Schule und beſonders das Laͤcherlichmachen der Sonettform und der Aſſonanzen im Alarcos uns zum Theil nicht behagten, ſo dachten wir doch ſchon partheiiſch genug, um daruͤber hinzuſehen und durch vereintes Klatſchen ſowohl das Einzelne wie das Ganze gegen Wind und Wetter durch¬ zubringen. Nach geendigtem Schauſpiel gingen wir zum Italiaͤner, ließen Punſch und ſuͤße Weine geben, und berauſchten uns mehr noch als in dieſen in unſern eige¬ nen Reden, Stegreifgedichten und theatraliſchen Auf¬ tritten. Ich zog im erhitzten Taumel Chamiſſo’s Degen, und als man mich entwaffnen wollte, wurde Lafoye an der Hand geritzt, gluͤcklicherweiſe nicht bedeutend, auch ging der Abend ungeſtoͤrt fort, bis tief in die Nacht, wovon mir weiter keine Erinnerung blieb, und ein paar wuͤſte Tage die ſtrafende Folge waren.

Der Winter war unter ſolchen Freuden und Fahr¬ ten verſtrichen und ein neuer Fruͤhling angebrochen. Unſrer Dichtergenoſſenſchaft aber drohte, nachdem ſie kaum ſich recht einzuleben angefangen, leider auch ſchon ein nahes Auseinandergehen. Hitzig wurde durch ſeine juriſtiſche Laufbahn von Berlin nach Warſchau entfuͤhrt, Theremin ſollte in Genf ſeine geiſtlichen Weihen empfan¬ gen, Koreff wollte nach Halle zuruͤckkehren um zu pro¬ moviren, Lafoye erhielt die Nachricht von dem Todesfall62 ſeines Vaters, und ſeine Mutter berief ihn dringend nach Caen, wo er fortan ihr zum Troſt immer verblei¬ ben ſollte. In dieſer Zeit grade ſchloſſen ſich aufs innigſte unſre Herzen aneinander, unſre Empfindungen, Vorſaͤtze und Geiſtesrichtungen entfalteten und erhoben ſich auf den Schwingen der gluͤhendſten Vereinbarung, unſer Vertrauen kannte keinen Ruͤckhalt, alles Aeußere lag zwiſchen uns wie vernichtet. Als Haupt und Mei¬ ſter unſres Bundes ſtand jetzt entſchieden Koreff da, welcher an Kenntniſſen und Geiſtesregſamkeit uns Alle uͤbertraf, und durch ſein tiefergriffenes Gemuͤth, in wel¬ chem eine hoffnungsvolle Leidenſchaft mehr und mehr aufwogte, und ihn weicher und lyriſcher ſtimmte, wie durch ſeine verſchwenderiſche Phantaſie uns hinriß und feſſelte. Was wir noch zu lernen hatten, war ihm laͤngſt erworben, er gab uns Anleitung und Rath, ſelbſt den erſten Unterricht, zum Beiſpiel im Griechiſchen, wollte er beſtreiten. Seine Liebe und ſein Willen fuͤr uns zeigten ſich graͤnzenlos. Beſonders mir galt ſeine Zuneigung und Aufmunterung. Er tadelte mich heftig, daß ich der Medizin entſagen wolle, er pries die goͤtt¬ liche Heilkunſt als den erhabenſten Beruf, er ſtellte ſie in das hellſte poetiſche Licht, und verſetzte ſie aus dem duͤrftigen Boden, auf welchem ich ſie nur kannte, in Mitte alles Ideenreichthums der Naturphiloſophie, die mir durch ihn zuerſt aufging, als auf ihr wahres Ge¬ biet, wo ſie als Koͤnigin ſchalte. Mit der Poeſie ließ63 er die Medizin Hand in Hand gehen, ein Sonett und ein Rezept waren in ſeiner Darſtellung nur verſchiedene Ausfluͤſſe derſelben Goͤttlichkeit. Genug, es war ihm ausgemacht, daß ich den Homer und Platon griechiſch leſen, aber daneben Schelling und Reil ſtudiren, und zugleich eigne Dichtungen hervorbringen muͤſſe. Seine Vorſtellungen waren lebhaft, eindringlich, bezaubernd, ſein eignes Beiſpiel wirkte verfuͤhreriſch, denn ſelten mag ſich in einem Menſchen ein ſolch angeborner Sinn und Geiſt fuͤr die Heilkunſt mit ſo zuſtimmend entwickelter allgemeinen Bildung vereinigen, wie in Koreff der Fall war, der auch als Student ſchon nach allen Weltſeiten hin ein gemachter Mann war, und als Arzt vielfach in Anſpruch genommen wurde.

Im Fruͤhjahr 1804 ſah Berlin bedeutende littera¬ riſche Gaͤſte. Schillers Anweſenheit erregte große Be¬ wegung; nicht nur in allen Geſellſchaftskreiſen bemuͤhte man ſich um ihn, auch im Theater und auf der Straße vor ſeiner Wohnung ſchallte ihm der Jubel entgegen. Leider hab 'ich ihn nicht geſehen, ich war grade ver¬ ſtimmt, und mochte die Gelegenheit, die ich beſonders bei Fichte ſehr gut finden konnte, nicht aufſuchen. Ebenſo entging mir Frau von Staël, von der allgemein ge¬ ſprochen wurde, und die uns ſchneller, als ihre Abſicht war, wieder entſchwand, weil ſie die Nachricht von der lebensgefaͤhrlichen Krankheit ihres Vaters empfangen hatte. Sie entfuͤhrte Schlegel'n mit ſich nach der64 Schweiz, was wir nicht umhin konnten ihr zur Ehre zu rechnen, obgleich wir es ihm verdachten. Ungefaͤhr in dieſer Zeit kam auch Johann von Muͤller von Wien, um in Berlin eine hoͤchſt liberale Anſtellung zu genie¬ ßen, und der Geſchichtſchreiber Friedrich des Großen zu werden. Auch dieſe Erſcheinung machte Aufſehen, und der Name klang uns bedeutungsvoll entgegen, wenn auch wenigſtens mir der Mann ſelbſt damals noch nicht bekannt wurde. Noch ehe der Sommer kam, und be¬ vor die Freunde ſich dahin und dorthin nach ihrem Be¬ rufe zerſtreut hatten, ſchien auch fuͤr mich die Nothwen¬ digkeit eines Entſchluſſes zur Aenderung meiner Lage ſich dringender aufzuſtellen. Mir waren neue Lockungen, Entwuͤrfe und Ausſichten zum Studiren geworden, dann mußte ich mein bisheriges Verhaͤltniß als voͤllig unter¬ hoͤhlt erkennen, ich konnte meiner Arbeit auf dieſem Boden taͤglich weniger Frucht und Gedeihen verſprechen, auch ſeine Lebensbluͤthen fuͤr mich waren abgebluͤht.

Nach einigen Rathſchlaͤgen und Ueberlegen ſchied ich aus dem Hauſe, nicht ohne den innigſten Schmerz; denn die theuerſten Erinnerungen und die treuſte An¬ haͤnglichkeit hielten mich ihm auf immer verknuͤpft. Ich zog zu Chamiſſo, der mir gaſtliche Zuflucht angeboten hatte. In dieſer Zeit machte ich mit dem Grafen Caſa - Valencia naͤhere Bekanntſchaft. Wir laſen zuſammen deutſche und ſpaniſche Gedichte, ich erklaͤrte ihm jene, er mir dieſe. Er ſelbſt war ein gluͤcklicher Dichter,65 und oft ſchrieb er in meiner Gegenwart improviſirend artige Verſe hin, oder uͤberſetzte die eben geleſenen deutſchen in ſpaniſche, die Spinnerin von Goethe, und ein Lied von mir, waren ihm in Aſſonanzen, die ich noch bewahre, beſonders wohlgelungen. Zwei Baͤndchen ſeiner handſchriftlichen Gedichte, die er als Offizier im Felde mitfuͤhrte, hatte er durch einen Ueberfall in den Pyrenaͤen eingebuͤßt, aber da die Quelle ſeiner Lieder ihm nach Wunſch immer ſtroͤmte, ſo bekuͤmmerte jener Verluſt ihn wenig. Die ſpaniſche Litteratur kannte er gut, und als gruͤndlicher Sprachkenner wurde er dem Profeſſor Ideler bei ſeiner in Berlin erſchienenen vor¬ trefflichen Ausgabe des Don Quijote ſehr behuͤlflich. Er ſprach mir auch von Rahel Levin, die er oft ſah, und deren Witz und Art ihn lebhaft anregte; er konnte ihr Weſen nicht ganz begreifen, bewunderte aber deſſen Eigenheiten, indem er zugleich verſuchte, wiefern ſich ihnen widerſprechen ließe. Meinen eifrigen Wunſch, dort eingefuͤhrt zu werden, wollte er erfuͤllen, wir kamen aber zu ſchnell auseinander. Er wurde nach einiger Zeit vom Geſchaͤftstraͤger, welches er damals war, zum Geſandten befoͤrdert, und verließ Berlin noch vor dem Jahre 1806. In der ſpaniſchen Revo¬ lution nahm er, gleich den meiſten ſpaniſchen Diplo¬ maten, mehr gezwungen als willig, Parthei fuͤr Joſeph Bonaparte, gerieth ſpaͤter in’s Gedraͤnge und zog ſich nach Amerika, wo er das Ungluͤck hatte, in einer Volks¬II. 566bewegung zu Mejico das Opfer des Haſſes zu werden, der ihn als Vornehmen und als Altſpanier treffen mußte.

Die freie Zeit benutzt ich nach Herzensluſt. Wir ſahen auch den von Brockes und Lippe empfohlenen Heinrich von Kleiſt, einen liebenswuͤrdigen belebten jungen Mann, der ſich uns freundſchaftlich anſchloß, aber ſorgfaͤltig noch verhehlte, daß er ſchon als Dichter aufgetreten und Verfaſſer des Trauerſpiels Die Familie Schroffenſtein ſei, und uͤberhaupt den Genius und die Kraft noch nicht verrieth, durch die er ſich nachher beruͤhmt gemacht, er gab ſich nur als einen antheil¬ vollen Strebenden, und ſchrieb mir in ſolchem Sinne in mein Stammbuch: Juͤnglinge lieben in einander das Hoͤchſte der Menſchheit, denn ſie lieben in ſich die ganze Ausbildung ihrer Naturen ſchon, um zwei oder drei gluͤcklicher Anlagen willen, die ſich eben entfernen. Wir aber wollen einander gut bleiben. Heinrich Kleiſt. Eine ſtaͤrkere Bewegung verurſachte Julius Klaproth unter uns, der von Halle ankam, und Briefe, Empfeh¬ lungen und Gedichte von Koreff an uns mitbrachte. Ein gemachter Gelehrter, der in ſeinem Fache, der chineſiſchen Sprachkunde, fuͤr einen Adler galt, oder zum wenigſten gelten wollte, der ganz friſch von Weimar, Jena und Halle kam, uͤberdies von Koreff uns geſendet war, und ſich unſren jungen, unreifen Sachen mit nachſichtsvoller Gleichſtellung anſchloß,67 mußte uns von außerordentlichſtem Reize ſein. Fuͤr ſeine orientaliſchen Studien und einige Poeſieen der neuen Schule bezeigte er vollen Ernſt und große Ach¬ tung, alle andere Gegenſtaͤnde behandelte er mit Scherz und Uebermuth. Poeſieen deklamirte er in Fuͤlle, und meiſt ging er aus dem urſpruͤnglichen Text in paro¬ direnden Humor und in die tollſten Stegreiffratzen uͤber. Wir gingen viel mit ihm, und brachten Tage und Naͤchte mit einander zu, im Thiergarten, beim Ita¬ liaͤner, bei ihm, bei uns, oft bei ganz geringer, zu¬ weilen bei uͤppiger Bewirthung. Er ſchien darauf aus¬ zugehen, alle Leute und Verhaͤltniſſe zu verhoͤhnen, und leiſtete darin alles, was geuͤbter Witz, muthwillige Ausgelaſſenheit und freche Dreiſtigkeit vermoͤgen. Aus kleinen Unfaͤllen machte er ſich nichts, gegen manche ſchuͤtzte ihn das Anſehn des beruͤhmten und geachteten Vaters, bei welchem er auch wohnte, andern wich er zu rechter Zeit durch Davonreiſen aus. Wir erlebten tauſend Spaß mit ihm, und ließen uns um deswillen auch manche Verlegenheit oder uͤble Nachrede gefallen, beſonders hielt ſich Neumann zu ihm, und war faſt ſein beſtaͤndiger Begleiter. Wir waren indeß ſo leicht nicht abzufinden, und auch eine ernſte und fruchtbare Seite mußte das Verhaͤltniß uns gewaͤhren; Klaproth konnte nicht umhin, uns mit der Lage und dem Inhalt ſeiner naͤheren Studien bekannt zu machen, und dies blieb nicht im Allgemeinen ſtehen, ſondern bildete ſich5 *68auch im Beſondern zu foͤrmlichen Unterrichtsſtunden im Perſiſchen aus, das er uns als leicht und gewinnreich anruͤhmte, und Chamiſſo draͤngte ihn ſogar zu den An¬ fangsgruͤnden des Chineſiſchen. So wenig dieſe Studien eigentlichen Grund bei uns hatten und ſo bald ſie auch abbrachen, lieferten ſie den Gewinn, fuͤr alle Folgezeit immer auf's neue ſchaͤtzbar, dieſe eigenthuͤmliche Welt einmal aus einem ihr ſelbſt angehoͤrigen, mit ihren eignen Mitteln errichteten Standpunkt auch nur von der Graͤnze naͤher angeſehen zu haben. Klaproth war auf dieſem Gebiete, wenn auch nicht ganz gruͤndlich und zuverlaͤſſig, doch noch am meiſten feſt und ſicher, in jeder andern Richtung durfte man ihm keinen Augen¬ blick trauen, er trieb mit Kenntniſſen wie mit Ver¬ ſprechungen Scherz, und ſeine lebhaften Thorheiten gingen ohne viel Bedenken auch in ſchlimme Wirklich¬ keit uͤber. Wenn er einen mahnenden Glaͤubiger in unſrer Gegenwart wegkomplimentirte, und dem Ver¬ troͤſteten, den kaum die Thuͤre entlaſſen hatte, feierlich den Homeriſchen Vers anwandte:

Jener hofft's! doch mit nichten gewaͤhrt ihm dieſes Kronion!

oder wenn er die Akademie der Wiſſenſchaften, in deren Verſammlungsſaal er bei Gelegenheit, daß Hand¬ werker darin zu thun hatten, als muͤßiger Herum¬ ſtoͤrer einen Augenblick mit hereingedrungen war, da¬ durch verhoͤhnte, daß er einen alten Degen an Bind¬69 faden von der Decke des Zimmers auf den gruͤnen Tiſch herunterſchweben ließ, und auf dieſen dazu die Verſe aus Horaz mit dicker Kreide ſchrieb:

Destrictus ensis cui super impia Cervice pendet ...

ſo war dies allerdings nur poſſenhaft, und im Noth¬ fall bezahlte der Vater die Schulden, wußte auch den Zorn ſeiner akademiſchen Mitbuͤrger zu beſaͤnftigen. Aber es gab auch andre Faͤlle, wo die Tuͤcke wirklichen Schaden anrichtete, oder gar ernſtliche Strafe zur Folge haben konnte.

Hamburg, 1804 1806.

Als willkommene Erſcheinung kam aus Berlin der verſpaͤtete aber noch endlich dem Drucke fertig entwun¬ dene zweite Jahrgang des Muſenalmanachs zu. Die Beitraͤge der fruͤhern Theilnehmer bezeugten ohne Zweifel manchen Fortſchritt, das Steigen unſers poetiſchen Ver¬ eins aber that ſich bedeutend in den neuen Theilneh¬ mern dar. Koreff, Karl von Raumer, Auguſta Klap¬ roth und Wolfart waren hinzugekommen, Theremin hatte ſeinen Namen genannt, unſern Stolz und Ruhm aber kroͤnte, daß Fichte ſelber mit vier Gedichten in unſrer Reihe ſtand. Der Almanach war diesmal in ordentlichen Verlag gegeben, es fehlte nicht an den Huͤlfsmitteln der Verbreitung, auch kam er in den70 Tagesblaͤttern genug zur Sprache, aber im Buchhandel konnte er, gleich dem vorigen, zu keinem Leben ge¬ langen. Seine Wirkung war dennoch in einem weiten Kreiſe nicht unbedeutend, und mehrte bei ſolchen Poe¬ tiſchgeſinnten, welche dem neuern Weſen ihren Sinn oder ihr Herz eroͤffnet hatten, unſer Anſehn und unſre Verhaͤltniſſe.

Einige Bekanntſchaften von hoͤherer Anregung hatten inzwiſchen auch in meinem naͤchſten[Bereiche] ſich auf¬ gethan, und es kamen die poetiſchen und uͤberhaupt die litterariſchen Intereſſen bei Gelegenheit des gruͤnen Buͤchleins nur um ſo lebhafter zur Sprache. Am eifrigſten und hingegebenſten zeigte ſich Heinrich Julius, der nach einer in Berlin bei Feßler uͤberſtandenen Er¬ ziehung nun im vaͤterlichen Hauſe bequem ſeine Kennt¬ niſſe erweiterte, bis er zu ſeiner Zeit irgend einen Lebensentſchluß faſſen wuͤrde. Er ſtudirte ſpaͤter in Heidelberg Medizin und hat ſich in der Folge durch ſeine verdienſtlichen Arbeiten zur Verbeſſerung der Straf¬ anſtalten und Gefaͤngniſſe bekannt gemacht.

Der bedeutendſte Mann, welchen ich in dieſer Zeit ſah, war ohne Zweifel Doctor Veit, ein aus Breslau gebuͤrtiger, in Hamburg anſaͤſſiger Arzt. Zwar verhielt er ſich zu meinen mediziniſchen Vorſtellungen noch pro¬ blematiſch; allein er hatte ſtrengwiſſenſchaftlichen Grund und Geiſt, und ſein tiefer, gebildeter Verſtand fuͤhrte ihn ſicher und feſt auch in Gebieten, die nicht gerade71 die ſeinigen waren. Ein Aufſatz von ihm uͤber Pascal, auch manche muͤndliche Eroͤrterungen, gaben mir einen hohen Begriff von ſeiner Einſicht, desgleichen mußte ich in ihm den Arzt dankbar verehren; gleichwohl ermaß ich ſeinen vollen Werth damals nicht, woran zum Theil ſeine ſcherzhafte und etwas mephiſtopheliſche Manier Schuld war, die ihn als Hausarzt am wenigſten kleidete, und ihm auch oft genug voͤllig verungluͤckte. Daß ich in ihm einen Jugendfreund Rahel’s zu ſchaͤtzen, und ſeine gehaltreichen, mit ihr gewechſelten Briefe einſt kennen lernen wuͤrde, lag in jener Zeit ungeahnet ver¬ borgen.

Ein helleres Licht ſtrahlte mir auf, als Friedrich Heinrich Jacobi im Februar 1805 zum Beſuch von Eutin nach Hamburg kam. Er ſtand im Begriff Hol¬ ſtein zu verlaſſen und ſich nach Muͤnchen zu begeben, wohin er als Mitglied der Akademie der Wiſſenſchaften mit anſehnlicher Beſoldung berufen war. Wollte ich den beruͤhmten Landsmann noch ſehen, der, ſchon ein Dreiundſechziger, aus dem noͤrdlichen Deutſchland ſich fuͤr immer entfernte, ſo durfte ich dieſe Gelegenheit nicht verſaͤumen. Mehr aber, als der Landsmann, reizte mich in ihm der mit Fichte in Verkehr ſtehende, der von Fichte im Leben Nicolai’s hoch anerkannte Geiſtgenoſſe, der Freund von Goethe, von Voß, von Jean Paul Richter und ſo vielen Andern. Ich faßte mir ein Herz und ging zu ihm. Mit ungemeiner Lie¬72 benswuͤrdigkeit nahm er mich auf, er hatte meinen Vater kaum, aber noch ſehr wohl meinen Großvater gekannt; meine Beziehung zu Fichte und mein Eifer fuͤr die neuere Poeſie regten ſein beſonderes Intereſſe und ich darf ſagen ſeine lebhafte Neugier auf, denn es war das erſtemal, daß ihm ein Juͤnger aus jenem Kreiſe perſoͤnlich vor Augen ſtand, und dieſes lebendige Beiſpiel gab ihm einen offnen Blick in dieſe Zuſtaͤnde und Geſinnungen, von denen ſo viel Abentheuerliches im Schwange ging, und in ſein eignes Verhaͤltniß zu denſelben, wie er denn kaum erwartet hatte, dort noch ſo gut zu ſtehen und ſo gerechnet zu werden, wie er an mir es erkennen mußte. Er fuͤhrte mich zu ſeinen beiden Schweſtern, in welchen mich die niederrheiniſche Natur ſtaͤrker anſprach, als in ihm, der in allgemeiner geiſtigen Bildung das Oertliche oder Provinzielle mehr uͤberwunden hatte. Da er bei Sievekings im Hauſe wohnte, wurde ich ſeinetwegen daſelbſt eingeladen, wo ich mich in einer großen gemiſchten Geſellſchaft von Herren und Damen fand, aber nicht ahnete, daß ich es war, auf den dieſe Verſammlung ihr Augenmerk vorzuͤglich richtete. Denn Jacobi hatte das Wunder erzaͤhlt, daß er unvermuthet einen Landsmann gefunden, der noch nicht lange von Berlin gekommen, und ein eifriger Schlegelianer ſei, und nun hatten es die Andern recht darauf angelegt, mich auf die Probe zu ſtellen. Jacobi redete mich uͤber Tiſch bei allgemeiner Stille73 mehrmals ſehr liebreich an, und gab mir Anlaß man¬ cherlei Urtheile zu aͤußern, weitere Geſpraͤche verknuͤpften ſich damit, und wiewohl alles in beſter Geſtalt und ohne eigentliches Gefecht ablief, ſo hatte das Ganze doch etwas von kriegeriſcher Demonſtration, bei welcher man die Truppen, die ſich ſchlagen koͤnnten, wenigſtens hin und her ruͤcken laͤßt. Mir fiel aber gar nichts bei der Sache auf, und mir ahnete nichts von der ge¬ faͤhrlichen Rolle, in die man mich geſtellt hatte. Ich war, freimuͤthig wie immer, und beſcheiden aus wahrer Achtung. Erſt viele Jahre nachher ſagte mir Perthes, der auch zugegen und im Geheimniß geweſen, daß man mich habe auf's Korn nehmen und zum Uebermuth ver¬ leiten wollen, da man denn nachher um ſo leichter mich wuͤrde in Verwirrung und in mir die Schlegel’ſche Schule zu einer Niederlage gebracht haben. Aber Perthes meinte, ich habe mich damals vortrefflich aus der Sache gezogen, mit ſolcher ſchicklichen Haltung und gemeſſenen Gewandtheit, daß man mir nichts anhaben gekonnt, ſondern mit Verwunderung mich habe gelten laſſen. Er fuͤgte hinzu, ich haͤtte ſchon damals meinen Beruf zum Diplomatiker voͤllig bewaͤhrt. Wenn ich dieſes Lob einmal annehmen ſoll, ſo traͤgt lediglich meine Unbefangenheit davon die Ehre, denn ich kann betheuern, daß ich weder Abſicht merkte noch hatte, und dieſe Wirkung einer Eigenſchaft, an deren Statt man meiſtentheils lieber Klugheit vorausſetzen will, habe74 ich noch oft zu meinem großen Vortheil, aber auch nicht ſelten zu meiner gaͤnzlichen Verkennung, erfahren muͤſſen.

Bei wiederholten Einladungen und vertraulichern Geſpraͤchen konnte ich Jacobi'n meine ganze Lage um¬ ſtaͤndlich aufdecken. Er bewieß mir vaͤterliches Wohl¬ wollen, verſprach in Muͤnchen, wo ſich ihm ſo mannig¬ facher Einfluß eroͤffne, an mich zu denken, und hielt nicht fuͤr unmoͤglich, daß ich als geborner Pfalzbaier von der dortigen Regierung beruͤckſichtigt wuͤrde. Vor allen Dingen ermahnte er mich zum Fleiß, zum immer¬ waͤhrenden, beharrlichen Fleiß, um, nach Seneca's Spruch, mit der Eile der Zeit durch die Schnelligkeit ihrer Benutzung zu wetteifern. An meinem Verlangen zum Griechiſchen nahm er um ſo erregtern Antheil, als er ſich in gleichem Falle mit mir befand, und den Mangel ausreichender Kenntniß dieſer in neuere Bildung ſtets gewaltiger eingreifenden Sprache mit jedem Jahre ſchmerzlicher empfunden und nie erſetzt hatte. Mein Bemuͤhen fand ſeinen ganzen Beifall, aber es duͤnkte ihn zu hart und ſchwer, ohne fremde Huͤlfe durch die Anfangsgruͤnde ſich durchzuringen, er machte mich mit dem Profeſſor am Gymnaſium und Direktor der Jo¬ hannisſchule, dem erſt kuͤrzlich von Kloſter-Bergen hier¬ her verſetzten Doctor Gurlitt bekannt, und hoffte, es werde ſich mit dem trefflichen gelehrten Mann ein Unter¬ richt irgendwie verabreden laſſen. Bald nachher reiſ'te75 Jacobi nach Muͤnchen ab, und ich habe ihn nicht wieder¬ geſehen, noch mit ihm eine weitre Verbindung gehabt. Der edle Eindruck aber ſeiner ſchoͤnen hohen Geſtalt, der geiſtreichmilden Geſichtszuͤge, der eindringlich ange¬ nehmen Rede und der wuͤrdigen und feinen Weltbildung, kann mir niemals erloͤſchen. In ſeiner Erſcheinung war die Vornehmheit eines Weiſen und eines Staats¬ mannes vereinigt, wobei doch ſein Gemuͤth einige Reizung verrieth, die auf einen, weder dem Geiſte noch der Lei¬ denſchaft nach, voͤllig beruhigten Zuſtand deutete, wel¬ chen er gleichwohl in ſich zu haben und nach außen darzuſtellen nicht aufgeben konnte. Sein perſoͤnlicher Um¬ gang aber war ſo anmuthig und gewinnend, daß auch entſchiedene Gegner, wie Tieck und Schleiermacher, ihren fruͤheren litterariſchen Urtheilen zum Trotz, bei perſoͤn¬ lichem Beſuch in Muͤnchen als ſeine innigen Verehrer von ihm geſchieden ſind. Neumann kam gegen Ende des Maͤrz nach Hamburg. Mit welchem Entzuͤcken nahm ich ihn auf, welch erhoͤhtes Leben brachte mir ſeine Gegenwart! Jetzt war ich wieder in unmittelbarem Zuſammenhange mit allem, was ich in Berlin gewonnen hatte, und alles, was mich in Hamburg umgab, wurde mir freundlicher. Auch er ſchien unſer Zuſammenſein als ein Gluͤck zu empfinden, und vermehrte dadurch das meinige. Er fand mich uͤbrigens in dem angedeuteten Zuge des Griechiſchlernens, und ſaͤumte nicht ſich an¬ zuſchließen, ich fuͤhrte ihn zu Gurlitt, der einen zweiten76 Schuͤler dieſer Art mit freudiger Verwundrung aufnahm, und ihm denſelben Gang, wie fruͤher mir, anwies.

Gegen Ende des Mai hatten wir eine Gelegenheit unſre Faſſung und Standhaftigkeit bei einer harten An¬ fechtung darzuthun. Die bisherigen unguͤnſtigen Rezen¬ ſionen unſrer Almanache hatten uns mehr oder minder verdroſſen, aber nicht kraͤnken duͤrfen, da ſie von keinem Orte herkamen, den wir anerkannten, ſondern im Gegen¬ theil meiſt von ſolchen, denen wir zuerſt uns als Feinde gezeigt. Wir troͤſteten uns mit unſrem eignen Bewußt¬ ſein und mit der ausgeſprochenen oder vorausgeſetzten Zuſtimmung der Haͤupter, welchen wir als erwaͤhlten Fuͤhrern angehoͤren wollten. Die neue jenaiſche Litte¬ raturzeitung, das Blatt, bei welchem Goethe an der Spitze ſtand, Auguſt Wilhelm Schlegel, Bernhard, und ſogar Werner mitwirkten, und welches uͤbehaupt als das Organ des raſchen geiſtreichen Fortſchreitens galt, hatte bisher uͤber uns geſchwiegen, wir dachten, wenn daſſelbe nur erſt von uns ſpraͤche, ſo wuͤrde damit unſre litterariſche Empfehlung vollendet ſein. Jetzt brachte die jenaiſche Zeitung uns ihren Spruch, aber wie ſollten wir uͤberraſcht werden! Nicht mit Einer Rezenſion, wie gewoͤhnlich, ſondern ausnahmsweiſe gleich mit zweien, einer kuͤrzern und einer ausfuͤhrlichern, durch zwei verſchiedene, in aͤtzender Schaͤrfe wetteifernde Re¬ zenſenten, wurden wir abgefertigt, fuͤr flache, talentloſe Nachahmer der Schlegel erklaͤrt, als abſchreckende Bei¬77 ſpiele der traurigſten Verirrung aufgeſtellt, gaͤnzlich ver¬ worfen, und zuletzt noch durch ein Spottſonett grimmig verhoͤhnt! Das war mehr, als wir verdient hatten; in manchen Beſchuldigungen war die Ungerechtigkeit offenbar, der Tadel auf aͤußern Schein begruͤndet, z. B. die Bezeichnung einiger Gedichte in unſrem Almanache durch Sternchen wurde fuͤr eine ſchlechte Nachaͤfferei des Schlegel-Tieck’ſchen Muſenalmanachs ausgegeben, wo auch ſolche Sternchen vorkaͤmen, wobei der Rezenſent freilich nicht ahndete, daß jene wie dieſe grade ein - und dieſelbe Perſon verdeckten, naͤmlich Fichte’n. Ich hielt die Litteraturzeitung ſelbſt, und bekam die Blaͤtter ganz friſch von der Poſt. In ſolcher Lage befindet man ſich wohl ſelten, wir ſahen einander an, zergliederten das Geſagte, und jemehr wir Stoff darin zum Widerſpruche fanden, um deſto ſchlimmer ſtellte ſich die Thatſache, daß wir gerade von dorther ſo arg mißhandelt waren. Unter den entfernten Freunden richtete dieſe geplatzte Bombe nicht geringe Verwuͤſtung an, der Eine war hoͤchſt unwillig, der Andre konnnte nach Jahren noch ſeine ſchmerzliche Empfindlichkeit nicht verlaͤugnen, Ro¬ bert verſchwor in ſeiner Unluſt alles fernere Drucken¬ laſſen. Was mich uͤber die Mißempfindung ſchneller hinweg hob, war der Eindruck, welchen die Sache nach außen machen wollte. Ein Uebelwollender hatte ſich die einzelnen Blaͤtter am Tage ihrer Ankunft verſchafft, und ſie in unſrem Hauſe anonym abgegeben. Man verſtand78 ſoviel, daß uns darin ſehr weh gethan ſei, wollte mit zarter Schonung alles in Stillſchweigen voruͤbergehen laſſen, und war voll aͤngſtlicher Sorge, bis ich ſelbſt von der uns zu Theil gewordenen Geißelung zu reden anfing, und ich nun auch jene Bosheit und dieſes Mit¬ leid erfuhr. Das aber ſetzte mich gleich in geruͤſtete Verfaſſung, ich konnte jenen uͤblen Willen verachten, und bedurfte dieſer bedauernden Schonung nicht; mit Heiterkeit bot ich den forſchenden Blicken und lispeln¬ den Gereden den uͤberlegenſten Trotz, und mir war wirklich ſo zu Muth, daß ich mich uͤber das ganze Ereigniß ernſthaft und ſcherzend weit hinausſetzen konnte. Veit, der vielleicht mit etwas Schadenfreude mich ge¬ beugt zu ſehen erwartet hatte, und mich ſo guter Dinge fand, urtheilte gleich geringer von dem, was ſo wenig erſchuͤttert hatte, und Reinhold lachte nur mit uns uͤber die uns widerfahrne Ehre. Denn auffallend zeigte ſich von den boͤſen Rezenſionen durch Ruͤckſchlag ſogar eine guͤnſtige Wirkung, wo wir ſie am wenigſten erwartet hatten. Richtung und Gang der neuen jenaiſchen Zei¬ tung waren keineswegs allgemein gebilligt, geheim und oͤffentlich ſtanden dem neuen Geiſte viele durch Gelehr¬ ſamkeit und Wuͤrden achtbare Maͤnner entgegen, und weit entfernt, daß wir z. B. bei Gurlitt durch den Tadel von Jena her verloren haͤtten, ſtiegen wir da¬ durch bei ihn, und der alte wackre Ebeling meinte, daß79 wir zu gut waͤren, um der neuen Schule anzugehoͤren, und uns derſelben nun voͤllig entſchlagen ſollten.

Aber ganz und gar nicht war das unſre Meinung. Ein Brief von Friedrich Schlegel aus Koͤln erfriſchte und beſtaͤrkte in dieſer noch mehr das Vertrauen, wel¬ ches uns nach dieſer Seite zog. In einem Hefte der Europa hatte Schlegel die litterariſche Anfrage ergehen laſſen, ob und wo die deutſche Ueberſetzung, welche Adam Olearius, wie die Vorrede zu Meninsky's Lexikon erwaͤhne, von dem Guliſtan und Boſtan des Dichters Saadi aus Perſien mitgebracht habe, vielleicht hand¬ ſchriftlich noch vorhanden ſei? Der Zufall aber hatte mich dieſe Ueberſetzung gedruckt auffinden laſſen, und ich nicht verſaͤumt dies zu melden, indem ich zugleich unſren Almanach uͤberſandte und von unſren Beſtre¬ bungen umſtaͤndlichen Bericht gab. Hierauf nun ant¬ wortete Schlegel ſehr freundlich und wohlmeinend, billigte unſre Studien, weniger unſre Poeſie, indem er, wie ſchon fruͤher Fichte, ſtatt kleiner lyriſchen Stuͤcke, bei welchen noch uͤberdies die Gefahr walte, daß ſie nach und nach bloß Wiederholungen ihrer ſelbſt wuͤrden, groͤßere Arbeiten verlangte; und wiewohl ſeine Worte eher abſchreckend als aufmunternd zu deuten waren, ſo dankte ich ſie ihm, der ernſten Meinung und des ge¬ wichtigen Inhalts wegen, doch von ganzem Herzen, und fand mich durch ſolchen Zuſpruch mehr geehrt, als durch Schmeichelei oder Schonung. Der Brief wurde auch80 den Freunden aͤmſig mitgetheilt und von allen hoch auf¬ genommen, hatte jedoch in Betreff unſrer Gedichte keinen hemmenden Einfluß, wir machten lyriſche nach wie vor, je nachdem der Tag ſie gab und erlaubte, und ver¬ ſchoben groͤßere Plane auf kuͤnftige Zeit.

Ich zog bei Neumann ein, und wir befanden uns zwar in einiger Enge, aber doch ganz gut. Ungehemm¬ ten Eifers warfen wir nun mit allen Kraͤften uns auf das Griechiſche, und nahmen jede Gelegenheit wahr, die ſich unſrem Verlangen darbot. Wir ließen uns foͤrmlich zu Mitgliedern des Gymnaſiums aufnehmen, beſuchten aber hauptſaͤchlich die Lehrſtunden des Johanneums. Zum erſtenmal genoß ich frei und ungetruͤbt das hohe Gluͤck, ohne Hemmung und Ablenkung die herrlichſten Geiſtes¬ wege zu durchſchreiten, zu welchen heiße Neigung und tiefes Beduͤrfniß mich ſchon ſo lange Zeit hindraͤngten, wie keine Jugendleidenſchaft es heftiger zu andern Ge¬ genſtaͤnden gekonnt haͤtte. Die ſchoͤnen Sommertage waren es jetzt mir dadurch erſt recht, daß ich, dem Freunde gegenuͤber, im Genuß aller Lockungen des lich¬ ten und milden Wetters, aber durch noch hoͤheren Reiz gefeſſelt, vom fruͤhen Morgen bis zum ſpaͤten Abend angeſtrengt uͤber den Buͤchern ſitzen konnte, und ich empfand in dem beharrlichen, nachdruͤcklichen Fleiß eine Befriedigung, ein Wohlſein und Gedeihen, wie ſie nicht oft im ſo vielfach geſtoͤrten Leben erreicht werden. Die Wochen, welche uns auf dieſe Weiſe dahin floſſen,81 gehoͤren gewiß zu den beſten, die wir gelebt haben. Warum konnten ſie nicht ungehemmt ſo fortdauern und ſich zu Jahren aufreihen? Weiß der Himmel, was hier dem klaren Aether ſich wieder als Streifgewoͤlk einſchleichen durfte, aber dieſer Zug von Tagen wollte ſich nicht in’s Unbegraͤnzte fortfuͤhren laſſen. Nicht daß wir aufgehoͤrt haͤtten, fleißig und eifrig zu ſein, keineswegs! Aber der friſche, grade Hauch, der in unſre Segel blies, der uns raſch und freundlich auf hoher Fluth unſren Ster¬ nen zufuͤhrte, dieſer Gluͤckswind, der zugleich in und um uns wehte, hatte etwas von des Wetters Wandel¬ barkeit, wie er von deſſen Schoͤnheit hatte. Der Erfolg wuͤrde außerordentlich geweſen ſein, haͤtten wir ſo fort¬ fahren koͤnnen, denn zum Erſtaunen ſahen wir uns die ſchaͤumenden Wogen durchſchneiden und die Strecken des Weges hinter uns laſſen; ich kann ſagen, daß dieſer Ruck mir fuͤr alles weitre Studium den eigentlichen Durchbruch gegeben. Wir hatten Uebungen in Latein¬ ſchreiben, hoͤrten Vortraͤge uͤber den Cicero vom Redner, uͤber den Livius, dann uͤber Homers Ilias, uͤber den Herodotos, und bald auch uͤber den Pindar, die Sati¬ ren des Horaz und den Plutos des Ariſtophanes. Wir waren ſolchergeſtalt auf einmal mitten in das Wogen¬ gedraͤnge des Alterthums verſetzt, und mußten wacker arbeiten, um ſchwimmend im Strom zu bleiben. Gur¬ litt hatte ſeine Freude daran, und half uns wohlwollendII. 682Und einſichtsvoll mit Rath und That. Der Homer war mir nach Inhalt und Farbe nicht mehr ſo neu, daß ich ihm eine erſte Liebe jetzt erſt haͤtte zuwenden koͤn¬ nen, aber ein wachſendes Verſtehen im Zauber dieſer herrlichen Sprache und im Reize der befluͤgelten Hexa¬ meter ſich anzueignen, war eine beſtaͤndige Luſt, ein uͤberbelohntes Bemuͤhn. Staͤrker noch zog diesmal der gute Herodotos meine Neigung an, den ich zuerſt hier und gleich in ſeiner urſpruͤnglichen Anmuth und Lieblich¬ keit kennen lernte. Die Erzaͤhlung des griechiſchen Frei¬ heitskriegs gegen die Perſer entzuͤckte mich, ich eilte aber der Schule, wo dieſer Abſchnitt grade geleſen wurde, weit voran, und ſuchte in den Autor von mehreren Seiten zugleich einzudringen, wozu ich mir auch die Weſſeling'ſchen und Valckenaer'ſchen Anmerkungen, in welchen ich das eigentlich philologiſche Weſen naͤher be¬ ſchauen lernte, zu Huͤlfe nahm. Mit dem Lateiniſchen mocht 'ich mich weniger befaſſen, und die gebildeten Horaziſchen Sermonen wurden neben den gewaltigen Griechen mir faſt peinlich.

Wir konnten mit den zahlreichen Mitſchuͤlern nicht taͤglich zuſammen ſein, ohne alsbald diejenigen unter ihnen ausgefunden zu haben, mit denen eine geiſtige Annaͤherung moͤglich war. Dieſe gelehrte Schule hegte in ihrer ſtillen Tuͤchtigkeit mehr wackern und ausgezeich¬ neten Geiſt, als wir je vermuthet haͤtten. Zuerſt habe83 ich Karl Sieveking zu nennen, den jetzigen Syndikus ſeiner Vaterſtadt, der ſchon damals durch ſeine Bildung und vielfache Kenntniſſe ſich bemerkbar machte, ſo z. B. hatte er zu Luſt und Uebung eine Tragoͤdie des Aeſchy¬ los metriſch uͤberſetzt; ferner Middeldorpf, der jetzt Pro¬ feſſor der Theologie in Breslau iſt, und ſchon damals ſeine Vorliebe fuͤr das Hebraͤiſche zeigte; dann waͤre Emanuel zu nennen, der ſpaͤter ein tuͤchtiger Schulmann im Preußiſchen geworden, Noodt, erſt Prediger in Ber¬ lin und dann im Hamburg, Moldenhawer, Arzt in Berlin, und manche Andre.

Zu wahrhaft innigem Verein aber gelangten wir mit David Mendel, einem ſtillen und ſcheuen Juͤngling, der aber von tiefer Gluth erfuͤllt war. Aus Goͤttingen ge¬ buͤrtig, war er mit Mutter und Schweſtern fruͤh nach Hamburg gekommen, wo er den Schulſtudien fleißig oblag. Sein Aeußeres war ganz vernachlaͤſſigt; die Sinnenwelt hatte fuͤr ihn keinen Reiz, bot ihm kein Vergnuͤgen, keine Zerſtreuung, ja kaum einen Gegen¬ ſtand, und er ſuchte in ſeinem Innern Erſatz fuͤr all' dieſe Entbehrungen. Er beſaß in den alten Sprachen große Gelaͤufigkeit. Das Griechiſche hatte ihn auf den Platon gefuͤhrt, und ſeit er dieſen gefunden, ſaß er nun und ſtudirte ihn unablaͤſſig, beſonders die Buͤcher vom Staat, deren Ideen er ganz in ſich aufnahm und ver¬ arbeitete. Es gereicht dem wuͤrdigen Gurlitt zur Ehre,6 *84und zeigt von dem beſſern Geiſte, der unter ſeiner Lei¬ tung die hamburgiſche ſtudirende Jugend beſeelte, daß David Mendel, bei ſolchem Aeußern und ſolcher Eigen¬ heit, wegen ſeines Wiſſens und Eifers wahrhaft geach¬ tet wurde, worin die angeſehenſten und grade nach außen ſtattlichſten Mitſchuͤler das Beiſpiel gaben. Sein philoſophiſcher Eifer verband ſich leicht mit unſrem poe¬ tiſchen, beide waren in ihrer Unreife einander aͤhnlich genug. Er zog uns in ſeine Platoniſchen Kreiſe hin¬ ein, und wir gewannen wenigſtens an Kenntniß und Uebung des Griechiſchen, ſo wenig ihm ſelbſt an der Sprache als ſolcher etwas gelegen war; dafuͤr brachten wir ihm manchen Funken und Strahl aus der neuern Litteratur zu. Fuͤr den griechiſchen Staat, fuͤr die griechiſchen Religionsvorſtellungen, uͤberhaupt fuͤr das griechiſche Leben, war er leidenſchaftlich eingenommen, ebenſo fuͤr die franzoͤſiſche Freiheit und Gleichheit, von deren Erſcheinungen er genug wußte, um ſich als er¬ klaͤrten Anhaͤnger der Girondiſten zu bekennen, als welche mit Geiſt und Tugend einen Freiſtaat gewollt, und fuͤr ihre Ideen groͤßtentheils das Leben geopfert haͤtten. Dergleichen Beſonderheit erregte Kopfſchuͤtteln, wie auch die ungemeine Liebe zum Platon, welche zwar nachge¬ ſehen, aber doch als Schwaͤrmerei mißbilligt wurde; ſie dauerte jedoch beharrlich fort, und ſchloß nach und nach auch andre Philoſophen, beſonders die Pythagoraͤer,85 mit ein, von den Neuern Spinoza und Fichte. Nie¬ mals vielleicht war mehr ſpekulativer Drang bei weni¬ ger ſpekulativem Talent, denn im Grunde, wie die Folge gezeigt, mangelte dies ganz, wenn auch ein ach¬ tungswuͤrdiger und begeiſterter Eifer fuͤr das erkannte Gute ſich immerfort bewaͤhrte.

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Die Univerſität.

Halle, 1806. 1807.

In der erſten Tagesfruͤhe des 21. Aprils fuhren wir in Halle ein, Raſſeln und Stoͤße des Wagens auf dem holprigen Steinpflaſter entriſſen uns der Schlaftrunken¬ heit, und die alterthuͤmliche, noch in tiefer Ruhe liegende Stadt mit ihren ſtillen Straßen und Fenſtern ſprach uns Ermunterte geiſterhaft an. Ich fuͤhlte das ganze Gewicht dieſes Augenblickes, der mich in ein neues Leben eingehen ließ, das ich laͤngſt erſehnt und gehofft hatte, und in ſeiner Erfuͤllung noch bezweifelte! Mir war zu Muth, als betraͤte ich ein Heiligthum, eine geweihte Staͤtte. Die Stille hatte etwas Ahndungs¬ volles und Schauerliches, ſie verhuͤllte ein unendliches Leben, der Jugend und des Geiſtes, das mit der ſtei¬ genden Sonne ſogleich neben allem Treiben der ſtaͤdti¬ ſchen Welt in tauſendfachen Regungen zu erwachen begann. Unſer Freund Loͤbell, der von Hamburg ſchon fruͤher unſre Auftraͤge empfangen hatte, war ſchnell87 aufgefunden, und ein erſter Ausflug nach Wohnung verſchaffte uns gleich die entzuͤckendſte, außerhalb des Thores, in den ſogenannten Pulverweiden, dicht an der Saale, die hier einen ihrer rauſchenden Waſſerfaͤlle bildete; unſre Fenſter zeigten uns uͤppige Wieſen, ſchoͤne Pappelreihen, dahinter die ſich erhebende Stadt, auf der andern Seite den gebogenen Lauf der Saale, Feld und Wald jenſeits, und uͤber die hohe Bruͤcke hinaus die Felſenwaͤnde eines großen Steinbruches. Mit welch ſeliger Befriedigung ſetzten wir uns hier feſt, mit welchen herrlichen Ausſichten auf den Vollgenuß des goͤttlichſten Studienlebens! Unſre Zimmer lagen in zweien Stock¬ werken, ſie waren nicht dreifach abzutheilen, und Einer von uns mußte Neander'n bei ſich aufnehmen, wir looſten, und er fiel mir zu, da wir uns denn in Stube und Kammer gemeinſchaftlich zu behelfen ſuchten. Von einem kaͤrglichen Mittageſſen an einem Studententiſche, das unſrer Begeiſterung nicht ſtoͤrend wurde, eilten wir in Stadt und Umgegend vorlaͤufige Kenntniß der Oertlichkeit zu nehmen, und ſo fuͤr viele bedeutende Namen und Beziehungen, die wir ſchon wußten, nun auch die wirklichen Gegenſtaͤnde zu erblicken. Beſonders begluͤckte uns Gibichenſtein, mit ſeinen traulichen Ufern, hohen Felſen, alten Sagen und friſchen Erinnerungen, die ſich uns dort aus Koreff's Erzaͤhlungen anknuͤpften. Zum erſtenmal in einer Univerſitaͤtsſtadt von dem An¬ blicke des Studentenweſens getroffen, empfingen wir88 auch von dieſer Seite Reiz und Stoff der lebhafteſten Betrachtung; Benehmen, Kleidung und Sprache der Juͤnglinge bezeugte ihre Freiheit, die denn doch durch eigne Satzungen und Regeln in vieler Art gezuͤgelt und auch ſonſt durch Sitte, Duͤrftigkeit und Ruͤckſichten genugſam wieder beſchraͤnkt wurde. Die Mehrzahl der Burſchen zwar lebte in dem uͤblichen Herkommen, hatte ihre Fechtuͤbungen und Zweikaͤmpfe, ſo wie ihre Gelage und Heldenthaten in Breihantrinken und Tabakrauchen, goͤnnte aber jedem, der ſich nicht zu ihnen halten mochte, und ihr Treiben nur nicht etwa ſonderbar finden wollte, wie denn dieſer Ausdruck ſelbſt hoͤchlich ver¬ poͤnt war gern ſeinen eignen Weg, ſogar auf dem breiten Stein in der Mitte der Straßen, den man ſich untereinander ſchon leichter freigab, und nur den ſoge¬ nannten Philiſtern mit Eiferſucht beſtritt. Die Frequenz war ſehr groß, man rechnete gegen fuͤnfzehnhundert Studirende, die ſich in verſchiedene Landsmannſchaften theilten, wiewohl eine auch nicht geringe Anzahl ſich wenig oder gar nicht an dieſe Vereine hielt. Wir blieben natuͤrlich von ſolcher Theilnahme fern, und konnten uns uͤberhaupt nicht verhehlen, daß wir das eigentliche Studentengefuͤhl doch nicht in uns hegten, daß wir in manchem Betracht die Univerſitaͤt, die vor uns lag, ſchon im Ruͤcken hatten, und ſchon weitern Verhaͤltniſſen an¬ gehoͤrten, die mit voͤlliger Hingebung an die neue Lage kaum vereinbar waren.

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Der Bezug dieſer Verhaͤltniſſe erſchien mir in ſtarker Mahnung gleich bei dem Immatrikulieren, zu welchem wir uns bei dem Prorektor Maaß meldeten. Schon waͤhrend der Reiſe hatte ich uͤber die zukuͤnftige Geſtalt meines Lebens ernſtlich nachgedacht, und wohl gefuͤhlt, daß es Frevel waͤre, ohne Ruͤckſicht auf die gewoͤhn¬ lichen Fuͤgungen durchaus eine geniale Laufbahn anzu¬ ſprechen. Wollte ich einen freien Stand und eine gruͤnd¬ liche Thaͤtigkeit in der buͤrgerlichen Welt haben, dachte ich ſo viele Erwartungen und Wuͤnſche, die mir zuge¬ wachſen waren, nicht voͤllig zu taͤuſchen, oder in unge¬ meſſene Form zu ſchieben, ſo mußte ich nothwendig die Arzneiwiſſenſchaft wieder pflegen, da die Philologie, entweder nur handwerksmaͤßig dem Schulfache zufuͤhrte, oder fuͤr andre Stellung eine Meiſterſchaft erforderte, die wir uns keineswegs vermaßen ſo ſchnell wenn irgend je zu erwerben. Ich ließ mich daher als Befliſſenen der Medizin und der Philologie einſchreiben, zur Verwunderung der Andern, die meines Sinnes noch nicht kundig waren, und indem ich mein Augen¬ merk fortan wieder auf jene Studien richtete, gab ich mir nur die beruhigende Friſt noch, wenigſtens das erſte halbe Jahr ungetheilt meinen freieſten Neigungen zuzu¬ wenden, welches auch um ſo leichter anging, als mir eine gewiſſe Stufe in der Kenntniß der Alten und in allgemeiner Geiſtesbildung unentbehrliches Beduͤrfniß war, und meine mediziniſchen Vorkenntniſſe mich uͤber die90 ſchwierigſten Anfaͤnge dieſes Studiums weit hinweg¬ ſetzten.

Nach der Einſchreibung begaben wir uns zufoͤrderſt zum Geheimen Rath Wolf, an den uns Gurlitt und Nolte Empfehlungsſchreiben gegeben hatten, und meldeten uns zu ſeinen Vorleſungen; leider las er diesmal nicht uͤber den Homer, noch ſonſt uͤber einen alten Schrift¬ ſteller, doch waren wir auf ſeine Geſchichte der alten Voͤlker ſehr begierig. Friedrich Auguſt Wolf erſchien unter den Gelehrten wie ein Koͤnig, umgeben von ſolchem geiſtigen Anſehn, von ſolcher Macht und Groͤße der Gegenwart. Seine hohe, behagliche Geſtalt, ſeine gro߬ artige Ruhe und alles wie durch Gebot leicht beherr¬ ſchende Thaͤtigkeit, gaben ihm den Glanz einer Wuͤrde, deren er nicht einmal zu beduͤrfen ſchien, denn er ſtellte ſich bereitwillig den Andern gleich, und liebte, nach Art eines Friedrich, auch ohne den Prunk ſeiner Macht blos als Menſch, in freiem Witz, in Laune und Scherz, noch immer herrſcherlich zu wirken. Er beſaß alle Guͤter und Huͤlfsmittel der Pedanterie, aber alle hatte er durch¬ geiſtet, und ſchaltete frei mit ihnen, ſo daß er wie uͤber ſeinem Wiſſen auch uͤber allen ſeinen Wiſſensge¬ noſſen ſtand, und hinwieder durch ſein Wiſſen jedem andern Gelehrten eine beneidenswerthe Grundlage aller Geiſtesbildung zu ſchauen gab. Sein freundlicher Empfang, ſeine Fragen und Rathſchlaͤge, ließen uns gleich die ſcharf¬ geiſtige Munterkeit empfinden, auf die man uns ſchon91 vorbereitet hatte; ſeine herzliche Achtung fuͤr Gurlitt that uns wohl, uͤber Bernhardi und Nolte hatten wir auch nur Erwuͤnſchtes zu vernehmen, und als wir nicht ohne Abſicht uns ruͤhmten, von letzterem auch an Nie¬ meyer empfohlen zu fein, der uns laͤngſt als Zielſcheibe der ſcharfen und neckenden Pfeile des fernhintreffenden Helden bekannt war, hatten wir uns des heiterſten Scherzes zu freuen, der hoͤchſt anmuthig den Gegen¬ ſtand gleichſam durch die Finger gleiten ließ, ohne ihn halten zu wollen, noch geradezu wegzuwerfen. Spaͤter fand ich bei Niemeyer denn doch einen wohlmeinenden Sinn, der an ſeiner Stelle viel Gutes gewirkt haben mag, aber freilich im Wiſſenſchaftlichen einer eitlen Mittelmaͤßigkeit froͤhnte, die ſich auch im Geſelligen nicht verlaͤugnen konnte, und mich, ungeachtet der eifrigſten Einladungen, nur abſchreckte, ihn und ſein Haus oͤfters zu beſuchen.

Von Hamburg her war ich dem Kapellmeiſter Rei¬ chardt empfohlen, der in Gibichenſtein mit zahlreicher Familie ein eignes Haus bewohnte und einen ſchoͤnen Garten mit gluͤcklichen Anlagen und Pflanzungen huͤgelauf erweiterte. Kunſtuͤbend und gaſtfrei, dabei litterariſch und nach Umſtaͤnden politiſch vielfaͤltig, mit Gelehrten und Vornehmen weit und breit verbunden oder bekannt, fuͤhrte Reichardt in Halle gleichſam das Anſehn und Wort des gebildeten Weltmanns, und wenn auch ſeine vermittelnde und beſchuͤtzende Vornehmheit heimlich92 einigen Spott erfuhr, ſo wurde ſie doch in offenbarer Weiſe nicht leicht ſtreitig gemacht. Selbſt die Studen¬ ten, von denen er in einer Zeitſchrift allzu leichtſinnig geſagt, ſie ſeien leider noch ſehr roh und ungeſittet, und die ihm deßhalb kuͤrzlich die Fenſter eingeworfen hatten, erkannten ſeine Ueberlegenheit mit laͤchelnder Billigung an, als er gleich darauf in derſelben Zeit¬ ſchrift, unter Berufung auf das Vorgefallene, ſeine fruͤhere Aeußerung widerrief. Auch fuͤr mich und Neu¬ mann eroͤffnete ſich freundlich ſeine Goͤnnerſchaft, und er machte es zu einer Hauptſache, daß wir ſeinen Schwiegerſohn Steffens, und deſſen und ſeinen Freund Schleiermacher, fuͤr welche wir unbegraͤnzte Verehrung bezeigten, zuerſt bei ihm ſehen ſollten. Dies geſchah am naͤchſten Sonntage zu Mittag, und grade in der reichen Umgebung weniger guͤnſtig. Denn der heitre, jugendliche, huͤbſche, von beredter Geiſtigkeit ſprudelnde Steffens ließ zwar unter keinen Umſtaͤnden ſich in ſeiner Lebhaftigkeit ſtoͤren, und war eine ſo liebenswuͤrdige als geniale Erſcheinung, aber der unanſehnliche, in ſeinem Benehmen zuruͤckhaltende, Gemuͤth und Begeiſte¬ rung verlaͤugnende, und nur zuweilen kurz und ſcharf dazwiſchenredende Schleiermacher verſchwamm in der Geſellſchaft, die ihn mehr bedeckte als trug, und beide Freunde zeigten ſich in eingeuͤbten Scherzen und uͤber¬ einkoͤmmlichen Redensarten dieſes Kreiſes mehr daheim und behaglich, als uns, die wir ſolchen Maͤnnern vor93 allem unſre Bewunderung und unſer Zutrauen anzu¬ bringen ſtrebten, lieb ſein konnte. Beſonders war Schleiermacher ganz wider unſre Erwartung, ohne daß dies jedoch der großen Verehrung, die wir fuͤr ihn hegten, Abbruch that, denn was er der Einbildungskraft nahm, erſetzte er durch klaren, leuchtenden Verſtand. Die Frauen des Hauſes huldigten ihm ſehr, und man widerſprach ihm nicht leicht, welches deſto haͤufiger Andern widerfuhr, indem beſonders Reichardt ſeine Naͤchſten auch wohl in Dingen, worin ſie ihn uͤberſahen, zu berichtigen liebte.

Schleiermacher und Steffens luden uns zu ihren Geſellſchaften ein, wozu jeder von ihnen einen beſtimm¬ ten Abend in der Woche auserſehen hatte. Wir kamen dadurch ſogleich in ein naͤheres Vernehmen mit dieſen Lehrern, denen uns anzuſchließen wir die entſchiedene Neigung auch in jeder Weiſe darlegten. Nicht an feſt¬ geſetzten Tagen, aber zuweilen, nach Gunſt und Ge¬ legenheit, lud uns auch Wolf zu ſich, und Haus und Garten von Reichardt ſtanden faſt jederzeit dem Beſuch eroͤffnet. Von allen dieſen Beziehungen hatte ſich gleich anfangs Neander hartnaͤckig zuruͤckgehalten, und ſeine zum ſtarren Trotz gewordene Schuͤchternheit war durch kein Zureden zu uͤberwinden. Er machte die nothduͤrf¬ tigen Beſuche bei den Profeſſoren, deren Vorleſungen er zu hoͤren dachte, ließ ſich mit ein paar jungen Theo¬ logen bekannt werden, die hinter dem Sonderling einige94 bedeutende Eigenſchaften witterten, und ſaß uͤbrigens immerfort bei ſeinen Buͤchern, indem weder Natur noch Geſelligkeit fuͤr ihn den geringſten Reiz hatten. Dieſe angehende Entfernung zwiſchen uns mußte aber grade durch die große Naͤhe unſres Zuſammlebens noch ſtaͤrker hervorwachſen. Dabei wurde der weite Weg von den Pulverweiden zur Stadt, und von da zuruͤck, wobei er ſich faſt regelmaͤßig verirrte, ihm hoͤchſt ver¬ drießlich, und ſo entſchloß er ſich eines Tages kurz und gut, und nahm mit Huͤlfe jener Theologen eine eigne Wohnung in der Stadt, wodurch ich einer großen Laſt ledig wurde, wiewohl ich mit Neumann nicht wenig in Sorgen ſtand, was nun aus ihm werden ſolle, bis wir uns verſichert hatten, daß ſeine neuen Bekannten ihm die dringendſte Aushuͤlfe nicht fehlen ließen.

Aber auch ich ſollte des reizenden Wohnortes auf dem Lande in dieſer gewonnenen Erleichterung nicht lange froh ſein. Das Haus hatte eine Gaſtwirthſchaft, welche in der Woche faſt gar nicht, und ſelbſt an Sonn¬ tagen nur maͤßig beſucht wurde. Die meiſte Zeit war der ganze Raum, Saal, Garten, Stromufer und Wieſen, fuͤr uns allein da, herrliche Vormittage und Abende verlebten wir im Freien, und nicht ſelten ließen wir den Geſang Homers am Waſſerfall mit den ſchaͤumen¬ den Wogen laut in die Wette rauſchen. In dieſer ſchoͤnen Freiheit fand mich noch ein Freund, der mich auf ein paar Tage von Leipzig her beſuchte, und ſich95 meines Gluͤckes theilnehmend freute. Gleich nachher aber aͤnderte ſich alles dieß ploͤtzlich, indem der Saal dicht neben mir vermiethet wurde, und die pommerſche Lands¬ mannſchaft ihren Fechtboden dahin verlegte. Hunderte von Studenten ſtroͤmten nun zu allen Tageszeiten ab und zu, und das Geklirr der Waffen und das Geſchrei bei den Fechtuͤbungen uͤberſtieg alle Vorſtellung, keine Abgezogenheit hielt gegen dieſe Betaͤubung Stand, und da mir ſolche Naͤhe auch in andrer Hinſicht manches gegenſeitige Mißbehagen und Graͤnzſtreitigkeiten erwecken mußte, die noch zum Gluͤck, bei großer Dreiſtigkeit von meiner Seite, ohne Reibung abliefen, ſo fand ich es gerathen, dieſe Wohnung zu verlaſſen und ebenfalls in die Stadt zu ziehen, waͤhrend Neumann ein Stockwerk hoͤher ungeſtoͤrt noch verbleiben konnte. So war, wenige Wochen nach unſerer Ankunft, das gewollte und ver¬ langte Zuſammenleben durch zufaͤllige Aeußerlichkeiten ſchon wieder aufgehoben, und von uns Dreien wohnte keiner mehr mit dem Andern, ja ſogar die Studien, in welchen wir ſo vereint zu ſein dachten, trieben uns bereits in abweichenden Richtungen!

Die Vorleſungen hatten angefangen, und fleißiger und eifriger, als wir in dieſer Zeit waren, ließen ſich wohl keine Zuhoͤrer denken. Die alte Geſchichte bei Wolf war ungemein reichhaltig und anregend, er trug weniger eine Erzaͤhlung, als vielmehr eine fortlaufende Kritik vor, und verſetzte die Zuhoͤrer unmerklich in ſolche96 Selbſtthaͤtigkeit und Mitarbeit, daß man am Schluſſe der Stunde ſich ſtets in der heiterſten und waͤrmſten Stimmung, in der angenehmſten Aufregung aller Geiſtes¬ kraͤfte fand. Meiner philologiſchen Neigung verſagte ich nicht, in den Fruͤhſtunden die Exegeſe der Briefe des Apoſtel Paulus bei Schleiermacher zu hoͤren, und meinen mediziniſchen Abſichten ſollten vorlaͤufig die zweifachen Vorleſungen von Steffens uͤber philoſophiſche Phyſio¬ logie und experimentale Phyſik genuͤgen, indem vor den voͤllig mediziniſchen Vorleſungen eines Reil, Coder oder Kurt Sprengel mich noch ſchauderte. Bei Schleierma¬ cher empfand ich bald entſchiedenen Gewinn; ſeine Be¬ handlung des Gegenſtandes, die ſichre Kritik, die feine Dialektik, waren bildend auch fuͤr anderweitige Einſicht, und ſelbſt dem Gemuͤth eroͤffneten ſich aus dieſen geord¬ neten und klaren Geiſteswegen ſittliche Einwirkungen. Steffens hingegen riß gleich im Anfang ſeine Zuhoͤrer in Begeiſterung fort, es war unmoͤglich in dieſem Gedraͤnge von tiefen Anſchauungen, großartigen Ver¬ knuͤpfungen und bluͤhenden Sprechweiſen, die ſeiner Beredſamkeit entquollen, ſich einer aufwallenden Theil¬ nahme zu erwehren. Ich verſetzte mich mit Leichtig¬ keit in die naturphiloſophiſchen Anſichten und Ausdruͤcke, ich ſah mit Bewunderung den begeiſterten Lehrer einen ungeheuern Stoff herrſchend durchſchalten, ich freute mich der Liebenswuͤrdigkeit eines Vortrags, der immer ein bewegtes Herz erkennen ließ, und ſelbſt in dem ſteten97 Kampfe des Daͤnen mit der damals nur halb bezwun¬ genen deutſchen Sprache einen neuen Reiz empfing. Dieſe Vorleſungen waren auf ſolche Weiſe ein ſtets erneuertes Feſt, ein Genuß, dem man mit gleichem Vergnuͤgen nachſah und wieder entgegenblickte; ſie zeig¬ ten aber ihren hoͤchſten Werth erſt dann, wenn man ſie mit den Schleiermacher'ſchen gleichſam in ein Ganzes verflocht; dieſe Beſonnenheit und jene Begeiſterung ſchienen ſich wechſelſeitig zu vervollſtaͤndigen, und beide Maͤnner, in den Hauptſachen einverſtanden und zuſam¬ menſtimmend, ſahen ſich gern in dieſe Gemeinſchaft ge¬ ſtellt, welche fuͤr die naͤheren und vertrauteren ihrer Juͤnger in aller Kraft wirklich beſtand, ſo daß die Theologen auch Steffens hoͤrten und die Naturbefliſſe¬ nen ſich Schleiermachern anſchloſſen.

Mit treuem Fleiße ſetzten wir neben allem andern unſre griechiſchen Studien fort, und beſonders blieb unſer Eifer dem Homer zugethan. Wir verſchafften uns leicht die fruͤheren Vorleſungen Wolf's uͤber die Ilias in nach¬ geſchriebenen Heften, die Prolegomena wurden nach Inhalt und Form wiederholt in Betracht gezogen, und ſelbſt die Weitlaͤuftigkeiten des Euſtathios ſchreckten nicht ab, ich las einen großen Theil ſeines Kommentars mit ge¬ nauem Aufmerken durch. Wie das Homeriſche durch Wolf war aber auch das Platoniſche durch Schleier¬ macher jetzt in Halle ſtark im Schwunge, und wir ſelbſt hatten deſſen auch ſchon zu viel mitgebracht, alsII. 798daß nicht die fernere Beſchaͤftigung damit ſich uns in dieſer Luft unwiderſtehlich aufgedraͤngt haͤtte. Die Arbeiten von Heindorf, in welchem ſich der Schuͤler Wolf's und der Freund Schleiermachers bei demſelben Stoffe gluͤck¬ lich vereint fanden, und die Wolfiſche Ausgabe des Gaſtmahls, ſo wie die beiden Baͤnde der Schleierma¬ cher'ſchen Ueberſetzungen gewaͤhrten die erwuͤnſchteſten Huͤlfsmittel und unerſchoͤpfliche Anregungen. Ich ſetzte auch den Herodotos noch fort, und machte mir man¬ cherlei mit der griechiſchen Anthologie zu ſchaffen. Das Tuͤchtigſte aber, was wir unternahmen, und was uns, haͤtten die Umſtaͤnde nicht ſo fruͤhe Unterbrechung her¬ beigefuͤhrt, außerordentlich gefoͤrdert haben wuͤrde, war die Privatuͤbung, die wir unter Leitung Immanuel Bekker's, welchen damals Wolf ſeinen gediegenſten und liebſten Schuͤler nennen durfte, im Leſen des Ariſtopha¬ nes und im Schreiben des Griechiſchen anſtellten. Es war uns ſchon heilſam, des geringen Standes unſrer Anfaͤnge neben einer ſolchen Meiſterſchaft recht inne zu werden und zu bleiben.

Was irgend in Halle von ausgezeichneten jungen Leuten war, konnte uns nicht entgehen, denn außer den genannten Vereinigungsorten gab es ſchwerlich andre, wo Geiſt und Bildung bedeutend aufgeſtrebt haͤtten. Ich muß einige dieſer Juͤnglinge hier vorlaͤufig nennen, auf deren Weſen und Wirkung ich noch oͤfter werde zuruͤckkommen muͤſſen. Einer der erſten und merkwuͤr¬99 digſten war Nikolaus Harſcher aus Baſel, der Medizin befliſſen, aber ſeit laͤngerer Zeit faſt nur Zuhoͤrer von Steffens und Schleiermacher, indem die philoſophiſche Richtung bei ihm jede andre zuruͤckdraͤngte. Sein dialek¬ tiſches Hebezeug, durch eine unglaubliche Leichtigkeit eines gar nicht ſchoͤnen, aber raſchen und bezeichnungs¬ vollen Sprechens unterſtuͤtzt, ſcheute weder die groͤßten Maſſen noch die feinſten Verwickelungen. Mit den Naturwiſſenſchaften ſchon ziemlich vertraut, hatte er ſeine Staͤtte jetzt vorzuͤglich in Schleiermacher’s Ethik aufge¬ ſchlagen, und von hier aus ſich um das Alterthum, worin er ebenfalls mit Huͤlfe Bekkers das Verſaͤumte nachzuholen ſtrebte, um Geſchichte und Dichtkunſt eifrig bekuͤmmert, beſonders aber die Lebensverhaͤltniſſe ſelbſt, die Neigungen, Thaͤtigkeiten und Formen des einzelnen Daſeins wie die Geſelligkeit, zum Gegenſtande ſeiner nie raſtenden Unterſuchungen und Beſprechungen erwaͤhlt. Da er mit ſeinen eignen Zwecken und Neigungen gar nicht auf dem Reinen war, auch in perſoͤnlicher Hinſicht durch eine Druͤſenkrankheit ſich in ein eignes Mißbe¬ hagen gegen die Natur verſetzt fand, ſo war ſein Geiſt ſehr zum Ironiſchen und Humoriſtiſchen hingetrieben, und darin eben ſo gewandt als kuͤhn, und oft wirklich bewundrungswerth. Eine Eitelkeit, die er ſelbſt ver¬ dammte, beherrſchte ihn; er mochte ſich nicht unvor¬ theilhaft zeigen, und weil er doch in mancher Hinſicht nicht anders konnte, that er es grade aus Rache, und7 100eitelte mit ſeiner gekraͤnkten Eitelkeit, wie er denn ſein etwas roͤthliches Haar, das ihm ſehr mißfiel, doch wie¬ der mit Stolz in groͤßter Ueppigkeit an Backen und Unterkinn erſt recht zur Schau trug. Ich fuͤhlte mich ſehr zu ihm hingezogen, und voll Theilnahme fuͤr ſeine Gaben und Schwaͤchen, er aber hielt ſich anfangs etwas zuruͤck, und ließ ſich erſt nach und nach gewinnen. Einen naͤheren Freund hatte er ſchon an Adolph Muͤller, einem Mediziner aus Bremen, der in vieler Hinſicht das Gegentheil von ihm war. Ein ſchoͤner, geſunder und einfacher Juͤngling, hatte dieſer ſein erwaͤhltes Studium gemeſſen verfolgt, und dabei die hoͤheren Bahnen der Naturphiloſophie und der Ethik nicht verabſaͤumt, auch die Gaben der Poeſie reich in ſich aufgenommen. Kuͤnſt¬ leriſche Uebung der Muſik, worin auch Harſcher mit ausuͤbender Liebhaberei wiſſenſchaftliche Einſicht verband, vollendete ſeine perſoͤnliche Bildung zu harmoniſcher Bedeutenheit. Mit beiden in geiſtiger mehr als herz¬ licher Innigkeit ſtand Alexander von der Marwitz, aus der Mark, erſt neunzehnjaͤhrig, aber an klaſſiſcher Bildung, an Geſchichtskenntniß, philoſophiſcher Auf¬ faſſung und perſoͤnlicher Haltung ganz außer Verhaͤlt¬ niß dieſer Jahre reif und ſicher. Er war edel, ſtolz, ernſt und raſch, gebieteriſch von Gemuͤth und Geiſt, aber auch fein und zart im Beſchauen und Bemerken, fuͤr kuͤnſtleriſche Sprachdarſtellung mit Sinn und Gaben vorzuͤglich ausgeſtattet, wodurch auch ſeine Freundſchaft101 mit Bekker um ſo feſter begruͤndet wurde. Ein Schle¬ ſier, von Przyſtanowski, ungeachtet ſeines polniſchen Namens ganz deutſch, bildete ſeine guten Anlagen fuͤr philoſophiſche Naturwiſſenſchaft im Stillen beharrlich aus. Zwei Bruͤder Ruſt aus Deſſau, beide der Muſik wohl¬ kundig, zeigten den beſten Willen. Andre draͤngten ſich lebhaft heran, Manche mit mehr Eifer als Berechtigung, wie es ſchien, und daher ohne ſonderlichen Erfolg und Dank. Noch Andre machten ihren Namen und Em¬ pfehlungen einen Augenblick geltend, ohne doch ſonder¬ lich beachtet zu werden. Ein Doctor Klinger aus Wien und der Prediger Blanc, welcher von Berlin nach Halle geſetzt worden war, fehlten bei Schleiermacher ſelten; auch ſah ich daſelbſt vor ihrem Abgange von der Uni¬ verſitaͤt noch mehrmals die Philologen Karl Thiel und Johannes Schulze, von welchen der letztere in Littera¬ tur und Staatsverwaltung durch ſeine wiſſenſchaftliche Wirkſamkeit und ſeinen fuͤr das geſammte Unterrichts¬ weſen in Preußen gedeihlichen Eifer die ehrenvollſte Be¬ ruͤhmtheit erlangt hat. Ich ſuchte ferner einen juͤngern Bruder von Theremin auf, lernte Neanders neue Freunde Strauß und Budde kennen, und erinnerte mich auch dem damals ſehr jungen Boͤrne aus Frankfurt am Main, der unter Reils Aufſicht und Obhut ſtudirte, oͤfters be¬ gegnet zu ſein.

Umgang und Freundſchaft ſolcher Art auf der Univerſitaͤt zerſtreuen nicht, ſie beleben und kraͤftigen102 vielmehr die Studien, und gehoͤren weſentlich mit ihnen zuſammen, denn die Wiſſenſchaften und Geiſtesarten treten dabei in ihrer Wechſelbeziehung hervor, und die Gemeinſchaft wie die Verſchiedenheit der Gegenſtaͤnde, mit denen man beſchaͤftigt iſt, wird jedem aͤchten Stre¬ ben zur groͤßten Foͤrderung. Ein wichtiges Erforderniß ſcheint jedoch hierbei, daß der Verkehr moͤglichſt unter Studirenden abgeſchloſſen bleibe, und nicht nach andern Lebensgebieten ſo ſehr hinausverlockt werde, wo der wiſſenſchaftliche Boden weicht, und die befangnen und auch wohl oberflaͤchlichen Verhaͤltniſſe einer entwickelte¬ ren Lebensſtufe anheben. Neumann und ich, die wir fruͤher in die Pruͤfungen des Erlebens geworfen, als zu den Studien gekommen waren, hatten den Willen, uns jetzt in dieſe redlich einzuhalten, allein die Thatſache, daß unſer Sinn groͤßtentheils daruͤber hinausging, ließ ſich weder laͤugnen noch abwenden, ſo wenig eine voͤllig aufgegangene Bluͤthe ſich wieder auf den Stand einer geſchloſſenen Knoſpe zuruͤckzwaͤngen laͤßt. Schon den Andern waren wir mehr als gewoͤhnliche Studenten. Unſere Schriftſtellerei machte ſich ruchbar, und fand hier ſogar Beachtung; unſer neuſtes Opus, der Aus¬ fall gegen Merkel, wurde gut geheißen, und man las in vielen Zeitſchriften Lob daruͤber. Die Profeſſoren behandelten uns als junge Gelehrte. Dies trat recht auffallend hervor, als gegen Ende des Mai Bernhardi auf ein paar Tage nach Halle kam. Wir waren be¬103 ſtaͤndig mit ihm, und wer ihn wollte, lud auch uns mit ein. So war ich der Gaſt des Geheimenraths Schmalz und des Profeſſor Hoffbauer in der Geſellſchaft auf dem Jaͤgerberg, einem ſchoͤnen Luſtorte in der Stadt, wo der Berliner Freund bewirthet wurde. Wir genoſſen auch das gute Gluͤck des vertrauten Zugegenſeins und Theilnehmens, als die wuͤrdigen Alten bei Froͤhlichkeit und Wein wieder jung wurden, und ihren Geiſt in ſtudentiſche Freiheit ſetzten. Der gute Hoffbauer ließ nicht nach, ſondern ſchleppte uns Alle zu noch beſſerem Weine, wie er ſelbſtgefaͤllig verſicherte, in ſeine Behau¬ ſung, wo er uns, waͤhrend er ſelbſt in den Keller hinabſtieg, zu einer Gartenlaube wies. Hier trafen wir einen Mitbewohner des Hauſes, den Profeſſor Konopack, der im Schlafrock bei einer Pfeife den Brunnen trank, und ſich ungern geſtoͤrt ſah. Da er dies ſogar merken ließ, ſo wurde er ſogleich die Zielſcheibe eines Schwarms von Sticheleien, die mehr oder minder empfindlich aus¬ fielen. Wolf ergriff eine Waſſerflaſche, und ihren In¬ halt veraͤchtlich erkennend rief er aus: Was iſt das, Herr Kollege, ich glaube gar, Sie laſſen das jus strictum laxiren? Nun, das wollen wir auch thun, und ſo machen Sie uns vor allem etwas Platz, damit wir das ſchlechte Waſſer hier durch guten Wein erſetzen. Der Nuͤch¬ terne entzog ſich hierauf ganz im Stillen. Wolf aber war im Zuge, freute ſich, daß der Konopack ſich gepackt habe, und alle die Scherze, Launen, Bemerkungen und104 Witzeleien, die geiſtreich und unerſchoͤpflich aus ihm her¬ vorgingen, waͤren ſchon damals kaum zu behalten ge¬ weſen, geſchweige denn jetzt wiederzugeben. Als Hoff¬ bauer endlich mit Flaſchen beladen taumelnd emporſtieg, wandte ſich die Verhoͤhnung auch gegen ihn, ſeinen koͤſt¬ lichſten und theuerſten Wein fand man bei weitem nicht gut genug, ja ganz abſcheulich, und Wolf, der unge¬ achtet der luſtigen Stimmung ſich durchaus nicht betrinken wollte, wußte alles Aufnoͤthigen des beeiferten Wirthes, der grad jenes zu bewirken wuͤnſchte, durch das einfache Huͤlfsmittel zu taͤuſchen und zu vereiteln, daß er die erneuten vollen Glaͤſer ſtets willig annahm, aber jedes¬ mal vor unſern Augen den Inhalt hinterruͤcks ausgoß; indem er laut verſicherte, es fehle an Feuchtigkeit, die Pflanzen verdorrten und muͤßten begoſſen werden. Ich deute natuͤrlich nur den aͤußerlichen Umriß dieſer Sachen an, die geiſtige Belebung derſelben mag ſich jeder nach dem Bilde hinzudenken, welches er von Wolfs aufge¬ regtem und voͤllig freigelaſſenen Genius zu faſſen im Stande iſt. Aber auch Bernhardi’s muntere Geſellig¬ keit muß dabei in Anſchlag kommen, ſo wie der liebens¬ wuͤrdige Eifer des tauben Hoffbauer, der ſchon des Zu¬ ſtandes genoß, in welchen die Andern gleichfalls zu verſetzen er weder Koſten noch Bemuͤhen ſparte. Mir wenigſtens blieb dieſer Abend als Maßſtab und Bei¬ ſpiel fuͤr ſo manches dieſer Art, was erlebt oder berich¬ tet wird, zum ſteten Ruͤckblick unzerſtoͤrbar im Andenken.

105

Waͤhrend der ſchoͤnen Sommermonate kam hierauf noch andrer Beſuch nach Halle, der ſchon eine Zeit lang angekuͤndigt und uns hoͤchſt erwuͤnſcht war. Achim von Arnim erſchien, und bezog in Gibichenſtein bei Reichardt die fuͤr ihn ſchon bereit gehaltene Wohnung. Seine ſtattliche Groͤße und edle Haltung, ſein ungezwungener Freimuth und geſelliger Frohſinn, vereinigten ſich zu einem durchaus wohlthaͤtigen Eindruck. Man ſah ihm ſogleich an, daß in ihm, weder uͤber ihn ſelbſt noch uͤber die Außendinge, ein ſtoͤrender Zweifel war, daß er ſei¬ nen Neigungen harmlos folgte, und durch keinerlei falſche oder verdeckte Anſpruͤche geleitet wurde. Auch daß das Gluͤck ihn durch Naturgaben und Umſtaͤnde guͤnſtig bedacht, ihn zu keinen verkehrten oder beengten Verhaͤltniſſen hinabgedruͤckt, ſondern ihm jede Entwick¬ lung erleichtert hatte, ließ ſich an dieſem gelungenen Menſchengebilde wohl wahrnehmen. Ich ſpreche hier von ſeiner damaligen Erſcheinung, was in ſpaͤterer Zeit dieſes heitre Bild hin und wieder getruͤbt haben mag, bleibe kuͤnftigem Orte, ſofern es noͤthig ſein wird, vor¬ behalten. Arnim war fuͤr mich ein herrlicher Anblick, den einiges uͤbelwilliges Reden Harſchers und kopfſchuͤt¬ telnde Laͤcheln von Marwitz und ſelbſt von Steffens, ſo wenig wie die Reichardt’ſche Umgebung, welche hier ganz untrennbar war, mir nicht verkuͤmmern konnten. Mit mehr liebevoller Offenheit war mir noch niemand entgegengekommen, mein gruͤßendes Wort aus Hamburg106 hatte den freundlichſten Sinn zu herzlichſter Erwiederung aufgefordert, und ich ſah mich auf den beſten Fuß zu dem anſehnlichen jungen Mann geſtellt. Gleichwohl ent¬ ſtand keine eigentliche Vertraulichkeit, und ſowohl das Reichardt'ſche Weſen, als auch unſre ſehr abweichenden Beſchaͤftigungen, hielten uns auseinander. Eine zweite ausgezeichnete Erſcheinung war Karl von Raumer, der Freund Koreff's, und auch ſchon unſer Genoſſe durch ſeine Almanachsbeitraͤge. Von mittlerer Geſtalt, leicht und beweglich in Gliedern und Sinn, verband auch er Heiterkeit und Ernſt in ſeinem jugendlichen Weſen, das neben kraͤftigem Uebermuth auch zarte Schwaͤrmerei durch¬ blicken ließ. Er hatte mit befluͤgeltem Geiſte die Kun¬ den der Natur und der Geſchichte ausgebeutet, und alles Wiſſen zu den glaͤnzendſten Ideen verarbeitet, die er reich gebildet und ſanft in jeder Mittheilung lebhaft darbot. Steffens war mit ihm in traulicher Freund¬ ſchaft, Schleiermacher aber, der ſich mit dem Juͤnglinge Du nannte, zeigte faſt verehrende Liebe fuͤr ihn, und nahm ſeine nur oft fluͤchtigen Aeußerungen wie goldne Spruͤche eines Begeiſterten auf. Auch Raumer eilte uns mit Herzlichkeit zu empfangen, ſprach mir von ſei¬ nen großen Studien zur Begruͤndung philoſophiſcher Geſchichtseinſicht, die nach Maßgabe der noch ſehr duͤrf¬ tigen Mittel ſchon geradezu auf Indien und auf das Sanskrit losdrangen, nnd zeigte mir in ſeinen Auszuͤ¬ gen und Sammlungen Fruͤchte eines erſtaunlichen Fleißes,107 die ich aus meinen Buͤchern mit einigen ſeltenen Gaben ſehr erwuͤnſcht vermehren konnte. Zu meinem Leidwe¬ ſen aber war auch Raumer von dem Reichardt'ſchen Kreiſe ganz befangen, und zwar mit den ſtaͤrkſten Ban¬ den, denn er war heftig verliebt, ſchon mit der Hoff¬ nung zu heirathen, wie auch ſpaͤter in Erfuͤllung ging. Dieſe Gebundenheit wirkte kuͤhlend auf unſer Verhaͤltniß, und die außerordentliche Gunſt Schleiermachers und die kuͤnftige Verſchwaͤgerung mit Steffens konnte Raumern auch ſonſt in den juͤngern Kreiſen nicht gegen die ſchar¬ fen Zweifel und Angriffe ſchuͤtzen, welche Harſcher und Marwitz, deren ſtolze Strenge im Verſagen bis zur Haͤrte ging, uͤber die Tuͤchtigkeit und Gruͤndlichkeit ſei¬ nes Strebens und Wiſſens faſt mit Feindſchaft aus¬ druͤckten; ihren Liebling gegen dieſe zu vertheidigen ge¬ lang den Meiſtern ſelbſt nicht immer, um ſo weniger mir, der ich mich ſeiner ſtets annahm, waͤhrend jene dagegen feſt auf ihrem Sinn auch in der Folgezeit ver¬ harrten. Bekker und Przyſtanowski aber, welche auch ſchwer ſich zur Anerkennung bequemten, und Raumern damals gar nicht wollten gelten laſſen, mußten in ſpaͤ¬ terer Zeit ſeine Anziehungskraft um ſo ſtaͤrker erfahren, indem ſie bei naͤherem Zuſammenleben leidenſchaftliche Zuneigung fuͤr ihn faßten.

Unter den Ausfluͤgen, die wir in die Landſchaft machten, am haͤufigſten nach Gibichenſtein, niemals nach Paſſendorf, wo die Menge der Studenten jenſeits108 der preußiſchen Acciſe im Saͤchſiſchen zu wohlfeilerem Taback und Bier taͤglich hinzog, war auch eine Fahrt nach Lauchſtaͤdt, dem lieblichen Badeorte, wo die wei¬ mariſche Schauſpielertruppe im Sommer ihre Vorſtel¬ lungen gab. Neumann, Marwitz, ich und noch zwei Andre beſtiegen an einem ſchoͤnen Tage zuſammen ein Waͤgelchen, das uns auf den ſchlechten Wegen, mit Huͤlfe eifrigen Geſpraͤchs noch ſchnell genug an Ort und Stelle brachte. Die ſchattenreichen, breiten Anlagen, einladenden Gebaͤude, und bunte regſame Geſellſchaft, uͤberraſchten uns wie eine erquickliche Oaſe in der Oede der zuruͤckgelegten und nochmals zuruͤckzulegenden Stun¬ den und Raͤume. Wir trafen, wie dies an Theater¬ abenden gewoͤhnlich war, noch viele halliſche Gaͤſte dort, ſo wie auch aus Leipzig, Merſeburg und Weimar der Beſuch nicht fehlte. Unſre Hoffnung, Goethe'n zu finden, blieb aber leider getaͤuſcht. Um ſo eifriger waren wir, ſeine Eugenie zu ſehen, welche zu unſrer Freude ſtatt eines angekuͤndigten andern Stuͤckes gege¬ ben wurde. Arnim, der auch mit Geſellſchaft gekommen war, fand ſich zwiſchendurch zu uns, und unſer gemein¬ ſames Vergnuͤgen wurde noch durch den Reiz erhoͤht, welchen die anmuthige Erſcheinung der Demoiſelle Jage¬ mann aus Weimar fuͤr uns hatte; ſie war nicht zum Mit¬ ſpielen, ſondern nur als Zuſchauerin gekommen, da ſie jedoch mit Arnim wohlbekannt und von ihm lebhaft em¬ pfangen war, ſo hatten auch wir naͤheren Gewinn von ihrer109 Gegenwart. Das Stuͤck wurde vortrefflich gegeben, die Hauptrollen mit leidenſchaftlicher Wirkung, das Ganze mit einem ſchoͤnen Maße und wohlthaͤtiger Ordnung, daß man alsbald fuͤhlte, uͤber dieſem Kunſtweſen muͤſſe großer Verſtand und tiefe Bildung maͤchtig ſchalten. Graff als Herzog, Madame Wolff als Eugenie, mach¬ ten einen tiefen Eindruck, der auch die ſonſt laute Stu¬ dentenſchaar zu aufmerkſamer Stille bezwang. Ueber¬ haupt thaten Schauſpieler und Zuhoͤrer beiderſeits ihr Beſtes, und das kleine Haus, von deſſen Erbauung uns Goethe ſo antheilvollen Bericht giebt, konnte in der That ein Muſentempel duͤnken, in welchem Sinn, Anſtand und Zuſammenſtimmung des Oertlichen wie des Spiels den Mangel reicherer Mittel vergeſſen machten.

Die Verbindung mit den entfernten Freunden litt bei den neuen Bekanntſchaften auf keine Weiſe; mein in jedem Sinn belebteſter Briefwechſel fand mit Ham¬ burg Statt, desgleichen mit Berlin. Am wenigſten wurde Chamiſſo vergeſſen, der in Hameln ſeiner verlangten Ent¬ laſſung aus dem Kriegsdienſt ungeduldig harrte, und dann unverzuͤglich zu uns zu kommen gedachte. Er hatte in Nenndorf die Bekanntſchaft des Barons und der Baronin von Fouqué gemacht, und uns von dem Ehepaar viel Liebes mitgetheilt. In ſeinen Planen und Abſichten wurde er auch von dieſer Seite nur beſtaͤtigt, da Fouqué ebenfalls das Kriegsweſen verlaſſen und ſich ganz der Dichtkunſt ergeben hatte. Der Sommer war110 indeß ſtark vorwaͤrts geſchritten, und die Antwort auf das eingereichte Abſchiedsgeſuch kam nicht; aus ſehr na¬ tuͤrlichem Grunde, denn daſſelbe war unbefoͤrdert bei dem Oberſten liegen geblieben, und mußte wiederholt werden. Aber in der Zwiſchenzeit hatten die politiſchen Ausſichten ſich wieder getruͤbt, und die Moͤglichkeit ei¬ nes Krieges war naͤher getreten, der Abſchied, welcher fruͤher ohne Schwierigkeit zu erlangen geſchienen, wurde jetzt unthunlich, und Chamiſſo genoͤthigt, eine entſchie¬ dene Wendung der Dinge in ſeiner bisherigen Lage fer¬ ner abzuwarten. Er und wir mußten uns in das Un¬ vermeidliche fuͤgen, und hofften nur, daß die Ungewißheit nicht lange dauern wuͤrde. Unſer Briefwechſel aber diente zugleich unſrer litterariſchen Thaͤtigkeit, denn ich hatte mit Chamiſſo die Fortſetzung des Almanachs und mit Neumann die Herausgabe einer andern Sammlung von Aufſaͤtzen im Sinn, wozu wir die angemeſſenen Beitraͤge verabreden und einfordern mußten. Chamiſſo ließ uns Verſe und Proſa nicht fehlen, Bernhardi gab ein humoriſtiſches Todtengeſpraͤch, meine Schweſter eine wohlgearbeitete Novelle, und Reinhold und Theremin verſprachen Gedichte, ſo wie auch Fouqué, der mir durch Bernhardi ein Exemplar ſeiner eben erſchienenen dramatiſchen Hiſtorie vom Ritter Galmy uͤberſandt, und mir durch ein ſolches unverhofftes Ehrengeſchenk, an welches ein brieflicher Verkehr ſich ſogleich anſchloß, keine geringe Freude gemacht hatte. Zwar der Almanach kam111 nicht zu Stande, weil der hamburgiſche Buchhaͤndler der unentgeldlich angebotenen Waare mißtraute, gern aber verlegte er die andre Sammlung, fuͤr welche er ſogar ein billiges Honorar zu geben ſich bereit erklaͤrte. Manche der dem Almanach beſtimmt geweſenen Gedichte mochten wir ungern zuruͤcklaſſen, und ſchoben ſie daher zwiſchen die andern Aufſaͤtze ein, da der gewaͤhlte Titel Erzaͤhlungen und Spiele jede Miſchung erlaubte; wir handelten darin ganz naiv und arglos, und waren eini¬ germaßen betroffen, aber doch gleich mit dem Witze des Schickſals einverſtanden, auf welchen Chamiſſo aus der Ferne uns erſt aufmerkſam machen mußte, daß durch unſre Anordnung der bethoͤrte Verleger nun dennoch drucke, und ſogar bezahle, was er umſonſt nicht ge¬ wollt hatte!

Ich zeigte mehreres zum Druck beſtimmte vorher Schleiermachern, und erbat ſein Urtheil und ſeine Rath¬ ſchlaͤge. Neumanns Ueberſetzungen aus dem Italiaͤni¬ ſchen des Boccaccio und Macchiavelli konnten, als zu woͤrtlich der fremden Sprache folgend und daher die deutſche verrenkend, keinen foͤrmlichen Beifall erhalten, allein ſo uͤberwiegend neigte die von Voß und W. Schle¬ gel in Gang gebrachte Ueberſetzungskunſt, zu der auch Schleiermacher bei ſeinem Platon ſich bekannte, auf Nachbildung aͤußerer Formen hin, daß jene Mißgebilde, welche ſpaͤter in Woltmanns Tacitus noch ſogar uͤber¬ boten wurden, als aͤußerſte Verſuche noch immer des112 Druckes werth duͤnkten. Ein Maͤhrchen von Chamiſſo fand Schleiermacher ſehr ſchoͤn, und lobte auch ein dra¬ matiſches Spiel von mir, welches in kuͤnſtlichen Formen einen erzwungenen Stoff mit einiger Gewandtheit ver¬ arbeitete. Fruͤher ſchon hatte er meine Ueberſetzung der Epigramme Platons mit Wohlgefallen aufgenommen, und mit genauer Sorgfalt mir manche Verbeſſerung angegeben. Der Beifall und die Aufmunterung eines ſolchen Meiſters waren mir unſchaͤtzbar, und ich ver¬ hehlte nicht, mit welchen heißen Empfindungen ich hier mich anzuſchließen begehrte, wo mir ſolche Gunſt und Foͤrderung ſchon gewaͤhrt wurde. Dergleichen ſentimen¬ tale Bezeigungen wies die ſonſt kuͤhle Beſonnenheit Schleiermachers gar nicht ab. Jemehr ich aber unter Einwirkung ſeines Umgangs und ſeiner Vortraͤge in eigner Bildung fortſchritt, deſto mehr empfand ich Zu¬ ruͤckhaltung und Scheu, meine Verehrung in jener anſpruchsvollen Weiſe nach augenblicklichen Aufwallun¬ gen darzulegen; durch ſteigenden Gehalt und tiefere Innigkeit wurde meine Ehrfurcht nur beſcheidener und ſchweigſamer. Dies aber wurde von Schleiermacher ungluͤcklicherweiſe verkannt; die Veraͤnderung entging ihm nicht, allein er ſchob ſie irrig auf ſelbſtiſche Kaͤlte und hochfaͤhrtigen Duͤnkel, welche ihm mein beſſeres Gefuͤhl zu verdraͤngen ſchienen. Er aͤußerte etwas die¬ ſer Art, Loͤbell erfuhr davon ich weiß nicht wie, und machte eine gehoͤrige Klatſcherei daraus, die mir durch113 Neander endlich zu Ohren kam. Kein groͤßeres Unrecht konnte mir widerfahren, ich empfand es gekraͤnkt, aber mehr noch empoͤrt, und ſtand jetzt nur um ſo trotziger in dem Scheine da, welchen zu zerſtreuen ich um kei¬ nen Preis auch nur die kleinſte Bewegung gemacht haͤtte. Daß zugleich meiner vielen und ſchoͤnen Kenntniſſe ge¬ dacht worden, und Schleiermacher gemeint hatte, ſie machten mich hochfaͤhrtig, erregte mein bitteres Lachen, denn ich fuͤhlte tief die Unzulaͤnglichkeit alles meines Wiſſens, ſah mich in vielem hinter den gemeinſten An¬ faͤngern zuruͤckſtehen, glaubte nie genug zu thun, um die beſchaͤmenden Bloͤßen zu decken, deren ich mir be¬ wußt war. Meine Hochachtung fuͤr Schleiermacher wurde jedoch durch dieſes Begegniß nicht geſchwaͤcht, noch mein Benehmen gegen ihn ſeitdem veraͤndert. Auch wandte er ſich bei nachfolgenden Gelegenheiten auszeich¬ nend und traulich zu mir, indem er zugleich gegen Andre meine Geſinnung und meine Faͤhigkeiten ruͤhmte; aber dennoch warf jenes erſte ungluͤckliche Mißverſtehen den Keim einer Unvereinbarkeit zwiſchen uns aus, welche in der Folge neue Irrungen nur um ſo leichter entſte¬ hen ließ.

Von Berlin her war die Gruͤndung eines beſondern Gottesdienſtes fuͤr die Univerſitaͤt betrieben und ſo weit gefoͤrdert worden, daß dieſe Anſtalt am 3. Auguſt, als dem Geburtstage des Koͤnigs, wirklich eroͤffnet werden konnte. Eine leerſtehende, bisher zu andern ZweckenII. 8114gebrauchte Kirche war der Akademie uͤberwieſen, und Schleiermacher zum akademiſchen Prediger beſtellt. In jetzigen Tagen wuͤrde ſich niemand uͤber ſolche Einrich¬ tung wundern, ſondern die Meiſten ſie ganz in der herrſchenden Ordnung finden, und Mancher vielleicht mit jammerndem Ruͤckblick auf die arge Vergangenheit ſogar die Frage aufſtellen, wie man bis dahin ohne dergleichen nur habe beſtehen und einen ſolchen Mangel verantworten moͤgen? Man muß aber in die Stim¬ mung von damals ſich zuruͤckverſetzen, um zu begreifen, welch auffallende Neuerung und welch gewagter Verſuch dieſe Sache war. Das Chriſtenthum war durch philo¬ ſophiſchen Anſchluß und poetiſche Behandlung in der letzten Zeit allerdings wieder zu groͤßerem Anſehn ge¬ kommen, aber deßhalb glaubte man doch der kirchlichen Seite noch voͤllig fremd bleiben zu duͤrfen. Es gehoͤrte der ganze Ruf Schleiermachers als eines tiefdenkenden, geiſtreichen, gelehrten Mannes dazu, um ein ſolches neues Predigtamt bei Ehren zu halten, indem Pro¬ feſſoren, Buͤrger und Studenten, deren Mehrzahl ſich kaum einfallen laſſen konnte, eine fromme Erbauung zu ſuchen, und doch insgeſammt gewiß ſein durften, eine durch Scharfſinn und Gewandtheit merkwuͤrdige Rede zu vernehmen. Wirklich war die Kirche gepreßt voll, und eine angemeſſene Stille ehrte den Redner, der aber die herrſchende Stimmung ſeiner bunten Ge¬ meinde ſo gut kannte, daß er einen hoͤheren Stand¬115 punkt, auf welchen er ſie zu erheben wuͤnſchte, gleich durch die Wahl des Textes andeutete, und uͤber die Worte des Apoſtels Paulus predigte: Ich ſchaͤme mich des Evangelii von Chriſto nicht; denn es iſt eine Kraft Gottes, die da ſelig macht Alle, die daran glauben. Man hoͤrte ihn aufmerkſam und ehrerbietig an, und verſprach ſich, dieſe wuͤrdige Unterhaltung fortzuſetzen, in welcher wir naͤheren Juͤnger eine ſegenreiche Kraft ſchon lebendiger verſpuͤrten. In der That hatte die Sache guten Fortgang, und das religioͤſe Element, auf deſſen Hervorrufung Schleiermacher ſeine ganze Kraft richtete, gewann mehr und mehr Boden, indem auch die hierfuͤr empfaͤnglichen Gemuͤther ſich eifriger heranzogen, und die blos aus Bildung oder Neugier zuhoͤrenden mehr und mehr abfielen.

Ich verſaͤumte dieſe Vortraͤge nie, wiewohl mich kein eigentlich religioͤſes Beduͤrfniß zu ihnen zog. Ich wuͤßte keinen Abſchnitt meines Lebens, in welchem ich der Innigkeit frommer Empfindungen ganz entbehrt haͤtte, ein geheimes Erkennen und Verehren der goͤtt¬ lichen Macht und Liebe hatte mich nie verlaſſen; ich fuͤhrte meinen Gnadenbrief, um hier ſo zu ſprechen, wenn auch noch ſo zuſammengedruͤckt und zerknittert, ſtets bei mir, und er konnte jeden Augenblick wieder entfaltet werden. Allein keine meiner Beziehungen zur Froͤmmigkeit hatte bis dahin einer Kirche ſich wahr¬ haft verknuͤpfen koͤnnen; die proteſtantiſche ſchien den8 *116Glauben, mit welchem ſie ſich noch trug, entbehren zu koͤnnen, und was dann uͤbrig blieb an guten Lehren und Bildern, pflegte wahrlich trocken und nuͤchtern genug zu ſein. In dem Zwieſpalte der Vernuͤnftelei dieſer Kirche und des Aberglaubens der katholiſchen ſchien das religioͤſe Gebilde voͤllig entſchwunden; das Reinſittliche konnte ohne ſolche Unterlage fuͤr ſich recht gut beſtehen, und die Gottergebenheit war auch aus der Philoſophie herzuleiten, womit die vorchriſtlichen Weiſen der Griechen und Roͤmer ſich ohnehin hatten behelfen muͤſſen. Die geſchichtlichen Geſtalten der welt¬ lichen Erſcheinungen des Chriſtenthums durften am wenigſtens anziehen, ſie hatten zu der verkuͤndigten Liebe nur allzu oft kein andres Verhaͤltniß, als die Schreckenszeit der franzoͤſiſchen Revolution zu den Ver¬ heißungen der Freiheit und Gleichheit, und es war faſt allgemein die Anſicht verbreitet, daß alles Hierarchiſche ſich uͤberlebt habe und voͤllig weichen muͤſſe, waͤhrend der geiſtige Hauch und die liebliche Waͤrme der urſpruͤng¬ lichen Liebe freilich zu ewigem Fortwirken berufen ſeien. In dieſem Sinne verfuhr auch Schleiermacher, und ſein unverhohlenes Beſtreben ging hauptſaͤchlich dahin¬ aus, die Religionslehre von dem Buchſtaben der Bibel ganz unabhaͤngig zu machen. Durch meine fortgeſetzte Aufmerkſamkeit bei Schleiermacher und durch die nach¬ ziehende Macht ſeiner Lehrweiſe fand ich mich hier zum erſtenmal aus der weiten Breite meiner Religionsan¬117 ſichten zu einer beſtimmten Kirchenlehre hingeleitet, und es gelang mir einigermaßen, dieſe, ſo weit ich ſie kennen konnte, in ſolcher Fuͤhrung aufzufaſſen. Allein ſchon verlautete, dieſe Lehre ſei keineswegs die altbe¬ glaubigte und anerkannte, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich ſelber das Beduͤrfniß und die Empfin¬ dungen, die mir urſpruͤnglich gegeben waren, ergaͤnzend hinzuthun mußte. In dieſen lag mir aber die ſicherſte Ausgleichung fuͤr manches Vorgetragene, dem in ſeiner glaͤnzenden Ausſtattung geiſtig zu widerſtehen ich nicht geruͤſtet war, das aber gleichwohl in mein Gemuͤth nicht eindrang. So hielt Schleiermacher unter andern eine gewaltig fortreißende Predigt uͤber das Sterben, in welcher die Verneinung perſoͤnlicher Fortdauer nach dem Tode von den lichtvollſten Gedankenreihen umhuͤllt war, die ſich gleichſam zum Erſatz jenes abgewieſenen Troſtbildes herandraͤngten; ich ließ mich eine Zeit lang uͤberreden, jenes Verneinen, dem auch die Naturphilo¬ ſophie ihrerſeits kuͤhn zuſtimmte, ſei die Wahrheit, und ich fuͤhlte, nach einigem Schrecken, den eine ſo neue, bisher nie an meine Seele gelangte Anſicht wohl er¬ regen durfte, mich bei ihr alsbald ſo beruhigt, wie ich es vorher geweſen war: allein mit beſſerem Fug und Recht, als in ihr ſelbſt lag, denn es dauerte nicht lange, ſo wurde ich gewahr, daß ich die neue Anſicht nur als ſolche gefaßt, ſie aber nicht als Ueberzeugung in mein Innerſtes aufgenommen hatte, ſondern im118 Gegentheil, waͤhrend ich mich zu ihr zu bekennen meinte, der feſte Glauben an die Unſterblichkeit der Seele mir im tiefſten Weſen unerſchuͤtterlich fortlebte. So ging es mir auch mit andern Lehrſaͤtzen, bei denen mehr eine geiſtige Entwickelung, und oft nur eine dialektiſche Gewandtheit im Spiele war, kaum aber ein wahrhaft religioͤſer Inhalt zur Sprache kam, daher denn auch dieſer fuͤr ſeine anderweitige Entwickelung gluͤcklich frei blieb.

