PRIMS Full-text transcription (HTML)
Die Pflanze und ihr Leben.
Populäre Vorträge
Mit 5 farbigen Tafeln und 13 Holzſchnitten.
Leipzig,Verlag von Wilhelm Engelmann.1848.

M. I. Schleiden ſec. Luh. Anst. v. J.G. Bach in Leibzig

Die Pflanze und ihr Leben.
Populäre Vorträge
Mit 5 farbigen Tafeln und 13 Holzſchnitten.
Leipzig,Verlag von Wilhelm Engelmann.1848.

Der Frau Erbgroßherzogin zu Sachſen-Weimar-Eiſenach, Wilhelmine Marie Sophie Louise gebornen Prinzeſſin der Niederlande, Königliche Hoheit, in dankbarer Ergebenheit und ehrfurchtsvoller Unterthänigkeit zugeeignet vom Verfaſſer.

Inhalt.

  • Seite
  • Vorwort und Einleitung1
  • Erſte Vorleſung. Das Auge und das Microſcop11
  • Zweite Vorleſung. Ueber den innern Bau der Pflanzen35
  • Dritte Vorleſung. Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe55
  • Vierte Vorleſung. Die Morphologie der Pflanzen75
  • Fünfte Vorleſung. Vom Wetter101
  • Sechſte Vorleſung. Wovon lebt der Menſch? (Erſte Beantwortung) 123
  • Siebente Vorleſung. Wovon lebt der Menſch? (Zweite Beantwortung) 145
  • Achte Vorleſung. Ueber den Milchſaft der Pflanzen171
  • Neunte Vorleſung. Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen193
  • Zehnte Vorleſung. Die Pflanzengeographie209
  • Elfte Vorleſung. Geſchichte der Pflanzenwelt249
  • Zwölfte Vorleſung. Die Aeſthetik der Pflanzenwelt285
[1]

Vorwort und Einleitung.

Die folgenden Vorleſungen ſind im Verlauf der letzten 8 Jahre nach und nach entſtanden, wie die Veranlaſſung dazu von einem Kreiſe geiſtreicher und gebildeter aber vom Schulſtaube freier Menſchen gegeben wurde, und ſie waren durchaus nicht zur Veröffentlichung beſtimmt. In dieſem letzten Puncte habe ich freundſchaftlichem An - ſinnen nachgegeben und ſehe mich nun genöthigt noch einige Worte hinzuzufügen, um unrichtigem Urtheil und Mißverſtändniß vor - zubeugen.

Die Vorleſungen ſind der Veranlaſſung zu ihrer Abfaſſung ge - mäß durchaus nicht beſtimmt, den poſitiven Inhalt der Wiſſenſchaft zu lehren, neues Eigenthümliches zu bringen, oder Probleme der Forſchung zu löſen. Es kann ſogar ſeyn, daß hie und da eine einzelne Nebenſache factiſch nicht ganz richtig iſt, obwohl ich mir Mühe gab dergleichen zu vermeiden, und dabei kann dieſer Mangel den Zwecken, die ich bei der Ausarbeitung dieſer kleinen Abhandlungen mir vorſetzte, durchaus nicht in den Weg treten. Mein Hauptwunſch war eigentlich die Befriedigung einer Standeseitelkeit. Ein großer Theil der Laien ſelbſt unter den Gebildeten, iſt noch von früher daran gewöhnt, den Botaniker für einen Krämer in barbariſch-lateiniſchen Namen an - zuſehen, für einen Mann, der Blumen pflückt, ſie benennt, trocknet und in Papier wickelt, und deſſen ganze Weisheit in Beſtimmung und Claſſification dieſes künſtlich geſammelten Heus aufgeht. Leider iſt dieſes Bild des Botanikers einmal wahr geweſen, aber es ſchmerzte mich zu ſehen, daß es jetzt, wo es auf den größten Theil der Pflan - zenforſcher nicht mehr paßt, noch von gar vielen feſtgehalten wird undSchleiden, Pflanze. 12ich verſuchte in den vorliegenden Vorträgen die wichtigeren Probleme der eigentlichen Wiſſenſchaft der Botanik dem allgemeinen Verſtänd - niß nahe zu legen, zu zeigen wie die Botanik faſt mit allen tiefſten Disciplinen der Philoſophie und Naturlehre aufs Engſte zuſammen - hängt und wie faſt jede Thatſache oder größere Gruppe von That - ſachen geeignet iſt, ſo gut in der Botanik wie in jedem andern Zweige der menſchlichen Thätigkeit die ernſteſten und wichtigſten Fragen anzu - regen und den Menſchen vom Sinnlichgegebenen auf das geahnte Ueberſinnliche hinzuführen.

Wenn es mir gelungen iſt, das zu erreichen, daß fernerhin der Leſer dieſer Skitzen von der Botanik und dem Botaniker eine würdigere Anſicht faſſe, daß er einen richtigern Begriff von dem Umfang und den Aufgaben unſerer Wiſſenſchaft ſich bilde, ſo bin ich zufrieden. Sollte in weiterem Kreiſe durch dieſe Studien ein Intereſſe für die Botanik ſelbſt angeregt werden, ſollte der eine oder andere Leſer durch meine Worte zu dem Wunſche verleitet werden, weiter in dieſe ſo freundlichen und ſo tiefen Lehren eindringen zu wollen, ſo ſind meine Wünſche übertroffen.

Noch ein paar Worte über die Art der Behandlung mögen hier Platz finden. Ich habe mich meiner Ueberzeugung getreu von allem Schellingiſch-naturphiloſophiſchem Geſchwätz, von allen Phantaſtereien frei gehalten und ich bin der feſten Ueberzeugung, daß die Wiſſen - ſchaft dieſes Narrenputzes nicht bedarf um intereſſant, geiſtreich auch dem Laien zu erſcheinen. Humboldt in ſeinen Anſichten der Natur, Dove in ſeiner meiſterhaften Vorleſung über das Klima von Berlin haben uns den Beweiß gegeben, daß die Wiſſenſchaft auch ohne die Schminke jener bewußten oder unbewußten Lüge, welche Dichtung dem Gedanken, Phantaſie dem Wiſſen, Traum der Wahrheit unter - ſchieben möchte, anziehend, ja ſelbſt liebenswürdig und hinreißend erſcheinen kann. Ich habe mich wenigſtens bemüht den vorliegenden Abhandlungen ſoweit Schmuck zu verleihen, als meine mangelhafte äſthetiſche Ausbildung mir auszutheilen verſtattet. Daß es mir dabei nicht einfällt mit jenen Meiſtern der Sprache in die Schranken treten3 zu wollen, bedarf keiner Erinnerung. Ich glaube aber, wenn die Män - ner der Wiſſenſchaft mehr den Verſuch machten, die Wahrheit in ſchönem Gewande in die Geſellſchaft einzuführen, dieſes jenem unerträglichen, geheimnißvoll und tiefthuenden Geſchwätz ohne Kern ſicherer den Weg abſchneiden würde, als alle gründliche Polemik dagegen. Der Deutſche hat ein zu geſundes Urtheil, einen zu gediegenen Geſchmack, um nicht ohne viel Bedenken das Aechte und Gehaltvolle dem leeren Stroh vorzuziehen, wenn nur beides in gleich genießbarer Form ſich darſtellt.

Den Inhalt der einzelnen Vorleſungen anlangend, ſo iſt zwar, wie es die Veranlaſſung mit ſich brachte, jede für ſich abgeſchloſſen und von den Andern unabhängig, gleichwohl läuft durch alle eine Art von Faden durch, der ſie innerlich zuſammenhält. Es ſey mir ver - gönnt, dieſen hier noch etwas auffälliger zu machen, indem ich ihn im Einzelnen aufweiſe.

Die ganze Pflanzenwelt, wenn man nur in ihr etwas Anderes ſehen will als Material fürs Herbarium, bietet ſo mannigfaltige Be - rührungspuncte dem Menſchen dar, daß derjenige, welcher ſich dem Studium derſelben hingiebt, bei weitem eher von den ſich andrängen - den intereſſanten Fragen und Aufgaben erdrückt wird, als über Mangel an Stoff zu klagen hätte. Man kann füglich die ſämmtlichen Betrach - tungen unter vier Geſichtspuncte ordnen: erſtens, wie verhält ſich die Pflanze für ſich als Aufgabe wiſſenſchaftlicher Forſchung, zweitens, in welchen Beziehungen ſtehen die einzelnen Pflanzen zu einander, drittens, in welchem Verhältniß ſtehen die Pflanzen als Organismen zum Organismus der ganzen Erde und viertens, wie verhält ſich der Menſch zur Pflanzenwelt. Da aber in jedem Zeitmoment die Pflanze jede dieſer vier Beziehungen erfüllt, ſo iſt es unendlich ſchwer, wo nicht unmöglich, jene Geſichtspuncte rein und unvermiſcht feſtzuhalten und wenn wir an eins jener Verhältniſſe herantreten und es einer ge - nauern Erforſchung unterwerfen wollen, ſo werden wir immer unwill - kührlich gezwungen ſeyn, bald mehr bald weniger auch die andern zu berückſichtigen und in den Kreis unſerer Unterſuchung zu ziehen. Leitet man nun aus jenen Aufgaben etwa nach ihrer Reihefolge folgende1*4Disciplinen ab: theoretiſche oder reine Botanik, Syſtematik der Pflan - zen, Pflanzengeographie und angewandte Botanik, ſo läßt ſich doch keine derſelben nach ihrem Hauptgeſichtspunct allein behandeln, wenn ſie überhaupt auf Wiſſenſchaftlichkeit und Gründlichkeit Anſpruch machen ſoll; noch weniger aber iſt es möglich die ſtrenge Durchfüh - rung jener vier Theile da feſtzuhalten, wo es nicht auf trockene Wiſſen - ſchaftlichkeit, ſondern auf lebendigere Anſchaulichmachung der wich - tigern Puncte ankommt. Die folgenden Abhandlungen können ſich daher nur ſehr ungefähr der Eintheilung in jene vier Hauptverhält - niſſe anbequemen und eine freiere Behandlung wird durch den Reich - thum des Stoffes geboten, der uns ſtets verführt, vom Wege abzu - weichen, um hier und da eine farbig leuchtende oder ſüß duftende Blume zu pflücken oder die Geſellſchaft, die uns auf unſerer Wan - derung durch das Gebiet der Wiſſenſchaft begleitet, beſtimmt uns häufig, die gerade aber ſtaubige und ermüdende Landſtraße zu ver - laſſen, um hier einen ſich durch Wieſen ſchlängelnden Pfad, dort einen ſchattigen Waldſteig zu verfolgen. Wir wollen ſehen, wie wir geführt werden.

Die Pflanze iſt nicht wie ein Kryſtall oder wie eine reine Flüſ - ſigkeit ein durch und durch gleichartiger Körper, bei dem die Kenntniß Eines Stoffes, aus dem er beſteht, und der ihn begrenzenden Form zu ſeiner Ergründung genügte, ſie iſt vielmehr aus vielen kleinen, ſelbſt ſehr künſtlich gebauten und mannigfache Stoffe enthaltenden Zellen zuſammengeſetzt, und eine möglichſt ergründende Unterſuchung dieſes inneren Baues muß allen übrigen Betrachtungen vorangehen. (II. ) Aber die kleinen Körperchen, die ich ſo eben als Zellen bezeich - nete, ſind größtentheils ſo klein, daß das unbewaffnete Auge zu ihrer Erforſchung bei weitem nicht hinreicht. Das Microſcop iſt das noth - wendige Inſtrument, ohne welches der Botaniker keinen geſicherten Schritt in der Wiſſenſchaft vorwärts thun kann. Es giebt nun freilich Viele, welche in dem Irrthum befangen ſind, es bedürfe zu microſcopi - ſchen Unterſuchungen nur eines Auges und eines Inſtrumentes und alles ſey abgethan. Aber nicht allein, daß der Gebrauch des Microſcopes5 eine ſchwere erſt zu erlernende Kunſt iſt, ſelbſt das wiſſenſchaftliche Sehen mit unbewaffnetem Auge hat ſeine Schwierigkeiten, die von Manchem verkannt werden und es iſt daher vor allem nöthig, wenig - ſtens die Geſichtspuncte aufzuweiſen, aus denen der Gebrauch des Auges und des Microſcops zu beurtheilen iſt. (I.)

Gehen wir nun einen Schritt weiter, ſo wirft ſich uns als nächſte Frage auf, was hält denn jene vielen kleinen Organismen, die Zellen in der Pflanze, zu einem Individuum zuſammen und wir werden an die Betrachtung der Geſtalten gewieſen, zu denen ſich die Zellen aufbauen. Die Morphologie oder Geſtaltlehre (IV. ) macht ihre eignen Anſprüche an unſere Erkenntnißthätigkeit. Aber hier finden wir, daß wir es ſelten mit einfachen Pflanzen zu thun haben, daß vielmehr die meiſten Gewächſe, ähnlich einem Polypenſtock, einer Corallencolo - nie, aus zahlreich mit einander verwachſenen und lebendig verbun - denen Individuen beſtehen, welche Producte der Fortpflanzungsthä - tigkeit der Pflanze ſind und ehe wir an die Morphologie hinantreten, erſcheint es uns zweckmäßig erſt die Fortpflanzung der Gewächſe et - was weiter zu verfolgen. (III.)

So haben wir die Pflanze in ihrem innern, ihrem äußern Bau erkannt, wir haben geſehen, wie ſich eine nie ermüdende Kraft der Bildung gefällt, immer aufs neue in unerſchöpflichem Reichthum Pflanzen hervorzurufen und zu ſorgen, daß der reiche bunte Teppich, in welchen die Natur die arme nackte Erde gehüllt, keine kahlen Stel - len bekomme. Die Pflanze bedarf aber zur Bildung ihrer Geſtalt und Organe, zur Hervorrufung und Zeugung zahlreicher Abkömmlinge des Stoffes. Sie ſoll entſtehen, ſich erhalten, ſich vermehren und dadurch werden wir auf die Ernährung der Pflanzen hingewieſen. Hier iſt es beſonders, wo wir ſchon nicht mehr umhin können, die Pflanze im Verhältniß zu ihrer Trägerin der Erde und zu ihrem Vernichter dem Menſchen zu betrachten. Die ganze Thierwelt und vor allen der Menſch macht ſeine Anſprüche an die Pflanzenwelt geltend, ſie ſoll Nahrungsſtoffe liefern für zahlloſe Bedürftige; indem ſie ſich ernährt und wächſt verlangt ihre Beſtimmung im Erdenleben, daß der Stoff,6 den ſie zu ihrer Bildung verwendet, zugleich ein Nähr - oder Nutzſtoff für andere Organismen an der Erde ſey. Von zwei Seiten aber können wir dieſe Ernährung der Pflanzen betrachten, denn, um es kurz anzudeuten, wenn wir eine Pflanze verbrennen, ſo wird nur ein Theil derſelben durchs Feuer vernichtet und wir nennen dieſen ver - brennlichen Theil den organiſchen Stoff der Pflanze, er vor Allem nimmt unſer Intereſſe in Anſpruch (VI. ), weil er die Hauptnahrungs - ſtoffe für die Thierwelt umfaßt. Jedoch bleibt ſtets ein größerer oder geringerer Theil der Pflanze unverbrannt als Aſche zurück und auch dieſer, den wir als unorganiſchen Stoff bezeichnen, fordert uns zum Nachdenken auf, (VII. ) um ſo mehr, da wir bald finden, daß dieſe Aſche, ſo unwahrſcheinlich es auch anfänglich uns vorkommen mag, doch ſelbſt bei der Ernährung der Thiere und des Menſchen eine nicht unweſentliche Rolle ſpielt. Wir werden in beiden Betrachtungen daran erinnert, daß der Menſch, wo ihn die fortgeſchrittene Civiliſa - tion enger auf kleine Areale zuſammengedrängt hat, ſich nicht mehr damit begnügt und begnügen kann, was die Mutter Erde freiwillig hervorbringt und ihm als Nahrung anbietet, daß vielmehr der Acker - bau ihm die Mittel verſchaffen ſoll, die geſteigerten Bedürfniſſe zu befriedigen. Doch der Menſch pflügt nur das Feld und ſtreut den Saamen aus, Gedeihen und Segen aber erwartet er gläubig von Oben. Bei weitem mehr, als man gewöhnlich glaubt, hängt die ganze Vegetation aufs Engſte mit den Erſcheinungen zuſammen, welche in Sonnenſchein und Kälte, in Dürre oder Regen, in Sturm oder dem linden Hauche des Südweſtes, das zuſammenſetzen, was wir Wetter und Klima nennen. Wir ſtellen daher den Unterſuchungen über die Ernährung der Pflanzen billig eine Betrachtung des Wetters voran. (V.)

Wenn auch die wichtigſte Grundlage für das Beſtehen der Thier - welt von der Erde darin gegeben iſt, daß die Pflanze den Nah - rungsſtoff bereitet, ſo iſt doch zumal der Menſch durch ſeinen Kunſt - fleiß berechtigt und befähigt eine ungleich umfaſſendere Anwendung von der Pflanze und den in ihr enthaltenen Stoffen zu machen. So7 eröffnet ſich uns ein neues Gebiet aber faſt ein unbegrenztes. Soll ich die Gewerbe ſämmtlich aufzählen, die ihr zu verarbeitendes Material dem Pflanzenreich entnehmen? Jeder mag nur in ſeinem Zimmer, in ſeinem Haushalt um ſich blicken, um alsbald zu gewahren, wie zahlreicher Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens er entbehren müßte, wenn die Pflanzenwelt aufhörte ihm ihren Tribut zu entrichten. Sollen wir noch dazu die vielen Fächer und Büchſen der Officinen öffnen und ſehen, welch 'einen großen Schatz von Mitteln auch hier die irdiſche Vegetation beiſteuert? Ein vollſtändiger Ueberblick gäbe nur ein trocknes Namenregiſter, eine ausführliche Betrachtung aller ein bändereiches Werk für ſich. Wir laſſen uns daher hier an einem Beiſpiele genügen, indem wir den Milchſaft der Pflanzen einmal näher in's Auge faſſen. (VIII.)

Nicht an eine, nicht an wenige unter ſich verwandte Pflanzen iſt die Bildung des Milchſaftes geknüpft, ſondern wir finden wenigſtens drei größere Gruppen, welche vorzugsweiſe uns mit dieſem intereſ - ſanten Stoffe verſorgen. Die Zahl der einzelnen Arten von Pflanzen iſt nämlich ſo groß, (vielleicht nach Schätzung einiger Gelehrten 200,000) daß man zur Ueberblickung dieſer Maſſe wiſſenſchaftliche Hülfsmittel, nämlich ſyſtematiſche Anordnung der einzelnen Gattun - gen nöthig hat. Zum Glück kommt uns die Natur auf halbem Wege entgegen. In der ganzen äußeren Erſcheinungsweiſe, in der Zahl, der Anordnung und dem Bau der einzelnen Theile, in den Ge - ſetzen, nach denen die Entwicklung vor ſich geht, zeigen nämlich größere Gruppen von Pflanzenarten eine große Uebereinſtimmung in ſich und unterſcheiden ſich eben dadurch von anderen Gruppen. Wer kann aufmerkſam zur Zeit der Blüthe eine Mohrrübenpflanze, den Schier - ling, die Peterſilie, den Kerbel, Anis, Till und andere anſchauen, ohne von der merkwürdigen Uebereinſtimmung im ganzen Bau dieſer Pflanzen überraſcht zu werden; wem würde nicht auf ähnliche Weiſe die innere Beziehung klar, welche zwiſchen den Kohlarten, dem Senf, dem Meerrettig, dem Radies, der Rübe und dergleichen Pflanzen mehr ſtattfindet? Wem ſollte bei genauerer Unterſuchung entgehen, daß8 eine große Menge von Pflanzen, die ſich durch ein kräftiges Aroma auszeichnen, die Meliſſe, Münze, der Salbei, Thymian, Majoran, Lavendel u. ſ. w., auch eine wunderbare Uebereinſtimmung in ihrem ganzen Bau erkennen laſſen. So deutet uns die Natur ſelbſt den Weg an, den wir zu gehen haben; dieſe Spur verfolgend haben die Botaniker nach und nach eine große Anzahl ſolcher Pflanzengruppen erkannt und characteriſirt, die von ihnen Familien genannt werden. Daß auch hier wie im vorigen Fall eine Vollſtändigkeit nicht dieſes Orts iſt, bedarf wohl keiner Erwähnung, aber beiſpielsweiſe eine Familie vorzuführen und genauer zu characteriſiren, haben wir uns nicht verſagen mögen. (IX. ) Bei der gewählten Gruppe, der der Cactuspflanzen, muß unter manchem Andern die merkwürdige Ver - theilung derſelben auf einem verhältnißmäßig kleinen Stück der Erd - oberfläche unſere Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen und dies führt uns ſehr natürlich zu der Frage, wie denn überhaupt ſich die einzelnen Pflan - zenarten, in größeren und kleineren Gruppen auf der Erde ausbreiten, ob dieſe Vertheilung vom Zufall abhängig oder an Geſetze gebunden ſey und an welche? Wohlan! folgen wir Humboldts Tritten und einem ſolchen Führer uns überlaſſend, treten wir in ein neues, weit ausge - dehntes, uns von ihm zuerſt entdecktes Gebiet, in die Pflanzengeo - graphie ein. (X.) Eine Wiſſenſchaft eigner Art, noch jung und mit allen Fehlern der Jugend behaftet, überſprudelnd in Lebensfülle, eines ſchönen und kräftigen Mannesalters gewiß, aber noch ungeordnet und unklar, viel noch Unverſtandenes ſammelnd für reifere Jahre und jetzt noch mehr träumend als denkend. Ein kurzer Schattenriß dieſer anziehenden Erſcheinung kann nicht ohne Intereſſe bleiben. Noch eine jüngere Schweſter aber führt jener Jüngling an der Hand, zwar noch im zarten Kindesalter aber doch eine hoffnungsvolle Knoſpe. Laßt uns freundlich ihren kindlichen Plaudereien, den ahnungsvollen Anklängen zukünftiger harmoniſcher Schönheit lauſchen, wenn ſie uns auch nicht ſehr belehrt, ſo wird ſie uns doch ein Stündchen angenehm vertän - deln helfen. Warum ſollten wir denn ihr, der Pflanzengeſchichte nicht ein kleines Plätzchen gönnen. (XI. )

9

Und dürfen wir uns hier überhaupt den Kindern entziehen? Sind denn die Kinder nicht Blumen, die Blumen nicht Kinder, eine bewußtloſe Entwicklung, ein friedliches, freundliches, aber noch träu - meriſches Daſeyn wie nah muß dieſer Vergleich liegen, der ſo oft ſchon von Dichtern ausgeſprochen iſt:

Holde Blumen ſchauen uns
Mit ihren Kinderaugen freundlich an.

