PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Kammerjungfer.
Eine Stadtgeſchichte
Halle,Verlag von Richard Mühlmann. 1851.

Es bleibt dabei, ich vermiethe mich! ſagte Klär¬ chen zu ihrer Mutter. Eine Schneiderin führt ein trauriges Leben, ein Tag geht ſo grau und einförmig hin wie der andere, keinen vernünftigen Menſchen kriegt man zu ſehen, ſitzen muß man vom Morgen bis zum Abend, und ſitzen bleiben und eine alte Jung¬ fer werden iſt das Ende vom Liede.

Du weißt ſelbſt nicht was Du willſt, ſagte ihre Mutter. Weißt Du noch, was Du ſagteſt vorigen Martinstag, wie Tante Rieke Dir den Rath gab, Du ſollteſt in einen Dienſt gehen? Da haſt Du von Skla¬ verei geſprochen und die Naſe gerümpft, und ich war's auch zufrieden: es wäre doch eine Sünde und Schande, wenn eine alte Frau allein wohnen müßte ohne Hülfe und Pflege. Aber ich ſage: Du weißt nicht was du willſt. Kannſt Du's beſſer haben, wie Du's jetzt haſt? Biſt Dein eigner Herr, kannſt thun was Du willſt, und brauchſt Dich nicht von fremden Leuten traktiren zu laſſen. Ach, wenn ich an meine Jugend denke!

Ja, ja, Deine Jugend kenne ich, fiel ihr Klär¬ chen ſchnippiſch in das Wort; ſo dumm wie Du werde ich nicht ſein, Du hätteſt den Rechtsgelehrten nur feſt¬ halten ſollen. Tante Rieke ſagte vorgeſtern ſehr ſal¬ bungsvoll, wie Deine Schönheit Dein Unglück geweſen; da hätte ſie nur aufrichtig ſagen ſollen: Dein Un¬ geſchick. Ich ſage Dir aber, meine Schönheit ſoll1 *4glücklicher ſein. Hierbei lachte ſie, hüpfte an den Spiegel und ordnete noch einmal zum Ueberfluß ihren Sonntagsſtaat.

So gottvergeſſen wie Du habe ich nie geredet, ent - gegnete die Mutter, und das Unglück iſt doch über mich gekommen, ich weiß nicht wie.

Das iſt's eben, fiel ihr Klarchen wieder in die Rede: Du weißt nicht wie. Gerade das nicht Wiſ - ſen das iſt der Fehler, ich werde aber wiſſen! Und nun um alles in der Welt, höre auf zu jammern. Heute iſt Sonntag. Urſach dazu haſt Du nicht, und ich ſehe nicht ein, warum ich zuhören ſollte. Mir ſteht die ganze Welt offen, und die Welt iſt ſchön, wunderſchön! Ich vermiethe mich, oder ich vermiethe mich nicht, es muß immer gehen. Für jetzt ziehe ich zur alten Frau Generalin, da habe ichs gut, und Geld im Ueberfluß.

Und ich hungere, ſagte die Mutter in weinerli - chem Ton.

Dafür wird Tante Rieke ſorgen müſſen, die hat das Geld im Kaſten liegen. Es iſt ſchändlich genug, daß ſie mich hat ſchneidern und ſticheln laſſen, damit ich ihre einzige Schweſter ernähre. Das hört mm aus. Ich muß für ineine Zukunft ſorgen, mein Lohn wird geſpart; wenn man das Geld in großen Partieen ein - nimmt, kann man's beſſer feſthalten, die einzelnen Vier - groſchenſtücke trudeln unter den Händen fort. Tante Rieke, die die chriſtliche Barmherzigkeit immerfort im Munde führt, mag ſich auch mal mit den Händen re - gen. Und kurz und gut, wenn kein Anderer da iſt, iſt ſie die Nächſte. Und Mutterchen (ſetzte Klärchen5 ſchmeichelnd hinzu), Du haſt nur den Vortheil davon, wenn die Tante gepreßt wird, denn ich werde auch für Dich ſorgen, da kommt's von zwei Seiten. Klage nur hübſch, und rühre ihr Herz; aber gegen mich höre auf damit (ſchloß ſie lachend), ich kenne Deine Kniffe und bei mir helfen ſie nichts mehr. Bei dieſen Worten zog ſie eine ſchwarze ſeidene Mantille aus einer Schublade, und einige Geldſtücke klapperten daneben. Sie warf der Mutter ein Zweigroſchenſtück in den Schooß und rief lachend: Hier, kaufe Dir Kuchen und feiere Sonntag; aber ſchicke Kleiſt's Dort - chen, dann denkt der Becker, es iſt für die Herrn Stu - denten. Du verſtehſt mich doch?

Kleiner Tauſendſapperloter! ſagte die ſchwache Mutter. Ihr Töchterchen hatte ſie völlig beruhigt. Beſonders war das Letzte ein wirkſames Mittel; und auch die Bemerkung über die Tante Ricke war ganz richtig, dieſe mußte mehr geben, wenn Klärchen den Haushalt nicht unterhielt. Sie konnte es auch, ſie war eine reiche Wittwe und hatte nur eine Pflegetoch - ter; und wenn Klärchen dann im Stillen doch noch mit ſorgte, wie es ſich für eine gute Tochter geziemt, ſo ſtand die Mutter ſich bei weitem beſſer.

Frau Krauter war die Wittwe eines Ginghan - Webers. Sie war in ihrer Jugend ſchön und leicht - ſinnig geweſen, und hatte nach vielen Abenteuern den Mann geheirathet, der ſchon damals innerlich und äußerlich ziemlich verkommen war. Es ward aber von Jahr zu Jahr ſchlechter mit ihm, und er ſtarb, nach - dem er beinahe zehn Jahr ſeine Frau in fortwähren - dem Jammer und in Noth erhalten hatte. Zum Glück6 blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte ſie eine reiche Schweſter, die ihr in der Noth eine Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen Einfluß auf Frau Krauter geübt; ſie war leichtſinnig geblieben, war faul, unordentlich und genußſüchtig, und wenn ſie auch reichlich Thränen über ſich und ihre Schickſale vergießen konnte, die Thränen kamen nicht tief aus dem Herzen; bei einer Taſſe Kaffee und einem leichtfertigen Geſchwätz war bald Alles ver¬ geſſen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur daß ſie noch ſchöner und zugleich ſchlauer war, und ſo der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß ge¬ geben.

Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die ſehr wohlhabende Wittwe des ſeligen Seifenſiedermeiſters Bendler, war ganz das Gegentheil der Schweſter. Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, ſchlichte Bürgers¬ frau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter und Tochter zu üben geſucht; ſie erlangte nur das eine, daß beide ſich vor ihr ſcheuten und ſich ſoviel als möglich von der beſten Seite zeigten; und das war freilich ſchlimmer, als wenn ſie ſich in ihrer wah¬ ren Geſtalt gezeigt hätten.

Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitge¬ theilte Zwiegeſpräch gehabt, rüſtete ſie ſich ſingend zu ihrem Sonntagsvergnügen. Die ſeidene Mantille ward umgethan, und das Geld, das da herausgepol¬ tert, in die Taſche geſteckt. Darauf ſuchte ſie aus ei¬ nem Wuſt anderer Sachen ein geſticktes baumwollenes Taſchentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn ein langes Ende abgeriſſener Spitze hing daran. Sie7 griff nach einem zweiten, da waren einige Riſſe in der Mitte.

Die infamen baumwollenen Tücher halten für gar nichts! ſagte ſie ärgerlich.

Gieb her, Kind, ich hefte es gleich ein Bißchen zu! tröſtete die Mutter, fädelte eine Nadel ein und zog mit langen Stichen die Riſſe zu. Während deſſen ſuchte Klärchen aus einem Häufchen heller Glaceehand¬ ſchuh das leidlichſte Paar heraus.

Wo in aller Welt nur immer die rechten Hand¬ ſchuh bleiben! klagte Klärchen wieder. Linke habe ich wohl ſechs, ſieben, und rechte nur drei, und dumm genug habe ich vergeſſen ſie waſchen zu laſſen, ſie ſe¬ hen aus wie die Mohren. Ach was! ſetzte ſie ent¬ ſchloſſen hinzu: ich hole ein Paar neue. Sechs Gro¬ ſchen mehr oder weniger! Zu meinem himmelblauen Muſſelin-Kleide gehören reine Handſchuh.

Tante Rieke ſagte am vergangenen Sonntag: Soll¬ teſt lieber waſchlederne Handſchuh tragen wie Gret¬ chen. Denke mal an, die hat ihre Confirmationshand¬ ſchuh noch.

Wahrhaftig? ſtaunte Klärchen; nein, das Mira¬ kel muß ich meinen Freundinnen erzählen, es ſieht aber akkurat aus wie Gretchen Bendler. Zur Kirche und höchſtens zu einem ehrbaren Spaziergang in's Feld werden die Handſchuh angezogen, aber eine Hand hat Gretchen in den waſchledernen wie ein Eisbär. Nun gut, ein jeder ſehe wie er's treibe, ein jeder ſehe wo er bleibe, ſagt Göthe. Auch ſind die Gaben der Menſchen verſchieden. Bei dieſen Worten hatte ſie die himmelblaue Hutſchleife zugebunden, das geflickte8 Taſchentuch geſchickt über die ſchmutzigen Handſchuh ge¬ legt, und wollte nun mit einem leichten Adieu zur Thür hinaus.

Warte, Klärchen! rief die Mutter, da kömmt Dein Hemd an der Schulter zum Vorſchein und gerade ein rechter Ratſch darin.

Stopf 'es nur tief genug unter, ſagte Klärchen gleichgültig, und nachdem das geſchehen, ging ſie fort.

Alle Schneiderinnen, ſagt man, ſind unordentlich, weil ſie immer mit der Nadel für Andere beſchäftigt, nie Zeit für ihre eigne Arbeit finden. Klärchen war es aber nicht allein als Schneiderin, ſondern noch da¬ zu als unordentliche Tochter einer unordentlichen Mut¬ ter, und als über ihren Stand hinaus verwöhnte und verbildete Jungfrau. Daß die Kleider ſechs Ellen weit ſein mußten und wo möglich den Staub auf der Straße kehren, war ihr von höchſter Wichtigkeit; auch durften die Manſchetten nicht fehlen, Mantillen, Kragen, geſtickte Taſchentücher und Unterröcke mit Friſuren. Ob ihr Hemd zerriſſen, war ihr gleichgül¬ tig, ja, außerordentlich gleichgültig! Das ſah ja Niemand. Unangenehmer war es ſchon, fehlte der Hacken im Strumpf, oder die Sohle am Schuh, aber auch das machte ihr nicht großes Bedenken, es wurde geſchickt verborgen, die langen Kleider waren auch hier von Nutzen. Mit der Muhme Gretchen hatte ſie neu¬ lich erſt einen derben Strauß gehabt; denn war Gret¬ chen auch nicht gebildet, ſo war ſie doch geſcheut und derb und kurz angebunden. Sie ſah den Unterrock mit den breiten Friſuren, und ſagte, das wäre ganz verrückt nun, gar an einem Unterrock den überflüſſigen9 Staat. Klärchen aber erklärte ſachverſtändig, daß eine ordentliche Toilette bei dieſem Worte hob Gretchen etwas höhnend Klärchens Arm in die Höhe und zeigte wie der Aermel halb aus den Nähten war; Klärchen fuhr nach einer kurzen Entſchuldigung aber ärgerlich fort: daß zu einer ordentlichen Toilette ſolch ein Rock nothwendig ſei, um die Kleider unten gehörig breit zu erhalten. Beſonders, fügte ſie ſchnippiſch hinzu, paßt das für ſchlanke Leute; für Biertonnen iſt's nun mal nicht nöthig. Gretchen wußte darauf keine verblümte Antwort zu geben, ſie ſagte aber kurz: Schäme Dich was mit deinen Grobheiten, dafür ſetz 'Dich hin und flicke und ſtopfe wo's Noth thut, und verthu' Dein Geld nicht unnütz; mit den Friſuren am Rock lockſt Du keinen Hund aus dem Ofen, und ich ſage Dir, Du wirſt es noch mal bitterlich bereuen, daß Du ſo eine Thörin wareſt. Du hältſt es ſo ſehr mit der Welt, aber ich ſage Dir, ſie wird Dir noch mal ein X für ein U machen; und Du denkſt, da iſt Dein Himmelreich, aber ich ſage Dir, das iſt wo anders. Ach Gott! jetzt kriegt 'es Klärchen mit dem Schreck, gewiß wollte Gretchen mit ihrem Herrn und Heilande kommen, denn von dem ſprach ſie, als ob die Sache ganz ihre Richtigkeit hätte. Gretchen war überhaupt ſo ſehr in der Zeit und Bildung zurück, ſie kannte keine Romane, wußte nichts von Eugen Sue, von der George Sand und von keinem Muſen - und Liebes - Almanach, kannte nur nothdürftig die Claſſiker ihres Vaterlandes dem Namen nach, und auch darüber ſpottete Tante Rieke. Mutter und Tochter laſen nur in der Bibel, in Andachtsbüchern, oder in andern Bü¬10 chern, die ihnen vom Paſtor an der Stephans-Kirche zugeſtellt wurden. Der Paſtor an derſelben war näm¬ lich ein Erzpietiſt, der predigte nichts weiter als vom Heiland und machte den Leuten Himmel und Hölle heiß. Klärchen aber, als ſie merkte, wo hinaus ihre Muhme jetzt wollte, ſchnitt das Geſpräch ab und gab gütlich nach. Sie wollte es doch mit Gretchen ebenſo wenig als mit Tante Rieke verderben, und beide hin¬ gen aneinander wie die Kletten. Klärchen dachte hoch¬ müthig: Ein jeder ſehe wie er's treibe, und: Eines ſchickt ſich nicht für Alle. Gretchen iſt nun mal ein haus¬ backenes Mädchen; ſie mag ſich drum gern ihre Hem¬ den ſelber ſpinnen, dunkelblaue Strümpfe, hohe lederne Schnürſchuhe und waſchlederne Handſchuh tragen, ſie macht auch keine Anſprüche für die Zukunft und ge¬ hört ſo recht in den Handwerkerſtand hinein. Dagegen Klärchen? Sie ſeufzt, ihr Herz ſchlägt gewal¬ tig, was wird aus ihr wohl werden? jedenfalls etwas ganz Beſonderes. O ſüße Zukunft: lachende Kleider, lachende Geſichter, Liebe, Luſt und Wonne! Jetzt zog ſie zur Frau Generalin: Da kam ſie in feine Kreiſe, vornehme Perſonen gehen aus und ein, es iſt ſo manches in der Welt paſſirt, es kann auch paſſiren, daß ſie ihr Glück macht. Es kann? nein, es muß, es wird, ſie hat eine ſelige Ahnung davon in ihrem Herzen. Die nächſte Seligkeit, die zu erringen, iſt ein ſeidenes Kleid, eine Broſche, ein unächter Shawl und ein Eammethut dann aber kann es ihr ganz ge¬ wiß nicht fehlen; dann kommen die wunderbaren Be¬ gebenheiten! Und ſie, die einem ſolchen Geſchicke ent¬ gegen geht, ſollte ſich mit ſtopfen und ſticken abgeben?11 ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene Gretchen nicht. Aber Gretchen iſt nicht nur haus¬ backen, ſie iſt auch ungebildet, denn ſie glaubt an einen Herrn und Heiland, und ſagt, ſie könne keine Stunde ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den Heiland nicht nöthig, ſie wüßte wahrlich in aller Welt nicht, wozu ſie ihn nöthig hätte. Die Tante Rieke ſagt zwar, er müßte uns von unſerer Sünde erlöſen, und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüſten, in Unverſtand und wie ſie weiter ſagt; aber das konnte Klärchen nicht faſſen, ſie wußte nichts von Sünde, von Nacht und Dunkelheit und gar von Unverſtand. Eine Chriſtin wollte ſie auch ſein; ſie hatte, was nöthig war, gelernt, aber wozu, das ſah ſie noch nicht ein, es hatte ſich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch da¬ von zu machen. Nur vom Einfachſten und Verſtänd¬ lichſten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war das ſiebente für ſie da: Du ſollſt nicht ſtehlen? Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: Du ſollſt nicht andere Götter haben neben mir? Sie war doch keine Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder: Du ſollſt Vater und Mutter ehren? Ei, ſie that mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht ſo zu ſagen quälte ſie ſich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, ſie hatte gar Nichts an ſich auszuſetzen; um ſie herum war Alles licht und helle und ſie brauchte keinen Er¬ löſer. An den lieben Gott glaubte ſie wohl, ſie ver¬ ließ ſich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schickſal leiten und lenken könne, das verlangte ſie gar nicht, ſie wollte das allein thun; ſie war ſchön und jung und klug und gebildet, ihr Glück verſtand ſich von12 ſelbſt. Nur zuweilen kam es wie Furcht über ſie. Vor nicht langer Zeit waren die ſchwarzen Pocken in ihrer Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, ſie ließ ſich aber ſchnell impfen und meinte nun wieder ruhig ſein zu können. Als bald darauf die Cholera kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte, da ging das Bangen wieder an. So gut wie die ſterben, kannſt Du auch ſterben, das ſah ſie ein, und ſterben war ein ſchrecklicher Gedanke. Was wird dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte ſolche Worte nicht gern, ſie ward bänger und bänger, und war doch wieder wie gebannt zu lauſchen. Sie konnt' es nicht faſſen, daß die Tante und Gretchen ſo ruhig waren und vom Tode redeten als von gar nichts Fürchterlichem; denn wenn ſie des Nachts auf¬ wachte und ſo allein mit ihren Gedanken war, da befiel ſie oft eine Angſt, daß ihre Glieder bebten. Ob du wohl ſterben mußt? dachte ſie. Und was dann? Aber Gott ſei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben wieder roſenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod und Gericht, und wenn die Tante jetzt von ſolchen Dingen redete, da hörte ſie mit offenen Ohren nicht, ſie ſenkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken gingen mit ihren tollſten Fantaſien durch.

Als ſie heut das Stübchen ihrer Mutter verlaſſen, ging ſie einige Häuſer weiter um eine Freundin abzuholen. Sie klopfte an ein niedriges Fenſter parterre. Der Brief¬ träger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung da¬ zu. Als er Klärchen ſah, machte er das Fenſter auf.

13

Nun Ihr Jüngferchens wieder ſchwitiſiren? ſagte er ſpaßend.

Ei ja, iſt man doch nur einmal jung! entgegnete Klärchen luſtig.

Ja ihr Schelme! verſetzte Vogler, ich wollte auch, ich wäre noch jung.

Ach, Sie ſind ein Mann in Ihren beſten Jahren, ſagte Klärchen ſchmeichelnd.

Ich denke es auch manchmal; aber wenn ich denn meine Alte anſehe, wird mir ſchwarz vor den Augen, lachte Vogler und ſah nach ſeiner Frau, die ihm gegenüber blaß und elend im Lehnſtuhl ſaß.

Wenn ich todt bin, heiratheſt Du wieder, entgeg¬ nete dieſe bitter und holte dann ſchwerfällig Athem.

Und ſo lange Du lebſt, laſſe ich Dich keifen, fügte Vogler wieder ſcherzend hinzu.

Wie ungebildet ſind dieſe Leute, dachte Klärchen; wie kann ein Mann die Frau ſo roh behandeln! So aber hat es der Vater mit der Mutter auch gemacht. Aber ich, ich werde es einſt anders haben, ich nehme mir einen vornehmen Mann, und nun hinaus in den lachenden Kaffeegarten!

Auguſte Vogler hatte ſich während der Zeit fertig gemacht und ging nun etwas ſchwerfällig neben der leichtfüßigen Freundin her. Auguſte war weder ſchön, noch klug, noch fein; ſie hatte das plumpe rothe Ge¬ ſicht ihres Vaters, grobe Manieren und ſprach dabei unglaublich albern. Aber das war gerade eine Freun¬ din für Klärchen. Sie war fügſam und folgſam, durchſchaute nicht ihre Intriguen, war ganz zufrieden14 mit der Nebenrolle, und hatte dabei immer als ver¬ zogenes Kind ihres Vaters die Börſe voll Geld.

Beide Mädchen verließen die Stadt und gingen auf der Chauſſee entlang dem Orte ihres Vergnügens zu. Klärchen bemerkte, daß ſie ein Gegenſtand der Aufmerkſamkeit für Vorübergehende war: aber die Leute waren ihr noch nicht die rechten, es waren mei¬ ſtens Geſellen, oder Soldaten, oder höchſtens ein Hand¬ lungsdiener; ſie gedachte höher hinaus. Bald kam ihnen eine Reihe Studenten entgegen, mitten darunter eine orangegelbe Mütze. Das war der rechte; ſie nahm ihr ganzes Weſen zuſammen und erwiederte den Gruß mit vieler Holdſeligkeit. Auguſte machte bald die Entdeckung, daß die Studenten umgekehrt waren und ihnen auf dem Fuße folgten. Klärchen zweifelte nicht, daß es um ihretwillen war, und Auguſte gönnte der Freundin den Triumph; ſie war zufrieden, an der au¬ genblicklichen Luſt theilnehmen zu können; feine Pläne für die Zukunft machte ſie nicht. Nach einigen Minu¬ ten kam ihnen wieder ein junger Mann entgegen, der ſie grüßte, aber ſehr beſcheidentlich mit nur halb hinge¬ wandten Augen. Wer war das nur? fragte Klärchen.

Ei das war ja Fritze Buchſtein, der iſt ſeit vor¬ geſtern aus der Fremde zurück, den mußt Du doch kennen, er wohnt ja neben Tante Rieke.

Daß es ein Geſelle war, ſah ich an ſeinen gro¬ ßen rothen Händen, lachte Klärchen, ſonſt iſt's aber ein hübſcher Menſch.

Aber in die Stephans-Kirche zu dem Pietiſten geht er auch, ich habe ihn ſelbſt heute Morgen her¬ auskommen ſehen.

15

Na, Tante Rieke, freue Dich! ſagte Klärchen, das paßt ja wie die Butter aufs Brod, der nimmt die Grete, das iſt klipp und klar. Eine Angſt hatten ſie immer, er möchte auf der Wanderſchaft ſeinem Glau¬ ben untreu werden, und wenn er dann einen ſalbungs¬ vollen Brief geſchrieben, kam der alte Buchſtein mit der großen Brille und er wurde gemeinſchaftlich mit Thränen und Seufzen genoſſen. Nun, ich gönne ihr den Burſchen, obgleich er eigentlich zu hübſch für die Grete iſt; die müßte ſo was Kurzes, Handfeſtes haben, denn Schönheit hält ſie mehr für ein Uebel als ein Glück, nota bene weil ſie ſelber nicht ſchön iſt.

Die Mädchen traten jetzt in den Garten. An ei¬ nem Tiſch fanden ſie ſchon eine Bekannte, eine von den beſcheidenen Putzmacherinnen, die in die Häuſer der Damen gehen und Hüte und Hauben in Ordnung bringen, und ſie ſetzten ſich zu ihr. Die Studen¬ ten nahmen einen Tiſch ganz in ihrer Nähe, wurden beim bairiſchen Bier bald ſehr laut, und begannen Blicke und Späße herüber zu ſenden. Doch der Oran¬ gegelbe blieb nicht dabei, er machte es ſich bequemer und ſiedelte ganz und gar zu den Mädchen über. Klärchen wunderte ſich nicht darüber, ſie hatte ſchon längſt mit ihm auf der Straße koquettirt, ſie wußte auch, daß er in einem Hauſe mit der Frau Generalin, ihrer künftigen Herrin, wohnte, und er war eigentlich die heimliche Veranlaſſung zu ihrem Entſchluſſe, ſich zu vermiethen, geweſen. Er war ein Mediziner und dazu ein Student von Bedeutung. Er hatte gute Wechſel, hielt ſich einen großen Neufundländer Hund, ritt ſpaziren, oder fuhr auch ſeine Freunde in einem16 Zweiſpänner. Er war Senior ſeiner Verbindung und überall zu finden, wo es luſtig herging, oder wo Spek¬ takel war. Seine Geſtalt war groß und klobig, ſein gelbes Haar hing ſchlicht an dem rothen Geſicht her¬ unter, das breit und platt einen gewaltig rohen Aus¬ druck hatte. So wie ſeine Geſtalt war auch ſein Weſen und waren ſeine Reden. Er ſaß jetzt den Mädchen gegenüber; beide Ellenbogen auf den Tiſch geſtützt, die blauen Dampfwolken aus ſeiner Cigarre blaſend, machte er höchſt unmanierliche Späße. Klär¬ chen fand das nicht roh, nein, weil er reich und aus angeſehener Familie war (ſein Vater war Präſident), fand ſie es nur pikant, und hielt ſich nicht für zu gut, ihn zu amüſiren. Sie ward immer lebendiger und liebenswürdiger, und es war unverkennbar, daß ihre Schönheit auf ihn Eindruck machte, und ſie in ſeinen Augen höher ſtieg, denn er nahm die Ellenbogen von dem Tiſch und nahm ſich in Wort und Weſen mehr zuſammen. Für Klärchen war das ein neuer Triumph und die beiden Freundinnen bemerkten es mit Ver¬ wunderung. Die Putzmacherin kannte den Studenten längſt, ſie ging bei der Generalin aus und ein, und das war Gelegenheit genug, um eine Studenten-Be¬ kanntſchaft zu machen. Sie hätte ihm ihr leichtſinni¬ ges Herz gern ſelbſt zu Füßen gelegt und beneidete jetzt die Gefährtin um dieſe bedeutende Eroberung, und Klärchen ward immer ſtolzer und glücklicher. Nur eines ſtörte ſie. Ihr gerade gegenüber in einer einſa¬ men Laube ſaß Fritz Buchſtein. Ja, unbegreiflicher Weiſe war er auch umgekehrt und ihnen in den Kaffee¬ garten gefolgt. Ob das wohl um ihretwillen war? 17Sie erinnerte ſich aus ihrer Jugend, daß, wenn ſie mit Greten in ſeine Tiſchlerwerkſtatt kam, um Spiel¬ ſachen zurecht zu leimen, er immer die ihrigen zuerſt gemacht hatte und Grete oft darüber böſe geweſen war. Alſo: damals hatte er ſie bevorzugt, heute war er erſtaunt über ihre Schönheit, ſo kalkulirte ſie, und war ihr hierher gefolgt. Obgleich ihre Eitel¬ keit nicht ganz ungerührt von dieſem Gedankengange blieb, ſo war ihr diesmal die Eroberung doch unan¬ genehm. Erſtens war er nicht der Aufmerkſamkeit werth, und ihr Herz würde ſich nie zu einem ſo ge¬ wöhnlichen Menſchen herablaſſen; und dann fürchtete ſie, wenn er einmal ihren Schritten folgte, er möchte den Spion ſpielen und die Tante Rieke davon benach¬ richtigen. Sie hatte ſich ſo viel als möglich ſo ge¬ ſetzt, daß er ihr nicht in das Geſicht ſehen konnte: aber wenn ſie unwillkürlich hinſah, begegnete ſie jedes¬ mal demſelben bekümmerten und theilnehmenden Blicke, der ihr wie ein Stich durch das Herz ging.

Es iſt unausſtehlich! rief ſie endlich und wandte ſich heftig nach der anderen Seite. Der Student und die Freundinnen ſahen ſie verwundert an, und ſie er¬ klärte die Urſache ihres Aergers.

Der Mediziner lachte. Er fand es von dem Bur¬ ſchen ganz natürlich, einem hübſchen Mädchen in das Geſicht ſehen zu wollen, pflanzte aber darauf ſeine breite Geſtalt ſo dazwiſchen, daß Klärchen vor den läſtigen Blicken ſicher war; und kurze Zeit darauf be¬ merke Auguſte, daß Fritz fortgegangen war. Jetzt fühlte ſich Klärchen freier, und das Vergnügen ward immer lebhafter. Die Tanzmuſik lockte, Alle gingen218in den Saal, um in dem wilden Getümmel ſich zu erhitzen und zu betäuben.

Fritz Buchſtein hatte auf ſeinem Spaziergange in dem ſchönen Mädchen das kleine Klärchen Krauter wie¬ der erkannt, und die ſchönſten und ſüßeſten Jugender¬ innerungen gingen an ſeiner Seele vorüber. Jetzt noch dachte er mit inniger Bewegung daran, wie ſie da¬ mals zu ihm in die Werkſtatt kam, um irgend eine Kleinigkeit machen zu laſſen, und wie es ihm, dem achtzehnjährigen Jüngling, ganz wunderbar ward, wenn er dem zwölfjährigen Mädchen in die dunkelblauen Au¬ gen ſah. Er wollte es ſich ſelbſt nicht geſtehen, aber es war ſeine erſte Jugendliebe. Ihr Bild begleitete ihn auf der Wanderſchaft, er ſchloß ſie in ſein Abend - und Morgengebet: der Herr möchte dies Blümlein ſchön und rein bewahren, es behüten vor dem Schmutze der Welt. Ob dies Blümlein einſt für ihn blühen werde? das ſtand in Gottes Hand. Sein Herz war geſund, er hatte auch nicht Romane geleſen und hing nicht mit kränklicher Sehnſucht an ſeiner Liebe; friſch und fröhlich ging er durch die ſchöne Gottes-Welt, er ſah Berge und Thäler und Flüſſe und Fluren, manch große Stadt, manch lieblich Dörflein, ſchöne Kirchen und Schlöſſer und Burgen, ſchöne Bilder und Kunſt¬ werke, und Alles nahm er mit Aufmerkſamkeit in ſich auf. Das war eine ſchöne Wanderung, die nicht getrübt wurde durch ungeſunde Glieder, durch ein bö¬ ſes Gewiſſen, durch Armuth und Noth. Er hatte das Gelübde gethan, nie einen Schluck Brantwein19 zu trinken, hatte es mit Gottes Gnade und der Liebe ſeines Heilandes gehalten. Das bewahrte ihn vor manchem Elend und manchem Unheil des Wanderle¬ bens. Es führte ihn nie dahin, wo wilde Gelage und Raufereien waren, er ſuchte nie ſeine Freunde unter dergleichen Geſellen; ſo blieb er an Leib und Seele rein, hatte auch immer Geld im Beutel, denn weil er ein braver Geſelle war, fand er auch immer gute Meiſter. Und auch Freunde fand er, die mit ihm dieſelbe Straße zogen, die mit ihm den Herrn lieb hatten; ſelten verließ er eine Stadt, daß er nicht mit Wehmuth darauf zurück ſah, weil er Freunde für ſein Herz und ſeine Fürbitte darin gewonnen. Und kam er zu Leuten, die ihn nicht verſtanden, die ſei¬ ner ſpotteten, ihn zu verführen ſuchten, ſo waren auch das heilſame Tage für ihn, Tage des Kummers und der Prüfung, in denen er noch mehr die Nähe des Tröſters, ſeine Liebe und Gnade fühlte. So ward ſeine Seele immer feſter, ſeine Erfahrung im¬ mer reicher, ſeine Hände immer geſchickter. Und wie war es mit ſeinem Herzen? Das durfte ſich auch zu¬ weilen regen. Wenn er an einem ſchönen Sommer¬ abend auf der Höhe am Rand des Waldes ſaß, die Sonne legte ihr Gold über die Gegend hin, Duft zog über Städte und Dörfer, die Abendluft wehte weich in den Zweigen und in den Blumen rund um, am Grasrain dort zog der Schäfer langſam mit der Heerde, und die Schwalben hoch oben am lichtblauen Himmel: da ward es ihm ſo wunderbar ſehnſuchts¬ voll zu Sinne, und durch Abendgold und Duft und Schönheit und Stille ſchauten ihn die dunkelblauen2 *20Augen des kleinen Mädchens aus der Heimath an. So hatte er noch ganz kürzlich vor einer Höhe am Thüringer Walde geſeſſen; jetzt war er ja ſeiner Hei¬ math ſo nahe, jetzt war aus dem Jüngling ein Mann geworden und er durfte an eine Geſtaltung ſeiner Zu¬ kunft denken. Sein Vater war alt, ſeit vergangenem Winter plagte ihn dazu ein Bruſtübel, er konnte dem Handwerk nicht mehr vorſtehen, es fehlte an allen Enden, und Fritz mußte des Vaters dringenden Auf¬ forderungen zur Rückkehr folgen. Er that es auch gern, er war nun 25 Jahr alt, nach dem langen Umherwandern und heimathloſen Leben ſollte es ihm zu Hauſe wohl behagen. Er ſollte nun Meiſter wer¬ den und dem Haus, dem Acker und der Kundſchaft allein vorſtehen. Dazu gehörte auch nothwendig eine Hausfrau, und der Gedanke war es, der ihm be¬ ſonders an das Herz ging. Und als er ſich dieſe Haus¬ frau dachte, ſo war ſie ſchlank, mit lichtbraunem Haar und dunkelblauen Augen. Mit ſo ſchönen Ahnungen verließ er den Thüringer Wald und wanderte einige Tage ſpäter durch die Thore ſeiner Vaterſtadt. Es war ſpät des Sonnabends Abends; ſein Vater ſaß ſchwach und krank im Lehnſtuhl, aber Dank - und Freu¬ denthränen glänzten in ſeinen Augen, als der Sohn nach ſo langer Abweſenheit wieder in die Thür trat, und Fritz mußte ihm am ſelbigen Abend noch das Buch Hiob und den 136. Pſalm vorleſen.

Der alte Vater war trotz der Bruſtſchwäche ſehr geſprächig, und in ſeiner Geſprächigkeit konnte er es nicht laſſen, von ſeiner und der Frau Bendler liebſten Hoffnung zu reden, nämlich daß Gretchen möchte hier21 im Haus Frau Meiſterin werden. Frau Bendler hatte Gretchen ganz und gar adoptirt, und mit Aus¬ nahme einiger Legate ſollte ſie einſt ihre alleinige Er¬ bin ſein.

