Es bleibt dabei, ich vermiethe mich! ſagte Klär¬ chen zu ihrer Mutter. Eine Schneiderin führt ein trauriges Leben, ein Tag geht ſo grau und einförmig hin wie der andere, keinen vernünftigen Menſchen kriegt man zu ſehen, ſitzen muß man vom Morgen bis zum Abend, und ſitzen bleiben und eine alte Jung¬ fer werden iſt das Ende vom Liede.
Du weißt ſelbſt nicht was Du willſt, ſagte ihre Mutter. Weißt Du noch, was Du ſagteſt vorigen Martinstag, wie Tante Rieke Dir den Rath gab, Du ſollteſt in einen Dienſt gehen? Da haſt Du von Skla¬ verei geſprochen und die Naſe gerümpft, und ich war's auch zufrieden: es wäre doch eine Sünde und Schande, wenn eine alte Frau allein wohnen müßte ohne Hülfe und Pflege. Aber ich ſage: Du weißt nicht was du willſt. Kannſt Du's beſſer haben, wie Du's jetzt haſt? Biſt Dein eigner Herr, kannſt thun was Du willſt, und brauchſt Dich nicht von fremden Leuten traktiren zu laſſen. Ach, wenn ich an meine Jugend denke!
Ja, ja, Deine Jugend kenne ich, fiel ihr Klär¬ chen ſchnippiſch in das Wort; ſo dumm wie Du werde ich nicht ſein, Du hätteſt den Rechtsgelehrten nur feſt¬ halten ſollen. Tante Rieke ſagte vorgeſtern ſehr ſal¬ bungsvoll, wie Deine Schönheit Dein Unglück geweſen; da hätte ſie nur aufrichtig ſagen ſollen: Dein Un¬ geſchick. Ich ſage Dir aber, meine Schönheit ſoll1 *4glücklicher ſein. — Hierbei lachte ſie, hüpfte an den Spiegel und ordnete noch einmal zum Ueberfluß ihren Sonntagsſtaat.
So gottvergeſſen wie Du habe ich nie geredet, ent - gegnete die Mutter, und das Unglück iſt doch über mich gekommen, ich weiß nicht wie.
Das iſt's eben, fiel ihr Klarchen wieder in die Rede: Du weißt nicht wie. Gerade das nicht Wiſ - ſen das iſt der Fehler, ich werde aber wiſſen! Und nun um alles in der Welt, höre auf zu jammern. Heute iſt Sonntag. Urſach dazu haſt Du nicht, und ich ſehe nicht ein, warum ich zuhören ſollte. Mir ſteht die ganze Welt offen, und die Welt iſt ſchön, wunderſchön! Ich vermiethe mich, oder ich vermiethe mich nicht, es muß immer gehen. Für jetzt ziehe ich zur alten Frau Generalin, da habe ichs gut, und Geld im Ueberfluß.
Und ich hungere, ſagte die Mutter in weinerli - chem Ton.
Dafür wird Tante Rieke ſorgen müſſen, die hat das Geld im Kaſten liegen. Es iſt ſchändlich genug, daß ſie mich hat ſchneidern und ſticheln laſſen, damit ich ihre einzige Schweſter ernähre. Das hört mm aus. Ich muß für ineine Zukunft ſorgen, mein Lohn wird geſpart; wenn man das Geld in großen Partieen ein - nimmt, kann man's beſſer feſthalten, die einzelnen Vier - groſchenſtücke trudeln unter den Händen fort. Tante Rieke, die die chriſtliche Barmherzigkeit immerfort im Munde führt, mag ſich auch mal mit den Händen re - gen. Und kurz und gut, wenn kein Anderer da iſt, iſt ſie die Nächſte. Und Mutterchen (ſetzte Klärchen5 ſchmeichelnd hinzu), Du haſt nur den Vortheil davon, wenn die Tante gepreßt wird, denn ich werde auch für Dich ſorgen, da kommt's von zwei Seiten. Klage nur hübſch, und rühre ihr Herz; aber gegen mich höre auf damit (ſchloß ſie lachend), ich kenne Deine Kniffe und bei mir helfen ſie nichts mehr. — Bei dieſen Worten zog ſie eine ſchwarze ſeidene Mantille aus einer Schublade, und einige Geldſtücke klapperten daneben. Sie warf der Mutter ein Zweigroſchenſtück in den Schooß und rief lachend: Hier, kaufe Dir Kuchen und feiere Sonntag; aber ſchicke Kleiſt's Dort - chen, dann denkt der Becker, es iſt für die Herrn Stu - denten. Du verſtehſt mich doch?
Kleiner Tauſendſapperloter! ſagte die ſchwache Mutter. Ihr Töchterchen hatte ſie völlig beruhigt. Beſonders war das Letzte ein wirkſames Mittel; und auch die Bemerkung über die Tante Ricke war ganz richtig, dieſe mußte mehr geben, wenn Klärchen den Haushalt nicht unterhielt. Sie konnte es auch, ſie war eine reiche Wittwe und hatte nur eine Pflegetoch - ter; und wenn Klärchen dann im Stillen doch noch mit ſorgte, wie es ſich für eine gute Tochter geziemt, ſo ſtand die Mutter ſich bei weitem beſſer.
Frau Krauter war die Wittwe eines Ginghan - Webers. Sie war in ihrer Jugend ſchön und leicht - ſinnig geweſen, und hatte nach vielen Abenteuern den Mann geheirathet, der ſchon damals innerlich und äußerlich ziemlich verkommen war. Es ward aber von Jahr zu Jahr ſchlechter mit ihm, und er ſtarb, nach - dem er beinahe zehn Jahr ſeine Frau in fortwähren - dem Jammer und in Noth erhalten hatte. Zum Glück6 blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte ſie eine reiche Schweſter, die ihr in der Noth eine Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen Einfluß auf Frau Krauter geübt; ſie war leichtſinnig geblieben, war faul, unordentlich und genußſüchtig, und wenn ſie auch reichlich Thränen über ſich und ihre Schickſale vergießen konnte, die Thränen kamen nicht tief aus dem Herzen; bei einer Taſſe Kaffee und einem leichtfertigen Geſchwätz war bald Alles ver¬ geſſen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur daß ſie noch ſchöner und zugleich ſchlauer war, und ſo der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß ge¬ geben.
Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die ſehr wohlhabende Wittwe des ſeligen Seifenſiedermeiſters Bendler, war ganz das Gegentheil der Schweſter. Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, ſchlichte Bürgers¬ frau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter und Tochter zu üben geſucht; ſie erlangte nur das eine, daß beide ſich vor ihr ſcheuten und ſich ſoviel als möglich von der beſten Seite zeigten; und das war freilich ſchlimmer, als wenn ſie ſich in ihrer wah¬ ren Geſtalt gezeigt hätten.
Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitge¬ theilte Zwiegeſpräch gehabt, rüſtete ſie ſich ſingend zu ihrem Sonntagsvergnügen. Die ſeidene Mantille ward umgethan, und das Geld, das da herausgepol¬ tert, in die Taſche geſteckt. Darauf ſuchte ſie aus ei¬ nem Wuſt anderer Sachen ein geſticktes baumwollenes Taſchentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn ein langes Ende abgeriſſener Spitze hing daran. Sie7 griff nach einem zweiten, da waren einige Riſſe in der Mitte.
Die infamen baumwollenen Tücher halten für gar nichts! ſagte ſie ärgerlich.
Gieb her, Kind, ich hefte es gleich ein Bißchen zu! tröſtete die Mutter, fädelte eine Nadel ein und zog mit langen Stichen die Riſſe zu. Während deſſen ſuchte Klärchen aus einem Häufchen heller Glaceehand¬ ſchuh das leidlichſte Paar heraus.
Wo in aller Welt nur immer die rechten Hand¬ ſchuh bleiben! klagte Klärchen wieder. Linke habe ich wohl ſechs, ſieben, und rechte nur drei, und dumm genug habe ich vergeſſen ſie waſchen zu laſſen, ſie ſe¬ hen aus wie die Mohren. Ach was! ſetzte ſie ent¬ ſchloſſen hinzu: ich hole ein Paar neue. Sechs Gro¬ ſchen mehr oder weniger! Zu meinem himmelblauen Muſſelin-Kleide gehören reine Handſchuh.
Tante Rieke ſagte am vergangenen Sonntag: Soll¬ teſt lieber waſchlederne Handſchuh tragen wie Gret¬ chen. Denke mal an, die hat ihre Confirmationshand¬ ſchuh noch.
Wahrhaftig? ſtaunte Klärchen; nein, das Mira¬ kel muß ich meinen Freundinnen erzählen, es ſieht aber akkurat aus wie Gretchen Bendler. Zur Kirche und höchſtens zu einem ehrbaren Spaziergang in's Feld werden die Handſchuh angezogen, aber eine Hand hat Gretchen in den waſchledernen wie ein Eisbär. Nun gut, ein jeder ſehe wie er's treibe, ein jeder ſehe wo er bleibe, ſagt Göthe. Auch ſind die Gaben der Menſchen verſchieden. — Bei dieſen Worten hatte ſie die himmelblaue Hutſchleife zugebunden, das geflickte8 Taſchentuch geſchickt über die ſchmutzigen Handſchuh ge¬ legt, und wollte nun mit einem leichten Adieu zur Thür hinaus.
Warte, Klärchen! rief die Mutter, da kömmt Dein Hemd an der Schulter zum Vorſchein und gerade ein rechter Ratſch darin.
Stopf 'es nur tief genug unter, ſagte Klärchen gleichgültig, und nachdem das geſchehen, ging ſie fort.
Alle Schneiderinnen, ſagt man, ſind unordentlich, weil ſie immer mit der Nadel für Andere beſchäftigt, nie Zeit für ihre eigne Arbeit finden. Klärchen war es aber nicht allein als Schneiderin, ſondern noch da¬ zu als unordentliche Tochter einer unordentlichen Mut¬ ter, und als über ihren Stand hinaus verwöhnte und verbildete Jungfrau. Daß die Kleider ſechs Ellen weit ſein mußten und wo möglich den Staub auf der Straße kehren, war ihr von höchſter Wichtigkeit; auch durften die Manſchetten nicht fehlen, Mantillen, Kragen, geſtickte Taſchentücher und Unterröcke mit Friſuren. Ob ihr Hemd zerriſſen, war ihr gleichgül¬ tig, ja, außerordentlich gleichgültig! Das ſah ja Niemand. Unangenehmer war es ſchon, fehlte der Hacken im Strumpf, oder die Sohle am Schuh, aber auch das machte ihr nicht großes Bedenken, es wurde geſchickt verborgen, die langen Kleider waren auch hier von Nutzen. Mit der Muhme Gretchen hatte ſie neu¬ lich erſt einen derben Strauß gehabt; denn war Gret¬ chen auch nicht gebildet, ſo war ſie doch geſcheut und derb und kurz angebunden. Sie ſah den Unterrock mit den breiten Friſuren, und ſagte, das wäre ganz verrückt nun, gar an einem Unterrock den überflüſſigen9 Staat. Klärchen aber erklärte ſachverſtändig, daß eine ordentliche Toilette — bei dieſem Worte hob Gretchen etwas höhnend Klärchens Arm in die Höhe und zeigte wie der Aermel halb aus den Nähten war; Klärchen fuhr nach einer kurzen Entſchuldigung aber ärgerlich fort: daß zu einer ordentlichen Toilette ſolch ein Rock nothwendig ſei, um die Kleider unten gehörig breit zu erhalten. Beſonders, fügte ſie ſchnippiſch hinzu, paßt das für ſchlanke Leute; für Biertonnen iſt's nun mal nicht nöthig. Gretchen wußte darauf keine verblümte Antwort zu geben, ſie ſagte aber kurz: Schäme Dich was mit deinen Grobheiten, dafür ſetz 'Dich hin und flicke und ſtopfe wo's Noth thut, und verthu' Dein Geld nicht unnütz; mit den Friſuren am Rock lockſt Du keinen Hund aus dem Ofen, und ich ſage Dir, Du wirſt es noch mal bitterlich bereuen, daß Du ſo eine Thörin wareſt. Du hältſt es ſo ſehr mit der Welt, aber ich ſage Dir, ſie wird Dir noch mal ein X für ein U machen; und Du denkſt, da iſt Dein Himmelreich, aber ich ſage Dir, das iſt wo anders. — Ach Gott! jetzt kriegt 'es Klärchen mit dem Schreck, gewiß wollte Gretchen mit ihrem Herrn und Heilande kommen, denn von dem ſprach ſie, als ob die Sache ganz ihre Richtigkeit hätte. Gretchen war überhaupt ſo ſehr in der Zeit und Bildung zurück, ſie kannte keine Romane, wußte nichts von Eugen Sue, von der George Sand und von keinem Muſen - und Liebes - Almanach, kannte nur nothdürftig die Claſſiker ihres Vaterlandes dem Namen nach, und auch darüber ſpottete Tante Rieke. Mutter und Tochter laſen nur in der Bibel, in Andachtsbüchern, oder in andern Bü¬10 chern, die ihnen vom Paſtor an der Stephans-Kirche zugeſtellt wurden. Der Paſtor an derſelben war näm¬ lich ein Erzpietiſt, der predigte nichts weiter als vom Heiland und machte den Leuten Himmel und Hölle heiß. Klärchen aber, als ſie merkte, wo hinaus ihre Muhme jetzt wollte, ſchnitt das Geſpräch ab und gab gütlich nach. Sie wollte es doch mit Gretchen ebenſo wenig als mit Tante Rieke verderben, und beide hin¬ gen aneinander wie die Kletten. Klärchen dachte hoch¬ müthig: Ein jeder ſehe wie er's treibe, und: Eines ſchickt ſich nicht für Alle. Gretchen iſt nun mal ein haus¬ backenes Mädchen; ſie mag ſich drum gern ihre Hem¬ den ſelber ſpinnen, dunkelblaue Strümpfe, hohe lederne Schnürſchuhe und waſchlederne Handſchuh tragen, ſie macht auch keine Anſprüche für die Zukunft und ge¬ hört ſo recht in den Handwerkerſtand hinein. Dagegen Klärchen? Sie ſeufzt, — ihr Herz ſchlägt gewal¬ tig, — was wird aus ihr wohl werden? jedenfalls etwas ganz Beſonderes. O ſüße Zukunft: lachende Kleider, lachende Geſichter, Liebe, Luſt und Wonne! Jetzt zog ſie zur Frau Generalin: Da kam ſie in feine Kreiſe, vornehme Perſonen gehen aus und ein, es iſt ſo manches in der Welt paſſirt, es kann auch paſſiren, daß ſie ihr Glück macht. Es kann? nein, es muß, es wird, ſie hat eine ſelige Ahnung davon in ihrem Herzen. Die nächſte Seligkeit, die zu erringen, iſt ein ſeidenes Kleid, eine Broſche, ein unächter Shawl und ein Eammethut — dann aber kann es ihr ganz ge¬ wiß nicht fehlen; dann kommen die wunderbaren Be¬ gebenheiten! Und ſie, die einem ſolchen Geſchicke ent¬ gegen geht, ſollte ſich mit ſtopfen und ſticken abgeben?11 ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene Gretchen nicht. Aber Gretchen iſt nicht nur haus¬ backen, ſie iſt auch ungebildet, denn ſie glaubt an einen Herrn und Heiland, und ſagt, ſie könne keine Stunde ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den Heiland nicht nöthig, ſie wüßte wahrlich in aller Welt nicht, wozu ſie ihn nöthig hätte. Die Tante Rieke ſagt zwar, er müßte uns von unſerer Sünde erlöſen, und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüſten, in Unverſtand und wie ſie weiter ſagt; aber das konnte Klärchen nicht faſſen, ſie wußte nichts von Sünde, von Nacht und Dunkelheit und gar von Unverſtand. Eine Chriſtin wollte ſie auch ſein; ſie hatte, was nöthig war, gelernt, aber wozu, das ſah ſie noch nicht ein, es hatte ſich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch da¬ von zu machen. Nur vom Einfachſten und Verſtänd¬ lichſten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war das ſiebente für ſie da: „ Du ſollſt nicht ſtehlen? “ Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: „ Du ſollſt nicht andere Götter haben neben mir? “ Sie war doch keine Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder: „ Du ſollſt Vater und Mutter ehren? “ Ei, ſie that mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht ſo zu ſagen quälte ſie ſich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, ſie hatte gar Nichts an ſich auszuſetzen; um ſie herum war Alles licht und helle und ſie brauchte keinen Er¬ löſer. An den lieben Gott glaubte ſie wohl, ſie ver¬ ließ ſich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schickſal leiten und lenken könne, — das verlangte ſie gar nicht, ſie wollte das allein thun; ſie war ſchön und jung und klug und gebildet, ihr Glück verſtand ſich von12 ſelbſt. Nur zuweilen kam es wie Furcht über ſie. Vor nicht langer Zeit waren die ſchwarzen Pocken in ihrer Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, ſie ließ ſich aber ſchnell impfen und meinte nun wieder ruhig ſein zu können. Als bald darauf die Cholera kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte, da ging das Bangen wieder an. So gut wie die ſterben, kannſt Du auch ſterben, — das ſah ſie ein, und ſterben war ein ſchrecklicher Gedanke. Was wird dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte ſolche Worte nicht gern, ſie ward bänger und bänger, und war doch wieder wie gebannt zu lauſchen. Sie konnt' es nicht faſſen, daß die Tante und Gretchen ſo ruhig waren und vom Tode redeten als von gar nichts Fürchterlichem; denn wenn ſie des Nachts auf¬ wachte und ſo allein mit ihren Gedanken war, da befiel ſie oft eine Angſt, daß ihre Glieder bebten. Ob du wohl ſterben mußt? dachte ſie. Und was dann? Aber Gott ſei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben wieder roſenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod und Gericht, und wenn die Tante jetzt von ſolchen Dingen redete, da hörte ſie mit offenen Ohren nicht, ſie ſenkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken gingen mit ihren tollſten Fantaſien durch.