Es beruht auf der ähnlichen Stimmung, welche durch das An - ſchauen von Kindern und Blumen in unſerer Seele hervorgerufen wird. Nun aber wird jeder gewiß ſogleich zugeben, daß dieſe Aehnlichkeit ſich nur auf gewiſſe Blumen einſchränkt. Niemand wird daſſelbe von der weißen Lilie, von der krötenfarbenen Stapelie, von der zauber - haften Königin der Nacht behaupten. Noch weniger gilt Aehn - liches vom ganzen Pflanzenreich. Auf den ſinnigen Menſchen macht vielmehr dieſes einen äußerſt verſchiedenen Eindruck nach ſeinen man - nigfachen Erſcheinungsweiſen, aber immer einen ſo unabweislichen, daß kaum der roheſte Menſch ſich überall demſelben entziehen kann. Wie die ganze Natur, ſo iſt auch die Pflanzenwelt uns eine Hiero - glyphe des Ewigen; in den irdiſchen Geſtaltungen ſuchen und finden wir Deutungen auf ein überirdiſches Daſeyn. Wohl ließe ſich dafür eine eigne Disciplin denken, die Aeſthetik der Pflanzen (XII. ), in welcher dieſe nach ihrem Verhältniß zum menſchlichen Geiſte betrachtet werden. Aber leider beſitzen wir dieſe Lehre noch gar nicht, einige Andeutungen und Bruchſtücke müſſen ihre Stelle vertreten.

Dies mag genügen, um das Band aufzuweiſen, welches den In - halt der einzelnen Vorleſungen zu einem gewiſſen Ganzen verknüpft; es wird aber noch einiges über das Gewand nachzutragen nöthig ſeyn, in welchem dieſe Vorleſungen vor dem Publicum erſcheinen. Kleider machen Leute , ſagt man, weshalb ſollten Kleider denn nicht auch Vorleſungen machen können. Dies iſt in der That nur zum Theil Scherz, in gewiſſer Weiſe aber bitterer Ernſt. Die Auf - ſätze, welche hier vorliegend, wurden nicht für das leſende, abweſende Publicum, ſondern für das hörende und ſehende, gegenwärtige auf -10 geſchrieben. Dem Gegenwärtigen konnte alles durch augenblickliche Vorführung in der Natur, durch Demonſtration unterm Microſcop und durch Vorlegung zahlreicherer Abbildungen lebendig und anzie - hend gemacht werden. Dieſe Einkleidung gerade mag den Vorträgen in den Augen wohlwollender Freunde ein Intereſſe gegeben haben, welches ſie hinriß, mich zur Herausgabe dieſer Aufſätze anzuregen. Dieſer Reiz, den eine ſolche Unterhaltung hat, in welcher man alle Thatſachen ſelbſt ſieht, und indem man gleichzeitig dem Vortrag folgt, die Sätze der Wiſſenſchaft ſelbſt aus den Beobachtungen abgeleitet zu haben meint, dieſer Reiz fällt bei der Leſung eines ſolchen Vortrags nothwendig weg, mit der Einkleidung geht auch der Werth der Sache ſelbſt ganz oder theilweiſe verloren, und der Verfaſſer muß fürchten, beſonders da, wo es auf Formenverhältniſſe ankommt, bei denen die beſte Beſchreibung die Anſchauung nie erſetzen kann, den Leſer zu langweilen, wo er das Intereſſe des Hörenden und Schauenden leicht lebendig zu halten wußte.

Dieſem Mangel abzuhelfen, war es nöthig durch bildliche Darſtel - lungen dem Leſer wenigſtens einigermaaßen zu Hülfe zu kommen. Da aber kein koſtbares Kupferwerk, welches den vorgeſetzten Zweck nothwen - dig verfehlt hätte, beabſichtigt war, ſo mußte ich mich mehr darauf beſchränken, durch Skitzen der Phantaſie des Leſers zu Hülfe zu kommen und ſeine geiſtige Anſchauungskraft anzuregen. So entſtanden die zur Erläuterung dieſer Vorleſungen beſtimmten Bilder, über welche ich nur wenige Worte zu ſagen habe. Sie beziehen ſich jedesmal auf den Inhalt derjenigen Vorleſung, welcher ſie beigegeben ſind und[finden] zum größten Theil in derſelben ihre ausführliche Erläuterung. Die Titelvignetten ſind auf der Rückſeite des Titels ſelbſt durch einige Anmerkungen er - klärt, bei einigen iſt Erläuterung überflüſſig. So möge denn das Ge - wand bunt genug ſeyn, um manche Fehler und Schwächen der Sache ſelbſt zu verdecken oder doch minder fühlbar zu machen, kurz möchten dieſe in der That anſpruchsloſen Betrachtungen, nachſichtige und freundliche Leſer finden.

[11]

Erste Vorlesung. Das Auge und das Microſcop.

[figure]
Oculus ad vitam nihil facit, ad vitam beatam nihil magis. (Seneca. )
Kein Organ iſt ſo unwichtig für das Leben als das Auge, Keins ſo wichtig für die Schönheit des Lebens.
[12]

Die Vignette giebt einen idealen Durchſchnitt durch die kleine Camera ob - ſcura, welche wir Augapfel nennen. Der Pfeil und die punctirten Linien dienen dazu um zu verſinnlichen auf welche Weiſe das Bild auf der Netzhaut (der auffangenden Fläche des Apparats) hervorgebracht wird.

[13]

Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines älteren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig - ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll - kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere aber iſt er es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen - thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne überhaupt ſeine Anwendung findet.

Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung unſe - rer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen, welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend, verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. Der Menſch, wenn er über ſich ſelbſt nachdenkt, fühlt ſich alsbald als Bürger14 zweier Welten. Sein ganzes Weſen wird nicht von der Körperwelt allein umfaßt, ſondern eine Welt freier, geiſtiger Weſen, in der er Unſterblichkeit fordert, über welcher er einen Gott als gütigen Lenker ſich denkt, fordert ihren Antheil an ſeinem Daſeyn. Auf ge - heimnißvolle, uns als Menſchen ewig unenträthſelbare Weiſe iſt in unſerer Natur Seele und Leib, Geiſtiges und Körperliches ver - ſchmolzen. Wo iſt die Grenze des Einen, wo der Anfang des Andern? Die meiſten Menſchen und ſelbſt oft die größten Forſcher antworten uns, wir wiſſen es nicht; es giebt keine Grenze, Beides geht in einander über und durchdringt ſich in jeder Weiſe. Hier liegt der Irrweg, dem forſchenden Menſchen ſo nahe gerückt, daß er ihn nur unendlich ſchwer vermeiden kann, daß derſelbe oft die Scharfſinnigſten verführt und dennoch ein Irrweg, denn Geiſt und Körper ſind für uns ſo ſtrenge, ſo unvermeidlich getrennt, daß keine Brücke von einem zum Andern überführt. Es iſt hier nicht am Ort, dieſes Verhältniß in allen ſeinen Beziehungen zu entwickeln und in ſeinem ganzen Umfange gründlich zu erörtern, aber die genauere Unterſuchung deſſen, was wir Sehen nennen, wird uns Gelegen - heit geben, wenigſtens an einem Beiſpiel den großen Sprung vom Körperlichen zum Geiſtigen aufzuweiſen und anzudeuten, wie die Nichtanerkennung dieſer Trennung auch bei'm Auge, oft die größten Forſcher verwirrt hat.

Was iſt die Welt, in welcher das Auge heimiſch iſt, was iſt das Gebiet des Sehens? Die Welt des Lichtes und der Farben. Das Licht

Von Körpern ſtrömt's, die Körper macht es ſchön,
Ein Körper hemmt's auf ſeinem Gange,
Und ſomit hoff 'ich dauert es nicht lange,
Und mit den Körpern wird's zu Grunde gehn.

In wenig kräftigen Zügen giebt hier Mephiſtopheles die ganze Lehre vom Licht. Das Licht, wenn wir es ganz für ſich betrachten, iſt nicht hell, nicht gelb und blau und roth, das Licht iſt eine Be - wegung einer ſehr feinen überall verbreiteten Materie, des Aethers, Schwingungen, welche ſich in dieſem geradlinig fortpflanzen,15 wie die Schallwellen in der Luft. In ihrem geraden Gange ſtoßen ſie auf Körper, die in ihrem Wege liegen, werden wie die an's Ufer ſchlagende Woge zurückgeworfen, wenn der Körper das iſt, was wir undurchſichtig nennen, gehen durch den Körper durch, wie die Welle durch einen in das Meer mündenden Kanal, wenn der Körper zu den ſogenannten durchſichtigen gehört. Das Oelgas verbrennt und während ſeiner Verbindung mit Sauerſtoff ſetzt es den Aether in Schwingungen, es leuchtet; das Oelgas iſt verbrannt und mit dem Körper der zu Grunde ging , erliſcht auch das Licht. Ein unendliches Aethermeer, das ganze Univerſum erfüllend und in ihm die tauſend und aber tauſend Wellen nach den verſchiedenſten Rich - tungen fortſchreitend, ſich durchkreuzend, ſich aufhebend oder verſtär - kend, das iſt die körperliche Natur des Lichtes und der Farbe. Wer vermöchte zu ſagen, daß er je dieſes Licht, dieſe Farben geſehen? So wenig ſind wir dazu im Stande, daß es vielmehr des Scharf - ſinns der größten Geiſter bedurfte, um uns dieſe eigentliche Natur des Lichtes zu enthüllen.

Durch das dichte Dach der Weinlaube zittert ein Sonnenſtrahl in den heimlich wohlthuenden Schatten, du glaubſt den Lichtſtrahl ſelbſt zu ſehen, aber weit entfernt davon, iſt, was du wahrnimmſt, Nichts als eine Reihe von Stäubchen, die vom leiſeſten Hauch be - wegt in der Luft ſchweben aber keineswegs ſind es die Wellen, die ſich in raſtloſer Folge mit einer Schnelligkeit von 40,000 Meilen in der Secunde durch den Aether jagen. Könnte der Phyſiker ſei - nes Menſchengeiſtes ſich entäußern und nur mit dem Auge der Wiſ - ſenſchaft die Welt um ſich her betrachten, er würde Nichts gewahren als eine öde, farb - und lichtloſe Maſſe, ein unheimlich, unge - heures Uhrwerk, in welchem tauſende von Stoffen und bewegenden Kräften zu einem ewig wechſelnden Spiel verbunden ſind.

Aber faſſen wir jetzt auch die ſchönere Kehrſeite ins Auge. Die Nacht iſt vorüber, der belebende Strahl der Morgenſonne zuckt uͤber die fernen Höhen. Die grünenden Matten erglühen wärmer, getrof - fen vom himmliſchen Lichte. Hier öffnet die Blume ihre farbeſtrah -16 lende Krone dem erſehnten Element, dort ſchwingt der erwachte Vo - gel ſein buntes Gefieder durch die blauen Lüſte; Koſend um - ſchwärmt der ſchillernde Schmetterling die liebliche Roſe und auf bräunlichem Mooſe kriecht emſig der ſmaragd-glänzende Käfer her - bei, um ſeinen Durſt am funkelnden Thautropfen zu ſtillen. Eine ganze, volle, ſchöne Welt des Lichtes und Glanzes, der Farben und Geſtalten liegt vor uns ausgebreitet, jede Bewegung iſt Leben, iſt Schönheit und ſchön in ihrer Freiheit. Ich ſehe das Alles , ſagt der Menſch und dankt entzückt dem Geber alles Guten. Aber was heißt dieſes Sehen? Es iſt nicht ein Wahrnehmen deſſen, was außer ihm wirklich vorhanden iſt. Es iſt eine zauberhafte Phantasmagorie, die ſich der Geiſt ſelbſt vorführt, in freiem Schaf - fen und dabei nur auf wunderbare Weiſe geleitet und gebunden durch das, was außer ihm wirklich iſt, ohne daß er dieſer Wirklich - keit ſelbſt ſich bewußt würde.

Wenn der Reiſende auf dem Meere die niederen Breiten er - reicht, ſo taucht vor ihm am fernen Horizonte in einer von uns kaum geahnten Pracht am tief dunkeln Himmel die majeſtätiſche Ge - ſtalt des ſüdlichen Kreuzes auf. Preis und Dank dem allmächtigen Schöpfer ruft er aus und Anbetung zieht ihn faſt unwiderſtehlich auf ſeine Kniee nieder. Wohl gebürt dem heiligen Urquell al - ler Weſen dieſer Dank, aber nicht dafür, daß er die Welt ſo ſchön gemacht, denn dieſe iſt an ſich weder ſchön noch häßlich, ſondern da - für, daß er, wie die alte Sage erzählt, dem Menſchen ſeinen Geiſt einhauchte und ihm ſo die Gabe verlieh, alles was ihn berührt als Leben, Freiheit, Schönheit zu empfinden.

So himmelweit wie dieſe beiden Skitzen liegen Körperwelt und Geiſteswelt auseinander. Wenn uns das friſche Grün des Früh - lings mit freudiger Hoffnung erfüllt, wenn das gelbe fallende Blatt des Herbſtes uns mit Wehmuth wie ein Abſchiedsgruß durchzuckt, ſo iſt das Blatt für uns grün und gelb und in dieſen Farben Sinn - bild moraliſcher Beziehungen, für ſich, für den Baum, der es trägt, für die Erde, auf die es herabſinkt, mit einem Wort in der körper -17 lichen Natur hat das Blatt keine Farbe ſondern es enthielt einen Stoff der gewiſſe Lichtwellen zurückwarf die dann in unſer Auge ge - langten, es giebt im Herbſte einige Atome Sauerſtoff ab und die - ſelben Lichtwellen gehen jetzt ungehindert durch ihn durch, während er Wellen anderer Beſchaffenheit reflectirt.

Verweilen wir noch einen Augenblick bei dieſem Beiſpiel. Bringen wir das friſch grünende Blatt auf unſere Zunge und koſten wir ſpäter das entfärbte des Herbſtes ſo zeigt uns der Sinn ſogleich den Unterſchied in der chemiſchen Natur beider Zuſtände an, aber es entſteht dadurch keine Vorſtellung der Farbe in uns. Zerknicken wir vor unſerm Ohr ein friſches, ein getrocknetes Blatt, ſo wird durch den verſchiedenen Ton uns angedeutet, daß das Blatt ſeines Waſ - ſers beraubt iſt, aber Nichts ſagt uns dabei, daß auch das Licht in anderer Weiſe vom friſchen wie vom trocknen Blatte zurückgeworfen werde. Mit einem Worte, wir finden, daß jeder unſerer Sinne nur für ganz beſtimmte äußere Einflüſſe empfänglich iſt und daß die Er - regung jedes Sinnes in unſerer Seele ganz andere Vorſtellungen hervorruft. So ſtehen zwiſchen jener äußern ſeelenloſen Welt, welche uns nur durch die Wiſſenſchaft erſchloſſen und zugänglich wird, und der ſchönen Welt in der wir geiſtig uns finden, die Sin - nesorgane als Vermittler. Sie ſind es, welche zuerſt die Eindrücke empfangen, ſie ſind es, welche dieſe Anregungen dem Geiſte über - liefern, Anregungen, nach deren Anleitung ſich der Geiſt ſein Welt - gemälde in Farben und Geſtalten ausführt. Und ſuchen wir nun nach dem Weſentlichen dieſer Sinnesorgane der verſtändig aus - geführte Knochenbau ſo feſt und ſo beweglich zugleich, der kräftige Muskel, der durch ſeine Zuſammenziehung jenes Hebelwerk der Knochen in Bewegung ſetzt, das Herz mit ſeinen zahlreichen Röhren, den Adern, ein meiſterhaft ausgeführtes Pumpenwerk, welches die ernährende Flüſſigkeit, das Blut, durch alle Theile treibt, der ganze verwickelte Bau von Behältern und Canälen in denen Nahrungsſtoffe aufgenommen, in mannigfacher Weiſe chemiſch zerſetzt und wieder anders verbunden, hier dem Blute beigemiſcht, dort als unbrauch -Schleiden, Pflanze. 218bar ausgeſondert werden, die vielfachen Faſern und Häute, welche alle Theile mit einander verbinden und das Ganze umkleiden und zur ſchönen menſchlichen Geſtalt abrunden, ſie alle ſind es nicht. Von ihnen allen reicht kein Theil an das geiſtige Gebiet hinan. Aber durch alle dieſe Bildungen durch, in alle eindringend, ziehen ſich Millionen der zarteſten Fäden, die Nervenfaſern, die einerſeits in jene Theile einſtrahlen, andererſeits in eine einzige Halbkugel, in das Gehirn zuſammenlaufen. Dieſe Fäden ſind es, welche, von den Bewegungen und Veränderungen der äußern Welt berührt, angeregt werden, welche dieſe Anregung auf das Gehirn übertragen. Das Gehirn aber iſt die geheimnißvolle Stätte wo Geiſtiges und Körper - liches ſich berühren. Jede Veränderung im Gehirn iſt von einem Wechſel im Spiele unſerer Vorſtellungen begleitet; zu jedem auf die Außenwelt gerichteten Gedanken findet ſich eine gleichlaufende Ver - änderung im Gehirn, die von den Nervenfaſern wie von Boten an die Organe übertragen wird, die vom Willen bewegt werden ſol - len. Es ſind alſo die Nerven eigentlich das Weſentliche jedes Sinnesorganes, in ihnen haben wir das Mittelglied zwiſchen Kör - perwelt und Geiſt zu ſuchen; die Geſetzmäßigkeit ihres Wirkens ha - ben wir zu erforſchen wenn wir uns über unſere Verbindung mit der Körperwelt unterrichten wollen.

Nur zwei Puncte müſſen wir hier beſonders hervorheben, die eigenthümlich genug ſind. Wunderlich iſt der Herr im Verhältniß zu ſeinen Dienern, jener, der Geiſt, überſetzt ſich alles was ihm dieſe, die Nerven, überbringen in ſeine Sprache und zwar hat er für jeden Diener eine andere. Mögen die Faſern des Sehnerven getroffen werden, wovon ſie wollen, mag die Lichtwelle ſie erſchüttern, der Finger ſie drücken, die überfüllte Ader an ſie pulſiren, oder der elec - triſche Funke ſie durchzucken, der Geiſt überſetzt alle dieſe verſchieden - artigen Eindrücke in die Sprache des Lichts und der Farben. Wenn das erregte Blut, die Adern aufſchwellend, die Nerven drückt, ſo fühlen wir es in den Fingern als Schmerz, wir hören es im Ohr als Summen, wir ſehen es im Auge als zuckenden Blitz. Und hierin19 haben wir den entſchiedenen Beweis daß unſere Vorſtellungen freie Schöpfungen unſeres Geiſtes ſind, daß wir nicht die Außenwelt ſo auffaſſen wie ſie iſt, ſondern daß ihre Einwirkung auf uns nur die Veranlaſſung wird zu einer eigenthümlichen geiſtigen Thätigkeit, de - ren Producte häufig in einem gewiſſen geſetzmäßigen Zuſammen - hang mit der Außenwelt ſtehen, häufig aber auch gar nicht damit zuſammenhängen. Wir drücken unſer Auge und ſehen einen leuch - tenden Kreis vor uns, aber es iſt kein leuchtender Körper vorhan - den. Welch 'eine reiche und gefährliche Quelle von Irrthümern aller Art hier fließt, iſt leicht zu ſehen. Von den neckenden Geſtalten der monddurchglänzten Nebellandſchaft bis zu den wahnſinndrohenden Viſionen des Geiſterſehers haben wir eine Reihe von Täuſchungen, die alle nicht der Natur, nicht ihrer ſtrengen Geſetzlichkeit zur Laſt fallen, ſondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrthum unterworfenen Thätigkeit des Geiſtes gehören. Großer Umſicht, viel - ſeitiger Bildung bedarf es, ehe der Geiſt ſich hier von allen ſeinen eignen Irrthümern losmacht und ſie ganz beherrſchen lernt. Das Sehen im weitern Sinne des Wortes erſcheint uns ſo leicht und doch iſt es eine ſchwere Kunſt. Nur nach und nach lernt man, wel - chen Botſchaften der Nerven man vertrauen und danach ſeine Vor - ſtellungen formen dürfe. Selbſt Männer von Wiſſenſchaft können hier irren, irren oft und um ſo öfter, je weniger ſie darüber verſtän - digt ſind, wo ſie die Quellen ihres Irrthums zu ſuchen haben.