Fritz ward es gar eng um das Herz als er das hörte, und hatte er ſchon vorher wenig Muth gehabt, nach Klärchen Krauter zu fragen, ſo wagte er es jetzt gar nicht. Am Sonntag nun ſollte er hin¬ über zur Frau Nachbarin gehen, aber er bat den Va¬ ter, gar nicht von der Sache zu reden, da er nicht wiſſe, wie er dem Gretchen gefallen möchte. Der Vater ſchmunzelte. Das ſei nicht gefährlich, meinte er, Gretchen habe bei ſeinen Briefen die ſchönſten Thränen geweint. Fritz ſchmunzelte nicht, ſein Herz ward immer ſchwerer; denn wenn Gretchen auch ein braves Mädchen war, ſo hatte ſie doch nicht dunkel¬ blaue Augen, war nicht ſeine Jugendliebe, und hatte ihn nicht auf ſeiner ganzen Wanderſchaft begleitet. Als er am Sonntag Morgen aus der Kirche kam und unter den Kirchgängern Frau Bendler in Begleitung einer jugendlichen Geſtalt erkannte, konnte er ſie un¬ möglich anreden; er ſchlich ſich von der Seite, er hatte dem Vater auch nur verſprochen, gegen Abend ſeine Bekanntſchaft drüben zu erneuern. Am Nachmittag aber trieb ihn ſeine Unruhe und Sehnſucht vor Klär¬ chens Fenſter vorüber. Er konnte ſie nicht entdecken, nur ihre Mutter ſaß am Fenſter, und zum Glück ſchaute ſie nicht auf, ſonſt hätte ſie wohl ſeine Ge¬ danken auf ſeiner Stirn leſen müſſen. Er ging zum Thore hinaus, und kehrte, nachdem er eine Strecke auf der Chauſſee entlang gegangen war, wieder um. Da22 kam ihm die Erſehnte wirklich entgegen. Es war ja noch daſſelbe Kindergeſicht, nur die Geſtalt war auf¬ geſchoſſen und hatte ſich jungfräulich entfaltet. Er grüßte ſie und ſein Herz ſchlug vor Glück, aber nur wenige Augenblicke. Er ſah die Schaar Studenten hinter ihr umkehren, er hörte ihre Witze und ſah ſie den Mädchen nachfolgen. Es würde ihm nie einge¬ fallen ſein, ebenfalls umzukehren; aber Spannung und Zorn trieben ihn. Im Nothfall wollte er die Mäd¬ chen ſchützen, er ahnete nicht, daß ſie durch das Nach¬ folgen der Studenten mehr erfreut als geängſtigt wür¬ den. Doch bald ſollte er ſich von der Wahrheit über¬ zeugen. Er ſaß ihnen gegenüber und beobachtete der Mädchen leichtfertiges Spiel. Klärchen ſpielte die Hauptrolle dabei, bis ſie ihn endlich durch ihre ver¬ ächtlichen und erzürnten Blicke forttrieb. Mit welchen Gefühlen ging er nun nach Hauſe! Das Geſchehene zerſtörte zu hart ſeines Herzens Pläne. Die Freude an der Heimath, an der Meiſterſchaft, an Haus und Hof war zertrümmert; er hätte am liebſten den Wan¬ derſtab wieder in die Hand genommen. In dieſer Stimmung konnte er unmöglich zu Frau Bendler ge¬ hen, nicht einmal in die Stube zum Vater; er ging leiſe an dem Dienſtmädchen, die feiernd in der Haus¬ thür ſaß, vorüber nach dem Garten und ſetzte ſich in die Weinlaube an der Scheunenwand. Der Nachbars¬ garten, der nur durch ein Stacket getrennt, war leer. Das war ihm gerade recht, und ungeſtört konnte er ſeinen Gedanken nachhängen. Wie war die Welt heut ganz anders als geſtern! Die verwilderten Roſen und Goldveiglein hatten ihn geſtern ſo traulich und heim¬23 lich angeſehen, er hatte dabei gedacht: wenn erſt Frauenhände hier walten, werdet ihr noch ſchöner blü¬ hen. Die düſtere Weinlaube erſchien ihm gar nicht düſter, er dachte: bald wirſt du nicht mehr allein hier ſitzen. Heut war ihm Alles wüſt und leer, und es lag ihm auch gar nichts daran, daß es anders ſei. Er ſchaute durch die Weinranken hindurch zum blauen Himmel hinauf. Lieber himmliſcher Vater, es wird ja wieder anders werden; jetzt aber erſcheint das Kreuz meinem jungen Herzen ſchwer, und nun bitte ich Dich doch wieder und immer wieder: erlöſe ſie vom Uebel; wenn ich ſie auch für mich aufgeben muß, laß Du ſie nicht. Aufgeben? ja das iſt wohl ſchwer, und daß es ihm ſo ſchwer ward, ward ihm auch zum Troſt, denn wenn es ſeinem ſchwachen, menſchlichen Herzen ſo ſchwer ward, mußte es ja dem Erlöſer droben noch ſchwerer werden, eine geliebte Seele auf¬ zugeben; und je tiefer er in den blauen Himmel ſchaute, je zuverſichtlicher warb es ihm, und ſein Schmerz lö¬ ſete ſich in feuchten Augen auf. Da hörte er plötz¬ lich eine Stimme im Nachbarsgarten ſingen; hell und lieblich, und doch weich und wehmüthig dran¬ gen die Töne, und ganz deutlich die Worte zu ihm herüber:

Will ich nicht, ſo muß ich weinen,
Wenn ich mir es recht betracht,
Weil verlaſſen mich die Meinen,
G'nommen eine gute Nacht.
Ach, wo iſt mein Vater und Mutter?
Ach, ſie liegen ſchon im Grab.
Ach, wo ſind mein 'Brüder und Schweſtern?
Keinen Freund ich nirgends hab.
24
O, mein allerliebſter Jeſu,
Schau mich armes Waislein an,
Du biſt ja mein liebſter Vater,
Sonſt mir Niemand helfen kann.
Weil mein 'Eltern ſein geſtorben,
Leben nicht auf dieſer Welt,
So hab ich Dich, liebſter Jeſu,
Für mein'n Vater auserwählt.

Fritz lugte durch die Weinblätter hindurch und ſah drüben auf dem alten ſchrägen Birnbaum Gretchen ſitzen. Es war ihm, als ob er nur geträumt hätte von Wandern und Fortſein, als ob er wieder acht¬ zehn Jahr, und Gretchen ein Kind ſei. Damals war der alte Birnbaum den lieben Sommer über faſt Ihr alleiniger Wohnſitz. Des Nachmittags ging ſie mit dem Strickzeug hinauf, und jedesmal wenn ſie eine Tour herum geſtrickt, rief ſie es dem alten Benjamin zu. Benjamin aber war ein Flickſchuſter, der ſchon faſt dreißig Jahr bei Buchſteins im Hinterhäuschen über der Werkſtatt wohnte. Er war der Kinderfreund der Nachbarſchaft, und Gretchen war ſein beſonderer Liebling. Für ſie war ihm keine Mühe zu groß, und jedesmal, wenn ſie ihm die Tour zurief, machte er einen Kreideſtrich auf eine ſchwarze Tafel, und immer zählte er, wie viel noch fehlten an der Zahl; und wenn es ſo weit war, rief er: nun Gretchen mach Schicht! Gretchen wand ſich dann an einem Bindfaden ein Körbchen mit dem Vesperbrod in die Höhe und meinte, da oben ſtricke und eſſe es ſich beſſer. Benjamin legte auch den Pfriemen für ein Weilchen aus der Hand, ſchaute zum Fenſter hinaus, ſein Staarmatz ſchnarrte Gretchen, ſo recht, ſo recht, und ſein Dom¬25 pfaffe ſang Lobe den Herrn o meine Seele . Wenn dann Gretchens Kinderſtimme einfiel, ſagte Benjamin: Gretchen, ſo recht, und der Staarmatz ſchnarrte: Gretchen, ſo recht.

Auch jetzt ſah Benjamins weißer Kopf zum Fen¬ ſter hinaus; der Staarmatz aber rief: Jungfer Gret¬ chen, und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch andere Zeiten ſeien.

Ei Gretchen, ſagte Benjamin, Du ſingſt einem heut ordentlich das Herze weich; was iſt Dir denn?

Wenn ich wußte, daß Du heim warſt, hätte ich nicht geſungen, ſagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herü¬ ber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß nicht recht, was ich ſo mutterſeelen allein mit dem Sonntag-Nachmittag beginnen ſoll.

Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die einige Krankenbeſuche machen wollte, als ſie Nachmittags aus der Kirche kamen, allein nach Hauſe geſchickt; und weil ſich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwand¬ ten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, ſo war ihr das zu Hauſe bleiben gar nicht recht. In der Stube war es ihr einſam, ſie nahm mancherlei in die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, nichts be¬ hagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer wer¬ den, und ſie begriff nicht, warum ſie ſo unruhig war. Sollte es ſein, weil Fritz Buchſtein ſich zum Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem Gedanken. Warum aber ſollte ſie ſich freuen ihn wie¬ der zu ſehen? ſie war wenigſtens begierig zu ſehen26 was aus ihm geworden, und ob er ſo ausſähe wie ſie ſich ihn nach ſeinen Briefen gedacht. Sie ging in den Garten. Bei Buchſteins war alles ſtill, und un¬ geſtört ging ſie in dem geraden Stachelbeerwege auf und ab. Hinter den Büſchen hatte ſie als Kind mit Luischen Buchſtein und anderen Freundinnen Schaf und Wolf geſpielt; Luischen Buchſtein war todt, die anderen Freundinnen zerſtreut, und ſie mußte zum Sonn¬ tag-Nachmittag ſo allein hier wandeln. Auf der Bank unter dem alten Birnenbaume hatte ſie auch oft ver¬ gnügt geſeſſen, noch lieber aber oben auf dem Baum: da konnte ſie doch ein Bischen weiter in die Welt ſchauen, in die Nachbarsgärten, einem Böttcher auf den Hof, dem Benjamin in die Stube. Nach der andern Seite hin war der Garten zwar durch eine hohe Mauer begränzt, aber ſie ſah doch die blühen¬ den Flieder - und Goldregen-Wipfel, auch zuwei¬ len die weiße Spitzenhaube der Frau Stadträthin und die bebänderten Strohhüte der Fräulein. Gret¬ chen konnte nicht widerſtehen; ſie ſtieg auf den Baum. Heut war aber gar nichts zu ſehen, an den Gold¬ regen hing trockner Samen, die Fliederbüſche ſa¬ hen dunkel und glanzlos aus, weder Haube noch Strohhüte ließen ſich ſehen, Stadtraths waren in ein Bad und die Fräulein längſt verheirathet. In den anderen Nachbarsgärten war es auch ſtill, nicht ein¬ mal Benjamin war am Fenſter. Da ward es dem Gretchen immer enger um das Herz, immer ſehnſüch¬ tiger ſchaute ſie zum Himmel hinauf. So iſts. Wenn der Herr uns die Welt einſam und öde macht, ſo zieht er uns deſto mächtiger zum Himmel hinauf. Und27 der Himmel war heute ſo licht, die Wolken daran von der ſinkenden Sonne mit Gold umſäumt. Gret¬ chen ſchaute, wie ſie über den dunkelen Dächern am blauen Himmel langſam hinzogen und im Ziehen Ge¬ ſtalt und Farbe wechſelten. Da zog ein Schwan, bald eine Roſe, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar eines Engels Angeſicht. Sie dachte an ihre Eltern, an ihre Brüderlein, deren ſie ſich noch ganz leiſe aus früheſter Jugend erinnern konnte, und mit ſehnſuchts¬ vollem Herzen ſang ſie das Lied, das Benjamin an das Fenſter lockte.

Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herun¬ ter, ſchwang ſich unten an der Scheuer und am al¬ ten Hollunderſtamm noch ganz rüſtig über das Stacket, und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz aus der Laube, er wollte nicht ſchuldiger Weiſe den Horcher ſpielen. Gretchen erſchrak, denn er hatte ſie ja auf dem Baume geſehen und hatte ſie ſingen hören; er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stak¬ tet hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blon¬ den Haar, den Sommerflecken, den runden braunen Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht groß nicht klein, nicht ſchlank nicht ſtark, und ſtand mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenſtrich gar ſittig vor ihm. Er ſprach einige verlegene Worte des Willkommens, ſie merkte ſeine Verlegenheit nicht, ſie hörte kaum, was er ſagte, ſo gewaltig ſchlug ihr Herz, aber einſam kam ihr die Welt nicht mehr vor; und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe, nickte ſie ein freundliches Ja und machte einen höfli¬ chen Knix.

28

Aber nicht den Weg, den ich gekommen bin, ſcherzte Benjamin; jungen Burſchen muß man ſolche Schliche nicht zeigen. Du gehſt in die Hausthür, wie es ſich gehört.

Fritz hatte gar nicht daran gedacht; denn wenn er auch ganz ſtattlich in der ſchwarzſeidenen Weſte, dem ſeidenen Halstuch und dem Sonntagsrock ausſah, ſo hatte er doch die Mütze und die Handſchuh im Hauſe liegen, und überhaupt mußte der erſte Beſuch etwas feierlich gemacht werden. Er kam aber nicht ſo bald als Gretchen gehofft hatte; ſie hatte ſchon einen gro¬ ßen Theil der Bilderbibel mit Benjamin durchgeſehen, als es an der Hausthür klopfte. Sie ging zu öffnen und fand außer Fritz auch noch die Mutter vor der Thür. Dieſe war beiden jungen Leuten ſehr erwünſcht. Gretchen hätte gar nicht gewußt wie ſie als Wirthin thun ſollte, und Fritz mochte mit ſeinem ſchweren Her¬ zen dem Gretchen am wenigſten allein gegenüber ſein. Frau Bendler übernahm nun das Sprecheramt, aber auch das Frageamt, und Fritz mußte wohl oder übel geſprächig werden. Daß es ihm ſchwer ward, merkte Frau Bendler nicht, wohl aber Gretchen. Der tiefe Ausdruck der Trauer, der ihm zuweilen unbewußt über die Züge glitt, ging ihr wie ein Schwert durch das Herz. Was mag er nur haben? iſt er traurig, wie¬ der daheim zu ſein? zieht es ihn zurück in die Ferne? Wenn er nur nicht unglücklich iſt! dachte ſie bange, und wie mag es zugehen, da doch ſein letzter Brief ſo fröhlich war? Als ſie ſpät am Abend allein in ihrem Käm¬ merlein war, ſchaute ſie hinauf zu den Sternen mit gefalteten Händen; hinein in ihr Abendgebet miſchte29 ſich Fritzens trauriges Geſicht, und ſie empfahl es Dem, der da Freud und Leid auf die Herzen der Menſchen legt.

Die Frau Generalin von Trautſtein ſaß mit ei¬ ner jüngeren Dame in eifrigem Geſpräch.

Ich verſichere Sie, ſagte die jüngere, das Mäd¬ chen paſſt ganz beſonders für Sie, und ich kann ſie Ihnen mit vollem Herzen empfehlen. Seit zwei Jah¬ ren näht ſie mir alle Kinderſachen und ſie iſt wirklich die Liebe des ganzen Hauſes, immer freundlich, gefäl¬ lig, ſehr gewandt und fleißig, und aus einer ſehr rechtlichen Familie. Ihre Tante iſt die Frau Bendler, die dem Wöchnerinnenverein an der Spitze ſteht, eine außerordentlich geachtete Frau. Von der iſt Klärchen eigentlich erzogen, die hat ſie auch das Schneidern lehren laſſen, denn Klärchens Mutter iſt kränklich.

Warum will ſie ſich aber vermiethen? fragte die Generalin.

Um einmal unter andern Leuten zu ſein, war die Antwort. Ich finde es recht vernünftig. Die Mutter nämlich ſoll das Mädchen ſehr beherrſchen und ihr jeden Groſchen aus dem Beutel nehmen. Sie deutete es mir neulich mit Thränen an, daß ſie ſehr ſchlecht mit der Wäſche beſtellt ſei, weil ſie dazu kein Geld habe erübrigen können und nur immer froh geweſen ſei, der Kundſchaft wegen für das Aeußere zu ſorgen.

Das ſind eben meine Bedenken. Die Mutter ſoll unordentlich ſein und gern jeden Groſchen durch den Mund ſpediren; zweitens iſt das Mädchen zu30 jung und wird mir auch wahrſcheinlich zu hübſch ſein, entgegnete die Generalin.

Die Jüngere lachte. Gerade darum wünſche ich ſie Ihnen, weil ſie ſo liebreizend iſt. Bei jedem Un¬ wohlſein wird ſie Ihnen die angenehmſte Geſellſchaft ſein; ſie kann Ihnen vorleſen, denn ſie ſpricht ſehr hübſch; aber vor allen Dingen Sie müſſen ſie ſe¬ hen, theuerſte Frau!

Die Sprecherin war die Lieutenant von Reiſen, Klärchens beſondere Gönnerin. Sie ſuchte ihr jetzt den Dienſt bei der Generalin zu verſchaffen und hatte Klär¬ chen deßhalb hinbeſtellt; vorher aber bemühte ſie ſich ſie in das beſte Licht zu ſtellen. Es währte nicht lange, ſo wurde Klärchen gemeldet. Sehr nett ange¬ zogen, zugleich aber ſehr beſcheiden und anſpruchslos ſtand ſie vor den Damen. Die Generalin war wirk¬ lich erſtaunt über die Schönheit des Mädchens, aber die Anmuth in Worten und Weſen machte jedes Be¬ denken verſtummen und ſie ſchloß den Miethsvertrag. Vierzig Thaler Gehalt, ein Louisd'or zu Weihnach¬ ten, außerdem Geſchenke, das war für Klärchen ſehr erfreulich. Aber nicht allein das: der ganze Haus¬ halt der Frau Generalin entzückte ſie, ja ſo ſehr, daß der Mediziner faſt darüber vergeſſen ward. Die gro¬ ßen Zimmer, prächtigen Teppiche und Meubeln, Equi¬ page und Dienerſchaft, ſo etwas fand man nicht oft beiſammen. In dieſem Haus war ſie als Kammer¬ jungfer engagirt, ſo zu ſagen als Kammerjungfer, denn eigentlich redete ſie ſich vor ſollte ſie doch Ge¬ ſellſchafterin der Dame ſein, ſie ſollte ihr des Abends vorleſen und in traulichen Zirkeln den Thee ſerviren. 31Sie unterließ auch nicht, ihren Bekanntinnen die Sache ſo vorzuſtellen. Als ſie zu Tante Rieke kam, machte die ein ernſthaftes Geſicht. Du haſt nun meinen Wunſch erfüllt und Dich vermiethet, ſagte ſie, der Herr mag Dir Kraft zu Deinem neuen Berufe geben, den Du Dir nicht zu leicht denken mußt. Klärchen, die voll der ſchönſten Hoffnungen und ſehr guter Laune war, verſprach alles Mögliche, und die Tante war zu gutmüthig, um das nicht glauben zu müſſen. Auf die Fragen über den Zuſtand ihrer Wäſche, hatte ſie geſchickte Antworten; ſie hätte unmöglich die Wahr¬ heit ſagen können, und ihre Angſt war ſchon längſt geweſen, die Tante möchte ſich einmal ſelbſt davon überzeugen wollen. Für das Nöthigſte ſei geſorgt, ſagte ſie, und ſie freue ſich, von dem ſchönen Lohn ganz beſonders Wäſche anzuſchaffen. Die Mutter muß ſich einſchränken lernen, fügte ſie hinzu: Du weißt, wenn ich Geld hatte, konnte ich es als Tochter nicht abſchlagen; wenn ich keines habe, kann ich keines ge¬ ben: und bekomme ich mein Lohn, gebe ich ihr ein Theil, kann aber vom Uebrigen gleich ordentlich an¬ ſchaffen. Das klang vernünftig, und die Tante war damit einverſtanden. Gretchen ging vor die Schub¬ lade und holte ein halbes Dutzend leinene Taſchentü¬ cher und zwei Paar Strümpfe.

Das darf ich Dir ſchenken, ſagte ſie; zum Strik¬ ken haſt Du nicht viel Zeit gehabt, und die Taſchen¬ tücher ſind geſäumt und für Dich gezeichnet. Wenn Du zu uns kommſt, nimmſt Du nun aber auch die leinenen, ſcherzte Gretchen: Du weißt, wir können die baumwollenen nicht leiden.

32

Klärchen war gerührt von dieſer Güte. Du meinſt es doch wirklich gut! ſagte ſie herzlich.

Das kannſt Du glauben, entgegnete Gretchen treu¬ herzig, und beide Couſinen waren jetzt ſehr freundlich auf einander geſonnen.

Am Michaelis-Tage zog Klärchen an. In ihrer Stube ſtand eine Kommode und ein Kleiderſchrank, dahinein wurden ihre Sachen ſo weitläuftig als mög¬ lich geordnet. Einige Sommerkleider und dünne wol¬ lene Kleider, Mantillen, Mäntelchen, ein Friſuren - Unterrock in den Schrank; in die Kommode, außer der wenigen Wäſche, Bänder, Schleifen, Kragen, Hand¬ ſchuh, Taſchentücher; die ſechs leinenen Taſchentücher und zwei Paar ganzen Strümpfe von Gretchen bilde¬ ten den guten Grund dieſer leichten Geſellſchaft Au¬ ßerdem aber ſtellte ſie einige Blumentöpfe in das Fen¬ ſter, hing ein Porzelan-Bildchen an die Scheiben, ein anderes Bild unter den Spiegel und eine Blumen¬ vaſe auf die Kommode. Der Bediente hatte in die Stube geſehen und gegen die Köchin bemerkt: man ſähe dem Geſchmacke des Mädchens an, daß ſie von guter Erziehung und Bildung ſei; nur ſchlimm, daß das Stübchen im Nebenhaus, und der Mediziner ge¬ rade hineinſehen könne, da möcht 'es am Ende eine Liebelei im Hauſe geben. Die Köchin aber nahm Klärchens Partie. Ihre Küche lag gerade gegenüber im anderen Seitenhaus; ſie hatte geſehen wie Klär¬ chen das Rouleau niederließ, als der Mediziner mit der langen Pfeife aus dem Fenſter ſah. Klärchen aber hatte die Köchin geſehen und gedacht: Du mußt dich33 in Reſpekt ſetzen, und etwas Sprödigkeit gegen den Mediziner kann nicht ſchaden.

Es kamen nun für ſie unterhaltende Tage. Das Haus der Generalin war vielfach belebt, die verheira¬ thete Tochter mit den Kindern 4 Wochen dort, und dies gab Gelegenheit zu mancher Geſelligkeit. Außer¬ dem ward Klärchen in die eleganten Läden der Stadt geſchickt, um Beſorgungen zu machen, und das war ihr beſonders unterhaltend. Sie war bald mit allen Commis befreundet und hatte ihre leichte Commoden¬ geſellſchaft um manches bereichert. Freilich waren ihre wenigen Groſchen, die ſie in den Dienſt mitgebracht, auch ausgegeben, aber die Paar Groſchen lohnten kaum der Mühe zum Sparen. Daneben ward das Spiel mit dem Mediziner gar eifrig betrieben. Die Generalin hatte meiſtens nur Damenverkehr: von der Seite war alſo für ihre Zukunft nichts zu hoffen. Bald merkte ſie, der Mediziner war in Feuer und Flammen und ein recht demüthiger Liebhaber. Wenn ſie das Rouleau einen Tag nicht aufzog, ſang er die ſchwermüthigſten Lieder; oder wenn ſie ſonſt ſpröde ge¬ gen ihn war, nahmen ſeine rohen großen Züge einen gar ſanften Ausdruck an. Sie that das mit Wohl¬ bedacht, denn ehe er nicht in die rechte Höhe der Lei¬ denſchaft kam, würde er nicht Ernſt aus der Sache machen. Sie berechnete freilich nicht, daß ſie auch mit der Zeit warm wurde, und ein verliebtes Herz iſt ein ſchwaches Herz, und der Mediziner war nicht ohne Erfahrung, das zu wiſſen und zu merken.

So war Weihnachten herangekommen, der Beſuch der Generalin war abgereiſt und den unruhigen Ta¬334[gen waren] ruhige gefolgt; aber immer war Klärchen gleich aufmerkſam und liebenswürdig, und die Genera¬ lin verſicherte ihre Freundinnen, eine ausgezeichnete Kamm erjungfer zu haben, was ihr gern geglaubt wurde, da Klärchen ja gegen Jederman ſich liebens¬ würdig zeigte. Nur ſchien es, als ob ſie ſeit einiger Zeit etwas zerſtreuter wäre und oft nicht ganz unbe¬ fangen aus den Augen ſähe; doch tröſtete ſich die Generalin mit ihrer übertriebenen Angſt vor Liebesge¬ ſchichten und ließ ſich nichts merken, und Weihnachten ward Klärchen außerordentlich reich bedacht. Das war aber auch gut, denn Klärchen gebrauchte viel. Sie ſah ſo manches bei den vornehmen Damen, das ihr gefiel und das ſie haben mußte. So bemerkte ſie mit Erſtaunen, als ſie ihre Schulden überſchlug, daß vom Lohn und vom Louisdo'r kaum etwas für ihre Mutter übrig blieb. Sie tröſtete ſich aber bald. Al¬ ler Anfang iſt ſchwer, dachte ſie, für Wäſche wird ein andermal geſorgt; hatte ſie doch den unächten Shawl, die Broſche und den Sammethut ſich wirklich angeſchafft! Doch ſollte das alte Jahr nicht hingehen um ſie nicht ganz und gar von dieſen kleinlichen Sor¬ gen zu befreien. Als ſie am Sylveſterabend von einer Beſorgung in der Dämmerung zurückkam, ſah ſie eine wartende Geſtalt unten im Hausflur. Sie erkannte bald den Mediziner. Sie hatte hier öfters mit ihm flüch¬ tige Worte gewechſelt, ſeit einiger Zeit hatten ſie ſich nie allein gefunden, und auch heute waren Schritte auf der Treppe hörbar. Er kam eilig auf ſie zu, drückte ihr einen Brief in die Hand und eilte die Treppe voran. Klärchen konnte nicht ſchnell genug ihr Lämpchen anſtecken, um dies Dokument zu leſen,35 ein Dokument wie Millionen geſchrieben werden, um thörichte Mädchen zu täuſchen und noch thörichter zu machen. Nichts iſt lächerlicher als dieſe Art Liebes¬ briefe, einer iſt dem andern wie aus den Augen ge¬ ſchnitten. Die Schreiber finden in jedem Mädchen eine Göttin, einen Engel, ein höheres Weſen; die Empfängerin aber meint, das paſſe nur ganz allein auf ſie; ihre Bruſt hebt ſich ſtolzer, denn ſie iſt vor vielen Tauſenden beglückt. Ferner ſteht in den Brie¬ fen von heißer Liebe, von unerträglichen Qualen und ewigen Gefühlen. Das iſt Alles ſehr glaubwürdig, denn man iſt ja wirklich ſo liebenswerth, man müßte aber ein Herz von Stein haben, den Armen ſo leiden zu ſehen, man muß ihn wieder lieben. Schmerz oder Unglück kann ſich nie nahen, denn ſeine Gefühle ſind ewig, und ihr Glück wird auch ewig ſein. Daß dieſe Ewigkeit der Liebesbriefe ſelten über ein Jahr hinaus reicht, glaubt man nicht; man hat zwar ſchon oft davon reden hören, aber dieſe Verſicherungen, dieſe Schil¬ derungen müſſen Wahrheit ſein. So glaubte auch Klärchen, als ſie ihren Brief geleſen. Ihr Herz hüpfte vor Entzücken, durch ihre Klugheit hatte ſie es ſo weit gebracht, daß er Ernſt machte; nun wollte ſie ihn auch nicht länger ſchmachten laſſen und ihm ihre Liebe zei¬ gen. Sie hätte gern gleich geantwortet, aber ſie war heut Abend zu Tante Rieke eingeladen und hatte ver¬ ſprochen um 6 Uhr die Mutter abzuholen, und ſo ein Liebesbrief war keine Kleinigkeit, der mußte mit Be¬ dacht geſchrieben werden. Sie ging alſo, wenn auch in höchſter Unruhe. Den empfangenen Brief trug ſie natürlich auf dem Herzen.

3 *36

Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu Tante Rieke gegangen. Da gab es Punſch und Kuchen, und außerdem, daß man wohl ernſthaft ſprach und ſang, ging es doch auch ſehr vergnüglich her, und für die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die Tante war trotz aller Pietiſterei doch ſehr heiter, konnte ſelbſt recht drollig ſein und hinderte die jungen Leute nicht, es ebenſo zu machen. Heute war ihr das freilich ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬ ſamkeit bemerkten, that ſie etwas erſchrocken, ſchmun¬ zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter müſſe etwas ſtecken. Fritz Buchſtein, der auch unter den Gäſten war, ſah ſie ſcharf an bei dieſen Scherzen, und der Blick war ihr wieder ſehr fatal. Doch ward man lebhafter bei einem Gläschen Punſch und be¬ merkte Klärchens Schweigſamkeit nicht mehr. Selbſt Fritz ward ungewöhnlich redſelig und erzählte ſehr un¬ terhaltend von ſeiner Wanderſchaft. Gretchen hing an jedem Worte, das er ſagte: ſelbſt Klärchen mußte geſtehen, daß er ein ausgezeichneter Tiſchlergeſelle ſei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬ pen, ſeine Augen waren lebendig, ſeine Wangen ge¬ röthet, ſie wußte ſelbſt nicht wie, aber es fielen ihr die Helden aus den Ritterromanen ein, wie ſie be¬ ſchrieben werden, ſo ſanft und mild und dabei ſo edel und männlich. Sie begann faſt, ihn dem Gretchen nicht zu gönnen, obgleich ſie ſelbſt himmelhoch über ihm ſtand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann, und ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben, wie ſie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte ſie Recht, ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben: er war37 nicht gewiſſenlos genug und hatte nie gewagt, ei¬ nem Mädchen den Unverſtand zuzutrauen, ſolchen Unſinn, der in jedem ſchlechten Romane zu finden iſt, für Wahrheit zu nehmen. Mehrere Stunden waren ſo ſchnell vergangen, da erinnerte Vater Buchſtein Frau Bendler an ihr Verſprechen.

Ei freilich! Heute laſſen wir Schiffchen ſchwim¬ men, ſagte dieſe ſcherzend; es liegt mir ſelber daran, zu wiſſen, wie es mit der Freundſchaft meiner guten Freunde ſteht. Ich muß aber auch die Erſte ſein, weil ich doch wohl die Neugierigſte bin.

Die jungen Leute ſtimmten fröhlich in den Vor¬ ſchlag ein. Gretchen holte einen großen Napf mit Waſſer, Wallnüſſe und einen Wachsſtock. Fritz theilte ſehr geſchickt die Nüſſe auseinander, machte die Frucht heraus und klebte dafür kleine Wachslichte hinein. Gar niedlich tanzten die brennenden Lichterſchiffchen auf dem Waſſer, der Tante Schiffchen in der Mitte, die anderen ſtellten den Vater und Sohn Buchſtein, die Frau Organiſtin und Gretchen und Klärchen vor; ſo war es von Frau Bendler beſtimmt. Der Hauptſpaß war nun, wie die anderen ſich zur Hauptperſon ver¬ hielten. Blieben ſie fern ſo war es mit der Freund¬ ſchaft ſchlecht beſtellt. Und wirklich drückten ſie ſich alle ziemlich fern an den Seiten herum. Frau Bend¬ ler ſcherzte und neckte, bis plötzlich Fritzens Schiffchen, durch eine leiſe Waſſerbewegung angeregt, auf die Tante zu ſchoß und nicht wieder von ihr ließ, was auch am Napfe gerüttelt und geſchüttelt ward. Das Schütteln aber hatte zur Folge, daß die anderen vier Schiffe ſich zu einem Häufchen geſellten, und nun38 wie zwei feindliche Parteien ſich die Flotte gegenüber ſtand.