Dieſe Schleiermacher’ſchen Predigten waren kaum im Zuge, als uns die Religion auch von einer unge¬ woͤhnlichen Seite und in einer ganz beſondern Zube¬ reitung nahegelegt und angetragen werden wollte. Za¬ charias Werner hatte ſeine Weihe der Kraft geſchrieben, und Iffland ſie in Berlin auf die Buͤhne gebracht. Der Dichter wollte die Religion, welche an und fuͤr ſich als unſchmackhaft und bitter ſo haͤufig nicht mundete, mit Huͤlfe eines guten Geſchmacks, den er hinzumiſchte, dem Publikum eingeben, und hoffte bei dieſer Gele¬ genheit auch ſeine vorraͤthigen aͤſthetiſchen Gaben nur um ſo beſſer an Mann zu bringen. Die Soͤhne des Thals und das Kreuz an der Oſtſee waren ſchon in dieſem Sinne gearbeitet. Ein Schritt weiter, und Luther ſtand auf der Buͤhne, wo er in jedem Falle von Wirkung ſein mußte; um dieſe jedoch auf’s aͤußerſte zu verſtaͤrken, hatte der Verfaſſer dem tuͤchtigen und derben proteſtantiſchen Helden ein kindiſches Beiwerk119 von myſtiſch ſein ſollender Taͤndelei geſellt, wie ſolche wohl auf der unterſten Stufe katholiſcher Bildung grob¬ ſinnig dargeboten wird. Dies Beiwerk war ihm eigentlich die Hauptſache, die er nur noch nicht einge¬ ſtehen wollte, auf dem Theater aber galt vorzuͤglich die Rolle Luthers, oder vielmehr in ihr Iffland, der ſie mit Meiſterſchaft darſtellte. Jetzt kam er mit dem Manuſcript nach Halle, und da hier keine theatraliſche Auffuͤhrung moͤglich war, ſo las er das ganze Stuͤck gegen ein maͤßiges Eintrittsgeld oͤffentlich vor. Alles war neugierig und draͤngte ſich heran. Iffland las vortrefflich, und aͤrntete beſonders in ſeiner eignen Rolle, die er aus dem Gedaͤchtniſſe herſagen konnte, und groͤßtentheils wirklich ſpielte, lauten Beifall. Dieſen Beifall auch dem Stuͤcke ſelber anzueignen, waren im Anfang manche Stimmen ſehr bemuͤht; Reichardt, der bei neuen Dingen ſtets voran war, und ſeine Unter¬ ſtuͤtzung ſeinem preußiſchen Landsmanne Werner, Iff¬ landen, und dem ganzen Vorgange ſchuldig glaubte, draͤngte ſich umher, und munterte zur Bewunderung auf; Madame Eliſe Buͤrger, die eigends wegen dieſer Vorleſung nach Halle gekommen war, ſprach ihr Ent¬ zuͤcken mit dem Nachdruck einer Kunſtverwandten aus, welche ſich nicht ſcheute, in ſolcher Verſammlung ziemlich laut zu reden, da ſie ſchon gewohnt war als Haupt¬ perſon ſelber einem aͤhnlichen Zuhoͤrervolke muthig da¬ zuſtehen. Dergleichen Fuͤrſprache und Bemuͤhen gab120 ſich aber nutzlos Bloͤßen, und ſchadete ſogar; das Stuͤck mißfiel auch dem natuͤrlichen Sinne der meiſten Stu¬ denten, wir Freunde ließen uns hart daruͤber aus, und hatten die Befriedigung, unſre Urtheile durch hoͤhere Autoritaͤten ſofort beſtaͤtigt zu finden. Reichardt, nach¬ dem er inne geworden, woher und wie ſtark der Wind wehte, zog die Segel wieder ein, und that dies, wie er pflegte, mit guter Art, indem doch immer einige Punkte uͤbrig blieben, an welchen ein Lob des drama¬ tiſchen Talents, der guten Verſe, und anderes der Art haften konnte, die Meiſterſchaft Ifflands aber ohnehin kaum beſtritten wurde. Werner hatte ſchon vor laͤn¬ gerer Zeit durch einen Brief an Chamiſſo voll der albernſten und frechſten Fratzen uns widrig abgeſtoßen, indem er uns heftig anzuziehen wuͤnſchte. Die Zeichen unſers Polarſternbundes waren ihm aufgefallen, er hatte ſich darnach erkundigt, hielt uns fuͤr eine gute Beute, und glaubte ein ſolches noch ziemlich loſes Buͤndel jun¬ ger Leute fuͤr ſeine Zwecke beſſer zuſammenſchnuͤren zu koͤnnen. Dieſes Geluͤſt, unſre Leitung zu uͤbernehmen, zog ihm nur zu, daß ich durch ſcheinbare Hingebung ihn zu myſtifiziren beſchloß, und in dieſem Sinne auch an ihn ſchrieb. Was weiter hierin zu verſchiedenen Zeiten erfolgte, iſt bereits im Zuſammenhang auf einem beſondern Blatte aufgezeichnet, das kuͤnftig irgend ein¬ zuſchalten ſein wird.

121

Die Kriegsgeruͤchte und Truppenbewegungen hatten ſchon den ganzen Sommer mit ſchwaͤcheren Friedens¬ ausſichten abgewechſelt, nachdem aber Napoleon durch Stiftung des von ihm abhaͤngigen und offenbar gegen Preußen gerichteten Rheiniſchen Bundes tief in Deutſch¬ land hinein feſten Fuß gefaßt, mußte die Friedens¬ hoffnung voͤllig ſchwinden, und in Preußen verlangte alles, was eine Stimme hatte, heftig nach Krieg. Reichardt war nicht der letzte, und verſuchte ſich in Kriegsliedern, die an den preußiſchen Grenadier nicht eben vortheilhaft erinnerten, es wurde den Oeſterrei¬ chern darin ſehr unziemlich vorgehalten, man habe im vorigen Jahre bei Ulm wohl geſehen, daß keine Preußen dort geweſen. Auch Achim von Arnim dichtete eine Anzahl Lieder von politiſchem Inhalt, und ein Lied auf den Rheinbund, das er mir vorlas, war in der That von gluͤcklichſter Tonart und ſchoͤnſter Laune. Preußiſche Truppen, welche ſich allmaͤhlig gegen Suͤden und Weſten zogen, waren in und bei Halle zu ſehen, und erhoͤhten das Vertrauen und die Luſt zum Kriege. Einige Hitzkoͤpfe geriethen voͤllig in Wuth, wenn man friedlichen Vergleich noch fuͤr moͤglich halten, oder die Ueberlegenheit der preußiſchen Kriegsmacht uͤber die franzoͤſiſche nicht unbedingt annehmen wollte. Ich erin¬ nere mich, daß ich mit dem Geheimen Rath Schmalz uͤber den Markt ging, und ein andrer Profeſſor ihn mit Neuigkeiten anſprach, daß der Krieg nun entſchieden122 ſei, und nichts den tollen Bonaparte mehr vom Unter¬ gange retten koͤnne. Als man von franzoͤſiſchen Gene¬ ralen ſprechen wollte, fiel er heftig ein: Generale? wo ſollten die herkommen? Wir Preußen haben Gene¬ rale, die den Krieg verſtehen, die von Jugend auf ge¬ dient haben, jene Schneider und Schuſter, die erſt durch die Revolution etwas geworden, koͤnnen vor ſolchen Maͤnnern nur gleich davon laufen. Ich bitte Sie um Gottes willen, ſprechen Sie mir nicht von franzoͤſiſchen Generalen! Das war denn doch zu arg, man er¬ wiederte kurz, die wahren Generale ſeien gerade die, welche es, trotz ihrer Geburt oder ihres fruͤheren Stan¬ des, durch den Krieg geworden, ſie kaͤmen uͤberall her, vom Dreſchflegel, von der Elle, ſogar zuweilen vom Paradeplatz und vom Nachtdienſt! Der Mann ſah mit grimmigem Erſtaunen drein, Schmalz aber, der als heftiger Preuße ſolchen Unſinns doch ſich ſchaͤmte, trat eilig vermittelnd auf, beſtaͤtigte jedoch im Allgemeinen die letztere Aeußerung, indem er ſie zugleich milder einkleidete, und das ungebaͤrdige Geſpraͤch verlief ſich zuletzt in einem Schwall nutzloſer Redensarten, unter denen man ſich trennte.

Die Truppenzuͤge dauerten fort, in Halle nahm der General Graf von Wartensleben ſein Quartier, und es hieß, ſeine Mannſchaft wuͤrde fuͤrerſt in dieſer Gegend ſtehen bleiben. Wir waren Freitag Abends wie gewoͤhn¬ lich bei Schleiermacher beiſammen, und beſprachen dieſe123 Dinge, als wir unerwartet durch die Nachricht geſtoͤrt wurden, am naͤchſten Sonntage werde Schleiermacher nicht predigen koͤnnen, indem der Graf von Wartens¬ leben ſich die akademiſche Kirche habe uͤberweiſen laſſen, um ein Magazin dort unterzubringen, und man fange bereits an, Saͤcke hineinzuſchaffen. Schleiermacher war aͤußerſt betroffen, er ſah die kaum eingerichtete Anſtalt, welche ſo reichen Segen verhieß, durch dieſe Widerwaͤr¬ tigkeit im Beginn auf weithinaus gehemmt, denn man konnte vorausſehen, daß auch mit dem Abzuge der Truppen die Fortſchaffung des Magazins noch keines¬ wegs erfolgen wuͤrde. Der Magiſtrat war beeifert ge¬ weſen, dem General dieſen ſchon fruͤher zu ſolchen Zwecken gebrauchten Raum anzuweiſen, der Prorektor hatte dazu die Achſeln gezuckt, und ſo ſchien die Sache fuͤr diesmal nicht mehr zu aͤndern. Waͤhrend nun Alle in groͤßter Aufregung den Fall beſprachen, uͤber die Willkuͤr der einen und die Laͤſſigkeit der andern Behoͤrde ſich ausließen, und was zu thun ſei hin und her riethen, regte ſich in mir ein raſcher Thattrieb, ich hatte ſchnell einen Plan gemacht, ſchlich im Stillen fort, und eilte zur Ausfuͤhrung. Es war offenbar, daß beiderlei Be¬ hoͤrden den akademiſchen Gottesdienſt fuͤr etwas Gleich¬ guͤltiges angeſehen hatten, dies ſollte widerlegt werden durch den Eifer der Studenten ſelbſt, welchen aufzu¬ regen ich mich unterfing. Nichts Durchgreifendes aber konnte geſchehen ohne die Landsmannſchaften, mit denen124 ich keine Verbindung hatte, und zugleich war kein Augenblick zu verlieren, denn bis zum naͤchſten Sonn¬ tage war nur noch ein Tag uͤbrig. In dieſer Noth wandte ich mich zunaͤchſt, um nur Namen und Woh¬ nung der Senioren der Landsmannſchaften zu erfahren, an die Frau Gevatterin, eine unter dieſem Namen weit und lange beruͤhmte Obſthaͤndlerin, die ihre Bude auf dem Markte hatte, und ſchon ganz herkoͤmmlich, gleich den Halloren, das Vertrauen der Studenten beſaß. Dieſe gute Frau gab mir willig die erwuͤnſchte Auskunft, und dazu einen Knaben, der mich, da es ſchon dunkel geworden, die Wege fuͤhrte. Als ein ganz Fremder mich den Senioren vorzuſtellen, ſie nur zu dem Ge¬ ſtaͤndniß zu bewegen, daß ſie dieſe ſeien, und dann ihre Unterſtuͤtzung fuͤr eine ſo ungewoͤhnliche, dazu von einem Nichtbruder betriebene Sache zu gewinnen, dies alles durfte wahrlich fuͤr keine Kleinigkeit gelten! Ich weiß ſelbſt nicht mehr, was ich fuͤr gluͤckliche Formen fand, und mit welch eindringlicher Beredſamkeit ich den Gegen¬ ſtand, von dem ich freilich ſelber gluͤhend ergriffen war, ihnen als eine Sache ſtudentiſcher Ehre und Begeiſte¬ rung vortrug, genug es gelang mir mit dem Erſten, den ich anſprach, und nach ſo gutem Anfang, auf den ich mich berufen konnte, mit Allen; ſie erwiederten mein Benehmen mit freundlichem Sinn, fanden ſich geſchmei¬ chelt, daß ſie, wie bisher in gemeinen perſoͤnlichen Haͤn¬ deln, nun auch in hoͤhern geiſtigen Dingen ſollten an¬125 geſprochen werden, und ſagten ihm kraͤftige Mitwirkung zu. Noch am naͤmlichen Abend war in ihren Haͤnden ein ſchriftlicher Entwurf, durch welchen die Studirenden bezeugten, wie hohen Werth der akademiſche Gottes¬ dienſt fuͤr ſie habe, wie ſchmerzlich ihnen die drohende Unterbrechung ſein wuͤrde, und ſchließlich den Prorektor baten, ihr Recht und ihre Wuͤnſche bei der Militair¬ behoͤrde geltend zu machen. Mehrere Abſchriften waren ſchnell genommen, und am andern Morgen, durch die Genehmigung der Landsmannſchaften empfohlen, in den fruͤhſten und beſuchteſten Vorleſungen zur Unterſchrift ausgelegt. Gegen Mittag ſtanden ſchon uͤber ſechshundert Namen unterzeichnet. Die Gleichguͤltigen wurden fort¬ geriſſen, die neue Bewegung freute jeden, und ſelbſt viele Profeſſoren laͤchelten antheilvoll zu dem lebhaften Treiben. Jetzt rief ich Marwitz auf, der nebſt Harſcher anfangs die Sache nur unglaͤubig mitangeſehen hatte, nun aber ſich bereit finden ließ, mit noch einem Stu¬ denten als Abgeordnete der Geſammtheit die Adreſſe dem Prorektor zu uͤberbringen, ſo wie auch dem General von dem Vorgegangenen unmittelbar Nachricht zu er¬ theilen, denn ich fuͤhlte, daß ich mein perſoͤnliches Auf¬ treten hier klugerweiſe abzubrechen und auch die Ehre und Verantwortung Andrer in die Sache zu verflechten hatte. Die Abgeordneten wurden ſehr wohl aufgenommen, und erhielten guten Beſcheid; die Kirche konnte zwar ſo ſchnell nicht mehr geraͤumt werden, aber der Pro¬126 rektor und der General nahmen Ruͤckſprache mit dem Magiſtrat, der nun nicht umhin konnte, uns den Mit¬ gebrauch der ſtaͤdtiſchen Kirchen zu vergoͤnnen, ſo daß der akademiſche Gottesdienſt ſeinen guten Fortgang be¬ halten konnte, und bis zu den Ferien ich glaube nur ein einzigesmal ausgeſetzt blieb. Dieſe Geſchichte, in welcher ich mir allerdings eine raſche und erfolgreiche Thaͤtigkeit anrechnen darf, gewaͤhrte mir ungemeine Be¬ friedigung, und erwarb auch von Seiten Andrer mir Beifall und Lob. Die Adreſſe ſelbſt wurde nach Berlin an das Miniſterium der geiſtlichen Angelegenheiten ein¬ geſandt, das ſie mit vorzuͤglicher Gunſt aufnahm, und in ſolchem Sinne die Univerſitaͤtsbehoͤrde darauf beſchied; dies erzaͤhlte mir bald nachher in Berlin mein alter Lehrer Nolte, mit beſonderer Annehmlichkeit, indem er als Rath im Miniſterium die Sache zu leſen gehabt, und mich als den Schreiber des Aufſatzes gleich durch meine Handſchrift erkannt, und deßhalb auch als den Anſtifter des Ganzen vermuthet hatte.

Die kriegeriſchen Zeitumſtaͤnde veranlaßten mich noch in einer andern Sache perſoͤnlich aufzutreten, aber mit ungleichem Erfolg. Der hamburgiſche Buchhaͤndler ließ das Buch, welches er von Neumann und mir in Ver¬ lag genommen, zu unſrer Bequemlichkeit in Halle drucken, und daſſelbe unterlag daher der dortigen Cenſur. Nun war uns eine gute Anzahl Epigramme zugeſchickt worden, in welchen allerlei Scherze auch uͤber die politiſchen127 Verhaͤltniſſe vorkamen, das Ganze ſollte Enchiridion heißen, und konnte bei aller Freimuͤthigkeit mancher Wendungen, noch immer recht gut von jedem Preußen unterſchrieben werden. Wir hatten auf die Wirkung dieſes Beitrags ſchon vorzuͤglich gerechnet, als unerwartet die Cenſur ihm das Imprimatur verweigerte. Der Prorektor Maaß war Cenſor, und ich eilte zu ihm in der Abſicht ihm vorzuſtellen, daß der Aufſatz von ſeinem Verfaſſer perſoͤnlich vertreten wuͤrde, das Buch aber als ein in Hamburg verlegtes gelten muͤſſe, der Druck eben ſo gut dort wie in Halle geſchehen koͤnne, und der Cenſor daher nur geſtatten moͤge, was er doch nicht ganz zu hindern im Stande ſei. Er war etwas ver¬ wundert, daß ein Student auf dieſe Weiſe mit ihm in Eroͤrterung treten wollte, behauptete aber ſein Recht der Verweigerung, und gab mir, als ich allzudreiſt ihm ſagte, ich wuͤrde ihn verklagen, ruhig ſelbſt die Behoͤrde an, wo ich meine Beſchwerde anbringen koͤnnte, worauf ich ihn ſehr unzufrieden verließ. Eine Beſchwerde in Berlin durfte wenig Erfolg verſprechen, und die Bogen in Hamburg drucken zu laſſen, wo nur fuͤr Zeitungen eine Cenſur beſtand, ſchien doch zu umſtaͤndlich; um daher ohne Weitlaͤufigkeit von der Sache zu kommen, mußten wir uns entſchließen, den Beitrag aufzuopfern, wodurch das Buch grade die paar Floßfedern verlor, mit denen es in der ungluͤcklichen politiſchen Ueber¬128 ſchwemmung, in die ſein Erſcheinen fiel, noch einiger¬ maßen haͤtte ſchwimmen koͤnnen.

Die Herbſtferien waren unterdeß herangekommen. Marwitz war ſchon fruͤher nach Friedersdorf, dem bei Kuͤſtrin liegenden Gute ſeines Bruders abgegangen, um daſelbſt die Verwaltung zu fuͤhren, waͤhrend ſein Bruder als Offizier dem Kriegsrufe zu folgen hatte. Neumann ſchloß ſich mehreren Kammeraden an, die einen Aus¬ flug nach Sachſen machten, und ich, von Theremin wiederholt eingeladen, nahm gutes Muthes den Weg nach Berlin, um vor dem Winter und ſeinem neuen Studienlaufe das Gemuͤth erſt recht wieder in Freund¬ ſchaft und Muße zu erfriſchen. In wenigen Wochen mußten wir in demſelben Kreiſe wieder zuſammen ſein. Keinem fiel ein, daß die Ereigniſſe unſre Bahn im ge¬ ringſten ſtoͤren koͤnnten. Daß große Entſcheidungen ſich vorbereiteten, daran wurde ich doch auf dem ganzen Wege lebhaft genug erinnert, uͤberall begegneten mir Soldaten in groͤßern und kleinern Abtheilungen, Kriegsfuhrwerk, Geſchuͤtz. In Treuenbriezen ſah ich den alten Feld¬ marſchall von Moͤllendorf, der gleichſam als letztes Zeichen des nun nicht mehr zu bezweifelnden Krieges zum Heer abreiſte, und dieſem als einer der Helden Friedrichs des Großen noch die letzten Funken damaliger Thaten zur Entflammung neuen Sieges und Ruhms uͤberbringen ſollte. Ich ſah ihn aus ſeinem Wagen heraus dem um¬ ſtehenden Volke lachend und behaglich die ſchoͤnſten Ver¬129 heißungen zurufen, und unter dem Jubel der Menge abfahren. Die Soldaten ſangen muntre Lieder, freuten ſich, daß es endlich in’s Feld ging, und uͤberall war es lebhaft von Nachzuͤglern und ſonſtigen Leuten, die ſich dem Kriegsweſen anſchloſſen. Ueber Potsdam hin¬ aus verklang allmaͤhlig dieſer bunte Laͤrm, alles lag in ungewoͤhnlicher Stille, und bei heiterem Sommerwetter durfte ich meine waͤrmſten Empfindungen wieder unge¬ theilt den Erwartungen zuwenden, die mich perſoͤnlich angingen.

(Inzwiſchen war der Krieg ausgebrochen, und die Schlachten von Auerſtaͤdt und Jena verloren worden. Halle ſelbſt wurde der Schauplatz eines ungluͤcklichen Gefechts, ein ſtrenger Befehl des Kaiſers Napoleon hieß alle Studirenden die Univerſitaͤt ungeſaͤumt verlaſſen, und nur unter Verlaͤugnueg meiner Eigenſchaft konnte ich noch im Winter dahin zuruͤckkehren, um wenigſtens an dem ruhigen Orte der Studien die gehoffte Wieder¬ aufnahme derſelben abzuwarten.)

1807.

Der Anblick Halle’s war freilich ganz veraͤndert. Die Abweſenheit der Studenten machte die Straßen leer und die Haͤuſer oͤde, alles hatte ein trauerndes Anſehn, nicht einmal durch franzoͤſiſche Einquartierung belebt, denn außer den noͤthigſten Verwaltungsbeamten und wenigen dienſtfaͤhigen Kriegsleuten waren hauptſaͤchlich nurII. 9130Verwundete und Kranke dort geblieben, von welchen man die Geneſenden hin und wieder ſchleichen ſah.

Herzlich empfingen mich Harſcher und Adolph Muͤller, die den Sturm ruhig uͤberſtanden und dem franzoͤſiſchen Bannſpruche nicht gehorcht hatten, eben ſo mit Trau¬ lichkeit Schleiermacher und Steffens, ſehr freundſchaft¬ lich und heiter Wolf.

Fuͤr die Univerſitaͤt waren alle Ausſichten noch ver¬ ſchloſſen, die Studenten unwiderruflich ausgetrieben, die Profeſſoren ohne Wirkſamkeit und Beſoldung. Die Buͤr¬ ger hatten zu der uͤberſtandenen Pluͤnderung auch noch die vorauszuſehende Nahrungsloſigkeit und mit den zu¬ ruͤckgelaſſenen Schulden der akademiſchen Jugend zugleich die Laſten des fortwaͤhrenden Krieges, die Unterhaltung eines franzoͤſiſchen Lazareths, und manches andre zu tragen, und dieſe Umſtaͤnde mußten dem begonnenen Winter einen duͤſtern Verlauf allgemein troſtloſer Lebens¬ tage verheißen. Aber es kam grade das Gegentheil. Zwar entbehrte man in allen Staͤnden viel des gewohn¬ ten Behagens; und ſelbſt, was in andern Zeiten als Anſtaͤndiges oder gar als Nothduͤrftiges gelten wollte, wurde knapp oder ging voͤllig ein; aber da man ſich des Mangels nicht ſchaͤmte, und die Zeitlaͤufte grade nur ſtaͤrker zur Mittheilung und zur Gemeinſchaft hin¬ draͤngten, ſo ruͤckte man gern naͤher zuſammen, richtete ſich kleiner und ſparſam ein, ſah einander darum an¬ ſpruchsloſer und oͤfter, und da der Krieg durch ſeine131 Fortdauer die Gemuͤther in Spannung und den Blick und die Hoffnung in die Ferne wach erhielt, ſo lebte man getroſt ſo fort, und war bei dem Wenigen ſo ver¬ gnuͤgt und heiter, als man vorher bei dem Reichlichern, unter wechſelſeitig geſteigerter Anforderung, kaum ge¬ weſen war.

Die Profeſſoren vermochten zum Theil aus gutem Ertrage fruͤherer Zeiten einiges zuzuſetzen, Andern half irgend ein Nebenerwerb aus, hauptſaͤchlich Schriftſtellerei, wozu die Muße, bei dem Stillſtehen der Vorleſungen, um ſo groͤßer, und die Gelegenheit in dem leſe - und ſtudirbeduͤrftigen Deutſchland, auch neben dem verheeren¬ den Kriege, und faſt mitten in ihm, noch genugſam dargeboten war. Wolf, Reil, Niemeyer, Kurt Spren¬ gel und andre ſolche Altſaͤſſige gehoͤrten zu der erſtern Klaſſe, Schleiermacher und die meiſten juͤngern zu der zweiten; dieſer hatte gleich nach der erſten Verwirrung ſich ſchnell gefaßt, und mit verdoppeltem Eifer ſeine Platoniſchen und theologiſchen Arbeiten wieder aufge¬ nommen. Steffens folgte bald den Einladungen ſeiner noͤrdlichen Freunde, die ihm theils in Kopenhagen neue Anſtellung, theils in Holſtein und Hamburg gaſtliche Zuflucht boten. Sein Weggehen war uns Allen ein tiefer Schmerz, die nothwendigen Beſtandtheile unſres Zuſammenlebens ſchienen unvollſtaͤndig geworden, in allen gewohnten Kreiſen wurde ein geiſtiger Zuſatz ver¬ mißt, in manchen die ganze Wuͤrze, ſelbſt bei Schleier¬9 *132macher entbehrte man den wohlthaͤtigen Einfluß der friſchen Naturfuͤlle auf dieſe ſanften, weiten, aber zu¬ weilen auch in’s Kleine zuſammengeengten und ſchwach¬ haltigen ethiſchen Gebilde.

Von andern halliſchen Einwohnern ſah ich wenige, und dieſe nicht oft, nur Schmalz, Hoffbauer, und ein paar Andre, denen ich von Berlin her etwan Beſtellun¬ gen zu machen hatte. Ich mußte natuͤrlich von der Hauptſtadt viel erzaͤhlen, und man hoͤrte mich genugſam ab. Dies geſchah ganz beſonders auch in der Geſell¬ ſchaft auf dem Jaͤgerberge, wohin Schmalz mich in eine Art von Klub fuͤhrte, der politiſche und freimaureriſche Elemente verband. Hier fuͤhrte der als Kriegsgefangene auf ſein Ehrenwort entlaſſene General von Hinrichs das Wort, derſelbe, welcher ſpaͤterhin den unfruchtbaren Spaß machte, den von den Franzoſen in Sansſouci weggenommenen Degen Friedrichs des Großen fuͤr einen unaͤchten, ſchon vorher vertauſchten, auszugeben, und den aͤchten als gerettet und in guter Hand befindlich anzudeuten.

Einen Patrioten eigner Art lernte ich in dem Kano¬ nikus Auguſt Lafontaine kennen, an den ich einen Brief ſeines Freundes, des Buchhaͤndlers Sander, abzugeben hatte. Dieſer einſtmalige Liebling der deutſchen Frauen und Maͤdchen hatte im behaglichen Genuſſe des Ertrages ſeiner Feder, und der Pfruͤnde, die ihm der Koͤnig und die Koͤnigin von Preußen als dankbare Leſer ſeiner be¬133 liebten Romane zugewendet, ſich zu faßartiger Beleibt¬ heit ausgemaͤſtet, und war dabei als Schriftſteller ſo ruͤſtig und raſch geblieben, daß er, wie er mir ſelbſt erzaͤhlte, ſeiner Geſchwindigkeit dadurch Hemmketten anlegte, daß er ſich nur an zweien Tagen der Woche erlaubte zu ſchreiben, weil er ſonſt ganz uͤbermaͤßig viel ſchreiben wuͤrde, und den Werth ſeiner Hervorbringungen durch Ueberfuͤlle nur herabzudruͤcken fuͤrchtete. Er hatte eine haͤßliche Frau, aber eine artige junge Nichte bei ſich, die er ſehr eingezogen hielt; er glaubte ihre Un¬ ſchuld nicht zart genug bewachen zu koͤnnen, und erlaubte ihr kaum unter Leute zu gehen, nur zu Reichards allen¬ falls, wo die ſtrenge Haltung ſeine Anforderungen be¬ friedigte und ſeine Vorurtheile ſicher machte; das gute Maͤdchen hatte nicht einmal den Genuß, an dem reich¬ lichen Hausbrunnen den jugendlichen Durſt zu ſtillen, denn ſie durfte keine Zeile von des Oheims Romanen leſen, die er wie das aͤrgſte Gift ihr vorenthielt, mit dem er doch alle fremde Haushaltungen zu uͤberſchwem¬ men kein Bedenken trug, wenig ſchmeichelhaft in der That fuͤr das Publikum, das er ohne Umſtaͤnde mit einer Ladung abfand, deren geiſtige und moraliſche Ver¬ daulichkeit er bei den Seinigen mehr als zweifelhaft ver¬ neinte! Er hatte in ſeinem artigen Landhaus und Garten, an der Saale dicht vor dem Thore, durch die Pluͤnderung hart gelitten, brauchte aber nur einen dritten Tag mehr in der Woche ſich zum Schreiben zu geſtatten,134 um hoffen zu duͤrfen, daß aller Verluſt bald wieder eingebracht ſein werde. Die vielen weichlichen Empfin¬ dungen und edlen Verhaͤltniſſe, welche er in ſeinen Ro¬ manen durcharbeitet und ausgelegt hatte, waren bei ihm ſelbſt, vielleicht eben wegen des ſteten Aufwandes und Verbrauchs, jetzt in geringem Vorrathe zu ſpuͤren, er nahm alles ziemlich hart und plump, und wollte die Zaͤrtlichkeit fuͤr ſeinen Freund Sander, deſſen traurige Gemuͤthskrankheit ich ihm ſchilderte, nicht ſonderlich auf¬ kommen laſſen. Als preußiſcher Patriot dagegen zeigte er ſeine Eigenheit in dem Bekenntniß, daß er ſich auch unwahre Siegsnachrichten mit Vergnuͤgen erzaͤhlen laſſe, und bei dem beſtimmten Vorauswiſſen, man luͤge ihm was vor, ſeine Begierde weiter zu hoͤren doch nicht geſchwaͤcht wurde!

Harſcher lebte in dieſer halliſchen Zeit ſeine ver¬ gnuͤgteſten Tage; nicht durch eigne Verſaͤumniß, die er ſich doch immer zum Gewiſſen gemacht haͤtte, ſondern durch die Macht der Umſtaͤnde, gegen die ſein Wider¬ ſpruch nicht fehlte, ſah er ſich von allem Zwange be¬ freit, den ſeine Beſtimmung ihm auferlegte, die medi¬ ziniſchen Vorleſungen, vor denen er ſich fuͤrchtete, und denen er ſich endlich um ſo ſtaͤrker hingeben mußte, je laͤnger er ſie bisher gemieden hatte, wurden gleich allen uͤbrigen nicht gehalten, ihn konnte nicht der ge¬ ringſte Vorwurf treffen, daß er ſie nicht beſuchte; an Fleiß und Eifer andrer Art ließ er es aber nicht mangeln,135 im Gegentheil, er war einer der Menſchen, die unauf¬ hoͤrlich ſtudiren, nicht nur uͤber den Buͤchern ſitzend, was er auch vortrefflich konnte, ſondern im Gehen und Stehen, in jedem Geſpraͤch, bei allen Gegenſtaͤnden, aber ſeine Studien wollten dieſer Art gemaͤß auch moͤg¬ lichſt frei ſein, ohne aͤußern Plan und vorgeſtecktes Ziel nur ihren eignen Beduͤrfniſſen folgen, dies fuͤgte ſich jetzt von ſelbſt, alles war ja fuͤr die naͤchſte Zeit ſtill¬ geſtellt, und er wie jeder andre einzig auf’s Abwarten angewieſen.

Der Kreis der dagebliebnen oder in der Stille zuruͤck¬ gekehrten jungen Leute war in Halle noch anſehnlich genug. Adolph Muͤller, Harſchers hochvertrauter Freund, Przyſtanowski, die beiden Ruſt aus Deſſau, der junge Loder, dazu noch Bekker, machten ſchon eine bunte Geſellſchaft aus. Bald kam auf meine dringende Auf¬ forderung auch Neumann von Goͤttingen zuruͤck, wohin er mit Neander verſprengt worden war, bezog ein Zimmer auf gleichem Flur mit dem meinigen, und wenn unſre Beſchaͤftigungen uns mitunter trennen durften, ſo hielten alle andern Bezuͤge uns doch taͤglich und innig vereint.

Durch den Fortgebrauch der Arzneien Erhards war meine Geſundheit allmaͤhlig geſtaͤrkt worden, ich griff das Leben und die Studien wieder mit heitern Kraͤften an. Mit ſtaͤrkſtem Willen warf ich mich auf die Arznei¬ wiſſenſchaft und quaͤlte mich mit dem Gruͤndlichſten,136 mit der nie genug zu wiederholenden Betrachtung der Knochen, rechtſchaffen ab; auch las ich mediziniſche Buͤcher mit fleißigem Bedacht. Aber wie ſtreng ich auch wollte, die Sache ging ſchlecht von Statten, ſie fand in der Unmittelbarkeit der Gegenwart keinen fort¬ wirkenden Trieb, keine Genoſſenſchaft, und kaum die noͤthige Gelegenheit, denn auch der Bedarf an Buͤchern und andern Huͤlfsmitteln war nicht immer leicht herbei¬ geſchafft. Die Studien allgemeiner Bildung dabei zu verabſaͤumen, haͤtte mir uͤberdies ein Hochverrath geſchie¬ nen, ich pflegte ihrer alſo nebenher, und ſchnell waren und blieben ſie im Vortheil. Ich arbeitete mit groͤßtem Fleiße den Homer durch, beſonders zu wiederholten Malen die Ilias, wobei ich wiederum Wolfs Hefte und den Euſtathios zu Huͤlfe nahm, ſuchte in den Platon einzudringen, in den griechiſchen theils, theils in den durch Schleiermacher verdeutſchten, las mit Neumann zuſammen und deshalb mit erhoͤhtem Vergnuͤgen den Xenophon, und war auch mit andern griechiſchen und lateiniſchen Autoren noch mannigfach beſchaͤftigt. Das Anregendſte und Ergiebigſte aber waren unſre gemein¬ ſchaftlichen Unterhaltungen, wo Harſcher, unter ſtets erneutem Zweifel und Gegenſtreit, mit eigenthuͤmlicher und unerſchoͤpflicher Dialektik uns alle Heer - und Schleich¬ wege der philoſophiſchen Forſchung durchmachen ließ, und wir die Lehren von Schleiermacher und Steffens, daneben Platons und Plotin's aus entſprechendem Stand¬137 punkte, dann Schellings und Fichte’s, im Hintergrunde ferner Kants, Leibnitzens und Spinoza’s, in vielfachſter Wendung betrachteten und handhabten, zu unſaͤglicher Geiſtesuͤbung, wenn auch nicht zu ſonſtigem Stoffertrag.

Eine ſtets erneute Staͤrkung und Nahrung fuͤr dieſe Geſpraͤche waren die Abende bei Schleiermacher, die regelmaͤßig Freitags wieder gehalten wurden, und fuͤr die ſich hoher Ernſt und frei Laune wie Offenheit und feine Ruͤckſicht zum ſchoͤnſten Gleichmaße verbunden hatten. Schleiermacher war an ſolchen Abenden meiſt ſehr liebenswuͤrdig, ſeine Schaͤrfe galt damals mehr den Gegenſtaͤnden als den Perſonen, den Anweſenden nie, er ſprach ſinnig und angenehm uͤber wiſſenſchaftliche Dinge, beſonders uͤber die ſchwierigſten und anziehendſten ethiſchen Fragen, welche Harſcher mit unermuͤdetem und gewandtem Eifer zur Sprache brachte; dabei wur¬ den auch die politiſchen Nachrichten, zwar mit ſtaͤrkſten Wuͤnſchen und Hoffnungen fuͤr Preußen, doch im Gan¬ zen, beſonders von Schleiermacher ſelbſt, mit Umſicht und Billigkeit, ihrem Intereſſe gemaͤß aufgenommen und beurtheilt.

Wir Juͤngern ſaßen oft ſchon Nachmittags in ernſten und lebhaften Geſpraͤchen zuſammen, bis die Stunde heranruͤckte und wir zu Schleiermacher gingen, wo wir das heftig Durchgeſtrittene nun vor der leitenden Ein¬ ſicht, gleichſam in hoͤherer Klaſſe, nochmals ruhiger und feiner beſprachen, und ſchneller und entſcheidender zu138 einem Ziele kamen; ja es geſchah mitunter, daß wir am ſpaͤten Schluſſe des Schleiermacher’ſchen Abends noch nicht des Eroͤrterns und Verhandelns genug hatten, ſondern dort weggegangen wieder bei mir einkehrten, und noch bis in tiefer Nacht unſre arbeitende Geſellig¬ keit fortſetzten, welche ſelten durch irgend eine Be¬ wirthung, und niemals durch andre, als die maͤßigſte getragen wurde. Einmal blieben Harſcher, Neumann und ich auf dieſe Weiſe nach dem Schleiermacher’ſchen Abend auf meinem Zimmer die ganze Winternacht hin¬ durch beiſammen, und das Geraͤuſch des wiederaufſtehen¬ den buͤrgerlichen Verkehrs und das graue Licht des ſpaͤten Morgens fiel in unſre noch lebhaften Geſpraͤche; ein heißer Kaffe nahm uns die Schauer der Ueberwachung leicht hinweg, erfriſcht und geſtaͤrkt mochten wir jetzt nicht ſchlafen gehen, der Tag leuchtete heller auf den gefrornen Schnee, und ſo waren wir kurz entſchloſſen, und ſchritten frohen Muthes nach dem drei Meilen ent¬ legenen Petersberge zu, beſtiegen die Ruine, hielten in einer Bauernſchenke mit Eiern unſre Mittagsmahlzeit, und kehrten dann, durch die anfangs noch ſonnenglaͤn¬ zenden, ſpaͤter nur ſchnee - und ſternenhellen, ſchweigen¬ den Froſtgefielde nach Halle zuruͤck, mehr noch erregt als ermuͤdet durch die aͤußere und innere Bewegung, aber denn doch endlich des Schlafes beduͤrftig, den wir uns reichlich verdient hatten.

139

Wolf war uns in dieſer Zeit weniger zugaͤnglich, ausgenommen Bekker'n, der ſeine Neigung, wie ſein Heil ganz auf ihn geſtellt hatte, und ihn faſt jeden Tag ſah. Wahrhaft vornehm in Studien und Leben hielt Wolf ſich mit Ernſt und Witz den Zeitumſtaͤnden ſtets uͤberlegen. Wir wußten ihn thaͤtig und munter, vernahmen manches ſchlagende Wort von ihm, genoſſen unablaͤſſig mittel - und unmittelbar der Fruͤchte ſeines Geiſtes und Wiſſens, und waren ſehr mißvergnuͤgt, als ploͤtzlich dieſer Mann in den Laͤrm eines niedrigen Ge¬ klatſches gezogen wurde, und gegen gemeine Gegner oͤffentlich in die Schranken treten mußte. Die zahlrei¬ chen Unbedeutenheiten, die ſich, durch trockne, geiſtloſe, doch unlaͤugbar auch ſo noch ihres Orts nuͤtzliche Fort¬ pflanzung des gemein Erlernten, zu dem Profeſſorſtand aufgeſchwungen haben, in welchem ſie ſich aͤußerlich auf gleicher Stufe mit dem ſchoͤpferiſchen und tiefdenkenden Genie ſehen, ſind auf unſern Univerſitaͤten von jeher gegen die einzelnen Bedeutenheiten verſchworen, durch die ſie verdunkelt werden. Dies war in Halle, bei großer Achtung und Furcht, auch die herrſchende Rich¬ tung gegen Wolf, der in ſeiner Groͤße und Ruͤſtung einem Reil, Steffens, Schleiermacher, Noͤſſelt, und ihres Gleichen zwar eine Freude, vielen Andern aber ſtets ein heimlicher, nie zu verwindender Aerger war. Nun hatte ſich auch in letzterm Kreiſe, wie in jedem, die Einnahme und Pluͤnderung von Halle mit allen140 ihren Auftritten und Bedraͤngniſſen gehoͤrig durchge¬ klatſcht; manches beſchaͤmende Geſchichtchen eigner Ver¬ wirrung und Schwaͤche hatte man durch Aufſpuͤren und Heranziehen fremder Begegniſſe wenigſtens auszuglei¬ chen, wo nicht zu uͤberbieten geſucht. Wolfs beißender Witz war ſeinen Kollegen oft genug empfindlich gewor¬ den, mit hoͤchſter Schadenfreude daher vernahm und foͤrderte man das Gerede, auch Wolf, der große Wolf, habe zur Zeit des Gefechts im Keller geſeſſen, und nach¬ her, als er ein Exemplar ſeines Prachthomer zur be¬ guͤtigenden Ehrengabe dem Marſchall Bernadotte habe darbringen wollen, ſei ihm die Zueignung an den Koͤnig bedenklich geworden, die er daher, durch den das Buch tragenden Bibliothekdiener noch auf der Straße habe herausſchneiden laſſen, der ſie auch ſpaͤter, da die Ueber¬ reichung durch Zufaͤlligkeit unterblieben war, wieder habe hineinkleben muͤſſen. Die erſte Angabe warf einige Laͤcherlichkeit auf Wolf, die zweite aber war durchaus gehaͤſſig, ſeiner Ehre wie ſeinen kuͤnftigen Verhaͤltniſſen zum hoͤchſten Schaden geſtellt. Manche Leute glaubten dergleichen uͤberhaupt gern, andre, die ein ſo thoͤrichtes und ſchlechtes Benehmen nur mit dem Verſtande Wolfs nicht zu reimen fanden, wollten doch ſeinen Karakter weniger als Hinderniß dabei angeſehen haben.

Kaum indeß vernahm Wolf die ſchmaͤhliche Nachrede, als er ſich mannhaft hinſtellte, und in dem halliſchen Wochenblatt eine ausfordernde Zurechtweiſung ergehen141 ließ, welche in ihrer gelungenen buͤndigen Art hier eine Stelle wohl verdient. Seine Erklaͤrung lautete: Es umſchleicht mich ſeit ein paar Monaten hier in der Stadt, vielleicht auch in Briefen nach fremden Orten, uͤber eine am 18. Oktober vorigen Jahres von mir be¬ abſichtigte Handlung, ein luͤgenhaftes unwuͤrdiges Ge¬ rede, welches auch weiterhin von Perſonen, die mich nicht kennen, oder von der Veranlaſſung nichts wiſſen, noch mehr von Uebelwollenden, auf eine gehaͤſſige, ja ehrenruͤhrige Weiſe wiederholt und ausgebildet werden kann. Dies zwingt mich, hierdurch oͤffentlich anzuzeigen, daß ich ſeit dem 20. Januar, nach dem Gutachten eines Rechtsgelehrten, eine rechtliche Unterſuchung daruͤber bei einem hieſigen Gerichtshofe veranlaßt habe. Bis zur Beendigung der Unterſuchung erklaͤre ich hiermit einem jeden, der ohne Beweis die verbreitete Geſchichte weiter erzaͤhlt, oder ſie auf irgend eine Art zum Nachtheil meiner Ehre erwaͤhnt, den erſten fuͤr einen leichtſinni¬ gen, veraͤchtlichen Schwaͤtzer, den letzten fuͤr einen bos¬ haften Verlaͤumder. Moͤchte dieſe Anzeige, außer ihrer naͤchſten Abſicht, zugleich jedem, der es in gegenwaͤrti¬ ger Zeit bedarf, bei ſeinen Reden nicht weniger, als bei Handlungen, Vorſicht empfehlen, damit ihm nicht nach ſo vielen andern auch Geſundheit des gemeinen Menſchenverſtandes oder des Herzens verloren gehe. Fuͤr ſolche werden hier, dem Zwecke dieſes Blattes gemaͤß,142 ein paar Verſe eines alten Sittenlehrers am rechten Orte ſtehen:

Laß dich nicht ſchadfrohes Gered 'ablocken von Arbeit!
Wenige Zeit hat uͤbrig fuͤr Zank und Getuͤmmel des Marktes,
Wer nicht Habe daheim auf ein voͤlliges Jahr ſich geſammelt.

Halle, den 15. Februar 1807. F. A. Wolf. Der Schluß fand inſonderheit allgemeinen Beifall, wegen der anmuthigen Nutzanwendung, die auf manche der Schaͤcher, die man ſo ziemlich alle namentlich herzaͤhlen konnte, nur allzu gut paßte. Schleiermacher hatte ſeine herzliche Freude uͤber Wolfs Erklaͤrung, und zweifelte nicht an deſſen gutem Rechte dazu, wir Juͤngern ſtimm¬ ten ganz uͤberzeugt und mit Leidenſchaft fuͤr ihn. Allein, grade weil man die Namen ſo beſtimmt wußte und nannte, konnten die ſcharf Getroffenen doch nicht ſogleich ſchweigen, ſondern mußten wenigſtens verſuchen, ſich ſolchem Unglimpf leidlich zu entwinden. Die Sache wurde vielfach verhandelt, auch vor Gericht in aller Ausfuͤhrlichkeit, und nach mancher Verwicklung und Weiterung durch Zeugen und Eide, kam es zu dem Beſchluſſe, daß der Bibliothekdiener, auf deſſen verworr¬ ner Ausſage zuletzt alles beruhte, und dem jene Leute in unſchicklicher Vertraulichkeit die fuͤr ihren Appetit mundrechten Getraͤtſche gleichſam aufnoͤthigend abgefragt hatten, wegen ſeiner verlaͤumderiſchen Angaben, die er nicht erweiſen konnte, mit verdienter Gefaͤngnißſtrafe143 belegt wurde. Hiermit war aber alles noch nicht abge¬ than; einer der Gegner ließ nach einigen Monaten, da Wolf ſchon Halle mit Berlin vertauſcht hatte, eine ſo¬ genannte aktenmaͤßige Erzaͤhlung der Sache drucken, welches fuͤr Wolf der Anlaß werden mußte, die Unrich¬ tigkeiten, die er hier vorgelegt ſah, durch eine ausfuͤhr¬ liche Schrift darzuthun, welche jedoch durch die Ungunſt eines ſolchen verdrießlichen Stoffes, den die auch ihrer¬ ſeits diesmal etwas gezwungene Witzlaune des Verfaſ¬ ſers nicht aus aller Langweiligkeit herausfoͤrdern konnte, einen nicht befriedigenden Eindruck machte, ja das Mi߬ geſchick hatte, manche ſchon weggeworfene Zweifel uͤber die Sache wieder aufzuregen, und das Endurtheil im Ganzen unſicher geſtellt zu laſſen. Ich meinerſeits aber war und blieb uͤberzeugt, daß Wolf's wohlbekannte Schwaͤchen, die in kleinen Liſten und Vorkehrungen zuweilen ſichtbar wurden, doch nie zu dem Aeußerſten einer ſolchen Thorheit und Unſchicklichkeit ſich verirrt haben konnten, als jenes angebliche Herausſchneiden der Zueignung, dem auch alle Zeichen und Umſtaͤnde voͤllig widerſprachen, unter den damaligen Verhaͤltniſſen gewe¬ ſen waͤre.

Auf der Univerſitaͤt ohne ſogenannte Suiten zu le¬ ben, haͤtte keine Art gehabt. Wir hatten aber die unſrigen in eigner Weiſe. Dahin kann wohl gerechnet werden, daß wir bei dem Konditor Schelling am Markte unſre Laune, bald gegen einander ſelbſt, bald gegen die144 dort verkehrenden Philiſter, doch meiſtens harmlos, wal¬ ten ließen. Einmal hatte einer von uns den Cid von Herder aus der Hand gelegt, der neugierige, durch ſeinen vornehmen Philoſophennamen noch beſonders zum Scherz aufregende Ladenwirth greift darnach, ſchlaͤgt das Buch auf, und ſieht den Titel an, man fragt, ob er ſich auch auf Buͤcher verſtehe? O ja, meine Herren, erwiederte er, das ſeh ich gleich, daß dies ein juriſtiſches Buch iſt. Ein juriſtiſches? fragen wir verwundernd, ei wie ſo? Nun es heißt ja der Eid, antwortete er, das iſt doch ein juriſtiſcher Gegenſtand. Man kann denken, wie gelacht wurde. Aber nun wollte man dem Alten zeigen, mit wie großem Rechte man ihn auslache. Keine Moͤglichkeit! Er blieb feſt bei ſei¬ nem Eide, man mochte ſich noch ſo viele Muͤhe geben ihm das deutliche C vorzuhalten, ihn zu belehren, daß das Wort Cid ein Name ſei, ihn zu uͤberzeugen, daß das Buch eine Geſchichte in Verſen und keine Abhand¬ lung enthalte, er ließ ſich nichts weismachen, wie er fuͤr unſre Abſicht nahm, ſah zwanzigmal wieder das ihm aufgedrungene Blatt an, und las mit ſelbſtzufriedenem Lachen, wie einer, der ſeiner Sache gewiß und uͤber ſolche Fopperei hinaus iſt, richtig jedesmal: der Eid! Wir hatten wirklich die volle Verzweiflung, in unſrer Weisheit und Geſchicklichkeit denn nun war es zur ordentlichen Aufgabe des Ehrgeizes und Wetteifers ge¬ worden keine Mittel zu haben, keinen Weg zu fin¬145 den, um den guten Mann ſeines groben und offenbaren Irrthums inne werden zu laſſen. Wir mußten beſchaͤmt abziehen, und verkannten in Scherz und Lachen keines¬ wegs die ernſte Seite eines ſolchen im Leben oft bedeu¬ tend hervortretenden Beiſpiels von vergeblichem Kaͤmpfen entſchiedner Einſicht gegen die in ihrer Beſchraͤnktheit nur um ſo feſter ſtehende vorgefaßte Meinung.

Zwiſchen unſren geiſtigen Arbeiten und geſelligen Scherzen draͤngte ſich aber noch eine beſondre Thaͤtigkeit hervor, welche beide Elemente in ein gemeinſames Er¬ zeugniß geſtaltend vereinigte. Unſre Studien, Geſpraͤche und Erholungen, wie reichhaltig und lebhaft ſie auch ſein mochten, blieben doch, ohne den Zuſchuß der Vor¬ leſungen, gleichſam verwaiſt, konnten kaum unſre Zeit ganz ausfuͤllen, aber bei weitem nicht unſre Triebe und Kraͤfte, welche viel groͤßere Anſpruͤche machten, als wir ſelbſt befriedigen konnten. Daß wir in dieſem Zuſtande die Dichter zu leſen nicht vergaßen, verſteht ſich von ſelbſt, wir lebten eben ſo ſehr mit den Geſtalten ihrer Welt, als mit denen der wirklichen. Da regte ſich der Eifer eignen Hervorbringens, und durch Jean Paul Richters Flegeljahre, die uns wie alle Schriften dieſes Autors ſehr anzogen, geriethen Neumann und ich auf den Einfall, gemeinſchaftlich einen Roman zu ſchreiben. Kein Plan wurde verabredet, als der, die neuſte Zeit und deutſche Verhaͤltniſſe zu behandeln, die aͤußere Gleichmaͤßigkeit zu beachten und moͤgliche Einheit zuII. 10146ſuchen, im Uebrigen aber nach Kraͤften einander entge¬ genzuarbeiten. Ich ſchrieb flugs das erſte Kapitel, Neu¬ mann eben ſo raſch das zweite, ſo ging es mit dem dritten und den folgenden weiter, und wir hielten uns mit widerſtreitenden Richtungen, mit ſtoͤrenden Wen¬ dungen und abſichtlich bereiteten Schwierigkeiten ſo treu¬ lich Wort, daß eine Reihe von mehr als zehn Kapiteln ſich in groͤßter Spannung und ganz beſonderem, dieſer Entſtehungsart zu verdankendem Reize darſtellte, wir uns aber auch ſo verfahren hatten, daß wir kaum noch hofften, ohne Gefaͤhrde des auch aͤußerlichen Zuſammen¬ hangs weiterzukommen. Nun griff von Nennhauſen her noch Fouqué, dem ich davon geſchrieben hatte, als dritter Theilnehmer bereitwillig ein, und loͤſte durch ein huͤbſches Kapitel den Knoten, den er ſofort aber wie¬ der ſchuͤrzte. Das auf dieſe Weiſe vermehrte Manu¬ ſkript gab auch uns neuen Sporn, und ſo ruͤckte der Roman, bei nicht grade regelmaͤßigem Wechſel der Aus¬ arbeitung, endlich bis zu einem vollſtaͤndigen erſten Bande vor, unter tauſend geſelligen Erheiterungen, die durch wiederholtes Vorleſen und Beſprechen des Ferti¬ gen, durch eifriges Erſinnen des Kuͤnftigen, durch zahl¬ loſe Anſpielungen, Ironien, kleine Raͤnke und Frevel der Abfaſſung, ſo wie durch hunderterlei Beziehungen des Tages, die ſich an ſolche Thaͤtigkeit anknuͤpften, fuͤr uns und unſern engern Kreis eine unerſchoͤpfliche Quelle des Vergnuͤgens wurden. Außerdem, daß wir uns147 ſelbſt und andre lebende Perſonen, mehr oder minder deutlich, und nicht grade geſchmeichelt, darin abgebildet hatten, war dem Buche, hauptſaͤchlich durch Neumanns Einfall und Talent, noch ein beſondrer Gewinn der wirkſamſten Figuren geworden. Gleich im zweiten Ka¬ pitel parodirte er vortrefflich des Geſchichtsſchreibers Johann von Muͤller ſchwungvollen und knappen Stil, dann kam Jean Paul Richter in komiſchem Abbild, ich brachte ein ſolches von Johann Heinrich Voß in ſchwer¬ faͤlligſten Hexametern aus, endlich ließen wir gar, die Wanderjahre Wilhelm Meiſters vorwegnehmend, dieſen Helden mit dem Markeſe umherreiſen und gar uͤble Begegniſſe erleben; ſpaͤter zogen wir die Vorfaͤlle des letzten Krieges herbei, wo denn einige Deutſchheit und einiges Preußenthum mit einfloß, und wenigſtens an gedraͤngter Fuͤlle des mannigfachſten Inhalts und In¬ tereſſe's hat es dieſem Buche nicht gefehlt. Ich fuͤrchte nicht, daß Freundſchaft oder Eigenliebe mein Urtheil hier beſtechen, wenn ich ſage, daß einige Parthieen des Buches, namentlich aber das Bruchſtuͤck aus Hans Striezelmeiers eigner Lebensbeſchreibung in Johann von Muͤllers Manier und der Steckbrief Jean Paul Richters auf ſich ſelbſt, beides von Neumann, zu den koͤſtlichſten Scherzen unſrer Litteratur gehoͤren, und durchaus werth ſind erhalten zu werden.

Um hier gleich alles abzuſchließen, was dieſen Roman betrifft, ſo fuͤhr 'ich noch an, daß wir uns mit dem10 *148Manuſkript noch lange herumtrugen, in Berlin manchen Kreis damit ergoͤtzten, ſogar Schleiermacher zum Be¬ wundrer hatten, in Nennhauſen bei Fouqué, in Frieder¬ dorf bei Marwitz die groͤßte Ehre einlegten, und endlich das Ganze, wozu noch Fouqué ein paar Kapitel, Bern¬ hardi eine Epiſode von Anekdoten beizutragen hatte, Harſcher aber ein Kapitel uͤber Muſik, welche beſonders gegen Reichardt gerichtet werden ſollte, ſchuldig blieb, und ein Beitrag von Chamiſſo zu ſpaͤt kam, unſerm Freunde Reiner unter dem Titel: die Verſuche und Hinderniſſe Karl's in Verlag gaben. Der Druck wurde erſt gegen Ende des Jahres 1808 fertig, da im ſuͤd¬ lichen Deutſchland ſchon ein neuer Krieg Oeſterreichs gegen Frankreich bevorſtand, und im noͤrdlichen allerlei Unruhen drohten; die Verlagshandlung fand nicht ge¬ rathen, ſich auf dem Titel zu nennen, noch ließ ſie das Buch gehoͤrig anzeigen, und ſo gewann dieſes nicht den Schwung und machte nicht das Gluͤck, wozu ſonſt, nach dem Inhalt und den Beziehungen, alle Hoffnung begruͤndet geweſen waͤre. Doch ging die Erſcheinung nicht ohne einiges Aufſehen ab, und wurde in manchen Kreiſen lebhaft beſprochen. Auguſt Wilhelm Schlegel, dem ich das Buch nach Genf, wo er bei Frau von Staël lebte, zugeſchickt hatte, glaubte mich den alleini¬ gen Verfaſſer und der beruͤhmte Kritiker, der fruͤher ſchon einmal die Proſa der Frau von Wolzogen fuͤr die von Goethe gehalten hatte, merkte nichts von der Ver¬149 ſchiedenheit der Zeugſtuͤcke, die hier, und zum Theil doch mit ziemlich großen Naͤthen, zuſammen gefuͤgt waren!

Zwoͤlf Jahre ſpaͤter, als mit den aͤchten Wander¬ jahren Wilhelm Meiſters zugleich die falſchen erſchienen waren, kam auch unſer Doppelroman wieder zur Sprache. Unſer Einfall, Wilhelm Meiſtern perſoͤnlich und gegen Goethe tadelnd auftreten zu laſſen, war offenbar die Wurzel jenes beruͤchtigten Buches, und ich erlebte fuͤr meinen Antheil an der Ungebuͤhr die gerechte Strafe, an vielen Orten, und auch in Weimar ſelbſt, eine Zeit lang fuͤr den Verfaſſer der falſchen Wanderjahre gehalten zu werden. Er hat nur ſeinen fruͤhern Einfall weiter ausgefuͤhrt, dachte man, und ließ meine ſonſtige Denk¬ art, Richtung und ich darf ſagen, Faͤhigkeit, die alle dem ſchlechten, heuchleriſch-albernen Buche widerſtritten, ganz außer Rechnung. In Hamburg war das Geruͤcht ſo allgemein verbreitet und ſo beſtimmt geglaubt, daß ich mich zu einer oͤffentlichen Berichtigung gedrun¬ gen ſah.

An einen zweiten Theil des Doppelromans war wohl gedacht worden; einiges lag ſogar angefangen und mehreres war vorbereitet; allein Reiſen und andrer Wechſel des Lebens hielten uns zuerſt viele Jahre ge¬ trennt, und als Neumann und ich uns vom Jahre 1819 an wieder auf laͤngere Zeit in Berlin vereint ſahen, und es uns artig duͤnkte, dieſe Jugendluſtbarkeit wieder150 aufzunehmen, wobei Neumann ſchon vorſchlug, nun der

Zeit gemaͤß mit gleicher Keckheit die Schreibart der neuen Schriftſteller zu parodiren, und die Ironie dadurch zu vollenden, daß auch mancher der fruͤhern Mitarbeiter jetzt als tauglicher Stoff zum Inhalte des Romans verwendet wuͤrde, unterblieb doch jeder Verſuch, da wir bald wahrnehmen konnten, wie uns die Jahre und Verhaͤltniſſe zwar nicht die Freude an dem Einfall ver¬ kuͤmmerten, aber doch den zur Ausfuͤhrung erforder¬ lichen nachhaltigen Humor und Eifer, ſo wie ſelbſt die noͤthige Muße, verſagen duͤrften.

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Rahel.

1807.

Unter den mancherlei Perſonen, die wir in unſrem Kreiſe oft beziehungsreich nennen oder ſchildern hoͤrten, waren die angeſehenſten Maͤnner und die merkwuͤrdig¬ ſten Frauen, die Bruͤder Wilhelm und Alexander von Humboldt, Frau von Humboldt, Friedrich Schlegel und ſeine Frau, Burgsdorf, Ludwig Tieck, und noch Andre ſolchen Ranges, mit welchen jedes edle Intereſſe unſrer Bildung ſich verknuͤpft fand. Kein Name jedoch war vielfaͤltiger und bedeutender genannt, als der von Rahel Levin; das Verlangen, ſie kennen zu lernen, wurde deßhalb oftmals rege. Die Dame des Hauſes, wo wir zuſammen kamen, ſprach von ihr immer als von etwas Einzigem, Unvergleichbaren, und wenn auch in das ſtroͤmende Lob hin und wieder einiger Tadel einfloß, z. B. daß zuweilen mehr Bedacht auf aͤußern Schein und mehr Einklang, wenn auch nur verſtellter, mit der152 gewoͤhnlichen Welt zu wuͤnſchen waͤre, ſo hatte ſie es doch in keiner Weiſe hehl, daß ſie vor ihr ſonſt in jeder weſentlichen Beziehung ſich beuge und ihr unterordne. Wenn eine Frau, die ſelber ſo gebildet, ſo kenntni߬ reich, ſo fein und ſittig vor unſern Augen ſtand, daß ſie uns fuͤr alles Frauenweſen faſt ein hoͤchſtes Muſter zu ſein ſchien, in ſolcher Weiſe von einer andern ſprach, und ſie unbedingt uͤber jede Vergleichung erhob, ſo war das freilich ſehr auffallend, und Harſcher insbeſondere drang darauf, jene moͤchte ihre Freundin einmal mit uns zuſammen einladen, wo er denn doch die Ver¬ gleichung zu Gunſten der erſtern ausfallen zu ſehen im voraus entſchloſſen war, und dies offen genug bekannte. Der Beſuch wurde verabredet, Rahel erſchien, aber nur auf eine Stunde, da ſie nicht ganz wohl war, und alſo wenig dazu geſtimmt, den etwas befangenen Zu¬ ſchnitt der kleinen Geſellſchaft abzuaͤndern. Harſcher gewann ihr keine Aufmerkſamkeit ab, und als Schleier¬ macher kam, und gleich erfreut und ermuntert ſich neben ſie ſetzte, und mit ihr ein lebhaftes Geſpraͤch einging, wurde jede andre Anknuͤpfung unmoͤglich. Wir waren nicht wenig erſtaunt, ſowohl im Scherzen als im Ernſte Schleiermacher nur in zweiter Rolle zu ſehen, indem er willig jede Unterordnung anzunehmen ſchien, und wirklich ein paarmal wie geſchlagen verſtummte, oder doch gar ſehr zu kurz kam. Als nach raſchem Verlauf eines ſeltſamen Geſpraͤchs ihr Wagen ihr gemeldet wurde,153 und ſie mit dem Verſprechen kuͤnftigen laͤngeren Beſuches ſich wegbegab, bot Schleiermacher mit Beeiferung ſich zum Begleiter an, brachte ſie zu ihrem Wagen, und konnte, als er zuruͤckgekehrt war, ihres Ruͤhmens kein Ende finden; mehr aber, als die Worte, zeugte ſeine Stimmung fuͤr den guten Eindruck, denn ſie blieb auf¬ geweckt und gekraͤftigt fuͤr den ganzen Abend. Fuͤr uns war das ein doppeltes Phaͤnomen, wir hatten ihn noch niemals untergeordnet, und ſeit langer Zeit nicht ſo belebt geſehen. Die Dame des Hauſes ſuchte vergebens bei Harſcher den Dank fuͤr ihre bereitwillige Veranſtal¬ tung, er war mißvergnuͤgt, daß alles gleichſam nur fuͤr Schleiermacher geweſen, und dann verſchwunden war, ihn aͤrgerte ſogar deſſen fortdauernde Munterkeit, und gern haͤtte er die ganze Erſcheinung verneint oder ver¬ kleinert, deren Uebergewicht er doch zu fuͤhlen genoͤthigt, und deren vollen Werth zu ahnden er gewiß faͤhig war. Ich theilte ſeine Mißempfindung, allein in ganz anderm Bezuge, denn ich wuͤnſchte ſehnlich, mit dieſem wunder¬ baren Weſen naͤher bekannt zu werden, gegen welches die andern ſo ſchnell verblaßten, und ſchon ſah ich ins¬ geheim mich mit ihm einverſtandener und zuſammenge¬ hoͤriger, als mit allen dieſen.

In dieſem Herbſt hielt Fichte ſeine Reden an die deutſche Nation. Unter den Zuhoͤrern fand ich Ludwig Robert, mit dem ich die faſt abgebrochene Be¬ kanntſchaft erneuerte; auch ſeine Schweſter Rahel ſah154 ich mit ihm regelmaͤßig eintreffen, und ich widmete ihrer anziehenden Erſcheinung die lebhafteſte Aufmerk¬ ſamkeit, wobei doch ein ſo nah und leicht unter ſolchen Umſtaͤnden ſich ereignendes Anknuͤpfen des Geſpraͤchs diesmal durch Eigenſinn des Zufalls unterbleiben ſollte.

1808.

In dieſer Stimmung, ſo vorbereitet, ſo empfaͤng¬ lich, reif und beduͤrftig in Geiſt und Gemuͤth fuͤr neuen Reiz und neuen Troſt, begegnete ich eines Nachmittags in noch ſchneeigem Fruͤhlingswetter unter den Linden Rahel; ihre Begleiterin war mir wohlbekannt, ich redete dieſe an, und indem ich eine Strecke mitging, ergab ſich, ſo unbefangen als erwuͤnſcht, auch ein Geſpraͤch mit Rahel ſelbſt. Ich fand mich außerordentlich ange¬ zogen, und bot all meinen Witz auf, um die ſchoͤne Gelegenheit nicht ungenutzt vergehen zu laſſen; ich wußte unter andern eines ihrer eigenthuͤmlich ausdrucksvollen Worte, das auf Umwegen bis zu mir gelangt war, mit Bedeutung ſo hinzuwerfen, daß darin halb eine ſchmeichelhafte Aufmerkſamkeit, halb ein neckender Angriff lag. Sie bemerkte beides, ſah mich durchdringend an, gleichſam mein Unterſtehen an mir ſelber abzumeſſen, und erwiederte dann, ſie koͤnne es wohl vertragen, daß man ſie citire, aber nicht fuͤglich zugeben, daß es falſch geſchehe; ſie hatte in der That einiges in der Aeußerung, welche als die ihrige gegeben war, zu berichtigen. Ich155 entſchuldigte mich, daß ich die Aechtheit deſſen, was ich leider ſo weit von ſeinem Urſprunge nach Gunſt des Zu¬ falls auffangen muͤſſe, nicht verbuͤrgen koͤnne, und die Folge meiner artigen Wendung war der Rath, mich lie¬ ber ſelbſt bei der Quelle ſolcher Aeußerungen einzufinden. Gleich in den naͤchſten Tagen machte ich von dieſer Erlaubniß den erſehnten Gebrauch. Rahel wohnte damals in der Jaͤgerſtraße, der Seehandlung ſchraͤg gegenuͤber, in Obhut und Fuͤrſorge der trefflichen Mutter, deren altwuͤrdiges und reichliches Hausweſen den ſchoͤnſten geſelligen Verhaͤltniſſen von jeher offen ſtand. Zuweilen hatte ich, um Ludwig Robert zu beſuchen, dieſe Woh¬ nung betreten; mit wie aufgeregten Erwartungen und Geſinnungen, und zu welch andern Geiſteseinfluͤſſen, betrat ich ſie jetzt!

In einzelnen Menſchen, oder in einer Gemeinſamkeit zuſammengehoͤriger, und einander ſich ergaͤnzender und uͤbertragender Perſoͤnlichkeiten, war mir ſchon einigemal das Heil widerfahren, mich durch das bloße Lebensbe¬ gegniß, ohne muͤhſames Streben und Verdienſt, ohne Pein der Allmaͤhligkeit, ſondern im Schwunge des vollen Gluͤckes, und gleichſam durch einen Ruck, auf ein erhoͤhtes Lebensfeld verſetzt zu ſehen, wo ſchon die Luft, die ich athmete, die Sinneseindruͤcke, die mir zukamen, das lebendige Spiel der umgebenden Elemente, mir ein neues Daſein erſchloſſen und mich einer neuen Bildung theilhaft machten, wo dann weiterhin wohl Eifer und156 Muͤhe folgerecht und nachhaltig mitwirkten, und den Gewinn ordnen und bewahren konnten, ihm ſelbſt aber nimmermehr hervorzubringen vermocht haͤtten. Solcher geſteigerten Lebensſtufen zaͤhlte ich bis dahin hauptſaͤch¬ lich drei, das erſte Andringen allgemeinen geiſtigen Lebens im Beginn meiner Studien zu Berlin, das Freiwerden eines ſich ſelbſt beſtimmenden und lebensthaͤtigen Da¬ ſtehens, und die kraͤftigende Weihe der akademiſchen Herrlichkeit zu Halle. Jetzt kam, acht Jahre nach jener erſten, die vierte Stufe hinzu, durch das Bekanntwerden mit Rahel; ein Wiederaufnehmen, ein Zuſammenfaſſen und ein Abſchließen aller fruͤheren, ja der ganzen Er¬ lebungsweiſe, denn wie viel Neues, Großes und Unerwartetes auch ferner mir in einem wechſelvollen Leben begegnet iſt, wie mancherlei Gutes und Liebes ſich mir entwickelt und angeeignet hat, ſo iſt doch in dieſen vierundzwanzig Jahren, die ich ſeit jenem Zeit¬ punkte zaͤhle, mir kein Begegniß, keine innere noch aͤußere Lebenserfahrung mir wiedergekehrt, die ich jener genannten anreihen, und mit ihr, und den vorher¬ gegangenen in gleichen Werth ſtellen koͤnnte. So iſt mir noch heute*Geſchrieben im Sommer 1832. Rahel das neueſte und Friſcheſte meines ganzen Lebens, und indem ich aufzeichnen will, von welchen Umſtaͤnden und Stimmungen unſer begin¬ nendes Verhaͤltniß begleitet war, darf ich den warmen157 und zarten Hauch jener ſchoͤnen Tage in meiner Vor¬ ſtellung nicht erſt kuͤnſtlich hervorrufen, denn ich fuͤhle ihn und freue mich ſeiner noch wie damals, aber zu fuͤrchten hab ich gleichwohl, daß meine Schilderung ſich durch die Bekuͤmmerniß verduͤſtert, welche, waͤhrend ich dieſes ſchreibe, meiner Seele in vielfacher Sorge um die geliebte, von ſtuͤrmiſchen Leiden hart befallene Freundin angſtvoll auferlegt iſt! Welch troͤſtlichſter Ruͤckblick wird hier zum ſchmerzlichſten gewandelt!

Ich darf hier keine Schilderung meiner geliebten Rahel verſuchen; ſie ganz zu kennen und zu wuͤrdigen, kann ich niemanden zumuthen, der nicht in anhaltender Fortdauer und in allen Beziehungen ihr vertrauter Lebensgenoſſe war; denn ſelbſt ihre Briefe, wie reich und eigenthuͤmlich auch die Quellen ihres Geiſtes und Gemuͤthes dort ſprudeln, geben nur ein unvollkommenes Bild von ihrem Weſen, deſſen Hauptſache grade die urſpruͤngliche, unmittelbare Lebendigkeit iſt, wo alles ganz anders auſſieht, leuchtet und ſchattet, erregt und fortreißt, beguͤtigt und verſoͤhnt, als irgend Bericht oder Darſtellung wiederzugeben vermag. Ich will nur unternehmen, in kurzen Zuͤgen den Eindruck zu bezeichnen, welchen dies Weſen damals auf mich machte.

Zuvoͤrderſt kann ich ſagen, daß ich in ihrer Gegen¬ wart das volle Gefuͤhl hatte, einen aͤchten Menſchen, dies herrliche Gottesgeſchoͤpf in ſeinem reinſten und voll¬ ſtaͤndigſten Typus vor Augen zu haben, uͤberall Natur158 und Geiſt in friſchem Wechſelhauche, uͤberall organiſches Gebild, zuckende Faſer, mitlebender Zuſammenhang fuͤr die ganze Natur, uͤberall originale und naive Geiſtes - und Sinnesaͤußerungen, großartig durch Unſchuld und durch Klugheit, und dabei in Worten wie in Hand¬ lungen die raſcheſte, gewandteſte, zutreffendſte Gegen¬ wart. Dies alles war durchwaͤrmt von der reinſten Guͤte, der ſchoͤnſten, ſtets regen und thaͤtigen Menſchen¬ liebe, der lebhafteſten Theilnahme fuͤr fremdes Wohl und Weh. Die Vorzuͤge menſchlicher Erſcheinung, die mir bisher einzeln begegnet waren, fand ich hier bei¬ ſammen, Geiſt und Witz, Tiefſinn und Wahrheitsliebe, Einbildungskraft und Laune, verbunden zu einer Folge von raſchen, leiſen, grazioͤſen Lebensbewegungen, welche, gleich Goethe’s Worten, ganz dicht an der Sache ſich halten, ja dieſe ſelber ſind, und mit der ganzen Macht ihres tiefſten Gehaltes augenblicklich wirken. Neben allem Großen und Scharfen quoll aber auch immerfort die weibliche Milde und Anmuth hervor, welche beſonders den Augen und dem edlen Munde den lieblichſten Aus¬ druck gab, ohne den ſtarken der gewaltigſten Leidenſchaft und des heftigen Aufwallens zu verhindern.

Ob man ſich in dieſer Miſchung von entgegenſtehenden Gaben und ſtreitigen Elementen, wie ich ſie anzudeuten verſucht habe, ſogleich zurechtfinden wird, bezweifle ich faſt. Mir wenigſtens war es beſchieden, erſt vermittelſt mancher Ungewißheit und manches Irrthums auf die159 rechte Bahn zu kommen, indem ich nur in Einem auf der Stelle beſtimmt und auf immer feſt war, daß mir der außerordentlichſte und werthvollſte Gegenſtand vor Augen ſei. Irgend ein Vorurtheil, wie das mißfaͤllige Gerede der Leute aus den verſchiedenſten Kreiſen und Standpunkten ſeit ſo langer Zeit mir wohl haͤtte auf¬ buͤrden moͤgen, hatte ich nicht, auch waͤre daſſelbe an ihrer Gegenwart ſogleich zerſchellt; der ſchlichte, natuͤr¬ liche Empfang, die harmloſe Klarheit und das anſpruchs¬ loſe Wohlbehagen des anfaͤnglich nur auf Gleichguͤltig¬ keiten fallenden Geſpraͤchs, mußten jede mitgebrachte Spannung aufloͤſen, und nach und nach erhob ſich da¬ gegen eine neue, die ganz dem Augenblicke ſelber ange¬ hoͤrte, und ſchon darin begruͤndet lag, daß jedes Wort, rein und lauter wie der friſche Quell aus dem Felſen, auch dem Gleichguͤltigſten einen Reiz des Lebens, einen Karakter von Wahrheit und Urſpruͤnglichkeit gab, welche durch die bloße Beruͤhrung jedes Gewoͤhnliche zu Unge¬ woͤhnlichem verwandelten. Ich empfand auf dieſe Weiſe eine neue Atmoſphaͤre, die mich wie Poeſie anwehte, und zwar durch das Gegentheil deſſen, was gemeinhin ſo heißt, durch Wirklichkeit anſtatt der Taͤuſchung, durch Aechtheit anſtatt des Scheins. Es konnte jedoch nicht fehlen, daß unſer Geſpraͤch, dem nach allen Seiten ſo viele Wege vollkommen vorbereitet waren, ſehr bald auf bedeutendere Dinge uͤberging, und endlich ganz in Beziehungen des innern Lebens verweilte, zu welchen160 Buͤcher, Perſonen und Verhaͤltniſſe, die jeder von ſeiner Seite kannte, und auch dem andern bekannt wußte, den ergiebigen Stoff nicht mangeln ließen. Wir ſprachen von Friedrich Schlegel, von Tieck, von Frau von Staël, von Goethe, theils in litterariſcher, theils in geſellſchaft¬ licher Hinſicht, und unſre eigne Sinnesweiſe konnte ſich an dieſen bedeutenden Anknuͤpfungspunkten ſehr gut entfalten und ungewoͤhnliche Bekenntniſſe mit vieler Freiheit wagen, ohne die Zuruͤckhaltung einer erſten Bekanntſchaft zu uͤberſchreiten.

Nicht gar zu lange waren wir allein geblieben, ſo fand ſich andre Geſellſchaft ein; der Major von Schack, vom Regimente Gendarmes, der das Ungluͤck und die Schmach des preußiſchen Militairs mit großer Faſſung trug, und noch ſogar einigen Schimmer in die juͤngſt¬ vergangene Zeit zuruͤckwarf, wo er und die Seinigen als Glanz und Bluͤthe dieſes ſtolzen Kriegsweſens er¬ ſchienen waren; der ſtattliche, weltmaͤnniſch frei und klug ſich bewegende, in allen Klugheiten erfahrene, dabei perſoͤnlich tapfre Edelmann wuͤrde doch ſchwerlich einen ſo guͤnſtigen Eindruck gemacht haben, haͤtte ihm nicht als Zuflucht das Beſſere in ihm und als Aufloͤſungs¬ mittel von Schlechterem, ein unerſchoͤpflicher Humor gedient, der in Witz und Satire einen geiſtigen Gehalt kund gab, und dadurch manchem andern Stoff ein Gegengewicht wurde; ihn begleitete bei ſeinen podagri¬ ſchen Leiden ein fuͤhrender Freund, ein ausgemachter161 Civiliſt, vortrefflich angezogen, frei und gewandt mehr ausweichend als vordringend, nach eignem Sinne auf¬ merkſam und traͤumeriſch, in ſeinen unwillkuͤrlichen Aeußerungen meiſt uͤberraſchend original und launig, und von ſeiner Stimmung oder ſeinem Standpunkt aus auch gruͤndlich wahr. Ich hatte von ihm ſchon oft und mancherlei gehoͤrt, jetzt konnte ich die fremden Urtheile an ihm ſelber meſſen. Naͤchſt einigen andern Perſonen, worunter ein gutmuͤthiger franzoͤſiſcher Offizier, Kapitain Bribes als Einquartirung, erſchien auch un¬ vermuthet noch Frau von Boye, die als freundliche Bekannte fuͤr mich unter ſo vielen Fremden vermittelnd wirkte. Die Geſellſchaft war ungemein belebt, in groͤßter Freiheit und Behaglichkeit; jeder gab ſich als das, was er ſein konnte, es war kein Grund noch Hoffnung des Gelingens, hier irgend einen Schein zu heucheln; die Unbefangenheit und gute Laune Rahel's, ihr Geiſt der Wahrheit und des Geltenlaſſens, walteten ungeſtoͤrt; ich durfte mich mit jugendlicher Uebertreibung gegen die Franzoſen ereifern, ein Andrer ſeine theatraliſchen Mittheilungen auskramen; der Franzoſe empfing in ſeinen Liebesangelegenheiten launigen Rath von Schack, und dieſen ließ der Civiliſt ſeine heftig demokratiſchen Geſinnungen anhoͤren; alles ging leicht und harmlos dahin, jeder zu herbe Ernſt wurde von Witz und Scherz aufgefangen, die ihrerſeits wieder, bevor ſie ausarten konnten, von Wahrheit und Verſtand ergriffen wurden,II. 11162und ſo blieb alles belebt zugleich und gemaͤßigt; ein wiederholter Anflug von Muſik, wozu das offne Forte¬ piano einlud, Rahel war ſinnvolle Kennerin in fruͤherer Zeit und fertige Meiſterin, vollendete das Ganze, und man trennte ſich noch bei guter Zeit, in erhoͤhter und klarer Stimmung, die ich fuͤr mich allein dann unter dem reinen Sternenhimmel noch eine Weile nachgenoß, indem ich vergebens in meinen bisherigen Erinnerungen einen aͤhnlichen Abend ſuchte.

Wenige Tage nur ließ meine Ungeduld einem wie¬ derholten Beſuche vorangehen, und ſchon mit dieſem wuchs das Vertrauen ſo ſchnell, daß ich nun taͤglich zu kommen mich berechtigt hielt. Ich war begierig, dieſe neuen Anſchauungen zu verfolgen, dieſen eigen¬ thuͤmlichen Wahrheiten und großartigen Aufſchluͤſſen, welche ſich mit jedem Schritte glaͤnzender vor mir aus¬ breiteten, noch naͤher zu treten, und dieſe neuen, von Einſicht durchſtroͤmten Empfindungen zu genießen, deren ich gewahr wurde. Unendlich reizend und fruchtbar war dieſe Erſtlingszeit eines begeiſterten Umganges, in welchem auch ich die beſten Guͤter zum Tauſche brachte, die ich beſaß, und inſofern kaum geringere, als ich empfing. Hier fand ich das Wunder anzuſtaunen, daß Rahel, in gleichem Maße, als Andre ſich zu verſtellen ſuchen, ihr wahres Innere zu enthuͤllen ſtrebte, von ihren Begegniſſen, Leiden, Wuͤnſchen und Erwartungen, mochten ihr dieſelben auch zum Nachtheil auszulegen163 ſein, ja ihr ſelber als Gebrechen und Fehl erſcheinen, mit eben ſolcher Unbefangenheit und tiefen Wahrheit ſprach, als haͤtte ſie nur Guͤnſtiges und Schmeichel¬ haftes anzufuͤhren, ſich nur der ſchoͤnſten Gluͤckesfuͤlle zu ruͤhmen gehabt. Dieſe Aufrichtigkeit, derengleichen ich nie in einem andern Menſchen wiedergeſehen habe, und deren ſogar Jean Jacques Rouſſeau nur in ſchrift¬ licher Mittheilung faͤhig geweſen zu ſein ſcheint, konnte mich ſogar einigermaßen bedenklich und irre machen, indem oft ſcharfe Haͤrten aus den leidenſchaftlichen Be¬ kenntniſſen hervorſpruͤhten, und in dem Erlebten, wie in dem daruͤber Gedachten ein eignes Element aufwogte, das als gewaltſam und ſchonungslos leicht Mißempfin¬ dungen weckte, beſonders wenn man vorausſetzte, daß, nach der gewoͤhnlichen Weiſe, auch hier neben dem Aus¬ geſprochenen noch Verſchwiegenes im Hintergrunde liege. Dies war aber hier der Fall keineswegs; Rahel ſagte in Betreff ihrer ſelbſt ruͤckſichtslos die ganze Wahrheit, und wuͤrde auch die beſchaͤmendſte und nachtheiligſte, waͤre eine ſolche vorhanden geweſen, demjenigen nicht verhehlt haben, der im Bezeigen edlen Vertrauens und einſichtiger Theilnahme ſie darum befragt haͤtte. Sie glaubte, indem ſie wahr ſei, niemals ſich etwas zu vergeben, noch durch Verſchweigen etwas zu gewinnen, und ein ſolches hoͤchſtes, ausgleichendes, verſoͤhnendes Intereſſe fuͤr die Mittheilung der Wahrheit, welches ſie empfand, ſetzte ſie fuͤr deren Wuͤrdigung auch bei Andern11 *164ſtets, wiewohl leider meiſt faͤlſchlich, immer aufs neue voraus. Ich ſah nun Rahel nach und nach in ihrem ganzen Lebens - und Umgangskreiſe. Hier mußte mir nun ſofort ein unermeßlicher Abſtand klar werden, der zwiſchen ihr und ihrer Umgebung lag. Sie ſtand in der Mitte eines großen Kreiſes gaͤnzlich allein; nicht verſtanden, nicht anerkannt, nicht gehegt, nicht geliebt, wie ſie es bedurfte und verdiente, ſondern gleichguͤltig außer Acht gelaſſen, oder auch eigenſuͤchtig benutzt und mißbraucht, wenn die Gelegenheit ſich anbot; ihre außer¬ ordentlichen Gaben, ſofern ſie als Thatſachen auch aͤußerlich hervortraten, konnte man ihr nicht abſprechen, eigenthuͤmliche Denk - und Sinnesart, Gemuͤthskraft, Geiſt, Witz und Laune mußte man ihr zugeſtehen, aber leicht glaubten die Andern davon wenigſtens ebenſoviel zu haben, und noch dazu die groͤßere Beſonnenheit und Ruhe, wofuͤr ſie ſich die nuͤchterne Selbſtſucht und theilnahmsloſe Mattigkeit anrechneten. Mit dem, was Rahel ihnen großmuͤthig lieh und als Almoſen ſpendete, glaubten ſie ihr uͤberlegen zu ſein. Von der Flamme edler Begeiſterung, von dem Triebe menſchlich-reinen Mitgefuͤhls, von dem heiligen Dienſte der Wahrheit, welche Rahel’s Inneres erfuͤllten, ihre Eigenſchaften be¬ ſeelten und bewegten, von dieſem innern Weſen wußten die Meiſten nichts. Sie ſelbſt aber ſetzte alles, was in ihr war, bei Allen voraus, nahm jeden Funken von Gabe und Willen, von Sinn und Leiſten, mit165 hoͤchſter Anerkennung, mit entzuͤckter Guͤte auf, und konnte es nicht begreifen, wenn die weitern Aeuße¬ rungen und Handlungen dann mit dem ſo guͤnſtig Ge¬ deuteten nur allzu bald nicht mehr uͤbereinſtimmen wollten. Aus dieſem Gegenſatz und Irrthum entſtanden natuͤrlich viele Unrichtigkeiten und Nachtheile, deren Folgen ſich ſpaͤterhin traurig genug darſtellten; die Sache ſelbſt aber war mir ſchon damals deutlich, und ich wollte mein Einſehen nicht einmal ſehr verhehlen. Ich glaubte Iphigenien unter den Barbaren in Tauris aufzufinden, und fuͤhlte mich nun um ſo ſtaͤrker zu ihr hingezogen, als ich mir bewußt war, ihr einen Erſatz anbieten zu koͤnnen, ihr eine Gebuͤhr darbringen zu duͤrfen, die ihr nur allzu oft verſagt wurde.

Unſer Vertrauen wuchs mit jedem Tage. Gar zu gern theilte ich alles mit, was ich als wichtigſten und daher auch in mancher Art geheimſten Ertrag meines bisherigen Lebens wußte, und dem ich keine edlere Staͤtte finden konnte, keine, wo ein ſo lebhafter, ein¬ ſichtsvoller und wahrheitfriſcher Sinn ihm entgegenge¬ kommen waͤre. Weit entfernt, Billigung fuͤr alles zu finden, vernahm ich manchen Tadel, und andres Mi߬ fallen konnt ich auch unausgeſprochen errathen; nur fuͤhlte ich wohl, daß die Theilnahme fuͤr mich dabei nicht litt, ſondern eher wuchs, und bei dieſem Gewinn konnte mir alles Uebrige nichts anhaben. Auch wurde ich mir ſelbſt gleichſam entruͤckt in der gewaltigen An¬166 ziehung der außerordentlichen Gebilde, welche zum Aus¬ tauſche ſich vor mir ausbreiteten. Mir war vergoͤnnt, in das reichſte Leben zu blicken, wie nur der Mund der Wahrheit und die Hand der Darſtellung daſſelbe aus der nahen Vergangenheit herauf zu beſchwoͤren vermochten. Das Leben war reich in ſeinen aͤußern Verhaͤltniſſen, unendlich reicher aber durch ſeinen innern Gehalt, dem jene ſich gaͤnzlich unterordneten. Prinz Louis Ferdinand, der geniale, heldiſche Menſch, den ſein hoher Standpunkt leider mehr fuͤr ſeine Fehler, als fuͤr ſeine großen und ſchoͤnen Eigenſchaften, beguͤn¬ ſtigte, hatte hier ſeine reinſten Empfindungen, ſein innigſtes Streben und Denken, ſeine edelſten Erhebungen, im Genuß einer geiſtesregen gemuͤthvollen Freundſchaft genaͤhrt, einer Freundſchaft, deren ſtarkem Vertrauen ebenſo ſein politiſches Sinnen wie ſeine verliebte Leiden¬ ſchaft und jede Wendung des bedraͤngten Geiſtes und Herzens ſich erſchließen durfte, des Antheils gewiß, wie ſonſt nur die mitergriffene Neigung ihn hervorzubringen pflegt. Maͤnner, wie Gentz und Friedrich Schlegel und beide Humboldt, waren dieſem Kreiſe beeifert zu¬ gethan, bald um Bluͤthen und Fruͤchte von daher zu ſammeln, bald um deren zu bringen, und immer ihren beſten Beifall hier zu finden. Graf Tilly, Guſtav von Brinckmann, Hans Genelli, von Burgsdorf, Major von Gualtieri, Ludwig und Friedrich Tieck, Fuͤrſt von Ligne, Graf Caſa-Valencia, Fuͤrſt Reuß, Navarro, und167 ſo viele andre Diplomaten, Militairs, Gelehrten und Kuͤnſtler, hatten ſich eingefunden, und mit hoͤherem Sinn und erregtem Beduͤrfniß geiſtigen Behagens ſich angeſchloſſen und einheimiſch gemacht. Von ausgezeich¬ neten Frauen waͤren viele zu nennen, aus den ver¬ ſchiedenſten Lebensſphaͤren, doch ſaͤmmtlich darin gleich, daß kein ſcheinſamer und muͤßiger, ſondern irgend ein aͤchter und wahrer Bezug dem Verhaͤltniſſe zum Grunde lag. Eine herrliche Bildergalerie, durch welche ich unter lebenſpruͤhenden Erklaͤrungen geleitet wurde! Die Bilder naͤmlich allein waren noch gegenwaͤrtig, der Kreis ſelber jetzt durch die Zeitverhaͤltniſſe voͤllig aufgeloͤſt, nachdem ſchon die einzelnen Menſchengeſchicke durch Tod, Ent¬ fernung und andre Wandelbarkeit die dichten Reihen gelockert hatten.

Aber nicht nur dieſe reiche Sammlung bedeutender Bildniſſe wurde mir gezeigt, ſondern noch ein andrer Schatz aufgeſchloſſen, der das antheilvolle Gemuͤth un¬ gleich ſtaͤrker anſprach. Rahel gehoͤrte zu den ſeltenen Weſen, denen die Natur und das Geſchick die Gabe zu lieben nicht verſagt hatten. Was dazu gehoͤrte, was daraus entſtehen mußte, wenn die Weihe der hoͤchſten Empfindung dieſen Geiſt und dieſen Sinn vereinend ergriff, ſie emporzuheben, ſie zu zerſchmettern, das konnte ein Dichtungskundiger ahnen; doch uͤbertrafen die Einblicke, die mir wurden, alles was ich zu ahnen faͤhig geweſen war. Die Gluth der Leidenſchaft hatte168 hier uͤberſchwaͤnglich die edelſte Nahrung gefunden und aufgezehrt; andres Leid und andrer Untergang erſchien dagegen gering und kaum noch mitleidswerth. Die Briefe und Tageblaͤtter, welche mir aus einziger Gunſt des Vertrauens zum Leſen gegeben wurden, enthielten eine Lebensfuͤlle, an welche das, was von Goethe und Rouſſeau in dieſer Art bekannt iſt, nur ſelten hinan¬ reicht; ſo moͤgen die Briefe an Frau von Houdetot ge¬ weſen ſein, deren Rouſſeau ſelbſt als unvergleichbar mit allem andern erwaͤhnt, ein ſolches Feuer der Wirk¬ lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Dieſe Papiere, nachdem ſie lange in meiner Verwahrung ge¬ weſen, ſind leider im Jahre 1813 verloren und wahr¬ ſcheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein genuͤgendes Bild geben. Es ſcheint, als ſolle derglei¬ chen nicht zum litterariſchen Denkmal werden, ſondern heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar gehoͤrte. Naͤchte lang ſaß ich uͤber dieſen Blaͤttern, ich lernte kennen, wovon ich fruͤher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr, was in meiner Ahnung geſchlummert, wurde mir zur wachen Anſchauung. Nur das duͤnkte mich ein Traum, daß ich zu dieſen Schriften gekom¬ men war, und an ſolchem Daſein ſo nahen Antheil gewann.

Die Fuͤlle und Kraft perſoͤnlicher Lebensentwicklung waren mit der Schoͤnheit und Erhebung dichteriſchen und philoſophiſchen Geiſtlebens in engem Buͤndniſſe, ſie169 bewegten ſich beiderſeits in bezugvoller Uebereinſtim¬ mung. Schon ſehr fruͤh, weit fruͤher, als irgend eine litterariſche Meinung der Art ſich gebildet hatte, war Rahel von Goethe's Außerordentlichkeit getroffen, von der Macht ſeines Genius eingenommen und bezaubert worden, hatte ihn uͤber jede Vergleichung hinausgeſtellt, ihn fuͤr den hoͤchſten, den einzigen Dichter erklaͤrt, ihn als ihren Gewaͤhrsmann und Beſtaͤtiger in allen Ein¬ ſichten und Urtheilen des Lebens enthuſiaſtiſch ange¬ prieſen. Jetzt erſcheint das ſehr leicht und natuͤrlich, und niemand will Goethe's hohes Hervorragen ver¬ neinen, denn ſogar im Bemuͤhen ſie einzuſchraͤnken giebt man die Bejahung zu, allein damals, wo der kuͤnftige Heros noch in der Menge der Schriftſteller mitging, und an Rang und Ruhm ganz Andre weit voranſtanden, wo die Nation uͤber den Gehalt und ſogar uͤber die Form der geiſtigen Erzeugniſſe noch ſehr im Truͤben urtheilte, und meiſt an kleinlichen Neben¬ ſachen und aͤußerlichen Uebereinkommniſſen hing, damals war es kein Geringes, mit geſundem Sinn und Herzen aus dem Gewirr von Taͤuſchungen und Ueberſchaͤtzungen ſogleich das Aechte und Wahre herauszufuͤhlen und mit freiem Muthe zu bekennen. Die Liebe und Verehrung fuͤr Goethe war durch Rahel im Kreiſe ihrer Freunde laͤngſt zu einer Art von Kultus gediehen, nach allen Seiten ſein leuchtendes, bekraͤftigendes Wort einge¬ ſchlagen, ſein Name zur hoͤchſten Beglaubigung geweiht,170 ehe die beiden Schlegel und ihre Anhaͤnger, ſchon be¬ ruͤhrt und ergriffen von jenem Kultus, dieſe Richtung in der Litteratur feſtzuſtellen unternahmen. Gedenkens¬ werth erſcheint es, daß, waͤhrend dieſe Maͤnner ihre Anbetung doch nicht ohne einige Abſicht auf Ertrag und Lohn ausuͤbten, Rahel ihrerſeits dabei mit voͤlligem Selbſtvergeſſen verfuhr; ſie hatte Goethe’n im Karls¬ bade perſoͤnlich kennen gelernt, und er mit Aufmerk¬ ſamkeit und Antheil ihres Umgangs gepflogen, wie auch noch ſpaͤterhin deſſelben mit Hochſchaͤtzung gedacht, ohne daß ſie im geringſten eine Verbindung feſtgehalten, einen Briefwechſel veranlaßt haͤtte, im Gegentheil, ſie erwaͤhnte wenig der Perſon, deſto beeiferter aber des Genius, und nicht die zufaͤllige Bekanntſchaft, ſondern die weſentliche, die das Leſen ſeiner Schriften gab, genoß und zeigte ſie mit Stolz und Freude. Spaͤt erſt entdeckte ich unvermuthet in alten Briefen die aus Goethe’s Mund vernommenen fuͤr Rahel ruͤhmlichen Aeußerungen, welche ihr von Freunden berichtet, von ihr ſelbſt aber vergeſſen waren. In der Philoſophie ſtand ihr gleicherweiſe der edle Fichte voran, fuͤr deſſen Geiſteskarakter ſie ſtets in gleicher Verehrung blieb, wenn auch ſein Geiſtesgehalt bei weitem nicht alles abſchloß, was ihr Gedankenflug forderte oder geſtalten mochte. Friedrich Schlegel, Novalis, Schleiermacher, ja ſelbſt Schelling und Steffens, waren ihr theils per¬ ſoͤnlich, theils den Schriften nach bekannt und werth. 171In der Muſik waren ihre Lieblinge Gluck, Mozart und Righini; die italiaͤniſche Schule im Geſang, und nebenher auch im Tanze, allem andern vorausgeltend. Und damit dem Schaͤtzen und Lieben auch der Gegenſatz des Mißachtens und Verwerfens nicht fehlte, ſo waren ihr eben ſo fruͤh und ſo entſchieden, wie jene im Guten, die damals beliebten Buͤhnenherrſcher Kotzebue und Iffland im Schlechten bemerkt, lange vorher, ehe noch die zum Bewußtſein erwachende litterariſche Kritik ihre muthigen Angriffe gegen dieſe Goͤtzen der Menge ge¬ richtet hatte. Namentlich klagte ſie, daß Iffland, ab¬ gerechnet ſein großes perſoͤnliches Talent, das doch dem aͤchten Genius eines Fleck nicht zu vergleichen war, durch ſein wachſendes Anſehen und Einwirken die Buͤhne und Schauſpielkunſt in Berlin auf weithinaus zu Grunde richte, in’s Gemeine und Manierirte hinabziehe, und der leitenden Behoͤrde, wie ſelbſt dem Publikum, die falſcheſten Maximen und Urtheile einfloͤße und verhaͤrte. Dieſe Polemik hat Wurzel gefaßt, und ſich in der Folge durch namhafte Autoritaͤten ausgebreitet, doch lange nicht ſo ſehr, daß nicht noch heutiges Tages das Verdienſt der richtigen Vorausſetzung durch vielfaͤltigen Augenſchein leider bewaͤhrt ſtuͤnde.

Ich war nicht ſo bald in dieſen neuen Lebensſtrom eingegangen, als ich ſchon eilte, auch meinen Freunden eifrigen Bericht zu geben, ihnen Schritt fuͤr Schritt den neuen Gewinn aufzuzeigen, und ihnen alles zu172 goͤnnen, was ſie davon ſich anzueignen Faͤhigkeit und Neigung haben mochten. Sie ließen anfangs manchen Zweifel und Unglauben ſpielen, der mich ſcherzend ver¬ wirren ſollte, mußten aber bald den Ernſt meiner Ueber¬ zeugung erkennen, und ſich zuletzt der durch hundert unabweisliche Zeugniſſe ſprechenden Geiſtesmacht beugen. Eine Freundin war verwundert und wollte nicht begrei¬ fen, wie Rahel und ich uns auf die Dauer verſtehen koͤnnten, meinte jedoch laͤchelnd, intereſſant und original wuͤrde ich nachher nicht leicht eine Frau mehr finden. Ein hartnaͤckiger Widerſacher blieb mir Harſcher, wie¬ wohl ich grade ihm die eindringlichſten und haͤufigſten Mittheilungen machte. Er war ſehr faͤhig anzuerkennen und zu bewundern, und zeigte ſich oft ganz hingeriſſen von tiefen und reichen Einzelnheiten, die ich ihm be¬ richtete, ſo daß er die Andern ſchalt und beſchaͤmte, welche bei ihm Tadel und Widerſpruch gehofft hatten, und es gab wohl Faͤlle, wo er ſtaunend ausrief: Hier iſt alle Tiefe der Schleiermacher'ſchen Ethik, was ſag 'ich, hier iſt mehr als Schleiermacher, denn hier iſt die Wiſſenſchaft in Form des Lebens ſelbſt! Doch der¬ gleichen Entflammung dauerte nicht lange, ſondern gab unvermerkt wieder einem Mißwollen und einer Uebel¬ laune Raum, welche tief in ſeinem Gemuͤthe lagen, und gegen ein ſo freies und geſundes Weſen, wie ſich in Rahel darſtellte, um ſo bitterer ausbrachen, als dies mit ſeinem krankhaften und zerknitterten im hellſten173 Gegenſatze war. Er konnte etwas ſo Selbſtſtaͤndiges, aus dem Ganzen Lebendes, und, ohne Kunſt und An¬ ſtrengung, Wahrheit und Schoͤnheit Produzirendes ſchlechterdings nicht vertragen, ja eine Art Neid und Eiferſucht ergriff ihn, und er wandte alles an, um mich von dem neuen Verhaͤltniſſe wieder abzuziehen. Er ſelbſt folgte mir zwar zu Rahel, erfuhr die lieb¬ reichſte Aufnahme, genoß der belebendſten Geſpraͤche, und konnte des Staunens und Betrachtens kein Ende finden; allein grade das verdroß ihn wieder, er wollte ſich nicht uͤberboten ſehen, und blieb wieder weg, weil er den Zauber, wie er ſagte, nicht wollte Herr uͤber ſich werden laſſen. Seine ernſtlichen Eroͤrterungen aber, ſeine ſpoͤttiſchen Launen, und was er ſonſt verſuchte, nichts hatte diesmal die geringſte Gewalt auf mich, er ſah es ſelber ein, und ließ mich meiner Wege gehen, zufrieden, daß ich neben der neuen Hinneigung auch unſrem alten Verhaͤltniſſe nach wie vor die treuſte Be¬ fliſſenheit widmete, und mich nach dieſer Seite ebenſo¬ wenig wie nach jener irre machen ließ.

