PRIMS Full-text transcription (HTML)
[I]
Briefe eines Verſtorbenen.
Zweiter Theil.
[II]
[figure]
[III]
Briefe eines Verſtorbenen.
Ein fragmentariſches Tagebuch aus England, Wales, Irland und Frankreich, geſchrieben in den Jahren 1828 und 1829.
Zweiter Theil.
Muͤnchen. F. G. Franckh. 1830.
[IV][V]

Inhaltsverzeichniß des zweiten Theils.

Brief XXXIV.

Wer Samiel eigentlich war. Rückwanderung nach Ken - mare. Ein irländiſcher Bote. Einladun O’Connels. Ritt nach ſeinem verwünſchten Schloſſe. Reiſe-Abentheuer. Die Brücke der ſchwarzen Waſſer. Letzte Bäume daſelbſt. Von nun an das Chaos. Schauervolle Küſte. Der Weg endet im Meer. Guter Rath theuer. Ein Schmuggler hilft mir aus der Noth. Paſſirung des GebirgspaſſesVI in ſchwarzer Nacht. Udolphos Geheimniſſe. Derrinane Abbey. Licht. Ein Mann im Schlafrock. O’Connel der große Agitator. Verſchiednes über ihn. Vater Leſtrange, ſein Beichtvater. O’Connel als Chieftain, ſeinen Unter - thanen Recht ſprechend. Seine religiöſe Toleranz. Ab - reiſe von Derrinane. O’Connel begleitet mich. Neuer Ju - piter in Stiergeſtalt. Däniſche Forts. Abſchied. Irlän - diſche Transportmittel. Liebenswürdigkeit des Volks - Charakters. Nachgeholte Begebenheit. Die Wirthstochter zu Kenmare. Hungryhill und ſein maieſtätiſcher Waſſer - fall. Der Adler O’Rourcke’s. Der moderne Ganymedes. Seehunde unter meinem Fenſter. Ihre Liebe zur Muſik. Häuslicher Gottesdienſt. Frommes Geſpräch über die Sündfluth, den jüngſten Tag und die Apokalypſe. Anprei - ſung der herrlich en Gegend, um hier Hütten zu bauen.

Seite 1.

Brief XXXV.

Bienen-Kämme in freier Luft. Egyptiſcher Lotus. Be - ſuch bei einem Adlerpaar. Ihre romantiſche Wohnung und ihr ſeltſamer Inſtinkt. Der hieſige wilde Jäger. Die Höhlen des Sugarloaf. Spur des Wagens der Geiſter - Königinn. Gefahrvolle Jagden in dieſen Bergen. DieVII Nebel, die Sümpfe und wilden Stiere. Die Bezähmung eines Solchen. Ein Volksmährchen.

Seite 40.

Brief XXXVI.

Abgötterei mit dem Sonntag in England. Wunderbare Bekehrung eines Proteſtanten zum Katholicismus. Kar - renfahrt. Die Whiteboys. Macroom. Die naive Mama und das verzogne Kind im Gingle. Der ſtarke Dänen - König. Cork. Fahrt auf dem Meer nach Cove. Herr - liche Entrée von der Seeſeite. Folko’s Seeburg. Monks - town. Seltſame Beleuchtung mit zwei vollſtändigen Re - genbogen auf einmal. Das Amphitheater der Stadt Cove. Getäuſchte Erwartung auf Fiſche. Illuminirte Nachtaus - ſicht. Die Sterne. Abreiſe in der Mail. Michaelstown und ſein Schloß. Novellen-Stoff. Außerordentliches Wet - ter für Irland. Der Soldat von O’Connels Miliz. Die Galtees. Cahir. Andres Schloß König Johann’s. Schö - ner Park des Lord Glengall. Des Prinzen Equipage in Cashel. Macht der Gewohnheit Geheimniß aller Er - ziehung. Clubdiner.

Seite 54.

VIII

Brief XXXVII.

Rock of Cashel, eine der merkwürdigſten Ruinen in Ir - land. Der Teufelsbiß. Altſächſiſche Baukunſt. Inqui - ſitions-Klingel. S. Patricks Statue und der Thron von Scone. Hore-Abbey und die von Atthaſſil. Zuſtand der Katholiken in Fipperari. Lächerlicher Zeitungs-Artikel, mich betreffend. Meine Nothrede.

Seite 82.

Brief XXXVIII.

Ueber die Naturgeſchichte des Schwans. Holycroß, und ſeine Denkmäler. Diné mit 18 Geiſtlichen. Converſation dabei. Wenden und Irländer. Liſte der katholiſchen und proteſtantiſchen Gemeinden in der Diocös Cashel. Curienſe Details, und Vemerkungen darüber. Gutgemeinter Exor - cismus. Halsbrechende Jagd. Der wandelnde Sumpf. Pferde-Thaten. Landjunkerleben. Seltſame Parlaments - Rede. Die Burg im Himmel. Potheen-Euthuſiasmus. Die Vornehmen in Irland. Gute Regel.

Seite 93.

IX

Brief XXXIX.

Das Brüderpaar. Materielles Leben. Devils. Die hübſche Wirthin. Der Piper. Die Räuber. Der ange - führte Advocat. Auſter-Geheimniſſe. Johny’s Abentheuer in Holicroß. Die Ermordung Baker’s. Der Couſin R Sergeant Scully. Der bewegungsloſe Hahn. Fitzpatrick und ſeine Bag pipe.

Seite 161.

Brief XL.

Der Feengarten. Romantiſches Schilderhaus. Rückkehr nach der Stadt. Frau von Sevigné. Lord Byron’s Ge - witter. Diné beim Lord Lieutenant. Der Marquis von Angleſea. Gottesdienſt in der katholiſchen Kapelle. Un - ſichtbare Muſik. Der heilige Chriſtoph. Vergleich des katholiſchen und engliſch-proteſtantiſchen Cultus. Allego - rie. Londner Tagebuch. Unterſchied zwiſchen engliſchen und deutſchen Anſichten. Zwei Normal Miſſes. Ihre Geſchichte. Allgemeine Bemerkung über die Engländerin -X nen. Malahide. 700 Jahr alte Möbel. Herzogin von Portsmouth. Carl der I. am ſpaniſchen Hofe. Howth Caſtle. Ducrow’s lebendige Statuen. Der ruſſiſche Cou - rier, und Pony als alte Frau.

Seite 144.

Brief XLI.

Abend bei Ladi M Ihre Niecen. Seltſame Conver - ſation. Der Gemal. Noch mehr Theologiſches. Die Nachtigallen. Alles Korn Europa’s. Die Nationalſcene. Die häuslichen Tableaus. Das Autor-Boudoir. Die Perlmutter. Der Diminutive Napoleon. The Catholie Aſſociation. Shiel, Lawleß und Andere. Naives. Ritt ins Gebürge. Sentimentalität eines Dandy.

Seite 162.

Brief XLII.

B. H. über die Religioſität unſrer Zeit. O’Connel in der Allongen-Perücke. Der Don Quixotte und der DandyXI der Aſſociation. Sprüchwörter-Spiel bei Lady M Miß Oneil. Ihr Spiel.

Seite 192.

Brief XLIII.

Büreau der todten Briefe. 3000 Pf. St. Incognito. Der Arzt. Der Lungenmeſſer. Die Allerwelts-Sprütze. Weibliche Wetterpropheten. Die Bank. Banknotenmetall. Gymnaſtik. Stuben-Philoſophie. Paradoxen.

Seite 205.

Brief XLIV.

Gunft Neptuns. Der Traum. Ueberfahrt. Der junge Erbe. Nacht in der Mail. Shrewsbury. Die Tret - mühle. Gelbe Sträflinge. Die Kirche. Seltſame alte Häuſer. Straßenneugierde. Der kleine Schüler. Roß. Der River Wye. Schloß Goderich. Erzwungene Höflich - keit. Die Jakobsleiter. Abwechſelnde Anſichten. DreiXI[XII] Grafſchaften auf einmal. Wiege Heinrich des V. Groteske Felſen. Ein verunglückter Touriſt. Kopf des Druiden. Monmouth. Heinrichs Schloß, jetzt ein Gänſeſtall. Buch - händler-Familie. Diebſtahl. Güte einfacher Naturen. Bunte Feuerblumen. Die Zinnwerke. Tintern Abbey. Epheu-Allee. Die Sturm-Klippe. Erhabne Ausſicht. Schloß von Chepſtow. Cromwell und Heinrich der VIII. als Landſchafts-Verſchönerer. Entdeckung.

Seite 235.

Brief XLV.

Der Königsmörder Martin. Des Mädchens Erklärung. Beſteuerung der Reiſenden. Der Beſitzer von Piercefield. Paſſage des Channel. Menſchen und Pferde pêle mêle. Recapitulation. Maler und Pinſel. Natur-Gemälde. Das ſchönſte Gebäude. Briſtol. Die Feudal-Kirchen. Unintereſſirte Frömmigkeit. Des Maire’s Equipage. Cooks folly. Lord Clifford’s Park. Ruſſiſche Flottille. Das Dorf-Ideal. Dante’s umgekehrte Höllen-Inſchrift. Cliſton. Das weiß und ſchwarze Haus. Chirurgen-Empfindſamkeit. Bath. Der König von Bath. Die Abteykirche. Eigen - thümliche Ausſchmückung. König Jakob’s Heldenthat. Der Sonderling. Beckford. Der bei Licht gebaute Thurm. Beſondre Art ſpazieren zu reiten. Der Beſuch über die Mauer. Gothiſche Baukunſt. Der Weihnachts-Markt. Sapziergänge bei Tag und Nacht. Die Feuersbrunſt.

Seite 260.

XIII

Brief XLVI.

Die Wittwe. Lebendige Todtenköpfe. Angenehmere Rei - ſegeſellſchaft. Examina. Stonehenge. Unheimliche Begeg - nung und Unglück. Die Cathedrale. Monumente darin. Der Thurm. Halsbrechendes Hinaufſteigen. Der Habicht auf dem Kreuz, und des Herrn Biſchoffs Tauben. His Lordship und ſeine Beſchäftigungen. Frommer Wunſch fürs Vaterland. Spiegel der Vergangenheit und Zukunft. Schloß Wilton. Die ritterliche Caſtellanin. Antiken, Gemälde. Tempel, von Holbein erbaut. Talent engliſcher Damen. Eingangs-Liſt. Langford Park. Vorzügliche Bil - der. Egmont, Alba, Oranien. Thron Kaiſer Rudolph’s. Boxingmatch. Der wettende Kutſcher. Neuengliſche Mo - ral der Großen. March of Intellect. Militair-Schule. Beroutirte Fuchsjagd. National-Pflicht. Zum neuen Jahr. London. Die nicht gefundne Hündin. Regenten - leben. Dom zu Canterbury. Der ſchwarze Prinz. Far - benpracht. Der Erzbiſchof. Schadhafter Boiler. Das Fort zu Dover. Kurze Ueberfahrt. Nationelle Ungenirt - heit. Frankreichs Lüfte. Die Jettée. Engliſche Kinder. Der alte, große Bandi. Anekdoten.

Seite 286.

Brief XLVII.

Fränkiſche Diligence. Der Napoleoniſche Gardiſt. Deut - ſche Plinzen. La Mechanique. Werth der Freiheit. Pa -XIV ris. Reviſion des Altbekannten. Schlechtes Neue. Thea - tre de Madame. Der tugendhafte Martin. La charte pour les Caffés. Roſſini hat die wilden Thiere gezähmt. Wohlfeilheit in Paris. Burlesker Tod des Fürſten Ponia - tofsky. Lobenswerthes Enſemble bei den hieſigen Bühnen. Aehrenleſe im Muſeum. Der deplacirte Sphynx. Mephi - ſtopheles-Walzer. Himmel und Hölle.

Seite 521.

Brief XLVIII.

Aeſthetiſcher Spaziergang. Einiges über die Familie Napoleons. Spaniſche Galanterie. Der Henker von Am - ſterdam. Der Mercure Galant. Wie er ſich verflüchtigt. Omnibus. Thierpolizei. Gedanken im Innern einer Dame Blanche. Diavolo. Sing-Nüancen. Pariſer Annehmlich - keiten. La Morne. Ablaß. Der Eisbär. Deſaixs Monu - ment. Getäuſchte Hoffnung. Die Ama’s. Abſchied.

Seite 352.

[1]

Vier und dreißigſter Brief.

Geliebte Freundin!

War es alſo der Teufel oder nicht? fragſt Du. Ma foi, je n’en sais rien. Jedenfalls hatte er in dem erwähnten Augenblick eine ſehr recommendable, wenn gleich gefährliche, Geſtalt[erwählt], nämlich die eines hübſchen Mädchens, die in ihrem dunkelblauen, vom Regen noch ſchwärzer gemachten, langen Man - tel eingehüllt, und der rothen Mütze von Kerry auf dem Kopfe, barfuß, und vor Kälte ſchauernd, bei mir vorbeigehen wollte, als ich ſie anhielt, und frug, warum ſie hinke, und wie ſie in dieſem Wetter hier ſo allein umher irre? Ach, rief ſie, in halb verſtänd - lichem patois, auf ihren verbundenen Fuß zeigend ich gehe blos nach dem nächſten Dorfe, habe mich verſpätet, bin bei dem abſcheulichen Wetter gefallen, und habe mir recht wehe gethan! Hierbei ſah ſie ganz ſchalkhaft und loſe aus (am Ende war doch etwas nicht ganz Geheures dabei) und zeigte ſo vielBriefe eines Verſtorbenen. II. 12von dem ſchön gerundeten, verwundeten Bein, daß meine Laune abermals wechſelte, et je crois que le diable n’y perdit rien. Wir theilten von nun an die Beſchwerden des Wegs, halfen uns gegenſei - tig, und fanden endlich im Thal, zuerſt beſſeres Wetter, dann ein erholendes Obdach, und endlich einen labenden Trunk friſcher Milch.

Neu geſtärkt wanderte ich in der Nacht weiter, und als ich in Kenmare anlangte, hatte ich die vier deutſchen Meilen in etwas über 6 Stunden zurückge - legt. Aber ich war auch herzlich müde, und ſobald ich in mein Schlafzimmer trat, ſprach ich mit Pathos, und Wallenſtein: Ich denke einen langen Schlaf zu thun!

Dies geſchah denn auch, und ich hatte Zeit dazu, denn das Wetter war ſo abſcheulich, daß ich bis 3 Uhr Nachmittags auf beſſeres wartete, aber leider vergebens. Ich hatte, den Abend vorher den zu Herrn O’Connel abgeſchickten, und unbeſonnener Weiſe, vorausbezahlten Boten, ohne Antwort und mit zerbrochenem Schlüſſelbein im Gaſthof wieder vorgefunden, denn da er Geld in ſeiner Taſche ge - fühlt, ſo hatte er auch dem Whiskey nicht länger widerſtehen können, in Folge deſſen er mit ſeinem Pferde in der Nacht einen Felſen herabgeſtürzt war! 3Er hatte indeß doch den verſtändigen Einfall gehabt, einen guten Freund unterwegs weiter zu expediren, und bei meinem Erwachen, fand ich daher eine ſehr artige Einladung des großen Agitator’s glücklich vor.

Ich habe bereits geſagt, daß ich mich erſt um drei Uhr auf den Weg machte, und obgleich ich ſieben Stunden lang im heftigſten Regen, mit dem Winde im Geſicht, reiten mußte, und in dieſer Wüſte, wo nicht einmal das Obdach eines Baumes anzutreffen iſt, nach der erſten halben Stunden ſchon kein Faden meiner Kleidung mehr trocken war ſo möchte ich doch um vieles nicht den heutigen, ſo beſchwerlichen Tag, in meinem Lebensbuche miſſen.

Der Anfang war allerdings ſchwer. Zuerſt konnte ich lange keine Pferde bekommen, denn das nach Glengariff gebrauchte, hatte ſich den Fuß verſtaucht. Endlich erſchien ein alter ſchwarzer Karrengaul, der für mich beſtimmt war, und ein Katzenartiges Thier - chen, das der Führer beſtieg. Auch mit meiner Toi - lette war ich brouillirt. Die entwichene Galloſche war nicht wieder gefunden worden, und der Regen - ſchirm ſchon auf dem Hexenberge aus ſeinen Fugen gewichen. Ich erſetzte den erſten durch einen großen Pantoffel des Wirths, den zweiten band ich, ſo gut es gehn wollte, zuſammen, und ihn dann, gleich einem Schilde vorhaltend, die Tuchmütze, mit einem Stücke Wachsleinwand bedeckt, auf dem Kopfe, gal - lopirte ich, Don Quixotte nicht unähnlich, und oben -1*4drein mit einem ächten Sancho Panſa verſehen, neuen Abentheuern zu.

Schon eine Viertelmeile von der Stadt machte ein zerſtörender Windſtoß dem Regenſchirm, einſt die Zierde New Bondſtreets, und der ſeitdem ſo man - ches Ungemach mit mir getragen, ein klägliches Ende! Alle ſeine Bande lösten ſich, und ließen nur ein zer - riſſenes Stück Tafft, und ein Bündel Fiſchbein in meiner Hand zurück. Ich gab dem Führer die Reſte, und mich fortan dem Wetter ſorglos Preis, mit der beſten Laune tragend, was nicht zu ändern war.

So lange wir die Bay von Kenmare cotoyirten, ritten wir ſo ſchnell als möglich, da der Weg ganz leidlich war. Bald aber wurde er ſchwieriger. Den Eintritt in das rauhere Gebürge bezeichnete eine hundert Fuß hohe und pittoreske Brücke the black water’s bridge (Brücke der ſchwarzen Waſſer) ge - nannt. Hier war eine mit Eichen beſetzte Schlucht, die letzten Bäume, die ich ſeitdem geſehen. Ich be - merkte, daß mein Mantelſack, den der Führer auf ſeinem Pferde vor ſich aufgebunden hatte, ebenfalls gänzlich durchnäßt zu werden anfing, und befahl da - her dem Manne, ſich in einer nahgelegnen Hütte wo möglich eine Decke oder Matte zu verſchaffen, um ſie darüber zu breiten. Dieſe Unvorſichtigkeit hatte ich nachher Urſache, recht ſehr zu bereuen, denn wahr - ſcheinlich mochte auch ihn der Whiskey dort gefeſſelt haben, wenigſtens bekam ich ihn, obgleich öfters an - haltend, um ihn zu erwarten, erſt kurz vor Ende5 der Reiſe wieder zu ſehen, welches mich ſpäter einer großen Verlegenheit ausſetzte. Der nun allmählig immer mehr ſich verſchlimmernde Weg führte größ - tentheils dem Meer, das der Sturm prachtvoll durch - wühlte, entlang; bald über öde Moorflächen, bald an Schluchten und tiefen Abgründen hin, oder durch weite chaotiſche Gefilde, wo die Felſen ſo phantaſtiſch übereinander geworfen ſind, daß man glauben ſollte: hier ſey es, wo die Giganten den Himmel geſtürmt. Zuweilen erſcheinen Gebilde, die gleich einem ver - ſteinten Spiel der Wolken, Menſchen und Thieren ähnliche Figuren aufſtellten. Als ganz beſonders zier - lich fiel mir, mitten in der allgemeinen Wildheit, eine Felſenwand auf, die durch ihre Fugen in vollkommen re - gelmäßige Quadrate, wie ein Schachbrett, abgetheilt war. Dreierlei Arten Erica, gelbe, hochrothe und violette waren in den Spalten gewachſen, und mar - kirten die ſcharfen Linien auf das überraſchendſte.

Nur ſelten begegnete ich von Zeit zu Zeit einem einſamen zerlumpten Wanderer, und konnte manch - mal nicht umhin, daran zu denken, wie leicht es ſey, mich in dieſer Gegend anzufallen und zu berauben, ohne daß ein Menſch davon Notiz nehmen würde denn mein ganzes Reiſevermögen ruht in der Bruſt - taſche meines Rockes wie der griechiſche Weiſe führe ich omnia mea mit mir. Doch weit entfernt von räuberiſchen Gedanken, grüßte das gutmüthige, arme Volk, mich immer ehrerbietig, obgleich mein Aufzug nichts weniger als imponirend war, und in6 England keinen Gentleman verrathen haben würde. Mehrmal war ich in großer Ungewißheit, welchen der halb unſichtbaren Stege ich einſchlagen ſollte, wählte aber glücklicherweiſe, mich dem Meere ſtets ſo nahe als möglich haltend, keinen ganz unrechten, wenn gleich wahrſcheinlich nicht immer den nächſten. In - deſſen die Zeit verging und wenn ich in langen Intervallen einem menſchlichen Weſen wieder begeg - nete und frug: Wie weit noch zu Mr. O’Connel? ſo ſegneten ſie zwar immer den Vorſatz dieſes Be - ſuchs mit: God bless Your honour, die Meilenzahl ſchien ſich aber eher zu vermehren als zu vermindern. Dies ward mir erſt nachher begreiflich, da ich erfuhr, daß ich dennoch einen, mehrere Meilen abkürzenden, Weg verfehlt, und dadurch einen unnützen Zeitver - luſt erlitten hatte.

So fing es endlich an zu dunkeln, als ich einen Theil der Küſte betrat, der gewiß wenig ſeines Glei - chen hat. Fremde Reiſende ſind wahrſcheinlich noch nie in dieſen verlaſſenen Winkel der Erde verſchlagen worden, welcher Eulen und Seemöven mehr als den Menſchen angehört, von deſſen furchtbarer Wildniß es aber ſchwer iſt, einen genügenden Begriff zu geben. Gewundene, zerriſſene, kohlſchwarze Felſen, mit tie - fen Höhlen, in welche das Meer unaufhörlich don - nernd einbricht, und ſeinen weißen Schaum Thurm - hoch wieder daraus hervorſprüht, der nachher an vie - len Stellen trocknet, und dann vom Winde, wie wollene compakte Flocken ausſehend, bis auf die höch -7 ſten Punkte des Gebürges geſchleudert wird; das klägliche, gellend den Sturm durchtönende Geſchrei der ängſtlich umherflatternden Seevögel; das unauf - hörliche Geheul und Brauſen der unterminirenden Wogen, die zuweilen bis an meines Pferdes Huf jähling heranklommen, und dann ziſchend wieder hin - abſanken; die troſtloſe Abgeſchiedenheit endlich von aller menſchlichen Hülfe; dazu der raſtlos fallende Regen, und die einbrechende Nacht auf ungewiſſem, gänzlich unbekanntem Wege es fing mir wirklich an unheimlich zu Muthe zu werden ganz ernſt - lich nicht im halben Scherz wie am Tage vorher. Die Sucht nach dem Romantiſchen wird Dir dies - mal wahrſcheinlich eben ſo ſchlecht bekommen, als dem berühmten Ritter, dachte ich ganz bedenklich, und trieb mein müdes Pferd zu möglichſter Eile. Es ſtol - perte jeden Augenblick über die loſen Steine, und mit großer Mühe brachte ich es endlich in einen ſchwerfälligen Trabb. Meine Beſorgniß vermehrte ſich durch die Erinnerung an O’Connels Brief, der mir geſchrieben: daß der eigentliche Zugang zu ſei - nem Beſitzthum von der Seite von Killarney her ſtatt finde, Wagen jedoch nur zu Waſſer ganz heran kommen könnten, der Weg von Kenmare aber der ſchwierigſte ſey, und ich daher ja einen ſichern Führer mitnehmen[möchte], um keinen Unfall zu erleben. Auch fiel mir, wie es denn geht, wenn man einmal eine Gedankenrichtung angeſtrengt verfolgt, ein kürz - lich geleſenes Volksmährchen von Crokes ein, wo es heißt: Kein Land beſſer als die Küſte von Iveragh,8 um im Meere zu erſaufen, oder, wenn man das vorziehen ſollte, den Hals zu Lande zu brechen! Noch dacht ich’s .... da ſtutzte plötzlich mein Pferd, und drehte, ſcheuend, mit einem Satze um, den ich der alten Mähre kaum zugetraut hätte. Ich be - fand mich in einer engen Schlucht, es war noch hell genug, mehrere Schritte ganz deutlich vor mir zu ſe - hen, und ich konnte nicht begreifen, was die Urſach dieſes paniſchen Schreckens meines Gaules war. Wi - derſtrebend, und nur durch den gekauften Shileila bezwungen, ging es endlich wieder vorwärts; nach wenigen Schritten ſah ich aber ſchon mit Staunen, daß der hier ziemlich gebahnte Weg mitten im Meer aufhörte, und beinahe glitt mir der Zügel aus der Hand, als eine ſchäumende Welle, vom Sturm ge - jagt, jetzt auf mich wie ein Ungeheuer zufuhr, und weit hinein die enge Schlucht mit ihrem weißen Gei - fer beſprützte. Hier war guter Rath theuer! Schroffe ungangbare Klippen ſtarrten mich auf allen Seiten an, vor mir brauste die See es blieb nur der Rückweg offen. Aber war ich verirrt, wie ich vermu - then mußte, ſo konnte ich, ſelbſt beim Zurückreiten, nicht darauf rechnen, meinen Führer wieder anzutref - fen, und wo dann die Nacht zubringen? Außer O’Con - nels unfindbarem alten Felſenſchloß war auf zwan - zig Meilen keine Spur eines Obdaches zu erwarten, ich fieberte jetzt ſchon vor Näſſe und Kälte, gewiß hielt meine Natur den Bivouac einer ſolchen Nacht nicht aus ich hatte in der That Urſache, be - ſtürzt zu ſeyn. Was half jedoch alles Sinnen, ich9 mußte zurück, das war klar, und zwar ſo ſchnell als möglich. Mein Pferd ſchien dieſelben Reflexionen ge - macht zu haben, denn, wie mit neuen Kräften be - gabt, trug es mich, faſt gallopirend, davon. Aber, glaubſt Du es wohl? eine ſchwarze Geſtalt war abermals beſtimmt, mir aus der Verlegenheit zu hel - fen. Vous direz que c’en est trop mais ce n’est pas ma faute. Le vrai souvent n’est pas vraisem - blable. Kurzum, ich ſah eine ſchwarze Geſtalt wie einen undeutlichen Schatten über den Weg gleiten, und ſich hinter den Felſen verlieren. Mein Rufen, meine Bitten, meine Verſprechungen blieben vergeb - lich, war es ein Schmuggler, die an dieſer Küſte beſonders ihr Weſen treiben ſollen, oder ein aber - gläubiſcher Bauer, der mich ärmſten Revenant für ei - nen Geiſt anſah? jedenfalls ſchien er ſich nicht herauswagen zu wollen, und ich verzweifelte faſt ſchon an der gehofften Hülfe als ſein Kopf plötz - lich dicht neben mir aus einer Steinſpalte hervor - lugte. Nun gelang es mir bald ihn zu beruhigen; auch erklärte er mir das[Räthſel] des im Meere auf - hörenden Weges. Dieſer war nämlich nur für die Dauer der Ebbe eingerichtet um dieſe Zeit, ſagte er, iſt die halbe Fluth ſchon heran, eine Viertelſtunde ſpäter iſt der Durchgang unmöglich, jetzt aber will ich Sie für ein gutes Trinkgeld noch hinüberzubringen verſuchen, doch dürfen wir keinen Augenblick verlie - ren. Mit dieſen Worten war er mit einem Satze hinter mir auf dem Pferde, und was es vermochte, eilten wir der, mit jedem Moment höher ſchwellenden10 Fluth wieder zu. Es war mir doch ganz ſonderbar zu Muthe, als wir uns jetzt in die ſtürmiſche See förmlich zu verſenken ſchienen, und durch die wei - ßen Wogen und Felſen, die bei dem matten Zwielicht gleich Geſpenſtern aufzutauchen ſchienen, uns mühſam Bahn brechen mußten. Auch hatten wir die größte Noth mit dem Pferde; der ſchwarze Mann kannte aber das Terrain ſo genau, daß wir, obgleich bis faſt unter die Arme in Salzwaſſer gebadet, unverſehrt die gegenüberſtehende Küſte erreichten. Unglücklicher - weiſe ſcheute ſich hier noch einmal das geängſtete Thier, vor einer hervorſtehenden Klippe, und brach beide morſche Sattelgurte mitten entzwei, ſo daß der Schade hier nicht mehr zu repariren war. Ich hatte, nach allen ausgeſtandnen Nöthen, nun noch die an - genehme Perſpective vor mir, die letzten ſechs Meilen, auf loſem Sattel balancirend, weiter reiten zu müſ - ſen. Der Schwarze hatte mich zwar für die Fort - ſetzung der Reiſe beſtens inſtruirt, aber es ward bald ſo dunkel, daß man kein Merkzeichen mehr erblicken konnte. Der Weg ging, wie es mir ſchien, durch ei - nen weiten Moor, und war anfänglich recht eben. Nach einer halben Stunde holprigen Trabens, nach Möglichkeit die Kniee zuſammen ſchließend, um den Sattel nicht zwiſchen den Beinen zu verlieren, be - merkte ich, daß ſich die Straße wieder rechts in das höhere Gebürge wandte, denn das Steigen ward im - mer ſteiler und anhaltender. Hier fand ich eine Frau, die bei ihren Schweinen oder Ziegen die Nacht zu - brachte. Der Weg theilte ſich in zwei Arme und ich11 frug, welchen ich einſchlagen müſſe, um nach Derri - nane zu kommen? O! beide führen dahin, ſagte ſie, der linke iſt aber zwei Meilen näher. Natürlich ſchlug ich dieſen ein, überzeugte mich aber bald zu meinem Schaden, daß er nur für Ziegen gangbar ſey. Ich verwünſchte die alte Hexe und ihre trügeriſche Aus - kunft, vergebens mattete ſich das Pferd ab, durch die Steinblöcke zu klimmen, und halb ſtolpernd, halb fallend warf es endlich Sattel und mich zugleich ab. Auch war es nicht möglich den Sattel allein darauf zu erhalten, er rutſchte immer von neuem herunter, und ich mußte mich zuletzt bequemen, ihn ſelbſt auf die Schultern zu laden, und das Pferd dazu zu füh - ren. Bis hierher hatte ich mich noch ziemlich guter Dinge erhalten, der Geiſt war auch jetzt noch willig, aber das Fleiſch fing an ſchwach zu werden der Mann am Meer hatte geſagt: ſechs Meilen noch, und Sie ſind da, und nachdem ich eine halbe Stunde ſcharf geritten, war die vorher befragte Frau dennoch wie - der dabei geblieben, es ſey noch ſechs Meilen auf dem kürzeſten Wege bis Derrinane. Ich fing an zu fürch - ten, daß dieſes geſpenſtiſche Bergſchloß gar nicht zu erreichen ſeyn möchte, und ein Kobold mich nur dem andern zuwerfe. Ganz muthlos ſetzte ich mich auf einen Stein, von Hitze und Froſt gleich peinlich durch - ſchauert, als, wie die tröſtende Stimme des Engels in der Wüſte, ein Ruf meines Führers erſchallte, und ich bald darauf den Hufſchlag ſeines Pferdes vernahm. Er hatte einen ganz andern Weg durch das innere Gebürge eingeſchlagen, bei dem die See -12 paſſage vermieden ward, und glücklicherweiſe von der Frau erfahren, welche Direktion ich genommen. Im koſtbaren Gefühl der nunmehrigen Sicherheit, vergaß ich alles Schmälen, belud den Rettungsengel mit meinem Sattel und naſſen Mantel, übergab ihm das nackte Pferd, und ſetzte mich auf das ſeinige, zu mög - lichſter Eile antreibend. Wir hatten wirklich noch fünf Meilen zu reiten, und zwar, wie mir der Füh - rer ſagte, durch einen mit Abgründen eingefaßten Bergpaß ich kann jedoch nichts weiter über den zurückgelegten Weg berichten. Die Dunkelheit war ſo groß, daß ich nur mit der äußerſten Anſtrengung, der Figur des Mannes vor mir, wie einen undeut - lichen Schatten, folgen konnte. Ich merkte wohl an dem häufigen Stolpern der Pferde, daß wir uns auf unebnem Boden befanden, ich fühlte, daß es unauf - hörlich ſteil bergauf oder hinunter ging, daß wir zwei Bergſtröme durch tiefe Furthe paſſirten aber das war auch Alles nur zuweilen abnete ich mehr, als ich ſah, daß eine ſchroffe Felswand mir zur Seite ſtand, oder das tiefere Schwarz unter mir verrieth, daß ein jäher Abhang nahe war das Ganze aber vergegenwärtigte mir ſo lebhaft Miſtriß Anna Radcliff’s Romane, daß ich mich beinah für einen ihrer Helden gehalten hätte, der eben im Be - griff ſey, Udolpho’s Geheimniſſe zu entdecken. End - lich! endlich brach heller Lichtſchimmer durch das Dunkel der Weg ward ebner, ein Paar Spuren von Hecken wurden ſichtbar, und in wenigen Minu - ten hielten wir vor einem alten Gebäude, das auf13 dem felſigen Seeufer ſtand, und freundliche goldne Lichter durch die Nacht ſtrahlte. Es ſchlug auf dem Thurm grade 11 Uhr, und ich geſtehe es, mir ward ſchon bange für mein diné, als ich nichts Lebendes, außer am obern Fenſter einen Mann im Schlafrocke, erblickte. Bald indeß wurde es geräuſchvoller im Haus, ein eleganter Bedienter erſchien mit ſilbernen Leuchtern, und öffnete mir ſeitwärts eine Thüre, wo ich mit Verwunderung eine Geſellſchaft von fünfzehn bis zwanzig Perſonen an einer langen Tafel, beim Wein und Deſſert ſitzen ſah. Ein ſchöner, großer Mann, von freundlichem Anſehn, kam mir entgegen, entſchuldigte ſich, daß er ſo ſpät mich nicht mehr er - wartet hätte, bedauerte meine Reiſe in ſo furchtba - rem Wetter, präſentirte mich vorläufig ſeiner Fami - lie, die mehr als die[Hälfte] der Geſellſchaft aus - machte, und führte mich dann in mein Schlafzimmer. Dies war der große O’Connel. Eine kurze Toilette reſtaurirte mich ſchnell, während man unten für meine, allerdings nach ſolcher Tour nicht zu verſchmä - hende, Beköſtigung ſorgte.

Als ich wieder in den Saal trat, fand ich noch den größten Theil der Geſellſchaft verſammelt. Man be - wirthete mich ſehr gut, und es wäre undankbar, nicht Herrn O’Connels alten Wein zu loben, der in Wahr - heit vortrefflich war. Nachdem die Damen uns ver - laſſen hatten, ſetzte er ſich zu mir, und es konnte nicht fehlen, daß Irland der Gegenſtand des Ge - ſprächs werden mußte. Sahen Sie ſchon viele ſeiner14 Merkwürdigkeiten? frug er; waren Sie ſchon im Norden, um den giants causoway (der Rieſenſteg) zu bewundern? O nein , erwiederte ich lächelnd, ehe ich Irlands Rieſenſteg beſuche, wünſchte ich zuerſt Irlands Rieſen zu ſehen , und damit trank ich ihm und ſeinem hohen Beginnen von Herzen ein Glas ſeines guten Clarets zu.

Daniel O’Connel iſt wahrlich kein gemeiner Mann, wenn gleich der Mann des Volks. Seine Gewalt in Irland iſt ſo groß, daß es in dieſem Augenblick unbedingt nur von ihm abhängen würde, von einem Ende der Inſel zum andern, die Fahne der Empö - rung aufzupflanzen, wenn er nicht viel zu ſcharfſich - tig, viel zu ſehr ſeiner Sache auf gefahrloſere Art ſicher wäre, um einen ſolchen Ausgang herbeiführen zu wollen. Gewiß hat er auf eine merkwürdige Weiſe, im Angeſicht der Regierung, und auf geſetzli - chem offenkundigem Wege, geſchickt den Moment und die Stimmung der Nation benutzend, ſich dieſe Macht über dieſelbe verſchafft, welche, ohne Armee und Waf - fen, dennoch der eines Königs gleicht, ja ſie gewiß in vielen Dingen noch übertrifft denn wie[wäre] es z. B. je Sr. M. Georg dem IV. möglich geweſen, vierzig Tauſend ſeiner treuen[Irländer] drei Tage vom Whiskey-Trinken abzuhalten, wie es doch O’Con - nel, bei der denkwürdigen Wahl für Clare, zu be - werkſtelligen gewußt hat. Der Enthuſiasmus erreichte dort einen ſolchen Grad, daß das Volk ſelbſt, unter ſich, eine Strafe auf das Betrunkenſeyn ſetzte. Dieſe15 beſtand darin, daß der Delinquent in eine ſeichte Stelle des Fluſſes geworfen, und dort zwei Stunden, mit mehrmaligem Untertauchen, feſtgehalten wurde.

Am andern Tage hatte ich noch mehr Gelegenheit, O’Connel zu beobachten. Im Ganzen übertraf er meine Erwartung. Sein Aeußeres iſt einnehmend, und der Ausdruck von geiſtvoller Güte in ſeinem Geſicht, mit Entſchloſſenheit und Klugheit gepaart, äußerſt gewinnend. Er hat vielleicht noch mehr Suada, als wahre großartige Veredſamkeit, und man bemerkt oft zuviel Abſicht und Manier in ſeinen Worten, demohngeachtet muß man der Kraft ſeiner Argumente mit Intereſſe folgen, an ſeinem martia - liſchen Anſtand Gefallen finden, und oft über ſeinen Witz lachen. Gewiß iſt es, daß er weit eher einem General aus Napoléons régime, als einem Dubliner Advokaten ähnlich ſieht. Dieſe Aehnlichkeit wird da - durch noch auffallender, daß er vortrefflich franzöſiſch ſpricht, denn er iſt in den Jeſuiter-Collegien zu Do - nai und St. Omer erzogen. Seine Familie iſt alt, und wahrſcheinlich früher ſehr bedeutend im Lande geweſen. Seine Freunde behaupten ſogar, er ſtamme von den ehemaligen Königen von Kerry ab, und beim Volke vermehrt dies ohne Zweifel ſein Anſehn. Er ſelbſt erzählte mir, nicht ganz ohne Prätenſion, daß einer ſeiner Vettern, Comte O’Connel und Cor - don rouge in Frankreich ſey, der andere, Baron in Oeſterreich, General und kaiſerlicher Kammerherr, er aber ſey der Chef der Familie. Soviel ich ſehen16 konnte, wurde er von den anweſenden Mitgliedern dieſer, faſt mit religieuſem Enthuſiasmus vermehrt. Er iſt jetzt[ohngefähr] 50 Jahre alt und ſehr wohl konſervirt, obgleich er eine blonde Perücke trägt. Uebrigens hat er eine ziemlich geräuſchvolle Jugend durchlebt. Unter anderm machte ihn ein Duell, ſchon vor 10 Jahren, gewiſſermaßen berühmt. Die Pro - teſtanten hatten gegen ihn, deſſen Talente ihnen be - reits gefährlich wurden, einen gewiſſen Deſterre, einen Schläger und Bretteur von Profeſſion aufge - ſtellt, der durch alle Gaſſen Dublins mit einer Jagd - peitſche ritt, um, wie er ſagte, dieſe einmal an des Königs von Kerry Schultern zu legen. Die[natür - liche] Folge war eine Zuſammenkunft am nächſten Morgen, wo O’Connel ſeine Kugel in Deſterre’s Herz niederlegte, während deſſen Schuß ihm nur den Hut durchlöcherte. Dies war ſein erſter Sieg über die Orangemen, denen ſo viele wichtigere ge - folgt ſind, und noch hoffentlich folgen werden. Sein Ehrgeiz ſchien mir unbegränzt, und ſollte er die Emancipation durchſetzen, woran ich nicht zweifele, ſo wird er damit ſeine Carriere keineswegs ſchließen, ſondern ſie wahrſcheinlich dann erſt recht beginnen. Uebrigens liegt auch das Uebel in Irland, und über - haupt in der ganzen Verfaſſung Großbrittaniens, zu tief, um durch die bloße Emancipation der Katholi - ken gründlich gehoben werden zu können. Doch dies würde mich zu weit führen. Auf O’Connel zurückzu - kommen, muß ich noch erwähnen, daß er auch von der Natur das für ein Partheihaupt werthvolle Ge -17 ſchenk eines herrlichen Organ’s verliehen erhalten hat, verbunden mit einer guten Lunge und einer ſtarken Conſtitution. Sein Verſtand iſt ſcharf und ſchnell und ſeine Kenntniſſe, auch außer ſeinem Fach, nicht unbedeutend. Dabei ſind, wie ſchon geſagt, ſeine Formen gewinnend und populair, obgleich etwas vom Schauſpieler darin bemerkbar iſt, und bei einer ſichtbaren großen Meinung von ſich ſelbſt, zuweilen auch ein wenig, was die Engländer Vulgarity nennen, mitunter läuft. Wo wäre ein Gemälde ganz ohne Schatten!

Noch ein andrer intereſſanter Mann, und eben - falls ein (wiewohl mehr im Stillen wirkendes) Haupt der Katholiken, war hier gegenwärtig, derſelbe Mann, den ich bei meiner Ankunft im Schlafrocke geſehen Vater Leſtrange, ein katholiſcher Friar, der zugleich O’Connels Beichtvater iſt. Er kann als der eigentliche Stifter jener Katholik-Aſſociation angeſehen werden, über die man in England ſoviel geſpottet hat, und die dennoch, ſo zu ſagen, blos mit negativen Kräften, durch gewandte Thätigkeit im Verborgenen, durch allmählige Organiſirung und Bildung des Volkes zu einem beſtimmten Zweck,*)Alle katholiſchen Kinder in Irland werden ſorgfältig unterrichter, und können wenigſtens leſen, während die proteſtantiſchen oft höchſt unwiſſend ſind. Ueber - haupt iſt der moraliſche Ruf der katholiſchen Geiſt - lichkeit in Irland überall exemplariſch, wie einſt der verfolgten Reformiſten in Frankreich. Die unter -Briefe eines Verſtorbenen. II. 218eine unumſchränkte Autorität über daſſelbe erlangt hat, die faſt der Hierarchie im Mittelalter gleicht, nur mit dem Unterſchiede, daß dieſe dort für Scla - verei und Dunkel, jene hier für Freiheit und Licht benutzt wird. Es iſt auch dies einer der Aus - brüche jener zweiten großen Revolution, welche blos und allein durch intellektuelle Mittel, ohne irgend eine Beimiſchung von phyſiſcher Gewalt, be - werkſtelligt zu werden anfängt, und deren faſt ein - zigen, aber unwiderſtehlichen Waffe, die Redner - bühne und die Druckerpreſſe ſind. Leſtrange iſt ein Mann von philoſophiſchem Geiſt, und unerſchütter - licher Ruhe. Seine Formen ſind die eines vollende - ten Weltmanns, der in mannichfachen Geſchäften Europa durchreist hat, die Menſchen gründlich kennt, und bei aller Sanftmuth doch einen ſcharfen Zug von großer Schlauheit nicht immer ganz verbergen kann. Ich möchte ihn das Ideal eines wohlmeinen - den Jeſuiten nennen.

Da O’Connel beſchäftigt war, machte ich früh mit dem Friar eine Promenade nach einer wüſten Inſel, trocknen Fußes über den, von der Ebbe entblösten, glatten Meerſand ſchreitend. Hier ſtehen die eigent - lichen Ruinen der alten Abtey Derrinane, wovon O’Connels Haus nur ein appendix iſt. Sie ſoll*)drückte Kirche ſcheint überall die Tugendhafteſte zu werden, und die Gründe ſind leicht aufzufinden. A. d. H. 19 einſt von der Familie wieder hergeſtellt werden, wahrſcheinlich wenn gewiſſe Hoffnungen erſt erfüllt ſind.

Als wir zurückkamen, fanden wir O’Connel, wie einen Chieſtain, auf der Schloß-Terraſſe, von ſeinen Vaſallen und andern Volksgruppen umringt, die ſich Verhaltungsbefehle holten, oder denen er Recht ſprach. Da er Juriſt und Advokat iſt, wird ihm dies um ſo leichter Niemand würde es aber auch wagen, von ſeinen Entſcheidungen zu appelliren. O’Connel und der Pabſt ſind hier gleich infaillible. Prozeſſe exiſtiren daher nicht in ſeinem Bereich, und dies dehnt ſich nicht blos auf ſeine eigne tenants, ſondern, wie ich glaube, auch auf die ganze Umge - gend aus. Ich verwunderte mich nachher, ſowohl O’Connel als Leſtrange in religieuſer Hinſicht ohne alle Bigotterie, ja mit ſehr philoſophiſchen und tole - ranten Anſichten zu finden, ohne deshalb aufhören zu wollen, gläubige Katholiken zu ſeyn! Ich wünſchte, ich hätte einige jener wüthenden Imbecil - les unter den engliſchen Proteſtanten, wie z. B. Herrn L , hier herzaubern können, welche die Katholiken für ſo unvernünftig und bigott aus - ſchreien, während ſie ſelbſt allein, im wahren Sinne des Worts, dem fanatiſchen Glauben ihrer poli - tiſch-religieuſen Parthei anhängen, und im Voraus feſt entſchloſſen ſind: vor Vernunft und Menſchlich - keit ſtets ihre langen Ohren zu verſchließen.

2*20

Im Lauf des Tages ſollte eine Parforce-Jagd auf Haſen ſtatt finden, (denn Hr. O’Connel hält eine kleine Meute) die in den Bergen, und an den wei - ten kahlen Abhängen hin, gewiß ein ſehr maleriſches Schauſpiel abgegeben haben würde; die ſchlechte Wit - terung ließ es aber nicht dazu kommen. Mir be - hagte auch Ruhe, und die höchſt intereſſante Geſell - ſchaft, der ich gar manche lehrreiche Berichtigung verdankte, weit beſſer.

Obgleich man mich, mit ächt irländiſcher Gaſtfrei - heit, dringend einlud, noch eine Woche bis zu einem großen Feſte, das bereitet wurde, und zu dem man noch viele Gäſte erwartete, hier zu bleiben, glaubte ich doch dies nicht ganz à la lettre nehmen zu dür - fen, und ſehnte mich auch zu ſehr nach Glengariff, um länger, als es für meinen Zweck nöthig war, hier zu verweilen. Ich empfahl mich daher an die - ſem Morgen der Familie, mit dem aufrichtigſten Danke für ihre freundliche Aufnahme. Herr O’Con - nel gab mir das Geleite, bis an die[Gränze] ſeiner Domainen, und ritt einen ſchönen großen Schimmel, auf dem er ſich noch militairiſcher als in ſeinem Hauſe ausnahm. Der rauhe Weg, obgleich ganz von Vegetation entblöst, bot doch viele erhabne Ausſichten dar, theils auf die Felſen landeinwärts,21 theils auf das Meer voller Klippen und Inſeln, von denen einige ganz iſolirt, als hohe, ſpitze Berge aus dem Waſſer ſteil empor ſteigen. Herr O’Connel machte mich auf eine derſelben aufmerkſam, und er - zählte, daß er vor einigen Jahren einen Ochſen dort hinſchiffen und ausſetzen ließ, damit er ſich auf der guten und ungeſtörten Weide recht fett mäſten möge. Dies Thier nahm aber ſchon nach einigen Tagen ſo decidirten Beſitz von der Inſel, daß es wüthend ward, ſobald irgend Jemand den Verſuch machte, dort zu landen, und ſelbſt die Fiſcher, die ihre Netze am Ufer ausſtellen wollten, attakirte und verjagte. Oft ſah man es, gleich Jupiter in Stiergeſtalt, mit erhobenem Schweif und feuerſprühenden Augen, im wilden Lauf, die Runde ſeiner Domaine machen, rekognoscirend, ob irgend Einer ſich noch zu nahen wage. Der emancipirte Ochſe wurde zuletzt ſo unbe - quem und gefährlich, daß man ihn todtſchießen mußte. Dies ſchien mir eine ganz gute Satyre auf die Freiheitsliebe überhaupt, die mit erlangter Macht gewöhnlich ſofort wieder in Herrſchſucht ausartet, und die Ideen-Aſſociation mußte daher grade jetzt wider Willen komiſche Bilder in mir erwecken.

Später kamen wir an eine merkwürdige Ruine, eins der ſogenannten däniſchen Forts an der Küſte, die wohl nicht den Dänen, ſondern der Vertheidi - gung gegen die Dänen ihren Urſprung verdanken. Sie ſind über tauſend Jahr alt, und die untern Mauern, obgleich ohne Mörtel zuſammengefügt,22 dennoch ſehr wohl erhalten und feſt. Bei einer, von einem angeſchwollenen Bergſtrom zertrümmerten Brücke, hielt O’Connel an, um mir das letzte Lebe - wohl zu ſagen, und ich konnte nicht umhin, dem Kämpfer für die Rechte ſeiner Mitbürger zu wün - ſchen, daß, wenn wir einſt uns wiederſähen, das Zwangs-Gebäude engliſcher Intoleranz eben ſo durch ihn und ſeine Gehülfen zertrümmert ſeyn möge, als jene morſchen Mauern, durch den ſich Bahn bre - chenden Strom. So ſchieden wir. *)Zum Theil iſt der Wunſch meines ſeligen Freundes ja nun ſchon erfüllt worden, und mit wie Vielem geht noch die Zukunft ſchwanger! Anm. d. H.

Da ich größtentheils denſelben Weg wieder zurück - kehrte, den ich gekommen, kann ich nicht viel Neues darüber ſagen, ausgenommen daß er mich, ohnge - achtet der Tag ſchön war, doppelt ſo ſehr ermüdete als das erſtemal wahrſcheinlich weil der Geiſt ſich in geringerer Spannung befand. Nicht weit von Kenmare begegnete ich mehrern Transporten von Steinen, Brettern, Bolen, Bier und Butter. Alles wurde zu Pferde fortgeſchafft. Die[Irländer] ſind ſehr ingenieus in Transportmitteln. Ihre vortreff - lichen Carrs, mit denen ein Pferd ſo bequem fünf bis ſechs Perſonen fortbringt, habe ich Dir ſchon be - ſchrieben eben ſo zweckmäßig ſind ihre Trans -23 portkarren für Heu, Holz ꝛc., wo auch ein Pferd dieſelbe Arbeit thut, zu der bei uns drei gebraucht werden. Das Gleichgewicht, in welchem die Laſt, ſo zu ſagen, balancirt wird, macht dies allein möglich. Ein Karren wird, z. B. mit langem Bauholz, ſo aufgeladen, daß man das Pferd kaum ſehen kann, welches ganz vom Holze eingehüllt iſt, deſſen Stämme viele Ellen hinter dem Wagen und vor dem Pferde hinausragen. Die Vertheilung des Gewichts auf beiden Seiten iſt dadurch ſo voll - kommen hervorgebracht, daß die Stämme nur auf einem Punkte aufliegen, und daher das Pferd nur wenig im[Verhältniß] zu ziehen hat. Bergauf und herab hilft der Führer leicht nach, durch Heben oder Niederdrücken der Enden, welche die geringſte Kraft ſchon in Bewegung ſetzt. Eben ſo werden fünf bis ſechs ſchwere eichne Bohlen auf plattem Sattel über ein Pferd gelegt, das ſie, wie eine Balancierſtange, ohne große Beſchwerde fort - trägt, obgleich es unter derſelben Laſt, in einem andern Volumen, z. B. in einer Kiſte enthalten, erliegen müßte. Auch um Steine, über dem Sattel hängend, zu transportiren, haben ſie eine ſinnreiche Vorrichtung, gleich hölzernen Körben, die auf einer dicken Strohunterlage über des Pferdes Rücken befe - ſtigt werden.

Die frohe Laune und gutmüthige Höflichkeit der Leute, denen ich begegnete, fand ich ſehr einneh - mend. Kein Volk, das ich kenne, erſcheint in ſeinen24 untern Claſſen weniger egoiſtiſch, und dabei dankba - rer für das geringſte freundliche Wort, deſſen ein Gentleman es würdigt, ohne damit die mindeſte Idee von Intereſſe zu verbinden. Ich wüßte daher auch wirklich kein Land, wo ich lieber ein großer Grundbeſitzer ſeyn möchte, als hier. So würde ich z. B. mit dem, was ich am andern Orte gethan, und dafür nur Undank geerndtet, und Hinderung aller Art gefunden mir hier gewiß nicht nur 10 12,000 Untergebne auf Leib und Leben zu eigen gemacht, ſondern ich würde auch, mit weit gerin - geren Koſten und Zeit, ein unendlich höheres Reſul - tat gewonnen haben, da hier mit Natur und Men - ſchen alles, überhaupt Ausführbares zu erreichen iſt. Das Volk vereinigt im Allgemeinen, bei aller ſeiner Rohheit die Biederkeit und poetiſche Gemüthlichkeit der Deutſchen, mit der Lebhaftigkeit und ſchnellen Conception der Franzoſen, und beſitzt als Zugabe, alle Natürlichkeit und Unterwürfigkeit der Italiäner. Man kann mit vollem Recht von ihm ſagen, daß es ſeine Fehler nur andern, ſeine Tugenden aber allein ſich ſelbſt zu verdanken hat. Ich muß in dieſer Hin - ſicht noch eine, an ſich unbedeutende, Begebenheit erzählen, die ich früher überging, die aber als ein nationeller Zug doch der Erwähnung verdient.

Als ich vor vier Tagen von Killarney nach Ken - mare fuhr, begegneten wir fortwährend Leute, die auf dem Markt im letzten Ort Vieh gekauft hatten, und es jetzt nach Hauſe trieben. Sie ritten gewöhn -25 lich auf, ebenfalls erſt gekauften, Füllen, ohne - gel, und da Menſchen und Vieh ſich einander noch fremd waren, ſo konnten ſie ihre Thiere nur ſchlecht regieren. Wir wurden dadurch mehreremal gezwun - gen, ſtill zu halten. Dies langweilte mich endlich, und bei der dritten oder vierten rencontre dieſer Art, rief ich den Leuten barſch zu: ich hätte nicht Zeit, ihrer Ungeſchicklichkeit wegen, den halben Tag auf der Straße zuzubringen, und befahl, etwas übereilt, dem Kutſcher nur drauflos zu fahren. Sogleich machten zwei Füllen mit ihren Reutern links um, vor dem Wagen hergallopirend, und die ganze Heerde zertheilte ſich ſcheu in die Berge. Meine Raſchheit that mir jetzt leid, und ich ließ ſogleich wieder an - halten. Es waren im Ganzen vier bis fünf Trei - ber, die ich ſo deroutirt hatte, alles rüſtige junge Kerle, und der Streich, den ich ihnen geſpielt, ge - wiß einer der unangenehmſten, da voraus zu ſehen war, daß ſie wenigſtens eine halbe Stunde brauchen würden, um ihr zerſprengtes Vieh wieder zu ſam - meln. Deutſche, Engländer oder Franzoſen würden einem Reiſenden, der mit einem zerlumpten Kutſcher, in einem elenden Einſpänner fuhr, und ihnen unbe - ſonnen dieß bot, gewiß mit gehöriger Grobheit zu - geſetzt, und vielleicht gar ihn feſtzunehmen verſucht haben, um den etwaigen Schaden zu erſetzen. Ganz anders war das Betragen dieſer guten Leute, witzig und reſpectvoll zugleich. O murther, murther! ſchrie der Eine, während das widerſpenſtige Füllen noch einen Verſuch machte, den Berg hinan zu ſprin -26 gen, und ihn beinahe abwarf: God bless Your ho - nour, but every Gentleman in England and Ireland get’s out of the way of cattle! Oh for God’s sake stop now, Your honour, stop! (O Mord, Mord! *)Ein irländiſcher Lieblingsſchwur. A. d. H. Gott ſegne Euer Ehren, aber jeden Gent - leman in England und Irland geht doch Vieh aus dem Wege! Oh um Gotteswillen, haltet an, Euer Ehren, haltet an!) Als ich nun angehalten hatte, und die armen Teufel die größte Mühe ge - habt, einen Theil des am weiteſten zurück gelaufnen Viehs wieder einzuholen, kamen ſie nochmals an meinen Wagen, um mir mit abgezogner Mütze und Long life to Your honour! für meine Güte zu danken, worauf ſie luſtig das Einfangen, und ich meinen Weg fortſetzte. Ich mußte mir ſelbſt ge - ſtehen, daß ihr Betragen lobenswerther war als das meine, und verbeſſerte es, ſo gut ich konnte, durch ein anſehnliches Trinkgeld.

Obgleich peinlich müde, konnte ich geſtern Abend doch nicht einſchlafen, und frug daher beim Wirth an: ob er irgend ein Buch beſitze? Man brachte mir27 eine alte engliſche Ueberſetzung von Werther’s Leiden. Du weißt wie hoch und innig ich unſern Dichter - fürſten verehre, und wirſt mir es daher kaum glau - ben wollen, wenn ich Dir ſage: daß ich dieſes be - rühmte Buch nie geleſen. Der Grund möchte auch Vielen ſehr kindiſch vorkommen. Als ich es nämlich zuerſt in die Hände bekam, erweckte mir die Stelle, gleich im Anfang, wo Charlotte dem Buben die Rotznaſe wiſcht einen ſolchen Eckel, daß ich nicht weiter leſen konnte, und dieſer unangenehme Eindruck blieb mir immer gegenwärtig. Diesmal machte ich mich jedoch ernſtlich an die Lectüre, und fand es dabei ſeltſam, Werther zum erſtenmal, in fremder Sprache, mitten in den wüſteſten Gebürgen von Irland zu leſen. Ich konnte aber auch hier, aufrichtig geſtanden, den veralteten Leiden keinen rechten Geſchmack mehr abgewinnen das viele Butterbrod, die kleinſtädtiſchen, nicht mehr üblichen Sitten und ſelbſt die, (gleich den zu Gaſſenhauern herabgeſunknen ſchönen Mozartſchen Melodieen) jetzt auch Gemeinplätze gewordnen Ideen, die damals neu waren endlich die unwillkührliche Erinnerung an Potiers köſtliche Parodie es war mir nicht möglich in die rechte Communionsſtimmung, wie Fr. v. Frömmel ſagt, hinein zu kommen. Aber ſo viel habe ich, Scherz bei Seite, wenigſtens einge - ſehn, daß das Buch einſt furore machen mußte denn es iſt eine ächt deutſche Stimmung, an der Werther untergeht, und deutſche Gemüthlichkeit fing damals eben an, ſich in dem zu materiell gewordnen28 Europa Bahn zu brechen. Freilich durchſchritt es Meiſter, und vielmehr nachher noch Fauſt mit ganz andern Rieſenſchritten! Der Werther-Periode ſind wir, glaube ich, entwachſen, an dem Fauſt aber kaum herangekommen, und kein Zeitalter wird, ſo lange es Menſchen giebt, ihm entwachſen können.

In der Tragödie Fauſt iſt wie im Shakspeare des Menſchen ganzes Innere abgeſpiegelt, und in der Hauptfigur nur der Menſchheit ewiges räthſelhaftes Sehnen perſonificirt, das nach einem unbekannten Etwas raſtlos ringt, welches dennoch hier nie er - reicht werden kann; daher auch das Drama offenbar nie ein völlig abſchließendes Ende haben könnte, wenn es auch noch durch viele Akte ausgedehnt würde. Wie aber eben der edlere Menſchengeiſt hier eine ſchwindelnde Straße betritt, gleich der Brücke des Koran, ſo iſt er auch auf ihr dem Bo - denloſen Falle jeden Augenblick näher, als der Thier - menſch, der ruhig auf der ſichern Ebne weidet.

Ein Vetter des Herrn O’Connel, der Parforce-Jag - den am See von Killarney hält, hatte mir eine ſolche für morgen verſprochen, ich habe aber eine wahre Antipathie, etwas ſchon Geſehenes wieder zu be - ſuchen, ſo lange ich noch Neues vor mir habe, und eine ſehr große[Veränderung] können Hunde und Jäger der mir bereits bekannten Scene doch nicht geben. Dagegen erwarteten mich in Glengariff liebenswerthe Menſchen, und gar viel29 Neues; ich zog alſo das Letztere vor, ritt wieder über den Teufelsberg, diesmal bei Tage, und be - finde mich ſeit einer Stunde hier, in einem niedli - chen Zimmer etablirt, und alle Pracht der Bey vor meinem Fenſter ausgebreitet. Ehe ich Kenmare ver - ließ, wurde meine Eitelkeit noch auf eine empfind - liche Probe geſetzt. Die irländiſche Naivetät der Wirthstochter hatte mich, beim jedesmaligen Zurück - kommen nach ihres Vaters Gaſthof, ſo angenehm angeſprochen, daß ich mich faſt allein mit ihr unter - hielt, und dadurch ihre Gunſt gewann. Sie hatte ihre Berge nie verlaſſen, und war ſo unbekannt mit der Welt, als es nur denkbar iſt. Scherzend frug ich ſie, ob ſie mich wohl nach Cork begleiten wolle? Ach nein, rief ſie, da würde ich mich doch fürchten, ſo weit mit Ihnen zu gehen! ſagen Sie mir nur, wer Sie eigentlich ſind? daß Sie ein Jude ſind, weiß ich ſchon. Was, biſt Du toll, woher ſoll ich denn ein Jude ſeyn? Nun das werden Sie doch nicht leugnen, haben Sie nicht einen langen ſchwar - zen Bart rund ums Kinn, und fünf bis ſechs goldne Ringe an den Fingern? und waſchen Sie ſich nicht immer früh eine Stunde lang, und machen Ceremo - nieen dabei, wie ich ſie doch ſonſt noch nie von ei - nem Chriſtenmenſchen geſehn habe! Nicht wahr, geſtehen Sie es nur, Sie ſind ein Jude? Mein Depreciren half nichts, ſie blieb dabei; endlich meinte ſie doch gutmüthig, wenn ich denn durchaus keiner ſeyn wolle, ſo wünſche ſie mir wenigſtens, to be - come as rich as a Jew (ſo reich zu werden wie ein30 Jude, eine engliſche Redensart.) Dies bekräftigte ich gern mit einem chriſtlichen: Amen!

Eben komme ich von einer ſechzehnmeiligen Pro - menade mit C..l W… zurück, nach Hungryhill, ei - nem erhabenen Bergfelſen am Ende von Bantry Bay, merkwürdig durch ſeinen Waſſerfall, und durch Thomas Orourche’s Reiſe nach dem Monde, auf des Adlers Rücken, die von hier aus ſtatt fand, und ſeitdem in Proſa und Verſen ſo vielfach beſungen wurde. Auch in Deutſchland iſt das amüſante Mär - chen wiederholt überſetzt worden, wo es Dir viel - leicht vorgekommen ſeyn mag. Der Held der Ge - ſchichte iſt ein faſt immer betrunkner Garde-chasse des Lord B .... der noch lebt, und den mir Mr. W… beim Zuhauſefahren, im Gaſthofe präſentirte. Er iſt jetzt ſehr ſtolz auf ſeine Berühmtheit, und ſchien mir, als ich ihn ſah, gerade wieder im Begriff, eine Mond - reiſe anzutreten.

Für die Waſſerfälle iſt der viele Regen dieſer Tage ſehr vortheilhaft geweſen. Der Fall am Hungryhill verſchwindet faſt ganz in trocknem Wetter, übertrifft aber, nach heftigen Regengüſſen, auf einige Stun - den, den Staubbach und Terni. Hungryhill (der Hungerberg) iſt gegen 2000 Fuß hoch, und eine faſt31 ganz kahle ungeheure Felſenmaſſe. Von der Land - ſeite bildet er zwei ſteile Abſätze, zwiſchen welchen ſich, auf dem Plateau, ein See befindet, den man natürlich von unten nicht ſieht, wo das Ganze nur die fortlaufende Linie zwei coloſſaler Terraſſen dar - bietet. Die obere beſteht aus ganz kahlem Stein, und wird in der Mitte, durch eine vertikale, wie von der Kunſt tief gegrabne Rinne getrennt; die untere Terraſſe, obgleich auch ohne ſehr ſichtbare Unebenheit, iſt doch an ihrem Abhang mit Haiden und grobem Graſe bedeckt, wo gewöhnlich Hunderte von Ziegen weiden.

In der erwähnten obern Rinne nun, ergießt ſich, von der höchſten Spitze des Bergs, die Waſſermaſſe herab, fällt in den, auf dem Abſatz befindlichen, See, und ſtürzt ſich dann, dieſen überfüllend, in vier getrennten Fällen von neuem, in ſo großen Bo - gen, auf die Thalwieſe nieder, daß die Ziegen ruhig darunter fortweiden können,[während] die Waſſer - ſtröme das Wieſenthal in der Tiefe bald auch in ei - nen temperairen See verwandeln.

Da man unten ſtehend, die Trennung des obern und der untern Fälle, nebſt den zwiſchen liegenden See, wie ſchon bemerkt, nicht ſehen kann, erſcheint dem Auge das Ganze, nur wie ein ungeheurer Sturz, deſſen Wirkung alle Beſchreibung überſteigt. Obriſt W. verſicherte mich, bei höchſtem Waſſer - ſtande, die Bogen des Falles ſo weit abgeſchleudert32 geſehen zu haben, daß, nach ſeinem eignen Ausdruck, ein Regiment darunter hätte aufmarſchirt ſtehen kön - nen, ohne benetzt zu werden, wozu der betäubende Lärm, wie er ſagte, nahen Kanonendonner gut dar - geſtellt hätte.

In einer der Schluchten nebenan fand die, in Ir - lands fabelhafter Geſchichte merkwürdige Schlacht, zwiſchen dem großen O’Sullivan und O’Donnivan ſtatt, und man zeigt noch die Ueberreſte eines ural - ten Arbutus-Stammes, an welchem, der Sage nach, O’Donnivan aufgehangen wurde. Geld und Koſt - barkeiten ſind wirklich in dieſem Bezirk noch vor Kurzem, tief in der Erde vergraben, aufgefunden worden.

Die Adler dieſer Gebürge, welche auf ganz[unzu - gänglichen] Felſen horſten, ſpielen eine große Rolle in allen[Mährchen] des Volks. Sie ſind außerordentlich groß und ſtark, und es iſt erwieſen, daß ſie zuwei - len ſelbſt Kinder rauben. Vor einiger Zeit entführte ein ſolches Raubthier einen dreijährigen Knaben, und deponirte ihn, weil er ihm doch wahrſcheinlich zu ſchwer ward, faſt unverſehrt, wenigſtens lebend, auf einem Felſenabſatz, wohin man ſogleich nach - kletterte, und den Knaben glücklich rettete. Der neue Ganymedes als Corpus delicti exiſtirt noch im beſten Wohlſein. Ein ähnlicher Fall dieſer Art trug ſich erſt vor wenig Monaten zu. Der Adler nahm ein ganz kleines Mädchen, vor des Vaters Augen, vom Boden auf, und verſchwand mit ihm33 in den Felſen, ohne daß man die geringſte Spur von dem armen Kinde mehr hat auffinden[können].

Col. W ..... iſt ein eben ſo großer Parkomane als ich, aber nicht ganz ſo gourmet, et sa càve s’en ressent un peu. Dagegen verſchafft die Jagd, zu Lande und im Waſſer, der Tafel mehrere Delika - teſſen. Die Berghühner ſind unter andern vortreff - lich, und die Auſterbank im Park, liefert tellergroße, und beſonders ſchmackhafte Geſchöpfe dieſer Art. Uebrigens wimmelt die Bay von Fiſchen und See - hunden. Ein ſolcher ſaß heut früh auf einer hervor - ragenden Klippe, grade meinem Fenſter gegenüber, und ſchien mit großem Vergnügen und faſt tanzen - der Bewegung, der Muſik eines Piper zuzuhören, deſſen bag pipe vom nahen Gaſthof herüberſchallte. Dieſe Thiere ſollen die Muſik ſo leidenſchaftlich lie - ben, daß ſie, bei Waſſerparthien auf der Bay, den Böten der Muſikanten zu 20 30 folgen, und ſich auch vom[Jäger] auf dieſe Weiſe überall hinlocken laſſen. Es iſt wirklich grauſam, ihren Kunſtſinn ſo zu mißbrauchen!

Leider regnete es heute den ganzen Tag, ſo daß ich gezwungen war, zu Haus zu bleiben. Früh wohnte ich dem täglichen Privatgottesdienſt der Familie bei, deren weibliches Perſonal zwar etwas bigott inBriefe eines Verſtorbenen. II. 334der Form, aber, wie mir ſchien, doch auch ächt fromm in der That iſt. Wir ſetzten uns Alle im Kreiſe hin, dann las die Mutter einen Satz aus dem engliſchen Prayerbook, die älteſte Tochter den nächſten, und ſo fortdauernd vice versa, Prediger und Küſter in der Kirche nachahmend. Hierauf begann die Tochter, welche etwas Verſchloſſenes und Schwärmeriſches hat, ein beſonderes, ſehr langes Gebet, das wohl eine Viertelſtunde dauerte,[während] welchem alle Andere (ich natürlich auch) ſich ſchamhaft gegen die Wand kehren, vor ihrem Stuhl auf die Kniee fallen, und das Geſicht in die Hände legen mußten. Die Mut - ter ſeufzte und ſtöhnte, der Hausherr ſchien ein we - nig ennuyirt, die jüngſte Tochter (ein allerliebſtes Mädchen, die ein gutes Theil mondainer als die äl - teſte geſinnt iſt) hatte hie und da Zerſtreuungen, der Sohn aber es gar, für beſſer gehalten, ſich ganz zu abſentiren. Ich, bei dem jeder nach innen gerichtete Gedanke zu jeder Tageszeit ein Gebet zu Gott iſt, glaubte, ohne unfromm zu ſeyn, hier ein wenig nach außen beobachten zu dürfen.

Nachdem die Geſellſchaft wieder aufgeſtanden war, die Knie abgewiſcht, und die Röcke heruntergezupft hatte, denn der engliſche Enthuſiasmus vergißt ſich nicht ſo leicht, wurde eine Geſchichte aus dem Evan - gelio von der Mutter geleſen. Man hatte diesmal die Mahlzeit gewählt, wo 6000 Mann mit zwei Fi - ſchen und drei Brodten, wenn ich nicht irre, geſättigt wurden, und noch gar viel übrig blieb.

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Glücklicherweiſe wurde uns das Mittagseſſen nicht mit gleicher Sparſamkeit zugemeſſen, und die Gottes - gaben dabei durch die heiterſte Unterhaltung gewürzt. Einmal beging ich jedoch einen unwillkührlichen Ver - ſtoß. Ich ſprach nämlich ſcherzend von dem Kometen im Jahr 32, der der Erde oder Erdbahn näher als die bisher bekannten kommen ſoll, und bemerkte, daß, nach Lalande’s Berechnung, ein Komet, der ſich auf 50,000 Meilen der Erde näherte, eine ſolche Attrak - tionskraft auf ſie ausüben müßte, daß er die Meeres - fluthen bis über die Spitze des Chimboraſſo ziehen würde. Kommt der Zwei und dreißiger uns ſo nahe, ſetzte ich hinzu, ſo ertrinken wir wenigſtens alle auf einmal. Verzeihen Sie, das iſt jedenfalls unmög - lich, erwiederte Miſtriß W .... ſehr ernſthaft, denn das wäre ja eine zweite Sündfluth, und Sie ſcheinen ganz vergeſſen zu haben, daß uns in der Bibel ver - ſprochen iſt, eine zweite Sündfluth ſolle nicht ſtatt - finden, aber zum letztenmal die Erde durch Feuer zerſtört werden. (Il faut avouer, que la faveur n’est pas grande.) Daß dieſe Zerſtörung aber wohl nahe ſeyn mag, fuhr ſie ſeufzend fort, glaube ich ſelbſt, denn die Unterrichtetſten unſerer heiligen Männer kommen jetzt darin überein, daß wir uns wahrſchein - lich im ſiebenten Reich der Offenbarung Johannis befinden, in welcher der Welt Ende prophezeit iſt, und wo unſer Heiland kommen wird uns zu richten. Wie ſonderbar ſind nun die Frommen! Ueber dieſe Aeußerung geriethen Mutter und Tochter in ſo hef - tigen und zuletzt erbitterten Streit, daß ich, unwür -3*36diger Laye, mich für ihre Verſöhnung bemühen mußte. Dieſer Streit entſpann ſich darüber, ob bei der er - wähnten Cataſtrophe die Menſchen ſofort gerichtet und dann verbrannt, oder erſt verbrannt und dann gerichtet werden würden. Die Tochter fragte entrüſtet (et je vous jure que je ne brode pas), ob unſer Hei - land, wenn er käme, mit dem Richten erſt warten ſolle bis die Welt verbrannt ſey? es ſtünde deutlich in der Schrift: daß er kommen würde zu richten über die Lebenden und die Todten, was nicht möglich ſey, wenn vorher Alle ſchon verbrannt worden[wären]! Die Welt würde alſo offenbar erſt nachher, wenn Alle gerichtet wären, verbrannt. Die Mutter erklärte dies, eben ſo heftig, als einen wahren nonsense, Menſchen müßten nothwendig erſt ſterben, ehe ſie ſelig oder verdammt werden könnten, und die angeführte Stelle bezöge ſich, wo ſie von Lebenden und Todten ſpräche, nur, eines Theils auf die, welche bei der Ankunft des Feuers noch lebten, und andrerſeits auf die, ſchon längſt vorher im Grabe Liegenden. Sie blieb alſo dabei: erſt verbrannt und dann gerichtet! Beide wünſchten nun meine Meinung zu wiſſen, um ſich, durch meinen Beitritt, im Kampfe zu verſtärken. Ich wagte zu antworten: daß ich in dieſen Details nicht allzugut bewandert wäre, und daß mir ihr Streit faſt ſo vorkäme, als der, bei Madame du Déffant, über den heiligen Dionyſius: ob dieſer nämlich eine, oder ſechs Meilen ohne Kopf gegangen ſey? worauf Frau von Deffant bekanntlich entſchied: dans ces sortes de choses, il n’y a que le premier pas qui coute. 37Uebrigens hätte ich ſelbſt mich in der Chriſtuslehre immer am meiſten an die Vorſchriften der Pflicht - erfüllung, Zuverſicht auf Gott, Sanftmuth und Näch - ſtenliebe zu halten geſucht, obgleich es mir leider nur zu ſelten damit nach Wunſche gelungen glaubte aber doch, in Folge deſſen, unbekümmert darüber ſeyn zu können, ob wir erſt gerichtet und dann verbrannt, oder erſt verbrannt und dann gerichtet würden. Alles was Gott thue, ſey jedenfalls wohlgethan. Ich müßte aber geſtehen, daß ich mich während meines hieſigen Lebens eben ſo gut in Gottes Hand, und eben ſo nahe ſeiner Macht, betrachte, als nach meinem irdi - ſchen Ende, oder ſelbſt nach dem Ende der kleinen Erde, die wir Welt zu nennen pflegen. Das Welt - gericht daure, meiner Meinung nach, ewig, gleich dem Weltengeiſt. Dieſe Erklärung verſöhnte die Käm - pfenden glücklich, indem ſie ſie beide gegen mich vereinigte. Doch gelang mir noch zuletzt ein geſchick - ter Rückzug, ohne ganz ihre Gunſt zu verlieren.

Gegen Abend hatten wir, zwiſchen Streifregen, Dämmerung und Sonnenuntergang, noch eine herr - liche Beleuchtung. Unſer Waſſerfall im Park, war ſo angeſchwollen, daß er ſich auch etwas zu donnern erlaubte, und Gras und Buſch hatte ſich gar artig mit bunten Sonnenſtrahlen illuminirt. Wir ſpazier - ten bis in die Nacht umher, ſahen den hohen Su - garloaf nach und nach vom Dunkelblau in’s Roſa übergehen, und ergötzten uns am klaren Spiegel des Meers, am Hüpfen der Fiſche auf ſeiner Oberfläche,38 und den friedlichen Spielen der Fiſchottern, bis die grauſamen Fiſcherlichter in der Bay das Feſt mit einem allgemeinen Kriegstanz beſchloſſen.

Alles iſt hier ſchön, ſelbſt die Luſt, welche wegen ihrer Salubrität berühmt iſt. *)Bis jetzt wird noch keine Taxe davon erhoben. A. d. H. Inſekten plagen die Menſchen auch nicht, da die Bay eine ſolche Tiefe hat, daß die Ebbe faſt nirgends den Boden entblößt, und der ſtete, ſanfte Luftzug des Thals ihnen wahr - ſcheinlich auch nicht behaglich iſt. Das Clima bleibt ſich faſt immer gleich, weder zu warm noch zu kalt, und die Vegetation iſt ſo üppig, daß nur eine Sache mehr, und eine weniger da zu ſeyn brauchte, um den größten Theil der kahlen Berge, und auch die Felſen, in ihren Zwiſchenräumen, mit den ſchönſten Wäldern zu bekleiden, nämlich Pflanzer und Ziegen. Den Erſten fehlt es an Geld zur Auslage, oder an der Luſt es hier anzulegen, die zweiten laſſen nichts, das nicht doppelte Mauern ſchützen, auf - kommen. Ehemals ſollen die meiſten dieſer Gebürge mit Hochwald bedeckt geweſen ſeyn, aber die Englän - der, welche immer nur daran dachten, ſo viel Geld als möglich in Irland zu machen, ſchlugen alles nie - der, zum Verkohlen und zum Gebrauch der Eiſen - hämmer, die ſeitdem eingehen mußten, deren Rudera man aber noch an mehreren Orten findet. Ein an - derer Vorzug dieſer Gegend iſt, nach meinem Ge -39 ſchmack, ihre Abgeſchiedenheit. Ein Wagen kann ſie kaum erreichen und, wenige neugierige Reiſende von meiner Art ausgenommen, wird keiner verſucht, die ſchwierigen Approſchen zu beſiegen. Ein gutmüthi - ges Volk wohnt hier, nicht in Dörfern vereinigt, ſondern einzeln im Gebürge zerſtreut, und führt, unverdorben vom Gewühl der Städte ein patriarcha - liſches Leben. Es iſt auch nicht ſo widerlich arm, als in andern Theilen des Landes. Die Bedürfniſſe dieſer Leute ſind gering; Torf zum Feuern dürfen ſie holen, wo es ihnen gutdünkt, Gras für ihre Kühe ebenfalls in den Sümpfen, und Fiſche zur Nahrung liefert ihnen das Meer, mehr als ſie bedürfen. Für den mit Schaffungsluſt ausgerüſteten Beſitzer, eröff - net ſich hier ein unerſchöpfliches Feld. Wäre ich ein Capitaliſt, hier ließe ich mich nieder.

Mein freundlicher Wirth ſorgt für die ſchnelle Be - förderung dieſes Briefes. Der Himmel gebe, daß er, in froher Stimmung geſchrieben, auch Dich in froher Stimmung antreffe. Erinnere Dich immer des Wahl - ſpruchs meiner Ahnfrau: Coeur content, grand ta - lent!

Dein treu ergebener L ....

[40]

Fuͤnf und dreißigſter Brief.

Liebe Julie!

Morgen reiſe ich ab, et bien à regrêt. Ich nehme aber ein liebes Andenken mit mir, eins der wenigen durchaus freundlichen Bilder meiner Lebenswan - derung.

Auf meinem Morgenſpaziergang fand ich heute ſo luxurieuſe Ericken von den Felſen herabhängen, daß eine Staude derſelben zehn Fuß in der Länge maß. Der Gärtner, der mich begleitete, machte mich noch auf eine andere Merkwürdigkeit aufmerkſam. An einem verborgnen Ort, nicht weit von der hübſchen, ganz ländlichen Dairy, hatten Bienen in freier Luft große Honigkämme, blos an Brombeeräſten hängend, im Dickicht gebaut. Die Schwere des Honigs bog den Strauch bis auf die Erde, und ſie arbeiteten noch rüſtig darin, als ich ſie betrachtete. Die Dairy iſt mit Erde und rother, darauf angewachſener, Haide41 gedeckt, und das Dach von unten in ſechs Spitzen ausgeſchnitten, was nicht übel ausſieht. Ein klarer Quell fließt mitten hindurch, an deſſen Ufern der ägyptiſche Cotus vortrefflich gedeiht, und den Winter auch aushält.

Nachmittags ritt ich mit Col. W… aus, um ein Adlerneſt zu beſehen. Zuerſt paſſirten wir den Be - zirk, in welchem Lord B ’s ſchönes Jagdhaus ſteht, durchwateten dann dreimal den angeſchwollenen Fluß, und erreichten nach einigen Stunden Wegs eine wilde Einöde, wo, unter einer ſenkrechten Felſenwand, zwei einzelne Hütten ſtehen. Ohngefähr 500 Fuß über dieſen, horſten die Adler, in einer mit Epheu über - rankten Spalte. Zu der Zeit wenn ſie Junge haben, ſieht man ſie fleißig mit Hühnern, Haſen, Lämmern u. ſ. w. angeflogen kommen, um den häuslichen Tiſch zu verſorgen; ein ſonderbarer Inſtinkt aber iſt es, der ſie lehrt, nie etwas von den beiden unter ihnen wohnenden Familien zu rauben, und dadurch gleich - ſam die Gaſtfreundſchaft zu ehren, welche jene ihnen beweiſen. Ich bin ſehr unzufrieden, daß noch keiner dieſer Felſenkönige mir die Attention bewies, ſich ſehen zu laſſen; auch heute waren beide entfernt.

Ueber die Höhlen des Sugarloaf’s kehrten wir zu - rück. Hier giebt es einen wilden Jäger, und kein Tallyho der Menſchen darf da erklingen, wo ſein Jagdrevier angeht. Sonſt ſtürmt er mit dem gan - zen wilden Heer herbei, und reißt in deſſen Wirbel die Unvorſichtigen mit ſich fort. Bei alle dem iſt er42 von ganz anderer Natur, als ſein deutſcher Kame - rad. Es iſt ein Elfenkönig, klein wie Däumling, in Smaragdgrün prächtig gekleidet, und von einem Ge - folge begleitet, das auf Pferden, nicht größer wie Ratten, über die Felſen, wie über das Meer, mit Windesſchnelle gallopirt. Sugarloaf ſelbſt iſt der große Sammelplatz aller irländiſchen Feen. Die Höh - len ſind voller Seemuſcheln und phantaſtiſcher Stein - geſtaltungen, welche die Neugierde des Beſuchers rei - zen, in denen aber, für alle Schätze der Welt, kein Eingeborner die Nacht zubringen würde. Von der Spitze des Berges, oder beſſer Felſen, bis gegen dieſe Höhlen herab, unterſcheidet man bei klarem Wetter ein eignes Naturſpiel: zwei gewundene aber ſtets in gleicher Weite laufende Rinnen, die in der Ferne vollkommen einem Wagengleiſe gleichen. Was könnte dies anders ſeyn, als die Spur von der Fairy Köni - gin Wagen? worin ſie auch mancher alte Bergbe - wohner bei Sonnen Auf - oder Untergang in über - irdiſchem Pomp hinauffahren ſah, um das Jahresfeſt mit ihrer Gegenwart zu ſchmücken. Gewiß wird der Alte bereit ſeyn, mit jedem beliebigen Schwur die Wahrheit ſeiner Ausſage zu bekräftigen, denn er glaubt daran, und das eben giebt den Mährchen dieſes Volks einen ſo verführeriſchen Reiz, daß man ſelbſt davon angeſteckt wird.