Weil der Fritz es ſo gut mit mir meint, ſoll er jetzt der Erſte ſein der die Herzen ſeiner Freunde prüft, ſagte Frau Bendler. Fritz aber war gar nicht begierig danach, er wollte den Andern durchaus den Vorrang laſſen; doch half es ihm nichts, die Alten übernah¬ men es, den Schiffchen Namen zu geben, und die Sache ging los. Gretchens Herz klopfte gewaltig, und ſie beſann ſich ſchon, was für ein Geſicht ſie machen wolle und was ſagen, wenn das Schiffchen die Ge¬ danken ihres Herzens verrathen ſollte. Zwei andere junge Mädchen, die ganz unbefangen waren, ſcherzten mit Fritz und meinten: das paſſe ſich gar nicht, wenn er da großartig in der Mitte ſtehe, und ſie ſollten ſich um ihn bemühen, dieſe Prüfung ſei eigentlich nur für Mädchen. Klärchen aber war ganz erhoben über dieſen Spaß, ihre Gedanken waren längſt nicht mehr hier; je ſpäter es wurde, je größer ward ihre Unruhe und Sehnſucht, den Brief zu beantworten. Doch ſelt¬ ſam genug, ihr Schiffchen nahete ſich zuerſt der Mitte, Fritz ſchien ihr auszuweichen, aber ſie zog hinter ihm her, vereinigte ſich mit ihm und ſchiffte dann mit ihm zuſammen auf dem kleinen Meere umher. Das gab ein Lachen, aber Klärchen warf die Lippen auf und warf einen verächtlichen Seitenblick auf den Tiſchler¬ geſellen, ſo daß Allen die Geſinnung ihres Herzens kund werden mußte. Gretchen ward vor Aerger ganz roth und hatte ſchon ein derbes Wort auf den Lippen, doch ſcheute ſie ſich vor Fritzens Gegenwart und wollte es ſich lieber aufſparen. Die beiden andern39 Mädchen ſtießen ſich an, Klärchen hatte ihnen ſchon den ganzen Abend zu vornehm gethan, und die Frau Organiſtin ſagte ſpitz: Ei Klärchen, brauchſt den Mund nicht zu verziehen, biſt in ganz guter Geſell¬ ſchaft hier. Doch die Tante wollte keinen Ernſt ge¬ macht haben; ſie entgegnete leicht: In der Hinſicht muß ein jedes Mädchen ſtolz und ſpröde thun, die jungen Burſchen ſollten ſonſt eitel werden. Dann wurden die Namen der Schiffchen wieder geändert, und die Sache war abgemacht. Fritz aber behielt den Stachel im Herzen. Wenn er auch längſt Klärchens Beſitz aufgegeben, ſo konnte er ihr doch heut nicht ohne innere Bewegung gegenüber ſitzen, es war ihm, als ob aus ihrem Weſen bald ein guter bald ein böſer Engel ſchaue; er hätte den guten ſo gern feſt¬ halten und in ihre Nähe bannen mögen. Die dun¬ kelblauen Augen hatten ihn zuweilen ſo kindlich an¬ geſchaut, ganz ſo wie ſie auf ſeiner Wanderſchaft vor ſeiner Seele ſchwebten. Er wußte zwar mehr als alle die Anderen von ihrem Leben und Treiben die Augen der Liebe ſehen ſcharf , auch wußte er daß der Medi¬ ziner im Hauſe der Generalin wohne, aber immer noch konnte er den guten Engel in ihr nicht aufgeben, und ſein theilnehmendes und trauerndes Herz ward von ihrem verächtlichen Weſen ſchmerzlich berührt.

Die Zeit war mit den Späßen vergangen, es ſchlug zehn Uhr, man wurde ernſthafter. Die Alten erzählten, die Jungen hörten ſtill zu. Fritzen war das ſehr lieb, er war wahrlich nicht zur Freude aufgelegt und er übernahm es auch ſpäter gern, etwas aus der Bibel vorzuleſen. Er begann mit dem 90 Pſalm. 40Er las langſam und feierlich, ſeine Stimme ward im¬ mer voller, die Worte quollen immer mehr aus ſei¬ nem Herzen. Als er die Worte las: Lehre uns be¬ denken daß wir ſterben müſſen, auf daß wir klug wer¬ den, ſchaute er auf und ſah Klärchen an. Nieman¬ dem fiel das auf, nur Klärchen konnte den Blick nicht vertragen und es wurden ihr dadurch die Worte erſt bedeutſam. Dem Pſalm folgte ein Abendgebet, auf den Jahresſchluß paſſend, und dann das ſchöne Lied:

Jahre gehn und fliehen,
Blumen, die da blühen,
Welken traurig ab!
Was da grünend ſtehet,
Wandelt und vergehet
In ein düſtres Grab!
Bleiben wir wohl ewig hier?
Was genommen iſt von Erden,
Muß zur Erde werden.
Eines unter Allen
Kann nicht fliehn und fallen,
Wenn auch Alles fällt:
Was aus Gott geboren,
Gehet nicht verloren
In dem Grab der Welt;
Seine Zeit heißt Ewigkeit
Selig, wer in guten Stunden
Dieſes Eine funden.
Der für uns geſtorben,
Hat es uns erworben
Einſt mit ſeinem Blut;
Jeſus, unſer Leben,
Kann dem Sünder geben
Dieſes Eine Gut;
Seine Kraft bewirkt und ſchafft,
41
Daß geweihet ſei die Seele
Mit dem Lebensöle.
Weichet, Luſt und Sünde!
Einem Gotteskinde
Habt ihr nichts mehr an.
Denn dem Gott der Ehren
Muß mein Herz gehören,
Ihm dem Schmerzensmann.
Ihm erkauft, auf ihn getauft,
Steh ich in dem Grund der Gnaden.
Was kann da mir ſchaden?
Tage, Jahre, fliehet!
Luſt und Glanz, verblühet!
Gräber, öffnet euch!
Wenn die Glieder ſterben,
Werd ich ja ererben
Meines Heiland's Reich!
Wär ſie nah ', ach wär ſie da,
Jene Zeit, da ich erſtritten
Gottes ew'ge Hütten!

Klärchen bemühte ſich ſo viel als möglich, nicht hinzuhören und ſich mit anderen Gedanken zu zer¬ ſtreuen; es war ihr aber unmöglich. Fritzens Stimme klang wie Glöckentöne in ihr Herz, ſo mächtig, ſo ernſt, ſie mußte hören, und je länger er las, deſto aufmerkſamer hören. Von Sterben Grab und Verblühen war die Rede, es ward ihr bange dabei, und ihr abergläubig Herz nahm die Bangigkeit für böſe Ahnung. Nur nicht ſterben! dachte ſie. Der Hei¬ land, von dem ſie reden, hilft mir nichts, ſein Reich reizt mich nicht und nicht die ewigen Hütten; nein, über den Tod hinaus geht keine Hoffnung. O, ſo häßliche Gedanken verbittern einem das ſchöne Leben,42 und gerade heute das anzuhören iſt ſehr ſtörend. Die Andern ſehen dabei ſo ruhig und freudig aus, als ob ſie Recht hätten, und Fritz iſt ſo voll von der Wahrheit, ſein Geſicht leuchtet, und wie Gretchen ſo demüthig zu ihm aufſchaut ſolche Blicke müſſen ſein Herz rühren.

Es ſchlug zwölf. Alle falteten die Hände, beug¬ ten ſich zum Gebet. Auch Klärchen mußte ſo thun, aber in ihrem Herzen war es dunkle Nacht, der Teu¬ fel hielt ſeine Hand über ſie. Fort, fort von hier! ſeufzte ſie, und der Liebesbrief zog ſie gewaltig hinaus aus dem Ernſt und dem Frieden in die Luſt und Un¬ ruhe der Welt.

Beim Heimgehen fand es ſich, daß Frau Krauter mit den Andern einen Weg hatte, und nur Klärchen allein nach einer ganz entgegengeſetzten Seite mußte; es wurde beſchloſſen, Fritz ſollte ſie nach Hauſe füh¬ ren. Sie aber ſträubte ſich, denn nichts wäre ihr drückender geweſen, als ein einſamer Weg mit dieſem ſonderbaren Menſchen. Aber es half nichts. In der Sylveſter-Nacht, wo der Trunkenbolde nicht wenige auf den Straßen zu finden ſind, darf kein junges Mädchen allein gehen, hieß es, und Klärchen mußte ſich fügen. Fritz war gar nicht verlegen, er hatte ſich eben zu ſehr in eine Gottes-Welt vertieft, als daß ihn die kleinen Bewegungen der irdiſchen Welt hätten berühren können. Er ſah Klärchen ruhig und feſt in die Augen und ſprach zu ihr mit unbefangener Stimme: doch wehten außen Sturm und Regen ſo ſehr, und Klärchen ging ſo raſch, daß er ſchweigen mußte. Jetzt ſtanden ſie vor der Hausthür. Klärchen nahm43 den Schlüſſel und ſchloß auf. Der Mond brach eben durch Wolken und warf ſein helles Licht auf Fritz und Klärchen, ſie ſah unwillkürlich auf zu ihm: da ruheten ſeine dunklen Augen ſo traurig auf ihrem friſchen Geſicht, er reichte ihr die Hand, ſie mußte ihre hineinlegen. Klärchen, ſagte er mit bewegter Stimme, wir ſtehen jetzt am Anfang eines neuen Jahres. Der Herr wolle uns ſegnen, daß wir am Ende deſſelben mit reinem Herzen und ruhigem Gewiſſen und unbe¬ fleckter Ehre mögen darauf zurückſchauen. Der Herr behüte Sie!

Er wandte ſich ſchnell von ihr, ſie trat in das Haus, aber mußte erſt einige Augenblicke ſich vom Schrecken erholen.

Was will er nur? dachte ſie. Meine Ehre? da will ich ſelbſt für ſorgen. Und das Gewiſſen? ich werde doch kein Verbrechen begehen? Sie ſuchte mit Gewalt den Eindruck von Fritzens Worten abzu¬ ſchütteln, und das ſollte ihr leider nicht ſchwer werden. Als ſie die erſte Treppe hinauf war und eben den Zu¬ gang, der zur Etage bei Generalin führte, öffnen wollte, kam Jemand von oben herunter. Sie zögerte, ja es war der Mediziner. Er hatte den Sylveſter-Abend etwas lauter und wilder gefeiert als Klärchen, ſein Geſicht glühte von Wein und Punſch, und ſeit geraumer Zeit hatte er mit Ungeduld auf Klärchens Rückkehr gewartet. Jetzt floſſen ihm die Worte wie Feuer von den Lippen. Dieſe Liebes - und Treueverſicherungen, dieſe Ausdrücke von erhabenen Gefühlen Klärchen konnte nicht widerſtehen. Sie erwiederte flüſternd ſüße Liebesphraſen, duldete, daß er ſie küßte, und als ſie44 ſich endlich losriß, mußte ſie ihm das Verſprechen ge¬ ben, für eine recht baldige ungeſtörte Zuſammenkunft zu ſorgen. Das war gar nicht ſchwer, bei ihrer Mut¬ ter konnten ſie das haben; denn die wird dem Glück der Tochter nichts entgegenſetzen. Und, fügte Klär¬ chen hinzu, es iſt auch nöthig daß wir beſprechen, wie es mit unſerer Verlobung werden ſoll, es iſt doch da manches zu thun.

Närrchen! unterbrach ſie der Mediziner, wer wird denn an ſo alberne Dinge denken? Wir leben in der Gegenwart, das andere fügen die Götter. Dann fügte er einige zärtliche Worte hinzu und ging die Treppe hinauf.

Dieſe letzten Worte gingen Klärchen eiſig über die grünen Auen ihres Glückes, doch dachte ſie nicht weiter darüber nach und legte ſich in ſüßer Betäubung zur Ruhe.

Am anderen Morgen wachte ſie ſpäter auf als gewöhnlich. Ihre gütige Dame hatte ſie nicht zur ge¬ wöhnlichen Zeit wecken laſſen, damit ſie den verſäum¬ ten Schlaf nachholen möge. Und dennoch konnte ſie ſich nicht zurecht finden. Es war ihr ſo wüſt im Kopfe und ſo nüchtern im Herzen, ſie mußte ſich or¬ dentlich erſt klar machen, daß ſie ſehr glücklich ſei, und trotz des Vorredens blieb ſie unruhig. Wird er Ernſt machen? Wird er ſich öffentlich verloben? Wird er es ſeinen Eltern ſagen? Solche Fragen war ſie thöricht genug ſich vorzulegen, und es galt von ihrer Seite immer noch große Vorſicht, das Alles zu errei¬ chen. So dumm wie ihre Mutter, der der Rechts¬ gelehrte unter den Händen entwiſcht iſt, wollte ſie45 nicht ſein, dachte Klärchen; und ſo denken alle thö¬ richten Mädchen, die leichſinnige Liebſchaften anknüpfen. Sie ſehen zwar rund um ſich, wie die Sachen mei¬ ſtens ablaufen, aber ſie wollen es ſchon anders zu Ende bringen, bis ihnen dann das reine Herz, Ehre, und gutes Gewiſſen ſammt dem Liebhaber unter den Händen entſchlüpft ſind.

Als Klärchen zur Frau Generalin ging, um ihr wie gewöhnlich bei der Toilette behülflich zu ſein, fand ſie dieſelbe ſchon fertig angekleidet beim Früh¬ ſtück, und neben ihr ſaß bei demſelben ein junger ſchöner ſchlanker Mann in Gardeuniform. Klärchen entſchuldigte ſich wegen des ſpäten Kommens; die Generalin aber war ſehr freundlich und ſagte neben¬ bei: Ich habe geſtern Abend auch eine große Ueber¬ raſchung gehabt, mein Sohn kam unerwartet an. Der junge Mann war bei Klärchens Eintreten aufge¬ ſtanden, ihre Schönheit und ihr feines Weſen be¬ ſtimmten ihn, höflicher zu grüßen, als er es gethan haben würde, hätte er gewußt daß ſeiner Mutter Kammerjungfer vor ihm ſtand. Jetzt ward er etwas verlegen, Klärchen merkte Alles, ein koquettes Mäd¬ chen iſt ſehr feinfühlend in ſolchen Dingen und ihr ganzes Benehmen wurde augenblicklich dem jungen Manne angepaßt. Sie ging ordnend im Zimmer hin und her, that, was in der Schlafſtube nebenan zu thun war, und ging dann um Sonntagstoilette zu machen. Sie wußte ſelbſt nicht recht wie ſie dazu kam, aber ſie begann Vergleiche zu machen zwiſchen dem Gardelieutenant und dem Mediziner. Der Medi¬ ziner war wirklich häßlich dagegen zu nennen, und46 wie plump war ſeine Sprache und ſein ganzes We¬ ſen! Freilich, tröſtete ſie ſich, er iſt ein Student, und die meinen, ſie müſſen burſchikos ſein; wenn er bei ſeiner Mutter, der Frau Präſidentin ſitzt, wird er auch anders ſein. Aber er ſoll auch gegen mich anders ſein, dachte ſie weiter, er ſoll fein und nobel werden wie der Gardelieutenant!

Das Haus war durch die Neujahrs-Glückwün¬ ſchenden ſo belebt, daß es dem Mediziner unmöglich ward, Klärchen zu ſehen. Auch den Abend war große Geſellſchaft, der Flur hell erleuchtet und faſt immer¬ fort Bewegung auf der Treppe. Er war ſehr unge¬ duldig und wußte kaum wie er die Zeit hinbringen ſollte. Klärchen ging es nicht ſo, ſie war heut ſo beſchäftigt und hingenommen, daß ſie kaum Zeit hatte an ihre Liebe zu denken. Bis jetzt hatte ſie faſt nur alten Damen den Thee ſervirt, heute aber waren junge Herren, die Freunde des Lieutenants, in der Geſell¬ ſchaft. Klärchen, im hellblauen Muſſelin-Kleide mit freiem Hals und freien Armen, ſtand vor der ſingen¬ den Theemaſchine und ſchwebte dann in den hell er¬ leuchteten und wohl durchdufteten Zimmern hin und her. Ein ſolcher Triumph war ihr noch nie geworden: die Blicke der jungen Leute folgten ihr, wohin ſie ging, bis leider die Generalin ſehr ernſte Blicke auf ſie warf und ihr huldreich ſagte, ſie möchte ſich nicht weiter bemühen, der Bediente ſolle allein aufwarten. Sie ging, und trat erhitzt und aufgeregt in ihre Stube. Kaum hatte der Mediziner Licht darinnen geſehen, als er ſein Fenſter öffnete und leiſe mit den Händen klappte. Klärchen hatte eigentlich nicht große Luſt ihn jetzt zu47 ſprechen, ſie ſah aber ihr Bild im Spiegel und fand ſich gar zu ſchön, der Mediziner mußte ſie ſehen, mußte ſich überzeugen, daß ſie mit ihrer Erſcheinung in die Salons einer Präſidentin paſſe, ja ihr Hoch¬ muth und ihre Eitelkeit waren heut ſo ſehr gewachſen, daß ſie meinte, er müſſe ſich glücklich ſchätzen ſie zu gewinnen. Man konnte gar nicht wiſſen ob ihr nicht noch ein größeres Glück beſtimmt geweſen. Der junge Graf, der heut mit in der Geſellſchaft war, hatte ſie nicht aus den Augen gelaſſen, und der Generalin Sohn, der außer ſeinem Lieutenantsgehalt noch ein Gut in Schleſien hatte, dazu adelig war, hatte ſich gewiß ſchon ſterblich in ſie verliebt. Klärchen hatte viel Ro¬ mane geleſen, ſie wußte, daß nicht ſelten arme Mäd¬ chen vornehme Partien machen, und ſie hatte die be¬ ſtimmte Ahnung einer großen Zukunft. Mit ſolchen Gedanken trat ſie auf den Flur, der Mediziner ſtand ſchon unten an der Treppe. Als er ihr vornehmes, herablaſſendes Weſen ſah, dazu ihre Schönheit, ver¬ ſchluckte er die groben ungeduldigen Liebesvorwürfe, die ihm in der Kehle ſtaken, und beklagte ſich nur, daß er ſie heut den ganzen Tag nicht geſehen. Klär¬ chen entgegnete, dies ſei ein unſchicklicher Platz ſich zu ſprechen, und beſchied ihn zum nächſten Abend zu ihrer Mutter. Daß er ſie küßte und zärtlich ward, litt ſie wohl; Hochmuth und Eitelkeit ſchützen nicht vor böſen Herzensgelüſten, nein, es ſind gerade ſehr verträgliche Schweſtern, die ſich gegenſeitig hegen und pflegen.

Am andern Morgen ſaß Klärchen, wie gewöhn¬ lich, nähend im Vorzimmer. Der Lieutenant trat ein48 und bat ſie, einige Maſchen an ſeiner Geldbörſe wie¬ der zu befeſtigen. Während ſie es mit den feinen ge¬ ſchickten Händen that, ſtand er ſchweigend vor ihr. Auch Klärchen ſchwieg, aber ihr ganzes Weſen redete. Wie ſie den Kopf hielt, wie ſie die Finger bewegte, wie ſie aufſchaute, ihm dann die Börſe gab es mußte das Alles das Herz des Lieutenants beſtürmen. Klär¬ chen merkte, daß er gern eine Unterhaltung mit ihr angeknüpft hätte, doch die Schritte der Generalin wa¬ ren im Nebenzimmer hörbar, und er verließ ſie mit einem kurzen verbindlichen Danke.

Der Tag verging mit Plänen für heut Abend; und wenn auch das Bild des Lieutenants ſich zuwei¬ len dazwiſchen drängte, ſo ſchob ſie es mit Gewalt zurück. Der Mediziner muß ſich heut Abend feierlich mit dir verloben, wo möglich müſſen wir heut Abend noch Brautviſite bei Tante Rieke machen. Was wird die ſagen! Und Grete! Nun, ſie werden Reſpekt be¬ kommen vor der Schwiegertochter einer Frau Präſiden¬ tin. Der Mediziner mußte morgen früh ſelbſt die Frau Generalin um ihre Entlaſſung bitten, oder we¬ nigſtens ihr eine andere Stellung geben; die Hälfte des Wechſels mußte er ihr gleich überlaſſen, um für Toilette und Wäſche zu ſorgen; ſie war nun aus al¬ ler Noth, konnte ſich die Hemden Dutzendweis fertig kaufen und ſo alle Sachen. In dieſer Weiſe flogen ihre Gedanken, ſie konnte kaum den Abend erwarten, und es war ihr recht unangenehm, daß ſie ihrer Her¬ rin noch von 6 bis 7 Uhr vorleſen ſollte. Die Frau Generalin aber war ganz allein, erwartete den Sohn erſt zum Abend zurück, und Klärchen mußte wie ge¬49 wöhnlich ihn auf dieſe Weiſe die Zeit vertreiben. Sie las heut beſonders ſchlecht, und die Generalin war eben im Begriff, dies zu tadeln, als die Thür ſich öffnete und der Sohn eintrat. Er winkte, ſetzte ſich in eine dunkle Ecke, und die Mutter bemerkte: ſie wolle nur dies kurze Kapitel ausleſen laſſen. In Klärchen ſchien plötzlich eine andere Kraft gefahren, ſie las beſonders ſchön und mit ganz anderer, bewegter Stimme. Der Lieutenant wandte keinen Blick von ihr, und die Generalin ſah ſie bedenklich an. Als ſie das Zimmer verlaſſen, wandte ſich dieſe zu ihrem Sohne.

Lieber Alfred, ſagte ſie lächelnd, ich glaube, ſo lange Ihr jungen, leichtfertigen Leute hier bei mir ein - und ausgeht, muß ich das Mädchen aus dem Haus thun.

Und wenn ich mich auch ein wenig verliebte, entgegnete Alfred, Du fürchteſt doch nicht

Nein, ich fürchte nicht, daß Du leichtfertig genug wäreſt, ein Mädchen thörichter zu machen, als es ſchon iſt, aber Deinen Freunden traue ich nicht.

Alfred lachte. Sie ſind alle außer ſich über dieſe Schönheit, und Graf Bründel, glaube ich, früge aller¬ dings nicht viel danach, ob er ein thöricht Mädchen thörichter mache.

So bitte ich Dich, vermeide es, daß er ſie ſieht, entgegnete die Mutter beſorgt. Und Du, lieber Alfred, biſt vorſichtig. fügte ſie zögernd hinzu.

Gewiß, ſagte Alfred treuherzig und reichte der Mutter die Hand; und ſollte es wirklich gefährlich werden, da bitte ich Dich, mich fortzuſchicken, ſchloß er ſcherzend.

450

Dieſe Unterredung hatte Klärchen durch das Schlüſſelloch mit angehört, denn Horchen war in den zehn Geboten nicht verboten. Sie haben ſich Alle in dich verliebt, und Alfred iſt doch der Schönſte und Edelſte. Seinen Spaß würde er nie mit dir treiben: zeigt der dir Liebe, ſo wäre es Ernſt. Sie ſeufzte. Ja, hätte ſie mit dem Mediziner noch nicht angefangen, ſie hätte es wahrlich jetzt gelaſſen; aber ſie hatte ſich küſſen laſſen, hatte eine Liebſchaft an der Treppe ge¬ habt; Frau von Trautſtein konnte ſie nicht werden. Alſo nur kühn den Mediziner feſtgehalten, er iſt auch ein Mann von Bedeutung und ſo ſehr verliebt, es läßt ſich Alles mit ihm machen.

Mit ſolchen Gedanken machte ſie in ihrer Mutter Stube die Vorbereitungen zur Verlobung. Zwei Lich¬ ter brannten außer der kleinen Lampe, Taſſen und Kuchen ſtanden auf dem Tiſch, die Theekanne in der Röhre, die Mutter ſaß im Lehnſtuhl am Ofen, und Klärchen mit der Guitarre am Arm ſaß im Sopha. Der Student kam, die Thür ward verſchloſſen und nun ward geplaudert, geſcherzt, gekoſet. Die Mutter war ganz glücklich. Der Mediziner hatte ſchon eine volle Börſe deponirt zu Sachen, die für Klärchen nothwendig angeſchafft werden ſollten. Sie mußte ſich geſtehen, daß Klärchen es weit klüger angefangen als ſie: Klärchen that ſpröder und vornehmer und kom¬ mandirte mehr. Sie bedachte nur nicht, daß das Ende einer klugen Sünderin ein gleiches iſt, als das einer dummen. Klärchen kam zuletzt mit Vorſchlägen zur Veröffentlichung ihrer Verlobung heraus, die für heute darin beſtanden, noch zu Tante Rieke zu gehen. Der51 Mediziner ſah ſie erſt verblüfft an und brach dann in ein helles Lachen aus. Er hatte ſchon viel Lieb¬ ſchaften gehabt, das aber war ihm noch nie paſſirt.

Närrchen! ſagte er, wie kannſt Du ein ſolcher Philiſter ſein! Bei uns iſt wohl von Lieben die Rede, aber nicht von Verloben. Wenn die Welt erſt zuſieht, hört aller Spaß auf.

Klärchen ſtand auf, ſie zitterte an allen Gliedern. Wenn es ſo gemeint iſt, ſind wir geſchiedene Leute, ſagte ſie in höchſter Erregung.

Der Student war wieder verblüfft, lachte darauf aber nicht. Er merkte, daß er mit dem Mädchen an¬ ders verfahren müſſe, als er es bisher gewohnt ge¬ weſen, und da er unglaublich in ſie verliebt war, be¬ gann er zu kapituliren. Das aber half ihm nichts, ſie war zu klug und durchſchaute ſeine gleißenden Worte. Dazu liebte ſie ihn eigentlich gar nicht mehr, ſie dachte an den Lieutenant, an den Grafen, ſie konnte ja nur zugreifen; ja, mit einemmal war es ihr, als müſſe ſie ſich von dem Studenten losreißen, um einem höheren Geſchicke entgegen zu gehen. Das gab ihr Muth, jetzt die Tugendheldin zu ſpielen. Sie hielt die ſchönſten Reden; ſelbſt als er verſicherte, Oſtern wolle er mit ſeinen Eltern reden und nur bis dahin müſſe die Sache geheim bleiben, blieb ſie ſtandhaft, und als er ſie beſtürmen wollte mit ſeiner Liebe und ſeinem Unglück, verſchloß ſie ſich in die Kammer. Die Mutter ſpielte eine traurige Rolle dabei, ihr Herz war weicher, als das der Tochter, ſie hätte den Un¬ glücklichen gern glücklich gemacht, dazu die ſchöne volle Börſe auf dem Tiſch, und verſuchte ihn zu4 *52beruhigen, verſprach mit der Tochter zu reden, und entließ ihn ſo nicht ganz ohne Hoffnung. Klärchen aber that ſtolz wie eine Königin. Siehſt Du, ſagte ſie zu ihrer Mutter, ſo muß man es machen, ſpaßen laſſe ich nicht mit mir! Und weil ſie doch im Inne¬ ren eine große Demüthigung fühlte, daß ihr der Me¬ diziner entſchlüpfte, wie der Mutter Rechtsgelehrter, ſo that ſie mit Worten beſonders groß, ließ ihr Glück bei den adeligen Herren ahnen, und um die Mutter vollſtändig mit dem erſten Abenteuer auszuſöhnen, dul¬ dete ſie es, daß dieſe die volle Geldbörſe des Medi¬ ziners in Verwahrung nahm.

Auf ihrem Stübchen aber brach ſie in Thränen aus, nicht Thränen der Reue über ihren Leichtſinn, nein, ſie weinte über ihre Dummheit, ſich mit dieſem rohen Menſchen ſo weit eingelaſſen zu haben. Wenn es die Generalin, wenn es der Lieutenant wüßte! Aber ſie wiſſen es nicht und werden es nie erfahren, war ihr Troſt; du willſt vorſichtiger ſein, dich nie mit ſo rohen Menſchen einlaſſen. Um ſich vollſtän¬ dig zu tröſten, wiederholte ſie ſich die Unterredung der Generalin mit ihrem Sohne. Es konnte ihr nicht fehlen, ſie taumelte ſich in einen neuen Himmel der Zukunft und ſchlief beruhigt ein.

Ihr Rouleau kam nun den ganzen Tag nicht mehr in die Höhe, und die Köchin, die ſchon ange¬ fangen, aufmerkſame Augen auf ſie und den Medizi¬ ner zu werfen, ward wieder ganz ruhig.

Die Generalin aber war nicht ruhig, ſie ſah die Augen ihres Sohnes fortwährend auf Klärchen ge¬ richtet, und dieſe war ganz beſonders ſanft und hold¬53 ſelig. Der Graf hatte geſagt: das Mädchen ſei ganz verteufelt ſtolz und ſpröde, und Alfred hatte das mit Triumph der Mutter erzählt und dabei fallen laſſen, daß ihre Bildung eigentlich über die eines Kammer¬ mädchens hinausgehe. Klärchen hatte das glücklicher¬ weiſe wieder erlauſcht, denn wenn Mutter und Sohn allein in der Stube waren, kam ſie nicht viel vom Schlüſſelloch fort. Das waren ſelige vierzehn Tage, und ihr Kopf war voll der tollſten Pläne und Träu¬ mereien.

Aber die Tage vergingen und die Zeit der Tren¬ nung kam; ja, der Lieutenant war eines Morgens ab¬ gereiſt, ohne daß Klärchen etwas davon geahnet. Sie war plötzlich eine andere, ſie war zerſtreut und träge, erſt der Generalin ernſte Blicke mußten ſie wieder et¬ was zu ſich bringen.

Nach einigen Tagen ſaß die Generalin einen gan¬ zen Morgen am Schreibtiſch mit Schreiben beſchäftigt: dazwiſchen ging ſie ſinnend in der Stube auf und ab. Klärchen kalkulirte richtig: ſie ſchreibt an ihren Sohn. Um Alles in der Welt hätte ſie den Brief gern gele¬ ſen. Wenn er nur heut nicht fortgeſchickt wird, ſo iſt's möglich, dachte ſie. Und wirklich ward er nicht fort¬ geſchickt; der Nachmittag war unruhig, den Abend war die Generalin in Geſellſchaft, ſie fand nicht Zeit, ihn zu vollenden. Mit klopfendem Herzen hörte Klär¬ chen ihre Dame fortfahren, der Bediente hatte ſie be¬ gleiten müſſen, ſo war jetzt die beſte Zeit, ihren Plan auszuführen. Was ſie an kleinen Schlüſſeln finden konnte, ſuchte ſie zuſammen und verſuchte das Schloß zu öffnen. Ihre Hände zitterten, und zehnmal wohl54 lief ſie nach dem Vorſaal, um zu hören, ob auch Niemand komme. Sie fühlte zum erſtenmal eine hef¬ tige Gewiſſensangſt, aber zum erſtenmal auch ging ſie von der Stufe der Thorheit und des Leichtſinns eine weiter hinunter zum Verbrechen. Gleich einem Diebe ſtand ſie zitternd vor dem verſchloſſenen Tiſch, ſie war ja wirklich im Begriff zu ſtehlen.

Doch das Schloß wollte nicht weichen, der Wa¬ gen der Generalin kam zurück, Klärchen verließ haſtig und ſcheu das Zimmer.

In ihrem Stübchen überlegte ſie ſich die Sache ruhiger, ja ſie machte ſich Vorwürfe über ihre Angſt, beredete ſich, daß es gar nichts Großes ſei, einen fremden Brief zu leſen, und hätte gern gleich ihre Verſuche wiederholt. Sie mußte aber warten, bis der Bediente fort fuhr, um ſeine Dame wiederzuholen. Jetzt ging ſie ſchon getroſter daran. Uebung macht bei ſolchen Dingen bald den Meiſter, darum heißt es: Hüte dich vor dem erſten Tritte, mit ihm ſind bald die anderen Schritte zu einem nahen Fall gethan! Aber auch jetzt bei größerer Ruhe ging das Schloß nicht auf, und Klärchen mußte die auf's Höchſte an¬ geregte und unbefriedigte Begierde mit zu Bett nehmen.

Am andern Morgen ging ſie, wie gewöhnlich, im Schlafzimmer der Generalin einzuheizen. Wie gewöhn¬ lich lag auf dem Tiſchchen neben der Nachtlampe der Schreibtiſch-Schlüſſel. Ruhig hatte ihn Klärchen im¬ mer dort liegen ſehen, heute trieb ſie der Teufel an, ſie nahm den Schlüſſel, verließ das Schlafzimmer, ſchloß die Thür hinter ſich, auch die nach dem Vor¬ ſaal, obgleich der Bediente nie um dieſe Zeit hier et¬55 was zu thun hatte, und nun ſchloß ſie mit Leichtig¬ keit das Schlößchen auf. Da ſtand ein volles Geld¬ käſtchen, daneben lag der Brief; das Gelb reizte ſie nicht, wohl aber der Brief. Sie durchflog ihn mit Haſt, aber erfuhr genug. Die Mutter warnte den Sohn vor dem eignen Herzen: ſie möchte ihn vor einer Liebe bewahren, die ihn, wenn auch nicht für Jahre, doch für Tage unglücklich machen könne. Dar¬ auf ſchilderte ſie Klärchens Weſen und Gedanken mit ſolcher Wahrheit, daß Klärchen feuerroth beim Leſen dieſer Worte wurde. Ja, die kluge Frau hatte ſie in ihrem koquetten Treiben und verdrehten, überbildeten Träumereien durchſchaut. Sie iſt ehrlich und treu, geſchickt und fleißig, ſchloß die Generalin dieſe Schil¬ derung, darum werde ich ſie jetzt nicht gehen laſſen, ich werde es mir aber zur Pflicht machen, ſie beſſer zu überwachen, was mir bei meinem jetzigen ſtilleren Leben nicht ſchwer werden ſoll.

Klärchen war in großer Aufregung. Sie legte den Brief wieder an dieſelbe Stelle, ſchloß den Kaſten und legte den Schlüſſel zurück an ſeinen Platz. Die Sache war herrlich geglückt, und wenn ſie auch man¬ ches Unangenehme aus dem Briefe erfahren, ſo doch auch das Erfreuliche: der Lieutenant liebte ſie, die Mutter fürchtete. Ihre größte Begierde war von jetzt an, die Antwort des Sohnes zu leſen; mit höchſter Aufmerkſamkeit kontrollirte ſie die Briefe, die zu ihrer Dame kamen. Acht Tage vergingen, da endlich ent¬ deckte ſie das Poſtzeichen von Berlin und das Fami¬ lienwappen. Die Generalin nahm den Brief in höch¬ ſter Spannung aus Klärchens Hand und erbrach ihn56 ſchnell. Klärchen aber räumte den Frühſtückstiſch ab, ordnete hier, wiſchte dort, und warf dabei manchen forſchenden Blick auf die Leſerin, deren Züge erſt ſehr ernſt waren, aber immer freundlicher wurden und ſich endlich in eine fröhliches Lächeln auflöſten. Dies Lächeln war ein Dolchſtoß in Klärchens Herz, und noch nie war ihr ein Tag ſo lang geworden als die¬ ſer, denn vor dem anderen Morgen konnte ſie daß Kunſtſtück mit der Eröffnung des Tiſches nicht wieder¬ holen.