Rahel bezog im Laufe des Sommers eine laͤndliche Wohnung in Charlottenburg, und ich ließ mir ange¬ legen ſein, ſie dort ſo oft als moͤglich zu beſuchen. Meine Arbeiten draͤngte ich zuſammen auf den fruͤheren Theil des Tages, meinen ſonſtigen Umgang ſchraͤnkte ich mehr und mehr ein, und wenn der Nachmittag mir noch nicht frei wurde, ſo ließ ich ſelbſt den dunkelnden174 Abend mich nicht abhalten, die Stunde Weges zu Wagen oder zu Fuß eilig zu durchmeſſen, um den meiſt drangvollen Tag in der labendſten Erholung zu beſchließen. Die groͤßere Einſamkeit, in welcher ich die Freundin hier ſah, gab unſerm Geſpraͤch und ganzen Zuſammenſein einen freieren Gang und reicheren Ertrag; der heimliche Schattenplatz vor der Thuͤre des kleinen Hauſes in der abgelegenen Schloßſtraße, die kuͤhlen Spaziergaͤnge in den duftenden Gartenwegen, durch die breiten baͤumereichen Straßen des damals uͤberaus ſtillen Ortes, laͤngs des Ufers der Spree und uͤber die Bruͤcke, dieſe Reize der Oertlichkeit, oft noch erhoͤht durch die Pracht des Mond - und Sonnenhimmels, ſind mir in der Erinnerung unaufloͤslich verwebt mit den erhebendſten Geiſtesfluͤgen und den zarteſten Schwin¬ gungen des erregten Gemuͤths, welches denn doch zugleich leidenſchaftlichen Spannungen und geſelligem Widerſtreite genugſam eroͤffnet blieb, und daher von ſentimentaler Verweichlichung gar nicht bedroht war.

Theils mit ſich ſelber als maͤchtiger Gegenwart erfuͤllt, theils zur unbeſtimmten Zukunft gewaltſam hin¬ ausſtrebend, war die ſchoͤne Sommerzeit verfloſſen, und waͤhrend der Ferien mußten die Entſcheidungen ausge¬ fuͤhrt werden, welche wir gefaßt hatten. Jemehr der Zeitpunkt der Trennung herannahte, deſto inniger fuͤhlten Rahel und ich den Werth und das Gluͤck unſrer Ver¬ bindung. Wir ſuchten den Schmerz durch Geiſtesſtaͤrke175 zu verſcheuchen, aber mitten in aller Freudigkeit, daß wir noch zuſammen ein Gluͤck empfanden, dem auch die Trennung ſein Weſen laſſen mußte, uͤberſchlich uns die trauervollſte Wehmuth. Es ſchien Thorheit, Wahn¬ ſinn, daß wir uns trennten, und doch blieben die ge¬ faßten Vorſaͤtze unveraͤndert, und durchaus einwilligend ſtimmte Rahel mir bei. Wir hatten den Muth, uns zu trennen, geſtaͤrkt durch die Kraft des Zuſammenſeins. Meine Lebensentwicklung war noch unvollſtaͤndig ſogar in ihren Umriſſen, deren Geſtalt ſich abſchließen, ſich nach vielen Seiten uͤber viele Luͤcken hin ergaͤnzen mußte. Wie haͤtte ich bleiben ſollen, in welcher Stellung, in welcher Richtung? Der ſtrebenden Thaͤtigkeit haͤtte kein Gluͤck mich entſagen laſſen, im ruhigen Genuſſe weicher Tage waͤre ich nur ungluͤcklicher geweſen. Ich mußte fort, um als ein Andrer wiederzukommen, und mußte immer wieder fort, bis nach genugſamen Kaͤmpfen und Stuͤrmen das innere Leben ſich zu dem aͤußern in gehoͤriges Verhaͤltniß gebracht hatte. Ich fuͤhlte dieſe unwiderſtehliche Nothwendigkeit, ohne derſelben klar bewußt zu ſein, und alle entgegengeſetzten Verſuche mußten mißlingen, bis die rechte Zeit gekommen war. Der gewonnene Schatz aber blieb mir fortan gewiß, der Wechſel des Lebens und die Vielgeſtalt der Welt vermochten uͤber ihn nichts; auch wußten wir beide dies mit ſtaͤrkſter Gewißheit, und in der hierdurch gewaͤhrten Herzensfreudigkeit erſchien ſelbſt die Trennung nur als176 Nebenſache, die ſich nur jetzt nicht aͤndern ließe, kuͤnftig aber unfehlbar weichen werde. Bis zuletzt nahmen zerſtreuende Thaͤtigkeiten uns in Anſpruch. Als die Tage des Scheidens nun wirklich eintraten, ich mir vorſtellen mußte, daß ich dieſe Augen bald nicht mehr ſehen, dieſe Hand nicht mehr kuͤſſen, dieſe Stimme nicht mehr hoͤren ſollte, da mußt ich gleichwohl verzagen, und das nahe Bild der verlaſſen zuruͤckbleibenden Freundin brachte mich zur Verzweiflung, aus der nur die Geluͤbde des Wiederſehens ſich um ſo ſtaͤrker emporhoben, und einigen Troſt gewaͤhrten.

Ich war damals vierundzwanzig Jahr alt, Rahel um mehr als die Haͤlfte dieſer Jahre aͤlter, und dieſer Umſtand, welcher unſre gange Lebensſtellung weit aus¬ einander zu ruͤcken ſchien, haͤtte dies vielleicht wirklich vermocht, waͤre er in ſich ſelber wahr geweſen. Allein er beſtand nur als Zufaͤlliges, und war in allem Weſent¬ lichen aufgehoben und vernichtet. Dieſes edle Leben, dem ſchon ſo mannigfache Weltanſchauung geworden, ein ſo großer Reichthum von Gluͤcks - und Leidenslooſen zugetheilt geweſen, dieſes Leben erſchien unzerſtoͤrbar jung und kraͤftig, nicht nur von Seiten des maͤchtigen Geiſtes, der in freier Hoͤhe uͤber den Tageswogen ſchwebte, ſondern auch das Herz, die Sinne, die Adern, das ganze leibliche Daſein, waren wie in friſche Klar¬177 heit getaucht, und die reinſte, erquickendſte Gegenwart ſtand herrſchend mitteninne zwiſchen erfuͤllter Vergangen¬ heit und hoffnungsreicher Zukunft. Eine dauernde Ver¬ einigung mußte uns jedoch damals noch verſagt ſein. Meine Univerſitaͤtsjahre waren noch nicht abgelaufen, der Verſuch in das buͤrgerliche Leben einzutreten durfte nicht unterbleiben, und kaum an der Schwelle von dieſem ſah ich mich durch innere Unruhe und den Drang der Zeiten zu dem mannigfachſten Wechſel der Verhaͤlt¬ niſſe fortgeriſſen. Zweimaliger Kriegsdienſt, Reiſen, Zerſtreuung in glaͤnzender Welt, Lockungen des Ehr¬ geizes, Neigungen und Mißverſtaͤndniſſe, zu welchen die langwierige Entfernung Anlaß geben wollte, nichts konnte jemals in meinem Innern das feſte Band beruͤhren, das mich mit Rahel verknuͤpft hielt, die tiefe Ueber¬ zeugung, daß ich mein Lebensgluͤck gefunden wiſſe, erſchuͤttern, und das unermuͤdete Hinſtreben zu dieſem Ziel auch nur einen Augenblick ſchwaͤchen. Sechs Jahre vergingen auf dieſe Weiſe, nur unterbrochen durch kurze Zeiten des Wiederſehens, in welchen die Vorſaͤtze und Hoffnungen ſich neu beſtaͤrkten. Endlich, nach erfolgtem Umſchwunge der allgemeinen Verhaͤltniſſe, nach erlangtem Sieg und Frieden des deutſchen Vaterlandes, von Paris, wo ich ſchwer krank gelegen, unter gluͤcklichen Zeichen heimkehrend, konnte ich, aller Hemmungen frei, die geliebte Freundin in Boͤhmen wiederfinden, den ſchoͤnſten Sommer mit ihr verleben, und darauf in Berlin, amII. 1217827. September 1814, mein Lebensloos fuͤr immer dem ihren anſchließen.

Die neunzehnjaͤhrige Zeit unſres ſodann wenig unter¬ brochenen, zu ſtets erneutem Bewußtſein des Gluͤckes erhobenen und an innerer Entwicklung reichen Zuſammen¬ lebens zu ſchildern, darf ich vielleicht in ſpaͤterer Zeit, wenn die Fortſetzung der begonnenen Denkſchriften mich wieder anziehen kann, mit geſtaͤrkten Kraͤften zu unter¬ nehmen hoffen.

[179]

Die Schlacht von Deutsch-Wagram, am 5. und 6. Juli 1809.

Nach den großen Unfaͤllen in Bayern, dem Verluſte von Wien, und dem Fehlgehen ſo mancher Aufſtands¬ verſuche, von denen man die groͤßte Erwartung gehegt, mußte die oͤſterreichiſche Sache, und mit ihr die deutſche, diesmal wiederum verloren ſcheinen; und urploͤtzlich, ein paar Tage ſpaͤter, da niemand dies mehr hoffen durfte, ſtand ſie in dem herrlichſten Siegesglanze! Die geſchlagenen, ermuͤdeten, mit allen Nachtheilen eines ſchleunigen Ruͤckzuges ringenden Truppen hatten den ſtolzen Gegner bei ſeinem weiteren Vordringen uͤber die Donau ſtreitfertig aufgenommen, in zweitaͤgiger Schlacht am 21. und 22. Mai bekaͤmpft und uͤberwaͤl¬ tigt, und uͤber den Fluß zuruͤckgeworfen. Die Schlacht von Aſpern erklang weithin durch Deutſchland, und erregte maͤchtig die Gemuͤther. Napoleon war, ſeit12 *180ſeinem Auftreten, noch in keiner Schlacht uͤberwunden worden; dies war die erſte, die er verlor, und voll¬ ſtaͤndig verlor, im offnen Kriegsfelde, eine große Haupt¬ ſchlacht. Der Erzherzog Karl zuerſt entrang dem gewaltig¬ ſten Schlachtengewinner der neuern Zeit einen ſolchen Sieg; und wenn auch ſpaͤterhin Napoleon wiederholte und groͤßere Niederlagen erleiden mußte, ſo uͤberließ er doch niemals wieder nur Einem Gegner ſo ungetheilt den Siegeskranz.

In Berlin, in Schleſien, wo wir durchreiſten, war die Begeiſterung allgemein; der Zauber der Unbeſieg¬ barkeit, durch die juͤngſten Gluͤcksfaͤlle erſt recht befeſtigt, war von Napoleon gewichen, man ſah die Moͤglichkeit durch die That; im vollen Siegeslaufe hatte der Wider¬ ſtand ihn gehemmt; er war geſchlagen, ſein Heer zer¬ ruͤttet, auch er konnte zu Grunde gehen, wie er bisher die Andern zu Grunde gerichtet hatte. Ja, wenn man die Landkarte betrachtete, wie tief im feindlichen Lande, und wie entfernt und faſt geſchieden von Frankreich, er die mißlichſte Lage uͤberſtehen ſollte, ſo konnte die Hoffnung ſchimmern, es wende ſich mit ihm ſchon jetzt zum Untergange; und er habe die Worte an ſeine Soldaten, im Beginne des Krieges, dies ſolle ſein letzter Feldzug in Deutſchland ſein, ſich ſelber zum Ver¬ haͤngniſſe geſprochen. Wirklich war Tyrol noch im vollen Aufſtande, Norddeutſchland jeder neuen Bewegung offen, England thaͤtig, Preußen zum Ausbruche geneigt, der181 Rheinbund ſelbſt nicht ſicher, ſeine Fuͤrſten konnten von Napoleon abfallen, gegen ihn die Volkskraͤfte ſich uͤberall erheben. Man hielt alle guͤnſtigen Ausſichten, mit denen man ſich vor Eroͤffnung dieſes Krieges geſchmeichelt, abermals, und mehr als vorher, der Erfuͤllung nahe.

Unter ſolchen Vorſtellungen, Gluͤckwuͤnſchen und Verheißungen, ſetzten wir eilig unſre Reiſe fort. Zwei unſrer Reiſegenoſſen mußten aber in Schleſien noch zuruͤckbleiben, und wir kamen nur unſer vier nach Maͤhren, mit deſſen Boden wir nun unwiderruflich eine neue Lebensbahn betreten hatten. Herrlich ſprach uns das Land mit ernſten und heitern, von maͤchtigen Verhaͤlt¬ niſſen und großem Zuſammenhange zeugenden Eindruͤcken an. Sonderbar duͤnkte uns die Stimmung der Menſchen, weder lebhaft aufgeregt durch den Sieg, wie wir ſie zu finden dachten, noch eigentlich antheillos, wie dieſer Mangel an Begeiſterung zu fuͤrchten gab. Ein gelaſſenes Zutrauen ſchien uͤber Gluͤck und Ungluͤck hinaus ſich einer guten Sache verſichert zu halten, und fuͤr dieſe pflicht¬ maͤßig und treu zu handeln, ohne damit einen ungewoͤhn¬ lichen Aufwand geiſtiger Bewegung zu verbinden. Alt¬ hergebrachtes weitſchichtiges Regierungsweſen, und das Verhaͤltniß einer groͤßtentheils ſlawiſchen Bevoͤlkerung zu dieſem, ſchienen uns, bei naͤherer Betrachtung, den anfangs befremdlichen Eindruck hinlaͤnglich zu erklaͤren. Auch waren, wo nicht alle verfuͤgbaren, doch die hoͤheren und tuͤchtigeren Kraͤfte des Landes ſchon vorwaͤrts in182 Thaͤtigkeit; die Beſitzer der Herrſchaften und Guͤter, die junge Mannſchaft aus den Doͤrfern und Staͤdten, die kaiſerlichen Beamten ſelbſt, alles war zur allgemeinen Vertheidigung bei Linientruppen oder Landwehr einge¬ ruͤckt, und nur hin und wieder ſah man einige ſchwache Abtheilungen neuausgehobener Truppen, welche gleich¬ falls zu dem Heere ſtoßen ſollten, und vorher nur noth¬ duͤrftig abgerichtet wurden.

In Olmuͤtz fanden wir den ausfuͤhrlichen Bericht uͤber die Schlacht von Aſpern, wie er amtlich abgefaßt worden und eben im Druck erſchienen war. Begierig griffen wir nach dieſem Heft, welches den fruͤheren, eiligen und kurzen Nachrichten zur Ergaͤnzung diente, und uns nunmehr ein deutliches Bild des großen Ereig¬ niſſes vor Augen ſtellte. Die ſachgruͤndliche Erzaͤhlung, zuweilen lebhafter einſchreitend, machte auf uns einen begeiſternden Eindruck, ſie wurde laut vorgeleſen, viel¬ faͤltig uͤberdacht und beſprochen; vor - und ruͤckwaͤrts knuͤpften ſich hier die mannigfachſten Betrachtungen fuͤr uns an. Als wir den Verluſt der Oeſterreicher mit ihrer anfaͤnglichen Staͤrke verglichen, und das Ergebniß fanden, daß der vierte Mann getoͤdtet oder verwundet worden, lag die Bemerkung nah, daß fuͤr eine neue Schlacht in gleichem Verhaͤltniß auch von uns Vieren Einer zu rechnen ſei, und ich warf die Aeußerung hin, ich wuͤrde dieſer wohl ſein; ich mußte das ausſprechen,183 ohne daß weder ich ſelbſt noch die Andern ſich weiter dabei aufhielten.

Wie eilten weiter zu kommen, voll Sorgen und Unruhe, daß wir etwas Bedeutendes verſaͤumen koͤnnten, da ſchon die bis dahin dauernde Waffenſtille ein Wunder duͤnkte, deſſen Fortſetzung mit jedem Tage ſich weniger glauben ließ. Fuͤr Marwitz war noch ein beſonderer Grund der Eile; ein juͤngerer Bruder von ihm war ſchon fruͤher in des oͤſterreichiſche Heer getreten, bei Aſpern verwundet und darauf nach Nikolsburg gebracht worden, wo er ſchwer danieder lag. Wir fanden ihn in einem uͤblen, faſt hoffnungsloſen Zuſtande. Ihm war aufgetragen worden, mit einer kleinen Schaar gegen feindliches Geſchuͤtz anzuſprengen, damit deſſen Aufſtellung und Staͤrke durch das Abfeuern kund wuͤrde; dieſer Zweck wurde erreicht, dem edlen Juͤngling aber dabei durch eine Kartaͤtſchenkugel der Oberſchenkel zerſchmettert, und kaum hatten die Seinigen ihn vor den Muͤndungen der feindlichen Kanonen noch aufraffen und zuruͤckbringen koͤnnen. Den Bruder, ſo weit von der Heimath in dieſem Jammer, und ſo mancher Huͤlfe und Pflege doch entbehrend, wiederzuſehen, war ein großer Schmerz, der dadurch noch vermehrt wurde, daß dieſes Wieder¬ ſehen nicht einmal dauernd, ſondern nur auf kurze Zeit beſchraͤnkt ſein konnte. Das Beiſpiel eines ſolchen trau¬ rigen Voranganges mußte den Eifer der beſchloſſenen Nachfolge noch anſpornen und befeſtigen; man fuͤhlt ſich184 fremdem Leide wie verpflichtet, dem eignen nun um ſo williger entgegenzugehn. Da jedoch Marwitz mancherlei Unordnungen zu treffen hatte, und dabei ſeine troͤſtliche Gegenwart dem Ungluͤcklichen gern einige Tage goͤnnen wollte, wir Andern aber nur muͤßige Zuſchauer ſein konnten, ſo trennten wir uns hier, um jeder nach eignem Rath und Mittel ſein ferneres Geſchick aufzuſuchen. Marwitz war des Eintritts in das Regiment Klenau Chevauxlegers, wo ſein Bruder diente, ſo gut wie gewiß, die Andern hatten ihr Abſehen gleichfalls auf die Reiterei geſtellt, ich aber dachte bei dem Fußvolk einzutreten, und wollte ein ganz friſches Verhaͤltniß nur durch mich ſelber finden, daher ich auch alle Empfeh¬ lungsbriefe und ſonſtige Anknuͤpfungen verſchmaͤht hatte. Wir ſchieden froh und leicht, und ich zuerſt fuhr mit Kourierpferden dem großen Hauptquartiere zu.

Einem Feldwebel, der auf der Landſtraße gleichen Weges dahinſchritt, war mein Fuhrwerk eine gute Ge¬ legenheit, um ſchneller fortzukommen, und mir ſein Geſpraͤch ganz erwuͤnſcht, um von manchen Dingen, die mir jetzt wichtig werden mußten, naͤhere Kundſchaft einzuziehen. Aller Eindruck, den ich bisher von preußi¬ ſchem oder franzoͤſiſchem Soldatenweſen gehabt, mußte hier gaͤnzlich ſchwinden, und ein durchaus verſchiedener nahm die Stelle ein. Hier waren alle Beſtandtheile und Verhaͤltniſſe anders geſtellt, wie ſchon dem fluͤch¬ tigſten Blick auffallen mußte, und eine zwar in Worten185 ſchwer auszudruͤckende, aber fuͤr die Anſchauung unver¬ kennbare Eigenart trat deutlich hervor, die auch in der Folge ſich nur beſtaͤtigte, und mit dem Namen: ein oͤſterreichiſcher, oder vielmehr, wie aus fruͤherer Gewoͤh¬ nung noch uͤblich war zu ſagen, ein kaiſerlicher Sol¬ dat, die urſpruͤnglichſte, ſelbſtſtaͤndigſte, und man moͤchte ſagen unveraͤnderlichſte Geſtalt eines Kriegsweſens be¬ zeichnete, das auf der ſtarken Verknuͤpfung der ver¬ ſchiedenartigſten Voͤlkerſchaften und auf der ununterbro¬ chenen Ueberlieferung von Jahrhunderten ruht.

Mit der fruͤhſten Morgenhelle des 21. Juni traf ich in Deutſch-Wagram ein, und bevor ich dem Halb¬ ſchlummer mich voͤllig entwunden, der in der Nachtfriſche uͤber mich gekommen war, fuhr der Poſtillon bis vor die Wohnung des Erzherzogs, wo die aufgepflanzte Fahne und eine Grenadierwache mir ſogleich in die Au¬ gen fielen. Man glaubte, ich ſei ein Kourier, und wollte den Erzherzog eiligſt wecken, welches ich nur mit Muͤhe hindern konnte, indem ich wiederholt verſicherte, daß ich keine Botſchaft zu uͤberbringen haͤtte, ſondern nur in meinen perſoͤnlichen Angelegenheiten kaͤme. Man verſtand wenigſtens, daß der Generaliſſimus nicht duͤrfe geſtoͤrt werden, und ließ es damit gut ſein. Ich aber fand mich in einer ſonderbaren Lage. Saͤmmtliche Ge¬ baͤude des großen Dorfes waren mit Einlagerung uͤber¬ fuͤllt, die naͤchſten alle mit hohen Offizieren oder Kanz¬ leien beſetzt, wie ſich an den vielen Schildwachen abneh¬186 men ließ, die faſt vor jeder Thuͤre ausgeſtellt waren; ein Wirthshaus gab es unter ſolchen Umſtaͤnden uͤber¬ haupt nicht mehr. Da der ganze Ort noch in großer Stille lag, auch einſtweilen ſich niemand um mich be¬ kuͤmmerte, ſo ſuchte ich auf gut Gluͤck in dem naͤchſten Hauſe, wo ſchon einige Bewegung zu blicken war, ein vorlaͤufiges Unterkommen. Ich fand Stabsfouriere dort, die mich gaſtlich aufnahmen, und mir ſogar Theil an ihrem Fruͤhſtuͤck anboten. Hier konnte ich mich den neuen Eindruͤcken und Betrachtungen, die ſich aufdraͤng¬ ten, bequem uͤberlaſſen, und mir den ferneren Verlauf meines Abenteuers in Gedanken feſtzuſtellen ſuchen. Einige Offiziere kamen, und nachdem ſich leicht ein Geſpraͤch angeknuͤpft, ſahen ſie mich faſt ſchon wie einen der Ihrigen an, und gaben mir guten Rath, den ich aber nicht recht verſtehen konnte, auch widerſprachen ſich ihre Meinungen theilweiſe. Ich ſetzte mein Anliegen, jedoch in Kuͤrze, ſchriftlich auf, und ließ dies Blatt durch dienſtwillige Hand hoͤheren Ortes abgeben.

Als die Sonne hoͤher geſtiegen und das ganze Hauptquartier lebhaft geworden war, begab ich mich wieder in’s Freie. Ich ſah mir Deutſch-Wagram und das anſtoßende Lager an, und wunderte mich nur, daß ein Fremder, unter Hunderttauſenden hier vielleicht der einzige dunkelblau Gekleidete, uͤberall ſo ungehindert umhergehen konnte; niemand fragte mich, wer ich ſei oder was ich wolle, meinen Paß hatte ſeit Olmuͤtz noch187 niemand wieder zu ſehen begehrt. Ein wunderbares Gewirr bewegte ſich vor meinen Augen. Die unabſeh¬ baren Lagerreihen wimmelten von Kriegsvolk, und in Wagram floſſen die Stroͤmungen dieſer mannigfachen Regſamkeit zuſammen. Alle Truppengattungen und Grade, in den verſchiedenſten Geſchaͤften und Koſtuͤmen, in Kitteln und im Glanze, zur Arbeit, zum Wachdienſte, zur Erkundigung von Neuigkeiten und zum Genuß und Verkehr jeder Art, bewegten ſich bunt durcheinander hin. Unter den Uniformen in Oeſterreich ſind die ſchoͤ¬ nen ganz außerordentlich ſchoͤn, die der Huſaren, Uhla¬ nen und ungariſchen Grenadiere gewaͤhrten den herrlich¬ ſten Anblick; neben dieſen nahmen ſich freilich manche andre, beſonders auch die des deutſchen Fußvolks, um ſo unanſehnlicher aus, wiewohl das letztere in groͤßeren Maſſen zuſammenſtehend doch auch einen vortrefflichen Eindruck machte. Merkwuͤrdig erſchien die Tracht der Generale, die durch hechtblaue Roͤcke und rothe Hoſen das Unſcheinbare und Auffallende ſonderbar vereinigten. In dem Ausdrucke der Geſtalten und Geſichter waren aͤhnliche Gegenſaͤtze wahrzunehmen; zwangloſe Beweg¬ lichkeit und pedantiſche Starrheit, muntre Laune und finſtrer Ernſt, behagliche Trockenheit und wilde Leiden¬ ſchaft. Deutſche, Franzoſen, Wallonen, Slaven, Ita¬ liaͤner, Madſcharen erkannte man weniger im Einzelnen, als vielmehr in dem Ganzen das Gemiſch aller dieſer. Daß die Verſchiedenheit ſo vieler Voͤlker, Sprachen,188 Geſtalten und Sitten hier in der Gemeinſchaft nicht verſchwand, aber doch wie von einem hoͤheren Zuſam¬ menhange gebunden erſchien, war grade das Eigenthuͤm¬ liche dieſes kaiſerlichen Heeres. Im Allgemeinen konnte man glauben, noch daſſelbe Soldatenweſen vor Augen zu haben, welches Schiller im Lager Wallenſteins dar¬ geſtellt hat, und in der That haͤtten ſich nicht nur die aͤhnlichen Verhaͤltniſſe und Vorgaͤnge, ſondern großen¬ theils auch noch dieſelben Truppenſtaͤmme jener Zeit in den heutigen Regimentern nachweiſen laſſen. Aus den wunderlichen Scenen und altbewahrten Redensarten, welche hier im Vorbeigehen ploͤtzlich die Aufmerkſamkeit anregten, wehte mich unterweilen auch die Luft des abenteuerlichen Simpliciſſimus noch an, jenes einſt vielgeleſenen Romans aus dem dreißigjaͤhrigen Kriege; und als der Generalgewaltiger reitend durch das Lager mir gezeigt wurde, glaubte ich den Rumormeiſter jener wilden Zeit leibhaftig vor mir zu ſehen!

War in dem Hauptquartiere die Bewegung freier, glaͤnzender, und nicht ohne die Zugaben vornehmer und reicher Lebensweiſe, ſo ging es dagegen im eigentlichen Lager ernſthafter und ſtiller zu. Jeder Raum war abgemeſſen, die Anordnung der Reihen und Gaſſen ſtreng beobachtet. Ueberall war die wachſamſte Aufſicht und Ordnung, kein wilder Laͤrm, kein Streit; die Truppen ſah man beſchaͤftigt, theils ihre Waffen und Geraͤthe in Ordnung zu halten, theils andre Arbeiten189 zu verrichten, welche der Tag erforderte, am meiſten aber mit Exerziren. Vom fruͤhen Morgen an wurden kleinere und groͤßere Abtheilungen eingeuͤbt; denn die erlittenen ſtarken Verluſte waren durch junge Mannſchaft erſetzt worden, welche nun eilig ausgebildet werden ſollte. Dieſe fleißigen Uebungen, und die Puͤnktlichkeit, mit welcher die mannigfachen Dienſtverrichtungen nach eingetheilter Zeitfolge wechſelten, gab der kriegeriſchen Bewegung einen Anſchein ruhiger Friedensordnung. Dreimal taͤglich traten die Regimenter herkoͤmmlich zum Gebet in’s Gewehr; immer auf’s neue berief der Trom¬ melſchlag die Feldwebel und Korporale zum Anhoͤren der auszutheilenden Befehle; wurde Vergatterung geſchla¬ gen, ſo war im Augenblicke die unabſehbare Front ſchweigſam aufgeſtellt; die zahlreichen Lagerwachen hiel¬ ten vorwaͤrts ihre Poſtenkette beſetzt, und nur mit einbrechender Dunkelheit unterbrach ihr wechſelſeitiger Zuruf die große Stille. Die Truppen lagen ſaͤmmtlich unter freiem Himmel; aus der Mitte jedes Regiments erhob ſich nur Ein Zelt, welches als Feldkapelle fuͤr den Gottesdienſt beſtimmt war, zugleich aber dem Ober¬ ſten einen bedeckten Raum darbot; alle uͤbrigen Offi¬ ziere, wie die Gemeinen, begnuͤgten ſich mit Erdgruben, denen etwan ein Dach von Raſen und Laubgezweig das Anſehn von Huͤtten und einigen Schutz gegen das Wetter lieh. Betrachtete man dieſes Kriegsvolk in ſeiner ausdruckvollen Kraͤftigkeit, gelaſſenen Bewegung,190 maͤßigen Lebensart und unwandelbaren Gehorſam, ſo mußte man ſich wohl bekennen, ein ausgepraͤgtes Bild des deutſchen Charakters vor Augen zu haben, und wenn man ſich gegenuͤber die franzoͤſiſche Beweglichkeit, uͤppige Luſt und entzuͤndbare Leidenſchaft dachte, ſo glaubte man jenen Kraͤften um ſo ſichrer vertrauen zu duͤrfen, als ſie diesmal von beſter Feldherrnhand gefuͤhrt wurden. Einige Zuͤge, welche den oͤſterreichiſchen Sol¬ daten ganz bezeichnen, moͤgen als jenen Tagen ange¬ hoͤrig hier aufbewahrt ſtehn. Ein ſchwerverwundeter Reiter wurde waͤhrend der Schlacht zuruͤckgebracht, und von begegnenden Kameraden theilnehmend angerufen, wie es ihm gehe? O recht gut, erwiederte er, der Feind iſt ſchon im vollen Zuruͤckweichen gegen die Donau hin! Einem Grenadier wurde das Gewehr in der Hand durch eine Kanonenkugel wie ein Waldhorn zuſam¬ mengekruͤmmt, ſtaunend betrachtete er den Schaden, und ſagte bedauernd: Ein ſo gutes Gewehr! Einen Trupp Grenadiere, die eben Sturm gelaufen hatten, fragte ein heranſprengender Offizier, wo ihr Bataillon ſei? Wir ſind das Bataillon, war die ſchlichte Antwort; die Andern lagen dahingeſtreckt. Der einfache Gradſinn macht hier das Erhabene.

An dieſem und dem naͤchſten Tage war ich auch von der Gegend und der eigentlichen Heeresſtellung einen beſtimmten Begriff zu erlangen bemuͤht. Die Oeſter¬ reicher ſtanden ſeit dem Siege von Aſpern noch faſt191 auf derſelben Stelle, nur hatten ſie ihre Linie mehr ruͤckwaͤrts gezogen und in groͤßeren Bogen ausgedehnt. Aſpern und Eßlingen lagen weitab vor der Fronte, beide Doͤrfer jetzt außerordentlich verſchanzt, und mit Geſchuͤtz und Truppen wohlbeſetzt. Die Donau ſtroͤmte zwiſchen ihnen und dem Feinde, der hauptſaͤchlich auf der Inſel Lobenau, gewoͤhnlich Lobau genannt, ſich feſtgeſetzt und durch große Schanzarbeiten gedeckt hatte. Weiter oberhalb, bei Nußdorf und hoͤher hinauf, war das oͤſterreichiſche Heer mit dem rechten Fluͤgel unmit¬ telbar an die Donau gelehnt, entfernte ſich dann ſchraͤg von dieſer gegen Stamersdorf und Wagram hin, und dehnte ſeinen linken Fluͤgel, der am fernſten von der Donau war, in das Marchfeld bis nach Markgrafen - Neuſiedel aus. Deutſch-Wagram lag faſt im Mittel¬ punkte der Stellung; links von dieſem Ort erhebt ſich der Boden, und bildet oſtwaͤrts eine Hochflaͤche, die gegen Suͤden terraſſenfoͤrmig abfaͤllt; etwa hundert Schritt vorwaͤrts fließt in der tieferen Ebne ein mit Weiden bepflanzter Bach, der Rußbach, welcher von Wolkersdorf her durch Wagram, Baumersdorf und Markgrafen-Neuſiedel ſich in das Marchfeld hinzieht. In weiter Ferne, uͤber die Ebne hinweg und jenſeits der Donau, erblickte man am nebligen Horizont den Stephansthurm von Wien; und es war ein eigenthuͤm¬ licher Reiz, die vom Feinde beſetzte Hauptſtadt taͤglich vor Augen zu haben, und nicht anders erreichen zu192 koͤnnen! Die oͤſterreichiſche Hauptſtellung war nicht verſchanzt, durch ihre natuͤrliche Beſchaffenheit aber vor¬ theilhaft genug, und beſonders bot ſie, im Fall es hier zu einer neuen Schlacht kommen ſollte, der Reiterei in dem weiten Marchfelde den freiſten Spielraum. Dage¬ gen waren laͤngs der Donau, beſonders bei Aſpern und Eßlingen, wo die beſten Uebergangspunkte zu ſein ſchienen, ſtarke und weitlaͤufige Verſchanzungen angelegt. Sich gegenſeitig in ihren guten Stellungen beobachtend und feſthaltend, ohne viel unternehmen zu koͤnnen, hat¬ ten beide Theile das unnuͤtze Schießen groͤßtentheils eingeſtellt. Bei der Fortdauer dieſer ſtillen Spannung mußte, ſo ſchien es, der Vortheil ſich mehr und mehr auf die Seite der Oeſterreicher wenden. Napoleon ſtand im feindlichen Lande, mitten in einer unruhigen Bevoͤl¬ kerung, die Donau war geſperrt, man fuͤrchtete in Wien ſchon Mangel an Lebensmitteln, Tyrol war im Aufſtande, Steiermark nicht ſicher, die Bewaffnung in Ungarn gewann taͤglich an Staͤrke und Ausbildung. Durch Entſendungen nach der obern Donau ſuchten die Oeſterreicher dem Feinde ſeine Verbindungen im Ruͤcken noch mehr zu erſchweren, die Aufſtaͤnde zu foͤrdern; abwaͤrts, bei Preßburg, behaupteten ſie auf dem rech¬ ten Donauufer den ſtarken Bruͤckenkopf, welchen der tapfre Erzherzog Johann gegen die taͤglichen Stuͤrme der Franzoſen ruhmvoll vertheidigte. So konnte das Wort des Erzherzogs Karl, das man ſich mittheilte:193 jeder Tag, den man hier ſtehn bleibe und den Feind unthaͤtig feſthalte, ſei als ein Sieg zu betrachten, unter ſolchen Umſtaͤnden ſehr wohl gelten, beſonders da auch die politiſche Ausſicht, die ſchon zum Theil ſich erfuͤllte, durch Zeitgewinn die guͤnſtigſten Wandlungen verſprach. Daß vielfachere und raſchere Thaͤtigkeit dem Feinde haͤtte verderblich werden, daß die Vorkehrungen haͤtten ausgedehnter und eifriger ſein koͤnnen, laͤßt ſich wohl behaupten; indeß muß man bedenken, daß der Geiſt der Kriegfuͤhrung weſentlich von dem Koͤrper abhaͤngig iſt, mit dem er wirken ſoll, und daß dieſer aus alten Einrichtungen und Gewoͤhnungen durch den kraͤftigſten Willen nicht ploͤtzlich zu jeder neuen Brauchbarkeit umgewandelt werden kann. Dies gilt von manchen Vorſchlaͤgen, welche zu jener Zeit gemacht wurden, die aber in’s Werk zu ſetzen damals allzu ſchwierig duͤnkte. Das Abſehen des Erzherzogs Karl war mit Recht auf eine Feldſchlacht gerichtet, fuͤr welche die Truppen frei verfuͤgbar bleiben, und an keine Verſchanzungen gebun¬ den ſein ſollten, als deren Zweckmaͤßigkeit fuͤr die kuͤnftig moͤglichen Umſtaͤnde doch nichts voraus zu berechnen war, und deren Vorhandenſein dann ſtoͤrend und nach¬ theilig werden konnte. Jenem weſentlichen Zwecke, das Heer fuͤr eine Schlacht in Bereitſchaft zu halten, mußte die Hauptſorge des Feldherrn gewidmet bleiben und ihm raſtlos zu thun geben, alle uͤbrigen Huͤlfsmittel konnten erſt nach jenem in Betracht kommen, ſo ſehrII. 13194man auch ſpaͤterhin wuͤnſchen durfte, daß der linke Fluͤgel auf Verſchanzungen der Hohenleithen ſich geſtuͤtzt, daß bewaffnete Schiffe die Donau beherrſcht, und daß eine Telegraphenlinie zur ſchleunigen Verbindung zwi¬ ſchen den getrennten Heerestheilen beſtanden haͤtte!

Sehr hatte mich verlangt den Erzherzog ſelbſt end¬ lich zu ſehen, wozu die Gelegenheit ſich bald darbot, und dann vielmals wiederholte. Schon am erſten Vor¬ mittage konnte ich vor ſeinen Fenſtern ihm zuhoͤren, wie er eine Stunde der Muße damit verbrachte, auf dem Fortepiano zu phantaſiren, worin er meiſterhafte Geſchicklichkeit hatte. Nicht lange darauf trat er hervor, ſtieg zu Pferde und ritt in das Lager hinaus, kehrte zuruͤck, und machte dann einen Gang zu Fuß. Sein Anblick war vortheilhaft und erfreuend. Er ſah aus, wie ein tapfrer, biedrer und menſchenfreundlicher Mann, der ſogleich Zutrauen erweckte, aber auch Scheu und Ehrfurcht gebot, denn aus dem Feldherrnblick leuchtete die Macht und die Gewohnheit des Befehlens hervor, wie aus den freundlichen Mienen Ernſt und Hoheit. Seine kleine ſchmaͤchtige Geſtalt erſchien kraͤftig und gewandt genug, vielleicht durfte man aber aus ihr auch die feinnervige Beſchaffenheit erkennen, die man ihm allgemein beimaß. Der Krieg mit ſeinen Anſtrengungen und Rauhigkeiten hatte eine ſanfte Anmuth aus dieſen Gliedern nicht verdraͤngen koͤnnen, wie auch Napoleon bei ſeinem erſten Auftreten gehabt haben ſoll, der im195 Beginn ſeiner Laufbahn eben ſo mager geweſen war, jetzt aber ſtark geworden ein weniger gutes Anſehen hatte. Was aber den Erzherzog beſonders auszeichnete, war die voͤllige Einfachheit und Natuͤrlichkeit ſeines Weſens, die gaͤnzliche Abweſenheit alles Gemachten und Geſpannten; aus der Laͤſſigkeit mancher ſeiner Bewegun¬ gen wuͤrde man zuweilen faſt auf einen Mangel an Kraft geſchloſſen haben, haͤtte nicht das Feuer ſeines heldiſchen Auges jeden ſolchen Gedanken niedergeblitzt. Sein unerſchrockener Muth, der ſtets das Beiſpiel per¬ ſoͤnlicher Aufopferung und Verlaͤugnung gegeben, ſeine menſchenfreundliche Sorgfalt, ſein gerechter und ſtand¬ hafter Sinn, ſo wie das Andenken ſeiner fruͤhen Thaten und Siege, hatten ihm die hoͤchſte Liebe des Heeres erworben, die Offiziere hingen ihm eifrig an, die Ge¬ meinen waren ihm unbedingt ergeben, vorzuͤglich die boͤhmiſchen Soldaten, denen er als Generalkapitaͤn ihres Landes noch beſonders angehoͤrte. Wo er ſich zeigte, ſchallte ihm jauchzender Leberuf entgegen, der auf den Vorpoſten dem Feinde leicht ſeine Anweſenheit verrieth, aber nicht ganz unterſagt werden konnte. Als Gene¬ raliſſimus ſtand er in einer Macht und Wirkſamkeit, wie ſie ſeit Waldſtein kein oͤſterreichiſcher Feldherr aus¬ geuͤbt hatte; durch das ganze Kriegsweſen erſtreckte ſich ſein unmittelbarer Befehl; er konnte befoͤrdern und ent¬ fernen, ſtrafen und belohnen, nach eignem Ermeſſen; die Fuͤhrung des Krieges ſollte ſeiner Einſicht durchaus13 *196uͤberlaſſen, alle Kraͤfte des Staates ihm hiezu verfuͤg¬ bar ſein. Nur wegen Ungarns offenbarten ſich in dieſem Betreff einige Schwierigkeiten, und auch andre geheime ſcheinen den bedungenen Rechten ſchon im Beginn ſtoͤrend entgegengewirkt zu haben.

Schon zwei lange Tage hatte ich mich in dem Hauptquartier und Lager umgetrieben, und der wuͤſte Zuſtand, in welchem ich mich fuͤhlen mußte, wurde mit jeder Stunde unertraͤglicher. Auf meine ſchriftliche Ein¬ gabe war mir durch Mißverſtand eine verkehrte Ant¬ wort zugekommen; dagegen hatte ein Fluͤgeladjutant des Erzherzogs, Major Graf von Cavriany mir ſehr freundlich und theilnehmend muͤndliche Auskunft und Anleitung gegeben, mich dem Oberſten von Oberndorf empfohlen, welcher das Regiment Reuß-Plauen befeh¬ ligte, und uͤber das Wunder ſcherzte, daß nun doch wirklich einige Deutſche in Folge der Aufrufe des Kai¬ ſers und des Erzherzogs ſich zum Kriegsdienſte einfaͤn¬ den; er bedauerte, daß bei ſeinem Regiment alle erledig¬ ten Offizierſtellen eben erſt wieder beſetzt worden, meinte jedoch, dies habe noch nicht bei allen Regimentern geſchehen koͤnnen, und verſprach mir deshalb Erkundi¬ gung einzuziehen. Er machte mich auch mit ſeinem Regimentsinhaber, dem Feldzeugmeiſter Fuͤrſten von Reuß-Plauen bekannt, und dieſer treffliche Mann be¬ zeugte mir gleich das groͤßte Wohlwollen. Indeß ver¬ ging ein dritter Tag, ohne daß ſich etwas entſchied; ich197 hatte aber die Freude, Williſen eintreffen zu ſehen, mit dem ich weite Spazirgaͤnge machte, wobei wir uns in allerlei Betrachtungen ergingen, und die allgemeinen und perſoͤnlichen Verhaͤltniſſe vielfach uͤberlegten. Er begab ſich dann zu dem General Grafen von Carneville, um in deſſen Freiſchaar einzutreten; die ruͤckwaͤrts von Wagram, bei Bockfließ, errichtet wurde. Mich aber rief, da meine Gedanken faſt ſchon andre Richtung nah¬ men, der Oberſt von Oberndorf unvermuthet an, und wies mich zu dem Oberſten des Regiments Vogelſang, das links von Wagram auf der oben erwaͤhnten Ter¬ raſſenhoͤhe lagerte; dort, meinte er, wuͤrde ich ſogleich zum Dienſt eintreten koͤnnen. Dieſer Oberſt war der Graf zu Bentheim, aus Weſtphalen, ein noch junger Mann, von ſchoͤnem Anſehn und einnehmendem Weſen, der durch ſeine Auszeichnung in der Schlacht bei Aſpern ſo fruͤh zu der anſehnlichen Befehlshaberſtelle gelangt war. Ein kurzes Geſpraͤch ſetzte mein Verhaͤltniß leicht in’s Klare, der Oberſt war ſehr zufrieden mich in ſein Regiment aufzunehmen, ernannte mich zum Faͤhnrich, und gab mich zu der erſten Kompanie, die der wackre Hauptmann von Marais befehligte. Ich erkaufte die Equipirung eines bei Aſpern gebliebenen Offiziers, ver¬ tauſchte den Hut mit dem Tſchako, ſchnallte die breite Degenkuppel mit dem kaiſerlichen Doppeladler um den Leib, machte mit den Offizieren naͤhere Bekanntſchaft, und ſchlief in der erſten Nacht in der Erdhuͤtte neben198 meinem Hauptmann und noch einem Offizier, als haͤtte ich nie ein anderes Verhaͤltniß gehabt!

Die naͤchſten Tage hingegen waren ſchwer und oͤde. Die große Sommerhitze hatte Laub und Gras verdorrt, die Weiden des Rußbaches waren laͤngſt entblaͤttert und zum Theil entrindet, auf der endloſen Ebene zeigte ſich nirgends ein Schatten, nur dunkle Staubwolken, von Stoßwinden ploͤtzlich herangefuͤhrt, verhuͤllten augenblick¬ lich den Sonnenhimmel, und uͤberſchuͤtteten alles mit heißem Sandregen. Man mußte das Exerciren ein¬ ſtellen, und verkroch ſich in die Erdhuͤtten. Der beſte Wille der Kriegskameraden brachte doch nur eine trau¬ rige Unterhaltung zuwege. Geſichtspunkte und Antriebe, die wir Norddeutſchen fuͤr dieſen Krieg hatten, waren hier groͤßtentheils fremd; man ſah in dem Kriegshand¬ werk ein erwaͤhltes Fach, deſſen Vortheile man geltend machte, man rechnete die zu hoffenden Befoͤrderungen aus, man ruͤhmte das Garniſonleben in Prag. Der Oberſt allein kannte Gentz und wußte von Friedrich Schlegel, den Andern waren dies unbekannte, bedeu¬ tungsloſe Namen. Das Regiment war uͤberdies ein boͤhmiſches, und die meiſten Soldaten ſprachen nur dieſe Sprache. Begeiſterung und Poeſie mußten hier voͤllig erloͤſchen; auch ſelbſt die der Gefahr fehlten fuͤr jetzt; weit und breit fiel kein Schuß, alles war in tiefſter Ruhe. Man zweifelte, daß noch eine bedeutende Waf¬ fenentſcheidung vorfallen wuͤrde; man ſprach vom nahen199 Frieden, und wuͤnſchte ihn. Daß unterhandelt wurde, ſtand außer Zweifel; franzoͤſiſche Beauftragte waren wiederholt in Wagram geſehen worden, ſelbſt ſeinen Vertrauten Duroc wollte man von dem Kaiſer Napo¬ leon mit Vorſchlaͤgen an den Erzherzog Generaliſſimus abgeſchickt wiſſen. Ich konnte die Niedergeſchlagenheit, die ich hievon empfand, nicht verhehlen; in meinem Unmuthe muß ich mich ganz verzweiflungsvoll, und den Wunſch, wieder fortzugehn, ſehr heftig ausgedruͤckt haben, denn der Hauptmann von Marais eroͤffnete mir mit großer Theilnahme, wenn dies mein Ernſt ſei, ſo koͤnne mir vielleicht noch geholfen werden, er zweifle, daß ich hoͤheren Ortes ſchon gemeldet ſei, und ſo koͤnne der Oberſt wahrſcheinlich noch ohne fremdes Zuthun mich entlaſſen. Mir fuhr der Gedanke durch den Kopf, zu dem Herzoge von Braunſchweig-Oels zu gehen, von deſſen Unternehmungen die Rede war, oder zu dem Major von Noſtitz, des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen geweſenem Adjutanten, der an der Graͤnze von Franken eine Freiſchaar ſammelte; von dieſen Beiden ſagte man laut, ſie wuͤrden keinen Frieden machen, ſondern lieber wie Schill auf eigne Hand zu Grunde gehen. Es war aber zu ſpaͤt; bereits in die Liſten eingetragen, haͤtte ich ein foͤrmliches Abſchiedsgeſuch einreichen muͤſſen, was waͤhrend der Kriegszeit unthun¬ lich war. Der Oberſt, dem ich meine Unruhe nur im Allgemeinen, nicht aber in ihren beſondern Gruͤnden200 zeigen mochte, wußte nicht, was er von mir denken ſollte; uͤber die Waffenruhe und den Friedensanſchein aber, die ich verwuͤnſchte, ſuchte er mich zu troͤſten, und meinte, mit jedem Tage koͤnne ſich das aͤndern, woruͤber niemand froher ſein wuͤrde, als er ſelbſt. Ich blieb alſo einſtweilen wo ich war.

Die ſchlimmſte Pruͤfung war in der That ſchon uͤberſtanden. Nach einem heißen, langweiligen, ver¬ zehrenden Tag, der nur eben ſolchen wieder erwarten ließ, erſcholl am 30. Juni Abends ploͤtzlich von der Donau her Kanonendonner, dem Gemuͤth eine labende Erfriſchung! Eine Parthei Franzoſen, ſo vernahm man bald, waren von der Lobau mittelſt Kaͤhnen auf eine kleine Aue, die Muͤhleninſel genannt, uͤbergegangen, die ſich nur noch durch einen ſchmalen Arm von dem linken Donauufer ſcheidet; ſie legten eine Bruͤcke auf dieſes Ufer heruͤber und beſchuͤtzten dieſelbe durch einen kleinen Vorwall; unſre Batterien bei Eßlingen wollten dem Feinde dieſe Ausbreitung nicht geſtatten, und ſeine naͤchſten Kanonen auf der Lobau feuerten nun eben¬ falls. Die Unterhandlungen, hieß es, ſeien abgebro¬ chen, der Kaiſer Napoleon habe ſeine Truppen zuſam¬ mengezogen, um neuerdings mit ganzer Macht uͤber¬ zugehen und eine Schlacht zu liefern. Die Beharrlich¬ keit des Erzherzogs Generaliſſimus in ſeiner Stellung mußte ſich hiedurch gerechtfertigt zeigen, da der Feind keine beſſere Gegend fuͤr ſeinen Verſuch wußte, als201 dieſe gegen ihn vorbereitete und vertheidigte. Mit ein¬ brechender Nacht ſahen wir in der vor uns liegenden Ebene die Alarmſtangen brennen, und das ganze Lager gerieth in Bewegung. Der Kanonendonner verſtummte zwar nach einiger Zeit, allein um 1 Uhr nachts erhiel¬ ten die auf der Anhoͤhe bei Wagram lagernden Regi¬ menter den Befehl, in der Stille anzutreten, und ruͤckten ſchweigend etwa anderthalb Stunden gegen die Donau hinab; der erſte, zweite und dritte Heertheil lagerten daſelbſt zwiſchen Breitenlee und Stadt-Enzers¬ dorf, der vierte Heertheil ſtellte ſich bei Wittau, die Reiterei bei Rasdorf; jeden Augenblick erwarteten wir, daß der Feind angreifen wuͤrde; das Kanoniren erneuerte ſich von Zeit zu Zeit; allein die Franzoſen ruͤckten nicht vor, ſondern begnuͤgten ſich, ihre begonnene Bruͤcken¬ ſchanze zu vollenden. Der Erzherzog begab ſich zuerſt nach Rasdorf, ſodann nach Stadt-Enzersdorf, und beſtieg den dortigen Thurm, um die Anſtalten des Feindes zu uͤberſchauen, darauf nahm er ſein Hauptquartier in Breitenlee. Indeß mußte bald klar werden, daß die Anſtalten an dieſer Stelle fuͤr einen ernſtlichen Ueber¬ gang zu unbedeutend blieben; es war offenbar, daß der Feind hier nur die Aufmerkſamkeit beſchaͤftigen wolle, und daß er ſeinen wahren Uebergang entweder ober¬ halb bei Nußdorf, oder unterhalb in der Gegend von Ort vorhabe, wobei das oͤſterreichiſche Heer in ſeiner jetzigen Stellung ſogleich die rechte oder linke Flanke202 bloßgeben wuͤrde; daher ſchien es vortheilhafter, bei der Ungewißheit, welchen Punkt der Feind waͤhlen werde, die ruͤckwaͤrtige Stellung wieder einzunehmen, aus wel¬ cher man frei und leicht nach jeder noͤthigen Richtung hervorbrechen koͤnne. Dieſem Rathſchluſſe zufolge erhiel¬ ten wir am 3. Juli mittags unvermuthet Befehl, wie¬ der in unſre vorige Stellung bei Wagram zuruͤckzu¬ kehren. Dieſer Vor - und Ruͤckmarſch iſt in dem oͤſter¬ reichiſchen Bericht unerwaͤhnt geblieben, und doch war die Vorwaͤrtsbewegung nicht gleichguͤltig; ſie erlegte dem Feinde gleichſam eine Schlacht in aͤhnlichen Ver¬ haͤltniſſen wie die von Aſpern auf, waͤhrend unſer Ruͤck¬ marſch ihm ſtatt jener Enge die erwuͤnſchtere Ausdeh¬ nung freigab, in welcher die Schlacht von Wagram moͤglich wurde. Da dieſe verloren ging, ſo konnte man nachher bedauern, zu ihrer Entwickelung den Raum gegeben zu haben, den man, wie es ſchien, gleich anfangs verſagen, wenigſtens mit Vortheil ſtreitig machen konnte, wenn man naͤher an der Donau den Kampf aufnahm.

Der Anſchein, als ſolle das Leben der vorigen Tage, ohne andern Inhalt als Sonnenbrand und Staubwolken, auf's Neue fortgehen, dauerte diesmal nicht lange. Von den Abſichten des Feindes hatte man keine zuverlaͤſſige Kenntniß, nur unſichere Vermuthun¬ gen, doch deuteten alle ſeine Anſtalten auf irgend ein großes Unternehmen. Die Befeſtigungen der Lobau,203 die Herſtellung und Sicherung der Hauptbruͤcken uͤber den großen Arm der Donau, die Anlegung vieler Ver¬ bindungsbruͤcken zwiſchen der großen und den kleinern Inſeln, die fortgeſetzte Arbeit an Zimmerwerk und Schiffen, die Inſtandſetzung der Wege auf der Lobau, die Anfuhr von Geſchuͤtz und Pulverwagen, alles dies konnte nicht verborgen bleiben, am entſcheidendſten aber waren die Bewegungen der Truppen, die von der obern und untern Donau ſich hierherzogen; unter andern ſah man vom Biſamberge aus am 2. Juli das ſoge¬ nannte italiaͤniſche Heer in jener Richtung anruͤcken. Der Erzherzog Generaliſſimus beſchloß, das Unter¬ nehmen des Feindes zu zerruͤtten, dem Hauptangriffe zuvorzukommen, und ihm den Ruͤckhalt zu verderben, den die Lobau darbot. Die oͤſterreichiſchen Abtheilungen an der obern Donau hatten Befehl erhalten, den Feind lebhaft zu beunruhigen; desgleichen der Erzherzog Johann, mit ſeiner Hauptſtaͤrke aus dem Bruͤckenkopfe von Pre߬ burg auf das rechte Ufer der Donau hervorzubrechen; jetzt wurde dieſem am 4. Juli um 7 Uhr Abends der Befehl geſandt, ſeine Truppen wieder auf das linke Ufer heruͤberzuziehen, und zugleich bis Marcheck vorzu¬ ruͤcken, um fuͤr den Fall einer Schlacht auf die rechte Flanke des Feindes wirken zu koͤnnen. Auch bei uns war ein kraͤftiges Eingreifen angeordnet. Am 4. Juli abends erhielten wir die Weiſung, wenn in der Nacht kanonirt wuͤrde, bis Tagesanbruch in Ruhe zu bleiben,204 dann aber marſchfertig zu ſein. Wirklich begann, ſo¬ bald es dunkel geworden, vor uns an der Donau ein heftiges Geſchuͤtzfeuer, der Himmel leuchtete immerfort von den Blitzen der Kanonen, von den Wurfbahnen der Bomben und Granaten; faſt zwei Stunden dauerte der Wetteifer von beiden Seiten, denn die Franzoſen hatten faſt gleichzeitig auch ihren Angriff unternommen, und waͤhrend wir ihre Werke auf der Lobau zu zer¬ ſtoͤren dachten, die Zerſtoͤrung der unſrigen und die Einaͤſcherung von Stadt-Enzersdorf vorbereitet. Das oͤſterreichiſche Geſchuͤtz vermochte wenig gegen die ſtarken Werke der Lobau; die franzoͤſiſche Mannſchaft auf der Muͤhlau, welche als vermuthlicher Uebergangspunkt am heftigſten beſchoſſen wurde, legte ſich nieder und litt nicht viel, Dagegen zeigte ſich die Wirkung des feind¬ lichen Angriffs bald nachtheilig; in ſeinem Zwecke lag zuſammenhaͤngendere Abſicht und ſtaͤrkerer Nachdruck; ſein Geſchuͤtz war zahlreicher und wirkſamer; in kurzer Zeit ſtand Stadt-Enzersdorf in Flammen, und unſre Batterien ſtrebten fruchtlos gegen die feindliche Ueber¬ macht. Nachdem die Gegend eine Zeit lang durch den Brand der kleinen Stadt erhellt geweſen, verdunkelte ſich der Himmel mit ſchwarzen Gewitterwolken, der Regen ſtroͤmte nieder, die Flammen minderten ſich, das Geſchuͤtz feuerte ſeltner und verſtummte zuletzt voͤllig. Ein furchtbares Sturmgewitter, wie niemand ein aͤhn¬ liches erlebt zu haben meinte, wuͤthete nun uͤber das205 weite Marchfeld, das von dem Gekrach des Donners erbebte, und im Brauſen der Regenfluthen und dem Geheul des Windes ſo ertoſte, daß daneben auch das Geſchuͤtz haͤtte verhallen muͤſſen.

Den Feind, deſſen Vorſatz feſt und reif und deſſen Huͤlfsmittel bereit waren, mußte dieſe Sturmnacht aͤußerſt beguͤnſtigen. Er hatte die neben der Lobau ſtromabwaͤrts auf dem linken Ufer uͤber Muͤhlleithen und Wittau ſich erſtreckende Flaͤche zum erſten Antritt ſeines Ueberganges erſehen, wo ſeine Truppen unge¬ hindert Fuß faſſen und im Angeſichte des Brandes von Stadt-Enzersdorf ſich rechtshin ungehindert entwickeln konnten. Dieſe Richtung hatte man oͤſterreichiſcherſeits am wenigſten moͤglich erachtet; ſie war kuͤhn und gefahrvoll, beſonders wenn der vierte oͤſterreichiſche Heertheil bei Wittau ſtehen blieb, oder ſogleich wieder dorthin vorruͤckte; es gehoͤrte zu ihrem Erfolge die ganze Meiſterſchaft der gruͤndlichen Anordnungen und zutreffenden Berechnungen Napoleon's, die ſichere Aus¬ fuͤhrung aller ſeiner Befehle durch eben ſo ſtrenge als geſchickte Werkzeuge, die Schnelligkeit und Kraft, welche dadurch ſeinen Bewegungen verliehen war. Er rechnete darauf, den bedenklichen Augenblick ſchon uͤberſtanden zu haben, bevor der Gegner ihn benutzen koͤnnte. Schon um zehn Uhr Abends ließ der General Oudinot 1500 Voltigeurs unter der Anfuͤhrung des Generals Conroux uͤberſetzen; ſie wurden von dem Oberſten Baſte206 mit 10 Kanonierſchaluppen begleitet, deren Feuer die

Landung beſchuͤtzte. Die oͤſterreichiſchen Vorpoſten zogen ſich aus den Schanzen, welche ſie hier aufgeworfen und mit einigen Feldſtuͤcken beſetzt hatten, ohne Verluſt zuruͤck, und der Feind konnte ſich vor Muͤhlleithen auf der Schuſterwieſe und dem Hanſelgrunde feſtſetzen. Gleichzeitig war der Oberſt Sainte-Croix, Adjutant des Marſchalls Maſſena, mit 2500 Mann uͤbergeſchifft und weiter abwaͤrts bei Schoͤnau gelandet. Hierauf wurden in der Eile 6 Bruͤcken geſchlagen, zu denen alle Ge¬ raͤthſchaft fertig gehalten war. In raſchem Laufe zog zuerſt das Fußvolk des Marſchalls Maſſena, nebenan deſſen Reiterei und Geſchuͤtz, auf das linke Ufer, weiter abwaͤrts die Truppen des Marſchalls Davouſt, des Generals Dudinot; ſtill und geordnet nahmen ſie ihre vorherbeſtimmten Stellungen. Um drei Uhr Morgens ſtanden mehr als 40,000 Mann zuſammengedraͤngt bei Muͤhlleithen, waͤhrend die uͤbrigen Truppen eiligſt nach¬ ruͤckten; erſt um Mittag trafen die letzten ein, waͤhrend die vorderſten ſchon im vollen Gefecht und Vormarſch waren. Die anfaͤngliche Schlachtordnung war folgende. Im erſten Treffen als linker Fluͤgel, zunaͤchſt der Donau, der vierte Heertheil, unter dem Marſchall Maſſena; als Mitte der zweite Heertheil, von dem General Dudinot befehligt; als rechter Fluͤgel, gegen Wittau, der dritte Heertheil, unter dem Marſchall Davouſt; hinter dieſem, als zweites Treffen, die Truppen des207 Marſchalls Bernadotte oder der neunte Heertheil, das italiaͤniſche Heer unter Anfuͤhrung des Vicekoͤnigs Eugen, und der eifte Heertheil des Marſchalls Marmont; als Schluß und Ruͤckhalt die Garden und die Kuͤraſſiere. Die ganze Streitmacht Napoleons betrug hier mehr als 160,000 Mann, worunter 15,000 Mann Reiterei nebſt 600 Kanonen. Uebergang und Aufſtellung waren mit bewundernswerther Schnelligkeit und Haltung im Sturm und Regen und bei groͤßter Dunkelheit be¬ gonnen, wie nachher im vollen Tagesglanze vollendet worden.

Die erſte Morgenfruͤhe des 5. Juli beleuchtete dieſes gelungene Ergebniß; der Sturm hatte ſich inzwiſchen gelegt, die Sonne verſprach einen heitern Tag, und nach vier Uhr erhob ſich mit erneuter Gewalt der Donner des Geſchuͤtzes. Neue Rauchſaͤulen ſtiegen aus Stadt-Enzersdorf empor, der Marſchall Maſſena ließ durch ſeine Adjutanten Sainte-Croix und Pelet den Ort wiederholt angreifen, den ein Bataillon des Regiments Bellegarde tapfer vertheidigte, aber der Oberſt Sainte - Eroix endlich wegnahm; eben ſo wurde das Schloß Sachſengang zwiſchen Muͤhlleithen und Wittau nach kurzem Widerſtand erobert. Ein Theil der oͤſterreichi¬ ſchen Vortruppen unter dem General von Nordmann bedrohte, uͤber Rutzendorf anruͤckend, noch einen Augen¬ blick die rechte Flanke der Franzoſen, aber der General Oudinot draͤngte ſie bald zuruͤck, und unaufhaltſam208 entfaltete ſich nun die Angriffslinie Napoleons, uͤberall durch zahlreiches vorangehendes Geſchuͤtz bezeichnet. Der Marſchall Davouſt draͤngte die oͤſterreichiſchen Vortruppen von Großhofen zuruͤck, und zog rechts von Rutzendorf gegen Markgrafen-Neuſiedel heran, ſeine aͤußerſte Rechte durch zwei Dragonerdiviſionen unter den Generalen Grouchy und Pully ſo wie durch eine Diviſion leichter Reiterei unter dem General Montbrun gedeckt; die Mitte unter dem Marſchall Bernadotte wandte ſich gegen Pysdorf und Rasdorf; der Marſchall Maſſena ruͤckte rechts gegen Breitenlee vor, links hielt er ſich an der Donau, und beſetzte, nach Maßgabe, daß ſie geraͤumt wurden, die oͤſterreichiſchen Verſchanzungen von Eßlingen und Aſpern. Dieſe Verſchanzungen, gegen die Lobau gerichtet, waren im Ruͤcken offen, und durch die Bewegung des Feindes jetzt uͤberfluͤgelt nicht mehr haltbar; ſie wurden nur langſam verlaſſen, und ſogar die ſchwerſten Geſchuͤtze ruhig mit fortgefuͤhrt.

Der Erzherzog Generaliſſimus hatte den raſchen und unter Beguͤnſtigung der ſtuͤrmiſchen Nacht ſo gluͤcklich gelungenen Uebergang nicht mehr hindern koͤnnen; die feindliche Staͤrke hatte nicht nur Fuß gefaßt, ſondern ſich auch ſchon betraͤchtlich ausgebreitet und zum ferneren Angriffe guͤnſtig geordnet; ihre ſaͤmmtlichen Heertheile waren in zuſammenhaͤngender Bewegung, uͤberall wech¬ ſelſeitiger Unterſtuͤtzung faͤhig und verſichert; die oͤſter¬ reichiſchen Heertheile aber ſtanden noch viel zu weit209 auseinander, als daß ſie dem ſo raſch entwickelten Feinde gleich mit gehoͤriger Macht haͤtten entgegenruͤcken und ihn gegen die Donau zuruͤckwerfen koͤnnen. Die Geſammtſtaͤrke der Oeſterreicher betrug nicht voll 100,000 Mann, nebſt 410 Stuͤck Feldgeſchuͤtz; die Truppen waren in nachfolgender Weiſe eingetheilt. Eine Vorhut von allen Waffen, unter dem Befehl des Feldmarſchalllieutenant von Nordmann hatte vorwaͤrts an der Donau geſtanden, weiter hinauf lehnte ſich an den Strom rechts der ſechſte Heertheil unter dem Feld¬ marſchalllieutenant Grafen von Klenau, welcher den Freiherrn von Hiller, mit dem der Oberfeldherr unzu¬ frieden war, in dieſer Befehlfuͤhrung abgeloͤſt hatte; weiter zuruͤck hielt der fuͤnfte Heertheil unter dem Feld¬ zeugmeiſter Fuͤrſten von Reuß-Plauen die Umgegend des Biſambergs beſetzt; dann folgte linkshin ruͤckwaͤrts der dritte Heertheil unter dem Feldzeugmeiſter Grafen von Kolowrat bei Hagenbrunn, hierauf die von ſaͤmmt¬ lichen Regimentern zuſammengezogenen Grenadiere unter dem Feldmarſchalllieutenant von Prochaska bei Saͤuring, und bei Breitenlee die Maſſe der Reiterei unter dem General der Reiterei Fuͤrſten von Liechtenſtein; ferner bei Wagram der erſte Heertheil unter dem General der Reiterei Grafen von Bellegarde, und in derſelben Rich¬ tung angeſchloſſen bei Baumersdorf, der zweite Heer¬ theil unter dem Feldmarſchalllieutenant Fuͤrſten von Hohenzollern, und der vierte Heertheil bei Markgrafen¬II. 14210Neuſiedel unter dem Feldmarſchalllieutenant Fuͤrſten von Roſenberg. Es waͤren daher zu jenem Zwecke nur die drei Heertheile hinter dem Rußbach nebſt der Reiterei zur Hand geweſen, die Grenadiere nicht ſogleich, und die beiden Heertheile am Biſamberge ſtanden noch faſt zwei Meilen entfernt. Unter dieſen Umſtaͤnden ſah ſich der Erzherzog Generaliſſimus genoͤthigt, die Schlacht nicht an der Donau, ſondern erſt weiter ruͤckwaͤrts anzunehmen, die Zeit des Anruͤckens der Franzoſen zur Zuſammenziehung ſeiner Kraͤfte zu verwenden, und in der vortheilhaften Stellung, die er zwiſchen Samers¬ dorf und Markgrafen-Neuſiedel einnahm, den erſten Stoß abzuwehren, dann aber mit aller Staͤrke ſelbſt anzugreifen, ſich vorzugsweiſe auf den linken Fluͤgel des Feindes zu werfen, ihn von ſeiner Bruͤckenverbin¬ dung abzudraͤngen, und durch das unerwartete Ein¬ treffen des Erzherzogs Johann in der rechten Flanke und im Ruͤcken des Feindes den Hauptſchlag zu thun. In dieſem Sinne traf er alle Anordnungen. Die Vor¬ truppen hatten den Befehl, ſo wie auch die laͤngs der Donau vorgeſchobenen Abtheilungen des ſechſten Heer¬ theils, ſich fechtend zuruͤckzuziehen, und ſich, jene dem linken Fluͤgel, dieſe dem rechten der Hauptſtellung an¬ zuſchließen. Der vierte Heertheil und die Grenadiere wurden aus ihrer zu großen Entfernung naͤher heran¬ gezogen, um hierdurch den weiten Halbkreis, welchen das Heer bildete, enger zuſammenzuziehen. Die an die211 obere Donau bei Krems und Linz entſendeten Truppen waren zu fern, und in jenen Gegenden, beſonders wenn der Feind eine Niederlage erlitt, zu wichtig, um auch ſie herbeizurufen; dagegen wurde dem Erzherzog Johann am 5. Juli fruͤh Morgens nach Preßburg ein neuer Befehl geſandt, mit allen dortigen Truppen unge¬ ſaͤumt aufzubrechen, uͤber Marcheck heran zu marſchiren, und in Gemeinſchaft mit dem linken Fluͤgel des Heeres an der Schlacht Theil zu nehmen. Derſelbe Befehl wurde gleich darauf nochmals wiederholt, weil die Be¬ ſorgniß, daß der linke Fluͤgel des Heeres, der keinen rechten Stuͤtzpunkt hatte und ſeitwaͤrts blosgegeben war, bis zur entſcheidenden Stunde einen ſchweren Stand haben koͤnnte, das Herbeikommen friſcher Truppen auf dieſer Seite noch beſonders zu beſchleunigen fand. Der am 4. Juli Abends nach Preßburg abgeſandte Kourier war am 5. fruͤh dort eingetroffen, die folgenden kamen ebenfalls ungehindert an; aus den zuruͤckkehrenden Nach¬ richten ergab ſich, daß zwar am ſelbigen Tage jene Truppen nicht mehr zu erwarten ſeien, daß aber ihrer Ankunft fruͤh am 6. auf dem Schlachtfelde kein Hin¬ derniß entgegenſtehe. Bis dahin jedoch ſchien der Kampf ſich leicht und gewiß ausdehnen und ſchwebend erhalten zu muͤſſen, da ſo große Kraͤfte in ſo weiten Raͤumen ſich auszutoben hatten.

Zur naͤheren Beobachtung des Feindes war ein Theil der Reiterei des Fuͤrſten von Liechtenſtein von Breitenlee14 212gegen Rasdorf und Pysdorf vorgeruͤckt, wo ſie gegen Mittag ein lebhaftes Gefecht mit dem uͤber Rutzendorf andringenden Heertheil des Marſchalls Bernadotte beſtand, und die ſaͤchſiſche Reiterei deſſelben mehrmals zuruͤck¬ warf; in dieſem Begegnen fuͤgte es der Zufall, daß auch zwei Regimenter auf einander trafen, oͤſterreichiſche Kuͤraſſiere und ſaͤchſiſche Dragoner, welche beide von demſelben Inhaber, dem Herzoge Albert von Sachſen - Teſchen, den Namen fuͤhrten. Die oͤſterreichiſche Reiterei behauptete eine Zeit lang das Feld, mußte dann aber dem zahlreich entwickelten Fußvolk und Geſchuͤtz weichen. Sein Hauptabſehen hatte der Kaiſer Napoleon auf die Stellung von Wagram ſelbſt und auf den linken Fluͤgel der Oeſterreicher gerichtet, deſſen aͤußerſte Spitze durch einen alten viereckten Thurm bei Markgrafen-Neuſiedel bezeichnet wurde. Oeſterreichiſcherſeits erkannte man die Richtung ſehr wohl, beſetzte die Anhoͤhe jenes Thurms mit einer Batterie, und wollte ſogar in der Eile noch Schanzen aufwerfen. Aber der Anmarſch des Feindes ließ wenig Zeit zu neuen Vorkehrungen. Nachmittags hatte Napoleons rechter Fluͤgel Glinzendorf erreicht; ſeine Mitte ſtand in Rasdorf; am wenigſten war der linke Fluͤgel vorgedrungen, er hielt nur Aſpern beſetzt. Immer ſtaͤrkere Batterien fuhren auf, immer groͤßere Truppenmaſſen kamen in's Gefecht, die ganze Linie ſtand im Feuer und ruͤckte immer vor. Wir hatten von unſrer hoͤheren Stellung bisher den Bewegungen213 und Kaͤmpfen vor uns wie einem Schauſpiele zugeſehen, jetzt ruͤckte der Kampf naͤher heran, die Luft uͤber uns ſauſte von Kanonenkugeln, die man uns verſchwenderiſch zuſchickte, und bald krachten antwortend auch unſre Batterien. Das Fußvolk erhielt Befehl, ſich auf die Erde niederzulegen, und die feindlichen Kugeln trafen anfangs wenig, da jedoch der Feind unaufhoͤrlich vor¬ ruͤckte, ſo ſtellten die Regimenter ſich alsbald in’s Gewehr. Der Erzherzog Generaliſſimus ſprengte mit ſeinem Stabe voruͤber und hielt dann vor unſrer Fronte; er theilte Befehle aus, blickte in die Ebne nieder, wo die feind¬ liche Linie ſtets naͤher ruͤckte, man ſah es ihm an, daß er Gefahr und Tod nicht achtete, daß er ganz in ſeinem Beruf als Feldherr lebte; der Entſcheidungskampf ſchien ſeinem ganzen Weſen ein nachdruͤcklicheres Anſehen zu verleihen, eine hoͤhere Spannung voll freudigen Muthes, den er auch rings um ſich her einfloͤßte; die Soldaten blickten auf ihn mit Stolz und Zuverſicht, manche Stimme begruͤßte ihn. Nachdem er weiter gegen Bau¬ mersdorf geritten war, kam einer ſeiner Adjutanten raſch zuruͤck, und rief: Freiwillige vor! Sogleich war faſt die ganze Kompagnie des Hauptmanns von Marais bereit; wir dachten, es gelte die naͤchſte Batterie des Feindes zu ſtuͤrmen, welche durch die vorliegenden Kornfelder herannahte, und jauchzend mit lautem Geſchrei eilten wir den Abhang hinab; da kam ein zweiter Adju¬ tant mit dem Befehl, wir ſollten nur den Rußbach214 beſetzen, dort den Uebergang vertheidigen, aber nicht eher feuern, als bis der Feind ganz nahe ſei. In Plaͤnkler aufgeloͤſt, hinter Weidenſtaͤmmen und hohem Korn, harrten wir ſchußfertig, gegen die Kanonenkugeln gedeckt, aber durch Flintenſchuͤſſe und Haubitzgranaten getroffen, die der Feind zahlreich auf unſre Gegend richtete. Ueber eine Stunde weilten wir hier, unter dem unaufhoͤrlichen Krachen des Geſchuͤtzes, das uͤber uns hinwegſchoß; leider mußten wir bald bemerken, daß das feindliche die Uebermacht der Zahl hatte und wenigſtens doppelt ſo viele Schuͤſſe lieferte, als das unſre, welches doch weit beſſere Bedienung hatte, um ſo mehr aber bewunderten wir den thaͤtigen Eifer und die wackre Ausdauer, durch welche der ungleiche Kampf dennoch unterhalten wurde. Da unſer Geſchuͤtz batterie¬ weiſe vereinigt ſtand, ſo konnte der Feind ſich ihm leichter entziehen, dagegen das ſeinige laͤngs der ganzen Linie auf allen Punkten wie ausgeſaͤet war, und gleich¬ ſam anſtatt der Plaͤnkler uͤberall das Gefecht eroͤffnete. Gegen Baumersdorf allein hatte der General Oudinot 40 Kanonen vereinigt, und wiederholt war ſein Fu߬ volk, die Diviſionen Grandjean und Tharreau, in den brennenden Ort eingedrungen, aber von dem tapfern General Grafen Ignaz von Hardegg immer wieder zuruͤckgeſchlagen worden.

Der Kaiſer Napoleon indeß ſah mit Ungeduld den Tag unentſchieden hingehen, er glaubte den Hauptſchlag215 noch heute ausfuͤhren zu koͤnnen, und wollte nicht um¬ ſonſt ſein Uebergewicht hierher gewendet haben. Raſch ordnete er ſeine Truppen zum Sturm. Der Marſchall Bernadotte erhielt Befehl, uͤber Atterkla gegen Wagram vorzudringen, und durch Wegnahme dieſes Ortes die Mitte der oͤſterreichiſchen Linie zu ſprengen. Zwei gedraͤngte Sturmſchaaren ſollten zu gleicher Zeit rechts und links von Baumersdorf uͤber den Rußbach dringen, die Hoͤhen der oͤſterreichiſchen Stellung erſteigen und die dortigen Truppen aufrollen. Feindliches Fußvolk war mittlerweile ſchon dicht an unſre Stellung heran¬ gekommen; die Plaͤnkler wurden vom Rußbach zuruͤck¬ gerufen und traten in die Linie wieder ein, laͤngs deren ganzer Ausdehnung ſich nun ein furchtbares Gewehr¬ feuer entſpann. Dieſer ungeheure Laͤrm des immerfort erneuten Losknallens und noch weit mehr des unend¬ lichen Eiſengeraͤuſches bei Handhabung von mehr als zwanzigtauſend Flinten in ſolcher Naͤhe und Enge, war eigentlich der einzige neue und wunderbare Eindruck, der mir in dieſen erſten Kriegsauftritten, die ich erlebte, zu Theil wurde; alles andre war theils meiner voraus¬ gefaßten Vorſtellung gemaͤß, theils ſogar unter ihr; alles aber, auch der Donner des zahlreichſten Geſchuͤtzes duͤnkte mich gering gegen das Sturmgetoͤſe des ſoge¬ nannten Kleingewehrs, dieſer Waffe, durch welche gewoͤhnlich auch unſre neueren Schlachten zumeiſt moͤr¬ deriſch werden. Indem dieſes Feuer eine Weile lebhaft216 anhielt, und der Erzherzog Generaliſſimus nach Wagram ſprengte, weil auch dort das Schießen zunahm, hieß es ploͤtzlich, feindliche Reiterei breche auf dem linken Fluͤgel hervor. Es war nicht Reiterei, ſondern Fußvolk, welches auf die Hoͤhen ſtuͤrmend andrang. Der Brand von Baumersdorf und der Pulverdampf des Geſchuͤtz - und Gewehrfeuers beguͤnſtigte den Ueberfall. Ein Schwarm von Plaͤnklern, in wilder Unordnung und mit Geſchrei anlaufend, brach zuerſt die Bahn. Hierauf ging rechts von Baumersdorf ein Theil der franzoͤſiſchen Garden unbemerkt uͤber den Rußbach, ſie erſchienen ploͤtzlich auf der Hoͤhe und ſtuͤrmten gegen den linken Fluͤgel des Heertheils von Hohenzollern, wo jedoch der General Bureſch an der Spitze der Regimenter Zach und Joſeph Colloredo ſie mit Entſchoſſenheit empfing, und der Fuͤrſt von Hohenzollern das Chevauxlegers¬ regiment Vincent gegen ſie anfuͤhrte. In dem Gefolge dieſes tapfern Generals muͤſſen wir den damals neun¬ zehnjaͤhrigen Huſarenlieutenant Joſeph von Zedlitz anmer¬ ken, der ſchon im Laufe des Krieges durch Tapferkeit ſich ausgezeichnet hatte, ſpaͤterhin als Dichter beruͤhmt wurde. Durch das Gewehrfeuer des ſtandhaften Fu߬ volks erſchuͤttert, durch das ungeſtuͤme Einhauen der Reiter uͤbereinander geworfen, war der Feind ſchnell genoͤthigt, uͤber den Rußbach zuruͤckzuweichen; der Gene¬ ral Graf Ignaz von Hardegg brach nun aus Baumers¬ dorf hervor, fiel auf die Fliehenden und trieb ſie mit217 großem Verluſt weit in die Ebene gegen Rasdorf. Der links von Baumersdorf uͤber den Rußbach gedrungene Feind, zwei Diviſionen, gefuͤhrt von den Generalen Macdonald und Lamarque, denen zwei andre Diviſionen, vom General Grenier befehligt, unter des Vicekoͤnigs Eugen eigner Anfuͤhrung nachruͤckten, benutzte eine Schlucht, welche ſie ſchnell auf die Hoͤhe und grade auf den Zwiſchenraum des erſten und zweiten Heer¬ theils fuͤhrte; ſie warfen ſich gegen den Fluͤgel des erſteren, und begannen denſelben aufzurollen. Der franzoͤſiſche General Dupas fuͤhrte den Angriff mit aller Kraft; es erhob ſich ein ſcharfer Kampf, man wechſelte Gewehr¬ feuer in groͤßter Naͤhe, man erhob die Kolben und und legte das Bajonet ein. Der feindliche Stoß auf unſern linken Fluͤgel war jedoch zu heftig, als daß die ſchwache Linie haͤtte widerſtehen koͤnnen, ſie wurde ge¬ ſprengt, die aͤußerſten Enden ſchlugen ſich in Haken um, und die Regimenter Argenteau, Vogelſang und ein Theil von Erzherzog Rainer ſahen ſich auf das zweite Treffen zuruͤckgeworfen. Im erſten Anſtuͤrmen des Feindes traf mich ein Schuß durch den Oberſchenkel, und ich konnte von nun an nur muͤßiger Zeuge der ferneren Vorgaͤnge ſein, welche das Schlachtfeld darbot. Die Verwirrung war eine Zeit lang ſehr groß, und konnte ſchlimme Folgen haben. Der Erzherzog Gene¬ raliſſimus, begleitet von ſeinen Gehuͤlfen, den Generalen Graf von Gruͤnne und Freiherrn von Wimpfen, eilte218 ſelbſt herbei, rief und ordnete die Truppen, und fuͤhrte ſie perſoͤnlich gegen den Feind wieder vor; der General Graf von Bellegarde bewies denſelben Eifer; der Oberſt Graf zu Bentheim ergriff eine Fahne des von ihm befehligten Regiments Vogelſang, ermuthigte durch Ruf und Beiſpiel die Truppen, und gewann mit ihnen im Sturmſchritt den verlorenen Boden wieder; zugleich eilte aus dem zweiten Treffen das Regiment Erbach, von dem Major von Fromm angefuͤhrt, in Diviſionsmaſſen heran und warf die Stuͤrmenden zuruͤck; der Fuͤrſt von Hohenzollern, mit ſeinen tapfern Chevauxlegers von dem ſiegreichen Einhauen wiederkehrend und dieſe zweite Abtheilung des Feindes wahrnehmend, ſaͤumte nicht, auch dieſe anzugreifen, und waͤhrend ſie unter den Saͤbel¬ ſtreichen blutete, richtete zugleich der Oberlieutenant Loͤffler eine halbe Batterie mit Kartaͤtſchenſchuͤſſen in die Flanke der Fluͤchtigen. So von allen Seiten und von allen Waffen gedraͤngt und zerſchmettert, erleiden die Franzoſen ungeheuern Verluſt; ſie ſind ohne Geſchuͤtz, weil daſſelbe nicht uͤber den Rußbach hatte folgen koͤnnen; ihre Reiterei, vom General Sahuc befehligt, nach großen Schwierigkeiten endlich kuͤhn hinuͤberdringend, will zwar die Sachen aufnehmen, aber auch ſie wird von dem Fuͤrſten von Hohenzollern, der zu den Chevauxlegers von Vincent noch 4 Schwadronen Huſaren von Heſſen - Homburg heranzieht, voͤllig niedergerannt, und nur Truͤmmer retten ſich. Ueberall, wo der Kampf am219 heißeſten, ſah man den Erzherzog Generaliſſimus voran; der Hauptmann von Weitenfeld vom Regimente Vogel¬ ſang hieb einen Franzoſen nieder, der eben auf den Erzherzog ganz nah ſein Gewehr abſchießen wollte; ein franzoͤſiſcher Offizier, der in der Verwirrung noch einen guten Fang zu machen dachte, wurde zuſammengeſchoſſen, als er ſchon dem Erzherzoge zurief, er ſolle ſich erge¬ ben; der Erzherzog bekam einen Streifſchuß, ungeachtet deſſen er zu Pferde blieb und ſeine Aufmerkſamkeit auf ſein Feldherrnamt keinen Augenblick unterbrach. Der damalige Prinz von Oranien, jetzige Koͤnig der Nieder¬ lande, der im oͤſterreichiſchen Heere als General diente, hatte ſchnell hintereinander zwei Pferde unter dem Leibe verloren. Auf beiden Seiten war großer Verluſt an Todten und Verwundeten. Die Oeſterreicher, als zuletzt im Vortheil, machten viele Gefangene, unter ihnen einen General und mehrere Stabsoffiziere. Eine Fahne wurde vom vierten Legionsbataillon erobert; eine des Regi¬ ments Argenteau ging verloren, weil der Fahnentraͤger niedergehauen war; dagegen riß, dieſen Schimpf zu raͤchen, der Oberlieutenant Tittmayer deſſelben Regiments einen franzoͤſiſchen Adler aus Feindesreihen. Der Erz¬ herzog Generaliſſimus verlieh auf der Stelle, nach der ihm zuſtehenden Befugniß, mehrere Belohnungen fuͤr tapfre Thaten, unter andern dem Regiment Erbach das Vorrecht, den Grenadiermarſch zu ſchlagen.

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Inzwiſchen hatte auch der Marſchall Davouſt mit einem Theile ſeiner Truppen bei Markgrafen-Neuſiedel den Rußbach uͤberſchritten, und waͤhrend er die oͤſterrei¬ chiſche Stellung aus 40 Kanonen in der Front mit groͤßtem Nachdruck beſchoß, griffen die beiden Diviſionen Morand und Friant auf dem linken Ufer des Rußbachs den Ort heftig an, waͤhrend die leichte Reiterei des Generals Montbrun die linke Flanke der Oeſterreicher zu gewinnen ſuchte. Alle dieſe Angriffe wurden durch den Fuͤrſten von Roſenberg muthig abgeſchlagen, und mit einbrechender Nacht mußten die Franzoſen uͤber den Rußbach zuruͤckweichen; ſie lagerten hinter Glinzendorf.

Etwas ſpaͤter, als dieſe geſcheiterten Angriffe, kam der gegen Wagram gerichtete zur Ausfuͤhrung. Der Marſchall Bernadotte fuͤhrte die Sachſen gegen dieſen Ort, welchen der Oberſt von Oberndorf mit dem Regi¬ mente Reuß-Plauen heldenmuͤthig vertheidigte; nachdem dieſer verwundet worden, drang der Feind auf kurze Zeit durch den Eingang von Atterkla her in die Mitte des Dorfes ein, wurde jedoch durch zwei Bataillone, die von beiden Seiten anruͤckten, in ein moͤrderiſches Kreuzfeuer genommen und mit großem Verluſt an Tod¬ ten, Verwundeten und Gefangenen hinausgeſchlagen. Die Dunkelheit hemmte jede weitere Unternehmung, manches brennende Dorf jedoch beleuchtete hin und wieder die Gegend; ganz in unſrer Naͤhe loderten hohe Flammen von Baumersdorf und Wagram auf; dieſer221 ſchauerliche Anblick und der freudige unſres Oberſten mit der Fahne in der Hand waren die letzten, die ich von dem Schlachtfelde mit mir nahm. Lange noch, waͤhrend ich mit andern Verwundeten langſam zuruͤck¬ gebracht wurde, flogen die Kanonenkugeln um uns her, bis tief in die Nacht hoͤrten wir den Geſchuͤtzdonner, allein er entfernte ſich mehr und mehr, und uns beglei¬ tete der Eindruck eines ſiegreichen Vorſchreitens. Wirk¬ lich war das hoͤchſt gewagte, aber großartige Unterfan¬ gen Napoleons, das noch unerſchuͤtterte Heer im erſten Anlaufe zu ſprengen, gaͤnzlich fehlgeſchlagen und in eine theilweiſe Niederlage ausgegangen. Er konnte ſeinen Verdruß und Grimm daruͤber nicht verhehlen, und beſchuldigte theils den uͤblen Zufall, daß Franzoſen und Sachſen aus Irrthum auf einander geſchoſſen haben ſollten, theils die Laͤſſigkeit des Marſchalls Bernadotte, dem er ohnehin ſchon grollte und den er in der Mei¬ nung herabſetzen mochte. Jedoch konnte er ſeinem Gluͤcke noch danken, welches zwar den raſchen Sieg ihm heute noch verſagte, aber auch groͤßeres Unheil ihm abwandte. Denn haͤtte der Erzherzog Generaliſſimus hier noch friſche Truppen in’s Gefecht bringen, oder uͤber eine zahlreichere Reiterei verfuͤgen und ſeinen Vortheil augen¬ blicklich mit Nachdruck verfolgen koͤnnen, ſo wuͤrde es um das franzoͤſiſche Heer ſchlecht ausgeſehen haben; die vier von der Hoͤhe zuruͤckgeſchlagenen Diviſionen warfen ſich auf die ruͤckwaͤrtsſtehenden, und riſſen ſie mit ſich222 fort, die ganze Linie war in groͤßter Verwirrung und wich waͤhrend der Nacht immerfort zuruͤck. Nur die kaiſerliche Garde ſtand bei Rasdorf unerſchuͤttert, und gab einen feſten Anhalt, um welchen ſich die Truppen wieder ſammelten. Die oͤſterreichiſchen Heertheile aber, welche noch nicht gefochten hatten, waren zu fern, auch ihren ſchon fruͤher feſtgeſetzten Beſtimmungen nicht ohne Gefahr zu entziehen; die geſammte Reiterei bei dem Heere betrug nicht uͤber 10,000 Mann, und von dieſen waren ſtarke Abtheilungen einzeln verwendet, andre ſchon den ganzen Tag im Gefecht geweſen. Die Nacht verfloß daher ohne weitere Unternehmung, und beide Theile benutzten ſie nur, um den Kampf am naͤchſten Tage mit geruͤſteten Kraͤften zu erneuern. Den Ver¬ folg dieſer Ereigniſſe, welche bisher aus unmittelbarem Anſchauen erzaͤhlt worden, liefern vielfache Nachrichten, denen eine ſichre Pruͤfung und zuverlaͤſſige Geſtalt um ſo leichter zu geben war, als fuͤr ſo engverknuͤpfte Be¬ gebenheiten jener Vortheil auch da, wo er eigentlich ſchon aufhoͤrt, noch gewiſſermaßen nachwirkt.

Diesmal ſcheint auf oͤſterreichiſcher Seite der Ueber¬ blick und Entſchluß, was nunmehr zu thun ſei, ſchneller und kraͤftiger gefaßt worden zu ſein, als auf franzoͤſi¬ ſcher, wo der unguͤnſtige Ausgang des letzten Gefechts in der Dunkelheit nur Ungewißheit und Schwanken erhielt. Der Kaiſer Napoleon begnuͤgte ſich waͤhrend der Nacht, ſeine Truppen bei Rasdorf zuſammenzuzie¬223 hen, um aus dieſer Mitte ſie leichter in jeder Richtung verwenden zu koͤnnen, und erſt mit Tagesanbruch ent¬ ſchied er ſich zu neuen Angriffsbewegungen. Der Erz¬ herzog Generaliſſimus aber ließ noch vor Mitternacht aus Wagram, wo er nach geloͤſchtem Brande in einem der geretteten Haͤuſer wiederum ſein Hauptquartier genommen, fuͤr die zu erneuernde Schlacht an ſaͤmmt¬ liche Befehlshaber folgende Anordnungen ergehen. Der rechte Fluͤgel, beſtehend aus dem ſechſten und dritten Heertheil und den Grenadieren, ſollte ſich auf den feindlichen linken werfen, und rechts an die Donau geſtuͤtzt in gleichlaufender Richtung mit dem Fluſſe von Stamersdorf gegen Breitenlee und Suͤßenbrunn vor¬ dringen, in der linken Flanke durch die Reiterei des Fuͤrſten von Liechtenſtein gedeckt. Mit dieſer Bewegung im Zuſammenhang beſtimmte ſich das Vorruͤcken der Mitte; der erſte Heertheil nach Atterkla, links an den Rußbach geſtuͤtzt, jedoch die Hoͤhe links von Wagram auch noch beſetzt haltend, welche Stellung gleichfalls dem zweiten Heertheil angewieſen blieb. Der linke Fluͤgel oder der vierte Heertheil erhielt den Auftrag, den feindlichen angreifend zu beſchaͤftigen, bis der Erzherzog Johann demſelben von Preßburg her in den Ruͤcken fiele. Der fuͤnfte Heertheil blieb als Ruͤckhalt in ſeinen Poſten an der obern Donau, wo der Feind gleichfalls Truppen zeigte, und von dem dritten Heertheil wurde eine Brigade nebſt einer Batterie auf der Hoͤhe von224 Stamersdorf aufgeſtellt. Der ſechſte und dritte Heer¬ theil ſollten um 1 Uhr aufbrechen, die Grenadiere um 3 Uhr, der erſte und vierte Heertheil um 4 Uhr. Die Stille wurde beſonders empfohlen und das unwirkſame Schießen auf zu große Entfernungen verboten. Die Schlachtordnung des Fußvolks waren Bataillonsmaſſen, mit Plaͤnklern voran. Dieſe Schlachtordnung hatte der Erzherzog Generaliſſimus bei dem Heere eingefuͤhrt, und ſie war in der Schlacht bei Aſpern durch den groͤ߬ ten Erfolg bewaͤhrt worden. Die Bataillone, jedes gewoͤhnlich zu ſechs Kompagnieen, ſtellten dieſe zu zwoͤlf bis achtzehn Gliedern Tiefe, und bildeten hiedurch gefuͤllte Vierecke, welche, in großen Zwiſchenraͤumen von ein¬ ander aufgeſtellt, eine Reihe von undurchdringlichen Koͤrpern darboten; ſie marſchirten in dieſer Ordnung, ſchlugen Reiterangriffe zuruͤck, ſtuͤrmten ihnen ſogar ent¬ gegen, wurden im Weichen nicht leicht zerſprengt; gegen Geſchuͤtz waren ſie im Nachtheil, doch gab es auch hiergegen manche Aushuͤlfe.

Der ganze Angriff war berechnet, den Feind von ſeiner Verbindung mit der Lobau abzuſchneiden und in die Ebene des Marchfeldes zu verſprengen. Der Schnel¬ ligkeit und Kraft des Entſchluſſes entſprach leider die Ausfuͤhrung nicht; ſchon die Ueberbringung der einzelnen Befehle verzoͤgerte ſich in der Dunkelheit der Nacht; fuͤr die Truppenbewegung ſelbſt aber waͤre bei ſo großen Raͤumen ein raſcheres Einſchreiten noͤthig geweſen, als225 in ſo kurzen Friſten die gewohnte Ordnung leiſten konnte. Neue Befehle an den Erzherzog Johann, zur Beſchleunigung ſeines Anruͤckens, wurden am 6. Juli fruͤh um 2 Uhr abgefertigt.

Der Kaiſer Napoleon, welcher in dieſer Schlacht keineswegs mit ſo ſichrer Ueberlegung und Vorausſicht, als man ſpaͤter wollte glauben machen, einen feſten Plan verfolgt, ſondern mehrmals ſchwankend nur nach den Umſtaͤnden des Augenblicks verfahren zu haben ſcheint, und dabei große Wagniſſe beging, dachte am 6. Juli den am vorigen Abend fehlgeſchlagenen Verſuch zu erneuern, aber mit groͤßerer Vorſicht und Staͤrke. Er zog deßhalb ſeine Macht mehr zuſammen gegen die Mitte ſeines Heeres, in die Gegend bei Rasdorf, wo die Gezelte ſeines Hauptquartiers aufgeſchlagen waren und er ſelbſt, an der Spitze ſeiner Garde, waͤhrend der weiteren Schlacht, ſich aufhalten wollte. Der Marſchall Davouſt mußte mit dem rechten Fluͤgel ſich dieſer Mitte naͤhern, und hinter Großhofen aufſtellen, der Marſchall Maſſena mit dem linken Fluͤgel die Donau verlaſſen, wo nur die Diviſion Boudet bei Aſpern zum Schutze der Lobaubruͤcken ſtehen blieb, und ſich rechts gegen Atterkla heranziehen. Schon waren dieſe Bewegungen angeordnet und Napoleon harrte ungeduldig ihrer Aus¬ fuͤhrung, als unerwartet das Feuer des Geſchuͤtzes und des Kleingewehrs laͤngs der Linie von Markgrafen - Neuſiedel bis Wagram begann und durch ſein Naͤher¬II. 15226kommen zeigte, daß die Oeſterreicher zum Angriff vor¬ ruͤckten. Napoleon bewunderte dieſe Kuͤhnheit, und traf ſeine Anſtalten nur deſto ſorgſamer, um ſeinem ent¬ ſchloſſenen Gegner keine Bloͤße zu geben. Kein Unge¬ ſtuͤm, keine Verwegenheit fand in den naͤchſten Stunden auf der Seite der Franzoſen Statt, ſie wichen aus mehreren Punkten zuruͤck, und es bedurfte mannigfacher Vorbereitung, ehe die gewohnte Leitung des Kampfes wieder fuͤr ſie zu gewinnen war. Ein erneueter Verſuch gegen Wagram, wie er wohl im Sinne Napoleons gelegen haben mag, waͤre in dieſem Augenblicke ſchon deßhalb unmoͤglich geweſen, weil auch auf dieſer Seite der Angriff der Oeſterreicher im Vortheil war.

Der erſte Heertheil naͤmlich, bei welchem der Erz¬ herzog Generaliſſimus ſeinen perſoͤnlichen Aufenthalt waͤhlte, hatte das wenigſt ferne Ziel fuͤr ſeinen Marſch. Der Rittmeiſter von Tettenborn machte an der Spitze einer Schwadron von Klenau Chevauxlegers den Vor¬ trab, fand Atterkla von den Sachſen verlaſſen, die waͤhrend der Nacht nach Rasdorf abgezogen waren, und beſetzte das mit ſaͤchſiſchen Verwundeten angefuͤllte Dorf. Hierbei nahm er mehrere Offiziere gefangen, darunter einige vom Generalſtabe des Marſchalls Bernadotte, warf dann die naͤchſten feindlichen Poſten zuruͤck, und ſchloß darauf dem Regimente ſich wieder an, welches vorgeruͤckt war, um zwei Batterien zu decken, deren Feuer den Feind noͤthigte, den rechten Fluͤgel ſeines an227 den Rußbach vorgeruͤckten Treffens, die Diviſion Dupas, gegen Rasdorf zuruͤckzunehmen. Atterkla wurde von Jaͤgern und dem Fußvolk unter dem General Karl von Stutterheim beſetzt; der ganze Heertheil ruͤckte zwiſchen Atterkla und Wagram vor, das erſte Treffen in Ba¬ taillonsmaſſen mit gehoͤrigen Zwiſchenraͤumen, das zweite hinter demſelben in geſchloſſener Linie. Hier entſpann ſich der erſte Kampf dieſes Tages, und weil die andern Heertheile noch im Anruͤcken waren, ſo konnte der Feind das ganze Geſchuͤtzfeuer ſeiner bei Rasdorf vereinigten Truppen gegen dieſen Angriff wenden. Die Oeſter¬ reicher kamen daher bald wieder in Nachtheil, da ihr minderes Geſchuͤtz gegen entſchiedene Uebermacht ringen mußte; dennoch unterhielten ſie den Kampf mehrere Stunden hindurch mit feſter Standhaftigkeit.