Col. W , der früher ein leidenſchaftlicher Jäger war, kennt Fuß und Gipfel eines jeden Berges im ganzen Diſtrikt genau, und erzählte mir, chemin fai -43 sant, ſo viel Intereſſantes davon, daß mein Brief nicht enden würde, wenn ich ein getreues Echo aller dieſer Geſchichten aus ihm machen wollte. Hier iſt die Jagd noch mit Gefahren verbunden, und dieſe wahrlich keine Kleinigkeit! Mancher verliert ſein Le - ben dabei. Sie ſind dreierlei Art: zuerſt, mitten in den Felſen von einem jener Winternebel überfallen zu werden, welche hier öfters ſtattfinden, und faſt plötzlich den Wanderer mit dunkler Nacht und eiſiger Kälte umfangen, wo ihm dann, wenn er den Aus - weg nicht findet, nur die Alternative bevorſteht, das Leben durch Erſtarrung (denn oft halten die Nebel ganze Tage und Nächte in den Schluchten feſt) oder durch den Sturz in unſichtbare Abgründe zu verlie - ren. Wollen ihm die Fairy’s wohl, ſo kömmt er ir - gend wo glücklich wieder an’s Licht, wehe aber denen, die ſich ihre Ungnade zugezogen haben; zerſchmet - tert oder erfroren, finden ſie ſicher die Freunde am nächſten Morgen. Die zweite Gefahr iſt von ganz anderer Art. Auf den weiten, unabſehbaren Berg - ebenen, die, gleich dem Meere, mit dem Horizont zu - ſammenfließen, ohne daß auch nur der kleinſte Buſch ihre erhabene Einförmigkeit unterbricht, ſind weite Sümpfe, welche das verfolgte Wild (die Grouſe, eine Art Feld - oder Birkhuhn, den engliſchen Inſeln eigen - thümlich) als Lieblingsaufenthalt wählt. Dieſe Süm - pfe ſind voll kleiner Erhöhungen, die durch Heide - kraut gebildet werden, und, wie ſo viel Maulwurfs - hügel, in geringer Entfernung von einander darin vertheilt ſind. Nur, indem man von einer dieſer44 Erhöhungen auf die andere ſpringt, kann man den Sumpf paſſiren. Verfehlt man ſie in der Hitze der Jagd, und findet nicht gleich eine andere in der Nähe, ſo iſt man ſicher, in dem grundloſen Moraſte zu verſinken. Das einzige Rettungsmittel bleibt zu - letzt noch, ſchnell die Arme auszubreiten, oder ſich mit dem horizontalliegenden Gewehr zu halten, bis end - lich Hülfe kommt, oder es Einem gelingt, den näch - ſten Hügel zu erfaſſen.

Schlimmer und gefährlicher als alles dies aber iſt es, von einem der, faſt wild zu nennenden Stiere des Gebürges attaquirt zu werden. In dieſem Fall befand ſich Herr W .... öfters, entkam jedoch immer glücklich, wiewohl auf verſchiedene Weiſe. Einige - mal erſchoſſen er ſelbſt oder ſeine Begleiter, den Bullen, ehe er noch nahe kam, ein anderesmal rettete er ſich in einen der eben beſchriebenen Sümpfe, wo - hin das wüthende Thier zwar nicht folgen konnte, ihn aber doch länger als eine Stunde förmlich darin belagerte. Die Geſchichte des letzten Anfalls aber ſchien mir beſonders merkwürdig, und beweist, daß ein Menſch, mit Kraft, Muth und Gewandtheit aus - gerüſtet, wohl jedem andern lebenden Geſchöpfe, allein widerſtehen mag. Obriſt W .... war nur von einem Freunde und einem Eingebornen begleitet, welcher den Hund führte, und mit einem langen weißen Sta - be, wie ſie hier gebräuchlich ſind, verſehen war. Des Obriſten Freund ſchoß eine Grouſe, und in demſel - ben Moment ſahen ſie, in der Diſtanz von ohngefähr45 achtzig Schritt, einen Stier mit Wuth auf ſie zuſtür - zen. W. rief ſeinem Freunde zu, ſchnell zu laden, während er den erſten Schuß thue, und legte an, als der Spürer rief: Verſprecht ihr mir ein Glas Whiskey extra zu geben, ſo will ich allein mit dem Stier fertig werden. Indem drückte W. ſein Gewehr ab, fehlte aber, ſein Freund war noch nicht mit La - den fertig, und kaum hatte er Zeit dem Manne zu - zurufen: Ein Dutzend Flaſchen ſollſt Du haben als ſie dieſen Helden der Berge auch ſchon, in dem - ſelben Tempo, mit dem der Stier auf ſie zuſtürzte, ihm ſelbſt entgegenrennen ſahen. Im Nu waren beide aneinander. Mit der größten Gewandtheit er - griff der junge Mann eins der Hörner des Bullen, deſſen Kopf die Erde ſtreifte, ſchwenkte ſich einen Schritt ſeitwärts, und denſelben Schritt dann wäh - rend des Sprungs ſeines Gegners mit Blitzesſchnelle wieder zurückthuend, faßte er mit beiden Händen des Bullen Schweif, ohne deshalb ſeinen weißen Stock fahren zu laſſen. Alles dies war mit der Geſchwin - digkeit des Gedankens verrichtet worden und nun begann der ſeltſamſte Wettlauf, den man je geſehen. Der Stier wandte alles an, die an ſeinem Schweif hängende Laſt abzuſchütteln, aber vergebens. Berg auf, bergab, über Felſen und Waldbäche rannte er, wie raſend, umher, doch ſein Begleiter, gleich einem Kobold, ſchwang ſich mit ihm über jedes Hinderniß, oft an des Schweifes Spitze mehr in der Luft ſchwe - bend, als laufend. In kurzer Zeit ward das Thier von Angſt und Rennen ermattet, und ſank endlich46 am Fuß eines weiten Raſenabhanges, grade unter dem Ort, wo Mr. W und ſein Freund erſtaunt dem Ausgang entgegenſahen, völlig erſchöpft und kraftlos nieder. Jetzt aber begann erſt ſeine regel - mäßige Strafe, und wahrſcheinlich ward dieſes In - dividuum an dem Tage, für immer von ſeiner wil - den Laune kurirt. Denn nun gebrauchte der Hirt ſeinen, mit Blei ausgegoſſenen, und mit einer Eiſen - ſpitze verſehenen Stab, den er zu dieſem Ende wohl - weislich beibehalten hatte, als Correktionsmittel, und damit den widerſpenſtigen Bullen faſt lebendig ger - bend, zwang er ihn den Berg ſich wieder hinanzu - ſchleppen, wo er zuletzt, zu Mr. W Füßen, die Zunge weit aus dem Halſe ſtreckend, zum zweiten - male lechzend niederſank, und in dieſem Zuſtande gänzlicher Machtloſigkeit von ihnen verlaſſen wurde. Der junge Bauer, den Mr. W als ein Wunder jugendlicher Kraft und Agilität beſchrieb, ſchien ſei - nerſeits nicht im Geringſten von der Jagd ermüdet, noch eitel auf ſeine That, ſondern, ruhig den wegge - worfenen Pulverſack und die Hundeleine wieder auf - ſuchend, verlor er kein Wort weiter über das Ver - gangene, als dem Obriſten, indem er vergnügt mit den Augen winkte, zuzurufen: Now Master, don’t foryet the bottles! (Nun Herr, vergeßt die Flaſchen nicht!)

Herrlich muß eine Hetzjagd ſich in dieſen Felſen ausnehmen! bald auf der Höhe oder an ihren Seiten hinſtürmend, bald Fuchs und Hunde über Abgründe47 ſetzend, oder Alles plötzlich, wie ein Schattenbild, in der Bergſchlucht verſchwindend. Col. W ſah einſt eine ſolche Hungry-Hill, wo die ganze Meute unter dem Waſſerfall durchjagte, ihr Heulen und Bellen mit dem Brauſen der Waſſer wild vermiſchend bis zu - letzt Reinecke daſſelbe Schickſal hatte, welches drei bis vier Hunde ſchon vorher betroffen, nämlich, von den glatten Felſen abzuglitſchen, und unter der Jäger Gejubel, die unten im Wieſenkeſſel auf einem vor - ſtehenden Felſen der Jagd bequem zuſahen, viele Hundert Fuß zu ihren Füßen herabzuſtürzen, wo alle ſeine Liſt und alle ſeine Noth ein Ende fand.

Soll ich nun noch mehr erzählen?

Wohlan noch einmal Hexen! ſattelt mir den Pony und dann Valet dem Lande der Mährchen, der Felſen und der ſeit Jahrtauſenden an ihnen nagenden, noch immer ihre weißen Zähne fletſchen - den, Wogen.

Sitze dann auf mit mir Julie! en croupe wie ein irländiſches Mädchen, und folge mir ſchnell durch die Lüfte, zurück nach Iveragh, der Wildniß O’Connel’s. Freilich iſt es ein Land der Adler und Geyer, ſtür - mender Wellen und abgeriſſener Felſen! aber dennoch giebt es dort einen Platz in Ballinskellig-Bay, ohn - fern O’Connel’s Schloßabtei, wo in alter Zeit mancher Tanz getanzt, und manche Heirath geſchloſſen wurde. Denn ruhig und lieblich war der einſame Fleck mit ſeinem ſammtnen Boden, hohe Felswände ſchützten48 ihn vor dem Sturm, und glatter Sand, wie Atlas, ſenkte ſich bei der Ebbe nach dem Meere hinab, das in der hellen Mondſcheinnacht, gleich dem Reſte der Schöpfung, zu ſchlummern ſchien, ſeine kleinſten Wel - len nur ſelten, vom Hauch des Zephyrs berührt, wie im Traume ſich regend und kräuſelnd.

In einer ſolchen Nacht war es, daß Maurice Adair, der Piper*)Adair wird Adehr, Piper Peiper ausgeſprochen. ſeinem Dudelſack die einladendſten Töne entlockte, und die Jugend von Iveragh das Feſt ihres Heiligen, luſtiger als je, mit Tanz und Frohſinn feierte. Maurice war ein ſchöner und rüſtiger jun - ger Burſche aber blind. Der Aermſte hatte nie der Sonne Licht geſehen, und Tag und Nacht war ihm gleich. Seiner Phantaſie ſchwebten aber dennoch undeutliche Bilder von[Schönheit] und herzbewegen - den Reizen vor, wenn ſein Ohr die ſüßen Stimmen der[Mädchen] vernahm, oder ſeine Hand einen wei - chen Schwanenhals fühlte, oder auch, gleich Blumen - duft, ein roſiger Athem ſeine Wange berührte. Mau - rice war verliebt, aber noch ohne Gegenſtand und ſein Sehnen wußte ſich nur in Melodien zu ergießen, die im einſamen Geſang, oder den Lauten ſeiner bag pipe**)Ausgeſprochen: Begpeip, der Dudelſack der Irländer, dem ſie jedoch weit complizirtere Eigenſchaften zu geben und ſanftere Töne zu entlocken wiſſen, als die Wen - den, Polen ꝛc. dem ihrigen. A. d. H. gar anmuthig ertönten. Maurice’s Muſik49 aber konnte noch weit mehr bewirken. Er hatte in ſeinem Inſtrumente einen Ton der wunder - volle Ton genannt, und wie man glaubte, von einem Elfen erſt hineingebannt einen Ton, der, gleich Hüons Horn und gewiß von derſelben Abſtam - mung, Niemand hören konnte, ohne ſogleich ſeine Tanzluſt zur unwiderſtehlichen Leidenſchaft anwachſen zu fühlen. Wie manches junge Mädchen in der Stadt, das eben ihrem erſten Balle beiwohnt, und keinen ſolchen Stimulus bedarf, würde doch viel darum geben, im Beſitz jenes Tones zu ſeyn, um die trägen Dandee’s zu ermuntern, von denen einer nach dem andern ſich wegſchleicht, oder auf dem Sopha liegt, dem dolce far niente hingegeben, ſtatt ſich mit ihr im Cottillon herumzudrehen. Hier, auf der mondbe - glänzten Wieſe, bedurften jedoch die aufgeweckten Bauerburſche keines fremden, unwiderſtehlichen Rei - zes. Hinlänglich war die Anregung ihrer eignen Luſt, und Maurice, unermüdlich aufſpielend, ergötzte ſich ſelbſt, in ſeinen lüſternen Gedanken, an dem, was die Andern in der Wirklichkeit, und deshalb vielleicht weniger innig genoſſen. Doch fing auch er endlich an, ſich nach einiger Realität zu ſehnen, und da Mu - ſikanten nicht nur verliebter, ſondern auch durſtiger Natur zu ſeyn pflegen, irländiſche Muſikanten aber ohne Zweifel beide Bedürfniſſe in doppeltem Maße empfinden, ſo verſäumte auch Maurice nicht, die an - genehmen Bilder ſeiner Phantaſie gar fleißig mit heißem Whiskeypunſch zu erfriſchen. Bald ſchien es ihm, als drehe ſein Kopf ſich noch ſchneller als dieBriefe eines Verſtorbenen. II. 450wirbelnden Paare, ja ganz Iveragh ſchaukelte unter ſeinen Füßen. O, noch ein Glas, Kitty! und einen Kuß dazu, rief er ſtammelnd aber Kitty, bange für des Tanzes Ende, wenn der Whiskey die bag pipe des Piper’s Händen entriſſe, verſagte ſtandhaft den Labetrank. Immer heftiger beſtand dieſer auf ſeinem Begehren doch Kitty blieb unerbittlich. Wer ſoviel trinkt, braucht nicht zu küſſen, und über - dem mußt Du ſpielen, ſagte ſie, damit wir tan - zen, und kaum kannſt Du ja mehr die Finger rüh - ren. Ich nicht mehr die Finger rühren? ſchrie Maurice entrüſtet nun ſo ſollſt Du, und ihr Alle, tanzen, bis ihr genug habt, und Euch mehr nach einem Tropfen Waſſer ſehnt, als ich jetzt nach einem Glaſe geſegneten Whiskeypunſches! Im Zorne hier - auf die bag pipe an ſich drückend, erſchallte laut und ſchmetternd der wunderbare Ton und augenblicklich, in wildem Getümmel, wirbelte alt und jung durcheinander. Aber ſieh! das ſchlafende Meer ſelbſt erwacht, und hervor kommen Krabben und See - krebſe, eine zierliche Menuet auf dem glatten Sande executirend. Die Meerſpinne tanzt vor, unnachahm - liche Pas mit ihren langen Beinen vollbringend, und Codfiſch und Steinbutt, Schellfiſch und Sohle balan - ciren auf ihren Schwänzen mit aller Grazie, die ihnen zu Gebote ſteht. Seehunde ſelbſt verſuchen den neueſten Gallopwalzer, und Auſtern, ihre Scha - len öffnend, gleiten dahin, mit dem Anſtand einer Pariſerin, die, die Ellenbogen ründend, beide Seiten ihrer Robe zierlich emporhebt. Staunend wurden51 dieſe ganz neuen Tänzer tanzend empfangen, unter denen ſich Maurice, fortwährend blaſend, und nichts von allem gewahrend, ſchadenfroh mit herumdrehte. Doch, da theilen ſich nochmals die Fluthen, und her - vorſchwebt, in wollüſtig reizendem Tanz, die ſchönſte der Meerjungfrauen. Friſch wie der junge Morgen war ihr Antlitz, ihr langes Haar ſtrömte herab über den ſchneeweißen Buſen, gleich durchſichtigen Wellen, röther blühten die Lippen als des Oceans feurigſte Corallen, blendender glänzten die Zähne als ſeine koſtbarſten Perlen. Ihr ſilbernes Gewand aber ſchien gewebt aus dem Schaume der Wogen, mit unbe - kannten Seeblumen geſchmückt, reicher ſchimmernd in brennenden Farben als Indiens funkelndſter Edel - ſtein.

Man ſah ihr an, daß Damen, unter wie über dem Waſſer, viel Sorge auf ihre Toilette verwenden, be - ſonders wenn ſie eine Eroberung beabſichtigen. Der Ausſage der Augenzeugen nach, hatte man nie einen verführeriſcheren, coquetterern Anzug geſehen, als den ihrigen, der ſo gut Schönes zu enthüllen, und noch viel beſſer errathen zu laſſen wußte. Nur der arme Maurice ſah von alle dem nichts, und doch war er es, auf den allein die Seekönigin es abgeſehen hatte, denn wenige Augenblicke nur waren vergangen, als in der Verwirrung des Tanzes, ihre Arme ihn ſanft umfingen, und eine melodiſche Stimme in ſüßen Tönen ihm zurief:

4*52
Mein Reich iſt das Meer,
Und prachtvoll mein Schloß.
Komm Maurice Adair,
Komm ſchwing dich auf’s Roß.
Das Seepferd, horch! ſchnaubet,
Und harret auf Dich,
Der das Herz mir geraubet
Nun herrſcht über mich!
So komm denn, und eile,
Geſchmückt iſt der Saal,
Nicht länger mehr weile
Und ſey mein Gemahl!

Es ſcheint, daß Maurice dieſer eindringenden Ein - ladung mit nicht weniger Empreſſement entgegen kam, denn, obgleich ſeine alte Mutter, die ebenfalls ſeit einer halben Stunde, wie raſend, umherſpringen mußte, und ſchon beide Holzſchuhe, nebſt mehreren der weſentlichſten Kleidungsſtücke verloren hatte ihren letzten Athem anſtrengte, ihm kläglich nachzu - rufen, doch um Gottes und St. Patricks Willen kei - nen Fiſch zu heirathen, obgleich ſie, als letztes Argument, ſelbſt anführte, daß ſie ja künftig nicht einmal mehr Stockfiſch mit zerlaſſener Butter eſſen könne, ohne fürchten zu müſſen, vielleicht ihren eignen Enkel zu verſpeiſen ſo war doch Alles umſonſt! halb zog ſie ihn, halb ſank er hin und als der wundervolle Ton verhallte, und alle Tänzer er - mattet Luft ſchöpften, hatte bereits eine hohe Welle, welche während der ganzen Zeit hinter ihnen geſtan - den (wahrſcheinlich das erwähnte Leibroß der Köni -53 gin) beide verſchlungen, und nur ein leiſes: Lebewohl Mutter! das der Wind herübertrug, war der letzte Laut den man je von Maurice dem Piper ver - nahm.

Auch mein Brief ſchließt hiermit, liebe Julie; noch weiß ich nicht, woher ich Dir den nächſten adreſſiren werde, aber wenn Du meiner gedenkſt, ſo ſage Dir nur, daß ich mich nie wohler, und froher befand.

Dein ewig treuer L ....

[54]

Sechs und dreißigſter Brief.

Geliebte Theure!

Das Scheiden ward mir ſchwer Du jedoch, die mich ganz wo anders hinwünſcheſt, wirſt gewiß ſagen, daß ich ſchon viel zu lange geblieben und ſo riß ich mich denn los, von den guten Leuten, und ihrem romantiſchen Wohnſitz. Es war grade Sonntag, und die alte Dame konnte ſich nicht enthalten, ohngeach - tet ihrer ſichtlichen Herzlichkeit für mich, ſtrafend aus - zurufen: Aber wie iſt es möglich, daß ein guter Menſch wie Sie, an einem Sonntag eine Reiſe antreten kann! Du weiſt, daß die engliſchen Prote - ſtanten ſchon von Jacob des I. Zeiten an, wo dieſe Vergötterung des Sonntags anfing, und bald wüthen - de Partheiſache wurde, jetzt faſt allgemein dieſen Tag zu einem wahren Todtentage geſtempelt haben, an55 dem Tanz, Muſik und Geſang verpönt ſind, ſo daß ganz Fromme ſelbſt die Kanarienvögel verhängen, damit ihnen kein Singlaut in der heiligen Zeit ent - fahre. Auch darf kein Brod gebacken und kein nütz - liches Geſchäft überhaupt verrichtet werden, wohl aber mögen Trinken und andere Laſter noch üppiger als an Wochentagen blühen, denn niemals liegen die Straßen mehr voller Betrunkenen als am Sonntag, und niemals ſind, den Polizei-Ausſagen nach, gewiſſe Häuſer voller mit Beſuchern angefüllt. Viele Eng - länder halten das Tanzen am Sonntage unbedingt für eine größere Sünde als blos etwas zu ſtehlen oder dergleichen, und ich las ſogar in einer Geſchichte von Whitby gedruckt, daß die dortige einſt reiche Abtey habe untergehen müſſen, weil die Mönche nicht nur jedes Laſter, Mord und Nothzucht nicht ausge - nommen, ſich erlaubt, ſondern ihr verbrecheriſcher Abt, ſelbſt am heiligen Sonntage habe arbeiten, und den Bau des Kloſters fortſetzen laſſen.

Von dieſem Wahne war denn auch die gute Mi - ſtriß W .... angeſteckt, und es ward mir ziemlich ſchwer, die begangene Sünde mit der dringendſten Nothwendigkeit zu entſchuldigen. Um ſie jedoch völ - lig zu beſänftigen, fuhr ich vorher noch mit der gan - zen Familie, auf der Bay, zur Kirche nach B ...., welche nicht ſehr außer meinem Wege lag. Ich er - zählte ihnen bei dieſer Gelegenheit die ſeltſame Viſion eines der Söhne meines früheren gütigen Wirthes, des Capitains B ....., der dadurch zum Uebergang zu56 der katholiſchen Kirche vermocht wurde. Er war, wie er mir ſelbſt ſagte, ein eben ſo eifriger Proteſtant, als Orangemann, und ging eines Tags, in Dublin, in die katholiſche Kirche, mehr um ſich über die dort ſtatt findenden Ceremonien luſtig zu machen, als aus einem andern Grunde. Dennoch rührte ihn wider Willen die ſchöne Muſik, und als er jetzt den Blick auf den Hochaltar zurückwarf, ſiehe da ſtand der Erlöſer ſelbſt leibhaftig vor ihm, mit Engelsmilde das Auge feſt auf ihn gerichtet, lächelte ihn freund - lich an, winkte mit der Hand, und ſchwebte dann langſam ihn fortwährend feſt anblickend, zur Kuppel empor, bis er dort, von Engeln getragen, verſchwand. Von dieſem Augenblick an war B ..... überzeugt, ein beſonderer Liebling Gottes zu ſeyn, und wenige Tage darauf trat er zu einer andern alleinſeligma - chenden Kirche über (denn die orthodoxe engliſch pro - teſtantiſche glaubt dieſes Privilegium auch zu be - ſitzen). Wie philoſophiſch urtheilten meine gläubigen Freunde über dieſe Bekehrung! Iſt es möglich, rie - fen ſie, welcher craſſe Aberglaube! gewiß, das war entweder eine Fieberphantaſie oder der Menſch iſt ein Heuchler und hatte andere Gründe; entweder iſt er toll, oder er erfand das Mährchen nur zu ſeinem Vortheil.

O Menſchen, Menſchen! wie recht hat Chriſtus, wenn er ſagt: Ihr ſeht den Splitter im fremden Auge, und den Balken im eignen nicht! Gewiß, es geht uns Allen ſo, mehr oder weniger, und ich neh -57 me ſicherlich Deinen armen Freund nicht von der all - gemeinen Regel aus.

Wir trennten uns endlich, nicht ohne gegenſeitige Rührung; worauf mich (deſſen excentriſche Art zu reiſen übrigens den jungen Damen ſehr gefiel) ein Bergkarren aufnahm, mit einem Gaule beſpannt, der keineswegs eine glänzende apparence hatte. Die be - ſtimmte Tagereiſe betrug 30 Meilen, und begann äu - ßerſt langſam. Nach einiger Zeit ward das elende Pferd beim Bergſteigen ſogar ſtetiſch, was mich ei - nigemal zwang, den Wagen zu verlaſſen, um nicht etwa in irgend einem Abgrund begraben zu werden. Das entetirte Thier mußte nun[fortwährend] am Zau - me geführt werden, oder es weigerte ſich einen Schritt weiter zu gehen. Eine ganze Weile trabte der Kut - ſcher rüſtig daneben her, konnte es aber am Ende nicht länger aushalten, und der Himmel weiß, was aus uns geworden wäre, wenn wir nicht zum Glück einen Reiter begegnet hätten, der einwilligte, ſein Pferd ſtatt des unſrigen einzuſpannen, mit welchem ich denn Macroom erſt ſpät Abends erreichte. Unter - wegs ſtieß mir nichts Merkwürdiges auf, als der ſo - genannte Glen, ein langer und tiefer Felſenpaß, in dem, zu der Zeit der Verſchwörung der white boy’s, Lord B. und Col. W .... von dieſen, welche die Höhen beſetzt hatten, überfallen wurden, und ihnen nur mit genauer Noth entgingen. Die white boy’s hatten ihre Maaßregeln ſehr gut getroffen, und wäh - rend der Nacht einen großen Felsblock abgelöst, den58 ſie beim Anmarſch der Truppen plötzlich mitten in den Weg herabrollen ließen, wodurch das gegen ſie geſen - dete Cavallerie-Detachement nicht nur unvermuthet am weitern Vordringen gehindert wurde, ſondern ſich zugleich, von hinten abgeſchnitten, in einer verzweif - lungsvollen Lage ſah. Sehr viele kamen dabei um, die beiden genannten Gentlemens aber, welche vor - treffliche Hunters ritten, entkamen glücklich durch ihre Hülfe, indem ſie ſich einen faſt impractikabeln Weg an den Felsabhängen bahnten, während ein unun - terbrochner Kugelregen auf ſie herabſauste. Obriſt W .... wurde jedoch nur leicht am Arme verwundet, Lord B. blieb ganz unverſehrt.

In der überaus wilden Gegend liegt, ohnfern von hier, ein großer See mit einer bebuſchten Inſel in ſeiner Mitte. Hier ſteht eine heilige Capelle, zu der alljährlich große Wallfahrten angeſtellt werden. Die[vorgerückte] Tageszeit erlaubte mir jedoch nicht, ſie näher zu beſichtigen.

Macroom iſt ein recht freundlicher Ort, mit einem ſchönen Schloß, dem Onkel der reizenden Afrikanerin (dem ihres Mannes eigentlich) gehörig. Sie hatte mir einen Brief an ihn mitgegeben, ich machte aber keinen Gebrauch davon, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.

59

Sehr früh verließ ich Macroom, in einem Gingle, eine Art bedeckter Diligence mit zwei Pferden. Es regnete und ſtürmte wieder; denn, gute Julie, ich befinde mich überhaupt nicht mehr, wie die Irländer hübſch ſagen: an der Sonnenſeite des Lebens.

Drei Frauenzimmer waren mit mir im Wagen, und ein fünfjähriger großer Bengel, der ſich ſehr unnütz machte, und von ſeiner ſonſt recht hübſchen und lebhaften Mama entſetzlich verzogen wurde. Ob - gleich er eine große Semmel und ein gleiches Stück Kuchen vor ſich hatte, an denen er fortwährend ſpeiste, und den Wagen mit Krumen und Brocken anfüllte, wurde doch ſeine üble Laune bei jeder Gelegenheit rege. Das Geſchrei, welches er dann erhob, und das Getrampel ſeiner Füße, das er oft, ganz unbeküm - mert, auf den meinigen ſpielen ließ; die Begütigun - gen der Mutter und ihr zu Hülferufen des Mannes, der auf der Imperiale ſaß; dann ihre beſtändigen Bitten, doch einen Augenblick anzuhalten, weil dem armen Wurme vom Fahren übel geworden ſey, oder weil er trinken, oder noch etwas anders thun müſſe; zuletzt gar eine ſich verbreitende mephytiſche Luft, welche die Mama ſelbſt zwang die Fenſter zu öffnen, die ſie bisher, aus Furcht, der Kleine möchte ſich, ohngeachtet ſeines Pelzes, erkälten, ſtets hermetiſch zugehalten hatte; es war eine wahre Gedulds - probe! Auch für ſich ſchien die junge Frau eben ſo60 ängſtlich als für ihr Kind, denn ſo oft der Wagen etwas auf die Seite hing, fing ſie an zu ſchreien, und klammerte ſich, mir faſt um den Hals fallend, mit beiden Händen an mich an. Dies war noch das erträglichſte meiner Leiden, und es beluſtigte mich deshalb, ihre Angſt oft ein wenig zu vermehren. In den Zwiſchenakten erklärte ſie mir mit vielem Patrio - tismus die Merkwürdigkeiten der Gegend, machte mich auf die ſchönen Ruinen aufmerkſam, und er - zählte mir ihre Geſchichte. Zuletzt zeigte ſie mir einen, mitten im Felde ſtehenden, ſpitzen und thurm - artigen Stein, und ſagte, daß dieſen ein Dänenkönig von dort über den See geworfen habe, um ſeine Stärke zu zeigen. Auch ihr Mann mußte von der Imperiale herunter, um dieſen Stein zu bewundern, wobei ſie ihm ſpottend verwies, daß die jetzigen Männer, wie er z. B., nur elende[Schwächlinge] gegen jene Rieſen[wären]. Zugleich übergab ſie ihm den Jungen, um ihn bei Seite zu tragen. Der Aermſte machte ein langes Geſicht, zog die Nachtmütze über die Ohren und folgte geduldig dem Befehl.

Das Land wird jetzt ſehr fruchtbar, voll reicher Feldfluren; hie und da ſieht man ſtattliche Landſitze. Cork ſelbſt liegt in einer tiefen Schlucht, höchſt male - riſch, am Meer. Es hat ein alterthümliches Anſehn, welches noch origineller durch die Bekleidung vieler Häuſer über und über mit ſchuppenartigen Schiefer - panzern wird. Prachtvolle Gebäude ſind die beiden neuen[Gefängniſſe], das der Stadt, und das der Graf -61 ſchaft, wovon das eine im antiken Geſchmack, das andere im gothiſchen Styl aufgeführt iſt, und einer großen Feſtung ähnlich ſieht.

Nachdem ich gefrühſtückt, und mehrere kleine Häus - lichkeiten beſorgt hatte, miethete ich ein ſogenanntes Wallfiſchboot (ſchmal und ſpitz an beiden Enden, und daher ſicherer und ſchneller als andere) und ſegelte bei gutem Winde, in der Bay, welche the river of Cork genannt wird, nach Cove, wo ich mir vornahm, zu Mittag zu ſpeiſen. Ein Theil dieſer, ohngefähr eine Viertelſtunde breiten Bucht, bildet für Cork, von der Meerſeite, eine der ſchönſten Entreen in der Welt! Beide Ufer beſtehen aus ſehr hohen Hügeln, die mit Palläſten, Villen, Landhäuſern, Parks und Gärten bedeckt ſind. Auf jeder Seite bilden ſie, in ungleicher Höhe ſich erhebend, die reichſte, ſtets ab - wechſelnde Einfaſſung. Nach und nach tritt dann, in der Mitte des Gemäldes, die Stadt langſam her - vor, und endet auf dem höchſten Berge, der den Ho - rizont zugleich ſchließt, mit der imponirenden Maſſe der Militairbaracken. So iſt der Anblick von der See aus. Nach Cove zu, verändert er ſich öfters, nachdem die Krümmungen des Canals die Gegen - ſtände anders vorſchieben. Die eine dieſer Ausſichten ſchloß ſich ungemein ſchön mit einem gothiſchen Schloß, das auf den, hier weit hervorſpringenden Felſen, mit vielem Geſchmack von der Stadtcommune erbaut worden iſt. Durch die vortreffliche Lage gewinnt es nicht nur an Bedeutung, ſondern es erſcheint, wenn62 ich mich ſo ausdrücken darf, wie natürlich dort, wäh - rend dergleichen, an andern Orten, ſo oft nur als ein unangenehmes hors d’oeuvre auffällt. Obwohl ich glaube, daß wir den Engländern in der edlern Baukunſt überlegen ſind, ſo fehlen wir doch darin, daß wir bei unſern Gebäuden viel zu wenig die Um - gebung und die Landſchaft umher berückſichtigen. Dieſe aber iſt es grade, welche größtentheils für den zu wählenden Styl entſcheiden ſollte.

Die Burg hier ſchien für irgend einen alten See - helden beſtimmt, denn der Eingang war blos vom Meer aus angebracht. Ein coloſſales Thor, mit Wap - pen verziert, in das die Fluthen bis an den Fuß der Treppe drangen, wölbte ſich über der ſchwarzen Oeff - nung. Ich dachte mir Folko mit den Geyerflügeln, wie er eben von einem gewonnenen Seetreffen hier - her zurückkehrt, und belebte mir das Meer mit Phan - taſiebildern aus Fouque’s Zauberring.

Wir ſegelten hierauf mit gutem Winde bei Paſſage, einem Fiſcherdorf, und Morkstown vorbei, das ſei - nen Namen (Mönchsſtadt) von einer, im Walde dar - über liegenden, Kloſterruine herſchreibt. Hier fing der, eine Zeit lang unterbrochne Regen, wieder an, gab aber diesmal Gelegenheit zu einer herrlichen Naturſcene. Wir wandten uns, bei der Inſel Ar - boulen, in die enge Bay von Cove, die einen ſehr ſchönen Anblick gewährte, denn ihren Eingang bildet links eine hohe Küſte mit Häuſern und Gärten, rechts die genannte Berginſel, auf der ein Fort, weit -63 läuftige Marinegebäude und Storehäuſer ſtehen, die das Material für die Seemacht enthalten; vor uns aber, in der Bay ſelbſt, lagen mehrere Linienſchiffe und Fregatten der königlichen Flotte, nebſt einem zweiten Deportirtenſchiff vor Anker, und hinter dieſen erhob ſich die Stadt Cove, ſtufenweiſe am Berge auf - gebaut. Indem wir dies alles eben anſichtig wur - den, trat, an einem feuergelben Fleck des Himmels hinter uns, die dem Untergehen nahe Sonne, unter den regnenden Wolken hervor, während vorn ſich ein Regenbogen, ſo vollſtändig und tiefgefärbt, als ich ihn nie mich erinnere geſehen zu haben, über den Eingang der Bay ſpannte, aus dem Meere empor wachſend und wieder in daſſelbe herabſinkend, gleich einer Blumenpforte, Himmel und Erde zu verbinden beſtimmt. Innerhalb ſeines rieſenhaften Halbkreiſes erſchien das Meer und die Schiffe, die ein Berg in unſern Rücken ſchon vor der Sonne deckte, ganz ſchwarz, wogegen die abendlichen Strahlen, über das höhere Amphitheater von Cove, eine ſolche Glorie von Licht ergoſſen, daß die darin ſchwebenden See - möven wie klares Silber ſchimmerten, und jedes Fen - ſter in der, den Felſen hinanſteigenden, Stadt, wie glitzerndes Gold erglänzte. Dieſer unbeſchreiblich ſchöne Anblick hielt nicht nur in derſelben Beleuch - tung aus, während wir einfuhren, ſondern, kurz vor dem Landen, verdoppelte ſich der Regenbogen ſogar, beide Bögen in gleicher Schönheit der Farben bren - nend, worauf aber auch beide, als wir noch kaum den Fuß ans Ufer geſetzt, faſt im Augenblick ver - ſchwanden.

64

Ich etablirte mich nun ſehr vergnügt am Fenſter des kleinen Gaſthofs, in der Hoffnung, eine vortreff - liche Faſtenmahlzeit mit den delikateſten friſchen Fiſchen zu machen. Es blieb aber blos beim Fa - ſten, denn auch nicht ein Fiſch, noch Auſter, oder Muſchel war zu bekommen. In den kleinen Fiſcher - orten am Meer begegnet dies häufiger, als man glaubt, weil alles Disponible ſogleich zum Verkauf in die großen Städte gebracht wird. In dieſer Hinſicht war alſo mein Zweck ſchlecht erreicht, und ich mußte mich mit den gewöhnlichen, in engliſchen[Gaſthäu - ſern] unſterblichen, mutton chops begnügen. Doch ließ ich mir meine Laune dadurch nicht verderben, las ein Paar alte Zeitungen, deren ich lange nicht geſehen, zum kärglichen Male, und trat, nach ſchon eingebrochner Dunkelheit, meinen Rückweg zu Lande an. Ein offner Karren mit Strohſitz war Alles was ich mir verſchaffen konnte; der Wind blies kalt und heftig, und ich war genöthigt, mich dicht in meinen Mantel zu hüllen. Wir cotogirten das Meer in ziemlicher Höhe, und die vielen Lichter der Schiffe und Marinegebäude unter uns, glichen einer reichen Illumination. Fünf flackernde Flammen tanzten wie Irrwiſche auf dem ſchwarzen Schiffe der Deportirten, und ein Kanonenſchuß, der vom Wachtſchiff gefeuert wurde, donnerte dumpftönend durch die Stille der Nacht.

Als dieſe Ausſicht verſchwand, wendete ich meine Aufmerkſamkeit erſt auf den ungemein klaren Stern -65 himmel. Wer kann lange in die hehre Pracht dieſer flimmernden Weltkörper blicken, ohne von den tiefſten und ſüßeſten Gefühlen durchdrungen zu werden! Es ſind die Charaktere, mit denen Gott von jeher am deutlichſten mit den Menſchenſeelen geſprochen hat. Und doch hatte ich der himmliſchen Lichter nicht ge - dacht, ſo lange noch die irdiſchen glänzten! aber ſo geht es immer auf der Erde erſt wo dieſe uns verläßt, ſuchen wir den Himmel auf. Sie liegt uns ja auch näher, und ihre Autorität bleibt für uns die[mächtigſte] grade wie der Bauer mehr von der Perſon des Amtmanns, als der des Königs, in Zaum gehalten wird; der Soldat ſich mehr vor ſeinem Lieutenant fürchtet, als dem General en chef; der Hofmann mehr dem Günſtling, als dem Monarchen die Cour macht, und endlich der Fromme .... doch wir wollen darüber nicht weiter philoſophiren, liebe Julie, denn Dir brauche ich es ja nicht zu wiederho - len: qu’il ne faut pas prendre le valet pour le Roi. .

Wie ich aus den Zeitungen ſehe, trübt ſich der po - litiſche Himmel immer mehr. O, wäre ich jetzt dort! in jenen von den unſern ſo verſchiedenen Regionen, mitkämpfend in den Reihen der bisherigen Arriere - Garde der Civiliſation, welche ſich nun umdreht, um als Avantgarde ſie den Barbaren mit dem Schwerdt in der Fauſt zuzubringen, und im Lehren immerBriefe eines Verſtorbenen. II. 566beſſer ſelbſt lernend, vielleicht ſich bald an die Spitze des ganzen alternden Welttheils ſtellen wird. Nicht zu berechnende Folgen kann, muß dieſer Krieg ha - ben. Es iſt kein gewöhnlicher Türkenkrieg mehr. Alle Zeichen verkünden in ihm den Beginn einer neuen Weltepoche, und ſollte auch das europäiſche Intereſſe ſchwerlich jetzt noch keine Hauptcriſis geſtat - ten, ſo wird er doch der erſte der magnetiſchen Striche ſeyn (das baquet bilden die ruſſiſchen Kanonen) von denen der, ſeit ſo vielen Jahrhunderten, wie im unbe - weglichen Grabe ſchlummernde Orient, zum Hellſe - hen zu erwachen beſtimmt iſt. Wie unermüdlich wird hier Wirkung und Wechſelwirkung ſeyn, und welche Geheimniſſe wird der Magnetiſirte dem Magnetiſeur verrathen!

In Europa aber nimmt Cultur und Politik einen ſolchen Weg, daß hier der letzte Akt des Dramas unſ - rer Zeit ſich wahrſcheinlich nur mit einem allgemeinen commerziellen Kampf gegen England ſchließen kann, dem ſtolzen England, deſſen Handels-Univerſal-Mo - narchie ſchwereren Tribut von uns erhebt, als aller militairiſche Druck weiland Napoleons. Gewiß hatte dieſer Heros bei ſeinem Continental-Syſteme die rich - tige Anſicht gefaßt, woran es eigentlich Europa Noth thue. Er glich nur einem zu gewaltſamen Arzte, der vorläufig ſeinem Patienten[Hände] und Füße bindet, um ihm die, ſeiner Meinung nach, heilſame Medizin ſofort bongré malgré einzuflößen. Es war daher ſehr natürlich, daß ſich der Patient, ſobald er konnte,67 losgeriſſen, und den Arzt zur Thüre hinausgeworfen hat. ob er aber dennoch in der Folge die Cur nicht auf dieſe oder jene Art von neuem und freiwillig wird wieder anfangen müſſen, iſt eine andere Frage. Eng - land hat uns in der Civiliſation vorgeleuchtet, und iſt dadurch größer und mächtiger als Alle geworden, aber grade deshalb trägt es auch, nach den unwan - delbaren Geſetzen der Natur, die hier Vollkommen - heit des Einzelnen nicht geſtattet, wieder den Keim früheren Verwelkens in ſich. Unverträgliche alte und neue Elemente von gleicher Gewalt, die ſich in ihm bekämpfen, müſſen es über kurz oder lang von dem Gipfel herabziehen, auf dem es jetzt noch glänzt. Es wird dann, im Laufe der Civiliſation, Andern zum Schemel dienen, (ja vielleicht geſchah es ſchon) die nächſte Stufe zu erklimmen, nachdem es lange ſelbſt auf der höchſten wohnte, denn alles Irdiſche hat ſeine zugemeſſene Zeit. Iſt der Culminationspunkt ein - mal erreicht, ſo geht ohnfehlbar die Rückkehr an und faſt ſcheint es, als ſey die Epoche von Waterlow und der Sturz Napoleons ein ſolcher für England geweſen.

Sonderbar bleibt es immer, daß von jenen Inſeln her die mächtigſte Quelle der Freiheit und Aufklä - rung uns zuſtrömte, und wir dennoch fremde Des - potie grade dort zuletzt werden bekämpfen müſſen. Dieſe ſcheinbare Undankbarkeit herrſcht aber faſt überall in der Geſchichte. Einiges Nachdenken er - klärt und rechtfertigt ſie.

5*68

Um vier Uhr Nachmittags verließ ich geſtern Cork, in der Mail, neben dem Kutſcher ſitzend, deſſen vier Pferde ich gelegentlich dirigirte. Bis eine Stunde von der Stadt iſt die Gegend pittoresk, nachher ſchien ſie ziemlich unintereſſant, auch ward es bald dunkel. Nach einigen Stationen verließen uns die meiſten Paſſagiere, und ich ſetzte mich in den Wagen, wo mir ein dreiſtündiges tête à tête mit einer Dame beſcheert wurde leider war ſie indeſſen ſiebenzig Jahre alt, und eine Puritanerin, aber wie es ſchien keine Puriſtin. Dieſe unangenehme Geſellſchaft, ſo wie die Lobeserhebungen, welche ein früherer Reiſe - gefährte mir von dem neu erbauten gothiſchen Schloſſe zu Michelstown gemacht, bewogen mich, mitten in der Nacht, die Mail zu verlaſſen, und hier den Mor - gen zu erwarten. Um 7 Uhr weckte man mich, um das geprieſene Wunderwerk in Augenſchein zu neh - men. Ich fand mich aber ſehr getäuſcht, ſo wie ei - nige andere Fremde, die derſelbe Zweck hierher ge - führt hatte. Man zeigte uns allerdings einen großen und koſtbaren Steinhaufen, der dem Beſitzer 50,000 Pf. St. aufzuführen gekoſtet hatte, ein Hauptingredienz war aber dabei vergeſſen worden, nämlich guter Ge - ſchmack. Das Gebäude iſt erſtens viel zu hoch für ſeine Ausdehnung, hat nur Confuſion im Styl, ohne Varietät, eine ſchwerfällige Außenlinie, und machte überhaupt einen kleinen Effekt mit großer Maſſe. Dazu ſtand es kahl auf dem Raſen, ohne irgend eine69 maleriſche Unterbrechung, welche Schlöſſer im gothi - ſchen oder verwandten Styl grade am meiſten be - dürfen; auch der unanſehnliche Park beſaß weder eine ſchöne Baumgruppe, noch eine erwähnungswer - the Ausſicht.

Ich habe ſo viel Worte über dieſes manquirte Werk verloren, weil es, des Namens des Beſitzers, und der großen Koſten ſeines Baues wegen, eine ge - wiſſe Reputation in Irland hat. Wie unendlich über - legen iſt ihm jedoch die, vielleicht mit dem achten Theil dieſer Mittel ausgeführte, Anlage meines gu - ten Col. W ...., welche niemand kennt.

Die innere Verzierung des Schloſſes glich ſeinem Aeußern; in fünf Minuten hatten wir völlig genug daran, und da man zwar von einer ſchönen Ausſicht auf der Höhe des Thurms ſprach, aber den Schlüſſel dazu nicht finden konnte, ſo kehrten wir Alle verdrüß - lich in den Gaſthof zurück. Hier erzählte mir beim Frühſtück einer der Fremden allerlei Intereſſantes über die hieſige Gegend und Menſchen. Lord K , ſagte er, unter anderm, hat ſelbſt und in ſeiner Fa - milie ungewöhnliche Avantüren erlebt. Er iſt jetzt als einer der eifrigſten Orangemen mehr gefürchtet als geliebt. Sein Vater wurde, erſt zwölf Jahr alt, mit der zehnjährigen Erbin alles des jetzt von der Familie beſeſſenen Vermögens vermählt, wobei Hof - meiſter und Gouvernante die Inſtruction erhielten, die jungen Eheleute wohl bewachen, und vor jedem tête à tête bewahren zu laſſen. Indeſſen So -70 mehow or other wie mein Irländer ſagte, kamen ſie drei Jahr ſpäter dennoch einmal zuſammen, und der jetzige Lord war das Reſultat dieſer kleinen equi - pée. In der Folge bekamen ſie noch mehrere Kinder, von denen ich, beiläufig geſagt, einen Sohn in Wien kannte. Er war ein ausgezeichnet ſchöner Mann, und berühmt durch ſeine bonnes fortunes; damals der erklärte Liebhaber der Herzogin von .... die er mit ſo wenig gêne behandelte, daß, als er mich einſt in dem Hotel, wo beide wohnten, zum Früh - ſtück eingeladen hatte, ich die Herzogin allein dort antraf, während er ſelbſt erſt ſpäter, aus ſeiner, oder ihrer, Schlafſtube, ich weiß nicht welcher, im Schlaf - rock und Pantoffeln eintrat.

Das jüngſte Kind des Lord’s war eins der reizend - ſten Mädchen in Irland geworden. Sie zählte erſt ſechzehn Jahr, als ſich ein Vetter von mütterlicher Seite, ein verheiratheter Mann, mit Namen F , ebenfalls in dem Ruf ein unwiderſtehlicher Weiber - verführer zu ſeyn, in ſie verliebte, und auch dieſen Ruf ſo glänzend bei ihr beſtätigte, daß er ſie, die angebetete Tochter des mächtigen Grafen, vermochte nicht nur ihm ihre Unſchuld zu opfern, ſondern ſogar als förmliche Maitreſſe nach England zu beglei - ten, wo er beinahe ein Jahr lang, erſt verborgen, mit ihr lebte, zuletzt aber die Effronterie hatte, ſie nach einem der beſuchteſten Badeörter zu bringen. Hier wurde natürlich ihr Aufenthalt entdeckt, und ſie zum zweitenmal, aber diesmal auf Befehl ihres Va -71 ters, entführt, und im Norden Englands in ſichern Verwahrſam gebracht. F ...., vielleicht nur durch den erfahrenen Widerſtand der Familie angeregt, be - ſchloß, ſie, es koſte was es wolle, wieder in ſeine Gewalt zu bekommen, und da er glaubte, man habe ſie auf die väterlichen Beſitzungen zurückgebracht, eilte er unverzüglich, durch eine Verkleidung gänzlich entſtellt, nach Irland. Hier logirte er ſich in dem - ſelben Gaſthof ein, in dem wir jetzt eben frühſtück - ten, und ſuchte den Aufenthalt ſeiner Geliebten zu erſpähen. Seine gelegentlichen Erkundigungen, ſein ganzes geheimnißvolles Benehmen, und der unglück - liche Umſtand, daß ein früherer Bekannter von ihm äußerte, er habe nie eine größere Aehnlichkeit geſe - hen, als zwiſchen dem Fremden und dem berüchtigten F ſtatt finde erweckten den Argwohn des Wirths, welcher ſogleich ſich aufmachte, um Lord K .... ſeinen Verdacht mitzutheilen. Dieſer em - pfing die Mittheilung ſcheinbar ganz gelaſſen, und empfahl dem Angeber blos die größte Verſchwiegen - heit. Dann frug er, zu welcher Zeit der bewußte Fremde gewöhnlich aufzuſtehen pflege, und als er vernahm, daß dies nie vor acht Uhr der Fall ſey entließ er den Wirth mit einem Geſchenk, und ſetzte hinzu, daß er morgen früh um ſechs Uhr ſelbſt die Sache unterſuchen werde, wo er ihn bäte, ſeiner allein zu warten. Der Morgen kam, und mit ihm pünktlich der Graf. Ohne weitere Umſtände, ſtieg er, in Begleitung des Wirths, die Treppe hin - an, und verlangte von des Fremden Diener, ihm72 augenblicklich das Zimmer ſeines Herrn zu öffnen; als dieſer ſich weigerte, brach er ſelbſt die Thüre mit einem kräftigen Fußſtoße ein, ging dann zum Bette, wo F , vom Lärm aufgeſchreckt, ſich eben aufrichtete, ſah ihn feſt an, zog, als er an ſeiner Identität keinen Zweifel mehr hegte, ein Piſtol aus der Taſche und zerſchmetterte ganz ruhig dem mo - dernen Don Juan den Kopf, deſſen Leichnam ohne einen Laut in das Bett zurückſank. Die Folge be - weiſt, wie leicht es in England die Geſetze einem Vornehmen und Mächtigen machen, ſich ihnen zu entziehen, wenn kein noch Größerer da iſt, der ein Intereſſe hat, Rechenſchaft von ihm zu fordern. Lord K wurde zwar in Unterſuchung gezogen da er aber Sorge getragen, ſich mit den einzigen beiden Zeugen zu arrangiren und ſie in Folge deſſen zu ent - fernen, ſo ward er, wegen Mangel eines Klägers und Beweiſes freigeſprochen. Für dieſelbe Sache darf nun in England Niemand, der einmal aquitted (freigeſprochen) iſt, von neuem in Anſpruch genom - men werden. Es war daher von dieſem Augenblick an, ohngeachtet des ganz offenkundigen Mordes, alle Gefahr einer Beſtrafung für den Grafen vorüber. Das junge Mädchen ſoll bald nachher ganz verſchollen oder geſtorben ſeyn, Lord K .... überlebte ſie aber lange, im ſpäten Alter noch dafür berüchtigt, die ſchönſten Maitreſſen zu haben, von de - nen er auf jeder ſeiner Beſitzungen Eine hielt. Die Folge dieſer Unregelmäßigkeiten war endlich eine Trennung von ſeiner Gemahlin, und die erbitterte -73 ſten Streitigkeiten zwiſchen ihm und ihr, die bis zu ſeinem Tode dauerten. Unterdeſſen hatte ſein älteſter Sohn, der jetzige Earl, ſich, gegen des Vaters Wil - len, noch unmündig in Sizilien verheirathet, bereits drei Kinder mit ſeiner jungen Frau gezeugt, und gänzlich von ſeinem Vaterlande getrennt, als plötzlich eine höchſt liebreiche Einladung des alten Lords, die alles Vergangne zu vergeben und zu vergeſſen ver - ſprach, bei ihm eintraf und ihn mit ſeiner ganzen Fa - milie zur Rückkehr bewog. Kaum angekommen in - deß, ward durch ſeines Vaters Einfluß ſeine Ehe für ungültig erklärt, und caſſirt, die Mutter zu Hauſe geſchickt, und über die Kinder, als uneheliche, in England disponirt. Der Sohn ſcheint ſich, wider Erwarten, ohne viele Mühe den Anſichten ſeines Vaters gefügt zu haben, denn nicht lange darauf heirathete er gleichfalls eine reiche Erbin, und führte, nach des alten Grafen Tode, einen noch erbitterte - ren Prozeß mit ſeiner Mutter als jener, um ſogleich, in den, ihm von ihr verweigerten Beſitz, ihrer Güter zu treten. Er konnte jedoch ſeinen Willen hierin nicht durchſetzen, eben ſo wenig wie ſie ſpäter den ihrigen, ihn gänzlich zu enterben.

Welches Sittengemälde der Vornehmen des achtzehn - ten Jahrhunderts!

74

Der kommunikative Fremde ſetzte die Reiſe mit mir bis Caſhel fort. Das Wetter war leidlich, d. h. es regnete nicht und das war in dieſem naſſen Lande hinlänglich, den guten Freund neben mir einmal über das andere ausrufen zu machen: What a delight - ful day! vohat levely weather! *)Welcher himmliſche Tag, welch liebliches Wetter! A. d. H. Ich zog vor, einen Theil des Wegs zu Fuß zu gehen, wobei ein großer, achtzehnjähriger, comme de raison zerlump - ter, Burſche, mir zum Führer diente. Er ging ſehr beſchwerlich, in einer Art Pantoffeln; und ſchien an den Füßen verwundet, als ich ihn aber deshalb be - fragte, antwortete er: O nein, ich habe blos Schuhe angezogen, weil ich Militair werden will, und ich mich daher ſachte daran gewöhnen muß, Schuhe zu tragen. Es geht ſich aber ſo verzweifelt ſchlecht in den Dingern, daß ich gar nicht fortkommen kann!

Nach meiner Art, die keine Auskunft verſchmäht, oft aber, ſelbſt in der Unterhaltung mit dem Ge - meinſten, einige brauchbare Aehren aufliest, erkun - digte ich mich bei meinem Führer nach dem jetzigen Zuſtande der Provinz. Ja, ſagte er, hier iſt es noch ruhig, aber in Tipperary, wo wir jetzt bald hinkommen werden, beſonders weiter hin nach Nor - den, da wiſſen ſie den Orangemen wohl die Spitze75 zu bieten. Dort haben uns O’Connel und die Aſſo - ciation ordentlich wie Truppen organiſirt. Ich ge - höre auch dazu, und habe auch zu Hauſe meine Uni - form. Wenn ihr mich ſo ſähet, würdet ihr mich kaum wieder kennen; vor drei Wochen waren wir alle dort, über 40,000 Mann zuſammen, um Revue über uns halten zu laſſen. Wir hatten alle grüne Jacken an, die ſich jeder anſchaffen muß, ſo gut er kann, und mit der Inſchrift auf dem Arm: King George and O’Connel. Unſre Offiziere haben wir ſelbſt gewählt; die exerziren uns, und wir können ſchon marſchieren und ſchwenken wie die Rothröcke. Waffen hatten wir freilich nicht, aber ...... die würden ſich auch wohl finden wenn O’Connel nur wollte. Fahnen hatten wir, und wer ſie verließ, oder ſich betrank, den warfen wir ins Waſſer, bis er wieder nüchtern wurde. So was iſt aber ſelten vorgekommen. Man nennt uns nur O’Connels Miliz.

Das Gouvernement hat ſeitdem weislich dieſe Heerſchau verboten, und mein angehender Volks - ſoldat war wüthend auf Lord K ...... der alle ſeine tenants (kleine Pächter, die in Irland, faſt mehr als Leibeigne, von Lords abhängig ſind) welche bei der Revue gegenwärtig geweſen waren, hatte ar - retiren laſſen. Aber, fügte er hinzu, jede Stunde, die ſie im Gefängniß ſitzen, ſoll dem Tyrannen be - zahlt werden, den wir lieber todt wie lebendig ſähen. Wären ſie hier in Cork nur nicht ſolche zahme76 Schaafe! in Tipperary hätten ſie ihm längſt das Handwerk gelegt. O’Connel kömmt auch nie hier durch, wenn es auch ſein nächſter Weg iſt, denn er kann Lord K .... ’s Geſicht nicht vor ſeinen Augen leiden.

So arbeitet überall der Partheigeiſt, und ſo wohl unterrichtet von ſeinen Affairen iſt das bettelnde Volk!

Die Fahrt bis Cahir war von geringem Intereſſe. Die Straße führt zwar zwiſchen zwei Bergketten hin, den Galteés und den Knockmildown mountains, da aber die weite Ebne, welche ſie trennt, nur we - nig Bäume und Abwechſelung bietet, ſo ſind die Ausſichten ohne Reiz. Mein Reiſegefährte zeigte mir einen hohen Pik der Galteés, wo man den renomirteſten Sporſtman*)Sporſtman, ſport, iſt eben ſo unüberſetzbar, wie Gentleman; es heißt keinesweges blos Jäger, ſondern einen Mann der alle Vergnügungen dieſer Art, oder auch nur mehrere davon, mit Leidenſchaft und Ge - ſchick treibt. Boxen, Pferderennen, Entenſchießen, Fuchshetzen, Hahnenkämpfe ꝛc., alles iſt ſport. A. d. H. der Gegend mit ſeinem Hunde und ſeiner Flinte auf dem höchſten Gipfel begraben hat. Nicht weit davon ſind unterirdiſche Höhlen, voller Stalaktiten, die eine noch unergründete Ausdehnung haben ſollen. Sie werden aber nur in der heißeſten Jahreszeit beſucht, da ſie während den übrigen zu ſehr mit Waſſer angefüllt ſind.

In Cahir, dem Lord Glengall gehörig, welchem die Londner Carrikaturen voriges Jahr ſo übel mit -77 ſpielten, iſt ein ſehr ſchöner Park. Er beginnt mit der impoſanten Ruine eines Schloſſes König Jo - hanns, auf deſſen verfallnem Thurm Lord Glengall jetzt ſeine Fahne hat aufſtecken laſſen. Am andern Ende des Parks findet man den Contraſt zur Ruine, nämlich eine cottage ornée, in welcher der Beſitzer, wenn er hier iſt, wohnt. Die Lage dieſer Cottage iſt ſo reizend, und gut gewählt, daß ſie eine etwas nähere Beſchreibung verdient. Der ganze Park wird nämlich, von der Stadt und Johanns-Schloß an - fangend, durch ein ſehr langes, und verhältnißmäßig nicht breites Thal gebildet, mit einem Fluße, der ſich durch die Wieſen windet. Baumgruppen und Wäldchen wechſeln auf dieſen letztern lieblich mitein - ander ab, und zwei Wege führen an beiden Seiten dem Fluß entlang. Die das Thal einſchließenden Bergrücken ſind ganz mit Wald bewachſen, in wel - chem ebenfalls Wege angebracht ſind. Gegen das Ende des Parkes, der ohngefähr eine Stunde lang iſt, öffnet ſich die Schlucht, und erſchließt eine ſchöne Ausſicht auf das höhere Galteé-Gebürge. Bevor man aber dahin gelangt, ſteht, grade in der Mitte des Thals, ein iſolirter langer Hügel auf dem Wie - ſengrunde. Auf dieſen iſt die Cottage erbaut, mehr als Zweidrittel derſelben vom Walde verborgen, wel - cher den ganzen Berg bedeckt. In dieſen Gebüſchen iſt der pleas ureground,*)Pleas ureground (Vergnügungs-Grund) iſt eine von Barrieren eingeſchloßene, ſorgfältig gepflegte, und und alle Gärten ange -78 bracht, nebſt blumenreichen Promenaden, die auf beiden Seiten die ſchönſten Ausſichten des Thales entfalten. Auf den entfernten hohen Bergen werden mehrere Schloß - und Abteiruinen ſichtbar, in der Nähe aber iſt alles Ruhe, ländliche Stille und freundlicher Blüthen-Schmuck, ſelbſt noch im Winter.

Als ich zum Eſſen in den Gaſthof zurückkehrte, er - zählte mir der Wirth, als eine große Neuigkeit, daß in Caſhel der Wagen eines fremden Prinzen mit ſeinen Leuten ſchon ſeit 14 Tagen auf ihn warte, der Prinz aber eine geheime Reiſe, man ſage zu O’Con - nel, angetreten, und daß die ganze Gegend in Auf - ruhr und voller Neugierde deshalb ſey. Viele mein - ten, er ſey vom Könige von Frankreich mit geheimen Aufträgen an O’Connel geſchickt; einige aber hätten ihn ſelbſt ſchon in Limmerick geſehen, und behaupte - ten, es ſey ein Sohn von Napoleon.

Während der Wirth dieſes und noch mehreren Un - ſinn dieſer Art debitirte, ohne zu ahnen, daß er mit der personnage ſelbſt ſpräche, die eben auf einem Karren angekommen war, meldete er mir zugleich, daß der zweite Karren (die einzige Art hier fortzu - kommen) eben angeſpannt werde, um mich weiter zu*)mit Blumen geſchmückte Partie des Parks, das Mit - tel zwiſchen dem Park und den eigentlichen Gärten haltend. A. d. H. 79 befördern. Ich machte mich alſo auf, und hatte bald nachher Gelegenheit zu neuen philoſophiſchen Betrach - tungen, indem ich an dem Pferde, das mich zog, die wunderbare Macht der Gewohnheit ſtudirte. Es war ein ſehr williges und gutes Thier, aber ſobald es den Ort erreichte, wo es ſeit 15 Jahren ge - tränkt wird, hielt es an der beſtimmten Stelle plotz - lich von ſelbſt an, und Feuer hätte es nicht eher zu einem Schritt weiter vermocht, bis es ſeinen Trunk Waſſer erhalten hatte. Dann bedurfte es keiner wei - tern Antreibung, daſſelbe Manöuvre wiederholte es ſpäter, als wir dem Retourkarren begegneten, wo immer angehalten zu werden pflegt, um Nachrichten auszutauſchen. Wie plötzlich gelähmt, parirte es auf der Stelle, und ging ſogleich von ſelbſt weiter, ſo - bald die Kutſcher ſich hinter ihm die Hände geſchüt - telt. Wirklich, dies iſt das ganze große Geheimniß der Erziehung beim Menſchen und Vieh Gewohn - heit, voilà tout. Die Chineſen ſind ein Beiſpiel da - von, und ich erinnere mich, daß mir einmal in Lon - don der bekannte Ambaſſadeur einer großen Nation ſehr weitläuftig auseinander ſetzte, daß dieſe chine - ſiſche Staatsverfaſſung eigentlich die beſte und zweck - mäßigſte ſey, weil dort ſtets Alles beim Alten bliebe. C’est plus commode poura ceux qui rêgnent, il n’y a pas de doute.

Um ſieben Uhr erreichte ich Caſbel und paſſirte vorher den Suir, einen Fluß, der die Blume Ir - lands genannt wird, denn an ſeinen Ufern liegen80 die reichſten Fluren, und die ſchönſten Landgüter. Ich fand im Gaſthofe einen entſetzlichen trouble, weil eben einer der liberalen Clubbs meeting und folglich auch dinner hatte. *)Ohne dinner geſchieht nichts, irgend Feierliches, in England, es mag nun religieuſer, politiſcher, belletriſti - ſcher oder irgend andrer Natur ſeyn, vom königlichen Gaſtmahl bis zur Henkersmahlzeit herab. Anm. d. H. Man ließ mir kaum Zeit, meine Stube zu betreten, als auch ſchon der Präſident in propria persona nebſt einer Deputa - tion ankam, um mich einzuladen, dem diné beizu - wohnen. Ich bat inſtändig, mich mit der Ermüdung von der Reiſe und einem heftigen Kopfweh zu ent - ſchuldigen, verſprach aber beim Deſſert zu erſcheinen, weil ich ſelbſt neugierig war, ihr Treiben von nahem zu ſehen. Der Clubb hatte einer recht vernünftigen Abſich[t]ſein Entſtehen zu verdanken, denn er war aus Katholiken und Proteſtanten zugleich zuſammen - geſetzt, die ſich vorgenommen, an der Verſöhnung beider Theile zu arbeiten, und zugleich für Erlan - gung der Emancipation nach Kräften mitzuwirken. Als ich eintrat, fand ich ohngefähr 80 100 Perſonen an einer langen Tafel ſitzend, die alle aufſtanden, während der Präſident mich an die Spitze des Ti - ſches führte. Ich hielt ihnen eine dankende kleine Anrede, worauf meine Geſundheit getrunken wurde, die ich erwiederte. Unzählige andere folgten, immer von Reden begleitet. Die Beredſamkeit der Spre -81 chenden war jedoch nicht ſehr ausgezeichnet, und die - ſelben Gemeinplätze wurden fortwährend, nur mit andern Worten, wiederholt. Nach einer halben Stunde nahm ich daher einen günſtigen Moment wahr, um mich zu beurlauben. Geſtatte mir das - ſelbe, da ich ſehr ermüdet bin. Von Dir habe ich nun ſchon ſehr lange nichts mehr gehört, und finde Deine Briefe erſt wieder in Dublin. Bleibe nur ge - ſund, das iſt die Hauptſache für Dich und höre nicht auf, mich zu lieben, denn das iſt die Haupt - ſache für mich.

Dein treuſter L .....

Briefe eines Verſtorbenen. II. 6[82]

Sieben und dreißigſter Brief.

Geliebte Gute!

Der rok of Cashel mit ſeiner berühmten, herr - lichen Ruine iſt einer der größten Lions *) Lion iſt ein Modeausdruck, und bedeutet das Erſte, Berühmteſte, oder Das, was grade im Augenblick am meiſten en vogue iſt. Das entgegenſtehende, gemeinere, heißt tigre. So nennt man z. B. die jungen Dandee’s in ihren Cabriolets, in der Haupt - ſtadt Lions, die kleine Jungen aber, welche hinten aufſtehen, tigres. Auch Stutzer der geringeren So - cietät werden mit dem letzten Namen bezeichnet. C’est tout bête comme vous voyez. A. d. H. von Irland, und war mir nebſt der Abtei von Holycroß, von Walter Scott ſelbſt, als das Sehenswertheſte in Irland empfohlen worden. Es iſt ein ganz frei ſtehender Felſen, mitten in der Ebne. Seltſam ge - nug ſieht man von dem Kamme einer der fernen Berge ein Stück, von derſelben Größe als der Fel - ſen, wie ausgebiſſen der Legende nach: ein Biß,83 den der Teufel that, aus Aerger über eine Seele, die ihm beim Transport nach der Hölle entwiſchte. Als er hierauf über die Gegend von Cafhel flog, ſpukte er dort das abgebißene Stück wieder aus. [Später] erbaute darauf M. C’Omack, König und Erzbiſchof von Caſhel ſein Schloß mit einer Ka - pelle, welche beide noch merkwürdig wohl erhalten ſind. Mit ihnen vereinigte ſich die Kirche und Ab - tei, welche im 12ten Sec., glaube ich, von Donald O’Bryen hinzugefügt wurde. Das Ganze bildet die prachtvollſte Ruine, in der beſonders alle Details der[aötſächſiſchen] Baukunſt mit großem In - tereſſe ſtudirt werden können. Dies iſt ſeit einigen Monaten, durch die Bemühungen des Schwieger - ſohnes des jetzigen Erzbiſchoffs, Dr. Cotton, noch ſehr erleichtert worden, indem dieſer erſt Comack’s Kapelle völlig von Schutt, Schmutz und ſpätern Uebertünchungen hat reinigen, und überhaupt, nicht ohne Koſten, die ganze Ruine beſuchbarer machen laſſen. Nichts kann fremdartiger, ich möchte ſagen, barbariſch-eleganter ſeyn, als dieſe barocken, phan - taſtiſchen, oft aber meiſterhaft angeführten Zieraten. Viele der im Schutt und unter dem Boden aufge - fundenen Sarkophage und Monumente, bieten inte - reſſante Räthſel dar. Man möchte glauben, daß die furchtbaren Fratzen, den indiſchen Göttern gleich, einem früheren Götzendienſt angehört haben müßten, wenn man nicht wüßte, daß nur ſehr langſam und ſchwer das Heidenthum und Chriſtenthum wich, und noch weicht! So beſitze ich ſelbſt eine Klingel, die6*84einer meiner Vorfahren aus den Gefängniſſen der Inquiſition entführte, und auf der die heilige Maria, ſtatt Engeln, von Affen umgeben iſt, deren einige die Violine ſpielen, während andere ſich dazu mit Burzelbäumen in den Wolken überſchlagen.

Ich beſah Alles ſehr gründlich, und war noch auf der höchſten acceſſiblen Thurmſpitze, als die Sonne über dem Teufelsbiſſe unterging. Der Erzbiſchof hatte die Güte gehabt, mir ſeinen Bibliothekar zu ſchicken, um mir die Ruine zu zeigen. Von dieſem erfuhr ich, daß der berühmte, oft citirte, in iriſcher Sprache geſchriebene Pſalter, der in jedem guide des voyageurs als ſtehende Merkwürdigkeit Caſhels auf - geführt wird, eine bloße Fabel ſey, wenigſtens hier nie exiſtirt habe. Dies intereſſirte mich jedoch we - nig, aber wahrhaft erſchreckt ward ich, als ich hörte, daß die Katholiken mit der Idee umgingen, die Kirche wieder herzuſtellen und neu auszubauen, wenn ſie das Grundſtück zu aquiriren im Stande wären. Der Himmel beſchütze doch vor dieſen From - men die heilige Ruine!

Auf dem freien Platz vor der Kirche ruht S. Pa - trick’s mütilirte uralte Statue, auf einem Piedeſtal von Granit. Neben dieſem ſah man ſonſt den Krö - nungsſeſſel, der angeblich aus Portugal hierher ge - bracht, dann zur Krönung des ſchottiſchen Königs Fergus nach Scone geſendet wurde, von wo ihn zu - letzt Edward I. nach Weſtminſter entführte. Dort befindet er ſich noch jetzt.

85

Am Fuße des Rock’s of Caſhel ſtehen die eben - falls ſehr ſehenswerthen Ruinen von Hore Abbey, die, wie man ſagt, früher durch einen unterirdiſchen Gang mit dem Schloß zuſammen hing. Man be - wundert hier vorzüglich die ſchönen Proportionen und vollendeten Zieraten eines großen Fenſters, das die Kapelle beleuchtet.

Einer der Gentlemen, die ich geſtern kennen ge - lernt, Capt. S ...., ein Mann von angeſehener Familie und verbindlichem Benehmen, bot mir ſeine Pferde an, um die Ruinen der Abtei von Athaſſil und des reichen Karl of Landaff Park und Schloß zu beſehen. Die vortrefflichen Hunters brachten uns bald an Ort und Stelle, die Gegenſtände blieben aber unter meiner Erwartung. Die Abtei iſt zwar an ſich eine ſchöne und weitläuftige Ruine, aber ihre Lage, in einem Sumpfe mitten im bebauten Felde, ohne Baum und Strauch, zu unvortheilhaft, um einen maleriſchen Effekt machen zu können. Der Park des Lords iſt ebenfalls, zwar von außer - ordentlichem Umfang, nämlich 2800 Acres groß, aber ohne irgend etwas Ausgezeichnetes. Der Baum - wuchs iſt nicht der beſte, Waſſer fehlt ſo gut wie ganz, und das modern gothiſche, lichtblau ange - ſtrichne Schloß ſchien mir abſcheulich. Der Beſitzer ſelbſt iſt ein, noch im ſiebzigſten Jahre ſchöner, und86 intereſſanter Mann, der das in Irland ſo große Verdienſt hat, oft in ſeinem Eigenthum zu reſidiren. Wir fanden ihn, der in der Welt durch ein in der Fremde polirtes Betragen zu glänzen weiß, hier als ächter Landmann, in Waſſerſtiefeln und Waterproof - Mantel, im Regen ſtehen, und ſeine Arbeiter an - weiſen, was mir wohl gefiel, und Du erräthſt leicht warum.

Auf dem Rückweg theilte mir Capt. S ..... mehrere intereſſante Details über die wörtlich him - melſchreiende Unterdrückung mit, unter der die Ka - tholiken hier ſeufzen, ein Zuſtand, welcher, die ört - lichen Verhältniſſe gehörig in Betracht gezogen, här - ter iſt als die Sclaverei, welche die Türken über die Griechen verhängen. Die Katholiken dürfen z. B. ihre Gotteshäuſer nicht Kirchen, ſondern nur Ka - pellen nennen, keine Glocken darin haben an ſich unbedeutende, aber in der Meinung entehrende Dinge. Kein Katholik kann bekanntlich im Parla - ment ſitzen, noch General in der Armee, noch Mi - niſter des Königs, Richter u. ſ. w. werden. *)Dies iſt nun bekanntlich erſtritten worden. A. d. H. Ihre Prieſter dürfen keine Ehe einſegnen, wo ein Theil proteſtantiſch iſt, und ihre Titel werden vom Geſetz nicht anerkannt. Das Schlimmſte aber iſt, daß die Katholiken den proteſtantiſchen Klerus ungeheuer be - zahlen, den ihrigen aber, von dem der Staat keine87 Notiz nimmt, noch außerdem unterhalten müſſen, ein Hauptgrund der bodenloſen Armuth des Volks Wie unverträglich muß dies ſchon in einem Lande wie Irland erſcheinen, wo mehr als Zweidrittel der Einwohner im Allgemeinen, der katholiſchen Reli - gion mit dem größten Eifer zugethan ſind. Im Süden iſt das Verhältniß jedoch noch viel ungleicher. In der Grafſchaft Tipperary befinden ſich ohngefähr 400,000 Katholiken und nur 10,000 Proteſtanten. Demohn - geachtet koſtet den Einwohnern die proteſtantiſche Geiſtlichkeit jährlich folgende Summen: 1) Der Erz - biſchof 25,000 Lſt. ; 2) der Dean 4000; 3) für ohn - gefähr fünfzig pariches (Pfarren) im Durchſchnitt jede 1500 Lſt., welche Ausgaben faſt alle den Katholiken allein zur Laſt fallen. Die meiſten dieſer Pfründer leben gar nicht einmal in Irland, ſondern ſtellen arme Teufel mit 40 50 Lſt. jährlich hier an (die berühmten Vicar’s) die ihre Geſchäfte verrichten; eine Sache die bald abgethan iſt, da es hier Ge - meinden giebt, die nicht mehr als zehn Mitglieder zählen, ja in einer parich gar kein Proteſtant vorhanden iſt auch keine Kirche, ſondern nur eine alte Ruine, wo jährlich die farce einer Predigt für leere Wände abgeſpielt wird, und wobei ein ge - mietheter Katholik den Küſterdienſt verſieht! Während dem tritt der Geiſtliche Jahr aus Jahr ein das Londner und Pariſer Pflaſter, und führt ein ſo ungeiſtliches Leben als möglich. So las ich z. B. noch neulich in einer engliſchen Zeitung ſelbſt, daß ein engliſcher Geiſtlicher in Boulogne, eine große88 Summe im Spiel verloren, darauf Händel bekom - men, und ſeinen Gegner im Duell erſchoſſen habe, weshalb er genöthigt geweſen ſey, den Ort ſchnell zu verlaſſen, um ſich auf ſeine Pfründe zurückzuziehen. Selbſt die[höheren] Geiſtlichen, die wenigſtens zum Theil auf ihren Biſchofs - und Erzbiſchofs-Sitzen ge - genwärtig ſeyn müſſen, laſſen nichts von dem Sün - dengelde (denn man muß es unter ſolchen Umſtänden wohl ſo nennen) wieder unter die armen Leute kom - men, da ſie größtentheils nach[Kräften] ſparen, um ihre Familien zu bereichern. Zu dieſem Ende iſt ſo - gar eine Art Betrug in der engliſchen Kirche geſetz - lich geworden (eben ſo wie der Verkauf der Stellen durch die, im Beſitz des Verleihungs-Rechts, ſich be - findenden Adelichen, der öfters ganz öffentlich ſtatt findet, denn umſonſt vergeben werden die Pfründen nur im Politiſchen - oder Familien-Intereſſe). Es iſt nämlich geſtattet, daß diejenigen, welche Kirchen - güter benutzen, im Voraus, und ehe der Termin zur neuen Verpachtung derſelben eintritt, ſich ein für allemal mit einem Pauſchquantum von den Inha - bern bis dahin abfinden laſſen dürfen, was natür - lich, wenn der Geiſtliche bald darauf ſtirbt, ſeinen Nachfolger um das ihm Gebührende bringt. Kann man ſich wundern, daß ſolche Inſtitutionen ſchon mehrmals das unglückliche Volk zur Verzweiflung und Empörung brachten! jedesmal indeſſen ſind ihre Ketten nur ſchärfer angezogen, und blutiger ins Fleiſch ſchneidend geworden. Wo man ein ſchönes Gut, und fruchtbares Land ſieht, und ſich nach dem89 Beſitzer erkundigt, heißt es gewöhnlich, this is for - feited land (verwirktes Eigenthum), immer einſt den Katholiken, jetzt den Proteſtanten zugehörig. O’Con - nel ſagte mir, daß, noch vor nicht gar langer Zeit, ein Geſetz in Gültigkeit war, des Inhalts: daß kein Katholik in Irland Landeigenthum haben dürfe, und könne ein Proteſtant bei einem Gerichtshofe be - weiſen, daß dies dennoch irgend wo der Fall ſey, ſo habe ihm der Richter dieſes Eigenthum zuzuſpre - chen. Das einzige Mittel blieben nun Scheinkäufe; demohngeachtet wurden, nach O’Connels Verſiche - rung, Millionen an Werth auf dieſe Weiſe in die Hände der Proteſtanten gebracht. Iſt es nicht merk - würdig, daß Proteſtanten, die von den Catholiken, eben wegen ihrer Habſucht und Intoleranz in einer barbariſchen Zeit, abfielen, jetzt in der aufgeklärte - ſten, in demſelben Fehler beharren, und dadurch, verhältnißmäßig, eine größere Schuld auf ſich laden, als ſie früher tragen mußten! Wird denn, möchte man fragen, dieſes Religionsungeheuer*)Daß hier nur von falſcher und Afterreligion die Rede ſeyn kann, verſteht ſich wohl von ſelbſt. A. d. H. (Geburt der Despotie und Heuchelei) welches von der Welt ſo lange mit Blut und Thränen gefüttert werden mußte, nie von erleuchteteren Generationen vernich - tet werden? Wahrſcheinlich wird man dann auf die jetzigen Zeiten mit eben dem Mitleid blicken, als wir auf das Dunkel des Mittelalters.

90

Nachmittags beſuchte mich der catholiſche dean, ein höchſt liebenswürdiger Mann, der lange auf dem Continent gelebt, und Caplan des vorigen Pabſtes geweſen iſt. Seine eben ſo freie als aufgeklärte Sprache ſetzte mich in Verwunderung, weil wir im - mer zu denken pflegen: ein Katholik müſſe auch ein[Abergläubiger] ſeyn. Er ſagte mir unter anderm: Glauben Sie mir, dieſes Land iſt dem Unglück ge - weiht. Hier giebt es faſt keine Chriſten mehr, Katho - liken und Proteſtanten haben nur eine und dieſelbe Religion die des Haſſes!

Einige Zeit ſpäter brachte mir Capt S. die letzte Zeitung, worin bereits mein Beſuch in der beſchrie - benen Verſammlung, und die von mir dort geſag - ten Worte nebſt den übrigen Reden, mit aller der in England üblichen Charlatanerie, drei oder vier Seiten füllten. Um Dir einen échantillon von die - ſem Genre zu geben, und zugleich mit meiner eignen Beredſamkeit gegen Dich ein wenig zu prunken, über - ſetze ich den Anfang des mich betreffenden Artikels, wo ich in eben dem Ton angeprieſen wurde, wie ein Wurm-Doctor ſeinen Pillen, oder ein Roßkamm ſei - nen Pferden, nie beſeſſne Eigenſchaften andichtet. Höre:

Sobald man die Ankunft des ........ erfahren hatte, begab ſich der Präſident mit einer Deputa - tion auf das ........ Zimmer, um denſelben einzu - laden, unſer Feſt mit ſeiner Gegenwart zu beeh - ren ꝛc. Bald darauf trat der ........ ins Zimmer. 91Sein Anſehen iſt befehlend und grazieus (comman - ding and graceful). Er trug einen Schnurbart, und obgleich von ſehr blaſſer Farbe, iſt doch ſein Geſicht außerordentlich gefällig und ausdrucksvoll (excee - dingly[pleasing] and expressif). Er nahm ſeinen Platz am obern Ende der Tafel, und ſich gegen die Ge - ſellſchaft verneigend, ſprach er deutlich, und mit al - lem gehörigen Pathos (with proper emphasis) aber etwas fremdem Accent, folgende Worte: Gentlemen! Obgleich krank und ſehr ermüdet, fühle ich mich doch zu ſehr durch Ihre gütige Einladung geſchmeichelt, um ſie nicht mit Dank anzunehmen, und Ihnen per - ſönlich auszudrücken, welchen lebhaften Antheil ich an Ihrem Beſtreben für das Wohl Ihres Vater - landes nehme. Möge Gott dieſen ſchönen und reich - begabten Theil der Erde ſegnen, der jedem gefühl - vollen Fremden ſo vielfachen Genuß darbietet, in dem ich aber beſonders, mit tiefer Dankbarkeit, die Güte und Gaſtfreundſchaft anerkennen muß, die mir überall zu Theil ward. Möge der Himmel, ſage ich, dieſes ſchwergeprüfte Land ſegnen, wie jeden ächten Irländer, er ſey Katholik oder Proteſtant, der, fern von Partheigeiſt, nur das Wohlſein ſeines Va - terlandes wünſcht ein Wohlſein, das nur erreich - bar ſeyn kann, durch Friede, Duldung und bürger - liche wie religiöſe Freiheit (civil and religious li - berty, das große Stichwort der Aſſociation). Gent - lemen! füllen Sie Ihre[Gläſer], und erlauben Sie mir Ihnen einen Toaſt zu geben. Es lebe der - nig, und Erin go Bragh! (dies iſt das altiriſche92 Motto, welches auch auf der Medaille des Libera - tor-Ordens ſteht, und bedeutet: Heil Erin!)

Der Präſident: Gentlemen! Theilen Sie meine Gefühle, und empfangen Sie den Ausdruck des Fol - genden von mir. Möge unſer erlauchter Gaſt (il - lustrisus guest), auf deſſen Wohl wir jetzt unſre Gläſer füllen, ſollte er je zu uns[zurückkehren], uns im Genuß gleicher Geſetze und gleicher Privilegien finden, und ihm Beſitz jenes Landfriedens im In - nern, den zu erlangen wir allein uns vereint haben. Dreimal drei. Der ......: Ich wiederhole Ihnen meinen Dank für die Ehre, die Sie mir eben durch das Trinken meiner Geſundheit erzeigt haben. Nichts könnte mich glücklicher machen, als ſelbſt noch ein - mal Augenzeuge von der Erfüllung aller Ihrer und meiner Wünſche, in dieſem Lande ſeyn zu können, das ich wie mein eignes liebe, und nur mit innigem Bedauern verlaſſe ꝛc.

Nun liebe Julie, wie rezenſirſt Du mich kann ich nicht Gemeinplätze, ſo gut wie ein Anderer, an - einanderreihen, wenn es ſeyn muß? Der Wahrheit bin ich übrigens in nichts zu nahe getreten. Was aber kein Gemeinplatz iſt, wenn er ſich auch am Ende jedes meiner Briefe wiederholt, iſt die Ver - ſicherung meiner zärtlichen Liebe für Dich, mit der ich jetzt bin und ewig ſeyn werde

Dein Freund L .....

[93]

Acht und dreißigſter Brief.

Theuerſte Freundin!

Warum ſchreibe ich Dir ſo gern? Gewiß weil ich denke, daß es Dir Freude macht, aus der Ferne von mir zu hören aber auch, weil Du nur mich immer verſtandeſt, und Niemand ſonſt! dies allein wäre hinreichend, mich auf immer an Dich zu feſſeln, denn ich lebe mitten in der Welt, doch nur mit Dir ſo einſam als auf einer wüſten Inſel. Tauſende von andern Geſchöpfen wimmeln zwar um mich her ſprechen kann ich aber nur mit Dir. Verſuche ich es mit andern, ſo bekömmt mir ſchon die Gewohnheit und Neigung, immer wahr zu ſeyn, oft theuer zu ſtehen! oder ich ſtoße durch etwas anderes an denn Lebensklugheit wurde meiner Natur eben ſo beſtimmt und unerreichbar verſagt, als es dem Schwane,94 der im Winter auf dem See vor Deinem Fenſter ſchwerfällig hinwatſchelt, unmöglich iſt, mit den vor - beigleitenden Schlittſchuhfahrern Wette zu laufen, aber ſeine Zeit kömmt auch, wenn er mit ſtolz ge - krümmtem Halſe die Fluthen zertheilt, oder im blauen Aether allein und majeſtätiſch durch die Lüfte ſchwebt. Dann erſt iſt er, er ſelbſt.

Doch zurück zu Caſhel. Ich benutzte heute meines guten Freundes Pferde, die mir täglich zu Gebote ſtehen, zu einer zweiten Excurſion, nach der ſechs Meilen entfernten Ruine von Holycroß (heiligen Kreuz) der würdigen Rivalin des Teufels-Felſens. Zuerſt beluſtigten wir uns, querfeldein zu reiten, und einige Mauern zu überſpringen, dann gelangten wir auf eine Anhöhe, von der ſich der rock , wie er hier kurzweg genannt wird, am imponirendſten aus - nimmt. Der Kranz entfernter blauer Berge, die ſich rund um den, einzeln in der fruchtbaren Ebene ſte - henden, Felſen lagern, Burg, Abtei und Cathedrale, die, ein großes Ganze bildend, ſtumm und großartig, von ihm herab die Geſchichte auf einander folgender Jahrhunderte, verkünden, und endlich die Stadt am Fuße, ſo ärmlich, obgleich ſie der Sitz zweier Erzbi - ſchöfe (eines proteſtantiſchen und katholiſchen) iſt, die auch eine ſtumme Sprache ſpricht, über die jetzige Zeit! erwecken gar mancherlei widerſprechende Ge - fühle.