Aber noch auffallender als das eben entwickelte Verhältniß iſt es, daß der Herr, nämlich die Seele, Botſchaften von ſeinen Dienern, den Nerven, empfängt, Befehle an ſie austheilt ohne ſich ihrer Ge - genwart überhaupt zunächſt bewußt zu werden. Erſt ſpät, erſt durch die weit fortgebildete Wiſſenſchaft erfährt der Menſch, daß Nerven exiſtiren und daß beſtimmte Functionen ihnen zugewieſen ſind. Er ſieht und weiß nichts von ſeinem Sehnerven, ihn ſchmerzt die ge - brannte Hand, aber er wird ſich der leitenden Faſer nicht bewußt, er bewegt ſpielend mit geläufiger Geſchwindigkeit die Zunge, aber er - fährt nichts von dem Wege, den die beſtimmenden Nerven nehmen. 2*20Wir empfinden mit einem Worte niemals den Zuſtand eines Nerven, ſondern bilden uns vielmehr unmittelbar ſo wie der Nerv gereizt wird die Vorſtellung eines äußeren Gegenſtandes, und es erfordert erſt wiſſenſchaftliche Verſtändigung, daß wir dieſen Gegenſtand als Urſache eines Nervenreizes erkennen.

Iſt nun aber, um in dem gewählten Gleichniß zu bleiben, das Verhältniß des Herren zu ſeinen Dienern ein ganz eigenthümliches, ſo ſind nicht minder die Diener ganz beſonderer Art. Keiner derſel - ben weiß etwas vom Andern, erfährt etwas von deſſen Daſeyn und Thätigkeit, oder theilt ſich ihm mit. Ja was noch wichtiger iſt, kei - ner derſelben d. h. keine Nervenfaſer kann gleichzeitig mehr als eine einzelne einfache Botſchaft ausrichten und darin gleichen ſie vollkom - men einfältigen Bedienten. Zwei ihnen gleichzeitig übergebene Auf - träge vermengen ſie mit einander zu einem einzigen einfachen. Am leichteſten iſt dies deutlich zu machen, wenn man ſolche Theile des Körpers, wo die Nervenfaſern ſehr vereinzelt und weit auseinander liegen z. B. den Oberarm oder die Mittellinie des Rückens mit den Spitzen eines geöffneten Zirkels berührt. Wenn auch die Spitzen ei - nen Zoll weit aus einander ſtehen, ſo fühlt man an den genannten Theilen doch nur einen einfachen Stich, da die Nerven hier ſo weit von einander entfernt ſind, daß beide Stiche in den Bereich einer Faſer fallen und dieſe iſt unfähig mehr als einen Eindruck zur Zeit aufzunehmen.

Nach dieſen allgemeinen Erörterungen über die eigenthümliche Natur der Nervenwirkungen können wir uns wieder unſerer Aufgabe ſelbſt nähern indem wir insbeſondere den Sehnerven betrachten. Derſelbe iſt wie er in den Augapfel eintritt, ein ziemlich dickes Bün - del zahlreicher einzelner Nervenfaſern und dieſe breiten ſich im Aug - apfel in eine Halbkugelfläche aus, ſo daß jede Faſer einen kleinen Theil dieſer Fläche bildet. Der Augapfel ſelbſt aber gleicht vollkom - men einem optiſchen Apparat, einer Kamera obſcura, und die Halb - kugelfläche des Sehnerven, die ſogenannte Netzhaut des Auges, ent - ſpricht dem weißen Blatt Papier, welches das Bild der Kamera21 obſcura auffängt. Jedes von dem Bilde getroffene Fäſerchen fängt gleichſam einen Punct deſſelben auf und bringt die Nachricht davon zum Gehirn, wo die vorſtellende Seele ihren Sitz hat und dieſe muß ſich dann aus allen dieſen einzelnen Puncten erſt das Bild conſtrui - ren. Ob aber richtig oder falſch conſtruirt wird, hängt von der Ue - bung und Ausbildung der Seele ab. Man könnte mir hier ein - wenden, daß wir ja von dieſer Conſtruction gar kein Bewußtſein haben und daß das Sehen daher doch wohl viel einfacher ſeyn müſſe. Indeß läßt ſich leicht an einigen Beiſpielen zeigen, daß hier nur die Uebung uns die Sache ſo leicht macht, daß wir uns der einzel - nen Geiſtesthätigkeiten dabei gar nicht mehr bewußt werden. Das Kind, bei dem dieſe Uebung noch nicht Statt gefunden hat, conſtruirt daher auch häufig falſch, es greift nach den Sternen, wie nach den glänzenden Knöpfen an dem Rocke des Vaters, es verſucht den fernen Mond auszublaſen, wie es ihm mit dem Licht auf dem Tiſche gelungen. Und dieſelben Erſcheinungen finden wir bei Blindgebornen die operirt wurden; namentlich iſt uns ein merkwür - diger Fall der Art in den Annalen der Augenärzte aufbewahrt, wo ein Blindgeborner erſt in ſeinen ſpätern Lebensjahren, als er ſchon genügende Bildung ſich erworben um von den Vorgängen in ſeinem Innern Rechenſchaft zu geben, ſein Augenlicht wieder erhielt und nun ausführlich berichten konnte, wie er erſt allmälig die verſchiede - nen Licht - und Farbenempfindungen zu einer geordneten Weltan - ſchauung zuſammenſetzen lernte. Der entſchiedenſte Beweis für die Richtigkeit der aufgeſtellten Behauptung liegt aber darin, daß wir, wenn die Umſtände verführeriſch ſind, falſch conſtruiren, ohne daß das Bild auf der Netzhaut dazu Veranlaſſung gegeben hätte. Der Mond nämlich erſcheint uns größer, wenn er aufgeht, als wenn er über uns im dunkeln Luftmeere ſchwimmt. Meſſungen zeigen aber, daß er beidemale in der That gleich groß iſt, und daß ſein Bild auf der Netzhaut in beiden Fällen ebenfalls gleichen Durchmeſſer hat. Der Grund der falſchen Conſtruction liegt aber darin, daß wenn der Mond am Horizont zwiſchen uns bekannten Hügeln, Bäumen oder22 Häuſern aufgeht, wir ſeine Entfernung nach den ihm zunächſt er - ſcheinenden Gegenſtänden beurtheilen deren bedeutende Entfernung uns bekannt iſt. Den Mond oben am Himmelsgewölbe dagegen denken wir uns näher, da zwiſchen ihm und uns keine Gegenſtände ſind, nach denen wir ſeine Entfernung ſchätzen könnten. So in der Beurtheilung der Entfernung uns täuſchend conſtruiren wir nach ei - nem und demſelben Netzhautbilde verſchieden, alſo auf jeden Fall das eine Mal falſch.

Das Reſultat dieſer ganzen hier mehr angedeuteten und ſkizzir - ten als ausgeführten Unterſuchung iſt alſo folgendes: In der wirk - lichen Welt befinden ſich zahlreiche Stoffe und Kräfte in Wechſelwir - kung, dieſe verändern, wo ſie mit den Nervenfaſern unſeres Körpers zuſammentreffen, den Zuſtand derſelben, und dieſe veränderten Zu - ſtände werden die Veranlaſſung, daß unſer Geiſt ſich eine ganze Weltanſicht ausmalt. Am lebendigſten tritt uns dieſe ſelbſtgeſchaffne Welt entgegen wenn die Erregungszuſtände dem Augennerven ange - hören, aber auch gerade hier können wir am deutlichſten nachweiſen, daß die Welt in unſerer Vorſtellung ſich zwar immer auf die Welt außer uns bezieht, aber durchaus nicht mit ihr gleichartig, identiſch iſt. Noch ein Beiſpiel mag dienen dies deutlich zu machen und zugleich uns den Uebergang zum Folgenden zu bahnen. Das ein - fachſte Verhältniß, welches ſich gewiß in der Außenwelt denken läßt, iſt das von Stoff, Materie oder wie wir es nennen wollen, die ei - nen gewiſſen Raum einnimmt. Wenn nun unſere Vorſtellung der Welt irgend mit der wirklichen Welt übereinkommen ſollte, ſo müß - ten wir doch vor Allem wiſſen, wie groß der Raum ſei und wie groß das Stück des Raumes den das Materielle z. B. ein Fels einnimmt. Wir haben aber gar keinen Maaßſtab für die Größe des Raums und daher gar keinen Begriff von der Größe der Welt. Wenn wir ſa - gen: dieſer Menſch iſt 6 Fuß groß, ſo heißt das nur: in der Welt unſerer Vorſtellungen iſt der vorgeſtellte Menſch 6 mal ſo groß wie der vorgeſtellte Fuß; es iſt nur eine Vergleichung zweier Vor - ſtellungen unter einander. Dann natürlich entſteht die Frage:23 wie groß iſt denn ein Fuß, wie groß ein Zoll, eine Linie und ſo wei - ter? und immer antworten wir nur durch Vergleichungen mit andern ebenſo wenig für ſich beſtimmbaren Größen. Hier zeigt ſich ſo - gleich wie wir nicht einmal im einfachſten Falle aus dem Spiel un - ſerer Vorſtellungen heraus zur Erkenntniß der wirklichen Welt kom - men können, der ganze Begriff der Größe hat für die Welt ſelbſt keine weſentliche Bedeutung, ſondern nur für unſere Vorſtellungen. Und gleichwohl ſpricht der Microſcopiker von Vergrößerungen und meint damit die Gegenſtände beſſer zu erkennen als vorher? Um das zu begreifen, müſſen wir wohl noch etwas über Größe philoſophi - ren, um dieſem ſo ſchwankenden Begriff größere Beſtimmtheit und Feſtigkeit zu verleihen. Wir nennen z. B. den Fuß der Bavaria von Schwanthaler coloſſal, den Fuß eines erwachſenen Mannes groß, und den einer Dame klein und weshalb? Dies iſt leicht zu ſagen, theilen wir jeden dieſer Füße in 12 Zolle, jeden Zoll in 12 Linien und jede Linie wieder in 12 Theile, ſo ſind dieſe Zwölftellinien beim Damenfuß nicht mehr zu unterſcheiden, beim Männerfuß ſind ſie noch recht deutlich, aber an der Bavaria könnten wir jede Zwölftel - linie abermals in 12 Theile theilen, und jeder derſelben würde noch deutlich zu erkennen ſeyn. So haben wir aber zugleich eine einfache Beſtimmung der Größe gefunden. Ein Ding iſt für uns um ſo grö - ßer, je mehr Theile wir in ihm unterſcheiden können.

Allein es kann uns bei dieſer Beſtimmung des Begriffs noch eine andere Betrachtung führen. Wir haben einen ſcheidenden Freund bis auf den Hügel vor die Stadt geleitet, noch einmal drücken wir ihn an die Bruſt, noch einmal ſchauen wir ihm lange und tief in's Antlitz, um uns alle die lieben, uns ſo vertrauten, ein - zelnen Züge recht feſt einzuprägen. Endlich reißt er ſich los und eilt von dannen, wir ſchauen ihm noch lange nach. Er blickt ſich um und noch erkennen wir das bekannte Geſicht. Immer größer wird die Entfernung und mehr und mehr verſchwimmen die Einzelnheiten der Geſtalt. Eine Biegung der Straße verbirgt ihn uns eine zeit - lang, da taucht er noch einmal auf am fernſten Hügelabhang, ein24 kleiner ſchwarzer ſich bewegender Punct; er ſteht ſtill, winkt noch mit dem Tuche, aber ſelbſt dieſe Bewegung ſind wir ſchon nicht mehr im Stande zu unterſcheiden, und endlich verſchwindet er gänzlich in der Ferne. Je ferner der Freund von uns gerückt wurde, je we - niger konnten wir an ihm unterſcheiden, je kleiner erſchien er uns, bis zuletzt ein Nadelsknöpfchen, vor unſer Auge gehalten, größer war, als er. Indem wir hier bemerken, wie ſelbſt ein uns ganz bekannter Gegenſtand allmälig kleiner wird und zuletzt ganz ver - ſchwindet, ſo zeigt ſich uns auch ſogleich das Mittel, einen Gegen - ſtand zu vergrößern, um ihn deutlicher zu erkennen, mehr einzelne Theile an ihm zu unterſcheiden einfach darin, daß wir ihn unſerm Auge näher bringen. Der Verſuch zeigt uns nun auch allerdings die Anwendbarkeit dieſes Mittels, aber bald erfahren wir, daß hier eine gewiſſe Grenze eintritt, über welche hinaus wir einen Gegenſtand dem Auge nicht mehr nähern dürfen, ohne daß uns das deutliche Sehen überhaupt unmöglich wird. Der Grund dafür liegt in dem Bau der kleinen Kamera obſcura, welche wir Augapfel nennen. Derſelbe kann, ſo wie jedes ähnliche Inſtrument des Optikers, nur für gewiſſe Entfernungen eingerichtet ſeyn, und wollen wir in grö - ßerer Nähe ſehen, ſo müſſen wir an dem optiſchen Apparat eine ent - ſprechende Veränderung vornehmen, was einfach dadurch geſchieht, daß wir einen nach beſtimmten Geſetzen geformten, durchſichtigen Körper, wir benutzen dazu gewöhnlich geſchliffnes Glas, vor das Auge bringen. Ein ſolches Glas aber iſt eine ſogenannte Loupe oder ein einfaches Microſcop, deſſen Wirkung nur darin beſteht, daß es uns möglich macht, einen Gegenſtand in einer Nähe noch deutlich zu ſehen, in welcher es ſonſt unmöglich wäre. Es iſt unnöthig hier auf die Entwicklung der optiſchen Geſetze einzugehen, denen ge - mäß dieſe Wirkung erfolgt, nur darauf aufmerkſam machen will ich, daß man ſehr leicht hierbei beſtimmen kann, wie ſtark der Gegen - ſtand bei einem ſolchen einfachen Microſcop vergrößert erſcheinen müſſe. Man nimmt an, daß durchſchnittlich das menſchliche Auge bei 8 Zoll Entfernung noch deutlich ſehen könne, aber nicht mehr in25 größerer Nähe. Benutze ich nun ein Glas, welches mir erlaubt, ei - nen Gegenſtand noch bei 4 Zoll Entfernung deutlich zu ſehen, ſo er - ſcheint er noch einmal ſo groß, bei 2 Zoll Entfernung 4 mal ſo groß, bei $$\nicefrac1{10}$$ Zoll Entfernung 80 mal ſo groß und ſo weiter, mit einem Worte die Vergrößerung iſt allein davon abhängig wie nah der Ge - genſtand an's Auge gebracht wird. Früher machte man von dieſen einfachen Microſcopen einen ſehr ausgedehnten und faſt ausſchließ - lichen Gebrauch in der Wiſſenſchaft, weil die zuſammengeſetzteren Microſcope damals noch ſo ſchlecht waren, daß ſie gegen die ein - fachen Inſtrumente weit zurück ſtanden. Der berühmte Leuwenhoek hat alle ſeine wunderbaren microſcopiſchen Beobachtungen mit ganz kleinen Glaskügelchen gemacht, die er ſich ſelbſt an der Lampe aus einem feinen Glasfädchen zuſammenſchmolz. In neuerer Zeit ge - braucht man aber die einfachen Microſcope nur noch zu ſehr ſchwachen Vergrößerungen und bedient ſich für ſtärkere allgemein der zuſam - mengeſetzten Microſcope. Während dieſe nämlich verhältnißmäßig wenig das Auge angreifen, iſt das Beobachten mit dem einfachen Microſcop zumal bei ſtarken Vergrößerungen eine ſo ermüdende An - ſtrengung, daß Augenleiden nur zu häufig die Folge davon ſind.

Das Princip, worauf das zuſammengeſetzte Microſcop beruht, iſt ebenfalls ſehr leicht deutlich zu machen. Es beruht daſſelbe auf einer Verbindung der Kamera obſcura mit dem einfachen Micro - ſcope. Die gewöhnliche Kamera obſcura beſteht im Weſentlichen aus einigen linſenförmig geſchliffenen Gläſern; die von einem Ge - genſtand ausgehenden Lichtſtrahlen gehen durch dieſe Gläſer durch und erzeugen hinter denſelben ein Bild des Gegenſtandes, welches man bei dem gewöhnlichen optiſchen Spielwerk auf einer matt ge - ſchliffenen Glastafel, oder auf einer weißen Papierfläche aufzufan - gen pflegt. Je weiter der Gegenſtand von den Gläſern entfernt iſt, deſto kleiner erſcheint das Bild. Nähert man den Gegenſtand, ſo wächſt das Bild bis Bild und Gegenſtand gleich groß ſind. Rückt man nun aber den Gegenſtand den Gläſern noch näher, ſo wird das Bild größer als der Gegenſtand. Dieſes letzte Verhältniß wenden26 wir zwar niemals bei der ſogenannten Kamera obſcura an, wohl aber bei der Zauberlaterne, die in ihrer weſentlichen Grundlage von erſterer in Nichts verſchieden iſt. Beim zuſammengeſetzten Micro - ſcop iſt nun ein ſolcher Apparat ſo angebracht, daß man das vergrö - ßerte Bild des Gegenſtandes nicht unmittelbar mit dem Auge, ſondern abermals mit einem einfachen Microſcop betrachtet und ſo noch um ein beträchtliches vergrößert. Iſt zum Beiſpiel das Bild 100 mal ſo groß wie der Gegenſtand und vergrößern wir das Bild noch zehn - mal, ſo muß uns der Gegenſtand tauſendmal vergrößert erſcheinen. Es beſteht alſo das zuſammengeſetzte Microſcop aus einem doppelten optiſchen Apparat, erſtens den Gläſern, welche dem Gegenſtand oder Object zugewendet ſind und von dieſem ein vergrößertes Bild ent - werfen, man nennt ſie eben deshalb die Objectivgläſer, und zweitens aus einem einfachen Microſcop, durch welches wir das vergrößerte Bild des Gegenſtandes abermals vergrößern und welches dem Auge zugewendet iſt und deshalb Ocular genannt wird. Man ſollte nun dem Geſagten zufolge glauben, daß es auf dieſe Weiſe möglich ſey, die Vergrößerung bis auf jeden beliebigen Grad zu ſteigern, da einmal die Größe des Bildes nur davon abhängt wie nah man den Gegenſtand ans Objectiv bringt, und dann die Vergrößerung des Bildes nur dadurch bedingt iſt, daß wir das Auge dem Bilde immer mehr nähern. Aber dieſer theoretiſchen Möglichkeit treten practiſch ſo viele Schwierigkeiten entgegen, daß die wirklich ausgeführten In - ſtrumente alle unendlich weit von der Grenze der theoretiſchen Mög - lichkeit zurückbleiben.

Ich will hier nur das wichtigſte Verhältniß berühren und um daſſelbe deutlich zu machen, an eine ſehr bekannte Thatſache anknü - pfen. Bücher, die beſtimmt ſind, in die Hände aller Leute zu kommen, wie Bibeln und Geſangbücher, verbreitet man in verſchiedenen Drucken, bald mit ganz kleinen, bald mit mittleren, bald für ältere ſchwachſich - tige Leute mit ganz großen Buchſtaben. Hier iſt nun ein einzelnes Wort in dem letzten Druck vielleicht 6 mal ſo groß als in dem erſten, und es läßt ſich deshalb bequem erkennen, aber gleichwohl erkennt27 man natürlich nicht mehr Buchſtaben in dem einen wie in dem an - dern. Daſſelbe Wort könnte aber auch von einem Schreibkünſtler ſo klein geſchrieben ſeyn, daß es dem unbewaffneten Auge nur wie ein einziges ſchwarzes Pünctchen erſchiene. Hier würde die Vergrößerung das Pünctchen in ſeine einzelnen Theile auflöſen und die Buchſtaben und Züge derſelben deutlich erkennen laſſen, aber eine fernere Ver - größerung würde dann wohl den Maaßſtab, nach welchem die ein - zelnen Theile erſcheinen, vergrößern, aber ohne feinere Theile, die früher nicht erkennbar waren, zur Anſchauung bringen. Ein ähnliches Verhältniß findet nun beim Microſcop ſtatt. Bis zu einem gewiſſen Grade iſt das Bild, welches das Objectiv von dem Gegenſtande ent - wirft ein ſolches, daß die in demſelben enthaltenen Einzelnheiten noch durch das Ocular aufgelöſt oder deutlich gemacht werden. Aber bald tritt die Grenze ein, bei welcher wegen der Unvollkommenheit der Objective das von ihnen entworfene Bild zwar noch vergrößert wer - den kann, aber ohne daß dabei mehr einzelne Theile erkennbar werden. Es beſteht gleichſam aus einer beſtimmten Anzahl von Buchſtaben, die ſtärker vergrößert, ſich zwar bequemer erkennen laſſen, aber ohne daß dieſe ſtärkere Vergrößerung einen ſcheinbar einfachen Buchſtaben als noch aus zweien zuſammengeſetzt zeigte. Auf dieſe Weiſe tritt das merkwürdige Verhältniß ein, daß man häufig mit einem beſſer gearbeiten Microſcop bei ſchwächerer Vergrößerung bei weitem mehr ſieht, d. h. mehr Einzelnheiten des Gegenſtandes erkennt, als bei viel ſtärkeren Vergrößerungen eines minder gut gearbeiteten Inſtru - mentes. Da es aber bei allen wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen gerade auf die Erkennung der einzelnen Theile und Structurverhält - niſſe ankommt, ſo haben die Vergrößerungen überhaupt nur bis ſo weit Bedeutung, als dieſer Anforderung noch entſprochen wird. Dieſe Grenze fällt aber bei allen bis jetzt gebauten Inſtrumenten auf eine Vergrößerung von etwa 3 400 mal im Durchmeſſer und alle ſtär - keren Vergrößerungen ſind theils unbrauchbare Spielereien, theils und zwar am häufigſten nur angeblich, wie die millionenfachen Ver - größerungen der Hydrooxygengasmicroſcope, mit denen herumziehende28 Charlatans ſich brüſten und die meiſt nicht einmal ſo viel leiſten wie die 50 fachen eines guten gewöhnlichen Microſcops.