Inzwiſchen war der vierte Heertheil von den An¬ hoͤhen bei Markgrafen-Neuſiedel um vier Uhr aufge¬ brochen, und ruͤckte gegen Großhofen und Glinzendorf vor, um dieſe beiden Doͤrfer zu nehmen, welche der Marſchall Davouſt mit Geſchuͤtz und Fußvolk beſetzt hielt, waͤhrend Reiterei in zwei Treffen ruͤckwaͤrts auf¬ marſchirt ſtand. Der dritte franzoͤſiſche Heertheil war eben im Begriff, ſich dem erhaltenen Befehle gemaͤß gegen die Mitte zu ziehen. Die franzoͤſiſchen Plaͤnkler raͤumten das Feld, und die Oeſterreicher, trotz des moͤrderiſchen Feuers ſchon zum Eingange der genannten Doͤrfer vorgedrungen, ruͤſteten ſich zum Sturm. Der15 *228Angriff hielt die Franzoſen nun feſt; der General Puthod hielt ſich mit ſeiner Diviſion in Großhofen, der General Friant mit der ſeinen in Glinzendorf, der Marſchall Davouſt ließ die Diviſion Gudin den Oeſterreichern die Flanke bedrohen. Der Kaiſer Napoleon eilte in Perſon herbei, ihm folgte die ſchwere Reiterei unter den Generalen Nanſouty und Arrighi, und ein Theil der Garde. Waͤhrend er nun eine furchtbare Reihe Geſchuͤtz auffahren und feuern ließ, ſandte er zugleich ſtarke Trup¬ penzuͤge von allen Waffen gegen Loibersdorf, wo ſie uͤber den Rußbach gingen und ſich auf Ober-Sieben¬ brunn richteten. Dieſe Bewegung in ſeine und des ganzen Heeres Flanke noͤthigte den Fuͤrſten von Roſen¬ berg, ſeine Reiterei, welche den Angriff ſeines Fu߬ volks unterſtuͤtzen ſollte, links zuruͤckzuhalten, um jene Umgehung zu beobachten. Der Angriff des oͤſterreichi¬ ſchen Fußvolks wurde fortgefuͤhrt, doch im Augenblicke, da der Sturm geſchehen ſollte, traf der Befehl des Erzherzog Generaliſſimus ein, auf dem linken Fluͤgel innezuhalten, weil die Heertheile des rechten Fluͤgels ihrerſeits noch außer dem Gefecht waren, und das des linken Fluͤgels allein, ſo lange der Feind uͤber ſeine meiſten Kraͤfte frei verfuͤgen konnte, leicht nachtheilig werden konnte, beſonders da von dem Anruͤcken des Erzherzogs Johann noch nichts zu vernehmen war. Dieſes durch keinen oͤrtlichen Nachtheil hier bewirkte, aber im Zuſammenhange des Ganzen noͤthig erachtete229 Innehalten war das erſte ſchlimme Zeichen, welches uͤber den Ausgang dieſes Tages bedenklich machen konnte. Der Feind erſah darin ſeinen erſten Vortheil, den zu ergreifen und in ſeinem ganzen Umfange zu entwickeln er mit raſcher Kraft ſogleich bereit war. Auf den Hoͤhen von Stamersdorf blinkten die Bajonette der oͤſterreichi¬ ſchen Heertheile, welche gegen den franzoͤſiſchen linken Fluͤgel heranzogen, allein ihr Gefecht hatte noch nicht begonnen, und der Kaiſer Napoleon glaubte, daß ihm nun Zeit bleiben wuͤrde, den linken Fluͤgel der Oeſter¬ reicher zu ſchlagen, bevor ſein rechter in Gefahr kaͤme, und er ſah ſich ſtark genug, den letztern, ehe er uͤber¬ waͤltigt wuͤrde, noch immer aus ſeiner Mittelſtellung zu rechter Zeit zu unterſtuͤtzen. Er ließ dem Marſchall Davouſt die Kuͤraſſiere von Arrighi, befahl ihm den Angriff gegen Markgrafen-Neuſiedel nachdruͤcklich fort¬ zuſetzen, und kehrte nach Rasdorf zuruͤck. Die uͤbrigen nach dem rechten Fluͤgel in Bewegung geſetzten Garde¬ truppen erhielten den Befehl, gleichfalls in die Stellung bei Rasdorf zuruͤckzumarſchiren. Indeß behielt der Mar¬ ſchall Davouſt nun Truppen genug, um ſtarke Abthei¬ lungen immerfort rechts auszudehnen und in die linke Flanke der Oeſterreicher mehr und mehr vorzudringen. Beſonders wurde das franzoͤſiſche Geſchuͤtz immer zahl¬ reicher und zertruͤmmerte durch ſein furchtbares Feuer einige der Batterien gegenuͤber. Der oͤſterreichiſche linke230 Fluͤgel mußte fortan auf bloße Vertheidigung beſchraͤnkt bleiben.

Die Grenadiere von Saͤuring, uͤber Gerasdorf gegen Suͤßenbrunn vorruͤckend, erſchienen nunmehr mit Ba¬ taillonsmaſſen in zwei Treffen auf dem Kampfplatze; die Reiterei ſtellte ſich zur Unterſtuͤtzung des erſten und dritten Heertheils in beider Flanken und Ruͤcken auf. Endlich eroͤffnete auch der ſechſte Heertheil zwiſchen Breitenlee und Hirſchſtaͤtten ſeinen Angriff auf den linken Fluͤgel der Franzoſen; ihr zahlreiches Fußvolk ſtand bei Aſpern, die Auen zwiſchen Aſpern und Sta¬ delau waren mit Plaͤnklern angefuͤllt; hier aber war das oͤſterreichiſche Geſchuͤtz uͤberlegen und erſchuͤtterte den Feind durch wirkſames Feuer, dem bald ein allge¬ meines Anſtuͤrmen folgte; der General Freiherr Auguſt von Vecſey drang in die Auen ein und reinigte ſie von den feindlichen Plaͤnklern, der Major Michailowich an der Spitze des St. Georger Bataillons ruͤckte im Sturmſchritt durch Aſpern in die linke Flanke des Fein¬ des, waͤhrend in deſſen rechte der General Graf von Wallmoden mit dem Huſarenregimente Liechtenſtein ein¬ brach, ihm viele Leute toͤdtete und neun Kanonen eroberte, worauf die Franzoſen theils bei Aſpern vorbei in die Muͤhlau, theils uͤber Eßlingen nach Stadt-Enzers¬ dorf zuruͤckwichen und viele Gefangene verloren. Der Graf von Klenau beſetzte hierauf Aſpern und Eßlingen, wie auch die Verſchanzungen innerhalb dieſes Bereiches231 wieder. In Bataillonsmaſſen zwiſchen Aſpern und Brei¬ tenlee aufgeſtellt, harrten die Truppen ſodann der wei¬ teren Vorgaͤnge, welche zu ihrer Linken aus dem Kampfe der Mitte ſich ergeben mußten. Es war bereits zehn Uhr vormittags, und inzwiſchen die Schlacht auf den andern Punkten ununterbrochen fortgefuͤhrt worden.

Der dritte Heertheil, bei Gerasdorf in zwei Treffen aufmarſchirt, war mittlerweile uͤber Suͤßenbrunn vor¬ geruͤckt, und ſtuͤtzte ſich rechts auf Breitenlee, welches Dorf drei Bataillons beſetzten. Mit großer Kuͤhnheit ruͤckte der Feldzeugmeiſter Graf von Kolowrat, indem er ſeinen linken Fluͤgel verſagte und ſich auf den des Feindes warf, gegen die feindliche Hauptſtellung bei Rasdorf im Sturmſchritt an, drang bis zum neuen Wirthshauſe vor, und war eine Zeit lang im Vortheil, konnte dieſen aber nicht behaupten, ſondern mußte ſeinen rechten Fluͤgel wieder auf Breitenlee zuruͤckziehen.

Der Kaiſer Napoleon hatte im Galopp die ganze Ausdehnung ſeiner Linie beritten, ſich den Truppen gezeigt, ſie angefeuert, ihren begeiſternden Zuruf empfan¬ gen. Gegenuͤber von Atterkla traf er den Marſchall Maſſena, der eben mit drei Diviſionen ankam, er ſelbſt im Wagen fahrend, weil er geſtuͤrzt war und kein Pferd beſteigen konnte. Napoleon umarmte ihn, befahl ihm Atterkla ungeſaͤumt anzugreifen, und ſprengte nach Ras¬ dorf zuruͤck, um zu ſehen, was bei den Heertheilen des Vicekoͤnigs Eugen und des Generals Oudinot vorginge. 232Er gab unausgeſetzt Befehle und ordnete die Bewe¬ gungen an, welche den Stand entſcheiden ſollten; noch immer ließ er Truppen gegen Markgrafen-Neuſiedel ziehen und die dortige Umgehung der oͤſterreichiſchen linken Flanke eifrig fortſetzen; er hielt ſich fuͤr ſtark genug, beide Angriffe, den gegen den linken Fluͤgel und den gegen die Mitte, gleichzeitig auszufuͤhren. Der naͤchſte und dringendſte Zweck war allerdings, durch die Wegnahme von Atterkla ſeine Mitte ſicherzuſtellen, welche der ungeſtuͤme und nachtheilige Andrang der Oeſter¬ reicher zu gefaͤhrden anfing.

In der Ebene vor Rasdorf, gegen Atterkla und Breitenlee, ließ der Marſchall Maſſena nunmehr eine ſtarke Linie franzoͤſiſcher Reiterei aufmarſchiren, und unmittelbar darauf fuͤhrt er ſelbſt, weil ihm der General Carra Saint-Cyr mit ſeiner Diviſion nicht raſch genug vordringt, zwei gedraͤngte Schaaren Fußvolk rechts und links gegen Atterkla ſtuͤrmend an; nicht das heftige Gewehrfeuer der oͤſterreichiſchen Grenadiere noch der moͤrderiſche Kartaͤtſchenhagel des Geſchuͤtzes hemmt dieſe unerſchrockenen Truppen, bei jedem Schritt werden ihre Reihen gelichtet, aber ſie ſtuͤrmen unaufhaltſam vor¬ waͤrts. Schon war Atterkla von ihnen erobert, und die oͤſterreichiſchen Bataillone wichen beſtuͤrzt dem un¬ geſtuͤmen Anfall, der ploͤtzlich uͤber ſie kam und den Feind ſchon in ihre Linie eingedrungen zeigte. Die Gefahr war groß, und der Sieg auf dieſem Punkte233 konnte den des ganzen Tages nach ſich ziehen; die Franzoſen glaubten ihn ſchon gewiß, warfen ſich in die Zwiſchenraͤume der Maſſen, die ſie abzuſchneiden und aufzuloͤſen dachten. Allein jetzt wurde die Unordnung, in welche das Vordringen ſie ſelber brachte, auch ihnen verderblich. Der Erzherzog Generaliſſimus, der General Graf von Bellegarde, die andern Generale und Stabs¬ offiziere, von denen der Oberſt Freiherr von Zechmeiſter verwundet wurde, ſtellten durch Beiſpiel, Zuruf und Anordnung die erſchuͤtterten Truppen wieder her, uͤber¬ zeugten ſie von der Kraft ihres gedraͤngten Zuſammen¬ haltens, und fuͤhrten die ermuthigten Maſſen nun mit gefaͤlltem Bajonet auf den Feind zuruͤck. Dieſer ver¬ mochte ſeine auseinander gekommenen Schaaren nicht ſo ſchnell wieder zu vereinigen, wurde geworfen, uͤber¬ fluͤgelt und in ungeordnetem Haufen, bevor er Atterkla erreichte, großentheils niedergemacht; zwei franzoͤſiſche Regimenter, das vierundzwanzigſte und das vierte, wurden hier faſt aufgerieben, mehr als 1000 Mann fielen, 500 wurden gefangen und vier Fahnen erobert. Ein Bataillon von Kolowrat, von dem Major Haberein gefuͤhrt, und drei Grenadierbataillone Scoveaux, Pu¬ theany und Brzezinsky, ſtuͤrmten hierauf Atterkla und bemaͤchtigten ſich nach hartem Kampf auch dieſes Dorfes wieder. Der General Karl von Stutterheim wurde hierbei durch eine Kanonenkugel verwundet, worauf der Erzherzog Generaliſſimus die fernere Vertheidigung dieſes234 Ortes ſeinem Bruder, dem Erzherzog Ludwig, uͤber¬ trug. Noch mehrmals ſtuͤrmte der Feind mit friſchen Truppen an, um das Dorf wieder zu nehmen, wurde aber jedesmal von den Grenadierbrigaden Merville und Hammer tapfer zuruͤckgeſchlagen, verlor viele Todte, mehrere Gefangene und noch zwei Fahnen. Auf oͤſter¬ reichiſcher Seite war gleichfalls der Verluſt nicht gering, noch zuletzt wurde der General Merville, nachdem er den wiederholt eingedrungenen Feind zweimal aus dem Dorfe hinausgetrieben, durch eine Flintenkugel ver¬ wundet. Die franzoͤſiſche Reiterei war waͤhrend dieſes Gefechts aufmarſchirt ſtehen geblieben; eine Diviſion der oͤſterreichiſchen unter dem Fuͤrſten Moritz von Liech¬ tenſtein hielt ſie durch drohendes Heranruͤcken auf ihre Flanke in Unthaͤtigkeit; zwei Reiterregimenter, Kron¬ prinz und Roſenberg, hatten das vorwaͤrts Atterkla aufgepflanzte Geſchuͤtz gerettet, welches bei dem erſten Andringen des Feindes einen Augenblick verloren ſchien. Der Kaiſer Napoleon ſah die verwirrte Flucht ſeiner Truppen und eilte herbei. Seinen und des Marſchalls Maſſena’s vereinten Anſtrengungen gelang es, die Ordnung einigermaßen herzuſtellen; es war Zeit, denn ſchon wieder wurde neue Kraftentwicklung noͤthig, um andrem Andrang zu begegnen.

Die ſiegreiche Behauptung von Atterkla vereitelte die Hoffnung Napoleons, in dieſer Richtung die oͤſter¬ reichiſche Linie zu ſprengen; nicht wiſſend, daß ſeine235 Truppen ſich des Dorfes wirklich ſchon bemaͤchtigt hatten, ſoll er mehrmals ausgerufen haben: Waͤre ich doch nur einige Minuten im Beſitz von Atterkla geweſen! Durch die Tapferkeit der Oeſterreicher war allerdings eine große Gefahr abgewehrt. Indeſſen hatte der Stoß des Feindes gegen Atterkla das Vorruͤcken der oͤſter¬ reichiſchen Linie aufgehalten, die verſchiedenen Heertheile ſchloſſen noch nicht in engerem Bogen zuſammen, und die Truppen waren nicht zahlreich genug, um den aus¬ gedehnten Raum zu fuͤllen. Die noch uͤbrigen beiden Grenadierbrigaden Murray und Steyrer ruͤckten zwar ebenfalls in die Linie von Atterkla und Breitenlee vor; allein ihre Bataillonsmaſſen konnten nur das erſte Treffen bilden, hinter welchem als zweites ſich die Reiterei aufſtellen mußte. Der Fuͤrſt Johann von Liechtenſtein, ſcharfblickend und wohlentſchloſſen, wollte deßhalb weiter vordringen und gemeinſchaftlich mit dem dritten und ſechſten Heertheil die Hauptſtellung des Feindes in der Flanke und im Ruͤcken angreifen. Durch den fruͤher bereits erwaͤhnten Abzug des Marſchalls Maſſena von der Donau gegen Rasdorf und Atterkla war dem rechten Fluͤgel des oͤſterreichiſchen Heeres freier Spielraum gegeben. Sein drohendes Vorruͤcken ge¬ faͤhrdete ſchon die Verbindung Napoleons mit der Lobau; der dritte und ſechſte Heertheil brauchten vereinigt nur links einzuſchwenken, um in dem Ruͤcken des franzoͤſi¬236 ſchen Heeres zu ſtehen und daſſelbe zwiſchen zwei Feuer zu bringen.

Dieſer Bedraͤngniß weiß der Kaiſer nicht nur unge¬ ſaͤumt Huͤlfe, ſondern er benutzt ſie, um einen großen Schlag zu thun. Er zieht aus ſeiner Mitte betraͤcht¬ liche Streitkraͤfte heran und ordnet ſie zum Angriff; der Marſchall Maſſena laͤßt ſeine Diviſionen links gegen Neu-Wirthshaus abmarſchiren, dem oͤſterreichiſchen dritten Heertheil entgegen, an ſeine Stelle ruͤckt mit drei andern Diviſionen der General Macdonald, der Vicekoͤnig Eugen und die Garden folgen zur Unterſtuͤtzung. Furcht¬ bares Geſchuͤtzfeuer eroͤffnet die Bahn. Der Marſchall Beſſières fuͤhrt ſechs ſchwere Reiterregimenter der Garde zum Angriff, Napoleon ermuntert jedes durch kraͤftigen Zuruf und ermahnt ſie, ihre Waffen nicht zum Hauen, ſondern zum Stechen zu gebrauchen; ſie ſtuͤrzen gegen den Punkt hin, wo die oͤſterreichiſchen Grenadiere und der dritte Heertheil noch nicht vollkommen zuſammen¬ ſchließen. Der Fuͤrſt Johann von Liechtenſtein laͤßt ſeinen rechten Fluͤgel wieder gegen Suͤßenbrunn zuruͤck¬ weichen, wodurch dem Feind ein Spielraum eroͤffnet wird, welchen das Feuer der Grenadiere und das des dritten Heertheils gleicherweiſe beſtreicht. Hinter und neben der franzoͤſiſchen Reiterei hat ſich auch Fußvolk zum Sturm geſtellt, die gedraͤngten Schaaren achten des kreuzenden Feuers nicht, dringen muthig vor, und greifen die Bataillonsmaſſen Georgi und Friſch mit237 dem Bajonet an. Dieſe halten ſtandhaft aus und ſtrecken den mehrmals herandringenden Feind auf hun¬ dert Schritt mit einem moͤrderiſchen Gewehrfeuer nieder, waͤhrend die Grenadierbataillone Porter und Leiningen eben ſo die feindliche Reiterei durch muthiges Entgegen¬ gehen abweiſen und zuruͤckwerfen. Eine feindliche Schaar gelangt bis an die Bajonete des Bataillons Georgi, und verliert daſelbſt ſeinen Anfuͤhrer, der vom Pferde geriſſen und gefangen wird, und in der oͤſterreichiſchen Maſſe noch zwei Angriffe ſeiner Reiter und ein unauf¬ hoͤrliches Kanonenfeuer aushalten muß. Der Oberſt¬ lieutenant Graf von Leiningen nimmt perſoͤnlich vor der Fronte ſeines Bataillons einen franzoͤſiſchen Stabsoffizier gefangen.

Allein der Kaiſer Napoleon hatte bereits einen neuen Ruͤckhalt herangezogen. Das Geſchuͤtz der Garde ſoll vorruͤcken, rief er, und 60 Kanonen, befehligt von den Oberſten Drouot und Daboville, werden von jen¬ ſeits Rasdorf herbeigeholt, 40 andre ſchließen ſich an, ſie fahren im ſchrecklichſten Feuer der Oeſterreicher auf halbe Schußweite auf, und aus dieſen 100 Stuͤcken, deren Reihe faſt eine Viertelmeile einnimmt, ſpruͤht ein Regen von Kugeln, Haubitzgranaten und Kartaͤtſchen, wie niemand einen aͤhnlichen erlebt zu haben meint; die Maſſen der Oeſterreicher werden gelichtet, ihr Ge¬ ſchuͤtz zuſammengeſchoſſen; mehrere Bataillone ſtuͤrmen wiederholt in dieſes moͤrderiſche Feuer, ſie ſuchen die238 franzoͤſiſchen Kanonen wegzunehmen, aber Kartaͤtſchen¬ hagel ſtreckt ſie nieder, wirft ſie zuruͤck; doch leiden auch die Franzoſen großen Verluſt, ſie buͤßen einen Theil ihrer Kanoniere, ihrer Beſpannung ein.

Der Kaiſer Napoleon hatte den Marſchall Maſſena linkshin zuruͤckgewendet, hielt jedoch deſſen weitere Be¬ wegung noch feſt. Er ſelbſt verweilte zwiſchen Rasdorf und Atterkla im ſtaͤrkſten Kanonenfeuer unbeweglich, mit ſcharfem Auge alles beachtend und anordnend. Durch den mehrmaligen Wechſel der Truppen war die Schlachtordnung ſeiner Mitte mehrmals geſtoͤrt worden, er ſtellte ſie durch Aufreihung neuer Truppen her. Inzwiſchen kamen Meldungen von Maſſena, der rechte Fluͤgel der Oeſterreicher gewinne noch immer Boden, die Diviſion Boudet ſei auf die Lobau zuruͤckgeworfen und habe ihr Geſchuͤtz verloren, die Oeſterreicher ſeien der Bruͤcke nah, ihr Geſchuͤtz feure ſchon im Ruͤcken des franzoͤſiſchen Heeres. Napoleon hatte bisher alles ruhig vernommen und nichts erwiedert, ſondern nur den Blick mehrmals forſchend auf die Gegend von Mark¬ grafen-Neuſiedel gerichtet. Als er wahrnahm, daß der Marſchall Davouſt die Hoͤhe dort gewonnen und ſein Geſchuͤtz die Flanke der Oeſterreicher uͤberfluͤgelt habe, rief er: Jetzt iſt es Zeit! und ſandte dem Marſchall Maſſena den Befehl zum Angriff des oͤſterreichiſchen rechten Fluͤgels, er ſelbſt ordnet die Diviſionen Lamarque und Brouſſier, denen andre folgen, und wendet dieſe239 Schaaren unter der Anfuͤhrung des Generals Macdonald neben Atterkla voruͤber gegen Suͤßenbrunn, auf den oͤſterreichiſchen dritten Heertheil, deſſen linken Fluͤgel der erſte Stoß trifft. Der Erzherzog Generaliſſimus iſt auch hier gegenwaͤrtig, fuͤhrt die Bataillone zum Kampf, verwandelt die Vertheidigung wieder zum An¬ griff. Der tapfre General Vukaſſovich empfaͤngt im Vorruͤcken eine toͤdtliche Wunde, allein ſeine Truppen laſſen ſich nicht erſchuͤttern; die Generale Graf von Saint-Julien und Lilienberg dringen in die linke Flanke des Feindes, deſſen geſchwaͤchte Schaaren kaum noch widerſtehen. Napoleon laͤßt ſein Fußvolk durch die Kuͤraſſiere des Generals Nanſouty und durch die Reiterei der Garde unter dem General Walther unterſtuͤtzen, allein ſie wurden durch Kartaͤtſchen zuruͤckgeſchmettert. Darauf ruͤcken die franzoͤſiſche Diviſion Serras und die baieriſche Diviſion Wrede vor, gefolgt von der jungen Garde unter dem General Reille; zu beiden Seiten von Macdonald, um dieſem Luft zu machen, wenden ſich die Diviſionen Pacthod unb Durutte, jene auf Wagram, dieſe auf Breitenlee. Das Gefecht, hart¬ naͤckig und moͤrderiſch auf beiden Seiten, kommt eine Weile zum Stehen, doch haben die Oeſterreicher einen betraͤchtlichen Raum eingebuͤßt.

Es war unter dieſen Ereigniſſen Mittag geworden, und die Schlacht dauerte auf der ganzen Linie mit Heftigkeit fort. Wo die Truppen noch nicht in der240 Naͤhe fochten, wie der ganze zweite oͤſterreichiſche Heer¬ theil, der zur Vertheidigung des Rußbachs bei Bau¬ mersdorf aufgeſtellt war, oder wo ſie theilweiſe inne¬ hielten, wie der ſechſte oͤſterreichiſche Heertheil bei Aſpern, der das Vorruͤcken der andern abwartete, da ſtanden ſie doch unausgeſetzt im Bereiche des heftigſten Kanonen¬ feuers, das von der Donau bis jenſeits Markgrafen - Neuſiedel ununterbrochen wuͤthete, ja mit jedem Augen¬ blicke ſchien die Zahl und die Gewalt der Geſchuͤtze ſich zu vermehren.

Der linke Fluͤgel aber des oͤſterreichiſchen Heeres war mittlerweile nicht weniger hart bedraͤngt worden. Gegen 10 Uhr hatten die franzoͤſiſchen Truppen, welche bei Loibersdorf uͤber den Rußbach gegangen waren, bei Ober-Siebenbrunn die Beobachtungs-Reiterei des Ge¬ nerals von Frelich vertrieben, und ſtanden dem vierten Heertheil voͤllig in der linken Flanke, gegen welche ſie zum Angriff vorruͤckten. Waͤhrend nun der Fuͤrſt von Roſenberg gegen dieſe Umgehung zwei ſeiner Regi¬ menter eine Flankenſtellung nehmen und die uͤbrigen in Bataillonsmaſſen zuſammenruͤcken ließ, zogen drei andre feindliche Treffen von Ober-Siebenbrunn und Glinzendorf heran, vor ihrer Front eine lange Reihe von Geſchuͤtz, welches feuernd naͤher kam; der Erzherzog Generaliſſimus war perſoͤnlich hierher geeilt und leitete das Gefecht. Mehrere Stuͤrme des Feindes auf Mark¬ grafen-Neuſiedel waren tapfer abgewehrt worden. End¬241 lich aber, nachdem auch der Erzherzog durch die gemeldete Gefahr ſeines rechten Fluͤgels wieder abgerufen worden, hatten die ermuͤdeten Truppen der Uebermacht weichen muͤſſen und das Dorf den Franzoſen uͤberlaſſen. Der tapfre General Freiherr Peter von Vecſy wurde hier toͤdtlich verwundet. Sehnlichſt hoffte man, der Erzherzog Johann werde endlich im Ruͤcken des Feindes erſcheinen und dem allzu nachtheiligen Kampfe eine andre Wen¬ dung geben. Schon war zu fuͤrchten, dieſe Truppen wuͤrden zu ſpaͤt eintreffen, allein ſo lange ihr Eintreffen noch moͤglich ſchien, mußte die Stellung mit angeſtreng¬ ter Kraft behauptet werden. Der Feind indeß zog immer zahlreichere Truppen rechtshin und ſuchte die Umgehung des linken Fluͤgels mehr und mehr auszudehnen. Da hiedurch dem zweiten Heertheile bei Baumersdorf nur wenige Truppen gegenuͤber blieben, der Fuͤrſt von Hohen¬ zollern alſo fuͤr ſeine Front nicht beſorgt ſein durfte, wohl aber den vierten Heertheil hart bedraͤngt ſah, ſo ſandte er dieſem aus eignem Antriebe 5 Bataillone und 4 Schwadronen Verſtaͤrkung; das Gefecht wurde durch deren allmaͤhliges Eintreffen auf der aͤußerſten linken Flanke, die ſie verlaͤngern halfen, wohlzeitig erfriſcht, jedoch in ſeinem Gange nicht veraͤndert. Das Mißver¬ haͤltniß der Kraͤfte war ſchon zu groß. Der Marſchall Davouſt hatte ein Drittheil der ganzen franzoͤſiſchen Heeresſtaͤrke hier beiſammen. Die oͤſterreichiſchen Truppen waren alle ſchon im Kampfe, kein Ruͤckhalt ſtand zuII. 16242ſchneller Aushuͤlfe bereit, waͤhrend die bei Rasdorf auf¬ geſtellte feindliche Truppenmaſſe unerſchoͤpflich nach jeder Richtung immerfort Verſtaͤrkungen ausſandte. Der General Oudinot ruͤckte nun auch wieder gegen Bau¬ mersdorf vor, und der zweite Heertheil der Oeſterreicher ſah ſich neuerdings angegriffen. Der hitzigſte Kampf aber wurde fortwaͤhrend bei Markgrafen-Neuſiedel unter¬ halten. In ſechs geſchloſſenen Maſſen, zahlreiches Ge¬ ſchuͤtz vor und neben ſich fuͤhrend, von Plaͤnklerſchwaͤrmen umgeben, drangen die feindlichen Diviſionen Gudin und Puthod wiederholt zum Sturm heran, waͤhrend die Diviſionen Morand und Friant ihre Linie rechtshin immerfort ausdehnten. Die oͤſterreichiſche Reiterei unter dem Feldmarſchalllieutenant Grafen von Noſtitz, dem General Grafen von Wartensleben, dem Oberſten Sar¬ dagna und Prinzen von Koburg, den eine Kugel ver¬ wundete, warf ſich wiederholt den Angreifenden entgegen, ſie ſchlug die Reiterei der Generale Gruchy und Mont¬ brun mehrmals zuruͤck, allein ſie war zu ſchwach, um in das Fußvolk einzudringen, und mußte zuruͤckweichen. Das Fußvolk der Brigade Mayer, an deren Spitze der Feldmarſchalllieutenant von Nordmann ſich geſtellt hatte, hielt gegen die beiden erſten Treffen des Feindes guten Stand, als aber dieſer tapfre Anfuͤhrer getoͤdtet, der General von Mayer verwundet und das dritte feindliche Treffen herangekommen war, konnte die hiedurch erſchuͤt¬ terte Truppe nicht laͤnger widerſtehen und der Feind243 gewann mehr und mehr Raum. Jetzt griff die Divi¬ ſion Morand den Thurm von Markgrafen-Neuſiedel an und ſetzte ſich in demſelben feſt. Bei dieſem Angriffe nach einigen Nachrichten fruͤher, oder gar ſchon am Tage vorher wurde der Anfuͤhrer des 17. Linien¬ regiments, Oberſt Oudet, toͤdtlich getroffen, von deſſen Zauber der Perſoͤnlichkeit uns Nodier ſo wunderbare Dinge meldet. Noch hielten ſich die oͤſterreichiſchen Bataillonsmaſſen auf dem rechten Fluͤgel des Heertheils am Rande der Hoͤhen; unter Anfuͤhrung des Feldmar¬ ſchalllieutenant Fuͤrſten von Hohenlohe-Bartenſtein und des heldenmuͤthigen Prinzen Philipp von Heſſen-Hom¬ burg, der hier durch eine Kartaͤtſchenkugel verwundet wurde, ſchlugen ſie mehrere Angriffe ſtandhaft zuruͤck. Der Fuͤrſt von Roſenberg wollte ſogar dem Feinde den Thurm wieder entreißen, mußte jedoch den Verſuch aufgeben, da ein kreuzendes Kartaͤtſchenfeuer ſeine Leute niederſchmetterte und das Uebergewicht des Feindes nicht mehr zweifelhaft erſchien. Auf die Ankunft des Erzher¬ zogs Johann war jetzt nicht mehr zu harren noch zu rechnen, der letzte guͤnſtige Augenblick, wo das uner¬ wartete Erſcheinen friſcher Truppen im Ruͤcken des Feindes entſcheidend einwirken konnte, war voruͤber. Der rechte Fluͤgel der Oeſterreicher hatte bisher geſiegt, die Mitte ſich ſtandhaft behauptet, allein der linke Fluͤgel war umgangen und geſchlagen, und ſein Loos mußte den Ruͤckzug des ganzen Heeres entſcheiden.

16 *244

Gegen 1 Uhr Nachmittags kam vom Erzherzog Gene¬ raliſſimus dem vierten Heertheil der Befehl, ſich zuruͤck¬ zuziehen. Nochmals warf die oͤſterreichiſche Reiterei hier die franzoͤſiſche von Arrighi zuruͤck und erleichterte den Abmarſch des Fußvolks, allein der Feind drang nichts¬ deſtoweniger unaufhaltſam vor, entwickelte zuletzt 8 Divi¬ ſionen, und folgte langſam den oͤſterreichiſchen Truppen, die ſich in Bataillonsmaſſen geſchloſſen fortbewegten, in der Richtung auf Bockfließ.

Haͤtten die waldigen Anhoͤhen der Hohenleithen durch Verſchanzungen einen feſten Anhalt dargeboten, ſo wuͤrde hier der linke Fluͤgel des oͤſterreichiſchen Heeres ſich haben ſtuͤtzen und den Feind geraume Zeit hemmen, ja mit Verluſt zuruͤckſchlagen koͤnnen. Am Vormittage hatte man wirklich angefangen, einige Schanzen aufzuwerfen, allein ehe die Arbeit noch vorgeruͤckt war, wurde ſie als verſpaͤtet und zwecklos wieder aufgegeben. Der vierte Heertheil blieb die Nacht auf den Anhoͤhen ſtehen und hielt Bockfließ beſetzt. Die Regimenter Hiller und Sztarray hatten die Nachhut gebildet und die Verfolger ſtets in gehoͤrige Ferne zuruͤckgewieſen; bei Bockfließ hielt eine ſchwache Bataillonsmaſſe des Regiments Kerpen gegen die feindliche Reiterei Stand, bis 4 oͤſter¬ reichiſche Schwadronen von Erzherzog Ferdinand Huſaren herbeieilten und den Feind durch unerwarteten Angriff verjagten. Einige Bataillons und Huſarendiviſionen unter dem Feldmarſchalllieutenant Grafen von Radetzky,245 von welchem bei dieſem Anlaß in dem amtlichen Berichte geſagt wird, daß er die ruͤhmlichſten Beweiſe ſeines Eifers und ſeiner militairiſchen Talente abgelegt habe, beſetzten die Uebergaͤnge des Weidenbachs bei Schwein¬ wart und Hohen-Ruppertsdorf. Hierauf mußte der zweite Heertheil, der nun in der linken Flanke ganz entbloͤßt und bald heftig angegriffen war, beſonders aber durch das ſeitwaͤrts einſchmetternde Geſchuͤtzfeuer litt, ebenfalls ſeinen Ruͤckzug nehmen. Auch in der Fronte drang der Feind jetzt ungeſtuͤmer an, und ſein verhee¬ rendes Kreuzfeuer traf die oͤſterreichiſchen Maſſen. Der General Graf Ignaz von Hardegg vertheidigte Bau¬ mersdorf gegen alle Angriffe, und erſt, als er Befehl dazu erhalten, uͤberließ er den Ort dem Feinde. Hinter Wagram mußte das Fußvolk uͤber den Rußbach, der hier aufwaͤrts ſich gegen Weſten wendet, zuruͤckgehen und ſeine geſchloſſene Ordnung einen Augenblick unter¬ brechen, dieſen wollte die feindliche Reiterei benutzen und ſprengte heran, wurde jedoch durch das unerwartete Feuer einiger Bataillone, welche den Graben des Ru߬ bachs beſetzt hielten, und durch das Chevauxlegersregi¬ ment Vincent zuruͤckgewieſen. Alles Geſchuͤtz wurde gluͤcklich fortgebracht und der ganze Heertheil zog ohne Verluſt in feſter Ordnung uͤber Saͤuring gegen Enzers¬ feld. Die eine Brigade des erſten Heertheils, welche auf der Hoͤhe bei Wagram ſtand, folgte dieſer Bewe¬ gung; die uͤbrigen Truppen dieſes Heertheils behaupte¬246 ten ſich noch in ihrer Stellung bei Atterkla, wo beſonders die auf den linken Fluͤgel aufgepflanzte Batterie des Oberlieutenants Loͤffler dem Feinde großen Abbruch that, bald aber in der Fronte und in der Flanke zugleich durch uͤberlegenes Geſchuͤtz beſchoſſen wurde. Erſt nach 2 Uhr empfing dieſer Heertheil Befehl zum Ruͤckzuge, der geordnet und langſam angetreten wurde. Als der zahlreiche Feind ungeſtuͤmer nachdraͤngte, warf der Oberſt Graf von Bentheim mit dem Regimente Vogelſang ſich im Sturmſchritt entgegen, wobei er verwundet wurde, und hemmte durch dieſen muthigen Angriff einige Zeit die Verfolgungsluſt. Der Marſch wurde ſodann uͤber Gerasdorf in beſter Haltung fortgeſetzt. Doch mußte man in den Doͤrfern Atterkla, Suͤßenbrunn, Gerasdorf, Baumersdorf u. ſ. w. eine große Anzahl Verwundeter zuruͤcklaſſen, von denen wenige gerettet wurden, als dieſe Doͤrfer, zum Theil ſchon Tags vorher in Brand gerathen und wieder geloͤſcht, abermals in Flammen aufgingen. Nun kam in dem allgemeinen Ruͤckzuge die Reihe an die Grenadiere und die Reiterei, welche derſelben Richtung uͤber Gerasdorf folgten. Der Feind beſchoß die Abziehenden lebhaft, und eine Kanonenkugel verwundete toͤdtlich den Feldmarſchalllieutenant d’Aſpre, als er die von ihm befehligten Grenadiere durch das brennende Dorf Atterkla fuͤhrte. Der dritte Heertheil zog uͤber Suͤßenbrunn auf die Hoͤhen von Stamersdorf in ſo guter Verfaſſung, daß der Feind anfangs nichts247 gegen ihn zu unternehmen wagte; als aber die Daͤmme¬ rung eintrat, ſtuͤrmten unerwartet die franzoͤſiſchen Gar¬ den heran, nahmen eine Batterie, und ſuchten ihren Vortheil zu verfolgen, waͤhrend zugleich die Reiterei in das Fußvolk des erſten Heertheils einzubrechen ſtrebte; dieſer aber, ſchnell in Maſſen geordnet, ſchlug die drei¬ maligen Angriffe zuruͤck. Die oͤſterreichiſche Reiterei ſprengte nun herbei, das Kuͤraſſierregiment Liechtenſtein fiel in die Flanke des Feindes, die Uhlanen von Schwar¬ zenberg und die Chevauxlegers von Klenau machten wiederholte Angriffe, der Rittmeiſter von Gallois des erſtern Regiments hieb die verlorne Batterie wieder aus den Haͤnden des Feindes, der Rittmeiſter von Tetten¬ born mit ſeiner Schwadron Ehevauxlegers warf die feindlichen Kuͤraſſiere zuruͤck, und wurde von dem Erz¬ herzog Generaliſſimus noch auf dem Schlachtfelde zum Major befoͤrdert, worauf er ferner ſeine Schwadron und ein unter ſeinen Befehl geſtelltes Jaͤgerbataillon zunaͤchſt am Feinde hielt. Der ſechſte Heertheil hatte bereits um 1 Uhr Eßlingen, eine Stunde ſpaͤter Aſpern geraͤumt, und darauf ſeinen Ruͤckzug langſam unter ſtetem Gefecht gegen Stamersdorf fortgeſetzt. Auch hier wurde der ungeſtuͤm nachdringende Feind durch die tapfre Haltung der Bataillousmaſſen des Fußvolks und durch die kuͤhnen Anfaͤlle der Huſaren von Kienmayer mit Verluſt zuruͤckgeſchlagen. Der weitere Ruͤckzug geſchah in geordneter und ſchlagfertiger Haltung; dem Feinde248 blieb das Schlachtfeld, allein der Sieg, den er gewann, war keine Niederlage der Oeſterreicher, und alle An¬ ſtrengung der franzoͤſiſchen Befehlshaber und ihrer ſelbſt¬ eifrigen Truppen brachte die unwillig Weichenden nicht zu Verwirrung und Flucht. Der Kaiſer Napoleon bewunderte die ſtrenge Ordnung der vor ſeinen Augen langſam ſich entfernenden Heertheile, und verſagte dem Erzherzog Generaliſſimus das Lob nicht, welches ein ſo hartnaͤckiger Widerſtand und eine ſo feſte Fuͤhrung auch in dem Feind erweckten.

Auf beiden Seiten hatte der Kampf ungeheure Anſtrengungen und Opfer gefordert. Der Feind hatte alle ſeine Kraͤfte vereint und noch waͤhrend der Schlacht alle Truppen von jenſeits der Donau an ſich gezogen, ſo daß er im Ganzen gegen 200,000 Streiter zaͤhlte, von denen wenigſtens 160,000 gefochten hatten. Die Franzoſen verloren uͤber I4,000 Mann an Todten und Verwundeten, 7000 an Gefangenen, 12 Adler und Fahnen, und 11 Kanonen. Von ihren Anfuͤhrern blie¬ ben Laſalle und Duprat, Beſſières, Wrede und 14 andre wurden verwundet. Die Oeſterreicher entbehrten der Mitwirkung des Erzherzogs Johann, deſſen Vor¬ truppen erſt Nachmittags um 4 Uhr bei Ober-Sieben¬ brunn anlangten, und einige Gefangene im Ruͤcken des Feindes machten; allein da die Schlacht bereits verlo¬ ren war, auch die Franzoſen jetzt Streitkraͤfte genug verfuͤgbar hatten, um der ihnen unerwarteten Erſchei¬249 nung zu begegnen, ſo ruͤckte der Erzherzog nicht naͤher heran, ſondern ging den Abend unverfolgt uͤber die March zuruͤck. Er war auf keinen Feind geſtoßen, der die Beſtimmung gehabt haͤtte, ihn abzuhalten oder auch nur zu beobachten; unbemerkt und unvermuthet kam er heran, und das franzoͤſiſche Heer war von dieſer Seite dem verderblichſten Ueberfall ausgeſetzt. Vergebens bemuͤht ſich der General Pelet, in ſeinem uͤbrigens treff¬ lichen Werke, uns glauben zu machen, der Kaiſer Na¬ poleon habe gleich im Beginn der Schlacht auch dieſen Zug in ſeinen Berechnungen aufgenommen, bei ſeinen Anordnungen beruͤckſichtigt und das Noͤthige vorgekehrt. Die Thatſachen zeigen das Gegentheil. Dem Erzherzog iſt ſein ſpaͤtes Eintreffen zum Vorwurf gemacht wor¬ den, er hat ſich dagegen mit Nachdruck vertheidigt. Die Tapferkeit, der Geiſtesmuth und die Feldherrngaben dieſes Prinzen ſind anerkannt, und niemand wird in Betreff dieſer Eigenſchaften ihn beſchuldigen. Im All¬ gemeinen muß geſagt werden, daß die Bewegung groͤße¬ rer Truppenmaſſen im oͤſterreichiſchen Heere nicht immer ſo leicht und raſch auszufuͤhren war, als in manchen Faͤllen gewuͤnſcht wurde, und ſelbſt der Erzherzog Generaliſſimus hatte waͤhrend ſeines oberſten Kriegsbe¬ fehls, unter welchem das oͤſterreichiſche Heer ſich zur groͤßten Tuͤchtigkeit ausbildete, ihm dieſen Vorzug des Feindes nur zum Theil aneignen koͤnnen. Auf oͤſter¬ reichiſcher Seite fochten bei Wagram hoͤchſtens 100,000250 Mann. Von dieſen waren uͤber 20,000 getoͤdtet oder verwundet, gegen 8000 gefangen. Es blieben 4 Gene¬ rale, unter welchen das franzoͤſiſche Bulletin den General von Nordmann einen Verraͤther ſchmaͤhte, weil er fran¬ zoͤſiſcher Abkunft war und im Heere von Dumouriez das Loos dieſes Feldherrn getheilt hatte; der Erzherzog Generaliſſimus ſelbſt und 10 Generale wurden verwun¬ det. Nur Eine Fahne blieb in den Haͤnden des Fein¬ des; an Geſchuͤtz gingen 9 Stuͤcke verloren, deren Be¬ ſpannung getoͤdtet war. Es gehoͤrt unter die ſonder¬ baren Ereigniſſe dieſes Krieges, ſagt der oͤſterreichiſche Bericht, daß in dieſer Schlacht der Sieger mehr Trophaͤen verlor, als der Beſiegte.

Wie wenig der Muth und die Kraft des oͤſterrei¬ chiſchen Feldherrn und ſeines Heeres gebeugt waren, zeigten ſchon die naͤchſten Tage. Der Erzherzog hatte ſeinen Ruͤckzug, mit Ausnahme des vierten Heertheils, der aber auch gleich wieder herangezogen wurde, nicht gegen Bruͤnn, ſondern wider alles Erwarten, aber kuͤhn und abſichtsvoll, gegen Znaym genommen, wo er das Heer hinter der Taya aufſtellte, und am 10. und 11. Juli dem Sieger abermals eine Schlacht lieferte, deren lange zweifelhafter Vortheil ſich endlich ebenfalls auf die Seite der Franzoſen neigte; jedoch hemmte der Abſchluß eines Waffenſtillſtandes die weiteren Feindſelig¬ keiten. Bald darauf, nachdem auch der Erzherzog, durch perſoͤnliche Verhaͤltniſſe bewogen, ſeinen bisherigen251 Oberbefehl niedergelegt hatte, folgte der Friedensſchluß von Wien. Der Friede war durch große Nachtheile bezeichnet. Allein der Krieg des Jahres 1809, und beſonders die Schlachten von Aſpern, Wagram und Znaym, ließen in Oeſterreich das Gefuͤhl eines Muthes und einer Staͤrke zuruͤck, deren Bewußtſeyn nicht unter¬ gehen konnte. Auch den Franzoſen blieb dieſer Krieg ein Gegenſtand ernſten Eindrucks, und wenn ihre Kriegs¬ erfahrnen die Schlacht von Wagram erwaͤhnten, daͤmpfte Ehrerbietung die Ruhmredigkeit. Unter den Deutſchen aber, wem noch die Sache des Vaterlandes, der Ruhm deutſcher Tapferkeit und Kriegsehre am Herzen lag, der blickte mit Stolz und Vertrauen auf den Erzherzog Karl und das oͤſterreichiſche Heer des Jahres 1809.

[252]

Das Feſt des Fuͤrſten von Schwarzenberg zu Paris, im Jahre 1810.

In raſchem Fluge hatten wir die reichen Laͤnderſtrecken von Wien bis Straßburg und von da nach Paris zuruͤckgelegt. Der Juni ſtrahlte verſengend in ſeiner ganzen Kraft, und nachdem Staub und Hitze der Son¬ nengluthen uns im gruͤnenden Freien faſt verzehrt hat¬ ten, tauchten wir Nachmittags in die dumpfe Schwuͤle und duͤſtre Straßenenge der unermeßlichen, volksbe¬ wegten Stadt. Im Hotel de l’Empire der Rue Cérutti, deren Namen ſeitdem gewechſelt haben, fanden wir beſtellte Zimmer und jede erwuͤnſchte Erquickung, und konnten von den Muͤhen und Wallungen der Reiſe faſt ohne Ausruhen ſofort in den Wirbel dieſer geſchaͤftigen und genießenden Welt uͤbergehen.

Wir ſahen von allen Seiten beſtaͤtigt, was uns ſchon unterwegs uͤberall war verkuͤndet worden, daß in253 Paris jetzt kein groͤßeres Anſehen, keine wirkſamere Empfehlung gelte, als die des oͤſterreichiſchen Namens. Auch war derſelbe, abgeſehen von dem uͤberragenden, jedem Franzoſen ehrfurchtgebietenden Daſtehen der Kai¬ ſerin Marie Louiſe, fuͤr welches die Geſchichte nichts Vergleichbares zu haben ſchien, in einer Weiſe repraͤ¬ ſentirt, mit der ſchwerlich von irgend einer Seite gewett¬ eifert werden konnte. Der oͤſterreichiſche Botſchafter, Fuͤrſt Karl von Schwarzenberg, ein ſchoͤner ſtattlicher Mann voll Wuͤrde und Heiterkeit, als Kriegsmann und Diplomat ſeiner ſelbſt ruhig bewußt, ſtellte ein entſpre¬ chendes Bild der Hoheit ſeines Gebieters und zugleich des gutmuͤthigen Biederſinnes jener deutſchen Landsleute dar, die dem einſt allgemeinen Oberhaupte noch in ſeiner Beſonderheit angehoͤrig verblieben waren. Der leutſeligen Freundlichkeit des Fuͤrſten ſtimmte die geiſt¬ volle Guͤte und regſame Theilnahme ſeiner Gemahlin, gebornen Graͤfin von Hohenfeld, trefflich zu, die heran¬ wachſenden, wohlgebildeten Soͤhne, von einem wackern Fuͤhrer geleitet, zeigten ſich in gleichem Sinne belebt, und ſo die ſaͤmmtlichen Hausgenoſſen. Die Ehren - und Geſchaͤftsverhaͤltniſſe der Botſchaft waren durchaus guͤn¬ ſtig und angenehm geſtellt, ſie waren in Paris die einzigen, welche von franzoͤſiſcher Seite mit Wohlwollen und Auszeichnung behandelt wurden, und nichts von der geaͤngſteten und huͤlfloſen Aufmerkſamkeit, von der peinlichen Spannung zu haben brauchten, welche den254 andern politiſchen Beziehungen am Hofe Napoleons, ſelbſt die ſeiner Bruͤder nicht ausgenommen, hoͤchſt wi¬ drig aufgezwungen blieben. So vermochten denn auch die verſchiedenen Diplomaten und Militaͤrperſonen, welche dem Botſchafter beigegeben waren, in ihrer Thaͤtigkeit und ihrem Benehmen die Gunſt ſolcher Umſtaͤnde aͤußerſt vortheilhaft geltend zu machen. Der Hofrath von Flo¬ ret, ein feiner, ſtillfleißiger und undurchdringlicher Ge¬ ſchaͤftsmann, der Major von Tettenborn, durch die glaͤnzendſten ritterlichen Eigenſchaften ausgezeichnet, der Major Graf von Wratislaw, der Rittmeiſter von Boͤhm und andere hoͤhere Angeſtellte, Alle lebten und wirkten in dem vergoͤnnten Element, und inmitten der uͤppigen Pracht und feierlichen Wuͤrde, die der aͤußeren Erſchei¬ nung im Ganzen uͤberſchwenglich verliehen war, athmete das ſchwarzenbergiſche Haus ein allgemeines, vertrau¬ liches Wohlbehagen, ein faſt unterſchiedloſes Zuſammen¬ gehoͤren, woran auch Fremde, welche dieſen Kreis betraten, nach Sinn und Luſt Theil nahmen. Wir Oeſterreicher aber wurden ſaͤmmtlich als Mitglieder des Hauſes gerechnet, fanden zu jeder Stunde freundliche Aufnahme, guͤnſtigen Rath, wirkſame Foͤrderung, und waren fuͤr immer, wie groß auch die Zahl ſein mochte, zu Mittag wie zu Abend eingeladen.

Der Kreis der Oeſterreicher aber war damals in Paris nicht klein. Der aͤltere Bruder des Botſchafters, Fuͤrſt Joſeph von Schwarzenberg, hatte nebſt ſeiner255 Gemahlin und uͤbrigen zahlreichen Familie, ſeinen Auf¬ enthalt fuͤr einige Zeit in Paris genommen; ebenſo der Fuͤrſt von Eſterhazy. Die Generale Graf von Wall¬ moden und Graf von Neipperg hatten beſondre Auftraͤge des oͤſterreichiſchen Hofes mit den franzoͤſiſchen Behoͤrden zu verhandeln. Der Oberſt Graf von Bentheim, als Ueberbringer eines Schreibens des Kaiſers an ſeine Tochter die Kaiſerin, der Graf Kaspar von Sternberg, der Graf von Paar, zwei Grafen von Sickingen, der Graf von Coudenhoven, und noch mehrere andre Oeſter¬ reicher von Rang und Bedeutung, waren theils durch Geſchaͤfte und Verbindungen, theils durch die Anziehung der großen Welt und der Schauwuͤrdigkeiten dort feſt¬ gehalten. Politiſche Verhandlungen von groͤßter Wich¬ tigkeit hatten ſogar dem Miniſter der auswaͤrtigen An¬ gelegenheiten, Grafen von Metternich, den Anlaß gege¬ ben, auf erhaltene Einladung des Kaiſers Napoleon, ſich perſoͤnlich nach Paris zu verfuͤgen, wohin Gemah¬ lin, Kinder und Bruder, nebſt ſeinen diplomatiſchen Angehoͤrigen, unter welchen der Ritter von Lebzeltern hervorragte, ihn begleitet hatten. Die wohlgebildete Perſoͤnlichkeit des im kraͤftigſten Mannesalter ſtehenden Miniſters war hoͤchſt einnehmend und bedeutend, bei gemeſſener Haltung vollkommen frei, in heiterer Gelaſ¬ ſenheit lebhaft, und gleicherweiſe faͤhig erſcheinend, ſowohl den ſchwierigſten Staatsgeſchaͤften als den fluͤchtigen Bewegungen liebenswuͤrdiger Geſelligkeit die entſchie¬256 denſten Erfolge abzugewinnen. Ihm als dem Gaſte des franzoͤſiſchen Kaiſers war das Hotel des Marſchalls Ney, welches die herrlichſte Ausſicht auf den Kai der Seine hatte, zur Wohnung angewieſen, und alle Pracht und Ueppigkeit kaiſerlicher Bewirthung und Dienerſchaft zu Gebote geſtellt. Auch hier war jeder Oeſterreicher taͤg¬ lich eingeladen und willkommen, ſowie auch Fremde nicht fehlten; der Kreis aber, der ſich hier beſonders gern an den Vormittagen bildete, ging zuletzt doch wie¬ der in den Schwarzenbergiſchen uͤber.

War auf dieſe Weiſe ein großer Lebensraum auf beiden Seiten der Seine fuͤr uns heimathlich bezeichnet und erfuͤllt, ſo erweiterte ſolcher ſich doch noch ins unbeſtimmte durch den eigenthuͤmlichen Umſtand, daß in jener Zeit nicht bloß die Oeſterreicher, ſondern faſt alle Deutſchen in Paris, die Geſandten der Staaten des Rheinbundes, die Mitglieder der ſouverain gewordenen wie der mediatiſirten deutſchen Haͤuſer, alle Vornehmen, welche in Paris Huldigung oder Reklamation anzubrin¬ gen hatten, und ebenſo die deutſchen Gelehrten und Kuͤnſtler, ſich eifrig und beharrlich zu der oͤſterreichiſchen Botſchaft hielten, an deren Annehmlichkeiten und Vor¬ zuͤgen Theil zu nehmen ſuchten, und perſoͤnliches wie geſchaͤftliches Vertrauen ihr zuwandten, ſo daß vielleicht niemals vor - und nachher auf dieſem Punkte die ſaͤmmt¬ lichen deutſchen Intereſſen eine ſo wahrhaft vereinigende Mitte gehabt haben.

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Dieſer zugleich glaͤnzenden und angenehmen Welt als oͤſterreichiſcher Offizier ſchon vollkommen angehoͤrig, noch beſonders aber durch guͤnſtige Bezuͤge und Umſtaͤnde ihrem Innern vertraut geworden, durfte ich bald die gluͤckliche Entdeckung machen, daß, ungeachtet der mit den Franzoſen befreundeten Außenſeite, in dieſem gan¬ zen Kreiſe durchgaͤngig eine wahrhaft deutſche Geſinnung lebe, ein unzweideutiger Widerwille gegen die neuge¬ knuͤpften Bande, ein feſtes Halten an dem Vaterlaͤndi¬ ſchen, daß man den Kaiſer Napoleon noch immer als verhaßten Feind anſehe, und ſich in dem Andenken an die vergangenen Waffenthaten mehr als in dieſem Frie¬ densglanze gefalle, ja im voraus an der Ausſicht auf kuͤnftig zu erneuernden Krieg ſchon jetzt ſich labe. Dieſe Empfindungen nach Erfodern des politiſchen Verhaͤltniſ¬ ſes zu verbergen, konnte nicht ſchwer fallen, da hier blos Formen zu erfuͤllen waren, an deren leichten Aus¬ tauſch, ſowie an die Unſicherheit ihres Inhalts, die Hof - und Staatswelt laͤngſt gewoͤhnt war, und Napo¬ leon naͤhrte jenen Sinn faſt gewaltſam, indem ſein Verfahren es nicht hehl hatte, daß er auf die oͤſterrei¬ chiſche Verbindung zwar den hoͤchſten Werth lege, ſofern ſie ihm ſchmeichle und ihn den Augen der Welt auf dem Gipfel der Groͤße zeige, daß er ſelbſt aber dadurch in nichts gebunden, noch zu irgend einer Ruͤckſicht bewo¬ gen ſein wolle; und wirklich war er nur in den Formen minder ſchroff, in den Sachen aber nach wie vor hartII. 17258und feindlich. Aus den herkoͤmmlichen und als ſolchen ausdruͤcklich vorgeſchriebenen und demnach nichts weite¬ res beſagenden Redensarten und Bezeigungen durfte die abgeneigte Geſinnung um ſo freier zu Zeiten her¬ vorblicken, als auch ein großer Theil der Franzoſen ſelbſt, und zwar der angeſehenſten und einflußreichſten, ihr zuſtimmte, und nicht blos die Altadelichen und heimlichen Royaliſten, die ſich zahlreich am neuen Hofe eingefunden hatten, ſondern ſogar Maͤnner, die ganz der Revolution oder auch allein dem Gluͤcke Napoleons anzugehoͤren ſchienen; ſie ſuchten ihrem durch des letz¬ tern Handlungsweiſe oft erregten Unwillen, ihrer durch vielfache Umſtaͤnde geſteigerten Oppoſition, gern einen auswaͤrtigen Anhalt, um ſo mehr, als ihnen jeder Eifer in dieſer Richtung jetzt nur guͤnſtig auszulegen, ja gleichſam als Schmeichelei fuͤr den Kaiſer geboten war, und ſie dabei, wenn ihr Vertrauen und Bemuͤhen wei¬ ter ging, in jedem Falle ſich auf dem Gebiete des unverbruͤchlichſten Geheimniſſes ſicher wußten. So ſchwach war die Herrſchaft Napoleons in der Zuneigung der Gemuͤther gegruͤndet, daß man in der großen Zahl ſei¬ ner hoͤheren Vertrauten, Diener, Guͤnſtlinge und ſon¬ ſtigen Angehoͤrigen, die er alle maͤchtig und reich gemacht, ſchon damals kaum drei oder vier, namentlich Duroc, Rapp und Savary, bezeichnete, auf deren wahr¬ hafte und unbedingte Hingebung er perſoͤnlich rechnen duͤrfte.

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Aber mehr als Politik und große Welt erfuͤllten mich die Gemuͤths - und Geiſtesneigungen, welche mir an dieſem Orte ſchon beſchieden waren, oder noch wer¬ den ſollten. Gleich am erſten Abende ſuchte und fand ich gluͤcklichſt meinen Freund Chamiſſo, der nicht wenig uͤberraſcht war, mich hier und ſo wiederzuſehen. Auch Immanuel Bekker, der halliſche Freund und Gefaͤhrte, ließ ſich auf der kaiſerlichen Bibliothek, dem taͤglichen Felde ſeines ſtaunenswerthen Fleißes, leicht erfragen. Schwerer war Koreff anzutreffen, der, als geiſtreicher und gluͤcklicher Arzt von der vornehmen Welt gewaltig in Anſpruch genommen, im eleganten Kabriolet faſt immer unterwegs war. Ganz unerwartet fand ich in der Galerie des Louvre die lieben Tuͤbinger, Ludwig Uhland und Pregitzer, und bald auch zeigte ſich aus Hamburg Karl Sieveking anweſend. Dieſen aͤltern Freunden reihten ſich ſchnell neue deutſche Bekanntſchaf¬ ten an, die an Reiz und Herzlichkeit mit jenen zum Theil wetteifern konnten. Ich nenne zuerſt den alten ehrwuͤrdigen Grafen von Schlabrendorf, dann den treff¬ lichen Bibliothekar Dr. Haſe, ferner einen juͤngern Harſcher aus Baſel, Olivier aus Deſſau, den lebens¬ frohen von Pilat, damals Privatſekretair des Grafen von Metternich; ſpaͤterhin wird auch noch Dr. Gall und endlich Alexander von Humboldt, hier zufaͤllig zuletzt, immer aber weſentlich als ein erſter, zu erwaͤhnen ſein.

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Wir Juͤngere lebten faſt jeden Tag gemeinſam, und unſre Beſchaͤftigungen, die jedem ſehr verſchieden und zum Theil ſehr ernſtlich und dringend oblagen, wovon ſpaͤterhin manches bedeutende Zeugniß kund geworden, wußten wir mit unſern Vergnuͤgungen, worin wir ganz uͤbereinſtimmten, auf das ſchoͤnſte zu verflechten. In dem Muſé Napoleon hatten wir unſern zuverlaͤſſigen Sammelort, nahmen von hieraus unſre Gaͤnge zu andern Merkwuͤrdigkeiten und Geſellſchaften, wo wir auf eigne Hand, abgezogen von der großen Welt, ein idylliſches, von geiſtigen und gemuͤthlichen Intereſſen erfuͤlltes Leben fuͤhrten, fuͤr welches ich mir von dem glaͤnzenden Kreiſe, dem ich nicht ganz fehlen durfte noch wollte, jeden moͤglichen Urlaub nahm. Unſre ſtillen Abende in dem damals ganz verlaſſenen, aber noch ſtets dem wetter¬ wendiſchen Publikum zum Trotz regelmaͤßig eroͤffneten und glaͤnzend erleuchteten Frascati, wo wir oft ganz allein die leeren Saͤle durchſchritten und der zahlreichen Dienerſchaft zu einiger Bewegung Anlaß gaben, der eben ſo ſtille Aufenthalt in einem ſchoͤnen Garten der Rue Richer, wo eine Verwandte Friedrich Schlegel's wohnte, die mancherlei deutſche und franzoͤſiſche Bezie¬ hungen um ſich her vereinigte, konnten wohl zu den erfreulichſten und ſeltſamſten Gebilden zu rechnen ſein, die aus dem gewoͤhnlichen Lebensgewuͤhl von Paris ſich als demſelben ungleichartig abſonderten und fort¬ erhielten.

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Das Intereſſe des Tages drang inzwiſchen uͤberall durch, und ſo hoͤrten wir denn auch von allen Seiten ſowohl die Feſtlichkeiten ruͤhmen, welche bereits voruͤber und von uns verſaͤumt waren, als auch beſonders das eine letzte Feſt hochpreiſend ankuͤndigen, durch das unſer Botſchafter die ganze Reihe der bisherigen glaͤnzend abſchließen und, wie Jedermann vorausſehe, uͤberbieten werde. Wirklich ſah man in dem Botſchaftshotel, und hauptſaͤchlich in dem weiten Gartenraume deſſelben, die umfaſſendſten Anſtalten taͤglich fortſchreiten, und bekam nach und nach einen Begriff von den verſchiedenen Theilen, aus welchen das Ganze zu einem wahren Wun¬ derwerke ſinnreicher und uͤppiger Pracht ſich aufgliedern ſollte. Man betrat mit unglaͤubigem Zweifel wieder¬ holt die Staͤtte, wo noch der Zimmermann geſchaͤftig war, und in wenigen Tagen ſchon ſeine rohe Arbeit unter dem koſtbarſten Prunke verſchwunden ſein mußte. Der 1. Juli war, nach manchem Verſchieben, als der Tag des Feſtes endlich angeſetzt, der Kaiſer und die Kaiſerin hatten die Einladung angenommen, und ſo ſtand dies Ziel unwiderruflich feſt. Der Eifer und die Huͤlfsmittel mußten nun verdoppelt werden, man arbei¬ tete die Naͤchte hindurch, deren Friſche den Werkleuten ſogar zur Erleichterung wurde, denn viel haͤrter war es, daß auch die brennende Mittagshitze des ſeit Wo¬ chen unabgekuͤhlten Himmels keine Raſt bringen durfte. Heiß waren Balken und Bretter anzufuͤhlen, noch heißer262 die Steine, welche taͤglich von der Sonne gegluͤht wurden; das Laub der Baͤume und Straͤucher verdorrte rings, und Raſen und Zweige, die gruͤnend dem Feſte dienen ſollten, mußten kuͤnſtlich erhalten werden. Ueber das Oertliche muͤſſen wir noch einiges Beſtimmtere angeben.

Der Botſchafter bewohnte das ehemalige Hotel de Monteſſon in der Rue de Montblanc, ein anſehnliches, zwiſchen Hof und Garten gelegenes Gebaͤude, das jedoch fuͤr die außerordentliche Feierlichkeit nicht genuͤgend ſchien; man hatte auch das nebenliegende Hotel fuͤr dieſe Zeit gemiethet, und uͤberall die noͤthige Verbindung ange¬ bracht. Dieſe weitlaͤuftigen Raͤume waren mit geſchick¬ ter Anordnung eingetheilt, und den verſchiedenen Scene¬ rien und Momenten des Feſtes zugewieſen. Zunaͤchſt den Prachtſaͤlen des erſten Hotels hatte man ſeitwaͤrts einen Gartenraum, der uͤber Gras und Blumen gegen die vertiefte Mitte hin zu einer maͤßigen Waſſerſtelle fuͤhrte, mit großen Balken uͤberlegt, und auf dieſen, nach damals in Paris uͤblicher und auch bei allen vori¬ gen Feſten angewandter Sitte, den ungeheuern Haupt¬ ſaal von ſtarkem Zimmerwerk aufgeſchlagen. Die fuͤr ſolchen Fall ſchon bewaͤhrten und empfohlenen Baumei¬ ſter hatten dieſen Aufbau, gleich den fruͤheren, ſo geſchickt als geſchmackvoll ausgefuͤhrt, und in dieſer Hinſicht war alles nur in der hergebrachten Ordnung geſchehen. Die Decke und die Seitenwaͤnde, nach außen263 mit Wachsleinwand uͤberhangen, wurden inwendig mit den praͤchtigſten Tapeten bekleidet, mit großen Spiegeln, Wandleuchtern, farbigen Lampen und glaͤnzendem Zier¬ rath ausgeſtattet, die Saͤulenbalken, welche den mittlern Raum von einer galerieartigen Umfaſſung abſonderten, mit den koſtbarſten Stoffen reich umhuͤllt, und durch zahlloſe Gewinde gemachter Blumen und durch Gehaͤnge von Muſſelin, Gaze und andern zarten Geweben ſchoͤn verbunden; maͤchtige Kronleuchter von Kryſtall ſchweb¬ ten im Innern, luftig getragen von gold - und ſilber¬ durchzogenen Blumenketten, durch Draperien und Baͤn¬ derſchleifen mit den uͤbrigen Verzierungen in gedraͤngter Fuͤlle zuſammenfließend. Im Hintergrunde des Saales, auf einer maͤßig erhoͤhten, mit golddurchwirkten Teppi¬ chen belegten Buͤhnenſtufe, waren zwei prachtvolle Thronſitze aufgeſtellt, vor dieſen gab der ſchoͤn zuſam¬ mengeſetzte und ſorgſam geglaͤttete Fußboden dem Tanze freien Raum. Der Saal hatte drei Ausgaͤnge; einer derſelben, im Hintergrunde, zunaͤchſt den Thronſitzen, fuͤhrte in das Innere des Hotels, und ſollte nur den noͤthigen Verkehr der Hausgenoſſen erleichtern; im Vor¬ grunde, nach der Gartenſeite hin, ging zuerſt links eine breite und lange Galerie ab, welche, gleicherweiſe wie der Saal gebaut und verziert, ſich laͤngs des Hotels hinzog, und deſſen Gemaͤchern wie dem Garten ſich in vielfacher Verbindung unmittelbar anfuͤgte; rechts, die¬ ſer Galerie gegenuͤber, in halber Hoͤhe des Saales,264 befand ſich eine Buͤhne fuͤr die Muſiker, zu der aber nur mittelſt einer aͤußern Treppe zu gelangen war; der Hauptausgang des Saales, ein praͤchtiges Portal, eroͤff¬ nete ſich in der Mitte des Vorgrundes, und fuͤhrte uͤber mehrere breit - und wohlgelegte Stufen in den Garten hinab, deſſen naͤchſter Raum hier auch fuͤr das Aus - und Einſtroͤmen einer großen Menſchenmenge gehoͤrig erweitert und eingerichtet war.

Fuͤr Pracht und Bequemlichkeit, fuͤr Ordnung und Angemeſſenheit, war von allen Seiten beſtens Sorge getragen, und nichts verſaͤumt, was dem Feſte zur Auszeichnung dienen konnte. Im Gefuͤhle jedoch, daß hier einmal, mitten in Paris und vor den Augen Na¬ poleons, auch die Deutſchheit ſich in voller Guͤltigkeit duͤrfe ſehen laſſen, hatte Jemand den Einfall gehabt, da doch uͤber dem Portal des Saales billig eine Inſchrift Platz finde, ſo muͤſſe der Nationalſtolz darauf beſtehen, daß ſie in deutſcher Sprache verfaßt ſei, und wenn ſich die Franzoſen daruͤber wundern und aͤrgern wollten, ſo moͤchten ſie es thun, denn ſie duͤrften es doch nicht allzu laut werden laſſen, da es die Sprache der Kaiſerin ſei, die man anwende, und die oͤſterreichiſche Botſchaft gewiß das Recht habe, bei einem jener zu Ehren gege¬ benen Feſte ihr, wie die Bilder, ſo auch die Sprache der Heimath zu vergegenwaͤrtigen. Dies fand allſeitige Zuſtimmung, und noch am letzten Tage wurde die Hand ans Werk gelegt. Fuͤr zwei Zeilen war der265 Raum leicht ermittelt, aber auch nur zwei Zeilen nicht ſogleich ſchicklich ausgeſonnen. Die es vielleicht beſſer gemacht haͤtten, z. B. ich ſelbſt, lehnten die Auffor¬ derung kluͤglich ab, und ſo drang freiwilliger Eifer um ſo leichter vor, und lieferte die beiden zwar nicht von beſtem Korn, aber doch von gehoͤrigem Schrot befundenen und durch den Reim wohlgeloͤtheten Alexan¬ driner:

Mit ſanfter Schoͤnheit Reiz ſtrahlt Heldenkraft verbunden,
Heil! Heil! die goldne Zeit iſt wieder uns gefunden!

Von Lapidarſtil eben kein Muſter, aber in Pappe fuͤr transparentes Oelpapier ausgeſchnitten von guter Wir¬ kung; die Hauptſache waren die deuten Lettern, und dieſe prangten in bedeutender Groͤße an ihrer hohen Stelle ſtolz genug.

Der große Tag war endlich angebrochen, und unter letzten raſchen Nachhuͤlfen ſchon großentheils dahinge¬ ſchwunden, die Anſtalten waren vollendet, und auch die Letztbeſchaͤftigten konnten ſich nun eilig und ganz der Sorge fuͤr die perſoͤnliche Erſcheinung widmen. Nichts war verſaͤumt, dieſe praͤchtig und geſchmackvoll auszu¬ ſtatten. Der Reichthum und die Schoͤnheit der oͤſter¬ reichiſchen Uniformen uͤberſtrahlte alles, was die Fran¬ zoſen in dieſer Art aufbieten konnten. Die Dienerſchaft, ſchon immer zahlreich und praͤchtig, war auf mehrere Hundert verſtaͤrkt, deren ein Theil in franzoͤſiſcher Staatskleidung prangte.

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Bei guter Zeit erſchien eine Abtheilung Grenadiere der kaiſerlichen Garde, und bezog als Ehren - und Sicherheitswache die angewieſenen Poſten. Noch war es heller Tag, als ſchon das ganze Hotel mit Ange¬ baͤuden und Garten in tauſendfacher Beleuchtung ſchim¬ merte, und zwiſchen dem zu beiden Seiten der Straßen gehaͤuften Volksgedraͤnge bereits die Wagen der Gaͤſte heranrollten. Saͤmmtliche Oeſterreicher hielten ſich zum Empfange der Ausſteigenden bereit, die Damen wurden mit ſchoͤnen Blumenſtraͤußen beſchenkt und zu dem großen Saale hinbegleitet.

Schon fuͤllten ſich die ringsgeſtellten Sitze deſſelben, und ſchon fluthete in ſeinem mittleren Raume die Be¬ wegung enger. Die Schoͤnheit, der Reiz, die Erlaucht¬ heit und Bedeutung der Perſonen wetteiferten ſteigend mit jedem Augenblicke. Schon waren Koͤnige und Koͤniginnen eingefuͤhrt, aber dieſe ſelbſt harrten noch der hoͤchſten Erſcheinung. Endlich verkuͤndigte der krie¬ geriſche Befehlsruf und das Anſchlagen der Waffen, dann das Wirbeln der Trommeln und das Schmettern der Kriegsmuſik die Ankunft des Kaiſers und der Kaiſerin, deren Prachtwagen unter zahlreicher Beglei¬ tung zwiſchen den aufgeſtellten Truppenreihen glaͤnzend einfuhr. An den Stufen des Eingangs empfingen die Familien Schwarzenberg und Metternich dieſe erhabenen Gaͤſte, der Botſchafter hielt eine kurze Anrede, und die fuͤrſtlichen Frauen uͤberreichten auserleſene friſche Blumen,267 welche der Kaiſer annahm und ſeiner Gemahlin ein¬ haͤndigte, darauf ihr den Arm gab und ſie in das Innere fuͤhrte, geleitet von dem Botſchafter, und gefolgt von nachdringenden dichten Schaaren. Ich ſah den Kaiſer hier ganz nah, und blickte ihn feſt an; zum erſten Male war ich von der Schoͤnheit ſeiner Geſichts¬ zuͤge getroffen, aber auch von der Macht ſeines eiſernen Ausſehens. Seine Miene war ſtreng, unbiegſam, faſt boͤſe, ſein Blick vor ſich hingeworfen, von Freundlichkeit keine Spur, aus dieſem Munde konnten jeden Augen¬ blick furchtbare Befehlsworte hervorgehen. Ich ſuchte dieſem Eindrucke, der mich befangen wollte, Trotz zu bieten, und es gelang mir, ihn ſoweit zu bemeiſtern, daß ich Gedanken verfolgen konnte, deren ſich zu ruͤhmen damals nicht rathſam geweſen waͤre.

Unter ſchmetternden Fanfaren ſchritt der Kaiſer durch die Vorſaͤle und die erwaͤhnte Galerie bis in den Hauptſaal, wo er einige Minuten verweilte, den Ort und die Menſchenmenge mit ſcharfen Blicken fluͤchtig uͤberſchaute, die dargebotenen Erfriſchungen zuruͤckwies, und mit wenigen abgeriſſenen Worten einige naͤchſt¬ ſtehende Perſonen nachlaͤſſig anredete. Auf die Ein¬ ladung des Botſchafters zu einem Gange durch den Garten, folgte er nebſt der Kaiſerin dem vortretenden Fuͤhrer durch das Portal, und die ganze Verſammlung zog gedraͤngt nach. In den kunſtreich erleuchteten Gaͤngen und Gebuͤſchen waren an gewaͤhlten Punkten268 Saͤnger - und Muſikchoͤre vertheilt, die bei Annaͤherung des Kaiſers ihre Lieder und Harmonien begannen, und ſolchergeſtalt dem Fortſchreitenden eine ununterbrochene Triumphbegleitung bildeten. Andere ſchmeichelhafte Ueberraſchungen, Sinnbilder und Anſpielungen, waren gleichzeitig fuͤr das Auge vorbereitet.

Vor einem großen, ſorgfaͤltig geebneten Raſenplatze wurde Halt gemacht, fuͤr das kaiſerliche Paar und einige andere hoͤchſte Perſonen waren Sitze geordnet, und die Ausſicht von da geradehin auf das Schloß Laxenburg gerichtet, das in gluͤcklicher Nachbildung taͤuſchend da¬ ſtand. Um den heimathlichen Erinnerungen der Kaiſerin noch lebendiger zu ſchmeicheln, erſchienen aus den Ge¬ buͤſchen, welche eine laͤndliche Buͤhne begraͤnzten, in oͤſterreichiſcher Tracht Taͤnzer und Taͤnzerinnen, es waren die der großen Oper, und ſie fuͤhrten mit un¬ uͤbertrefflicher Kunſt oͤſterreichiſche Volkstaͤnze und eine artige Pantomime auf, welche fuͤr dieſen Anlaß eigends ausgeſonnen war; Krieg und Frieden ſpielten darin die Hauptrollen, von jenem blieben nach allen Schreckniſſen nur glorreiche Siegesehren zuruͤck, und dieſer vereinte mit ihnen ſeine gabenreichen Segnungen.

Dieſes Schauſpiel endete kaum, als die Aufmerk¬ ſamkeit ſchon durch einen neuen Gegenſtand angezogen war. Wiederholtes Peitſchenknallen und andringendes Pferdegeſtampf verkuͤndigte einen Kurier, der beſtaͤubt mitten aus der glaͤnzenden und geſchmuͤckten Verſamm¬269 lung hervordrang, ſich achtlos bis zu dem Kaiſer Bahn machte, und ihm beeifert ſeine Depeſchen uͤberreichte. Ein freudiges Gemurmel von großen Siegesnachrichten aus Spanien durchlief einen Augenblick die geſpannte Menge, allein der Kaiſer, der im Geheimniß war, ſagte ſogleich mit Laͤcheln, es ſeien Briefſchaften aus Wien, und ſtellte der Kaiſerin ein wirkliches Schreiben ihrers Vaters zu, welches fuͤr den Gebrauch eines ſolchen Augenblicks eigends abgefaßt und dafuͤr aufbe¬ wahrt worden war.

Nach dieſer Scene, die nicht ohne heitre Theilnahme der Zuſchauer voruͤberging, wurden die Sinne wieder in vollen Anſpruch genommen durch ein ploͤtzlich auf¬ blitzendes Feuerwerk, bei welchem die Kunſt alle ihre Erfindung angeſtrengt und keine Verſchwendung geſcheut hatte. Mitten im feuerſpruͤhenden Getoͤſe drangen jedoch ploͤtzlich zwiſchen den kunſtgerechten auch wilde Flammen hervor, durch einen Zufall war eines der Geruͤſte in Brand gerathen, und der Anblick erregte Beſorgniß und Unruhe; allein mit groͤßter Schnelligkeit ruͤckten die ſchon bereitgeſtandenen Spritzenleute aus ihrem Hinterhalte zum Loͤſchen heran, und ſogleich war auch der Brand gluͤcklich erſtickt. Man freute ſich des raſchen Erfolgs, belobte die Anſtalten und den Eifer der Leute, und Niemand dachte, daß ſchon im naͤchſten Augenblicke ihre Huͤlfe noch dringender noͤthig, und, wo nicht gaͤnzlich vermißt, doch durchaus unzureichend ſein wuͤrde!

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Der glaͤnzende Zug hatte ſich ſchon wieder in Be¬ wegung geſetzt, und war durch mannigfach geſchmuͤckte Wege allmaͤhlig zu dem großen Saale zuruͤckgelangt. Hier brannte die deutſche Inſchrift uͤber dem Portal den Kommenden hell entgegen, und wurde geleſen, buchſtabirt, gedolmetſcht. Der Kaiſer ſoll anfangs uͤber die fremde Sprache geſtutzt, dann aber ſchnoͤde gelaͤchelt haben, und manche franzoͤſiſche Anmerkung gloſſirte den deutſchen Text. Von abermaligen Fanfaren begruͤßt, traten der Kaiſer und die Kaiſerin in den Saal, nah¬ men die im Grunde deſſelben bereiteten Sitze ein, und die Muſik fuͤr den Tanz hob unverzuͤglich an. Die Zeit neigte ſich ſchon zur Mitternacht. Der glaͤnzendſte und ſchwierigſte Theil des Feſtes war zuruͤckgelegt, der noch uͤbrige beſtens im Gange, und Ball und Banket ver¬ hießen ihm in rauſchenden Freuden und uͤppigen Genuͤſſen die prunkvollſte Dauer bis zum andern Morgen. Die Koͤnigin von Neapel hatte den Ball mit dem Fuͤrſten von Eſterhazy und der Vicekoͤnig Eugen von Italien mit der Fuͤrſtin von Schwarzenberg, der Schwaͤgerin des Botſchafters, eroͤffnet.

Nach den Quadrillen wurde eine Ecoſſaiſe getanzt. Waͤhrend dieſes Tanzes waren der Kaiſer und die Kai¬ ſerin aufgeſtanden und nach entgegengeſetzten Seiten laͤngs den Reihen der Zuſchauenden vorgetreten, wandten das Wort an mehrere Perſonen, und ließen ſich einige zum erſten Mal Erſcheinende vorſtellen. Die Kaiſerin271 beendigte ihren Umgang ſehr bald, und war bereits zu ihrem Seſſel zuruͤckgekehrt, der Kaiſer aber weilte noch am andern Ende des Saales, wo ihm ſo eben durch die Fuͤrſtin Pauline von Schwarzenberg, geborne Prin¬ zeſſin von Aremberg und Schwaͤgerin des Botſchafters, ihre Toͤchter waren vorgeſtellt worden, und er ſetzte hin und wieder einiges Geſpraͤch fort, als unverſehens nahebei, in der hinter den Saͤulen umlaufenden Galerie, unfern des Ausgangs zu der großen Galerie, welche den Saal mit dem Hotel verband, eine der tauſend Kerzen und Lampen ihre Flamme, von einem zufaͤlligen Luftſtrome bewegt, gegen eine leichte Gaze zuͤngeln ließ, welche kaum beruͤhrt ſogleich aufflackerte und einen augen¬ blicklichen hellen Schein gab, der indeß gleich wieder verſchwand, und nur noch ſchwach in ein paar getheilten Flocken nachſchimmerte. So gering war die Sache anfangs anzuſehen, daß der Graf von Bentheim durch Anwerfen ſeines Hutes eines der Flaͤmmchen gluͤcklich erſticken konnte, der Graf Dumanoir aber, Kammerherr des Kaiſers, an einem der Saͤulenbalken emporkletternd einen Theil des ſchon im Fallen erloͤſchenden zarten Gewebes herabriß und auf dem Boden voͤllig austrat. Einige Flocken jedoch hatten ſich ſchon aufwaͤrts mitge¬ theilt, hoͤhere Gehaͤnge, den Haͤnden nicht mehr erreich¬ bar, nahmen das Feuer an, und augenblicklich ſchlugen in verſchiedenen Richtungen raſche Flammen auf, die uͤberall in naͤhrende Stoffe fielen, uͤber dem Sims der272 Saͤulen hin unaufhaltſam in den hoͤheren Mittelraum des Saales uͤberſprangen, und ſchnell die ganze Decke des Saales durchkreuzten. Die Muſik verſtummte, und erſchreckt verließen die Muſiker ihre zunaͤchſt bedrohte Buͤhne, die zu einer aͤußern Treppe fuͤhrende Thuͤre ließ eine ſtuͤrmiſche Gewitterluft eindringen, welche mit aller Wuth in die Flammen ſtuͤrzte, und ſie noch wilder anfachte. Der Tanz war ſchon aufgeloͤſt, man draͤngte verworren durcheinander, doch ſuchte man nur erſt zu faſſen, was geſchah, was geſchehen koͤnne.

Napoleon hatte den Urſprung der Sache mit ange¬ ſehen, und wurde daher durch kein falſches Urtheil geſtoͤrt, er war zu der Kaiſerin getreten, und ſtand kalt und ruhig, den weitern Verlauf beobachtend, waͤh¬ rend mehrere ſeiner Getreuen, die im erſten Taumel Verrath und ſchwarze Verbrechen fuͤrchteten, ſich unge¬ ſtuͤm zu ihm durchdraͤngten und zu ſeinem Schutze die Degen zogen. Der oͤſterreichiſche Botſchafter jedoch, voll Ruhe und Wuͤrde, war dem Kaiſer unverruͤckt zur Seite geblieben, und als er die Flammen mit erſchrecken¬ der Eile weitergreifen ſah, foderte er ihn dringend auf, den Saal, der nicht zu retten ſein wuͤrde, augenblick¬ lich zu verlaſſen. Napoleon ohne zu antworten, gab der Kaiſerin ſogleich den Arm, und folgte dem Bot¬ ſchafter gemeßnen Schrittes zu dem Gartenportale, indem er die rechts und links raumgebende Menge mit kurzen Worten zur Ordnung und Beſonnenheit ermahnte. Auch273 hielt ſich Alles in leidlicher Faſſung, bis der Kaiſer hinausgetreten war, dann aber hoͤrte jede Ruͤckſicht auf, und angſtvoll und gewaltſam draͤngte ſich die tobende Maſſe dem Ausgange zu.

Der Botſchafter hatte kaum vernommen, daß der Kaiſer ſogleich wegfahren wolle, als er auch ſchon mit klugem Vorbedachte von unterwegs einen ſeiner Adju¬ tanten abſchickte, um die kaiſerlichen Wagen von dem Hofe des Hotels, wo ſie hielten, und wo jetzt die groͤßte Verwirrung und Gefahr zu befuͤrchten ſtand, nach einer ſtilleren Seitenſtraße beordern zu laſſen, die den Garten begraͤnzte, und wo der Kaiſer an einer kleinen Pforte ungeſtoͤrt einſteigen, und unbemerkt abfahren, dadurch aber jedem Anſchlage, wenn ein ſolcher mit dieſem ungluͤcklichen Zufalle ſich verbinden moͤchte, am ſicherſten entgehen konnte. Allein Napoleon, bei dem weiteren Gange durch den Garten ſogleich der veraͤnderten Rich¬ tung inne, ſtand ploͤtzlich ſtill, fragte wohin man ihn fuͤhre, und den erhaltenen Beſcheid des Botſchafters nicht gutheißend ſagte er kurz und beſtimmt: Nein, nach der Hauptpforte will ich, kehrte ſtracks um, und hieß die Wagen, welche ſchon in die Seitenſtraße ein¬ gelenkt hatten, an die erſte Stelle zuruͤckfahren, wodurch ein großer Zeitverluſt entſtand, welchen der Botſchafter in qualvoller Unruhe, doch aͤußerlich gelaſſen, Napoleon aber mit vieler Geduld abwartete, indem er einen feind¬ lichen Streich dort viel eher als hier fuͤr moͤglich zuII. 18274halten ſchien. Die Angabe des Moniteurs, daß der Kaiſer bei der Gartenpforte eingeſtiegen ſei, iſt, wie manche andre jener Schilderung des Vorganges, eine irrthuͤmliche.

Spaͤterhin erſt wurden dieſe Umſtaͤnde mir aus dem Munde der unmittelbaren Zeugen ſo genau bekannt. Wie mich ſelbſt aber das Ereigniß zunaͤchſt traf und in Anſpruch nahm, will ich kuͤrzlich angeben.

Ich war aus der ungeheuern Hitze, welche durch das Gewuͤhl der Menſchen im Saale auf einen uner¬ traͤglichen Grad geſteigert wurde, einen Augenblick zuruͤck¬ gewichen, und ſuchte in der freieren Galerie friſche Luft zu athmen, als das Geſchwirr und Geraͤuſch des Feſtes unerwartet in einen anderartigen Laͤrm uͤberging; ich hoͤre hinter mir einzelne Schreie, aufbrauſende verwirrte Stimmen, ich wende mich um, und will neugierig zu dem Saale zuruͤckkehren, mein erſter Blick ſieht helle Flammen zucken, die ſich raſch ausbreiten; aber weder Zeit zum Erkennen noch Raum zum Vordringen iſt mehr frei, eine wogende Menſchenfluth ſtroͤmt auf mich ein, und reißt mich ungeſtuͤm in ihrer Bahn fort; einige ſtarkbeleibte Generale, die voll Entſetzen ſchrieen: O mein Gott, der Kaiſer, der Kaiſer iſt nicht geret¬ tet, und Andre, die ebenſo nach Waſſer riefen, hatten mich ſo in ihre Flucht verwickelt, daß ich mich erſt im dritten Zimmer von ihnen losmachen und nach dem Schauplatze des Unheils zuruͤckeilen konnte. Hier hatte275 die Galerie ihre Fluͤchtenden ſchon groͤßtentheils in den Garten entlaſſen, der Zugang war durch Menſchen nicht mehr verſperrt, allein der ganze Saal ſtand in heller Gluth, waͤhrend an dem Portale noch ein furchtbares Fluchtgedraͤnge wogte, das unter entſetzlichem Weh - und Angſtgeſchrei mit gewaltſamer Eile in den Garten abſtuͤrzte, waͤhrend von innen die Flammen jeden Mo¬ ment in verſtaͤrkter Wuth nach ihrer Beute griffen, gluͤhende Rauchwolken wirbelnd aufſtiegen, ſchwere Kron¬ leuchter praſſelnd niederfielen, Latten, Bretter und Balken brennend uͤbereinander ſtuͤrzten, und der ganze Raum nur Gluth und Zerſtoͤrung zeigte. Das in der Sommerhitze viele Tage hindurch ausgedoͤrrte Holz, die feuerfangenden Stoffe aller Art, die Farbenfirniſſe, die Bekleidungen, Alles brannte wie vorbereitet zum Luſt¬ feuer, die Eimer Waſſers, die man hineingoß, zerſtiebten augenblicklich in Daͤmpfe, und uͤberall fand die Gluth Nahrung, nirgends Einhalt. Kein Gedanke an Huͤlfe, an Rettung, konnte hier aufkommen. Schneller, als hier es ſich leſen laͤßt, war Alles geſchehen, und in den paar Augenblicken, die ich zum Heraneilen und Hineinſchauen im Fluge verwendete, liefen auch uͤber mir ſelbſt die Flammen an der Decke der Galerie ſchon weit hinaus, fielen in meinem Ruͤcken ſchon brennende Draperien, Lampen und Leuchter herab, und ich durfte nicht ſaͤumen, ehe der Weg verſperrt wurde, in den Garten zu entkommen.

18 *276

Hier zeigte ſich nun das graͤßlichſte, bewegteſte Schau¬ ſpiel! Wer vermoͤchte es zu beſchreiben! Das ganze Feſtbauwerk loderte in Flammenſaͤulen empor, die noch eben in dieſen geſchmuͤckten Raͤumen verſammelte Welt, an Pracht, Schoͤnheit, Auszeichnung und Bedeutung jeder Art ein Inbegriff der Herrlichkeiten Europas, brauſte aufgeloͤſt durcheinander; allgemeiner Schrecken, perſoͤnliche Gefahr, Angſt und Sorge fuͤr die Naͤchſten, waren an die Stelle des freudigen Reizes, der ehr¬ geizigen Spannung getreten. Man ſuchte und rief die Seinigen, man durchbrach ruͤckſichtslos das Gedraͤnge, jeder hatte nur ſein perſoͤnliches Ziel im Auge, ſtieß hinweg, was ihn hemmte, trat ohne Wahrnehmung daruͤber hin. Maͤnner ſuchten ihre Frauen, Muͤtter waren von ihren Toͤchtern getrennt, hatten ſie zuletzt nur in den Reihen des Tanzes noch geſehen, oder dort gluͤcklich fortgezogen, ohne ſie an der Hand behalten zu koͤnnen. Keiner wußte das Schickſal des andern, man hoͤrte Jammernde und heftig Tobende, man erblickte Andre, die ſich mit leidenſchaftlicher Freude den wiederge¬ fundnen Lieben in die Arme warfen, man ſah Ohnmaͤch¬ tige, Verwundete. Die Stufen des Portals waren unter der Laſt der Rettungſuchenden eingebrochen, viele Per¬ ſonen geſtuͤrzt, von Nachdringenden zertreten, von fal¬ lenden Braͤnden ſchwer verletzt, von den Flammen ereilt worden. Die Koͤnigin von Neapel war zu Boden geſun¬ ken, der Großherzog von Wuͤrzburg wurde ihr Retter. 277Die Koͤnigin von Weſtphalen dankte ihrem Gemahl und dem Grafen von Metternich die Rettung aus groͤßter Gefahr. Der ruſſiſche Botſchafter, Fuͤrſt von Kurakin, wurde brennend und ohnmaͤchtig durch den Dr. Koreff mit Huͤlfe oͤſterreichiſcher und franzoͤſiſcher Officiere aus dem Gewuͤhl hervorgezogen, und von andern huͤlfreichen Haͤnden mit Pfuͤtzenwaſſer geloͤſcht, waͤhrend noch andre ihm die diamantnen Knoͤpfe vom Rock ſchnitten. Beſon¬ ders hatten viele Frauen das Ungluͤck, durch das Feuer an ihren leicht brennbaren Kleidern erfaßt und lebens¬ gefaͤhrlich verwundet zu werden.

Zwiſchen dieſes Gewuͤhl draͤngten ſich die Diener und Arbeiter aller Art, die theils fuͤr die Aufwartung, theils fuͤr andre Beduͤrfniſſe der Feſtlichkeit zahlreich vorhanden waren, und jeder Unterſchied des Standes ſchien aufgehoben, nie wurde Stern und Ordens¬ band gleichguͤltiger behandelt, die Hoheit und Majeſtaͤt weniger angeſehen. Auch die vom Trinken abgerufenen Spritzenleute machten ſich fuͤr ihre ſpaͤte Huͤlfleiſtung gewaltthaͤtig Raum, und die von feſtlicher Bewirthung aufgeſchreckten Taͤnzer und Taͤnzerinnen draͤngten ſich in ihren flitterhaften Koſtuͤmen und mit noch geſchmink¬ ten Geſichtern neugierig zwiſchen dem reichen Prunk und Staat der ſtolzen Hofwelt umher, die in ſolcher Zerruͤttung jede Gleichheit unbeachtet walten ließ.

Mit leidenſchaftlicher Innigkeit hatte der Fuͤrſt Joſeph von Schwarzenberg im Garten ſeine gerettete, doch278 ſchwer verletzte Tochter umarmt, aber um ſo verzweif¬ lungsvoller ſuchte er nun die noch vermißte Gattin. Die Tochter war an ihrer Seite geweſen, aber durch brennendes Gebaͤlk, das zwiſchen beide niederſtuͤrzte, von ihr getrennt worden, und ſie hatte darauf die Mutter aus den Augen verloren. Wir ſchalten hier am beſten die Worte ein, mit welchen der Major von Prokeſch, in ſeinen leſenswerthen Denkwuͤrdigkeiten Schwarzen¬ berg's, die folgenden Umſtaͤnde wiedergiebt: Der Fuͤrſt Joſeph hatte, als der Brand ausbrach, unfern der Kaiſerin im Geſpraͤche geſtanden. Er wandte ſich auf den erſten Ruf der Gefahr hin nach dem Raume, wo die Reihen der Tanzenden ſo eben zerſtoben, und wies noch, da ihm die Gemahlin des Prinzen Eugen ent¬ gegenkam, dieſer und dem Vicekoͤnige ſelbſt eine nahe Seitenthuͤre, durch welche beide entkamen. Im Saale kaͤmpften bereits Flammen und Dampf um die Herr¬ ſchaft. Er eilte hinauf, hinab; er fand ſeine Gemahlin nicht. Er gelangte gluͤcklich uͤber die Treppe in den Garten; er fragte dieſen, jenen; man wollte ſie geſehen haben; man verſicherte endlich ſogar mit Gewißheit, ſie ſei bereits im Garten. Dort iſt ſie! rief eine Stimme ihm zu. Er ſtuͤrzt nach dem Orte hin, und es iſt eine Dame, die ihr aͤhnlich ſah. Da faßt ſeine Seele unnennbares Grauen. Die Folter der Ahndung, die ihn ergriffen hatte, war alle Grade durchgelaufen, und die Gewißheit leuchtete, ein ſchrecklicherer Brand, vor279 ihm auf. Er kehrt zuruͤck zum Saale. Die Treppe iſt geſtuͤrzt. Uebereinander waͤlzt ſich die fallende Menge. Man bringt ſein Kind halb verbrannt in ſchonender Verhuͤllung vorbei. Man ſchleppt die Gemahlin ſeines Bruders, der aller Schmuck vom Haupte getreten war, an ihm voruͤber. Sein Blick faͤllt, in der fuͤrchterlichen Beleuchtung des Brandes, auf eine winſelnde Geſtalt, der das Kleid am Leibe verzehrt und das ganze Diadem tief in die Stirne gegluͤht war. Es iſt die Fuͤrſtin von der Leyen. Ein ſchwediſcher Officier, der dieſe ſo eben aus dem Saale getragen hatte, verſichert, mitten in den Flammen eine Geſtalt wandeln geſehen zu haben, wunderbar zugleich und entſetzlich! Fuͤrſt Joſeph kommt an den Eingang. Er will hinaufklettern uͤber die bren¬ nenden Stufen. Da ſtuͤrzt mit dumpfem Geraſſel die ganze Fußdecke des Saales ein, und wie aus hohler Eſſe wallt Rauch und Gluth aus den Truͤmmern empor. Alles iſt verloren.

So weit dieſer Bericht. Seit dem Ausbruche des Feuers bis zu dieſem bezeichneten Augenblicke war kaum eine Viertelſtunde verfloſſen, und ich fortwaͤhrend auf dem Schauplatze des Ereigniſſes zugegen. Die mannig¬ fachſte Huͤlfsthaͤtigkeit fuͤr die Beſchaͤdigten, Suchenden, Auffodernden, und die ſtuͤrmende Eile aller Vorgaͤnge ließen den fluͤchtig aufgedrungenen Eindruͤcken keine ſorg¬ ſame Pruͤfung zu. Allein fuͤr manche Angaben durften ſowohl die Wahrnehmungen des einzelnen Beobachters,280 als auch die allſeitigen damit verglichenen Ausſagen aller andern Augenzeugen ein ziemlich feſtes Ergebniß liefern. Wenn der Moniteur die Fuͤrſtin von Schwar¬ zenberg ſchon außerhalb des Saales, im Garten, mit dem Koͤnige von Weſtphalen, dem Fuͤrſten Borgheſe und dem Grafen Regnauld ſprechen laͤßt, ſo iſt dies zuverlaͤſſig unbegruͤndet; die Verwechslung des Namens war ſo leicht, auch konnte gutgemeinte Abſicht ſolche Verſicherung im Augenblicke hervorrufen. Wenn aber gar der ehemalige Palaſtpraͤfekt von Beauſſet in ſeinen Denkwuͤrdigkeiten erzaͤhlt: On vit s’élancer une femme jeune, belle, d' une taille élégante, ... poussant des cris douloureux, des cris de mère ... und in dieſer Weiſe fortfaͤhrt, die désolante appari¬ tion zu beſchreiben, ſo folgt er lediglich einer dichte¬ riſchen Einbildung. Niemand hat die ungluͤckliche Fuͤrſtin als ſchon gerettete außerhalb des Saales geſehen oder geſprochen, Niemand ſie in denſelben zuruͤckkehren geſehen. Eine ſolche Ruͤckkehr waͤre ſogar eine voͤllige Unmoͤglich¬ keit geweſen. In der erſten Zeit wuͤrde der entgegen¬ ſtuͤrzende Menſchenſtrom es verhindert haben, und gleich nachher, ehe dieſer noch ganz verſiegt war, die unge¬ heure Gluth ſelber, welcher ihn jagte und ſchon ereilte, und unmittelbar ſeine Stelle einnahm. Dieſe Gluth wurde in wenigen Minuten ſo heftig, daß man dem brennenden Eingange, wie ich als Augenzeuge, der ſelber das Aeußerſte hierin verſucht, betheuern darf,281 auf zehn Schritte nicht ohne die Gefahr nahen konnte, in dem verſengenden Anhauche des toͤdtlichen Qualms niederzuſtuͤrzen, ja ſelbſt der Blick vermochte in dieſes Meer von Flammen und Rauch nicht mehr einzudrin¬ gen, und die erwaͤhnten Darſtellungen, ſo wie jede kuͤnftige, ſind nach dieſen verbuͤrgten Angaben zu berich¬ tigen. Von dem Schickſale der Fuͤrſtin hatte man anfangs noch keine ſo ſchlimme Vermuthung, man durfte ſie gerettet hoffen, ſie konnte mit andern Perſonen weggefahren, ſie konnte ohnmaͤchtig irgendwo im Gar¬ ten hingeſunken, oder unerkannt in einem der Nachbar¬ haͤuſer aufgenommen ſein; man hoͤrte nicht auf, ſie zu ſuchen, zu erforſchen, und der ungluͤckliche Fuͤrſt Joſeph erſchoͤpfte ſich in thaͤtiger Nachfrage, in Sendungen und Verſprechungen.

Mittlerweile waren Saal und Galerie voͤllig nieder¬ gebrannt, und ungeachtet die Feuerſpritzen ſchon eine Weile thaͤtig wirkten, hatte die Flamme doch das Hotel ſelbſt ergriffen, und drohte auch dieſes in Aſche zu legen. Das Archiv gerieth zuerſt in Gefahr, es zu retten war die groͤßte Anſtrengung noͤthig; alle Oeſterreicher legten Hand an, Waſſer zu tragen, Geraͤthe fortzuſchaffen, Haken und Aexte, wo es noͤthig, anzuwenden. Man warf Hut und Degen ab, ſelbſt die Uniform, die in der Hitze nur laͤſtig, und wie die ganze Bekleidung, durch Brand, Waſſer und Arbeit ſchon vielfach beſchaͤ¬ digt war.

282

Die Fremden hatten ſich groͤßtentheils verzogen; nur noch die naͤheren Angehoͤrigen und einige vertraute Bekannte des Hauſes, ſowie mehrere franzoͤſiſche amtliche Perſonen arbeiteten und forſchten noch immer auf dem Schauplatze ſo großen Unheils und Jammers. Anſtatt der geſchmuͤckten und frohen Gaͤſte fuͤllten kaiſerliche Garde¬ ſoldaten, durch herbeigeeilte Verſtaͤrkung wohl gegen tauſend Mann betragend, den Hof, die Saͤle und den Garten, und dieſer neue ernſtpraͤchtige Anblick ergriff das Gemuͤth durch den Kontraſt mit eigenthuͤmlicher Macht. Ein noch ſtaͤrkerer Eindruck ſtand bevor.

Der Kaiſer hatte die Kaiſerin nur bis zu ihrem Wagengefolge gebracht, das zur Ruͤckfahrt nach St. Cloud in den elyſaͤiſchen Feldern ihrer harrte, und war dann nebſt einem Adjutanten ſtracks zuruͤckgekehrt. Unver¬ muthet trat er hervor im grauen Ueberrock, und ſein Erſcheinen verbreitete Ernſt und Schweigen. Er hieß alle vorhandene Fremden ſogleich den Platz raͤumen, befahl die Zugaͤnge uͤberall zu beſetzen, und ordnete ſelbſt die Anſtalten gegen das noch nicht voͤllig bezwun¬ gene Feuer; der Waſſerſtrahl einer Spritze ſoll ihn hie¬ bei unverſehens getroffen und faſt umgeworfen haben, ohne daß er ſich dadurch ſtoͤren ließ. Die Erkundigun¬ gen uͤber die Beſchaͤdigten brachten nunmehr bald eine zuverlaͤſſige Ueberſicht zuwege, die Nachforſchungen wegen der noch ſtets vermißten Fuͤrſtin wurde mit durchgrei¬ fender Macht betrieben. Zugleich ging ein furchtbares283 Gericht uͤber die Anſtalten und die dabei betheiligten Behoͤrden. Der Polizeipraͤfekt von Paris, Graf Dubois, hatte einen harten Stand, er ſollte Alles wiſſen, Allem vorgeſehen haben, von Allem Rechenſchaft geben; die rauhe Strenge Napoleons beeiferte den geſchmeidigen Diener nur zu erhoͤhter Thaͤtigkeit, er entſchuldigte ſich nur leiſe, wandte ſich nach allen Seiten, ordnend, bittend, fragend, jeden Augenblick zu dem Kaiſer zuruͤckeilend, und ihm die inzwiſchen angehaͤuften neuen Vorwuͤrfe und anfahrenden Worte demuͤthig abnehmend. Am ſchlimmſten erging es dem Anfuͤhrer der Spritzenleute. Der General, Graf Hulin, der ſeinen Eifer zeigen und auch wohl zu eignem Beſten den Zornausbruͤchen des Kaiſers einen Gegenſtand anweiſen wollte, ſtuͤrmte mit brutaler Gewalt auf den armen Mann los, ſtieß ihn mit der Fauſt mehrmals vor die Bruſt und trat mit dem Fuße nach dem Zuruͤcktaumelnden, unter heftigen Vorwuͤrfen und Schimpfreden; Napoleon ſah ſtreng und blitzend in einiger Entfernung zu. Der Auftritt endete mit Verhaftung und Hinwegfuͤhrung des Spritzen¬ meiſters, der nach langer Gefaͤngnißſtrafe ſchimpflich aus dem Dienſt entlaſſen wurde. Von einiger Schuld der Fahrlaͤſſigkeit mag er, wie der Herzog von Rovigo behauptet, nicht freizuſprechen geweſen ſein, die Huͤlfe war nicht ſchlagfertig, nicht im erſten Augenblicke wirk¬ ſam, allein es gab damals viele Stimmen, die ihn entſchuldigten, und allgemein war die Ueberzeugung,284 daß ſchon bei dem Austritte des Kaiſers aus dem Saale, und vorher konnte keine Spritze auf dem Platze, ja kaum gerufen ſein, keine Macht der Loͤſchanſtalten das brennende Gebaͤude koͤnnte gerettet haben.