95

Von ganz anderem Charakter iſt Holycroß. Caſhel ſteht in einſamer Größe da, Alles Felſen und Steine, Alles kahl und ſchwarz, nur hie und da ſcheint ein verlornes Epheupflänzchen ſchüchtern an einer Spalte hinanzukriechen. Holicroß dagegen liegt im Thal, an den Ufern des Suir, in Laubholz begraben, und von ſolchen wuchernden Epheuſtämmen umſchlun - gen und umrankt, daß man kaum eine Mauer vor ihnen erblicken kann; und ſelbſt das hohe Kreuz, das letzte welches der Abtei noch übrig bleibt,*)Es wurde hier ein Theil des wahren Kreuzes Chriſti aufbewahrt, der dem Kloſter den Namen gab, und auch jedes einzelne Gebäude war deshalb mit einem hohen Steinkreuze geſchmückt, von denen nur eins noch ſich erhalten hat. A. d. H. iſt ſo inbrünſtig von ihnen umklammert, als wollten ſie es vor jeder profanen Berührung ſchützen. Im Innern ſieht man mehrere prachtvolle gewölbte Decken, das zierliche Monument auf dem Grabe Donough O’Bry - ens, Königs von Limmerick, der im Anfang des zwölften Jahrhunderts die Abtei erbaute, und einen wunderſchön gearbeiteten Steinbaldachin, unter wel - chem die Leichen der geſtorbenen Aebte ausgeſtellt wurden ſämmtlich ſo gut erhalten, daß ihnen mit wenig Ausbeſſerung das Anſehn der Neuheit gege - ben werden könnte. Die Ausſicht vom Thurme iſt ſehr freundlich. Man iſt hier dem Teufelsbiß ganz nahe, deſſen groteske Form freilich zu auffallend war,96 als daß die Irländer ſie nicht hätten zu einer Legende benutzen ſollen, ſie, die für jede Naturſeltenheit ihr Mährchen ſtets bereit haben.

Wir eilten früher zurück als mir lieb war, da mich der katholiſche dean zu einem Diné eingeladen hatte, bei dem ich nicht zu ſpät eintreffen durfte. Ich ſollte den Erzbiſchof und ſechzehn andere Geiſtliche dort an - treffen; kein Laie, außer mir, war zugegen. Das Diné machte übrigens einem Caplane des römiſchen Pontifex Ehre. Sie haben wohl niemals einer Mahlzeit beigewohnt, ſagte der Erzbiſchof zu mir, wo die Gäſte aus lauter Geiſtlichen beſtanden? Doch, Mylord, erwiederte ich: und was noch mehr iſt, ich war ſelbſt vor kurzem noch eine Art Biſchof. Wie iſt das möglich, rief er verwundert. Ich er - klärte ihm, daß ich ..................................... Wir ſind alſo, fuhr ich fort, hier achtzehn Geiſtliche, ganz unter uns, und dabei kann ich noch verſichern, daß ich keinen Unterſchied zwiſchen Katho - liken und Proteſtanten mache, ſondern in beiden nur Chriſten ſehe.

Mit großer Freiheit und Partheiloſigkeit wurde nachher über religieuſe Gegenſtände geſprochen, nir - gends bemerkte ich die geringſte Spur von Bigotte - rie, noch der widrigen Affektation des Heiligthums. Beim Deſſert gaben ſogar mehrere, die gut ſangen, Nationallieder zum Beſten, deren Inhalt zuweilen97 nichts weniger als devot war. Als der neben mir Sitzende eine leichte Verwunderung darüber bei mir bemerkte, ſagte er mir ins Ohr: Hier vergeſſen wir jetzt den fremden ........, den Erzbiſchof und die Geiſtlichen hier bei Tiſch ſind wir alle Gentle - men, und freuen uns des Lebens. Dieſer Mann war der unbeſtrittene Abkömmling eines alten iriſchen Königgeſchlechts, und obgleich es ihm jetzt keine Aus - zeichnung mehr verlieh, ſo war er doch nicht wenig ſtolz darauf. Eine ſeltſame Wohnung habe ich dazu für einen Geiſtlichen, ſagte er zu mir. Wenn Sie Irland je wieder beſuchen, gönnen Sie mir vielleicht die Ehre, Ihnen die Honneurs davon zu machen. Sie liegt gerade unter dem Teufelsbiß und eine ſchö - nere Ausſicht als von dieſem Biß bietet ganz Irland nicht. Er machte nachher noch die Bemerkung, daß: katholiſch zu ſeyn, in dieſem Königreich ſchon für ein Adelsdiplom gelten könne, denn nur neue Familien ſeyen proteſtantiſch, die Katholiken müßten nothwen - dig alt ſeyn, da ſie, ſchon ſeit der Reformation, keine Proſelyten mehr machten. Die Melodieen der Lieder welche man ſang, hatten eine auffallende Aehn - lichkeit mit denen der Wenden, wie ich überhaupt zwiſchen beiden Völkern viel gleiche Beziehungen finde. Beide fabriciren und lieben ausſchließlich reinen Korn - branntwein (Whiskey), und leben faſt allein von Kar - toffeln; beider Nationalmuſik kennt nur den Dudel - ſack, ſie lieben leidenſchaftlich Geſang und Tanz, und doch ſind ihre Melodieen ſtets melancholiſch; beide ſind unterdrückt durch eine fremde Nation, und ſpre -Briefe eines Verſtorbenen. II. 798chen eine immer mehr ſich verlierende Sprache, die reich und poetiſch iſt, ohne daß ſie doch eine Litera - tur in derſelben beſitzen; beide verehren unter ſich noch immer die Abkömmlinge ihrer alten Fürſten, und haben den Grundſatz, daß: was nicht aufgege - ben iſt, auch noch nicht ganz verloren ſey; beide ſind abergläubiſch, ſchlau, und in ihren Erzählungen zur Uebertreibung geneigt, revolutionair wo ſie können, aber etwas kriechend gegen decidirte Macht; beide gehen gern zerlumpt, wenn ſie ſich auch beſſer klei - den könnten, und endlich ſind beide bei elendem Le - ben, dennoch großer Anſtrengung[fähig], obgleich ſie am liebſten faullenzen, und dabei auch beide gleich fruchtbarer Natur, welches ein wendiſches Sprüch - wort: den Braten der armen Leute, nennt. Die beſſern Eigenſchaften beſitzen die Irländer allein.

Ich benutzte die heute gemachten Bekanntſchaften, um mich noch näher von dem hier herrſchenden Ver - hältniß zwiſchen Katholiken und Proteſtanten zu un - terrichten, wobei ich alles früher Gehörte völlig be - ſtätigt fand, und noch einige Details mehr erhielt. Unter andern, die offizielle Liſte eines Theils der ge - genwärtigen Pfarreien und Gemeinden in der Diö - ces von Caſhel, die zu merkwürdig iſt, um ſie Dir nicht mitzutheilen, wenn gleich der Gegenſtand zu den trocknen gehört, und faſt zu pedantiſch für unſre Correſpondenz ſcheinen dürfte.

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Jeder dieſer Diſtrikte hat nur einen katholiſchen Pfarrer, aber oft vier bis fünf proteſtantiſche Pfründ - ner, ſo daß im Durchſchnitt auf eine proteſtantiſche Gemeinde kaum zwanzig Perſonen kommen. Kil - kummin iſt eben der angeführte Ort, wo die prote - ſtantiſche Gemeinde gar nicht exiſtirt, und der Gottes - dienſt, welcher nach dem Geſetz wenigſtens einmal im Jahre ſtattfinden muß, mit Hülfe eines katholi - ſchen Küſters in der Ruine abgehalten wird. In einem andern Bezirk, mit Namen Tollamane, wo ebenfalls kein Proteſtant iſt, findet dieſelbe Farce ſtatt; nichts deſtoweniger müſſen den abweſenden Pfründnern bei Heller und Pfennig ihre Zehnten und andere Abgaben verabfolgt werden, und nichts wird unerbittlicher eingetrieben, als Kirchenrevenüen. Hier7*100findet kein Erbarmen, wenigſtens hinſichtlich der Ka - tholiken, ſtatt. Wer den proteſtantiſchen Geiſtlichen den Decem oder die Pacht des Kirchenlandes nicht zahlen kann, ſieht unabänderlich ſeine Kuh und Schwein (Meubles, Betten ꝛc. hat er ſchon längſt nicht mehr) verkaufen, und ſich ſelbſt nebſt Frau, und gelegent - lich ein Dutzend Kindern, (car rien n’engendre com - me les pommes de terre et la misère) auf die Straße geſtoßen, wo er der Gnade Gottes überlaſſen bleibt, der die Vögel[nährt] und die Lilien kleidet. Quelle excellente chose qu’une religion d’etat! So lange dergleichen noch exiſtiren, und nicht, wie in den vereinigten Staaten, Jedem erlaubt iſt, Gott auf die ihm beliebige Art zu verehren, ohne des halb ſich im bürgerlichen Leben zurückgeſetzt zu ſehen ſo lange hat auch das Zeitalter der Bar - barei noch nicht aufgehört. Einſt muß im Staat das Geſetz allein regieren, wie in der Natur. Reli - gion wird Troſt im Unglück, und noch höhere Stei - gerung des Glücks, nach wie vor, gewähren, aber herrſchen und regieren darf ſie nicht. Nur das Ge - ſetz übe unabänderlichen Zwang, überall ſonſt aber walte[unbeſchränkte] Freiheit. Dies kann der ge - bildete Theil der Menſchheit auf der Stufe fordern, auf welcher er angelangt iſt, und die er durch ſo viel Blut und Jammer erkauft hat. Welcher Wahnſinn, den Menſchen vorſchreiben zu wollen, was ſelbſt nach ihrem Tode aus ihnen werden, oder was ſie darüber glauben ſollen? Schlimm genug, daß hier auf Erden die beſten Inſtitutionen, ſelbſt die weiſeſten Geſetze,101 noch mangelhaft bleiben müſſen, man laſſe wenigſtens die unſichtbare Zukunft Jeden nach ſeinem eignen Ermeſſen ſich ausbilden. Und doch haben große, kluge und gute Männer ſich zu ſolchem geiſtigen Despotis - mus berechtigt geglaubt! Dies aber iſt die menſch - liche Gebrechlichkeit. Derſelbe Menſch kann in eilf Dingen erhaben, und im zwölften als ein Idiot er - funden werden! Während ſo z. B. ein großer Krie - ger, in Schlachten, die Europa in Staunen verſetzten, den Weltenſtürmer bezwang fürchtete er ſich heim - lich vor einem jungen Elephanten, mit dem er nieder - kommen zu müſſen glaubte, weshalb ſeine Adjutanten manchen ſchweren Moment mit ihm zu verleben hatten. Während der Cardinal Richelieu allen Zeiten das Ideal eines großen und klugen Miniſters aufſtellte, hatte für ihn nur der Glaube Werth, ein großer Dich - ter zu ſeyn, und er quälte ſich, elende Tragödien zu ſchreiben, die mit ſeinem Tode zu Makulatur wurden. Der große Ludwig, den man den abſoluten - nig par excellence nennen könnte, hatte die unbegreifliche Dummheit, nach der Schlacht von Mal - plaquet, ganz ernſthaft auszurufen: Et Dieu a-t-il donc oublié ce que j’ai fait pour lui? Cromwell, zugleich Schwärmer und der kühnſte wie der liſtigſte Betrüger, nachdem er Mord auf Mord, Zerſtörung auf Zerſtörung gehäuft, fand ſein Gewiſſen beruhigt, als, auf ſeine Anfrage, ein Prieſter ihm verſicherte, daß, wer einmal ſich nur im Zuſtande der Gnaden - verzückung beſunden, ſelig werden müſſe, er möge ſonſt gethan haben was er wolle. Dann bin ich102 gerettet, rief froh der Protector, denn einmal we - nigſtens weiß ich es beſtimmt, daß ich mich im Zu - ſtande der Gnade befunden! So ſind die Menſchen, und daher wird mir auch nie eine Menſchenauto - rität imponiren, wenn meine eigne Anſicht ihr, nach reiflichem Nachdenken, ſo weit es meine Faſſungskraft vermag, nicht entſpricht ja wären morgen alle Menſchen der entgegengeſetzten Meinung, ſo würde ich doch deshalb die meinige nicht ändern. Gottlob! wir ſind alle individuelle Geiſter, und keine Schaaf - heerde, die dem Leithammel folgen muß. Und was iſt denn allgemeine Meinung? man ſollte glauben, ſie ſey nur ein fortlaufender Irrthum, weil ſie faſt alle Jahrhunderte ſich ändert. Von Ort und Zeit ſcheint ſie allein abzuhängen. Biſt Du in Conſtan - tinopel geboren, ſo ſchwörſt Du auf Mohammed, im übrigen Europa, auf Chriſtus oder Moſes, in Indien auf Brama. Kamſt Du einſt, ein Unterthan des Auguſtus zur Welt, ſo warſt Du ein Heide, im Mittelalter hielteſt Du das Fauſtrecht für das Recht, und heute verlangſt Du die Freiheit der Preſſe,*)Ein für ſein Land ſehr gebildeter Maure, der ſich lange in England aufgehalten, ſagte zu dem Capt. L.. Ich möchte nie einem ſo ohnmächtigen Monarchen die - nen als der König von England iſt. Welches andre Gefühl giebt es mir, eines Herren Diener zu ſeyn, deſſen Allmacht Gottes Bild auf Erden iſt, und auf deſſen Wink tauſend Köpfe fliegen müſſen, wie Spreu vor dem Winde. Il ne faut donc pas disputer des goûts. A. d. H. 103 als eine Sache ohne die Du nicht mehr exiſtiren zu können glaubſt. Du ſelbſt in Deinem kurzen Leben, was denkſt und biſt Du, als Kind als Jüngling als Greis! Herder hat wohl Recht zu ſagen: Kein Waſſertropfen gleicht dem andern, und Ihr wollt allen Menſchen einen Glauben geben! und man könnte hinzuſetzen: kein Atom bleibt unverändert, und Ihr wollt die Menſchheit ſtill ſtehen heißen!

Ehe der Erzbiſchof ſich retirirte, ſagte er noch ſehr verbindlich zu mir: Sie ſind, wie Sie uns erzählt, ein Biſchof, folglich dem Erzbiſchof Gehorſam ſchul - dig. Ich benutze alſo dieſe Autorität zu dem Befehl, morgen wieder mit mir und Ihrem Collegen, dem Biſchof von Limmerick, den wir heute erwarten, hier zu ſpeiſen, ſtatuire aber keine Entſchuldigung. Ich erwiederte, den Scherz aufnehmend, daß ich gern zu - geben müſſe, wie es mir nicht gezieme, der Disciplin der Kirche zu widerſtehen, und da Euer Gnaden, ſetzte ich hinzu (Your grace iſt der Titel der prote - ſtantiſchen Erzbiſchöfe in England, den höfliche Leute, aus Courtoiſie, auch den katholiſchen geben, obgleich ihnen, nach dem engliſchen Geſetz, gar kein Rang zu - ſteht) und der dean die Pflicht ſo ſehr zu verſüßen wiſſen, ſo ſubmittire ich mich um ſo lieber.

Den Abend brachte ich noch in der Geſellſchaft des ..... zu. Ich habe nur ſelten proteſtantiſche Geiſt - liche ſo aufrichtig gefunden als dieſen katholiſchen. Wir kamen bald darin überein, daß man entweder von Hauſe aus blindlings das glauben und anneh -104 men müſſe, was die Kirche vorſchreibe, ohne ſich im Geringſten in Unterſuchungen einzulaſſen, oder, wenn man dies nicht könne, ſeine eigne religieuſe Anſicht ſich ausbilden, als das Reſultat individuellen Den - kens und individueller Gefühle was man mit Recht, die Religion eines Philoſophen, nennen möge. Der ..... ſprach franzöſiſch, was ihm am geläufig - ſten war, ich citire ihn daher mit ſeinen eigenen Worten: Heureusement, ſagte er, on peut en quel - que sorte combiner l’un et l’autre, car au bout du compte, il faut une religion positive au peuple. Et dites surtout, erwiederte ich, qu’il en faut une aux Rois et aux prêtres car aux uns, elle fournit le par la grace de Dieu et aux autres de la puis - sance, des honneurs et des richesses le peuple se contenterait peut être de bonnes lois et d’un gou - vernement libre.

Ah! unterbrach er mich, vous pensez comme Vol - taire:

Les prêtres ne sont pas ce qu’un vain peuple pense
Et sa crédulité fait toute notre science.
Ma foi, lui dis je, si tous les prêtres vous ressemblaient,
Je penserai bien autrement.
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Ich habe leider meinem freundlichen Amphytrion nicht Wort halten können. Eine Migraine zwang mich den ganzen Tag das Bett zu hüten. Der Herr Erzbiſchof ließ mir zwar ſagen, daß er mich kuriren wolle, und, wenn ich nur feſten Glauben mitbrächte, gewiß ſey, durch wohl applizirten Exorcismus den Kopfwehteufel auszutreiben ich mußte ihm aber entgegenſetzen, daß dieſer Teufel einer der unbezwinglichſten ſey, und Niemand reſpectire als die Natur, die ihn ſende und abberufe wie ſie Luſt habe, welches indeß ſelten vor vier und zwanzig Stunden Leiden ſtatt finde. Ich muß Dich alſo, beſte Julie, dieſen Abend auch nur mit wenigen Worten verabſchieden.

Après la pluie le soleil! der heutige Tag ent - ſchädigte mich für den geſtrigen. Schon um ſieben Uhr ſaß ich zu Pferde, um mich zum Frühſtück auf auf Capt. S. Landhaus zu begeben, wo das Jagd - rendezvous für die heutige Haſenhetze beſtimmt war. Ich fand ſechs bis ſieben rüſtige Landjunker dort verſammelt, die nicht viel denken, aber ein deſto heit - reres und ſorgloſeres Leben führen. Nachdem wir die heterogenſten Dinge, Kaffee, Thee, Whiskey, Wein, Eyer, Beafſteaks, Honig, rognons de mouton, Ku - chen und Butterbrod, alles untereinander, hatten106 einnehmen müſſen, ſetzte ſich die Geſellſchaft auf zwei große Carrs, und nahm ihre Richtung nach den Galtee-Bergen, wo, etwa in der Entfernung von acht Meilen, Hunde und Pferde auf uns warten ſollten. Das Wetter war ſchön, und die Fahrt ſehr angenehm; einem Bergrücken entlang, mit der vollen Ausſicht der fruchtbaren Ebene, vom Gebürge ge - ſchloſſen, und reich variirt durch eine Menge Land - ſitze und Ruinen, die über die ganze Fläche zerſtreut lagen. Von dieſen Schönheiten profitirte ich jedoch, wie gewöhnlich, allein; die Jäger hatten nur Jagd und Haſen im Kopfe. Man zeigte mir eine Stelle, wo vor zehn Jahren ein merkwürdiges Naturereig - niß ſtatt fand. Ein hoch liegender Sumpfmoor, wahrſcheinlich durch unterirdiſche Quellen empor ge - trieben, riß ſich vom Boden los, und wanderte, in einer Maſſe von ſechzehn Fuß Höhe und drei bis vier Morgen Ausdehnung, davon. Er ging, nach Maßgabe der Gegenſtände, denen er begegnete, im fortwährenden Zickzack, und legte ſo neun Meilen zu - rück, ehe er den nahe liegenden Fluß erreichte, in dem er ſich nur langſam auflöste und eine Ueber - ſchwemmung deſſelben veranlaßte. Die Schnelligkeit ſeines Marſches war ohngefähr zwei Meilen in einer Stunde, aber vernichtend für Alles was er antraf. Häuſer wurden bei ſeiner Berührung ſogleich der Erde gleich gemacht, Bäume ſämmtlich entwurzelt, die Felder aufgewühlt und alle Vertiefungen mit Moor angefüllt. Eine unermeßliche Menge Menſchen hatten ſich gegen das Ende ſeines Laufs eingefunden,107 ohne jedoch dem[majeſtätiſch] verheerenden Natur - Phänomen auch nur den geringſten Widerſtand ent - gegenſetzen zu können.

Als wir an der beſtimmten Stelle des Jagd-rendez - vous ankamen, waren wohl die Pferde, aber keine Hunde da. Dagegen hatten ſich noch mehrere Gent - lemen eingefunden, und anſtatt Haſen zu jagen, durchzogen wir nun Alle die Felder, in lang ausge - dehnter Linie, um wo möglich die verirrten Hunde aufzuſuchen. Von dem Reiten, was hierbei ſtatt fand, macht man ſich bei uns kaum einen Begriff. Obgleich die meiſten Felder von Mauern umſchloſſen werden, die drei bis ſechs Fuß hoch, und abwechſelnd, entweder nur von Feldſteinen loſe aufgeſchichtet, oder ordentlich mit Kalk gemauert ſind, andere aber durch ſogenannte Ditches begränzt werden feſte Erd - wälle von Lehm und Feldſteinen, die oben ſpitz zu - laufen, fünf bis ſieben Fuß Höhe haben und noch mit einem Graben auf der andern Seite, zuweilen auf beiden Seiten, verſehen ſind ſo darf dies alles den Reitern doch kein Hinderniß ſeyn, ihre Linie zu behaupten. Wie außerordentlich die hieſigen Pferde ſpringen, habe ich Dir ſchon einmal beſchrieben, wenn ich nicht irre; ihre Sagacität iſt aber auch zu be - wundern, mit der ſie ſogleich eine loſe Mauer von einer feſten, einen eben aufgeworfenen weichen Wall von einem durch die Zeit gehärteten zu unterſcheiden wiſſen, die loſen mit einem Satz überſpringen ( clear them, wie der Kunſtausdruck heißt) bei108 den feſten, es ſich bequemer machend, oben noch ein - mal aufſetzen. Alles dies geſchieht eben ſo wohl im ſchnellſten Rennen, als auch mit der größten Ruhe im Schritt, oder mit einem nur ganz kurzen Anlauf. Einige Herren ſtürzten, wurden aber nur ausgelacht, denn wer ſich nicht den Hals bei ſolcher Gelegenheit auf der Stelle bricht, darf, ſtatt Beileid, hier nur auf Verſpottung rechnen. Andre ſtiegen bei üblen Stellen ab, und ihre abgerichteten Pferde ſprangen, mit herunter hängendem Zügel, noch vor ihnen leer hinüber, und erwarteten dann ihre Reiter, ruhig gra - ſend. Ich kann Dir verſichern, daß ich gar oft dachte, dieſem Beiſpiel folgen zu müſſen, aber Capt. S , der ſein vortreffliches Pferd, welches ich ritt, kannte, und mir immer zur Seite war, encouragirte mich, ſtets nur ganz ſicher dem Thiere zu vertrauen, ſo daß ich am Ende des Tages eine wahre Reputation unter den foxhunters erhielt. Gewiß iſt es, daß man in Irland nur ſieht, was Pferde zu leiſten im Stande ſind, die engliſchen können es ihnen hierin durchaus nicht gleich thun. Wo ein Menſch hinüber konnte, machte es mein Pferd auch möglich, auf eine oder die andere Manier hinüberſpringend, kriechend oder kletternd, ſelbſt durch Sumpfſtellen, wo es bis an den Leib hineinſank, arbeitete es ſich, ohne die geringſte Uebereilung, langſam und bedächtig hindurch, wo ein zu lebhaftes und ängſtliches, wenn auch noch ſo kräftiges Thier, beſtimmt nicht wieder herausge - kommen wäre. Ein ſolches Schlachtroß im Kriege iſt unſchätzbar, aber nur Abrichtung von Kindheit an,109 verbunden mit der Güte der Raçe, kann es hervor - bringen. Daß aber die, Jahrhunderte fortgeſetzte Er - ziehung, auch bei den Thieren, die angezognen Eigen - ſchaften zuletzt faſt zu angeborenen, oder zur andern Natur werden läßt, lehrt die Erfahrung. Ich ſah in England Hühnerhunde, die, ohne alle Abrichtung, beim erſten Ausgang, vor den Hühnern ſo feſt ſtan - den, als wären ſie mit dem Corallenhalsband dreſ - ſirt worden.

Die Preiſe dieſer vortrefflichen Pferde waren, noch vor einem Jahrzehend,[verhältnißmäßig] äußerſt - ßig, ſeit aber die Engländer angefangen haben, ſie für ihre eignen Jagden aufzukaufen, hat ſich dies ganz verändert, und ein Irländiſcher Hunter von der Qualität deſſen, den ich heute ritt, wird nicht unter einhundert fünfzig bis zweihundert Guineen verkauft; miſcht ſich Liebhaberei hinein, ſo gilt er wohl auch vier bis fünfhundert. Auf dem Wettrennen bei Gall - way ſah ich einen Vollblut-Schimmelhengſt, ein be - rühmtes Jagdpferd, welches Lord Cl .... für die - ſen Preis gekauft hatte. Dieſer Hengſt hatte jede Steeplechace gewonnen, die er gelaufen, war eben ſo leicht als kräftig, ſchnell wie der Wind, von einem Kinde zu regieren, und bis jetzt ihm noch keine über - ſpringbare Mauer zu hoch, kein Graben zu breit ge - weſen.

Endlich fanden wir die Hunde, deren Führer ſich total betrunken hatten, und endeten unſere Jagd nicht eher, als bei einbrechender Dunkelheit. Es war em -110 pfindlich kalt geworden, und das flackernde Kamin - feuer, mit dem gedeckten Tiſch davor, leuchtete uns gar angenehm durch die Fenſter entgegen, als wir wieder auf Capt. S. Landhauſe ankamen. Ein äch - tes Jagd - und Junggeſellenmahl folgte. Auf Ele - ganz und Prunk war es nicht abgeſehen. Gläſer, Schüſſeln und Beſtecke waren von allen Formen und Zeitaltern vereinigt; Einer trank ſeinen Wein aus Liqueur -, der Andere aus Champagner -, der Durſtigſte aus Biergläſern; Dieſer ſpeiste mit des Urgroßvaters Meſſer und Gabel, Jener mit dem neuen grünen Beſteck, das der Bediente wahrſchein - lich erſt geſtern auf dem Caſhel’er Markt eingekauft hatte. Hunde waren dabei eben ſo viel im Zimmer als Gäſte, bedienen that ſich ein jeder ſelbſt, und Eſſen und[Getränk] ſchleppte eine alte Magd und ein plumpfäuſtiger Reitknecht reichlich herzu. Die Haus - mannskoſt war übrigens gar nicht zu verachten, eben ſo wenig der Wein, und der ächte, in den Bergen heimlich bereitete Potheen, den ich hier zum erſten - mal ganz unverfälſcht koſtete. Um einen Pudding zu zuckern, wurden zwei große Stücken Zucker darü - ber gehalten, und an einander gerieben, wie die Wil - den Feuer zu machen pflegen, indem ſie Holz ſo lange reiben, bis es zu brennen anfängt. Daß da - bei ungeheuer getrunken wurde, kann man voraus - ſetzen. Obgleich indeß Mehrere zuletzt nur noch ſtam - melten, beging doch keiner etwas[Unanſtändiges], und die wenigen vom Wein Bezwungenen, erhöhten die Luſtigkeit durch manches gute Bonmot und drollige111 Erzählungen. Einer von ihnen, welcher früher lange in England gelebt hatte, behauptete Augenzeuge von der letzten Erſcheinung Georg des III. im Parlament ge - weſen zu ſeyn, die er folgendermaßen erzählte: Be - vor der letzte König (hochſelige würden wir Deutſche ſagen, die ſelbſt im Himmel noch die Seligen ein Ti - telchen mit[einſchwärzen] laſſen) völlig und auf immer von der Geiſteskrankheit überwältigt wurde, die ihn nachher ſo lange unfähig machte, an den Regierungs - geſchäften Antheil zu nehmen, trat die Epoche der Eröffnung des Parlaments ein, und der König, wel - cher zwar bedenkliche Anfälle, aber doch noch mehr lucida intervalla hatte, beſtand darauf, das Parla - ment in Perſon zu eröffnen, und die übliche Rede ſelbſt abzuleſen, welche immer mit den Worten an - fängt: Mylords, and Gentlemen of the house of Commons! Der König ſchien ganz vernünftig, und die Miniſter, obgleich nicht wenig beſorgt, mußten ſich ſeinem ſo beſtimmt ausgeſprochnen Willen fügen. Man mag ſich aber ihren Schreck vorſtellen, als der[König], die Geſellſchaft lange und verwirrt fixirend, mit großem Pathos deutlich ſo anfing: Mylords and woodcocks, with their tails cocked up .... (My - lords, und Waldſchnepfen, die ihr den Schweif em - porreckt) hierauf aber, ohne weitere Zeichen von Ge - ſtörtheit, die Ableſung ſeiner Rede mit dem beſten Anſtand fortſetzte. Dieſer Contraſt, fügte der Erzäh - ler hinzu, war das Lächerlichſte, und die Mienen der Parlamentsglieder, die nicht wußten, ob ſie ihren Ohren trauen durſten, oder geträumt hätten, das112 unterdrückte Lachen Einiger, und das Staunen An - derer, die mit offenem Munde ſtehen blieben, war für den Zuſchauer ein höchſt amüſantes Schauſpiel. Als man, nach dieſer Erfahrung, Seine Majeſtät glück - lich zu Hauſe gebracht, ward keine weitere Probe ge - ſtattet, und er bis nach ſeinem Tode dem Publiko nicht mehr gezeigt.

Die große Zuvorkommenheit, ja ich könnte ſagen, den Enthuſiasmus, mit dem man mich hier aufnimmt, habe ich allein meinem Beſuch bei dem Manne des Volks zu verdanken, mit dem man mich, blos Neu - gierigen, in Gott weiß welchem Rapport glaubt. Wo ich durch ein Dorf reite, wird mir ein Hurrah ge - bracht, und in Caſhel iſt jeden Tag der Markt, an dem ich wohne, früh ſchon mit Menſchen angefüllt, um mich, ſobald ich ausgehe, mit einem gleichen Geſchrei zu empfangen. Mehrere drängen ſich dabei herzu, und bitten, mir die Hand (verzweifelt derb) ſchütteln zu dürfen, ganz glücklich, wenn ſie dies bewerkſtelligt haben.

Sehr ſpät brachen wir erſt von Tiſch auf, worauf ich, bei eiskaltem Nebel, mit noch einem Herrn in des Wirths carr eingepackt wurde, um nach Caſhel zurückzukehren. Alles lief mit hinaus, um mir be - hülflich zu ſeyn. Der Eine zog mir ein Paar Filz - ſchuhe über, der Andere gab mir einen Pelz um, der Dritte band mir einen Foulard um den Hals, Jeder wollte wenigſtens einen kleinen Dienſt lei - ſten, und mit vielen: God bless his Higness, ward113 ich endlich entlaſſen. Der Gentleman neben mir, Mr. O. R., war von Allen der Originellſte und auch der Betrunkenſte. Von gleich guter Meinung für mich, wie die Uebrigen, beſeelt, wollte er mir ſtets etwas helfen, indem er das Uebel immer ärger machte; bald knöpfte er mir den Pelz auf, ſtatt zu, riß mir das Tuch ab, ſtatt es feſter zuzubinden, und fiel mir auf den Schoß, wenn er mir mehr Platz machen wollte. Seine poetiſche Gemüthlichkeit zeigte ſich eben ſo charakteriſtiſch, als wir uns dem rock von Caſhel[näherten]. Es war entſetzlich kalt, und der wolkenloſe Sternenhimmel blinkte und flimmerte, wie ſoviel Diamanten; zwiſchen der Straße aber und dem Rock hatte ſich ein dichter Nebel auf die Erde gelagert, der auch die ganze Umgegend verhüllte, ſich aber nicht höher, als bis zum Fuß der Ruine, erſtreckte. Dieſe erſchien nun, da ihre Baſis unſichtbar war, wie auf einer Wolke gebaut, im blauen Aether, mitten unter den Sternen, ſtehend. Ich hatte ſchon eine geraume Zeit dies Schauſpiel ſtill bewundert, als mein Nach - bar, den ich ſchlafend glaubte, plötzlich laut aufſchrie: Ah! there is my glorious rock! look how grand! and above all! sacred place, where all my ancestors repose, and where I-too shall lie in peace! (Ha! da iſt mein erhabner Felſen! ſieh wie grandios! und erhaben über Alles! heiliger Ort! wo alle meine Vorfahren ruhen, und wo auch ich einſt in Frieden liegen werde!) Nach einer Pauſe verſuchte er, in erhöhter Extaſe, aufzuſtehen, worüber er indeß, ohne mich, wahrſcheinlich vom Wagen ge -Briefe eines Verſtorbenen. II. 8114fallen wäre. Als er feſten Fuß gefaßt, nahm er den Hut tief ab, und mit einer rührenden, wenn gleich burlesken, Frömmigkeit, rief er mit Thränen im Auge: God bless almighty God, and Glory tohim (Gott ſegne den allmächtigen Gott, und Glorie ſey ihm!) Ohngeachtet des Unſinns, den die verdoppelte Kraft des Rauſches ohne Zweifel verurſachte (Gott ſegne Gott) ſo ergriff mich doch auch das innige Gefühl, und dieſem wenigſtens ſtimmte ich von ganzer Seele bei.

Lord H ...., den ich in London gekannt, und der eine ſchöne Beſitzung hier in der Nähe hat, lud mich ein, einige Tage bei ihm zuzubringen, was ich nicht annehmen mochte, aber heute bei ihm zu Mit - tag ſpeiste. Der gut gehaltne pleasureground, und das Ausgraben eines Sees, mit dem man eben be - ſchäftigt war, erinnerten mich zu lebhaft an das Schloß, wo Du meine Theure, jetzt hauſeſt, um ohne Bewegung darauf blicken zu können. Wann werden wir dort uns wiederſehen, wann wieder unter den drei Linden häuslich mit den Schwänen frühſtücken, die uns ſo zutraulich ihr Futter aus der Hand nah - men, während zahme Tauben die Broſamen auflaſen, und der kleine Coco, verwundert und eiferſüchtig, die zudringlichen Vögel mit den klugen Augen anblin - zelte ländliches Bild, über das der verknorpelte115 Weltmann höhnend die Achſeln zuckt, das uns aber in aller ſeiner Einfachheit das Herz bewegt!

Lord H. iſt einer von den irländiſchen Vornehmen, die zwar ihre Revenuen nicht ganz ihrem Vaterlande entziehen, und zuweilen daſelbſt reſidiren, aber doch ihren eignen Vortheil ſo übel verſtehen, daß ſie ſich mit dem Volk in Oppoſition ſetzen, ſtatt ſich an ſeine Spitze zu ſtellen. Der Erfolg bleibt nicht aus. Der Earl of Landaff, auch ein Proteſtant, iſt ge - liebt, Lord H gehaßt, obgleich er perſönlich es mir durchaus nicht zu verdienen ſcheint. Man erzählte mir zwar viel von ſeinen, gegen Catholiken ausgeübten Grauſamkeiten, und ich war ſelbſt Zeuge ſeiner leidenſchaftlichen Stimmung in dieſer Hinſicht, glaube aber, daß hier, wie ſo oft in der Welt, eine bloße Aenderung der eignen Anſicht auch die ganzen Verhältniſſe verändern würde. Dies iſt eine Hauptregel praktiſcher Le - bensphiloſophie, und der Effekt ſicher, denn die Ob - jekte ſind nur Stoff; wie ſie das Subjekt verſteht und formt, darauf kömmt Alles an. Wie manche Lage kann man auf dieſe Weiſe aus ſchwarz in ro - ſenroth übergehen ſehen, ſobald man nur durch Wil - lenskraft entweder die ſchwarze Brille abnimmt, oder die roſenrothe aufſetzt. Mit welcher Brille wirſt Du meinen Brief leſen? ich höre die Antwort von hier, und küſſe Dich dafür. Der Himmel behüte Dich, und erhalte Dir dieſe Geſinnungen.

Dein treu ergebner L ....

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Neun und dreißigſter Brief.

Liebſte Julie!

Seit geſtern befinde ich mich zum Beſuch in einem hübſchen gothiſchen Schlößlein, am Fuß des Gebür - ges. Aus einem Fenſter ſehe ich fruchtbare Fluren, aus dem andern Wald, See und Felſen. Der Hausherr iſt Mr. O. R ..... s Bruder, und, außer ſeinem Schloß, auch der Beſitzer einer ſehr hübſchen Frau, der ich ein wenig die Cour mache, denn die Herrn jagen und trinken mir doch zu viel. Das Fa - miliengut hätte eigentlich meinem drolligen Freunde gebührt, weil er aber ſtets ein lockerer Zeiſig war, der von Jugend auf Whiskeypunſch und gutem Le - ben zu ergeben ſchien, ſo vermachte der Vater, der die Dispoſition hatte, das Gut dem jüngſten Sohne. Beide Brüder ſind dennoch die beſten Freunde, und die harmloſe, gutmüthige Natur des Aeltern findet durchaus keinen Wermuth in dem Wein, den er bei117 ſeinem Bruder trinkt; ſo wie auch auf der andern Seite der Jüngere das Unglück ehrt, und ſeinen eben ſo herzensguten und amüſanten, als alle Abend betrunkenen Senior, es an nichts fehlen läßt. Ein ſolches[ Verhältniß] macht Beiden Ehre, um ſo mehr da, bei des Vaters Tode, die Advokaten meinten, daß der Fall ſich gar ſehr zum Prozeße eigne, Beide haben gewiß eben ſo klug als gut gethan, ihn zu un - terlaſſen, und die Auſter für ſich zu behalten, ſtatt ſie wie in der Carrikatur, vom Advokaten verzehren, und ſich ſelbſt mit den beiden Schalen abſpeiſen zu laſſen.

Wir brachten den ganzen Tag mit Spazierengehen in den herrlichen Bergpromenaden, Andere mit Schnepfen - ſchießen, zu, und ſaßen Abends bis 2 Uhr Mor - gens beim Mittags-Tiſch. Gleich nach aufgeſtell - tem Deſſert verließen uns, nach alter Art, die Da - men und nun ging das Weintrinken an. Dann wurde ganz ſpät der Caffee bei Tiſch gereicht, und ihm folgte, faſt auf dem Fuße, ein ercitirendes Soupé, aus Devils*)Dieſe werden, wie mein ſeliger Freund oft rühmte, in Irland beſonders gut zubereitet, und beſtehen aus Geflügel, das man theils trocken, mit Cayenne - Pfeffer grillirt, theils mit einer brennend ſtarken Sauce, en sauté, ſervirt. A. d. H. für etwanige Gourmand’s unter den Leſern. aller Art, friſchen Auſtern und Pick - les beſtehend. Dieſe bildeten das Präludium zum118 Potheenpunſch, von dem Mancher 12 16 große Tumblers zu ſich nahm,[während] O. R .... die ganze Geſellſchaft, mit unerſchöpflichem Witz und Narrenspoſſen, in einem roar of laughter er - hielt. Ueberdieß mußte jeder ein Lied ſingen, auch ich ein deutſches, von dem zwar niemand etwas verſtand, Alle aber höflichſt erbaut waren. Um 2 Uhr retirirte ich mich, die Andern blieben aber noch Alle, und lange konnte ich vor ihrem Lärm und La - chen, in meiner unglücklicherweiſe grade über ihnen liegenden Stube, nicht einſchlafen.

Du wirſt Dich über das etwas gemeine Leben ver - wundern, das ich hier führe und aufrichtig ge - ſtanden, ich ſelbſt wundere mich darüber, aber es iſt genuine, d. h. bei den Leuten ächt natürlich und nicht etwas Angenommenes das hat immer eine Art Reiz, wenigſtens für mich. Ueberdem iſt die Frau vom Hauſe wirklich allerliebſt, lebhaft und gra - zieus, wie eine Franzöſin, und einem Füßchen, wie Zephyr, das ich ſchon oft geküßt, wenn ich ihr, wäh - rend die andern tafelten, eine kurze Abendviſite machte, und mich anſtellen durfte, als ſey mir der ungewohnte Punſch ein wenig zu Kopfe geſtiegen.

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Dieſen Morgen hetzten wir Haſen, wobei wieder mancher kühne Sprung gemacht werden mußte, und Abends produzirte man uns den berühmteſten Piper Irlands, Keans Fitzpatrick, der König der Piper ge - nannt, den auch His gracious Majesty, King Ge - orge the fourth, mit ſeinem Beifall beehrt hat. In der That ſind die Melodieen, die er ſeinem ſon - derbaren Inſtrumente abgewinnt, oft eben ſo über - raſchend als angenehm, und ſeine Fertigkeit, wie der höchſt gebildete und noble Anſtand des blinden Man - nes, eines Virtuoſen würdig. Dieſe Pipers, welche faſt Alle blind ſind, und ſich aus weitem Alterthum herſchreiben, ſangen jetzt an immer mehr zuſammen - zuſchmelzen, denn das Alte muß vergehen.

Im Laufe des Tages begegneten wir heute zwei Leuten, von ſehr verdächtigem Aeußern, im Walde, die meine Begleiter mir ganz unbefangen, als be - kannte[Räuber] deſignirten, die ſich, theils durch Liſt, theils durch die Furcht die ſie einflößen, bis jetzt im - mer frei zu erhalten gewußt hätten; ein Zeichen mehr wie mangelhaft das Gouvernement, und ganz verdorben der Zuſtand der Geſellſchaft hier iſt, zwei Dinge, wodurch leider Irland characteriſirt wird. Beide Leute, die ſich Pächter (farmers) nennen, weil120 ſie ein Stück Kartoffelfeld in Pacht genommen, wa - ren von höchſt auffallendem und recht nationalem Anſehen. Der Eine, ein ſchlanker, etwa 40jähriger, ſchöner Mann, mit einer wilden, aber imponirenden Phyſiognomie, ſtellte, ſelbſt in ſeinen Lumpen, noch ein höchſt pittoreskes Bild dar. Verachtung jeder Gefahr war auf ſeiner edlen Stirn ausgedrückt, Gleichgültigkeit gegen jede Schande ſpielte höhniſch um den frechen Mund. Seine Geſchichte beſtätigte dieſe Sprache ſeiner Züge. Er trug drei bis vier Militair-Medaillen, die er als Soldat in Spanien und Frankreich erworben. Wegen vielfach bewieſener Tapferkeit hatte man ihn ſchon einmal zum Unter - offizier avancirt, wegen lüderlicher Streiche aber wie - der degradirt; darauf hatte er zum zweitenmale ge - dient, ſich wieder ausgezeichnet, war aber auch von neuem aus demſelben Grunde verabſchiedet worden, ohne daß man jedoch im Stande geweſen, ihn eines Capital-Verbrechens zu überführen. Jetzt hat man ihn im ſtrengſten Verdacht, der Anführer der Räu - berbanden zu ſeyn, welche das Galtee-Gebürge ſo ſehr beunruhigen, und bereits verſchiedene Mordtha - ten begangen haben. Sein Gefährte war äußerlich ganz das Gegentheil für einen irländiſchen Far - mer ſelten wohl gekleidet d. h. nichts Zerriſſenes tragend, 60 Jahre alt, kurz und unterſetzt, und im Benehmen faſt einem[Quäcker] ähnlich. In den ſchein - heiligen Zügen lauſchte aber dennoch ein ſolcher Grad von Liſt und ſchonungsloſer Entſchloſſenheit, daß er viel furchtbarer noch als der Andre erſchien. Vor121 zwei Jahren wurde dieſer Mann der Verfertigung falſcher Banknoten angeklagt, und war bereits ſo gut als überwieſen, als ein geſchickter Rabuliſt, dem er ſich vertraute, ihn, gegen das Verſprechen einer reichen Belohnung, noch glücklich vom Galgen be - freite. Thränen der Dankbarkeit vergießend, ſteckte er ſeinem Erretter 50 Pfund in die Hand, ihn ſchluch - zend um die übliche Quittung bittend. Dieſe wurde ausgeſtellt, und vergnügt über das gute Geſchäft, füllte der Advokat ſeine Brieftaſche. Wie groß war aber ſein Aerger, als er, bei näherer Unterſuchung, ſich überzeugen mußte, daß ihn Paddi mit ähnlichen falſchen Noten bezahlt, für deren Verſertigung er dem Galgen ſchon anheim gefallen war. Wenn die Irländer ſich auf die ſchlechte Seite wenden, (und zu verwundern iſt es, daß ſie es nicht Alle thun) ſo ſind ſie gefährlicher als Andere, weil ihre hervor - ſtehenden Eigenſchaften, Muth, Leichtſinn und Schlauheit, ihnen mehr als zu behülflich ſind, Alles zu wagen, und Vieles mit Erfolg auszuführen.

Während wir beim Soupé unſre Auſtern verzehr - ten, die an der weſtlichen und Südküſte Irlands vortrefflich ſind, gab uns ein Herr aus dieſer Ge - gend, der ſelbſt Auſterzucht auf ſeinem Gute übt, einige Details über ihre Behandlung und Naturge - ſchichte, die mir ganz neu waren. Je vous les com - munique, mème au risque de vous ennûyer. Für’s Erſte mußt du alſo wiſſen: daß dreijährige Auſtern zum eſſen die beſten ſind, weil ſie dann erſt, völlig122 ausgewachſen, die gehörige Größe und Korpulenz erreichen; ſpäter aber werden ſie Coriace. Der ge - ſchickte Auſternökonom hat Bänke von jedem Alter, und nach Beſchaffenheit des Bodens, Auſtern von verſchiedenem Geſchmack und Flavour. In den von der Kunſt ungeſtörten Plätzen, wo ſich die Auſtern im Naturzuſtande vermehren, erreichen ſie nie die höchſte Vollkommenheit. Auf folgende Art kömmt man ihnen zu Hülfe. Man fiſcht die Jungen, wenn ſie nicht größer ſind als ein Viergroſchen-Stück, und[ſähet] ſie, wie Korn, in eine nicht zu weit vom Ufer entfernte Stelle des Meeres, deren Boden ein wei - cher Schlamm ſeyn muß, und die nicht mehr als höchſtens 14 Fuß Tiefe haben darf. Nach drei Jah - ren fiſcht man ſie wieder heraus, und[ſähet] dann von neuem andere aus der Mutterbank. Natürlich hat man mehrere ſolche Schlammbänke im Gange, um jedes Jahr eine reif gewordene leeren zu können. Es ſcheint, daß die Auſtern ſehr alt ſeyn müſſen, ehe ſie ſich vermehren, da in den eben beſchriebenen artificiellen Colonieen nie neue Geburten ſtatt fin - den. Die Art dieſer Geburt iſt übrigens ſonderbar, ein neues Beyſpiel der unendlichen Mannichfaltigkeit der Natur. Wahrſcheinlich iſt die Auſter ein Her - maphrodit, da keine Verſchiedenheit des Geſchlechts bemerkt werden kann, und ſie ſich nur dadurch fort - pflanzt, daß, außerhalb ihrer Schale, ſich 15 16 kleine Auſtern, wie Warzen, bilden, und wenn ſie gehörige Conſiſtenz erlangt haben, abfallen. Die Hervorbringung dieſer 16 Kinder greift die alte Ma -123 maauſter dergeſtalt an, daß, wenn man ſie nachher aufmacht, nichts wie ein wenig ſchlammiges Waſſer in ihr gefunden wird, und gleich nachdem die Klei - nen abgefallen ſind, gräbt ſie ſich 6 7 Zoll unter den Schlamm ein. Hier bringt ſie ein ganzes Jahr zu, ehe ſie ſich genug erholt hat, um von neuem ans Zeugen zu denken. Deshalb kann man in dieſer Zeit die Jungen bequem fiſchen, ohne den Alten zu nahe zu kommen, die ruhig in der Tiefe ſchlafen oder träumen! Das Fiſchen der Auſtern geſchieht vermöge eines Inſtruments, denen ähnlich, mit welchen man Schlamm aus den Flüßen heraufbringt, und beim Säen werden ſie in ein Segeltuch geworfen, und, wie ſchon geſagt, wie Getreide ausgeſäet. Sehr alte Mütter werden endlich unfruchtbar, indem ihre Schale eine ſolche Dicke erreicht, daß Liebe nicht mehr durchdringen kann grade wie die Menſchen - Herzen.

Nachmittag fuhren wir hierher zurück, nach eini - gen, recht luſtig, wiewohl nicht eben geiſtig, verleb - ten Tagen. Um meine intellektuellen Kräfte nicht ganz einſchlafen zu laſſen, will ich mich bemühen, Dir ein Volksmährchen genießbar zu machen, das mir eine alte Frau in Holy Croß erzählt hat.

124

Johny Curtin war ein armer Schüler, einer dun - keln Sage nach, der Abkömmling eines in alter Zeit hohen und mächtigen Geſchlechts, deſſen Glanz indeß längſt verloſchen, deſſen Reichthümer verſchwunden und deſſen Nachkommen, immer tiefer hinabſinkend, ſeit vielen Jahren, ihres eignen Urſprungs ungewiß, genöthigt geweſen waren, das Handwerk mit gold - nen Boden zu ergreifen, das zuletzt immer ſicher, wenn auch nicht reichlich[nährt]. Johny’s Vater und Mutter aber hatte der Tod hingerafft, ehe er ſelbſt für ſich zu ſorgen im Stande war, und eine hülfloſe Waiſe, lebte er nun allein von der Großmuth ſei - nes Verwandten, eines Pächters in der Nähe der Ruinen von Holycroß, wo er jetzt eben auch die Schulferien zubrachte; denn Johny war fleißig und wißbegierig, und der Oheim gutmüthig genug, ihn bei der Arbeit oft zu entbehren, um ihm Zeit zu laſſen, auf der Schule zu erlernen was dort zu er - lernen war.

Lernen und Wiſſen erweitert unſre Exiſtenz, ge - biert aber auch manche Sorge, manches nur einge - bildete Uebel, das im einfacheren Wirkungskreiſe un - bekannt bleibt. Johny kannte die Geſchichte ſeines Vaterlandes, wußte wie die alte Größe faſt überall gebeugt worden war, und die eigentlichen Fürſten des Bodens Fremdlingen weichen mußten, die, wie Pilze aufgeſchoſſen, den edleren Pflanzen die Nah - rung entzogen, bis die unerbittliche Zeit endlich Al - les verwandelte, und die, deren Vorfahren Könige125 waren, zu nichts Beſſerem als Sclaven geſtempelt hatte. Er ſelbſt ſah ſich in vollem Maße für einen Solchen an, und die geringen Freuden, deren ſeine Lage fähig war, wurden nur zu oft durch ſelbſtpei - nigende Gedanken dieſer Art getrübt.

In dieſer Stimmung waren die ſtolzen Ueberreſte verhallter Jahrhunderte, die Tipperary’s Fluren, gleich einem großen Kirchhof, bedecken, das gewöhn - liche Ziel ſeiner einſamen Wanderungen, und der Lieblingsaufenthalt des ſchwärmenden Jünglings. Manche Sommernacht brachte er in der verwitterten Cathedrale zu, die auf Caſhels Felſen, in nackter Erhabenheit, thront, durchirrte in der Mittagsſonne die ſumpfigen Wieſen, in die ſeit acht Jahrhunderten Athaſſil’s Abtei immer tiefer verſinkt, oder ruhte im Schatten des Raubſchloſſes von Golden, deſſen zehn Fuß dicke Mauern der Zeit noch trotzten, wie ſie ſo lange manchem Feinde getrotzt. Doch vor Allem theuer waren ihm die prächtigen, von Epheu einge - hüllten, Ruinen des Kloſters von Holycroß, wo der Fremde noch jetzt das wunderbar erhalt’ne Grab des großen O’Bryan’s, Königs von Limmerick, bewun - dert, und wo auch, im beſcheidnen Winkel, Johny’s Eltern ſchliefen. Vor ſeiner Phantaſie aber bevöl - kerte es ſich noch mit andern wunderbaren Geſtalten, unter denen die Geiſter ſeiner großen Vorfahren, die, wie er oft gehört, ihre Ruheſtätte hier gefun - den, den erſten Rang einnahmen. Möglich, daß ſeine Vermuthung ihn nicht betrog, denn, der poeti -126 ſchen Sitte ſeines Volks gemäß, wird nicht der Platz um die ärmliche Kapelle, in der die Bedrückten jetzt ihren kaum geduldeten Gottesdienſt feiern, gewählt, ſondern die erhabnen Ruinen ihrer alten Kirchen und Klöſter vertreten die Stelle zum Begräbniß für hoch und niedrig, daher ſieht man hier den Boden auch überall von aufrecht ſtehenden Grabſteinen wim - meln, untermiſcht mit Knochenhaufen und Schädeln, die, um den neuen Ankömmlingen Platz zu machen, ſorglos ausgeſchaufelt wurden. Hier, in einer Fen - ſterniſche ſitzend, verträumte Johny Stunden auf Stunden, bis die Sonne über dem majeſtätiſchen Galtee-Gebürge herabſank, deſſen dunkle Rieſen al - lein unverändert jedes Jahrhundert und jede Um - wälzung überlebt hatten.

Eines Abends, wo er ſich mehr bewegt als je ge - fühlt, ſehnſüchtig in die Vergangenheit und troſtlos in die Zukunft geblickt, und ihm endlich gedäucht, daß immer hörbarer die Geiſter der Abgeſchiednen in ſeiner Nähe gerauſcht verſank er, die Augen noch von wehmüthigen Thränen naß, in einen tiefen Schlummer. Wie lange er geſchlafen, wußte er nicht; ob er nachher geträumt, oder wirklich geſehen was ihm erſchienen, blieb ein nie mehr zu enthüllendes Räthſel. Genug, er glaubte mitten in der Nacht zu erwachen, und jeden Raum der weiten Kirche, bis in die entfernteſten Winkel, von einem überirdi - ſchen Lichte erleuchtet zu ſehen, das mit der Klar - heit des Tages den Silberſchein des Mondes und127 den roſigen Schimmer der Abendröthe verband. Vor ihm aber ſtand ein weibliches Weſen, in ein ſchloh - weißes Gewand, wie eine wallende Wolke, gehüllt, und zwei Augen funkelten ihm aus der Wolke ent - gegen, gleich Sternen in einer Decembernacht. Eine Stimme, deren Ton Johny nie genügend beſchreiben konnte, deren Zaubermelodie aber jede Nerve zu ſtärken, jede Furcht zu beſchwichtigen, und frohen Le - bensmuth, wie Feuer, in jede Ader zu ſtrömen ſchien, rief ihm freundlich, in ſanft verhallenden - nen zu: Mein Sohn! weißt Du wo Du biſt? Wo ich bin erwiederte Johny, ſich die Augen rei - bend. Gewiß in Holycroß. Weißt Du auch, daß hier im grauen Alterthume Deine Väter herrſchten, und alles Land, was Deine Augen oft von jenem Thurme überblickten, einſt ihr Eigenthum war? Ha! ich ahnete es o! warum konnten ſie es nicht beſſer bewahren, auf daß ihr Enkel nicht heute in Armuth und Sorge ſein ſaures Brod von frem - der Gnade betteln müßte. Johny! fuhr die Stimme fort, laß die Vergangenheit ruhen von Dir allein wird es abhängen, ſo groß zu werden als unſre Voreltern waren, wenn Du Muth mit Klugheit ver - bindeſt. Dein Glücksſtern brachte Dich grade dieſe Nacht in die Mauern der Abtey, wo ich, die einſt hier gebot, jetzt alle hundert Jahr nur einmal noch erſcheinen darf. Wiſſe denn daß ein unermeßli - cher Schatz, unſrer Familie angehörig, hier vergra - ben liegt, der, wenn du ihn erhebſt, dich reicher als einen König machen wird. Doch John Curtin!128 merke wohl auf was ich dir ſage, denn ich kam heute zu deinem Heil, wenn du es zu nützen verſtehſt; aber nie ſiehſt du mich auf dieſer Welt wieder. Du kennſt den Hügel über der Abtey, den geſegne - ten Fleck, wo der Splitter des heiligen Kreuzes bei der Abteyglocke ſüßem Klange herabfiel, und wo die gute Alte ihrem Sohn begegnete, als er von Jeru - ſalem zurückkam. Du kennſt den uralten Tarus - Baum, der dort einſam ſteht, nahe am Wege, auf der Erhöhung von Erde und Steinen. Dort grabe 6 Fuß weit vom Baum, in der graden Linie des Abteythurms, und grabe 6 Fuß tief. Das Werk muß in der todten Stunde der Nacht vollbracht, und ſey deſſen wohl eingedenk! kein Wort dabei ge - ſprochen werden, oder wehe denen, die es unter - nahmen!

Hier ſchien ein lichter Blitz durch die Kirche zu zucken, und ein heiſres Lachen an ſein Ohr zu ſchla - gen; Johny fuhr auf wie aus einem Traume, aber tiefe Dunkelheit umfing ihn, und unüberwindliche Schlafſucht drückte ihm von neuem die Augen zu. Als er erwachte, war er nicht wenig erſtaunt, ſich auf ſeinem Strohlager bei Dick Caſſidy, ſeinem Vet - ter, zu finden, ohne alle Erinnerung wie er zu Hauſe gekommen. Hatte er wirklich nur[geträumt]? war alles blos ein Gaukelſpiel ſeiner erhitzten Phan - taſie? es mußte wohl ſo ſeyn, denn der Wahr - heit zu Ehren darf man nicht verbergen, daß Johny, ehe er ſeiner Lieblings-Ruine zuwandelte, bei einem129 guten Kameraden den Mittag verbracht, und den Whiskey-Punſch nicht geſchont hatte, ja Bridget, die Hausmagd, behauptete ſogar, ſie habe, als Johny ſo ſpät zu Hauſe kam, gleich gemerkt, daß der Potheen-Geiſt mächtig in ihm ſey, und dieſer Geiſt iſt Manchem ſchon nachher in den ſeltſamſten Varia - tionen und Formen wieder erſchienen, wenn er ein - mal mit ihm in Gemeinſchaft getreten. So ſprach Johny zu ſich ſelbſt, aber die kältere Vernunft mochte anführen, was ſie wollte, immer richteten ſich ſeine Schritte nach der Gegend der Abtei, und wenn er den einſamen Taxus-Baum nur von fern erblickte, ſchlug ihm das Herz ſtärker, das Blut ſchoß ihm in die Wangen, und Bilder künftiger Größe gaukelten vor ſeinem innern Auge, immer bunter und glänzen - der, umher. Der Dämon der Begehrlichkeit hatte Beſitz von ſeiner Seele genommen. Er beſchloß endlich ſeinen Verwandten, der ein bedächtiger und verſtändiger Mann war, zum Vertrauten zu machen, und ſeinem Ermeſſen die Sache anheim zu ſtellen. Wider Vermuthen nahm Dyk die Eröffnung weit gläubiger auf, als Johny gehofft, und Habſucht und Aberglauben, von denen auch der Alte nicht frei war, entſchieden beide ſchnell zur That. Man kam über - ein, daß der Verſuch ſo ſchleunig als möglich ge - macht, und der Schatz, ſobald er gehoben, treulich unter Beide vertheilt werden ſolle.

Nach einem guten Abendeſſen, und mehr als einem Glaſe blessed Whiskey zur Herzſtärkung, machteBriefe eines Verſtorbenen. II. 9130ſich Dyk und Johny auf den Weg. Sie mußten nahe unter den Mauern von Holycroß vorüber, und der Wind, der ſich ſtürmiſch zu erheben begann, ſchüttelte die Aeſte der alten Eſchen ſo ſchaurig, rauſchte ſo hohl und dumpf durch den dicht verſchlun - genen Epheu, und warf mit ſolcher Gewalt große Steine von den Mauern hinab in ihren Weg, daß beiden immer übler zu Muthe ward. Indeß nah - men ſie ſich zuſammen, und ſchnell über die Brücke eilend, die hier[über] den Suir führt, richteten ſie ihre Schritte eiligſt nach dem angezeigten Baum. Sobald ſie ihn erreicht, verlor Dyk keinen Augen - blick länger, warf ſeinen Rock ab, maß ſorgfältig die ſechs Schritte vom Erdhaufen nach dem Abteithurm, und begann aufs emſigſte zu graben. Johny folgte ſchweigend ſeinem Beiſpiel, und nachdem ſo unter manchem innerlichen Stoßgebet und Zeichen des heili - gen Kreuzes, eine Stunde verfloſſen ſeyn mochte, fühlte Dyk zuerſt ſeinen Spaten auf etwas Hartes ſtoßen. Die loſe Erde wegſchaufelnd, fanden ſie, daß ein platter breiter Stein vor ihnen lag. Lange quälten ſie ſich vergebens, ihn von der Stelle zu bringen, und nur nach unſäglicher Anſtrengung ge - lang es ihnen endlich, denſelben ein wenig zu lüften, und dann mit Hülfe eiſerner Hebel, die ſie vorſichtig mitgenommen, völlig umzukippen. Sie wurden da - durch eine ſchmale Treppe gewahr, und ermuthigt durch die jetzt gewonnene Ueberzeugung, daß die Er - ſcheinung ſie nicht betrogen, zündeten ſie ihre Blend - laternen an, und ſtiegen voller Zuverſicht, wenn131 gleich nicht ohne einigem Schauer, Einer nach dem Andern, langſam hinab. Die Stufen führten in eine lange Gallerie, an deren Ende ein ſchweres eiſernes Thor allem weitern Vordringen ein Ende zu machen ſchien. Näher kommend, fanden ſie je - doch einen goldnen Schlüſſel darin ſtecken, der es auch mit Leichtigkeit aufſchloß. Sie ſchritten nun in dem ſich gleich darauf wendenden Gange kühn weiter, und bemerkten bald ein anderes Thor, über dem, in Bruſthöhe, ein durchſichtiges Gitter ihre Blicke auf ſich zog. Johny erhob die Laterne, um Dyk hin - durch ſehen zu laſſen, doch kaum hatte dieſer einen Blick hineingeworfen, als er voller Freuden aufſchrie: Hurrah, bei Noonans Geiſt! wir ſind gemachte Leute! Das letzte Wort ſchwebte noch auf ſeinen Lippen, als ein furchtbarer Donner krachend das Gewölbe zuſammen brach ein ſauſender Wirbel - wind ſchlug die Laterne zu Boden, und Johny, flach auf ſein Antlitz ſtürzend, verlor in unnennba - rem Graus Gedächtniß und Beſinnung. Als er wie - der zu ſich kam, lag er unter dem einſamen Tarus - baum und eine hohe Flamme ſpielte, gleich einem rieſigen Irrlicht, auf dem Thurme der Abtei. Eine ſchwarze Figur ſchien luſtig darin zu tanzen, und ſtärker erſcholl, dicht neben ihm, daſſelbe heiſere Lachen, das er in der Ruine zu hören geglaubt. Wie er aber, von Schrecken bleich, ſich nach ſeinem Vetter umſah, lag, von der Flamme grell erleuchtet, Dyk, mit umgedrehtem Halſe, neben ihm, die blau9*132geſchwollnen Züge ſchauderhaft verzerrt, und die ſtarren Augen feſt auf Johny gerichtet.

Herzens Julie, ich fürchte, das materielle Leben dieſer Tage hat mich ein wenig dumpfſinnig gemacht, und meine Geſchichte trägt die Farbe davon. Sie ſieht in der That wie der Traum einer Indigeſtion aus. Nach einigem Faſten produzire ich Dir indeß vielleicht eine beſſere.

En et[t]endant wünſche ich Dir gute Nacht, und angenehmere Träume als dem armen Johny.

Ich hatte die Hospitalität der guten Landjunker hier ſo oft in Contribution geſetzt, daß ich en con - science ſie einmal erwiedern mußte, und lud daher vor meiner Abreiſe heute Alle zu einem kleinen Feſt bei mir ein. Früh gab ich ihnen ein Hahnengefecht, car il faut hurler avec les loups, dann Conzert des großen Piper’s, einen Spazierritt auf ihren eig - nen Pferden, und zuletzt grand festin, grande chair et bon feu. Während unſres Rittes kamen wir an eine Stelle, wo vor drei Jahren ein Magiſtrat, mit Namen Baker, erſchoſſen wurde. Dies war ein Charakter, vollkommen dem der Iffländiſchen Amt - männer gleich, nur leider ohne eine, ihm entgegen -133 arbeitende, edle Seele. Den Tag vor ſeinem Tode hatte er noch zu einem Manne, den er, auf vor - gegebnen Verdacht revolutionairer Umtriebe, ſechs Wo - chen in Ketten legen laſſen, indem er ihn endlich frei ließ, ganz[öffentlich] geſagt: Vorigen Monat ſchickte ich zu Euch und verlangte Euch zu ſprechen. Ihr kamt nicht, dafür habe ich Euch jetzt die kleine Lektion gegeben, die Euch künftig, wie ich hoffe, etwas geſchmeidiger machen wird. Iſt es nicht der Fall, ſo ſollt ihr in ſechs Wochen baumeln, dar - auf verlaßt Euch! Die Grafſchaft war nämlich da - mals, nach einer partiellen Empörung, unter martial law (Kriegsgeſetz) geſtellt, und den Behörden ſo lange faſt unumſchränkte Macht eingeräumt, weshalb ſie ſich Alles erlauben durften. Die Urſache von Bakers Ermordung war von der Art, daß man ihn kaum bemitleiden kann. Er ſchuldete einem Milch - händler 500 Lſt., theils für gelieferte Waare, theils für baar hergeliehenes Geld, und hatte verſprochen, die Summe zu bezahlen, ſobald der Mann ſeine Tochter verheirathen würde, für welche dieſelbe als Ausſtattung beſtimmt war. Der Fall trat nach eini - gen Jahren ein, und der Milchhändler bat beſchei - den um ſein Geld. Da indeß Baker ihn immer mit Ausflüchten hinhielt, und er nichts als vague Ver - ſprechungen von ihm erhalten konnte, drohte er end - lich mit einer gerichtlichen Klage, und reiste auch nach Cork, um ſich deshalb mit einem Rechtsgelehr - ten zu beſprechen. Dieſe Abweſenheit benutzend, er - ſchien Baker ſchon des andern Tages in ſeinem134 Hauſe, von einem Detachement Soldaten gefolgt, und frug gleiſneriſch die, mit ihrem ſiebenten Kinde eben ſchwanger gehende Frau, ob ſie etwas von im Hauſe verſteckten Waffen wiſſe, da eine ſchwere An - klage gegen ihren Mann gemacht worden ſey. Dieſe verſicherte gutes Muths, daß ſo etwas in ihrem Hauſe gewiß nicht exiſtire, da ihr Mann nie ſich dergleichen Umtriebe zu Schulden kommen laſſen, wie er ja ſelbſt, als ſein alter Bekannter, am beſten wiſ - ſen müſſe. Gebt wohl acht, was ihr ſagt, rief Baker, denn findet man etwas und ihr habt es ver - läugnet, ſo verurtheilt Euch das Geſetz ohne Gnade zur lebenslänglichen Transportation. Die Frau blieb bei ihrer Ausſage. Nun wohlan, auf Eure Ge - fahr! Soldaten! befahl er, durchſucht Haus und Scheune aufs genauſte, und bringt mir Rapport, was ihr gefunden. Man fand nichts als aber unter Bakers eigner Anführung eine zweite Nach - ſuchung gehalten ward, brachte Jemand eine geladne Piſtole hervor, die angeblich unter dem Stroh ver - ſteckt geweſen ſeyn ſollte, von der man aber immer vermuthet hat, daß Baker ſie ſelbſt dahin praktizirte. Die Frau wurde ſogleich fortgeſchleppt, und durch das Corpus delicti bereits als überführt betrachtet, nach kurzem Prozeß zur Transportation verdammt. Ihr Mann kam wenige Tage darauf zurück und ſuchte Himmel und Erde für ihre Freiheit zu bewe - gen. Vergebens flehte er, daß man wenigſtens ihn an die Stelle der unglücklichen Frau, einer ſchwan - gern Mutter von ſechs Kindern, nach Botanybay135 ſchicken möge. Er offerirte auch das Geſchenk der 500 Lſt. Aber Baker blieb unerbittlich, den Ver - zweifelnden höhniſch erinnernd, daß er dies Geld ja brauche, die Tochter auszuſtatten, welche, ſetzte er hinzu, ihm jetzt die Wirthſchaft führen könne, wenn er anders, in Folge der eingeleiteten Unter - ſuchung, noch eine Wirthſchaft behielte. Für das Reiſegeld ſeiner Frau brauche er aber nicht zu ſor - gen, denn dies übernähme großmüthig das Gouver - nement. Das Geſetz hatte wirklich ſeinen Lauf, die arme Frau wurde transportirt, und iſt vielleicht noch in Port Jackſon. Aber die zur Wuth gebrachten Menſchen, ihr Mann, Bruder und noch zwei andere, rächten ihr trauriges Schickſal, kurze Zeit darauf, durch Bakers grauſame Ermordung, den ſie mitten im freien Felde anfielen, gleich einem Wilde hetzten, und endlich mit mehrern Schüſſen langſam erlegten. Alle wurden ergriffen und gehangen.

Solche Schaudergeſchichten waren damals in dem unglücklichen Lande[alltäglich], und noch jetzt kom - men ähnliche vor. Daß aber ein ſolcher Contraſt zwiſchen England und Irland, unter demſelben Gou - vernement ſtatt finden, und ſo lange fortbeſtehen kann, iſt für jeden Menſchenfreund wahrhaft betrü - bend, um ſo mehr, wenn man bedenkt, daß nux un - bezwingliche Bigotterie und frühere Raubſucht, deren Beute man nicht wieder herausgeben will, die Ur - ſache, 6,000,000 Menſchen aber die Opfer davon ſind.

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Von meinem Feſte ſage ich nichts. Es glich den andern, und dauerte mehr als zu lange. Nur zweier Anekdoten will ich erwähnen, aus Venus und Bacchus Reiche entlehnt, weil ſie mir bemerkenswerth, und die Sitten gut ſchildernd erſcheinen. Ich bitte im Voraus um Verzeihung, wenn die erſte Dir ein wenig zu frei vorkömmt, aber man kann ohnmöglich wie Du, ſo vielen Gelagen in der Provinz beiwohnen, ohne auch einmal etwas Verfängliches zu hören. Uebrigens iſt das Ganze eine öffentlich verhandelte Kriminal - Geſchichte, und in ſo fern wohl auch einem vertrau - ten Briefe einzuverleiben.

Man neckte einen der Gäſte mit ſeinen Liebesge - ſchichten, und Jemand meinte, er wäre wohl auch im Stande, es ſeinem Couſin R ..... nachzuthun. Ich frug, was dieſer Couſin gethan, und erhielt fol - gende Auskunft: Voriges Jahr, ſagte mein Bericht - erſtatter, brach der Gentleman, von dem die Rede iſt, den Hals auf einer Fuchsjagd, was gewiß manche Tugend gerettet hat, und auch vielleicht ihn ſelbſt vor einem ſchlimmern Tode bewahrt, dem er ſchon einmal ganz nahe war. Die Sache hat in unſrer Criminal-Geſchichte nicht wenig Aufſehen gemacht, und möchte nicht ſo leicht einen Nachahmer finden.

M. R., ſchon berühmt durch vielfache Avantüren, ſtellte lange vergebens der hübſchen Tochter eines[Pächters] nach, ohne daß es ihm gelingen wollte, ſie zu einem rendez-vous zu bringen, oder ſonſt allein zu treffen. Endlich begegnete er ihr einmal, ohnfern137 ihres Vaters Haus, wie ſie eben zum Brunnen ging, zwei Waſſerkannen über die Schultern gehangen, und ſie mit beiden Händen haltend, wie es hier die Land - mädchen zu thun pflegen. Eine Weile mit ihr ſcher - zend und allerlei zärtliche Poſſen treibend, benutzte er plötzlich ihre vertheidigungsloſe Stellung und enfin, es gelang ihm, halb wenigſtens gewiß mit Gewalt, alles von ihr zu erlangen, was ſie geben konnte. Von den engliſchen Geſetzen wird ſo etwas nicht nach der Kaiſerin Catharine oder Königin Eli - ſabeth Prinzip beurtheilt, ſondern als criminelle Gewaltthätigkeit angeſehen, und der Delinquent, wenn er durch Zeugen überführt iſt, ohne Weiteres gehangen. M. R ..... ’s Schreck war alſo nicht gering, als er, noch das weinende Mädchen tröſtend, ſich aufrichtete, und ihre jüngere Schweſter hinter derſelben ſtehen ſah, die in der gleichen Abſicht Waſ - ſer zu holen hergekommen war, und das Ganze mit angeſehen zu haben ſchien. Oh for shame! (O der Schande!) rief ſie entrüſtet, muß ich das von dir er - leben, Schweſter! gleich ſollen Vater und Mutter al - les erfahren! Die arme Maria war bei dieſer Dro - hung mehr todt als lebendig, ihr Liebhaber jedoch wußte, mit ſeltner Faſſung und ſeltner Thatkraft, der Sache eine ganz unerwartete Wendung zu geben. Scheinbar wüthend zog er ſein Meſſer, und ſtürzte auf die jüngere Schweſter zu, als wolle er ihr augen - blicklich den Mund für immer verſiegeln. Halb ohn - mächtig vor Schreck ſank dieſe, um Erbarmen flehend, kraftlos zu ſeinen Füßen hin. Hier ward ihr das -138 ſelbe Schickſal zu Theil, das einige Minuten früher ihre Schweſter betroffen. Beide hielten nun zwar reinen Mund, beide aber zwang einige Zeit nachher die Natur zum Geſtändniß, denn beide wurden ſchwanger, und gebaren einen Knaben und ein Mäd - chen. Die Eltern machten die Sache anhängig, ſie war klar das jüngſte der Mädchen überdies erſt 13 Jahr alt, und man hielt Hrn. R ...... für verloren. Wider alles Vermuthen erklärte ihn indeß die mitleidige Jury (que tant de valeur sans doute avait désarmé) für not guilty (nicht ſchuldig) weil, auf eingefordertes Gutachten, der Stadtarzt gefällig[erklärt] hätte: daß der Fall unmöglich ſey. Voilà une belle occasion de disputer pour les Juriscon - sultes et les mêdecins. Die mauvais plaisans be - haupteten, daß vor dieſem Prozeß Mr. R ...... den Weibern gefährlich geweſen, nachher aber unwi - derſtehlich geworden ſey.

Nun zur zweiten Erzählung:

Vor ohngefähr zehn Jahren gab Lord L ....., der damals faſt für unüberwindlich vis à vis einer Batterie Whiskey-Punſch-Gläſer gehalten wurde, ein großes diné, deſſen Hauptzweck effrenirtes Trinken war, eine Mode, die jetzt, im Verhältniß wenig - ſtens, immer mehr abgenommen hat. Es war da - mals etwas ganz Gewöhnliches, ſich mit einem Faſſe Wein und einer luſtigen Geſellſchaft einzuſchließen, und das Gemach nicht eher zu verlaſſen, bis der letzte Tropfen geleert war. Burrington ſpricht in ſei -139 nen Memoiren von einer ähnlichen Partie, die in einem Jagdhauſe ſtatt fand, wo erſt den Tag vorher die Wand mit Mörtel bekleidet worden war, der noch nicht zum Trocknen Zeit gehabt hatte. Hier ſchloß man ſich auf dieſe Weiſe mit einer Tonne, eben von Frankreich angekommenen Claret’s, ein, und als am Morgen die gegen die Wand getaumelten Mitglieder aus ihrem Rauſche erwachten, fanden ſie ſich ſo feſt mit derſelben identificirt, daß ſie ſpäter davon abge - ſchnitten werden mußten, einige mit Verluſt ihres Haars, andere ihrer Kleider.

Ein Diné in ähnlichem Genre, gab auch Lord L ..... Die ſehr zahlreiche Geſellſchaft ward bald überaus luſtig und geräuſchvoll, und nachdem die Augen weniger ſcharf und die Zungen ſtammelnder geworden waren, hörte Lord L ..... mehreremal vom untern Ende der Tafel rufen: O Serjeant Scully! that won’t do! Fair play Mr. Scully! (O Sergeant Scully, das geht nicht an! Ehrlich Spiel Herr Scully!) Dieſer Scully war Sergeant in dem Milizcorps der Gutsbeſitzer, das Lord L ..... kommandirte, und ſonſt als ein ſehr determinirter Trinker bekannt. Lord L .... alſo, der glaubte, er weigere ſich ſein Glas weiter zu füllen, ward höchſt entrüſtet, und rief ihm laut über den Tiſch zu: Schämt Euch Scully! Euch ſo nöthigen zu laſſen! Allons, gleich füllt Euer Glas! Irland für immer. O Mylord, ertönten hier meh - rere klägliche Stimmen, Euer Herrlichkeit ſind ganz im Irrthum. Sergeant Scully hat zwei Gläſer140 vor ſich ſtehen, die er beſtändig füllt, während wir nur eins erhalten; ſolche Bevortheilung wollen wir aber nicht länger dulden!

Seitdem iſt es in ganz Irland zum Sprüchwort geworden, wenn einer mehr als alle Andern thut, oder doppelten Vortheil aus einer Sache zieht, zu ſagen: Er nimmt ſich ein Beiſpiel an Sergeant Scully.

Als man keine Anekdoten mehr zu erzählen wußte, wurden allerlei Kunſtſtücke und tours de force ge - macht, worunter ich Eins noch nie geſehen hatte. Es iſt nur ein Experiment mit einem Hahn, das jeder nachmachen kann, aber doch ziemlich ſonderbar. Das wildeſte und böſeſte Thier dieſer Art wird näm - lich ſogleich bewegungslos, und vermocht, ſo lange man will, in todtenähnlicher Ruhe auf dem Tiſche liegen zu bleiben, den Schnabel vor ſich hingeſtreckt und die Augen keinen Augenblick von einer weißen Linie verwendend, die vor ihm hingezeichnet iſt. Man thut weiter nichts, als dieſe grade Linie vorher auf dem Tiſche mit Kreide zu zeichnen, den Hahn dann mit beiden Händen zu faſſen und mit dem Schnabel auf der Linie fortzuſchieben. Dann drückt man ihn auf den Tiſch auf, und er wird ſo lange liegen blei - ben, ohne ſich zu rühren, bis man ihn wieder weg - nimmt. Das Experiment kann jedoch nur bei Licht gemacht werden.

Voilà de grandes bagatelles, mais à la gôerre comme à la gôerre.

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Da Fitzpatrick der Piper, den ich für geſtern hatte kommen laſſen, noch heute in der Stadt blieb, be - nutzte ich dies, um ihn während des Frühſtücks pri - vatim in meiner Stube ſpielen zu laſſen, und dabei ſein Inſtrument genauer zu betrachten. Es iſt, wie Du ſchon weißt, Irland eigenthümlich, und eine ſelt - ſame Miſchung alter und neuer Jahrhunderte darin ſichtbar. Der urſprüngliche, einfache Dudelſack hat ſich in ihm mit der Flöte, der Hoboe, und einzelnen Orgel - und Baſſontönen, vermählt. Alles zuſammen bildet ein fremdartiges, aber ziemlich vollſtändiges Concert. Der kleine elegante Blaſebalg, der damit verbunden iſt, wird vermöge eines ſeidenen Bandes am linken Arme befeſtigt, und der, zwiſchen ihm und dem Sack communizirende, Windſchlauch, über den Leib gelegt,[während] die Hände auf einem, mit - chern, gleich einem Flageolet, verſehenen, aufrecht ſtehenden Rohre ſpielen, welches das Ende des In - ſtrumentes bildet, und mit fünf bis ſechs andern kür - zeren, die einer coloſſalen Papagenoflöte ähnlich ſind, in Verbindung ſteht. Während des Spiels geht der rechte Arm unaufhörlich vom Körper ab und zu, um den Blaſebalg in Athem zu erhalten. Das Oeffnen einer Klappe bringt einen tiefen, ſummenden Ton hervor, der während dem übrigen Spiel unisono mit fortgeht, und dem Forte-Zug des Piano’s ähn - lich wirkt. Durch das Agitiren des ganzen Körpers, ſo wie des vorher beſchriebenen Rohres brachte Fitz -142 patrick Laute hervor, die kein andres Inſtrument be - ſitzt. Der Anblick des Ganzen, wozu Du Dir den ſchönen alten Mann mit einem vollen weißen Locken - kopf hinzudenken mußt, iſt wirklich ſehr originell, ſo zu ſagen: tragikomiſch. Seine bag pipe war übri - gens beſonders prächtig verziert, die Röhren aus Ebenholz mit Silber beſchlagen, das Band wie ge - ſtickt, und der Sack mit feuerfarbner Seide und ſil - bernen Frangen umgeben.

Ich ließ mir die älteſten irländiſchen Melodieen aufſpielen, wilde Compoſitionen, die gewöhnlich trau - rig und melancholiſch, wie die Geſänge der ſlaviſchen Völker, anfangen, zuletzt aber dennoch in einen Gigg, dem irländiſchen Nationaltanz, oder einer kriegeri - ſchen Muſik endigen. Eine dieſer Melodieen gab das ſehr täuſchende fac simile einer Fuchsjagd, und eine andere glaubte ich aus dem[Jägerchor] im Freiſchützen entlehnt; ſie war aber 500 Jahr älter. Les beaux esprits de rencontrent dans tous les âges.

Nach einiger Zeit hörte der Piper plötzlich auf, und ſagte lächelnd, mit vieler Anmuth: Es muß Ihnen ſchon bekannt ſeyn,[gnädiger] Herr, daß die irländiſche bag pipe nüchtern keinen guten Ton hat ſie ver - langt den Abend, oder die Stille der Nacht, heitere Geſellſchaft und den lieblichen Duft dampfenden Whis - key-Punſches. Erlauben Sie alſo, daß ich mich jetzt beurlaube.

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Ich belohnte den guten Alten reichlich, der mir im - mer als ein wahrer[Repräſentant] iriſcher[Nationali - tät] vorſchweben wird.

Mit Fitzpatrick nehme auch ich Abſchied von Dir, liebſte Julie, um mich nach der langen Tour wieder nach Dublin zurück zu begeben, von wo ich meinen nächſten Brief an Dich abzuſenden gedenke.

Dein treuer L .....

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Vierzigſter Brief.

Gute, theure Freundin!

Wenn man ſo lange ein halb wildes Leben ge - führt, kömmt Einem die Zahmheit der Stadt ganz ſonderbar vor! Ich kann mir jetzt beinah das Heim - weh der Indianer erklären, von denen ſelbſt die Ge - bildeteſten doch am Ende in ihre[Wälder] wieder zu - rücklaufen. Die Freiheit hat einen zu großen Reiz!

Geſtern Nachmittag verließ ich Caſhel, und nahm in meinem Wagen den Bruder des Capt. S. mit. So lange es Tag war, ſahen wir gewiß an zwanzig verſchiedene Ruinen, fern und nah, liegen. Eine der ſchönſten ſteht am Fuß eines iſolirten Hügels, Kil - lough Hill, der Garten Irlands, genannt, weil auf ihm, der Sage nach, alle in Irland einheimiſche Pflanzen wachſen. Der Grund dieſer Fruchtbarkeit iſt, daß Killoughhill einſt der Sommeraufenthalt der[Feenkönigin] war, deren Gärten hier prangten. Der145 überirdiſch magnetiſirte Boden behält daher noch im - mer einen Theil ſeiner wunderbaren Kräfte. Die er - wähnte Ruine hat abermals einen jener räthſelhaften, ſchmalen, runden Thürme ohne Oeffnung, die von fern einem, von allen Neunen allein ſtehen gebliebe - nen, ungeheuren Königskegel gleichen. Bei einigen wenigen, ſieht man zwar die Oeffnung einer Thüre, aber nicht unten, ſondern in der Mitte. Kein ro - mantiſcheres Schilderhaus[hätte] für die Wache des Feenhügels gewählt werden können. Das Wetter war außerordentlich mild und ſchön, und der Voll - mond ſo lichtſtrahlend, daß ich bequem in meinem Wagen leſen konnte. Demohngeachtet verſchliefen wir einen guten Theil der Nacht.