Aus dieſen Bemerkungen geht hervor, daß dem wiſſenſchaftlichen Forſcher unendlich viel daran liegen muß, genau die Güte eines In - ſtrumentes in dieſer Beziehung beurtheilen zu können und man hat allen Fleiß angewendet, um die dazu führenden Mittel ausfindig zu machen. Man hat zu dem Ende ſogenannte Probeobjecte aufge - ſucht, die im Allgemeinen in Gegenſtänden beſtehen, welche feine ſchwer zu erkennende Structurverhältniſſe zeigen. Zu ſolchen Probe - objecten kann man künſtliche oder natürliche Gegenſtände wählen. Die erſten ſind bis jetzt nur von dem Königsberger Mechaniker No - bert angefertigt und beſtehen in Syſtemen von hundert mit dem Dia - mant auf Glas gezogenen Linien, von denen je zehn und zehn nach einem beſtimmten Maaße enger beiſammen ſtehen und feiner ſind. Mit den meiſten Inſtrumenten kann man nur das ſechſte und ſiebente Syſtem noch deutlich als aus einzelnen Linien beſtehend erkennen, beſſere Inſtrumente reichen bis zum achten und neunten. Das zehnte löſt aber kein bis jetzt gebautes Microſcop in ſeine einzelnen Be - ſtandtheile auf. Dieſe Linienſyſteme machten, wie ſie bekannt wurden, großes Aufſehen, ſie haben indeſſen den weſentlichen Fehler, daß ein Exemplar dem andern nicht ganz genau gleich iſt, daß alſo jeder For - ſcher einen andern Maaßſtab in die Hände bekommt. Ungleich genauer als der Menſch arbeitet die Natur und man ſieht daher noch immer die Schmetterlingsſchuppen als die beſten Probeobjecte an. Die meiſten derſelben ſind kleine, mit einem Stielchen verſehene längliche Platten, auf ihrer Oberfläche mit feinen Längsrippen beſetzt, die durch äußerſt zarte Querrippen verbunden werden. Beide Arten von Rippen ſind aber bei den verſchiedenen Schmetterlingen von ſehr verſchiedener Feinheit und insbeſondere ſind die Querrippen von Hipparchia Janira, einem ſehr gemeinen braunen Schmetterling, ſo zart, daß ſie bis jetzt nur durch die ausgezeichnetſten Inſtrumente eines Amici, Plösl, Oberhäuſer und Schieck deutlich zu erkennen ſind.

Außer dieſen gewöhnlichen Schuppen kommen aber auch noch29 mannigfaltige, theils anders geformte, theils auf ihrer Oberfläche anders gezeichnete vor und wenn man ſich eine Zeitlang mit dieſen Unterſuchungen beſchäftigt hat, ſo erſtaunt man über den unendlichen Reichthum von Geſtalten, den die Natur hier noch in den unſchein - barſten und winzigſten Theilen entwickelt hat. Gar manche haben ſich, beſonders in frühern Zeiten, wohl mit dieſer Freude an zierlichen Bildern genügen laſſen und kaum die Bedeutſamkeit microſcopiſcher Unterſuchungen für die Wiſſenſchaft geahnt, wie ſchon die Titel ſo vieler im vorigen Jahrhundert erſchienener Werke andeuten, z. B. Ledermüller microſcopiſche Gemüths - und Augenergötzung (Nürnberg 1761), Röſel von Roſenhoffs Inſectenbeluſtigungen (Nürnberg 1746 61) u. ſ. w. Doch fehlte es auch ſchon früh nicht an Beobach - tern, welche den ganzen Ernſt dieſer Richtung in den naturwiſſen - ſchaftlichen Studien einſahen und wir haben ſogar ein merkwürdiges Beiſpiel der Uebertreibung an Swammerdam, der in ſeinen letzten Lebensjahren einen großen Theil der durch die mühſamſten Unter - ſuchungen gewonnenen Reſultate dem Feuer übergab, weil er meinte, der Schöpfer habe dieſe feinern Verhältniſſe nicht ohne weiſe Abſicht dem Menſchen verborgen und es ſey Frevel, die Geheimniſſe Gottes zu profaniren. In der That würde man aber mit einer ſolchen Anſicht, wenn ſie conſequent durchgeführt würde, jeder Erhebung des Menſchen über den roheſten faſt thieriſchen Naturzuſtand in den Weg treten.

Es war unſerm Jahrhundert vorbehalten das Microſcop bei dem Studium der Natur in ſeine Rechte einzuſetzen und es iſt eine erfreu - liche Erſcheinung zu betrachten, wie ſich die Anwendung dieſes In - ſtruments immer mehr und mehr Eingang verſchafft und wie in im - mer größern Kreiſen die intereſſanteſten Reſultate durch daſſelbe ge - wonnen werden.

Leicht begreiflich iſt es, wie das Studium der Verhältniſſe des feineren Baues der Thiere und ſelbſt des Menſchen ein ganz neues Licht auf die phyſiologiſchen Vorgänge im Körper werfen mußte und in der That kann man für alle Zweige der mediciniſchen Wiſſenſchaf -30 ten, von der Anwendung des Microſcops an, eine durchaus neue Periode datiren. Daß für die Kenntniß der kleineren Organismen im Thier - und Pflanzenreiche das Microſcop ein entſcheidender Wen - depunct werden mußte, iſt eben ſo leicht einzuſehen. Dagegen liegt es weniger auf der Hand, wie auf den Gebieten der Chemie, Minera - logie, und Geognoſie die microſcopiſche Beobachtung ihr eigenthüm - liches Feld hat finden können. Und gleichwohl iſt die Bedeutſam - keit deſſelben auch hier theils ſchon von den ausgezeichnetſten Forſchern anerkannt, theils kann dieſe Anerkennung nicht lange mehr ausbleiben. Insbeſondere iſt auf dem Gebiete der organiſchen Chemie ein In - ſtrument nicht zu entbehren, welches oft allein im Stande iſt uns darüber Aufſchluß zu geben, ob wir es mit einem einfachen Stoff oder mit einem mechaniſchen Gemenge verſchiedener Beſtandtheile zu thun haben. Eine Menge angebliche Stoffe wären nie in der Wiſſenſchaft aufgeführt worden, es wären nie die Kräfte ausgezeichneter Forſcher daran vergeudet worden, wenn man mit dem Microſcop vorher die Natur derſelben genauer unterſucht hätte. So finden wir doch, daß ſelbſt die ausgezeichnetſten Chemiker, wie Berzelius, Liebig u. a. von Stoffen reden, die gar nicht exiſtiren. So iſt die ſtärkemehlartige Faſer, worunter man den Rückſtand der Kartoffeln nach Gewinnung des Kartoffelmehls verſteht, ein Gemenge ganz gewöhnlicher Stärke und ganz gewöhnlicher Holzfaſer, oder Zellſtoffs, ſo iſt das Pollenin, womit man den Grundbeſtandtheil des Blüthenſtaubs bezeichnen will, ein mannigfaltiges Gemiſch von ſehr vielen einzelnen ganz bekannten Subſtanzen. Dergleichen Beiſpiele ließen ſich aber noch unzählige aufführen.

Noch auffallender zeigt ſich die Bedeutſamkeit des Microſcops in der Mineralogie und Geognoſie. Hier handelt es ſich nämlich um eine ganz andere und genauere Kenntniß der eigenthümlichen Natur ganzer Gebirgsſyſteme, größerer Formationen oder einzelner Mineral - ſubſtanzen, als uns dieſe Wiſſenſchaften bisher geben konnten. Wenn wir früher in den Gebirgszügen, welche im weſtlichen Aſien ſich herabziehen, einen Gürtel um das nördliche Deutſchland und Frank -31 reich bilden und dann im griechiſchen Archipelagus wieder auftreten, nur muſchelführende Maſſen kohlenſauren Kalkes erkannten, den wir wegen ſeines eigenthümlichen Aggregatzuſtandes Kreide nannten, wenn wir die Polirſchiefer, Kieſelguhre und Bergmehlarten als Kie - ſelerde in fein vertheiltem Zuſtande betrachteten, wenn wir im Dyſo - dil nur ein Gemenge von Kieſelerde und Erdpech fanden und in den meiſten Opalen und Feuerſteinen eben nur dichtere glasartige Kieſel - erde wahrnahmen, ſo eröffnen uns Ehrenbergs microſcopiſche For - ſchungen hier einen Blick in eine ganz neue lebensvolle Welt. Wir finden auf höchſt merkwürdige Weiſe das Entſtehen nicht unbeträcht - licher Theile der feſten Rinde unſeres Planeten in ihrer eigenthüm - lichen Form an das Leben ganz kleiner dem bloßen Auge unſichtbarer Thiere geknüpft, die bei ihrer ans Wunderbare gränzenden ſchnellen Vermehrung durch Individuenzahl und Unzerſtörbarkeit ihrer Ueber - reſte das erſetzen, was ihnen an Maſſe abgeht.

Außer den Infuſorien, deren ganze Organiſation nur aus faſt gallertartiger thieriſcher Subſtanz beſteht, giebt es nämlich andere Arten, deren Eigenthümlichkeit darin ſich zeigt, daß ſie ſich ähnlich den Muſcheln und Schnecken mit feſten Panzern in den allerzierlich - ſten Formen umgeben, die entweder aus kohlenſaurem Kalk oder aus Kieſelerde gebildet ſind. Das geſtorbene Thier ſelbſt fällt zwar der Verweſung anheim, aber die ſelbſt gebauten Wohnungen, die Scha - len bleiben und häufen ſich unter günſtigen Bedingungen für das Leben der Thiere ſo ſehr an, daß ganze Gebirgsſyſteme faſt allein aus ihnen aufgebaut ſind. Die aus Kieſelerde gebildeten Schalen ſin - tern zuweilen durch einen eigenthümlichen uns noch fremden Proceß zuſammen und bilden ſo Feuerſteine und Opale. Grade dieſe kieſelſchaligen Thierchen ſind es auch, mit denen der Botaniker eine genauere Bekanntſchaft nicht verſchmähen darf, da der Streit noch immer nicht geſchlichtet iſt, der lange Zeit ſelbſt mit einer gewiſſen Erbitterung geführt wurde, ob dieſe kleinen Organismen Thiere oder Pflanzen ſeyen. Bedeutender der Maſſe nach ſind freilich die durch kalkſchalige Infuſorien entſtandenen Bildungen. Ein anſehnlicher32 Theil Rußlands an der Wolga, Polens, Pommerns (z. B. Rügen), Mecklenburgs, Dänemarks, Schwedens, des ſüdlichen Englands und nördlichen Irlands, des nördlichen Frankreichs, Griechenlands, Sici - liens, des nördlichen Afrikas und vielleicht auch der Sahara, des nordweſtlichen und arabiſchen Aſiens beſteht aus ſolchen Kreideboden und Kreidegebirgsmaſſen, deren verticalen Durchmeſſer man oft z. B. in England auf 1000 Fuß berechnen kann. Die Phantaſie erlahmt, wenn ſie dieſe Maſſen organiſchen Lebens erfaſſen ſoll, wenn man ſich erinnert, daß eine einzige mit Kreideüberzug verſehene Viſiten - karte ſchon ein zoologiſches Cabinet von vielleicht 100,000 Thier - ſchalen bildet.

Wie Galilei, Kepler, Newton, Herſchel uns in eine unendliche Welt der großen Maſſen einführten, wie Columbus, Magelhaens und ſeine Nachfolger uns die ganze eine Hälfte der Erde erſt ent - deckten, ſo hat in neueſter Zeit Ehrenberg durch ſeinen raſtloſen Fleiß uns eine wunderbare Welt des organiſchen Lebens erſchloſſen, welches in ſeinen Individuen unſcheinbar klein, auch dem ſchärfſten unbe - waffneten Auge unſichtbar, doch durch die unerſchöpfliche Thätigkeit des Bildens, durch die unausſprechlich großen Zahlen der Einzel - weſen Maſſen anhäuft, vor denen ſelbſt der Menſch als ohnmächtiges Weſen erſcheint.

Am 26. Januar 1843 war auf der Round-Down-Klippe un - fern von Dover eine zahlreiche Menſchenmenge in ängſtlicher Erwar - tung verſammelt, um den Ausgang einer der großartigſten und kühn - ſten Sprengungen beizuwohnen, welche je die genialen Combina - tionen menſchlichen Scharfſinns auszuführen unternommen. Die Vorarbeiten hierzu, die Anlegung der Schachte und Stollen, hatten Jahre erfordert. Durch eine rieſenhafte galvaniſche Batterie wurde die bis dahin noch niemals angewendete Menge von 185 Centnern Pulver auf einmal entzündet. Faſt lautlos wurde die ungeheure Klippe ins Meer geſchleudert, in einer Minute waren 20 Millionen Centner Kalkfelſen zerriſſen und eine Fläche von faſt 15 Acres 20 Fuß hoch mit ihren Trümmern bedeckt. Man mag daraus die ungeheure33 Kraft ermeſſen, welche angewendet werden mußte. Und mit wem ließ ſich hier die menſchliche Geiſteskraft in dieſen Rieſenkampf ein? Mit den Ueberreſten von Geſchöpfen, von denen tauſende durch den Druck des Fingers vernichtet werden können. Wir ſtaunen und fragen uns: was heißt klein in der Natur?

Es kann aber wohl überhaupt keinem Zweifel unterliegen, daß es einem noch höchſt rohen Zeitalter oder einer ſehr niedrigen Bil - dungsſtufe angehört, wenn man den Werth, die Wichtigkeit eines Dinges nach groß oder klein abmeſſen will, ein Maßſtab, der ja bei dem allerweſentlichſten und werthvollſten was wir kennen keine An - wendung findet, denn der Menſchengeiſt läßt ſich nicht nach Fuß, Zoll und Linie beſtimmen. Nur der ſinnlichen Natur imponirt das phyſiſch Große, der gebildetere Menſch wird die Gegenſtände ſeiner Betrach - tung vollſtändig nach allen ihren Verhältniſſen kennen zu lernen ſuchen und dann erſt aus der vollſtändigen Kenntniß derſelben ſich ein Urtheil über weſentlich und unweſentlich erlauben und gar oft wird er dann dahin geführt werden, dasjenige, was die kleinſten Dimenſionen hat, für das allerbedeutendſte zu erklären.

Es findet aber dieſe Bemerkung vor allem ihre volle Anwendung auf die Botanik. Es gab für dieſelbe eine Zeit, in welcher ſie an - fing ſich aus der mittelalterlichen Nacht des Nichts empor zu arbeiten, wo ſie alſo nur noch in ihren roheſten Anfängen exiſtirte, es iſt die Zeit der Linné'ſchen Schule. Wir wollen Linné's Verdienſt nicht ſchmälern, denn größer iſt der Ruhm eine Wiſſenſchaft zu erfinden, neu zu geſtalten, als ſie, wenn ihre Grundſteine einmal gelegt ſind, weiter auszubauen; wir wollen Linné, wie geſagt, nicht damit zu nahe treten, wenn wir ihn als den Urheber eines der traurigſten Vor - urtheile bezeichnen, welches lange die Botanik auf einer äußerſt nie - drigen Stufe erhalten hat und auch jetzt nicht ſo ganz überwunden iſt, daß ſeine ſchlimmen Nachwirkungen nicht noch mannigfach dem Fortſchritt der Wiſſenſchaft hemmend in den Weg träten. Wir meinen Linné's Widerwillen gegen das Microſcop und ſeine Verachtung aller Kenntniſſe, die ſich nur mit Hülfe deſſelben gewinnen laſſen. DerSchleiden, Pflanze. 334Einfluß der Linné'ſchen Schule iſt in dieſer Beziehung ſo verderblich geweſen, daß faſt alles, was ſchon am Ende des 17ten Jahrhunderts durch einzelne ausgezeichnete Männer wie z. B. beſonders durch Mal - pighi gewonnen war, im 18ten Jahrhundert für die Wiſſenſchaft ſo vollſtändig wieder verloren ging, daß ſelbſt die Ausgezeichneteren im Anfang dieſes Jahrhunderts die Höhe von Malpighi noch lange nicht in allen Stücken erreichten. Die folgenden Vorträge werden aber unter anderen auch davon Zeugniß geben, wie eine wiſſenſchaftliche Bearbeitung der Botanik, eine Bearbeitung, die mehr als ein öder unfruchtbarer, dem Gedächtniß anvertrauter Namenwuſt ſeyn ſoll, ohne faſt beſtändige Anwendung des Microſcops gar nicht gedacht werden kann. Hierhin wendet ſich auch die ganze neuere Richtung in der Wiſſenſchaft, und Namen wie Robert Brown, Briſſean, Mirbel, Amici und Mohl bezeichnen den Anfang einer neuen ſegensreichen Epoche.

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Zweite Vorlesung. Ueber den innern Bau der Pflanzen.

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Du kannſt im Großen nichts verrichten Und fängſt es nun im Kleinen an. (Fauſt. )3*[36]

Die Vignette zeigt den ſämmtlichen Hausrath des wiſſenſchaftlichen Kleinig - keitkrämers oder Microſcopikers; rechts ein einfaches Microſcop zum Präpariren kleiner Gegenſtände, links ein zuſammengeſetztes Inſtrument von Amici, daneben Pincetten, Loupen, Meſſerchen, Nadeln und dergl. mehr.

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Wenn wir einem gewandten Taſchenſpieler zuſchauen, wenn er die zauberähnlichen Wirkungen ſeiner täuſchenden Kunſt vor uns ent - faltet, werden wir nach und nach zur ſtaunenden Bewunderung hin - geriſſen, die uns endlich unwillkürlich die Aeußerungen des Beifalls entlockt, welche gewöhnlich ſeine gelungenen Productionen zu beglei - ten und zu belohnen pflegen. Wird es uns nun aber geſtattet, ſein Theater zu betreten, ihm im eigentlichſten Sinne in die Karten zu ſehen, wie ſehr kommen wir da von unſerm Erſtaunen zurück, wenn wir wahrnehmen, wie complicirter Vorrichtungen er bedarf, wie viele Gehülfen ihm zur Hand gehen müſſen, mit einem Worte, wie man - nigfaltige und große Mittel er anwenden muß, um Erfolge hervor - zubringen, die doch am Ende mit den angewendeten Mitteln in kei - nem Verhältniſſe ſtehen. Und ſehen wir uns weiter um in allen Verhältniſſen des Lebens, finden wir da nicht bald, daß es ein charak - teriſtiſcher Zug für die beſchränkte Stellung des Menſchen iſt, daß das Reſultat ſeiner kühnſten Anſtrengungen zuletzt auf Wenig oder Nichts hinausläuft, daß, wenn er Alles aufgeboten, was Talent und begünſtigende Umſtände ihm an Macht darreichten, er ſich am Ende doch geſtehen muß, daß das, was er errungen, nur ein geringer Preis iſt für die verwendeten Koſten?

Der gerade Gegenſatz von dem iſt die Natur. Von Jugend auf gewohnt, ihre Werke in ewig ſich erneuerndem Reichthum um uns ausgebreitet zu ſehen, gehen wir meiſt kalt an ihnen vorüber. Das ſinnigere Gemüth fühlt ſich von ihnen angezogen und fängt an, mit einer Art ſüßen Schauers die geheimnißvollen Kräfte, die um38 uns walten, zu ahnen. Welche Mittel, denken wir, müſſen nicht dieſer großen Künſtlerin zu Gebote ſtehen? Welche wunderbare Verkettungen noch unbekannter Kräfte müſſen nicht da noch verborgen liegen? Die Wiſſenſchaft verſucht dieſes Räthſel zu löſen und macht ſich nur zagend an ihre Aufgabe, fürchtend, daß es dem menſchlichen Verſtande viel - leicht unmöglich ſeyn werde, eine ſo wunderbare Verſchlingung und Verwicklung zu überſehen und zu erfaſſen, aber je weiter wir vor - dringen, deſto mehr wächſt unſer Erſtaunen. Jeder Schritt bringt uns eine einfachere Löſung eines verwickelten Räthſels, jede zuſammen - geſetzte Erſcheinung weiſt uns auf einfachere Urſachen und Kräfte zurück und unſere Bewunderung wird zuletzt zur frommen Anbetung, wenn wir ſehen, mit wie geringen Mitteln die Natur ihre ungeheuer - ſten Erfolge erreicht. Aus dem einfachen Verhältniß, daß Körper, die in Bewegung begriffen, ſich gegenſeitig anziehen, wölbt die Natur den ganzen Sternenhimmel über uns, und ſchreibt der Sonne und ihren Planeten die unwandelbaren Bahnen vor. Aber wir brauchen nicht nach den Sternen zu greifen, um zu erkennen, wie wenig die Natur bedarf, um ihre Wunder zu entwickeln.

Verweilen wir einen Augenblick bei der Pflanzenwelt. Von der ſchlanken Palme, die ihre zierlichen Wipfel hoch über dem heißen Brodem der braſilianiſchen Wälder in den kühlenden Lüften ſchaukelt, bis zu dem feinen kaum zolllangen Mooſe, welches unſere feuchten Grotten mit ſeinem phosphorescirenden Grün auskleidet, von der prachtvollen Blume der Victoria Regina, die ihre roſafarbenen Blätter auf den ſchweigenden Fluthen der guianiſchen Landſeen wiegt, bis zu den unſcheinbaren gelben Blüthenknöpfchen der ſogenannten Waſſerlinſe auf unſeren Teichen; welches wunderbare Spiel der Geſtalten, welch ein Reichthum der Formen! Von den 6000jährigen Affenbrod - bäumen an den Ufern des Senegal, deren Saamen vielleicht ſchon auf der noch von Menſchen unbewohnten Erde keimten, bis zu dem Pilz, dem eine fruchtwarme Sommernacht ein Daſeyn gab, das ſchon der nächſte Morgen zerſtörte, welche Verſchiedenheit der Lebens - dauer! Von dem feſten Holz der Neuholländiſchen Eiche, aus39 welchem der wilde Urbewohner ſeine Streitkolben ſchnitzt, bis zu dem grünen zerfließenden Schlamm unſerer Gräben, welche Mannigfal - tigkeit, welche Abſtufungen im Gewebe, Zuſammenſetzung und Feſtig - keit! Sollte man es für möglich halten, in dieſem verwirrenden Reich - thum die Ordnung, in dieſem ſcheinbar regelloſen Spiel der Formen die Geſetzmäßigkeit, in dieſen tauſendfach verſchiedenen Lebensweiſen den einen Typus, die gleiche Idee finden zu können? Bis vor weni - gen Jahren war allerdings die Möglichkeit noch nicht einzuſehen, denn wir dürfen, wie ſchon bemerkt, nicht eher erwarten, die Natur in ihren Geheimniſſen belauſchen zu können, bis wir auf ſehr einfache Verhältniſſe durch unſere Forſchungen geführt ſind. So konnte man auch über die Pflanze nicht zu wiſſenſchaftlichen Reſultaten gelangen, bis man nicht das einfache, allen den verſchiedenen Formen gleich - mäßig zu Grunde liegende Element gefunden und ſeine lebendige Eigenthümlichkeit unterſucht und beſtimmt hatte. Mit Hülfe der neueren Microſcope ſind wir endlich ſo weit gekommen, den Aus - gangspunct für die ganze Theorie der Pflanze zu finden.