Als ſie heut das Stübchen ihrer Mutter verlaſſen, ging ſie einige Häuſer weiter um eine Freundin abzuholen. Sie klopfte an ein niedriges Fenſter parterre. Der Brief¬ träger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung da¬ zu. Als er Klärchen ſah, machte er das Fenſter auf.
13Nun Ihr Jüngferchens — wieder ſchwitiſiren? ſagte er ſpaßend.
Ei ja, iſt man doch nur einmal jung! entgegnete Klärchen luſtig.
Ja ihr Schelme! verſetzte Vogler, ich wollte auch, ich wäre noch jung.
Ach, Sie ſind ein Mann in Ihren beſten Jahren, ſagte Klärchen ſchmeichelnd.
Ich denke es auch manchmal; aber wenn ich denn meine Alte anſehe, wird mir ſchwarz vor den Augen, lachte Vogler und ſah nach ſeiner Frau, die ihm gegenüber blaß und elend im Lehnſtuhl ſaß.
Wenn ich todt bin, heiratheſt Du wieder, entgeg¬ nete dieſe bitter und holte dann ſchwerfällig Athem.
Und ſo lange Du lebſt, laſſe ich Dich keifen, fügte Vogler wieder ſcherzend hinzu.
Wie ungebildet ſind dieſe Leute, dachte Klärchen; wie kann ein Mann die Frau ſo roh behandeln! So aber hat es der Vater mit der Mutter auch gemacht. Aber ich, ich werde es einſt anders haben, ich nehme mir einen vornehmen Mann, — und nun hinaus in den lachenden Kaffeegarten!
Auguſte Vogler hatte ſich während der Zeit fertig gemacht und ging nun etwas ſchwerfällig neben der leichtfüßigen Freundin her. Auguſte war weder ſchön, noch klug, noch fein; ſie hatte das plumpe rothe Ge¬ ſicht ihres Vaters, grobe Manieren und ſprach dabei unglaublich albern. Aber das war gerade eine Freun¬ din für Klärchen. Sie war fügſam und folgſam, durchſchaute nicht ihre Intriguen, war ganz zufrieden14 mit der Nebenrolle, und hatte dabei immer als ver¬ zogenes Kind ihres Vaters die Börſe voll Geld.
Beide Mädchen verließen die Stadt und gingen auf der Chauſſee entlang dem Orte ihres Vergnügens zu. Klärchen bemerkte, daß ſie ein Gegenſtand der Aufmerkſamkeit für Vorübergehende war: aber die Leute waren ihr noch nicht die rechten, es waren mei¬ ſtens Geſellen, oder Soldaten, oder höchſtens ein Hand¬ lungsdiener; ſie gedachte höher hinaus. Bald kam ihnen eine Reihe Studenten entgegen, mitten darunter eine orangegelbe Mütze. Das war der rechte; ſie nahm ihr ganzes Weſen zuſammen und erwiederte den Gruß mit vieler Holdſeligkeit. Auguſte machte bald die Entdeckung, daß die Studenten umgekehrt waren und ihnen auf dem Fuße folgten. Klärchen zweifelte nicht, daß es um ihretwillen war, und Auguſte gönnte der Freundin den Triumph; ſie war zufrieden, an der au¬ genblicklichen Luſt theilnehmen zu können; feine Pläne für die Zukunft machte ſie nicht. Nach einigen Minu¬ ten kam ihnen wieder ein junger Mann entgegen, der ſie grüßte, aber ſehr beſcheidentlich mit nur halb hinge¬ wandten Augen. Wer war das nur? fragte Klärchen.
Ei das war ja Fritze Buchſtein, der iſt ſeit vor¬ geſtern aus der Fremde zurück, den mußt Du doch kennen, er wohnt ja neben Tante Rieke.
Daß es ein Geſelle war, ſah ich an ſeinen gro¬ ßen rothen Händen, lachte Klärchen, ſonſt iſt's aber ein hübſcher Menſch.
Aber in die Stephans-Kirche zu dem Pietiſten geht er auch, ich habe ihn ſelbſt heute Morgen her¬ auskommen ſehen.
15Na, Tante Rieke, freue Dich! ſagte Klärchen, das paßt ja wie die Butter aufs Brod, der nimmt die Grete, das iſt klipp und klar. Eine Angſt hatten ſie immer, er möchte auf der Wanderſchaft ſeinem Glau¬ ben untreu werden, und wenn er dann einen ſalbungs¬ vollen Brief geſchrieben, kam der alte Buchſtein mit der großen Brille und er wurde gemeinſchaftlich mit Thränen und Seufzen genoſſen. Nun, ich gönne ihr den Burſchen, obgleich er eigentlich zu hübſch für die Grete iſt; die müßte ſo was Kurzes, Handfeſtes haben, denn Schönheit hält ſie mehr für ein Uebel als ein Glück, nota bene weil ſie ſelber nicht ſchön iſt.
Die Mädchen traten jetzt in den Garten. An ei¬ nem Tiſch fanden ſie ſchon eine Bekannte, eine von den beſcheidenen Putzmacherinnen, die in die Häuſer der Damen gehen und Hüte und Hauben in Ordnung bringen, — und ſie ſetzten ſich zu ihr. Die Studen¬ ten nahmen einen Tiſch ganz in ihrer Nähe, wurden beim bairiſchen Bier bald ſehr laut, und begannen Blicke und Späße herüber zu ſenden. Doch der Oran¬ gegelbe blieb nicht dabei, er machte es ſich bequemer und ſiedelte ganz und gar zu den Mädchen über. Klärchen wunderte ſich nicht darüber, ſie hatte ſchon längſt mit ihm auf der Straße koquettirt, ſie wußte auch, daß er in einem Hauſe mit der Frau Generalin, ihrer künftigen Herrin, wohnte, und er war eigentlich die heimliche Veranlaſſung zu ihrem Entſchluſſe, ſich zu vermiethen, geweſen. Er war ein Mediziner und dazu ein Student von Bedeutung. Er hatte gute Wechſel, hielt ſich einen großen Neufundländer Hund, ritt ſpaziren, oder fuhr auch ſeine Freunde in einem16 Zweiſpänner. Er war Senior ſeiner Verbindung und überall zu finden, wo es luſtig herging, oder wo Spek¬ takel war. Seine Geſtalt war groß und klobig, ſein gelbes Haar hing ſchlicht an dem rothen Geſicht her¬ unter, das breit und platt einen gewaltig rohen Aus¬ druck hatte. So wie ſeine Geſtalt war auch ſein Weſen und waren ſeine Reden. Er ſaß jetzt den Mädchen gegenüber; beide Ellenbogen auf den Tiſch geſtützt, die blauen Dampfwolken aus ſeiner Cigarre blaſend, machte er höchſt unmanierliche Späße. Klär¬ chen fand das nicht roh, nein, weil er reich und aus angeſehener Familie war (ſein Vater war Präſident), fand ſie es nur pikant, und hielt ſich nicht für zu gut, ihn zu amüſiren. Sie ward immer lebendiger und liebenswürdiger, und es war unverkennbar, daß ihre Schönheit auf ihn Eindruck machte, und ſie in ſeinen Augen höher ſtieg, denn er nahm die Ellenbogen von dem Tiſch und nahm ſich in Wort und Weſen mehr zuſammen. Für Klärchen war das ein neuer Triumph und die beiden Freundinnen bemerkten es mit Ver¬ wunderung. Die Putzmacherin kannte den Studenten längſt, ſie ging bei der Generalin aus und ein, und das war Gelegenheit genug, um eine Studenten-Be¬ kanntſchaft zu machen. Sie hätte ihm ihr leichtſinni¬ ges Herz gern ſelbſt zu Füßen gelegt und beneidete jetzt die Gefährtin um dieſe bedeutende Eroberung, und Klärchen ward immer ſtolzer und glücklicher. Nur eines ſtörte ſie. Ihr gerade gegenüber in einer einſa¬ men Laube ſaß Fritz Buchſtein. Ja, unbegreiflicher Weiſe war er auch umgekehrt und ihnen in den Kaffee¬ garten gefolgt. Ob das wohl um ihretwillen war? 17Sie erinnerte ſich aus ihrer Jugend, daß, wenn ſie mit Greten in ſeine Tiſchlerwerkſtatt kam, um Spiel¬ ſachen zurecht zu leimen, er immer die ihrigen zuerſt gemacht hatte und Grete oft darüber böſe geweſen war. Alſo: damals hatte er ſie bevorzugt, heute war er erſtaunt über ihre Schönheit, — ſo kalkulirte ſie, — und war ihr hierher gefolgt. Obgleich ihre Eitel¬ keit nicht ganz ungerührt von dieſem Gedankengange blieb, ſo war ihr diesmal die Eroberung doch unan¬ genehm. Erſtens war er nicht der Aufmerkſamkeit werth, und ihr Herz würde ſich nie zu einem ſo ge¬ wöhnlichen Menſchen herablaſſen; und dann fürchtete ſie, wenn er einmal ihren Schritten folgte, er möchte den Spion ſpielen und die Tante Rieke davon benach¬ richtigen. Sie hatte ſich ſo viel als möglich ſo ge¬ ſetzt, daß er ihr nicht in das Geſicht ſehen konnte: aber wenn ſie unwillkürlich hinſah, begegnete ſie jedes¬ mal demſelben bekümmerten und theilnehmenden Blicke, der ihr wie ein Stich durch das Herz ging.
Es iſt unausſtehlich! rief ſie endlich und wandte ſich heftig nach der anderen Seite. Der Student und die Freundinnen ſahen ſie verwundert an, und ſie er¬ klärte die Urſache ihres Aergers.
Der Mediziner lachte. Er fand es von dem Bur¬ ſchen ganz natürlich, einem hübſchen Mädchen in das Geſicht ſehen zu wollen, pflanzte aber darauf ſeine breite Geſtalt ſo dazwiſchen, daß Klärchen vor den läſtigen Blicken ſicher war; und kurze Zeit darauf be¬ merke Auguſte, daß Fritz fortgegangen war. Jetzt fühlte ſich Klärchen freier, und das Vergnügen ward immer lebhafter. Die Tanzmuſik lockte, Alle gingen218in den Saal, um in dem wilden Getümmel ſich zu erhitzen und zu betäuben.
