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Denkwuͤrdigkeiten und vermiſchte Schriften
Denkwürdigkeiten und vermiſchte Schriften
Dritter Band.
Mannheim. Verlag von Heinrich Hoff. 1838.

Druck von Hoff & Heuſer in Mannheim.

Inhalt des dritten Bandes. Aus eignen Denkwürdigkeiten.

  • Seite
  • Studien und Stoͤrungen. Berlin 18071
  • Beſuch bei Jean Paul Friedrich Richter64
  • Tuͤbingen. 1808. 180987
  • Steinfurt. 1810. 1811127
  • Harren und Streben. Prag 1811. 1812168
  • Tettenborn213
  • Hamburg im Fruͤhjahr 1813249
  • Kriegszuͤge von 1813. 1814382
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Studien und Störungen.

Berlin 1807.

Das Fruͤhjahr trat mit ſtarken Schritten ein, ohne fuͤr Halle guͤnſtigeres Geſchick, noch dem in Preußen fortwuͤthenden Krieg eine erwuͤnſchte Wendung zu brin¬ gen; wir fuͤhlten Alle, daß ein laͤngeres Abwarten der Dinge fuͤr uns unſtatthaft ſei, und wir das beginnende Sommerhalbjahr wenigſtens ſo gut als thunlich zu be¬ nutzen haͤtten. Wolf und Schleiermacher wandten die Augen nach Berlin, und zu dieſem Orte zogen auch unſre Verhaͤltniſſe und Studien uns am ſtaͤrkſten hin. Adolph Muͤller wollte in jedem Falle die mediciniſchen Anſtalten dort benutzen; fuͤr mich boten dieſe reichlich dar, was ich am dringendſten bedurfte, und meinem und Neumann's philologiſchen und allgemein wiſſen¬ ſchaftlichen Trieben war hier, beſonders wenn Wolf und Schleiermacher folgten und ihre beabſichtigten Vorleſungen hielten, noch immer mehr bereitet, als auf jeder andern uns bekannten Univerſitaͤt. Fuͤr uns waren EntſchlußIII. 12und Ausfuͤhrung am leichteſten, und ſo fanden wir Beide uns die erſten auf dem Wege, bei ſchoͤnem Wetter um die Mitte des April, aus ſtudentiſcher Vorliebe und aus Sparſamkeit diesmal zu Fuß, welches beides jedoch nur von Halle bis Deſſau und von Potsdam bis Berlin vorhielt, denn zwiſchen Deſſau und Potsdam uͤbernahm uns die traurige Oede und muͤhſame Beſchwerlichkeit der ſandigen, damals noch ungebauten Landſtraße zu ſehr, und wir beſtiegen den Poſtwagen, der ſchon lange neben uns fuhr, und jetzt unſrer Reiſe zwar wenig Be¬ ſchleunigung, aber doch einſchlaͤferndes Ausruhen ge¬ waͤhrte.

Wir ſahen in Berlin der Reihe nach unſre Freunde mit herzlichſtem Willkommen. Leider entging uns nicht, daß der Druck des Krieges in der ganzen Stadt hart fuͤhlbar war, uͤberall zeigte ſich Zerruͤttung der Ver¬ haͤltniſſe, Verringerung der Huͤlfsmittel, Einſchraͤnkung der Lebensweiſe, dazu die unerſchwinglichen Laſten der Kriegsabgaben und der Einquartierung, und eine große Muthloſigkeit in Betreff der Zukunft. Ein knappes und ſpaͤrliches Weſen, das von jeher an dem Berliner Leben im Gegenſatz uͤppigerer Hauptſtaͤdte bemerklich wurde, zog ſich noch mehr in's Enge und Bange, und ſtach nur um ſo widriger gegen das Wohlleben ab, welches die fremden Sieger auf Koſten des bezwungenen Landes fuͤhrten. Auch fuͤr uns ſelbſt wurde dieſer Zuſtand un¬ mittelbar empfindlich, denn ſo manche Huͤlfsquellen, auf3 die wir hoffen durften, blieben aus, beſonders in Neu¬ mann's Verhaͤltniſſen trat voͤllige Ebbe ein, und wir waren beide geraume Zeit auf die Mittel beſchraͤnkt, welche mir zukamen, und bei denen fuͤr zwei doch man¬ ches Behelfen noͤthig wurde; wir wohnten und lebten indeß gemeinſchaftlich, ſo gut es ging.

Mein Studiren war bald angeordnet. Ich warf mich bei den Unſicherheiten, die ich in unſrer deutſchen Welt herrſchen ſah, nur um ſo ernſtlicher auf die Me¬ dicin, als worin mir Stand und Waffe zum bedenklichen Kampfe des buͤrgerlichen Lebens vor allem gewonnen ſein mußte, um demnaͤchſt wo moͤglich auch andre Zwecke und Ausſichten verfolgen zu koͤnnen. Manche Zwiſchen¬ ſtufe, zu welcher ich ſpaͤter zuruͤckzukehren dachte, fuͤr jetzt uͤberſpringend, und im Grunde wirklich genugſam vorbereitet, eilte ich ſogleich in die Mitte der ausuͤben¬ den Heilkunde, und machte den kliniſchen Lehrgang in dem Charité-Krankenhauſe mit, außerdem hoͤrte ich bei Willdenow Botanik und Arzneimittellehre, und, damit ich mir an Gruͤndlichkeit nichts erließe, nochmals, ich glaube zum ſiebenten oder achtenmale, die Oſteologie. In beſtimmten Stunden trieb ich mit Theremin das Spaniſche, Engliſch und Italiaͤniſch mit andern Freunden, und kein Tag verging, da ich nicht im Homer und in der griechiſchen Anthologie geleſen und aus der letztern ein paar Stuͤcke metriſch uͤberſetzt haͤtte, welches letztere mir gewoͤhnlich ſchon zuerſt am Morgen, beim Ankleiden1*4und Fruͤhſtuͤcken, ohne Anſtrengung gelang. Neumann unterdeſſen, fuͤr welchen es keine Vorleſungen gab, wandte ſich mit angeſtrengtem Fleiß auf die Ueberſetzung der florentiniſchen Geſchichte des Machiavelli, wovon er ſich gute Frucht verſprach, beſonders wenn Johann von Muͤller bewogen werden koͤnnte, wie wir hofften, durch eine Vorrede und Anmerkungen das Buch empfehlend auszuſtatten.

Dieſer Grund wirkte ſtark mit, daß ich mich beeilte, nun auch die perſoͤnliche Bekanntſchaft des großen Ge¬ ſchichtſchreibers, dem wenigſtens damals die herrſchende Meinung keinen Lebenden an die Seite ſtellte, mir nicht laͤnger entgehen zu laſſen; die Verſtimmung, welche ſich mit ſeinem Namen verbunden hatte, war mir einiger¬ maßen geſchwunden, indem die Erſten und Beſten der Nation, von denen ich nur Goethe, Wolf und Schleier¬ macher hier nennen will, fortwaͤhrend ſein Verdienſt hervorhoben und ſeine Schwaͤche entſchuldigten. Ich beſchloß, ihn zu beſuchen, und zwar gradezu, ohne Empfehlung oder Anfrage, wie mir das ſchon immer am beſten eingeſchlagen war. Der Empfang konnte in der That nicht freundlicher ſein, und wunderbarerweiſe fand ich mich ohne es zu wiſſen ſchon durch meinen eignen Namen empfohlen. Das hing ſo zuſammen. Der ſpaniſche Geſandte in Berlin, General Benito Pardo de Figueroa, ein Mann von gutem Sinn und vielfachen Kenntniſſen, hatte die ſeltne Gabe, ſeine dichteriſche5 Ader in griechiſche Verſe ausſtroͤmen zu koͤnnen, und wiewohl weder das Dichteriſche noch das Griechiſche von erſter Qualitaͤt waren, ſo blieb doch dieſe Verbindung eines griechiſchen Poeten und eines ſpaniſchen Generals und Geſandten ein unerhoͤrte Merkwuͤrdigkeit, welche in der gelehrten wie in der vornehmen Welt kein geringes Aufſehen machte. Der General nahm mit liebenswuͤr¬ diger Eitelkeit die Bewunderung auf, die ihm auf dieſem deutſchen Boden zum erſtenmal ſo recht zu Theil wurde, und ließ ſein Licht beſtens leuchten, ſelbſt in den hoͤch¬ ſten Kreiſen, wo ſeit den Zeiten der Koͤnigin Chriſtina von Schweden die Galanterie ſchwerlich in dieſer Sprache ſich hatte vernehmen laſſen. Ein griechiſches Sinngedicht auf die Schoͤnheit der Koͤnigin Luiſe hatte in den Ber¬ liner Zeitungen geſtanden, und war, aus der geringen Stellung zwiſchen den gewoͤhnlichen Anzeigen dieſes grauen Loͤſchpapiers zu dem Glanze des Hofes gehoͤrig emporgezogen worden. Die Ungluͤcksfaͤlle Preußens rauſchten uͤber dieſen Eindruck hin, und hatten ihn faſt verwiſcht, als ein zweites Gedicht hervortrat, auf ſchoͤnem Papier mit ſaubern Typen gedruckt, eine ſapphiſche Ode an den ſpaniſchen Dichter Arriaza, gewuͤrzt mit dem Lobe des Friedensfuͤrſten, den auch jener beſungen hatte. Wolf bekam das Blatt nach Halle zugeſandt, gab es mir als eine Merkwuͤrdigkeit zu leſen, mein techniſcher Trieb hatte gleich eine Ueberſetzung fertig, ſie wurde von Wolf eingeſiegelt und nach Berlin abgefertigt, wenige6 Tage vor meinem Aufbruch dahin. Jetzt fand ich hier dieſe Ueberſetzung, zugleich mit einer lateiniſchen und franzoͤſiſchen, einem neuen Abdrucke dieſes griechiſchen Originals beigefuͤgt, und Muͤller in hoͤchſter Freude be¬ theuerte, ich muͤſſe ohne Saͤumen mit ihm den General Pardo beſuchen, der uͤber jene Zuſendung aus Halle ganz entzuͤckt geweſen, der mich mit offenen Armen empfangen wuͤrde, und der uͤberhaupt ein hoͤchſt liebens¬ wuͤrdiger und vortrefflicher Mann, dazu ſein ganz be¬ ſonderer Freund ſei. Ich verſaͤumte nicht, Muͤller'n auch alsbald das Anliegen Neumann's zu eroͤffnen, und fand ihn bereitwillig genug, das Unternehmen zu foͤr¬ dern. Mit Innigkeit nnd Ehrerbietung ſprach er von Alexander von der Marwitz, den er ſelbſt fruͤher an Wolf nach Halle empfohlen hatte. Eifrig und dringend begehrte er von meinen Studien und Abſichten das Naͤhere zu wiſſen, bot mir alle ſeine Buͤcher an, und als ich ein Wort von der griechiſchen Anthologie hatte fallen laſſen, freute er ſich uͤber die Maßen, holte gleich Brunck's Analekten herbei, ſchlug mehreres auf, fragte mit Haſt und Unruhe, wie ich denn die vielen bedenk¬ lichen Sachen in meinen Ueberſetzungen zu behandeln daͤchte, und als ich erwiederte, ich gaͤbe ſie unbefangen ſo wieder, wie ſie daſtuͤnden, lobte er dieſe Vorurtheils¬ loſigkeit uͤbermaͤßig, und hielt der ganzen Richtung, in Betreff ihrer Wirkungen auf die Freundſchaft und Bil¬ dung der Juͤnglinge, eine uͤberſchwaͤngliche Lobrede, die7 mich in ernſtes Erſtaunen ſetzte. Eines der aͤrgſten Epigramme, ein Raͤthſel von Straton, las er mit froͤh¬ lichem Wohlbehagen laut vor, und verhehlte gar nicht, was manche gutwillige Seelen, die auf ihre Beſcheiden¬ glaͤubigkeit wohl gar recht ſtolz ſein wollten, zu ſeinen Gunſten hartnaͤckig laͤugneten. Ein ſchroffer Ernſt ſcheuchte alle dieſe Anſpielungen in tiefe Nacht zuruͤck, und dann erſchien wunderbar ein verſtaͤndiger Sinn, ein heitres Wohlwollen und ein unendliches Wiſſen, die in freiem, ungetruͤbtem Geſpraͤche ſich wuͤrdig darlegen mochten, und in dem Zuhoͤrer die groͤßte Befriedigung, nicht ſelten ſogar Begeiſterung erweckten. Sein ganzes Aeußere, die geſchwaͤchten entzuͤndeten Augen, die blaͤ߬ liche feine Haut, die faſt kindiſchen Zuͤge des Mundes, die unangenehme ſchweizeriſche, mit franzoͤſiſchen Ein¬ ſchiebſeln durchbrochene Sprache, die Unruhe der Glieder des nicht großen und ziemlich dicken Koͤrpers, alles dieſes war dann leicht zu vergeſſen, weil ſein Innres von einem wahren Feuer des Wiſſens und der Geſin¬ nung doch wirklich ergluͤht war, und die Funken davon mit kraͤftiger Wirkung ausſtroͤmte. Die Verehrung fuͤr dieſe Geiſteswuͤrde ließ uͤber die bemitleidenswerthen Unwuͤrdigkeiten, die ſich derſelben angeniſtet, wie uͤber Ungeziefer hinwegſehen.

Bei dem General Pardo wurde mir die verheißene Aufnahme. Der Mann ſchwelgte in Liebhaberei zu den alten Sprachen, zur klaſſiſchen Gelehrſamkeit, taͤglich8 hatte er Gelehrte bei ſich zu Tiſch, und zeigte ihnen ſein Wiſſen, wie er das ihrige begierig annahm. Ließ von dieſer Seite eine kleine Schwaͤche ſich kaum ver¬ bergen, ſo zeigte er dagegen von andern Seiten wirklich einen erfahrnen, geſcheidten und wohldenkenden Mann. Ein laͤngerer Aufenthalt in Mejico hatte ihn mit man¬ nigfachen Anſchauungen erfuͤllt, er ſprach lebhaft und offen, die Vorurtheile eines Spaniers hatte er meiſt abgelegt, und die fuͤr ſeine fruͤhen Schulſtudien beibe¬ haltene Neigung war ihm nur guͤnſtig anzurechnen. Ich war mehrmals bei ihm zu Tiſch, gewoͤhnlich mit Muͤller, auch mit dem oͤſterreichiſchen Legationsſecretair Grafen von Bombelles, und dem Prediger Catel, meinen Mit¬ uͤberſetzern, ſpaͤterhin auch mit Wolf. Hier wurde dann nach Herzensluſt homeriſirt uod pindariſirt, dichteriſche Vorzuͤge in's Licht geſtellt, Eignes und Fremdes mit¬ getheilt, alles mit groͤßter Freiheit. Mein Franzoͤſiſch kam mir hier gut zu Statten, weil alles in dieſer Sprache vorging, aber auch meine ungefaͤhre Kenntniß des Spa¬ niſchen und meine fruͤhere Bekanntſchaft mit dem Grafen Caſa-Valencia gereichten hier zur Annehmlichkeit. Wurde zuweilen Politik verhandelt, ſo geſchah auch dies ohne viel Zuruͤckhaltung, doch durften dann keine Franzoſen gegenwaͤrtig ſein, in deren Sinne die Spanier eigentlich ſprechen ſollten, aber keineswegs alle dachten; zwar Pardo ſelbſt und Urquijo noch ſo ziemlich, aber der Andaluſier Montalbo, der ſpaͤterhin aus ſeiner diploma¬9 tiſchen Anſtellung zu den kriegeriſchen Reihen ſeiner Landsleute gluͤcklich entkam, verhehlte ſchon damals nicht, daß er ein Feind der Franzoſen ſei und dem Kaiſer Napoleon alles Unheil wuͤnſche.

Johann von Muͤller zeigte bei ſolchen Gelegenheiten eine ſtets belebte und ſtets ſachenreiche Mittheilung. Ich ſtritt oͤfters mit ihm uͤber die Angelegenheiten des Tages, und er ſuchte dann ſtets einer mildern Beur¬ theilung der franzoͤſiſchen Sachen Eingang zu verſchaffen, fuͤr Napoleon aber ſprach er unbedingte Bewunderung aus. Der Anlaß brachte ihn einesmals dazu, daß er ſeine bei dem Kaiſer gehabte Audienz ausfuͤhrlich erzaͤhlte, ungefaͤhr mit denſelben Umſtaͤnden, welche auch in ver¬ ſchiedenen ſpaͤterhin im Druck erſchienenen Briefen an¬ gegeben ſind. Eines Zuges jedoch, erinnere ich mich, deſſen ich nirgend erwaͤhnt finde, und den ich als einen hoͤchſt bezeichnungsvollen hier aufbewahren will. Unter den Gegenſtaͤnden des Geſpraͤchs, erzaͤhlte Muͤller, kam auch Caͤſar vor, in deſſen Lob Napoleon eifrig einſtimmte; Muͤller bemerkte dem Kaiſer, es ſei zweifelhaft, welchen Gebrauch Caͤſar, wenn er nicht durch Meuchelmord um¬ gekommen waͤre, von ſeiner errungenen Obergewalt zunaͤchſt wuͤrde gemacht haben, einige Andeutungen gingen darauf, daß er das Innere der Republik neu anordnen wollen, andre hingegen, daß er die Parther zu bekriegen im Sinne gehabt; bis dahin habe der Kaiſer ruhig zugehoͤrt, dann aber ſogleich raſch ausgerufen:10 Il aurait fait la guerre aux Parthes! und dieſe Worte mehrmals heftig wiederholt. Muͤller durfte uns dieſen Zug, der allerdings die Stimmung und den Geiſt Napoleon's ſehr bedenklich zu erkennen gab, muͤndlich wohl anvertrauen, doch liegen auch die Gruͤnde nahe genug, welche ihn abhalten konnten, dergleichen waͤhrend des hoͤchſten Schwebens jener Machtverhaͤltniſſe ſchriftlich in die Ferne mitzutheilen.

Adolph Muͤller traf nun auch aus Halle ein, wo er noch im Stillen eilig Doctor der Medizin geworden war. Dieſer junge Mann, fruͤher oft geiſtig ſchwankend und geſellig zuruͤckhaltend, entfaltete jetzt die herrlichſten Schwingen, und erſchien als ein edler, ſtarker, fuͤr das Leben und die Wiſſenſchaft ausgeruͤſteter, frei und ſicher umſchauender, entſchloſſen und maßvoll thaͤtiger Arzt und Menſch, der auf der Stelle Gunſt und Zutrauen gewann, ja, durch Feinheit und Wuͤrde eines nie feh¬ lenden, und doch ſtets lebhaften und beſeelten Betragens, Liebe und Bewunderung erweckte. Man konnte von ihm ſagen, je ſtaͤrker er in die Wirklichkeit des Lebens einging, am Krankenbette beſchaͤftigt war, Anſtalten beſuchte, Verhaͤltniſſe anknuͤpfte, deſto reiner und kraͤf¬ tiger lebte er in hoͤherer Sphaͤre, und jener Sommer war unſtreitig fuͤr ihn eine Zeit ununterbrochenen Gluͤckes, daß durch die Ausſicht auf eine Reiſe nach Paris, ſo wie auf den kuͤnftigen Aufenthalt in Bremen, wo ihm alles die ſchoͤnſten Lebenstage verſprach, noch erhoͤht11 wurde. Der Reimer'ſche Kreis war ganz von ihm ein¬ genommen; Marwitz, der vom Lande hereinkam, ſtaunte den ſchnell Emporgeſtiegenen an, und knuͤpfte innigere Freundſchaft mit ihm, Theremin, Wilhelm von Schuͤtz, Bernhardi, wer ihn nur kennen lernte, bewieſen ihm achtungsvolle Aufmerkſamkeit. Einige Schaͤrfe und Strenge, die bisweilen aus ſeiner urſpruͤnglich milden, aber durch Fruͤhling und Gluͤck aufgeregten Gemuͤthsart hervorbrachen, verletzten wohl tief, aber nicht lange, da weder Abſicht noch Folge dabei zu ſpuͤren war. Wenig¬ ſtens verzieh ich ihm gern und leicht, wenn er in ſolcher Art gegen mich bisweilen ſich uͤbernehmen wollte.

Bald kam auch Schleiermacher mit ſeiner Schweſter, und kurz darauf Wolf an, ſo daß der halliſche Kreis in Berlin ſich gleichſam neu anbaute. Nur Harſcher und Bekker fehlten noch, aber auch ſie wollten kommen, und aus Frankreich erwartete ich Chamiſſo'n. Die fort¬ dauernden Kriegsunfaͤlle und die ſteigende Verarmung ſtoͤrten den Drang und Sinn geiſtiger Thaͤtigkeit nicht, ſie belebten ihn vielmehr. Wolf bereitete ſeine Zeitſchrift der Alterthumswiſſenſchaft in heitrer, mittheilungsfroher Geſchaͤftigkeit vor; Schleiermacher las einer anſehnlichen Zuhoͤrerſchaft von Juͤnglingen und Maͤnnern die Ge¬ ſchichte der griechiſchen Philoſophie, ein geiſtreiches Kol¬ legium, noch beſonders merkwuͤrdig, durch den freien, redneriſchen Vortrag, der ohne Stocken in ſchoͤnem Eben¬ maße gebildeter Sprache klar dahinfloß, ohne daß der12 Sprechende ein leitendes Heft, oder auch nur, bei ſo vielen griechiſchen Stellen, die er woͤrtlich anfuͤhrte, ein aushelfendes Blatt zur Hand gehabt haͤtte. Auch ver¬ ſaͤumte er nicht die Gelegenheit zu predigen, die ſich bald in dieſer Kirche bald in jener darbot, und wozu wir uns gewiſſenhaft immer einfanden, wiewohl uns die fruͤhere halliſche Sinnigkeit und Klarheit in dem Redner oftmals zu mangeln ſchien. Eben ſo wenig verſaͤumte ich die Predigten, welche Theremin damals franzoͤſiſch hielt, deren glaͤnzende, redneriſche Wirkung wohl nicht uͤbertroffen werden konnte.

Die naͤchſten Pfingſtferien benutzte ich zu einem Be¬ ſuch bei Fouqué in Nennhauſen, einem bei Rathenau im Havellande gelegenen Gute ſeines Schwiegervaters, des Herrn von Brieſt, wohin ich ſchon laͤngſt einge¬ laden war und ſehnlich verlangt hatte. In Geſellſchaft Bernhardi's, der trotz ſeiner außerordentlichen Dick¬ leibigkeit ſehr gut zu Fuß war, machte ich mich fruͤh¬ morgens auf den Weg, und mit Huͤlfe einer fuͤr die letzten Meilen genommenen Poſtfuhre kamen wir noch bei guter Zeit daſelbſt an. Schon unterwegs hatte Bernhardi, der mehrmals dort geweſen und dem ganzen Hauſe wohlvertraut war, mich mit den Perſonen und Verhaͤltniſſen vorlaͤufig bekannt gemacht. Der Beſitzer von Nennhauſen war Herr von Brieſt, ein vortrefflicher, in jedem Betracht ehrwuͤrdiger Mann, von großer, hagerer Geſtalt, milder Freundlichkeit und wohlthuendem13 Ernſt. Er hatte noch im ſiebenjaͤhrigen Kriege mitge¬ fochten, dann als Rittmeiſter ſeinen Abſchied genommen und ſich auf das Land zuruͤckgezogen, wo er in geiſti¬ ger und wirthſchaftlicher Beziehung ein tuͤchtiges und ertragreiches Leben fuͤhrte. Ein ſchoͤner Park war durch ihn entſtanden, auslaͤndiſche Baͤume und Geſtraͤuche hatte er angepflanzt, und jeden Fortſchritt im Landbau fuͤr ſich und ſeine Dorfleute beſtens zu benutzen geſucht. Die letztern liebten und ehrten ihn als einen vaͤterlichen Herrn, bei welchem ſie in allen Faͤllen guten Rathes und wirkſamer Huͤlfe verſichert waren. Von dem Mann, ſagte mir ein alter Bauer, hab 'ich noch mein Lebtag nichts Ungeſchicktes gehoͤrt. Der Name von Brieſt lebte in dieſen Gegenden ſchon von alten Zeiten her in beſtem Ruhme; ein Landrath dieſes Namens hatte bei des großen Kurfuͤrſten Ueberfall der Schweden in Rathenau zu dem Siege weſentlich mitgewirkt, wie deſſen auch Friedrich der Große in den brandenburgiſchen Denkwuͤrdigkeiten ehrend erwaͤhnt. Jetzt war derſelbe Namen auch mit den Vorzuͤgen deutſcher Wiſſenſchaft verknuͤpft; in Fichte's und Niethammers philoſophiſcher Zeitſchrift hatte Huͤlſen, der eine Zeit lang in Nenn¬ hauſen bei ſeinem Freunde gelebt, philoſophiſche Briefe an Brieſt drucken laſſen.

Seine Tochter, Frau von Fouqué, war eine hohe, glaͤnzende Erſcheinung, die aͤußere Schoͤnheit ordnete ſich gleichſam als Zugabe dem noch reicheren Glanze14 des inneren Lebens bei; ſolche Begabung des Geiſtes und ſolch 'einnehmende Gemuͤthsfuͤlle finden ſich nur ſelten vereinigt. Auch an litterariſchem Talent war Frau von Fouqué groͤßer, als die meiſten ihrer Zeitge¬ noſſinnen, die ſpaͤter mit ihr wetteiferten, und ihr erſtes Erzeugniß dieſer Art, ein Roman Rodrich wird an kraͤftiger Haltung gewiß von keiner Frauendichtung uͤber¬ troffen. Die Umſtaͤnde, welche ſpaͤterhin dieſes Talent dennoch hindern konnten, in ſeiner ganzen Macht her¬ vorzutreten, und die Ruhmesgebuͤhr, zu der es berech¬ tigt war, von der Welt einzufordern, werden deshalb immer zu beklagen ſein!

Liebevoll und befriedigend ſtellte ſich daß Verhaͤltniß mit Fouqué. Wer ihn bloß in ſpaͤtern Jahren gekannt hat, wird ihm einen tiefen Grund von Edelſinn und Gutmuͤthigkeit nicht abſprechen duͤrfen, wenn auch dieſe ſchoͤnen Eigenſchaften, und ſogar ſeine dichteriſche Gabe, jetzt von mancher Verbitterung, die ihm das Leben zu¬ gefuͤhrt hat, getruͤbt ſind. In jener Zeit aber war der lebhafte, beſcheidene, freiſinnige und herzliche, von jedem beſten Willen beſeelte Mann das Bild der reinſten Liebes¬ wuͤrdigkeit. Er ſah auf eine zum Theil ſchmerzvolle Vergangenheit ſo ergeben zuruͤck, als haͤtte er nichts mehr zu hoffen, und hoffte ſo friſch und froͤhlich von jedem neuen Tage das Beſte, als haͤtte er noch gar nichts erlebt. Seine Dichtung ſtand auf der Hoͤhe des genußreichſten Hervorbringens, mit jedem kleinen15 Erfolg um ſo leichter befriedigt, als es eigentlich auf allgemeinen Beifall nicht einmal abgeſehen war. Die uͤppigſte Fruchtbarkeit und anmuthigſte Leichtigkeit ließen ihm alles zu Gedichten und Reimen werden, was er nur beruͤhrte, und dieſe Art von Stegreifdichten, die ſtete Gegenwart und Fluͤſſigkeit dieſer poetiſchen Regung und Aeußerung, erhoͤhte fuͤr ſeine naͤhern Freunde, die das Hervorbringen mit anſahen, den Reiz und die Waͤrme ſeiner Dichtergebilde, welche, fuͤr ſich allein und von ihrem Entſtehen getrennt betrachtet, allerdings etwas zu ſtark in die gruͤnen Blaͤtter geſchoſſen duͤnk¬ ten. Mich aber bezauberte dieſer reiche Wachsthum, der ſich gleichſam unter meinen Augen entfaltete und mehrte, denn Fouqué hatte nicht nur ganze Schubladen mit ſchon abgeſchloſſenen Handſchriften gefuͤllt, ſondern in der kurzen Zeit unſrer Anweſenheit ſahen wir den Vorrath um große und kleine Stuͤcke bereichert, jeder Tag und jede Stunde, beſonders aber regelmaͤßig der fruͤhere Nachmittag, fand Fouqué zum Schreiben auf¬ gelegt, und dann ſchrieb er ſeine Sachen, Lyriſches und Dramatiſches, und gleicherweiſe epiſche Proſa, faſt ohne auszuſtreichen, ununterbrochen hin, ſo ſchnell die Feder laufen mochte. Viele Stunden wurden mit Vorleſen verbracht, andere mit Erzaͤhlungen, ein guter Theil des Tages aber mit Spazierengehen in dem herrlichen Park, welchen der alte Brieſt noch taͤglich mit Liebe pflegte, ein Wald ſchloß ſich an,[ein] dunkelblauer See breitete16 ſich aus, die geringen Anhoͤhen waren wohlbenutzt, und ſo gab Nennhauſen ordentlich den Eindruck einer ſchoͤnen Gegend. Wir machten auch einigen Beſuch in der Nach¬ barſchaft, andrer fand ſich von daher ein. Die Abende verbrachte man geſellig bei Thee und Abendeſſen, zwiſchen welche fuͤr den alten Brieſt wohl eine Schachpartie ſich eindraͤngte, zuweilen auch ergoͤtzte man ſich mit Piſtolen¬ ſchießen oder Kegeln, letzteres vorzuͤglich einem alten verkruͤppelten Offiziere aus dem ſiebenjaͤhrigen Kriege, Herrn von Laßberg, zu Liebe, der bei ſeinem Freunde fuͤr den Reſt ſeiner Lebenstage großmuͤthige Aufnahme gefunden hatte, und an jenem Spiel beſonders Ver¬ gnuͤgen fand.

Das Ungluͤck Preußens und die geringen Hoffnun¬ gen, die man von dem damals noch fortdauernden Kriege haben konnte, wurden reichlich durchgeſprochen, wie im Gegenſatz auch die glaͤnzenden Zuſtaͤnde und Erſcheinungen des preußiſchen Militairlebens vor dem ungeheuern Fall. Man faßte den eingetretenen Wech¬ ſel nicht, man ſah die Folgen rieſengroß vor ſich, und konnte nicht an ſie glauben, man wußte in den Weiten der Welt kein Rettungsmittel mehr, denn auch an den Ruſſen verzweifelte man ſchon, und auf die Oeſterreicher wollte man nicht rechnen; aber dennoch meinte man, es koͤnne und muͤſſe Alles wieder umgewendet werden, und zwar jetzt und ganz, dieſe Aufgabe druͤckte ſich der Empfindung mit tauſend Stacheln unaufhoͤrlich ein.

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Ein andrer Gegenſtand, der uns viel und ernſthaft beſchaͤftigte, war Bernhardi's Angelegenheit. Der be¬ deutende Kreis, in welchem er ſeine ſchoͤnſten Jahre gelebt, hatte ſich allmaͤhlig aufgeloͤſt, Friedrich Schlegel war nach Paris gezogen, Wilhelm Schlegel lebte bei Frau von Stael in der Schweiz, Ludwig Tieck in Muͤn¬ chen, aber ſchlimmer, als aͤußere Trennung hatte Zwie¬ ſpalt hier die ſcheinbar ſo tiefen Bande der Vereinigung zerſtoͤrt.

Kaum waren wir von Nennhauſen in Berlin zuruͤck, ſo ergab ſich daſelbſt fuͤr uns die Gelegenheit eines ſchoͤnen Feſtes. Wolf konnte nicht in Berlin ſein, ohne daß ſeine ehemaligen Zuhoͤrer aus allen Kreiſen der Hauptſtadt ihn eifrig begruͤßten, und die eigentlichen Philologen ſich fortwaͤhrend um ihn ſammelten. Die verſchiedenen Generationen ſeiner Schuͤler lagen zum Theil weit auseinander, Heindorf und Ideler zum Bei¬ ſpiel ſtanden gegen uns Juͤngſte ſelbſt wieder als Leh¬ rer da. Unſre gemeinſame Huldigung ihm aber in dieſer Mannigfaltigkeit vereinigt darzubringen,[verabredeten] wir ein Mittagsmahl im Thiergarten; Wolf wurde hinge¬ fuͤhrt, wie zu einem gelegentlichen Mittageſſen von vier oder fuͤnf Perſonen, und der treffliche Mann war ſo uͤberraſcht als geruͤhrt, eine ſo ſtattliche Verſammlung von mehr als dreißig Gaͤſten zu finden, worunter nur zwei oder drei, wie z. B. Buttmann, nicht ſeine halli¬ ſchen Schuͤler waren. Eine geiſtreiche Munterkeit, fernIII. 218von jeder Pedanterei, durchſtroͤmte die ganze Geſellſchaft, Wolf's heitrer Genius beherrſchte die Gemuͤther, man fuͤhlte ſich von dem Hauche der gebildeten Vorwelt uͤberall angeweht. Ich aber hatte im Stillen noch eine andre Ueberraſchung vorbereitet, zog nun Heindorf und Buttmann in's Vertrauen, und waͤhrend unter ſaͤmmt¬ liche Gaͤſte die Abdruͤcke eines Gedichts ausgetheilt wurden, forderten jene mich auf, daſſelbe vorzutragen. Gleich das Motto aus Goethe: Erſt die Geſundheit des Mannes, der, endlich vom Namen Homeros kuͤhn und befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn, wurde mit ſtuͤrmiſchem Beifall und Klange der Glaͤſer aufge¬ nommen, dann las ich mit tiefer Bewegung und freu¬ diger Kraft in die horchende Stille einen Dithyrambus in Galliamben, wie ſchon ehemals Voß einen an Wolf gedichtet hatte, wozu ich nun in Deutſchland das erſte Seitenſtuͤck lieferte. Nur ein ſo ſchwieriges Metrum, einſt von Wolf ſelber als faſt unnachahmbar Voſſ'en zur Aufgabe geſtellt, konnte dieſer Gelegenheit wuͤrdig entſprechen, ſein Schritt und Tanz trugen im Schwunge den nicht allzu klaren und feſten Inhalt ſiegreich dahin, und erregte die ſchon guͤnſtigen Hoͤrer zu ausbrechen¬ dem Jubelruf. Ich war als Verfaſſer nicht genannt, aber Niemand hatte daruͤber Zweifel, und Wolf richtete an mich, nachdem auf ſein Wohlſein nochmals mit Begeiſterung getrunken worden, zum Danke zwei vor¬ treffliche Galliamben, die er aus dem Stegreif herſagte,19 auch hierin alſo unter ſeinen Juͤngern ſich als uͤber¬ ragender Meiſter behauptend, denn Galliamben aus dem Stegreife, wem außer ihm haͤtte das nur einfallen duͤrfen! Leider kann ich in meinen Papieren dieſe beiden Verſe nirgends auffinden, und in meinem Gedaͤchtniß nicht vollſtaͤndig. Die herrlichſte Stimmung dauerte nun fort, viel heiteres und wichtiges Philologiſche kam zur Sprache, man beredete feſter die Herausgabe des Muſeums der Altertumswiſſenſchaft, und ich weiß kaum ein zweites Feſt, das durchgaͤngig in ſo ſchoͤnem Ausdruck geiſtiger Erregung verblieben waͤre.

Wenn nicht irgend eine ſchaffende Richtung ſich damit verbindet, ſo laſſen Fleiß und Eifer in den Studien nicht viel Beſonderes von ſich ſagen, das bloße Erler¬ nen ſtellt ſich nur als einfoͤrmige Wiederholung dar. Letzteres war jetzt mein Fall; mir ging eigentlich nirgends ein neues Licht auf, ich ſuchte mir in bekannten Fel¬ dern nur immer groͤßeres Material anzueignen, ich ver¬ ſaͤumte die Kollegia ſelten, und eilte ihnen in meinen Vorbereitungen oft nur allzu weit voraus, was freilich nur um ſo leichter zur Folge hatte, daß ſie gegen den Schluß mir unertraͤglich wurden, und ich ſie meiſt eine Zeit vorher ſchon aufgab. Die vielen Verhaͤltniſſe und Zwiſchenſpiele ſtoͤrten mich in meinen Arbeiten zuweilen, dieſe bekamen aber auch neue Friſche und Staͤrke durch die Anregungen, von denen ich ergriffen, aber nicht erfuͤllt wurde. Im Gegentheil, mit jedem Tage mehrte2*20ſich mir die Menge der Lebensverhaͤltniſſe und der Be¬ ſchaͤftigungen. Ich hatte den Oberbibliothekar Bieſter kennen lernen, und dabei von Litteratur und Gelehrten mit ihm ſo frank und frei geſprochen, als wuͤßte ich gar nicht, daß er einer beſondern und ſehr beſtimmten Parthei in dieſem Reiche angehoͤre, und uns junge Poeten in ſeiner Berliner Monatsſchrift bitter recenſirt habe; daß ich die Schlegel ruͤhmte, Ficht'n bewunderte, Schleiermacher'n prieß, ließ ihn arge Geſichter ſchnei¬ den, wenn ich dagegen Wolf hoch verehrte, erheiterten ſich ſeine Zuͤge wieder, und er ſchmunzelte von Wohl¬ gefallen, als ich uͤber Zacharias Werner mich luſtig machte; er ſchien zu glauben, in der neuen Schule gaͤbe es gar keine Unterſchiede, wer ihr angehoͤre, muͤſſe es mit Haut und Haar, und jedes dumme Goͤtzenbild gut heißen, das irgendwo in der aͤußern Uebereinſtimmung mit dieſer Kirche vortrete; er ſchuͤttelte den Kopf, ſprach aber nicht ungern mit mir, und brachte mich auch in die Saͤle der Bibliothek. Ich verfiel unter andern auf die deutſche Litteratur aus den Zeiten des dreißigjaͤhri¬ gen Krieges, und las mich bald mit großer Vorliebe hinein. Die Harsdoͤrfer'ſchen Schriften eroͤffneten einen Wuſt halb verarbeiteten poetiſchen Stoffes, Paul Flem¬ ming, den ich ſchon fruͤher theilweiſe gekannt, wurde fuͤr immer eines meiner Lieblingsbuͤcher, unerſchoͤpfliche Luſt und Nahrung aber gaben mir die Geſichte des Philanders von Sittewald, oder Moſcheroſch wie der21 Autor eigentlich hieß, und daneben der bedeutende Roman vom abentheuerlichen Simpliciſſimus nebſt ſei¬ nen zahlreichen Anhangſchriften in aͤhnlichem Sinn oder von demſelben Verfaſſer, der noch jetzt ſeinem wahren Namen nach nicht bekannt iſt, denn daß Samuel Grei¬ fenſon von Hirſchfeld nicht der wahre Name, ſondern nur wieder ein erdichteter ſey, war mir ſogleich un¬ zweifelhaft. Die ſchreckliche Verwilderung in den deut¬ ſchen Zuſtaͤnden jener Zeit hielt den Zeiten, die wir ſelbſt erlebten, einen noch troͤſtlichen Spiegel vor. Die Lebhaftigkeit und voͤllig ungehinderte Derbheit der Dar¬ ſtellung that einer Stimmung wohl, die auch aus argen Wirklichkeiten hervorgetrieben war, und Sprache und Schreibart des Buches reizten ein ſtarkes philologiſches Intereſſe auf. Feiner, hoͤher, und auch etwas alter¬ thuͤmlicher, ſprach und ſchilderte Philander; die großen Vorzuͤge dieſes Proſaiſten ruhten auf gelehrtem Ertrag und friſchem Leben zugleich. Ueber den Simpliciſſimus gedacht 'ich eine litterariſche Unterſuchung auszuarbeiten; ſie unterblieb wie ſo vieles andre, was im Augenblick verſaͤumt wird, und wozu ſpaͤter die Gelegenheit ſich nicht wieder findet. Aber ich hatte die Freunde und Bekannte ſo viel und oft von den Eigenheiten und Ergoͤtzlichkeiten dieſer Autoren unterhalten, ſie mit ſo haͤufigen Anfuͤhrungen und Redensarten von dort ge¬ quaͤlt, daß endlich beſchloſſen wurde, man wolle ein¬ fuͤr allemal ſehen, was an der Sache ſei. Es wurde22 ein Abend bei'm Italiaͤner feſtgeſetzt, Schleiermacher, Reimer, Bernhardi, Adolph Muͤller, auch Marwitz und Schuͤtz, wenn ich nicht irre, und noch einige Andere kamen bei Thiermann zuſammen, ich gab einige Worte zur Einleitung, und las dann im Simpliciſſimus von Anfang ein tuͤchtiges Stuͤck, und darauf aus der Mitte ſprungweiſe die wuͤrdigſten Kapitel, mit einer Wirkung und einem Beifall, die ich mir nicht vorgeſtellt hatte, oft mußt' ich inne halten, um den Jubel und das Ge¬ laͤchter verbrauſen zu laſſen, man that ſich in Floren¬ tiniſchen Weinen guͤtlich, aber noch mehr in Erſchuͤtte¬ rung des Zwerchfells, und beſonders an Schleiermacher konnte man recht anſchaulich wahrnehmen, was der deutſche Ausdruck: Eine Lache aufſchlagen eigentlich bedeuten wolle. Mit gleicher Froͤhlichkeit wurde auch dem Doppelroman ein ſolcher Abend gewidmet, und wenn manche Hoͤrer, unter welchen nothwendig auch Schleiermacher ſein mußte, zu mehrern perſoͤnlichen An¬ ſpielungen eben nicht einſtimmen wollten, ſo wurden ſie doch unwiderſtehlich in den ironiſchen Humor fort¬ geriſſen, welchen das Ganze gebot, und der vollſte, lauteſte Jubel wurde ſelbſt den Stuͤcken, die man mi߬ billigte, zu Theil.

Ich hatte waͤhrend des Sommers eine raſche Reiſe nach Hamburg machen wollen; aber es waren dort einige Umſtaͤnde grade zu dieſer Zeit nicht guͤnſtig, und der Beſuch wurde auf den Herbſt hinaus verlegt, da¬23 gegen erhielt ich eine freundſchaftliche[Aufforderung], in der Naͤhe auf dem Lande ein paar Erholungstage im heißen Sommer zuzubringen. Marwitz waltete in Friedersdorf, dem bedeutenden Rittergute ſeines Bru¬ ders, der ſelber fern in Preußen dem ſchon verzweifel¬ ten Kriege noch mit brennendem Eifer beiwohnte. Un¬ geachtet der Laſten und Leiden vom Feinde, unter wel¬ chen das ganze Land ſeufzte, war das herrſchaftliche Leben auf dem Gute noch reichlich genug ausgeſtattet, und Marwitz entbot ſeine Freunde in die gaſtliche Ein¬ ſamkeit. Schleiermacher befand ſich ſchon ſeit mehreren Tagen dort, und zwiſchen Arbeit und laͤndlichem Ver¬ gnuͤgen ſehr behaglich. Nun machten auch Reimer, Adolph Muͤller und ich uns auf, um ebenfalls einige Tage dort zu bleiben, und dann mit Schleiermacher zuruͤckzukehren. Den groͤßern Theil des Weges, ſo weit wir der Straße nach Frankfurt an der Oder folgten, fuhren wir, den uͤbrigen Theil, linksab uͤber Landwege hin, legten wir zu Fuß zuruͤck, und erreichten durch unerfreuliche Gegend und gewaltige Tageshitze noch fruͤh genug, um durch ein nachtraͤgliches Mittagsmahl uns laben zu koͤnnen, den ſtattlichen Edelhof, der indeß weniger durch ſeine Gebaͤude, Gaͤrten und Luſt¬ anlagen ſogleich in die Augen fiel, als durch ſeine um¬ liegenden, bis in den Oderbruch hinab ſich erſtreckenden und vortrefflich bewirthſchafteten Laͤndereien ſeinen gruͤnd¬ lichen Werth nach und nach zu erkennen gab. Marwitz24 bemuͤhte ſich, nach beſten Kraͤften den Wirth zu machen, wir lernten ſeine ganze Liebenswuͤrdigkeit kennen, die Huͤlfsmittel der Gegend, welche wirklich gegen den Oder¬ bruch hin einigen Reiz gewann, das Bemerkenswerthe aus der in Bildern und Denkmalen vergegenwaͤrtigten Geſchichte des Hauſes, die beſtehenden grundherrlichen und landwirthſchaftlichen Verhaͤltniſſe, alles wurde be¬ trachtet, beſprochen; was an Buͤchern und Kunſtſachen vorraͤthig war, daneben was Kuͤche und Keller ver¬ mochten, mit Froͤhlichkeit genoſſen. Nur hatten die erſten Stunden des Zuſammenſeins leider eine harte, ſchwere Verſtimmung dazwiſchen zu verarbeiten. Wir brachten naͤmlich die Berliner Zeitung und mit ihr die erſte zuverlaͤſſige Nachricht von den Bedingungen des am 9. Juli zu Tilſit geſchloſſenen Friedens mit. Wir hatten ſchon in Berlin die Sache genug verhandelt, unſern Schmerz und unſre Wuth zur traurigen Faſſung hinabgeredet. Nun fanden wir mit unſrer troſtloſen Gewißheit uns noch muthigen Hoffnungen, geſpannten Erwartungen gegenuͤber. Marwitz und Schleiermacher waren in Niedergeſchlagenheit ganz betaͤubt, als ſie dieſe ſchmachvollen Bedingungen der Reihe nach vernahmen, ſie hatten keine Gunſt des Siegers gehofft, ſondern großen Verluſt erwartet, aber auf die Herabſetzung Preußens, auf ſo ungeheure Abtretungen und Verpflich¬ tungen, in welche man willigen gemußt, auf ſolches Benehmen, wie Feind und Freund jetzt zeigte, waren25 ſie nicht gefaßt. Alle Plane und Ausſichten, die man fuͤr den ſchlimmſten Fall im Sinne gehabt, waren zer¬ ruͤttet, man ſah keinen Boden mehr, denn ſelbſt das unbeſtimmte Verbleiben der Franzoſen auch in den¬ jenigen Laͤndern, welche Preußen wiedererhalten ſollte, war ſchon ausgemacht, und dem klaͤglichſten Zuſtande kein Ende abzuſehen. Der Eindruck war bis zur Be¬ ſchaͤmung abſchwaͤchend, und draͤngte ſich zwiſchen allem Zerſtreuenden immer wieder vor, fuͤr uns Ankoͤmmlinge noch beſonders peinlich, die wir uns das Mitgebrachte ſchon im voraus uͤbel genug hatten ſchmecken laſſen! Geiſteskraft und Jugendmuth ſetzten ſich aber doch bald wieder ſo weit in's Freie, daß ſinnvolle, forſchende Ge¬ ſpraͤche mit den gewoͤhnlichen Tagesdarbietungen ab¬ wechſeln, und auch Scherzreden ſich wieder einfinden konnten. Laue Abende der koͤſtlichſten Art wurden bei Sterngeflimmer im tiefen Schattendunkel hoher Baͤume weit uͤber die Mitternacht hinaus verlaͤngert, und nie¬ mand mochte an Schlafengehen denken, waͤhrend die reinſte Luft die Bruſt erfriſchte, und die edelſten Ge¬ danken uͤber Natur, Welt, Geſchichte, Wiſſenſchaft und Poeſie ausgeſprochen wurden; denn Marwitz hatte den Willen und die Kraft, immer das Hoͤchſte und Groͤßte zur Sprache zu bringen, und auch Schleiermacher's oft hartnaͤckige Schweigſamkeit in ſchoͤnen Redefluß aufzu¬ thauen. Manche Stunde, des fruͤhern Nachmittags etwa, im Garten oder Saal, wurde auch dem Vorleſen26 gewidmet. Gluͤckliche Ueberſetzungen aus griechiſchen Schriftſtellern hatte Marwitz verſucht, eigne Abhand¬ lungen philoſophiſch-geſchichtlicher Art verfaßt, dann kamen Sachen von Goethe an die Reihe, der Aufſatz unter andern von den Gemaͤhlden Polygnot's zu Delphi, deſſen Inhalt mit Begeiſterung gehegt und verarbeitet wurde; der neuſte Zuwachs des Doppelromans, der mitgenommen worden war, um nach Zeit und Stim¬ mung ihm vielleicht ein Kapitel zuzulegen, gab auch ſeinen Theil zur Unterhaltung. So vergingen mehrere Tage in einem wahrhaft erhoͤhten und befriedigten Da¬ ſein, dem zuletzt auch das politiſche Ungethuͤm des heil¬ loſen Tilſiter Vertrags nicht viel mehr anhaben konnte. Wenn etwas im Innern dieſes kleinen Kreiſes haͤtte ſtoͤren koͤnnen, ſo waͤre es nur eine gewiſſe unangenehme Reizbarkeit Schleiermacher's geweſen, die er beſonders gegen mich zu haben begann, und von der einige ſchnoͤde Ausbruͤche mir damals zuerſt auffielen. Er hatte zwar ſchon laͤngere Zeit vieles gegen mich, es ſchien ihn manches zu verdrießen, ſowohl in meinem guten als auch in meinem ſchlechten Vernehmen mit ſeinen naͤhern Freunden, allein er bezeigte mir es nicht. Jetzt aber ließ er ſich in einzelnen Augenblicken unwillkuͤrlich gehen, und ſuchte mich bisweilen mit meinen Behauptungen ſo recht eigentlich abzukappen, in manchen Faͤllen gewiß ganz unverdient, ſo daß wir ihn deßhalb mit Verwun¬ derung anſahen. Ich glaube faſt, daß ihm auch meine27 politiſche Geſinnung nicht genuͤgt, und manche meiner uͤbermuͤthigen Aeußerungen ihm, jedoch mit groͤßtem Unrecht, den Verdacht gegeben habe, ich koͤnne auch allenfalls zu den Franzoſen mich bequemen, und es iſt moͤglich, daß ich uͤber ſeine Niedergeſchlagenheit, obgleich mein Schmerz gewiß nicht geringer war, als der ſeine, mich zu raſch und uͤberlegen hinweggeſetzt habe. Seine ſcharfen Ausfaͤlle, die indeß nur einzeln blieben und ſein uͤbriges Benehmen gegen mich nicht aͤnderten, hatten darum keine wirkliche Stoͤrung zur Folge, weil ich ſie meiſt nur abgleiten ließ, und mehr ihre Wunderlichkeit zu begreifen ſuchte, als ihre Spitzen zuruͤckwerfen wollte. Welcherlei Geringfuͤgigkeiten aber Schleiermacher aufgriff, um ſeiner bittern Laune gegen mich Luft zu machen, kann folgendes Beiſpiel zeigen, das mir beſonders er¬ innerlich geblieben iſt. Mir war im gewoͤhnlichen Ge¬ ſpraͤch, ganz harmlos und fluͤchtig, als von maroden Soldaten die Rede war, die Bemerkung entſchluͤpft, dieſer Ausdruck werde im Simpliciſſimus ganz eigen abgeleitet, naͤmlich von einem Kaiſerlichen Regimente Merode, deſſen Leute wenig vor dem Feinde, aber ſo haͤufig auf allen Landſtraßen und in allen Quartieren ruͤckwaͤrts zu finden waren, daß, wo man einen ſolchen Nachzuͤgler antraf, man ſchon im voraus wußte, der ſei von Merode, und man daher die ganze Gattung nur Merodebruͤder genannt habe; dieſe Bemerkung ſchal¬ tete ſich zwangslos ein, man konnte ihr den Platz goͤnnen,28 man konnte ſie auch fallen laſſen, es war ganz gleich¬ giltig. Mit hitzigem Eifer aber fuhr Schleiermacher dagegen los, widerſprach der Zulaͤſſigkeit dieſer Etymo¬ logie, und tadelte mich hart, wie ich nur ſo aberwitziges Zeug aufſtellen koͤnne, da ſei ich einmal wieder ohne Sinn und Ordnung verfahren, kurz, ich wurde gleich¬ ſam in ein gewaltiges Vergehen geſtellt, wodurch zu¬ gleich ein Zuſammenhang mit fruͤhern Suͤnden angedeu¬ tet, und mir eine tiefe Zerknirſchung aufgebuͤrdet wer¬ den ſollte. Ich hatte jene Ableitung indeß gar nicht behauptet, ſondern nur erzaͤhlt, aber ſelbſt wenn ich ſie heftig und mit Eigenſinn verfochten haͤtte, wuͤrde ich mich darum noch nicht als ein ſtrafbarer Beleidiger des Sinnes und der Ordnung gefuͤhlt haben, der auf den rechten Weg muͤſſe zuruͤckgeſcholten werden! Ich ſah vielmehr in dieſer auffahrenden Hitze einen Mangel ſitt¬ lichen Maßes, und die Andern ſchienen Aehnliches zu empfinden; nachdem ich Schleiermacher'n beſcheiden, doch trocken genug erwiedert, er ſolle das nicht mit mir, ſondern mit dem Simpliciſſimus ſelber abmachen, ſetzte ſich das Geſpraͤch uͤber die Geſchichten und Schnurren jenes Romans munter fort. Keine Spur von Ver¬ ſtimmung haftete, und auch Schleiermacher befand ſich leicht wieder im freundlichſten Geleiſe. Indem ich dieſes niederſchreibe, faͤllt mir noch ein andres Geſchichtchen dieſer Art ein, das ich erzaͤhlen muß. Aus dem Leſen altdeutſcher Buͤcher waren mir manche alterthuͤmliche29 Ausdruͤcke und Formen gelaͤufig, und ich brachte ſie zuweilen anſtatt der gewoͤhnlichern, im Geſpraͤch mit an. So ſagte ich ohne Umlaut, nicht nur es kommt, was auch bei Andern ſchon haͤufiger gehoͤrt wird, als es koͤmmt, ſondern auch eben ſo gern fallt, fahrt, ſchlagt, tragt, wo freilich jetzt Gebrauch und Regel faͤllt, faͤhrt, u. ſ. w. verlangen. Hieruͤber ſchalt mich Schleiermacher mit beißenden Worten, ganz unverhaͤlt¬ nißmaͤßig, und um mich recht zu beſchaͤmen, meinte er: die Juden ſpraͤchen ſo, und es haͤtten ſchon Leute wegen meines Mitmachens dieſer kauderwelſchen Art ihn ge¬ fragt, ob ich denn ein Jude ſei? Dieſer Verdacht aber, der mich ganz niederdonnern ſollte, war mir nur zum Vergnuͤgen, ich lachte herzlich daruͤber, und ſagte, das ſei ſo was boͤſes nicht, und wir beide haͤtten ja gemeinſame Freunde und Freundinnen, von denen wir, weil der Poͤbel ſie ſo ſchimpfen koͤnne, nicht geringer daͤchten. Diesmal war Schleiermacher der Abgefertigte. Der Sprachſtreit uͤber jene Form aber dauerte noch ſpaͤthin fort, und gab in unſrem Kreiſe noch mehrmals zu Eroͤrterungen und Neckereien Anlaß, die mich indeß nicht irre machten. Lange nachher, beim Wiederſehen nach einer Abweſenheit, in welcher ſich viel an mir ge¬ aͤndert hatte, fragte mich Chamiſſo mit Luſtigkeit: Sagſt Du noch, es fallt? Wie's faͤllt! erwie¬ derte ich.

30

Als wir Gaͤſte endlich wieder abziehen wollten, mußte ich dennoch einen tief verſtimmenden Eindruck hinnehmen, den ich aber in mir verſchloß. Wir hatten zum be¬ ſtimmten Tag einen Wagen aus Berlin nach Muͤnche¬ berg beſtellt, bis dahin wollten wir zu Fuß wandern. Dies aber gab Marwitz nicht zu, ſondern noͤthigte uns, fuͤr dieſen Theil des Weges ſein Fuhrwerk anzu¬ nehmen. Worin aber beſtand dieſes? Den Wagen freilich gab er ſelbſt, den Vorſpann aber mußten die Bauern liefern, vier Pferde wurden eben ſo viel Land¬ leuten in der Zeit der dringendſten Feldarbeit zur Frohn¬ fuhre fuͤr die Herrſchaft abgefordert, und als einige Beſchwerde daruͤber und ſogar eine halbdreiſte Erkundi¬ gung, wie ſo dieſe offenbar nicht landwirthſchaftliche Leiſtung jetzt von ihnen gefordert werde, unter den Bauern laut wurde, bedeutete man ihnen gebieteriſch, ſie ſollten zur Tanzfuhre anſpannen, denn allerdings waren ſie durch ein altes Herkommen verbunden, wenn die Herrſchaft zum Tanz fahre, ſie mit vier Pferden hin und zuruͤck zu ſchaffen. Die herrſchaftliche Berech¬ tigung war ſchon druͤckend genug, in dieſem Fall aber noch mehr die Anwendung, denn die armen Leute hatten doch klar vor Augen, daß nicht die Herrſchaft, und eben ſo wenig zum Tanze, gefahren wurde! So kamen wir alſo mit der Tanzfuhre, uͤber die noch genug geſcherzt wurde, nach Muͤncheberg, wo wir die guten Leute, die mit ihren Pferden einen ganzen Arbeitstag verſaͤumt31 und dabei moͤglichſt knapp vom Mitgenommenen gezehrt hatten, durch reichliches Trinkgeld einigermaßen ſchadlos hielten.

Berlin empfand von dem Frieden nichts. Eine theil¬ weiſe Fenſterbeleuchtung in mehreren Straßen der Stadt gab mir ein ſchlechtes Bild duͤrftiger Freude, wo in der That mehr Urſache zum tiefſten Schmerze vorhanden war. Einige preußiſche Offiziere hatten ſich die Be¬ friedigung nicht verſagt, ihre bis dahin geaͤchtete Uniform wieder anzulegen, allein ſchnell belehrte ein ſtrenges Verbot des franzoͤſiſchen Kommandanten die Voreiligen, daß hier noch niemand ſich unterſtehen duͤrfe, wieder ein Preuße zu ſein. Franzoͤſiſche Verwaltung, franzoͤ¬ ſiſche Beſatzung, die letztere noch die wenigſt feindliche, ſetzten ihr Weſen fort, als habe der Krieg noch nicht auf¬ gehoͤrt, ſie richteten ſich auf laͤngere Zeit nur noch be¬ quemer und druͤckender ein, und verhehlten es nicht, daß ſie nun erſt recht alle Huͤlfsmittel des Landes noch erſchoͤpfen wollten. Vorſtellungen der ſtaͤdtiſchen Be¬ hoͤrde, der ſtaͤndiſchen Koͤrperſchaften, der Gemeinden, nichts fruchtete, die Laſten ſtiegen in's Ungeheure. In dieſer Zeit des Jammers fuͤhlte man ſich gewaltſam auf das geiſtige Leben hingeworfen, man vereinte und er¬ goͤtzte ſich in Ideen und Empfindungen, welche das Gegentheil dieſer Wirklichkeit ſein wollten. Nicht wenig verſtaͤrkt wurde dieſer Sinn durch das Wiedererſcheinen Fichte's, der von Koͤnigsberg uͤber Kopenhagen nach32 Berlin unerwartet gegen Ende des Auguſt zuruͤckkam. Er hatte geglaubt, nach dem ausgeſprochenen Frieden nicht laͤnger ſchicklich bei der Koͤnigsberger Univerſitaͤt als Gaſt verweilen zu duͤrfen, und ſeinen weitern Be¬ ruf jetzt auf der alten Staͤtte abwarten zu muͤſſen. Eine oͤffentliche Thaͤtigkeit freilich war fuͤr den Augenblick nicht abzuſehen, auch ſchloß er ſich ganz in die Abge¬ ſchiedenheit einer mitten im George'ſchen Garten an¬ muthig gelegenen Wohnung ein, nur bewaͤhrten Freun¬ den zugaͤnglich. Außerordentlich freuten wir uns ſeiner hellen, kraͤftigen Gegenwart, ſeiner unerſchuͤtterlichen Denkart und ſeiner feſten Zuverſicht. Bernhardi, Wil¬ helm von Schuͤtz und ich hielten uns treulich zu ihm. Fichte hatte viel von dem Koͤnigsberger Aufenthalt zu erzaͤhlen, unſre Anſichten und Urtheile uͤber Ereigniſſe und Perſonen empfingen neues Licht. Unter andern brachte er die Zeitſchrift Veſta mit, welche von ihm ſelbſt anziehende Aufſaͤtze uͤber den Machiavelli enthielt, und uns in den Herausgebern von Schroͤtter und von Schenkendorf zwei eifrige Kaͤmpfer kennen lehrte, von welchen die deutſche Sache ſich noch manches verſprechen durfte. Auch die Anfaͤnge des nachher ſo beruͤhmten Tugendbundes oder ſittlich-wiſſenſchaftlichen Vereins, wie er eigentlich hieß, lagen hier ſchon verknuͤpft, wur¬ den aber in vorſichtiger Heimlichkeit nur dunkel ange¬ deutet. Lebhafter und tagfreudiger ſtrahlte uns ein Gedicht an, das Fichte gleichfalls mitgebracht hatte, und33 mit ſeinem gewaltigen Nachdruck bedeutend vorlas. Es war eine dem ruſſiſchen Kaiſer bei ſeinem Einzuge in Koͤnigsberg gedruckt uͤberreichte Ode, worin der Geiſt Friedrichs des Großen die troͤſtlichſten Verheißungen in den ſtaͤrkſten Bildern ausſprach. Wenn wir Strophen hoͤrten, wie dieſe:

Doch trifft von niemals fehlendem Bogen, doch
Der Rache Pfeil die Ferſe Napoleon's,
Und waͤr er dreimal, wie ſein frevelnd
Herz, in der Stygiſchen Fluth gebadet,

ſo fuͤhlten wir die zwiefachen Schauer der poetiſchen Macht und politiſchen Kuͤhnheit, und ſahen die Poeſie, gleich einem Krieger zum Tode geruͤſtet, die wirklichſten und unmittelbar naͤchſten Gefahren muthig durchwandern. Denn der ungluͤckliche Palm war um nicht Groͤßeres erſchoſſen worden, und Napoleon's Haß und Grimm ſah in dem Feinde niemals einen Edeln, mit dem ein glimpflicheres Verfahren geboten ſein koͤnnte, ſondern ſtets nur den gemeinen Gegner, deſſen man ſich raſch und kurz entledigt. Wir fragten begierig nach dem Verfaſſer und hoͤrten, als ſolcher bekenne ſich ohne Hehl der Geheime Ober-Finanzrath Staͤgemann in Koͤnigs¬ berg, bisher nur als Dichter in Scherz - und Liebesge¬ ſaͤngen bekannt, jetzt aber in hoͤherem Schwunge ſein gluͤckliches Talent dem Vaterlande weihend, ein vor¬ trefflicher Kopf, auch in Staatsgeſchaͤften als ſolcher geruͤhmt. Wir riefen ihm Heil und Segen zu, undIII. 334gelobten es uns wechſelweiſe, wer von uns die Gelegen¬ heit haben wuͤrde, ihn perſoͤnlich zu ſehen, ſolle zu ihm gehen, ihm von dieſer begeiſterten Stunde ſagen, und ihm in unſer Aller Namen fuͤr die Freude danken, die wir durch ſein Gedicht empfunden. Wir nahmen uͤbrigens Abſchrift von dieſem, und gaben ihm unter der Hand nah und fern moͤglichſte Verbreitung.

Ein Kern wackrer Offiziere, die nur auf die Ge¬ legenheit warteten, um fuͤr ſo viel erlittene und von ihnen ſelbſt grade am wenigſten verdiente Schmach des preußiſchen Namens eine ruhmvolle Vergeltung zu neh¬ men, geſtaltete ſich unter den Einwirkungen des Tugend¬ bundes immer feſter, und in unſerm Kreiſe konnte mir manches von dieſem Streben nicht entgehen, ohne daß man mich unmittelbar aufzunehmen verſuchte. Jede gute Geſinnung wurde herbeigezogen und befeſtigt, jeder gute Wille, jedes einſt brauchbare Huͤlfsmittel ſorgfaͤltig wahr¬ genommen, dabei der Gang der großen Ereigniſſe auf¬ merkſam beobachtet, und jeder Nachtheil des Feindes begierig hervorgehoben. Dieſer vereinten, von ſo vielen Seiten mit unzerſtoͤrbarer Zuverſicht und Beharrlichkeit fortgeſetzten Arbeit, die in den engſten Schranken und mit den duͤrftigſten Mitteln gegen die Rieſenmacht Na¬ poleon's zu wirken unternahm, dieſen im Stillen ge¬ naͤhrten und geweckten Kraͤften war es doch zu danken, daß die Flamme des Vaterlandes auch in der groͤßten Verdunkelung nie ganz erloſch, und ihre vorbereiteten35 Stoffe in der Folge ſogleich erfaſſen konnte. Allein dieſe Eingeweihten und Entſchloſſenen waren verhaͤltni߬ maͤßig doch immer nur eine kleine Schaar aus den Tauſenden von Offizieren, die durch Zertruͤmmerung des preußiſchen Heeres dienſtlos in die Welt verſprengt waren. Die wenigen Truppen, welche Preußen nach dem Frieden von Tilſit in ſeinen Umſtaͤnden noch be¬ halten konnte, bedurften nicht des zehnten Theils der ehemaligen Offiziere, und waren fuͤr den Augenblick ſogar uͤberfuͤllt. Die große Menge mußte ſich andre Auswege ſuchen, und es fehlte nicht an merkwuͤrdigen Beiſpielen, was alles aus einem preußiſchen Offizier werden koͤnne! Die meiſten jedoch wollten oder mußten bei dem gewohnten Handwerke bleiben, und wenn auch die Schande, noch waͤhrend des Krieges ohne Abſchied als Meineidige in die Reihen des Feindes uͤbergetreten zu ſein, im Ganzen nur auf denjenigen ruhte, die das von dem Fuͤrſten von Yſenburg fuͤr den Dienſt Napo¬ leon's aus preußiſchen Kriegsgefangenen errichtete Re¬ giment bilden halfen, ſo war doch jetzt, nach geſchloſſe¬ nem Frieden, der Drang allgemein, wo nicht unter feindlichen, doch unter fremden Fahnen ein Unterkommen zu ſuchen. Geburt und Verhaͤltniſſe, ſeltener freie Wahl, fuͤhrten eine betraͤchtliche Anzahl in den Dienſt des neu¬ gegruͤndeten Koͤnigreichs Weſtphalen; andre fanden An¬ ſtellung im Großherzogthum Berg, im Koͤnigreich Sachſen, im Herzogthum Warſchau; die ſuͤddeutſchen3*36Staaten, welche der Rheinbund zu groͤßeren militairiſchen Anſtrengungen noͤthigte, nahmen gern aus der preußi¬ ſchen Pflanzſchule, wo man Zucht und Fertigkeit ein¬ heimiſch wußte, die eingeuͤbten Exerziermeiſter und Dienſtordner, deren ſie bedurften. Beſonders nach Baden und Wuͤrtemberg kamen in dieſer Zeit manche Maͤnner, die nachher dort ein ausgezeichnetes Gluͤck gemacht. Ich wuͤßte kaum, daß damals gleicherweiſe ein Zug nach Oeſterreich ſtattgefunden haͤtte, eine vererbte Abneigung lieh dieſem Lande in dem preußiſchen Sinne noch zu viel Feindliches, das erſt ein paar Jahre ſpaͤter ſich einigermaßen verſoͤhnen wollte.

Wilhelm von Schuͤtz war in dieſer Zeit bemuͤht, ideale Erkenntniſſe in Dichtung auszubilden, und waͤhlte dafuͤr unter andern die Form des antiken Drama's, die er aber ungluͤcklicherweiſe nicht den urſpruͤnglichen grie¬ chiſchen Vorbildern abſah, ſondern den ungenuͤgendſten Ueberſetzungen, und namentlich wurde der Sophokles von Aſt ſein Grund - und Hauptbuch. Die harte, ver¬ renkte Sprache, den in genauer Nachahmung erſtarrten Versbau, kurz alle zufaͤlligen Gebrechen dieſer einzelnen Ueberſetzung, nahm er ſich zum Muſter, und arbeitete ſo mit Fleiß und Sorgfalt wahre Mißgebilde aus, die zwar wegen daruͤber ſchwebender Ideen den Geiſt im Allgemeinen wohl anſprachen, und inſonderheit von Fichte und Bernhardi mit großer Zaͤrtlichkeit aufgenommen wurden, auch durch viele gluͤckliche Bilder und lebens¬37 reiche Ausdruͤcke aͤchten Dichterſinn bezeugten, aber doch als wahre Kunſtgeſtalten in keiner Weiſe beſtehen konn¬ ten. Die Tragoͤdie Niobe war ſchon gedruckt, und ſollte, wie im Vertrauen geſagt wurde, einen Strahl der Wiſſenſchaftslehre in ſich tragen, von dem man nun erwartete, ob und wie er in den Gemuͤthern leuchten wuͤrde. Schon aber war Schuͤtz mit einer zweiten Tra¬ goͤdie dieſer Art, die Graͤfin von Gleichen, weit vorge¬ ruͤckt, und ſogar ſchon mit einer dritten beſchaͤftigt, wozu Charlotte Corday die Heldin war, und das Pariſer Volk den antiken Chor vorſtellte. Ich hatte gleich gegen dieſe Richtung vieles einzuwenden, beſonders auch gegen die metriſche Bearbeitung und proſodiſche Willkuͤr. Da jedoch Schuͤtz, wenn er vom Lande auf kurze Zeit zur Stadt kam, ganz von dieſen Dingen erfuͤllt, und mit dem ſchoͤnſtem Feuer ſeines damals noch jugendlichen Strebens darin thaͤtig war, die Freunde zu heitrer Theil¬ nahme ſtimmte, und zu mannigfachen Verhandlungen, die niemals unangenehm wurden, den beſten Anlaß gab, ſo hatten wir von ſeiner verfehlten Arbeit dennoch guͤn¬ ſtigen Eindruck und erwuͤnſchten Ertrag. Seinen klei¬ neren Gedichten, Romanzen und Liedern, konnten wir dagegen groͤßtentheils unſern vollen Beifall widmen, denn obgleich er auch hier die Poeſie, bisweilen als bloßes Gefaͤß eines myſtiſchen Inhalts gebrauchen wollte, ſo wurde ihm doch gegen die Abſicht meiſt freie Poeſie daraus, nur konnte er ſich von der Sprach¬38 quaͤlerei, die ihm der Aſt'ſche Sophokles angethan hatte, nie ganz erholen.

Der Zuſtand von Berlin wurde indeß taͤglich trau¬ riger, immer mehr Menſchen ſahen ihre Einkuͤnfte ver¬ ſiegen, ihre Nahrung knapper werden; die Kaſſen zahlten nicht, die ausgeliehenen Kapitalien brachten keine Zinſen, uͤberall ſah man aͤngſtliche Verlegenheit und dringende Noth. Mir kam ſehr leicht der Gedanke, daß ich dieſer Truͤbſal durch einen raſchen Entſchluß voͤllig entgehen koͤnne, daß meine Lebensplane mich eigentlich zu einer wirklichen Univerſitaͤt draͤngten, und daß ein andrer Ort mir in vieler Hinſicht zum Vortheil gereichen muͤßte; hiezu kam der lebhafte Wunſch, meinen hamburgiſchen Verhaͤltniſſen naͤher zu ſein, und allen dieſen Betrach¬ tungen erſchien die Univerſitaͤt Kiel, welche auch wegen ihrer mediciniſchen Lehrer ſehr geruͤhmt wurde, am gluͤck¬ lichſten zu entſprechen. Als ich die Abſicht ausſprach, zum Winter dorthin zu reiſen, vereinigten ſich in Berlin alle Stimmen der Freunde, mir die Sache auszureden. Beſonders wurde Schleiermacher ganz liebevoll, verhieß mir in kurzem eine Univerſitaͤt in Berlin, ruͤhmte meine bisherige Beharrlichkeit, und meinte, wir halliſche Ver¬ triebene gehoͤrten doch weſentlich zuſammen, und muͤßten ſo lange als moͤglich vereinigt bleiben. Seine freund¬ lichen Worte, die mir zugleich einen feſten Anhalt neu zu eroͤffnen ſchienen, machten großen Eindruck auf mich, und hatten mich im Grunde gleich gewonnen, wiewohl39 ich noch keine Zuſage ertheilen wollte. Ich behielt mir vor, die voͤllige Entſcheidung erſt in Hamburg zu faſſen, denn dorthin waͤhrend der Ferien zu reiſen, ließ ich mir nicht nehmen. Nennhauſen lag von dieſem Wege nicht zu ſehr ab, Neumann wollte mich bis dahin auf einige Tage begleiten, waͤhrend welcher ein ihm geſchehener Antrag wegen einer Erzieherſtelle zum Schluſſe kommen ſollte, und Chamiſſo, der nun doch ernſtlicher ſeine Ruͤckkehr nach Deutſchland ankuͤndigte, war ſchon ange¬ wieſen, zur feſtgeſetzten Zeit bei Fouqué einzutreffen, um dann mit mir weiter nach Hamburg zu wallfahrten, wo man ſeiner als willkommenen Gaſtes ſchon harrte.

Ehe wir uns aufmachten, kam noch unerwartet Freund Harſcher von Halle, vorzuͤglich in der Abſicht, ſeinen geliebten Adolph Muͤller noch zu ſehen, bevor derſelbe in groͤßere Ferne ruͤckte. Sein Erſcheinen ver¬ urſachte mir die herzlichſte Freude, konnte jedoch mein Vorhaben nicht ſtoͤren, beſonders da er ſelbſt, auch im Falle er fuͤr den Winter ſeinen Aufenthalt in Berlin zu nehmen ſich entſchloͤſſe, doch vorher nach Halle auf einige Zeit zuruͤckkehren wollte, wohin auch Schleier¬ macher zu reiſen gedachte, um ſeine Auswanderung von dort nach Berlin deſto gruͤndlicher abzumachen. Auch Wolf's Tochter ſollte von Halle mitkommen, und noch andre Freunde und Freundinnen ſuchten der nunmehr zum verhaßten, aus preußiſcher, heſſiſcher, braun¬ ſchweigiſcher und hannoͤverſcher Laͤnderbeute errichteten40 Koͤnigreiche Weſtphalen gehoͤrigen, und ganz verwaiſeten Stadt ſo viel als moͤglich zu entgehen. Harſcher zeigte die groͤßte Anhaͤnglichkeit an den halliſchen Kreis, und erklaͤrte geradezu, daß er keine andre Heimath habe noch haben wolle, und bei Verſetzung jenes Kreiſes nach Berlin nicht zuruͤckbleiben werde. Jedoch wurden ſchon damals die Spuren eines Widerſtreites merkbar, in welchem er die vertraulichſte Innigkeit und die ge¬ ſpannteſte Entfernung wechſeln ließ, und beide faſt zu gleicher Zeit hegen konnte. Seine krankhaften Zuſtaͤnde ſtimmten ihn ſehr reizbar, er machte uͤbertriebene For¬ derungen, und lauerte und rechnete argwoͤhniſch, ob und wie ſie erfuͤllt wuͤrden, dann warf ihn der Mi߬ muth faſt ganz auf ſich ſelber zuruͤck, und ſeine Vor¬ ſaͤtze und Zuſagen vernichteten und erneuerten ſich nach den kleinſten Zufaͤllen. Es war durchaus zweifelhaft, ob er, einmal nach Halle zuruͤckgekehrt, nicht dort blei¬ ben, und anſtatt den lebensmuthigen Menſchen auf neue Bahn zu folgen, nicht der duͤſtern, abgeſtorbenen Oert¬ lichkeit ſich treu erweiſen wuͤrde.

Im Anfange des Oktobers wanderten Neumann und ich nach Nennhauſen, wo wir, ungeachtet franzoͤ¬ ſiſche Einquartierung das Schloß wie das Dorf be¬ laͤſtigte, die beſte Aufnahme fanden. Ich hatte bei Frau von Fouqué in der Zwiſchenzeit ſehr gewonnen, und ſie bezeigte mir gern die dankbare Neigung, die41 ich mir durch ſtreitbare Fuͤrſorge fuͤr eines ihrer Buͤcher bei ihr verdient hatte.

Neumann und ich lebten mit Fouqué im ſchon ge¬ wohnten Stil unſrer freundſchaftlichen und litterariſchen Angelegenheiten, und lebten eigentlich nur mit ihm; wenig bekuͤmmert um alles andre, was neben uns vor¬ ging. Auch fand ein wackrer Offizier und ehemaliger Kammerad Fouqué's, der Rittmeiſter von Welk ſich ein, der bis zuletzt im Kriege mitgeweſen, jetzt aber nach dem Frieden in Preußen kein Bleiben mehr fand, und als geborner Sachſe fuͤrerſt in ſeine Heimath bei Meißen ſich zuruͤckzuziehen dachte. Als der wichtigſte Gaſt aber, durch ſeine Verhaͤltniſſe wie durch ſeine Per¬ ſon zur erſten Rolle berechtigt, ſtand der franzoͤſiſche Huſarenoffizier vor Augen, der mit ſeiner Schwadron hier einquartiert lag. Er hieß Jules von Canouville, und war von altadeliger Herkunft, welches ihm nicht nur in Nennhauſen, ſondern auch im neuen Kaiſerthum, das noch von Freiheit und Gleichheit getragen war, zu merklicher Beguͤnſtigung diente; er brannte leidenſchaft¬ lich fuͤr Napoleon's Sache, und ſetzte auf ſie alle Hoff¬ nungen ſeines Ehrgeizes; uͤbrigens war er von kraͤftig ſchoͤner Jugend, ungeſtuͤmer Lebhaftigkeit und leichtſinni¬ gem Uebermuth. Man mußte ihm einige Ungezogen¬ heiten ſchon verzeihen, um ſo mehr, als ihm nicht zu verdenken war, daß er ſich aus dieſer Einoͤde in die glaͤnzende Hof - und Damenwelt von Paris wuͤnſchte,42 und es als eine Art Ungnade bejammerte, daß man ihn, der als Ordonnanzoffizier Berthier's eigentlich die¬ ſem zu folgen Anſpruch hatte, ſo lange beim Regimente ließ, wo es nichts mehr zu thun gab; ſeine Sehnſucht aͤußerte ſich mit einer Ungeduld, die fuͤr ſeine Umgebung wenig Verbindliches hatte, aber freilich in ſeiner Lage natuͤrlich war. Wir kamen aber leidlich genug mit ihm zurecht, und der Beziehung, daß wir Briefe aus Vertus und Saint-Menehould empfingen, und von dorther ſogar einen Freund erwarteten, konnte er ſeine Theilnahme nicht verſagen. Bernhardi's Traum, daß ich in Streit mit der franzoͤſiſchen Einquartierung ge¬ rathen, erfuͤllte ſich nicht; aber durch dieſe wurden wir doch des Aufenthalts fruͤher uͤberdruͤſſig, und waren herzlich froh, als endlich unſer Aufbruch durch Chamiſſo's Ankunft ſich feſtſetzen ließ.

Der Freund brachte aus der Heimath die neueſten Nachrichten, Anſichten und Stimmungen des kaiſerlichen Frankreichs mit, von denen wir indeß wenig erbaut waren, und er ſelbſt, wiewohl von manchen Eindruͤcken lebhaft angeregt und ſogar befangen, wandte willig und entſchloſſen dem franzoͤſiſchen Treiben den Ruͤcken zu, um ſich ganz und ausſchließlich in das Leben deutſcher Dichtung und Wiſſenſchaft zu verſenken, zufrieden wenn man ihm fuͤr ſeine Landsleute die Verherrlichung gelten ließ, deren ſie als Krieger im ſieggewohnten Heere theilhaftig waren. In Fouqué, Chamiſſo und Canou¬43 ville fanden ſich die Franzoſen der verſchiedenſten Epo¬ chen und Richtungen hier beiſammen, ein Réfugié, ein Emigrant und ein Kaiſerſoldat, deren gemeinſames Weſen alle Kluͤfte, welche durch Zeit und Welt zwiſchen ſie eingeſchoben lagen, noch immer leicht genug fuͤr den Augenblick uͤberſchwebte. Nach kurzem Beiſammenſein, da die Jahreszeit taͤglich mahnender wurde, ergriffen Chamiſſo und ich den Wanderſtab, empfingen von Fou¬ qué und Neumann, der am naͤchſten Tage nach Ber¬ lin zuruͤckkehren wollte, noch das Geleit bis halbwege Rathenau, und erreichten mit zweien Maͤrſchen Perle¬ berg und die Straße nach Hamburg, die wir, bald der Langſamkeit und des Ungemachs einer Fußreiſe in die¬ ſer Jahreszeit und Gegend uͤberdruͤßig, mit der Poſt vollends zuruͤcklegten.

Hamburg 1807.

Die Herrſchaft der Franzoſen waltete auch hier mit verhaßter, unterdruͤckender Gewalt; ohne weitere Recht¬ fertigung und Anfrage, bloß weil es ihm ſo gefiel, hatte der franzoͤſiſche Kaiſer ſich der Hanſeſtaͤdte be¬ maͤchtigt, hielt ſie beſetzt, und ließ ſie durch ſeine Pro¬ konſuln druͤcken und ausſaugen. Doch dem klugen und gewinnreichen Handelsgeiſte waren die Liſt und Gewandt¬ heit der Napoleoniſchen Polizei nicht gewachſen, und jener fand Beguͤnſtigung, Nachſicht und Gewinntheil¬ nehmer in denen ſelbſt, welche mit den ſtrengen Hem¬44 mungen und Bewachungen beauftragt waren. Mehr als irgend ein Vorgaͤnger und Nachfolger wurde in dieſer Hinſicht der Marſchall Bernadotte, Fuͤrſt von Ponte-Corvo geruͤhmt und geprieſen, der gerade da¬ mals in dieſer nordiſchen Gegend die von dem Kaiſer verliehene Macht ſehr mild und nachgiebig ausuͤbte, und fuͤr die Sache der bedraͤngten Stadt und der Kaufleute nicht erſt, wie ſo manche Andre, durch Eigennutz ge¬ wonnen werden durfte, ſondern ihr durch freies Wohl¬ wollen und heitere Gutmuͤthigkeit urſpruͤnglich geneigt war. Was aber die Macht und den Umfang der fran¬ zoͤſiſchen Obergewalt diesmal hier uns zum anregend¬ ſten und unerſchoͤpflichen Reize bezeichnete, war die Anweſenheit ſpaniſcher Truppen. Napoleon hatte bei dem ungeheuern Bedarf und den wichtigen Ruͤckſichten ſeiner wechſelnden Kriegszuͤge auch dieſe Verbuͤndeten aus der abgeſchloſſenen Heimath auf den Schauplatz der Ereigniſſe herangebracht, und Spanier fanden ſich, zu ihrer eignen Verwunderung, an die Ufer der Elbe und bis zu den Kuͤſten der Oſt - und Nordſee ver¬ ſchlagen. Gegen 20,000 Mann, unter Anfuͤhrung des Marquez de la Romana, erſtreckten ſich durch Holſtein und Schleswig bis nach Juͤtland und auf die Inſeln Fuͤhnen und Seeland hinuͤber, wo ſie zum Schutze Daͤnemarks gegen die Unternehmungen der Englaͤnder dienen ſollten. Das Hauptquartier aber war in Ham¬ burg, und einige Regimenter, ſowohl Fußvolk als Rei¬45 terei, lagen ebenfalls dort. Nichts war merkwuͤrdiger und eigenthuͤmlicher, als dieſe Truppen. Einige Kom¬ panien Grenadiere, welche gewoͤhnlich die Ehrenwache bei dem Hôtel des franzoͤſiſchen Marſchalls verſahen, konnten im Sinne jedes Militairs fuͤr ſchoͤn und praͤch¬ tig gelten. Im Ganzen aber mußte man die Vor¬ ſtellungen, die man ſich von andern Truppenanſchauun¬ gen gebildet, zum Theil fallen laſſen, und die Spanier nach einem, ihnen eignen Maßſtabe wuͤrdigen. Muth und Entſchloſſenheit leuchteten aus jedem Einzelnen kuͤhn und drohend hervor, an der Tapferkeit dieſer Leute ließ ihr Anblick nicht zweifeln, und dennoch mußte man ſich geſtehen, daß dieſe Truppe ſich neben Franzoſen und Deutſchen, oder gar gegen ſie, auf dem Kriegsfelde ſchwerlich vortheilhaft bewaͤhren wuͤrde; denn ſchon auf dem Exerzierplatze gab ihre Langſamkeit und Umſtaͤnd¬ lichkeit im Handhaben der Waffen, wie ihr geringes Ge¬ ſchick in Feldbewegungen, zu manchem Scherz und Spott Gelegenheit. Auch ihre Ordnung und Zucht, ſowohl in als außer dem Dienſte, ſchien weniger das Ergebniß einer ſtrengen Einrichtung, als vielmehr der freiwilligen Art eines jeden, der ſich bequem und laͤſſig einer militaͤriſchen Gewoͤhnung fuͤgte, die einmal vor¬ handen war. Und hinwieder mußte man die gravitaͤtiſche Wuͤrde, die ſtolze, ſelbſtſtaͤndige Haltung, und das folgerecht durchgefuͤhrte ſtrenge Benehmen ſtaunend be¬ wundern, wodurch dieſes Militair ſogar die ſpoͤttiſchen46 Franzoſen und die pedantiſchen Deutſchen zu ehrender Hochachtung noͤthigte. Gewiß iſt es, daß die gemeinen Spanier, einzeln oder geſchaart, bei ſeltſamer und oft mangelhafter Ausruͤſtung und Bekleidung, immer den gleichmaͤßigen Eindruck von vornehmen Leuten machten, ſie ſchienen Alle von Adel, auch im niedrigſten Zuſtande ſich bewußt, der beſten Verhaͤltniſſe werth und faͤhig zu ſein. Wirklich ertrugen ſie mit großem Anſtand und vollkommener Faſſung das tiefe Mißgeſchick, in welchem ſie ſich befangen fuͤhlten, denn ſie verhehlten es nicht, daß es ihnen eine Schmach ſei, nach der Laune eines fremden Herrſchers, den ſie haßten, wie ſie ſeine Nation verachteten, ſo in der Welt umherzuziehen, und ihre Unterwuͤrfigkeit zur Schau zu tragen. Mit hohem An¬ theil ſahen wir dieſe edlen ſuͤdlichen Naturen voll Ernſt und Feuer, von denen fruͤher nur vereinzelte Beiſpiele uns genuͤgen mußten, jetzt in ſolcher Vielheit und Maſſe als eine wandelnde Poeſie vor unſern Augen, mit Entzuͤcken horchten wir den Klaͤngen der herrlichen Sprache, die auf den Straßen von allen Seiten uns zutoͤnte, und nicht ſelten die gemeinſte Oertlichkeit durch Guitarrenſpiel und Geſang veredelten, die unſrer berauſch¬ ten Einbildungskraft in dieſer Art nur in Granada und Sevilla moͤglich geſchienen hatten. Der romantiſche Zauber dieſes ſpaniſchen Lebens wirkte nicht auf uns allein, auch die Franzoſen empfanden ihn, und wichen gleichſam ſtaunend und betroffen vor ihm zuruͤck, der47 roheſte Hamburger ſprach ihn durch Wort und That aus. Die Theilnahme und Vorliebe fuͤr die Spanier, die Achtung und Verehrung fuͤr ihre Nationalitaͤt, die Sorgen und Wuͤnſche fuͤr ihr Wohlergehn, waren all¬ gemein, und in dem erzproteſtantiſchen Hamburg wurden diesmal ſogar die haͤufigen Zeugniſſe eines ſtrengkatholiſchen Kirchendienſtes, der ſich mit dem militairiſchen Dienſte verflochten hatte, weder angefeindet noch verſpottet.

Wirklich aber betrugen ſich dieſe Fremden auch hoͤchſt muſterhaft, und ganz im Gegenſatz der Franzoſen. Stolz, maͤßig, ehrbar, ſchien auch der gemeine Sol¬ dat nur dahin zu ſtreben, ſeinem Wirthe ſo wenig als moͤglich zur Laſt zu fallen. Groͤßere Unordnungen fielen beinahe gar nicht vor, leidenſchaftliche Aufwallungen wurden durch ein ehrendes Wort leicht in Guͤte beige¬ legt. Muſik und Geſang waren in jedem Hauſe will¬ kommenes Vergnuͤgen. Wo naͤhere Verſtaͤndigung ein¬ trat, fand ſogleich ein politiſches Vertrauen Nahrung, man erkannte ſich als gleichgeſinnt und verbuͤndet im Haſſe gegen die Franzoſen. War die Gelegenheit guͤnſtig fuͤr noch engere Vertraulichkeit, ſo wurden auch dann die erwuͤnſchteſten Eigenſchaften nicht ver¬ mißt, und die ſtille Gluth und der feſte Eifer des Spa¬ niers trug uͤber die einnehmende Leichtfertigkeit des Franzoſen meiſt den Sieg davon. Man ſah nicht wenige Geſtalten und Geſichter von vollkommener maͤnnlicher Schoͤnheit. Unter den Offizieren fanden ſich Maͤnner48 von groͤßter Auszeichnung des Betragens, und der Marquez de la Romana, welcher im Buchladen von Perthes bei dem erſten Beſuch eine Auswahl griechiſcher und roͤmiſcher Autoren eifrig angekauft hatte, vereinigte mit der feinſten Weltbildung und edelſten Herzensguͤte ſogar eine ſeltene Gelehrſamkeit.

Doktor Veit, Perthes, von Reinhold und ſein Freund Doktor Georg Kerner bezeigten uns die freundlichſte Zuvorkommenheit, und gaben uns wirkſamen perſoͤnli¬ chen Eindruck, dem wir gern folgten. Die liebevollſte Beeiferung aber hatte fuͤr uns der wackre Gurlitt, der uns auch nicht erließ, eine feierliche Mahlzeit bei ihm einzunehmen, und uns auf gut hamburgiſch durch eine zahlreiche und ausgedehnte Gaſterei ehren wollte. Zur groͤßern Freiheit fuͤr Zeit und Stimmung hatte er den Abend gewaͤhlt, und uͤber zwanzig Perſonen fanden ſich nach und nach ein, brave Maͤnner vom Schulfach, einige Prediger, Aerzte, auch vom Kaufmannsſtande ein paar Mitglieder, und nachbarliche Beamte oder Gutsbeſitzer aus Holſtein; die behaglichſte Einrichtung und die geſchmackvollſte Bewirthung wetteiferten mit einander, und nachdem man ſich als gleichgeſtimmt oder ſinnverwandt leicht erkannt hatte, loͤſte das Geſpraͤch ſich aller Feſſeln, und nahm die freieſte Wendung, ohne je aufzuhoͤren gehaltvoll zu ſein. Die Gelehrſamkeit bot aus ihren unerſchoͤpflichen Schaͤtzen die feinſten Zuͤge, die witzigſten Anſpielungen dar, man erfuhr die49 bedeutendſten Sachen mit der alten Welt, das lebendige Intereſſe der neuen aber draͤngte ſich immer dazwiſchen, und ließ keine Pedanterie aufkommen. Gurlitt und der alte Bieſterfeld freuten ſich an mir als ihrem ehe¬ maligen Schuͤler und der von ihnen ausgegangenen, wohlgelungenen Wirkung. Beſonderes Intereſſe und Gefallen aber hatte Gurlitt an Chamiſſo's Deutſchheit, uͤber deren Grund und Art er in ſteter Verwunderung blieb, und deſſen friſche Nachrichten aus Frankreich und eigenthuͤmliche politiſche Anſicht einen außerordentlichen Reiz fuͤr dieſe Maͤnner hatte, welche nur gar zu ſehr fuͤhlten, daß auch dem geiſtigen Grund ihres Lebens, dem innern Weſen ihrer Thaͤtigkeit, ſo gut wie der aͤußern Geſtalt ihres Buͤrgerthums, mit jedem Tage bedenklicher die Eingriffe der fremden Herrſchergewalt nahten. Daß dieſer Franzoſe den Aeußerungen in Be¬ treff des Kaiſer Napoleon keine Ruͤckſicht auferlege, wagte man nicht ſogleich vorauszuſetzen, ſondern ver¬ ſuchte ſich anfangs in allerlei Wendungen, bis man mit frohem Staunen gewahr wurde, man koͤnne mit gutem Vertrauen darin weiter und weiter gehen. Da¬ mit in dieſer Hinſicht gar kein Zweifel mehr bliebe, mußte Chamiſſo ſelber mich auffordern, die Ode von Staͤgemann vorzuleſen, worin der Untergang der Napo¬ leoniſchen Macht durch Preußen und Rußland geweiſſaget worden, und die ich in feiner Abſchrift bei mir fuͤhrte. Der Eindruck war unbeſchreiblich, man bewunderte undIII. 450jauchzte, und trank in den beſten Weinen wiederholt die Geſundheit des kuͤhnen Dichters. Chamiſſo ſeiner¬ ſeits fing dann auch eigne Gedichte zu deklamiren an, und nun ſollte er umſtaͤndlich ſagen, wie er zu ſeinen deutſchen Studien gelangt und durch welche Huͤlfsmit¬ tel er darin fortgeſchritten ſei. Man nahm an ſeinen Lebensgeſchicken, an ſeiner Perſon und Eigenart den lebhafteſten Antheil, und Gurlitt insbeſondere ſchien von fuͤrſorglichen Geſinnungen erfuͤllt und bewegt. Waͤh¬ rend er nun mit Zaͤrtlichkeit dem eben ſo lieben als außerordentlichen Gaſte horchte und zuſprach, war dieſer in das Herſagen von Verſen ſchon verfangen, und zwiſchen die Antworten, die er zu geben hatte, flocht er gelegentlich die allbekannten Worte ein:

Habe nun ach! Philoſophie,
Juriſterei und Medicin,
Und leider auch Theologie
Durchaus ſtudirt mit heißem Bemuͤhn.

Mit ſteigendem Pathos vorgetragen machte dies gute Wirkung, und das Gedaͤchtniß haͤtte ihn gewiß noch eine weite Strecke ſo fortfahren laſſen, als der liebe Gurlitt, in ſeinen Alten ſo trefflich zu Hauſe, und auch in den Neuern ſonſt beleſen genug, nur gerade mit dem unkorrekten Neuſten nicht vertraut, die ganze Tirade fuͤr ein perſoͤnliches Bekenntniß aufnehmend, verwundert und antheilvoll mit faſt gleichem Pathos, indem er ſich mit erhobenen Armen hinuͤberneigte, den51 Deklamator eilig anrief: O was! das haben Sie ..? und ihm damit ploͤtzlich den Strom der Rede im offnen Munde ſtocken machte. Eine allgemeine Stille trat auf einen Augenblick ein, Chamiſſo war wirklich aus aller Faſſung und ſah bald Gurlitt, bald mich an, ſein Lachen kaum hinunterwuͤrgend, und ich ſelbſt hatte alle Muͤhe, mit guter Art zuerſt den lieben Alten zu be¬ deuten, jene Worte ſeien der Anfang von Goethe's Fauſt, und worauf ich ſie einige Zeilen weiter fuͤhrte, da es ja ſchiene, ſo ſagte ich, als laſſe das Gedaͤchtniß meines Freundes ihn im Stich. So hatte der grund¬ gelehrte Mann zuletzt noch eine zwar ſehr verzeihliche Unwiſſenheit bloßgeben muͤſſen, die ihm aber doch em¬ pfindlich blieb, wiewohl bei weitem nicht in dem Maße, als wenn ſeine Mißkennung irgend einen Spruch aus dem Horaz oder Virgil betroffen haͤtte! Wir haben des reichbelebten, bis tief in die Nacht hinein fortge¬ ſetzten Gaſtmahls ſeitdem noch oft mit frohem und dankbarem Sinne gedacht, und uns dabei immer des drolligen Vorganges gern erinnert, der unſrer Ver¬ ehrung und Zuneigung fuͤr den wuͤrdigen und theuern Lehrer nicht im geringſten ſchaden konnte.

Der Aufenthalt in Hamburg hatte mich im Ganzen wohlthaͤtig erquickt und geſtaͤrkt, meinen Muth und meine Vorſaͤtze befeſtigt, und mir wurde in der heitern Gemuͤthsſtimmung der heranruͤckende Abſchied minder ſchmerzlich. Wir fuhren unter Freuden - und Segens¬4 *52wuͤnſchen ab, huͤllten uns gegen das einbrechende Win¬ terwetter in unſre guten Maͤntel, und harrten die lang¬ ſame Poſtreiſe, die uns nach Berlin zuruͤckfuͤhrte, ge¬ duldig aus. Ueberall wo wir durchkamen, ſahen wir franzoͤſiſche Truppen und Verwaltungen zum Ueber¬ wintern in das bedruͤckte Land ausgetheilt; ein trauriger Anblick, der dadurch nicht beſſer wurde, daß auch die Franzoſen dieſes Loos ihrerſeits gar nicht beneidenswerth fanden, wie uns die Reſignirteſten noch im vergeblichen Grimm eifrig betheuerten.

Berlin.

Eine neue Lebensreihe begann, und fuͤr mich ganz ungewoͤhnlich unter eigenthuͤmlichem Unbehagen, da bisher faſt immer bei jedem Abſchnitte frohe Stimmung und guͤnſtiges Ereigniß mich getragen hatten. Auch half es nichts, daß ich jenes Gefuͤhl mir verlaͤugnen, ſeine Wirkung durch Fleiß und Geiſtesmacht aufheben wollte, von allen Seiten haͤufte ſich mir eine beſondre Widrigkeit, die denn auch nur allzu ſchnell in mancher¬ lei Mißhelligkeiten ſich entladete. Vieles davon lag allerdings in meiner Gemuͤthsart, deren Anlage und Triebe ſich in voller Freiheit bewegen durften, anderes aber in meinen Verhaͤltniſſen, welche aus Ueberreifem und Unreifem zuſammengeſetzt, außer allem Gleichge¬ wichte ſchwankten, und indem ſie dieſes ſuchten, bald nach oben bald nach unten uͤbermaͤßig anſchlugen. Das53 Meiſte jedoch muß ich dem allgemeinen Zuſtande an¬ rechnen, der unwiderſtehlich den Einzelnen ergriff, wie er die Geſammtheit ergriffen hatte; wohin man blickte, ſah man Stoͤrung, Zerriſſenheit, nach allen Richtungen nur ungewiſſe Zukunft, den politiſchen Kraͤften wider¬ ſtrebten vergebens die geſelligen und geiſtigen, ſie mu߬ ten es fuͤhlen, daß der buͤrgerliche Boden, der ſie trug, erſchuͤttert war. Daß die Univerſitaͤt Halle niederge¬ worfen blieb, war vielleicht fuͤr keinen Menſchen ein ſo großer Verluſt, als eben fuͤr mich; dort haͤtte ſich mir in geordneter maßvoller Lebenshaltung und richtig umſchraͤnkter Bahn alles vereint, deſſen ich bedurfte, und das ich nun in dem großen Weltwirrniß mit weit¬ greifenden und eifrig geſchaͤftigen Muͤhen doch nur ver¬ gebens wieder zuſammenzufaſſen trachtete. Denn auch fuͤr die Wiſſenſchaften fehlte jede Einheit und Zuſam¬ menſtimmung, ſie boten ſich keiner Ueberſicht mehr dar in nothwendig erachteten und doch der Auswahl frei¬ geſtellten Lehrgaͤngen, die Lehrer bildeten keine Gruppen mehr, noch weniger die Schuͤler; jeder ging nach Zu¬ fall dem augenblicklichen Gewinne nach, wie der Tag ihn geben wollte. Denn, wie locker auch das Band ſein mag, welches die verſchiedenartigſten, einander entlegenſten Disciplinen, und, in den gleichartigen oder einander naheliegenden, die ſelten befreundeten und ein¬ ſtimmigen Lehrer auf unſern Univerſitaͤten zu verbin¬ den pflegt, ſo gewaͤhrt doch ſchon der Rahmen, der54 alles dieſes, wenn auch ſcheinbar willkuͤrlich und gewalt¬ ſam, gleich dem eines Landſchaftsbildes, zuſammenhaͤlt, einen ſichern und beruhigenden Abſchluß. Hierin helfen die Mitſtudirenden ebenſo, und in vielen Faͤllen mehr noch, als die Lehrer, und der Blick auf deren Zahl und Kraft iſt dem Studenten nicht weniger belebend und ermuthigend bei ſeinen Anlaͤufen, als dem Solda¬ ten, der zum Sturme vorſchreitet, das Anſchauen der Schaaren, die unter namhaften Fuͤhrern zu gleichem Werke vorangehen oder nachfolgen. Aber mir fehlte in dieſem Zeitraume durchaus jedes Vorbild, welchem ich haͤtte nachſtreben, das mir haͤtte ein Beiſpiel ſein koͤn¬ nen. Die tiefe, erſt heimliche, dann mehr und mehr ſich offenbarende Verſtimmung und Unluſt, welche die Folge aller dieſer Zuſtaͤnde war, wurde nur allzu ſchnell ein mitwirkender Theil derſelben, und half ſie in dem gegebenen Kreiſe noch mehr hervorbringen.

Ich ſah Fichte'n bisweilen, ich ſah Wolf, und hielt mit Bernhardi und mit Wilhelm von Schuͤtz fleißige Gemeinſchaft. Des letztern Trauerſpiel, der Graf und die Graͤfin von Gleichen, mir vom Entſtehen her durch fortruͤckende Mittheilung ſchon vertraut, war jetzt im Druck erſchienen, und gab mir zu mancherlei, dem Autor nicht willkommenen Aeußerungen Anlaß, die ich, um ſie gegen lebhaften Einſpruch beſſer zu vertheidigen, ſchriftlich zuſammenfaßte, woraus die nachher in der Jenaiſchen Litteraturzeitung abgedruckte Recenſion wurde,55 welche Bernhardi, der als Mitarbeiter oft um Beitraͤge gemahnt wurde, dorthin abſchickte und mit Huͤlfe einer aufdringlichen Taͤuſchung einſchwaͤrzte, indem er die Buch¬ ſtaben rnha zur Bezeichnung waͤhlte, welche der Redaktion als der Kern ſeines Namens unbedenklich einleuchteten, waͤhrend ſie doch eben ſo, was den grammatiſchen Gruͤbeleien dieſes auch gar gern ſpielenden Sprachgeiſtes nicht entgangen war, den Kern meines Namens bilde¬ ten, den ſie diesmal auch allein zu bedeuten hatten, welchen aber, als den eines Fremden und Unaufgefor¬ derten, niemand rathen konnte. Die Redaktion war in der Folge, als ſich der kleine Streich entdeckte, ſehr ungehalten gegen Bernhardi, und fand ſeine Ausrede unzulaͤnglich, mir aber verſchloß ſie mit der mißbrauch¬ ten Hinterthuͤre nun auch das Hauptthor um deſto ſorgſamer. So hatte weder Schuͤtz, dem ich draſtiſches Talent abſprach und nur lyriſches Weſen in dieſen an¬ geblich dramatiſchen Formen zugeſtand, noch ich ſelbſt, der ſich jener kritiſchen Anſtalt ſchlecht empfohlen hatte, und am wenigſten Bernhardi, deſſen Verbindung dort ſeitdem voͤllig aufhoͤrte, von dieſem Verſuche viel Ver¬ gnuͤgen, und ſogar das Honorar fuͤr die wenigen Blaͤt¬ ter ſollte in der Aufrechnung einiger Ruͤckſtaͤnde durch die bloße Ziffer verzehrt werden! An ſonſtigen kriti¬ ſchen Aufſaͤtzen, z. B. uͤber den Simpliciſſimus, an Ge¬ dichten, Ueberſetzungen aus dem Griechiſchen, Entwuͤr¬ fen und Bruchſtuͤcken zu groͤßeren Arbeiten, bracht 'ich56 in dieſer Zeit zu Papier, was mir nicht bewahrt ge¬ blieben iſt.

Heiterer und kraͤftiger ließ unſer Treiben ſich an, als im December Schleiermacher mit ſeiner Schweſter und der Tochter Wolf's von Halle zuruͤckkehrte, um nun, moͤge es werden wie es wolle, ſich ganz in Berlin feſtzuſetzen. Im Januar 1808 folgte auch Harſcher end¬ lich nach, begleitet von Wilhelm von Williſen, einem neuen Freunde, den er in Briefen ſchon genannt hatte.