Indeſſen wurden die Bemuͤhungen, uͤber das Ge¬ ſchick der vermißten Fuͤrſtin Auskunft zu erlangen, heftig und angſtvoll fortgeſetzt. Die vornehmen Hof - und Staatsdiener Napoleons flogen hin und her, die Boten eilten nach allen Richtungen und kamen wieder, immer fruchtlos, nirgends war eine Spur der Geretteten ſo wenig als der Verungluͤckten zu finden. Alle Wohnun¬ gen der Freunde und Bekannten waren beſchickt, die ganze Nachbarſchaft, jeder Winkel des Gartens, und auch die noch ſpruͤhende Brandſtaͤtte ſo viel als moͤglich durchſucht; Alles umſonſt. Ein Bild des troſtloſeſten Jammers irrte der ungluͤckliche Fuͤrſt umher, bald in den Gartengaͤngen, bald in den Saͤlen erſcheinend, die koͤrperliche Erſchoͤpfung ließ ihn faſt ſchon zuſammen¬ ſinken, waͤhrend die Qual des Gemuͤths ihn zu immer neuen Anſtrengungen aufregte. Man ſuchte ihn fortzu¬ bringen, zu beruhigen, aber nichts wirkte auf ihn, auch die Gegenwart und Anrede des Kaiſers glitten ſtumpf an dieſer ſtarren Verzweiflung ab.

Napoleon, des fruchtloſen Daſeins uͤberdruͤſſig, und, nachdem das Feuer bis auf einzelne Gluthſtellen bezwun¬ gen worden, ſchon ohne Gegenſtand perſoͤnlicher Thaͤ¬285 tigkeit, kehrte nach St. Cloud zuruͤck. Die Grenadiere ſeiner Garde aber richteten ſich zum Uebernachten ein, und ſelten mag ein Biwack ſo glaͤnzende und koͤſtliche Bewirthung gefunden haben. Die fuͤr das Gaſtmahl des Hofes beſtimmten Speiſen und Weine wurden ohne vielen Unterſchied ausgetheilt.

Auch wir Andern, nach ſo vielfacher Arbeit und Erregung endlich muͤßig und matt, von den aufein¬ ander gefolgten heftigen Eindruͤcken verſtoͤrt und uͤber¬ waͤltigt, mußten zuletzt Erholung und Staͤrkung ſuchen, ſetzten uns zu den erſten den beſten der reichgedeckten Tiſche, und genoſſen der vorhandnen Labung. Begierig tauſchten wir jetzt unſre einzelnen Wahrnehmungen und Vermuthungen aus, hier erlaͤuterten ſich die mannig¬ fachen Umſtaͤnde, ergaͤnzten ſich die getheilten Anſchauun¬ gen, ſtellte ſich allmaͤhlig einiger Zuſammenhang auf; man hatte ſo vieles zu fragen, ſo vieles zu berichten, allein Schrecken und Beſorgniß wogten noch immer auf und nieder, und bei ſo vielem Ungluͤck, das man wußte, blieben noch unruhige Zweifel und bange Ahndun¬ gen genug.

Das Gewitter, welches ſchon lange am Himmel geſtanden, brach jetzt als ein grauſenvolles Zwiſchenſpiel hervor, graͤßliche Blitze entzuͤndeten den Himmel, furcht¬ bare Donner folgten Schlag auf Schlag, die Gebaͤude erzitterten, der Regen rauſchte in Stroͤmen nieder, und286 die letzten Gluthen des Brandes wurden erſt durch ihn geloͤſcht.

Als nach kurzem Austoben die Gewitternacht ſich wieder zertheilte, ſah zwiſchen den ſchweren Wolken ſchon die Tageshelle durch, und die Unruhe trieb uns neuerdings auf, die ſo eben durchlebten Ereigniſſe, welche, wie ein verworrener Traum, nicht faßbar noch verſcheuchbar auf der Seele lagen, in ihren daliegenden Ueberbleibſeln zu unterſuchen, zu betrachten. Wir waren nur noch wenige Maͤnner, und vereinzelten uns bald in ſchweigendem Umherwandeln. Ich betrat die Brand¬ ſtaͤtte, ein duͤſtres Angehaͤuf von Schutt und Wuſt; verkohlte Balken, zertruͤmmerte Mauerſteine, Geraͤth und Scherben durcheinander geworfen, in den zufaͤlligen Tiefluͤcken ſchmutzige Waſſerpfuhle zuſammengeſtockt. Man fand Theile von Kronleuchtern, zerkruͤmmte Degen, Armbaͤnder und andern Schmuck, den die Gluth faſt unkenntlich gemacht. Nicht weit von mir ſtiegen Graf Hulin und Dr. Gall forſchend uͤber die Truͤmmer hin. Auf einmal bleibt Hulin ſtehen, ſieht ſtarr vor ſich hinab, und ich hoͤre die halblaut gerufenen Worte: Doctor Gall, kommen Sie hierher, hier iſt ein menſch¬ licher Koͤrper! Ich gedenke noch mit Schauder des furchtbar eindringenden Tones, den dieſe Worte hatten; jeder Nerv wurde erſchuͤttert, die Bruſt mit Angſt erfuͤllt. Gall trat hinzu, ich war der Dritte, wir mieden jedes Geraͤuſch und ſuchten uns im Stillen des287 gefundenen Anblicks zu vergewiſſern; erſt nach und nach wurde er unſern Augen deutlich. Von Balken und Kohlen halbverdeckt lag in der Tiefe ein ſchwarzge¬ brannter, eingeſchrumpfter Leichnam, ganz unkenntlich, die menſchliche Geſtalt in dieſer Zerruͤttung nur mit Huͤlfe der Einbildungskraft herauszufinden. Die eine Bruſt nur, welche zufaͤllig im angeſammelten Waſſer zu liegen gekommen war, hatte ſich erhalten, und ihre friſche Weiße ſtach graͤßlich gegen die uͤbrigen mumien¬ ſchwarzen Koͤrpertheile ab. Von Jugend auf nicht ungewohnt ſolcher Zerſtoͤrungsanblicke, ſtieß doch dieſer mein Auge unwillkuͤrlich zuruͤck. Gall ſtieg in die Ver¬ tiefung hinab und glaubte die Fuͤrſtin von Schwarzen¬ berg zu erkennen; ein paar Ringe und ein Halsband fanden ſich an dem Koͤrper, ſie wurden dem Botſchafter gebracht, der unfern im Garten mit einigen Begleitern umherging, und es blieb kein Zweifel mehr, das Hals¬ band fuͤhrte die Namenszuͤge ihrer Kinder; ſie hatte deren acht, ein neuntes, noch nicht geboren, theilte ihren Tod. In dieſem Augenblicke der ſich entfaltenden Gewißheit entſank Allen der Muth, tiefe Trauer ſenkte jedes Haupt, Thraͤnen entquollen dem Auge. Ein paar ſtarke Gewitterſchlaͤge, die letzten, erſchuͤtterten gleich¬ zeitig die Atmoſphaͤre, und ein betaͤubender Donner hallte lange nach.

Jetzt war die Sorge, dem Fuͤrſten Joſeph von Schwarzenberg ſein Ungluͤck beizubringen, und zu gleicher288 Zeit die noͤthige Vorkehr in Betreff der Leiche gehoͤrig anzuordnen. Der Ort und die Umſtaͤnde ihrer Lage gaben wenigſtens die troͤſtliche Vermuthung, daß die Ungluͤckliche nicht lebendig verbrannt ſei. Wahrſcheinlich hatte ſie, abgeſchnitten von dem Hauptausgange, oder das dort ſtockende Gedraͤnge zu meiden wuͤnſchend, den Nebenausgang in das Innere des Hotels zu gewinnen geſucht, war unterwegs gefallen, durch Rauch erſtickt und erſt nachher durch die Flammen ſelbſt ergriffen worden, mit dem einſtuͤrzenden Bretterboden aber in jene Waſſertiefung hinabgeſunken.

Wir verließen nunmehr den Ort der Zerſtoͤrung und des Jammers; doch an Schlaf und Ruhe war nirgends zu denken, die furchtbarſten Traumbilder ſchreckten das hinſinkende Haupt ſchnell wieder zum wachen Anſchauen der Wirklichkeit auf, und in den Straßen, welche durch das Ereigniß der Nacht nur um ſo volkreicher belebt waren, zeigte der Morgen ſchon ſeine volle Thaͤtigkeit.

Ganz Paris war durch Schrecken und Neugier in unruhige Bewegung verſetzt. Die Nachricht von dem Brande, durch den Glutſchein unmittelbar ver¬ kuͤndet, hatte ſich mit Schnelligkeit weithin ausgebreitet. Man vermuthete Anſchlaͤge gegen das Leben des Kaiſers, den Ausbruch irgend einer großen Verſchwoͤrung, Un¬ gewißheit jeder Art ſpannte die Gemuͤther. Der Ver¬ dacht, daß das Feuer angelegt geweſen ſei, daß die289 Feinde des Kaiſers, innere und aͤußere, durch einen kuͤhnen Streich ſich des verhaßten Herrſchers, ſeiner Familie und ſeiner anhaͤnglichſten Diener entledigen gewollt, beſtand einen Augenblick allgemein, ſtreifte wenigſtens die Vorſtellung der meiſten Franzoſen, und war bei manchen auch ſpaͤterhin nicht leicht auszutilgen, die dawiderlaufenden Berichte und Zeugniſſe wurden zweifelnd angehoͤrt; erſt am dritten Tage erſchien der ausfuͤhrliche Bericht im Moniteur, deſſen abſichtsvolle Faſſung wiederum nicht ganz befriedigte. Doch konnte gegen die Uebereinſtimmung ſo vieler Augenzeugen und gegen den ſtarken Beweis, welcher in Napoleons fortgeſetztem Benehmen lag, kein grundloſer Wahn ſich halten, und zuletzt mußte in Frankreich wie im Auslande die verbuͤrgte Wahrheit doch den Sieg be¬ haupten.

Nun folgte eine Reihe trauriger Tage, in denen man faſt nur in dem Ruͤckblick auf die allbeſprochene Begebenheit und in den duͤſtern Nachwirkungen der¬ ſelben fortlebte. Die Beſtattung der Fuͤrſtin Pauline von Schwarzenberg wurde mit herkoͤmmlichem Trauer¬ prunke feierlich vollbracht. Dann kamen hintereinander die Leichenbegaͤngniſſe der Fuͤrſtin von der Leyen, der Generalin Touzard und noch mehrerer andern Frauen hohen Standes, die nach ſchrecklichen Leiden im Ver¬ laufe der naͤchſten Tage oder Wochen an ihren Brand¬II 19290wunden ſtarben; im Ganzen waren uͤber zwanzig Per¬ ſonen verungluͤckt, mehr oder minder beſchaͤdigt uͤber ſechzig. Die junge Fuͤrſtin von Schwarzenberg, der Mutter gleichnamig, und nur kaum dem Loos entriſſen, das der ungluͤcklichen geworden, lag an den empfan¬ genen Verletzungen viele Wochen danieder, waͤhrend deren man fuͤr ihr Leben beſorgt war; auch das Wieder¬ aufkommen des ruſſiſchen Botſchafters Fuͤrſten Kurakin blieb noch lange zweifelhaft. Sehr bedeutend war von allen Seiten der Verluſt an Koſtbarkeiten; man ſchaͤtzte ihn auf ein paar Millionen; der oͤſterreichiſche Bot¬ ſchafter trug neben ſeiner eignen großen Einbuße auch die vieler andern Perſonen, denen er das Verlorne oder Beſchaͤdigte erſetzte.

Ein tiefer und unheilvoller Eindruck des ganzen Ereigniſſes war unverkennbar. Er ſetzte ſich unwider¬ ſtehlich in Gemuͤth und Einbildungskraft feſt, und wie¬ wohl man von obenher Alles anwandte, um ihn herab¬ zuſtimmen und auszuloͤſchen, ſo erhob er ſich doch in duͤſtren Weiſſagungen, welche auf die Ungluͤcksfaͤlle bei Vermaͤhlung der oͤſterreichiſchen Erzherzogin Marie An¬ toinette und des franzoͤſiſchen Dauphins, nachherigen Koͤnigs Ludwigs XVI., zuruͤckgingen, ſolche mit dem ſpaͤteren jammervollen Ausgange des koͤniglichen Ehe¬ paars in Bezug ſetzten, und den neuſten Vorfall nur zur Beſtaͤtigung dienen ließen, daß uͤber den Verbin¬291 dungen Frankreichs nach dieſer Seite ein warnendes Verhaͤngniß ſchwebe. Die Folge der Begebenheiten aber wollte dem aberglaͤubiſchen Wahne auch diesmal zum Theil ein wenigſtens ſcheinbares Recht nicht fehlen laſſen!

19
[292]

Am Hofe Napoleons.

Paris, 1810.

Unſre Anweſenheit in Paris dauerte ſchon mehrere Wochen, und noch immer fand keine diplomatiſche Au¬ dienz Statt. Endlich wurde dieſe angeſagt, und wir ruͤſteten uns, dem Kaiſer Napoleon vorgeſtellt zu wer¬ den. Vorher fuͤhrte der Fuͤrſt von Schwarzenberg uns noch zu einigen Großen des Hofes und Reichs, beſon¬ ders aber zu Berthier, dem Fuͤrſten von Neufchatel und Wagram, wie er damals hieß. Wir fanden eine zahl¬ reiche Verſammlung, die Herren herumgehend und im wechſelnden Geſpraͤch, dem man doch einige Behutſam¬ keit anmerkte, die Damen feierlich auf ihren Stuͤhlen, und nicht ſehr lebhaft unterhalten. Der General Graf von Neipperg, mein Oberſt, und ich, waren wie es ſchien die einzigen Fremden, und man bemaͤchtigte ſich unſer mit Beeiferung. Berthier war aͤußerſt freundlich, er hatte ein gutmuͤthiges, zuvorkommendes Weſen, und die Art Ruhe, welche mit großer Tuͤchtigkeit ſich immer293 gern verbindet. Mir hat er ſehr gefallen, und ich konnte die Meinung, welche ſchon damals ihm alle hoͤhere Faͤhigkeiten abſprechen wollte, gar nicht gelten laſſen. Kraft, Sicherheit und Erfahrung ſprachen aus ſeinem ernſten Geſicht, und was er ſagte, war lebendig und klar. General Neipperg noͤthigte ihn zu einem ziemlich ausfuͤhrlichen Geſpraͤch uͤber die Schlacht von Marengo, und einige Einzelheiten derſelben wurden eifrig durchgeſprochen. Berthier hatte dieſe Schlacht in einer beſondern Druckſchrift geſchildert, aber mit großen Irrthuͤmern, ſowohl in Verſchweigungen als in falſchen Angaben, welche man faſt nur als abſichtliche anſpre¬ chen konnte, die Vorgaͤnge waren ſo geſtellt, wie die ſpaͤtere Willensmeinung des Kaiſers ſie forderte; haupt¬ ſaͤchlich ging die Sage, dem in der Schlacht gebliebenen General Deſaix ſei manches Verdienſtliche beigelegt worden, welches noch Lebenden gebuͤhre, aber in dieſen anzuerkennen und zu belohnen dem Sinne des Kaiſers nicht genehm ſei. Dem kundigen Neipperg gegenuͤber hatte Berthier einen harten Stand, doch fuͤhrte er ſeine Sache gut, wußte immer neue Thatſachen und Gruͤnde anzufuͤhren, und wie damals, ungeachtet der Vortheile der Oeſterreicher, der Sieg dennoch den Franzoſen zufiel, ſo blieb hier auch im Geſpraͤch Berthier, ungeachtet der Gegner gewiß groͤßeres Recht hatte, im Vortheil. Als darauf hingedeutet wurde, wie zweifelhaft noch ganz zuletzt, da Deſaix ſchon gefallen war, die Sachen geſtan¬294 den, und wie Bonaparte ſelber noch unſicher mißtraut habe, meinte Berthier, darin habe der Feldherr ganz Recht gehabt, wenn auch der Sieg ihm bereits errun¬ gen gedaͤucht, und fuͤgte nachdruͤcklich hinzu: C'est toujours après les succès que je crains le plus dans la guerre, et rien de si dangereux que le commen¬ cement d'une victoire. Die Ankunft mehrerer Da¬ men ſtoͤrte die Unterredung, Berthier ging jene zu begruͤßen, und that es mit vieler Anmuth.

Man ruͤhmte Berthier, daß er, ungeachtet ſeiner fuͤrſtlichen Hofhaltung und großen Reichthums, in ſei¬ nem Benehmen ſchlicht und in ſeinen Anſpruͤchen maͤßig geblieben ſei, noch immer den alten Ton mit ſeinen Kriegsgenoſſen habe, und fuͤr den Kaiſer wohl die treuſte Anhaͤnglichkeit, doch keineswegs den hoͤfiſchen Dienſteifer zeige, den ſo viele Andre, und namentlich Davouſt, auf die alleruntergebenſte Weiſe an den Tag legten. Von Bernadotte hingegen erzaͤhlte man, daß er mit der ihm eignen Froͤhlichkeit laut uͤber das Hofweſen ſpotte, den Kaiſer in ſeiner angenommenen Scheinwuͤrde laͤcher¬ lich finde, ſich ſelber noch immer zu republikaniſchen Grundſaͤtzen bekenne, und ſeiner Fuͤrſtenwuͤrde ungeach¬ tet mit den alten Waffengefaͤhrten ganz auf bruͤderliche Art umgehe.

Berthier hatte uns freundlich gefragt, wie wir uns in Paris vergnuͤgten, ob wir die Kunſtſammlungen ſchon alle beſucht haͤtten, und davon nahm ein aͤltlicher295 franzoͤſiſcher General, deſſen Namen ich nicht erfahren konnte, die Gelegenheit uͤber das Muſée Napoléon zu ſprechen, wobei er ſeine Verwunderung bezeigte, nur ſo wenige der eroberten Kunſtwerke in Paris zu ſehen, denn er habe in den fremden Laͤndern, ſagte er, wohl dreimal ſo viel einpacken ſehen, zwiſchen dem Abſchicken und Ankommen aber ſcheine ein großer Theil einzu¬ ſchwinden. Wie nachlaͤſſig man uͤberhaupt mit dem Weggeſchleppten umging, davon kann folgendes Beiſpiel genuͤgen. Napoleon hatte das preußiſche Siegesdenkmal auf dem Schlachtfelde von Roßbach wegnehmen und nach Frankreich abfuͤhren laſſen; daſſelbe war ohne Kunſt¬ werth, eine ſchlichte Saͤule von Sandſtein, aber durch ſeine Bedeutung dem franzoͤſiſchen Kriegsruhm ein un¬ ſchaͤtzbarer Beſitz. Gleichwohl verlor ſich dieſe Saͤule, und als man nach geſchloſſenem Frieden Muße fand an ihre Aufſtellung zu denken, war ſie nirgends zu finden. Der Kaiſer tobte, man erkundigte ſich unter der Hand, unter andern auch bei Chamiſſo, wie ſie denn wohl ausgeſehen habe, und war nahe daran, eine falſche unterzuſchieben. Endlich fand ſich doch die rechte unver¬ hofft in Breſt wieder, und man wußte nicht, wie ſie dorthin gerathen ſei. Sie ſteht jetzt, durch die Tapfer¬ keit der Preußen wieder erobert, als zweifaches Sieges¬ denkmal auf ihrem urſpruͤnglichen Ort.

Bei Berthier ſah ich auch Denon wieder, der aber mit all ſeiner Freundlichkeit nur einen widrigen Eindruck296 machte, und in ſeinem habit habillè mit Stahldegen und Spitzemanſchetten einem geputzten Affen gleich ſah. Auch ein ehemaliger Adjutant des Kaiſers, und jetziger Kammerherr, den ich in Wien als Militair ſehr huͤbſch gefunden, nahm ſich in ſeinem rothen geſtickten Hofrocke ganz vertrackt aus. Damit die Geſellſchaft noch bunter wuͤrde, kamen auch zwei Geiſtliche in rothen Struͤmpfen, und ſchienen ſich des bischen Lebens, das an dieſer Staͤtte der Revolution ihnen wieder zugefloſſen war, gar ſehr zu freuen. Berthier hatte ſich mittlerweile in ein Nebenzimmer entfernt, und die Geſellſchaft war entlaſſen. Als die Geiſtlichen weggingen, fluͤſterte mir der eine, es war der Kardinal Maury im Vor¬ beiſtreichen die Worte bedeutend in's Ohr: Nous avons beaucoup de joie de vous voir ici! Ich ſah ihm erſtaunt nach; was er laut und oͤffentlich als eine gewoͤhn¬ liche Artigkeit haͤtte ſagen koͤnnen, ſagt er mit heimlicher Freude, und mir? Es bezog ſich aber wohl auf den Umſtand, daß von oͤſterreichiſcher Seite ganz kuͤrzlich die dringendſten Verwendungen fuͤr den Pabſt geſchehen waren.

Am Sonntage den 22. Juli war ſeit dem Brand¬ ungluͤck wieder die erſte Audienz des Kaiſers, und man verhieß, ſie wuͤrde ungemein feierlich und praͤchtig ſein. In Berlin hatte ich Napoleon oftmal unvermuthet und ungeſucht geſehen, auch in Wien und Schoͤnbrunn noch¬ mals, aber ſtets in zu großer Entfernung, als daß es297 ein beſtimmter Eindruck haͤtte werden koͤnnen. Bei dem Feſte des Fuͤrſten von Schwarzenberg hatte ſich mir der Anblick des Mannes in dem Sturme der entſetz¬ lichen Vorgaͤnge, welche dieſes Feſt unterbrachen, wieder verdunkelt. Ich nehme daher an, daß ich ihn zuerſt an dem Tage geſehen, wo ich ihn recht geſehen, nah und bequem, und hinreichend lange, an dem Tage jener Vorſtellung. Die haͤufige Gelegenheit, die ſich mir ſeit¬ dem erneute, in den Tuilerien und in Saint-Cloud, an letzterem Orte beſonders bei den herrlichen, nur fuͤr den Kaiſer und ſeine Hofgaͤſte beſtimmten Buͤhnen¬ darſtellungen, wo Talma, Fleury und die Raucourt glaͤnzten, diente nur dazu, jenen Haupteindruck zu befeſtigen und gleichſam auszuarbeiten.

Wir waren nach den Tuilerien gefahren und kamen durch ein großes Gedraͤnge von Garden und Volk in ein Gemach, von welchem ich unter dem Namen der Salle des ambassadeurs ſchon gehoͤrt hatte. Die Art, wie hier in dem engen, uͤbelverzierten Pferch ſo viele erlauchte Perſonen dicht zuſammengedraͤngt ſtanden, hatte etwas laͤcherlich Beleidigendes, woran die Scherze der Pariſer ſich gar zu gern uͤbten. Die reichſten Uniformen und Staatskleider arbeiteten ſich mit Muͤhe und Sorge durcheinander hin und her, von Kaiſerlichen Livreen untermiſcht, die im Gedraͤnge Erfriſchungen ausriefen, und durch die nahe Gefahr immer ihre Naͤchſten in allen Bewegungen gleichſam ſuſpendirten. Das Geſpraͤch war298 laut und lebhaft von allen Seiten, man ſuchte Bekannte, beſſern Platz, groͤßere Helle. Eine feierliche Stimmung, eine wuͤrdige Spannung ſchien Allen fremd, und was man mitzubringen nicht vermochte, war nichts vermoͤ¬ gend hier zu erregen. Der ganze Anblick hatte etwas Fatales, man befand ſich ſchlecht, und wartete verdroſſen. Mit beſonderem Wohlgefallen jedoch verweilte mein Auge auf den Mitgliedern der oͤſterreichiſchen Botſchaft, deren Haltung und Betragen nicht die Wuͤrde verlaͤugnete, die dem alten Kaiſerhauſe gebuͤhrte. Beſonders hatte der Fuͤrſt Schwarzenberg ein ſtattliches Anſehen, ſeine Ruhe war ohne Laͤſſigkeit, ſein Ernſt ohne angenommenes Gewicht, und eine rechtſchaffene Guͤte lag in dem Aus¬ druck ſeines ganzen Weſens, das ſich auf dieſe Art vor¬ theilhaft unterſchied von der laͤchelnden Salonbetrieb¬ ſamkeit, der hofmaͤnniſchen Spannung, und der welt¬ maͤnniſchen Nichtigkeit, die aus dem Weſen ſo vieler Andern, die ihre Stellung an dieſem Hofe nicht erkann¬ ten, und kein Gefuͤhl ihres Verhaͤltniſſes hatten, widrig hervorblickten. Dies galt beſonders von den Perſonen, welche von der Zeit mit fortgeriſſen und doch von ihr vergeſſen waren, wie dies bei ſo vielen Hofleuten der neuen Hoͤfe der Fall ſein mußte. Wenn dieſe Leute, die vornehmſten und gewandteſten, die in ſo vielen und weiten Kreiſen zu finden waren, wenn dieſe hier ſo unbedeutend und leer daſtehen, wenn ſie hier nicht glaͤnzen, in ihren Edelſteinen, Stickereien und Kreuzen, im Gefuͤhl299 aller Auszeichnung, in der Anerkennung aller ihrer An¬ ſpruͤche, hier, wo einer der Augenblicke iſt, zu denen ſie erzogen, auf welche alle ihrer Thaͤtigkeit, ihre Einrich¬ tung und Gewoͤhnung von Jugend auf gewandt worden, was ſollen ſie denn im Rathe des Fuͤrſten, in des Lan¬ des hoͤchſten Verwaltungsſtellen, im Angeſicht des Heeres ſein, lauter Dinge, die ſie nie ſo ernſtlich bedacht und geuͤbt haben, als die Vortheile geſellſchaftlicher Erſchei¬ nung? Mich ergriffen dieſe Betrachtungen um ſo leb¬ hafter, als man gewohnt war, in oͤffentlichen Berichten, namentlich von den franzoͤſiſchen Hoͤfen, als von dem Wohnſitze der Wuͤrde, der Feierlichkeit und imponiren¬ den Groͤße zu reden, da man doch faſt nur Unordnung, Armſeligkeit und Laͤcherlichkeit fand.

Endlich erſchien die Zeit, zur Audienz hinaufzugehen; auf die erſte Ankuͤndigung davon ſtuͤrzte alles ordnungs¬ los gegen die Thuͤre, man draͤngte ſich, ſtieß und ſchob den Nachbar ohne Umſtaͤnde. Kammerherren, Pagen und Garden fuͤllten die Gaͤnge und Vorzimmer; unruhige Geſchaͤftigkeit zog auch hier die Augen auf ſich, und die Soldaten ſchienen die einzigen, die ſich mit einiger Sicher¬ heit in ihrem Dienſte zu benehmen wußten, was ſie freilich auch nicht am Hofe, ſondern von ihren Feld¬ webeln gelernt hatten.

Nachdem man im Audienzſaale einen Halbkreis ge¬ bildet, und ſich in mehrere gedraͤngte Reihen geſtellt hatte, kuͤndigte bald der Ruf: l'Empereur! die Erſchei¬300 nung Napoleons an, der von der hintern Seite des Saales hereintrat. In einfacher blauer Uniform, ſeinen kleinen Hut unter dem Arm, ging er ſchwerfaͤllig auf uns zu. Seine Haltung druͤckte den Widerſtreit eines Willens aus, der etwas erreichen moͤchte, und eine Verachtung derjenigen, bei welchen es erreicht werden ſoll. Ein guͤnſtiges Erſcheinen waͤre ihm wohl lieb geweſen, und doch ſchien es ihm nicht recht der Muͤhe werth, der Muͤhe, die er ſich darum geben ſollte, denn von Natur hatte er es wahrlich nicht. Daher Nach¬ laͤſſigkeit und Abſicht abwechſelnd in ihm hervortraten, und nur in Unruhe und Mißbehagen zuſammenfloſſen. Er wandte ſich zuerſt an die oͤſterreichiſche Botſchaft, welche die eine Spitze des Halbkreiſes einnahm. Die Folgen des ungluͤcklichen Feſtes waren Anlaß mancher Fragen und Bemerkungen. Der Kaiſer wollte theil¬ nehmend erſcheinen, er brauchte ſogar Worte der Ruͤh¬ rung; doch gelang ihm dieſer Ton keineswegs, und er ließ ihn auch bald wieder fallen. Fuͤr den ruſſiſchen Botſchafter Kurakin hatte er ſchon minder freundlichen Ausdruck, und im weiteren Fortſchreiten mußte ihn irgend ein Anblick oder Gedanke heftig aufreizen, denn er gerieth in furchtbaren Aerger, fuhr gegen einen der Anweſenden, der nicht zu den bedeutendſten gehoͤrte und deſſen Namen mir nicht mehr erinnerlich iſt, ſchrecklich los, war mit allen Antworten unzufrieden und forderte immer neue, ſchalt und drohte, und hielt den armen301 Menſchen eine geraume Zeit in qualvoller Vernichtung. Die naͤhergeſtandenen Zeugen, welche nicht ohne eigne Angſt dieſen Auftritt mitanſahen, betheuerten nachher, es ſei gar keine Urſache zu ſolchem Grimm geweſen, der Kaiſer habe nur Gelegenheit geſucht, ſeine uͤble Laune auszulaſſen, und er thue dies ſogar abſichtlich an ſolchem armen Wichte, damit alle Andern in Schrecken geſetzt und jeder Trotz im voraus unterwuͤrfig geſtimmt wuͤrde.

Als er weiterging, ſuchte er wieder gemaͤßigter zu reden, allein ſeine Mißſtimmung klang noch immer durch. Er ſprach kurz, haſtig, hingeworfen, die gleich¬ guͤltigſten Sachen mit einer leidenſchaftlichen Schnelle, ja wenn er guͤtig ſein wollte, klang es immer noch, als ſei er zornig. Ich habe kaum eine ſo rohe, unge¬ zaͤhmte Stimme gehoͤrt, als die ſeinige.

Seine Augen waren dunkel umwoͤlbt, auf die Erde vor ſich niedergeheftet, und ſtreiften nur ruckweiſe ſchnell und ſcharf uͤber die Anweſenden hin. Wenn er laͤchelte, ſo laͤchelte blos der Mund mit einem Theile der Backen, unbeweglich finſter blieben Stirn und Augen. Zwang er, wie ich ſpaͤterhin wohl geſehen habe, auch dieſe, ſo bekam ſein Geſicht einen noch verzerrtern Ausdruck. Dieſe Verbindung von Laͤcheln und Ernſt hatte etwas furchtbar Abſchreckendes. Ich weiß nicht, was ich von den Leuten denken ſoll, die in dieſem Geſicht Anmuth und ſeine Freundlichkeit einnehmend gefunden haben. 302Waren doch ſeine Zuͤge, bei unlaͤugbarer plaſtiſchen Schoͤnheit, wie Marmor hart und ſtreng, jedem Ver¬ trauen fremd, jeder Herzlichkeit unfaͤhig!

Was er ſprach, war immer, ſo oft ich ihn reden hoͤrte, gering, ſowohl dem Inhalt als dem Wortaus¬ drucke nach, ohne Geiſt, ohne Witz, ohne Kraft, ja bisweilen ganz gemein und laͤcherlich. Faber hat in ſeinen Notices sur l'intérieur de la France ausfuͤhr¬ lich uͤber die Fragen geſprochen, welche Napoleon bei vielen Gelegenheiten zu machen pflegte, und deren Scharfſinn und Kunde ſo oft mit Unrecht geprieſen worden, ich hatte damals das Buch noch nicht geleſen, fand aber ſpaͤter alles darin beſtaͤtigt, was ich ſelbſt geſehen und gehoͤrt hatte. Sein Fragen glich nicht ſelten der Lektion eines Schulknaben, der, ſeiner Sache nicht ganz gewiß, beſtaͤndig leiſe fuͤr ſich herſagt, was er fuͤr den Augenblick des Gebrauchs ſonſt vergeſſen zu haben fuͤrchtet. Dieſes iſt woͤrtlich wahr von einem Be¬ ſuche welchen Napoleon kurz vorher auf der großen Bibliothek gemacht hatte, da er ſchon auf der Treppe immerfort nach der klaſſiſchen Stelle im Joſephus ſchrie wo dieſer von Jeſus ſpricht, und fuͤr diesmal kein andres Anliegen zu haben ſchien, als dieſe ſeine wahrſcheinlich eben erſt erlangte Kenntniß zu zeigen; es ſchien durch¬ aus, als habe er ſeine Frage auswendig gelernt. Einen anſehnlichen Mann aus dem noͤrdlichen Deutſchland fragte er, aus welchem Lande er ſei, und als dieſer die nah303 an Holland gelegene Gegend genannt hatte, rief Na¬ poleon im Weggehn halb trotzig und halb freudig: Ah! je sais bien, c'est du Nord, c'est de la Hollande!

Nicht ſo gluͤcklich traf er es mit Lacepede in der Natu¬ ralienſammlung, dort ſah er die Giraffe fuͤr einen Vogel an, und pries das langhalſige Thier als ſolchen ſogar ſeiner Gemahlin, welche mit Lacepede uͤber den Irrthum des Kaiſers ganz aͤngſtlich wurde, ſo daß dieſer, dadurch aufmerkſam gemacht, in ſeiner Rede unwillig abbrach, und außerordentlich mißvergnuͤgt davonging. Der klein¬ liche Eifer, mit dem Napoleon auch in dem Kreiſe der geſelligen Mittheilung, der ihm ganz fremd iſt, bewun¬ dert zu ſein ſtrebt, war ſehr oft gradezu laͤcherlich, es mißlang ihm hier alles in dem Grade, als ihm in andern Dingen, zu unſem Ungluͤck, alles gelang. Er liebte zwar eigentlich nur, den Menſchen etwas Beleidigendes oder wenigſtens Unangenehmes zu ſagen, allein auch dann, wenn er etwas anderes ſagen wollte, brachte er es hoͤchſtens zum Unbedeutenden, und da traf es ſich wohl einmal, daß er einer ganzen Reihe von Damen, wie ich in Saint-Cloud ſelber mit anhoͤrte, zwanzig¬ mal nur immer daſſelbe Wort wiederholte: Il fait chaud.

Wahr iſt es, man fuͤhrt ſehr kraͤftige Machtworte von ihm an, und ſeine Befehle ſind meiſtens ſtreng und kurz; allein ſelbſt darin iſt mehr die Macht bedeutend,304 und der Nachdruck der Worte kommt vom Kaiſer, nicht vom Redner. Mehrere gluͤckliche Einfaͤlle, welche die Herumtraͤger ſeines Hofes ihm zuzuſchreiben pflegten, gehoͤrten Andern an, die ihr geiſtiges Eigenthum, das der Kaiſer einſteckte, ehrfurchtsvoll verlaͤugneten. Sprach er anhaltend, in groͤßerer Fuͤlle der Mittheilung, wie er dies auch oft liebte, und ſich dann graͤnzenlos in Redensarten erging, Thatſachen und Gruͤnde mit groͤßter Gelaͤufigkeit aufeinander haͤufend, ſo vermißte man nur allzuſehr Ordnung und Folge, Klarheit und Feſtigkeit der Begriffe; nur ſeine Zwecke und Abſichten verlor er dabei nicht aus dem Auge, wiewohl er dieſelben am wenigſten durch ſeine Reden, ſondern ſichrer durch andre Mittel, durch ſeine Ueberlegenheit als Feldherr und durch das eiſerne Machtgebot ſeines Willens erreichte. In dieſen Eigenſchaften iſt ſeine wahrhafte Groͤße, und man braucht ihm keine andre anzudichten, um in ihm ſtets einen der außerordentlichſten Menſchen zu ſehen, welche jemals erſchienen ſind. Die Gabe ſchoͤner Rede und anmuthigen Ausdrucks, deren Alexander, Caͤſar und Friedrich theilhaft waren, hatte ſich Napoleons Eigen¬ genſchaften nicht geſellen koͤnnen, ſein Geiſt widerſprach ihr, und noch mehr ſein Gemuͤth.

Deßhalb, weil er auf dieſem Gebiete gar keine Waffen hatte, und nichts erwiedern konnte, war Napo¬ leon auch ſo uͤber alle Maßen empfindlich und aufge¬305 bracht, wenn irgend ein geiſtreiches, ſcharfes oder ſcherz¬ haftes Wort gegen ihn laut wurde, und ein ſpoͤttiſches Lied, ein ſchmaͤhender Witz konnte ihn zu wahrer Wuth bringen. In jener Zeit ging ein Lied auf ſeine zweite Vermaͤhlung umher, das ganz im unterſten Volkston gedichtet, doch ohne Zweifel ſeinen Urſprung in der hoͤheren Klaſſe haben mußte. Der Kaiſer ſah ſeinen Glanz und ſeine Macht durch ein gemeines Lied befleckt, und ſchnaubte Rache; aber die Polizei wußte den Ver¬ faſſer ſo wenig als die Verbreiter zu entdecken. Auch mir war daſſelbe durch die Stadtpoſt ohne Namen in ſchlechter Abſchrift zugeſchickt worden, ich hatte mich mit den vertrauteren Freunden heimlich an den luſtigen Verſen ergoͤtzt, und konnte ſie ſchon auswendig herſagen. Sehr ungelegen traten mir jetzt, als grade der Kaiſer uͤbellaunig und finſter an mir voruͤberging, unwillkuͤrlich Worte und Melodie jenes Liedes in den Sinn, und jemehr ich ſie abweiſen wollte, deſto heftiger draͤngten ſie ſich hervor, ſo daß die von der Spannung des Augen¬ blicks gereizte Einbildungskraft ſchon ſchwindelte, und bei dem geringſten Anſtoß unvermeidlich in das toͤdt¬ lichſte Aergerniß ſtuͤrzen zu muͤſſen glaubte, als gluͤcklicherweiſe die Audienz ihr Ende erreichte, und wie¬ derholte tiefe Verbeugungen das Abtreten Napoleons begleiteten, der an mich keines ſeiner Worte, ſondern nur einen durchdringenden Blick gewendet hatte, mitII. 20306deſſen Weiterſchweifen eine wirkliche Gefahr mir zu ſchwinden ſchien.

Nach der Entfernung des Kaiſers athmete alles auf, wie befreit und erloͤſt von einer ſchweren Laſt. All¬ maͤhlig wurde die Geſellſchaft auch wieder laut, und ging dann voͤllig in die laͤrmende Unordnung, in die draͤngende Eile uͤber, welche zu Anfang geherrſcht hatte. Beſonders waren die franzoͤſiſchen Hoͤflinge bemuͤht, ihre noch eben gehabte furchtſame und erſchrockne Haltung durch nunmehrige Luſtigkeit wegzulaͤugnen, und noch auf den Treppenſtufen, die wir hinabſtiegen, erſchallten Ausbruͤche des Lachens und Witzelns uͤber den Hergang der Audienz, deren Wuͤrde und Schrecken ſchon hier aufhoͤrten.

Napoleons Perſoͤnlichkeit wirkte zauberhaft und maͤch¬ tig, wo er wirklich er ſelbſt war, an der Spitze der Truppen, im Felde, wenn er kriegeriſche Anordnungen traf, ſeine Machtgebote ergehen ließ. Wollte er aber ihm Uneignes vorſtellen, beabſichtigte er Eindruͤcke, ſuchte er in Gebieten zu gelten, die nicht die ſeinigen waren, ſo gab er nur allzu leicht die ſchlimmſten Bloͤßen, und bethoͤrte nur etwa Neulinge und Schwachſinnige. Die Erinnerung an ihn und ſein im Geiſte der Nachlebenden neuerſchaffenes Bild haben mehr Begeiſterung fuͤr ihn erweckt, als ſeine Gegenwart es vermocht. Es klingt unglaublich, iſt aber beſtimmt wahr, daß in Paris, bei307 aller Bewunderung und Furcht, welche der Kaiſer ein¬ floͤßte, doch weder im Volk, noch in den hoͤhern Klaſſen, und am wenigſten in ſeiner gewohnten Umgebung, eine eigentliche Verehrung fuͤr ihn, ein Glauben an ihn als an ein hoͤheres Weſen beſtand; die Franzoſen, ſofern ſie ihn als groß anerkannten, hielten ihn doch nur fuͤr groß in dem, was ſie Alle zu leiſten ſich getrau¬ ten; ſie ſahen in ihm nicht andre, ſondern die gemei¬ nen, gaͤng und gaͤben Eigenſchaften, nur in ungemeinen Maßen.

Den damals in Paris ſehr zahlreichen Deutſchen muß ich es zur Ehre nachſagen, daß wenige von der Erſcheinung Napoleons geblendet waren und ſeine Gunſt oder Ungunſt hoͤher anſchlugen, als ihr nach lediglich aͤußerer Waͤhrung zukam. Die juͤngeren Freunde, theils von Haß gegen den Unterdruͤcker des Vaterlandes erfuͤllt, theils gleichguͤltig abgewandt von Beziehungen, die ſie nicht lenken noch ergreifen konnten, ſcherzten nur uͤber den Vorzug, daß ich den Hof des Kaiſers beſuchte, und beneideten mir ihn nicht. Insbeſondere war unter den vielen Oeſterreichern meines Wiſſens keiner, welchen der Schimmer des augenblicklichen Verhaͤltniſſes getaͤuſcht oder befangen haͤtte. Die deutſche Ruhe, Gradheit und Einfachheit erhielt ſich hier, wo ſo vieles verwirren konnte, in beſonnenem und klarem Urtheil. Die in dieſem Betreff Gleichgeſinnten hatten ſogar unter den20 *308Augen des Maͤchtigen durch einen gemeinſamen Ring, deſſen innere Zeichen ſeinen Sinn andeuteten, ſich zu dem Bekenntniſſe vereinigt, daß ſie der in Napoleon dargeſtellten Geſchickesmacht entgegenblickten, ohne ſich ihr zu beugen, noch ihr zu erſtarren!

[309]

Kritiken.

[310][311]

Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Von Goethe. Vierter Theil. Nemo contra deum nisi deus ipse. Stuttgart und Tuͤbingen, Cotta, 1833. 12.

Ein Zeitraum von zwanzig Jahren liegt zwiſchen dem Erſcheinen der fruͤheren Theile von Goethe’s Lebens¬ bekenntniſſen und der Herausgabe dieſes vierten, mit welchem nun das Ganze leider ſchon ſich abſchließt. Dieſe Zwiſchenzeit hat uns ſonſtige Mittheilungen aus Goethe’s Leben, gehalt - und anmuthvolle Berichte von Reiſen, Feldzuͤgen, litterariſchen und geſellſchaftlichen Thaͤtigkeiten aller Art, reichlich zukommen laſſen; doch konnte keine dieſer Gaben uns fuͤr den abgebrochenen Erzaͤhlungsfaden ſchadlos halten, den wir ſo lange ver¬ gebens hofften in dem zuſammenhaͤngenden und ausge¬ arbeiteten Vortrage von Dichtung und Wahrheit fortgefuͤhrt zu ſehen. Nun ſind dieſe Hoffnungen erfuͤllt, und ſchoͤner und groͤßer, als wir es denken konnten; dieſes kleine Baͤndchen, deſſen fuͤnf Buͤcher kaum die Haͤlfte des Raums einnehmen, welchen die gleiche Zahl312 ſolcher Abtheilungen fruͤher abmaß, erweiſt ſich als ein Juwel, das im geringſten Umfange den groͤßten Werth zuſammenfaßt. Fruͤhere Worte, je das Erſcheinen der einzelnen Theile dieſes Werkes nah begleitend, haben die ſeltnen und eignen Vorzuͤge deſſelben fuͤr die damali¬ gen Leſer anzudeuten geſucht, und wenigſtens den heißen Dank und Eifer ausgeſprochen, mit welchen der Eindruck und Gewinn eines ſolchen Buches ein zuſtimmendes Gemuͤth erfuͤllt hatte. Nach ſo langjaͤhriger Unterbre¬ chung vermag nun noch immer die naͤmliche Bericht¬ erſtattung, die dem ſchon weit entlegenen Anfange ſich beigeſellte, auch den Schluß aufzunehmen, und wie der große Zwiſchenraum den Sinn und die Geſtalt des Autors noch unveraͤndert als dieſelben hervorgehen laͤßt, ſo nimmt auch noch jetzt unveraͤndert derſelbe Antheil und Eifer das Wort, und darf in dieſem Falle gleich zuvoͤrderſt die Gunſt bemerklich machen, welche mit der Treue der Geſinnungen hier zugleich die der aͤußerlichen Umſtaͤnde ſo weithin hat bewahren moͤgen.

Ein kurzes Vorwort erinnert den Leſer an die Noth¬ wendigkeit, in welcher ſich der Autor bei ſeiner Betrach¬ tungsweiſe befindet, die Zeitfolge der aͤußerlichen Ereig¬ niſſe bisweilen einem hoͤheren Zuſammenhange der geiſti¬ gen Beſtandtheile unterzuordnen, und ſo macht er auch gleich bemerklich, daß die hier fortgeſetzte Erzaͤhlung nicht grade das Ende des vorigen Buches, ſondern viel¬ mehr deſſen Hauptfaͤden ſaͤmmtlich nach und nach wie¬313 der aufnehmen und weiterweben ſoll. Hierauf eroͤffnet ſich der eigentliche Vortrag mit einem heiteren Blick auf die gluͤcklichen Verhaͤltniſſe und Einfluͤſſe, welche fuͤr den jungen Mann zuletzt dahin zuſammengewirkt, nach manchen Kaͤmpfen und Zweifeln, einen aͤußeren und inneren Frieden hervorzubringen. Solche Ruhe¬ punkte ſind die Hoͤhen, die Haftungs - und Kraͤftigungs¬ momente des Lebens, das aber ſeiner Natur nach in ihnen am wenigſten zu weilen vermag, und ſo ſehen wir auch hier dieſen Frieden, kaum angedeutet, ſogleich wieder zu wachſender Bewegung uͤbergehen. Schon das philoſophiſche Nachdenken, welches ſich den Buͤchern und der Lehre des Spinoza widmet, und hiebei Be¬ ruhigung und Klarheit findet, vermag in dieſem Kreiſe der Spekulation nicht lange auszudauern, ſondern eilt, den Ertrag und die Geſtalten deſſelben dichteriſch anzu¬ wenden. Was hier uͤber Spinoza ſo ſchoͤn als tief aus unmittelbarer Lebenserfahrung ausgeſprochen iſt, wird fuͤr jede kuͤnftige Betrachtung dieſes gegen die Welt in immer von Zeit zu Zeit erneutes Mißverſtaͤndniß untertauchenden Philoſophen ein unverloͤſchbares, will¬ kommenes Licht bleiben, und darf einigermaßen dafuͤr troͤſten, daß uns die Ausfuͤhrung des ſo reizend als erhaben zu denkenden dichteriſchen Gebildes von einem Beſuche des ewigen Juden bei Spinoza hat entgehen muͤſſen. Die innige Verknuͤpfung, welche bei Goethe alles und jedes mit ſeinem produktiven Talente hat,314 fuͤhrt ihn mit leichter Wendung aus den dunkeln und ſchauerlichen Tiefen wieder auf die heitre Bahn ſeines dichteriſchen Treibens, wo ſich aber auch ſogleich, durch fremdes Eingreifen in ſein Autorrecht, durch unbefugtes Herausgeben und Nachdrucken ſeiner Schriften, ein wider¬ waͤrtiger Zwieſpalt oͤffnet, den er zwar fuͤr diesmal durch ein lieblich-kraͤftiges Gedicht wohlgemuth abthut, deſſen Grund aber auch in der Folgezeit noch oft in wechſelnden Mißverhaͤltniſſen ſtoͤrend fortgewirkt hat.

Nach Erwaͤhnung von ein paar muntern, den Geiſt und Anblick Goethiſcher Jugend leicht und lebhaft bezeich¬ nenden Vorgaͤngen, finden wir uns zu glaͤnzender Ge¬ ſellſchaft eingefuͤhrt, und hier einem holden Weſen gegen¬ uͤber geſtellt, deſſen Lieblichkeit uns feſſelnd anleuchtet, noch ehe wir durch den Namen Lilli erfahren, welch ſchon bekanntes Gebiet anmuthiger Bezauberung uns aufgenommen. Nun kann wohl von hoͤchſtem Lebens¬ gefuͤhl, von reichſtem Gewinn der Tage, von Gluͤck und Segen die Rede ſein, aber an jenen aͤußeren und inneren Frieden, welcher ſich anfangs verkuͤndigen wollte, iſt nicht mehr zu denken, und an ſeiner Statt waltet die erregteſte Leidenſchaft, von allem Wechſel begleitet, den ſie erſt im innern Leben entzuͤndet, und dann unauf¬ haltſam auch in das aͤußere hinaustreibt. Bevor wir aber in dieſen Zauberkreis voͤllig eingehen, doch ſchon mit dem erſten guten Eindruck deſſelben, laͤßt uns der Autor noch ſchnell die duͤſtern und ſehr betruͤbenden315 Verhaͤltniſſe zuruͤcklegen, in welchen Jung-Stilling uns hier wiederbegegnen muß. Mit dieſen ſchweren, durch die angeknuͤpften Betrachtungen des Dichters zu den wichtigſten Bezuͤgen erhobenen, und ſogar im eignen Stoffe noch erheiterten Drangſalen ſchließt das ſechs¬ zehnte Buch.

In dem ſiebzehnten Buche bluͤht, leuchtet und athmet ganz das Verhaͤltniß zu Lilli. Wir haben den Dichter von den fruͤhſten Empfindungen, fuͤr welche das unſchuldige Gretchen ihm Gegenſtand ſein mußte, mit Antheil und Mitgefuͤhl zu den hoͤheren Stufen begleitet, die nach und nach ſeine Neigung erſtieg, und wir ſind durch Friederikens liebliche Erſcheinung mit¬ ſchuldig der Unbeſtaͤndigkeit geworden, die man dem Erloͤſchen oder Aufgeben fruͤherer Neigung zum Vor¬ wurfe zu machen pflegt. Nicht ganz ſo hell, und alſo minder gerechtfertigt, zeigten ſich die ungenannten und wie es ſcheint in einiger Miſchung durcheinder wogen¬ den Leidenſchaften, gegen welche Friederikens Bild zuruͤck¬ weichen mußte, und aus denen die Werther’ſchen Stim¬ mungen ſich naͤhrten. Dagegen tritt nunmehr dieſe neue Leidenſchaft in allem Glanz und in aller Kraft ihres vollen Uebergewichts und ihrer ureigenen Berech¬ tigung auf. Wie gegen die aufhebende Sonne der ſchoͤnſte Stern, ſo muß gegen Lilli ſelbſt Friederike dahinſchwin¬ den, und da von Pflichten und Verbindlichkeiten, welche ſchon außerhalb des Gebietes der Neigung liegen und316 dann oft ungluͤcklich genug bedingend zuruͤckwirken, hier gluͤcklicherweiſe keine Rede iſt, ſo darf der getroffene Sinn frei und froh dem neuen Lichte folgen. Daß jede neue Regung in dem Dichter einen Fortſchritt bezeichnet, immer nur einen hoͤheren Gegenſtand auch mit erhoͤhtem Gemuͤth erfaßt, dies thut ihn dar als der Liebe treu und der Wahrheit, in ihrer menſchlich moͤglichen und gebotenen Entwickelung, welches eine hoͤhere Treue iſt, als die gewoͤhnlich dafuͤr geltende aͤußere Beharrlichkeit bei einem zufaͤllig erſten Begeg¬ niß. Das Verhaͤltniß zu Lilli zeigt ſich aber nicht nur reicher, tiefer und ſchoͤner, als alle fruͤheren, ſondern in der Reihe der Jugendneigungen auch als das hoͤchſte und letzte; ihm folgt kein aͤhnliches; was weiterhin von Neigungen und Leidenſchaften unſeres Freundes ſicht¬ bar wird, und groͤßtentheils in Dichtungsgeſtalt fuͤr alle Zeiten zu verehrender, ſinnender, lehrreicher Betrach¬ tung daſteht, gehoͤrt einer neuen Folge an, worin andre Richtungen und Bezuͤge hervortreten, nicht geringeren Werthes, als die bisher dargelegten, aber von einem ganz verſchiedenen Karakter, und daher mit jenem dar¬ gebotenen hoͤchſten Lebensgluͤcke, wofuͤr Goethe ſelbſt es erklaͤrt hat, nicht zu vergleichen noch zu meſſen.

Der Verlauf dieſer Liebesgeſchichte, von dem erſten Sehen und Kennenlernen bis zur Verlobung, wohin diesmal die Sache wirklich gelangt, iſt ein ununter¬ brochenes Gedicht, das den reitzendſten und bedeutend¬317 ſten Stoff in den ſchoͤnſten Formen und Maſſen mit¬ theilt, und gleichſam die beiden Endpunkte der Poeſie zuſammenſchlingt; denn der Stoff iſt ganz in dem Ele¬ mente ſeiner urſpruͤnglichen Naivetaͤt und Unſchuld, ſeiner idylliſchen und lyriſchen Naturfriſche verblieben, und zugleich iſt die Darſtellung mit aller Kraft und Ueber¬ legenheit der hoͤchſten, bewußten und reifen Kunſt¬ ſchoͤpfung ausgeruͤſtet. Achtzigjaͤhrige Weisheit und Ueberſicht und fuͤnfundzwanzigjaͤhriges Feuer der Empfin¬ dung und des Geiſtes ſind hier in lieblicher Gemein¬ ſchaft gegenwaͤrtig, und beleben einander wechſelſeitig. Dieſe ſo zarten als gediegenen Blaͤtter bilden in dieſer Art ein Kleinod, das wahrhaft als einzig zu ſchaͤtzen iſt, dem keine Litteratur etwas Gleiches zur Seite zu ſtellen hat. An Schoͤnheit und Macht der Schilderung ſolcher innigen, lebenvollen und dabei fluͤchtigen Zuſtaͤnde koͤnnen nur einige der herrlichſten Blaͤtter von J. J.Rouſ¬ ſeau neben dieſen noch zu nennen ſein, aber an Geiſt und Reife ſchon nicht. Die Feier des Geburtstages von Lilli, die traͤumeriſche Wandernacht Goethe’s und andre ſolche Vorgaͤnge, ſind beinah ſceniſche Idyllen mit plaſtiſcher und muſikaliſcher Ausſtattung geworden, und jeder Umſtand und Bezug dieſer gluͤcklichen Tage iſt in den goldnen Worten des Dichters zu einem ſelbſt¬ ſtaͤndigen kleinen Kunſtwerk ausgepraͤgt. Die ſchon bekannten Lieder erſcheinen faſt neu, ſo ſehr gewin¬ nen ſie ſelbſt durch den Ort, wo ſie nun ſtehen, und318 ſo ſehr ſtreuen ſie Licht und Waͤrme auf ihre Umge¬ bung aus.

Die Gunſt der Wirklichkeit kann aber auch ſelten fuͤr dichteriſches Erforderniß ſo gluͤcklich gefunden wer¬ den, wie hier der Fall iſt. Die Lage von Offenbach, ſo nah bei Frankfurt, und doch abſeits von dem ge¬ draͤngten ſtoͤrenden Stadtleben, dabei ſelber im ſtaͤdtiſchen Werden begriffen, und ſchon in dieſer Art geſellig, bei noch laͤndlichem Zuſchnitt; die gluͤckliche Miſchung der Perſonen, ihr guter Zuſammenhang, ihre nicht zu große Zahl, welche grade hinreicht, um den Schauplatz zu beleben, ohne ihn zu uͤberdraͤngen; die eifrige Thaͤtig¬ keit des heitern Muſikers André, die antheilvolle Ge¬ noſſenſchaft eines wuͤrdigen Ehepaars, des Pfarrers Ewald und ſeiner Frau; endlich die beiden Hauptge¬ ſtalten ſelbſt, die reizende Lilli und der ſchoͤne Juͤngling Goethe, beide zu freier Entfaltung ihres reichen begabten Innern gegenſeitig angezogen, und wenigſtens eine Zeit lang allen Aeußerlichkeiten uͤberlegen: dieſe Aufzaͤhlung allein ſchon laͤßt das beinah fertige Gedicht erblicken! Und doch iſt es hier nur die wirkliche Wahrheit, welche zur Dichtung geworden, ohne ihre eigenſte Geſtalt auf¬ zugeben. Wir haben hiefuͤr ein beſondres Zeugniß bei¬ zubringen, das bei dieſer Gelegenheit ausgeſprochen ſei. Vor vielen Jahren, als dieſer Theil von Goethe's Leben noch nicht geſchrieben war, pflegte der nun verſtorbene Pfarrer Ewald, als Theilnehmer und Vertrauter jener319 Verhaͤltniſſe, uns ſeine Erinnerungen aus der gluͤcklichen Zeit, die er als die ſchoͤnſte und belebteſte ſeiner eignen Jugend mit froher Innigkeit gern zuruͤckrief, vielfaͤltig und umſtaͤndlich vorzutragen, und ſeine Erzaͤhlungen, die ſich bis zu den kleinſten Zuͤgen und Bemerkungen verliefen, wie er denn auch die mannigfachen Gedichte an Lilli mit dem Ton und Ausdruck ihrer fruͤhſten Re¬ citation behalten hatte, bewirkten dem eifrigen und auf¬ merkſamen Hoͤrer durchaus denſelben Eindruck, welchen er jetzt aus der von Goethe ſelbſt gegebenen Darſtel¬ lung empfaͤngt, und durch die Einzelheiten, deren er ſich aus jenen Erzaͤhlungen erinnert, werden ihm ſowohl die beſonderſten Zuͤge als auch das Ganze dieſes neuen Bildes auf das vollſtaͤndigſte und zuſtimmendſte beſtaͤtigt. So daß alſo auch bei dieſem Theile von Goethe's Leben abermals das wichtige Wort Jacobi's gelten duͤrfte, der von den fruͤheren in einem Briefe an Dohm ſagt: Ich muß den Erzaͤhlungen Goethe's das Zeugniß geben (ich erlebte ja ſo vieles mit!), daß ſie oft wahrhafter ſind, als die Wahrheit ſelbſt.

Die durch Erwiederung gluͤckliche Liebe hatte anfangs keine Hinderniſſe, in ihrem Fortgange nur ſolche, die zu uͤberwinden oder doch zu beſtehen waren, und nahm aus ihnen, durch Vermittlung einer beiderſeitigen Haus¬ freundin, Dlle. Delf, deren ſelbſtwilliger Eifer in vor¬ geſetztem Handeln trefflich bezeichnet wird, bald den Aufſchwung zu der ſchoͤnen Stufe, wo die Liebenden320 ihre Vereinigung gebilligt ſahen, und ſich als Braut und Braͤutigam begruͤßen durften. Hier jedoch entwickelt ſich in den Grundlagen der Verhaͤltniſſe, die nun naͤher vor Augen kommen, ein ernſtlicher Widerſtreit, der die ſchon vergoͤnnten Hoffnungen truͤb umhuͤllen muß. Die Verſchiedenheit der Lebenskreiſe, Gewoͤhnungen und An¬ ſpruͤche, die ſich vereinigen ſollen, tritt fuͤr die naͤhere Betrachtung ſcharf und beaͤngſtigend hervor, und die Liebenden ſelbſt, obwohl ihrer Neigung verſichert, und ihr zu folgen entſchloſſen, fuͤhlen es, daß ihr beſter Wille in den gegebenen Umſtaͤnden wenig ausrichten koͤnne, ſondern lieber, mit Verzichtung auf alles Ueber¬ kommene, einen ganz neuen Boden und Anfang des Lebens zu ſuchen habe. Dies fuͤhrt den Autor zu einer uͤberſichtlichen Betrachtung der ganzen damaligen Welt¬ lage, ihrer großen politiſchen Beziehungen, der Geſtal¬ tung der Standesunterſchiede, der von dieſen Bedin¬ gungen abhaͤngigen Lebensausſichten, und insbeſondre der ihm perſoͤnlich offenſtehenden, wobei ſeine zweifache Eigenſchaft, die litterariſche und buͤrgerliche, wiederholt zur Sprache kommt.

Es braucht nicht verſichert zu werden, daß dieſe Schilderung durch Tiefe und Klarheit des Richtigein¬ geſehenen und Treffendausgeſprochenen abermals die ganze Meiſterſchaft darlegt, die wir in aͤhnlichen Ueber¬ blicken der fruͤheren Theile bewundert haben; die Bio¬ graphie hat ihren Zuſammenhang mit der allgemeinen321 Geſchichte nie ſchoͤner und gruͤndlicher dargethan, und dieſe Abſchnitte koͤnnen als einzelne fertige Kapitel einer deutſchen Nationalgeſchichte gelten, deren Ganzes noch fehlt, und lange noch fehlen wird. Die Stellung Goethe's im buͤrgerlichen Leben erſcheint zwar gleich anfangs vor¬ theilhaft und befriedigend, indem die doch engen Schran¬ ken, von welchen ſie umgeben iſt, dem Einzelnen kaum fuͤhlbar geworden; allein die Bedeutung, welche er durch das Uebergewicht geiſtiger Faͤhigkeiten in einem allgemeinen Kreiſe mehr und mehr gewinnt, entbehrt des entſprechenden Ausdrucks in den aͤußeren Verhaͤlt¬ niſſen; die Wege der Litteratur gingen damals noch durch oͤdes Gefild, nur der eine Klopſtock war auf ihnen als Dichter zu einer leidlichen Lebensſtellung ge¬ langt, und dabei hatte noch der religioͤſe Gegenſtand ſeiner Dichtkunſt entſcheidend eingewirkt; fuͤr Goethe war eine ſolche Beguͤnſtigung nicht abzuſehen, und ſeine praktiſche Tuͤchtigkeit in Geſchaͤften, wie fertig und fruchtbar ſie auch erſcheinen mochte, verſprach dafuͤr keinen nahen Erſatz. Seine eignen Anſpruͤche, wie die ſeiner Geliebten, waren willig, ſich in's Enge zu ziehen, um ein beſcheidenes Gluͤck zu gewinnen, welches aller¬ dings der groͤßten Opfer werth ſchien. Allein im tiefſten Bewußtſein konnte man ſich nicht verhehlen, daß die Richtungen und Bilder, welche man aufgeben wollte, ſchon im Gemuͤth und Sinn unberechenbar eingedrungen ſein mußten, und auch jenſeits des Weltmeeres, wohinII. 21322der Blick ſich gewendet hatte, unheimlich Stoͤrendes befuͤrchten ließen. Die Ferne als ſolche lockte nicht, das Naͤchſte an und fuͤr ſich ſtieß nicht ab; die beiden Bahnen, welche einzeln jedem heiter und angemeſſen waren, wurden erſt durch ihre Vereinigung ſchwierig, und auch der Muth und das Selbſtvertrauen der Jugend konnten, durch die Bilder, welche ſich herandraͤngten, beunruhigt werden. Dabei rief kein offner Widerſpruch die Geiſter des Trotzes und Eifers in den Kampf; ihrem eignen Gange war die Sache uͤberlaſſen, nur wohlwollende Warnung und verſtaͤndiger Rath wirkten ein. So konnte es geſchehen, daß die ſchon verlobten Liebenden, ohne ausdruͤcklichen Zwang und fremdes Hinderniß, durch die leiſe, aber maͤchtige Wirkung der gefuͤhlten Unvereinbarkeit ihrer unreifen und nicht ein¬ ander entſprechend ausgeſtatteten Zuſtaͤnde, ſich wieder trennen ließen, indem ſie wohl nicht in die Trennung willigten, aber ſie werden ſahen und anerkannten. Dieſer ganze Hergang, welcher im Weſentlichen fuͤr das Verſtaͤndniß keine Dunkelheit behaͤlt, iſt gleichwohl von dem Autor in den einzelnen Zuͤgen mit einem zarten Helldunkel behandelt, welches nur eben verhin¬ dert, auf das Einzelne zu ſcharf den Blick zu heften, und dieſen grade im Hingleiten uͤber das Ganze die Bedeutung zu ſuchen noͤthigt. Merkwuͤrdig ſind in dieſem Betreff die Worte Goethe’s, die er muͤndlich gegen einen Freund geaͤußert, daß die Tiefe und Zart¬323 heit ſeines Gefuͤhls fuͤr Lilli noch auf die Schreibart und den Ton ſeiner Erzaͤhlung gewirkt, und er den leidenſchaftlichen Gehalt dieſes Verhaͤltniſſes keineswegs ausgeſprochen habe; was denn insbeſondere auch von dieſem wunderbaren Auseinandergehen gelten muß.

Die Empfindungen, welche den wiederkehrenden Kaͤmpfen dieſer nur allmaͤhligen und im Augenblicke niemals unwiderruflichen Entſagung angehoͤren, haben durch den Dichter zum Theil ihren lyriſchen Ausdruck empfangen. Schmerz und Trauer ſind in dieſen Ge¬ dichten aber ſtets von dem Eindruck einer gegenwaͤrtigen oder doch erreichbaren Anmuth und Lieblichkeit uͤber¬ wogen, und auch bittrer Verdruß wandelt ſich in wun¬ derliche Laune, ſo daß das Gluͤck und die Heiterkeit dieſes Verhaͤltniſſes auch in dieſem Betreff hervorragend bleiben. Ueberhaupt aber zeigt ſich in Goethe's Poeſie eine kraͤftige Steigerung, und es iſt karakteriſtiſch, daß er, in deutſcher Vorzeit nach Anhalt und Beiſpiel um¬ herblickend, nicht zu den Dichtern des Mittelalters zu¬ ruͤckgeht, ſondern bei dem derben und tuͤchtigen Hans Sachs ſtehen bleibt, wofuͤr denn auch die guͤltigſten Erklaͤrungsgruͤnde gegeben werden. Die Wirkung dieſes Meiſterſaͤngers iſt bei Goethe, dem er doch mehr Lieb¬ ling als Muſter ſein konnte, lebenslaͤnglich merkbar ge¬ blieben, und ein weſentliches Element ſeines aͤcht-deut¬ ſchen Karakters. Wir koͤnnen nur beklagen, daß grade von dieſer Art ſo manches verloren iſt, andres nur in21 *324Andeutungen noch fortlebt, oder wenigſtens fuͤr jetzt nicht mitgetheilt werden ſoll. Wir duͤrfen nicht ver¬ kennen, daß auch das Grundgedicht des Goethe’ſchen Genius, welches keinem ſeiner Jahre und keiner der Epochen ſeiner Dichtung, ſondern gradezu allen ange¬ hoͤrt und ſie alle umfaßt, daß der Fauſt, wenigſtens in ſeinen Anfaͤngen, aus jenem Element hervorgeht. Mit dieſem großen Gegenſtande finden wir den Dichter auch in jener Zeit erfuͤllt, indem er lebhaft vermißt, daß die Gegenwart ihm weder die Stoffe noch die Formen anbietet, deren er bedarf, und die erſt eine ſpaͤtere Entwicklungsſtufe bringen ſollte.

Mitten in die mannigfachen Bewegungen jener Her¬ zensunruhen und dieſer dichteriſchen Angelegenheiten trifft der Beſuch der beiden Grafen zu Stolberg, die mit dem Grafen von Haugwitz auf einem Ausfluge nach der Schweiz begriffen ſind, und Goethe’n leicht zur Mitreiſe bereden. Ein lebendiges Bild wird uns von dieſen in der Geſchichte deutſcher Geiſtesbildung hoͤchſt bedeutenden Maͤnnern gegeben; wenige Auftritte, kurz und ſchlicht erzaͤhlt, ſtellen uns ohne Muͤhe auf den Standpunkt, wo uns ſo viele ſpaͤtere Verwirrungen und Mißverſtaͤndniſſe voͤllig begreiflich werden, mehr ſagen uns ganze Buͤcher nicht, als dieſe wenigen Seiten klar machen. Goethe berichtigt und ergaͤnzt die An¬ klageſchriften von Voß, ohne daß er ihm eigentlich widerſpraͤche. Wer die Zeiten und Zuſtaͤnde vergleichen325 will, mag zu lehrreichem Nachdenken veranlaßt ſein, wenn er die Juͤnglingsgeſtalt betrachtet, in welcher die nachher ſo geſetzten und geſetzlichen und hochverehrten Maͤnner damals jene Gegenden durchſtuͤrmen, wo doch ein regeres Lebensfeuer ſchon minder aufzufallen pflegt. Die vor einigen Jahren vernommene Erzaͤhlung des Grafen von Haugwitz von manchen Vorgaͤngen jener Reiſe moͤge hier abermals fuͤr die Treue der Goethe'¬ ſchen Darſtellung als ein Zeugniß angefuͤhrt ſein, indem ſie, mit dieſer ſonſt uͤbereinſtimmend, nur die geniale Perſoͤnlichkeit Goethe's heller leuchten ließ, als deſſen eigne Nachrichten es wollen zu erkennen geben. Daß der Ungeſtuͤm der Gefaͤhrten von andrer Art war, als die Genialitaͤt des auch nicht eben zaghaften Dichters, ge¬ ſteht dieſer ſelbſt, wie auch, daß er nicht ungern, was der Scharfblick des Freundes Merck richtig vorausge¬ ſehen hatte, auf der weiteren Wanderung ſich von ihnen trennte. Einiges Verwundern und Laͤcheln muß es hiernach wohl erwecken, wenn man gedenkt, daß, nur ein Jahr ſpaͤter, der gute Klopſtock den juͤngern Stolberg nicht wollte nach Weimar reiſen laſſen, weil er fuͤr ihn die dortige Lebensart fuͤrchtete, und in wehmuͤthiger Beſorgniß ſich die Autoritaͤt nahm, den verſprochenen Beſuch deſſelben unglimpflich abzuſagen.

Merck, den wir eben genannt, erſcheint ferner, wie in den fruͤheren Theilen, als ein durch Karakter und Verſtand eigenthuͤmlich ausgezeichneter Mann, deſſen326 Freundſchaft und Denkart nicht ohne Einfluß auf Goethe bleibt. Sehr waͤre zu wuͤnſchen, daß die zer¬ ſtreuten Blaͤtter und Nachrichten, welche von dieſem Manne noch uͤbrig ſind, zu rechter Zeit geſammelt wuͤrden, da es doch immer denkwuͤrdig ſein wird, die wirklichen Zuͤge naͤher zu betrachten, von welchen einige dem Fauſtiſchen Mephiſtopheles verglichen werden konnten. Naͤchſt dieſem alten Bekannten finden wir in dieſem Theile auch Goethe’s Schweſter wieder, und zwar nicht mehr im aͤlterlichen Hauſe, ſondern als Schloſſers Gattin. Ihr Zuſtand in Emmendingen, das Verhaͤltniß ihrer aͤußern und innern Bildung, die Wirkſamkeit ihrer Eigenſchaften, und beſonders ihr Einfluß und ihre Macht uͤber den Bruder, dem ſie die Trennung von Lilli als unerlaͤßlich einleuchten laͤßt, werden mit außerordent¬ lichen Meiſterſtrichen hingezeichnet, und waͤhrend der Autor faſt verzichtet, das ſchwierige Bild zu vollbringen, ſo iſt es ihm unter dem Zweifel ſchon fertig geworden. In ſolchen Zeichnungen offenbart ſich der wahre Seher, deſſen Auge die tiefſten und abſonderlichſten Kombina¬ tionen, die ſich zu dem Weſen eines Menſchen ver¬ einigen, durch ſein Hinblicken auch ſogleich fuͤr Andre ſichtbar macht. Eben ſo vollendet ſich uns auch das Bild Lavaters, der, allerdings ſchon ein andrer, als in dem dritten Theile, doch noch genug derſelbe iſt, um nicht einer ganz neuen Schilderung zu beduͤrfen. Liebenswuͤrdig und ehrenwerth bleibt ſeine Perſon, da¬327 gegen erſcheint ſein phyſiognomiſches Talent in faſt daͤmoniſcher Macht, und ſein religioͤſer Eifer uͤberlaͤßt ſich mehr und mehr der Ueppigkeit eines warmen und uͤberſchwaͤnglichen Dahinwallens, das ohne feſte Ge¬ dankentiefe, und ſelbſt ohne den erforderlichen Gehalt gelehrter Kenntniß, bei aller hineingelegter Gefuͤhls¬ ſtaͤrke, ſich zuletzt doch nur in Schwaͤche verliert. Sehr wichtig und beziehungsreich iſt alles, was Goethe uͤber die Lavater'ſche Phyſiognomik ſagt, und es waͤre wohl der Muͤhe werth, jenes Werk und die ganze Richtung aus dem heutigen Standpunkte kritiſch zu beleuchten, wozu die Mittel in Hegel's Phaͤnomenologie reichlich gegeben ſind. Die phyſiognomiſche Beſchreibung der beiden Stolberg iſt hier aus Lavater eingeruͤckt, und mag den Reiz wecken, das Buch ſelber wieder zur Hand zu nehmen.

Von neuen Perſonen lernen wir in dieſem Theile, außer den bereits erwaͤhnten, nicht viele kennen. Der alte Bodmer iſt mit billiger Achtung als ein guter Alter dargeſtellt. Goethe's Freund Paſſavant tritt nicht bedeutend hervor. Die Markgraͤflichen Herrſchaften in Karlsruhe werden nur im Voruͤbergehen, und daſelbſt auch der Herzog und die Herzogin von Weimar eben nur erwaͤhnt. Hingegen erſcheint Dlle. Delf, die ver¬ mittelnde Hausfreundin, noch zuletzt ausfuͤhrlich in der ganzen Thaͤtigkeit ihres Karakters.

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Die Schweizerreiſe iſt eine der gluͤcklichen Schilde¬ rungen, wie ſie Goethe ſo einzig gelingen, in welchen Naturanſchauung, aͤußerliche Begebenheiten und Zu¬ ſtaͤnde, und die tiefſten Geiſtes - und Gemuͤthsſtim¬ mungen zu dem lebendigſten Geſammteindruck ſich ver¬ binden. Die Neigung zu Lilli begleitet den Wandrer in dieſe Berge, haucht ihm ſuͤße Lieder ein, und reißt ihn zuletzt, da er ſchon im Begriff ſteht nach Italien hinabzuſteigen, gewaltſam in das heimiſche Mainthal zuruͤck. Zwar weiß er ſchon, und hat mit dem Ver¬ ſtande ſchon zugegeben, daß die Geliebte nicht mehr ihm angehoͤren ſoll, allein dem Herzen und den Augen gehoͤrt ſie dennoch an, und der begluͤckende Umgang dauert fort, wenn auch unterbrochen und geſtoͤrt. Der Kampf erhoͤht nur die Leidenſchaft, ſie ringt mit Moͤg¬ lichkeiten und Entſchluͤſſen, ſie ſtroͤmt poetiſches Leben aus, mit welchem ſie auch das Stoͤrende ſich unter¬ ordnet und aneignet; doch zwiſchen allen dieſen waͤchſt unaufhoͤrlich die Trennung, beſtaͤrkt ſich nur immer die Entſagung.

Wie ſchon mehrmals nimmt auch jetzt den Bedraͤng¬ ten ſein produktives Talent in Obhut; ein heitrer und fruchtbarer Zeichner Kraus regt die Kunſtliebe nach dieſer Seite zu praktiſchen Uebungen an und ruͤckt durch ſeine Bilder nebenher die Weimariſchen Verhaͤlt¬ niſſe nah und traulich vor den Sinn. Jedoch kann dieſe Lockung, da kein aͤchter Beruf ihr geſellt iſt, nicht329 lange feſthalten, und Goethe ſtuͤrzt ſich in ſein eigent¬ liches dichteriſches Element; wir ſehen den Egmont aus den Wogen emporſteigen, und zwar aus dem tiefſten Grunde einer großen, erſchuͤtternden Betrachtung uͤber das Walten eines Daͤmoniſchen, das in Natur und Geſchichte ſich offenbart. Was uͤber die Erforderniſſe und die naͤhere Behandlung dieſes großen dramatiſchen Stoffes erlaͤuternd geſagt wird, muß jeden nachdenken¬ den Leſer willkommen anregen. Hier wird auch der dieſem Baͤndchen vorgeſetzte Spruch: Nemo contra deum nisi deus ipse als der Sache angehoͤrig ent¬ wickelt und aufgeſtellt.

Nun aber wird dieſer vielfach erfuͤllte Zuſtand nicht laͤnger haltbar, die hoͤchſte Spannung draͤngt zu Ent¬ ſcheidungen, zu Entſchluͤſſen. Was aufzugeben ſei, ſteht feſt; wohin aber nun Sinn und Muth ſich wenden ſoll, daruͤber ſchwankt alles, und doch muß der naͤchſte Schritt die ganze Lebensfolge beſtimmen. Die Neigung iſt fuͤr Weimar entſchieden, wohin die dringendſten Ein¬ ladungen, die guͤnſtigſten Ausſichten locken, vor denen aber der Vater warnt, und bemuͤht iſt, das herrliche Bild Italiens vorzuſchieben. Dieſes Schwanken ver¬ laͤngert ſich durch nothgedrungenes Abwarten nicht ge¬ rechneter Zufaͤlle, und ſetzt ſich ſogar in die genom¬ menen Entſchluͤſſe hinein unangenehm fort, die Leiden¬ ſchaft ſucht in dem Aufſchub noch einigen Gewinn zu faſſen, der aber ſchon entruͤckt iſt, und ſo erſcheint330 gleichſam im Schlußchor aller Elemente und Motive, welche dieſes Leben zuſammenbilden, die Hauptent¬ wicklung deſſelben, wodurch, nach einem letzten Kampfe, der dem Spruche ahndungsvoller Neigung uͤber alle Gegenrede warnender Verſtaͤndigkeit und lockender Vor¬ ſtellungen den Sieg laͤßt, unſer Freund und Dichter endlich dem verheißungsvollen Weimar zugefuͤhrt wird, wo ſich die groͤßten und gluͤcklichſten Schickungslooſe fuͤr ihn erfuͤllen ſollten.

Auf dieſem Boden angelangt, bleibt uns der Dichter fortan in heitrem Tageslichte, von nun an wird ſeine Erſcheinung und ſeine Thaͤtigkeit mehr und mehr oͤffent¬ lich, der Nation angehoͤrig, und kann nicht mehr in voͤlliges Dunkel zuruͤcktreten. So groß der Verluſt auch in aller Hinſicht ſein mag, daß ſeine Erzaͤhlung uns nicht auch in die reizenden, geſtaltenreichen und bewegten Anfaͤnge dieſer neuen Lebensſtufe einfuͤhrt, ſo koͤnnen wir denſelben doch, was den Stoff anbelangt, eher verſchmerzen, als wenn uns eine der fruͤheren Perioden fehlte; dieſe konnte nur Goethe ſelbſt mit¬ theilen, fuͤr jene duͤrfen allenfalls auch andre Erzaͤhler eintreten. Ueberhaupt moͤgen wir bei dem Abſchluſſe dieſer vier Theile von Wahrheit und Dichtung nicht zu ſehr trauern uͤber das, was noch fehlt. Gleich im Be¬ ginne dieſes Werkes ſprach ſich die Meinung aus, fuͤr den wahren Vertrauten und Freund des Dichters be¬ duͤrfe es dieſer Erlaͤuterungen nicht, das eigentliche331 Leben deſſelben ſei vollſtaͤndig in ſeinen Dichtungen, und Goethe ſelbſt hat in ſolchem Sinne geſagt, ſeine Denkſchriften ſeien ein Verſuch ſeine poetiſche Konfeſſion zu ergaͤnzen. Wenn wir aber auch nicht zu dem Stolze jener Meinung uns erheben, ſondern uns des Gege¬ benen ſehr beduͤrftig und durch ſolches unendlich berei¬ chert eingeſtehen, ſo duͤrfen wir doch hinwieder uns dabei beruhigen, und allen dringendſten Forderungen genuͤgt finden. In der That haben wir ein wenn auch nicht geendigtes, doch vollſtaͤndiges Werk vor uns; die Grundlagen ſind unveraͤnderlich, die Beſtandtheile nach allen Verhaͤltniſſen beſtimmt, der Aufbau bis zu ge¬ wiſſer Hoͤhe durchgefuͤhrt; nun koͤnnen weiter hinauf die Gebilde doch nur mit geringen Veraͤnderungen ſich wiederholen, und in dieſem Sinne haͤtten wir, waͤre die Stelle nicht ſchon beſetzt, als Titelſpruch dieſes Theiles die eignen Goethe’ſchen Worte vorzuſchlagen: Mit den Jahren ſteigern ſich die Pruͤfungen. Wirklich koͤnnte uns die Folge faſt nichts anderes zeigen, und ſchon bisher mußte bemerklich ſein, daß auch die groͤßte Macht des Genius und die reichſte Fuͤlle des Lebens, welche den einzelnen Menſchen bedeutend machen, im Grunde nur Variationen weniger einfachen Themen ſind, zweier oder dreier tiefen Erſchaue oder Empfin¬ dungen, mit welchen aller Reichthum der vielfachſten Erſcheinungen bewirkt wird.

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Kritiſche Tagesworte.

1. Lord Byron.

Ein vornehmer, genialer Englaͤnder, zu reich, um zu arbeiten, zu frei, um zu dienen, zu uͤberdruͤſſig, um blos empfindend zu genießen, zu geiſtvoll, um ein Narr zu ſein, zu unruhig, um nichts zu thun er dichtet. Die Poeſie iſt ihm, wie einſt dem Grafen Alfieri, ein Surrogat des Lebens, daher, bei allen großen Vor¬ zuͤgen ſeines Genie's, nicht gluͤckliche Befriedigung, ſondern truͤber Behelf des zerriſſenen Innern. Die Fluth des Tages traͤgt ſeine Werke, wie die Meeres¬ wogen die Schaͤtze ſeiner Landsleute, auf den ſeemaͤch¬ tigſten Schiffen, unter der guͤnſtigſten Flagge.

2. Lady Morgan.

Als Miß Owenſon zeigte ſie fruͤh in ihren Roma¬ nen tiefe Gluth des Herzens, hohen Adel der Seele, geiſtvolle Weltkenntniß, großen Naturſinn. Als Lady Morgan reizte ſie manche Feindſchaft durch die Freiheit ihrer Denkart und die Offenheit ihrer Aeußerungen. Liebe fuͤr ihr Volk und Land ſie iſt eine Irlaͤnderin heißer Antheil bei deſſen Ungluͤck und Bedruͤckung, beſeelt ohne Ausnahme alle ihre Schriften. Ihr dar¬ ſtellendes Talent ragt weit vor dem ihrer Rivalen empor, an Waͤrme, an Raſchheit, an Tiefe und Wahr¬ heit des Sinnes.

333

3. Walter Scott.

Walter Scott verſteht das dichteriſche Handwerk, und gefaͤllt ſich darin; daher ſeine breite, einzelne Aus¬ fuͤhrung. Seine Romane ſind auseinander gezogene, mit wohlgearbeiteten Verzierungen uͤberladene Novellen. Er wuͤrde aus jeder Novelle des Cervantes, wenn ihm der Stoff zur Bearbeitung vorgelegen haͤtte, drei Baͤnde gemacht haben. Er macht ſeine Beſchreibungen, weil er will, und weil er ſeine Bilder fuͤr ſich ſelbſt, ſtatt durch innere Zuͤge im Geiſte, erſt durch aͤußere auf dem Papiere gewinnt und feſthaͤlt. Er iſt nicht durch den Stoff ſelbſt genoͤthigt zu einer Schilderung, ſon¬ dern nur immer gemuͤßigt. Das eigentliche Leben der dichtenden Kunſt fehlt ihm; und wie nahe er daran hinſtreifen moͤge, die kleinſte Scheidelinie bleibt hier unerfuͤllbar tiefe Kluft.

4. Génie du Christianisme.

Der Verfaſſer iſt ein Dichter in allen Lebens - und Geiſtesrichtungen, mit Ausnahme der Dichtkunſt. Das Buch iſt das unfroͤmmſte und unchriſtlichſte von der Welt. Das ganze Chriſtenthum iſt darin nur als eine Vorrathskammer von Zierrath und Prunk ange¬ ſehen, den man im Leben noch nicht ſo nutzbar ange¬ wandt, noch nicht ſo ergoͤtzlich vorgezeigt habe, als es hier nun durch den neuen Conſervateur und Kuͤſter dieſer alten Schaͤtze mit glaͤnzendſter Rede und modern¬334 ſtem Geſchmacke zur Schau geſtellt werden ſoll! Ihm ſind Kirche, Hof, Große, Kuͤnſtler, Gelehrte und Prieſter, Alles zuſammen nur poetiſche Motive, die ſeit einiger Zeit zu ſehr vernachlaͤſſigt werden. Er fuͤhrt das Chriſtenthum gleichſam in Galla vor, ein Anblick, der den Weltmann ergoͤtzen kann, aber den Frommen, der von dem Weſen des Evangeliums erfuͤllt iſt, be¬ leidigend zuruͤckſchrecken muß.

5. Fouqué.

Er hatte ein ſchoͤnes Talent fuͤr Lied, Romanze, Nachbildung; als letztere gelang ihm ſelbſt das drama¬ tiſche Heldengedicht einmal, im Sigurd dem Schlangen¬ toͤdter. Aber ſelbſt Undine haͤtte keine Erzaͤhlung, ſon¬ dern nur eine Romanze werden ſollen. Vom Uebrigen ſchweigen wir. Die Poeſie will nicht als geſpenſtiſche Wache auf die oͤden Truͤmmer des Ritterthumes ſich bannen laſſen.

6. Hoffmann.

Auch der geiſtreichſte Witz, ſoll er nicht allzu bald ſich verfluͤchtigen, muß von Gefuͤhls-Innigkeit gebunden ſein. Darum iſt Hoffmann nicht Jean Paul. Aber gerade an dieſem gefaͤllt Vielen das Sentimentale nicht, ſondern blos das Komiſche. Nun gut, hier haben ſie ihr herausgeſondertes Theil, mit vielen neuen originellen Zuͤgen und Gebilden derſelben Art, aber, wie geſagt, es verfluͤchtigt ſich allzu bald.

335

7. Clemens Brentano.

So Mancher will ein Dichter ſein, und kann nicht; hier iſt einer, der alles dazu hat, ſogar die ſchon fer¬ tigen Gedichte, und nicht will, ein Fall, der ſelten vorkommen wird! Brentano verdirbt ſeine Dichtungen durch Uebermuth, und die er nicht verdirbt, haͤlt er zuruͤck.

8. Schul-Aufgabe.

Was iſt Accent und was iſt Quantitaͤt? Was iſt Hoͤhe und Tiefe der Silben? Welches ſind die Geſetze der klaſſiſchen und der romantiſchen Versbildungen? Wie beſtehen beide Gattungen, durch angemeſſene Mil¬ derung der ſtrengſten Regel in beiden, in unſerer Sprache gluͤcklich neben einander? Bei der faſt allge¬ meinen Wirrniß, die heutiges Tages in dieſen Punkten unſere lautredenden Kunſtrichter in oͤffentlichen Blaͤttern oft auf die laͤcherlichſten Abwege gerathen laͤßt, mag der Gegenſtand dieſer wenigen Fragen den Dichtern und Kritikern dringend empfohlen ſein. So leicht iſt die Sache uͤbrigens nicht!

9. Kunſtwerk.

Wer aus lebendigem Geiſte dichtet, giebt Leben, und wo dieſes iſt, iſt eine Unendlichkeit der Beziehungen aufgethan, die der Dichter nicht beabſichtigt, nicht be¬ rechnet hat, ſondern geſchaffen. Daher man Jahrtau¬ ſende hindurch an dieſen Beziehungen Neues forſchen,336 deuten, finden, verſtehen kann was der Urheber nie gedacht oder gemeint hat ohne das Werk zu erſchoͤpfen oder zu uͤberladen. Shakſpeare, Cervantes, Goethe, wachſen mit den nachlebenden Geſchlechtern und und durch deren geiſtige Miteiferung und Betrachtung immer ſchoͤner zu ihrer vollſtaͤndigen Groͤße empor.

10. Ludwig Uhland.

Sein Lied iſt reich und kuͤhn, voll großer Geſinnung in reinſter Kunſt. Sein Fuͤhlen und ſein Schauen ſind gleichzeitig und ebenmaͤßig, uͤbereinſtimmend in Wahr¬ heit und Schoͤnheit; dies ſein beſonderer Vorzug!

11. Grillparzer.

Wahres und Schoͤnes umfaßt ſeine tiefempfindende Seele; in gluͤcklichen Formen dringen ſeine edlen Anla¬ gen hervor. Seine Sappho iſt aͤchte Poeſie. Aber die Schwingen ſind ihm geſchwaͤcht, bevor der Grimm des Lebens und Trotz und Gewalt der Erde ihm noch recht unterthan geworden. Zum tragiſchen Dichter haͤtte er vielleicht anderswo geboren werden ſollen.

12. Ruͤckert.

Friſche Sangesſtimme auf froher Wanderſchaft! Er dringt in das Dickigt der Waͤlder, auf die kahlen Fels¬ haͤupter der Berge; er beſucht liebliche Auen und oͤde Sandflaͤchen. Er weiß, was er will, und wenn er einmal im Finſtern tappt, ſo iſts, weil er auch ein¬ mal im Finſtern tappen will. Ihr braucht ihn dann337 nicht aͤngſtlich zurecht zu rufen, als verirre er ſich; er weiß recht gut, wo er iſt, und wohin er zuruͤckkehren muß.

13. Jouy.

Seine Lebensſchilderungen ſind ein Spiegel, in wel¬ chem Alles ſich getreu und heiter abbildet. Als Sit¬ tenmaler hat er richtige Zeichnung, kraͤftige Farbe, gluͤck¬ liche Kompoſition. Er iſt fuͤr das Stillleben, was Walter Scott fuͤr das Heroiſche, eben ſo getreu und genau, nur gluͤcklicher Weiſe minder breit.

14. Frau von Genlis.

Sie iſt in der Konvenienz bis zur Natuͤrlichkeit gekommen. Ihren Figuren ſind die Kleider dieſer Kon¬ venienz wieder zu einer Art Haut geworden; ſie wuͤr¬ den noch nackt ſcheinen, wenn ſie nicht neue Bedeckung erhielten. Aber an Einſicht fehlte es dieſer Schriftſtel¬ lerin nicht, an Kenntniß nicht, an Geſchmack nicht, am wenigſten an Talent; ſie ſchreibt rein und klar im ſchoͤnſten Fluſſe der Rede. Was ihr fehlt? Anfaͤngliche Wahrheit, und Freiheitsmuth.

15. Arnim.

Golderz, aber voll Schlacken; ſolches Metall, wie edel und aͤcht, hat keinen Kours im Leben, aber man kann Reichthuͤmer auf dieſe Art beſitzen.

II. 22338

16. Johann Heinrich Voß.

Die Sprache ſeufzt auf dem Ambos unter ſeinen Hammerſchlaͤgen; aber ſie dankt ihm Ausbildung, die lange dauern und deren Gewinn noch ſpaͤten Nachleben¬ den zu Gute kommen wird.

17. Friedrich Auguſt Wolf.

Luſtwandelnd gelegentlich durch die Werkſtaͤtte deut¬ ſcher Proſa und deutſcher Verskunſt ordnet er neue Gebilde des groͤßten Stils und der feinſten Verhaͤlt¬ niſſe aus den der Meiſterhand ſtets unerſchoͤpften Vor¬ raͤthen!

18. Ludwig Boͤrne.

Wie nahverwandt der Kritiker dem Kuͤnſtler, beweiſt Boͤrne durch ſeine Kunſtbeurtheilungen; ſie ſind ſelber Kunſtgebilde. Weich und milde weiß er ſich ſeinem Gegenſtande, dieſen befeſtigend, anzuſchmiegen, und ſcharf und ſchneidend in ihn einzudringen, um ihn bis in das Innerſte zu zerlegen.

19. Tieck.

Er iſt ein Dichter; und der einzige, der bei uns neben Goethe jetzt ſtehen darf!

20. Verbindung.

Der Geſchichtſchreiber ſteht dem Dichter ganz nahe; wo ſie ſich beruͤhren, ſcheint jeder den andern entbehr¬ lich zu machen. Herodot iſt auch Dichter, Shakſpeare339 auch Geſchichtſchreiber. Geſchichtſchreibung iſt Krieg mit der Gemeinheit der Meinungen der Gegenwart, Dich¬ tung iſt ihre Veredlung. Wer Dichtung und Wahrheit nur in Widerſtreit ſieht, kennt weder Dichtung noch

Wahrheit.

21. Sprachmeiſterei.

Wenn kuͤmmerliche Schriftgelehrte unſren ſchoͤpferi¬ ſchen Geiſtern ihre bewußten Kuͤhnheiten und Neuerun¬ gen in Sprache und Verskunſt als ungeſchickte Verſtoͤße gegen die Regel oder unerlaubte Erdreiſtungen vorhal¬ ten, ſo iſt dies nicht beſſer, als wenn Diener und Aufſeher in die ihnen verbotenen Gemaͤcher nun auch ihre gebietenden Herren und Meiſter nicht einlaſſen wollten!

22. Deutſchthum, wahres.

Die Aufgabe, welche Goethe'n geſtellt war, um das zu werden, was er geworden, war groͤßer und ſchwie¬ riger, als die dem Cervantes oder Shakſpeare beſchie¬ dene. Alle drei ſind Schriftſteller, in welchen und um welche das geiſtige Leben ihrer Nation ſich verſammelte. Aber die Bildung der deutſchen Nation iſt nicht ſo einfach und offen zu erfaſſen, nicht ſo alleinherrſchend und abgemeſſen zu verwalten, wie die Bildung der ſpaniſchen oder engliſchen es erlaubte. Umfaßt nicht nur und verwaltet, auch geſteigert mußte dieſe Bildung von dem Dichter werden, wenn er ein Licht der Ge¬22 *340genwart und Zukunft dieſer Nation ſein ſollte, wie jene Dichter es den ihrigen geworden.

Immermann.

1.

Trauerſpiele von Karl Immermann, Hamm und Muͤnſter, 1822. Dieſer Trauerſpiele ſind drei: das Thal von Ronceval; Edwin; Petrarca. Unſere jungen Dichter pflegen zuerſt mit leichteren Fahrzeugen die See der Litteratur zu verſuchen, oft nur in kleinen Nachen lange daſſelbe Ufer zu berudern; mit großem Schiffe gleich in das hohe Meer geſchieht die erſte Aus¬ flucht ſchon ſelten, aber gleich mit einer ganzen Flotte am ſeltenſten. Hier iſt letzteres der Fall; wir hoͤren den Dichternamen Karl Immermann zum erſtenmal, aber gleich in achtbarer Staͤrke, welche die Aufmerk¬ ſamkeit nicht erbittet, ſondern herausfordert. Shak¬ ſpeare und Goethe ragen bei uns in ihrer Geiſtesver¬ buͤndung als eine entſchiedene Macht hervor, deren dich¬ teriſche, gebietende und befruchtende Wirkung jedes andere Anſehen uͤberwiegt, obgleich ſie dem deutſchen Gemeinweſen gemaͤß, das nun einmal, zum Heil oder auch zum Unheil, in allen Beziehungen zerſplittert iſt viele andere, verwandte, befreundete, ja auch ganz341 entgegengeſetzte und feindliche poetiſche und unpoetiſche Maͤchte neben ſich duldet und gewaͤhren laͤßt. An jene Macht nun und an ihre Richtung ſchließt ſich unlaͤug¬ bar unſer Verfaſſer an, und das muͤſſen wir fuͤr ſehr gut erklaͤren, da man mit den Maͤchtigſten und Reich¬ ſten immer auch am ſicherſten und wohlhabendſten iſt; gerade in dieſem Gebiet, und das iſt ein Hauptvorzug, iſt auch der kuͤnſtlichen Taͤuſchung und des bethoͤrenden Prunkes am wenigſten moͤglich; hier gilt es vor allem Wahrheit und Kraft, und der innere Gehalt muß hier zuletzt denn doch fuͤr die aͤußere Form einſtehen. Schil¬ ler, Calderon, Tieck, gewaͤhren ihren Anhaͤngern und Folgern in dieſem Betreff nicht ſo vortheilhafte Selbſt¬ ſtaͤndigkeit, wie Shakſpeare und Goethe den ihrigen; man kann bei dieſen nicht ſo ſehr Nachahmer ſein, als bei jenen, die Art und Weiſe taugt weniger dazu. Nun aber fragt es ſich, in welchem Grad und Range, zu welchem Beruf und mit welchen Kraͤften gehoͤrt der Verfaſſer dieſem Reiche an? Man kann in einem Heere vielerlei ſein zwiſchen dem Feldhauptmann und Gemei¬ nen! Hier finden ſich fuͤr unſere Beurtheilung allerlei Schwierigkeiten. Es fragt ſich nicht nur, was Einer jetzt iſt, ſondern hauptſaͤchlich, was Einer naͤchſtens werden wird, und ein Faͤhnrich, der den Oberſten ſchon in ſich traͤgt, iſt ohne Zweifel mehr werth, als ein Hauptmann, der lebenslang Hauptmann zu bleiben hat. Iſt unſer Verfaſſer zwanzig Jahr alt, und ſchreitet fort,342 ſo haben wir in ihm unſerem Vaterlande einen neuen aͤchten Dichter zu preiſen; iſt er vierzig Jahr alt, und bleibt ſtehen, ſo iſt in ihm ein ſchoͤnes Talent zu bekla¬ gen, das eines hoͤheren Zieles wuͤrdig ſchien, ohne daſ¬ ſelbe erreicht zu haben. Wir koͤnnen wirklich uͤber die vorliegenden Trauerſpiele kein vollſtaͤndiges Urtheil ausſprechen. Sie ſind nicht das Vortrefflichſte, was wir kennen; ſie ſind weit entfernt von dem Schlechte¬ ſten; dabei ſind ſie aber auch durchaus nicht mittelmaͤßig. Man ſieht, der Platz iſt ſchwierig fuͤr ſie zu beſtimmen; vielleicht waͤre unſere Verlegenheit gehoben, wenn wir uns entſchloͤſſen, ihnen verhaͤltnißmaͤßigen Antheil an jedem Platze zuzugeſtehen. Die Unbilligkeit, die dadurch an dem Dichter dennoch ausgeuͤbt wuͤrde, haͤlt uns aber wieder zuruͤck. Seine Dichtungen ſind Erſcheinungen, die bedeutend anregen und vielfach befriedigen, aber in der Befriedigung ſelbſt doch zumeiſt nur wieder anre¬ gen; ſie ſind Glieder aus einer Reihe, die in noch groͤßerer Folge uͤberſchaut ſein will, um erkennen zu laſſen, ob die Richtung zum Hoͤchſten, die ſich un¬ zweifelhaft offenbart, in Anfang und Ende dieſelbe bleibt, und alle etwan abweichenden Seitenrichtungen entweder fruͤhzeitig verlaͤßt, oder zuletzt noch wieder aufnimmt. Es ſind Stellen von groͤßter Schoͤnheit darin, eigen¬ thuͤmliche Zuͤge voll Tiefe und Wahrheit, wir hoffen, dieſe Seite werde nur immer zunehmen.

343

Eine Hauptfrage, ob dieſe Dichtwerke die Eigen¬ ſchaft, auf die es hier vor allem ankommt, beſitzen, ob ſie den Vorzug haben, wahrhaft dramatiſch zu ſein, muͤſſen wir nach einigem Bedenken denn doch bejahen. Beſonders kommt dieſer Name dem Tauerſpiel Pe¬ trarca zu, worin das Geſchick eines Dichters, nach Goethe's Taſſo wahrlich kuͤhn und neu und gluͤcklich genug in dieſer Geſtalt, mit tragiſcher Lebensfuͤlle dar¬ geſtellt wird. Das Thal von Ronceval ſteht dieſem zunaͤchſt an dramatiſchem Verdienſt, zuletzt Edwin, welches der Entſtehung nach leicht das erſte ſein duͤrfte. Wenn wir die Frage nach dem Dramatiſchen nur nach einigem Bedenken bejahten, ſo mag daran das ſtoͤ¬ rende Verhaͤltniß Schuld ſein, in welchem die Elemente dieſer Gattung des romantiſchen Trauerſpiels hier noch zu einander ſtehen. Sie durchdringen einander nicht, ſie walten zu ſehr neben einander. Das Komiſche, bei ſehr guten, ja bei ganz vortrefflichen Einzelheiten, iſt im Ganzen nicht reif, und mit dem Ernſte noch nicht zum wahren Humor verknuͤpft, daher manche Theile und Geſtalten ſich zu viel herausnehmen, und dadurch andere Theile und Geſtalten zu ſehr in das Epiſche niederdruͤcken. Wir haben ſo viele aͤußerlich dramatiſche Werke, die es innerlich nicht ſind, die blos Romanzen bleiben wollten, oder Idyllen. Vor ſolcher Gefahr, welcher ſelbſt Oehlenſchlaͤger nicht ganz und Fouqué am wenigſten entgangen, iſt unſer Verfaſſer, der gutes344 Muths auf dieſe ausgezeichneten Beiſpiele blicken darf, denn doch zu warnen! Er vergeſſe nicht, daß das Drama, nach des Meiſters Ausſpruch, Karaktere und Theater will, den Konflikt der Nothwendigkeit und der Freiheit, die ſtrenge Entwickelung aͤußerer Handlung aus inneren Bedingniſſen, und er wird ſich, von ſtarkem Bewußtſein geleitet, feſter und ſicherer in ſeinen Anord¬ nungen auf dem erwaͤhlten Gebiete des Dramatiſchen, ja des Theatraliſchen welches nicht getrennt werden ſollte von jenem behaupten. Den Lockungen der Scherzgebilde gebe er ſich nicht allzu leicht hin! Die Geſinnung, welche die neuere altdeutſche und altnordi¬ ſche Ritterthuͤmelei verhoͤhnt, iſt bei einem jungen Dich¬ ter gewiß ein gutes Zeichen; aber die Ausfaͤlle gegen Fouqué ſind in dem altengliſchen Trauerſpiele nicht wohl angebracht, und in Betreff des Sigurd noch dazu hoͤchſt ungerecht. In Sprach - und Versbildung hat der Verfaſſer vielleicht nicht ſowohl mehr zu lernen, als nur mehr zu wollen. Er wird in ſtrengeren, ausgebilde¬ teren Toͤnen und Wendungen nur um ſo eigenthuͤmli¬ cher ſein. Maß und Ernſt werden ihm, da es ihm an Naturkraft nicht fehlt, mehr zuſagen, werden ihn mehr foͤrdern, als Ungebundenheit und Eigenmacht; an Frei¬ heit und Laune wird es ihm deshalb nicht mangeln: je weniger ſie abgeſondert vorkommen, deſto ſchoͤner kom¬ men ſie dem Ganzen zu gut; auch in dieſer Beziehung345 iſt Petrarca das vorzuͤglichſte unter den gegebenen Stuͤcken.