Fritz Buchſtein hatte auf ſeinem Spaziergange in dem ſchönen Mädchen das kleine Klärchen Krauter wie¬ der erkannt, und die ſchönſten und ſüßeſten Jugender¬ innerungen gingen an ſeiner Seele vorüber. Jetzt noch dachte er mit inniger Bewegung daran, wie ſie da¬ mals zu ihm in die Werkſtatt kam, um irgend eine Kleinigkeit machen zu laſſen, und wie es ihm, dem achtzehnjährigen Jüngling, ganz wunderbar ward, wenn er dem zwölfjährigen Mädchen in die dunkelblauen Au¬ gen ſah. Er wollte es ſich ſelbſt nicht geſtehen, aber es war ſeine erſte Jugendliebe. Ihr Bild begleitete ihn auf der Wanderſchaft, er ſchloß ſie in ſein Abend - und Morgengebet: der Herr möchte dies Blümlein ſchön und rein bewahren, es behüten vor dem Schmutze der Welt. Ob dies Blümlein einſt für ihn blühen werde? das ſtand in Gottes Hand. Sein Herz war geſund, er hatte auch nicht Romane geleſen und hing nicht mit kränklicher Sehnſucht an ſeiner Liebe; friſch und fröhlich ging er durch die ſchöne Gottes-Welt, er ſah Berge und Thäler und Flüſſe und Fluren, manch große Stadt, manch lieblich Dörflein, ſchöne Kirchen und Schlöſſer und Burgen, ſchöne Bilder und Kunſt¬ werke, und Alles nahm er mit Aufmerkſamkeit in ſich auf. Das war eine ſchöne Wanderung, die nicht getrübt wurde durch ungeſunde Glieder, durch ein bö¬ ſes Gewiſſen, durch Armuth und Noth. Er hatte das Gelübde gethan, nie einen Schluck Brantwein19 zu trinken, hatte es mit Gottes Gnade und der Liebe ſeines Heilandes gehalten. Das bewahrte ihn vor manchem Elend und manchem Unheil des Wanderle¬ bens. Es führte ihn nie dahin, wo wilde Gelage und Raufereien waren, er ſuchte nie ſeine Freunde unter dergleichen Geſellen; ſo blieb er an Leib und Seele rein, hatte auch immer Geld im Beutel, denn weil er ein braver Geſelle war, fand er auch immer gute Meiſter. Und auch Freunde fand er, die mit ihm dieſelbe Straße zogen, die mit ihm den Herrn lieb hatten; ſelten verließ er eine Stadt, daß er nicht mit Wehmuth darauf zurück ſah, weil er Freunde für ſein Herz und ſeine Fürbitte darin gewonnen. Und kam er zu Leuten, die ihn nicht verſtanden, die ſei¬ ner ſpotteten, ihn zu verführen ſuchten, ſo waren auch das heilſame Tage für ihn, Tage des Kummers und der Prüfung, in denen er noch mehr die Nähe des Tröſters, ſeine Liebe und Gnade fühlte. So ward ſeine Seele immer feſter, ſeine Erfahrung im¬ mer reicher, ſeine Hände immer geſchickter. Und wie war es mit ſeinem Herzen? Das durfte ſich auch zu¬ weilen regen. Wenn er an einem ſchönen Sommer¬ abend auf der Höhe am Rand des Waldes ſaß, die Sonne legte ihr Gold über die Gegend hin, Duft zog über Städte und Dörfer, die Abendluft wehte weich in den Zweigen und in den Blumen rund um, am Grasrain dort zog der Schäfer langſam mit der Heerde, und die Schwalben hoch oben am lichtblauen Himmel: — da ward es ihm ſo wunderbar ſehnſuchts¬ voll zu Sinne, und durch Abendgold und Duft und Schönheit und Stille ſchauten ihn die dunkelblauen2 *20Augen des kleinen Mädchens aus der Heimath an. So hatte er noch ganz kürzlich vor einer Höhe am Thüringer Walde geſeſſen; jetzt war er ja ſeiner Hei¬ math ſo nahe, jetzt war aus dem Jüngling ein Mann geworden und er durfte an eine Geſtaltung ſeiner Zu¬ kunft denken. Sein Vater war alt, ſeit vergangenem Winter plagte ihn dazu ein Bruſtübel, er konnte dem Handwerk nicht mehr vorſtehen, es fehlte an allen Enden, und Fritz mußte des Vaters dringenden Auf¬ forderungen zur Rückkehr folgen. Er that es auch gern, er war nun 25 Jahr alt, nach dem langen Umherwandern und heimathloſen Leben ſollte es ihm zu Hauſe wohl behagen. Er ſollte nun Meiſter wer¬ den und dem Haus, dem Acker und der Kundſchaft allein vorſtehen. Dazu gehörte auch nothwendig eine Hausfrau, und der Gedanke war es, der ihm be¬ ſonders an das Herz ging. Und als er ſich dieſe Haus¬ frau dachte, ſo war ſie ſchlank, mit lichtbraunem Haar und dunkelblauen Augen. Mit ſo ſchönen Ahnungen verließ er den Thüringer Wald und wanderte einige Tage ſpäter durch die Thore ſeiner Vaterſtadt. Es war ſpät des Sonnabends Abends; ſein Vater ſaß ſchwach und krank im Lehnſtuhl, aber Dank - und Freu¬ denthränen glänzten in ſeinen Augen, als der Sohn nach ſo langer Abweſenheit wieder in die Thür trat, und Fritz mußte ihm am ſelbigen Abend noch das Buch Hiob und den 136. Pſalm vorleſen.
Der alte Vater war trotz der Bruſtſchwäche ſehr geſprächig, und in ſeiner Geſprächigkeit konnte er es nicht laſſen, von ſeiner und der Frau Bendler liebſten Hoffnung zu reden, nämlich daß Gretchen möchte hier21 im Haus Frau Meiſterin werden. Frau Bendler hatte Gretchen ganz und gar adoptirt, und mit Aus¬ nahme einiger Legate ſollte ſie einſt ihre alleinige Er¬ bin ſein.
Fritz ward es gar eng um das Herz als er das hörte, und hatte er ſchon vorher wenig Muth gehabt, nach Klärchen Krauter zu fragen, ſo wagte er es jetzt gar nicht. Am Sonntag nun ſollte er hin¬ über zur Frau Nachbarin gehen, aber er bat den Va¬ ter, gar nicht von der Sache zu reden, da er nicht wiſſe, wie er dem Gretchen gefallen möchte. Der Vater ſchmunzelte. Das ſei nicht gefährlich, meinte er, Gretchen habe bei ſeinen Briefen die ſchönſten Thränen geweint. Fritz ſchmunzelte nicht, ſein Herz ward immer ſchwerer; denn wenn Gretchen auch ein braves Mädchen war, ſo hatte ſie doch nicht dunkel¬ blaue Augen, war nicht ſeine Jugendliebe, und hatte ihn nicht auf ſeiner ganzen Wanderſchaft begleitet. Als er am Sonntag Morgen aus der Kirche kam und unter den Kirchgängern Frau Bendler in Begleitung einer jugendlichen Geſtalt erkannte, konnte er ſie un¬ möglich anreden; er ſchlich ſich von der Seite, er hatte dem Vater auch nur verſprochen, gegen Abend ſeine Bekanntſchaft drüben zu erneuern. Am Nachmittag aber trieb ihn ſeine Unruhe und Sehnſucht vor Klär¬ chens Fenſter vorüber. Er konnte ſie nicht entdecken, nur ihre Mutter ſaß am Fenſter, und zum Glück ſchaute ſie nicht auf, ſonſt hätte ſie wohl ſeine Ge¬ danken auf ſeiner Stirn leſen müſſen. Er ging zum Thore hinaus, und kehrte, nachdem er eine Strecke auf der Chauſſee entlang gegangen war, wieder um. Da22 kam ihm die Erſehnte wirklich entgegen. Es war ja noch daſſelbe Kindergeſicht, nur die Geſtalt war auf¬ geſchoſſen und hatte ſich jungfräulich entfaltet. Er grüßte ſie und ſein Herz ſchlug vor Glück, aber nur wenige Augenblicke. Er ſah die Schaar Studenten hinter ihr umkehren, er hörte ihre Witze und ſah ſie den Mädchen nachfolgen. Es würde ihm nie einge¬ fallen ſein, ebenfalls umzukehren; aber Spannung und Zorn trieben ihn. Im Nothfall wollte er die Mäd¬ chen ſchützen, er ahnete nicht, daß ſie durch das Nach¬ folgen der Studenten mehr erfreut als geängſtigt wür¬ den. Doch bald ſollte er ſich von der Wahrheit über¬ zeugen. Er ſaß ihnen gegenüber und beobachtete der Mädchen leichtfertiges Spiel. Klärchen ſpielte die Hauptrolle dabei, bis ſie ihn endlich durch ihre ver¬ ächtlichen und erzürnten Blicke forttrieb. Mit welchen Gefühlen ging er nun nach Hauſe! Das Geſchehene zerſtörte zu hart ſeines Herzens Pläne. Die Freude an der Heimath, an der Meiſterſchaft, an Haus und Hof war zertrümmert; er hätte am liebſten den Wan¬ derſtab wieder in die Hand genommen. In dieſer Stimmung konnte er unmöglich zu Frau Bendler ge¬ hen, nicht einmal in die Stube zum Vater; er ging leiſe an dem Dienſtmädchen, die feiernd in der Haus¬ thür ſaß, vorüber nach dem Garten und ſetzte ſich in die Weinlaube an der Scheunenwand. Der Nachbars¬ garten, der nur durch ein Stacket getrennt, war leer. Das war ihm gerade recht, und ungeſtört konnte er ſeinen Gedanken nachhängen. Wie war die Welt heut ganz anders als geſtern! Die verwilderten Roſen und Goldveiglein hatten ihn geſtern ſo traulich und heim¬23 lich angeſehen, er hatte dabei gedacht: wenn erſt Frauenhände hier walten, werdet ihr noch ſchöner blü¬ hen. Die düſtere Weinlaube erſchien ihm gar nicht düſter, er dachte: bald wirſt du nicht mehr allein hier ſitzen. Heut war ihm Alles wüſt und leer, und es lag ihm auch gar nichts daran, daß es anders ſei. Er ſchaute durch die Weinranken hindurch zum blauen Himmel hinauf. Lieber himmliſcher Vater, es wird ja wieder anders werden; jetzt aber erſcheint das Kreuz meinem jungen Herzen ſchwer, und nun bitte ich Dich doch wieder und immer wieder: erlöſe ſie vom Uebel; wenn ich ſie auch für mich aufgeben muß, laß Du ſie nicht. Aufgeben? ja das iſt wohl ſchwer, und daß es ihm ſo ſchwer ward, ward ihm auch zum Troſt, denn wenn es ſeinem ſchwachen, menſchlichen Herzen ſo ſchwer ward, mußte es ja dem Erlöſer droben noch ſchwerer werden, eine geliebte Seele auf¬ zugeben; und je tiefer er in den blauen Himmel ſchaute, je zuverſichtlicher warb es ihm, und ſein Schmerz lö¬ ſete ſich in feuchten Augen auf. Da hörte er plötz¬ lich eine Stimme im Nachbarsgarten ſingen; hell und lieblich, und doch weich und wehmüthig dran¬ gen die Töne, und ganz deutlich die Worte zu ihm herüber:
Fritz lugte durch die Weinblätter hindurch und ſah drüben auf dem alten ſchrägen Birnbaum Gretchen ſitzen. Es war ihm, als ob er nur geträumt hätte von Wandern und Fortſein, als ob er wieder acht¬ zehn Jahr, und Gretchen ein Kind ſei. Damals war der alte Birnbaum den lieben Sommer über faſt Ihr alleiniger Wohnſitz. Des Nachmittags ging ſie mit dem Strickzeug hinauf, und jedesmal wenn ſie eine Tour herum geſtrickt, rief ſie es dem alten Benjamin zu. Benjamin aber war ein Flickſchuſter, der ſchon faſt dreißig Jahr bei Buchſteins im Hinterhäuschen über der Werkſtatt wohnte. Er war der Kinderfreund der Nachbarſchaft, und Gretchen war ſein beſonderer Liebling. Für ſie war ihm keine Mühe zu groß, und jedesmal, wenn ſie ihm die Tour zurief, machte er einen Kreideſtrich auf eine ſchwarze Tafel, und immer zählte er, wie viel noch fehlten an der Zahl; und wenn es ſo weit war, rief er: nun Gretchen mach Schicht! Gretchen wand ſich dann an einem Bindfaden ein Körbchen mit dem Vesperbrod in die Höhe und meinte, da oben ſtricke und eſſe es ſich beſſer. Benjamin legte auch den Pfriemen für ein Weilchen aus der Hand, ſchaute zum Fenſter hinaus, ſein Staarmatz ſchnarrte „ Gretchen, ſo recht, ſo recht, “und ſein Dom¬25 pfaffe ſang „ Lobe den Herrn o meine Seele “. Wenn dann Gretchens Kinderſtimme einfiel, ſagte Benjamin: „ Gretchen, ſo recht, “und der Staarmatz ſchnarrte: „ Gretchen, ſo recht. “
Auch jetzt ſah Benjamins weißer Kopf zum Fen¬ ſter hinaus; der Staarmatz aber rief: „ Jungfer Gret¬ chen, “und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch andere Zeiten ſeien.
Ei Gretchen, ſagte Benjamin, Du ſingſt einem heut ordentlich das Herze weich; was iſt Dir denn?
Wenn ich wußte, daß Du heim warſt, hätte ich nicht geſungen, ſagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herü¬ ber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß nicht recht, was ich ſo mutterſeelen allein mit dem Sonntag-Nachmittag beginnen ſoll.
Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die einige Krankenbeſuche machen wollte, als ſie Nachmittags aus der Kirche kamen, allein nach Hauſe geſchickt; und weil ſich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwand¬ ten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, ſo war ihr das zu Hauſe bleiben gar nicht recht. In der Stube war es ihr einſam, ſie nahm mancherlei in die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, — nichts be¬ hagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer wer¬ den, und ſie begriff nicht, warum ſie ſo unruhig war. Sollte es ſein, weil Fritz Buchſtein ſich zum Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem Gedanken. Warum aber ſollte ſie ſich freuen ihn wie¬ der zu ſehen? ſie war wenigſtens begierig zu ſehen26 was aus ihm geworden, und ob er ſo ausſähe wie ſie ſich ihn nach ſeinen Briefen gedacht. Sie ging in den Garten. Bei Buchſteins war alles ſtill, und un¬ geſtört ging ſie in dem geraden Stachelbeerwege auf und ab. Hinter den Büſchen hatte ſie als Kind mit Luischen Buchſtein und anderen Freundinnen Schaf und Wolf geſpielt; Luischen Buchſtein war todt, die anderen Freundinnen zerſtreut, und ſie mußte zum Sonn¬ tag-Nachmittag ſo allein hier wandeln. Auf der Bank unter dem alten Birnenbaume hatte ſie auch oft ver¬ gnügt geſeſſen, noch lieber aber oben auf dem Baum: da konnte ſie doch ein Bischen weiter in die Welt ſchauen, in die Nachbarsgärten, einem Böttcher auf den Hof, dem Benjamin in die Stube. Nach der andern Seite hin war der Garten zwar durch eine hohe Mauer begränzt, aber ſie ſah doch die blühen¬ den Flieder - und Goldregen-Wipfel, auch zuwei¬ len die weiße Spitzenhaube der Frau Stadträthin und die bebänderten Strohhüte der Fräulein. Gret¬ chen konnte nicht widerſtehen; ſie ſtieg auf den Baum. Heut war aber gar nichts zu ſehen, an den Gold¬ regen hing trockner Samen, die Fliederbüſche ſa¬ hen dunkel und glanzlos aus, weder Haube noch Strohhüte ließen ſich ſehen, Stadtraths waren in ein Bad und die Fräulein längſt verheirathet. In den anderen Nachbarsgärten war es auch ſtill, nicht ein¬ mal Benjamin war am Fenſter. Da ward es dem Gretchen immer enger um das Herz, immer ſehnſüch¬ tiger ſchaute ſie zum Himmel hinauf. So iſts. Wenn der Herr uns die Welt einſam und öde macht, ſo zieht er uns deſto mächtiger zum Himmel hinauf. Und27 der Himmel war heute ſo licht, die Wolken daran von der ſinkenden Sonne mit Gold umſäumt. Gret¬ chen ſchaute, wie ſie über den dunkelen Dächern am blauen Himmel langſam hinzogen und im Ziehen Ge¬ ſtalt und Farbe wechſelten. Da zog ein Schwan, bald eine Roſe, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar eines Engels Angeſicht. Sie dachte an ihre Eltern, an ihre Brüderlein, deren ſie ſich noch ganz leiſe aus früheſter Jugend erinnern konnte, und mit ſehnſuchts¬ vollem Herzen ſang ſie das Lied, das Benjamin an das Fenſter lockte.
Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herun¬ ter, ſchwang ſich unten an der Scheuer und am al¬ ten Hollunderſtamm noch ganz rüſtig über das Stacket, und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz aus der Laube, er wollte nicht ſchuldiger Weiſe den Horcher ſpielen. Gretchen erſchrak, denn er hatte ſie ja auf dem Baume geſehen und hatte ſie ſingen hören; er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stak¬ tet hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blon¬ den Haar, den Sommerflecken, den runden braunen Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht groß nicht klein, nicht ſchlank nicht ſtark, und ſtand mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenſtrich gar ſittig vor ihm. Er ſprach einige verlegene Worte des Willkommens, ſie merkte ſeine Verlegenheit nicht, ſie hörte kaum, was er ſagte, ſo gewaltig ſchlug ihr Herz, aber einſam kam ihr die Welt nicht mehr vor; und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe, nickte ſie ein freundliches Ja und machte einen höfli¬ chen Knix.