In Dublin fand ich einen Brief von Dir vor. Tauſend Dank für alles Liebe und Gute, das er für mich enthält. Aengſtige Dich aber nicht zu ſehr über die Lage Deiner Freundin. Sage ihr, ſie ſolle han - deln wie es die Noth erfordere, abwenden was mög - lich ſey, unvermeidliches Uebel aufſchieben, ſo lange ſie könne, aber immer ruhig tragen was da ſey. Das wenigſtens iſt meine Philoſophie. Deine Ci - tation aus der Sevigné hat mich ſehr amüſirt. Ge - wiß, dieſe Briefe ſind merkwürdig! durch viele Bände immer das Nämliche, und an ſich ziemlich Leere, mit ſtets neuen Wendungen unterhaltend, ja oft bezau - bernd zu ſagen; Hof, Stadt und Land mit gleicher Grazie zu ſchildern, und eine etwas affectirte Liebe gegen die inſignifikanteſte Perſon zum HauptthemaBriefe eines Verſtorbenen. II. 10146des Ganzen zu wählen, ohne dennoch je dadurch zu ermüden das waren gewiß Aufgaben, die außer ihr, noch niemand hat löſen können. Sie iſt nichts weniger als romantiſch, war auch im Leben nicht außerordentlich hervorſtehend, aber ohne Zweifel das wohlerzogenſte Ideal du ton le plus parfait. Gewiß beſaß ſie auch temper, von der Natur gegeben, und durch Kunſt veredelt und erhöht. Kunſt iſt we - nigſtens überall ſichtbar, und wahrſcheinlich waren auch ihre Briefe, von denen ſie wußte: daß Viele ſie mit Begeiſterung laſen wohl eben ſo ſehr für die Geſellſchaft als für ihre Tochter berechnet, ja gefeilt, denn die bewunderungswürdige Leichtigkeit ihres Styls verräth eben weit mehr Sorgfalt als das épanchement des Augenblickes geſtattet. Das, was am leichteſten ausſieht, iſt von jeher am ſchwerſten zu erringen geworden. Die Schilderung damaliger Sitten thut heut zu Tage das Ihrige für das In - tereſſe der Briefe, ich bezweifle aber, daß ähnliche, jetzt geſchrieben, gleichen Succeß haben würden. Man iſt zu ernſt und geiſtig dazu geworden. Les jolis riens ne suffisent plus. Das Gemüth auch will erregt, und heftig erregt ſeyn. Wo ein Gigant, wie Lord Byron auftritt, verſchwinden die niedlichen Kleinen.

Eben las ich in ſeinen Werken (denn noch ging ich nicht aus). Ich ſtieß auf die Schilderung einer Scene, wie ich ſelbſt in den letzten Tagen deren ſo häufig ähnliche erlebt. Wie erhaben fand ich meine Gefühle ausgedrückt! Erlaube mir das Bruchſtück Dir in147 einer poetiſchen Proſa, ſo gut ich kann, und ſo wört - lich als möglich, zu überſetzen.

Der Himmel wandelt ſich! Welch ein Wechſel! O Nacht Und Sturm und Finſterniß, wohl ſeyd ihr wundermächtig! Doch lieblich Eure Macht dem Lichte gleich, Das aus dem dunklen Aug des Weibes bricht. Weithin Von Gipfel zu Gipfel, die ſchmetternden Felſen entlang Springt der eilende Donner. Nicht die einſame Wolke allein, Jeder Berg hat eine Zunge gefunden, Und Jura ſendet durch den Nebelvorhang Antwort Zurück, dem lauten Zuruf der jubelnden Alpen. Das iſt eine Nacht! o herrliche Nacht! Du wurdeſt nicht geſandt für Schlummer. Laß auch mich Ein Theilnehmer ſeyn an Deiner wilden, fernhin ſchallen - den Freude Ein Theil vom Sturme und ein Theil meiner ſelbſt Wie der See erleuchtet glänzt gleich dem phosphori - ſchen Meer! Und die vollen Regentropfen wie ſie herabtanzen auf ſeine Wellen! Und nun wird Alles wieder ſchwarz und von neuem Hallt der Berge Chorus wieder, in lauter Luſt, Als ſäng er Triumph über eines jungen Erdbebens Geburt!

Iſt das nicht ſchön, wahrhaft dichteriſch gefühlt! Wie ſchade daß wir ſogar keine guten Ueberſetzungen ſeiner Werke haben. Nur Göthe vielleicht wäre fähig, ihn genügend wiederzugeben wenn er nicht leich - ter und lieber, gleich Herrliches ſelbſt ſchüfe.

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Ich machte geſtern dem Lord Lieutenant meinen Beſuch im Phönirpark, der mich auf heute zu Tiſche einlud, wo ich eine ziemlich glänzende Geſellſchaft an - traf. Er iſt beliebt in Irland, weil er partheilos verfährt, und die Emancipation zu wünſchen ſcheint. Seine Thaten als Feldherr ſind bekannt, Niemand aber repräſentirt auch beſſer, und ein künſtlicher ge - machtes falſches Bein als das ſeine, ſah ich auch noch nie. Der Marquis, obgleich nicht mehr jung, iſt noch immer ſehr ſchön gewachſen, und das falſche Bein, wie der Fuß, rivaliſiren mit dem ächten à s’y - prendre. Nur beim Gehen bemerkt man einige Schwierigkeit. Im Ganzen kenne ich wenig Englän - der, die eine ſo gute tournôre haben, als der jetzige Lord Lieutenant Irlands. Wenn er in der Stadt reſidirt, wird eine ganz ſtrenge Etikette, wie an einem kleinen Hofe aufrecht erhalten, auf dem Lande aber betrachtet er ſich als Privatmann. Macht und An - ſehn eines Lord Lieutenants ſind ziemlich groß, da er den König repräſentirt, obgleich ſie das Miniſte - rium[gehörig] beſchneidet. Er darf unter andern Ba - ronets machen, und es iſt ſchon in früheren Zeiten vorgekommen, daß Gaſtwirthen, und noch weniger Qualificirten, dieſe Ehre zu Theil geworden iſt. - ren ſeine Funktionen auf, ſo giebt ihm ihre frühere Aus - übung keinen fernern erhöhten Rang. [Während] der Amtsführung beläuft ſich die Beſoldung des Lord Lieutenants auf 50,000 Pfd. Sterl.[jährlich], und dem149 frei gehaltenen Hofſtaat, ſo daß er recht gut ſeine eigenen Revenüen ökonomiſiren kann, was jedoch der jetzige nicht thun ſoll, deſſen Haus ich vortrefflich ein - gerichtet fand. Er iſt auch von einigen intereſſanten Leuten umgeben, die einen ſehr guten Ton mit Ge - nialität verbinden, und der politiſchen Parthei der Mäßigung und Vernunft anzuhängen ſcheinen. Man kann unter ſolchen Umſtänden faſt vorausſetzen, daß Lord Angleſea ſich nicht lange hier halten wird, auch hörte ich Anſpielungen darauf. Da er an der ſchmerz - lichen Krankheit des tic douloureux ſehr leidet, em - pfahl ich ihm H ..... das ſich ſo efficace dagegen gezeigt hat, und übergab ſeinem Hausarzt das Buch, welches davon handelt. Der Marquis ſagte lächelnd: Urlaub wird man mir wohl nicht verweigern, in - dem er ſeinen confidentiellen Sekretair bezeichnend dazu anblickte. Dies beſtätigt meine eben geäußerte Vermuthung; es[wäre] aber gewiß ein großes Un - glück für Irland, das zum erſtenmal ſich des Segens erfreut, einen Statthalter zu beſitzen, der die abge - ſchmackten Religionshändel mit philoſophiſchem Auge betrachtet.

Ehe ich nach dem Phönixpark fuhr, wohnte ich dem Gottesdienſte in der katholiſchen Capelle bei. Es iſt dies ein ſchönes Gebäude. Das Innere, ein großer, ovaler Saal mit einer ringsum laufenden Colonnade ioniſcher Säulen, einer ſchönen Kuppel und einem vortrefflichen hautrelief, in der halben Wölbung der Decke, die ſich über dem, am Ende des Saales ſtehen -150 den Altar befindet. Es ſtellt des Erlöſers Himmel - fahrt dar. Vortrefflich iſt beſonders die Figur und der Ausdruck des Heilands, den man ſich ſo denken muß, wenn auch der Künſtler nur aus der Phantaſie ſchuf. Die Katholiken behaupten freilich wirkliche Portraits von Chriſtus zu beſitzen, wie ich auch ein - mal, in Süddeutſchland, eine Sammlung wahrhaf - ter Abbildungen des heiligen Gottes, angekündigt fand.

Der Hauptaltar ſteht ganz frei, iſt von einfach ſchöner Form, und aus weißem Marmor in Italien verfertigt. Die obere Platte und der Sockel ſind von dunklerm Marmor. Die vordere Facade iſt in drei Felder getheilt, worauf, im Mittelfelde, das Bild einer Monſtranz von Goldbronce, auf den beiden andern, die Basreliefs zweier anbetenden Engel ſich befinden. Oben ſteht, auf der Mitte des Altars, ein prachtvoller Tempel aus koſtbaren Steinen und Gold, in dem die wirkliche Monſtranz aufbewahrt wird, und neben ihm zwei eben ſo prächtige Goldleuchter. An beiden Seiten des Altars ſtehen außerdem noch zwei Gueridons von Bronce, die von Engeln, welche ihre Flügel zuſammenſchlagen, getragen werden; auf den obern Platten derſelben befinden ſich die heili - gen Oblate und der Wein. Alle Details ſind im beſten Geſchmack ausgeführt, und die edelſte Simpli - zität überall vorherrſchend. Von der Decke hängt an einer ſchweren ſilbernen Kette eine antike Lampe von gleichem Metall herab, die fortwährend brennt. Es151 iſt gewiß einer der ſchönſten katholiſchen Gebräuche, daß gewiſſe Kirchen den Gläubigen bei Tag und bei Nacht für das Bedürfniß der Andacht ſtets offen ſtehen. In Italien begab ich mich faſt nie zur Ru - he, ohne vorher eine ſolche Kirche beſucht, und den wunderbaren Effekt betrachtet zu haben, den es her - vorbrachte, wenn in der Stille der Nacht die einzelne röthliche Lampe die hohen[Gewölbe] ſparſam und phantaſtiſch erleuchtete. Immer fand ich eine oder die andere betende einſame Geſtalt vor einem der Altäre hingeworfen, nur mit ihrem Gott und ſich beſchäftigt, ohne die mindeſte Rückſicht auf das zu nehmen, was um ſie her vorging. In einer dieſer Kirchen ſtand das Rieſenbild des heiligen Chriſtoph, an den mittelſten Pfeiler gelehnt, und mit dem Kopf an das Gewölbe ſtoßend; auf ſeiner Schulter das ſchwere Chriſtuskindlein, und in ſeiner Hand als Wanderſtab, einen ausgewachſenen Baumſtamm, mit friſchen grünen Aeſten, der monatlich erneuert wurde. Das Licht der hochhängenden Lampe umgab das Kindlein wie mit einer Glorie und warf, wie ſeg - nend, einzelne Strahlen herab auf den frommen Rieſen.

Wenn ich den hieſigen katholiſchen Gottesdienſt mit dem engliſch-proteſtantiſchen vergleiche, muß ich dem erſteren unbedingt den Vorzug geben. Mögen gleich einige Ceremonieen zu viel, und ſelbſt an’s Burleske ſtreifend ſeyn, z. B. das Umherwerfen der Räucherfäſſer, das fortwährende Anlegen anderer152 Kleidungsſtücke ꝛc., ſo hat dieſer Kultus doch eine Art antiker Größe, welche imponirt und befriedigt. Die Muſik war vortrefflich, ſehr gute Sänger, und dieſe, was den Effekt ungemein vermehrte, unſicht - bar. Einige Proteſtanten nennen das zwar eine Beſtechung der Sinne, ich kann aber nicht einſehen, warum das Ohren zerreiſſende Geſchrei einer un - muſikaliſchen lutheriſchen Gemeinde frömmer ſeyn ſoll, als die Anhörung guter Muſik, von Leuten aus - geführt, die ſie auszuführen gelernt haben. *)Durch die Einführung der neuen Agende im König - reich Preußen iſt z. B. zur Verbeſſerung, ich möchte faſt ſagen, Vermenſchlichung, der Muſik in den Kir - chen, ſehr viel gethan worden, und der Einfluß auf die Gemeinden überall auch ſehr wohlthätig geweſen. A. d. H. Auch die Betrachtung des Inhalts der Predigt war hier ganz zum Vortheil des katholiſchen Kultus. Während die engliſch-proteſtantiſche Gemeinde in Tuam, als ich zugegen war, nur von Wundern, Schweinen und böſen Geiſtern unterhalten wurde, war hier die Lehre nur rein moraliſch und praktiſch. Der Redner ſprach hauptſächlich vom Neid, und ſagte unter anderm ſehr treffend: Wollt Ihr wiſſen, ob Ihr von dieſem, der Menſchenliebe ſo nachtheiligen, und das Individuum ſelbſt ſo erniedrigenden Laſter ganz frei ſeyd, ſo prüft Euch nur genau, ob Ihr nie, bei der ſich immer ſteigernden Prosperität eines An - dern, ein unbehagliches Gefühl in Euch entdeckt, oder

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Ihr nie, bei der Nachricht, daß einem Glücklichen etwas mißlang, wie bei dieſem oder jenem Unfall Anderer, eine leiſe Befriedigung gefühlt? Dies iſt eine ernſte Frage, und Wenige werden ſie ſich ohne Nutzen vorlegen.

Die Art wie Jeder hier für ſich ſtill in ſeinem Gebetbuch liest, während die herrliche Muſik den Geiſt erhebt, und vom irdiſch Alltäglichen abzieht, ſcheint mir auch dem lauten Herleiern und Ableſen der Gebete in jener Kirche weit vorzuziehen. Wäh - rend dieſer Zeit ſtiller Andacht merkt man nur we - nig auf die Ceremonieen, Kleiderwechſelungen und Räucherungen der Prieſter am Altar, die Einem faſt wie eine häusliche Toilette vorkommen, um die man ſich nicht weiter bekümmert. Aber ſelbſt dieſe letztere kleine Schattenſeite mitgenommen, ſieht man in der catholiſchen Kirche doch immer etwas Ganzes, durch Alter und Conſequenz Ehrwürdiges in der engliſch proteſtantiſchen dagegen nur unzuſammen - hängendes Stückwerk. Beide mit der deutſchen Kirche (aber dieſe nur im Sinne unſrer Krug und Pau - lus) könnten mit drei Individuen verglichen werden, die ſich an einem prächtigen Ort befanden, der man - chen Genuß, manchen werthvollen Unterricht darbot, aber von Gottes Sonne und ſeiner herrlichen freien Natur durch eine hohe Mauer geſchieden war. Der Erſte der drei, war mit dem Glanz der Juwelen und des Kerzenlichts zufrieden, und ſah nie ſehnſüchtig nach den wenigen Spalten der Mauer, die eine Ah -154 nung des Tageslichts hineinließen. Die andern Bei - den aber wurden unruhig; ſie fühlten, es gäbe noch etwas Beſſeres und Schöneres außerhalb, und ent - ſchloſſen ſich endlich die hohe Mauer, es koſte was es wolle, zu überſteigen. Wohlverſehen auf lange mit Allem, was ſie nöthig zu haben glaubten, be - gannen ſie die große Unternehmung. Viele Gefahr, vieles Ungemach mußten ſie ausſtehen, doch end - lich erreichten ſie glücklich die Höhe. Hier gewahrten ſie nun zwar der Sonne glänzendes Geſtirn, aber Wolken verbargen es oft, und auch das ſchöne Grün der Wieſen unter ihnen ward oft unterbrochen, durch Unkraut und ſtachlichtes Gebüſch, wo wilde gefahr - volle Thiere lauſchend umherſchlichen. Doch nichts konnte den Zweiten der Drei entmuthigen, noch von ſeinem Vornehmen abſchrecken; die innere Geiſtes - ſtimme beſiegte alle Furcht und jeden Zweifel. Wohl - gemuth ließ er ſich hinab, in die neue Welt, und da er, um ganz ungehindert zu ſeyn, alles Mitgenommene zurück gelaſſen hatte, verſchwand er, leichten Fußes, bald in dem heiligen Hain. Aber der Dritte der ſitzt noch immer auf der Mauer, zwiſchen Himmel und Erde, von der mitgebrachten Nahrung zehrend, und ſich an dem mitgebrachten Flitter weidend, von dem er ſich nicht losreißen kann, obgleich die Strah - len der Sonne, die jetzt ungehindert auf den falſchen Tand fallen, ihn ſchon weit unſcheinlicher gemacht. Wie das Thier der Fabel ſchwankt er zwiſchen den zwei Heubündeln, ohne zu wiſſen, welchem er ſich gänzlich zuwenden ſoll. Zurück kann er nicht mehr,155 vorwärts fehlt ihm der Muth, oben aber erhalten ihn die Fleiſchtöpfe Canaan’s*)Brauche ich Dir zu erklären, was ich mit den Fleiſch - töpfen Canaan’s meine? Die ſo einträglich ge - machte Chriſtuslehre, welche hier gewiß noch beſſer nährt, als weiland die Fleiſchtöpfe Aegyptens. A. d. H. ſo lange ſie dauern werden.

Wenn ich nicht Allotria treiben will, d. h. von Din - gen reden, die meiner Reiſe und dem hieſigen Auf - enthalt nichts angehen, ſo macht das Leben in der Welt meine Briefe recht leer. Ich könnte ein Schema in Steindruck dazu anfertigen laſſen, mit einigen Ausfüllungen ad libitum, ohngefähr ſo: Spät auf - geſtanden, und verdrießlich. Viſiten gegangen, ge - ritten, oder gefahren. Dinirt bei Lord, oder Mr , gut oder ſchlecht. Converſation: Gemeinplätze. Abends eine langweilige Geſellſchaft, rout, Ball oder gar Di - lettanten-Concert. NB. Die Ohren thun mir noch davon weh! In London könnte man ein für alle - mal noch hinzuſetzen: Die Foule erdrückte mich bald, und die Hitze war ärger wie auf der oberſten Bank im ruſſiſchen Dampfbad. Körperliche Anſtrengung war am heutigen Tage = 5 Grad, (eine Fuchsjagd zu 20 gerechnet) geiſtige Ausbeute = O. Reſultat: Diem perdidi.

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Hier iſt es nun nicht ganz ſo arg; man wird in dieſer Jahreszeit nicht[ſtärker] fatiguirt, als in einer deutſchen großen Stadt, aber immer noch zuviel ein - geladen, ohne daß man es füglich ausſchlagen kann. Denn wohl mag ich mit dem engliſchen Dichter aus - rufen: Wie verſchieden ſind die Gefühle der Gäſte in jener Welt, die man die große und heitere nennt! von allen die melancholiſcheſte und langweiligſte, wenn man ihre Heiterkeit nicht theilt.

Eben komme ich von einem etwas kleinſtädtiſchen, aber nicht weniger pretentieuſen diné, vom Lande zurück. Einiges war komiſch, aber das wenige Lachen muß nur immer mit ſo viel langer Weile erkauft werden! das Feſt fand bei zwei ſehr häßlichen und magern, aber wie man ſagt, ſehr reichen Miſſes ſtatt. Iſt dies der Fall, ſo müſſen ſie zugleich ſehr geizig ſeyn, denn die Mahlzeit war eine wahre Myſtifica - tion für einen Gourmet, und Haus und Park eben ſo mesquin. Mein guter Stern brachte mich indeß bei Tiſche neben Lord P , einem berühmten po - litiſchen Charakter, der ſeine Partey auf der edlen und guten Seite genommen hat, und ſtets der Sache der Emancipation treu geblieben iſt. Es freute mich ſehr, ihn mit den, von mir ſelbſt an Ort und Stelle gefaßten Anſichten, ſo übereinſtimmend zu finden. 157Eine ſeiner Aeußerungen aber frappirte mich ihrer Naivetät wegen. Ich bemerkte gegen ihn, daß, nach allem was ich ſähe, ſelbſt die Emancipation hier nicht viel helfen könne, denn das eigentliche Uebel beſtehe darin, daß der meiſte Grund und Boden und alle Reichthümer des Landes, einem Adel gehörten, deſſen Hauptintereſſe ihn immer zwingen würde, in England zu leben,[hauptſächlich] aber in den Summen läge, welche die armen catholiſchen Irländer jährlich der proteſtantiſchen Geiſtlichkeit opfern müßten. So lange dies nicht geändert würde, könnte auch kein feſter und blühender Zuſtand der Dinge eintreten. Ja , erwiederte er, das zu ändern iſt unmöglich; ohne dieſe Reichthümer würde die engliſche Geiſtlich - keit ihr ganzes Anſehn verlieren. Wie könnte das geſchehen, ſagte ich lachend, iſt es denkbar, daß Tu - gend, milde Lehre und frommer Eifer im Amte, auch bei einem nur mäßigen Einkommen, den vornehmſten Prieſter nicht ehrwürdiger machen ſollten, als ein übertriebener weltlicher Luxus, oder ſollten wirklich 20,000 Pf. St. Revenüen unumgänglich nöthig ſeyn: to make a Bishop or Archbishop appear decentey in society? (einen Biſchof oder Erzbiſchof decent in Geſellſchaft zu produziren) My dear Sir, antwortete Lord Plun Such a thing may exist, and main - tain itseef abroad but will never do in old Eng - land, where above all, money, and much money is required and necessary, to obtain respectability and consideration. (So etwas könnte vielleicht auf dem Continent exiſtiren und ſich erhalten, aber nim -158 mer in England, wo über alles, Geld, und viel Geld, nöthig iſt, Reſpectabilität und Hochachtung zu erlangen. Die Ariſtokratie kam bei dieſer Be - merkung zwar nicht in Conſideration, aber wahr iſt es, daß auch ſie, ohne Geld, bald nichts mehr ſeyn würde, obgleich ſie jetzt, mit nicht geringem Dünkel, in England die adliche Geburt hoch über bloßen Reichthum geſtellt hat.

Lady M ...., die auch zugegen war, unterhielt wie gewöhnlich die Geſellſchaft mit vielem Witz, nach - her erzählte ſie mir eine ſpaßhafte Anekdote von den Wirthinnen ſelbſt. Nur die eine derſelben, ſagte ſie (ich weiß nicht mehr recht ob die größere oder klei - nere) beſitzt das große Vermögen, die andre kaum ein Drittheil davon; um aber wo möglich beides an den Mann zu bringen, begaben ſich die Schweſtern vor vielen Jahren ſchon nach London. Einem frem - den Ambaſſadeur wurde die gute Partie, vielleicht im geheimen Auftrag der Damen ſelbſt, vorgeſchla - gen, und, wie Fama ſagt, ſoll er ſeinen Antrag ohne Zaudern gemacht haben. Er wurde mit Verwunde - rung, aber höchſt erfreut angenommen, denn er hatte, ganz unerwartet, die Aermere gewählt und ſich ſchon mehreremal mündlich von ihren Reizen völlig be - ſiegt erklärt. Dies hatte jedoch ſeinen Grund nur in einem ihm gemachten irrigen Bericht, und ganz kurz vor Thorſchluß, ward ihm erſt die Wahrheit kund. Entrüſtet über das gefährliche qui pro quo, ſchrieb er ſogleich den Damen, daß er ſich in ſeinen159 Gefühlen geirrt, und nach reiflicher Ueberlegung über - zeugt ſey, daß nicht die Große wie er früher geglaubt, ſondern nur die Kleine ſein Glück machen könne, um deren Hand er daher hiermit ergebenſt bitte. Nach langem Kampf ſiegte der weibliche Stolz über den conventionellen, und Beide deprecirten die hohe Allianz. Seitdem gehen ſie nun zwar noch jeden Winter nach London, geben zu eſſen und zu trinken, überbieten das Pariſer Modejournal in ihren Toi - letten, ſprechen viel von Landgütern und Bankobli - gationen, wozu die Eine Klavier hämmert, die Andre ohne Stimme ſingt ſind aber dennoch bis jetzt le - dig geblieben. Ueberhaupt iſt es ſonderbar, daß man nirgends, auch nur die[Hälfte] ſo viel alter Jungfern antrifft, als in England, und ſehr häufig ſind ſie reich. Die übertriebene Eitelkeit auf ihr Geld, die damit nie Größe und Rang genug zu er - langen glaubt, oder die überſpannt romanhafte Er - ziehung der Mädchen, welche durchaus und allein um ihrer ſelbſt Willen geliebt werden wollen (woran z. B. eine Franzöſin ſich gar nicht kehrt, weil ſie ganz richtig meint: dies werde ſchon in der Ehe kommen, wenn überhaupt Stoff dazu da wäre, ſey aber dies nicht der Fall, würde es doch nicht blei - ben, ſelbſt wenn es der Zukünftige, jetzt zu fühlen glaube) ſind die Hauptgründe dieſer Erſcheinung. Die Engländer halten übrigens, als wahre Türken, ihre Mädchen und Weiber ſo beſchränkt in intellek - tueller Hinſicht als möglich, weil ſie glauben, ſich dadurch mehr ihren eigenthümlichen Beſitz zu ver -160 ſchaffen, und dies gelingt ihnen auch in der Regel vollkommen. Ein Fremder dient den Engländerinnen wohl zur Unterhaltung und Spielſache, aber flößt ih - nen dabei immer auch einige Furcht und Scheu ein. Höchſt ſelten werden ſie ihm daſſelbe Vertrauen als einem Landsmann ſchenken. Für einen halben Athei - ſten oder craſſen Baals-Anbeter halten ſie nun ſchon einmal jeden Ausländer ganz gewiß zuweilen amüſirt ſie daher auch das Bekehrungsgeſchäft. Von den Lond’ner Excluſiven ſpreche ich hier nicht dieſe geben daſſelbe Reſultat, als wenn man alle Farben zuſammenreibt wo nemlich zuletzt gar keine mehr übrig bleibt.

Das ſchöne Wetter lockte mich hinaus ins Freie. Ich ritt den ganzen Tag umher, und ſah ein Paar merkwürdige Schlöſſer, Malahide und Howth Caſtle. Beide haben eine ſeltne Eigenſchaft. Sie ſind näm - lich ſeit 900 Jahren immer im Beſitz derſelben Fa - milien geblieben, was ſich, ſo viel ich weiß, kein ein - ziger Wohnſitz des engliſchen hohen Adels rühmen kann. Malahide iſt auch noch hiſtoriſch merkwürdig; denn es gehört den Talbots, und ſelbſt des berühm - ten Feldherrn Rüſtung, mit einem Partiſanen-Stoß in der Bruſt, wird noch hier aufbewahrt. Die eine Hälfte des Schloſſes iſt uralt, die andere von Crom - well zerſtört, und nachher im Styl des alten wieder161 neu aufgebaut worden. In dem erſten Theile zeigte man mir 500 Jahr alte Stühle, ja ſogar ein Zim - mer, in dem die ſchwarz eichne, reiche boiserie, ge - ſchnitzte Decke und Boden 700 Jahre zählten. Der neue Schloßtheil enthält mehrere intereſſante Ge - mälde. Ein Portrait der Herzogin von Portsmouth war ſo lieblich, daß ich Carl II., noch im Grabe darum beneidet haben würde, ſie einſt zur Herzogin erheben zu dürfen, wenn ich mich nicht noch zur rech - ten Zeit der Predigt des catholiſchen Geiſtlichen er - innert hätte. Eine alte Abbildung der Maria Stuart, obgleich in reiferem Alter dargeſtellt, beſtätigte mir dennoch die Aehnlichkeit des, in der Grafſchaft Wick - low geſehenen, Bildes dieſer unglücklichen und ſchö - nen Königin, und mit Intereſſe betrachtete ich eine Scene am Hofe zu Madrid, mit den Portrait’s des Königs, gravitätiſch im rothen Scharlachrock daſitzend; Carl’s I. als Kronprinzen, der ziemlich legèrement eine Menuet mit der Infantin tanzt, und des ver - führeriſchen Buckingham, der, prächtig gekleidet, eine hübſche Hofdame ſehr angelegentlich zu unterhalten ſcheint.

Howth Caſtle, der Familie St. Lawrence gehörig, und von Lord Howth bewohnt, (der kein Abſentee iſt, ſondern wohlthätig ſeine Einkünfte im Lande ver - zehrt) iſt mehr im Laufe der Zeiten moderniſirt wor - den, und zwar nicht glücklich, da ein griechiſches Por - tal ſich ſonderbar zu den kleinen gothiſchen Fenſtern und hohen Zinnen in Treffle-Form ausnimmt. AuchBriefe eines Verſtorbenen. II. 11162hier wird das Schwerdt und die Rüſtung eines be - rühmten Vorfahren, mit abentheuerlichem Namen, aufbewahrt. Er hieß Sir Armoricus Tristram und lieferte, Anno 1000, den Dänen eine Schlacht in die - ſer Gegend, in der er, glaube ich, auch ſein Leben verlor. Die alterthümlichen[Ställe] waren voll herr - licher Jagdpferde, und Lord Howth Hunde (hounds) werden eben ſo ſehr gerühmt.

Bei meiner Zurückkunft ging ich in’s Theater, wo der engliſche Franconi-Ducrow die Equilibriſterei veredelt, indem er auf bewunderungswürdige Weiſe bewegliche Statuen darſtellt. Dies iſt ein wahrer Kunſtgenuß, und den ſogenannten Tableaux weit vorzuziehen. Du ſiehſt, wenn der Vorhang aufgeht, in der Mitte der Bühne, ein unbewegliches Stand - bild, auf einem hohen Poſtamente, ſtehen. Dies iſt Ducrow, und kaum begreiflich, wie Tricot ſo dicht überall anliegen, und ſo täuſchend Marmor, hie und da von einer bläulichen Ader unterbrochen, darſtellen kann. Ich glaube auch, daß er größtentheils auf der bloßen Haut gemalt war, und nur da, wo unſere Sitten keine Nacktheit erlauben, mit Tricot ſich ge - holfen hatte. Ueberdem erſchien er zuerſt als ruhen - der Herkules, wo das Löwenfell ihm alle Verlegen - heit erſparte. Mit großer Kunſt und Präciſion ging dann der Mime,[allmählig] ſeine Stellung verlaſſend, in eine andere über, von Gradation zu Gradation, zu immer erhöhter Kraftäußerung fortſchreitend, in den Hauptmomenten aber, (wo die berühmteſten Statuen darzuſtellen waren) plötzlich von neuem, wie163 zu lebloſem Marmor ſich verſteinernd. Helm, Schwerdt und Schild, das ihm jetzt gereicht wurde, verwan - delte ihn im Augenblick in den zornigen Achilleus, Ajax und andere griechiſche und trojaniſche Helden. Dann kam der Schleifer, der Discus-Werfer u. ſ. w. an die Reihe, immer gleich gelungen und wahr. Er ſchloß mit den verſchiedenen Stellungen des Fechters; zuletzt, der meiſterhaften Darſtellung des Sterbenden. Dieſer Mann müßte ein vortreffliches Modell für Maler und Bildhauer abgeben, da er tadellos ge - wachſen iſt, und jede Stellung mit ſolcher Leichtig - keit annehmen kann. Auch fiel mir ein, wie ſehr das nichts ſagende Tanzen veredelt werden könnte, wenn man, ſtatt des unſinnigen Hüpfens und Springens, etwas, dem eben Beſchriebenen Aehnliches, einführte. Es that mir faſt weh, ſpäter denſelben Künſtler (denn dieſen Namen verdient er durchaus) in der Reitbahn, als chineſiſchen Zauberer neun Pferde auf einmal reiten, als ruſſiſcher Courier[zwölf] auf einmal fah - ren, und ſich endlich, mit einem Pony, der als alte Frau angezogen war, zu Bett legen zu ſehen.

Was das Letztere allein betrifft, werde ich übrigens jetzt ſeinem Beiſpiel folgen, und ſage Dir daher gute Nacht, zugleich Valet für einige Tage, da Morgen früh dieſer Brief mit der Poſt abgeht.

Dein treuſter L

11*[164]

Ein und vierzigſter Brief.

Beſte Julie.

O welche Vorwürfe! aber drei Briefe auf einmal, das macht Alles wieder gut. Ich habe mich einmal faſt ſatt an heimiſchen Nachrichten leſen können! und weiß Dir meine Dankbarkeit dafür kaum genug aus - zudrücken ............... .................. .................. .................. ..................

Wohl haſt Du Recht, daß ein ſolcher Bundesge - noſſe wie Du, eine große Wohlthat für mich geweſen wäre. Gouvernante Proſa hätte die Poeſie beſſer auf dem Boden erhalten, und der nie alternde El -165 fen-Knabe, deſſen Natur es iſt, mit bunten Seifen - blaſen zu ſpielen, während er ſich auf einer Blume ſchaukelt, würde, vom weiſen Mentor gezügelt, viel - leicht, ſtatt der farbigen Kugeln, eine conſiſtentere irdiſche Frucht zu pflücken verſucht und auch wohl erlangt haben. Mais tout ce qui est est pour le mieux. Dieſes Axiom laß uns nie vergeſſen. Voltaire hat Unrecht darüber zu ſpotten, und Pang - los wirklich Recht. Nur dieſe Ueberzeugung kann über Alles tröſten, und was mich betrifft, geſtehe ich, daß es die Eſſenz meiner Religion iſt.

Dein Brief Nr. 1 iſt die Weisheit und Güte ſelbſt aber gute Julie, in Hinſicht auf die erſte, iſt, fürchte ich, Hopfen und Malz an mir verloren. Ich bin zu ſehr wie nenn ichs doch? .... ein Ge - fühlsmenſch, und ſolche werden nie weiſe, d. h. lebensklug. Deſtomehr wirkt freilich Güte auf mich, nur die Deinige ausgenommen, denn davon iſt das Maas ſchon bei mir ſo voll, daß auch kein Tropfen mehr in mein Herz kann. Mit dieſem vol - len Herzen mußt Du Dich nun ein für allemal be - gnügen mehr kann Dein armer Freund Dir nicht geben! Iſt es aber wo möglich, daß Du dabei immer noch Befürchtungen Raum geben kannſt, als hätten die zwei vergangenen Jahre Abweſenheit mich gegen Dich verändern können! als würde ich in Dir nicht mehr das finden, was ich früher gefunden u. ſ. w. Weißt Du, wie die Engländer dergleichen nennen? Nonsense. Daß ich übrigens nichts ſehnlicher wünſchen166 würde, als Dich wieder zu ſehen, ſollteſt Du unver - ſichert ſchon einem ſo unermüdeten Korreſpondenten zutrauen, doch vergißt Du ganz daß ...... ................... ................... ................... ................... .............. Wie oft habe ich Dir auch nicht ſchon geſagt, daß ich für die Welt nicht paſſe. Meine Mängel, wie meine Vorzüge, ja ſelbſt die geiſtigere Natur, die Du an mir finden willſt, ſind nur ſo viel Steine des Anſtoßes in mei - nem Wege. Geiſtig, etwas poetiſch, gutmüthig und wahr macht in der Regel nur unbehülflich und verdroſſen in der Alltagsgeſellſchaft. Gleichmäßig mit allen denen, wie ein engliſcher Schriftſteller ſagt, deren Gefühle und Neigungen ihr Urtheil paraly - ſiren, finde auch ich nie eher als zu ſpät, wie ich mich mit Klugheit[hätte] benehmen ſollen eine kunſtloſe Dispoſition, fährt der Engländer fort, die übel dar - auf berechnet iſt, mit der Argliſt und dem kalten Egoismus der Welt in die Schranken zu treten. Ich kenne einen mir hundertfach überlegnen berühm - ten Mann, dem es in dieſer Hinſicht doch beinahe eben ſo geht, und der fortwährend bedauert, aus einem Dichter ein Staatsmann geworden zu ſeyn. Ich hätte mein Leben enden ſollen, wie ich es an - gefangen, ſagte er, unbekannt in der Welt umher - ſtreifend, und mich ungeſtört an Gottes Herrlichkeit erfreuend oder von den Menſchen fern, in meiner167 Stube verſchloſſen, allein mit meinen Büchern, mei - ner Phantaſie und meinem treuen Hunde. *)Wir möchten faſt um Verzeihung bitten, ſolche und andere verwandte Stellen nicht ganz unterdrückt zu haben. Wer aber ſo weit geleſen, muß ſich doch eini - germaßen für oder gegen den Autor intereſſiren und in beiden Fällen können dieſe unbefangenen Urtheile über ſich ſelbſt, dem Leſer, der das Charakteriſtiſche liebt, nicht ganz unwillkommen ſeyn. Wer ſich nur an die Sachen hält, der überſchlägt ſie ja leicht. A. d. H.

Ich verbrachte heute einen ſehr angenehmen Abend bei Lady M ..... n. Die Geſellſchaft war nur klein, aber geiſtreich, und belebt durch die Gegen - wart zweier ſehr hübſchen Freundinnen unſrer Wirthin, die mit der beſten italieniſchen Methode ſangen. Ich ſprach viel mit Lady M ..... n über mancherlei Gegenſtände, und ſie hat Geiſt und Ge - fühl genug, um durch ihre Unterhaltung immer leb - haft zu intereſſiren. Im Ganzen habe ich Dir in meinem früheren Briefe nicht Gutes genug über ſie geſagt. Jedenfalls kannte ich an ihr damals noch nicht die liebenswürdige Eigenſchaft: zwei ſo hübſche Buſen-Freundinnen zu beſitzen.

Die Converſation kam einmal auf ihre Werke und ſie frug mich, wie mir Salv. R .. gefiele? den168 habe ich nicht geleſen, erwiederte ich, weil ich, ſetzte ich, mich, tant bien que mal, entſchuldigend hinzu, Ihre Fiktionen ſo liebe, daß ich nichts Geſchichtliches von der genialſten Romanen-Dichterin habe leſen mögen. O das iſt auch nur ein Roman, rief ſie, leſen Sie ihn in dieſer Hinſicht ohne Gewiſſensbiſſe. Sehr wohl, dachte ich, wahrſcheinlich eben ſo wie Ihre Reiſebeſchreibungen, hütete mich aber doch es zu ſagen. Ach, meinte ſie nachher, glauben Sie mir, nur der ennui bringt alles Schreiben bei mir zu Wege, unſer Menſchen-Loos iſt ſo elend in dieſer Welt, daß ich es ſchreibend zu vergeſſen ſuche. (Wahrſcheinlich hatte ſie der Lord Lieutenant nicht eingeladen, oder ſonſt ein Großer ihr faux boud ge - macht, denn ſie war ganz melancholiſch.) Welches ſchreckliche Räthſel iſt die Welt! fing ſie wieder an; giebt es einen Gott oder keinen? und wenn er all - mächtig iſt und böſe wäre! wie furchtbar! Aber ums Himmels willen, ſagte ich, wie kann eine geiſt - reiche Frau wie Sie, nehmen Sie mir es nicht übel, ſolchen Unſinn ſprechen? Ach! ich weiß[längſt] Alles, fuhr ſie fort, was Sie mir darüber ſagen wollen. Gewißheit giebt mir doch kein Menſch! Dieſe Unklarheit bei dem ſcharfſinnigſten Beobach - tungsgeiſte war mir, ſelbſt an einer Dame (ne vous en fachez point, Julie), beinahe unbegreiflich. Lady M .... ’s Gemahl, früher Arzt, jetzt Philoſoph und unbekannter Schriftſteller, übrigens was man im Franzöſiſchen un bon homme nennt, dabei Gut - ſchmecker und Wichtigthuer, ſchenkte mir ein Buch169 von ſeiner Arbeit, ein ganz materielles philoſophiſches Syſtem enthaltend, das aber dennoch manchen guten Gedanken enthält, und mehr werth iſt, als ich dem Autor eigentlich zugetraut hätte. Die Lektüre deſ - ſelben hat mich heute die halbe Nacht be ſchäftigt, ich merkte aber wohl an der Haltloſigkeit des Ganzen, daß entweder Lady M. ein gutes Theil davon ſelbſt gemacht, oder wenigſtens durch dieſe unverdauten Anſichten ſo irre und ungewiß geworden iſt, daß ſie ſich einbildete, der liebe Gott[könnte] zufällig wohl böſe ſeyn! Die berühmten Leute ſind auch Men - ſchen, das weiß der Himmel! Gelehrte wie[Staats - männder] und faſt bei jeder neuen Bekanntſchaft dieſer Art mahnt es mich an Oxenſtjerna, dem ſein noch ſehr junger Sohn, da er als Geſandter zum Congreß nach Münſter reiſen ſollte, Bedenklichkeiten äußerte, welche Rolle er, ſo weiſen und großen Män - nern gegenüber, ſpielen würde? Ach mein Sohn, ſagte der Vater lächelnd, ziehe hin in Frieden und ſiehe welche Menſchen es ſind, die die Welt re - gieren!

Les catholiques me font la cour ici. Der E .. B ließ mir heute durch eine Dame ſagen, daß ich mich, da ich ihre Kirchenmuſik liebe, doch heute in der Kapelle einfinden möge, wo man das Sänger -170 Perſonal beſonders vollſtändig gemacht habe; auch werde er ſelbſt fungiren. In der That hörte ich eine herrliche Vokalmuſik (hier ſind auch weibliche Sänger geſtattet), nur von einzelnen Tönen der mächtigen Orgel begleitet. Es war ein hoher Ge - nuß, dieſer Sphärengeſang, der mit ſüßer Wonne die Seele füllte, und auf den Fittigen der Melodie den Sorgen des Alltäglichen enthob, während die ganze Gemeinde andächtig und betend[auf] den Knieen lag.

Du wirſt am Ende glauben, liebe Julie, daß ich im Begriffe bin, es dem Herzog von C. nachzuma - chen, und katholiſch zu werden. Nun ſo ganz ohne Grund kann ich die Anſicht, die dazu verleitet, nicht finden. Der Proteſtantismus, wie ihn gar viele ausüben, iſt eben nicht viel vernünftiger, und bei weitem weniger poetiſch und ſchön, ſinnlich ge - ſprochen. Ich glaube aber immer, ein neuer Luther oder gar ein neuer Chriſtus iſt nah, und wird uns dann Allen über die Mauer helfen, dann bedarf es kein[Rückwärtsblicken] mehr; bis dahin jedoch, fin - den Manche vielleicht wenigſtens mehr Conſequenz, im katholiſchen Kultus! Es iſt kein halber, ſon - dern ein vollſtändiger Götzendienſt, deſſen Stufenlei - ter der göttlich gemachten Geſchöpfe mit den Heili - gen aufhört, dieſen lieben theilnehmenden Heiligen beiderlei Geſchlechtes, die uns ſo nahe ſtehen, und unſre menſchlichen Wünſche, Regungen und Leiden - ſchaften ſo gut kennen! ...........171............................. Wenn die Prieſter und Chorjungen, wie ich erwähnt, die Räucherfäſſer um - herwerfen, dem Biſchof jeden Augenblick ein andrer geſtickter Rock, Kragen oder Tuch umgegeben wird, er ſelbſt vor dem Hochaltar bald feſt ſteht, bald vor - wärts, bald rückwärts läuft, ſich mit dem Antlitz auf die Erde niederwirft, und zuletzt ſich mit der Monſtranz, wie eine Windfahne, umdreht, und die Augen auf ſie, wie auf ein Microscop, geheftet hält, ꝛc. ſo bin ich vollkommen darauf vorbereitet, nachher von 7000 Mann ſprechen zu hören, die mit vier Brodten und drei Fiſchen nicht nur ſatt gemacht worden, ſondern noch ſo viele Körbe Krumen und Gräten übrig behalten haben oder vom jüngſten Tage, und Chriſti Sitz neben Gott dem Vater, wo er Platz nehmen wird, um alle Diejenige zu ewigen Martern zu verdammen, welche nicht an ihn ge - glaubt haben. Wenn aber ein ſchlichter, ſich ver - nünftig anſtellender Mann, mir zuerſt von Duldung, Tugend, ewiger Wahrheit und Liebe ſpricht, dann aber vom Gott der Gerechtigkeit und Liebe und einem ſeiner edelſten Verkünder auf Erden, dergleichen Mährchen und Atrocitäten, die den geſunden Men - ſchenverſtand beleidigen, erzählt, und ſie für etwas Heiliges und Göttliches ausgeben will ſo wende ich mich mit Widerwillen von ſolcher Heuchelei oder Thorheit ab. Ein Cagot wird mir hierauf antwor - ten wollen: Euer geſunder Menſchenverſtand iſt kein Maßſtab für Gott worauf ich ihm erwiedere:172 Euer Gott iſt aber ein Menſch und unſer Ver - ſtand und unſere Vernunft iſt, mit der Erkenntniß der äußern Natur, und daraus abſtrahirten Erfah - rung, eben die einzige wahre und ächte Offenba - rung Gottes, deren wir theilhaftig geworden ſind, und die Niemand bezweifeln kann. Der Menſch iſt allerdings ſeiner Natur nach dazu beſtimmt, ſich mit dieſen Mitteln, durch ſich ſelbſt immer weiter fort - zubilden, und ſo war das Chriſtenthum auch eine Folge dieſer fortſchreitenden Civiliſation, wie früher (um bei dieſem Zweig der Ausbildung ſtehen zu blei - ben) das moſaiſche Geſetz, ſpäter die Reformation, und ihr zweiter Akt die franzöſiſche Revolution; end - lich die hieraus allgemeiner erwachſende Denk - und Preß-Freiheit, und Alles was ſich jetzt, ruhiger, aber deſto ſicherer, durch dieſe Letztere bereitet. Wir finden alſo überall nur die Reſultate derſelben allmähligen Civiliſation, von der Niemand wiſſen kann, wo ſie ſtehen bleiben wird, aber welchen Grad ſie auch erreiche, immer kann und ſoll ſie hier nur menſchlich ſeyn, und durch menſch - liche Mittel befördert werden.

Mein letzter und längſter Beſuch an dieſem Mor - gen galt den lieblichen Mädchen, die ich bei Lady M ...... kennen gelernt. Ich brachte ihnen ita -173 lieniſche Muſik mit, die ſie ſangen wie Nachtigallen, und doch dabei eben ſo anſpruchslos als natürlich blieben. Ihr Vater iſt ein hochgeſchätzter Arzt, und wie hier die meiſten Doktoren von Bedeutung, Ba - ronet oder Sir, ein Titel der, beiläufig geſagt, in England gar nicht zum Adel gerechnet wird, ob - gleich ſehr alte und angeſehene Familien ſich darunter befinden, aber auch Creti und Pleti, wie bei unſerm niedrigen Adel. Ein ſolcher Sir wird gewöhnlich nicht bei ſeinem Familien - ſondern Vornamen ge - nannt, als z. B. Sir Charles, Sir Anthony, wie man in Wien: Graf Tinterle, Fürſt Muckerle u. ſ. w. zu ſagen pflegt. Der ärztliche Ritter, von dem ich jetzt ſpreche, hat dieſen Titel für die Anlegung einer ſehr guten Badeanſtalt erhalten, die ſich in ſeinem Hinterhauſe befindet, und iſt dabei ein intereſſanter Mann. Noch geiſtreicher ſcheint mir ſeine Frau, die ihrer berühmten Verwandtin in richtigem Takt und Urtheil überlegen iſt, und ein großes Nachahmungs - Talent beſitzt, mit deſſen komiſcher Anwendung ſie ſelbſt ihre eigene Familie nicht immer verſchont. Die Töchter, obgleich ganz verſchieden, ſind doch beide ſehr originell, die eine im ſanften, die andere im wilden genre, weshalb ich ſie auch nur: Lady M .... s wild 1rish girl, zu nennen pflege, alle drei aber zei - gen eine charakteriſtiſche Nationalität,*)Dieſe iſt in der großen Welt hier ſehr ſelten anzu - haben auch Irland nie verlaſſen.

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Abends erzählte mir Lady M ...., daß ihr die ſchlechten, und oft ganz Sinn entſtellenden Ueber - ſetzungen ihrer Werke viel Verdruß machten. So habe man in ihren Briefen über Italien, wo ſie von den Genueſern ſagt: They bought the scorn of all Europe (wörtlich: ſie erkauften ſich den Hohn des ganzen Europas) für scorn, corn (Korn) geleſen, und friſchweg überſetzt: Genes dans ce tems achetait tout le blé de l’Europa. Dies iſt ein guter pendant zu der Nation der Haid-Schnuken.

Als ich früh aufſtand, und ans Fenſter trat, bot ſich meinen Blicken mitten in den Straßen der Haupt - ſtadt wieder einmal eine ächt iriſche Scene dar, wie ſie ſonſt nur das Land zu zeigen pflegt. Mir gegen - über ſaß eine alte Frau, Aepfel verkaufend, und be - haglich ihre Cigarre ſchmauchend. Näher dem Hauſe machte ein Mann in Lumpen, allerlei Kunſtſtücke, unterſtützt von ſeinem Affen. Ein regelmäßiger Kreis, vier bis fünf Mann hoch, war um ihn geſchloſſen,*)treffen, da die tyranniſchen Erforderniſſe engliſcher Bildung ſehr allgemein in den drei Inſeln wirken, weshalb Du auch bemerkſt, daß ich gar oft Irländer und Engländer nur unter dem letzten Namen vereinige. Ich ſollte ſie eigentlich Britten, oder nach der neueren Orthographie, Briten nennen. A. d. H. 175 und bei jedem neuen Spaß ertönte lauter Jubel, mit einem ſolchen Demonſtriren, Geſchrei und Ge - ſtikuliren verbunden, daß man ſchon glaubte, Streit ſey entſtanden, und auf irgend Jemand würde es bald Prügel regnen. Das neue Angehen des Schau - ſpiels brachte aber jedesmal wieder Todtenſtille her - vor. Jetzt konnte indeß die Lebhafteſte der Geſell - ſchaft ſich nicht länger mehr mit bloßen Zuſchauen begnügen. Sie muß ſelbſt agiren, und in unbe - zwinglicher Luſtigkeit ſpringt ſie in den magiſchen Kreis, ergreift den erſchrocknen Affen, und überbietet ihn in Poſſen, Sprüngen und Grimaſſen aller Art, die das verdoppelte Lachen und Jauchzen der erfreu - ten Menge belohnt. Die Darſtellungs-Wuth wirkt aber anſteckend mehrere geſellen ſich zu der erſten Aktrice, die bisherige Ordnung fängt an, ſich immer mehr in Wirrwarr zu verkehren, der Künſtler, be - ſorgt für die Sicherheit ſeines Affen, oder um ihn nicht durch übles Beiſpiel verführen zu laſſen, bricht ſchleunigſt auf; ſeine Retirade gleicht ſchon einer übereilten Flucht, der ganze Haufen ſtürzt ihm ſchreiend nach, jeder will der erſte hinter ihm ſeyn, Einige ſchimpfen, und verſchiedene Syileilas, die die vorige Luſt in der Scheide erhielt, werden ſichtbar, Andere nehmen die Parthei des fliehenden Künſtlers, dieſer entwiſcht indeſſen, und ehe man ſich’s verſieht, endet die Verfolgung in einem allgemeinen Gefecht der Verfolger.

Ein garcon-diné bei Lord S ...., dem ich nach - her beiwohnte, endigte, beinahe eben ſo geräuſchvoll,176 wenn auch nicht ſo empfindlich, meinen Tag, und hielt mich bis mitten in der Nacht wach. Voilà tont ce que j’ai à vous conter d’aujourdhui.

Ich bringe fortwährend mein Leben bei den klei - nen Nachtigall-Engeln zu, ſehe öfters Lady M .... und vermeide, ſoviel ich kann, die übrige Geſell - ſchaft. Die Mädchen führen ein burleskes Journal, wo ſie, mit den extravaganteſten Zeichnungen dane - ben, eine Chronik unſrer täglichen Fata verfaſſen, die höchſt beluſtigend iſt. Nachher ſingen, ſchwatzen wir, oder ſtellen Tableaux dar, wobei die Mutter, mit ihrem Schauſpielertalent, uns aufs ſchönſte mit den heterogenſten Dingen drappirt. Du würdeſt wenigſtens haben lächeln müſſen, wenn Du heute geſehen hätteſt, wie die wild irish giel ſich einen Schnurbart und Favoriten mit Kohle malte, einen Ueberrock ihres Vaters anzog, und Schnupftuch und Stöckchen in der Hand, als meine Karikatur herein - trat, um ihrer Schweſter, nach meiner Art, wie ſie ſagte, die Cour zu machen. Dieſe Mädchen haben eine unerſchöpfliche gar nicht engliſche, aber ächt ir - ländiſche Grazie und Luſtigkeit, und man erlaubt mir glücklicherweiſe, von der in dieſen Ländern übli - chen Etiquette etwas abgehend, alle Abende hier zu - zubringen (ſonſt darf dies in England nur gebeten177 geſchehen, da Viſiten allein Vormittags geſtattet ſind) welches mir den Aufenthalt in Dublin weit angeneh - mer macht, als ich hoffen durfte. Um Mitter - nacht werde ich zwar immer ſehr geſchmält, viel zu lange geblieben zu ſeyn, aber dem Unver - beſſerlichen wird doch jedesmal nachher wieder ver - ziehen.

Nach den Tableaux magnetiſirte ich die Aelteſte, welche öfters an Kopfweh leidet. Du weißt, daß mir ſchon oft dieſe Curen gelungen ſind. An der Verwandtſchaft des Magnetismus mit der Elektrizi - tät zweifelte ich wahrlich nicht, wenn ich mit den Fingerſpitzen den Saum ihres Kleides berührte, oder über die äußerſten Enden ihrer ſeidnen Locken ſtrich, die kniſternden Funken von ſich zu ſprühen ſchienen. Dieſe Aelteſte, affligee de 18. aug. hat braune Augen und Haare von einem ganz ſeltſamen Aus - druck, und Beſchaffenheit. Die Letztern participi - ren vom Feurigen ohne roth zu ſeyn, und in den erſten ruht eine feuchte Gluth, über die ſich gleichfalls oft ein wahrer röthlicher Feuer - ſchein hinzieht, doch immer bleibt es nur Gluth, kein aufflackerndes Flammenblitzen, wie es die fun - kelnden Augen der kleinen Wilden oft erleuchtet. Denn bei dieſer iſt alles Flamme, und unter dem mädchenhaften Erröthen bricht oft die Determinirt - heit und der Muth eines Knaben hervor. Unvor - ſichtig und vom Augenblick hingeriſſen, erlaubt ſie ſich ſogar manchmal zu große Vivacitäten, die aber,Briefe eines Verſtorbenen. II. 12178durch ihr allerliebſtes Naturel und ihre unnachahm - liche Grazie, den ſeltnen Reiz des Mädchens nur vermehren. Als man heute meinen Wagen anmel - dete, rief ich ſeufzend: Ah! que cette voiture vient mal à propos! Eh! bien , rief ſie, noch im Män - ner-Coſtume daſtehend, wie ein wahrer kleiner Hu - ſar: Envoyez la au diable! Ein höchſt ſtrenger und mißbilligender Blick der Mama, und das Er - ſchrecken der Schweſter, überzog ſogleich alles, was von dem Geſichtchen hinter dem Schnurbart zu ſehen war, mit Scharlach über und über. Sie ſchlug beſchämt die Augen nieder, und war dabei ſo un - widerſtehlich hübſch, daß ich ....... ja was? gute Julie, fülle Dir die Phraſe ſelbſt aus und damit gute Nacht.

Lady M .... empfing mich heute früh in ihrem Autorboudoir, wo ſie im eleganten Coſtume, mit einer Feder aus Perlmutter und Gold in der Hand, nicht ohne Coquetterie an ihren Werken ſchreibt. Sie war mit einem neuen Buch beſchäftigt, zu dem ſie einen ganz guten Titel erfunden hat: Memoiren von mir und für mich. Sie frug, ob ſie von mir oder für mich zuerſt ſetzen ſollte? Ich entſchied für das Erſte als folgerechter, weil ſie erſt ſchreiben179 müßte, ehe ſie für ſich geſchrieben haben könnte, worüber wir in einen ſcherzhaften Streit geriethen, indem ſie mir meine deutſche Pedanterie vorwarf, und behauptete, daß von jeher bonnet blanc und blanc bonnet einerlei geweſen ſey, was ich lachend zugeben mußte. Das von ihr gewählte Motto war: Je n’enseigne pas, je raconte (Montaigne). Sie las mir Einiges vor, was ich vortrefflich fand. Mit der Feder in der Hand wird dieſe, ſonſt ziemlich ſu - perficiell erſcheinende Frau, ein ganz andres Weſen. Man könnte ſagen: der Perlmutter-Feder entfallen ächte Perlen, die Mutter bleibt als kalte Schale zurück.

Sie ſagte mir, daß ſie den Winter nach Paris ginge, und von da nach Deutſchland reiſen möchte, hatte aber eine große Furcht vor der öſterreichiſchen Polizei. Ich rieth ihr Berlin zu wählen. Werde ich da nicht auch verfolgt werden? rief ſie lebhaft. Gott bewahre, tröſtete ich, in Berlin betet man Ta - lente an, nur rathe ich Ihnen wenigſtens Eine Ih - rer hübſchen Freundinnen mitzunehmen, die gut und gern tanzt, damit Sie Beide auf die Hofbälle gebe - ten werden, und die liebenswürdige militairiſche Ju - gend kennen lernen, was der Mühe werth iſt, und Ihnen ſonſt vielleicht nicht zu Theil werden würde. Hier kam der Mann hinzu, und bat mich ſein philo - ſophiſches Buch doch in Deutſchland überſetzen zu laſſen, damit er, nicht blos als Adjudant ſeiner Frau, ſondern mit eignen Flügeln angeflogen kom -12*180men könne. Ich verſprach alles was man wollte, machte jedoch bemerklich, daß dermalen ein neues Ge - betbuch mehr Glück machen würde, als ein neues phi - loſophiſches Syſtem, deren wir ohnehin genug hätten.

Abends nahm ich für die jungen Damen, die noch ſehr wenig ausgehen dürfen, eine Loge im Pferde - Theater, wohin ich ſie begleitete. Ihr naives Ver - gnügen an den vielfachen Künſten der Roſſebändiger war ergötzlich anzuſehen. Die kleine[Sechzehnjährige] verwandte kein Auge von Ducrow’s halsbrechenden Manöuvres, und hielt, vor Angſt und Begierde zit - ternd, die ganze Zeit ihre Händchen feſt zuſammen - geballt; die Aeltere betrachtete ſchon, ſtill erröthend die ſchönen Formen und üppigen Stellungen der ge - wandten Reiter.

Es war ein wunderſchönes Kind bei der Geſell - ſchaft, welches, erſt ſieben Jahre alt, bereits auf dem Pferde tanzte, eine Menge Rollen mit ungemeiner Grazie ſpielte, und beſonders, als Napoleon ange - zogen, wo das winzige Mädchen, die ſchroffen Ma - nieren des Kaiſers höchſt poſſirlich nachahmte, immer den[rauſchendſten] Beifall[einärndtete]. Meine jun - gen Freundinnen wünſchten dies Kind von Nahem zu ſehen, und ich begab mich daher auf’s Theater, wo der kleine Engel eben ausgekleidet wurde, und ganz nackt, wie ein leibhaftiger Amor, vor dem Spiegel ſtand. Ihre Rolle war für heute ausge - ſpielt, und ſobald die neue Toilette beendet war, nahm ich ſie auf den Arm, und brachte l’enfant181 prodige wie ſie auf dem Zettel genannt wurde, im Triumph herauf. Nach den erſten Liebkoſungen ward die Kleine, von uns Allen, die aufmerkſamſte Zuſchauerin des Schauſpiels, obgleich man hätte glauben ſollen, ſie habe[täglich] genug daran. Nur eine Düte mit Süßigkeiten, die ich ihr präſentirte, konnte ſie eine Zeit lang davon abwendig machen, und wir mußten alle über ihr naives und drolliges Benehmen herzlich lachen, als ſie, auf Miß S .... Schooße ſitzend, die Hälfte der Bonbons in ihren Buſen ſchüttete, und dann wieder mit den Samt - händchen darnach langend, der ſie Abwehrenden zu - rief: Let me alone, that is my favourite cake (Laß mich, das iſt mein Lieblings-Bonbon) Miß S ..... die über die Aeußerung und Beharrlichkeit der Klei - nen roth wurde, ſchob ſie endlich mit etwas Ueber - eilung von ſich, ſo daß das Kind ſich an einer her - vorſtehenden Nadel blutig ſtach. Wir fürchteten ſie würde weinen, aber der Diminutiv-Napoleon wurde nur böſe, ſchlug die Beleidigerin ſo derb als mög - lich, und rief entrüſtet: Fy, for shame! You stung me like a bee! (Pfui, ſchäme Dich, haſt mich wie eine Biene geſtochen) und damit voltigirte ſie auf den Schoos der Schweſter, legte ihre Aermchen über das Logenbrett, und ſah von neuem mit ungeſtörter Aufmerkſamkeit der Belagerung von Saragoſſa zu. Im Entreacte ſagte ihr Lady C ..... (auf das - cherliche qui pro quo in Limerick anſpielend, das ich ihr erzählt hatte) ich ſey Napoleon’s Sohn. Sie ſah mich ſchnell an, fixirte mich eine Weile, und rief182 dann mit der ernſthafteſten Grandezza: O! Ich habe ſelbſt Ihren Herrn Vater mehrmals geſpielt, und immer außerordentlichen Beifall mit ihm erwor - ben. So natürlich, drollig, und ohne alle Verlegen - heit machte die liebliche Kleine unſer Aller Erobe - rung, und wir ſahen mit Bedauern das Ende der Vorſtellung heranrücken, wo wir ſie wieder abliefern mußten. Sie wollte ſich nur von mir wieder herun - tertragen laſſen, weil ich ſie heraufgebracht, und als ich mit ihr hinter den Couliſſen ankam, wo alles voller Pferde ſtand, und ich ſchon ganz beſorgt war, wie ich mich da durchdrängen ſollte, ſchrie ſie gleich mit großer Lebhaftigkeit, und ungeduldig auf mei - nem Arme zappelnd: Nun fürchteſt Du Dich? nur vorwärts, ich werde die Pferde ſchon in Ordnung halten, und damit theilte ſie rechts und links, Klapſe auf die Naſen der alten Bekannten aus, die auch folgſam wichen, bis wir hindurch waren. Jetzt laß mich herunter! rief ſie, und kaum berührten ihre Füße den Boden, als ſie mit der Behendigkeit eines Häschen’s über den Hintergrund der Bühne floh, und ſchnell im Getümmel verſchwand. Kinder ſind gewiß die anmuthigſten Geſchöpfe, wenn ſie nicht durch Verziehung verkrüppelt ſind, ſelten aber mag ſoviel Natürlichkeit auf den Brettern, noch ſeltener vielleicht, auf dem höhern Theater der großen Welt gedeihen.

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Daß ich O’Connel hier wieder getroffen, vergaß ich Dir zu melden. Ich hörte ihn ſchon einigemal in der Catholik-Aſſociation, dem jetzigen irländiſchen Na - tionalparliament, welches ich heute zum zweitenmal beſuchte. Man empfing mich, als einen gut geſinn - ten Fremden, mit Applaudiren, und H. O’Connel machte mir ſogleich Platz, zwiſchen ſich und einem Lord C .... Der Saal iſt nicht zu groß, und eben ſo unreinlich als der des Unterhauſes in England. Auch hier behält jeder den Hut auf dem Kopf, aus - genommen wenn er ſpricht, auch hier giebt es gute und ſchlechte Redner, aber allerdings zuweilen we - niger anſtändige Sitte als dort. Die Hitze war ſtickend, und ich mußte demohngeachtet 5 Stunden aushalten, die Debatten waren aber ſo intereſſant, daß ich die Unbequemlichkeit kaum bemerkte. O’Connel ſprach, ohne Zweifel, am beſten. Obgleich vom größ - ten Theile vergöttert, ward er doch auch von Man - chen ſehr hart bedrängt, und vertheidigte ſich mit eben ſo vieler Mäßigung als Gewandtheit, dagegen er ohne alle Schonung, und meines Erachtens nach, mit zu ſtarken Ausdrücken, die Miniſter und das engliſche Gouvernement angriff. Daß viel Intrigue und feſt verbundene, im Voraus beſtimmte, Par - theien, hier ſo gut wie bei andern Körpern dieſer Art herrſchen, und daher die Diskuſſion oft nur Spiegelfechterei bleibt, war leicht zu erſehen; die Führer aber haben wenigſtens ihr Handwerk ſehr184 gut einſtudirt. Die drei hervorſtechendſten Red - ner ſind O’Connel, Shiel und Lawles, auch Mr. Fin und M. Ford ſprechen gut und mit vielem per - ſönlichen Anſtande. Shiel iſt ein Mann von Welt mit noch mehr Unbefangenheit und Aiſance in der Geſellſchaft als O’Connel, aber als Redner erſchien er mir viel zu affectirt, zu künſtlich, und prä - parirt in dem was er ſagte, dabei ganz Schau - ſpielermäßig, ohne alles wahre Gefühl in der deli - very ſeiner Rede, wie es die Engländer bezeichnend nennen. Es wundert mich nicht, daß er, ohngeach - tet ſeines nicht unbedeutenden Talents, ſo viel we - niger populair iſt, als O’Connel. Beide Männer ſind ſehr eitel die Eitelkeit O’Connels iſt aber offner, vertrauender und bereits zufriedener geſtellt, die von Shiel hingegen peinlich, wund und finſter. Der Eine iſt daher, die eigne Parthei betreffend, ſo zu ſagen, in Honig, der Andere in Galle getaucht, und der Letzte, obgleich für dieſelbe Sache ſtreitend, ſichtlich eiferſüchtig auf den Kollegen, den er mit Unrecht zu überſehen glaubt. Herr C…s dagegen iſt nur der Don Quixotte der Aſſociation. Sein[ſchöner] Kopf, ſein weißes Haar, ſein wilder, aber edler, Anſtand und ein herrliches Organ, laſſen, wenn er auftritt, Außerordentliches erwarten, aber bald löst ſich die ernſt begonnene Rede in die un - glaublichſten Extravaganzen, und oft ganz verwirr - ten Unſinn auf, welcher Freund und Feind mit glei - cher Wuth angreift. Man achtet ihn daher wenig, lacht ihn oft aus, wenn er, wie König Lear, raſet,185 unachtſam auf das Publikum, oder was um ihn vor - geht. Die dominirende Parthei gebraucht ihn aber, wo nöthig, als Schreier. Heute verflog er ſich ſo ſehr, mit unaufhaltſamem Schwunge, daß er plötzlich mitten in der katholiſchen und archikatholiſchen Aſſociation, die Fahne des Deismus aufpflanzte, vielleicht auch nur um O’Connel Gelegenheit zu geben, ihn mit Indignation zur Ordnung zu rufen, und dabei eine fromme Tirade anbringen zu[können]; denn auf der Rednerbühne, wie auf dem Böttgerfaß, auf dem Throne, wie auf der Marionettenbude gehört Klappern zum Handwerk. Am gewöhnlichen Orte ruhte ich Abends aus. Tableaus waren wieder an der Tagesordnung. Nach einander mußte ich als Brutus, orientaliſcher Jude, François premier, oder Saladdin erſcheinen. Miß J war als Student von Alkala ein verführeriſcher Wildfang, und ihre ältere Schweſter, als Sklavin des Serails, eine will - kommene Gefährtin für Saladin, und als die ſchöne Rebekka Walter Scott’s, auch nicht übel mit dem orientaliſchen Juden gepaart. Alle dieſe Metamor - phoſen bewerkſtelligte die Mutter nur mit vier Lich - tern, zwei Spiegeln, einigen Shawls, bunten - chern, einem am Licht gefärbten Korkſtöpſel, einem Schminktopf und verſchiedenen Haartouren. Dennoch hätte Talma den Brutus nicht beſſer drapiren kön - nen, und täuſchender die Phyſiognomieen verändern, als dieſe geringen Mittel es, unter der geſchickten Leitung von Lady C , vermochten. Zuletzt wur - den Carrikaturen gezeichnet, und auf meine Bitte186 verſuchte jede Schweſter das Portrait der andern zu malen. Beide gelangen ſehr gut, und befinden ſich bereits in der Gallerie meiner Lebensbilder.

Ich ſah mich heute zu etwas Unangenehmem ge - nöthigt, was ich ſchon lange aufgeſchoben, und mußte endlich mein großes Mittel anwenden, um meine Abneigung zu beſiegen. Du wirſt lachen, wenn ich Dir es nenne, aber mir hilft es, für Großes und Kleines. In der That giebt es wenig Menſchen, die nicht zuweilen leichtſinnig, noch öfter ſchwan - kend wären. Da es mir nicht beſſer geht, ſo habe ich ein eignes Mittel erfunden, mir in Dingen, die mir ſchwer ankommen, künſtlich Entſcheidung, und den Halt zu verſchaffen, der mir ſonſt vielleicht feh - len könnte, und den der Menſch einmal durch irgend etwas außerhalb Hingeſtelltes bedarf. *)Selbſt Religion und Moralität reichen in dem ver - wickelten Zuſtande der menſchlichen Geſellſchaft nicht für alle Fälle aus Beweis die conventionelle Ehre, welche oft gegen beide ſtreitet, und deren Geſetze doch von den Beſten befolgt werden.Ich gebe nämlich in ſolchem ſpeziellen Falle ganz feierlich mir ſelbſt mein Ehrenwort darauf, dies oder jenes zu thun, oder zu laſſen. Ich bin natürlich ſehr vor -187 ſichtig damit, und überlege nach Kräften, ehe ich mich dazu entſchließe, iſt es aber einmal geſchehen, und hätte ich mich dann auch geirrt oder übereilt, ſo halte ich es beſtimmt, wäre ſelbſt gewiſſer Untergang die Folge. Und ich befinde mich ſehr wohl und ruhig dabei, einem ſo[unabänderlichen] Geſetz unterworfen zu ſeyn. Könnte ich es brechen, ſo würde ich, nach dem einmal hineingelegten Sinn, von dem Moment an, alle Achtung für mich ſelbſt verlieren, und wel - cher denkende Menſch müßte, bei einer ſolchen Alter - native, nicht unbedenklich den Tod vorziehen. Denn ſterben iſt doch nur eine Naturnothwendigkeit, und folglich nichts Uebles es ſcheint uns nur ſo, in Bezug auf unſre hieſige Exiſtenz, d. h. der Selbſt - erhaltungstrieb muß den Tod fürchten, die Vernunft aber, die ewig iſt, ſieht ihn in ſeiner wahren Geſtalt, als einen bloßen Uebergang von einem Zuſtand zum andern ſich aber von eigner, unbeſieg - barer Schwäche überzeugen, iſt ein Gefühl, deſſen Stachel wenigſtens dieſes Leben fortwährend verbittern müßte! Daher iſt es jedenfalls beſſer, im Colliſionsfall, mit innerm Triumph für diesmal auf - zuhören, als im Seelen-Lazareth fortzuvegetiren. Ich werde alſo keineswegs abhängig durch dieſes Wort, ſondern grade durch daſſelbe bleibe ich unabhängig. So lange meine Ueberzeugung nicht ganz feſt ſteht, wird, wie ſchon geſagt, die myſterieuſe Formel ohne - dies nicht ausgeſprochen, dann aber darf, für das Heil meiner Seele, keine Veränderung der An - ſicht, nichts mehr meinen Willen brechen, als die188 phyſiſche Unmöglichkeit. Indem ich mir aber hier - durch in den äußerſten Fällen eine ſichere Stütze ſchaffe, ſiehſt Du ein, daß ich zugleich eine furchtbare Waffe zum Angriff erhalte, wenn ich gezwungen würde, ſie anzuwenden, ſo kleinlich auch das Mittel Manchem dünken mag. Ich dagegen finde es ſchön: daß der Menſch ſolche Dinge ſich aus nichts, oder dem Trivialſten, ſelbſt ſchaffen kann, nur durch ſeinen hierin wahrhaft allmächtig zu nennen - den Willen!

Ob Du, gute Julie, dies Raiſonnement nicht ver - wegen und tadelnswerth finden wirſt, mag ich nicht verbürgen, ja für ein Weib wäre es auch nicht ge - macht, und ein ganz[kräftiger] Geiſt[hätte] es viel - leicht eben ſo wenig nöthig. Jeder muß ſich aber nach ſeiner Natur einrichten, und ſo wie noch Nie - mand das Geheimniß erfand, ein Rohr wie eine Eiche, oder einen Kohlkopf wie eine Ananas wachſen zu laſſen, ſo werden auch Menſchen ſich immer, wie das gemeine, aber gute, Sprüchwort ſagt: nach ihrer Decke ſtrecken müſſen. Wohl dem, der ſich nicht mehr zutraut als er kann! Ohne es übrigens ſo tragiſch zu nehmen, dient das große Mittel auch ganz vor - trefflich bei Kleinigkeiten. Z. B. unerträglich lang - weilige Geſellſchaftspflichten als gelaſſenes Opfer zu erfüllen die Faulheit zu beſiegen, um eine immer aufgeſchobene Arbeit endlich gewaltſam zu erledigen ſich eine wohlthätige Enthaltſamkeit aufzulegen, um nachher deſto beſſer zu genießen und viel,189 viel dergleichen mehr, wie es das zuweilen erhabne, und noch öfter kindiſche, Leben darbietet.

Nachmittags ritt ich, die Grillen zu vertreiben, weit in das Land hinein, dem Gebürge zu. Nach ohngefähr zwölf Meilen kam ich in eine ganz kahle Gegend wellenliniger Torfmoore ohne Ende, die ſich nach allen Richtungen ausdehnten. Man hätte ſich hundert Meilen von einer Hauptſtadt entfernt ge - glaubt. Der Eindruck war nicht wild, nicht ganz ſo öde wie Sandflächen, aber ſchauerlich leer, einſam und monoton. Eine einzige elende Hütte ſtand dar - auf, aber in Ruinen, ohne Bewohner, und, wie ein großer Wurm ſchlängelte ſich ein weißer Fußweg an ihr hin, ſich mühſam durch das braune Heidekraut windend. Das Ganze war mit ein wenig Schnee gepudert, und der Wind auf den kahlen Höhen eiſig kalt. Demohngeachtet zog mich das Melancholiſche der Scene ſo an, daß ich nur nothgedrungen mein Pferd wieder rückwärts wendete. Näher an Dublin, fand ich auf einer iſolirten Bergſpitze eine eigne Spie - lerei ausgeführt, nämlich ein Haus, das in Geſtalt eines nachgemachten Felſen gebaut war, ſo täuſchend in der That, daß man es für einen wirklichen anſah, bis man vor dem Eingang ſtand. Erſt bei Mond - ſchein langte ich, mit von der ſcharfen Luft brennen - dem Geſicht, in meinem Gaſthofe zum Mittagseſſen an, zu dem ich Vater Leſtrange gebeten hatte, car j’aime les prêtres, comme Voltaire la Bible, malgré tout ce que j’en dis.

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Ich fand auch einen Brief von Dir, klage aber daß Du mir zu wenig Details ſchreihſt! Bedenke doch, daß jede Kleinigkeit von dort mir werth iſt. Ob mein Lieblingspferd wohl iſt, meine ſüße Freun - din (die perruche) noch zuweilen meinen Namen ruft, Dein Haustyrann Fancy mehr oder weniger unartig, die Papageyen in good spirits, die neuen Pflanzungen gut gewachſen, die Badegäſte fröhlich geweſen ſind, alles das hat, ein paar hundert Meilen weit, bedeutendes Intereſſe. Um aber davon etwas zu erfahren, ſehe ich wohl ein, daß ich Dich einmal, wenn auch nur auf einen Tag lang, überraſchen muß. Du weißt, ich haſſe Scenen und Feierliches, alſo auch geräuſchvollen Empfang, wie alles Abſchiednehmen un beau matin alſo, wirſt Du mich in Deinem Früh - ſtücks-Sallon etablirt finden, wo ich Dich ſcherzend und neckend empfangen will, als ſey die lange Reiſe nur ein Traum geweſen, et toute la vie hélas! est elle autre chose? Ganz im Ernſt, man ſollte alle ſolche Dinge weit gleichgültiger und behaglicher neh - men, als man thun zu können glaubt. Ein engli - ſcher Dandy diene Dir darin zum Muſter. Sein beſter Freund und Regimentskamerad ging nach In - dien, und als dieſer, gerührt von ihm Abſchied neh - mend, in hoher Bewegung ſeine beiden Hände ergrei - fen wollte, um ſie zum letztenmal vielleicht zu ſchüt - teln, hielt der Incroyable ihm, halb abwehrend, nur die Fingerſpitzen hin, indem er lächelnd lispelte: Sonderbare und höchſt fatiguante engliſche Gewohn -191 heit, ſich gegenſeitig die Körper zu pumpen, indem man ihre Schwengel auf und ab bewegt!

Dein Portrait hat mir nicht ſo viel Freude ge - macht als es ſollte. Die Züge ſind viel zu hart, und müſſen erſt geſanftet (softed) werden, ehe ich ſie als Stellvertreter des Originals gelten laſſen kann, deſſen Bild übrigens lebhaft genug in meinem Herzen lebt, um daß es keines andern zur Auffriſchung bei mir bedarf.

Dein ewig treuer L ....

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Zwei und vierzigſter Brief.

Geliebte Freundin!

Ich ſehe hier oft einen Mann, B H ...., deſſen Geſellſchaft von hohem Intereſſe für mich wurde. Er iſt, obgleich geiſtlichen Standes, einer von den wenigen unabhängigen Denkern, die fähig ſind, die Tyrannei früherer Eindrücke und alter Gewohnhei - ten abzuſchütteln, und beim Lichte der Vernunft oder mit andern Worten, der göttlichen Offenbarung, allein zu ſehen. Auch ſeiner Meinung nach iſt eine Criſis in dem Gebiete der Religion nicht allzufern. Die religieuſen Gebäude, wie ſie noch größtentheils be - ſtehen, ſagte er heute, ſind offenbar die ſeltſamſten Mißgeburten von Erhabenem und Lächerlichem, von ewiger Wahrheit und dunkler Unwiſſenheit, von ächter Philoſophie und Götzendienſt. Je mehr die Menſchen lernen, je mehr die Wiſſenſchaft uns die Natur193 außer uns, und die unſres eigenen Weſens durch er - gründete Thatſachen verſtehen lehrt, je milder, je moraliſcher werden unſre Sitten, wie unſere Regie - rungen. Langſamer folgen die Religionen! Selbſt die chriſtliche, obgleich in ihrem Urſprung einer der[mächtigſten] Schritte, den tiefes Denken und gründ - liche Erkenntniß des reinſten Herzens gethan, hat doch ſeitdem, wie uns die Geſchichte ihrer Kirche faſt auf jeder Seite zeigt, hundertmal die Welt mit Blut getränkt und den wahnwitzigſten Unſinn fortwährend geboren und auch wieder begraben, während Philo - ſophie und Wiſſenſchaft ſtets, gleich mildernd, fort - wirkten, ohne je ähnliche Opfer zu verlangen, noch ähnliche Verſtöße zu begehen. Es iſt die Frage, ob Newton, als er das Geheimniß der Himmel auf - deckte, der Erfinder des Compaſſes und der Buch - druckerkunſt, der Menſchheit nicht mehr genutzt haben, das heißt, ihre Civiliſation mehr befördert, als ſoviel Stifter von Religionen, die verlangen, daß man zu ihrer Fahne ausſchließlich ſchwöre. Ja es könnte wohl einmal eine Zeit kommen, wo Religion und Poeſie als Schweſtern betrachtet würden, und man es eben ſo lächerlich fände eine Staatsreligion als eine Staatspoeſie zu haben? Wäre ich ein Türke, ſo würde ich mir ſagen: Es iſt gewiß unendlich ſchwer, die Vorurtheile der Kindheit und den Aberglauben früherer Lehre ſo gänzlich los zu werden, um auch die Ueberzeugung von Millionen mit feſter Seele als thöricht anzuerkennen. Demohngeachtet will ich, da ich es eingeſehen, kein Türke bleiven. Als ChriſtBriefe eines Verſtorbenen. II. 13194aber ſage ich: An die reine Lehre will ich mich halten, die meine Vernunft verehren kann, den un - poetiſchen Mährchenwuſt aber, ſowie alle Entſtellun - gen damaliger Zeit, und noch mehr das blutige und gehäſſige Heidenthum der Nachfolger, will ich den Muth haben wegzuwerfen, wenn es auch 200,000,000 auf fremde Autorität wirklich im Innerſten für hei - lig annähmen. Aus demſelben Prinzip handelte Lu - ther, als er den erſten Schritt der Reform that, aber das Licht, das er damals gereinigt, bedarf wahrlich des Putzens von neuem gar ſehr, und Ehre dem Manne der Kirche, der groß genug ſeyn wird, zu dieſem Amte ſich berufen zu fühlen, und es ohne Rückſicht und Menſchenfurcht auszuführen, wenn gleich viel Zeter über ihn geſchrieen werden wird, denn daß er nichts anders erwarten darf, das lehrt ihm zu deutlich die Geſchichte. Waren es nicht im - mer grade die Wenigen nur, die das Beſſere und Wahre anerkannten, und die ſie verfolgten die Menge? war es etwa die fanatiſche Heerde, die Sokrates den Giftbecher reichte, oder die, welche Chriſtus kreuzigte, oder die welche Huß verbrannte, auf deren Seite die Wahrheit ſtand? Nein, erſt nach Jahrhunderten nahm dieſe Menge ſelbſt der Geopferten Meinung an, und verſteinerte ſich von Neuem eben ſo ortho - dox für dieſelbe als früher dagegen. Das reli - gieuſe Bedürfniß iſt gewiß eins der ſtärkſten im Men - ſchen, beſonders wo noch Geſetze und Inſtitutionen in der Kindheit ſind. Wer es ſich daher ſelbſt nicht geſtalten kann, muß die Form von andern entneh -195 men. Wenige ſind in dem erſten, die Mehrheit ſtets im andern Falle. Dies erklärt leicht, wie ſich die Macht der Kirche und Prieſter bilden mußte, und daß auf dieſe Weiſe Menſchen Jahrhunderte, ja Jahr - tauſende lang am Gängelbande gleich Kindern[ge - führt] werden können. Aber wenn dies gelingen ſoll, muß das Wiſſen zugleich zu Gunſten des Glau - bens unterdrückt werden. Wo die Forſchung frei wird, da verſchwindet endlich, wenn gleich langſam, ein Betrug nach dem andern, das Licht erleuchtet zu - letzt auch den entfernteſten Winkel. Iſt ein ſolches Ziel aber einmal erreicht, ſo hört auch der Gewiſſens - zwang auf, und ein Jeder verlangt unbeſchränktes Feld für ſeinen Glauben, wie für ſein Recht. Frei - lich, abſolute Sultane, fette Derwiſche, und ſtolze Satrapen fallen dann miteinander zu Boden, wie der todte Satz im edlen Wein! Wie jämmerlich neh - men ſich aber, bei der[Morgendämmerung] einer ſo herannahenden Zeit, Diejenigen aus, welche die Sonne am Aufgang verhindern zu können glauben, indem ſie ihr den Rücken kehren, und ihrem Glanze den veralteten, morſchen und wurmſtichigen Schirm vor - halten, der ſelbſt dem Mondlichte nicht mehr wider - ſtehen könnte. Im Trüben zu fiſchen wird ihnen noch eine Weile dabei gelingen, aber aufhalten kön - nen ſie das Geſtirn des Tages nicht im Gegen - theil, ihre eben ſo leidenſchaftliche als ſchwache Reak - tion, iſt der ſicherſte Vorbote ſeiner gewiſſen An - näherung.

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In Vielem muß ich B H beiſtimmen, ob aber ſeine ſanguiniſchen Hoffnungen ſich ſobald, oder überhaupt auf dieſer Erde realiſiren möchten, iſt eine andere Frage. Daß jeſuitiſche Grundſätze nicht mehr die Welt regieren werden, und daß Freiheit der Preſſe, wenn ſie erhalten wird, unberechenbare Wunder thut und thun muß das bin ich wohl überzeugt, aber Menſchen werden dennoch Menſchen bleiben, und folglich die Mächte der Gewalt und Liſt immer, fürchte ich, allgemeiner herrſchen als die Kraft der Vernunft.