Fichte begann im December ſeine Vortraͤge, und ich verfehlte nicht, ihnen beizuwohnen, die in dem run¬ den Saale des Akademiegebaͤudes vor einer zahlreichen Verſammlung von Herren und Frauen gehalten wurden. Der treffliche Mann ſprach mit kraͤftiger Begeiſterung dem gebeugten und irr gewordenen Vaterlandsſinne Muth und Vertrauen zu, ſchilderte ihm die Groͤße der Vorzuͤge, die ſich der Deutſche durch Unachtſamkeit und Entartung habe rauben laſſen, die er aber gleichwohl jeden Augenblick als ſein unveraͤußerliches Eigenthum wieder ergreifen koͤnne, ja ſolle und muͤſſe, und wies dafuͤr als das wahre, einzige und unfehlbare Huͤlfsmittel eine von Grund aus neu zu geſtaltende und folgerecht durchzu¬ fuͤhrende Volkserziehung an. Sein ſtrenger Geiſt ging auf vollſtaͤndige Umſchaffung unſrer Zuſtaͤnde aus, wo¬ bei er nichts weiter verlangte, als daß uͤberall das Weſentliche im Sittlichen wie im Geiſtigen gefoͤrdert und ausgebildet, das Scheinſame und Hohle dagegen57 aufgegeben und ſeinem eignen Abſterben uͤberlaſſen wuͤrde, dann, meinte er, werde ſich ohne gewaltſame Umkehr, durch bloße Entwicklung, aus dem Vorhandenen und Beſtehenden die ganze Kraft und Herrlichkeit, deren die Nation ſeufzend entbehre, unmerklich und unver¬ hinderlich von ſelbſt hervorbilden. Dabei war er billig genug, ſeiner ſonſtigen Art entgegen, welche ſogleich alles oder nichts gegen einander ſtellte, auch jeden ge¬ ringſten Keim des neuen Lebens, jeden theilweiſen noch ſo kleinen Anfang der gebotenen Entwicklung dankbar aufzunehmen und ſchon mit ſolchem fuͤrerſt begnuͤgt ſein zu wollen. Sein geiſtig bedeutendes, mit aller Kraft der innigſten und redlichſten Ueberzeugung maͤchtig aus¬ geſprochenes Wort wirkte beſonders auch durch den außer¬ ordentlichen Muth, mit welchem ein deutſcher Profeſſor im Angeſicht der franzoͤſiſchen Kriegsgewalt, deren Gegenwart durch die Trommeln vorbeiziehender Truppen mehrmals dem Vortrag unmittelbar hemmend und auf¬ dringlich mahnend wurde, die von dem Feinde umge¬ worfene und niedergehaltene Fahne deutſchen Volksthums aufpflanzte, und ein Prinzip verkuͤndigte, welches in ſeiner Entfaltung den fremden Gewalthabern den Sieg wieder entreißen und ihre Macht vernichten ſollte. Der Gedanke an das Schickſal des Buchhaͤndles Palm war noch ganz lebendig, und machte manches Herz fuͤr den unerſchrockenen Mann zittern, deſſen Freiheit und Leben an jedem ſeiner Worte wie an einem Faden hing, und58 der durch die von vielen Seiten an ihn gelangenden Warnungen, durch die Bedenklichkeiten der preußiſchen Unterbehoͤrden, welche Verdruß und Schaden fuͤr ſich von den Franzoſen befuͤrchteten, ſo wenig wie ſelbſt durch den Anblick eingedrungener franzoͤſiſcher Beſucher, ſich in dem begonnenen Werke ſtoͤren ließ. Man konnte ſie nicht ohne Ergriffenſein und Begeiſterung anhoͤren, dieſe Reden, welche mit Recht uͤber den Kreis der un¬ mittelbaren Zuhoͤrerſchaft hinaus ſich als Reden an die deutſche Nation erklaͤrten, als ſolche weit und tief ge¬ wirkt und ſeitdem ſtets als eine der fruͤheſten und ſtaͤrk¬ ſten Erregungen der volksthuͤmlichen Anſpruͤche und Betriebe in Deutſchland gegolten haben. Merkwuͤrdig iſt es, daß dieſes Werk bei ſeiner bedeutenden Verbrei¬ tung und Wirkſamkeit dennoch ſeinen unmittelbaren Ab¬ ſichten und Vorſchlaͤgen keinen Eingang gewonnen bat; nirgends iſt auch nur ein Verſuch gemacht worden, ſolche Volkserziehung einzufuͤhren, und wenn einige Schuͤler Fichte's ſpaͤterhin eine Erziehungsanſtalt in ſeinem Sinne zu gruͤnden ſuchten, ſo hat dieſelbe doch gar bald, in¬ dem ſie ſich den gewoͤhnlichen Anforderungen des Tages mehr und mehr bequemte, die beſondern Eigenthuͤmlich¬ keiten, worin ſie dem Geiſte des verehrten Meiſters zu huldigen glaubte, wieder abſtreifen muͤſſen. Von meinen naͤhern Freunden hoͤrten nur Bernhardi und Schuͤtz dieſe Vorleſungen; die andern hielten ſich davon zuruͤck. Daß Harſcher, der Fichte'n noch gar nicht gehoͤrt und59 geſehen hatte, dieſe Gelegenheit ungenutzt voruͤbergehen ließ, war unverzeihlich; aber Schleiermacher wirkte dabei wenigſtens mittelbar ein, er zeigte bei jedem Anlaſſe nur Abneigung gegen Fichte, ſpoͤttelte gern uͤber deſſen Beginnen, und es reizte ihn weniges ſo auf, als wenn man Fichte's Geiſt und Richtung anruͤhmte. Unter den Zuhoͤrern fand ſich Ludwig Robert, mit dem ich die faſt abgebrochene Bekanntſchaft erneuerte, auch ſeine Schweſter Rahel ſah ich mit ihm regelmaͤßig eintreffen, und ich widmete ihrer anziehenden Erſcheinung die leb¬ hafteſte Aufmerkſamkeit, wobei doch ein ſo nah und leicht unter ſolchen Umſtaͤnden ſich ereignendes Anknuͤpfen des Geſpraͤchs diesmal durch Eigenſinn des Zufalls unter¬ bleiben ſollte.

Ich hoͤrte die Vorleſungen Schleiermacher's uͤber Ethik mit großem Eifer, fand aber nicht die Befriedi¬ gung, die ich, beſonders nach Harſcher's Anpreiſungen, der in dieſen mehr ſinnreichen als tiefen Schematen lebte und webte, und mit ihnen uͤberall herumleuchtete, hatte erwarten duͤrfen. Das Nachſchreiben, womit ich mich quaͤlte, ermuͤdete mich vollends, ich gab dieſes ſehr bald, und allmaͤhlig auch ſelber die Vorleſungen auf, welches mir freilich in dem ganzen Kreiſe nicht zur Empfehlung gereichte. Ueberhaupt regte ſich in dieſer Zeit zwiſchen uns viel Abſonderndes und Entzweiendes. Eine ziemlich gleichartige, in Zahl der Perſonen nicht allzu beſchraͤnkte und doch gewiſſermaßen abgeſchloſſene60 Geſellſchaft bildet alsbald ein Gemeingut von Urtheilen, Empfindungsweiſen, Formen und Scherzen des Umgangs, woraus jeder ſeinen taͤglichen Bedarf ohne Anſtrengung nehmen und mit faſt unfehlbarem Erfolge verbrauchen kann. Dieſes Kotterieweſen, welches ſo bequem, aber auch ſo gefaͤhrlich iſt, weil es den Geiſt des Einzelnen faſt entbehrlich macht, die Eigenthuͤmlichkeit aufloͤſt, und die Stelle nicht einmal, wie doch das Leben in der großen vornehmen Welt noch thut, wenigſtens leer laͤßt, ſondern ſogleich mit Geringem auszufuͤllen ſucht, dieſer beſchleichende Anhauch wurde uns durch Friſche der Studien, durch unruhige Jugendkraft, und ſelbſt durch den allgemein ausgebreiteten Ernſt der Weltverhaͤltniſſe groͤßtentheils abgewehrt; einiges aber quoll dennoch wie durch Ritzen und Spalten in unſrer Mitte hervor, und bethoͤrte uns zu ernſtlich-thuendem Spiel. Dieſes ſtreifte nahe an heftiger Entzweiung hin, denn wir hielten eiferſuͤchtig darauf, jede Zumuthung, die den Schein einer Autoritaͤt haben konnte, ſchnoͤde zuruͤckzuweiſen. So zerſtoͤrten wir das Kotterieartige wieder, indem wir es bildeten, und Schleiermacher, der von jeher einen großen Hang gehabt, in unergiebigen Gewohnheits¬ uͤbungen ſich bequem zu ergehen, fand ſich in ſeinem Behagen durch uns oft mißmuthig aufgeſtoͤrt. Doch zu guter Letzt, ehe ſie voͤllig verſchwand, erhob ſich noch Einmal ſeine ganze Freundlichkeit und Heiterkeit gegen mich, indem er aus ſeiner Weiſe faſt in die meinige61 uͤberging, und die Bluͤthe dieſer Stimmung mußte ſo¬ gar ein Gedicht an mich ſein! Da ein Gedicht von Schleiermacher an mich jedenfalls etwas Phaͤnomenhaftes iſt, ſo muß ich dieſe Zeilen hier wohl mittheilen. Der Anlaß war folgender: Ich hatte ſcherzend erklaͤrt, ich wuͤrde fuͤr die jungen Damen nichts mehr ausſchneiden, wenn ſie nicht meine Bildchen durch Gegengeſchenke erwiederten, wozu ſie durch allerlei kleine Handarbeiten leicht Rath finden koͤnnten. Die Forderung galt fuͤr hoͤchſt anmaſſend, und ſollte durch einen empfindlichen Streich geruͤgt werden, wobei Schleiermacher die Worte zu liefern uͤbernahm. Sie geriethen ihm aber ganz uͤber Erwartung angenehm und ſchmeichelhaft. Ich empfing naͤmlich an meinem naͤchſten Geburtſtage von unbekannter Hand ein Kaͤſtchen, bei deſſen Eroͤffnung mir zuerſt ein Blatt Papier in's Auge fiel, zierlich beſchrieben, Verſe, die alſo lauteten:

An Varnhagen.

Zum 21. Februar 1808.

Dichter laſſen gern ſich ſchenken,
Freun ſich ſchoͤner Angedenken,
Wollen ausgezeichnet ſein;
Drum empfange heut die Gaben,
Welche wir bereitet haben,
Freundlich ſo gedenkend dein.
Du verachteſt nicht das Kleine,
Liebſt vielmehr das Zierlichfeine,
62
Drum iſt klein, was wir geſandt:
Handſchuh erſt, daß ſie nicht leidet,
Die ſo ſauber mahlt und ſchneidet,
Deine kunſterfahrne Hand.
Deine Stimme zart und ſuͤße,
Daß nicht fuͤr den Kopf ſie buͤße,
Sieh ein Muͤtzchen warm und ſchoͤn!
Waͤrmend wird's auch dazu dienen,
Wenn die Muſe dir erſchienen,
Die Begeiftrung zu erhoͤhn.
Auch ein Jaͤckchen zu der Muͤtze!
Glaube nur, es iſt dir nuͤtze
Bei den Abendſtreiferein.
Heb 'es auf fuͤr ſchlimmre Tage,
Moͤg' es von der Krankheit Plage,
Heilend dich ſodann befrein!
Dichter ſind ja arme Teufel,
Darum iſt wohl ſonder Zweifel
Dir die Boͤrſe groß genug.
Um den Dank dir zu erſparen,
Sollſt du nimmermehr erfahren,
Wer geſpielt dir den Betrug.

Die hier benannten Sachen lagen in der That alle zierlich gearbeitet vor Augen, doch uͤberaus klein, zu keinerlei Gebrauch. Die Quelle dieſes Muthwills konnte mir nicht zweifelhaft ſein, die Geberinnen verrieth ihr Lachen, als ich von meinen empfangenen Geſchenken erzaͤhlte, und ganz ernſthaft hinzufuͤgte, ich ſei ſchon63 damit bekleidet; die Liſt in Tieck's blondem Eckbert half hier gluͤcklich; daß aber Schleiermacher zu dem Scherze mitgewirkt und ſo huͤbſche Verſe dazu gemacht hatte, war denn doch ein auffallendes Zeugniß ſeiner mir freund¬ lichen Geſinnung, die ſich nur unter zufaͤlligen kleinen Bitterkeiten bisher verſteckt zu haben ſchien. Wirklich ſtellte ſich auf einige Zeit ein beſonders von ſeiner Seite zuvorkommenderes Vernehmen ein. Doch kam es zu keiner eigentlichen Erklaͤrung, und die Annaͤherung hoͤrte im Gedraͤnge der Tageswogen bald wieder auf. Auch behielt der Schlußvers jenes Gedichts in ſo fern Recht, als die Urheberſchaft nie ausdruͤcklich eingeſtanden wurde, wiewohl der Augenſchein deutlich genug ſprach, und auch das Gedicht noch heutiges Tages ſeinen Vater nicht verlaͤugnen kann, weßhalb auch ſeine Aufbewahrung hier um ſo guͤnſtiger verziehen ſein mag, da ſtets merkwuͤrdig bleibt, zu ſehen, was ein ſolcher Mann auf dergleichen verſtohlenen Nebenwegen bisweilen gluͤcklich erzielt!

(Hier waͤre, der Zeitfolge gemaͤß, der Abſchnitt Rahel, 1807 anzuſchließen, der aber ſchon im zweiten Bande abgedruckt ſteht.)

[64]

Beſuch bei Jean Paul Friedrich Richter.

Baireuth, Sonntag den 23. Oktober 1808. Heute Vormittag ging ich zu Jean Paul. Harſcher war ver¬ ſtimmt, und wollte durchaus nicht mitgehen, ich glaube, es verdroß ihn zu ſehr, ſeine aͤußeren Anſpruͤche gegen ſeine inneren ſo weit zuruͤckſtehen zu finden, und einen Mann, mit dem er ſich geiſtig auf gleicher Linie fuͤhlte, nur als unſcheinbarer Student zu begruͤßen, deſſen innrer Werth zufaͤllig noch zu keiner Namhaftigkeit ausgepraͤgt worden. Denn von Jean Paul eingenommen und be¬ zaubert iſt er mehr noch als ich, und ſeinen Wunſch, den Mann wie er leibt und lebt zu ſehen, hatte er bisher oft und lebhaft ausgeſprochen. Ich bin auch nur ein unſcheinbarer Student, aber das iſt mir eben recht, und ſo ging ich getroſt hin! Eine angenehme, freund¬ lich neugierige Frau, die mir die Thuͤr oͤffnete, erkannt 'ich ſogleich als Jean Pauls Gattin an der Aehnlichkeit mit ihrer Schweſter. Ein Kind wurde geſchickt, den Vater zu rufen. Er kam bald; war auf meinen Beſuch65 durch Briefe aus Berlin und Leipzig ſchon vorbereitet, und empfing mich ſehr liebreich. Als er ſich neben mir auf das Sopha niederſetzte, haͤtte ich ihm beinah in's Geſicht gelacht, denn indem er ſich etwas buͤckte, ſah er genau ſo aus, wie ihn unſer Neumann in den Ver¬ ſuchen und Hinderniſſen ſcherzhaft beſchrieben hat, und wie und was er ſprach, verſtaͤrkte den Eindruck in der¬ ſelben Weiſe. Jean Paul iſt wohlbeleibt, hat ein volles, gutgeordnetes Geſicht, kleine, feuervoll ſpruͤhende und dann wieder gutmuͤthig matte Augen, einen freundlichen, auch im Schweigen leiſe bewegten Mund. Seine Sprache iſt ſchnell, faſt eilig, und daher bisweilen etwas ſtol¬ pernd, nicht ohne einigen Dialekt, der mir ſchwer zu bezeichnen waͤre, aber ein Gemiſch von fraͤnkiſchem und ſaͤchſiſchem ſein mag, natuͤrlich doch ganz in der Gewalt der Schriftſprache feſtgehalten.

Ich mußte ihm zuvoͤrderſt alles erzaͤhlen, was ich von ſeinen Berliner Bekannten irgend wußte oder gar zu beſtellen hatte. Gern dachte er der Zeit, da er in Berlin als Nachbar von Markus Herz in dem Leder'¬ ſchen Hauſe gewohnt, wo ich vor ſieben Jahren im Garten an der Spree ihn zuerſt geſehen, mit Blaͤttern in der Hand, die man mir als zum Hesperus ge¬ hoͤrig insgeheim bezeichnete. Dies Perſoͤnliche, und manches Litterariſche, das ſich damit verflechten mußte, regte ihn außerordentlich an, und er hatte bald mehr zu ſagen, als zu vernehmen. Seine Rede war durch¬III. 566aus liebenswuͤrdig und gutmuͤthig, immer gehaltvoll, aber in ganz ſchlichtem Ton und Ausdruck. Wiewohl ich es ſchon wußte, daß ſein Witz und Humor nur ſeiner Schreibfeder angehoͤren, und er nicht leicht ein Zettel¬ chen ſchreibt, ohne daß jene mit einfließen, dagegen ſein muͤndlicher Ausdruck ſelten etwas davon verraͤth, ſo fiel es mir doch ſehr auf, bei dieſer beſtaͤndigen inneren Be¬ wegung, in der ich ihn ſah, und bei dieſer Lebhaftigkeit, der er ſich uͤberließ, von Witz und Humor keine Spur zu ſehen. Sein uͤbriges Betragen glich ſeinem Sprechen; nichts Vornehmes, nichts Geſpanntes, nichts Abſicht¬ liches, nichts, was uͤber das Buͤrgerliche hinausginge; ſeine Hoͤflichkeit war die groͤßte Guͤte, ſeine Haltung und Art hausvaͤterlich, fuͤr den Fremden gern ruͤckſichts¬ voll, aber fuͤr ſich ſelber dabei moͤglichſt ungezwungen. Auch der Eifer, in welchen der Reiz des Beſprochenen ihn oͤfters brachte, veraͤnderte doch jene Grundſtimmung niemals, nirgends trat Schaͤrfe hervor, nirgend ein Vorſtellenwollen, nirgends lauerndes Beobachten und Spaͤhen, uͤberall Milde, uͤberall freies Walten ſeiner nicht ſcharfumgraͤnzten Natur, uͤberall offne Bahn fuͤr ihn, und hundert Uebergaͤnge aus einer in die andere, mit voͤllig unbekuͤmmertem Darſtellen ſeiner ſelbſt. Erſt lobte er alles, was von neuern Erſcheinungen zur Sprache kam, und wenn wir dann etwas naͤher in die Sache kamen, war dann alsbald doch Tadel die Huͤlle und die Fuͤlle. So uͤber Adam Muͤllers Vorleſungen, uͤber67 Friedrich Schlegel, uͤber Tieck, und Andere. Er meinte, die deutſchen Schriftſteller muͤßten ſich immer nur an das Volk, nicht an die vornehmen Staͤnde halten, wo ſchon alles verdorben und verloren ſei; und hatte doch eben Adam Muͤllern geruͤhmt, daß der es verſtehe, ein gruͤndliches Wort an gebildete Weltleute zu bringen. Er iſt uͤberzeugt, daß aus dem Aufſchluſſe der indiſchen Welt fuͤr uns nichts zu gewinnen ſei, als zu den vielen Dichtungsgaͤrten, die wir ſchon haben, noch einer mehr, aber keine Ausbeute von Ideen; und doch lobte er einige Minuten vorher Friedrich Schlegels Bemuͤhungen mit dem Sanskrit, als muͤſſe ein neues Heil daraus her¬ vorgehen. Er hatte es nicht hehl, daß ein rechter Chriſt ihm jetzt nur als ein proteſtantiſcher denkbar ſei, daß ihm eine wahre Verkehrtheit duͤnke, wenn ein Proteſtant jetzt katholiſch werde, und mit dieſer Anſicht hatte ſich kurz vorher doch die groͤßte Hoffnung vertragen, daß der katholiſche Geiſt in Friedrich Schlegel mit dem in¬ diſchen vereint viel Gutes wirken werde! Von Schleier¬ macher ſprach er achtungsvoll, meinte aber doch, ſeinen Platon koͤnne er nicht recht genießen, und in Jacobi's und Herder's Seelenſchwunge glaubte er viel mehr von jenem goͤttlichen alten Weiſen zu ſpuͤren, als in allem gelehrten Scharfſinne Schleiermachers, was ich freilich nicht ohne ſtarken Widerſpruch durchlaſſen wollte. Fichte, von deſſen Reden an die deutſche Nation, gehalten in Berlin unter dem Geraͤuſch franzoͤſiſcher Trommeln, ich5*68ihm viel erzaͤhlte, war und blieb ihm unheimlich; die Entſchiedenheit dieſer Kraft aͤngſtigte ihn, und er ſagte, er koͤnne dieſen Autor nur noch gymnaſtiſch leſen, mit dem Inhalte ſeiner Philoſophie habe er nichts mehr zu thun.

Jean Paul wurde hinausgerufen, und ich blieb eine Weile mit ſeiner Frau allein. Auch dieſer wußte ich von ihrer Vaterſtadt Berlin mancherlei zu erzaͤhlen, und ihre Theilnahme fuͤr dortige Verhaͤltniſſe und Perſonen hatte nach allem, was ſie ſchon mit angehoͤrt, noch eine große Nachleſe zu halten. Die Frau gefiel mir unge¬ mein; ſanft, fein, ſittig, verband ſie mit dem ſchoͤnſten Eindruck der Haͤuslichkeit zugleich hoͤhere Geſellſchafts¬ gaben und freiere Welteinſicht, als Jean Paul zu haben ſchien. Sie wollte ſich aber dem trefflichen Mann auch in dieſer Beziehung gern unterordnen. Aus allem ging hervor, daß beide Gatten ein recht gluͤckliches Leben zu¬ ſammen fuͤhrten. Ihre drei Kinder ſind ſchoͤne, liebliche, friſche Geſchoͤpfe. Ein Knabe, Max, von fuͤnf Jahren, iſt der Liebling des Vaters, der einen kuͤnftigen Kriegs¬ helden in ihm ſieht; in der That iſt er ganz Kraft und Muth, und auch von Koͤrper ausgezeichnet, ich fuͤhlte die ſtarken Knochen und Sehnen ſeiner kleinen Arme mit Erſtaunen. Zwei Maͤdchen, Emma und Ottilie, aͤlter und juͤnger als der Knabe, ſahen ſehr lieblich aus, und zeigten, bei ſchon merkbarer Verſchiedenheit der An¬ lagen, das gemeinſame Gute der Eltern unzweifelhaft.

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Alle drei ſind voͤllig unbefangen, ganz frei und ganz kindlich, weniger zum Guten erzogen, als darin aufge¬ wachſen. Ich hatte recht herzliche Freude an ihnen, und ſie riefen mir andre liebe Kinder in's Gedaͤchtniß, mit denen ich noch kuͤrzlich zuſammen war! Als der Vater wieder eintrat, war es ziemlich ſpaͤt geworden, ich wollte weggehen, wurde aber nur entlaſſen, um meinen Reiſegefaͤhrten zu benachrichtigen, daß ich nicht mit ihm eſſen wuͤrde; Harſcher zu Jean Pauls Mittags¬ tiſche mitzubringen, wie ich aufgefordert war, durfte ich nicht hoffen.

Fortwaͤhrend geſpraͤchig und aͤußerſt gutgelaunt ver¬ breitete ſich Jean Paul uͤber die mannigfachſten Gegen¬ ſtaͤnde. Ich brachte ihm unter andern auch einen Gruß von Rahel Levin und die beſcheidene Frage, ob er ſich ihrer noch erinnere? Sein Geſicht ſtrahlte von ver¬ gnuͤgter Heiterkeit: Wie koͤnnte man ein ſolches Weſen je vergeſſen? rief er lebhaft aus; Das iſt eine in ihrer Art einzige Perſon, ich bin ihr von Herzen gut geweſen, und werde es noch taͤglich mehr, denn der Eindruck von ihr waͤchſt mit allem, was ſonſt in mir an Sinn und Verſtaͤndniß zunimmt; ſie iſt die einzige Frau, bei der ich aͤchten Humor gefunden, die einzige humoriſtiſche Frau! (Jean Paul dachte wohl nicht an Frau von Sévigné, oder war nicht darauf gekommen, ihrer Eigenthuͤmlichkeit den rechten Namen zu geben; denn was die Franzoſen an ihr ſo ſehr als Natuͤrlichkeit70 preiſen, iſt in den meiſten Faͤllen grade das, was wir Humor nennen.) Nun ging er in großes Lob einzelner Eigenſchaften ein. Als ich dieſes Lob unterbrach, und ihn verſicherte, aller Verſtand, Klugheit und Witz, die er von Rahel ruͤhme, ſeien in meinen Augen doch viel geringer, als die Innigkeit und Guͤte ihres Gemuͤths, wunderte er ſich nicht, ſondern glaubte mir dies gern, und wiederholte nur, jene ſeien aber ungeheuer groß. Er ruͤhmte ſich zweier Briefe von Rahel, und ſagte, der eine aus Paris ſei mehr als zehn Reiſebeſchreibungen werth, ſo habe noch nie jemand die Franzoſen und die franzoͤſiſche Welt auf den erſten Blick eingeſehen und karakteriſirt; was das fuͤr Augen waͤren, die ſo ſcharf und klar gleich die ganze Wahrheit, und nur die Wahr¬ heit, ſaͤhen! Als ich ihm ſagte, wie viele Briefe ich von ihr beſaͤße, nicht an mich geſchriebene, ſondern mir geſchenkte, wurde er ganz neidiſch; wenn ich in derſelben Stadt mit ihm wohnte, ſagte er, ſo muͤßte ich ihm wenigſtens zwei Worte aus jedem Briefe mittheilen; das ſei ein ungeheurer Schatz, ein einziger; Rahel ſchreibe vortrefflich, es ſei aber nothwendig, daß ſie an jemand ſchreibe, ein perſoͤnlicher Anreiz muͤſſe bei ihr alles her¬ vorlocken, mit Vorſatz ein Buch zu ſchreiben werde ſie wohl nie im Stande ſein. Ich bin jetzt faͤhiger, fuhr er fort, ſie zu verſtehen, als damals in Berlin; ich moͤchte ſie jetzt wiederſehen! je oͤfter mir von den Be¬ merkungen und Ausſpruͤchen, die ſie nur ſo hin zu71 ſagen pflegte, etwas wieder einfaͤllt, je mehr ſtaune ich! Sie iſt eine Kuͤnſtlerin, ſie hebt eine ganz neue Sphaͤre an, ſie iſt ein Ausnahmsweſen, mit dem gewoͤhnlichen Leben in Krieg, oder weit daruͤber hinaus; und ſo muß ſie denn auch unverheirathet bleiben! Er pries mich gluͤcklich, eine ſolche Freundin zu haben, und fragte mich, gleichſam pruͤfend und meinen Werth meſſend, wodurch ich, noch ſo jung, mir das verdient habe? Ich gewann ſichtbar in ſeinen Augen durch dieſe Beziehung. Als ich am Abend dies alles Harſchern wiedererzaͤhlte, war auch dieſer ganz benommen von der Macht ſolcher Aeußerungen, denen er ſich doch nur gezwungen beugte, denn wo er die Anerkennung nicht ſelbſt aufgebracht, wo er ihr nur zuſtimmen mußte, war ſie ihm jedesmal ſchwer und faſt peinlich.

Montag, den 24. Oktober. Der empfangenen Ein¬ ladung zufolge, ſtellte ich mich heute Nachmittag fruͤh genug bei Jean Paul ein. Harſcher behauptete, noth¬ wendig Briefe ſchreiben zu muͤſſen, und blieb unbeweg¬ lich im Wirthshauſe. Jean Paul war eben von einem Spaziergange heimgekehrt, die Frau mit dem einen Kinde noch nicht zu Hauſe. Wir kamen auf ſeine Schriften, dieſe bei den meiſten Autoren ſo bedenkliche Saite, welche der eine gar nicht beruͤhrt wiſſen will, der andre immerfort will klingen hoͤren. Er war dabei ſo liebenswuͤrdig, wie ich nie erwartet, frei, unbefangen und gruͤndlich in ſeinem ganzen Weſen. Der Anlaß72 dieſes Geſpraͤchs war der neuſte Cotta'ſche Damen¬ kalender, worin Goethe's pilgernde Thoͤrin und Jean Pauls Traum einer Wahnwitzigen ſtehen. Es war noch kein Exemplar nach Baireuth gekommen, ich aber brachte von Dresden her eines mit, Jean Paul wuͤnſchte es zu behalten, und wies mir in Tuͤbingen bei Cotta den Erſatz an. Solche Phantaſieen, ſagte er, wie jener Traum eine ſei, koͤnne er immerfort ſchreiben, die Stim¬ mung dazu, wenn er nur geſund ſei, habe er ganz will¬ kuͤrlich in ſeiner Gewalt, er ſetze ſich an's Klavier, phan¬ taſiere da auf das wildeſte, uͤberlaſſe ſich ganz dem augenblicklichen Gefuͤhl, und ſchreibe dabei ſeine Bilder hin, freilich wohl nach einer gewiſſen vorbedachten Rich¬ tung, aber doch ſo frei, daß dieſe ſelbſt oft veraͤndert wuͤrde. Ganz eben ſolcher Stimmung folge er, fuͤgte er hinzu, wenn er den Leibgeber oder Schoppe in der hoͤchſten Begeiſterung reden laſſe, dieſe Figur ſei dann ganz er ſelber. Noch erfuͤllt von den Bildern jenes Traumes, von der Rieſenhaftigkeit der Gedanken, die hier hin und her geworfen werden, und die zu den groͤßten und gehaltvollſten aller Maͤhrchenpoeſie gehoͤren, mußte ich nur um ſo mehr erſtaunen, als ich die un¬ erſchoͤpfliche Fruchtbarkeit vernahm, mit welcher dem Dichter dieſe Gebilde zuwachſen. Er hatte ſich in dieſer Art einmal vorgenommen, eine Hoͤlle zu ſchreiben, die kein Menſch ſollte aushalten koͤnnen, und vieles da¬ von iſt wirklich fertig, jedoch nicht fuͤr den Druck be¬73 ſtimmt. Ich fragte nach den Flegeljahren, und hoͤrte zu meiner groͤßten Freude, daß er ſie ganz gewiß fort¬ ſetzen wird; er betrachtet ſie wie ſein beſtes Werk, worin er recht eigentlich wohne, da ſei ihm alles heimiſch und behaglich, wie eine freundliche Stube, ein bequemes Sopha, und vertraute froͤhliche Geſellſchaft. Auch iſt er uͤberzeugt, ſeine eigenthuͤmlichſte und wahrſte Richtung in dieſem Buche befolgt, ſeine wahre Art gewiß darin getroffen zu haben, andre ſeiner Buͤcher, meinte er, koͤnnte er mit ſeinem Talent gemacht haben, in den Flegeljahren aber habe ſein Talent ihn ſelbſt ergriffen, auch ſeien Vult und Walt nur die beiden entgegenge¬ ſetzten und doch verwandten Perſonen, aus deren Ver¬ einigung er beſtehe.

Wir ſprachen noch vielerlei uͤber Schriften und deren Abfaſſung, deren Triebwerke und Huͤlfsmittel. Dabei kamen wir denn auch auf das Darſtellen von Gegenden und Landſchaften. Jean Paul iſt darin em großer Mei¬ ſter; kein Wunder, da er von je mit der Natur gelebt, in ſeinen fruͤheren Jahren oft halbe Tage im Freien zugebracht, Wolken und Luft, Land und Waſſer, ja jede Blattwindung und Halmſtellung, liebevoll beobachtet, das Groͤßte wie das Kleinſte, und zu ſeiner Erinnerung immer alles aufgeſchrieben, ſo viel dies nur moͤglich war. Er erſchrak ordentlich, als ich es wagte, Goethe'n als weniger geſchickt in dieſer Parthie zu bezeichnen, und erinnerte ſogleich an zwei im Werther beſchriebene74 Gegenden und Landſchaften, denen in der That die Meiſterhaftigkeit nicht abzuſprechen iſt. Wie aber die Sache anzugreifen ſei, welche techniſche Vortheile es dafuͤr gebe, daruͤber ſtritten wir eine Weile. Endlich ſagte Jean Paul ſehr ſinnvoll, um eine Gegend dichteriſch aufzufaſſen, duͤrfe der Dichter nicht bei ihr anfangen, ſondern er muͤſſe die Bruſt eines Menſchen zur camera obscura machen, und in dieſer die Gegend anſchauen, dann werde ſie gewiß von lebendiger Wirkung ſein; nichts aber ſei todter, als wenn der ſich neugierig um¬ ſehende Reiſende nur den ſinnlichen Stoff als ſolchen erzaͤhle und beſchreibe. Jean Paul verlangte, der Dich¬ ter ſolle auch wirkliche Gegenden doch immer nur aus der Phantaſie beſchreiben, die allein koͤnne das Richtige und Wahre liefern. So habe er ſelber ſchweizeriſche und italiaͤniſche Gegenden, letztere z. B. im Titan, ſehr richtig wenigſtens die bewaͤhrteſten Kenner ſagten es geſchildert, ohne ſie je geſehen zu haben, und auch in Nuͤrnberg, deſſen Oertlichkeit in den Palinge¬ neſien bis zum kleinſten Einzelnen vorkomme, ſei er erſt lange nachher, und auch da nur auf einen halben Vormittag, geweſen. Mir ſchien eine tiefe Wahrheit in dieſer Paradoxie zu liegen, der doch nicht unbedingt beizuſtimmen war; gilt fuͤr das Bild ein anderes Geſetz, als Meſſen und Aufzaͤhlen, ſo muß doch die Phantaſie, um Bilder einer beſtimmten Wirklichkeit hervorzurufen,75 wenigſtens aͤhnliche Beſtandtheile ſtets als Gleichniß be¬ reit haben.

Das Geſpraͤch wandte ſich auf die oͤffentlichen An¬ gelegenheiten, auf den Zuſtand von Deutſchland, auf die Machtherrſchaft der Franzoſen. Mir ſind die poli¬ tiſchen muͤſſigen Verhandlungen ſehr zuwider, es kommt wenig dabei heraus, man tappt im Finſtern, und alles iſt meiſtentheils ganz anders, als man die Sachen ge¬ woͤhnlich im erſten Augenblick wiſſen kann und behaup¬ ten will. Aber entzuͤckend war es mir, Jean Paul bei ſolchem Anlaſſe die reinſten vaterlaͤndiſchen Geſinnungen ausſprechen zu hoͤren, und um dieſer Felſeninſeln willen durchſchwamm ich freudig das leere Gefluth unſichrer Nachrichten und ſchwankender Vermuthungen, das um jene her wogte. Was Jean Paul ſagte, war tief, ver¬ ſtaͤndig, herzlich, tapfer, deutſch bis in die kleinſte Faſer hinein; kurz tauſendmal beſſer als ſeine Friedens¬ predigt , uͤber die wir uns in Berlin geaͤrgert hatten. Ich konnte ihm vielerlei erzaͤhlen, von Napoleon, den er nur aus Bildniſſen kannte, von Johannes von Muͤller, uͤber deſſen Kataſtrophe und Karakter er begierig Auf¬ ſchluß wuͤnſchte, von Fichte, dem er jetzt gezwungen ſeine hoͤchſte Bewunderung widmete, von dem Marquez de la Romana und ſeinen Spaniern, die ich in Ham¬ burg geſehen hatte. Jean Paul zweifelte keinen Augen¬ blick, daß die Deutſchen einſt gleich den Spaniern ſich erheben, daß die Preußen ihre Schmach raͤchen und das76 Vaterland befreien wuͤrden; er hoffte, ſein Sohn werde es erleben, und wollte es nicht laͤugnen, daß er ihn zum Soldaten erziehe. Meine Mittheilungen und An¬ ſichten konnten ſein Vertrauen nur beſtaͤrken; ich brachte ihm Zeugniſſe in Menge, wie hohl und ſchwach die Macht Napoleons in ſich ſelber ſei, wie tief und ſtark die Geſinnung, die ihm entgegenſtehe. In dieſe abge¬ legene Provinz waren viele Thatſachen noch gar nicht hingedrungen, eine Menge von Bezuͤgen waren hier ganz neu. Jean Paul hoͤrte mir begierig zu, und barg ſein Entzuͤcken nicht, als ich ihm mehrere Strophen der Ode von Staͤgemann gegen Napoleon herſagte, wobei er doch ſorgſam warnte, dergleichen nur vorſichtig mit¬ zutheilen und nicht ſchriftlich bei mir zu fuͤhren, und allerdings mußte ich zugeben, daß man um weniger ſchon hier Freiheit und Leben verlieren koͤnne. Aber bald vergaß er ſelbſt ſeiner Warnung, und wollte eine Abſchrift haben. Nun druͤckten wir uns erſt recht als gleichgeſinnte Freunde die Haͤnde, und tauſchten ruͤck¬ haltlos unſre Meinungen aus. Die Spanier machten den freudigen Refrain zu allem, auf ſie kamen wir immer zuruͤck.

Die Erwaͤhnung der Reden Fichte's brachte uns auf das Erziehungsweſen, fuͤr den Verfaſſer der Levana natuͤrlich ein ſehr ergiebiger Gegenſtand. Er billigte faſt alles, was ich ihm als Ergebniß meiner Erfahrun¬ gen hieruͤber vortrug, und ſchloß endlich mit dem Satz,77 daß man nur ſeine eignen Kinder, aber keine fremden, erziehen koͤnne. Dieſes Erziehen der eignen Kinder nun, ich muß es ſagen, leiſtet er auf die vortrefflichſte Weiſe, ich habe es in dieſen zwei Tagen ſo gut erkannt, als ob es hundert geweſen waͤren. Die Kinder ſind gluͤcklich, gedeihen in zarter Liebe und geſunder Staͤrke, entwickeln ſich nach eigner Art, und fuͤr dieſe Eigenheit hat Jean Paul das leiſeſte Gefuͤhl, die ſorgſamſte Acht und Leitung.

Nuͤrnberg, Donnerstag den 27. Oktober. Ich habe noch einiges von meintm letzten Abend in Baireuth bei Jean Paul nachzuholen. Die Frau war nach Hauſe gekommen, und nahm an dem letzten Geſpraͤche einigen Antheil, entfernte ſich aber bald wieder in haͤuslichen Geſchaͤften. Die zwei juͤngſten Kinder waren einge¬ ſchlafen. Ich wollte den lieben Kindern gern ein An¬ denken von mir zuruͤcklaſſen, ſetzte mich daher zum Tiſch, und begann einige Bildchen fuͤr ſie auszuſchnei¬ den. Als Jean Paul dieſe kleine Kinderwelt aus Pa¬ pier ziemlich ſchnell vor ſeinen Augen entſtehen ſah, wurde er ſelber von Kindergefuͤhlen ergriffen, mit ver¬ gnuͤgter Lebhaftigkeit rief er ſeine Frau herbei, weckte ſeine Kinder auf, das dritte hatte ſich ſchon an mich ge¬ ſchmiegt, und nun ſollte ich umſtaͤndlich von Allem Rechen¬ ſchaft geben. Meine kleinen Arbeiten wurden von den Kindern mit Jubel aufgenommen, ſie behaupteten, ich ſei das Chriſtkindchen, das ihnen Geſchenke bringe, und78 auf die Bemerkung, ich ſei aber doch ſchon ſo groß, blieb der Knabe dabei, nun ja, ich ſei ein großes Chriſt¬ kindchen, welches Wort den Vater ungemein freute, ſo daß es mir erſt hiedurch auffiel. In ſolchen Geſpraͤchen und Beſchaͤftigungen ging ein guter Theil des Abends hin, ich fuͤhlte mich ganz begluͤckt in der Mitte dieſer ſchoͤnen, reinen Familie, die ſo herzlich gegen mich war, und mich ſchon keine Fremdheit mehr empfinden ließ.

Ich blieb zum Abendeſſen, gegen meinen Vorſatz, denn ich hatte Harſchern verſprochen, nicht ſpaͤt wieder¬ zukommen, da wir am andern Morgen fruͤh abreiſen wollten. Die Frau war uͤberaus guͤtig, Jean Paul ſo traulich und aufgeweckt, daß ich dem beiderſeitigen Zureden nicht widerſtehen konnte. Bei dem artigen und ſchon ſuͤddeutſch reichlichen Mahle herrſchte die beſte Laune. Unter andern gab uns der Vorfall ſehr zu lachen, daß mir Jean Paul eine Empfehlung nach Stuttgart an einen ſeiner wie er ſagte herzlichſten Freunde geben wollte, es aber unterlaſſen mußte, weil er ſich durchaus nicht auf deſſen Namen beſinnen konnte! Von ernſthafter Art hingegen waren die Geſpraͤche uͤber Tieck, Friedrich und Wilhelm Schlegel, Bernhardi, Schuͤtz, mit Einem Wort, uͤber die ſogenannte roman¬ tiſche Schule. Jean Paul hatte dieſelbe in ſeiner Vor¬ ſchule der Aeſthetik gleichſam anerkannt, allein aus bloßer Achtung fuͤr Talent und Geiſt; gegen den eigent¬ lichen Kern jenes ganzen Zuſammenhangs hegte er79 fortwaͤhrend das tiefſte Widerſtreben. Beſonders gegen Tieck war ſeine Stimmung jetzt von manchen Seiten ſehr aufgebracht. Er behauptete, Tieck habe eine ganze Gattung ſeines Komiſchen von Bernhardi entlehnt, wie man deutlich aus den Bambocciaden ſehe, einen andern Theil habe er ſeinen, Jean Pauls, Schriften nachgebildet, wie er ihm ſelber einſt eingeſtanden; dann habe er viel von Shakespear angenommen; ſein Ernſt¬ haftes und Ruͤhrendes aber ſei theils aus alten Volks¬ buͤchern, theils wie die ſchoͤnſten Anklaͤnge der Genoveva aus dem Mahler Muͤller geſchoͤpft; die Kunſtempfindſamkeit in den Phantaſieen und im Sternbald kam auf Rechnung Wackenroder's, und die aͤußerſt komiſche Erzaͤhlung vom Schneider Tunelli ſollte faſt woͤrtlich aus einem alten Buche wiederabge¬ druckt ſein. So kam es uͤber Tieck hier faſt zu einem aͤhnlichen concursus creditorum, wie die Schlegel im Athenaͤum muthwillig einen uͤber Wieland eroͤffnet hat¬ ten. Allein ich mußte mich dieſem doch ſehr ungerechten und uͤbereilten Verfahren entgegenſetzen. Die Anklage wegen der Benutzung der Genoveva des Mahler Muͤller ſei, konnte ich mit Grund behaupten, von Tieck ſchon laͤngſt ſiegreich zuruͤckgewieſen. Die Bambocciaden, ſo wußte ich von Bernhardi ſelbſt, gingen zwar unter deſſen Namen, ruͤhrten aber dem beſſern Theile nach von Tieck her. Die Nachbildung alter Stoffe, wandt 'ich ferner ein, ſei von jeher den Dichtern erlaubt geweſen;80 ſie habe nie zum Vorwurfe gereichen koͤnnen, ſobald eine neue Schoͤpfung dabei ſtattfinde, das letztere ſei aber bei der Genoveva, dem Oktavianus und vielen andern, ganz unlaͤugbar. Schließlich konnte ich Bern¬ hardi's Wort anfuͤhren, der in den Zeiten feindlicher Spannung einſt mit edler Aufrichtigkeit mir das Be¬ kenntniß abgelegt, er moͤge es bedenken wie er wolle, er moͤge ſich fragen her und hin, immer bleibe er von der tiefen Wahrheit durchdrungen, immer trete ihm neu die Ueberzeugung auf, daß von allen Anfuͤhrern der romantiſchen Schule doch nur Tieck der wahrhaft geniale und der ſei, von dem man ſagen koͤnne, er trage die Gottheit im Buſen! Jean Paul wurde nachſinnend, es vergegenwaͤrtigten ſich ihm die Vorzuͤge, ſein Herz neigte ſich ohnehin lieber zum Anerkennen und Bewun¬ dern, und ſo geſchah es bald, wie mir ſchon geſtern mehrmals begegnet war, daß er bei ganz andern Er¬ gebniſſen anlangte, als der Beginn hatte erwarten laſſen; die Mißſtimmung mit allen ihren Gruͤnden und Antrieben verſchwand, und Tieck blieb uns ein Dich¬ ter, ein hoher und trefflicher!

Dieſe Biegſamkeit in Jean Pauls Urtheilen, dieſe Eingeſchloſſenheit in beſtimmte Gedankenzuͤge, dieſe klei¬ nen Scheuleder an den Seiten, die ihn nur ſeine grade Straße vor ſich hinſehen laſſen, dieſe augenblickliche Beſchraͤnkung und Einſeitigkeit, alles dies haͤngt un¬ ſtreitig mit ſeinen beſten Eigenſchaften zuſammen, und81 ruͤhrte mich als eine liebenswuͤrdige Schwaͤche, die auch ſeinem Weſen weniger ſchaͤdlich iſt, als ſie es einem andern waͤre, das ſich mehr in eingreifendem Handeln und ſcharfem perſoͤnlichen Vortreten gefiele. Jean Paul's Ungerechtigkeit iſt nur eine in ihm, nicht in der Welt, ſie uͤberſchreitet das ſtille Gehege ſeiner Privatgedanken nicht. Und die Ruͤckkehr zur Freundlichkeit und Guͤte wiegt hundertmal die kurze Abwendung auf.

Ich lernte Jean Paul aus dieſen Geſpraͤchen mehr kennen, als die Perſonen, die er beſprach. Es iſt ein reiner edler Menſch, kein Falſch und kein Schmutz iſt in ſeinem Leben, er iſt ganz wie er ſchreibt, liebevoll, innig, ſtark und brav. Auch an perſoͤnlicher Tapfer¬ keit fehlt es ihm gewiß nicht, und kaͤme die Gelegen¬ heit, ſo wuͤrde er, ich traue es ihm zu, mit dem Degen ſchneller bei der Hand ſein, als mancher Andre.

Als ich mir den trefflichen Mann in ſeinem Werthe ſo betrachtete und erwog, ſchlug mir ploͤtzlich das Ge¬ wiſſen. Ich mußte an unſern Doppelroman, die Ver¬ ſuche und Hinderniſſe , gedenken, und an die komiſche Figur, welche Jean Paul unter dieſem ſeinen Namen und in ſeiner eigenſten Manier darin ſpielt. Zwar hatte ich grade an dieſer Figur den wenigſten Antheil, ſie war, ihren beſten und eindringendſten Zuͤgen nach, das Werk von Neumann, aber an dem Ganzen war ich doch mitſchuldig, und es kam mir wie eine Treu¬ loſigkeit vor, von Jean Paul jetzt zu ſcheiden, ohneIII. 682ohne ihm den Frevel zu bekennen. Ich erzaͤhlte ihm alſo die Entſtehung des Buches, den ungefaͤhren In¬ halt, und daß und wie neben Johannes von Muͤller und Johann Heinrich Voß auch er ſelber darin vor¬ komme. Er hoͤrte mich ganz gelaſſen an, freute ſich des Scherzes, den er als gut und gelungen anzuer¬ kennen hoffte, und rechnete es mir beſonders an, daß ich den Drang gefuͤhlt, ihm davon zu ſprechen. Er verſtand vollkommen, wie es gemeint war, und begriff die Stimmung, die uns verleiten gekonnt, gerade unſre gefeierten Helden mit dergleichen Muthwillen anzugrei¬ fen; er wiſſe recht gut, ſagte er, daß die Soldaten Caͤſars, die bei deſſen Triumphzuge die bekannten Spott¬ lieder ſangen, darum doch die tapferſten und treuſten blieben, auf die jener ſich in Gefahr und Kampf am ſicherſten verlaſſen konnte. Alles, alles aber, rief er aus, kommt darauf an, daß die Sache wirklich gelun¬ gen iſt! Das Aeſthetiſche muß euch retten, iſt das nicht gut, dann habt ihr auch das Moraliſche zu verantwor¬ ten; kann ich jenem aber Beifall geben, ſo nehm 'ich dieſes auf mich! Es gefiel ihm nicht uͤbel, daß auch wir uns ſelber, wie ich ihm erzaͤhlte, in dem Buche nicht geſchont, ſondern zu ſtarken Zerrbildern verarbei¬ tet haͤtten. So iſt die Jugend, ſagte er lachend, gilt es einen durch den Regen zu jagen, ſo ſcheut ſie ſelber die Traufe nicht! Doch wenn die Wirthe denn mit¬ eſſen, werden die Gaͤſte ja wohl auch das Vorgeſetzte83 noch hinunterbringen! Von Muͤller und Voß meinte er, ſie wuͤrden ſich doch ſehr aͤrgern, die verſtaͤnden nicht ſo Spaß wie er. Indeß empfand auch er einigen Schreck und Entruͤſtung, als er vernahm, daß wir Goethe'n zu necken gewagt, und auch die Figur Wil¬ helm Meiſters frevelhaft mißbraucht haͤtten. Kinder, was habt ihr da gethan! ſagte er bedenklich, das haͤttet ihr unterlaſſen ſollen! Goethe iſt ein geweihtes Haupt, der ſteht anders, als alle Uebrigen. Den geb' ich weniger preis, als mich ſelbſt! Ich hatte in meinem Bericht die Farben eher zu ſtark als zu ſchwach aufge¬ tragen, und freute mich ſchon, daß Jean Paul das Buch wenigſtens nicht ſchlimmer finden wuͤrde, als er es ſich jetzt vorgeſtellt. Wegen Goethe's ſuchte ich ihn wieder etwas zu beruhigen. Von dieſem ſprachen wir nun noch eine Weile, und Jean Paul mit ſteigender Bewunderung, ja mit einem Schauder von Ehrer¬ bietung.

Das herrlichſte Obſt war zum Nachtiſch aufgetragen. Ploͤtzlich erhob ſich Jean Paul, gab mir die Hand, und ſagte: Verzeihen Sie, ich gehe zu Bett! Da es aber noch ſehr fruͤh iſt, ſo bleiben Sie in Gottesnamen noch hier und plaudern mit meiner Frau, es wird noch man¬ cherlei vorzubringen ſein, was ich nicht aufkommen ließ. Ich bin ein Spießbuͤrger, die Stunde iſt da, wo ich ſchlafen muß! Er nahm ein Licht, und ſagte gutnacht. Wir ſchieden in großer Herzlichkeit, und in dem beider¬6*84ſeitigen Wunſche, daß ich kuͤnftig einmal laͤngere Zeit in Baireuth verweilen moͤchte.

Noch eine ganze Weile blieb ich mit der trefflichen Gattin in lebhaftem Geſpraͤch, deſſen Gegenſtand meiſt Jean Paul ſelbſt war, dann auch mancherlei mir be¬ kannte Verhaͤltniſſe, denen ſie einen neuen Antheil wid¬ mete. Ich kam ſpaͤt in unſer Wirthshaus, und fand Harſcher ſchon eingeſchlafen, merkte noch eilig in meine Schreibtafel die wichtigſten Zuͤge dieſes Abends an, und als wir am andern Tage wieder unterwegs waren, fehlte mir fuͤr meinen Begleiter die unerſchoͤpflichſte und willkommenſte Unterhaltung nicht, indem ich ausfuͤhrlich ſchilderte und beſprach, was alles er verſaͤumt hatte!

Waͤhrend ich in Tuͤbingen war, kam der ſogenannte Doppelroman wirklich an das Tageslicht. Neumann und ich waren doch nicht ohne Beſorgniß, wie Jean Paul die Sache aufgenommen habe. Jedoch gelangte zu uns daruͤber keine Kunde. Das Buch, wiewohl erſchienen, und hin und wieder angekuͤndigt, fand noch lange Zeit keinen Weg in Jean Pauls Haͤnde. Noch am 20. Maͤrz 1809 richtete er nach Tuͤbingen folgen¬ des Blatt an mich: Ihre Scheeren-Plaſtik macht nicht bloß meinen Kindern, ſondern auch meinen Freunden und mir große Freude; nur dauert mich bei dieſer Zeich¬ nungs - oder Bildungskraft zweierlei; erſtlich, daß85 ſie nicht zu ordentlichen kuͤnſtleriſchen Zwecken ſich ein¬ lenkt, und zweitens Ihre Augen. Doch letztere noch bei ihrer feinen, kleinen Handſchrift. Haben ſie denn ſo viel Augen als Argus, daß ſie nach ein Paar weni¬ ger nicht fragen? Sie ſind der groͤßte Augenver¬ ſchwender, da Sie ſogar fremde mitverſchleudern. In unſerm illitterariſchen Baireuth kann ich Ihren Roman nicht bekommen, wenn Sie mir ihn nicht ſchicken. Iſt er gut, ſo hat meine Perſoͤnlichkeit keinen Einfluß auf meine Unpartheilichkeit. Ich wuͤnſchte ihn ſehr. Gruͤßen Sie Demoiſelle Levin, mich koͤnnte ſie am beſten gruͤßen laſſen durch ein Schock voller Bogen. Leben Sie wohl! Ihr Jean Paul Fr. Richter.

Dieſes Briefchen aber traf mich nicht mehr in Tuͤ¬ bingen, ſondern irrte in der Welt umher, nach Ham¬ burg, Berlin, Oeſterreich und Ungarn, nnd kam erſt nach Verlauf eines Jahres, im Maͤrz 1810, zu Prag in meine Hand. Die Welt hatte unterdeſſen einen neuen Umſchwung erlitten, auch mein perſoͤnliches Ge¬ ſchick entſcheidende Wendungen erfahren. Nicht jedes fruͤhere Wort war zu behaupten, nicht jede Anknuͤpfung fortzuſetzen, Verhaͤltniſſe und Richtungen hatten gewech¬ ſelt. Ich mochte das meinem Sinne ſchon ferngeruͤckte Buch an Jean Paul nicht mehr ſchicken, auch waͤre mir in Prag dergleichen noch ſchwerer aufzutreiben ge¬ weſen, als ihm in Baireuth. Doch unterließ ich nicht, ihm zu antworten, ſchon um zu bemerken, daß ſein86 Brief grade ein Jahr gebraucht, um von Baireuth nach Prag zu kommen, und dann des ſonderbaren Zuſam¬ mentreffens wegen, daß ich eben Jean Paul's neueſtes Buch, des Doktor Katzenbergers Badereiſe , geleſen, dann mich ſelber auf einer Badereiſe mit dem Fuͤrſten Ferdinand Kinsky und deſſen Arzte, einem zu meinem Erſtaunen wirklich ſo heißenden Doktor Katzenberger, nach dem Kinsky'ſchen Badeort Mſcheno befunden hatte, und beim Abſteigen vom Wagen den Brief Jean Paul's von vorigem Jahre eingehaͤndigt erhielt. Dies alles duͤnkte mich ſo Jean Paul'ſch, daß ich es ihm ſagen zu muͤſſen glaubte. Hiemit brach der Verkehr ab; neue Reiſen und Veraͤnderungen lenkten mich nicht zu ihm. Ich habe ihn leider nicht wiedergeſehen. Auch Neumann ſah ihn nie. Wir haben nicht erfahren, was er von ſeinem keck verzerrten, aber dabei meiſterhaft aͤhnlichen Bilde geurtheilt hat, ob er ſich daran mit heitrer Ueber¬ legenheit ergoͤtzt, oder mit doch reizbarer Empfindlichkeit geaͤrgert. Auch gegen einige unſrer Freunde, welche ſpaͤter mit ihm in engere Verbindung kamen, hat er nie ein Wort uͤber die Verſuche und Hinderniſſe geaͤußert, vielleicht iſt ihm das Buch ſelbſt nie vorge¬ kommen! Nicht zum erſten - noch letztenmale waͤre das Druckenlaſſen einem geheimen Niederlegen und Verwah¬ ren gleich geweſen, wo der oͤffentlich verborgene Gegen¬ ſtand auf dieſe Weiſe am beſten gegen alles Gefunden - und Erkanntwerden geſichert iſt!

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Tübingen 1808, 1809.

Tuͤbingen, Anfang Novembers 1808. Da ſind wir denn in Tuͤbingen! Am 1. ſpaͤt Abends, bei vollem Mondſchein, der die Berge und ihre vom Herbſt wun¬ derkraͤftig gebraͤunte Waldung ſchoͤn beleuchtete, fuhren wir munter hier ein, und haben in den erſten Tagen die Stadt und Gegend, die Anſtalten und zum Theil auch die Menſchen, ſchon zur Genuͤge angeſehen. Ob wir recht gethan, hieher zu reiſen? Es war eine kuͤhne, friſche That, alle Gruͤnde waren dafuͤr, und doch fuͤrcht 'ich ſchon, daß der Ausgang es als ein unnuͤtzes Abentheuer erſcheinen laͤßt. Der Eindruck von manchem Einzelnen war gut, die Gegend iſt ſchoͤn, das Volk unterhaltend, die Maͤnner, die uns anzogen, ſind ihres Rufes werth; aber das Ganze wirkt auf uns graͤßlich niederſchlagend! Wir haben ganz daſſelbe Gefuͤhl, Har¬ ſcher und ich, da doch ſonſt unſre Seelenſtimmungen weit auseinander liegen, ſo wie die Gegenſtaͤnde ver¬ ſchieden ſind, von denen wir bewegt werden. Diesmal88 muß alſo doch etwas in der Sache ſein, was uns beide ſo benimmt und beaͤngſtigt; das gute Tuͤbingen will ich nicht grade beſchuldigen, aber deſto mehr die grelle Verſetzung, die wir zu leichtſinnig gewagt, den unge¬ heuren Abſtand des Lebens hier von unſrem in Berlin; wir dachten den ſo leicht zu ertragen, und ich ſehe ſchon, wir beide koͤnnen es nicht! Fuͤr mich iſt das Schlimmſte, daß alle die Kaͤmpfe, denen ich entgangen zu ſein glaubte, ſich hier gerade am heftigſten erneuen. Von allen Seiten beſtuͤrmen mich Zweifel und Lockungen! Was ich eigentlich will, was ich im Tiefſten des Her¬ zens will, das iſt mir klar und gewiß; aber davon iſt nicht die Rede! Die Rede iſt davon, daß ich eine Ge¬ ſtalt finde, in der mein Leben ſich das Ziel jenes inner¬ ſten Wollens aneignen koͤnne, und da ſind ſo viele Wege, da begegnen mir auf jedem guͤnſtige nnd widrige Zeichen. Es iſt kein Irrthum, daß ich Arzt werden will, gewiß nicht; dieſer Beruf iſt mir lieb, und ich kann darin gluͤcklich ſein. Aber es liegt in den Um¬ ſtaͤnden, daß ich, um als Arzt zu leben, keinen andern Ort als Hamburg waͤhlen kann, und ſo lieb mir der Ort an und fuͤr ſich iſt, ſo wenig darf ich ihn jetzt fuͤr mich wuͤnſchen, und nun gar der Gedanke, mich fuͤr immer in einer Stadt niederzulaſſen, die franzoͤſiſcher Herrſchaft unterworfen iſt, waͤhrend doch vielleicht vielleicht! noch einige Strecken des Vaterlandes ſich als freie Deutſche erhalten! Soll man uͤberhaupt in89 ſolcher Zeit ſich niederlaſſen? Und was kann man ſonſt thun? Ich genug! Ich finde nur zu viele Moͤglich¬ keiten, denen ich folgen kann. Zum Kriege kann jeder taugen, und ich alſo auch; die Gelegenheit wird nicht fehlen, denn Deutſchland iſt noch lange nicht voͤllig unterjocht, und noch lange nicht voͤllig frei; da muß noch oft zu den Waffen gegriffen werden, kann ich hieran nicht Theil nehmen, ſo bleibt mir ein entſchiede¬ ner Anſpruch ewig unbefriedigt. Aber auch geiſtige Thaͤtigkeit reizt mich, litterariſche, auf das geſellſchaft¬ liche Leben wirkſame; ſollt' ich nicht als Schriftſteller leben koͤnnen, und auch hier mitunter die gewuͤnſchte Kriegsbahn gegen den Feind eroͤffnet finden? Aber der Augenblick draͤngt; was ſoll ich waͤhlen, was kann ich ergreifen? Ich kann nichts abwarten, ich habe nur Boden, ſo fern ich gewaͤhlt habe, und auch da zuerſt nur unfruchtbaren! Ob die Fruͤchte dann kommen, oder ausbleiben, das ſteht dahin.

Ich war bei Cotta, dem ich meinen Empfehlungs - und Kreditbrief uͤbergab. Ich glaubte meinen Augen nicht, als ich nach der Cotta'ſchen Buchhandlung fragte, und man mich in ein Laͤdchen wies, wo ich mich faſt ſchaͤmte einzutreten; ſo winzig, eng und ſchmucklos hab 'ich neue Buͤcher noch nie wohnen ſehen, alte wohl! Und noch dazu iſt dies der Ort, wo die Schiller und Goethe recht eigentlich zu Hauſe ſind, von wo ſie aus¬ gehn. Der eine, emſig beſchaͤftigte, aber dennoch gut¬90 muͤthig aufmerkſame Diener, den ich traf, laͤchelte uͤber meine Befremdung, und geleitete mich, da ich den Herrn Doktor ſprechen wollte, zwei ſchmale Stiegen hinauf, in ein enges Stuͤbchen, wo es aber doch etwas elegant ausſah, ſogar ein Sopha breitete ſich hinter einem Tiſche, das einzige bis jetzt, das ich in Tuͤbingen zu ſehen bekommen, denn Studenten und Profeſſoren haben ſo ſchwelgeriſche Gewohnheiten nicht. Cotta trat ein, ein hagrer, aͤltlicher Mann, lebhaft, geſchmeidig in eckigen Manieren, in ſchwaͤbiſcher Gemaͤchlichkeit raſch; er war prompt, artig und meinen Wuͤnſchen zuvorkom¬ mend, hatte aber viel zu thun, daher ich ihn bald wieder verließ. Seitdem war ich auch ſchon einen Abend bei ihm, wo ich ihn mit ſeiner Frau und ſeinen zwei artigen Kindern ſah, als freundlichen, liebevollen Hausvater, den daß luſtige Toͤchterchen mit klugem Muthwillen in beſte Laune ſetzte; auch die Frau war voll Guͤte, doch ſehr gehalten, maßvoll und verſtaͤndig, im Praktiſchen gewiß nicht leicht zu irren noch umzugehen. Ich mußte von Hamburg erzaͤhlen, und machte gefliſſentlich eine praͤchtige Beſchreibung von dem Buchladen meines Freun¬ des Perthes im Jungferſtieg, von der reizenden Lage, der ſchoͤnen Einrichtung, den weiten Raͤumen, und den aufgereihten kauffertigen Vorraͤthen alles Neuen, Werth¬ vollen und Anziehenden in - und auslaͤndiſcher Litteratur. Ich erweckte keinen Neid, im Gegentheil, das ſuͤßeſte Behagen, daß man hier ſolchen Glanz nicht noͤthig habe,91 und in der geringſten Einrichtung ſich behelfe. Dabei laͤugnet Cotta ſeine Mittel nicht, und macht immer neue Unternehmungen, giebt das groͤßte Honerar, kauft Guͤter und Haͤuſer, und in ſeinen Geſchaͤften gedeiht alles beſtens. Und wie klug ſpricht er uͤber Litteratur! wie fein und tuͤchtig iſt ſein Urtheil, wie erkennt er die Talente, wie genau weiß er anzugeben, wo und wie jedes im Publikum Anklang und Erfolg finden kann! So vortrefflich er die buchhaͤndleriſchen Intereſſen ver¬ ſteht, ſo ſind ſie ihm doch gar nicht das Hoͤchſte; er hat ſein eignes Urtheil, ſeinen eignen Geſchmack. Wir ſprachen von Heinrich von Kleiſt's Pentheſilea, die er verlegt hat, er war unzufrieden mit dem Erzeugniß, und wollte das Buch gar nicht anzeigen, damit es nicht gefordert wuͤrde; uͤberhaupt war er gegen die neuere Schule ergrimmt, und von Goͤrres, Achim von Arnim und Clemens Brentano, die in Heidelberg durch die Einſiedlerzeitung ihm uͤbel mitſpielen, durfte man nicht reden, ohne daß er die Augenbraunen heftig zuſammen¬ zog, und ſeine Kaͤmpfer Weiſſer und Haug gegen ſie anrief. Auch in politiſchen Urtheilen fand ich ihn ſcharf und tuͤchtig, reich an Verknuͤpfungen, vorausſehend, unerſchrocken, gar wohl als tapferer Offizier zu denken. So ſehr wir, beſonders in litterariſchen Dingen, ent¬ gegengeſetzter Meinungen waren, ſo leicht und friedlich tauſchten wir dieſe aus; ich fuͤhlte gleich ein volles Ver¬ trauen zu ihm, das auch nicht unerwiedert ſchien. Ich92 glaube, mir dem Norddeutſchen zu Ehren wurde die Hausordnung veraͤndert, und Thee getrunken, um 6 Uhr, dann aber auch unerbittlich geeilt zum Nachteſſen, und um 9 Uhr fand ich, daß es hohe Zeit ſei zu gehen; um 8 hatte ſchon der Nachtwaͤchter gerufen; fruͤher rief er um 7, aber der jetzige Ortsbeamte wollte es nicht mehr leiden.

Wir finden die Stadt mit ihren Straßen und Haͤu¬ ſern abſcheulich, ein ſchmutziges Neſt, ſchwarz, klein, baufaͤllig; die Stuben, die man uns anbietet, ſehen ſchrecklich aus, mittelalterige Fenſterchen, ſchiefe Fu߬ boͤden, klapprige Thuͤren; zwei Stuͤhle, ein Tiſch, ein Bett, und einige Naͤgel, um Kleider oder auch ſich ſelbſt daran aufzuhaͤngen, ſind die Moͤbel. Was man verlangt, iſt nicht zu haben, fremd, vom Hoͤrenſagen bekannt; man ſchaͤmt ſich, man ſcheint ſich frech, ſo viele Anſpruͤche zu machen. Dagegen iſt die Landſchaft praͤchtig, das Neckarthal und das Ammerthal laden zu den ſchoͤn¬ ſten Spaziergaͤngen ein, die Huͤgel bieten die reichſten Ausſichten, die ganze Gegend hat einen lieblich ſchwer¬ muͤthigen Karakter. Man zeigt ein Gartenhaͤuschen vor der Stadt, wo Wieland gedichtet haben ſoll. Wie rei¬ zend faͤnden wir dieſes Stuͤck Natur, wie genuͤgend dieſen beſchraͤnkten Umfang, koͤnnten wir unſer berliniſch Leben darin fortfuͤhren!

Tuͤbingen, Mittwoch den 16. November 1808. Nun haben wir ſchon mehrere Bekanntſchaften gemacht. Ein93 Mediziner, der naͤchſtens als Arzt in ſeine Vaterſtadt Frankfurt am Main zuruͤckkehrt, klein, gewandt, roth¬ baͤckig, Philoſophie und Poeſie veraͤchtlich belaͤchelnd, aber eifrig fuͤr's Praktiſche, ſtreng auf ſein Fach ver¬ ſeſſen, und wohlbeſchlagen fuͤr's Examen, kurz, einer von der infamen Race, die man hoffnungsvolle Juͤng¬ linge und ſpaͤter Ehrenmaͤnner nennt, will ſich unſrer annehmen, und uns mit dem Neſte, wo er ſich ſo gut hat fluͤgge werden laſſen, ausſoͤhnen. Wir aber wollen nichts mit ihm und ſeinem Gelichter zu thun haben! Er war uns aber doch ſchon willkommene Bruͤcke zur Bekanntſchaft mit einem andern jungen Mann, mit Juſtinus Kerner, einem juͤngern Bruder des Arztes in Hamburg, Dichter, von dem einige Lieder in der Ein¬ ſiedlerzeitung gedruckt ſind; er iſt ein unſchuldiges kind¬ liches Gemuͤth, aͤußerlich vernachlaͤſſigt, innerlich dem Hoͤheren zugewandt, wir verſtehen uns aber wenig, er kennt nur ſein Schwaben. Auch einen Freund von ihm, Ludwig Uhland, ebenfalls Dichter, hab 'ich geſehen und geſprochen. Wir waren bei Kielmeyer und Auten¬ rieth, nun die Maͤnner beduͤrfen unſres Lobes nicht, aber es iſt doch alles anders, als wir dachten. Autenrieth's Klinikum iſt vortrefflich, eine lebendige Darſtellung, ſcharfſinnig, eindringlich belehrend; doch die Anſtalt iſt klein, erſt im Entſtehen, und er ſelbſt wundert ſich, daß Reil und andre ſolche Rathgeber uns hieher gewieſen haben. Indeß koͤnnten wir ſehr zweck¬94 maͤßig unſer Studium hier vollenden, zu lernen gaͤbe es genug, und Ruhe und Stille zum Fleiß fehlte nicht. Nun wir aber an der Schwelle ſtehen, zaudern wir, erſchrecken, wenden uns ab! Wir verzweifeln an unſerm Beruf, an dieſer Bahn wenigſtens, wo wir von allem Leben, das erfreut und erhebt, abgeſchnitten ſind. Wir haben ſchon zuviel gehabt, um jetzt alles zu entbehren, geſellige Anregung, reizenden Umgang, Kunſt, große Tagesſtoffe der Verhandlung, der Betrachtung. Har¬ ſcher koͤnnte noch eher ſich in Studien einſpinnen, ſeine Ideen koͤnnen auch in der Einſamkeit geſund reifen, er iſt weniger auf das Leben in und mit der Welt be¬ ſchraͤnkt, als ich; beſchraͤnkt, das iſt der Ausdruck, denn angewieſen darauf iſt er vielleicht weit mehr als ich. Aber auch er will es nicht aushalten, will aus dieſem Loch, in das wir gefallen ſind, ſich um jeden Preis hinausretten. Wir haben ſchreckliche Tage unter wech¬ ſelſeitigen Bekenntniſſen, unter Berathen und Ueber¬ legen hingebracht, die innern Strebungen gepruͤft, die aͤußere Umſtaͤnde eroͤrtert, die Moͤglichkeiten berechnet; das Ergebniß dieſer großen Kriſis war: fuͤrerſt weg! Was nachher zu thun, das bleibt leider noch verwickelt genug, beſonders fuͤr mich, der ich von Urſprung an in widerſtreitenden Bezuͤgen gerungen habe, zuruͤckge¬ halten von dieſen, fortgeriſſen von andern, verſpaͤtet und verfruͤht zugleich! Harſcher nun, ſo nah der Hei¬ math, wo er doch auch vieles zu ordnen hat, geht in95 dieſen Tagen nach Baſel; dort wird er ſich beſinnen, neue Plane anlegen, die meinigen erwarten. Ich, zu weit von Berlin und Hamburg, bin fuͤr den Winter hier gefangen! Doch ſobald meine jetzt erſchoͤpften Huͤlfs¬ quellen wieder etwas gewachſen ſind, was zum Fruͤh¬ jahr gewiß geſchieht, aber auch vielleicht fruͤher, mache mich auf, und eile, wohin das Herz begehrt! Wo das ſein wird? Ich weiß es ſelbſt nicht; jeder Ort, jede Lage, jede Thaͤtigkeit iſt mir recht, wenn ſich das Eine mir erfuͤllt! Wien ſteht uns wohl im Sinn, aber auch Paris. Leider ſchwank' ich nicht allein, Alle ſchwan¬ ken, und jeder nach andern Richtungen, mit andern Ausſichten; wo kein Punkt feſt iſt, alles nur in fort¬ waͤhrender Bewegung ſich gegenſeitig bedingen ſoll, da iſt ſchwer eine Verknuͤpfung zu treffen. Doch gibt uns der neuſte Entſchluß wieder Muth, wir ſind die Stockung im Innern los. Tadelt nur Harſcher'n nicht, daß er mich allein laͤßt! Ich ſelbſt habe ihn mit aller Ueber¬ redung dazu gedraͤngt. Auch ich bin dadurch freier.

Tuͤbingen, Ende Novembers 1808. Harſcher iſt laͤngſt in Baſel, und laͤd't mich ein, zu ihm zu kommen, im elterlichen Hauſe mit ihm zu wohnen, zu leben. Hier hat ſich Juſtinus Kerner ſehr an mich angeſchloſſen, und auch Ludwig Uhland hab 'ich nun erſt recht kennen gelernt. Zwei liebe, herrliche Menſchen, aͤchte, urſpruͤng¬ liche Seelen, reich begabt mit innrem Leben und aͤuße¬ rem Talent. Mein ihnen durch die Almanachspoeſien96 ſchon bekannter Name, jene unreifen, vergeſſenen Ge¬ dichte ſind es, die mir dieſe neuen Freunde verſchafft, aus dieſem geringen Faden ſpann ſich die ſchoͤnſte Ver¬ bindung. Die uns damals wegen unſres kecken Auf¬ tretens tadelten, dachten nur an den Gewinn der Lit¬ teratur, wir freilich auch, aber der Lebensgewinn iſt ein ganz anderer, und wie reich iſt uns der aus jenen jugendlichen Strebungen aufgegangen! Ein Troſt fuͤr ſchlechte Poeten, fuͤr ſchlechte Schriftſteller, aber in der That ein Troſt, ſobald nur wirklich der Gewinn erlangt wird.

Von Uhland brachte mir Kerner ein ganzes Paͤckchen handſchriftlicher Gedichte. Da tauchte mir wirklich die Seele in friſche Dichtungsfluth! Seine Lieder ſind Goethiſch; das heißt aber nicht Goethe'n nachgeahmt, ſondern in gleichem Werthe mit deſſen Liedern: eben ſo wahr und rein, ſo friſch und ſuͤß! Uhland behilft ſich nie mit Worten und Redensarten; nur das Gefuͤhl ſpricht und die Anſchauung, daher iſt ſein Ausdruck immer aͤcht. Die Natur, die ihn umgiebt, die Vorzeit, deren Sage er verhallen hoͤrt, bezeichnen den Kreis ſeiner Dichtung, aber ſein Geiſt iſt doch aus unſerer Zeit, ſein Gemuͤth umfaßt die ganze Bildung derſelben, und ſo iſt er der Auffaſſung und Wirkung nach durch¬ aus modern. Seine gedrungene Kuͤrze macht mich bis¬ weilen aufjauchzen. Vaterlands - und Freiheitsliebe durchſtroͤmen ihn, und auch dies macht ihn mir werth. 97Ich ſchicke euch einige Lieder von ihm, des Knaben Berglied und die drei Lieder gefallen euch gewiß. Auch eine Stelle aus einer Dichtung in Proſa ſtehe hier; von einer Geliebten wird geſagt: Sie war der Glanz meiner Jugendtage; des Morgens Morgenſtern, des Abends Abendroth. Ein Kuß von ihr! ein Ab¬ ſchiedskuß! Und ſind wir uns nicht beſtimmt fuͤr's Leben, ſo moͤgen wir uns doch beſtimmt ſein fuͤr einen Kuß. Und draͤngt ſich in einen ſolchen Kuß nicht eines Lebens Luſt und Schmach? Umgang hab 'ich nicht viel mit ihm, und nur durch Kerner's Vermittelung, denn er iſt der entſchloſſenſte, hartnaͤckigſte Schweiger, der mir noch vorgekommen, er uͤbertrifft unſern Bekker ſogar! keine Verlegenheit, keine Angſt wirkt auf ihn, er wartet es ab, was draus werden moͤge, und ſchweigt. Redet er aber, ſo iſt, was er ſagt, gediegen, klar, zweckmaͤßig, und moͤglichſt kurz; ohne alle Abſicht und Ziererei iſt es ſo, aus freier Natur heraus. Iſt das nicht ſchoͤn? Und ſo iſt der ganze Menſch. Seine Redlichkeit, Hochherzigkeit und Treue preiſt jeder, der ihn kennt, als unerſchuͤtterlich und probehaltig. Er wird naͤchſtens die Univerſitaͤt verlaſſen, und eine Reiſe nach Paris unternehmen. Er iſt im Ganzen nicht rauh und herb, aber wo er es iſt, werden ihn die Franzoſen nicht glaͤtten, und geſpraͤchig machen noch weniger.

Nun muß ich aber auch von Kerner mancherlei erzaͤhlen! Auch er iſt nicht nach unſrer norddeutſchenIII. 798Weiſe gebildet und geſpraͤchig, aber den guten Willen hat er, ſich anzuſchmiegen und mitzutheilen. Mich be¬ ruhigt es, jemand in meiner Naͤhe zu haben, denn wir wohnen in demſelben Hauſe, der ſich ſo wohl¬ wollend und theilnehmend bezeigt, und mich freut es jedesmal, wenn der liebe treue Menſch Abends zu mir hereintritt, und an meinem Tiſche ſeine Diſſertation ſchreibt, waͤhrend ich an meinen Sachen fortarbeite, als waͤre niemand zugegen. Spaͤter ſieht er dann mit Be¬ wunderung, wie ich Thee trinke, anſtatt des Schoppen Weins, der den Leuten hier ſo wohlſchmeckt, und wir plaudern dann offen und frei uͤber alles Moͤgliche. Daß mir Tuͤbingen nicht behagt, und daß ich ſo manche bittre Bermerkung ausſtoße, iſt ihm eine wahre Herzens¬ kraͤnkung; er ſieht wohl meiſtens ein, daß mein Tadel nicht ohne Grund iſt, er erkennt in manchen Faͤllen ſogar ſeine eigne Unzufriedenheit wieder, allein er will ihn doch nicht leiden, und nimmt ihm wenigſtens das Bittre, indem er den beſten Humor daraus macht. Er hat den lebendigſten Sinn fuͤr Scherz, fuͤr alles Ko¬ miſche und Barocke, und eine Art von Leidenſchaft, daſſelbe ans Licht zu bringen und zu foͤrdern. Da er es mit der Einſiedlerzeitung haͤlt, ſo hat er deren Geg¬ ner, die Herausgeber des Morgenblattes und Cotta'n ſelbſt, durch manchen launigen Einfall geaͤrgert. Jedoch iſt ſeine Geſinnung, wie die ſeines Freundes Uhland, durchaus rein, unzerſtoͤrbar rechtſchaffen, edel, tapfer,99 und ſo menſchenfreundlich, gutmuͤthig und zutraulich, daß er wohl nie jemanden aus freien Stuͤcken gekraͤnkt, und immer gleich verziehen hat, wo er der Gekraͤnkte war. Fruͤher ſollte er in Ludwigsburg die Handlung lernen, dann kam er zur Univerſitaͤt, er folgte der Be¬ ſtimmung, die man ihm gab, empfand weder Vorliebe noch Abneigung; er meint, es ſei ſo wenig Freude in der Welt, daß man nur eben etwas gleichviel was thun muͤſſe, damit die Zeit verſtreiche, und ſo das ganze Leben; den Vortheil hat er, daß, wie ihn nichts ſonder¬ lich freut, ihn auch nichts eigentlich ſchmerzt, und ſo lebt er munter und harmlos fort. Die vier Jahre, die er nun hier ſtudirt, hat er ohne Anſtrengung doch mit großem Fleiße benutzt, außerordentlich viel gelernt, und auch ſchon Kranke mit Geſchicklichkeit und Erfolg be¬ handelt. Sobald er Doktor geworden, reiſ't er nach Hamburg, und von da nach Kopenhagen oder Wien; auf ihn werden die großen Staͤdte ſchon wirken! Zu ſeiner Diſſertation hat er Bemerkungen uͤber das Ge¬ hoͤr gewaͤhlt, und deßhalb ganz neue Verſuche mit Thieren angeſtellt. In ſeiner Stube lebt er mit Hun¬ den, Katzen, Huͤhnern, Gaͤnſen, Eulen, Eichhoͤrnchen, Kroͤten, Eidechſen, Maͤuſen, und man weiß was noch ſonſt fuͤr Gethier, ganz freundſchaftlich zuſammen, und hat nur ſeine Noth, Thuͤr und Fenſter zu verwahren, daß ihm die Gaͤſte nicht entſchluͤpfen; ob ſeine Buͤcher oder Kleider in Gefahr ſind, ob ihn ein Thier im7*100Schlaf anſchnopert, oder unverſehens aufgeſchreckt nach ihm beißt, das kuͤmmert ihn nicht. Seine Verſuche ſind ſchlau und ſinnreich, und er ſucht alle Quaͤlereien zu vermeiden. Ueberhaupt ſteht er der Natur ſehr nah, und beſonders ihrer dunklen Seite. Seine Augen haben etwas Geiſterhaftes und Frommes; ſein Herz kann er willkuͤrlich ſchneller ſchlagen machen, aber es iſt nicht eben ſo wieder hemmen; die Erſcheinungen, welche neu¬ lich Ritter an Campetti beobachtet hat, die Pendelſchwin¬ gungen des Ringes am ſeidnen Faden, das Umdrehen des Schluͤſſels mit dem Buche, und alles dergleichen zauberhaft Magnetiſches tritt bei ihm in auffallender Staͤrke hervor. Er ſelbſt hat etwas Somnambuͤles, das ihn auch im Scherz und Lachen begleitet. Er kann lange ſinnen und traͤumen, und dann ploͤtzlich auffahren, wo dann der Schreck der Andern ihm gleich wieder zum Scherze dient. Wahnſinnige kann er nachmachen, daß man zuſammenſchaudert, und obwohl er dies poſſenhaft beginnt, ſo iſt ihm doch im Verlauf nicht poſſenhaft dabei zu Muth. In der Poeſie iſt ihm das Wunder¬ bare der Volksromane, der einfache Laut und die rohe Kraft der Volkslieder am verwandteſten, Dichtungen hoͤherer Art laͤßt er gelten, aber er begehrt ihrer nicht; ſo ſpricht er auch mit Vorliebe die rohe Landesmundart, will ſie nicht ablegen und verſtockt ſich wohl gar gegen die Schriftſprache. Der Sinn fuͤr gebildete Kunſt tritt zuruͤck; in der Muſik hat er ſich die Maultrommel an¬101 geeignet, und weiß dem geringen und doch wunderlichen Inſtrument die zarteſten und ruͤhrendſten Toͤne zu ent¬ locken. Nun denkt euch noch die einfachſte, ganz ver¬ nachlaͤſſigte Kleidung, voͤllige Gleichguͤltigkeit gegen die Dinge, mit denen man ſich beruͤhrt, vorgebeugte Hal¬ tung, ungleichen, ungraden Gang, eine ſtete Neigung ſich anzulehnen, oder niederzulegen, wie er denn lieber auf einem Stuhl unbequem liegt als bequem ſitzt, und bei allem dieſen einen doch ſchlanken, wohlgewachſenen, ganz huͤbſchen Jungen, ſo habt ihr ein vollſtaͤndiges Bild meines Kerner's.

Vor einigen Tagen fuhr ich mit Kerner nach Reut¬ lingen, zwei Stunden von hier, wo die Volksbuͤcher und Volkslieder in Menge gedruckt werden. Der Tag war nicht ganz ſchlecht, die Landſtraße noch gut, unge¬ achtet des vielen gefallenen Regens, und der Poſthal¬ ter gab uns ſehr gute Pferde. Die Fahrt machte mich ganz heiter, und als wir nur eben zum Thor hinaus im Freien waren, mußte ich in laute Freudenbezeigun¬ gen ausbrechen. Die ſchwarzblauen Berge ſtachen ſcharf gegen den Himmel ab, und die vielgezackten Gipfel durchbrachen mit ihrem dunklen Ernſt uͤberall die duͤnnen Wolkenwogen, welche um ſie her ſpielten. Nachdem wir das Neckarthal verlaſſen, eroͤffneten ſich neue ſchoͤnere Berggegenden, und Reutlingen lag vor uns, am Fuß eines hohen Berges, der die Ruinen der Burg Achalm traͤgt, deren Grafen einſt mit denen von Tuͤbingen102 harte Kriege gefuͤhrt, und zuletzt den kuͤrzern gezogen haben. Schnell waren wir in der Stadt; alles in die¬ ſem Schwaben iſt ſo gedraͤngt und nah, kaum iſt ein Gegenſtand erſehen, ſo iſt er auch ſchon erreicht! Eine Freude war mir's, nach Tuͤbingen wieder eine ſolche Stadt zu ſehen, die ordentliche Haͤuſer hat, ſehr gute Straßen, große Kirchen, und eine zahlreiche, be¬ triebſame, wohlhabende Einwohnerſchaft, deren Schlag mir huͤbſcher vorkommt als der Tuͤbinger, falls nicht die erſten Geſichter mich irre fuͤhrten. An allem ſieht man noch jetzt, daß Reutlingen eine freie Reichs¬ ſtadt war, und daß die Fruͤchte der Freiheit ihr in Handel, Gewerbfleiß, Gemeinſinn und Volksbildung nicht fehlten, denn was da iſt, iſt von ſonſt. Die Stadt hat etwa 10,000 Einwohner, die ſich durch Arbeitſamkeit auszeichnen, ehemals den eifrigſten Antheil an dem ganz demokratiſchen Gemeinweſen hatten, und ihre jaͤhrlichen Magiſtratsperſonen frei waͤhlten; daß ſie auch kriegeriſch in fruͤherer Zeit geweſen, bezeugen die hohen Mauern, feſten Thuͤrme, und tiefen Graͤben, welche die Stadt nmziehen. Es war als ob die Leute mir die ſchmerz¬ lichen Empfindungen anſaͤhen, mit denen der Anblick einer untergegangenen Reichsſtadt mich jedesmal erfuͤllt, denn auch hier ſchuͤtteten ſie ihre bittern Klagen uͤber die erlittene Veraͤnderung vertrauenvoll gegen mich aus. Die armen Leute ſehen die Franzoſen als die allgemei¬ nen Unheilsſtifter an, die ehmals Freiheit mit Worten103 verkuͤndigt, in der That aber uͤberall Herren eingeſetzt haͤtten, und nun gaͤbe es gar doppelte Herrſchaft, denn die Franzoſen druͤckten ſchwer auf die Fuͤrſten, und dieſe dann um ſo ſchwerer auf das Volk. Im ganzen Rhein¬ bunde herrſchte dieſe Unzufriedenheit, der franzoͤſiſche Einfluß macht uͤberall die Regierungen dem Volke fremd, und dieſes ſteht nirgends mit ihnen in einer gemein¬ ſamen, eintraͤchtigen Maſſe vereint. Wunderbar ſtellen ſich damit die neuen preußiſchen Anordnungen in Gegen¬ ſatz, von denen die Leute mit Begier in den Zeitungen leſen, wie den Buͤrgern Antheil an der Verwaltung ihres Gemeinweſens, Wahl ihrer Vertreter, dem ganzen Volke Waffen und Sprache verliehen werden; ja daß zu dem ganzen Volke geredet werden ſoll, wenn auch meines Beduͤnkens nicht grade durch den beſten Mund, doch gewiß im beſten Sinne, die Zeitungen melden von einer Adreſſe an die Preußen, die der Geheimrath Schmalz beauftragt ſei abzufaſſen. Ich habe hier, wie ſchon fruͤher in Franken, die regſte Theilnahme und ein feſtes Vertrauen fuͤr Preußen wahrgenommen, deſſen Un¬ gluͤcksfaͤlle niemand als letzte Entſcheidungen anſehen will. Es fiel Regen ein, der uns hinderte, die Merk¬ wuͤrdigkeiten der Stadt einzeln durchzugehen. Wir be¬ ſuchten aber den beruͤhmten Buchdrucker Juſtus Fleiſch¬ hauer, wo wir uns mit Volksbuͤchern und Liedern wohl verſahen. Der Nachdrucker, der zunaͤchſt am Volke ſteht, fuͤr deſſen Beduͤrfniß wohlfeile und geringe Ausgaben104 liefert, iſt fuͤr Kerner der eigentliche Buchhaͤndler, mehr als der ordentliche, fuͤr Gelehrte und Gebildete ſorgende Verleger, und der Name Fleiſchhauer macht ihm einen beſſern Eindruck, als alle Cotta, Goͤſchen und Perthes. Er liebt die Nachdrucker, wie man Zigeuner liebt, aus dem romantiſchen, geſetzloſen Hang im Menſchen, wo¬ bei man doch nicht anſteht erforderlichen Falles gegen die Lieblinge es mit der ordentlichen Obrigkeit zu halten. Unſer Mann erzaͤhlte, ſeit die Stadt Koͤniglich gewor¬ den, habe ſich ſein Abſatz ungemein beſchraͤnkt, auch duͤrfe mancher beliebte Artikel nicht wieder aufgelegt werden. Auf die Frage, ob bei neuem Abdruck der Volksbuͤcher nie etwas veraͤndert, ſondern der alte Text treu wiedergegeben wuͤrde, verſetzte der Mann, unſre Meinung mißverſtehend, er wuͤrde gern manches aͤndern, aber es ſei dazu keine Zeit uͤbrig. Gottlob! ſeufzte Kerner, haben Sie nur immer recht viel zu thun! Dieſe warme Theilnahme fuͤr ſein gewerbliches Gedeihen nahm der Mann mit geruͤhrter Dankbarkeit auf. Ker¬ ner verſprach ihm noch den hier nicht mehr vorfindlichen und uͤberhaupt ſeltnen Ritter Pontus zum neuen Ab¬ druck, und ich empfahl ihm den in Berlin bei Littfaß herausgekommenen Werther. Er verſprach beides zu drucken. Eigentlich haͤlt er uns, die wir doch Tuͤbinger Gelehrte vorſtellen, fuͤr etwas naͤrriſch, daß wir uns mit ſeinem Loͤſchpapier befaſſen, und um ſeine Ausgaben kuͤmmern. Daß auf unſrer Rechnung der Kaiſer Okta¬105 vianus wie ein bloßes Format als 8vian angeſetzt war, daruͤber hatte Kerner unendliches Vergnuͤgen! Die Ruͤckfahrt geſchah in dunkler Nacht, bei kaltem Regen, wir fuhren aber gut, und auch das war ein Vergnuͤgen. Die Briefe von Rahel ſind jetzt mein einziger Troſt. Was ſie mir ſchreibt, erfuͤllt meine Seele mit Ver¬ trauen und Staͤrke. Mir iſt als waͤr 'ich erſt durch ſie zur Tageshelle gekommen, als haͤtte ich bis dahin nur Daͤmmerung gekannt. Beſonders iſt der aͤltere Briefwechſel, den ſie mir geſchenkt, reich an ſtarkem Ausdruck des Lebens, aus den hoͤchſten ethiſchen Stand¬ punkten, in reichſter Wahrheitsgluth. Harſcher, mit dem ich zuletzt noch viele Blaͤtter las, auch einige aus den neueſten Briefen an mich, wußte nicht genug zu preiſen, welch Gluͤck mir geworden, und begriff nicht nach dieſem Leſen, beſonders nicht, wie ich mich von Rahel habe trennen koͤnnen.

Tuͤbingen, Donnerstag den 1. December 1808. Nach einem zerſtreuten, unnuͤtz verbrachten Abend nahm ich den Wilhelm Meiſter, und las ein ziemliches Stuͤck. O wie wohl that mir die edle, klare, lebendige Dar¬ ſtellung. Es war als hoͤrte ich eine ſchoͤne, kraͤftige Troſtſtimme in der Bruſt, als fuͤhlte ich eine ſanfte ſtreichende Hand auf den Augen, als floͤſſe der Tag wieder in ſilbernen Wellen, getruͤbt bisher zur dunklen traͤgen Fluth. Nie hat mich der Meiſter ſo entzuͤckt, wie bei dem diesmaligen Leſen, er ruͤhrt mich innig,106 und reißt mich zu ſtaunender Bewunderung hin; ich entdecke, indem ich die alten bekannten Zuͤge ſchaͤrfer faſſe, tauſend neue. Den Stil ſtudir 'ich bis in's ge¬ naueſte Detail hinein, und mich duͤnkt, daß ich ihn ſehr gut kenne. Ich weiß, ihm nichts an die Seite zu ſtellen, im Deutſchen nichts, denn wenn ich in Berlin bisweilen gelten ließ, daß Harſcher die Weihnachtsfeier von Schleiermacher als etwas Aehnliches pries, ſo duͤnkt mich jetzt dieſe Proſa gegen jene doch nur wie eine affektirte Melina neben der anmuthigen Philine. Und dieſer Zauber der Vortrefflichkeit, dieſer wunderbare Lichtreiz, erſcheint mir am ſtaͤrkſten, indem ich darauf ausgehe ihr werdet es kaum glauben Schwaͤchen und Luͤcken in dem Buche aufzuſpuͤren, die ich auch werdet ihr es glauben? reichlich finde und aufzeichne. Es iſt aber als ob die Einſicht in dieſe Schwaͤchen auch die Vorzuͤge heller ſtrahlen machte. Mir iſt als wan¬ delte ich an einem Feiertage durch die kunſtreiche, ge¬ heimnißvolle Werkſtatt des Dichters, ſaͤhe ſeine Arbeit auf allen ihren Stufen, vom rohen Stoffe, wie er da¬ liegt, bis zum feinſten Gebild, in das er verarbeitet worden, ſaͤhe die Werkzeuge und Huͤlfsmittel, deren er ſich bedient, und koͤnnte ihm ſein ganzes Verfahren abſehen, und es ſo gut wie er machen, wenn er mir zu allem dieſen nur noch ein bischen ſeinen Kopf und ſeine Hand leihen wollte! Verlacht mich nicht, aber meine Sinnesart fuͤhrt mich immerfort in ſolche107 Unterſuchungen, wobei viel Einzelnes genau zu betrach¬ ten iſt; ſogar die Ueberſicht eines Ganzen und ſeiner Gliederung gewinn' ich meiſt nur auf dieſe Weiſe, und ich finde nach dem abſichtlichen Aufmerken auf das Ein¬ zelne auch mein Verſtaͤndniß der ganzen Geſtalt und ihrer Bedeutung erhoͤht. Ich leſe aber auch, weil ich ihn doch perſoͤnlich kennen gelernt, jetzt viel in Jean Paul Richter. Aus dem Hesperus, den ich eben vor¬ habe, haͤngen eine Menge bunter Papierſtreifen, die als Abfall ausgeſchnittener Bilderchen auf meinem Tiſche lagen, als Zeichen und Freudenbaͤnder ſchoͤner Stellen heraus; die Bilderchen waren fuͤr Jean Paul's Kinder, und ſo giebt er mir Geſchenk fuͤr Geſchenk zuruͤck, daß ich beinah ſagen kann, dieſe Stelle ſei der Dank fuͤr dieſes Bildchen. Wie aus Jean Paul's Zettelkaſten, nicht wahr?

Tuͤbingen, Freitag den 9. December 1808. Ich habe mit Kerner einen Abend und eine Nacht verlebt, an die ich gedenken werde. Aus Cotta's Laden hatte ich die eben erſchienene Theorie der Geiſterkunde von Jung-Stilling mitgebracht, das Titelbild, die weiße Frau vorſtellend, machte ſchon einen unheimlichen Ein¬ druck, und als Kerner Abends zu mir kam, reizte uns der ſchauerliche Inhalt. Es iſt merkwuͤrdig, wie Jung ſich zugleich als ſchlechter Denker und als geſchickter Darſteller zeigt. Sein raſtloſer, glaͤubiger Eifer, die wirkliche Froͤmmigkeit, mit der er ſchlechthin alles auf108 den Buchſtaben des Chriſtenthums zuruͤckfuͤhrt, alle ge¬ ſelligen und politiſchen Ereigniſſe davon abhaͤngig macht, das Feuer ſeiner Ueberzeugung, alles dies reißt unſern Glauben auf einen Augenblick hin, und unſ're Phan¬ taſie nimmt er auf's ungeheuerſte dadurch ein, daß er alles, was fuͤr ſie gelten ſoll, grade als die baarſte Wirklichkeit nicht ihr, ſondern der ſinnlichen Anſchauung aufdraͤngt. Wer duͤrfte alles, was er erzaͤhlt, Taͤu¬ ſchung nennen, aber in einigen Stuͤcken iſt doch der plumpe Aberglauben handgreiflich! Die Erſcheinungen des Magnetismus muß man am meiſten zugeſtehen, doch ſind das dunkle Regionen, mit denen ſich der be¬ ſonnene, dem Tage zugewandte Geiſt nicht gern befaßt, ſondern ſie den Forſchern uͤberlaͤßt, die dazu durch Na¬ turanlage beguͤnſtigt ſind. Jung war Arzt, indeß da¬ von kommt dem Buche nichts zu gut, als daß er bei manchen Wundern zweifelt, und ſie als Verirrungen des Aberglaubens verwirft. Aber ſeine willkuͤrlichen Vorſtellungen vom blaͤulichen Dunſtkreis der Seele, vom Hades, und andres dergleichen, ſtellt er als un¬ zweifelhafte Naturwahrheiten hin. Seine Glaͤubigkeit iſt ruͤhrend, ſeine Abſicht ſehr redlich, nur hat er nicht friſche Geiſteskraft und ſcharfen Verſtand genug, um die wahre Bahn zwiſchen Unglauben und Aberglauben zu beſtimmen. Dieſe Bahn beſtimmt ſich fuͤr jeden Menſchen wohl nach eignem Maße. Die auffallende Prophezeihung von Cazotte zum Beiſpiel, die hier nach109 Laharpe mitgetheilt wird, hat das Anſehen der groͤbſten Erfindung, der handgreiflichſten Zuſammenſtellung nach dem Geſchehenen, und doch hoͤrte ich einmal von Schleier¬ macher, dem in Halle auf den Grund dieſer Geſchichte erzaͤhlt wurde, Cazotte habe Scenen der franzoͤſiſchen Revolution vorhergeſagt, die merkwuͤrdige Aeußerung: Warum nicht? Ein Menſch, der die Biondetta hat ſchreiben koͤnnen, bei dem iſt es nicht unglaublich, daß er auch wirklich habe prophezeihen koͤnnen. Dieſe Biondetta hab 'ich nun ſeitdem geleſen, und finde das Maͤhrchen ein wahres Kleinod, unbegreiflich in der fran¬ zoͤſiſchen Litteratur des vorigen Jahrhunderts, vielleicht auch in der That ſpaniſchen Urſprungs, wie ja ſchon der Stoff ſpaniſch iſt; aber auf mich macht das Stuͤck nicht einen ſolchen Eindruck, daß ich jener ungeheuern Folgerung beiſtimmen koͤnnte. Dagegen iſt mir eine Geſchichte, welche Jung ebenfalls erzaͤhlt, ſehr einleuch¬ tend, von einer Frau, die eine Freundin zu ſich heran¬ bannt durch den bloßen Willen. Es giebt ſo etwas; man kann verwandte Sehnſucht fuͤhlen und ihr folgen muͤſſen; ich glaube es. Daß nicht jeder, und nicht immer, ſo leiſen Regungen offen ſteht, iſt ſo natuͤrlich, als daß nicht jeder in einer Symphonie den leiſeſten Mißton jedes Inſtruments heraushoͤrt, oder, wie der ausgelernte Spieler, mit den Fingerſpitzen ein As und ein Bild unterſcheidet. Aber davon will ich eigentlich nicht reden, ſondern euch erzaͤhlen wie es uns erging. 110Wir laſen, und merkten auf, pruͤften, lachten, verwar¬ fen, wurden nachdenklich, und endlich von einer Ge¬ ſchichte nach der andern ſo uͤbernommen, durch die wie¬ derholte Terminologie und die ſich ſteigernde Aufdring¬ lichkeit dieſes ganzen Geiſterſpuks dergeſtalt befangen, daß wir nach Mitternacht todtſchlaͤfrig und aufgereizt in banger Verſtimmung einander gegenuͤber ſaßen, und uns von Zeit zu Zeit anſahen, ob wir's auch noch waͤren, und nichts Geiſterhaftes ein Spiel mit uns treibe! Wir verwuͤnſchten das Buch, billigten die Ba¬ ſeler Regierung, die es weislich verboten, konnten aber aus der Gewalt ſeiner Schauer nicht los, fuͤrchteten, einzeln und einſam dieſer noch mehr zu verfallen, und beſchloſſen, die Nacht beiſammen zu bleiben; Kerner hatte nur wenige Schritte uͤber einen Flur und eine Treppe hinab zu ſeinem Zimmer, allein er mochte nicht fortgehen, und ich bat ihn mich nicht zu verlaſſen. Spaͤt und verſtoͤrt ſchliefen wir ein, und ein unerfreu¬ liches Erwachen trug noch die Spuren der unſeligen Lukubration!

Dieſes Wuͤrtemberg iſt recht die Heimath des Spuk - und Geſpenſterweſens, der Wunder des Seelen¬ lebens und der Traumwelt. Die Einbildungskraft der Schwaben hat dafuͤr eine außerordentliche Empfaͤnglich¬ keit, ihre Nerven ſind nach dieſer Richtung beſonders ausgebildet. Das Land iſt gepfropft voll von Sagen, Prophezeihungen, Wundern, Seltſamkeiten dieſer Art.111 Die Phyſiognomie des Bodens traͤgt gewiß das Ihrige dazu bei, ſie ſpricht im Allgemeinen das Gemuͤth tief an, man fuͤhlt ſich einſam und wie aus der Welt ge¬ ſchieden in dieſen beſchraͤnkten Thalſtrecken und auf die¬ ſen maͤßigen Hoͤhenzuͤgen; uͤberall trifft der Blick auf zerſtoͤrte Burgen, einſame Kapellen, man wird an ein vergangnes Leben erinnert, zwiſchen deſſen Truͤmmern ſich die Gegenwart kleinlich ausnimmt. Tuͤbingen be¬ ſonders hat in ſeinem Oertlichen etwas Ahndungsvol¬ les, Seltſames, und es giebt Huͤgelecken und Thal¬ windungen, wo man am hellen Mittag irgend eine Unheimlichkeit argwoͤhnen koͤnnte. Sonderbar iſt es, daß gegen dieſe Stimmung des Landes und der Ein¬ wohner die Wirkſamkeit des Proteſtantismus, der hier in den trefflichſten Anſtalten und Geiſtlichen eine un¬ aufhoͤrliche Quelle tief in das Volk dringender Bildung iſt, bisher nichts vermocht hat.

Kerner iſt nun in dieſen Richtungen der wahre Ausdruck ſeines Landes und Volkes, nur emporgehoben aus der unterſten Region in eine hoͤhere, wo wiſſen¬ ſchaftliche Einſicht und dichteriſche Phantaſie zu dem Volkstuͤmlichen ſich miſchen. Seine Natur wirkt ſo entſchieden, daß in ſeiner Gegenwart mehr moͤglich ſcheint als ſonſt, daß die Empfaͤnglichkeit andrer Ge¬ muͤther durch ihn waͤchſt. Er hat ſelbſt einmal vo¬ riges Jahr am Weihnachtsabend etwas Seltſames erlebt. Es war tief im Winter, und er ſaß mit einem112 Freunde, einem freiſinnigen, aufgeklaͤrten Menſchen, Abends bei Licht auf ſeiner Stube, eine Guitarre lag zur Hand, und er fing an darauf zu ſpielen. Waͤh¬ rend des Spielens fuͤhlte er eine wunderbare Beklom¬ menheit, die ſchnell zunahm, er war in einem unbe¬ greiflichen Zuſtand, den er nie vorher gekannt, ihm fehlte jeder Maßſtab und jeder Ausdruck fuͤr ſeine Em¬ pfindung, die dadurch noch fuͤrchterlicher wurde, daß er ganz deutlich ſah, wie ſein Freund, von aͤhnlichem Eindruck erfuͤllt, ganz erſchrocken uͤber ihn hinaufblickte; jetzt war ihm als druͤcke von obenher eine ſchwere Maſſe ihn gewaltſam nieder, und in demſelben Augenblicke, als die fuͤrchterliche Angſt aufs hoͤchſte geſtiegen war, ſprang der Freund auf, ſchrie voll Entſetzen: O Je¬ ſus, Kerner! und ſtuͤrzte zur Thuͤr hinaus. Kerner fiel hin, und lag eine Weile beſinnungslos, nicht durch den Schreck, wie er ausdruͤcklich ſagt, ſondern durch die davon unabhaͤngige Steigerung ſeines innern Zu¬ ſtandes. Als er zu ſich kam, verließ er eiligſt das Zimmer, und ging einige Zeit im Freien umher; die ſternenhelle Winternacht erquickte ihn, und er konnte, als er in ſeine Stube zuruͤckgekehrt war, ruhig ein¬ ſchlafen. Am Morgen traf er mit dem Freunde zu¬ ſammen, beide waren verlegen, doch endlich erzaͤhlte der Freund, noch ganz angegriffen und erſchaudernd vor der Erinnerung, es ſei ihm vorgekommen, als habe uͤber Kerner's Kopf, waͤhrend des Spielens, ſich eine113 Geſtalt, undeutlich gebildet, und ſei dann laͤngs der Wand hingezogen. Kerner wußte nur, daß ihm un¬ endlich weh geweſen, mit den Guitarrentoͤnen ſeine Angſt wie von obenher vermehrt worden, ihm dann ploͤtzlich ſo kalt, und alles umher licht und hell geweſen ſei. Kein aͤußrer Umſtand, der zur Erklaͤrung haͤtte dienen koͤnnen, war aufzufinden, das Licht hatte Kerner bei der Wiederkehr erloſchen gefunden, die Luft nicht beengt. Sie wußten ſich einander keine Rechenſchaft von ihrer Empfindung zu geben, die Worte fehlten ihnen; Mer haͤnn nicks ſchwaͤtze koͤnne, ſagte mir Kerner mehr¬ mals, indem er ſeine Erzaͤhlung beſchloß, die ihn ſelber noch jetzt heftig angriff, und ihm fuͤrchterlich war. Die Empfindung, meinte er, ſei ſo ſchrecklich geweſen, daß er davon auf der Stelle haͤtte todt bleiben oder wahn¬ ſinnig werden koͤnnen; vorher war er ſehr luſtig und guter Dinge, in den Tagen nachher aber fuͤhlte er ſich krank, bekam eine Art von Veitstanz, und mußte laͤn¬ gere Zeit unter aͤrztlicher Behandlung bleiben. Er will auch jetzt noch die ganze Geſchichte nur als Krankheit angeſehen wiſſen, und verwirft jede geiſterglaͤubige Deu¬ tung, obwohl er die wunderbare Erſcheinung ſich nicht wegſtreiten kann. Faſt gereut ihn, die Sache mir er¬ zaͤhlt, und dadurch ſie wieder ſo lebhaft in ſich aufge¬ rufen zu haben.