Doch der Morgen kam, Klärchen heitzte eine halbe Stunde früher als gewöhnlich ein, die Generalin lag noch im ruhigen Schlummer. Klärchen nahm den Schlüſſel, der Brief lag ganz oben in der Mappe, ſie öffnete ſchnell und las:

Wenn ich Dir, theuerſte Mutter, Sorge machte, ſo thut es mir herzlich leid, ich kann Dir aber mit feſtem Herzen verſichern, daß es unnöthig war. Ich leugne nicht, daß mich im Anfange das hübſche Mäd¬ chen intereſſirte und ich neugierig war, ob wirklich hinter der ſchönen Hülle das verborgen ſei, was man wünſchen und vermuthen mußte. Ich ſtimme aber ganz mit Dir im Urtheil über ihren Charakter ein; in den letzten Tagen habe ich Blicke in ihr Weſen ge¬ than, die mich von einem gemeinen und koquetten Sinn überzeugten. Ich fürchte faſt, es wird Dir ſchwer werden, ſie zu überwachen. Graf Bründel iſt ernſtlich verliebt und wird nicht Geld und Mühe ſpa¬ ren, ein Verhältniß anzuknüpfen,

Jetzt regte es ſich im Nebenzimmer, Klärchen fuhr erſchrocken zuſammen. Sie lauſchte, es ſchien ihr wie¬57 der ſtill; aber ihre Angſt war groß und ſie ſah nur noch nach dem Ende des Briefes:

Ja, liebe Mutter, mein Herz war ſchon leiſe beſchäftigt, ehe ich zu Dir kam. Die edle Reinheit meiner Adelheid hat mich von neuem überwältigt, ich hoffe Dir bald eine würdige Tochter

Hier regte es ſich abermals im Schlafzimmer der Generalin, Klärchen legte den Brief ſchnell in die Mappe, ſchob den Geldkaſten wieder zurecht und ſchloß eiligſt den Kaſten. Welch eine Entdeckung war das!

Schmerz und Zorn bewegten Klärchens Herz. Hier war alſo nichts zu machen, der Menſch war nicht poetiſch, nicht romantiſch genug, um etwas Un¬ gewöhnliches der Welt gegenüber zu thun! Alle Qua¬ len unglücklicher Liebe, die ſie je in einem Romane beſchrieben gefunden, kamen über ſie. Zum Glück nicht für ſehr lange.

Es war ein ſehr kalter Winter. Selbſt Mitte Fe¬ bruar begann er noch einmal mit aller Strenge zu regieren. Der Himmel war klar, die Sonne glitzerte hell auf den weißen Dächern, die Leute trippelten an einander vorüber, konnten ſich der rothen Ohren und Naſen nicht erwehren, und die Blumen an den Fen¬ ſtern thauten kaum um Mittag ein wenig ab.

Gretchen verlebte hinter den Eisblumen ſtille Tage. Sie ſaß ihrer Mutter gegenüber und ſpann, und ſpann und ſann, und hauchte ſich zuweilen ein Fenſterchen in den Eisgrund, ſchaute, daß der Himmel blau, die Sonne golden war, dachte an den Frühling, an Blü¬58 then, Bäume und Vögelgeſang und andere ſchöne Dinge, und das Herz ſchlug ihr warm hinter den kalten Eisblumen. Zuweilen entdeckte ſie auch durch ihr Fenſterlein das rothe Geſicht eines Handwerksbur¬ ſchen, der ſie bittend anſchaute, da reichte ſie ihm eine Gabe; oder ein Vogel hüpfte auf dem Fenſterſims, dem ſtreute ſie Krümlein hin. Aber auch die Vögel im Garten wurden gefüttert; ein Stückchen Brod war ja immer übrig vom Frühſtück und auch vom Mittag, und jedesmal wenn ſie hinaus kam, rief Benjamin einen guten Tag aus dem Schiebfenſterchen, oder ſonſt ein gutes fröhliches Wort.

Seit zwei Tagen aber hatte ſich das Schiebfen¬ ſterchen nicht geöffnet, und die Eisblumen regten und rührten ſich nicht. Gretchen ſagte es der Mutter, es wurde Rath gehalten; Benjamin war jedenfalls krank, man mußte ſich nach ihm erkundigen. Der Ver¬ kehr mit dem Nachbarhauſe war leider dieſen Winter ſehr eingeſchlafen; Frau Bendler empfand es ſchmerz¬ lich, daß Fritz Buchſtein ſich ihrem Gretchen gar nicht nähern wollte. Ihr Zartgefühl erlaubte es nicht, von ihrer Seite nur die leiſeſte Andeutung zu geben; aus dieſer Aengſtlichkeit erfolgte dann faſt das Gegentheil. Der alte Buchſtein, der ſonſt ſo eifrig die Freundſchaft betrieben, war jetzt verlegen. Fritz wich ſeinen Auffor¬ derungen aus, und ſehr zureden wollte er dem Jungen nicht, und wußte nur nicht, was zur Frau Nachba¬ rin ſagen, mit der er früher die Sache in allen Ein¬ zelheiten beſprochen hatte. Heute aber war von all' den Rückſichten nicht die Rede, Benjamin mußte gepflegt werden und Gretchen ſich auf den Weg zu59 ihm machen. Sie that es ſo gern, und doch hatte ſie Scheu zu gehen, denn ihr Weg führte durch die Werkſtatt. Während dem ſie eine warme Suppe kochte, ſchaute ſie wohl zehnmal auf die Straße, ob ſie nicht Jemand vom Nachbarhauſe ſähe; und wirklich es glückte, die alte Magd kam daher und Gretchen konnte ihre Erkundigungen einziehen.

Benjamin ſei wirklich krank, berichtete die mür¬ riſche Magd, er verlange aber gar nichts, er wolle die Sache ausſchwitzen. Das hielt Gretchen nicht ab, ſich zu rüſten. Das Näpfchen mit der warmen Suppe unter dem Mantel ging ſie hinüber zu dem alten Freunde. Die Sonne ſchien ſo hell in die Werkſtatt, die Blumen von den Fenſtern waren etwas abgethaut, Fritz in weißen Hemdsärmeln und ſchwarzer Tuchweſte ſtand mit Geſellen und Lehrburſchen rüſtig bei der Arbeit. Als die Thür ſich öffnete und Gretchen mit dem friſchen Geſicht und der ſchwarzen Sammetmütze hineinſchaute, erſchrak er faſt, aber er trat ihr entge¬ gen und reichte ihr freundlich die Hand.

Ich will zum kranken Benjamin, ſagte Gretchen etwas ſcheu.

Zum kranken Benjamin? wiederholte Fritz und ſeufzte: ja er iſt krank, und es iſt recht ſchlecht von mir, ich habe ihn ganz vergeſſen. Soll ich das Näpf¬ chen tragen? ſetzte er mit weicher Stimme hinzu.

Gretchen ließ es ſich gefallen und folgte ihm nun die Treppe hinan. Aus der warmen Werkſtatt traten ſie in eine eiskalte Stube; Benjamin ſteckte tief in den Federn, der Staarmatz ſtand auf dem Tiſch vor dem60 Bett mit trauriger Miene, der Dompfaff pickte eben vergebens am zugefrorenen Trinknäpfchen.

Armer Schuſter! ſchnarrte der Matz, als die Thür ſich öffnete, armer Schuſter!

Benjamin's Nachtmütze bewegte ſich jetzt, und ſein freundlich Geſicht kam zum Vorſchein.

Dacht 'ich's doch, daß Du kommen würdeſt, ſagte er zu Gretchen, und nun gieb erſt den Vögeln Futter. Dorthe iſt ſchlechter Laune und iſt ſeit geſtern Abend nicht herauf gekommen.

Gretchen ſah ſich nach ungefrorenem Waſſer um, aber vergebens; Fritz merkte, was ſie ſuchte, und verließ das Zimmer. Eilig kam er wieder mit einem Töpfchen voll warmem Waſſer und einer Schippe Kohlen. Schweigend reichte er ihr das Waſſer, ſchwei¬ gend machte er Feuer in den Ofen und ſah dann, wie Gretchen die Trinknäpfe der Vögel aufthaute, wie ſie ihnen friſches Futter gab, wie ſie dem Benjamin die Kiſſen zurechtlegte, ihm den Tiſch vor dem Bette deckte und die Suppe darauf ſtellte. Fritz ſah ſinnend und traurig aus, und als Benjamin jetzt das Tiſch¬ gebet ſprach und Gretchen mit gefalteten Händen dabei ſtand, faltete auch er die Hände und betete mit. Nach¬ dem ſie geendet, trat er zu Benjamin, reichte ihm die Hand und ſagte mit bewegter Stimme:

Benjamin, verzeihe mir, daß ich Dich ſo vergeſſen konnte, ich bin recht traurig darüber.

Benjamin nahm ſeine Hand in beide Hände und drückte ſie herzlich. Dann wandte ſich Fritz zu Gretchen:

Verzeihe auch Du mir, Gretchen, ich ſchäme mich vor Euch und vor Gott, daß ich ſo lieblos ſein61 konnte und nach dem armen Benjamin nicht einmal fragen.

Eben fiel ein feiner Sonnenblick durch eine thauende Fenſterſcheibe und auch ein Lichtblick fiel in Fritzens Herz. Herr, dein Wille geſchehe! Gretchen ſtand vor ihm ſo friſch und hold und rein, mit ſo verſöhnlichem Blick. Fritz fühlte ſeine Zukunft ent¬ ſchieden, er fühlte, wohin der Herr ihn haben wollte und wo er ſeinen Frieden ſuchen ſollte. Die wilden Ranken ſeines Herzens mußte er abſchneiden. Schade um die Zeit, die er ſie hatte wuchern laſſen!

Gretchen nahm Abſchied von ihrem alten Freunde, mußte aber das Verſprechen geben, wieder zu kommen.

Ja, darum bitte ich Dich auch, ſagte Fritz, Du ſollſt nicht kommen, um Benjamin zu pflegen, nein, Du ſollſt Dich nur überzeugen, daß ich meinen Fehler gut gemacht habe.

Benjamin machte Scherz aus der Sache, Gret¬ chen ſtimmte ein und die jungen Leute verließen ihn. Unten in der Werkſtatt ſagte Fritz noch in aller Eile, um doch etwas zu ſagen: Ich habe ſchon längſt ein¬ mal zu Euch kommen wollen, aber das böſe Wet¬ ter, man iſt ſo eingeſchneit.

Bei uns wird jeden Tag gekehrt, entgegnete Gretchen.

Ja, es iſt auch meine Schuld, fuhr Fritz fort; und als nun Gretchen im Vorbeigehen ihre Finger auf einen halb vertrockneten und vernachläſſigten Ge¬ ranientopf legte, ward er noch verlegener. Den armen Topf habe ich auch vergeſſen, aber ich will ihn doch begießen. Gretchens Hand fuhr erſchrocken62 zurück, ſie hatte ihn ja nicht von neuem beunruhigen wollen. In dieſem Gefühle ließ ſie auch ein Bierglas dicht an der Tiſchkante ſtehen, obgleich es ihr in den Fingern zuckte, es ſicherer zu ſtellen. Der geringſte Anſtoß mußte es hinunter ſtoßen.

Fritz aber, als ſie an der Wohnſtubenthür vor¬ bei kamen, nöthigte Gretchen, den Vater zu begrüßen. Er machte die Thür auf, der Alte lag im Lehnſtuhl mit geſchloſſenen Augen. Heller Sonnenſchein lag auf dem friedlichen Geſichte, er ſchlug die Augen auf, und als er Gretchen und Fritz vor ſich ſtehen ſah, meinte er, ſein Lieblingstraum ſei Wirklichkeit gewor¬ den; ſein Geſicht verklärte ſich. Ach Gretchen! rief er aus und ſtreckte ihr beide Hände entgegen. Fritz aber wandte ſich zum Fenſter. Sein Vater hätte ja ſchon ſo glücklich ſein können, wer weiß denn, wie viele Tage er noch zu zählen hat! Aber er ſoll glück¬ lich ſein, Gretchens Hand ſoll ſeines Lebensabends pflegen. Ja, ja! ſprach ſein Herz, und ſein Auge folgte dem Sonnenſtrahle hinan zum blauen Himmel, und alle Qual und Unruhe war aus ſeinem Herzen verſchwunden.

Daß Fritz in den letzten Tagen beſonders unru¬ hig, zerſtreut und traurig geweſen war, hatte ſeinen Grund. Eines Nachmittags hatte er in einer der Hauptſtraßen neue Meubel abzuliefern. In demſelben Hauſe war unten ein Buchladen, und als Fritz oben ſein Geſchäft beendet, trat er unten in den Laden. Die Herren darin kannten den jungen Tiſchlermeiſter wohl, und ſahen es gern, wenn er ſich hin und wie¬ ter hübſche Bücher anſah, denn nicht ſelten kaufte er63 auch davon. Heute hatte er ſich beſonders feſtgeblät¬ tert und feſtgeleſen, und es war ſchon tiefe Dämme¬ rung, als er den Laden verließ. Sein Weg führte ihn vor dem Schauſpielhauſe vorbei. Trotz der Kälte war es hier ziemlich belebt, und zu ſeinem Schrecken erkannte er zwiſchen den Leuten Klärchen am Arme eines Mannes. Er konnte nicht widerſtehen, er mußte erfahren, wer das ſei. Nach einigem Hin - und Her¬ wenden gelang es ihm, das Geſicht des Mannes zu ſehen, er war jung und ſchön mit dunkelblondem Haar und einem großen Schnurrbart. Plaudernd ging das Paar in das Haus, Fritz folgte ihnen, er ſchämte ſich, aber er konnt‘ es nicht laſſen. Vom Parterre aus entdeckte er bald Beide in einer halbdunkeln Par¬ quetloge. O wie vertraulich ſie mit einander waren! Er blieb nicht lange, er hatte bald genug geſehen. Im Hinausgehen fragte er einen Zettelträger, wer der blonde Herr mit dem Schnurrbart ſei. Graf Bründel, war die Antwort. Graf Bründel! wieder¬ holte ſich Fritz. Den Namen hatte er wohl gehört: es war der leichtſinnigſte, tollſte Offizier der Garniſon, Klärchen ſeine Geliebte! Dieſe Gedanken hatten ihn in den Tagen beſchäftigt, als Benjamin krank war; darüber hatte er Alles um ſich her vergeſſen. Aber ſein Herz ſollte nun geheilt werden, und er ſann nur auf Mittel, wie der Armen wohl noch zu hel¬ fen ſei.

Klärchen aber fühlte ſich nicht arm, nein, un¬ endlich reich, ſie liebte und ward wieder geliebt und von einem vornehmen Manne ward ſie geliebt. Wie ſchön, wie fein und galant war ihr Graf; er64 hing an ihren Blicken, ſie hatte nur über ihn zu be¬ ſtimmen! Als der Sohn der Generalin ſie damals ſo plötzlich aufgegeben, war ſie wie ſchon erzählt ſehr unglücklich, doch nicht lange. Sie ſah ſich bald nach Troſt um, ihr Herz war einmal des leichtfertigen Spiels gewohnt, es konnte jetzt nicht mehr ohne daſ¬ ſelbe beſtehen. In dieſer Stimmung traf ſie der erſte Brief des Grafen Bründel. Mit Entzücken ward die Sache angeknüpft, ihr heißes Herz war lange nicht ſo ſpröde, als mit dem Mediziner, ſie meinte es dies¬ mal auf eine andere Weiſe verſuchen zu müſſen, und hatte die feſte Ueberzeugung, es könne ihr diesmal nicht fehlen. Vier Wochen waren im ſüßen Taumel vergangen. Frau Krauter machte ſich kein Gewiſſen daraus, die Zuſammenkünfte der jungen Leute zu be¬ günſtigen. Der Graf hatte meiſtens eine volle Börſe, und ſie führte ein herrliches Leben dabei. Er hatte auch verſprochen, ſich mit Klärchen trauen zu laſſen, und Mutter und Tochter glaubten daran; ja, Klärchens Klugheit war dem Sinnenrauſche ganz gewichen. Sie dachte nicht an die Zukunft, ſie wollte nicht an die Zukunft denken, die Gegenwart war zu ſüß. Im Theater war ſie öfters geweſen, und in künftiger Woche wollte der Graf ſie auf eine Redoute im Thea¬ terlokale führen. Das war der Höhepunkt alles Ver¬ gnügens. Seit vierzehn Tagen ſtudirte Klärchen in allen Modeblättern und durchſtöberte Läden, wo Masken¬ anzüge verliehen wurden. Endlich hatte ſie ſich für eine Diana entſchieden, aber unbedingt mußte dazu ein grüner Sammetüberwurf angeſchafft werden, der eigens ihrer ſchlanken Geſtalt angemeſſen war. Woher65 aber das Geld dazu nehmen? Es war gerade Ebbe in allen Kaſſen, die Mutter hatte ſchon einige Male nach neuen Zuſchüſſen geſeufzt, aber der Graf hatte keine Anſpielung verſtanden, weil er gerade ſelbſt nichts hatte. Borgen konnte Klärchen nicht mehr, denn in allen Läden faſt hatte ſie Plemperſchulden, auch Au¬ guſte Vogler bekam beinahe zwei Thaler. Die Schul¬ den machten ihr weiter keine Sorgen, ſie hätte es längſt bezahlen können und würde auch bald wieder Geld die Fülle haben, es war nur dieſe augenblick¬ liche Verlegenheit. Den ächten Sammetüberwurf hatte ſie ſchon aufgegeben, es brauchte auch nur ein un¬ ächter zu ſein, und dazu gehörten kaum einige Thaler. Bei dieſem Grübeln führte ihr der Teufel immer den vollen Geldkaſten im Schreibtiſch der Generalin vor. Stehlen? nein! ſie entſetzte ſich vor dem Gedanken. Vermiſſen würde freilich die Generalin eine ſo kleine Summe nicht, denn ſchon öfter hatte ſie mit Klärchen geſonnen, ob ſie nicht einige Poſten in ihr Haushalts¬ buch einzutragen vergeſſen hätte, und ſich bald beru¬ higt, wenn ſie die Summe nicht finden konnte. Der Gedanke kam wieder und immer wieder, je näher die Zeit der Redoute heranrückte. Für einige Tage we¬ nigſtens könnteſt du das Geld nehmen und legſt es wieder hinein, flüſterte ihr der Böſe zu. Sie wider¬ ſtand nicht, was hätte auch in ihr widerſtehen ſollen? Die Klugheit, ihre einzige Waffe, mit der ſie ſich vor Sünde und Untergang ſchützen wollte, rieth ihr gerade den Schritt. Du entlehnſt es nur, du nimmſt es nicht, ſagte dieſe Klugheit; dazu erfährt es Niemand, und das grüne Sammetgewand iſt nothwendig zu dei¬566nem Glücke. Am anderen Morgen machte ſie das bekannte Manöver mit dem Schlüſſel. Ihre Hände zitterten, als ſie in den Kaſten griff, und angſtvoll ſchlug ihr Herz. Doch als ſie den Abend bei der Mutter war und vor dem Spiegel den grünen Sam¬ met probirte, zitterte ſie nicht mehr. Ja, als ſie einige Tage darauf an des Grafen Arm durch die Reihen flog, als ihre Geſtalt laut bewundert, ihre Schönheit geprieſen ward, da ſchwieg das Gewiſſen ganz und gar. Der Graf gab ihr den Abend noch einiges Geld, denn ſie geſtand ihm, daß ſie Schulden hätte, und Guſtchen Vogler war ſchon ungeduldig geworden. Zu¬ erſt ſollte aber die Summe in den Schreibtiſch der Generalin gelegt werden, ſo war es ihre Abſicht. Da ſie am andern Morgen ſpäter als gewöhnlich aufſtand, mußte ſie es bis zum nächſten verſchieben. Den Tag aber überlegte ſie ſich die Sache noch einmal. Die Generalin hatte nichts gemerkt, ſie war gleich freund¬ lich und gütig, von der Seite war Klärchen ſicher. Sie nahm ſich daher vor: lieber erſt die kleinen Schul¬ den in den Kaufläden zu bezahlen, um bei nächſter Gelegenheit wieder borgen zu können. Als ſie mit dem Reſt ihrer Summe im letzten Laden ſtand, be¬ merkte ſie mit Schrecken, daß dieſe Summe nicht aus¬ reiche. Noch dazu hatte ſie groß gethan, von Bezah¬ len geſprochen, und der älteſte Diener gerade hatte ihr die Summe ausgezogen, mit der höflichen, aber doch ernſten Bemerkung: daß es eigentlich nicht erlaubt ſei, Damen in ihrer Stellung ſolche Vorſchüſſe zu machen. Klärchens Hochmuth regte ſich gewaltig, die Summe mußte um jeden Preis bezahlt ſein. Sie, die67 künftige Gemahlin eines Grafen durfte ſich ſo etwas nicht gefallen laſſen. Sie nahm die Rechnung und verſicherte, in einigen Minuten wieder da zu ſein. Zu Guſtchen Vogler ging ihr Weg. Guſtchen mußte das Geld geben. Sie verſprach heilig, es ihr am an¬ deren Morgen um zehn Uhr wieder zu übergeben. Guſtchen war gutmüthig; ſie gab das Geld, verſicherte aber, wenn ſie am anderen Morgen es nicht wieder bekomme, mache ſie Lärm bei der Generalin. Mit Triumph bezahlte Klärchen die Rechnung und bemerkte ſchnippiſch: es gäbe Läden, wo Damen ihrer Stellung ganz gern geſehen würden. Darauf ſchrieb ſie gleich bei der Mutter einen Brief an den Grafen, den dieſe eiligſt beſorgen mußte. Es war das erſte Mal, daß Klärchen Geld forderte, aber Noth bricht Eiſen, und dieſer Aufforderung konnte er gewiß nicht widerſtehen. Mit klopfendem Herzen wartete ſie auf der Mutter Rückkehr; dieſe aber brachte den traurigen Beſcheid: der Graf ſei nicht zu Hauſe. Die Mutter verſprach: ſo oft hinzugehen bis ſie ihn ſpreche, und bis mor¬ gen früh um zehn das Geld anzuſchaffen. Der Abend verging, der Morgen verging, die Mutter kam nicht. Endlich brachte ſie den Beſcheid, der Graf ſei geſtern ſpät Abends nach Haus gekommen, aber heut früh verreiſ't. Klärchen war außer ſich, Guſtchen kam dazu und wurde mit den heiligſten Verſprechungen bis mor¬ gen vertröſtet. Noth bricht Eiſen, dachte Klärchen, morgen früh hole ich Geld aus dem Schreibtiſch; hat ſie es einmal nicht gemerkt, wird ſie es das andere Mal auch nicht merken. Den Abend mußte die Mut¬ ter noch einmal nach dem Grafen ausſehen. Er war5 *68noch nicht zurück, und Klärchen ging am andern Mor¬ gen mit großer Beſtimmtheit an ihr Werk. Diesmal war ſie kühner. Sie nahm nahe an drei Thaler und wollte eben den Kaſten wieder ſchließen, als ſich die Thür hinter ihr öffnete, und die Generalin herein trat. Klärchen ſchrie laut auf. Alſo doch! ſagte die Generalin. Klärchen hielt beide Hände vor das Ge¬ ſicht. Ihre Sinne wollten ſchwinden.

Klärchen! ſagte die Generalin, ich habe ſchon vor acht Tagen gemerkt, daß Jemand bei meiner Kaſſe geweſen; ich war aber meiner Sache nicht ge¬ wiß und beſonders wollte ich nicht glauben, daß Sie der Dieb ſeien.

Dieb! ſchluchzte Klärchen, ich wollte nicht ſtehlen, ich wollte das Geld wieder hineinlegen.

Thörichte Reden! entgegnete die Generalin be¬ ſtimmt. Sie haben geſtohlen, haben auf ganz abſcheu¬ liche Weiſe mein Vertrauen gemißbraucht; nichts kann Sie jetzt vor einer gerichtlichen Unterſuchung retten, als wenn Sie mir ganz der Wahrheit gemäß ihren Frevel geſtehen und auch die Beweggründe dazu. Ue¬ berhaupt muß ich jetzt Ihren ganzen Lebenswandel kennen lernen, von dem ſich in der letzten Zeit ſehr ſchlimme Gerüchte verbreitet haben.

Klärchen war in einer entſetzlichen Lage. Aller Hochmuth, aller Stolz war dahin. Die Sünde iſt feig, Furcht folgt ihr auf den Ferſen. Furcht war es, die Klärchens Weſen durchzitterte; ſie dachte an ihre Liebe, an den Grafen, freilich ihm zu Liebe war ſie ja eine Diebin geworden; ſie dachte aber an ihre Freundinnen, an Tante Rieke. Ja ſie bekannte, ſie69 ſchilderte ihre erhabene Liebe zum Grafen. Wenn er nicht verreiſt war, hätte ſie das zweite Geld nicht ge¬ nommen, ja ſie würde das erſtgenommene Geld wieder hinzugelegt haben. Seine Liebe war ſo großmüthig gegen ſie. Alles, was ihm gehörte, war auch das Ihre; ja er hatte verſprochen, ſie zu heirathen.

Die Generalin erwiederte ihr, daß ſie ein armes, getäuſchtes Mädchen ſei, daß es aber allen Leichtſinni¬ gen ſo gehe. Wie würde ein achtbares Offiziercorps es je dulden, daß der Graf ein Mädchen heirathe, wie ſie!

Klärchen ſah die Sprecherin groß an bei dieſen Worten. Wie ich? fragte ſie leiſe.

Ja wie Sie! wiederholte die Generalin. Sie haben ſich des Abends auf der Straße umhergetrieben, Sie gelten in der Stadt als eine leichtfertige Koquette, und der Graf iſt nicht Ihre erſte Liebe.

Klärchen ward roth. Sollte die Generalin vom Mediziner wiſſen? Oder wollte ſie nur verſuchen, die Wahrheit zu erfahren? Zu jeder andern Zeit würde ſie geleugnet haben, jetzt aber war ſie von der Furcht beherrſcht: ſie ſchwieg zu dieſer Beſchuldigung und be¬ gann nur, die Generalin wegen ihres Fehlers, wie ſie die Entwendung des Geldes nannte, um Verzei¬ hung zu bitten.

Die Generalin hielt ihr eine lange Rede, ſtellte ihr die Folgen eines ſolchen Lebenswandels vor, die allerdings anders ausſchauten, als Klärchens Bilder von der Zukunft. Zugleich aber verſprach die nach¬ ſichtige Dame, von der Sache nicht zu reden und Klär¬ chen bis Oſtern ruhig im Dienſt zu behalten. Da70 Sie aber wahrſcheinlich zu ſchwach ſind, ſchloß ſie dieſe Unterredung, das Verhältniß mit dem Grafen aufzulöſen, ſoll das von ſeiner Seite geſchehen; er ſoll es erfahren, wohin ſein Leichtſinn ein armes un¬ glückliches Mädchen gebracht hat, er ſoll es erfahren, daß er Sie zur Diebin machte.

Dies Letzte brachte Klärchen faſt zur Verzweiflung, ſie flehte, ſie bat, aber vergebens, die Generalin blieb bei ihrem Vorſatz, und Klärchen mußte endlich das Zimmer verlaſſen. Ihr Erſtes war nun, ſelbſt an den Grafen zu ſchreiben; ſie ſchilderte ihr Unglück, ihre Liebe, ihre Verzweiflung, wenn er ſie verließe. Sie benetzte den Brief mit Thränen, daß die Schrift kaum zu leſen war, und gerade als ſie ihn geſiegelt hatte, trat ihre Mutter ein.

Du kommſt wie ein Engel des Himmels, ſagte Klärchen, Du mußt ſchnell den Brief zum Grafen tragen.

Iſt nicht nöthig, ſchmunzelte die Mutter, ich habe das Geld ſchon.

O Gott, ſtammelte Klärchen, ſo wäre es gar nicht nöthig geweſen! Sie bedeckte das Geſicht mit beiden Händen und weinte heftig. Hätte ſie doch nur noch eine Stunde gewartet, ſo wäre das Unglück nicht über ſie gekommen! Die Mutter war außer ſich über den Schmerz der Tochter, ſie forſchte, ſie tröſtete, ſie erzählte, wie ſie geſtern Abend noch ſpät zum Grafen gelaufen, wie ſie ihn auch da nicht gefunden, wie ſie ihn aber heut früh im Bette getroffen, und er das Geld habe herausrücken müſſen. Er brummte freilich71 ein Bißchen (ſetzte die Mutter hinzu), und meinte, das ginge über ſeine Kräfte.

Sagte er das? entgegnete Klärchen heftig. O trage ihm das Geld wieder hin, und meinen Brief dazu; ſage ihm: ich wolle nichts weiter, als ſeine Liebe, und er ſolle gleich antworten. Aber geh 'gleich, Mutter, und komm gleich wieder.

Die Mutter verſtand von Allem nichts, ſie ſchüt¬ telte den Kopf, ſie wußte nur: Guſte Vogler würde kommen, um das Geld zu holen, und die würde nicht wenig Lärm machen, wenn ſie nichts bekäme. Sie redete alſo der Tochter zu. Ihr Liebesleute, ſagte ſie, da zankt Ihr Euch nun und macht Euch unnöthig Noth. Nimm ruhig das Geld und bezahle Deine Schulden, ich will ihn heut Abend zu uns beſtellen, da könnt Ihr Euch verſöhnen. Klärchen, laß Dich die Liebe nicht verblenden! Der Graf entſchlüpft Dir noch wie mein Rechtsgelehrter.

Klärchen wollte eben auffahren, als es an der Thür klopfte. Guſte! ſagte ſie leiſe und ſah dabei unwillkürlich auf das Geld in der Mutter Hand.

Soll ich? fragte dieſe.

Ja, entgegnete Klärchen ſeufzend, bezahle nur, aber geh 'vor die Thür, ſag', ich ſei krank.

Die Mutter ging und die Sache war bald abge¬ macht. Jetzt aber mußte ſie die Beſorgung des Brie¬ fes an den Grafen übernehmen; ſie verſprach, gewiß nicht ohne Antwort wieder zu kommen.

Aber ſie kam doch ohne Antwort. Der Graf war ſchon im Dienſt geweſen, und Frau Krauter zum Nachmittag wieder hinbeſtellt. Klärchen verlebte qual¬72 volle Stunden, ſie hatte ſich zu Bett gelegt, um nur nicht Leuten in das Geſicht ſehen zu müſſen. Hier lauſchte ſie jedem Fußtritt auf der Treppe. Sie machte ſich wunderliche Phantaſien. Wenn er ihren Brief lieſ't, wird ſein Herz zerſchmelzen, er wird ihr Unglück nicht ertragen können, er wird ſelbſt zu ihr kommen, er wird trotzen der Welt und der Generalin und wird ſie ſelbſt tröſten, beruhigen und ihr aus dem Wirr¬ warr helfen. Aber wie ward ihr, als die Mutter in der Dämmerung zu ihr eintrat mit dem kalten Be¬ ſcheid: Der Graf ſei ſehr verdrießlich geweſen, er habe von einem zweiten Briefe geſprochen, von ſchrecklicher Unvorſichtigkeit, von kaum zu löſenden Unannehmlich¬ keiten, er müſſe ſich die Sache überlegen und wolle morgen Beſcheid ſchicken.

Das war ein Todesſtoß für Klärchen. Sie fühlte ſich in einer ſolchen Nacht des Unglücks, daß ſie kei¬ nen Gedanken faſſen konnte, ſie fühlte nur, die Sache mit dem Grafen ſei aus. Sie blieb auch den folgen¬ den Morgen im Bett liegen, ſie konnte nichts anders thun, als weinen und das ſollte Niemand ſehen. Zu¬ weilen kam der Hoffnungsſchimmer: die Mutter könne doch noch einen tröſtlichen Brief bringen, ſie dachte wenige Tage zurück, wie ſeine Liebe da ſo heiß, ſeine Verſprechungen ſo heilig, ſo für die Ewigkeit geweſen; aber ſie bedachte nicht, daß alle ſolche Betheurungen nur Teufelswerk ſind, die wie Seifenblaſen verwehen; ſie gehörte zu den Tauſenden von thörichten Jung¬ frauen, die ſolchen Verſicherungen trauten.

Doch lange blieb ſie nicht in Ungewißheit. Die Mutter kam mit dem Briefe, und der war wie ſie73 bei ſolchen Gelegenheiten auch zu Tauſenden geſchrieben werden. Noch Verſicherungen heißeſter Liebe, aber man muß der Nothwendigkeit, der Pflicht, der Ehre weichen, wenn auch das Herz darüber bricht. Klär¬ chen las und weinte, und weinte und las wieder, und blieb den Tag im Bett liegen. So viel Beſinnung nur hatte ſie, den größeren Theil der Goldſtücke, die der Graf mitgeſchickt, für ſich zu behalten und der Mutter nur den kleineren zu geben.

Der März war gekommen, der Schnee geſchmol¬ zen, und die warme Frühlingsſonne ſchien auf die belebten Straßen. Klärchen hatte unter dem Vorgeben, ſie ſei krank, das Haus 14 Tage lang nicht verlaſſen; eigentlich aber fürchtete ſie ſich ihren Bekannten zu begegnen, und beſonders der Tante Rieke. Die Mut¬ ter hatte vorläufig der Tante vom Dienſtwechſel ſagen, und als Grund dazu angeben müſſen: Klärchen könne das Sitzen nicht vertragen, ſie hätte ſich darum nach einem Dienſt umgeſehen, wo ſie mehr Bewegung hätte.