28Aber nicht den Weg, den ich gekommen bin, ſcherzte Benjamin; jungen Burſchen muß man ſolche Schliche nicht zeigen. Du gehſt in die Hausthür, wie es ſich gehört.
Fritz hatte gar nicht daran gedacht; denn wenn er auch ganz ſtattlich in der ſchwarzſeidenen Weſte, dem ſeidenen Halstuch und dem Sonntagsrock ausſah, ſo hatte er doch die Mütze und die Handſchuh im Hauſe liegen, und überhaupt mußte der erſte Beſuch etwas feierlich gemacht werden. Er kam aber nicht ſo bald als Gretchen gehofft hatte; ſie hatte ſchon einen gro¬ ßen Theil der Bilderbibel mit Benjamin durchgeſehen, als es an der Hausthür klopfte. Sie ging zu öffnen und fand außer Fritz auch noch die Mutter vor der Thür. Dieſe war beiden jungen Leuten ſehr erwünſcht. Gretchen hätte gar nicht gewußt wie ſie als Wirthin thun ſollte, und Fritz mochte mit ſeinem ſchweren Her¬ zen dem Gretchen am wenigſten allein gegenüber ſein. Frau Bendler übernahm nun das Sprecheramt, aber auch das Frageamt, und Fritz mußte wohl oder übel geſprächig werden. Daß es ihm ſchwer ward, merkte Frau Bendler nicht, wohl aber Gretchen. Der tiefe Ausdruck der Trauer, der ihm zuweilen unbewußt über die Züge glitt, ging ihr wie ein Schwert durch das Herz. Was mag er nur haben? iſt er traurig, wie¬ der daheim zu ſein? zieht es ihn zurück in die Ferne? Wenn er nur nicht unglücklich iſt! dachte ſie bange, und wie mag es zugehen, da doch ſein letzter Brief ſo fröhlich war? Als ſie ſpät am Abend allein in ihrem Käm¬ merlein war, ſchaute ſie hinauf zu den Sternen mit gefalteten Händen; hinein in ihr Abendgebet miſchte29 ſich Fritzens trauriges Geſicht, und ſie empfahl es Dem, der da Freud und Leid auf die Herzen der Menſchen legt.
Die Frau Generalin von Trautſtein ſaß mit ei¬ ner jüngeren Dame in eifrigem Geſpräch.
Ich verſichere Sie, ſagte die jüngere, das Mäd¬ chen paſſt ganz beſonders für Sie, und ich kann ſie Ihnen mit vollem Herzen empfehlen. Seit zwei Jah¬ ren näht ſie mir alle Kinderſachen und ſie iſt wirklich die Liebe des ganzen Hauſes, immer freundlich, gefäl¬ lig, ſehr gewandt und fleißig, und aus einer ſehr rechtlichen Familie. Ihre Tante iſt die Frau Bendler, die dem Wöchnerinnenverein an der Spitze ſteht, eine außerordentlich geachtete Frau. Von der iſt Klärchen eigentlich erzogen, die hat ſie auch das Schneidern lehren laſſen, denn Klärchens Mutter iſt kränklich.
Warum will ſie ſich aber vermiethen? fragte die Generalin.
Um einmal unter andern Leuten zu ſein, war die Antwort. Ich finde es recht vernünftig. Die Mutter nämlich ſoll das Mädchen ſehr beherrſchen und ihr jeden Groſchen aus dem Beutel nehmen. Sie deutete es mir neulich mit Thränen an, daß ſie ſehr ſchlecht mit der Wäſche beſtellt ſei, weil ſie dazu kein Geld habe erübrigen können und nur immer froh geweſen ſei, der Kundſchaft wegen für das Aeußere zu ſorgen.
Das ſind eben meine Bedenken. Die Mutter ſoll unordentlich ſein und gern jeden Groſchen durch den Mund ſpediren; zweitens iſt das Mädchen zu30 jung und wird mir auch wahrſcheinlich zu hübſch ſein, — entgegnete die Generalin.
Die Jüngere lachte. Gerade darum wünſche ich ſie Ihnen, weil ſie ſo liebreizend iſt. Bei jedem Un¬ wohlſein wird ſie Ihnen die angenehmſte Geſellſchaft ſein; ſie kann Ihnen vorleſen, denn ſie ſpricht ſehr hübſch; aber vor allen Dingen — Sie müſſen ſie ſe¬ hen, theuerſte Frau!
Die Sprecherin war die Lieutenant von Reiſen, Klärchens beſondere Gönnerin. Sie ſuchte ihr jetzt den Dienſt bei der Generalin zu verſchaffen und hatte Klär¬ chen deßhalb hinbeſtellt; vorher aber bemühte ſie ſich ſie in das beſte Licht zu ſtellen. Es währte nicht lange, ſo wurde Klärchen gemeldet. Sehr nett ange¬ zogen, zugleich aber ſehr beſcheiden und anſpruchslos ſtand ſie vor den Damen. Die Generalin war wirk¬ lich erſtaunt über die Schönheit des Mädchens, aber die Anmuth in Worten und Weſen machte jedes Be¬ denken verſtummen — und ſie ſchloß den Miethsvertrag. Vierzig Thaler Gehalt, ein Louisd'or zu Weihnach¬ ten, außerdem Geſchenke, das war für Klärchen ſehr erfreulich. Aber nicht allein das: der ganze Haus¬ halt der Frau Generalin entzückte ſie, ja ſo ſehr, daß der Mediziner faſt darüber vergeſſen ward. Die gro¬ ßen Zimmer, prächtigen Teppiche und Meubeln, Equi¬ page und Dienerſchaft, ſo etwas fand man nicht oft beiſammen. In dieſem Haus war ſie als Kammer¬ jungfer engagirt, ſo zu ſagen als Kammerjungfer, denn eigentlich — redete ſie ſich vor — ſollte ſie doch Ge¬ ſellſchafterin der Dame ſein, ſie ſollte ihr des Abends vorleſen und in traulichen Zirkeln den Thee ſerviren. 31Sie unterließ auch nicht, ihren Bekanntinnen die Sache ſo vorzuſtellen. Als ſie zu Tante Rieke kam, machte die ein ernſthaftes Geſicht. Du haſt nun meinen Wunſch erfüllt und Dich vermiethet, ſagte ſie, der Herr mag Dir Kraft zu Deinem neuen Berufe geben, den Du Dir nicht zu leicht denken mußt. — Klärchen, die voll der ſchönſten Hoffnungen und ſehr guter Laune war, verſprach alles Mögliche, und die Tante war zu gutmüthig, um das nicht glauben zu müſſen. Auf die Fragen über den Zuſtand ihrer Wäſche, hatte ſie geſchickte Antworten; ſie hätte unmöglich die Wahr¬ heit ſagen können, und ihre Angſt war ſchon längſt geweſen, die Tante möchte ſich einmal ſelbſt davon überzeugen wollen. Für das Nöthigſte ſei geſorgt, ſagte ſie, und ſie freue ſich, von dem ſchönen Lohn ganz beſonders Wäſche anzuſchaffen. Die Mutter muß ſich einſchränken lernen, fügte ſie hinzu: Du weißt, wenn ich Geld hatte, konnte ich es als Tochter nicht abſchlagen; wenn ich keines habe, kann ich keines ge¬ ben: und bekomme ich mein Lohn, gebe ich ihr ein Theil, kann aber vom Uebrigen gleich ordentlich an¬ ſchaffen. — Das klang vernünftig, und die Tante war damit einverſtanden. Gretchen ging vor die Schub¬ lade und holte ein halbes Dutzend leinene Taſchentü¬ cher und zwei Paar Strümpfe.
Das darf ich Dir ſchenken, ſagte ſie; zum Strik¬ ken haſt Du nicht viel Zeit gehabt, und die Taſchen¬ tücher ſind geſäumt und für Dich gezeichnet. Wenn Du zu uns kommſt, nimmſt Du nun aber auch die leinenen, ſcherzte Gretchen: Du weißt, wir können die baumwollenen nicht leiden.
32Klärchen war gerührt von dieſer Güte. Du meinſt es doch wirklich gut! ſagte ſie herzlich.
Das kannſt Du glauben, entgegnete Gretchen treu¬ herzig, und beide Couſinen waren jetzt ſehr freundlich auf einander geſonnen.
Am Michaelis-Tage zog Klärchen an. In ihrer Stube ſtand eine Kommode und ein Kleiderſchrank, dahinein wurden ihre Sachen ſo weitläuftig als mög¬ lich geordnet. Einige Sommerkleider und dünne wol¬ lene Kleider, Mantillen, Mäntelchen, ein Friſuren - Unterrock in den Schrank; in die Kommode, außer der wenigen Wäſche, Bänder, Schleifen, Kragen, Hand¬ ſchuh, Taſchentücher; die ſechs leinenen Taſchentücher und zwei Paar ganzen Strümpfe von Gretchen bilde¬ ten den guten Grund dieſer leichten Geſellſchaft Au¬ ßerdem aber ſtellte ſie einige Blumentöpfe in das Fen¬ ſter, hing ein Porzelan-Bildchen an die Scheiben, ein anderes Bild unter den Spiegel und eine Blumen¬ vaſe auf die Kommode. Der Bediente hatte in die Stube geſehen und gegen die Köchin bemerkt: man ſähe dem Geſchmacke des Mädchens an, daß ſie von guter Erziehung und Bildung ſei; nur ſchlimm, daß das Stübchen im Nebenhaus, und der Mediziner ge¬ rade hineinſehen könne, da möcht 'es am Ende eine Liebelei im Hauſe geben. Die Köchin aber nahm Klärchens Partie. Ihre Küche lag gerade gegenüber im anderen Seitenhaus; ſie hatte geſehen wie Klär¬ chen das Rouleau niederließ, als der Mediziner mit der langen Pfeife aus dem Fenſter ſah. Klärchen aber hatte die Köchin geſehen und gedacht: Du mußt dich33 in Reſpekt ſetzen, und etwas Sprödigkeit gegen den Mediziner kann nicht ſchaden.
Es kamen nun für ſie unterhaltende Tage. Das Haus der Generalin war vielfach belebt, die verheira¬ thete Tochter mit den Kindern 4 Wochen dort, und dies gab Gelegenheit zu mancher Geſelligkeit. Außer¬ dem ward Klärchen in die eleganten Läden der Stadt geſchickt, um Beſorgungen zu machen, und das war ihr beſonders unterhaltend. Sie war bald mit allen Commis befreundet und hatte ihre leichte Commoden¬ geſellſchaft um manches bereichert. Freilich waren ihre wenigen Groſchen, die ſie in den Dienſt mitgebracht, auch ausgegeben, aber die Paar Groſchen lohnten kaum der Mühe zum Sparen. Daneben ward das Spiel mit dem Mediziner gar eifrig betrieben. Die Generalin hatte meiſtens nur Damenverkehr: von der Seite war alſo für ihre Zukunft nichts zu hoffen. Bald merkte ſie, der Mediziner war in Feuer und Flammen und ein recht demüthiger Liebhaber. Wenn ſie das Rouleau einen Tag nicht aufzog, ſang er die ſchwermüthigſten Lieder; oder wenn ſie ſonſt ſpröde ge¬ gen ihn war, nahmen ſeine rohen großen Züge einen gar ſanften Ausdruck an. Sie that das mit Wohl¬ bedacht, denn ehe er nicht in die rechte Höhe der Lei¬ denſchaft kam, würde er nicht Ernſt aus der Sache machen. Sie berechnete freilich nicht, daß ſie auch mit der Zeit warm wurde, und ein verliebtes Herz iſt ein ſchwaches Herz, und der Mediziner war nicht ohne Erfahrung, das zu wiſſen und zu merken.
So war Weihnachten herangekommen, der Beſuch der Generalin war abgereiſt und den unruhigen Ta¬334[gen waren] ruhige gefolgt; aber immer war Klärchen gleich aufmerkſam und liebenswürdig, und die Genera¬ lin verſicherte ihre Freundinnen, eine ausgezeichnete Kamm erjungfer zu haben, was ihr gern geglaubt wurde, da Klärchen ja gegen Jederman ſich liebens¬ würdig zeigte. Nur ſchien es, als ob ſie ſeit einiger Zeit etwas zerſtreuter wäre und oft nicht ganz unbe¬ fangen aus den Augen ſähe; doch tröſtete ſich die Generalin mit ihrer übertriebenen Angſt vor Liebesge¬ ſchichten und ließ ſich nichts merken, und Weihnachten ward Klärchen außerordentlich reich bedacht. Das war aber auch gut, denn Klärchen gebrauchte viel. Sie ſah ſo manches bei den vornehmen Damen, das ihr gefiel und das ſie haben mußte. So bemerkte ſie mit Erſtaunen, als ſie ihre Schulden überſchlug, daß vom Lohn und vom Louisdo'r kaum etwas für ihre Mutter übrig blieb. Sie tröſtete ſich aber bald. Al¬ ler Anfang iſt ſchwer, dachte ſie, für Wäſche wird ein andermal geſorgt; hatte ſie doch den unächten Shawl, die Broſche und den Sammethut ſich wirklich angeſchafft! Doch ſollte das alte Jahr nicht hingehen um ſie nicht ganz und gar von dieſen kleinlichen Sor¬ gen zu befreien. Als ſie am Sylveſterabend von einer Beſorgung in der Dämmerung zurückkam, ſah ſie eine wartende Geſtalt unten im Hausflur. Sie erkannte bald den Mediziner. Sie hatte hier öfters mit ihm flüch¬ tige Worte gewechſelt, ſeit einiger Zeit hatten ſie ſich nie allein gefunden, und auch heute waren Schritte auf der Treppe hörbar. Er kam eilig auf ſie zu, drückte ihr einen Brief in die Hand und eilte die Treppe voran. Klärchen konnte nicht ſchnell genug ihr Lämpchen anſtecken, um dies Dokument zu leſen,35 ein Dokument wie Millionen geſchrieben werden, um thörichte Mädchen zu täuſchen und noch thörichter zu machen. Nichts iſt lächerlicher als dieſe Art Liebes¬ briefe, einer iſt dem andern wie aus den Augen ge¬ ſchnitten. Die Schreiber finden in jedem Mädchen eine Göttin, einen Engel, ein höheres Weſen; die Empfängerin aber meint, das paſſe nur ganz allein auf ſie; ihre Bruſt hebt ſich ſtolzer, denn ſie iſt vor vielen Tauſenden beglückt. Ferner ſteht in den Brie¬ fen von heißer Liebe, von unerträglichen Qualen und ewigen Gefühlen. Das iſt Alles ſehr glaubwürdig, denn man iſt ja wirklich ſo liebenswerth, man müßte aber ein Herz von Stein haben, den Armen ſo leiden zu ſehen, man muß ihn wieder lieben. Schmerz oder Unglück kann ſich nie nahen, denn ſeine Gefühle ſind ewig, und ihr Glück wird auch ewig ſein. Daß dieſe Ewigkeit der Liebesbriefe ſelten über ein Jahr hinaus reicht, glaubt man nicht; man hat zwar ſchon oft davon reden hören, aber dieſe Verſicherungen, dieſe Schil¬ derungen müſſen Wahrheit ſein. So glaubte auch Klärchen, als ſie ihren Brief geleſen. Ihr Herz hüpfte vor Entzücken, durch ihre Klugheit hatte ſie es ſo weit gebracht, daß er Ernſt machte; nun wollte ſie ihn auch nicht länger ſchmachten laſſen und ihm ihre Liebe zei¬ gen. Sie hätte gern gleich geantwortet, aber ſie war heut Abend zu Tante Rieke eingeladen und hatte ver¬ ſprochen um 6 Uhr die Mutter abzuholen, und ſo ein Liebesbrief war keine Kleinigkeit, der mußte mit Be¬ dacht geſchrieben werden. Sie ging alſo, wenn auch in höchſter Unruhe. Den empfangenen Brief trug ſie natürlich auf dem Herzen.