Die Grundlage für den Bau aller auch noch ſo ſehr von einander abweichenden Gewächſe iſt ein kleines, aus einer meiſt durchſichtigen, waſſerhellen Haut gebildetes, rings herum geſchloſſenes Bläschen, welches die Botaniker Zelle oder Pflanzenzelle nennen. Eine Ueberſicht von dem Leben der Pflanzenzelle muß nothwendig dem Verſtändniß der ganzen Pflanze vorhergehen, ja iſt eigentlich bis jetzt faſt das einzige ächt Wiſſenſchaftliche in der Botanik.

Aber bei dieſen Betrachtungen verlaſſen uns unſere Sinnesor - gane. Das menſchliche Auge kann unbewaffnet, ohne Hülfe des Microſcops nichts von allen dieſen wunderbaren Geheimniſſen wahr - nehmen und es iſt daher nöthig zu bemerken, daß alle folgenden That - ſachen nur durch Hülfe des Microſcops zur Anſchauung gebracht werden können. Um dem augenblicklichen Bedürfniß nachzuhelfen lege ich meinen Leſern die wichtigſten Gegenſtände in Abbildungen vor, welche mit Hülfe eines guten Microſcops gemacht ſind.

Wenn man die äußere derbe Haut von der in unſern Gartenan -40 lagen jetzt ſo häufigen Schneebeere (Symphoricarpos racemosa) ent - fernt, ſo ſtößt man auf eine Maſſe, welche aus kleinen, etwas ſchlüpf - rigen, glänzend weißen Körnchen beſteht. Jedes davon iſt eine ein - zelne vollſtändige Zelle. (Taf. I. Fig. 1.) Wenn man die derbere Oberhaut von dem Blatte einer Gartennelke abzieht, ſo findet man darunter ein ſammtartiges grünes Gewebe, von welchem ſich leicht et - was abſchaben läßt. Dieſes vertheilt ſich im Waſſer zu kleinen grünen Pünctchen; auch dieſe ſind vollſtändige Zellen, welche ſich von den vorigen nur dadurch unterſcheiden, daß ſie außer einem zähen gelb - lichen und einem flüſſigen waſſerhellen Safte noch grün gefärbte Kör - ner enthalten. (Taf. I. Fig. 2.) Beide Arten von Zellen und ähnlich alle lebendig vegetirenden Zellen haben das gemein, daß ihre Wand aus einer doppelten Schicht beſteht, einer feſteren farbloſen, der eigent - lichen Zellenhaut und einer halbflüſſigen zähen etwas gelblichen Sub - ſtanz, welche die innere Fläche jener Zellenhaut vollkommen überzieht und ſo die Zelle auskleidet. Dieſe letztere Schicht iſt aufs Engſte mit dem Leben der Zelle verknüpft. Nicht ſelten findet man ſie ohne daß ſie ſich gerade nothwendig von der Zellenwand entfernt, ganz oder in einzelnen etwas dickeren ſtreifenartigen Partien in einer fortſtrömenden Bewegung, die man die Circulation des Zellenſaftes nennt. Die eigentliche Zellenwand iſt eine aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Sauerſtoff gebildete Subſtanz, der Zellſtoff; die halbflüſſige Ausklei - dung dagegen, von Hugo von Mohl Primordialſchlauch genannt, ent - hält außerdem noch Stickſtoff. Man kann ſie leicht dadurch deutlicher machen, daß man eine Zelle mit etwas Salpeterſäure betupft, denn da ſie ein dem Eiweiß ſehr ähnlicher Stoff iſt, ſo gerinnt ſie durch die Einwirkung der Säure und zieht ſich zuſammen, ſo daß ſie dann wie ein loſes Säckchen in der Zelle liegt. (Taf. I. Fig. 3.)

Ueber die Entſtehung der Zelle iſt man noch keineswegs völlig im Reinen, ſo viel iſt gewiß, daß dabei ein eigenthümliches dem Pri - mordialſchlauch angehöriges Körperchen, der Zellenkern genannt (Taf. I. Fig. 1, a.), eine ſehr weſentliche Rolle ſpielt.

Dieſe Zellen ſchließen ſich nun bei weiterer Entwicklung dicht41 aneinander und bilden ſo die ganze Maſſe der Pflanze, das Zellge - webe, welches man aber nach den verſchiedenen Formen der Zellen, beſonders aber nach der verſchiedenen Bedeutung derſelben für das Leben der Pflanzen in drei Hauptgewebe abtheilen kann.

Ehe wir aber zur Betrachtung dieſer drei Gewebe uns anſchicken, müſſen wir noch etwas genauer mit den Veränderungen uns bekannt machen, welche die Zelle in ihrem Leben durchlaufen kann. Die Zelle dürfen wir nämlich als einen kleinen ſelbſtſtändigen, für ſich lebenden Organismus anſehen. Aus ſeiner Umgebung nimmt derſelbe flüſſigen Nahrungsſtoff auf, aus demſelben bildet er durch chemiſche Proceſſe, die im Innern der Zelle beſtändig rege ſind, neue Stoffe, die er theils zur Ernährung und zum Wachsthum ſeiner Wandung verwendet, theils für zukünftige Bedürfniſſe in ſich aufbewahrt, theils als un - braubar gewordene Stoffe wieder ausſcheidet, um Statt deſſen aber - mals neue Stoffe aufzunehmen. In dieſem regen Spiel der Aufnahme und Ausſcheidung von Stoffen, der chemiſchen Bildung, Umbildung und Zerſetzung von Stoffen beſteht eigentlich das ganze Leben der Zelle und da die Pflanze eigentlich Nichts iſt, als die Summe vieler Zellen, die zu einer beſtimmten Geſtalt verbunden ſind , auch das Leben der ganzen Pflanze.

Bei der Ernährung und dem Wachsthum der Zellenwand laſſen ſich aber noch zwei verſchiedene Verhältniſſe unterſcheiden. Das Wachsthum nämlich iſt einmal dahin gerichtet den Umfang der Zelle zu verändern und zu vergrößern. Daher entſtehen nach und nach aus den Anfangs rundlichen Zellen gar verſchiedene Formen. Zunächſt, wenn ſie ſich dicht aneinander drängen, verlieren ſie ihre runden ge - bogenen Wände, drücken ſich gegenſeitig flach und erſcheinen dann wie ſehr unregelmäßige Bienenzellen oder auf einem zarten Durch - ſchnitt, wie vielſeitige Maſchen. (Taf. I. Fig. B, a.) Andere Zellen dehnen ſich mehr ſtellenweiſe aus und bilden Fortſätze oft ſehr zierlich als ſechsſtrahlige Sterne, oft ſehr unregelmäßig zu wunder - lichen Figuren. Noch andere Zellen werden flach indem ſie ſich von zwei Seiten abplatten, andere endlich werden mehr in die Länge aus -42 gedehnt und erſcheinen dann als Cylinder, oder Prismen, noch mehr geſtreckt, ſpindelförmig, oder gar als lange dünne Fäden. (Taf. I. Fig. 6, 7, 8, 9, 13, b.)

Bei allen dieſen Veränderungen der Form kann die Wand der Zelle die Dicke behalten, welche ſie urſprünglich hatte, immer bleibt ſie geſchloſſen und ringsum vollkommen zuſammenhängend. Es kommt aber meiſtens noch eine zweite Veränderung hinzu, die Ver - dickung der Wand. Dieſe kommt ſo zu Stande, daß ſich eine ganz neue Schicht zwiſchen dem Primordialſchlauch und der urſprünglichen Zellenwand auf die innere Fläche derſelben abſetzt. Das Eigenthüm - liche dabei iſt, daß dieſe neue Lage niemals eine gleichförmige überall zuſammenhängende Haut bildet, ſondern auf die mannigfaltigſte Weiſe unterbrochen erſcheint. Bald iſt ſie überall mit kleinen Löchern durchbohrt (Taf. I. Fig. 6; Taf. II. Fig. 8, b.), bald mit längern Spalten (Taf. I. Fig. 4.), bald erſcheint ſie als ein Netzwerk, bald iſt ſie ganz in ein ſpiralig aufgewundenes Band zerſchnitten (Taf. I. Fig. 5.), bald ſtellt ſie ſich nur unter der Form einzelner Ringe dar (Taf. I. Fig. 7). Man bezeichnet nach dieſer Erſcheinung der Ver - dickungsſchicht die Zellen als poröſe und Spaltzellen, als Netz -, Spiral - und Ring-Faſerzellen. Hat ſich auf dieſe Weiſe eine Verdickungs - ſchicht gebildet, ſo folgt häufig eine zweite und dritte, oft ſo weit, daß die ganze Zelle faſt ganz ausgefüllt wird. Es iſt leicht zu begreifen wie aus dieſen Veränderungen, in Verbindung mit den eben vorher erwähnten Formenſpielen aus einer ſo einfachen Grundlage wie die Zelle iſt, eine faſt zahlloſe Menge von Verſchiedenheiten des Gewebes hervorgehen kann, die wir denn auch in den Pflanzen verwirklicht finden. Dazu kommt noch, daß ſich häufig in der Zellenwand und ihren Verdickungsſchichten fremdartige Stoffe, z. B. Kalk, Kieſelerde u. ſ. w. ablagern, wodurch zahlreiche Abſtufungen in der Weichheit und Härte, in Zähigkeit und Sprödigkeit entſtehen.

Aber es bleibt hier erſt noch eine wichtige Eigenſchaft der Pflan - zenzelle zu erörtern, ehe wir zum Folgenden fortſchreiten dürfen. Wenn ſich in der Zelle der Nahrungsſtoff über ein gewiſſes Maaß hinaus43 vermehrt, ſo bilden ſich aus demſelben in ihr mehrere neue Zellen, Tochterzellen; ſie pflanzt ſich fort und in der Regel wird dann die Mutterzelle allmälig aufgelöſt und verſchwindet und 2, 4, 8 und mehr junge von ihr gezeugte Zellen treten an ihre Stelle. Der ganze Vorgang, den wir bei den Pflanzen Wachſen nennen, beſteht eben in ſeiner weſentlichen Grundlage aus einer ſolchen fortwährenden Fortpflanzung der Zellen, wodurch die Zahl der Zellen bis ins Un - glaubliche und Unzählbare vermehrt wird. Nach einer annäherungs - weiſe angeſtellten Berechnung bilden ſich zum Beiſpiel an einem ſehr ſchnell wachſenden Pilze, dem Rieſenboviſt (bovista gigantea), in jeder Minute 20,000 neuer Zellen.

Aber ſo zierlich auch die oben erwähnten Formen der Zellen ſich unterm Microſcop ausnehmen mögen, ſo intereſſant auch die Aufgabe für den Botaniker iſt, die Geſetze zu erforſchen, von denen die Bildung dieſer zahlloſen Verſchiedenheiten abhängt, ſo haben ſie doch zur Zeit für uns noch gar keine Bedeutung, wenn wir von dem Leben der ganzen Pflanze reden wollen und wir müſſen hier, alle jene Unter - ſchiede völlig überſehend, ganz andere Abtheilungen des Gewebes der Pflanzen aufzuſtellen ſuchen, die zum Theil gar nicht, zum Theil nur ſehr durchſchnittlich mit beſtimmten Zellenformen zuſammenfallen.

Jede noch in der Bildung begriffene Pflanze und jeder noch un - entwickelte Pflanzentheil beſteht ausſchließlich aus kleinen, zarten, rund - lichen Zellen. So verſchieden ſich auch dies Zellgewebe im Einzelnen ſpäter modificiren mag ſo ſind es doch nur zwei Portionen, welche ſich durch ihre ſpätere Entwicklung und ihre Bedeutung für das ganze Pflanzenleben, weſentlich von jener Grundmaſſe, die auch ſpäterhin in ausgebildetem Zuſtande das Hauptgewebe der Pflanzen bildet, unterſcheiden. Die Eine iſt die ganze äußere Zellenſchicht der Pflanze, welche ſich in Berührung mit Waſſer oder Erde, beſonders aber der Luft ausgeſetzt entwickelt. Dieſe Zellen ſchließen ſich ſo feſt aneinander, daß man ſie meiſtens als eine zuſammenhängende Haut von der Pflanze abziehen kann. Sie bedeckt ſich früher oder ſpäter mit einer dicken oder dünnen Schicht einer gleichartigen Subſtanz, welche44 noch einen feinen Ueberzug von Wachs oder Harz erhält und dadurch wird die Oberhaut völlig undurchdringlich für Flüſſigkeiten und ſelbſt unnetzbar, indem Waſſer davon wie von einer fettigen Subſtanz ab - läuft. Nur an gewiſſen Puncten bleiben zwiſchen den Zellen kleine Lücken, welche ins Innere der Pflanze führen. In dieſe Lücke lagern ſich gewöhnlich zwei halbmondförmige Zellen, die mit der ausgerun - deten Seite einander zugewendet ſind und ſo zwiſchen ſich eine Spalte laſſen, übrigens aber die Lücken vollig verſchließen. Dieſe Spalte, wodurch die Pflanze mit der Atmoſphäre communicirt und Gasarten und Waſſerdünſte aushaucht, verengert und erweitert ſich nach dem Bedürfniß. Man nennt dieſe Lücken mit den halbmondförmigen Zellen Spaltöffnungen und die ganze Zellenſchicht, in welcher ſie vorkommen, die Oberhaut der Pflanzen. (Taf. I. Fig. 12.)

In jedem lebhaft-vegetirenden Pflanzentheil findet aber auch ein beſtändiges Zuſtrömen von neuem Nahrungsſtoffe Statt, welcher von der Wurzel aufgenommen wird und deſſen überſchüſſiges Waſſer eben durch die Spaltöffnung verdunſtet. Dieſe Saftbewegung ver - wandelt die Streifen von Zellen, durch welche es mit beſonderer Lebhaftigkeit durchgeht in langgeſtreckte Zellen. Die meiſten derſelben werden ſtark verdickt, einige verlieren auch wohl plötzlich ihren flüſſi - gen Inhalt und nehmen ſtatt deſſen Luft auf, man nennt dieſe dann Gefäße (Luftgefäße) und ſo bilden ſich in der Maſſe des Zellgewebes Bündel langgeſtreckter Zellen und Gefäße, Gefäßbündel genannt (Taf. I. Fig. 13, b.), die dem unbewaffneten Auge wie derbe Faſern erſcheinen, welche das Pflanzengewebe durchziehen. Bei einer großen Pflanzenabtheilung, bei den Monocotyledonen, wozu Gräſer, Lilien, Palmen u. ſ. w. gehören, bleiben dieſe Gefäßbündel auf einer ge - wiſſen Stufe der Ausbildung ſtehen und verändern ſich ferner nicht. Bei einer andern Claſſe von Pflanzen dagegen, bei den Dicotyledo - nen, wozu unſere Waldbäume, Küchenkräuter und Gemüſe, ſo wie viele andere gehören, entſtehen fortwährend an der Außenſeite jedes Gefäßbündels neue Zellen, die ebenfalls zu Gefäßbündelzellen werden und ſo die Gefäßbündel fortwährend verdicken. In Folge deſſen45 ſchließen ſich dieſe nach und nach zu einem feſten Gewebe an einan - der, zu dem, was wir im gemeinen Leben Holz nennen (Taf. II. Fig. 8, 9, 10).

Fragen wir nach dem Verhältniß in welchem dieſe drei Theile der Pflanze zu den Bedürfniſſen des Menſchen ſtehen, ſo finden wir auch eine dreifache Verſchiedenheit. Die Oberhaut iſt in ihrem ge - wöhnlichen Zuſtande für den Menſchen ganz nutzlos, nur an peren - nirenden Pflanzen zumal an Bäumen entwickelt ſich aus derſelben die Borke, welche bei einigen Bäumen (z. B. bei der Korkeiche, quer - cus suber) ſehr weich und elaſtiſch, als Kork, einer ſehr ausgedehn - ten Anwendung fähig iſt. Die Gefäßbündelzellen werden durch die Subſtanz ihrer Zellenwände wichtig, theils als Baſt theils als Holz. Endlich das übrige Zellgewebe hat ſeine Bedeutung für uns faſt nur durch den Inhalt ſeiner Zellen.

Von allen Zellenformen ſind, wie bemerkt, die wichtigſten für den menſchlichen Haushalt ohne Zweifel die Holzzellen und die Baſtzellen. Die verſchiedenen Holzarten laſſen ſich bei großer Auf - merkſamkeit unter dem Microſcop ſelbſt an den kleinſten Abſchnitten noch unterſcheiden; der wichtigſte Unterſchied iſt freilich der zwiſchen Laub - und Nadelholz, welcher ſelbſt an verſteinertem Holze noch be - ſtimmt zu erkennen iſt. (Taf. II. Fig. 8, 9, 10.)

Die Baſtzellen ſind unter allen die längſten; ſie haben meiſt ſehr dicke, aber ſehr biegſame Wände (Taf. I. Fig. 8), ſelten mit poröſer oder ſpiraliger Zeichnung; nur an der Seidenpflanze, dem Oleander und verwandten Pflanzen findet man eine zarte ſpira - lige Streifung in der Wand. Alle übrigen Baſtzellen ſind unterm Microſcop nicht wohl zu unterſcheiden, ſo verſchiedenartig auch die Pflanzen ſind, von denen ſie genommen werden. Die Baſtzellen aber ſind es, welche wegen ihrer Länge und Biegſamkeit uns faſt allein das Material zu unſern Geweben und zu Seilerarbeiten liefern. Wie ſchon bemerkt, werden die verſchiedenartigſten Pflanzen zu die - ſem Zwecke benutzt. Bei uns iſt es hauptſächlich der Flachs und der Hanf, auf den Philippinen bedient man ſich des Baſtes aus den46 Blättern der Piſangarten, in Mexico liefern die Blätter einiger wil - den Ananas einen ähnlichen Stoff. In neuerer Zeit iſt für die eng - liſche Marine beſonders der ſogenannte neuſeeländiſche Flachs wich - tig geworden, welcher aus den Blättern eines lilienartigen Gewäch - ſes gewonnen wird. Eigenthümliche Zeuge werden ohne Spinnen und Weben auf den weſtindiſchen Inſeln aus dem Baſt des ſoge - nannten Spitzenbaums (Palo di laghetto der Spanier) und auf Otaheite aus dem des Papiermaulbeerbaums bereitet. Zu Stricken werden noch eine unendliche Menge von Pflanzen benutzt, indem faſt jedes Land ſeine eignen Pflanzen dazu anwendet. Durch die Güte eines Freundes in Berlin erhielt ich einſt ein Endchen Bind - faden, mit dem ein Weinkrug in Pompeji zugebunden geweſen war und fand zu meinem Erſtaunen, daß er aus den leicht erkennbaren Baſtzellen der Seidenpflanze (Asclepias syriaca) oder einer ver - wandten bereitet ſei, die, ſoviel bekannt, jetzt nirgends mehr zu die - ſem Zwecke angewendet werden.

Sehr verſchieden von dieſen Baſtfaſern iſt die Baumwolle, welche als Haarſchopf die Saamen der Baumwollenſtaude umgiebt. Dies ſind zwar auch ſehr lange, aber ganz dünnwandige Zellen, wes - halb ſie im trocknen Zuſtande zuſammengefallen ein plattes Band mit etwas rundlichen Rändern und nicht wie die Baſtfaſern einen über - all gleich dicken cylindriſchen Faden bilden (Taf. I. Fig. 9). Durch dieſen ſcharfen Unterſchied iſt man in den Stand geſetzt, jede Ver - miſchung des Leinens mit Baumwolle augenblicklich unter dem Mi - croſcop zu erkennen und ſelbſt an den Zeugen, mit denen die ägypti - ſchen Mumien umwickelt ſind, noch ihren Urſprung auszumachen. Beiläufig mag hier bemerkt werden, daß die Wollenfaſer (Taf. I. Fig. 11) und der feine Faden des Seidenwurmes (Taf. I. Fig. 10) ebenſo auffallende Merkmale darbieten, wie ein Blick auf die beige - gebene Tafel ſogleich zeigt, und in der That iſt das Microſcop vielleicht das einzige vollkommen ſichere Mittel, um jede Ver - miſchung dieſer verſchiedenen Fäden in einem Gewebe augenblicklich zu erkennen.

47

Wir haben nun zwar geſehen, daß die einfache Zelle in ihren verſchiedenen Formen die Grundlage aller Pflanzen in aller Mannig - faltigkeit ihrer Erſcheinungen ſey; was die Sache aber noch unend - lich viel merkwürdiger macht, iſt, daß dieſe Zellen, die überall auf dieſelbe Weiſe ſich gebildet haben und ſelbſt dann, wenn auch ihre ſpätere Form ganz dieſelbe bleibt, die Kraft haben, in ihrem Innern ſo ganz verſchiedene Stoffe zu erzeugen und dadurch der Natur ein Mittel an die Hand zu geben, um den Reichthum und die Schön - heit der Pflanzenwelt bis ins Unendliche zu vervielfältigen.