Eines Tages nun ging Klärchen aus, um Be¬ ſorgungen für die Frau Generalin zu machen. Die Sonne ſchien ſo warm, Kinder ſpielten luſtig auf der Straße, vom nahen Exerzierplatz klang laute Muſik zu Klärchens Ohren. Klärchen aber war betrübt und verbittert; gerade das fröhliche Treiben überall, das luſtige Ausſehn der ganzen Welt war ihr unangenehm. Noch unangenehmer aber war es ihr, daß Tante Rieke ihr entgegen kam. Ausweichen konnte ſie nicht, ſie74 mußte ſich alſo auf eine ernſte Unterredung gefaßt machen. Die Tante war aber nicht ſo ſchlimm, als ſie gefürchtet.

Du ſiehſt recht blaß aus, ſagte ſie theilnehmend, mußt doch recht krank geweſen ſein.

Klärchen erzählte ſo gut wie möglich und fügte hinzu, daß der neue Dienſt im Hotel Reinhard gewiß paſſender für ſie ſein würde.

Aber ein Gaſthof! ſagte die Tante.

Ich habe mit dem Gaſthofsleben gar nichts zu thun, entgegnete Klärchen, ich bin die Mamſell, die allen Kaffee und Zucker unter ſich hat, ich habe das Frühſtück auf die Zimmer zu ſchicken, und die Wäſche unter mir. Dazu bekomme ich 60 Thaler Gehalt und viele Geſchenke.

Es ward ihr nicht ſchwer die Tante zu beruhi¬ gen. Im Sprechen hatten ſie der Tante Haus erreicht. Klärchen mußte mit eintreten. Gretchen ſtand in der Stube und haſpelte. Was iſt das langweilige Arbeit, wenn die Sonne ſo warm in das Fenſter ſchaut und einen immer in das Freie ruft! ſagte ſie; aber es iſt nun das Letzte und wir machen Schicht mit dem Spinnen. Bei den Worten beugte ſie ſich über einen Topf mit blühenden Schneeglöckchen, als ob ihr der Anblick neue Kraft zu ihrer Arbeit geben ſolle.

Wo haſt Du denn ſchon die hübſchen Blumen her? fragte Klärchen.

Von Benjamin, entgegnete Gretchen, und ward roth dabei, denn ſie wußte, daß Fritz Buchſtein die Blumen in den Topf geſetzt hatte, und das war ihr das Schönſte daran. Benjamin iſt wieder geſund, er75 hat die Blumen in ſeiner Stube zur Blüthe gebracht und ſie mir dann geſchenkt. Und ſieh nur die weißen Blümchen, wie ſie ſo rein und zart daſtehen und ihre Köpfchen ſo ſtill niederbeugen. Ich mag keine Blumen lieber, als die Schneeglöckchen, und Benjamin hätte mich durch nichts mehr erfreuen können.

Klärchen ſtimmte mit Worten ein, aber ihr Herz war matt, ſie konnte ſich nicht über Blumen freuen.

Jetzt bin ich fertig! ſagte Gretchen fröhlich, nun hilf mir, Klärchen, Erbſen legen und Salat ſäen. Ein Hauptſpaß iſt es, die Sachen alle recht früh zu haben. Sie ſetzte einen Nankinghut auf, nahm den bereit ſtehenden Samen und ging der Tante und Klärchen voran.

Der Himmel war lichtblau, weiße Frühlings¬ wölkchen zogen daran, der Erdboden war braun und friſch, die Veilchen legten ihre ſeidenen Blättchen aus¬ einander, die Stachelbeerbüſche hatten einen grünen Schimmer, der Buchfink ſchlug, Spatzen lärmten, Tau¬ ben girrten auf den Dächern, und in den Nachbars¬ gärten ward gearbeitet, geplaudert und geſungen. Auch Benjamin ſchaute zum Fenſter hinaus, der Matz ſaß ihm auf der Schulter und rief: Jungfer Gretchen, ſo recht. Gretchen rief: er ſolle ſchweigen, ſeine häßliche Stimme paſſe nicht zum Frühling. Benjamin aber flüſterte dem Vogel etwas zu, und der ſchnarrte ſein Racker, Spitzbub mit ſo vielem Eifer, daß ſelbſt Fritz Buchſtein das Fenſter ſeiner Werkſtatt auf¬ machte und Ruhe gebot. Doch er trat auch in den Garten und ſah über das Staket hinüber, Gretchen76 bei der Arbeit zu. Daß Klärchen dabei war, zog ihn wohl auch hinaus, aber es machte ihn nicht mehr verlegen, nein, der Herr hatte ſeine Gebete erhört und ſeinem Herzen Ruhe gegeben; nur eine Theilnahme für das arme unglückliche Mädchen fühlte er noch. Er wußte ihr Schickſal mit dem Grafen ziemlich ge¬ nau. Wenn ſie doch jetzt noch umkehrte! dachte er, ihre Bläſſe und ihr Stillſein waren ihm eine Beru¬ higung.

Doch Gretchen ließ ihn nicht lange bei dieſen Gedanken, ſie war ſo friſch und fröhlich, ſein Herz freuete ſich über ſie. Als Benjamin ſie neckte wegen der ſchiefen Reihen auf dem Erbſenbeete, ſchwang ſich Fritz am alten Fliederbaume über das Staket und übernahm ſelbſt das Amt des Reihenziehens. Frau Bendler ſtand glücklich dabei, und der alte Buchſtein, der am Stock geſtützt, ſich von der Frühlingsſonne wärmen ließ, ſchien ſich noch mehr zu erwärmen am Anblick ſeines glücklichen Sohnes und des braven Gret¬ chens.

Klärchen konnte es nicht aushalten zwiſchen dieſen glücklichen Menſchen. Fritz Buchſtein liebt die Grete, das iſt richtig. Gretchen kam ihr heut ordentlich hübſch vor. Und Fritz? den hatte ſie längſt zu gut für die Grete gefunden. In dieſer Stimmung wandelte ſie faſt etwas wie Reue an, den Fritz ſo ſchnöde behan¬ delt zu haben. Daß er ſie erſt geliebt, fühlte ſie zu beſtimmt, und jetzt, wo ihr Glück in der vornehmen Welt geſcheitert, konnte ſie ſich das Leben in einem ſtattlichen Bürgerhaus an der Seite eines Fritz ſchon möglich denken. Freilich müßte ſie ja dann ein from¬77 mes, fleißiges, ordentliches Märchen wie Gretchen ſein, flüſterte eine Stimme in ihrem Innern, und ihr Gewiſſen regte ſich, Thränen liefen ihr über die blaſ¬ ſen Wangen.

Wieder einige Monate waren vergangen, der Sommer war herrlich. Gretchen freute ſich erſt an den Blüthenbäumen, dann an den duftenden Roſen. Fritz hatte auch in ſeinem Garten Blumen gepflanzt und geſäet, daß Alles luſtig durch einander blühte. Benjamin hatte ſeine Freude an dem Paar, er neckte ſie aber auch und war kühn in ſeinen Neckereien, denn nach einem ſchönen, warmen Sommerregen brach plötz¬ lick ein F. und G. aus der braunen Erde heraus und war bald in krauſer grüner Kreſſe ſehr deutlich zu leſen. Seinen Staarmatz lehrte er heimlich eine neue Rede, und ſein Dompfaff ſang lieblicher als je: Lobe den Herrn o meine Seele.

Auch Klärchens Thränen waren wieder getrocknet, ihre Wangen wieder aufgeblüht. Das Gaſthofsleben gefiel ihr wohl. Sie ward von den Fremden bewun¬ dert, man war galant gegen ſie, man ſchmeichelte ihr. Daß dies keinen weiteren Einfluß auf ihr künftiges Leben haben würde, wußte ſie, es waren Fremde, die nach ein oder zwei Tagen abreiſten, und ſich nur amü¬ ſiren wollten. Sie war daher ſehr zurückhaltend und wollte überhaupt mit vornehmen Leuten nichts zu thun haben. Ihre Phantaſien waren aus dem Hochroman¬ tiſchen zur Idylle hinabgeſtiegen. Nur ein fühlendes Herz und Bildung mußte der Mann haben, mit dem78 ſie in einem kleinen Stübchen leben ſollte. Und einen ſolchen Mann hatte ſie bald gefunden. Es war der Oberkellner des Hotels; ſeine Bildung war untadel¬ haft, er ſprach engliſch und franzöſiſch, ging immer in ſchwarzem Frack und weißer Halsbinde, und hatte in ſeinem Weſen etwas überaus Vornehmes. Daß ſie gerade mit ihrer Liebe Schiffbruch gelitten, kam Herrn Eduard zu gute, denn bald war er ihrer Liebe gewiß. Natürlich hatte er ihr vorher ſeine Verhält¬ niſſe klar auseinander geſetzt. Eigentlich konnten ſie jetzt ſchon heirathen, er hatte 200 Thaler Zinſen und ſtand ſich beinahe ebenſo viel im Dienſte: aber ſein Streben ging nach einem eigenen Hotel, ſeine Kennt¬ niſſe, ſeine Bekanntſchaften mußten es ihm leicht ma¬ chen eines zu erhalten, ja, er war ſchon nach verſchie¬ denen Seiten hin in Unterhandlungen geweſen. Er malte Klärchen die herrlichſte Zukunft. Sie, die Dame des Hotels, ſollte ein Leben wie eine Prinzeſſin füh¬ ren, und ſchalten und walten nach Wohlgefallen. Klärchen vergaß ganz die Vergangenheit und ward wieder kühn in ihrem Auftreten, und ſehr ſelbſtgefällig und mit ſich zufrieden. Zum 10. Auguſt, Klärchens Geburtstag, hatten ſie ſich vorgenommen, die Verlo¬ bung zu veröffentlichen. Der Bräutigam hatte ihr im Voraus einen roſa Taffethut und eine ſchwarze Atlas¬ mantille geſchenkt. Beides lag auf dem Sopha in ihrem Stübchen, ein ächtes Batiſttuch und gelbe Glaceehand¬ ſchuh daneben. Es war am Vorabend des Geburts¬ tages, ſchon ganz ſpät dämmerig, ihre Stubenthür war nur angelehnt, da hörte ſie zwei flüſternde Stimmen auf dem Korridor.

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Thee will er haben, ſo mach doch nur! Er iſt beſoffen, hat aber noch ſo viel Verſtand, daß er weiß, was ihm noth thut.

Der kann was vertragen! entgegnete die andere Stimme, ein anderer ehrlicher Menſch wäre den gan¬ zen Tag beſoffen, wenn er ſo viel tränke wie der.

Und ein Spitzbube iſt er dazu, ſagte wieder die erſte Stimme; alle Monat hundert Thaler ſchlägt er gewiß unter, und der alte Eſel merkt's nicht und hat den Narren an ihm gefreſſen.

Die Stimmen entfernten ſich jetzt, Klärchen war in beſonderer Aufregung. Wen meinten ſie? Wer war der Spitzbube, der Betrunkene? Eine ſchreckliche Ah¬ nung ging durch ihre Seele. Sollte es Eduard ſein? Schon einigemal hatte er ſo nach Wein geduftet, daß ſie ihn darauf angeredet; er aber hatte gelacht und gemeint, er wäre ein ſchlechter Kellner, wenn er den Wein nicht probiren wolle, auch wäre es durchaus nothwendig bei ſeiner anſtrengenden Lebensweiſe, ſich zuweilen mit einem guten Schluck zu ſtärken. Daß der Wein aber auch nur die geringſte Wirkung auf ihn geübt, hatte Klärchen noch nie gemerkt. Sie fing an ſich zu beruhigen: er iſt es doch wohl nicht. Nun gar der Spitzbube! das konnte ja nicht auf ihn gehen, er ſah ſo nobel aus, er ſprach ſo ſchön. Freilich leichtfertig konnte er auch zuweilen reden, und näher kannte ſie ihn nicht, und wußte nicht, wie es mit ſei¬ ner Moral beſchaffen. Dazu ſchlug ihr eignes Ge¬ wiſſen; ihre eigne Moral war doch eigentlich auch: wenn es nur die Leute nicht wiſſen. Dieß, daß es die Leute wußten, daß gewiß zwei Kellner die Reden¬80 den geweſen, war das Unangenehmſte bei der Sache. Sie mußte den Grund dieſes Geſpräches wiſſen, ſie mußte aus ihrer Ungewißheit kommen, und verließ deshalb ihr Zimmer. Im Vorbeigehen faßte ſie an ihres Bräutigams Thür, die war verſchloſſen. Dar¬ auf ſah ſie in den Salon. Hier war er nicht. Sie ging in die Küche und erkundigte ſich, für wen der Thee beſtimmt ſei. Für Herrn Eduard, ſagte die Kö¬ chin unbefangen. Der Laufburſche, der mit dem Brett und der Taſſe dabei ſtand, grinſete bei dieſen Worten die Küchenmagd ſehr verſtändlich an. Klärchen mußte ſich ſehr zuſammen nehmen, um ihre Bewegung nicht merken zu laſſen; ſie konnte den Abend auf ihrem La¬ ger keine Ruhe finden. Wie entſetzlich, wenn er trinkt! Sie dachte an ihren verſtorbenen Vater, wie der die Mutter dadurch ſo unglücklich gemacht hatte, ſie ſah um ſich noch lebende Beiſpiele genug. Selbſt der alte Vogler, der ſonſt im Haus Alles gehen ließ, wie es wollte, wenn er betrunken nach Hauſe kam, war die kranke Frau und die verzogene Tochter nicht vor ſeinen Schlägen ſicher. Und wie mag es vielleicht mit dem Gaſthof ſtehen? Ob die vorgeſpiegelten Hoff¬ nungen wohl Wahrheit ſind? So allein mit der Nacht und mit ihren Gedanken, ward ihr ganz bange, und wunderlich genug, Fritz Buchſtein und Tante Rieke ſtanden Beide mit ihren ernſten Geſichtern und ſtrafenden Worten vor ihrer Seele. Wenn der Gott, von dem ſie ſo viel reden, dich doch für dein leicht¬ ſinniges Leben ſtrafen könnte? Wenn die Tante Recht hätte mit ihrem Sprüchwort: Wie man's treibt, ſo geht's? Aber was ſollte ſie machen? Jetzt wieder81 zurücktreten das war unmöglich, ihr Ruf würde darunter noch mehr leiden und ihre Zukunft ganz ver¬ loren ſein. Auch wird Eduard ſie nicht laſſen, er liebt ſie zu ſehr, und ſie liebt ihn auch zu ſehr. Ja, das iſt ihr Troſt. Dieſe Liebe muß ihn, ſollte er wirk¬ lich Fehler an ſich haben, beſſern. O, wie erhebend iſt der Gedanke! Er iſt ſo weich, ſo nachgebend, ſie kann ihn um den Finger wickeln, er wird ihr Alles zu Liebe thun, ſie wird einen Engel von Ehemann aus ihm machen. Dieſer Gedanke hat ſchon manche Mädchen zu unglücklichen Frauen gemacht. Sie wollen ihn beſſern, ihn ändern, ſie trauen ihrer ſchwachen Kraft gar Großes zu. Solche Liebe hat noch keinen Mann geändert; und je weichlicher und ſchwächer ſie dieſer Liebe zu Füßen liegen, je weichlicher und ſchwä¬ cher geben ſie ſich wieder den alten Sünden hin. Einen Menſchen ändern, dazu gehört eine andere Macht, gehört die Kraft von oben.

Klärchen aber hatte ſich mit dieſen Gedanken be¬ ruhigt, und als am anderen Morgen Eduard mit ſei¬ ner gewöhnlichen Gewandtheit und Liebenswürdigkeit vor ihr ſtand, war ſie wieder friſchen Muthes. Aber ſagen mußte ſie ihm von dem Geſpräch zur heilſamen Warnung, rieth ihre Klugheit. Auch gab es ihr eine Art von Uebergewicht über ihn, wenn ſie um ſeine Fehler wußte. Sie erzählte es zwar in dem Sinne, als ob ſie nicht an die Möglichkeit ſolcher Dinge glaube; aber er mußte jedes von den erlauſchten Wor¬ ten hören. Eduard ward feuerroth und ſichtbar ver¬ legen, aber Zornesworte mußten die Verlegenheit ver¬ bergen; er wollte die Schurken verklagen, er wollte682ihnen den gottloſen Mund ſtopfen, es ſei Neid, und ſo weiter. Im Grunde aber war er recht froh, daß ihm Klärchen die Perſonen nicht nennen konnte. Eine genaue Unterſuchung wäre ihm doch nicht gelegen ge¬ weſen. Die Anſchuldigung des Betrinkens erklärte er damit, daß er geſtern Wein abgezogen habe, und daß die kalte Kellerluft, nach der Schwüle oben im Haus, ihm nicht wohl gethan, ſodaß er ſchwindlich und ohn¬ mächtig geworden. O, er that ſo erzürnt und erboßt, daß ihm Klärchen die ſchönſten Worte geben mußte, um ihn wieder zu beruhigen. Er ließ ſich auch beru¬ higen, und Beide unterdrückten durch ſüße Worte ihre gegenſeitigen beängſtigenden Gefühle.

Gegen Mittag wanderten Beide zu Tante Rieke. Klärchen hatte die Freude, daß man ihnen überall nachſah, wirklich ein ſchönes Paar! Er ſah wenig¬ ſtens aus wie ein Baron, und ſie nicht minder vor¬ nehm. Was wird die hausbackene Grete, was Fritz Buchſtein ſagen? Grete wird gewiß verlegen dem vor¬ nehmen Manne gegenüber, und Tante Rieke macht einen etwas tieferen Knix.

Aber ſie irrte ſich. Tante Rieke war allerdings verwundert, Klärchen am Arme eines fremden Mannes zu ſehen; und als dieſe den Namen nannte und ihn als ihren Bräutigam vorſtellte, machte ſie ein ſehr ernſthaftes Geſicht. Gretchen aber ſah dem Bräutigam erſt forſchend und dann ganz erzürnt in die Augen. Dieſer ward ſichtlich verlegen dadurch und wandte ſich ab. Klärchen bemerkte das und wußte gar nicht, woran ſie war. Die Tante unterbrach zuerſt die pein¬ liche Pauſe.

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Klärchen, ich hätte geglaubt, du hätteſt uns nicht ſo ſehr überraſcht mit einer ſo wichtigen Sache, ſagte ſie mit einem leiſen Vorwurf im Tone.

Klärchen entſchuldigte ſich damit, daß es ſo ſchnell gekommen, und mit Aehnlichem. Der Bräutigam hatte während deſſen ſeine Faſſung vollſtändig wieder gewon¬ nen und ſpielte den Beleidigten.

Ich hoffe, daß Sie gegen meine Perſon nichts einzuwenden haben, ſagte er gereizt, und daß ich Ihnen ein willkommener Neffe bin. Meine Ver¬ hältniſſe ſind von der Art, daß ich mich Ihnen getroſt als ſolcher nahen darf.

Verzeihen Sie, Herr Günther, entgegnete die Tante ſanft, ich wünſchte nur, Klärchen hätte mehr Zutrauen zu mir gehabt. Gegen Sie bin ich ganz unpartheiiſch, denn ich verſichere Sie, daß Sie uns ganz unbekannt ſind; weder ich noch meine Tochter haben je Ihren Namen gehört.

Ich kenne den Herrn wohl, ſagte Gretchen jetzt leiſe, aber mit unverkennbarem ſcharfem Aus¬ druck.

Ich wüßte nicht, ſtotterte Eduard; vielleicht ſo vorübergehend, vielleicht im Theater oder in einem Kaffeegarten.

Gretchen ſchüttelte den Kopf und ſchwieg, und Eduard ging leicht darüber hin und knüpfte eine leb¬ hafte Unterhaltung an. Tante Rieke aber blieb ziem¬ lich ſchweigſam, und Gretchen und Klärchen ſchwiegen auch, bis zu aller Erleichterung der Beſuch ein Ende hatte.

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Auf der Straße konnte Eduard ſeinen Zorn nicht verhalten. Das mußt Du verſprechen, ſagte er eifrig, mit dieſen rohen, ungebildeten Leuten darfſt Du keinen Verkehr haben. Sie haben mich unter aller Würde behandelt, und was dieſer Stockfiſch, dies Gretchen von mir wollte, begreife ich nicht.

Klärchen war auch ganz außer ſich. Wo waren die Triumphe, die ſie erwartet hatte? Von Gretchen ward ſie nicht beneidet, das fühlte ſie, eher bemit¬ leidet; und dahinter mußte etwas ſtecken. Und daß auch die Tante ſo wenig Freude über den vornehm ausſehenden Bräutigam gezeigt, war ihr entſetzlich, ja das Weinen war ihr nahe; und doch mußte ſie ſich vor dem zornigen Bräutigam jetzt zuſammen nehmen.

Es war den Tag ſehr unruhig im Hotel, ſo daß Beide wenig Gelegenheit fanden, ſich zu ſprechen. Klärchen war ſehr damit zufrieden. Sie wartete nur auf eine paſſende Zeit, um zur Tante ſchlüpfen zu können und den Grund von Gretchens ſonderbarem Weſen zu erforſchen. Als Eduard bei der ſehr zahl¬ reichen Abendtafel beſchäftigt war, führte ſie ihr Vor¬ haben aus. Sie fand die Tante und Gretchen in der dämmernden Stube. Erſt wußte ſie nicht recht, wie ſie beginnen ſollte, aber es half ja nichts und ſie bat mit etwas ſtockender Stimme, ihr zu ſagen, ob ſie etwas Unrechtes von ihrem Bräutigam wüßten. Gret¬ chen ſah verlegen vor ſich nieder.

Klärchen! begann die Tante, vor allen Dingen möchten wir es Dir recht begreiflich machen, daß wir es gut mit Dir meinen. Bei dieſen Worten nahm ſie Klärchens Hand und ſah ſie mit den ſanften brau¬85 nen Augen recht herzlich an. Klärchens Herz war leichtfertig, aber für die Stimme der Wahrheit hatte ſie doch noch Gefühl. Ich glaube es, entgegnete ſie und erwiederte der Tante Händedruck. Dieſe fuhr fort:

Kennſt Du Deinen Bräutigam genau?

Ich kenne ihn ſeitdem ich im Hotel bin, verſetzte Klärchen. Ich weiß, daß er dem Herrn des Hauſes Ein und Alles iſt, daß er eigentlich das ganze Ge¬ ſchäft führt und in Kurzem ſelbſt einen Gaſthof über¬ nehmen wird. Er hat Konnexionen, Vermögen, dazu iſt er gebildet und von Allen, die im Gaſthofe aus - und eingehen, geachtet und geliebt.

Das iſt wohl gut, ſagte die Tante; aber es ſind nur äußere Dinge, und Du könnteſt bei alle dem kreuzunglücklich werden. Weißt Du, ob er ein recht¬ ſchaffener Mann iſt, ob er ein braver Mann iſt, der Gott mehr fürchtet, als die Menſchen?

Freilich hoffe ich, daß er ein rechtſchaffener Mann iſt, und habe keine Urſache, das Gegentheil zu glau¬ ben. Und wißt Ihr etwas von ihm, ſo iſt's Eure Pflicht und Schuldigkeit, es mir zu ſagen.

Der Tante gefielen dieſe Worte wohl, ſie meinte, Klärchen liege ihres Bräutigams Rechtſchaffenheit gar ſehr an der Seele; aber von der war es nur die bren¬ nende Begierde, etwas zu wiſſen, zu hören; ihr Stolz war gedehmüthigt, ſie war innerlich erboßt, ſie hätte mit der ganzen Welt hadern mögen.

Ich will Dir nun erzählen, was wir von Deinem Bräutigam wiſſen, begann die Tante, Du kannſt dann überlegen, was Du zu thun haſt. Im vorletzten Winter, als ich am gaſtriſchen Fieber lag, mußte86 Gretchen für mich manche Krankenbeſuche übernehmen. Unſere ſchwerſte Kranke war damals ein Mädchen, die ein Vierteljahr vorher ein Kind gehabt hatte und jetzt an der Auszehrung elend darnieder lag, ſo arm und verlaſſen, daß es ihr am Allernothwendigſten fehlte, und unſer Verein kaum anſchaffen konnte, was ſie gebrauchte. Bei ihrer äußeren Noth hatte ſie aber auch innerlichen Jammer, ſie ſprach viel von dem Vater ihres Kindes, was der ihr vorgeſpiegelt und verſprochen, und wie er ſie jetzt in Hunger und Kum¬ mer umkommen laſſe. Oft hat Gretchen ihre Klagen über den Menſchen mit anhören müſſen, und die Ur¬ theile und Schilderungen von ihm waren nicht fein. Als das Mädchen immer elender ward und ihren Tod vor Augen ſah, war ihr größtes Verlangen, ihren Geliebten, wie ſie ihn denn doch in manchen Stunden noch nannte, nur einmal noch zu ſehen. Eine Frau, die ſchon früher die Unterhändlerin des Liebespaares geweſen, ward zu wiederholten Malen abgeſchickt, aber immer vergebens. Als nun Gretchen eines Tages hin¬ kömmt und die Kranke beſonders ſchwach findet und ihr Troſt und Theilnahme zuſpricht, iſt dieſe untröſt¬ lich und ſagt nur immer, ſie müſſe Günthern noch einmal ſehen. Gretchen hatte den Namen des Man¬ nes nie gehört und auch nie viel von der Geſchichte wiſſen wollen. Als ſie ihr nun vorſtellt, wie ihr Herz an einem Menſchen hängen könnte, der ſie ſo ſchmählich verlaſſen und verſtoßen habe, wie ſie ſich lieber dem Himmel zuwenden ſolle und dem Heilande, der ſie nicht verſtoßen und verſchmähen würde, und ſo Aehnliches, um ihren Sinn zu bewegen, da kömmt87 die Frau herein, die immer an Günther abgeſchickt war, und ruft: Er kommt, er kommt! Gretchen will ſchnell gehen, aber der Mann ſteht in der Thür, ehe ſie ſich deſſen verſieht. Er geht an das Bett, die Kranke hat ſich zu ihm gewendet und ſagt: Ich ſterbe nun, und dazu weint ſie bitterlich. Das iſt meine Schuld nicht! entgegnet er barſch, und ich bin heute gekommen, damit die Lauferei endlich ein Ende hat. Was willſt Du nun? ich habe nicht viel Zeit hier zu ſtehen. Du haſt mich ſo elend umkommen laſſen, ſchluchzt die Kranke wieder. Ich? ruft er da und ſetzt ihr auseinander, was er alles gegeben; ſeine Schuld ſei es nicht, daß ſie krank geworden, und ſie habe Verwandte, die mehr hätten als er, die ſoll¬ ten ſich nur um ſie bekümmern. Die Kranke kann vor Weinen nicht ſprechen, ſie will ſeine Hand neh¬ men, er aber zieht ſich zurück. Da kann ſich Gret¬ chen nicht mehr halten, tritt zu ihm, nimmt ſeine Hand und legt ſie in die der Kranken und ſagt: Das ſind Alles unnütze Reden, die Arme wird nicht lange mehr leben und wollte nur Troſtworte, und nicht ſo harte Worte von Ihnen hören. Er iſt ganz er¬ ſchrocken, denn er hat Gretchen im erſten Eifer nicht geſehen, und führt nun eine andere Sprache und läßt auch einiges Geld dort. Nach zwei Tagen war das Mädchen todt.

Die Tante ſchwieg. Klärchen war in höchſter Aufregung. Sprechen konnte ſie nicht; ſie reichte der Tante die Hand und ſtürzte zum Zimmer hinaus. Die Tante wollte ihr nachrufen, aber ſie hörte nicht, ſie lief mit eilenden Schritten über die Straße und88 verſchloß ſich dann in ihrem Zimmer. Hier brach ſie in Thränen aus. Ein abſcheulicher Menſch! ſolch ein Verhältniß vorher zu haben! Sie wollte augenblicklich mit ihm brechen, ſie wollte einen Mann haben, der geachtet und geehrt ward von der ganzen Welt und der beſonders weit über Tante Rieke und über Greten ſtand. So gingen ihre Gedanken anfänglich durch einander. Als ſie aber eine halbe Stunde geweint, und ihre Thränen verſiegten, ward ſie ruhiger. Und wenn die ganze Geſchichte wahr wäre, dachte ſie, was hat er eigentlich verbrochen? Daß ich ſeine erſte Liebe nicht bin, konnt 'ich mir vorher denken. Er iſt ja auch deine erſte Liebe nicht, entgegnete ihr Gewiſſen, und du haſt ihm auch von allen Abenteuern nichts geſagt. Das iſt eben der Fluch der Sünde: um die eigene zu beſchönigen, mußte ſie auch die des Andern entſchuldigen und ſo die Laſt beider tragen. Daß das Mädchen ſo dumm war, ſich verführen zu laſſen, fuhr ſie fort, iſt traurig, und es iſt ſchändlich von ihm, die Arme ſo im Stich zu laſſen; aber gewiß war ſie ein ganz unbedeutendes Weſen, die ihn nicht feſſeln konnte, dir hätte ſo etwas nie paſſiren können. Das einzige Unglück dabei iſt nur, daß es nicht verborgen blieb, und daß gerade ihre Verwandten ſo tief hinein blicken mußten. Ihrem Glücke konnte die Sache nicht mehr hinderlich ſein, Mutter und Kind ſind todt. Wenn ſie einſt Herrin eines großen Hotels iſt, es bequem wie eine Prinzeſſin hat, dazu von dem Manne geliebt und angebetet wird, was ſie Alles nicht be¬ zweifelte, ſo fehlte ihrem Glücke nichts. Die Sache mit dem Aufgeben mußte doch überlegt werden, und89 wer konnte denn wiſſen, ob in Wahrheit die Bege¬ benheit ſo ſchwarz war, wie die Tante ſie vorgetragen? Die Tante ſieht Alles mit ſo ſtrengen Blicken an; in den Stücken war ihr nicht zu trauen. Aber beichten ſollte ihr Bräutigam, erfahren, daß ſie Alles wiſſe, und um ſo demüthiger werden und ergebener. Als er wie gewöhnlich nach den beendigten Geſchäften zu ihr kam, fand er ſie ſo getröſtet, aber die Thränen floſſen von Neuem bei ſeinem Anblick. Er, mit dem böſen Gewiſſen, war beſonders weichherzig, forſchte nach den Thränen und erfuhr nun die ganze Ge¬ ſchichte. Da ſchien ſein Zorn keine Grenzen zu haben, er nannte Alles die abſcheulichſte Verleumdung, und Gretchen ſammt der Tante maliziöſe Perſonen, die abſichtlich eine Sache ſo verdreht hätten, um ihm Klärchen abſpenſtig zu machen. Wer weiß, in wel¬ chen Winkel ſie ſie ſtecken möchten; ſie ärgern ſich, ſie vornehmer und ſchöner zu ſehen, und ſo mehr. Von der Kranken erzählte er: ſie ſei Hausmädchen hier geweſen, und er habe allerdings ein kleines Lie¬ besverhältniß mit ihr gehabt, ſpäter ſei ſie fortgekom¬ men, ſei liederlich geworden und ſo herab gekommen. In ihrer Noth habe ſie ſich zu ihm gewandt, und er habe ſie hin und wieder unterſtützt, ja, er habe ſich durch ſeine Gutmüthigkeit verleiten laſſen, einmal hin¬ zugehen, weil die Perſon ihm keine Ruhe gelaſſen. Und das iſt die Geſchichte, die Deine vortreffliche Couſine ſo verdreht hat! ſchloß der Erzürnte. Du mußt mir jetzt aber heilig verſprechen, mit den abſcheu¬ lichen Menſchen ganz und gar zu brechen, denn bei ihrer Schlechtigkeit ſind ſie auch roh und ungebildet90 und paſſen für uns nicht. Es iſt mir eigentlich recht lieb, daß ſie die Veranlaſſung zu dieſem Bruche gege¬ ben haben. Nun ſind wir ſie los. Nach dem, wie ſie mich behandelt haben, können ſie nicht verlangen, daß ich je wieder einen Fuß über ihre Schwelle ſetze. Hierauf begann er ſeine Pläne für die nächſte Zukunft zu entwickeln. Die malte er ſo glänzend, ſo herrlich, daß Klärchen ſich völlig befriedigt fühlte und in alle ſeine Vorſchläge einging. Um allen ferneren Intri¬ guen zu entgehen, wollten ſie noch vor dem Winter heirathen und die Annahme eines eigenen Hotels gar nicht abwarten. Günther hatte ſich eine kleine neue Wohnung gerade gegenüber ſchon angeſehen, die ſollte mit Mahagoni-Meubeln und allen möglichen Luxus¬ ſachen ausgeſtattet werden, und Klärchen ſollte da allein ihre Wirthſchaft haben. Vierhundert Thaler ſollte ſie jährlich bekommen, außer den Sachen, die hin und wieder aus der Gaſtwirthſchaft abfielen. Als Klärchen erwähnte, daß die Tante ihr, im Falle ſie ſich mit deren Genehmigung verheirathe, eine Ausſtat¬ tung verſprochen, brauſete Günther von Neuem auf. Wir brauchen Deiner Tante Ausſtattung nicht, ich werde ihr ſchreiben: ich bedankte mich ſowohl für ihre Verleumdungen, als für ihre Hochzeitsgeſchenke, ich könnte ganz und gar ohne ſie beſtehen, ich würde ſie nie wieder beläſtigen, würde aber auch meiner Frau nicht erlauben ein Haus zu betreten, das ſo hinterliſtig meine Ehre angegriffen. Klärchen machte einige Einwendungen dagegen. Wenn ſie die Tante auch immer mehr gefürchtet, als geliebt hatte, auf dieſe Weiſe wollte ſie ſie doch nicht beleidigen, weil die Tante91 es immer gut mit ihr gemeint. Günther verſprach den Brief nicht ganz ſo arg zu machen, aber, ſetzte er hinzu, wenn wir ſie bei dieſer Gelegenheit nicht los werden, wird ſie uns das ganze Leben plagen. In dem Sinn ſprach er noch Mancherlei. Klärchen ließ ſich bereden, und die Sache ſchien abgemacht. Am an¬ deren Abend aber kam Frau Krauter mit ſehr bedenk¬ lichem Geſichte. Tante Ricke hatte ſie zu ſich kommen laſſen, ihr das Vorgefallene erzählt und ihr den Brief mitgegeben, den Günther heut Morgen an die Tante geſchickt. Klärchen ward heiß und kalt beim Leſen dieſes Briefes; der war wenigſtens ſo grob, als Gün¬ ther geſtern Abend ſich vorgenommen hatte zu ſchrei¬ ben. Frau Krauter trug den Mantel auf beiden Schultern; bei Tante Ricke hatte ſie geklagt über das Unglück und über den Leichtſinn der Welt; hier redete ſie anders, weil ihr im Grunde dieſe Verheirathung der Tochter ſehr erwünſcht kam. Schon jetzt kam man¬ cher Biſſen aus dem Hotel zu ihr hin, ſchon jetzt hatte ſie zeitweiſe ein herrliches Leben geführt, ſie erwartete nun den Himmel von Klärchens eigenem Hotel. Als ſie die Tochter böſe auf den Bräutigam ſah, redete ſie gütlich zu. Jeder Mann hat ſeine ſchwache Seite, und die Tante wird nicht ohne Schuld ſein. Wenn Du auch einen Andern genommen hätteſt, ſie wäre doch nicht zufrieden geweſen; denn ihr Geſchmack iſt nicht Dein Geſchmack, und Du mußt es mit Deinem Manne halten. Klärchen ſeufzte, und mußte der Mut¬ ter doch theilweiſe Recht geben. Entweder! oder! hieß es jetzt, und da ſie den Bräutigam nicht fallen laſſen wollte, mußte ſie von der Tante laſſen. Die92 Mutter mußte ihr aber verſprechen, zur Tante zu ge¬ hen und ihr zu ſagen, wie unglücklich ſie über ihres Bräutigams Brief geweſen; aber da ſie ihn zu ſehr liebe und auch das Beſte von der Zukunft hoffe, müſſe ſie ſich in ſeinen Willen fügen und den Umgang mit der Tante für jetzt abbrechen, doch nicht für lange, denn er werde gewiß bald ſeinen Fehler einſehen und die Tante um Verzeihung bitten.