3 *36Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu Tante Rieke gegangen. Da gab es Punſch und Kuchen, und außerdem, daß man wohl ernſthaft ſprach und ſang, ging es doch auch ſehr vergnüglich her, und für die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die Tante war trotz aller Pietiſterei doch ſehr heiter, konnte ſelbſt recht drollig ſein und hinderte die jungen Leute nicht, es ebenſo zu machen. Heute war ihr das freilich ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬ ſamkeit bemerkten, that ſie etwas erſchrocken, ſchmun¬ zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter müſſe etwas ſtecken. Fritz Buchſtein, der auch unter den Gäſten war, ſah ſie ſcharf an bei dieſen Scherzen, und der Blick war ihr wieder ſehr fatal. Doch ward man lebhafter bei einem Gläschen Punſch und be¬ merkte Klärchens Schweigſamkeit nicht mehr. Selbſt Fritz ward ungewöhnlich redſelig und erzählte ſehr un¬ terhaltend von ſeiner Wanderſchaft. Gretchen hing an jedem Worte, das er ſagte: ſelbſt Klärchen mußte geſtehen, daß er ein ausgezeichneter Tiſchlergeſelle ſei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬ pen, ſeine Augen waren lebendig, ſeine Wangen ge¬ röthet, ſie wußte ſelbſt nicht wie, aber es fielen ihr die Helden aus den Ritterromanen ein, wie ſie be¬ ſchrieben werden, ſo ſanft und mild und dabei ſo edel und männlich. Sie begann faſt, ihn dem Gretchen nicht zu gönnen, obgleich ſie ſelbſt himmelhoch über ihm ſtand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann, und ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben, wie ſie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte ſie Recht, ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben: er war37 nicht gewiſſenlos genug und hatte nie gewagt, ei¬ nem Mädchen den Unverſtand zuzutrauen, ſolchen Unſinn, der in jedem ſchlechten Romane zu finden iſt, für Wahrheit zu nehmen. Mehrere Stunden waren ſo ſchnell vergangen, da erinnerte Vater Buchſtein Frau Bendler an ihr Verſprechen.
Ei freilich! Heute laſſen wir Schiffchen ſchwim¬ men, ſagte dieſe ſcherzend; es liegt mir ſelber daran, zu wiſſen, wie es mit der Freundſchaft meiner guten Freunde ſteht. Ich muß aber auch die Erſte ſein, weil ich doch wohl die Neugierigſte bin.
Die jungen Leute ſtimmten fröhlich in den Vor¬ ſchlag ein. Gretchen holte einen großen Napf mit Waſſer, Wallnüſſe und einen Wachsſtock. Fritz theilte ſehr geſchickt die Nüſſe auseinander, machte die Frucht heraus und klebte dafür kleine Wachslichte hinein. Gar niedlich tanzten die brennenden Lichterſchiffchen auf dem Waſſer, der Tante Schiffchen in der Mitte, die anderen ſtellten den Vater und Sohn Buchſtein, die Frau Organiſtin und Gretchen und Klärchen vor; ſo war es von Frau Bendler beſtimmt. Der Hauptſpaß war nun, wie die anderen ſich zur Hauptperſon ver¬ hielten. Blieben ſie fern ſo war es mit der Freund¬ ſchaft ſchlecht beſtellt. Und wirklich drückten ſie ſich alle ziemlich fern an den Seiten herum. Frau Bend¬ ler ſcherzte und neckte, bis plötzlich Fritzens Schiffchen, durch eine leiſe Waſſerbewegung angeregt, auf die Tante zu ſchoß und nicht wieder von ihr ließ, was auch am Napfe gerüttelt und geſchüttelt ward. Das Schütteln aber hatte zur Folge, daß die anderen vier Schiffe ſich zu einem Häufchen geſellten, und nun38 wie zwei feindliche Parteien ſich die Flotte gegenüber ſtand.
Weil der Fritz es ſo gut mit mir meint, ſoll er jetzt der Erſte ſein der die Herzen ſeiner Freunde prüft, ſagte Frau Bendler. Fritz aber war gar nicht begierig danach, er wollte den Andern durchaus den Vorrang laſſen; doch half es ihm nichts, die Alten übernah¬ men es, den Schiffchen Namen zu geben, und die Sache ging los. Gretchens Herz klopfte gewaltig, und ſie beſann ſich ſchon, was für ein Geſicht ſie machen wolle und was ſagen, wenn das Schiffchen die Ge¬ danken ihres Herzens verrathen ſollte. Zwei andere junge Mädchen, die ganz unbefangen waren, ſcherzten mit Fritz und meinten: das paſſe ſich gar nicht, wenn er da großartig in der Mitte ſtehe, und ſie ſollten ſich um ihn bemühen, dieſe Prüfung ſei eigentlich nur für Mädchen. Klärchen aber war ganz erhoben über dieſen Spaß, ihre Gedanken waren längſt nicht mehr hier; je ſpäter es wurde, je größer ward ihre Unruhe und Sehnſucht, den Brief zu beantworten. Doch ſelt¬ ſam genug, ihr Schiffchen nahete ſich zuerſt der Mitte, Fritz ſchien ihr auszuweichen, aber ſie zog hinter ihm her, vereinigte ſich mit ihm und ſchiffte dann mit ihm zuſammen auf dem kleinen Meere umher. Das gab ein Lachen, aber Klärchen warf die Lippen auf und warf einen verächtlichen Seitenblick auf den Tiſchler¬ geſellen, ſo daß Allen die Geſinnung ihres Herzens kund werden mußte. Gretchen ward vor Aerger ganz roth und hatte ſchon ein derbes Wort auf den Lippen, doch ſcheute ſie ſich vor Fritzens Gegenwart und wollte es ſich lieber aufſparen. Die beiden andern39 Mädchen ſtießen ſich an, Klärchen hatte ihnen ſchon den ganzen Abend zu vornehm gethan, und die Frau Organiſtin ſagte ſpitz: Ei Klärchen, brauchſt den Mund nicht zu verziehen, biſt in ganz guter Geſell¬ ſchaft hier. Doch die Tante wollte keinen Ernſt ge¬ macht haben; ſie entgegnete leicht: In der Hinſicht muß ein jedes Mädchen ſtolz und ſpröde thun, die jungen Burſchen ſollten ſonſt eitel werden. Dann wurden die Namen der Schiffchen wieder geändert, und die Sache war abgemacht. Fritz aber behielt den Stachel im Herzen. Wenn er auch längſt Klärchens Beſitz aufgegeben, ſo konnte er ihr doch heut nicht ohne innere Bewegung gegenüber ſitzen, es war ihm, als ob aus ihrem Weſen bald ein guter bald ein böſer Engel ſchaue; er hätte den guten ſo gern feſt¬ halten und in ihre Nähe bannen mögen. Die dun¬ kelblauen Augen hatten ihn zuweilen ſo kindlich an¬ geſchaut, ganz ſo wie ſie auf ſeiner Wanderſchaft vor ſeiner Seele ſchwebten. Er wußte zwar mehr als alle die Anderen von ihrem Leben und Treiben — die Augen der Liebe ſehen ſcharf —, auch wußte er daß der Medi¬ ziner im Hauſe der Generalin wohne, aber immer noch konnte er den guten Engel in ihr nicht aufgeben, und ſein theilnehmendes und trauerndes Herz ward von ihrem verächtlichen Weſen ſchmerzlich berührt.
Die Zeit war mit den Späßen vergangen, es ſchlug zehn Uhr, man wurde ernſthafter. Die Alten erzählten, die Jungen hörten ſtill zu. Fritzen war das ſehr lieb, er war wahrlich nicht zur Freude aufgelegt und er übernahm es auch ſpäter gern, etwas aus der Bibel vorzuleſen. Er begann mit dem 90 Pſalm. 40Er las langſam und feierlich, ſeine Stimme ward im¬ mer voller, die Worte quollen immer mehr aus ſei¬ nem Herzen. Als er die Worte las: Lehre uns be¬ denken daß wir ſterben müſſen, auf daß wir klug wer¬ den, — ſchaute er auf und ſah Klärchen an. Nieman¬ dem fiel das auf, nur Klärchen konnte den Blick nicht vertragen und es wurden ihr dadurch die Worte erſt bedeutſam. Dem Pſalm folgte ein Abendgebet, auf den Jahresſchluß paſſend, und dann das ſchöne Lied:
Klärchen bemühte ſich ſo viel als möglich, nicht hinzuhören und ſich mit anderen Gedanken zu zer¬ ſtreuen; es war ihr aber unmöglich. Fritzens Stimme klang wie Glöckentöne in ihr Herz, ſo mächtig, ſo ernſt, ſie mußte hören, und je länger er las, deſto aufmerkſamer hören. Von Sterben — Grab — und Verblühen war die Rede, es ward ihr bange dabei, und ihr abergläubig Herz nahm die Bangigkeit für böſe Ahnung. Nur nicht ſterben! dachte ſie. Der Hei¬ land, von dem ſie reden, hilft mir nichts, ſein Reich reizt mich nicht und nicht die ewigen Hütten; nein, über den Tod hinaus geht keine Hoffnung. O, ſo häßliche Gedanken verbittern einem das ſchöne Leben,42 und gerade heute das anzuhören iſt ſehr ſtörend. Die Andern ſehen dabei ſo ruhig und freudig aus, als ob ſie Recht hätten, und Fritz iſt ſo voll von der Wahrheit, ſein Geſicht leuchtet, und wie Gretchen ſo demüthig zu ihm aufſchaut — ſolche Blicke müſſen ſein Herz rühren.
Es ſchlug zwölf. Alle falteten die Hände, beug¬ ten ſich zum Gebet. Auch Klärchen mußte ſo thun, aber in ihrem Herzen war es dunkle Nacht, der Teu¬ fel hielt ſeine Hand über ſie. Fort, fort von hier! ſeufzte ſie, und der Liebesbrief zog ſie gewaltig hinaus aus dem Ernſt und dem Frieden in die Luſt und Un¬ ruhe der Welt.
Beim Heimgehen fand es ſich, daß Frau Krauter mit den Andern einen Weg hatte, und nur Klärchen allein nach einer ganz entgegengeſetzten Seite mußte; es wurde beſchloſſen, Fritz ſollte ſie nach Hauſe füh¬ ren. Sie aber ſträubte ſich, denn nichts wäre ihr drückender geweſen, als ein einſamer Weg mit dieſem ſonderbaren Menſchen. Aber es half nichts. In der Sylveſter-Nacht, wo der Trunkenbolde nicht wenige auf den Straßen zu finden ſind, darf kein junges Mädchen allein gehen, hieß es, und Klärchen mußte ſich fügen. Fritz war gar nicht verlegen, er hatte ſich eben zu ſehr in eine Gottes-Welt vertieft, als daß ihn die kleinen Bewegungen der irdiſchen Welt hätten berühren können. Er ſah Klärchen ruhig und feſt in die Augen und ſprach zu ihr mit unbefangener Stimme: doch wehten außen Sturm und Regen ſo ſehr, und Klärchen ging ſo raſch, daß er ſchweigen mußte. Jetzt ſtanden ſie vor der Hausthür. Klärchen nahm43 den Schlüſſel und ſchloß auf. Der Mond brach eben durch Wolken und warf ſein helles Licht auf Fritz und Klärchen, ſie ſah unwillkürlich auf zu ihm: da ruheten ſeine dunklen Augen ſo traurig auf ihrem friſchen Geſicht, er reichte ihr die Hand, ſie mußte ihre hineinlegen. Klärchen, ſagte er mit bewegter Stimme, wir ſtehen jetzt am Anfang eines neuen Jahres. Der Herr wolle uns ſegnen, daß wir am Ende deſſelben mit reinem Herzen und ruhigem Gewiſſen und unbe¬ fleckter Ehre mögen darauf zurückſchauen. Der Herr behüte Sie!
Er wandte ſich ſchnell von ihr, ſie trat in das Haus, aber mußte erſt einige Augenblicke ſich vom Schrecken erholen.
Was will er nur? dachte ſie. Meine Ehre? da will ich ſelbſt für ſorgen. Und das Gewiſſen? ich werde doch kein Verbrechen begehen? — Sie ſuchte mit Gewalt den Eindruck von Fritzens Worten abzu¬ ſchütteln, und das ſollte ihr leider nicht ſchwer werden. Als ſie die erſte Treppe hinauf war und eben den Zu¬ gang, der zur Etage bei Generalin führte, öffnen wollte, kam Jemand von oben herunter. Sie zögerte, — ja es war der Mediziner. Er hatte den Sylveſter-Abend etwas lauter und wilder gefeiert als Klärchen, ſein Geſicht glühte von Wein und Punſch, und ſeit geraumer Zeit hatte er mit Ungeduld auf Klärchens Rückkehr gewartet. Jetzt floſſen ihm die Worte wie Feuer von den Lippen. Dieſe Liebes - und Treueverſicherungen, dieſe Ausdrücke von erhabenen Gefühlen — Klärchen konnte nicht widerſtehen. Sie erwiederte flüſternd ſüße Liebesphraſen, duldete, daß er ſie küßte, und als ſie44 ſich endlich losriß, mußte ſie ihm das Verſprechen ge¬ ben, für eine recht baldige ungeſtörte Zuſammenkunft zu ſorgen. Das war gar nicht ſchwer, bei ihrer Mut¬ ter konnten ſie das haben; denn die wird dem Glück der Tochter nichts entgegenſetzen. Und, fügte Klär¬ chen hinzu, es iſt auch nöthig daß wir beſprechen, wie es mit unſerer Verlobung werden ſoll, es iſt doch da manches zu thun. —
Närrchen! unterbrach ſie der Mediziner, wer wird denn an ſo alberne Dinge denken? Wir leben in der Gegenwart, das andere fügen die Götter. — Dann fügte er einige zärtliche Worte hinzu und ging die Treppe hinauf.
Dieſe letzten Worte gingen Klärchen eiſig über die grünen Auen ihres Glückes, doch dachte ſie nicht weiter darüber nach und legte ſich in ſüßer Betäubung zur Ruhe.