Nicht unterdruͤcken kann ich bei dieſer Gelegenheit eine ſonderbare und artige Maͤhr, die meinen TuͤbingerIII. 8114Freund einen Augenblick in fuͤr ihn vorweltliche Bezie¬ hung und Mondſcheinnacht verſetzt. Seine Mutter, eine gute fromme Frau, die ihren Mann fruͤhzeitig ver¬ loren, fiel vor mehreren Jahren in eine hitzige Krank¬ heit, die ſie zwar gluͤcklich uͤberſtand, aber von der ſie doch eine Schwaͤche behielt. Sie dachte viel und gern an die Vorfaͤlle fruͤherer Lebenszeit, wobei ſie leicht aͤngſtliche Anwandlungen hatte. So hatte ſie mehrmals im Stillen ihren Sohn herbeigewinkt, und ihn ſorg¬ faͤltig unterſucht, ob er nicht verborgne Schuppen habe, und war immer ſehr zufrieden, weder Schuppen noch ſonſt etwas, das an Fiſch erinnerte, zu finden. Der Grund dieſer ſeltſamen Vorſtellung blieb lange verbor¬ gen, bis die gute Frau einmal ihrem aͤlteſten Sohne Folgendes vertraute. Sie ſei eines Abends mit ihrem Manne am Ufer des Neckar ſpaziren gegangen, und da es am Tage ſehr heiß geweſen, ſo habe ihr Mann Luſt bekommen ſich zu baden, unterdeſſen ſei ſie im Schatten eines nahen Gebuͤſches geblieben. Eine Weile habe ſie ihn im Waſſer plaͤtſchern hoͤren, dann ploͤtzlich aber ſeinen Huͤlferuf vernommen; im Augenblicke der Noth, nur von dem Einen Gedanken erfuͤllt, zu ihrem Manne zu eilen, ſei ſie aus dem Gebuͤſch herausge¬ ſprungen, und mit allen Kleidern wie ſie war in's Waſſer gegangen; da habe ihr Mann ſie ſogleich um¬ faßt und ſcherzend beruhigt, er habe nur ſehen wollen, ob ſie ihn ſo lieb habe. Dann habe er ſie zu dem115 Gebuͤſch zuruͤckgefuͤhrt. Sie aber, da ſie einige Zeit darauf in's Kindbett gekommen, habe ſich ſehr gefreut, daß ſie ein huͤbſches Knaͤbchen und keinen Fiſch zur Welt gebracht. Der ganze Vorgang war mehr Ein¬ bildung als Wahrheit, in Betreff der Zeit gewiß irrig; allein der Furcht, ſolcherlei moͤchte doch eine Suͤnde geweſen ſein und durch ein Zeichen geſtraft werden, konnte die gute Frau, in der Schwaͤche nach der Krank¬ heit, auf Augenblicke ſich doch nicht erwehren.

Durch Juſtinus Kerner lern 'ich nun auch ſeinen Bruder Georg, den ich in Hamburg doch nicht auf¬ merkſam genug beachtet, naͤher kennen. Dieſes Ge¬ ſchlecht hat eine ſolche Staͤrke und Fuͤlle von Anlagen, daß ſie vertheilt auf die verſchiedenen Zweige noch in jedem als beſondrer Reichthum erſcheinen. Es iſt die¬ ſelbe Kraft, die im einen Bruder Natur und Welt magnetiſch und humoriſtiſch erfaßt, und im andern ei¬ nen ſpruͤhenden Feuergeiſt fuͤr Staats - und Buͤrger¬ leben erweckt hat; ein dritter Bruder ſteht als Oberſt in wuͤrtembergiſchen Kriegsdienſten, wo er wegen ſeines guten Kopfs und tapfren Muthes gleich geſchaͤtzt iſt. Das Leben Georgs aber, in die franzoͤſiſche Revolution verflochten, iſt durch Friſche und Reinheit des Eifers, wie durch Muth und Selbſtſtaͤndigkeit des Willens ein ſo achtungswerthes als abentheuerliches Karakterſtuͤck; eine deutſche Ehrlichkeitsrolle in franzoͤſiſchen Verhaͤlt¬ niſſen und Hoffnungen, die wie billig mit dem Ausſcheiden8 *116des Helden endigt. Geniale Zuͤge bezeichnen dieſe Bahn von Anfang bis zu Ende; einige derſelben habe ich mir beſonders aufgezeichnet. Es waͤre der Muͤhe werth, daß dieſer Mann ſein eignes Leben ſchriebe, wozu doch ſeine praktiſche Raſtloſigkeit ihn ſchwerlich gelangen laͤßt.

Tuͤbingen, Donnerstag den 29. December 1808. Hier hat ſich noch ein Poet eingefunden, mit dem ich bei Cotta einen Abend zugebracht habe. Es iſt der Daͤne Jens Baggeſen, der mir auf das Wort von Voß, Erhard, und Andern, bisher viel galt, und der mir nun auf ſein eignes wenig gilt. Er kommt von Paris, hat gegen Napoleon einen politiſchen Fauſt ge¬ dichtet, den er natuͤrlich nicht kann drucken laſſen, macht Spottgedichte gegen die deutſchen Romantiker, will ſogar von Goͤthe wenig wiſſen, und meint, man ſei ein Dichter, wenn man ſich ſelbſtgefaͤllig uͤber alles erhebt, und von Voß die Schmiedearbeit deutſcher Hera¬ meter gelernt hat! Er iſt graͤnzenlos eitel, traͤgt ſich immer vor, paßt ſich alte Anekdoten und Geſchichten an, ſucht Effekt darin zu machen, und das laͤuft bis¬ weilen ſo ſchal und klaͤglich ab, daß ich mich fuͤr ihn ſchaͤme. Er thut ſehr wichtig damit, daß er die fran¬ zoͤſiſchen Sachen und die bedeutenden Perſonen in Paris einigermaßen kennt, ſpricht von ſeinen großen Verbin¬ dungen, Planen, ſogar Gefahren. Cotta'n hat er ganz fuͤr ſich eingenommen, und die Frau gleichfalls. Sie ſind beide geſchmeichelt durch die Art, wie er ſich um117 ihren Beifall bewirbt, und Cotta findet, daß er Geiſt und Witz im Uebermaß habe. Ich aber empfehle mich nicht durch meinen Witz, daß ich ſage, ſein Fauſt ſei doch nur eine Fauſt in der Taſche! Baggeſen ſcheint in Stuttgart etwas zu ſuchen, und einiger Gunſt ſchon verſichert zu ſein, das wirkt auch bei Cotta mit, wie ich das ſchon in Betreff Matthiſſon's geſehen, der die entſchiedene Vorliebe des Koͤnigs gewonnen und eine ſchoͤne Anſtellung erhalten hat, weshalb ihm nun von allen Seiten auf die widerwaͤrtigſte Weiſe der Hof ge¬ macht wird, und er in poetiſchen und litterariſchen Din¬ gen ploͤtzlich eine Miniſterautoritaͤt ſein ſoll; das Mor¬ genblatt iſt da denn eifrig auf dem Platz, und laͤchelt huldigend!

Zu einem andern Dichter hat mich Kerner gefuͤhrt, zu einem Dichter im wahren vollen Sinne, einem aͤchten Meiſter der Poeſie, der aber nicht am Hofe zu ſuchen iſt, noch in Cotta's Abendgeſellſchaft, ſondern im Irrenhaus. Wie ein Strafſchauder traf es mich, als ich zuerſt vernahm, Hoͤlderlin lebe hier ſeit ein paar Jahren als Wahnſinniger! Der edle Dichter des Hyperion, und ſo manches herrlichen Liedes voll Sehn¬ ſucht und Heldenmuth, hatte allerdings eine Ueberſetzung des Sophokles in Druck gegeben, die mir ziemlich toll vorgekommen war, aber nur litterariſch toll, worin man bei uns ſehr weit gehen kann, ohne grade wahn¬ ſinnig zu ſein, oder dafuͤr gehalten zu werden. Dieſe118 Tollheit zu ruͤgen, war voͤllig erlaubt, und ich hatte mir fuͤr den Doppelroman, zu den uͤbrigen litterariſchen Figuren, auch einen Ueberſetzer Wachholder ausgedacht, der wie Hoͤlderlin's Sophokles werden ſollte. Nur durch Zufall unterblieb es, und wahrlich mir zum Heil! Denn mir waͤre es ein ſchrecklicher Gedanke, einen Geiſtes¬ kranken verſpottet zu haben, eben ſo ſchauderhaft, wie eine Leiche pruͤgeln zu wollen! Wie klaͤglich erſcheint das irdiſche Beginnen, wie ohnmaͤchtig der Haß und die Liebe, gegen das unerreichbar Entruͤckte! wie heili¬ gend der Tod und großes Ungluͤck! Der Scherz gegen Hoͤlderlin haͤtte freilich ihn ſelber nie beruͤhrt, waͤre nicht boͤſe gemeint geweſen, war in ſeiner Vorausſetzung nicht unrecht einmal, und dieſe Vorausſetzung war die argloſeſte: aber doch iſt es mir unendlich lieb, daß die¬ ſer Ausfall nicht geſchah, ich fuͤhle mich wie einer gro¬ ßen Gefahr, einem tiefen Frevel entgangen. Der arme Hoͤlderlin! Er iſt bei einem Schreiner in Koſt und Aufſicht, der ihn gut haͤlt, mit ihm ſpaziren geht, ihn ſo viel als noͤthig bewacht; denn ſein Wahnſinn iſt nicht grade gefaͤhrlich, nur darf man den Einfaͤllen nicht trauen, die ihn ploͤtzlich anwandeln koͤnnten. Er raſet nicht, aber ſpricht unaufhoͤrlich aus ſeinen Einbil¬ dungen, glaubt ſich von huldigenden Beſuchern umge¬ ben, ſtreitet mit ihnen, horcht auf ihre Einwendungen, widerlegt ſie mit groͤßter Lebhaftigkeit, erwaͤhnt großer Werke, die er geſchrieben habe, andrer, die er jetzt119 ſchreibe, und all ſein Wiſſen, ſeine Sprachkenntniß, ſeine Vertrautheit mit den Alten, ſtehen ihm hiebei zu Gebot; ſelten aber fließt ein eigenthuͤmlicher Gedanke, eine geiſtreiche Verknuͤpfung, in den Strom ſeiner Worte, die im Ganzen nur gewoͤhnliches Irrereden ſind. Als Urſache ſeines Wahnſinns wird ein ſchreck¬ licher Auftritt in Frankfurt am Main angegeben, wo er Hofmeiſter in einem reichen Hauſe war. Eine zarte liebenswerthe, ungluͤckliche Frau wuͤrdigt den hohen Dichtergeiſt, das reine Gemuͤth des in ſeiner Lage ge¬ druͤckten und verkannten Juͤnglings, es entſteht eine unſchuldige Freundſchaft, die aber dem roheſten Arg¬ wohn nicht entgeht, und Hoͤlderlin wird thaͤtlich mi߬ handelt, ſieht auch die Freundin mißhandelt! Das brach ihm das Herz. Er wollte ſeinen Jammer in Arbeit vergraben, er uͤberſetzte den Sophokles; der Verleger, der den erſten Theil drucken ließ und ausgab, ahndete nicht, daß in dem Buche ſchon manche Spur des Ueber¬ ganges zu finden ſei, der in dem Verfaſſer leider nur allzubald ſichtbar wurde.

Tuͤbingen, Anfang Januars 1809. Ich lebe in der groͤßten Einſamkeit. Ein paar Abende ausgenommen, von denen ich den einen ſehr langweilig bei Cotta, den andern angenehm bei Froriep zugebracht, bin ich gar nicht aus dem Hauſe gekommen. Bei Froriep iſt es norddeutſch, Halle und Berlin klingen mir dort nach, ich bin in heimathlicher Luft, auch freuen mich die120 Kinder ſehr, die mich oͤfters beſuchen. Man bleibt bei Froriep bis in die Nacht hinein, das heißt bis nach 10 Uhr, freilich auf die Gefahr, als Nachtſchwaͤrmer, auf der Straße dem Waͤchter aufzufallen.

Ich warte das Fruͤhjahr ab, weil ich muß; unter¬ deſſen laß 'ich es an Fleiß nicht fehlen. Ihr glaubt es nicht, was ich alles treibe, die heterogenſten Sachen nebeneinander, und nicht aus willkuͤrlichem Wechſel, nein, ſie haben alle ihren nothwendigen Bezug in mir, und was nicht Raͤderwerk zum Weiterkommen iſt, iſt Oel zum Raͤderwerk. Ich habe abſatzweiſe ſtarke medi¬ ziniſche Arbeiten gemacht, ich habe den ganzen Livius durchgeleſen, ich habe Studien zu einem Trauerſpiel von unſerm Kaiſer Heinrich dem Vierten gemacht, und ein paar Novellen, und vielerlei Aufſaͤtze, und unzaͤhlige Briefe geſchrieben; mehr aber noch innerlich mit Welt und Leben, mit Entwuͤrfen und Moͤglichkeiten mich abgekaͤmpft. Macht jetzt keine Anſpruͤche an mich, laßt mich gehn! Vielleicht erfuͤll' ich kuͤnftig eure Erwar¬ tungen um ſo beſſer.

Tuͤbingen, Mitte Januars 1809. Kerner, der nach ſeiner ehrenvollen Doktorpromotion gleich nach Hauſe ge¬ reiſt war, iſt wiedergekommen, jetzt aber leider krank. Ich bin die Abende immer bei ihm. Autenrieth iſt ſein Arzt, und bleibt auch ganze Stunden. Da giebt es die lebhafteſten Geſpraͤche: die romantiſche Schule, die Naturphiloſophie, und vor allem das Wunderhorn, wer¬121 den ſchrecklich angegriffen, hartnaͤckig vertheidigt. Auten¬ rieth iſt voll ſchwaͤbiſcher Phantaſie und Laune, da er aber auch großen Verſtand beſitzt, und der ihn mi߬ trauiſch gegen ſein Naturell macht, ſo hat er dieſes jenem ganz dienſtbar untergeordnet, und nun ſtreiten dieſe muntern Kraͤfte wider das, was ihnen eigentlich befreun¬ det iſt. Ich habe ihm das einmal bewieſen, daß ſein Eifer gegen die Volkslieder nur verſteckte Freude an ihnen iſt, und er lachte ſehr vergnuͤgt daruͤber. Ein paar junge Tuͤbinger, Pregitzer und Koͤſtlin, nehmen warmen Antheil an dieſen Verhandlungen, fuͤr Kerner ſind ſie ſtaͤrkende Arznei; Uhland ſchweigt in ſchroffem Ernſt, und ſeine Gegenwart verhindert uns auch wohl, die ſtreitigen Meinungen allzu ſtark hervorzurufen. Ich habe aber noch von einem andern Abendgaſte zu reden, den ich bei Kerner treffe, abermals einem Poeten, und zwar wieder von ganz anderm Schlag, als die bisher ge¬ nannten; hoffentlich hab 'ich mit ihm nun alle Dichter¬ ſorten des hieſigen Platzes erſchoͤpft. Ich ſtelle euch den Profeſſor Conz vor. Laßt es euch nicht ſtoͤren, daß er ſo ausſieht, wie Focks in den Verſuchen und Hinder¬ niſſen beſchrieben iſt, er iſt doch ein ganz wackrer und guter Kerl! Was kann er dafuͤr, daß er in fruͤhere Jahre fiel, wo es fuͤr Dichtergluth eine andre Heizung gab, als jetzt? Er haͤlt eine ſehr gute Vermittelungs¬ linie zwiſchen Schiller und Voß, weiß Metrum und Reim zu handhaben, hat ſich um Kantiſche Philoſophie122 bekuͤmmert; waͤr' er juͤnger, ſo machte er Sonette, wuͤßte von Aſſonanzen, ließe Schelling'ſche Formeln in ſeinen Dichtungen durchſchimmern. Conz iſt hier der eigent¬ liche Philolog an der Univerſitaͤt, und wirklich ein gruͤnd¬ licher, auch geſchmackvoller Alterthumskenner, eifrig in ſeinem Fach, und uͤberhaupt fuͤr Schoͤnes und Hohes leicht entzuͤndbar. Da er aber als Anempfinder wenig Feſtigkeit und Schaͤrfe beſitzt, ſich theils aus Gutmuͤthig¬ keit, theils aus Schwaͤche, leicht einſchuͤchtern laͤßt, ſo kann er ſeine Sachen nicht mit dem noͤthigen Anſehn durchſetzen, die Kollegen necken ihn, die Studenten be¬ zeigen ſich leichtfertig, zu Hauſe giebt es auch wohl Schelte, da bleibt denn die Litteratur die einzige Zu¬ flucht, aber in der herrſcht ein neuer Geiſt, der von ihm und all dem Seinen nichts wiſſen will! So lebt der Mann hier ſeit Jahren gedruͤckt und gehemmt, und ſeufzt nach Menſchen, die ſeine Gegenſtaͤnde kennen, ſeine Richtungen einſehen, ſein Streben wuͤrdigen. Un¬ vermuthet findet er mich, mich, liebe Freunde, und nun erwaͤgt, was das heißt! Muß ich es euch Hartſinnigen doch umſtaͤndlich eroͤrtern? Nun, ſo hoͤrt! Er findet einen jungen Mann, der kein Philolog vom Fach iſt, aber den Homer und Platon lieſt, der mit Wolf und und Gurlitt bekannt iſt, der den Dichter und Ueberſetzer Voß hochſchaͤtzt, der die Verdienſte metriſcher Ueber¬ ſetzungen wuͤrdigt, dem die Oden Klopſtocks vertraut ſind, der zum Erſtaunen der Anweſenden ganze Reihen123 von Hexametern und Pentametern herſagt aus einer Elegie, worin die Befreiung Griechenlands durch Bo¬ naparte geweiſſagt wird, und dieſe Elegie iſt von Conz! Genug, der Mann hat die groͤßte Freude an mir, hat es ſeit Jahren nicht ſo gut gehabt, kann alle ſeine lang¬ verhaltenen Reden an mich richten, iſt unerſchoͤpflich in Mittheilungen, erzaͤhlt von ſich und Andern, fuͤhrt ſeine eignen nicht recht bekannt gewordenen Schriften an, er ſieht, daß er verſtanden, daß er gewuͤrdigt wird. Leider traͤgt aber auch dies ſeltne Gluͤck einen geheimen Stachel von der Nemeſis eingepflanzt! Denn, wenn ihr es noch nicht wißt, ſo erfahret es jetzt, Conz iſt der Rezenſent in der Halliſchen Litteraturzeitung, der unſre Gedichte dort ſo ſcharf mitgenommen und her¬ untergeriſſen hat, und jetzt, da er an mir ſeine groͤßte Freude, ſo ganz ſeinen langentbehrten Mann findet, iſt er beſchaͤmt und beſtuͤrzt wegen jener That, und fragt Kerner'n aͤngſtlich, ob ich wohl etwas davon wiſſe, und fuͤrchtet, daß ich es erfahre! Er hat aber nichts zu fuͤrchten, er iſt ja fuͤr ſein Uebelthun ſchon genug geſtraft durch die Sache ſelbſt, daß er denjenigen getadelt, den er nun liebt und ſchaͤtzt, und daß dieſer ihn nun doch meidet und flieht; denn er langweilt mich ungeheuer, und verhoͤhnen mag ich ihn nicht, weil er das nicht verdient, und ohnehin ſchon geplagt genug iſt! Ich ziehe aus der laͤcherlichen Geſchichte die lehr¬ reiche Warnung, daß man im Rezenſiren vorſichtig ſein124 und bedenken muͤſſe, ob man auch nicht den Ort ver¬ unreinige, wo man ſpaͤter ſich werde hinſetzen wollen!

Tuͤbingen, Donnerstag den 16. Februar 1809. Ich konnte heute nicht ſchreiben, das Fruͤhlingswetter hatte in meine Bruſt wie in einen jungen Baum ſeine Un¬ ruhe getrieben; der Tag war ein verkuͤndender, noch nicht ſelber ſchoͤn, aber ſchoͤne Nachfolger verheißend. Ich eilte vor das Thor hinaus, in das freie Neckarthal. Indem ich durch die ſchmutzigen, engen Straßen ging, und nachher, als ich draußen auf die Stadt zuruͤckblickte, fuͤhlte ich deutlich, daß der Ort mir doch ſchon lieb geworden, daß ich den Aufenthalt, den ich hier gemacht, und alle Zweifel und Schmerzen, die ich hier durchge¬ kaͤmpft, doch nicht entbehren moͤchte in meinem Leben. Die nahe Abreiſe nahm mir heute die Angſt, das Thal war mir kein Kerker mehr, der Sinn konnte ſich frei ergehen, und ſich jedem lieben Eindruck uͤberlaſſen. Die Luft war warm und ſtill, die Gegend hell, die Land¬ ſtraßen feſt und trocken, und ſehr belebt. Rings am Himmel ſtand doch viel Gewoͤlk, aber klein, ſtill, und vielfarbig in mattem Glanz; die Wolken ſchienen ſich nur zu bewegen, um ſich in einen zarten weißen Flocken¬ ſchleier uͤber die Himmelsblaͤue langſam auszubreiten; feine Nedelfaͤden ſchwammen hoch im weiten Blau, und unten um die fernen Berge loͤſte ſich das dichtere Ge¬ woͤlk ſanft in duftigen Nebe! auf, der ſpielend heran¬ wogte mit dem Abend. Laͤngs einem Seitenbache des125 Neckars ging ich eine weite Strecke fort, und freute mich meines Alleinſeins, das mir auf Wanderungen immer behagt. Aber angekommen waͤr 'ich gern bei lieben Freunden, dieſes Ziel fehlte mir! Und ſo mußt' ich endlich den Ruͤckweg nehmen, und unter allmaͤhligem Verſtummen des vorher ſo lauten Herzens, mich in die Stadt und in mein Zimmer zuruͤckfinden, umduͤſtert von dickem Abendnebel, der dicht vor meinen Fenſtern die ſchwarzen Daͤcher uͤberſchwebt. Als ich hinausging, ſah ich Kuͤraſſe ſchmieden, auf dem Ruͤckwege begegneten mir wuͤrtembergiſche Reiter. So mahnt auch in dem friedlichen Thal ſchon manches an Krieg, der ſich aus Oſten und Weſten allerdings in allerlei Zeichen drohend ankuͤndigt!

Ich habe die franzoͤſiſchen Buͤlletins uͤber den Krieg in Spanien der Reihe nach durchgeleſen, und mehr daraus erſehen, als ſie zeigen wollen. Naͤher aber, als dieſe Vorgaͤnge, beruͤhren mich die Nachrichten von den Ruͤſtungen in Oeſterreich. Dort ſcheint alles auf einen aͤchten Volkskrieg abgeſehen, und Begeiſterung und Kraft jeder Art aufzuwachen. Hier, und wo nicht in Deutſchland? iſt die Regierung mit den Franzoſen verbuͤndet, das Volk aber iſt fuͤr Oeſterreich, mit deſſen Sache die deutſche ihm diesmal eng verbunden duͤnkt. Die kriegeriſchen Ausſichten machen auch all meine Plane wieder ungewiß. Wo ſoll, wo kann man hin? wo bleiben? Wie wird es binnen einem halben Jahr in126 Deutſchland ausſehen? In Hamburg find 'ich immer weniger, was ich bedarf! Doch will ich es verſuchen, nochmals durch die That pruͤfen, ob ich dort meine Staͤtte finde. In Berlin eroͤffnen ſich vielleicht neue Ausſichten! In Wien ſtehen ſie einladend offen. Meine Wege ſind leider ſtets Umwege.

(Hier waͤren, außer andern, noch nicht mittheilbaren Abſchnitten, der Zeitfolge nach die beiden ſchon im zweiten Bande abge¬ druckten: Die Schlacht von Wagram und Das Feſt des Fuͤrſten von Schwarzenberg einzuſchalten.)

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Steinfurt 1810, 1811.

Gegen das Geraͤuſch und den Glanz des Pariſer Aufent¬ halts machte die Einſamkeit und Stille, die wir beim Eintritt in Weſtphalen empfanden, den ſchneidendſten Gegenſatz. Die ganze Beſchaffenheit des Landes, die Art wie daſſelbe bewohnt und bebaut wird, alles giebt ihm ein ſtilles, duͤſtres Anſehn. Bewaldete Huͤgel be¬ ſchraͤnken den Blick, in der Flaͤche wechſeln Sand und Wald, und Moor und Haide, zwiſchen denen ſich Acker¬ felder muͤhſam hervorarbeiten. Da es keine Doͤrfer giebt, ſondern die Bauerhoͤfe vereinzelt liegen, und zwar meiſt abſeits der Straße im Gebuͤſch verſteckt, ſo ſcheint die Bevoͤlkerung noch geringer, als ſie wirklich iſt. Wie abgeſondert dieſe Leute von der uͤbrigen Welt leben, ergab ſich unter andern in der treuherzigen Neugier, mit der ſie uns fragten, ob es denn wirklich wahr ſei, was man erzaͤhle, daß der Kaiſer Napoleon ſeine erſte Gemahlin verſtoßen und zur zweiten eine Tochter des Kaiſers Franz bekommen habe! Sie wollten es nicht128 recht glauben, ſo wenig wie ſie fruͤher an die Siege der Franzoſen hatten glauben moͤgen, bis die Einſetzung franzoͤſiſcher Behoͤrden begreiflich machte, daß das Muͤn¬ ſterland wenigſtens fuͤr jetzt der fremden Herrſchaft unterworfen ſei; doch zweifelte keiner, daß uͤber kurz oder lang endlich dennoch Anton Viktor kommen und als Fuͤrſt in ſeine Rechte treten wuͤrde; dieſer oͤſter¬ reichiſche Erzherzog war naͤmlich noch zuletzt, als ſchon die Stuͤrme der Zeit das Land ergriffen hatten, zum Fuͤrſtbiſchof von Muͤnſter gewaͤhlt worden, und das Volk hoffte auf ihn wie auf einen Verheißenen, und nannte ſeinen Namen oͤfter und bedeutſamer, als es vielleicht geſchehen waͤre, wenn er wirklich regiert haͤtte.

Im Fruͤhjahr, als ich Steinfurt von Boͤhmen aus beſuchte, hatte ich mir nicht traͤumen laſſen, daß ich im Herbſte wiederum dort einſprechen wuͤrde, und zwar von der entgegengeſetzten Seite; mir war aber dieſe Wiederkehr nicht unlieb, und ich hoffte die Muße der naͤchſten Monate fuͤr mancherlei Arbeiten wohl anzu¬ wenden.

Steinfurt, oder Burgſteinfurt, wie der Name eigent¬ lich heißt, bis dahin der Hauptort der gleichnamigen Grafſchaft, war jetzt ein franzoͤſiſches Staͤdtchen, das ſeinen Maire hatte, dem die fruͤhere Landesherrſchaft eigentlich wie die uͤbrigen Einwohner untergeordnet war. Allein die willkuͤrliche Verfuͤgung hatte die tauſendfachen Sach - und Namensbezuͤge des auf Jahrhunderte gegruͤn¬129 deten fruͤhern Zuſtandes ſo ploͤtzlich nicht umwandeln koͤnnen, dieſer fruͤhere Zuſtand war in allem, was das Oertliche betraf, nach wie vor in ungeſtoͤrter Wirkſam¬ keit, und fuͤr den Anſchein keine Veraͤnderung merklich, als daß die graͤfliche Leib - und Schloßwache von 50 Mann, welche ehmals bewaffnet und von einem Hauptmann befehligt waren, jetzt ohne Waffen und ohne Offizier, aber doch in ihrer rothen Montur, ihren Dienſt ver¬ ſahen.

Die graͤfliche Familie bewohnte das dicht an der Stadt liegende, von dem kleinen Fluß Aa rings umge¬ bene und ehmals wohlbefeſtigte Schloß, auf deſſen einer Seite der große, praͤchtige, von dem regierenden Grafen mit eifriger Liebhaberei und ungeheuern Koſten ange¬ legte, weit und breit beruͤhmte Luſtpark, Bagno ge¬ nannt, ſich uͤber einen bedeutenden Raum erſtreckte, der mit herrlichen großartigen Spazirgaͤngen, See - und Waldſtrecken, maͤchtigen Waſſerfaͤllen und Springbrunnen, aber auch mit Grotten, Tempeln, Saͤlen, Kiosken, Moſcheen und ſo weiter, uͤberall erfuͤllt war, und in letzterer Hinſicht den Geſchmack einer vergangenen Zeit nicht allzu guͤnſtig darſtellte. Alles war zum Schau¬ platz eines reichen und feierlichen Hoflebens eingerichtet, zu großen Feſtlichkeiten, bei welchen die Pracht und Herrlichkeit des Gebieters zur vollen Erſcheinung kommen ſollte; ein großer Saal war eigends fuͤr die Konzerte erbaut, welche von der Kapelle des Grafen aufgefuͤhrtIII. 9130wurden, und in denen neben ſeinen wohlbeſoldeten, aus Italien mit großen Koſten verſchriebenen Kammerſaͤn¬ gern, auch er ſelbſt bisweilen ſich auf der Floͤte hoͤren ließ, die ihm zu ſolchem Behuf ein Edeldiener auf ſeid¬ nem Kiſſen darzubieten hatte; es fehlte nicht an ge¬ raͤumigen Tanz - und Speiſeſaͤlen, nicht an ſchicklichen Raͤumen, wo ein Hofzirkel gehalten und die Vorſtellung anweſender Fremden mit gehoͤriger Feierlichkeit geſchehen konnte; in einer Bucht des See's lagen geſchmuͤckte Prachtſchiffe bereit, um ſowohl die Herrſchaft und etwa¬ nige vornehme Gaͤſte, als auch begleitende Janitſcharen¬ muſik, in langſamer Prunkfahrt umherzufuͤhren; an andrer Stelle ſtieß man auf ein ungeheures Schachbrett im Freien, wo die Spieler zwei entgegengeſetzte Buͤhnen beſtiegen, und von da aus die beſtellten Diener anwieſen, die maͤchtigen Figuren auf die beſtimmten Felder hinzu¬ ruͤcken; an hohen Tagen, wo die Waſſerfaͤlle ſtuͤrzten, und die Springbrunnen ihre Strahlen bis uͤber hundert Fuß hoch trieben, durften die Einwohner von Steinfurt und der Umgegend denen von Verſailles kaum nachzu¬ ſtehen glauben. Der regierende Graf liebte nach alter Weiſe, durch ſolche Außerordentlichkeiten einen hohen Begriff von der Stellung und Macht zu geben, denen ſo Staunenswerthes moͤglich war, und er ſelber fuͤhlte ſich ſo ſehr als Mittelpunkt eigner Selbſtſtaͤndigkeit, daß er daruͤber den wirklichen Umfang derſelben faſt zu ver¬ geſſen ſchien. Nicht nur, daß er Hofſtaat und Leib¬131 wachen und Beamte und Dienerſchaft jeder Art in moͤglichſt großer Menge hatte, er war auch bedacht, in allgemeineren Bezuͤgen Land und Unterthanen in einer Art von Staatshaͤuslichkeit zu befriedigen. Er hatte Gemaͤhlde, Muͤnzen, Bildwerke, Alterthuͤmer und Buͤcher in einem eigens erbauten Kunſthauſe vereinigt; er ſandte eingeborne Juͤnglinge, die einige Anlage verriethen, zu ihrer Ausbildung auf Reiſen oder auf die Univerſitaͤt, mit dem Beding, ihre erworbene Geſchicklichkeit kuͤnftig im Vaterlande, das heißt im herrſchaftlichen Gebiete des Grafen, auszuuͤben; er ging damit um, eine Verfuͤgung zu erlaſſen, daß niemand im Lande ein Amt erhalten ſolle, der nicht ſeine Vorbereitungsſtudien auf der Schule zu Steinfurt gemacht habe. So ſehr klein war das Gebiet doch nicht; der Graf hatte zu der Grafſchaft Steinfurt die betraͤchtlichere Bentheim ererbt, und weil dieſelbe an Hannover von dem letzten Beſitzer verpfaͤndet war, ſogleich die Einloͤſung zu bewirken geſucht, welche jedoch erſt durch Frankreich zu Stande kam, indem Napoleon in die Rechte Hannovers getreten zu ſein behauptete, und die Loͤſungsſumme fuͤr ſich einzog; der Graf beſaß ferner die Herrſchaft Alpen am Niederrhein, in Holland die Herrſchaft Batenburg und einen Zoll an der Maas. Bei allem Aufwand war er zugleich ein ſtrenger Haushalter und ſeinen Vorbildern auch darin aͤhnlich, daß er einen baaren Schatz geſammelt hatte. Sein begruͤndeter Wohlſtand und ſein ſtrebendes9*132Anſehn hatten in der That ſo guͤnſtig fuͤr ihn gewirkt, daß bei der Aufloͤſung des deutſchen Reichs, als den vormaligen Reichsunmittelbaren nur zweierlei Looſe blie¬ ben, entweder zur Oberherrlichkeit erhoͤht in den Rhein¬ bund zu treten, oder zu Unterthanen ſolcher Beguͤnſtig¬ ten hinabgedruͤckt zu werden, es ſich in der Meinung ſehr natuͤrlich darbot, dem Grafen von Bentheim koͤnne nur das erſtere Loos beſchieden ſein. Die Eroͤffnungen hierzu von Seiten Frankreichs hatten wirklich Statt gefunden, Verhandlungen mit dem Miniſter Talleyrand waren dem Abſchluſſe nah, Karten des kuͤnftigen, durch zu mediatiſirende Nachbarn ſehr vergroͤßerten Gebietes waren ſchon gezeichnet, die Oberherrlichkeit des Grafen ſo gut wie anerkannt, als ploͤtzlich eine andre Anſicht in Paris alles bisher Eingeleitete verwarf, und dieſe Verhaͤltniſſe in druͤckender Unſicherheit ſtocken ließ. Der Graf war ſogleich nach Paris gereiſt, um ſeine Gerecht¬ ſame zu vertheidigen, ſeine Anſpruͤche geltend zu machen. Hier wurde er am Hofe Napoleon's mit allen Ehren aufgenommen, und perſoͤnlich als ein regierender Herr behandelt, waͤhrend ſeine ſachlichen Anſpruͤche immer weniger Ruͤckſicht erfuhren, und die franzoͤſiſchen Be¬ hoͤrden in ſeinem Lande immer entſchiedener eingriffen. Je unguͤnſtiger ſeine Verhaͤltniſſe daheim ſich ſtellten, je weniger mochte der Graf zuruͤckkehren, ſondern blieb in Paris, als dem einzigen Orte, wo er noch als regie¬ rend galt, und wo er Hoffnung hatte, es auch wieder133 zu werden. In dieſer Lage hatten wir ihn dort gefun¬ den, reklamirend, proteſtirend, ſollizitirend, Napoleon und ſeine Miniſter bei jeder Gelegenheit angehend, in Foͤrmlichkeiten genau und ſich nichts vergebend, ſonſt aber hoͤchſt eingezogen und ſparſam in ſeiner Lebens¬ weiſe. Er hatte den ehmals allgemeinen Gebrauch bei¬ behalten, rothe Abſaͤtze an den Schuhen zu haben, und zog dadurch, und durch andre nicht mehr uͤbliche Vor¬ nehmheit in Haltung und Ausſchmuͤckung ſeiner Perſon, die Blicke auf ſich, wenn er im Garten des Palais - Royal ſpaziren ging, und ſein Secretair ihm voran¬ ſchreiten mußte; allein das Laͤcheln hieruͤber ſchwand in Vergeſſenheit, ſobald man ihn ſprach und naͤher kannte, man fand einen einſichtsvollen, wohlunterrichteten und in ſeiner Sphaͤre hoͤchſt gebildeten und gewandten Herrn, deſſen Verſtand und Urtheil auch Napoleon ſelbſt alle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Auf ſolchem Fuß blieb er in Paris viele Jahre, waͤhrend er daheim ſtets un¬ guͤnſtiger zu ſtehen kam, erſt als Mediatiſirter dem Großherzogthum Berg unterworfen, und zuletzt gar mit Frankreich einverleibt wurde, da er denn, weil ein Unterthan des franzoͤſiſchen Kaiſers keine andern Titel haben konnte, als welche dieſer ihm verliehen oder be¬ ſtaͤtigt hatte, nunmehr ſtaatsbuͤrgerlich mit jedem ſeiner ehmahligen Unterthanen gleichgeſetzt war. Unverdroſſen harrte er in Paris auf Herſtellung oder Entſchaͤdigung, bis er endlich den Sturz Napoleon's erlebte, und dar¬134 auf ſpaͤterhin, unter ganz veraͤnderten Verhaͤltniſſen, hergeſtellt in bedeutende Gerechtſame und fuͤr andre durch die Fuͤrſtenwuͤrde entſchaͤdigt, in die Heimath zuruͤck¬ kehrte.

Damals aber, als wir von Paris in Steinfurt an¬ gekommen waren, lag eine ſolche Wendung der Dinge faſt außer dem Bereiche jeder Hoffnung. Die graͤfliche Familie hatte ſich, in Erwartung einſtiger Wiederkunft ihres Hauptes, mit den obwaltenden Verhaͤltniſſen leid¬ lich eingerichtet, und fuͤhrte unter dem Druck und der Einſchraͤnkung, welche mehr den Stand des Hauſes im Allgemeinen trafen, aber den einzelnen Mitgliedern kaum fuͤhlbar wurden, ein heitres, vergnuͤgtes Leben. Die Mutter, eine geborne Herzogin von Holſtein-Gluͤcksburg, vereinigte mit dem lebhaften Bewußtſein ihres Ranges ein menſchenfreundliches Wohlwollen und eine muntere Regſamkeit, wodurch ihre Gegenwart auch den juͤngern Perſonen lieb und werth wurde. Der Erbgraf Alexis, einfach und verſtaͤndig, die Weltbewegungen mit hellem Sinn und in dem Lichte der neuern Zeit betrachtend, ſtand durch biedre Rechtſchaffenheit und leutſelige Guͤte in allgemeiner Achtung; fuͤr die juͤngern Geſchwiſter ſorgte er mit mehr als bruͤderlicher, mit vaͤterlicher Liebe. Eine aͤltere Schweſter, Fuͤrſtin von Solms-Lich, ſchon in jungen Jahren verwittwet, befand ſich mit ihren vier Soͤhnen zum Beſuch anweſend; zwei juͤngere Schweſtern, ausgezeichnet durch Bildung, Herzensguͤte, Schoͤnheit,135 waren noch unverheirathet zu Hauſe. Ein juͤngerer Bruder, in daͤniſchen Kriegsdienſten angeſtellt, wurde von Kopenhagen erwartet. Juͤngere und aͤltere Geſell¬ ſchaft bot die Stadt und Umgegend gar nicht ſparſam dar: das Hofleben hatte ſich allmaͤhlig in ein geſelliges bequemes Landleben herabgeſtimmt, und die Annehm¬ lichkeit und Befriedigung aller Theilnehmenden dabei nur gewonnen. Selbſt die Wirthſchaftsſorge trat als willkommene Thaͤtigkeit in die Vergnuͤgungen des Tages, und bildete freilich einen wunderlichen Gegenſatz mit manchen noch beibehaltenen feierlichen Formen; die aus¬ geſchmuͤckten Trompeter, welche im Schloßhofe regel¬ maͤßig zur Mittags - und Abendmahlzeit blaſend ein¬ luden, riefen freilich manchmal die Hofdamen von der Beſorgung der welſchen Huͤhner, den Kanzleirath von der Einzaͤhlung der Baumfruͤchte ab, doch wurde ſelbſt dies nur ein Anlaß heitern Scherzes, und erhoͤhte das Bewußtſein, wie frei man ſich in ſolch unentſchiednen Zuſtaͤnden aller beengenden Ruͤckſichten entaͤußere. Der feſte Grund innrer Wuͤrde und edler Geſinnung konnte in dieſer trefflichen Familie niemals wanken, mochte ſie in den ſtolzen Anſpruͤchen eines regierenden Hauſes, oder in den beſcheidenen einer Gutsherrſchaft erſcheinen!

Einige Jahre vor mir hatte Juſtus Gruner als junger Gelehrter in Steinfurt eingeſprochen, und in ſeiner nachher gedruckten Reiſebeſchreibung ſowohl das Leben als die Perſonen umſtaͤndlich geſchildert; ich fand136 alles noch ziemlich in demſelben Stande, wie er es beſchrieben, und mußte beſonders in das Lob einſtimmen, welches er den graͤflichen Damen ertheilte, wiewohl ich daſſelbe weder ſo ſchwungvoll noch ſo empfindſam aus¬ gedruͤckt haben wuͤrde, als Gruner, der ſich dieſer ſchon damals veralteten Art noch zu guter letzt mit allem Eifer hingegeben hatte. Die Damen waren wohl an¬ fangs etwas betroffen, ihre Erſcheinung, Vorzuͤge, Aeußerungen und nebenher ſo manches Unerhebliche, oͤffentlich beſprochen zu ſehen, allein die beſeelte Aner¬ kennung und faſt leidenſchaftliche Verehrung, die der junge Enthuſiaſt ausdruͤckte, beſonders wenn er die herr¬ lichen Geſangſtimmen pries, die ihn hier entzuͤckt hatten, erwarben ihm Verzeihung fuͤr eine Dreiſtigkeit, welche offenbar aus beſter Meinung hervorging. In der That war ſowohl die Fuͤrſtin von Solms-Lich, als ihre beiden juͤngern Schweſtern, mit großartiger, durch beſten italiaͤniſchen Unterricht zu hoͤchſter Meiſterſchaft ausge¬ bildeter Stimme begabt, deren maͤchtige Wirkung mit ſo vielem andern Zauber vereint den Hoͤrer unwider¬ ſtehlich hinreißen mußte.

Das geſellige Leben auf dem Schloſſe war anziehend und genußreich; das Bagno bot den taͤglichen Spazir¬ gaͤngen hinreichende Abwechſelung, auch Fahrten in die Nachbarſchaft wurden unternommen; der Austauſch von Meinungen und Erzaͤhlungen war lebhaft, Ernſt und Munterkeit fanden unerſchoͤpflichen Stoff. Der Sonn¬137 tag war nach alter Sitte eine Art Hoftag, die graͤflichen Beamten wurden zur Tafel gezogen, die angeſehnſten Herren und Frauen des Staͤdtchens fuͤr den Nachmittag und Abend eingeladen. Dann erſchien auch regelmaͤßig der Maire, ein reicher Arzt Doktor Houth, der fruͤher in Holland ſein Gluͤck gemacht und darauf der Praxis uͤberdruͤſſig hieher ſich zuruͤckgezogen hatte; in bequemem Hauſe und ſchoͤnem Garten genoß er nach ſeinem Sinne ruhige Tage, die er durch das ihm auferlegte Amt ungern unterbrochen ſah. Er hatte große Kenntniſſe, ſtudirte noch immer weiter, liebte Gemaͤhlde und Muſik, und war durch Denkart und Geſchmack ganz dem Schloß ergeben, wo man hinwieder die freiwillige Unterordnung und Dienſtwilligkeit eines Mannes, der durch ſein Amt unendliche Verationen ausuͤben konnte, dankbar zu ſchaͤtzen wußte.

Wir machten Ausfluͤge nach Borghorſt und nach Langenhorſt, zweien Fraͤuleinſtiftern, wo uͤber das Schickſal der unverheiratheten alten und jungen Damen, denen nach der Abſicht fuͤrſorglicher Vorfahren hier ein beguͤnſtigtes Daſein bereitet ſein ſollte, die eigenſten Betrachtungen anzuſtellen waren. Mir kam es vor, als wenn die aͤltern und juͤngern Damen mit einer Art von Verzweiflung dieſe Beguͤnſtigung genoͤſſen, und durch die ihnen gelaſſene Freiheit auch des letzten Tro¬ ſtes entbehrten, des Troſtes gezwungen zu ſein! Mehr aber, als das Schickſal dieſer Erwachſenen, zog mich138 das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus dem Muͤnſter'ſchen, der Vater ein franzoͤſiſcher Emi¬ grant, der jene verfuͤhrt hatte, beide waren davonge¬ gangen, und das Kind von der Aebtiſſin aus Mitleid aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und ſtren¬ gen alten Fraͤulein galt aber die Erziehungsweiſe, welche Haͤring in ſeinem Cabanis ſo lebendig zu ſchildern ge¬ wußt; das kleine, zarte Maͤdchen wurde mit aͤußerſter Haͤrte behandelt, mußte angeſtrengt arbeiten, bekam nicht ſatt zu eſſen, und erlitt bei dem geringſten Ver¬ ſehen die grauſamſten Strafen; oft blieb es Tage lang an einem finſtern Ort eingeſperrt. Urſpruͤnglich von lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch ſchon ſo abgemuͤdet, daß es der haͤrteſten Strafen gar nicht mehr achtete, ſondern ſie mit dumpfer Gleichguͤltigkeit als unvermeidliches Geſchick hinnahm. Um ſeinen Hun¬ ger zu ſtillen, ſtahl es freilich bei jeder Gelegenheit Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬ chen, als nur Eßwaaren anzutaſten. Mehrmals war es ſchon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt und zuruͤckgebracht worden, um die ſtrengſte Beſtrafung zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtiſſin, die ſich gegen das Kind ſelbſt und gegen Fremde immer einer abgoͤttiſchen Liebe fuͤr daſſelbe ruͤhmte, uͤber die ſchwaͤr¬ zeſte Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tuͤckiſchen Trotz. Ich ſah das arme Kind, das mir im voraus139 als ein Ausbund von Verderbtheit bezeichnet worden war, und ließ mich naͤher mit ihm ein; es war bleich und mager, die Augen gutmuͤthig, doch unterdruͤckten Blickes, die Geſichtszuͤge ſchienen im Uebergange zur Verzerrung begriffen, ſie mußten mit der Zeit haͤßlich werden, die kleine Stirn war ſchon wie von Leid und Gram verwuͤſtet. Aus reinſter Wahrhaftigkeit, die kei¬ ner Heuchelei wie keiner Klugheit faͤhig war, hatte es ſchon mehrmals, das fuͤnfjaͤhrige Kind, zur Aebtiſſin geſagt: Gott! es ſterben ja immer Leute, warum ſtirbſt du nicht? Wenn du doch nur erſt todt waͤrſt! Als ich dort war, wollte es nach der Kirchmeſſe gehen, um die aufgebauten Buden zu betrachten, und ſich fuͤr einige durch Stricken verdiente Stuͤber etwas Kuchen zu kaufen, aber ein Regen trat ein, und nun mußte der Ausgang unterbleiben: Ach! ich moͤchte ſo durch die Luft hinfliegen! ſagte es am Fenſter ſtehend, die nun vergeblichen Stuͤber in der Hand, und betruͤbt der vielleicht nicht wieder zu hoffenden Gelegenheit nach¬ blickend; und doch konnte es mir gleich darauf wieder den ſo grauſamen Regen ruͤhmen, daß er gut ſei fuͤr's Land und das Korn wachſen mache, das ſchon ſo hoch ſei, wie das gebreitete Haͤndchen von der Erde auf zeigte. Ich war erſchuͤttert von den Eindruͤcken, die ich empfing. Dies war kein boͤſes Kind, vielmehr ein liebes, guͤtiges, aber tiefungluͤckliches! Eine Kindheit ohne Liebe und Huͤlfe, freudenlos, verkuͤmmert, allen140 Wohlthaten entruͤckt, welche die Natur auch der Ar¬ muth noch ſpendet, und zwiſchen das Raͤderwerk falſcher Begriffe und Bildung geworfen, und ohn 'Erbarmen von dieſem zerquetſcht und zerſtoͤrt! Vier Monate ſpaͤ¬ ter hatte ich in der Wetterau ein anderes Kind zu ſe¬ hen Gelegenheit, von dem man mir gleichfalls geſagt hatte, es ſei ein Beiſpiel urſpruͤnglicher Boͤsartigkeit, die durch keine Mittel ſich bezwingen laſſe. Die kleine Joſephine war nicht, wie Luischen, eine arme Waiſe, ſie lebte im Schoß der Familie, in hoher und reicher Sphaͤre, ſie genoß guͤtiger Behandlung, hinlaͤnglicher Freiheit und zweckmaͤßigen Unterrichts; ſie hatte nicht zu klagen, aber Alle klagten uͤber ſie; ein Mißverhaͤltniß war allerdings vorhanden, und das achtjaͤhrige Maͤdchen konnte dies nicht aufheben. Ich fand auch dieſes Kind durchaus nicht boͤſe, im Gegentheil heiter und unbe¬ fangen, aber heftig, und, einmal geſtoͤrt, unbeugſam hartnaͤckig. Der erſte uͤbereilte Ausſpruch, ſie ſei boͤſe, war ihr als eine unverdiente Beſchuldigung auf die Seele gefallen, und hatte ſie zu der Irrbahn getrieben, auf der nun alles ſie befeſtigte, ſtatt ihr die Hand zu reichen, um wieder davon abzukommen. Fuͤr Joſe¬ phinen war ein verſtaͤndigendes Wort einzulegen; Luischen konnte nur eine Schickung retten, zu der ich nicht das Werkzeug zu ſein vermochte! Aber im Schmerz uͤber dieſe und aͤhnliche mir aufgeſtoßene Beiſpiele ſchrecklicher Kindermißhandlung und Verwahrloſung ging141 ich einige Zeit mit dem Gedanken um, unter dem Na¬ men einer Paͤdodicee einige Blaͤtter in die Welt zu ſchicken, an denen ſich vielleicht hin und wieder ein truͤbes Loos dieſer Art etwas erhellte. Das Vorhaben war indeß zu unreif, um nicht gegen naͤher anliegende Thaͤtigkeit und Beſchaͤftigung zuruͤckzuſtehen.

Wir hatten einen der ſchoͤnen Herbſttage benutzt, um eine Fahrt nach Bentheim zu machen. In großen, ſchweren, aber je mit ſechs Pferden beſpannten Kut¬ ſchen legten wir die drittehalb Meilen ſchlechten Weges raſch genug zuruͤck. Man faͤhrt uͤber die ſogenannte Brechte, eine wuͤſte Strecke, die noch waͤhrend des dreißigjaͤhrigen Krieges ein ſchoͤner Wald war. Das Land wird in dieſer Richtung huͤgelig und romantiſch, man glaubt ſich aus der weſtphaͤliſchen Ebene weit weg in ein Gebirgsland verſetzt. Schon von fern ſieht man das alte Schloß auf ſeiner anſehnlichen Hoͤhe aus den großen, wohlhabenden Marktflecken hervorragen, der ſich am Fuße des Abhangs hinzieht; daſſelbe liegt auf einem weiten Felſenboden, der ſich bald mehr bald weniger erhebt, und giebt mit ſeinen maͤchtigen Mauern und ſtarken Thuͤrmen ein Bild unbezwinglicher Feſtigkeit. Ganz glaublich hat ſchon Druſus hier ein roͤmiſches Kaſtell erbaut, um die in dieſer Gegend woh¬ nenden Tubanter in Gehorſam zu erhalten, der Ort war zu einem feſten Kriegspoſten vorzuͤglich geſchickt, und weit umher kein aͤhnlicher zu finden. Roͤmiſche142 Muͤnzen ſind hier oͤfters ausgegraben worden. Der Grundbau des jetzigen Schloſſes ſoll entſchieden roͤmi¬ ſches Mauerwerk ſein, und auch die ganze ſuͤdliche Steinwand, die von ungeheuern Quadern hoch aufge¬ thuͤrmt die ganze Laͤnge des Hauptbaues glatt abſchnei¬ det, wird fuͤr aͤlter als die eigentliche Ritterzeit ge¬ halten. Dieſe gewaltige Wand duͤrfte keine Sturmlei¬ ter zu fuͤrchten haben, und kaum durch das ſchwerſte Geſchuͤtz zu zerbroͤckeln ſein; ein runder Thurm, der die ſuͤdweſtliche Ecke bildet, zeigt wirklich an ſeinen Mauern, die einige Ellen dick ſind, die Spuren abge¬ prallter Kanonenkugeln, welche von den Franzoſen in fruͤhern Kriegen, als hannoͤverſche Truppen ſich hier feſtgeſetzt hatten, fruchtlos verſchoſſen worden, nur das Dach wurde zertruͤmmert. Ein viereckiger Thurm auf der ſuͤdoͤſtlichen Seite ſcheint noch feſter, doch hat der Blitz oben auf der Plattform eines der vier ſteinernen Wachthaͤuschen aufgeriſſen. Die noͤrdliche Seite iſt ohne Thuͤrme, weil der Felſen hier hoͤher emporragt, und durch ſeine Steilheit jeden Angriff unmoͤglich macht. Ein alter Heidentempel iſt auf dieſer Seite mit in das Schloß verbaut, man weiß aber nicht, welche Gottheit hier verehrt worden. Durch zwei unterirdiſche Trep¬ pen, welche durch die Felſen durchgebrochen ſind, kommt man hier zu den ſchoͤnſten Spazirgaͤngen, die ſchon außer¬ halb der Burgmauer, aber noch ganz auf der Hoͤhe liegen; uralte Baͤume ragen hier empor mit gewaltigen Staͤm¬143 men und ungeheuern Wipfeln, Epheu ſo ausgebreitet und dicht, wie ich es vorher nie geſehen; der ganze Abhang, der ſich dann allmaͤhlig zur Ebene ſenkt, iſt mit Baͤumen und Buſchwerk reich uͤberwachſen. Von einer hohen maͤchtigen Vormauer eingeſchloſſen, und ganz noch zur Burg gehoͤrig, liegt oͤſtlich ein geraͤumi¬ ger Obſtgarten, wo man nach allen Seiten die herr¬ lichſte Ausſicht hat, nach Steinfurt, und weit in das Muͤnſterland, waͤhrend nach der andern Seite von den Thuͤrmen das Auge tief in Holland eindringt. Weſt¬ waͤrts dicht am Fuße des Schloſſes ſtehen noch einige ſonderbare glattgeſpuͤlte Felſenmaſſen; die eine, oben flach, wie ein aufrecht ſtehender runder Pfuͤhl, der von oben zuſammengedruͤckt worden, heißt des Teufels Ohr¬ kiſſen, denn der Sage zufolge hat dieſer einmal mit dem Kopf auf dieſem Kiſſen geſchlafen, und einige oben bemerkbare Linien gelten fuͤr die Spuren ſeines dem allzu weichen Stein eingedruͤckten Ohrs. Die Macht des Pflanzenwuchſes zwiſchen all dieſen Felſen und Mauern war außerordentlich, ſeit undenklicher Zeit hatte ihm niemand gewehrt, aus allen Fugen der Steine ſchoß ellenhohes Gras, Baͤume ſchwankten an der hohen Mauerbruͤſtung, das muͤhſame Menſchenwerk war wieder im Uebergange zur Wildniß.

Einige Zimmer, zu ſolchem Behuf leidlich einge¬ richtet, dienten zu unſ'rer Bewirthung; wir hielten ein froͤhliches Mahl unter lebhaften Geſpraͤchen, denen der144 Ort und ſeine Eindruͤcke unerſchoͤpflichen Anreiz boten. Nachmittags beſuchten wir auch die unterirdiſchen Ge¬ maͤcher und das Innere der Thuͤrme; ſeltſame und grauſame Gefaͤngniſſe zeigten ſich, ein tiefes Burgver¬ ließ, in welchem die Hinabgelaſſenen verſchmachten mußten, eine Marterkammer, deren ſcheußliche Werk¬ zeuge jetzt verroſtet umherlagen, aber noch lebte ein alter Mann auf dem Schloſſe, der in ſeiner Jugend ſie hatte anwenden ſehen. Viele Ruͤſtungen, Lanzen, Schilde und Pfeile waren in einem dunkeln Gemach aufgehaͤuft. Eine Anzahl noch ziemlich erhaltener, zum Theil lebensgroßer Bildniſſe vergegenwaͤrtigte die ehe¬ maligen Haͤupter dieſer hingeſtorbenen Welt; das Bild der beruͤhmten weißen Frau, die auch hier bei wichti¬ gen Ereigniſſen, ſo fern ſie die Familie betreffen, und beſonders bei Todesfaͤllen ihr Weſen treiben ſoll, wurde als durch die Zeit zerſtoͤrt angegeben, oder ſollte aus beſondern Gruͤnden nicht gezeigt werden; die uralte kleine Schaffnerin aber, welche behauptete, mehr als zehnmal die ſchreckliche Erſcheinung geſehen zu haben, haͤtte ſich allenfalls ſelber dafuͤr ausgeben koͤnnen, ſo ſchauerlich und duͤſter war ihr ganzes Weſen. Nachdem wir noch im Wald unfern der Burg eine neuentdeckte reichhaltige Schwefelquelle beſichtigt, und einen Blick auf die nahgelegenen ungeheuren Steinbruͤche geworfen, aus deren Steinen unter andern das Rathhaus zu Amſterdam erbaut worden, fuhren wir mit einbrechender145 Nacht zuruͤck, und kamen durch die dunkle Wuͤſte ſpaͤt und voll ſchauerlicher Betrachtungen in Steinfurt wie¬ der an, das uns mit ſeinen Lichtern und bekannten Wohnraͤumen wie der neuſte, heiterſte Ort erſchien.

Noch vor Eintritt des Winters kehrte die Fuͤrſtin von Solms-Lich mit ihren vier Soͤhnen nach der Wet¬ terau zuruͤck, und die Geſellſchaft in Steinfurt wurde merklich einfacher und ſtiller. Die naſſe Witterung er¬ laubte weniger, im Freien zu ſein, und man ſah ſich auf die Huͤlfsquellen winterlicher Unterhaltung beſchraͤnkt. Die Ausſicht, daß auch wir die Ruͤckreiſe nach Wien und Prag bald antreten koͤnnten, verhuͤllte ſich mehr und mehr, und wir mußten uns darin ergeben, einen Theil des Winters hier abzuwarten. Fuͤr mich und mein Beduͤrfniß war am leichteſten geſorgt, der fruͤhere Abend ging mir in der herkoͤmmlichen Geſelligkeit an¬ genehm hin, und wenn dieſe Pflicht ſo weit erfuͤllt war, als die Neigung mit ihr Schritt hielt, zog ich mich gewoͤhnlich bei Zeiten auf mein Zimmer zuruͤck, und fing mein arbeitſames Nachtleben wieder an. Die reiche Buͤcherſammlung des Grafen war mir zum Gebrauch eroͤffnet, und ich ſchwelgte in den mannigfachſten Gei¬ ſtesrichtungen. Große Sammlungen, wie Schloͤzer's Briefwechſel und Staatsanzeigen, las oder blaͤtterte ich durch, und merkte mir durch Auszuͤge vieles an. Ein naͤheres Eingehen in die Geſchichte von Weſtphalen fuͤhrte mir in den langweilig ausgeſponnenen Einzeln¬III. 10146heiten des Geſchichtſchreibers von Steinen unerwartet mein eignes, lange vergeſſenes Geſchlechtsregiſter wieder vor die Augen. Franzoͤſiſche Memoiren las ich in Menge, auch ſtrengere Geſchichtswerke und ſogenannte philoſophiſche Schriften. Was mich aber mehr als alles anzog und erfreute, und mir fuͤr die ganze Folgezeit eine Quelle tiefſter Befriedigung eroͤffnete, war die Be¬ kanntſchaft, die ich hier zuerſt mit den Schriften des Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht nur der Predigten, von denen ich ſchon einige Kenntniß hatte, ſondern auch des ſeltneren und wichtigeren Wer¬ kes von der Nachahmung des armen Lebens Chriſti. Dieſe mehr wiſſenſchaftlich geordnete Darſtellung der myſtiſchen Wahrheiten haͤtte mir nicht zu gelegnerer Zeit kommen koͤnnen. Ich werde ſpaͤter davon im Zuſam¬ menhange naͤher zu berichten haben, und ſage hier nur ſo viel, daß ſich mir durch dieſes Buch gleichſam die dunkeln Waͤnde aufthaten, um mich in herrliche, weit¬ hin ausgebreitete Landſchaft blicken zu laſſen!

Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich verbrachte nun ganze Naͤchte leſend und ſchreibend. Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals, wie fruͤher in Tuͤbingen, der oͤrtlichen Stimmung des Landes und der Menſchen, unter denen ich lebte, durch beſondere Eindruͤcke inne zu werden. Das katholiſche Weſtphalen im noͤrdlichen Deutſchland ſteht naͤmlich in aͤhnlichem Verhaͤltniſſe, wie das proteſtantiſche Wuͤrtem¬147 berg im Suͤden; das gleichſam in die Fremde ver¬ ſprengte Glaubensweſen ſcheint die ihm eigenthuͤmlichen Kraͤfte hier zu beſonderm Nachdruck zu ſteigern, und ſie in die aͤußerſten Auswuͤchſe wuchern zu laſſen. Da¬ her in beiden Laͤndern, wie die ſtrengſte Lehre und der feurigſte Eifer, auch der entſchiedenſte Aberglaube und Wahn ſich eingeniſtet hat. Die Muͤnſterlaͤnder ſind beruͤhmt wegen der Staͤrke ihres Kirchen - und Volks¬ glaubens; die wundervolle Nonne von Duͤlmen iſt das katholiſche Gegenſtuͤck zu der proteſtantiſchen Seherin von Prevorſt; Vorherſagungen, Wundergeſchichte, Traum¬ verkuͤndigungen, Geiſterbegriffe, ſind in ganz Weſtpha¬ len heimiſch und verbreitet, wie in Wuͤrtemberg. Und wieder moͤcht 'ich einen Theil dieſer Hinneigung auf die Art und Weiſe des Landes, einen andern Theil aber auf den Volksſtamm rechnen. Hier iſt uͤberdies die vereinzelte Lebensart in einſamer, oft oͤder Natur, und die duͤnne Bevoͤlkerung ſolchen duͤſtern Einbildun¬ gen noch beſonders guͤnſtig. Zahlreich ſind hier die Leute, welche von Geſichten heimgeſucht werden, Fern¬ ſeher, denen Verborgenes offenbar wird, ſei es in der Vergangenheit oder Zukunft; ein vereinzeltes Bild ſtellt ſich dar, das aber auf ganze Reihen von Thatſachen ſchließen laͤßt, ſo werden Todesfaͤlle, Hochzeiten, Feuers¬ bruͤnſte, Gluͤckserhoͤhungen vorhergeſehen, beſonders aber, und dies hauptſaͤchlich in der neuern Zeit, politiſche Ereigniſſe, man ſieht fremde Truppen marſchiren, deren10*148Uniform unbekannt iſt, oder ſieht wegen des Nebels die Mannſchaft nicht, wohl aber die Spitzen der uͤber die Schulter ſchraͤg liegenden Gewehre, die in endloſen Zuͤgen raſch voruͤberziehen; auch ſchon in Kindern iſt dieſes Sehen noch nicht wirklicher Dinge haͤufig, man erzaͤhlte einen Fall, wo ein kleines gutartiges Maͤdchen, wegen langen Außenbleibens geſcholten, ganz unſchuldig ſich darauf berufen, ſie habe ja ſo lange ſtill ſtehen muͤſſen, bis all die Kanonen und Pulverwagen vorbei geweſen, und man hatte ſie wirklich geſehen, wie ſie auf der einen Seite der Straße gleichſam abgewartet, daß der Weg queruͤber frei wuͤrde. Die Menge und Mannigfaltigkeit und ſtete Wiederholung ſolcher Ge¬ ſchichten muß am Ende, wo nicht den Glauben an ihre Wahrheit, doch einen unheimlichen Eindruck, eine Art Anſteckung erzeugen, gegen welche der aufgeklaͤrteſte Verſtand nicht ſicher iſt; ich ſah manche Perſonen, die ſich durch Bildung weit uͤber ſolchen Aberglauben hin¬ weg duͤnkten, doch in einem geheimen Winkel der Seele davon ergriffen. Das Schloß zu Steinfurt war nicht frei von truͤben Sagen und Verkuͤndigungen; man fuͤhlte, daß man auf altem Boden des Ritterthums lebte, und dieſe modern-gefaͤlligen Zimmer mit ihren harmloſen Tagesvorgaͤngen auf duͤſtern Gewoͤlben, blu¬ tigen Unthaten und grauſem Entſetzen ruhten. Der Gang durch die Schloßkapelle, welcher am ſpaͤten Abend zur Verbindung mit dem einen Schloßfluͤgel nicht gut149 vermieden werden konnte, hatte jedesmal etwas Schauer¬ liches, und ein unregelmaͤßiger, mit rothen Ziegelſteinen belegter Vorplatz, der gleichfalls zu durchſchreiten war, hat gewiß noch nie einen Fuß zum Verweilen ange¬ lockt. Am unbehaglichſten und ſtoͤrendſten empfand ich bisweilen den Blick eines der Schloßdiener, den ich oͤfters dabei betraf, daß er mit finſterer Aufmerkſamkeit mich anſchielte; er war ein langer hagrer Menſch, von blaſſem truͤben Geſicht, ſchweigſam in ſich gekehrt, und ohne daß man ihm etwas Beſtimmtes ſchuldig geben konnte, fand man ihn nicht ſonderlich aufgelegt zum Guten. Die Gabe des Vorherſehens, der Erſcheinun¬ gen und Ahndungen des Verborgenen, wurde ihm in hohem Grade zugeſprochen, und wegen mancher unan¬ genehmen Vorgaͤnge, wo dieſelbe ſich auffallend bewaͤhrt haben ſollte, vermied man ſorgfaͤltig ſie herauszufordern. Einige meinten, er trage ſeine Gabe als ein Ungluͤck, und um ſeinen Mißmuth zu vergeſſen, ergebe er ſich dem Trunk; der Erbgraf aber meinte kopfſchuͤttelnd, der Trunk moͤchte wohl eine der Hauptquellen ſeiner Geſichte ſein, und hielt uͤberhaupt den Mann etwas feſter im Augenmerk.

Mit den Nachtſtunden von jeher vertraut, in anre¬ gender Geiſtesbeſchaͤftigung, und in meinem Innern entſchieden der Lichtſeite zugewendet, konnt 'ich auch hier dergleichen Eindruͤcke wohl abweiſen, aber doch nicht voͤllig vernichten. Wie im Fluge ſtreifte mich bisweilen150 die Unruhe, als wuͤrde ich belauſcht, als ſtuͤnde jemand draußen vor meiner Zimmerthuͤre. Indeß ſetzte ich meine Lebensweiſe ruhig fort, und arbeitete allerlei, was mir Vergnuͤgen machte oder auch zunaͤchſt Nutzen bringen ſollte. Einige Erzaͤhlungen, die ich ſchon in Tuͤbingen angefangen hatte, ſchrieb ich um; in manche geſchichtliche Stoffe ſucht' ich einzudringen. Taͤglich er¬ neute ſich mir auch die Aufforderung, meine uͤber Paris aufgezeichneten Merkworte und Andeutungen zu lesba¬ ren Schilderungen auszufuͤhren. Ich machte in dieſer Arbeit ziemliche Fortſchritte, theilte einiges davon im Vertrauen mit, und erhielt großen Beifall. Aber eines Tages entdeckt 'ich, nicht wenig betroffen, daß mir mehrere Blaͤtter fehlten; da ich ſehr klein und auch auf kleine Blaͤtter ſchrieb, ſo konnten ſie allerdings leicht zwiſchen andre gerathen ſein, ſich verkrochen und ver¬ irrt haben, aber die ſorgfaͤltigſte Nachforſchung entdeckte keine Spur davon, und wie ſie weggekommen ſein ſollten, blieb ganz raͤthſelhaft. Ungluͤcklicherweiſe ent¬ hielten ſie ſtarke Aeußerungen gegen den franzoͤſiſchen Kaiſer, und auch das Poiſſarden-Lied auf ſeine Ver¬ maͤhlung nebſt den beigeſchriebenen Muſiknoten, durch welche das eine der Blaͤtter dem Auge ſogleich auffal¬ lend erkennbar war. Wer ſich jener Zeiten erinnert, dem kann uͤber die Gefahr, ſolche Papiere verloren zu haben und nicht in ſichrer Hand zu wiſſen, kein Zweifel ſein. Und nicht ich allein war bloß geſtellt, ſondern151 eine ganze erlauchte und wuͤrdige Familie, die man fuͤr mein Vergehen mitverantwortlich zu machen nicht un¬ terlaſſen haͤtte. Ich war in aͤußerſter Pein, und um nicht noch mehr angſtvolle Beſorgniſſe aufzuregen, ver¬ ſchwieg ich den Fall auf dem Schloſſe gaͤnzlich, ver¬ traute ihn aber, ohne den Inhalt der Blaͤtter voͤllig anzugeben, dem Doktor Houth; dieſer wohlwollende Mann nahm aufrichtig Theil an meinem Verluſt, wußte aber auch keinen Rath, als den ſonderbaren, mit dem er zoͤgernd hervorruͤckte, er wollte den Seher auf dem Schloſſe befragen, vielleicht koͤnne der vermittelſt ſeiner Gabe den Ort entdecken, wo die Blaͤtter jetzt ſeien. Ich mußte an die bekannte Geſchichte Swedenborg's denken, und durfte den guten Willen nicht hemmen. Das Ergebniß war auffallend genug; der Seher hatte bei der Frage das Geſicht verdreht, anfangs gar nicht antworten wollen, endlich aber nach ſchlafaͤhnlichem Hintraͤumen, die kurze Auskunft ertheilt, die Blaͤtter ſeien weit weg, und ſonſt war nichts aus ihm heraus¬ zubringen. Dieſe Andeutung erſchloß eine Moͤglichkeit, die mir fruͤher nicht eingefallen war, und jetzt einige Wahrſcheinlichkeit gewann; ich konnte die Blaͤtter aus Verſehen einem Briefe nach Hamburg oder Berlin bei¬ gefuͤgt haben; doch dieſerhalb deutlich anzufragen, war kaum rathſam in einer Zeit, wo kein der Poſt anver¬ trauter Brief ſicher duͤnkte, und je mehr ich es bedachte, je weniger konnt' ich mir jenes Verſehen zutrauen.

152

Mehr als dieſe Ungewißheit aber bekuͤmmerte mich die allgemeine, in welche mein eignes Loos ſo tief ver¬ flochten war. Daß ein großer Strich des noͤrdlichen Deutſchlands, und darin die bisher zu dem Großherzog¬ thum Berg gerechneten Grafſchaften Steinfurt und Bent¬ heim, ſo wie die noch mit einem Schatten von Freiheit beſtandenen Hanſeſtaͤdte, nun unmittelbar mit Frankreich vereinigt, und in franzoͤſiſche Departements umgewandelt wurden, raubte mir die letzte Heimath, welche mir in Hamburg noch geſchimmert hatte. Die Nachrichten aus Berlin, die ich nach langem Harren erhielt, waren ſpaͤr¬ lich und traurig, doppelt traurig fuͤr mich, da ſich darin auch eine Unzufriedenheit kund gab, die ich zu verſchul¬ den ſchien, ohne daß ich dieſen Schein abwenden, noch die Wirklichkeit genuͤgend aufhellen konnte. Je weniger ich Mittel und Freiheit hatte, fuͤr den Augenblick nach außen handelnd hervorzutreten, um ſo mehr befeſtigte ſich mein Inneres, und ich wußte und empfand, daß meine Hoffnungen und Vorſaͤtze nicht zu zerſtoͤren waren.

Der Froſt und Schnee des Winters eroͤffneten neue Vergnuͤgungen; das Bagno wurde fleißig beſucht, und die Eisdecke des See's zum Schrittſchuhlaufen benutzt, woran auch die Damen mit groͤßtem Erfolg Theil nahmen, und wobei man bekennen mußte, daß fuͤr die Schoͤnheit und Grazie der Erſcheinung wohl keine andre Uebung dieſem ſchwebenden Wandeln den Preis ſtreitig machen kann. Dem Winterleben durften einige Baͤlle,153 Muſik, Vorleſungen, und ſelbſt kleine dramatiſche Er¬ goͤtzlichkeiten nicht fehlen, welche letztere, ganz aus dem Stegreif und nur als Spiel des Augenblicks behandelt, gerade hierin ihren Werth hatten.

Eine Fahrt nach Muͤnſter gab Gelegenheit, ſich in dieſer merkwuͤrdigen Stadt wiederholt umzuſehen. Die Geſchichte der Wiedertaͤufer, die ich ſo eben, zum Theil nach Handſchriften, mit Unmuth und Widerwillen bis in ihre Einzelheiten verfolgt hatte, iſt hier durch Denk¬ male erhalten, welche jener wahnſinnigen und graͤßlichen Ereigniſſe wuͤrdig ſind, durch die ſchrecklichen eiſernen Kaͤfige am St. Lambertsthurm, in denen die gemarter¬ ten und verſtuͤmmelten Koͤrper der drei Hauptwuͤthriche zur Schau aufgehaͤngt worden. Angenehmer weilt die Betrachtung auf den Bildniſſen der Geſandten, die einſt am weſtphaͤliſchen Frieden hier und in Osnabruͤck arbei¬ teten; es ſind darunter die bedeutendſten Phyſiognomieen, mit denen mancher Geſchichtszug ſich verwebt. Dieſe Sammlung ſollte durch treue und ſorgfaͤltige Nachbil¬ dung vervielfacht werden, damit ſie dem Geſchichtsfreund uͤberall zu Gebote ſtuͤnde; ein Wunſch, der ſich auch lebhaft bei der von Gleim hinterlaſſenen Sammlung in Halberſtadt aufdraͤngt, wo die zum Theil vortrefflichen Bildniſſe ſeiner Freunde uns die theuerſten litterariſchen Namen gleichſam perſoͤnlich vorfuͤhren. Wir beſuchten in Muͤnſter den franzoͤſiſchen Praͤfekten Freiherrn von Mylius, der es in ſeiner Stellung beklagen mußte,154 gleich ſo vielen andern Weſtphalen auch ſeinen eignen Bruder noch in oͤſterreichiſchem Kriegsdienſte zu wiſſen. Wir ſahen dann auch die Familie Droſte von Viſchering, welche in Muͤnſter durch ihre altbegruͤndeten Verhaͤlt¬ niſſe und ſtrengkatholiſchen Geſinnungen in hoͤchſtem Anſehen ſtand, und dieſes unter den franzoͤſiſchen Be¬ hoͤrden zu behaupten wußte. Zu dem Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg, der, bald nach ſeinem Uebertritt zur katholiſchen Kirche, hier hauptſaͤchlich der Familie von Droſte wegen ſeinen Wohnſitz genommen hatte, mochte ich nicht mitgehen; es that mir leid, ihn zu verſaͤumen, und doch hatte ich keine Stimmung fuͤr ihn, ich konnte mir ſein ganzes Verhaͤltniß zur Welt nur als getruͤbt und verſchoben denken. Was die Andern von ihrer mit ihm gehabten Unterhaltung nachher erzaͤhl¬ ten, veraͤnderte dieſe Meinung nicht. Er zeigte ſich von dem ſtaͤrkſten Haſſe gegen die Franzoſen und ganz be¬ ſonders gegen Napoleon erfuͤllt; allein wie ſehr auch hierbei die Triebfedern rege waren, die er als Deutſcher, und wieder beſonders als deutſcher Graf empfand, ſo war ihm doch jetzt bei weitem die Hauptſache, daß Na¬ poleon vom Papſte in den Bann gethan war, ein Um¬ ſtand, der damals im Muͤnſterlande, trotz aller Aufſicht der Franzoſen, durch die Geiſtlichen heimlich im Volke recht bekannt und beſprochen wurde. Alſo wenn Napoleon, ſo durfte man fragen, nur den Papſt zufrieden ſtellte, und dieſer etwa, wie er ihn ſchon kroͤnen helfen, ihm155 einen geweihten Hut und Degen ſchickte, ſo mußten wir andre Augen fuͤr den Feind unſres Vaterlandes haben? Dieſe Folgerungsart ging mir nicht ein, und ich haͤtte mich ſchwerlich enthalten, ſie durch Anfuͤhrungen, wie die obigen, zu unterbrechen. Stolberg war vortrefflich, wo ſein edler Geiſt und ſeine reichen Kenntniſſe im Feuer der Einbildungskraft und der Geſinnung gluͤhen durften, und wo es auf nichts weiter ankam; zum eigentlichen Denken war er nicht begabt, und was er in dieſer Richtung, ſeinem Naturell entgegen, dennoch leiſten wollte, zeigte nur ſeine Schwaͤche. Das ganze Mißver¬ haͤltniß, in welches er durch dieſen Mangel gerathen war, aufzudecken und in ſeinen Gruͤnden und Folgen zu eroͤrtern, war neun Jahre ſpaͤter dem alten Voß auferlegt, bei deſſen ſcharfer Anklage und Stolberg's bald nachher erfolgtem Tode ich doch wiederum bereuen mußte, der perſoͤnlichen Anſchauung des letzten verluſtig geblieben zu ſein.

Von den unheimlichen Anwandlungen, deren ich fruͤher gedacht, merkt 'ich im Verfolg des Aufenthalts in Steinfurt wenig mehr, und ſie waren faſt erloſchen, als meine ihretwegen gefuͤhlte Befangenheit ploͤtzlich auf ein ganz anderes Feld uͤberſprang. Ich hatte eines Abends mich auf mein Zimmer zuruͤckgezogen, war aber noch zu dem Oberſten gerufen worden, und verweilte ziemlich lange bei ihm, waͤhrend das Licht bei mir fort¬ brannte, meine Thuͤre aber verſchloſſen war. Als ich156 ſpaͤt wiederkam, erſtaunte ich nicht wenig, einen Mann gebuͤckt vor der Thuͤre ſtehen zu finden, der bemuͤht war, durch das Schluͤſſelloch zu ſehen. Er war von der Dienerſchaft, hatte hier aber nichts zu ſuchen. Mein ploͤtzliches Erſcheinen in ſeinem Ruͤcken, da er mich im Zimmer glaubte, erſchreckte ihn ſo, daß mein ſcharfes Fragen nichts aus ihm herausbekommen konnte, ſondern nur ſeine Verwirrung mehrte. Doch war mit dieſer Neugier, uͤber der ich ihn ertappt, eine ſtraͤfliche Abſicht nicht grade zu verbinden, und ich ließ den Mann mit einem Verweiſe gehen. Daß ich ſchon oͤfter auf dieſe Art belauſcht worden, war ſehr wahrſcheinlich, und leiſe Bewegung und Menſchennaͤhe uͤberhaupt mochten bis¬ weilen auf meine in der Nachtſtille empfindlichen Nerven gewirkt haben, da denn, eher als der Sinn, die Ein¬ bildungskraft ſich der unſichern Wahrnehmung bemaͤch¬ tigte. Die Entdeckung war mir ſehr unangenehm; ich dachte unwillkuͤrlich an die Blaͤtter, die mir weggekom¬ men waren, und quaͤlte mich mit argwoͤhniſchen Ver¬ muthungen aller Art. Daß dieſe nicht ganz ungegruͤndet waͤren, ſollte ſich bald durch neue Anzeigen beſtaͤtigen.

Mittlerweile hatten vom Niederrhein und von Hol¬ land her allerlei Bewegungen unter den franzoͤſiſchen Truppen angefangen, und es war deutlich zu erkennen, daß dieſelben allmaͤhlig immer ſtaͤrker nach den noͤrdlichern Gegenden ſich zuſammenzogen. Das langſame, aber anhaltende und uͤbereinſtimmende Fortruͤcken in gleich¬157 maͤßigen Richtungen ließ einen noch entfernten, aber entſchiednen Zweck vermuthen. Wirklich waren dies erſte vorlaͤufige Zuruͤſtungen zu dem Kriege gegen Rußland, der in der Seele Napoleon's als unfehlbar vorausgeſehn und beſchloſſen, in den oͤffentlichen Verhaͤltniſſen noch unter dem Schein der groͤßten Freundſchaft verhuͤllt war, und daher fuͤr grundloſen Wahn erklaͤrt werden konnte. Die Beſtimmtheit ſolchen Ablaͤugnens machte auch die Kundigſten wieder irre, und ſo wußte man oft ein Ereigniß lange vorher, aber kurz vorher nicht, weil man wieder aufgehoͤrt hatte, es zu glauben. Bei dieſen Truppenzuͤgen durch Weſtphalen kam auch eine Abtheilung durch Steinfurt; ein franzoͤſiſches Regiment Jaͤger zu Pferde bezog daſelbſt fuͤr einige Zeit Quartiere. Dieſe Gaͤſte brachten in unſre Tage einen ganz neuen Schwung; der franzoͤſiſche Oberſt wohnte auf dem Schloſſe, er und die meiſten ſeiner Offiziere nahmen an der Geſellſchaft eifrig Theil; die Geſpraͤche konnten nicht immer unterhaltend ſein, und nahmen oft eine nicht angenehme Wendung, denn ſowohl der Uebermuth, mit dem die Franzoſen von ihren Siegen ſprachen, als die Kammeradſchaft, die ſie uns jetzt aufdringen wollten, waren in gleichem Maße peinlich, und kaum zu dulden. Daß in dieſer Zeit mehrere oͤſterreichiſche Offiziere, aus Weſtphalen gebuͤrtig, das freundſchaftliche Verhaͤltniß zwiſchen Frankreich und Oeſterreich benutzten, um ihre Heimath wiederzuſehen, aber hier von den franzoͤſiſchen158 Behoͤrden mißtrauiſch angeſehen und beobachtet wurden, mit den franzoͤſiſchen Offizieren aber ſchon mehrmals in widrige Beruͤhrung gekommen waren, konnte auf beiden Seiten die Spannung nur vermehren. Zur Aushuͤlfe, und um weniger Geſpraͤche fuͤhren zu muͤſſen, wurde das Spiel herbeigezogen. Nachmittags gingen einige Stunden im Billardſaale hin, Abends nahmen Karten oder Schach die Aufmerkſamkeit in Anſpruch.

Indeß traten auch hier bei naͤherem Umgange aus der anfaͤnglichen Gleichmaͤßigkeit die perſoͤnlichen Eigen¬ arten ſichtbarer hervor. Der franzoͤſiſche Oberſt war nichts als ein Kriegsmann, in ſeinem Handwerk eifrig und ganz beruhigt, dem Kaiſer ergeben ſoviel als noͤthig war, um nicht zuruͤckzubleiben, uͤbrigens von wenig Bildung, aber ſehr bemuͤht, dieſen Mangel zu verdecken. Ein paar juͤngere Offiziere wollten bei jeder Gelegenheit ihren Ehrgeiz in der Begeiſterung fuͤr den Kaiſer be¬ friedigen, einer derſelben von altadeliger Geburt, that nicht anders, als ſei Napoleon in grader Erbfolge der Fortſetzer der Bourbons. Ein alter Rittmeiſter gehoͤrte der fruͤhern Revolutionszeit an, hatte zuerſt unter Ber¬ nadotte und Moreau gedient, und verhehlte nicht, daß ihn der neuſte Zuſtand der Sachen wenig befriedige. Auf einem Spazirgange ſchloß er mir ſein Herz voͤllig auf, nannte Napoleon den Unterdruͤcker der Freiheit, und verabſcheute deſſen ganzes Regierungsweſen, das uͤberall nur auf rohe Gewalt gegruͤndet ſei und auf159 Entſittlichung hinwirke. Wenn mir bei ſolchen Reden noch einiges Mißtrauen geblieben war, ſo mußte dieſes voͤllig ſchwinden an dem letzten Nachmittage vor dem Abmarſch der Franzoſen. Ich ging mit dem Rittmeiſter im Bagno einſam ſpaziren, der nahe Abſchied bewegte ihn, er druͤckte mir die Hand, und verſicherte mich, meine Denkart, ſo weit er ſie habe kennen lernen, freue ihn, ja ſie gebiete ihm fuͤr mich eine naͤhere Theilnahme. Dann ploͤtzlich uͤberraſchte er mich durch dieſe Anrede: Sie ſind jung, Sie koͤnnen noch viel erleben, bewahren Sie Ihre Denkart fuͤr beſſre Zeiten, aber deßhalb auch ſich ſelbſt! Sie ſind nicht vorſichtig, Sie ſtuͤrzen ſich nutzlos in Gefahr! Was ſchreiben Sie fuͤr Briefe? Ich will nichts wiſſen, mißverſtehen Sie mich nicht, ich will Sie nur warnen! Hoͤren Sie als Beweis meines Zutrauens, was ich Ihnen mittheilen muß! Als ich neulich in Muͤnſter war, fragte mich ein alter Kamme¬ rad, der jetzt in einem hoͤheren Bureau dort angeſtellt iſt, wie es mir in Steinfurt ginge, die Leute dort muͤßten uns recht haſſen, und als ich ihn fragte, was ilm zu dieſer Meinung beſtimme, erfuhr ich, daß man genaue Kundſchaft von dort habe, und das Schloß durch allerlei Spuͤrhunde beobachtet werde; man wiſſe, daß hier gegen die franzoͤſiſche Regierung gearbeitet, daß ganze Naͤchte hindurch geſchrieben wuͤrde. Junger Freund, damit koͤnnen nur Sie gemeint ſein, nehmen Sie ſich in Acht, Sie wiſſen nicht, was unſre Polizei fuͤr ſchaͤnd¬160 liche Mittel anwendet. Stellen Sie allen Briefwechſel ein, ſo lange Sie hier im Lande ſind! Ich wurde nicht wenig durch dieſe Mittheilung beunruhigt; zwar Briefe hatte ich nur wenige und ſehr unſchuldige ge¬ ſchrieben, aber mir fielen meine vermißten Blaͤtter ein, die ich nun gewiß boͤslich entwandt glauben mußte. Ich ſonderte nach dieſer biedern und dankenswerthen War¬ nung nun alles Verfaͤngliche in meinen Papieren aus, und was ich nicht verbrennen wollte, brachte ich vor¬ laͤufig in ſichren Verſteck.

Gluͤcklicherweiſe trat bald nachher auch der Zeitpunkt unſrer Abreiſe ein, und wir verließen gegen Ende des Januars 1811 dieſe Gegend, um fuͤrerſt einige Wochen in Lich zuzubringen, von wo wir auch Laubach und Utpha in der Wetterau beſuchten. Darauf brachten wir kurze Zeit in Frankfurt am Main zu, und reiſten dann ohne Aufenthalt, wiewohl nicht ohne Abentheuer, nach Wien.

Meine Blaͤtter uͤber Paris, ſobald ich ſie gluͤcklich nach Oeſterreich gebracht, vervollſtaͤndigte ich wieder, und nachdem ſie von mehreren Freunden mit Antheil waren geleſen worden, forderte ſie von mir, im Som¬ mer 1811 zu Toͤplitz, der preußiſche Miniſter der aus¬ waͤrtigen Angelegenheiten Graf von der Golz, aus deſſen Nachlaß ich ſie erſt im Jahre 1834 wiedererhielt. Von den entwandten Blaͤttern aber fand ich eine Spur im Jahr 1813 in Hamburg. Man brachte in das ruſſiſche161 Hauptquartier Schriften und Buͤcher, die ſich in der Wohnung des franzoͤſiſchen Polizeihaupts Grafen von d'Aubignosc zuruͤckgelaſſen fanden. In einem alten be¬ ſtaͤubten Pack fiel mir ein Blatt auf, welches ich bald als eine in's Franzoͤſiſche uͤberſetzte Stelle von mir uͤber Napoleon erkennen mußte, die als Extrait d'une lettre bezeichnet war. Dabei lagen zwei Abdruͤcke der Ode von Staͤgemann an den Kaiſer Alexander.

Die Nachbarſchaft war ehrenvoll, aber auch gefaͤhr¬ lich. Zum Gluͤck waren dieſe Anklageſtuͤcke beiſeit ge¬ ſchoben worden, und jetzt, in unſern Haͤnden, nur Zeugniſſe, wie ſehr die Zeiten ſich veraͤndert hatten!

Frankfurt am Main, den 20. Februar 1811. Mein lieber Fouqué freut ſich, daß er ſeinen Brief mir in dieſe Gegend ſchickt, und wuͤnſcht anſtatt des Blattes ſelber hier zu ſein. Das mir ſehr liebe Frankfurt! ſo ſchreibt er mir aus Nennhauſen, das mir von langer Zeit wie ein freundliches Weihnachtsbild heruͤber ſieht. Der ſilberblaue Main, mit ſeinen milden Ufern! Zuletzt habe ich das alles auch im Winter geſehen, und es war dennoch ſo ſchoͤn. Doch will ich freilich nicht mit Sicherheit behaupten, wie viel des eignen Lichtes von den Gegenſtaͤnden ausging, und wie viel auf ſie hinſtrahlte aus meiner Juͤnglingsſeele, in allem StolzIII. 11162auf den vollbrachten erſten Feldzug, in aller traum¬ umglaͤnzenden Hoffnung auf neue, weit glorwuͤrdigere, in aller romantiſchen Erwartung unerhoͤrter Abentheuer und Liebesgeſchichten. Ich taugte damals nicht viel. Die raſende Selbſtheit des Zeitalters mit ihren thoͤrichten Schwindeln hielt mich ſchlimm beſeſſen; es war nur grade ſo viel des Rechten und Guten noch in mir wach, als taugte und nothwendig war zur Ausſaat in eine beſſere Zukunft. Ich dichtete auch wenig, und ſchlecht, weil ich mir mein Leben ſelbſt zu einem wunderbaren, hoͤchſt prahlenden Epos ausſpann, aber eben deßhalb leuchteten die wirklichen Umgebungen wie goldne Feen¬ ſchloͤſſer mit Demantengehaͤngen verziert, und, wie ge¬ ſagt, ich weiß nicht, ob alles ſo ſchoͤn war, als es mir in der Erinnerung mit hellen Farben aufſteigt, ſobald einer ſagte: Frankfurt am Main! Mit welcher Weh¬ muth erfuͤllt mich der Brief meines Freundes! Wie ganz anders fuͤhl 'ich mich jetzt hier, auch nach meinem erſten Feldzug, und auch noch jung (morgen werd' ich fuͤnf und zwanzig Jahr) um nicht des Alters wegen den ſuͤßen Einbildungen gluͤcklicher Lebensgeſchicke ent¬ ſagen zu muͤſſen! Unwillig von Schmerz und Zorn ergriffen, ohne Ermunterung irgend einer Art, jeder begeiſterten Stimmung fremd, in ſtetem Warten ohne Halt und Ruhe, ſeh 'ich die fluͤchtigen Tage voruͤber¬ gehen. Meine Wuͤnſche fuͤr mich ſelbſt ſind beſcheiden, aber faſt hoffnungslos, ich ſehe mich ſtets auf's neue163 weitab verſchlagen! Und ſo auch liegt das Allgemeine, fuͤr das ich die kuͤhnſten Wuͤnſche mit feſtem Vertrauen hege, mir noch in dunkler, dunkler Ferne.

Wie jedes deutſche Land und jede deutſche Stadt fruͤher auf eigne Weiſe die Kraft und das Gedeihen der Nation darſtellte, ſo auch jetzt wieder auf eigne Art ſpricht jedes Land und jede Stadt den allgemeinen Jammer aus. Welch 'verſchiedene Bilder geben Ham¬ burg, Muͤnſter, Halle, Wetzlar, Hannover, Regens¬ burg, oder Heſſen, Baireuth, Tyrol, uͤberall iſt es ein andrer, ein eigenthuͤmlicher Verluſt, und uͤberall doch nur die eine Urſache dazu, die fremde Herrſchaft! Wie traurig ſteht auch dieſes einſt ſo gluͤckliche und ſtolze Frankfurt da! Die alte Reichsſtadt, welche in ihren Mauern ehmals die Wahl und Kroͤnung des Kaiſers geſchehen ſah, froh der Freiheit und des mit ihr ver¬ bundenen Wohlſtandes, wie ſehr iſt ſie geſunken! Zwar belebt ſind auch jetzt noch die Straßen und Maͤrkte, mancher gute Erwerb iſt noch in den Haͤnden der Buͤr¬ ger, ja ſogar auch neuer Reichthum entſtanden, und der Name der Stadt iſt auf das ganze Gebiet eines bedeutenden Großherzogthums ausgedehnt worden; allein der innere Kern deutſchen Lebens iſt angegriffen, und ſchwindet taͤglich mehr dahin. Die Verfaſſung der Stadt war voller Maͤngel und Mißbraͤuche, das giebt jeder Verſtaͤndige zu; aber nur aus eigner, einheimiſcher, freier Entwicklung koͤnnen ſolche Fehler verbeſſert werden;11*164die fremde Hand kann abſchaffen, aber nicht heilen, nicht verbeſſern. Das bezeugen auch hier tauſend Kla¬ gen, die laut den Arm des Raͤchers und Befreiers an¬ rufen. So fordert eine ſtrenge Konſkription an ſich die gerechteſte Maßregel, aber unter dem fremden Joche die ſchrecklichſte nun auch das Blut der Ungluͤcklichen, das in fremden Schlachten am Tajo und vielleicht an der Wolga ſoll verſpritzt werden, damit die Nachblei¬ benden um ſo ſichrer gefeſſelt ſeien! Eine billige Vor¬ ſtellung der Buͤrger, daß die Befreiung vom Kriegs¬ dienſte durch Stellvertreter auf dieſelbe Weiſe, wie es in Frankreich geſchieht, eingefuͤhrt wuͤrde, iſt mit Haͤrte abgewieſen worden, und die Behoͤrde zieht das Los¬ kaufgeld ein, waͤhrend die uͤbrigen Kriegspflichtigen nun doch die beſtimmte Anzahl zum Dienſte ſtellen. So haben es die Deutſchen in vielen Stuͤcken ſchlimmer, als ſelbſt die Franzoſen, und ich habe ſchon von vielen Leuten hoͤren muͤſſen, fuͤr das aͤußre Gedeihen muͤßte das Volk wuͤnſchen, gleich voͤllig zu Frankreich geſchla¬ gen zu werden. Doch iſt es wahrlich nicht der aͤußre Vortheil allein, der die Wuͤnſche des Volks beſtimmt. Hier iſt ſeit langer Zeit gleichſam ein Stapelplatz des franzoͤſiſchen Weſens fuͤr Deutſchland, unzaͤhlige Bezuͤge reichen nach Frankreich hinuͤber, ſeit Jahren ſind hier franzoͤſiſche Truppen und Verwaltungen, aber ungeachtet alles deſſen hat ſich faſt nichts von franzoͤſiſchem Sinn hier feſtgeſetzt, vielmehr eine immer ſtaͤrkere Gegenſtem¬165 mung erhoben. Ich habe einem Balle des Caſino beigewohnt; die Geſellſchaft war zahlreich, alter Adel, Kaufleute, Offiziere von der franzoͤſiſchen Beſatzung. Unter den Frauen waren bildſchoͤne Geſichter, die An¬ zuͤge reich und geſchmackvoll; man verſicherte mit Be¬ ſtimmtheit, ſeit fuͤnfzehn Jahren habe keine namhafte Frankfurterin ſich mit einem Franzoſen verheirathet. Der Gouverneur der Stadt, Graf Taſcher, ſcheint ein gut¬ muͤthiger, muntrer Menſch, er befand ſich anſpruchslos in der Geſellſchaft, und man bekuͤmmerte ſich wenig um ihn; aber andre Franzoſen wollten ſehr als Herren auftreten, und nahmen dem Gouverneur ſogar uͤbel, daß er ſein Anſehn nicht ſtrenger behauptete. Sehr angenehm war mir die Bekanntſchaft des Herrn von Gontard, ehmaligen oͤſterreichiſchen Oberſtlieutenants im Klenau'ſchen Chevauxlegersregiment, der mich nach vielen ſeiner alten Kammeraden fragte. Wie ein romantiſches Land, von dem wuͤſte Meere trennen, lebt in dem oͤſter¬ reichiſchen Heere noch das ſogenannte Reich in beſtem Andenken, und wiederum ſteht den Reichern eben ſo das ſchoͤne kaiſerliche Heer in der Erinnerung, welches in dieſen Gegenden ſo lange Zeit mit wechſelndem Gluͤcke gekaͤmpft. Wie viele Frankfurter ſprachen mit Entzuͤcken von jenen fruͤhern Jahren! Nun ziehen taͤglich hier unter unſern Fenſtern die franzoͤſiſchen Truppen vorbei, und laͤrmen mit ihren Trommeln und ihrer Muſik durch166 die Straßen. Ich ſollte deſſen ſchon gewohnt ſein. Ich werd 'es nie gewohnt.

Das Denkmal, welches Friedrich Wilhelm II. vor dem Friedberger Thore den dort am 2. December 1792 gefallenen Heſſen hat errichten laſſen, iſt mir noch werther und lieber geworden, als im Fruͤhjahr 1809, da ich es zum erſtenmale ſah. Friedrich Wilhelm II. hatte in Kuͤnſten hohen und edlen Geſchmack. Die Einfachheit des Ganzen, der viereckige Stein, der auf Baſaltſchichten ruht, die großen ehernen Sinnbilder, Helm, Schild, Widderkopf und ſo weiter, alles zuſammen macht einen wuͤrdig-ernſten Eindruck, wie ſelten ſolche Denkmaͤler pflegen, die gar leicht in der Anlage verungluͤcken. Auch die Namen der Gemeinen ſtehen auf der ehernen Tafel. Solcher Steine ſollte man mehr in Deutſchland finden! Sie reden zu allem Volke, waͤhrend Schrift und Er¬ zaͤhlung nur in einem ſich ſtets verengenden Kreiſe fort¬ beſtehen.

Ich will mich abwenden vom Staat und Krieg; Gottlob, das Vaterland hat noch andre Seiten, die nicht gleich jenen beſchaͤdigt und verdorben ſind. Hier iſt Goethe geboren; deß will ich gedenken, und mich freuen! Die ganze Stadt iſt mir ſein geweihtes Denk¬ mal: hier erbluͤhten die kindlichen Sinne, hier ſogen ſie zuerſt die Lebensnahrung ein, die nachher aus ſeinen herrlichen Schoͤpfungen uͤber die ganze Nation ſich ver¬ breitete; dieſe Haͤuſer hat er betreten, dieſe Straßen167 durchwandelt, unſchuldig und ahndungsvoll, dieſer Glockenſchlag toͤnte ihm und maß ihm die Stunden ab, dieſe Mitbuͤrger umwogten ihn! Wie im Zauberſchwunge rauſchen alle fruͤhern Auftritte und Begegniſſe Wilhelm Meiſters neubelebt an mir voruͤber, und die reine, bluͤhende Seele Goethe's tritt daraus hervor. Geliebter Dichter, der du aus deutſchem Boden und Leben wie ein Rieſenbaum dich erhebſt, und den gruͤnenden laub¬ reichen Wald juͤngerer Bildung um deinen maͤchtigen Stamm verſammelſt, ein Mittelpunkt und Urbild des Vaterlandes, laß mich hier dich in Gedanken als zartes Baͤumchen umfaſſen, und deine junge Rinde kuͤſſen!

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Harren und Streben.

Prag 1811. 1812.

Nach dem wechſelvollen Leben, das ich ſo lange ge¬ fuͤhrt, erſchien der herkoͤmmliche Beſatzungsdienſt und uͤberhaupt der ganze Aufenthalt in Prag ſehr beſchraͤnkt und einfoͤrmig. Die druͤckenden Zeitlaͤufte machten ſich uͤberall fuͤhlbar, der ſinkende Werth des Papiergeldes verurſachte auf allen Seiten Verluſt und Unſicherheit, der geſellige Zuſammenhang war ſchwach, und außer der ſchroffen Trennung der Staͤnde wirkte hier auch der Unterſchied der Volksſtaͤmme ſehr merklich. Doch ſtan¬ den die deutſch und die boͤhmiſch redenden Eingebornen noch nicht ſo ſehr von einander ab, als von beiden wir deutſche Auslaͤnder, die wir an Sinn, Richtung und Gewohnheiten hier entſchieden fremd waren, und trotz manches Bemuͤhens nicht heimiſch wurden. Beſonders traf dies die zahlreichen Offiziere, welche aus Nord¬ deutſchland wegen des Krieges nach Oeſterreich gekom¬ men waren, und jetzt im Heere noch fortdienten. Auf169 einander angewieſen, hielten wir ſo viel als moͤglich zuſammen, erfuhren aber auch, daß die Gleichheit des Aeußerlichen noch lange keine Gemeinſchaft bildet. Die mir am werthvollſten geweſen waͤren, hatte der Zufall entfernt, und der Naͤhe und Bereitwilligkeit mancher Anweſenden mocht 'ich mich lieber entziehen. Dagegen hoͤrt' ich zwei deutſche Namen jetzt in Prag nennen, nach denen ich fruͤher dort und anderswo vergebens gefragt hatte, und zu welchen ich mich lebhaft hinge¬ zogen fuͤhlte. Der Hauptmann Ernſt von Pfuel, mir aus dem Lebenskreiſe von Nennhauſen ſehr wohl, aber noch nicht perſoͤnlich, bekannt, war der eine dieſer Maͤnner; der ehemalige preußiſche Miniſter Freiherr vom Stein, geaͤchtet von Napoleon und hochgeehrt von allen deutſchen Vaterlandsfreunden, war der andre.

Stein war in Berlin durch die franzoͤſiſche Achts¬ erklaͤrung mitten in ſeinen Amtsgeſchaͤften uͤberraſcht worden, und hatte ſeine Zuflucht nach Oeſterreich ge¬ nommen. Hier waren waͤhrend des Krieges ſeine Hoffnungen und ſein Haß heftig angeregt, und auch nach dem Frieden hielten beide ſich voll unmuthigen Eifers aufrecht. Er wollte jetzt in Prag moͤglichſt ru¬ hig abwarten, wie die Weltereigniſſe ſich ferner ent¬ wickeln wuͤrden; der Ort war zur Beobachtung wohl¬ gelegen, bot vielerlei Huͤlfsmittel, und auch geſelligen Anhalt genug fuͤr einen Mann, der durch Geburt und170 Wuͤrden uͤberall zu den Kreiſen der hohen Ariſtokratie gehoͤrte.

Von ſeiner unbeugſamen Geſinnung, der Schaͤrfe ſeines Geiſtes und der ungemeinen Heftigkeit ſeiner Gemuͤthsart, erzaͤhlte man vielerlei Zuͤge, welche ihm uͤberall, wo der Franzoſenhaß gluͤhte, Bewunderung und Zutrauen erwarben, und einen Helden in ihm ſe¬ hen ließen, auf den das Vaterland einſt wuͤrde rechnen duͤrfen. Zwar fanden ſich ſchon damals manche Stim¬ men, welche ſo raſchem Muthe nicht ganz vertrauen wollten, an den Grundſaͤtzen des Staatsmannes vieles tadelten, ihn thoͤrichter Vorurtheile fuͤr alles Alte be¬ ſchuldigten, und denen die Befreiung Deutſchlands weit eher durch maßvolle Klugheit und beſonnene Tapferkeit, als durch heftigen Ungeſtuͤm zu hoffen ſchien; ſolche Stimmen riefen dann auch wohl die Umſtaͤnde zuruͤck, durch welche Stein in ſeine jetzige Lage gerathen war, und hoͤchſt unzeitig einen Wirkungskreis verloren hatte, der ihm fuͤr ſeine Zwecke nicht ſchoͤner geboten ſein konnte. Dieſe Umſtaͤnde konnten allerdings ſeiner Be¬ ſonnenheit nicht zum Lobe gereichen; doch waren ſie damals nur ungefaͤhr bekannt, der genauere Hergang aber war folgender. Von Koͤnigsberg ſollte drr Aſſeſ¬ ſor Koppe mit Auftraͤgen nach Berlin und weiter in das noͤrdliche Deutſchland abgeſendet werden. Stein kam von einer Mittagstafel, wo viel getrunken worden war, und fand den ſchon Reiſefertigen, der ſich die171 letzten Befehle erbat; Stein hieß ihn einen Augenblick warten, trat an ein Pult, und ſchrieb ſtehend in Eile und Eifer noch an den Fuͤrſten von Wittgenſtein einen Brief, den jener empfing, und dann abreiſte. Die Sache blieb ſo gut wie vergeſſen, als ploͤtzlich die Nachricht kam, Koppe ſei von den Franzoſen aufge¬ fangen und ſeiner Briefſchaften beraubt worden. In der Unruhe und Beſorgniß, welche dies erregte, be¬ kannte der Graf von der Golz, Miniſter der auswaͤr¬ tigen Angelegenheiten, er ſei in großer Angſt wegen einiger Briefe, in denen er ſich uͤber Napoleon ſcher¬ zend ausgelaſſen. Das war recht dumm von Ihnen! fuhr ihn Stein ſogleich an; und ſodann befragt, was er ſelber dann fuͤr Briefe geſchrieben, verſetzte er gutes Muthes: O was ich geſchrieben habe, das duͤrfen die Franzoſen alles leſen! Bald nachher las er ſeinen Brief an den Fuͤrſten von Wittgenſtein im Moniteur abgedruckt, und mußte nun den Inhalt, auf den er ſich vorher kaum hatte beſinnen moͤgen, allerdings fuͤr verfaͤnglich und unbedacht erkennen. Bei dem lautge¬ wordenen Unwillen Napoleon's konnte Stein nicht fuͤg¬ lich preußiſcher Miniſter bleiben. Er reichte daher ſeine Entlaſſung ein, dachte indeß auch jetzt ſo wenig an Gefahr, daß er vorlaͤufig nach Berlin zu reiſen wagte. Hier aber las er unerwartet im Moniteur ein Decret Napoleon's aus Madrid, durch welches le nommé Stein, als Aufruhrſtifter gegen die Franzoſen, vogelfrei172 erklaͤrt wurde. Fuͤr Stein blieb nun nichts uͤbrig, als zu fliehen. Da die Wege nach England verſperrt waren, ſo konnte nur Oeſterreich eine ſichere Zuflucht bieten. Die franzoͤſiſchen Behoͤrden hatten bei den preußiſchen bereits die Auslieferung des Geaͤchteten nachſuchen muͤſſen, thaten jedoch nichts, was ſeine Flucht hindern konnte; in dem Decrete war le nommé Stein nicht auch als der Miniſter bezeichnet, dieſe Unbeſtimmtheit kam ihm zu Statten, er behielt zwei Tage Zeit, ſeine Anſtalten zu treffen, und gelangte gluͤcklich nach Oeſterreich.

In ſolchen Faͤllen aber zeigt ſich die Aechtheit eines Karakters im glaͤnzendſten Lichte; die wahre Groͤße iſt von ihren ſie begleitenden Maͤngeln unabhaͤngig, und Schwaͤchen und Irrthuͤmer werden ihr nicht ange¬ rechnet; die Stimme des Volks, von richtigem Gefuͤhl geleitet, haͤlt ihre aͤchten Helden uͤber Unfaͤlle und Mi߬ geſchicke empor, und ſpricht ſie los von der Verpflich¬ tung des Erfolgs. Daß Bluͤcher bei Luͤbeck ſich mit ſeinen Truppen gefangen geben mußte, hat ihm in der Meinung nicht geſchadet, man ſah in ihm nicht minder den Helden, dem die Zukunft anzuvertrauen ſei. Eben ſo koͤnnen wir von Stein ſagen, daß die erzaͤhlte Ueber¬ eilung, welche ſo große Entwuͤrfe und Bereitungen zerruͤttete, ihm in der Meinung eigentlich kaum geſchadet hat; man bedauerte das Vorgegangene, laͤchelte dar¬ uͤber, aber die Verehrung und das Zutrauen nahmen173 nicht ab, im Gegentheil, Stein's Unfall beglaubigte ihn als unwiderruflichen Feind der Franzoſen, dem keine Ausſoͤhnung moͤglich ſei, und deſſen Verſehen ſogar nur den Eifer kund gab, der in jeder auch kleinſten Gele¬ genheit ſich ſelber bloßzuſtellen kein Bedenken trug. In ſolchem Anſehen und ſolcher Wuͤrdigung lebte Stein bei den Beſten und Wuͤrdigſten auch in Prag.