Es war der 25. September. Klärchen ſtand vor dem Spiegel und legte die roſa Schürze um den wei¬ ßen Mullrock, ſetzte ein roſa Häubchen auf und war nun bereit, die Gäſte zum Chokoladenfrühſtück zu em¬ pfangen. Geſtern hatte ſie Hochzeit gehabt, war ſtolz im weißen Atlaskleide zur Kirche gefahren und war als ſchönſte Braut bewundert. Herr Reinhard hatte darauf ſeinem Oberkellner ein Diner gegeben, und die Nachfeier dieſes Diners war eine Abendgeſellſchaft in der Wohnung der Neuvermählten. Ein Privatſekretair mit ſeiner Frau, ein Detailhändler mit ſeiner Frau, ein Rendant, Guſtchen Vogler, einige Handlungsdie¬ ner und Mutter Krauter waren die Mitglieder der Geſellſchaft. Klärchen mußte ſich geſtehen, daß dieſe Leute nicht zu ihren eleganten Zimmern paßten, aber auch Günther war in dieſer Geſellſchaft ein Anderer, als gegen die vornehmen Leute im Hotel. Er lachte anders, er ſprach anders und ließ ſich in ſeinem gan¬ zen Weſen auf eine unangenehme Weiſe gehen. Frei¬ lich hatte er den Tag ungewöhnlich viel getrunken, und das iſt bei ſo ſeltenen feſtlichen Gelegenheiten nicht zu93 umgehen, tröſtete ſie ſich. Dieſelbe Geſellſchaft ſollte heut Morgen ein Chokoladenfrühſtück nehmen. Klär¬ chen hatte Alles auf's Schönſte vorbereitet, die feinen Taſſen ſtanden bereit, auf gemalten Tellern war Ku¬ chen und Torte ſervirt, und ſie ſelbſt ruhte jetzt wie eine vornehme Dame im Sopha und erwartete ihre Gäſte. Die Mutter war die erſte, die kam; ſie ſah ſchmunzelnd auf Kuchen und Chokolade, ſetzte ſich wohlgefällig in die andere Sophaecke und ſagte:

Hätt 'ich doch im Leben nicht geglaubt, daß es Dir noch ſo glücken würde, Du kleiner Brauſekopf. Immer wenn ich dachte, es war ſo weit, dann ging Dein heißes Blut wieder durch. Gott ſei Dank, daß wir nun eingelaufen ſind in den Hafen!

Klärchen lächelte. So hatte ſie doch wenigſtens die Mutter, die ihrem Schickſal Weihrauch ſtreute, da ſelbſt das eigne Herz ſich nicht recht dazu bequemen wollte. Günther trat etwas bleicher als gewöhnlich, aber guter Laune ein. Die Gäſte folgten bald, es ward Chokolade getrunken, Frau Krauter ließ es ſich von Allen am beſten ſchmecken; dagegen verſchmähte der Schwiegerſohn ganz und gar dies ſüße Getränk. Mir iſt heut mehr wie Weintrinken, ſagte er ſcherzend, verließ das Zimmer und kam bald mit einem Arm voll Flaſchen wieder. Die Herren ſchmunzelten, die Frauen neckten auf nicht ſehr feine Weiſe, und Klär¬ chen ſah ängſtlich auf ihren Mann. Jedenfalls war er ſchon im angeregten Zuſtande herüber gekommen, denn ſie ſah, daß beim Einſchenken der Chokolade ihm die Hände zitterten. Sie hätte gern Einſpruch gethan gegen das neue Trinkgelage, aber erſtens ſcheute ſie94 ſich, als Wirthin etwas zu ſagen, und dann wußte ſie, daß Günther in ſolchen Dingen ſich nichts ſagen ließ. Die Herrengeſellſchaft ward immer lauter, die Frauen ſahen ſich bedenklich an. Klärchen klagte, daß ihr Mann ſchon ſeit einigen Tagen unwohl ſei und daß ihm der Wein ſehr ſchlecht bekommen würde. Er ward auch immer bleicher, ſeine Hände zitterten auf¬ fallend, ſeine Zunge lallte. Doch war er nicht der Schlimmſte. In der Ecke des Mahagoniſopha's ſchlum¬ merte der Rendant, und einer von den jungen Kauf¬ mannsdienern hatte ſich ſchon entfernt. Die Frauen drangen jetzt auf die Auflöſung der Geſellſchaft. Das war mit den angetrunkenen Männern nicht leicht zu bewerkſtelligen, aber es gelang ihnen endlich, und Klärchen war mit dem Mann und der Mutter allein.

Günther hatte ſich nicht beſinnungslos getrunken, weil er viel vertragen konnte; er wußte, daß ihm Schlafen jetzt das Beſte ſei und legte ſich zu Bett. Die Mutter ging nach Haus, weil ſie nicht Luſt hatte, Taſſen und Gläſer zu waſchen und aufzuräumen, und Klärchen ſaß nun in der eleganten Stube allein. Sie hatte aber auch nicht Luſt zum Aufräumen, ſie mußte ſich erſt beſinnen von der vielen Unruhe, ſetzte ſich auf den Sitz im Fenſter und ſchaute hinaus auf die Straße. Der blaue Himmel und helle Sonnenſchein lockte Spatziergänger in das Freie, auch vor dem Hotel war es ſehr lebendig, Wagen fuhren, Wagen kamen, und es war ganz unterhaltend, das anzuſehen. Ja unterhaltend, aber nicht für Klärchen. Ihr Herz war ſchwer, ohne daß ſie recht wußte, was ſie wollte. Sie war nun am Ziel ihrer Wünſche, ſie konnte herrlich95 leben und die vornehme Dame ſpielen. Die Mahagoni - Meubel, der Sopha-Teppich, die gewirkte Tiſchdecke, die Blumenvaſen, die goldgerahmten Bilder, ſie hätte ſich nie eine ſchönere Wohnung träumen können, und doch war ſie nicht befriedigt und das war ihr ſo unerträglich, ſie hätte weinen können. In dieſer Un¬ luſt an der ganzen Welt griff ſie zu einem Roman, der auf dem Arbeitstiſch lag und aus ihrer Stube im Hotel mit herüber gewandert war, und ſuchte ſich we¬ nigſtens zu zerſtreuen.

Als Günther nach einigen Stunden wieder zum Vorſchein kam, murrete er etwas, noch Alles ſo in Unordnung zu finden. In ſeinem Kellner-Eifer räumte er ſelbſt gleich Flaſchen und Gläſer bei Seite. Klär¬ chen verſicherte, im höchſten Grade angegriffen zu ſein, und ſein böſes Gewiſſen hieß ihn ſchweigen, aber der eheliche Himmel hing nicht ganz voller Geigen.

Fritz Buchſtein ging im Garten auf und ab. Die Sonne warf ihre letzten Strahlen nur noch an das blaue Schieferdach des Kirchthurmes, aber herrliches Abendroth, wie es den Herbſtabenden eigen, flammete über der Scheuer hinauf. Zwiſchen gelbem Laub und verkommenen Zweigen blühten noch allerhand liebliche Blumen, die Pflaumen hingen blau an den Bäumen, Aepfel - und Birnenbäume ſenkten die ſchweren Zweige und ſahen der Ernte entgegen, auf dem Nachbarshofe ward ein Fuder Kartoffeln in den Keller geladen, und Kinder hockten im Garten um ein Häufchen Kartoffel¬ ſtroh, deſſen blauer Rauch über die Nachbarsgärten hin¬96 zog. Fritz ſchaute das Alles mit den Augen ſeiner Seele an, und Freude und Friede durchzitterten ſein Herz. Hier war ſeine traute Heimath und hier ſollt 'es ihm vergönnt ſein, ſeinen Heerd zu bauen und dem Herrn zu Ehr' und Liebe Bürger und Hausvater ſein.

Geſtern hatte er Klärchen trauen ſehen. Klärchen im weißen Kleide, grünen Kranze, mit den ſchönen, blauen, kindlichen Augen hatte ſein Herz noch einmal in Erinnerung und Theilnahme bewegt. Der ſchwarze, bleiche Mann neben ihr ſchien ihm der Böſe zu ſein, dem ſie ſich übergab, und ſein Herz konnte es nicht laſſen, wiederum zu bitten: Herr, verlaſſe ſie dennoch nicht, führe ſie, halte ſie; Weg haſt du aller Wege, an Mitteln fehlt's Dir nicht.

Auf dem Heimwege war er mit Frau Bendler und Gretchen zuſammen getroffen, und als er Gretchen ſah, war Glück und Friede in ſeine Bruſt gezogen. Gret¬ chen hatte ihn angeſchaut mit den treuherzigen Augen und der vielen Liebe darin, und auch ſeine Augen ſprachen ſeine Gedanken aus. Ehen werden im Him¬ mel geſchloſſen. Gretchen, das fühlte er, war ihm vom Himmel beſtimmt, mit ihr wollte er wallen den Weg hinan, ſeine Liebe ſollte ſie führen, tröſten, ihr dienen auf dem beſchwerlichen Weg, und ihr treues, ſtarkes Herz ſollte ihn tragen mit allen ſeinen Fehlern. Ja, ihr wollte er auch die Schmerzen ſeiner Jugend ſagen, jetzt wo er ſie überwunden, wo Liebe und Freu¬ digkeit zu Gretchen ſein Herz beſeelte. In Sehnſucht ſchaute er hinüber in den Nachbarsgarten, da trat Gret¬ chen ſingend drüben aus der Thür. Sie grüßte hin¬ über und ſchüttelte dann an einem Pflaumenbaum, daß79 die blauen Früchte über ſie herfielen. Fritz ſchwang ſich über das Stacket. Soll ich Dir helfen? fragte er. Gretchen nickte, und er ſuchte die Pflaumen mit in ihre Schürze. Als ſie mit ihrer Arbeit fertig wa¬ ren, nahm Fritz Gretchens Hand, ſah ihr bewegt in die Augen und ſagte: Gretchen, Du weißt ſchon längſt die Gedanken meines Herzens. Gretchen nickte.

Ich liebe Dich von ganzem Herzen, fuhr er fort, und der Herr wird mir Kraft geben, Dich ſo glücklich zu machen, wie Du es verdienſt und wie ich es ſo gern möchte.

Gretchen neigte den Kopf und dachte: ich bin ja nicht werth ſolches Glückes.

Jetzt wollen wir zur Tante gehen, ſprach er wei¬ ter, legte Gretchens Arm in den ſeinen, nahm ihre Hand mit beiden Händen; ſo gingen ſie durch den Garten. Da öffnete ſich oben ein Fenſterlein, der Staarmatz hupfte auf das Brett und ſchnarrte: Jung¬ fer Braut! Ja, Du alter Benjamin ſteckſt Deine Naſe immer zuerſt in alle Dinge. Diesmal zankte ſich Gretchen nicht mit dem Matz; ſie lächelte hinauf und Beide blieben ſtehen, denn die weiße Mütze mit dem fröhlichen Angeſicht ſchaute auch zum Fenſter hinaus. Der Herr ſegne Euch! rief er herunter, dann neigte er den Kopf hin und her vor dem Dompfaffen, und der begann ſogleich: Lobe den Herrn, o meine See¬ le ja da konnten es Fritz und Gretchen nicht laſ¬ ſen, mit heller Stimme ſtimmten ſie ein und Benja¬ min ebenfalls:

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Ich will ihn loben bis in Tod!
Weil ich noch Stunden auf Erden zähle,
Will ich lobſingen meinem Gott;
Der Leib und Seel 'gegeben hat,
Werde geprieſen früh und ſpat.
Halleluja, Halleluja,
Selig, ja ſelig iſt der zu nennen,
Deß Hülfe der Gott Jacob iſt,
Der ſich vom Glauben läßt gar nichts trennen
Und hofft getroſt auf Jeſum Chriſt.
Wer dieſen Herrn zum Beiſtand hat,
Am beſten findet Rath und That.
Halleluja, Halleluja.

Die Tante kam gerade zur rechten Zeit heraus, um die letzten Strophen mit zu ſingen, dann aber mußte ihr weiches Herz erſt einige Freudenthränen weinen. Und als nun Vater Buchſtein drüben in ſei¬ ner Hausthür erſchien, ward beſchloſſen, augenblicklich einige Latten vom Stacket zu nehmen und eine Oeff¬ nung zur Thür zwiſchen beiden Gärten zu machen. Benjamin kam flugs herunter und brachte dem Fritz das Handwerkszeug entgegen, und mit fröhlichen Wor¬ ten und Mienen half die ganze Geſellſchaft bei der Arbeit. Während der alte Buchſtein am Krückſtock langſam herangeſchlichen kam, um den ſonderbaren Lärm zu unterſuchen, war die Oeffnung ſchon fertig, und Fritz führte Braut und Schwiegermutter dem Va¬ ter entgegen.

Klärchen verlebte ihre Flitterwochen in ungetrüb¬ tem Vergnügen. Günther ſuchte ihr den erſten Tag vergeſſen zu machen. Er führte ſie in Kaffeegärten,99 in Conzerte, in das Theater. Im Hauſe hatte ſie faſt gar nichts zu thun, nur Kaffee und Thee mußte ſie kochen, und dies, ſo wie die übrige wenige Haus¬ arbeit, that die Mutter gern, weil ſie dafür mittrin¬ ken und miteſſen konnte. Das Mittagseſſen bekam Klärchen aus dem Hotel mit Erlaubniß des Herrn Reinhard, dem es auf eine Perſon mehr oder weniger nicht ankam, und Günther ſchien dafür nur um ſo dienſtfertiger und ſeinem Herrn um ſo mehr zugethan. Klärchen hätte jetzt ſchöne Zeit zum Flicken und Nähen gehabt, aber es fehlte ihr an Luſt dazu. An ihren alten Sachen, meinte ſie, wäre nichts mehr zu flicken, und die wenigen neuen, die ſie zum kleinen Haushalt angeſchafft, waren neu in einem Laden gekauft. Spä¬ ter, ſagte Günther, würde er doch das ganze Inven¬ tar eines Hotels annehmen, jetzt könnten ſie ſich be¬ helfen.

Daß er gegen Weihnachten hin öfter als gewöhn¬ lich nicht nach Hauſe kam, wunderte ſie nicht, da jetzt mehr Beſuch als gewöhnlich drüben, und Günther ſehr beſchäftigt war. Auch daß er zuweilen ſehr hohläu¬ gig ausſah und ihm die Hände leiſe zitterten, ſchob Klärchen auf die großen Anſtrengungen. Ueberdem hatte ihr Mann ſich ſo ſehr in ſeiner Gewalt, daß, ſo wie er ſich beobachtet glaubte, eine Lebendigkeit und Feſtigkeit in ſein ganzes Weſen fuhr, die Klärchen wie¬ der beruhigte.

Eines Abends kam ſie gegen zehn Uhr von der Mutter zurück, die ſeit einigen Tagen krank war. Im Vorbeigehen wollte ſie ſich etwas Geld vom Manne holen, den ſie ſchwerlich heut zu Hauſe erwarten7 *100konnte. Im Hotel war es noch ziemlich lebendig, auf dem Flur traf ſie den kleinen Laufburſchen, der im Sommer ihrem Manne den Thee beſorgen mußte, und der auch jedenfalls damals das Zwiegeſpräch mit einem Kameraden gehalten.

Wo iſt mein Mann? fragte Klärchen.

In ſeiner Stube, ich muß ihm wieder Thee ko¬ chen, ſagte der Junge ſpöttiſch.

Erſchrocken lief Klärchen dahin und fand ihren Mann in einem Zuſtande, wie ſie ihn noch nie geſe¬ hen hatte. Er ſaß vor dem Tiſch, ſchlug mit beiden Fäuſten darauf und lallte: Zehn tauſend Thaler, fünf tauſend Thaler, das ſoll gehen, das muß gehen. Klärchen ſchloß ſchnell die Thür hinter ſich. Um Gottes Willen, Günther! rief ſie: Du biſt be¬ trunken!

Betrunken? wiederholte Günther erſchrocken und wollte ſich in gewohnter Weiſe zuſammennehmen, aber es ging nicht, er fiel zuſammen und lallte wieder un¬ verſtändliche Worte. Jetzt klopfte es an der Thür. Klärchen fragte, wer da ſei.

Ich bringe den Thee, rief der Laufburſche, und Herr Reinhard will den Herrn Eduard ſprechen.

Klärchen verließ die Stube, nahm dem Burſchen den Thee ab und wechſelte mit Herrn Reinhard einige Worte. Der ſchien die Fabel von dem Unwohlſein zu glauben und entfernte ſich. Klärchen aber warf ihrem Mann einen Paletot um, ſetzte ihm den Hut auf und führte ihn, nachdem ſie gelauſcht, ob Nie¬ mand auf der Treppe und auf dem Flur ſei, zum Hauſe hinaus. In ihrer Wohnung aber brachen ihre101 Angſt und ihr Zorn in heftige Worte aus. Er glotzte ſie mit ſtarren Augen an und ſagte kein Wort. Sie ward immer heftiger und verlangte, er ſolle ſich zu Bett legen. Sie faßte ihn an, um ihn dahin zu füh¬ ren, da machte er ſich mit einem mal los, gab ihr einen tüchtigen Stoß und ſagte grimmig: Sei ruhig und mach nicht ſolchen Lärm! Wer heißt Dich raiſon¬ niren? Hier, zieh meine Stiefeln aus! Klärchen ſtand erſchrocken, aber unmöglich hätte ſie ſich zu ſol¬ chem erniedrigenden Dienſt hergeben können. Willſt Du bald! rief er noch grimmiger, oder ſoll ich Dich gehorchen lehren? Dabei trat er dicht vor ſie, ſtarrte ſie an und ſchüttelte mit ſeiner ſchweren Hand ihr Kinn gar unſanft. Klärchen ſchrie laut auf. Al¬ lons! ſagte er, warf ſich auf einen Stuhl nieder und ſtreckte ihr die Füße entgegen. Klärchen ſah, daß mit dem betrunkenen Menſchen nicht zu ſpaßen ſei, daß ſie Mißhandlungen erwarten könne, und entſchloß ſich zu der Arbeit, aber mit lautem Weinen. Er gab ihr noch einen Tritt mit dem Fuß, und ſchlug dann wie¬ der mit beiden Fäuſten auf den Tiſch. Zehntauſend Thaler! lallte ſeine Zunge, zehntauſend Thaler und dann links um kehrt! Klärchen hatte ſich in eine dunkle Ecke geſetzt; er hielt noch ein langes Selbſt¬ geſpräch, aber ſeine Worte wurden immer unverſtänd¬ licher, bis er ſein Haupt ſenkte und laut ſchnarchte.

Klärchen legte ſich mit den Kleidern auf das Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken, ſie fürch¬ tete ſich vor ihrem Mann, es war ihr grauſig mit ihm allein zu ſein, in ihrer Hülfsloſigkeit waren Thrä¬102 nen ihr einziger Troſt. Sie weinte und weinte, bis ſie vor Ermüdung einſchlief.

Gegen Morgen wachte ſie auf. Als ſie die Thür nach der Wohnſtube öffnete, regte es ſich auch, ihr Mann tappte in der dunkeln, eiskalten Stube umher. Sie machte Licht; Günther ſah ſie ſcheu an, zugleich aber flogen ſeine Glieder vor Schwäche und Froſt, er ſah wirklich jämmerlich aus, und Klärchen hätte faſt Mitleiden mit ihm gehabt; aber Zorn und Kummer überwogen jedes andere Gefühl. Auch war ſie ſelbſt von der entſetzlichen Nacht matt und elend. Gewiß wird er ſich entſchuldigen und wieder ſüße Worte ma¬ chen, dachte Klärchen; aber das vergebe und vergeſſe ich nicht; ich werde es ihm ſagen, wenn noch einmal Aehnliches paſſirt, gehe ich von ihm. Als ſie ſchwei¬ gend nach dem Ofen ging, um Feuer zu machen, be¬ gann er zu reden.

Warum haſt Du mich geſtern hier in der Stube ſitzen laſſen?

Klärchen ſah ihn verwundert an. Weißt Du, was geſtern Abend paſſirt iſt? fragte ſie mit zittern¬ der Stimme.

Freilich weiß ich das, und es iſt ſchlecht genug von einer Frau, wenn der Mann krank und aufgeregt nach Hauſe kommt, ihn wie eine Xantippe zu behan¬ deln. Du haſt gelärmt und getobt, anſtatt mich ſanft zu beruhigen, wie es einer ordentlichen Frau zu¬ kommt.

Weißt Du denn, daß ich Dich herüber geholt habe? fragte Klärchen mit von Thränen erſtickter Stimme, daß Herr Reinhard Dich ſprechen wollte, daß103 die Kellner Dich höhnten wegen Deiner Betrunkenheit, und daß ich Dich nur heimlich fortgebracht habe?

Das weiß ich Alles! entgegnete Günther kalt. Das war ſehr weiſe von Dir, Du hätteſt nur hier ſo fortfahren ſollen.

Klärchen konnte nicht weiter reden, der Kummer ſchnürte ihr die Kehle zu. Er bereute alſo nicht ein¬ mal ſeine Unthaten, er klagte ſie an. Das war das erſte Mal, daß er im nüchternen Zuſtande unfreundlich war; jetzt mußte ſie jede Hoffnung, ihn je anders zu ſehen, aufgeben. Er legte ſich zu Bett, ſie mußte ihn bedienen, ſie mußte die abgeſandten Boten des Hotels abfertigen, und als ſpäter die Mutter kam, dieſer ihre Stimmung verbergen. Sie hätte ſich ge¬ ſchämt, ihr Unglück merken zu laſſen; trotz ihrer Klug¬ heit, trotz ihres Hochmuthes war ſie jetzt eben ſo weit als die Mutter.

Nachdem das Ehepaar acht Tage nicht mit ein¬ ander geſprochen, Günther ſich faſt gar nicht oder nur mürriſch gezeigt hatte, und Klärchens Augen faſt nicht trocken geworden waren, ſchien er endlich wieder beſſerer Laune zu werden. Er brachte mehr Geld, denn auch das hatte ſie in den letzten acht Tagen faſt gar nicht gehabt. Er fing an zu ſchmeicheln, ja, ſein Unrecht einzuſehen, und Klärchen hielt es für das Beſte, nicht zu unverſöhnlich zu ſein. So war äu¬ ßerlich das Verhältniß wieder hergeſtellt, aber der Stachel ſaß in Klärchens Herzen, unmöglich konnte ſie ſich über ihr Schickſal noch leichtfertige Phantaſien machen, die Wirklichkeit war zu ſprechend.

104

Weihnachten kam, und Günther ſchien es darauf abgeſehen zu haben, Klärchens leicht bewegliches Herz wieder ganz zu gewinnen. Der Weihnachtstiſch prangte von ſchönen Sachen. Ein ſeidener Mantel, ein Sam¬ methut, wie ihn nur die vornehmſte Dame wünſchen konnte, lagen darauf, und außer andern Kleinigkeiten auch ein Zwanzig-Thaler-Schein, um Kinderwäſche zu kaufen. Klärchen war guter Hoffnung. Auch Frau Krauter hatte Günther mit manchen hübſchen Sachen bedacht, ſo gab es nur fröhliche Geſichter.

Am Weihnachtsmorgen mußte Klärchen in die Kirche gehen, um ihren Staat zu zeigen. Dieſer Triumph ſollte nach den vielen trüben Tagen eine Er¬ quickung ſein. Aber hauptſächlich lag ihr daran, ſich der Tante und Gretchen zu zeigen. Die hatten gegen die Mutter ſo manche bedenkliche Worte, auch wegen ihrer äußeren Lage, fallen laſſen; darüber ſollten ſie beruhigt werden. Sie mußte freilich zu dem Pietiſten in die Stephani-Kirche gehen, aber das war ihr gleich; des Wortes Gottes wegen ging ſie doch nicht hin. Ja, in der letzten Zeit hatte ſie ſich noch mehr als je geſcheut, an den Herrn zu denken; es überfiel ſie zuweilen eine Ahnung, als ob die Worte der Tante Wahrheit werden und der Himmel ihren Leichtſinn ſtrafen könnte. Heute war ſie aber zu vergnügt, um ſo ernſte Gedanken haben zu können.

Sie hatte eigentlich die Abſicht gehabt, ſich ſo in der Kirche zu ſehen, daß ſie von allen Seiten geſehen ward, aber im Hineintreten gewann ihr beſſeres Ge¬ fühl die Oberhand, ſie ſchämte ſich und ſetzte ſich in eine entfernte Ecke. Als nun die Orgel in vollen105 Tönen die Kirche erfüllte, als viele hundert Stimmen ſich damit vereinten, und Vom Himmel hoch da komm 'ich her laut daher ſchallte, da ward es ihr wunderbar zu Muthe. Sie vergaß Mantel und Hut, und konnte es nicht laſſen, die Worte aufmerkſam mit zu leſen und zu ſingen:

Es iſt der Herre Chriſt unſer Gott,
Der will euch führ'n aus aller Noth,
Er will eu'r Heiland ſelber ſein,
Von allen Sünden machen rein.
Er bringt euch alle Seligkeit,
Die Gott der Vater hat bereit't,
Daß ihr mit uns im Himmelreich
Sollt mit uns leben ewiglich.

Einen Führer aus aller Noth! ob du den auch noch nöthig haben wirſt? dachte Klärchen. O wie glücklich war ich unverheirathet! ein Tag immer heller und luſtiger als der andere, die Welt ſo lachend, warum bin ich nur in mein Unglück gelaufen? wer weiß, wie es mir noch gehen wird? und ich habe keinen Helfer aus der Noth. Der Heiland, den Tante Rieke und Gretchen haben, iſt nicht dein Heiland, du kennſt ihn nicht und magſt ihn auch nicht kennen, ſetzte ſie muthlos hinzu. Die Stimme des Predigers zog ſie wieder von ihren Gedanken ab.

Dies iſt der Tag, den der Herr machet, laſſet uns freuen und fröhlich darinnen ſein, ſo begann er die Rede. Das Evangelium folgte, dann redete er ſo warm und eindringlich vom Chriſtkindlein, war¬ um es herab gekommen von ſeinem hohen Himmel, was es uns gebracht, was es wieder von uns ver¬106 lange, daß Klärchen unwiderſtehlich ſeinen Worten folgen mußte. Wie groß und unausſprechlich iſt die Gnade für uns arme Sünder, die wir ſo elend und ſo bloß, die wir im Dunkel des Todes ſitzen und bangen vor dem ewigen Gericht, unſer Gewiſſen ſagt es uns, daß das Geſetz den Stab über uns ge¬ brochen, daß wir dem Zorne der Verdammung zuge¬ hören. Da erſcheint ein Licht in der Finſterniß, ein Troſt in der Angſt, der liebe Heiland kommt, verkün¬ digt uns Freiheit von allen Sünden, Erlöſung von Tod und Hölle, giebt uns die Hoffnung der ewigen Seligkeit. O wie iſt doch die Liebe ſo groß, o wie müſſen wir ihr entgegen jauchzen! O du liebliches Kind in der Krippe, du kömmſt in unſere armſelige Welt, nimmſt auf Dich alle unſere Schmerzen, ſtirbſt für uns den bittern Tod, den Tod am Kreuze. Du kommſt, Du ſuchſt mich, Du kannſt es nicht laſſen, mich armen elenden Sünder an Dein Herz zu nehmen. O ſo nimm mich denn hin, umfaſſe mich, halte mich, ich will Dein ſein auf ewig!

Klärchen war ergriffen, ſo etwas hatte ſie noch nie gehört. Oder hatte ſie nicht hören wollen? war ihr Herz hart geweſen, und hatte der Herr es jetzt weich gemacht? Ja, der Herr kann Gnade geben, wie es ihm beliebt, und aus Gnaden ſollen wir ſelig wer¬ den. Doch beſtürmten heut auch heiße Fürbitten ſeinen Thron. Fritz Buchſtein hatte oben vom Chor Klärchen erkannt, und hatte Segen für ſie, für dieſen Gang vom Himmel herab gefleht. Gretchen und ihre Mutter ſaßen auch nicht fern und mit brünſtigem Ge¬107 bet flehten ſie des Herrn Geiſt auf das verlaſſene Klärchen.

Als dieſe zur Kirche hinaus ging, kam ſie mit der Tante zuſammen. Sie ſchämte ſich faſt ihres Weihnachtsſtaates, und mit einem ſanften und demü¬ thigen Ausdruck, wie ihn Niemand an ihr gewohnt war, bot ſie den Verwandten einen guten Morgen und ein fröhliches Feſt. Die Tante und Gretchen reichten ihr Beide freundlich die Hand. Klärchen ging im Geſpräche, aber ſehr verlegen, neben ihnen her, bis vor Bendlers Haus. Beim Abſchied ſagte ſie: Ich habe Euch längſt beſuchen wollen, und wenn Ihr es erlaubt, komme ich bald. Bei den letzten Worten traten ihr die Thränen in die Augen und ſie eilte hinweg.

Am Sylveſter-Abend ließ man bei Frau Bendler wieder Schiffchen ſchwimmen, Gretchen aber war ohne Angſt, daß ſich ihr Schiffchen mit Fritzens vereinigen möchte; ſie war fröhlich und guter Dinge, es ward erzählt und geſcherzt und auch ernſthaft geſprochen und geleſen und geſungen und gebetet, bis der Wächter das neue Jahr verkündete.

Bei Günthers ſah es anders aus. Seit Weih¬ nachten ſchon war er in ganz beſonders fröhlicher Auf¬ regung, und am Sylveſtermorgen ſagte er zu Klär¬ chen: Heut muß es hoch bei uns hergehen, es wird der letzte Sylveſter ſein, den wir hier verleben, wer weiß, wo wir im künftigen Jahre ſind! Wohl in weitläuftigeren Räumen, und Du haſt Kuchen und108 Zucker nicht ſelbſt zu holen. Aber heut hole ihn nur! Dabei legte er einen Fünfthalerſchein auf den Tiſch. Hole nur Alles, was zu einem feinen kalten Abend¬ brod nöthig iſt, und dann ſei eine vernünftige Frau. Ich ſehe nicht ein, wenn ich mich alle Tage vom Morgen bis Abend quälen muß, will ich auch mein Vergnügen haben. Iſt denn das was ſo Schlim¬ mes, wenn es mal ein Paar Stunden drunter und drüber geht? Sieh die Frau Rendantin an, die lacht, wenn ihr Mann ein Bißchen angetrunken iſt, läßt ihn den Rauſch ausſchlafen und dann geht das Leben wie¬ der ſeinen gewöhnlichen Gang. Man iſt darum kein Trinker, aber bei beſonderen Gelegenheiten ſich an ei¬ nem Gläschen Wein erfreuen, iſt wohl erlaubt.

Klärchen ſah ein, wenn ſie allen Zank und Streit vermeiden wollte, müßte ſie ſich in dieſe Theorien fü¬ gen, und wollte es einmal in Güte verſuchen. Auch hatte die Mutter das Geſpräch mit angehört, und war ganz auf des Schwiegerſohnes Seite. Klärchen hat zu viel Romane geleſen, ſagte ſie weiſe, ſie hat ſich vom Leben ſonderbare Bilder gemacht, denkt alle Menſchen ſollen Engel ſein, und ſie iſt doch ſelbſt kein Engel. Günther ſtimmte lachend ein, und es war ſehr gute Stimmung im Haus.