2.

Brief an einen Freund uͤber die falſchen Wander¬ jahre Wilhelm Meiſters. Von Karl Immermann. Muͤnſter, 1823. Dieſe Erſcheinung iſt in einer Zeit, wo das Beduͤrfniß aͤchter Kritik auf allen Seiten ſo dringend gefuͤhlt, und ihre Einwirkung in allen Zweigen der Litteratur doch ſo aͤngſtlich vermißt wird, als kein geringer Gewinn zu rechnen. In der That iſt der Man¬ gel an aͤchter Kritik auffallend, bei ſeltſamen Reich¬ thuͤmern in allen uͤbrigen, ſind wir in dieſem Fache verwaiſt und verarmt. Wenn wir die gelegentlichen Spruͤche Goethe’s die goldenen Worte z. B. uͤber Calderon und Shakſpeare, uͤber Lukrez, Byron, Man¬ zoni, in den Heften von Kunſt und Alterthum nicht ausdruͤcklich anrechnen, ſo bleibt im weiten Umfange deutſcher Lande jetzt, nachdem die bedeutenden Stimmen von A. W. und Fr. Schlegel, von Tieck, von Hum¬ boldt, und einigen Andern dieſes Ranges, verſtummt ſind, nur der einzige Boͤrne zu nennen, welcher Ein¬ ſicht, Geiſt, Witz und Kraft in dem Maße vereint, um ein Kritiker im hoͤheren Sinne zu heißen. Als wuͤrdiger Genoſſe tritt jetzt Immermann auf. Aus dieſer erſten kleinen Schrift iſt ſein ganzer Beruf zu erkennen. Auch hat er ſich gleich einen Gegenſtand von großem Inhalt346 erwaͤhlt, um ſeine erſte Kraft daran zu verſuchen. Dieſer Gegenſtand fordert nicht weniger, als die muthige Er¬ oͤrterung des auch in der Aeſthetik waltenden Urſtreites zwiſchen Licht und Finſterniß, die entſchiedene Sonderung des Guten und Schlechten, der Wahrheit und der Luͤge; alle Taͤuſchung, Heuchelei, Verlarvung und Entartung des aͤſthetiſchen Sinnes mußte zur Sprache kommen. Der Verfaſſer hat ſeine Aufgabe trefflich geloͤſt. Das frevle Beginnen, welches von dem Troſſe der Litteratur mit Jubelgeſchrei empfangen wurde, auch hin und wieder einige beſſere, doch ſchwachmuͤthige Seelen verwirrte, hat bei den Einſichtigen durch ſeine Geringfuͤgigkeit nur Mitleid, durch ſeinen ſchlechten Zweck nur Entruͤſtung, durch ſeine ſittlich-aͤſthetiſche Verkehrtheit nur Ekel er¬ wecken koͤnnen. Nicht einmal die geringe Erfindung der ganzen Unterlage ſeines Buches gehoͤrt dem Verfaſſer der falſchen Wanderjahre eigen an. Der Einfall, Wilhelm Meiſtern mit dem Markeſe auf Wanderſchaft zu ſchicken und uͤber Goethe’n ſchwatzen zu laſſen, kommt ſchon in dem Buche: Die Verſuche und Hinderniſſe Karls, Berlin 1808 , doch nur in Kuͤrze, ohne boͤs¬ liche Abſicht, als voruͤbergehender Scherz vor, der aber ſchon damals harten Tadel erfuhr, und hier keineswegs vertheidigt werden ſoll. Aus dieſen Paar Seiten iſt nun eine ganze Reihe von Buͤchern hervor geſponnen! In ſolchem Falle war es ſchwer, inmitten der gerech¬ ten Empoͤrung nicht leidenſchaftlich zu werden, und da347 nur immer aus Gruͤnden fort zu ſprechen, wo dieſen im voraus boͤsliche Willkuͤr entgegentritt. Deſto lobens¬ werther iſt hier Immermann's Verfahren. Er ſagt zwar ſelbſt im Verfolge ſeines Briefes, er verlaſſe den Stand¬ punkt der Unpartheilichkeit, und ſchlage ſich ganz auf die Seite Goethe's: aber welcher Richter thut dies nicht am Ende durch ſeinen Urtheilsſpruch? Die Unter¬ ſuchung aber fuͤhrt er voͤllig partheilos; er verlaͤugnet ſich ſein vorausgeahndetes Ergebniß ſo lange, bis er es auch auf dem Wege der Eroͤrterung wirklich gefunden hat. Er theilt ſich ſeine Sache ordentlich ein, und nimmt ſie Punkt fuͤr Punkt vor; kein Scheingrund iſt ihm zu gering, um ihn ungehoͤrt zu verwerfen, keine Ausflucht zu abſchweifend, um ſie unverfolgt zu laſſen. Er iſt dabei weder pedantiſch ausgeſponnen, noch vornehm breit, ſondern gedraͤngt und feſt beiſammen, und obwohl in abkuͤrzender Zeiterſparung, giebt er die Unterſuchung doch vollſtaͤndig und mit allen Belegen. Er hat eben ſo klare als tiefe Anſchauungen von dem Weſen der Poeſie und ihren Verhaͤltniſſen. Eine edle, treue Geſinnung und nicht blos in dichteriſchen Dingen reife Einſicht und ſicheres Bewußtſein, mit allen Waffen des Talents ausgeruͤſtet, ſind in dieſen Blaͤttern unverkennbar. Die Quellen, aus denen ein dichteriſches Kunſtwerk entſteht, die Art und Weiſe, wie es ſich hervorbildet, die Be¬ ziehungen, in welche es tritt dieſe zarten, wichtigen, oft beruͤhrten, immer wieder abhanden kommenden Ge¬348 heimniſſe ſind hier in buͤndiger Wahrheit zu Tage gelegt. Ueber die Beziehung der Dichtkunſt zum Chriſtenthum iſt ein koͤſtliches Wort ausgeſprochen, wie es bisher noch nicht gehoͤrt war! Sehr neue und auffallende Saͤtze ſprach der Verfaſſer mit ſo ſicherem Urtheil, in ſo be¬ gruͤndeter Geſtalt aus, daß man ſich taͤuſchen koͤnnte und meinen, er ſage Bekanntes. Manche einfache Be¬ merkungen und Ausdruͤcke, die faſt unſcheinbar im Rede¬ fluſſe dahingehen, konnten nicht ohne Wegraͤumung ganzer Maſſen von Irrthuͤmern dieſe freie Bahn finden. Ueber Schiller ſagt er unvergleichliche Sachen, treffliche Wahr¬ heiten, durch Vorurtheil und Feigheit auch in erweck¬ teren Gemuͤthern bisher faſt erſtickt. Ueber den Karak¬ ter des Zeitalters, Goethe’s, uͤber die Eigenheiten ſeiner Poeſie, dann einzeln uͤber den Fauſt, den Egmont, die Iphigenia, Eugenia lauter goldene Worte, und darun¬ ter ſolche, die vorher noch nicht geſagt worden! Nur ein großer Sinn iſt ſolcher Auffaſſung faͤhig. Sehr treffend hat der Verfaſſer in dieſer Schrift ſelbſt den Grund angegeben, weßhalb in verſchiedenen Zeitaltern auch der Dichter in verſchiedener Beſchaffenheit daſteht. Unſer Zeitalter hat mit ſeiner ganzen Bildung auch die Dichtkunſt offenbar zu der Hoͤhe gefuͤhrt, wo die geſon¬ derten Gebiete des Geiſtes in Verbindung treten, ſich vermiſchen und durchdringen. Unſere Dichter ſind nicht die des Mittelalters, wo heitere Naturgabe dem gluͤck¬ lichen Minneſaͤnger ſein fertiges Fach anwies, innerhalb349 deſſen er zufrieden wirkte und ruhte; unſere Dichter muͤſſen außer jener Gabe noch manche andere beſitzen; ſie duͤrfen nicht nur, ſie muͤſſen ſogar, in gewiſſem Betracht, als Dichter zugleich Philoſophie, Religion, Natur - und Geſchichtskunde, Gelehrtheit und Kritik ver¬ einigen, weil dieſe insgeſammt jetzt ein Theil des Lebens¬ ſtoffes geworden ſind, den fuͤr jene Zeit die Einrichtun¬ gen und Abentheuer der Welt allein ausmachten. Unſere Dichter ſind unſere Lehrer zugleich und unſere Weiſen. Seit Leſſing hat dieſer Karakter in unſerer Litteratur ſich immer reicher entwickelt; Herder, Jean Paul, Schiller, die beiden Schlegel, Tieck, und Goethe ſelbſt, ſind leuch¬ tende Beiſpiele. Hiermit iſt denn auch genug erklaͤrt, wie wir denſelben Schriftſteller, den wir kuͤrzlich als wacker aufſtrebenden Dichter angeruͤhmt, dieſem unbe¬ ſchadet nun auch als aͤchten Kritiker preiſen duͤrfen, und wir wuͤnſchen, daß beide Richtungen, in wechſel¬ ſeitiger Erhellung, ſich in dieſem edlen Geiſte, zur Freude vieler Gleichgeſinnten, immer herrlicher entfalten moͤgen.

3.

Cardenio und Celinde. Trauerſpiel in fuͤnf Aufzuͤgen von Karl Immermann. Berlin, 1826. Ein in jedem Betracht hoͤchſt ausgezeichnetes Werk, ein Erzeug¬ niß, dem unverkennbar ſein Gepraͤge aufgedruͤckt iſt! Der Verfaſſer, welcher vor fuͤnf Jahren mit drei Trauer¬ ſpielen ſeine dichteriſche Laufbahn ſehr bedeutend begann,350 und ſeitdem durch mehrere wuͤrdige Werke fortſchreitend auszeichnete, hat in dieſem neueſten einen abermaligen Fortſchritt beurkundet, der ihn entſchieden auf eine Stufe ſtellt, welche keiner der vielen gleichaltrigen Mitſtreben¬ den in dieſem dramatiſchen Fache bis jetzt erreicht hat. Dieſe Anpreiſung geben wir um ſo zuverſichtlicher und unpartheiiſcher, als gerade das gegenwaͤrtige Trauerſpiel, welches ſie veranlaßt, uns auch zu nicht geringem Tadel noͤthigt. Unſer Dichter verbindet mit Kraft und Fuͤlle der Dichtung eine Eigenthuͤmlichkeit derſelben, welche durch Annaͤherung an große Muſter keinesweges gefaͤhr¬ det iſt in Nachahmung uͤberzugehen. Im Gegentheil, ſie hat ſich mehr zu huͤten, daß ſie nicht, durch uͤber¬ großes Feſthalten an ſich ſelber, ihre urſpruͤnglich freie Geſtalt veliere, und in Eigenſinn ausarte. Der Dichter bedarf, wie jeder im Leben wahrhaft Thaͤtige, zu ſeiner groͤßeren Selbſtſtaͤndigkeit einer fortwaͤhrenden Hingebung derſelben, und nur in dem ſteten Wechſel beider Rich¬ tungen wird in der Poeſie wie im Leben wahrhaft Großes vollbracht. Wer nichts hinzugeben hat, als ganz und immer ſich ſelbſt, der iſt zum Nachahmer verdammt, und gehoͤrt in aller Weiſe der Maſſe an; wer aber zu ſehr zuruͤckhaͤlt und beharrt, der vereinſamt; beide ſchei¬ den aus dem Kreiſe des eigenthuͤmlichen Lebens und Wirkens ab. Die Eigenthuͤmlichkeit muß ſich hervor¬ tretend gleichſam mit der Welt ausgleichen, mit dem umgebenden Leben in Harmonie ſetzen, erſt dann iſt ſie351 gelungen ſie ſelbſt. Hierin nun, glauben wir, hat Im¬ mermann durch das vorliegende Trauerſpiel einen großen Erfolg dargethan; auf dieſen gruͤndet ſich unſer entſchie¬ denes Lob; wo der Erfolg noch unvollſtaͤndig erſcheint, darf ſich verhaͤltnißmaͤßig unſer Tadel anknuͤpfen. Der gewaͤhlte Stoff iſt einer der ſchoͤnſten und gluͤcklich¬ ſten fuͤr die tragiſche Behandlung. Wir koͤnnen hier nicht in die Vergleichung eingehen, wiefern Immermann von ſeinen Vorgaͤngern, die den naͤmlichen Stoff behan¬ delt haben, abweicht, oder mit ihnen zuſammenſtimmt. Andere Blaͤtter haben hieruͤber bereits Einiges beige¬ bracht. Uns genuͤge hier im Ganzen die kraftvolle, ſichere Haltung anzuerkennen, welche ſowohl den Fort¬ ſchritt der Begebenheit als die Entwickelung der Karak¬ tere in dem Immermann’ſchen Werke vortheilhaft be¬ zeichnet. Durch eine weiſe Oekonomie, die von großer Selbſtbeherrſchung zeugt, iſt in der Fuͤlle hier ein ſelte¬ nes Maß beobachtet, deſſen Graͤnzen in den meiſten Faͤllen weder Ueppigkeit uͤberſchreitet, noch zu enge Zu¬ ſammenziehung des Nothwendigen unerfuͤllt laͤßt. In der Handlung iſt raſcher Fortgang, nirgends muͤßige Hemmung, und die Karaktere beduͤrfen zu ihrer voͤlligen Entwickelung keiner andern Huͤlfsmittel, als der in der Handlung begruͤndeten Thaͤtigkeit. Die Karakterzeich¬ nung Cardenio’s, des dunkelgluͤhenden Spaniers, iſt meiſterhaft; dann Celinde’s, der reizenden Selbſtſtaͤndig¬ keit in Liebeshuld; ferner Olympia’s und Lyſander’s,352 an welchen beiden einer minder kundigen Hand viel mi߬ lingen konnte. Auch die uͤbrigen Karaktere ſind gut gehalten, und gemaͤß ihrer verſchiedenen Betheiligung gebuͤhrend hervorgehoben. Durch die warme, ja gluͤhende Farbengebung des dichteriſchen Ausdrucks iſt gleichwohl der Konflikt herber Gegenſaͤtze in heitere Gemeinſchaft zuſammengefaßt. So wird der Leſer, angezogen von dem Inhalt und von der Darſtellung, durch den Wechſel der Scenen und Akte von Anfang bis zu Ende von ſtets belebter Theilnahme begleitet, und kommt erſt mit dem Schluſſe wieder zu Athem, und mag alsdann erſt uͤberlegen und pruͤfen, was ihm denn eigentlich darge¬ boten worden. Von wenig Buͤchern laͤßt ſich dergleichen ruͤhmen! Betrachten wir aber nun naͤher die orga¬ niſchen Beſtandtheile, auf welche das Gegebene ſich in dieſer Bearbeitung zuruͤckfuͤhren laͤßt, ſo unterſcheiden wir zunaͤchſt vierfachen Gehalt, der ſich zu dem Ge¬ maͤhlde gruppirt. Zuerſt die Liebesgeſchichte in ihrer einfachſten Auffaſſung, der eigentliche Kern des Ganzen; dann die Univerſitaͤt, welche den Schauplatz liefert; hier¬ auf die Zauberei, die als Einwirkendes bedeutend wird; endlich im Hintergrunde die Schlacht von Lepanto, gleich¬ ſam den Anfang und das Ende verſoͤhnt zuſammen¬ ſchlingend. Von dieſen vier Hauptſtuͤcken finden wir die Liebesgeſchichte durchaus gelungen, den Hintergrund trefflich benutzt und an das Weſentliche gluͤcklich ange¬ ſchloſſen, die Univerſitaͤt groͤßtentheils mit Wirkung auf¬353 gefuͤhrt, beſonders auch zuletzt, wo die Worte des Kanz¬ lers ernſt und wuͤrdig das Tragiſche zu hoͤherer Beziehung auſſchließen:

Der Weisheit Schuͤler, die ihr mich umſteht,
Seht hier des Todes grauſe Majeſtaͤt!
Im Schoß der alma mater, die gegruͤndet
Auf Frieden, hat ſich Krieg entzuͤndet.
Es ſoll der Hoͤrſaal heut geſchloſſen ſein,
Ein jeder kehre pruͤfend bei ſich ein;
Denn tiefre Lehren, als des Lehrers Mund
Zu geben weiß, macht dies Verhaͤngniß kund.

Dagegen koͤnnen wir dem, was in der Univerſitaͤt ſich als Studentenweſen, und, zum Gegenſatz deſſelben, aus dem Buͤrgerleben als Philiſterei darſtellt, nicht vollen Beifall geben; es finden ſich gluͤckliche Umriſſe eines aͤchten Humors, einzelne treffende Zuͤge, aber das Ganze laͤßt unbefriedigt, man fuͤhlt darin ein Zuwenig, und doch zugleich ein Zuviel, woraus man ſchließen muß, daß hier das rechte Maß noch nicht vorhanden. Voͤllig tadelhaft aber duͤnkt uns die Art, wie der vierte jener Beſtandtheile, die Zauberei, den uͤbrigen beigemiſcht worden. Sie erſcheint uns gar nicht dramatiſch, ſon¬ dern macht den an ſich ganz dramatiſchen Stoff durch ihre Beimiſchung novellenartig. Das Geiſterreich wird bei Shakſpeare auf ganz andere Weiſe in's Spiel gebracht, als Bild und Ausdruck fuͤr das Menſchlich-Wirkliche, nicht aber an deſſen Statt; wir ſprechen natuͤrlich nichtII. 23354von denjenigen Stuͤcken, wo das Feenhafte als eine eigene Welt in willkuͤrlicher Selbſtſtaͤndigkeit auftritt, ſondern von Hamlet, Macbeth u. ſ. w. Aber in der That iſt in dem Immermann'ſchen Trauerſpiele die Zau¬ berei nicht nur ſtoͤrend, ſondern auch uͤberfluͤſſig, und es muͤßte dem Dichter ein Leichtes ſein, durch wenige Zuͤge die Hexe Tyche aus dem novellenartigen Karakter in den aͤcht dramatiſchen heruͤberzufuͤhren. Die Geſichts¬ punkte, aus welchen dieſer Tadel ſich ergiebt, laſſen ſich hier nicht ausfuͤhrlich begruͤnden. Gehen wir von dem Ganzen auf das Einzelne zuruͤck, ſo finden wir in dieſem neuen Stuͤcke Immermann's den reichſten Schmuck poetiſcher Zuͤge, den wir ſchon ſeinen fruͤheren Erzeug¬ niſſen nachruͤhmen konnten, in nur noch groͤßerer Ge¬ diegenheit wieder. Nicht nur einzelne Stellen in großer Anzahl, ſondern ganze Auftritte ließen ſich zum Beweis anfuͤhren. Meiſterhaft iſt z. B. das Geſpraͤch Cardenio's mit Celinde'n, wo dieſe ihren Widerwillen gegen die Ehe, ſelbſt gegen die Ehe mit dem Geliebten, kund giebt, und wo der Dichter das groͤßte Lob verdient, dieſen zum vollen Laufe ſo verfuͤhrenden Stoff in dem Maße ſo weniger feſten Schritte gehalten zu haben. Wir ſchließen unſere Anzeige mit lebhaftem Dank fuͤr den Dichter, mit neuen Erwartungen von ihm, und mit dem guten Vertrauen, daß ſeine dramatiſchen Erzeugniſſe kuͤnftig nicht nur dem Leſer aus dem Buche, ſondern355 auch dem Zuſchauer und Hoͤrer von der Buͤhne herab zum Genuſſe gereichen werden.

Helene von Tournon. Erzaͤhlung von Amalia von Helvig, geborne Freiin von Imhof. Berlin, 1824. 12.

Die ſchoͤne Erzaͤhlung, welche die geiſtreiche Verfaſſerin uns hier ſchenkt, gehoͤrt der beliebten Gattung an, die das Geſchichtliche mit dem Dichteriſchen verwebt, und unter den Haͤnden der beruͤhmteſten Schriftſteller in unſern Tagen ſo großes Gluͤck gemacht hat. Der Stoff iſt aus den Memoiren der Koͤnigin Margaretha von Valois genommen und eben ſo anmuthig als ruͤhrend; ſchon fruͤher hat die Hand einer franzoͤſiſchen Schrift¬ ſtellerin von Ruf, der Frau von Souza, ſich daran ver¬ ſucht; die gegenwaͤrtige Bearbeitung aber iſt ganz un¬ abhaͤngig von jener entſtanden. Wir wollen dem Genuſſe der Leſer durch Mittheilung des Ganges und der Haupt¬ zuͤge der Geſchichte nicht vorgreifen; wir begnuͤgen uns blos, unſere Meinung auszuſprechen, daß die Behand¬ lung eben ſo gelungen, als die Wahl des Stoffes gluͤck¬ lich iſt. Die Pracht des Hoflebens, die feine Sitte da¬ maliger Bildung, die tiefſte Liebesinnigkeit erregter Her¬ zen, wie ſie in dieſen Formen ſich zu geſtalten und zu23 *356entwickeln hat, alles dies hat hier eine wuͤrdige, mit den Gegenſtaͤnden vertraute, in beiden Sphaͤren, jenes aͤußeren und dieſes inneren Lebens, einheimiſche Feder gefunden. Frau von Helvig, an Staͤrke und Schoͤnheit des Talents wie an Reinheit und Sicherheit der Rich¬ tung gewiß eine der erſten unſerer jetztlebenden deutſchen Dichterinnen, hat ihre reiche Gabe der Darſtellung wie im lyriſchen Fache, ſo auch im epiſchen ſchon fruͤh be¬ waͤhrt. Schiller ſelbſt war es, der die Erſtlinge ihrer zarten Jugendmuſe, das liebliche Epos: Die Schwe¬ ſtern von Lesbos in die Litteratur einfuͤhrte. Die Sagen vom Wolfsbrunnen , ein ſpaͤteres Erzeugniß, in welchem nordiſche Dichtung an die Oertlichkeit von Heidelberg gluͤcklich angeſchloſſen worden, bewies, daß die Dichterin nicht minder in ſchoͤner Proſa als in wohl¬ lautenden Hexametern zu ſchalten vermag. In gegen¬ waͤrtiger Novelle aber zeigt ſie ſich als Meiſterin von mehr als einer Kunſt. Viele der ſchoͤnen dichteriſchen Zuͤge verrathen zugleich das Auge und die Hand, die mit der Kunſt der Mahlerei innig befreundet ſind. Mit Leichtigkeit ſtellen ſich die einzelnen Auftritte ihrer Er¬ zaͤhlung dem Leſer ſichtbar vor Augen, und wie die Einbildungskraft kann auch ſogleich der Griffel ihrem Vortrage folgen. Dabei weiß ſie die beſchreibende Aus¬ mahlung todter Einzelheiten, welche Walter Scott's Romane ſo ſehr dehnen und belaſten, zu vermeiden, viel¬ mehr iſt alles hier fortſchreitend und lebendig, und nir¬357 gends ein Uebermaß, das in dem Umfange des kleinen Werkes von anderthalbhundert Seiten ſtoͤrend wuͤrde. In das Ganze iſt ein eigenthuͤmlicher geiſtiger Reiz ver¬ flochten, der die Begebenheit in dem Lichte einer reichen Vorſtellungsweiſe und feſten Denkart erſcheinen laͤßt. Man ſieht, daß die Verfaſſerin uͤber die Looſe der Welt, die Schickungen des Lebens und die edleren Bezuͤge deſſelben, mit Ernſt und Waͤrme tief gedacht hat, und daß die Ergebniſſe dieſer Gedanken, auch wenn die letz¬ teren nicht ausdruͤcklich hingeſtellt ſind, jedem Gegen¬ ſtande zu gute kommen, der in die Sphaͤre dieſer Be¬ handlung tritt. Der Quelle, aus welcher der Stoff diesmal geſchoͤpft iſt, mag es zum Theil zuzuſchreiben ſein, daß der Ton der Erzaͤhlung, beſonders im Anfang, etwas alterthuͤmlich gehalten worden, welches jedoch die meiſten Leſer nicht einmal tadeln werden. Das artige kleine Buch, dem eine entſprechende Ausſtattung beſon¬ ders auch durch eine Zeichnung von Cornelius gegeben worden, iſt der hohen deutſchen Fuͤrſtin, Prinzeſſin Wil¬ helm Koͤnigliche Hoheit, in ſechs ſchoͤnen Stanzen zuge¬ eignet, und verdient allgemein die guͤnſtige Aufnahme, die ihm in dieſem hoͤchſten Kreiſe noch vor der oͤffent¬ lichen Bekanntwerdung ſo reich zu Theil geworden iſt.

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Beitraͤge zur Poeſie, mit beſonderer Hinweiſung auf Goethe. Von Johann Peter Eckermann. Stuttgart, bei Cotta, 1824.

Von dieſem Buche muͤſſen wir ein Wort ſagen. Der Verfaſſer hat eine gelaſſene, ruhige Einſicht in die Poeſie und Kritik, und iſt ein feiner, kundiger Leſer der Goethe'ſchen Schriften, zu deren Verſtaͤnd¬ niß und Wuͤrdigung er nach ſeiner Weiſe redlich bei¬ traͤgt. Mit den klaſſiſchen Alten ſcheint er wohlver¬ traut, wenigſtens hinlaͤnglich, um durch ihren Geiſt die Scheu empfangen zu haben, ihren großen Ge¬ ſtaltungen nicht mit modernem Duͤnkel abentheuerliche Phantasmen unterzuſchieben. Unter den Neuern iſt ihm wie billig Shakſpeare hochgeehrt, unter den Neue¬ ſten unſer geiſt - und lebensvoller Jean Paul Richter. Uns haben dieſe wohlgemeinten Blaͤtter mehr zugeſagt, als manche der geruͤhmten, aber doch nur faſtidioſen Wunderlichkeiten, die uͤber Goethe in kritiſchen Baͤnden an den Tag gekommen ſind. Ohne Anſpruch auf blen¬ dende Blitzſchlaͤge oder gewaltiges Wetterleuchten in ſeinem aſthetiſchen Bemuͤhen, giebt Herr Eckermann meiſt nur einfache Saͤtze, gleichſam die Elemente des Dichter-Verſtaͤndniſſes, ſtillkraͤftige Wahrheiten, verkannt oft genug und außer Acht geſetzt, aber dennoch feſtbe¬359 ſtehend und unentbehrlich, wie die Lehrſaͤtze der Gram¬ matik, auf die auch der beſte Redner zuweilen verwieſen werden muß. Das Buch wird eroͤffnet durch ein¬ zelne Gedanken und Anſichten, in denen ſehr viel Schoͤnes und Treffendes vorkommt. Ueber Natur und Kunſt in der Poeſie, uͤber poetiſche Karaktere, uͤber die Ausbildung der ſinnlichen Anſchauung, uͤber den poetiſchen Stoff und die poetiſche Form, uͤber die Wahl der letztern z. B. bei dem deutſchen Trauerſpiel, und uͤber andere Gegenſtaͤnde dieſer Art verbreiten ſich die folgenden Aufſaͤtze. Die ausfuͤhrlichen Bemerkungen uͤber die Wahlverwandtſchaften machen dem ſicheren, durch keinen Wahn bethoͤrten, durch keine Schwaͤche der Ge¬ woͤhnlichkeit geaͤngſteten Kunſtſinne des Verfaſſers, ſo wie ſeiner liebevollen Aufmerkſamkeit fuͤr dieſes Goethe’ſche Meiſterwerk, alle Ehre; doch ließe ſich fuͤr die Anſicht des Ganzen auch wohl noch ein andrer Geſichtspunkt feſthalten, als der hier gewaͤhlte, und wir moͤchten, nicht zum Schaden der tiefen Dichtung, wohl das grade Gegentheil der von dem Verfaſſer aufgeſtellten Ergeb¬ niſſe ausfuͤhren! Hoͤchſt merkwuͤrdig iſt die Rich¬ tung, in welcher der Verfaſſer die Poeſie, nachdem ihre Unabhaͤngigkeit von moraliſchen Zwecken im Einzelnen nun wohl hinreichend bei den kritiſchen Richterſtuͤhlen feſtſteht, dennoch im Ganzen wieder auf ein hoͤchſtes ſittliches Gebiet zuruͤckleitet, und dieſe ſittliche Beziehung in allen Abſtufungen ſinnreich durch Goethe’s Gedichte360 verfolgt. Sehr treffend und beachtenswerth ſind die Bemerkungen uͤber den Zuſtand und den Einfluß unſerer heutigen Kritik-Verwaltung, beſonders in den Tagesblaͤttern, und wie noͤthig oder doch wenigſtens wuͤnſchenswerth es ſei, daß eine litterariſche Erſcheinung nicht blos durch den Verlauf der Zeit allmaͤhlig, ſon¬ dern augenblicklich und gleichzeitig in lebendiger Be¬ ruͤhrung durch aͤchte Kritikworte zu ihrer gebuͤhrenden Wuͤrdigung gelange. Wir glauben, daß nicht nur jeder ſinnvolle Leſer deutſcher Dichtungswerke manche Befriedigung, ſondern auch insbeſondere jeder Genoſſe der zahlreichen Schaar, die an unſerem Parnaß aufzu¬ klimmen bemuͤht iſt, manche gute Belehrung aus dieſem Buͤchlein ſchoͤpfen kann!

Das Maͤdchen von Andros, eine Komoͤdie des Terentius, in den Versmaßen des Originals, uͤberſetzt von F. M. B. Mit Einleitung und An¬ merkungen herausgegeben von K. W. L. Heyſe. Berlin, 1826. 4.

Es iſt ein gluͤckliches Zeichen der Bildung, ſowohl bei Nationen als bei Individuen, wenn ihnen, neben eigenthuͤmlicher, ſelbſtgeſchaffener Geiſtes - und Kunſt¬ welt, die klaſſiſche Litteratur der Griechen und Roͤmer361 in rechten Ehren und guter Uebung bleibt. Der Werth der unſterblichen Hervorbringungen des Alterthums be¬ ruht, außer den Vorzuͤgen einer in ſich ſelbſt vollendeten, ihrer Art unerreichbaren Meiſterſchaft, fuͤr uns noch beſonders auch darauf, daß ſie uns eine andere, eine abgeſchloſſene Welt darbieten, eine Vergleichung fuͤr die unſrige, einen neuen Standpunkt fuͤr dieſelbe, und ſomit alle die Beziehungen und Verbindungen, Anregungen und Thaͤtigkeiten, durch welche zu wahrhafter, freier Bildung der Geiſt emporringt. Dieſes Vortheils wird ſchon jeder inne, der nur zwei oder mehre Sprach - und Litteraturgebiete, wenn auch nur moderner und nahver¬ wandter, verbindet und umfaßt, um wie viel mehr aber derjenige, dem die ganze Macht und Herrlichkeit der antiken Welt in die moderne heruͤberſtrahlt! Wir Deutſche haben es uns von jeher angelegen ſein laſſen, die klaſ¬ ſiſche Litteratur aͤmſig zu pflegen, ihren Geiſt und ihre Werke uns treulichſt anzueignen, und die ausgezeichnet¬ ſten, fruchtbarſten Erfolge haben dieſe Bemuͤhungen gekroͤnt. Der eigentlichen philologiſchen Arbeiten zu geſchweigen, ſo ſind in unſrer eignen Litteratur, binnen etwa ſiebenzig Jahren, in jener Richtung Ergebniſſe hervorgebracht worden, dergleichen in ſo kurzem Zeit¬ raum die ganze Litteraturgeſchichte kaum noch ein Bei¬ ſpiel aufweiſen kann. Unſre Sprache iſt eine andere geworden, eine ganz neue Dichtung hat ſich erhoben, eine neue Ueberſetzungskunſt, die ſich auch fuͤr moderne362 Sprachen und Formen ergiebig beweiſt. Die Arbeiten Klopſtock’s, Ramler’s, Voß’s, Goethe’s, Schlegel’s, Wolf’s und Anderer, die in ſolcher Weiſe das klaſſiſche Alterthum unter uns gepflegt und angeſiedelt, ſtellen ſich als ein Nationalverdienſt dar, dem wir die wichtigſte geiſtigſte Eroberung verdanken. Noch ſind wir indeß keineswegs in genuͤgendem Beſitz, wir haben noch vieles zu gewinnen und anderes wiederholt zu befeſtigen; immer neu will dieſer Boden bearbeitet ſein. Nicht erfreulich waͤre daher, wenn der litterariſche Eifer, durch ſo man¬ cherlei andere Gegenſtaͤnde und Reize angezogen, in jener Hinſicht geſchwaͤcht erſchiene oder minder fruchtbar; den¬ noch war dies in den letztern Jahren einigermaßen der Fall; der von Voß, von Humboldt und Wolf gebahnte Weg zeigt ſich weniger befolgt als in fruͤherer Zeit. Um ſo freundlicher begruͤßen wir eine Erſcheinung, welche, wie die hier anzuzeigende, ebenſo beſcheiden als ver¬ dienſtlich und werthvoll, in der feſten Bahn jener Vor¬ gaͤnger einen neuen Preis zu verdienen wagt; neu auch in Betreff des Gegenſtandes, denn Terentius erſcheint uns hier zum erſtenmal in dieſer ſeiner eigentlichen Ge¬ ſtalt. Der Ueberſetzer hat ſich ſeine Aufgabe mit Ein¬ ſicht und Strenge geſtellt, und ſie im Ganzen mit Treu und Gewandtheit geloͤſt. Die Bedingungen dieſer noch wenig behandelten Versmaße mußten um ſo ſchwieriger zu erfuͤllen ſein, als auch die Sprachweiſe ſelbſt, in welcher die roͤmiſche Komoͤdie ſich deutſch vernehmen363 laſſen ſoll, hier neu zu geſtalten oder zu waͤhlen war, denn nichts Anerkanntes konnte zum Vorbilde dienen. Die Leichtigkeit des Ausdrucks, die Natuͤrlichkeit und Anmuth des Redefluſſes ſind hinwieder um ſo lobens¬ werther, je mehr ſie mit der metriſchen Genauigkeit und Ausbildung, die oft nur auf Koſten jener ſich erreichen zu laſſen ſcheint, gleichen Schrittes zuſammengeht. Der Ueberſetzer hat in beiden, in der Leichtigkeit wie in der Strenge, alles geleiſtet, was von gluͤcklichem Takt und bewaͤhrter Geſchicklichkeit zu verlangen ſteht. Durch ſeine gelungene Arbeit, in welcher ſich uͤberhaupt ein lebhafter, auffaſſender und anſprechender Geiſt regt, iſt uns nicht nur ein ſchaͤtzenswertes metriſches Gebild in unſerer Sprache mehr geworden, ſondern nun auch fuͤr jeden Laien, deſſen Verlangen das fremde Idiom entgegen¬ ſtand, die Moͤglichkeit eroͤffnet, eine Komoͤdie des Te¬ rentius in deſſen eigenſtem Geiſt und eigenſter Geſtalt deutſch anzuſchauen und zu genießen. Hierzu hat der Herausgeber durch ſeine zweckmaͤßigen Anmerkungen beſtens beigetragen. Die Vorrede ſpricht mit gruͤnd¬ licher Einſicht und treffendem Urtheil von der Ueber¬ ſetzungskunſt und deren verſchiedenen Arten, ihren Schran¬ ken und Abwegen. Die Einleitung handelt von den Versmaßen; die genaue und klare Darſtellung zeigt den mit dem Gegenſtande voͤllig vertrauten Meiſter. Moͤchten ſolche metriſche Studien, deren Werth nur derjenige vollkommen wuͤrdigen kann, der ihre Tiefen erdringt,364 von unſern jungen Dichtern nicht ſo ſehr vernachlaͤſſigt werden, als gewoͤhnlich zu geſchehen pflegt! Dieſe ſchein¬ bar geringfuͤgigen Einſichten und Uebungen haͤngen doch zuletzt mit den hoͤchſten Erſcheinungen und Wirkungen der Kunſtſchoͤnheit zuſammen, ſie bilden ſchon fuͤr ſich allein einen weſentlichen Zweig der Dichtkunſt und Sprach¬ kunde. Den Schluß des Buches macht die Ueberſetzung einer Satire des Horatius (I, 9) vom Herausgeber, zu deren Lobe wir nur zu ſagen brauchen, daß ſie dem von Friedrich Auguſt Wolf in dieſer Art aufgeſtellten Muſter wuͤrdig zur Seite ſteht. Der Anlaß, welchen wir in Betreff manches Einzelnen, ſowohl bei dieſer als bei der erſtern Ueberſetzung, noch zu beſondern Be¬ merkungen nehmen koͤnnten, moͤge billig andern Blaͤttern, welche derlei naͤher angeht, zur Benutzung verbleiben.

Das Leben der Frau von La Mothe-Guyon, von ihr ſelbſt beſchrieben. Aus dem Franzoͤſi¬ ſchen uͤberſetzt von Henriette von Monten¬ glaut, geb. von Cronſtain. Drei Theile. Berlin, Sander, 1826. 8.

Wie man auch urtheilen mag uͤber die Denk - und Gefuͤhlsweiſe, welche in dieſem Buche herrſchen, ſoviel kann als ausgemacht gelten, daß daſſelbe zu den merk¬365 wuͤrdigſten und eigenthuͤmlichſten Erzeugniſſen der litte¬ rariſchen Welt gehoͤrt. Sehen wir auf den wahren Ertrag eines Buches, auf die Stimmung, welche nach dem Leſen zuruͤckbleibt, auf den geiſtigen und ſittlichen Ge¬ winn, der in jener Stimmung ſich zu erkennen giebt, ſo giebt es kaum eine Gattung, welche in dieſem Be¬ treff mehr leiſten und wirken kann, als wohlgeſchriebene Selbſtbiographieen. Die verſchiedenſten Arten der Be¬ handlung, des Stoffes und des Talents erreichen auf dieſer Bahn daſſelbe Ziel. Jedes aͤcht und wahrhaft aufgezeichnete Menſchenleben iſt ein Spiegel, in welchem jedes andere ſich beſchauen kann; im Innern der Seele, in den geheimſten Eindruͤcken, Wuͤnſchungen und Be¬ gierden iſt das Geſchick des Menſchen gleich, das ver¬ ſchiedene Maß der Zutheilung, die verſchiedene Aeuße¬ rungsweiſe der Bildung, ja die verſchiedenen Verhaͤlt¬ niſſe ſelbſt, unter welchen jedes Leben auftritt, erſcheinen nur als ſo viele verſchiedene Beleuchtungen deſſelben Gegenſtandes, des immer anziehenden und hauptſaͤchlich wichtigen, des Menſchendaſeins uͤberhaupt. Sei es Ben¬ venuto Cellini oder Rouſſeau, Jung-Stilling oder Retif de la Bretonne, Alfieri oder Goethe, der uns ſeine Lebensgeſchichte erzaͤhlt, immer wird ſich ein hohes In¬ tereſſe und eine reiche Belehrung damit verknuͤpfen, freilich verſchieden nach dem Maße der Welt, die ſich darbietet, und des Geiſtes, der ſie umfaßt. Wenn ſich mit Rouſſeau und Goethe in dieſer Hinſicht ſchwerlich366 ein dritter Autor gleichſtellen laͤßt, ſo gebuͤhrt doch der Frau von Guyon unter den Andern unbeſtreitbar ein erſter Platz; ſelbſt der treffliche Jung-Stilling muß ihr an geiſtiger Eigenheit und einem ſeltſamen Reize weit nachſtehn, obwohl er mehr aͤußeres Leben mit darſtellt. Dieſe wunderbare Frau, in deren Daſein alles, was im Menſchen leibt und lebt, ſich vergeiſtigte, deren Sinne, nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was ſonſt nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemuͤth durch Ueberreizung ſeine zarteſten Anlagen bis zur Heldenſtaͤrke trieb, iſt ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen Enthuſiasmus. In dieſem Gebiete, wo wir leider ſo oft Schwaͤchlichkeit und Albernheit ihr truͤbes Unweſen treiben ſehn, erſcheint ſie mit Licht und Kraft, mit Philoſophiſchem Scharfſinn und aͤchter Begeiſterung, nicht als verdrehte, unſichre Kopfhaͤngerin, ſondern als kuͤhne, freie Virtuoſin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬ biſchof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet und verfolgt von dem gewaltigen Biſchof von Meaux, dem großen Boſſuet; auch Frau von Maintenon und Ludwig der Vierzehnte ſelbſt nehmen an dieſen Dingen nahen Antheil, es entwickelt ſich ein großer Kampf der innerlichen Geiſtesgewalt mit den aͤußerlichen Maͤchten der Kirche und des Staats. Die ſuͤße Liebesinnigkeit, welche die edle Frau beſeelt, ihre Herzenskraft, welche jene in ſeltſamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬ den jetzt leichteres Verſtaͤndniß finden, als damals, wo367 allgemeine Einſicht und umſchauende Geiſtesbildung un¬ gewoͤhnlich waren, und jedes Gebiet gleichſam nur von ſeinem beſonderen Wiſſen und Wollen erfuͤllt war. Jetzt wird niemand den reinen und hohen Verhaͤltniſſen mit dem Pater Lacombe eine rohe Mißdeutung geben wollen; im Gegentheil, wir werden die Umgeſtaltung, welche hier die unteren Seelenkraͤfte in hoͤhere erfahren, mit Bewunderung anerkennen, und dem philoſophiſchen Ge¬ halt nachforſchen, der dieſen ſogenannten Schwaͤrmereien inwohnt und in ihnen fortwirkt. Solche Myſtiker, licht und kraftvoll, duͤrfen uns willkommen ſein, auch wenn wir ihrer Richtung nicht angehoͤren koͤnnen noch wollen; ſie ſtaͤrken uns allenfalls auch in der unſrigen. Wir empfehlen daher mit gutem Gewiſſen dieſes Buch allen und jeden Leſern und Leſerinnen, denen die Betrachtung innerer Zuſtaͤnde und der Einblick in merkwuͤrdige Ent¬ wickelung eines hochbegabten Menſchen nicht ohne Reiz iſt, und welche Unterhaltung und Belehrung und Er¬ bauung ſich gern vereinen. Das franzoͤſiſche Original iſt aͤußerſt ſelten, daher die Ueberſetzung daſſelbe nicht blos in Hinſicht der Sprache vertritt, ſondern auch den¬ jenigen willkommen ſein muß, die das Buch ſonſt wohl franzoͤſiſch zu leſen vorzoͤgen. Die Uebertragung des Werkes der Frau von Guyon, welches ſie die Stroͤme (les Torrens) genannt hat, von Koſegarten, iſt mit Beifall aufgenommen worden; das eigentliche Haupt¬ werk unſerer fruchtbaren Verfaſſerin, dieſe Lebensbe¬368 ſchreibung, darf nicht minderen erwarten. Wir ſchließen dieſe Anzeige mit ein paar karakteriſtiſchen Worten, welche uns uͤber Frau von Guyon von guter Frauenhand zuge¬ kommen ſind. Madame Guyon heißt es in einem uns vorliegenden Fragment konnte nicht ohne Bild leben, im gleichen Fall mit allen Menſchen, und wollte doch mit der Welt nichts zu thun haben; hatte ein erregbares Gemuͤth und philoſophiſchen Geiſt. Sie dachte mit großer Kraft in's Leere hinein, und bildete, weil ihr Herz Nahrung bedurfte, die ganz beſtimmte, erzaͤhlte Geſchichte von Chriſtus noch einmal nach. Sie fuͤhrte gleichſam ſein Leben in ſich auf: lebte es noch Einmal, wurde zum Chriſtuskinde; weil ſie ſich nicht erlaubte, ein anderes Leben zu fuͤhren. Noch iſt zu bemerken, daß die Ueberſetzerin auch einige der zahl¬ reichen Gedichte der Frau von Guyon in deutſchen Verſen wiedergegeben hat. Jedoch finden wir die Auswahl nicht vortheilhaft; die kleinen lyriſchen Stuͤcke waͤren vorzu¬ ziehen geweſen, es giebt darunter Sachen von großer Originalitaͤt und Kraft, wie z. B. dieſe Zeilen:

Venez, amour divin, et faites sur mon âme
L'essai de vos rigueurs et l'essai de ma flâme;
Brisez, brûlez,
Broyez, et l'écrasez,
N'épargnez pas les coups,
Sondez, sondez, si mon coeur est à vous!
369

Sangbare Lieblichkeit iſt in folgenden:

Qui se plaint de ta rigueur,
Ne t'aime guere;
Qui se plaint de ta rigueur
Ne t'a pas donné son coeur;
Il veut un autre salaire
Que l'amour de son sauveur.
Qui se plaint de ta rigueur,
Ne t'aime guere.

Ein andermal forderte ſie gradezu, Gott wolle doch nicht ſo lang Geduld haben, da er ja die Herzen aͤndern koͤnne. Solche Stuͤcke wuͤnſchen wir uͤberſetzt zu ſehen, ſo wie das herrliche Lied von Fenelon: Adieu vaine prudence, je ne te dois plus rien , welches ganz im Geiſt und Andenken der Guyon gedichtet iſt, und an edler, kindlicher Einfalt, bei ſo erhabenen Gedanken, wenig ſeines Gleichen hat.

Magnus Gottfried Lichtwer's Schriften. Herausgegeben von ſeinem Enkel Ernſt Ludwig Magnus von Pott. Mit einer Vorrede und Biographie Lichtwer's, von Friedrich Cramer. Halberſtadt, 1828. 12.

Lichtwer iſt unſeres Wiſſens der einzige deutſche Dich¬ ter, der aus Gottſched's verrufener Schule ſich in der nach¬ folgenden litterariſchen Periode mit Ruhm behauptet, jaII. 24370den dort begonnenen hier noch anſehnlich geſteigert hat. Dieſer Umſtand allein verbuͤrgt ſchon ein beſonderes Verdienſt, einen gediegenen Gehalt, eine gelungene Form ſeiner Gedichte. Und ſo verhaͤlt es ſich in der That. Seine Fabeln vorzuͤglich ſind es, die ihm unter den beſſern deutſchen Schriftſtellern einen ehrenvollen Rang ſichern, und noch jetzt leben viele derſelben im Munde der Jugend fort, gleich denen von Gellert und Gleim, die man noch immer nicht, wie ſehr auch in dieſer Beziehung alles Moͤgliche ſchon verſucht worden, durch Angemeſſeneres und Gebildeteres hat verdraͤngen koͤnnen. Um nur bei Lichtwer ſtehen zu bleiben, wem von uns waͤren nicht die ſeltſamen Menſchen und der kleine Toͤffel wohlbekannt und in angenehmer Erinnerung? Die hier dargebotene Sammlung der ſaͤmmtlichen Schrif¬ ten dieſes wackern Dichters fehlte bisher unſerer Litte¬ ratur, wir begruͤßen ſie als eine dankenswerthe Gabe. In einem kleinen Duodez-Bande, bequem in die Taſche zu ſtecken, huͤbſch und rein gedruckt, findet ſich alles beiſammen, was von Lichtwer noch vorhanden iſt, vier Buͤcher Fabeln, ein Lehrgedicht: das Recht der Ver¬ nunft in fuͤnf Buͤchern, und vermiſchte Gedichte. Un¬ ter den letztern ſind einige ganz vorzuͤgliche, und laſſen bedauern, daß deren nicht mehrere aufzufinden geweſen. Der Autor war, wie man ſieht, nicht ſonderlich frucht¬ bar, er dichtete nicht Tag fuͤr Tag, noch fuͤr Honorar; nicht auf Beſtellung, ſondern in Stunden der Muße,371 neben großer Geſchaͤftsthaͤtigkeit, zu ſeiner eigenen Freude, und fuͤr ein ſtaͤtiges, ausdauerndes Publikum. Von ſeinen Lebensumſtaͤnden erhalten wir durch die voraus¬ geſandte, ſehr wohlgeſchriebene Biographie ausreichende Nachricht. Er gehoͤrte einer Familie an, welche, wie¬ wohl buͤrgerlich, von ihren Vorfahren weit zuruͤck eine zuverlaͤſſige Kenntniß bewahrte, und ſich immerfort in ehrenvollen und anſehnlichen Verhaͤltniſſen erhalten hatte. In Sachſen 1719 geboren, machte er ſeine Studien in Wurzen und Leipzig, und dachte ſich in Wittenberg dem akademiſchen Lehramte zu widmen; allein guͤnſtige Umſtaͤnde brachten ihn in preußiſchen Staatsdienſt und er wurde in Halberſtadt bei der Juſtiz angeſtellt. Das preußiſche Verhaͤltniß uͤbte diejenige Anziehung, welche demſelben von jeher eigen war und ſich fortdauernd herrlich bewaͤhrt: Fremdes ſo in ſich aufzunehmen und zu geſtalten, als ob es ſchon laͤngſt einheimiſch geweſen, auch auf Lichtwer aus; er wurde mit ganzer Seele preußiſch, und ſelbſt in den ſchweren Kriegszeiten, da Sachſen auf der Gegenſeite ſtand, vermochten die alten Erinnerungen an dortige vieljaͤhrige Begruͤndung ſeiner Familie den friſchen Eindruͤcken der Gegenwart keinen Eintrag zu thun. Der Geiſt und die Kraft, welche Preußen zeigte, und die Bewunderung des großen Koͤ¬ nigs, zu welcher man hingeriſſen war, bildeten den Grund zu einem hoͤchſten Patriotismus, den auch Licht¬ wer heiß empfand. Auch genoß er in ſeinem neuen24 *372Verhaͤltniſſe bald Anerkennung, Befoͤrderung, litterari¬ ſches Anſehn und geiſtige Befreundung in reichem Maaße. Dennoch mußte er am Abend eines ſo ausgezeichneten und gluͤcklichen Lebens eine Kraͤnkung erfahren, die er nicht ſtark genug war zu verwinden. Der Großkanzler von Carmer machte eine Beſichtigungs-Reiſe durch die Provinzen, um den Zuſtand der Juſtizbehoͤrden naͤher einzuſehen. Er kam auch nach Halberſtadt, und wohnte einer Sitzung der dortigen Regierung bei. Lichtwer hatte den Vortrag einer ſehr verwickelten Sache und wurde dabei ungewoͤhnlich weitſchweifig. Der Großkanzler legte deutlich Ungeduld an den Tag; Lichtwer wollte dieſes nicht bemerken, ſondern fuhr fort im nicht lichtvollen, breiten Vortrage, welcher ohnehin keine Annehmlichkeit hatte und durch manche Gewohnheiten, ſo wie durch den ſaͤchſiſchen Dialekt, dem nicht daran Gewoͤhnten auffallen mußte. Als er endlich zum Schluſſe gekom¬ men, hielt der Großkanzler ſeinen Unwillen nicht zuruͤck; er machte Lichtwer'n Vorwuͤrfe uͤber die Weitſchweifig¬ keit und ſagte ihm, daß er ſich bei'm Vortrage doch der einfach klaren Kuͤrze, welche alle Welt in ſeinen Fabeln bewundere, befleißigen moͤchte. Der Dichter haͤtte ſich geſchmeichelt fuͤhlen koͤnnen, aber der Geſchaͤftsmann, der bisher eines nicht geringeren Ruhmes genoſſen, war toͤdtlich verletzt; er zog es ſich zu Herzen und ſtarb kurze Zeit nachher, im Juli 1783. Das Denkmal der Unſterblichkeit, ſo ſchließt ſein Biograph, errich¬373 tete Lichtwer ſich ſelbſt: in keiner Galerie deutſcher Na¬ tionaldichter fehlt ſein Name. Ein ſchoͤnes National - Eigenthum des Vaterlandes ſind ſeine Dichtungen, welche von Geſchlechtern zu Geſchlechtern, Eltern dem Kinde, Lehrer dem Schuͤler uͤbergeben zur Erheiterung des Geiſtes, zur Erweckung der Tugend und zur Pflege des Schoͤnen! Ein guter Kupferſtich, das Bild Lichtwer's und ſeine Unterſchrift gebend, iſt der huͤbſchen Ausgabe beigefuͤgt.

Rußland in der neueſten Zeit. Eine Skizze, von E. Pabel. Dresden und Leipzig, 1830. 8.

Einer Schrift, welche dreiſt auftritt, und ſchon da¬ durch bei einem Theile des Publikums Anſehn gewinnen moͤchte, dabei einen Gegenſtand betrifft, von welchem die gehoͤrige Kunde und Anſicht zu haben, dem Gelehr¬ ten wie dem Geſchaͤftsmanne wichtig ſein muß, einer ſolchen Schrift, gleich der vorliegenden uͤber Rußland, darf wohl ein kurzes Wort, welches ſie auf ihre wahre Geltung zuruͤckſetzt, hier gewidmet ſeyn.

Der Verfaſſer will unſern Blicken Rußland in ſei¬ ner neueſten Geſtalt und in deren bedeutendſten Haupt¬ theilen kuͤrzlich vorzeigen. Er hat, ſeiner Verſicherung374 nach, lange Jahre in Rußland gelebt, und ohne Zwei¬ fel vieles dort naͤher kennen gelernt, was dem Fern¬ ſtehenden entweder gar nicht, oder doch nur unſicher kund wird. Soll indeß dieſer Umſtand den Vortheil, welchen er fuͤr den beſtimmten Zweck wohl verheißen kann, auch wirklich leiſten, ſo muͤſſen noch viel hoͤhere Bedingungen eingeraͤumt und erfuͤllt werden. Eine Schilderung Rußlands! Wen duͤrfte dieſe Aufgabe nicht erſchrecken, in welcher ſo unermeßlicher Stoff der ſel¬ tenſten Auffaſſung und der ſchwierigſten Erforſchung ſich zuſammenhaͤuft! Die Maſſe von Laͤndern und Voͤlker¬ ſchaften, von Einrichtungen und Zuſtaͤnden, von Staats - und Volksleben, von altem Geſchichtsboden und neuen Willenskraͤften, wodurch das ruſſiſche Reich die mannig¬ fachſten und aͤußerſten Gegenſaͤtze, wie ſie bei andern Nationen nur in der Aufeinanderfolge vieler Jahrhun¬ derte wiederzufinden ſind, als gleichzeitige darſtellt, dieſe Fuͤlle von Beziehungen, welche hier ſich durchkreuzen, in einen Geſammtabriß zu faſſen, erfordert einen Mann, der mit gruͤndlicher Geſchichtskunde und heller Einſicht in die Getriebe alles Volks - und Staatslebens, mit dem gelaͤuterten Wiſſen ſo vieles unentbehrlichen Ein¬ zelnen, zugleich hochragenden Geiſt und großartigen Ueberblick vereinigt, und bei ſolchen Eigenſchaften auch allenfalls nur kuͤrzere Zeit an Ort und Stelle geweſen ſein duͤrfte. Der Verfaſſer verraͤth die Luſt, auf alles dies Anſpruch zu machen, ſo beſtimmt und fertig beſpricht375 er ſeinen Gegenſtand nach allen Rubriken, als wuͤrden dieſe durch ſeine Nachrichten und Behauptungen wirklich erledigt, da er doch im Grunde nichts liefert, als was jedem Fremden von nur nicht verſchloſſenem Sinn ein gelegentliches Sehen und Hoͤren auch bei kuͤrzerem Auf¬ enthalte von ſelber zuſpielt. Nur ſolche zufaͤllige Er¬ gebniſſe, und zum Theil ſchon ganz allgemein bekannte, zum Theil einſeitige und mangelhafte, ſind hier zu fin¬ den, nicht die eines gruͤndlichen, auf eine vollſtaͤndige Durchdringung gerichteten Studiums, noch die eines genialen Wahrnehmungsſinnes.

Die geſchichtliche Einleitung iſt duͤrftig. Der Ver¬ faſſer ſieht in dem Geſchehenen nur das Aeußere; die große Folge von Graͤueln, welche in der ruſſiſchen Ge¬ ſchichte freilich nicht fehlen, laͤßt ihn dieſe als eine bar¬ bariſche tief herabſetzen, wobei er nicht bedenken mag, daß auch die hoͤchſtgebildeten Voͤlker, Franzoſen, Eng¬ laͤnder und Italiaͤner, und ſelbſt Griechen und Roͤmer, hierin den Ruſſen ziemlich gleichſtehen, und daß alſo der Werth und der Gehalt der Geſchichte wohl in andern Bezuͤgen muͤſſe zu ſuchen ſein, als in dieſen. Was der Verfaſſer behauptet, daß das ruſſiſche Volk mit ſeiner eignen Geſchichte bekannt zu machen bisher den Abſich¬ ten ſeiner Herrſcher geradezu entgegen geweſen, wird ihm niemand glauben, der aus der großen Reihe for¬ ſchender, von der Regierung veranlaßter und unterſtuͤtz¬ ter Arbeiten uͤber die ruſſiſche Geſchichte auch nur die376 von Schloͤzer und Ewers kennt. Der Ausſpruch, Karam¬ ſin's Werk ſei mehr ein hiſtoriſcher Roman, iſt dadurch noch nicht begruͤndet, daß in demſelben einige politiſche Ruͤckſichten beobachtet worden, von welchen, auch ohne den Einfluß einer noͤthigenden Behoͤrde, ſelbſt ein Hume und Johannes Muͤller nicht frei ſind, deren Schriften unter die Romane deßhalb zu verſetzen niemand berech¬ tigt iſt.

Die abſprechend rauhe Behandlungsart, welche in dieſer erſten Abtheilung auffaͤllt, ſchimmert auch in den folgenden durch, wo die innere Staatsverwaltung, die verſchiedenen Staͤnde, der Adel, der Buͤrger, die Geiſt¬ lichkeit, der Bauer, darauf die Juden, dann noch ins¬ beſondere Eſthland und Liefland, und ſeltſam genug auch die Moldau und Wallachei, durch allerlei Ausſpruͤche und beiſpielartige Hiſtoͤrchen beleuchtet werden ſollen. Ueber das Heer werden die einſeitigſten Aeußerungen vorgebracht. Manches uͤber neuere Ereigniſſe Geſagte iſt durch die Zeitungen bekannt, andres entſchieden falſch, z. B. daß der Kaiſer Alexander dem Grafen Roſtop¬ ſchin die Vernichtung Moskau's anbefohlen habe. Eini¬ ger Vorgaͤnge und Verhaͤltniſſe, die allerdings fuͤr den Geſchichtforſcher des Stoffes und Reizes uͤberviel haben, gedenkt der Verfaſſer auf eine Weiſe, die freimuͤthig ſein ſoll, bei der aber in Ermanglung hinreichender Auf¬ ſchluͤſſe doch nichts herauskommt, als bei dem ernſten377 Leſer etwa die Meinung, daß es beſſer geweſen waͤre, die Sachen lieber gar nicht, als ſo zu beruͤhren.

Im Verfolge der Schrift muß der Verfaſſer denn doch mit gerechtem Sinne die vielen Segnungen, welche ſeit den letzten Regierungen uͤber das ruſſiſche Reich ausgegangen ſind, huldigend anerkennen. Er thut es mit ausdrucksvollem Eifer, der aber doch gegen den andern Inhalt in einem unangenehmen Mißklange bleibt, ſo daß man zweierlei Richtungen zu ſehen glaubt, die getrennt nebeneinander laufen, und ſich nicht vereinigen wollen, weil der hoͤhere Standpunkt fehlt, in welchem die Widerſpruͤche ſich loͤſen koͤnnten.

Die Darſtellung des ruſſiſchen Reichs in ſeinen viel¬ geſtalteten inneren und aͤußeren Beziehungen harrt eines Schriftſtellers von ſtaͤrkerem Beruf, eines Werkes von andrer Geſtalt. Die wahre Wuͤrdigung des koloſſalen Stoffes, der ſich dorten aufthut, und der eben ſo koloſ¬ ſalen Kulturbewegung, zu welcher ihn mehr und mehr die Zeit emporhebt, muͤßte, wir ſind es uͤberzeugt, grade jetzt fuͤr Europa von hoͤchſtem Intereſſe ſein, und ſtatt der ſo oft mit aller Uebertreibung vorgeſpiegelten Gefahr vielmehr die groͤßten Erwartungen dorther verkuͤn¬ den, welchen in der That die Erfuͤllung ſtets nur maͤch¬ tiger entgegenkommt! Solche Maſſen und Kraͤfte, dem Strome der Bildung, des Voͤlkerwohls, des Rechtes und der Ordnung unwiderruflich zugefuͤhrt, haben nur ſelten ſich der Weltgeſchichte in ſolch buͤndigem Werk¬378 zeuge zum gedeihlichen Dienſte dargeboten, als wie in dieſem, auf den vielfachſten Wegen gleichzeitig begon¬ nenen Fortſchreiten des ruſſiſchen Reichs.

Wanderung durch Baterhaus, Kriegeslager und Akademie zur Kirche. Mittheilungen aus dem bewegten Leben eines evangeliſchen Geiſtlichen. Magdeburg 1832. 8.

Die Geſchichtſchreibung liefert uns von großen Be¬ gebenheiten und Thaten gewoͤhnlich nur ein unvollſtaͤn¬ diges Bild, das wir durch anderweitige Mittheilungen, wie Poeſie, Romane, Memoiren, Briefe und ſonſtige zufaͤllige Schriften ſie darbieten, zu einem lebendigen Gemaͤlde ergaͤnzen muͤſſen. Wir ſehen an den Zeiten, fuͤr welche uns dieſe Art von Ueberlieferungen ganz fehlen oder doch nur ungenuͤgend vorhanden ſind, wie vieles uns ohne ſie dunkel und in unſicherem Zweifel bleibt. Waͤren aber auch die großen Geſtalten und Er¬ gebniſſe fuͤr die geſchichtliche Anſchauung des fortſchrei¬ tenden Menſchengeſchlechts allein hinreichend, ſo wuͤrde doch der menſchliche Antheil, der auch das perſoͤnliche Leben, die kleinen, das taͤgliche Daſein ausmachenden Umſtaͤnde erkennen will, ſich nicht abweiſen laſſen. Welchen Reiz wuͤrde nicht fuͤr jeden Hiſtoriker das379 Tagebuch eines fraͤnkiſchen Kriegers aus der Zeit Karl’s des Großen haben, oder jedes Bruchſtuͤck von Denk¬ wuͤrdigkeiten eines Moͤnchs, der mit dem heiligen Anno von Koͤln gelebt haͤtte! Welchen Preis wuͤrden wir nicht fuͤr irgend ſolche Ueberlieferungen aus der Zeit des großen Kaiſers Heinrichs des Voglers gern hin¬ geben! Wir Deutſchen wiſſen den Werth des ſtill¬ kraͤftigen Einzellebens wohl zu ſchaͤtzen, die eigenthuͤm¬ liche Tuͤchtigkeit auch des Untergeordneten anzuerkennen und ausbildend zu erhoͤhen; aber Denkmale deſſelben haben wir weniger als andere Nationen aufzuzeigen, wir haben ſie weniger hervorgebracht oder doch weniger bewahrt und geſammelt. Unſere neueſte Zeit indeß verſpricht, dieſen Vorwurf etwas zu mindern, und bietet uns ſchon manche gegluͤckte Schilderung des mittleren und unteren Volkslebens dar. Die von Goethe her¬ ausgegebene Reihe von Lebenslaͤufen und Kriegsge¬ ſchichten, des Deutſchen Gil Blas, des Feldjaͤgers und ſeiner Kameraden, ferner Nettelbecks Leben und noch andere Schriften ſolcher Art bezeugen den Werth dieſer Richtung.

In einer ſchon hoͤheren und gebildeteren Sphaͤre, aber durchaus eben ſo auf dem Boden des Perſoͤnlichen und Privaten und eben ſo im Gewande ſchlichter Na¬ tuͤrlichkeit und liebenswuͤrdiger Offenheit, bewegt ſich der Inhalt des kleinen wohlgeſchriebenen Buches, welches wir gegenwaͤrtig zur Anzeige bringen. Der Verfaſſer,380 geboren 1797 zu Muͤhlhauſen, Sohn eines trefflichen Predigers, deſſen Ernſt und Redlichkeit er mit wahrer Pietaͤt ruͤhmt, erzaͤhlt ſeine im Elternhauſe und auf der Schule verlebte Kindheit und Jugend mit allen den kleinen, aber dem inneren Menſchen wichtigen Zuͤgen und Begebenheiten, welche die erſten Lebenserfahrungen bilden und hierdurch den Karakter begruͤnden helfen. Im Jahre 1815 wird er, dem Rufe des Koͤnigs fol¬ gend, was ihm in den fruͤheren Kriegsjahren bei ſeiner großen Jugend der Wille des Vaters verſagt hatte, preußiſcher Jaͤger, macht die Schlacht von Ligny mit, wird verwundet und kehrt, nach mannigfachem ferneren Wechſel des Kriegslebens, endlich in das aͤlterliche Haus zuruͤck. Nun bezieht er die Univerſitaͤt, zuerſt Halle, dann Jena, und auch hier dringt das allgemeine Leben der Zeit noch maͤchtig genug auf ihn ein. Das theologiſche Studium fuͤhrt ihn ſodann ruhig den vor¬ gezeichneten Weg, er wird Kandidat und hierauf Pre¬ diger in dem Kreiſe des lieben Heimathlandes. Seinem Berufe mit pflichtmaͤßiger Treue und Thaͤtigkeit folgend, bleibt er raſtlos bemuͤht, auch die weltlichen Verhaͤlt¬ niſſe uͤberall aufmerkſam zu betrachten und, ſo viel er vermag, zum Guten hinzulenken. Sein Wirken erwei¬ tert ſich fruchtbar, die in ihm durch die erlebten Er¬ eigniſſe geweckten Geiſtes - und Gemuͤthskraͤfte finden des Stoffes genug in der naͤchſten Umgebung, den Sinn und die That eines tuͤchtigen, wohlgeſinnten, ſeinem381 Koͤnige und Lande innig anhaͤnglichen Mannes darzu¬ thun. Als durch die Ereigniſſe des Jahres 1830 neue Unruhe uͤber die Voͤlker kommt und auch ſein geliebtes Vaterland einen Augenblick neuer Kriegsgefahr ausge¬ ſetzt ſcheint, vereint all ſein Denken und Trachten ſich in dem hohen Gedanken, fuͤr den geliebten Koͤnig und das wohlgeordnete Vaterland jede Kraft anzuſtrengen. Aus ſeiner Denkart und ſeinen Verhaͤltniſſen ging eine kleine volksmaͤßige Schrift hervor: uͤber die noth¬ wendigen Eigenſchaften eines tuͤchtigen Schul¬ zen oder erſten Orts-Vorſtehers, worin dieſer Gegenſtand mit praktiſcher Kenntniß und in einer loͤb¬ lichen Geſinnung frommer Naͤchſtenliebe und redlicher Pflichttreue gruͤndlich eroͤrtert iſt. Die kurze Lebens¬ beſchreibung iſt gleichfalls ein Erzeugniß der Erholungs¬ ſtunden dieſer Zeit und nicht minder mit praktiſchen Bemerkungen aus dem buͤrgerlichen und amtlichen Leben angemeſſen durchflochten.

Was nun aber unſeren wackeren Verfaſſer vor An¬ deren auszeichnet, mit denen wir ihn litterariſch zu¬ ſammenſtellen duͤrften, das iſt die nicht abenteuerliche und zufaͤllige, ſondern feſte und unwandelbare innere Richtung, die durch die beſten nnd reinſten Antriebe gleichmaͤßig begruͤndet bleibt. Er iſt ein ſchoͤnes Bei¬ ſpiel derjenigen Bildung, Vaterlandsliebe, Unterthanen¬ treue, die wir im deutſchen Mittelſtande gern uͤberall verbreitet und wirkſam wuͤnſchen, und die namentlich382 unſerem Vaterlande als eine tiefe Kraft inwohnen, auf welche in Zeiten des Dranges immer zu zaͤhlen ſein wird. Mit Recht begruͤßen wir daher eine Erſcheinung, die in ihrer Anſpruchsloſigkeit uns gleichwohl ein erfreu¬ liches Zeichen iſt, und die wir als ein ſolches jedem Leſer empfehlen.

Notice sur Goethe. Genève, 1832. 8.

Einige hin und wieder durchblickende Zeichen laſſen mit Sicherheit als den Verfaſſer dieſes ſchaͤtzbaren Auf¬ ſatzes Herrn Soret erkennen, welcher den edlen und reichen Stoff, der fuͤr uns bereits ſo gluͤcklich durch den Kanzler Friedrich von Muͤller bearbeitet worden, mit geſchickter, taktvoller Hand abermals aufgenommen, und von neuem Standpunkt aus fuͤr einen beſondern Leſekreis eigenthuͤmlich dargelegt hat. Die Genfer Bibliothèque universelle, fuͤr welche der Verfaſſer zu¬ naͤchſt ſchrieb, bezeichnet in der That ein eignes Gebiet, das nicht mehr das Deutſche, und noch nicht das Fran¬ zoͤſiſche iſt, aber aus ſeiner Zwiſchenſtellung nicht nur in dieſe beiden, ſondern vorzuͤglich auch nach England und Italien ſtark einwirkt, und es war ſehr zweckmaͤßig, auch von ſolchem Orte her ein gehaltreiches und ver¬ ſtaͤndigendes Wort uͤber den Mann auszuſprechen, deſſen Groͤße weit uͤber ſeine dichteriſchen Eigenſchaften hin¬383 ausgeht, und noch immer zu neuen Enthuͤllungen An¬ laß giebt. Dem Beduͤrfniſſe ſeiner Leſer gemaͤß, ver¬ ſucht der Verfaſſer einen raſchen[gedraͤngten] Abriß von Goethe's Lebensumſtaͤnden mit eben ſolchen kurzen und feſten Hauptzuͤgen der inneren Geſchichte deſſelben zu verbinden, und auf ſolche Weiſe ein vollſtaͤndiges, klares Bild dieſer perſoͤnlichen und geiſtigen Krafterſcheinung hervorzurufen. Dies iſt ihm vortrefflich gelungen, durch ruhige, milde Anreihung von Thatſachen, durch heitre, partheiloſe Eroͤrterung, durch einfache, lichtgebende Aus¬ drucksweiſe. Sehr natuͤrlich kann fuͤr uns nicht alles neu ſein, was der Verfaſſer mittheilt, weder in den Sachen, noch in den Urtheilen und Betrachtungen, die ſich damit verbinden, allein auch das Bekannte gewinnt in ſo gebildeter Hand einen neuen Reiz, und man ver¬ nimmt gern eine ſolche Wiederholung, die denn doch in ihrem Zuſchnitt und Zweck eigenthuͤmlich iſt, und neue Verknuͤpfungen theils giebt, theils veranlaßt. So empfaͤngt in dieſer Darſtellung alles, was Goethe's wiſſenſchaftlichen Geiſt und Gang betrifft, eine beſonders helle[Beleuchtung], wie es ſich von dem Verfaſſer aller¬ dings erwarten ließ, der ſich als ſinnvoller und thaͤtiger Gefaͤhrte ſeines hohen Freundes in manchen Wegen jener Richtung bereits oͤffentlich dargethan hat. Auch nach andrer Seite jedoch uͤberraſcht uns dieſe Schrift mit[unerwarteten] und bedeutenden Neuigkeiten. Einige Nach¬ richten, die Verbindung Goethe's mit Lilli betreffend,384 muͤſſen wir als vorlaͤufige Aufſchluͤſſe, die uns auf wei¬ tere vorbereiten, ſehr willkommen heißen. Eben ſo die merkwuͤrdigen Aeußerungen uͤber Mirabeau’s angefoch¬ tene Selbſtgroͤße und Urſpruͤnglichkeit, auf Anlaß der neuerlich von Dumont herausgegebenen Erinnerungen an dieſen Revolutionshelden; ſagar ein Streiflicht aus den Memoiren des Fuͤrſten von Talleyrand blitzt hier auf, wodurch zum erſtenmal das bisher zweifelhafte Daſein aͤchter Denkſchriften des Erzdiplomaten unſrer Zeit durch ein unbeſtreitbares Zeugniß erwieſen wird. Die noch ſonſt aus Goethe’s Geſpraͤchen beigebrachten Urtheile und Bemerkungen ſind wichtig und anmuthig, und regen, wie alles von ihm, das eigne Nachdenken ſtill und maͤchtig auf. Ueberhaupt wird Goethe’s Wort, wie ſehr ſich die Menge der theils ſchon alten verſtock¬ ten, theils noch jungen verwahrloſten Kinder der Zeit dagegen ſtraͤubt, noch weithinaus das wirkſamſte und maͤchtigſte in unſrer Nation verbleiben, und auch die Gegner werden ſich wider Willen vorzugsweiſe mit ihm beſchaͤftigen muͤſſen, und grade an ihm ihre gefaͤhrlichſten Proben beſtehen. Sind doch diejenigen, welche ſo ſehr uͤber Mangel an Religion in ihm klagen, durch den liebloſen Eifer, den ſie bei dieſer Gelegenheit zeigen, mit ihrer eignen Froͤmmigkeit ſchon im zweideutigſten Lichte! und machen doch ebenſo diejenigen, welche wohl noch den fruͤheren Goethe gelten laſſen, aber den ſpaͤ¬ teren fuͤr ſchwach geworden erklaͤren, nur gefaͤhrlich auf¬385 merkſam auf die Schwaͤche, in der ſie ſelber laͤngſt haben ſtill ſtehen muͤſſen, und den ungeſtoͤrt und kraͤftig Fortſchreitenden weder aufzuhalten noch zu begleiten vermochten! Denn in Wahrheit, wer von ſeinen jetzigen lauten oder heimlichen Verunglimpfern duͤrfte ſich ruͤh¬ men, an lebendigem Antheil, an vielſeitiger Thaͤtigkeit und friſcher, ſtets neuer und wechſelnder Produktivitaͤt bis in das hohe Alter hinein mit Goethe gleichen Schritt gehalten zu haben? Unſer Verfaſſer kann von dem Greiſe, deſſen letzte Lebenszeiten er mit angeſehen, mit vollem Rechte ſagen: Son esprit était resté créa¬ teur, observateur et productif jusqu'à la fin, et ne s'arrêait dans son action que s'arrêtaient les forces physiques; celles-ci étaient tout ce qu'elles pouvaient être à cet âge. Non, Goethe n'a point eu le douloureux avertissement de sa fin prochaine par le sentiment du déclin de ses facultés; mais il l'a pressentie en supputant le nombre des ses an¬ nées, et à la vue des vides cruels qui se formaient autour de lui.

Hier ſei zum Schluſſe noch des artigen ſchlimmen Streiches gedacht, der den Widerſachern Goethe's neulich von einer Seite geſpielt worden, woher ſie ihn am wenigſten erwarten mochten. Heine trat aus den Reihen, wohin man ihn ſchon ſicher zaͤhlte, ploͤtzlich hervor, und erklaͤrte, die Triebfedern der Andern zur Feindſchaft gegen Goethe kenne er nicht, von ſich ſelbſt aber wiſſeII. 25386und geſtehe er, daß ihn der Neid getrieben; durch welches ſchalkhafte Bekenntniß nun gleichſam von ſelbſt die umgekehrte Probe von Cendrillons Pantoffel erfolgt, denn dem feinen gewandten Fuße, welcher den plumpen ſchmierigen Stiefel unter die Menge geſchleudert, kann dieſer nimmermehr paſſen und angehoͤren, aber die vielen Andern moͤgen zuſehen, wie ſie das Anprobiren vermeiden!

Ueber Goethe's Fauſt, als Einleitung zu Vortraͤ¬ gen daruͤber. Von Dr. K. E. Schubarth. Hirſchberg, 1833. 4.

Wir duͤrfen dieſe kleine Schrift nicht mit Still¬ ſchweigen uͤbergehen, obgleich der Anlaß, ihren Inhalt vollſtaͤndig zu beleuchten, hier nicht dringend genug iſt. Herr Schubarth hat ſich bisher durch Schriften ausge¬ zeichnet, welche ein eigenthuͤmliches kritiſches Talent kund geben, das aber in einer gewiſſen Einſamkeit ver¬ harrt. Dieſe Einſamkeit beſteht indeß nicht darin, daß er in oͤde, noch kaum beſuchte Orte vordringt, und hier einen muͤhſamen, dankenswerthen Anbau verſucht: nein, er verkehrt auf den belebteſten Plaͤtzen unſrer Kritik, behandelt deren ſchon am meiſten bearbeitete Gegenſtaͤnde, und gruͤndet und ſtuͤtzt ſich auf alle beſten Vorarbeiten. Das Eigenthuͤmliche und Einſame, das387 Reizvolle und Ungenuͤgende, welches in ſeinem Streben verbunden iſt, gruͤndet ſich auf die beſondre Richtung, die er ſich gegen das Vorhandene gewaͤhlt hat. Dieſe Richtung ſchneidet quer durch uͤber alle bisherigen Wege, und indem er, ohne andern Ausgangspunkt, als den einer ziemlich willkuͤrlichen Wendung, und ohne rechtes Ziel, jener Richtung folgt, iſt er in kurzen Zwiſchen¬ raͤumen immer wieder auf den gangbaren Straßen, welche Leſſing, die Schlegel, Tieck und Andere gebaut und geſchmuͤckt haben, aber auch dazwiſchen auf oͤdem Feld und muͤhſamem Geſtein. Hierbei fehlt es nicht an ſcharfen Wahrnehmungen, geiſtreichen Ueberblicken, feinſinnigen Einzelheiten. Aber eine ſichre, feſte Grund¬ lage, die zugleich fuͤr Nachfolgende brauchbar waͤre, mangelt uͤberall. Dieſe Kritik iſt fuͤr eine philoſophiſche nicht philoſophiſch genug, fuͤr eine hiſtoriſche nicht genug hiſtoriſch, auf eine dieſer Seiten aber muß jede aͤſthe¬ tiſche Kritik ſich wahrhaft gruͤnden, wenn ſie nicht blos eine humoriſtiſche, ſondern eine wiſſenſchaftliche ſein will; und die geniale wird ſogar beide vereinen. Sollten wir den Verfaſſer mit einem ſchon bekannten Schrift¬ ſteller vergleichen, ſo muͤßte es mit Adam Muͤller ge¬ ſchehen, der eine aͤhnliche Erſcheinung war, und eigent¬ lich durch die bloße Stellung, welche er querein gegen die vorhandenen Richtungen nahm, indem er dieſe ſaͤmmtlich benutzte, alles Glaͤnzende, Geiſtreiche, Wirkſame gewann, worin ſeine ſchoͤnen Gaben auf¬25 388traten. Dabei hat unſer Verfaſſer zwar nicht den ele¬ ganten Schwung verfuͤhreriſcher Beredſamkeit, aber ſtatt deren mehr Ernſt und Tiefe der Betrachtung ſelbſt. Die kritiſchen Andeutungen Adam Muͤllers uͤber manche Stuͤcke Shakſpeare’s, und die Standpunkte, welche er ſich fuͤr Goethe’ſche Werke zu waͤhlen pflegt, duͤrfen hier der Erinnerung im Ganzen nicht abzulehnen ſein.

Zuvoͤrderſt will der Verfaſſer den Karakter der Deutſchen in ihrer geiſtigen Entwickelung, ſodann die Stellung Goethe’s in dieſer nach ſeinen vorzuͤglichſten Erzeugniſſen, endlich ihn als Dichter des Fauſt be¬ trachten. Die Art, wie er zu erſterem Behufe mit Hermann, Theodorich, Karl dem Großen, ſodann mit Luther gebart, kann unmoͤglich befriedigen, ja kaum laͤßlich hinhalten; auch die Verſuche, aus der Lage und den Bedingungen des Allgemeinen die Nothwendigkeiten der Geſtalt Goethe’s begriffsmaͤßig zu konſtruiren, ent¬ behren des feſten Grundes, auf welchem ſicher aufzu¬ treten iſt, man eilt daruͤber hin, wie uͤber ein noch zu duͤnnes Eis, dem man nicht trauen kann. Mit den Annahmen uͤber Roman und Drama koͤmmt es nicht auf’s Reine, dieſe Formen der Poeſie wollen ſich ſo nicht einfangen laſſen, hier wird Walter Scott ohne Fug und Recht mit eingepackt, dort bleibt Cervantes vergeſſen liegen, und da faͤllt der ganze Byron aus dem Netze heraus! Jemehr der Verfaſſer ſeine gegen¬ ſaͤtzigen Schemata verlaͤßt, und auf das Einzelne kommt,389 deſto fruchtbarer und gehaltvoller wird er. Die Be¬ merkungen uͤber Shakſpeare'ſche Karaktere ſind in ihrer Einzelheit ſchaͤtzbar, eroͤffnen weitern Einblick und Nach¬ denken. Dagegen verleitet ihn ſein Schema zu voͤlli¬ gem Mißkennen der Iphigenia und des Taſſo, in denen er alle tragiſchen Maͤchte verabſchiedet meint! Ueber den Werther ſagt er Treffendes, Tiefeindringendes. Wir erwaͤhnen hierbei vor allem eines wichtig-ſonder¬ baren Umſtandes mit den eignen Worten des Verfaſſers: Aus muͤndlicher Mittheilung ſagt er erinnere ich mich, wie Goethe erzaͤhlte, Napoleon ſei der einzige geweſen, der ihn, den Dichter, auf ein Mißverhaͤltniß im Werther aufmerkſam gemacht, das bis dahin den ſchaͤrfſten, kritiſchen Blicken entgangen, weil er es aller¬ dings ſo kuͤnſtlich verſteckt, wie der Schneider ſeine kuͤnſtliche Naht anzubringen pflege, wenn ihm durch ein Ungluͤck in ein ganzes Stuͤck Tuch irgendwo ein Riß kommt. Als ich um naͤhern Aufſchluß bat, erwie¬ derte er mir, ich ſei durch das, was ich uͤber Werther in meiner Beurtheilung bereits geſagt, auf beſtem Wege es ſelbſt zu finden; er wolle mir daher nicht vorgreifen. Sollte hiermit das von dem Verfaſſer kurz vorher An¬ gemerkte gemeint ſein, daß es auffallen muͤſſe, wie Werther ſo ganz und gar nichts dafuͤr thut, in den Beſitz Lottens zu gelangen, da es doch moͤglich und erlaubt, und ſie noch durch kein entſchiedenes Band ihm entzogen war, ſo koͤnnten wir dies doch nicht un¬390 beſtritten gelten laſſen, und muͤßten, wenn darin wirklich Napoleons von Goethe zugeſtandene Bemerkung beſtehen ſollte, auch dieſen beiden Autoritaͤten fuͤrerſt noch zwei¬ felnd gegenuͤber bleiben. Auch uͤber die Wahlverwandt¬ ſchaften ſagt der Verfaſſer Wuͤrdiges und Klares, woran viel albernes Geſchrei, das man noch heutiges Tages uͤber das angeblich Unſittliche dieſes Romans verfuͤhrt, voͤllig zerſchellen muß. In Wilhelm Meiſters Lehr¬ jahren eine Verlaufsaͤhnlichkeit mit dem Alten Teſta¬ mente zu finden, wo denn fuͤr die Wanderjahre, was zwar nicht ausdruͤcklich geſagt iſt, das Neue Teſtament zur Vergleichung ſich von ſelbſt bietet, iſt wenigſtens neu und ſeltſam genug; der Verfaſſer wird uns erlau¬ ben, erſt mehrmals Athem zu holen, ehe wir uͤber einen ſolchen Gegenſtand mitreden. Das verfehlteſte Wort ſcheint uns das uͤber Eugenien, mit welcher eine Art Apologie der mittlern Staͤnde gemeint ſein ſoll.

Ueber den Fauſt, den eigentlichen Gegenſtand der Schrift, finden wir unter vielem andern Gutgedachten die Kernbemerkung, der Dichter lege in dieſem Werke nicht das Geſtaͤndniß ab: ſo ſei der Menſch, weil er ſo ſein muͤſſe; ſondern habe nur ſagen wollen: ſo ſei der Menſch, weil er die Freiheit ſich nimmt, es zu ſein, ohne zu muͤſſen. Doch wird jetzt, da das vollendete Gedicht unſern Augen und unſerm Nachdenken eroͤffnet liegt, die Kritik dieſes koloſ¬ ſalen Werkes einen ganz neuen Aufſchwung zu nehmen391 haben, und ſchon iſt dazu in dieſen Blaͤttern ein ſo gruͤndlicher als geiſtreicher Anfang gemacht worden, wie er in ſo fruͤhem Augenblick nur irgend zu erwarten ſein konnte.

Der Verfaſſer ſchließt damit, daß die neidloſe, wahr¬ hafte Anerkennung unſeres Dichters in ſeiner ganzen Groͤße, Herrlichkeit und Einzigkeit auch eine Art ſitt¬ lichen Problems ſei, und uͤbergiebt die in Widerſpruch und Verneinung verharrenden Gegner ihrer eignen, troſtloſen Verdammniß.

Eine wichtige Angabe iſt der von Goethe ſelbſt ent¬ worfene Plan zu einem zweiten Theile von Pandora's Wiederkunft, wo man uͤber den Reichthum, welchen der Dichter in dieſer großartigen Dichtung noch ent¬ falten und ordnen wollte, mit Recht erſtaunen muß.

Memoiren eines deutſchen Staatsmannes aus den Jahren 1788 1816. Leipzig, 1833. 8.

Ein wirkliches Leben, das ſich waͤhrend eines wich¬ tigen Zeitraums in großer Welt und Staatsſachen hin¬ reichend umgethan hat, liegt dieſen Memoiren zum Grunde, die Perſon, an welcher ſich die Erlebniſſe auf¬392 reihen, iſt nicht ſchwer zu errathen, und wir finden es glaublich genug, daß der Text, der vor uns liegt, groͤßtentheils aus des Mannes eignen Aufzeichnungen ſtamme. Nach dieſen vorausgeſchickten Angaben ſollte man nun meinen, daß eine fuͤr Unterhaltung und Be¬ lehrung ergiebige Ausbeute erfolgen muͤßte. Das iſt aber nicht der Fall. Zwar langweilig kann man dieſe Memoiren nicht nennen, es wird immerfort raſch erzaͤhlt, und auf jeder Seite ſtehen einige Thatſachen, ſo daß man ſo viele Mannigfaltigkeiten ſich nicht eben verdrießen laͤßt. Aber im Ganzen iſt doch die Bearbeitung gar zu oberflaͤchlich, und die wichtigſten Ereigniſſe und merk¬ wuͤrdigſten Perſonen werden aufgenommen und entlaſſen, ohne daß etwas Sonderliches dabei gewonnen wuͤrde, weder allgemeine Schilderungen, noch einzelne Zuͤge, wodurch eine hellere Beleuchtung der Gegenſtaͤnde und eine beſtimmtere Einſicht in ihre Beſchaffenheit und ihren Zuſammenhang hervorginge. Eben ſo, wo geſellige Verhaͤltniſſe beruͤhrt und die kleinen Geheimniſſe des Privatlebens enthuͤllt ſind, erkennt man zwar genugſam den Stoff, der durch Aergerliches und Beißendes ergoͤtzen koͤnnte, aber aus Mangel gehoͤriger Behandlung bleibt dieſer Stoff groͤßtentheils ohne Wirkung, und man genießt ihn ohne rechten Geſchmack und Dank. Der Verfaſſer hat es doch ſogar fuͤr einen bloßen Weltmann etwas zu leicht genommen, ſowohl mit dem Aufſchreiben, als auch wie es ſcheint mit dem Leben ſelbſt, das wenig393 Eigenthuͤmliches zeigt, ſondern faſt nur ein gewoͤhnliches Mitmachen deſſen, was die Verhaͤltniſſe des Tages dem Tage auswerfen. Dabei koͤnnen wir große Geſinnun¬ gen und tiefe Gedanken allenfalls miſſen, aber irgend eine Feinheit der Beobachtung, irgend eine Anmuth des Beſchreibens haben wir dafuͤr von dem gebildeten Welt¬ mann zu fordern, es muͤßte denn ſein, daß er uns an deren Statt das noch ſeltnere Geſchenk einer im ver¬ feinertſten Lebenselement bewahrten Unbefangenheit des Sinnes und Naivetaͤt des Ausdrucks braͤchte! Von dem allen aber iſt hier nichts. Unſer Graf von Schlitz geht durch ſeine Bahn, wie ein Handwerksgeſell durch die ſeine, er laͤßt das Meiſte dahingeſtellt, oder vorausge¬ ſetzt, und bemerkt nur das nothduͤrftigſte Naͤchſte. Dies letztere bei den Handwerksgeſellen kennen zu lernen, hat noch ſeinen Reiz, eben weil es uns nicht ſo nahe liegt, und etwas Eigenes ſich darin abſpiegeln kann, aber bei dem Grafen iſt es nur das gleichguͤltige Alltaͤgliche, dem erſt ein Intereſſe durch beſondre Ereigniſſe oder durch geiſtige Verarbeitung herzukommen muͤßte. In Frank¬ reich wuͤrde der Verfaſſer ſelbſt, oder auch ein Freund, ein Gehuͤlfe, der Herausgeber, ja noͤthigenfalls der Buchhaͤndler ſogar, dieſe Materialien, welche doch ein¬ mal eine gute Grundlage bilden, mit einigen Haͤnden voll Salz beſtreut haben, und es waͤren hoͤchſt genie߬ bare Memoiren geworden; bei uns ſind ſie in ihrer ungewuͤrzten Bereitung aufgetiſcht, und ſie ſchmecken394 weniger, und naͤhren gar nicht. Dazu kommt noch der große Uebelſtand, daß die meiſten Namen, an die ſich irgend ein voruͤbergehender Reiz knuͤpfen will, faſt immer nur mit Buchſtaben und Sternchen angedeutet ſind, fuͤr den nicht ſchon unterrichteten Leſer eine wahre Qual, denn hundert Vorſtellungen und Beziehungen, die er mit dem wirklichen Namen allenfalls verbinden und dadurch das Erzaͤhlte beleben und erhoͤhen koͤnnte, muͤſſen nun unterbleiben, und er bewegt ſich zwiſchen Masken und Raͤthſeln fort, deren Loͤſung ihm aus dem Buch allein nicht werden kann. Zu ruͤgen iſt daneben noch die Ungenauigkeit in Beſchreibung der wirklich mitge¬ theilten Namen; auf der erſten Seite wird des Grafen Hofmeiſter irrig Leiſering genannt; er hieß aber Leuch¬ ſenring, ein ſchon aus Goethe’s Leben und aus Jakobi’s Briefwechſel ſehr bekannter Name, und es haͤtte ſich uͤber den Mann, der als ein ſentimentaler Ordensſtifter aus dem Reich nach Berlin kam, von da den Baron Labes (nachherigen Grafen von Schlitz) auf Reiſen beglei¬ tete, nachher eine Hofdame heirathete, und mit dieſer aus Liebe zum Jakobinerthum nach Paris ging, wo er unter der Kaiſerregierung und Reſtauration ein herbes dunkles Leben fuͤhrte, und im Jahre 1827 ſtarb, noch viel Merkwuͤrdiges ſagen laſſen, ſo daß der Leſer gleich anfangs auf den intereſſanteſten Boden geſtellt geweſen waͤre. Aus dem Gebiete der eigentlichen Staatsſachen iſt uns nichts vorgekommen, was als erheblich und neu395 zu bemerken waͤre; einige Anekdoten aus dieſer Sphaͤre moͤgen doch beides vielleicht fuͤr manche Leſer ſein. Die Nachrichten uͤber den diplomatiſchen Gang der Verhand¬ lungen wegen Sachſen auf dem Wiener Kongreſſe konn¬ ten im Augenblicke, als der Verfaſſer ſie ſchrieb, ein gutes Zeugniß fuͤr ſeine diplomatiſche Gegenwart und Aufmerkſamkeit abgeben; ſeitdem iſt die Neugier in dieſem Betreff vollſtaͤndiger befriedigt worden, oder auch unbefriedigt erloſchen. Der Verfaſſer hat es auch eigent¬ lich mehr auf ſeine perſoͤnliche Geſchichte angelegt, und da finden ſich freilich Andeutungen und Bekenntniſſe genug, die aber nicht zu gehoͤriger Reife kommen, und ſowohl Verwicklungen als Aufſchluͤſſe auf halbem Wege ſtehen laſſen. Wenn man auf ſo bedenkliche Sachen hinweiſen mag, wie S. 80 in den erſten Zeilen, ſo ſollte man mit andren Dingen nicht mehr ſo große Umſtaͤnde machen. Die litterariſche Geſtalt und vielleicht auch der hiſtoriſche Werth des Buches wuͤrde allerdings gewonnen haben, wenn die darin unlaͤugbare Richtung zum Aergerniß und Verfaͤnglichen noch etwas mehr waͤre ausgebildet worden; und daß der moraliſche Werth dabei noch ungefaͤhr eben ſo gut zu ſtehen kaͤme, als bei der jetzigen halben Zuruͤckhaltung, iſt ganz außer Zweifel.

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Memoiren eines preußiſchen Offiziers. Herausge¬ geben von C. Herloßſohn. Leipzig, 1833. Zwei Theile. 12.

Der Herausgeber deutet in dem Vorworte mit ver¬ ſtaͤndiger Einſicht den nicht zu verkennenden Werth ſol¬ cher Denkſchriften an, welche auf untern Stufen des Lebens und der Bildung dennoch ein eignes und in ſeiner aͤchten Wirklichkeit ſtets betrachtungswuͤrdiges Da¬ ſein abſpiegeln, und ſelbſt den groͤßeren Geſchichtsereig¬ niſſen im Widerſcheine der perſoͤnlichen und oͤrtlichen Einzelheiten oft eine ganz neue und uͤberraſchende Faͤr¬ bung leihen, die den Gang und Gehalt des Geſchehenen nicht ſelten beſſer einſehen laͤßt, als manches weitaus¬ holende Darlegen und Erklaͤren in's Allgemeine hin. Aus dieſem Geſichtspunkte zeigen wir dieſes kleine Buch gern als eine Vermehrung der ſchon bekannten Familie der Feldjaͤger, des Deutſchen Gil-Blas u. ſ. w. an, um welche ſich Goethe faſt zuerſt ein ſo großes Ver¬ dienſt erworben.

An der Aechtheit dieſer Memoiren haben wir keinen Zweifel; als Dichtung waͤren ſie das groͤßte Beiſpiel von Enthaltſamkeit, das ein Autor je geben koͤnnte, denn uͤberall herrſcht darin das Wirkliche nur als ſolches, und verſchmaͤht jeden Zuſatz von Abentheuerlichem und397 Reizendem, das nicht ſchon in jenem laͤge; auch bleibt das geiſtige Auffaſſen der Dinge fortwaͤhrend im gleich¬ maͤßigen Verhaͤltniſſe mit dieſen ſelbſt, und ſo macht das Ganze den ruhigen Eindruck einer natuͤrlichen, ihrem angewieſenen Kreiſe treu verbleibenden Unbefangenheit. Das Buch iſt bei dieſer Beſchaffenheit fuͤr geſchichtliches Intereſſe wie fuͤr bloße Unterhaltung am rechten Orte und zu ſeiner Zeit empfehlenswerth genug, und moͤge mit vielen Bruͤdern, die auch nichts Ueberſchwengliches bringen und anſprechen, unverkuͤmmert dahingehen.

Der Sohn eines Buͤrgermeiſters von Neuſtadt bei Neiße in Schleſien iſt es, der hier ſeine Lebensgeſchichte erzaͤhlt; im Jahre 1770 geboren, ſah er noch die letz¬ ten Ereigniſſe der Regierung Friedrichs des Großen, wurde durch jugendliche Unbeſonnenheiten fruͤhzeitig dem Kriegsdienſte zugefuͤhrt, und durfte in Berlin mit guten Ausſichten bei der Artillerie eintreten. Hier hatte er einen Vetter, den Mahler Rode, deſſen Hausweſen und Kuͤnſtlerart geſchildert wird. Als Bombardier zog unſer Autor mit nach Polen, wo die ungluͤcklichen Verhaͤlt¬ niſſe des Landes und der Einwohner den guten Sinn des Mannes nicht gleichguͤltig ließen, auch eine ordent¬ liche Liebſchaft an - und abſpann, alles aber in Maß und Schranken blieb, ohne Abentheuer und Kataſtrophe. Der Krieg gegen Frankreich bricht aus, und fuͤhrt uns zuerſt in die Champagne, ſpaͤter, nach dem fuͤrchterli¬ chen Ruͤckzug, zur Belagerung von Mainz, und nach¬398 dem dieſe Feſtung erobert worden, kehrt alles im Frie¬ den zur Heimath. Unſer Autor, der inzwiſchen Offizier geworden, wird in Schleſien angeſtellt, und leiſtet da¬ ſelbſt bei dem Einbruche der Truppen Napoleons in den Jahren 1806 und 1807 treffliche Dienſte, beſonders bei der Vertheidigung der Feſtung Silberberg, die auch von dem Feinde nicht erobert wird. Mit dem Frieden von Tilſit hoͤren die Denkſchriften auf, obwohl der Ver¬ faſſer erſt viel ſpaͤter geſtorben zu ſeyn ſcheint.

Ein wackres Gemuͤth, von keinen ausgezeichneten Faͤhigkeiten, aber von gutem leichten Sinn und thaͤti¬ ger Lebhaftigkeit getragen, bildet hier eine Art maͤßigen Deutſchen Karakters, wie er uns in den mittlern Re¬ gionen des Lebens oft und leidlich genug zu begegnen pflegt. Auch ſein Mittheilungstrieb gehoͤrt ganz in dieſe Sphaͤre, und wird in ſeinem einfachen Zuge nur bis¬ weilen geſtoͤrt durch etwas geſteigerte, koſtbare oder auch geſchmacklos muntre Ausdruckweiſen, die theils noch von der Schule Zeugniß geben, theils als zufaͤllige Beute aus dem Weltverkehr aufgehaſcht ſind. Die Betrach¬ tungen, die unſer Verfaſſer haͤufig anſtellt, wollen ſich gern erheben, und ſind meiſtens gut und brav, ohne doch ihren Flug ſonderlich auszudehnen. Seltſam aber nimmt ſich ein Abriß der Franzoͤſiſchen Revolutionsge¬ ſchichte aus, den er in aller Kuͤrze nach damaligen fluͤch¬ tigen Auffaſſungen mittheilt. Man ſieht wenigſtens, welche Thatſachen zumeiſt, und in welcher Geſtalt dieſe399 ſich im Publikum feſtgeſetzt hatten. Die meiſten Namen ſind dabei grauſam verſtuͤmmelt, welches der Herausge¬ ber wohl mit ganzem Recht ſo gelaſſen hat. Nur an ein paar Stellen wird eine ſpaͤtere Handanlegung ſicht¬ bar, z. B. wo im Revolutionskriege ein Großherzog von Baden genannt wird, und nur ein Prinz von Baden gemeint ſein kann. Manche Anfuͤhrungen aus dem Kriegs¬ zug in der Champagne koͤnnten faſt aus Goethe entlehnt ſcheinen, wenn nicht die Uebereinſtimmung weit beſſer noch ſich daraus erklaͤrte, daß gleichzeitig und unter gleichen Umſtaͤnden von derſelben Sache geredet wird.

Die hoͤchſten Punkte des Buͤchleins ſind gleich im Anfange das perſoͤnliche Erſcheinen Friedrich des Großen wo dieſer Namen vorkommt, fuͤhlt man gleich eine ſtaͤrkende Luft , und ſpaͤterhin die tapfre Geſinnung und der treue Eifer fuͤr die Sache Preußens. Man moͤchte wuͤnſchen, die glaͤnzenden Ereigniſſe der nachfol¬ genden Kriege gleichfalls dieſem Leben zu Gute kommen zu ſehen.

Wir rechnen es dem Herausgeber zum Verdienſt, daß er dieſe Blaͤtter, zu welchen er in dem Vorworte ſeine eignen Gefuͤhle und Empfindungen nicht ganz uͤber¬ einſtimmend andeutet, dennoch mit Billigkeit gewuͤrdigt und litterariſch gefoͤrdert hat.

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Biographiſche Nachrichten von der Graͤfin Maria Aurora Koͤnigsmarck. Erzaͤhlt von Dr. Fried¬ rich Cramer. Mit einem Facſimile. Qued¬ linburg und Leipzig, 1833. 8.