Er ſtand mit den vornehmen Familien in herge¬ brachtem Verkehr, hielt ſich aber im Ganzen ſehr zu¬ ruͤckgezogen, und hatte nur wenig Umgang, der auch ſelten ſeinen Anſpruͤchen genuͤgen konnte. Denn er machte unausgeſetzt die groͤßten Forderungen. Ehrenfeſt und deutſch wollte er die Menſchen, aber auch fein und wohlgeſittet, von wiſſenſchaftlicher Bildung, aber auch entſchloſſen und thatkraͤftig, wo moͤglich noch unterhal¬ tend durch Geiſt und Witz. Freilich war er ſelbſt dies alles, aber nur ſelten wurde ihm dergleichen dargebo¬ ten, in Prag nur durch Pfuel, die Grafen von Stern¬ berg, und vielleicht noch zwei bis drei Andere. Er war auch ſchon zufrieden, ſolche Eigenſchaften theilweiſe vorzufinden, oder in ſolcher Richtung den guten Willen. Ich hatte uͤber Paris und Napoleon mancherlei aufge¬ ſchrieben, war kuͤrzlich durch einen großen Theil von Deutſchland gereiſt, hatte ja auch ſchon gegen die Fran¬ zoſen gefochten, dies alles, wovon Stein hoͤrte und angezogen wurde, verſchaffte auch mir die Gunſt, daß er mich kennen lernen wollte. Pfuel fuͤhrte mich zu ihm.

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Der Empfang ſollte freundlich ſein, die Abſicht war nicht zu verkennen, aber trotz derſelben gerieth er doch ziemlich ſchroff und ruͤckſichtslos. Man ſah es dem Manne gleich an, daß er ohne viele Umſtaͤnde zu ver¬ fahren liebte, und faſt nur gezwungen, durch entſchie¬ denes Machtanſehen, wahre Geiſteskraft oder trotzige Selbſtſtaͤndigkeit, einen andern Menſchen ſo gelten ließ, um mit ihm auf einer Art von gleichem Fuße zu ver¬ kehren. Ich werde mich nicht ruͤhmen, gegen Stein irgend eine Poſitur behauptet zu haben; wie haͤtte ich daran denken und dies mir gelingen koͤnnen. Aber ich kann ſagen, daß auch er mir im geringſten nicht im¬ ponirte, und daß ich ihm gegenuͤber meine Selbſtſtaͤn¬ digkeit irgend beſchraͤnkt gefuͤhlt haͤtte. Ich fand ihn einfach und ungezwungen, ganz ohne Stolz und Schein, und ſo war ich ebenfalls einfach und natuͤrlich, ohne andere Unterredung, als welche der aͤußerliche Abſtand gebot. Gleich bei dem erſten Beſuche, bei Erwaͤhnung mancher politiſchen Bezuͤge, in dem Urtheil uͤber Per¬ ſonen und Schriften, thaten ſich merkliche Verſchieden¬ heiten der Anſichten hervor, und Stein ſchien verwun¬ dert, daß ich die meinigen nicht ſogleich berichtigen ließ. Doch reizte ihn der Widerſpruch nicht unangenehm, und er lud mich lebhaft und dringend zu haͤufigen Beſuchen ein. Ich hatte dazu mehr als Einen Antrieb. Meine Verehrung war aufrichtig und unbegraͤnzt; den hohen Werth eines ſolchen Mannes erkannte ich mit allem175 Eifer, mit entſchiedener Hoffnung kuͤnftigen Erfolgs, ſowohl fuͤr die allgemeine Sache, als fuͤr mich insbe¬ ſondere. Hier ein naͤheres Verhaͤltniß anzuknuͤpfen ſchien in meinen Lebenszwecken ganz eigentlich begruͤn¬ det, fruͤher oder ſpaͤter mußten wir doch in gleichen Richtungen zuſammentreffen, und ich konnte mir nicht verhehlen, daß mir dabei nur Ehre und Vortheil er¬ wachſen wuͤrde. Aber ich hatte noch ein anderes An¬ liegen. Fuͤr meine kuͤnftige Laufbahn mußte ich Stu¬ dien unternehmen, die ich fruͤher hatte vernachlaͤßigen duͤrfen, und fuͤr welche mir jetzt in Prag ſowohl An¬ leitung als Buͤcher fehlten. Mit voͤlligem Vertrauen hatte ich dem kenntnißreichen Staatsmanne meine Un¬ wiſſenheit aufgedeckt, und ſeinen Rath und Beiſtand erbeten, um auf kuͤrzeſtem Wege in die Zweige prakti¬ ſcher Staatskunde einzudringen, deren ich am meiſten zu beduͤrfen ſchien. Sehr bereitwillig ſagte er mir Huͤlfe zu, ſowohl durch muͤndliche Belehrung, als durch den reichen Vorrath ſeiner Buͤcher, die er nach Prag hatte nachkommen laſſen.

So oft ich nun zu Stein kam, hoͤrte ich gleichſam ein Privatissimum uͤber Gegenſtaͤnde der Staatswirth¬ ſchaft, erlaͤutert durch Beiſpiele aus dem Geſchaͤftsleben ſelbſt, wobei zwar keine geordnete Folge herrſchte, aber doch die wichtigſten Anſichten und Thatſachen mir auf die lebendigſte Weiſe dargeboten wurden. Seine eigne Lebhaftigkeit riß ihn fort; jede Unkunde, die er wahrzu¬176 nehmen glaubte, jeder Zweifel, der ſich zu aͤußern wagte, ſteigerte ſeinen Eifer und er nahm ſich die Geduld, in die ausfuͤhrlichſten Erlaͤuterungen einzugehen. Bei ſol¬ cher Gelegenheit fehlte es nicht an perſoͤnlichen Bemer¬ kungen, beſonders uͤber preußiſche Staatsbeamte, und die Kritik ihrer Handlungen gab ihm noch mehr Herzenserleichterung, als mir Belehrung, wobei mir nicht entging, daß in der Sache und in der Form ſeine raſchen Ausſpruͤche als parlamentariſche Oppoſition oft von außerordentlicher Wirkung haͤtte ſein muͤſſen. In ſeinen Lieblingsvorſtellungen ganz ritterlich geſinnt, auf einen ſtarken und reichen Adel haltend, war Stein zu¬ gleich der eifrigſte Bauernfreund, und wollte den Land¬ mann durchaus frei und ſelbſtſtaͤndig wiſſen. In dieſem Betreff ruͤhmte er die neue preußiſche Geſetzgebung, die zwar nicht, wie man faſt allgemein geglaubt, von ihm ausgegangen war, aber doch jede Foͤrderung erhalten hatte. Hierbei kam er auf die Verdienſte des in Koͤnigs¬ berg verſtorbenen Profeſſor Kraus, deſſen Schriften er mir gab und empfahl, und den er gegen neuere Angriffe mit Zorn vertheidigte. In Berlin naͤmlich gab damals Heinrich von Kleiſt deutſche Blaͤtter heraus, in welchen Adam Muͤller den Werth von Kraus ſehr herabſetzte, und ihn fuͤr einen bloßen Nachſprecher Adam Smith's erklaͤrte, deſſen Grundſaͤtze, als den Gewerbefleiß zum Nachtheil des Adels beguͤnſtigend, ſchon nicht mehr gel¬ ten ſollten. Stein aber ſagte von Kraus: Der Mann177 hat mehr gewirkt und gethan, als dieſe Herren je ver¬ nichten werden. Die ganze Provinz hat an Licht und Anbau durch ihn zugenommen, ſeine Belehrung drang in alle Zweige des Lebens, in die Regierung und Ge¬ ſetzgebung ein. Hat er keine neuen glaͤnzenden Ideen aufgeſtellt, ſo iſt er dafuͤr auch kein ruhmſuͤchtiger So¬ phiſt geweſen, und die einfache Wahrheit klar und rein vorgetragen, auf ihren richtigſten Ausdruck gebracht, und Tauſenden von Zuhoͤrern erfolgreich mitgetheilt zu haben, iſt ein groͤßeres Verdienſt als durch Geſchwaͤtz und Paradoxieen Aufſehen zu erregen. Aber ſo verhaͤlt es ſich nicht einmal; Kraus war kein Nachbeter, Kraus hatte eine unſcheinbare und doch geniale Perſoͤnlichkeit, die ſeine Umgebungen maͤchtig ergriff, er hatte Blitze neuer Einſichten, großer Anwendungen, und ſetzte uns durch ſein unerwartetes Urtheil oft in Erſtaunen. Wenn er indeß ſein A. B. C. vortrug, ſuchte er das B. nicht hinter das C. zu ſetzen, und eine ſolche Neuerung als geiſtreich auszuſchreien. Leſen Sie ſeine Schriften, klar und einfach iſt da alles, und mehr brauchen Sie fuͤr jetzt nicht. Nebenher leſen Sie mir auch die Franzo¬ ſen, um zu vergleichen und zu pruͤfen, die Leute haben auch was gethan! Wenn Stein ſo eiferte, gerieth ſeine Stimme und Gebaͤrde in eine eigene Art von Zitterung, wobei er die Augen zudruͤckte, und die Worte zuletzt kaum noch ausklingen ließ. Aber wie traf gleich darauf ſein Blick groß und durchdringend den Zuhoͤrer, wel¬III. 12178chem er dann jeden geheimen Widerſpruch auf dem Geſichte las, und mit neuem, oft hartem und verletzen¬ dem Anlauf entgegen drang! Mit ihm ein Geſpraͤch zu haben, war ein ſteter Kampf, eine ſtete Gefahr, wie konnte man ſicher ſein, durch eine ploͤtzliche Wendung ſich feindlich behandelt zu ſehen, weil es ihm beliebte, den grade Anweſenden, mochte dieſer auch ganz ein¬ ſtimmig ſein, ſich als Widerſacher vorzuſtellen; und dies ohne uͤblen Willen, ohne perſoͤnliche Abſicht, und ohne irgend einen bleibenden Eindruck in ihm ſelber. Dies gab dann auch dem Umgange Stein's einen eignen Reiz und ließ die Erregung, in welche ſein Geſpraͤch verſetzte, eher aufſuchen, als meiden; wie denn insbe¬ ſondere der Kaiſer Alexander ſpaͤterhin von dieſem ruͤ¬ ſtigen und derben Weſen, das ſich den hoͤchſten Per¬ ſonen gegenuͤber nur etwa durch einen Zuſatz von Laune maͤßigte, ganz bezaubert war, und fuͤr Stein eben ſo große Zuneigung als Bewunderung empfand.

Durch Stein wurde ich auch mit mancherlei Zuſam¬ menhang der politiſchen Dinge bekannt, der mir bisher entgangen war. Ich bekam Aufſchluß uͤber allerlei, was in Berlin und im noͤrdlichen Deutſchland vorbe¬ reitet wurde, und ſah nun Weg und Feld mit zahl¬ reichen Faͤden uͤberkreuzt, die beim Weiterſchreiten nicht unbeachtet bleiben durften. Stein hatte thaͤtige Ver¬ bindungen beibehalten, und war von allem, was in Berlin vorging, genau unterrichtet. Scharnhorſt und179 Gneiſenau waren die Maͤnner ſeines Herzens. Naͤchſt ihnen ruͤhmte er Niebuhr, den er als praktiſchen Staats¬ beamten und als gruͤndlichen Gelehrten gleich ſehr ſchaͤtzte, und deſſen Buch uͤber die Geſchichte Rom's er mir zuerſt mittheilte, wobei er in aller Bewunde¬ rung des Scharfſinns und der Gelehrſamkeit doch be¬ dauerte, daß Niebuhr eigentlich kein Deutſch ſchriebe, ſondern im Deutſchen immer Engliſch werden wolle, durch deſſen fruͤhes und eifriges Studium er ſeinen Stil verdorben habe. Von den deutſchen Gelehrten dachte er im Ganzen nicht vortheilhaft; doch lobte und empfahl er die Schriften von Heeren als gruͤndlich und praktiſch, und beſonders pries er Fichte'n wegen ſeiner Reden an die deutſche Nation; die Philoſophen mochte er ſonſt wenig leiden, und erklaͤrte die damaligen neue¬ ſten geradezu fuͤr verruͤckt. Auch Schleiermacher's phi¬ loſophiſche Religion war ihm zu geiſtreich und in Be¬ treff der Rechtglaͤubigkeit mehr als verdaͤchtig. Große Stuͤcken hielt er auf Juſtus Gruner, von deſſen Muth und Gewandtheit im Geheimkriege der preußiſchen Be¬ hoͤrden gegen die franzoͤſiſche Polizei und Herrſchaft die merkwuͤrdigſten Beiſpiele erzaͤhlt wurden. Von ihm wird ſpaͤter noch die Rede ſein.

Hatte ich bei dieſen Unterweiſungen und Aufſchluͤſ¬ ſen mich nur belehren zu laſſen und fuͤgſam und dankbar zu erweiſen, ſo gab es dagegen andere Gegenſtaͤnde, bei welchen mir eine thaͤtigere Rolle zugewieſen war. 12*180Um ſeine viele Stunden wuͤrdig und zugleich fruchtbar auszufuͤllen, hatte Stein ein ernſtes Studium der fran¬ zoͤſiſchen Revolution vorgenommen, er wollte dieſen Ereigniſſen, aus welchen die Geſchicke der Welt noch unmittelbar herabſtroͤmten, Einmal auf den Grund ſe¬ hen, ihre ſtarken und ſchwachen Seiten kennen. Die damals erreichbaren Huͤlfsmittel lagen auf ſeinen Tiſchen, er las die Schriften aller Partheien, und ſcheute die großen Baͤnde des Moniteur nicht, um die oͤffentlichen Verhandlungen aus der Quelle zu ſchoͤpfen. Seine Geſpraͤche lenkten natuͤrlich jedesmal auch auf dieſen Gegenſtand ein, uͤber den ſeine Empfindungen und An¬ ſichten auszuſprechen er am liebſten ſelbſt eine Redner¬ buͤhne beſtiegen haͤtte. Jeder meiner Beſuche fand ihn fortgeſchritten, in dem Geſchichtsgange, und ich konnte die Eindruͤcke jeder Epoche genau wahrnehmen. Sein Haß gegen die Revolution war graͤnzenlos, beſonders in den erſten Zeiten, wo noch ſo oft durch wenige Maßregeln und einige Entſchloſſenheit alles haͤtte ge¬ wendet werden koͤnnen. Die Franzoſen von 1789 wa¬ ren ihm ſchon die jetzigen, die Republikaner ſchon die von Napoleon unterjochten und den Deutſchen ſchmach¬ voll aufliegenden Kaiſerlichen Kriegsknechte; die Vor¬ gaͤnge, in denen das Volk ſiegte, erfuͤllten ihn mit Grimm, er haͤtte dem Hof, den Miniſtern, den Gene¬ ralen noch jetzt ſeine Kraft und Entſchloſſenheit leihen moͤgen. Wenn Mirabeau und Lafayette einige Gnade181 bei ihm fanden, ſo war es, weil ſie ſolche Kraft, die ſie zuerſt gegen den Hof wandten, zuletzt auch der Volksmeinung entgegenſetzten. Sonſt verwarf er alle Theilnehmer der Revolution in ein - und dieſelbe Ver¬ damniß. Ich ſtimmte ihm hierin nicht bei, und faßte uͤberhaupt die Ereigniſſe mehr in ihrer Beſonderheit auf, ſuchte ſie aus ihren eigenthuͤmlichen Umſtaͤnden und Antrieben zu erklaͤren, und wollte eine unabwendbare Entwickelungsfolge in ihnen ſehen. Stein fand dies kleinliche Geſchichts-Sachwalterei, wollte von genauen Erwaͤgungen wenig hoͤren, und hielt ſich als Mann der That und des Kampfes an den kurzen Entſcheid: alles dort druͤben ſei der Feind, und der muͤſſe in Summa geſchlagen und vertilgt werden.

Jedesmal hatten wir hieruͤber Streitigkeiten. Ich gab zu, daß im Schweben der Schlacht kein Unterſchied zu machen ſei, aber nach dem Kampfe folge die Ge¬ ſchichte wie ein Lazareth, wo man auch den Feind ſcho¬ nend behandle und wohl Ruͤckſicht nehme, ob er aus Wahl und Abſicht oder Zufall und Zwang es gewor¬ den ſei. Ich war in der franzoͤſiſchen Revolutionsge¬ ſchichte, beſonders in den Anfaͤngen, nicht unbewandert, und konnte manche Thatſache, manchen Charakterzug anfuͤhren, welche Stein nicht ganz verwerfen durfte; bisweilen ließ er ſich den Widerſpruch gefallen, wie er denn uͤberhaupt mit jeder Entſchiedenheit artiger um¬ ging, als mit feigem Nachgeben, welches er gewoͤhnlich182 mißhandelte. Allein ich ſtand in jedem Betracht hier zu ſehr im Nachtheil, um dieſe Eroͤrterungen zu lieben, welche doch jedesmal den ganzen Umgang auf's Spiel ſetzten. Verſchweigen wollt 'ich meine Meinung nicht, aber ſie ganz herauszuſagen war oft kaum thunlich. Ich erinnre mich, Einmal gereizt und gedraͤngt zu Stein geſagt zu haben, er ſei ein Reichsfreiherr, ein Adlicher und Vornehmer, und habe als ſolcher im gegebnen Fall ein beſtochenes Urtheil. Ich erſchrack, als ich dieſe Kuͤhnheit ausgeſprochen. Stein aber ſchwieg einen Au¬ genblick, wurde ganz gelaſſen, und ſagte mit mildem Ernſt und großer Wuͤrde: ich machte ihm da einen Vorwurf, der einigen Schein habe, jedoch um mir zu zeigen, daß er ihn im Allgemeinen doch nicht ſo ganz verdiene, wolle er mir beiſpielsweiſe nur ſagen, daß, wenn er auch zu dem aͤlteſten Adel gehoͤre, und in adlichen Gewoͤhnungen und Anſichten herangewachſen ſei, doch die eigentlichen vertrauten Freunde, die er in ſeinem Leben gehabt, freilich aber ſpaͤter wieder habe aufgeben muͤſſen, beide buͤrgerlich geweſen; Nicht wahr? fuͤgte er hinzu, das haben Sie wohl nicht gedacht? Meine Beſchaͤmung konnte mich ſo ſehr nicht beugen, daß nicht der Anblick des trefflichen und in ſolchen Momenten wahrhaft liebenswuͤrdigen Mannes mich noch mehr erhoben haͤtte.

Eines Tages aber fand ich ihn wieder uͤber dem Moniteur und ganz ungewoͤhnlich aufgeregt. Er ſprach183 mit Lebhaftigkeit uͤber die Revolution, aber ſchimpfte nicht. Er war zu dem Nationalkonvent gelangt, und hier, wo ſein Haß den Gipfel erreicht haben mußte, wo die Verurtheilung und Hinrichtung Ludwigs des Sechzehnten, die gehaͤuften Graͤuel und Schreckniſſe aller Art ihn empoͤren mußten, ſah er ſich zu ſtaunender Bewunderung hingeriſſen durch die ungeheure Kraft und beiſpielloſe Macht, mit welcher der Wohlfahrtsaus¬ ſchuß das innere Frankreich beherrſchte, und nach außen allen Feinden ſiegreich die Spitze bot. Dieſe gewalt¬ ſamen Maßregeln, dieſe furchtbare Strenge und faſt uͤbermenſchliche Thaͤtigkeit, imponirten ihm, dieſe waren ſeines Weſens und Geſchmacks, ſolche haͤtte er ſelber jetzt zur Rettung Deutſchlands gegen die Franzoſen anwenden moͤgen. Wie kraͤftig dieſe Leute geweſen, was ſie alles geleiſtet und durchgeſetzt, hoͤrte er nicht auf zu preiſen, und hielt eine begeiſterte Lobrede auf jenen Ausſchuß, den er mir vorwarf nicht gehoͤrig zu erkennen. Denn freilich konnt 'ich auch diesmal ihm nicht beiſtimmen: manche Vorgaͤnge der Revolution waren mir in guͤnſtigem Licht erſchienen, ich hatte die erſte Nationalverſammlung bewundert, die talentvollen Girondiſten beklagt, aber von fruͤhſter Zeit waren mir die Jakobiner und ihre Graͤuel zum Abſcheu, und die Groͤße eines Danton und Robespierre nur ſchauderhaft. Schon bei dem naͤchſten Beſuche hatte auch Stein von ſeiner Bewunderung nur noch Abſcheu, und im weitern184 Verfolge der Revolutionsgeſchichte fand ich ihn nur noch Einmal beſonders aufgeweckt, als er zu den Unfaͤllen des Direktoriums gekommen war, wo es ihm wohl¬ that, ſeinem Haſſe auch einmal volle Verachtung bei¬ miſchen zu koͤnnen. Man wird mir zugeben, daß ich durch dieſe Geſpraͤchsbegleitung des Stein'ſchen Stu¬ diums einen Kurſus uͤber die neuere Zeitgeſchichte ge¬ macht, wie er nicht leicht wieder vorkommt!

Mehr, als mit meinen muͤndlichen Aeußerungen war Stein mit meinen ſchriftlichen Aufſaͤtzen zufrieden, in denen ich einen Theil meiner Reiſewahrnehmungen niedergelegt hatte. Er trieb mich unaufhoͤrlich zum Schreiben an, zum Schreiben im deutſchen Sinn, zum Schreiben gegen die Franzoſen. Es koͤnne nicht genug in dieſer Art geleiſtet werden, und der Augenblick, meinte er, wo dergleichen gedruckt worden koͤnne, werde ſchon kommen. Er freute ſich, daß Graf Schlabren¬ dorf, von dem ich viel hatte erzaͤhlen muͤſſen, durch ſein Buch uͤber Napoleon dieſem den groͤßten Schaden gethan, und die Augen der Welt enttaͤuſcht habe, er freute ſich der Blaͤtter Arndt's, die zu ihm gelangt waren. Jede feindliche Aeußerung gegen das fran¬ zoͤſiſche Kaiſerthum that ihm durchaus Genuͤge. Ueber¬ haupt blieb das Vernehmen, ſo lange ſein Aufenthalt in Prag dauerte, ziemlich ungeſtoͤrt. Spaͤterhin wurde der Abſtand in Meinungen nicht nur, ſondern auch in Rang und Stellung allzu trennend. Seine Heftigkeit185 hab 'ich als auf mich perſoͤnlich gerichtete nie erfahren, wohl aber oft peinlich beſtanden, wenn er ſich wider Andre tobend ausließ.

Stein's Raſchheit und Ungeſtuͤm hing ganz mit ſeiner koͤrperlichen Organiſation zuſammen. Er fragte mich einmal nach der Zahl meiner Pulsſchlaͤge, und hielt mir dann lachend die Hand hin, ich ſolle die ſeinigen einmal zaͤhlen. Es waren uͤber hundert in der Minute. Dies, verſicherte er, ſei von jeher ſein ge¬ woͤhnlicher Puls, bei dem er ſich vollkommen wohl¬ befinde. Er ſchien ſelber dieſe Eigenheit als einen Freibrief der Natur anzuſehen, der ihm ſchon erlaube, etwas lebhaftere Aufwallungen zu haben, als andere Menſchen. Bei Gelegenheit Stein's, auf den ich in der Folge noch oft zuruͤckkommen muß, hab 'ich auch eines Staatsmannes zu erwaͤhnen, den ich in Prag einigemal mit ihm zuſammen ſah. Dieſer war der ehemals mainziſche Domherr Graf Friedrich von Sta¬ dion, Bruder des oͤſterreichiſchen Staatsminiſters, zu¬ letzt oͤſterreichiſcher Geſandter in Muͤnchen. In vielem Betracht war er das Gegentheil von Stein, ruhig, milde, tiefen und zarten Sinnes, dabei welt - und geſchaͤftskundig im groͤßten Stil; an Rechtſchaffenheit aber und edler Geſinnung ſtand er wohl mit Stein zu vergleichen, ſo wie an Entſchloſſenheit und Kraft, wo es galt beſonnen und nachhaltig auf einen beſtimmten Zweck hinzuwirken. Die Wendung der oͤffentlichen An¬186 gelegenheiten hatte ihn von den Geſchaͤften entfernt, und er befand ſich, wie Stein, zu ſtiller Betrachtung und Erwartung verurtheilt. Sie achteten und liebten einander beide, und wenn man ſie zuſammen ſah, ſo verſchieden an Geſtalt und Art, aber beide ſo edel und tuͤchtig, ſo einfach und durchbildet, dann konnte man die wuͤrdigſte Vorſtellung von deutſchem hohen Adel faſſen, dem dieſe beiden Maͤnner ſo ausgezeichnete Ver¬ treter waren.

Nur allzuſchnell erlitt dieſer belehrende und unter¬ haltende Umgang eine Unterbrechung. Schon fruͤher eingeleitete Geſchaͤfte veranlaßten, daß ich zu deren Betreibung nach Wien geſchickt wurde. Ich hatte den Erzherzog Karl, die Generale Grafen von Radetzky, Fuͤrſten Aloys von Liechtenſtein, Grafen von Neipperg, und viele andre Perſonen hoher Stellung und Wirk¬ ſamkeit, anzugehen, und es geſchah meiſt mit gluͤckli¬ chem Erfolg. Dem Grafen von Metteruich fand ich mich auf's neue verpflichtet durch das ausgezeichnete Wohlwollen, das mir ſeit Paris bei ihm unveraͤndert fortbeſtand. Ich war begluͤckt, meine Freunde Williſen und Meyern wiederzuſehen, beſuchte eifrig das Hum¬ boldt'ſche Haus, verſaͤumte das Arnſtein'ſche nicht, hatte oͤftere Geſpraͤche mit Gentz, mit Friedrich Schlegel, und fand in der Wiener Geſellſchaftsfluth, welche der187 Jahreszeit gemaͤß eben am hoͤchſten ſtand, alte und neue Bekannte in Menge.

In Betreff der allgemeinen Stimmung, welche richtig aufzufaſſen mir beſonders angelegen war, erſchien mir merkwuͤrdig, wie hier das Leben zwei verſchiedene Richtungen, die keiner Vereinigung faͤhig ſchienen, ganz friedlich zuſammenflocht. Der aͤußerlichen Geltung nach war alles in Freundſchaft und Buͤndniß mit Frank¬ reich, der oͤffentliche Ausdruck hievon war uͤberall ohne Widerſtreit angenommen; in den Geſinnungen aber trat durchaus das Gegentheil hervor und alle nicht unmit¬ telbar jenen Ausdruck angehoͤrigen Regungen ſtrebten offenbar in entgegengeſetzter Richtung. Daß der Zwang jenes aͤußerlichen Verhaͤltniſſes nicht dauern ſolle, daß er abgeworfen werden muͤſſe, daruͤber herrſchte all¬ ſeitiges Einverſtaͤndniß und zweifelloſe Zuverſicht. Nur uͤber den Zeitpunkt und Anlaß konnten die Meinungen verſchieden ſein, daraus einige Partheiung entſtehen. Die Kriegsmaͤnner und die geſchaͤftslos Wartenden, wie Stein, Stadion und viele Andre, waren ungeſtuͤm; die aber im Drange des Tages Ringenden fuͤhlten die Nothwendigkeit klugen Zoͤgerns. Der Miniſter der aus¬ waͤrtigen Angelegenheiten hatte hier die ſchwierigſte Auf¬ gabe, die er bewundernswuͤrdig loͤſte, indem er die fremde Gebuͤhr und eigne Aufrichtigkeit in freier und ruhiger Haltung zu vereinigen wußte. Im Schreiben herrſchte große Vorſicht, und man vermied, in Briefen188 die politiſchen Gegenſtaͤnde zu beruͤhren; die muͤndliche Mittheilung aber war frei und kuͤhn, und hatte in der That wenig zu fuͤrchten, da ein Verraͤther oder Ange¬ ber in dieſem Gedraͤnge gleichartiger Geſinnung ſchnell erſtickt worden waͤre. Die Nachrichten aus Spanien von den Unfaͤllen der Franzoſen konnten in England nicht freudiger aufgenommen, die Hoffnungen fuͤr Oeſter¬ reich und Deutſchland nirgends eifriger genaͤhrt werden, als in dieſen Lebenskreiſen, und die Ausſicht eines Krieges zwiſchen Frankreich und Rußland erhoͤhte die Spannung der Gemuͤther durch die wichtigen Fragen, welche dieſer Fall fuͤr Oeſterreich zur Entſcheidung bringen mußte. Einen ſolchen Krieg an der Seite der Franzoſen mitmachen zu ſollen, duͤnkte Vielen uner¬ traͤglich, waͤhrend Andre behaupteten, im Vertrauen auf ein kuͤnftiges Ziel duͤrfe man keine Verlaͤugnung ſcheuen, und muͤſſe jede Zwiſchenſtufe getroſt betreten. So ru¬ hig, wie jetzt, ließen ſich aber dieſe entgegengeſetzten Meinungen damals nicht anſehen und verfolgen; in ihnen lag allerdings die Moͤglichkeit, welche auch wirk¬ lich geworden, daß Maͤnner, welche noch eben als Waf¬ fenbruͤder denſelben Fahnen angehoͤrten, kuͤnftig unter feindlichen mit dem Degen einander gegenuͤber ſtuͤnden, und ſo war es natuͤrlich, daß in dieſem Zwieſpalt viel¬ fach Anklage und Mißtrauen wechſelſeitig ausgeſprochen wurde. Der Gedanke, in ruſſiſche Dienſte zu treten, keimte ſchon in manchem Gemuͤth, und beſonders die189 Deutſchen aus dem ſogenannten Reich, welche nicht durch Geburt dem oͤſterreichiſchen Kriegsdienſte verbun¬ den waren, glaubten ſich nicht verpflichtet, dieſem in allen ſeinen Wendungen zu folgen.

In dieſer Zeit kam die Nachricht von der Geburt des Koͤnigs von Rom nach Wien, und das, wie nicht zu laͤugnen war, unabſehbar folgenreiche Ereigniß brachte die mannigfachſten Eindruͤcke hervor. Die Gegenſaͤtze, welchen die damalige Epoche verfallen war, traten in das hellſte Licht. Die in den perſoͤnlichen Verhaͤltniſſen gegruͤndete aͤchte Theilnahme durfte niemand anzugrei¬ fen wagen; die amtlichen Freudenbezeigungen und Feſt¬ lichkeiten wurden dagegen um ſo feindlicher behandelt. Ich ſelbſt, durch des Grafen von Metternich ausdruͤck¬ liche Fuͤrſorge, wohnte dem großen Feſte bei, durch welches der franzoͤſiſche Botſchafter Otto die Geburt des franzoͤſiſchen Thronerben feierte, und wo der kai¬ ſerliche Hof und hohe Adel Wiens in groͤßtem Glanz erſchien; allein von achthundert Eingeladenen waren doch kaum ſechshundert erſchienen, und nachdem ſich der Kaiſer entfernt hatte, verſchwand auch ein merklicher Theil von dieſen. Fuͤr mich aber hatte dies Feſt noch einen beſondern Gegenſatz in einem andern, von dem ich wußte und abſichtlich erzaͤhlte. Waͤhrend ich, mir ſelber ſonderbar genug, am 20. Mai bei dem franzoͤſi¬ ſchen Botſchafter das Feſt des Koͤnigs von Rom mit¬ machte, war in Prag fuͤr den 21. zur Feier des Jah¬190 restags der Schlacht von Aſpern, ein Feſt bereitet, deſſengleichen man nicht geſehen hatte. Mein Oberſt, geſinnungsvoll und freimuͤthig, hatte es gerade in die¬ ſer Zeit gelegen und zweckmaͤßig erachtet, dem neuſten Zuſtande der Dinge das Andenken dieſes noch ſo fri¬ ſchen Sieges entgegenzuhalten, den man faſt gefliſſent¬ lich vergeſſen zu wollen ſchien. Er gab daher ſeinem Regimente, welches in jener Schlacht mit Auszeichnung gefochten, ein militairiſches Feſt, an welchem, da die ſchoͤnen oͤffentlichen Anlagen an der Moldau, der Bub¬ netſch oder Baumgarten genannt, der Schauplatz wa¬ ren, die ganze Stadt Prag Theil nahm. Frei und ſelbſtſtaͤndig ſchaltend, hatte er das Ungewoͤhnliche nicht geſcheut, und es erregte frohes Staunen und lauten Beifall, daß, die Gemeinen hier in eine Ehrengenoſſen¬ ſchaft gezogen wurden, zu welcher meiſt nur die Offi¬ ziere ſich abzuſchließen pflegen. Einige Soldaten, welche von Aspern her die Ehrenmuͤnze im Knopfloche tru¬ gen, wurden von dem Oberſten und den Stabsoffi¬ zieren in offnen Wagen abgeholt, mußten obenan ſitzen, und bekamen auch an der Tafel die Ehrenplaͤtze. An der Bewirthung fehlte es nicht, an Trinkſpruͤchen, An¬ reden und Geſaͤngen eben ſo wenig; die vortreffliche Muſik der boͤhmiſchen Regimenter iſt bekannt, und ſo bedarf es keiner Verſicherung, daß der Eindruck des Feſtes weit uͤber deſſen Anlage hinausging, und das eine Regiment nicht mehr ſich ſelbſt, ſondern das ganze191 Heer und Volk zu vertreten ſchien. Die friſche Kraft und Munterkeit dieſer Ausfuͤhrung gefiel allgemein, und ſelbſt hoͤhern Ortes wurden die kuͤhnen Eigenheiten, welche doch gewaltig von dem Geiſte der Zeit zeugten, mit Laͤcheln belobt.

Bei meiner Ruͤckkehr nach Prag fand ich noch al¬ les erfuͤllt von dem erlebten Schauſpiel, und manche meiner juͤngern Kammeraden ſo aufgeregt, daß ſie er¬ warteten, ich muͤſſe von Wien wo nicht ſchon die Kriegs¬ erklaͤrung, doch die Gewißheit mitbringen, daß ein Ausbruch nahe ſei, und man hoffen duͤrfe, naͤchſtens wieder gegen die Franzoſen ins Feld zu ruͤcken. Ich konnte ihnen freilich von allem dieſem nichts, ſondern nur berichten, wie ich ein Feſt zu Ehren des Koͤnigs von Rom mitangeſehen, worauf denn die Kriegserwar¬ tungen ſich fuͤr den naͤchſten Sommer noch in die friedlichen Ausſichten auf die herkoͤmmlichen Waffen¬ uͤbungen verwandeln mußten!

Ich fuͤr mein Theil aber war auch dieſer gluͤckli¬ cherweiſe uͤberhoben, und konnte ſeit langer Zeit wieder zum erſtenmal einem erſehnten Zuſammenſein mit Rahel entgegeneilen. Schon in Dresden dacht 'ich ſie zn finden, allein, da ſie dort binnen mehreren Tagen nicht eintraf, ſo eilte ich nach Berlin, um ſie abzuholen. Ich fand ſie mit ihren Gefaͤhrtinnen ſchon ganz reiſe¬ fertig, und geleitete ſie darauf nach Toͤplitz, wo wir192 den beſten Theil des Sommers in ſchoͤner Muße zu verbringen dachten.

Die Schilderung des dortigen Aufenthalts wird ſich kuͤnftig einſchalten laſſen. Hier ſei nur in Kuͤrze ge¬ ſagt, daß der Fuͤrſt von Ligne und die Fuͤrſtlich Clary'ſche Familie, der Herzog von Sachſen-Weimar, die Graͤfin von Waldburg-Truchſeß, geweſene Oberhofmeiſterin am weſtphaͤliſchen Hofe zu Kaſſel, der Fuͤrſt von Windiſch¬ graͤtz und der Graf von Trogoff, Graf und Graͤfin von der Golz aus Berlin, Frau von Crayen, die Graͤfin von Schlabrendorf, Frau von Grotthuß und viele Andre, deren Namen ſich dieſen anſchließen, eine ziemlich bunte Geſellſchaft bildeten, in welcher es lebhaft genug her¬ ging. Clemens Brentano beſuchte mich; Fichte und Friedrich Auguſt Wolf kamen; die Graͤfin von der Recke brachte Tiedge'n mit; Beethoven konnte trotz ſeiner Wildheit uns nicht entgehen; nur Goethe blieb leider aus, auf den wir gehofft, und Gentz und Marwitz, die zu kommen verſprochen hatten. Die politiſchen Be¬ zuͤge wurden in der ſcheinbaren Zerſtreuung nicht ver¬ geſſen, ſondern im Gegentheil vielfach angeknuͤpft und fortgeleitet. In mir befeſtigte ſich der Entſchluß, den Kriegsdienſt, der ſchon uͤberall die Gefahr brachte, mit den Franzoſen als Verbuͤndeter ziehen zu muͤſſen, bei erſter Gelegenheit zu verlaſſen, und mir wo moͤglich eine andre Laufbahn in Preußen zu eroͤffnen.

193

Gegen die Mitte des Septembers reiſte Rahel nach Dresden, wo Marwitz ſie erwartete, und dann nach Berlin zuruͤck. Der Abſchied brach mir das Herz, nur die gewiſſe Zuverſicht, alles zu einem dauernden Wie¬ derſehen zu lenken, gab mir den Muth, dieſe Tren¬ nung zu ertragen.

In Prag erwarteten mich vielfache Arbeiten. Der Umgang mit Stein erneuerte ſich, und befoͤrderte wie fruͤher meine Studien und Vorſaͤtze. Allein ich hatte mancherlei Hinderniſſe zu bekaͤmpfen, und blieb von vielen Zufaͤlligkeiten abhaͤngig. Die ſeltſamſten Neben¬ dinge draͤngten ſich in meine ernſten Beſchaͤftigungen. Ich hatte Beethoven einen Operntext verſprochen, einen andern, den er ſchon bearbeitete, ſollte ich verbeſſern; aͤußrer Ruͤckſichten wegen uͤberſetzte ich den Britannicus von Racine in deutſche Jamben, und obwohl ich in acht Tagen damit fertig war, und mehr Gewinn davon zog, als von irgend einer andern litterariſchen Arbeit, ſo reute mich doch die ſchoͤne Zeit, die ich lieber an¬ ders haͤtte verwenden moͤgen. Zu Hormayr's Archiv, zu Fouqué's und Neumann's Muſen gab ich litterari¬ ſche Beitraͤge, die mich ebenfalls zwar nicht viele, doch immer einige Zeit koſteten. Eine kleine Sammlung von Stellen aus Rahel's Briefen, welche, da ſie groͤ߬ tentheils Goethe'n betreffen, Cotta nicht ohne deſſen Erlaubniß drucken wollte, gab Anlaß in Weimar an¬ zufragen, woraus mir die erſte unmittelbare BeruͤhrungIII. 13194mit Goethe entſprang, deſſen Wahrheit und Dichtung eben erſchienen war, und mich neu mit ihm erfuͤllt hatte. Den Zerſtreuungen der Geſelligkeit, des Thea¬ terbeſuchs, der Spazirfahrten konnte ich nicht entgehen, und mußte mich damit troͤſten, auch dieſe Vergnuͤgun¬ gen manchen ernſten Gewinn tragen zu ſehen.

Beethoven, der von Toͤplitz in Begleitung ſeines und meines Freundes Oliva nach Wien zuruͤckreiſte, hielt ſich nicht lange in Prag auf; dagegen kam Cle¬ mens Brentano in der Abſicht, den ganzen Winter hier zu verleben, und goͤnnte mir taͤglich ſeine zwar uͤberaus erfreuende, aber, wie ich zu meinem Schaden erfahren ſollte, auch gefaͤhrliche Geſellſchaft; gefaͤhrlich, inſofern ſie das tiefſte Vertrauen hervorlockte, ohne dieſem doch Sicherheit zu gewaͤhren. Ich machte Be¬ kanntſchaft mit der Graͤfin von Pachta, der Jugend¬ freundin Rahel's, und mit dem Profeſſor Meinert. Auch den beruͤhmten Altmeiſter der ſlaviſchen Sprach¬ forſchung, Abbé Dobrowsky, lernte ich naͤher kennen. Dagegen hatte es wenig Anreiz, die boͤhmiſchen Großen in ihren Haͤuſern aufzuſuchen, weit belohnender war es ſie in dem gaſtfreien Hauſe des Schauſpieldirectors Liebich zu treffen, wo außer der Bluͤthe der eigentli¬ chen Theaterwelt, in welcher beſonders die Damen, Auguſte Brede und Julie Loͤwe, beide durch Schoͤnheit und Talent und die erſtere auch durch eine ſeltene Geiſtesbildung hervorragend, zu bemerken waren, auch195 die ausgezeichnetſten Perſonen aus der hoͤhern Geſell¬ ſchaft ſich einfanden, und wo uͤberhaupt ein eben ſo anſtaͤndiger als ungezwungner Ton herrſchte.

Ich uͤbergehe hier eine Menge von Erſcheinungen, Wirren und Entwicklungen, welche zum Theil den reichſten Stoff romantiſcher Lebensbilder darboͤten, und eile zunaͤchſt nur die Zuͤge fluͤchtig zu erfaſſen, welche mit der Wendung der politiſchen Angelegenheiten in Zuſammenhang ſtehen.

Der Winter war mir trotz aller Zerſtreuungen doch groͤßtentheils in Stille und Fleiß vergangen. Mit dem Fruͤhjahr wurden die Ausſichten zum Kriege zwiſchen Rußland und Frankreich immer deutlicher, und ſetzten alles in unruhige Bewegung. Die Uebungen friſcher Thaͤtigkeit wurden vorgenommen; die Reitbahn, der Fechtboden, die von dem Grafen zu Bentheim mit thaͤtigſter Beihuͤlfe Pfuel's errichtete Schwimmſchule, wurden fleißig beſucht. Die groͤßten Zweifel und Ueber¬ legungen aber kaͤmpften in den Gemuͤthern, welchen Antheil bei den bevorſtehenden Ereigniſſen der Einzelne in den jetzigen Verhaͤltniſſen hoffen koͤnne, welche neue er waͤhlen duͤrfe? In Prag hatten ſich die ſtaͤrkſten Maͤchte und Antriebe zum Haſſe gegen Napoleon zu¬ ſammengehaͤuft. Der Kurfuͤrſt von Heſſen-Kaſſel lebte dort als Vertriebener, mit vielem Anhang und ſeinem groͤßtentheils geretteten Schatze, voll Trotz und Ver¬ trauen auf einen Umſchwung der Dinge, und ſtets13 *196bereit, zu einem ſolchen aus allen Kraͤften mitzuwir¬ ken. Von Stein iſt ſchon geſprochen. Karl von No¬ ſtitz, Pfuel, und noch andre Norddeutſche, die ſich hier zuſammenfanden, waren nur zum Kriege gegen die Franzoſen in oͤſterreichiſchen Dienſt getreten, und kei¬ neswegs geneigt, nun an der Seite der bisherigen Feinde zu fechten. Franzoͤſiſche Emigrirte der beharr¬ lichſten Art, und meiſt in oͤſterreichiſchem Kriegsdienſt, unter ihnen der Fuͤrſt von Rohan, der Major von Trogoff, der Marquis von Favras, Sohn des im An¬ fange der Revolution hingerichteten Vertrauten Mon¬ ſieurs's nachherigen Koͤnigs Ludwigs des Achtzehnten, hatten hier ihren Aufenthalt; deßgleichen ein Korſe, der Hauptmann Pozzo di Borgo, Neffe des beruͤhmten Diplomaten und wie dieſer voll bittern Haſſes gegen den allgewalt'gen Landsmann. Die Zahl ſolcher Un¬ zufriednen mehrte ſich mit jedem Tage. Aus Sachſen traf der Major von Boſe ein, dann der Oberſt Ruͤhle von Lilienſtern. Von Berlin nahm der bisherige Po¬ lizeipraͤſident Juſtus Gruner hieher ſeine Zuflucht; aus Hamburg kam als Fluͤchtling unter fremdem Namen der Buchhaͤndler und Schriftſteller Bran, welchen der Marſchall Davouſt wegen Ueberſetzung und Bekannt¬ machung der ſpaniſchen Aktenſtuͤcke des Cevallos wollte erſchießen laſſen; er dankte ſeine Rettung nur dem Um¬ ſtande, daß die Leipziger Polizei, kopfſchuͤttelnd uͤber den unglaublichen Namen Bran, den das franzoͤſiſche197 Verfolgungsſchreiben angab, ſich feſt einbildete, der Mann muͤſſe Brand heißen, und daher einen Mann dieſes Namens feſtnehmen ließ, wodurch der nur allzu richtige Bran gewarnt wurde, und eh 'der Irrthum aufgeklaͤrt war, nach Boͤhmen entwich.

Daß Preußen in ſeiner Lage nur mit Frankreich ſich verbuͤnden koͤnne, war laͤngſt ausgemacht. Bald wußte man auch mit Sicherheit, daß eine oͤſterreichi¬ ſche Huͤlfsmacht mit den Franzoſen vereint ſein wuͤrde. Eine allgemeine Beſorgniß zeigte ſich, welche Regi¬ menter dies Loos treffen wuͤrde, dem entgehen zu koͤnnen als das groͤßte Gluͤck erſchien. Selbſt als man vernahm, der tapfre und hochverehrte Fuͤrſt Karl von Schwarzenberg bringe den Umſtaͤnden das Opfer, und werde den Oberbefehl uͤber dieſe Truppen annehmen, ſah man weniger auf dieſes Beiſpiel, als auf das ent¬ gegengeſetzte des Generals von Wintzingerode, des Ma¬ jors von Tettenborn, des Generals Grafen von Wall¬ moden, welche den Abſchied ſchon genommen hatten oder nehmen wollten, um in ruſſiſche Dienſte zu treten.

Mittlerweile hatte der franzoͤſiſche Kaiſer von allen Seiten ſeine und ſeiner Verbuͤndeten Schaaren zuſam¬ mengezogen, und der ungeheure Heereszug waͤlzte ſich unaufhaltſam durch Preußen und Polen gegen Ru߬ land hin. Napoleon ſelbſt kam mit ſeiner Gemahlin nach Dresden, wohin der Kaiſer und die Kaiſerin von198 Oeſterreich, welche ſeit kurzem in Prag eingetroffen waren, ſich nun ebenfalls verfuͤgten. Waͤhrend dieſer Zuſammenkunft, auf welche die Augen der Welt ge¬ richtet waren, hatte Prag eine nicht geringe Bedeu¬ tung, als ein ſo naher Sammelort entgegengeſetzter Strebungen, als Beobachtungspoſten engliſcher und ruſſiſcher Agenten, und, bei ſolcher Naͤhe, gleich wohl nicht im Bereich der Macht und Willkuͤr Napoleons. Dies letztere werde in einem Vorgange, der unter unſere Augen geſchah, ſo auffallend als troͤſtlich offenbar.

Durch die wachſenden Anſtalten zum ruſſiſchen Kriege, die Groͤße und Wichtigkeit des Kampfes, der ſich ankuͤndigte, war das Gemuͤth Stein's in heftige Bewegung geſetzt, die Ankunft und Gegenwart Gru¬ ner's, der oͤfters heimlich zu ihm kam, hatten ihn noch mehr aufgeregt, und wo und wann man ihn nun ſe¬ hen mochte, immer fand man ſeine Stimmung auf gleicher Hoͤhe gereizt und leidenſchaftlich. An ein ru¬ higes Geſpraͤch war nicht mehr zu denken. Von Arndt, der ſich nach Rußland gefluͤchtet hatte, war der zweite Theil ſeines Geiſtes der Zeit erſchienen, und Stein, wahrſcheinlich der Einzige in Prag, war im Beſitz der Druckbogen. Aus dieſen las er mit geſteigertem Aus¬ druck die heftigſten Steilen laut vor, doch ſelten brachte er eine ganze Seite zu Ende, ſo ſtark ergriffen ihn Zorn und Freude, und ſo heftig fuͤhlte er den Drang, ſelber dazwiſchenzureden. Seit Burke, rief er aus,199 iſt nichts von ſo aͤchter politiſcher Beredſamkeit erſchie¬ nen, von ſo eindringlicher Wahrheit! Dieſe Schreibart empfahl er mir zur Nachahmung: Auf dieſem Weg, ſchrie er mich an, moͤgen Sie ſich verſuchen, thatſaͤch¬ liche Wahrheit, nicht metaphyſiſche Phraſen! Verſtehen Sie mich, Herr Methaphyſikus? Durch was ich die¬ ſen Titel mir verdient haben mochte, weiß ich nicht, aber Stein bezeichnete mich noch in der Folge mehr¬ mals ſo, und ich behielt davon lange Zeit eine Art Kriegsnamen, der freilich nicht eben kriegeriſch lautete. Doch meinte er es keineswegs uͤbel mit mir. Er hielt mich unverbruͤchlich der guten Sache zugethan, und ſprach Erwartungen aus, zu deren Erfuͤllung er mich nur ſtaͤrker anſpornen wollte. Schließlich meinte er, in einer Zeit, wo ſo viele Hunderttauſende ſich einander die Haͤlſe zu brechen eben im Begriff waͤren, ſei es beſſer gar nicht zu ſchreiben, ſondern ſelber mit loszu¬ ſchlagen.

Waͤhrend der Zuſammenkunft der beiden Kaiſer in Dresden war Stein doch beſorgt, die Franzoſen moͤch¬ ten ſeine Auslieferung fordern, oder die oͤſterreichiſche Behoͤrde, vielleicht um jenes zu vermeiden, ihn den Augen des Feindes in groͤßere Ferne entruͤcken wollen. Dieſe Beſorgniß mußte auf's hoͤchſte ſteigen, als er unerwartet von Seiten des ruſſiſchen Kaiſers die Ein¬ ladung empfing, ohne Saͤumniß nach Rußland zu kom¬ men, und dort eine bedeutende, zunaͤchſt auch fuͤr die200 deutſchen Verhaͤltniſſe wichtige Wirkſamkeit zu uͤberneh¬ men. Stein war ohne viel Beſinnen ſogleich entſchloſ¬ ſen, ſeine Familie ſollte in Prag bleiben, er ſelbſt machte ſich reiſefertig; aber die Sache hatte nicht ganz geheim bleiben koͤnnen, und einige Tage gingen jedenfalls noch in unerlaͤßlichen Anordnungen hin. Aengſtlich blickten wir waͤhrend dieſer Tage nach Dresden hin, jeder Au¬ genblick brachte Gefahr, das Vorhaben Stein's konnte angezeigt werden, der Befehl ihn zu verhaften ſeiner Abreiſe zuvorkommen. Einmal in der Gewalt des Feindes, war ſein Leben ſchwerlich zu retten. Stein ſelbſt beſtand dieſe Kriſis mit voller Kenntniß der Ge¬ fahr, doch in unerſchuͤtterter Seelenſtaͤrke. Dabei ver¬ hehlte er ſich nicht, welch zweifelhaften Schickſalen er entgegenging. Wurden die Ruſſen uͤberwunden, ſo war er fuͤr immer auch der letzten Zuflucht, die ihm in Deutſchland noch geblieben war, beraubt, fuͤr immer von den heimathlichen Verhaͤltniſſen, Beſitzungen, Huͤlfs¬ mitteln, ja ſogar von ſeiner Familie getrennt, und ſelbſt Rußland vielleicht gewaͤhrte keine Freiſtaͤtte mehr fuͤr ihn. Doch nichts aͤnderte ſeinen Entſchluß. Wun¬ dern Sie ſich nicht, ſagte er zu einem Bekannten, der im Vertrauen war, daß ich auf gut Gluͤck, wie ein junger Menſch, eine neue ungewiſſe Bahn antrete! Wer ſein Vaterland verloren hat, der iſt nothwendig ein Abendtheurer. Ich habe keine Wahl; ich muß Frei¬ heit und Vaterland am Ende der Welt ſuchen! Um201 die Mitte des Mai reiſte er ab. Als wir nach einiger Zeit hoͤrten, er ſei durch Maͤhren und Galizien gluͤck¬ lich nach Rußland gelangt, athmeten wir auf, denn noch immer hatten wir gefuͤrchtet, noch unterweges moͤchte ein Ungluͤck ihn anhalten. Seine Abreiſe machte einen ungeheuern Eindruck; daß man in Rußland an ihn gedacht hatte, gab einen hohen Begriff von der dortigen Einſicht und Umfaſſung, man ſah in der ruſ¬ ſiſchen Sache nun auch die deutſche, ſie war in Stein gleichſam anerkannt und einverleibt.

Die oͤſterreichiſchen Behoͤrden hatten die Sache ru¬ hig geſchehen laſſen; als in Dresden das Geſchehene ruchtbar wurde, ließ der franzoͤſiſche Kaiſer mehr Ver¬ wunderung als Verdruß daruͤber aus, und that ver¬ aͤchtlich, als ſei im Grunde nichts daran gelegen. Ein großer und verhaͤngnißvoller Irrthum, der ſchwer zu buͤßen war! Stein's Anweſenheit in St. Petersburg war ein außerordentliches Gewicht auf der ruſſiſchen Seite; ſein Anſehn und Einfluß wirkten auf die Be¬ ſchluͤſſe des Kaiſers, auf die Stimmung der hoͤchſten Kreiſe, und uͤberhaupt auf die Maßregeln und Anſtal¬ ten des Krieges mit unwiderſtehlicher Gewalt. In den ſchlimmſten Augenblicken, als die Franzoſen in Moskau eingezogen waren, wankte ſein Muth und ſeine Staͤrke nicht. Sein beredter Haß fachte zum Widerſtande, zur Ausdauer an. Unter den Maͤchten, durch welche Na¬202 poleon geſtuͤrzt worden, wird Stein immer in erſter Reihe zu nennen ſein.

Inzwiſchen erreichte die Zuſammenkunft in Dresden ihr Ende, Napoleon eilte ſeinem ſchon an die Grenzen Rußlands vorgeruͤcktem Heere nach, und der Kaiſer und die Kaiſerin von Oeſterreich nebſt der Kaiſerin der Fran¬ zoſen kamen nach Prag, wo zu Ehren der geliebten Herrſcher und des fremden hohen Gaſtes alles ein feſt¬ liches Anſehen gewann, und der Krieg und alle poli¬ tiſche Sorge und Befangenheit eine Zeit lang vergeſſen ſchien. Der Graf von Metternich ſtrahlte in allen Vor¬ zuͤgen ſeiner Perſoͤnlichkeit, und waͤhrend er mit hellem Blicke die großen Moͤglichkeiten, die ſich fuͤr ganz Eu¬ ropa nunmehr aufſchloͤſſen, erfaßte und erwog, die Ver¬ bindungsfaͤden ſorgſam in der Hand hielt und zurecht legte, ſchien er nur mit heitern und angenehmen Din¬ gen beſchaͤftigt, nur bedacht, die Vorkommenheiten des Tages mit Wuͤrde und Anmuth gelaſſen abzuthun. Ich hatte das Gluͤck, ihn faſt jeden Tag zu ſehen, und nie werd 'ich beſonders die herrlichen Abende bei ihm auf dem Hradſchin im Pallaſte des Fuͤrſten von Lobkowitz vergeſſen, wo eine kleine Geſellſchaft in voͤlliger Unbefan¬ genheit und Gleichheit, die ſelbſt durch die Gegenwart des Großherzogs von Wuͤrzburg kaum geſtoͤrt wurde, ſich bis in ſpaͤte Nacht der anmuthigſten Unterhaltung erfreute, und geiſtreiches Geſpraͤch mit vortrefflicher Muſik abwechſelte. Der Kapellmeiſter Paͤr, zum Ge¬203 folge der Kaiſerin Marie Louiſe gehoͤrig, ſetzte ſich zum Fortepiano und phantaſirte; mit ihm wetteiferte der Freiherr von Kruft, aus der oͤſterreichiſchen Staats¬ kanzlei, der gleichfalls ein Meiſter war; bisweilen ſpiel¬ ten ſie beide zugleich, und ſuchten durch zwiefaches Im¬ proviſiren ein Ganzes hervorzubringen, eine geniale Uebung, wobei ſie einander die Gedanken an den Au¬ gen abſahen, aus erſten Andeutungen ganze Richtun¬ gen errathen mußten, und durch Begegnen, Meiden, Einlenken, Wiederfinden, Loslaſſen und Zuſammenſtim¬ men, eine geſpannte Theilnahme und oft die außeror¬ dentlichſte Wirkung hervorbrachten.

Die Theilnahme an ſolchen Vergnuͤgungen hemmte jedoch den Fortgang der Entwuͤrfe nicht, zu denen die Zeitumſtaͤnde immer dringender aufriefen. Ich war entſchloſſen, den oͤſterreichiſchen Dienſt zu verlaſſen, von Pfuel und Williſen wußte ich daſſelbe, und wenn meine Lage und Verhaͤltniſſe mir den Weg nach Rußland fuͤr jetzt verſperrten, ſo war auch Norddeutſchland ein wei¬ tes Feld, auf welchem, in moͤglichen Faͤllen, mancherlei zu unternehmen ſein konnte. Hierin beſtaͤrkte mich Gruner, der nach Stein's Abreiſe etwas thaͤtiger her¬ vortrat, aber nun auch ſchon mehr Aufmerkſamkeit weckte, und ſich beobachtet und gefaͤhrdet wußte. Er war in Berlin der Mittelpunkt weitverzweigter Verbin¬ dungen, und als Leiter der hohen Polizei im Beſitz großer Mittel und Kundſchaften geweſen. Die gefaͤhr¬204 lichſten fraͤnzoͤſiſchen Spaͤher waren in ſeine Schlingen gerathen und ſpurlos verſchwunden; ſeine Liſt wie ſeine Verwegenheit brachten den Franzoſen großen Schaden, aber dieſe erkannten ihn laͤngſt fuͤr ihren Feind, und als, in Folge des Anſchluſſes von Preußen an Frank¬ reich, franzoͤſiſche Truppen auf Berlin marſchirten, durfte er deren Eintreffen nicht abwarten, legte ſein Amt nieder und entwich nach Boͤhmen. Er ſtand mit den ruſſiſchen Behoͤrden in thaͤtigem Vernehmen, und hielt in ganz Deutſchland ſeine gleichgeſinnten Verbuͤn¬ deten rege. Sein großer, klug angelegter und bei ſei¬ nen Huͤlfsmitteln gar nicht unausfuͤhrbarer Plan war, im Ruͤcken der franzoͤſiſchen Heere, ſobald dieſe weit genug in Rußland vorgedrungen waͤren, uͤberall ihre Kriegsvorraͤthe in Brand zu ſtecken, jede Nachfuhr zu hemmen, beſonders aber die Pulverwagen auffliegen zu laſſen. Daß er in Prag ungeſtoͤrt bleiben durfte, die gelungene Ueberkunft Stein's, und die guͤnſtige Stim¬ mung, die er uͤbernll antraf, machten ihn aber allzu ſicher, er pruͤfte nicht genug, wem er ſein Vertrauen ſchenken duͤrfe, und beſonders unvorſichtig war ſein Briefwechſel. Das Beiſpiel Stein's haͤtte ihn warnen ſollen, allein er ging in Leichtſinn nur weiter. Er hielt ſeine Briefe noch fuͤr ganz ſicher und ihre Geheimſchrift fuͤr unentdeckt, als ſchon laͤngſt fremde Augen ſie durch¬ liefen, den Inhalt erforſchten, und den ganzen Zuſam¬ menhang einſahen. Vergeblich wurde er gewarnt, er205 glaubte ſeinen Beobachtern uͤberlegen zu ſein, und ih¬ nen, wie er ſich ausdruͤckte, eine Naſe gedreht zu ha¬ ben. Eine Unterredung mit dem Grafen von Metter¬ nich, mehrere vertrauliche Beſprechungen mit dem Ge¬ neral Freiherrn von Koller, anſtatt ihn zur Beſonnen¬ heit zuruͤckzurufen, regten nur ſeinen Uebermuth an. Die oͤſterreichiſche Regierung ſah den Zeitpunkt kom¬ men, wo ſie ihn nicht mehr wuͤrde ſchuͤtzen koͤnnen; die franzoͤſiſchen Behoͤrden in Berlin, in Hamburg, hatten gegen ihn die ſchaͤrfſten Angaben in Haͤnden, jeden Au¬ genblick mußte man erwarten, ſeine Auslieferung be¬ gehrt zu ſehen, und mit ſo triftigen Gruͤnden und ge¬ bieteriſchem Drange, daß man nicht wuͤrde widerſtehen koͤnnen. Um ihn zu retten und groͤßeres Ungluͤck zu verhuͤten, kam man den Franzoſen zuvor, Gruner wurde unerwartet von oͤſterreichiſcher Seite verhaftet und als Staatsgefangener nach Peterwardein abgefuͤhrt; ſeine Papiere und Gelder entgingen auf dieſe Weiſe den Franzoſen ebenfalls. Er ſelber hat in der Folge dies Begegniß als eine Wohlthat anerkennen muͤſſen, behielt aber doch eine bittre Erinnerung dabei, welche der erſte Eindruck in ihm hinterlaſſen hatte.

Uns Andern, die wir gleich ihm des Schluͤſſels noch entbehrten, verurſachte dies Verfahren große Betroffen¬ heit und Sorge. Wir hielten unſre Abſichten mehr verſchwiegen, und ſuchten jeder ſeinen Weg fuͤr ſich allein. Der Graf von Metternich kannte meine Wuͤn¬206 ſche, in Preußen angeſtellt zu werden, und wiewohl er verbindlichſt aͤußerte, mich lieber in Oeſterreich be¬ halten zu wollen, bot er mir doch von freien Stuͤcken ſeine wirkſamſte Empfehlung bei dem preußiſchen Staats¬ kanzler an. Auch empfing ich dieſe von ihm, noch be¬ vor er Prag verließ, wo er auch nach der Abreiſe des Hofes noch einige Zeit verblieben war. Seltſam genug hatte ich auch ſchon von Gruner ein ſolches Empfeh¬ lungsſchreiben an Hardenberg, und ein drittes ſollte mir auf die guͤnſtigſte Weiſe durch Wilhelm von Hum¬ boldt zu Theil werden. Dieſen naͤmlich hatte ein hoͤchſt erfreuliches und erwuͤnſchtes Ereigniß, die Ankunft des Koͤnigs von Preußen in Prag, von Wien hieher geru¬ fen, und daſſelbe ruͤckte mich ploͤtzlich allen preußiſchen Verhaͤltniſſen naͤher, als es Briefe und Empfehlungen vermocht haͤtten. Mein Oberſt erhielt den angenehmen Auftrag, den Koͤnig bei Beſichtigung der Stadt und Umgegend zu begleiten. Williſen, der vor kurzem von Wien angekommen war, und bei mir wohnte, war hiebei mitthaͤtig, und als das Schlachtfeld, wo Schwe¬ rin gefallen war, beritten wurde, zeigte er ſo klare Kenntniß und ſichern Ueberblick, daß ihm die groͤßten Lobeserhebungen zu Theil wurden. Ich vernahm fuͤr mich gnaͤdige Aeußerungen, die meinen Wuͤnſchen die beſte Hoffnung gewaͤhrten.

Nachdem der Koͤnig zum Gebrauch des Bades nach Toͤplitz abgegangen war, gedachten Williſen und ich nun207 auch ernſtlich unſrer Abreiſe nach Berlin. Dabei ſtieg indeß nunmehr manches Bedenken auf, an welches fruͤher nicht gedacht worden war. Die Franzoſen und ihre dienſtbaren Helfer, deren es damals unter den Deutſchen leider viele gab, waren endlich auf die Per¬ ſonen und Betreibungen, welche von Prag ausgingen, aufmerkſam geworden, beſonders beunruhigte ſie der Kurfuͤrſt von Heſſen-Kaſſel, der alles zu unterſtuͤtzen bereit ſchien, was im noͤrdlichen Deutſchland gegen die Franzoſen unternommen werden mochte. Die franzoͤ¬ ſiſche Heeresmacht verlor ſich in immer groͤßere Ferne, im Ruͤcken lagen große Landſtriche faſt entbloͤßt, der Einbruch einer kleinen feindlichen Schaar konnte die groͤßte Verwirrung anrichten. Man hatte die kuͤhnen Zuͤge Schill's, des Herzogs von Braunſchweig-Oels, den Streifzug des Lieutenants von Katt, den Aufruhr¬ verſuch des weſtphaͤliſchen Oberſten von Doͤrnberg, noch in gutem Andenken. Unter dieſen Umſtaͤnden wurden die franzoͤſiſchen Geſandtſchaften, die Polizei - und Kriegs¬ beamten, zu groͤßter Wachſamkeit und Strenge ange¬ wieſen; der Mittelpunkt aber aller polizeilichen Aufſicht fuͤr das ganze noͤrdliche Deutſchland war der Graf d'Aubignosc in Hamburg, mit welchem die Behoͤrden in Dresden und Berlin fleißige Verbindung unterhiel¬ ten. Pfuel hatte ſich zuerſt aufgemacht und Prag ver¬ laſſen. Sein Ziel war Rußland, aber der Weg, den Stein noch hatte nehmen koͤnnen, war jetzt verſchloſſen,208 und ihm blieb nur der groͤßere Umweg uͤber Daͤnemark und Schweden. Ernſt und ſchweigſam, hatte er ſein Vorhaben nicht unnoͤthig mitgetheilt, und ſuchte daſſelbe mit groͤßter Klugheit auszufuͤhren. Aber ſchon war er jenen Behoͤrden verkundſchaftet. Durch kluge Liſt ent¬ kam er in Hamburg den Nachſtellungen des Grafen d'Aubignosc, der ihn aber um ſo ſicherer in Kopenha¬ gen zu fangen meinte, und deßhalb einen Befehl dort¬ hin ergehen ließ. Pſuel traf zwar fruͤher als dieſer dort ein, aber die Weiterreiſe war ohne neue Paßun¬ terſchrift unmoͤglich, und dieſe zu erlangen, bedurfte es der wenigen Stunden, die er als Vorſprung uͤber ſei¬ nen Verfolger gewonnen hatte. Die koͤſtliche Zeit ver¬ ſtrich, und ſchon war er entſchloſſen, das Wageſtuͤck zu unternehmen, ſich in den Sund zu werfen und ſo die ſchwediſche Kuͤſte ſchwimmend zu erreichen, als ſein Freund, der oͤſterreichiſche Geſandte von Buol, den er mitten in der Nacht aufſtoͤrte, noch im letzten Augen¬ blick Mittel fand, ihm die Paßunterſchrift vor Tages¬ anbruch zu verſchaffen, worauf er ſich bei Helſingoͤr einſchiffte, und ſchon mit gutem Winde die Wogen durchſchnitt, als der nacheilende Verhaftbefehl ankam. Dieſer Vorgang, welcher uns in der Hauptſache ſogleich bekannt wurde, gab uns viel zu denken, beſonders weil wir befuͤrchten mußten, daß derſelbe Verrath, der ihn betroffen, auch uns nicht verſchonen werde. Dieſer Verrath, falls eine ſpaͤtere Vermuthung ſich beſtaͤtigt209 faͤnde, waͤre den begleitenden Umſtaͤnden nach einer der ſchaͤndlichſten, die je veruͤbt worden, und ich unterlaſſe da¬ her, einen ſo argen Verdacht naͤher anzudeuten. Jedoch reiſten wir nach der Mitte des Auguſt endlich getroſt ab.

In Toͤplitz, wo wir uns dem Koͤnig von Preußen auf's neue vorſtellten, und deßhalb ein paar Tage ver¬ weilten, widerfuhr mir eines der wunderbarſten und wichtigſten Begegniſſe. Ich empfing eine beſtimmte und ausfuͤhrliche Warnung, meine Reiſe nicht fortzuſetzen, der franzoͤſiſche Geſandte Graf von Saint-Marſan in Berlin ſei angewieſen, Pfuel's, meine und meines Rei¬ ſegefaͤhrten Ankunft ſogleich nach Hamburg an d'Au¬ bignosc zu melden, uns auch in keinem Falle weiter reiſen, ſondern verhaften zu laſſen; wir ſeien ſaͤmmtlich beſchuldigt, Aufſtaͤnde gegen die Franzoſen anſtiften zu wollen, Pfuel ſei zwar gluͤcklich entkommen, deſto ſchaͤr¬ fer aber werde man nun mit uns verfahren. Dies alles hatte der Graf von Saint-Marſan ſelbſt verſichert! Aus welcher Quelle jedoch mir dieſe Mittheilung kam, ziemt mir noch zu verſchweigen, obwohl die menſchenfreundlichſte Abſicht, mit Gefahr eigner Bloßſtellung ausgefuͤhrt, mich zur treueſten Dankbarkeit verpflichtet hat, fuͤr welche der lauteſte Ausdruck eine Befriedigung waͤre! Wir kaͤmpf¬ ten eine Zeit lang, und uͤberlegten Gefahr und Gewinn; da jedoch unſre naͤchſten Zwecke wirklich harmlos waren und nicht uͤber Berlin hinausgingen, keinerlei Beweis gegen uns moͤglich ſein konnte, und ſelbſt unſre Eigenſchaft alsIII. 14210oͤſterreichiſche Offiziere uns ſchuͤtzen mußte wir hatten kluͤglich nur Urlaub genommen, und gedachten den Ab¬ ſchied nach Umſtaͤnden einzureichen, ſo ließen wir uns nicht abſchrecken, ſondern ſetzten unſre Reiſe fort, und gelangten auch ungehindert nach Berlin.

Die preußiſche Hauptſtadt war von franzoͤſiſchen Truppen beſetzt, und wir meldeten uns herkoͤmmlich bei dem Marſchall Augereau und bei dem Komman¬ danten General Durutte, gleicherweiſe bei der preußi¬ ſchen Behoͤrde. Ungeachtet des guten Anſcheins, mit dem wir aufgenommen wurden, bemerkten wir bald, daß man uns beobochtete, welches wir uns indeß nicht beſonders anfechten ließen. Nach einigen Wochen wollte Williſen ſeine Eltern bei Magdeburg beſuchen, hatte aber kaum das weſtphaͤliſche Gebiet betreten, als er verhaftet und auf das Kaſtell nach Kaſſel abgefuͤhrt wurde. Nur dies erfuhr man uͤber ihn, und weiter nichts. Durch dieſen Vorfall wurde natuͤrlich auch meine Lage geſpannter und bedenklicher, ich durfte nicht wagen, den Umkreis der Stadt zu uͤberſchreiten. Von den Kaͤmpfen und Mißgeſchicken, die ich hier zu beſte¬ hen hatte, den Hoffnungen und Ausſichten, die ſich abwechſelnd erhellten und verdunkelten, werd 'ich viel¬ leicht kuͤnftig eine Schilderung verſuchen, die durch das Eigne einer ſolchen Uebergangszeit wohl anziehend wer¬ den koͤnnte. Ich erwaͤhne hier nur, daß ich an dem Hauſe des oͤſterreichiſchen Geſandten Grafen Stephan211 von Zichy den ſicherſten Anhalt fand, bei dem Staats¬ kanzler Freiherrn von Hardenberg die guͤnſtigſte Auf¬ nahme genoß, ja ſogar von dem Grafen von Saint - Marſan durch Einladungen ausgezeichnet wurde. Doch ungeachtet alles guten Anſcheins blieb ich in der ſchwie¬ rigſten und bedenklichſten Lage, gehemmt bei jedem Schritt, in jeder Thaͤtigkeit. Obgleich in glanzvoller Geſelligkeit, verlebte ich einen traurigen Winter. Mein Troſt war Rahel, in deren Naͤhe zu ſein mir alle Widrigkeiten uͤberwog. Ein andrer Troſt erſchien, und bildete ſich zu immer helleren Hoffnungen aus, als der Brand von Moskau kund wurde, die Siegesrufe der Franzoſen verſtummten, die Nachricht von ihrem Ruͤck¬ zug und Verderben erſcholl, und dieſes endlich vor Au¬ gen erſchien in den jammervollen Truͤmmern des gro¬ ßen Heers. Die Ruſſen ruͤckten ſiegreich heran, uͤber¬ ſchritten die Oder und ſtanden ſchnell vor Berlin, wo der Oberſt von Tettenborn mit ſeinen Koſaken im er¬ ſten Anlaufe den Feind einige Stunden durch die Stra¬ ßen jagte, nach wenigen Tagen aber die verſtaͤrkten ruſſiſchen Truppen entſchieden einruͤckten.

Aus peinlichem Zwang aufathmend, im vollen Ge¬ fuͤhl der Freiheit und neuen Lebens eilte ich zu Tet¬ tenborn. Ich fand hier Pfuel als Major vom Gene¬ ralſtabe angeſtellt. Wir Alle freuten uns des Wieder¬ ſehens. Mein Verhaͤltniß war ſchnell entſchieden, Tet¬ tenborn nahm mich ſogleich als Hauptmann fuͤr den14*212ruſſiſchen Dienſt in Anſpruch, und vertraute mir ſeine auf Hamburg gerichtete Unternehmung. Ich war zu allem bereit, aber ich war auch ſchon in preußiſchen Kriegsdienſt berufen, und hatte zunaͤchſt Depeſchen der preußiſchen Behoͤrde als Kourier nach Breslau zu uͤber¬ bringen, wo der Koͤnig, der Staatskanzler und die uͤbrigen Haͤupter der Geſchaͤftsfuͤhrung ſich ſchon ſeit einiger Zeit aufhielten. Da die Sache der Ruſſen und Preußen hier ſchon fuͤr ein - und dieſelbe erklaͤrt war, ſo hatte mein Anliegen keine Schwierigkeit. Breslau war zum Kriegsheerd geworden, alles ſtammte von Eifer, Waffen und Kampf war das allgemeine Ver¬ langen. Auch von dieſen Tagen wird kuͤnftig noch ei¬ niges Naͤhere zu berichten ſein. Ich ſah auch Stein hier wieder, zwar auf dem Krankenbette, aber auch krank noch in voller Kraft!

Ich eilte nach Berlin zuruͤck und von da nach Ham¬ burg, welches Tettenborn mittlerweile ſchon gluͤcklich erreicht und beſetzt hatte. Bevor ich nun zur Schilde¬ rung der Kriegsereigniſſe uͤbergehe, denen ich in den Jahren 1813 und 1814 beigewohnt, moͤge mir erlaubt ſein, von dem tapfern Anfuͤhrer, dem ich das Gluͤck gehabt als einer ſeiner Adjutanten anzugehoͤren, etwas ausfuͤhrlicher zu reden, und deſſen fruͤhere Lebensver¬ haͤltniſſe und Thaten kuͤrzlich hier einzuſchalten.

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Tettenborn.

Das Leben der Kriegsmaͤnner hat den eignen Reiz, daß neben dem Talente hier hauptſaͤchlich der Karakter wirkt, der ſo frei und ſchnell nirgends hervortritt, als im Aufruf aller Kraͤfte des innern und aͤußern Men¬ ſchen, im Kriege; nirgends erſcheint entſchiedener der Vorzug einer ſtarkausgepraͤgten und ſchnellguͤltigen Per¬ ſoͤnlichkeit, von der zuletzt doch faſt alles in den Er¬ eigniſſen des Lebens abhaͤngt, indem ſogar das, was man Gluͤck zu nennen pflegt, meiſt nur der Inbegriff der Wirkungen iſt, die aus dem dunkleren Zuſammen¬ hange der Eigenſchaften aufſteigen. Ein Beiſpiel ſol¬ cher Betrachtung bietet auch der Lebenslauf des tapfren Generals, von dem wir jetzt und fernerhin zu reden haben, und der unter den Befehlfuͤhrern in den denk¬ wuͤrdigen Kriegen der Jahre 1813 und 1814 als einer der eigenthuͤmlichſten und bedeutendſten anzuerkennen iſt.

Friedrich Karl Freiherr von Tettenborn wurde am 19. Februar 1778 geboren. Sein Vater war fruͤher214 dem oͤſterreichiſchen Kriegsdienſte gefolgt, wo der Name Tettenborn ſchon aus aͤlterer Zeit in gutem Andenken ſtand, hatte dann dieſe Laufbahn verlaſſen und als Markgraͤflich badiſcher Jaͤgermeiſter in der Grafſchaft Sponheim eine ſeinen Wuͤnſchen gemaͤße Anſtellung erhalten. Als in der Folge Napoleon mit gewaltſamer Willkuͤr die Forderung durchſetzte, alle in dem Umfange ſeiner Herrſchaft auch vor derſelben Gebornen duͤrften nur ihm dienen, wurde ſtatt dieſes Geburtsorts ein anderer vorgeſchoben, naͤmlich das Stammgut Tetten¬ born in der Grafſchaft Hohenſtein, und dieſe Angabe pflanzte ſich irrthuͤmlich fort, nachdem ihr Zweck laͤngſt aufgehoͤrt hatte. Nur bis in ſein ſechſtes Jahr blieb der junge Tettenborn auf dem linken Rheinufer und kam dann nach Raſtatt, wohin ſein Vater als Ober¬ jaͤgermeiſter war befoͤrdert worden. Er empfing im vaͤterlichen Hauſe ſorgfaͤltigen und nach damaliger Weiſe gruͤndlichen Unterricht, der ſogar zu gelehrter Bildung fuͤhren ſollte, wiewohl bald ſichtbar wurde, daß dies nicht die Richtung ſei, zu welcher die unlaͤugbar guten Anlagen ſich neigten. Aber auch in der ſpaͤteren, frei gewaͤhlten Bahn, unter ganz veraͤnderten Lebensum¬ ſtaͤnden, bewaͤhrte ſich die Wirkung dieſes erſten Un¬ terrichts als guter Gewinn. Daſſelbe gilt von dem Einfluſſe frommen Sinnes und Beiſpiels, welche durch die Mutter auf den Knaben wirkten; ſie war eine ge¬ borne Graͤfin von Arz, eigentlich Arzio, eines Geſchlechts215 im ſuͤdlichen Tyrol. Guͤnſtig war dem Jugendleben auch das Amt und Streben des Vaters, dem das ba¬ diſche Land die groͤßten Anlagen und Pflanzungen dankt, wo denn die Gelegenheit und Aufforderung ſich unun¬ terbrochen darbot, in freier Natur zu verweilen und umherzuſtreifen.

In ſeinem dreizehnten Jahre, als er groß und wohl¬ gebildet herangewachſen war, wurde der Knabe an den Kurfuͤrſtlichen Hof nach Mainz geſchickt, und daſelbſt unter die Pagen des Kurfuͤrſten aufgenommen. Noch lebt in mancher Erinnerung die Pracht, Feſtlichkeit und geſellſchaftliche Bewegung, welche damals den Main¬ zer Hof auszeichneten und die Stadt erfuͤllten; in heitrer Sorgloſigkeit lebte man den taͤglich wechſelnden Ver¬ gnuͤgungen, ungeſtoͤrt von dem Geiſte der Pruͤfung und des Widerſpruchs, der gegen die alten Zuſtaͤnde ſchon allgemein erweckt war, hier aber hoͤchſtens als ein neuer Reiz der Unterhaltung eingelaſſen wurde. Auch die drohende Nachbarſchaft der weiter und weiter ſchreitenden franzoͤſiſchen Revolution, und der ſchon aus¬ gebrochene Krieg machten auf die leichtſinnige Ueppig¬ keit wenig Eindruck, als ploͤtzlich um ſo furchtbarer im Herbſte 1792 die unerwartete Annaͤherung der Fran¬ zoſen alles aus dem Taumel aufſchreckte. Bei dem Erſcheinen des Generals Cuſtine fluͤchtete der Kurfuͤrſt mit ſeiner Geliebten und ſeinen Guͤnſtlingen eilig nach Aſchaffenburg, der uͤbrige Hof ſtob auseinander, und216 hat ſich groͤßtentheils nie wieder zuſammengefunden. Tettenborn ſah noch die franzoͤſiſchen Truppen in Mainz einziehen, und kehrte wenige Tage darauf in das vaͤ¬ terliche Haus nach Raſtatt zuruͤck.

Die Wendung der Ereigniſſe ſchien auf weit hinaus die bisherigen Verhaͤltniſſe zu verwirren, auf deren Herſtellung zu warten dem Vater thoͤricht ſchien; und um den Sohn ſeine Zeit gleich wieder zweckmaͤßig an¬ wenden zu ſehen, ſandte er ihn ſchon im naͤchſten Jahre nach Waltershauſen, um ſich unter der Leitung des beruͤhmten Bergraths Bechſtein den Forſtwiſſenſchaften zu widmen. Hier blieb er jedoch nicht lange, ſondern bezog noch im naͤmlichen Jahre die Univerſitaͤt Goͤttin¬ gen, welche er in Folge einer jugendlichen Uebereilung bald wieder mit Jena vertauſchen mußte. Von hier rief ihn unvermuthet die Nachricht nach Hauſe, daß ſein Vater erkrankt ſei, den er auch nicht mehr am Leben fand. Seine unbezwingliche Neigung zum Kriegs¬ dienſte, bisher nur muͤhſam unterdruͤckt aus Ruͤckſicht fuͤr den Vater, der in ſeinem angeſehenen und eintraͤg¬ lichen Amte den Sohn zum Nachfolger zu haben wuͤnſchte, brach nun, da kein Einſpruch mehr ihn hindern konnte, indem auch ſeine Mutter ſchon fruͤher verſtorben war, mit aller Heftigkeit aus: er verließ die angefangenen Studien, und trat gleich im Jahre 1794 als Kadet bei dem Joſeph Kinsky'ſchen, ſpaͤterhin Klenau'ſchen, Chevauxlegersregiment in das oͤſterreichiſche Heer.

217

Hier begann fuͤr den ſechzehnjaͤhrigen Tettenborn eine Laufbahn, die ſeinen militairiſchen Eigenſchaften alle Gelegenheit zur Entwicklung bot, und fuͤr ihn reich an perſoͤnlicher Auszeichnung wurde. Daß oͤſter¬ reichiſche Heer, welches den Karakter eines durch meh¬ rere Jahrhunderte ohne Unterbrechung fortbeſtandenen Kriegsweſens bis auf den heutigen Tag bewahrt, ver¬ einigt mit den daraus fließenden, beſonders nach innen hoͤchſt bezugreichen Vortheilen zugleich die einer ſtets friſchen, durch neue, und nach der Lage der Graͤnzen ſehr verſchiedene Kriege, unaufhoͤrlich geuͤbten Erfah¬ rung. Seine Zuſammenſetzung aus den mannigfachen Elementen, welche die oͤſterreichiſchen Erblande in gluͤck¬ lichem Verhaͤltniſſe dazu lieferten, empfing noch einen erwuͤnſchten, und beſonders geiſtig unſchaͤtzbaren Zuſatz durch den Umſtand, daß ſo geraume Zeit hindurch die¬ ſes Heer fuͤr alle Deutſchen zugleich als das Heer ihres Kaiſers, und ſonach als ihre eigentlich vaterlaͤn¬ diſche Kriegsmacht daſtand, welcher die beſten Kraͤfte des ſogenannten Reichs in jeder Weiſe zuſtroͤmten. Der eigenthuͤmliche Geiſt, der ſich aus dieſer Miſchung er¬ hoben, beurkundet ſich in vielen Zeichen, die wohl un¬ laͤugbar als Deutſche anzuerkennen ſind. Die unzer¬ ſtoͤrbare Selbſtſtaͤndigkeit innerer Ordnung, die große Kraft der Wiederherſtellung, die Vernachlaͤſſigung des bloßen Scheins, die Sparſamkeit aͤußerer Belohnun¬ gen, und die daher in den untern Graden angehaͤufte218 Thatfuͤlle und Verdienſtlichkeit, dies alles bildet eine breite und feſte Grundlage, auf welcher die dennoch durchgedrungene Auszeichnung nur um ſo glaͤnzender ſich erhebt.

Das Regiment, in welches Tettenborn getreten war, ſtand in den Niederlanden gegen die Franzoſen, und nahm ruhmvollen Antheil an den Kriegsthaten, durch welche die Oeſterreicher und Preußen damals fuͤr ſich ſelbſt wohl Ehre genug erfochten, fuͤr die Sache ihrer Herrſcher aber, bei dem Mangel an gehoͤrigem Zuſammenwirken, keine bleibenden Erfolge gewinnen konnten. Einzelne Kompagnieen Fußvolk, eine Schwa¬ dron Reiter, ja bloße Patrouillen, kaͤmpften ſehr haͤufig einer zehnfachen Uebermacht entgegen, hielten ſie auf, warfen ſie zuruͤck, oder wagten wohl ſelbſt den Angriff; der Ruf, den manche Regimenter in ſolchen Vorfaͤllen erwarben, und die Anſpruͤche, welche die eigne und die oͤffentliche Meinung an ſie machten, graͤnzten oft an die romantiſchen Erzaͤhlungen fruͤherer Zeit. Die Feld¬ zuͤge im Ganzen waren darum nicht weniger ungluͤck¬ lich, und die Hauptvortheile meiſt auf der Seite des Feindes; aber eine beſſere Schule des Kriegs, eine an perſoͤnlichen Aufgaben und Erfahrungen reichere, als das oͤſterreichiſche Heer in jener Zeit darbot, konnte ſchwerlich nochmals zu finden ſein.

Nach wenigen Monaten zum Lieutenant befoͤrdert, fand Tettenborn haͤufige Gelegenheit, ſeinen Muth zu219 bewaͤhren und vielfache Kunde des Felddienſtes einzu¬ ſammeln. Die Reiter zogen gern mit ihm aus, der als Fuͤhrer entſchloſſen und gewandt, und als Kaͤmpfer jedem Gemeinen ein Muſter war. Die Wagſtuͤcke und Erfolge des kleinen Kriegs, von denen die Geſchichte nichts zu melden pflegt, haben fuͤr die betheiligten Truppen oft mehr Werth, als manches groͤßere Ereig¬ niß; in ihnen begruͤndet ſich am ſicherſten die perſoͤn¬ liche Schaͤtzung, der Ruf des Mannes und der Waffe.

Der Gang der damaligen Feldzuͤge in den Nieder¬ landen und am Rhein iſt bekannt. Tettenborn folgte dem Wechſel derſelben in den Bewegungen ſeines Re¬ giments, dem wenig Ruhe gegoͤnnt war, und das wir, nach manchen Begegniſſen, im Jahre 1799 bei dem Heere des tapfern Erzherzogs Karl wiederfinden. Von den zahlreichen Vorfaͤllen, welchen Tettenborn hier mit Aus¬ zeichnung beiwohnte, heben wir nachfolgende Zuͤge aus, welche ihn insbeſondere angehn.

In dem Treffen bei Frauenfeld hatte das Regi¬ ment Kinsky einen harten Stand, und bewies gegen den uͤberlegenen Feind auf unguͤnſtigem Boden die aus¬ dauerndſte Unerſchrockenheit. Viele ſeiner trefflichſten Offiziere wurden getoͤdtet oder verwundet. Die Fran¬ zoſen hatten das oͤſterreichiſche Fußvolk aus einem vor¬ liegenden Walde verdraͤngt, und dadurch die auf der Straße vorgeruͤckten Truppen in die Flanke genommen; der Augenblick war dringend, und forderte ſchleunigſt220 Huͤlfe; da ließ Tettenborn eine halbe Schwadron ab¬ ſitzen, und ſtuͤrmte zu Fuß mit dieſer Mannſchaft den Wald, aus welchem der Feind, beſtuͤrzt durch den un¬ erwarteten raſchen Angriff, eiligſt hinausgetrieben wurde, ſo daß die kleinere Schaar den Raum wieder einnahm, den die groͤßere nicht behaupten gekonnt! Drei Tage darauf, bei dem Gefechte von Winterthur, machte die Schwadron Tettenborns den Vortrab, und wurde von den Franzoſen, die vor der Stadt ſechs Stuͤcke Geſchuͤtz auf¬ gepflanzt hatten, mit heftigem Kartaͤtſchenfeuer empfan¬ gen, das ſogleich mehrere Leute niederſtreckte; er aber beſann ſich keinen Augenblick, und ſprengte an der Spitze ſeines Zuges geradezu auf die feindlichen Kano¬ nen an; ſchon waren die Artilleriſten, welche ihr Ge¬ ſchuͤtz wacker vertheidigten, im Handgemenge groͤßten¬ theils niedergemacht, als die Franzoſen zur Unterſtuͤtzung derſelben mit zahlreicher Reiterei ungeſtuͤm hervorbra¬ chen, und die oͤſterreichiſche wieder zuruͤckwarfen; Tet¬ tenborn's Pferd, von einem Kanonier durch Saͤbelſtiche verwundet, ſtuͤrzte in dieſem Augenblicke zwiſchen die Kanonenpferde nieder, er ſelbſt lag zu Boden und ſchien verloren, umgeben von feindlichen Huſaren, die nach ihm hieben und ſchoſſen, und ihn wenigſtens ge¬ fangen nehmen wollten, als die Tapferkeit ſeines Ritt¬ meiſters, des nachherigen Generals von Meyer, ihn noch eben zu rechter Zeit aus dieſer großen Gefahr wieder befreite. Nach Beendigung des Feldzuges in221 der Schweiz ruͤckte der Erzherzog Karl raſch an den Oberrhein, und nahm die damals noch wohlbefeſtigte Stadt Mannheim mit Sturm. Der Feind hatte ſich mit einem Theile ſeiner Truppen noch außerhalb der Feſtung behaupten wollen, und mußte erſt in dieſe zuruͤckgetrieben werden; dies geſchah durch eine Reihe hitziger Angriffe, in welcher die Reiterei die beſten Dienſte leiſtete, und beſonders in einem ſcharfen Gefecht am Neckarauer Wald das franzoͤſiſche Fußvolk voͤllig zer¬ ſprengte und großentheils niedermachte, wobei Tetten¬ born ſich ſo ſehr hervorthat, daß er oͤffentlich dafuͤr belobt wurde. Bei dem Sturme, der ſodann auf die Stadt geſchah war er einer der Erſten, die durch die aufgehauenen Thore in die Stadt eindrangen, und machte in den Straßen noch eine Menge Gefangnen, waͤhrend die Hauptmaſſe der Franzoſen fechtend die Rheinbruͤcke gewann, und ſich aus der Stadt auf das jenſeitige Ufer zog.

Als der General von Kray den Oberbefehl des oͤſterreichiſchen Heeres uͤbernommen hatte, und dieſes zum Ruͤckzuge vom Rhein gegen Ulm genoͤthigt wurde, zeigte Tettenborn beim Nachtrab in haͤufigen Gefechten ſeinen Muth wie ſeine Geſchicklichkeit. Bei Biberach hielt er ſo ſtandhaft gegen den andringenden Feind, daß er in zwei Stunden drei Pferde unter dem Leibe ver¬ lor. Nicht minder zeichnete er ſich in dem Gefechte bei Ried-Eſchingen aus, am Tage der Schlacht von Engen. 222Nach dem Treffen von Neuburg aber empfing er von dem General Grafen von Giulay den beſondern Auf¬ trag, mit einer eigends hiezu ausgewaͤhlten Abtheilung Chevaurlegers und Huſaren, die Truppenſchaar, welche gegen Landshut ging, ſeitwaͤrts zu begleiten, und die Bruͤcken der Iſar zu zerſtoͤren. Indem er dieſen Auf¬ trag beſtens vollzog, hatte er Gelegenheit noch einen andern wichtigen Dienſt zu leiſten, der den Bewegun¬ gen des Heeres wohl zu Statten kann; er hielt ſich neun Tage zu Freiſingen gegen den ſehr uͤberlegenen Feind, der ſeine Angriffe oft erneuerte, aber durch das muthige und geſchickte Benehmen Tettenborns getaͤuſcht, ihn fuͤr ſtaͤrker hielt als er war, und nicht das Aeußerſte wagen wollte. Endlich, nach hartnaͤckiger Gegenwehr, dennoch gezwungen, Freiſingen zu verlaſſen, nahm Tet¬ tenborn ſeine Richtung gegen Muͤnchen, wo gleich eine neue Ausfuͤhrung ſeiner wartete; denn, kaum in dor¬ tiger Gegend angekommen, erblickte er jenſeits der Iſar eine betraͤchtliche Anzahl franzoͤſiſcher Packpferde einher¬ ziehen, es waren die des Generals Lecourbe , ſogleich ſuchte er fuͤnf ſeiner entſchloſſenſten Reiter aus, ſchwamm mit dieſem kleinen Haͤuflein durch die reißende Iſar, und ſtuͤrzte mit ſolchem Ungeſtuͤm auf die ſtaͤrkere Bedeckung, daß dieſe ihr Heil in der Flucht ſuchte, und ihm alles zur Beute ließ, mit welcher und meh¬ reren Gefangenen er ungeſtoͤrt auf das andre Ufer zu¬ ruͤckkehrte.

223

Bei großen Ungluͤcksfaͤllen, durch welche ein ganzes Heer zerruͤttet oder vernichtet wird, und deren Urſache faſt immer nur in den hoͤchſten Anordnungen liegt, iſt man nur wenig geneigt, auch bei den Beſiegten tapfre Aus¬ zeichnung anzuerkennen, und die Vorgaͤnge, in welchen dieſe ſich zeigt, werden kaum beachtet. Aber gerade in ſolchen Ungluͤcksfaͤllen treten Muth und Tapferkeit einzelner Schaaren und Anfuͤhrer meiſt am entſchiedenſten auf, und ohne dem Ganzen eine andere Wendung geben zu koͤnnen, ſetzen ſie dem Unheil Schranken, und bringen im Kleinen zum Theil wieder ein, was im Großen ver¬ loren worden. Auch in dem ungluͤcklichen Feldzuge, der zur Schlacht von Hohenlinden fuͤhrte, traten ſolche Aus¬ zeichnungen und Leiſtungen zahlreich und mannigfach hervor, hauptſaͤchlich durch die leichten Truppen, welche in kleinen Gefechten faſt immer die Oberhand hatten. Tettenborn war in ſolchen Gelegenheiten beſonders thaͤtig und erfolgreich Bei der genannten Schlacht, deren Ergebniſſe die franzoͤſiſchen Berichte noch immer mit den uͤbertriebenſten Zahlen ausſchmuͤcken, war Tetten¬ born einer der Letzten, die am ſpaͤten Abend das Schlacht¬ feld verließen; er kaͤmpfte in der tapfern Nachhut, welche den Ruͤckzug des linken Fluͤgels deckte; warf den an¬ dringenden Feind mehrmals zuruͤck, und leiſtete uͤber¬ haupt ſo gute Dienſte, daß ihm daruͤber die beſon¬ dere Zufriedenheit der hoͤchſten Befehlshaber bezeigt wurde.

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Er war inzwiſchen zum Rittmeiſter und Schwa¬ dronskommandanten vorgeruͤckt, und kehrte aus dem Felde mit dem Ruf eines tapfern und kuͤhnen Offiziers in die Friedensſtation nach Boͤhmen zuruͤck. Er hatte ſeinen Namen ſo vortheilhaft bekannt gemacht, daß man die groͤßten Erwartungen von ihm hegte. Auch im Frieden wußten ſeine perſoͤnlichen Eigenſchaften die guͤn¬ ſtige Aufmerkſamkeit eines großen Kreiſes zu feſſeln, waͤhrend er in dem engeren des Regiments die Zunei¬ gung und das Wohlwollen aller Kammeraden im hoͤch¬ ſten Grade genoß. Der freie Jugendmuth, der uͤberall das Beſte anſpricht, die rege Kraft, welche dem Ge¬ nuß uͤberlegen bleibt, die heitre Unbefangenheit, welche ihr Vertrauen auf Gluͤck und Gelingen ſelten betrogen ſieht, und ſelbſt dann jeder Sorge und Zagheit wider¬ ſteht; dazu eine großmuͤthige Hingebung fuͤr Andre, ein erfreulicher, heitrer Umgang, eine bei ſtarkem per¬ ſoͤnlichen Auftreten deſto einnehmendere Leutſeligkeit, eine glaͤnzende Erſcheinung, und eine Freigebigkeit ohne Graͤnze und Ruͤckſicht: dieſer Verein von wirkſamen Eigenſchaf¬ ten konnte nicht ohne die groͤßten Erfolge bleiben, fuͤr welche die glaͤnzende Geſelligkeit von Prag und Wien, das reiche Landleben der boͤhmiſchen Großen, dann auch Dresden, und ſelbſt Berlin, den abwechſelnden Schau¬ platz boten. Frauengunſt, Spiel, jugendlicher Ehrgeiz, alles, was Ernſt und Freude des Militaͤrlebens ge¬ waͤhren, mußte hier vielfache Abentheuer wecken, welche225 in der Weiſe franzoͤſiſcher Denkwuͤrdigkeiten behandelt, den Stoff der anziehendſten Erzaͤhlungen geben koͤnn¬ ten! Auch an neuen Proben eines Muthes, den viele Kenner von dem Muthe auf dem Schlachtfelde fuͤr ſehr verſchieden halten, fehlte es in ſolchem Lebensge¬ wirre nicht, und auch in dieſem Betreff wurde Tetten¬ born's Namen mit groͤßter Auszeichnung genannt. Un¬ ter den angeſehenen Befreundungen, die ihm zu Theil wurden, war auch die mit dem Prinzen Louis Ferdi¬ nand von Preußen, der ſich bei einem Beſuche in Boͤh¬ men uͤberall große Zuneigung erwarb, mit den oͤſter¬ reichiſchen Offizieren als Kammerad lebte, und in Tettenborn ebenſo ſehr den tuͤchtigen Krieger wuͤrdigte, als er in ihm den heitern Lebensgenoſſen liebte.

Dieſe Befreundung wurde noch inniger, als Tet¬ tenborn im Jahre 1804 mit einem Auftrag an den oͤſterreichiſchen Geſandten Grafen von Metternich nach Berlin geſchickt wurde, und hier mit dem Prinzen, den er auch ſchon auf deſſen Landſitze beſucht hatte, in taͤglichen vertauten Umgang lebte, den die Zeitumſtaͤnde durch die Kriegsgeſinnung, welche ſich in Preußen, wie Oeſterreich regte, nur noch ſtaͤrker beſeelten. Von die¬ ſem Aufenthalte Tettenborn's in Berlin wird ein be¬ ſondrer Zug erzaͤhlt, den wir unverbuͤrgt wiedergeben, wie wir ihn gehoͤrt, indem er auch als Sage bezeich¬ net iſt. Tettenborn hatte naͤmlich in Berlin die nicht unbetraͤchtliche Erbſchaft eines im Preußiſchen verſtor¬III. 15226denen Verwandten erhoben, und ſollte, bevor er wie¬ der abreiſte, von dem außer Landes gehenden Vermoͤgen das uͤbliche Abzugsgeld bezahlen; er aber, verwundert uͤber eine ſolche Forderung, fand dieſelbe um ſo unge¬ reimter, als er keinesweges mehr im Falle war, ſie erfuͤllen zu koͤnnen, er bewies, daß er von der ganzen Erbſchaft nicht das Geringſte mitnehme, ſondern waͤh¬ rend ſeines kurzen Aufenthalts den vollen Betrag, man ſagte zwanzig tauſend Thaler, ſofort verbraucht und ausgegeben, und alſo das Geld im Lande gelaſ¬ ſen habe!

Im Jahre 1805 erhob ſich Oeſterreich aufs neue zum Kriege gegen die Franzoſen, und ſah bekanntlich durch wiederholte Unfaͤlle ſeine Hoffnungen abermals getaͤuſcht. Tettenborn war mit einem Theile des vor¬ mals Kinsky'ſchen jetzt Klenau'ſchen Regiments, bei welchem er ſtand, in Ulm geblieben, waͤhrend der andre Theil unter dem Oberſten ſich nach Bregenz gezogen hatte. Mehrere Streifzuͤge und Rekognoszirungen, die ihm aufgetragen wurden, fuͤhrte er zur groͤßten Zu¬ friedenheit aus. Als aber der Oberbefehlshaber des Heeres, General von Mack, in unbegreiflicher Ver¬ blendung befangen, und dann ploͤtzlicher Muthloſigkeit hingegeben, zuletzt in Ulm kein andres Heil mehr ſah als in der Uebergabe, da wußte ſich ein Theil des Heeres dieſer Schmach gluͤcklich zu entziehen. Der Erzherzog Ferdinand faßte den kuͤhnen Entſchluß, mit227 dem Theile der Reiterei, der unter ſolchen Umſtaͤnden noch in der Eile zuſammenzuraffen war, durch den Feind durchzubrechen und nach Boͤhmen zu entkommen. Tettenborn genoß bereits eines ſolchen Vertrauens, daß zur Fuͤhrung des Vortrabs niemand faͤhiger ſchien als er, und der entſcheidende Schlag, der Durchbruch der franzoͤſiſchen Umzingelung, wurde von ihm gefuͤhrt. Mit außerordentlicher Geſchicklichkeit und heldenmuͤthi¬ ger[Anſtreugung] gelang das ganze Unternehmen, wel¬ ches im Ruͤcken der franzoͤſiſchen Heere von ſteter Gefahr begleitet war, bis endlich, nach mehreren Ge¬ waltmaͤrſchen und hitzigen Nachtrabsgefechten, die boͤh¬ miſche Graͤnze erreicht wurde. Tettenborn hatte das Gluͤck, auf dieſem Zuge die vollkommene Zufriedenheit des Erzherzogs ſowie des die Reiterei befehligenden Fuͤrſten Karl von Schwarzenberg zu erwerben. Ihm wurde ſogleich ein neuer Auftrag ertheilt, die Deckung der Straße, die uͤber Waldmuͤnchen nach Boͤhmen fuͤhrt. Mit der ihm anvertrauten Truppenſchaar, groͤ߬ tentheils Reiterei, wußte er ſich in der Oberpfalz durch geſchickte Bewegungen und einzelne gluͤckliche Gefechte mehrere Wochen zu behaupten, und zwiſchen Amberg und Waldmuͤnchen die franzoͤſiſchen Streifpartheien mehr¬ mals zuruͤckzuwerfen, bis der General Baraguay d'Hil¬ lers uͤber 8000 Mann gegen ihn heranfuͤhrte, ihn zum Ruͤckzug nach Boͤhmen noͤthigte, und darauf ſelbſt in Boͤhmen einzudringen ſuchte. Tettenborn verzweifelte15*228nicht, im eignen Lande auch dieſer Uebermacht die Spitze bieten zu koͤnnen. Er rief zwiſchen Pilſen und Klentſch alles Landvolk zu den Waffen, ließ in allen Doͤrfern die Sturmglocke laͤuten, und wagte nun den ihm ſechsmal uͤberlegenen Feind anzugreifen, der, durch dieſe Kuͤhnheit und den gutgeleiteten Aufſtand geſchreckt, ſich zuerſt nach Klattau zuruͤckzog, und bald darauf Boͤhmen voͤllig verließ.

Nach erfolgtem Frieden wurde Tettenborn durch die Nachricht uͤberraſcht, daß die unter ſeinem Befehl geſtan¬ denen Offiziere der Regimenter Klenau und Roſenberg fuͤr ihn das Thereſienkreuz verlangt haͤtten, eine Aus¬ zeichnung, welche in Oeſterreich von den hoͤchſten Per¬ ſonen als das koͤſtlichſte Kleinod militaͤriſcher Ehre erſtrebt, und nur dem anerkannteſten Verdienſt ertheilt zu werden pflegt, auch noch jetzt ebenſo ſelten als werth gehalten. Beſondere Bedingungen beſchraͤnken die Verleihung dieſes Ordens, auf den nur derjenigen Tapferkeit Anſpruch geſtattet iſt, welche vor dem Feinde ſich durch Thaten ausgezeichnet, die weder durch aus¬ druͤcklichen Befehl noch durch unerlaͤßliche Pflicht gebo¬ ten waren. Das zur Pruͤfung der Anſpruͤche und Zeugniſſe verſammelte Ordenskapitel erkannte die For¬ derung der Offiziere fuͤr Tettenborn als voͤllig begruͤn¬ det an, und ſprach ihm einſtimmig den Orden zu.