Die Gäſte kamen; erſt ging es ſcheinbar ſehr fein und anſtändig her, doch Frauen und Männer wurden gemüthlicher, dann lebhafter und lebhafter und das neue Jahr ward mit tollem Lärmen begrüßt.

Nur Klärchen war ſchweigſam, ſo viel ſie auch von den Andern geneckt und gereizt ward. Sie gab Unwohlſein vor, was in ihrem Zuſtande ſehr glaub¬109 lich ſchien. Im Grunde aber ekelte ſie dies rohe We¬ ſen an, ihre Natur war zu edel, um ſich in ſolcher Gemeinheit wohl zu fühlen. Ihr leichtfertiger Sinn hatte wohl nach Luſt und Vergnügen, nach vornehmen und hohen Dingen geſtrebt, hatte ſich auch ſchlechter Mittel dazu bedient; aber die Geſellſchaft, in der ſie ſich jetzt befand, dieſe Art und Weiſe zu leben, konnte ihr durch kein Schlaraffenleben angenehm gemacht wer¬ den. Auch war ſie in der letzten Woche ſehr nach¬ denklich geweſen. Der Kirchgang am Weihnachtsmorgen, die Gefühle, die er angeregt, hatten ſeine Weihe aus¬ gegoſſen auch noch über die nächſten Tage; eine Un¬ ruhe hatte ſie erfaßt, daß ſie ſelbſt nicht wußte, wie ihr war; aber das fühlte ſie, in Eſſen und Trinken, in ſchönen Kleidern fand ſie die Befriedigung dieſer Unruhe nicht.

Als der Rendant ſein Maaß getrunken hatte, und die anderen Männer auf dem Höhepunkte der Ausge¬ laſſenheit waren, da verfügte die Frau Rendantin die Auflöſung des Gelages und Niemand hatte etwas da¬ gegen. Günther legte ſich ohne Weiteres zu Bette, ſchlief ſeinen Rauſch aus, und als er am anderen Morgen bleich und mit zitternden Händen kaum die Kaffeetaſſe halten konnte, demonſtrirte er ſeiner Frau, wie unſchuldig ein ſolches Vergnügen ſei, und wie es nur auf die Frauen ankäme, daß die Männer ver¬ nünftig blieben, und ſo mehr. Klärchen ſchwieg, die Erinnerung an den geſtrigen Abend und der zitternde Mann vor ihr waren ihr ſchrecklich, und immer und immer wieder mußte ſie an den verlebten Sylveſter¬ abend bei Tante Rieke denken, an Fritz Buchſtein 110 welch ein Mann er war gegen die Männer, die jetzt in ihre Nähe kamen, wie getroſt und ruhig Gretchen ſein konnte, das hausbackene Gretchen, und wie ſie ſelbſt trotz des ſeidenen Mantels und des Sammethutes in Angſt und Schrecken lebte. Daß die Zukunft ihr nichts Beſſeres bringen könne, war ſie ſicher. Ja, ihr bangte vor dieſer Zukunft, und das bitterſte Gefühl dabei war, daß ſie ihr Schickſal ſelbſt verſchuldet. Wie ſie jetzt noch ſich retten könne, wußte ſie nicht; an den Helfer und Retter dort oben ſich zu wenden, fehlte ihr Glauben und Muth; ihr Leben war nun einmal ſo, ſie mußte ſehen, wie es abliefe.

Der Januar ging Klärchen mit Nähen von Kin¬ derſachen ſehr ſchnell dahin, ſie lernte da einen Genuß kennen, der ihr ganz neu war, den Genuß des Still¬ lebens und des Fleißes. Ihre Gedanken waren bei dem Kindchen, das einſt in dieſen Kleidern ſtecken ſollte, und ſüße Freude durchſtrömte ihr Herz. Dieſe Freude des Stilllebens aber ſollte ihr nicht lange blei¬ ben. Günther, der in der freudigen Aufregung, in der er ſich ſeit Wochen befand, öfter als je eine Flaſche guten Weines trank, that das in ſeiner eigenen Woh¬ nung, um ungeſtört und ſicher ſeinen Rauſch ausku¬ riren zu können. Oft ging das ganz ſtill ab, oft aber tobte er und lärmte und Klärchen hatte Mühe und Noth, ihn zur Ruhe zu bringen. So war es An¬ fang Februars geworden. Seit acht Tagen war Klär¬ chen unwohl und die Mutter Tag und Nacht bei ihr, um die Hausarbeit zu verrichten, daneben aber auch um den oft angetrunkenen Schwiegerſohn zu bedienen. Sie verſtand das beſſer als die Tochter, ſie hatte Er¬111 fahrung darin von ihrem verſtorbenen Manne her, und ihr Gefühl war abgeſtumpft. Er dagegen war erkenntlich auf jede Weiſe gegen ſie, und darum redete ſie immer gegen die Tochter das Wort für ihn, ent¬ ſchuldigte ihn und beſchönigte ſein Laſter, wo ſie nur konnte. Zur Faſtnacht beſtimmte Günther, trotzdem Klärchen erſt wieder einige Tage aus dem Bett war, eine Geſellſchaft, und zwar wollte er für diesmal nur die Herren haben. Klärchen war es zufrieden, ſie konnte mit der Mutter in der Schlafſtube bleiben, und der Anblick von den betrunkenen Männern wurde ihr erſpart. Daß es wild hergehen würde, war voraus¬ zuſehen.

Und es ging wild her, wilder als da die Frauen dabei geweſen. Klärchen ward angſt und bange, wenn ſie das Toben und Brauſen im Nebenzimmer hörte, und die Mutter hatte genug zu beruhigen. Aber ſelbſt dieſe machte bald ein bedenkliches Geſicht, denn Teller und Gläſer klirrten durch einander, und das Geſchrei war nicht mehr das des Uebermuthes, ſondern das des Zornes. Beide Frauen ſtürzten heraus, zwei Männer gingen eben zur Thür hinaus, der Rendant lag an der Erde, und Günther ſchlug mit beiden Fäu¬ ſten auf ihn los. Klärchen verſuchte es ſeine Arme feſt zu halten, denn ſchon floß Blut über des Ren¬ danten Stirn, die Mutter war dem Blutenden behülf¬ lich ſich aufzurichten, und mit Hülfe beider Frauen kam er zur Thür hinaus. Jetzt aber richtete ſich die Wuth des Betrunkenen auf Frau und Schwiegermut¬ ter; blindlings ſchlug er zu, und beide konnten ſich nicht ſchnell genug in die Schlafſtube flüchten. Dem112 Riegel waren ſeine Kräfte nicht gewachſen und er be¬ gnügte ſich jetzt, ſeine Tobſucht an Gegenſtänden in der Stube auszulaſſen. Klärchen ſaß weinend und mit blutender Naſe, dahin gerade war ein Fauſt¬ ſchlag gefallen. Die Mutter hielt ihr ſchweigend das Waſchbecken vor. Dieſe Mißhandlungen wußte ſie freilich nicht zu entſchuldigen. Ja ſie mußte es jetzt geduldig hören, wie Klärchen ſie mit Vorwürfen über¬ ſchüttete, das Laſter ihres Mannes ſo beſchönigt zu haben. Klärchen machte in ihrer Heftigkeit viele Pläne. Jedenfalls wollte ſie von dem Manne, vor deſſen Mi߬ handlungen ſie keine Minute ſicher ſei. Sie wollte wieder Schneiderin werden, wollte lieber Salz und Brod eſſen, und ſo weiter. Sie ließ ſich endlich von der Mutter bereden, ſich zur Ruhe zu legen, und da Günther nebenan laut ſchnarchte, konnten ſie für jetzt ruhig ſein.

Am andern Morgen ſelbſt konnte Klärchen den Mann nicht ſehen, die Mutter aber wollte neutral bleiben und wenigſtens für eine warme Stube und für Kaffee ſorgen. Günther ſah ſie mit böſem Gewiſ¬ ſen an; er hatte wohl eine Ahnung von dem, was er geſtern gethan, aber Worte der Verſöhnung wollte er nicht ſprechen. Er fand es viel bequemer, die Schuld auf beide Frauen zu ſchieben. Künftig ſollten ſie ihre Naſe nicht in Sachen ſtecken, die ſie nichts angingen, der Rendant hätte ihn ſchändlich beleidigt und ſeine Prügel verdient. So ungefähr ſprach er. Die Mutter konnte es doch nicht laſſen, ihn an Klär¬ chens Zuſtand zu erinnern, und außerdem, daß ſie ſolche Behandlung nicht gewohnt ſei. Günther aber113 ließ ſich auf nichts ein, er war grob und wegwerfend und wollte ſein Betragen als ganz gerecht hinſtellen. Klärchen hörte durch die offene Thüre jedes Wort, und ihr Herz wollte brechen. Mit dem Mann konnte ſie nicht zuſammen bleiben. Aber wie von ihm los kommen? Sie hatte ja Niemand in der Welt, der ihr rathen und helfen konnte. An Tante Rieke dachte ſie; aber hatte die ſie nicht gewarnt und ihr Unglück vorhergeſagt? Zu der wagte ſie ſich nicht. Aus Furcht auch hatte ſie den am Weihnachtsmorgen verſprochenen Beſuch von Woche zu Woche aufgeſchoben, und, da ſie die Entſchuldigung gehabt, daß ihr Mann es ver¬ boten, ſich dabei beruhigt.

Jetzt kamen für Klärchen trübe Tage. Daß Gün¬ ther ſich faſt gar nicht bei ihr ſehen ließ, war ihr ganz recht, aber ſie war doch zu verlaſſen, ſelbſt die Frau Rendantin und die anderen Frauen hatten ſich ſeit dem Faſtnachtsabend zurück gezogen. An Gelde fehlte es ihr oft, aber zum Glück war die Mutter immer bereit, Günthern etwas abzubetteln; ſo waren ſie wenigſtens nie in äußerer Noth. Dies letzte hob die Mutter immer beſonders als Troſt hervor. Dein Mann iſt wohlhabend und darum hat er ſeine Eigen¬ heiten, die Du tragen mußt. Dein Vater hat mich weit ſchlechter behandelt, und dabei wußt 'ich nicht, wovon ich uns ſatt machen ſollte. Du kannſt in allen Stücken ohne Sorgen leben und brauchſt die Hände nicht zu rühren. Klärchen entgegnete, ſie wollte lieber Salz und Brod eſſen, ja verhungern, als ſolche Behandlung dulden und überhaupt ſolch ein Leben füh¬ ren. Du wohl! ſagte dann die Mutter wieder,8114aber Dein Kind? Ich kenne das, ich habe auch ſo geſprochen; wie ich Dich aber erſt hatte, und wie ich ſchwach und elend wurde, da kriegt 'ich andere Gedan¬ ken. Ja, das Kind! ſeufzte Klärchen. Und das war es auch, was ſie geduldig machte. Wohin ſollte ſie mit dem Würmchen? Sie hätte kaum ſich allein ernähren können, wie ſollte ſie dazu das Kind noch pflegen und ernähren? Sie verſchluckte darum manchen Aerger, ſie gewöhnte ſich ſogar, freundlich zu ſcheinen, weil ſie merkte, daß ſo mit Günther noch am beſten fertig werden war. Daß er oft ſchimpfte, ſie auch wohl in der Betrunkenheit ſtieß, mußte ſie ſich gefallen laſſen.

In der Kirche war ſie einmal wieder geweſen, in der trübſten Zeit, bald nach Faſtnacht. Und zwar in die Stephani-Kirche zog es ſie. Der wunderbare Eindruck von Weihnachten war ihr wieder vor die Seele getreten. Aber der Prediger ſprach diesmal ſehr ernſt. Er ſchilderte die Leiden unſeres Herrn und Heilandes, die er erduldet, um uns arme elende Sünder zu erlöſen vom ewigen Tode. Dann ſprach er vom Zuſtande eines unbelehrten Sünders, von ſeiner Angſt und Unruhe in der Gegenwart, von der Strafe und dem Gerichte der Zukunft. Klärchen ward durch dieſe Predigt ſo ergriffen, daß ſie ſich mehrere Tage nicht beruhigen konnte und froh war, als die Zeit den Eindruck zu verwiſchen ſchien. Sie war ſeitdem nie wieder in der Kirche geweſen.

Der Winter verging, der Frühling kam mit ſei¬ nen ſchönen Tagen, wo die Luft lau, wo die Veil¬ chen blühen, die Lerchen ſingen und die Saaten grü¬115 nen. Klärchen ſah von alle dem nicht viel. Um die Freuden der ſchönen Natur zu genießen, war ſie nie gewohnt ſpazieren zu gehen, und in Kaffeegärten führte ſie Günther nicht mehr; er ſchämte ſich ihrer Schwer¬ fälligkeit und ging lieber allein ſeinem Vergnügen nach. Das war freilich auch anders, als ſich Klärchen in romantiſchen Phantaſien die Liebe ihres Mannes ge¬ dacht hatte; gerade in dieſen Zuſtänden wollte ſie mehr als je auf Händen getragen und vergöttert werden. Aber die gewöhnliche Flitterliebe ohne den wahren fe¬ ſten Grund im Herzen hält nicht weiter hinaus.

Eines Sonnabends Abends , es war Anfangs Mai , da ſaß Klärchen am offnen Fenſter und ſchaute auf die rein gekehrte Straße und ſah dem fröhlichen Spiel der Kinder zu. Eine Nachbarin drüben kam eben mit zweien von einem Spaziergange zurück. Sie waren ganz mit Blumen beladen. Weißdorn, Primeln und Tulpen blühten lieblich in den kleinen Händen. Klärchen ward bewegt von dieſem lieblichen Anblick. Wenn du erſt ein Kind haſt, dachte ſie, gehſt du auch mit ihm ſpazieren, pflückſt ihm Blumen, machſt ihm Kränze. Ihr Herz ſchlug froh bei dieſen Bildern, und überhaupt hing das Glück ihrer Zukunft jetzt eben ſo leidenſchaftlich an dem Kinde, das ſie unter ihrem Herzen trug, als früher an anderen Phantaſiegebil¬ den. Doch ſpazieren gehen könnteſt du zuweilen auch ohne Kind und dir ſo ſchöne Blumen holen! Ja, heute war es zu ſchön! ſie nahm Hut und Umſchla¬ getuch und wanderte zum Thore hinaus.

Ihr Weg führte ſie zu einem Gärtner, einem weitläufigen Verwandten, den ſie in ihrer Jugend,8 *116ehe ſie in Kaffeegärten und Conzerte ging, oft mit der Mutter, mit Tante Rieke und mit Gretchen beſucht hatte. Es war ihr wohl, wie lange nicht, zu Sinne, als ſie dem Grasrain entlang der blühenden Wei߬ dornhecke entgegen ging. O wie die Lerchen dem blauen Himmel entgegen jubelten, und Duft und Lieb¬ lichkeit überall und tiefer Frieden! Sie trat in den Garten. Lichtblaue Irisſtreifen begrenzten die Rabat¬ ten, vor dem Haus blühten Tulpen, blaue Männer¬ treue, Ranunkeln und Hyazinthen. In den blühen¬ den Bäumen, dem jungen Grün der Spiräen und Flieder hüpften und ſangen Vöglein, und hoch drüber in einem knospenden Kaſtanienbaume ſchlug eine Nach¬ tigall in langen, weichen, gehaltenen Tönen. O wie ſchön iſt des lieben Gottes Welt! mußte Klärchen ſa¬ gen und ſeufzend hinzuſetzen: wenn er doch auch dein lieber Gott wäre! Sie wollte in einen Seitenweg ein¬ biegen, trat aber erſchrocken zurück, in einer Flie¬ derlaube ſaßen Fritz und Gretchen traulich neben ein¬ ander. Fritz hatte ſeinen Arm um Gretchen geſchlun¬ gen und ſchaute ihr warm in die Augen, dieſe hatte einen weiß blühenden Spiräenzweig um das Haar ge¬ ſchlungen und ſah ganz wie eine Braut aus. Jetzt erſt dachte Klärchen daran, daß morgen Gretchens Hochzeitstag war. Das bewegte ſie ſehr. Sie ſuchte ſich in dem Bosquet einen einſamen Platz und ließ den Thränen freien Lauf. Nicht aus Neid weinte ſie, nein, aus Reue und Kummer über das eigene Unglück. Wie glücklich mußte Gretchen ſein, zur Seite ſolch 'eines rechtſchaffenen Mannes! Ja, Rechtſchaffenheit geht über alle Galanterie, dachte ſie jetzt. Wenn ich auch117 rechtſchaffen und fromm ſein könnte, vielleicht ginge es mir dann beſſer. Wie fange ich es aber an? Ich weiß es nicht. Und ob mir der liebe Gott helfen kann? ich weiß es auch nicht. Wer ſoll mir rathen? Wenn ich an die Faſtenpredigt denke, wird mir angſt, ich kann ſie immer nicht vergeſſen, und kann mir doch auch nicht helfen. Sie ſchlich ſich aus dem Gar¬ ten, brach ſich einige Weißdornzweige von der Hecke und ging mit weichem Herzen und feuchten Augen durch den dämmernden Abend. Morgen früh wollte ſie in die Stephani-Kirche gehen; und wenn ſie auch morgen keine Luſt dazu haben ſollte , denn ſie kannte den Wechſel ihrer Stimmungen , ſie wollte doch gehen und wenigſtens dem lieben Gott dies Verſprechen halten.

Und ſie hielt Wort und nahm ihren alten Platz in der Stephani-Kirche ein. Der Prediger hielt dies¬ mal eine Frühlingspredigt, er ſchilderte ſo warm die Liebe und Freundlichkeit des Herrn und die Schönheit des Frühlings, und knüpfte daran den Frühling einer Seele, die auch dem Herrn entgegenblüht und ſproſſt und nur von ſeinem Segen und Gnadenſchein Gedei¬ hen erwartet. Klärchen ward durch dieſe Predigt viel getröſtet und geſtärkt. Der Herr iſt ſehr freundlich und gütig gegen die Menſchen, vielleicht erbarmt er ſich auch deiner und wendet noch das ſelbſtverſchul¬ dete Unglück von deinem Leben ab. Er ladet alle Sünder ein, er wird auch dich nicht zurückſtoßen! Aber wie ſollſt du es anfangen, zu ihm zu kommen? Und wie ſoll er dir helfen? Klärchen meinte, wenn ſie an Hülfe dachte, immer nur die äußere, ſie118 fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging, in den er ſie mit hinein ziehen würde. Angſt in der Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb ſie Hülfe zu ſuchen, und da ſie recht gut wußte, daß ihr Men¬ ſchen nicht helfen konnten, wollte ſie es mit dem Him¬ mel verſuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen Muth dazu, und der Prediger, der ſo mild und lieb¬ reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm näher zu kommen und ſich ihm anzuvertrauen, war ihr höchſter Wunſch. Menſchen wußte ſie außerdem nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke ernſte Reden und Ermahnungen hatte ſie ſtets mit Gleichgültigkeit, Widerſpruch und Lachen aufgenom¬ men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu geſtehen, fühlte ſie eine unüberwindliche Scheu.

Als der letzte Vers geſungen war, leerte ſich die volle Kirche, nur im Chor ſammelte ſich eine kleinere Anzahl, um das Brautpaar trauen zu ſehen. Auch Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬ chens Schickſal veranlaßte ſie dazu. Freilich kamen ihrem Herzen gar ſonderbare Gedanken. Wo Gret¬ chen ſteht, könnteſt du auch ſtehen, und was iſt das für ein Mann! Sie hatte ihn immer ſchon bewun¬ dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer eignen Thorheit war ſie verblendet und hatte ſeines Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt ſtand er da, ſo ſchön und männlich, mit ſo mildem, liebe¬ vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die Augen und ihr Herz war ſo bewegt. Als der Predi¬ ger die Verſammlung aufforderte, für das junge Paar mit zu beten, faltete ſie die Hände und brachte zum119 erſtenmal in ihrem Leben etwas wie ein ernſtliches Gebet vor den Herrn. Als beim Hinausgehen Fri¬ tzens Augen ihrem weichen, theilnehmenden Blicke be¬ gegneten, fuhr ein freudiger Schreck in ſein Herz, und wenn er dies Herz auch ganz und gar ſeinem Gret¬ chen geſchenkt, ſo war es doch immer, als ob er Klärchens Seele mit auf ſeiner Seele tragen müſſe. Die heißen Gebete ſeiner Jugend konnte er nicht verlo¬ ren geben.

Klärchen dachte darauf, wie ſie Bekanntſchaft mit dem Prediger machen könne. So geradezu hinzuge¬ gehen war ihr unmöglich, es mußte ſich eine Gele¬ genheit darbieten, und dieſe hoffte ſie am leichteſten in der Taufe ihres Kindes zu finden. Zu Günther ſprach ſie noch nicht davon, obgleich ſie fühlte, ein jeder Prediger würde ihm gleich ſein. Sie fürchtete doch ſeinen Widerſpruch und wollte eine gelegenere Zeit abwarten. Aber mit troſtvollen Hoffnungen und Plänen beſchäftigte ſie ſich in den ſtillen Wochen bis zur Geburt ihres Kindes.

Ende Juni genas ſie glücklich eines kleinen Mäd¬ chens. Günther war ſehr erfreut und ſehr aufmerkſam gegen Mutter und Kind. Klärchen hatte zwar ſchon in den Wochen vorher eine freudige, wenn auch oft unruhige und zerſtreute Stimmung an ihm bemerkt, jetzt kam aber unzweifelhaft die Freude an ihr und dem Kinde dazu. Sie war ſchöner erblüht als je, und das Kind hatte die großen, blauen Augen und feinen Züge der Mutter. Günther war aufmerkſam wie in den erſten Tagen ſeiner Liebe, ſchöne Geſchenke brach¬ ten ſeine Hände und ſchmeichleriſche Worte entglitten120 ſeinem Munde, ja, in einer einſamen Stunde bat er ſie ſogar um Verzeihung wegen der Vergangenheit und verſprach ihr eine goldene Zukunft. Er deutete dabei an, daß ſie bald ihren Wohnſitz ändern würden, und forſchte dann, wie alt wohl ihr Kindchen ſein müſſe, um mit ihm eine weitere Reiſe zu unternehmen. Klär¬ chen hätte ſich jetzt ganz glücklich träumen können, aber die gemachten Erfahrungen ließen ſich nicht aus ihrem Gedächtniß verwiſchen; auch waren Günthers Augen zuweilen ſo unſtet, ſeine Worte ſo geheimnißvoll, daß ſie Angſt vor ſeiner Nähe hatte. Als das Kind fünf Wochen alt war, ward es in der Stephani-Kirche getauft, Günther hatte nichts dagegen, er hörte kaum hin, als ihm Klärchen den Vorſchlag machte. Aber daß Gretchen Gevatter ſtehen ſollte, ſchlug er rund ab, er wollte mit den Leuten nichts zu thun haben. Nur das ſetzte ſie durch, daß die Kleine Gretchens Namen bekam.

Zu Klärchens Geburtstag war das kleine Gretchen ſechs Wochen alt, und lag ſüß ſchlummernd neben der Mutter in der Wiege. Vor dem Sopha ſtand der Geburtstagstiſch, den Günther am Morgen mit Ku¬ chen und Blumen geſchmückt. Außerdem hatte er ihr 30 Thaler in Scheinen geſchenkt mit dem geheimni߬ vollen Bemerken: ſie ſorgſam zu bewahren; ſie würde bald Gebrauch davon machen müſſen. Klärchen hatte ſchon zu oft ſolche Bemerkungen gehört, und hatte das Geld, ohne weiter darüber zu forſchen, in ihr Näh¬ käſtchen geſchloſſen. Jetzt war es bald Abend, ſie ſaß am offnen Fenster, die Luft in der Stube war ihr zu eng geworden, aber auch außen war es nicht beſſer,121 es war ein ſchwüler Tag geweſen. Klärchen hatte ernſthafte Gedanken, ſie war plötzlich ſo weit glückli¬ cher als früher, Günther wie umgewandelt, ſollte der liebe Gott wirklich ihre Gebete erhört haben? Ihr Herz war dankbar geſtimmt, und ſie machte ſich das Gelübde, fromm und rechtſchaffen zu werden, knüpfte daran aber unwillkürlich die Bedingung des Glücklich¬ ſeins, und dies Glücklichſein ſuchte ſie immer noch in äußeren Dingen.

Verwundert ſah ſie mit einemmal Herrn Rein¬ hard mit noch zwei Männern aus dem Hotel und eilig zu ihr hinüber kommen. Erſtaunt ging ſie ihnen entgegen. Herr Reinhard fragte ernſthaft nach ihrem Manne.

Ich meine, er iſt drüben, ſagte Klärchen unbe¬ fangen, und erwarte ihn jeden Augenblick. Es iſt heut mein Geburtstag, fügte ſie, indem ſie auf den Feſttiſch zeigte, hinzu, und er wollte noch mit mir ſpa¬ zieren gehen.

Der Schurke! murmelte Reinhard, und Klärchen fuhr erſchrocken zuſammen. Sie müſſen erlauben, daß wir den Sekretair öffnen, fuhr Reinhard fort, und ſogleich machte er ſich mit Hauptſchlüſſeln an das Werk.

Klärchen bat den Herrn Reinhard mit Thränen, ihr zu ſagen, was vorgefallen, und Herr Reinhard erzählte nicht mit den feinſten Worten, wie Günther ihn wenigſtens um zehntauſend Thaler betrogen, wie er ſchändlicher Weiſe ſein Vertrauen gemißbraucht, ſeine Handſchrift nachgemacht, ſein Siegel benutzt, falſche Wechſel ausgeſtellt, und jetzt wahrſcheinlich nach Ame¬122 rika gegangen ſei. Klärchen, überwältigt von dieſen Nachrichten, ſaß laut jammernd neben der Wiege, Frau Krauter kam dazu, jammerte mit und vermehrte die Verwirrung. Im Schranke fand man nichts. Klär¬ chen erzählte, daß Günther vor kurzer Zeit viele un¬ nütze Papiere, wie er ſie genannt, verbrannt habe. Während ſich zu den genannten Perſonen noch Wirths¬ leute und Mitbewohner des Hauſes eingefunden hat¬ ten, und das kleine Gretchen, vom Lärmen aufge¬ weckt, laut dazwiſchen ſchrie, kam der Poſtbote und brachte einen Brief für Klärchen. Haſtig erbrach ſie ihn und las:

Liebes Klärchen! Ich ſchreibe in großer Eile. Wenn Du dieſe Zeilen lieſt, bin ich bald in Ham¬ burg und beſteige gleich nach meiner Ankunft ein Dampf¬ ſchiff, das mich nach London und dann weiter nach Amerika bringt. Packe ſchnell Deine Sachen, Deine Ausſtattung kann Dir Niemand ſtreitig machen, und komm nach Hamburg mit unſerem kleinen Gretchen. In der Vorſtadt St. Pauli Nr. 10. wirſt Du, wenn Du Deinen Namen ſagſt, freundlich aufgenommen, wirſt alles Uebrige erfahren und eine bequeme Ueber¬ fahrt nach Amerika haben. Ich beſchwöre Dich, laß mich nicht im Stich, ich kann nicht leben ohne Dich und ohne unſer liebes Kind, ich werde Dich mit offe¬ nen Armen empfangen und in unſer Hotel führen, da ſollſt Du fürſtlich leben und die Bettelwirthſchaft, die Dich jetzt drückte, bald vergeſſen. Du kommſt! ich zweifle nicht und bin ewig Dein Eduard Günther.

Klärchen ließ es willenlos geſchehen, daß auch Herr Reinhard den Brief nahm und las. Er ward123 noch zorniger, als er erfuhr, daß der Betrüger ihm entgangen ſei, und fragte Klärchen mit beißenden Wor¬ ten, was ſie zu dem Vorſchlag ſage. Dieſe erklärte, ſie wolle lieber mit ihrem Kinde verhungern, als dem Manne folgen. Als Herr Reinhard merkte, daß Klär¬ chen ganz unwiſſend in der Sache ſei, als er ihren Schmerz darüber ſah, ward er etwas milder gegen ſie geſtimmt, aber die Wohnung mußte ſie räumen und die ganze Einrichtung ihres Haushaltes zurücklaſſen, denn ſie konnte nicht leugnen, daß Günther Alles an¬ geſchafft hatte; nur ihre eigenen Kleidungsſtücke und Leibwäſche, das Bettchen und Zeug des Kindes nebſt einigen Kleinigkeiten wurden ihr mitzunehmen erlaubt.

Klärchen ſaß wieder in der kleinen Stube ihrer Mutter. Die zwei Jahre ihrer Abweſenheit waren ihr wie ein Traum, ein Traum, der in Luſt und Herr¬ lichkeit begonnen und geendet in Jammer und Noth. Dem ſchwülen Tage war ein Gewitter gefolgt, das jetzt in einen leiſen Landregen endete. Die Mutter war trotz des Regens ausgegangen, um Einkäufe zu machen, denn ihr Haus war ganz leer; und ſeitdem ihr Klärchen die 30 Thaler im Nähkäſtchen gezeigt, war ſie guten Muthes. Sie lebte nur in der Gegen¬ wart und ſagte, wenn es ihr gut ging: der liebe Gott wird weiter ſorgen. Denn ſie führte den lieben Gott wenigſtens im Munde, wenn ſie ihn auch nicht im Herzen hatte. Klärchen war nicht guten Muthes, ſie ſaß in der dämmernden Stube am Fenſter, ſah auf die grauen, naßgewaſchenen Häuſer und auf die fal¬124 lenden Tropfen, und ihre Augen tropften ebenfalls. Was werden die Nachbarn ſagen, dachte ſie, wenn ſie dich hier wieder ſehen, und nun in Schande und Noth; was Guſtchen Vogler, die ſie manchmal in ihrer vornehmen Wohnung beſucht und ihr Loos ge¬ prieſen und beneidet hatte? Was wird Tante Rieke ſagen, die ihr das Alles vorher geſagt? Aber Mit¬ leiden wird ſie doch mit dir haben. Hat ſie doch neulich ganz freundlich zur Mutter von Klärchen ge¬ ſprochen, hat ſich gefreut, daß ſie ihr kleines Mäd¬ chen Gretchen genannt hat, und daß ſie Klärchen ei¬ nigemal in der Stephani-Kirche geſehen. Ja, die Stephani-Kirche! dachte Klärchen weiter, es hat dir auch nichts geholfen; der liebe Gott hat deine Ge¬ bete nicht erhört, er hat dir die Strafe für dein frü¬ heres Leben bald geſchickt, er iſt ein ſtrafender Gott. Klärchen konnte nicht zu ihm aufſehen, aber ihr ver¬ gangenes Leben ging jetzt vor ihrer Seele vorüber, die zwei letzten Jahre kamen ihr wie ein langes Leben vor. Es war jetzt Jahreszeit, als Fritz Buchſtein zurückkam, als ſie mit Geringſchätzung auf ihn ſchaute und um den Studenten buhlte. Was hätte ſie denn gehabt, wenn ſie den errungen? O ſie wußte jetzt, daß rohe, gottloſe Männer eben ſo gegen ihre Frauen ſind, wenn ſie auch in den Liebesmonaten eine ſanfte Sprache führen. Sie hatte es erfahren, daß ſchöne Kleider und ein vornehmes, bequemes Leben keine Freude ſind, wenn das Herz an Kummer und Ver¬ druß zehren muß. Sie dachte weiter an ihr Leben bei der Generalin, wohin der Leichtſinn ſie dort ge¬ führt, und hielt beide Hände vor das Geſicht vor in¬125 nerer Schaam. Wie ganz anders dachte ſie jetzt über den Grafen, dieſen leichtfertigen, wortbrüchigen Men¬ ſchen, der ſie beinahe in den Abgrund getaumelt. Ja, ſie fühlte ſo etwas wie Fügung Gottes, daß ſie vor noch tieferem Fall und äußerſter Schande bewahrt ge¬ blieben. Mit welchem Leichtſinn aber hatte ſie ſich ihrem Manne in die Arme geworfen! Sie hatte ge¬ wußt, daß er leichtfertig, ja ſie zweifelte eigentlich nicht an der Tante Ausſage, daß er ſchlecht und herz¬ los ſei; aber ſie meinte damals, wenn es ihr äußer¬ lich wohl ginge, wäre ſie glücklich. Und wie unglück¬ lich und troſtlos hatte ſie ſich an ſeiner Seite gefühlt, wie war jetzt ihre ganze Zukunft zerſtört! Ob dir der liebe Gott dennoch helfen könnte? kam ihr ein heller Gedanke in der Nacht ihres Herzens. Die Tante hatte oft geſagt: Aeußere Noth iſt kein Unglück, der Herr kann uns dabei doch Frieden und Freude ſchenken. Sie ſchaute auf ihr Gretchen, das ſo ſanft in der Wiege ſchlief, und fühlte eine Ahnung höherer Freude, als alle irdiſchen Genüſſe ihr bis jetzt geboten. Für das Kind leben, arbeiten, das ſoll mein Troſt ſein! O wie ſüß es jetzt ſeine Aermchen ſtreckte und dehnte und ſeine Aeuglein aufthat! Klärchen nahm das Kind an ihre Bruſt und vergaß allen Kummer. Sie nahm ſich vor, alle Schaam zu überwinden und morgen gleich neue Kundſchaft als Schneiderin zu ſuchen, die dreißig Thaler wollte ſie ſparen und für Nothfälle auf¬ heben, damit es ihrem Kinde nie am Nöthigſten ge¬ bräche.