Am anderen Morgen wachte ſie ſpäter auf als gewöhnlich. Ihre gütige Dame hatte ſie nicht zur ge¬ wöhnlichen Zeit wecken laſſen, damit ſie den verſäum¬ ten Schlaf nachholen möge. Und dennoch konnte ſie ſich nicht zurecht finden. Es war ihr ſo wüſt im Kopfe und ſo nüchtern im Herzen, ſie mußte ſich or¬ dentlich erſt klar machen, daß ſie ſehr glücklich ſei, und trotz des Vorredens blieb ſie unruhig. Wird er Ernſt machen? Wird er ſich öffentlich verloben? Wird er es ſeinen Eltern ſagen? Solche Fragen war ſie thöricht genug ſich vorzulegen, und es galt von ihrer Seite immer noch große Vorſicht, das Alles zu errei¬ chen. So dumm wie ihre Mutter, der der Rechts¬ gelehrte unter den Händen entwiſcht iſt, wollte ſie45 nicht ſein, dachte Klärchen; und ſo denken alle thö¬ richten Mädchen, die leichſinnige Liebſchaften anknüpfen. Sie ſehen zwar rund um ſich, wie die Sachen mei¬ ſtens ablaufen, aber ſie wollen es ſchon anders zu Ende bringen, bis ihnen dann das reine Herz, Ehre, und gutes Gewiſſen ſammt dem Liebhaber unter den Händen entſchlüpft ſind.
Als Klärchen zur Frau Generalin ging, um ihr wie gewöhnlich bei der Toilette behülflich zu ſein, fand ſie dieſelbe ſchon fertig angekleidet beim Früh¬ ſtück, und neben ihr ſaß bei demſelben ein junger ſchöner ſchlanker Mann in Gardeuniform. Klärchen entſchuldigte ſich wegen des ſpäten Kommens; die Generalin aber war ſehr freundlich und ſagte neben¬ bei: Ich habe geſtern Abend auch eine große Ueber¬ raſchung gehabt, mein Sohn kam unerwartet an. — Der junge Mann war bei Klärchens Eintreten aufge¬ ſtanden, ihre Schönheit und ihr feines Weſen be¬ ſtimmten ihn, höflicher zu grüßen, als er es gethan haben würde, hätte er gewußt daß ſeiner Mutter Kammerjungfer vor ihm ſtand. Jetzt ward er etwas verlegen, Klärchen merkte Alles, — ein koquettes Mäd¬ chen iſt ſehr feinfühlend in ſolchen Dingen — und ihr ganzes Benehmen wurde augenblicklich dem jungen Manne angepaßt. Sie ging ordnend im Zimmer hin und her, that, was in der Schlafſtube nebenan zu thun war, und ging dann um Sonntagstoilette zu machen. Sie wußte ſelbſt nicht recht wie ſie dazu kam, aber ſie begann Vergleiche zu machen zwiſchen dem Gardelieutenant und dem Mediziner. Der Medi¬ ziner war wirklich häßlich dagegen zu nennen, und46 wie plump war ſeine Sprache und ſein ganzes We¬ ſen! Freilich, tröſtete ſie ſich, er iſt ein Student, und die meinen, ſie müſſen burſchikos ſein; wenn er bei ſeiner Mutter, der Frau Präſidentin ſitzt, wird er auch anders ſein. Aber er ſoll auch gegen mich anders ſein, dachte ſie weiter, er ſoll fein und nobel werden wie der Gardelieutenant!
Das Haus war durch die Neujahrs-Glückwün¬ ſchenden ſo belebt, daß es dem Mediziner unmöglich ward, Klärchen zu ſehen. Auch den Abend war große Geſellſchaft, der Flur hell erleuchtet und faſt immer¬ fort Bewegung auf der Treppe. Er war ſehr unge¬ duldig und wußte kaum wie er die Zeit hinbringen ſollte. Klärchen ging es nicht ſo, ſie war heut ſo beſchäftigt und hingenommen, daß ſie kaum Zeit hatte an ihre Liebe zu denken. Bis jetzt hatte ſie faſt nur alten Damen den Thee ſervirt, heute aber waren junge Herren, die Freunde des Lieutenants, in der Geſell¬ ſchaft. Klärchen, im hellblauen Muſſelin-Kleide mit freiem Hals und freien Armen, ſtand vor der ſingen¬ den Theemaſchine und ſchwebte dann in den hell er¬ leuchteten und wohl durchdufteten Zimmern hin und her. Ein ſolcher Triumph war ihr noch nie geworden: die Blicke der jungen Leute folgten ihr, wohin ſie ging, bis leider die Generalin ſehr ernſte Blicke auf ſie warf und ihr huldreich ſagte, ſie möchte ſich nicht weiter bemühen, der Bediente ſolle allein aufwarten. Sie ging, und trat erhitzt und aufgeregt in ihre Stube. Kaum hatte der Mediziner Licht darinnen geſehen, als er ſein Fenſter öffnete und leiſe mit den Händen klappte. Klärchen hatte eigentlich nicht große Luſt ihn jetzt zu47 ſprechen, ſie ſah aber ihr Bild im Spiegel und fand ſich gar zu ſchön, der Mediziner mußte ſie ſehen, mußte ſich überzeugen, daß ſie mit ihrer Erſcheinung in die Salons einer Präſidentin paſſe, ja ihr Hoch¬ muth und ihre Eitelkeit waren heut ſo ſehr gewachſen, daß ſie meinte, er müſſe ſich glücklich ſchätzen ſie zu gewinnen. Man konnte gar nicht wiſſen ob ihr nicht noch ein größeres Glück beſtimmt geweſen. Der junge Graf, der heut mit in der Geſellſchaft war, hatte ſie nicht aus den Augen gelaſſen, und der Generalin Sohn, der außer ſeinem Lieutenantsgehalt noch ein Gut in Schleſien hatte, dazu adelig war, hatte ſich gewiß ſchon ſterblich in ſie verliebt. Klärchen hatte viel Ro¬ mane geleſen, ſie wußte, daß nicht ſelten arme Mäd¬ chen vornehme Partien machen, und ſie hatte die be¬ ſtimmte Ahnung einer großen Zukunft. Mit ſolchen Gedanken trat ſie auf den Flur, der Mediziner ſtand ſchon unten an der Treppe. Als er ihr vornehmes, herablaſſendes Weſen ſah, dazu ihre Schönheit, ver¬ ſchluckte er die groben ungeduldigen Liebesvorwürfe, die ihm in der Kehle ſtaken, und beklagte ſich nur, daß er ſie heut den ganzen Tag nicht geſehen. Klär¬ chen entgegnete, dies ſei ein unſchicklicher Platz ſich zu ſprechen, und beſchied ihn zum nächſten Abend zu ihrer Mutter. Daß er ſie küßte und zärtlich ward, litt ſie wohl; Hochmuth und Eitelkeit ſchützen nicht vor böſen Herzensgelüſten, nein, es ſind gerade ſehr verträgliche Schweſtern, die ſich gegenſeitig hegen und pflegen.
Am andern Morgen ſaß Klärchen, wie gewöhn¬ lich, nähend im Vorzimmer. Der Lieutenant trat ein48 und bat ſie, einige Maſchen an ſeiner Geldbörſe wie¬ der zu befeſtigen. Während ſie es mit den feinen ge¬ ſchickten Händen that, ſtand er ſchweigend vor ihr. Auch Klärchen ſchwieg, aber ihr ganzes Weſen redete. Wie ſie den Kopf hielt, wie ſie die Finger bewegte, wie ſie aufſchaute, ihm dann die Börſe gab — es mußte das Alles das Herz des Lieutenants beſtürmen. Klär¬ chen merkte, daß er gern eine Unterhaltung mit ihr angeknüpft hätte, doch die Schritte der Generalin wa¬ ren im Nebenzimmer hörbar, und er verließ ſie mit einem kurzen verbindlichen Danke.
Der Tag verging mit Plänen für heut Abend; und wenn auch das Bild des Lieutenants ſich zuwei¬ len dazwiſchen drängte, ſo ſchob ſie es mit Gewalt zurück. Der Mediziner muß ſich heut Abend feierlich mit dir verloben, wo möglich müſſen wir heut Abend noch Brautviſite bei Tante Rieke machen. Was wird die ſagen! Und Grete! Nun, ſie werden Reſpekt be¬ kommen vor der Schwiegertochter einer Frau Präſiden¬ tin. Der Mediziner mußte morgen früh ſelbſt die Frau Generalin um ihre Entlaſſung bitten, oder we¬ nigſtens ihr eine andere Stellung geben; die Hälfte des Wechſels mußte er ihr gleich überlaſſen, um für Toilette und Wäſche zu ſorgen; ſie war nun aus al¬ ler Noth, konnte ſich die Hemden Dutzendweis fertig kaufen und ſo alle Sachen. In dieſer Weiſe flogen ihre Gedanken, ſie konnte kaum den Abend erwarten, und es war ihr recht unangenehm, daß ſie ihrer Her¬ rin noch von 6 bis 7 Uhr vorleſen ſollte. Die Frau Generalin aber war ganz allein, erwartete den Sohn erſt zum Abend zurück, und Klärchen mußte wie ge¬49 wöhnlich ihn auf dieſe Weiſe die Zeit vertreiben. Sie las heut beſonders ſchlecht, und die Generalin war eben im Begriff, dies zu tadeln, als die Thür ſich öffnete und der Sohn eintrat. Er winkte, ſetzte ſich in eine dunkle Ecke, und die Mutter bemerkte: ſie wolle nur dies kurze Kapitel ausleſen laſſen. In Klärchen ſchien plötzlich eine andere Kraft gefahren, ſie las beſonders ſchön und mit ganz anderer, bewegter Stimme. Der Lieutenant wandte keinen Blick von ihr, und die Generalin ſah ſie bedenklich an. Als ſie das Zimmer verlaſſen, wandte ſich dieſe zu ihrem Sohne.
Lieber Alfred, ſagte ſie lächelnd, ich glaube, ſo lange Ihr jungen, leichtfertigen Leute hier bei mir ein - und ausgeht, muß ich das Mädchen aus dem Haus thun.
Und wenn ich mich auch ein wenig verliebte, entgegnete Alfred, Du fürchteſt doch nicht —
Nein, ich fürchte nicht, daß Du leichtfertig genug wäreſt, ein Mädchen thörichter zu machen, als es ſchon iſt, aber Deinen Freunden traue ich nicht.
Alfred lachte. Sie ſind alle außer ſich über dieſe Schönheit, und Graf Bründel, glaube ich, früge aller¬ dings nicht viel danach, ob er ein thöricht Mädchen thörichter mache.
So bitte ich Dich, vermeide es, daß er ſie ſieht, — entgegnete die Mutter beſorgt. Und Du, lieber Alfred, biſt vorſichtig. — fügte ſie zögernd hinzu.
Gewiß, ſagte Alfred treuherzig und reichte der Mutter die Hand; und ſollte es wirklich gefährlich werden, da bitte ich Dich, mich fortzuſchicken, — ſchloß er ſcherzend.
450Dieſe Unterredung hatte Klärchen durch das Schlüſſelloch mit angehört, denn Horchen war in den zehn Geboten nicht verboten. Sie haben ſich Alle in dich verliebt, und Alfred iſt doch der Schönſte und Edelſte. Seinen Spaß würde er nie mit dir treiben: zeigt der dir Liebe, ſo wäre es Ernſt. Sie ſeufzte. Ja, hätte ſie mit dem Mediziner noch nicht angefangen, ſie hätte es wahrlich jetzt gelaſſen; aber ſie hatte ſich küſſen laſſen, hatte eine Liebſchaft an der Treppe ge¬ habt; Frau von Trautſtein konnte ſie nicht werden. Alſo nur kühn den Mediziner feſtgehalten, er iſt auch ein Mann von Bedeutung und ſo ſehr verliebt, es läßt ſich Alles mit ihm machen.
Mit ſolchen Gedanken machte ſie in ihrer Mutter Stube die Vorbereitungen zur Verlobung. Zwei Lich¬ ter brannten außer der kleinen Lampe, Taſſen und Kuchen ſtanden auf dem Tiſch, die Theekanne in der Röhre, die Mutter ſaß im Lehnſtuhl am Ofen, und Klärchen mit der Guitarre am Arm ſaß im Sopha. Der Student kam, die Thür ward verſchloſſen und nun ward geplaudert, geſcherzt, gekoſet. Die Mutter war ganz glücklich. Der Mediziner hatte ſchon eine volle Börſe deponirt zu Sachen, die für Klärchen nothwendig angeſchafft werden ſollten. Sie mußte ſich geſtehen, daß Klärchen es weit klüger angefangen als ſie: Klärchen that ſpröder und vornehmer und kom¬ mandirte mehr. Sie bedachte nur nicht, daß das Ende einer klugen Sünderin ein gleiches iſt, als das einer dummen. Klärchen kam zuletzt mit Vorſchlägen zur Veröffentlichung ihrer Verlobung heraus, die für heute darin beſtanden, noch zu Tante Rieke zu gehen. Der51 Mediziner ſah ſie erſt verblüfft an und brach dann in ein helles Lachen aus. Er hatte ſchon viel Lieb¬ ſchaften gehabt, das aber war ihm noch nie paſſirt.
Närrchen! ſagte er, wie kannſt Du ein ſolcher Philiſter ſein! Bei uns iſt wohl von Lieben die Rede, aber nicht von Verloben. Wenn die Welt erſt zuſieht, hört aller Spaß auf.
Klärchen ſtand auf, ſie zitterte an allen Gliedern. Wenn es ſo gemeint iſt, ſind wir geſchiedene Leute, ſagte ſie in höchſter Erregung.
Der Student war wieder verblüfft, lachte darauf aber nicht. Er merkte, daß er mit dem Mädchen an¬ ders verfahren müſſe, als er es bisher gewohnt ge¬ weſen, und da er unglaublich in ſie verliebt war, be¬ gann er zu kapituliren. Das aber half ihm nichts, ſie war zu klug und durchſchaute ſeine gleißenden Worte. Dazu liebte ſie ihn eigentlich gar nicht mehr, ſie dachte an den Lieutenant, an den Grafen, ſie konnte ja nur zugreifen; ja, mit einemmal war es ihr, als müſſe ſie ſich von dem Studenten losreißen, um einem höheren Geſchicke entgegen zu gehen. Das gab ihr Muth, jetzt die Tugendheldin zu ſpielen. Sie hielt die ſchönſten Reden; ſelbſt als er verſicherte, Oſtern wolle er mit ſeinen Eltern reden und nur bis dahin müſſe die Sache geheim bleiben, blieb ſie ſtandhaft, — und als er ſie beſtürmen wollte mit ſeiner Liebe und ſeinem Unglück, verſchloß ſie ſich in die Kammer. Die Mutter ſpielte eine traurige Rolle dabei, ihr Herz war weicher, als das der Tochter, ſie hätte den Un¬ glücklichen gern glücklich gemacht, — dazu die ſchöne volle Börſe auf dem Tiſch, — und verſuchte ihn zu4 *52beruhigen, verſprach mit der Tochter zu reden, und entließ ihn ſo nicht ganz ohne Hoffnung. Klärchen aber that ſtolz wie eine Königin. Siehſt Du, ſagte ſie zu ihrer Mutter, ſo muß man es machen, ſpaßen laſſe ich nicht mit mir! Und weil ſie doch im Inne¬ ren eine große Demüthigung fühlte, daß ihr der Me¬ diziner entſchlüpfte, wie der Mutter Rechtsgelehrter, ſo that ſie mit Worten beſonders groß, ließ ihr Glück bei den adeligen Herren ahnen, und um die Mutter vollſtändig mit dem erſten Abenteuer auszuſöhnen, dul¬ dete ſie es, daß dieſe die volle Geldbörſe des Medi¬ ziners in Verwahrung nahm.