Mit neuem Ruhm und neuen Vortheilen kehrte er wieder zu den Beſchaͤftigungen des Friedensdienſtes229 und in den Glanz der Hauptſtaͤdte Prag und Wien zuruͤck, wo er in den angeſehenſten Kreiſen nur immer guͤnſtiger bemerkt wurde. Im Jahre 1808 geſchah ihm der Antrag, den Fuͤrſten von Schwarzenberg, der als oͤſterreichiſcher Botſchafter nach St. Petersburg ging, als erſter Adjutant und Botſchaftskavalier zu begleiten. Tettenborn ſah hier eine neue Laufbahn eroͤffnet, fuͤr die er ſchon vielfach vorbereitet war, und die ihn maͤch¬ tig anziehen mußte; er willigte ein, empfing noch vor der Reiſe den Kaiſerlichen Kammerherrnſchluͤſſel, holte den Fuͤrſten, der ſchon voraus war, in Wilna ein, und kam mit ihm gegen Ende des Jahres in St. Peters¬ burg an. Der dortige Aufenthalt war durch die poli¬ tiſchen Verhaͤltniſſe mit ſehr ſchwierigen Ruͤckſichten verknuͤpft, und forderte große Kunſt des Benehmens; wenn dem Fuͤrſten von Schwarzenburg unbeſtritten der Ruhm gebuͤhrt, bloß durch ſein perſoͤnliches Verdienſt alles bewirkt zu haben, was damals am ruſſiſchen Hofe fuͤr Oeſterreich noch zu erlangen war, ſo darf ſeine in derſelben Hinſicht fuͤr Tettenborn vielfach ausgeſprochene Zufriedenheit ein um ſo bewaͤhrteres Zeugniß auch fuͤr dieſen ſein. Als im Mai 1809 die Nachricht von dem Ausbruche des neuen Krieges zwiſchen Oeſterreich und Frankreich in St. Petersburg eingetroffen war, wurde Tettenborn von dem Fuͤrſten mit beſondern Auftraͤgen als Kourier zu dem Hauptheere geſandt, welches unter dem Erzherzog Karl inzwiſchen den glorreichen Sieg230 bei Aspern erkaͤmpft hatte, und einer neuen Schlacht auf dem Marchfelde entgegenſah. Dieſe erfolgte nach mehreren Wochen, die Schlacht von Deutſch-Wagram. Wir haben ſchon anderwaͤrts erwaͤhnt, daß Tettenborn fuͤr ſeine Tapferkeit und Auszeichnung in dieſer Schlacht durch den Erzherzog Karl auf dem Schlachtfelde zum Major befoͤrdert, ſein Name in dem amtlichen Bericht ruͤhmlichſt genannt, und ihm die Deckung des Ruͤckzu¬ ges, den die Oeſterreicher in beſter Ordnung gegen Znaym nahmen, uͤbertragen wurde. Nach wenigen Tagen wurde bei dieſem Orte ſchon wieder eine zwei¬ taͤgige Schlacht geliefert, welche aber durch den inzwi¬ ſchen abgeſchloſſenen Waffenſtillſtand unterbrochen wurde. Auch in dieſer Schlacht aͤrntete Tettenborn die ausge¬ zeichnetſten Lobſpruͤche ſowohl des Erzherzogs Karl als auch des Generals Grafen von Bellegarde, welcher den erſten Heertheil der Oeſterreicher befehligte, zu dem das Regiment Klenau gehoͤrte. Bei der Unterhandlung des Waffenſtillſtandes wurde Tettenborn von dem Erzher¬ zoge, der großes Vertrauen in ſeine perſoͤnlichen Gaben ſetzte, mehrmals an den Fuͤrſten von Neuchatel und an Napoleon ſelbſt, wodurch der Abſchluß auf vortheilhafte Bedingungen ſehr gefoͤrdert wurde.

Nach dem Wiener Frieden ging der Fuͤrſt von Schwarzenberg als oͤſterreichiſcher Botſchafter nach Paris, und Tettenborn begleitete denſelben in gleicher Eigen¬ ſchaft wie fruͤher nach St. Petersburg. In neueren231 Zeiten iſt wohl ſelten eine Botſchaft von ſolchem Glanze, ſolch reicher Zuruͤſtung und bedeutendem Anſehn, und zugleich von ſo ruhiger Wuͤrde und großartiger Einfach¬ heit geſehen worden. Alle Deutſchen fanden in dem Schwarzenbergiſchen Hauſe ihren ſichern Anhalt, ihr vertrauteſtes Zuſammenſein, waͤhrend zugleich das aus¬ geſuchteſte Prachtleben hier den Preis vor allen fran¬ zoͤſiſchen und fremden Haͤuſern behauptete. Mit wel¬ cher Weltkunde, Klugheit und Anmuth ſich Tettenborn in dieſen Verhaͤltniſſen bewegte, kann ſchon aus dem bisher Mitgetheilten ermeſſen werden; er war in dem tiefſten Vertrauen des Fuͤrſten, und wurde zu den in¬ nerſten Geſchaͤften zugezogen, außerdem aber lag ihm ein großer Theil der aͤußern Darſtellung und des man¬ nigfachen perſoͤnlichen Hervortretens ob, zu welchem dieſe großen Verhaͤltniſſe unaufhoͤrlich Anlaß gaben. Mit Gewandtheit loͤſte er die ſchwierige Aufgabe des fortgeſetzten Umgangs mit den Franzoſen; er hatte aͤu¬ ßerlich das beſte Vernehmen mit den Großen des Ho¬ fes, den anſpruchsvollen Frauen und eitlen Guͤnſtlin¬ gen, ohne daß er jemals zu Schmeicheleien ſeine Zu¬ flucht genommen, oder die deutſchen Geſinnungen, die ihn beſeelten, durch Verlaͤugnung beleidigt haͤtte. Die¬ ſen Leuten durch trotzige Feſtigkeit Achtung und Scheu einzufloͤßen, war die einzige Art mit ihnen fertig zu werden. Sie verſuchten einigemal, die ſchroffe Selbſt¬ ſtaͤndigkeit zu beugen, doch da dies nicht gelingen wollte,232 wie Manche zu ihrem Schaden erfahren mußten, ſo beeiferten ſie ſich nun um ſo mehr, dieſelbe anzuerken¬ nen. Napoleon ſelbſt, der gegen Tettenborn immer Abneigung empfand, und dies wenig verhehlte, ließ ihn am Ende gelten.

In dieſe Zeit faͤllt das durch ſeinen Ausgang un¬ gluͤcklich beruͤhmte Feſt des Fuͤrſten von Schwarzenberg, wo mehrere der angeſehenſten Perſonen verbrannten, und viele durch die Flammen ſchwer beſchaͤdigt wurden. In der erſten Beſtuͤrzung konnte manchem der Anwe¬ ſenden wohl der Gedanke von Verrath aufſteigen; ein franzoͤſiſcher General, von ſolchem Argwohn ergriffen, wandte ſich heftig an Tettenborn mit einer unziemlichen Frage; doch dieſer, empoͤrt durch den Verdacht und er¬ fuͤllt vom Drange des Augenblicks, faßte ſtatt aller Antwort den dreiſten Frager an bei den Schultern, und ſchleuderte mit zuͤrnender Kraft ihn ruͤcklings zu Boden. Napoleon, Zeuge des Urſprungs und der Aus¬ breitung des Feuers, war von jedem Mißtrauen ent¬ fernt, und glaubte vielmehr die Anſtrengung und Beei¬ ferung, welche mehrere Mitglieder der Botſchaft bei dieſer Gelegenheit auch fuͤr ſeine und der Kaiſerin Sicherheit bewieſen hatten, beſonders belohnen zu muͤſ¬ ſen. So empfing denn auch Tettenborn den Orden der Ehrenlegion.

Napoleon's perſoͤnliche Stimmung aber wurde damit nicht guͤnſtiger. Im Gegentheil ging er oͤfters darauf aus,233 auch an Tettenborn, wie an ſo viele Andere, die ihm nicht gefielen, unangenehme und verwirrende Fragen zu richten, die ihm aber auch oͤfters unangenehm er¬ wiedert wurden, und dies im Augenblicke meiſt unge¬ ſtraft, weil Napoleon wohl ſchreckende Worte, aber nicht den Witz zuruͤckſpielende fuͤhrte. Als er den Befehl gegeben hatte, daß an ſeinem Hofe auch die Militaͤr¬ perſonen, welche bisher in ihrer dienſtmaͤßigen Uniform erſchienen waren, nur in franzoͤſiſcher Hofkleidung er¬ ſcheinen durften, und dies auch die fremden Geſandt¬ ſchaften traf, wollte Tettenborn, der von dem Regi¬ mente Klenau zu den Huſaren von Radetzky verſetzt worden war, mit der Uniform doch nicht zugleich den unerſetzbaren Schnurrbart aufopfern, und erſchien mit dieſem in der neu vorgeſchriebenen Hofkleidung; Na¬ poleon aͤrgerte ſich druͤber, und redete ihn hoͤhniſch mit den Worten an: Ein Schnurrbart iſt doch recht laͤcherlich bei dieſem Rock! worauf Tettenborn raſch und trotzig verſetzte: Vielmehr dieſer Rock bei einem Schnurrbart! Eine Antwort, die doch nicht jedem und nicht jedesmal ſo folgenlos hingegangen ſein moͤchte!

Tettenborn reiſte einigemal bei wichtigen Anlaͤſſen von Paris nach Wien. Niemals aber wurde dieſe Reiſe ſchneller ausgefuͤhrt, als da er die Nachricht von der Niederkunft der Kaiſerin Marie Louiſe zu uͤberbringen hatte, und die hundert und zwanzig Stunden von Paris nach Straßburg reitend zuruͤcklegte, und dann zu Wa¬234 gen in ſolcher Eile weiter, daß er die ganze Reiſe bin¬ nen vier Tagen und zehn Stunden vollendete. Man ſprach allgemein von dieſem Reiterſtuͤck, und gedachte dabei aͤhnlicher, die dem Herzoge von Alba und Karl dem Zwoͤlften von Schweden nachgeruͤhmt werden.

Doch die Zeit nahte ſchon, in welcher ſolchen Kraͤf¬ ten und Anſtrengungen das ernſtere Kriegsfeld ſich wie¬ der eroͤffnen ſollte. Laͤngſt ſchon erkannte man, daß ein Krieg zwiſchen Frankreich und Rußland unvermeid¬ lich ſei, und Tettenborn konnte fruͤher als Andre vor¬ ausſehen, daß Oeſterreich diesmal nicht als Feind gegen Napoleon auftreten werde. Er aber wollte nicht in den Fall kommen, mit den Franzoſen zu dienen, ſondern gegen ſie fechten. Er fand ſich demnach im Fruͤhjahr 1812 bewogen, ungeachtet ſeiner glaͤnzenden Stellung und ſeiner verſprechenden Ausſichten, ſeinen Abſchied einzureichen, und begab ſich, nach kurzem Aufenthalte in Wien, wo er unter Kammeraden und Hoͤheren mehr Billigung und Zuſtimmung fand, als ſich oͤffentlich zei¬ gen durfte, uͤber Ungarn nach Rußland, wo er ſchon ruͤhmlichſt bekannt war, und mit offnen Armen em¬ pfangen wurde.

Tettenborn trat in das ruſſiſche Heer als Oberſt¬ lieutenant ein, und wurde zu dem General Freiherrn von Wintzingerode geſandt, der mit anſehnlicher Trup¬ penſtaͤrke die Straße von Twer zu decken hatte. Bei dieſem General, als einem ebenfalls im oͤſterreichiſchen235 Dienſte geweſenen Waffenfreunde, durfte er die guͤn¬ ſtigſten Verhaͤltniſſe erwarten, allein ungluͤcklicherweiſe war derſelbe kurz vorher in franzoͤſiſche Gefangenſchaft gerathen, aus der erſt ſpaͤter die Koſaken ihn wieder befreiten, und der General Kutuſoff, Neffe des Feld¬ marſchalls, hatte den Befehl uͤber jene Truppen uͤber¬ nommen. Dieſer General galt allgemein als ein ſtar¬ ker Widerſacher aller Fremden im ruſſiſchen Dienſt, aber ſonſt als ein rechtſchaffner, wohldenkender Mann und als ein ausgezeichneter tapfrer Krieger. Seine Abnei¬ gung gegen die Fremden ſchien anfangs auch gegen Tettenborn zu walten, nach einiger Zeit aber, als meh¬ rere Gefechte vorgefallen waren, nahm er ſchon eine guͤnſtigere Geſinnung an, und wurde zuletzt, im Ver¬ folge des Feldzugs, der theilnehmendſte und thaͤtigſte Anerkenner eines Verdienſtes, das ſich unter ſeinen Au¬ gen ſo trefflich bewahrte, und dem er Gerechtigkeit zu verſagen nicht faͤhig war.

Nach dem Abzuge der Franzoſen von Moskau ruͤckte Tettenborn mit dem Vortrabe der Kutuſoff'ſchen Trup¬ pen zuerſt wieder daſelbſt ein, wo unter rauchenden Truͤmmern alle Graͤuel der Verwuͤſtung und Aufloͤſung fortdauerten, denen nicht ohne Kampf Einhalt zu thun war. Unmittelbar darauf erhielt er die Befehlfuͤhrung eines abgeſonderten Truppentheils, und den allgemeinen Auftrag, dem Feind auf ſeinem Ruͤckzuge allen moͤgli¬ chen Abbruch zu thun. Er that dies mit ſolchem Er¬236 folg, lieferte ſo gluͤckliche Gefechte, und nahm dem Feinde ſo viele Gefangene, daß ihm der Oberbefehls¬ haber, um dieſe Vortheile zu vergroͤßern, die unterha¬ benden Truppen anſehnlich mehrte. Hiedurch war Tet¬ tenborn in den Stand geſetzt, die wichtigſten Dienſte zu leiſten, da die Umſtaͤnde jenes ewig denkwuͤrdigen Ruͤckzugs dem entſchloſſenen Anfuͤhrer einer fliegenden Truppe ſolche Unternehmungen moͤglich machten, deren Schwierigkeiten, in gewoͤhnlichen Kriegsverhaͤltniſſen, fuͤr ganze Heeresabtheilungen unuͤberſteigbar ſein konn¬ ten. Wir ſahen Tettenborn fruͤher durch abgeſeßne Reiter einen Wald angreifen und einnehmen; bei dem Bach Pliſſe lieferte er das Gegenſtuͤck dazu, indem er den Uebergang, den ein franzoͤſiſches Bataillon hart¬ naͤckig vertheidigte und dadurch das Vorruͤcken der Ruſ¬ ſen hemmte, an der Spitze einer Schwadron Huſaren mit dem Saͤbel in der Fauſt erzwang, und das feind¬ liche Fußvolk ſaͤmmtlich gefangen nahm. Tag fuͤr Tag griff er den Feind auf dem weiteren Ruͤckzuge bis zur Bereſina unermuͤdlich an, draͤngte deſſen Flucht, und nahm ihm Kanonen, Pulverwagen, Gepaͤck, und be¬ ſonders viele Gefangne. Er wurde ſodann nach Lepel entſandt, um die dort aufgeſtellten baieriſchen Truppen zu uͤberfallen, die er aber ſchon abgezogen fand. Zu Kobilnicki und in der Umgegend, machte er alle noch zuruͤckgebliebenen feindlichen Truppentheile gefangen, und ſetzte darauf mit angeſtrengter Eile ſeinen Marſch nach237 Wilna fort, wo er ſpaͤt am Abend mit ermuͤdeten Rei¬ tern anlangte, aber dennoch ſogleich die Vorſtadt weg¬ nahm, und daſelbſt uͤber 3000 Franzoſen gefangen nahm.

Wilna war der Hauptort fuͤr die Franzoſen gewor¬ den, wohin die ganze Ruͤckzugsmaſſe des Heeres ſich draͤngte, und daſelbſt, in Hoffnung vorhandener Huͤlfs¬ truppen und großer Vertheidigungsanſtalten, das er¬ ſehnte Ziel zu finden waͤhnte, wo dem ſchrecklichen, durch Kaͤlte, Hunger und Schwert raſtlos andringen¬ den Verderben endlich Einhalt geſchehen wuͤrde. Doch dieſe Hoffnung war eitel; auch hier war keine Rettung bereitet, und an dauernden Widerſtand gegen die ver¬ folgenden Ruſſen nicht zu denken; der Ruͤckzug mußte, unter faſt ebenſo verzweiflungsvollen Umſtaͤnden wie bisher, immer fortgeſetzt werden, und kaum, daß die Weichſel noch eine Schutzwehr ſcheinen konnte. Aber wenn auch auf keine Weiſe Wilna gegen ruſſiſches Fu߬ volk lange haltbar war, ſo fanden ſich doch fuͤr den Augenblick ſo zahlreiche franzoͤſiſche Truppen, wenn gleich in Unordnung, dort zuſammen, ſo große Huͤlfs¬ mittel und Vorraͤthe dort angehaͤuft, daß der Feind, bis das ruſſiſche Fußvolk herankam, leicht Zeit gewin¬ nen konnte, ſich in beſſern Stand zu ſetzen, die nicht zu rettenden Vorraͤthe zu zerſtoͤren, und beſonders die Truppenmenge, jetzt faſt nur aufgeloͤſte Haufen, aber doch immer herſtellbar in geordnete Kriegerſchaaren, an die Weichſel zuruͤckzuſchaffen. Daher war es fuͤr den238 ganzen Feldzug von aͤußerſter Wichtigkeit, hier dem Feinde keinen Augenblick zur Beſinnung zu laſſen. Tettenborn, nur die Nachtheile des Verzuges im Auge habend, ließ ſich durch keine Schwierigkeit abſchrecken, ſondern trotz des faſt allgemeinen Zweifelns und Abra¬ thens beſchloß er ungeſaͤumten Angriff, und noch vor Anbruch des Tages ſtuͤrmte eine Kompagnie Fußjaͤger, die er auf Schlitten hatte nachkommen laſſen, die naͤch¬ ſten Thorpoſten, nach deren Bewaͤltigung er von zweien Seiten mit 3 Koſakenregimentern und 4 Schwadronen Iſum'ſcher Huſaren in die Hauptſtraßen eindrang, wo einige noch zuſammenhaltende franzoͤſiſche Bataillone anfangs ihm herzhaft entgegenruͤckten, bald aber, um¬ gangen und von allen Seiten angegriffen, theils das Gewehr ſtrekten, theils im Fliehen niedergemacht wur¬ den. Der Angriff hatte den Feind dergeſtalt uͤberraſcht, daß die Gegenwehr ohne Plan und Umſicht nur nach Zufall geſchah, und die ganze Stadt binnen kurzer Zeit in den Haͤnden der Ruſſen war. Zum Theil hatten die Juden, welche uͤberall in Polen gegen die Franzoſen heftig entbrannt waren, dieſe waͤhrend des Gefechts im Ruͤcken angegriffen und entwaffnet, ſo daß ſie ganze Schaaren als ihre Gefangne ablieferten.

Der Verluſt, den die Franzoſen durch dieſen uner¬ warteten Schlag erlitten, war ungeheuer. Sie verlo¬ ren in Wilna 48 Kanonen, 7 Fahnen, 6000 Gefangne, ungerechnet 24,000 Kranke, die in den Spitaͤlern la¬239 gen, ferner außerordentliche Vorraͤthe von Kriegsbe¬ duͤrfniſſen aller Art. Der letzte Anhalt des zerruͤtteten Heeres auf dieſer Seite war verloren. Von dieſem Zeitpunkte hauptſaͤchlich, ſagt Napoleon in ſeinen dem General Montholon diktirten Bemerkungen begannen die großen Verluſte dieſes Feldzuges, und nichts konnte unvorhergeſehener ſein, als dieſes Ereigniß von Wilna.

Tettenborn uͤbergab die Stadt dem General Tſcha¬ plitz, der mit dem Vortrabe des Admirals Tſchitſchakoff herangeeilt war, und ruͤckte gleich am folgenden Tage gegen den Niemen vor, um die Verbindung des Mar¬ ſchalls Macdonald, der noch bei Mitau ſtand, mit dem Koͤnige Murat, der in Koͤnigsberg die zerſtreueten Truppen ſammelte, zu unterbrechen. In dieſer Gegend ſtieß Tettenborn auf preußiſche Truppen, mit welchen es aber, da man ſich gegenſeitig gute Geſinnung zu¬ traute, zu keinem ernſtlichen Gefechte kam; nach einigen Scharmuͤtzeln erhielten ſie Befehl, ſich uͤber den Niemen zuruͤckzuziehen, und Tettenborn ging ungehindert nach Tilſit vor, wo die Einwohner ihn mit begeiſtertem Ju¬ bel empfingen. Nach einigen weiteren leichten Gefech¬ ten zwiſchen Tilſit und Ragnit hob der inzwiſchen von dem General von Yorck mit den ruſſiſchen Befehlsha¬ bern eingegangne Waffenſtillſtand auch dieſen Anſchein von Feindſeligkeit zwiſchen den Ruſſen und Preußen auf, dieſe letztern trennten ſich von den Franzoſen, und Tettenborn konnte nun den Marſchall Macdonald, der240 ſeinen Ruͤckzug uͤber Koͤnigsberg ohne Aufenthalt fort¬ ſetzte, mit groͤßtem Nachdruck verfolgen.

In Koͤnigsberg aber wurde Tettenborn durch eine Roſe am Fuß, die als Folge der uͤberſtandenen Be¬ ſchwerden und der ſtrengen Kaͤlte dieſes außerordentli¬ chen Winterfeldzugs ihn befallen hatte, mehrere Tage im Bette gehalten. Zugleich waren auch wegen Wei¬ terverfolgung der Franzoſen allerlei Bedenken eingetre¬ ten. Schon am Niemen hatten die Ruſſen Halt ma¬ chen wollen, dann ſollte die Weichſel das unuͤberſchreit¬ bare Ziel ſein, indem die Beſorgniß waltete, man moͤchte die Staͤrke und Ueberlegenheit, die ſich gegen den eingedrungenen Feind gezeigt hatte, mit jeder zu¬ nehmenden Entfernung von den ruſſiſchen Graͤnzen wie¬ der einbuͤßen. Allerdings waren die Truppen, welche unmittelbar hinter dem Feinde her waren, ihn draͤngten und jagten, nur gering an Zahl, und auch die uͤbri¬ gen, in weiten Abſtaͤnden nachfolgenden, hatten durch Gefechte, Maͤrſche, Entſendungen vielfache Schwaͤchung erlitten. Die Franzoſen hingegen waren nun ihren un¬ ermeßlichen Huͤlfsquellen wieder naͤher, geboten uͤber ganz Deutſchland, und der Beſitz aller feſten Plaͤtze von der Weichſel bis zum Rhein gewaͤhrte ihnen uͤberall Sicherheit, ihre geretteten Heerestruͤmmer zu ſammeln und mit neuen Zuſchuͤſſen aus dem Innern Frankreichs und ſeiner Bundeslaͤnder zu verſtaͤrken. Alle dieſe Be¬ trachtungen jedoch konnten gegen die Macht der That¬241 ſachen nicht beſtehen; das Verderben des Feindes offen¬ barte ſich mit jedem Augenblicke vollſtaͤndiger und ver¬ zweifelter, Furcht und Schrecken gaben willig auf, was die Waffen vielleicht nur ſchwer errungen haͤtten, an Widerſtand im offenen Felde war nicht zu denken, die Flucht ging unaufhaltſam fort, die Verfolgung ſtuͤrzte faſt gezwungen in den leeren Raum. Unter ſolchen Umſtaͤnden, zu welchen ſich die lautwerdende Stimme des deutſchen Volksgeiſtes und die guten Ausſichten diplomatiſcher Thaͤtigkeit geſellten, empfingen die ruſſi¬ ſchen Truppen neuen Befehl vorzugehen, und den Er¬ eigniſſen blieb uͤberlaſſen, wie und wo ſie ihr Ziel fin¬ den moͤchten.

In Folge dieſer veraͤnderten Anſicht erhielt nun Tettenborn, der inzwiſchen Oberſt geworden war, von dem General Grafen von Wittgenſtein den Befehl, mit den ihm anvertrauten Truppen uͤber die Weichſel zu gehen, und ſo weit vorzudringen, als es die Umſtaͤnde zuließen. Tettenborn empfand hieruͤber ſo große Freude, und fuͤhlte ſich ſo gluͤcklich, der erſte zu ſein, der ſeinen deutſchen Landsleuten als Verkuͤndiger der Befreiung von der Franzoſenherrſchaft erſcheinen ſollte, daß er un¬ geachtet ſeines Fußuͤbels unverzuͤglich von Koͤnigsberg aufbrach, und ſeinen Marſch uͤber Konitz und Soldin bis zur Oder fortſetzte. Noch hielten zwar anſehnliche franzoͤſiſche Truppenſchaaren ſich auf dem rechten Ufer der Oder, die Feſtungen waren alle ſtark beſetzt, undIII. 16242die Hauptſtaͤrke der Ruſſen noch weit zuruͤck; allein Tettenborn beſchloß dennoch, auf das linke Ufer der Oder vorzuruͤcken, um dem Feinde hier keine Zeit zu neuen Maßregeln zu laſſen und die bereits angeordne¬ ten zu hintertreiben.

In Wrietzen, wo der Uebergang geſchah, traf der Oberſtlieutenant Konſtantin von Benkendorf, welcher den Vortrab Tettenborn's befehligte, ein weſtphaͤliſches Bataillon, nahm daſſelbe nach geringem Widerſtande gefangen, und Tettenborn empfing gerade beim Ueber¬ gehen uͤber den Fluß als gutes Vorzeichen zwei eroberte Fahnen. Er ruͤckte nun raſch gegen Berlin vor, wel¬ ches der Marſchall Augereau noch mit 10,000 Fran¬ zoſen und zahlreichem Geſchuͤtz beſetzt hielt. Dieſer ſandte den General Poinſot mit etwa 2000 Mann bis Werneuchen, drei Meilen von Berlin, den Ruſſen ent¬ gegen, um ſie von der ſchon durch mancherlei Gaͤh¬ rung bewegten Hauptſtadt noch abzuhalten. Die Fran¬ zoſen hatten keine Reiterei, die Ruſſen kein Fußvolk, und ſo mußten beide Theile mit großen Schwierigkei¬ ten kaͤmpfen, indem jene das freie Feld nicht behaup¬ ten, dieſe hingegen den Angriff der Ortſchaften und feſten Stellungen nicht unternehmen konnten. Tetten¬ born wollte jedoch nicht vergeblich ſo weit vorgedrun¬ gen ſein; noch jenſeits der Oder, doch ſchon in der Naͤhe, ſtreifte mit einer fliegenden Schaar der General Tſchernyſcheff, dieſen forderte Tettenborn auf, ſich mit243 ihm zu einer gemeinſchaftlichen Unternehmung zu ver¬ einigen, und fand bereitwilliges Gehoͤr. Tſchernyſcheff ging mit ſeinen Koſaken und Huſaren uͤber die Oder, vereinigte ſich mit Tettenborn bei Landsberg, indem dieſer den General Poinſot bei Werneuchen durch einige zuruͤckgelaſſene Poſten uͤber ſeinen Abmarſch noch einige Zeit getaͤuſcht erhielt, und beide Anfuͤhrer ruͤckten nun vor Berlin.

Die beabſichtigte Ueberrumpelung dieſer Stadt wurde jedoch durch unguͤnſtige Umſtaͤnde verzoͤgert, und dann brachte der Zufall ſie nur theilweiſe zur Ausfuͤhrung. Die Ruſſen waren nicht lange in Pankow angekom¬ men, als eine ſtarke franzoͤſiſche Rekognoszirung vor¬ ruͤckte, welche zuruͤckzutreiben Tettenborn ſogleich einige Koſakenregimenter vorfuͤhrte. Der Feind gerieth in Unordnung, und ſuchte ſchnell das Thor von Berlin wieder zu erreichen; Tettenborn aber drang in raſcher Verfolgung dahin nach, uͤberwaͤltigte die Thorwache, und ſprengte mit ſeinen Reitern raſch in die Stadt, die alsbald nach allen Richtungen von Koſaken um¬ ſchwaͤrmt und unerwartet der Schauplatz kriegeriſcher Auftritte war. Tettenborn ſelbſt ruͤckte bis auf den Alexanderplatz, wo ſich einiges franzoͤſiſche Fußvolk wieder geſammelt hatte, und einen geordneten Wider¬ ſtand lebhaft unterhielt. Inzwiſchen hatten die Koſaken ſchon im erſten Augenblick gegen 500 Gefangene und viele Beutepferde fortgefuͤhrt, jagten zum Schrecken16*244der uͤberraſchten Franzoſen und zum Jubel der Ein¬ wohner durch die Straßen ſogar der Friedrichsſtadt, und obgleich die Franzoſen in Berlin noch gegen 8000 Mann ſtark waren, einzelne Truppenabtheilungen ſchon vorher unter dem Gewehr, und auf mehreren Plaͤtzen und Bruͤcken Kanonen aufgepflanzt ſtanden, ſo war doch die Beſtuͤrzung des Feindes ſo groß, daß dieſe Anſtalten nutzlos blieben; ganze Salven aus dem Kleingewehr gingen in die Luft und wenn das Geſchuͤtz losgebrannt wurde, war gewiß kein Koſak mehr in der Richtung deſſelben. Die Unruhe des Volks brach auf mehreren Punkten unverhohlen aus, und konnte jeden Augenblick den Franzoſen verderblich werden; jedoch fehlte ein entſchloſſener Anfuͤhrer, der die Geſinnung zur That gemacht haͤtte. Weil nun den eingedrunge¬ nen Koſaken von den ruſſiſchen Truppen, die vor der Stadt geblieben waren, keine Unterſtuͤtzung kam, ſo gewann der Marſchall Augerau die noͤthige Zeit, ſeine Truppen in der Wilhelmsſtraße zuſammenzuziehen, und ruͤckte mit zahlreichem Fußvolk und Geſchuͤtz heran, wodurch Tettenborn, nachdem er drei Stunden ſich in der Stadt behauptet hatte, endlich zum Weichen ge¬ zwungen wurde. Er zog faſt ohne Verluſt wieder auf das freie Feld, wohin der Feind, ungeachtet ſeiner Uebermacht, nicht zu folgen wagte.

Der kuͤhne Handſtreich war in der Hauptſache zwar nicht gelungen, machte aber fuͤr die ruſſiſchen Waffen245 den vortheilhafteſten Eindruck, und zeigte, welchen Er¬ folg man haͤtte hoffen duͤrfen, wenn von allen Seiten mit gleicher Entſchloſſenheit, wie von der einen, waͤre eingewirkt worden. Allgemein galt das Unternehmen fuͤr einen der glaͤnzendſten Reiterzuͤge, wie denn auch der Kaiſer Alexander zum Zeichen ſeiner Zufriedenheit den St. Wladimirorden zweiter Klaſſe mit ſchmeichel¬ haften Ausdruͤcken an Tettenborn ſenden ließ. Der ganze Ueberfall koſtete wenige Koſaken, die einzeln in den Straßen verirrt, ſich zuletzt abgeſchnitten fanden; ein tapferer und liebenswuͤrdiger Offizier, Wilhelm von Blomberg, der auch ſchoͤne dichteriſche Gaben hatte, war gleich im erſten Anreiten durch eine Kugel getoͤd¬ tet worden. Die Franzoſen verſchwiegen ihren Ver¬ luſt, allein die Gefangenen konnte man in Pankow angehaͤuft ſehen, wohin die Berliner, trotz der fran¬ zoͤſiſchen Wachſamkeit, in den naͤchſten Tagen ſchaa¬ renweiſe ſtroͤmten.

Nachdem der Marſchall Augereau den General Poin¬ ſot von Werneuchen wieder an ſich gezogen hatte, hielt er Berlin und das linke Ufer der Spree noch mehrere Tage beſetzt, um die Truͤmmer aufzunehmen, welche der Vicekoͤnig Eugen von der Oder zuruͤckbrachte, wo¬ durch die franzoͤſiſche Macht in und um Berlin auf 16,000 Mann ſtieg. So verſtaͤrkt, und wieder mit einiger Reiterei verſehen, wagten die Franzoſen nun oͤftere Ausfaͤlle, und vor den Thoren fielen taͤglich blu¬246 tige Gefechte vor, in welchen die letzten Ueberbleibſel franzoͤſiſcher Gardereiterei von den Koſaken uͤbel zuge¬ richtet wurden. Dieſer Zuſtand dauerte fort, bis das ruſſiſche Fußvolk uͤber die Oder gegangen war und gegen Berlin heranruͤckte, auf welche Nachricht die Franzoſen theils nach Magdeburg, theils nach Wittenberg abzogen. Tettenborn ruͤckte an der Spitze ſeiner Truppen in die Stadt, wo die Einwohner ihn mit groͤßten Freuden¬ bezeigungen empfingen; die Koſaken warfen ſich ſogleich auf den abziehenden Feind, deſſen letzte Zuͤge ſie noch innerhalb der Stadt erreichten, und blieben in beſtaͤn¬ diger Verfolgung hart auf ſeinen Ferſen. Der Gene¬ ral Graf von Wittgenſtein langte mit ruſſiſchem Fu߬ volk an, und traf die kraͤftigſten Anſtalten zur weitern Kriegsfuͤhrung.

In Berlin mußte Tettenborn abermals das Bette huͤten, weil die Roſe bei der ſchonungsloſen Anſtren¬ gung wieder ſchlimmer geworden war. Dies hinderte ihn jedoch nicht, mit raſtloſem Eifer neuen Unterneh¬ mungen nachzuhaͤngen. Schon fruͤh hatte ſich das Au¬ genmerk der Ruſſen auf Hamburg gelenkt; außer den militaͤriſchen Gruͤnden, die einen Zug dorthin anriethen, waren auch politiſche Abſichten vorhanden, unter wel¬ chen die nahe Einwirkung auf Daͤnemark, die Eroͤff¬ nung der unmittelbaren Verbindung mit England, und ſelbſt der Eindruck, welchen die Befreiung der wichti¬ gen Handelsſtadt in St. Petersburg machen mußte,247 ſehr in Betracht kamen. Die unzufriedene Stimmung der Hamburger war bekannt, ſo wie auch der ſchwache Zuſtand der franzoͤſiſchen Macht in jenen Gegenden, wo man einen aͤußeren Angriff noch gar nicht erwar¬ tete. Jedoch wuͤrde dieſer Zug nach Hamburg, ſo zweckmaͤßig und guͤnſtig er auch erſchien, wohl nicht zur Ausfuͤhrung gekommen ſein, waͤre nicht in Tetten¬ born zugleich der tuͤchtigſte und bereitwilligſte Fuͤhrer vor Augen geweſen, der kein Bedenken trug, ſich mit einer kleinen Schaar auf vierzig Meilen weit von der Hauptſtaͤrke zu entfernen, und ſich in eine Verwicklung von Ereigniſſen einzulaſſen, deren Wendung niemand abſehen konnte. Er legte ſeine Entwuͤrfe vor, eroͤrterte die Aufgaben, die ſich darbieten konnten, zeigte die Maßregeln, die er auszufuͤhren dachte, und alles wurde gutgeheißen und angenommen. Er empfing die noͤthi¬ gen Befehle und Vorſchriften, und an der Spitze von 4 Koſakenregimentern, 2 Schwadronen Iſum'ſcher Hu¬ ſaren, 2 Schwadronen Kaſan'ſcher Dragoner, und 2 Stuͤcken leichtes Geſchuͤtz, verließ er am 12. Maͤrz Berlin, und ruͤckte raſch gegen Mecklenburg vor. Ein ſchreckender Ruf, der die Zahl der Truppen ungeheuer vergroͤßerte, ging vor ihm her und erhoͤhte ebenſo den Muth der Freunde, als er den des Feindes nie¬ derſchlug.

Wir gehen jetzt zu der naͤheren Betrachtung derje¬ nigen Ereigniſſe uͤber, welche dieſen Zug und ſeine248 Folgen darſtellen, und bemerken nur noch, daß die Erzaͤhlung, ſowohl der hamburgiſchen Sache als auch der ferneren Kriegszuͤge Tettenborn's nicht erſt neuer¬ lich aufgeſetzt, ſondern groͤßtentheils noch im Laufe der Begebenheiten ſelbſt niedergeſchrieben, und ſchon in den Jahren 1813 und 1814 gedruckt worden iſt. Im We¬ ſentlichen dieſe fruͤhere Auffaſſung beizubehalten, ſchien um ſo noͤthiger, als eine vollſtaͤndige Ueberarbeitung ſchwerlich Statt finden koͤnnte, ohne zugleich die Ur¬ ſpruͤnglichkeit zu gefaͤhrden, welche vielleicht den ganzen Werth unſerer Darſtellung ausmacht.

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Hamburg im Fruͤhjahr 1813.

Die Geſchichte der Tage, in welche wir jetzt eintreten, ſchien anfangs in dem Aufſtehen anderer Staͤdte und Laͤnder Deutſchlands, wozu damals Hoffnung und Aus¬ ſicht war, ſich wiederholen zu muͤſſen, und Hamburg keinen Anſpruch zu haben, in der allgemeinen Erhebung mehr zu bedeuten, als ihm nach Verhaͤltniß der Lage und Kraͤfte zukam. Nachdem aber das Beiſpiel dieſer Stadt ohne Nachahmung geblieben, und ihr allein das Loos geworden, fuͤr ihre kuͤhne Entſchloſſenheit die ſchweren Geſchicke zu erdulden, welche wie ein großes Trauerſpiel die Theilnahme der Zeitgenoſſen heftig auf¬ regten, ſo ſteht auch ihre Geſchichte waͤhrend dieſer Zeit als ein eignes, abgeſchloſſenes Ganzes da, und gewinnt einen hoͤheren von den allgemeinen Ereigniſſen faſt un¬ abhaͤngigen Werth.

Der Verfaſſer konnte nicht ohne die tiefſte Bewe¬ gung des Geiſtes und Herzens dieſe Entwicklungen be¬250 trachten, die unter ſeinen Augen vorgingen, und ihm die weſentlichen Momente aller Volkserſchuͤtterungen vorfuͤhrten; er faßte fruͤh den Gedanken, ſich einen An¬ theil an dieſen Vorgaͤngen, da zur eingreifenden That das bloße Wollen nicht genuͤgt, wenigſtens durch Ueber¬ lieferung und Ausbreitung zu erwerben. Von dieſem Vorſatz konnte der Schmerz uͤber den unerwarteten Ausgang ihn eine kurze Zeit ablenken, die obige Be¬ trachtung aber, wie viel wichtiger um dieſe Ereigniſſe geworden, und die verworrnen und falſchen Anſichten, welche ſich verbreiteten, mußten ihn darauf zuruͤckfuͤhren.

Denn das Urtheil der Menge wie der hervorragen¬ den Einzelnen ſchwankte in entgegengeſetzten Irrthuͤ¬ mern, und die Unwiſſenheit entſtellte wie die Luͤge mit verlaͤumderiſchen Zuͤgen das edle Bild dieſer vaterlaͤn¬ diſchen Thatſachen. Auch konnte nicht ſo leicht die Wahrheit inmitten ſo vieler Leidenſchaften und Mei¬ nungen durchbrechen, denen insgeſammt das Licht der klaren Einſicht fehlen mußte. Denn alles, was den Staat betrifft, verweilt bei uns Deutſchen groͤßtentheils in der Heimlichkeit ſtiller Verhandlungen, und ihrem Weſen nach koͤnnen die Gruͤnde und Triebfedern deſſen, was ſichtbar wird, nur wenigen Eingeweihten bekannt ſein; die Vorgaͤnge in und bei Hamburg machten hie¬ von keine Ausnahme, ſie erfuhren uͤberdies einen Zu¬ ſammenfluß der ungewoͤhnlichſten Verwicklungen, wie in ſo kurzer Friſt und ſo engem Raume ſich ſelten251 vereinigt finden. Der Verfaſſer aber war ſo gluͤcklich, einen Standpunkt zu haben, der ihm in das Innere und Aeußere einen gleich freien Blick gewaͤhrte, und die Erforſchung des Einzelnen wie die Ueberſicht des Ganzen erleichterte; und wenn er auch die waͤrmſte Theilnahme bekannte, ſo durfte er ſich doch von allen Vorurtheilen frei fuͤhlen, welche grade hier den Sinn ſo vielfaͤltig befangen hielten. Wer ſelbſt eingeweiht iſt in dem ganzen Zuſammenhang, wird leicht erkennen, wie fern der Verfaſſer es iſt; wer aber bloß Augen¬ zeuge der Erſcheinungen war, der moͤge von der Wahr¬ heit ihrer Darſtellung einen guͤnſtigen Schluß auf die Wahrheit der andern Angaben machen, welche der Pruͤ¬ fung minder offen ſtehen.

Die Spannung, in welcher der Anfang des Jahres 1813 die Gemuͤther durch das ganze noͤrdliche Deutſch¬ land fand, hatte in raſcher Stufenfolge ſich auf's hoͤchſte geſteigert, aus der dumpfen Erwartung mußten heftige Bewegungen hervorbrechen. Der Haß gegen die fran¬ zoͤſiſche Herrſchaft war durch alle erſinnliche Maßregeln der Strenge, der Beſchraͤnkung, der Argliſt und Ver¬ fuͤhrung, mehr genaͤhrt als zuruͤckgedraͤngt worden, und zeigte ſich offner und unruhiger, je naͤher die jammer¬ vollen Reſte des in Rußland untergegangnen Heeres252 den Anblick einer Niederlage brachten, fuͤr welche weder Erfahrung noch Einbildungskraft einen Maßſtab hatten; die Berichtigung, anſtatt, wie ſonſt, auf geringere An¬ gaben zuruͤckzufuͤhren, fand nur immer zu ſteigern und hinzuzuthun: ein weit groͤßeres Verderben hatte Na¬ poleon ſeinem eignen Heere gebracht, als jemals einem fremden. Jetzt fuͤhlte jederman, daß auch fuͤr Deutſch¬ land der Augenblick der Freiheit gekommen ſei; nur wie er zu ergreifen waͤre, lag noch in dunkler Ungewißheit. Beſonders hatten diejenigen Landſchaften, welche in franzoͤſiſche oder weſtphaͤliſche Departements verwandelt waren, den groͤßten Anreiz, ihre Bande abzuwerfen, doch, ihrer Fuͤrſten beraubt, ohne Zuſammenhang und Vertrauen, fuͤhlten ſie zu ſehr ihre Vereinzelung und Schwaͤche, um ſelbſtſtaͤndig die Waffen zu ergreifen. Deſto ſehnſuͤchtiger blickten ſie auf die Annaͤherung der ſiegreichen Ruſſen.

Gleichwohl eilte der ungeduldige Eifer der Unter¬ druͤckten dieſem Zeitpunkt auch zuvor. Im franzoͤſiſchen Gebiete ſelbſt, in einer Stadt, welcher die ruſſiſche Huͤlfe damals noch ſehr entfernt war, in Hamburg, wo die franzoͤſiſche Herrſchaft recht im Gegenſatze mit dem vorigen Freiheitsgluͤck die unertraͤglichſte Qual und Lebenshemmung geworden war, brach am 24. Februar, bei einem unbedeutenden Anlaß am Altona'er Thor, der langverhaltene Grimm furchtbar aus. Eine große Menſchenmaſſe, die ſich wegen aufreizender, von den253 franzoͤſiſchen Douaniers mit barſcher Strenge ausge¬ fuͤhrter Durchſuchungen angehaͤuft hatte, drang endlich im Gefuͤhl ihrer Kraft, auf dieſe verhaßten Diener der fremden Gewalt kuͤhn und entſchloſſen ein, uͤberwaͤl¬ tigte und entwaffnete ſie, zertruͤmmerte das Wachthaus, und riß eine lange Reihe ſtarker Paliſſaden, welche zur Abſperrung dienten, in einem Augenblicke nieder. Der ſiegesfrohe Haufen tobte ſodann wuͤthend durch die Straßen der Stadt, rief den Franzoſen Tod und Ver¬ derben, ſuchte die franzoͤſiſchen Beamten auf, die ſchon groͤßtentheils geflohen oder verſteckt waren, ſtuͤrmte deren Wohnungen, zerſchlug beſonders die Zeichen der Kaiſerſchaft, und rief Schmaͤhungen und Fluͤche gegen Napoleon und ſeine Helfer aus. Weil jedoch in der bewegten Menge weder Einheit und Plan war, noch ein Anfuͤhrer auftrat, der ihr beides haͤtte geben koͤn¬ nen, ſo verlor ſich der Tumult nach und nach in dem Dunkel der Nacht. Gleich am folgenden Tage gingen Gewerb und Handel, als waͤre nichts vorgefallen, in gewohnter Ordnung ruhig wieder ihren Gang. Einige daͤniſche Huſaren, die auf dringendes Anſuchen der vom erſten Schrecken aufathmenden Franzoſen in die Stadt geruͤckt waren, wirkten zur Beruhigung mit, indem ſie den Behoͤrden zum Schutz dienten, ohne ſich dem Volke feindlich zu bezeigen. Dieſes erkannte auch ſogleich ihre Geſinnung, benahm ſich friedlich gegen ſie, und zeigte ausdruͤcklich, daß es ſie von der Sache der Franzoſen254 trenne. Die letztern durften ſich nicht allzu dreiſt her¬ vorwagen, oder liefen Gefahr, beleidigt und angefallen zu werden. Daß auch im unterſten Volke bei dieſer Feindſeligkeit noch ein anderer Trieb walte, als rohe Widerſetzlichkeit und Pluͤnderungsluſt, mußten ſelbſt die franzoͤſiſchen Beamten zugeſtehn, und dies verdroß und beſchaͤmte ſie am meiſten, ein allgemeiner Haß machte ſich Luft, dies war nicht zu verhehlen noch zu beſchoͤ¬ nigen. Keine Verletzung des Eigenthums, keine Mi߬ handlung, keine Ausſchweifung hatte der Poͤbel began¬ gen, die nicht lediglich gegen die Franzoſenherrſchaft gerichtet geweſen waͤre, ja beim Pluͤndern einiger Kaſ¬ ſen hatten Leute von zerlumptem Anſehn die vollen Beutel jubelnd auf die Straße unter die Menge aus¬ geworfen, und das Geld wurde in den folgenden Tagen groͤßtentheils wieder eingeliefert.

Im Vortheil beſtehender Einrichtung und geordne¬ ter Wirkſamkeit, wußten ſich die Franzoſen mit kluger Vorſicht doch noch im Beſitze der Macht zu erhalten, und bald wieder die Oberhand zu nehmen. Sie zogen die angeſehenſten Buͤrger zu Rath, uͤbertrugen dieſen manche Maßregeln und Anſtalten, und vertrauten theil¬ weiſe der Buͤrgerſchaft ſogar die Waffen wieder, die man ihr fruͤher mit ſorgſamer Strenge abgenommen hatte. Die Buͤrger fuͤgten ſich zwar ungern in ſolda¬ tiſche Ordnung, zumal ſie wohl fuͤhlten, daß ihre Be¬ waffnung weniger ihre eigne Sicherheit, als die der255 franzoͤſiſchen Gewalt bezwecke, doch nahmen ſie die aufgedrungenen Waffen meiſt in der Hoffnung an, ſie bald auch nach eignem Sinne und wider den nicht zweifelhaften wahren Feind zu gebrauchen. Einſtweilen aber mußten ſie deſſen Macht und Anſehn verſtaͤrken helfen; dies geſchah in ſolchem Maße, und Mißtrauen und Zweifel hatten ſo zugenommen, daß die Franzoſen ſogar wagen durften, eine Anzahl von Schlachtopfern, welche als Raͤdelsfuͤhrer des Aufruhrs gelten mußten, aus der unterſten Volksklaſſe herauszugreifen, und nach kurzem Verfahren ſogleich erſchießen zu laſſen. Hiedurch aber wurde das Volk aus der Betaͤubung, in die es verfallen war, wieder aufgeſchreckt, und einen Tag ſpaͤter haͤtte keine Hinrichtung wiederholt werden koͤn¬ nen. Eine furchtbare Gaͤhrung brauſ'te nun immer¬ fort, bald lauter, bald dumpfer; die Lage der Fran¬ zoſen wurde taͤglich bedraͤngter und angſtvoller, ſie fuͤhl¬ ten, daß ſie weder auf die daͤniſchen Huͤlfstruppen, noch auf die hamburgiſche Buͤrgerbewaffnung ſonderlich rechnen durften; franzoͤſiſche Truppen waren nirgends in der Naͤhe, und aus der Ferne nicht zu hoffen. Ueberzeugt, dem Kaiſer dieſen wichtigen Platz nicht erhalten zu koͤnnen, und doch wieder voll Furcht, ihn zu fruͤh aufzugeben, ſchwankten ſie in wechſelnden Ein¬ druͤcken des Schreckens, des Grimms, der Hoffnung und des Zagens, und durften zuletzt nicht einmal Fort¬ ſendungen wagen, die dem Volke das Bild eines na¬256 hen Abzugs zu ſehr vergegenwaͤrtigt haͤtten. Die Loͤſung dieſes geſpannten Zuſtandes ruͤckte indeß von außen mit beſchleunigten Schritten jeden Tag naͤher.

Schon am 14. Mai war Tettenborn an der Spitze einer vorausgeeilten Koſakenſchaar in Ludwigsluſt ein¬ getroffen, und hatte durch ſein kluges, ruͤckſichtvolles, aber auch entſchloſſenes Betragen den Herzog von Mecklenburg-Schwerin ſogleich beſtimmt, das franzoͤſi¬ ſche Bundesverhaͤltniß augenblicklich aufzugeben und ſich fuͤr die Ruſſen und Preußen zu erklaͤren. Dies erſte Beiſpiel eines deutſchen Fuͤrſten, der die aufgedrungene Fremdherrſchaft abzuwerfen wagte, und fuͤr die Frei¬ heit und Ehre des Vaterlandes ſich jeder Gefahr un¬ terzog, zeigte dem ganzen noͤrdlichen Deutſchland, was zu thun ſei, und wirkte beſonders auch in Hamburg auf die Gemuͤther, welche den Tag nicht fern ſahen, der auch ihre Entſcheidung fordern wuͤrde.

Nach dieſem erlangten Gewinne zog Tettenborn ſogleich weiter, und war mit ſeinem Vortrab am 15. Maͤrz eben in Lauenburg eingeruͤckt, als ihn dort eine Meldung traf, welche fuͤr den Augenblick die ganze Bewegung ſtocken machte, ja ſogar zweifeln ließ, ob nicht der ganze Zug auf Hamburg ſchon als geſchei¬ tert anzuſehen ſei.

Waͤhrend naͤmlich Tettenborn durch Mecklenburg gegen Hamburg vordrang, war gleichzeitig der franzoͤ¬ ſiſche General Morand auf dem Marſche durch dieſes257 Land gegen die Elbe hin, und beide Marſchlinien mu߬ ten hier zuſammentreffen. Morand kam mit 2500 Mann Fußvolk, einiger aus Douaniers beſtehender Reiterei nebſt 16 Stuͤcken Geſchuͤtz, aus Schwediſch-Pommern, welches er auf erhaltenen Befehl geraͤumt hatte, und ſeine Staͤrke war hinreichend, den Marſch der Ruſſen voͤllig aufzuhalten. In Moͤlln angekommen, und durch den Anblick einiger hier nicht vermutheten Koſaken ſtutzig geworden, ließ er ſeine Truppen ploͤtzlich Halt machen. Ihn im Ruͤcken ſtehen zu laſſen, durfte Tet¬ tenborn nicht wagen, ihn anzugreifen war der einzige Rath, doch die Ausfuͤhrung jedenfalls mißlich, da nur Reiterei ihm zu Gebote ſtand. Morand indeß wartete dies nicht ab, ſondern wandte ſich, in der Ungewißheit uͤber die Staͤrke und Abſicht der Ruſſen, noch waͤhrend der Nacht mit allen ſeinen Truppen nach Bergedorf, wo ſich die franzoͤſiſchen Beamten aus Hamburg mit den Douaniers und ſonſtigem Anhang, welche in der gaͤhrenden Stadt den Eingebungen der Furcht nicht laͤnger widerſtanden hatten, mit ihm vereinigten. Die Franzoſen ſtanden demnach zwiſchen die Ruſſen und Hamburg vortheilhaft eingeſchoben. Ihnen aber woll¬ ten die Vortheile ihrer Stellung keineswegs einleuch¬ ten. Morand glaubte ſich ſtark genug, die von jenen ſchon ganz aufgegebene Stadt noch als guten Zufluchtsort behaupten zu koͤnnen, und wollte dorthin marſchiren; allein die Daͤnen, beſorgt, daß Holſtein nicht der Schau¬III. 17258platz der Feindſeligkeiten wuͤrde, hatten bereits mit 300 Mann und vielem Geſchuͤtz ihre Graͤnzen beſetzt, und weigerten den Durchzug durch ihr Gebiet, uͤber welches die Hauptſtraße fuͤhrte; die Nebenſtraße hinge¬ gen durch die hamburgiſchen Niederungen des Billwaͤr¬ ders ſchien den Franzoſen unrathſam.

Unter dieſen Umſtaͤnden mußte Morand ſich wenig¬ ſtens in Bergedorf und den Vierlanden behaupten, und da er inzwiſchen auch erkundet, daß die Ruſſen nur Reiterei haͤtten, ſo ſandte er am naͤchſten Morgen 500 Mann mit 8 Kanonen nach Eſcheburg, den von Lauenburg heranruͤckenden Ruſſen entgegen. Tetten¬ born ließ durch den Oberſtlieutenant Konſtantin von Benkendorf ſogleich den Feind angreifen und den gan¬ zen Tag bis zur Nacht unaufhoͤrlich beunruhigen. Die Gegend war den Ruſſen ſehr unvortheilhaft; von Eſche¬ burg bis Bergedorf iſt ein einziger Engweg, den der Feind beſetzt hielt, und deſſen linke Seite nach dem Elbufer, des niedrigen und zerſchnittenen Bodens we¬ gen, fuͤr Reiterei unzugaͤnglich, die rechte Seite aber nur in weitem Bogen zu umgehen war. Der Eifer und die Gewandtheit der Koſaken erſetzte bald den Nachtheil dieſer Umſtaͤnde. Tettenborn ließ eine An¬ zahl abſitzen und zu Fuß mit dem Feinde plaͤnkeln, ſie ſchlichen durch das Gebuͤſch ganz nah zu den feindli¬ chen Kanonen, deren Kartaͤtſchenſchuͤſſe ſie geſchickt ver¬ mieden, und dann mit Hurrahgeſchrei verhoͤhnten, ſie259 ſelbſt aber nahmen die franzoͤſiſchen Kanoniere zum Ziel und toͤdteten deren viele.

Waͤhrend dieſe Koſaken den Feind in der Fronte beſchaͤftigten, ſandte Tettenborn eine andere Abtheilung auf Umwegen nach Bergedorf, wo Morand ſeine Haupt¬ truppe beiſammen hielt; die Feldwachen, keines An¬ griffs gewaͤrtig, wurden uͤberfallen, und flohen in Unordnung bis in die Stadt, wo ſie alles mit Schrecken und Beſtuͤrzung erfuͤllten; die Franzoſen mußten ihre nach Eſcheburg vorgeruͤckte Mannſchaft vernichtet glau¬ ben. Als nun gar noch Koſakenzuͤge ſich in der rech¬ ten Flanke zeigten, welche den Weg nach der Elbe hin zu ſperren drohten, meinte Morand dies nicht abwar¬ ten zu duͤrfen; er hatte ſchon in der Nacht ſein Gepaͤck beim Zollenſpieker uͤber die Elbe geſchickt, am 17. Maͤrz ganz in der Fruͤhe brach er ſelbſt mit allen Truppen in derſelben Richtung auf, um ſich auf das linke Elbufer zuruͤckzuziehen. Tettenborn folgte ihm auf dem Fuße nach, und draͤngte ihn dergeſtalt, daß eine Vier¬ telſtunde von Zollenſpieker die Franzoſen Halt machen mußten, und auf einem querlaufenden Deich eine Bat¬ terie von 6 Kanonen aufpflanzten, welche den einzigen Deich, auf welchem die Ruſſen nachruͤcken konnten, durch lebhaftes Feuer beſtrichen. Aber auch hier ſaßen viele Koſaken ab, nahmen die Buͤchſe zur Hand, und unter¬ hielten das Gefecht, bis Tettenborn ſeine beiden Kano¬ nen auf dem Deiche trotz des feindlichen Feuers vor¬17 *260fahren ließ, von denen jedoch nur die eine zum Feuern kam, denn der Feind, nun gar Geſchuͤtz bei den Ruſſen wahrnehmend, verlor die Luſt weitern Widerſtandes, ſuchte eiligſt die Boote zu erreichen, die zur Ueberfahrt bereit ſtanden, verlor aber durch die nun um ſo hitziger anſprengenden Koſaken noch viele Leute, und mußte ihnen auch die 6 Kanonen uͤberlaſſen, welche ſchon ein¬ geſchifft waren, doch nicht mehr abfahren konnten.

Der Weg nach Hamburg war nun frei, und auf dem rechten Elbufer kein Franzoſe mehr. Die Ein¬ wohner dieſer Stadt und der umliegenden Gegend hat¬ ten die zwei Tage fortdauernden Kampfes in freudig¬ banger Erwartung und ungeduldiger Hoffnung zuge¬ bracht. Einzelne Reiter aus der Stadt hatten ſchon in der Gegend von Eſcheburg ſich bei den Ruſſen ein¬ gefunden, waren Zeugen der gluͤcklichen Gefechte ge¬ weſen, und hatten zuruͤckkehrend durch ihre Erzaͤhlun¬ gen die ganze Bevoͤlkerung zu den Ausbruͤchen der leidenſchaftlichſten Freude aufgeregt, welche durch die kurze Anweſenheit einer ſchon am 17. in die Stadt gedrungenen Streifparthei Koſaken noch ſtaͤrker ent¬ flammt wurde. Der Maire und ſeine Beiſtaͤnde aus der Buͤrgerſchaft ſandten nun dem ruſſiſchen Befehls¬ haber Abgeordnete entgegen, ihn zur Beſetzung der Stadt einzuladen und ihm deren Wohl zu empfehlen. Tettenborn empfing dieſe Abgeordneten Nachmittags in Bergedorf, als er eben nach Beendigung des Gefechts261 gegen Morand dahin vorgeruͤckt war. Sie legten drin¬ gend ihre und ihrer Mitbuͤrger Wuͤnſche vor, durch ihn das Joch der franzoͤſiſchen Herrſchaft von ihnen genommen zu ſehn. Hier war es, wo Tettenborn durch Einſicht und Karakter den fuͤr Hamburgs Frei¬ heit und Selbſtſtaͤndigkeit entſcheidendſten Anſpruͤchen die Bahn eroͤffnete, und fuͤr die deutſche Sache uͤber¬ haupt das nachahmenswuͤrdigſte Beiſpiel hervorrief, in¬ dem er den Abgeordneten erklaͤrte, die Ruſſen koͤnnten allerdings das Begehrte thun, ſie koͤnnten es aber auch unterlaſſen, und Hamburg als eine dem Feinde abgenommene Stadt behandeln; das Letztere ſei viel¬ leicht fuͤr die ruſſiſchen Waffen vortheilhafter, allein dergleichen Erwaͤgungen duͤrften hier nicht gelten, die ruſſiſche Sache ſei mit der deutſchen verſchwiſtert, und dieſe fordre, daß die Hamburger ſelbſt ihre Freiheit herſtellten; ſie moͤchten daher unverzuͤglich die franzoͤſi¬ ſchen Behoͤrden abſchaffen, ihre ehemaligen eignen wie¬ der einſetzen; er werde die Stadt nicht eher als Freund betreten, bis dies geſchehen waͤre. Mit dieſer Antwort ſandte er die Abgeſandten, unter denen einige vorma¬ lige Rathsherren waren, nach der Stadt zuruͤck. Kaum war hier Tettenborn's Erklaͤrung kund geworden, als ihr auch ſchon genuͤgt war. Die Mairie, und was noch ſonſt von franzoͤſiſchen Formen beſtand, wurde abgeſchafft, die alte Verfaſſung wieder eingeſetzt, Rath und Buͤrgerſchaft zuſammenberufen und die Freiheit der262 Stadt oͤffentlich verkuͤndigt. Neue Abgeordnete wur¬ den an Tettenborn geſandt, um ihn von dem Geſche¬ henen zu benachrichtigen; dieſe erſt erkannte er als wahre Hamburger an, und verſprach ihnen ſeines Kai¬ ſers Schutz und Beiſtand.

Am Mittage des 18. Maͤrz hielt Tettenborn ſeinen Einzug in die Stadt. Nie gab es ein groͤßeres Feſt; das ganze Daſein einer ungeheuern Bevoͤlkerung verlor ſich in das Eine Gefuͤhl der wiederkehrenden Freiheit, und alles Gewicht der Erinnerung vieljaͤhrigen Ungluͤcks und Leidens fiel an dieſem Tage von den aufgerichte¬ ten Gemuͤthern ab. Aus allen Tiefen, wohin er ſich hatte verbergen muͤſſen, drang der Ausdruck der wah¬ ren, langverhaltenen Empfindungen maͤchtig hervor, und wurde zum lauten Ruf der Begeiſterung. Solche Lei¬ denſchaft und Herzensgewalt, wie in dieſem Volksjubel ſich offenbarte, hatte keiner der Anweſenden je geſehn, noch den Deutſchen als moͤglich zugetraut. Jeder auch minder bedeutende Umſtand dieſes Tages wurde durch die unausſprechliche Innigkeit und Liebe, welche alles durchdrang, ruͤhrend und groß. Bis zwei Meilen von Hamburg waren dreißig Buͤrger zu Pferde den ruſſi¬ ſchen Truppen entgegengekommen, und zogen ſodann mit lautem Jubel vor ihnen her, um ſie in ihre Stadt einzufuͤhren. Je naͤher man dieſer kam, deſto anſehn¬ licher wurde die Schaar dieſer Begleiter, deſto lauter und begeiſterter toͤnte ihr unaufhoͤrlich erneuertes Hur¬263 rahrufen, das in der bei jedem Schritt zahlreicher ver¬ ſammelten Volksmenge wiederhallte. Eine Ehrengarde zu Pferde ſtand an dem ſogenannten Letzten-Heller, wo der Nebenweg, den die ruſſiſchen Truppen von Ber¬ gedorf herkamen, wieder in die durch das daͤniſche Gebiet abgeſchnittene Hauptſtraße faͤllt, in Parade auf¬ marſchirt, und ſetzte ſich an die Spitze des voranrei¬ tenden Zuges, dem ſich weiterhin die Schuͤtzengilde anſchloß. Gaͤrten, Landhaͤuſer und Alleen, die ſich weit vor die Stadt hinaus erſtrecken, waren von einer un¬ geheuern Menge Menſchen beſetzt, ein unabſehbares Gewimmel breitete ſich, wohin die Augen blickten, ver¬ wirrend aus. Immer neue Wogen von Hurrah und Lebehoch kamen dem annaͤhernden Zuge entgegen, waͤh¬ rend zu beiden Seiten und weit im Ruͤcken das Ge¬ ſchrei mit Heftigkeit fortdauerte. Zwiſchendurch vernahm man den Geſang der Koſaken, die ihre vaterlaͤndiſchen Lieder angeſtimmt hatten. Vor dem Thore empfing Tettenborn von den Abgeordneten des Raths und der Buͤrgerſchaft die Schluͤſſel der Stadt. Im Thore ſelbſt bekraͤnzten ihn weißgekleidete Maͤdchen mit Blumen, indem ſie ihn als Retter und Befreier willkommen hießen, unter lautem Beifallrufen des Volks. Jetzt ſtieg der Jubel und die Begeiſterung auf den hoͤchſten Gipfel. Das Gedraͤnge in der Stadt nahm uͤberhand. Die Fuͤlle der Menſchen war nur Eine große Fluth, die, wie ein langſamer Strom in ſeinen Ufern, durch264 die engen Straßen fortruͤckte, und jeden Augenblick ſchwellend ſtockte. Alle Glocken laͤuteten, Freudenſchuͤſſe aus Flinten und Piſtolen dauerten ununterbrochen fort, alles war trunken und außer ſich vor Entzuͤcken. Vivat Kaiſer Alexander, unſer Erretter, unſer Erloͤ¬ ſer! und Hurrah und Vivat Tettenborn! Vivat Wittgenſtein! und Heil den Ruſſen, den Koſaken , und Heil und Lebehoch ohne Zahl ſchallte durch die Luͤfte, daß alles davon erzitterte. Aus den Fen¬ ſtern wehten Fahnen und Flaggen; Frauen und Maͤd¬ chen ſchwangen weiße Tuͤcher; Huͤte mit gruͤnen Zwei¬ gen ſah man auf Degenſpitzen und hohen Stangen getragen, oder jauchzend durch die Luͤfte geſchleudert. Man draͤngte ſich, mit Gefahr zertreten zu werden, zwiſchen die Pferde, bekraͤnzte ſie mit gruͤnen Zweigen und Blumen, die zum Theil aus den Luͤften gepflogen kamen, ja man kuͤßte ſelbſt die Pferde im Uebermaße des Gluͤcks. Man ſah weinen und lachen vor Freude, Alt und Jung die Haͤnde zum Himmel erheben, Be¬ kannte und Unbekannte einander umarmen und begluͤck¬ wuͤnſchen, mit ſeinem Todfeinde wollte ſich jeder ver¬ ſoͤhnen um dieſes Tages willen, eine allgemeine Bru¬ derliebe hatte die Menſchen ergriffen. In mehreren Straßen waren Bruſtbilder des Kaiſers Alexanders aufgeſtellt und mit Lorbeere bekraͤnzt, vor jedem der¬ ſelben hielt Tettenborn ſtill, ſenkte den Degen, und brachte ſeinem Kaiſer ein Hurrah, das jauchzend von265 dem Volke wiederholt wurde. Unter tauſend verſchie¬ denen Ausbruͤchen berauſchten Entzuͤckens gelangte er bis zu ſeiner Wohnung, wo der Jubel ununterbrochen fortwaͤhrte. Ungemein erhoͤhte den Eindruck, daß keine große Kriegsmacht, ſondern eine kleine Schaar, kein fremder Fuͤrſt oder Feldherr, ſondern ein Deutſcher, ein ritterlicher Anfuͤhrer wunderbarlicher, niegeſehener Reiter, die mehr ſeinem Heldenmuth als ſeinem Befehl anzugehoͤren ſchienen, dieſen Strom des uͤberwogenden, unerſchoͤpflichen Willkommens empfing; es ſchien die Zeit wiedergekehrt, wo von Wenigen, wo von Einem die groͤßten Dinge vollbracht wurden. Die Stadt war Abends erleuchtet; auch hier erfand der Eifer des begei¬ ſterten Volks alle nur erſinnlichen Mannigfaltigkeiten, um den Antheil an dem allgemeinen Entzuͤcken, jeder auf beſondere Art, darzuthun. Im Schauſpiel wieder¬ holte ſich das rauſchende Getuͤmmel des Beifalls, ſobald Tettenborn mit ſeinen Offizieren in der ihm bereiteten Loge erſchien; alle Zuſchauer, auch die Frauen, ſtan¬ den auf, und ſangen feierlichſt das Lied: Auf Ham¬ burgs Wohlergehn , worauf nun erſt das Schauſpiel beginnen konnte; es war ein Gelegenheitsſtuͤck, das unzaͤhligemal bei jeder leiſen Anſpielung durch unge¬ heuern Beifall unterbrochen wurde. Die beruͤhmte, und in Hamburg beſonders beliebte Schauſpielerin So¬ phie Schroͤder trat mit der ruſſiſchen Kokarde auf und wurde ſtuͤrmiſch beklatſcht. Als Tettenborn das Schau¬266 ſpiel verließ, ſpannten ihm die Buͤrger die Pferde aus, und zogen ihn mit Jubelgeſchrei nach Hauſe, wo ſie ihn auf ihren Schultern aus dem Wagen trugen. Er hatte ſeinen ſchoͤnſten Tag erlebt; er war der Held des Volks geworden, ſein Name ſchallte weit im Land um¬ her und uͤber die See hinuͤber.

Am folgenden Tage erſchienen ſogleich zwei Be¬ kanntmachungen, durch welche Tettenborn auf hoͤhern Befehl den Hamburgern freie Schiffahrt und Handlung ankuͤndigte, dagegen alles franzoͤſiſche Eigenthum anzu¬ geben und einzuziehen befahl. Die gefuͤllten Douanen¬ ſpeicher, welche fuͤr mehr als 400,000 Thaler eingezo¬ gener Waaren enthielten, uͤbergab er der Stadt, damit das nachzuweiſende Eigenthum den ehemaligen Beſitzern unentgeltlich zuruͤckgegeben wuͤrde. Die alte Regierung der Stadt, die nun als eine freie und ſelbſtſtaͤndige Macht angeſehen wurde, erhielt den Auftrag, dieſes Geſchaͤft, ſo wie alle andern, ihr Inneres betreffenden Einrichtungen, zu uͤbernehmen. Durch dieſes uneigen¬ nuͤtzige Verfahren erwarb Tettenborn auf die Dankbar¬ keit der Hamburger neue Anſpruͤche, und uͤberall wurde ſein Name geprieſen und ſein Ruhm verherrlicht. Daß es ſeine Nachtheile hat, dem Volke als ein zu großer Wohlthaͤter zu erſcheinen, haben viele alte und neue Beiſpiele dargethan, allein wir ruͤhmen doch immer die, deren edler Trieb ſolche Klugheit verachtete.

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Unmittelbar nach dieſen Anordnungen wandte Tet¬ tenborn ſogleich die ganze Kraft ſeiner Thaͤtigkeit auf die Werke des Krieges und die neuen Streitkraͤfte, die hier geſchaffen werden ſollten. Die Ruͤckſicht auf den Feind durfte keinen Augenblick vernachlaͤſſigt werden, die Mittel, ihn zu bekaͤmpfen und die Voͤlker zum be¬ waffneten Aufſtande gegen ihn zu bringen, blieben das Wichtigſte und Erſte, was vor allem andern noͤthig war. In Hamburg konnte man, durch den Schein der Gegenwart verfuͤhrt, ſich leicht der Taͤuſchung hin¬ geben, daß von den Franzoſen gar nicht mehr die Rede zu ſein brauche, und ein großer Theil der Einwohner folgte nur allzuſehr dieſem Wahne, der uͤberhaupt in Deutſchland großen Raum gewonnen hatte, und an die Stelle des fruͤhern Glaubens an die Unuͤberwindlichkeit der Franzoſen getreten war. Worauf es aber in dieſen Zeiten ankomme, und wohin zunaͤchſt die vereinigte Kraft aller Gutgeſinnten ſich zu wenden habe, eroͤffnete Tettenborn gleich am 19. Maͤrz durch folgenden Auf¬ ruf: Hamburger! Ihr loͤſtet die unter der franzoͤſiſchen Regierung beſtandenen Behoͤrden auf, noch ehe die ruſ¬ ſiſchen Truppen euer Gebiet betraten, und ſetztet die alten herkoͤmmlichen Behoͤrden wieder ein. Dieſe maͤnnliche und wuͤrdige That, womit ihr das Werk eurer Rettung begonnen, und euch dem ganzen Deutſchland als Beiſpiel aufgeſtellt habt, macht euch der Zufriedenheit meines erhabenen Kaiſers und der268 Achtung der ruſſiſchen Nation werth. Nicht in eine neufranzoͤſiſche, ſondern in eine altdeutſche Stadt fuͤhrtet ihr uns ein, und ſo nur durften wir euch als Bruͤder begruͤßen. Euer Jubel bei unſerm Einzuge in eure Stadt hat jeden unter uns tief bewegt; doch, ihr deut¬ ſchen Maͤnner und Bruͤder! eure Freude wird nur als¬ dann die wahre Bedeutung gewinnen, wenn ihr Hand mit anlegt an das große Werk der Befreiung Deutſch¬ lands. Zu den Waffen demnach, wenn die Unter¬ druͤckung eine Schmach war; zu den Waffen fuͤr Va¬ terland und Recht! Noch iſt das Werk der Rettung nicht vollbracht, und darum denke keiner bis dahin an Erholung und Genuß. Das ehrenvollſte Geſchaͤft iſt jetzt, das Schwert zu ziehen und die Fremdlinge vom deutſchen Boden zu verjagen, die bereits dreihundert Meilen weit von den ſiegreichen ruſſiſchen Heeren ver¬ folgt werden. Schande und Schmach fuͤr jeden, der in dieſer verhaͤngnißvollen Zeit, wo um die hoͤchſten Guͤter der Menſchen gefochten wird, die Haͤnde in den Schoß legt. Noch Einmal alſo: zu den Waffen! zu den Waffen! Unter dem Schutze meines erhabenen Kai¬ ſers werdet ihr euch unter eignen Panieren verſammeln, und ich freue mich, daß mir das Loos beſchieden, euch zuerſt gegen den Feind zu fuͤhren, und Zeuge eurer Tapferkeit zu ſein. Tettenborn.

Er kuͤndigte hierauf dem Rath und der Buͤrger¬ ſchaft an, daß er, dem Auftrage ſeines Kaiſers zufolge,269 eine hanſeatiſche Legion aus freiwilligen Jaͤgern zu Fuß und zu Pferde errichten werde, die als Bundestruppen der Hanſeſtaͤdte fuͤr die Dauer des Krieges mit den Ruſſen und Preußen vereinigt fechten ſollten. Die Aufforderung, ſich zu dieſer Legion zu melden, erging unter dem 20. Maͤrz, und zugleich wurde ein aͤhnlicher Aufruf an die Stadt Luͤbeck erlaſſen, wo unterdeſſen der Oberſtlieutenant von Benkendorf mit einigen ruſ¬ ſiſchen Truppen eingezogen, und mit gleicher Begei¬ ſterung und Freude, wie in Hamburg, aufgenommen worden war.

Der Zulauf, um ſich unter die Freiwilligen ein¬ ſchreiben zu laſſen, war außerordentlich. Nach wenigen Tagen ſchon betrug die Zahl der eingeſchriebenen meh¬ rere Tauſend, doch mußten von dieſen manche, weil Kraͤfte und Alter nicht immer dem Eifer entſprachen, abgewieſen werden. Viele angeſehene junge Leute, die der ſorgfaͤltigſten Erziehung genoſſen hatten, und in uͤppiger Lebensweiſe aufgewachſen waren, ſah man hier als Gemeine eintreten. Manche, die kurz vorher durch große Summen ſich von der franzoͤſiſchen Konſkription losgemacht, und Stellvertreter gekauft hatten, eilten mit Freuden, ſich jetzt ſelbſt unter die Waffen zu ſtellen.

Tettenborn hatte gleich anfangs den Herren des Raths erklaͤrt, daß er mit allen Geldverhaͤltniſſen, die bei Errichtung der Legion vorkommen wuͤrden, nichts zu thun haben wolle, ſondern bloß anzeigen werde,270 was zur Ausruͤſtung der Truppen noͤthig ſei, die An¬ ſchaffung ſelbſt aber der Stadt uͤberlaſſe. Es wurden daher durch Rath - und Buͤrgerſchluß 200,000 Thaler als vorlaͤufige Summe fuͤr die Koſten der Einrichtung bewilligt, und einer eigends dazu beſtellten Kommiſſion die Verwendung uͤbertragen. Wer irgend von den Summen, welche Hamburg von jeher zu politiſchen Ausgaben verwendet bat, unterrichtet iſt, und da weiß, mit welch aͤußerſter Leichtigkeit Millionen aufgebracht, und in den ſchon ungluͤcklichen Zeiten noch Hundert¬ tauſende hingegeben wurden, die man zu erſparen nicht einmal den Verſuch machte, der wird uͤber die Gering¬ heit jener angewieſenen Summe erſtaunen, zumal wenn man bedenkt, welchen Zweck und welchen Gewinn fuͤr Hamburg es hier galt. Es iſt bemerkenswert, daß der Rath ſogar nur die Haͤlfte jener Summe anfaͤng¬ lich in Anregung brachte, und grade die Buͤrgerſchaft, welche ſie zahlen ſollte, die vorgeſchlagene Summe ver¬ doppelte. Aber freilich zeigte ſich ſchon hier, noch mehr aber in der Folge, ein Unterſchied der Geſinnung, der die nachtheiligſten Wirkungen aͤußerte, und wohl ein¬ geſehn, aber nicht abgeaͤndert werden konnte. Die Anordnungen aller Art wurden von den alten Behoͤr¬ den ſo unzulaͤnglich und langſam betrieben, daß ganze Tage der koſtbarſten Zeit verloren gingen, und nichts zu Stande kommen wollte. Hinderniſſe wurden ange¬ fuͤhrt, Schwierigkeiten eroͤrtert, Beſorgniſſe gezeigt,271 Sicherungen verlangt und Anſtoͤße genommen, wo, am rechten Ende gefaßt, und mit klarem Sinne angeſehn, die Sache von ſelbſt gehen mußte. Tettenborn hatte mit unſaͤglicher Muͤhe und Anſtrengung uͤberall ſelbſt anzuordnen und zu befehlen, mußte in die kleinſten Einzelnheiten der Ausruͤſtungen eingehn, und am Ende aller Arbeit doch durch das Anſehn der Gewalt bei jenen Behoͤrden durchdringen. Die entſchiedene Sprache, die bei dieſen Gelegenheiten gefuͤhrt wurde, half auf einige Zeit, und brachte regſamere Thaͤtigkeit hervor. Die folgenden Worte uͤber die inneren Verhaͤltniſſe Hamburgs werden darthun, wie ſowohl jene Unannehm¬ lichkeiten, als auch manches andere Uebel, das ſich ſpaͤter entwickelte, tief in der Sache begruͤndet waren.

Die Hamburger waren ein wirklich freies Volk, der Obrigkeit aus Wahl und mit Bewußtſein unter¬ geben, und durch einen kraͤftigen Geſetzeszuſtand bei der gluͤcklichſten Verfaſſung erhalten. Die Unabhaͤngig¬ keit konnte jedem Einzelnen, ſobald er es wollte, das Gefuͤhl des perſoͤnlichen Geltens erhoͤhen, ſie mußte ihn auf ſich ſelbſt, auf ſein eignes Wirken und Wollen, vorzuͤglich anweiſen,[und] dadurch ſeinen Karakter kraͤf¬ tigen. Die Hamburger ſind daher auch von allen Zei¬ ten her, vor andern Großſtaͤdtern, beherzt und kuͤhn geweſen, zum Raufen aufgelegt, und auch der Geringſte, weit entfernt, ſich etwas bieten zu laſſen oder ohne Noth zu dulden, iſt zu dreiſten Ruͤckwirkungen ſtets272 bereit, wie denn im Auslande allgemein der Hambur¬ ger als grob verſchrieen iſt. Die ſtarken Arbeiten, der Matroſenverkehr, und die Wohlhabenheit, trugen ſaͤmmt¬ lich dazu bei, dieſen Sinn zu naͤhren. Dieſe Unterlage bildete ſich bei dem Mittelſtande in eine große buͤrger¬ liche Tuͤchtigkeit aus, die ſich auf mannigfache Art of¬ fenbarte, in gewoͤhnlichen Zeiten durch ſtrenge Ehrbar¬ keit des Lebens, und durch muſterhafte bis zum Eigen¬ ſinn getriebene Rechtſchaffenheit im Handel, in bedraͤng¬ ten Umſtaͤnden durch große Aufopferung, in dieſen letzten Zeiten durch den außerordentlichen Eifer mit wel¬ chem man Hand anlegte, und die Sache des Vater¬ landes fuͤhren half.

Ueberhaupt waren die Gedanken der Hamburger von jeher auf den Staat gerichtet, und zwar weniger auf die aͤußern Verhaͤltniſſe deſſelben, als vielmehr auf deſſen innere, ſtille Einrichtungen, die nirgends ſo eigen¬ thuͤmlich, reichlich, zweckmaͤßig waren, als in dieſer nur durch kuͤnſtliche Vereinigung raſtloſer Thaͤtigkeiten beſtehenden, an ſich landarmen, zum Theil auf mora¬ ſtigen Inſeln unter vielem Ungemach zuſammen ge¬ draͤngten Stadt. England mit den anlockenden Bewe¬ gungen ſeines politiſchen Lebens lag hier den Blicken nah; Frankreichs Veraͤnderungen fanden hier vorur¬ theilsfreiere Beurtheilung; die Kraft altdeutſcher Staats¬ einrichtungen war hier laͤnger lebendig geblieben, und mit Einem Worte, was unſre Zeit grade am meiſten273 bedurfte, politiſcher Sinn fand ſich vielfach vorbereitet und angeſammelt. So hatte auch Hamburg immer eine große Menge praktiſcher Maͤnner und edler Pa¬ trioten, deren erfolgreiche Thaͤtigkeit das Gemeinweſen herrlich foͤrderte, und ein unendlich nuͤtzliches Wirken im ſtillen Leben des vaterſtaͤdtiſchen Kreiſes verbarg; das Andenken der Reimarus, Sieveking, Kirchhof, Buͤſch, und vieler Andern, die dieſen aͤhnlich waren, lebte ſelbſt in dieſen Zeiten der Zerſtoͤrung und des Leichtſinnes noch fort. So viel Vortreffliches fand ſich in Hamburg vor, ſo viel Großes war moͤglich durch die nun zum Ausbruch freier Thatkraft wieder berufene Geſinnung, waͤre nicht dies alles großentheils gelaͤhmt, ja wohl gar zerſtreut und vernichtet worden durch einen Umſtand, der nicht ungluͤcklicher haͤtte ſein koͤnnen! Die Sache verhielt ſich, wie folgt. Als noch vor dem Ein¬ zuge der ruſſiſchen Truppen die freie Verfaſſung her¬ geſtellt wurde, war es wohl bei klugen und einſichts¬ vollen Maͤnnern zur Sprache gekommen, ob denn ſo unbedingt die alte Verfaſſung wieder anzunehmen, und die Leitung der Dinge grade denſelben Haͤnden, die ſie ehemals gefuͤhrt hatten, zu uͤbergeben ſei. Es galt hier die folgenreiche Entſcheidung zwiſchen der Wahl eines ganz neuen Senats und der Wiedereinſetzung des alten, deſſen Mitglieder zum Theil auch unter den Franzoſen dieſelben Aemter, wie vorher, nur mit dem Unterſchiede, daß ſie franzoͤſiſche Formen hatten, ver¬III. 18274walteten. Das Anſehn und Herkommen ſprach fuͤr letzteres, die Erwaͤgung deſſen, was zu leiſten ſei, fuͤr jenes, die Furcht, im erſten Augenblick ſolcher lebhaf¬ ten Bewegung das Gewicht fruͤhern Anſehns und Ge¬ wohnheiten nicht entbehren, und die Hoffnung, nach und nach die gewuͤnſchten Aenderungen dennoch herbei¬ fuͤhren zu koͤnnen, entſchieden zuletzt fuͤr die unbedingte Einfuͤhrung der alten Verfaſſung mit allen noch vor¬ handenen ehemaligen Mitgliedern derſelben. Der groͤßte Theil der Senatoren war alt und ſchwach, der Ge¬ ſchaͤfte entwoͤhnt, und ohne Neigung, ſich aufs neue damit zu befaſſen. Die wenigen Beſſern hatten nicht Kraft genug, die geſammte Laſt der Arbeiten zu tra¬ gen, und waren ohnedies auf ihre neue politiſche Rolle kaum vorbereitet; ſo kam es denn, daß alles, was die ausuͤbende Gewalt betraf, wie aus einer andern Zeit herbeigeholt, ohne Sinn fuͤr die Beduͤrfniſſe der Gegen¬ wart, ohne Geiſt fuͤr ihre Leitung blieb. Ebendaſſelbe galt von dem Kollegium der Oberalten, und den an¬ dern Ausſchuͤſſen der Stadt, ſo wie von den Anfuͤhrern der Buͤrgerwachen; nirgends fand ſich unter den wirk¬ lich in der alten Verfaſſung Angeſtellten ein Mann, der, kraft ſeiner Stelle und ſeines Amtes, mit uͤber¬ wiegendem Nachdruck gehandelt und gewirkt haͤtte. In der Buͤrgerſchaft war Friſche, Lebendigkeit und Eifer, in den Behoͤrden Nichtigkeit, Beſorgniß und Unfaͤhig¬ keit. Alle Verſuche, dies zu verbeſſern, mußten ver¬275 geblich ſein, ſo lange nicht der Senat erneuert wurde, eine Maßregel, die niemand vorzuſchlagen eilte, und deren Ausfuͤhrung allerdings viel Mißliches haben mochte. Es war alſo eine Regierung vorhanden, die wenig von dem erfuͤllte, was man von ihr erwartete. Der ruſ¬ ſiſche Befehlshaber mußte ſie anerkennen, ſich an ſie wenden, mit ihr verhandeln, mittlerweile ſelbſt alles befehlen und einrichten, was von ihr haͤtte ausgehen ſollen. Wenn bei manchen Dingen hinreichend iſt, daß man ſie geſchehen mache, gleichviel, ob gern oder un¬ gern, ſo giebt es dagegen unendlich viele, bei denen ohne den perſoͤnlichen guten Willen und Eifer des Aus¬ uͤbenden nichts erreicht wird. Es iſt unmoͤglich, den Menſchen das Innere zu befehlen, und grade das In¬ nere nur konnte hier wirken, grade die freie Neigung und Kraft mußte die hier obliegenden Arbeiten verrich¬ ten helfen, um ihr Gelingen moͤglich zu machen. Statt deſſen ergab ſich, ſo oft mit den Behoͤrden zu unter¬ handeln war, Beſchwerde, Verdruß, Unordnung und Unzulaͤnglichkeit, ja ſelbſt hin und wieder, doch zur Ehre der Stadt ſei es geſagt, ſelten, ausdruͤcklich und unverkennbar uͤbler Wille. Dieſe Muͤhſeligkeiten und Hinderniſſe erfuhren nicht allein die fremden Militair¬ perſonen, ſondern auch die trefflichen Buͤrger, die mit lebhafterem Eifer ſich das Wohl des Ganzen angelegen ſein ließen, und hiebei nicht ohne Geſetzmaͤßigkeit wir¬ ken wollten. So geſchah es, daß die ganze Stadt,18*276ohne ihr Verſchulden, oft unvortheilhafter erſchien, als die Geſinnung und Bereitwilligkeit der Einwohner ver¬ diente, und daß die Moͤglichkeit großer Kraftwirkungen in der Ungunſt ſolcher Umſtaͤnde faſt erloͤſchen mußte. Statt im Bewußtſein ihrer wiedergekehrten, und von den Ruſſen anerkannten Selbſtſtaͤndigkeit frei und kraͤf¬ tig zu handeln, wagte der Senat kaum, die Verant¬ wortlichkeit dafuͤr zu uͤbernehmen, daß er das Befoh¬ lene ausgefuͤhrt hatte; ſtatt mit Daͤnemark, mit Eng¬ land und Preußen unverzuͤglich eigne, zur Befeſtigung der vaterſtaͤdtiſchen Sache nothwendige Verbindungen anzuknuͤpfen, brachte er nach langem Zaudern kaum die Abgeordneten an den Kaiſer Alexander auf den Weg. Man koͤnnte noch vieles anfuͤhren, was eben ſo ver¬ ſaͤumt worden iſt, wenn nicht an dieſem ſchon genug waͤre. Der Senat war und blieb in allen Stuͤcken hin¬ ter den Forderungen zuruͤck, welche der Drang der Zeit ihm auferlegte, und daher fanden die mannigfachen, ſchoͤnen Kraͤfte nirgends Einheit und Zuſammenhang. Eine Friſt von ſechs Monaten haͤtte in lebendiger Ent¬ wickelung das Zerſtreute ſammeln und ordnen, das Verwahrloſte aufnehmen koͤnnen, und nach und nach waͤre die gewuͤnſchte Einheit entſtanden; dieſe Zeit wurde den Hamburgern nicht gewaͤhrt. Hierin lag etwas Ver¬ haͤngnißvolles. Nach der großen Schuld, die hier auf die Umſtaͤnde faͤllt, kann man nur die geringere Schuld noch den Menſchen zurechnen.

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Wir kehren zu den Arbeiten zuruͤck, die jetzt in Hamburg alle Thaͤtigkeit in Anſpruch nahmen. Aller Schwierigkeiten ungeachtet, ging die Errichtung der hanſeatiſchen Legion raſch vorwaͤrts. Die theils dem Feinde abgenommenen, theils als altes Eigenthum der Stadt vorgefundenen Kanonen gaben Veranlaſſung auch eine Abtheilung Artillerie zu errichten und der Legion einzuverleiben. Man verſchrieb die fehlenden Waffen aus England, man erbaute Lavetten und Pulverwagen, errichtete ein Laboratorium, ſorgte fuͤr die Beſpannung, ließ Waffen aller Art verfertigen und ausbeſſern, ſchaffte die uͤbrigen Ruͤſtungsſtuͤcke ſo gut als moͤglich herbei. Die ſonſt an Huͤlfsmitteln ſo reiche Stadt bot deren fuͤr die militaͤriſchen Beduͤrfniſſe unglaublich wenige dar; manche Gegenſtaͤnde mußten unter großen Schwierig¬ keiten aus dem Daͤniſchen herbeigeſchafft werden; die Unbekanntſchaft mit allen kriegeriſchen Anordnungen und Beziehungen ſetzte jedem Schritte unausweichliche Hinderniſſe entgegen, die nur durch unermuͤdete Auf¬ ſicht und unverdroſſene Selbſtbemuͤhung endlich wegge¬ raͤumt werden konnten. Es fehlte ſehr an gedienten Offizieren, gaͤnzlich an Unteroffizieren fuͤr die neuen Truppen, Vorſchriften und Anleitungen zum Dienſt und zur Uebung wurden daher um ſo noͤthiger und man eilte dieſelben abzufaſſen. Außer den Hanſeaten bildete ſich nach Tettenborn's Befehl und Anleitung ein Bataillon Lauenburger in Ratzeburg unter dem278 hannoͤverſchem Major von Berger, auch dieſe waren aber groͤßtentheils ohne Waffen. Ein anderes Batail¬ lon aus den Herzogthuͤmern Bremen und Verden wurde auf gleiche Weiſe in Stade zuſammengebracht. Der Oberſt Graf von Kielmannsegge warb hannoͤverſche Jaͤger.

Inzwiſchen hatte ſie in Haarburg, Luͤneburg, Stade, und in dem ganzen Striche Landes laͤngs der Elbe bis Bre¬ men, ein Aufſtand gebildet, der Befehle, Waffen, Un¬ terricht und Huͤlfe von Tettenborn forderte, und ſo viel moͤglich erhielt. Verlaufene franzoͤſiſche Soldaten, Doua¬ niers, ja ſogar Gendarmen und Offiziere wurden von dieſen Leuten taͤglich als Gefangene nach Hamburg eingebracht, wobei es jedesmal die groͤßte Muͤhe koſtete, die Wuth des erbitterten Poͤbels zu baͤndigen, der be¬ ſonders den Douaniers mit Koth und Steinen arg zuſetzte. Von Zollenſpieker, aus dem Billwaͤrder, Och¬ ſenwaͤrder und den Vierlanden kamen wackre Maͤnner, die ſich erboten, den Landſturm in ihrer Gegend ein¬ zurichten und anzufuͤhren; ſie erhielten Befugniß und Unterweiſung. Auch in dieſen Landſchaften gab es oft mit der Schwaͤche und Beſorglichkeit der Behoͤrden zu kaͤmpfen, und Schwierigkeiten zu behandeln, die nicht immer ohne Strenge zu beſeitigen waren. Ueberall traten die alten Beamten wieder in Wirkſamkeit, die meiſten hatten auch bei der franzoͤſiſchen Regierung ihre Dienſte fortgeſetzt, und veraͤnderten mit dem neuen279 Eintauſch ihrer alten Titel nicht immer die inzwiſchen eingeſogenen fremden Geſinnungen; in einem kleinen Umkreiſe waren die Behoͤrden verſchiedener Laͤnder, die Rechte mannigfacher Oberherren zu beruͤckſichtigen. Die Gegenſtaͤnde der Schiffahrt und des Handels, obgleich uͤbrigens ganz den Verfuͤgungen der hamburgiſchen Re¬ gierung anheimgeſtellt, mußten doch in vielem Betracht die Einwirkung des ruſſiſchen Befehlshabers anſprechen, der die Ausruͤſtung zweier Kaper, und anderer, theils bewaffneter, theils zum Transport von Pferden einge¬ richteter Schiffe betreiben ließ.

Eine andre Beſchaͤftigung gab die anbefohlene und mit aller Strenge ausgefuͤhrte Einziehung des franzoͤ¬ ſiſchen Eigenthums, und die ſorgfaͤltige Aufmerkſamkeit, welche auf die zahlreichen Franzoſen gewendet werden mußte, die ſich, zum Theil von aͤlterer Zeit her in Hamburg und der Umgegend aufhielten, und denen viel Geſindel aus allerlei Nationen beizurechnen war, das waͤhrend der franzoͤſiſchen Herrſchaft und in ihrem Dienſte ſich hier eingeniſtet hatte. Dieſes alles auszukehren, haͤtte eine laͤngere Zeit erfordert, da beſonders die Be¬ voͤlkerung Hamburgs eben ſo gemiſcht, als die Oertlich¬ keit in und außer der Stadt uͤberaus verworren und ſchwer zu beaufſichtigen iſt. Hiezu kommt noch, daß die hamburgiſche Regierung, nach der großartigen Weiſe freier Staaten, die Fremdenpolizei von jeher laͤſſig be¬ trieben hatte, und die Ruſſen dies Fach ganz allein280 verſehn mußten, ohne Mitwirkung und Huͤlfleiſtung dazu beſtimmter Beamten. Der nichtswuͤrdigſten Verraͤther, die das oͤffentliche Urtheil einſtimmig als ſolche bezeich¬ nete, waren eine große Anzahl vorhanden, vornehme und geringe, arme und reiche; gefaͤhrlicher noch mußten die verſteckten ſein, deren Treiben weniger bekannt ge¬ worden war. Die Unterſuchung der auf mancherlei Angebungen verhafteten Perſonen nahm viele Zeit weg, war muͤhſam und blieb doch meiſtentheils ungenuͤgend. Die entſchiednen Schelme, Kundſchafter und Knechte der Franzoſen, die ſchaͤndlichen Werkzeuge ihrer Erpreſ¬ ſungen, wurden, hoͤherem Befehl gemaͤß, auf deſſen ſtrenge Ausfuͤhrung beſonders der Miniſter vom Stein im Hauptquartier des ruſſiſchen Kaiſers unerbittlich be¬ ſtand, zur Ausſetzung an der franzoͤſiſchen Kuͤſte be¬ ſtimmt. Manche gaben zwar vor, dort ihren gewiſſen Tod zu finden, weil auch die franzoͤſiſche Regierung ſie als Feinde verfolge; andre wollten ihren Haß gegen Napoleon jetzt durch die groͤßten Schmaͤhungen dar¬ thun; franzoͤſiſche Emigranten, die ſich den Gewaltha¬ bern Napoleon's zu den niedrigſten Dienſten verkauft hatten, meinten eiligſt ihre adliche Geburt und royali¬ ſtiſche Geſinnung wieder geltend zu machen; Stein aber wollte von keinen Ruͤckſichten hoͤren, keine Unterſchiede, ja kaum eine genaue Pruͤfung geſtatten. Ungefaͤhr dreißig Perſonen wurden wirklich eingeſchifft und an der hollaͤndiſchen Kuͤſte gelandet. Allein ſchon die zweite281 Sendung unterblieb, und nach dem erſten Schrecken regte ſich der franzoͤſiſche Anhang nur um ſo thaͤtiger, wie denn bald der Feind von allem, was vorging, die ſchnellſte Kundſchaft empfing. Die groͤßte Strenge, der furchtbarſte Schrecken waͤre hier vonnoͤthen gewe¬ ſen, um das Uebel auszurotten, und ſelbſt blutige Schauſpiele haͤtte man nicht tadeln koͤnnen. Aber man fing ſchon an, eine moͤgliche Umkehr der Dinge zu beruͤckſichtigen; man wollte nicht kuͤnftige Rache her¬ ausfordern, berief ſich auf Menſchlichkeit und Gro߬ muth, und erlangte von dem Kaiſer Alexander die Zuruͤcknahme der anbefohlnen Strenge. Nicht zu be¬ rechnen iſt, wieviel die Gelindigkeit, welche darauf in allen Maßregeln eintrat, der hamburgiſchen Sache ge¬ ſchadet hat. Nachdruͤckliches Verfahren verſichert die Gemuͤther und beruhiget den Geiſt; und um der Gu¬ ten willen mehr, als wegen der Schlechten, iſt in Staatsſachen beharrliche Strenge nuͤtzlich. Die Sache Hamburgs aber erforderte unnachlaſſende Kraft, ge¬ ſchloſſene, unerdringliche Feſtigkeit; jede Luͤcke, jede Weichheit oͤffnete dem Feinde den Eintritt. So geſchah es auch hier. Der Eifer der Untergeordneten ward irr und erſchlaffte, ſobald er von obenher geringern Ernſt zu ſehen meinte. Viele ſonſt wohlgeſinnte Maͤnner, den Zuſtand des Kriegs und der Empoͤrung, in dem ſie ſich befanden, verkennend, wollten ſchon uͤberall den282 Maßſtab ruhigen Friedens anlegen, und mußten aus ihrem Wahn bisweilen hart aufgeruͤttelt werden.

Inzwiſchen hatte der engliſche Major von Kenzin¬ ger von Helgoland aus mit einigen hundert Mann Kuxhaven beſetzt, und den Aufſtand der Bauern bei Bremerlehe, ſo viel in ſeinen Kraͤften ſtand, unter¬ ſtuͤtzt. Tettenborn ſetzte ſich ſogleich mit ihm in Ver¬ bindung, und erfuhr zu ſeinem Leidweſen, daß von Helgoland vor einiger Zeit alle vorraͤthig geweſenen Gewehre wieder nach England abgefuͤhrt worden, ein beklagenswerther Zufall, deſſen Nachtheil durch nichts erſetzt werden konnte. Jedoch eilte Tettenborn, die mit England aufgeſchloſſene Verbindung moͤglichſt zu benutzen, und ſchickte einen ruſſiſchen Offizier, den Ritt¬ meiſter von Bock, dem er einen doniſchen Koſaken zur Begleitung gab, mit Briefen an den Prinzen-Regen¬ ten und an den ruſſiſchen Botſchafter nach London, wo die Erſcheinung eines Koſaken, des erſten, den man je dort geſehen, die außerordentliſte Aufregung machte.

Der nahen Nachbarſchaft wegen mußten die Daͤnen die ganz beſondere Aufmerkſamkeit der Hamburger ſo¬ wohl als der Ruſſen auf ſich ziehen. Das Verhaͤltniß zu Daͤnemark behielt, ungeachtet der bezeigten Annaͤ¬ herung des Kabinets zu der ruſſiſch-preußiſchen Sache, zwei ſchwierige Seiten, die ſo viel als moͤglich umgan¬ gen werden mußten. Die Ruſſen naͤmlich waren Ver¬283 buͤndeten der Englaͤnder und der Schweden, von denen die erſteren wegen der alten Beleidigungen, die letztern wegen der Abſichten auf Norwegen, den Daͤnen gleich verhaßt waren. Die Schifffahrt auf der Elbe konnte ohne die Einwilligung der Daͤnen nicht ſtattfinden, die Verbindung mit den engliſchen Schiffen mußten ſie wenigſtens nicht zu hindern verſprechen. Die verſchlun¬ genen Graͤnzen zwiſchen dem hamburgiſchen und daͤni¬ ſchen Gebiete trennten beide laͤngſt nur dem Namen nach, der maͤchtige Lebensverkehr ging daruͤber hin, und dieſen zu erhalten waren Verguͤnſtigungen und ſtillſchweigende Uebereinkuͤnfte unentbehrlich. Der Kom¬ mandant von Altona, Oberſtlieutenant von Haffner, bot hiezu bereitwillig die Hand. Nur im Betreff der verlangten Entfernung vieler von Hamburg nach Altona gezogenen Franzoſen, die dort frei das Geſchaͤft des Ausſpaͤhens trieben, waren alle Vorſtellungen und Be¬ ſchwerden lange fruchtlos, und das nachtheilige Trei¬ ben dauerte, ungeachtet des von daͤniſcher Seite endlich ertheilten und oft wiederholten Verſprechens, bis zu Ende fort. Die uͤberwieſenen Kundſchafter, die in Hamburg ſeitdem noch oft ergriffen wurden, waren ſaͤmmtlich von Altona hereingekommen.

Die thaͤtige Mitwirkung der Schweden zu dem Kriege gegen Napoleon war laͤngſt erwartet; ſie ſchien nun bald erfolgen zu muͤſſen, und es war wichtig, von allem, was in dieſem Betreff vorging, fruͤhzeitig un¬284 terrichtet zu ſein, um davon zum Beſten der ham¬ burgiſchen Angelegenheiten jeden Vortheil ſchnell wahr¬ zunehmen. Tettenborn knuͤpfte deßhalb die noͤthigen Verbindungen an und widmete dieſen Verhaͤltniſſen die groͤßte Aufmerkſamkeit.

Eine dringende Verhandlung wurde gleichzeitig mit dem Herzog von Mecklenburg-Schwerin gepflogen. Tet¬ tenbborn ſtellte dem Herzog lebhaft vor, wie wichtig es fuͤr ihn ſei, daß Hamburg gehoͤrig behauptet wuͤrde, und weil der faſt gaͤnzliche Mangel an Fußvolk hiebei ſehr bedenklich war, ſo erſuchte er ihn, das Bataillon Grenadiere, welche in Ludwigsluſt ihm zur Leibwache dienten, nach Hamburg ruͤcken zu laſſen. Der Herzog willfahrte, und ſtellte das 500 Mann ſtarke Bataillon, die einzige Truppe, die ihm ſeit den Verluſten im ruſſi¬ ſchen Feldzuge noch geblieben war, unter der Anfuͤh¬ rung des Oberſten von Both zu Tettenborn's Ver¬ fuͤgung.

Alle dieſe zahlreichen und mannigfachen Geſchaͤfte, die in unendliche Verwickelungen und Einzelnheiten uͤbergingen, laſteten mit vielen andern ganz auf Tet¬ tenborn, der ſeine militairiſchen, unmittelbar den Feind betreffenden Aufgaben mit diplomatiſchen Maßregeln, mit den Geſchaͤften ſo verſchiedener Errichtungen, mit den Ruͤckſichten fuͤr mannigfache Regierungen und Voͤl¬ ker, mit der Entſcheidung politiſcher und ſogar kauf¬ maͤnniſcher Faͤlle, mit dem bald ſchonenden, bald ſtra¬285 ſenden Anregen laͤſſiger Behoͤrden, mit Verhoͤren, Ver¬ abredungen und Berichten, in unaufhoͤrlichem Wechſel und Drang der Arbeit verbinden mußte. In ſeinem Hauptquartier arbeitete vom fruͤhen Morgen bis in die ſpaͤte Nacht die raſtloſeſte Thaͤtigkeit, und er ſelbſt war ſtets das Vorbild unermuͤdlichen Eifers und angeſtreng¬ ter Hingebung. Er entzog ſich den Huldigungen, die ihm von allen Seiten entgegenkamen, den begeiſterten Ehrenbezeigungen des dankbaren Volkes, das auf den Wegen, wo man ihn zu ſehen hoffte, ungeduldig und meiſt vergebens harrte; ihn beſchaͤftigten ausſchließlich die ernſten Aufgaben, welche ſich hier uͤberreich zuſam¬ mendraͤngten. Mit treffender Urtheilskraft und ſchneller Findung wußte er das Nothwendige einzuſehen und herbeizufuͤhren, die Umſtaͤnde zu benutzen, Hinderniſſe zu entfernen, das Unerwartete zu verarbeiten. Die reifſte Ueberlegung konnte ſelten Treffenderes liefern, als die erſte Eingebung des Augenblicks gewoͤhnlich ſchon dargeboten hatte.

Eine große Anzahl ausgezeichneter Offiziere hatten ſich bei Tettenborn eingefunden, theils durch ſeine Per¬ ſoͤnlichkeit und den Ruf ſeines Namens angezogen, theils durch die Sache ſelbſt, welche er unternommen hatte, ihm zugefuͤhrt. Sein Kriegsgefolge vergegen¬ waͤrtigte die aͤlteſten deutſchen Zeiten, wo freiwillige Anſchließung mehr als verpflichteter Dienſt die Trup¬ pen ihrem Anfuͤhrer verband. Außer den ruſſiſchen286 Offizieren, welche ſeiner Truppenſchaar und ſeinem Stabe unmittelbar angehoͤrten, dem Rittmeiſter von Lachmann, den Majors von Gunderſtrup, von Laſch¬ kareff, und Andern, gab es deren viele, welche von ihren Vorgeſetzten die Erlaubniß erhalten hatten, den Krieg in ſeinem Gefolge mitzumachen, junge Ruſſen aus den angeſehenſten Familien, ein Graf von Gurieff, ein Fuͤrſt Gagarin, ein Graf von Pahlen, der Graf Friedrich von Neſſelrode, zwei Freiherrn von Schilling, der Marquis de la Maiſonfort, ein Graf Orurk, ein Freiherr von Berg; aus Oeſterreich kamen die ehema¬ ligen Regimentskammeraden Tettenborn's, Freiherr von Droſte-Viſchering und Freiherr von Herbert, beide ſei¬ nethalb in ruſſiſche Dienſte tretend; aus Oldenburg der Graf von Muͤnnich, aus Hannover ein Graf von Har¬ denberg, Rittmeiſter von Wenckſtern, aus Hoya, aus Heſſen der Graf Karl von Heſſenſtein, aus Mecklen¬ burg ein Graf von Bothmer, ein Herr von Bluͤcher und viele Andre noch aus den benachbarten Laͤndern. Beſonders zahlreich waren die Preußen, unter ihnen ſtand obenan der Freiherr von Canitz, Adjutant des Generals von York, ein ausgezeichnet kriegskundiger und tapfrer Offizier, der in hoͤherem Auftrage dieſen Kriegszug begleitete; der Rittmeiſter von Bismark aus Schoͤnhauſen; ein Rittmeiſter von Hobe; ein Herr von Klitzing aus der Priegnitz; Herr von Hochwaͤchter aus Pommern, und noch Viele, deren Namen zum Theil287 ſpaͤter zu nennen ſein werden. Der ſchwediſche Huſa¬ renlieutenant Albert von Stael, Sohn der beruͤhmten Schriftſtellerin, von ſeinem General mit einem Auf¬ trage nach Hamburg geſandt, erlangte die Erlaubniß, einſtweilen bei Tettenborn bleiben zu koͤnnen. Manche dieſer Offiziere fanden Anſtellung bei den neuen Trup¬ pen; der Graf Joſeph von Weſtphalen, ſchon laͤngere Zeit in dieſen Gegenden auf ſolche Gelegenheit har¬ rend, half die hanſeatiſche Reiterei errichten, zu deren Anfuͤhrer er beſtimmt wurde; ſein Bruder Rudolph, der als Domherr ſeine Ausſichten zu katholiſchen Kir¬ chenwuͤrden aufgab, trat ebenfalls bei dieſer Truppe als Offizier ein. Die Hanſeaten mußten doch immer noch den groͤßten Theil ihrer Offiziere aus ihrer eignen Mitte nehmen, und es fehlte nicht an wackren jungen Maͤnnern, die ſich hiezu eigneten. Mehrere derſelben traten in den Stab und das Gefolge Tettendorn's; Eduard Sieveking, ein trefflicher junger Mann, ſo ge¬ bildet als tapfer; Noodt, aus einem Kandidaten der evangeliſchen Kirche zum thaͤtigen Kriegsmann umge¬ wandelt; Philippsborn, ausgezeichnet durch raſchen Muth und ſcharfen Blick; Behrens aus Luͤbeck, mit kriegs¬ techniſchen Kenntniſſen ausgeruͤſtet; Redlich und Boͤhm, junge wackre Reiter voll Eifer und Thaͤtigkeit. Dieſe zahlreiche und glaͤnzende Geſellſchaft vermehrte ſich ab und zu noch durch den Beſuch von Offizieren, welche, andern Truppenſchaaren angehoͤrend, hier zeitenweiſe288 ſich aufhielten, und an den Unternehmungen und Ge¬ fechten Theil nahmen; der ruſſiſche Major von Grabbe, ein heldenmuͤthiger hoher Kriegsgeiſt; die Hauptleute von Kiel und Alexander von Rennenkampff, beide aus¬ gezeichnet im Kriege, wie in Litteratur und Kunſt; dann der aus oͤſterreichiſchem in ruſſiſchen Dienſt her¬ uͤbergekommene Major Karl von Noſtiz, welcher auch hier den ſchon erworbenen Ruhm bewaͤhrte; der Prinz Adolph von Mecklenburg-Schwerin; ferner Alexander von der Marwitz; der Graf von der Groͤben, und noch Andre, welche theils aus dem Wallmoden'ſchen, theils aus dem Doͤrnberg'ſchen Hauptquartier ſich einfanden.