Es führt uns dies auf den eigenthümlichen Lebensproceß der Pflanzenzelle. Jede einzelne Zelle führt gleichſam ein geſondertes Leben für ſich. Ihre Wände ſind freilich nicht durchlöchert, aber den - noch dringt die Flüſſigkeit, die ſie zur Ernährung brauchen, ein. Dieſe beſteht aus Waſſer, Kohlenſäure, Ammoniakſalz und einigen andern aufgelöſten Salzen des Erdbodens. Dieſe von der Zelle auf - genommenen wenigen Stoffe werden nun durch ihre eigenthümliche Kraft mannigfach verändert und aus ihnen alle die verſchiedenen Materialien gebildet, wodurch die Pflanzen eben ſo ſehr für den äſthetiſchen Beſchauer wie für den Haushalt des Oekonomen ihren Werth erhalten.

Gar viele Zellen führen freilich einen farbloſen Saft, nament - lich alle Holz - und Baſtzellen, viele ſogar Luft, wie z. B. die ſo - genannten Gefäße. Andere aber zeigen in ihrem Innern die pracht - voll gefärbten Säfte, die den Blumen und Früchten den Reiz eines ſo lieblichen Farbenſchmelzes verleihen, oder anderen, ſonſt grünen, Pflanzentheilen das geſcheckte, fleckige Anſehen geben (Taf. II. Fig. 7). Dahin gehören alle Töne der rothen, blauen und gelben Farbe. Die grüne Färbung der Pflanzen beruht dagegen auf einem ganz anderen Verhältniſſe, denn niemals iſt der Saft der Pflanzen grün. Betrachtet man nämlich die Zellen, die dem unbewaffneten Auge grün erſcheinen, unter dem Microſcop, ſo ſieht man, daß ein - zelne Körnchen einer grünen Subſtanz (Chlorophyll oder Blattgrün) an der innern Wand der Zelle ankleben und ſo den grünen Schein48 hervorrufen. (Taf. I. Fig. 2, 13 c.). Die prachtvolle Farbe des Indigo iſt nichts weiter als eine eigenthümliche Modification dieſes grünen Farbeſtoffs, welche ſich beſonders in den Indigoarten (Indigofera tinctoria und anil), in dem Waid (Isatis tinctoria) und im Färbeknötreich (Polygonum tinctorium) bildet.

In einigen Zellen finden wir höchſt zierliche Kryſtalle ent - weder einzeln oder als nadelförmige Kryſtalle in Bündeln verei - nigt, oder zu mehreren in eine kleine Kryſtalldruſe zuſammengrup - pirt (Taf. II. Fig. 1).

Intereſſanter aber für den Menſchen iſt derjenige Inhalt der Pflanzenzellen, welcher ihm als nothwendige Nahrung, als wohl - thuende Erquickung oder als anregendes Gewürz dient, und nicht minder wichtig ſind auch diejenigen Stoffe, welche dem kranken Or - ganismus dargeboten, wieder die Fähigkeit herbeiführen der reichen Gaben einer ſchöpferiſchen Natur auf's Neue ungeſtört ſich freuen zu können. Dieſes Feld der Betrachtung iſt außerordentlich ausge - dehnt, aber noch lange nicht genügend angebaut; indeß zu einem inter - eſſanten Geſetz haben die bisherigen Forſchungen ſchon geführt, daß nämlich Pflanzen, welche in ihren äußeren Formen nahe verwandt ſind, auch in ihren gleichnamigen Organen gleiche oder doch nahe verwandte Stoffe erhalten. So giebt es ganze Pflanzenfamilien in denen alle Pflanzen bald mehr bald weniger giftig ſind wie die Nachtſchattenpflanzen, die Verwandten unſerer Kartoffel und unſeres Tabaks, und wieder andere die durchweg fade, geſchmacklos und ohne irgend eigenthümliche Stoffe ſind wie z. B. die Verwandten unſerer Gartennelken. Es würde hier zu weit führen alle einzelnen Stoffe und ihr Vorkommen in der Pflanzenwelt durchzugehen und es mag daher an einigen allgemeinen Bemerkungen und der genauen Betrachtung einiger beſonders intereſſanter Stoffe genügen.

Alle in den Pflanzenzellen vorkommenden Subſtanzen ſind ent - weder im Waſſer auflöslich oder nicht. Im erſten Falle giebt uns das Microſcop keinen Aufſchluß über dieſelben, da ſie im wäſſrigen Zell - ſaft verſchwinden, nur die Chemie kann dann ihre Gegenwart nach -49 weiſen. Hierzu gehören unter andern Eiweiß, Gummi, Zucker und die angenehmen Säuren unſerer Früchte, z. B. Aepfel - und Citronen - ſäure. Der Saft z. B. in den Zellen des Zuckerrohrs iſt vollkom - men klar und durchſichtig, erſt wenn er ausgepreßt iſt und abgedampft wird ſcheidet ſich der aufgelöſte Zucker aus.

Dagegen zeigen ſich die flüſſigen Oele recht deutlich unterm Microſcop, ſowohl die fetten, die in Geſtalt kleiner glänzender gelber Kügelchen im Zellſafte herumſchwimmen wie in dem Kern der Man - del, als auch die wohlriechenden (ätheriſchen) Oele, welche gewöhn - lich ganz allein in Einem großen Tropfen eine Zelle ausfüllen.

Zwei der wichtigſten Beſtandtheile in den Pflanzenzellen ſind aber der halbflüſſige, halbkörnige Schleim, welcher, aus einer ſtick - ſtoffhaltigen Subſtanz gebildet, die Zellen entweder ganz ausfüllt, oder neben Oel oder Stärkemehl vorkommt und dann dieſes Letztere ſelbſt. Gewiſſe ſtickſtoffhaltige Beſtandtheile bilden den eigentli - chen Nahrungsſtoff in den Pflanzen. Ein Theil derſelben kommt auf - gelöſt im Zellſafte vor, wie namentlich das Eiweiß, ein anderer und zwar der wichtigere Theil in kleinen ſchleimigen Körnchen. Wenn wir einen Durchſchnitt durch ein Weizen - oder Roggenkorn machen, ſo erkennen wir von Außen nach Innen unterm Microſcop ſehr ver - ſchiedene Lagen. Die äußern derſelben gehören der Frucht und Saa - menſchaale an (Taf. II. Fig. 2, a.) und werden beim Mahlen des Ge - treides als Kleie abgeſchieden. Aber der Mühlſtein trennt nicht ſo genau wie der Blick durch's Microſcop zu unterſcheiden vermag, nicht einmal ſo genau als das Meſſer des Pflanzenanatomen und ſo wird zugleich mit der Kleie auch noch die ganze äußere Zellenlage des Kerns und ſelbſt einige der darauf folgenden Schichten entfernt. Ein Blick auf die Abbildung der Taf. II. Fig. 2. zeigt aber ſogleich, daß die äußeren Zellen des Kerns einen ganz andern Inhalt haben als die innern Zellen, während dieſe ſehr viel Stärkemehl und nur ſehr wenig ſtick - ſtoffreiche Subſtanz enthalten, findet ſich in der äußern Zellenlage nur die letztere, die man bei den Getreidearten Kleber zu nennen pflegt und ſo erklärt ſich aus der anatomiſchen Unterſuchung eines ſolchenSchleiden, Pflanze. 450Getreidekorns ſehr leicht weshalb das Brod um ſo weniger nahrhaft iſt, je ſorgfältiger vorher die Kleie vom Mehl abgeſchieden war.

Der merkwürdigſte Stoff, den wir als Zelleninhalt antreffen, bleibt aber ohne Zweifel das Stärkemehl, nicht allein weil es bei der Er - nährung des Menſchen eine ſo weſentliche Rolle ſpielt, ſondern auch, abgeſehen davon, wegen der eigenthümlichen und meiſt zierlichen Ge - ſtalten, welche es unterm Microſcop zeigt, und welche auf einen hohen Grad innerer Organiſation deuten.

Es kommt in jeder Pflanze, in jedem Pflanzentheil vor, aber nur die Wurzeln, Knollen, Saamen und Früchte, und ſeltner (wie bei der Sagopalme) das Mark enthalten es in ſo großer Menge, daß man ſie als Nahrungsmittel benutzen kann, oder daß es der Mühe lohnt, das Stärkemehl daraus zu gewinnen.

Einer höchſt wunderbaren Eigenſchaft des Stärkemehls verdan - ken wir es, daß wir überall daſſelbe auch in der kleinſten Menge im Innern der Pflanze erkennen können. Es wird nämlich, wenn man es mit einer Auflöſung von Jodine befeuchtet, plötzlich prachtvoll violett-blau gefärbt.

Das Stärkemehl ſelbſt beſteht aus kleinen, glänzenden, durch - ſichtigen Körnern, die oft zu 20-30 in einer Zelle liegen. (Taf. II. Fig. 2, c.) Die einzelnen Körnchen zeigen nicht ſelten einen ſehr zu - ſammengeſetzten Bau. Sie beſtehen aus einem kleinen Kern, um den ſich eine größere oder geringere Zahl Schichten abgeſetzt hat. Da dieſe Schichten gewöhnlich an einer Seite dicker ſind als an der andern, ſo erſcheint deshalb der Kern auch nicht immer in der Mitte (Taf. II. Fig. 3). Aber nicht in allen Fällen iſt dieſer Bau ſo leicht zu erkennen wie bei den eiförmigen Körnchen unſerer Kartoffel oder des ächten weſtindiſchen Arrowroots (Taf. II. Fig. 5.), (auch dieſes iſt nichts als ein ſehr reines Stärkemehl) oder wie bei den flachen ſcheiben - förmigen Körnchen des oſtindiſchen Arrowroot (Taf. II. Fig. 6). Dafür zeigt ſich bei andern Pflanzen eine andere Eigenthümlichkeit, daß nämlich die Stärkekörnchen zu 2, 3, 4 oder mehreren mit einander vereinigt gleichſam zuſammengewachſen ſind. Am ſchönſten ſieht man51 dies in den Zwiebeln der Herbſtzeitloſe (Colchicum autumnale), und ähnlich tritt dieſelbe Form bei dem viel häufiger als das Aechte im Handel vorkommenden unächten weſtindiſchen Arrowroot auf (Taf. II. Fig. 6).

Ich habe ſo in kurzem, flüchtigem Umriß das ganze Innere der Pflanze gezeichnet. Wie einfach iſt der Bau, wie wenig verwickelte Verhältniſſe und wie unendlich ſind die Reſultate, welche die Natur durch dieſe einfachen Mittel erreicht! Die wenigen Andeutungen, die ich mir erlaubte über den Einfluß der Pflanzen auf das Wohlſeyn der Menſchen, ja ſelbſt auf die Möglichkeit ihrer Exiſtenz mögen ge - nügen; die vollſtändige Ausführung dieſes Themas würde hier zu weit führen; vollends aber der Reichthum und die Schönheit der Pflanzenwelt iſt der noch immer unerſchöpfte Vorwurf für alle Dichter aller Zeiten und aller Völker aber hier trete ich zurück, denn der trockne Ernſt der Wiſſenſchaft reicht nicht in jene heiteren Regionen.

4*[52]

Erklärung der Tafeln.

  • Taf. I. Alle Figuren ſind ſtark vergrößert.
  • Fig. 1. Zwei Zellen aus der Schneebeere. Man erkennt in jeder einen Zellenkern a. und zahlreiche Strömchen einer gelblichen ſchleimigen Subſtanz, welche von demſelben ausgehen oder zurückkehren. Bei einigen derſelben iſt die Richtung des Stromes durch einen Pfeil angedeutet.
  • Fig. 2. Zwei Zellen aus dem Blatte der Gartennelke. Man unterſcheidet die farbloſe Zellenwand, eine zarte, gelbliche, ſchleimige Auskleidung und einige größere durch Blattgrün gefärbte Körner.
  • Fig. 3. Eine Zelle aus derſelben Pflanze, welche mit einem Tröpfchen Salpeterſäure und etwas Jodtinktur befeuchtet war. Die grünen Körner ſind bräunlich geworden, die ſchleimige Auskleidung der Zelle iſt geronnen und hat ſich in Folge deſſen von der Wand der Zelle zurückgezogen und bildet ein loſes in derſelben liegendes Säckchen.
  • Fig. 4. Eine Netzfaſerzelle aus dem Blatte der breitblättrigen Gesnerie. (Gesneria latifolia).
  • Fig. 5. Eine[Spiralfaſerzelle] aus dem Blatte einer tropiſchen Orchidee (Pleurothallis ruscifolia).
  • Fig. 6. Eine poröſe Zelle aus der Knolle einer tropiſchen Orchidee (Ma - xillaria atropurpurea).
  • Fig. 7. Eine Ringfaſerzelle aus dem Stengel des italieniſchen Schilf - rohrs (Arundo Donax).
  • Fig. 8. Eine ſehr kurze Baſtfaſer (langgeſtreckte Zelle) aus dem Stengel des Flachſes.
  • Fig. 9. Ein Stückchen einer Baumwollenfaſer.
53
  • Fig. 10. Ein Stück eines Fadens roher Seide von einem Cocon.
  • Fig. 11. Ein Stückchen einer Faſer der Schaafwolle.
  • Fig. 12. Ein Stückchen der von einem Blatte der Gartentulpe abgezogenen Oberhaut. Sie beſteht aus länglichen, faſt ſechseckigen Zellen und zeigt auf dieſem Stückchen vier Spaltöffnungen (Athmungswerkzeuge der Pflanze a.).
  • Fig. 13. Ein zartes Schnittchen aus dem Stengel des italieniſchen Schilf - rohrs, ſo geſchnitten, daß eines der Gefäßbündel (der derben den Stengel durch - ziehenden Faſern) durch den Schnitt blos gelegt worden iſt. a. Zellen des Mar - kes. b. Gefäßbündel, beſtehend aus langgeſtreckten Zellen und zwar von Innen nach Außen auf einander folgend aus Ringfaſer -, einfachen Spiralfaſer -, poröſen - und Baſt-Zellen. c. Zellen der Rinde, die äußerſten enthalten einige durch Blatt - grün gefärbte Körnchen.
  • Taf. II. Alle Gegenſtände ſind ſtark vergrößert dargeſtellt.
  • Fig. 1. Einige Zellen aus einem Cactus, welche verſchiedene Formen von Kryſtallen enthalten, daneben einige freie Kryſtalle von noch andern Formen. Hier iſt zu bemerken, daß in der Natur dieſe ſämmtlichen Formen wohl niemals ſo nahe beiſammen vorkommen, als hier der Raumerſparniß wegen dargeſtellt iſt.
  • Fig. 2. Der äußere Theil eines feinen Querſchnittes durch ein Roggen - korn. a. Einige Lagen gelblicher zuſammengedrückter Zellen, welche die Schaale des Kerns bilden. b. Die äußere Schicht der Zellen des Kerns; dieſelben ſind ganz mit einer gelblichen, ſchleimig-körnigen Subſtanz angefüllt. c. Die innern Zellen des Kerns, welche faſt nur Stärkemehlkörnchen enthalten, und nur hin und wieder etwas von jener ſchleimig-körnigen Subſtanz, welche den ſog. Kleber des Mehls bildet und eigentlich der nahrhafteſte Beſtandtheil des Getreides iſt. Die beim Schroten abgeſtreifte Kleie umfaßt mindeſtens alle Schichten bis c., alle übrigen in das weiße oder feine Mehl übergehenden Zellen gleichen in Form und Inhalt den unter c. beſchriebenen.
  • Fig. 3. Stärkemehlkörner aus der Kartoffel.
  • Fig. 4. Desgleichen, das oſtindiſche Arrowroot bildend.
  • Fig. 5. Desgleichen, das ächte weſtindiſche Arrowroot bildend.
  • Fig. 6. Desgleichen, das gewöhnlich im Handel vorkommende unächte weſt - indiſche Arrowroot bildend. Seinen mediciniſchen Eigenſchaften nach ſteht dies letztere übrigens dem ächten ganz gleich.
  • Fig. 7. Ein Stückchen der äußern Zellenſchichten von dem rothgefleckten Blüthenſtiel der gründlich blühenden Veltheimie. Man erkennt ſogleich, daß die rothen Flecken aus kleinen Zellengruppen beſtehen, welche einen rothgefärbten Saft enthalten, während die benachbarten mit grün gefärbten Stoffen erfüllt ſind. Zugleich iſt dies ein ſchlagender Beweis dafür, daß die einzelnen Zellen ganz von einander unabhängig und ringsum geſchloſſen ſind, weil ſich ſonſt die verſchieden gefärbten Säfte mit einander vermiſchen müßten.
  • Fig. 8. Ein feines Längsſchnittchen vom Eichenholz, aus Holzzellen a. und poröſen Zellen b., ſogenannten Gefäßen des Holzes, beſtehend.
54
  • Fig. 9. Ein feines Querſchnittchen deſſelben Holzes. Man unterſcheidet leicht die kleineren aber ſehr dickwandigen Holzzellen a. von den ſehr großen aber verhältnißmäßig dünnwandigen Gefäßzellen b. auch auf dem Querſchnitt. Bei c. nimmt man noch einige Reihen eigenthümlicher Zellen wahr, vom Pflan - zenanatomen Markſtrahlen, vom Holzarbeiter Spiegelfaſern genannt, welche das Holz ſtrahlenförmig vom Marke bis zur Rinde durchziehen.
  • Fig. 10. Ein zartes Längsſchnittchen aus dem Holze der gemeinen Kiefer, beſtehend aus ſehr langgeſtreckten poröſen Holzzellen, aber dadurch ausgezeichnet, daß die Poren mit zwei Kreiſen einem größeren äußeren a. und einem kleineren inneren b. bezeichnet ſind, eine Eigenheit, die in ähnlicher Weiſe nur beim Nadel - holz vorkommt und es uns möglich macht dieſes auch noch aus der Braunkohle und im verſteinerten Zuſtande zu erkennen.
[55]

Dritte Vorlesung. Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe.

[figure]
Der Luft, dem Waſſer, wie der Erden Entwinden tauſend Keime ſich, Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten. (Fauſt. )[56][57]

Tief im Innern ſeines Gemüthes fühlt der Menſch, daß er ſeiner beſſern Natur nach nicht dieſer Körperwelt, die ihn umgiebt, ange - höre, daß eine Welt ſelbſtſtändiger lebendiger Geiſter ſeine eigentliche Heimath ſey, und gern ſchwingt er ſich in begeiſterter Ahnung auf in jene Regionen, die ihm als ſein wahres Heimathland erſcheinen. Kehrt er nun zurück von ſolchen Ausflügen, zu denen ihn das Gefühl ſeines Urſprungs die Flügel geliehen, wird er nach ſolchen Erhebungen wieder zurückverſetzt in die todte Welt ſchwerer Maſſen, ſo trennt er ſich unwillig nur von ſeinen ſchönen Bildern und gern trägt er zumal in der Jugend, wie des Individuums ſo des ganzen menſchlichen Ge - ſchlechts, das freie geiſtige Leben, das ihm verwandt, über auf die ihn umgebende Natur. Die jugendliche Phantaſie leiht dem Fels, dem Baume, der Blume einen ſie belebenden Genius und in dem Rollen des Donners hört ſie Gottes Stimme. Dem tritt dann die ernſte Wiſſenſchaft entgegen, ſie entkleidet die Natur von jenem be - geiſtigenden Zauber und unterwirft ſie dem blinden Fatum ausnahms - loſer Naturgeſetze. Zwar iſt ihr Ziel eben den Geiſt in ſeiner Selbſt - ſtändigkeit unabhängig von der Natur in ſeine Rechte einzuſetzen und über ſie in religiöſer Ahnung mit Bewußtſeyn das höchſte Weſen zu erheben, aber doch wird der Durchgang zu dieſem erhabenen Ziel von dem warmfühlenden Menſchen feindſelig empfunden und nur mit bit - term Schmerz trennt er ſich von den lebendigen Geſtalten, mit denen er ſeine Welt bevölkert hatte. Selten hat wohl Jemand dieſen Zwie - ſpalt, der noch nicht zur höhern Verſöhnung gediehen, ſchöner aus - geſprochen als Schiller in ſeinen Göttern Griechenlands.

58

Auch meine Lebensaufgabe iſt es, nach meinen Kräften an dieſer Entgeiſtigung der Natur zu arbeiten und es war mir in meiner frü - hern Vorleſung vergönnt, nachzuweiſen, wie die das ſinnige Gemüth ſo lebendig anſprechende Formenwelt der Pflanzen, ihr ſo geheimniß - voll ſcheinendes ſtilles Weben und Wirken ſich vor dem Auge des beſonnenen Naturforſchers auflöſt in chemiſch-phyſicaliſche Proceſſe, die an und in einem unſcheinbaren Bläschen, der Pflanzenzelle, vor ſich gehen. Aber die ganze Pflanze iſt nicht eine einzelne Zelle, ſon - dern nur aus ſolchen zuſammengeſetzt, und zwar nach einer ſo be - ſtimmten Regel zuſammengeſetzt, daß ſeit Jahrtauſenden auf allen Puncten der Erde dieſelben feſtſtehenden Formen wiederkehren. Es fragt ſich nun allerdings, ob denn auch dieſes Zuſammentreten der Zellen zu ganzen Pflanzen beſtimmten Naturgeſetzen unterworfen ſey? Ehe man aber zur Beantwortung dieſer Frage geht, muß man die Art und Weiſe, wie ſich gewiſſe Pflanzenformen in der Natur erhal - ten, mit einem Worte die Fortpflanzung der Vegetabilien genauer ins Auge faſſen.