Auf ihrem Stübchen aber brach ſie in Thränen aus, nicht Thränen der Reue über ihren Leichtſinn, nein, ſie weinte über ihre Dummheit, ſich mit dieſem rohen Menſchen ſo weit eingelaſſen zu haben. Wenn es die Generalin, wenn es der Lieutenant wüßte! Aber ſie wiſſen es nicht und werden es nie erfahren, war ihr Troſt; du willſt vorſichtiger ſein, dich nie mit ſo rohen Menſchen einlaſſen. Um ſich vollſtän¬ dig zu tröſten, wiederholte ſie ſich die Unterredung der Generalin mit ihrem Sohne. Es konnte ihr nicht fehlen, — ſie taumelte ſich in einen neuen Himmel der Zukunft und ſchlief beruhigt ein.
Ihr Rouleau kam nun den ganzen Tag nicht mehr in die Höhe, und die Köchin, die ſchon ange¬ fangen, aufmerkſame Augen auf ſie und den Medizi¬ ner zu werfen, ward wieder ganz ruhig.
Die Generalin aber war nicht ruhig, ſie ſah die Augen ihres Sohnes fortwährend auf Klärchen ge¬ richtet, und dieſe war ganz beſonders ſanft und hold¬53 ſelig. Der Graf hatte geſagt: das Mädchen ſei ganz verteufelt ſtolz und ſpröde, und Alfred hatte das mit Triumph der Mutter erzählt und dabei fallen laſſen, daß ihre Bildung eigentlich über die eines Kammer¬ mädchens hinausgehe. Klärchen hatte das glücklicher¬ weiſe wieder erlauſcht, denn wenn Mutter und Sohn allein in der Stube waren, kam ſie nicht viel vom Schlüſſelloch fort. Das waren ſelige vierzehn Tage, und ihr Kopf war voll der tollſten Pläne und Träu¬ mereien.
Aber die Tage vergingen und die Zeit der Tren¬ nung kam; ja, der Lieutenant war eines Morgens ab¬ gereiſt, ohne daß Klärchen etwas davon geahnet. Sie war plötzlich eine andere, ſie war zerſtreut und träge, erſt der Generalin ernſte Blicke mußten ſie wieder et¬ was zu ſich bringen.
Nach einigen Tagen ſaß die Generalin einen gan¬ zen Morgen am Schreibtiſch mit Schreiben beſchäftigt: dazwiſchen ging ſie ſinnend in der Stube auf und ab. Klärchen kalkulirte richtig: ſie ſchreibt an ihren Sohn. Um Alles in der Welt hätte ſie den Brief gern gele¬ ſen. Wenn er nur heut nicht fortgeſchickt wird, ſo iſt's möglich, dachte ſie. Und wirklich ward er nicht fort¬ geſchickt; der Nachmittag war unruhig, den Abend war die Generalin in Geſellſchaft, ſie fand nicht Zeit, ihn zu vollenden. Mit klopfendem Herzen hörte Klär¬ chen ihre Dame fortfahren, der Bediente hatte ſie be¬ gleiten müſſen, ſo war jetzt die beſte Zeit, ihren Plan auszuführen. Was ſie an kleinen Schlüſſeln finden konnte, ſuchte ſie zuſammen und verſuchte das Schloß zu öffnen. Ihre Hände zitterten, und zehnmal wohl54 lief ſie nach dem Vorſaal, um zu hören, ob auch Niemand komme. Sie fühlte zum erſtenmal eine hef¬ tige Gewiſſensangſt, aber zum erſtenmal auch ging ſie von der Stufe der Thorheit und des Leichtſinns eine weiter hinunter zum Verbrechen. Gleich einem Diebe ſtand ſie zitternd vor dem verſchloſſenen Tiſch, ſie war ja wirklich im Begriff zu ſtehlen.
Doch das Schloß wollte nicht weichen, der Wa¬ gen der Generalin kam zurück, Klärchen verließ haſtig und ſcheu das Zimmer.
In ihrem Stübchen überlegte ſie ſich die Sache ruhiger, ja ſie machte ſich Vorwürfe über ihre Angſt, beredete ſich, daß es gar nichts Großes ſei, einen fremden Brief zu leſen, und hätte gern gleich ihre Verſuche wiederholt. Sie mußte aber warten, bis der Bediente fort fuhr, um ſeine Dame wiederzuholen. Jetzt ging ſie ſchon getroſter daran. Uebung macht bei ſolchen Dingen bald den Meiſter, darum heißt es: Hüte dich vor dem erſten Tritte, mit ihm ſind bald die anderen Schritte zu einem nahen Fall gethan! Aber auch jetzt bei größerer Ruhe ging das Schloß nicht auf, und Klärchen mußte die auf's Höchſte an¬ geregte und unbefriedigte Begierde mit zu Bett nehmen.
Am andern Morgen ging ſie, wie gewöhnlich, im Schlafzimmer der Generalin einzuheizen. Wie gewöhn¬ lich lag auf dem Tiſchchen neben der Nachtlampe der Schreibtiſch-Schlüſſel. Ruhig hatte ihn Klärchen im¬ mer dort liegen ſehen, heute trieb ſie der Teufel an, ſie nahm den Schlüſſel, verließ das Schlafzimmer, ſchloß die Thür hinter ſich, auch die nach dem Vor¬ ſaal, obgleich der Bediente nie um dieſe Zeit hier et¬55 was zu thun hatte, und nun ſchloß ſie mit Leichtig¬ keit das Schlößchen auf. Da ſtand ein volles Geld¬ käſtchen, daneben lag der Brief; das Gelb reizte ſie nicht, wohl aber der Brief. Sie durchflog ihn mit Haſt, aber erfuhr genug. Die Mutter warnte den Sohn vor dem eignen Herzen: ſie möchte ihn vor einer Liebe bewahren, die ihn, wenn auch nicht für Jahre, doch für Tage unglücklich machen könne. Dar¬ auf ſchilderte ſie Klärchens Weſen und Gedanken mit ſolcher Wahrheit, daß Klärchen feuerroth beim Leſen dieſer Worte wurde. Ja, die kluge Frau hatte ſie in ihrem koquetten Treiben und verdrehten, überbildeten Träumereien durchſchaut. „ Sie iſt ehrlich und treu, geſchickt und fleißig, “ſchloß die Generalin dieſe Schil¬ derung, „ darum werde ich ſie jetzt nicht gehen laſſen, ich werde es mir aber zur Pflicht machen, ſie beſſer zu überwachen, was mir bei meinem jetzigen ſtilleren Leben nicht ſchwer werden ſoll. “
Klärchen war in großer Aufregung. Sie legte den Brief wieder an dieſelbe Stelle, ſchloß den Kaſten und legte den Schlüſſel zurück an ſeinen Platz. Die Sache war herrlich geglückt, und wenn ſie auch man¬ ches Unangenehme aus dem Briefe erfahren, ſo doch auch das Erfreuliche: der Lieutenant liebte ſie, die Mutter fürchtete. Ihre größte Begierde war von jetzt an, die Antwort des Sohnes zu leſen; mit höchſter Aufmerkſamkeit kontrollirte ſie die Briefe, die zu ihrer Dame kamen. Acht Tage vergingen, da endlich ent¬ deckte ſie das Poſtzeichen von Berlin und das Fami¬ lienwappen. Die Generalin nahm den Brief in höch¬ ſter Spannung aus Klärchens Hand und erbrach ihn56 ſchnell. Klärchen aber räumte den Frühſtückstiſch ab, ordnete hier, wiſchte dort, und warf dabei manchen forſchenden Blick auf die Leſerin, deren Züge erſt ſehr ernſt waren, aber immer freundlicher wurden und ſich endlich in eine fröhliches Lächeln auflöſten. Dies Lächeln war ein Dolchſtoß in Klärchens Herz, und noch nie war ihr ein Tag ſo lang geworden als die¬ ſer, denn vor dem anderen Morgen konnte ſie daß Kunſtſtück mit der Eröffnung des Tiſches nicht wieder¬ holen.
Doch der Morgen kam, Klärchen heitzte eine halbe Stunde früher als gewöhnlich ein, die Generalin lag noch im ruhigen Schlummer. Klärchen nahm den Schlüſſel, der Brief lag ganz oben in der Mappe, ſie öffnete ſchnell und las:
„ Wenn ich Dir, theuerſte Mutter, Sorge machte, ſo thut es mir herzlich leid, ich kann Dir aber mit feſtem Herzen verſichern, daß es unnöthig war. Ich leugne nicht, daß mich im Anfange das hübſche Mäd¬ chen intereſſirte und ich neugierig war, ob wirklich hinter der ſchönen Hülle das verborgen ſei, was man wünſchen und vermuthen mußte. Ich ſtimme aber ganz mit Dir im Urtheil über ihren Charakter ein; in den letzten Tagen habe ich Blicke in ihr Weſen ge¬ than, die mich von einem gemeinen und koquetten Sinn überzeugten. Ich fürchte faſt, es wird Dir ſchwer werden, ſie zu überwachen. Graf Bründel iſt ernſtlich verliebt und wird nicht Geld und Mühe ſpa¬ ren, ein Verhältniß anzuknüpfen, “—
Jetzt regte es ſich im Nebenzimmer, Klärchen fuhr erſchrocken zuſammen. Sie lauſchte, es ſchien ihr wie¬57 der ſtill; aber ihre Angſt war groß und ſie ſah nur noch nach dem Ende des Briefes:
„ Ja, liebe Mutter, mein Herz war ſchon leiſe beſchäftigt, ehe ich zu Dir kam. Die edle Reinheit meiner Adelheid hat mich von neuem überwältigt, ich hoffe Dir bald eine würdige Tochter “—
Hier regte es ſich abermals im Schlafzimmer der Generalin, Klärchen legte den Brief ſchnell in die Mappe, ſchob den Geldkaſten wieder zurecht und ſchloß eiligſt den Kaſten. Welch eine Entdeckung war das!
Schmerz und Zorn bewegten Klärchens Herz. Hier war alſo nichts zu machen, der Menſch war nicht poetiſch, nicht romantiſch genug, um etwas Un¬ gewöhnliches der Welt gegenüber zu thun! Alle Qua¬ len unglücklicher Liebe, die ſie je in einem Romane beſchrieben gefunden, kamen über ſie. Zum Glück nicht für ſehr lange.
Es war ein ſehr kalter Winter. Selbſt Mitte Fe¬ bruar begann er noch einmal mit aller Strenge zu regieren. Der Himmel war klar, die Sonne glitzerte hell auf den weißen Dächern, die Leute trippelten an einander vorüber, konnten ſich der rothen Ohren und Naſen nicht erwehren, und die Blumen an den Fen¬ ſtern thauten kaum um Mittag ein wenig ab.
Gretchen verlebte hinter den Eisblumen ſtille Tage. Sie ſaß ihrer Mutter gegenüber und ſpann, und ſpann und ſann, und hauchte ſich zuweilen ein Fenſterchen in den Eisgrund, ſchaute, daß der Himmel blau, die Sonne golden war, dachte an den Frühling, an Blü¬58 then, Bäume und Vögelgeſang und andere ſchöne Dinge, und das Herz ſchlug ihr warm hinter den kalten Eisblumen. Zuweilen entdeckte ſie auch durch ihr Fenſterlein das rothe Geſicht eines Handwerksbur¬ ſchen, der ſie bittend anſchaute, da reichte ſie ihm eine Gabe; oder ein Vogel hüpfte auf dem Fenſterſims, dem ſtreute ſie Krümlein hin. Aber auch die Vögel im Garten wurden gefüttert; ein Stückchen Brod war ja immer übrig vom Frühſtück und auch vom Mittag, und jedesmal wenn ſie hinaus kam, rief Benjamin einen „ guten Tag “aus dem Schiebfenſterchen, oder ſonſt ein gutes fröhliches Wort.
Seit zwei Tagen aber hatte ſich das Schiebfen¬ ſterchen nicht geöffnet, und die Eisblumen regten und rührten ſich nicht. Gretchen ſagte es der Mutter, es wurde Rath gehalten; Benjamin war jedenfalls krank, man mußte ſich nach ihm erkundigen. — Der Ver¬ kehr mit dem Nachbarhauſe war leider dieſen Winter ſehr eingeſchlafen; Frau Bendler empfand es ſchmerz¬ lich, daß Fritz Buchſtein ſich ihrem Gretchen gar nicht nähern wollte. Ihr Zartgefühl erlaubte es nicht, von ihrer Seite nur die leiſeſte Andeutung zu geben; aus dieſer Aengſtlichkeit erfolgte dann faſt das Gegentheil. Der alte Buchſtein, der ſonſt ſo eifrig die Freundſchaft betrieben, war jetzt verlegen. Fritz wich ſeinen Auffor¬ derungen aus, und ſehr zureden wollte er dem Jungen nicht, und wußte nur nicht, was zur Frau Nachba¬ rin ſagen, mit der er früher die Sache in allen Ein¬ zelheiten beſprochen hatte. — Heute aber war von all' den Rückſichten nicht die Rede, Benjamin mußte gepflegt werden und Gretchen ſich auf den Weg zu59 ihm machen. Sie that es ſo gern, und doch hatte ſie Scheu zu gehen, denn ihr Weg führte durch die Werkſtatt. Während dem ſie eine warme Suppe kochte, ſchaute ſie wohl zehnmal auf die Straße, ob ſie nicht Jemand vom Nachbarhauſe ſähe; und wirklich es glückte, die alte Magd kam daher und Gretchen konnte ihre Erkundigungen einziehen.
Benjamin ſei wirklich krank, berichtete die mür¬ riſche Magd, er verlange aber gar nichts, er wolle die Sache ausſchwitzen. Das hielt Gretchen nicht ab, ſich zu rüſten. Das Näpfchen mit der warmen Suppe unter dem Mantel ging ſie hinüber zu dem alten Freunde. Die Sonne ſchien ſo hell in die Werkſtatt, die Blumen von den Fenſtern waren etwas abgethaut, Fritz in weißen Hemdsärmeln und ſchwarzer Tuchweſte ſtand mit Geſellen und Lehrburſchen rüſtig bei der Arbeit. Als die Thür ſich öffnete und Gretchen mit dem friſchen Geſicht und der ſchwarzen Sammetmütze hineinſchaute, erſchrak er faſt, aber er trat ihr entge¬ gen und reichte ihr freundlich die Hand.
Ich will zum kranken Benjamin, ſagte Gretchen etwas ſcheu.
Zum kranken Benjamin? wiederholte Fritz und ſeufzte: ja er iſt krank, und es iſt recht ſchlecht von mir, ich habe ihn ganz vergeſſen. Soll ich das Näpf¬ chen tragen? ſetzte er mit weicher Stimme hinzu.
Gretchen ließ es ſich gefallen und folgte ihm nun die Treppe hinan. Aus der warmen Werkſtatt traten ſie in eine eiskalte Stube; Benjamin ſteckte tief in den Federn, der Staarmatz ſtand auf dem Tiſch vor dem60 Bett mit trauriger Miene, der Dompfaff pickte eben vergebens am zugefrorenen Trinknäpfchen.
Armer Schuſter! ſchnarrte der Matz, als die Thür ſich öffnete, — armer Schuſter!
Benjamin's Nachtmütze bewegte ſich jetzt, und ſein freundlich Geſicht kam zum Vorſchein.
Dacht 'ich's doch, daß Du kommen würdeſt, ſagte er zu Gretchen, und nun gieb erſt den Vögeln Futter. Dorthe iſt ſchlechter Laune und iſt ſeit geſtern Abend nicht herauf gekommen.