Fuͤr die Mannigfaltigkeit und den Drang der Fuͤr¬ ſorgen und Geſchaͤfte, welche hier zuſammenkamen, waren jedoch der Gehuͤlfen immer noch zu wenige, be¬ ſonders da die Mehrheit derſelben auf perſoͤnliche Lei¬ ſtung vor dem Feinde angewieſen war; hierin aber ließen die Koſaken wenig zu thun uͤbrig, und die neuen Truppen mußten erſt ausgebildet werden. Fuͤr die ſchwierigeren Aufgaben des Anordnens, Einrichtens, der Verwaltung, der ſtets erneuerten Unterhandlungen und Ruͤckſprachen, der Ermittlung von Huͤlfsquellen, des Wahrnehmens der Vortheile und Ruͤckſichten, welche ſich aus den taͤglich wechſelnden Umſtaͤnden ergaben, fuͤr alle dieſe Geſchaͤfte und Arbeiten blieb nur eine geringe Anzahl von Perſonen uͤbrig; Canitz und Droſte hatten in dieſer Hinſicht großes Verdienſt; hauptſaͤch¬289 lich aber ſtand der Major Ernſt von Pfuel in aller Kraft und Tuͤchtigkeit an Tettenborn's Seite, und griff mit den ihm eignen großen Faͤhigkeiten in das Ganze dieſes bewegten Treibens foͤrdernd ein. Ihm lag beſonders die Errichtung des hanſeatiſchen Fußvolks ob, fuͤr welches er auch eine gedraͤngte Exerzier - und Dienſtvorſchrift zu entwerfen unternahm. Leider mu߬ ten manche Geſchaͤfte, welche hoͤherer Leitung und Auf¬ ſicht bedurft haͤtten, dem guten Willen der damit Be¬ auftragten uͤberlaſſen bleiben, und wo dieſer nicht ausreichte oder gar fehlte, traten Uebelſtaͤnde ein, welche nicht ſogleich ſichtbar und auch dann nicht immer ab¬ zuſtellen waren. Tettenborn hatte in dieſem Betreff, wie jeder Leitende in ſolchen Umſtaͤnden, die ſchlimm¬ ſten Erfahrungen zu machen, und manche Nachlaͤſſig¬ keit und Ungebuͤhr kam erſt dann zu ſeiner Kenntniß, wenn es zur Abhuͤlfe zu ſpaͤt war. Dies war beſon¬ ders der Fall hinſichtlich der freiwilligen Beitraͤge fuͤr die hanſeatiſche Legion, deren Kaſſe einem ehemaligen preußiſchen Kriegsrath Oswald ſehr zweckmaͤßig anver¬ traut ſchien, aber von dieſem auf die frechſte Weiſe veruntreut wurde. Aller Vorſicht und aller Strenge konnte es nicht gelingen, in einem ſolchen Gewirr von Menſchen immer die Guten auszuwaͤhlen und die Schlech¬ ten zu entfernen.

Ermuthigend fuͤr Tettenborn und allem Begonne¬ nen foͤrderlich war die aus dem großen HauptquartierIII. 19290eingehende Nachricht, daß der Kaiſer Alexander ihn mit den ſchmeichelhafteſten Lobſpruͤchen zum Generalmajor ernannt habe, und alles bisher Angeordnete und Ein¬ geleitete unbedingt gut heiße. Die bei den neuerrich¬ teten Truppen angeſtellten Offiziere wurden unbedingt in dem ihnen verliehenen Range beſtaͤtigt, und den ruſſiſchen Offizieren, deren Ehren - und Feldzeichen ih¬ nen zu tragen erlaubt wurde, voͤllig gleichgeſtellt.

In der hamburgiſchen Buͤrgerſchaft zeichneten ſich Ludwig von Heß und Friedrich Perthes durch ihren Vaterlandseifer aus. Erſterer, als patriotiſcher Schrift¬ ſteller vortheilhaft bekannt, war fruͤher in ſchwediſchen Dienſten Offizier geweſen, lebte aber ſeit vielen Jah¬ ren in Hamburg eingebuͤrgert. Fruͤheren, ſchon in Berlin empfangenen Anregungen gemaͤß, trug ihm Tet¬ tenborn die Errichtung und Fuͤhrung einer Buͤrger¬ garde auf, die, durch Rath - und Buͤrgerſchluß beſtaͤ¬ tigt, endlich nicht ohne Widerſtand der ehemaligen Buͤrgerwachen, wobei die gaͤnzliche Spaltung nur durch nachdruͤckliche Maßregeln verhindert wurde, zu Stande kam. Sie wurde in 6 Bataillons, jedes zu 1200 Mann, abgetheilt; eine Anzahl wohlhabender Buͤrger dienten zu Pferde; ſpaͤterhin wurde, außer dem hanſeatiſchen, auch ſtaͤdtiſches Geſchuͤtz errichtet, deſſen Dienſt von Buͤrgern, welche ſich demſelben freiwillig widmeten, verſehen wurde. Jeder Buͤrger vom achtzehnten bis zum fuͤnfundvierzigſten Jahre ſollte zu dieſer Garde291 gehoͤren, die von Offizieren aus ihrer Mitte befehligt, und zunaͤchſt zur Vertheidigung der Stadt beſtimmt wurde. Als ein eigenthuͤmlicher Kopf wußte Heß die Gemuͤther, auch ohne aͤußerliche Beredſamkeit, durch gluͤckliche Gedanken kraͤftig zu faſſen, und fuͤllte eine geraume Zeit die Luͤcken, welche die Neuheit der Sache uͤberall uͤbrig ließ, durch geiſtigen Antrieb aus, bis ſpaͤterhin leider das Sinken ſeiner perſoͤnlichen Kraft dem allgemeinen Sinken der Meinung weniger nach¬ folgte als voranging. Ihm kraͤftig zur Seite ſtand Friedrich Perthes, ein edler deutſcher Mann, voll be¬ weglichen Geiſtes, der in einem lautern und empfin¬ dungsreichen Gemuͤth wurzelt. Seine unermuͤdliche Thaͤtigkeit im Anregen, Berathen, Ausgleichen und Zurechtſprechen, wirkten mehr, als aͤußerlich in die Au¬ gen fiel. Die anerkannte, untadliche Rechtſchaffenheit des Mannes, und die ihm eigne Maͤßigung im Han¬ deln, hatte ſchon fruͤher ſeinem ſtillen Thun großen Einfluß bei den Mitbuͤrgern, ſeiner Perſon Zuneigung und Vertrauen bei den Wohlgeſinnten und Edlen ver¬ ſchafft. Als einen wackern Foͤrderer der deutſchen Sache muͤſſen wir auch hier den geſchaͤfts - und ſtaatskundigen Bankier Dehn aus Altona nennen, deſſen vielfache Kenntniſſe und einflußreiche Verbindungen großen Vor¬ theil brachten. Nicht vergeſſen duͤrfen wir hier des Eifers, womit faſt alle hamburgiſchen Prediger in ihren Kanzelreden die Sache des Vaterlandes zu foͤrdern19*292ſuchten; ihr Wirken konnte in Hamburg um ſo kraͤf¬ tiger anregen, als hier die Religion und ihre Diener von jeher in großem Anſehn ſtanden. Auch einige andre oͤffentliche Bemuͤhungen ſind dankbar anzuerken¬ nen. Ein Rechtsgelehrter, Doktor Beneke, gab eine kleine Schrift unter dem guten Titel Heergeraͤthe fuͤr die hanſeatiſche Legion heraus, geſchichtliche, aͤußerſt zweckmaͤßige Nachrichten, verbunden mit edlen Ermah¬ nungen; die Grundſaͤtze und Abfaſſung ſind gleich mu¬ ſterhaft, und wir tragen kein Bedenken, dieſe Schrift fuͤr eine der beſten zu erklaͤren, welche dieſe Zeitbege¬ benheiten hervorgerufen haben. Der Verfaſſer einer andern Schrift, Patriotiſche Beherzigungen betitelt, iſt nicht bekannt geworden; auch ſie enthaͤlt viel Vor¬ zuͤgliches. Ein Liederbuch fuͤr die hanſeatiſche Legion, aus alter und neuer Zeit geſammelt, lieferte Runge, der Bruder des gleichnamigen Kuͤnſtlers, durch deſſen fruͤhen Tod die Kunſt wie ſeine Freunde einen ſchmerz¬ lichen Verluſt erlitten. Der unzaͤhligen Flugſchriften, Tageblaͤtter und Lieder von unterm Range erwaͤhnen wir nicht. Alte Zeitungen lebten wieder auf; den Unpartheiiſchen Korrespondenten mit dem hergeſtell¬ ten hamburgiſchen Waffen begruͤßte der Dichter Leopold Graf zu Stolberg durch eine feurige Ode. Neue Blaͤt¬ ter traten hervor. Unter dieſen war der Deutſche Beobachter beſonders heftig, und hatte unter allen deutſchen Blaͤttern wohl die meiſte Kuͤhnheit. Pfuel293 und Canitz gaben Beitraͤge. Man hielt ſich ſchadlos fuͤr den erlittenen Zwang, und las eifrig die dargebo¬ tenen Schriften.

In Luͤbeck wiederholte ſich beinahe jedes, was in Hamburg geſchah; die geringere und weniger zuſam¬ mengeſetzte Volksmenge geſtattete dort ruhigere Ueber¬ ſicht, und der Ordnungsgeiſt und die Tuͤchtigkeit der Einwohner zeigte ihre vortheilhafte Wirkung auch in den jungen Kriegesſchaaren, welche die Stadt zur han¬ ſeatiſchen Legion beitrug, und welche ſich an Haltung und Auswahl ſogar vor den Hamburgern auszeichne¬ ten. Den dortigen Zuſtand im Allgemeinen giebt fol¬ gendes Schreiben des Oberſtlieutenants Konſtantin von Benkendorf an Tettenborn zu erkennen: Mein Herr General! Indem ich die Ehre habe, Ihnen die noch offenen Liſten uͤber den Fortgang der hieſigen Ruͤſtun¬ gen einzuſenden, kann ich mir das Vergnuͤgen nicht verſagen, Ihnen auch im allgemeinen die erfreulichſten Berichte uͤber die Stimmung und den Eifer der hie¬ ſigen Einwohner mitzutheilen. Die Zahl derjenigen, welche ſich freiwillig zu den Waffen geſtellt haben, und die hoffentlich in kurzem uͤber tauſend begreifen wird, koͤnnte zwar ſchon allein den guten Geiſt beweiſen, der in Luͤbeck herrſcht, und ſo kraͤftige Anſtrengungen her¬ vorbringt; allein auch auf jede andre Art, oͤffentlich und im Stillen, hat ſich die Vaterlandsliebe und der Sinn fuͤr edle Hingebung bewaͤhrt, welche man von einem294 braven und der Freiheit noch nicht allzu lange ent¬ woͤhnten Volke erwarten konnte. Die ſchoͤne Begei¬ ſterung fuͤr die gute Sache hat ſich nicht minder wirk¬ ſam in der Summe ſowohl, als in der Art der frei¬ willigen Gaben bezeigt, die noch taͤglich fuͤr die neuen Bewaffnungen zuſtroͤmen, und zu welchem beſonders die Frauen mit ausgezeichnetem Eifer beigetragen ha¬ ben, indem ſie ihren letzten Schmuck darbrachten, deſ¬ ſen aͤußerliche Zierde ſie freilich nie ſo ſchmuͤcken konnte, wie die edle Geſinnung, die ſie demſelben entſagen hieß. Ich bekenne mit Freuden, daß ich alle Urſache habe, mit dem, was gegenwaͤrtig geſchieht, zufrieden zu ſein, und daß ich das feſte Vertrauen hege, die genommenen Maßregeln und die eifrige Thaͤtigkeit der Buͤrger immer wirkſamer werden zu ſehen. Ich ſage Ihnen, mein Herr General, den lebhafteſten Dank fuͤr den gluͤcklichen Auftrag, den ſie mir ertheilt haben, die erſten Schritte dieſer frohen Bewegungen einzuleiten. Ich habe die Ehre u. ſ. w. Benkendorf.

Mittlerweile hatte Tettenborn die Haͤlfte ſeiner Rei¬ terei uͤber die Elbe auf der Straße nach Bremen vor¬ geſandt. Der franzoͤſiſche General Morand, der ohne Noth ſich mit ſeinen Truppen bis zur Weſer zuruͤck¬ gezogen hatte, ſchien ſeinen Fehler wieder gut machen zu ſollen, und ruͤckte, vermuthlich auf ausdruͤcklichen hoͤheren Befehl, wieder gegen die Elbe vor, indem er ſogar die Abſicht aͤußerte, auch Hamburg wieder zu295 beſetzen. Die Koſaken ſchwaͤrmten um das geſchloſſene Fußvolk herum, und neckten und beunruhigten daſſelbe, ohne jedoch ſeinen Marſch hindern zu koͤnnen. Sie zogen ſich nach Maßgabe des feindlichen Anmarſches zuruͤck, und der Feind kam wieder in die Gegenden, welche gegen ihn die Waffen ergriffen hatten. Die Nachricht von der Annaͤherung der Franzoſen erregte in Hamburg Beſtuͤrzung und Sorgen, Gefluͤchtete vom linken Elbufer verbreiteten Angſt und Schrecken; man hatte ſich zu ſehr dem Taumel des Gluͤcks uͤberlaſſen, um nicht auf ſolche Wechſel, wie jetzt ploͤtzlich als moͤg¬ lich erſchienen, gaͤnzlich unvorbereitet zu ſein. Dieſe niederſchlagenden Eindruͤcke wirkten zu heftig und zu allgemein, als daß man nicht haͤtte verſuchen ſollen, ihnen den Troſt, den man mit Wahrheit geben konnte, in wenigen beruhigenden Worten zu ſagen. Tetten¬ born ließ am 27. Maͤrz folgenden Aufruf anſchlagen: Hamburger! Einige unter euch ſcheinen beunruhigt uͤber das Anruͤcken der Franzoſen von Bremen her, ich finde daher noͤthig mit euch zu reden, damit ihr wißt, um was es ſich handelt. Der Feind, der ſich ohne Grund vom linken Elbufer bis Bremen zuruͤck¬ gezogen hatte, ruͤckt wieder, wie vorauszuſehen war, auf der Straße von Bremen vor, um die Bewegun¬ gen auf dem platten Lande zu daͤmpfen. Doch er wird die Bewegungen auf dem platten Lande nicht daͤmpfen, ſondern nur noch mehr zu ſeinem Verderben aufregen!

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Die Sturmglocke geht im ganzen Lande; von allen Seiten ziehen die Bauern, von Offizieren geleitet und von 600 Koſaken unterſtuͤtzt, heran gegen den Feind. Es iſt dieſelbe Abtheilung, die ich vor zehn Tagen uͤber die Elbe geworfen habe, und auch jetzt bin ich allein hinreichend, um allen ihren Unternehmungen die Spitze zu bieten. Hamburger! ihr werdet 20,000 Feinde nicht zu fuͤrchten haben, wenn ihr muthvoll ſeid, und bereit das Eurige zu thun. Die wenigen Hunderte, ohne Reiterei, und bald von allen Seiten umringt und ge¬ aͤngſtigt, duͤrfen euch nicht beunruhigen. Der Feind iſt nicht im Stande etwas zu unternehmen. Um ſo weniger, da die Generale Tſchernyſcheff, Benkendorf und Doͤrnberg bereits am 25. dieſes Monats uͤber die Elbe gegangen ſind, alle dieſſeits geſtandenen feindli¬ chen Vorpoſten aufgehoben, und ihre Vorpoſten bereits bis Salzwedel vorgeſchoben haben.

Niemals hat ſich eine Verſicherung dieſer Art glaͤn¬ zender bewaͤhrt. Man vertraute zwar den gegebenen Hoffnungen gern, niemand aber konnte eine ſolche Er¬ fuͤllung erwarten, wie die war, welche alsbald erfolgte! Da man erfuhr, daß bei den Truppen des Generals Morand viele Sachſen befindlich, ſo erließ Tettenborn einen Aufruf an ſie, der ſie zum Uebergehn aufforderte, und alſo lautete: Sachſen! Hoͤrt was ich euch ſagen werde: ihr ſeid betrogen und verrathen! Die Fran¬ zoſen ſchleppen euch im Lande herum, hierhin, dorthin,297 um das Landvolk zu ſchrecken, das in gerechter Wuth uͤber die von den Franzoſen erlittenen Mißhandlungen uͤberall die Waffen ergreift; ſie ſchleppen euch herum, um unter euerm Schutze ſich ſelbſt vom Untergange zu retten. Ihr ſeid von tauſend Koſaken und Jaͤgern umringt, und ſchon laͤutet die Sturmglocke im ganzen Lande. Alles, was deutſch iſt, ſteht auf; und ihr nur wollt noch fechten fuͤr eure Unterdruͤcker, und gegen die welche euch befreien wollen? Ihr wißt nicht, was vorgeht; die ruſſiſchen und preußiſchen Heere ruͤcken bereits unaufhaltſam in eurem Vaterlande vor; in Dresden ſprengte Davouſt eure ſchoͤne Bruͤcke aus Muthwillen, um ſich an den Einwohnern zu raͤchen, die dem General Reynier die Fenſter eingeworfen und einige drohende Reden gegen uͤbermuͤthige Franzoſen ausgeſtoßen hatten. Ueberall flieht der Feind aus eurem Vaterlande, alle Gegenden verheerend, durch welche er zieht. Jetzt bedenkt und erwaͤgt! Wollt ihr noch fech¬ ten gegen uns, ſo iſt Untergang, ſchmaͤhlicher Unter¬ gang euer Loos; denn jeder Deutſche, ſo hat der Kai¬ ſer, mein Herr, befohlen, der mit den Waffen in der Hand gefangen wird, ſoll nach Sibirien geſchickt wer¬ den. Wollt ihr dagegen nicht fechten fuͤr eure Feinde, ſo werdet ihr an uns eure Bruͤder finden.

Der Zeitpunkt ſchien guͤnſtig, um die zwar ſchon eingeleitete, aber noch auf Schwierigkeiten ſtoßende Er¬ richtung der Buͤrgergarde raſch durchzuſetzen, und in298 dieſer Abſicht erſchien em 29. Maͤrz abermals eine Be¬ kanntmachung an die Einwohner Hamburgs, deren unruhige Beſorgniß ſchon wieder einigermaßen in thaͤ¬ tigen Eifer erloſchen war und nur durch wenige Uebelge¬ ſinnte noch genaͤhrt wurde; ſie lautete: Geruͤchte, wie die, welche geſtern in Umlauf waren, liefern einen untruͤg¬ lichen Probeſtein des Muthes und der Feſtigkeit des Volks. Hamburger! ich habe den eurigen bewaͤhrt ge¬ funden, und ich lobe das Vertrauen, welches ihr in die Maßregeln ſetztet, die von mir zur Sicherheit der Stadt genommen waren. Eure Selbſtvertheidigung darf ſich jedoch nicht auf ein augenblickliches Aufgebot, das nur im Momente der Gefahr ſtattfindet, gruͤnden, ſondern muß gehoͤrig vorbereitet und geordnet ſein. Damit ihr Vertrauen zu euch ſelbſt gewinnt, ſoll die Buͤrgergarde unverzuͤglich organiſirt werden. Eilet, euch einſchreiben zu laſſen, eilet, ein maͤchtiges Bollwerk gegen jeden vorruͤckenden Feind aufzuſtellen! Heß iſt euch zum Anfuͤhrer geſetzt, vertraut ihm, wie er euch vertraut. Das große Ziel der Befreiung im Auge, muß jeder mit ſeiner ganzen Kraft es zu erreichen bei¬ tragen, und Hamburg muͤſſe unter allen Staͤdten des ſich befreienden Deutſchlands groß, wuͤrdig und kraft¬ voll geruͤſtet daſtehn.

Bevor jedoch der Erfolg dieſer Anordnungen gegen den Feind wirkſam werden konnte, uͤbereilte dieſen, unter welchem leider die Sachſen mitbegriffen blieben,299 ein raſches Verderben. Der engliſch-hannoͤverſche Ge¬ neral von Doͤrnberg, eine aus Ruſſen und Preußen gemiſchte Schaar von etwa 2000 Mann befehligend, war ſchon am 14. Maͤrz bei Werben uͤber die Elbe gegangen, hatte ſich aber vor der feindlichen Ueber¬ macht, die ſich von Magdeburg aus gegen ihn wandte, wieder auf das rechte Elbufer zuruͤckziehen muͤſſen. Inzwiſchen war General Morand mit 3000 Mann und 11 Kanonen uͤber Toſtaͤdt nach Luͤneburg vorgeruͤckt, wo die Einwohner kurz vorher unter dem Beiſtand von 50 Koſaken eine franzoͤſiſche Schwadron, welche die Stadt beſetzen wollte, mit den Waffen in der Hand zuruͤckgetrieben hatten. Ein hartes Schickſal ſchien de߬ halb die ungluͤckliche Stadt zu erwarten, und keine Huͤlfe ſie retten zu koͤnnen. Die Franzoſen waren kaum eingeruͤckt, als ſie auch ſchon die Schlachtopfer ausſuchten, die ihrer Rache fallen und am 2. April Vormittags erſchoſſen werden ſollten. General von Doͤrnberg hatte ſich aber mit Tſchernyſcheff und Alexan¬ der von Benkendorf vereinigt, war auf's neue uͤber die Elbe gegangen, und gegen Luͤneburg ſtracks im An¬ zuge. Sie trafen eben zu rechter Zeit ein, um die Sache des Feindes zu hindern, und griffen ihn mit Ungeſtuͤm an. Die Franzoſen wehrten ſich tapfer, doch als General Morand toͤdtlich verwundet worden, und nirgends ein Ausweg zu erſehen war, ſtreckten die uͤbri¬ gen das Gewehr. Tettenborn hatte dem Feinde 600 Ko¬300 ſaken in den Ruͤcken geſchickt, und ihm dadurch jedes Entkommen unmoͤglich gemacht. Ein vollſtaͤndigerer Sieg und ein glaͤnzenderes Gefecht koͤnnen wohl ſchwer¬ lich gefunden werden. Die Truppen hatten die groͤßte Tapferkeit bewieſen, und den durch Zahl und Stellung ſtaͤrkern Feind nicht nur geſchlagen, ſondern vernichtet. Die Einwohner ſelbſt hatten abermals an dem Gefechte Theil genommen, und mehrere Franzoſen niedergemacht. Man ruͤhmte auch die Unerſchrockenheit eines Luͤnebur¬ ger Maͤdchens, Johanna Stegen genannt, die im hef¬ tigſten Feuer den preußiſchen Jaͤgern Pulver und Blei zugetragen hatte.

Der Sieg Doͤrnbergs bei Luͤneburg verbreitete in Hamburg die außerordentlichſte Freude, die zaghafteſten Gemuͤther wurden wieder beruhigt, man faßte wieder Vertrauen und neuen Eifer fuͤr die Sache des Vater¬ landes. Dieſer Ausgang brachte alles ſchnell wieder in Bewegung, was in der Erwartung und Ungewi߬ heit deſſelben geſtockt hatte. Jetzt erſt glaubten ſich endlich auch die an den Kaiſer abgeordneten beiden Rathsherren mit Sicherheit auf die Reiſe begeben zu koͤnnen.

Indeß mußte der diesmal geſcheiterte Verſuch der Franzoſen, ſich wieder an der Niederelbe feſtzuſetzen, die Beſorgniß begruͤnden, daß ein ſolcher ſich guͤnſtiger wiederholen koͤnnte; uͤberhaupt aber gewaͤhrte der Gang der Kriegsereigniſſe in Sachſen nicht mehr die glaͤnzen¬301 den Hoffnungen, welche man vor einiger Zeit gehegt hatte, Deutſchland baldigſt bis an den Rhein befreit zu ſehen. Unter ſolchen Umſtaͤnden konnte auch Ham¬ burg noch große Gefahr zu beſtehen haben, und wurde es noͤthig, die raſche Eroberung der Koſaken durch ge¬ diegene Vertheidigungsmittel zu behaupten. Da die Hauptſtaͤrke der Ruſſen und Preußen in Sachſen keine Truppen mehr abgeben konnte, ſo blieb Tettenborn auf die Mittel angewieſen, die er ſelber noch erſt her¬ vorrufen ſollte. Außer den 500 mecklenburgiſchen Gre¬ nadieren, die ſein perſoͤnliches Uebergewicht ihm geſchafft hatte, erlangte er noch mit Muͤhe, daß ihm der preu¬ ßiſche Hauptmann von Lucadou mit 200 Mann zuge¬ ſchickt wurde. Die hannoͤverſchen Truppen, die ſich unter Tettenborns Schutz und Beiſtand eiligſt zu bil¬ den angefangen hatten, waren entweder noch nicht fer¬ tig, oder die ſchon fertigen die Elbe weiter hinauf ge¬ zogen, wo ſich unter dem Oberbefehl des Generals Grafen von Wallmoden ein beſonderer Heertheil des kuͤnftigen Nordheeres bilden ſollte. Unter dieſen Um¬ ſtaͤnden verdoppelte Tettenborn ſeinen Eifer, die han¬ ſeatiſchen Truppen baldigſt ins Feld zu ſtellen. Ham¬ burg lieferte 2 Bataillons und 6 Schwadronen, Luͤbeck 2 Schwadronen und 600 Mann zu Fuß. Das erſte Bataillon wurde dem Hauptmann von Stelling anver¬ traut, das zweite dem Hauptmann von Gloͤden, die 600 Luͤbecker bildeten mit den 200 Preußen des Haupt¬302 manns von Lucadou unter deſſen Anfuͤhrung das dritte hanſeatiſche Bataillon. Die Reiterei der Hanſeaten be¬ trug gegen 1000 Pferde; die erſte Schwadron, von ihrem Rittmeiſter Godefroy befehligt, uͤbte der Ritt¬ meiſter von Herbert ein, und fuͤhrte ſie auch zuerſt gegen den Feind in einem gluͤcklichen Streifzug jenſeits der Elbe. Ein Buͤrger von Hamburg, Namens Hanfft, hatte auf eigne Koſten eine ganze Schwadron ausge¬ ruͤſtet, meiſtens Schlaͤchtergeſellen, weil er ſelbſt ehemals Schlaͤchtermeiſter geweſen war; weil er jedoch zur Be¬ fehlfuͤhrung nicht taugte, ſo wurde er nur als Stabs¬ rittmeiſter angeſtellt, und dadurch ſein Ehrgeiz mehr gekraͤnkt als befriedigt. Auch an Geſchuͤtz wurde ge¬ dacht, und es gelang zwei Batterieen zu errichten, eine von 6 Stuͤcken zu Fuß, welche dem Hauptmann Wertheim, und eine reitende von gleicher Anzahl, welche dem Hauptmann Spooreman uͤbertragen wurde; außer dieſen beiden Offizieren, die ſich willig angeboten, waͤre kein dritter dieſes Fachs zu finden geweſen! Eben ſo hielt es ſchwer, die noͤthigen Artilleriſten zur Bedienung der Kanonen zuſammenzubringen, da hier unmoͤglich, wie bei andern Waffen, bloße Neulinge eintreten durf¬ ten. Beinahe alle Gegenſtaͤnde der Bewaffnung und Ausruͤſtung fehlten, und waren nur mit unſaͤglicher Muͤhe und großen Koſten zuſammenzubringen. Nicht allein, daß es an Gewehren mangelte, auch ſogar Pi¬ ſtolen und Saͤbel waren nicht in hinreichender Anzahl303 aufzutreiben; in der Eile wurden fuͤrerſt Piken fuͤr das Fußvolk ausgetheilt; auch einige Schwadronen empfin¬ gen ſtatt der Saͤbel nur Lanzen, welche ſie nachher aus Wahl beibehielten.

Die Buͤrgergarde, gleichfalls fuͤrerſt nur mit weni¬ gen Gewehren, und groͤßtentheils nur mit Piken ver¬ ſehen, wurde fleißig geuͤbt, und fing nach und nach an, ſich in das ungewohnte Neue zu finden, und der Ernſt der Sache draͤngte ſchnell alle die Spielereieu und Laͤcherlichkeiten zuruͤck, welche bei ſolchen erſt im Entſtehen begriffenen Anſtalten kaum zu vermeiden ſind. Herr von Heß griff die Sachen entſchieden und tuͤchtig an, und leiſtete Außerordentliches. Waͤren unter allen dieſen Bewaffneten nur 1000 Mann Preußen oder andre deutſche Soldaten von einiger Dienſtkenntniß und Kriegserfahrung geweſen, ſo haͤtte ſich das Neue, dem es nur an Unterricht und Muſter fehlte, bald an dem Alten erziehen und ihm gleichartig werden koͤnnen. Allein die Mannſchaft, welche den Hanſeaten und der Buͤrgergarde zum Vorbild und Anhalt dienen konnte, war der Zahl nach zu gering, und uͤberdies auch ſelber ſchon groͤßtentheils anderweitig gebraucht.

Die Bewegung des General Morand, die mit der Niederlage bei Luͤneburg geendigt hatte, war in der That nicht ſo ganz planlos geweſen, als ſie beim erſten Anblick ſcheinen mochte. Es zeigte ſich gleich darauf, daß ſein Vorruͤcken gemeinſchaftlich mit andern Trup¬304 pen, welche von der Elbe kamen, angeordnet und Luͤ¬ neburg zum Vereinigungspunkte beſtimmt geweſen war. General Montbrun ruͤckte mit 4000 Mann, denen der Marſchall Davouſt an der Spitze der Haupttruppe fol¬ gen ſollte, am 4. April in Luͤneburg ein, wo er aber ſtatt des General Morand nur die Spuren ſeiner Nie¬ derlage fand. Doͤrnberg hatte ſich naͤmlich nach Boitzen¬ burg zuruͤckgezogen, um den dortigen Uebergang uͤber die Elbe, den der Feind wohl haͤtte mit ſeiner Macht verſuchen koͤnnen, zu vertheidigen. Hamburg ſah ſich auf's neue bedroht, die Stadt war offen, zwar mit Waͤllen umgeben, aber die Bruſtwehren und Thore waren abgetragen, und die Bruͤcken uͤberall unter¬ daͤmmt; es fehlte an Geſchuͤtz, die Beſatzung beſtand faſt nur aus Reiterei. Die Einwohner kamen in große Bewegung; man hatte durch die fruͤhere Unruhe ſchon gelernt, daß Hamburg der Schauplatz kriegeriſcher Er¬ eigniſſe werden koͤnne, und daß man auf ernſthafte Pruͤfung gefaßt ſein muͤſſe. Der Muth und Eifer der Beſſern war mit dieſem Gedanken vertraut, und zwei¬ felte nicht, ſich gegen den verhaßten Feind durch eigne Kraft zu behaupten. Tettenborn verſaͤumte keinen Augenblick, die Maßregeln zu treffen, welche die Um¬ ſtaͤnde erfordeten und zuließen. Die Truppen wurden in Bereitſchaft geſetzt, die gefahrvollſten Punkte be¬ wacht, und wo Ueberſchwemmungen moͤglich waren, dieſe ſo weit vorbereitet, daß ſie auf den erſten Wink305 eintreten konnten. Gluͤcklicherweiſe waren in dieſen Tagen einige tauſend Gewehre aus England angekom¬ men, und konnten ſogleich vertheilt werden. Die drei hanſeatiſchen Bataillone wurden nun voͤllig bewaffnet; auch 3000 Mann der Buͤrgergarde empfingen Flinten, die uͤbrigen mußten ſich noch ferner mit Piken behelfen. Der Major von Berger, der mit ſeinem Bataillon in Ratzeburg nur auf Waffen gewartet hatte, ſetzte ſich ſogleich nach deren Empfang in Marſch gegen die Elbe. Das erſte hanſeatiſche Bataillon marſchirte nach Berge¬ dorf, das dritte nach dem Zollenſpieker, waͤhrend das zweite noch in Hamburg blieb. Auch einige hanſeatiſche Reiterei ruͤckte ſchon aus; die erſte Schwadron unter der Leitung des Rittmeiſters von Herbert. Beim Zol¬ lenſpieker kamen am 6. April die erſten hanſeatiſchen Truppen mit den Franzoſen in's Gefecht. Eine Ab¬ theilung von 20 luͤbeckiſchen Schuͤtzen nebſt 10 Drago¬ nern zu Fuß waren uͤber die Elbe gegangen, um Nach¬ richt von dem Feinde einzuziehen. Sie ſtießen beim erſten Dorfe auf etwa 80 Mann franzoͤſiſchen Fußvolks, mit welchen ſie ein lebhaftes Geplaͤnkel anfingen, worin die Franzoſen einige Leute verloren und zwei Luͤbecker verwundet wurden. Der Feind wagte ſich trotz ſeiner Ueberlegenheit faſt gar nicht hervor, und die Hanſeaten gingen unverfolgt und ohne weitern Verluſt uͤber die Elbe zuruͤck. Die Koſaken hatten ebenfalls fortdauernd gluͤckliche Scharmuͤtzel, und taͤglich ſah man in Ham¬III. 20306burg Gefangene und Ueberlaͤufer, bald in groͤßerer, bald in geringerer Zahl einbringen. Der Feind fand nicht rathſam, an der Elbe zu verweilen, wo zahlreiche Streifparteien in ſeinem Ruͤcken jeden Augenblick ſeine Verbindungen unterbrachen, und ihm bei jedem uner¬ warteten Angriff das Beiſpiel des General Morand ſchreckend vorſchweben mußte. Er zog ſich von dem Ufer zuruͤck. General Montbrun raͤumte am 9. April Luͤneburg, und der Marſchall Davouſt ging mit allen ſeinen Truppen hinter die Aller zuruͤck, deren Bruͤcken er ſorgfaͤltig hinter ſich abbrach. Den groͤßten Theil der ruſſiſchen Reiterei nebſt 2 hanſeatiſchen Schwadro¬ nen und 2 ruſſiſchen Kanonen, ſandte hierauf Tetten¬ boru unter Anfuͤhrung des Oberſtlieutenants von Ben¬ kendorf gegen die Weſer[und] bis vor die Thore von Bremen. Viele einzelne Unternehmungen und Plaͤn¬ keleien, die immer gluͤcklich ausfielen, uͤbten die neuen Truppen, die mit den Koſaken vereint den Dienſt ver¬ ſahen, und hielten den Feind in Unruhe.

Man hatte jedoch bei dieſer Gelegenheit eingeſehen, wie nothwendig es ſei, Hamburg vor einem erſten An¬ fall zu ſchuͤtzen, und war bedacht, die Stadt in ordent¬ lichen Vertheidigungsſtand zu ſetzen. Dieſe Aufgabe war nicht klein. Tettenborn ließ durch den Major von Pfuel die Oertlichkeit genau in Augenſchein nehmen, und die Punkte beſtimmen, wo Schanzen angelegt wer¬ den ſollten. Die erſte Vertheidigungslinie war die307 Elbe ſelbſt, mit ihren vielen Inſeln, vom Zollenſpieker bis Haarburg, allein bei einer Ausdehnung von vier Meilen blieb es ſchwer, jeden Punkt derſelben mit ſo wenigen Truppen zu beſetzen, und es war zu vermu¬ then, daß es dem Feinde bei wiederholten Angriffen gelingen muͤſſe, irgendwo durchzubrechen. Die ganze Gegend beſteht aus Niederungen, die durch Deiche gegen Ueberſchwemmungen geſchuͤtzt, und mit unzaͤh¬ ligen Graͤben durchſchnitten ſind. Der ganze Billwaͤr¬ der konnte unter Waſſer geſetzt werden, und die zweite Vertheidigungslinie bilden, in welcher die Stellung am Eichbaum von beſonderer Wichtigkeit war. Die Haupt¬ ſache blieb aber immer die naͤchſte Vertheidigung der Stadt durch ihre Waͤlle und durch einige vorliegende Werke, die theils aus alter Zeit uͤbrig waren, theils erſt errichtet wurden. Der Hammerbrook, der ganz uͤberſchwemmt wurde, machte von dieſer Seite Ham¬ burg unangreifbar, ſo lange die Bruͤcken uͤber die Bille vertheidigt wurden, und hier waren die beſten Vorkeh¬ rungen getroffen. Ueberall an den bedrohten Stellen wurden Schanzen aufgeworfen und einiges Geſchuͤtz aufgeſtellt, das, ſo unzulaͤnglich es auch war, doch der Vertheidigung ein gutes Ausſehn gab; der Haupt¬ wall erhielt ſeine Bruſtwehr wieder, ſo wie auch die Außenwerke an dem Steinthore; die Eingaͤnge wurden durch Schanzen gedeckt, die unterdammten Thorbruͤcken wieder in ihren ehemaligen Zuſtand gebracht, indem20*308man die Erde in tiefen Einſchnitten wegnahm, und ſo den Graben herſtellte. Auch auf der ſogenannten Fed¬ del, einer Inſel jenſeit des Grasbrooks, ſtiegen Schan¬ zen empor.

Alle dieſe Arbeiten wurden mit Eifer betrieben und bis zu Ende thaͤtig fortgeſetzt, ſo daß man uͤber das, was in der kurzen Zeit fertig oder doch der Vollendung nahe war, nicht genug erſtaunen konnte. Die Fran¬ zoſen ſelbſt, ſo gern ſie die Anſtalten der Ruſſen ver¬ kleinert und geſchimpft haͤtten, konnten nicht umhin, das Geleiſtete oͤffentlich zu loben. Außer dem Major von Pfuel hatte der Hauptmann Schaͤffer, ein vorzuͤg¬ licher Genieoffizier, das groͤßte Verdienſt um dieſe Sache; in dem weiten Bereich dieſer Befeſtigungen ordnete er alles ſelbſt an, fuͤhrte die beſtaͤndige Auf¬ ſicht, und leitete alles mit eben ſo großem Eifer, als bewaͤhrter Geſchicklichkeit; ohne ſich ſeiner Leiſtungen zu uͤberheben, wirkte er im Stillen mit unermuͤdeter Anſtrengung fort, und war nicht allein geſchaͤftig, die Schanzen gegen den Feind anzulegen, ſondern auch ſie gegen ihn zu vertheidigen, wie er denn auf der Inſel Wilhelmsburg, auch außer ſeinem Beruf, freiwillig unter die vorderſten Plaͤnkler in's heftigſte Feuer ging.

Zu gleicher Zeit war auch die Unzulaͤnglichkeit der Buͤrgergarde vielfach zur Sprache gekommen, und die wohlgeſinnteren Buͤrger ſelbſt wuͤnſchten nichts eifriger, als ſie geregelt und in ſtrengerem Dienſt unterrichtet309 zu ſehn, um ſie aus dem ungewiſſen Schwanken zu reißen, in welches die Unwiſſenheit uͤber das, was zu thun ſei, und wie man ſich in eintretenden Faͤllen zu benehmen habe, ſie immer auf's neue verſetzen mußte. Friedrich Perthes war hiezu beſonders thaͤtig, und in¬ dem er kraͤftig zur Einigkeit rieth und wirkte, und ſeinen Freund Heß auf alle Weiſe unterſtuͤtzte, war er zugleich bedacht, von einer andern Seite zu erſetzen, was dieſem fehlte. Man bedurfte eines einſichtsvollen, kriegserfahrenen und dienſtkundigen Offiziers, der mit Heß gemeinſchaftlich an der Spitze ſtehen, und die Formen, die zu militairiſcher Brauchbarkeit unentbehr¬ lich ſind, nach und nach einfuͤhren ſollte. Tettenborn konnte keinen ſeiner Offiziere dieſem Geſchaͤft ganz hin¬ geben, dem nur wenige im Stande waren vorzuſtehen, und das auch niemanden anlocken konnte, der ſchon an ſeinem militairiſchen Platze ſtand. Um ſo gluͤcklicher war es, daß grade derjenige, welcher durch Herz und Geiſt und Kenntniß dazu am meiſten erwuͤnſcht ſein mußte, wenigſtens zum Theil dieſen Auftrag erhielt. Der Hauptmann von Canitz wurde beſtimmt, Heß mit Rath und That an die Hand zu gehen. Dies geſchah mit dem beſten Erfolg, und es wurde geleiſtet, was nur immer in der kurzen Zeit und unter dieſen Um¬ ſtaͤnden moͤglich war. Freilich waͤre zu wuͤnſchen ge¬ weſen, daß er ganz und gar den Oberbefehl uͤber dieſe Buͤrgergarde uͤbernommen haͤtte, allein eben ſo ſehr310 ſchien der Geiſt dieſer Anſtalt einen Hamburger, und einen Buͤrger, zum Anfuͤhrer zu erheiſchen, als das Verhaͤltniß eines preußiſchen Offiziers nicht wohl auf¬ fordern konnte, ſich einer ſolchen Aufgabe zu unter¬ ziehen. Canitz verfaßte jedoch, außer dem wohlthaͤtigen Einfluß, den er im allgemeinen ausuͤbte, fuͤr die Buͤr¬ gergarde eine ſchriftliche Anweiſung, wie ſie ſowohl vor dem Feinde als auch in jedem andern Dienſte ſich zu verhalten habe, und legte ſo den Grund zu einer Anordnung und Brauchbarkeit, die leider nicht Zeit behielt, ſich voͤllig zu entwickeln.

War in dieſem Zweige der hamburgiſchen Angele¬ genheiten vieles, was den treuen Freund der vaterlaͤn¬ diſchen Sache bekuͤmmerte, und nach Mitteln ausſehn ließ, das Gehemmte zu foͤrdern, das in falſcher Rich¬ tung Schreitende zu berathen, ſo mußte in andern Zweigen, die nicht ſo unmittelbar mit der ruſſiſchen Behoͤrde zuſammenhingen, und durch deren Antrieb gekraͤftigt werden konnten, der Mangel an lebhafter Regſamkeit und geordnetem Eingreifen zu wahrer Ver¬ wirrung werden, fuͤr welche man vergebens ſich nach Huͤlfe umſah. Es wurde bei dieſer Gelegenheit zum Erſtaunen offenbar, wie karg unter die Menſchen die Gabe ſtaatsordnender Einrichtungen und die Faͤhigkeit zu geſetzgeberiſcher Wirkſamkeit vertheilt ſind. Jeder weiß, was noth thut, jeder erkennt den Fehler wo es gebricht, jeder fuͤhlt ſich willig zum Guten zu helfen;311 aber oͤffentliches Auftreten, entſchloſſenes Anfangen und Fortreißen der Genoſſen wird durch tauſend Umſtaͤnde des buͤrgerlichen und geſelligen Lebens gehindert, ſo daß es dann immer an dem Erſten fehlt, ohne welchen die zahlreichen Zweiten und Dritten ſich in ungenutzter Anlage verlieren. Der Mangel an ſittlichem Halt in den Begriffen und die Abweſenheit feſter Grundzuͤge in den Gemuͤthern des Volks hindern jede durchgrei¬ fende Maßregel Einzelner, die nicht von Gewalt, ja von Schrecken begleitet iſt.

Eine Hoffnung jedoch, dieſem Uebel in der Folge abgeholfen zu ſehen, zeigte ſich auch fuͤr Hamburg in der gemeinſamen Verwaltungsbehoͤrde, welche der Kai¬ ſer von Rußland und der Koͤnig von Preußen fuͤr das noͤrdliche Deutſchland einſetzten, und der Leitung des Miniſters Freiherrn vom Stein uͤbertrugen. Die Lage der Dinge forderte laut einen ſolchen Mann, in deſſen ſtarker Seele der Eifer fuͤr die vaterlaͤndiſche Sache zu heftiger Leidenſchaft geworden war. Sein untadlicher Wandel und die Reinheit ſeiner Geſinnung gaben ihm das Recht furchtloſer Strenge und Wahrheit gegen jederman. Als ſeine Gehuͤlfen nannte man die treff¬ lichſten Maͤnner. In Hamburg hegten mehrere ange¬ ſehene Einwohner den Wunſch, es moͤchte der preu¬ ßiſche Geheime Staatsrath Niebuhr als Beauftragter der Maͤchte dort erſcheinen; in ſeiner fruͤhern Stellung als Bankdirektor zu Kopenhagen hatte er den Ruf312 großer Geſchaͤftskenntniß und ſtrenger Rechtſchaffenheit erworben, und wiewohl er ſeitdem in Preußen aus aller Staatsthaͤtigkeit zuruͤckgetreten war, um ſich ganz ſeinen gelehrten Arbeiten zu widmen, ſo hatte er doch dieſe bei dem erſten Schimmer der beſſern Hoffnungen wieder verlaſſen, in Berlin ein neues Tagblatt den preußiſchen Korreſpondenten gegruͤndet, und ſuchte kraͤf¬ tigſt im vaterlaͤndiſchen Sinn einzuwirken. Mit Per¬ thes, Heß, mit Dehn in Altona, und vielen Andern, ſtand er in freundſchaftlichen Beziehungen; es war die Rede davon, aus eignem Antrieb ihn zu berufen, da er denn, an der Spitze ſolchen Zutrauens, leicht die Beſtaͤtigung abſeiten der Maͤchte wuͤrde empfangen ha¬ ben. Das Geruͤcht nannte bald auch andre preußiſche Staatsbeamte, denen die Verwaltung der Hanſeſtaͤdte abſeiten Stein's zugedacht ſein ſollte, und mit Wohl¬ gefallen wurde der Name Staͤgemann vernommen; allein die Ernennung verzoͤgerte ſich, und fiel endlich auf keinen der Genannten, ſondern auf den ruſſiſchen Geheimen Rath von Alopeus, den aͤltern der beiden Bruͤder, einen Mann von ſtarkem Karakter und von großem Ruf in der Diplomatik, der aber ſelbſt be¬ kannte, ſich in ſeiner neuen Beſtimmung noch ziemlich fremd zu fuͤhlen. Er war zum Kommiſſarius fuͤr die deutſchen Laͤnder noͤrdlich der Elbe beſtellt, traf aber in einer Zeit ein, wo Hamburg ſchon taͤglich in Gefahr ſchwebte, und er blieb daher in Mecklenburg, wo er313 ſpaͤterhin ſich der hamburgiſchen Sachen zwar anneh¬ men wollte, jedoch ohne Frucht und faſt ſchon ohne Gegenſtand. Fuͤr Hamburg fiel alſo dieſe wichtige Huͤlfe, welche ſich aus der Stein'ſchen Verwaltungs¬ behoͤrde haͤtte ergeben koͤnnen, durch die anfaͤngliche Saͤumniß und die nachherigen Umſtaͤnde gaͤnzlich aus.

Inzwiſchen hatte Tettenborn von Seiten der Daͤ¬ nen immer groͤßere Annaͤherung erfahren, ſie bewarben ſich fortdauernd um die Freundſchaft der Ruſſen, und ſuchten dieſelbe durch zuvorkommende Gefaͤlligkeit zu verdienen. Nicht nur die Ruſſen und Hamburger, ſondern auch die Englaͤnder ſelbſt, fanden die Elbſchiff¬ fahrt vollkommen frei, ſogar von Altona ſegelten Schiffe nach England ab, das Kriegsverhaͤltniß zwiſchen Daͤne¬ mark und England ſchien vergeſſen; auch ſpaͤterhin, als die Elbe wegen der franzoͤſiſchen bewaffneten Fahrzeuge nicht mehr ſicher war, ging der Poſtenlauf nach Eng¬ land durch Holſtein bis zum Ausfluß der Elbe ohne irgend ein Hinderniß. So war auch an die daͤniſchen Behoͤrden in Holſtein der Befehl von Kopenhagen er¬ gangen, die von den Ruſſen wiedereingeſetzten hanſeati¬ ſchen Obrigkeiten anzuerkennen, und mit ihnen als ſolchen in Verkehr zu treten. Noch entſchiedener be¬ zeigte ſich die freundſchaftliche Geſinnung der Daͤnen durch die vertrauliche Eroͤffnung, welche Tettenborn abſeiten der daͤniſchen Befehlshaber empfing, daß ſie angewieſen ſeien, alle ihre dortigen Truppen, ſobald314 der General es verlange, ihm zur Beſetzung von Ham¬ burg und Luͤbeck anzubieten.

Was mit dieſer letztern Zuvorkommenheit gemeint ſei, erklaͤrte ſich bald durch ein Schreiben des Fuͤrſten Sergius Dolgoruky, der am 23. Maͤrz mit beſondern Auftraͤgen des Kaiſers Alexander in Kopenhagen ange¬ kommen, und mit dem daͤniſchen Kabinet in raſche Verhandlung getreten war. Der Kaiſer, wohlgeſinnt fuͤr Daͤnemark, hatte wie uͤberall ſo auch hier den Weg der Guͤte und Ausgleichung verſuchen wollen, und ſei¬ nen Abgeſandten beauftragt, dem daͤniſchen Hofe fuͤr den Verluſt von Norwegen, der durch die fruͤheren mit Schweden geſchloſſenen Vertraͤge wider Daͤnemark aus¬ geſprochen war, reichliche Entſchaͤdigung zu verheißen, im Falle Daͤnemark gleich auf der Stelle dem franzoͤ¬ ſiſchen Bund entſagen und ſeine Waffen mit denen der Ruſſen und Preußen vereinigen wollte. Der daͤniſche Hof war auf dieſe Eroͤffnung eingegangen, und wuͤnſchte ſich in der Ausſicht auf jene Entſchaͤdigung zunaͤchſt der Hanſeſtaͤdte zu verſichern. Der Fuͤrſt Dolgoruky, erfreut uͤber das ſchnelle Gelingen ſeiner Unterhandlung, und voll Eifer, der Sache der Verbuͤndeten einen im Augenblicke ſo bedeutenden Zuwachs von Streitkraͤften zuzuwenden, ſagte den Daͤnen die einſtweilige Beſetzung von Hamburg und Luͤbeck zu, und forderte demgemaͤß Tettenborn auf, ungeſaͤumt die beiden Staͤdte den daͤ¬ niſchen Truppen zu uͤberlaſſen, und dagegen deren un¬315 mittelbare Mitwirkung gegen die Franzoſen zu gewaͤr¬ tigen. Tettenborn, hoͤchſt betroffen uͤber eine Zumu¬ thung, welche den Fortgang des ſo gluͤcklich begonnenen Werkes der Befreiung ploͤtzlich zu hemmen, das Bei¬ ſpiel des Aufſtandes gegen den Feind fuͤr das uͤbrige Deutſchland zu vernichten, und alle Huͤlfsquellen dieſen Gegenden fuͤr den Augenblick in fremde Haͤnde zu lie¬ fern drohte, war weit entfernt, hierauf ſo ſchnell ein¬ zugehen. Er wußte, daß des Kaiſers Abſicht nicht ſei, die kaum hergeſtellte Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit der Hanſeſtaͤdte gefaͤhrden zu laſſen, er durchſchaute die Sache in allen ihren Beziehungen, ſowohl politiſchen als militairiſchen, und verſagte einen Schritt, welchen auszufuͤhren er ſich nicht einmal fuͤr befugt halten durfte. Er antwortete dem Fuͤrſten Dolgoruky, daß er eine Sache von ſolcher Wichtigkeit nicht ohne un¬ mittelbaren Befehl ſeiner Kriegsobern entſcheiden koͤnne, und uͤberdies das Geforderte dem Vortheile des Kai¬ ſers und ſeiner Verbuͤndeten keineswegs gemaͤß halte. Er befoͤrderte ſogleich einen Eilboten in das große Hauptquartier, um uͤber dieſen Vorgang zu berichten, und die wahre Lage der Dinge dort wuͤrdigen zu laſſen. Was er vorausgeſehen hatte, geſchah; der Kaiſer Alexan¬ der belobte Tettenborn's richtige Anſicht und kluge Zu¬ ruͤckhaltung, und empfahl ihm die fernere Behauptung der beiden Staͤdte; der Fuͤrſt Dolgoruky, ſo wurde hinzugefuͤgt, ſei in ſeinem Eifer, wenn auch in beſter316 Abſicht, zu weit gegangen, und ſeine mit dem daͤni¬ ſchen Kabinet genommene Abrede wurde als ein Ueber¬ ſchreiten ſeiner Vollmachten fuͤr unguͤltig erklaͤrt. Den daͤniſchen Befehlshabern, welche nach den von Kopen¬ hagen empfangenen Weiſungen nun immer zudringlicher ihren Beiſtand anboten, und ſich bereit erklaͤrten, Ham¬ burg und Luͤbeck mit ihren Truppen zu beſetzen, dankte Tettenborn mit großer Hoͤflichkeit fuͤr ihr Anerbieten, von welchem er ſich vorbehielt Gebrauch zu machen, ſobald die Umſtaͤnde, die jedoch in dieſem Augenblicke noch nicht dringend waͤren, es erheiſchen wuͤrden. So ſahen ſich die Daͤnen, welche gemeint hatten ihre Be¬ reitwilligkeit nur zeigen zu duͤrfen, um eiligſt in den Beſitz der beiden wichtigen Staͤdte zu gelangen, jetzt nur auf weiteres Abwarten verwieſen, und durch ihr eignes Wort ſich zu denjenigen Leiſtungen verpflichtet, die abgeſondert von dem vorausgeſetzten Gewinn ihnen nur eine bedenkliche Laſt ſeyn konnten!

Das daͤniſche Kabinet verfolgte indeß, ungeachtet das Ausweichen Tettenborn's einige Verſtimmung ver¬ urſachte, ſeine neue Richtung mit thaͤtigem Eifer. Daͤ¬ nemark ſchien in der That, den Verbuͤndeten ange¬ ſchloſſen, nach eigenem Willen eine große Rolle uͤber¬ nehmen zu koͤnnen, ſich gewiſſermaßen die Stelle und das Verdienſt, welche fuͤr Schweden offen ſtanden, noch vor dieſem aneignen, und bei guͤnſtiger Wendung des Krieges die groͤßten Vortheile hoffen zu duͤrfen.

317

In dieſem Sinne wurden ungeſaͤumt die noͤthigen Schritte gethan. Der Graf Karl von Moltke wurde an den ruſſiſchen Kaiſer, der Graf Joachim von Bernſtorff mit umfaſſenden Vollmachten nach London abgefertigt, um Daͤnemarks Beitritt zu dem Bunde gegen Frank¬ reich anzubieten, und auf moͤglichſt vortheilhafte Be¬ dingungen abzuſchließen. Tettenborn empfing von bei¬ den Unterhaͤndlern auf ihrer Durchreiſe durch Hamburg die beſten Zuſicherungen uͤber die Entſchiedenheit jenes Beitritts, und uͤber den Nachdruck, mit welchem der¬ ſelbe ausgefuͤhrt werden wuͤrde; ſie wiederholten eifrigſt das Anerbieten daͤniſcher Huͤlfstruppen, und in gleichem Sinne lauteten die fernern Briefe des Fuͤrſten Dolgo¬ ruky aus Kopenhagen, ſo wie die Erklaͤrungen des Generals von Wegener und des Oberſtlieutenants von Haffner, welche wiederholt verſicherten, ſie haͤtten Be¬ fehl, ihre Truppen auf das Verlangen Tettenborn's vorruͤcken zu laſſen. Einen unangenehmen Eindruck machten neben dieſen Verſicherungen einige freilich aus untergeordnetem Betrieb hervorgegangene Verſuche, un¬ ter den Einwohnern von Hamburg den Wunſch anzu¬ regen, daß die Stadt ſich in den Schutz und die Ob¬ hut Daͤnemarks begeben moͤchte, wobei denn die Ge¬ ſinnungen und Abſichten der Ruſſen mehrfach verdaͤch¬ tigt, und auch die Verhandlungen des Fuͤrſten Dolgo¬ ruky in mancherlei Entſtellungen abſichtlich verbreitet wurden. Es war nicht zu verwundern, wenn aller¬318 dings manche Hamburger unter ſolcherlei Geruͤchten und Vorſtellungen einiges Bedenkliche aufgriffen, und mit der Zuverſicht auch den Eifer ſinken ließen. Doch von andrer Seite wurde derſelbe wieder um ſo ſtaͤrker angefacht.

Waͤhrend alles dieſes vorging, begann es naͤmlich an der obern Elbe, nach einem langen, damals un¬ begreiflich duͤnkenden, und gewiß hoͤchſt nachtheiligen Stocken der Kriegsbewegungen, nach und nach lebhaft zu werden, und alles deutete auf ein nachdruͤckliches Vorruͤcken der Heere. Die Schweden, die noch zoͤger¬ ten, die Daͤnen, die bereit ſtanden, beide ſchienen kaum noch einigen Theil an dem Feldzuge gewinnen zu koͤn¬ nen. Das, was geſchehn war, ſchien uͤber das, was bevorſtand, zu taͤuſchen. Die nordiſchen Huͤlfstruppen konnten der, wie man meinte, anderweitig genugſam verbuͤrgten Sicherheit Hamburgs ein uͤberfluͤſſiger Zu¬ wachs erſcheinen, die Aufſtaͤnde in den Laͤndern jenſeits der Elbe verſprachen einen ungeheuren Stoff zur Bil¬ dung neuer Kriegsvoͤlker, wie damit auch im Mecklen¬ burgiſchen, in Hamburg und Luͤbeck thaͤtig fortgeſchrit¬ ten wurde. Dieſe und aͤhnliche Betrachtungen moͤgen wohl Urſache geweſen ſein, daß man nicht fuͤr noͤthig hielt, neue Truppen nach der untern Elbe abzuſenden, indem nur etwa 150 Mann preußiſcher Dragoner un¬ ter dem Major von Schill, einen Bruder des bei Stralſund gebliebenen, als einziger Nachſchub ankamen.

319

Dagegen traf am 17. April der Generallieutenant Graf von Wallmoden in Hamburg ein, der den oͤſterreichi¬ ſchen Kriegsdienſt mit dem großbritanniſchen vertauſcht hatte, aber auch dem ruſſiſchen angehoͤrte, und die Beſtimmung erhalten hatte, einen Heertheil des Nord¬ heers zu befehligen, der aus verſchiedenen Bundes¬ truppen zuſammengeſetzt werden ſollte. Der Ruf ſeiner Auszeichnung in fruͤhern Feldzuͤgen, ſeines hellen Blicks in die Staatsverhaͤltniſſe, ſeiner tapfern Entſchloſſenheit vor dem Feind, und der edlen Eigenſchaften ſeines Ge¬ muͤths, war ihm vorausgegangen, und vielmals wurde ſein Name in Deutſchland mit großen Erwartungen genannt. Er fand keine andern Truppen vor, als die wenig zahlreichen Abtheilungen Tettenborn's, Doͤrn¬ berg's und Benkendorf's, und die neuerrichteten, kaum voͤllig ausgeruͤſteten und jedenfalls ungepruͤften Schaa¬ ren, welche wenigſtens einer Beimiſchung alter Trup¬ pen bedurft haͤtten, um an dieſen einen feſten Anhalt zu finden. Da jede jener Abtheilungen in ihrer Weiſe thaͤtig war, und ſchon ihre durch den Augenblick gebo¬ tene Aufgabe hatte, ſo war an Zuſammenziehen dieſer Kraͤfte nicht zu denken, und eben ſo wenig an eine ſtrenge Einheit des Oberbefehls, da auf allen Punkten die Umſtaͤnde ſchnell wechſelten, und raſche Maßregeln forderten. Wallmoden erkannte dieſe Lage der Dinge und wollte nicht ſtoͤrend in ſie eingreifen; er ließ Tet¬ tenborn die hamburgiſche Sache in der angefangenen320 Art fortfuͤhren, und begab ſich nach Lauenburg und weiter hinauf an der Elbe, von wo er ſpaͤter einige gluͤckliche Zuͤge gegen den General Sebaſtiani und den Marſchall Davouſt unternahm.

Tettenborn, der haͤufig den Uebungen der Fußvoͤlker beiwohnte, und ſowohl die Hanſeaten und Buͤrger¬ garden, als auch die Arbeiten an den Feſtungswerken faſt taͤglich in Augenſchein nahm, hatte auch den Feind nicht aus den Augen verloren, ſondern eine ſtarke Schaar Reiterei nebſt zwei ruſſiſchen Kanonen unter Anfuͤhrung des Oberſtlieutenants Konſtantin von Ben¬ kendorf gegen die Weſer vorgeſchickt. In Bremen war ſeit dem 27. Maͤrz mit Napoleon's beſondern Auftraͤ¬ gen der General Vandamme angekommen, und ſollte in die vom General Carra-Saint-Cyr nur laͤſſig be¬ triebene Kriegsanſtalten groͤßere Thaͤtigkeit bringen. Das Erſcheinen der Ruſſen und Hanſeaten ſo nah vor den Thoren ſetzte ihn in Wuth, allein da ihm wenig Reiterei zu Gebote ſtand, ſo konnte er nichts ausrich¬ ten. Die kleinen Gefechte fielen ſtets zum Vortheil der Ruſſen aus. Faſt taͤglich wurden aus dortiger Gegend Gefangene nach Hamburg eingebracht. Mit Ungeduld ſah Tettenborn dem Tage entgegen, an wel¬ chem er an der Spitze der neuen Fußvoͤlker ausmarſchi¬ ren koͤnnte, um das dem Feind ſo lang uͤberlaſſen geblie¬ bene und unter ſeinen Mißhandlungen ſeufzende Bremen ebenfalls zu befreien und als Hanſeſtadt wiederherzuſtellen.

321

Man hatte unablaͤſſig und mit unſaͤglicher Anſtren¬ gung an der Ausbildung dieſer Truppen gearbeitet; in der Erwartung, ſie in kurzem ſo weit gefoͤrdert zu ſehn, daß ſie dem Feind entgegengefuͤhrt werden koͤnn¬ ten, wurde am 21. April in der großen St. Michaelis - Kirche die feierliche Weihe der Fahnen angeordnet, die von edlen Hamburgerinnen kunſtreich und praͤchtig ge¬ ſtickt worden waren. Der ehrwuͤrdige Senior der ham¬ burgiſchen Prediger, Doktor Rambach, verrichtete die Feierlichkeit in Gegenwart Wallmoden's und Tetten¬ born's, des Senats, und einer großen auserleſenen Verſammlung, unter Paradirung aller in Hamburg an¬ weſenden Truppen. Die allgemeine Stimmung machte den Tag zu einem ruͤhrenden und begeiſternden Feſte, und die vaterlaͤndiſche Geſinnung wurde hier durch die frommen Eindruͤcke kirchlicher Gebraͤuche geſteigert und befeſtigt. Auch das fuͤr die Einwohner der Hanſeſtaͤdte eingefuͤhrte Zeichen des rothen Kreuzes im weißen Felde wurde nun immer haͤufiger am Hut getragen, und bald ohne irgend ein Geſetz ſo allgemein, daß ſich nie¬ mand ohne daſſelbe zeigen durfte. Als eines beſondern Ausdrucks der Geſinnungen der Hamburger fuͤr Tetten¬ born muͤſſen wir hier noch gedenken, daß demſelben durch einſtimmigen Beſchluß des Senats und der Buͤr¬ gerſchaft das Ehrenbuͤrgerrecht ertheilt wurde, eine Aus¬ zeichnung, welche ſeit dem tauſendjaͤhrigen Beſtehen der Stadt auf dieſe Weiſe vor ihm niemandem wider¬III. 21322fahren war. Der Senator Bartels, deſſen Muth und Thaͤtigkeit in dieſen drangvollen Tagen vielfach voran¬ ſtehen mußten, erließ an Tettenborn bei Ueberſendung des Buͤrgerbriefs ein Schreiben, welches ihm ſpaͤter den Grimm der Franzoſen und die Aechtung von Sei¬ ten des Marſchalls Davouſt zuzog.

Vandamme indeſſen, da er die ruſſiſchen Truppen keinen ihrer haͤufigen Vortheile mit Nachdruck verfol¬ gen ſah, urtheilte bald, daß es ihnen noch ganz an Fußvolk mangeln muͤſſe, und wollte daher den Schimpf, von einigen Koſaken und Hanſeaten auf Bremen be¬ ſchraͤnkt zu ſein, nicht laͤnger ertragen. Er ruͤckte mit etwa 3000 Mann zu Fuß und 6 Kanonen am 22. April gegen Ottersberg vor, und draͤngte die ausgeſtellten Poſten bis Rothenburg auf den Haupttrupp zuruͤck, indem die plaͤnkelnden Koſaken wohl wie fruͤher die dichten Maſſen des Fußvolks umſchwaͤrmen, aber nicht durchbrechen, und alſo deren Marſch nicht aufhalten konnten. Allein kaum hatte Benkendorf bei Rothen¬ burg die Zuruͤckgedraͤngten aufgenommen, als er ſogleich mit ſeiner ganzen Reiterei, unterſtuͤtzt von zwei Kano¬ nen, die vorgedrungenen Franzoſen ungeſtuͤm anfiel, ſie in die Flucht warf, und unausgeſetzt bis vor die Thore von Bremen verfolgte, unter beſtaͤndigem Kartaͤtſchen¬ feuer, das raſch vorruͤckend die fluͤchtigen Reihen lich¬ tete und dem Feinde gegen 300 Mann toͤdtete und verwundete, waͤhrend die Reiterei ihm uͤber 100 Ge¬323 fangene und alles Gepaͤck wegnahm, das derſelbe mit ſich gefuͤhrt hatte. Die hanſeatiſche Reiterei hatte an dieſem Gefecht ruͤhmlich Theil genommen, und die gute Vorbedeutung, die man daraus fuͤr das Betragen des hanſeatiſchen Fußvolks nehmen konnte, wurde eine Auf¬ forderung mehr, daſſelbe bald auf die Probe zu ſtellen, und etwas Ernſtliches damit gegen den Feind zu un¬ ternehmen. Den Tag darauf ging eine ſaͤchſiſche Ab¬ theilung, 50 Mann ſtark, mit ihrem Offizier an der Spitze, von den Franzoſen zu den Ruſſen uͤber, indem ſie erklaͤrten, fuͤr die deutſche Sache fechten zu wollen. Die Mannſchaft ruͤckte mit Waffen und Zeug unter Anfuͤhrung ihres Offiziers in Hamburg ein, wo ſie alsdann dem zweiten Bataillon der Hanſeaten einver¬ leibt wurde. Der fruͤher erlaſſene Aufruf an die Sach¬ ſen war alſo doch nicht ganz fruchtlos geblieben, wie ſehr auch befeſtigtes Vorurtheil dem Offizier, und viel¬ fache Hinderniſſe anderer Art dem Soldaten dieſen kuͤhnen Schritt des Uebergehens erſchweren mochten. Die vielen Deutſchen, welche Vandamme unter ſeinen Truppen hatte, waren eben ſo geſtimmt wie dieſe Sach¬ ſen, und man mußte nur eilen, ihnen die guͤnſtige Gelegenheit zu bieten, durch welche die Geſinnung zur That werden konnte. Die kleinen Gefechte dauerten inzwiſchen fort; ohne Unterlaß wurden Gefangene ein¬ gebracht, und eben ſo oft ſolche, die von den Land¬ ſtuͤrmern und bewaffneten Buͤrgern ergriffen waren,21*324als ſolche, die ſich den Koſaken hatten ergeben muͤſſen. Unter den erſtern befanden ſich haͤufig Offiziere, und unter andern ein Adjutant des Marſchall Davouſt, Namens Lachelle.

Doch konnten dieſe Vorgaͤnge nicht hindern, daß der Feind, im Bewußtſein des großen Uebergewichts an Fußvolk und Geſchuͤtz, eine entſcheidende Bewegung unternahm, welche die Ruſſen zwang, das linke Elb¬ ufer fuͤr jetzt aufzugeben. Gluͤcklicherweiſe wurden dieſe fruͤhzeitig von dem feindlichen Vorhaben unterrichtet. Der hannoͤverſche Poſtmeiſter zu Soltau hatte einen franzoͤſiſchen Kourier, der ſich als Ueberbringer wichti¬ ger Befehle ankuͤndigte, todtgeſchlagen und die Papiere deſſelben nach Hamburg an Tettenborn abgeliefert. Aus dieſen ergab ſich, daß der Feind geſonnen ſei, die bei Luͤneburg durch Morand's Niederlage vereitelte Bewe¬ gung zweier von verſchiedenen Seiten auf einen und denſelben Punkt vorruͤckenden Truppenabtheilungen in groͤßerem Maßſtabe zu wiederholen. Der Marſchall Davouſt ruͤckte mit 12,000 Mann von der Weſer ge¬ gen Luͤneburg vor, waͤhrend der General Sebaſtiani mit 8000 Mann von der mittlern Elbe her gegen Giff¬ horn marſchirte. Die ſaͤmmtlichen verbuͤndeten Trup¬ pen in dieſen Gegenden waren nicht einer einzelnen dieſer feindlichen Abtheilungen gewachſen, um ſo weni¬ ger alſo den vereinigten, und die vorgeruͤckte Reiterei mußte daher, um nicht abgeſchnitten zu werden, un¬325 geſaͤumt von der Weſer zuruͤck auf das rechte Elbufer gezogen werden. Der Rittmeiſter von Herbert war mit 100 hanſeatiſchen Reitern und 250 Koſaken am 27. April noch in Ottersberg, und zog ſich, von 4000 Mann und 4 Kanonen angegriffen, auf den Oberſt¬ lieutenant von Benkendorf nach Rothenburg zuruͤck, wo abermals ein ſehr glaͤnzendes Gefecht Statt hatte, in welchem der Feind mit großem Verluſt zuruͤckgetrieben und verfolgt wurde. Allein da die Franzoſen indeſſen ſchon Luͤneburg beſetzt hatten, ſo mußten die Ruſſen von Rothenburg ihren Ruͤckzug gegen die Elbe neh¬ men. Dieſer geſchah ohne Verluſt, in groͤßter Ord¬ nung; nur eine kleine Anzahl zerſtreut geweſener Ko¬ ſaken konnte Haarburg nicht mehr gewinnen, ſondern mußte ſich zu Stade einſchiffen, und gelangte auf dieſe Art am 30. April nach Hamburg. Damit der Feind nicht verſuchte nachzufolgen, wurden die vorhandenen Fahrzeuge ſo viel als moͤglich auf das rechte Elbufer heruͤbergezogen oder zerſtoͤrt, die Inſeln und Ueber¬ gangspunkte aber durch ausgeſtellte Poſten bewacht, hin und wieder ſogar durch aufgefahrnes Geſchuͤtz geſichert.

Der Marſchall Davouſt hatte ſich nun wirklich mit dem General Sebaſtiani vereinigt, und beide blieben einige Zeit in der Gegend von Haarburg und Luͤne¬ burg unſchluͤſſig ſtehen; da ſie aber den ſchwierigen Elbuͤbergang nicht zu unternehmen wagten, und ihre wohlerſonnene aber vereitelte Bewegung keinen weitern326 Zweck haben konnte, ſo kehrte der General Sebaſtiani mit ſeinen Truppen wieder nach der Gegend von Mag¬ deburg zuruͤck, der Marſchall Davouſt hingegen behielt mit ſeiner Hauptmacht Luͤneburg und Winſen beſetzt, von hieraus die wichtigſten Elbuͤbergaͤnge bewachend und bedrohend, und ſandte zugleich abwaͤrts nach Stade und Kuxhaven ſtarke Schaaren, um ſich dieſer Orte zu verſichern. Der engliſche Major von Kenzinger be¬ gab ſich mit ſeiner Mannſchaft von Kuxhaven an Bord der daſelbſt liegenden Kriegsſchiffe.

Von jetzt an trat fuͤr Hamburg die verhaͤngnißvolle Zeit ein, da von Tag zu Tag in unaufhaltſamer Ent¬ wicklung ſein Untergang naͤher kam, der nun durch den ſtets mit neuen Mitteln erneuerten Widerſtand noch eine Zeit lang aufgehalten wurde, bis die Erſchoͤpfung dieſer Mittel mit der Vermehrung derer des Feindes in groͤßtem Mißverhaͤltniſſe ſtand, und laͤngere Gegen¬ wehr zuletzt unmoͤglich machte! Bei der großen Ue¬ bermacht der Franzoſen konnte man nicht hoffen, durch Angriffe die Vertheidigung kraͤftig zu fuͤhren, man ſah ſich auf die troſtloſe Vertheidigung der bloßen Abwehr beſchraͤnkt, und fuͤr lange Zeit darauf angewieſen, alle Bewegungen und Anſtalten nur nach denen des Fein¬ des abzumeſſen.

Die Franzoſen naͤherten ſich der Elbe mit großer Vorſicht; es vergingen einige Tage, ehe Davouſt ſein Hauptquartier uͤber Winſen hinaus nach Haarburg zu327 verlegen wagte. Tettenborn hatte, wie ſchon erwaͤhnt, mit aller Sorgfalt Schiffe, Kaͤhne und Boote von dem jenſeitigen Ufer auf das dieſſeitige ſchaffen laſſen, um dem Feinde den Uebergang wenigſtens zu erſchweren, aber freilich konnte die weite Strecke des Ufers von Kuxhaven bis Haarburg, mit allen Inſeln, Fluͤſſen und Kanaͤlen, nicht ſo beaufſichtigt werden, daß nicht Schiffe verſteckt geblieben, oder von der daͤniſchen Seite wieder hinuͤbergegangen waͤren; in einer auf den Verkehr zu Waſſer ſeit Jahrhunderten eingerichteten Gegend, wo faſt jeder Anwohner des Stroms ein Schiffer iſt, und ſelbſt die taͤglichen Beduͤrfniſſe des Lebens von den Bauern zu Schiffe nach den Maͤrkten gefuͤhrt werden, ließ ſich um ſo weniger in der kurzen Zeit eine genuͤ¬ gende Maßregel verfuͤgen, als man an die meiſten Orte nur den Befehl, nicht aber Leute ihn auszufuͤhren, ſchicken konnte, und ein großer Theil des Ufers, das daͤniſche der ganzen Laͤnge Holſteins nach, der ruſſiſchen Anordnung nicht Folge zu leiſten brauchte. Deſſenun¬ geachtet hatten die Franzoſen in der erſten Zeit große Muͤhe, auch nur einige Kaͤhne zu finden, und als ſie deren eine geringe Zahl verſammelt hatten, ſahen ſie dieſelben gleich darauf durch eine von Tettenborn zu dieſem Handſtreich ausgeſandte Abtheilung Mecklenbur¬ ger abgeholt. Sie ließen jedoch nicht nach, ſich deren neue zu verſchaffen, und an dem Eifer, womit ſie die¬ ſelben zum Theil auf Wagen aus den innern Fluͤſſen328 herbeifuͤhrten, konnte man entnehmen, auf wie ernſt¬ liche Unternehmungen es abgeſehen war. So hatten ſie unter andern auch aus der Eſte eine Anzahl Schiffe gefuͤhrt, und Leute aus der umliegenden Gegend ge¬ preßt, um dieſelben nach Haarburg zu bringen. In der Nacht des 5. Mai's ſchifften abermals etwa 100 Meck¬ lenburger unter der Anfuͤhrung ihres Oberſten von Both dahin, ſtiegen unter dem feindlichen Feuer an's Land und ſtuͤrzten auf die Franzoſen los, die mit Hin¬ terlaſſung einiger Todten und Verwundeten die Flucht ergriffen. Man ſetzte die gepreßten Leute in Freiheit, und ſie entlieſen ſogleich voller Freuden in ihre Hei¬ math, die Schiffe aber, einige 20 an der Zahl, wur¬ den weggefuͤhrt. Ein Schiffer, der einen Franzoſen zur Aufſicht hatte, damit er nach Haarburg ſchiffte, ſperrte ihn, als er ſeekrank wurde, in die Kajuͤte ein, und meinte, da doch die Franzoſen ſagten, ſie wollten nach Hamburg gehen, ſo waͤre es wohl am beſten, dieſen gleich dorthin zu bringen. Unter ſolchem wie¬ derholten Verdruß und vielfacher Muͤhe brachte der Feind doch einige Fahrzeuge endlich zuſammen, baute aber, da ſie nicht hinreichten, zu gleicher Zeit Floͤße, die zum Ueberſetzen von Truppen dienen ſollten. Der Marſchall Davouſt war inzwiſchen nach Bremen zu¬ ruͤckgekehrt und hatte dem General Vandamme die Lei¬ tung der Sachen uͤberlaſſen.

Tettenborn's Aufgabe war, Hamburg auf das aͤuſ¬329 ſerſte zu vertheidigen, und er hatte von Anfang laut erklaͤrt, daß er hiezu feſt entſchloſſen ſei. Sein Ent¬ ſchluß wurde zwar von manchen Seiten getadelt, auch von ſonſt Kriegskundigen, die nur das Unmilitairiſche der Stellung in's Auge faßten. Allein die Wichtigkeit des Platzes, die Verpflichtung gegen die Einwohner, und die aus dem großen Hauptquartier empfangenen Weiſungen durften kein Zuruͤckweichen erlauben, ſo lange nur noch die Moͤglichkeit des Behauptens fort¬ dauerte. Demnach ordnete Tettenborn folgende Ma߬ regeln an. Der groͤßte Theil der Reiterei wurde aus der Stadt, wo ſie nur hindern konnte, und im Fall eines Ungluͤcks verloren war, hinausgezogen und auf das Land verlegt. Das Fußvolk, in allem etwa 3300 Mann ſtark, wurde folgendermaßen vertheilt. Das erſte hanſeatiſche Bataillon beſetzte die Inſel Wilhelms¬ burg, das zweite die Stellung beim Eichbaum und dem Ochſenwaͤrder, das dritte den Zollenſpieker und die Hooper Schanze; jedes dieſer drei Bataillone zaͤhlte ungefaͤhr 600 Mann. Das Lauenburger Bataillon von 700 Mann war in Bergedorf und beim Zollenſpieker vertheilt; ein Bataillon aus Bremen und Verden, nur etwa 300 Mann, ruͤckte ebenfalls nach Bergedorf, wel¬ ches der einzige Verbindungspunkt war, der mit Wall¬ moden offen blieb, und fuͤr den Fall eines Ungluͤcks geſichert ſein mußte. Die hannoͤverſchen Jaͤger, kaum 100 Mann, verſtaͤrkten das Bataillon Hanſeaten auf330 der Inſel Wilhelmsburg. Zur Beſetzung der Stadt Hamburg ſelbſt blieb nur das Bataillon Mecklenbur¬ ger, 700 Mann ſtark, von denen jedoch zwei Compag¬ nieen gleichfalls nach Wilhelmsburg beordert waren, und dann noch ungefaͤhr 3000 Buͤrgergarden uͤbrig, denn nur ſo viele hatte man von 7200 eingeſchriebenen gehoͤrig bewaffnen koͤnnen. Von dem ſchweren Geſchuͤtz, das ſich auf der hamburgiſchen Admiralitaͤt noch vor¬ raͤthig gefunden, waren zwei Vierundzwanzigpfuͤnder auf Lavetten gebracht, und einer beim Zollenſpieker, der andere auf der Spitze von Wilhelmsburg gegenuͤber Haarburg, ſo wie an jedem dieſer Punkte noch zwei leichtere Kanonen und eine Haubitze aufgepflanzt wor¬ den. Auch Schiffe hatte man eiligſt ausgeruͤſtet und bemannt; ein Kutter von 6 kleinen Kanonen lag bei Haarburg, ein anderes Schiff von eben ſo vielen Ka¬ nonen beim Zollenſpieker, die haarburgiſche Jacht von 8 Kanonen dicht vor dem Hafen. Die Seeleute, welche ſich auf dieſen Schiffen befanden, waren eben ſo we¬ nig, wie ihre Anfuͤhrer, mit dem Kriegsdienſte ver¬ traut, und dieſer Umſtand verminderte ſehr den Ge¬ brauch einer Waffe, bei der, mehr als bei jeder andern, Kenntniß und Urtheil den tapfern Muth unterſtuͤtzen muͤſſen. Die Ueberſchwemmungen wurden bereit ge¬ halten, die Schanzarbeiten unablaͤſſig fortgeſetzt. Tet¬ tenborn ſaͤumte nicht, die ploͤtzlich bedraͤngt gewordene Lage von Hamburg ſowohl an Wallmoden und in das331 Kaiſerliche Hauptquartier, als auch nach London und Stralſund zu berichten, an welchem letzteren Orte ſtuͤnd¬ lich der Kronprinz von Schweden erwartet wurde, deſſen Truppen ſchon groͤßtentheils in Mecklenburg ſtan¬ den, und den Franzoſen der Zahl nach wohl die Spitze bieten konnten. Aus England erwartete man eine An¬ zahl Kanonierſchaluppen, die zur Beherrſchung der Elbe und ihrer Inſeln unentbehrlich und von Tettenborn dringend gefordert worden waren; zwar konnte ihre Ankunft durch die Daͤnen bei deren noch zweifelhaften Verhaͤltniſſe zu England erſchwert, aber ſelbſt durch die Kanonen der Feſtung Gluͤckſtadt nicht ganz gehin¬ dert werden, und man durfte hoffen, daß die daͤniſchen Befehlshaber in Holſtein, welche von der Sendung des Grafen von Bernſtorff nach London unterrichtet wa¬ ren, den Englaͤndern nicht allzu große Schwierigkeiten machen wuͤrden.

Von der Hoͤhe des St. Michaelisthums ließ Tet¬ tenborn jede Bewegung der Franzoſen genau beobach¬ ten; man ſah ihren Uebungen und Anſtalten zu, und zaͤhlte im voraus jedes Stuͤck Geſchuͤtz, das ſie in ihre Batterien auffuͤhren wollten. Noch glaubte er ſie durch Scheinangriffe hinhalten zu koͤnnen, und ließ bald ihre Uebungen durch Kanonenſchuͤſſe ſtoͤren, bald mitten in der Nacht vierundzwanzigpfuͤndige Kugeln in ihr Lager ſenden, und ſogar kleine Abtheilungen wieder uͤber die Elbe ſetzen, und die Gegend beunruhigen. Am 6. Mai332 fruͤh ging ein Theil des zweiten hanſeatiſchen Batail¬ lons, von dem Ochſenwaͤrder aus, auf das jenſeitige Ufer; noch ehe dies voͤllig erreicht war, ſprangen die jungen Leute ungeduldig aus den Kaͤhnen in's Waſſer, und wateten dem Deiche zu, den der Feind ſehr gut beſetzt hatte; der ungeſtuͤme Angriff warf ihn aber auf ſeine Unterſtuͤtzungspoſten zuruͤck, wo das Gefecht an¬ derthalb Stunden lang mit hartnaͤckiger Tapferkeit von den Hanſeaten fortgeſetzt ward, die ſich vor dem uͤber¬ legenen Feind erſt dann zuruͤckzogen, als ſie ſich ver¬ ſchoſſen hatten. Ihr Verluſt war gering, er beſtand in 2 Todten und 10 Verwundeten, waͤhrend der Feind durch die Ueberraſchung und anfaͤngliche Flucht viele Leute verloren hatte.

Der Wechſel des Krieges wog aber dieſe kleinen Vortheile bald wieder durch eben ſolche Nachtheile auf, welche durch keine Achtſamkeit und Sorgfalt voͤllig zu vermeiden ſind. Durch einen ungluͤcklichen Zufall ging ſo der bei Haarburg aufgeſtellte Kutter verloren, in¬ dem waͤhrend der Ebbe, da er auf dem Grund lag, einige Franzoſen herangeſchlichen und hinaufgeklettert waren, wo ſie die ſchlafende Wache niedermachten und die Beſatzung gefangen nahmen. Damit dieſes Schiff den Franzoſen, welche daſſelbe ſogleich ſtark beſetzten und flott zu machen ſuchten, nicht gewonnen bliebe, ſo ſchoß man es durch den auf der Wilhelmsburg aufge¬ pflanzten Vierundzwanzigpfuͤnder voͤllig zuſammen, und333 toͤdtete oder verwundete zu gleicher Zeit einen großen Theil der Beſatzung, deren Klagegeſchrei man verneh¬ men konnte. Auch das Schloß Haarburg wurde mehr¬ mals beſchoſſen und mit Granaten beworfen, weil man das franzoͤſiſche Hauptquartier darin vermuthete; der Verſuch, es in Brand zu ſetzen, wollte jedoch nicht gelingen.

Es fand kein Zweifel daruͤber Statt, daß Hamburg ſich in einer hoͤchſt bedrohenden Lage befaͤnde; die fran¬ zoͤſiſchen Truppen ſah man mit jedem Tage ſich ver¬ mehren, und nach Maßgabe dieſer Vermehrung ſich zu einſtlicherern Unternehmungen bereiten. Sie waren mei¬ ſtens ungeuͤbte neue Soldaten; doch dieſer Umſtand traf leider die Truppen, denen die Vertheidigung Ham¬ burgs oblag, in groͤßerem Maße, und war bei den Franzoſen, die wegen ihrer Zahl und Stellung die Angreifenden ſein mußten, durch die Kraͤftigung, welche der Angriff gewaͤhrt, einigermaßen aufgewogen. Der Fuͤrſt Dolgoruky, der in dieſen Tagen aus Kopenha¬ gen in Hamburg eintraf, verſicherte zwar, die Daͤnen wuͤrden niemals zugeben, daß die Franzoſen wieder nach Hamburg kaͤmen; allein es war Tettenborn nicht verborgen geblieben, daß die Daͤnen, verdrießlich uͤber die vereitelte Hoffnung, die Hanſeſtaͤdte an ſich zu bringen, noch immer in Ungewißheit ſchwankten, und manche zweideutige Schritte thaten, indem ſie mit den Franzoſen neue Verbindungen ſuchten. Die Einwoh¬334 ner Hamburgs, welche von den Freuden und den Ge¬ nuͤſſen der Freiheit ſtaͤrker und ſtaͤrker auf die Arbeiten und Drangſalen derſelben hingewieſen wurden, bezeig¬ ten noch immer Eifer genug, doch war es natuͤrlich, daß viele derſelben, hellſehend oder mißtrauiſch, an dem Ausgange dieſer ſchwierigen Verhaͤltniſſe zweifelten, an¬ dere ſogar jede Rettung fuͤr unmoͤglich hielten; die ſpaͤterhin immer zahlreicheren Auswanderungen, beſon¬ ders der Frauen und Kinder, fingen ſchon in dieſer Zeit an; ſie konnten jedoch nicht auffallend ſein, weil um Hamburg her das naͤchſte holſteiniſche Gebiet mit Landhaͤuſern beſaͤet iſt, die das Eigenthum von Ham¬ burgern ſind, und jetzt eben auch, wie gewoͤhnlich fuͤr den Sommer bezogen wurden. Viele Schiffe, befrach¬ tete und leere, ſegelten aus dem Hafen, wenn auch nur bis Altona, um dort ſicherer zu ſein. Der Han¬ del ſtockte voͤllig, die meiſten Gewerbe ruhten, und alles dachte nur an Waffen und Krieg, vorzuͤglich in der unterſten Voklsklaſſe, die ſich beſonders thaͤtig und muthvoll zeigte, und keine andre Meinung, als die der hartnaͤckigſten Gegenwehr, aufkommen ließ. Die Ge¬ walt, womit der Donner des Geſchuͤtzes unwillkuͤrlich das Gemuͤth in furchtbare Einbildungen verſetzt, uͤbte jedoch auch hier ihre zauberhafte Wirkung haͤufig aus, und ein hallender Kanonenſchuß brachte anfangs die ganze Stadt in Unruhe und Bedenklichkeit; die Be¬ hoͤrden dachten wenigſtens das Geld zu retten, und335 ſtellten jede Auszahlung, oft der dringendſten Beduͤrf¬ niſſe, vorſichtig ein, bis man nach und nach einiger¬ maßen erkannte, wie unwirkſam und nichtsbedeutend oft die heftigſten Kanonaden ſind.

Das Vertrauen der Einſichtigern ſank noch mehr, als die Nachrichten aus Sachſen nur ein langſames Vorruͤcken der verbuͤndeten Heere, und bald eine blu¬ tige Schlacht meldeten, die zwar als ein Sieg ver¬ kuͤndet wurde, aber doch das Zuruͤckgehen der Sieger zur Folge hatte. Verbunden mit dieſen Nachrichten wirkte die Thatſache, daß der ſchon bis Bremen zu¬ ruͤckgedraͤngt geweſene Feind wieder im Angeſichte von Hamburg ſtand, verwirrend und niederſchlagend. Man wußte, daß Rußland und Preußen thaͤtig mit Oeſter¬ reich unterhandelten, und alle Hoffnung hatten, das Buͤndniß gegen Napoleon durch dieſe Macht verſtaͤrkt zu ſehen. Allein bis zur Ungeduld ermuͤdete das Zoͤ¬ gern, welches inzwiſchen alle Unternehmungen traf; man begriff die Nachſicht und Schonung nicht, welche hinſichtlich des Beitritts von Sachſen Statt fand, und man klagte laut, daß ſelbſt die Aufrufe und Anreden an Volk und Truppen, fruͤher ſo reichlich ausgetheilt, jetzt verſtummten. Die Unterhandlungen ſchienen ſich verderblich zu durchkreuzen; die Fuͤhrung der Heere glaubte man, wenn ſie auch in guten Haͤnden ſei, doch wieder in allen den Hinderniſſen befangen, durch welche ſo oft die gemeinſamen Unternehmungen vereitelt wor¬336 den. Auch glaubte man keine Buͤrgſchaft der Aus¬ dauer zu erblicken, und fragte ſich, was bei einem Frieden, der etwa jetzt geſchloſſen wuͤrde, irgend Guͤn¬ ſtiges fuͤr Hamburg zu erwarten ſey? Uebelgeſinnte ſuchten ſelbſt die Abſichten der Verbuͤndeten zu ver¬ daͤchtigen, die Unterhandlungen des Fuͤrſten Dolgoruky in Kopenhagen wurden zur Sprache gebracht, und es fehlte nicht an Leuten, welche geradezu behaupteten, Hamburg und Luͤbeck ſeien ſchon Eigenthum der Daͤ¬ nen, und man ſcheute ſich nicht, angeſehene Namen zu nennen, um dergleichen zu erhaͤrten. Dieſe Zwei¬ fel und Unſicherheiten wirkten in Hamburg und in der ganzen Umgegend hoͤchſt verderblich; an die Stelle des fruͤheren Eifers trat aͤngſtliches Zuruͤckhalten, ja Manche ſuchten im Stillen mit dem Feinde ſich abzufinden, waͤhrend die Meiſten doch zu weit vorgeſchritten wa¬ ren, um ſolchen Ausweg auch nur verſuchen zu koͤn¬ nen. Die engliſchen Behoͤrden hielten fuͤr noͤthig, um bei den hannoͤverſchen Unterthanen nicht alle Luſt zur Theilnahme am Kriege erſterben zu ſehen, in die Zei¬ tungen eine Bekanntmachung einruͤcken zu laſſen, die aus hoͤherem Auftrag die Zuſicherung ertheilte, daß England niemals in die Abtretung Hannovers willi¬ gen wuͤrde.

Durch dieſe allgemeine Bezuͤge mußte natuͤrlich auch Tettenborn ſich mehr oder minder gehemmt fuͤhlen. Wirklich hatten die verbuͤndeteu Maͤchte, von ernſten337 Erwaͤgungen geleitet, und beſonders auch durch die mit Oeſterreich angeknuͤpften Verhandlungen bewogen, unter ſich den Grundſatz feſtgeſtellt, daß in Deutſchland fernerhin keine Aufſtaͤnde und Volksbewegungen ange¬ ſtiftet, ſondern der Eifer und die Kraft der Voͤlker nur nach Maßgabe des Vorruͤckens der Heere unter der Obhut geregelter Verwaltung benutzt werden ſoll¬ ten, weßhalb denn auch in den Laͤndern, welche im Ruͤcken der franzoͤſiſchen Heere oft ganz von Truppen entbloͤßt nur eines Anſtoßes zum Ergreifen der Waffen bedurften, ein ſolcher nicht verſucht, ſondern im Gegen¬ theil die ſchon entzuͤndeten Flammen eher gedaͤmpft wurden. Aber dieſes oͤffentlich auszuſprechen, waͤre kaum thunlich geweſen, beſonders da fuͤr die Franzoſen die Volksaufſtaͤnde das groͤßte Schreckbild blieben, und Hamburg großentheils durch dies nur ſich noch erhielt. Nur ſelten im Falle, den Hamburgern ſichre und troͤſt¬ liche Nachrichten mitzutheilen, nicht befugt, ihren Eifer noch heftiger anzufachen, und nicht willens ihn zu taͤu¬ ſchen, ſah auch Tettenborn ſich genoͤthigt, in dieſer Zeit, wo man Aufrufe und Bekanntmachungen am meiſten erwartete, mit ſolchen keineswegs freigebig zu ſein. Wir weiſen auf dieſe Umſtaͤnde hin, weil Unkun¬ dige ihm jene Unterlaſſung zum Vorwurf gemacht haben.

In dieſer Lage der Dinge wurde die Stadt ploͤtz¬ lich durch die Nachricht erſchreckt, daß der Feind auf Wilhelmsburg gelandet ſei, und indem er die fluͤchti¬III. 22338gen Schaaren vor ſich hertreibe, mit Macht gegen Hamburg vorruͤcke. Die Inſel Wilhelmsburg hat einen flachen Marſchboden, der uͤberall von Waſſergraͤben durchſchnitten iſt, ſo daß man ſich mit Truppen und Geſchuͤtz nur auf den Deichen bewegen kann, welche rings in mancherlei Bogen die Inſel vor der Fluth ſchuͤtzen, und ſelbſt dieſe ſind bei ſchlechtem Wetter kaum zu befahren. In Betracht dieſes Umſtandes hatte Tettenborn die ſuͤdliche Spitze der Inſel, wegen ihrer Entlegenheit von aller Unterſtuͤtzung, als durchaus un¬ haltbar gegen einen ernſthaften Angriff im voraus preis¬ gegeben, und weil man doch einmal, um die Elbe und Haarburg zu beſtreichen, das Geſchuͤtz dorthin hatte bringen muͤſſen, wo es weder zu retten noch zu ver¬ theidigen war, die Vorkehrung getroffen, daß die Ka¬ nonen, im Falle ſie zuruͤckzulaſſen waͤren, auf der Stelle unbrauchbar gemacht werden koͤnnten. Als der guͤn¬ ſtigſte Ort fuͤr den Widerſtand war der noͤrdliche Theil der Inſel und die ſogenannte Feddel auserſehn, wo auch an Verſchanzungen thaͤtig gearbeitet wurde. Als daher in der Nacht vom 8. zum 9. Mai der General Vandamme, unter Beguͤnſtigung der Dunkelheit, mit¬ telſt zuſammengebrachter Floͤße eine ſtarke Truppen¬ macht, deren 5500 Mann bei Haarburg verſammelt ſtanden, uͤberſetzen und auf Wilhelmsburg landen ließ, mußte der Oberſt Graf von Kielmannsegge, welcher auf der Inſel den Befehl fuͤhrte, ſeine vordern Poſten339 auf die Feddel zuruͤckziehen, und ſeinen eigentlichen Widerſtand dort erſt anheben. Allein der Feind hatte ungluͤcklicherweiſe die aͤußerſten Feldwachen in ſtraͤflicher Ruhe uͤberraſcht, und war deßhalb ſchneller herange¬ kommen, als man von ſeiner Landung benachrichtigt war. Die Unordnung und Verwirrung, welche dadurch unter den jungen und unerfahrnen Truppen entſtand, und bald, nach einigem vergeblichen Schießen, in uͤber¬ eilte Flucht uͤberging, konnte den Verluſt der ganzen Inſel nach ſich ziehen, da eine geraume Zeit das Be¬ muͤhen der wenigen Offiziere, die fuͤr ſolche Faͤlle Er¬ fahrung und Kenntniß hatten, vergeblich blieb, und in dem wirren Getuͤmmel haͤtte ſelbſt die Feddel von dem Feinde genommen werden koͤnnen. Doch wagten die Franzoſen nicht, ſo raſch vorzugehen. Tettenborn, der ſein Hauptquartier auf dem Grasbrook hatte, ſandte nach Wilhelmsburg 2 Kompanieen Mecklenburger zur Unterſtuͤtzung, und den Rittmeiſter von Canitz, der die Leitung der Sachen uͤbernahm; dieſer ſammelte die zer¬ ſtreute Mannſchaft, ſtellte ihre Reihen her, und floͤßte ihnen durch ſeine eigne Feſtigkeit neues Vertrauen und neuen Muth ein; dann ſetzte er ſich an die Spitze der Mecklenburger, ermahnte ſie mit kurzen, ſcharfen Wor¬ ten, und fuͤhrte ſie voran zum Angriff, die Hanſeaten folgten. Alles ruͤckte im Sturmſchritt vor, und ehe man zum Handgemenge kam, warf ſich der Feind eiligſt in die Flucht, die er durch Anzuͤnden einiger22 *340Haͤuſer und einer Muͤhle zu decken ſuchte. Waͤhrend des Verfolgens traf Canitz unerwartet den daͤniſchen Oberſtlieutenant von Haffner, der als Parlementair zu den Franzoſen gegangen war, angeblich um ſie zu be¬ nachrichtigen, daß die Daͤnen ihnen nicht geſtatten wuͤr¬ den, ſich wieder in den Beſitz von Hamburg zu ſetzen. Er war von ungefaͤhr 20 Franzoſen umgeben, mit denen er in die Haͤnde der Ruſſen fiel, und dies Zwi¬ ſchenereigniß veranlaßte einen kurzen Waffenſtillſtand, waͤhrend deſſen man ſich wechſelſeitig erklaͤrte. Der Oberſtlieutenant von Haffner wurde ſogleich freigegeben, die ihn begleitenden Franzoſen aber gefangen genom¬ men, weil auch auf deren Seite einige Hanſeaten, die dem Stillſtande vertraut hatten, hinterliſtig waren feſt¬ gehalten worden. Der Feind wurde darauf wieder unter das Feuer ſeiner jenſeitigen Kanonen verfolgt, und in weniger Zeit die ganze Inſel gereinigt, bis auf die ſuͤdliche Spitze, die von dem feindlichen Ge¬ ſchuͤtz beſtrichen wurde. Dies Gefecht hatte dem Feinde an Todten, Verwundeten und Gefangenen gegen 300 Mann gekoſtet. Die Hanſeaten und Mecklenburger hatten 150 Mann verloren, worunter 13 Offiziere. Die Kanonen, altes hamburgiſches Geſchuͤtz, waren vernagelt zuruͤckgelaſſen worden.

Die Franzoſen hatten gleichzeitig einen Angriff auf den Ochſenwaͤrder gemacht, und fingen an, hier ſich allmaͤhlig auszubreiten, indem ſie die 600 Hanſeaten,341 welche dort aufgeſtellt waren, zuruͤckdraͤngten. Tetten¬ born beorderte auf dieſe Meldung das Lauenburgiſche und das dritte hanſeatiſche Bataillon von Bergedorf und dem Zollenſpieker her dem auf Ochſenwaͤrder ge¬ landeten Feind in die rechte Flanke; dieſe Truppen griffen lebhaft an, und die Franzoſen, welche abge¬ ſchnitten zu werden fuͤrchteten, widerſtanden nicht lange, ſondern ſchifften ſich mit einem Verluſt von 200 Mann wieder ein, indem ihre Batterieen auf dem jenſeitigen Ufer ein heftiges Feuer machten, um den Ruͤckzug zu decken. Die Hanſeaten hatten hier etwa 150 Mann verloren, worunter 7 Offiziere.

Dieſe beiden Gefechte waren gluͤcklich geendigt wor¬ den, allein der gute Erfolg konnte nicht die Einſicht taͤuſchen, die ſich aus den beiden Vorgaͤngen fuͤr die Hamburger ebenſowohl, als fuͤr Tettenborn und ſeine Offiziere in der Schwaͤche und Mißlichkeit der ganzen Lage eroͤffnet hatte. Dem Feinde konnte dieſe Lage wenigſtens nicht ganz verborgen geblieben ſein, er durfte ohne bedeutenden Nachtheil denſelben Verſuch hundert¬ mal wiederholen, der ihm nur Leute, woran er Ueber¬ fluß hatte, koſtete, waͤhrend auf der ruſſiſchen Seite auch der Sieg die ſchon ſo geringe Truppenzahl ver¬ mindern, und ein einziger Unfall beim Zollenſpieker, Ochſenwaͤrder, oder auf Wilhelmsburg, die Stadt auf's Spiel ſetzen mußte. Tettenborn meldete ſeine Lage durch Kouriere auf's neue, an allen Orten, wo er342 glaubte Huͤlfe und Unterſtuͤtzung zu erlangen, waͤhrend er zugleich eifrig daran dachte, die vorhandenen Mittel in ſich ſelbſt zu verſtaͤrken. So abgeneigt von jeher alle Kriegsleute ſind, den Befehl von Landſtuͤrmen, Aufgeboten und andern, mehr durch Willen und Eifer, als Zucht und Uebung, beſtehenden Bewaffnungen zu uͤbernehmen, ſo gab doch Tettenborn ſich der Noth¬ wendigkeit des Augenblicks willig hin, und verſuchte, ſich auf die Buͤrgergarden zu ſtuͤtzen, die ſeinem Wunſche allerdings begierig entgegenkamen, und laut begehrten, an der Vertheidigung der Stadt Theil zu nehmen, ja gegen den Feind auszumarſchiren. Heß hatte in der kurzen Zeit dennoch eine gewiſſe Ordnung und Haltung eingefuͤhrt; der Ernſt und das Gewicht der Ueberlegung ihres Zuſtandes entfernten jeden Uebermuth, und mach¬ ten Geſetzmaͤßigkeit und Eintracht wuͤnſchen und foͤrdern. Sie mußten dem Feinde furchtbar ſein, da dem ein¬ zelnen Soldaten der Volksaufſtand ſchrecklicher und ver¬ derblicher iſt, als geregelte Truppen, und da jedem bekannt war, daß dieſe Buͤrger genug gegen ihren ehemaligen Herrſcher verbrochen hatten, um wohl zu fuͤhlen, welche Strafen ſie abzuwehren haͤtten.

Die neuen Vorkehrungen fanden ſchnell Gelegenheit ſich zu bewaͤhren. Nachdem es naͤmlich den Vormittag des 10. Mai's ruhig geblieben war, entſtand ploͤtzlich gegen Mittag ein großer Allarm, es hieß, die Franzoſen waͤren 7000 Mann ſtark in Billwaͤrder eingedrungen,343 und ruͤckten gegen das Steinthor. Die Trommeln gingen in allen Straßen, die Sturmglocken wurden gelaͤutet, Reiter ſprengten hin und her, alles eilte zu den Waffen, Schaaren von Fluͤchtlingen, mit Weibern, Kindern und Gepaͤck zogen zu den Thoren hinaus, und ſchlugen groͤßtentheils den Weg nach Altona ein, wo man ſich einſtweilen am ſicherſten glaubte. Die Buͤrgergarden eilten auf auf ihre Waffenplaͤtze, und fanden ſich jetzt zum Ernſte zahlreicher ein, als jemals zuvor zu den Uebungen. Es war ein herzerhebender Anblick, dieſe wackern Buͤrger mit Muth im Blick, das Gewehr oder die Pike in der Hand, aus ihren Haͤuſern hervorſtuͤrzen, durch die Straßen eilen, und bei ihren Bataillons eintreten zu ſehn. Das friedliche, gewerbfleißige, uͤppige Hamburg ſchien ſtatt des Goldes jetzt nur Eiſen zu haben! Wie alles bereit ſtand, und gegen den Feind zu marſchiren dachte, ergab ſich, daß der Laͤrm bloß durch einen unbedeutenden Scharmuͤtzel, bei dem einige Schuͤſſe gefallen, veranlaßt worden, und kein Franzoſe mehr dieſſeits der Elbe ſei. Tetten¬ born war unterdeſſen nach dem ſogenannten Letzten Heller hinausgeritten, wo der bedrohte Punkt zu ſein ſchien, und hatte perſoͤnlich alle Maßregeln angeordnet, um der etwanigen Gefahr zu begegnen. Ein Bataillon Buͤrgergarden wurde nach dem Grasbrook, ein anderes bis zur blauen Bruͤcke beordert, wo ſie gleich alten Truppen unter freiem Himmel biwakirten. Jedoch344 blieb alles ganz ruhig. Die Daͤnen, ungeachtet ſie bei dieſen Ereigniſſen lauer geworden waren, und eine Ver¬ aͤnderung in den Abſichten ihres Hofes vorausſehn konnten, hatten gleichwohl noch keinen Gegenbefehl er¬ halten, und ſollten ihrem Verſprechen gemaͤß zur Ver¬ theidigung Hamburgs beitragen; Tettenborn, durch¬ drungen von der Einſicht in die Unzulaͤnglichkeit ſeiner eignen Mittel, und ohne Hoffnung deren groͤßere noch zu rechter Zeit von andrer Seite zu bekommen, nahm von dem entſtandenen Tumult Anlaß, die Daͤnen zur Huͤlfleiſtung aufzufordern, die er freilich nur in der aͤußerſten Noth begehren wollte, weil zu befuͤrchten ſtand, daß die hereingezogenen Truppen nicht wieder hinauszubringen ſein wuͤrden; aus gleichem Grunde, um nicht ganz in ihre Haͤnde zu gerathen, wurde auch nur eine maͤßige Truppenzahl gefordert, da ſchon der Eindruck daͤniſcher Uniform gut auf die Buͤrger und unangenehm auf die Franzoſen wirken mußte. Tetten¬ born hatte die Unterhandlungen daruͤber mit dem Oberſt¬ lieutenant von Haffner in Altona, und mit dem Ge¬ neral von Wegener, der in der Gegend von Schiffbeck etwa 3900 Mann befehligte, angefangen, und trotz dem, daß nicht wenige Schwierigkeiten gemacht wur¬ den, ſo weit gefuͤhrt, daß der General von Wegener endlich Abends auf dem Letzten Heller perſoͤnlich er¬ ſchien, und alles Verlangte zu leiſten verſprach.