Die Staats - und Kriegsgeſchichten aus den Zeiten des Ablaufes des ſiebzehnten Jahrhunderts und des Ein - und Vorſchreitens des achtzehnten ſind uns hinlaͤnglich bekannt. Auch das Privatleben aus jenem Zeitraum kennen wir bei den Franzoſen ſehr reichlich und vielar¬ tig, wenig aber das der Deutſchen, und auch da faſt nur denjenigen Theil, der ſich als Nachahmung des franzoͤſiſchen Lebens darſtellt, und in franzoͤſiſcher Spra¬ che uͤberliefert worden iſt. Die damalige Stufe der Geſellſchaftsausbildung in Deutſchland, wie die der Deut¬ ſchen Sprachentwicklung verwieſen das augenblickliche Lebensbeduͤrfniß nothwendig auf die Huͤlfsmittel des Auslandes, welches ſie bequem und ſchmeichelnd darbot. Fuͤr die Schilderung der deutſchen Hoͤfe und der hoͤhe¬ ren Geſellſchaft, ihrer Tagesverhaͤltniſſe, Vergnuͤgungen, Liebſchaften, Geiſtesarten, Beſchraͤnkungen und Freihei¬ ten war die Thaͤtigkeit des Baron Poͤllnitz uͤberall voran, und faſt ohne Mitbewerber, das ganze Fach in ſeinen verſchiedenen Unterabtheilungen verſah er faſt allein; er ſchrieb ernſte Denkſchriften der Regierungs - und Hof¬ geſchichten, leichte Reiſenachrichten zur launigen Unter¬401 haltung, und die Herzens - und Liebes-Geſchichten wußte er in ein romanenhaftes Bild angenehm zuſammenzu¬ faſſen, in dem beruͤhmten Buche, das unter dem Titel la Saxe galante unſere Vorfahren einſt allgemein anzog und bezauberte, und noch bis in die ſpaͤte Zeit hinein gern geleſen wurde. Die Geliebte des Kurfuͤrſten von Sachſen, Auguſts des Starken, die ſchoͤne und geiſtreiche Graͤfin Aurora von Koͤnigsmarck, trat in dieſer Darſtel¬ lung beſonders anmuthig und bedeutend hervor, weit uͤber den Kreis der gewoͤhnlichen Maitreſſen hervor, und gab ein Gegenbild zu den beruͤhmten franzoͤſiſchen Frauen dieſer Art, denen der Hiſtoriker nicht umhin kann, wie ſehr es ihn auch verdrießen moͤge, eine große und an¬ haltende Aufmerkſamkeit zu widmen. In Auroren ſchien ſogar die zweifache Rolle einer la Vallière und einer Maintenon einigermaßen verbunden zu ſein, und die Mutter des tapfern Grafen von Sachſen ſchien auch den Ruhm einer Monteſpan ſich aneignen zu duͤrfen, ſo daß die drei Hauptmaitreſſen Ludwigs XIV. gleichſam hier in Einem Bilde vereinigt ſcheinen duͤrften. Dieſes Bild fand ungemeine Gunſt, und ſelbſt unter den Deutſchen, wo die Sittenſtrenge, auch wenn die That ihr gar oft wie anderwaͤrts entſchluͤpft, doch oͤffentlich gern und ſtark das Wort fuͤhrt, iſt Aurora faſt immer mit beſonderer Milde und Nachſicht beurtheilt worden; man glaubte fuͤr ſie faſt eine Ausnahme zulaͤſſig. Indeß hat dieſe Gunſt ihr bisher keinen eignen Geſchichtsſchreiber weckenII. 26402koͤnnen, ihre merkwuͤrdigen Schickſale und Verhaͤltniſſe blieben in dem Helldunkel, in welches Poͤllnitz ſie geſtellt hatte, auf welchen als einzigen Gewaͤhrsmann der gaͤng und gaͤben Nachrichten man ſich glaͤubig verließ. Erſt jetzt verkuͤndet ſich ein ganz neues Licht uͤber dieſes bewegte Leben, ſeitdem ein gluͤcklicher Zufall viele wich¬ tige und ausfuͤhrliche Denkſchriften, die Familie Koͤnigs¬ marck betreffend, in die Haͤnde des Dr. Cramer gebracht hat, dem als ſorgfaͤltigen Erforſcher und Mittheiler hiſtoriſcher Denkmale wir ſchon fuͤr mehrere wichtige Gaben Dank ſchuldig geworden ſind. Von dieſen ſchaͤtz¬ baren Urkunden empfangen wir in vorliegender kleinen Schrift vorlaͤufig im Auszuge den weſentlichen Ertrag, und wir ſehen daraus, daß die Erzaͤhlungen von Poͤll¬ nitz durchaus ohne feſte Grundlage, theils willkuͤrlich erſonnen, theils unzuverlaͤſſig aufgegriffen ſind, und faſt in allen Beziehungen weſentliche Berichtigung erfahren. Das Merkwuͤrdige, Bedeutende und Romanhafte ver¬ ſchwindet deshalb aber keineswegs aus dieſer Lebens¬ beſchreibung, im Gegentheil ſie gewinnt faſt eben ſo an Reiz wie an Gehalt, und die Wahrheit der Geſchichte iſt hier ſo phantaſiereich wie nur die erdichtete Fabel es ſein mochte. Durch den abentheuerlichen Ausgang ihres Bruders, der in Hannover ploͤtzlich verſchwand und nie wieder zum Vorſchein kam, wird Aurorens eignes Schick¬ ſal mitbedingt, und die geſammte Familie erſcheint in Ereigniſſen und Karakter als ein zuſammengehoͤriges403 Ganze. Im Intereſſe der Geſchichtskenntniß jener Zeit und Verhaͤltniſſe koͤnnen wir daher nur eifrigſt wuͤnſchen, daß der Verfaſſer die umſtaͤndlichen Koͤnigsmarckiſchen Denkwuͤrdigkeiten, auf welche dieſe Schrift zuruͤckweiſt, baldigſt herausgeben moͤge, in der Geſtalt und Bear¬ beitung, wie es die Sache erfordert. Die gegenwaͤrti¬ gen Blaͤtter beweiſen zur Genuͤge, daß der Verfaſſer ſorgfaͤltige Forſchung und eindringende Kritik in gefaͤlli¬ gen Vortrag gluͤcklich zu verfloͤßen weiß; doch wuͤrde man immer von den urkundlichen Schriften ſelbſt eine nicht allzu ſparſame Mittheilung wuͤnſchen duͤrfen.

Zwei Jahre in Petersburg. Ein Roman aus den Papieren eines alten Diplomaten. Leipzig, Brock¬ haus. 1833. 8.

In dem anmuthigen Gewand eines leichtfaßlichen Romans empfangen wir durch dieſes Buch eine inhalt¬ ſchwere Mittheilung. Die Angabe aus den Papieren eines Diplomaten koͤnnte der Form nach erdichtet ſein, und ſie duͤrfte dem Weſen nach gleichwohl richtig blei¬ ben, denn dieſe Blaͤtter beurkunden ihren Verfaſſer als einen klugen und eindringenden Beobachter der vorneh¬ men Geſelligkeits - und Staatswelt, die ſich ſeinem Anſchauen darbot, und nichl alle Diplomaten duͤrften26 *404im Stande ſein, ſo weſentliche Verhaͤltniſſe gleich her¬ auszufinden und ſicher auszuſprechen, als hier in Betreff Rußlands vielfaͤltig geſchehen iſt. Daß ein Augenzeuge ſpricht, laͤßt ſich nicht bezweifeln, und ſeinen hoͤheren Standpunkt bezeichnen die milde Ruhe, der bei aller Strenge mancher Urtheile doch freundliche Sinn, wir moͤchten ſagen die ſittliche Zartheit, die durch das Ganze verbreitet ſind. Wenn uns jemand verſicherte, eine Frauenhand habe beim Niederſchreiben dieſer Papiere die Feder gefuͤhrt, ſo haͤtten wir dagegen nichts einzuwen¬ den, und der maͤnnliche Gehalt waͤre deßhalb nicht ge¬ ringer anzuſchlagen.

Die Schilderungen der vornehmen Welt finden in allen Laͤndern ſo ziemlich denſelben Stoff, und muͤſſen auch großentheils dieſelben Reſultate liefern; allein neben dem Allgemeinen bildet ſich uͤberall doch immer ein eigenthuͤmliches Beſondere aus, das hier als Ruſſiſch, oder genauer zu reden, als Petersburgiſch, genug her¬ vorgehoben wird. Die aͤußerſten Spitzen dieſer Erſchei¬ nung werden uns gezeigt, und zugleich ihr tiefſter Grund enthuͤllt. Ueber einige Verhaͤltniſſe, an welchen das ruſſiſche Staats - und Einzelleben noch leidet, wird mit großer Unbefangenheit die ſchlichte Wahrheit aus¬ geſprochen, wie man ſie ſelten findet.

Als eigentliche Mitte des Ganzen und als Haupt¬ figur dieſer beweglichen Gruppen erſcheint die edle, feſte Geſtalt des Generals von Klinger, der redend und405 handelnd eingefuͤhrt wird. Dieſer ehrenwerthe Lands¬ mann, welcher den Ruhm deutſcher Redlichkeit und Treue waͤhrend eines langen Lebens durch ſein ſtrahlen¬ des Beiſpiel im unſichern Auslande herrlich bewaͤhrt hat, iſt unſres Wiſſens noch nie ſo gruͤndlich geſchildert, ſo ganz in ſeinem tiefſten Weſen erfaßt und erklaͤrt wor¬ den. Unſer Autor muß den trefflichen Mann genau gekannt haben, von deſſen Geiſt und Anſichten gewiß manches in dieſe Blaͤtter uͤbergegangen iſt. Nicht min¬ der anziehend und wichtig iſt die Karakterzeichnung, welche uns in das reiche Gemuͤth des Kaiſers Alexander blicken laͤßt, und uns mit der innigſten Theilnahme fuͤr den wahrhaft edlen und liebenswuͤrdigen Monarchen erfuͤllt, dem ein hoͤheres Streben entſchieden inwohnte, und grade deßhalb perſoͤnliches Gluͤck in ſeiner hohen Stellung verſagt blieb. Der Geſchichtsforſcher empfaͤngt hier wichtige Aufſchluͤſſe uͤber die zum Theil widerſpre¬ chenden Richtungen, die ſich in Alexanders Regierung gezeigt haben. Ueber das Verhaͤltniß zur Frau von Kruͤdener wird hier mehreres mitgetheilt, was wir der Wahrheit gemaͤß glauben duͤrfen, und dabei noch nir¬ gend ſonſt ausgeſprochen wiſſen. Daß Frau von Kruͤ¬ dener zum Behuf ihrer Wirkſamkeit allerlei Huͤlfsmittel nicht verſchmaͤhte, die ſich auf keine Weiſe entſchuldigen laſſen, hat ſogar ihr Freund Bergaſſe ihr vorgeworfen, der mit im Geheimniß war, als die beruͤchtigte Gau¬ kelei mit der Seele Labédoyère's angeſtellt wurde, und406 ſpaͤterhin von dieſem Auftritt im Vertrauen bekannte, er habe ſich ordentlich geſchaͤmt, ein ſo plumpes Spiel mitzumachen! Eine Notiz, daß der Fuͤrſt Hardenberg in Paris die erſte Kenntniß von der Stiftung der Hei¬ ligen Allianz durch ſeinen Leibarzt Doctor Koreff empfan¬ gen habe, ſcheint uns nicht ohne naͤheren Erweis an¬ zunehmen.

Die Anſichten des Verfaſſers uͤber Welt und Leben zeugen von einem redlichen, wahrheitsliebenden Sinn, der weit um ſich ſchaut in ſeiner Zeitumgebung, und doch eben ſo gern, wie Geſellſchaft und Staat, die Angelegenheiten des Gemuͤths und des Herzens zum Gegenſtande ſeiner Betrachtungen nimmt. Manches wird in fremder Perſon ausgeſprochen, z. B. die ziem¬ lich Saint-Simoniſtiſche Anſicht uͤber den Vorzug andrer Auszeichnung und Groͤße vor der kriegeriſchen. In einigen Urtheilen fehlt es nicht an Kuͤhnheit, die uͤberall zu vertreten ſchwer ſein moͤchte. Zuweilen finden wir auch Mißgriffe, wie z. B. die Parallele der Entfuͤhrung des Herzogs von Enghien mit einem neuern Vorgange, der in allen Motiven, Umſtaͤnden und Folgen eine gaͤnzlich verſchiedene Bewandtniß hatte, und unſres Wiſ¬ ſens auch im geringſten nicht von der Einwirkung ge¬ weſen iſt, die ihm hier beigemeſſen wird.

Als einen artigen Gedanken, deſſen Ausfuͤhrung gar nicht uͤbel waͤre, fuͤhren wir folgende Stelle an: Ich moͤchte wohl, daß zur Rechtfertigung des jetzigen, ſo407 ſehr verrufenen Zeitgeiſtes, jemand eine Sammlung der Ideen veranſtaltete, die vor fuͤnfzig Jahren als frech, gottlos, neu und kuͤhn verrufen und wie Kontrebande nur mit Gefahr fuͤr den Verbreiter in Umlauf gebracht wurden, und jetzt als Gemeingut durch alle Klaſſen der Geſellſchaft bekannt und verbreitet ſind. Ein ſol¬ ches Buch wuͤrde viel zu denken geben, und nach fuͤnf¬ zig Jahren wuͤrde ſich ein zweiter Theil dazu ſchreiben laſſen, von deſſen Inhalt wir jetzt vielleicht nur traͤu¬ men duͤrfen.

Die von allgemeinen Schilderungen und Betrach¬ tungen durchflochtene Liebesgeſchichte iſt in moͤglichſt einfachen, ohne geſuchte Abenteuerlichkeit herbeigefuͤhr¬ ten Auftritten und Entwicklungen gluͤcklich zu einem befriedigenden Ende gebracht. In den als handelnd oder ſprechend mitwirkenden Figuren beſtimmte Perſonen zu vermuthen, duͤrfen wir uns nicht erlauben, ſondern nehmen vielmehr als gewiß an, daß dieſer Theil des intereſſanten und lebenvollen Buches ausſchließlich Dich¬ tung iſt.

Erzaͤhlungen, Skizzen und Gedichte von Ludwig Rellſtab. Berlin, Duncker und Humblot, 1833. Drei Theile. 8.

Oft genug hat der Kritiker, wenn er tadelte, die Forderung hoͤren muͤſſen, er ſolle es beſſer machen. Dieſe408 Zumuthung iſt in neuerer Zeit als eine unbegruͤndete und ganz unbillige mit großem Erfolg abgewieſen wor¬ den, und ſie koͤmmt nur ſelten noch vor. Wir wollen ſie nicht wieder aufleben laſſen, glauben aber doch, daß man den Kritiker in Betreff des Machens ſeitdem etwas zu ſehr freigeſprochen hat. Die Verpflichtung des Beſ¬ ſermachens kann ihm freilich nicht auferlegt werden, aber die des Auchmachens darf ihm ſchwerlich erlaſſen ſein; wie ſoll er ſonſt den Beweis liefern, daß er wirklich alle Bedingungen, Graͤnzen, Vortheile und Schwierig¬ keiten des Kunſtgebietes kenne, uͤber deſſen Erzeugniſſe er urtheilt, daß er ſeine Forderungen nicht ſchrankenlos ausdehne, und ein erreichtes Wirkliche nach ertraͤumten Moͤglichkeiten abmeſſe? In der That haben unſre beſten Kritiker von jeher auch durch eigne Kunſtſchoͤpfungen ſich hervorgethan, und wir finden faſt immer, daß der Werth von dieſen mit dem ihrer Kritiken gleichen Schritt haͤlt, von Leſſing an gerechnet bis auf A. W. vor Schlegel herab. Unſre Bemerkung wird auch durch die vorliegende Sammlung bekraͤftigt.

Der Verfaſſer, als ein ſcharfer, und dabei ſcharf¬ ſinniger und nicht ungruͤndlicher, ruͤſtiger Kritiker vor¬ theilhaft bekannt, nimmt durch dieſe Dichtungen auch im Gebiete des Selbſtmachens die Stelle ein, welche der Stufe, worauf er in jenem Gebiete ſteht, nicht nur entſpricht, ſondern ihn auf ihr auch beſtaͤtigt. Eine große Mannigfaltigkeit von Gebilden und Ausdrucksweiſen, die409 Form der Novelle, des Liedes, des Reiſeberichts, der Romanze, der launigen und der ſtrengen Kritik, ſind hier vereinigt, und geben von der vielſeitigen Gewandt¬ heit des Verfaſſers das beſte Zeugniß. Sollen wir die innern Vorzuͤge dieſer Arbeiten kuͤrzlich aufzaͤhlen, ſo haben wir zuvoͤrderſt entſchiedene Richtung zum Schoͤnen, Klarheit der Auffaſſung und des Stils, Lebhaftigkeit, Witz, Humor, mannigfache Anmuth und viele aͤſthetiſche und ſittliche Feinheit namhaft zu machen. Als Humoriſt verdient der Verfaſſer auch alles Lob wegen des Maßes, das er beobachtet, und worin er faſt immer die Schran¬ ken einer harmloſen Munterkeit haͤlt, ohne in gewalt¬ ſame Abſpruͤnge und verzwickte Unformen zu gerathen; wiewohl wir gern zugeben, daß ihm ſelber hierin noch eine gluͤckliche Fortbildung und Laͤuterung offen ſtehe. Anerkennen muͤſſen wir auch die Sicherheit und Anſchau¬ lichkeit in Darſtellung des nach Ort und Zeit eigen¬ thuͤmlichen Stoffes, z. B. der Vorgaͤnge in ſchweizeri¬ ſcher Gebirgslandſchaft, und des Koſtuͤms engliſcher Verhaͤltniſſe, welches alles leicht und treffend, und ohne aͤngſtliche Pedanterei vollkommen genuͤgend, dem Leſer vor Augen geruͤckt wird. Die Freunde der Erzaͤhlungs¬ weiſe von Leopold Schefer werden hier bisweilen einige Aehnlichkeit finden; doch iſt Rellſtab im Ganzen raſcher und leichter, wobei die Umſtaͤnde, unter welchen beide Autoren ſchreiben, ſehr in Betracht kommen moͤgen: indem Schefer mit einer durch große Reiſen genaͤhrten410 Weltanſchauung in einſamer Ruhe ſtill zuruͤckgezogen behaglichen Fleißes arbeitet, unſer Autor dagegen uͤber unruhige Lebenswirbel und die Treibhauseile des drin¬ genden Augenblickes klagt. Auch hat er bei vielem Wohlmeinen mehr Galle, als Schefer, ſo wie hingegen bei vieler Schaͤrfe weniger, als Boͤrne, mit welchem Ausſpruche wohl jeder der Genannten zufrieden ſein wird!

Unter den Erzaͤhlungen muͤſſen wir diejenigen beſon¬ ders auszeichnen, morin ein idylliſches Element vor¬ waltet, z. B. im zweiten Theile James Skey und die Gemsjaͤger , auch die Gewerke im erſten Theile, wo ein Gegenſtand, der ſehr zur Ueberladung verleiten konnte, mit Gluͤck durch jenes Element gemaͤßigt wor¬ den. In beiden letztern Novellen hat der Verfaſſer mit beſonderer Zuneigung den Schwindel behandelt, und iſt dabei ſeinen Vorgaͤngern Baggeſen und Schefer nichts ſchuldig geworden, ja ſich ſelber nicht einmal, denn nach¬ dem er die Aufgabe vom Thurme herab in lauter ſtaͤdti¬ ſcher Umgebung und Bedingung gluͤcklich geloͤſt, variirt er das Thema ſo neu als treffend in der ganz verſchie¬ denen Geſtalt, welche Gebirgshoͤhen und freie Natur dafuͤr bedingen.

Sehr anziehend ſind die Nachrichten uͤber die per¬ ſoͤnlichen Verhaͤltniſſe des Verfaſſers mit Karl Maria von Weber, welchem Komponiſten er beſonders huldigt. Seine ſonſtigen muſikaliſchen Zu - und Abneigungen koͤnnen wir hier weder vertreten noch tadeln. Indeſſen411 duͤnkt uns, daß in dieſem Kunſtgebiete es immer ſchwerer wird, einen wirklich freien Standpunkt und einen gro߬ artigen Ueberblick zu faſſen, jemehr die techniſchen Kennt¬ niſſe ſich vervielfachen, und in Verbindung mit man¬ cherlei der Muſik an ſich ganz fremden, aber im Zeit¬ geiſte wuchernden einſeitigen Vorſtellungen ſich fuͤr die wahre Kunſtanſicht ausgeben.

Unter den Gedichten, welche jedem Baͤndchen zum Schluſſe beigefuͤgt ſind, findet ſich manche lyriſche Bluͤthe, die den vollen Beruf des Verfaſſers in dieſer Gattung darthut. Wir bemerken ſchließlich, daß ein Werk, wel¬ ches alle die hier ſo mannigfach zuſammengeſtellten Ein¬ zelheiten zu einem Ganzen vereinigte, in ſolcher reichen Ausſtattung noch vortheilhafter erſcheinen muͤßte, als die jetzige Sammlung, und daß wir dem Verfaſſer alle Muße und Ruhe zu ſolcher groͤßern Hervorbringung wuͤnſchen, fuͤr welche gewiß kein inneres Erforderniß ihm mangelt.

Die Xenien aus Schiller’s Muſenalmanach fuͤr das Jahr 1797. Geſchichte, Abdruck und Er¬ laͤuterung derſelben. Danzig, 1833. 12.

Schillers Muſenalmanach fuͤr das Jahr 1797 hat in der deutſchen Litteratur Epoche gemacht, wie kein andrer vorher oder nachher. Die demſelben angefuͤgten412 zahlreichen Epigramme, Xenien genannt, das gemeinſame Erzeugniß Goethe’s und Schiller’s, brechen wie ein ploͤtzliches Strafgericht in das verwilderte und verſchwaͤchte Treiben, welches ſich in dem Gebiete der Geiſtesbildung uͤppig eingeniſtet hatte. Ein allgemeiner Schrei des Schmerzes, der Angſt, des Ingrimms und der Gegen¬ wehr erſchallte bei dieſen Streichen, man rief Himmel und Erde zu Zeugen an, daß dergleichen Gewalt ganz unerhoͤrt ſei, man hoffte die Friedensſtoͤrer ihren Frevel buͤßen und die gefeierten Dichter als beſchaͤmte Buben heimkehren zu ſehen. Was die Schwaͤche und Gemein¬ heit ſich angemaßt hatte, ſollte als richtiger Beſitz, ein duͤnkelhaftes Behagen als unverletzlicher Zuſtand gelten, und von der Geſammtheit geſchuͤtzt werden. Aber man hatte vergeſſen, daß in der Litteratur das Fauſtrecht beſteht, und kein Beſitz und Stand gilt, als der mit den Waffen in der Hand behauptet und jeden Tag erneut wird. Der Erfolg bewaͤhrte das gute Recht der aufgetretenen Ritter, die Geſchlagenen und Geſtraften mußten weichen, der Raum wurde freier, und manche beſudelte Stelle gluͤcklich gereinigt. Die Helden hatten ihre eigne Sache gefuͤhrt, aber nicht fuͤr ſich allein, ſie uͤberließen den groͤßten Theil der Eroberung einem beſſern Geſchlecht neuer Anſiedler, die jenen Fuͤhrern in ge¬ wiſſem Sinn folgſam blieben, ohne ſich gradezu pflichtig noch allzu dankbar gegen ſie zu verhalten. Die Xenien aber haben vollkommen geſiegt, und ihr Feldzug wird413 in den Jahrbuͤchern litterariſchen Ruhmes ehrenvoll mit¬ gezaͤhlt.

Man hat fruͤh das Beduͤrfniß empfunden, einem ſchon zweiten und dritten Geſchlecht, das auf die Zeit¬ genoſſen dieſer denkwuͤrdigen Ereigniſſe gefolgt iſt, den Zuſammenhang und das Einzelne der damaligen Kriegs¬ thaten zu uͤberliefern, und die zum Theil dunkle und raͤthſelhafte Haupturkunde verſtaͤndlich zu machen. Aber es war ſchwer und mißlich, dieſem Beduͤrfniſſe zu ent¬ ſprechen. Eine von Goethe beabſichtigte Prachtausgabe des Textes, den ein reicher Kommentar begleiten ſollte, unterblieb. Ein in Breslau vor mehreren Jahren ver¬ anſtalteter Privatabdruck gab nur den unerlaͤuterten Text. Erſt durch Erſcheinung des Briefwechſels zwiſchen Goethe und Schiller ergab ſich mit vielen neuen Aufſchluͤſſen die geſteigerte Anregung, dieſes wunderbare Gemeingut unſrer beiden großen Dichter hellbeleuchtet aufzuſtellen. Die vorliegende kleine Ausgabe leiſtet in dieſem Betreff die noͤthigſte Vorarbeit. Wir koͤnnen aber keineswegs ſagen, daß damit ſchon alles gethan ſei. Die ſorgfaͤl¬ tige Zuſammenſtellung der in dem erwaͤhnten Brief¬ wechſel enthaltenen Aufſchluͤſſe, die richtige Entzifferung der abgekuͤrzten oder ſonſt verſteckten Bezeichnungen, die genaue Angabe der perſoͤnlichen Bezuͤge und Umſtaͤnde, alles dies iſt verdienſtlich und dankenswerth. Allein wir haͤtten gewuͤnſcht, daß der Herausgeber, der ſich in allem Betracht ſo kundig erweiſt, in die geiſtigen Rich¬414 tungen dieſes hoͤchſt wichtigen, mit allen Angelegenheiten unſrer Geiſtesbildung tief verflochtenen und noch immer nicht ausgekaͤmpften großen Kampfes auch geiſtig mehr einzugehen, und ſeine wahre Bedeutung zu enthuͤllen verſucht haͤtte.

Die deutſche Litteratur hat vor den Xenien und auch nachher Kaͤmpfe und Strafgerichte genug gehabt, per¬ ſoͤnliche und einzelne zu jeder Zeit uͤberviel, in beſondern Richtungen manche bedeutende, ganz allgemeine doch ſelten. Die Xenien, einen Ritterzug der letztern Art darſtellend, werden lange Zeit noch unuͤbertroffen blei¬ ben, ſie bilden fuͤr alles Nachfolgende gleichſam ein homeriſches Zeitalter, in welchem ſich das Vorangegan¬ gene reſumirt, und wohin das Spaͤtere ſich nothwendig zuruͤckbezieht. Sie haben auch mit den homeriſchen Er¬ zeugniſſen das nicht leicht wieder zu erneuende Verdienſt gemein, mit einer naturkraͤftigen Urſpruͤnglichkeit auch den vollen Reiz einer gebildeten Form zu vereinigen. Goethe und Schiller ſind hier ritterliche Helden, neben der Strenge fein und anmuthig, ſie ſchlagen das feind¬ liche Geſindel aus dem Felde, aber laſſen es dann laufen, ohne es zu Schmach und Marter einzufangen, und nach dem Kriege noch erſt einem hochnothpeinlichen Halsge¬ richt zu uͤbergeben. In den ſpaͤtern Zeiten haben wir leider die letztere Erſcheinung vorwalten, und in der Litteratur wahre Hinrichtungen und Torquirungen an¬ ſehen muͤſſen, ſtatt der Ritter die Scharfrichter in Thaͤ¬415 tigkeit! Es mag ſein, daß Zeiten und Umſtaͤnde das Geſchaͤft des Scharfrichters noͤthig machen, auch mag dieſer wohl nur vollziehen, was wirklich Rechtens iſt, und in der Litteratur kann manches Opfer fallen muͤſſen, das in der buͤrgerlichen Welt jede Achtung verdient, und vielleicht hundertmal beſſer iſt, als ſeine Richter und Quaͤler; aber einen Autor, hinter dem doch zuletzt der Menſch in jedem Falle ſteht, unter kaltberechneten Mar¬ tern ſterben zu laſſen, giebt immer einen widerlichen Anblick, und gern wendet man ſich von ihm zu der heitern und edlen Jagdfreude der Xenien zuruͤck, in wel¬ cher der Geiſt und die Laune nur zur Milderung der unerlaͤßlichen Geißelhiebe dienen, nicht aber aufgewendet werden, den Schmerz und die Qual zu mehren!

Abendſtunden, herausgegeben von Dr. Franz The¬ remin. Berlin 1833. Duncker und Humblot 8.

Bei dieſem kleinen Buche, worin ein angeſehener Theolog und Kanzelredner fuͤr ſeine Mittheilungen die Form heitrer Kunſt gewaͤhlt hat, moͤgen uns zuvoͤrderſt einige allgemeine Bemerkungen erlaubt ſein.

Die tiefſten und heiligſten Wahrheiten, welche den Geiſt ergreifen und das Gemuͤth erfuͤllen, beduͤrfen ganz gewiß keines Schmuckes, wie ihn die Kunſt aus ihren416 reichen Schatzkammern allem Erſcheinenden darbietet. Die hoͤchſten Ergebniſſe des Denkens, die reinſten Ueber¬ zeugungen der Religion, wirken unmittelbar durch ihr eigenſtes Weſen, ohne Beimiſchung kuͤnſtlichen Vortrags, der das einfache ſtarke Licht durch die Mannigfaltigkeit bunter Farben in vielen Faͤllen ſogar verdunkeln wuͤrde. Die Kunſt hinwieder weiß jene Wahrheiten, mit denen ſie im tiefſten Einverſtaͤndniſſe lebt, eben ſo wenig fuͤr ſich als Schmuck und Huͤlfe zu benutzen; und ein Bund der Kirche mit den Kuͤnſten, den man zu ſolchem Be¬ hufe wechſelſeitigen Leiſtens oft genug verkehrterweiſe hat ſchließen wollen, iſt immer ein unfruchtbarer ge¬ blieben. Doch wird eine Vereinigung beider Gebiete deßhalb nicht entbehrt, ſondern nur in andrer Art, als jener aushuͤlflichen, bewirkt, indem keines derſelben ſich an das andre veraͤußert, ſondern beide ſelbſtſtaͤndig in dem reinſten menſchlichen Antriebe zuſammenfließen. Der Weiſe, der ein Kuͤnſtler, der Fromme, der ein Dichter iſt, wie ſollten ſie, ihrem hoͤchſten Berufe folgend, auf¬ hoͤren dieſe Begabten zu ſein? wie duͤrften ſie jemals dieſe edlen Gaben verwerfen oder verlaͤugnen, ohne das ganze Gewebe der ihnen verliehenen Eigenſchaften zu zerreißen? Wo dieſe Gaben wahrhaft vorhanden ſind, da muͤſſen ſie den Geiſt uͤberall begleiten, und es wird immer ein erfreuender Anblick ſein, die hoͤchſte Bildung der Kunſt, die Anmuth und Lieblichkeit des Vortrags, den Zauber der Poeſie, ſich den ſchmuckloſen Ergeb¬417 niſſen der Wiſſenſchaft und der Religion anſchmiegen, dieſe zu jenen einkehren zu ſehen. Auf beiden Seiten bleibt das Weſen dabei unveraͤndert, und die Verbin¬ dung iſt nur in der perſoͤnlichen Begabung, ohne auf die Sachen ſelbſt uͤberzugehen.

An ſolchen gluͤcklichen Talenten hat es niemals ge¬ fehlt, und wie im Alterthum die philoſophiſche, ſo iſt in neuerer Zeit die religioͤſe Wahrheit oͤfters in ſchoͤnem Kunſtgebilde aufgetreten. Sehen wir jedoch naͤher an, was beſonders die ſpaͤtere Zeit bisher in dieſer Richtung geleiſtet hat, ſo faͤllt uns ſehr auf, daß der eben be¬ zeichnete Verein ſich im proteſtantiſchen Bereiche noch ſelten, und im Ganzen auf einer minderen Stufe zeigt, als im katholiſchen. Eine kleine Auswahl von geiſtli¬ chen Liedern, und eine vielleicht nicht ſtaͤrkere von Pre¬ digten, abgerechnet, ſteht die dichteriſche und redneriſche Bildung in jenem Gebiete ſehr zuruͤck, und auch das Beſte davon duͤrfte ſchwerlich die Lieder eines Spee und Angelus oder die Reden eines Boſſuet und Maſ¬ ſillon uͤbertreffen. Der Meſſias von Klopſtock iſt bei großen Schoͤnheiten des Einzelnen im Ganzen ein ver¬ fehltes Werk. Von andern poetiſchen Geſtaltungen der Froͤmmigkeit laͤßt ſich auch das Einzelne nicht ruͤhmen. Spaͤtere Schriften uͤber Religion, mit großem Anſpruch an theoretiſches Verdienſt abgefaßt, tragen grade deſſen Mangel zur Schau, und chriſtliche Gegenſtaͤnde pla¬II. 27418toniſch zu dialogiſiren iſt bisher auch nur immer mi߬ rathen.

Um ſo erfreulicher erſcheint nun dieſes kleine Buch, von deſſen Verfaſſer man mit Recht ſagen kann, daß er den aͤchten Kuͤnſtlerberuf in ſich traͤgt, wie denn auch ſeine mannigfachen Schriften bisher ſeine Dichter - und Rednergabe vielſeitig dargelegt haben. Der Inhalt theilt ſich in zwei Abſchnitte, von welchen der erſte, der Kirchhof uͤberſchrieben, aus einer Reihe von Ge¬ dichten beſteht, die bei ſehr wechſelnder Form in der¬ ſelben Gemuͤthsſtimmung und Gedankenrichtung ver¬ weilen. Ein wehmuͤthiger Schmerz und ein inniges Vertrauen athmen in dieſer Poeſie, die in den ſchoͤnſten und klarſten Bildern ſich bewegt; und beſonders in den Sonetten iſt ein melodiſches Auf - und Niederwogen, wie es der Hauch Petrarcha's ſelber nicht ſchoͤner erre¬ gen koͤnnte; die ſchwierige poetiſche Form erſcheint hier nur als der natuͤrliche Ausdruck der in frommer Liebe emporgeſchwungenen Seele. Den Empfindungen zarter Innigkeit und treuer Sehnſucht geſellen ſich auch Ge¬ fuͤhle erhabenen Schmerzes und Unwillens, wie in fol¬ gendem Sonett, das wir als Probe hier einruͤcken:

Auf allen Graͤbern thronet das Vergeſſen,
Das ſtumm den Finger an die Lippen druͤcket,
Das alle Blumen von dem Raſen pfluͤcket,
Und welken laͤßt die traurenden Cypreſſen.
419
Ihr meinet, daß um euch noch Thraͤnen floͤſſen,
Daß die noch weinten, die ihr ſonſt begluͤcket?
Ihr irrt, ihr Todten! Neue Lieb entzuͤcket
Die ſchwachen Herzen, die ihr einſt beſeſſen.
Wohlan, ſo laßt uns ſchweigen von den Todten!
Ein Todter aber hat uns Heil erworben,
Und deſſen Name muͤſſe ſtets erſchallen.
Allein auch hier wird Schweigen uns geboten.
Vergeſſen iſt ein jeder, der geſtorben,
Und Er iſt der Vergeſſenſte von Allen.

Auf dieſe Gedichte folgen drei Geſpraͤche, worin die ſinnige Kunſt des Verfaſſers ſich auch auf dieſem bisher ſo wenig, und faſt immer ungluͤcklich, angebauten Felde des Dialogs im groͤßten Vortheil zeigt. Sie ſind von ſehr verſchiedenem Inhalt und Ton. In dem erſten wird das Erwachen eines Verſtorbenen in den Gefilden des Himmels und ſein ſteigendes Gewahrwerden des neuen Ortes und Zuſtandes dargeſtellt. Jedermann ſieht das Bedenkliche einer ſolchen Schilderung ein, wobei der Einbildungskraft ein reiches und gleichwohl nicht uͤberfuͤlltes Bild zu geben iſt, das ihr weithin zur Thaͤtigkeit Anreiz und doch zugleich Beruhigung geben muß, das beſonders aber den reingeiſtig chriſt¬ lichen Karakter nicht verlaͤugnen, noch dieſen unter ſinn¬ licher Fuͤlle verdecken darf. Das Bedenkliche wird zum Wagniß, wenn die Ausfuͤhrung in ſchlichter Proſa, und ſo zu ſagen im Tone einer ſtillen Lebensſcene geſchehen27 420ſoll. Dieſe Aufgabe nun iſt hier mit großer Meiſter¬ ſchaft behandelt, und zu dieſer rechnen wir auch den Takt und das Maß, mit denen zu rechter Zeit abge¬ brochen wird. Aus ganz einfachen, ja gewoͤhnlichen Zuͤgen entwickelt ſich eine geiſtige Wendung, der eine ſchmerzſtillende Suͤßigkeit entquillt, und die das Ge¬ ſpraͤch eroͤffnende, vielleicht von manchem Leſer belaͤchelte Frage: Du haſt gut geſchlafen? fuͤhrt unvermerkt zu ſchauerlich ergreifenden Andeutungen, deren Bild man zerbrechen kann, ohne den Eindruck, den es gegeben hat, zu verlieren. Das zweite Geſpraͤch: die geiſt¬ liche Beredſamkeit, verhuͤllt ſeinen tiefernſten Gehalt in einem faſt ſcherzhaften Gewande, das aber in der Verhandlung ſelbſt mehr und mehr zerriſſen wird, und abfaͤllt, um wichtige Wahrheiten in klarer Geſtalt er¬ ſchauen zu laſſen. Der Verfaſſer bewegt ſich in dieſem Geſpraͤche mit vollkommener Freiheit und Leichtigkeit, und wenn er groͤßere Stoffe ausfuͤhrlich in dieſer Art durcharbeiten wollte, ſo waͤre ihm ein Erfolg zu ver¬ ſprechen, der unter uns Deutſchen noch niemanden, bei unſern franzoͤſiſchen Nachbarn vielleicht nur Einem, den wir aber hier nicht grade nennen moͤgen, zu Theil ge¬ worden iſt. Lebhafte Laune iſt auch in dem dritten Geſpraͤch: der Ritter von der traurigen Geſtalt; doch ſcheint uns dieſes weniger gelungen, und der Grund¬ gedanke mit der humoriſtiſchen Begleitung in einigem Mißtone geblieben.

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Die dritte Abtheilung, faſt die Haͤlfte der ganzen Schrift, iſt ein Verſuch: von dem Weſen der myſti¬ ſchen Theologie. In dieſem Aufſatze verlaͤßt der Ver¬ faſſer die Form des eigentlichen Kunſtgebildes, und ſpricht im ſchlichten Vortrag der eroͤrternden Unter¬ ſuchung. Das Verdienſt ſeiner Kuͤnſtlerſchaft zeigt ſich aber auch hier in der klaren Beſonnenheit, mit der er, ohne redneriſche Erhebung und Abſchweifung, aber gleich¬ wohl mit innerer Waͤrme, ſeinen Weg forſchend dahin¬ ſchreitet, und bei jedem Schritte das Ziel feſt im Auge behaͤlt. Er nimmt in der Theologie eine dreifache Rich¬ tung an, die hiſtoriſche, die philoſophiſche und die my¬ ſtiſche, deren jede ihren eigenen Grund haben, und neben den andern wirkſam beſtehen, ja ihnen zur Ver¬ vollſtaͤndigung dienen ſoll. Nachdem er die Graͤnzen einer jeden dieſer Richtungen beſtimmt, wobei doch der philoſophiſchen, wie uns duͤnkt, ihr Standpunkt nicht ganz nach Gebuͤhr geworden, unterſucht er naͤher das Weſen der myſtiſchen Theologie, fuͤr welche er den beſſer bezeichnenden Namen Theologie der unmittel¬ baren Anſchauung vorſchlaͤgt, ſondert deren Abwege und Verirrungen von der graden und ſichern Bahn, auf welcher Johann Gerſon und Fenelon gewandelt, und zeigt, daß dieſe mit den Wegen der hiſtoriſchen und philoſophiſchen Theologie in voͤlliger Uebereinſtim¬ mung zu demſelben Ziele gelangt, und ihr Daſein auch den beiden andern Richtungen huͤlfreich, ja in gewiſſem422 Sinn unentbehrlich iſt. Die wiſſenſchaftliche Pruͤfung dieſer Begriffe, wie ſie der Verfaſſer feſtgeſtellt hat, und die Eroͤrterung dieſes Gegenſtandes uͤberhaupt kann in dieſer Anzeige keinen Raum finden. Wir wollen hier nur dem Verfaſſer zum Ruhme bemerken, daß ſeine Anerkennung einer philoſophiſchen Religionswiſſen¬ ſchaft und ſeine Vertheidigung der myſtiſchen Theologie ihn vor vielen heutigen Theologen auszeichnen, die ſich in beſchraͤnkteren, fuͤr jede freie Umſicht verſchloſſenen Standpunkten ſicherer waͤhnen! Der ganze Aufſatz iſt uͤbrigens in friedlichſtem Geiſte zur Verſoͤhnung und zur Vereinigung geſchrieben, und der Verfaſſer bekennt in der Vorrede, daß, wenn er bei dieſem Gegenſtande, uͤber den ſo weniges feſtſtehe, geirrt habe, er gern eines Beſſern ſich belehrt ſehen werde.

Die ganze Stimmung dieſer Abendſtunden, der Zug gemeinſamer Gedanken und Empfindungen, der ſich durch die verſchiedenen Aufſaͤtze windet, die geiſtig milde Anregung, die uͤber dem Ganzen ſchwebt, alles dieſes muß der Hoffnung des Verfaſſers, daß auch nach Abſonderung deſſen, was der Eigenthuͤmlichkeit der Form angehoͤrt, etwas allgemein Lehrreiches und vielleicht Er¬ bauliches uͤbrig bleiben werde, zur beſten Gewaͤhr ſein, und ſie wird ſich gewiß reichlich erfuͤllt ſehen.

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Goethe's Fauſt. Andeutungen uͤber Sinn und Zu¬ ſammenhang des erſten und zweiten Theils der Tragoͤdie. Von Dr. F. Deycks. Koblenz, 1834. 8.

Gleich nach dem Erſcheinen des zweiten Theils von Goethe's Fauſt gab Roſenkranz in dieſen Jahrbuͤchern einen kritiſchen Ueberblick des neuen Werkes. Den erſten Worten, welche uͤber dieſe Fortſetzung und dieſen Abſchluß des wunderbaren Gedichtes geſprochen wurden, das neben einer vielbekannten und vertrauten Seite ploͤtzlich eine befremdende und uͤberraſchende zeigte, ge¬ ziemte eine gewiſſe Zuruͤckhaltung in dem Allgemeinen, welche jedoch nicht hinderte, daß der Inhalt ſcharfſinnig erfaßt, gluͤcklich gedeutet und die reichen Geſtaltungen und Bezuͤge des Ganzen zu eindringlichem Verſtaͤndniß eroͤffnet wurden. Seit zwei Jahren, daß wir den voll¬ endeten Fauſt beſitzen, iſt keine andre Stimme laut ge¬ worden, welche mit gleicher Tiefe und Gruͤndlichkeit daruͤber geſprochen haͤtte, und wir glauben, daß der erwaͤhnte Aufſatz, den doch der Verfaſſer ſelbſt nur als einen vorlaͤufigen anſehen will, auf weithinaus die Grund¬ lage und Richtung fuͤr alle geſunde Kritik des Fauſt wird bleiben muͤſſen.

Jedoch laͤßt Roſenkranz, der es ſelber ausſpricht, daß Jahre verſchwinden werden, bevor der Sinn des424 weltumfaſſenden Gedichtes ſich voͤllig entſchleiert, dem kritiſchen Erforſchen noch ein weites Feld, deſſen Anbau nur durch Zuſammenwirken der mannigfachſten Kraͤfte und der reifenden Zeit erfolgen kann. Wir freuen uns, dieſes Feld von einem ſo trefflichen Fuͤhrer, wie Herr Deycks uns in dieſer Schrift erſcheint, mit ſo hellem Sinn und ruͤſtiger Kraft, betreten zu ſehen! Durch¬ drungen von Goethe’ſchem Geiſte, mit wiſſenſchaftlicher Kenntniß ausgeſtattet, und auf dem Standpunkte der Bildung fußend, wo ſich Wahrheit und Schoͤnheit in der hoͤchſten Lebensbetrachtung vereinigen, ſchreitet unſer Verfaſſer, obwohl von ganz andrer Seite herantretend, mit der von Roſenkranz eroͤffneten Bahn in groͤßter Uebereinſtimmung, und wo die Anſichten und Urtheile uͤber das Einzelne von einander abweichen, liegt ſelbſt in dieſer Verſchiedenheit mehr gemeinſames Bemuͤhen, als trennende Streitigkeit. In der Anerkennung des Gegenſtandes, in der Wuͤrdigung ſeines Werthes und ſeiner Bedeutung, in dem Urtheil uͤber die hohe Vor¬ trefflichkeit auch des zweiten Theils der Tragoͤdie und uͤber den tiefen und nothwendigen Zuſammenhang des¬ ſelben mit dem erſten, ſind beide Kritiker durchaus einig.

Das Verhaͤltniß der beiden Theile des Fauſt, und deren Gliederung in Akte und Scenen, ſo wie den Inhalt und die Form jedes dieſer Glieder insbeſondere, legt Herr Deycks durch die ſcharfſinnigſten Aufſchluͤſſe uns klar vor Augen, und der Zuſammenhang des ganzen425 Gedichts, die Einheit und Feſtigkeit ſeines Ganges, die Tiefe der Abſicht des Dichters und die kuͤnſtleriſche Meiſterſchaft der ſpaͤteren wie der fruͤheren Ausfuͤhrung, treten in ein ganz neues Licht. Er behauptet, mit vollem Rechte, das ganze Werk ſei das Erzeugniß der¬ ſelben ſchoͤpferiſchen Kraft, deſſelben Dichtergeiſtes, und in dieſem Betreff gleichartiger und zuſammenſtimmender, als man bisher noch habe gelten laſſen. Man wußte ja, daß Goethe zu hohen Jahren gekommen; man fand ſich mit dem fruͤheren Fragment eingelebt; die ſpaͤtere Ergaͤnzung befremdet und beunruhigt; es war die be¬ quemſte und ſcheinbar guͤltigſte Ablehnung, daß man ſagte, man ſpuͤre Kaͤlte und Trockenheit des Alters, der zweite Theil habe nicht das Leben des erſten, ja kaum einen rechten Zuſammenhang mit ihm, man halte ſich an das Werk der Jugend. Selbſt Roſenkranz laͤßt dieſer, man kann ſagen faulen und heuchleriſchen Mei¬ nung, indem er ſolche zwar beſtreitet, noch zu viel Ge¬ wicht; ſie wird mit den Jahren immer mehr ſchwinden, bei jedem wiederholten Leſen nimmt ſie ab. Hier aber wird dies Verhaͤltniß durch gruͤndliche Nachweiſungen gluͤcklich ins Klare gebracht; zuvoͤrderſt durch den Inhalt und die Beziehungen der beſondern Scenen oder Grup¬ pen; dann aber auch durch die Aufmerkſamkeit, welche der Verfaſſer der geſammten Geiſtesentwicklung Goethe’s zugewendet hat, und als deren Ertrag ihm alles ſogleich zur Hand iſt, was in den verſchiedenen Schriften426 Goethe’s, oft weit zerſtreut, uͤber die Abſicht und Rich¬ tung, ſo wie uͤber den Inhalt und Fortgang ſeines Fauſt geſagt worden. Wir ſehen daraus, daß der Dichter in dem Plane des Ganzen niemals irr geworden, daß dabei die tiefſten Erſchaue ſeines Geiſtes und die maͤchtigſten Lebenseindruͤcke ihn geleitet, daß jede Willkuͤr und zweckloſe Laune ihm fern geblieben, und daß er zwar im hoͤchſten Alter noch das Werk dichtend aus¬ gefuͤhrt, und die neueſten Vorfaͤlle und Anregungen mit darin aufgenommen, allein daß zum Theil grade diejenigen Scenen, die am ſpaͤteſten bekannt geworden, und die man fuͤr das Erzeugniß ſeiner letzten Jahre, wohl gar als eine nothbehelfliche Auskunft fuͤr den doch endlich zu erzielenden Abſchluß, gehalten hatte, daß grade dieſe in der Zeit ſeines mittleren Lebens und ſeiner hoͤchſten dichteriſchen Kraft entſtanden ſind!

Herr Deycks folgt dem Goethe’ſchen Gedichte Schritt fuͤr Schritt; indem er immerfort den Zuſammenhang im Auge behaͤlt, beleuchtet er die einzelnen Geſtalten. Sein deutlicher und angenehmer Vortrag, der niemals muͤßig abſchweift oder unnuͤtz verweilt, macht dem Leſer dieſe Wanderung leicht, und gewaͤhrt ihm als Ertrag das reinere Verſtaͤndniß, den unendlich geſteigerten Genuß des unabweislichen Gedichtes. Denn ſo ſteht Goethe’s Fauſt in der Litteratur und dem Leben einmal feſt, daß kein gebildeter Deutſcher ihn laſſen und auf¬ geben kann; ungern, muͤhſam, mit Widerwillen ſogar427 mag er daran gehen, immer wird er gezwungen ſein, ihn durch und durch zu kennen, die Spruͤche deſſelben als naͤchſte Lebensbezeichnungen anzunehmen, und in dieſen wohlgelegten Geleiſen die Laſten des Tages und der Zukunft fortzubewegen!

Wir koͤnnen hier in das Einzelne uns nicht ver¬ breiten. Andre, und an andern Orten, werden das Geleiſtete dankbar aufnehmen, und ausfuͤhrlicher be¬ ſprechen. Nur zwei Punkte ſeien uns noch zu beruͤhren erlaubt. Der eine iſt das ſeltſame und ſchauerliche Raͤthſel, welches der Dichter als die Muͤtter be¬ zeichnet hat. Der Scharfſinn und die Gelehrſamkeit unſers Verfaſſers ſind daruͤber ſehr ergiebig, und wir koͤnnen ſeine Erklaͤrungen vollkommen gelten laſſen; allein aus jeder moͤglichen Erklaͤrung, und waͤre ſie uns von Goethe ſelbſt noch uͤbrig, muͤſſen wir zuletzt zu der von Roſenkranz gegebenen aufſteigen, als bei welcher allein wir uns wahrhaft beruhigt finden; es iſt dies ein gluͤcklicher Strahl kritiſcher Divination, dem der Dichter, falls auch ihm dadurch ein erhoͤhter Ausdruck ſeines Gebildes erſt geworden waͤre, nur um ſo freu¬ diger gedankt haben wuͤrde. Der zweite Punkt betrifft den ariſtophaniſch kecken Streich, wo der Teufel durch ſein auf die Engel gerichtetes Geluͤſt um ſeine Beute kommt. Unſer Verfaſſer, der die Meiſterhand des Kuͤnſtlers auch hier anerkennt, geſteht den Wunſch, Goethe moͤchte dieſe den zarten Sinn verletzende Scene428 unterdruͤckt und die himmliſche Reinheit voͤllig außerhalb des teufliſchen Bereichs gelaſſen haben. Wir pflichten dieſer Meinung nicht bei. Dieſe Teufelei, worin die kuͤhne Erfindungskraft Goethe’s durch die noch be¬ wahrte Anmuth und Heiterkeit ſich auf dem hoͤchſten Gipfel der Meiſterſchaft zeigt, iſt der nothwendige Ge¬ genſatz des erhabenen, innigen und heiligen Elements, in deſſen Meer das Ganze verſchwimmen ſoll. Die Schilderung des Himmels ohne ſolchen Gegenſatz wuͤrde nur fade ſein koͤnnen, wie auch Dante’s Paradies, ohne ſeine Hoͤlle und ſein Fegefeuer, nur eine ſchwaͤchliche Dichtung ſein wuͤrde, ja poetiſch gar nicht zu ertragen waͤre.

Herr Deycks ſtellt einige der gangbaren Anklagen und Vorwuͤrfe gegen Fauſt und gegen Goethe be¬ ſonders die alberne Behauptung, Fauſt haͤtte ein Frag¬ ment bleiben muͤſſen, und habe als ſolches ſein gro߬ artigſtes Ende in Gretchens Verzweiflung gehabt, alles ſpaͤter Hinzugekommene aber ſei vom Uebel in ihrer ganzen Bloͤße dar. Er widerlegt jedoch nicht eigentlich polemiſch, ſondern ſucht mehr durch freundliche Er¬ weckung des Verſtaͤndniſſes den Unverſtand zu entfernen. Ueberhaupt druͤckt er ſich ſtets mit Maß und Billigkeit aus und laͤßt ſogar allzu nachſichtig die von M. Enk in Wien erſchienenen Briefe uͤber Goethe’s Fauſt, in welchen doch nur ſehr geringe Anſichten zu Tage kom¬ men, fuͤr ein achtbares Buch gelten. Wir wuͤnſchen429 unſerm Verfaſſer, deſſen Beruf, in hoͤherer Geiſtes¬ ſphaͤre zu forſchen und zu bilden, durch ſeine gegen¬ waͤrtige Schrift außer allem Zweifel ſteht, zu den treff¬ lichen Eigenſchaften, welche er ſchon beſitzt, nur noch ſtrengere Abfertigung derjenigen Widerſacher, die nicht als wuͤrdige anzuerkennen ſind. Freilich bemerkt er am Schluſſe des Vorwortes, daß er denjenigen, welche von vorn herein uͤberzeugt ſind, es koͤnne nicht das Werk eines Greiſes Dichtergluth, und der Erguß eines Naturverehrers Froͤmmigkeit enthalten, nichts zu ſagen habe. Und damit ſind wir denn auch zufrieden.

Friedrichs des Zweiten Anti-Machiavel, nach einer Original-Handſchrift herausgegeben. Ham¬ burg, 1834. Friedrich Perthes. 8.

Anti-Machiavel ou examen du Prince de Machiavel.

Corrigé pour la plus grande partie d'après le manuscrit original de Frédéric II. Avec une in¬ troduction et des notes historiques. Hambourg, chez Frédéric Perthes. 1834. 8.

Friedrich der Große, deſſen Andenken und Wirkung eine Reihe von Jahren durch Weltereigniſſe, die ſich zu ihm fremdartig ſtellten, fuͤr uns einigermaßen zuruͤckge¬430 treten ſchien, lebt aufs neue unter uns auf, in ſeiner alten Groͤße und Herrlichkeit, und nicht nur bei uns, ſondern gleichzeitig im Auslande. In Frankreich, dem mit ſich ſelbſt ſo viel beſchaͤftigten Frankreich, erſchien vor wenig Jahren eine neue Lebensbeſchreibung des gro¬ ßen Koͤnigs; gleiches ereignete ſich in England. Bei uns hatte die Geſchichte des ſiebenjaͤhrigen Krieges, be¬ arbeitet von den Offizieren des Generalſtabes, ein helles Licht auf die Ereigniſſe jener Zeit geworfen, wobei die Geſtalt des Koͤnigs nur ſtets gewinnen mußte. Das Hauptwerk aber, worin alle Seiten Friedrichs zuſam¬ mengefaßt werden, lieferte Herr Profeſſor Preuß, der zuerſt ein vollſtaͤndiges Bild des Lebens und der Re¬ gierung des Koͤnigs gegeben, und die wahre Wuͤrdi¬ gung deſſelben zuerſt moͤglich gemacht hat. Der erſte Theil ſeines groͤßeren Werkes, das er mit muthigem Eifer und langjaͤhrigem Fleiße, mit ſorgfaͤltiger Sach¬ kunde und freiſinniger Redlichkeit, ja man kann ſagen, mit Selbſtverlaͤugnung, in patriotiſchem Sinn ausge¬ arbeitet hat, erſchien wie eine Wuͤnſchelruthe, welche ploͤtzlich an alle verborgenen Schaͤtze der Erinnerung und der Denkmale anſchlug, uͤberall das Bild Friedrichs belebte, und fuͤr ſein Andenken jede Thaͤtigkeit aufregte. Dies Buch hat unlaͤugbar, nicht nur fuͤr Friedrichs Staat und Land, fuͤr Preußen, ja fuͤr die Monarchie uͤberhaupt, neuen Eifer und Anhang geworben. Bloßem Zufall iſt dieſe gleichzeitige Wiederbelebung nicht bei¬431 zumeſſen, ſie ſteht in dem Gange der allgemeinen Ent¬ wickelung, in der Reife des Gegenſtandes, in den Be¬ duͤrfniſſen und Ausſichten des Zeitalters begruͤndet. In den Kreis der neuerwachten loͤblichen Thaͤtigkeiten ge¬ hoͤrt auch die aufmerkſamere Sorgfalt fuͤr die Schriften des Koͤnigs, welche nur allzulange litterariſch verwahr¬ loſt worden, und deren vollſtaͤndige, hergeſtellte, ergaͤnzte und gereinigte Sammlung den Wuͤnſchen der Vater¬ landsfreunde nicht vorenthalten bleiben wird! Aller¬ dings wird ein ſolches Unternehmen nicht ohne Aufſicht und Huͤlfe der Staatsbehoͤrde geſchehen koͤnnen.

Einſtweilen aber bietet ſich hier zu einem ſolchen, jedem Preußen und jedem Geſchichtsfreunde wuͤnſchens¬ werthen oͤffentlichen Ehrenmale ein wichtiger Beitrag aus Privatmitteln dar. Herr Dr. Gottlieb Friedlaͤnder fand im Beſitze ſeiner Familie die merkwuͤrdige Hand¬ ſchrift eines der fruͤhſten ſchriftſtelleriſchen Verſuche Fried¬ richs, der Pruͤfung und Widerlegung des beruͤhmten Buches von Machiavelli, genannt vom Fuͤrſten. Fried¬ rich hatte dieſe Schrift bekanntlich noch als Kronprinz entworfen und an Voltaire geſandt, der ſie in Holland zum Druck befoͤrderte. Man wußte, daß Voltaire ſich der ihm ertheilten Befugniß, an dem Buche zu feilen, wegzuſchneiden, allenfalls auch hinzuzuthun, reichlich bedient hatte. Der Koͤnig ſelbſt, der waͤhrend des Druckes der Schrift auf den Thron geſtiegen war, erklaͤrt in einem Briefe an Voltaire, daß er in dem432 Gedruckten ſeine eigene Arbeit nicht mehr wiederfinde; doch ließ er den von Voltaire uͤberarbeiteten Text in der Folge gelten, und die Berliner Zeitungen durften das Buch lobend anzeigen.

Fuͤr uns aber beſteht freilich ein hoͤheres Intereſſe, des Koͤnigs urſpruͤngliche Arbeit vor Augen zu haben. Denn was ein ſolcher Mann eigenthuͤmlich will und ausdruͤckt, ſei auch der Gegenſtand nicht gerade der wich¬ tigſte, kann fuͤr ſeine durch Liebe und Bewunderung ihm angehoͤrigen Freunde und ſolche wird Friedrich wohl unter allen gebildeten Voͤlkern bis ans Ende aller Zeiten haben niemals gleichguͤltig werden, darf viel¬ mehr allgemein fuͤr wiſſenswerth und belehrend gelten. Hier aber iſt nichts Geringfuͤgiges der Gegenſtand unſe¬ rer Nachfrage, es betrifft die geiſtige Form, worin ein großer Koͤnig hinſichtlich ſeines Berufes als Volks - und Staatsfuͤhrer ſeine wahren Ueberzeugungen niedergelegt hat, an deren freiem Ausdrucke ſich ſeine ſpaͤtere Hand¬ lungsweiſe meſſen laͤßt, wo dann leicht zu ſcheiden ſein mag, was dem ungehemmten Geiſtesfluge und was dem bedingenden Drange der Welt zugerechnet werden muͤſſe. Ein Theil dieſer urſpruͤnglichen Arbeit leider nicht das Ganze, aber doch ein betraͤchtlicher, weit der groͤßte Theil tritt nun wirklich aus langer Verbor¬ genheit an das Licht. Die Handſchrift war in guter Hand bewahrt, ſie kam in die beſte zur Herausgabe. Mit gruͤndlicher Sorgfalt, wie wir ſolche von dem deut¬433 ſchen Gelehrten ſtets erwarten duͤrfen, in klarer, buͤndi¬ ger Sprache, giebt Hr. Friedlaͤnder uns kritiſche Nach¬ richt von der Schrift des Koͤnigs, ihren Schickſalen, ihren Ausgaben; ſodann handelt er von der ihm uͤber¬ kommenen, vorher noch nie benutzten Handſchrift, ihrer Herkunft und Beſchaffenheit; wodurch denn der korrekte Wiederabdruck des ganzen Textes gehoͤrig eingeleitet iſt. Das bisher im Druck ſchon bekannt Geweſene iſt bei¬ behalten, ſofern nicht die Handſchrift eine aͤltere Ab¬ weichung darbietet; dieſe aber iſt jedesmal, ſo wie alle groͤßeren und kleineren Zuſaͤtze, welche aus ihr herge¬ ſtellt worden, durch beſonderen Druck ausgezeichnet.

Bei der vergleichenden Ueberſicht, welche ſich nun ſehr leicht gewinnen laͤßt, findet ſich die Bemerkung des Koͤnigs freilich ſehr begruͤndet, daß in jener Geſtalt das Buch ihm kaum noch das ſeine duͤnke. In der That hat Voltaire nicht nur die Schreibart im Einzel¬ nen an hundert Stellen nachgebeſſert, ſondern auch ebenſo oft ganze Saͤtze und Ausfuͤhrungen geradezu ge¬ tilgt oder ins Kurze gezogen. Wir koͤnnen deßhalb aber noch nicht in den Tadel einſtimmen, zu welchem ſowohl unſer Herausgeber, als bei gleichem Anlaſſe Hr. Prof. Preuß, gegen Voltaire uns allzu geneigt ſcheinen! In ſeinem Verfahren erkennen wir weder Dreiſtigkeit noch Anmaßung, denn Friedrich hatte ihn erſucht und ermaͤchtigt, dem Buche vor dem Abdrucke jede kritiſche Nachhuͤlfe zu ertheilen, die ihm zweckmaͤßigII. 28434duͤnkte. Was er aber in dieſer Art ausgeuͤbt, mag es auch noch ſo viel ſein, und ſelbſt dem Koͤnige einen Augenblick allzu viel geduͤnkt haben, muͤſſen wir fuͤr den damaligen Zweck im Ganzen gutheißen und als dankenswerth achten, ja die außerordentliche Gewandt¬ heit und den ſichern Takt, durch welche er in ſeinen eigenen Schriften unuͤbertroffen daſteht, auch hier be¬ wundern! Damals kam es darauf an, dieſem merk¬ wuͤrdigen Buche, deſſen Urſprung nicht eingeſtanden werden ſollte, dem aber die doch eigentlich deutſche und noch dazu prinzliche Feder gar manche Rauhigkeit gelaſſen hatte, eine litterariſch glatte und minder auffaͤllige Ge¬ ſtalt zu geben. Dies hat Voltaire ſehr gluͤcklich ausge¬ fuͤhrt, und das Ganze, gereinigt von Sprachwidrigkeiten wie von Unfertigkeiten des Ausdrucks und der Behand¬ lung, lesbar in die Welt geſchickt. Wir duͤrfen uns uͤber die Wiedererlangung und Veroͤffentlichung des urſpruͤng¬ lichen Entwurfes freuen, weil wir ein ganz anderes Inter¬ eſſe bei der Sache haben; allein, von Voltaire unſern Geſichtspunkt zu fordern, den auch weder Friedrich noch die Leſewelt damals haben konnte, waͤre ſehr ungerecht.

Unſer Herausgeber verweilt, wie es der Gegenſtand erheiſcht, auch bei dem weſentlichen Mißverſtande, in welchem ſowohl der große Koͤnig als Voltaire hinſicht¬ lich der Beurtheilung des Machiavelli mit dem groͤßten Theile ihrer Zeitgenoſſen befangen waren. Sie hatten keine Ahndung, daß das Buch vom Fuͤrſten, welches435 ihnen eine Unterweiſung in ſchaͤndlichen Grundſaͤtzen und im verderblichſten Sinne abgefaßt ſchien, jemals eine mildere Anſicht zulaſſen, und daß ſein Urheber als ein edler und freigeſinnter Mann gelten koͤnnte. Es iſt das Verdienſt der deutſchen Geſchichtsforſcher, daß Machia¬ velli jetzt allgemein in guͤnſtigerem Lichte betrachtet wird. Sie haben den Verſuch, ihn zu rechtfertigen, vielfaͤltig unternommen, zum Theil freilich in ganz widerſprechen¬ der Weiſe; dennoch hat, nicht ſowohl Machiavelli, deſſen Leben und Karakter jetzt offen genug daliegen, um niemanden mehr als ein moraliſches Ungeheuer erſchei¬ nen zu koͤnnen, wohl aber das Buch vom Fuͤrſten, un¬ geachtet aller ſcharfſinnigen Erklaͤrungen, geſchichtlichen Aufſchluͤſſe und geiſtigen Vermittelungen, immer noch etwas Raͤthſelhaftes, was am Ende der gelehrten und ſinnreichen Unterſuchungen, aus welchen ſeine Unſchuld hervorgehen ſoll, unaufgeloͤſt uͤbrig bleibt. Auch wir ſind der Meinung, daß das fruͤhere unbedingte Ver¬ dammungsurtheil gegen das wunderliche Buch nicht be¬ ſtehen koͤnne, und daß eine beſchwichtigende Auslegung fuͤr daſſelbe zu finden ſeyn muͤſſe. Allein wir glauben, daß das eigentliche Wort, durch welches jeder Zweifel gehoben und eine klare Einſicht begruͤndet waͤre, noch nicht geſprochen iſt. Auch der Folgezeit nach wird das Buch, ſo ſcheint es, immer wieder als Raͤthſel auftauchen und verſinken, je nachdem die Verſuche, ſich ſeiner zu bemaͤchtigen, dem Gelingen naͤher treten oder abfallen.

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Neben dieſem Raͤthſelhaften des Sinnes und Zweckes wird dann auch mit vielen Saͤtzen des Buches, man mag ſie nun als Ausſpruͤche des Thatſaͤchlichen oder als wirkliche Lehren und Ermahnungen betrachten, immer¬ fort ein tiefer Abſcheu ſich verknuͤpfen, zu welchem, offen oder geheim, das menſchliche Gefuͤhl ſich jedesmal erregt findet, wenn das Gedeihen der Staaten wie der Ein¬ zelnen, anſtatt auf den Grundlagen der Gerechtigkeit und der Wahrheit, auf denen des Verbrechens und der Luͤge ſich erheben ſoll. Und wir werden immer den Fuͤrſten preiſen und ſegnen, der ſolche ſcheinbare Lehren zu widerlegen in fruͤher Jugend die Feder ergriff, und auf dem Thron ſein langes Leben hindurch das Vor¬ bild eines klugen, tapfern, die Menſchheit ehrenden und ſein Volk begluͤckenden Herrſchers geblieben iſt!

Veranlaſſung und Geſchichte des Krieges in der Mark Brandenburg im Jahre 1675. Nach Archivalien des Geheimen Staatsarchivs zu Ber¬ lin u. ſ. w., bearbeitet von H. von Gans¬ auge. Berlin, bei G. Reimer 1834. 8.

Die brandenburgiſch preußiſche Geſchichte hat in neue¬ rer Zeit vielfache Bearbeitungen erfahren, durch welche die große Schwierigkeit, dieſen merkwuͤrdigen Zuſam¬437 menlauf von Begebenheiten in ſeiner wahren Lebensrich¬ tung aufzufaſſen und in ſeiner eigenthuͤmlichen Geſtalt und Bewegung klar hinzuſtellen, nur immer deutlicher geworden iſt. Die Urſache der beſondern Schwierigkeit liegt in dem Entwicklungsgange ſelbſt, in der Macht der Fortſchritte, in dem ſtets hinausruͤckenden und noch von keinem forſchenden Auge zu ermeſſenden Umfange der Moͤglichkeiten kuͤnftiger Beſtimmung, zu welcher dieſes Staatsleben emporzuwachſen hat. Außerdem aber leidet die brandenburgiſch-preußiſche Geſchichte auch noch gar ſehr an Aufhellung und Feſtſetzung vieler Einzel¬ heiten, wo die Angaben theils mangeln, theils ſich widerſprechen, und die kritiſche Unterſuchung noch kein ſicheres Ergebniß geliefert hat. Selbſt hoͤchſt wichtige und glaͤnzende unſrer vaterlaͤndiſchen Vorgaͤnge ſchim¬ mern bis jetzt in einem Lichte, welches wenn auch nicht die Haupterſcheinung, doch manche Nebenumſtaͤnde un¬ ſicher laͤßt; und das Beduͤrfniß, die Geſchichte nicht nur zu wiſſen, ſondern auch lebendig anzuſchauen, entbehrt ſehr ungern ſolcher Einzelheiten, durch die nicht ſelten auch den Hauptſachen eine erhoͤhte Theilnahme zugewen¬ det wird.

Zu den Vorgaͤngen dieſer Art gehoͤrt der Feldzug des großen Kurfuͤrſten gegen die Schweden im Jahre 1675, die wichtigen Ereigniſſe von Rathenau und Fehr¬ bellin, welche ſchon als Kriegsthaten und Beiſpiele muthiger Entſchloſſenheit einen ſelbſtſtaͤndigen Werth438 haben, aber durch die ihnen verknuͤpften Folgen nicht minder bedeutend ſind. Die vorliegende Schrift behan¬ delt dieſen anziehenden Gegenſtand, indem ſie die vor¬ handenen Nachrichten ſorgfaͤltig zuſammenſtellt, durch Vergleichung unter einander pruͤft, und bisher unbenutzte handſchriftliche Huͤlfsmittel mit heranbringt. Der Ver¬ faſſer hat ſeiner Aufgabe großen Fleiß und Eifer gewid¬ met, und ſeine Darſtellung bezeugt uͤberall den treuen Sinn des redlichen Forſchers, der, wie er es ſelber ausſpricht, erſtlich bemuͤht iſt, der Wahrheit zu dienen. Sein Verdienſt erſcheint am groͤßten und fruchtbarſten in genauer Ermittelung der eigentlichen militaͤriſchen Bezuͤge, der Anordnung der Maͤrſche, des Laufs der Gefechte, der ſichern Beſtimmung der Zeit und Oertlich¬ keit. In letzterer Hinſicht kam dem Verfaſſer die gruͤnd¬ liche Kenntniß der Landesgegend, welche der Schauplatz jener Kriegsereigniſſe war, zu Statten; er hat ſolche genau erforſcht, den in aͤltern Zeiten von der heutigen Beſchaffenheit verſchiedenen Zuſtand hervorgehoben, und nach dieſer zuverlaͤſſigen Leitung einer noch jetzt anſchau¬ lichen Wirklichkeit die geſchichtliche Ueberlieferung auf ihre richtigen Punkte zuruͤckgefuͤhrt. Die beigefuͤgten Abbildungen geben eine willkommene Ueberſicht, und wir duͤrfen dieſe Unterſuchung, welche die Landesbeſchaffen¬ heit uͤberhaupt und das Terrain der einzelnen Kriegs¬ vorfaͤlle betrifft, und die ſchon in fruͤherer Zeit durch einen Aufſatz des Freiherrn von Fouqué gluͤcklich einge¬439 leitet worden, durch die dankeswerthen Bemuͤhungen des Verfaſſers nunmehr fuͤr vollſtaͤndig abgeſchloſſen erachten.

Den ſonſtigen Ergebniſſen der hier ausgeuͤbten hiſto¬ riſchen Kritik vermoͤgen wir nicht immer beizutreten. Wir muͤſſen im Allgemeinen bemerken, daß in neuerer Zeit, wo man mit beſonderem Eifer neuen handſchrift¬ lichen Quellen nachſpuͤrt, und aus dieſen die bisherige Kenntniß und Darſtellung der Geſchichte nicht zu ergaͤnzen und aufzuhellen, ſondern auch wohl in ganze neue Ge¬ ſtalt umzubilden unternimmt, dieſes Beſtreben ſehr oft eine bedenkliche Richtung genommen und neue Irrthuͤmer veranlaßt hat. Der Anblick alter Urkunden und Schrif¬ ten uͤbt einen eignen Reiz, die Beſchaͤftigung mit ſolchen neu aufgefundenen und bisher wenig oder gar nicht benutzten Blaͤttern erzeugt einen Hang, ſie zu uͤber¬ ſchaͤtzen, ſie zum einſeitigen Maßſtabe anzunehmen, und alles zu verwerfen, was nicht aus ihnen geſchoͤpft, oder mit ihnen nicht in Uebereinſtimmung iſt. Beſonders legt man auf das Schweigen ſolcher Zeugniſſe ein un¬ verhaͤltnißmaͤßiges Gewicht, und thatſaͤchliche Angaben, die ſich in bisherigen Ueberlieferungen vorfinden, ſollen ploͤtzlich nichts gelten, weil ihrer in beſtimmten Papie¬ ren, deren Vollſtaͤndigkeit und Entſtehungsart noch erſt zu pruͤfen waͤre, nicht gedacht worden iſt. So hat man, auf Urkunden geſtuͤtzt, deren Unzulaͤnglichkeit grade fuͤr den beſtimmten Zweck offenbar am Tage liegt, den brandenburgiſchen Miniſter, Grafen von Schwarzenberg,440 gegen fruͤhere Anſchuldigungen zu rechtfertigen, den Herzog von Friedland alles Verrathes gegen den Kaiſer freizuſprechen gemeint, und die als Urtheil und Anſicht der mit - und nachlebenden Welt auf uns gekommenen Angaben durch bloße Verneinung aufzuheben geglaubt. Man wird aber Zeugniſſe, die einmal beſtehen, nicht ſo leicht verwerfen duͤrfen, wenn man nicht nachweiſen kann, daß ſie in der Sache ſelbſt ihren Widerſpruch finden, und wie, durch Irrthum oder Abſicht, ſie haben beſtehen und ſich behaupten koͤnnen. So ſoll auch die Erzaͤhlung Friedrichs des Großen von dem Pferdetauſche zwiſchen dem großen Kurfuͤrſten und dem Stallmeiſter Froben, ſo wie die Nachrichten uͤber den Vorgang mit dem Prinzen von Heſſen-Homburg bei Fehrbellin, blos deshalb ungegruͤndet ſein, weil das Tagebuch des Kammerherrn von Buch und Pufendorfs Geſchichte des großen Kurfuͤrſten dieſer Umſtaͤnde nicht erwaͤhnen. Unſer Verfaſſer pflichtet den Kritikern eifrig bei, welche jene Angaben, die neben Friedrich dem Großen noch den Freiherrn von Poͤllnitz fuͤr ſich haben, durch¬ aus beſtreiten und verwerfen; nach unſerer Meinung ſehr mit Unrecht. Als die genannten Schriftſteller ſchrieben, war die lebendige Ueberlieferung jener fruͤhe¬ ren Zeiten noch nicht erloſchen (ſie iſt es ſogar noch jetzt nicht, wie ſelbſt die vorliegende Schrift bezeugt), und beide lebten in Verhaͤltniſſen und Stellungen, wo eine weſentliche und buͤndige Kenntniß der juͤngſtver¬441 gangenen Vorfaͤlle und Umſtaͤnde ſicher uͤbertragen und feſt bewahrt ſein konnte. Die Annahme, Poͤllnitz habe jene Geſchichten erfunden, iſt hoͤchſt willkuͤrlich, und kann, ſo lange man nicht nachweiſt, daß er uͤberhaupt Fabeln erſonnen, und zu dieſer einen beſondern Anlaß gehabt habe, nur als ein leeres Vorgeben erſcheinen. Das Schweigen Pufendorfs und Buchs (und obendrein auch der Leichenredner!) beweiſt gar nichts. Wie viele Ereigniſſe und Bezuͤge von Wichtigkeit werden grade von Zeitgenoſſen uͤbergangen, aus hundert Gruͤnden und Zufaͤlligkeiten, die hier nicht aufzuzaͤhlen ſind! Man muß dabei genau erwaͤgen, was alles zu einer beſtimm¬ ten Zeit unbekannt oder im Gegentheil allzu bekannt ſein mochte, was bedeutend oder unwichtig erſchien, unangenehm oder bedenklich zu erwaͤhnen war. Es gibt heutigen Tages Dinge, die jedermann weiß, aber ſchwer¬ lich ſagt, und ſelbſt fuͤr ſich niederzuſchreiben Bedenken traͤgt; und eben ſo andre, deren Erwaͤhnung aus Mi߬ laune oder Uebelwollen abſichtlich vernachlaͤſſigt wird. Die beſtimmte Angabe Friedrichs und Poͤllnitzens iſt durch zweifelnde Muthmaßung nicht zu beſeitigen, und wird in der geſchichtlichen Kunde einſtweilen noch ihre Stelle feſt behaupten. In der Sache ſelbſt iſt durchaus keine Unwahrſcheinlichkeit aufzuſtellen; ein beſtimmter Widerſpruch findet abſeiten der Erzaͤhler, welche die erwaͤhnten Umſtaͤnde verſchweigen, auch nicht Statt. Der Urheber all dieſes Zweifels iſt diesmal der als Samm¬442 ler und Schriftſteller bekannte Ordensrath Koͤnig, auf den ſich auch unſer Verfaſſer als auf den Gewaͤhrsmann beruft, der dieſe Sache ganz auf’s Reine gebracht habe. Dieſer Mann war fleißig, aber ohne allen Geiſt und Ueberblick. Er gehoͤrte zu den hiſtoriſchen Forſchern, welche alles gethan zu haben glauben, wenn ſie Einzel¬ nes an Einzelnes reihen, dies gegen einander halten, vergleichen und abwaͤgen. Aber auf ſolche Weiſe gedeiht keine aͤchte hiſtoriſche Kritik; dieſe geht nur aus einer umfaſſenden Durcharbeitung großer hiſtoriſcher Stoffe, aus einer tiefern, auf Weltkenntniß und Lebenserfahrung gegruͤndeten, und durch weitgreifende Studien allſeitig geuͤbten Einſicht hervor, ohne welche die genaue Kunde und das ſorgfaͤltige hin und her Wenden des beſonde¬ ren Falles ganz unfruchtbar bleiben muß.

Fuͤr die hier zu Sprache gekommene Streitſache tritt aber noch ein ganz eigner Umſtand ein! Unſer Verfaſſer ſtuͤtzt ſich in Betreff ſeiner gegen die erwaͤhnte Geſchichte Frobens ausgeſprochenen Zweifel und Verneinung haupt¬ ſaͤchlich auf den Ordensrath Koͤnig: allein dieſer ſelbſt hat ſeine Zweifel ja ſpaͤterhin bereut und zuruͤckgenom¬ men! Warum iſt dies nicht beachtet? Wie ſchwer man, auch bei dem redlichſten Willen und ſtrengſten Eifer, in dergleichen Eroͤrterungen und Zuſammenſtellun¬ gen die Gefahr vermeidet ſich in Irrungen zu verwickeln, beweiſt eine andre Stelle unſrer Schrift, wo es heißt: Friedrich der Zweite macht ſein eignes Zeugniß zwei¬443 felhaft, da die ganze Erzaͤhlung aus den ſpaͤteren Aus¬ gaben der Memoires, namentlich aus der von 1762, weggeblieben iſt. Nun iſt bekannt, daß der Koͤnig eine Durchſicht und Verbeſſerung der erſten Auflage vor deren Wiederabdruck vornahm, um ſie von eingeſchliche¬ nen Irrthuͤmern zu reinigen. So ſteht es hier; aber die Sache verhaͤlt ſich umgekehrt; grade in den fruͤheren Ausgaben, namentlich in dem erſten Abdruck, in den Mémoires de l'Académie Berlin, fehlt jene Erzaͤh¬ lung, und erſt in ſpaͤtern iſt ſie hinzugefuͤgt, mit den einleitenden Worten: Il est digne de la majesté de l'histoire de rapporter la belle action que fit un écuyer de l'électeur dans ce combat. Auch iſt es ungenau, wenn dem Koͤnige nachgeſagt wird, er zeige uns den Prinzen von Heſſen-Homburg als einen leidenſchaftlich Unverſtaͤndigen , der Koͤnig ſpricht nur von bouillant conrage und vivacité, und d’avoir ex¬ posé avec tant de légèreté la fortune de tout l'état, welche Ausdruͤcke von jener Bezeichnung noch ſehr ver¬ ſchieden ſind. Einige Kleinigkeiten z. B. daß der Verfaſſer immer Doͤrfflinger ſchreibt, anſtatt Derfflinger, woruͤber die vorhandene Biographie von Koͤnig ſichre Auskunft gibt, ſind leicht zu berichtigen, und duͤrften in einer andern Schrift, wo nicht ſo gewiſſenhafte Genauigkeit in jeder Art angeſtrebt und geleiſtet waͤre, kaum anzu¬ merken ſein.

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Le Monde comme il est; par le marquis de Custine. Paris, chez Eugène Renduel. 1835. 2 Vols. 8.

Goethe nennt in einem Briefe an Zelter die neuſten franzoͤſiſchen Romane und verwandte Dichtungen eine Litteratur der Verzweiflung, und grade das merkwuͤrdigſte und eigenthuͤmlichſte Werk aus dieſem Kreiſe, Victor Hugo's Notre-Dame de Paris, muß ihm hiefuͤr als Beleg dienen. Wir duͤrften ſeiner ſcharfen, bis zum Unwillen geſteigerten Kritik dieſes Buches mit gutem Grunde mancherlei entgegenſetzen; allein, auch zugegeben, daß jener bezeichnungsvolle Ausſpruch im Allgemeinen wohlguͤltig und treffend ſei, wie denn Goethe nie etwas Leeres und blos Eingebildetes oder Willkuͤrliches ſagt, ſondern immer ein Wirkliches, An¬ geſchautes vor Augen hat, ſo duͤnkt uns doch, der weltkundige Greis, der von ſeiner hohen Warte das ihn umwogende Leben mit ſeltner Einſicht und Klarheit beobachtet und beurtheilt, habe diesmal den Gegenſtand, der ihm ſo anſtoͤßig und widrig erſcheint, in einer zu vereinzelten Betrachtung aufgefaßt. Die Litteratur ſteht nicht fuͤr ſich allein; ihre Geſtalt, ihr Glanz und ihre Verdunklung, ihr Stoff und ihre Richtung, haͤngen nicht von der Laune der Schriftſteller ab, ſondern von Volks - und Weltbezuͤgen, die ſich in den Geiſteserzeugniſſen445 abdruͤcken, und mit denen ſie ſtets im lebendigen Zu¬ ſammenhange anzuſchauen ſind. Goethe hat dieſe Ver¬ haͤltniſſe der franzoͤſiſchen Litteratur, eben ſo wie deren innere Beſtandtheile, im gegenwaͤrtigen Falle, wie uns ſcheint, mit zu eiligem Unmuth abgefertigt. Ihm werde das nicht verargt, er hat mehr als jeder Andere das Recht, auch eine Stimmung des Augenblicks abſchließend auszuſprechen, und er hat auch in ihr ein gluͤckliches Wort geſagt, das bleiben wird: uns aber gebuͤhrt, daſſelbe anzuerkennen, ohne uns davon beſchraͤnken zu laſſen.

So faͤllt uns bei jenem franzoͤſiſchen Romantismus alſobald der Bezug auf, welchen dieſe Anhaͤufung von Schreckniſſen und Ausſchweifungen, Abſonderlichkeiten und Verzerrungen, worin ſich die Schriftſteller uͤberbie¬ ten, zu dem heutigen Lebenszuſtande hat, der ſolche Bilder zum Vergnuͤgen annimmt. Da finden wir denn, daß in dieſe Litteratur ſich alles Entſetzliche und Furcht¬ bare gezogen hat, was ein Menſchenalter fruͤher in zer¬ ſtoͤrender Wirklichkeit wuͤthete; wir finden als Dichtung und zur Unterhaltung den Leſern in die Haͤnde gege¬ ben, was fruͤher als grimmige Gewaltthat uͤber ihren Koͤpfen ſchwebte, und blutig ihre Nacken traf; waͤhrend jetzt ſogar bei den anerkannteſten Verbrechen die To¬ desſtrafe nur ſelten noch in Anwendung kommt! Dieſe Verwandlung jenes grauenvollen Zuſtandes, der politi¬ ſchen Terreur, an welche kein Franzoſe ohne tiefe Be¬446 ſtuͤrzung und Scham zuruͤckzudenken vermag, in einen litterariſchen Nachklang, iſt ohne Zweifel ein nothwen¬ diges und heilſames Mittelglied in den Uebergaͤngen, zu welchen die jetzige Welt genoͤthigt iſt. Wenn aber, nach Geſetzen einer auch im Geiſtigen waltenden Natur¬ entwicklung, dieſe romantiſche Terreur als eine Buͤrg¬ ſchaft daſtehen duͤrfte, daß die politiſche erſchoͤpft und ihre Wiederkehr ferner unmoͤglich iſt, ſo haͤtte man der Phantaſie wohl nur zu danken, und mit Befriedigung anzuerkennen, daß ſie den daͤmoniſchen Fluthen einen Raum eroͤffnet, in welchem ſie unſchaͤdlicher hinſtroͤmen, und ihre Macht ſchon verloren haben. Wer wuͤrde rei¬ cher und fruchtbarer ſeine Betrachtungen hier angeknuͤpft haben, als eben Goethe, waͤre ſein Blick in dieſer Richtung nur einen Moment feſtgehalten worden!

Aber auch fuͤr die innern Beſtandtheile ſelbſt, welche jene Litteratur bilden, ſcheint uns eine ſchaͤrfere Unter¬ ſcheidung noͤthig, als der allgemeine Spruch Goethe's zulaſſen will. An Gehalt wie an Darſtellung ſind die Schriften, welche hier zuſammengefaßt werden, hoͤchſt ungleich, und keineswegs in eine und dieſelbe Verdamm¬ niß zu werfen. Allerdings herrſcht in den meiſten eine verzweiflungsvolle Stimmung, eine troſtloſe Weltanſicht, und den vernichtenden Eindruck, den die Ausſchließung der Himmelsmaͤchte aus den Schilderungen des jam¬ mervollen Irdiſchen im Gemuͤth hervorbringt, vermag keine Verſchwendung von Geiſt und Talent aufzuheben. 447Die Verzweiflung fuͤr ſich allein hoͤrt auf poetiſch zu ſeyn, ſie thut wie ein wirkliches Uebel weh, und dem Schmerze weicht man aus. Allein zu verbannen iſt ſie darum aus der Poeſie noch nicht, ſie iſt in ihr, wie im Leben ſelbſt, ein unabweisliches Element, und Goethe ſelber ſagt: Wer nicht verzweifeln kann, der muß nicht leben. Nur ſoll ſie in gehoͤriger Mischung her¬ antreten, und die entgegengeſetzten Elemente der Ver¬ ſoͤhnung, des Troſtes, der Erhebung duͤrfen uns nicht fehlen. Dieſe nothwendige, mildernde und erweckende Beimiſchung mangelt aber ſo wenig dem beruͤhmten Romane Victor Hugo's, als vielen andern Schriften derſelben Schule, wenn auch nicht immer durch aus¬ druͤckliche Formeln und Geſtalten dafuͤr geſorgt iſt, jene Elemente ſo beſtimmt, wie die des Schauderhaften und Schrecklichen, hervorzuſtellen; ſie ſind in dem Ganzen oft nur als Aufloͤſung vorhanden, aber darum nicht minder lebendig, und ſie ſind es, welche ſolchen Schrif¬ ten, die ſonſt den geſunden Sinn nur abſtoßen muͤßten, den maͤchtigen Reiz und die große Wirkung geben, die niemand ihnen ablaͤugnen kann. Mag das hoͤhere Leben in dieſen Dichtungen fuͤr den einzelnen Fall immerhin erliegen, dadurch entgeht es ihnen nicht; dies geſchieht nur da, wo daſſelbe ſchlechterdings gelaͤugnet, oder deſ¬ ſen Weſenheit ſich dadurch aufhebt, daß alle Erſcheinun¬ gen deſſelben auf Gemeines und Todtes zuruͤckgefuͤhrt werden. Von dieſer letztern Art ſind allerdings manche448 Erzeugniſſe der franzoͤſiſchen Romantiker, die wir in ihrer traurigen Menſchenfeindlichkeit und Gottentbehrung nur mit einigen Verſuchen der franzoͤſiſchen Metaphyſi¬ ker des achtzehnten Jahrhunderts, zum Beiſpiel mit dem verrufenen Système de la nature, vergleichen koͤn¬ nen. Allein die beſſern der heutigen Schriftſteller gehen unlaͤugbar auf einer andern Bahn, und weit entfernt, dem Schrecklichen, das ſie darſtellen, als einer Allmacht zu huldigen, laſſen ſie uͤber demſelben ein Hoͤheres ahn¬ den, bei welchem Zuflucht und Troſt gewaͤhrt ſind. Wir koͤnnen hier neben Hugo namentlich auf Alfred de Vigny und Balzac hinweiſen, von denen freilich letzte¬ rer ſo ungleich in ſeinen Erzeugniſſen als fruchtbar iſt!

Seit kurzem indeß arbeitet ſich aus den Truͤmmern ſo vieles Zerſtoͤrten, neben dem Nichtigen und Verwor¬ renen, welches noch lange Zeit den Hauptbeſtandtheil der franzoͤſiſchen Romantik zu bilden beſtimmt ſcheint, ein neubelebender Geiſt in ganz entſchiedener Geſtalt hervor, und die bisher nur aufgeloͤſten Elemente eines troſtreichen Hoͤheren erſcheinen in ausdruͤcklicher Selbſt¬ ſtaͤndigkeit. Es iſt bekannt, daß die franzoͤſiſchen Ro¬ mantiker ihrem politiſchen Karakter nach weſentlich dem alten Frankreich, dem legitimen und hierarchiſchen, an¬ gehoͤren; im Gegenſatze der revolutinairen Schriftſteller, welche mit groͤßerer Strenge auf die ſogenannten klaſſi¬ ſchen Formen ihrer fruͤheren Litteratur halten; beide Partheien ſcheinen hiebei in Widerſpruch mit ſich ſelber449 zu gerathen, folgen aber mit richtigem Takte nur dem Gebot ihres wahren Verhaͤltniſſes. Die Republikaner beduͤrfen der trockenen Denkart und Verſtandesaufklaͤ¬ rung, die vor der Revolution herrſchend waren; die Freunde des Koͤnigthums und der Kirche wenden ſich zu den Wunderkraͤften des Mittelalters. Die legitimi¬ ſtiſche Richtung iſt in der Politik zwar geſchlagen, aber in der Litteratur iſt ſie die Herrſcherin des Tages; ſie nimmt Theil an dem Sturme der Zerſtoͤrung, den auch ſie nur fortſetzen muß, wenn ſie zu einem ihr gemaͤßen Ziele gelangen will; aber ſie darf auch ſchon den Geiſt und die Richtung zeigen, in denen ſie das wahre Leben zu finden hofft, ja zu beſitzen meint. Nach den letzten Stuͤrmen mag es in Frankreich unmoͤglich ſein, das gefallene Koͤnigthum als Mitte eines hoͤheren Lebens wiederaufzunehmen und anzupreiſen; die entſchiedenſten Anhaͤnger verſuchen es nicht, dieſe politiſche Seite ihrer Denkart durch aͤſthetiſche Behandlung geltend zu ma¬ chen. Anders aber ſteht die religioͤſe Seite, fuͤr dieſe iſt kein weſentlicher Halt verloren, ſie hat vielleicht durch Scheidung manches Unreinen nur gewonnen, ſie kann noch als ein feſter Mittelpunkt geſchildert und angeboten werden, und mit Eifer wird dieſes Element, die katho¬ liſche Religion und Kirche, in den Kreis der aͤſthetiſchen Gebilde gezogen, die bisher eines ſolchen Beſtandtheiles meiſt entbehrten. Koͤnnte es gelingen, dieſes Element in ſeiner Weſenheit wirklich zum Geiſte der dichteriſchenll. 29450Erzeugniſſe und in dem Sinne der Leſer wurzeln zu machen, ſo wuͤrde gegen ein ſo maͤchtiges Poſitive alle Steigerung und Vielfachheit des Negativen nicht mehr aufkommen, und mit der Litteratur der Verzweiflung waͤre es dann vorbei. Ob es je zu dieſem Ergebniß kommen koͤnne, und wie weit uͤberhaupt in dieſer Rich¬ tung vorzudringen ſei, wollen wir nicht entſcheiden. Uns genuͤgt hier, den Verſuch anzumerken, der gemacht wird, auf dieſe Weiſe dem truͤben Wuſte zu entſteigen, und in der Zerſtoͤrung und Nacht eine helle Zuflucht zu gewinnen. Mit großem Geiſt und Talent hat neuer¬ lich Sainte-Beuve nicht nur die Kraft des katholiſchen Glaubens, ſondern ſogar die Formen des katholiſchen Prieſterthums in eine Novelle verwebt, welche zu den edelſten und ſchoͤnſten dichteriſchen Erzeugniſſen gehoͤren wuͤrde, wenn der Autor vermocht haͤtte, die unreinen Stoffe ſo wuͤrdig wie die reinen zu behandeln. Eine merkwuͤrdige Erſcheinung in gleicher Hinſicht duͤnkt uns das Buch von Cuſtine, zu deſſen Anzeige wir dieſe Vorbetrachtungen noͤthig hielten.

Der Marquis von Cuſtine iſt ein Enkel des beruͤhm¬ ten Generals, verlor ſeinen Großvater und Vater durch das Beil der Guillotine, und gehoͤrte, wie durch Ge¬ burt und Stand, ſo auch durch Sinn und Streben von jeher der royaliſtiſch-kirchlichen Denkart an. Zuerſt aufgetreten als Schriftſteller iſt er, unſres Wiſſens, durch eine Novelle Aloys, in welcher hoͤchſt eigenthuͤmliche451 Lebensverwicklungen und innere Erfahrungen ſpielen, und endlich durch katholiſche Froͤmmigkeit abgeſchloſſen und beruhigt werden. Darauf gab er unter dem Titel Mémoires et voyages eine Reihe von Reiſebildern aus Italien und England, voll geiſtreicher Anſichten und Bemerkungen, die durch eine lebhafte und anmuthige Schreibart noch beſonders gehoben ſind. Der gegenwaͤr¬ tige Roman vereinigt die beiden Richtungen des Ver¬ faſſers, welche bisher getrennt erſchienen waren, ſichre Auffaſſung der aͤußern Welt, Schilderung der Natur und der Lebensverhaͤltniſſe, und daneben Aufſchließung der inneren Gemuͤthswelt, leidenſchaftliches Weſen der Herzen, und Drang und Hinweiſung zum Religioͤſen. Seiner Dichtung liegt unſtreitig Wahrheit zum Grunde, wir moͤchten die einzelnen Beſtandtheile, Bilder wie Gefuͤhle, ſaͤmmtlich aus dem Leben entlehnt glauben; nur die Anlage, durch welche ſich alles zu einem Gan¬ zen reiht, iſt erfunden, und ſehr gluͤcklich erfunden. Der Verfaſſer hat ein ganz neues und uͤberaus reiches Trieb¬ werk angewandt, wie daſſelbe noch in keinem Romane vorkommt. Der Held iſt ein junger Mann, der ſich auf den Wogen der Eitelkeit und des Genuſſes dahin¬ tragen laͤßt, die Gunſt des Augenblickes wahrnimmt, und als eine ſolche auch den Beſitz einer reichen Erbin betrachtet, die er ihres Vermoͤgens wegen heirathen will, ungeachtet ſie ſehr haͤßlich iſt. Er bekennt ſeine Zwecke und Meinungen, iſt aber im Innern beſſer als dieſe,29 *452und er muß ſich in die Haͤßliche, die er nur zu heira¬ then dachte, leidenſchaftlich verlieben. Sie aber, die ihn ſchon liebte, als er ſich und ſie noch mißkannte, muß ihn verachten, da man ihr ſeine Denkart enthuͤllt; und dieſer Keim des Unheils entwickelt ſich nun fort und fort, unter ſtets erneuertem Verkennen und Leiden, zu unwiderruflicher Trennung, zum voͤlligen Untergange. Der Verfaſſer hat von beiden Motiven, der aͤchten Liebe, welche das Herz eines ſich ſelbſt herzlos glaubenden Mannes ergreift, und dem Mißtrauen eines Maͤdchens, die das Erwuͤnſchte in dem falſchen Scheine nicht zu erkennen vermag, allen reichſten Vortheil gezogen, und ein großes, tiefes, verhaͤngnißvolles inneres Leben an den Tag geſtellt. Wo die aͤußere Welt der Geſellig¬ keit, ihre Bewegungen und Raͤnke eingreifen, finden wir die Schilderung oft allzu grell, die Perſonen zu ſehr in Traͤger beſtimmter Richtungen und Eigenheiten verwandelt, aber die einzelnen Zuſtaͤnde wahr und leben¬ dig, die Bilder der Zeit und ihrer Verhaͤltniſſe in ſpre¬ chenden Zuͤgen vortrefflich ausgedruͤckt. Von beſonderem Werthe iſt das Gemaͤlde der Normandie, des landſchaft¬ lichen Karakters dieſer Provinz, und der Art und Sit¬ ten ihrer Einwohner. Der Verfaſſer, fuͤr das alte Frankreich geſtimmt, verlaͤugnet keineswegs die traurige Rolle, welche dieſes in der unreinen Vertretung ſpielt, die ſich demſelben im Gemiſch und Kampfe der Neue¬ rungen aufgedraͤngt hat. Er verehrt das Koͤnigthum,453 aber den Hof, wie er ſich geſtaltet hat, giebt er preis; die katholiſche Religion iſt ihm heilig, aber in dem fal¬ ſchen Treiben ihrer unredlichen Diener ſieht er nicht das Prieſterthum; ebenſowenig will er die beſchraͤnkte Gemeinheit des Volks und die Ariſtokratie in ihrer Ent¬ artung vertheidigen. Mit großer Geiſtesfreiheit ſondert er die falſchen und verdorbenen Formen von dem Weſen der Dinge, und haͤlt ſich an dies, indem er fallen laͤßt, was nicht beſtehen kann. Er gewinnt auf dieſe Weiſe wirklich ein hoͤheres Poſitive, das uͤber den Truͤmmern der Lebenswirren ſiegreich ſchwebt. Das Hoͤchſte dieſes Poſitiven iſt ihm die katholiſche Kirche, ſeine letzte Zu¬ flucht und Troͤſtung der katholiſche Prieſter, deſſen Auftreten und Wirken allein die Stuͤrme der Welt zu beruhigen vermag. Zwar in dem Verlaufe des Romans ſelber hat dieſes Element keine Stelle gefunden, die Geſchichtserzaͤhlung fuͤhrt alles dem Verderben zu, und ohne die Lehre und Warnung, welche der Verfaſſer als ſolcher eigends hinzugeſellt, waͤre der Ausgang einer der verzweiflungsvollſten. Auf dieſe Weiſe jedoch, indem der Autor gleichſam neben ſeiner Darſtellung mitwan¬ delt, und durch perſoͤnliche Meinung ergaͤnzt, was er als Dichter unvollſtaͤndig laͤßt, nimmt das Buch eine ſeltſame Geſtalt; es iſt weniger als ein Kunſtwerk, und mehr; es iſt ein Buch voll wahren Lebensgehaltes, in¬ dem es die Erfahrungen, Gefuͤhlsweiſen, Anſichten und Hoffnungen eines eigenthuͤmlichen, reichbegabten, in der454 Fuͤlle der Welt wie in den Tiefen der Seele heimiſchen Menſchen darlegt. Wenn zuweilen die ordnende Kunſt und die Maßverhaͤltniſſe des Meiſters vermißt wer¬ den, wie dies beſonders in dem allzu ſtarken Ge¬ brauche des Zufalls haͤufig eintritt, ſo fehlen doch Talent und Anmuth nicht, und das Ganze durchblitzen unzaͤhlige feine Zuͤge der ſchaͤrfſten Beobachtung, die treffendſten Bemerkungen, die geiſtreichſten und gewich¬ tigſten Betrachtungen. Selbſt fuͤr die politiſche Beur¬ theilung des heutigen Frankreichs gewaͤhrt das Buch eine ſchaͤtzenswerthe Ausbeute, und es iſt wohlthuend, dieſes Land nebſt ſeinen Zuſtaͤnden einmal aus dem Standpunkt einer eigenthuͤmlichen Gemuͤthsart betrachtet zu ſehen.

Hr. von Cuſtine kennt Deutſchland und ſeine Litte¬ ratur. An einer Stelle ſeines Buches werden die Wahl¬ verwandtſchaften von Goethe angefuͤhrt, jedoch mit einem Mißverſtande, der freilich auch in Deutſchland noch oft genug vorkommt. Er meint naͤmlich, der Goethe’ſche Roman lehre die Aufloͤſung der Ehe und vernichte deren Heiligkeit. Dies iſt allerdings der Stoff des Buches; aber nicht ſein Inhalt. Wann wird man dieſe Ver¬ wechslung aufhoͤren ſehen? Waͤre er richtig, waͤre es erlaubt, den Inhalt lediglich nach dem Stoffe zu deu¬ ten, welches Verdammungsurtheil wuͤrde Hr. von Cuſtine gegen ſein eignes Buch auszuſprechen haben? Wir ſind weit entfernt, dieſem ſolche Mißdeutung zu geben, wie455 er ſie den Wahlverwandtſchaften giebt, uͤber deren rei¬ nen und hohen Gehalt die Tagesmeinung irren konnte, die ſpaͤteren Leſer aber ſich mehr und mehr verſtaͤndigen werden, und hierzu durch Weiße's und Goͤſchels ein¬ dringende Eroͤrterungen ſchon trefflichſt angeleitet ſind.

Die drei Perioden der koͤniglich preußiſchen Aka¬ demie der Wiſſenſchaften, und: Koͤnig Friedrich der Zweite als Geſchichtſchreiber. Zwei akade¬ miſche Reden von Friedrich Wilken. Berlin, 1835. Bei Duncker und Humblot. 8.