Aber es ſollte anders ſein. Klärchens noch zarte Geſundheit war von den letzten Stürmen ſo erſchüt¬126 tert, daß ſie am anderen Morgen ihr Bett nicht ver¬ laſſen konnte; ja, nach einigen Tagen hatte ſich ein ſo heftiges Nervenfieber entwickelt, daß ſie beſinnungs¬ los dalag. So vergingen vierzehn Tage, ſie wußte nichts davon, wenn man ihr das Kind an die Bruſt legte, ſie wußte nicht, daß Tante Rieke und Gretchen oft pflegend an ihrem Bette ſaßen, ſie hörte nichts von den Todesbefürchtungen, die der Arzt in ihrer Nähe ausſprach. Endlich kam die glückliche Kriſis, Klär¬ chen erlangte ihr Bewußtſein wieder, die Tante und Gretchen nahten ſich ihr vorſichtig; Klärchen konnte vor Schwäche nicht reden, aber lächelte dankbar. Man mußte ihr das Kind zeigen, ſie nahm es an ihr Herz, ſie war ſo glücklich und fühlte einen Himmel in dieſen Umgebungen. Von Tage zu Tage ward ſie kräftiger und fühlte ſich bald wie neugeboren.

Aber auch für ihre Seele begann ein neues Le¬ ben. Eine Geneſungszeit iſt oft eine ſegensreiche, da iſt der Boden locker und der Same findet eine gute Statt. Frau Bendler wußte das, und benutzte es. Sie ſprach ihr Troſt und Muth zu; Klärchen hörte gern, denn kein Vorwurf, kein hartes Wort traf ihre Vergangenheit, nur der Gegenwart, der Zukunft ſollte ſie jetzt leben. Auch der Stephani-Prediger kam, ſie hatte der Tante von ihrer früheren Sehnſucht nach ihm geſagt. Warm und eindringlich ſprach er von der Liebe und Gnade unſeres Herrn, und ſeine Worte machten immer tieferen Eindruck auf Klärchens Herz. Ja, der Herr gab dem Samen, der hier geſäet wurde, ein gnädiges Gedeihen. Klärchen lernte ihren Heiland kennen, ſie fühlte, daß ſie trotz ihrer vielen Sünden127 ſich ihm doch nahen dürfe, ſie fühlte, daß alle Luſt und Herrlichkeit der Welt nichts iſt gegen den Frieden, den er uns beut. Dieſer Frieden ward nur geſtört durch die Erinnerung an die Vergangenheit. Ihre Schuld kam ihr oft gar groß vor, aber wenn ſie ſah, wie die Tante und Gretchen, ſchwache Menſchen wie ſie ſelbſt, ihr nur mit Liebe und Theilnahme ihren Leicht¬ ſinn, ihre Liebloſigkeit und Verſpottung vergalten, wie vielmehr mußte ſie bei dem Herrn Verzeihung finden. Ja, der Herr nimmt an ihr reuevolles Herz. Aber auch allen Menſchen, denen ſie Unrecht gethan, möchte ſie ihre Reue ſagen. Vor allen zogen ihre ſtillen Ge¬ danken ſie zu Fritz Buchſtein hin; ſie hätte wiſſen mö¬ gen, ob er ſie nicht gar ſehr verachte und gering ſchätze, ob ſie Gretchens Worten trauen und je ſein Haus beſuchen dürft, ſie hätte ihm gern ihr demüthi¬ ges Herz gezeigt und ihn um Verzeihung für ihr lieb¬ loſes Betragen gegen ihn gebeten. Doch nach ihm zu fragen wagte ſie nicht, und als Gretchen einſt er¬ wähnte: Fritz warte nur auf Erlaubniß, ſeinen Kran¬ kenbeſuch zu machen, konnte ſie kaum vor innerer Be¬ wegung dieſe Erlaubniß geben.

Bald darauf, Klärchen war allein mit ihrem Kinde im Zimmer, öffnete ſich die Thür und Fritz trat ein. Klärchen hatte eben ſinnend in den letzten Abendſchein geſchaut und gedacht, ob Fritz wirklich kommen würde, als er plötzlich vor ihr ſtand. Sie erhob ſich erſchrocken vom Stuhl, er aber nöthigte ſie zum Sitzen und bot ihr einen freundlichen guten Abend. Als er ihr ſo mild und theilnehmend in die Augen ſah, ging ihr das Herz über, ſie konnte keine Worte128 finden, nahm ſeine Hand mit beiden Händen und weinte bitterlich. Das war zu viel für Fritz, er machte ſich los und trat ſchweigend an das Fenſter. Die Hand, die ſie mit Thränen benetzt, legte er auf ſein klopfendes Herz und flehte um Kraft. Feſt und ernſt ſetzte er ſich dann zu ihr, ſprach tröſtliche Worte zu ihr, aber berührte mehr ihr äußeres Leben. Klär¬ chen, die da meinte, ſie hätte zu heftig ihre innere Bewegung kund gethan und ihn dadurch verletzt, nahm ſich zuſammen und verſuchte ruhig und gelaſſen zu ſpre¬ chen. Das kleine Gretchen ward der Gegenſtand der Unterhaltung. Fritz ſagte, wie er und Gretchen auch ſolcher Freude entgegen ſähen, wie dann die Kinder zuſammen ſpielen und groß werden könnten. Die Tante und Gretchen kamen jetzt hinzu, und Klärchen athmete leichter, die Unterhaltung ward ganz unbe¬ fangen. Die Tante ſprach zu Fritz von Klärchens Wunſch, die Scheidung von Günther ſo ſchnell als möglich gerichtlich zu machen, was bei den vorliegen¬ den Umſtänden nicht ſchwer ſein konnte. Klärchen ſprach dann von ihren Lebensplänen, daß ſie wieder nähen wolle und mit Gottes Hülfe ihr Kind ernähren und erziehen. Sie drückte bei dieſen Worten ihr Gret¬ chen innig und zärtlich an das Herz und bemerkte nicht, wie der Tante Blicke wehmüthig auf dem Kinde ruhten, deſſen Augen ſo groß aus dem kleinen weißen Geſichtchen herausſchauten. Der Mutter ſchwere Krank¬ heit hatte natürlich auch das Kind halb verkommen laſſen; alle Sachverſtändige fürchteten für ſein Leben, und nur Klärchen ahnete nichts von dem gefährlichen Zuſtande.

129

Am nächſten Sonntag ging ſie zuerſt in die Ste¬ phani-Kirche. Ihr Herz war voll ſeliger Dankbarkeit und voll heißen Gebetes. Das war ein ſegensreicher Morgen. Sie konnte getroſt dem Herrn nahen und er¬ wartete ihren Frieden nicht mehr von äußerem Wohl¬ ergehen, ſondern nur in der Gnade und Liebe des treuen Herrn.

Nach der Kirche rüſtete ſie ſich zu ihrem erſten Gang in die Stadt. Es war ein ſchwerer Gang. Sie ſagte Niemandem wohin, ſie ging zur Generalin. Dieſe Frau, gegen die ſie ſich am ſchwerſten vergangen, de¬ ren Güte und Freundlichkeit ſie mit ſchmählichem Un¬ dank belohnt hatte, mußte ſie um Verzeihung bitten. Mit klopfendem Herzen ſtieg ſie die Treppe hinauf, zog ſie die Klingel. Der alte Bediente, der ihr eigentlich immer gut Freund geweſen, machte ihr jetzt durch ſei¬ nen freundlichen Gruß den beſten Muth. Als er ging, ſie zu melden, ſtand ſie allein in dem ihr wohlbekann¬ ten Vorzimmerchen. Der Nähtiſch, vor dem ſie ſo oft geſeſſen, ſtand noch an demſelben Platz, der wohl¬ bekannte Arbeitskorb darauf. Sie ſah ſich dort im Geiſte ſitzen mit all ihrer Eitelkeit, mit ihren tollen Gedanken und wunderlichen Plänen für die Zukunft. Ein ſchnelles Roth flog über ihre Wangen. Wie ſchämte ſie ſich der Vergangenheit, wie ſchnell hatte ſich die Zukunft ſtrafend für ſie enthüllt, wie bangte ihr vor den ernſten Worten der Generalin, und wie trieb es ſie doch wieder, ihr Herz zu erleichtern!

Die Generalin war indeſſen ſehr ſchwankend, ob ſie Klärchen annehmen ſollte oder nicht. Sie hatte von ihrem Schickſale gehört, fand es wohl verdient9130und glaubte, daß jetzt nur äußere Noth und Bitte um Unterſtützung Klärchen hergetrieben. Sie ſchämte ſich aber faſt vor dem Bedienten, der hatte ſo theilneh¬ mend Klärchen genannt, der ſchien gar nicht zu zweifeln, daß ſie vorgelaſſen würde, und ſie gab die Erlaubniß.

Klärchen konnte vor Bangigkeit erſt nicht reden, ſie nahm nur der Generalin Hand und küßte ſie. Dieſe ſagte mit etwas kaltem Tone: Ich habe von Ihrem Unglück gehört, und bedaure Sie.

Ich bin jetzt nicht unglücklich, gnädige Frau, un¬ terbrach ſie Klärchen ſchüchtern, nicht ſo unglücklich, als da ich bei Ihnen war. Die Generalin machte ein verwundertes Geſicht, und Klärchen fuhr fort: Ich bereue meinen Leichtſinn, und hoffe, ich werde mit Gottes Hülfe anders werden, ich konnte es nur nicht laſſen (bei dieſen Worten wurde ihre Stimme zitternd und Thränen traten in ihre Augen), ich konnt 'es nur nicht laſſen, vor allem erſt Ihre Verzeihung zu erbitten; ich wage es kaum, es war zu ſchlecht, o Gott! ich habe Sie ja beſtohlen. Klärchen konnte nicht weiter reden, und die gutmüthige Frau Generalin war ſo bewegt von dieſer unerwarteten Scene, daß ſich ihre Gefühle plötzlich wandten, und ſie die bleiche, junge Frau in den herzlichſten Worten ihrer Verzeihung verſicherte. Sie unterhielt ſich noch weiter mit ihr, fragte nach ihren Plänen für die Zu¬ kunft, und als ſie hörte, daß Klärchen wieder ſchnei¬ dern wolle, erbot ſie ſich, ihr ſelbſt Arbeit zu geben und ihr auch Kundſchaft zu verſchaffen. Klärchen war gerührt von dieſer Güte. Sie pries es als eine Gnade Gottes und als die Erhörung ihres Gebetes von heut131 Morgen in der Kirche, wo ſie zum Herrn ſo dringend gefleht, ihr doch die Theilnahme und Liebe guter Men¬ ſchen wieder zuzuwenden, weil ſie doch noch ein gar zu ſchwankendes Rohr ſei und leicht muthlos werden könne; aber die Freude, bei der Frau Generalin im Hauſe arbeiten zu dürfen, müſſe ſie erſt mit der Zeit verdienen, ſie müſſe ſich jetzt noch zu ſehr ſchämen und fürchten, ihre Wohlthäterin könne ihr noch nicht trauen.

Dieſe aufrichtige Reue machte die Generalin im¬ mer gütiger, und Klärchen ſchied von ihr das Herz voller Troſt und froher Hoffnungen. Aber der Herr wollte ſie lehren, gar keinen Troſt bei Menſchen, ſon¬ dern bei ihm allein zu ſuchen, und führte ſie noch ſchwere Wege.

Als ſie nach Hauſe kam, hatte ihre Mutter das kleine Gretchen auf dem Arm, und Klärchen bemerkte zum erſtenmal, daß ihr Kindchen nicht ſo ausſah wie andere Kinder dieſes Alters. Ein jäher Schreck fuhr durch ihre Seele, ſie nahm es, ſah ihm in die gro¬ ßen, blauen Augen, faßte die welken Hände und ſah flehend zum Himmel auf. Nein, das kann der Herr nicht thun, das könnteſt du auch nicht ertragen! dachte ſie. Vielleicht will er nur deinen Glauben prüfen, und du willſt nicht aufhören zu bitten.

Sie forſchte bei der Mutter und bei der Tante und anderen Bekannten nach deren Meinungen über das Kind, und es war ihr Balſam, zu hören, wie ſchwächliche Kinder oft leichter über die erſten Jahre hinkämen, als ſtarke und vollſäftige. Ach, dachte ſie, du willſt es ſorgſam pflegen und hüten, und der liebe Gott wird das ſegnen.

9 *132

Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging, Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlaſſen mußte, wurde ihr ſehr ſchwer; doch die dreißig Thaler waren zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬ ſchen erwarteten, daß ſie ihre hergeſtellten Kräfte zur Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht ſchwer, ſich einen Wirkungskreis zu verſchaffen: ja bald ward er ſo groß, daß ſie nicht allen Anforderungen genügen konnte. Frau Krauter war ſehr glücklich darüber; zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in den Mund, ſie war aber gewohnt, nicht weiter zu denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der Woche nähte ſie in den Häuſern, jeden Sonntag ging ſie in die Stephani-Kirche, die Feierſtunden, die ihr blieben, widmete ſie der Pflege ihres Kindes. Von einer Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬ dung von ihrem Manne, hatte ſie der Herr ſelbſt be¬ freit. Das Schiff, auf welchem Günther ſich einge¬ ſchifft, war im Kanal geſcheitert, und er ſelbſt hatte den Tod und das Ende ſeiner Pläne in den Wellen gefunden. So hätte ſie ſich in ihrem Stillleben un¬ geſtört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können, wenn nur ihr Kind friſch und geſund geweſen; aber die bange Sorge ſaß ihr wie ein Stachel im Herzen, und ihr Glaube war noch zu jung und ſchwach, um willig ihr Liebſtes zu opfern und wie Abraham zu ru¬ fen: Herr, hier bin ich.

Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war früh in der Kirche geweſen und noch erfüllt von der herrlichen Predigt, erquickte ſie ſich an der ſonntägli¬ chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬133 gen, ſie ſaß allein in der Stube, ihr ſchlummerndes Gretchen auf dem Schooße. Schneeflocken fielen leiſe nieder, Klärchen ſchaute ſtill hinein, es war ihr, als ob ſie durch die weiße Decke doch die ganze Herrlich¬ keit des Himmels ſähe; ſie fühlte eine Glückſeligkeit von da oben ſich in ihr Herz hinabſenken, wie ſie nie gefühlt. Sie faltete die Hände: O Du lieber himm¬ liſcher Vater, halte mich ſo wie Du mich in dieſem Augenblicke hältſt, ich fühle mich an Deinem Herzen, ich könnte Dir Alles geben, ja auch das Liebſte hier. Sie ſah auf ihr bleiches Kind, aber fühlte eine ſelige Verklärung im Herzen. Da ſchlug das kleine Gret¬ chen die matten Augen auf, die Mutter drückte es heiß an ihr Herz und ſchluchzte: O Herr, aber gieb Du Kraft! ich bin ſchwach, ſehr ſchwach! Sie fühlte die Verheißung vom Tode ihres Kindes, und ihr Herz konnte ſich beugen.

Aber dieſer ſeligen Stunde folgten viele bange, ſie fing wieder an zu zagen, zu ringen, zu hoffen, auf Mittel zu ſinnen, wie dem Kinde zu helfen ſei. Beſonders glaubte ſie, daß ihre eigne Pflege nöthig ſei, und ging deswegen nicht zum Nähen aus, wie auch Frau Krauter darüber böſe war; denn wenn Klär¬ chen meinte, im Hauſe eben ſo viel verdienen zu kön¬ nen, merkten ſie bald an der Kaſſe, daß dem nicht ſo war. Stundenlang trug ſich Klärchen mit dem Kinde, oder ſaß von Kummer und Wachen ermattet mit müßigen Händen. Bis vierzehn Tage vor Weih¬ nachten ging es leidlich, der Hausſtand hatte noch nicht Mangel gelitten, da trat aber ſtatt des bisheri¬ gen milden Wetters ſtrenge Kälte ein, und Holzman¬134 gel machte ſich bitter fühlbar. Tante Rieke wagte Klärchen nicht anzuſprechen, weil ſie ja durch eigne Schuld in dieſe Verlegenheit gekommen war, und auch die Mutter hatte nicht Muth dazu, weil Tante Rieke ihr Weihnachten ſchon die Miethe geben mußte. So ward denn für jetzt beſchloſſen, Klärchens Flitterſtaat zu verkaufen, den ſie um Alles in der Welt doch nicht wieder getragen haben würde. Frau Krauter war ſehr zufrieden damit. Wir helfen uns noch einige Wochen hin, dachte ſie, länger kann das Würmchen nicht mehr leben, und dann iſt Klärchen doppelt fleißig und die Noth hat ein Ende. Der ſchwarze ſeidene Mantel und der Sammethut machten den Anfang, dann folg¬ ten allerhand Kleinigkeiten, für die aber ſehr wenig eingenommen wurde, und da Tag und Nacht geheizt werden mußte, auch außer Eſſen und Trinken noch Medizin und allerlei andere Dinge zu beſchaffen wa¬ ren, ſo war bald die Kaſſe wieder ſo leer wie zuvor, und Klärchen ſtand am dritten Weihnachtstage troſtlos vor den leeren Kommodenkaſten. Noch fand ſich eini¬ ges Unbedeutende, das ſie ſich eigentlich ſchämte aus¬ zubieten, aber die Mutter brachte einen Thaler dafür. Das Schlimme bei dieſem Verkaufen war nur, daß Klärchen für den Flitterſtaat nichts Derbes und Feſtes in der Stelle hatte. Ein Deckentuch war ihr einziges warmes Kleidungsſtück und hatte auch bei dem milden Wetter ausgereicht; jetzt hatte ſie weder einen Mantel, noch ein warmes Kleid, und konnte kaum die warme Stube verlaſſen. Aber auch dieſe Stube war nicht mehr warm zu machen; am Sylveſter-Morgen blieb Frau Krauter im Bett liegen, um nicht zu frieren,135 und Klärchen ging in den Holzſtall, um noch einmal Nachleſe zu halten, obgleich ſie geſtern Abend ſchon ſehr genau eingeſammelt hatte. Sie fand einige Split¬ terchen, kochte noch einmal Kaffee und für Gretchen einen Brei. Die Stube ward kaum warm. Klärchen fragte nichts nach der Kälte, aber Hülfe mußte nun geſchafft werden, das Kind durfte nicht frieren. Vor allen Dingen zog ſie ſelbſt ihren einzigen wollenen Unterrock aus, machte eine Kappe davon, hüllte das Kind da warm hinein und trug es ſo im Deckentuch in der kalten Stube. Um noch etwas unter dem dün¬ nen wollenen Mouſſelin-Kleide zu haben, hatte ſie den weißen Unterrock mit der Friſur angezogen, der aus ihrer Mädchenzeit, jetzt aber dünn und verwaſchen, kaum noch zu Futter nutzbar, in einer Ecke lag. Sie kämpfte lange, ob ſie zu Tante Rieke gehen ſollte, oder vielmehr zu Buchſteins; denn ſchon ſeit acht Ta¬ gen war die Tante dort, weil Gretchen an einer bö¬ ſen Grippe niederlag. Sie entſchied ſich zum Gehen, die Noth war zu groß, ihre Stube ward immer kälter, die Mutter jammerte nach Eſſen, und ſie ſelbſt und ihr Kind waren hungrig. O wenn ſie nur Kraft zum Beten gehabt hätte! Aber ſie war matt und ſchwach, konnte ſich nicht erheben und trug all dies Elend als eine wohlverdiente Schuld.

Der Nordwind pfiff durch ihre dünnen Kleider, an allen Gliedern bebend trat ſie zu Buchſteins in das Haus. Fritz nahm eben dem Lehrjungen einen Korb mit Spähnen und Holzabfällen ab, die er in der Werkſtatt aufgeräumt. Klärchens Blicke ſahen unwill¬ kürlich verlangend darauf. Fritz, der für Klärchens136 Augenſprache immer noch ein feinfühlendes Verſtänd¬ niß hatte, verſtand auch dieſen Blick. Ein heißes Weh ging durch ſein Herz. Sie iſt in Noth, dachte er, ſie ſieht bleich und kümmerlich aus, und ihr habt ſie vergeſſen. Er führte ſie in die Stube. Gretchen hatte zum erſtenmal das Bett verlaſſen und ſaß in Betten und Mäntel gehüllt im Lehnſtuhl, Vater Buchſtein und die Tante ſaßen neben ihr, freueten ſich ihrer Geneſung, der ſie mit einiger Beſorgniß entgegen ſa¬ hen, weil der ſehr heftige Huſten in Gretchens Zu¬ ſtande was Angſtvolles hatte. Die Tante erſchrak, als Klärchen als ein ſo ſprechendes Bild des Jammers und des Elendes in die Stube trat. Fritz ſtellte ihr einen Stuhl an den Ofen, ſie ſetzte ſich, aber immer noch flogen ihre Glieder vor Froſt.

Wie geht's Euch denn? fragte die Tante beſorgt.

Die Mutter liegt im Bett, und mein Gretchen hier ſtockte Klärchens Stimme.

Warum haſt Du keinen Mantel um? fuhr die Tante fort was haſt Du an? Sie hob unwill¬ kürlich das dünne Kleid und den wohlbekannten Fri¬ ſurenrock auf. Ach Gott! nichts weiter? ſagte die Tante erſchrocken, warum denn keinen wollenen Rock?

Klärchen legte beide Hände vor die Augen. Ich habe keinen, ſchluchzte ſie, und habe nichts, nichts! Fritz trat an das Fenſter, er konnte ſeinen Augen nicht gebieten. Gretchen bat die Tante, welche Kleidungs¬ ſtücke ſie für Klärchen holen ſollte; aber Klärchen ſagte leiſe weinend:

O nichts für mich, nur etwas Holz und Eſſen für meine Mutter und mein Kind.

137

Fritz eilte hinaus. Der Korb mit dem Holze ſtand noch dort, alles mögliche aus der Speiſekammer packte er hinzu und eilte nun voran in Klärchens Wohnung. Wie fand er es hier! öde und kalt, das Kind wei¬ nend, die Großmutter klagend. Mit zitternden Händen machte er ſelbſt Feuer, ſtellte Waſſer dabei, und als Tante Rieke mit dem eingekleideten Klärchen in die Stube trat, hörte dieſe wenigſtens das tröſtliche Kni¬ ſtern im Ofen. Sie ſah ihn ſo demüthig und dank¬ bar an, er konnte den Blick nicht vertragen, ſein Ge¬ wiſſen machte ihm Vorwürfe, daß er ſie darben ließ; freilich war ſein Gretchen in den Tagen ſchwer krank geweſen, und ſeine Zeit durch die Pflege hingenommen, aber daran dachte er jetzt nicht, ſondern nur an ſeine Schuld.

Als er darauf den Abend allein ſaß und dem neuen Jahr entgegen wachte, denn ſein alter Vater war jetzt ſehr kränklich und auch die Tante von den vorhergegangenen Nachtwachen angegriffen, da gin¬ gen ſeine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Es waren zwei Jahr, daß er zu Klärchen die warnenden Worte geſprochen, wie hatte ſich ſeitdem alles geän¬ dert! Er fühlte dankbar, daß der Herr ſeine Gebete erhört, an der Seite ſeines treuen Gretchens war er von aller Unruhe des Herzens geheilt, und wenn auch die Jugenderinnerung zuweilen wunderlich durch ſeine Seele klang, ſo hatte das nichts Schmerzliches mehr. Klärchen war der Welt entfremdet und dem Himmel gewonnen; Fritz flehte zum Herrn, daß er alle ihre Herzen verklären möge, daß er ſie einen Weg führe138 zum himmliſchen Jeruſalem und dort oben ewig ſelig vereinigt halte.

Während Fritz ſo mit ſeinen Gedanken allein war, ſaß Klärchen ebenſo an der Wiege ihres hinwelkenden Kindes. Sie war matt und krank, ihre Glaubens¬ welt ſchwach und ohne Halt, das Leben war ihr trüb 'und der Himmel fern, ihr einziger Troſt war das Kind, ihr einziger Gedanke: ſo grauſam kann Gott nicht ſein, dir dies zu nehmen. Und doch kann er es, dachte ſie angſtvoll, und du haſt es verdient! Das Leben lag wie eine ſchwere Schuld hinter ihr, und der erlöſenden Liebe wagte ſie ſich nicht zu nahen. In die Kirche war ſie nicht gekommen, die Tante und Buchſteins hatte ſie lange nicht geſprochen, ſo fehlte es ihr an jedem ſtärkenden Zuſpruch, und innerlich und äußerlich welkte ſie dahin.

Am anderen Morgen ſtand Frau Krauter trotz der warmen Stube nicht auf, ſie fühlte ſich wirklich krank, und als es in den nächſten Tagen zunahm, ſchickte die Tante einen Arzt. Der erklärte es für eine ner¬ vöſe Grippe. Klärchen hatte nun doppelt zu pflegen, und da die Tante immer wieder an Gretchens Kran¬ kenbette gebunden war, ſtand ſie ganz allein. Nur Fritz kam zuweilen; aber ernſt und ſchweigſam war er, Klärchen hielt das für eine verdiente Nichtachtung, wagte ihn kaum anzuſehen und zu danken für Alles, was er ihr zur Erleichterung that und ſchickte. So gingen ihr die Tage wie im dumpfen Traume hin. Nach drei Wochen erklärte der Arzt den Zuſtand der Mutter für beſſer, zugleich aber ward ſein Geſicht beim Anſchauen des Kindes immer bedenklicher. Klärchen139 empfand große Qualen; je mehr ſie das Kind hegte und pflegte, je furchtbarer ward ihr der Gedanke ſei¬ nes Todes. Eines Abends wollte es die Bruſt nicht mehr nehmen und hing matt das Köpfchen; wie ein Schwert fuhr der Schmerz durch Klärchens Bruſt. Sie wußte in der Angſt nicht was beginnen; der liebe Gott will nicht helfen, vielleicht können es Menſchen. Sie ſtürzte zur Tante, aber bei Buchſteins war Angſt und Verwirrung, der alte Benjamin ſtand mit gefal¬ teten Händen im Hauſe, Gretchen lag in ſchweren Kindesnöthen. Klärchen lief zu Guſtchen Vogler, lief zum Arzt; der fand das Kind freilich ſehr krank, er hatte es aber nicht anders erwartet. Guſtchen blieb die Nacht, machte Thee, wärmte Tücher und hörte Klärchens Klagen an. Die Nacht war ſo lang, dichte Schneeflocken hielten die Dämmerung am Morgen noch länger auf. Endlich ward es Tag. Klärchen hielt laut jammernd das ſterbende Kind auf dem Schooße, als die Thür ſich öffnete und Tante Rieke eintrat.

Eben ſtirbt mein Kind! rief Klärchen verzweif¬ lungsvoll.

Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genom¬ men, ſein Name ſei gelobt ewiglich, ſagte die Tante bewegt.

Nein, nein, rief Klärchen und küßte den letzten Athemzug von des Kindes Lippen.

Ja, ja, ſagte die Tante. Klärchen, laß uns beten, wir ſind jetzt beide kinderlos, Thränen er¬ ſtickten ihre Stimme, auch mein Gretchen iſt hin¬ übergegangen.

140

Klärchen ſtarrte ſie an. Ja, fuhr die Tante fort, laß uns den lieben Herrn im Himmel bitten, daß er uns Kraft giebt, daß er uns tröſtet.

Der liebe Herr im Himmel? ſtöhnte Klärchen; aber ihre Hände falteten ſich, die ſeligen Stunden, die ſie mit dieſem Herrn ſchon verlebt hatte, nahten ſich ihr plötzlich wie ein Troſtes-Engel. Am erſten Advent hatte ja ihr Kind eben ſo bleich auf ihrem Schooße geruht; damals hatte ſie Kraft, es dem Herrn willig hinzugeben. O Herr, hilf mir! flehte ſie, und der Herr half. Ja wunderbar, ſchnell, augen¬ blicklich! eine ſelige Erhebung fühlte ſie im Herzen, der düſtere Traum, die Angſt war vorüber. Sie konnte mit der Tante beten, ſie konnte mit ergebenem Herzen heiße Thränen weinen.

Und dieſe Thränen floſſen noch oft, aber ſie lö¬ ſten die Laſt ihres Gewiſſens und machten ſie zum Kinde Gottes.

Klärchens äußeres Leben war bald wieder im alten Geleiſe. Sie ging aus zum Nähen; weil ſie geſund war, und nichts ſie mehr an's Haus feſſelte, wollte ſie auch wieder arbeiten. So ſtill und einför¬ mig ihre Tage aber auch äußerlich hingingen, ſo warm und lebendig war es ihr im Herzen: ihre Gedanken zogen immer mehr dem Himmel zu, dahin, wo ihr Kindchen mit den Engeln ſpielt, und der Himmel kam zu ihr hernieder mit ſeinem Frieden, ſeiner Seligkeit. Sie verlangte und hoffte von dieſem Leben nichts wei¬ ter, ja, wenn ſie des Abends oder des Sonntags bei141 der Tante war, dieſe ſie mit Liebe und Vertrauen überhäufte, und wenn gar Fritz dazu kam, mit ihnen ſprach, ihnen vorlas, und ſie einen theilnehmenden Blick von ihm erhaſchte, da meinte ſie, ſo glückliche Tage nicht verdient zu haben, und bat Gott, ſie ihr bis zum Lebensende ſo zu erhalten.

Der Sommer ging vorüber, auch der halbe Win¬ ter. Am Sylveſter-Abend ſaßen Klärchen, Fritz und die Tante beiſammen, es wurde nicht geſcherzt und fröhlich geplaudert, aber alle drei waren im Herrn ſelig vergnügt. Fritz, obgleich er es nicht wagte, die Wünſche ſeines Herzens in die Wirklichkeit hinaus zu denken, ahnete doch, was der Herr mit ihm vorhätte. Unter ſchweren Kämpfen hatte er ihm einſt ſein thö¬ richtes Herz und ſeine Jugendliebe übergeben, verklärt ſollte er dieſe Liebe aus ſeiner Hand zurück erhalten. Als er Klärchen gute Nacht wünſchte und den Segen des Herrn zum neuen Jahr, da konnte er ſeiner Stimme nicht gebieten, und Klärchen fühlte den Ton in ihrer Seele. O Gott! ſie wagte es ja kaum, in ſeine reinen, lichten Augen zu ſchauen, ſie hatte ihn nur in ihr Gebet eingeſchloſſen und erſehnt, er möchte ihr nicht länger zürnen.

Frau Krauter, die ſeit der ſchweren Krankheit ſich nie wieder ganz erholt und immer gekränkelt hatte, mußte ſich nach Neujahr legen, und Klärchen durfte ſie nicht verlaſſen. Doch ward ihr eine lange Kran¬ kenpflege diesmal erſpart, ein Lungenſchlag machte der Mutter Leben ſchnell ein Ende.

142

Klärchen war nun eine Waiſe. Und doch nicht, die Tante nahm ſie nicht allein an ihr Herz, auch in ihr Haus, und ward ihr eine wahrhafte Mutter. Als der Frühling draußen ſproßte, ſaß Klärchen in Gret¬ chens Fenſter neben blühenden Schneeglöckchen. Der alte Benjamin hatte ſie ihr gebracht; ja, ſeine Liebe zu Gretchen war auf Klärchen übergegangen, und Klärchen hatte mit ihm wieder ſcherzen und plaudern und fröhlich ſingen gelernt. Der Staarmatz rief: Klär¬ chen, ſo recht , und mit dem Dompfaffen ſang ſie: Lobe den Herrn, o meine Seele! Fritz arbeitete rüſtig in der Werkſtatt, lauſchte zum Fenſter hinaus, und ſein Herz ſchlug hoch auf, wenn er Klärchens blaue Augen ſah, ſo rein, ſo kindlich und verklärt, wie ſie ihm auf ſeinen Wanderungen vorgeſchwebt. Als aber der Frühling immer ſchöner hervorbrach, Blüthen und Blumen ſich entfalteten, konnte ſich auch Fritz nicht länger halten, und Klärchen durfte den gan¬ zen Himmel ſeiner Liebe ſchauen.

Sie iſt jetzt Frau Meiſterin, ſie iſt ſtolz auf ihren Stand und trägt nur dunkle Strümpfe, feſte Leder¬ ſchuh und ein einfaches Kleid. Sie iſt neu und ſchö¬ ner erblüht, iſt die Freude ihres Mannes und der Se¬ gen ihres Hausſtandes. Der alte Buchſtein ſitzt im Lehnſtuhl und wiegt ſein jüngſtes Enkelchen auf den Knieen, Benjamin führt ein kleines blondes Gretchen zur Tante hinüber, Klärchen ſitzt unter dem offenen Fenſter der Werkſtatt und ſingt mit ſchöner Stimme:

143
Lobe den Herrn, o meine Seele,
Ich will ihn loben bis in Tod!
Weil ich noch Stunden auf Erden zähle,
Will ich lobſingen meinem Gott;
Der Leib und Seel gegeben hat,
Werde geprieſen früh und ſpat.
Halleluja, Halleluja.
Selig, ja ſelig iſt der zu nennen,
Deß Hülfe der Gott Jacob iſt,
Welcher vom Glauben ſich Nichts läßt trennen
Und hofft getroſt auf Jeſum Chriſt.
Wer dieſen Herrn zum Beiſtand hat,
Am beſten findet Rath und That.
Halleluja, Hallelujah.

Druck von Ed. Heynemann in Halle.

About this transcription

TextDie Kammerjungfer
Author Marie Nathusius
Extent153 images; 34404 tokens; 5845 types; 224646 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

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Bibliographic informationDie Kammerjungfer Eine Stadtgeschichte Marie Nathusius. . 143 S. MühlmannHalle (Saale)1851.

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Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Roman; Belletristik; Roman; core; ready; ocr; women

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