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Am folgenden Tage, den 11. Mai, blieb alles ruhig. Es kam ein franzoͤſiſcher Parlementair, der Oberſtlieutenant Reveſt, vom Generalſtabe des Gene¬ rals Vandamme, auf der Elbe am Eingange des Ha¬ fens an, und wurde von dort unter Begleitung zweier Offiziere nach dem Baumhauſe gebracht. Sein Ver¬ langen, den General Tettenborn zu ſprechen, wurde ihm rund abgeſchlagen, daher er ſich bequemen mußte, ein Schreiben vom General Vandamme abzugeben, und ſeinen muͤndlichen Auftrag den beiden Offizieren zu ſagen. Er begann mit der prahleriſchen Erwaͤhnung des Siegs, welchen Napoleon bei Luͤtzen erfochten habe, und ſchloß mit der Aufforderung, daß die Ruſſen Ham¬ burg, um dieſe wichtige Stadt nicht der Verwuͤſtung auszuſetzen, durch Vertrag uͤbergeben ſollten. Einige zurechtweiſende Antworten brachten ihn bald außer Faſ¬ ſung, und er wußte nun in ſeinem Aerger bloß uͤber die lange Zeit zu klagen, die er auf Antwort warten mußte, da man ſein Schreiben nach dem Letzten Heller hatte ſchicken muͤſſen, wo Tettenborn daſſelbe erſt bei ſeiner Wiederkehr von einer Beſichtigung vorfand, und dann ſogleich beantwortete. Gegen Abend fuhr der Parlementair ab, nicht ohne Schauder uͤber den An¬ blick des zahllos am Hafen wimmelnden Volkes, das in ſeiner Wuth kaum zu zuͤgeln war. Als es dunkel geworden, kam er unvermuthet zuruͤck, unter Betheu¬ rungen, daß die Franzoſen ihn jetzt nicht mehr erken¬346 nen, und vom Ufer aus das Boot in Grund ſchießen wuͤrden, worauf man ihm denn bewilligte, auf dem Blockhauſe zu bleiben, von wo er am andern Tage nach vielem ungebaͤrdigen Betragen uͤber Wilhelmsburg nach Haarburg zuruͤckkehrte. Das Volk bezeigte ein großes Vergnuͤgen daruͤber, daß ihn Tettenborn nicht hatte ſprechen wollen, und obgleich uͤber ſeine Sen¬ dung nichts bekannt gemacht wurde, ſo war es doch bald ruchtbar, daß ſeine Aufforderung ſchnoͤd 'abge¬ wieſen worden.

Den 11. Abends ruͤckten nun wirklich die Daͤnen in Hamburg ein, zur unbeſchreiblichen Freude der Ein¬ wohner, die ſich nun ſchon ganz gerettet und fuͤr im¬ mer geſichert glaubten; ein Bataillon nebſt 10 Kano¬ nen zog auf den Grasbrook, ein anderes wurde auf dem Hamburgerberg aufgeſtellt, ebenfalls von einer Batterie unterſtuͤtzt, waͤhrend andere Truppen ſich bei Bergedorf verſammeln ſollten, um den Zollenſpieker im Auge zu behalten. Mit unglaublichem Eifer wurde fuͤr die Daͤnen von den Buͤrgern geſorgt; nur daß ſie im Biwak lagen, ſonſt konnten ſie Gaͤſte ſcheinen, die man eingeladen, um ſie zu bewirthen, ſo reichlich wurde ihnen an Speiſe und Getraͤnken das Beſte dargereicht. Sie erſchienen als gute Nachbaren, die in der Noth huͤlfreich bei der Hand ſind, und die brave Mannſchaft hatte in der That keinen andern Wunſch, als nun wirklich einmal auf die Franzoſen loszuſchlagen, mit347 welchen ſie durch einen verabſcheuten Bund, der ihren Groll eben ſo ſehr heimlich genaͤhrt, als oͤffentlich zu¬ ruͤckgehalten hatte, ſo lange Zeit vereinigt geſchienen.

Um die Daͤnen gleich in die Sache thaͤtig einzu¬ fuͤhren, und ihre Anweſenheit beſtens zu benutzen, wollte Tettenborn am folgenden Tage einen allgemeinen An¬ griff auf die Wilhelmsburg machen, wozu auch einige Kompanieen Buͤrgergarden ſich freiwillig erboten. Hier aber zeigten ſich gleich die Bedenklichkeiten der daͤni¬ ſchen Anfuͤhrer; ſie hatten bei Bewilligung der Huͤlfe nach den fruͤher erhaltenen Befehlen gehandelt, die ſie jetzt, bei ſo ſehr veraͤnderten Umſtaͤnden, gegenuͤber den wieder zum Angriff herangeruͤckten Franzoſen, nicht mehr in ganzem Umfang auszufuͤhren und doch auch nicht ganz zu unterlaſſen wagten; ſie ſahen wohl, daß Tettenborn ernſtlich vorhabe, ſie mit in den Krieg hinein zu verwickeln, und zu Maßregeln zu treiben, die in Kopenhagen gemißbilligt werden konnten; doch wollten und durften ſie auch nicht unnuͤtz daſtehn, waͤh¬ rend ſelbſt die Buͤrger in's Feuer gingen, und ſo ſtell¬ ten ſie denn, nach vielem Verhandeln, die Bedingun¬ gen feſt, daß ihre Truppen, ihr Geſchuͤtz und ihre Ka¬ nonenboote vertheidigungsweiſe aus ihren jetzigen Stel¬ lungen dem Feinde wehren wuͤrden, nach Hamburg vorzudringen; daß aber nur zwei Kompanieen auf Wil¬ helmsburg hinuͤbergeſchifft werden ſollten, um die dor¬ tige Beſatzung zu verſtaͤrken. Die letztere Beſchraͤnkung348 blieb wenigſtens noch geheim, und ließ denn doch fuͤr Freund und Feind die Thatſache ſichtbar werden, daß die Daͤnen gegen die Franzoſen kaͤmpften, und ſchon um deßwillen befahl Tettenborn, ſobald die zwei Kom¬ panieen uͤbergeſetzt waren, raſch zum Angriff vorzu¬ ruͤcken. Dies geſchah von der Feddel her mit großem Ungeſtuͤm; Daͤnen, Mecklenburger, Hanſeaten, Buͤr¬ gergarden, alles wetteiferte an Tapferkeit, und eine franzoͤſiſche Brigade leichter Truppen unter dem Ge¬ neral Gengould wurde in die Flucht geſchlagen. Ge¬ neral Vandamme eilte hierauf ſelbſt herbei, und ſtuͤrzte mit der Diviſion Dufour auf die Verbuͤndeten, die in zu lebhaftem Verfolgen ihre Ordnung nicht genug be¬ wahrt hatten, und nun, von der großen Uebermacht gedraͤngt, ſie ſo ſchnell nicht wiederfinden konnten. Das Gewehrfeuer war ſehr heftig, kaum eine Viertel¬ ſtunde hielten die kleinen Schaaren den Andrang der großen Maſſen zuruͤck, dann aber mußten ſie den Ruͤck¬ zug nach der Feddel nehmen. Hier war eine Kanone auf dem Deiche aufgepflanzt, die aber den Feind nicht beſchießen konnte, weil die eignen zuruͤckkommenden Truppen den Weg verſperrten. Eine Schanze lag ſeit¬ waͤrts des Deiches, um die Ruͤckkehrenden aufzuneh¬ men, die von hieraus dem Feinde, der auf dem Deiche marſchiren mußte, jedes weitere Vordringen unterſagen, und ſich gegen eine viel groͤßere Uebermacht halten konnten. Ungluͤcklicherweiſe ergriff der Schrecken des349 ploͤtzlich herangenaheten Gefechtes eine Anzahl von eini¬ gen hundert Schanzarbeitern, die aus der Schanze auf den Deich und eiligſt ruͤckwaͤrts nach dem Ueberſchiffungs¬ platze flohen, ihr Hinausdringen hinderte die Truppen ſich in die Schanze zu werfen, vermehrte die Verwir¬ rung, und riß endlich alles in uͤbereilte Flucht fort; die Truppen, anſtatt die Schanze zu beſetzen und von dort aus den Feind zu hemmen, ſuchten nur die Schiffe zu erreichen, um nach dem Grasbrook zuruͤck zu ge¬ langen. Man machte den Daͤnen den Vorwurf, die Flucht begonnen zu haben, wenigſtens hatte Tetten¬ born ſie mit Abſicht an die Spitze des Angriffs geord¬ net; die Hanſeaten waren die letzten, welche das Feld raͤumten, und verloren am meiſten, unter andern ihren Bataillonsfuͤhrer, der mit einer Anzahl ſeiner Leute in die Schiffe nicht mehr aufgenommen werden konnte und gefangen wurde. Auch die Daͤnen und die Buͤr¬ ger hatten einige Mannſchaft verloren; einige Daͤnen aber, die von den Franzoſen gefangen worden, ſchickte der General Vandamme zuruͤck, indem er behauptete, Frankreich ſei mit Daͤnemark nicht im Kriege. Das verlorne Geſchuͤtz war von geringem Werthe.

Unterdeſſen hatte auch das zweite hanſeatiſche Ba¬ taillon von dem Ochſenwaͤrder wieder nach Wilhelms¬ burg uͤbergeſetzt und gleichfalls die Franzoſen ange¬ griffen, ſuchte beſonders nach dem Ueberſchiffungspunkte der Franzoſen zwiſchen Haarburg und Wilhelmsburg350 vorzudringen, um ſie abzuſchneiden und ſie den andern, von der Feddel andringenden Truppen entgegen, zwi¬ ſchen zwei Feuer zu bringen. Der Anfang war unge¬ mein gluͤcklich; bald aber drang auch hier der Feind, der inzwiſchen durch eine ganze Brigade, deren Anfuͤh¬ rer ein in franzoͤſiſche Dienſte getretener Fuͤrſt von Reuß war, mit großer Uebermacht auf die Hanſeaten ein, die eine Stunde weit bis zu ihrem Landungsplatze in guter Ordnung und unter beſtaͤndigem Feuern zuruͤck¬ wichen; hier aber konnten die Schiffe die ganze Mann¬ ſchaft nicht auf Einmal uͤberſetzen, ſie fuhren mehrmals hin und her, und holten immer mehrere Leute ab, die noch auf dem Waſſer fleißig feuerten, waͤhrend die Zu¬ ruͤckbleibenden entſchloſſen gegen den Feind Stand hiel¬ ten, der ſie von allen Seiten umgab, und ihnen zu¬ rief, ſich zu ergeben. Mit dem Ruͤcken gegen das Waſſer, im Angeſicht und zu beiden Seiten die feind¬ liche Uebermacht, blieb ihnen, als ſie ſich verſchoſſen hatten, kein Ausweg uͤbrig. So fiel auch der Anfuͤh¬ rer dieſes Bataillons mit etwa 300 Mann in feind¬ liche Haͤnde.

Der traurige Ausgang dieſer Gefechte iſt nicht zu verwundern, wenn man die Uebermacht der Franzoſen, die ſelbſt aus den Berichten des Generals Vandamme, wo nur von Brigaden und Diviſionen die Rede iſt, hervorgeht, und gegen welche auf unſrer Seite, alles mitgerechnet, hoͤchſtens 2000 Mann gefochten, in An¬351 ſchlag bringt, und doch lag es nur an einigen Zufaͤllen, die oft im Kriege ſo bedeutend werden, und ſich nicht beherrſchen laſſen, daß nicht der Tag zum Nachtheil der Franzoſen endigte.

Da der Feind jetzt Meiſter der ganzen Inſel Wil¬ helmsburg und der daran ſtoßenden Feddel war, ſo konnte er aus dieſer Naͤhe die Stadt mit Granaten und Bomben bewerfen, und es war vorauszuſehn, daß dies eine große Beſtuͤrzung hervorbringen wuͤrde. Die beiden hanſeatiſchen Bataillons waren groͤßtentheils auf¬ gerieben, der Ueberreſt erſchoͤpft und zerſtreut. Der uͤble Erfolg verbreitete allgemeinen Mißmuth; die Buͤr¬ ger hatten Augenblicke der Entflammung, wo ſie be¬ gehrten die Feddel und Wilhelmsburg wieder zu neh¬ men, allein in ihrer Unkunde des Kriegs quaͤlten ſie ſich neben dieſem Muthe auch wieder mit tauſend Mei¬ nungen und Beſorgniſſen unnuͤtz ab. Ueberall waren gefahrvolle Poſten, viele darunter von hoͤchſter Wichtig¬ keit, und keiner konnte hinreichend mit Truppen beſetzt werden, auf deren kriegsgeuͤbte Feſtigkeit waͤre zu rech¬ nen geweſen. Die geringſte Unternehmung des Fein¬ des, die jetzt gelang, konnte entſcheidend werden. Zwar legten einige daͤniſche Kanonenboote ſich zwiſchen die Inſeln und die Stadt, allein der Wechſel der Ebbe und Fluth hinderten ſie, zu den guͤnſtigen Stellen hin¬ zudringen, und ſie konnten nur einen Theil der vielen Uebergangspunkte beſtreichen. Tettenborn behielt ſein352 Hauptquartier auf dem Grasbrook, und ließ hier, der Feddel gegenuͤber, einige Batterieen errichten; ungefaͤhr 1000 Buͤrgergarden und eine Abtheilung Mecklenburger nebſt den Daͤnen biwakirten ruͤckwaͤrts davon. Als Befehlshaber auf dieſer Seite wurde der Oberſt von Both beſtellt. Auf dem Hamburgerberge ſtanden Buͤr¬ ger mit ihrem Geſchuͤtz, und die Daͤnen mit dem ihri¬ gen; der Oberſtlieutenant von Gunderſtrupp vom Iſum¬ ſchen Huſarenregiment fuͤhrte hier den Befehl. Das Bataillon von Bremen und Verden, unter Anfuͤhrung des Majors von Buſch, wurde nach dem Stadtdeiche gezogen, und ihm ebenfalls Buͤrger zugegeben, von denen auch eine ſtarke Abtheilung zur blauen Bruͤcke geſchickt wurde. Den Hafen, die Thore, das ganze Innere der Stadt hatten die Buͤrger beſetzt. So war die Lage der Dinge nach dem ungluͤcklichen Verluſte der Inſel, nicht eben troͤſtlich, doch nicht ganz ohne Hoffnung.

Allein ſie ſollte nicht lange mehr ſo verbleiben, und gleich an demſelben 12. Mai, wo das zwiefache Gefecht Statt gefunden hatte, erhielt Tettenborn eine Nachricht, die nicht unheilbringender haͤtte ſein koͤnnen. Der daͤniſche Abgeſandte Graf Joachim von Bernſtorff war in England gar nicht angenommen, ſondern ſchnoͤde zuruͤckgewieſen worden, indem das engliſche Kabinet er¬ klaͤrte, mit Daͤnemark nur im Einverſtaͤndniſſe Schwe¬ dens unterhandeln zu wollen. Die Wirkung einer ſol¬353 chen Abweiſung war leicht zu berechnen, es ſtand zu erwarten, daß Daͤnemark nun auf’s neue ſich an Frank¬ reich anſchließen, oder, wenn nicht dies, doch auf jeden Fall ſeine Truppen zuruͤckziehen wuͤrde; in fuͤnf bis ſechs Tagen konnte der Befehl dazu eintreffen, denn der Graf von Bernſtorff war bereits zu Gluͤckſtadt an’s Land geſtiegen und auf dem Wege nach Kopenhagen. Dieſe ſchreckliche Vorausſicht ſo lange als moͤglich ge¬ heim zu halten, um bis auf die letzte Stunde der daͤ¬ niſchen Truppen noch verſichert zu bleiben und die Buͤrger nicht allen Muth verlieren zu laſſen, mußte des Generals erſte Sorge ſein, die zweite auf Mittel zu ſinnen, den unabwendbaren nahen Verluſt durch irgend eine neue Huͤlfe zu erſetzen. Die dringendſten Berichte ſandte er an Wallmoden und in das große Hauptquartier; allein in letzterem mußte die entlegene hamburgiſche Sache gegen dringend nahe Angelegen¬ heiten zuruͤckſtehen, und Wallmoden hatte den gemeſſe¬ nen Befehl, ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf die mitt¬ lere Elbe und die Gegend von Magdeburg zu wenden. Der Kronprinz von Schweden war noch nicht ange¬ kommen, Briefe und abgeſandte Boten erwarteten ihn in Stralſund. Unter dieſen Umſtaͤnden blieb nichts anderes uͤbrig, als zu verſuchen, ob nicht die ſchwedi¬ ſchen Truppen, die in Mecklenburg, den Kronprinzen abwartend, ſtillſtanden, zur Rettung Hamburgs herbei¬ zuziehen waͤren. Tettenborn wandte ſich an den Ge¬lll. 23354neral Doͤbbeln, der mit einer ſchwediſchen Diviſion am naͤchſten ſtand, und ſchilderte demſelben die bedraͤngte Lage Hamburgs mit der Aufforderung, in dieſer Noth Huͤlfe zu leiſten; allein die Unterhandlung zog ſich in die Laͤnge und blieb noch unentſchieden.

Die Franzoſen ſaͤumten indeß nicht, ihre Fortſchritte zu benutzen, und neue zu verſuchen. Nachdem ſie ſich auf der Wilhelmsburg feſtgeſetzt und von dieſer Seite der Stadt nahe gekommen waren, trachteten ſie auch den Uebergang beim Zollenſpieker zu erzwingen, wo¬ durch Bergedorf und die einzige Verbindung zwiſchen Tettenborn und Wallmoden bedroht worden waͤre. In der Nacht des 13. Mai's, nachdem die Hooper Schanze auf dem jenſeitigen Ufer von den Hanſeaten ſchon fruͤ¬ her hatte geraͤumt werden muͤſſen, landeten etwa 220 Franzoſen unter einem heftigen Kanonenfeuer auf einer kleinen Elbinſel beim Zollenſpieker, um zum weitern Uebergang vorlaͤufig feſten Fuß zu faſſen. Der tapfre Major von Berger hatte aber nicht ſobald ihren Lan¬ dungsplatz in der Dunkelheit entdeckt, als er Bretter uͤber einige Boote werfen und 200 Mann Hanſeaten und Lauenburger unter dem Hauptmann von Lucadou dahin uͤberſetzen ließ. Die Kaͤhne des Feindes waren grade zuruͤckgekehrt, wahrſcheinlich um andere Truppen nachzuholen. In dieſer Lage war ihm kein Ruͤckzug moͤglich, und gezwungen unterhielt er anderthalb Stun¬ den das heftigſte Gewehrfeuer, dann aber ſtuͤrmten die355 Hanſeaten und Lauenburger, von ihrem tapfern An¬ fuͤhrer ermuntert, mit gefaͤlltem Bajonet hervor, wor¬ auf die Franzoſen die Waffen wegwarfen und ſich ge¬ fangen gaben. Mehrere, die ſich durch Schwimmen retten wollten, ertranken, uͤber 70 waren getoͤdtet, die uͤbrigen, worunter 40 Verwundete, gefangen. Der Verluſt der Unſern betrug 24 Mann, worunter 2 Offi¬ ziere. Dieſem verungluͤckten Verſuche ließen die Fran¬ zoſen hier keinen zweiten folgen; man begnuͤgte ſich ge¬ genſeitig, von Zeit zu Zeit das Geſchuͤtz auf einander ſpie¬ len zu laſſen, wo unſre vierundzwanzigpfuͤndigen Kugeln dem Feinde großen Schaden verurſachten, und unter an¬ dern ein paar Schiffe voll Franzoſen, die ſich vom Ufer in die Mitte des Stroms gewagt hatten, in Grund bohrten.

Der Wechſel von Beſtuͤrzung und Freude, den dieſe Vorfaͤlle erregten, erhielt alles in unruhiger Span¬ nung; die nahe Bedraͤngniß fuͤhrte aber, bei allen Stuͤr¬ men der Gedanken und Gemuͤther, immer auf's neue zu der ungewoͤhnlichſten Thaͤtigkeit. Die Zahl der Ar¬ beiter an den Waͤllen wurde verdoppelt und verdrei¬ facht. Die Buͤrgergarde raffte die Leute von den Straßen dazu weg; ohne Waffen durfte ſich kein Menſch mehr blicken laſſen; die Thore wurden genau bewacht, Pferde und Wagen zum Dienſte der Stadt zuruͤckge¬ halten, kein Mann hinaus gelaſſen, damit ſich niemand der Schanzarbeit und den Waffen entzoͤge; wer im geringſten verdaͤchtig ſchien, wurde angehalten und auf23*356die Hauptwache gefuͤhrt, die bald mit Verhafteten an¬ gefuͤllt war. Alles dieſes thaten die Buͤrger aus eig¬ ner Bewegung mit dem groͤßten Eifer, der freilich oft genug ſich in unnoͤthiger und verkehrter Thaͤtigkeit ab¬ muͤdete; zum Verwundern iſt es, wie bei dieſer Maſſe von Bewaffneten, die zum Theil ohne Befehl und Aufſicht blieben, und aus allen Volksklaſſen zuſammen¬ getreten waren, waͤhrend ſo vieler heftigen Anlaͤſſe, nichts Ausſchweifendes noch Unwuͤrdiges, keine Beleidigung noch Unordnung vorfiel. Der General mit dem groͤ߬ ten Theil ſeiner Offiziere, alle Truppen und die mei¬ ſten Buͤrgergarden, befanden ſich außerhalb der Stadt, der Senat und die uͤbrigen Behoͤrden hielten ſich zu¬ ruͤckgezogen, keine Regung ging in dieſer Zeit von ih¬ nen aus, keine Abſicht oder Geſinnung wurde von ih¬ nen in dieſen ſtuͤrmiſchen Tagen kund gegeben. Das, was ſie nothgedrungen beſorgen mußten, die Verpfle¬ gung der Truppen unter andern, geſchah mit der groͤ߬ ten Unordnung, auf manchen Poſten litt die Mann¬ ſchaft uͤber vierundzwanzig Stunden lang Mangel, in einer Stadt, wo alles in Fuͤlle und die Zahl der Trup¬ pen hoͤchſt gering war; ſogar die eignen Mitbuͤrger die unter tauſend Ungemach auf entlegnen Poſten ſtan¬ den, wurden haͤufig vergeſſen. Außerdem waren die Sendungen von Lebensmitteln beim Abgehen meiſt groͤ¬ ßer, als beim Ankommen. Unter ſolchen Umſtaͤnden mag die Stadt das Vierfache deſſen bezahlt haben,357 was wirklich verbraucht worden iſt. Eine allgemeine Unzufriedenheit aͤußerte ſich laut und heftig gegen dieſe Unordnung. Gegen einzelne Perſonen wurden Beſchul¬ digungen ausgeſprochen, welche zwar grundlos, aber darum nicht minder gefahrvoll waren. Beſonders ver¬ daͤchtigte man die wieder eingetretenen Mitglieder des Senats, welche auch unter den Franzoſen Aemter ge¬ fuͤhrt hatten. Fuͤr Tettenborn's Verhaͤltniß und Lage war dies alles hoͤchſt beſchwerlich und nachtheilig.

Am 14. Mai glaubten die Vorpoſten bei anbre¬ chendem Tage durch den Nebel große Maſſen franzoͤſi¬ ſchen Fußvolks auf der Feddel zu ſehn, die gegen das Ufer marſchirten, um ſich einzuſchiffen, ſogar Kanonen meinte man zu erkennen, und als dieſe Meldung ſich in der Stadt raſch verbreitete, hielten die Einwohner jetzt den nachdruͤcklichſten Angriff auf den Grasbrook, der kaum noch zu vertheidigen ſchien, fuͤr gewiß, ja die Waͤlle der Stadt ſelbſt ſah man ſchon in den Haͤn¬ den des Feindes. Die Sturmglocken und Trommeln riefen die Einwohner zu den Waffen, waͤhrend das Fluͤchten der Wehrloſen nach Altona und auf das Land das Getuͤmmel vermehrte. Die Batterieen der Buͤrger auf dem Grasbrook donnerten unaufhoͤrlich, und grau¬ ſenvolle Ungewißheit, ob der Feind ſchon gelandet ſei, ob er vordringe, machte den Zuſtand der Einwohner verzweiflungsvoll. Die Allarmplaͤtze waren jedoch mehr als jemals von Bewaffneten erfuͤllt, indem auch ſolche,358 die ſonſt den Dienſt meiden mochten, ſich jetzt einfan¬ den. Als der Nebel verging, ſah man keinen Feind auf der Feddel, die Franzoſen lagen ruhig hinter den Deichen, und von Batterieen fand ſich keine Spur. Indeß wurde auch in den folgenden Tagen, da alles ſtill blieb, und der Feind ſich begnuͤgte, ſeine kuͤnftigen Angriffe vorzubereiten, niemand der Ruhe froh, ſon¬ dern alles lebte in angſtvoller Erwartung, die von dem kleinſten Anlaß in heftige Bewegung geſetzt wurde. Das Ungluͤck, das ſich naͤherte, kuͤndigte ſich den ge¬ ſpannten Gemuͤthern in finſterer Schrecklichkeit an, die Mittel, es abzuwehren, lagen zu ſehr vor Augen, als daß jetzt nicht ihr Mißverhaͤltniß unwiderſprechlich ein¬ geleuchtet haͤtte, und die ruhigen Daͤnen erſchienen eben durch dieſes Ruhigbleiben ſchon als eine unzulaͤngliche, unzuverlaͤſſige Huͤlfe; daß Tettenborn, bei ſeinem kuͤh¬ nen nnd kriegsmuntern Geiſte, mit den Daͤnen keinen Angriff unternehmen ſollte, ſchien undenkbar, und da dennoch der Angriff auf Wilhelmsburg unterblieb, ſo konnte man die Urſache nur in dem Nichtwollen der Daͤnen ſuchen, welches die Hamburger auf das ſchlimmſte zu deuten alle Urſache hatten. Und doch wußten die Meiſten nur halb, wie die Sachen ſtanden, und konn¬ ten die Folgen der unerwarteten Ruͤckkehr des Grafen von Bernſtorff noch nicht uͤberſehen.

In manchen Augenblicken ſchmeichelten ſie ſich wie¬ der mit der Fortdauer der daͤniſchen Huͤlfe, mit der359 Annaͤherung der ſchwediſchen, mit herbeieilender ruſſi¬ ſcher oder preußiſcher Verſtaͤrkung, mit dem bei Groß - Goͤrſchen von den Ruſſen und Preußen erfochtenen Siege und deſſen zu hoffender Nachwirkung, auch auf die Verbeſſerung des Zuſtandes an der Niederelbe; waͤhrend der Eingeweihte laͤngſt von allem dieſen wenig oder nichts hoffen durfte, ſondern von allen Seiten nur immer mehr und mehr eine verhaͤngnißvolle Wen¬ dung der Dinge herannahen ſah. Die ungluͤcklichen Menſchen aus ihrer Taͤuſchung, ſofern dieſe noch be¬ ſtand, zu reißen, verbot die Klugheit, um nicht die letzte geringe Kraft zu laͤhmen; ſie abſichtlich darin zu befeſtigen, waͤre ein grauſames Spiel geweſen, das doch nicht lange haͤtte beſtehen koͤnnen. Unter dieſen Umſtaͤnden ſchien das Beſte, ganz zu ſchweigen, und nur die Thatſachen reden und wirken zu laſſen, da die Triebfedern zur verzweifeltſten Gegenwehr nicht erſt in den Gemuͤthern erweckt zu werden brauchten, ſondern jedem Bewußtſein gluͤhend eingedruͤckt waren. Die in den Zeitungen mitgetheilten Nachrichten von dem Vor¬ ruͤcken der ſchwediſchen Truppen an die Elbe, und andre dergleichen Angaben, waren nicht auf die Ham¬ burger, ſonder auf die Franzoſen berechnet, die uͤber Altona unſre Tagesblaͤtter bekamen, und durch ſolche Vorſpiegelungen allerdings langſamer und vorſichtiger wurden. Es erſchien kein Aufruf, kein Tagesbefehl, der Verſprechungen gegeben oder gefordert haͤtte, man360 konnte nur ſagen, was nicht noͤthig war zu ſagen, denn der Wille und die Geſinnung bedurfte keiner Be¬ arbeitung, ſondern nur Vertrauen auf ſich ſelbſt und auf nahen Beiſtand; letzterer mußte fremden Maͤchten durch kluges und gluͤckliches Unterhandeln gleichſam abgezwungen, erſteres in dem gaͤhrenden Volke ſelbſt entwickelt werden, und freilich iſt eine Bevoͤlkerung von 150,000 Menſchen ein Stoff, aus dem ſich un¬ endliche Kraͤfte entwickeln koͤnnen; wo ein ſolcher ge¬ geben iſt, darf man nichts fuͤr unmoͤglich halten, man mußte wenigſtens abwarten, was fuͤr Mittel noch an das Licht treten wuͤrden, denn was ein Volk thun wird, laͤßt ſich nicht berechnen noch vorherſehn, und man durfte Hamburg nicht aufgeben, ſo lange es ſich nicht ſelbſt aufgab. Die Buͤrgergarde war der kleinſte Theil des Volks. Sie war durch den anhaltenden Biwak waͤhrend einer regnigten Zeit, und durch den vielen, von ihr aus großem Eifer ſogar uͤbertriebenen Dienſt, nach wenigen Tagen erſchoͤpft, und unzufrieden begehrten Viele nach Hauſe. Es waͤre den Meiſten recht lieb geweſen, von Tettenborn angefuͤhrt mit gan¬ zer Macht ſich in offnen Kampf zu ſtuͤrzen, und in blutiger aber kurzer Entſcheidung Tod oder Freiheit zu ſuchen; allein ſolcherlei Ausfuͤhrung war weder rathſam noch moͤglich. Die Oertlichkeit einer uͤberall durch¬ ſchnittenen Gegend, die an unzaͤhligen Stellen bewacht werden mußte, durch Waſſer, Daͤmme, Schiffe, Haͤu¬361 ſer uͤberall bedingt, geſtattete durchaus keine Anwen¬ dung großer Maſſen, noch ſelbſt deren Vereinigung unter perſoͤnlichen Oberbefehl, und ſo legten die Um¬ ſtaͤnde den Hamburgern grade den haͤrteſten Theil des Kriegs auf, der mehr im ſtandhaften Ertragen unauf¬ hoͤrlicher Muͤhſale und Beſchwerden, und im willigen Hingeben an die Einzelheit geringfuͤgiger Leiſtungen, als in den Anſtrengungen der Schlacht und den begei¬ ſternden Zuſtaͤnden der Gefahr beſteht.

Tettenborn ſah nur zu bald erfuͤllt, was er vor¬ ausgeſehn hatte; kaum war man in Kopenhagen von der Abweiſung, die der Graf von Bernſtorff in Eng¬ land erfahren hatte, unterrichtet, als auch ſogleich an die daͤniſchen Truppen der Befehl abgeſandt wurde, ſich zuruͤckzuziehen und Hamburg ſeinem Schickſale zu uͤberlaſſen; dieſer Befehl traf am 18. Mai in Hamburg ein, und ſollte ſogleich ausgefuͤhrt, ſowie den Franzoſen dies angezeigt werden. Tettenborn beſtuͤrmte den Ge¬ neral von Wegener und den Oberſtlieutenant von Haff¬ ner mit Vorſtellungen und Ermahnungen, um ſie we¬ nigſtens zu einem Aufſchub in Vollſtreckung jenes Be¬ fehls zu bewegen; die Eroͤrterung der Lage Daͤnemarks gegen die Verbuͤndeten, die von daͤniſcher Seite ſchon veruͤbten Feindſeligkeiten gegen Frankreich, das noch eben erſt auf Wilhelmsburg vergoſſene daͤniſche Blut, die Ehre der daͤniſchen Truppen und ihre eigne Be¬ ſtuͤrzung uͤber dieſe ſchnelle Umkehr, kurz alles, was362 die perſoͤnliche Geſinnung und die Kunſt der Ueber¬ redung nur immer darbot, wurde angewandt, um we¬ nigſtens vierundzwanzig Stunden zu gewinnen, die denn endlich auch zugeſtanden wurden, mit dem Ver¬ ſprechen, daß erſt nach deren Ablauf die Franzoſen daͤniſcherſeits von dem Zuruͤckziehn der Truppen benach¬ richtigt werden ſollten. Dieſe kurze Friſt benutzte Tet¬ tenborn, um auf's neue Eilboten an den General Doͤb¬ beln zu ſenden, ſo wie an alle die Orte, von denen fuͤr Hamburg zwar nicht in dieſem Augenblick, aber doch ſpaͤter Huͤlfe zu erwarten war, und fuͤr welche die Nachricht dieſer Veraͤnderung große Wichtigkeit ha¬ ben mußte. Als endlich am 19. Abends, da es ſchon dunkel geworden war, die daͤniſchen Truppen wirklich abzogen und von dem Grasbrook und Hamburgerberg ihr Geſchuͤtz wegnahmen, verwandelte ſich aller noch uͤbrige Muth in troſtloſe Niedergeſchlagenheit. Die Meiſten gaben alle Hoffnung auf, die Stadt, die ſo¬ gar mit der Huͤlfe der Daͤnen nicht gegen die große Uebermacht des Feindes ſicher geweſen war, nun ohne ſolchen Beiſtand noch laͤnger zu behaupten. Zwar ver¬ kuͤndigte Tettenborn unmittelbar darauf die Annaͤherung der Schweden, die der General Doͤbbeln inzwiſchen wirklich verſprochen hatte zu ſchicken, allein theils hielt man dieſe noch fuͤr entfernt, theils hatte ein durch die lange Gewohnheit entſtandenes Gefuͤhl ihrer Lage die Hamburger in dem nachbarlichen Beiſtand der Daͤnen363 eine viel ausdauerndere Sicherheit hoffen laſſen, die allerdings, wegen der Naͤhe von Altona und wegen des ganzen holſteiniſchen Elbufers, durch Daͤnemarks eignen Vortheil noch beſonders verbuͤrgt ſchien. Um die Sache auf das aͤußerſte zu bringen, gaben auch ſo¬ gleich in derſelben Nacht die Franzoſen ihre Kunde von dem Abzug der Daͤnen dadurch zu erkennen, daß ſie die Stadt aus Kanonen und Haubitzen heftig beſchoſſen, indem ihre Batterieen auf der Feddel in der Zwiſchen¬ zeit trotz des hindernden Regens fertig geworden wa¬ ren. Der Schaden, den ſie anrichteten, war nicht be¬ traͤchtlich, und auf einen kleinen Theil der Stadt be¬ ſchraͤnkt, waͤhrend aͤngſtlicher Schrecken, den der naͤcht¬ liche Donner des Geſchuͤtzes und der Anblick der hoch in den dunkeln Luͤften fliegenden Granaten verurſachte, die ganze Stadt erfuͤllte. Seinen eignen Kraͤften allein uͤberlaſſen, ſchien Hamburg in dieſer furchtbaren Nacht einem nachdruͤcklichen Angriff erliegen zu muͤſſen, den man jeden Augenblick erwartete. Die Wachſamkeit war uͤberall verdoppelt, die Poſten verſtaͤrkt, alle Offi¬ ziere in Thaͤtigkeit; ohne großen Verluſt ſollte der Feind nicht eindringen, ſo gewiß auch ſeine große Zahl von Truppen ihm dies am Ende ſichern mußte; den eingedrungenen konnte man hoffen in den Straßen noch zu bekaͤmpfen, vielleicht zu vertilgen. Allein der An¬ griff unterblieb, und auch das Beſchießen der Stadt, das den Kriegsleuten uͤberhaupt wenig bedeutet, und364 das aus den Batterieen auf dem Grasbrook noch ziemlich erwiedert wurde, hoͤrte gegen Morgen auf. Der Tag fand viele Hamburger ſchon auf der Flucht, Altona war uͤberfuͤllt mit Ausgewanderten, die zum Theil ihre be¬ ſten Habſeligkeiten mit ſich fuͤhrten; tief im Holſteini¬ ſchen, in Kopenhagen ſogar und London, ſuchten viele ihre Zuflucht gegen die Rache des Feindes, der ſich, ihrer Meinung nach, diesmal nicht auf Hamburg be¬ ſchraͤnken, ſondern auch nach Altona und den naͤchſten daͤniſchen Gebietstheilen uͤbergreifen wuͤrde.

Den ganzen folgenden Tag, wie auch die Racht, und wieder den folgenden Tag, blieb alles ruhig. Un¬ begreiflicherweiſe verſuchten die Franzoſen waͤhrend die¬ ſer ganzen Zeit keinen Angriff, ja hielten ſogar mit dem Beſchießen inne, da doch keine Zeit ihnen guͤnſti¬ ger ſein konnte, als dieſe, wo die entbloͤßte Stadt ih¬ nen beinahe preisgegeben ſtand. Sie muͤſſen aber ſchlecht unterrichtet geweſen ſein, oder vielleicht den Daͤnen noch nicht getraut haben, die allerdings nicht alle die Ge¬ ſinnungen ihrer Regierung theilten. So vergingen dieſe Tage unter aͤngſtlichem Harren, die Beſorgniß ſtieg deſto hoͤher, je laͤnger die Huͤlfe ausblieb, und mit Schrecken dachte man daran, daß der Feind nicht lange uͤber den Zuſtand der Stadt getaͤuſcht bleiben koͤnne. Endlich erſchien der erſehnte Augenblick,[und] am 21. Abends langten drei ſchwediſche Bataillons, die der General Doͤbbeln abgeſandt hatte, unter dem General365 von Boye bei Hamburg an, zwei davon ruͤckten ſogleich durch die Stadt nach dem Grasbrook und dem Ham¬ burgerberge, waͤhrend das dritte zur Erhaltung der Verbindung in Bergedorf ſtehn blieb. Tettenborn war ihnen vor das Steinthor entgegengeritten, wo eine Ab¬ theilung der Buͤrgergarde aufmarſchirt ſtand, und eine große Menge Volks die ankommenden Retter mit Ju¬ belgeſchrei empfing. Man athmete wieder freier, und glaubte, nachdem man dieſe Tage gluͤcklich uͤberſtanden, fuͤr die Zukunft weniger befuͤrchten zu duͤrfen.

Auch war es die hoͤchſte Zeit, daß dieſe Truppen ankamen, denn gleichſam als ob der Feind durch irgend einen wunderbaren Einfluß nur eben ſo lange zuruͤck¬ gehalten worden ſei, bis ihm wieder friſche Truppen entgegengeſetzt werden koͤnnten, erneuerte er grade in dieſer Nacht ſeine Angriffe, und auf ſo kuͤhne Weiſe, daß, wenn er gleiches Wageſtuͤck in anderer Richtung verſucht haͤtte, die groͤßte Gefahr fuͤr die Stadt daraus entſtanden waͤre. Die hamburgiſche Jacht lag unfern des Hafens in der Elbe vor Anker, und hatte außer den Seeleuten etwa 30 Mann Hanſeaten zur Beſatzung. Die Franzoſen aber ſchifften ungefaͤhr 170 Mann in eine Peniſche und 16 Boote ein, um waͤhrend der Nacht dieſes Schiff wegzunehmen. Sie ließen ihre Fahrzeuge leiſe ſtromab treiben und kamen geraͤuſchlos und unbe¬ merkt in der Dunkelheit an das Schiff. Die Hanſea¬ ten griffen eiligſt zu den Waffen, und vertheidigten ſich366 eine halbe Stunde lang mit heftigem Gewehrfeuer; allein die franzoͤſiſchen Seeleute benutzten ihre große Ueberzahl, und waͤhrend ein Theil von ihnen durch Feuern die Beſatzung beſchaͤftigte, erſtieg eine andre Abtheilung das Schiff; ſie nahmen die Hanſeaten ge¬ fangen, kappten die Anker, und fuhren mit aufgeſpann¬ ten Segeln davon. Indeſſen hatte der Tag angefan¬ gen zu daͤmmern, und man ſah nun auf der ganzen durch das naͤchtliche Schießen allarmirten Linie am Ufer was geſchehen war. Der Feind mußte nahe vorbeiſe¬ geln, und gerieth in das Feuer von drei Batterieen und zwei Bataillons, welches ihn dergeſtalt beſtuͤrzte, daß er nicht allein der Gegenwehr, ſondern auch der Lenkung des Schiffes vergaß, das alsbald auf den Sand lief. Jetzt wurde das Feuer noch moͤrderiſcher, da jeder Schuß ſein feſtes Ziel hatte. Die Franzoſen warfen ſich in die Boote, um ihr Heil in der Flucht zu ſu¬ chen, allein mehrere dieſer Boote wurden in Grund gebohrt, die uͤbrigen, von Todten und Verwundeten erfuͤllt, entkamen mit genauer Noth. Die Jacht wurde darauf wieder genommen, die Hanſeaten befreit, und dagegen viele Franzoſen, die ſich darauf verſpaͤtet hat¬ ten, gefangen gemacht. Der Verluſt des Feindes be¬ trug 132 Todte und Verwundete, waͤhrend die Han¬ ſeaten nur 13 Mann verloren hatten hatten. Als die Fluth zuruͤckkehrte, brachte man die Jacht in den Ha¬ fen. Ein ſo nahes und heftiges Gefecht hatte wieder367 die ganze Stadt in Bewegung gebracht, man glaubte den Feind auf dem Hamburgerberg gelandet, und dankte Gott, daß den Abend vorher die Schweden angekom¬ men waren. Der gute Ausgang der Sache konnte nicht ganz fuͤr den Schrecken und die Beſorgniß, die man ausgeſtanden hatte, ſchadlos halten, man ſah im Grunde nichts gewonnen, ſondern nur einen Verluſt abgewen¬ det, vielleicht auf nur kurze Zeit, und erhielt die be¬ unruhigende Einſicht, wie viele Bloͤßen die hamburgiſche Vertheidigung dem Feinde zu benuͤtzen laſſe, die einzeln wohl zu decken ſeien, aber durchaus nicht alle zugleich.

Die Franzoſen begannen auch bald aufs neue, die Stadt zu bombardiren, und beſchoſſen ſie die ganze Nacht vom 23. auf den 24. mit der groͤßten Lebhaf¬ tigkeit, doch ohne ſonderlich Schaden zu thun; das Feuer wurde, noch ehe es recht ausbrach, jedesmal gluͤcklich geloͤſcht; die Geſchuͤtzkugeln und Bombenſtuͤcke verwundeten einige Buͤrger in den Straßen, die auf¬ geſtellten Truppen erlitten keinen Verluſt. Am meiſten fuͤrchtete man fuͤr das ungeheure Theemagazin auf dem Deiche, allein zum Gluͤck richteten die Franzoſen ihr Geſchuͤtz nicht dahin, und man gewann Zeit, die Ton¬ nen in die Ebene zu rollen und Haardecken und Erde daruͤber zu werfen, bei welchem Geſchaͤft ein junger Mann Namens Fluͤgge den unerſchrockenſten Muth und kundigſten Eifer bewies. Tettenborn war bald auf dem Grasbrook, bald auf dem Hamburgerberg, bald in der368 Stadt, um alles ſelbſt zu leiten und anzuordnen, und die Thaͤtigkeit jeder Art durch ſeine Gegenwart zu be¬ beleben. Er hatte die Truppen der entgegengeſetzteſten und jetzt gegen einander feindlich geſtimmten Voͤlker nach einander zu dem Einen Zweck der Vertheidigung Hamburgs gluͤcklich herangezogen, und er durfte hoffen, jetzt, da das Schlimmſte uͤberſtanden war, die Stadt fernerhin behaupten zu koͤnnen, und, wenn nur erſt Zeit gewonnen, auch groͤßere Unterſtuͤtzung nach und nach ankommen zu ſehn. Dann konnte die Stadt, ſelbſt bei weiterem Ruͤckzuge der Hauptheere, ein feſter, in ſich geſchloſſener und mit allen Vortheilen der See¬ verbindung ausgeſtatteter Waffenplatz fuͤr die Verbuͤn¬ deten werden, der ſogar bald im Stande ſein konnte, eine Belagerung auszuhalten. Allein das Betragen der Daͤnen, die taͤglich mit den Franzoſen eifrige Ver¬ handlungen pflogen, erweckte ſchon jetzt Bedenklichkei¬ ten, die alle dieſe Ausſichten zu vernichten drohten.

Die naͤchſten Tage waren zwar wieder ruhig, aber die duͤſtre Erwartung, in der alles ſchwebte, goͤnnte niemanden ſich in dem Genuſſe dieſer Ruhe zu erholen. Man mußte beſtaͤndig in Bereitſchaft ſtehen, die Buͤr¬ gergarden waren anaufhoͤrlich im Dienſt, ein großer Theil des Volks durch Schanzarbeit, die mit Anſtren¬ gung fortgeſetzt wurde, unablaͤſſig beſchaͤftigt. Man ſah kein andres Gewerbe mehr, als das Bezug auf den Krieg hatte, niemand ging ohne Waffen, aller Ver¬369 kehr und Erwerb ſtockte; da die biwakirenden Buͤrger von der Stadt verpflegt werden mußten, ſo wurde der Dienſt zuletzt fuͤr die aͤrmeren Einwohner die Quelle des Lebensunterhalts.

Die Daͤnen hatten inzwiſchen das Einruͤcken der Schweden in Hamburg, von wo ſie in zehn Minuten nach Altona marſchiren konnten, als fuͤr ſich gefaͤhrlich betrachtet, und ihre Truppen mit allem Geſchuͤtz aus Altona zuruͤck nach Blankeneſe gezogen; ſie thaten aͤngſt¬ lich, als haͤtten ſie einen feindlichen Ueberfall zu fuͤrch¬ ten, und als waͤren in Gemeinſchaft der Schweden ihnen jetzt auch ſogar die Ruſſen unſicher. Die Schwe¬ den ihrerſeits zeigten Beſorgniß wegen der Daͤnen, welche durch Staͤrke und Stellung allerdings im Vortheil wa¬ ren. Dieſe Beſorgniß griff auch der Kronprinz von Schweden ſogleich auf, der endlich am 17. in Stral¬ ſund angekommen war, und meinte, die ſchwediſchen Truppen fanden ſich in Hamburg gleichſam in einen Sack eingeſchloſſen. Er mißbilligte das eigenmaͤchtige Benehmen des Generals Doͤbbeln, und ſandte unver¬ zuͤglich den General Lagerbrinke nach Hamburg, um die Schweden von dort ſogleich wieder abzurufen. Selt¬ ſame Verwickelung der Verhaͤltniſſe, daß hier Daͤnen und Schweden in feindlicher Entgegenſetzung zum Un¬ heil Hamburgs doch nur das Gleiche thaten. Gegen die Mißverhaͤltniſſe der beiden nordiſchen Maͤchte, die ſich auf dieſem Punkte begegneten, mußte das SchickſalIII. 24370der einzelnen Stadt verſchwinden, und dieſe im Wider¬ ſtreit fremder Politik erliegen. Die ſchwediſchen Trup¬ pen marſchirten am 25. Mai Abends wirklich von Hamburg ab. Welche Beſtuͤrzung unter den Ein¬ wohnern, welche Niedergeſchlagenheit unter den Trup¬ pen dadurch entſtand, iſt kaum zu beſchreiben. Es gehoͤrte der ausdauernde Muth und die beharrliche Ge¬ ſinnung Tettenborn's dazu, um nach dieſem zweiten Fehlſchlagen, das er in ſeinen unternehmenden Anſtren¬ gungen erfuhr, nicht ganz zu verzweifeln; aber der Schmerz ſelbſt, von dem ſein Inneres bei dieſen Vor¬ gaͤngen zerriſſen war, wurde ihm zum neuen Anreiz, ſeine Thaͤtigkeit zu verdoppeln, ſeine Kraft zu ſpannen, und gegen alle zum Untergang verſchworne Gewalten eines hartnaͤckigen Geſchicks wenigſtens eben ſo hart¬ naͤckig zu ringen.

Die dringenſten Vorſtellungen gingen an den Kron¬ prinzen von Schweden, dem die Wichtigkeit dieſer Stadt, ihre jetzige Lage und ihr bevorſtehendes Ungluͤck an's Herz gelegt wurde, um ihn zur Rettung derſelben zu bewegen; fuͤr ganz Deutſchland konnte Hamburg ge¬ rettet das beſte, verloren das abſchreckendſte Beiſpiel werden. Auch die beſondre Theilnahme, die der Kron¬ prinz fuͤr dieſe Stadt aus fruͤherer Zeit, da er als Marſchall Bernadotte in den angenehmſten Verhaͤltniſ¬ ſen mit den Einwohnern geſtanden, noch haben mußte, wurde in Anſpruch genommen. Der Senat hatte an371 den Kronprinzen alsbald nach ſeiner Landung die Ab¬ geordneten Pariſh, Gries und Karl Sieveking geſandt; der letztere, damals in noch ſehr jungen Jahren, zeigte ſchon die großen Vorzuͤge des Geiſtes und Karakters, welche er ſeitdem in ſeiner ehrenvollen Laufbahn ſtaats¬ maͤnniſchen Wirkens zum Wohl und Ruhm ſeiner Va¬ terſtadt vielfach dargethan. Der Kronprinz hoͤrte die Vorſtellungen der Abgeordneten theilnehmend an, ver¬ mied aber jede beſtimmte Zuſicherung. Allein ſelbſt im guͤnſtigſten Falle, wenn er alles gewaͤhrte, was in ſei¬ ner Macht ſtand, mußten viele Tage hingehen, bevor die Huͤlfe eintreffen konnte, die mit jeder Stunde, welche dieſer Zuſtand fortdauerte, Gefahr lief, zu ſpaͤt zu kommen. Es blieb daher nichts uͤbrig, um nur einigen Halt in die Sachen zu bringen, als von Wall¬ moden Verſtaͤrkung zu beziehn. Dieſer ſandte ein preußi¬ ſches Bataillon, welches zwar nicht ſehr ſtark war, aber aus Kerntruppen beſtand, bei Luͤneburg das Gefecht ruhmvoll entſchieden hatte, und in dem Oberſtlieute¬ nant von Borck ſich des tapferſten Anfuͤhrers ruͤhmen konnten. Am 27. Mai traf das Bataillon in Hamburg ein, und brachte einen neuen Schimmer von Hoffnung fuͤr die Einwohner mit, welche dieſer Truppen endlich glaubten gewiß ſein zu koͤnnen.

Wunderbar genug blieb auch jetzt, nach dem Ab¬ zuge der Schweden, wie fruͤher der Daͤnen, der Feind ganz ruhig, und wagte keinen Angriff, ja ließ ſogar24*372im Bombardiren der Stadt nach. Er dachte auf eine leichtere Art zu deren Beſitz zu gelangen, als durch einen Angriff, deſſen Erfolg doch immer zweifelhaft war, und der auch im Gelingen eine große Menge Leute koſten mußte. Die Daͤnen waren das Mittel, welches ihnen dies alles erſparen ſollte. Die Unter¬ handlungen zwiſchen Altona und Haarburg wurden taͤglich lebhafter; der Praͤſident von Kaas war aus Kopenhagen angelangt, um in das Hauptquartier Na¬ poleon's zu reiſen, und hielt ſich unterwegs in Haar¬ burg eine Zeit lang bei dem Marſchall Davouſt auf; was man von den gepflogenen Unterhandlungen erfuhr, deutete nicht allein auf Annaͤhern, ſondern auf ein voͤl¬ liges Anſchließen Daͤnemarks an Frankreich. Bei dem vertrauten Verkehr zwiſchen den Nachbarſtaͤdten, die ſich in vieler Hinſicht als Eins betrachteten, und denen die kaufmaͤnniſchen Verbindungen ein engeres Band blie¬ ben, als das, womit jede einer andern Regierung an¬ gehoͤrte, waren die geheimſten Verhandlungen der Daͤnen in Hamburg bekannt, man ſprach laut davon, daß letztere mit den Franzoſen vereinigt die Stadt angrei¬ fen, oder dieſelbe auf glimpfliche Weiſe doch einſtwei¬ len beſetzen und den Ruſſen nur freien Abzug geſtatten wuͤrden, und ſo ſahen die ungluͤcklichen Hamburger aus denſelben Truppen, die noch eben ihre Bundesgenoſſen und Beſchuͤtzer geweſen, ploͤtzlich drohende Feinde wer¬ den, und zwar um ſo gefaͤhrlicher, als man nach die¬373 ſer Seite die wenigſten Vorkehrungen getroffen hatte, da die Freundſchaft der Daͤnen ſich hoͤchſtens in Neutra¬ litaͤt ſchien veraͤndern zu koͤnnen. Gegen die Franzoſen waren die an der Elbe aufgeworfenen Befeſtigungen auch bei noch fortdauernder Arbeit ſchon haltbar, da der Strom ſie deckte; von dem Lande her boten die noch unvollendeten tauſend Bloͤßen. Ein andrer Umſtand erweckte noch bedenklichere Sorge. Nach dem großen Verbrauch in der letzten Zeit fing nun das Pulver an zu fehlen; der Vorrath reichte fuͤr das Kleingewehr nur noch auf einige Tage hin, fuͤr das Geſchuͤtz auf den Waͤllen nur auf wenige Schuͤſſe. Dies alles, und die Erwaͤgung, daß, wie auch der Krieg enden moͤge, Daͤnemark fuͤr Hamburg immer der naͤchſte Nachbar bleiben wuͤrde, von deſſen Haͤnden die Stadt fortdauernd Unheil oder Heil ſchon durch die Beherrſchung der Elbe zu gewaͤrtigen habe, machte die Einwohner gaͤnzlich ver¬ zagen, auch gegen dieſen Feind mit aͤußerſtem Trotze aufzutreten. Heß, als Befehlshaber der Buͤrgergarde, der ſchon lange mit abwechſelndem Erfolg gegen die mannigfaltigen Stimmungen gekaͤmpft hatte, und zum Theil von ihnen niedergebeugt war, erſchien bei dem General, und machte ihm foͤrmlich die Anzeige, daß auf die Buͤrgergarde ferner nicht zu rechnen ſei, und ſie namentlich gegen die Daͤnen nicht fechten wuͤrde. Die Hamburger befanden ſich allerdings in einer fuͤrchterli¬ chen Lage; ohne alle Moͤglichkeit der Ausſoͤhnung mit374 Napoleon, bedraͤngt und bombardirt von der Uebermacht eines racheſinnenden Feindes, ſahen ſie eine Stuͤtze nach der andern weichen, eine Hoffnung nach der andern verſchwinden, und nirgends einen aufrichtigen Freund erſcheinen. Muth und Entſchloſſenheit ſind es meiſt nur bedingungsweiſe, daß der Einzelne wiſſe und vertraue, auch die Andern, und wo nicht Alle, doch die Meiſten, ſeien ihm gleichgeſinnt. Dieſe Ueberzeugung fehlte, und ſie zu erregen waͤren Huͤlfsmittel noͤthig geweſen, vor denen die Beſonnenen zuruͤckſchauderten. Ein begeiſterter Volksheld aber, der die dunkeln Kraͤfte der Waffen an's Licht zu rufen und zugleich zu leiten gewußt haͤtte, erſtand nicht. Die Entbrannteren ſahen alle auf Tettenborn, und erwarteten ſeinen Anſtoß; allein er konnte heldenmuͤ¬ thige Entſchluͤſſe wohl foͤrdern, aber nicht vorſchreiben. Es waͤre ſchoͤn geweſen, dies gutgeſinnte, eifrige Volk, deſſen Aufſtand gegen die Franzoſen ein ſo großes Bei¬ ſpiel gegeben, durch hinlaͤngliche Kriegsmacht, wo moͤg¬ lich vorwaͤrts an der Weſer ſchuͤtzen und vertheidigen zu koͤnnen, und ihm den Wiedergewinn der Freiheit in un¬ getruͤbtem Gluͤcke beſchieden zu ſehen, die verbuͤndeten Maͤchte und ganz Deutſchland haͤtten ihm ſolches Wohler¬ gehn freudig gegoͤnnt; allein das Geſchick hatte nun ein¬ mal ſeine haͤrteſten Looſe hier ausgeworfen und dem Orte ſelbſt, wo das kuͤhne Wagniß hervorgetreten, waren auch alle Ungluͤcksfolgen deſſelben zugetheilt. Es war jetzt, gleichviel durch weſſen Schuld, mit Hamburg auf das375 aͤußerſte gekommen, wo es nur noch galt, ſich bis zur Verzweiflung zu wehren, und lieber unterzugehen, als ſich zu ergeben. Aber obgleich der Reichthum und Wohlſtand der Hamburger nicht in ihren Wohnſitzen beſteht, die ohne Freiheit wenig werth ſind, und die Betriebſamkeit, die Kenntniß und das Vertrauen des Handels, ihr wahrer Reichthum, ſie uͤberall hinbegleitet haͤtten, ſo ſchauderten dennoch alle vor dem Gedanken, ihre Stadt den Flammen zu uͤberantworten, und dem Feinde zum Gegenſtande ſeiner Wuth nur als eine rauchende Brandſtaͤtte zuruͤckzulaſſen. Als Tettenborn ihnen nichts mehr zu bieten hatte, als rothe Fahnen und Pechkraͤnze, zogen ſich die Unſeligen zuruͤck, fuͤr die es eine Wohlthat, nicht Grauſamkeit, geweſen waͤre, wenn man, ſogar wider ihren Willen, das Heldenwerk Roſtopſchin's wiederholt haͤtte. Tauſende haben es ſeitdem bereut, nicht dieſen Untergang gewaͤhlt zu ha¬ ben, allein es war noͤthig, daß erſt die Wiederkunft der Franzoſen mit allen Graͤueln der uͤberlegteſten, langſamen Zerſtoͤrung ihnen jene ſchnelle wuͤnſchens¬ werth machte!

Noch einmal erſchien fuͤr Hamburg ein guͤnſtiger Sonnenblick, um dann ganz und fuͤr lange Zeit von ſeinem Himmel zu verſchwinden. Der Kronprinz von Schweden hatte Hamburgs Schickſal zu Herzen genom¬ men, und endlich den Abgeordneten der Stadt ſeinen unverzuͤglichen Beiſtand zugeſagt; am 27. Mai kam376 der General von Roſen von Seiten des Kronprinzen zu Tettenborn, um demſelben den Anmarſch neuer ſchwediſcher Truppen anzukuͤndigen. Ein Theil derſel¬ ben ſollte in Hamburg ſelbſt einruͤcken, die Hauptmaſſe aber Wallmoden's Heertheil zu einer kraͤftigen Unter¬ nehmung auf das linke Elbufer und gegen Haarburg verſtaͤrken, um die Franzoſen durch dieſen Angriff im Ruͤcken zu noͤthigen, von ihrem Angriff auf Hamburg abzulaſſen. Nichts konnte erwuͤnſchter ſein, und ſchon war alles abgeredet, als noch der General von Boye eintraf, um wegen der ſchwediſchen Truppen von den Daͤnen, durch welche ſie in Hamburg jeden Augenblick eingeſchloſſen werden konnten, eine Sicherſtellung zu verlangen. Er forderte nur, daß die daͤniſchen Gene¬ rale ſich verpflichteten, jede Aenderung ihres neutralen Verhaltens gegen die Schweden achtundvierzig Stun¬ den fruͤher anzuzeigen, ehe ſie thaͤtig einſchritten.

Mit dieſem Auftrage ging der General von Boye am 29. Mai ſelbſt nach Altona, und Tettenborn ſchug alle ihm durch Eifer und Klugheit eroͤffnete Wege ein, ſeinen perſoͤnlichen Einfluß auf die Entſchlie¬ ßungen der daͤniſchen Befehlshaber geltend zu machen.

Waͤhrend dieſer Verhandlungen hatten die Franzoſen die mehrtaͤgige Ruhe durch einen unerwarteten raſchen Angriff wieder unterbrochen. Sie waren fruͤh vor Tages Anbruch am 29. von Wilhelmsburg aus nach dem Ochſenwaͤrder uͤbergegangen, hatten die ſchwachen377 Poſten des lauenburgiſchen Bataillons daſelbſt uͤberall zuruͤckgedraͤngt, und ſich bereits in dieſer Inſel ſehr ausgedehnt und theilweiſe feſtgeſetzt, ehe die Meldung davon an Tettenborn gelangte. Dieſer eilte ſogleich dorthin, und fuͤhrte die zuruͤckgewichenen, aber durch ſein Erſcheinen gleich ermuthigten Truppen perſoͤnlich gegen den Feind vor, und ließ ſie eine guͤnſtige Stel¬ lung nehmen, wobei er ſich lange Zeit dem heftigen Kugelregen der feindlichen Plaͤnkler ausſetzte. Da je¬ doch die Franzoſen hier mit Macht uͤbergegangen wa¬ ren, und weiter vordringen zu wollen ſchienen, um die Ruſſen von dieſer Seite abzuſchneiden, ſo ließ er ſchleu¬ nig das Bataillon Preußen aus der Stadt in die wich¬ tige Stellung beim Eichbaum marſchiren, um dieſe ſo lange zu behaupten, bis der von Wallmoden auszu¬ fuͤhrende Angriff den Feind von ſelbſt hier wieder zum Ruͤckwege noͤthigen wuͤrde; er ſelbſt nahm ſein Haupt¬ quartier bei der Billkirche.

Die Lage war mißlicher als je; um dem Angriff im Ochſenwaͤrder zu begegnen war die Stadt entbloͤßt worden; wurde dieſe angegriffen, ſo konnte man nichts dahinſchicken, was nicht anderswo eine Luͤcke gelaſſen haͤtte, und ſo blieb nur auf die ungewiſſe Hoffnung zu rechnen, daß die Franzoſen ihren Angriff auf die Stadt ſelbſt noch nicht machen wuͤrden. Mit Ungeduld erwartete man die Ankunft der Schweden und die ver¬ langte Zuſicherung der Daͤnen; von beiden Seiten er¬378 hielt Tettenborn zugleich Nachricht. Die Schweden, ſtatt in Bergedorf einzutreffen, hatten ſich tiefer in das Innere des Landes zuruͤckgezogen; die Daͤnen da¬ gegen waren vorgegangen, und ſtanden ſchlagfertig in Altona und in Schiffbeck, ſo daß ihre Stellung eben ſo drohend erſchien, als ihre Abſicht feindlich zu ver¬ muthen war, ſie brauchten nur noch einen Schritt zu thun, um Hamburg ſelbſt und alle dortigen Truppen unrettbar einzuſchließen.

Auf das Verlangen des Generals von Boye hatte der, ſtatt des abgerufenen Generals von Wegener in Holſtein jetzt den Befehl fuͤhrende Generalmajor von der Schulenburg geantwortet, nur zwei Stunden vor¬ her, ehe er zu Feindſeligkeiten uͤberginge, wuͤrde er die Anzeige davon machen. Zugleich erhielt man durch wohlunterrichtete Perſonen die Gewißheit, daß zwiſchen den Daͤnen und Franzoſen ein Vertrag abgeſchloſſen, und die daͤniſche Kriegsmacht in Holſtein ganz den Verfuͤgungen des Marſchalls Davouſt uͤberlaſſen ſei, daß alſo jeden Augenblick ein foͤrmlicher Angriff, von ihnen ſelbſt, oder uͤber das daͤniſche Gebiet von den Franzoſen, zu erwarten ſtehe. Der ſchwediſche General erklaͤrte hierauf, in dieſem Fall hieße es die ſchwediſchen Truppen, die nach Hamburg kaͤmen, gradezu dem Feind als Gefangene uͤberliefern, und ihre ruͤckgaͤngige Bewegung, ſchon durch das Vorgehen der Daͤnen ver¬ anlaßt, koͤnne nur fortzuſetzen ſein. Unter dieſen Um¬379 ſtaͤnden, bei der Mißſtimmung der Buͤrgerſchaft, dem Mangel an Schießbedarf der geringen Truppenzahl, der Entfernung der Schweden und Feindlichkeit der Daͤnen, mußte Tettenborn, der noch immer außerhalb der Stadt bei der Billkirche dem ſtets ſich verſtaͤrken¬ den Feinde kaͤmpfend entgegenſtand, in der Nacht auf den 30. Mai dem Major von Pfuel nach Hamburg den Befehl ſenden, die Stadt zu raͤumen, und mit den wenigen dort noch befindlichen Truppen durch den Billwaͤrder den Ruͤckzug nach Bergedorf anzutreten. Der Senat hatte ſchon fruͤher aus eignem Antrieb die Uebergabe der Stadt berathſchlagt, und ſandte jetzt Abgeordnete nach Altona, um die daͤniſche Vermittelung zu erbitten.

Heß loͤſte durch eine ſchon fuͤr ſolchen ungluͤcklichen Fall im voraus gedruckte Bekanntmachung die Buͤrger¬ garde foͤrmlich auf, die der That nach ſchon nicht mehr beiſammen war, und ſich in den letzten Tagen nur in ſehr geringer Zahl auf den Sammelplaͤtzen eingefunden hatte. Die angeſehenſten Einwohner, beſonders ſolche, die ſich auf irgend eine Weiſe fuͤr die Freiheit Ham¬ burgs hervorgethan hatten, befanden ſich zum Theil ſchon im Daͤniſchen, theils begaben ſie ſich jetzt dahin. Der Abzug der Truppen, ungefaͤhr 800 Mann, ge¬ ſchah in aller Stille und mit der groͤßten Ordnung, einige Schuͤſſe, welche die Franzoſen gegen Morgen380 von der Feddel gegen die Stadt thaten, wurden noch von den Batterieen auf dem Grasbrook beantwortet.

In Altona wurde der Generalmarſch geſchlagen, und die daͤniſchen Truppen ſetzten ſich in Bewegung.

Waͤhrend des Zuges durch den zwei Meilen langen Engweg des Billwaͤrders ſah man der ganzen Laͤnge nach daͤniſche Truppen mit zahlreichem Geſchuͤtz aufge¬ ſtellt, die Kanoniere mit brennenden Lunten bei den Kanonen, die hinter unzugaͤnglichen Verhauen laͤngs der Graͤnze die Landſtraße beſtrichen. Eine Stunde ſpaͤter haͤtten ſie vielleicht ſchon Befehl zum Angriff gehabt, und das kleine Haͤuflein waͤre in den Engen des Billwaͤrders vernichtet oder gefangen worden. Der General von der Schulenburg band ſich auch nicht an die zugeſagte zweiſtuͤndige Aufkuͤndigung, ſondern fing die Feindſeligkeiten ſogleich an; die Daͤnen ruͤckten in Hamburg ein, und verfolgten durch das Steinthor den Nachtrab der Ruſſen, nahmen 4 hanſeatiſche Reiter gefangen, und wechſelten noch am Abend mit den Ko¬ ſaken bei Bergedorf einige Schuͤſſe. Von Bergedorf an machte das preußiſche Bataillon die Nachhut, und der Tag ſollte nicht vergehn, ohne die Franzoſen noch daran zu erinnern, daß nicht ihre Tapferkeit Hamburg wieder gewonnen habe. Bei der Nettlenburger Schleuſe waren ſie in zahlreicher Menge auf Stegen und geleg¬ ten Brettern uͤbergegangen, und draͤngten die preußi¬ ſchen Plaͤnkler zuruͤck. Der Oberſtlieutenant von Borck381 eilte dahin, ſetzte ſich an die Spitze ſeiner tapfern Leute, redete ſie kraͤftig an, und ſetzte ein hartes Wort darauf, wenn einer von ihnen einen Schuß thaͤte; ſo ſtuͤrzten ſie mit gefaͤlltem Bajonet auf die Uebermacht des Fein¬ des, und warfen alles nieder, was ihnen auf dem Wege war. Es fiel kein Schuß, der Feind verlor uͤber 400 Mann, von denen ein Theil durch Bajonet und Kolben, ein Theil im Waſſer umkam, nur wenige ret¬ teten ſich uͤber den Fluß zuruͤck. Von den 80 Preu¬ ßen, die dieſes Heldenſtuͤck ausgefuͤhrt, wurde nicht einmal einer verwundet, zum Beweiſe, daß es die Truppen ſchonen heißt, wenn man ſie mit dem Bajo¬ net angreifen laͤßt.

Tettenborn kam ohne weiter verfolgt zu werden und ohne irgend einen Verluſt am 31. Mai nach Lauen¬ burg, wo er an die Truppen Wallmoden's angelehnt ſtand, und ehe wieder von der einen oder andern Seite etwas begonnen wurde, die Nachricht des abgeſchloſſe¬ nen Waffenſtillſtandes erhielt. Wie es der Stadt Ham¬ burg erging, nachdem die Daͤnen den Franzoſen Platz gemacht hatten, moͤge ein Augenzeuge erzaͤhlen, dem zu einer ſolchen Schilderung der erbitterte Schmerz Kraft giebt, und der nicht ſcheut die herzzerreißende Wirkung ſolchen vaterlaͤndiſchen Trauerſpiels wie Phry¬ nichus in verwuͤnſchendem Danke zu erfahren.

[382]

Kriegszuͤge von 1813 und 1814.

Ich glaube weder Unnuͤtzes noch Unwillkommnes zu thun, wenn ich die ferneren Kriegsereigniſſe, denen ich als Augenzeuge beigeſellt geweſen, mit treuer Wahr¬ heit und freiem Urtheil zu ſchildern verſuche. Denn war auch dieſe Kriegsbahn nicht die eines der Haupt¬ heere, noch ſelbſt eines großen Heertheils, ſondern nur einer maͤßigen Truppenzahl, ſo darf ſie doch durch die Selbſtſtaͤndigkeit des Anfuͤhrers, und durch die Leiſtun¬ gen und Erfolge, welche von ihr ausgingen, an Wich¬ tigkeit und Anreiz mit mancher hoͤheren in gleiche Reihe treten. Sie gewaͤhrt eines der eigenthuͤmlichen Bilder, aus denen das Geſammtbild dieſes ganzen Krieges ſich zuſammenſetzt, der auf unſrer Seite kaum als eine Ein¬ heit aufgefaßt werden kann. Aber noch eine andere Wahrnehmung kommt uns hier zu Statten!

Salluſtius ſagt, er habe bei Betrachtung der roͤmi¬ ſchen Thaten und Schickſale oft uͤberlegt, wodurch wohl am meiſten unter ſo großen Erſchuͤtterungen und Ge¬383 fahren der Staat erhalten und gerettet worden, und er bekennt, die Kraft und Trefflichkeit weniger einzel¬ nen Maͤnner habe dies vollbracht. Auch die deutſche Geſchichte hat ſolche Zeiten, welche ganz durch das Da¬ ſein einzelner Helden getragen werden, ſo die Zeiten Friedrich Wilhelms des großen Kurfuͤrſten, ſo die Friedrichs des Großen. Aber voͤllig das Gegentheil von ſolcher Erſcheinung zeigt ſich in dem letzten Befreiungs¬ kriege, wo der Ruhm der Ereigniſſe, durch welche die deutſche Sache in ſo hartem und gefahrvollem Ringen gluͤcklich emporgehalten worden, kein einzelnes Haupt findet, auf welches er in ganzer Fuͤlle ſich niederſenken koͤnnte. Viele haben Theil an ihm, edle Fuͤrſten, tapfre Feldherren, einſichtsvolle Staatsmaͤnner, doch eben de߬ halb nennt er ſich nach keinem ausſchließlich, ſondern ſchwebt als namenloſes Eigenthum in hoher Gemein¬ ſchaft uͤber der ganzen Nation.

Bei dieſer Eigenthuͤmlichkeit des vergangenen Krie¬ ges, daß der Trieb und die Macht des Ganzen nicht bloß in einem großen Hauptquartier zuſammengedraͤngt, ſondern mit dem geiſtigen Gehalte der Zeit in den ganzen Umfang der Bewegung ausgebreitet erſcheint, und faſt in jedem Beſtandtheile gleichartig ſich wieder¬ findet, bei dieſer Eigenthuͤmlichkeit darf die abgeſonderte Erzaͤhlung einer einzelnen Reihe von Kriegsereigniſſen, auch ſelbſtſtaͤndiger auftreten, als dies der Fall waͤre, wenn wir aus den Feldzuͤgen Caͤſar's, Friedrich's oder384 Napoleon's eine ſolche Nebenreihe darzuſtellen haͤtten; in den letztern iſt die Perſon des Oberfeldherrn die feſte Mitte alles Wichtigen und Bedeutenden, und jede Beſonderheit nur eine Ausſtrahlung von dort; hier um¬ gekehrt ſtroͤmen die Strahlen aus dem Umkreiſe zu einer ſolchen Mitte zuſammen, zu der ſogar auch Bluͤ¬ cher und Schwarzenberg nur ihren Beitrag geben. Und wo es einmal nur Beitraͤge gilt, da darf auch der, welchen die nachfolgenden Blaͤtter ſchildern, ſich den namhaften anſchließen.

Der Fall Hamburgs machte den erſchuͤtternden Be¬ ſchluß einer Reihe von Kriegsereigniſſen, welche der freudigen Zuverſicht, die ſie anfangs erweckt hatten, im Fortgange nicht entſprachen, ſondern die vaterlaͤn¬ diſchen Hoffnungen bald wieder zu bangen Zweifeln herabſtimmten. Die Schlachten von Groß-Goͤrſchen und Bautzen, die Gefechte bei Magdeburg, Halle und Hay¬ nau, hatten das verbuͤndete Heer mit friſchem blutigen Lorbeer bereichert, aber doch wieder zuruͤckgefuͤhrt zu den Ufern der Oder, von woher die Schaaren erſt kuͤrzlich gegen den ſchon fernen Feind ausgezogen waren, der jetzt mit angeſtrengter Raſchheit wieder nah, und gleich in Schleſien wieder eingedrungen war. Die Schlachten ſelbſt waren fuͤr den Feind kaum Siege385 zu nennen, aber in ſeinen Haͤnden ſah man erſtaunt alle Fruͤchte des Sieges, eingenommene Laͤnder, be¬ zwungene Voͤlker, beſtaͤrkte und neue Bundesgenoſſen. Das ruſſiſche Heer mußte beſorglich gewahr werden, welch neue Wechſelfaͤlle ſo fern von der Heimath ihm zu beſtehen waren; die preußiſchen Truppen konnten die im Ruͤcken liegenden Landesſtrecken ermeſſen, welche faſt ſicher der Schauplatz, aber nur ungewiß die Mit¬ tel des weiteren Krieges darboten. Die Schweden harrten, an die Kuͤſten der Oſtſee zuruͤckgezogen, auf den Abſchluß der zum Theil ſchwierigen Bedingungen, unter denen ſie dem Bunde gegen Napoleon beitraten; ihre Huͤlfe ſchien uͤberdies fuͤr jetzt durch den neuen Feind aufgewogen, den grade ſie am meiſten uns in den Daͤnen erweckt hatten. Oeſterreich ruͤſtete, aber ſein Beitritt zu dem Bunde war noch keineswegs erklaͤrt, und die ſchwebende Ungewißheit erregte Unruhe und Sorgen. Der Feind, wieder im Beſitz von Sachſen und einem Theile Schleſiens, bot in aller ſeiner Macht unterworfenen Laͤndern die gewaltigſten Anſtrengungen auf, und ſeine Heere wuchſen taͤglich an Zahl und Ver¬ trauen. Mißlich und gefahrvoll ſtand die zuſammen¬ geſetzte Befehlsmacht der Verbuͤndeten dem kriegeriſchen Alleingebieten des furchtbarſten Schlachtengewinners ge¬ genuͤber, dem das Gluͤck wieder zu laͤcheln ſchien. Eine dumpfe Verzweiflung war uͤber das noͤrdliche Deutſch¬ land ausgebreitet; das Verhaͤngniß ſchien die Anſtren¬III. 25386gungen und das Flehen der Bedraͤngten zu verwerfen, und den franzoͤſiſchen Kaiſer nach kurzem Zuͤrnen wie¬ der als geliebten Sohn aufzunehmen; mit dem Fall von Hamburg wurde der letzte Aufflug der beſtuͤrzten Hoffnungen gefeſſelt.

Aber dennoch waren Muth und Kuͤhnheit in den Kriegern nicht ermattet, ſondern lebten hoffnungslos faſt um ſo ſtolzer fort, und in unſern Reihen wuͤnſchte jeder nur die Fortſetzung des Krieges, und wollte ihn lieber an die Ufer der Duͤna zuruͤckgeworfen, als hier an der Elbe durch klaͤglichen Frieden geendet ſehen. In dieſem Sinne bereitete ſich alles zu hartnaͤckigen, erbitterten Kaͤmpfen.

Tettenborn hatte in der Behauptung Hamburgs das Aeußerſte geleiſtet; er hatte Streitkraͤfte geſchaffen, erborgt, erzwungen, gegen die auf dieſem Punkte zu¬ ſammengehaͤuften Schwierigkeiten unablaͤſſig und oft mit wunderbarem Erfolg angekaͤmpft, und erſt am Rande des Unterganges die ihm anvertraute Schaar ohne Ver¬ luſt wieder zuruͤckgefuͤhrt; nur Unkundige mochten die Zumuthung laͤngerer Vertheidigung gegen ihn aufſtel¬ len, die Maͤnner vom Kriegeshandwerk hatten jede mi¬ litairiſche Obliegenheit dazu ſchon laͤngſt verneint. Der Kaiſer Alexander ſandte ihm zur Anerkennung ſeiner verdienſtvollen Ausdauer den St. Annenorden erſter Klaſſe mit den ſchmeichelhafteſten Ermunterungen. Der beſte Troſt lag in dem Gedanken an neue Kaͤmpfe und387 Unternehmungen, zu denen Tettenborn, jetzt nicht mehr hinter Waͤllen und Graͤben eingeengt, ſondern mit ſei¬ ner Reiterei wieder im freien Felde, und ſeinem eigent¬ lichen Elemente zuruͤckgegeben, ſich entſchloſſen anſchickte.

Er hatte in den naͤchſten Tagen nach der Raͤumung Hamburgs ſeine Truppen bei Lauenburg zuſammenge¬ zogen, und ſeine Vorpoſten gegen Bergedorf und die Graͤnze von Holſtein vorgedraͤngt. In Boitzenburg ſtanden die wenig zahlreichen Truppen Wallmoden's. Der Feind hatte eine große Ueberlegenheit an Mann¬ ſchaft und Geſchuͤtz, denn obwohl die Angaben in der wieder franzoͤſiſchen hamburgiſchen Zeitung die Anzahl der eingeruͤckten Franzoſen prahleriſch uͤbertrieben, ſo befanden ſich doch in Hamburg, nach ſichern Nachrich¬ ten, die uns von dorther nie fehlten, wenigſtens 10,000 Mann, gewiß das Vierfache der Unſrigen, und was in dieſen der entſchloſſene Eifer, das konnte in jenen fuͤr den Augenblick der Uebermuth des gelunge¬ nen Erfolgs wirken. Die Beihuͤlfe der Daͤnen ver¬ mehrte die Zahl des Feindes ins Unbeſtimmte, und verlieh ihm zugleich Reiterei, an der es ihm bis dahin gefehlt hatte. Wir ſahen in der That auch alsbald daͤniſche Huſaren gegen uns erſcheinen, und mit den Koſaken und hanſeatiſchen Reitern plaͤnkeln, und ob¬ wohl die daͤniſchen Truppen uͤberhaupt nur mit Wider¬ willen ſich den franzoͤſiſchen verbuͤndet ſahen, ſo machte doch das, nach alter Erfahrung, in dem ſtrengen Gange25*388kriegeriſcher Verhaͤltniſſe keinen Unterſchied, und die Daͤnen fochten gegen uns wie die Franzoſen, denen untergeordnet zu ſein ſie ſich bald gewoͤhnten. Haͤtte Tettenborn bloß den Eingebungen des Augenblicks fol¬ gen wollen, ſo wuͤrde ihm, nachdem die Daͤnen ſich ſo raſch in Feinde verwandelt hatten, voͤllig frei geſtanden haben, mit aller Reiterei ſogleich in Holſtein einzufal¬ len, das Land zu uͤberſchwemmen, die Truppen zu zer¬ ſtreuen oder zu entwaffnen; wie leicht jenes Einbrechen geſchehen konnte, hat das Gelingen des ſpaͤtern, viel ſchwierigern Verſuchs gezeigt. Allein er wollte die hoͤhern Entſcheidungen abwarten, die erſt den Geſichtspunkt aufſtellen mußten, aus welchem das neue Verhaͤltniß der Daͤnen zu behandeln ſei. Dieſes verzoͤgernde Ab¬ warten, und die Hoffnung, daß die Schweden jetzt in jedem Fall lebhafter den Krieg betreiben wuͤrden, in welchem ſie ihre eigentlichſten Feinde nicht laͤnger als Gegner vermiſſen ſollten, erhoͤhte die Spannung nach dieſer Seite außerordentlich.

Die Franzoſen hatten kaum einige Tage damit zu¬ gebracht, ſich in dem ungluͤcklichen Hamburg feſtzu¬ ſetzen und ihre vorhabenden Zerſtoͤrungen zu beginnen, als ſie auch ernſtere Verſuche machten, in das Lauen¬ burgiſche einzudringen, durch deſſen Beſetzung wir nach ihrem Sinne noch in Frankreich waren. Tettenborn ſah die Unmoͤglichkeit, dem Vorruͤcken zahlreichen Fu߬ volks auf die Dauer mit Vortheil zu widerſtehen, da389 die Einengung dieſes Landſtrichs zwiſchen der Oſtſee und dem Elbſtrom nicht erlaubte, den Feind mit der Reiterei, durch raſche Angriffe auf ſeine Flanken und kuͤhne Einfaͤlle in ſeinen Ruͤcken, zu aͤngſtigen und auf¬ zuhalten, die einzige Art dieſes gegen eine Uebermacht, der man von vorn nicht gewachſen war, moͤglich zu machen. Auf der andern Seite konnte man berechnen, daß der Feind, deſſen Hauptmacht ſich noch nicht un¬ bedingt von Hamburg entfernen konnte, nicht weiter als bis in den Anfang Mecklenburgs ſtreifen wuͤrde, wo er zu der natuͤrlichen Hemmung, welche die Gefahr groͤßerer Entfernung ihm auferlegte, uͤberdies noch an der Elbe auf die Truppen Wallmoden: s, und laͤngs der Oſtſee auf die Schweden treffen mußte, von wel¬ chen, obgleich ſie bis jetzt nicht vorgingen, doch nicht zu erwarten war, daß ſie ſich ohne Gefecht noch wei¬ ter zuruͤckziehen wuͤrden. Es ſchien daher das Beſte, dieſe Gegend ganz aufzugeben, und die Truppen, die hier in erfolgloſer Vertheidigung unnuͤtz wuͤrden, ander¬ waͤrts nuͤtzlicher zu verwenden. Den Spielraum, den das rechte Elbufer verſagte, bot das linke deſto herrli¬ cher dar, und der nicht raſtende Unternehmungsgeiſt Tettenborn's nahm ſogleich dorthin ſein Augenmerk, um in das Hannoͤverſche und Braunſchweigiſche einzu¬ fallen, durch kuͤhne Streifzuͤge gegen die Weſer und den Harz den Feind zu beunruhigen, und, zu raſcher390 Wendung bereit, deſſen Stellung an der Oberelbe und Niederelbe im Ruͤcken gleicherweiſe zu bedrohen.

Bevor jedoch dieſer Zug unternommen werden konnte, wurden wir ploͤtzlich durch die Ankunft eines franzoͤſi¬ ſchen Offiziers uͤberraſcht, der in Begleitung eines ruſſi¬ ſchen aus dem großen Hauptquartier kam, um auf der ganzen Linie die Feindſeligkeiten, zufolge eines geſchloſ¬ ſenen Waffenſtillſtandes, einzuſtellen; er traf in dem Augenblicke ein, als die Franzoſen von mehreren Sei¬ ten gleichzeitig zu einem ernſthaften Angriff auf unſre Vorpoſten anruͤckten. Hatte die nachtheilige Wendung der Ereigniſſe die Gemuͤther tief betruͤbt, aber nicht den Kriegsmuth erſchuͤttert, der den Sieg, wenn er ſonſt nirgends zu finden waͤre, im Tode aufzuſuchen bereit war, ſo erfuͤllte dagegen die Nachricht des Waf¬ fenſtillſtandes auch die Muthigſten mit Beſtuͤrzung, und wurde gleich der Nachricht einer Niederlage ange¬ nommen, gegen welche alles Ungluͤck im Felde nur gering erſchien. Lieber geſchlagen werden, als zu fech¬ ten aufhoͤren, war die Geſinnung aller Krieger. Die Bedingungen ſchienen im Ganzen vortheilhaft genug, doch in Ruͤckſicht auf Hamburg konnten ſie nur auf's neue den unſeligen Schmerz aufreizen, den der Ver¬ luſt dieſer beſten deutſchen Stadt uns tief eingedruͤckt hatte. Breslau zu raͤumen, hatten die Franzoſen ein¬ gewilligt; fuͤr Hamburg waͤre die gleiche Bedingung moͤglich geweſen, allein weder Freund noch Feind wußte391 bei den Hauptheeren ſchon deſſen Fall; die geringſte Kunde hinwieder, welche uns von dem geworden waͤre, was dort verhandelt wurde, haͤtte dieſen Fall verhuͤten koͤnnen, denn die Stadt waͤre bei der Ausſicht, daß der Waffenſtlllſtand nach acht Tagen die erſchoͤpften Kraͤfte abloͤſen wuͤrde, eine ſo kurze Zwiſchenzeit hin¬ durch gegen alle Uebermacht noch zu behaupten geweſen, und hart an der Grenze des Verderbens gerettet worden. Damit dieſer Schmerz noch erhoͤht wuͤrde, mußte auch erſt in Lauenburg ein Schreiben des ruſſiſchen Staats¬ ſekretairs Grafen von Neſſelrode eintreffen, welches vorausſetzte, Tettenborn ſei noch in Hamburg, und ihn benachrichtigte, der Kaiſer wuͤnſche die Stadt um jeden Preis gerettet, und ſolle daher der General Graf von Wallmoden noͤthigenfalls ſein geſammtes Fußvolk hineinwerfen, bei der dringenden Eile aber habe er dieſe Zeilen ſelbſt, nach dem Willen des Kaiſers, als den Befehl dazu anzuſehen. Eines oder das andere, dieſes Schreiben, oder jene Nachricht von dem Waffen¬ ſtillſtande um einige Tage fruͤher, und Hamburg war in der That gerettet, und blieb in ruhmvollem Stolze fortan unſer, denn der Waffenſtillſtand haͤtte hier alles geliefert, deſſen man bedurfte, Zeit zur Befeſtigung der Stadt, zur Uebung der Truppen und Buͤrger, zur Anſchaffung von Pulver, zur Ankunft angemeſſener Verſtaͤrkung, zur Entſcheidung der daͤniſchen und ſchwe¬ diſchen Verhaͤltniſſe.

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Zufolge gegenſeitiger Uebereinkunft wurde die ruſſi¬ ſche Waffenſtillſtandslinie von dem Ausfluſſe der Trave vorwaͤrts Ratzeburg, Moͤlln und Lauenburg an die Elbe gezogen, die franzoͤſiſche lief vor Luͤbeck und Bergedorf hin, die zwiſchen beiden Linien eingeſchloſſene Strecke wurde fuͤr neutral erklaͤrt, und ſollte von beiden Thei¬ len unbeſetzt bleiben. Die Neigung der Franzoſen zur gewaltſamen Anmaßung und zur Uebertretung der Ver¬ traͤge, ſo oft nur, nicht einmal immer ihr Vortheil, ſondern bloße Laune aus Gewohnheit ſie dazu anreizte, blieb waͤhrend aller wechſelnden Zuſtaͤnde des Krieges immer dieſelbe, und auch hier wurden ſie nicht muͤde das neutrale Gebiet zu betreten und auszubeuten, und ſich uͤber Verletzungen von unſrer Seite zu beſchweren, ſo wenig auch jemals Anlaß dazu war. Tettenborn beantwortete ihre Beſchwerden mit verachtendem Schwei¬ gen, und ließ ihre thatſaͤchlichen Eingriffe durch den ſeine Vorpoſten befehligenden General Deniſoff kraͤftig zuruckweiſen. Er ſelbſt nahm ſein Hauptquartier in Boitzenburg.

Waͤhrend dieſes langen und verlaͤngerten Waffen¬ ſtillſtandes entwickelten und geſtalteten ſich die Kraͤfte der Verbuͤndeten in außerordentlichen Anſtrengungen zu großem Umfang und innerer Staͤrke, denen ſelbſt Napoleon mit ſeiner ungeheuern Thaͤtigkeit in den ſchon voͤllig auf den Krieg berechneten Verwaltungsmitteln ſeines großen Reichs, wie die Folge gezeigt, nicht393 gleiche entgegenzuſetzen vermocht hat. Allein die zer¬ ſtreuten Zuruͤſtungen der Verbuͤndeten ließen ſich, be¬ ſonders im Anfange, nicht gleich ſo troͤſtlich uͤberſehen und ermeſſen, und man durchlebte in großer Beſorg¬ niß dieſe Waffenruhe, die man von dem Feinde beſſer, als von uns ſelbſt benutzt zu ſehen fuͤrchtete, und die, neben der Ausſicht eines zweifelhaften Kriegs, auch die Moͤglichkeit eines ſchlechten Friedens durch fort¬ dauernde Unterhandlungen feſtgebannt hielt. Ja die beſten Hoffnungen derjenigen, welche der Beharrlichkeit der Fuͤrſten und dem Eifer der Voͤlker alles zutrauten, wurden durch das Baͤngliche und Schwankende, dem jeder Buͤndnißkrieg ausgeſetzt iſt, oft gelaͤhmt und zweifelhaft.

Die preußiſchen Ruͤſtungen gaben das Beiſpiel ein¬ muͤthiger Staͤrke und heldenmuͤthiger Anſtrengung, wie ſie ſeit dem Anfange des franzoͤſiſchen Freiheitskrieges nicht waren geſehen worden; die Zahl der Bewaffne¬ ten wurde zu einer Hoͤhe gebracht, auf der ſie nur durch die weiſeſten Maßregeln der Regierung und die allſeitige Hingebung des Volks erhalten werden konnte; die Zweckmaͤßigkeit der Anordnungen und die Fuͤlle der Leiſtungen gaben den preußiſchen Ruͤſtungen in tiefer Stille einen ſo ſichern und reichen Erfolg, daß man bald mit Staunen Groͤßeres geſchaffen fand, als man hatte bereiten ſehen. Der Anmarſch ruſſiſcher Verſtaͤr¬ kungen dauerte unaufhoͤrlich fort: darunter fand ſich394 auch die ruſſiſch-deutſche Legion, die nach der Nieder¬ elbe beſtimmt war. Die Schweden machten nun wirk¬ lich einen Theil unſrer Streitmacht aus, da der Kron¬ prinz von Schweden den Oberbefehl eines zuſammen¬ geſetzten Bundesheers, in welchem Wallmoden's Trup¬ pen einen Heertheil, und in dieſem die Truppen Tet¬ tenborn's eine beſondere Schaar bildeten. Engliſche Truppen landeten an der mecklenburgiſchen Kuͤſte. In Mecklenburg ſelbſt wurde die Einrichtung einer Land¬ wehr und eines Landſturms, nach dem Muſter der preußiſchen mehr betrieben als ausgefuͤhrt, der geringe Umfang des Landes, die Ungewohntheit kriegeriſcher Anſtalten, und ſelbſt die Stoͤrungen durch die Anwe¬ ſenheit ſo vieler fremden Truppen, ließen den wieder¬ holt gegebenen Befehl des Kronprinzen von Schweden wenig wirkſam werden; beſſern Fortgang hatte die Er¬ richtung und Vermehrung des eigentlichen Militairs, dem es ſpaͤterhin nicht an Gelegenheit fehlte, ſich aus¬ zuzeichnen. Ueber Oeſterreich und den Gang der an¬ geknuͤpften Verhandlungen lag noch ein Dunkel aus¬ gebreitet, welches vertrauenvolle Zuverſicht jedoch bald hell und heller eroͤffnet zu ſehen hoffte.

Der Kronprinz von Schweden, deſſen Nichttheil¬ nahme an dem Kriege Napoleon's gegen Rußland ſich um die Ruſſen das groͤßte Verdienſt erworben hatte, ſollte nun, zur Theilnahme an dem Kriege gegen Na¬ poleon uͤbergehend, ſich denſelben mit groͤßerm Dank395 von den uͤbrigen Voͤlkern erwerben. Fuͤr die Verzich¬ tung auf die Wiedererlangung des unverſchmerzten Finn¬ lands war den Schweden von England und Rußland der kuͤnftige Beſitz Norwegens zugeſichert, eine Zuſiche¬ rung, welcher nun auch Preußen beizutreten veranlaßt war. Wenn die Staatskunſt hier ſich zu Maßregeln gedrungen fuͤhlte, die einen Fuͤrſten ſeines rechtmaͤßigen Beſitzes willkuͤrlich berauben ſollte, ſo kann man zur Entſchuldigung anfuͤhren, daß der daͤniſche Hof ſchon ein Jahr vorher gewarnt und benachrichtigt worden war, zu welchen Bedingungen ſich Rußland, wenn Daͤnemark fortfuͤhre dem franzoͤſiſchen Buͤndniß treu zu bleiben, gegen Schweden verpflichten muͤſſe, weil Ru߬ land bei dem bevorſtehenden gewaltigen Kampfe nicht beider nordiſchen Maͤchte zugleich unverſichert bleiben koͤnne. Das daͤniſche Kabinet ſchien auch in der That, nach dem Untergange des großen franzoͤſiſchen Heeres in Rußland, ſich den Ruſſen und Preußen in dem Maße naͤhern zu wollen, als das Gluͤck ſich von den Franzoſen entfernte. In der Hoffnung, wegen Nor¬ wegen eine guͤtliche Ausgleichung treffen zu koͤnnen, und Daͤnen und Schweden gemeinſchaftlich der guten Sache zuzufuͤhren, hatte der Kaiſer von Rußland die daͤniſchen Annaͤhrungen wohlwollend aufgenommen, und die preußiſche Regierung fand unter dieſen Umſtaͤnden den Abſchluß mit Schweden nicht zu uͤbereilen. Allein der Kronprinz von Schweden fand hierin einen bedenk¬396 lichen Anſchein, der ihm deſto unangenehmer war, als eine große ſchwediſche Parthei nur ungern die Bezie¬ hungen zu Frankreich aufgegeben ſah, und ſich zu einem Mißtrauen berechtigt glaubte, das erſt durch den Er¬ folg widerlegt werden ſollte. Die Bluͤthe der ſchwedi¬ ſchen Kriegsmacht war nach einer ſtuͤrmiſchen Ueber¬ fahrt in Pommern gelandet, zu einem Kriege beſtimmt, in welchem Schweden nur auf Koſten Daͤnemarks ge¬ winnen konnte; die Ausſicht, durch das geringſte Ver¬ ſehen jene, fuͤr Schweden nicht wie fuͤr andere Laͤnder erſetzliche, Schutzwehr des Landes verlieren zu koͤnnen, ohne Norwegen zu gewinnen, forderte zu einer Sorg¬ falt auf, die allerdings verbot ſich in raſche Thaͤtigkeit vorſchnell einzulaſſen. Die Truppen, welche ſchon auf dem Meere gelitten hatten, beiſammen zu halten und das Weitere abzuwarten, ſchien unerlaͤßlich, wenn nicht Schwedens eigne Sicherheit gegen Daͤnemark auf's Spiel geſetzt werden ſollte. Der Kronprinz ſtand in doppelter Eigenſchaft da, als ſchwediſcher Thronfolger und als Feldherr; als jener ſah er ſich wegen des Vor¬ theils ſeines Landes wenig beruhigt, als dieſer ſeinen Erwartungen wegen des Bundesheeres, deſſen Ober¬ befehl ihm zugeſagt war, nicht entſprochen. Schweden ſah ſich aller ſeiner Hoffnungen beraubt, ſeine ganze Bedeutung in dieſem Kriege verloren, wenn nicht Daͤ¬ nemark der Feind der Verbuͤndeten blieb, ſondern mit dieſen und alſo auch mit Schweden in friedliche Ver¬397 haͤltniſſe trat. Das Benehmen der Daͤnen, welche Hamburg hatten fallen laſſen, und dadurch allgemeinen Haß auf ſich zogen, kam den Wuͤnſchen der Schweden nur allzuguͤnſtig entgegen, und wurde von ihnen eif¬ rig benutzt.

Aber auch die Schweden hatten Hamburg retten koͤnnen, und es im Gegentheil verlaſſen, und mußten dieſerhalb harte Beſchuldigungen erleiden. Dieſe wur¬ den am ſtaͤrkſten laut, als man das harte Geſchick des Generals Doͤbbeln erfuhr, welcher auf den Huͤlferuf Tettenborn's in der groͤßten Noth drei ſchwediſche Ba¬ taillons nach Hambuurg hatte vorruͤcken laſſen, ohne durch hoͤhere Befehle dazu ermaͤchtigt zu ſein. Er war von der Befehlfuͤhrung abgerufen und vor ein Kriegs¬ gericht geſtellt worden; waͤhrend des Waffenſtillſtandes kam nebſt andern zahlreichen Widerwaͤrtigkeiten, zu denen die Ruhe Zeit gab, auch dieſe traurige Angele¬ genheit zum Spruche. Vergebens zeigte der General Doͤbbeln den ganzen Zuſammenhang der Verhaͤltniſſe und das Dringende der Aufforderung, vergebens berief er ſich auf die edeln Triebfedern, die ihn auch diesmal beſtimmt hatten, wie ſchon fruͤher, da er, gleichfalls ohne Befehl, zweimal das Vaterland zu retten gehol¬ fen, vergebens entbloͤßte er ſeinen von Wunden zer¬ ſchmetterten Schaͤdel, um zu zeigen, welches Haupt man zu verdammen im Begriffe ſei; er wurde zum Tode verurtheilt, und der entruͤſtete Mann vernahm398 nur mit Unwillen, daß ihm das Leben geſchenkt und er zur Feſtung begnadigt ſei. Er hatte der Form nach unſtreitig gefehlt; aber wer in ſeiner Stellung, ſo urtheilten damals die tapferſten und hoͤchſten Kriegs¬ maͤnner, der Aufforderung Tettenborn's im Stande geweſen waͤre, nicht Folge zu leiſten, der waͤre viel¬ leicht ein kluͤgerer Soldat geweſen, als der General Doͤbbeln, aber kein groͤßerer Ehrenmann.

Waͤhrend im Ruͤcken vielfache Beſchaͤftigung auf eine ereignißvolle Zukunft deutete, kamen taͤglich traurige Boten aus Hamburg als lebendige Zeugen einer jam¬ mervollen Gegenwart an, mit welcher wir uns in ſo naher Beruͤhrung fuͤhlten. Die Verhaftungen, Unter¬ ſuchungen und Bedruͤckungen nahmen kein Ende, und die Franzoſen zeigten unverhohlen, daß diesmal ſogar die Gelderpreſſungen nicht bloß Gelb, ſondern eigent¬ lich den Untergang der armen Stadt zum hauptſaͤch¬ lichſten Zwecke hatten. Die beſten Maͤnner des ganzen Gemeinweſens wurden geaͤchtet; jeder Hamburger war durch einen oder den andern Artikel der grauſamen Rachverfuͤgungen Napoleon's der Willkuͤr ſcheuslicher Schergen verfallen; die reichſten Leute konnten durch kein Geld, die ehrwuͤrdigſten weder durch Amt noch Alter ſich vor der Schanzarbeit ſchuͤtzen, zu der man ſie gewaltſam hinzog, um ſie dem ſchaͤndlichſten Hohn und mißhandelndem Spott bloßzuſtellen. Wer konnte, wanderte aus; taͤglich erſchienen Buͤrger, zum Theil399 mit Frauen und Kindern, die ſich gluͤcklich durchge¬ ſchlichen hatten, und begaben ſich tiefer in das Meklen¬ burgiſche, wo ſich ein Haͤuflein hamburgiſcher Buͤrger¬ garden um Perthes und Metlerkamp zu verſammeln anfing; ihre Klagen uͤber den unerhoͤrten Druck und die ſchnoͤde Mißhandlung, uͤber das gewaltſame Zerſtoͤ¬ ren der Haͤuſer, ihre Schilderung des Umhauens aller Baͤume und des Verwuͤſtens der Gaͤrten, gaben das traurigſte Bild eines oͤffentlichen Ungluͤcks, das in je¬ dem einzelnen Leiden die Oberhand hatte.

Die Unterhandlungen Oeſterreichs waren inzwiſchen dahin gediehen, daß ſeine Verbindung mit Frankreich immer loſer, die mit Rußland und Preußen immer feſter wurde, und endlich ſelbſt dem Feinde, der hier zum erſtenmale die unangenehme Wahrheit abſichtlich hinter Taͤuſchungen ſich ſelbſt verhehlen zu wollen ſchien, kein Zweifel mehr uͤber den nahen Zeitpunkt bleiben konnte, der die oͤſterreichiſchen Heere den ruſſiſchen und preußiſchen geſellen wuͤrde.

In dieſer Vorausſetzung erhielten unſre Anſtalten zur Wiedereroͤffnung des Kriegs erneuerte Kraft und Zuverſicht, und die Bildung und Aufſtellung der Heere wurde in Gemaͤßheit des neuen Zuwachſes bedingt und angeordnet. Aus guten Gruͤnden hatte man, um die Wahrnehmung abgeſonderter einzelner Ruͤckſichten und Vortheile bei den verbuͤndeten Heeren dem hoͤheren Geſichtspunkt des allgemeinen Vortheils ſo viel als400 moͤglich unterzuordnen, die Truppen der verſchiedenen Heere vertheilt, deren kein einziges aus den Truppen bloß Eines Volkes beſtand. Am mannigfaltigſten war dieſe Miſchung bei dem Nordheer unter den Befehlen des Kronprinzen von Schweden, welches aus Ruſſen, Preußen, Schweden, Englaͤndern, Hanſeaten und an¬ dern deutſchen Kriegsvoͤlkern zuſammengeſetzt war, und dies wieder am meiſten in dem Heertheile Wallmoden's, unter deſſen Befehl, nebſt den abgeſonderten Truppen einzelner Laͤnder, auch die zuſammengemiſchten von ganz Deutſchland in der ruſſiſch-deutſchen Legion ſich befanden. Ein ſolcher Koͤrper war ohne Zweifel in dem Grade weniger beweglich und zuverlaͤſſig, als ihm Feſtigkeit und innere Einheit fehlten. Auch Tettenborn, welcher von ruſſiſchen Truppen bei der neuen Verthei¬ lung nur vier Koſakenregimenter behalten, und ſeine ruſſiſchen Dragoner, Huſaren, Jaͤger und Kanonen anders wohin abgegeben hatte, bekam ſtatt dieſer jetzt preußiſche Truppen, naͤmlich die geſammte Lutzow'ſche Freiſchaar, welche aus allen Waffengattungen beſtand, und ein neuerrichtetes preußiſches Bataillon Jaͤger. Wallmoden hatte die ſchwierige Aufgabe, mit hoͤchſt geringen und unzuverlaͤſſigen Kraͤften das Vorruͤcken der Uebermacht des Marſchalls Davouſt, dem zugleich die daͤniſchen Huͤlfsvoͤlker untergeordnet waren, mit moͤglichſter Anſtrengung aufzuhalten und zu laͤhmen. Tettenborn empfing die Beſtimmung, hiebei mit ſeinen401 Truppen dem Feind am naͤchſten zu ſein, und nach eigner Einſicht und Kuͤhnheit zu verfahren.