Von der Bedeutung, dem Werthe und der zweck¬ maͤßigen Geſtalt der akademiſchen Beredſamkeit iſt ſchon fruͤher, bei Gelegenheit einer trefflichen Rede Friedrichs von Roth, ausfuͤhrlich geſprochen worden, und es waͤre unnuͤtz, das dort Geſagte zu wiederholen. Bei vorlie¬ gender kleinen Schrift duͤrfen wir uns um ſo mehr auf jenes Fruͤhere beziehen, als die beiden hier mitgetheilten Vortraͤge den von uns dort genommenen Geſichtspunkten im vollſten Sinn entſprechen, und durch ihr ausgezeich¬ netes Beiſpiel unſre Andeutungen neuerdings beſtaͤtigen. Fuͤr den Kundigen verbuͤrgt auch ſchon der Name des verehrten Verfaſſers alle weſentlichen Eigenſchaften, welche man von dem Redner gewaͤrtigt, der als gruͤndlicher456 Gelehrter und wiſſenſchaftlicher Forſcher einen Gegen¬ ſtand des hoͤchſten vaterlaͤndiſchen Intereſſe’s erfaßt, und dieſen mit reifſter Sachkenntniß und klarer ſowohl als gefaͤlliger Behandlung fuͤr allgemeine Einſicht und An¬ regung darlegt.

Die erſte der beiden Reden giebt eine gedraͤngte Ueberſicht der wechſelnden Geſtaltung und Wirkſamkeit der Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin, wobei der geſchichtkundige Meiſter beſonders auch in der freien Billigkeit zu erkennen iſt, womit er das, was einer jeden Zeit gemaͤß und in ihren Verhaͤltniſſen begruͤndet iſt, einſichtsvoll wuͤrdigt und gelten laͤßt, wenn auch fuͤr unſre Zeit laͤngſt andre und entgegengeſetzte Forde¬ rungen eingetreten ſind. Da dieſe Rede, ſo wie die folgende, eine eigentliche Feſtrede iſt, ſo darf gleich hier fuͤr beide gemeinſam auch der wuͤrdigen Haltung gedacht werden, mit welcher das dem Anlaſſe Gebuͤhrende warm und eifrig geleiſtet, alles Ueberſchwaͤngliche dagegen ver¬ mieden worden.

Die zweite Rede iſt durch ihren Gegenſtand und Umfang die bedeutendere. Das Andenken Friedrichs des Großen lebt herrlich unter uns auf. Immer neue Strahlen beleuchten ſein Bild, das immer ſchoͤner her¬ vortritt, jemehr der Beſchauer ſich von dem Unaͤchten und Zufaͤlligen, das ſeinen Blick verwirren moͤchte, abwendet, und das Wahre und Weſentliche herauser¬ kennt. Wir ſind dahin gelangt, auf einer Stufe gei¬457 ſtiger und politiſcher Entwicklung, die in den meiſten Stuͤcken zu der von Friedrich gekannten und gehegten einen entſchiednen Gegenſatz bildet, den hohen eigenthuͤm¬ lichen Werth dieſer letztern vollkommen anzuerkennen, und wenn wir nicht laͤugnen duͤrfen, daß das Gedeihen ſolcher freien Einſicht großentheils dem Geiſte zu danken iſt, welcher den Koͤnig beſeelte und von ihm ausging, ſo ſpricht die Anerkennung grade unſrer Zeit fuͤr den¬ ſelben wohl das groͤßte Lob aus, das einem Fuͤrſten dieſer Art gezollt werden kann.

Als Feldherr, als Geſetzgeber, als landesvaͤterlicher Walter, hat Friedrich durch die Ereigniſſe und Beiſpiele, welche nach ihm die Weltbuͤhne erfuͤllten, ſo wie durch die gruͤndlichen Forſchungen, die in neuſter Zeit uͤber ſeine Thaten und Wirkſamkeit von den Offizieren des Generalſtabs, von Preuß und andern verdienten Maͤn¬ nern angeſtellt worden, nur ſtets gewinnen muͤſſen. Zweifelhafter durfte das Ergebniß duͤnken, wenn es dar¬ auf ankam, ſein unmittelbar geiſtiges Einwirken als Schriftſteller zu betrachten. Die Sprache, das gelehrte Wiſſen, die Anſpruͤche an Darſtellung, haben unerme߬ liche Fortſchritte gemacht. Zwar die Poeſieen des Koͤ¬ nigs, offenbar nur als anmuthige Spiele zur eignen Geiſteserfriſchung gemeint und gegeben, koͤnnen wir außer Acht laſſen, wiewohl auch in ihnen viel Herr¬ liches und Denkwuͤrdiges fuͤr immer niedergelegt iſt, allein die geſchichtlichen Arbeiten, welche wir von ſeiner458 Hand beſitzen, haben einen zu wichtigen Zweck und ſind durch Inhalt und Abſicht zu bedeutend, als daß er fuͤr die Beurtheilung Friedrichs gleichguͤltig ſein koͤnnte, wel¬ chen ſelbſtſtaͤndigen Werth wir ihnen beizumeſſen haben.

Herr Geheimrath Wilken hat ſich dieſe ſchoͤne Auf¬ gabe geſtellt, und betrachtet Friedrich den Großen als Geſchichtſchreiber. Wie andre Zweige unſrer Gelehr¬ ſamkeit und Litteratur hat auch die Geſchichtſchreibung in neueren Zeiten einen gewaltigen Aufſchwung genom¬ men, und bei vielem Großen und Dankenswerthen, das ſie geleiſtet, ihre Anſpruͤche doch bei weitem hoͤher ge¬ ſtellt, als ſie ſelber ſolche bisher noch zu erfuͤllen im Stande war. Denn, wenn wir genauer zuſehen und erwaͤgen, ſo moͤchte, in Betreff der Darſtellung, nur ſehr wenig von den geruͤhmten Geſchichtsarbeiten unſrer Zeit denen des achtzehnten Jahrhunderts unbedingt vor¬ zuziehen ſein. Gleichwohl haben Duͤnkel und Einbildung auch in dieſem Kreiſe dem Hange nicht widerſtanden, auf das Fruͤhergeleiſtete, und namentlich auf die Ge¬ ſchichtbuͤcher Friedrichs, mit vornehmer Geringſchaͤtzung herabzuſehen, und manche Gelehrte wollten dieſe Werke nur als Verſuche gelten laſſen, die man einer andern als der koͤniglichen Hand kaum anrechnen wuͤrde. Jo¬ hann von Muͤller ſprach allerdings den hohen Werth aus, welchen dieſe Schriften an und fuͤr ſich haben, und beſtand beſonders auch auf dem Bezuge, der hier den Schriftſteller und den Koͤnig ganz unzertrennlich459 macht; allein Muͤller iſt hinſichtlich des Koͤnigs immer in einer gewiſſen Zweideutigkeit befangen geblieben, die auch ſeinen groͤßten Lobſpruͤchen ſtets etwas Unheimliches laͤßt. Deſto erwuͤnſchter vernehmen wir endlich den an¬ erkannten Mann vom Fach, den gruͤndlichen Geſchichts¬ gelehrten, der ſelber das Schaͤtzbarſte geleiſtet, mit freiem unbefangenen Urtheil das Verdienſt Friedrichs auf dieſem Gebiet hervorheben und mit Sicherheit ausſprechen.

Der Verfaſſer zeigt, wie der Koͤnig auch als Geſchichtſchreiber ſeinen hohen Koͤniglichen Standpunkt nicht verlaͤugnet, daß ihm die Wahrheit das Erſte und Hoͤchſte geweſen, daß er nicht ſeinen Ruhm oder ſeine Rechtfertigung zur Abſicht gehabt, ſondern die Ehre des Vaterlandes, das Denkmal ſeiner Kampfgenoſſen, die Belehrung ſeines Volks. Wie Friedrich von dem Ge¬ fuͤhle der Pflichterfuͤllung durchdrungen und beſeelt gewe¬ ſen, tritt uns auch hier wieder lebhaft vor Augen, und geiſtreich wird mit dieſer Geſinnung das ſo oft gemi߬ brauchte große Wort des Koͤnigs verknuͤpft und aus ihr erklaͤrt: daß der Fuͤrſt der erſte Diener des Staates ſei. Seine Geſchichtſchreibung ging aus derſelben An¬ ſicht hervor, die ihm den Anti-Machiavell eingegeben hatte, von welchem Buche hier ſehr treffend bemerkt wird, daß er keinen eingebildeten Feind bekaͤmpft, ſon¬ dern daß die Grundſaͤtze, denen es entgegen tritt, doch wirklich in Machiavelli's Buche vom Fuͤrſten, gleichviel in welchem Sinne, ausgeſprochen daſtehen, und nur460 durch Muͤhe und Kunſt der Inhalt und die Einkleidung auf eine fuͤr Machiavelli ehrenvolle Art ſich deuten laſſen.

Ueber das Verfahren Friedrichs in Betreff der Quel¬ len, die er bei ſeinen Geſchichtbuͤchern benutzt hat, und uͤber ſein kritiſches Eindringen in den Zuſammenhang der Ereigniſſe und Zuſtaͤnde, die er ſchildert, wird das Erforderliche ſehr zu ſeinem Lobe geſagt. Wenn ihm in Einzelheiten hin und wieder eine Unrichtigkeit nach¬ gewieſen, irgend ein Mangel geruͤgt werden kann, ſo iſt unſer Verfaſſer ſo freiſinnig, darauf keinen zu großen Werth zu legen. In der That iſt zu ſolchen Ruͤgen in des Koͤnigs Schriften ſeltner Gelegenheit, als man gewoͤhnlich glaubt, und er ſelbſt pflegt ſtrenger und ge¬ wiſſenhafter in ſeinen Angaben zu ſein, als mancher ſogenannte gelehrte Geſchichtſchreiber, deſſen ganzer Stolz und ganzes Verdienſt in kleinlicher Genauigkeit beſteht, und wenn man ihm dieſe abſprechen muß, durchaus zuſammenfaͤllt! In Friedrichs Geſchichtbuͤchern wird mit Recht als die Hauptſache geprieſen, daß der Autor in der Mitte der Begebenheiten geſtanden, als Feldherr und Staatslenker auch die in der Zeit entfernten Ereigniſſe ſcharf einzuſehen und richtig zu beurtheilen wußte, und uͤberhaupt durch Stellung und Geiſt die groͤßten Vor¬ zuͤge vereinigte, die jemals einem Geſchichtſchreiber zu Theil werden koͤnnen.

Es kann nicht verhehlt werden, daß die Darſtellung des Koͤnigs, zwar immer lebhaft und kernig, doch im461 Ton und Ausdruck ungleich iſt. Ein hoher edler Fluß der Rede iſt bei ihm oft durch beißende Scherze, durch fluͤchtige Wendungen unterbrochen. Es iſt ein Koͤnig, der ſchreibt, nach Trieb und Laune, der im Schreiben zugleich ſich ſelber giebt und geben darf, nicht ein Schrift¬ ſteller, der ſich aͤngſtlich einer Regel fuͤgt, und ſich ſelbſt verlaͤugnen oder in angenommener Haltung zeigen muß. Doch darf der Koͤnig nichtsdeſtoweniger auch durch Stil und Vortrag, im Ganzen betrachtet, noch immer den beſten Geſchichtſchreibern nicht blos ſeiner Zeit, ſondern aller Zeiten, beigezaͤhlt werden, und in einzelnen Schil¬ derungen verdient er, wie hier mit Recht behauptet wird, den groͤßten Meiſtern des Alterthums, einem Thukydides und Polybios, einem Salluſtius und Tacitus, ehrenvoll zur Seite zu ſtehen. Wir danken es unſerm Verfaſſer, daß er dieſe gerechte Anerkennung auszuſpre¬ chen ſich nicht geſcheut, die aus eines Andern Munde leicht als enthuſiaſtiſche Vorliebe gelten koͤnnte, aus dem ſeinen aber ſich als eine auf Kenntniß und Einſicht gegruͤndete Ueberzeugung verbuͤrgt.

Erinnerungen an Winckelmann. Abhandlung von A. Krech. Berlin, 1835. 4.

Wenn bisweilen baͤndereiche Schriften in unſern An¬ zeigen ohne Nachtheil fuͤr die Wiſſenſchaften uͤbergangen462 werden duͤrfen, ſo haben wir dagegen um ihrer Bedeu¬ tung willen auch oͤfters kleine Schriften hervorzuheben, deren Erſcheinungsweiſe die allgemeine Aufmerkſamkeit ſonſt wenig in Anſpruch zu nehmen pflegt. Dies iſt der Fall bei dem trefflichen Aufſatze, deſſen wir hier gedenken. Als Einladungsſchrift zu einer Schulpruͤfung, unter welcher Geſtalt im Preußiſchen oft die ausge¬ zeichnetſten und werthvollſten Abhandlungen erſcheinen, oder vielmehr verborgen bleiben, wird uns hier eine friſche und lebhafte Schilderung Winckelmann's darge¬ boten, in welcher einige Zuͤge wo nicht voͤllig neu, doch mit beſonderer Kraft gezeichnet ſind. Was einen ſolchen Heros unſrer Bildung und Litteratur auf wuͤrdige Weiſe beſpricht, darf uns nicht gleichguͤltig ſein, es gehoͤrt nicht uns allein mehr an, ſondern der ganzen kunſtgelehrten Welt, die unſern großen Landsmann ſich angeeignet hat. Nach der meiſterhaften Darſtellung durch Goethe, der ſorgſamen Herausgabe der Werke durch J. Schulze und Meyer, der Briefe durch Foͤrſter, und manchem guten Worte von Gurlitt, Morgenſtern und Andern, iſt die Betrachtung Winckelmann's und ſeiner Schriften und Wirkſamkeit noch keineswegs abgeſchloſſen, ſondern eigent¬ lich erſt gruͤndlich angeregt, und wir freuen uns, hier einen ſchaͤtzbaren Beitrag dazu mitgetheilt zu ſehen. Der Herr Verfaſſer giebt durch denſelben ein ſchoͤnes Zeugniß geiſtvoller und eindringender Beſchaͤftigung mit einem ſo werthvollen Gegenſtande. Vier beſondere Karakter¬463 bezuͤge deſſelben ſind es, welche er diesmal hauptſaͤchlich hervorhebt, und ſeinen Abſchnitten als Ueberſchriften ſetzt. Sie heißen: Religion, Unabhaͤngigkeit, Darſtel¬ lung, Reiſeluſt. Dem Herrn Verfaſſer ſind Goethe’s Anſichten und Ausſpruͤche wohlbekannt und in hohem Werthe: es iſt kein geringes Lob fuͤr die ſeinigen, daß ſie neben ſo Großem und Vollendeten ein ſelbſtſtaͤndiges Verdienſt gar wohl behaupten koͤnnen. Von beſonderer Wichtigkeit fuͤr die Einſicht in Winckelmann’s Karakter erſcheint uns vorzuͤglich der erſte Abſchnitt, wo die Mei¬ nung Goethe’s, daß in Winckelmann das Heidniſche eingeboren geweſen, beſtritten und dafuͤr die Nachweiſung verſucht wird, er ſei im Herzen immerdar ein prote¬ ſtantiſcher Chriſt geblieben. Die Gruͤnde und Zeugniſſe hiefuͤr ſind allerdings triftig, und die Vorliebe Winckel¬ mann’s fuͤr proteſtantiſche Lieder bleibt ein merkwuͤrdiger und ruͤhrender Zug in ihm. Ob indeß die kindliche Gewoͤhnung an eine beſtimmte Kirchenform, beſonders wenn dieſe ſelbſt ſo mannigfache Denkweiſen in und neben ſich gedeihen laͤßt, wie damals die proteſtantiſche, einen wahren Glauben an deren dogmatiſchen Inhalt nothwendig vorausſetze, daruͤber duͤrfte uns wenigſtens einiger Zweifel bleiben. Uebrigens meint der Herr Ver¬ faſſer nicht, durch ſeine Deutung ein Lob fuͤr Winckel¬ mann einzutauſchen, ſondern nur den Tadel, dem der¬ ſelbe auch ſo nicht entgehen kann, aus andrer Richtung herzuleiten. In den nachfolgenden Abſchnitten iſt glei¬464 cherweiſe viel Eigengeſchautes und gluͤcklich Zuſammen¬ geſtelltes, und das Ganze auch vortrefflich geſchrieben, welches einer Schrift uͤber Winckelmann, der ſelber den groͤßten Werth auf gut Schreiben legte und daſſelbe fuͤr das ſchwerſte Menſchenwerk erklaͤrte, nur ein Merk¬ mal mehr giebt, daß ſie ihres Gegenſtandes wuͤrdig ſei. Zu bemerken bleibt noch, daß dieſe Abhandlung zugleich die hundertjaͤhrige Feier des Tages bezeichnet, an wel¬ chem Winckelmann als Schuͤler in das Koͤllniſche Gym¬ naſium zu Berlin aufgenommen worden; dieſe Aufnahme geſchah am 18. Maͤrz 1735.

Leben des koͤniglichen preußiſchen Geheimen Rathes und Doctors der Arzneiwiſſenſchaft Ernst Ludwig Heim. Aus hinterlaſſenen Briefen und Tage¬ buͤchern herausgegeben von Georg Wilhelm Keßler. Leipzig, Brockhaus, 1835. Zwei Theile. 12.

Unſer Bericht wird hier auf wenige Worte ſich be¬ ſchraͤnken duͤrfen. Der ganze Gehalt und Werth dieſes reichen Buches iſt naͤmlich innerhalb des bewegungs¬ vollen, heitern und anziehenden Gebietes aufzufaſſen, wo die Wiſſenſchaft und das Leben zuſammenfließen, und ihre Vereinigung nach beiden Seiten erhoͤhten Gewinn465 zuruͤckwendet. Wenn aber ſonſt die Lebensbeſchreibungen der Gelehrten ihr hauptſaͤchliches Intereſſe doch meiſt nach dem beſonderen Fache hin behalten, dem dieſe grade angehoͤren, ja ſogar die Abfaſſung in den meiſten Faͤllen dies ausdruͤcklich bezweckt, ſo ſtellt dagegen das vorlie¬ gende Buch in dieſem Betreff ein andres Verhaͤltniß auf. Auch hier findet ein naͤchſter Antheil und Reiz unſtreitig fuͤr die Arzneiwiſſenſchaft und deren Ausuͤbung Statt, da es das Leben eines Arztes iſt, das erzaͤhlt wird; allein dieſe Seite hat hier, wie fruchtbar und glaͤnzend ſie auch ſei, durchaus nicht das Uebergewicht, ſondern dieſes gehoͤrt entſchieden der andern Seite an, der des allgemeinen und perſoͤnlichen Lebens, bei wel¬ chem die Bezuͤge der Wiſſenſchaft, innerhalb deren jenes ſich bewegt, nur noch als untergeordnete mitgehen.

Denn ſofern mit Recht ein Unterſchied anzunehmen iſt, ſolcher Menſchen, deren ganzes Daſein aus urſpruͤng¬ licher, rein und voll ſtroͤmender, nie raſtender Quelle zu fließen ſcheint, und ſolcher, denen nur ein abgelei¬ tetes, wechſelnd ſtockendes oder nur truͤb und karg fließendes, verliehen ward, ſo muß der herrliche Mann, deſſen Andenken hier gefeiert wird, als eines der ſelten¬ ſten und auserwaͤhlteſten Beiſpiele der erſtern Art gelten, als unmittelbar hervordringend aus dem klarſten und vollſten Strome des Daſeins, als ein fortwaͤhrender Lebensquell ſelber, der durch Geſtein und Felder ſeine ſegenvolle Fluth ergießt, und Friſche, Fruchtbarkeit undII. 30466Heil ausbreitet, unermuͤdet im hellen Sonnenſchein wie im daͤmmernden Sternenſchimmer. Alles in und an ihm iſt Luſt und Muth des Lebens, Kraft und Thaͤtigkeit, Genuß und Ertrag deſſelben; die ausgezeichnetſten Eigen¬ ſchaften, die er beſitzt, die hoͤchſten Verdienſte, die er erwirbt, alles ſteht und gedeiht in ſeiner heitern Leben¬ digkeit, als dem gemeinſamen Elemente, welches in ihm jedes andern Stoffes, der herandringt oder ausſcheidet, maͤchtig bleibt. Dieſe Lebendigkeit iſt der Grund, die Kraft und der Glanz ſeines ganzen Weſens.

Ernſt Ludwig Heim, geboren 1747 zu Solz im Herzogthum Meinungen, geſtorben zu Berlin 1834, war ein langes Leben hindurch, von der Univerſitaͤt an bis in ſeine letzten Tage, einer der thaͤtigſten und gluͤcklich¬ ſten Aerzte, die es jemals gegeben hat. Er war vor¬ zugsweiſe dieſes, ein ausuͤbender, huͤlfreicher Arzt, und alles andre, was er außerdem noch Ausgezeichnetes leiſtete, als Naturforſcher, als Lehrer, tritt gegen ſeine unmittelbar praktiſche Thaͤtigkeit in den Hintergrund. Hiemit waͤre nun ſchon die außerordentliche Bedeutung und Wirkſamkeit eines ſolchen Lebens genugſam ausge¬ ſprochen; allein auch dieſe ordnen ſich, wie ſchon erwaͤhnt worden, einer hoͤheren Erſcheinung unter, die von ſeiner Perſoͤnlichkeit ausgeht. Seine aͤrztliche Meiſterſchaft iſt von der liebenswuͤrdigſten Eigenthuͤmlichkeit begleitet, deren Grund unerſchuͤtterlicher Gradſinn, kindliche Un¬ ſchuld und Treue, reines Gottvertrauen und heitre467 Pflichterfuͤllung ſind, und in unverſiegbarem Frohſinn, ruͤſtiger Thatkraft, kuͤhnem Freimuth und launiger Mun¬ terkeit immer friſch und ſelbſtſtaͤndig durch Welt - und Tagesgedraͤnge die vorgezeichnete Bahn verfolgt. Seine kraͤftige Originalitaͤt vereinigte herrſcherliche und kriege¬ riſche Eigenſchaften, letztere ſogar von der raſchen, bei anſcheinender Wildheit doch umſichtigen und klugen Art eines leichten Reiters, wie er ja auch im eigent¬ lichen Sinne mit groͤßter Vorliebe war, mit men¬ ſchenfreundlichen, liebevollen und zartſinnigen, die ins¬ geſammt, zu jedem Dienſte bereit und jeder Aufopferung faͤhig, ganz wieder dem Arzte zu Gute kamen, ja ihn gewiſſermaßen ausmachten, denn die Wirkſamkeit ſeiner perſoͤnlichen Erſcheinung war nicht minder troſtreich und heilſam, als die ſeiner aͤrztlichen Verordnungen.

Der Lebenseindruck eines ſolchen Mannes wird in der Hauptſtadt, wo er in allen Klaſſen, geringen und vornehmen, eine der namhafteſten, verehrteſten und ge¬ liebteſten Notabilitaͤten war, noch lange fortdauern; die Zeitgenoſſen erſchoͤpfen dieſen Schatz des Andenkens nicht, ſondern vererben ihn auf ein nachfolgendes Geſchlecht, das der eignen Anſchauung entbehrt. Dieſem koͤmmt nun das vorliegende Buch gluͤcklich zu Huͤlfe, indem es die vorhandenen Ueberlieferungen in ein geordnetes Bild zuſammenfaßt, und jeder beſondern Erinnerung einen feſten Anhalt bietet, der auch viele hier bei dem großen Reichthum uͤbergangene oder nicht ausdruͤcklich hervor¬30 468gehobene Zuͤge noch aufnehmen kann, z. B. den merk¬ wuͤrdigen Auftritt, wie Heim zum erſtenmale des Kur¬ fuͤrſten von Heſſen-Kaſſel anſichtig wurde, und manches Aehnliche, was wenigſtens fuͤr kuͤnftige Mittheilung auf¬ zubewahren iſt.

Dieſes Buch in einem Auszuge zur Ueberſicht brin¬ gen zu wollen, waͤre das undankbarſte und unnuͤtzeſte Geſchaͤft. Eine ſolche Gabe muß ganz und vollſtaͤndig genoſſen werden, und niemand darf ſie ſich verkuͤmmern laſſen. Die Schrift gleicht hierin dem Gegenſtande, den ſie behandelt; man darf nur auf ſie hinweiſen, ſie empfiehlt ſich durch ſich ſelbſt, und belohnt den Leſer durch unmittelbare Einwirkung.

Lebensbeſchreibungen erfreuen gewoͤhnlich am meiſten durch ihren Anfang, wo noch die fruͤhere Jugend, der Kampf der Bildung und der mit der Welt geſchildert wird; gelangt man in die mittlere Zeit, wo die Hoͤhe erſtiegen iſt, die Bahn dann gleichfoͤrmig fortlaͤuft, ſo ſchwindet groͤßtentheils der Reiz; und gegen das Ende, wo vielleicht Ruhm und Ehre und Gewinn jeder Art am reichſten ſich mehren, aber die Kraͤfte abnehmen und das Alter allmaͤhlig dem gemeinſamen Schickſal ent¬ gegenſinkt, umduͤſtern ſich die glaͤnzendſten Lebenslaͤufe, und laſſen oft nur einen ſchmerzlichen Eindruck zuruͤck, den zu mildern bisweilen auch die geiſtige Ausſicht des Fortwirkens und Weiterlebens mangelt, wozu der Menſch ſo gern ſeine Zuflucht nimmt. Hier iſt dieſer Nachtheil469 kaum wahrzunehmen. Das Leben des thaͤtigen und gluͤcklichen Arztes ſcheint am wenigſten zu altern; Heim insbeſondere iſt kraͤftig und wirkſam bis in das hoͤchſte Greiſenalter, iſt antheilvoll und vergnuͤgt bis zum letzten Entſchlummern, und ſieht jenſeits deſſelben getroſt und heiter nur neue Anfaͤnge und Entwicklungen.

Wir genießen des unſchaͤtzbaren Vortheils, Heim in dieſer Lebensbeſchreibung großentheils durch ihn ſelbſt kennen zu lernen. Aus ſeinen zahlreichen Papieren, Briefen und Tagebuͤchern, ſind die meiſten Begegniſſe, Stimmungen und Verhaͤltniſſe mit ſeinen eignen Worten erzaͤhlt und ausgedruͤckt. Kein andres Mittel konnte uns ſo in das aͤchte Weſen des Mannes blicken laſſen, ihn uns ſo ganz in ſeiner Reinheit, Redlichkeit und Herzensguͤte zeigen. Die Auswahl und Verarbeitung ſolcher Bruchſtuͤcke zu einem gelungenen Ganzen iſt mit gluͤcklicher Hand geſchehen; nur der innigſten, verehrungs¬ vollſten Liebe und dem kundigſten Takte konnte dieſe Behandlung in ſolchem Grade gelingen. Der Reichthum iſt mit ſeltener Maßhaltung dargeboten, nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel, denn da, wo ein Uebermaß zu befuͤrchten ſein konnte, tritt alſogleich der geiſtig zuſam¬ menfaſſende, wuͤnſchenswerth ergaͤnzende, mit den Erfor¬ derniſſen der Anſchauung und Darſtellung wohlvertraute Herausgeber ein. Wir muͤſſen ihm danken, daß er uns Heims Worte ſo gern giebt, und koͤnnen hinwieder nur bedauern, wenn er nicht ſelbſt das Wort fuͤhrt, denn470 Schreibart, Ton, Haltung, ſind immer vortrefflich. Gleich im Anfange des Buches, in Schilderung des Schauplatzes und der Vorgaͤnge der Jugendzeit, ſind Beiſpiele der klarſten und kernhafteſten Schilderung, wie nur eine Meiſterhand ſie geben kann.

Zum Schluſſe ſei noch eine Betrachtung erlaubt, welche ſich unter dem Leſen das ganze Buch hindurch mehr und mehr hat erheben und beſtaͤrken wollen, daß naͤmlich in ſolchen Schriften unſre beſten Denkwuͤrdig¬ keiten zu erkennen ſind, welche das innere Leben der Deutſchen in ſeiner beſcheidenen Weltlichkeit darlegen, und meiſt ſchon durch ihren Stoff, eben ſo aber auch durch die Richtung, in welcher ſie ihn bewegen, einen troſtreichen, erheiternden, ja erbaulichen Karakter dar¬ thun. Vergleicht man ſolche Lebensgeſchichten, wie die gegenwaͤrtige von Heim, und um noch einige andre zu nennen die von Meierotto durch Brunn, die Denkwuͤrdigkeiten Erhards, das Leben Fichte's durch ſeinen Sohn, die eigne Lebensbeſchreibung Jung-Stil¬ lings, vergleicht man dieſe mit den hervorragenden Er¬ zeugniſſen der Franzoſen im Fache der Memoiren, ſo giebt ſich ein ungeheurer Unterſchied zu erkennen, den wir wohl befugt ſein duͤrfen in folgenden Spruch zu faſſen: daß, wenn wir aus den franzoͤſiſchen Memoiren vorzugsweiſe begreifen lernen, wieſo die Welt in ſich zerfallen und zerbrechen muß, uns in den bezeichneten471 deutſchen Schriften wenigſtens einige der Faͤden und Betriebe ſichtbar werden, wodurch ſie zuſammenhaͤlt.

Facſimile von Handſchriften beruͤhmter Maͤnner und Frauen. Bekannt gemacht und mit hiſtoriſchen Erlaͤuterungen begleitet von Dr. Wilhelm Dorow. Auf Stein geſchrieben im lithographi¬ ſchen Inſtitute des Verlegers. Erſtes Heft. Berlin, 1836. Verlag von L. Sachſe und Comp. 4.

Wir hatten kuͤrzlich von einem talentvollen jungen Schriftſteller das behaglich-kecke Geſtaͤndniß zu leſen, ihm ſei perſoͤnliche Theilnahme und Verehrung fuͤr unſre großen Maͤnner eigentlich fremd, wenigſtens nicht ange¬ boren. Muͤßten wir dieſe Aeußerung als ein Zeichen der Zeit nehmen, worin ſich deren weitverbreitete Gleich¬ guͤltigkeit zu erkennen gaͤbe, ſo faͤnden wir ſie fuͤr das Allgemeine nicht weniger bedaurenswerth, als ſie es ſchon fuͤr den Einzelnen iſt, der ſich damit der reinſten Quellen des Gluͤckes und der Freude verluſtig bekennen will. Doch werden wir bei naͤherem Ueberblick unſern ſorglichen Unmuth leicht wieder beruhigen. Solcher unerfreulichen, und, wie uns duͤnkt, auch in jenem Worte noch keineswegs erhaͤrteten Sinnesart widerſpre¬ chen von allen Seiten die thatſaͤchlichen Beweiſe des472 lebhafteſten Antheils, der beſeelteſten Verehrung, welche mehr und mehr fuͤr unſre großen Namen ſich erheben. Die Bildſaͤulen, deren Errichtung im Werk oder im Vorſchlag iſt, die Denkwuͤrdigkeiten und Briefwechſel, welche von Jahr zu Jahr den Schatz unſrer Lebens¬ kunde mehren, beweiſen eine ganz entgegengeſetzte Rich¬ tung, welche den Ertrag und das Werk des Geiſtes nicht kalt abſondern und dahinnehmen, ſondern vielmehr den Zuſammenhang mit der Waͤrme und Friſche des perſoͤnlichen Daſeins, aus dem ſie hervorgegangen ſind, eifrig bewahren will. Unter dieſen Geſichtspunkt duͤr¬ fen wir auch das Unternehmen ſtellen, welches ſich in dem vorliegenden erſten Hefte gluͤcklich ankuͤndigt.

Der hohe Werth der Handſchrift, ihre unerſchoͤpf¬ liche Verſchiedenheit und Eigenthuͤmlichkeit, und ihre tiefen Bezuͤge auf ein darin offenbar und geheim aus¬ gedruͤcktes Innere, ſtehen heutiges Tages in allgemei¬ ner Anerkennung feſt. Nach dem Abbilde der Perſon ſelbſt, wie der Mahler oder der Bildhauer es giebt, ruft kein andres Mittel ſo unfehlbar und beſtimmt uns die Gegenwart eines Menſchen hervor, als ſein geſchrie¬ benes Wort, worin der Ausdruck ſeines geiſtigen We¬ ſens mit ſeiner leiblichen Eigenſchaft zuſammenfließt. Der Reichthum ſinniger Unterhaltung und fruchtbarer Einſicht, welche durch den Anblick handſchriftlicher Denk¬ male hervorzurufen ſind, wird jedoch erſt recht klar, wenn groͤßere Sammlungen mit vollſtaͤndiger Wahl an¬473 geordnet und mit ſichrer Kenntniß erlaͤutert werden. In neueren Zeiten hat eine hohe und edle Liebhaberei ſich vielfach dieſem Gegenſtande zugewendet; wir koͤnnen Goethe und den Fuͤrſten von Metternich als eifrige Sammler nennen, deren Lebensſtellung freilich auch fuͤr ſolchen Nebenzweck leicht einen Gewinn abwarf, der fuͤr nicht ſo Beguͤnſtigte nur durch außerordentliche Gluͤcks¬ faͤlle erreichbar wird. Wenig aber iſt bisher in Deutſch¬ land geſchehen, ſolche Schaͤtze durch treue Nachbildung in Gemeingut zu verwandeln, ſie der Nation zu Genuß und Belehrung oͤffentlich anzubieten.

Wir muͤſſen dem Herausgeber der vorliegenden Probe aufrichtig danken, mit dieſem Unternehmen hervorzutre¬ ten. Durch eigne Lebensverhaͤltniſſe voll reicher Bezie¬ hungen und ausgebreiteter Weltanſchauung, durch Eifer und Ausdauer, ſo wie durch beſondere Gunſt der Um¬ ſtaͤnde, welche demjenigen nicht zu fehlen pflegt, der mit Ernſt ein richtiges Ziel verfolgt, iſt Herr Hofrath Dorow gewiß vor vielen Andern befaͤhigt, in dieſer Art etwas Vortreffliches zu leiſten. Dies iſt um ſo mehr gleich im Beginn anzuerkennen, als das ganze Geſchaͤft ſeine Schwierigkeiten und ſein Verdienſt hinter dem Gelingen ſelber gleichſam verbirgt, und ſeine Anſpruͤche auf den Dank des Publikums keineswegs zur Schau traͤgt. Die Eigenſchaften, deren ein Autor zur Aus¬ ſtattung eigner ſelbſtſtaͤndiger Schriften bedarf, ſind hier ebenfalls unentbehrlich, um einer anſcheinend in Sam¬474 meln und Erlaͤutern abgethanen Arbeit geiſtigen Halt und gutes Geſchick zu ſichern. Die Auswahl, ſowohl der Perſonen als der Blaͤtter, die Sorgfalt in den be¬ gleitenden Angaben, die Geſichtspunkte, der Takt und das Maß in den erlaͤuternden Bemerkungen, alles dies wird hier von entſcheidender Wichtigkeit.

In jedem Betracht duͤrfen wir dieſe begonnene Sammlung beſtens anempfehlen. Von dreißig beruͤhm¬ ten Perſonen, die theils der Welt im Allgemeinen wich¬ tig, theils vorzugsweiſe dem deutſchen Vaterlande werth und bedeutend ſind, empfangen wir fuͤnfunddreißig handſchriftliche Zeugniſſe, welche meiſtens noch durch den beſondern Inhalt oder die eigenthuͤmlichen Umſtaͤnde, unter denen ſie geſchrieben worden, ein erhoͤhtes Inter¬ eſſe haben. Die zwei Briefe des Fuͤrſten von Harden¬ berg, die merkwuͤrdigen Briefe von Gentz, Achim von Arnim, Friedrich Auguſt von Wolf, Fichte, Wilhelm von Humboldt, Heyne, Voltaire, Bluͤcher, Thielmann, wuͤrden auch ohne das Bild der eigenthuͤmlichen Hand¬ ſchrift, in blos gewoͤhnlichem Druck, eine willkommene Gabe ſeyn; um wie viel mehr ſind ſie es jetzt, da ſie die unmittelbaren Lebenszuͤge darſtellen! Die Hand¬ ſchriften von Schleiermacher, Wieland, Buͤlow von Dennewitz, Ferdinand von Braunſchweig, Jean Jaques Rouſſeau, Katharina der Großen, Herder, Forſter, Kant, Borowsky, Graͤfin Genlis, Iffland, Jung, Reichardt, Johann von Muͤller, Heinrich von Kleiſt,475 Hippel und Dumouriez, erfreuen das Auge und den Geiſt mit unendlichen Anregungen dieſer mannigfachen, in bunter Miſchung praͤchtig leuchtenden Lebensgeſtalten, welche der Herausgeber durch gedraͤngte biographiſche und kritiſche Notizen dem Leſer noch vertraulicher nahe ruͤckt. Ein ſehr karakteriſtiſches Bild von Gentz aus deſſen Jugend ziert das Titelblatt als Vignette.

Wir billigen es, daß keinerlei Reihefolge noch Rang¬ ordnung bei den mitgetheilten Artikeln beobachtet wor¬ den; jede zu waͤhlende wuͤrde ihre Schwierigkeiten ge¬ habt, und den Beginn und Fortgang des Werkes nur geſtoͤrt haben. Allein die Moͤglichkeit, die einzelnen Artikel nach Gutduͤnken und Eigenwahl zuſammenzuſtel¬ len, haͤtten wir gern jedem Beſitzer bewahrt geſehen, und deßhalb wuͤnſchten wir, daß jedem Artikel ein eig¬ nes Blatt beſtimmt und dieſem die noͤthigen Erlaͤute¬ rungen ebenfalls ſelbſtſtaͤndig beigegeben waͤren. Frei¬ lich wuͤrde das Ganze, welches jetzt auch durch ſeinen maͤßigen Preis empfehlenswerth erſcheint, durch ſolche Einrichtung etwas vertheuert werden. Einige Unge¬ nauigkeiten im Abdrucke des Textes wuͤrden zu ruͤgen ſein, wuͤßten wir nicht, daß dergleichen in deutſchen Schriften, aller Sorgfalt ungeachtet, ſich faſt unvermeid¬ lich einſchleichen!

Fuͤr das zu erwartende zweite Heft hoffen wir vor allem die Handſchrift Friedrichs des Großen, welche ſchon, wie wir vernehmen, dieſem erſten zugedacht war. 476Sodann moͤchten wir aber noch den Wunſch ausdruͤcken, daß der Herausgeber auch die Handſchriften Lebender nicht ausſchließen, ſondern im Gegentheil den Kreis grade dieſer recht weit ausdehnen, und hierdurch auch das naͤchſte Intereſſe der Gegenwart an ihren eigenen Geſtalten beruͤckſichtigen moͤge!

[477]

Gedichte.

[478][479]

Epigramme des Platon.

1806.

An Friedrich Schleiermacher.

Stroͤmender Weisheit Quellen entfuͤhreſt du griechiſchem Boden,
Leiteſt die heilige Fluth lauter in deutſches Gefild;
Laſſe die Blumen nun auch, die dort ſtill ſproßten, verpflanzet
Wieder am Rande der Fluth, deutſch an der deutſchen, erbluͤhn!

1.

Auf zu den Sternen du blickeſt, mein Stern: ach, waͤr 'ich der Himmel,
Alle die Augen alsdann ſaͤhen hernieder auf dich!

2.

Kuͤſſend den Agathon, hielt ich die Seele noch kaum auf den Lippen,
Denn, die aͤrmſte, ſie kam, gaͤnzlich hinuͤberzugehn.
480

3.

Nun ich einmal von dem Nichts, dem Alexis, geſagt, daß er
ſchoͤn ſei
Anzuſchauen, und gleich wendet ſich alles ihm zu;
Herz, was zeigeſt dem Hunde den Knochen du? bald ja der Kummer
Nachkommt; klageſt du nicht alſo den Phaͤdros Verluſt?

4.

Ich bin ein Apfel, und Liebe mich wirft, du aber, Xantippe,
Nicke mir hold; ich, du, beide verwelken wir ſo!

5.

Ich mit dem Apfel dich werfe; du nimm, wenn frei du mich liebeſt,
Gern ihn, ſchenke dafuͤr bluͤhender Liebe Genuß;
Biſt du jedoch mir geſinnt, wie du nie ſein moͤgeſt, ſo nimm ihn
Dennoch, und ſchaue wie kurz waͤhret die Jugendgeſtalt!

6.

Archeanaſſa beſitz ich, die Buhlin aus Kolophon, welcher
Auch in der faltigen Stirn zuͤrnende Liebe noch wohnt;
Dieſer zuerſt abſtreifend die Erſtlingsbluͤthe der Jugend,
Durch welch flammende Gluth kamet ihr Liebende da!

7.

Ich hochmuͤthig vorher durch Hellas ſtrahlende Laïs,
Hegend im Vorhof ſonſt liebender Juͤnglinge Schwarm:
Weihe den Spiegel anitzt der Paphia, weil ich mich ſo nun
Sehen nicht will, wie vorher aber ich war, nun nicht kann.
481

8.

Auf einen ehernen Froſch.

Dieſen Freund der Nymphen, den regenliebenden, feuchten
Saͤnger, den Froſch, von des Quells leichtem Gerieſel ergoͤtzt,
Bildet 'ein Wandrer aus Erz, und weiht als Zeichen des Danks ihn,
Daß er im heißen Gefild brennenden Durſt ihm geloͤſcht;
Denn dem Schmachtenden zeigt' er den Quell, zu gluͤcklicher Stunde
Mit liedlebendigem Mund ſingend im thauigen Thal;
Aber der fuͤhrenden Stimme darauf nachgehend mit Sorgfalt,
Fand der Wandrer des Quells ſuͤßen, begehreten Trank.

9.

Auf die Bildſaͤule der Aphrodite von Praxiteles.

Durch aufwogendes Meer kam einſt Kythereia nach Knidos,
Wollte das herrliche Bild ſchauen der eignen Geſtalt.
Als ſie nun ganz es betrachtet in ringsum offener Gegend,
Fragte ſie: wo denn ſah nackend Praxiteles mich?
Nicht Unerlaubtes erblickte Praxiteles, ſondern das Eiſen
Bildete ſo dich, wie ſtets Paphien Ares begehrt.

10.

Auf dieſelbe.

Dich Praxiteles nicht, dich nicht das Eiſen geformt hat,
Sondern du ſelber, du ſtehſt da, wie vor Paris Gericht.

11.

Als ſich die Chariten einſt ein nimmer vergaͤngliches Wohnhaus
Suchten, gefunden alsbald war Ariſtophanes Geiſt.
II. 31482

12.

Neun iſt die Zahl der Muſen nach Einigen; aber mit Unrecht!
Siehe! die zehnte, ſie kommt, Sappho, von Lesbos daher.

13.

An das Bild des Pan.

Setze dich nieder allhier, am geſchwaͤtzigen, hochumlaubten
Wipfel, der leiſ 'im Gedraͤng fluͤchtiger Zephyren wogt,
Und dir wird die Syringe bei meinen rauſchenden Baͤchen
Linde der Augen Paar ſaͤnftigend wiegen in Schlaf.

14.

Auf ein anderes Bild des Pan.

Schweiget, Dryaden im Wald des Gebirgs, ihr Brunnen vom Felſen
Schweiget, und vielgemiſcht Bloͤcken der Heerden, auch du!
Weil Pan ſelber nun ſingt auf wohlertoͤnender Syrinx,
Feucht die Lippe gefuͤgt auf das verbundene Rohr.
Und es beginnen umher, mit munterem Fuß aufſchwebend,
Hamadryaden Tanz, Tanz Hydriaden umher.

15.

Auf einen Satyr an der Quelle, und den ſchlafenden Eros.

Bromios kuͤnſtliche Hand hat dieſen Satyr gebildet,
Hauchend in dumpfen Stein Leben durch goͤttliche Kunſt.
Jetzo den Nymphen bin ich verwandt, denn ſtatt des vorher'gen
Roͤthlichen Weines gieß labendes Waſſer ich aus.
Lenke den Fuß vorſichtig, daß nicht du in Eile den Knaben
Aufſtoͤrſt, welcher vom Schlaf milde beſaͤnftiget ruht.
483

16.

Auf die ſilberne Bildſaͤule eines Satyrs.

Nicht ihn geſtaltet, in Schlaf nur geſenkt ihn hat Diodoros;
Stoß 'ihn nicht an, er erwacht: ſiehe! das Silber, es ſchlaͤft.

17.

Auf einen Siegelring.

Fuͤnf ſind Rinder gebildet in dieſem kleinen Jaspis,
Gleich als ob ſie beſeelt weideten alle daher.
Ja, vielleicht auch entſpraͤngen die Juͤngeren, aber die kleine
Heerd 'iſt ſtrenge gebannt jetzt in dem goldnen Geheg.

18.

Einſt ein Mann fand Gold, und ließ nun den Strick; der das Gold ließ
Aber, und nicht mehr fand, hing ſich am Strick, den er fand.

19.

Alles entfuͤhret die Zeit; ihr dauerndes Walten veraͤndert
Namen zugleich und Geſtalt; auch die Natur und das Gluͤck.

20.

Ich Nußbaum, zu der Wanderer Luſt am Wege gepflanzet,
Fuͤr Steinwuͤrfe zum Ziel hab 'ich den Knaben gedient:
Ganz nun den Wipfel zerknickt, und die bluͤhenden Aeſte zer¬ ſchmettert,
Steh' ich, vom haͤufigen Wurf kraͤftiger Arme verletzt.
Alſo ergeht's Fruchtbaͤumen; o mir unſeligen! wahrlich
Mir zum Verderben allein hab 'ich die Fruͤchte gebracht!
31 *484

21.

Unter den Lebenden ſtrahlteſt vorher als Stern du des Aufgangs
Hesperos glaͤnzeſt du jetzt ſterbend im Schattengebiet.

22.

Thraͤnen der Hekabe wohl und den ilioneiſchen Weibern
Gaben bei ihrer Geburt ſpinnend die Moiren zum Loos.
Dir auch, Dion, entriß den Siegspreis herrlicher Thaten
Goͤttergeſchick; es entſchwand glaͤnzender Hoffnung Gewinn.
Ruhſt nun im weiten Gefilde der Heimath, theuer den Buͤrgern,
O du, welcher mein Herz liebend in Flammen geſetzt!

23.

Einſt des aͤgaͤiſchen Meers hochbrauſende Wogen verlaſſend,
Ruhen wir mitten im Land jetzt um Ekbatana her.
Gruß dir, Heimath einſt, ruhmvolles Eretria, Gruß dir,
Nachbarliches Athen, Gruß dir, geliebteſtes Meer!

24.

Wir ſind euboͤiſchen Stamms von Cretia; nahe bei Suſa
Ruhen wir; ach! ſo weit unſeren Landen entruͤckt!

25.

Hier im Grab ein Schiffer, in jenem lieget ein Landmann;
Alſo gemeinſam iſt Aïs dem Meer und dem Land.

26.

Einen Schiffer erblickſt du, den ſelbſt mitleidige Meerfluth
Auch des letzten Gewands noch zu entbloͤßen geſcheut.
Aber ein Menſch auch dieſes mit frevelnder Hand mir hinwegnahm,
Lud fuͤr ſolchen Gewinn ſolches Vergehen ſich auf.
485
Moͤg 'er es denn anziehn, und ſo zu dem Hades hinunter
Wandern, und Minos ihn dann ſehen in meinem Gewand!

27.

Heil, Seefahrer, begleit 'auf dem Meer euch, Heil auf dem Lande;
Wiſſet, ein Seemann ruht hier, wo ihr ſchiffet vorbei!

28.

Dieſer Mann war freundlich den Fremdlingen, theuer den Buͤrgern,
Pindaros, welcher den wohltoͤnenden Muſen gedient.

29.

Als zum Hain wir gelangt, dem dichtumſchatteten, fanden
Purpurnen Aepfeln gleich wir darin den Sohn der Kythere.
Weder fuͤhrt 'er den Koͤcher voll Gift, noch die krummen Geschoſſe,
Sondern ſie hingen umher auf ſchoͤnbelaubeten Baͤumen.
Aber er ſelbſt, vom Schlummer in Roſenkelchen gefeſſelt,
Lag ſanftlaͤchelnd im Schlaf, und es ſtiegen ihm gelbliche Bienen
Auf die wachsgeformten, die labenden Lippen hernieder.

30.

Kypris ſprach zu den Muſen: ihr Jungfrauen ehrt Aphroditen,
Oder ich ſende zu euch Eros in Waffengeſchmeid.
Ihr die Muſen darauf antworteten: ſolches dem Ares
Drohe du; uns nicht fliegt dieſes gefluͤgelte Kind.
486

Prinz Ludwig Ferdinand von Preußen.

1806.

Kuͤhn durchſchritt er das Leben, die Kraft austobend des hohen
Heldengemuͤths, in den Kreis weichlichen Friedens gebannt.
Drum auch wußt 'er zu ſterben den Tod ruhmvoll in der Feld¬ ſchlacht,
Wie er zu leben gewußt, jedem Genuſſe vertraut.
Ach! ſein Tod ſchlug Wunden dem Kriegsheer, aber getoͤdtet
Haͤtte die Schmach ihn des Heers, wenn es der Feind nicht gethan.
487

Die Bruͤder Warnawa in Hameln.

1806.

Aufruhr ſchnell ſich erhob weit in der verrathenen Feſtung,
Von dem verwirrten Geſchrei ſtehen die Feinde geſchreckt;
Wild durchtobte der Zorn der Verrathenen naͤchtliche Gaſſen,
Ziellos ſpruͤhte die Gluth ſchmetternden Feuergewehrs:
Warnawa dort, zwei Bruͤder, in zaͤrtlicher Liebe vereinigt,
Trafen ſich an auf dem Markt irrend im heißen Tumult,
Nicht mehr duldend die Schmach, weit ſchwaͤcherem Feinde zu weichen,
Setzte das toͤdliche Rohr jeder dem andern auf’s Herz,
Blitz gleichzeitig und Schlag bricht los, und es ſtuͤrzen im Blute
Unuͤberwunden die Zwei freudig umarmet dahin!
488

An eine ſchoͤne Frau.

Espinelen.

Leiſe woget auf und nieder
In dem heitern Himmelsblau,
Spielend mit dem Abendthau,
Suͤßer Engel zart Gefieder.
Zwiſchen deine Augenlieder
Draͤngt ſich dieſer Himmel ein,
Und in Blaͤue, wolkenrein,
Spielen holde Blicke bebend,
In dem feuchten Aether ſchwebend,
Lieblich wie die Engelein.
Solch gefluͤgelt Kind zu fangen
Auf den kuͤhnen Freudenzuͤgen,
Waͤr 'ein einziges Vergnuͤgen,
Doch ein ſchweres Unterfangen.
Koͤnnt' ein ſolcher Blick gelangen
489
Unverſehns in meine Augen,
Wollt 'ich in das Herz ihn ſaugen,
Alle Freude zu genießen,
Feſt die Augenlieder ſchließen,
Nicht mehr wuͤrde Sehn mir taugen.
490

Maͤdchenspiegel.

Espinelen.

Dreierlei iſt hoch zu preiſen
Als die ſchoͤnſte Maͤdchenzier;
Gern ſei heut vergoͤnnet mir,
Alles dreies aufzuweiſen.
Stets in allen Lebenskreiſen
Bricht hervor als erſte Bluͤthe
Ewig neu die fromme Guͤte,
Die mit unſichtbaren Gaben
Was ihr nahet weiß zu laben
Aus dem innerſten Gemuͤthe.
Auf des Lebens dunklen Wogen
Wendet leicht ein falſcher Wahn
Hierhin, dorthin, irre Bahn,
Flatterhaftem Wunſch gewogen:
Doch von Taͤuſchung unbetrogen,
Und gelockt von keinem Schein
491
Wird das inn're Herz allein
Unverruͤckt in edler Treue,
Wie die Welt auch immer draͤue,
Rechter Wege Fuͤhrer ſein.
Schoͤner aber durch das Dritte
Strahlen auch die vor'gen Zwei,
Beide wirken Zauberei
Durch die Anmuth feiner Sitte.
Und in ſolcher Gaben Mitte
Sehen die geſchmuͤckten Gaͤſte
Aufgehn dir an deinem Feſte
Jetzt in Sitte, Treue, Guͤte,
Eine vierte Tugendbluͤthe:
Daß den Thee du machſt auf's beſte!
492

Romanze.

Wie wird mir der Tag ſo lang!
Noch nicht kommen will der Abend:
Iſt die Sonne doch hinunter
Und der Mond hervorgegangen:
Ungeduldig ſtehend, wandelnd,
Blick 'ich von dem hohen Walle
In des Nachmittags und Abends
Unentſchiedene Geſtalten.
Dunkler ſchauen ſchon die Wipfel
Von dem nahen Waldesrande;
Und die kuͤhlen Abendluͤfte,
Aus Gebuͤſch und Graͤſern wallend,
Dringen mit dem leiſen Fluͤſtern
In der Vorſtadt weite Straßen.
Doch an hohen Giebeln brennen
Golden noch verlorne Strahlen,
Und der Wolkenhimmel ſendet
Rothen Schimmer in die Gaſſen.
O wie lange ſoll ich harren,
Bis verdunkelt ſind die Pfade,
493
O wie lange ſoll ich ſaͤumen
Eh 'ich ſie zu ſehen wage?
Muͤßig gehn und ſtehn die Leute,
Die voruͤbergehn begaffend,
Und neugierig' boͤſe Nachred '
Auch des Beſten gern empfangend.
O du heil'ge Nacht, Allmutter,
Mit dem dunklen Schleier faſſe
Schleunig du des Himmels Lichter,
Sie des Tags verſtreute Saaten,
Die dein weites Reich durchflimmernd
Naͤcht'ge Heimlichkeit verrathen;
Dann, o du, die wohl bezwungen
Selber Jovis zorn'ge Flammen,
Schleunig auch der Menſchen Augen
Mit dem dunklen Schleier faſſe,
Sende nicht den muntern Abend
Jetzo noch als Abgeſandten,
Selber du erſchein ſogleich,
Schwarz, unfoͤrmlich, ſturmgetragen!
494

Betrachtung.

D ich an das Geſtade bin entronnen
Aus bittrer Leiden wilden Meereswellen,
Kann nicht mein kummernaͤcht’ges Herz erhellen,
Fern abwaͤrts gluͤh’n des Lebens goldne Sonnen.
Was iſt mir in dem Fruͤhlingsland gewonnen,
Wenn vor’ger Schmerzen Fluthen mich umſtellen,
Und dieſe Wehmuth truͤb an’s Herz mir ſchwellen,
Daß nicht in Gluͤck mein Leben hat begonnen?
Ich ſenke in mich ſelbſt die Augen nieder,
Und finde nicht die duft’gen Bluͤtheſtunden,
Die mit des Fruͤhlings Au’n das Herz umkleiden.
Nicht wollet nun den aͤußren Lenz mir neiden!
Aus ſpaͤtem Gluͤck iſt fruͤh das Gluͤck entſchwunden,
Noch ſpaͤt regt fruͤher Schmerz die muͤden Glieder.
495

Herbſtgefuͤhl.

Nuͤrnberg, am 28. Oktober 1808.

Die Felder ſtehn in warmem Sonnenſcheine,
Von zarten Herbſtesfaͤden ſchon umſtricket,
Und rings das Aug 'in irrer Eile blicket,
Ob Sommerluſt verſpaͤtet wo erſcheine.
Vergebens, daß die Wehmuth innig weine!
Im Seufzerhauche ſanft der Wipfel nicket,
Und leiſ 'den welken Schmuck zur Erde ſchicket,
Daß nackt die Neſter ſtehen und alleine.
Wohl weiß ich, daß der Fruͤhling wiederkehret,
Ich darf um ihn nicht hoffnungslos verzagen,
Und Wiederſehen muß das Leben bringen.
Doch alles Leid, was mich indeß verzehret,
Das ich nur dir und Sommerau'n darf ſagen,
Macht dieſe Thraͤnen mir in's Auge dringen.
496

An den Ueberſetzer Voß.

Galliamben.

1809.

In dem hohen Meer dahinfliegt ungezwungen von dem Gewog
Des erregten Sturms ein Schiff dort zu dem vaͤterlichen Gefild;
Wie der Schaum ſich hoch emporbaͤumt und am Kiele ſich uͤber¬
wallt,
Wie des Zorns der Wind im Tauwerk ſich erlediget mit Geheul,
Wie der Planken Fuͤgung aufkracht, uͤberwaͤltiget von der Fluth,
Wie der Wolken dichtes Nachtgraun die Gewaͤſſer und die Geſtirn '
Ueberzieht, und rings der Angſtſchrei der Geſcheiterten ſich erhebt:
Doch ſegelt froh das Schiff hin, nur beſchleuniget in dem Lauf.
Ein bekraͤnzter Schwarm emporſteigt ſich bedraͤngend auf dem
Verdeck,
Und es ſchallt ein hoher Paͤan der Begeiſterten in die Fluth,
Die gebaͤndiget von des Lieds Macht nun mit ſchmeichleriſchem
Getoͤn
Schon ſanft umrauſcht den Schiffbord, ſo der ſtuͤrmenden wider¬
ſtand.
Was beginnt? o Heil! hervorbricht an dem naͤchtlichen Horizont
497
Den erſtaunten Blicken Eos, die Verkuͤndigerin des Tags,
Und in Purpurſchein der Meerfluth und des feierlichen Gewoͤlks
Hochflattert ſchwer am Maſtbaum von den Zephyren unerfuͤllt
Das benetzte Segel, weit ſenkt ſich der Wimpel druͤber hin.
Wie der frohe Schwarm die Windſtill und dem frendlicheren
Geſtad
Sich genahet ſchaut, hinabſtuͤrzt zu den Rudern er ungeſaͤumt,
Und die Fluth wie Silber aufblitzt in gemeßnem Ruderſchlag;
Und der hohe Bord auf einmal mit Belaubungen ſich erfuͤllt,
An den Rudern ſchmieget abwaͤrts ſich ein wonnigliches Gewind,
Wo der Eiche Laub und Epheu ſich verflochten mit dem
Gezweig
Der Platan und Myrth und Weinreb in dem gruͤnenden La¬
byrinth;
Und der Maſt ergruͤnt als Palmbaum und es ſchlinget ihm um
das Haupt
Die Viol und Roſ und Krokus und die Lilie ſich zum Kranz.
Und o Wunder! welch ein Anblick! von Belaubungen uͤberdeckt
Iſt entſchwunden alles Holzwerk: o wie zauberiſche Gewalt,
Die der Blumen Fuͤll und Laubgruͤn ſo geſtaltete zu dem
Schiff!
Heil! Heil! o ſtarker Faͤhrmann! ſo erſchallet von dem Geſtad
Dir die huldigende Begruͤßung, und von Tauſenden wiederholt
Schwingt fern, o Voß, dein Lobpreis zu den Hoͤhen ſich des
Gebirgs,
Zu der dunklen Waldeseinoͤd, und dem koͤniglichen Pallaſt.
Heil, kuͤhner Mann, der muthvoll den Gefahren du dich
ergabſt.
Aus der Tempelgrotte Delphi’s die Orakel uns zu empfahn,
Und der trauervollen Heimath die Erleuchtungen des Geſangs,
Die ein Gott den Soͤhnen Hellas austheilete, zu verleihn.
II. 32498
Ja geweihet du von Apollon, von den Chariten du geweiht,
Die den Zauberſchwung des Wohllauts, des helleniſchen, dir
enthuͤllt,
Und enthuͤllt die Kraft des Stammvolks zu bemaͤchtigen ſich des
Horts,
Haſt froh der neuen Argo, den Verheißungen du vertraut,
Die untruͤgliche dir ein Gott ſprach in dem prieſterlichen
Gemuͤth!
O wie folgt mit Liebesinbrunſt zu den Deinigen dir die
Schaar,
Die zu neuer Menſchheit Anbau mit Geſaͤngen du uns bezwangſt!
Es entſteigt ein Greis dem Schiffsbord, und verjuͤnget ihm von
dem Mund
Aufſchallt ein Heldenlied, froh des lebendigeren Getoͤns,
Das in raſcher Kraft dahinwogt in verſchwiſterter Melodie,
Die, o Voß, mit Heldenzorn bald ein Begeiſterter du ergriffſt,
Bald liſtenreich mit Schlauheit du erlauſcheteſt in dem Hain!
Ja, des Chiers ſuͤßer Mund toͤnt! der askraͤiſche, ihm geſellt,
Lehrt frommer Tugend Anbau in dem friedlicheren Gefild;
Schon draͤngt zum frohen Siegspreis mit Bewunderung ſich der
Hirt,
Da zum Wettgeſang das Waldlied von Sikelia ſich erhebt;
Auch Roma's ſtolzes Lied folgt dem Germanier unentweiht
Zu den Schlachtgefilden Herrmann's vom entweiheten Kapitol;
Es entſteigt dem Schiff ein Juͤngling, und das Barbiton in der
Hand
Ihm erklingt von Lebensweisheit und beſeligendem Genuß;
Und in edler Saͤngerfreundſchaft ſich dem Feurigen ein Gefaͤhrt '
Anſchmiegt, der liederkuͤhn drang aus den Waͤldern, und zu den
Hoͤhn
Sich erhob, den frommen Ahnherrn zu verherrlichen des Auguſt.
499
O begluͤckte Saͤnger, huldvoll von dem Maͤchtigen ihr geſchuͤtzt,
O warum, der euch an Ruhm gleich, nur in traurigerem
Geſchick
Ungleich, warum den Zorn weckt, unverſoͤhnlichen er allein?
Es entſteigt mit holder Anmuth der Verbannete zu dem Strand,
Wo dem ſuͤßen Klagelied horcht der geſittetere Barbar.
Schaut! freudig ſchwingt an's Land jetzt in dem jugendlichen
Gewuͤhl
Der umkraͤnzten Knaben Schaar laut mit den Fittigen ſich heran!
Sie der Gaſtgeſchenke ſorgſam obwalteten auf der Fahrt,
Zahlloſer Gaben Reichthum, die verſchwenderiſch dir gehaͤuft
Die entzuͤckten Saͤnger dankbar als Vergeltungen dir, o Voß,
Der ergluͤhten Liebesandacht, die den Herrlichen du gehegt!
Dir des Epos ſanften Aufſchwung, dir Idyllien, dir die Gluth
Der erhabnen Ode, Liebreiz der geſelligen ſie verliehn!
Ja das vielbegehrte Kleinod des berauſchenden Dithyrambs
Strahlt kroͤnend dir um das Haupt hell wie das abendliche
Geſtirn!
O wo ſaͤumt, wo ſaͤumt uns Atys, der das leuchtende Diadem
Um das Haupt dir ſchlang am Meerſtrand, wo den Weinenden
uͤberfiel
Der Cybelle grauſer Wahnſinn, den vergebens er nun bereut!
Von dem Ufer ſcheucht ein Leu wild in die Waldungen ihn
zuruͤck,
Und die Arme flehend ſtreckt noch, die verſchwindenden, er empor.
O wohlauf! du kuͤhner Faͤhrmann, unerſchrocken denn nun gelenkt
In die aufgethuͤrmte Salzfluth, den Unſeligen zu befrein!
Es erbluͤht in neuer Fahrt ſtets ja nur herrlicher dir das
Schiff,
Und es leuchtet dir ein Geſtirn vor in dem truͤgeriſchen Gefluth,
Das in dunkler Nacht dahinrafft den Vermeſſenen zum Geklipp,
32 *500
Und zerſtreute Glieder auswirft der Geſcheiterten an das Land.
Dir allein iſt hell die Sturmnacht, die erdonnernde, dir allein
Nach Geſetz und Maß gefuͤgt hat Galliamb 'ſich und Anapaͤſt,
Auf, auf! in Ida's Waldgraun ſich befluͤgele der Geſang!
Die Aufforderung blieb, wie wohl vorherzuſehen war, un¬
erfuͤllt; der Atys des Catullus iſt noch nicht uͤberſetzt; wenigſtens
ſo nicht, wie es Boß von ſich oder Andern fordern muͤßte.
501

Weſentliches.

1809.

Ob dieſe Liebe mir
Mehr Freuden bringet oder Leiden?
Ich weiß es nicht.
Es fehlt an beiden nimmer;
Sie fließen uͤberſchwaͤnglich,
Aus Doppelquellen,
Und oft ſind die einen
Die andern.
Wer vermag
Den raſchen Wechſel,
Die Wandlungen und Geſtalten
Der Liebesgaben
In ſtarker Herzensſchlaͤge
Gedraͤngtem Leben
Zu ſcheiden und auszugleichen?
Ja wohl, auch dieſe Liebe,
So reich und ſchoͤn,
Sie hat ihre Thraͤnen,
Ihren Jammer,
Ihre Verzweiflung!
502
Doch ihre Gaben alle,
Ihr Ungluͤck und ihr Gluͤck,
Sie ſind nur Schwingen,
Die uͤber Gluͤck und Ungluͤck,
Auch uͤber ihr eignes,
Mit Himmelskraft
Das Herz erheben.
503

Verlorne Gegenwart.

1809.

Schon ſo lange ſteigt die Sonne
Aus dem Oſten hell hervor;
Immer wieder Thauestropfen,
Morgenroͤthen, Voͤgelſtimmen,
Schwimmen daͤmmernd ihrem Glanze vor.
O wie viele Sommermorgen
Sind mir golden aufgegangen!
O wie viele Winternaͤchte
Lagen ſilbern auf der dunkeln Erde,
Langſam kommend meinem Bangen,
Und ſo furchtbar eilend meinem Hoffen!
Immer ferne noch von meiner Lieben
Findet mich die neue Sonne,
Und ihr Schimmer geht an mir voruͤber,
Gleich als waͤr 'er fortgeblieben.
504
Immer noch in enger Tageszeit
Sorgenbruͤtend eingeſchloſſen,
Seh 'ich heitre Stunden weit
Mich begruͤßen durch die Gitterfenſter,
Und ich winke laͤchelnd ihnen nach.
Bringen dieſe Wolken Segen?
Immer noch in herbem Trauern
Harret ſchmachtend jede Kunſt;
Gleich dem Epheu ſaugt, an feuchte Mauern
Angeſchmiegt, die gruͤne Fuͤlle
Statt des Himmelregens Nebeldunſt.
Schwere Laſt noch immer druͤckt
Freier Zukunft blut'gen Fluͤgel;
Immer ſeufzend noch im armen Volke
Wallt erwartungsvoll das Herz!
Kriegeswuth voruͤber raſet,
Friedensluͤfte wieder ſchmeicheln,
All' unzeitig dieſem Schmerz!
Weit erleuchtet liegt die Erde
Unabſehbar aufgethan;
Meereswogen weit hinuͤber
Segeln die beherzten Meiſter,
Und es flattern Siegesgeiſter
Jauchzend ſtolz auf ihrer freien Bahn,
Koͤnnt 'ich ſchiffen, forſchen, ſiegen
Mit den Guͤnſtlingen der Zeit!
Ihnen leuchten Stern' und Sonne,
505
Ihnen rauſcht Vergangenheit
Mit der Zukunft Hoffnungswonne
In dem Fluge friſcher Gegenwart!
Doch in bluͤh'nde Kindheit kam
Harte Jugend ſchnell herein;
Alter kommt, noch eh des Gluͤckes Reife,
Thatkraft weicht, noch eh die That genaht,
Und des oͤden Harrens muͤder Gram
Schluͤrft den letzten Funken ein.
Sage mir, o hehre Sonne,
Warum weckſt du mich zu ſolchen Tagen?
O vergoͤnne tiefe Schlummernacht!
Willſt du darum nur mir weiter ſchreiten,
Um den Lebensſtillſtand anzuſchauen,
Den verzaubernd Trennung mir gebracht?
506

Auf der Reiſe.

1810.

Heil'ge Waͤlder hoͤr 'ich rauſchen,
Alter Eichen Rieſenbau
Traͤgt mit ſtarken Aeſten gruͤne
Zweige hoch im Himmelblau;
Buſch und Gras in uͤpp'ger Fuͤlle
Naͤhren treu das ſcheue Wild,
Aus dem ſchwankenden Gezweige
Muntrer Vogelſang erquillt.
Dunkle Fluthen wogen leiſe
In dem hellen Wieſenbach,
Und die Sehnſuchtsblicke folgen
Ihrem Laufe bruͤnſtig nach;
Ach, ſie fliehn von Bergeshoͤhen,
Wo die Freiheit nicht mehr weilt,
Bis im Meere freudig wieder
Freie Fluthen ſie ereilt.
507
Goldnes Feld dort ſteht im Glanze
Sommerlichen Morgenſcheins,
Weit am Fuß der gruͤnen Huͤgel,
Wo die Quelle rinnt des Weins;
Edler Fleiß und treue Pflege
Haben rings das Land beſtellt,
Doch des Jahres beſter Segen
Stets in Raͤuberhaͤnde faͤllt!
O geliebtes Land, umfaſſen
Moͤcht 'ich mit den Armen dich!
An die heiße Bruſt dich druͤcken,
Kuͤſſen mit den Lippen dich!
Herz der Treue, Mund der Lieder,
Geiſtesauge, Arm der Kraft,
Hand der Kunſt und Stirn des Denkens,
Mutterbruſt der Wiſſenſchaft!
Und in dieſes Landes Mitte
Schallet noch ein fremder Ton,
Ruft der trauten Mutterrede
Des geliebten Landes Hohn?
Darf, wo deutſche Waͤlder rauſchen,
Unſre ſtolzen Fluthen gehn,
Unſres Fleißes Aehren wogen,
Fremdes Herrſcherwort ergehn?
Schnoͤde Schaar nichtswuͤrd'ger Fremden,
Uns geſandt von blut'ger Hand,
Flog, ein wildes Raubgevoͤgel,
In das unbewachte Land,
508
Schlug mit ſcharfen Adlerklauen
Mit den gier'gen Schnaͤbeln feſt
In die heil'gen Waldeswipfel
Gift'ger Brut ein uͤppig Neſt!
Doch, o frevelndes Gezuͤchte!
Heimiſch wirſt du nimmermehr!
Bald erſcheint uns der Befreier
Sieggekroͤntes Heldenheer!
Und du wirſt des Feldes Duͤnger,
Und du wirſt der Wellen Spiel,
Und du wirſt das Wild des Waldes,
Jedes Pfeils erwuͤnſchtes Ziel!
509

Der Edelknabe der Kaiſerin Kunigunde.

1.

Wie der Mond aus dunklen Wolken
Kummerblickend niederſcheinet,
Dort ein ſchoͤnes Antlitz bleich
Schaut hervor aus ſchwarzem Schleier.
Zu des Domes hohen Stufen,
Barfuß auf den harten Steinen,
Wandelt langſam ſchwere Schritte,
Von zwei Frauen nur begleitet,
Ach! die Kaiſerin, nicht wuͤrdig
Solche tiefe Schmach zu leiden!
Doch die, ſo mit Kron 'und Zepter,
Mit des Reiches Edelſteinen,
Auf dem Throne glorreich ſtrahlend,
Dennoch Demuth konnte zeigen,
Kann auch jetzt im Bußgewande
Nicht von ſchoͤner Hoheit ſcheiden.
Wer die Fuͤrſtin Kunigunde
Sieht in dieſem Glanz erſcheinen,
510
Den der Unſchuld helles Licht
Auf der reinen Stirn verbreitet,
Muß in freudevollem Staunen
Bannen jeden duͤſtern Zweifel;
Der Gemahl nur, dem am naͤchſten
Dies Kleinod vertraut und eigen,
Der allein giebt es dem Feuer
Pruͤfend hin, der ſtrenge Heinrich.
Stolz und herrlich er vom Saale
Jetzt die Stufen niederſteiget,
Tritt hervor, und findet alle
Seine treuen Diener weinen,
Die zu Roſſe in dem Schloßhof
Seiner harr'n zur Jagd bereitet.
Finſter waͤlzt er da die Augen,
Kehret um in dunklem Schweigen,
Und in ſtrenger Furcht gefeſſelt
Wagt ihn anzureden keiner.
Viel Herzoge, viele Grafen,
Brannten wohl in tapfrem Eifer,
Unterdruͤckter Wahrheit Ehre
Zu befrein aus ſchnoͤdem Zweifel,
Und in einem offnen Kampfe
Fuͤr die Kaiſerin zu ſtreiten:
Doch die aufgezuͤckten Schwerter
Gleiten abwaͤrts in die Scheiden.

2.

Seht ihr dort das bluͤh'nde Antlitz,
In der zarten Jugend Farben
511
Freundlich ſchimmernd, hell umwoͤlbet
Von den ſchoͤnen goldnen Haaren?
In der Kaiſerin Gefolge
Dient ſeit fruͤher Zeit der Knabe,
Und es hielt ihn treuer Liebe
Edle Neigung feſt gebannet,
Daß er von der holden Herrin
Nimmer wieder konnte laſſen,
Alle ſeine Lebenstage
Ihr allein zu widmen dachte.
Darum als des großen Kaiſers
Glaͤnzend werbende Geſandten
Die holdbluͤhende Prinzeſſin
Ihrem Herrn zur Braut, gewannen
Und in praͤchtige Galeeren
Mit der hohen Jungfrau traten,
War das fromme Kind getreulich
Ihr gefolgt aus Daͤnemarke,
Unveraͤndert in dem Dienſte
Der Gebieterin verharrend,
Deren hohen Lichtglanz nimmer
Selbſt der kaiſerliche Namen
Irgend zu erhoͤh'n vermochte
In den Augen ihres Knaben.
Seht, das holde Jugendantlitz
Sinket nieder ſchnell erblaſſend,
Und erhebet gleich ſich wieder
Feurig mit hochrothen Wangen!
Auferweckt von innerm Rufe
Will er Ungeheures wagen,
Den nichtswuͤrdigen Verlaͤumder
512
Seiner Kaiſerin zu ſtrafen,
Zu beſtehen den verſuchten
Starken Arm des wilden Grafen;
Dem will er die Schuld beweiſen
Auf ſein Herz mit ſcharfen Waffen!
Und ſo reitet frohbeherzt
Er hervor von ſeinem Platze,
Haͤlt ſein baͤumend Roß dann ploͤtzlich
Raſch gewendet vor dem Grafen,
Spricht: Ihr ſeid nur ein Verlaͤumder:
Schaͤndlich habt ihr angetaſtet
Mit verruchten Luͤgenworten
Meiner Herrin heil’gen Namen!
Mir im Herzen gluͤht ein Zeugniß,
Das will ich nun offenbaren,
Und aus euern Todeswunden
Soll es ſich Bewaͤhrung ſchaffen.
Schon hat er es ausgeredet,
Alle ringsum ſtehn erſtarret,
In mitleidig ſtummer Ruͤhrung
Scheu den Blick gewandt zum Grafen,
Angſtvoll die gewalt’gen Schlaͤge
Seines wilden Zorns erwartend:
Doch er bleibet, wie zerſtreut
In tiefſinnige Gedanken,
Und die Arme feſt verſchraͤnket,
Unbeweglich in dem Sattel.
Duͤſter wirft er kalte Blicke
Auf den heitern Edelknaben,
Du? ſo fragt er ernſt und ſchaurig,
Und der Muth iſt ihm entfallen.
513

3.

Hoch von reichverzierter Buͤhne
Schaut der Kaiſer bang hinunter
In die volkumdraͤngten Schranken,
Wo die hellen Schwerter funkeln.
Und er wendet ſcheu die Augen
Seitwaͤrts hin, wo Kunigunde
Vor dem Kreuze hingeworfen
Fleht aus tiefſtem Herzensgrunde
Zu dem Himmel um Erbarmung,
Um Vergebung aller Schulden.
Da entſcheidet ſich der Kampf:
Aus drei tiefgeſchlagnen Wunden
Stroͤmen, zeugend fuͤr die Fuͤrſtin,
Schwarzen Blutes Wogen ſprudelnd.
Tauſend rufen Heil und Segen,
Tauſend rings aus Einem Munde,
Dem ſiegreichen jungen Helden,
Der den ſtarken Feind bezwungen.
Blaſſen Angeſichts, von Thraͤnen
Seine Kinderaugen dunkel,
Sieht mit lieblich traur'gem Laͤcheln
Sich der Edelknab 'umrungen,
Ach! und findet keine Stuͤtze,
Daß er nur ein wenig ruhe!
Ihm zu ſchwer iſt es zu halten,
Dieſes Schwert, das er geſchwungen,
Und aus ſeinen zarten Haͤnden
Auf den Boden leiſ' entſunken.
Keiner denkt an zarte Pflege,
II. 33514
Keiner, wie er wohl ihm thue,
Alles tobt in wilder Freude
Huldigend allein dem Ruhme,
Ach! und unbemerkt erliegt er,
Seine Augen ſich verdunkeln!
An des frohen Kaiſers Seite
Tritt nun, ſtill in heil'ger Ruhe,
Durch das jauchzende Getuͤmmel
Zu dem Knaben Kunigunde,
Faßt ihn mit den weißen Haͤnden,
Druͤckt ihn ſanft an ihren Buſen,
Seine goldnen Locken wallen
Lieblich ihren Arm hinunter,
Und ſie ſtreichelt ihm die Augen,
Die er aufſchlaͤgt, bald ermuntert
Und ſie beugt das Himmelsantlitz
Strahlend hin zu ſeinem Munde,
Und beruͤhrt die friſchen Lippen
Innig mit liebreichem Kuſſe,
Spricht: Du haſt mich nicht verlaſſen
Du, mein holder Knabe, wußteſt
In der Unſchuld deines Herzens
Von der meinen ſichre Kunde!
Alles iſt von mir gewichen,
Was auf's heiligſte verbunden
Meinem Leben war, und tiefer
In das Herz mir ſehen mußte:
Ob auch Kaiſerin, verlaſſen
War ich auf dem deutſchen Grunde,
Und der Fremden blieb kein Tropfen
Zugewandt des deutſchen Blutes!
515
Nur im eignen Volk, dem theuern,
Wird ein wahrer Freund gefunden,
Dem, wenn aller Schein entgegen,
Noch Vertrauen lebt im Blute;
Wohl aus Daͤnemark ja werden
Mußte dieſer Leidensſtunden
Hier nicht mehr gehofftes Ende,
Daͤne, mir durch deine Wunder!
Habe Dank, mein holder Knabe!
Habe Dank von Kunigunden,
Die dir lange theuer war,
Eh 'noch Kaiſerin ſie wurde,
Und die, ſchon herabgeſtiegen
Wieder von des Thrones Stufen,
Nicht als Kaiſerin kann lohnen,
Nur als deine Kunigunde!
Dieſen Ring will ich dir ſchenken,
Der mir ward von meiner Mutter,
Dir ein vaterlaͤndiſch Kleinod
Bleib' er treu in allen Stunden!
Ich ein ew'ges Lebewohl
Sage dir in dieſem Kuſſe.
Meine Lebenszeit umhuͤllet
Fortan eines Kloſters Dunkel;
Nicht vermag ich zu verweilen
Wo ich ward ſo ſchwer beſchuldigt,
Aufgeloͤſt iſt mir allhier
Jeder Frieden, jede Ruhe;
Fremd ſind Alle mir geworden,
Allen fremd iſt auch mein Buſen,
Liebe ſtarb da und Vertrauen,
33 *516
Wo Beweiſes ſie bedurften.
Wie die Fuͤrſtin ſolches redet,
Da erſchrickt in ſeinem Muthe
Kaiſer Heinrich, und es ſinket
Ihm das Herz in ſchweren Kummer;
Und kein Flehen, und kein Weinen,
Kein Verheißen, keiner Buße
Willig angetragne Suͤhne
Bleibt dem Kaiſer unverſuchet;
Doch umſonſt! das Volk enteilet
In dumpftoͤnendem Gemurmel;
Zu der Burg geht Heinrich traurend,
Und in's Kloſter Kunigunde.

4.

An dem ſchroffen Felſenhange,
Wo abſtuͤrzend wild erbrauſen
Die empoͤrten Waldgewaͤſſer,
Wo herabgeſenket trauert
In dem kuͤmmerlichen Boden
Strauchwerk, das nie wird zum Baume,
Welch ein dunkles Bild entfaltet
Dort ſich ungewiß den Augen?
Langſam regt empor ein Knabe
Dort das Haupt mit irrem Schauen,
Springet auf von ſeinem Lager,
Steht gelehnt am Felſen aufrecht,
Und gefaltet beide Haͤnde
Und geſenkt die Blicke traurend
In die weiten Thaͤler fernhin
Ruft er ſo mit ſchwachem Laute:
517
Wohl iſt alles noch wie geſtern,
Bluͤhend rings die ſchoͤnen Gauen,
Lieblich dort mir gegenuͤber
Alle Huͤgel gruͤn umlaubet,
Tag und Nacht die klaren Baͤche
Schon vom Fruͤhling aufgethauet,
Von den Bergen in die Thaͤler
Unveraͤndert niederrauſchen,
Und die helle blaue Luft
Spielt in ſanftem warmen Hauche
Mit den Bluͤthen, mit den Blaͤttern,
Mit dem Waſſer, leiſe ſchaudernd;
Voͤgel, alles Harms entledigt,
Traulich ihre Neſter bauen,
Und dem ſonnenhellen Himmel
Froͤhlichen Geſang vertrauen;
Alles iſt wie geſtern heute,
Freuden rings mit Freuden tauſchen,
Und der Zeiten Wandelungen
Bergen ſich in leiſem Laufe:
Ich allein bin ihm entriſſen,
Bin von dunkler Macht geraubet!
Aus der ſchuͤtzenden Umarmung
Hat mit wilden Schwunges Sauſen
Die Natur mich losgelaſſen,
Mich verſtoßen in ein graues
Oedes, hingewelktes Alter
Ploͤtzlich aus der Jugend Auen.
Kunigunde, nimmer ſoll ich
In dein holdes Antlitz ſchauen!
Nimmer von dem Vaterlande
518
Hoͤren dein liebkoſend Plaudern,
Nimmer mir das Herz erfreuen
Mit den Liedern deiner Laute!
Nimmer des Bedarfes Sachen
Ordnen dir nach meinem Brauche!
Und doch lebſt du noch und athmeſt,
Blickeſt noch mit deinen Augen,
Nur auf mich nicht! Lieder freundlich
Deinem Ohr voruͤberrauſchen,
Nur von mir nicht! Suͤße Reden
Du von bluͤh'nden Lippen haucheſt,
Ach! zu mir nicht! auf den Fels
Will die Sonne guͤtig ſchauen,
Und die Bluͤth ', in Sehnen ſterbend,
Muß vergehen! dieſe Mauern
Schließen mich vom Leben aus
Noch bei meines Lebens Dauer,
Selbſt des Moͤglichen iſt mir
Jede Moͤglichkeit geraubet,
In dem lebengluͤh'nden Herzen
Zucken kalte Todesſchauer.
Wie er dieſes hat geſungen
Er vom Berge niedertaumelt,
Wilder Bach mit Felſenſteinen
Waͤlzt ihn fort im weißen Schaume.
519

Johanna Stegen in Luͤneburg,

am 2. April 1813.

Von wildem Feindestoben,
Von Gluth erfuͤllt und Dampf,
Sieht rings die Stadt erhoben
Der eignen Freiheit Kampf.
Zum Himmel ſehn mit Trauern
Die Buͤrger ſchwer empor,
Den Feind in ihren Mauern,
Die Retter vor dem Thor!
Da ſpringt aus gruͤnen Hecken
Hervor ein Maͤdchen fein,
Sich bange zu verſtecken
Huͤllt ſich ihr Antlitz ein!
Und wie die Augenlieder
In frommen Thraͤnen ſtehn,
Ruft ſie: Ach ſoll ich wieder
Der Feinde Graͤuel ſehn?
520
Doch was zu meinen Fuͤßen
Liegt auf den Boden hier?
Ha! Feind, du ſollſt es buͤßen,
Verderben bring ich dir!
Aus hoͤhern Regionen
Entflammt ſie Heldenkraft,
Vom Boden die Patronen
Sie in die Schuͤrze rafft;
Den Jaͤgern, die verſchoſſen
Ihr Pulver und ihr Blei,
Bringt eifrig unverdroſſen
Sie immerfort herbei;
Im dichten Kugelregen
Manch tapfrer Jaͤger faͤllt,
Doch ſtets Johanna Stegen
Die volle Schuͤrze haͤlt.
Friſch auf! ihr Kammeraden,
Es gilt den beſten Schuß!
Von ſolcher Hand zu laden
Das Herz ja treffen muß!
521

Der Fuͤrſtengarten.

1813.

Heiß und muͤd 'im wilden Drange
Ungefuͤgen Kriegeslebens,
Das, ein ſtuͤrmend Meer, die Seele
Nach unſtaͤter Richtung wirft,
Sucht 'ich, an dem gruͤnen Ufer
Der holdſelig bluͤh'nden Inſel
Dieſes hohen Gartens landend,
Friſcher Duͤfte labend Wehn.
Und es ſchlich der ſtille Frieden
Dieſer Buͤſche, dieſer Gaͤnge,
Dieſer hohen Ferneblicke
Lindernd in das volle Herz.
Freundliche Bewohnerinnen
Gaben Blumen, gaben Fruͤchte,
Gaben lieblicher Geſpraͤche
Edle Fuͤll 'und Anmuth dar.
522
Und ſo fielen ſchoͤne Tage
Goldnen Friedens mir inmitten
Unruhvoller Kriegeszeiten
Zum beneidenswerthen Loos.
Fahre wohl! du Fuͤrſtengarten,
Fahret wohl! ihr theuren Kinder,
Scheidend ruft mein Herz geruͤhret
Dieſen Liedeshall euch zu!
523

Stimme des Kranken.

An Rahel.

1813.

In des vollen Wohlergehens frohen Tagen,
Wo das Herz die ungeſchwaͤchten Wellen
Durch die Adern ſtroͤmt in Siegesfreude,
Mußt 'ich dennoch neidiſch euch betrachten,
Arme Krieger, unbekannte Fremde,
Die ihr krank, zerſchmetterten Gebeines,
In zerrißner Huͤlle, ganz verlaſſen,
Dort dem Himmel preisgegeben laget!
Denn es trat zu euch, im Hochgefuͤhle
Edlen Pflichtberufes huͤlfreich wirkend,
Meiner Freundin ſegnende Erſcheinung!
Was ein Gott ihr in die Bruſt geleget,
Tiefer Menſchlichkeit urkraͤft'ge Flamme,
Lautrer Wahrheit ſtaunenswuͤrd'ge Worte,
Schneller Einſicht ſtrahlendes Durchdringen,
Schmerzvertrauten Herzens uͤberzeugend Mitleid,
524
Alles faßt in Eines ſie zuſammen;
Legt als Troͤſtung, legt als Huͤlfe nieder
Schon in’s Herz des Kranken und des Wunden
Alle Kraft der treuen Heilespflege,
Die ſie ſorgſam ſchaffend vorbereitet!
Lieblich Laͤcheln, rufſt du Sonnenblicke
Aus des Schmerzes dunklen Wolken? weckſt du,
Suͤße Lippe inn’ger Menſchenliebe,
Leiſes Zartgefuͤhl in rohen Buſen?
Weißt du, Forſcherblick des hellen Auges,
Im Voruͤbergleiten daͤmmernder Geſtalten
Doch die tiefſte Seele ſtets herauszufaſſen,
Um ihr einverſtanden Troͤſtung zuzuwinken?
Schlaͤgſt du, Himmelsſtrahl der ew’gen Wahrheit,
Aus der Stille edleren Gemuͤthes,
Hoch gewitternd uͤber dunklen Lebensthalen,
Segenreiche Fluth auf ſuͤnd’ge Herzen
Reinigend und klaͤrend nieder?
Und ich ſoll in Unmuth hier verſchmachten!
Wiſſen nur, und fuͤhlen nicht, die reiche Spende,
Die nach Zufall dort ſich in der Menge
Blindem Drange hundertfach ergießet?
Nein, o nein! die ſegenreiche Fuͤlle
Deines Wohlthuns dringt zu mir heruͤber,
Ueber Stroͤme, uͤber Berge fernher,
Bricht mit hellem Schein am Daͤmmerabend
Meines ſtillen Krankenlagers ploͤtzlich
In geliebter Handſchrift frohen Zuͤgen
Glaͤnzend an, mit linden Heilesſtrahlen
Treffend mein aufathmend Herz!
525

Die Ruſſen in Holland.

1813.

Wohlauf, wohlauf! wer die Freiheit meint,
Aus betaͤubenden Schlummerbanden!
Des Erwachens Sonne glorreich ſcheint
In den muthigen Niederlanden!
An den Kuͤſten des freien Meeres Ruf
Mit brauſenden Wogen hallet,
An des Landes Graͤnzen der Roſſe Huf
Und verkuͤndendes Wiehern ſchallet!
Wohlauf, wohlauf! aus wirbelndem Schnee,
Von der Stroͤme ſtarrendem Eiſe
Begann zur ſchwellenden Suͤderſee
Der Freiheit Kriegesreiſe.
Ein gruͤnendes Reis vor hundert Jahr
Aus unſeren Landes-Bluͤthen
Nahm dankbar mit der große Zar,
Und thaͤt es mit Treuen huͤten.
526
Ach! unſerer Lande Bluͤthenſtand
War dahin mit der Freiheit geſchwunden,
Die von Volk zu Volk und von Land zu Land
Bald nirgends wurde gefunden.
Doch ſiehe! das gruͤnende Reis alldort
In des nordiſchen Reiches Raume
Wuchs hundert Jahre fort und fort
Zum gewaltigen Rieſenbaume;
Und breitet der ſchattigen Zweige Gluͤck
Auf der Knechtſchaft brennende Fluren,
Bringt lebenreiche Fuͤlle zuruͤck
Auf erſtorbener Freiheit Spuren.
Alexander, Heil! das theure Pfand,
Das wir reich einſt legten nieder,
Kehrt tauſendfaͤltig von deiner Hand
Den Armgewordnen wieder!
Und in jeglicher ruſſiſchen Waffe blinkt
Ein Zweig von gruͤnenden Schoſſen,
Der vertraulich uns und gruͤßend winkt
Als heimiſcher Freiheit Sproſſen!
527

An der Nordsee.

1814.

Hier weilt am Meeresſtrande
Mein ſehnend truͤber Sinn,
Und die Gedanken fluthen
Auf ſanften Wellen hin!
O ſchoͤner Stern dort druͤben,
Wie leuchtend faͤllt dein Schein
In rege Meeresfluthen,
In's rege Herz hinein!
In ſtuͤrmendem Getoͤſe
Der wilden Wetternacht
Hab 'ich dir heil’ges Flehen
Inbruͤnſtig dargebracht.
528
Der Sturm hat ausgetobet,
Und in der Sterne Zahl
Glänzt wieder doch vor allen
Mein Stern mit hellem Strahl!
529

Sand.

Grauſam haͤufet ein hoͤhnend Geſchick hier Schrecken des Wahnes;
Dich Ungluͤcklichen trieb falſcher Geſtirne Beruf!
Irr 'und bejammernswerth hat alles hier ſich geſtaltet,
That, Zweck, Mittel, Erfolg, fremdes und eigenes Loos.
ll. 34530

Wie es geht.

1821.

Meinen Ueberzeugungen,
Freier Wahrheit hohem Recht,
Wollt 'ich ſonder Beugungen
Treulich folgen grad' und recht.
Rings umwogt von Streitenden,
Hart, im Wechſel, Mann an Mann,
Bot nach allen Seiten den
Gegnern Stirn und Bruſt ich an;
Siegend durch gefaͤhrlicher
Kaͤmpfe dunkelwirren Drang,
Wohlgepruͤft in ehrlicher
Wunden Geben und Empfang;
Doch, nach uͤberſtandenen
Erſten Tagewerks Gewinn,
Find't ſich im Vorhandenen
Schon nicht mehr der erſte Sinn!
531
Ob dem friſch Vertrauenden
Will und Hoffnung war geneigt,
Dem zuruͤcke Schauenden
Sich die Mißerfuͤllung zeigt:
In des Wegs Geſtaltungen
Vielgekruͤmmter Windung Spiel;
Weiterer Entfaltungen
Truͤbes zweifelhaftes Ziel!
In des Tags Erſcheinungen
Sucht man, wie man kann, die Bahn;
Im Gedraͤng der Meinungen
Wird Geſinnung leicht zum Wahn.
34 532

Uebereinſtimmung.

Dresden, 1822.

Hier auch alſo begegnen wir uns! Sie ſteht, und beſchaut mich,
Widerwaͤrtiges keck ſinnend und blickend, wie ſtets.
Denkt ſie dabei: Schon wieder den unvermeidlichen Anblick!
Nun! ſo haben wir ja Beide daſſelbe gedacht!
533

Fiat applicatio!

Ein Meiſter edler Mahlerei
Von hohem Sinn und rechter Kunſt,
Mahlt 'einen Kriegsmann einſt; die Gluth
Der Tapferkeit, die Heldenkraft
Mannhafter Strenge, kuͤhn und groß,
Durchſtroͤmten Haltung und Geſtalt,
In lebensvoller Farbenſchoͤne;
Und menſchlich Gluͤck und menſchlich Leid,
In Siegesluſt und Wundenſchmerz,
Durchkaͤmpften die zerrißne Bruſt.
Ein Stuͤmper ſieht's: Daß Gott erbarm!
Ein ſchoͤner Held mag das mir ſein!
Seht Ihr denn nicht an Rock und Hut,
Daß es nur ein Gemeiner iſt?
Da heg 'ich andres Heldenbild
Im hocherhabnen Kuͤnſtlerſinn!
Und laͤchelnd zeigt ein Bild er vor;
Zwar ſchien es allzu jaͤmmerlich,
534
Ganz ſeelenloos und matt und truͤb,
In greller Aufgeblaſenheit
Ein ſchneiderhaft Armſuͤnderweſen;
Doch Federhut und Achſelband,
Und Ordensſtern und Feldherrnſtab,
Die waren ſorgſam angebracht.
Seht Ihr nun wohl den Unterſchied?
Was mahlt euch jener doch fuͤr Wichte?
In Wachtſtub und vorm Schilderhaus
Koͤnnt Ihr das Vorbild dazu ſehn!
Gemein iſt ſolch ein Kunſtbeginnen,
Gemein, ſo wie ſein Gegenſtand.
Ich aber mahl in hoͤh’rem Stile,
Und hoͤh’re Helden! Was ich mahle,
Ihr ſeht es ja, ſind Generale!
535

Falſche Goͤtter.

Aus armſel'gen Begriffen, wie Ihr ſie begreift, mit erlogner
Sinn - und Sittlichkeit, ſtets mit dem Worte begnuͤgt,
Schmuͤcket Ihr euch Vorbilder zurecht von Tugenden, wie ihr
Eben zur Ausfuͤllung euerer Laſter ſie braucht:
Heldenthum, Mannheit, Unschuld und Lieb ', und o ſchrecklich
Weiblichkeit, habt Ihr gluͤcklich zuſammengeflickt
Aus viel Lappen und Laͤppchen; doch nur hanswurſtiſche Puppen
Sind's, die, ſonder Idee, als Ideale ſich blaͤh'n.
536

Goethe's Werke.

Nein! Er altert euch nicht; vergebens harret Ihr laurend,
Daß ihm wechſelnde Zeit raube den bluͤhenden Schmuck!
Kind und Juͤngling und Mann ſind hier nicht Stufen des Alters;
Immer zugleich keimt, bluͤht, reifet des Genius Kraft.
Ziehn auch Wolken einmal am Himmel voruͤber: es trifft euch
Xenienwetter, er klaͤrt immer ſich goͤttlicher auf.
537

Friedrich Auguſt Wolf's Marmorbuͤſte von Friedrich Tieck.

1823.

Die vordem Sprachformen, den fluͤchtigen Stoffen, des Marmors
Hell vorſtrahlende Kraft liehen in plaſtiſcher Kunſt:
Weihe des Geiſtes, die Macht der Gelehrtheit, Fuͤlle des Scharf¬
ſinns
Sehet! ſie leihen anitzt geiſtige Flamme dem Stein.
538

In Rauch’s Werkſtatt.

Auf die Bildſaͤule der Koͤnigin von Preußen.

1828.

Das iſt Schlummer, im Schlummer die lieblichſte Fuͤlle des Lebens,
Jugend erbluͤhete nie ſchoͤner in Muͤtterlichkeit.
Schlaͤgt ſie die Augen nicht auf, die goͤttlichen? Regt ſie die Hand nicht?
Nein; doch ſtill! daß nicht ſtoͤre das fragende Wort!
539

Tieck's Gedichte aus Italien.

1823.

Italien! wundervolles Land,
Wo des Lebens Zauberkraft
In uͤppigſter Allgeſtalt
Sich der Sehnſucht entgegen beut,
Wohin die Voͤlker antheilgierig ſich draͤngen
In Kriegeszuͤgen und Friedensreiſen:
Erkenneſt du noch der Deutſchen
Weltherrſchenden Anſpruch,
Nun im Geiſtesblitze,
Wie einſt in des Schwertes?
Ja, noch ſenden wir ſtets
Unſ're Machtgeſandte dir,
Zu empfangen, einzufordern
Deiner koͤſtlichſten Gaben
Vorbehaltene Huldigung,
Die Bluͤthe deines Lebensbaumes,
540
Deiner Begeiſterung Feuerquell,
Deiner Schauwuͤrdigkeit Strahlenmeer!
Unſ’re Dichter, unſ’re Kuͤnſtler,
Friedliche Eroberer,
Durchziehen nach dieſem Tribut
Deine in Vergangenheit
Und in Gegenwart
Fuͤlleſtrotzende Herrlichkeit;
Und vor allen andern
Miteifernden Voͤlkern
Eroͤffnen dem Deutſchen
Deine reichſten Kammern ſich.
Oder hat irgend ein and’rer
Dich Heimſuchender
Mehr jener Gaben erhoben,
Als Winckelmann einſt, der kunſtſelige
Statthalter deines hohen Roms?
Als unſer Heinſe, der in deutſcher Armuth
Doch koͤniglich ſchwelgte
In deinen Gewaͤhrungen?
Als Goethe, der mit Begier und Macht
Eines Gottes begabt,
Im Wolluſtraube des Anſchauens
Allen Lichtglanz deines Genius
Mit trunk’nem Goͤtter-Auge ſog?
Ruhmvoll erheben ſich
Aus dieſer Siegesbeute
Hohe Tempel im Vaterlande,
In der Dichtung Sternenhimmel
Unvergaͤnglich geſtiftet;
541
Keine fraͤnkiſche Corinna,
Kein brittiſcher Byron,
Hochragend ſonſt,
Reicht da hinan.
Solchen Landsleuten nun
Erſcheint ein neuer Genoß,
Gabenheimfuͤhrend geſellt,
Tieck, der liebliche Saͤnger!
Heilungſuchend
Betrat er ſchmerzlich
Die gluͤcklichen Gefilde,
Und in Dichtergruͤbeln
Durchforſcht er wandelnd ſie;
Und ſtolz verſchmaͤhend,
In eig'ner Wahl und Stimmung,
Gewohnter Schaͤtze bekannt Gepraͤge,
Heiſcht 'er neue, ſeltſamliche
Fruͤchte von dem reichen Dichtungsboden,
Der die Wirklichkeit entfeſſelt
Zu phantaſtiſchem Bilderſpiel!
Und Italien ſieht
In der neuen Beraubung
Sich neu verherrlicht.
Sei willkommen im Vaterlande,
Schoͤner Fremde Glanzerſcheinung,
Neuer Gruß dem Geiſtesleben,
Waͤhrend das irdiſche der kargen
Und nur immer kargeren
Gewoͤhnlichkeit erſeufzt!
542
Du bethoͤrſt den uͤberdruͤſſigen Blick
Wenn auch nur taglang taͤuſchend
Mit verwandelter Ausſicht
Jeglicher Naͤhe!
Wie wenn ploͤtzlich um unſre Wohnung
Aus der flachen Oede
Anmuthreiche Huͤgelgegend
Sich erhoͤb 'in lieblichem Strahl des Suͤdens;
Muntres Leben mit reizender Bewegung,
Mit lauen Luͤften die ſternhelle Nacht,
Mit gluͤh'nden Farben der glanzvolle Tag,
Schmeichelnd den Sinn umwogten,
Und die traurigen Geſchichten all
Vergeſſen, in fernen Wolken nur
Zum Hintergrunde der Landſchaft aufgethuͤrmt!
543

Verſagt und gewährt.

Fort abmuͤhet und fort ſich das Menſchengeſchlecht in Begierde,
Durch Jahrhunderte ſtets ringend nach edlerem Loos,
Hoffnungsvoll aus wirrender Nacht und zerruͤttender Drangſal
Goldener Zeit Aufgang endlich in Segen zu ſchaun;
Aber wie Jahr auf Jahr raſtlos auch wandelt die Sonne,
Keiner der Tage noch hat je die erſehnte gebracht!
Stets ruͤckkehret in Dunkel die arbeitvolle Bewegung,
Kaum hellt fluͤchtiger Strahl daͤmmernd das naͤchtige Graus.
Goldene Zeit, unerreicht auf weithinwogender Weltbahn,
Nicht Jahrhunderten, nicht ringendem Menſchengeſchlecht
Glaͤnzend gewaͤhrt, ſie erſteht muͤhlos in des eigenen Herzens
Einſamkeit, nah, ſtill, redlichen Willens Gewinn.
544

Nur weiter.

Erſtlingsſonne des Jahres, ſie ruft fruͤhzeitiger Bluͤthen
Draͤngende Knospen an's Licht milderer Luͤfte hervor;
Noch nicht dauret die mildere Luft, nicht dauren die Bluͤthen,
Nochmals kehret in Eis ſcheidender Winter zuruͤck.
So bei geiſtigen Lichtes erweckendem Erſtlingsrufe
Willigſter Eifer hervor dringt in Verhoͤhnung und Tod.
Aber getroſt! bald herrſcht allſchimmernde Fuͤlle des Fruͤhlings
Doch ringsum, wenn auch fruͤheſte Bluͤthe verkommt.

About this transcription

TextDenkwürdigkeiten und vermischte Schriften
Author Karl August Varnhagen von Ense
Extent561 images; 100271 tokens; 18562 types; 743012 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDenkwürdigkeiten und vermischte Schriften Zweiter Band Karl August Varnhagen von Ense. . VIII, 544 S. HoffMannheim1837.

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BBAW DWB/B4

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Prosa; core; ready; ocr

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Editorial principles

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