Mit Vater Leſtrange beſuchte ich Vormittags die Gerichtshöfe, um den militairiſchen O Connel in der gepuderten Allongenperücke, ſchwarzem Talar und Bäffchen plaidiren zu ſehen, und ging nachher in die Aſſociation, um dort den großen Agitator wieder in einer ganz andern Geſtalt zu beobachten. Die Si - tzung war heute ſehr ſtürmiſch. Herr L s ſprach wie ein Verwirrter, und griff ſelbſt O Connel ſo ſtark an, daß dieſer faſt ſeine gewohnte Dignität darüber verlor. Er hielt dann zwar eine vortreffliche Gegen - rede, baſchte jedoch zu ſehr nach Witz, der zuweilen auch nicht vom beſten Geſchmack war. Später ſpra - chen zehne zugleich, der Sekretair rief zur Ordnung, hatte aber nicht[Autorität] genug, ſich Gehorſam zu verſchaffen. Kurzum, die Scene ward etwas unſchick - lich, bis zuletzt ein hübſcher junger Mann, mit un - geheurem Bart und in outrirter Kleidung (der Dan - dy der Aſſociation, wie L .... s ihr Don Quixotte),197 auf einen Tiſch ſprang, eine fulminante Rede hielt, die großen Applaus erlangte, und ſo die Ruhe wie - der herſtellte.

Bei Lady M ..... ich zu Mittag. Sie hatte mich durch ein Billet eingeladen, wie ich deren wohl ein Dutzend während meines Aufenthalts von ihr bekam, und die ich als charakteriſtiſch anführen muß, da ich nie in meinem Leben von einer Dame calli - graphiſch ſchlechter geſchriebene, und im Styl vernach - läßigtere Billets geſehen habe. Offenbar zeigte ſich hier die Abſichtlichkeit der großen Schriftſtellerin, die möglichſte insouciance, den vollſtändigſten abandon im gewöhnlichen Leben zu bekunden, wie die großen Solotänzer in Paris, während dem pantomimiſchen Theil ihres Auftretens, affektiren, einwärts zu gehen, um den Tänzer von Profeſſion nicht zu verrathen. Bei Tiſch machte Lady M mit ihrem ſchon er - wähnten Adjutanten K. Cl. die Hauptfrais alles obligaten Witzes, auch Herr Shiel zeigte ſich aimable, und als Mann von Welt. Am amüſanteſten aber fand ich Lady M und ihre Schweſter Abends im Sprüchwörterſpiel, das beide vortrefflich in franzöſi - ſcher Sprache extemporirten. So ſtellten ſie unter andern, Love me, love my dog, (Liebſt Du mich, ſo liebſt Du meinen Hund) folgendermaßen dar. Perſonen: Lady M ..... eine alte Coquette, Lady C. ein irländiſcher fortune hunter (Glücksjäger), ihre älteſte Tochter die franzöſiſche Kammerjungfer, und die jüngſte Tochter ein Garde-Capitaine, Lieb -198 haber der alten Dame. Zuerſt ſieht man Lady M mit ihrem Kammermädchen bei der Toilette. Ver - traulicher Rath Joſephinens, verſchiedene lächerliche Toilettengeheimniſſe betreffend; Jammer der Coquette über die ankommenden Runzeln; endlich Verſicherun - gen der Abigail, daß, bei Abend, dennoch Niemand ſchöner ſey. Als Beweis werden die verſchiedenen Anbeter angeführt, und Liebesgeſchichten alter Zei - ten erzählt. La Comtesse convient de les conquê - tes, und macht mit vieler Laune ein Gemählde ihrer Triumphe. Shut! ruft die Kammerjungfer, j’eutends le Capitaine. Dieſer, ein Exclusive, erſcheint mit fracas, einen kleinen Hund im Arme haltend, und erklärt nach einigen zärtlichen Complimenten, daß er, genöthigt ſich zu ſeinem Regiment zu begeben, ihr Fidèle zurücklaſſen wolle, damit die ſchöne Gräfin nie vergeſſe, ihm fidêle zu bleiben. Burleske Be - theurungen, Schluchzen, Umarmung, Abſchied. Kaum iſt der Capitaine fort, ſo erſcheint der Irländer und bringt ſogleich einen Heirathskontrakt mit, in dem die Gräfin ihr ganzes Vermögen ihm verſchreiben ſoll. Als guter Weiberkenner behandelt er ſie rüde, und doch leidenſchaftlich, ſo daß, nach ſchwacher Ver - theidigung, und einer kleinen Scene, beide endlich einig werden. Indem bemerkt der Irländer den fremden Hund, und frägt befremdet, wo dieſer her ſey? Man ſtottert verlegen einige Entſchuldigungen her. Oconnor Mac Farlane ſpielt nun den in Wuth gerathenen Eiferſüchtigen. Vergebens ſuchen die Wei - ber ihn zu beruhigen er tobt, und beſteht auf199 augenblicklicher Entfernung des Eindringlings. Die Gräfin verſucht in Ohnmacht zu fallen, aber Alles iſt vergebens; ſelbſt Joſephine, die ſchon vorher, bei Gelegenheit des Ehekontrakts, eine volle Börſe hinter dem Rücken ihrer Gebieterin erhielt, nimmt die Par - thei des Bramarbas, und dieſer, mit der einen Hand ſeine Dame zurückhaltend, ergreift endlich mit der andern den kleinen Unglücklichen und wirft ihn zur Thüre hinaus. Aber o weh! in demſelben Augen - blicke kömmt der Capitaine noch einmal zurück, um das vergeſſene Halsband zu bringen, und Fidêle fliegt in ſeine Arme. Die erſchrockenen Damen er - greifen die Flucht, die Männer meſſen ſich mit den Augen, Oconnor Mac Farlane ſtößt ſchreckliche Dro - hungen aus, aber der Capitaine zieht den Degen, und Bramarbas ſpringt zum Fenſter hinaus. Dies Skelett iſt mager; aber Luſtigkeit, Laune und Witz machten es höchſt unterhaltend. Die Unvollkommen - heit der Coſtüme vermehrten das Pikante, denn die Damen z. B. waren nur bis zur Mitte Männer, der Reſt blieb Dame, d. h. ſie hatten blos Rock und Weſte über ihre Kleider gezogen, und einen Hut auf - geſetzt; ihr Degen war eine Reitgerte, und Fidèle ein Muff.

Lady M .... erzählte mir nachher viel intereſſante Details über die berühmte Miß Oneil, die ich, wie Du weißt, für das größte dramatiſche Talent halte, das ich je zu bewundern Gelegenheit gehabt. Sie ſagte, daß dieſe, von Anfang an, mit dem erhaben -200 ſten Genie begabte Künſtlerin, am hieſigen Theater, wo ſie lange ſpielte, ganz vernachläßigt blieb, ja faſt für nichts geachtet wurde! dabei war ſie ſo arm, daß ſie, wenn ſie, nach angeſtrengtem Spiel, Abends zu Haus kam, dort nichts zur Erfriſchung, als eine Schüſſel Kartoffeln fand, und ein elendes Bett, das ſie mit drei Geſchwiſtern theilte. Lady M .... be - ſuchte ſie einmal, und fand das arme Mädchen ihre zwei paar alten Strümpfe ſtopfen, die ſie täglich wuſch, um darin reinlich auf dem Theater erſcheinen zu können. Lady M .... verſchaffte ihr hierauf aller - lei Kleidungsſtücke, und nahm ſich überhaupt ein wenig ihrer Toilette an, die bisher in allen Stücken, wo ſie ſpielte, ganz vernachläßigt worden war. Seit - dem erhielt ſie etwas mehr, doch nur geringen Bei - fall. Um dieſe Zeit kam zufällig einer der Direktoren der Londner Theater nach Dublin, ſah ſie, und enga - girte ſie, als ein beſſerer Kenner, ſogleich für die Hauptſtadt. Hier machte ſie ſchon beim erſten Er - ſcheinen furore, und ward im Augenblick, von einem ungekannten armen Schauſpielermädchen, das, ganz England überſtrahlende, erſte Geſtirn an ſeinem Theaterhimmel. Noch immer erinnere ich mich mit Entzücken ihrer Darſtellungen in London. Nie habe ich ſeitdem die Rolle der Juliet, von einer andern Schauſpielerin, ſelbſt unſern beſten, ertragen können. Alles ſchien mir nur Manier, Affektation, Unnatur. Man mußte ſehen, wie in den wenigen Stunden ſich das ganze Leben der Shakeſpear’ſchen Juliet ſo naturwahr vor den Zuſchauern abſpann. Zuerſt er -201 blickle man allein das harmloſe, jugendlich fröhliche, unbefangene tändelnde Kind; dann, wie die Liebe er - wachte, ſchien eine neue Sonne über ſie aufzugehen, alle ihre Bewegungen wurden üppiger, ihre Miene ſtrahlender, es war die, mit allem Feuer des Südens, ſich ganz dem Geliebten hingebende Jungfrau. So erſchloß ſie ſich in der lieblichſten, reichſten Blüthe aber Sorge und Unglück reifte bald vor unſern Au - gen die edle Frucht. Impoſante Würde, die höchſte Zärtlichkeit für den Gemahl, der feſteſte Entſchluß in der Noth, nahm jetzt die Stelle der glühenden Lei - denſchaft ein, des leichten, genußbegierigen Sinns und wie ward die Verzweiflung dargeſtellt, am Ende als Alles verloren! Wie furchtbar, wie herz - zerreißend, wie wahr, und dennoch immer ſchön, wußte ſie hier bis zum letzten Moment zu ſteigern! Ihrer Sache gewiß, erlaubte ſie ſich zuweilen bis an die äußerſte Grenze des Darſtellungsfähigen zu ſtrei - fen, was keine Andere hätte wagen dürfen, ohne in das Lächerliche zu fallen. Bei ihr wirkten jedoch grade dieſe Effekte, wie ein elektriſcher Schlag. Ihr Wahnſinn und Sterben in Belvedeira unter andern*)In: Venice preserved von Otway. A. d. H. hatte eine ſo ſchaudervolle phyſiſche Wahrheit, daß der Anblick kaum zu ertragen war, und doch blieb es immer nur der Seelenſchmerz, durch den körper - lichen auf’s Höchſte veranſchaulicht, der ſo mächtig, ja vernichtend auf den Zuſchauer wirkte. Ich wenig -202 ſtens erinnere mich wohl, daß ich mich nach jenem Abend lange keinem ſinnlichen Eindruck mehr über - laſſen konnte,*)So erkläre ich mir das Wunder der Speiſung der 6000 Mann, beſſer wie Paulus (ich meine den Con - ſiſtorialrath). A. d. H. und noch den andern Morgen, als ich erwachte, heiße Thränen über Belvedeira’s Schick - ſal vergoß. Ich war allerdings damals ſehr jung, aber Viele theilten mein Gefühl, und es war auf - fallend, daß Deutſche, wie Franzoſen und Italiener, gleich enthuſiaſtiſch über ſie urtheilten, da man ſich doch ſonſt immer erſt an das Nationelle etwas ge - wöhnen muß, um von einem Schauſpieler ſich ganz befriedigt zu fühlen. Sie hatte aber keine Spur von Manier, es war nur das ächte und edelſte Men - ſchenbild, das wieder zum innerſten Menſchen ſprach. Man konnte ſie eigentlich nicht ſchön nennen, obgleich ſie eine edle Geſtalt, herrliche Schultern und Arme und ſchönes Haar hatte. Ihr Geſicht beſaß aber jenen undefinirbaren tragiſchen Ausdruck, der beim erſten Anblick die tiefſten Gefühle der Seele auf - wühlt. Man glaubt in ſolchen Zügen die Spur aller Leidenſchaften zu leſen, über welche dennoch überirdi - ſche Ruhe, wie eine Eisdecke über einen Vulkan, ge - breitet iſt.

Gegen ſo viel Genie und Talent waren die Du - bliner blind geblieben als aber das Jahr darauf,203 die berühmte, gefeierte, vergötterte Miß Oneil von London zurückkam, um einige Gaſtrollen zu geben war auch ſogleich der durch ſie verbreitete Zauber ſo groß, daß nicht nur das ganze Publikum ſich wie im Rauſch und Taumel befand, ſondern mehrere Da - men ohnmächtig hinausgetragen werden mußten, und Eine, über den Anblick der Raſerei Belvedeira’s wirklich närriſch wurde, und im Toll - hauſe ſtarb. *)Ohne Zweifel als Opfer der Nemeſis, für den frühe - ren Stumpfſinn der Uebrigen. A. d. H. Wahrlich, bei ſolchen Erfahrun - gen wird Einem der Enthuſiasmus der Menge faſt ekelhaft!

Dieſe große Schauſpielerin zeichnete ſich auch im - mer durch einen höchſt liebenswürdigen Charakter aus, und erhielt fortwährend allein ihre Familie, ſelbſt zur Zeit ihrer größten Dürftigkeit. Auf einem kleinen Privattheater in der Provinz war ſie zum erſtenmale aufgetreten. Dieſes ſollte geſchloſſen und dabei noch eine feierliche Vorſtellung, von den vor - züglichſten Dilettanten, gegeben werden, deren Ertrag für die Armen der Provinz beſtimmt war. Man ſchrieb an Miß Oneil nach England, und bat ſie, die hier zuerſt ihre Kräfte verſucht, auch die letzte Dar - ſtellung durch ihre, jetzt von allen drei Königreichen bewunderte Kunſt, zu verherrlichen; jede Bedingung die ſie mache, werde man eingehen. Miß Oneil er -204 wiederte, daß ſie ſich ungemein von dem Antrage ge - ſchmeichelt und geehrt fühle, aber weit entfernt, eine Belohnung für ſich anzunehmen, werde ſie mit Freu - den eine Gelegenheit ergreifen, der Wiege ihres ſchwa - chen Talents den ſchuldigen Tribut zu bringen. Nur unter dieſer Bedingung, und daß es ihr freiſtehen möge, auch ihren Beitrag für ihre armen Lands - leute beifügen zu dürfen, würde ſie am beſtimmten Tage eintreffen. Augenzeugen haben mich verſichert, daß ſie nie eine vollendetere Darſtellung geſehen, als die von Shakeſpear’s unſterblichem Meiſterſtück an dieſem Tage. Nie[wäre] Miß Oneil beſſer unterſtützt worden, und nie habe ſie ſich ſelbſt mehr übertroffen. Eine eigne Schickung war es, daß ſich an demſelben Tage ein ſehr reicher junger Baronet in ſie verliebte, und ſie ganz kurze Zeit darauf heirathete. Er be - ging einen großen Raub am Publikum, aber wer kann ihn deshalb verdammen! Miß Oneil hat jetzt mehrere Kinder, iſt noch immer reizend, wie man be - hauptet, lebt glücklich auf dem Landgute ihres Man - nes, hat aber nie mehr, weder eine öffentliche, noch eine Privatbühne betreten.

(Der Schluß dieſes Briefes, welcher, wie aus dem Anfang des Folgenden ſcheint, die Schilderung eini - ger öffentlichen Feſte und Vorfälle dabei enthielt, iſt abhanden gekommen.)

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Drei und vierzigſter Brief.

Liebe Julie!

Die Schilderungen der public dinners, und der albernen Perfidie des Sir Charles M haben nun ein Ende, und ich führe Dich dafür zu einem Frühſtück auf die Poſt, wo uns, nebſt einer Menge eleganter Damen, der Chef, der es gab, ein ſehr ge - bildeter und artiger Mann, Sir Edward Lee, vorher in den verſchiednen Bureaux herumführte, pour nous faire gagner de l’appetit. In einem derſelben, das der dead Letters (todten Briefe) genannt, ereig - nete ſich während unſres Daſeyns ein ſonderbarer Vorfall. Alle Briefe nämlich, auf denen die Adreſſe ganz unverſtändlich iſt, oder wo die Perſonen, an die ſie gerichtet ſind, nicht ausgemittelt werden können, kommen in dieſes Bureau, wo ſie ſchon nach vierzehn Tagen aufgemacht, und wenn ſie nichts Wichtiges enthalten, verbrannt werden. Mir ſcheint dies eine ziemlich barbariſche Mode, da wohl ein Herz davon206 zu Grunde gehen könnte, was einem Poſtoffizianten doch ohne Wichtigkeit ſchiene. Es iſt aber einmal ſo, und wir fanden drei Leute fleißig mit der Operation beſchäftigt. Mehrere von uns ergriffen neugierig ei - nige dieſer zum Opfer beſtimmten Briefe und durch - blätterten ſie, als der Beamte, neben dem ich ſtand, ein ziemlich ſtarkes Schreiben in die Hand bekam, auf dem ſich gar keine Adreſſe befand, ſondern blos der Poſtſtempel einer irländiſchen Provinzialſtadt. Wie groß war aber ſeine und Aller Verwunderung, als er beim Aufmachen zwar keine Buchſtaben, aber 2700 Pf. St. Banknoten in natura darin fand. Dies wenigſtens ſchien Allen wichtig, und es wurde ſogleich Ordre gegeben, nach jener Stadt zu ſchreiben, um die Sache[aufzuklären].

Als ich Abends meine Nachtigallen beſuchen wollte, fand ich ſie ausgeflogen und nur den Herrn Vater zu Hauſe, mit dem ich mich daher, feaute de mieux, wiſſenſchaftlich unterhielt. Er zeigte mir mehrere in - tereſſante, neu erfundene Inſtrumente, unter Andern Eins, das ſehr genau den Kraftgrad der Lunge an - giebt, und daher zur Erkenntniß ſchwindſüchtiger Krankheiten unſchätzbar ſeyn ſoll. Ein vornehmer hieſiger Beamter, erzählte Sir A , war an un - heilbarer Lungenſucht im vorigen Jahre von allen Aerzten Dublins aufgegeben worden. Seiner nahen Auflöſung ſelbſt entgegenſehend, war er im Begriff, ſein Amt aufzugeben, und nach Monpellier abzurei - ſen, um wo möglich den unvermeidlichen Tod noch einige Monate aufzuſchieben. Sir A. wurde zuletzt207 auch noch conſultirt, und kam auf den Gedanken, hier ſeine, eben von London angekommene, Maſchine zu verſuchen. Kaum traute er ſeinen Augen, als er bei dieſem Experiment fand, daß des Kranken Lunge zwei Grad mehr Kraft zeige als ſeine eigne, die ſich doch ungemein wohl befindet. Man erkannte nun eine Leberkrankheit, mit allen Symptomen des letzten Grades der Schwindſucht, und der Patient war in vier Monaten gänzlich geheilt, mit Beibehal - tung ſeines reichlich beſoldeten Amtes, das er auf - zuopfern ſchon im Begriff geweſen war. Eine andere ſehr compakte kleine Maſchine diente zum Aderlaſſen und Scarifiziren, als Magenpumpe, Ohrſprütze und Kl Spr alles zu gleicher Zeit. Man muß geſtehen, daß man das Compendiöſe nicht weiter trei - ben kann! Die übrigen Marter-Inſtrumente will ich Dir nicht beſchreiben, tant pis pour l’humanité, qu’il en faut tant! Anmuthiger erſchien mir ein Barome - ter, durch die Figur einer Dame dargeſtellt, die, bei Annäherung des ſchlechten Wetters, ihren Parapluie ergreift, bei ſtarkem Regen ihn aufſpannt, und bei beſtändiger Schönheit der Witterung ihn als Spazier - ſtock gebraucht. Eine Dame als ſtets wechſelnder Wetterprophet zu gebrauchen! Quelle isolence!

208

Sir A der eine Stelle bei der Bank bekleidet, zeigte mir dieſe am heutigen Morgen. Das Lokal iſt ſchön, und diente ehemals zum Verſammlungsort der beiden Häuſer des ſo ſehr zurückgewünſchten ir - ländiſchen Parlaments. Am ſehenswertheſten iſt die Druckerei der Banknoten. Eine prächtige Dampfma - ſchine treibt das Ganze, und eine zweite kleinere da - neben füllt auch die Keſſel mit Waſſer und die Oefen mit Kohlen, ſo daß hier für Menſchen beinahe nichts zu thun übrig bleibt. Im erſten Zimmer wird die Druckerſchwärze bereitet, in den nächſten Sälen er - halten die Banknoten, mit großer Schnelligkeit, ihre verſchiedenen Ornamente und Zeichen. Nur ein Mann iſt bei jeder Druckmaſchine beſchäftigt, und[während] er die leeren Papiere, Eins nach dem An - dern, unter den Stempel bringt, markirt ſich in ei - ner verſchloſſnen Büchſe daneben die Quantität der bedruckten Noten. Im nächſten Saal werden ſie numerirt. Dies geſchieht auf einem kleinen Kaſten, und die Maſchinerie in dieſem Behältniß numerirt von ſelbſt, wie durch unſichtbare Hände, von 1 100,000. Der dabei beſchäftigte Arbeiter hat nichts weiter zu thun, als die hervorkommenden Zahlen mit Druckerſchwärze zu betupfen, und die Noten in gehörige Ordnung zu legen. Das Uebrige verrichtet die Maſchine allein.

Jede Note, die nach der Ausgabe wieder zur Bank zurückkehrt, wird ſogleich zerriſſen, und dann noch209 ſieben Jahre aufgehoben, ehe man ſie verbrennt. Bei dieſer letzten Operation bildet ſich, aus dem Pa - pier und der eigens componirten Druckerſchwärze, ein Reſiduum von Indigo, Kupfer - und dem Pa - pierſtoff, welches wie Metall ausſieht, und glänzend alle Farben des Regenbogens ſpielt. Natürlich ge - hören viele Centner Noten zu einem Loth dieſer Subſtanz, von der ich mir ein ſchönes Stück ver - ſchaffte.

Nachher ſtiegen wir noch auf die, eine Welt im Kleinen bildenden Zinkdächer des großen Gebäudes hinauf, wo wir Trepp auf Trepp ab, gleich dem diable boiteux, zwar in verſchiedne andre Häuſer hineinſehen konnten, uns aber zuletzt ſelbſt ſo verirr - ten, daß wir kaum ohne Ariadne’s Faden wieder her - ausgekommen wären. Ich langte deshalb zu ſpät auf einem großen diné bei Sir E. L. an, eine Sache die man in England indeß nicht ſo übel aufnimmt, als bei uns.

Lord Howth hatte mich zu einer Hirſchjagd einge - laden, von der ich, ſo befriedigt als ermüdet, eben zurückgekommen bin. Meine Lectionen in Caſhel kamen mir heute gut zu ſtatten, denn Lord Howth iſt einer der beſten und determinirteſten Reiter in England. Man hatte mir ein ſehr gutes PferdBriefe eines Verſtorbenen. II. 14210gegeben, und ohngeachtet ich zweimal ſtürzte, was Lord Howth auch einmal arrivirte, folgte ich ihm ſo gut auf dem Fuße, daß ich unſrer Cavallerie keine Schande gemacht zu haben glaube. Zuletzt waren von den fünfzig Rothröcken mehr als Zweidrittheil verloren gegangen. Bemerkenswerth erſchien mir ein Offizier, der nur noch einen Arm hatte, und dennoch ſtets unter den erſten war, ohne daß ſein vortreffli - ches Pferd auch nur einen Sprung verſagt, oder mankirt hätte.

Von Zeit zu Zeit iſt dieſe Jagd ein hübſches Ver - gnügen; wie man aber jedes Jahr ſechs Monate hindurch, und wöchentlich dreimal, ſich dieſer, doch ſehr geiſtarmen, Unterhaltung widmen, und ſie im - mer mit gleicher Leidenſchaft treiben kann, bleibt mir unbegreiflich. Was überdem die Hirſchjagd in Eng - land für mich weit weniger angenehm macht, als anderswo, iſt, daß die dazu gebrauchten Hirſche nur zahme ſind, die man wie Rennpferde völlig dazu trainirt. In einen Kaſten geſperrt, werden ſie auf den Platz des Jagd-rendezvous gebracht, und dort erſt herausgelaſſen. Wenn ſie einen gehörigen Vor - ſprung haben, geht die Jagd an, und ehe man ſie endigt, werden die Hunde abgerufen, und das Thier wieder im Kaſten aufbewahrt. Iſt das nicht entſetz - lich proſaiſch, und kaum durch das Agrément aufge - wogen, daß man ſich den Hals über einen breiten Graben brechen, oder den Kopf an einer hohen Mauer einſtoßen kann?

211

Seit einigen Wochen beſuche ich oft die gymnaſtiſche Akademie, eine Beluſtigung, die in Großbritannien und Irland ſehr Mode geworden iſt. Gewiß, für die Erziehung der Jugend ſind dieſe Uebungen un - ſchätzbar es iſt ein ſehr potenzirtes Turnen, aber ohne Politik. Wenn man bedenkt, welche Mittel jetzt für phyſiſche, wie geiſtige Erziehung zu Gebote ſtehen, wie ſelbſt die Mißgeſtaltetſten, in Eiſenſchie - nen geſpannt, zu Apollo’s umgeſchaffen, wie Naſen und Ohren creirt, und täglich in den Zeitungen Er - ziehungsanſtalten angeprieſen werden, wo man die gründlichſten Gelehrten in drei Jahren zu bilden ver - ſpricht,*)Bildet doch das preußiſche Landwehr-Syſtem auch vollkommene Soldaten zu Roß und zu Fuß in zwei Jahren. A. d. H. ſo möchte man gleich ſelbſt wieder ein Kind werden, um auch ſeinen Theil davon zu be - kommen. Es ſcheint, das Geſetz der Schwerkraft wirke im Moraliſchen wie im Phyſiſchen, und die Kultur (the march of intellect) vermehre ſich jetzt in ſteigender Progreſſion, wie die Schnelligkeit einer fallenden Kugel. Nur noch ein Paar politiſche Umwäl - zungen in Europa, gänzliche Vervollkommnung des Dampfweſens für Seele und Körper, und Gott weiß wo wir, ſelbſt ohne die Direktion des Luftballons gefunden zu haben, noch hingelangen? Doch um auf14*212das Gymnaſium zurückzukommen, ſo iſt deſſen Nützlichkeit wenigſtens unbezweifelt. Es kräftigt die Natur ſo ſehr, und verſchafft dem Körper ſolche Ge - wandtheit, daß man dadurch ſeine Exiſtenz wahrhaft verdoppelt, und verdreifacht. Selbſt im wörtlichen Sinne genommen, iſt das wahr, denn ich ſah einen jungen Mann, deſſen Bruſt, nach ununterbrochen fortgeſetzter dreimonatlicher Uebung, ſieben Zoll in ihrer Wölbung zugenommen hatte. Die Muskeln der Arme und Schenkel treten dabei wie hartes Eiſen in dreifachem Volumen hervor. Aber auch ältere, ja ſechszigjährige Leute, wenn ſie gleich nicht dieſelben Vortheile erlangen können, ſind immer noch im Stande, ſich durch mäßige Uebung im Gymnaſio ſehr bedeutend zu kräftigen. Ich fand täglich Meh - rere von dieſem Alter, die es ſehr gut mit den Jün - gern aufnahmen, welche erſt kurze Zeit den Unter - richt genoſſen hatten. Es gehört aber einige Aus - dauer dazu, denn je älter man iſt, je ſchmerzlicher und ermüdender iſt der Anfang. Manche fühlen ſich Monate lang davon wie gerädert, oder mit einem allgemeinen Rheumatismus behaftet. Ein Franzoſe dirigirt jetzt das Ganze, nachdem ſein Vorgänger ſich vor zwei Jahren pro patria geopfert hatte. Die - ſer Mann, mit Namen Beaujeu, wollte zweien Damen (denn auch für weibliche Gymnaſten dient die Anſtalt) zeigen, wie leicht das Exercitium Nr. 7 ſey. Die Stange brach, und er beim Herabfallen das Rückgrat. Schon nach wenigen Stunden ſtarb er, und mit einer Begeiſterung, die einer größeren Sache213 würdig geweſen wäre, ſtieß er blos die klagenden Worte aus: Voilà le coup de gráce pour la Gym - nastique en Irlande! Seine Befürchtung iſt jedoch nicht in Erfüllung gegangen, denn Herren und Da - men ſind gymnaſtiſcher geſinnt als je.

Da ich dieſe Tage über unwohl war, und nicht ausgehen konnte, ſo bin ich nicht im Stande, Dir irgend etwas Intereſſantes zu melden. Nimm da - her mit einigen detachirten Gedanken vorlieb, wie ſie die Einſamkeit gebiert, oder laß ſie auch, wenn ſie Dich langweilen, ungeleſen.

Stuben-Philoſophie.

Was iſt Glück und Unglück? Da mir das erſte nicht viel zu Theil ward, ſo habe ich mir die Frage oft aufgeworfen. Blind und zufällig iſt es gewiß nicht, ſondern nothwendig und folgerecht, wie alles Andere in der Welt, obgleich die Urſachen deſſelben nicht immer von uns abhängen. In wie fern wir aber es wirklich ſelbſt herbeiführen, wäre für Jeden eine ſehr heilſame Unterſuchung. Glückliche und[un - glückliche] Gelegenheiten bieten ſich im Laufe des Le - bens wohl Jedem dar, und dieſe geſchickt zu benutzen oder abzuwenden, iſt, in der Regel, das, was dem Menſchen überhaupt den Ruf eines Glücklichen oder214 Unglücklichen verſchafft, aber man kann doch nicht läugnen, daß bei manchen Menſchen, durch das, was wir Zufall nennen, fortwährend die kräftigſten und klügſten Combinationen ſcheitern, ja es giebt ſogar eine gewiſſe Ahnung, die uns im Voraus, entweder beim verwickeltſten Zutrauen, oder auch beim an - ſcheinbar leichteſten ſchon das dunkle Gefühl giebt, daß es dennoch nicht gelingen werde. Manchmal bin ich verſucht, zu glauben, daß Glück und Unglück blos eine Art ſubjektiver Eigenſchaften ſind, die man mit auf die Welt bringt, wie Geſundheit,[Körper - ſtärke], beſſer organiſirtes Gehirn u. ſ. w. und deſſen überwiegender Kraft ſich, wo es da iſt, die Umſtände magnetiſch fügen müſſen. Wie alle Eigenſchaften, kann man auch dieſe ausbilden oder ſchlafen laſſen, vermehren oder vermindern. Der Wille thut dabei viel drum ſagt man: wagen gewinnt, und Kühn - heit gehört zum Glück. Man bemerkt zugleich, daß das Glück in der Regel, wie andere Sinne, mit den Jahren, d. h. mit der Kräftigkeit des Materiellen abnimmt. Es iſt dies durchaus nicht immer die Folge von ſchwächeren oder ungeſchickteren geiſtigen Maßregeln, ſondern ſcheint wirklich das Ergebniß einer geheimnißvollen Fähigkeit an ſich zu ſeyn, die, ſo lange ſie jung und ſtark iſt, das Glück bannt, ſpäter aber es nicht mehr zu halten im Stande iſt. Beim großen Spiel macht man hierüber ſehr gute Studien, und es iſt dies zugleich die einzige poeti - ſche Seite dieſer gefährlichen Leidenſchaft, die oft ſehr anziehen kann, da nichts ein ſo treues Bild des Le -215 bens giebt, als das hohe Hazard-Spiel, nichts ſo - gar eine beſſere Maßgabe für den Beobachter, um ſeinen eignen und den Charakter Anderer zu ergrün - den. Alle Regeln, die im Kampf des Lebens gelten, gelten auch in dieſem, und die Einſicht mit Charak - ter-Stärke verbunden, iſt jedenfalls ſicher, wenn nicht zu ſiegen, doch ſich mit Erfolg zu vertheidigen. Iſt ſie aber mit der Glücksfähigkeit gepaart, ſo wird ein Spiel-Napoleon daraus, ein Eroberer am Pharao - Tiſche! Von den filous, qui corrigent la fortune, ſpreche ich nicht. Aber auch hier bleibt das Gleich - niß treu, denn wie oft begegneſt Du nicht in der Welt Solchen, die das Glück bannen durch Betrug beiläufig geſagt, die unglücklichſten aller Speku - lanten. Ihre Beſchäftigung iſt das wahre Waſſer - ſchöpfen mit einem Sieb, das Aufſammeln ſtets leerer Nüſſe. Denn was iſt Genuß ohne Sicherheit, und wie kann äußeres Glück helfen, wo das innere Gleichgewicht fehlt!

Es giebt Menſchen, die, obgleich mit ausgezeichne - ten Geiſteseigenſchaften begabt, doch damit nicht in der Welt fortzukommen wiſſen, wenn ſie nicht durch das Schickſal von Hauſe aus an ihren wahren Platz geſtellt worden ſind. Mit eignen Kräften wiſſen ſie dieſen nie zu erreichen, weil eine zu weibliche Phan - taſie, in die ſich fortwährend fremde Formen ein - drücken, ſie verhindert, die Wirklichkeit zu ſehen, wie216 ſie iſt, und ſie ewig nur unter ſchwankenden Bildern leben läßt. Mit Feuer und Geſchick beginnen ſie zwar ihre Pläne, aber noch ſchneller verfolgt dieſel - ben ihre Phantaſie auf dichteriſchem Roß, und führt ſie ohne Verzug im Traumreiche ſo glänzend und genügend an das Ziel, daß ſie die langſamen Müh - ſeligkeiten des wirklichen Weges nachher nicht mehr überſtehen mögen. So laſſen ſie denn ein Projekt nach dem andern freiwillig fallen, ehe es zur Reife gedieh. Wie Alles in der Welt hat jedoch auch dieſer nachtheilige Zuſtand ſeine Kehrſeite. Er verhindert zwar daran, ſein Glück zu machen, wie man es zu nennen pflegt, giebt aber einen unermeßlichen Troſt im[Unglück], und eine Elaſtizität des Gemüths, die nichts ganz vernichten kann, denn das Reich Genuß - ſpendender Phantaſie-Bilder bleibt zu jeder Zeit un - erſchöpflich. Eine ganze Stadt ſpaniſcher Schlöſſer ſteht Sterblichen dieſer Art immer zu Gebot, und ſie genießen mit der Hoffnung, im ewigen Wechſel, unzähliche Wirklichkeiten im Voraus. Solche Leute können bei alle dem, für Andere, Beſonnenere, mehr Praktiſche, oft als die größten Hülfsmittel dienen, wenn dieſe den Enthuſiasmus jener zu erregen verſtehen. Ihr Scharfſinn erhält dann durch eine poſitive, ſie beherrſchende Zuneigung, und daraus entſtehendem Zwang, die Ausdauer, welche das eigne Intereſſe ihnen nicht geben kann, und ihr Eifer iſt bleibender für Andere als für ſich. Aus demſelben Grunde wird, wenn eine höhere Macht ſie gleich Anfangs auf des Berges Spitze geſtellt, auch217 Großes von ihnen ſelbſt ausgehen können, denn in dieſem Falle iſt ihnen der mannichfaltigſte großartige Stoff, und mit ihm der Enthuſiasmus, deſſen ſie bedürfen, ſchon gegeben und fixirt. Es iſt auch nichts völlig Neues, Schwankendes, Ungewiſſes erſt zu gründen, das unter ihnen Liegende nur mit künſtleriſchem Scharfſinn aufs Höehſte zu benutzen, zu verbeſſern, zu erheben, zu verſchönern. Hier wird dann ihr genialer Blick, von tauſend ausfüh - renden Köpfen und Händen unterſtützt, und durch das innere poetiſche Auge gekräftigt, von der Höhe, ihrem eigentlichen Element, weiter tragen, als der gewöhnlicher Naturen. Am Fuße und Rande des Berges aber hilft ihnen die Schärfe dieſes Blickes nichts, weil ihr Horizont dort verdeckt iſt, und hin - auf, zum mühvollen Klimmen, tragen die indolen - ten Glieder ſie nicht, noch können ſie den gaukelnden Geſtalten widerſtehen, die ſie unterwegs bald dahin, bald dorthin, von ihrem Pfade verlocken. Sie leben und ſterben daher am Berge, ohne je ſeinen Gipfel zu erreichen, folglich ihrer eignen Kraft ganz inne geworden zu ſeyn. Bei einem Menſchen dieſer Art kann man das bekannte Wort umdrehen, und mit Recht ſagen: Tel brille au premier rang, qui s’celipse au second.

218

So ſchön und herrlich die Worte Moral und Tu - gend lauten, praktiſch heilſam für das irdiſche Wohl der menſchlichen Geſellſchaft wird doch nur die allgemeine klare Erkenntniß derſelben als das Nütz - liche ſeyn. Wer wirklich einſieht, daß der Sündi - gende dem Wilden gleicht, welcher den ganzen Baum umhaut, um zu einer einzigen, oft ſauren, Frucht zu gelangen, der Tugendhafte aber, wie der verſtän - dige Gärtner handelt, der, die Reife abwartend, die ſüßen Früchte alle pflückt, mit dem frohen Bewußt - ſeyn, daß er deshalb den Baum an keiner folgenden Erndte verhindert habe deſſen Tugend wird wahrſcheinlich die ſicherſte bleiben. Je erleuchteter alſo die Menſchen im Allgemeinen über das find, was ihnen frommt, deſto frommer, d. h. beſſer und milder müſſen auch ihre Sitten, unter und ge - geneinander ſelbſt, werden. Dann wird auch bald die Wechſelwirkung im wohlthätigen Zirkel gehen nämlich aufgeklärtere Individuen eine beſſere Ver - faſſung und Regierung gründen, und dieſe wiederum die Aufklärung der Einzelnen vermehren. Käme es nun endlich dahin, daß eine ſolche vernunftgemäße höhere Erziehung uns von den Chimären unklarer Zeiten[gänzlich] befreite, Religionszwang unter die Abſurditäten verwieſe, Liebe und Tugend aber, als eine zur glücklichen Exiſtenz der menſchlichen Geſell - ſchaft innern und[äußern] Nothwendigkeit, klar er - kennen ließe, zugleich aber durch weiſe und feſte po - litiſche Inſtitutionen, aus dieſer Ueberzeugung ent - ſproßen, auch zur fortwährenden Beibehaltung der -219 ſelben durch heilſame Gewohnheit, gewiſſermaßen zwänge ſo wäre das Paradies gefunden.

Die bloßen Strafgeſetze für hier und dort, ohne dieſe innere Ueberzeugung, alle weltliche Politik, im Sinne geſchickter Gauner; alle Propheten, göttlich - menſchliche Extra-Offenbarungen, Himmel, Hölle und Prieſter werden es aber ſchwerlich ſo weit bringen, ja ſo lange dieſe in den Speichen hängen, möchte das Rad der[Aufklärung] ſich nur gar ſchwierig und langſam umdrehen. *)Es iſt der Bemerkung werth, daß zu der Zeit, als ewige Höllenſtrafen am aufrichtigſten geglaubt wurden, es mit der Moralität am ſchlechteſten ſtand, und die Zahl grober Verbrechen gegen jetzt tauſendfältig war. A. d. H. Daher arbeiten auch ſo Viele mit allen Kräften einem ſolchen Reſultat entgegen, ja ſelbſt Proteſtanten proteſtiren rückwärts, und Manche möchten ſogar eine neue Continental-Sperre etabliren, gegen fremde Lichtſtrahlen.

Uebrigens kann man Niemand verdenken, quil prêche pour sa paroisse. Von einem engliſchen Erzbiſchof mit 50,000 Lſt. Revenuen z. B. zu ver - langen, daß er aufgeklärt ſeyn ſolle, wäre eben ſo abgeſchmackt, als vom Schach von Perſien zu erwar - ten, daß er ſich aus eigner Neigung zum konſtitutio - nellen Monarchen umſchaffe. Wenig Individuen werden freiwillig verſchmähen, eine reiche und pracht - volle Sinecure zu genießen, bei der nichts weiter220 von ihnen verlangt wird, als den Leuten ein wenig Staub in die Augen zu ſtreuen, oder ein Deſpot ſeyn zu dürfen, der blos nach ſeiner Laune Millio - nen dirigirt. Die Sache der menſchlichen Geſell - ſchaft iſt es aber, es wo möglich ſo einzurichten, daß wir Alle, auch mit dem beſten Willen dazu, eine ſolche Sinecure weder erlangen, noch ſolche Deſpoten werden können.

Sonſt, als Kind, geſchah es mir oft, daß ich keine Ruhe über das Schickſal Hannibal’s finden konnte, oder in Verzweiflung über die Schlacht von Pultava war; heute jammerte ich über Columbus! Wir ſind dem geiſtreichen Amerikaner Waſhington Irving viel Dank für dieſe Geſchichte ſchuldig. Es iſt ein ſchö - ner Tribut, dem großen Seefahrer aus dem Lande dargebracht, das er der civiliſirten Welt geſchenkt, und das beſtimmt ſcheint, die letzte Station zu ſeyn, die der Cyclus menſchlicher Perfektibilität durchläuft.

Welch ein Mann, dieſer erhabne Dulder! der zu groß für ſeine Zeit, ihr vierzig Jahre lang nur als ein Narr erſchien, und den Reſt ſeines Lebens ihrer Feindſchaft preis gegeben war, der er auch zuletzt in Noth und Kummer unterliegen mußte! Aber ſo iſt die Welt, und es wäre darüber ſelbſt närriſch zu werden, wenn man ſich nur beim Einzelnen auf - hielte, und uns Nachdenken nicht bald belehrte: daß221 für die weiſe Natur, das Individuum nichts, die Spezies Alles iſt. Wir leben für und durch die Menſchheit und in ihrem großen Ganzen compen - ſirt ſich auch Alles. Dies kann jeden Vernünftigen vollkommen beruhigen, denn jede Saat geht auf, wenn gleich nicht immer für dieſelbe Hand, die ſie in die Erde legte, doch ſchlimme wie gute, der Menſchheit geht keine verloren. Und was iſt der Zweck von Allem? Leben ewig alt und ewig neu, an dem auch wir immer fort Theil haben. Darum behaupte ich: was iſt, kann nur vollkommen und nothwendig ſeyn, ſonſt wäre es nicht. Was geſchieht, muß geſchehen, nicht weil es Willkühr ſo vorher beſtimmt, wie die Fataliſten annehmen, ſon - dern weil die Kette der Folgen nothwendig aus der Kette der Urſachen entſpringen muß. Relativ, und in den einzelnen Verhältniſſen des Weltall-Lebens entſchwindet jedoch dieſe eiſerne Nothwendigkeit dem Auge, und giebt tauſend ungewiſſen Beziehungen Raum, ohne die das ganze Lebensſpiel ja gleich zu - ſammenfiele. Es hat dies die größte Aehnlichkeit mit den Werken der Kunſt, oder iſt vielmehr ihr Vor - bild. Lear auf dem Theater, jeder Held, den der wahre Dichter uns vorführt, ergreift uns tief, und vielleicht mehr, als er es in der Wirklichkeit thun würde, und doch wiſſen wir, alles was wir ſehen und hören, ſey Täuſchung. Der Ausdruck: das Thea - ter der Welt, hat einen tiefern Sinn, als man ſich gewöhnlich dabei denkt, und Alles was lebt, ſpielt in Wahrheit: eine göttliche Komödie!

222

Daß eine gewiſſe, nöthige Täuſchung unſer wirk - liches Element ſey, wenigſtens die Bedingung unſres irdiſchen Lebens, zeigt ſich in Allem. Wir ſehnen uns nach der Vergangenheit, ſchwelgen in Bil - dern der Zukunft und kennen keine Gegenwart. Das einzig Wahre der Geiſt bildet freilich den unſichtbaren Kern, und an ihm bildet ſich die bunte Scheinfrucht des Lebens aus. So bleibt es bei Goethe’s tiefem Wort Wahrheit und Dichtung Geiſt und Erſcheinung.

Was mich oft und bitter verdrießen kann, iſt, die Leute über das elende Leben hier klagen, und die Welt ein Jammerthal nennen zu hören. Dies iſt nicht nur die himmelſchreiendſte Undankbarkeit (menſch - lich geſprochen) ſondern auch die wahre Sünde gegen den heiligen Geiſt. Iſt nicht offenbar Genuß und Wohlſeyn durch die ganze Welt der poſitive Normal - Zuſtand, Leiden, Böſes, Verkrüppeltes nur die nega - tive Schattenſeite? Iſt nicht das Leben ein ewiges Feſt für das geſunde Auge, im Anſchauen deſſen und ſeiner Herrlichkeit, man anbetend ſelig werden kann! Und wäre es nur der tägliche Anblick der Sonne und der mächtigen Sterne Glanz, der Bäume Grünen und Blüthen, und der tauſend Blumen Schmelz, der Vögel Jubelgeſang und aller Geſchöpfe üppige Fülle und reiche Sinnenluſt es[wäre] ſchon viel, um ſich des Lebens zu freuen aber welches mehr wunder -223 bare Reich entfaltet in unerſchöpflichen Schätzen unſer eignes Gemüth, welche Fundgruben öffnet Liebe, Kunſt, Wiſſenſchaft, die Beobachtung und die Ge - ſchichte unſres eignen Geſchlechts, und in der tiefſten Tiefe, das fromme, ahnende Anſchauen Gottes und ſeines Weltalls! Wahrlich, wir wären nicht ſo un - dankbar, wenn wir weniger glücklich wären, und Leiden bedürfen wir oft nur zu ſehr, um dies recht gewahr zu werden. Man könnte die Dispoſition da - zu unſern ſechsten Sinn nennen, durch den wir das Glück erkennen. Wer davon recht überzeugt iſt, der wird zwar immer noch zuweilen klagen, gleich andern unbeſonnenen Kindern, ſchneller aber zur Beſinnung kommen, denn das innige Gefühl des Glückes: zu leben, ruht wie ein roſiger Grund in ſeinem Innern, von dem auch die ſchwärzeſten Figuren, welche das Schickſal darauf erſcheinen läßt, wie die Adern vom Blute, ſanft durchſchimmert werden.

Paradoxen meines Freundes B. H.

Ja gewiß, der Geiſt waltet in uns, und wir in ihm, und iſt ewig, und derſelbe, der durch alle Wel - ten waltet aber das, was wir unſre menſchliche Seele nennen, das ſchaffen wir hier uns ſelbſt. Das ſcheinbare Doppelweſen in uns, wovon das Eine dem Sinnen-Impuls folgen will, das Andere224 darüber reflectirt und jenes zurück hält, entſteht ſchon ganz natürlich aus der, ſo zu ſagen, doppelten Natur und Beſtimmung des Menſchen,[nämlich], in - dem er zugleich als Individuum, und auch als ein integrirender Theil der Geſellſchaft leben ſoll und muß. Zur letztern Exiſtenz war die Gabe der Sprache nöthig, oder ſie konnte gar nicht ins Leben treten, nicht werden. Der einzelne Menſch, iſolirt hinge - ſtellt, iſt durchaus, und bleibt, nichts als das mit dem beſten Intellekt begabte Thier; er hat nicht mehr Seele als dieſes. Der Verſuch kann noch täg - lich wiederholt werden. So wie dieſer Menſch aber gemeinſchaftlich mit andern zu leben anfängt, und durch Sprache ein Austauſch von Wahrnehmungen möglich wird, erkennt er bald, daß der Einzelne ſich zu ſeinem eignen Beſten dem Ganzen, der Geſell - ſchaft, zu der er mitgehört, unterordnen, für deren Beſtehen Opfer bringen muß, und hier erſt, könnte man ſagen, entſteht die Eſſenz der Seele, das Mo - ralprinzip. Das Gefühl ſeiner Schwäche und Un - wiſſenheit gebiert zugleich die Religion, das Gefühl Andrer zu bedürfen, die Liebe. Eigennutz und Hu - manität treten nun in jenen fortwährenden Anta - gonismus, den man, ich weiß nicht warum, das un - erforſchliche Räthſel des Lebens nennt, da mir der ausgeſprochnen Anſicht gemäß, nichts folgerechter und natürlicher erſcheint. Die Aufgabe für den Men - ſchen wird demnach nur ſeyn, zwiſchen beiden Po - len das gehörige Gleichgewicht herzuſtellen. Je vollſtändiger dies erreicht wird, je wohler befindet225 ſich fortan der Menſch, die Familie, der Staat. Das Extrem, auf einer oder der andern Seite, iſt nachtheilig. Das Individuum, welches ſich egoiſtiſch allein gelten laſſen will, unterliegt der Gewalt der Mehrheit die romanhafte Schwärmerei, welche ſelbſt verhungert um Andere zu[ernähren], wird zwar von den Menſchen, die jedes ihnen gebrachte Opfer billig bewundern, zuweilen aber auch nur belachen, edel oder närriſch genannt werden, demohngeachtet aber nicht allgemein zu beſtehen im Stande ſeyn, und daher auch nie eine Norm der Nachahmung, eine Pflicht, werden können. Märtyrer, die ſich für die heilige Zahl drei braten, oder zur Ehre Bra - ma’s, die Nägel der einen Hand durch die andere wachſen laſſen, gehören zu derſelben Klaſſe, wiewohl zu der niedrigſten Stufe derſelben, und erhalten ebenfalls, nach der Beſchaffenheit der jedesmaligen Anſicht, die verſchiedenen Namen von Heiligen oder Wahnſinnigen, bleiben aber, in jedem Fall, nur Ab - normitäten. Nicht daß ich damit in Abrede ſtellen wollte, daß eine vernunftgemäße Verläugnung und das Opfer ſeiner ſelbſt zum Beſten Anderer, etwas Schönes und Erhabnes ſeyn könne. Keineswegs, es iſt dann allerdings ein ſchönes, d. h. ein der Menſchheit wohlthätiges, Beiſpiel vom Siege des geſellſchaftlichen Prinzips über das individuelle, wel - ches eben ſo gut vorkommen muß, als ſein nur all - zuhäufiger Gegenſatz in denen, die nur ſich im Auge behalten wollen, und ſo endlich ſchonungs - und mitleidsloſe Verbrecher werden, die der Geſell -Briefe eines Verſtorbenen. II. 15226ſchaft einen ewigen Krieg erklären. Da wir indeſſen, von Hauſe aus, uns ſelbſt immer ein wenig näher ſtehen als der Geſellſchaft, (weil zu unſrem Beſtehen das Naturgeſetz der Selbſterhaltung das ſtärkſte ſeyn muß) ſo ſind Egoiſten häufiger als Humane, mehr Sünder wie Tugendhafte. Die Erſteren ſind die wahrhaft Rohen, die zweiten nur, die Gebilde - ten (beiläufig eine Lehre für alle Regierungen, die im Dunkel herrſchen wollen). Da aber auch bei dem Gebildeteſten immer noch eine rohe Unterlage blei - ben muß, gleich wie der beſtpolirteſte Marmor, wenn er unter der Politur abgebrochen wird, wieder gro - bes Korn zeigt, ſo kann auch die Humanität ſelbſt nicht verläugnen, daß ſie aus Egoismus hervorge - wachſen, ja eigentlich nichts iſt, als ein auf die ganze Menſchheit ausgedehnter Egoismus. Wo ſich dieſer Letztere daher, ſelbſt einſeitig, d. h. in Bezug auf den Nutzen des Individuums allein, auf eine ſehr großartige Weiſe ausbildet, erzwingen ſolche Sterbliche, große Männer und Eroberer genannt, die Bewunderung ſelbſt derjenigen, die ihr Verfahren mißbilligen; ja die Erfahrung lehrt uns, daß ſie, deren Nichtachtung des Wohles Anderer eine unge - heure Zahl von irdiſchen Leiden ihren Mitbrüdern aufbürdete, dennoch, weil ſie dabei eine ſehr große und überwiegende, vom Glück begünſtigte, herr - ſchende Kraft an den Tag legten, ſtets hoch von der durch ſie leidenden Menſchheit verehrt wurden. Hier zeigt ſich alſo wieder, was ich früher ſagte, daß Nothwendigkeit und Furcht die erſten Keime in227 der menſchlichen Geſellſchaft ſind, daher auch die[mächtigſten] Hebel in allen Verhältniſſen bleiben, und Kraft zuletzt immer am allermeiſten imponirt. Alexander und[Cäſar] erſcheinen größer in der Ge - ſchichte als Hor. Cocles und Regulus, wenn auch die Geſchichte der Letzteren keine Fabel[wären]. Un - eigennützigkeit, Freundſchaft, Nächſtenliebe, Groß - muth, entwickeln ſich in der Regel erſt[ſpäter], und als ſeltnere Blumen mit feinerem, und ſchon raffi - nirterem Duft, eben ſo wie für die Spekulation ſich zuletzt die höchſte Kraft nur im Ideal des Guten zeigt, und Aufopferung zuletzt für das Individuum ſelbſt, höchſter Genuß wird. Ein anderer, wie mir däucht, ſchlagender Beweis, daß, was wir Moral nennen, nur aus dem Geſellſchaftsleben hervorgehe, iſt meines Erachtens, daß wir noch heute kein ſol - ches Prinzip, in Bezug auf andere Geſchöpfe anzu - erkennen ſcheinen. Wir würden, wenn wir könnten, zum Behuf unſrer Wiſſenſchaft, uns unbedenklich ei - nen Stern zur Inſpektion herunterlangen, und mit einem Engel in unſrer Gewalt nicht viel Um - ſtände machen, ſobald wir ihn nicht mehr zu fürch - ten hätten. Daß wir mit den Thieren (zum Theil auch noch mit den Negern) ganz als Egoiſten um - gehen, und ſchon ein hoher Grad von Cultur dazu gehört, um ſie nur nicht unnütz zu quälen, oder leiden zu laſſen, liegt am Tage. Ja was noch mehr iſt, Menſchen unter ſich ſelbſt, heben ſofort das poſitive Moralprinzip auf, ſobald eine, von ih - nen für competent angeſehene Macht, das Geſell -15*228[ſchaftsverhältniß] partiell aufhebt. So wie der Krieg erklärt iſt, mordet der tugendhafteſte Soldat ſeinen Mitbruder ex officio, wäre es auch nur im gezwun - genen Dienſt eines Despoten, den er im Herzen für einen Abſchaum der Menſchheit anſieht. Oder der Pabſt entbindet, Kraft der Religion der Liebe, von allen Gefühlen der Treue, des Rechts, und der Menſchlichkeit. Sofort brennt, ſengt, mordet, lügt der Fromme con amore, und ſtirbt zufrie - den und ſelig, mitten in der Erfüllung ſeiner Pflicht, und zu Gottes Ehre!

Das Thier, welches nur für ſich zu leben beſtimmt iſt, kennt keine Tugend, und hat daher keine Seele, ſagt man mit Recht, dennoch bemerkt man im Haus - thiere, ohngeachtet des ſchwachen Grades ſeines Denkvermögens, in Folge ſeiner Erziehung und der Art von Geſelligkeit, in der es mit dem Men - ſchen lebt, auch ſchon eine ſehr ſichtliche Spur von Moralität, und wie nach und nach ein deutli - ches Gefühl für Recht und Unrecht bei ihm ent - ſteht. Man ſieht es uneigennützige Liebe fühlen, ja ſogar Opfer, ohne das Motiv der Furcht, brin - gen. Kurzum, es fängt an ganz denſelben Weg, wie der Menſch, zu gehen, ſeine Seele beginnt zu tagen, und hätten die Thiere die Facultät der Sprache, ſo wäre es wohl möglich, daß ſie eben ſo weit wie wir kämen. Da ſie uns aber an phyſiſchen Kräften überlegen ſind, ſo würde wahrſcheinlich der erſte Gebrauch, den ſie von ihrer neu erlangten Seele machten unſre Vernichtung ſeyn.

229

Das Beſte für uns[wäre], dahin zu kommen, uns zu ſehen wie wir ſind, und warum wir ſo ſind ohne Hypotheſen und Ueberſchwenglichkeiten dies iſt das einzige Mittel zu wahrer und dauernder Auf - klärung, und folglich zum wahren Glück. Hat die deutſche Philoſophie nicht einen etwas zu poetiſchen Weg[gewählt], und gleicht ſie nicht, ſtatt einem wohlthätig erleuchtenden und erwärmenden Feuer, mehr einer Girandole, die prachtvoll in tauſend Glüh - funken bis zum Himmel emporſteigt, ſich den Ster - nen zu aſſimiliren ſcheint, bald aber unter ihnen in Nichts verſchwindet. Wieviel excentriſche Syſteme dieſer Art haben, ſeit Kant bis Hegel, einen Augen - blick dort geglänzt, und ſind dann entweder ſchnell verſtorben, oder leben in Stücke geſchnitten, wie der Regenwurm, einzeln fortwuchernd weiter. Es iſt ſehr problematiſch, ob ſie der Geſellſchaft ſo viel praktiſchen Nutzen gewährt haben, als die jetzt ſo ſehr geringgeſchätzten franzöſiſchen Philoſophen, die ſich ans Nächſte hielten, und mit ihrem ſcharfen Operationsmeſſer für’s Erſte der poſitiv exiſtirenden Boa des kirchlichen Aberglaubens den Hauptnerv ſo ausſchnitten, daß ſie ſeitdem nur noch entkräftet umher ſchleichen kann. Ja, auch der Philoſoph ſoll durch ſeine Lehren ins Leben eingreifen (der Größte von allen Weiſen war eben ſo praktiſch als allgemein verſtändlich) und Männer, welche auf dieſe Weiſe aufklären, ſtehen gewiß in der Geſchichte[ - her], als die wunderbarſten der[erwähnten] Feuer - werker.

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Der wirkliche und einzige Gegenſtand der Philo - ſophie iſt ohne Zweifel Erforſchung der Wahrheit, NB. ſolcher Wahrheit die zu erforſchen iſt, denn die - ſes Beſtreben nur kann Früchte bringen. Etwas Unerforſchliches ſuchen, heißt leeres Stroh dreſchen. Der richtigſte Weg auf welchem man aber zu der auffindbaren Wahrheit gelangen mag, wird, meines Erachtens, heute noch wie zur Zeit des Ariſtoteles nur der der Erfahrung und Wiſſenſchaft bleiben. Später kann man wohl dahin gelangen, mit Recht ſagen zu dürfen: Weil das Geſetz ſo iſt, muß die Erfahrung meine Folgerung beſtätigen, aber nur auf dem Wege früherer Erfahrung hatte man doch erſt dieſes Geſetz gefunden. Lalande konnte daher ſehr wohl a priori behaupten, daß es ſich mit den Verhältniſſen gewiſſer Sterne ſo und nicht anders verhalten müße, obgleich dem Anſehen nach richtige Beobachtungen das Gegentheil zu beweiſen ſchienen, weil er die unwandelbare Regel ſchon wußte, aber ohne Newton’s fallenden Apfel u. ſ. w., d. h. ohne die frühere und fortgeſetzte Beobachtung einzelner Erſcheinungen der Natur, und hierdurch gefun - dene Wahrheiten, wären die Geheimniſſe des Him - mels uns noch ein Buch mit ſieben Siegeln.

Soll nun die Philoſophie die Wahrheit erforſchen, ſo muß ſie es gewiß vor Allen in Bezug auf den Menſchen verſuchen. Geſchichte der Menſchheit im weiteſten Sinne, und was daraus zum Behuf der Gegenwart und Zukunft abzuleiten iſt, wird alſo231 immer ihr Hauptvorwurf ſeyn. Nur in dieſer Rich - tung mag es uns dann fort und fort glücken, aus dem was geſchah und iſt, zu der Erkenntniß der Urſachen zu kommen, warum die Dinge ſich ſo und nicht anders geſtalteten, und von Factum zu Factum zurückgehend den Grund-Geſetzen uns zu nähern, hieraus aber auch die Norm für die Folge aufzufin - den. Muß nun auch die erſte Urſache alles Seyns unerforſchlich bleiben, ſo wäre es ja wohl hinläng - lich, wenn wir nur klar und deutlich ergründeten, was die[Kräfte] unſres Weſens[urſprünglich] wa - ren, was ſie ſchon geworden, und welcher Richtung ſie beim fernern Werden nachzuſtreben haben. Hier wird ſich nun vor allem der Gedanke aufdringen, daß nur im Element der Freiheit, beim ungehinder - ten Austauſch der Idee weitere Ausbildung gedeihen kann. Zu dieſem Behuf war ohne Zweifel die glück - lichſte Erfindung, von und für uns, die der Buch - druckerkunſt, lebendig geboren, weil die ſchon hin - länglich gereifte Stimmung der Menſchheit ſich ſo - gleich des unermeßlichen Hülfsmittels zu den größten Zwecken bedienen konnte. Sie allein hat es ſeitdem möglich gemacht, jene ungeheure Macht ins Leben zu rufen, der auf die Länge nichts mehr wird wider - ſtehen können: die allgemeine Meinung. Un - ter dieſer verſtehe ich nicht: den Wahn Vieler, ſon - dern die Meinung der Beſten, die ſich, indem ſie ein Organ gefunden, zu Allen zu dringen, am Ende Bahn brechen muß, um jeden Wahn zu[zerſtören]. Ohne die Buchdruckerkunſt gab es keinen Luther 232 und hat denn wirklich das Chriſtenthum bis zu die - ſer Epoche ſich Bahn brechen können, hatte es zur Zeit des[dreißigjährigen] Krieges, zur Zeit der engliſchen Maria, die ſchwangere Weiber verbrennen ließ, welche in den Flammen niederkamen, zur Zeit der Inqui - ſition, horribile dictu! ſchon die Sitten gemildert, die Menſchen barmherziger, ſittlicher, liebender ge - macht? Ich ſehe wenig Spuren davon. Freiheit der Preſſe war der große Schritt, der uns dem Zwecke allgemeiner Aufklärung in neuern Zeiten unendlich näher gebracht, und den Begebenheiten einen ſolchen Schwung gegeben hat, daß wir in einem Jahrzehend jetzt mehr erleben, als unſre Vorfahren in einem Jahrhundert. Nur die Maſſe der Einſicht, die hier - durch endlich herbeigeführt werden muß, kann der Menſchheit wahrhaft nützen. Zu jeder Zeit hat es große, vielleicht unübertreffbare, einzelne Men - ſchen gegeben, und obgleich ihre Wirkung auf das Ganze nicht verloren war, konnten ſie doch gewöhn - lich nur, gleich einem Meteor, eine momentane und partielle Helle verbreiten, die im Laufe der Zeiten ſchnell wieder verblich. Man nehme nur gleich das höchſte Beiſpiel, Chriſtus, der noch obendrein unter den möglichſt günſtigſten Umſtänden erſchien, wie unſer Gibbon ſo klar gezeigt hat. Wie viel Millio - nen nannten und nennen ſich nun nach ihm, und wieviel davon ſind wahre Chriſten? Er der freiſin - nigſte und liberalſte der Menſchen, mußte dem Des - potismus, der Verfolgung, der Lüge nun bald Jahr -233 tauſende zum Schilde dienen, und einem neuen Hei - denthume ſeinen hohen Namen leihen!

Alſo nur die Maſſe der Erkenntniß ſage ich, die Intelligenz welche eine ganze Nation durchdrungen hat, iſt im Stande, bleibende, ſolid und geſund er - wachſene Inſtitutionen zu begründen, durch die die Geſammtheit wie der Einzelne beſſer und glücklicher werden ſoll. Dahin aber eben ſtrebt jetzt die Welt. Politik in[höchſter] Bedeutung iſt die Religion unſrer Tage. Für ſie blüht der Enthuſiasmus der Menſch - heit, und ſoll es neue Kreuzzüge geben, für ſie allein werden ſie ſtatt finden. Die Vorſtellung konſtitutio - neller Kammern elektriſirt heut zu Tage mehr als die einer regierenden Kirche, und ſelbſt der Ruhm des Kriegers fängt an, vor dem des großen Staats - bürgers zu erbleichen.

Prüfet Alles, und nur das Beſte behaltet!

Aber nun trêve de bavardage. In den Bergen hätte ich Dich nicht mit ſo viel davon ennuyirt, in den düſtern Stadtmauern geht es mir wie Fauſt in ſeiner Studierſtube. Indeſſen ein Bischen Feuerluft iſt ſchon fertig. Ich breite den Mantel aus, und von Morgen an, ſoll wieder friſcherer Wind meine Segel ſchwellen. Doch überall, im Kerker wie unter dem blauen Himmel, bin und bleibe ich ewig Dein treuer herzergebner L ....

P. S. Dies iſt mein letzter Brief aus Dublin. Ich habe meinen Wagen einpacken, und nach S ....234 ſchicken laſſen, meine Engländer verabſchiedet, und werde mit einem ehrlichen irländiſchen Bedienten, unter dem bekannten nom de guerre, jetzt roman - tiſch über Bath nach Paris gehen, ohne mich zu übereilen, noch länger als nöthig aufzuhalten. Der Abſchied von Freunden und Freundinnen immer der ſchwerſte iſt ſchon genommen, und nichts[hält] mich mehr zurück.

[235]

Vier und vierzigſter Brief.

Theure und Treue!

Du nannteſt mich manchmal kindlich, und kein Lob - ſpruch gilt mir höher. Ja, dem Himmel ſey Dank, liebe Julie, Kinder werden wir Beide bleiben, ſo lange wir athmen, und wenn auch ſchon hundert Runzeln uns bedeckten. Kinder aber ſpielen gern, ſind zuwei - len ein wenig inconſequent und haſchen dabei immer nach Freude. C’est l’essentiel. So mußt Du mich beurtheilen, und nie viel mehr von mir erwar - ten. Wirf mir alſo auch nicht vor, daß ich ohne Zweck umherirre du lieber Himmel! hat doch Parry mit ſeinem Zweck dreimal vergebens nach dem Nordpol ſegeln müſſen, ohne ſeinen Zweck zu erreichen, hat doch Napoleon zwanzig Jahre lang Siege auf Siege gehäuft, um zuletzt in St. Helena zu verkümmern, weil er ſeinen Zweck früher zu gut erreicht hatte! Und was iſt überhaupt der Zweck der Menſchen? Keiner kann’s eigentlich recht genau ab -236 gegränzt angeben. Der oſtenſible iſt immer nur ein Theil davon, oft blos das Mittel zum Zweck, und der wahre ſelbſt ändert und motivirt ſich gar vielfach im Verfolg deſſelben. So ging es auch mir. Man hat aber auch Nebenzwecke, und oft werden dieſe, weil ſie beſſer munden, die Hauptſache. So ging es abermals mir. Au bout du compte bin ich zufrie - den, und was kann man mehr erreichen!

Neptun muß mich beſonders liebhaben, denn er hält mich jedesmal, wenn er mich in ſeine Gewalt bekömmt, ſo lange darin zurück als er kann. Der Wind war uns wieder grade entgegen, und blies mit der erbittertſten Heftigkeit. Auf dem Waſſer und auf den hohen Bergen wirkt meine Glücksfähigkeit ſehr ſchwach, denn faſt noch nie hatte ich günſtigen Wind auf dem Meer, und gar ſelten einen klaren Himmel, wenn ich ihm ſo viel tauſend Fuß näher kam.

Geſtern Abends um eilf Uhr verließ ich Dublin in einer Poſtchaiſe, bei einer ſchönen, hellen Mondnacht; die Luft war lau und milde wie im Sommer. Ich rekapitulirte ein wenig die vergangenen zwei Jahre, und ließ alles von Neuem die Revüe paſſiren. Das Reſultat mißfiel mir nicht. Ich habe zwar hie und da geirrt, aber finde mich im Ganzen feſter und klarer geworden. Im Einzelnen habe ich auch Einiges ge - wonnen und gelernt, meine phyſiſche Maſchine dabei nicht verſchlechtert, und endlich im Lebensatlas eine Menge intereſſanter Erinnerungsbilder niedergelegt. Friſchen Muth und Lebensluſt aber fühle ich zehnfach237 gekräftigt gegen den ſchwächlichen Seelenzuſtand ge - halten, in dem ich Dich verließ, und da dies mehr werth iſt, als äußere Dinge, ſo ſah ich, nach vollen - detem Selbſtverhör, der unbekannten Zukunft heiter entgegen, und ergötzte mich ſogleich behaglich an der Gegenwart. Dieſe beſtand vor der Hand in dem vollſten Jagen des halbbetrunkenen Poſtillons; denn einem hohen Meerdamme entlang, im blaſſen Mon - denlicht gings hop, hop, hop, dahin im ſauſenden Gallop bis wir einen ſehr eleganten Gaſthof in Howth erreichten, wo ich die Nacht ſchlief. Ein ſchö - ner, ungeheurer New Foundland Hund leiſtete mir Abends beim Theetrinken Geſellſchaft, und frühſtückte am andern Morgen desgleichen mit mir. Ganz weiß, mit einer ſchwarzen Schnauze, ſah das coloſſale Thier einem Eisbär ganz ähnlich, der (wie im Bär und Baſſa) aus Diſtraktion den ſchwarzen Kopf eines Landbären aufgeſetzt hat. Ich wollte ihn kaufen, er war aber dem Wirth durchaus nicht feil.

In der Nacht hatte ich einen ſonderbaren Traum. Ich fand mich in politiſche Affairen verwickelt, in Folge deren man meiner Perſon nachſtellte, und mein Leben auf alle Weiſe bedrohte. Zuerſt entging ich auf einer großen Jagd mit genauer Noth dem Tode, indem vier bis fünf verkleidete Jäger mich mitten im dichteſten Walde anfielen und ihre Büchſen auf mich abfeuerten, ohne mich jedoch treffen zu kön - nen. Nachher verſuchte man mich zu vergiften, und ſchon hatte ich das grüne Pulver, welches mir als238 Medizin gegeben worden war, verſchluckt, als der Herzog von Wellington hereintrat, um mir ganz kaltblütig zu ſagen: Es ſey nichts von Bedeutung, er habe eben daſſelbe bekommen, hier ſey das Gegen - gift. Nach dieſem Genuß begann die gewöhnliche Operation der Gegengifte, (wahrſcheinlich ſchon die Anticipation im Traume des morgenden Zuſtandes auf der See ) in Kurzem ward mir jedoch wohler als je. Alles ging überdem in meinen Geſchäften nach Wunſch, ich reiste ab, und war bereits dem Ziele in jeder Hinſicht nahe. Da überfallen mich Räuber, reißen mich aus dem Wagen, und ſchleppen mich durch Geſtrüpp und Ruinen auf eine thurmhohe ſchmale Mauer, auf der wir haſtig fortſchreiten, wäh - rend ſie, von Alter zerbröckelt, unter unſern Füßen zu wanken ſcheint. Der Marſch will kein Ende fin - den, und außer der Angſt quält mich, wie die[Räu - ber] gleichfalls, ein nagender Hunger. Sie rufen mir endlich wüthend zu, ich ſolle ihnen Nahrung ſchaffen, oder ſie würden mich ſelbſt ſchlachten. In dieſer Noth däucht es mir, eine leiſe Stimme zu hören, die mir zuruft: Weiſe ihnen jene Thür. Ich blicke auf, und erblicke ein hohes kloſterartiges Gebäude, mit Epheu überwachſen, an welches ſchwarze Tannen ſich ſchmiegen, ohne Fenſter noch Thüre, ausgenommen eine verſchloſſene porte cochère von Bronce, hoch ge - nug um ein Haus hineinzuſchieben. Schnell gefaßt, rufe ich nun den Räubern zu: Ihr Narren, was verlangt ihr von mir Nahrung, wenn das große Magazin gerade vor Euch liegt! Wo? brüllt der239 Hauptmann? Oeffnet dieſes Thor, erwiederte ich ſpöttiſch. Als würde die ganze Bande es erſt jetzt gewahr, ſtürzt nun Alles darauf los, der Haupt - mann voran doch ehe er es noch berührt,[öffnen] ſich ſchon ſchweigend und langſam die ungeheuren Pforten. Ein ſeltſamer Anblick erſchließt ſich. Wir ſeben in einen tiefen, tiefen Saal hinein, der uns endlos dünkt; in ſchwindelnder Höhe wölbt ſich die Decke; prachtvoll iſt alles verziert mit farbigem trans - parentem Gold, kunſtvollen Basreliefs und Gemäl - den, die alle Leben und Bewegung zu haben ſcheinen. Auf beiden Seiten aber erſtreckt ſich an den[Wänden] hin, eine unabſehbare Reihe grimmig ausſehender Holz - figuren, mit grob gemalten Geſichtern, in Gold und Stahl gekleidet, Schwert und Lanze gezückt, und auf ausgeſtopften Pferden reitend. In der Mitte ſchließt die Perſpektive ein ſchwarzes Rieſenroß, das einen Ritter trägt, dreimal größer und dreimal furchtbarer als die übrigen. Vom Scheitel bis zur Zehe iſt auch er in ſchwarzes Eiſen gehüllt. Wie inſpirirt rufe ich aus: Ha, Rüdiger, du biſt’s, ehrwürd’ger Ahn - herr, rette mich! Die Worte hallten, wie lauter Don - ner, hundertfach in den Gewölben wieder, und wir glaubten die Holzfiguren wie ihre Pferdebälge die Augen gräßlich verdrehen zu ſehen. Alle ſchauderten da plötzlich ſchleudert der Rieſe ſein furchtbares Schlachtſchwert, wie einen Blitz in die Höhe, und ſchon iſt uns ſein Roß, in entſetzlichen Sätzen vor - wärts ſpringend, ganz nahe, als eine Glocke mit dröhnenden Schlägen ertönt, und der Rieſe wieder240 felſenfeſt vor uns ſteht. Wir aber, von Grauſen überwältigt, flohen insgeſammt, ſo ſchnell uns unſre Beine tragen wollten. Ich muß zu meiner Schande geſtehen, daß ich nicht zurückblieb. Ich war indeß unter altes[Gemäuer] gerathen, die Angſt machte meine Gebeine zu Blei. Jetzt erblickte ich eine Sei - tenthüre, und will eben hindurch, als eine gellende Stimme mir dicht in’s Ohr ſchreit: half past seven! (halb acht Uhr.) Vor Schreck bin ich im Begriff zu Boden zu ſinken, eine ſtarke Hand erfaßt mich ich ſchlage betäubt die Augen auf, und mein irländi - ſcher Bedienter ſteht vor mir blos um zu melden, daß, wenn ich nicht bald aufſtünde, das Dampfboot ohnfehlbar ohne mich abſegeln werde. Du ſiehſt, Julie, ſo wie ich mich auf die Reiſe begebe, ſtellen ſich auch wieder kleine Abentheuer ein, wäre es auch nur im Schlafe.

Auf dem Schiff fand ich die Leute noch beſchäftigt, einen ſchönen, und faſt noch mit mehr Ueberflüßig - keiten und Bequemlichkeiten bepackten Wagen, als ich mit mir führe, wenn ich auf dieſe Art reiſe, ein - zuſchiffen. Der Kammerdiener und Bediente waren emſig und reſpektvoll dabei beſchäftigt, während ein kleiner Menſch mit einem blonden ſorgfältig[gekräu - ſelten] Lockenkopf, ganz ſchwarz, aber ſehr elegant ge - kleidet, und ohngefähr zwanzig Jahre alt, mit aller Indolenz eines engliſchen fashionable, auf dem Ver - deck hin und her ſchlenkerte, ohne von ſeinem Eigen - thum, und der Mühe ſeiner Leute die geringſte Notiz241 zu nehmen. Wie ich nachher erfuhr, war er eben zu einer Erbſchaft in Irland von 20,000 Pfd. Sterl. Revenüen gelangt, und nun im Begriff, es unter die Leute zu bringen. Er eilte nach Neapel, und ſchien ſo guter Dinge, daß ſelbſt die Seekrankheit ſeine gute Laune nicht verdarb. Indem ich mit ihm ſprach, dachte ich mir, uns Beide innerlich betrachtend: Voilà le commencement et la fin! Einen den die Welt ausſendet und zu ihm ſagt: Genieße mich und einen den ſie zu Hauſe ſchickt, und zu ihm ſagt: Verdaue mich. Der Himmel erhalte mir nur meinen guten Magen dazu! doch dieſe melancholiſchen Anſichten entſtanden nur aus den qualms des Dampfkeſſels und der Seekrankheit, und nach einiger Ueberlegung freute ich mich an dem Anblick der hoff - nungsreichen Jugend, als wenn ich es ſelbſt wäre, dem ſie noch Illuſionen machte.

Heute Abend gedenke ich mit der Mail weiter zu gehen, und hoffe, daß ein gutes Diné der Ekelkur ein Ende machen wird, welche die Nachwehen der Ueberfahrt noch zurückgelaſſen hat.

Es ging mir nicht ganz ſo wohl als ich erwartete. Das Diné war keineswegs gut, ſondern ſehr ſchlecht, und die Folgen der See gaben mir Migraine, mitBriefe eines Verſtorbenen. II. 16242der ich um Mitternacht abfahren mußte. Glücklicher - weiſe waren wir nur zwei Perſonen in dem beque - men, vierſitzigen Wagen, ſo daß Jeder eine ganze Seite einnehmen konnte. Ich ſchlief daher leidlich, und die Luft, wie die ſanfte Bewegung, wirkten ſo wohlthätig, daß gegen ſieben Uhr, als ich erwachte, das Kopfweh ziemlich vergangen war. Die Holyhead - Mail muß, allen Aufenthalt mit eingerechnet, zwei deutſche Meilen in der Stunde zurücklegen, daher nie Schritt, meiſtens Gallop gefahren wird. *)Unſere Eilkutſchen werden nur dann den engliſchen gleich kommen, wenn einmal die Poſt ganz frei gege - ben wird, dann aber auch eine gleiche Concurrenz von Reiſenden angeſchafft. Beides ſteht nicht zu erwarten. A. d. H. Zum Frühſtück trafen wir ſchon hier ein, wo ich blieb, um mir die Stadt zu beſehen. Ich beſuchte zuerſt das Schloß, größten Theils ein uraltes Gebäude, von rothen Sandſteinquadern aufgeführt, inwendig aber etwas moderniſirt. Die Ausſicht von dem alten Keep, wo jetzt ein Sommerhäuschen ſteht, über den Fluß, und eine üppig bewachſene und fruchtbare Ge - gend iſt ſehr freundlich. Nahe dabei iſt das Stadt - gefängniß, wo ich die armen Teufel in der Tretmühle arbeiten ſah. Sie waren alle in gelbes Tuch geklei - det, ſoviel ſächſiſchen Poſtillonen ähnlich, deren Phleg - ma eine gleiche Aufregung manchmal zu gönnen wäre. Von dieſer neumodiſchen Erziehungsanſtalt, wanderte243 ich (mich ſchnell acht hundert Jahre zurückverſetzend) nach den Ueberreſten der alten Abtei, von der nur noch die ſchöne Kirche erhalten und im Gebrauch iſt. Die Glasfenſter darin ſind, wie überall in England, von den verrückten Fanatikern unter Cromwell zer - ſtört, aber hier mit neugemaltem Glas außerordent - lich gut reſtaurirt worden. Der Erbauer dieſer Abtei, Rodger Montgomery, erſter Graf von Shrewsbury, und einer der Feldherren Wilhelm des Eroberers, liegt in der Kirche, unter einem ſchönen Monumente begraben. Daneben ein Templer, ganz dem in Wor - ceſter ähnlich, nur nicht in Farben. Er liegt auch mit übergeſchlagenen Beinen auf dem Steine ausge - ſtreckt, wie jener, welche beſondere Stellung eine Ei - genthümlichkeit auf den Gräbern der Templer gewe - ſen zu ſeyn ſcheint. Der Graf von Shrewsbury baute nicht nur die Abtei und dotirte ſie, ſondern ſtarb auch ſelbſt als Mönch darin, um ſeine Sünden zu büßen. So wußte die[Elaſtizität] des menſchlichen Verſtandes der rohen Gewalt der Ritter mit über - legener Schlauheit bald geiſtlichen Zaum und Gebiß anzulegen.

Die Stadt iſt ſehr merkwürdig wegen der Menge ihrer alten Privathäuſer, alle von der ſeltſamſten Form und Bauart. Ich blieb oft in den Straßen ſtehen, um einige auf meiner Schreibtafel abzuzeich - nen, was immer eine Menge Volks um mich ver - ſammelte, das mir verwundert zuſah und mich nicht ſelten ſtörte. Die Engländer dürfen ſich alſo16*244nicht ſo ſehr wundern, wenn es ihnen in der Türkei und Aegypten eben ſo ergeht.

Es iſt nicht zu[läugnen], daß man, nach einiger Zeit der Entbehrung, den engliſchen comfort immer mit Vergnügen wieder findet. Abwechſelung iſt über - haupt die Seele des Lebens, und giebt jedem Dinge, dans son tour, wieder erneuten Werth. Die guten Gaſthöfe, die reinlich ſervirten breakfeasts und din - ners, die geräumigen, und ſorgfältig gewärmten Bet - ten, die höflichen und gewandten Kellner fielen mir, nach dem irländiſchen Mangel, ſehr angenehm auf, und verſöhnten mich bald mit den höheren Prei - ſen. Um zehn Uhr früh verließ ich Shrewsbury, wie - derum mit der Mail, und erreichte Hereford um acht Uhr Abends. Da es nicht kalt war, ſaß ich außer - halb, und cedirte meinem Bedienten den Platz in der Kutſche. Zwei bis drei unbedeutende[Männer], und ein bübſcher, aufgeweckter Knabe von eilf Jahren formirten meine Geſellſchaft auf der Impériale, wo gewaltig politiſirt wurde. Der Knabe war der Sohn wohlhabender Gutsbeſitzer, der von ſeiner, hundert Meilen entfernten, Erziehungsanſtalt zur Chriſtmaß ganz allein zu Hauſe reiste. Dieſe Gewohnheit Kin - der ſo früh ſchon, auf ihre eignen[Kräfte] anzuweiſen, giebt ihnen gewiß für das folgende Leben die ver -245 mehrte Selbſtſtändigkeit und Sicherheit, welche die[Engländern] vor andern Nationen, namentlich den Deutſchen voraushaben. Die Freude und bewegliche Unruhe des Kindes, je mehr es ſich dem väterlichen Hauſe näherte, rührte und ergötzte mich. Es war ſo etwas Natürliches und Inniges darin, das mich un - willkührlich an meine eigne Kinderjahre erinnerte dies unſchätzbare, und zu ſeiner Zeit[ungeſchätzte], Glück, das wir nur im Rückblick zu erkennen im Stande ſind!

Gute Julie, heute habe ich wieder einen jener ro - mantiſchen Tage erlebt, die ich lange entbehrt, einen von den Tagen, deren mannichfache Bilder, wie Feen - mährchen in der Kindheit, erfreuen. Der berühmten Scenery des Fluſſes Wye verdanke ich ſie, die, ſelbſt im Winter, auf den Namen einer der ſchönſten Ge - genden Englands Anſpruch machen kann.