Gretchen ſah ſich nach ungefrorenem Waſſer um, aber vergebens; Fritz merkte, was ſie ſuchte, und verließ das Zimmer. Eilig kam er wieder mit einem Töpfchen voll warmem Waſſer und einer Schippe Kohlen. Schweigend reichte er ihr das Waſſer, ſchwei¬ gend machte er Feuer in den Ofen und ſah dann, wie Gretchen die Trinknäpfe der Vögel aufthaute, wie ſie ihnen friſches Futter gab, wie ſie dem Benjamin die Kiſſen zurechtlegte, ihm den Tiſch vor dem Bette deckte und die Suppe darauf ſtellte. Fritz ſah ſinnend und traurig aus, und als Benjamin jetzt das Tiſch¬ gebet ſprach und Gretchen mit gefalteten Händen dabei ſtand, faltete auch er die Hände und betete mit. Nach¬ dem ſie geendet, trat er zu Benjamin, reichte ihm die Hand und ſagte mit bewegter Stimme:
Benjamin, verzeihe mir, daß ich Dich ſo vergeſſen konnte, ich bin recht traurig darüber.
Benjamin nahm ſeine Hand in beide Hände und drückte ſie herzlich. Dann wandte ſich Fritz zu Gretchen:
Verzeihe auch Du mir, Gretchen, ich ſchäme mich vor Euch und vor Gott, daß ich ſo lieblos ſein61 konnte und nach dem armen Benjamin nicht einmal fragen.
Eben fiel ein feiner Sonnenblick durch eine thauende Fenſterſcheibe und auch ein Lichtblick fiel in Fritzens Herz. — Herr, dein Wille geſchehe! — Gretchen ſtand vor ihm ſo friſch und hold und rein, mit ſo verſöhnlichem Blick. Fritz fühlte ſeine Zukunft ent¬ ſchieden, er fühlte, wohin der Herr ihn haben wollte und wo er ſeinen Frieden ſuchen ſollte. Die wilden Ranken ſeines Herzens mußte er abſchneiden. Schade um die Zeit, die er ſie hatte wuchern laſſen!
Gretchen nahm Abſchied von ihrem alten Freunde, mußte aber das Verſprechen geben, wieder zu kommen.
Ja, darum bitte ich Dich auch, ſagte Fritz, Du ſollſt nicht kommen, um Benjamin zu pflegen, nein, Du ſollſt Dich nur überzeugen, daß ich meinen Fehler gut gemacht habe.
Benjamin machte Scherz aus der Sache, Gret¬ chen ſtimmte ein und die jungen Leute verließen ihn. Unten in der Werkſtatt ſagte Fritz noch in aller Eile, um doch etwas zu ſagen: Ich habe ſchon längſt ein¬ mal zu Euch kommen wollen, — aber das böſe Wet¬ ter, — man iſt ſo eingeſchneit.
Bei uns wird jeden Tag gekehrt, entgegnete Gretchen.
Ja, es iſt auch meine Schuld, fuhr Fritz fort; und als nun Gretchen im Vorbeigehen ihre Finger auf einen halb vertrockneten und vernachläſſigten Ge¬ ranientopf legte, ward er noch verlegener. — Den armen Topf habe ich auch vergeſſen, aber ich will ihn doch begießen. — Gretchens Hand fuhr erſchrocken62 zurück, ſie hatte ihn ja nicht von neuem beunruhigen wollen. In dieſem Gefühle ließ ſie auch ein Bierglas dicht an der Tiſchkante ſtehen, obgleich es ihr in den Fingern zuckte, es ſicherer zu ſtellen. Der geringſte Anſtoß mußte es hinunter ſtoßen.
Fritz aber, als ſie an der Wohnſtubenthür vor¬ bei kamen, nöthigte Gretchen, den Vater zu begrüßen. Er machte die Thür auf, der Alte lag im Lehnſtuhl mit geſchloſſenen Augen. Heller Sonnenſchein lag auf dem friedlichen Geſichte, er ſchlug die Augen auf, und als er Gretchen und Fritz vor ſich ſtehen ſah, meinte er, ſein Lieblingstraum ſei Wirklichkeit gewor¬ den; ſein Geſicht verklärte ſich. Ach Gretchen! rief er aus und ſtreckte ihr beide Hände entgegen. Fritz aber wandte ſich zum Fenſter. Sein Vater hätte ja ſchon ſo glücklich ſein können, wer weiß denn, wie viele Tage er noch zu zählen hat! Aber er ſoll glück¬ lich ſein, Gretchens Hand ſoll ſeines Lebensabends pflegen. Ja, ja! ſprach ſein Herz, und ſein Auge folgte dem Sonnenſtrahle hinan zum blauen Himmel, und alle Qual und Unruhe war aus ſeinem Herzen verſchwunden.
Daß Fritz in den letzten Tagen beſonders unru¬ hig, zerſtreut und traurig geweſen war, hatte ſeinen Grund. Eines Nachmittags hatte er in einer der Hauptſtraßen neue Meubel abzuliefern. In demſelben Hauſe war unten ein Buchladen, und als Fritz oben ſein Geſchäft beendet, trat er unten in den Laden. Die Herren darin kannten den jungen Tiſchlermeiſter wohl, und ſahen es gern, wenn er ſich hin und wie¬ ter hübſche Bücher anſah, denn nicht ſelten kaufte er63 auch davon. Heute hatte er ſich beſonders feſtgeblät¬ tert und feſtgeleſen, und es war ſchon tiefe Dämme¬ rung, als er den Laden verließ. Sein Weg führte ihn vor dem Schauſpielhauſe vorbei. Trotz der Kälte war es hier ziemlich belebt, und zu ſeinem Schrecken erkannte er zwiſchen den Leuten Klärchen am Arme eines Mannes. Er konnte nicht widerſtehen, er mußte erfahren, wer das ſei. Nach einigem Hin - und Her¬ wenden gelang es ihm, das Geſicht des Mannes zu ſehen, er war jung und ſchön mit dunkelblondem Haar und einem großen Schnurrbart. Plaudernd ging das Paar in das Haus, Fritz folgte ihnen, er ſchämte ſich, aber er konnt‘ es nicht laſſen. Vom Parterre aus entdeckte er bald Beide in einer halbdunkeln Par¬ quetloge. O wie vertraulich ſie mit einander waren! Er blieb nicht lange, er hatte bald genug geſehen. Im Hinausgehen fragte er einen Zettelträger, wer der blonde Herr mit dem Schnurrbart ſei. Graf Bründel, war die Antwort. Graf Bründel! wieder¬ holte ſich Fritz. Den Namen hatte er wohl gehört: es war der leichtſinnigſte, tollſte Offizier der Garniſon, — Klärchen ſeine Geliebte! — Dieſe Gedanken hatten ihn in den Tagen beſchäftigt, als Benjamin krank war; darüber hatte er Alles um ſich her vergeſſen. Aber ſein Herz ſollte nun geheilt werden, und er ſann nur auf Mittel, wie der Armen wohl noch zu hel¬ fen ſei.
Klärchen aber fühlte ſich nicht arm, nein, un¬ endlich reich, ſie liebte und ward wieder geliebt — und von einem vornehmen Manne ward ſie geliebt. Wie ſchön, wie fein und galant war ihr Graf; er64 hing an ihren Blicken, ſie hatte nur über ihn zu be¬ ſtimmen! — Als der Sohn der Generalin ſie damals ſo plötzlich aufgegeben, war ſie — wie ſchon erzählt — ſehr unglücklich, doch nicht lange. Sie ſah ſich bald nach Troſt um, ihr Herz war einmal des leichtfertigen Spiels gewohnt, es konnte jetzt nicht mehr ohne daſ¬ ſelbe beſtehen. In dieſer Stimmung traf ſie der erſte Brief des Grafen Bründel. Mit Entzücken ward die Sache angeknüpft, ihr heißes Herz war lange nicht ſo ſpröde, als mit dem Mediziner, ſie meinte es dies¬ mal auf eine andere Weiſe verſuchen zu müſſen, und hatte die feſte Ueberzeugung, es könne ihr diesmal nicht fehlen. Vier Wochen waren im ſüßen Taumel vergangen. Frau Krauter machte ſich kein Gewiſſen daraus, die Zuſammenkünfte der jungen Leute zu be¬ günſtigen. Der Graf hatte meiſtens eine volle Börſe, und ſie führte ein herrliches Leben dabei. Er hatte auch verſprochen, ſich mit Klärchen trauen zu laſſen, und Mutter und Tochter glaubten daran; ja, Klärchens Klugheit war dem Sinnenrauſche ganz gewichen. Sie dachte nicht an die Zukunft, ſie wollte nicht an die Zukunft denken, die Gegenwart war zu ſüß. Im Theater war ſie öfters geweſen, und in künftiger Woche wollte der Graf ſie auf eine Redoute im Thea¬ terlokale führen. Das war der Höhepunkt alles Ver¬ gnügens. Seit vierzehn Tagen ſtudirte Klärchen in allen Modeblättern und durchſtöberte Läden, wo Masken¬ anzüge verliehen wurden. Endlich hatte ſie ſich für eine Diana entſchieden, aber unbedingt mußte dazu ein grüner Sammetüberwurf angeſchafft werden, der eigens ihrer ſchlanken Geſtalt angemeſſen war. Woher65 aber das Geld dazu nehmen? Es war gerade Ebbe in allen Kaſſen, die Mutter hatte ſchon einige Male nach neuen Zuſchüſſen geſeufzt, aber der Graf hatte keine Anſpielung verſtanden, weil er gerade ſelbſt nichts hatte. Borgen konnte Klärchen nicht mehr, denn in allen Läden faſt hatte ſie Plemperſchulden, auch Au¬ guſte Vogler bekam beinahe zwei Thaler. Die Schul¬ den machten ihr weiter keine Sorgen, ſie hätte es längſt bezahlen können und würde auch bald wieder Geld die Fülle haben, es war nur dieſe augenblick¬ liche Verlegenheit. Den ächten Sammetüberwurf hatte ſie ſchon aufgegeben, es brauchte auch nur ein un¬ ächter zu ſein, und dazu gehörten kaum einige Thaler. Bei dieſem Grübeln führte ihr der Teufel immer den vollen Geldkaſten im Schreibtiſch der Generalin vor. Stehlen? nein! ſie entſetzte ſich vor dem Gedanken. Vermiſſen würde freilich die Generalin eine ſo kleine Summe nicht, denn ſchon öfter hatte ſie mit Klärchen geſonnen, ob ſie nicht einige Poſten in ihr Haushalts¬ buch einzutragen vergeſſen hätte, und ſich bald beru¬ higt, wenn ſie die Summe nicht finden konnte. Der Gedanke kam wieder und immer wieder, je näher die Zeit der Redoute heranrückte. Für einige Tage we¬ nigſtens könnteſt du das Geld nehmen und legſt es wieder hinein, flüſterte ihr der Böſe zu. Sie wider¬ ſtand nicht, was hätte auch in ihr widerſtehen ſollen? Die Klugheit, ihre einzige Waffe, mit der ſie ſich vor Sünde und Untergang ſchützen wollte, rieth ihr gerade den Schritt. Du entlehnſt es nur, du nimmſt es nicht, ſagte dieſe Klugheit; dazu erfährt es Niemand, und das grüne Sammetgewand iſt nothwendig zu dei¬566nem Glücke. Am anderen Morgen machte ſie das bekannte Manöver mit dem Schlüſſel. Ihre Hände zitterten, als ſie in den Kaſten griff, und angſtvoll ſchlug ihr Herz. Doch als ſie den Abend bei der Mutter war und vor dem Spiegel den grünen Sam¬ met probirte, zitterte ſie nicht mehr. Ja, als ſie einige Tage darauf an des Grafen Arm durch die Reihen flog, als ihre Geſtalt laut bewundert, ihre Schönheit geprieſen ward, da ſchwieg das Gewiſſen ganz und gar. Der Graf gab ihr den Abend noch einiges Geld, denn ſie geſtand ihm, daß ſie Schulden hätte, und Guſtchen Vogler war ſchon ungeduldig geworden. Zu¬ erſt ſollte aber die Summe in den Schreibtiſch der Generalin gelegt werden, ſo war es ihre Abſicht. Da ſie am andern Morgen ſpäter als gewöhnlich aufſtand, mußte ſie es bis zum nächſten verſchieben. Den Tag aber überlegte ſie ſich die Sache noch einmal. Die Generalin hatte nichts gemerkt, ſie war gleich freund¬ lich und gütig, von der Seite war Klärchen ſicher. Sie nahm ſich daher vor: lieber erſt die kleinen Schul¬ den in den Kaufläden zu bezahlen, um bei nächſter Gelegenheit wieder borgen zu können. Als ſie mit dem Reſt ihrer Summe im letzten Laden ſtand, be¬ merkte ſie mit Schrecken, daß dieſe Summe nicht aus¬ reiche. Noch dazu hatte ſie groß gethan, von Bezah¬ len geſprochen, und der älteſte Diener gerade hatte ihr die Summe ausgezogen, mit der höflichen, aber doch ernſten Bemerkung: daß es eigentlich nicht erlaubt ſei, Damen in ihrer Stellung ſolche Vorſchüſſe zu machen. Klärchens Hochmuth regte ſich gewaltig, die Summe mußte um jeden Preis bezahlt ſein. Sie, die67 künftige Gemahlin eines Grafen durfte ſich ſo etwas nicht gefallen laſſen. Sie nahm die Rechnung und verſicherte, in einigen Minuten wieder da zu ſein. Zu Guſtchen Vogler ging ihr Weg. Guſtchen mußte das Geld geben. Sie verſprach heilig, es ihr am an¬ deren Morgen um zehn Uhr wieder zu übergeben. Guſtchen war gutmüthig; ſie gab das Geld, verſicherte aber, wenn ſie am anderen Morgen es nicht wieder bekomme, mache ſie Lärm bei der Generalin. Mit Triumph bezahlte Klärchen die Rechnung und bemerkte ſchnippiſch: es gäbe Läden, wo Damen ihrer Stellung ganz gern geſehen würden. Darauf ſchrieb ſie gleich bei der Mutter einen Brief an den Grafen, den dieſe eiligſt beſorgen mußte. Es war das erſte Mal, daß Klärchen Geld forderte, aber Noth bricht Eiſen, und dieſer Aufforderung konnte er gewiß nicht widerſtehen. Mit klopfendem Herzen wartete ſie auf der Mutter Rückkehr; dieſe aber brachte den traurigen Beſcheid: der Graf ſei nicht zu Hauſe. Die Mutter verſprach: ſo oft hinzugehen bis ſie ihn ſpreche, und bis mor¬ gen früh um zehn das Geld anzuſchaffen. Der Abend verging, der Morgen verging, die Mutter kam nicht. Endlich brachte ſie den Beſcheid, der Graf ſei geſtern ſpät Abends nach Haus gekommen, aber heut früh verreiſ't. Klärchen war außer ſich, Guſtchen kam dazu und wurde mit den heiligſten Verſprechungen bis mor¬ gen vertröſtet. Noth bricht Eiſen, dachte Klärchen, morgen früh hole ich Geld aus dem Schreibtiſch; hat ſie es einmal nicht gemerkt, wird ſie es das andere Mal auch nicht merken.