Es ſey mir verſtattet, mich dieſer Aufgabe auf einem Umwege zu nähern. Am zweckmäßigſten laſſen wir uns hier von einer Ueber - ſicht der Maſſen animaliſchen Lebens auf der Erde leiten. Wohin immer den Menſchen ſeine Noth, Eigennutz oder edler Forſchungstrieb führt, begleitet ihn das thieriſche Leben. Auf dem Meere umſpielt ihn die gewandte Schaar der Gefährten des Nereus, der Pilot gleitet ſeinem Schiffe voran und der gefräßige Hai folgt ihm, der Beute ge - wärtig. Auf dem Lande überall regt ſich um ihn, friedlich oder feind - lich zu ihm geſtellt, der Thierwelt mannigfaches Formenſpiel. In dem beeiſten Norden begleitet ihn der treue Hund, das nützliche Rennthier, fängt er ſich den Kleidung, Nahrung und Licht gebenden Seehund, ſtellt ſich ihm der Eisbär zum wilden Kampfe entgegen. Unter den ſenkrechten Strahlen der glühenden Sonne droht ihm der ſcharfe Zahn der großen Katzen, umſpielt ihn die ſchlanke Gazelle, bietet ihm was wiederkäut und die Klauen ſpaltet Nahrung und Kleidung dar. Auf den ſtarrenden Schneeflächen des Chimboraſſo umflatterte59 noch der Schmetterling Humboldt und ſeine Gefährten und noch weit über ihnen in unberechenbarer Höhe ſchwebte der rieſige Condor. Selbſt unter der feſten Decke, die wir betreten, wühlt der Wurm ſeine dunkeln Gänge. Und dieſe ganze Maſſe des Lebendigen, der Menſch ſelbſt nicht ausgeſchloſſen, lebt nur auf Koſten der ſchon fertigen or - ganiſchen Subſtanz, die ihm Pflanzen - und Thierwelt darbieten. Kein einziges lebendiges Geſchöpf, welches wir dem Thierreich bei - zählen, kann ſich durch unorganiſche Nahrung erhalten. Die wenigen Beiſpiele, die uns bekannt geworden, die Erde freſſenden Otomaken, die Thonkugeln verſchlingenden Neger, deren Humboldt gedenkt, die Beiſpiele, daß Menſchen in Hungersnoth ſogenanntes Bergmehl gegeſſen, oder, wie Ehrenberg kürzlich bei den Finnländern nachge - wieſen, die Kieſelpanzer foſſiler Infuſorien verzehrt haben, ſind durch genaue phyſiologiſche Forſchungen dahin beſchränkt, daß dieſe unor - ganiſchen Stoffe nicht als Nahrung, ſondern nur als Abſtumpfungs - mittel für den gereizten Zuſtand des Magens anzuſehen ſind.

Aber gehen wir in eine frühere Periode unſerer Erde zurück, ſo zeigen ſich Maſſen von lebenden Weſen, die früher unſern Erdball bevölkerten, von denen wir kaum uns einen Begriff machen können, und, worauf ich hier gleich aufmerkſam machen will, faſt nur Thiere, die auf vegetabiliſche Nahrung angewieſen waren. Die großen Heer - den von Mammuths, die die ausgedehnten Flächen Sibiriens durch - zogen, die zahlloſen Ueberbleibſel rieſengroßer Ochſen, Schaafe, Hirſche, Schweine und Tapire laſſen uns auf einen ungeheuren Ver - brauch von Pflanzenmaſſen in früheren Zeiten der Erde ſchließen. Und doch iſt Alles, was uns über die Zahl der größern Thiere der untergegangenen Welt aufklären kann, noch verſchwindend klein gegen die Maſſen unſcheinbarer Geſchöpfe, die uns aufbewahrt ſind. Die ganzen, theils noch beſtehenden, theils durch ſpätere Fluthen zerſtör - ten Bergketten, z. B. von Rügen bis zu den däniſchen Inſeln, die weißen Kreidefelſen, die England den Namen Albion gaben und die ſich durch Frankreich bis ins ſüdliche Spanien ziehen, die ſämmtlichen Kreideberge Griechenlands, denen unter Anderm Creta ſeinen Namen60 verdankt, beſtehen nach Ehrenbergs Unterſuchungen nur aus den Schaalen kleiner Muſcheln und Schnecken, theils zerſtört, theils wohl erhalten. Ja wenden wir uns an die kleinſten Geſchöpfe, die die Natur aufweiſt, Weſen, die durch die Menge der Individuen das erſetzen, was dem Einzelnen an Maſſe abgeht, Thierchen, die ſo klein, dem unbewaffneten Auge faſt unſichtbar, auch die meiſten von ihnen ſind, doch einen weſentlichen Zweck im Leben der ganzen Natur er - füllen, ſo erlahmt die Phantaſie gänzlich an den nur in abſtracten Zahlen auszuſprechenden Mengen. Großes Aufſehen hat mit Recht Ehrenbergs Entdeckung der foſſilen Infuſorien gemacht, denn hier verſagt uns die Anſchauung jedes Bild, um uns die Vorſtellung ſol - cher Mengen erfaßbar näher zu bringen. In einem Cubikzoll des Biliner Polirſchiefers befinden ſich in runder Zahl 41,000 Millionen Thiere, das ganze Lager hat aber 8 10 Quadratmeilen Ausdeh - nung und eine wechſelnde Mächtigkeit von 2 15 Fuß.

Ueberblicken wir nun dieſe ganze Thierwelt ſpecieller, ſo finden wir zwei große Abtheilungen, je nachdem ſich die Arten von Pflanzen oder von Thieren nähren. Die letztern ſind der Artenzahl nach bei weitem die wenigſten und die einzelnen Arten zeigen eine geringe In - dividuenzahl. Zahllos ſind dagegen die Arten der Pflanzenfreſſer und nach wenn auch übertriebenen Berechnungen neuerer Werke ſoll man allein 560,000 Inſectenarten, von denen der größte Theil zu den Pflan - zenfreſſern gehört, als auf der Erde lebend und verbreitet annehmen dürfen. Aber nicht genug, ganz allgemein ſind auch alle Arten der Pflanzenfreſſer an Individuenzahl den Fleiſchfreſſern überlegen. Alle großen Pflanzenfreſſer leben geſellig in zahlloſen Heerden und jeder Controle ſich entziehend ſind beſonders die Schwärme der Inſecten, die durch ihre Menge und ungeheure Gefräßigkeit das erſetzen, was ihnen an körperlicher Größe abgeht; allein die deutſche Eiche muß 70 verſchiedene Inſecten ernähren.

Für alle dieſe hungrigen Gäſte mußte die Natur den Tiſch decken, als ſie die Pflanzen hervorrief, und wollte ſie ihre eine Schöpfung, die Thierwelt, nicht untergehen laſſen, ſo mußte ſie die Vermehrung61 der Pflanzen auf eine ſolche Weiſe ſicher ſtellen, daß ſie, jedem ſchäd - lichen und ſtörenden Einfluſſe entzogen, einen allgemeinen Mangel ganz unmöglich machte.

Daß hierbei es nicht auf eine einfache, feſtbeſtimmte Form der Vermehrung ankommen durfte, wie bei den höheren Thieren, iſt für ſich klar und zeigt ſich noch um ſo mehr, wenn wir beachten, daß der Menſch und die meiſten Thiere gerade auf diejenigen Pflanzentheile bei ihrer Nahrung angewieſen ſind, die wir gewöhnlich für die ein - zigen Vermehrungsorgane der Pflanzen nehmen, ich meine die Saamen.

Gleichwohl bot ſich dem forſchenden Blicke des Menſchen zuerſt die Beobachtung dar, daß die meiſten Pflanzen gewiſſe Organe bil - den, aus denen ſich unter Umſtänden eine neue Pflanze entwickelt, welche man bei den größeren ſchon fertig angelegt von einigen Hüllen umſchloſſen, im Saamen, erkennen konnte. Nahe lag hier die Ver - gleichung mit einem Ei, in welchem der Keim ſchon zum jungen Thiere, zum Embryo, gezeitigt iſt. Aber man blieb dabei nicht ſtehen. Schon früh bemerkte man, daß es bei manchen Pflanzenarten zwei verſchiedene Formen von Individuen gebe, von denen nur die eine Form den Saamen trägt, wie beim Hanf (Cannabis sativa), der Dattelpalme (Phoenix dactylifera), den Piſtacien (Pistacia lentis - cus). Ebenfalls ſehr früh machte man die Beobachtung, daß die Saamen der einen Pflanze gar nicht zur Ausbildung kommen, wenn nicht ein Exemplar von der anderen Form in ihrer Nähe wächſt und gleichzeitig blüht. Schon Theophraſt und Plinius berichten, daß die Landleute, die ſich mit der Cultur der Datteln beſchäftigen, Blüthen - zweige des einen Baums zwiſchen die Blüthenzweige des ſaamen - tragenden aufhängen, um ſo die Entwicklung der Saamen und Früchte hervorzurufen. Kämpfer erzählt uns, daß bei einem Einfall der Türken in Baſſora die Einwohner den Feind allein dadurch zur Rückkehr ge - zwungen hätten, daß ſie ſchnell alle Palmenbäume der einen Art abge - hauen, ſo daß die andern unfruchtbar geworden ſeyen, wodurch dem Feinde das einzige Nahrungsmittel entzogen ſey. Noch auffallender erſcheinen die zuerſt von Micheli an einer italieniſchen Waſſerpflanze62 (der Vallisneria spiralis) wahrgenommenen Vorgänge. Die Pflanze hat zwei verſchiedene Arten von Blüthen; die einen, in welchen ſich die Saamen entwickeln, ſind lang geſtielt und erheben ſich an die Ober - fläche des Waſſers, die anderen ſind aber kurz geſtielt und dadurch am Grunde gefeſſelt. Zu einer beſtimmten Zeit reißen ſich dieſe Letzteren vom Stiele los, erheben ſich an die Oberfläche und ſchwimmen zu den andern Blumen hin, die dann erſt fähig werden, ihre Saamen zu entwickeln.

Die noch durch keine genaue wiſſenſchaftliche Beobachtung in Schranken gehaltene Phantaſie war gleich bei der Hand, aus dieſen beiden Blumen Mann und Weib zu machen und den geheimen Zug der Liebe, der die Menſchenbruſt beſeligt, auch auf die angeführten Naturerſcheinungen zu übertragen. Kaum war der Gedanke in An - regung gebracht, ſo bemächtigte ſich die Wiſſenſchaft deſſelben, führte ihn ins Einzelne für alle Pflanzen aus, und noch heute nennen wir darnach die Linné'ſche Anordnung der Pflanzen das Sexualſyſtem.

Leider tritt dieſen ſchönen, beſonders von Dichtern oft ſo zart ausgeſponnenen Träumen die beſonnene Wiſſenſchaft mit ihren neuern Entdeckungen entgegen und weiſt nach, daß von allen dieſen erträum - ten Aehnlichkeiten mit den ganz anders organiſirten Thieren durchaus auch nichts gegründet ſey. Es war insbeſondere der Antheil, den ich an der Fortbildung der Botanik genommen habe, der dieſes Reſultat zu Tage legte.

Um aber den wirklichen Vorgang bei der Vermehrung der Ge - wächſe kurz ſchildern zu können, muß ich an das erinnern, was mir in einer frühern Vorleſung vorzutragen vergönnt war. Ich hatte nämlich bemerkt, daß unter Anderm der einzelnen Pflanzenzelle auch das Vermögen zukomme, in ihrem Innern neue Zellen zu bilden und ſo gleichſam ſich fortzupflanzen. Die neu entſtandenen Zellen haben aber immer zugleich die Eigenheit, daß ſie ſich der Zelle, in der ſie entſtanden, conform ausbilden und anordnen. Dadurch nun iſt bei allen Pflanzen die Möglichkeit gegeben, daß ſich aus jeder von ihren Zellen, wenn dieſe in begünſtigende Verhältniſſe verſetzt wird, eine63 neue Pflanze entwickeln könne, und darin iſt die Leichtigkeit, mit der ſich faſt alle Pflanzen vermehren laſſen, begründet.

Man kann hier aber noch ſehr verſchiedene Stufen unterſcheiden nach den verſchiedenen Verhältniſſen, unter denen die Natur die Ent - wicklung der einzelnen Zelle zu einer neuen Pflanze möglich macht.

1) In der ganz allgemeinen Form, wie ich das Geſetz eben aus - geſprochen, kommt die Sache nur höchſt ſelten vor, weil nur in ſehr ſeltenen Fällen das nothwendige Zuſammentreffen aller begünſtigenden Verhältniſſe eintritt. Indeß giebt es doch in der That einige ſo auf - fallende Beiſpiele der Art, daß Blätter einer Pflanze auf der Erde und ſelbſt im Herbarium ſich plötzlich ganz mit Knoſpen, was eben ſo viel heißt als mit Anlagen zu neuen Pflanzen, bedeckt haben, daß man an der Gültigkeit des Geſetzes nicht mehr zweifeln darf.

2) Gar häufig kommen dagegen Beiſpiele vor, in denen eine etwas beſchränktere Anwendung des Geſetzes Statt findet, indem nämlich ganz beſtimmte Stellen an Blättern dazu gebracht werden können, junge Pflänzchen hervorzubringen. Wenn man z. B. ein Blatt von Bryophyllum calycinum auf feuchte Erde legt, ſo entwickeln ſich aus allen Einkerbungen des Blattes junge Pflanzen, die nur der außerordentlichen Entwicklung einzelner beſtimmter Zellen des Blattes ihr Daſeyn verdanken können (vergl. Taf. III. Fig. 5). Aehnliches findet an der Bruchfläche abgepflückter Blätter bei den ſchönen ſchar - lachroth blühenden Echeverien und bei vielen andern aus der Gruppe der ſogen. Fettpflanzen, ſowie bei den Orangenbäumen Statt. Unſere Gärtner benutzen dieſe Erſcheinung zur Vermehrung dieſer Gewächſe, und ſchon im Mittelalter reiſte ein Italiener Mirandola umher und brüſtete ſich mit der geheimen Kunſt, aus Blättern Bäume zu ziehen. Bei den prachtvollen Gesnerien darf man nur eine der dicken Adern des Blattes einknicken und nach acht Tagen hat ſich an der Bruchfläche ein neues junges Pflänzchen erzeugt.

3) Bei noch andern Pflanzen geſchieht es, daß ſich ganz regel - mäßig und von ſelbſt ſchon an den Blättern, die noch am Stengel feſtſitzen, kleine Knöllchen bilden, auf deren Spitze eine Knospe, aus64 deren unterm Theile Wurzeln hervortreten um ſo eine neue Pflanze darzuſtellen. Beſonders findet ſich dieſe Eigenthümlichkeit bei vielen Farnkräutern und Aroideen, den Verwandten unſerer ſogenannten Calla (richtiger Richardia) aethiopica. Zwar iſt hier immer noch der Sitz dieſer Knollen und Knospenbildung ein nicht ganz beſtimmter, aber doch ſchon in ſo fern ein geſetzmäßiger, als gewiſſe Stellen des Blattes, namentlich die Winkel der Adernvertheilung, ausſchließlich die Fähigkeit ſolche Knospen zu bilden beſitzen. Sobald nun ein ſolches Blatt im natürlichen Laufe der Vegetation abſtirbt, fallen jene Knollknospen, die allein lebenskräftig bleiben, auf den Boden und wachſen hier zu ganzen vollſtändigen Pflanzen aus. Hier tritt alſo auch ſchon eine wirkliche natürliche Fortpflanzung oder Vermehrung der Individuen ein, worauf es uns zunächſt vorzugsweiſe ankommt.

4) Schon bei weitem mehr an beſtimmte Bedingungen gebunden iſt das folgende Verhältniß. Eigentlich beſteht die einfache Pflanze nur aus einem einfachen Stengel und ſeinen Blättern; in dem Win - kel der Blätter bilden ſich aber ganz regelmäßig beſtimmte Zellen zu Knospen aus (Taf. III., Fig. 3). Eine Knospe iſt nun im Grunde weiter nichts als eine Wiederholung der Pflanze, an der ſie ſich bil - dete. Eine neue Pflanze der Anlage nach beſteht ſie ebenfalls aus Stengel und Blättern und der Unterſchied iſt nur der, daß der Stengel der Knospe an ſeinem Grunde aufs Innigſte mit der Mutterpflanze verwachſen, kein freies Wurzelende hat, wie es die aus einem Saamen entwickelte Pflanze zeigt. Indeß iſt dieſer Unterſchied ſo groß nicht wie er auf den erſten Anblick ſcheint. Jede höher organiſirte Pflanze beſitzt nämlich die Fähigkeit, unter dem begünſtigenden Einfluß der Feuch - tigkeit aus ihrem Stengel hervor Nebenwurzeln zu treiben und ſehr häufig muß eine Pflanze, auch wenn ſie aus dem Saamen gezogen wird, ſich ganz mit ſolchen Nebenwurzeln begnügen, da es in der Natur vieler Pflanzen z. B. der Gräſer liegt, daß ihre eigentliche Wurzel, wenn ſie ſchon der Anlage nach vorhanden iſt, doch niemals zur Entwicklung kommt.

Wir ſind nun freilich gewohnt, uns die Sache ſo zu denken,65 als ob ſich die Knospen immer an der Pflanze ſelbſt und mit ihr in Verbindung zu Zweigen und Äſten entwickeln müßten und wir ſehen ſie denn auch im gewöhnlichen Leben als Theile einer Pflanze und nicht als ſelbſtſtändige Pflanzen an, was ſie doch in der That ſind, obwohl ſie, gleichſam wie Kinder die noch im Vater - hauſe blieben, in der engſten Verbindung mit der ſie erzeugt habenden Pflanze verharren. Daß ſie aber wenigſtens der Mög - lichkeit nach vollkommen ſelbſtſtändige Pflanzen ſind, zeigt ein Ver - ſuch der bei der nöthigen Sorgfalt häufig gelingt, nämlich das Abbrechen und Ausſäen der Knospen unſerer Waldbäume. Ebenſo beruhen hierauf die bekannten Gartenoperationen des Pfropfens und Oculirens und das Ziehen von Abſenkern und Stecklingen unterſchei - det ſich von dem erwähnten Ausſäen der Knospen nur dadurch, daß man dieſelben erſt an der Mutterpflanze bis zu einer gewiſſen Reife der Entwicklung kommen läßt, ehe man ſie vom Stamme trennt. Alles beruht hier auf der Leichtigkeit mit der dieſe Knospen-Pflanzen Nebenwurzeln treiben (ſich bewurzeln) ſo bald ſie mit feuchter Erde in Berührung kommen.

Aber weit entfernt, daß nur der Menſch allein hier eine ſolche künſtliche Vermehrung der Pflanzen erzwänge, ſo benutzt vielmehr die Natur außerordentlich häufig dieſes Mittel um die Vervielfältigung gewiſſer Pflanzen ſelbſt in ungemeſſener Menge hervorzurufen. Selten iſt hier der Vorgang dem künſtlichen Ausſäen der Knospen ähnlich indem die Pflanze zu beſtimmter Zeit die gebildeten Knospen freiwillig abſtößt, wie das zum Beiſpiel bei der Feuerlilie unſerer Gärten mit den kleinen zwiebelähnlichen Knospen, die in den Winkeln der oberen Blätter ſich zeigen, geſchieht. Gewöhnlicher iſt der Vorgang folgen - der: die Knospen an einer Pflanze, welche ſich dem Erdboden nahe gebildet haben, wachſen aus, alſo zu einem Zweige mit Blättern; der Zweig ſelbſt aber wird ganz lang, dünn und zart, die Blätter erſcheinen verkümmert als kleine Schuppen, in ihren Winkeln da - gegen entwickeln ſich kräftige Knospen, welche ſich in demſelben oder doch im nächſten Jahre bewurzeln und dadurch daß der dünne ſie mitSchleiden, Pflanze. 566der Mutterpflanze verbindende Zweig abſtirbt und verweſt, zu freien ſelbſtſtändigen Pflanzen werden. Auf dieſe Weiſe überzieht unſere Erdbeere (Taf. III. Fig. 4.) in kurzer Zeit einen ganzen nicht ange - bauten Garten; in dieſer Weiſe faſt allein vermehrt ſich die Kartoffel, denn dieſe nützliche Knolle iſt nichts als eine in der Erde gebildete große fleiſchige Knospe; in ähnlicher Weiſe endlich bedeckt die kleine ſelten blühende und Saamen tragende Waſſerlinſe (Entenflott) im Frühjahr in kurzer Zeit unſere Gräben und Teiche mit Tauſenden von Individuen. Zahlreiche ähnliche Beiſpiele ließen ſich noch an - führen, es mögen indeſſen dieſe als die nächſtliegenden hier genügen. In merkwürdiger Beziehung ſteht aber dieſe Fortpflanzung durch Knospen zu der weiter unten anzuführenden Vermehrung durch Saamen, indem man die durchſchnittlich gültige Regel aufſtellen kann, daß ſich eine Pflanze um ſo mehr durch Knospen vervielfältigt je weniger ſie reifen Saamen entwickeln kann und umgekehrt; die Natur hat hier gleichſam dafür geſorgt, daß unter allen Umſtänden die Pflanzen erhalten werden ſollen.