Wir koͤnnen nicht umhin bei dieſer Gelegenheit, da wir der Luͤtzow'ſchen Freiſchaar erwaͤhnt haben, einige Worte uͤber dieſe mannigfach beurtheilte Truppe hier einzuſchalten. In der freien Geſinnung, welche die Rettung des Vaterlandes unter jeder Geſtalt und auf alle Weiſe erringen wollte, waren viele treffliche Leute ſchon fruͤhe zuſammengetreten, und obgleich groͤßten¬ theils Preußen, ſo hatten ſie doch in der Erwaͤgung, daß preußiſche und deutſche Geſinnung, die jetzt eins waren, in manchen Faͤllen wieder geſondert ſcheinen koͤnnte, vorzugsweiſe die deutſche erwaͤhlt. Dieſe Ge¬ ſinnung herrſchte bei Stiftung der Freiſchaar, an deren Spitze der Major von Luͤtzow geſtellt wurde. Bei der Ausſicht, daß der groͤßere Theil Deutſchlands ſich in allgemeinem Aufſtand erheben wuͤrde, duͤnkte eine ſolche Schaar der Kern, um welchen ein großes deutſches Heer ſich zu unabhaͤngiger Streitmacht verſammeln konnte; und in der That moͤgen ſolch glaͤnzende Er¬ wartungen vielen Mitgliedern der ſogenannten ſchwar¬ zen Schaar um ſo lebhafter vorgeſchwebt haben, als dieſe Freiſchaar in der Auswahl und Menge trefflicher junger Leute eher die Offiziere eines kuͤnftigen Heeres, als die Gemeinen einer vorhandenen Truppe zu beſitzen ſchien. Der Ausdruck ſchwarze Erde, welcher hin und wieder bei dieſer Schaar vorkam, erinnerte mitIII. 26402abſichtlicher Bedeutung an die rothe Erde der Vehme, und wies auf einen ausgebreiteten Wirkungskreis hin. Allein der Gang der Begebenheiten war der Entwicke¬ lung dieſer Beſtrebungen durchaus nicht guͤnſtig, und die verbuͤndeten Maͤchte ſelbſt wollten lieber den lang¬ ſamen Beitritt der Rheinbundfuͤrſten abwarten, als die raſche Kraft der Voͤlker zur augenblicklichen Theilnahme aufrufen. Der Sammelplatz allgemeiner deutſchen Ge¬ ſinnungen mußte dadurch bald veroͤden, und den oͤrtli¬ chen nachſtehen, die den Bayern, den Rheinlaͤnder, den Weſtphalen, in ſeinem eignen Kreiſe zu den Waffen rief; die Luͤtzow'ſche Schaar, eben ſo wie die deutſche Legion, kam dadurch um ihre politiſche Bedeutung, und behielt bloß, gleich andern Truppen, eine mili¬ tairiſche. Jedoch wurde es ſchwer, jener Bedeutung ſo¬ gleich zu entſagen, und ein unzufriedener Mißmuth uͤber die getaͤuſchte Erwartung bezeichnete noch lange ihr nicht gaͤnzliches Erloͤſchen. Als bloße Truppe betrachtet, zeigte die Luͤtzow'ſche Schaar aber bald unvereinbare Elemente; die herrlichſten Juͤnglinge und Maͤnner, aus den Staͤd¬ ten groͤßtentheils den Studien und Staatsaͤmtern ent¬ zogen, oft noch in der Unſchuld und Begeiſterung hoͤherer Bildung, fanden ſich neben den roheſten Ge¬ ſellen, denen Wildheit uͤber Freiheit ging, und unter verſchmitzten Heuchlern, welche in den Schein des Va¬ terlandseifers ihre Raubſucht huͤllten. Daher die zahl¬ loſen Klagen uͤber Gewaltſamkeiten aller Art, die man403 von den ſogenannten Schwarzen wollte erlitten haben. Daher aber auch die Begeiſterung, welche andere Mit¬ glieder dieſer Schaar an vielen Orten erweckten. Allein auch die Beſſern, die ſich hier vereint fanden, waren nicht an guͤnſtiger Stelle; was vertheilt auf ganze Re¬ gimenter als erfriſchender Geiſt wirken konnte, verlor ſich hier in ſich ſelbſt laͤhmender Gleichartigkeit. Kein Wunder, wenn unter ſolchen Umſtaͤnden die auf bloß militairiſche Verwendung beſchraͤnkte Schaar auch in dieſer bei aller Tapferkeit doch den aus Landvolk beſte¬ henden Feldregimentern nicht gleichkam, da, naͤchſt der Tapferkeit, hauptſaͤchlich die koͤrperliche Kraft und Aus¬ dauer bei dem Krieger in Betracht kommt. Die Luͤtzower aber waren williger zu jeder Anſtrengung und Ent¬ behrung, als faͤhig.

Die Zeit des Waffenſtillſtandes naͤherte ſich ihrem Ende, und die geſpannten Gemuͤther ergriff lebhaftere Thaͤtigkeit; auf ſolchen Entſcheidungen, wie jetzt ganz nahe waren, hatte unſere Sache noch nie geſtanden! Der Kronprinz von Schweden gab dem Nordheer in der Mark Brandenburg eine ſolche Stellung, daß die Hauptſtadt Berlin gegen den ganzen Lauf der Elbe hin umgeben, und vor dem Feinde, er mochte von Suͤden oder von Weſten andringen, geſichert war. Seinen aͤußerſten rechten Fluͤgel an der Niederelbe gegen Holſtein bildete Wallmoden, unter deſſen Befehlen die ruſſiſchen Generale von Tettenborn und von Arentſchildt,26*404die engliſchen Generale von Doͤrnberg und Lyon und der ſchwediſche General von Vegeſack ſtanden, welcher letztere jedoch im voraus beſondere Weiſungen erhalten hatte, die ihn von dem uͤbrigen Heer einigermaßen trennten, wie er denn im Fall eines Ruͤckzuges mit ſeinen ſchwediſchen und den mecklenburgiſchen Truppen ſich laͤngs der Oſtſee nach Stralſund ziehen ſollte, waͤh¬ rend den andern Abtheilungen fuͤr ſolchen Fall die Rich¬ tung nach Berlin gegeben war. Dieſe ſaͤmmtlichen Truppen Wallmoden's betrugen ungefaͤhr 25,000 Mann, die man am Tage der Schlacht unter dem Gewehr zu haben rechnen konnte. Das Geſchuͤtz betrug kaum 40 Kanonen, die nicht alle im beſten Stande waren, ja zum Theil noch erwartet wurden. Da nach den Anordnungen des Kronprinzen auf dieſer Seite kein heftiger Angriffskrieg Statt finden konnte, ſo war im voraus beſtimmt, daß man der Uebermacht des Fein¬ des, ſobald ſie vordraͤnge, langſam weichen und ſich in den oben angegebenen Richtungen fechtend zuruͤck¬ ziehen ſollte. Dem gemaͤß, um die Stecknitz dem Feinde einigermaßen ſtreitig zu machen, wurden vor Lauenburg noch in den letzten Tagen des Waffenſtillſtandes auf vortheilhaften Anhoͤhen drei Schanzen eiligſt angelegt, und mit der Nacht vor dem Wiederausbruch der Feind¬ ſeligkeiten gluͤcklich vollendet. Eine neue Bruͤcke uͤber die Stecknitz bei Lanz verſicherte die ruͤckwaͤrtige Ver¬ bindung dieſes Poſtens; die ſumpfigen und buſchreichen405 Ufer erſchwerten jeden andern Uebergang. Wallmoden verlegte ſein Hauptquartier von Grabow nach Hage¬ now, Tettenborn das ſeinige von Boitzenburg nach Buͤ¬ chen, und vertheilte ſeine Truppen auf der Linie von Moͤlln nach Lauenburg, welche beide Staͤdte er nebſt den Schanzen bei letzterer beſetzt hielt. Seine Staͤrke betrug etwa 3000 Mann Fußvolk, 4 Koſakenregimen¬ ter, zuſammen beinah 1500 Pferde, und ungefaͤhr 400 Pferde von der ſeit dem Ueberfalle bei Kitzen nicht wieder ergaͤnzten Reiterei von Luͤtzow; einige Stuͤcke leichtes Geſchuͤtz waren wenig brauchbar. Noch am 16. Auguſt wußte man bei uns nicht, ob die Feindſe¬ ligkeiten wirklich ausbrechen wuͤrden, oder der Waffen¬ ſtillſtand verlaͤngert waͤre, keine Anzeige, kein Befehl deßhalb war eingetroffen, und der Zweifel wurde erſt am folgenden Tage durch die That gehoben, indem die Franzoſen die Feindſeligkeiten wirklich anhoben.

Am 17. Auguſt um Mittag bekam Tettenborn die Nachricht, daß der Feind von Hamfelde, mit 3000 Mann, worunter auch Daͤnen, und 6 Kanonen, durch das bisher neutrale Gebiet gegen Moͤlln vorruͤcke, und bald darauf, daß derſelbe mit betraͤchtlicher Staͤrke auch gegen Lauenburg im Anzuge ſei. Sogleich wurden Patrouil¬ len von Buͤchen rechts und links vorgeſchickt, um den Feind in ſeinen Flanken zu beobachten. Durch Nach¬ laͤſſigkeit einiger Poſten aber wurde auch gleich an die¬ ſem erſten Tage das bei Moͤlln aufgeſtellte Koſaken¬406 regiment uͤberfallen, und von dieſem Punkte, jedoch ohne den geringſten Verluſt, zuruͤckgeworfen, ſonderbar ge¬ nug, da ſeit Jahr und Tag bei dieſen Truppen der¬ gleichen weder geſchehen war, noch in der Folge je wieder geſchah. Der Feind verfolgte jedoch auf dieſer Seite ſeinen augenblicklichen Vortheil nicht. Deſto ernſthafter war ſein Andringen bei Lauenburg, wo zwei Bataillons Jaͤger und ein Koſakenregiment den Feind empfingen. Die Jaͤger verließen ihre Schanzen und begegneten dem Feinde auf freiem Feld, warfen ihn nach einem hitzigen Gefecht, ungeachtet ſeiner Ueber¬ zahl, zuruͤck, und uͤberließen ihn den Koſaken zu wei¬ terer Verfolgung; von beiden Seiten blieben viele Leute. Den Tag darauf verſtaͤrkte der Feind ſeinen Angriff und ruͤckte mit 5 Bataillons und 3 Kanonen an, zwei der letztern wurden bald unbrauchbar gemacht, und waͤh¬ rend aus den Schanzen unſere Kanonen feuerten, bra¬ chen die Jaͤger und Schuͤtzen abermals in das freie Feld hinaus, und ſchlugen ſich den ganzen Tag mit dem uͤberlegenen Feinde herum, der endlich im Walde Schutz ſuchen mußte, nachdem er, vorzuͤglich durch die unter dem braven Hauptmann Riedel den Luͤtzowern geſellten Tyroler Schuͤtzen, uͤber 400 Mann verloren hatte. Die Unſrigen hatten 100 Todte und Verwun¬ dete, worunter 11 Offiziere, die bei jeder Gelegenheit mit entbranntem Muthe vorangingen. Noch am naͤm¬ lichen Abend verſuchte der Feind durch einen neuen407 Angriff mit dem Bajonett die Schanzen wegzunehmen, und wurde nochmals blutig zuruͤckgewieſen; da jedoch ſeine ganze Macht nachruͤckte, und die Truppen zum Angriff ſich ſtuͤndlich vermehrten, ſo gelang es ihm am folgenden 19. in der Fruͤhe des Morgens die Hart¬ naͤckigkeit der Unſern zu uͤberwaͤltigen, und er nahm die Schanzen mit Sturm, wobei wir gegen 200 Mann verloren. Auf dieſe Art Meiſter der beiden Fluͤgel¬ punkte unſrer Stellung an der Stecknitz, drang der Feind endlich auch gegen die Mitte nach Buͤchen vor, wo er aber die Bruͤcke zerſtoͤrt fand, und ebenfalls auf hartnaͤckigen Widerſtand ſtieß. Tettenborn hatte ſich be¬ reits nach Greſſe zuruͤckgezogen, ließ aber den Ueber¬ gang noch durch den Rittmeiſter Grafen von Bothmer mit 50 Koſaken vertheidigen, welche der Feind durch anhaltendes Kanonenfeuer bis auf den Abend, wo ſie abzuziehen Befehl hatten, vergebens zu vertreiben ſuchte. Nachdem die Franzoſen ſich nun aller Uebergaͤnge uͤber die Stecknitz bemeiſtert hatten, konnten ſie ungeſtoͤrt und raſch vorgehen; allein Tettenborn blieb mit ſeinen Koſaken immer hart an ihnen, beunruhigte ſie ſo ſehr auf allen Seiten durch unaufhoͤrliches Plaͤnkeln, und goͤnnte ihnen ſo wenig Raum ſich vorwaͤrts aufzuſtel¬ len, daß ſie nur in ganzer Maſſe, wo das Fußvolk und ſelbſt das Geſchuͤtz an der vorderſten Spitze immer zur Hand ſein mußte, langſam vorzugehen wagten. Unter beſtaͤndigem Geplaͤnkel von allen Seiten, wobei408 der Feind gegen die abgeſeſſenen Koſaken jedesmal Ge¬ ſchuͤtz auffuͤhrte, um ſie zu vertreiben, und jedes kleine Gefecht durch Kanonendonner verherrlichte, zogen wir uns langſam und ohne Verluſt uͤber Greſſe, Badekow und Schildefelde nach Vellahn, wo Tettenborn fruͤh am 21. Auguſt eintraf, und weil es ihm unertraͤglich fiel, mit ſeinen tapfern Truppen vor dem zaghaften, aber uͤbermaͤchtigen Feinde noch weiter zuruͤckzugehen, ſo wollte er hier dem Feinde, deſſen von Buͤchen und Boitzenburg heranziehende Abtheilungen hier vereinigt uͤber 25,000 Mann betragen mußten, kaͤmpfend Stand halten. Der Marſchall Davouſt war ſelbſt an der Spitze der Vorruͤckenden, hatte aber in vier vollen Ta¬ gen nur wenige Meilen zuruͤckgelegt, ſeine Reiterei wagte er kaum zu zeigen, alle ſeine Truppen machten gleichſam Vorpoſten, Kanonen wurden Plaͤnkler. Wir konnten dieſes Uebermaß von Vorſicht um ſo weniger begreifen, als wir aus aufgefangenen Briefen wußten, daß Napoleon den Marſchall Davouſt angewieſen hatte, die Truppen Wallmoden's als neu errichtete und ſchlechte gar nicht fuͤr bedeutend anzuſehen.

Die Gegend von Vellahn hat Hoͤhen und Wald; hinter dieſen legte Tettenborn, nach getroffener Ver¬ abredung mit Wallmoden, der ſein Hauptquartier in Klodran genommen, und den General von Doͤrnberg in die linke Flanke des Feindes vorgeſchoben hatte, auf die zweckmaͤßigſte Weiſe Reiterei und Geſchuͤtz in Ver¬409 ſteck, um im rechten Augenblick unerwartet hervorzu¬ brechen; das Dorf Bellahn wurde ganz mit Jaͤgern be¬ ſetzt, waͤhrend vor demſelben ein Theil der Koſaken ebenfalls verſteckt hielt, und der andere Theil den Feind unter beſtaͤndigem Plaͤnkeln herbeilockte. Sein Vor¬ ruͤcken geſchah jedoch an dieſem Tage noch langſamer als gewoͤhnlich, und erſt ſpaͤt am Nachmittage verkuͤn¬ digten Kanonenſchuͤſſe ſeine Annaͤherung. Durch dieſe Zoͤgerung des Feindes mußte die Reiterei Doͤrnberg's zu fruͤh erſcheinen, und eher geſehen werden, als Zeit zum Angriff war. Die Franzoſen wandten ihre Auf¬ merkſamkeit ſogleich auf ihre linke Flanke, und das Gefecht entſpann ſich zuerſt mit einem Bataillon der ruſſiſch-deutſchen Legion, das von den Huſaren der engliſch-deutſchen Legion, und 4 Kanonen unterſtuͤtzt wurde. Dieſe Truppen ſchlugen den Angriff, ungeach¬ tet des feindlichen Kartaͤtſchenfeuers, tapfer zuruͤck. Aber die Hauptſache war verſaͤumt, und die Erwartung, den Feind zur vorbereiteten Niederlage naͤher zu locken, blieb getaͤuſcht. Unter dieſen Umſtaͤnden nahm Tettenborn 3 Koſakenregimenter zuſammen, und ſprengte, er ſelbſt der Erſte, unter lautem Hurrah, auf die Franzoſen ein, die in großer Ausdehnung und Anzahl hier zuerſt wieder ſich in Plaͤnkler aufgeloͤſt hatten, und bei die¬ ſem lebhaften Angriff in Menge niedergeſtochen wur¬ den. Auch Wallmoden fand ſich perſoͤnlich hier ein, und ermunterte, mit Tettenborn vereint, die Koſaken410 durch das muthigſte Beiſpiel zu kuͤhner Verfolgung, die auch beinah eine Stunde Wegs fortdauerte, unge¬ achtet des Kartaͤtſchen - und Kanonenfeuers, und der Bataillonsmaſſen, welche den Fluͤchtigen zu Huͤlfe ka¬ men; ungefaͤhr 400 Franzoſen blieben auf dem Platze, lauter Fußvolk, weil die Reiterei aͤngſtlich zuruͤckgehal¬ ten und von jenem zur Sicherheit in die Mitte genom¬ men war. Die ganze Linie des Feindes war im Feuer, das bis in die ſpaͤte Nacht dauerte; unſre Truppen behielten ihre alte Stellung bei Vellahn, und hatten das Feld weit vor ſich hin geſaͤubert; denn der Feind, ſtutzig geworden, zog ſich in der Nacht noch weiter zuruͤck. Dieſes Gefecht, in welchem hoͤchſtens 5000 Mann gegen mehr als 20,000 geſtanden hatten, ſo ruhmvoll als erfreulich fuͤr die Unſern, zeigte dem Feinde, was er von den neuen Truppen, die er verachten ſollte, unter ſolchen Anfuͤhrern zu erwarten habe.

An den folgenden beiden Tagen harrten wir ver¬ gebens, daß uns der Feind nach Toddin, wo unſere Truppen hoͤchſt vortheilhaft aufgeſtellt waren, nachfol¬ gen, oder uns bei Hagenow, wohin wir ſodann zogen, angreifen ſollte. Er nahm ſeine Richtung links auf Wittenburg, und von da weiter auf der Straße nach Schwerin, waͤhrend nur einzelne Abtheilungen ſich unſern Plaͤnklern entgegenſtellten, und nach lebhaftem Kano¬ niren gleichfalls in jener Richtung abzogen. Kaum war Tettenborn von dem Einruͤcken des Feindes in411 Wittenburg unterrichtet, als er ſogleich Partheien in den durch dieſe Seitenbewegung eroͤffneten Raum ſchickte, die im Ruͤcken des Feindes Gefangene machten, Fuh¬ ren wegnahmen und Boten auffingen; ein Koſakenre¬ giment blieb bei Wittenburg ſelbſt an die Hauptmaſſe der feindlichen Truppen dicht angeſchloſſen, und beob¬ achtete deren kleinſte Bewegung. Eine andere Abthei¬ lung wurde nach Schwerin und von da vorwaͤrts auf der Straße nach Wittenburg dem Feinde entgegenge¬ ſchickt, der ſchon in dieſer Richtung vorruͤckte und mit jener Abtheilung, die ſich beobachtend zuruͤckzog, faſt zugleich in Schwerin ankam, gleich zuerſt mit etwa 10,000 Mann, dann mit den uͤbrigen Truppen, deren geſammte Staͤrke uͤber 30,000 Mann betrug, und ſich zwiſchen den Seen bei Schwerin lagerte.

Tettenborn ging nun ſelbſt mit allen Koſaken und der Luͤtzow'ſchen Freiſchaar in den Ruͤcken des Feindes, und auf derſelben Straße, welche dieſer genommen, uͤber Wittenburg ihm nach gegen Schwerin, allein der Feind hatte keine Truppenabtheilung zuruͤckgelaſſen, ſon¬ dern alles eifrig beiſammen gehalten, und den Nach¬ trab fleißig mitgenommen, ſo daß die Hoffnung, dieſen zu uͤberfallen, fehlſchlug. Doch machten wir zahlreiche Gefangene, die von allen Seiten eingebracht wurden, und hemmten durch dieſen Marſch die Verbindung des Feindes mit ſeinem Ruͤcken, indem wir zugleich alle noͤthigen Nachrichten uͤber ihn einzogen. Von Warſow412 aus wurde der Major von Luͤtzow mit einer ſtarken Parthei nach Trebbow abgeſandt, um den Feind ganz zu umſtellen, und ihm auch von dieſer Seite alle Nach¬ richt abzuſchneiden. Dieſer letztere Zweck erhielt durch die Lage des Augenblicks die hoͤchſte Wichtigkeit. Waͤh¬ rend naͤmlich der Marſchall Davouſt mit allen Trup¬ pen in gedraͤngter Stellung am Schweriner See ſtand, und nach jeder Richtung die leichte Umzaͤumung, welche die Koſaken dicht um ihn gezogen hatten, durchbrechen konnte, um mit ſeiner Uebermacht etwas Entſcheiden¬ des auszufuͤhren, ſo daß man mehr als gewoͤhnlich behutſam ſein mußte, um ihn nach keiner Richtung unbemerkt einen Marſch gewinnen zu laſſen, kam die Nachricht bei uns an, daß die franzoͤſiſche Hauptmacht aus Sachſen gegen das Heer des Kronprinzen von Schweden hervorgebrochen ſei, und dieſer in der Naͤhe von Berlin bei Teltow alle Truppen zuſammenziehe, um eine Schlacht zu liefern, deren Vorſpiel ſchon begon¬ nen habe. Da zugleich auch von Magdeburg aus eine betraͤchtliche Truppenſtaͤrke auf der Straße nach Berlin im Anmarſch war, und der Kronprinz weder ſeine ver¬ ſammelten Truppen vor der nahen Schlacht ſchwaͤchen, noch in ſeiner Flanke die gefaͤhrliche Bewegung des Feindes ungeſtraft geſchehen laſſen durfte, ſo ſandte er an Wallmoden den Befehl, den Marſchall Davouſt zu verlaſſen, und ſchleunigſt nach der Elbe gegen den aus Magdeburg vorgedrungenen Feind zu marſchiren. Tet¬413 tenborn ſollte mit ſeinen Truppen ſtehen bleiben, und den Marſchall Davouſt uͤber den Abmarſch der andern zu taͤuſchen ſuchen. Wallmoden ſetzte ſich ſogleich am 25. Auguſt in Bewegung. Alle Anordnungen wurden der Schwierigkeit dieſer neuen Lage gemaͤß getroffen, und unter andern auch das Gepaͤck weiter in's Land zuruͤckgeſandt. Tettenborn zog ſich uͤber die große Ebene bei Schwerin aus dem Ruͤcken des Feindes wie¬ der rechts in die Fronte deſſelben, ſowohl um nicht die Ruͤckzugsſtraße gegen Berlin und das Heer des Kronprinzen zu verlieren, als auch um die ſchoͤne und vollkommen offne Ebene, welche ſich von Schwerin ge¬ gen Ludwigsluſt unuͤberſehbar ausdehnt, auf den Fall eines Treffens fuͤr ſeine Reiterei vor ſich zu haben; er nahm ſein Hauptquartier in Fahrbinde, wo Baͤume und Buſchwerk die Ebene zu unterbrechen anfangen, die zwiſchen dem Feind und den Unſrigen liegend jede Angriffsbewegung ſogleich entdecken ließ, auch im un¬ wahrſcheinlichen Falle, daß die dicht um die feindlichen Lager gezogenen Koſakenpoſten uͤberfallen und ver¬ ſprengt wuͤrden.

Der Marſchall Davouſt hatte waͤhrend der Abwe¬ ſenheit Wallmoden's alſo nur hoͤchſtens 5000 Mann vor ſich, von welchen er ſich, der jetzt mehr als 40,000 Mann hatte, die ſpaͤterhin nach authentiſchen Liſten bis zu 51,000 Franzoſen, ohne die 10,000 bis 15,000 Daͤnen, anwuchſen, gluͤcklicherweiſe in der Enge halten414 ließ; er ahndete ſo wenig, was bei uns vorging, daß er noch aͤngſtlicher als vorher ſich auf ſeine Stellung beſchraͤnkte. Eine kuͤhne Bewegung von ſeiner Seite in dieſem Augenblick, und ein raſches Vordringen durch die Priegnitz in die Mark Brandenburg, haͤtte, in Verbindung mit den andern Bewegungen der Franzoſen von Wittenberg und Magdeburg her, fuͤr Berlin hoͤchſt gefaͤhrlich, ja bei Davouſt's Truppenzahl fuͤr den Feld¬ zug auf dieſer Seite entſcheidend werden koͤnnen, we¬ nigſtens wuͤrden ihm Tettenborn und Wallmoden, wenn ihm auch nicht gelungen waͤre ſie zu ſchlagen, immer ruͤckwaͤrts haben weichen muͤſſen, und der Kronprinz, von allen Seiten bedroht, ja fuͤr ſeinen Ruͤckzug nach Stralſund beſorgt, haͤtte mit ſeinen geringen Kraͤften ſchwerlich Stand halten koͤnnen. Allein Tettenborn loͤſte gluͤcklich die Aufgabe, von deren Wichtigkeit er durchdrungen war, und dieſe bangen Tage gingen vor¬ uͤber, ohne daß der Feind unſere Lage erfahren haͤtte. Keine Nachricht drang zu ihm, kein Kourier fand einen unbeſetzten Weg, uͤberall ſchwaͤrmten Koſaken, deren Anzahl durch ihre ſtete Bewegung unberechenbar groß erſchien; die Patrouillen des Feindes, welche ſich in die nur wenig von dem Lager entfernten Doͤrfer wag¬ ten, wurden jedesmal angegriffen, verjagt, und ließen immer mehrere Gefangene zuruͤck; ſo gewann es den Anſchein, als wenn wir, weit entfernt, einen Angriff zu fuͤrchten, vielmehr ſelber anzugreifen bereit waͤren. 415Dieſe geſpannte Lage dauerte jedoch nicht lange; ſchon am 26. Auguſt kam die Nachricht von dem Siege des Kronprinzen bei Groß-Beeren, und den Tag darauf kehrte auch Wallmoden mit ſeinen Truppen zuruͤck, da der Kronprinz nach der gewonnenen Schlacht be¬ reits andere naͤherſtehende Truppen in die Gegend von Magdeburg abſenden konnte.

Unbeſchreiblich, und vielleicht zu ſehr vergeſſen iſt der Eindruck, welchen dieſe erſte Siegesnachricht in den Gemuͤthern hervorbrachte; der Krieg hatte ſich fuͤr uns jetzt gleich im Anfang mit Gluͤck eroͤffnet, das ſeitdem der Gefaͤhrte unſerer Waffen blieb, und nur bisweilen zu ſchlummern ſchien, um deſto herrlicher aufzuwachen. Die Rettung Berlins, die ſpaͤter noch Einmal durch den General Buͤlow bei Dennewitz gelang, hatte dem Siege durch die Theilnahme einer dankbaren Menge einen erhoͤhten Glanz verliehen. Zwar nur Preußen waren zum Kampfe gekommen, aber der Kronprinz hatte mit kriegskundiger Einſicht ſeine ganze Staͤrke in der kuͤrzeſten Zeit auf den bedrohten Punkt ſo ver¬ ſammelt und aufgeſtellt, daß der Feind die Unmoͤglich¬ keit des Gelingens einſah, und die Schlacht nicht auf das aͤußerſte kommen ließ, ſondern, mit der Niederlage eines Theils ſeiner Truppen zufrieden, die uͤbrigen gar nicht in's Gefecht brachte. Auch unſere Stellung ge¬ gen den Marſchall Davouſt gewann nun eine andere Anſicht, ſein Vordringen konnte weder ſo gefaͤhrlich,416 noch unſerer fernerer Ruͤckzug ſo nachtheilig werden, da jenes keine andern Bewegungen mehr unterſtuͤtzte, und dieſer bei jedem Schritt auf groͤßere Verſtaͤrkun¬ gen fuͤhrte.

Unſere Partheien fuhren fort, den Feind nach allen Richtungen zu belaͤſtigen und ſeine Wirkſamkeit einzu¬ engen. Der Major von Luͤtzow uͤberfiel bei Wittenburg einen großen Zug franzoͤſiſcher Wagen, nahm ihn, und machte viele Gefangene; die uͤbrige Mannſchaft der Be¬ deckung wurde groͤßtentheils niedergehauen. Bei dieſem Gefechte buͤßten wir auch Einige der Unſrigen ein, un¬ ter ihnen den jungen Grafen von Hardenberg und den Lieutenant Theodor Koͤrner, letzterer bekannt durch die gluͤckliche Dichtergabe, welche ihn inmitten aller Ab¬ wechslungen des Kriegslebens nie verließ. Er war von Wien, wo er in gluͤcklichen Verhaͤltniſſen lebte und noch gluͤcklicheren entgegen ſah, dem fruͤhſten Waffen¬ rufe gefolgt, und nebſt vielen ſeiner ſaͤchſiſchen Lands¬ leute in die Luͤtzow'ſche Freiſchaar getreten, wo er ſo¬ wohl wegen ſeines frohherzigen Umgangs und heitern Dichtergeiſtes, als wegen ſeiner heldenmuͤthigen Tapfer¬ keit allgemeine Liebe erworben hatte. Bei Kitzen durch mehrere Saͤbelhiebe in den Kopf gefaͤhrlich verwundet, dachte er zu ſterben, und in der That verſchob ſeine Geneſung nur auf kurze Zeit den ihm zugedachten Tod. Mit eifriger Eile hatte er ſich bei ſeinen Waffengefaͤhr¬ ten wieder eingefunden, mit ungeſtuͤmer Verwegenheit417 ſtuͤrzte er bei dem erſten Begegnen auf den Feind, und fiel, von vier Kugeln in den Leib getroffen, todt vom Pferde. Seine Lieder konnten der Gegenwart genuͤ¬ gen, ſeine Geſinnung allen Zeiten; ein Gedicht von Staͤgemann feiert das Andenken von beiden mit milder Ueberlegenheit. Noch ein anderer Offizier von unſchaͤtz¬ barem Werthe, der Hauptmann Schaͤffer, deſſen wir ſchon Gelegenheit fanden zu erwaͤhnen, verdient, daß ſein Name nicht ſogleich vergeſſen werde; er war in dieſen Tagen auf einem Streifzuge jenſeits der Elbe, wo er, obgleich Ingenieuroffizier, und durch keinen Beruf dazu verpflichtet, mit kampfbegierigem Muthe auf den Feind eindrang, bei Dannenberg von einer Flintenkugel getoͤdtet worden.

Inzwiſchen hatte der Marſchall Davouſt den Ge¬ neral Loiſon gegen Wismar abgeſchickt, und dieſer, nach mehrern Gefechten mit dem General von Vegeſack, die Stadt beſetzt. Die Beute war nicht ſo anſehnlich, als man erwartet hatte, deſto betraͤchtlicher ſollten die Gelderpreſſungen ausfallen, die ſich der General Loiſon daſelbſt nebſt der ſchnoͤdeſten Behandlung der Einwoh¬ ner erlaubte. Eine Unternehmung auf Roſtock, wo große Waarenlager aufgehaͤuft waren, reizte die unbe¬ friedigte Raubſucht, und ein Verſuch, dahin vorzudrin¬ gen, wurde ſogleich gemacht. Allein der General von Vegeſack ſchlug die Franzoſen bei Neu-Bukow, und warf ſie wieder auf Wismar zuruͤck, welches ſie daraufIII. 27418ebenfalls fruͤher raͤumen mußten, ehe die verlangten Geldſummen vollſtaͤndig gezahlt waren.

Bei Schwerin hielt der Feind ſich fortwaͤhrend ganz ruhig in zwei Lagern, bei Neumuͤhlen und Wittenfoͤr¬ den, an welchem letztern Orte die Daͤnen geſondert ſtanden, da ſie auf Maͤrſchen und in Gefechten mit den Franzoſen gemiſcht erſchienen. Die Patrouillen, die der Feind in die nahgelegenen Doͤrfer nach Lebens¬ mitteln, vorzuͤglich nach Vieh, ausſchickte, beſtanden immer aus Fußvolk, ja bisweilen aus ganzen Ba¬ taillons, hinter welchen Geſchuͤtz folgte, das bei jedem Angriff der Koſaken ſogleich vorgefahren wurde und zu feuern anfing. Tettenborn verlegte ſein Haupt¬ quartier nach Orthkrug, naͤher Schwerin, um den Feind enger zu beſchraͤnken, und noch mehr zu beunruhigen und zu necken. Nicht genug, daß er von hier aus fortfuhr durch Partheien in klug gewaͤhlten Richtungen die ganze ruͤckwaͤrts gelegene Gegend durchſtreifen zu laſſen, auch in dem Lager ſelbſt ließ er dem Feinde von nun an keine Ruhe. Nacht fuͤr Nacht wurden ſeine Poſten angegriffen, zuruͤckgeworfen und in das Lager geſprengt. Durch die Papiere, welche ein auf¬ gefangener Kourier bei ſich gehabt, erſah man, daß der Feind in beſtaͤndiger Beſorgniß war von uns ernſt¬ haft angegriffen zu werden, und daher die nordwaͤrts des Schweriner Sees vertheilten Truppen zuruͤckrief, um ſeine ganze Staͤrke beiſammen zu haben. Seine419 Poſten zog er aus Vorſicht alle ein, damit dieſelben nicht aufgehoben wuͤrden. Tettenborn ließ nunmehr mit den Koſaken Jaͤger zu Fuß ausruͤcken, damit der Feind auf den Vorpoſten Fußvolk ſaͤhe, und ließ jede Nacht die feindlichen Lager alarmiren. Die Jaͤger ſchlichen bis auf dreißig Schritt zu den Wachtfeuern hinan, durch Dunkelheit und Gebuͤſch gedeckt, und ſchoſſen ihre Buͤchſen ab, der Laͤrm durchdrang ſogleich das ganze Lager, und mitten durch hoͤrte man das Gewimmer der Verwundeten. Die Unſern ſtreuten die Zeitungsblaͤtter mit den Nachrichten von den gluͤcklichen Fortſchritten der verbuͤndeten Heere auf den feindlichen Wachtplaͤtzen aus, und zogen ſich vor Tag wieder auf ihre Poſten. Der Major von Luͤtzow wurde mit einer Parthei nach Boitzenburg geſandt, welchen Ort aber noch vor ſeiner Ankunft der Feind in eiliger Flucht verließ. Der Major von Arnim hatte mit der han¬ ſeatiſchen Reiterei bei Vicheln einen guten Angriff ge¬ macht, und den Feind geworfen. Durch alle dieſe gluͤcklichen, zwar kleinen, aber durch ihre Menge zu bedeutendem Vortheil anwachſenden Unternehmungen, wurde der Feind immer mehr und mehr eingeſchuͤchtert, und wagte zuletzt aus Zaghaftigkeit ſich zu keinem Ge¬ fecht mehr hervor. Seine Lage wurde noch bedenkli¬ cher durch den Mangel an Nachrichten, der ſo groß und ſo peinlich war, daß der Marſchall Davouſt ſogar ein Kind aus Schwerin nach der Berliner Zeitung27*420ausſchickte, ohne in dieſem Falle gluͤcklicher zu ſein, als in andern. Der Dichter Friedrich Ruͤckert hat dieſe Abgeſchiedenheit des Marſchalls in Schwerin durch ein ſcherzhaftes Lied artig beſungen. Ein mit dem Kourier, der ihn uͤberbringen ſollte, aufgefangener Brief der Marſchallin Davouſt an ihren Gemahl gab durch ſeinen merkwuͤrdigen Inhalt ebenfalls Anlaß zu ſcherzhafter Beluſtigung.

Die Begierde ſich mit dem Feinde zu meſſen, war durch das Betragen deſſelben bei unſern Truppen taͤg¬ lich ſtaͤrker entbrannt, es ſchien eine Schande, den nicht anzugreifen, der ſich vor unſerm Angriff ſo offen¬ bar fuͤrchtete. Auch Tettenborn bedurfte der groͤßten Selbſtuͤberwindung, um nicht die ruhige und zoͤgernde Haltung, die ihm vorgeſchrieben war, zu uͤberſchreiten; und Wallmoden ſelbſt bezeigte haͤufig Luſt, dem Geg¬ ner eine Schlacht zu liefern, und traf mancherlei dahin zielende Anordnungen, die er aber jedesmal zu rechter Zeit noch zuruͤcknahm; denn die Ueberzahl des Feindes, ſeine gute Stellung, und ſodann die Zuſammenſetzung unſrer Truppen, waren Gruͤnde, die bei jeder neuen Erwaͤgung mehr Gewicht zu erlangen ſchienen, um von jedem Hauptſchlage abzumahnen. Auch blieb es bei dieſem Zaudern, und es wurde nichts unternommen, bis endlich der Feind Miene machte, ſich ſtaͤrker gegen Roſtock hinzuziehen, worauf Wallmoden uͤber Krivitz nach Warin zu marſchiren beſchloß, um mit dem Ge¬421 neral von Vegeſack vereinigt dem Feinde zu begegnen, waͤhrend Tettenborn fortfahren ſollte, Schwerin zu beobachten.

Wallmoden, bekannt als ein erfahrner Kriegsmann von ſcharfem Verſtand und gelaſſenem Urtheil, hatte in dem Ergebniß ſeiner Gruͤnde unter den vorhandenen Umſtaͤnden vollkommen Recht; wir erlauben uns aber, bei dieſer Gelegenheit uͤber die Neuheit der Truppen einige Bemerkungen einzuſchalten, welche ſich ſchon in fruͤherer Zeit aufgedrungen und waͤhrend dieſes Kriegs nur beſtaͤtigt haben. Wenn Truppen neu ſind, ſo iſt dies ein Uebel, das man beruͤckſichtigen muß, ſobald es ein ernſthaftes Unternehmen gilt; aber das Uebel iſt noch viel groͤßer, wenn die Truppen neu bleiben, und dies Uebel kann der Feldherr entfernen, denn ihm liegt ob, durch ſeinen Geiſt die feſte Gemeinſchaft zu bilden, die aus verſchiedenartigen Voͤlkern Ein Heer, aus unverſuchten Neulingen gepruͤfte Soldaten, mit Einem Worte, aus ſchlechten Truppen gute macht. Allein die meiſten neuerrichteten Truppen, beſonders die ſogenannten Legionen, haben immer eine ſchlechtere Rolle geſpielt, als ſie durch ihren innern Werth ver¬ dienten, weil das Behandeln der Begeiſterung und des Volksſinnes in unſerer Zeit und Nation noch wenig reif, und durch militairiſche und politiſche Vorurtheile geſtoͤrt war. Selbſt die Thatſachen ſcheinen nicht lehr¬ reich genug, und es erhaͤlt ſich, trotz der uͤberzeugen¬422 den Erfahrung ſo vieler Kriege und auch dieſes letzten, eine militairiſch-vornehme Abneigung gegen Landwehren und neue Bewaffnungen, welche ſich doch, wenn ein großer Antrieb ſie zu aͤchtem Eifer entflammt, noch immer mit Erfolg den beſten altgeuͤbten Heeren ent¬ gegenſtellt haben. Freilich gehoͤrt Zeit zur Bildung und Uebung des Soldaten, und beide duͤrfen ihm nicht fehlen; allein Begeiſterung und Volksſinn kuͤrzen die Lehrzeit bis auf ein oft erſtaunenswuͤrdiges Minimum ab, wie ſich dies ehemals bei den Franzoſen, und jetzt neuerdings eben ſo bei den Preußen, erwieſen hat. Mit dieſen letztern jedoch war der groͤßte Theil der Truppen Wallmoden's nicht zu vergleichen, als deren Neuheit ſchwerer zu vernichten und deren Unzuſammen¬ hang kaum aufzuheben war.

Fruͤh am 3. September erhielt Tettenborn in Orth¬ krug die Meldung, daß der Feind um Mitternacht Schwerin gaͤnzlich verlaſſen und der Marſchall Davouſt mit allen Truppen den Weg uͤber Gadebuſch ruͤckwaͤrts nach der Stecknitz eingeſchlagen habe. Die Poſten, die er hatte ſtehen laſſen, um ſeine Bewegung zu ver¬ decken, wurden ſogleich angegriffen, uͤber den Haufen geworfen, und groͤßtentheils gefangen gemacht. Wall¬ moden, der auf der entgegengeſetzten Seite des Schwe¬ riner Sees nach Warin in Marſch war, wurde durch Eilboten von dem Vorgegangenen benachrichtigt, in¬ zwiſchen aber alle einzelnen Abtheilungen der Truppen423 ſchleunigſt zum Vorruͤcken befehligt; der Rittmeiſter von Herbert folgte mit einem Koſakenregiment dem Feinde auf dem Fuße uͤber Gadebuſch nach, der Rittmeiſter Graf von Muͤnnich, ebenfalls mit einem Koſakenregi¬ ment, ſuchte demſelben die Flanke abzugewinnen, der Oberſt Graf von Kielmannsegge ruͤckte mit ſeinen han¬ noͤverſchen Jaͤgern von Neuhaus nach Boitzenburg vor, die geſammten uͤbrigen Truppen Tettenborn's wurden von ihm ſelbſt unverzuͤglich in gerader Richtung nach Wittenburg in Marſch geſetzt. Er traf mit Wallmo¬ den in Schwerin zuſammen, wo das Volk ſie mit dem groͤßten Jubel empfing, und in der brauſenden Auf¬ wallung einen der Einwohner, der ſich von den Fran¬ zoſen zum Spion hatte brauchen laſſen, beinah zum Tode mißhandelte, ſo daß man denſelben mit Muͤhe der Volkswuth entriß, und zur Unterſuchung gefan¬ gen ſetzte.

Der Marſchall Davouſt hatte den Schwerinern ge¬ ſagt, der Kronprinz von Schweden habe bei Berlin einige Vortheile erlangt, dies veranlaſſe ihn, eine feſte Stellung ruͤckwaͤrts zu nehmen, man moͤge ſich wohl huͤten, darin eine Flucht zu ſehen, er wuͤrde fruͤher wiederkommen, als man vermuthe. Zugleich hatte er ein Blatt mit Neuigkeiten von den Heeren in Sachſen und Boͤhmen drucken laſſen, worin die Gefechte bei Dresden und das Eindringen der Franzoſen in Boͤh¬ men, von welchen auch wir Nachricht erhalten hatten,424 auf das vortheilhafteſte geſchildert waren. Er hatte jedoch nicht einmal die Vertheilung dieſes Blattes ab¬ gewartet. Die Nachrichten, die durch einen Zufall dies¬ mal zu ihm gelangt waren, begannen allerdings mit Vortheilen, die aber zu Niederlagen gefuͤhrt hatten, und dieſe erſchreckten den Marſchall Davouſt dergeſtalt, daß er ſeine aͤngſtliche Lage nicht laͤnger auszuhalten vermochte, ſondern ploͤtzlich, von Furcht ergriffen, die Stecknitz wieder zu gewinnen eilte. So beſchloß dieſer Feldherr ſeinen mecklenburgiſchen Feldzug, in welchem er den Kriegsruhm, den er etwa mitgebracht hatte, voͤllig und fuͤr immer einbuͤßte, und mit ſeiner be¬ traͤchtlichen Streitmacht einer geringen Truppenſchaar gegenuͤber zum Geſpoͤtte wurde. Napoleon hatte ihm, ſo lautete die Sage, zur Belohnung der Thaten, die er ausfuͤhren wuͤrde, im voraus das Herzogthum Meck¬ lenburg beſtimmt, allein er ſelbſt ſchien nicht genugſa¬ mes Vertraun auf dieſe Schenkung zu ſetzen, um in jeder Verheerung des Landes ſchon ſein Eigenthum beſchaͤdigt zu glauben; die Franzoſen hatten ungeſtraft alle Pluͤnderungen und Ausſchweifungen begangen; die ſchlimmſten Klagen aber fuͤhrte man uͤber die Daͤnen, welche von den franzoͤſiſchen Behoͤrden durch mangel¬ hafte Verpflegung abſichtlich genoͤthigt wurden, ihren Bedarf unordentlich und gewaltſam herbeizuſchaffen. Die daͤniſchen Gefangenen, welche wir gemacht, klagten alle bitter hieruͤber.

425

Der Feind hatte inzwiſchen durch ſeinen naͤchtlichen Marſch mehrere Stunden Vorſprung gewonnen, und wurde erſt jenſeits Gadebuſch erreicht, wo die Koſaken ſeinen Nachtrab angriffen, und unter beſtaͤndigem Plaͤn¬ keln bis Groß-Turow verfolgten, wo der Feind ſich widerſetzte, um nicht ſeinen Ruͤckzug in eine voͤllige Flucht ausarten zu laſſen. Tettenborn erfuhr in Wit¬ tenburg am 3. September, daß von Gadebuſch unge¬ faͤhr 2000 Franzoſen, welche mehrere Kanonen bei ſich fuͤhrten, nach Zarrentin gezogen waren, deren Abſicht nur ſein konnte, durch Gewinnung der ſuͤdlichen Spitze des Schaalſee's die Koſaken zu verhindern, den um die noͤrdliche Spitze geſchehenden Ruͤckzug in der Flanke zu beunruhigen. Sogleich eilte Tettenborn am folgen¬ den Morgen mit etwa 1000 Jaͤgern und Koſaken und 3 leichten Kanonen gegen jene Schaar, die aber bei ſeiner Annaͤherung Zarrentin ſchon wieder verließ, und den Weg nach Moͤlln einſchlug. Erſt auf den Hoͤhen hinter Gudow ſtellte ſie ſich zum Gefecht, das durch Kanoniren eroͤffnet wurde, waͤhrend deſſen unſer Fu߬ volk anruͤckte, und der Haupttrupp deſſelben in Zar¬ rentin eintraf. Man ſchlug ſich mit Erbitterung, und der Feind, welcher durch unſere Jaͤger aus den Hecken und Buͤſchen des offneren Feldes bald vertrieben war, ſchien ſich in dem Walde behaupten zu wollen, beſon¬ ders da er bald merkte, daß er mehr und beſſeres Ge¬ ſchuͤtz als wir habe. Aber eine ploͤtzliche und raſche426 Bewegung, welche Tettenborn mit einem Koſakenregi¬ ment in die rechte Flanke des Feindes ausfuͤhrte, ent¬ ſchied dieſen ſogleich, ſeinen Ruͤckzug auf Moͤlln eilig fortzuſetzen. Der Major von Luͤtzow erhielt den Auf¬ trag, ihn zu verfolgen, und drang bis vor die Thore von Moͤlln, wo der Feind eine Verſtaͤrkung von 3 Bataillons erhielt, und nun wieder vorruͤckte. Man ſchlug ſich bis ſpaͤt Abends, mit abwechſelndem Gluͤck, und beiderſeitem Verluſt. Tettenborn hatte inzwiſchen auch eine Parthei gegen Buͤchen geſandt, und dieſen Poſten, ſo wie nordwaͤrts die Doͤrfer Kogel und Sa¬ lem, dem Feinde abgenommen, der aber noch zum zweitenmale daraus vertrieben werden mußte, ehe wir ſie behaupten konnten. Der Feind, welcher ſeine Rei¬ terei gegen die unſere nicht zu zeigen wagte, verlor deßhalb bei jeder ſolchen Gelegenheit eine Menge Leute, die verſprengt und fluͤchtig den raſchen Koſaken nicht entgehen, und in ihrer eignen Reiterei keine Huͤlfe finden konnten.

Waͤhrend der folgenden Tage dauerten dieſe ein¬ zelnen Poſtengefechte lebhaft fort, ohne daß weder die Unſrigen noch die Franzoſen eigentliche Fortſchritte mach¬ ten. Doch hatte der Feind auf dieſem kurzen Ruͤck¬ zuge bloß durch Tettenborn gegen 500 Mann an Ge¬ fangenen, und in den Gefechten eine nicht geringere Anzahl an Todten und Verwundeten verloren. Unſer Verluſt mochte uͤber 200 Mann betragen, worunter427 viele der beſten Luͤtzow'ſchen Jaͤger. Auch in der Rich¬ tung von Luͤbeck war der Feind durch die hanſeatiſche Reiterei mit vielem Gluͤcke verfolgt und bis an die Thore der Stadt gejagt worden, wo, ſchon im Zuruͤck¬ reiten nach dem letzten Angriff, noch der tapfere Ma¬ jor von Arnim durch eine Kanonenkugel getoͤdtet wurde, ein Verluſt, den die von ihm gefuͤhrte hanſeatiſche Rei¬ terei ſchmerzlich empfand. Inzwiſchen waren auch die Truppen Wallmoden's nach und nach angelangt; allein die Verfolgung hatte bereits ihr Ziel gefunden, und der Feind den ernſten Entſchluß gezeigt, die Stecknitz mit Anſtrengung zu vertheidigen, weßhalb er auch je¬ den unſrer Verſuche auf Moͤlln mit aller Macht ver¬ eitelte. Das Hauptquartier des Marſchalls Davouſt befand ſich in Ratzeburg, wo er ſich, wie in Schwerin, der durch Seen und ſumpfiges Uferland geſchuͤtzten Stellung erfreute, und zwar weniger bedroht, aber eben ſo unthaͤtig blieb.

Der Beobachtungskrieg, auf welchen ſich bald alles, was der Feind wollte und wir konnten, hier beſchraͤn¬ ken mußte, zeigte eine truͤbe Ausſicht, die ſich unbe¬ rechenbar ausdehnte, und ſowohl den Anfuͤhrern, als den Truppen, mit jedem Tage laͤſtiger wurde; in un¬ ruhiger Spannung erſpaͤhte man eine Gelegenheit zu kraͤftiger Unternehmung, und gab ſcharf Acht, ob irgend eine Bewegung des Feindes jene Gelegenheit herbei¬ fuͤhren moͤchte. Die vielen einzelnen gluͤcklichen Gefechte428 hatten die allgemeine Kampfbegierde mehr gereizt, als geſtillt, und man fand in dem Benehmen des Feindes die dringendſte Aufforderung, ſeinen freiwilligen Ruͤck¬ zug in eine gezwungene Flucht zu verwandeln. Allein die Franzoſen ruͤhrten ſich nicht, und der Marſchall Davouſt begnuͤgte ſich in ſeinem ruhigen Aufenthalt zu Ratzeburg mit der Anordnung unbedeutender Streife¬ reien, die ſelten uͤber eine halbe Stunde weit geſcha¬ hen und meiſtens uͤbel abliefen.

Wallmoden und Tettenborn hatten ſchon fruͤh ihr Augenmerk auf das linke Elbufer gerichtet, wo ein offnes Feld fuͤr raſche Unternehmungen ſich darbot, und wohin die Hoffnung theilweiſer Aufſtaͤnde im Hannoͤver¬ ſchen mahnend zu rufen ſchien. Auch konnte der Mar¬ ſchall Davouſt, ſobald wir auf dieſer Seite nachdrucks¬ voll vorgingen, unmoͤglich in Hamburg und an der Stecknitz ruhig bleiben, ſondern mußte fuͤr ſeine Ver¬ bindung, mit Frankreich ſowohl, als mit den franzoͤſi¬ ſchen Heeren, hoͤchſt beſorgt werden, und deßhalb irgend eine Gegenwirkung verſuchen, zumal noch nicht der Zeitpunkt gekommen war, wo er ſich auf ſich ſelbſt beſchraͤnken und darein ergeben durfte, innerhalb ſeiner Bollwerke eingeſchloſſen zu ſein. Daß er unſer Weg¬ gehen aus Mecklenburg zu neuem Vordringen benutzen wuͤrde, war nicht zu befuͤrchten, da das Land, auch ohne Truppen, ſich durch die Gefahr, welche der Feind in ſeinem Entfernen von Hamburg ſah, hinlaͤnglich ge¬429 ſchuͤtzt, und uͤberdies durch die in jedem Fall zuruͤck¬ bleibenden Truppen des Generals von Vegeſack eine gute Stuͤtze fuͤr ſeine Landwehr und ſeinen Landſturm fand. Zufolge dieſer Erwaͤgungen verlegte Wallmoden ſchon am 6. September ſein Hauptquartier nach Doͤ¬ mitz, wohin ſich auch alle unſere Truppen in Marſch ſetzten. Kleine Abtheilungen Jaͤger hatten ſchon ſeit einiger Zeit gegenuͤber von Doͤmitz groͤßere und kleinere Streifzuͤge tiefer in das Hannoͤverſche gemacht, und die Stadt Dannenberg faſt ohne Unterbrechung beſetzt ge¬ halten. Der Feind, um alle ſeine Streitkraͤfte an der Stecknitz zu vereinigen, hatte dieſe Seite ganz ent¬ bloͤßt. In dieſen Tagen jedoch ſandte der Marſchall Davouſt ein Bataillon nach Luͤneburg, dem aber keine zahlreicheren Truppen, wie man anfangs vermuthen wollte, nachfolgten. Tettenborn war der Meinung, die Stadt Doͤmitz, welche nicht ohne Befeſtigung war, zum Mittelpunkte der Bewegungen zu machen, eine Bruͤcke daſelbſt uͤber die Elbe zu ſchlagen, einen ſtar¬ ken Bruͤckenkopf auf dem jenſeitigen Ufer anzulegen, und dann mit geſammter Macht uͤber die Elbe zu ſetzen, die Stellung an der Stecknitz aber einſtweilen nur be¬ wachen zu laſſen. Jenſeits traf man entweder auf den Marſchall Davouſt, im Fall er auf unſere Bewegung auch uͤber die Elbe ginge, und konnte ihm, da er ſeine Macht wegen der Beſetzung Hamburgs mehr, als wir die unſrige, getheilt haben mußte, mit vortheilhafter430 Ausſicht eine Schlacht liefern, oder man hatte, im Fall er ſich nicht ruͤhrte, freie Hand zu den wichtigſten Un¬ ternehmungen. Wallmoden ließ in der That alles zu dem Bruͤckenbau in Bereitſchaft ſetzen, und ſchickte groͤ¬ ßere Partheien auf Kundſchaft uͤber die Elbe hinuͤber. Weil aber in dieſen Tagen die feindlichen Poſten bei Ratzeburg wieder etwas lebhafter wurden, und groͤßere Abtheilungen, mit Geſchuͤtz verſehen, auf mehrern Punk¬ ten vorzuruͤcken verſuchten, ſo kehrte er ſelbſt mit allen Truppen am 12. September nach Zarrentin an den Schaalſee zuruͤck. Tettenborn, welcher ſeit dem Ge¬ fechte[bei] Gudow und Moͤlln bald in Granzin, bald in Boitzenburg und Zarrensdorf geſtanden, war ſchon Tags vorher in Zarrentin eingetroffen. Ein Verſuch, dem Feinde eine ſeiner vorgeruͤckten Partheien zu uͤber¬ fallen und abzuſchneiden, wurde durch die Vorſicht der Franzoſen vereitelt, die ſich immer fruͤh genug zuruͤck¬ zogen, und dann vollkommen ruhig blieben. Sie in ihrer ganzen Stellung anzugreifen, konnte niemand, der die Lage der Dinge gehoͤrig vor Augen hatte, thun¬ lich finden.

Wallmoden hatte uͤberdies mit manchen innern Hem¬ mungen zu kaͤmpfen, die aus den hoͤheren Verhaͤltniſſen herabkamen. Die Befehle, welche derſelbe von dem Kronprinzen von Schweden erhielt, geſellten zu den vorhandenen Hinderniſſen oft neue; die Klarheit der eigentlichen Abſicht und die Strenge der kriegeriſchen431 Aufgabe glaubte man bisweilen darin zu vermiſſen, und ſtatt derſelben nur ein Gewebe dunkler Vorſtellun¬ gen zu finden. Sie alle zu befolgen, war ſchon we¬ gen der Widerſpruͤche unmoͤglich, ſie auch nur theil¬ weiſe auszufuͤhren immer mißlich. Dieſe dem Ober¬ befehlshaber haͤufig vorgeworfene Unbeſtimmtheit findet gleichwohl wieder eine Entſchuldigung in ſeinen eignen hoͤchſt peinlichen Verhaͤltniſſen; ſein perſoͤnliches Gewicht war zuſammengeſetzt aus dem der verſchiednen Maͤchte, deren Bundesgenoſſe er war, und jeden Augenblick mußte er dieſes bei denen ſelbſt geltend machen, die es ihm verliehen; die Schweden ſahen mißtrauiſch auf die kuͤnftigen Vortheile, welche ſie durch vorausgeleiſtete Dienſte erſt eintauſchen ſollten; die ruſſiſchen und preu¬ ßiſchen Generale, welche unter dem Oberbefehl des Kronprinzen ſtanden, zeigten offenbaren Widerwillen gegen dies Verhaͤltniß, das bald in lauter Mißhellig¬ keiten beſtand, und in gemiſchten Ruͤckſichten die Macht eines gebietenden Feldherrn ſehr beſchraͤnkte. Der Kron¬ prinz, um dieſer Abneigung ſo wenig als moͤglich Wirk¬ ſamkeit zu laſſen, mochte ſeine eigentlichen Abſichten und Wuͤnſche nicht im voraus immer preisgeben, ſon¬ dern glaubte ſie gewiſſer auszufuͤhren, wenn er erſt im Augenblicke ſelbſt, wo die Gelegenheit es forderte, ſich mit feſter Beſtimmtheit ausſpraͤche, bis dahin aber alles in dunkler Unſicherheit ſchweben ließe. Wir muͤſ¬ ſen zugeſtehen, daß er im Ganzen dieſer Kriegfuͤhrung432 nie des richtigen Scharfblicks, der beſonnenen Vorſicht und des perſoͤnlichen Muthes bei irgend einer Gelegen¬ heit entbehrt habe; ſeine theilweiſen Anordnungen aber weckten oft Unzufriedenheit und Widerſpruch, denen nicht immer durch die That zu begegnen war. Seine Betheiligung in dieſem Kriege uͤberhaupt zeigte ſich allerdings ſehr verſchieden von derjenigen, zu welcher die deutſchen Gemuͤther aufgefordert waren; allein ſeine Freiheisgeſinnung und ſein Haß gegen Napoleon ver¬ banden ihn der deutſchen Sache dennoch nahe genug.

In dieſen Tagen hatten wir die umſtaͤndlichen Nach¬ richten von den an der Katzbach, bei Kulm und bei Dennewitz erfochtenen Siegen empfangen, und die un¬ beſchreibliche Freude, welche ſie erregten, wurde uns nur dadurch verbittert, daß wir uns gegen die ſiegrei¬ chen Waffenbruͤder noch ſo ſehr zuruͤck fuͤhlten, und der traurige Beobachtungskrieg uns wenig Ausſicht zeigte, gleich ihnen dem Feind entſcheidende Schlaͤge beizubringen. Zwar konnte die Laͤhmung und Feſthal¬ tung des Marſchalls Davouſt und ſeiner uͤberlegenen Macht leicht ein eben ſo großes Verdienſt und ein nicht geringerer Vortheil fuͤr das Ganze duͤnken, als irgend einem andern Heertheil von gleicher Truppenſtaͤrke zu erwerben vergoͤnnt geweſen war, und in der That empfingen Wallmoden und Tettenborn aus der Naͤhe und Ferne die Gluͤckwuͤnſche aller Kriegskundigen uͤber die bisherigen Leiſtungen, welche auf dieſer ſo ſehr433 gefaͤhrdeten Seite noch keinen Augenblick wirklicher Ge¬ fahr hatten aufkommen laſſen; allein ſie ſelbſt waren dadurch nicht befriedigt, ſo wenig als die kampfbegieri¬ gen Truppen, denen die Wichtigkeit des Geleiſteten nicht den Glanz erſetzen mochte, der von groͤßeren Waffenthaten ausgeht. Mit deſto lebhafterm Eifer wurde daher die Gelegenheit ergriffen, die ſich endlich zu zeigen ſchien, in Einer Unternehmung an Tapferkeit und Ruhm zu vereinigen, was bisher in unzaͤhligen theilweiſen Erfolgen vereinzelt und zerſtreut geblieben war.

Durch aufgefangene Papiere erfuhren wir, daß der Marſchall Davouſt den General Pecheux mit einer fran¬ zoͤſiſchen Diviſion von 7000 Mann auf das linke Elb¬ ufer ſende, um aufwaͤrts gegen Magdeburg das Land von unſern Partheien zu ſaͤubern, welche taͤglich ver¬ wegner wurden. Es blieb zweifelhaft, ob dieſe Ab¬ ſendung nur dieſen Zweck habe, oder auch eine Ver¬ ſtaͤrkung der Truppen in Magdeburg beabſichtige. Die fruͤhere Bewegung Wallmoden's nach Doͤmitz ſcheint den Marſchall Davouſt zu dieſer Maßregel, die fuͤr uns nicht beſſer gewaͤhlt ſein konnte, verlockt zu haben. Der Entſchluß Wallmoden's war ſogleich gefaßt. Der General von Vegeſack blieb mit ſeinen Truppen zur Bewachung der Stecknitz zuruͤck, er hatte ſein Haupt¬ quartier in Grevismuͤhlen; damit der Feind auf den Vorpoſten keine Veraͤnderung bemerke, und uͤber den Abmarſch getaͤuſcht bliebe, ließ Tettenborn auch einIII. 28434Koſakenregiment auf der Ebene zwiſchen Buͤchen und Moͤlln zuruͤck; einige Bataillons Luͤtzower, die hanſea¬ tiſche Legion und das zweite Huſarengiment der ruſſiſch - deutſchen Legion beſetzten die uͤbrige Gegend zwiſchen Roggendorf und Boitzenburg. Das hanſeatiſche Fu߬ volk war naͤmlich nun, nachdem es durch engliſche, diesmal jedoch nur ſpaͤrliche, Aushuͤlfe ſich einigerma¬ ßen erholt hatte, auch wieder brauchbar befunden und in die Linie vor den Feind gezogen worden; mit Un¬ recht hatte man ſeit dem Wiederbeginn der Feindſelig¬ keiten dieſe Truppe vernachlaͤſſigt, ſie hatte ſich bisher immer trefflich geſchlagen, und ſchlug ſich auch jetzt wieder, nach ſo vielen herabſtimmenden Erfahrungen, dennoch mit ausgezeichneter Tapferkeit.

Am 13. und 14. September marſchirten wir uͤber Vellahn, Langenheide und Luͤbtheen nach Doͤmitz, wo die Truppen ſich ſammelten und noch am Abend des 14. uͤber die Elbe gingen und nach Dannenberg vor¬ ruͤckten. Tettenborn fuͤhrte die Vordertruppen, ließ ſogleich vorwaͤrts gegen den Wald, die Goͤrde genannt, den Feind ausſpaͤhen, und ſandte, um ſich in ſeinen Flanken zu ſichern, rechts und links Partheien gegen Bleckede und Uelzen. Der Feind war, laut der ein¬ gezogenen Nachrichten, bis zur Goͤrde gekommen und hatte mit unſern Koſaken geplaͤnkelt. Man ſchaͤtzte ihn auf 8000 Mann, nebſt 8 Stuͤcken Geſchuͤtz; die Ein¬ wohner des Landes leiſteten uns durch Zutragen von435 Nachrichten und Verſchweigen unſerer Anweſenheit ge¬ gen den Feind die trefflichſten Dienſte, die Franzoſen erfuhren durchaus nichts, was ſie nicht durch Patrouil¬ len, zu welchen ihnen die Reiterei fehlte, abreichen konnten. Wir erwarteten am folgenden Tage, der Feind wuͤrde vorruͤcken und in ſein Verderben hinein¬ gehen, weßhalb unſere Truppen hinter den Anhoͤhen; welche ſich wellenfoͤrmig uͤber die Gegend erſtrecken, verdeckt aufgeſtellt blieben. Allein wir warteten den ganzen Tag vergebens; der Feind, ſchon ſtutzig durch das unvermuthete Zuſammentreffen mit Koſaken, hatte Halt gemacht, und ſchien ſich beſinnen zu wollen. Der General Pecheux, durch die fruͤhere Bewegung unſrer Truppen gegen die Elbe irre gefuͤhrt, hatte dem Mar¬ ſchall Davouſt wiſſen laſſen, daß es ſehr gefaͤhrlich ſei weiter vorzugeben; dieſer, ſich der Anweſenheit Wall¬ moden's in Zarrentin verſichert haltend, hatte jenem uͤber ſeine zaghaften Beſorgniſſe hart und mit kraͤnken¬ den Worten geantwortet, als deren Folge wir ſpaͤter¬ hin die uͤberaus hartnaͤckige Tapferkeit, mit welcher er Widerſtand leiſtete, zu erkennen glaubten. Die Koſaken hatte er als die Vorlaͤufer mehrerer Truppen angeſehen, aber die Ruhe des ganzen Tages und der darauf fol¬ genden Nacht benahm ihm dieſe Vermuthung wieder, und waͤhrend zweimal vierundzwanzig Stunden blieb dem Feinde jede Kunde unſerer Naͤhe gluͤcklich ver¬ borgen. Selbſt wenn irgend jemand aus verraͤtheriſcher28*436und gewinnſuͤchtiger Abſicht dem Feinde haͤtte Nachricht bringen wollen, ſo wuͤrde er unſern Koſaken in die Haͤnde gefallen ſein, welche mit meiſterhafter Geſchick¬ lichkeit einen weiten Strich Landes in großem Umkreis voͤllig abſchloſſen.

Am 16. September fruͤh um vier Uhr brachen wir endlich mit allen Truppen von Dannenberg auf, und ruͤckten gegen die Goͤrde vor, in der Hoffnung, dem Feinde in dieſer Richtung zu begegnen; der Marſch blieb durch die zwiſchenliegenden Huͤgel und Waldge¬ buͤſche gaͤnzlich verdeckt, und eben ſo nachher die Stel¬ lung, die wir vor dem Anfange des Waldes nahmen, um den Feind zu erwarten. Allein er ruͤckte keines¬ wegs vor, ſondern blieb in ſeiner Stellung ruͤckwaͤrts des Jagdſchloſſes Goͤrde, welches er mit Jaͤgern beſetzt hielt, auf einer vortheilhaften Anhoͤhe vor dem Dorfe Oldendorf, ſandte gegen die vorgeſchickten Koſaken einige Plaͤnkler aus, und als jene, um die ſeinigen zu ver¬ locken, ſich zuruͤckzogen, ließ er ſie nicht verfolgen, ſon¬ dern zog auch die ſeinigen wieder ein, und man hoͤrte ſchon kaum noch hin und wieder einen Schuß fallen. Als wir bis Mittag vergebens gewartet hatten, beſchloß Wallmoden den noch uͤbrigen Theil des Tages zu benutzen, und den Feind anzugreifen. Wir hatten je¬ doch noch ein gutes Stuͤck zu marſchiren, und konnten erſt gegen 2 Uhr Nachmittags zum Angriff kommen. Tettenborn eroͤffnete das Gefecht; Abtheilungen Koſaken437 ſprengten, indem ſie rechts durch Thaͤler und Schluch¬ ten, links durch die Waldungen drangen, gegen die Flanken des Feindes vor, umſchwaͤrmten denſelben ploͤtz¬ lich von allen Seiten, und machten ihm von dieſem Augenblick unmoͤglich, nach irgend einer Richtung klar zu ſehen; keine Streiferei, keine Erkundung konnte er vornehmen. Die preußiſchen Jaͤger warf Tettenborn kinks in den Wald, ließ ſie von Koſaken ſeitwaͤrts am Rande begleiten, und dann raſch gegen den Feind anruͤcken, der ſich bei dem Jagdſchloſſe ſtark geſetzt hatte, und zwar anfangs beſtuͤrzt wich, bald aber in großer Ueberzahl das Gefecht mit Erbitterung im Walde erneuerte; der General Pecheux befand ſich in Perſon daſelbſt. Tettenborn war unterdeſſen vor die Haupt¬ ſtellung des Feindes mit einer Abtheilung Koſaken und Luͤtzow'ſcher Reiter und 4 hanſeatiſchen reitenden Kano¬ nen geruͤckt, und griff dieſelbe in der Front an. Der Donner des Geſchuͤtzes ließ den General Pecheux nicht laͤnger in Zweifel, daß die Sache diesmal ernſthaft abge¬ ſehen ſei. Er ſammelte ſeine Schuͤtzen ſo viel als moͤglich aus dem Wald, wo das heftige Gefecht kaum noch zum Vortheil der Unſrigen erhalten worden war und mehrmals zum Nachtheil geſchwankt hatte, und ſuchte in gedraͤngter Maſſe uͤber eine ebne Strecke die Anhoͤhe zu gewinnen, wo ſein Geſchuͤtz aufgepflanzt war, und ein uͤberlegenes Feuer gegen das unſere rich¬ tete. Der Hauptmann Spooreman von der hanſeati¬438 ſchen Artillerie ſchoß gut und ſchnell, und richtete zuletzt, unbekuͤmmert um das feindliche Geſchuͤtz, mit großer Kaltbluͤtigkeit ſeine Schuͤſſe in jene Maſſe Fußvolk, wo man das Einſchlagen der Kugeln wahrnehmen konnte, ſie kam, nicht ohne großen Verluſt, fluͤchtig und zer¬ ſtreut auf der Anhoͤhe an. Waͤhrend man ſich hier auf dieſe Weiſe ſchlug, und einige engliſche Kanonen den hanſeatiſchen zur Unterſtuͤtzung herbeikamen, ſo daß das unausgeſetzte Feuer des Feindes nun mit gleichem beant¬ wortet werden konnte, und bald uͤberboten wurde, fuͤhrte der Oberſt von Pfuel eine von dem General von Arentſchildt befehligte Brigade der ruſſiſch-deutſchen Legion und 6 Kanonen links auf einem Umwege durch die Goͤrde, um dem Feind in den Ruͤcken zu kom¬ men; ihm war aufgetragen worden, zuerſt nur das Fußvolk durch den Wald zu fuͤhren, die Kanonen aber am Eingange zuruͤck zu laſſen, und ſie erſt ſpaͤter, wenn das Fußvolk aus dem Walde vorgeruͤckt und ihr Gebrauch vonnoͤthen ſei, nachkommen zu laſſen. In Betracht aber der ſpaͤten Tageszeit und des weiten Weges durch den Wald, nahm derſelbe die Kanonen vielmehr an die Spitze ſeines Marſches, und beſchleu¬ nigte die Truppen ſelbſt ſoviel als moͤglich. Der Feind ſtand trotzig in ſeiner Stellung auf einer gutgewaͤhlten Anhoͤhe, um welche eine weit abgeflachte Vertiefung ſich bogenfoͤrmig hinzog, ſein Feuer war vortrefflich, ſein Fußvolk zeigte ſich unerſchrocken, und der im Walde439 verſpaͤtete Theil deſſelben ſetzte in unſerer linken Flanke ein heftiges Geplaͤnkel lebhaft fort. Der Tag war ſchon weit vorgeruͤckt, die Zeit verging in wechſelſeiti¬ gem Schießen, und die raſche Kraft unſeres Angriffs litt Gefahr gaͤnzlich zu ſtocken, und ſich in ein gewoͤhn¬ liches Kanonieren, das nichts entſcheidet, aufzuloͤſen. Die uͤbrigen Truppen Wallmoden's hatten den weiten Weg noch nicht zuruͤckgelegt, und Pfuel brach noch immer nicht aus dem Walde im Ruͤcken des Feindes hervor; er fand die Raͤume und Schwierigkeiten groͤßer, als man ſie angegeben hatte, und ohne ſeine verſtaͤn¬ dige Eile waͤre er erſt mit anbrechender Daͤmmerung erſchienen. Jetzt aber, im dringenden Augenblicke, ver¬ kuͤndigten Kanonenſchuͤſſe vom Rande des Waldes uns und dem Feinde ſeine Ankunft, gleich darauf ſah man das Blinken der Gewehre, und die Bataillons auf¬ marſchiren; die Stellung des Feindes, der jetzt gaͤnz¬ lich umgangen war, wurde nun im Ruͤcken und von vorn mit entſcheidendem Erfolg beſchoſſen, und ſein Geſchuͤtz bald zum Schweigen gebracht. Pfuel erſtuͤrmte ein Dorf, das der Feind in ſeinem Ruͤcken beſetzt hatte, und drang immer naͤher heran. Jetzt auch erſchienen die uͤbrigen Truppen, die bisher noch zuruͤckgeweſen waren, auf dem Kampfplatz, und verſtaͤrkten den Angriff in der Front und in der linken Flanke des Feindes. Die Koſaken machten einen allgemeinen Angriff auf die noch uͤbrigen Plaͤnkler, von allen Seiten ruͤckten440 unſere Truppen zum Sturm vor. Der General Pecheux hatte, ſobald er ſich umgangen und von der Straße nach Luͤneburg abgedraͤngt ohne Hoffnung eines Ruͤck¬ zugs ſah, den Entſchluß der verzweifeltſten Gegenwehr gefaßt, und in ſeinen Soldaten dieſelbe Geſinnung erweckt. Die Franzoſen ſtanden mit unerſchuͤttertem Muthe, und unterhielten ein moͤrderiſches Gewehrfeuer, indem ſie zugleich aus ihren noch brauchbaren Stuͤcken Kartaͤtſchen in unſere Reihen ſchmetterten. Der Major von Luͤtzow ſprengte mit ſeinen Reitern auf das feind¬ liche Fußvolk an, wurde aber durch eine Kugel in den Leib ſchwer verwundet. Der General von Doͤrnberg war inzwiſchen herangeruͤckt, und erneuerte den Angriff; zwei Maſſen, auf welche der Oberſtlieutenant Karl von Noſtiz (jetzt ruſſiſcher Generallieutenant) bekannt durch ſeine ruͤckſichtloſe Unerſchrockenheit, an die Spitze einiger Schwadronen Huſaren eindrang, wurden zuſam¬ mengehauen, gefangen; eine dritte Maſſe erlitt gleiches Schickſal durch den Oberſtlieutenant von der Golz. Immer noch wehrten ſich die Franzoſen mit groͤßter Entſchloſſenheit, ihr Gewehrfeuer toͤdtete uns viele Leute. Aber immer naͤher drangen die Unſern vor, preußiſche Jaͤger eroberten ſtuͤrmend die letzte Haubitze des Fein¬ des, unſere Kanonen feuerten von allen Seiten in ſeine Reihen, die ſchon durch kein eignes Geſchuͤtz mehr vertheidigt wurden. Unter dieſen Umſtaͤnden ſuchte der General Pecheux mit dem Reſt ſeiner Truppen auf441 ſeiner linken Flanke gegen die Elbe hin ſich zu retten, und zog ſich von Anhoͤhe zu Anhoͤhe. Allein hier ſollte ſeine Niederlage erſt recht vollſtaͤndig werden. Wall¬ moden an der Spitze der Truppen drang unausgeſetzt vor, und ermunterte im heftigſten Kugelregen die Sei¬ nigen durch das Beiſpiel heldenmuͤthiger Ruhe. Der Major von Berger fuͤhrte ſein Bataillon an der Spitze der Sturmmaſſen zum Bajonetangriff. Tettenborn ſprengte mit ſeinen Koſaken heran, und brachte eiligſt alles reitende Geſchuͤtz hart an die ſchon ungeordneten Reihen des Feindes, der jetzt nicht mehr Stand hielt; kaum hatte ſich das immer ſchwaͤcher werdende Haͤuf¬ lein mit einem Kriegsmuthe, der uns Bewunderung und Mitleid abnoͤthigte, auf einem neuen Huͤgelrande wieder geſtellt, als es auch ſchon durch das Feuer unſrer Kanonen, die in groͤßter Naͤhe nachfuhren, jedes¬ mal niedergeſchmettert und wie weggehaucht war. Hiezu kam der Schrecken, den die hier zuerſt in dieſem Kriege gebrauchten Congreve'ſchen Brandraketen als etwas Neues und Unerhoͤrtes in den Franzoſen erregten; das unaus¬ loͤſchliche Feuer, das ſauſend durch die Luͤfte fuhr, ver¬ brannte mit weitem Spruͤhen alles, was in ſeinen Bereich kam, bis zuletzt eine zerſpringende Granate noch zerſchmetterte, was jenes verſchont hatte. Es waren in der That einige Franzoſen durch dieſes Feuer verbrannt worden, und die Fluͤchtlinge klagten in den Ortſchaften, wo ſie durchkamen, mit Entſetzen uͤber442 das Anwenden dieſer hoͤlliſchen Erfindung. Uns jedoch ſchien die Wirkung der Kanonen noch groͤßer und ſiche¬ rer. Der Einbruch der Nacht nahm die geringen Reſte des Feindes in ſchuͤtzendes Dunkel; und in wegloſer Waldung, die unſere ohnehin ermuͤdete Reiterei endlich vom Verfolgen abhielt, ſetzte er die Flucht fort. Der General Pecheux ſelbſt und 600 Mann waren entkom¬ men, und gewannen noch in ſelbiger Nacht Luͤneburg, wo ſie nur kurze Zeit ruhten und dann nach Ham¬ burg aufbrachen. Die ganze Diviſion von 7000 Mann war vernichtet, alle Kanonen, 8 an der Zahl, genom¬ men, alles Gepaͤck in unſere Haͤnde gefallen. Die Niederlage konnte, außer daß der oberſte Befehlshaber entkommen war, nicht groͤßer ſein. Der General Pecheux verzweifelte, und vergoß auf der Straße in Luͤneburg Thraͤnen uͤber ſein ſchmachvolles Ungluͤck, das wegen des großen Heldenmuthes, mit welchem die Schuld des gewarnten, aber ſtarrſinnig beharrenden Vorgeſetzten durch den Tod ſo vieler Tapfern gebuͤßt worden, in wirklich tragiſcher Geſtalt erſchien, und dem ungluͤckli¬ chen Feind unſere Hochachtung und unſer Mitgefuͤhl zu Begleitern gab. An Todten und Verwundeten verlo¬ ren die Franzoſen in dieſem Treffen bei der Goͤrde uͤber 2500 Mann, die uͤbrige Mannſchaft war gefangen oder zerſtreut, noch nach vier Tagen ſchleppten die Bauern aus dem Walde viele Verſprengte herbei, die theils dort verwundet liegen geblieben, theils ſich dahin443 verkrochen hatten. Tettenborn ließ beſtens fuͤr die Ver¬ wundeten ſorgen und durch den verdienten hanſeatiſchen Stabsarzt Doktor Redlich ihnen alle aͤrztliche Huͤlfe zukommen, welche die Umſtaͤnde geſtatteten. Unter den Gefangenen befand ſich ein polniſcher General, ein franzoͤſiſcher Oberſt, die beiden Adjutanten des Generals Pecheux, und viele Offiziere, die groͤßtentheils in Spa¬ nien gedient hatten, und zu den Truppen in Deutſch¬ land verſetzt worden waren. Ein ſehr ausgezeichneter franzoͤſiſcher Offizier, Major Ville, war auf dem Schlacht¬ felde an ſeinen Wunden geſtorben. Wir verloren in dieſem Treffen an Todten und Verwundeten gegen 1000 Mann. Wallmoden hatte durch eine Kanonen¬ kugel ein Pferd unter dem Leibe verloren, Tettenborn das ſeinige zweimal wechſeln muͤſſen; dieſe beiden Gene¬ rale nebſt dem General von Doͤrnberg hatten die Gefahr vielleicht begieriger aufgeſucht und verwegener heraus¬ gefordert, als man den Feldherrn gewoͤhnlich erlauben will; zwar haben die Gruͤnde, welche man anzufuͤhren pflegt, um die Anfuͤhrer in der Schlacht unnoͤthiger Gefahr zu entruͤcken, vieles fuͤr ſich, allein wir geſte¬ hen offen, daß die ausgezeichnete perſoͤnliche Tapferkeit ein zu ſchoͤner und edler Theil des Kriegsruhms iſt, als daß ihn ſelbſt der oberſte Anfuͤhrer dem gemeinen Soldaten ganz uͤberlaſſen duͤrfte; und alle aͤchte Feld¬ herren haben wenigſtens nicht verſchmaͤht, immer mit Luſt und Eifer den Ruhm zu erneuern, den zu erwer¬444 ben ſchon nicht mehr noͤthig war; und iſt es nicht ſchon ein Vorzug, im Fall, wie wohl zu geſchehen pflegt, der Ruhm des Feldherrn ſtreitig gemacht wuͤrde, doch den eines tapfern Kriegers zu behalten?

Wir brachten die Nacht in der Goͤrde zu, wo Wall¬ moden die Meldung erhielt, daß der Marſchall Davouſt, vielleicht unterrichtet von der geringen Staͤrke der ihm entgegenſtehenden Truppen, ſowohl gegen Boitzenburg als gegen Zarrentin im Vorruͤcken ſei. Auf dieſe Nach¬ richt ſchickte Wallmoden gleich am folgenden Tage den groͤßten Theil ſeiner Truppen uͤber die Elbe zuruͤck, er ſelbſt nahm ſein Hauptquartier in Dannenberg. Tet¬ tenborn aber blieb in der Goͤrde, wo noch immer Gefangene eingebracht wurden, und mancherlei Erfolge der ausgeſandten Partheien abzuwarten waren. Der Rittmeiſter von Herbert war bei Luͤneburg vorbeige¬ gangen, und hatte auf der Straße nach Celle einen heftigen Scharmuͤtzel mit einer Abtheilung Franzoſen, die groͤßtentheils zu Gefangenen gemacht wurden. An der Elbe war alles ruhig, wenige Verſprengte von dem Treffen bei der Goͤrde wurden in Bleckede aufgefan¬ gen, mehrere in den Waldungen. Ueber Uelzen hinaus waren einzelne Partheien weit ins Land geſtreift, ohne irgend etwas vom Feinde erfahren zu koͤnnen, das ganze Land bis Braunſchweig und Hannover lag offen da. Der Lieutenant von Schimmelpfennig war gera¬ dezu auf Luͤneburg gegangen, und in die Stadt, welche445 der Feind in groͤßter Eile fruͤher befeſtigt, aber mit Uebereilung verlaſſen hatte, ohne Widerſtand eingeruͤckt. Auf dieſe Nachricht brachen wir am 18. September aus der Goͤrde auf, und marſchirten nach Dalmburg, wo das Fußvolk und die Kanonen zuruͤck blieben, waͤhrend Tettenborn mit den Koſaken weiter zog und noch den¬ ſelben Nachmittag Luͤneburg erreichte. Unverzuͤglich ſandte er von hier aus den Rittmeiſter von Herbert in der Richtung von Toſtaͤdt auf die Straße von Hamburg nach Bremen; dieſer ließ den Lieutenant von Hoch¬ waͤchter auf die Straße von Hamburg nach Celle vor¬ gehen, wo derſelbe ſogleich einen Scharmuͤtzel gegen Gendarmen und Douaniers zu beſtehen hatte, mit großer Tapferkeit den Feind warf, und mehrere Gefangene machte. Andere Partheien ruͤckten ſchnell nach Winſen vor, und beſetzten an der Elbe Artlenburg, Brackede und Honsdorf, Lauenburg gegenuͤber. Die Stadt Luͤneburg wurde auf das ſorgfaͤltigſte verſchloſſen und bewacht, um den Feind uͤber unſere Staͤrke in voͤlliger Ungewißheit und Taͤuſchung zu erhalten. Durch dieſes Vorruͤcken und Ausſenden von Partheien erhielt unſer bisheriger Stand gegen den Feind ploͤtzlich eine ganz andere Wendung; ſeine Hauptverbindung ruͤckwaͤrts mit Bremen ſah er bedroht und erſchwert; ſeine Stellung an der Stecknitz in der Front durch Truppen bewacht, die wenigſtens ſtark genug waren, um jeden Streifzug zu verbieten, und in der Flanke auf dem linken Elbufer446 durch Truppen beunruhigt, deren Staͤrke er nicht zu ſchaͤtzen, aber, nach allen Anordnungen, die er machen ſah, fuͤr ſehr bedeutend halten mußte; die Hauptmaſſe der Truppen Wallmoden's ſtand im Hintergrunde, und konnte nach Willkuͤr auf der einen oder der andern Seite der Elbe das Uebergewicht geben. Jeder Irr¬ thum, jedes Verſehen des franzoͤſiſchen Feldhern konnte entſcheidend werden, und ihn zur Raͤumung des Feldes zwingen.

Inzwiſchen erhielten wir auf dem naͤchſten Wege uͤber Bleckede die Nachricht, daß der Feind, ſobald er Boitzenburg beſetzt geſehen, auf dieſer Seite Halt gemacht, auf der andern aber nach dreiſtuͤndigem hefti¬ gen Gefecht Zarrentin genommen habe, worauf die Unſern auch Boitzenburg verlaſſen haͤtten. Allein der Feind zog ſich auch von Zarrentin bald wieder zuruͤck, und nach Boitzenburg kam er gar nicht, ſo daß ſeine ganze Angriffsbewegung ein bloßer Scheinverſuch blieb, ſei es nun, daß er gleich anfangs nur einen ſolchen beabſichtigt habe, oder durch die Beſetzung Luͤneburgs und die Bewegungen Wallmoden's von ſeiner fruͤhern Abſicht abgebracht worden. Weil aber dennoch die Franzoſen an der Stecknitz in mancherlei Bewegung blieben, befuͤrchtete Wallmoden ein neues ernſthaftes Vordringen derſelben in das Mecklenburgiſche, und rief auch Tettenborn ungeſaͤumt nach Dannenberg zuruͤck, um ſodann bei Doͤmitz auf das rechte Elbufer uͤberzu¬447 gehen. Alle ausgeſandten Partheien wurden demzu¬ folge nach Doͤmitz beſchieden, mit Ausnahme der von dem Rittmeiſter von Herbert befehligten, und einer andern, die unter dem Lieutenant von Schimmelpfen¬ nig in Luͤneburg zuruͤckblieb; denn Tettenborn wollte wenigſtens ſo lange als moͤglich die Eiferſucht des Feindes nach dieſer Seite rege erhalten, und traf alle Anſtalten, um ihn noch ferner zu taͤuſchen und zu irren. Am 20. September Mittags marſchirten wir von Luͤneburg ab, nahmen die in Dalenburg ſtehen gebliebenen Truppen unterwegs mit, und langten Abends in Dannenberg an. Die Bewegungen des Feindes hatten ſich inzwiſchen aufgeklaͤrt, ſie waren eine Folge der Beſorgniſſe, welche die Unſrigen ihm erregt hatten, und die Franzoſen, weit entfernt, etwas Kuͤhnes vor¬ zuhaben, zogen zahlreiche Verſtaͤrkungen von Luͤbeck und Ratzeburg nach der Elbe, um Lauenburg und die Hooper Schanze gehoͤrig zu beſetzen, und einem Angriff von dieſer Seite widerſtehen zu koͤnnen. Wir kehrten daher nach erhaltenem Gegenbefehl am 21. September ſogleich wieder nach Dalenburg zuruͤck, wo das Fußvolk und das Geſchuͤtz abermals ſtehen blieb, und ruͤckten am folgenden Tage mit der Reiterei wieder nach Luͤneburg. Die verſchiednen Partheien zogen wieder an die Elbe und gegen Haarburg aus, und nahmen zum Theil ihre vorigen Stellungen wieder, bevor noch der Feind deren Entbloͤßung bemerkt oder benutzt hatte.

448

Luͤneburg wurde nunmehr der Hegeort, aus deſſen Mitte dem Feinde unendliche Anlaͤſſe zu Verdruß, Be¬ ſorgniß, Nachtheil und Zweifel zuſtroͤmen ſollten, fuͤr deren Groͤße man aus ſeinen Gegenwirkungen eine Art von Maßſtab finden konnte. Seine Truppen wurden bald gaͤnzlich auf Haarburg und die Hooper Schanze beſchraͤnkt, die Koſaken uͤbten wieder einen Theil ihrer alten Schreckensmacht aus, und niemals wagten die Franzoſen ohne die groͤßte Ueberzahl ihnen die Spitze zu bieten; uͤberhaupt hatte die Niederlage des Generals Pecheux, die im ganzen Lande noch vergroͤßert herum¬ getragen wurde, den Muth des Feindes ſehr geſchwaͤcht, und das Vertrauen des Volkes zu unſern Waffen neu belebt. Die Luͤneburger verbrannten mit großem Jubel auf oͤffentlichem Markte die Adlerzeichen der franzoͤſiſchen Herrſchaft, die ſaͤmmtlichen Schriften der Douanen, und dieſes Freudenfeuer dauerte mehrere Tage. Nicht geringen Eifer bewieſen die[Einwohner] in Aufſuchung verſteckter Franzoſen und Anzeigung franzoͤſiſchen Eigen¬ thums. Außer unſerm eignen Siege brachten wir auch die erſten Nachrichten von den fortdauernden Schlaͤgen, welche der Feind auf allen andern Seiten zahlreich erlitten hatte; dieſe Nachrichten hatte man den Truppen wie den Einwohnern mit ſtrenger Sorgfalt vorenthal¬ ten, und erdichtete dafuͤr untergeſchoben; ſie wurden daher mit unglaublicher Freude und Begierde aufge¬ nommen. Da in dem ganzen Lande bis an die Weſer449 und uͤber Hannover hinaus von dem Feinde nur wenig zu ſehen war, und ſeine Behoͤrden ohne Truppen we¬ nig vermochten, ſo war bald alles mit den Kriegs¬ berichten uͤberſchwemmt, die in Luͤneburg zur Befriedi¬ gung des ungeſtuͤmen Verlangens mehrmals gedruckt wurden, und der Feind ſah bis an den Harz und die Ems ſeine muͤhſamen Taͤuſchungskuͤnſte zu Schanden gemacht. Am beſchwerlichſten wurden ihm jedoch die unaufhoͤrlichen Streifzuͤge unſerer Partheien, die bald hier bald dort ploͤtzlich erſchienen, ſich vereinzelten und ſich wieder zuſammenfanden, und jedem feindlichen Begegnen gewachſen oder verſchwunden waren; ſie fingen Kouriere, Poſten und Zufuhren auf, machten alle franzoͤſiſche Verwaltung unmoͤglich, ſchnitten Nach¬ richten ab und verbreiteten deren, uͤberfielen kleinere Truppenabtheilungen auf dem Marſch und in den Quar¬ tieren, und beunruhigten die ganze Gegend. Da ihre Beweglichkeit ſtets in Ungewißheit uͤber ihre Staͤrke ließ, und wenn man alle Koſaken, die an demſelben Tage an verſchiedenen Orten geſehen worden waren, zuſammenrechnete, eine unglaubliche Zahl herausbrachte, ſo vermehrte dies nur die Schwierigkeit, etwas gegen ſie zu unternehmen. Der franzoͤſiſche General von Oſten marſchirte von Haarburg mit Fußvolk und Ge¬ ſchuͤtz gegen die Streifereien, welche der Rittmeiſter von Herbert nach Buxtehude und Welle fuͤhrte, allein die Franzoſen richteten nichts aus; bei Hitfeld entſtandIII. 29450ein heftiges Gefecht, worin ſie eine Anzahl Gefangene verloren, worauf die Uebrigen im Schrecken nach Haar¬ burg zuruͤckflohen. Waͤhrend auf der einen Seite un¬ ſere Patrouillen bis Celle kamen, drangen andere bis Zeven vor, um den Kourieren, die zwiſchen Hamburg und Bremen gingen, aufzulauern, ſo daß dieſe endlich zu dem Umwege uͤber Stade und Bremervoͤrde, ja ſogar uͤber Ritzebuͤttel und Bremerlehe genoͤthigt wur¬ den. Von dem franzoͤſiſchen Oberſten Grafen von Salm - Kyrburg, der zufolge der Briefſchaften eines aufgefan¬ genen Kouriers mit 400 weſtphaͤliſchen Reitern einen Partheigang gegen uns machen wollte, war nichts weiter zu erfahren.

Etwas beſſer hielt ſich der Feind zunaͤchſt der Elbe; die Beſatzung von Haarburg war bis auf 4000 Mann verſtaͤrkt worden, und die Hooper Schanze und der Zollenſpieker wurden mit mehrern Bataillons beſetzt; auch wir hatten inzwiſchen gegen 300 Jaͤger aus Da¬ lenburg herangezogen, und konnten den Angriffen, die der Feind von dieſer Seite wagte, die Spitze bieten. Bei Winſen, Artlenburg und Honsdorf ſchlug man ſich beinahe taͤglich, und der Feind verlor durch die wieder¬ holten nachtheiligen Gefechte im Ganzen ſehr viele Leute; wir hatten in manchen dieſer Scharmuͤtzel keinen Mann verloren, und der Feind allein an Gefangenen wohl 50 bis 60 Mann eingebuͤßt. Bei einem ſolchen Ge¬ fechte war im Dunkel der Nacht ein franzoͤſiſcher Offi¬451 zier mit 6 Mann verſprengt worden, und wurde erſt einige Tage nachher im Walde aufgehoben und nach Luͤneburg gebracht; er hatte die Abſicht gehabt, ſich durch naͤchtliche Maͤrſche bis nach Magdeburg durchzu¬ ſchleichen, und war ſo uͤberzeugt von der Niederlage unſrer Heere, daß er den Tagsbefehl, worin der Mar¬ ſchall Davouſt den Truppen das Einruͤcken Napoleon's in Berlin anzeigte, als eine Neuigkeit an Tettenborn uͤberreichte, und mit dem Achſelzucken der Zuverſicht hinzufuͤgte: Aber, es hat Leute gekoſtet, viel Leute! Ein Adjutant des Generals Vichery, der Ueberbringer wichtiger Befehle war, wurde durch den Rittmeiſter von Herbert gefangen genommen. Unſere Mittheilun¬ gen dagegen gelangten durch dieſen letztern ſicher bis zu den engliſchen Schiffen, die vor der Muͤndung der Elbe lagen.

Einen Hauptverdruß machte den Franzoſen in Ham¬ burg die Zeitung aus dem Feldlager, die in Luͤneburg ihren Anfang nahm. Die Begierde der Einwohner nach unſern Nachrichten von dem großen Kriegsſchau¬ platze machte es uns zur Pflicht, die Hauptſachen jedes¬ mal ſchleunig durch den Druck mitzutheilen, um ſolchem Eifer moͤglichſt zu entſprechen. Das Zuſtroͤmen von guten Neuigkeiten noͤthigte in kurzem zu einer Reihe¬ folge von Druckblaͤttern, die von ſelbſt eine Art von Zeitung bildeten, und nur eines gemeinſchaftlichen Na¬ mens bedurften. Die durch unſern Zweck erzeugte452 Ruͤckſicht auf die Oertlichkeit der naͤchſten Gegend machte den Marſchall Davouſt bald zu einem Hauptgegenſtaude dieſes Blattes, welches, mit dem Hauptquartier Tet¬ tenborn's ſeinen Erſcheinungsort wechſelnd, und unent¬ geltlich ausgetheilt und verſandt, in kurzem eine unge¬ heure Gunſt und Nachfrage fand. Es fehlte nicht an ſatiriſchen Ausfaͤllen, in welchen die gute Laune unſers Hauptquartiers ſich ergoß, und zu denen mehrere Offi¬ ziere, und unter andern auch Jahn, der bekannte Turn¬ lehrer, der als Hauptmann bei den Luͤtzow'ern ſtand, ihre Beiſteuer gaben. Die Franzoſen waren bisher gewohnt, ſolche Feindſeligkeiten allein auszuuͤben, und geriethen ganz außer ſich, als man ihnen nicht das Gleiche, ſondern Beſſeres bot, und ihr erſchoͤpfter Witz nichts mehr zu finden wußte, um die treffende Wahr¬ heit zu entkraͤften, mit welcher der Marſchall Davouſt hier bald als der Vandale Gaͤnſerich, bald als Robinſon und Hermite de Ratzebourg bezeichnet wurde. Dieſe Zeitung hat uns ſeitdem uͤberall hinbegleitet, nach Bre¬ men und Daͤnemark, bis ſie zuletzt in Frankreich mit dem 16. Stuͤcke, das die fremde Sprache angenommen hatte, aufhoͤrte, und noch ihr letztes Wort der Mar¬ ſchall Davouſt blieb. Wir haben der litterariſchen Ne¬ benſache hier vorzuͤglich deßhalb gedacht, um in Tetten¬ born das nach unſrer Meinung nicht geringe Verdienſt anzuerkennen, daß er mit kraͤftigem Muthe auch in dieſer Weiſe offen und fuͤr immer mit dem Feinde453 gebrochen, und keine Moͤglichkeit einer Ausſoͤhnung ſich habe vorbehalten wollen, die er unter jeder Bedin¬ gung zu verſchmaͤhen fand, waͤhrend manche oͤffent¬ liche Blaͤtter durch Ruͤckſichten und Glimpf aller Art noch ſorgfaͤltig dieſe Moͤglichkeit zu erhalten bedacht waren.

Nicht unerwaͤhnt vorbeigehen duͤrfen wir hier das Maͤdchen von Luͤneburg, Johanna Stegen, welche am Tage des Treffens, in welchen der General von Doͤrn¬ berg den Sieg uͤber den General Morand hier erfocht, mit hochherzigem Muthe den preußiſchen Jaͤgern, die ſich verſchoſſen hatten, inmitten des Gefechts Patronen in ihrer Schuͤrze zutrug. Als die Franzoſen endlich wieder Meiſter von Luͤneburg wurden, hatte ſie ſich verſtecken muͤſſen, und auch ſpaͤterhin noch manche Be¬ drohung, manche Haͤrte von Seiten der Fremden und ſogar mancher Einheimiſchen erfahren muͤſſen, bis ſich die Erinnerung ihrer That nach und nach in der Stille des untergeordneten Lebens verlor. Tettenborn aber ließ ſie aufſuchen und zu Tiſche einladen, als eine wuͤrdige Kriegsgenoſſin; ihr Betragen war hier eben ſo unbefangen ſittſam, als es dort unbefangen muthig geweſen war. Um ſie nicht neuer Rache des Feindes auszuſetzen, wurde ſie, die bald entſchloſſen war, alte Verhaͤltniſſe gegen neue zu vertauſchen, mit fuͤr ſie guͤnſtiger Ausſicht nach Berlin befoͤrdert. Es iſt ein Zeichen des Geiſtes, der unſern Krieg belebte, daß454 auch Weiber aus edlem Triebe ſich zu dem Kampfe berufen glaubten, der ſonſt nur Maͤnnern obliegt; eine Erſcheinung, die ſchwerlich in andern, als wahrhaften Volkskriegen, gefunden wird, und unwiderſprechlich die gerechte Sache zu erkennen gibt. Wir nennen bei dieſer Gelegenheit noch Eleonoren Prochaska, ein Maͤd¬ chen aus Potsdam, die der Ruf der Waffen und des Vaterlandes ihrem ſtillen Lebenswandel entfuͤhrte, und unter dem Namen Auguſt Renz in unentdeckter Ver¬ kleidung den Luͤtzow'ſchen Jaͤgern beigeſellt hatte. Sie war gleich im Anfang des Treffens bei der Goͤrde durch einen Schuß verwundet worden, allein das hel¬ denmuͤthige Maͤdchen war nicht bloß als Maͤdchen, ſon¬ dern waͤre auch als Mann ausgezeichnet geweſen, und ging nicht aus dem Gefecht, bis ein zweiter Schuß in den Schenkel ſie noͤthigte, beides, das Gefecht und ihre Verkleidung zu verlaſſen. Sie entdeckte ſich einem Offizier, durch deſſen Vermittlung ſie alle moͤgliche Schonung und Huͤlfe erlangte. Allein nach wenigen Tagen ſtarb ſie an ihren Wunden, beklagt von allen ihren Kameraden, deren Liebe und Achtung ſie in hohem Grade beſeſſen hatte.

Die Nachrichten von unſern großen Heeren meldeten fortdauernd die gluͤcklichſten Vortheile, die von allen Seiten uͤber den aus Boͤhmen, Schleſien, und der Mark Brandenburg ſchon ganz nach Sachſen zuruͤck¬ gedraͤngten Feind erfochten waren. Große und zahl¬455 reiche Streifſchaaren zogen in ſeinem Ruͤcken und auf ſeinen Flanken ungeſtraft umher, und beſuchten Braun¬ ſchweig und ſogar Kaſſel, gegen welchen letztern Ort der Kronprinz von Schweden den General Tſchernyſcheff mit 3000 Pferden vorgeſchickt hatte. Die Nachricht, daß Baiern dem großen Bunde beigetreten, kam ebenfalls in dieſen Tagen. Alles dies forderte zu kuͤhnen Unter¬ nehmungen auf, denen die großen Ereigniſſe immer feſtere Grundlage boten. Der Marſchall Davouſt hatte ſeine Hauptſtaͤrke jetzt an die Elbe gezogen, und im Ochſenwaͤrder, beim Zollenſpieker und bei Lauenburg verſammelt; er ſchien aͤußerſt beſorgt wegen eines An¬ griffs auf Haarburg, deſſen Befeſtigung er eilig ver¬ mehren ließ. Bei dieſer Lage der Dinge erſuchte Wall¬ moden den Kronprinzen von Schweden, die Stecknitz bloß durch den General von Vegeſack beobachten zu laſſen, da der allgemeine Zuſtand der Sachen kein Vor¬ dringen des Feindes mehr auf dieſer Seite zu befuͤrch¬ ten gab, ihm ſelbſt aber zu erlauben, nach Hannover vorzugehen, wo alles nur auf ſein Erſcheinen wartete, um ſich gegen den Feind zu bewaffnen. Allein der Kronprinz war keineswegs damit einverſtanden; und was er in Ruͤckſicht des Marſchalls Davouſt wohl bewilligt haͤtte, mochte er wegen der Daͤnen nicht zu¬ geſtehen. Dieſen war bisher noch kein bedeutender Nachtheil beigebracht, und ihm dem Schweden doch vor allem daran gelegen, dieſe Feinde nicht laͤnger un¬456 angetaſtet in ſeinem Ruͤcken zu laſſen, wenn er, wie er ſchon am Ende Septembers ankuͤndigte, uͤber die Elbe ginge, um ſich nach Halle und Leipzig zu wenden. Er ſandte daher an Wallmoden den Befehl, vielmehr einen Verſuch an der Stecknitz zu machen, wo moͤglich die Daͤnen von den Franzoſen zu trennen, und jene, von welchen man wußte, daß ſie bei dem erſten Anlaß ſich hinter die Eyder zuruͤckziehen wuͤrden, geſondert anzu¬ greifen. Wallmoden rief in Gemaͤßheit dieſes Befehls Tettenborn abermals von Luͤneburg auf das rechte Elb¬ ufer zuruͤck, und wollte ſeine Truppen bei Gadebuſch zu einer kraͤftigen Angriffsbewegung verſammeln. Tet¬ tenborn ließ bloß den Rittmeiſter von Herbert und Lieu¬ tenant von Klitzing mit einer ziemlichen Anzahl Koſaken in und bei Luͤneburg zuruͤck, ging am 5. Oktober bei Bleckede auf Kaͤhnen, die er fruͤher hatte zuſammen¬ bringen laſſen, uͤber die Elbe, und marſchirte nach Boitzenburg. Gleich der folgende Tag war zu einem allgemeinen Angriff beſtimmt; allein der Marſchall Da¬ vouſt hatte diesmal die Sache nicht unrecht vorherge¬ ſehen, und ſchleunig alle Truppen aus dem Ochſen¬ waͤrder wieder an die Stecknitz gezogen, ſo daß die natuͤrliche Schwierigkeit, welche die ſumpfigen Ufer der Stecknitz jedem Uebergange entgegenſetzten, durch die zahlreiche Staͤrke des Feindes zur Unmoͤglichkeit wurde. Die ganze Sache lief auf ein heftiges Kanoniren hin¬ aus, das bei Buͤchen den ganzen Vormittag des 6. Ok¬457 tobers andauerte, ohne irgend etwas in der Stellung der beiderſeitigen Truppen zu aͤndern. Auch in den folgenden Tagen blieb alles in dem alten Zuſtande; der General von Vegeſack machte einen Angriff auf die ihm gegenuͤber ſtehenden Vorpoſten, bei welchem die hanſeatiſche Reiterei ſich ſehr tapfer auszeichnete, allein ohne einen Erfolg zu bewirken. Ein trefflicher hanſeati¬ ſcher Offizier, der junge Godefroy aus Hamburg, war unter den Gebliebenen.

Auf's neue der Langenweile eines Beobachtungs¬ kriegs, dem man nimmer entfliehen zu koͤnnen ſchien, uͤbergeben, mochte Tettenborn nicht laͤnger einen Zu¬ ſtand ertragen, der allen ſeinen Eigenſchaften wider¬ ſprach, und ſeine ausgezeichnetſten Gaben beinahe unnuͤtz ruhen ließ. Die Nachricht, daß Bluͤcher mit dem ſchle¬ ſiſchen Heer uͤber die Elſter gegangen ſei, und den Feind fortwaͤhrend hart bedraͤnge, ſo wie alles Andere, was man von der obern Elbe erfuhr, belebte immer auf's neue die Ausſicht auf gluͤckliche Partheigaͤnge, die gerade jetzt an der Zeit zu ſein ſchienen, waͤhrend die Heere des Feindes noch das Feld hielten, und doch ihr Ruͤckzug ſchon unvermeidlich duͤnkte. Der Zug des Generals Tſchernyſcheff nach Kaſſel und die glaͤnzende Einnahme dieſer Stadt hatte Schrecken und Beſtuͤrzung weithin verbreitet; allein durch ſtaͤrkere, von Frank¬ furt her im Anmarſch befindliche franzoͤſiſche Trup¬458 pen bedroht, waren die Ruſſen von Kaſſel wieder aufgebrochen, und eilten, indem ſie ganz rechtshin zur Seite auswichen, die Bruͤcke bei Doͤmitz zu ge¬ winnen, um gleich wieder uͤber die Elbe gehen zu koͤnnen.

(Der Verfolg im vierten Bande.)

About this transcription

TextDenkwürdigkeiten und vermischte Schriften
Author Karl August Varnhagen von Ense
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Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

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EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDenkwürdigkeiten und vermischte Schriften Dritter Band Karl August Varnhagen von Ense. . 458 S., [1] Bl. HoffMannheim1838.

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LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Prosa; core; ready; ocr

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ImprintBerlin 2019-12-10T09:32:48Z
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