Ehe ich Hereford verließ, beſah ich noch ſehr früh die Cathedrale, die, außer einem ſchönen Portico, nicht viel Sehenswerthes darbietet, hätte aber bald darüber die Mail verſäumt, welche in England auf Niemand wartet. Sie war bereits im vollen Trabe, und ich fing ſie wörtlich im Fluge auf. Nur für die dreizehn Meilen bis Roß, die wir außerordentlich246 ſchnell, obgleich mit vier blinden Pferden, zurücklegten, bediente ich mich des Wagens, dann nahm ich ein Boot, ſchickte es fünf Meilen voraus nach dem alten Schloß Goderich, und ſchlug ſelbſt meinen Weg dahin zu Fuß ein. Er führte mich zu - erſt auf einen hochgelegenen Kirchhof mit prachtvoller Ausſicht, dann durch eine üppige Gegend, wie am Luganer See, bis zur Ruine, wo ich das kleine Boot mit zwei Rudern und meinem Irländer ſchon vor - fand. Ich mußte über den Fluß ſetzen, der hier ziemlich reißend iſt, um zu dem, mit der alten Burg gekrönten, Berg zu gelangen. Das Steigen auf dem ſchlüpfrigen Raſen war ziemlich beſchwerlich. Als ich in den hohen Thorweg trat, nahm mir ein Luftſtoß die Mütze vom Kopfe, als wolle der Berggeiſt mir mehr Reſpekt für die Schatten der verblichenen Rit - ter einflößen. Die Ehrfurcht und Bewunderung konnte aber nicht vermehrt werden, mit der ich die dunklen Gänge, die geräumigen Höfe durchirrte, und auf die verfallenen Treppen hinaufkletterte. Im Som - mer und Herbſt wird der River Wye von Reiſenden nicht leer, da aber wahrſcheinlich nie ein methodiſcher[Engländern] die Reiſe auch im Winter unternahm, ſo ſind auch die Leute nicht darauf eingerichtet, und ich fand den ganzen Tag lang nirgends weder Führer, noch irgend eine Sorgfalt zum Behuf der Touriſten. So war auch die Leiter, welche nöthig iſt, um zu der abgebrochenen Treppe des Hauptthurms zu gelangen, nicht vorhanden, ſondern bereits in die Winterquar - tiere gebracht. Mit Hülfe der Bootsleute und mei -247 nes Dieners, etablirte ich jedoch eine Jakobslei - ter, auf deren Rücken ich mich hinaufſchwang. Man überſieht von der Zinne eine unermeßliche Strecke Landes, und die Raubritter, wenn es ſolche hier gab, konnten Reiſende von hier ſchon Meilen weit ankom - men ſehen. Nachdem ich Alles gehörig durchkrochen hatte, und den Berg auf der andern Seite wieder hinabgeſtiegen, frühſtückte ich behaglich im Boote, während dieſes geſchäftig von den ſchnell ſtrömenden Wellen fortgetragen wurde. Das Wetter war ſchön, die Sonne ſchien hell, ein ſehr ſeltner Fall in dieſer Jahreszeit, und die Luft war ſo warm, wie an einem angenehmen Aprilstag bei uns. Die[Bäume] hatten freilich kein Laub, da ſie aber ungemein dicht in Aeſten, auch mit vielem Immergrün untermiſcht wa - ren, und das Gras dabei weit grüner und heller[glänzte] als im Sommer, ſo verlor die Landſchaft durch die Jahreszeit weit weniger als man erwartet hätte. Der Boden iſt ungemein fruchtbar, die ſanf - ten Hügel von oben bis unten bewachſen, wenig Fel - der, meiſtens Wieſen zwiſchen den Büſchen, und jeden Augenblick erſcheint ein Thurm, Dorf oder Schloß, das die fortwährenden Krümmungen des Fluſſes in den verſchiedenartigſten Anſichten zeigen. Eine Zeit lang ſchwammen wir an den Gränzen dreier Graf - ſchaften hin, Monmouth zur rechten, Hereford zur linken, und Glouceſter vor uns. An einer maleri - ſchen Stelle, Eiſenhämmern gegenüber, deren Flam - men auch bei Tage ſichtbar waren, erhebt ſich ein Landſitz, der halb den neuen Stempel unſrer Zeit,248 halb den des grauen Alterthums trägt dies iſt die Wiege Heinrich des V., denn hier verbrachte er ſeine Kindheit unter Aufſicht der Gräfin von Salis - bury. Tiefer unten im Thal ſteht noch dieſelbe un - anſehnliche kleine Kirche, in der er getauft, und ſeine Pflegerin begraben ward. Agincourt und Falſtaff, Mittelalter und Shakeſpeare wurden lebendig vor meiner Phantaſie, bis die noch ältere und grö - ßere Natur ſelbſt, mich bald alles Uebrige ver - geſſen ließ. Denn nun gleitete unſer Kahn in die Felſenregion hinein, wo der ſchäumende Fluß, und ſeine kühnen Umgebungen den impoſanteſten Charak - ter annehmen. Es ſind verwitterte und zerbröckelte Sandſteinwände, von[rieſenhaften] Dimenſionen, alle ſchroff und perpendikulair abfallend, aus Eichenwäl - dern hervorſtehend, und mit hundertfachen Feſtons von Epheu überhangen. Die Regen und Stürme vieler Jahrtauſende haben die weiche Maſſe in ſo phantaſtiſche Formen verwaſchen und gemodelt, daß man künſtliches Menſchenwerk zu ſehen glaubt. Schloſſer und Thürme, Amphitheater und Mauern, Zinnen und Obelisken, äffen den Wanderer, der ſich in die Ruinen einer Dämonenſtadt verſetzt wähnt. Oft löſen ſich einzelne dieſer Gebilde bei Unwettern ab, und ſtürzen verheerend, von Felſen zu Felſen ab - prallend, mit Donnergetöſe in die hier unergründliche Tiefe des Stroms. Man zeigte mir die Ueberbleibſel eines dieſer Blöcke, und das Monument des armen Portugieſen, den er in ſeinem Falle begrub. Dieſe ſeltſame Felſenformation erſtreckt ſich, faſt acht Mei -249 len weit, bis eine Stunde vor Monmouth, wo ſie mit einem einzeln ſtehenden Coloſſe ſchließt, welcher der Kopf des Druiden genannt wird. Von einem gewiſſen Puncte geſehen, zeigt er nämlich das ſchöne, antike Profil eines Greiſes, der in tiefem Schlaf ver - ſunken ſcheint. Als wir vorbeifuhren, ſtieg eben der Mond über ihn empor, und gab ihm einen er - greifenden Ausdruck. Wie lange, dachte ich, ſind dieſes Schläfers Augen ſchon geſchloſſen, wie oft mag ſeitdem der Mond ſein bleiches Antlitz beſtrahlt, und was mag in uralten Zeiten ſein Auge geſehen haben, wenn es je offen ſtand! Ich zweifelte daran in die - ſem Augenblick gar nicht, der Glaube war über mich gekommen und hatte mich ſelig gemacht, denn der heilige Auguſtin hat ganz recht, wenn er ſagt: Eben deswegen glaube ich es, weil es kindiſch und unmöglich iſt! Ja, es war ſo, der todte Stein hatte für mich mehr Leben gewonnen, als alle wirk - lich lebenden Figuren um mich her.

Eine kurze Zeit lang fuhren wir nun zwiſchen verengten, dicht vom Waſſer bis zur Spitze bewal - deten Ufern, hin, bis eine große kahle Felſenplatte ſichtbar wurde, die König Arthurs Ebne genannt wird, weil der fabelhafte Held hier ſein Lager aufge - ſchlagen haben ſoll. Eine halbe Stunde darauf lang - ten wir in Monmouth an, einer kleinen alterthümli - chen Stadt, in der Heinrich der V. geboren wurde. Seine hohe Statue prangt auf dem Dache des Rath - hauſes; von dem Schloße aber, in dem er das Licht250 der Welt zuerſt erblickte, iſt nur noch ein gothiſch verziertes Fenſter und ein Hof übrig, in dem Trut - hühner, Gänſe und Enten gemäſtet werden. Dies paßte freilich beſſer zum Geburtsort Falſtaff’s.

Um einen ſchriftlichen Wegweiſer zu kaufen, ging ich in einen Buchladen, wo ich unerwartet die Be - kanntſchaft einer ſehr liebenswürdigen Familie machte. Sie beſtand aus dem alten Buchhändler, ſeiner Frau, und zwei hübſchen Töchtern, die unſchuldigſten Land - mädchen, die mir je vorgekommen. Ich traf ſie bei ihrem Abendthee, und der Vater, ein gutmüthiger, aber für einen Engländer ſeltſam ſprachſeliger Schwätzer, nahm mich förmlich feſt und gefangen, um mir die ſonderbarſten Fragen über den Continent und die Politik vorzulegen. Die Töchter, die mich, wahrſcheinlich aus Erfabrung, bedauerten, wollten ihn abhalten ich ließ ihn aber gewähren, und gab mich de bonne grace eine halbe Stunde Preis, wo - durch ich die Gewogenheit der ganzen Familie in ſolchem Grade gewann, daß alle mich auf das drin - gendſte einluden, doch einige Tage hier in der ſchö - nen Gegend zu verweilen, und bei ihnen zu wohnen. Als ich endlich ging, wollten ſie für das gekaufte Buch durchaus nichts annehmen, und ich mußte es bongré malgré als Geſchenk behalten.

Solche ſchlichte Eroberungen freuen mich, weil ihre Ergebniſſe nur vom Herzen kommen können.

251

Als ich früh angezogen war, und nach ſchnell ge - nommenem Frühſtück abreiſen wollte, bemerkte ich, nicht ohne unangenehme Ueberraſchung, daß mir meine Börſe und Taſchenbuch fehlten, die ich immer bei mir zu tragen pflege. Ich erinnerte mich ganz genau, ſie geſtern Abends, als ich im Coffeeroom, wo ich mich ganz allein befand, gegeſſen und an Dich ge - ſchrieben hatte, vor mir hingelegt zu haben, weil ich aus dem Taſchenbuch Noten für meinen Brief ent - nahm, und die Börſe gebrauchte, um die Schiffer zu bezahlen. Ohne Zweifel hatte ich ſie dort liegen laſſen, und der Kellner ſie ſich zu Gemüthe geführt. Ich ließ ihn ſogleich rufen, rekapitulirte das ange - gebne Factum, und fragte, ihn ſcharf dabei anſehend, ob er wirklich nichts gefunden? Der Menſch ward blaß und verlegen, und ſtammelte, er habe nichts geſehen, als ein einzelnes beſchriebenes Blatt Papier, was, wie er glaube, noch unter dem Tiſche liege. Ich ſah nach, und fand es in der That an der be - zeichneten Stelle. Alles dies ſchien mir immer ver - dächtiger, ich machte daher dem Wirth, einem höchſt widrig ausſehenden baumlangen Kerl, Vorſtellungen, die zugleich einige Drohungen enthielten, er aber antwortete kurz: Er kenne ſeine Leute, ein Dieb - ſtahl ſei bei ihm ſeit dreißig Jahren nicht vorgefallen, mein Vorgeben ſei ihm daher höchſt auffallend er werde zwar, wenn ich es wolle, ſogleich nach einem Magiſtrat ſchicken, alle ſeine Leute ſchwören, ſein252 ganzes Haus unterſuchen laſſen dann aber ſetzte er höhniſch hinzu, vergeſſen Sie nicht, daß auch Ihre Sachen bis auf die größte Kleinigkeit unterſucht werden müſſen, und wenn man bei uns nichts fin - det, Sie die Koſten, und mir Entſchädigung bezahlen werden. Qu’allai-je faire dans cette galère! dachte ich, und ſah wohl, das Beſte ſey, meinen Verluſt, von ohngefähr zehn Pfund, zu verſchmerzen, und ab - zuziehen. Ich nahm daher friſche Noten aus mei - nem Mantelſack, bezahlte die ziemlich billige Rech - nung, und glaubte bei dem mir herausgegebenen Gelde, ganz deutlich einen meiner eignen Sovereigns wieder zu erkennen, der einen kleinen Riß über das allerhöchſte Auge Georg des IV. hatte. Ueberzeugt daß Wirth und Kellner unter einer Decke ſteckten, ſchüttelte ich den Staub von meinen Füßen, und hatte, als ich das Haus in einer Poſtchaiſe verließ, das Gefühl eines Menſchen, der eben einer Räuber - höhle entronnen iſt.

Um aber doch künftigen Reiſenden einen Dienſt zu erzeigen, ließ ich den Wagen, ſo wie ich um die Ecke war, halten, und ging zu Fuß zu dem geſtern er - wähnten[Buchhändler], ihm mein Mißgeſchick mitzu - theilen. Das Erſtaunen und Bedauern Aller war gleich groß bald darauf fingen die Töchter indeß an mit der Mutter zu ziſcheln, machten ſich Zeichen, nahmen dann den Vater bei Seite, und nach kurzer Deliberation kam die Jüngſte wieder verlegen auf mich zu, und fragte erröthend: ob der eben gehabte253 Verluſt mir nicht vielleicht atemporary embarras - ment verurſachte, und ob ich nicht ein Darlehn von fünf Pfund annehmen wolle, was ich ihnen bei mei - ner Rückkehr wiedererſtatten könne? dabei wollte ſie mir die Note gleich in die Hand ſtecken. Dieſe Güte rührte mich wirklich tief ſie hatte etwas ſo Zartes und Uneigennütziges, daß die größte Wohlthat mir vielleicht, unter andern Umſtänden, weniger Dank eingeflößt haben würde, als dieſer gute Wille. Du kannſt denken, wie herzlich ich dankte. Gewiß, ſagte ich, würde ich, wenn ich es im Geringſten - thig hätte, nicht zu ſtolz geweſen ſeyn, ein ſo gut gemeintes Darlehn anzunehmen, da dies aber in kei - ner Art der Fall ſey, ſo würde ich, ihre Großmuth auf eine andere Weiſe in Anſpruch nehmen, und bäte mir daher aus, von jeder der zwei hübſchen Monmoutherinnen einen Kuß mit nach dem Conti - nent nehmen zu dürfen. Dies geſchah unter vielem Lachen, und mit freundlicher Hingebung, worauf ich, ſo befrachtet, meinen Wagen wieder aufſuchte. Da ich geſtern auf dem Waſſer geſchifft, zog ich heute den Weg zu Lande vor, der ebenfalls immer längs des Fluſſes nach Chepſtow führt. Die Gegend bleibt von derſelben Art; reich, dunkelwaldig und Wieſengrün, hier aber noch vielfach durch Hochöfen, Zinn - und Eiſenwerke belebt, deren Feuer in gelb, roth, blau und grünlichen Farben ſpielen, und aus thurmhohen Feuereſſen lodern, wo ſie zuweilen ganz die Form großer glühender Blumen annehmen, wenn Feuer und Rauch, von der Atmosphäre niedergedrückt, lange254 Zeit in dichter unbeweglicher Maſſe verweilen. Ich ſtieg aus, um eins der Zimmerwerke zu beſehen. Es wurde nicht, wie gewöhnlich, von einer Dampfma - ſchine, ſondern von einem ungeheuern haushohen Waſſerrade getrieben, das wiederum drei oder vier kleinere in Bewegung ſetzte. Dieſes Rad hatte die Kraft von achtzig Pferden, und die reißende Ge - ſchwindigkeit, mit der es ſich drehte, der grauſende Lärm, der im Moment, wo es angelaſſen ward, er - tönte, die Funken ſprühenden Feuerheerden rund um - her, wo das Eiſen glühte, und die halb nackten ſchwarzen Figuren dazwiſchen, die mit Hämmern und Keulen wild hantirten, und die rothziſchenden Tafeln umherwarfen es paßte Alles vortrefflich zu einem Bilde der Schmiede Vulkan’s.

Die Manipulation beginnt damit, daß geſchmiedete Eiſenbarren oder Stäbe von einem halben Zoll Dicke und acht Fuß Länge, unter ein ſelbſt agirendes Meſ - ſer gehalten werden, das ſie in fußlange Stücke ſchneidet, mit einer Grazie und Leichtigkeit, als lei - ſteten ſie nicht mehr Widerſtand wie friſche Butter. Das abgeſchnittene Stück wird ſogleich einem andern Arbeiter zugeworfen, der es in ein hölliſches Feuer ſchiebt, wo es in wenigen Augenblicken glühend wird. Er holt es dann mit einer Zange wieder heraus, und wirft es, eine Station weiter, auf den ſandigen Bo - den. Hier hebt es ein Dritter auf, und ſchiebt es unter eine Walze, die es nach mehrmaligem ſchnellen Umdrehen in eine viermal größere und eben ſo viel255 dünnere Platte verwandelt. Dieſe Platte geht nun denſelben Weg wieder ins Feuer zurück, wird dann von Neuem gewalzt, und ſo fort, bis ſie ſo dünn wie Papier iſt. Nun werden die Platten erſt in die ih - nen beſtimmte definitive Form geſchnitten, hierauf geſchlagen, und gereinigt, welches noch einmal Feuer, nebſt gewiſſen andern Zuthaten, erfordert. Dann kommen ſie in ein zweites Haus, wo ſie in Vitriol und Sand gewaſchen, nachber in das mit Fett flüßig erhaltne Zinn getaucht, und zuletzt von Weibern mit Kley ſauber gereinigt und ſo ſchön polirt werden, daß man ſich darin ſpiegeln kann. Eine ſolche Fabrik iſt wie eine Welt im Kleinen. Man ſieht, hier wie dort, das Höchſte und Niedrigſte zugleich beſtehen, und doch auch den mühſamen Durchgang eines Je - den durch alle Grade, und wie nach und nach das Grobe zum Feinſten wird.

Auf halbem Wege verwandelte ſich, wie geſtern, die freundliche Gegend, in ernſtere Felſen, und da, wo ſich ein tiefer Keſſel verſchieden geformter Berge bil - det, erblickten wir in deſſen Mittelpunkt, hart über dem ſilbernen Strome ſich erhebend, die berühmte Ruine von Tintern Abbey. Eine vortheilhaftere Lage und impoſantere Ueberreſte eines weiten, alten Klo - ſters, laſſen ſich kaum denken, ja der Eintritt in die - ſelben gleicht ganz einer phantaſtiſchen Theaterdeco - ration. Die große Kirche ſteht faſt noch ganz erhal - ten, nur einige ihrer Pfeiler und das Dach fehlen. Die Gebäude ſind von menſchlicher Hand grade256 aus einer Wald - und Bergſchlucht hervorbricht, ſich in einem weiten Bogen[nähert], eine Gärten ähnliche grüne Halbinſel, die einen mit Boskets bedeckten Hügel bildet, umfließt; dann rechts an einer unge - heuern Felsmauer, die mit Deinem Standpunkt faſt gleiche Höhe hat, ſich ſchäumend durcharbeitet, und zuletzt bei der, einer verfallnen Stadt ähnlichen, Ruine des Schloßes von Chepſtow, ſich in den Kanal von Briſtol ergießt, wo Alles im Ocean in nebelhaf - ter Ferne verdämmert.

Jenſeits des Fluſſes, vor Dir, erſtreckt ſich, faſt durch die ganze zu überſehende Gegend hin, der ſcharfe Kamm eines langen Bergrückens, mit dichtem Walde bedeckt, aus deſſen Baumgewühl eine fortlau - fende, mit Epheu feſtonirte Felswand, maleriſch her - vor bricht. Ueber dieſem Gebürgsſtamm ſiehſt Du von Neuem Waſſer, die 5 Meilen breite Severn, welche von hundert weißen Segeln wimmelt, und an ihren jenſeitigen Ufern erblickſt Du noch zwei ſich über einander lagernde, blaue Hügelreihen voll Frucht - barkeit und reichem Anbau.

Die Gruppirung dieſer Ausſicht bildet ein vollendetes Ideal, und ich kenne keine ſchönere. Un - erſchöpflich an Details, von unabſehbarem Umfang, und dennoch von ſo hervorſtehenden, grandioſen Hauptzügen, daß dadurch die Verwirrung und Leere, welche ein ſehr weit umfaſſender Horizont gewöhnlich verurſacht, gänzlich vermieden wird. Der Park von Piercefield, der von Windoliff bis Chepſtow die Fels -257 und Bergrücken einnimmt, iſt daher ohne Zweifel einer der herrlichſten in England, wenigſtens was ſeine Lage betrifft. Er beſitzt Alles was die Natur nur geben kann, hohen Wald, prächtige Felſen, den fruchtbarſten Boden, ein mildes günſtiges Klima für Vegetationen aller Art, einen reißend ſtrömenden Fluß, das nahe Meer, Einſamkeit, und aus ihrer Ruhe die Ausſicht in dieſe reiche Gegend, die ich ge - ſchildert, gehoben vom Anblick einer der erhabenſten Burgruinen, welche nur des Malers Pinſel erfinden konnte, ich meine das über dem Fluß hängende, mehr als 6 Morgen Landes bedeckende, Schloß von Chepſtow, welches nach der Stadt zu den Park be - gränzt, obgleich es nicht als Eigenthum dazu ge - hört.

Faſt alle Schloßruinen in England verdanken wir Cromwell, ſo wie die zerſtörten Kirchen und Klöſter Heinrich dem VIII. Die Erſtern wurden mit Feuer und Schwerdt verheert, die andern blos auf - gehoben, und dem nagenden Zahne der Zeit, wie dem Eigennutze der Menſchen überlaſſen. Beide Po - tenzen haben vollkommen gleich gewirkt, und die bei - den großen Männer dadurch einen Effekt hervorge - bracht, den ſie freilich nicht bezweckten, der aber dem gleich iſt, den ihre Perſonen ſelbſt in der Geſchichte zurückgelaſſen, nämlich ein pittoresker. Ich wan - derte durch den Park zu Fuß, und ließ den Wagen auf der Landſtraße folgen. Erſt bei halber Dämme - rung erreichte ich die Ruine, was ihren großartigen17*258Eindruck auf mich nur noch vermehrte. Das Schloß hat vier weitläuftige Höfe nebſt einer Kapelle, und iſt zum Theil noch gut erhalten. Hohe Nuß - und Taxus-Bäume, Obſtplantagen und ſchöner Raſen zieren das Innere, wilde Wein - und Schlingpflan - zen aller Art bedecken die Mauern. In dem am beſten conſervirten Theile des Schloßes, wohnt eine Frau mit ihrer Familie, die dem Beſitzer, dem Her - zog von Beaufort, eine Rente für die Erlaubniß zahlt, die Ruine Fremden zu zeigen, welche einen Schilling dafür erlegen müſſen. Du ſiehſt, qu’en Angleterre on fait flêche de tout bois, und daß ein dortiger Herzog mit 60,000 Pf. St. Einkünſte, weder den Heller der Wittwe verſchmäht, noch ſich ſcheut, Fremde regelmäßig in Contribution ſetzen zu laſſen. Es giebt zwar leider deutſche Souverainchen, die es nicht anders machen.

Eben ſowohl mit meinem durchlebten Tage zufrie - den als müde vom Klettern, und[durchnäßt] vom Regen, der ſich in der letzten Stunde wieder einge - ſtellt hatte, eilte ich in den Gaſthof, in mein Negligee, und zum Eßtiſch. Da fühlte ich etwas Ungewöhnliches in der Taſche meines Schlafrocks verwundert brachte ich es heraus, und beſchämt be - trachtete ich es die geſtohlen geglaubte Börſe nebſt Taſchenbuch! jetzt erſt fiel es mir bei, daß ich ſie am vorigen Abend an dieſem ungewöhnlichen Ort ver - wahrt, aus Beſorgniß, ſie ſpäter auf dem Tiſche zu vergeſſen. Dies ſoll mir wenigſtens eine Lehre ſeyn,259 nicht mehr zu leicht auf den bloßen Schein hin, und auf die Verlegenheit des Angeklagten zu verdam - men, denn, bei Menſchen von reizbarem Nerven - ſyſtem und regem Ehrgefühl bringt leicht der bloße Gedanke: daß Andere einen ſolchen Verdacht haben könnten dieſelben Symptome, wie bei Sündern das Bewußtſeyn der Schuld hervor. Meinem guten Herzen wirſt Du zutrauen, daß ich ſogleich einen Brief an meinen Freund, den Buchhändler, expedirte, um Wirth und Kellner zu disculpiren, und als Schmerzengeld für den Letzteren zugleich zwei Pfund beilegte, die ich an ihn, mit meiner Bitte um Ver - zeihung, abzugeben erſuchte. Hierauf ſchmeckte mir in Wahrheit das Eſſen noch beſſer, da ich nach Kräf - ten Uebles wieder gut gemacht.

Dein treuer L ....

[260]

Fuͤnf und vierzigſter Brief.

Gute Julie.

Ich hoffe, Du folgſt mir auf der Carte, was Dir meine Briefe beſſer verſinnlichen wird, wenn Du auch dort keine der ſchönen Ausſichten mit genießen kannſt, welche ich ſah, die ich Dir aber alle in meinen Le - bens - und Erinnerungs-Bildern in getreuer Copie mitbringe.

Ich beſuchte früh noch einmal das herrliche Schloß, wo mich dieſen Morgen ein blühendes Mädchen her - um führte, die einen ſehr anmuthigen Contraſt mit den verbrannten Thürmen, dem ſchauerlichen Ge - fängniſſe des Königsmörders Martin, und dem dunk - len Burgverließ abgab, in das wir zuſammen viele Stufen hinabſtiegen. Dann beſuchte ich eine Kirche261 mit beſonders zierlichem altſächſiſchen Portal und einem ſehr ſchön gearbeiteten Taufbecken in demſelben Styl. Hier liegt auch der arme Martin begraben. Er war einer der Richter Carl des I. und ſaß 40 Jahre im Schloſſe zu Chepſtow gefangen, ohne doch je, wie man behauptet, dort ſeine gute Laune ganz zu verlieren. Nach den erſten Jahren ſcheint über - haupt ſeine Haft milder geworden zu ſeyn, und man ihn auch nach und nach immer etwas beſſer logirt zu haben, denn Carl II. war nicht grauſam. Wenig - ſtens zeigte mir das Mädchen heute früh drei Ge - mächer, wovon das unterſte freilich ein ſchauderhaftes Loch war, und ciceroniſirte dabei in folgenden Wor - ten: Hier ſteckte man Martin zuerſt hinein, als er noch böſe war; da er aber hernach in ſich ging, kam er einen Stock höher, und endlich, als er religieus wurde, bekam er das Zimmer mit der ſchönen Aus - ſicht oben.

Um zwei Uhr fuhr ich mit einer ſehr vollen Stage coach, wo ich, ohngeachtet des heftigen Regens, nur mit Mühe noch einen Platz auf dem Bocke bekam, nach Briſtol. Wir paſſirten den Fluß auf einer ſchö - nen Brücke, die zugleich den beſten Standpunkt zur Anſicht des Schloßes bietet, welches ſich unmittelbar über den, ſenkrecht nach dem River Wye herabfallen - den, Felſen erhebt, und beſonders dadurch einen ſo[äußerſt] maleriſchen Anblick gewährt. Wir behielten dann noch lange den Park von Piercefield und ſeine Felſenwände, jenſeits des Fluſſes, im Angeſicht. Ich262 ſagte zu dem Herrn der Stage, der ſelbſt fuhr, der Beſitzer dieſes ſchönen Parks müſſe ein glücklicher Mann ſeyn! Keineswegs, erwiederte er, der arme Teufel iſt voller Schulden, hat eine zahlreiche Familie, und wünſcht gar ſehr, einen guten Käufer für Piercefield zu finden. Vor drei Monaten war ſchon Alles rich - tig, mit einem reichen Kaufmann aus Liverpool, der das ſchöne Gut für ſeinen jüngſten Sohn beſtimmte. Doch ehe noch abgeſchloſſen wurde, verheirathet ſich dieſer Sohn heimlich mit einer Schauſpielerin, der Vater enterbt ihn, und ſo wurde der Kauf rück - gängig. Das hätte wahrlich Stoff zu einigen mora - liſchen Betrachtungen gegeben! Das Wetter wurde unterdeſſen immer abſcheulicher, und artete zuletzt in einen völligen Sturm aus. Wir hatten ihn zwar im Rücken, dennoch war die Fahrt über den Channel höchſt unangenehm. Die vier Pferde, alles Gepäck, und die Paſſagiere wurden pèle mêle in ein kleines Boot gepackt, ſo voll und gepreßt, daß man ſich kaum darin rühren konnte. Der Poſten neben den Pferden war wirklich gefährlich, da ſie ſich zuweilen vor den Segeln ſcheuten, beſonders wenn dieſe gewandt wur - den. Ein Herr fiel bei einer ſolcher Gelegenheit, ſammt der Kiſte, auf der er ſaß, grade unter ſie, wurde aber von den gutmüthigen Thieren nur ein wenig getreten, glücklicherweiſe aber nicht geſchlagen, wie es ihm leicht hätte arriviren können. Das Boot, heftig vom Sturm getrieben, lag ganz auf einer Seite, und unaufhörlich ſpritzten die Wellen über, und durchnäßten uns von Kopf bis zu Fuß. Als263 wir endlich anlangten, war das Debarkiren auch eben ſo mühſam als ſchmutzig, und ich verlor dabei, zu meinem großen Mißvergnügen einen Theil der Werke Lord Byron’s. Man ſagte mir, daß dieſe Ueberfahrt, der häufigen Stürme, des ſeichten Grunds und der vielen Klippen wegen, oft Unglücksfälle herbeiführe. Vor ſechs Monaten ſcheiterte das Schiff mit der Mail, und mehrere Perſonen verloren das Leben da - bei. Wir konnten das gewöhnliche Landungshaus auch diesmal nicht erreichen, und mußten daher an der Küſte debarkiren, von wo wir, auf einem Strand von roth - und weißgeſtreiftem Marmor, bis zum Gaſthof zu Fuß gingen. Hier beſtiegen wir eine an - dere Stage oder Landboot, mit zwanzig Perſonen gefüllt, und fuhren (aber nicht ſo ſchnell als mit der Mail) nach Briſtol, von deſſen geprieſener Lage ich für heute nur die hellen Glaslaternen und wohl ver - ſehenen, bunten Läden gewahr wurde.

Wenn ich in der Erinnerung aufſuche, was den River Wye ſo ſchön macht, und vor ſo vielen an - dern Flüſſen den Vorzug giebt, ſo finde ich, daß es vorzüglich ſeine beſtimmt gezeichneten Ufer ſind, die ſich nie in undeutliche Linien verflachen, noch eine nichtsſagende Mannichfaltigkeit ohne Charakter dar -264 bieten, ferner, daß ihn faſt immer Wald, Felſen oder Wieſen, durch Gebäude belebt, ſelten nur Felder und bebaute Fluren begränzen, denn dieſe letztern ſind zwar eine nützliche Sache, aber nicht maleriſch. Die vielen und kühnen Krümmungen machen, daß auch die Ufer ſich[unaufhörlich] verſchieben, und ſo aus denſelben[Gegenſtänden] hundert verſchiedne Schön - heiten ſich entfalten, wie die Stimme, nach mehreren Seiten gewandt, ein vielfaches Echo hervorruft. Bei - läufig geſagt, iſt dies auch der Hauptgrund, warum Landſchaftsgärtner gekrümmte Wege den graden vor - zogen. Dieſen Gedanken hatten die Maler; nur die Pinſel machten gewundene Korkzieher daraus, indem ſie glaubten, daß ihre imaginaire Schönheits - linie, nicht die verſchiedene Anſicht der Land - ſchaft, damit bezweckt werde.

Da die Gegenſtände, die ſich den River Wye ent - lang darbieten, faſt immer nur Wenige in großen Maſſen ſind, ſo bilden ſie ſchöne Gemälde, weil Gemälde eine kürzere Abgränzung verlangen. Die Natur ſchafft nach einem Maaßſtabe, den wir, in ſeinem Totaleffekt, gar nicht beurtheilen können, deſſen höchſte Harmonie uns daher verloren gehen muß die Kunſt alſo ſtrebt darnach, nur einen Theil derſelben als ein für Menſchen verſtändliches Ganze idealiſch zu formen, und dies iſt meines Erachtens nach, die auch der Landſchaftsgärtnerei zum Grunde liegende Idee. Doch die Natur ſelbſt bietet für die - ſen Zweck oft ſchon einzeln vollendete Muſter dar,265 einen landſchaftlichen Microcosmus, und ſelten findet man deren in kurzen Räumen mehr vereinigt als auf dieſer Fahrt, wo jede neue Wendung des Fluſſes, ſo zu ſagen, einen neuen Kunſt - Genuß darbietet; Pope ſingt irgendwo ſchön von dieſer Gegend:

Pleas d’Vaga echoes thro ’its winding bounds,
And rapid Severn hoarse applause resounds.

Die deutſche Sprache hat, bei allen ihrem Reich - thum, etwas Unbehülfliches[für] die Ueberſetzung, be - ſonders bei Uebertragungen aus der engliſchen, der dagegen ihre Zuſammenſetzung aus ſo vielen Spra - chen, eine ganz eigenthümliche Leichtigkeit giebt, fremde Gedanken auszudrücken. Mir iſt daher auch die erwähnte Strophe faſt unüberſetzbar erſchienen. So oft ich es verſuchte, verlor der Gedanke ſeine Grazie, vielleicht war aber auch meine eigne Unbe - hülflichkeit daran Schuld.

Daß zwei der ſchönſten Ruinen in der Welt am River Wye liegen, iſt ebenfalls kein kleiner Vorzug, und nie wurde es mir klarer als hier, daß Prophe - ten in ihrem Vaterlande nichts gelten, denn wie würden ſonſt ſoviel tauſend Engländer weit hinweg - ziehen, um oft über viel geringere Schönheiten in Enthuſiasmus zu gerathen, als ihr eignes Vaterland darbietet. Noch eine Frage möchte ich aufwerfen, warum überhaupt Ruinen ſo viel mehr die menſch - liche Seele ergreifen, als es kaum die höchſten voll - endeten architektoniſchen Kunſtwerke vermögen? Es266 ſcheint faſt, als ob dieſe Menſchenwerke erſt ihre Vollkommenheit erreichten, wenn die Natur ſie wie - der corrigirt hat und doch iſt es gut, wenn zu - letzt der Menſch nochmals eingreift, in den Zeit - punkt, wo die Natur anfängt, ſeine Spur gänz - lich zu verwiſchen. Eine grandioſe und wohl er - haltne Ruine iſt darum das ſchönſte Gebäude.

Ich erwähnte ſchon, daß die Umgegend von Briſtol ebenfalls, und mit Recht, einen hohen Ruf hat. An Reichthum, Ueppigkeit der Vegetation und Frucht - barkeit, kann ſie von keiner übertroffen werden, an maleriſchen Schönheiten gewiß nicht von vielen. C’est comme la terre promise; Alles was man ſieht, (und als gourmand ſetze ich hinzu) auch alles was man genießt, iſt in hoher Vollkommenheit.

Briſtol, eine Stadt von 100,000 Einwohnern, liegt in einem tiefen Thal; Clifton, das ſich am Berge teraſſenförmig unmittelbar darüber erhebt, ſcheint nur ein andrer Theil derſelben Stadt. Daß durch dieſe Lage außerordentliche Effekte hervorgebracht werden müſſen, kann man ſich leicht vorſtellen. Aus dem verworrenen Gewühl der Häuſermaſſe der alten Hauptſtadt im Thale ragen drei verwitterte gothiſche Kirchen empor. Gleich ſtolzen Ueberreſten der Feudal - und Mönchsherrſchaft (denn beide gingen, obgleich als feindliche Brüder, Hand in Hand) ſchienen ſie, im Gefühl der alten Größe, noch ihre greiſen Häup - ter nicht beugen zu wollen vor dem aufgeſchoßnen Pflanzendickicht neuerer Zeit. Beſonders eine der -267 ſelben, Radcliffchurch, iſt ein ganz wunderbarer Bau; leider hat der Sandſtein, aus dem ſie ausge - führt iſt, ſo ſehr von der Zeit gelitten, daß alle Zier - arten, wie angenagt, erſcheinen. Ich trat während des Orgelſpiels hinein, und obgleich ich, mit ſchuldi - ger Schicklichkeit, und großer Ehrerbietung, mich nur in eine Ecke ſtellte, von wo ich das Innere verſtoh - len überblicken konnte, wollte mir doch die Illibera - lität des engliſch-proteſtantiſchen Cultus dies nicht gönnen, und der Prediger ſendete eine alte Frau an mich ab, um mir anzudeuten, daß ich mich ſetzen müſſe. Da man in katholiſchen Kirchen die Gläubi - gen nicht ſo leicht ſtört, ſelbſt wenn man, ohne alle Rückſicht, nur hineingeht, um die Sehenswürdigkeiten zu betrachten, und ſich gar nicht an den Cultus kehrt, ſo wunderte ich mich mit Recht, daß die engliſch-pro - teſtantiſche Frömmigkeit ihrer eignen[Schwäche] ſo wenig zutraue, um ſo zu ſagen von einem Hauch ſchon umgeblaſen zu werden man löste mir aber nachher das Räthſel. Ich hätte für den Sitz be - zahlen müſſen, und der halbe Schilling war das eigentliche fromme Motiv. Ich hatte indeß ſchon genug geſehen, und verließ die Mummerei*)Mummerei (popish mummery) nennen die engli - ſchen Proteſtanten den katholiſchen Cultus, der ihrige verdient aber vollkommen denſelben Namen. A. d. H. ohne zu bezahlen.

268

In den Gaſthof zurückgekehrt, ließ ich nun ſchnell eine Poſtchaiſe anſpannen, ſetzte mich auf den Bock, (nicht als den höchſten Ehrenplatz, wie der Kaiſer von China, ſondern als höchſter Aufſichtsplatz ) und begann meine Excurſionen in der Umgegend. Zuerſt beſah ich die warmen Bäder der Stadt, wo an den Ufern des Severn ein felſiges Thal beginnt, das viel Aehnliches mit dem Plauiſchen Grunde bei Dresden hat, nur daß die Felſen höher, und die Waſſermaſſe weit reicher iſt. Wir begegneten hier dem Maire, in ſeiner Staatsequipage, prachtvoller als die unſrer Könige auf dem Continent. Sie ſtach ſonderbar mit der einſamen Felſengegend ab. Als ſie eben vorbei - kam, zeigte mir der Poſtillon einen entfernten ver - fallenen Thurm, Cook’s folly genannt, auch eines Maire und reichen Kaufmanns Beſitzung, der ſich damit ruinirte, und in einer Ruine nun fort - lebt. Das gothiſche Schloß, das er in einer der herr - lichſten Lagen aufbauen wollte, konnte er nicht voll - enden. Es blieb aber in dieſem Stande wahrſchein - lich nur eine deſto größere Zierde der Gegend. Aus dem Felſengrund wieder emporſteigend, gelangten wir auf eine weite Bergebne, die zu den hieſigen Wett - rennen dient, und von hier, durch ſtrotzendes Land, zu Lord Clifford’s Park, deſſen entrée ſehr ſchön iſt. Man fährt nämlich, über eine halbe Stunde Wegs, an einer hohen Berglehne in einer gewundnen Allee uralter Eichen hin, die weit genug von einander ge - pflanzt ſind, um ſich vollkommen nach allen Seiten ausbreiten zu können, ehe ſie ſich erreichen. Unter269 ihren Aeſten enthüllen ſich die herrlichſten Ausſichts - punkte auf das reiche Thal von Briſtol, ſo daß, gleich einer Bildergallerie, faſt unter jedem Baum ein neues Gemälde erſcheint. Rechts aber zeigt ſich, an dem anſteigenden Berge, der dunkle Saum des pleasure ground hinter der Wieſenfläche, wo Pflanzungen von Lorbeer, Arbutus und anderm Immergrün den Weg begränzen, bis bei einer Biegung, Schloß und Blu - mengarten plötzlich mit geſchmücktem Glanz hervor - treten! Am Ende dieſes Parks liegt ein grünes Vorgebürge, auf deſſen ſchmalem Kamm man eine Weile hinfährt, und dann eine ſchöne Seeausſicht findet. Hier lag eben eine kleine ruſſiſche Flotille zu unſern Füßen vor Anker, die, nach dem Mittelmeere beſtimmt, in den Stürmen der vorigen Woche, dem Scheitern hier nur mit großer Noth entgangen. Den Engländern nach ſollte blos die Unwiſſenheit der Mannſchaft daran Schuld geweſen ſeyn. Ich machte ſpäter die perſönliche Bekanntſchaft des Capitains und fünf anderer Offiziere. Sie ſprachen zu meiner Ver - wunderung durchaus keine fremde Sprache, nur ruſſiſch, weshalb ſich unſre Unterhaltung auch auf bloße Zeichen beſchränken mußte. Es ſchienen ſonſt artige und civiliſirte Leute.

Nicht weit von dem erwähnten Park, befindet ſich ein intereſſantes Etabliſſement, the cottages, ge - nannt. Hier hat der Beſitzer, Mr. Harford, das Ideal eines Dörfchens zu realiſiren geſucht. Ein ſchöner grüner Platz, mitten im Walde, iſt von einem270 rings umher geſchlängelten Wege umgeben und neun Wohnungen daran gelehnt, alle von verſchiedener Form, und aus verſchiednem Material erbaut; eine aus Feldſteinen, die andere aus Quadern, dieſe aus Ziegeln, jene von Holz u. ſ. w., eine mit Stroh, die andre mit Schindeln, Schiefer u. ſ. w. gedeckt; jede mit andern Bäumen umpflanzt, und von verſchiednen Sorten Climatis, Roſen, Je länger je lieber oder Wein umrankt. Die abgeſonderten, und doch zu einem Ganzen verbundenen Wohnungen haben auch ihre beſondern Gärten, und einen gemeinſchaftlichen Brunnen, der auf der Mitte des Raſenplatzes ſteht, und den mehrere alte Baumgruppen beſchatten. Die durch niedliche Zäune getrennten Garten, bilden ſo einen friſchen Gemüſe - und Blumenkranz um das ganze Dörfchen; die Bewohner aber beſtehen, was der ganzen Anlage die Krone aufſetzt, nur aus armen Familien, denen die Häuſer von dem großmüthigen Beſitzer unentgeldlich überlaſſen worden ſind. Kein anmuthigerer, kein paſſenderer Fleck konnte dem Un - glücke eingeräumt werden; die völlige Abgeſchieden - heit und Heimlichkeit deſſelben, athmet nur Ruhe und Vergeſſenheit der Welt.

Blos dem Walde gegenüber ragte von fern aus alten Eichen ein modernes gothiſches Schloß ſtattlich hervor. Ich wollte es, ſowie den umliegenden Park, beſichtigen, erhielt aber keinen Einlaß. Wenn an einem engliſchen Park die Landſtraße vorüberführt, iſt immer ein Theil der Mauer durch ein Aha, oder271 durchſichtiges Eiſengitter erſetzt, damit man den demü - thig neugierigen Blick in die verbotne Herrlichkeit werfen möge. Aber hiermit iſt auch die Liberalität des engliſchen Beſitzers erſchöpft. Da es nun heute überdies noch Sonntag war, ſo gab ich gleich alle Hoffnung auf, den mürriſchen Portier zur Aus - nahme zu bewegen, denn auf ſeiner Stirn war deut - lich, Dante’s umgekehrte[Hölleninſchrift] zu leſen: Voi che venite di entrare lasciate ogni spe - ranza!

Meinen Rückweg nahm ich über die Bergſtadt Clifton, aus der man Briſtol, wie in einem Abgrun - de, unter ſich liegen ſieht. Die Scene wurde über - dem ſehr heiter ſtaffirt durch die, in bunten Farben ſchillernde, Menge der Kirchgänger beiderlei Ge - ſchlechts, welcher ich auf allen Gaſſen begegnete. Stark kontraſtirte dagegen ein großes, ganz ſchwarz angeſtrichenes Haus mit weißen Fenſtern, einem un - ermeßlichen Catafalke ähnlich. Man ſagte mir, es ſey das Stadthoſpital, und ein Herr erbot ſich, es mir zu zeigen. Das Innere war weit anziehender als der äußere Anſtrich. Große Geräumigkeit, freund - liche Säle, und die ausgezeichnetſte Reinlichkeit, müſ - ſen es zu einem ſehr troſtreichen Aufenthalt für Kranke machen. Nirgends auch ſpürte ich den min - deſten üblen Geruch, außer in der Apotheke, nach Pillen und Rhabarber. Die rechte Seite des Hauſes nahmen die männlichen, die linke die weiblichen Pa - tienten ein, und in dieſen beiden, den untern TheilBriefe eines Verſtorbenen. II. 18272diejenigen Kranken, welche des Arztes, den obern, die des Chirurgus bedurften. Das Operationszim - mer war beſonders elegant, und mit mehreren Robi - nets in den Wänden und darunter ſtehenden Mar - morbecken verſehen, um auf allen Seiten das Blut ſogleich abwaſchen zu können. Eine Mahagoni-Stel - lage in der Mitte, mit Saffiankiſſen, iſt für die zu Schneidenden beſtimmt. Es war in der That Alles für Liebhaber ſo einladend als möglich gemacht. So wohlthätig übrigens dieſes Handwerk iſt, ſo werden doch in der Regel die Chirurgen dadurch ein wenig fühllos. Der welcher mich begleitete, machte davon keine Ausnahme. So bemerkte ich unter anderm, in einem der Säle eine Frau, die ſich ganz mit einem Tuche zugedeckt hatte, und frug ihn leiſe, was ihr fehle? O , erwiederte er ganz laut, die iſt inkurabel an einer Pulsadergeſchwulſt; ſobald dieſe berſtet muß ſie ſterben. An dem Zucken und leiſen[Stöh - nen] unter dem Tuche, konnte ich wohl abnehmen, wie ſchmerzlich die Nachricht wirkte, und bereuete meine Frage. Als wir nachher zu den Männern kamen, ſah ich Einen davon, ſchlohweiß und völlig wie eine Marmorſtatüe, im Bette liegen, und da wir diesmal noch weit entfernt waren, erkundigte ich mich abermals nach der Beſchaffenheit dieſer Krankheit. Ich weiß es ſelbſt nicht , rief er, werde ihn aber gleich fragen. Um’s Himmelswillen nicht, bat ich, er war aber ſchon fort, fühlte des Mannes Hand, der ſich nicht rührte, und kam dann lachend wieder, indem er ſagte: der iſt kurirt, denn er iſt todt.

273

Gegen Abend fuhr ich, in einer der kleinen Kut - ſchen, die nur zwiſchen Bath und Briſtol gehen, nach erſterem Orte. Ich war allein, und ſchlief den gan - zen Weg über. Als ich von der Sieſte erwachte, er - blickte ich beim Mondſchein einen[weiläuftigen], er - leuchteten Palaſt, auf einer ganz kahlen Höhe, und erfuhr, auf meine Frage, daß dies die milde Stiftung eines bloßen Privatmannes ſey, und für fünfzig arme Wittwen beſtimmt, die hier in Wohlhabenheit, ja Ueberfluß, leben. Bald darauf erglänzten am Hori - zont noch vielfache andere Lichterreihen, und in wenig Minuten rollten wir über das Pflaſter von Bath.

Seit dem Tage, wo ich Dir die wichtige Begeben - heit meldete, daß die Sonne geſchienen habe ich die Wohlthätige nicht wieder geſehen. Doch trotz Nebel und Regen wanderte ich den ganzen Tag in dieſer wunderbaren Stadt herum, die, im Grunde des tiefen und ſchmalen Bergkeſſels erbaut, nach und nach alle ſeine hohen Ränder erſtiegen hat. Die Pracht der Palläſte, Gärten, Straßen, Terraſſen und halbmondförmigen Plätze, Crescents genannt, die von dieſen Bergabhängen herabglänzen, iſt imponirend und engliſchen Reichthums würdig. Deſſen ohnge - achtet, und obgleich auch die Natur hier ſchön iſt,18*274hat die Mode dennoch Bath verlaſſen, um ſich dem nichts ſagenden, baumloſen und überproſaiſchen Brighton mit fieberhafter Wuth hinzugeben. Des - halb iſt jedoch Bath keineswegs von Badegäſten ver - laſſen, und ſchon die 40,000 wohlhabenden Einwoh - ner machen es lebendig nur die faſhionable Welt ſieht man nicht mehr hier. Der ſonſt ſo berühmte König von Bath ehemals der far famed Nash, hat von ſeinem Nimbus noch mehr verloren, als ſeine übrigen Collegen. Der, welcher jetzt ſein Amt verrichtet, geht, ſtatt ſich nie anders als mit ſechs Pferden und einem Gefolge von Dienern, wie jener, öffentlich zu zeigen, ſehr beſcheiden zu Fuße, und wird keine Herzogin von Queensbury mehr vom Balle ſchicken, weil ſie nicht probemäßig angezogen war.

Einen großen Eindruck machte auf mich die alte Abteikirche. Ich ſah ſie zuerſt prächtig erleuchtet, welches den eigenthümlichen Anblick ihres Innern freilich noch ſehr erhöhte. Ich habe ſchon[öfters] er - wähnt, daß alle engliſchen alten Kirchen durch ein - zelne moderne Monumente entſtellt ſind, hier aber ſind deren ſo viele, und mit einer ſolchen originellen Art von Symmetrie aufgeſtellt, daß der volle Con - traſt mit der einfachen und erhabnen Architektur einen ganz eignen neuen Genre von maleriſchem Effekt her - vorbringt. Denke Dir eine herrliche, ſchlanke gothi - ſche Kirche mit den ſchönſten Verhältniſſen, hell er - leuchtet, und in der Mitte durch einen rothen, herab - gelaſſenen Vorhang in zwei Hälften getheilt. Die275 Hälfte welche Du überſiehſt, bietet einen ganz leeren Raum, ohne Stuhl, Bank, noch Altar, nur der Bo - den bildet eine fortlaufende Moſaik eingelaſſener Grabſteine mit Inſchriften, und eben ſo ſind die Wände, bis zu einer gewiſſen Höhe, wo eine hori - zontale Linie abſchneidet, dicht und ohne Zwiſchen - raum, mit Büſten, Statüen, eingelaſſenen Marmor - tafeln und Monumenten aller Art bedeckt, bald von glänzend ſchwarzem, oder weißem Marmor, bald aus Porphyr, Granit oder andern bunten Steinarten ge - fertigt das Ganze dem Ausſehen eines Saales gleich, den ein Kunſtliebhaber, wie ein Muſeum, deko - rirt, und die Wände mit allerlei verſchiedenen Ge - genſtänden bedeckt hat. Bis zu der Linie, mit der die Monumente abſchneiden, war alles im hellſten Licht, weiter oben verlor ſich die Helle nach und nach, und unter dem Laubwerk der Gewölbe ward ſie zur undeutlichen Dämmerung. Ich und der Küſter wa - ren ganz allein in dieſem Raum,[während] noch grö - ßerer Lichtglanz hinter dem rothglühenden Vorhang zu ſchimmern ſchien, und von dort, aus der andern Hälfte der Kirche, der gedämpfte Geſang der Ge - meinde, wie aus unſichtbarem Heiligthume, zu uns herübertönte.

Viele intereſſante Leute liegen hier begraben, unter andern auch der berühmte Witzling Quin, für den Garrik eine Marmorbüſte und poetiſche Inſchrift her - geliefert hat. Am Monumente Waller’s fehlt die Naſe, und man behauptet, Jakob II. habe ſie ſelbſt,276 mit ſeinem Degen, in einer Anwandlung von Bigot - terie abgeſchlagen, als er die Kirche, kurz nach ſeiner Krönung beſuchte.

Haſt Du wohl von dem Sonderling Beckfort je gehört, eine Art Lord Byron in Proſa, der das prachtvollſte Schloß in England baute, ſeinen Park aber mit zwölf Fuß hohen Mauern umgeben ließ, und eben ſo viel Jahre lang Niemand den Eintritt darin verſtattete? Nun dieſer Mann verauktionirte plötzlich jenes Wunderhaus, Fonthill Abbey, (deſſen großer Thurm, an dem man, die Nächte durch, bei Fackelſchein gemauert, bald darauf einfiel,) mit Allem was darin war,*)Die Auktion dauerte mehrere Monate, und nie ſah man bei ähnlicher Gelegenheit eine reichere Sammlung der koſtbarſten und geſchmackvollſten Seltenheiten. A. d. H. und zog nach Bath, wo er eben ſo einſam lebt. In der Nähe der Stadt hat er abermals einen ſonderbaren Thurm, mitten im Felde, gebaut, dem als Dach eine genaue Copie des dimi - nutiv Tempels in Athen, den man die Laterne des Diogenes nennt, (Denkmal des Lyſicrates) aufgeſetzt iſt. Dahin fuhr ich heute, und konnte mir wohl denken, daß auf dieſem Platze die gerühmte Ausſicht277 merkwürdig ſeyn müſſe, Einlaß wurde mir jedoch nicht, und ich war genöthigt, blos mit meinem Phan - taſiebilde derſelben wieder umzukehren. Der Thurm iſt noch unvollendet, ſehr hoch, und ſteht in der offnen, grenzenloſen Einſamkeit einer Bergebne, wie ein Ge - ſpenſt da! Der Beſitzer ſoll früher ein Vermögen von drei Millionen Pfund beſeſſen haben, und noch ſehr reich ſeyn. Man[erzählte] mir von ihm, daß er ſich nur ſehr ſelten ſehen laſſe, wenn er aber zuwei - len ausreite, geſchehe es folgendermaßen: Ein eis - grauer Haushofmeiſter reite voran. Zwei Reitknechte mit langen Hetzpeitſchen hinter ihm. Dann folgt er ſelbſt, von fünf bis ſechs Hunden umgeben. Den Schluß machen wiederum zwei Reitknechte mit Peit - ſchen verſehen. So wie, während des Rittes, einer der Hunde ſich unfolgſam zeigt, hält die ganze Cara - vane an, und die Strafe wird ſogleich mit der Hetz - peitſche applizirt dieſer Edukationskurſus aber[während] der ganzen Promenade fortgeſetzt, bis man wieder zu Hauſe angelangt iſt. Früher hat Herr Beckford einen, zwar ſehr ſeltſamen, aber doch geiſt - reichen Roman in franzöſiſcher Sprache geſchrieben, der auch mit vielem Beifall in’s Engliſche über - ſetzt worden iſt. Ein großer Thurm ſpielt auch darin eine Hauptrolle, und der Teufel holt zuletzt Alles.

Noch eine andere drollige Anekdote von dieſem Beckford. Als er in Fonthill wohnte, plagte die Neugierde dies zu ſehen, einen benachbarten Lord ſo278 ſehr, daß er in der Nacht eine Leiter an die hohe Parkmauer legen ließ, und darauf hineinſtieg. Er wurde jedoch bald entdeckt, und vor Herrn Beckford gebracht, der ihn, nach Nennung ſeines Namens, wider Vermuthen, ſehr artig aufnahm, ſelbſt am Morgen überall herumführte, hierauf fürſtlich be - wirthen ließ, und dann erſt ſich zurückzog, indem er beim Abſchied ſich dem Lord noch auf das verbind - lichſte empfahl. Dieſer wollte nun, ganz vergnügt, über den ſo wohl gelungenen Zweck, zu Hauſe eilen, fand aber alle Thore verſchloſſen, und Niemand da, ſie zu öffnen. Als er deshalb zurückkehren mußte, und ſich im Schloſſe Hülfe erbat, ſagte man ihm, Herr Beckford ließe ihn erſuchen da herauszugehen, wo er hineingekommen wäre, die Leiter ſtand noch am bewußten Orte angelehnt. Der Lord äußerte ſich zwar ſehr anzüglich, es half aber nichts, er mußte ſich bequemen, die Stelle ſeiner verbotnen Entrée wieder aufzuſuchen, und die Leiter wieder hinauf zu klettern. Unter Verwünſchungen des boshaften Men - ſchenfeindes verließ er, für immer von der Neu - gierde, Fonthill zu beſuchen, geheilt, das verbotne Paradies.

Als Fonthill verkauft worden war, hielt ſich Herr Beckford eine Zeit lang in London auf, wo er in einer Vorſtadt verborgen wohnte. In ſeiner Nähe befand ſich der Garten eines ſeiner Blumenzucht we - gen berühmten Handelsgärtners. Dort ging er täg - lich ſpazieren, und bezahlte wöchentlich fünfzig Gui -279 neen für die Erlaubniß: während ſeiner Spazier - gänge ſoviel Blumen abzupflücken, als ihm beliebte.

Abends beſuchte ich das Theater, und fand ein recht hübſches Haus, darin aber ein deſto ſchlechteres Schauſpiel. Man gab Rienzi, eine elende, moderne Tragödie, die, bei der Uebertreibung und Unbehol - fenheit der Spieler, weder Weinen noch Lachen, ſon - dern nur Widerwillen und Langeweile erregte. Ich verließ daher Melpomene’s entweihten Tempel bald, und beſuchte meinen Freund, den Abteiküſter, um mir die Erlaubniß zu erbitten, die Kirche bei Mond - ſchein zu beſehen. Sobald er ſie mir geöffnet, ſchickte ich ihn fort, und wie ein einſamer Schatten unter den Pfeilern und Gräbern noch lange umherſchwär - mend, ließ ich die ernſtere Tragödie des Lebens vor mir aufſteigen, von den Schauern der Nacht und des Todes umweht.

Das Wetter iſt noch immer ſo ſchlecht, und hängt eine ſolche Drapperie über alle entfernte Dinge, daß ich keine Exkurſionen machen kann, und mich auf die Stadt beſchränken muß, die ſich indeß, durch die Menge und Mannichfaltigkeit ihrer Proſpekte, ganz zu den intereſſanteſten Promenaden eignet. Mit meiner Lieblings-Grabeskirche, fange ich jedesmal an,280 und höre damit auf wie das Menſchenleben das auch vom Tode ausgeht und damit endet. Der Architekt, welcher dieſen prächtigen Dom baute, hat in Zierarten und Verhältniſſen ſich ganz vom Ge - wöhnlichen entfernt. So ſteigen z. B., von außen, neben dem Portal, zwei Jakobsleitern, mit hinan - klimmenden Engeln, bis an das Dach empor, wo ſich die Kleinen hinter den Giebeln verlieren. Gar lieb - lich ſind die emſigen Himmelsſtürmer anzuſehen, und wie mich dünkt, ganz im Geiſte jener phantaſiereichen Architektur erfunden, die das Kindlichſte mit dem Erhabenſten, die ausgeführteſten Zierarten mit dem grandioſeſten Effekt der Maſſen zu verbinden wußte, und ſo zu ſagen, die ganze irdiſche Natur, mit Wald - Coloſſen und Blumen, mit Felſen und Edelſteinen (die bunten Fenſter) mit Menſchen und Thieren ab - bilden wollte, hierdurch aber am ſicherſten die heilige Stimmung nach jenſeits hervorrief. Mir iſt ſie immer als die ächt romantiſche, i. e.[ächt] deutſche, Bauart vorgekommen, aus unſerm eigenſten Gemüth entſproſſen. Doch glaube ich, ſind wir ihr jetzt ent - fremdet, da eine mehr ſchwärmeriſche Zeit dazu[ge - hört]. Wir können ſie wohl noch einzeln bewundern und lieben, aber nichts mehr der Art ſchaffen, was nicht den nüchternſten Stempel der Nachahmung trüge. Dampfmaſchinen und Conſtitutionen gerathen dagegen jetzt beſſer, als überhaupt alle Kunſt. Jedem Zeitalter das Seine.

Da ich die Contraſte liebe, ſo begab ich mich heute Abend, aus dem inhaltſchweren Tempel, unmittelbar281 auf den, in andrer Art eben ſo wohlgefüllten, und gleich ſtark illuminirten Stadtmarkt wo unter be - deckten Gallerieen alle Arten Viktualien verkauft wer - den. Alles iſt hier einladend, und elegant, der Ge - genſtand für tauſend Meiſterſtücke flämiſcher Pinſel, und ein genußreicher Anblick für den Gaſtronomen, der hier ſeine Natur ſchönheiten bewundert. Enor - mere Stücken Beef, ſaftroth in goldnem Fette zit - ternd, beſſer gemäſtetes, wie mit Eiderdaun geſtopf - tes Geflügel, ſtolzeres Gemüſe, ſchöngelbern Butter, ſaftigere Früchte und einladendere Fiſche ſah mein er - ſtauntes Auge nie! Alles war vom Glanze hundert bunter Lichter verherrlicht, und mit Lorbeer und rothbeerigtem Holly aufgeputzt. Statt eines Weih - nachtstiſches, waren hundert aufgeſtellt, und die Carrikaturen der verkaufenden Weiber glichen vor - trefflich den Pfefferkuchenpuppen, wir Käufer aber den neugierigen und erſtaunten Kindern. Schwerlich hätte die brillanteſte Geſellſchaft mich beſſer amüſiren können. Wenn ich einen gravitätiſchen Schöps an - ſah, der in jeder Pfote ein Inſeltlicht hielt, und ſich ſo ſelbſt erleuchtete, oder eine hängende Poularde, der man einen rothen Wachsſtock auf die Kehrſeite gepflanzt hatte, einen Kalbskopf mit einer Laterne zwiſchen den Zähnen, neben einem großen Gänſe - rich, dem zwei Kirchenlichter vorleuchteten, oder einen Ochſenſchwanz, durch den eine Gasröhre ging, die pretentiös im Flammenbüſchel endigte ſo machte ich mir die ergötzlichſten Vergleiche mit einer assem - blée in der Heimath, und fand die Aehnlichkeiten282 oft frappanter als die Portraits der berühmten Maler W. und S .....

Man lebt hier weit wohlfeiler als in andern Städ - ten Englands, beſonders in den ſogenannten boar - dinghouses, wo man für zwei bis drei Guineen wöchentlich, ganz vortrefflich bewirthet, und gut logirt wird, auch eine angenehme und ungenirende Geſell - ſchaft findet. Equipage braucht man nicht, da Porte - chaiſen üblich ſind.

Acht und vierzig Stunden haben endlich den Himmel verſöhnt, und der heutige Tag war, was man hier a glorious day nennt, nämlich ein ſolcher, an dem zuweilen die Sonne hinter den Wol - ken hervortritt. Du ahneſt ohne Zweifel, daß ich ihn nicht unbenutzt ließ. Ich erſtieg einen Berg neben der Stadt, von dem man das ganze Weichbild der - ſelben, und faſt jedes einzelne Haus überſehen kann. Die Abteikirche liegt, wie der Kern, in der Mitte; nach allen Seiten ſteigen die Straßen gleich Strah - len in die Höhe, und im tiefſten Grunde ſchlängelt ſich das Silberband des Avon durch ſie hin. Hier - auf ſetzte ich meinen Weg, auf einer ſchönen Prome - nade, bis Prior-Park fort, eine große und ehemals glänzende Beſitzung, die ein ſtolzer Lord erbaut hat,283 jetzt aber ein demüthiger Quäker inne hat, der das Schloß leer ſtehen läßt, und, der Conſequenz ſeiner Lehre getreu, im alten Stalle wohnt.

So ging der Vormittag hin; bei Dämmerung und Mondſchein richtete ich einen zweiten Spaziergang nach der andern Seite der Stadt, und fand dort den Anblick in der Stille der hellen Nacht noch pracht - voller. Der Himmel ſchimmerte in blaßgrüner Farbe, und an der rechten Hälfte deſſelben waren Maſſen ſchwarzer, tief ausgezackter Wolken gelagert. Die gegenüber liegenden Berge ſchnitten dagegen ihre ſanft gerundeten Linien, unter dem Mondlicht, ſcharf gegen den klaren Himmel ab,[während] das ganze Thal ein blauer Nebel füllte, durch den man nur Tauſende von Gaslampen flimmern ſah, ohne die Häuſer ſelbſt zu erblicken. Es ſchien ein Dunſtmeer, aus dem ſich unzähliche Sterne in verdoppeltem Feuer wiederſpiegelten.

Ich beſchloß den Tag mit einem heißen Bade in der Haupt-Badeanſtalt, und fand die Einrichtung überall ſehr bequem, reinlich und ſelbſt wohlfeil, auch die Bedienung prompt und beſcheiden.

284

Die üble Angewohnheit im Bett zu leſen, hat mir dieſe Nacht ein lächerliches Unglück zugezogen. Mein Haar nämlich fing unbemerkt Feuer, und ich mußte den Kopf in die Bettdecken wickeln, um es zu löſchen. Schrecklich iſt der angerichtete Schaden, denn die ganze eine Kopfhaarhälfte iſt vernichtet, ſo daß ich mich über und über faſt kahl habe ſcheeren laſſen müſſen. Glücklicherweiſe beſteht meine[Stärke] nicht in den Haaren.

Ein Brief von Dir tröſtete mich beim Erwachen. Deine Fabel von der Nachtigall iſt herrlich. Hätte L .... das bedacht, und ſich im zwanzigſten Jahre geſagt: Sey todt für die Welt bis zu Deinem fünf und dreißigſten, wie glänzend und glücklich könnte er jetzt (NB. nach dem Maßſtabe der Welt) darin auf - treten! Auch ich habe im Lauf dieſer Zeit und noch jetzt oft die Welt und Andere angeklagt, aber bei Licht beſehen,*)Es ſcheint, die Feuersbrunſt direkt am Haupt, hat mich mehr als gewöhnlich erleuchtet. iſt dies doch eben ſo thöricht als ungerecht. Die Welt iſt und bleibt einmal die Welt, und ihr alles Ueble, das uns daraus entgegen kommt, zurechnen zu wollen, iſt dem Kinde zu vergleichen, welches das Feuer beſtrafen will, weil es ſich die Finger daran verbrannt hat. L ... ſoll alſo nichts285 bereuen, denn hätte er fünfzehn Jahr als Murmel - thier vegetirt, ſo hätte er dieſe Zeit eben nicht gelebt, und folglich nicht erkannt. Es bleibt immer dabei que tout est pour le mieux dans ce meilleur des mondes.

Indem ich Dir herzlich wünſche, dies gleichfalls im - mer einzuſehen, empfehle ich mich Dir für diesmal zärtlichſt, und bin wie immer

Dein treuer L ....

[286]

Sechs und vierzigſter Brief.

Geliebte Freundin!

Geſtern Abend ſieben Uhr verließ ich Bath, wie - derum mit der Mail, für Salisbury. Ich fand mich allein im Wagen mit einer Wittwe in tiefer Trauer, demohngeachtet hatte ſie ſich ſchon wieder einen Lieb - haber angeſchafft, der vor dem Thore, als blinder Paſſagier, (aber kein Amor, ſondern ächter John Bull) Einlaß erhielt. Er unterhielt uns, wenn er nicht von der Landwirthſchaft ſprach, mit gräßlichen Tagesneuigkeiten, die die Engländer ſo ſehr lieben, daß ihre Zeitungscolonnen[täglich] damit angefüllt ſind. Zwei junge Leute, erzählte er unter anderm, Arbeiter in einer Tuchfabrik in Exeter, fielen vor acht Tagen, mit einander[ſchäkernd] und ſich jagend, in eine kochende Maſſe, welche viele Grade heißer als287 hoch ſiedendes Waſſer iſt. Obgleich beide nach vor - wärts fielen, ſprangen doch auch beide im Nu wie - der heraus, rannten aber, wie wahnſinnig, gegen die vorſtehende Wand, wo ſie in Convulſionen verſchieden. Ihr Anblick ſollte, nach Ausſage der Augenzeugen, über alle Beſchreibung furchtbar geweſen ſeyn, weil in der ungeheuern Hitze alles, von den Kleidern un - geſchützte Fleiſch, im Augenblicke gänzlich conſumirt worden war, und ſie daher, mit noch lebenden Todtenſchädeln auf den Schultern, aus der Pfanne hervorſtürzten. Vielleicht war auch der Mann, der uns ſolche furchtbare Dinge mittheilte, nur ein Acci - dentmaker, denn er hörte nicht auf mit Schreckens - geſchichten, und behauptete nachher, die Holyheadmail, dieſelbe mit der ich gekommen, ſey einige Tage dar - auf, bei einem Wolkenbruch weggeſchwemmt worden, und Pferde und Kutſcher nebſt einem der Paſſagiere dabei ertrunken. Iſt es wahr, ſo freue ich mich aller - dings, ſo viel paſſendere Zeit zu ihrem Gebrauch ge - wählt zu haben. Nach einigen Stunden verließ mich das zärtliche Paar, in einem Orte wo die Wittwe einen Gaſthof beſaß (wahrſcheinlich der wirkliche Gegenſtand von John Bulls Zärtlichkeit), und ich blieb nun ganz allein. Es dauerte aber nicht lange, ſo bat ein ſehr hübſches junges Mädchen, die wir in der Dunkelheit einholten, ſie bis Salisbury mitzu - nehmen, da ſie ſonſt die Nacht im nächſten Dorfe zubringen müſſe. Ich ertheilte die Erlaubniß ſehr gern und verſprach ſogar dem Kutſcher die Bezah - lung zu übernehmen, worauf ich von der DankbarenBriefe eines Verſtorbenen. II. 19288vernahm, daß ſie eine Putzmacherin ſey, und zur Chriſtmaß ſich bei ihren Aeltern etwas über die Zeit verſpätet, aber gleich auf die Durchfahrt der Mail gerechnet habe. Die Unterhaltung war jedenfalls an - genehmer als neulich mit der[ſiebenzigjährigen] Pu - ritanerin, ſo daß ich die Zeit ſehr kurz vergangen fand, als wir um Mitternacht die Stadt erreichten, wo ich ein gutes Soupé, dann aber nur ein rauchen - des und kaltes Schlafzimmer zur Nachtruhe erhielt.

Schon früh am Morgen weckte mich das eintönige Geplätſcher eines[ſanften] Landregens, ſo daß ich noch immer (es iſt bereits Mittag) leſend beim Frühſtück ſitze. Ein gutes Buch iſt doch eine wahre Elektriſir - maſchine! die eignen Gedanken ſprühen dabei auch manchmal wie ein Feuerwerk; ſie verlöſchen aber ge - wöhnlich eben ſo ſchnell, denn wollte man die Funken gleich mit Feder und Tinte fixiren, ſo hörte der Ge - nuß auf, und, wie beim Traume, wäre es nachher der[Mühe] doch vielleicht nicht werth. Das Buch, von dem ich mich heute magnetiſiren ließ, iſt eine ſehr in - genieuſe, und admirabel zum Selbſtunterricht einge - richtete, fortlaufende Verbindung von Geſchichte, Geographie und Aſtronomie, in ihren Grundzügen. Dieſe kleinen Encyclopädieen ſind eine große Be - quemlichkeit unſrer Zeit. Freilich kömmt wahrer289 Nutzen immer erſt mit dem Studium der Details, indeſſen müſſen die Mauern doch erſt hingeſtellt ſeyn, ehe man die Gemächer ausſchmücken kann. Bei einem wie dem andern Studium aber, halte ich Selbſtunterricht für den Erfolgreichſten, wenigſtens war er es bei mir gewiß iſt es jedoch, daß manche Menſchen überhaupt, und auf keine Art etwas wahr - haft lernen können. Studiren ſie z. B. Geſchichte, ſo macht ſie ihnen nie das Ewige und Wahre an - ſchaulich; es bleibt für ſie nur eine Chronik, die ihr vortreffliches Gedächtniß an den Fingern abzählt. Jede andre Wiſſenſchaft wird von ihnen ebenfalls nur mechaniſch erlernt, und bleibt bloßes Buchſtaben - werk. Dennoch wird in der Regel grade dies gründ - liches Wiſſen genannt, ja die meiſten Examinato - ren von Profeſſion verlangen nichts mehr. Das Un - weſen, das in dieſer Hinſicht noch an manchen Orten ge - trieben wird, würde zu ergötzlichen Anecdoten Anlaß geben, wenn man es[näher] beleuchtete. Ich kenne unter andern einen jungen Mann, dem, im diploma - tiſchen Examen, welches erſt kürzlich in einer gewiſſen Reſidenz eingeführt worden war, die Frage vorgelegt wurde: Wieviel wiegt ein Kubikfuß Holz? Schade daß er nicht antwortete: Wieviel wiegt ein Gold - ſtück, oder wieviel Gehirn hat ein Dummkopf? Ei - nen Andern vom Militairfach frug man daſelbſt: welches die merkwürdigſte Belagerung ſey? Ohne zu ſtocken erwiederte dieſer, (ein in Deutſchland natio - naliſirter Ausländer): die Belagerung von Jericho, weil die Mauern mit Trompeten[eingeblaſen] wurden. 19*290Man könnte Cannondrum’s davon machen, und ich glaube faſt, daß dieſe langweilige Spielerei ſich von dergleichen Examinirungen herſchreibt. Viele Geiſt - liche fragen jetzt wieder: Glauben Sie an den Teu - fel? Ein mauvais plaisant, der ſich vor dem Repuls nicht eben allzuſehr fürchtete, antwortete neulich: Samiel hilf!

Gegen drei Uhr klärte ſich der Himmel ein wenig auf, und da ich nur darauf gewartet, eilte ich in den, ſchon im Voraus beſprochnen, Gig zu ſteigen, und fuhr mit einem alten Hunter im Gallop nach Stonehenge, dem großen Druidentempel, Grabmal, oder Opferaltar. Die Gegend um Salisbury iſt ſehr fruchtbar, aber leer von Bäumen, und in keiner Art pittoresk. Auch das wunderbare Stonehenge ſteht nur auf einem weit ausgedehnten kahlen Wieſenhü - gel. Die feuerrothe Sonnenkugel ohne Wolken, be - rührte in demſelben Augenblick den Horizont, als ich, erſtaunt über das[unerklärliche] Denkmal, das vor mir lag, an den erſten Druidenſtein trat, den die untergehenden Strahlen mit ſchönem Roſa färbten. Kein Wunder iſt es, daß dieſes Monument vom Volke dämoniſchen Kräften zugeſchrieben wird, denn kaum würde, ſelbſt in unſern Zeiten, mit allen Hülfs - mitteln der Mechanik, ein ſolches Werk zum zweiten -291 mal zu Stande zu bringen ſeyn. Wie wurde es alſo einem faſt wilden Volke möglich, ſolche Maſſen auf - zurichten, und dreißig Meilen weit (denn näher be - findet ſich kein Steinbruch) herzutransportiren? Das Ganze bildet einen unregelmäßigen Kranz, theils noch aufrecht ſtehender, theils umgeworfner, halb in die Erde wieder verſunkner Cromlechs (zwei aufgerichtete Steine, über die ein dritter gelegt iſt). Mehrere von dieſen beſtehen aus einzelnen Maſſen von fünf und zwanzig Fuß Länge und zehn Fuß Breite, wahre Felſen, ſo daß Manche behauptet haben, Stonehenge ſey nur ein Spiel der Natur, was jedoch keinem Augenzeugen zu glauben einfallen wird. Ich war nicht der einzige Beſchauer. Ein einſamer Fremder wurde mehrmals ſichtbar, der, ohne von mir Notiz zu nehmen, ſchon ſeit einer Viertelſtunde beſtändig zählend unter den Steinen umherging, und ſehr un - geduldig etwas zu betrachten ſchien. Ich nahm mir daher die Freiheit, ihn, als er eben wieder hervortrat, mit einer Frage über ſein ſonderbares Benehmen zu ſtören, worauf er mir auch ſogleich höflich erwiederte, man habe ihm geſagt, Niemand könne dieſe Steine richtig zählen, jedesmal käme eine andere Zahl heraus, und dies ſey ein Trick (Schabernack), den Satanas, der Erbauer dieſes Werks, den Neugierigen ſpiele. Er habe nun ſchon ſieben mal, ſeit zwei Stunden, die Erfahrung beſtätigt gefunden, und werde gewiß noch närriſch werden, wenn er ſie weiter fortſetze. Ich rieth ihm daher, lieber davon abzuſtehen, und ſich zu Hauſe zu begeben, da es ohnedem dunkel292 werde, ſonſt könne ihm am Ende Satanas einen noch viel üblern Streich vorbehalten haben. Er fixirte mich ſatyriſch, mit ganz unheimlichen Augen, ſah ſich wie nach Jemand um, rief dann mit einemmal: Good bye Sir, und zog ohne Schatten wie Schlehmil (die Sonne war freilich untergegangen) mit wahren Siebenmeilen-Schritten über die Wieſe, wo er unter dem Hügel plötzlich verſchwand. Ich cilte nun auch von meiner Seite, mich zur Rückkehr zu rüſten, und trabte bald dem hohen Thurme von Salisbury wie - der zu, den ſchon die Dämmerung verdeckte. Kaum war ich indeß eine Meile ſcharf gefahren, als der morſche, hohe Gig zuſammenbrach, und der Kutſcher wie ich ſelbſt, ziemlich unſanft auf den Raſen gewor - fen wurden. Der alte Gaul aber lief mit der abge - lösten Gabel, luſtig wiehernd, und in verſtärkterem Tempo der Chauſſee und Stadt zu. Während wir uns mühſam aufrichteten, hörten wir auch Pferde - getrappel hinter uns es war der Fremde, der auf einem ſchönen, ſchwarzen Roß vorbeigallopirte, und mir lächelnd zurief: Der Teufel läßt ſchönſtens grü - ßen, verehrter Herr! A revoir! und damit ſprengte er, wie ein Wirbelwind, davon. Dieſer Hohn war wirklich ärgerlich. O, Sie unzeitiger Spaßmacher, ſchrie ich ihm ſcheltend nach, helfen Sie uns lieber, ſtatt Ihrer Fadaiſen! Aber nur das Echo ſeiner Hufſchläge antwortete uns durch die einbrechende Dunkelheit. Mein Kutſcher lief zwar dem entflohenen Klepper eine Meile nach, kam aber bald unverrichte - ter Sache zurück. Es half nichts, wir mußten uns293 entſchließen, da auch nicht eine Hütte ſich auf unſerm Wege befand, die übrigen ſechs Meilen zu Fuße zu gehen. Nie ſchien mir ein Weg langweiliger, und wenig nur entſchädigten mich die Wundergeſchichten, die mir der Kutſcher unterwegs von ſeinem Hunter erzählte, als derſelbe vor zwanzig Jahren noch der Leader (Anführer) der Salisburyſchen Hunt gewe - ſen ſey.

Ich benutzte den heutigen Tag ſehr gut, trug aber, wahrſcheinlich noch als Nachwehen von der geſtrigen Nachtpartie, Abends ein derbes Kopfweh davon. Da es indeſſen nur rheumatiſcher Natur iſt, kehre ich mich nicht daran, ſetze meine Füße in Senf, Salz und heißes Waſſer, und beginne.

Salisbury’s weitberühmte Cathedrale rühmt ſich des höchſten Thurms in Europa. Er iſt vierhundert und zehn Fuß hoch, welches fünf Fuß höher iſt, als der Strasburger Münſter, wenn ich nicht irre, doch iſt jener wenigſtens weit ſchöner. Das Aeußere des großen Doms zeichnet ſich vorzüglich durch ein auf - fallendes Anſehn von Neuheit und Nettigkeit aus, ſo wie durch ſeine[gänzliche] Vollendung in jedem Detail. Er verdankt dies zwei Hauptreparaturen, die im Laufe der Zeit mit ihm vorgenommen wurden, die erſte unter Chriſtoph Ween, die zweite unter294 Wyatt’s Aufſicht. Auch die Lage dieſer Kirche iſt eigen - thümlich, da ſie, wie ein Modell, ganz frei auf einem ſchön gehaltenen Platze kurzen Raſens ſteht, den auf der einen Seite des Biſchoffs-Pallaſt und die Cloiſters, auf der andern hohe Linden umgeben. Der Thurm endet in einer Obeliskenartigen Spitze mit einem Kreuze, auf dem, omineus genug, eine Wetterfahne befeſtigt iſt. Dieſer geſchmackloſe Gebrauch ſchändet die meiſten gothiſchen Kirchen in England. Der Thurm ſteht fünf und zwanzig Zoll aus dem Lothe, ohne daß man es jedoch bemerkt, nur im Innern ſieht man die weichende Biegung der Pfeiler, die zu ſeiner Stütze beſtimmt ſind. Dies Innere des heh - ren Tempels iſt äußerſt impoſant, und von Wyatt’s Genie noch mehr hervorgehoben. Eine vortreffliche Idee war es, die merkwürdigen alten Monumente von den Wänden und Winkeln abzulöſen, und frei zwiſchen die prachtvolle doppelte Pfeilerallee aufzuſtel - len, deren, durch nichts unterbrochne, ſchlanke Höhe faſt Schwindel erregt. Nichts kann ſich ſchöner aus - nehmen, als dieſe lange Reihe von gothiſchen Sar - kophagen, auf denen die Rieſenfiguren der Ritter und geiſtlichen Fürſten ausgeſtreckt in ihrem ewigen Schlafe liegen, während die Stein - und Metallrüſtun - gen von den bunten Glasfenſtern mit allen Regen - bogenfarben überglänzt werden. Unter Templern und andern Rittern liegt hier auch Richard Langſchwerdt begraben, der mit dem Eroberer nach England kam; neben ihm eine Rieſengeſtalt in Alabaſter, der Schwerdtträger Heinrich des VII., der bei Bosworth -295 Field blieb und ſtets mit zwei langen Schwertern, eins rechts, eins links, focht, mit denen er auch hier abgebildet iſt.

Die Klöſter ſind ebenfalls ſehr ſchön. Lange, kunſt - reiche Gallerieen führen im Viereck, um den Capitel - ſaal, welchen letztern nur eine einzige[Säule] in der Mitte ſtützt, wie den Remter in Marienburg. Die Basreliefs, die in breiten Bändern den Saal umga - ben, ſcheinen von ſehr guter Arbeit zu ſeyn, ſind aber zu Cromwells Zeit halb zerſtört worden. In der Mitte ſteht noch ein halb vermoderter Tiſch von Ei - chenholz aus dem 13ten Jahrhundert, auf den, nach ziemlich glaubwürdigen Nachrichten, die Arbeiter am Kirchbau jeden Abend ausgezahlt worden ſein ſollen, und dies zwar damals mit einem Pfennig pro Tag. Die Beſteigung des Thurms iſt ſehr beſchwerlich. Die letzte Hälfte muß man, wie beim Stephansthurm in Wien, auf ſchmalen Leitern hinan klimmen. End - lich kommt man an eine kleine Dachthüre, dreißig Fuß unter dem Knopfe. Aus dieſer Thüre ſteigt der Mann, welcher die Thurmfahne wöchentlich öhlt, auf eine ſo gefährliche Art heraus, daß es beinahe unbe - greiflich ſcheint, wie der ſiebzigjährige Greis, der die - ſen Poſten bekleidet, es auszuführen im Stande iſt. Ueber dem Fenſter hat, wie geſagt, die ſchmale Thurmſpitze noch dreißig Fuß Höhe, wo nichts als eiſerne Klammern außerhalb zum Hinaufklettern be - feſtigt ſind. Der Alte muß nun rückwärts aus der kleinen Lucke ſteigen, ſich, wegen des Regendaches,296 mit dem Oberleibe tief aus derſelben herabbiegen, und ſo nach der erſten Klammer darüber tappen, ohne ſie noch ſehen zu können. Hat er ſie durch das Gefühl endlich erreicht und feſt gefaßt, ſo ſchwingt er ſich, an ihr in der Luft hängend, daran hinauf, und ſucht, während dem, mit den Füßen das Regen - dach zu gewinnen, von dem er dann von Klammer zu Klammer hinaufſteigt. Gewiß wäre es leicht, eine bequemere und weniger gefährliche Vorrichtung an - zubringen, aber der Thürmer iſt es einmal ſo von ſeiner Kindheit an gewöhnt, und will es nicht anders haben. Selbſt bei Nacht iſt er ſchon dieſen hals - brechenden Weg gegangen, und freut ſich, daß nur ſelten ein Fremder, ſelbſt Matroſen, die ſonſt überall hinklettern, es gewagt hat, ihm zu folgen.

Als wir zur erſten, frei um den Thurm führenden, Gallerie wieder herabkamen, zeigte mir der Führer einen Habicht, der nur zwanzig bis dreißig Fuß über uns ſchwebte. Seit vielen Jahren, ſagte er, hält ſich ein Paar dieſer Vögel auf dem Thurm auf, und nährt ſich von des Herrn Biſchoffs Tauben. Ich ſehe oft einen oder den andern, fuhr er fort, über dem Kreuz ſich wiegen, und dann plötzlich auf die Vögel unten ſtoßen; manchmal läßt er ſie auch auf das Kirchdach oder die Gallerie wieder herabfallen, geht aber nie ein zweitesmal nach einer ſo verlornen Beute, und läßt ſie gewiß dort verfaulen, wenn ich ſie nicht weghole. Des Biſchoffs Pallaſt und Garten breiteten ſich maleriſch unter uns aus, und alle297 Schornſteine rauchten freudig, denn His Lordship waren eben angekommen, präparirten ſich aber auch ſchon wieder zu einer neuen Badereiſe. In der Kirche, meinte mein Führer, ſähe man den Herrn Biſchoff kaum zwei bis dreimal des Jahres. Predi - gen thäten Hochdieſelben nie. Ihr heiliges Geſchäft beſtehe blos darin, 15,000 Pf. St. mit ſo viel Ge - ſchmack zu verzehren, als Ihnen der liebe Gott ver - liehen habe die Arbeit aber werde hinlänglich von Subalternen verrichtet. Dieſe ſchöne Einrichtung iſt das Einzige was uns noch auf dem Continent fehlt, um ganz glücklich zu ſeyn, das Einzige was der Mühe werth wäre, aus England nachzuahmen. Auf dem Rückweg ſpazierte ich in dem dämmernden Dome noch eine Weile, unter den herrlichen Monumenten und den alten Rittern umher, die meine Einbildungs - kraft von Neuem aus ihren Gräbern citirte denn alles dies, gute Julie, haben wir ja auch früher mit - erlebt, und betrachten jetzt mit Verwunderung unſre eignen alten Bilder, wie wir einſt als Nachkommen, in tauſend Jahren, wieder die jetzigen anſtaunen werden.

Ich hatte Sorge getragen, mir für heute einen ſo - lideren Wagen als den geſtrigen zu verſchaffen, und fuhr nun in dieſem recht gemächlich nach Wilton, dem ſchönen Schloſſe des Grafen Pembroke. Hier iſt eine werthvolle Antiken-Sammlung, die von dem verſtorbnen, kunſtliebenden Grafen ſehr geſchmackvoll aufgeſtellt worden iſt. Sie befindet ſich in einer brei -298 ten, rund um den innern Schloßhof laufenden Galle - rie, die mit ſämmtlichen Appartements des erſten Stockes communicirt, und ihr reichliches Licht nur von einer Seite erhält. Winter und Sommer ge - währt ſie daher den intereſſanteſten Spaztergang, und wird mit wenigen Schritten aus jedem Zimmer erreicht. In den Fenſtern hat man die bunten Wap - pen aller Familien angebracht, mit denen die Pem - brokes im Lauf der Zeiten durch Heirath alliirt wurden, eine reiche Sammlung, unter der ſich auch das Königlich Engliſche Wappen befindet. In der Halle aber ſind die Rüſtungen der alten Kriegshel - den aus der eignen Familie aufgeſtellt, und Die ih - rer vornehmſten Gefangnen, als der Connetable von Montmorency, ein franzöſiſcher Prinz von Geblüt, und mehrere Andere. Gewiß, dieſe alten Erinnerun - gen einer hohen und machtigen Ariſtokratie haben ihre poetiſche Seite.

Die Caſtellanin, welche mich herumführte, ſchien ſelbſt aus einer jener coloſſalen Rüſtungen hervorge - krochen zu ſeyn, denn ſie war ihre volle ſechs Fuß hoch, und mit einem Schnurbart geſchmückt, deſſen ſich der alte Connetable nicht zu[ſchäumen] gehabt hätte. Auch konnte man nicht beſſer in der Geſchichte des Mittelalters bewandert ſein; dagegen mißhandelte ſie die Namen römiſcher Kaiſer und griechiſcher Phi - loſophen auf eine barbariſche Weiſe, erklärte aber ohne Scheu einige ſehr leichtfertige Darſtellungen ganz richtig, und mit ſehr drolligen Kennerausdrücken.

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Einer der anſtoßenden Säle iſt abermals mit Fa - milienportraits angefüllt, die jedoch mehr Glanz durch Holbein und Vandyk, als durch die dargeſtell - ten Perſonen erhalten. Nach einiger Zeit überſtralt in der Regel der Kunſtadel den angebornen, comme de raison. Das Schloß enthält außerdem noch mehrere Bilder von Bedeutung, unter denen mir eine Grablegung von Albrecht Dürer, mit gro - ßem Detail in Waſſerfarben ausgeführt, am auffal - lendſten war. Ein Garten der Gräfin, auf den ſich die Bibliothek-Thüren öffnen, iſt im altfranzöſiſchen Geſchmack angelegt, und wird durch einen kleinen, ſehr reichlich verzierten Tempel geſchloſſen, der eine beſondere Merkwürdigkeit an ſich trägt. Er iſt näm - lich vom Maler Holbein erbaut, darum aber um nichts geſchmackvoller, ſondern im Gegentheil ein häß - lich überladnes Monument. Deſto niedlicher iſt der Garten, und es gereicht den engliſchen Frauen von Rang zur Ehre, daß ſich die meiſten durch eine ganz überlegne Kunſtfertigkeit in dieſer Hinſicht auszeich - nen. Man würde ſich ſehr irren, wenn man hoffte, daß irgend ein engliſcher Gärtner im Stande wäre, Meiſterſtücke von Gartenausſchmückung, wie ich Dir in meinen früheren Briefen viele geſchrieben*)Dieſe Briefe gehören den erſten Theilen an, die noch nicht publizirt werden konnten. A. d. H. , an - zulegen. Dieſe verdanken alle ihr Daſeyn nur dem Kunſtſinn und der liebenswürdigen Häuslichkeit der Beſitzerinnen.

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Ich hätte dieſes Schloß nicht zu ſehen bekommen, da es durchaus verboten war, irgend einen Frem - den, ohne eine ſchriftliche Erlaubniß des Beſitzers, einzulaſſen, wenn ich nicht die unſchuldige Liſt ge - braucht hätte (welche der Herr des Hauſes wenn er es erfahren, mir nun wohl verziehen haben wird) mich bei der ritterlichen Caſtellanin für einen ruſſi - ſchen Verwandten der Familie auszugeben, mit ei - nem, für ſie unlesbaren und unausſprechbaren, Na - men. Es iſt zu unangenehm 4 Meilen gefahren zu ſeyn, eines ſolchen Zweckes halber, und dann un - verrichteter Sache wieder zurückkehren zu müſſen, daher lade ich meine Nothlüge auf die Schuld der inhumanen engliſchen Sitten, denn bei uns iſt man nicht ſo grauſam, und nie wird hier einem Englän - der mit gleicher Illiberalität vergolten.

Auf der andern Seite der Stadt liegt eine zweite intereſſante Beſitzung, Langford, dem Grafen Rad - nor gehörig, ein weiter Park und ſehr altes Schloß, von ſonderbarer dreieckiger Form mit ungeheuer dicken Thürmen, deren Mauern Moſaik nachahmen. In unanſehnlichen, niedrigen und ſchlecht meublirten Zimmern fand ich hier eine der koſtbarſten Gemälde - ſammlungen, ausgeſuchte Bilder der größten Meiſter, wie es deren ſo viele bei engliſchen Privatperſonen giebt, verborgene Schätze, die Niemand ſieht, und Niemand kennt. Ein Sonnen-Auf - und Untergang von Claude Lorrain ſtehen oben an. Der Morgen zeigt uns Aeneas mit ſeinem Gefolge am glücklichen Strande Italiens landend, und man beneidet die301 Ankömmlinge um das Landſchaftsparadies, das ſich vor ihnen erſchließt. Auf dem Abendbilde ver - goldet die ſinkende Sonne prächtige Ruinen verwach - ſener Tempel und Pallaſte, die eine einſame, ver - wilderte Gegend umgiebt. Auf - und Untergang des römiſchen Reichs ſollten dadurch allegoriſch darge - ſtellt werden. Waſſer, Wolken, Himmel,[Bäume], die durchſichtige zitternde Sonnenatmosphäre es iſt, wie immer bei Claude, die Natur ſelbſt, die man nur wie neu geſchaffen ſieht. Es iſt gewiß ſchwer zu begrei - fen, wie ein Mann im fünf und dreißigſten Jahre noch Koch und Farbenreiber ſeyn, und im fünf und vierzig - ſten die Welt mit ſolchen nie erreichten Meiſterſtücken beſchenken konnte! Der[wunderſchöne] Kopf einer Mag - dalena von Guido, deren thränende Augen, und heißer, halb geöffneter Roſenmund freilich mehr zu tauſend Küſſen als zur Reue einladen, eine in aller Pracht des Colorits glänzende Santa famiglia von Andrea del Sarto, und mehrere andere Meiſter - ſtücke andrer gefeierter Meiſter hielten mich noch meh - rere Stunden hier feſt. Ein Portrait des Grafen Eg - mont hätte ſchlecht zum Titelkupfer vor Göthes Tra - gödie gepaßt, denn der lebensluſtige Schwärmer er - ſchien hier als ein ziemlich corpulenter Vierziger mit einer Platte auf dem Kopf, und einer wahren All - tags-Phyſiognomie auf dem Geſicht. Ein ganz an - ders geiſtvolles Antlitz zeigte ſein neben ihm hängen - der Freund von Oranien. Zwiſchen Beiden ſaß der finſtere, die Grauſamkeit als Luxus treibende, Alba zu Pferde.

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Außer den Gemälden und einigen Antiken enthält das Schloß noch eine andre ſeltne Koſtbarkeit, einen Stuhl oder Thron von Stahl, den die Stadt Augs - burg dem Kaiſer Rudolph II. ſchenkte, die Schwe - den unter Guſtav Adolph erbeuteten, und ein Vorfahr des Grafen Radnor in Stockholm kaufte. Die Arbeit iſt bewunderungswürdig. Wie ſchwinden vor dieſem Kunſtwerk alle Zierlichkeiten unſrer Tage, von Birmingham, der Berliner Eiſenfabrik ꝛc., zu elenden Spielereien und wahrem Tand! Man glaubt ein Werk Benvenuto Cellini’s vor ſich zu ſehen, und weiß nicht was man mehr bewundern ſoll, ob die herrliche Ausführung und Grazie der Details, oder die geſchmackvolle und künſtleriſche Anordnung des Ganzen?

Den geſtrigen Tag mußte ich meinem Erbfeinde, der Migraine, opfern; heute reiste ich in fortwäh - rendem Regenwetter nach der Metropolis, und ſetze morgen früh meinen Weg nach Frankreich fort. Die Gegend bot wenig Anziehendes dar, deſto animirter war das Geſpräch[auf] unſrer Imperiale und rou - lirte, faſt den ganzen Tag, über einen berühmten Boxing Match, wobei, wie es ſchien, ein Jankee den John Bull angeführt, und durch Beſtechung des303 Haupt-Boxers wie man ſagte, 10,000 Pf. St. ge - wonnen hatte. Dieſe Betrügereien bei allen Arten von Sport, ſind ſo gäng und gebe in England, unter den niedrigſten wie den höchſten Klaſſen, ge - worden, wie es das falſche Spiel zu den Zeiten des Grafen von Grammont war. Viele rühmen ſich faſt öffentlich damit und ich habe nie gefunden, daß Solche, die als die most Knowing ones *)Solche, die Andere am pfiffigſten anzuführen verſtehen. A. d. H. be - kannt ſind, dadurch an ihrer Reputation in der Ge - ſellſchaft gelitten hätten au contraire, ſie paſſir - ten für geiſtreicher als die übrigen, und man warnte nur hier und da lächelnd, ſich vor Denen in Acht zu nehmen. Einige der erſten Mitglieder der Ari - ſtokratie ſind in dieſer Hinſicht ganz notoriſch, und ich weiß, daß der Vater eines ſolchen Nobleman, dem man die Beſorgniß äußerte, daß ſein Sohn doch einmal von einem Blackleg (Betrüger) angeführt werden könne, antwortete: Ich bin dabei weit mehr für die Blacklegs, als für meinen Sohn beſorgt! Ländlich, ſittlich! Was auch, wiewohl auf einer un - tern Stufe, England charakteriſirte, war, daß der Kutſcher, der uns fuhr, in dem beſagten unglückli - chen Match ebenfalls 200 Pf. St. verloren hatte, und darüber nur lachte, indem er zu verſtehen gab, er würde ſchon eine andere Dupe finden, die es ihm mit Intereſſen wieder einbrächte! Wie weit wird derBriefe eines Verſtorbenen. II. 20304march of intellect auf dem Continent noch wandern müſſen, ehe die Poſtillone des Fürſten von Turn und Taxis und die[Eilwagenführer] des Herrn von Nagler dergleichen Wetten mit den Reiſenden unter - nehmen[können].

Einige Stunden von Windſor kamen wir durch eine in England ſeltene Gegend, die blos aus Sand und Kiefern beſteht. Hier hat man ein prachtvolles Palais mit Park und Gärten erbaut, die neue Mi - litair-Schule, welche mit allem Luxus einer fürſtli - chen Beſitzung ausgeſtattet iſt. Die Kiefern erſchie - nen mir heimathlich, der Pallaſt nicht. Während ich noch mit den erſten liebäugelte, car à toute âme bien née la patrie est chère, erblickten wir einen altersgrauen Fuchs, der mit nachſchleppender Ruthe, über das Haidekraut hergallopirt kam. Der wettlu - ſtige Kutſcher ſah ihn zuerſt, und ſchrie: By God a fox, a fox! It’s a dog, behauptete ein Anderer. I bet You five ponuds to four, it is a fox! erwiederte der Roſſebändiger. Done! rief der Zweifler, und mußte gleich darauf zahlen, denn es war wirklich ein nicht mehr zu bezweifelnder Fuchs, wiewohl von ſeltner Größe. Jetzt erſchienen meh - rere verlaufene Jagdhunde, die die Spur verloren hatten, und auch einzelne Rothröcke wurden in dem Kieferdickicht ſichtbar. Alles ſchrie ihnen von der Mail zu, wohin der Fuchs gelaufen, ohne es ihnen jedoch verſtändlich machen zu können. Die Zeit der Mail iſt ſtreng gemeſſen, und jeder unnöthige Auf -305 enthalt verpönt, aber hier war ein nationales Un - glück im Spiel denn die meute und Jäger hat - ten den Fuchs verloren! Der Kutſcher hielt an, und Mehrere ſprangen herab, dem Troß, der nun ſich mit jedem Augenblick vermehrte, den rechten Weg zu zeigen. Nicht eher wurden wir wieder flott, bis wir von Neuem die Jagd in vollem Gange ſahen, wozu wir die Hüte ſchwenkten und Tallyho! rie - fen. Sobald unſer Gewiſſen hiernach gänzlich be - ruhigt war, und der Fuchs in der Plaine ſeinem unvermeidlichen Schickſal überliefert, peitſchte der Kutſcher in die Pferde, die Verſäumniß nachzuholen, und den Reſt des Weges jagten wir im ſauſenden Gallop davon, als wenn der wilde Jäger ſelbſt hin - ter uns wäre.

Aber 12 Uhr hat’s geſchlagen und bald hätte ich vergeſſen, nach guter alter Sitte, Dir zu gratuli - ren denn

Ein neues Jahr beginnt,
Schon Sand auf Sandkorn rinnt!
Wird’s Glück bedeuten,
Oder Unheil bereiten?

Im wachenden Traume erſcheint mir das Bild meines räthſelvollen Lebens

Die Wolken zieh’n, die Stürme ſauſen,
Der Donner rollt, die Fluthen brauſen,
Gefahrvoll iſt das Schiff zu ſchauen,
Wer mag dem falſchen Meere trauen!
20*306
Doch hinter jenem ſchwarzen Schleier
Erhellt die Nacht ein goldner Blick
Iſt es der Mond in ſanfter Feier,
Oder der Sonne Abſchiedsblick?

Der Bock der Mail iſt mein Thron geworden, von dem ich auch zuweilen regiere, und die Zügel vier ra - ſcher Roſſe ſehr gut zu führen weiß. Stolz über - ſchaue ich dann das Land, flüchtig eile ich vor - wärts, (was nicht alle Regierer von ſich rühmen können) und dennoch wünſche ich mir manchmal Flü - gel nur um noch ſchneller bei Dir zu ſeyn.

In London that ich den ganzen Morgen nichts als, Deinem Befehl gemäß, eine würdige Gema - lin für Francis aufzuſuchen, aber die ächten Blenheim-Spaniels ſind verzweifelt rar. Was ich auch ſah, es paßte nicht. Entweder waren die Ohren zu lang, oder zu kurz; die Beine zu krumm, oder zu auswärts; das Fell zu bunt, oder nicht reich genug gefleckt; der Humor zu biſſig, oder zu ſchläfrig kurzum, ich mußte bald von der unnützen Jagd abſtehen.

Als ich in Canterbury ankam, flaggten alle Thürme zum Neujahrstage, ich aber feierte ihn noch herrli - cher in der ſtolzeſten und ſchönſten aller engliſchen307 Cathedralen. Dieſer romantiſche Bau, der von den Sachſen angefangen, von den Normanen fortgeſetzt, und neuerlich mit Verſtand reſtaurirt worden iſt, bildet eigentlich drei ganz verſchiedene, aber zuſam - menhängende Kirchen, mit vielen unregelmäßigen Seiten-Kapellen und Treppen, auf und niederſtei - gendem ſchwarz und weiß gegatterten Steinboden, und einem Wald von Pfeilern darauf, in harmoni - ſcher Verwirrung. Auch die gelbliche Farbe des Sandſteins wirkt ſehr vortheilhaft, beſonders in dem normänniſchen Theil der Kirche, wo er mit ſchwar - zen Marmorſäulen abwechſelt. Hier liegt das Bild in Erz des ſchwarzen Prinzen auf ſeinem Stein - Sarkophage. Ueber ihm hängt ſein halb vermoder - ter Handſchuh, nebſt dem Schwerdte und Schild von Poitiers. Eine Menge andrer Monumente zieren außerdem die Kirche, unter andern das Heinrich des IV. und des Thomas a Becket, welcher in einer der Seitenkapellen ermordet ward. Ein großer Theil der alten bunten Fenſter iſt erhalten, und von unge - meiner Schönheit der Farben. Einige bieten bloße Muſter und Arabesken, gleich durchſichtigen Sammt - tapeten, dar, andere ſcheinen, wie Juwelierarbeit, aus Edelſteinen aller Farben zuſammengeſetzt. Hi - ſtoriſche Gemälde ſtellen nur wenige dar. Was die - ſem grandioſen Dom einen beſondern Vorzug vor den übrigen in England giebt, iſt, daß hier der ſtö - rende Schirm in der Mitte nicht exiſtirt, und man die ganze Ausdehnung des Schiffes von 4 500 Schritt Länge mit einem Blicke überſieht. Die Or -308 gel iſt in einer der obern Galleriebögen verſteckt an - gebracht, und macht von da aus, wenn ſie ertönt, einen zauberiſchen Effect. Ich traf es ſo[glücklich], daß, eben als ich gehen wollte, ſchon halb im Dunkeln, die Sänger und Muſiker eine Uebungsſtunde hielten, und ihre ſchönen unſichtbaren Himmels-Chöre zu glei - cher Zeit den Dom erfüllten, als die letzten Sonnen - ſtralen im Saphir-Blau und Rubin-Roth der Fen - ſter erglühten. Der Erzbiſchoff von Canterbury iſt Primat von England und der einzige Unterthan, in Großbritannien, der, außer dem Königlichen Blut, die Fürſtenwürde hat, jedoch nur in ſeinem Erzbi - ſchoffs-Sitz, nicht in London, ſo viel ich weiß. Die - ſer proteſtantiſche Geiſtliche hat 60,000 Pf. St. Re - venüen, und darf heirathen. Weiter wüßte ich eben nichts, was ihn von den katholiſchen Kirchenfürſten unterſchiede.

Endlich ſehe ich mich wieder in dem geliebten Frankreich! So wenig vortheilhaft auch der erſte Contraſt auffällt, doch begrüßte ich, faſt mit dem Gefühl eines aus langer Gefangenſchaft Zurückge - kehrten, den halb heimiſchen Boden, die reinere Luft, die ungezwungenere, freundlichere, vertraulichere Sitte.

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Um 5 Uhr waren wir ſchon in Dover geweckt wor - den, und hatten in völliger Dunkelheit das Packet - boot erklettert. Wir wandelten bereits eine halbe Stunde darin auf und ab, ohne daß man Miene zum Abſegeln machte. Mit einemmal verbreitete ſich das Gerücht, der Boiler (Dampfkeſſel) ſey ſchadhaft geworden. Die Furchtſamſten retteten ſich ſogleich auf den Quai, die Uebrigen ſchrieen nach dem Ca - pitain, dieſer war aber nirgends zu finden; endlich ſchickte er jemand, der uns ankündigte, man könne ohne Gefahr nicht ſegeln, und die Sachen würden auf einen franzöſiſchen Steamer gebracht werden, der um 8 Uhr abginge. Ich benutzte daher dieſen Zwiſchenraum, um die Sonne von dem Fort auf - gehen zu ſehen, das die hohen Kalkfelſen über der Stadt krönt. Die Engländer, welche Geld genug beſitzen, um jeden nützlichen Plan auszuführen, ha - ben, ſtatt eines äußern Weges, ein Tunnel durch den Felſen geſprengt, der eine Art Trichter bildet, in welchem zwei Wendeltreppen 240 Fuß hoch hin - aufführen. Der Anblick von oben iſt höchſt pittoresk, und die Sonne ſtieg über die weite Ausſicht, faſt wolkenlos, aus dem Meer empor. Ich hätte indeß über die Extaſe, der ich mich überließ, bald die Ab - fahrt des Schiffes verſäumt, das würklich grade mit dem Moment meiner Ankunft abſegelte. In 2 ½ Stunde warf uns der heftige Wind binüber. Dies - mal war die Seekrankheit zu ertragen, und ein vor - treffliches Diné, wie es kein engliſcher Gaſthof bie - tet, reſtaurirte mich in Calais vollkommen. Dies Ho -310 tel (Bourbon) iſt aber auch, was die Küche betrifft, eins der beſten Frankreichs.

Als wir die, überall gehäſſigen, Paß - und Polizei - Geſchäfte beſeitigt hatten, und dem Innern der Stadt zueilten, war ich Zeuge einer[lächerlichen] Scene, die mich gleich, in medias res, nach Frank - reich verſetzte. (Verzeih. die naturalia, weil ſie non sunt turpia, was Dir der Superintendent überſetzen wird.) Alſo mein Begleiter, ein Engländer, trat, aus einer leicht zu errathenden Urſache, in einen nichts weniger als reinlichen Seitenhof. Kaum war er indeß dort[geſchäftig], als eine ſehr gut gekleidete junge Dame aus der Thüre ſprang, und anſtatt, wie eine Engländerin in gleichem Fall gethan haben würde, erſchrocken und mit vor dem Geſicht gehalt - nen Händen eine ſchnelle Flucht zu ergreifen, ſogleich der Gefahr in die Augen ſah, höchſt erzürnt auf den Eindringling losging, und ihm mit der eigenthüm - lichen franzöſiſchen Volubilität zurief: Comment Mon - sieur, quelle insolence de p. dans notre mai - son! Est ce que la rûe n’est pas assez grande pour cela? Vous êtes un grand poliçon! Maman, Maman, voilà un Monsier qui p ..... dans notre maison! Der Zorn der kleinen Virago, und die Con - fuſion des beſtürzten Engländers waren maleriſch, erreichten aber den höchſten Grad, als nun auch die herbeigerufene Maman, eine würdige Marrone, er - ſchien, ſich ebenfalls vor den Unglücklichen hinſtellte, die Arme übereinander ſchlug, ihn, ohne ſich an den311 Zuſtand ſeiner Toilette zu kehren, von oben bis un - ten mit durchdringenden Blicken maß, und dann mit bedächtiger und ernſter Miene ironiſch fragte: Eh bien Monsieur, est ce que vous ne finirez point? Monsieur, permettez moi de vous dire qu’on ne p .. pas ainsi chez les personnes, on p .... dans la rûe Monsieur. Vraiment, je crois, qu’il se mo - que de nous Maman unterbrach ſie die Tochter jetzt halb weinend, l’insolent il ne bouge pas. Was weiter daraus geworden iſt, weiß ich nicht, denn ich überließ, von Herzen lachend, den die beiden Damen noch immer anſtierenden Engländer ſeinem Schickſal, und Jene den jetzt ſchwierig hergeſtammel - ten Entſchuldigungen des verblüfften Sünders.

Der erſte Morgen-Spaziergang in Frankreich be - hagte mir köſtlich. Dieſer permanente Sonnenſchein, der klare Himmel, den ich lange nicht mehr geſehen, und endlich wieder eine Stadt, deren Häuſer und Dächer man von keinem Nebel und Kohlenrauch ge - trübt, klar in der Luft ſich abſchneiden ſehen konnte. Alles wurde von mir wahrhaft angeſtaunt. Ich fühlte mich wieder zu Haus, und wandelte jetzt nach dem Hafen, um den letzten Abſchied vom Meere zu nehmen. Da lags vor mir, ſpiegelglatt und blau,312 endlos überall, außer an der engliſchen Küſte, deren Daſeyn ein ſchwarzes Wolken-Gebürge, (wahrſchein - lich die compact gewordnen Nebel jener Inſel) ver - rieth. Ich folgte der jettée (einer Art Holzdamm) die wohl eine Viertelſtunde in die See hineinführt, und fand mich am Ende derſelben bald ganz allein, nichts Lebendes mehr erblickend, als einen Waſſer - vogel, der mit Blitzesſchnelle vor mir in der Silber - fluth umherſchwamm, oft plötzlich untertauchte und dann, erſt nach Minuten, an einer weit entferntern Stelle wieder zum Vorſchein kam. Dies Spiel ſetzte er lange fort, und ſo gewandt und luſtig war das Thier dabei, daß man hätte glauben ſollen, es wolle mir abſichtlich alle ſeine Künſte vormachen. Ich war ſchon im Begriff, allerhand Phantaſieen an dies Schauſpiel zu knüpfen da hörte ich aber die Tritte und das Geſpräch einer engliſchen Familie hinter mir, und ſchnell entflohen wir beide, der Vogel und ich.

Auf dem Stadtwall begegnete ich einem franzö - ſiſchen Hausmädchen mit zwei wunderhübſchen eng - liſchen Kindern, ſehr elegant in Coquelicot Cache - mire und weiß gekleidet. Die Kleinſte hatte ſich feſt an einen Baum geklammert, und refüſirte, mit eng - liſcher Freiheitsliebe, auf das beſtimmteſte, zu Hauſe zu gehen. Die arme Franzöſin radebrechte umſonſt alle engliſche Schmeicheleien und Drohungen, deren ſie nur habhaft werden konnte, alles blieb vergebens: Mon darling come allons, rief ſie wehmüthig. 313I won’t war die lakoniſche Antwort. Der kleine Trotzkopf intereſſirte mich ſo ſehr, daß ich gefällig mich ſelbſt zum Baume begab, um ebenfalls mein Heil bei ihr zu verſuchen. Es gelang mir auch beſ - ſer, denn nach einigen engliſchen Späßen folgte ſie mir glücklich, und ich führte ſie triumphirend der Bonne zu. Als ich mich aber nun ſelbſt entfernen wollte, packte mich der kleine Dämon mit allen Kräf - ten beim Rock, und ſagte laut lachend: No, no, You shant go now. You forced me arvay from the tree, and I’ll force You to remain with us. Und ich kam wirklich nicht eher fort, immer ſtreng feſtgehalten, bis wir unter Schäckern und Streiten beim Hauſe der Eltern angelangt waren. Now I have done with You, ſchrie die Kleine, indem ſie mich los ließ, und jubelnd ins Haus rannte. O You little flirt! rief ich ihr nach an Dir wird die franzöſiſche Erziehung auch wenig Früchte bringen.

In die Stadt zurückgekehrt, beſuchte ich den be - rühmten Br. .... Ich ſehe, Du ſchlägſt verge - bens den Dictionnaire historique und des Contem - porains auf, und kannſt dieſen berühmten Namen nicht finden. Hat er ſich in der Revolution, oder einer Contre-Revolution ausgezeichnet, iſt es ein Krieger, ein Staatsmann? Vous n’y êtes pas. Er iſt viel mehr und viel weniger, wie man es an - ſehen will. Mit einem Wort, es iſt einer der berühm - teſten, und ſeiner Zeit mächtigſten Dandees, die Lon - don je gekannt. Br. .... beherrſchte einſt durch314 den Schnitt ſeines Rockes eine ganze Generation, und lederne Beinkleider kamen außer Gebrauch, weil ein Jeder verzweifelte, ſie in der Vollkommenheit der ſeinigen nachahmen zu können. Als er aber aus wichtigen Gründen endlich Großbritannien den Rücken kehrte, hinterließ er ſeinem Vaterlande noch, als letztes Geſchenk, das unſterbliche Geheimniß der mit Stärke geſteiften Halsbinden, deſſen Unergründ - lichkeit vorher die Elegants der Hauptſtadt ſo ge - quält batte, daß, nach der litterary gazette, zwei davon aus Verzweiflung wirklich ſelbſt Hand an ſich gelegt haben ſollen, und ein junger Herzog vor Kummer darüber an einem broken heart jämmer - lich verſtarb. Der Anfang dieſer Krankheit war je - doch ſchon früher bei ihm dadurch gelegt worden, daß er, bei einer feierlichen Gelegenheit Br. .... ſchüch - tern um ſein Urtheil über den eben anhabenden Rock gebeten; dieſer aber, ihn nur flüchtig anblickend, mit Verwunderung gefragt hatte: Do You call this thing a coat? (Nennt Ihr das Ding einen Rock?) Sein Ehrgefühl blieb hierdurch unwiederbringlich verletzt.

Obgleich nun heut zu Tage es die Kleidung nicht mehr iſt, womit man in London den Ton angiebt, ſo iſt doch nur das Vehikel, die Sache ſelbſt aber keineswegs geändert. Den Einfluß, welchen Br. ..., ohne Vermögen und Geburt, ohne eine ſchöne Geſtalt, oder hervorſtechenden Geiſt, blos durch eine edle Dreiſtigkeit, einige drollige Originalität, Luſt315 an der Geſelligkeit und Talent im Anzug, in Lon - don viele Jahre lang auszuüben wußte, giebt noch immer einen vortrefflichen Maaßſtab für das Weſen jener Geſellſchaft, und da ich Dir in meinen vorigen Briefen Diejenigen[hinlänglich] geſchildert habe, welche jetzt (wiewohl mit weit geringerer Machtvollkommen - heit) Br. .... ’s Stelle einnehmen, ſo wirſt Du vielleicht mit mir einverſtanden ſeyn, daß er derſel - ben immer noch mit mehr Genialität ſowohl, als größerer Unſchuld der Sitten vorſtand. Es war eine freiere, mehr ein originelles und zugleich harmloſe - res Ganze bildende Thorheit, die ſich zu der jetzigen ohngefähr ſo verhält, wie die Komik und Moralität in Holberg’s Luſtſpielen zu denen des Kotzebue.

Der Gewalt der Mode kann man es freilich nur zuſchreiben, wenn man es witzig fand, daß Br. einem Landjunker, der ihn fragte: Do Yon like green peas? antwortete: I once eat one. Ergötz - licher aber ſind ſeine Streitigkeiten mit dem Prinzen von W ....., dem er, zuerſt von ihm in die Mode eingeführt, nachher den Scepter derſelben aus der Hand wand, und ſogar ſpäter ſeinen Vorſatz: to cut the Prince, mit großem Erfolg ausführte. Lange hatte ſich Br. ... der höchſten Gunſt dieſer erlauchten Perſon erfreut, behandelte ſie aber zuletzt mit ſo wenig égard, daß dadurch ein Bruch herbei - geführt wurde. Eines Tags nämlich vergaß er ſich ſo weit, dem Prinzen nach Tiſch zuzurufen: Pray316 G ...., will Yon ring the bell for me! (Bitte G .... klingeln!) der Prinz von dem indiscreten Lachen der Geſellſchaft, wie der impertinenten Familiarität des Avanturier’s tief beleidigt, ſtand ge - laſſen auf und klingelte als aber der Diener her - eintrat, ſagte er, mit den Fingern auf Br. ..... weiſend: This person want’s his carriage (dieſe Perſon verlangt ihren Wagen). Br. .... verlor die Faſſung nicht, ſondern erwiederte lachend: Capi - tal G y! (Bravo kleiner G ....!) aber bei Gott, ich vergaß ganz, daß die ſchöne Herzogin auf mich wartet! Ich mache alſo aus Spaß Ernſt und verlaſſe Euch. So good bye to Y. R. H. Von die - ſem Augenblick ſah ihn der Prinz nicht mehr in ſei - nem Hauſe. Dies that jedoch ihm ſelbſt in der faſhionablen Welt der damaligen Zeit beinahe mehr Schaden als Br. ...., der die Sache zu tourniren wußte, als habe er mit dem Prinzen gebrochen. Er pflegte zu ſeinen intimen Freunden zu ſagen: That fellow has first ruined me in Champain, won my money afterwards, and now he think’s he can cut me! (Der Burſche hat mich erſt in Champagner rui - nirt, mir dann mein Geld im Spiel abgewonnen, und nun denkt er, er kann thun als kenne er mich nicht.) Einige Tage darauf wollte es der Zufall, daß Br. dem Prinzen mit einigen berühmten Mode - herrn in New Bondſtreet begegnete. Dieſer that als wenn er ihn nicht[ſähe], Br. aber näherte ſich, mit aller ihm eignen aisance und effronterie, dem Obriſten P einem der Geſellſchaft, und zugleich317 einem der damaligen Coryphäen der eleganten Welt und indem er ihm mit jener impertinenten Herab - laſſung, in der er Meiſter war, die Hand geſchüttelt, ergriff er ſein quizzing glass, und den Prinzen da - mit fixirend, flüſterte er dem Obriſten allgemein ver - ſtändlich zu: Who the devil, Colonel, is Your fat old friend, You were just talking to? (Wer Teu - fel, Obriſter iſt Euer alter fetter Freund dort, mit dem Ihr eben ſpracht?) Hiermit ließ er die conſter - nirte Geſellſchaft ſtehen, beſtieg ſein Pferd, und ritt lachend davon. Dieſe Anekdoten wurden mir aus ganz authentiſcher Quelle von einem Augenzeugen mitgetheilt, weniger gewiß weiß ich, ob es wahr iſt, daß früher, wie man erzählt, bei einem diner, wo man ſchon über das Maaß getrunken hatte, der Prinz auf eine ſarkaſtiſche Bemerkung den neben ihm ſitzenden Br., dieſem, im halben Rauſche, ein Glas Wein ins Geſicht goß. Br., der ſolches an der Per - ſon des Prinzen nicht erwiedern konnte, ergriff ſo - gleich mit großer Geiſtesgegenwart ſein eignes Glas, und es dem andern Nachbar über den Rock ſchüt - tend, rief er mit Laune: der Prinz hat befohlen, daß es links weiter gehen ſoll!

Noch lange fuhr Br. .... nachher fort, in Lon - don zu regieren, und ſeinen hohen Antagoniſten zu verdunkeln, ja in dieſer ſelben Zeit war es, wo ſein Genie den höchſten Flug nahm, und er, um dem Prinzen, der dafür berühmt war, ſein Halstuch in einen unnachahmlichen Knoten zu knüpfen, den em -318 pfindlichſten Stoß zu verſetzen den Gebrauch der Stärke und Hauſenblaſen für die Cravatten erfand. Von dieſem memorablen Augenblick an war Br. ... ’s Sieg entſchieden, und Jahre lang marterten ſich, wie ſchon erwähnt, die Dandees vergeblich ab, die Halsbinde wie er zu tragen. Endlich vollbrachte das Spiel, was dem Prinzen mißglückt war, nämlich Br. .... aus der excluſiven Geſellſchaft zu ver - drängen. Br. .... verlor Hab und Gut, und mußte flüchten auf ſeinem Schreibtiſch aber hin - terließ er dem Vaterland ein verſiegeltes Paket. Als man es aufmachte, fand man nichts als fol - gende, mit großen Buchſtaben geſchriebene, Worte darin: My friends! starch is the thing. (Freunde! Stärke iſt das Ding. )

Und wie große Männer in ihren Werken noch fort - leben, wenn ſie ſelbſt auch längſt verſchollen ſind, ſo bleibt auch Br ..... ’s Stärke noch immer am Halſe jedes fashionable ſichtbar, und verkündet ſei - nen hohen Genius. Er ſelbſt aber lebt ſeitdem in Calais, wohin ſeiner Gläubiger Autorität nicht reicht, und jeder Zugvogel aus der großen Welt, der ſeinen Weg hier durch nimmt, trägt dem ehemaligen Pa - triarchen den Tribut einer Viſite, oder der Einla - dung zu einem Diné pflichtſchuldigſt ab.

Dies that auch ich, wiewohl unter einem angenom - menen Namen. Leider war mir hinſichtlich des Diné’s ſchon ein andrer Fremder zuvorgekommen, und ich kann daher nicht einmal davon urtheilen,319 wie ein coat eigentlich ausſehen müſſe, oder ob der lange Aufenthalt in Calais, nebſt dem herannahen - den Alter, den Anzug des ehemaligen Königs der Mode weniger claſſiſch gemacht haben denn ich fand ihn bei meinem Beſuch noch bei der zweiten Toilette (drei ſind deren früh nöthig) im geblümten Schlafrocke, einer Samtmütze mit Goldquaſten auf dem Kopf, und türkiſchen Pantoffeln an den Füßen, ſich ſelbſt raſirend, und nachher, mit den beliebten rothen Wurzelſtückchen, ſorgfältig die Reſte ſeiner[Zähne] putzend. Das Ameublement um ihn her war ziemlich elegant, ja zum Theil noch ganz reich zu nennen, wiewohl bedeutend fanirt, und ich kann nicht läugnen, ſein ganzes Benehmen ſchien mir da - mit übereinzuſtimmen. Obgleich gedrückt von ſeiner jetzigen Lage, zeigte er indeß noch immer einen ziem - lichen Fond von Humor und Gutmüthigkeit. Sein Benehmen war das der guten Geſellſchaft, einfach und natürlich, und von größerer Urbanität als die jetzigen Dandees aufzuweiſen im Stande ſind. - chelnd zeigte er mir ſeine Pariſer Perücke, die er ſehr auf Koſten der engliſchen rühmte, und nannte ſich ſelbſt: le cidevant jeune homme, qui passe sa vie entre Paris et Londres. Er ſchien hinſichtlich meiner etwas neugierig, frug mich über geſellſchaft - liche Verhältniſſe in London aus, ohne jedoch die gute Lebensart durch irgend eine Art von Zudring - lichkeit irgend zu verläugnen, und ließ es ſich dann ſichtlich angelegen ſeyn, mich zu überzeugen, daß er noch immer von allem, was in der engliſchen Mode -Briefe eines Verſtorbenen. II. 21320welt wie der Politiſchen vorginge, ſehr wohl unter - richtet ſey. Je suis au fait de tout, rief er, mais à quoi cela me sertil? On me laisse mourir de faim ici. J’espêre pourtant que mon aucien Ami, le Duc de W., enverra un beau jour le Consul d’ici à la Chine, et qu ensuite il me nommera à sa place. Alors je suis sauvé ..... und wirk - lich die engliſche Nation ſollte billig etwas für den thun, der die geſtärkten Halsbinden erfand! Wie manche ſah ich in London, mit ſchwer wiegenden Sinecuren, die weit weniger für ihr Vaterland gethan haben.

Als ich Abſchied nahm und die Treppe hinunter ging, rief er mir noch, die Thüre öffnend, nach, J’espêre que vous trouverez votre chemin, mon Suisse n’est pas , je crains. Helas! dachte ich, point d’argent, point de Suisse.

Um Dich nicht zu lange ohne Nachricht zu laſſen, ſende ich dieſen Brief von hier ab. Vielleicht folge ich ihm bald ſelbſt. Jedenfalls will ich mich jedoch vierzehn Tage in Paris aufhalten, und auch dort alle Deine Aufträge beſorgen. Gedenke mein indeſſen ſtets mit der alten Liebe.

Dein treuer L ....

[321]

Sieben und vierzigſter Brief.

Meine theure, geliebte Freundin!

Ich konnte Dir geſtern nicht ſchreiben, da die Di - ligence von Calais bis Paris zwei Tage und eine Nacht braucht, und ſich alle zwölf Stunden nur eine halbe zum Eſſen aufhält. Die Fahrt iſt nicht die angenehmſte. Etwas todt, etwas elend und ſchmutzig kommt Einem allerdings das ganze Land, wie auch die Hauptſtadt, gegen den wogenden Wirrwarr, den Glanz und die Nettigkeit Englands vor. Der Con - traſt iſt, in ſo geringer Entfernung, doppelt auffal - lend. Wenn man auf der Reiſe die groteske Ma - ſchine betrachtet, in der man ſitzt, die ſchlecht geſchirr - ten Karrengäule, von denen man langſam fortge - ſchleppt wird, und ſich der zierlich leichten Kutſchen, der ſchönen, mit blankem Meſſing und Glanzleder -21*322Geſchirr geſchmückten Poſtzüge der engliſchen Eilwa - gen erinnert, ſo denkt man, im Traume 1000 Meilen weiter verſetzt worden zu ſeyn. Die ſchlechten Stra - ßen, dürftigen und unreinlichen Städte erwecken daſ - ſelbe Gefühl, dagegen ſind vier Dinge dennoch im Volksleben offenbar beſſer: Clima, Küche und Keller, Wohlfeilheit und Geſelligkeit. Mais commencons par le commencement.

Nachdem ich meinen Incognitopaß gegen einen gleichen proviſoriſchen, und nur bis Paris gültigen, auf der Mairie umgetauſcht, wobei ich, auf Befragen wie ich hieße, mich meines neuen Namens beinahe nicht erinnert hätte, näherte ich mich dem wunderba - ren Bau, den man in Frankreich eine Diligence nennt. Das Ungethüm hatte die Länge eines Hau - ſes, und beſtand eigentlich aus vier verſchiedenen, wie an einander gewachſenen Wagen, die Berline in der Mitte, eine Kutſche nebſt Gepäckkorb hinten, ein Coupé vorn, und an dieſem noch das Cabriolet, wo der Conducteur ſitzt, und neben welchem auch ich meinen Platz genommen hatte. Dieſer Conducteur, ein alter Soldat der Napoleoniſchen Garde, war, wie ein Kärrner, in eine blaue Blouze gekleidet, mit ei - ner geſtickten Mütze aus demſelben Zeuge auf dem Kopf, der Poſtillon ſah aber noch origineller aus, und wirklich halb einem Wilden ähnlich. Auch er trug zwar eine Blouze, mit ungeheuren, über und über mit Koth beſpritzten Stiefeln darunter, aber zu - gleich auch eine Schürze von ſchwarzen Schaaffellen,323 die auf beiden Seiten über ſeine Schenkel herabhing. Er dirigirte allein 6 Pferde zu 3 und 3 geſpannt, und dieſe zogen ohngefähr 6000 Pfund Bagage, auf einer ſehr ſchlecht unterhaltnen Chauſſée. Die ganze Straße von Calais nach Paris iſt überhaupt eine der traurigſten und unintereſſanteſten, die man ſehen kann. Ich würde alſo meine meiſte Zeit mit Leſen zugebracht haben, wenn mich nicht die Unterhaltung des Conducteurs noch beſſer ſchadlos gehalten hätte. Seine und der Garden Heldenthaten gaben ihm ein unerſchöpfliches Thema, und unbedenklich verſicherte er: que les trente mille hommes, dont il faisait partie dans le tems, wie er ſich ausdrückte, auraient été plus que suffisans pour conquérir toutes les nations de la terre, et que les autres, n’avaient fait que gâter l’affaire. Er ſeufzte jedesmal, wenn er ſeines Empereur gedachte. Mais c’est sa faute, rief er, ah s. d. il serait encore empereur si, dans les ceut jours, il avait seulement voulû employer de jeunes gens, qui desiraient faire for - tune, au lieu de ces vieux Maréchaux qui etaient trop riches, et qui avaient tous peur de leurs fem - mes. N’etaient ils pas tous gros et gras comme des monstres? ah ..... parlez moi d’un jeune Co - lonel, comme nous en avions! C〈…〉〈…〉 lui vous aurait flanqué ça de la jolie manière. Mais apres tout, l’Empereur aurait se faire tuer à Waterloo, comme notre Colonel. Eh bien Monsieur, ce brave Colonel avait recû trois coups de feu, un à la jambe et deux dans le corps, et pourtant il nous324 menait encore à l’attaque, porté par deux grena - diers. Mais quand tout fût en vain, et tout fini pour nous Camerades, dit il: Jai fait à que j’ai , mais nous voilà ...... Je ne puis plus rendre service à l’Empereur, à quoi bon de vivre plus long tems? Adieu donc mes Camerades vive l’Empereur! et le voilà qu’il tire son pistolet, et le décharge dans sa bouche. C’est ainsi, ma foi, que l’Empereur aurait finir aussi.

Hier wurden wir durch ein hübſches Mädchen un - terbrochen, die aus einem unanſehnlichen Hauſe an den Wagen ſprang, und nach uns herauf rief (denn wir ſaßen wenigſtens 8 Ellen vom Boden): Ah ça Monsieur le Conducteur! oubliez vous les Crai - pes? Oho! es tu mon enfant? .... und ſchnell kletterte er die gewohnte, ſonſt halsbrechende, Hüh - nerſteige hinab, ließ den Poſtillon halten und ver - ſchwand im Hauſe. Nach wenigen Minuten kam er indeß ſchon wieder mit einem Packet heraus, ließ ſich neben mir behaglich niederfallen, und entfaltete eine reichliche Quantität noch heiß dampfender deut - ſcher Plinzen, ein Gericht das er, wie er mir er - zählte, in Deutſchland kennen gelernt und ſo lieb ge - wonnen habe, daß er es in ſein Vaterland einge - führt. Man ſieht alſo, daß Eroberungen doch auch zu etwas gut ſind. Mit franzöſiſcher Artigkeit bot er mir ſogleich an, ſein gouté, wie er es nannte, zu theilen, und ſchon aus Vaterlandsliebe nahm ich es mit Vergnügen an, mußte auch geſtehen, daß kein325 Pächter oder Bauer in Deutſchland ſeine National - Speiſe beſſer zubereiten könne. Wir verzehrten ſie auf Napoleons Wohl, wo er auch ſeyn möge!

Viel Noth verurſachte dem ſonſt ſehr kräftigen Manne eine ſonderbare Maſchine, die ſich, ohngefähr in der Form einer Plumpe, neben ſeinem Sitze be - fand, und mit der er ſich ewig zu ſchaffen machte, bald aus Leibeskräften daran pumpend, ſie richtend, ſchraubend, oder vor - und rückwärts drehend. Auf meine Frage erfuhr ich, dieß ſey eine ganz vortreff - liche neu erfundene Maſchinerie, welche dazu diene, die Diligence-Arche beim Herabfahren ohne Hemm - ſchuh zu retardiren, und bergauf ihren Lauf zu be - ſchleunigen. Der Conducteur war äußerſt ſtolz auf dieſe Vorrichtung, nannte ſie nie anders als sa me - canique, und behandelte ſie mit eben ſo viel Liebe als Wichtigkeit. Unglücklicherweiſe brach jedoch die - ſes Wunderwerk ſchon am erſten Tage entzwei, und da wir uns deshalb noch langſamer fortſchleppten als bisher, mußte der arme Krieger von den Paſſa - gieren viel Neckereien wegen ſeiner ſchadhaften me - canique ausſtehen, ſo wie über den Namen ſeines unermeßlichen Wagens, der l’Hirondelle hieß, und freilich dieſe Benennung nur der bitterſten Ironie zu verdanken ſchien.

Es war ſehr drollig, bei jedem neuen Relais den armen Teufel zu hören, wie er den Poſtillon regel - mäßig von dem geſchehenen Unglück avertirte, wel - ches mit wenig Abänderung ſtets folgenden Dialog326 hervorbrachte: Mon enfant, il faut que tu saches que je n’ai plus de mécanique. Comment s .. d .. plus de mécanique? Ma mécanique fait encore un peu, vois tû-mais c’est bien peu de chose, le principal brancheron est au diable. Ah diable!

Man konnte nicht ſchlechter ſitzen, nicht unbeque - mer und langſamer fortkommen, als ich hier in mei - nem himmelhohen Cabriolet; überhaupt war es nun ſchon eine geraume Zeit, daß ich der meiſten gewohn - ten Bequemlichkeiten entbehrte. Demohngeachtet war nie, weder meine Stimmung noch meine Geſundheit, beſſer als auf dieſer ganzen Reiſe. Ich bin ununter - brochen heiter und zufrieden geweſen, weil ich immer ganz frei war. O großes Gut der Freiheit! Dich[ſchätzen] wir noch lange nicht genug! Wenn ſich jeder Menſch nur recht deutlich machen wollte, was er grade mit ſeiner Individualität eigentlich zum Glück und zur Zufriedenheit braucht, und nun unbedingt das[wählte], was dieſem Zweck am meiſten entſpräche, das andere aber herzhaft wegwürfe (denn Alles kann man doch einmal auf der Welt nicht zuſammen ha - ben) wieviel Mißgriffe würden erſpart, wie viel klein - licher Ehrgeiz beſeitigt, wie viel wahrer Frohſinn be - fördert werden! Alle würden ein großes Uebermaß von Wohlſeyn im Leben finden, ſtatt bis ans Grab ſich mit Unluſt und Unzufriedenheit zu quälen.

Ich will Dich mit keinen ferneren Details unſrer ſo wenig intereſſanten Reiſe ermüden. Sie glich dem Melodram ein Uhr , und war eben ſo langweilig,327 denn nachdem wir früh Calais verlaſſen, machten wir um ein Uhr Halt zum Eſſen, um ein Uhr in der Nacht ſoupirten wir; den andern Tag ward eben - falls Frühſtück und Diné um ein Uhr in Beauvais vereinigt, wo uns ein hübſches Mädchen, die ſervirte, und ein Freund Bolivar’s der uns viel von der Un - eigennützigkeit des Befreiers erzählte, die ſchnelle Ab - reiſe regrettiren machten und wiederum um ein Uhr in der Nacht hatten wir endlich auf der Douane in Paris um unſre Sachen zu[kämpfen]. Mein Be - dienter lud dann die meinigen auf eine Charette, die ein Menſch vor uns herzog, und uns zugleich durch die dunkeln und ſchmutzigen Straßen den Weg nach dem Hôtel St. Maurice zeigte, wo ich jetzt in einer kleinen Stube ſchreibe, die ich mir beſcheiden gewählt, und wo der kalte Wind durch alle Thüren und Fen - ſter ſaust, ſo daß das lodernde Kaminfeuer mich nur auf einer Seite erwärmen kann. Die ſeidnen Tape - ten, ſo wie der ſie bedeckende Schmutz, die vielen Spiegel und die großen Holzſtücken am Kamin auf - geſchichtet, ſo wie das Ziegel-Parquet alles erin - nert mich lebhaft, daß ich in Frankreich, und nicht mehr in England bin.

Ein Paar Tage will ich mich hier ausruhen und meine Empletten machen, dann eile ich in Deine Arme, ohne wo möglich hier auch nur einen Be - kannten zu ſehen, car cela m’entrainerait trop. Er - warte daher auch nichts Neues von mir über das alte Paris zu hören. Ein Paar detachirte Tagebuch - Bemerkungen wird alles ſeyn, was ich Dir bieten kann.

328

Um der heftigen Kälte einigermaßen zu begegnen, die ich von jeher in Frankreich und Italien wegen Mangels an Vorkehrungen dagegen am empfindlich - ſten fand, mußte ich heut früh alle Spalten meines kleinen Logis mit Bourlets garniren laſſen. Dann eilte ich hinaus, den gewöhnlichen erſten Spaziergang der Fremden, nach den Boulevards, Palais royal, Tuilerien ꝛc., denn ich war doch neugierig zu ſehen, was ſich ſeit ſieben Jahren dort geändert haben möge. Auf den Boulevards fand ich Alles beim Alten, im Palais royal hat der Herzog von Orleans, dieſer in jeder Hinſicht ausgezeichnete Prinz, ange - fangen, die ſchmäligen Holzgallerieen, und andere Winkel durch neue Steingebäude und einen eleganten Glasgang zu erſetzen, welches, wenn alles erſt ganz fertig iſt, gewiß dies Palais zu einem der anſehnlich - ſten machen wird, wie es bereits eins der eigen - thümlichſten und auffallendſten iſt, vielleicht ſchon der Seltenheit wegen, einen Königlichen Prinzen daſſelbe Haus mit mehreren hundert F Mädchen nebſt eben ſo viel Krämern bewohnen, und von dieſen, wie von Spiel und Boutiken, ſoviel Revenuen bezie - hen zu ſehen, um mehr als ſeine menûs plaisirs, da - mit decken zu können. In England würde ein Edel - mann dergleichen ſich in ſeinem Hauſe nicht als mög - lich denken können,[wäre] es aber der Fall, ſo würde man wenigſtens gewiß dafür ſorgen, es reinlicher zu halten denn man muß geſtehen, die Götzen Venus329 und Merkur ſind hier, bei allem Prunk des Ausge - hängten, gar ſchmutzig umgeben.

Am Pallaſt der Tuilerien und der neben an lau - fenden Straße Rivoli waren ziemlich alle angefange - nen Bauwerke noch in demſelben Zuſtande, wie ſie Napoleon verlaſſen. In dieſer Hinſicht hat Paris an der kaiſerlichen Dynaſtie verloren, die es in zwanzig Jahren zu einer wahren Prachtſtadt umgeſchaffen ha - ben würde, welchem Luxus des Schönen, die Rein - lichkeit wohl auch endlich hätte folgen müſſen. Auch auf dem place de Louis XV. ſtehen noch immer die Gerüſte um die projektirte Statue, der Triumphbo - gen de l’étoile, wird, wie der Thurm zu Babel, ab - wechſelnd aufgebaut und eingeriſſen, der temple de la victoire, jetzt unendlich paſſender für die ſiegende Kirche beſtimmt, iſt auch noch nicht fertig, und auf dem pont de Louis XVI. möchte man wünſchen, daß nichts geſchehen wäre, da die lächerlich theatraliſchen und, im Verhältniß zur Brücke, wenigſtens doppelt zu großen Statuen, die man dort auf die Pfeiler poſtirt hat, welche ſie eindrücken zu wollen ſcheinen, mehr ſchlechten Acteurs de province, als den fran - zöſiſchen Helden gleichen, die ſie darſtellen ſollen.

Da Köche auch zu den franzöſiſchen Helden gehö - ren, einmal wegen ihrer unübertroffnen Geſchicklich - keit, zweitens auch wegen ihres Ehrgefühls (erinnere Dich nur an den Koch Peregrine Pickle’s, und Va - tel, der ſich wegen nicht angekommner Fiſche erſtach) ſo komme ich hier ganz natürlich auf die Pariſer -330 Reſtaurateurs, die mir, wenn ich nach dem Beliebte - ſten, den ich heute beſuchte, urtheilen darf, etwas degenerirt ſcheinen. Ihre, ſchon ſonſt ziemlich langen Carten, haben ſich zwar ſeitdem in elegant gebundne Bücher verwandelt, aber die Qualität der Gerichte und Weine hat in demſelben Maße abgenommen. Ich eilte nach dieſer traurigen Erfahrung zu dem ehemals berühmten Rocher de Cancale. Aber auch Baleine iſt ins Meer der Ewigkeit zurückgeſchwom - men, und wer ſich künftig auf den Cancaliſchen Fel - ſen verläßt, hat auf Sand gebaut. Sic transit glo - ria mundi!

Alles Lob mußte ich dagegen dem Theatre de Ma - dame ſpenden, wo ich meinen Abend zubrachte, Leon - tine Fay iſt eine allerliebſte Schauſpielerin, und ein beſſeres ensemble kann nirgends gefunden werden. Da ich grade von England kam, ſo frappirte mich um ſo mehr die Natürlichkeit, mit der Leontine Fay, in Malvina, die in England erzogne Franzöſin mei - ſterhaft wiedergab, ohne daß durch dieſe Nüance dem übrigen Charakter der mindeſte Abbruch geſchah. In ihrem künſtleriſchen Spiel iſt keine Copie der Made - moiſelle Mars zu entdecken, und dennoch ſieht man, auf andre Weiſe, ein eben ſo treues und zartes Na - turbild dargeſtellt. Das zweite Stück, eine Poſſe, wo ein provinzieller Onkel ſeine kleine Stadt, in der er eben zum Mitgliede eines Tugendvereins aufgenommen werden ſoll, ſchleunig verläßt, um ſei - nen Neffen in Paris, über den er die beunruhigend -331 ſten Nachrichten erhalten, von einer liederlichen Le - bensart zu couriren, ſtatt dem aber, von deſſen an - geſtellten Freunden, ſelbſt zu allen möglichen Leicht - fertigkeiten verführt wird, ward ebenfalls mit aller der komiſchen Laune und Gewandtheit dargeſtellt, die dieſe franzöſiſchen Riens ſo anmuthig und amüſant in Paris, ſo leer und abgeſchmackt in der deutſchen Ueberſetzung erſcheinen laſſen. Denn ſo albern es ei - gentlich iſt, wenn, nachdem Mamſell Minette den al - ten Martin, gleich im Anfang des Stücks, durch ihre Coquetterieen dahin gebracht hat, ihr einen Kuß zu geben, und in dem Augenblick ihr Liebhaber, der Kellner, mit einem Schweinskopf hereintritt, dieſer ſprachlos ſtehen bleibt, und indem er ruft: N’y-a-t’il pas de quoi perdre la tête! die Schüſſel mit dem Schweinskopf langſam aus den Händen gleiten läßt, ſo muß man doch ſehr ſtoiſch geſinnt ſeyn, um bei dem vortrefflich natürlichen Spiel nicht von Herzen mit zu lachen. Die Folge iſt eben ſo ergötzlich Mar - tin, voller Schreck, auf einer ſolchen Avantüre ertappt worden ſeyn, tröſtet ſich am Ende damit, daß man ihn ja hier nicht kenne, und nimmt, in ſeinem em - barras, des dazu gekommenen Dorval’s Einladung zu einem dejeuner fogleich an, welches auch bald darauf auf dem Theater ſtatt findet. Im Anfang bleibt Martin ſehr[mäßig], die Trüffel und Delikateſ - ſen tentiren ihn jedoch zuletzt, et puis, il faut abso - lument les arroser d’un peu de Champagne. Nach vielem Nöthigen entſchließt er ſich endlich, immer noch moraliſirend, ein Glas à la vertû zu trinken. 332Helas! il n’y-a que le premier pas qui coute. Ein zweites Glas wird der piété getrunken, ein drittes der miséricorde, und ehe die Gäſte aufſtehen, hören wir Martin betrunken und jubelnd in den Toaſt ein - ſtimmen: Vivent les femmes et le vin! Spiel kömmt nun auch an die Reihe, er will ſich jedoch nur zu einer Partie Piquet verſtehen, wobei er einige drollige Couplets ſingt, die mit dem Refrain endigen: L’amour s’envole, mais le piquet dûre. Um es kurz zu machen, Martin wird vom Piquet zum écarté und endlich zum Hazard-Spiel verleitet, verliert eine große Summe, und erfährt zuletzt, pour le combler de confusion, daß er und ſein Plan von Hauſe aus verrathen worden, und ſein Neffe ihn geprüft habe, ſtatt ſich von ihm prüfen zu laſſen, wobei er ihn aber leider viel zu leicht befunden. Er accordirt mit Freuden Alles was man will, pourvû qu’on lui garde le secret, und das Stück ſchließt, indem ſein alter Freund mit Extrapoſt ankömmt, um ihm zu melden, daß Martin geſtern, unter allgemeinem Hurrah, zum Präſidenten des Tugendbundes in ſeiner Vaterſtadt erwählt worden ſey.

Ohngeachtet der bourlets und eines brennenden Scheiterhaufens im Kamin, fahre ich dennoch fort in meinem entresol recht empfindlich zu frieren. Dabei333 herrſcht darin ein fortwährendes clair obscûr, ſo daß ich die Schriftzüge vor mir nur wie hinter einem Schleier ſehe. Die kleinen Fenſter und hohen gegen - über liegenden[Häuſer] laſſen es nicht anders zu, ſo daß ich um Verzeihung bitten muß, wenn ich noch unleſerlicher als gewöhnlich ſchreibe. Du wirſt übri - gens bemerkt haben, daß das, zu choquant theure, Porto in England auch mich gelehrt hat, ſorgfältiger, und beſonders enger, zu ſchreiben, ſo daß jetzt ein Schriftlavater aus meinen Briefen an Dich einen großen Theil meines Charakters ſtudiren könnte, blos durch’s Anſehen, meine ich, ohne ſie zu leſen. Es geht darin, wie im Leben ſelbſt her, wo ebenfalls oft mit guten Vorſätzen der Verengung, i. e. Be - ſchränkung aller Art angefangen und eine Weile fort - gefahren wird, bald aber die Zeilen wieder unwill - kührlich weiter werden, und ehe man es ſich verſieht, die unmerklich wirkende Macht der Gewohnheit zur alten Latitude wieder zurückführte.

Ich habe Dir ſchon geſagt, daß die Carten der Reſtaurateurs ſich in Bücher verwandelt haben, von der Dicke eines Fingers, und reich in Maroquin und Gold eingebunden. Einem engliſchen Offizier, den ich heute im Caffée anglais fand, imponirte dies ſo ſehr, daß er mehrmals vom erſtaunten garçon, la charte, ſtatt la carte verlangte, vielleicht in der Meinung, daß im liberalen Frankreich eine ſolche, auch für die Caffees, eingeführt worden ſey. Obgleich die Fran - zoſen ſelten auf die Sprachquiproquos der Fremden334 achten, ſo ſchien dieſes Allarmwort doch nicht ohne ein Lächeln von Mehrern vernommen zu werden, ich aber dachte: wie gern würden Manche es umdrehen, und den Franzoſen ſtatt der Charte wieder Carten, zum Spielen geben.

Sehr überraſcht wurde ich Abends in der franzö - ſiſchen Oper, die ich noch als eine Art Tollhaus ver - laſſen hatte, wo einige Raſende in Verzuckungen ſchrieen, als wenn ſie am Spieße ſteckten und jetzt dort ſüßen Geſang, die beſte italieniſche Methode und ſchöne Stimmen mit ſehr gutem Spiele verei - nigt fand. Roſſini, der, wie ein zweiter Orpheus, die Oper alſo gezähmt, iſt hierdurch der wahre Wohl - thäter muſikaliſcher Ohren geworden, und Einheimiſche wie Fremde danken ihm gerührt ihr Heil.

Ich ziehe dieſes Schauſpiel jetzt, obgleich es weni - ger Mode iſt, unbedenklich der italieniſchen Oper vor, da es faſt Alles vereinigt, was man ſich nur vom Theater wünſchen kann [nämlich] außer dem ge - nannten guten Geſang und Spiel, prächtige und friſche Decorationen und das beſte Ballet in der Welt. Wären die Opernterte auch Meiſterſtücke, ſo wüßte ich nicht, was noch verlangt werden[möchte], aber ſchon wie ſie ſind, kann man, z. B. mit der Muette de Portici, die ich heute ſah, recht ſehr zu - frieden ſeyn, Mademoiſelle Noblet iſt eine noble Stumme, Grazie und Leben in ihrem Spiel, ohne alle Uebertreibung, und Nourrit der Aeltere ein vor - trefflicher Maſaniello, obgleich er allein noch zuweilen335 etwas zu ſehr ſchreit. Die Coſtüme waren muſter - haft, aber der feuerſpeiende Veſuv mißrieth, und die Rauchwolken, welche in die Erde verſanken, ſtatt dar - aus hervorzuſteigen, waren ein Phänomen, das ich wenigſtens nicht ſo glücklich geweſen bin zu erleben, als ich dem wirklichen Ausbruch des Veſuvs bei - wohnte.

Ein franzöſiſcher Schriftſteller ſagt irgendwo: L’on dit que nous sommes des enfans oui, pour les faiblesses, mais pas pour le bonheur. Das kann ich Gottlob von mir keineswegs ſagen. Je le suis pour l’un et pour l’autre, ohngeachtet der überſtie - genen drei Dutzend Jahre. So amüſire ich mich hier, in der Einſamkeit der großen Stadt, außerordentlich gut, und kann mir noch, ganz wie ein Jüngling ein - bilden, ich träte eben in die Welt, und alles dies ſey mir noch neu. Des Morgens beſehe ich Merkwür - digkeiten, wandle im Muſeum auf und ab, oder gehe Schopping (dies Wort bedeutet in den Buden um - herlaufen und Bagatellen kaufen, deren der Luxus in Paris und London[fortwährend] neue erfindet). Hundert kleine Geſchenke habe ich Dir dort bereits geſammelt, ſo daß mein hieſiges, ſo wenig geräumi - ges, Logis ſie kaum zu faſſen im Stande iſt, und dennoch kaum achtzig Pfund dafür ausgegeben, denn in England iſt die Theuerkeit koſtbar, hier ver -Briefe eines Verſtorbenen. II. 22336führt nur die Wohlfeilheit, und ich muß manch - mal lachen, wenn ich ſehe, daß ein pfiffiger franzö - ſiſcher Kaufmann einen der ſteifen Inſulaner tüchtig angeführt zu haben glaubt, und dieſer blos erſtaunt hinausgeht, dieſelbe Waare grade ſechs mal wohlfei - ler als in London gekauft zu haben.

Mittags fahre ich in der wiſſenſchaftlichen Prüfung der Reſtaurateurs fort, und Abends in der der Thea - ter, obgleich ich weder den Curſus der einen noch der andern[gänzlich] zu vollenden Zeit haben werde.

Während dem Schopping bemerkte ich heute im palais royal ein Aushängeſchild, auf dem die wun - derbare Expoſition des Todes des Prinzen Ponia - towsky bei Leipzig angekündigt war. Dergleichen Na - tionellem gehe ich nicht gern vorüber, und ſtieg da - her, das Wunder zu ſehen, eine elende dunkle Treppe hinauf, wo ich in einer noch dunklern Kammer ohne Fenſter, einen dürftig gekleideten Mann bei einer halb verlöſchten Lampe ſitzen fand. Ein großer Tiſch, der vor ihm ſtand, ward von einem ſchmutzigen Tuche bedeckt. Sobald ich eintrat, eilte er ſogleich noch drei andre Lampen anzuſtecken, die jedoch nicht recht brennen mochten, worauf er laut und heftig zu de - clamiren anfing. Ich glaubte, die Explication beginne ſchon, und frug, da ich nicht recht acht gegeben, was er geſagt habe? Oh rien! war die Antwort, je parle seulement à mes les lampes, qui ne brulent pas clair. Nachdem dieſe Converſation mit den Lampen endlich ihren Zweck erreicht, ward das verdeckende337 Tuch hinweggezogen, und ließ nun ein Kunſtwerk erblicken, das einer Nürnberger Spielſache mit klei - nen beweglichen Figuren glich, durch die Erklärungen des Beſitzers aber reichlich den Eintrittspreis vergü - tigte. In einem näſelnd ſingenden Tone begann er folgendermaßen: Voilà le fameux Prince Poniatofsky, se tournant avec grace vers les officiers de son corps, en s’écriant! Quand on a tout perdû, et qu’on n’a plus d’espoir, la vie est un opprobre et la mort un devoir. Remarquez bien Messieurs (er redete mich immer im Plural an) comme le cheval blanc du Prince se tourne aussi lestement qu’un cheval véritable. Voyez-pan à droite pan à gauche mais le voilà qui s’élance, se cabre se précipite dans la rivière, et disparait. Dies ge - ſchah, indem die Figur an einem Faden unter dem Tiſche, erſt rechts und links, dann vorwärts gezogen wurde, und hierauf durch Hinwegziehung eines, im gemalten Waſſer angebrachten Schiebers darunter in einen Schubkarren fiel. Ah bien! voilà le Prince Poniatofsky noyé. Il est mort .. C’est la première partie maintenant Messieurs vous allez voir tout à l’heure la chose, la plus surprenante qui ait ja - mais été montrée en France. Tous ces petits soldats innombrables que vous apercevez devant vous (es waren ohngefähr ſechszig bis ſiebzig) sont tous vrai - ment habillés habits, gibernes, armes, tout peût s’ôter et remettre à volonté. Les canons ser - vent comme des canons véritables, et sont admirés par tous les officiers du génie qui viennent ici. 22*338Um dies ad oculos zu demonſtriren, wurde die vor - derſte kleine Kanone von der Lavette gehoben, und dem erſten Soldaten ſein Degengehenke abgenom - men, welches als[hinlänglicher] Beweis für die ge - machte Angabe galt. Ah, bien! vous allez mainte - nant, Messieurs, voir manoeuvres cette petite ar - mée, comme sur le champ de bataille. Chaque sol - dat, et chaque cheval feront séparément les mou - vemens propres, voyez .... Hier geſchah nun wei - ter nichts als daß ſämmtliche Püppchen, die im er - ſten Akt wahrſcheinlich aus Reſpekt vor dem Fürſten Poniatowsky, ſich nicht gerührt hatten, beim Lärm einer Trommel, die ein kleiner Junge unter dem Tiſche ſchlug, nun gemeinſchaftlich zwei anhaltende, taktförmige Bewegungen machten, die bei den Sol - daten im Heben und wieder Niederfallen ihrer Arme, bei den Pferden im Bäumen und Ausſchlagen be - ſtanden. Unterdeſſen rezitirte der[Erklärer] mit ver - mehrtem Pathos das franzöſiſche Bulletin jener Af - faire, worauf der zweite Akt ſchloß. Ich glaubte daß es kaum mehr beſſer kommen könnte, und da unterdeſſen einige Zuſchauer mehr eingetreten waren, ich auch den üblen Geruch zweier ausgegangenen Lampen nicht[länger] ertragen mochte, ſo flüchtete ich für meine Perſon vom Schlachtfelde, und allen ſeinen Wundern. Tragiſch war es aber doch, dem ſich einſt ſo heroiſch aufopfernden Helden jetzt ſo mitſpielen zu ſehen!

In der Oper vergnügte ich mich ſehr am Comte Ory, den der jüngere Nourrit ſang. Die Kenner339 mögen noch ſo viel gegen Roſſini ſchreien wahr bleibt es doch, daß auch hier wieder Ströme von Melodie das Ohr entzücken, bald in Liebestönen ſchmelzend, im Gewitter donnernd, beim Banquet der Ritter jubelnd, oder beim Gebet ſich feierlich gen Himmel erhebend. Seltſam genug iſt es freilich, daß in dieſer, faſt mehr als leichtfertigen Oper, das, nur als Heuchelei dargeſtellte, Gebet der Ritter daſ - ſelbe iſt, welches Roſſini früher für Karl X. Krö - nungsfeierlichkeit componirt hatte. Madame Cinti ſang die Rolle der Gräfin ſehr gut, Mademoiſelle Javoureck zeigte, als Page des Grafen, ſehr ſchöne Beine, und auch der Baſſiſt war vortrefflich.

Das Ballet, dächte ich, hätte gegen ehemals ein wenig verloren; Albert und Paul werden durch die Jahre nicht leichter, und außer den Damen Noblet und Taglioni zeichnet ſich kaum eine Tänzerin aus.

Ich bemerkte während der Oper, daß derſelbe Akteur, welcher in der Muette eine der Hauptrollen ſpielt, heute unter dem Corps der Ritter eine ganz unbe - deutende Stelle einnahm. Aehnliches geſchieht hier oft, und iſt eine höchſt nachahmungswerthe Einrich - tung, da nur, wenn auch die Beſten zum ensemble conkurriren müſſen, die Rolle mag groß oder klein ſeyn, ein wahrhaft gutes Ganze hervorgebracht wer - den kann.

Für dieſes ensemble wird überhaupt in Frank - reich weit mehr als bei uns gethan, wo oft die Täu -340 ſchung an Kleinigkeiten ſcheitert, welche die Bequem - lichkeit der Direktion oder der Schauſpieler vernach - läßigt. Der ſelige Hoffmann (nicht der Seelen Ver - theilende, ſondern Seelen Ergreifende) pflegte zu ſagen, daß von allem Grauſenhaften ihm nichts un - heimlicher vorgekommen ſey, als wenn er, im Berli - ner Theater, einen[Iffländer] Geheimerath zuerſt ſo proſaiſch ſich gehaben, und dann plötzlich ſtatt menſch - lich durch die Thüre abzugehen, wie der leibhaftige Gott ſey bei uns, durch die Wand fahren geſehen habe, als ſey es bloße Luft.

Es iſt freudig auffallend, das Muſeum, nach Allem was reſtaurirt werden mußte, doch noch ſo über - ſchwenglich reich zu finden! Die neuen[Säle] Denon’s geben nun auch dem größten Theile der Standbilder einen würdigen Aufenthaltsort; es iſt nur ſchade, daß man die alten Säle nicht auch in ähnlichem Style einrichtet. Zuviel würde, bei Demolirung der Decken - gemälde, nicht verloren gehen, da ſie an ſich keinen großen Werth haben, und Gemälde überhaupt ſich in Verbindung mit Statüen ſo ſchlecht ausnehmen. Sculptur und Malerei ſollte man wohl nie ver - einigen.

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Ohne mich bei den bekannten Meiſterſtücken auf - zuhalten, laß mich einiger Kunſtwerke[erwähnen], die mich beſonders anſprachen, und die ich mich früher nicht geſehen zu haben erinnere. Erſtens eine ſchöne Venus, in Milo erſt vor einigen Jahren gefunden, und vom Duc de Rivière dem Könige geſchenkt. Sie iſt als victrix dargeſtellt, nach der Meinung der Antiquare, urſprünglich entweder den Apfel vor - zeigend, oder mit beiden Händen das Schild des Mars haltend. Da die beiden Arme fehlen, ſo bleibt dies Hypotheſe. Aber wie ſchön iſt der vom Gürtel an nackte Körper! Welches Leben, welche zarte Weich - heit und reizende Form! der triumphirende, ſtolze Ausdruck des Geſichts iſt weiblich wahr, und doch auch göttlich erhaben.

Zweitens. Eine weibliche, in weite Gewande ge - hüllte Figur (image de la Providence im Catalog genannt) ein herrliches, ideales Weib, Sanftmuth und Güte im Antlitz, himmliſche Ruhe in der gan - zen Geſtalt. Die Draperie iſt von höchſter Grazie und Vollendung.

Drittens. Amor und Pſyche, aus der Villa Borg - heſe. Die Letztere fleht Amors Verzeihung an, auf ihre Kniee geſunken, und das ſüße Lächeln Amors zeigt, daß ihr Flehen ſchon innerlich erhört ſey. Wollüſtige Formen, und der lieblichſte Ausdruck der Geſichter beſtechen wenigſtens den Laien! Die Gruppe iſt ſo gut erhalten, daß nur die eine Hand des Lie - besgottes als reſtaurirt erſcheint.

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Viertens. Eine ſchlafende Nymphe. Die Alten, welche Alles unter den ſchönſten Geſichtspunkt zu bringen verſtanden, pflegten häufig mit ſolchen Figu - ren, als bloßen Emblemen des Todes, ihre Sarko - phage zu ſchmücken. Der Schlaf, ſieht man, iſt tief aber die Stellung dennoch beinahe üppig, und rei - zend die Glieder, an die ſich eine ſchöne Draperie, nur halb verbergend, anſchließt. Sie erinnert mehr an neues junges Leben, als an den vorhergehenden Tod.*)So ſollten wir Alle den Tod betrachten, darſtellen und behandeln. Nur falſch verſtandenes Chriſtenthum, vielleicht der jüdiſche Untergrund (wahrlich kein Gold - grund) hat den Tod ſo lügübre gemacht, und eben ſo grob ſinnlich als unpoetiſch, Verweſung und Gerippe zu ſeinem Emblem erwählt. A. d. H.

Fünftens. Eine Zigeunerin (angeblich), merkwür - dig durch die Miſchung von Stein und Bronce. Von letzterem iſt die Figur, von erſterem der lacedämoni - ſche Mantel. Der Kopf iſt zwar modern, aber von einem höchſt[gefälligen], ſchalkhaften Ausdruck, der ganz einer ächten Zingarella angehört, wie ſie Ita - lien liefert.

Sechstens. Die prächtige Statüe einer Anbeten - den. Der Kopf und Hals, von weißem Marmor, hat die ſtreng ideale Schönheit der beſten Antiken, und der Faltenwurf, vom härteſten Porphyr, könnte in Sammt und Seide nicht leichter und freier fallen.

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Siebentes. Die coloſſale Melpomene giebt einem der neuen Säle den Namen, und unter ihr faßt ein elegantes Broncegeländer ganz vorzüglich gelungene Nachahmungen antiker Moſaik, vom Profeſſor Bel - loni, ein. Dies iſt eine höchſt intereſſante Erfindung, von der es mich wundert, ſie von den Reichen noch ſo wenig benutzt zu ſehen.

Achtens. Die Büſte des jungen Auguſtus. Ein ſchöner, milder, kluger Kopf ſehr verſchieden im Ausdruck, wiewohl mit denſelben äußern Umriſſen der Züge, von der Statüe, die den Kaiſer in ſpä - terem Alter darſtellt, wo die Gewalt der Umſtände und der Einfluß der Parteien ihn zu ſo mancher Grauſamkeit hinrißen, bis zuletzt doch wieder, mit der unumſchränkten Macht, die angeborne ſanftere Natur die Oberherrſchaft erhielt.

Neuntens. Sein großer Feldherr Agrippa. Nie ſah ich eine charakteriſtiſchere Phyſiognomie in edlerer Form! Es iſt ſeltſam, daß die Stirn und das Obere der Augen eine große Aehnlichkeit mit einem Manne zeigen, der auch, obwohl in ganz anderem Wir - kungskreiſe, zu den großen gehört ich meine Ale - xander v. Humbold. In den andern Theilen des Geſichts verſchwindet übrigens dieſe Aehnlichkeit völlig. Je mehr ich dieſen Eiſenkopf anſchaute, je mehr über - zeugte ich mich, daß ein Solcher grade dem weichen Auguſtus[nöthig] war, um Herr der Welt werden zu können, und zu bleiben.

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Zehntens. Das Letzte, und zugleich Intereſſanteſte für mich war eine Büſte Alexanders, nach Denon’s Ausſpruch, die einzige authentiſche welche exiſtirt; ein wahres Studium für den Phyſiognomiſten und Cranologen, denn die Treue der alten Künſtler bil - dete mit gleicher Sorgfalt alle Theile, genau nach dem Vorbilde der Natur. Wirklich hat dieſer Kopf alle Wahrheit des Porträts, ganz vom Idealiſir - ten entfernt, nicht eben ausgezeichnet ſchön in den Zügen, aber, in ſeinen[merkwürdigen] Verhältniſſen und Ausdruck, der Geſchichte des großen Originals durchaus entſprechend. Den, zuweilen leichtſinnigen, abandon des Charakters verräth ſehr gut der gra - zieus etwas zur Linken geneigte Hals, wie der wol - lüſtige Zug um den Mund; Stirn und Kinnladen ſind auffallend gleich Napoleon, ſo wie auch die ganze volle Form des Schädels, hinten und vorn (thieriſch und intellektuell), ſich wie bei Napoleon gleich vollſtändig ausgebildet zeigt. *)Wie Napoleon von ſich ſelbſt ſagte: carré, autant de base que de hauteus. A. d. H. Die Stirne iſt nicht zu hoch (keinen Ideologen verrathend) ſon - dern gedrängt und[metallkräftig]. Die Züge im All - gemeinen ſind zwar regelmäßig und wohlgebildet, aber wie ſchon erwähnt, nicht idealiſch ſchön zu nen - nen. Um Auge und Naſe thront von einer erhab - nen Schlauheit, wenn ich mich ſo ausdrücken darf, umſpielt, Schärfe des Geiſtes mit dem entſchloſſen -245[345] ſten Muth, und zugleich jener ſinnigen Gemüthlich - keit der Seele gepaart, die Alexander zu einem eben ſo unbeſiegbaren, als liebenswürdig poetiſchen, Jünglingshelden machte, wie er einzig in der Ge - ſchichte daſteht. Mit dem gleichen Complex von Ei - genſchaften begabt, würden, weder Carl der XII. noch Napoleon, ihren Untergang in Rußland ge - funden haben, und jetzt der Eine nicht als ein Don Quixotte, der Andere als ein blos tyranniſch berechnender Kraft - und Verſtandesmenſch angeſehen werden. Das Ganze bildet ein Weſen, deſſen An - blick in hohem Grade anzieht und, obgleich impo - nirend, dennoch in dem Beſchauer ſelbſt Muth, Liebe und Vertrauen hervorruft. Man fühlt ſich, im Wi - derſchein dieſer Züge, behaglich und ſicher, und ſieht ein, daß ein ſolcher Mann in allen Zeiten, in allen Lagen des Lebens, Bewunderung und Enthuſias - mus erregen, und mit ſich fortreißend habe wirken müſſen.

Noch will ich eines lieblichen Basreliefs und eines originellen Altars[erwähnen]. Das Basrelief (auch aus der Borgheſiſchen Sammlung, die Frankreich, mit ſo Vielem, Napoleon verdankt) ſtellt Vulkan vor, wie er das Schild des Aeneas ſchmiedet. Cyclo - pen um ihn, alle mit wahren Silen - und Faunge - ſichtern, ſind ſehr ergötzlich abgebildet, gar herzig aber erſcheint, mitten unter ihnen, ein kleiner, lieb - licher Cupido, der, bald ſich hinter einer Thüre ver - ſteckend, dem Einen der Cyclopen die Mütze escamo -346 tirt. Alles in der niedlichen Compoſition iſt voll Leben, Laune und Bewegung, und die Wahrheit der Formen und Korrektheit der Zeichnung mei - ſterhaft.

Der Altar, zwölf Göttern zugleich gewidmet, ſieht einem chriſtlichen Taufbecken ähnlich. Die Hautre - liefs der zwölf Gottheitsbüſten umgeben den Rand des Beckens, gleich einem ſchönen Kranz. Die Ar - beit iſt vorzüglich, und die Erhaltung läßt wenig zu wünſchen übrig. Die Götter ſind in folgender Ord - nung gereiht: Jupiter, Minerva, Apollo, Juno, Neptun, Vulcan, Mercur, Veſta, Ceres, Diana, alle einzeln, zuletzt Mars und Venus vereinigt durch Amor. Es wundert mich, daß man dieſe geſchmack - volle Idee noch nicht im Kleinen für die Bazars der Damen, in Alabaſter, Porcellain oder Criſtall aus - geführt hat, wie die bekannten Tauben und andere Kunſtgegenſtände. Nichts könnte ſich beſſer dazu eignen, und doch war nicht einaml bei Jaquet, (dem Nachfolger Getti’s mouleur du Musée) ein Gypsab - guß davon zu finden, eben ſo wenig wie von den meiſten der angeführten Werke, blos weil dieſe nicht zu den berühmteſten gehören, unter welchen berühm - teſten doch einige recht wenig anziehende ſind. Die Menſchen ſind gar zu ſehr comme les moutons de Panurge. Sie folgen blos der Autorität, und laſ - ſen ſich von dieſer nur vorſchreiben, was ihnen gefallen ſoll.

In der Gemäldegallerie würden die erzwungenen Reſtitutionen ebenfalls weniger bemerkbar ſeyn, wenn347 man nicht ſo viel Gemälde der neueren franzöſiſchen Schule darin aufgeſtellt fände, die, ich geſtehe es, ſehr wenige ausgenommen, oft nur wie halbe Karri - katuren auf mich wirken. Dieſe theatraliſche Verzer - rung, dieſer Bretteranſtand, welche ſelbſt Davids Figuren nicht ſelten zur Schau tragen, und die ſtets übertriebenen Leidenſchaften erſcheinen ſchülermäßig gegen die edle Naturwahrheit der Italiener, und laſſen auch die gewinnende Gemüthlichkeit der Deut - ſchen und[niederländiſchen] Schule gänzlich vermiſſen. Unter dieſen berühmten Neuern mißfiel mir Girodet am meiſten, und gewiß kann kein geſunder Kunſtſinn ſeine Sündfluth ohne Widerwillen betrachten, auch Horace Vernet glänzt nur in Genre-Stücken, aber Gerards Einzug Heinrich des IV. ſcheint mir ein Bild, deſſen Ruf dauern wird.

Die vielen Rubens und Leſueur die man, um die Lücken zu decken, aus dem Palais Luxemburg her - gebracht hat, erſetzten ebenfalls nur ſchlecht die ver - ſchwundenen Raphaels, Leonardo da Vinci’s und Van Eyk’s. Kurz alles Neue und Alte, ſeit der Reſtauration hierhergekommene, macht keinen günſti - gen Eindruck, wohin die ſchlechten Malerbüſten auch noch gehören, die man in gewiſſen Diſtancen in der Gallerie unter Säulen aufgeſtellt hat, und die ſich, auch wenn ſie beſſer gearbeitet wären, in einen Gemälde-Saal nie gut paſſen würden. Wie immer bildet aber auch noch jetzt die prächtige, lange Gallerie, den angenehmſten Spaziergang im Win -348 ter, und die Liberalität, welche den Zugang ſtets offen läßt, iſt nicht genug zu loben.

Wenn ich bedenke, wie noch erbärmlicher es um die Malerei in England ſteht, wie Italien und Deutſch - land ebenfalls nichts Großes mehr bieten,*)Macht hier nicht München eine ruhmvolle Ausnahme, wo ein wahrhaft großer Künſtler einen noch größern Kunſtbeſchützer gefunden hat? A. d. H. ſo möchte man fürchten, daß es mit dieſer Kunſt bald wie mit der Glasmalerei gehen wird, ja ihr tiefſtes Geheimniß wirklich ſchon verloren gegangen ſey. Die Fülle, Kraft, Wahrheit und Leben der alten Maler, wie ihre techniſche Farbenkenntniß wo werden ſie noch angetroffen? Thorwaldſen, Rauch, Danneker, Canova wetteifern mit der Antike, aber welcher Ma - ler iſt auch nur neben die Künſtler zweiten Ranges aus der Blüthezeit der Malerei zu ſtellen? Nur die ſchon erwähnte Genre-Arbeit prosperirt, obgleich auch in ihr die forgſame, treue Natur-Copie der Niederländer nie entfernt erreicht wird.

In einem Seitenhofe des Muſeums ſteht jetzt der coloſſale Sphynx aus Drovettis Sammlung, für den Hof des Louvre beſtimmt. Er iſt aus ro - ſenfarbnem Granit und von eben ſo grandio - ſer Sculptur, als ſtupender Maſſe, auch ganz in - takt, bis auf die Naſe, welche man eben durch eine weiße Gypsnaſe erſetzte, die noch nicht die letzte349 Couche und ihre Farbe erhalten hatte. Dieſer An - blick machte mich unwillkührlich lachen, und an die ſonderbaren Verkettungen der Umſtände denkend, die auch dieſen Rieſen endlich hiehergebracht, rief ich in meinem Innern: Was willſt Du, großer Aegypti - ſcher Naſeweis, hier im neuen Babylon nach drei tauſend Jahren, wo kein Sphynx mehr ein Räthſel verbirgt, und wo die Verſchwiegenheit überhaupt nie zu Hauſe war.

Abends wählte ich mir unter den Theatern die Porte St. Martin, um Fauſt zu ſehen, der ſchon zum 80ſten oder 90ſten male die ſchauluſtige Welt anzieht. Der Culminationspunkt dieſes Melodramas iſt ein Walzer, den Mephiſtopheles mit Martha tanzt, und in der That, man kann nicht teufliſcher walzen! In der noch hübſchen Tänzerin ſieht man das hölliſche Feuer bald ſchreckend, bald die Adern mit Liebes - gluth erfüllend, deutlich agiren, und beide Motive bringen bei der franzöſiſchen Martha doch nur wol - lüſtige Bewegungen hervor, eine Sache, welche die ſüdlichen Tänzerinnen aber noch beſſer verſtehen. Dieſer Walzer verfehlt nie den rauſchendſten Bei - fall hervorzurufen, und verdient es, da die Panto - mime durchaus ſprechend, anziehend, ja in manchen Momenten faſt ergreifend iſt, ohngefähr wie eine mit Poſſen untermiſchte Geſpenſtergeſchichte. Me - phiſtopheles, obgleich häßlich, hat doch den Anſtand eines vornehmen Mannes, was unſern deutſchen Teufeln ſtets abgeht.

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Unter den Decorationen zeichnet ſich der Blocks - berg mit ſeinen Gräueln aus, die die Wunder der Wolfsſchlucht weit hinter ſich zurücklaſſen. Durch grauſende Lichter aller Farben erleuchtet, die hinter ſchwarzen Tannen und Windbrüchen hervorblitzten, wimmelte es von lebenden Gerippen, ſchillernden Lindwürmern, furchtbaren Mißgeburten, geköpften oder zerfleiſchten, blutenden Körpern, gräßlichen He - xen, coloſſalen, glühenden Rieſenaugen, die aus den Zweigen lugten, Menſchengroßen Kröten, giftge - ſchwollenen Schlangen, halbvermoderten Leichnamen und vielen andern lieblichen Bildern dieſer Art. Im letzten Akt verſtieg ſich jedoch die Decora - tion zuweit, indem ſie Himmel und Hölle zu - gleich darzuſtellen ſich vermaß. Der Himmel, wel - cher natürlich den obern Theil der Bühne einnahm, glänzte zwar ſehr ſchön in lichtblauem Brillantfeuer, dies war aber dem Teint von Gretchen’s Seele ſo - wohl, als den um ſie her pirouettirenden Engeln dergeſtalt ungünſtig, daß ſie ſämmtlich mehr den Leichnamen des Blocksberges als Seligen ähnlich ſahen. Ein weit beſſeres Colorit hatten dagegen, die unmittelbar unter dem hölzernen Himmelsboden tan - zenden Teufel, die auch ihre rothen Backen durch den Eifer verdienten, mit dem ſie Fauſts Puppe unverdroſſen zu zerreißen beſchäftigt waren, bis der Vorhang fiel. (Es iſt eigentlich hübſch, wenn große Menſchen ſolche Kinder ſind!)

Der Saal des Theaters ſelbſt iſt geſchmackvoll de - korirt: Bunte Malerei und Gold auf einem weißen351 Atlasgrund. Die farbigen Blumen, Vögel und Schmetterlinge nehmen ſich gar freundlich darauf aus. Das Innere der Logen iſt lichtblau, und die Brüſtung ahmt rothen Sammt nach. Außer dem ſtörenden Geſchrei der Limonadenverkäufer, die für ein deutſches Ohr die Worte: Orgeat, Limonade und Glace, in ſo ſeltſamer Abkürzung ausrufen, wan - delte auch ein Jude mit Theater-Lorgnetten umher, die er für 10 Sol das Stück für die Dauer der Vorſtellung vermiethete eine Induſtrie, die ich mich früher nicht bemerkt zu haben erinnere, und die recht bequem dient, wenn man kein eignes Glas bei der Hand hat.

Dieſer Brief gelangt wahrſcheinlich auf Schlitten zu Dir, denn wir haben, ſeit ich hier bin, ein ganz ruſſiſches Klima, aber leider keine ruſſiſchen Oefen. Der Himmel verleihe Dir eine beſſere Temperatur in B

Dein treuer L ....

Briefe eines Verſtorbenen. II. 23[352]

Acht und vierzigſter Brief.

Geliebte Julie.

Es iſt gewiß eine ſchöne Sache in Paris, einen ſolchen Spaziergang, wie das Muſeum bietet, täg - lich zu ſeiner Dispoſition zu haben und, um dem Regen oder Schnee zu entgehen, in den Sälen der Götter und unter den Schöpfungen des Genius um - her wandeln zu dürfen! Vive le Roi! für dieſe Li - beralität gegen Alle.

Nachdem ich meinen Vormittag in den Prachtſälen zugebracht, und auch das neue Aegyptiſche Muſeum geſehen, von dem ich Dich ſpäter unterhalten werde, fand ich zufällig, beim Eſſen, eine intereſſante Ge - ſellſchaft an einem General de l’Empire, deſſen Unterhaltung ich dem Theater heute vorzog. Er er - zählte mir als Augen - und Ohrenzeuge eine Menge253[353] Anekdoten, die ein lebhafteres Bild, und zum Theil einen tiefern Blick in die ganzen Verhältniſſe jener Zeit zuließen, als es Memoiren vermögen, in denen man die Wahrheit nie ganz ohne Schminke ent - falten kann. Es würde zu[weitläuftig] ſeyn, Dir hier viel davon zu erzählen, und obendrein dieſe Mittheilung des belebenden Colorits des Worts zu ſehr entbehren müſſen, weshalb ich das Meiſte für mündliche Unterhaltung aufbewahre. Nur einige Züge zur Probe.

Es iſt nicht zu läugnen, ſagte mein Berichterſtat - ter, daß im Innern der Familie Napoleons viele ge - meine Verhältniſſe ſtatt fanden, welche die Roture verriethen (worunter keineswegs die nicht vornehme Geburt, ſondern eine mangelhafte und würdeloſe Erziehung zu verſtehen iſt). Namentlich herrſchte der größte Haß und die elendeſten gegenſeitigen In - triguen zwiſchen der Familie Napoleons und der Kaiſerin Joſephine, welche auch zuletzt das Opfer davon ward. Napoleon nahm früher ſtets die Par - tie ſeiner Frau, und wurde von ſeiner Mutter des - halb oft ins Angeſicht, mit den Namen eines Tyran - nen, Tiber, Nero, und noch weniger claſſi - ſchen Ausdrücken geſcholten. Uebrigens habe Ma - dame oft gegen ihn geäußert, ſagte der General, daß Napoleon ſchon als kleines Kind ſtets habe al - lein herrſchen, immer nur ſich und das Seinige ſchätzen wollen. Seine Brüder wären von Anfang an von ihm tyranniſirt worden, nur mit Ausnahme23*354Lucien’s, der nie die geringſte Beleidigung unge - rächt gelaſſen. Es errege daher oft ihr Erſtaunen, wie gleich ſich, durch die ganze Folgezeit, der beider - ſeitige Charakter der Brüder geblieben. Der Gene - ral behauptete, daß Madame Lätitia die feſte Ueber - zeugung gehabt, Napoleon werde übel enden, und kein Geheimniß daraus gemacht, daß ſie nur für dieſe Cataſtrophe ſpare. Lucien theilte dieſe Ueber - zeugung und ſagte dem General ſchon 1811 die merk - würdigen Worte: L’ambition de cet homme est in - satiable, et vous vivrez peutêtre, pour voir sa carcasse et toute sa famille jettées dans les égouts de Paris.

Bei der Krönung Napoleons hatte die Kaiſerin Mutter, bei welcher der General, nach verlaſſenem Militairdienſte, eine Hofcharge inne hatte, (er ſagte mir nicht welche) ihm aufgetragen, genau Achtung zu geben, wieviel Fauteuils, Stühle und Tabourets für die kaiſerliche Familie aufgeſtellt worden wären, und ſo wie ſie hereinträte, ihr unbemerkt ſeinen Rapport darüber abzuſtatten. Der General, damals mit Hofſitten ziemlich unbekannt, wunderte ſich über den ſeltſamen Auftrag, richtete ihn aber pünktlich aus, und meldete, er habe nur zwei Fauteuils, einen Stuhl und ſo und ſo viel Tabourets gezählt. Ah! je le pensais, bien, rief Madame Mére, roth vor Zorn, la chaise est pour moi mais ils se trom - pent dans leur calcûl! Schnell auf den omineuſen Stuhl zuſchreitend, frug ſie den dienſtthuenden Kam -355 merherrn mit bebenden Lippen, wo ihr Sitz ſey? dieſer wies mit einer tiefen Verbeugung auf den Stuhl die Tabourets waren ſchon von den - niginnen und Schweſtern eingenommen. Den Stuhl ergreifen, ihn dem Kammerherrn auf die Füße ſtoßen, der vor Schmerz beinah laut auſſchrie, und in das Kabinet eindringen, wo der Kaiſer und Joſephine warteten, war für die empörte Couſin das Werk ei - nes Augenblicks. Hier folgte nun die indecenteſte Scene,[während] er die Kaiſerin Mutter in den ſtärkſten Ausdrücken erklärte, daß, wenn ihr nicht augenblicklich ein Fauteuil gegeben werde, ſie den Saal verlaſſen, und vorher laut den Grund ihrer Handlungsweiſe angeben wolle. Napoleon, obgleich wüthend, mußte bonne mine à mauvais jeu machen, und half ſich dadurch, daß er die ganze Sache den armen Grafen Segur, als eine Bevüe, die von ihm allein herrühre, ausbaden ließ et on vit bientôt, ſetzte der General hinzu, le digne Comte arriver tout effaré, et apporter lui même un fauteuil a sa Majesté l’Imperatrice mère. Charakteriſtiſch, und ein Beweis, daß keineswegs Joſephine, ſondern der Kaiſer ſelbſt Schuld an dem Vorfall war, iſt, daß bei der Heirath mit Maria Louiſe ſich genau dieſelbe Sache wiederholte, und die, nun ſchon zu ſehr ein - geſchüchterte, und gedemüthigte Mutter nicht mehr den Muth hatte zu widerſtreben.

Napoleon war bigott erzogen worden, und ob - gleich zu ſcharfſichtig, um ſo zu bleiben, oder es356 vielleicht je ernſtlich zu ſeyn, hatte doch die Gewohn - heit wie bei Allem, mehr oder weniger, auch auf ihn einen ſo ſtarken Einfluß, daß er ſich von den erſten Eindrücken nie ganz frei machen konnte. Es arrivirte ihm ſogar zuweilen, wenn etwas ihn plötz - lich frappirte, unwillkührlich das Zeichen des Kreuzes zu machen, ein Gêsté, der den ſceptiſchen Kindern der Revolution, bei einem Manne wie der Kaiſer, höchſt befremdend vorkam. *)Mein Freund ſchrieb auch mir damals von jener Un - terredung, und erwähnte einer komiſchen Particula - rität, die in den Briefen einer Dame freilich nicht Platz finden konnte, aber hier in einer Note wohl hazadirt werden darf, da ſie zugleich den Ton der Großen jener Zeit und ihres Herren ſo gut ſchil - dert. *)Damen warne ich jedoch im Voraus!Napoleon machte nämlich, in Gegenwart

Nun noch zuletzt ein artiger trait Carl des[ IV.], dem man kaum ſo etwas Zartes zutrauen wird, ob - gleich die, welche ihn perſönlich kannten, wiſſen, daß dieſer unendlich liberale und gute, wenn gleich höchſt ſchwache und ungebildete Prinz, als Menſch viel mehr werth war, denn als König.

Als Lucien nach Spanien ging, um dort den Po - ſten eines Ambaſſadeur der Republik einzunehmen,357 begleitete ihn der General als Geſandtſchafts-Se - kretair. Der vorige Geſandte hatte alle Grobheit der republikaniſchen Sitten zum höchſten Scandal des etikettenreichſten und förmlichſten Hofes der Welt, affichirt, und man fürchtete vom Bruder des franzöſiſchen Staats-Oberhauptes, eine noch größere Arroganz. Lucien hatte indeſſen le bon esprits, grade das Gegentheil zu thun, erſchien ſogar in Schuhen und Haarbeutel, und erfüllte alle Ceremo - niel - und Hofpflichten mit ſolcher Pünktlichkeit, daß man vor Freuden und Dankbarkeit darüber am Hofe in wahres Entzücken gerieth. Lucien wurde nicht nur höchſt populair, ſondern der wahre Liebling der ganzen königlichen Familie. Er erwiederte, wie mein Erzähler verſicherte, dieſe Freundſchaft aufrich - tig, und warnte oft den König wie den Friedens - Fürſten ernſtlich, eben ſo ſehr vor der Treuloſigkeit,*)des Erzählers und mehrerer andern Militärs, dem Marſchall Maſſena ſcherzhafte Vorwürfe, daß er nie ohne Weiber leben könne. Ich begreife dies weich - liche Weſen nicht, ſagte der Kaiſer. So lange ich in Italien kommandirte, ließ ich mir nie eine Frau zu nahe kommen, um mich nicht von wichtigeren Din - gen zu zerſtreuen, mais j’ai ma saison comme les chiens, ſetzte er hinzu, ’et j’attends j’usques . Der General verſicherte, daß ſeitdem, wenn man bei Hofe eine beſondere Dispoſition zur Eiferſucht bei der Kaiſerin Joſephine bemerkte, die Höflinge ſich lächelnd zuzurufen pflegten: Ah! l’Empereur est dans sa saison. 358 als dem unerſättlichen Ehrgeiz ſeines Bruders, über den er, bei jeder Gelegenheit ganz ohne Rückhalt, ſprach. Das Zutrauen des alten Königs pour son grand ami, wie er Napoleon nannte, blieb jedoch bis zum letzten Augenblick unerſchütterlich.

Vor ſeinem Abgang ſetzte Lucien ſeiner Populari - tät noch durch ein prachtvolles Feſt die Krone auf, deſſengleichen man in Spanien nie geſehen und wel - ches gegen 400,000 Franken gekoſtet haben ſoll. Die höchſten Perſonen des Hofs, viele Grands, und die ganze königliche Familie beehrten es mit ihrer Ge - genwart, und Letztere namentlich ſchien dem Ambaſ - ſadeur nicht genug Verbindliches darüber ſagen zu können. Wenige Tage darauf erhielten alle Mitglie - der der Geſandtſchaft prächtige Geſchenke, nur der Ambaſſadeur ging leer aus, und die republikaniſche Familiarität erlaubte ſich daher, im Palais des Ge - ſandten, mehrere deshalb an ihn gerichtete Necke - reien. Indeß war die Abſchieds-Audienz vorüber gegangen, Luciens Abreiſe auf den nächſten Tag beſtimmt, und alle Hoffnung auf das erwartete Prä - ſent nun ganz aufgegeben, als ein Offizier der wal - loniſchen Garden mit Escorte im Hotel ankam, und dem Geſandtſchafts-Sekretaire ein in eine Kiſte ge - packtes, großes Gemälde, als ein Andenken des - nigs für den Bruder Napoleons, überbrachte. Als man Lucien dies meldete, äußerte er, es ſey ohne Zweifel die Venus von Titian, die er mehreremal in des Königs Beiſeyn gerühmt, und allerdings ein359 Gemälde von Werth, indeſſen ſey ihm doch jetzt die - ſer Transport unbequem, und er müſſe geſtehen, er hätte etwas Anderes lieber geſehen. Nichts deſto - weniger ward der Offizier mit großer Artigkeit be - dankt und entlaſſen, bei welcher Gelegenheit ihm Lucien ſeine eigne koſtbare Buſennadel anzunehmen bat. Hierauf befahl der Geſandte, daß das Gemälde aus der Kiſte genommen, der Rahmen hier gelaſſen, und es ſo aufgerollt werde, daß man es auf die Imperiale eines Wagens packen könne. Der Sekre - tair that wie ihm geboten; kaum hatte man aber die umgebende Leinwand weggeſchoben, als ihm ſtatt der geprieſenen Venus das, nichts weniger als ſchöne, Geſicht des Königs freundlich entgegen - chelte. Schon wollte er, ſchadenfroh über das komi - ſche Quiproquo zum Geſandten eilen, um es ihm ſcherzend mitzutheilen, als, beim völligen Hinweg - nehmen der Enveloppe, ihn eine noch viel größere Ueberraſchung zurückhielt. Das ganze Gemälde war nämlich, gleich einer Miniature, mit großen Dia - manten eingefaßt, die Lucien ſpäter für 4,000,000 Franken in Paris verkaufte. Dies war doch eine wahrhaft königliche Ueberraſchung, und der Ambaſ - ſadeur hatte Recht, einen ſolchen Rahmen nicht, wie er früher befohlen, zu Hauſe zu laſſen.

In Badajoz wurde, nach der Behauptung des Generals, Lucien ſehr intim mit der Königin von Portugal bekannt, welche ihm dort ein politiſches Ren - dezvous gegeben hatte, und meinte er D. M 260[360] könnte wohl die Folge davon ſeyn. Gewiß iſt es, und ich ſchrieb Dir es bereits von London, daß die - ſer Prinz Napoleon auffallend gleicht.

Die Gaité kam bei meiner heutigen Theater-In - ſpection an die Reihe, und ich wage zu bekennen: daß ich mich ſehr gut dort unterhielt. Dieſe kleinen Melodramen - und Poſſen-Theater ſind jetzt, die Franzoſen mögen noch ſo vornehm dagegen thun, doch ihre eigentlichen National-Bühnen, welche ſogar an dem ſo auffallenden Uebergang des Publikums zur Romantik nicht ganz unſchuldig ſeyn mögen denn die Menſchen waren der magern Koſt herz - lich müde geworden, des ...... pathos tragique. Qui long tems ennuya en termes magnifiques.

Neulich als ich Dir den Theaterbericht des einen Abends ſchuldig blieb, geſchah es deswegen, weil ich mich im théàtre français auf eine wahrhaft widrige Weiſe gelangweilt hatte. Mademoiſelle Mars ſpielte nicht, und ich fand den Schauplatz der einſti - gen Größe Talma’s und Fleury’s, zur größten Er - bärmlichkeit herabgeſunken. Ich will Dir jetzt eine ganz kurze Skizze beider Vorſtellungen geben, von dem National - und dem Vorſtadt-Theater, und obgleich bei dem letztern nur von einem Melodrame,361 folglich von grob aufgetragenen Farben, leichter Ar - beit und Theater-Coups die Rede ſeyn kann, ſo überlaſſe ich Dir doch zu entſcheiden, ob der klaſ - ſiſchen oder melodramatiſchen Vorſtellung der Vor - zug zu geben ſey. Ich fange mit dem Melodram der Gaité an, und bemerke nur im Allgemeinen voraus, daß die Schauſpieler gewandt, die Koſtume zweckmäßig, Dekorationen, ſo wie alle ſceniſchen An - ordnungen, ſehr gut, und das Enſemble, (wie faſt auf den meiſten Pariſer-Theatern, ausgenommen dem Théâtre français) vortrefflich waren.

Das Stück beginnt mit Tanz und Fröhlichkeit. Matroſen und Fabrikarbeiter feiern ein Feſt im Gar - ten ihres Prinzipals, des Herren Vandryk, eines ſehr reichen Partikuliers, der ſeit ſechs Jahren, wo er aus der neuen Welt hier angekommen, der Wohl - thäter der holländiſchen Landſtadt geworden iſt, in der er ſich niedergelaſſen. Man hört jedoch, daß er ſich dadurch auch die Eiferſucht und den Neid der Regierung zugezogen, deren erſter Juſtiz-Beamter namentlich, verſchiedner Demüthigungen wegen die ihm die Liebe des Volks zu Vandryk zugezogen, ſein Todfeind geworden ſey. Während der Beluſtigungen erſcheint Vandryk ſelbſt mit ſeiner lieblichen Tochter, welche vom Sohne des Senators und Barons von Steewens, dem jungen Friedrich, geführt wird. Jubel und Vivatrufen empfängt ſie, Vandryk theilt Geſchenke unter die Verdienteſten aus, und trägt einer Tochter mit dem jungen Baron auf, ſeine362 Kinder nun zum Gaſtmal zu führen, das im Neben - hauſe bereitet ſey. Sinnend bleibt er ſelbſt ſtehen, und ſein Monolog verräth uns, daß alles Glück, alle Ehre und Liebe, die ihn umgäben, den Fluch der ihn verfolge, doch nicht heben könnten, ja ihn nur noch empfindlicher machten! Er überläßt ſich dem tiefſten Kummer, deſſen Urſache aber unbekannt bleibt. Sein alter Diener tritt ein, und in einer kurzen Unterhaltung erfährt man, daß dieſer allein um alles Vergangne wiſſe, die Befürchtungen ſeines Herren aber für chimäriſch halte, indem er ihn mit der Verſicherung zu beruhigen ſucht, daß ſein Ge - heimniß ja ganz ſicher, und jede Entdeckung faſt unmöglich ſey. Die Tochter kehrt jetzt mit ihrer Amme zurück, und bittet den Vater um Erlaubniß, auch ihre Freundinnen zum Feſte abholen zu dürfen. Eine zärtliche Scene folgt, wo der Vater ſich an den ſo herrlich aufgeblühten Reizen der Tochter weidet, und ſie endlich mit einer feierlichen Umarmung ent - läßt, in einer Bewegung, die nur dem alten Diener[verſtändlich] iſt. Noch in der Thür begegnet ſie dem Vater des jungen Barons der, reich gekleidet und von ſeinem Gefolge begleitet, erſcheint. Vandryk empfängt ihn mit großer Ehrfurcht, die Familiarität und Freundſchaft des Barons faſt abwehrend, bis dieſer ſeine Lobeserhebungen und Achtungsbezeigun - gen gegen Vandryk damit beſchließt, daß er, ob - gleich er einer der reichſten und angeſehenſten Edel - leute im Lande iſt, für ſeinen Sohn um Vandryk’s Tochter anhält. Dieſer erklärt in der höchſten Agi -363 tation, eine ſolche Verbindung ſey unmöglich, und vergebens dringt der Baron in ihn, obgleich er ihm deutlich merken ließ, daß das junge Paar bereits einig, und ſchon durch die innigſte Zärtlichkeit ver - bunden ſey. Dies fehlte noch zu meinem Elend! ruft Vandryk faſt in Verzweiflung aus, als die Thüre aufgeriſſen wird, und ſeine Tochter, mit der Amme an der Hand, athemlos hereinſtürzt, verfolgt von einem glänzenden jungen Wüſtling, der beim Anblick des Barons und Vandryk’s zwar einen Augenblick betroffen ſtehen bleibt, ſich aber ſchnell faßt, und mit der Geiſtesgegenwart eines Mannes von Welt ſein Betragen zu entſchuldigen ſucht. Der Baron fragt verächtlich, wer er ſey? worauf der junge Mann mit ſtolzem Anſtand antwortet: Mein Name iſt Ritter Vathek, erſter Sekretair des Raths - Penſionairs von Holland, Grafen von Aſſefeldt, der ſo eben hier angekommen iſt, um den Zuſtand der Provinz zu unterſuchen. Iſt der Graf ſchon hier? frägt der Baron, mit mehr Höflichkeit, dann muß ich ja eilen, ihn zu bewillkommen, da er mir die Ehre erzeigt, bei mir zu wohnen, denn ich bin Baron Steewes und dieß Herr Vandryk, der Vater der jungen Dame, die .... Vathek verbeugt ſich unterbrechend, und nähert ſich Vandryk, um auch ihm ſeine Entſchuldigung zu wiederholen, bleibt aber ſprachlos ſtehen, als er deſſen Geſicht erblickt. Doch bezwingt er ſich augenblicklich, ſchiebt ſeine Ver - wirrung auf die Verlegenheit ſeiner Lage, und eilt nach einigen Gemeinplätzen davon. In der Thür364 wendet er ſich noch einmal unbemerkt von den Uebri - gen um, wirſt einen ſorgſamen Blick auf den mit ſeiner Tochter beſchäftigten Vandryk, und mit den Worten: beim Himmel, er iſt’s! verläßt er das Haus.

Die Scene verändert ſich.

Wir ſehen ein reiches Gemach, in welches Graf Aſſefeldt vom Baron geführt wird. Nach einiger Converſation über den Zuſtand der Provinz, erwähnt der Baron Vandryks, ſeiner Verdienſte um das Land, und fügt hinzu, daß er deſſen Tochter erſt heute für ſeinen Sohn verlangt, überzeugt, daß Van - dryk’s Tugend, ſein Einfluß, ſein Reichthum und die Würde ſeines Charakters ihn jedem Edelmanne gleich ſtellen müßten. Man ſieht während dieſer Aeußerung den jungen Sekretair höhniſch lächeln, der jetzt vortritt, um die Behörden der Stadt anzu - melden. Dieſe kommen dem Raths-Penſionaire ihre Ehrfurcht zu bezeigen, wobei der Zuſchauer zugleich erfährt, daß ihr Chef, jener erwähnte Feind Van - dryk’s des jungen Ritters Onkel iſt. In dem Rap - port, den dieſer nun dem Grafen Aſſefeldt macht, beſchuldigt er Vandryk öffentlich, nur ein raffinirter Ruheſtörer zu ſeyn, der unter der Maske eines Fa - brikherrn das Volk zu verführen ſuche, appügirt da - bei auf die ganz räthſelhafte Unbekanntheit ſeiner Familie, die gänzliche Ungewißheit, woher er ſelbſt komme, wer er, und was ſeine Endabſicht ſey, und giebt endlich zu verſtehen, daß er wohl als Spion im Solde einer fremden Macht ſtehen könne. Graf365 Aſſefeldt zeigt ſich ruhig und kalt, aber wohlwollend, ermahnt zur Einigkeit und gemeinſchaftlichem Eifer für das allgemeine Beſte, entläßt die Behörden nebſt dem Baron, und wendet ſich nun mit Strenge an ſeinen Sekretair, dem er die Unanſtändigkeit ſeines Vetragens an dieſem Morgen, worüber der Baron Klage geführt, nachdrücklich verweiſt. Der Ritter bittet, mit verbißnem Aerger, um Verzeihung, fügt aber hinzu, daß ſein, allerdings tadelnswerthes Be - tragen dennoch zu einer merkwürdigen Entdeckung geführt habe, nämlich, wer der verehrte Herr Van - dryk eigentlich ſey. Nun, und wer iſt er? fragt der Graf geſpannt. Der Henker von Amſterdam. Der Graf ſchlägt erſtaunt die[Hände] zuſammen, und der Ritter fährt in ſeiner Erklärung fort: Als ſiebenjähriges Kind, ſagte er, entwendete ich, in unbewußter Spielerei, meiner Mutter einen koſtba - ren Diamantring. Er ward lange vergebens geſucht, und um mich nachher für immer von einer ſo üblen Gewohnheit zu heilen, fiel meine Mutter auf das ſonderbare Mittel, den Scharfrichter nebſt ſeinem Er - ben und geſetzlichen Nachfolger, den älteſten ſeiner Söhne kommen zu laſſen, beide in ihrer furchtbaren Amtskleidung und dem breiten Schwerdte in der Hand. Der Jüngſte ergriff mich, und indem er das Schwerdt ſchwenkte, rief er mir zu: dies kalte Eiſen würde mir den Tod geben, wenn ich mich je wieder dem ſchändlichen Verbrechen des Stehlens überließe. Eine wohlthätige Ohnmacht befreite mich hier von aller ferneren Angſt, aber nie kam mir ſeitdem das366 für mich ſo ſchreckliche Antlitz des jungen Mannes aus dem Gedächtniß, und ſelbſt nach 20 Jahren er - kannte ich es heute, nicht ohne innerliches Schau - dern, auf den erſten Blick.

Der Graf bleibt ungläubig, hebt die Unwahrſchein - lichkeit hervor, daß eine Erinnerung der erſten Kind - heit nach zwanzig Jahren noch ſo zuverläßig ſeyn könne, und gebietet ſeinem Secretair vor der Hand jedenfalls das tiefſte Schweigen.

Wir werden nun wieder in das Haus Vandryks zurückgeführt, wo ſeine Tochter ihm ihre Liebe zu Friedrich geſteht, und ehe ſie ihn[verläßt], dringend um ſeine Einwilligung fleht. Der Vater theilt in der[nächſten] Scene Alles dem treuen Diener mit, welcher ihm ſo lange zuredet und die Unmöglichkeit der Entdeckung ſeines Geheimniſſes ſo plauſibel macht, daß er endlich ſelbſt äußert, ſich noch nie be - ruhigter und ſicherer gefühlt zu haben, und mit Thrä - nen väterlicher Liebe den Befehl giebt, das junge Brautpaar zu holen, um ihnen ſeinen beſten Segen zu ertheilen. Freude und Glück Aller ſcheint voll - kommen, und der alte Baron, der ebenfalls hinzukömmt, theilt ihr Entzücken. Er ladet Vater und Tochter vorläufig zu einem Feſte ein, das er dem Grafen Aſſefeldt heut gebe, wobei er die beſte Gelegenheit finden würde, ſeine künftige Schwiegertochter und Vandryk dem Raths-Penſionair vorzuſtellen, und ſeinem Wohlwollen zu empfehlen.

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Alle gehen ab, und das Theater verwandelt ſich in eine Bildergallerie mit einem anſtoßenden prächtigen Saale, den man von einer zahlreichen Geſellſchaft angefüllt, hinter einer Säulengallerie, erblickt. Der Graf im Vordergrunde unterhält ſich noch mit den Regierungsbeamten, welche reſpektvoll Platz machen, als der Baron Steevens erſcheint, um die Familie Vandryk vorzuſtellen, welche er laut die Wohlthäter der Provinz nennt. Der Graf, ſich[höflich] gegen die Tochter verneigend, ſagt mit Bedeutung: Eine ſolche Tugend ziert Jeden, und den Vater fixirend, ſetzt er hinzu von welchem Stande er auch ſey wor - auf er ihm ſchnell den Rücken kehrt. Vandryk ver - räth ängſtliche Verlegenheit, während der ſeitwärts ſtehende Vathek kein Auge von ihm verwendet, und ſeine Tochter ihn ängſtlich fragt, ob ihm nicht wohl ſey, da er ſo plötzlich erblaſſe? Nichts, nichts, ſtam - melt er, ich folge gleich, und legt ihre Hand in die Friedrichs, der ſie zögernd in den Saal führt. Alle gehen ab, bis auf Vandryk, der, noch halb bewußt - los die Hand an die Stirne gehalten, ſtehen bleibt, und Vathek, der, in einen Winkel zurückgezogen, wie ein Tiger auf ſeine Beute zu lauern ſcheint. Plötzlich tritt der Ritter hervor, drückt den Hut auf den Kopf, und Vandryk auf die Schulter ſchlagend, ruft er mit lauter Stimme: Unverſchämter! der erſte Magiſtrat Hollands verbietet Euch, ſich in ſeiner Gegenwart zu Tiſch zu ſetzen. Dieſe Scene iſt von ergreifender Wirkung. Der Unglückliche ſinkt außerBriefe eines Verſtorbenen. II. 24368aller Faſſung in die Knie, und ruft Gnade! doch ſchon iſt Vathek verſchwunden, und läßt ihn vernichtet zurück. Gerechter Gott, ruft er mit dem Schmerz der Verzweiflung: Iſt denn Cains Zeichen auf meiner Stirne eingebrannt, daß Fremde ſelbſt darauf meine Schande leſen müſſen! Jetzt eilt ſeine Tochter, die ihn nicht aus dem Auge gelaſſen, aus dem Saale wieder herbei, und beſchwört ihn, ihr die Urſache ſeiner unbegreiflichen Bewegung mitzuthei - len; doch ehe ihr noch Andere folgen können, reißt er ſie mit ſich fort: Laß uns fliehen, meine Tochter,[flüſtert] er ihr ins Ohr, nur Flucht und Nacht kann uns vor den Menſchenaugen verbergen. Er ſtürzt mit ihr aus der Thür, und der Vorhang fällt.

Nach den Geſetzen Hollands war das Amt des Scharfrichters zu Amſterdam erblich, und der zu ſei - nem Nachfolger deſignirte Sohn konnte ſich, ohne ein Krüppel zu ſeyn, demſelben nicht entziehen. Die Familie wurde als Leibeigne des Staats betrachtet, und ihre Flucht als Felonie beſtraft. Auf Vandryk ruhte alſo die doppelte Laſt der damals allgemein angenommenen Unehrlichkeit ſeines Handwerks, und des Verbrechens, ihm heimlich entflohen zu ſeyn. Durch ſeltnes Glück in allen ſeinen Unternehmungen begünſtigt, hatte er im Auslande ein großes Ver - mögen gewonnen, und nach ſo langer Zeit erſt zu - rückkehrend, gehofft, unerkannt bleiben, und ſein Le - ben im Vaterlande beſchließen zu[können], doch hatte369 das Bewußtſeyn ſeines Elends*)Gewiſſen ? ihm nie einen Augenblick Ruhe gegönnt.

Alle dieſe Details erfahren wir in einer Unterredung Vandryk’s mit ſeinem alten Diener, im verſchloßnen Hauſe, wo er Alles zur Flucht vorbereitet. Seine Tochter erſcheint in[Thränen], und beſchwört ihren Vater um Erklärung aller Räthſel, die ſie umgeben. Die Scene, welche ſehr erſchütternd iſt, endet mit dem Geſtändniß, das der Vater nicht auszuſprechen Kraft findet, und auf ein Blatt Pavier ſchreibt. Mit Zittern ergreift es die Tochter, öffnet es langſam, und das furchtbare Wort leſend, ruft ſie erſt, ſeine Füße umklammernd, in Schmerzenstönen, Vater! dann zuſammenſinkend ſtammelt ſie bewußtlos: Henker! und fällt ohnmächtig zu Boden. Ihr Vater, der den Anblick nicht ertragen kann, entflieht durch die Thür. Als ſie in den Armen des treuen Dieners wieder zu ſich kömmt, winkt ſie ihm, ſie allein zu laſſen. Sie betet, wirft ſich dann auf einen Stuhl, ſtützt den Kopf in beide Hände, und weint bitterlich. Ein ſtarkes Geräuſch am Fenſter ſchreckt ſie von Neuem auf. Mit Erſtaunen ſieht ſie einen Mann, in einen rothen Mantel vermummt, herabſpringen. Es iſt Vathek. Sie will um Hülfe rufen, doch dieſer bittet ehrfurchtsvoll nur um einen Augenblick Gehör, um ihres Vaters willen. Eine feurige Liebeserklärung folgt, er erbietet ſich mit ihr zu fliehen, ſie und24*370ihren Vater für immer in Sicherheit zu bringen, wenn ſie ſein werden wolle, droht aber Verderben jeder Art im Verweigerungsfalle. Da er indeß nur mit eben ſo viel Kälte als Würde zurückgewieſen wird, ſagt er ihr zuletzt mit losbrechender Wuth: Er wiſſe ſehr wohl, wer ihm eigentlich im Wege ſtünde, aber auch Friedrich ſolle ihm nicht entgehen, und ſein Tod, ehe noch wenig Stunden vergingen, ihr Werk ſeyn. Jetzt ruft die Geängſtete um Hülfe, Diener und Fabrikarbeiter Vandryks ſprengen die Thüre, doch Vathek zieht ſein Schwerdt, und den Mantel als Schild gebrauchend, gewinnt er, ſich durchſchlagend, das Freie.

Wir ſehen jetzt eine Gallerie im Pallaſt des Ba - rons. Es iſt Nacht, nur ſpärlich von einer einſa - men Lampe erleuchtet. Friedrich geht unruhig auf und ab, überlegend was er thun ſolle. Er kann ſich die plötzliche Flucht Vandryk’s und ſeiner Toch - ter nicht erklären, und verliert ſich in Hypotheſen. Indem klopft eine leiſe Hand an ſeine Thüre. Er öffnet verwundert, und Maria’s Amme tritt ver - hüllt ein, mit einer Botſchaft ihrer Gebieterin, die Friedrich beſchwört, in den Garten herabzukommen, da ein furchtbares Schickſal ſie zwinge, alle Rück - ſichten aus den Augen zu ſetzen, um ihn noch ein - mal zu ſprechen. Immer mehr erſtaunt folgt er der, eben ſo befremdenden als lieben, Einladung die Dekoration verändert ſich, und eine ſchöne Mondbe - leuchtung zeigt uns einen ſorgfältig unterhaltnen371 holländiſchen Garten mit Buchsbaum-Figuren und Blumenbeeten, wo Maria in Reiſekleidern ängſtlich ihres Bräutigams harrt. Friedrich tritt ein, und nachdem ſie unter vielen Thränen und geheimnißvol - len Worten auf ewig von ihm Abſchied genommen, ſagt ſie, der Hauptzweck ihres Beſuchs ſey, ihn vor Vathek zu warnen, der ſeinen Tod geſchworen. Friedrich glaubt jetzt, Vathek ſey die Urſache ihrer Trennung, und vielleicht nicht ganz unbegünſtigt von der Familie. Er[überhäuft] die unglückſelige Maria noch mit Vorwürfen, und ſein Zorn erreicht den höchſten Gipfel, als jetzt Vathek ſelbſt hinter einer Hecke hervortritt, und den Degen ziehend ihm ſpöt - tiſch zuruft: Gieb Maria auf, oder ſtreite um ſie wie ein Ritter! Maria und ihre Amme ſchreien um Hülfe,[währendn] die Jünglinge auf Tod und Leben kämpfen. Der Baron und Graf Aſſefeldt in Nachtkleidung, eilen mit einigen Dienern und Fa - ckeln herbei, kommen aber nur in dem Augenblick an, als Vathek, tödtlich getroffen, niederſinkt. Sich und ſeinen Mörder verfluchend, erklärt er noch im Sterben, daß er von Friedrich meuchlings überfal - len worden ſey, aber, ſchließt er: Vandryk wird mich an meinem Mörder[rächen] Vandryk Polder, der Henker von Amſterdam! Friedrich und der Baron ſchaudern entſetzt zurück, Maria liegt ohnmächtig in den Armen ihrer Amme, und Vathek ſtirbt. Hier fällt der Vorhang zum zweitenmale.

Einige Tage ſcheinen vergangen. Die Scene zeigt uns einen Gerichtsſaal, deſſen Thüren das Volk372 belagert. Friedrich wird zum letztenmal verhört, und des Mordes als überwieſen erklärt, worauf ihn die Richter, unter dem Vorſitz von Vathek’s Onkel ein - ſtimmig zum Tode verurtheilen. Der gegenwärtige Graf Aſſefeldt kann, obgleich tief betrübt, den Lauf des Geſetzes nicht aufhalten. Das empörte Volk ſprengt zwar die Pforten, um Friedrich zu befreien, der Graf bezähmt aber die Meuterer durch eine[wür - devolle] Anrede, bei deren Schluß er ihnen ſagt: daß das Geſetz über ihnen Allen ſtehen müſſe, daß aber dennoch jede Hoffnung noch nicht verloren ſey, da der General-Statthalter das Recht der Begnadigung üben könne, zu welchem er daher auch bereits, von dem Ausgang des Spruches unterrichtet, den Baron Steevens nach dem Haag abgeſchickt habe. Vandryk’s Feind benutzt jedoch den Aufruhr, um die Beſchleu - nigung der Hinrichtung anzuordnen, und ſetzt den Vorſtellungen des Grafen keck ſeine Pflicht als Ma - giſtrat entgegen, die er zu verantworten wiſſen werde. Hier tritt Vandryk, oder vielmehr Polder ein, und bittet den Grafen[fußfällig] um Gnade für den Unglücklichen und der Ausſage ſeiner Tochter nach, eben ſo unſchuldigen Baron. Dieſer beklagt jedoch, daß das Zeugniß ſeiner Tochter unter den obwaltenden Umſtänden keine Gültigkeit gegen die deutliche Anklage des Sterbenden haben könne, Friedrich jedenfalls, es ſey nun auf welche Art es wolle, Vathek’s Tod verſchulde, und ſeine, des Gra - fen, Autorität nicht ſo weit gehe, den Lauf der Ge - ſetze hemmen zu können. Alles hänge jetzt nur von373 der erſten Magiſtrats-Perſon, dem Onkel des Ge - tödteten ab, der hier vor ihm ſtehe. Dieſer fixirt den Geängſteten mit teufliſchem Lächeln, und als er ſich vor ihm niederwirft, ſagt er freundlich: Wohlan, lieber Polder, Ihr erſcheint hier, wie gerufen! Ich höre, daß Ihr Euer Meiſterſtück noch nicht abgelegt habt, und requirire Euch hiermit im Namen der Regierung, und in Ermangelung jedes Andern, der Euer Amt verrichten könnte, zu der bevorſtehenden Execution. Polder, ſtumm vor Entſetzen und Wuth, ſtarrt zuerſt ſeinen unmenſchlichen Feind lange ſchweigend an, und bricht dann in glühende Worte aus, die ſich einigemal faſt zur tragiſchen Würde erheben. Endlich ruft er: Ich habe noch nie das Blut eines Nebenmenſchen vergoſſen und werde es nie, aber müßte ich es, ſo ſollte es doch nur das Deinige ſeyn, Unmenſch! Doch, wie plötz - lich inſpirirt und umgewandelt, ſetzt er nach einer Pauſe hinzu: Verzeiht! der Schmerz nahm mir die Sinne. Es ſey ich gehorche dem Befehl. Er - laubt mir nur eine kurze Vorbereitung. Mit Ver - wunderung und erſchüttert ſehen ihm beide nach, und folgen ihm ſchweigend.

Wir finden jetzt Friedrich in ſeinem Kerker, wo Graf Aſſefeldt eben eintritt, um den Verurtheilten zu fragen, ob er ihm noch in irgend etwas dienen könne? Friedrich verlangt blos zu wiſſen, ob eine ſchnell vollzogene Verbindung mit Maria, und ihre Einſetzung zu der Erbin ſeines Namens und Ver -374 mögens, unter den jetzigen Umſtänden gültig ſey? Allerdings, antwortet der Graf, aber der wah - re Namen und Stand müſſen in dem Document deutlich und richtig ausgedrückt ſeyn. Friedrich ſchau - dert, bleibt aber ſeinem Vorſatz getreu. Der Graf verläßt ihn um Maria zu rufen, die, ein Bild troſt - loſer Verzweiflung, hereingeführt wird. Hierbei muß ich bemerken, daß die Schauſpieler in Frankreich da - für ſorgen, bei ſolchen Gelegenheiten ſo auszuſehen, wie es ihre Gemüthsſtimmung mit ſich bringen muß, und nicht, wie ich es in Deutſchland ſo oft er - blickte, in der Todesangſt und Verzweiflung mit ro - then Pausbacken erſcheinen, oder gar in dieſem blü - henden Zuſtande ſterben. Friedrich und Marie bie - ten ein treues Bild des höchſten Schmerzes dar. Er dringt in ſie, ihm zu ſeiner Beruhigung die Gewäh - rung einer Bitte zuzuſchwören. Sein Wort, ruft ſie eifrig ſey ihr Gebot! und fällt weinend auf ihre Knie, um ſeine Vergebung anzuflehen. Sie aufhebend ſagt er: Was hätte ich Dir zu verzeihen! Dir allein Maria danke ich das wenige Glück, deſſen ich genoß! In wenig Minuten wirſt Du mein Weib, in wenigen Stunden meine Wittwe ſeyn. Vergiß dann die Vergangenheit ganz, und lebe ein neues glücklicheres Leben! Die traurige Ceremonie geht in Gegenwart des Grafen vor ſich. Eine Ordonnanz tritt gleich darauf ein und bringt einen Brief des alten Barons. Gottlob, ruft der Graf, auf die Begnadigung des Statthalters hoffend. Im Leſen aber verhüllt er ſein Geſicht: der unglückliche junge375 Mann, ſagt er, tief ſeufzend, jetzt iſt er verloren! denn der Baron ſchreibt, daß er den Statthalter nicht im Haag gefunden, ihm zwar ſogleich nachge - reist ſey, aber noch nicht wiſſe, wo er ihn antreffen werde. Er[beſchwört] daher um Aufſchub, den der Graf leider nicht im Stande iſt zu gewähren, ohne die Einwilligung des Onkels Vatheks, welche nicht zu hoffen ſteht. Die Wache erſcheint jetzt, und Fried - rich wird abgeführt. Die ſich verwandelnde Scene führt uns in eine freie Landſchaft mit belebten Ka - nälen im Hintergrunde. Haufen Volks verſammeln ſich, die Execution mit anzuſehen, ſtoßen aber dabei wilde Drohungen gegen die grauſamen Richter aus, welche zuletzt in Empörung ausarten. Das Schaffot wird geſtürmt und zertrümmert, Soldaten rücken an, Tumult und Gefecht füllt das Theater. Vatheks Onkel, an der Spitze des Militairs, ſtellt jedoch die Ordnung wieder her, und befiehlt, da das Schaffot zertrümmert ſey, den Balkon eines nahen Hauſes zur Hinrichtung einzurichten. Man hört, ſeitwärts der Bühne, die Arbeiter beſchäftigt, während Graf Aſſefeldt vergebens ſeine Bitten um Aufſchub mit ernſten Drohungen vermiſcht. Der Zug erſcheint. Friedrich, gefeſſelt in der Mitte, und Polder im ro - then Gewande ſeines Amts, das breite Schwerdt entblößt in der Hand haltend, ziehen in Hintergrund der Bühne vorüber. Soldaten mit gefälltem Bajo - net wehren der empörten Menge. Langſam ver - ſchwindet der Zug, der Graf bleibt allein, in höch - ſter Bekümmerniß, mit einem Diener zurück. Wie376 in der Jungfrau von Orleans, giebt der Diener, der auf eine Erhöhung geſtiegen iſt, dem Grafen, der ſich voll Abſcheu abgewendet hat, Nachricht von dem was vorgeht. Endlich ruft der Späher von oben herab: jetzt kniet der junge Herr Baron nieder ..... ſie verbinden ihm die Augen der Scharfrichter naht ſich ihm .... O mein Gott! ..... und hier hört man einen dumpfen Schlag hinter der Scene, wie von einem Schwert, das auf den Block fällt. Der Graf verhüllt ſein Geſicht, und tritt ſchaudernd zurück, als Polder leichenblaß in ſeinen Mantel gehüllt, von zwei Bürgern unterſtützt herbei - geführt wird,[während] lautes Getöſe hinter der Scene erſchallt. Gerechter Himmel! was habt Ihr gethan! ruft der Graf. Seht hier, was ich ge - than, erwiedert Polder mit ſchwacher Stimme, und den Mantel aufſchlagend, hält er ihm den verbunde - nen Stumpf ſeines rechten Armes hin, von dem er ſich eben die Hand ſelbſt abgehauen. Mein junger Freund, ſetzt er matt hinzu, iſt nun wenigſtens auf mehrere Stunden ſicher. Das Volk ſtrömt in dumpfer Betäubung herbei, aber mit ihnen auch Vandryks Onkel, der wüthend befiehlt, den pflichtlo - ſen Scharfrichter ſogleich in das tiefſte Gefängniß zu werfen. Doch indem er noch ſpricht, erſchallt von fern ein ängſtliches Rufen, man hört den Gallop ei - nes Pferdes, und ſieht Baron Steevens, vom ſchäu - menden Roß ſpringend, den Pardon des Statthal - ters hoch empor halten, laut Gnade! Gnade! rufen, und dann erſchöpft den Umſtehenden in die Arme377 ſinken. Graf Aſſefeldt öffnet das Papier, liest laut die Begnadigung Friedrichs, und kündigt zugleich dem erſten Magiſtrat vorläufige augenblickliche Dis - penſation ſeines Amtes an. Tief gerührt umarmt er den Befreiten, und der Vorhang fällt.

Ich weiß recht gut, welche lange Litaney Kunſtrich - ter hier hören laſſen können, von gemeinen Verhält - niſſen, Theater-Coups, Unwahrſcheinlichkeiten u. ſ. w. Man bedenke, ich wiederhole es, daß nur von einem Melodram die Rede iſt, an das man keine großen Forderungen machen darf, aber dennoch bin ich über - zeugt, daß kein unbefangner friſcher Sinn dieſe Vor - ſtellung ohne lebhaft erregtes Intereſſe ſehen wird. Laß uns um zu dem théâtre français übergehen, das ich, der Bekanntheit der Stücke wegen, kürzer abfertigen kann.

Nach einem griechiſch-franzöſiſchen Trauerſpiel, in - dem die antiken Gewänder vergebens Franzoſen zu Griechen ſtempeln ſollten, der alte Held der Provin - zen, Joanny, vergebens eine ſchwache Copie des gött - lichen Talma aufzuſtellen verſuchte, und auch die (wahrlich jetzt au del à de la permission häßliche) Duchesnois mit weinerlicher, veralteter und verſtei - nerter Manier am Ende jeder Phraſe vergebens mit den Händen in der Luft, ebenfalls à la Talma, ge - zittert, die Uebrigen aber eine wahrhaft troſtloſe Mittelmäßigkeit abgehaspelt hatten, wurde, zum Schluß, der Mercure galant aufgeführt. Die abge - tragenen geſtickten Seidenkleider verriethen die längſt378 vergangene Zeit, in der dieſes Stück ſpielt, eben ſo ſehr, als es die Unbehülflichkeit that, mit der dieſe Tracht von den neuen Schauſpielern getragen wurde. Die Damen hatten es ſich dagegen bequem gemacht, und waren nach der neueſten heutigen Mode geklei - det. Die Comödie iſt ganz ohne Intrigue, nur ein damaliges Gelegenheitsſtück, das jetzt zu geben faſt abſurd iſt. Als Hauptpointe erſcheint ein alter Herr, der, kurz vor der Hochzeit, das Verhältniß mit ſeiner jungen Braut abbricht, und als er, vor dem jungen Mädchen und ihrer Freundin, darüber vom Bruder zur Rede geſtellt wird, ganz einfach antwortet: C’est tout simple, j’ai peur d’être Cocû, worauf er ein Paar Hundert Verſe rezitirt, die dieſes Thema ins grellſte Licht ſetzen. Das Stück ſchließt mit der Aufgabe eines Räthſels. Niemand kann es errathen, der Autor enthüllt es alſo ſelbſt. Was iſt es? un pêt. Ah, ruft die junge Dame, il fallait avoir bon néz pour deviner cela und mit dieſem claſſiſchen Witz fällt der Vorhang. Ce pauvre pêt me semblait, en vérité, le dernier souffle du théâtre français!

Abgerechnet que tous les genres sont bon hors le genre ennuyeux, möchte der Inhalt dieſer letzten Pieçe ſich doch wohl beſſer für ein Winkelgäßchen der Vorſtadt geſchickt haben. Was aber noch merkwür - diger erſcheint, iſt, daß auf dieſem hochtrabenden, claſſiſchen Nationaltheater ſelbſt nothgedrungen jetzt auch Melodramen, (wenigſtens dem Inhalt nach, wenn auch ohne Muſik), gegeben werden, und nur dieſe noch Zuſchauer herbeiziehen, wie das einzige dermalige Caſſenſtück, der Spion, zur Genüge beweist.

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So pflanzt ein Theater nach dem andern die ro - mantiſche Fahne, mehr oder weniger glücklich, auf, und Tragödien und Schauſpiele, à la Shakespeare, wie die Franzoſen ſagen, erſcheinen daſelbſt täglich, die, ohne fernere Gewiſſensbiſſe des Autors und Pub - likums, alle verehrten Einheiten über den Haufen werfen.

Die Revolution hat die Franzoſen in jeder Art neu geboren; auch ihre Poeſie wird eine neue wer - den, und das nimmer neidiſche Deutſchland ruft ih - nen freudig zu: Glück auf!

Ich beſah heute einige neue Gebäude, unter an - dern die, mit ſtattlichen Colonnaden umgebene Börſe, deren Größe und Totaleindruck impoſant iſt; doch nehmen ſich die langen, ſchmalen gewölbten Fenſter hinter den Säulen ſehr häßlich aus. Die modernen Bedürfniſſe harmoniren oft gar zu ſchlecht mit dem antiken Styl. Das Innere iſt ebenfalls grandios, und die Täuſchung der Deckenmalerei in der Haupt - halle vollkommen. Man ſchwört, darauf Basreliefs zu ſehen, obgleich ſchlechte.

Auf den Boulevards hat man, wie ich heute erſt bemerkte, gute Verbeſſerungen durch Wegnahme meh - rerer Häuſer bewerkſtelligt, und die Porte St. Denis380 und St. Martin nehmen ſich nun weit beſſer aus als ehemals. Ludwig der XIV. verdient dieſe Monu - mente, ſchon um ſeiner Verſchönerung der Hauptſtadt willen, denn in der That, was man in Paris Schö - nes und Großes ſieht, Ludwig der XIV. oder Na - poleon gründeten es. Die Alleen hat man glücklicher - weiſe ſorgfältig geſchont, und nicht, wie ſie in Berlin unter den Linden und auf dem Dönhofsplatz, die gro - ßen Bäume abgehauen, um kleine aſtloſe Knüppel ſtatt ihrer hin zu pflanzen. Einen ſeltſamen Anblick gewähren die vielen Dames blanches und Omnibus, Wagen, die zwanzig bis dreißig Perſonen halten, die Boulevards fortwährend von einem Ende bis zum andern durchfahren, und jeden müden Fußgänger für beſtimmte, ſehr billige Preiſe darin aufnehmen. Mel - det ſich einer, ſo zieht der hinten ſitzende Conducteur eine Klingel und der Kutſcher hält. Eine fliegende Treppe ſinkt herab und in wenigen Secunden geht es wieder vorwärts. Nur drei unglückliche Roſſe zie - hen dieſe ſchweren Wagen, ſo daß ich, bei der jetzigen Glätte, oft ſämmtliche Pferde neben einander hinſtür - zen ſah. Man ſagt, England ſey eine Hölle für die Pferde, ſollte indeß die Metempſycoſe wahr ſeyn, ſo bitte ich mir doch jedesmal aus, lieber ein engliſches Pferd zu werden als ein franzöſiſches. Wie man dieſe unglücklichen Thiere hier oft behandelt, iſt wahr - lich empörend! und es wäre zu wünſchen, daß die Polizey ſie, wie in England, beſchützte. Ich erinnere mich, daß ich einſt in London eine ähnliche Mißhand - lung eines armen Cabrioletpferdes durch einen Fiacre381 mit anſah. Kommen Sie, ſagte der mich begleitende Engländer; wenn Sie eine Stunde Zeit haben, ſol - len Sie ſofort der Beſtrafung dieſes Menſchen bei - wohnen. Er rief den Mann nun ganz gelaſſen heran, ſtieg mit mir ein, und befahl ihm auf’s Po - lizei-Büreau zu fahren. Dort brachte er ſeine Klage an, daß der Kutſcher ſein Pferd unnütz gepeinigt und gemißhandelt habe. Ich bezeugte es, und der Kerl war genöthigt, ſogleich eine ziemlich bedeutende Geld - ſtrafe zu erlegen, worauf er uns noch wieder zurück - fahren mußte. Du kannſt Dir ſeinen guten Humor dabei vorſtellen.

Auch in andern Theilen der Stadt ſind ſolche Omnibus im Gange, und die längſte Courſe koſtet doch nur einige Sols. Es iſt höchſt amüſant, Abends dergleichen Fahrten, auch ohne beſtimmten Zweck, zu machen, nur der ſonderbaren Carricaturen wegen, die man hier antrifft, und der originellen Converſa - tionen, die man mit anhört. Man glaubt oft einer Vorſtellung der Variétés beizuwohnen, und findet Brunets und Odry’s Originale getreu hier wieder. Du weißt, wie gern ich auf dieſe Art beobachtend unter Menſchen bin, und überhaupt dazu die Mittel - ſtände am meiſten liebe, die auch heut zu Tage al - lein noch etwas Eigenthümliches haben, und auch die glücklichſten ſind, denn wahrlich die Medaille hat ſich ganz und gar umgekehrt. Die Mittelſtände, bis zum Handwerker herab, ſind jetzt die wirklich be - günſtigten, durch Sitten und Zeitumſtände. Die -382 heren Claſſen finden ſich mit ihren Rechten oder Prätenſionen zu fortwährender Oppoſition und Deh - müthigung verdammt. Unterſtützt hinlängliches Geld ihre Anforderungen, ſo geht es noch leidlich, obgleich auch hierin, der Oſtentation wegen, der Erbſünde der Reichen, wenn es nicht Geiz iſt, ihnen Geld weit weniger reellen Genuß gewähren kann, als es ein Paar Stufen tiefer verleiht. Hält aber den Rang kein Vermögen empor, ſo iſt der ſo Geſtellte ganz gewiß von allen ſeinen Mitbürgern, den Verbrecher ausgenommen, der Beklagenswertheſte, unmittelbar nach dem, welcher wirkliche Hungersnoth leidet.

Daher ſollte Jeder, wie ich ſchon einmal, glaube ich, gegen Dich äußerte, ſeine Lage in der Welt ge - nau erwägen, und der Ambition oder Eitelkeit (ich ſchließe hiervon nur die Ambition des wahren Ver - dienſtes aus, welche ſich durch ihr Wirken ſelbſt, und nur durch dies allein belohnt findet) nichts auf - opfern, denn keine Epoche der Welt war einer ſolchen weniger günſtig. Wir Vornehme werden jetzt wirk - lich wohlfeil zu weiſer Enthaltſamkeit und praktiſcher Philoſophie jeder Art hingeführt, und dem Himmel ſey Dank dafür!

Mit dieſen Gedanken, im Innern der Dame blan - che kam ich bei Franconi’s Theater an, das auch ein Blinder, nur dem Pferdegeruch nachgehend, ſchon auffinden kann. Was hier getrieben wird, iſt aller - dings eine abſcheuliche Geſchmackloſigkeit, und ein Publikum, das nichts Andres zu ſehen[bekäme], müßte383 am Ende ſelbſt zu halbem Vieh werden. Ich ſpreche von den ganz ſinnloſen Schauſpielen, die hier darge - ſtellt werden die einzelnen equilibriſtiſchen Uebun - gen ſind dagegen oft recht ſehenswerth. Beſonders erfreute mich der Seilſchwinger, Diavolo betitelt, der gewiß alle ſeine Mitbewerber ſo ſehr überflügelt, als Vestris einſt ſeine Collegen. Eine ſchönere Geſtalt, größere Gewandtheit, Sicherheit und vollendetere Grazie ſcheinen in dieſer Art kaum denkbar. Er iſt der fliegende Merkur, der von Neuem eine menſch - liche Form angenommen hat; die Luft ſcheint ſein wahres Element, und das Seil nur ein Luxusartikel, um ſich damit, wie mit einer Guirlande, zu drapi - ren. Im wildeſten Schwunge ſieht man ihn, haus - hoch, ganz frei und unangebunden auf dem Seile liegen, jetzt dicht vor den Logen mit dem claſſiſchen Anſtand einer Antike vorüberſchweben, und gleich darauf, wie eine Marionette, mit dem Kopf unten, und den Beinen nach oben, ein entrechat in den Wolken des Theaterhimmels ausführen. Daß er ſich wie ein Rad, vor - und rückwärts, mit der Schnellig - keit eines Uhrwerks, umdrehen, unangebunden ſich in der Länge des Seils hinlegen, oder nur mit ei - nem Fuß daran hängend umherſchwenken kann, ver - ſteht ſich von ſelbſt. Er verdient ſeinen Namen durch die That. Je Diavolo non puo far meglio.

Briefe eines Verſtorbenen. II. 25384

Als Zugabe zu meinem geſtrigen Briefe habe ich Dir ſchnell eine Dame blanche, gefüllt mit Bon - bons gekauft, und als nachfolgendes Weihnachtsge - ſchenk für Mademoiſelle H .... eine Bronze pen - dule beigefügt, mit laufendem Springbrunnen am Fuße und einem arbeitenden Telegraphen auf der Spitze. Sage ihr, daß ſie den letzten ſehr gut gebrau - chen möge, um durch ſeine Hülfe öffentliche Geſpräche zu halten, die doch kein Unberufner verſtehen könne. An ſolchen Spielereien iſt Paris unerſchöpflich, ſie ſind aber hauptſächlich nur auf die Fremden berech - net, denn die Franzoſen kaufen ſie ſelten und finden ſie, nicht ganz mit Unrecht, de mauvais gout.

Um mit den Theatern zu endigen, beſuchte ich heute drei auf einmal. Zuerſt im théâtre français zwei Akte aus der neueren, höchſt elenden Tragödie, Isa - belle de Bavière. Auch diesmal fand ich meine frü - heren Eindrücke beſtätigt, und nicht allein die Schau - ſpieler (Joanny ausgenommen, der die Rolle Carl des VI. nicht ſchlecht ſpielt, wenn er gleich Talma nicht verglichen werden kann) waren die Mittelmä - ßigkeit ſelbſt, ſondern auch Coſtumes, Dekorationen und aller übrige Apparat unter dem letzten Boule - vards-Theater. Das Pariſer Volk wurde unter an - dern durch ſieben Männer und zwei Weiber, die Pairs von Frankreich aber durch drei oder vier Sta - tiſten, in wahre Lumpen gehüllt und mit goldpapier - nen Kronen auf den Köpfen, wie in der Puppen -385 Comödie, repräſentirt. Der Saal war leer, und die[Kälte] kaum auszuhalten. Ich fuhr alſo ſchnell nach dem Ambigucomique, wo ich ein hübſches neues Haus fand, mit ſehr friſchen Dekorationen. Man gab zum Zwiſchenſpiele eine Art Ballet, welches die deut - ſche Landwehr gar nicht übel parodirte, und alſo we - nigſtens nicht langweilig war. Es wunderte mich übrigens, daß es den Franzoſen nicht mit der Land - wehr und den Preußiſchen[Hörnern] geht, wie den Burgundern mit den Alpenhörnern der Schweizer, de - ren Ton ſie ſich nicht gern zurückrufen ließen, denn, wie die Chronik ſagt, à Granson les avoient trop ouis!

Das italieniſche Theater beſchloß meinen Abend. Hier findet man das gewählteſte Publikum, es iſt die Modebühne. Der Saal iſt ſehr artig dekorirt, die Erleuchtung brillant und der Geſang entſpricht der Erwartung. Sonderbar bleibt es aber doch, daß ſelbſt ein, ganz aus Italienern beſtehendes, Perſonal, im Auslande nie ſo ſingt, nie das köſtliche Ganze darſtellt, wie es in Italien der Fall iſt. Ihr Feuer ſcheint in der fremden Region zu erkalten, ihre Laune zu vertrocknen, da ſie wiſſen, daß ſie zwar beklatſcht werden, aber mit dem Publikum nicht mehr eine Familie ausmachen, der Buffo, wie der erſte Sänger doch nur halb verſtanden, und wohl auch muſikaliſch nur halb empfunden werden. In Italien iſt die Oper Natur, und ich möchte ſagen nothwendiges Be - dürfniß, in Deutſchland, England und Frankreich nur Kunſtgenuß und Zeitvertreib.

25*386

Madame Mallibran Garcia (man gab Ceneren - tola) erreicht in dieſer Rolle, meines Erachtens, die Sontag nicht; ſie hat aber einen ihr eignen genre, der immer mehr anzieht, je länger man ihn hört, und ich zweifle nicht, daß auch ſie Rollen hat, in denen ihr die Palme vor allen andern gebühren würde. Sie hat einen Amerikaner geheirathet, und auch ihr Geſangſtyl kam mir ganz amerikaniſch vor, d. h. frei, kühn und republikaniſch, während die Paſta, wie ein Ariſtokrat, oder gar ein Autokrat, despotiſch mit ſich fortreißt, und die Sontag ſchmel - zend und mezza voce, wie im himmliſchen Reiche, flötet. Der Tenor Bordogni hatte die ſchwere Auf - gabe ohne Stimme zu ſingen, und er that unter die - ſen Umſtänden was er vermochte; Zuchelli war, wie immer, vortrefflich, und Santini ſein würdiger Rival. Spiel und Geſang hatten überhaupt, faſt durchgängig, Leben, Kraft und Grazie, mehr als auf andern ausländiſch-italieniſchen Bühnen.

Als ich in mein Hotel zurückkam, wurde ich mit einer der Pariſer Annehmlichkeiten überraſcht, die doch einer ſolchen Stadt wahrhaft zur Schande ge - reichen. Ich glaubte, obgleich mein Hotel ein ange - ſehenes iſt, und im belebteſten Stadttheile liegt, in eine Cloake gerathen zu ſeyn, denn man hatte eben das Ausräumen gewiſſer Fundgruben begonnen, mit welcher Operation die Häuſer hier zweimal des Jah - res verpeſtet werden.

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Ein Dutzend Paſtillen habe ich bereits verbrannt, kann aber immer noch keine gründliche Reaktion er - regen.

Schon früh ſaß ich heute im Cabriolet, um eine weitere tournée als gewöhnlich, und alten Bekann - ten einen Beſuch zu machen. Ich dirigirte den Kut - ſcher zuerſt nach Notredame und bedauerte unter - wegs, als ich auf dem pont neuf ankam, daß man der Statüe Heinrich des IV. dieſe Stelle angewieſen hat, wo ſie ſo[unzweckmäßig] auf die kahle Baſis des Obelisken geſetzt iſt, welchen Napoleon früher projektirt hatte, und für den der Platz gewiß mit großer Sagacität ausgeſucht war, während jetzt, dicht unter den weiten und hohen Häuſermaſſen, welche den Hintergrund der kleinen Statüe umgeben und ſich in einem koloſſalen Dreieck gegen ſie ſchlie - ßen, das[bäumende] Pferd von weitem nur den Effekt eines hüpfenden Inſekts macht. Indem ich noch bei mir dieſe Betrachtungen verfolgte, und was aus Paris geworden wäre, wenn Napoleon fortregiert, rief der Cabriolet-Führer plötzlich: Voilà la morne. Ich ließ halten, (car j’aime les emotions lugûbres) und betrat das bisher noch nie geſehene Leichenhaus, wo, wie Du weißt, alle unbekannte, Todtgefundene ausgeſtellt werden. Hinter einem hölzernen Gitter388 erblickt man einen kleinen reinlichen Saal, mit acht ſchwarz angeſtrichnen hölzernen Bahren in Reihe und Glied geſtellt, das Kopfende der Wand zugekehrt, das untere gegen die Zuſchauer gerichtet. Die Tod - ten werden nackt darauf gelegt, und die Kleider und Effekten derſelben hinter ihnen an der weißen Wand aufgehangen, ſo daß Jeder leicht daraus das ihm Angehörige erkennen mag. Nur ein alter Mann, mit einer ächt nationellen Franzoſen-Phyſiognomie, Ringen in den Ohren und am Finger, lag ganz freundlich und lächelnd mit offnen Augen da, täu - ſchend einer Wachsfigur ähnlich, und mit einer Miene, als hätte er eben ſeinem Nachbar noch eine Prieſe anbieten wollen, wie ihn der Tod übereilt. Seine Kleider waren gut superbes, wie ein zer - lumpter Kerl neben mir ſagte, der ſie mit ſehnſüchti - gen Blicken betrachtete. Am Körper war keine ge - waltſame Verletzung zu ſehen, ſo daß den Alten wahrſcheinlich der Schlag in einem entfernten Theile der Stadt, ſeinen Verwandten noch unbewußt, ge - troffen hatte, denn Elend ſchien hier nicht ſtatt ge - funden zu haben. Einer der Wächter erzählte mir ein ſonderbares Faktum, nämlich, daß im Winter die ſich Erſäufenden, welches in Paris jetzt die faſhionable Methode iſt, ſich ums Leben zu bringen, um zwei Drittel ſeltener ſind, als im Sommer. Der Grund kann doch, ſo lächerlich es klingen mag, kein andrer ſeyn, als weil im Winter das Waſſer zu kalt iſt (denn zugefroren iſt die Seine nur ſehr ſel - ten). Aber wie die Kleinigkeiten, und alltäglichen389 Dinge die großen Begebenheiten im Leben weit mehr regieren, als man glaubt, ſo ſcheinen ſie auch noch im Tode ihre Macht auszuüben, und die Verzweif - lung ſelbſt bleibt noch douillet, und von Sinnlich - keit befangen.

Du erinnerſt Dich der drei Portale von Notre Dáme mit den eichenen Pforten, die mit herrlichen Bronze - blumen und Arabesken verziert ſind, und wie die ganze in ihren Details intereſſante Façade, einen originellen Anblick gewähren; aber, gleich dem ehe - maligen Tempel zu Jeruſalem, wird auch Notre Dáme durch Buden und Verkäufer entſtellt, die ſich bis ins Innere der Kirche eingeniſtet haben. Dieſes Innere, das dem Aeußern überhaupt ſo wenig ent - ſpricht, iſt durch einen neuen Anſtrich noch unbedeu - tender geworden.

In der Fortſetzung meiner Promenade ſtieg ich auch einen Augenblick beim Pantheon aus. Es iſt Schade, daß die Lage und Umgebung dieſes Tempels ſo ſehr unvortheilhaft ſind. Auch im Innern erſchien er mir immer faſt zu einfach und zierlos, was zu dieſem Styl nicht paßt, und der neue Plafond von Girodet iſt ohne Theater-Lorgnette kaum zu ent - decken. Die Oeffnung der Kuppel iſt zu klein und hoch, um irgend etwas von dem Gemälde deutlich auffaſſen zu können. An einem Pfeiler ſah ich ein detachirtes Stück Teppich hängen, und erfuhr auf Nachfrage, es ſey dies eine Arbeit der unglücklichen Marie Antoinette, und von Madame der Kirche ge -390 ſchenkt worden. Ueber dem Seitenaltar ſtand: Autel privilegié d. h. Ablaß ertheilend! die Ideen-Aſſo - ciation, welche dieſer Anblick hervorbrachte, rief mir die nahe Menagerie ins Gedächtniß, und ich fuhr nach dem Jardin des plantes, wo es den Thieren zu kalt geworden war, daher ich auch alle, lebende und todte, verſchloſſen fand, und nur einen großen Eisbären beſuchen konnte. Dieſer kehrte, als ich kam, ohne ſich ſtören zu laſſen, wie ein Tagelöhner, mit großer Geduld und Ruhe ſeinen Zwinger mit den Vordertazzen, deren er ſich als eines Beſens bediente, brachte dann das Stroh und den trocknen Schnee in ſeine Höhle, um ein weiches Lager daraus zu bereiten, worauf er ſich zuletzt auch, behaglich murrend, langſam ausſtreckte. Auch ſein Nachbar Martin, der Landbär, welcher einſt eine Schildwache fraß, befindet ſich noch wohl, war aber heute nicht viſible. Auf dem Rückweg beſuchte ich noch eine dritte Kirche, St. Euſtache, die im Innern grandio - ſer erſcheint als Notre Dáme und Pantheon, auch durch einige bunte Fenſter und Gemälde belebt wird. Von den Letztern war ſogar, zu irgend einem Feſte, eine Art Ausſtellung in der Kirche veranſtaltet, die jedoch den Kunſtſinn nicht ſonderlich anſprach. An - genehmer war die ſchöne Muſik, bei der mehrere Poſaunen ergreifend wirkten. Warum wendet man ein ſo erhabnes Inſtrument nicht weit öfter bei un - ſerer Kirchenmuſik an?

Als ich über die place des victoires fuhr, ſchickte ich einen Stoßſeufzer gen Himmel, über die Nich -391 tigkeit des Ruhms und ſeiner Monumente. Auf dieſem Platz ſtand, wie Du Dich noch erinnern wirſt, einſt Deſaix’s Statüe, die er wahrlich um Frankreich verdient hatte. Jetzt iſt ſie weggeworfen, und ein[römiſch] gepanzerter Ludwig der XIV., mit der Al - longen-Perücke auf dem Haupte, deſſen Roß einem großen hölzernen Steckenpferd ähnlich ſieht, hat ſeine Stelle eingenommen. Mit Mühe tröſtete ich mich über die traurigen moraliſchen Betrachtungen, die dieſer Anblick bei mir erweckte, durch ſinnlichere Eindrücke im sallon des frêres provencaux, ver - möge guter Trüffeln, und der Lektüre eines weniger guten Mode-Romans. Ja ich bedurfte einer ganzen Bouteille Champagner, um endlich mit Salomo aus - rufen zu können: Alles iſt eitel! und dann hinzuzu - ſetzen: Drum genießt den Augenblick, ohne zuviel darüber nachzudenken! In dieſer guten Stimmung durchſtrich ich hierauf zum letztenmal das Palais royal, wo ſo viel bunte Colifichets, und neue Er - findungen mir aus den hellerleuchteten Buden entge - genglänzten, daß ich am cryſtallnen Nachthimmel den Vollmond, der, ganz klein und eydottergelb, an einer der Feuereſſen gegenüber zu hängen ſchien, bei - nahe auch für eine ganz neu erfundene Spielſache angeſehen, und mich gar nicht ſehr gewundert haben würde, wenn der Mondmann, oder Mademoiſelle Garnerin daraus hervorgeſtiegen, und im Innern von Very’s Feuereſſe verſchwunden wären. Da aber Alles beim Alten blieb, ſo ließ ich mir wenigſtens von dem, die dunkeln Oehllampen ſehr überſtrahlen -392 den, Geſtirn nach den Varietés leuchten, poury finir ma digestion en riant. Dieſer Zweck gelang auch vollkommen, denn das kleine Theater hat zwar Po - tier, aber mit ihm nicht allen ſeinen Lachreiz ver - loren. Gewonnen hat es dagegen (für die Augen wenigſtens) eine allerliebſte kleine Schauſpielerin, Mademoiſelle Valerie, und ein viel beſſeres und fri - ſcheres Aeußere als ſonſt. Zu den glücklichen Neuerun - gen gehört es, daß der Vorhang nicht wie gewöhn - lich, nur eine gemalte Draperie, ſondern von wirk - lich in Falten drapirten, dunkelblauem Zeuge iſt, was ſich zu dem Cramoiſi, weiß und gold des Saales, ſehr gut ausnimmt. Er wird nun auch nicht mehr ſo unbeholfen und ſteif in die Höhe gerollt, wie die andern, ſondern zieht ſich grazieus, beim Beginn des Spiels, von beiden Seiten zurück. Die größeren Bühnen ſollten dies nachahmen.

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Sonſt waren die Ana’s Mode, jetzt ſind es die Ama’s, et le change est pour le mieux, denn die erſten erinnerten unwillkührlich an Eſel, die zweiten dagegen an Liebe, obgleich mit den erſten große Männer gemeint waren, und die zweiten nur der Wiſſenſchaft - und Kunſt-Liebe angehören. Durch die gewöhnlich darin herrſchende[ägyptiſche] Finſter - niß aber gewähren ſie doch auch Amor zuweilen ei - nigen Spielraum.

Ich widmete dieſen Ama’s den heutigen ganzen Morgen, und fing mit dem Ama der Geographie, dem Georama an. Hier ſieht man ſich auf einmal in der Mitte der Erdkugel, wohin Herr Dr. Nürn - berger mit ſeinem projectirten Schacht noch nicht ge - langt iſt, wo ſich aber ſogleich die andere Hypotheſe eines Lichtmeers im Innern der Erde[beſtätigte], denn es iſt hier ſo licht, daß die ganze Erdkruſte da - von transparent wird, und man von innen heraus ſogar die politiſchen Ländergrenzen deutlich er - kennen kann. Unglücklicherweiſe hat man den Nord - pol über ſich, durch den heute ein ſo verzweifelt kal - ter Luftzug hereindrang, daß der kleine eiſerne Ofen, unten im Südpol, durchaus mit ſeiner Wärme nicht durchdringen konnte. Dies ſchwächte meine Neu - gierde ſehr, weshalb ich Dir auch nur ſagen kann,394 daß kein Globus die Geographie ſo anſchaulich macht, als das Georama, und es zu wünſchen wäre, daß alle Lankaſterſchen Schulen künftig ebenfalls in ei - nem ſolchen Bauche der Erde angelegt würden, wo man ſich bei größerer Geſellſchaft, auch mutuellement beſſer wärmen könnte. Die Seen erſcheinen hier, wie in der Wirklichkeit, ſehr hübſch blau und durch - ſichtig, die feuerſpeienden Berge wie kleine glühende Punkte, und den ſchwarzen Bergketten folgt man be - quem mit den Augen. Als etwas Seltſames fiel es mir auf, daß die großen transparenten Seen in Chi - na, zugleich die Umriſſe wahrhaft chineſiſcher Fratzen darſtellten, ganz ihren grotesken Götter-Bildern ähnlich. Unter andern erſchien der größte, ohne al - len Effort der Einbildungskraft, als das leibhaftigſte Bild eines fliegenden Drachen, wie deren ſo[häufig] auf den chineſiſchen Vaſen und auf dem Bruſtlatz der Mandarine abgebildet ſind. Auf dieſe neue Ent - deckung thue ich mir etwas zu Gute, und wer weiß, ob ſich daraus nicht ein neues Licht über die chineſi - ſche Mythologie verbreitet. Worüber ich mich dage - gen ſehr entrüſtet fühlte, war, daß die neuen (nun ſchon alten) Entdeckungen am Nordpol, in Afrika und dem Himalaya-Gebürge noch nicht einmal an - gegeben waren. Es ſchien überhaupt die ganze Sa - che etwas en décadence zu ſeyn, denn, anſtatt daß man ſonſt in Paris zu allen Vorſtellungen dieſer Art durch hübſche Weiber, die am Bureau ſitzen, an -395 zulocken ſucht, nahm hier eine furchtbare Perſon, die den lepreux d’Aosta glich, die Geldſpenden ein.

Das Diorama, eine halbe Stunde weiter auf den Boulevards, giebt eine Anſicht des Gotthards und Venedigs. Die erſtere Gegend, auf der italieniſchen Seite des Gebürges, die ich in natura geſehen, war ſchön und täuſchend abgebildet, da aber keine Verän - derungen der Beleuchtung dabei ſtatt finden, wie bei dem, (weit vorzüglicheren) Diorama in London, ſo giebt der Anblick weniger Abwechſelung und Genuß. Venedig war ſchlecht gemalt, und von ſo gelbem Lichte beſchienen, als wenn es, aus gerechtem Aerger über die Franzoſen, die einſt ſeine politiſche Exiſtenz zerſtörten, und es dann nicht einmal behielten die jaunisse bekommen hätte.

Beim Neorama ſieht man ſich in die Mitte der Peterskirche verſetzt, die Täuſchung iſt aber nur ſehr mittelmäßig, und die Menge der natürlich unbe - weglichen Figuren, bei ſo viel Prätenſion zu voll - kommner Nachahmung, ſtörend. Nur Schlafende oder Todte ſollte man zur Staffage eines ſolchen Bildes benutzen. Das Feſt des heiligen Petrus wird dargeſtellt. Pabſt,[Kardinäle], Gefolge und die päbſt - liche Garde en haye füllen die Kirche, und ſind da - bei ſo ſchlecht gemalt, daß Seine Heiligkeit der Pabſt wie ein vor der alten Jupiter-Statue Petri’s hinge - worfener Schlafrock ausſahen.

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Mit Uebergehung der bekannten Panorama’s und Cosmorama’s, bringe ich Dich endlich in das Urano - rama, im neuen passage Viviene. Dies iſt eine ſehr ingenieuſe Maſchine, um den Lauf der Planeten unſers Sonnen-Syſtems anſchaulich zu machen. Ich mag nicht läugnen, daß ich nie vorher eine ſo klare Idee vom Grunde der Jahreszeiten, der Mondwech - ſel u. ſ. w. hatte, als nach einer Stunde, die ich hier verbrachte. Mündlich werde ich Dich näher davon unterrichten, ja, wenn Du 1200 Franken daran wen - den willſt, kannſt Du eine Copie der ganzen Ma - ſchine im Kleinen erhalten, die in keiner anſehnli - chen Bibliothek fehlen ſollte.

Ich hatte alſo heute früh mit dem Mittelpunkt der Erde angefangen, dann die verſchiedenen Herr - lichkeiten ihrer Oberfläche bewundert und nach einem flüchtigen Beſuch auf ſämmtlichen Planeten, in der Sonne aufgehört. Es fehlte nichts als ein letztes ama, das mir den ſiebenten Himmel und die Houris gezeigt, ſo wäre meine Reiſe ganz vollſtändig gewe - ſen, und ich hätte mehr in dieſem Vormittag ge - ſehen, als der ägyptiſche Derwiſch in den fünf Se - kunden, die er mit dem Kopf im Waſſereimer zu - brachte.

Es iſt alſo wohl das Beſte, hiermit auch den Vor - hang vor meinem fernern Thun und Laſſen herabzu - ziehen. Wenn er ſich wieder vor Dir aufthut, wird397 es nur ſeyn, um daß ich Dir ſelbſt daraus entgegen trete denn ſchneller wie Briefe eile ich morgen der Heimath wieder zu. Erſt, wenn ich dort die Seelenkräfte von Neuem mir erfriſcht, will ich die al - ten Pläne vollführen einen Winter unter Grana - da’s Orangen - und Oleanderblüthen verträumen, eine Zeit unter Afrika’s Palmen wandeln, und die altern - den Wunder Aegyptens zuletzt vom Gipfel ſeiner Pyramiden betrachten. Bis dahin keinen Brief mehr.

Dein treuſter Freund L .....

Wir hoffen nächſtens den dritten und vierten Band, (oder vielmehr den 1ſten und 2ten, vide die Vorrede) dieſes geiſtreichen Buches der Welt vorle - gen zu dürfen. Anmerkung der Verlagshandlung.

Ende.

Druck und Verlag von F. G. Franckh in München.

About this transcription

TextBriefe eines Verstorbenen
Author Hermann von Pückler-Muskau
Extent423 images; 82879 tokens; 16707 types; 575100 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationBriefe eines Verstorbenen Ein fragmentarisches Tagebuch aus England, Wales, Irland, und Frankreich, geschrieben in den Jahren 1828 und 1829 Zweiter Theil Hermann von Pückler-Muskau. . XIV, 397 S. FranckhMünchen1830.

Identification

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, Pv 5935-2<a>http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=749384328

Physical description

Fraktur

LanguageGerman
ClassificationBelletristik; Prosa; Belletristik; Briefe; core; ready; china

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  • Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities (BBAW)
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ShelfmarkSBB-PK, Pv 5935-2<a>
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