5. Alle die bis jetzt angeführten Vermehrungsweiſen der Pflan - zen kann man als die unregelmäßige Fortpflanzung zuſammenfaſſen und ihnen die regelmäßige Fortpflanzung gegenüberſtellen, welche im We - ſentlichen folgende Erſcheinungen zeigt. Jede Pflanze bildet nämlich in ihrem Innern eine beſtimmte Menge einzelner loſer, mit einander nicht verbundener Zellen, die zu einer gewiſſen Zeit ſich von der Pflanze frei - willig trennen. Eigen iſt, daß bei den Pflanzen, die wirkliche Blätter haben, ſich dieſe Zellen nur im Innern der Blätter ausbilden, wobei aber die Blätter oft eine ſehr abweichende Geſtalt annehmen, wie z. B. die Staubfäden. Auch iſt noch ein anderes Verhältniß merkwürdig. Nur bei den niedrigſten ſowie bei den ganz unter Waſſer blühenden Pflanzen iſt die Fortpflanzungszelle nackt (Taf. III. Fig. 1.), bei allen Andern iſt ſie von einer ganz eigenthümlichen, chemiſch noch nicht erforſchten, meiſt gelb ausſehenden, äußerſt ſchwer zerſtörbaren Subſtanz überzogen. Dieſe Subſtanz nimmt oft ganz wunderbare Formen an. Oft gleichen ſie kleinen Wärzchen, oft Stacheln, oder ſie67 bilden kleine vorſpringende Leiſten, Bogengänge, Feſtungsmauern mit Thürmchen und ſo weiter. Aber auch nicht die leiſeſte Andeutung hat uns bis jetzt die Natur über den möglichen Zweck dieſer Formenſpiele gegeben. So zierlich ſie ſind, ſo völlig unnütz ſcheinen ſie zu ſeyn. Fritſche in Petersburg hat in einem eignen Werke eine große Menge der niedlichſten Formen abgebildet. Jene Zellen ſind nun vorzugs - weiſe zur Vermehrung beſtimmt, indem ſich aus jeder Einzelnen eine neue Pflanze entwickelt. Es kommt bei dieſer Entwicklung aber noch eine weſentliche Verſchiedenheit vor, die man ſchon früh bemerkte und an der man ſo feſthielt, daß man darüber die höhere Uebereinſtim - mung ganz überſah. Es finden nämlich folgende beiden Entwick - lungsweiſen Statt:

A. In dem einen Falle werden die zur Vermehrung beſtimmten Zellen gleich dorthin auf den Boden oder in das Waſſer verſtreut, wo die neue Pflanze wachſen ſoll. Entweder bildet ſich dann die ganze Zelle allmälig zu einer neuen Pflanze um, indem in ihr neue Zellen entſtehen und an ihre Stelle treten, in dieſen abermals und ſo fort, wie dies bei den Algen (Taf. III. Fig. 1.), Pilzen, Flechten und einem Theil der Lebermooſe der Fall iſt, oder die Zelle dehnt ſich in einen länglichen Schlauch aus und nur das Ende dieſes Schlauches füllt ſich mit Zellen die allmälig zur neuen Pflanze heranwachſen, während der übrige Theil der Zelle allmälig abſtirbt. Dies iſt denn der Fall bei den übrigen Lebermooſen, den Laubmooſen, Farn - kräutern, Bärlapparten und Schachthalmen. Ein Beiſpiel dieſer letzten Entwicklungsweiſe bieten uns in jedem Treibhauſe die Farnkräuter, welche hier faſt immer keimend zu finden ſind. (Vergl. Taf. III. Fig. 2.)

Dieſe ſämmtlichen hier genannten Pflanzen bezeichnete Linné als Kryptogamen, oder verborgen blühende, weil er fälſchlich voraus - ſetzte daß ihnen das im folgenden zu erwähnende zweite Organ der Fortpflanzung die Saamenknospe keineswegs fehle, ſondern nur ſo klein und verſteckt ſey, daß man es bisher nicht habe auffinden können. In der That iſt es aber gar nicht oder nur in unweſentlichen5*68Andeutungen vorhanden. Bei allen dieſen Kryptogamen nennt man die Fortpflanzungszellen Sporen oder Keimkörner.

B. Anders aber verhält ſich die Sache bei denjenigen Pflanzen, die man mit Linné Phanerogamen oder offenbar blühende nennt. Die Ver - mehrungszellen, die hier Pollen oder Blüthenſtaub genannt wer - den, bilden ſich in eigenthümlich veränderten Blättern, die Staub - fäden heißen. Neben dieſen Staubfäden finden ſich aber in den Blüthen auf derſelben Pflanze oder auf verſchiedenen Pflanzen noch andere Organe. Dieſe beſtehen im Weſentlichen aus einem hohlen, meiſt birnförmigen Körper, der nach oben eine kleine Oeffnung hat. Man nennt ihn Fruchtknoten und die Oeffnung Narbe. In der Höhle be - finden ſich kleine aus Zellgewebe beſtehende Knöpfchen, die Saamen - knospen, denen man früher den ſehr unpaſſenden Namen Eierchen gegeben hatte. In jeder Saamenknospe zeigt ſich eine außerordentlich große Zelle, die man den Embryoſack (Keimſäckchen) nennt. Zur Zeit der Blüthe nun fällt der Blüthenſtaub auf die Narbe, und hier fängt die Entwicklung der Fortpflanzungszellen an. Jede von ihnen dehnt ſich lang und fadenförmig aus, gerade wie bei den Kryptogamen, und dringt dabei in dieſer Form erſt in die Höhlung des Fruchtknotens und dann in eine der Saamenknospen und zwar bis in den Embryoſack hinein. Das eingedrungene Ende nun füllt ſich mit Zellen und dieſe ent - wickeln ſich dann zu einem vollſtändigen, obwohl noch einfachen und kleinen Pflänzchen, dem ſogenannten Embryo oder Keim. (Vergl. Taf. III. Fig. 6 9.) Gleichzeitig mit der Ausbildung der Pollen - zelle zur Keimpflanze entwickelt ſich auch die Saamenknospe zum Saamen, der Fruchtknoten zur Frucht. Nun tritt plötzlich ein Still - ſtand im Wachsthum ein und der Saame kann oft lange in dieſem Zuſtande von Scheintod aufbewahrt werden. So wie aber begünſti - gende Einflüſſe von Außen hinzutreten, beginnt das Leben von Neuem und es zeigt ſich die weitere Entfaltung der Pflanze, die wir gewöhn - lich Keimen nennen. (Taf. III. Fig. 10 12.) Wie lange dieſe Lebenskraft im Saamen ſchlummern kann, geht daraus hervor, daß der verſtorbene Graf von Sternberg (wie ſpäter ein Engländer)69 aus Weizenkörnern, die in einem Mumienſarge gefunden waren, die alſo an 3000 Jahre geruht hatten, ſehr geſunde Weizen - pflanzen erzog und dieſe der Verſammlung der Naturforſcher in Freiburg vorlegte.

Bei den Kryptogamen genannten Pflanzen iſt es von ſelbſt klar, daß die Vermehrung der Pflanzen vollſtändig geſichert iſt, indem die Sporen, die noch dazu in ungeheurer Anzahl vorhanden ſind, ſogleich auf den Boden fallen, in welchem ſie ſich vollſtändig entwickeln ſollen. Bei den Phanerogamen iſt die Sache indeß ſcheinbar nicht ſo ganz ſicher. Freilich ſtehen in ſehr vielen Blüthen der Fruchtknoten und der Staubfaden ſo nahe beiſammen geſellt, daß der Blüthenſtaub den Ort, an dem er ſeine Entwickelung beginnen ſoll, die Narbe, ſchein - bar nicht verfehlen kann. Dieſe räumliche Beziehung genügt indeß allein noch nicht, es müſſen auch beide Theile, Staubfäden und Frucht - knoten oder richtiger Blüthenſtaub und Narbe, gleichzeitig auf gleicher Stufe phyſiologiſcher Entwicklung ſtehen; wenn der Staubbeutel aufſpringt, wenn der Pollen ausfällt, muß die Narbe auch bereit ſeyn ihn aufzufangen und ſeine Entwicklung hervorzurufen. Dieſes findet nun aber in gar vielen Blüthen nicht Statt, vielleicht bei Weitem öfter als man gewöhnlich glaubt geht der Blüthenſtaub für die Narbe derſelben Blume verloren weil ſie noch nicht weit genug ausgebildet iſt oder im Gegentheil ſchon im Abſterben begriffen iſt, wenn der Augenblick der Ausſtreuung des Pollens herannaht. Noch ſchwieriger wird die Sache bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Pflanzen, bei denen jede Blüthe entweder nur Staubfäden oder nur Fruchtknoten enthält und wo dieſe beiden Blüthenarten an derſelben Pflanze, oder gar auf verſchiedenen Pflanzen räumlich von einander getrennt ſind, die Linné als einhäuſige (Monöciſten) und Zweihäufige (Diöciſten) bezeichnete. Ja in manchen Pflanzengruppen z. B. bei den Aſclepia - deen und Orchideen ſcheint ſich die Natur ordentlich Mühe gegeben zu haben durch den verwickelten und abweichenden Bau der Organe jedes natürliche Zuſammenkommen des Blüthenſtaubs und der Narbe geradezu unmöglich zu machen. Hier treten nun auf wunderbare Weiſe70 der Pflanzenwelt ganz fremde Naturkräfte ins Mittel und greifen, indem ſie ihre eignen unabhängigen Naturzwecke erfüllen, ganz bei - läufig auf eine ſo weſentliche Weiſe in das Leben der Pflanzenwelt ein, daß man glauben ſollte dies ſey ihre einzige Beſtimmung. Denn ſind es Landpflanzen, ſo treibt der Wind die ungeheure Menge des Blüthenſtaubs weit umher und die Luft iſt oft ſo ſehr damit erfüllt, daß ein plötzlicher Regen den Blüthenſtaub in ſichtbarer Menge als ſogenannten Schwefelregen aus der Luft niederſchlägt. Bei ſo großem Ueberfluß erreichen dann natürlich auch Körner genug den Ort ihrer Beſtimmung. Sind es dagegen Waſſerpflanzen, ſo ſchwimmt der Fruchtknoten in einer Weiſe, daß die leichten Wellen ihn beſpülen, und der im Waſſer umhertreibende Pollen wird ſo an ſeinen Ort gebracht. Bei den meiſten Pflanzen aber ſind die Inſecten, die ihre Nahrung in dem ſüßen Safte der Blüthen ſuchen, zugleich gezwungen, den Transport des Blüthenſtaubs an den Ort ſeiner Beſtimmung zu übernehmen. Beſonders in den beiden großen Pflanzenfamilien, den Aſclepiadeen, denen die ſyriſche Seidenpflanze angehört, und den Orchideen, die mit ihren prachtvollen, bunten Schmetterlingen und wunderlich gebauten Inſecten gleichenden Blüthen die feuchtwarmen Schatten der Tropenwälder ſchmücken bei dieſen beiden Pflanzen - gruppen beſonders zeigt ſich das entſchiedene Eingreifen der belebten Geſchöpfe zur Vermehrung der Pflanzen. Bei ihnen iſt der Blüthen - ſtaub jedes Staubbeutels durch einen Vogelleim ähnlichen Stoff zu Einer Maſſe zuſammengeklebt und hängt ſich den Nectar ſuchenden Inſecten ſo feſt an, daß ſie ihn nicht abwerfen können. Die Honig - behälter ſind in einer Weiſe in den Blumen angebracht, daß das Inſect, um zu denſelben zu gelangen, nothwendig eng an der Narbe vorbei ſtreifen muß, und ſo wird der Pollen an ſeinen Ort gebracht. Oft ſieht man auf der Seidenpflanze Fliegen umherkriechen die eine große Anzahl ſolcher keulenförmigen Pollenmaſſen an den Beinen hängen haben und in einigen Gegenden kennen die Bienenväter eine eigne Krankheit ihrer fleißigen Thierchen, die Keulenkrankheit die in nichts Anderem beſteht als daß ſich ſo viele Blüthenſtaubmaſſen der Orchi -71 deen an die Stirne der Bienen feſtgeheftet haben, daß ihnen das Fliegen unmöglich wird und ſie darüber zu Grunde gehen. Ueber den Antheil, den die Inſecten an der Fortpflanzung der Vegetabilien nehmen, haben wir am Ende des vorigen Jahrhunderts ein weitläufiges Werk von einem Rector Chriſtian Conrad Sprengel erhalten, der in ſeinem frommen Beobachtungseifer den Inſecten faſt die ganze Gärtnerei der Natur über - tragen wollte. Leicht mag es ſeyn, mit einem ironiſchen Lächeln dem kindlichen Sinn des gläubigen Naturfreundes im Einzelnen ſeine Beſchränktheit nachzuweiſen, ſchwer bleibt es, den richtigen Standpunkt für die Beurtheilung dieſer ſcheinbar wunderbarſten Erſcheinung in dem Leben der Natur zu gewinnen. Freilich iſt es ein ſehr natürlicher Zuſammenhang, wenn in einer Pflanze neben dem Blüthenſtaub auch eine klebende Subſtanz gebildet wird; es iſt leicht erklärt, daß dadurch der Blüthenſtaub nothwendig an der Biene hängen bleiben muß, es iſt allerdings das Einfachſte und Natürlichſte anzunehmen, daß ſie beim Weiterſchwärmen auch dieſen Blüthenſtaub zufällig einmal an der rechten Stelle abſtreifen wird, daß ein Bächlein fließend in kleinen Wellen ſpielt, daß bei dem durch den heißen Sand der Sahara aufgehobenen Gleichgewicht der Luft der Wind den leichten Pollen der Dattelpalme umherweht, iſt freilich ein natürliches Ereigniß und beruht auf ausnahmsloſen Naturgeſetzen. Und dennoch, wenn wir die Phänomene im Großen, im Zuſammenhange auffaſſen, ſo können wir die Fragen, die ſich uns aufdrängen, weder zurückweiſen, noch auch ſogleich beantworten. Was hat denn der Wind mit der Dattel - ernte von Biledulgerid und mit dem Lebensunterhalt von Millionen Menſchen zu ſchaffen? Was weiß die ſeelenloſe Welle, welche die Cocusnuß an die fernen unbewohnten Inſeln trägt, wo ſie am Rande keimt, davon, daß dadurch der Ausbreitung des Menſchengeſchlechtes der Weg gebahnt wird? Was geht es die Gallwespe an, daß ſie durch ihre Geſchäftigkeit den Feigenhandel Smyrnas möglich macht und Tauſenden von Menſchen Nahrung und Unterhalt gewährt; oder begreift der Käfer, der durch ſein Naſchen die Vermehrung der Kamt - ſchatkiſchen Lilie (Lilium camschatioum) erleichtert, daß ihre Zwiebeln72 in folgenden harten Wintern die ganze Bevölkerung Grönlands vor dem Hungertode ſchützen werden? Wenn auch alles Dieſes im Einzelnen auf weſenloſen Naturgeſetzen beruht, woher dies wunder - bare Ineinandergreifen und Zuſammenſpielen der untergeordneten Naturkräfte, um Wirkungen hervorzubringen, die ſo tief in die Ge - ſchichte der Menſchheit eingreifen? Wir durchſchauen wohl den Me - chanismus der Marionetten, aber wer hält die Fäden in ſeiner Hand und leitet alle Bewegungen zu Einem Zweck? Hier iſt die Aufgabe des Naturforſchers zu Ende und ſtatt aller Antwort weiſt er über die Raumwelt der todten Maſſen hinaus dahin, wo wir in heiliger Ahnung den Lenker der Welten ſuchen.

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Erklärung der Abbildungen.

  • Taf. III. Die meiſten Gegenſtände ſind auf dieſer Tafel ſtark vergrößert dar - geſtellt; wo dies nicht der Fall iſt, wurde es durch die Buchſtaben n. G. (natür - liche Größe) ausdrücklich bemerkt.
  • Fig. 1. Entwicklung einer Fortpflanzungszelle von einem Waſſerfaden (einer Conferve), welcher ſich häufig als grüner fadenförmiger Schleim in unſern ſtehenden Gewäſſern findet. a. Die Spore (Fortpflanzungszelle). b. Erſte Stufe der Ent - wicklung. Die Spore hat einen dünnen ſchlauchförmigen Fortſatz getrieben. c. Zweite Entwicklungsſtufe. Der Fortſatz hat ſich verlängert und am entgegengeſetzten Ende der Spore iſt eine neue Zelle entſtanden. d. Vierte Stufe. Die junge Pflanze hat ſich mit dem Fortſatz an ein Stückchen Holz befeſtigt und wächſt auf der entgegen - geſetzten Seite allmälig zum vollſtändigen Faden aus, indem ſich daſelbſt immer mehr neue Zellen bilden.
  • Fig. 2. Entwicklung einer Spore eines Farnkrautes. a. Die Spore, welche hier nicht aus der Fortpflanzungszelle allein beſteht, ſondern noch mit einem eigen - thümlichen dunkeln Ueberzug bedeckt iſt. b. Erſte Stufe. Die Zelle hat den Ueber - zug durchbrochen indem ſie ſich ſchlauchförmig verlängert. c. Zweite Stufe. Im hervorgeſchobenen Ende des Schlauches haben ſich mehrere Zellen gebildet und ſchon grün gefärbt, die urſprüngliche Zelle bleibt aber immer in dem dunkeln Ueberzuge ſtecken. Eine Zelle hat einen kleinen Fortſatz getrieben. d. Dritte Stufe. Die grünen Zellen haben ſich ſo weit vermehrt, daß ſie ein kleines rundliches Blättchen, den Vorkeim, darſtellen. e. Vierte Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt zweilappig oder herz - förmig geworden. Die Sporenzelle mit ihrem Ueberzuge und dem einen Ende des Schlauches beginnt abzuſterben. f. Fünfte Stufe (n. G.). In der Kerbe des größer gewordenen Vorkeims hat ſich ein Knötchen gebildet, welches nach Unten in eine Wurzel auswächſt, nach Oben das erſte Blatt hervorzutreiben beginnt. g. Sechſte Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt in ſeiner höchſten Ausbildung und beginnt von hier an abzuſterben. Das erſte Blatt der Pflanze iſt ganz entwickelt, das zweite im Beginnen, die Wurzel veräſtelt ſich. h. Siebente Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt völlig abgeſtorben und zerſtört. Die junge Pflanze vollkommen gebildet, entwickelt ſich jetzt ohne beſondere Erſcheinungen weiter.
  • Fig. 3. (n. G.). Ein Zweig mit einem Blatte, in deſſen Achſel eine Knospe, d. h. eine mit der Hauptpflanze verbundene neue Pflanze ſich gebildet hat.
  • Fig. 4. Eine Pflanze der Gartenerdbeere ( der natürlichen Größe). Die Hauptpflanze a. hat aus den Achſeln ihrer Blätter dünne Zweige getrieben, welche ſtatt mit ausgebildeten Blättern nur mit ſchuppenförmigen Blattbildungen ſehr weitläufig beſetzt ſind; man nennt ſie Ausläufer. Aus der Achſel jedes dieſer ſchuppenförmigen Blätter entwickelt ſich eine Knospe, welche ſogleich nach Unten Wurzel ſchlägt und ſich zu einer vollſtändigen Erdbeerpflanze c. entwickelt. Im folgenden Jahre ſtirbt der Verbindungszweig mit der Mutterpflanze b. ab und dieſe iſt dann von einer großen Anzahl junger Nachkommen umgeben.
74
  • Fig. 5. Ein Blatt von Bryophyllum calycinum (n. G.), welches auf feuchte Erde gelegt (feuchte Luft hat denſelben Einfluß) nach und nach in allen Einkerbun - gen ſeines Randes kleine Pflänzchen entwickelt.
  • Fig. 6. Ein Längsdurchſchnitt durch den Stempel des Gartenſtiefmütterchens (Viola tricolor). In der kopfförmigen hohlen Narbe a. liegen eine Menge Fort - pflanzungszellen (Blüthenſtaub), aus den aufgeſprungenen Staubbeuteln hierher verſetzt. Dieſelben haben ſich ſämmtlich in lange Schläuche ausgedehnt, welche durch den Canal des Staubwegs b. herab bis in den Fruchtknoten c. kriechen und hier theilweiſe in die zahlreich vorhandenen Saamenknospen d. eintreten.
  • Fig. 7. Eine einzelne Saamenknospe derſelben Pflanze durch einen Längs - ſchnitt geöffnet, nebſt dem ganzen Schlauch der Fortpflanzungszelle. Dieſe a. iſt wie beim Farnkraut von einer dunkeln Umhüllungsſubſtanz eingeſchloſſen, welche der Schlauch b. durchbrochen hat. Das freie Ende des Schlauches an der Saamen - knospe c. angelangt, geht durch die verſchiedenen Hüllen derſelben durch, bis es die innere Höhle erreicht, hier ſchwillt es etwas an, füllt ſich mit grünen Zellen, die dann allmälig ſich zur Keimpflanze umbilden, während der übrige Theil nebſt der Fortpflanzungszelle nach und nach abſtirbt und zerſtört wird. Die große und weſent - liche Aehnlichkeit dieſes Vorgangs mit dem beim Farnkraut beſchriebenen iſt nicht zu verkennen.
  • Fig. 8. Das Ende des Schlauches in einer ſpätern Periode aus der Saamen - knospe herausgenommen. Der Schlauch c. iſt im Abſterben begriffen. Der kleine rundliche Körper der entſtehenden Keimpflanze treibt rechts und links, zwei kleinen Höckern ähnlich, die erſten Blätter hervor a., nach Oben endet er in der Anlage zum Stengel, das entgegengeſetzte Ende wird zur Wurzel.
  • Fig. 9. Die faſt vollkommen ausgebildete Keimpflanze aus der zum Saamen umgebildeten Saamenknospe herausgenommen. Die beiden erſten Blätter (die Keim - blätter, oder Saamenlappen genannt) ſind vollſtändig entwickelt (a. b.) und be - decken das zwiſchen ihnen befindliche Knöspchen, die Anlage zum ſpätern Stengel; auf der andern Seite iſt die Wurzel c. ebenfalls vollſtändig ausgebildet. Nun tritt ein Zeitpunct ein, in welchem alle Vegetationskraft völlig erſchöpft zu ſeyn ſcheint. Der reife Saame wird von der Pflanze abgeworfen und liegt längere oder kürzere Zeit im Boden, ohne daß die in ihm befindliche Keimpflanze auch nur eine Spur fortdauern - den Lebens zeigte. Endlich zur beſtimmten Zeit beginnt die Keimung, wofür die Leinpflanze als Beiſpiel dienen mag.
  • Fig. 10. Längsdurchſchnitt durch ein Leinſaamenkorn. Man erkennt von einer doppelten Hülle umgeben die der Länge nach durchſchnittene Keimpflanze, nach Unten in ein Würzelchen auslaufend, nach Oben in ein Knöspchen endend, welches von den beiden großen Keimblättern zwiſchen ſich genommen wird.
  • Fig. 11. Ein keimender Leinſaamen (n. G.). Das Pflänzchen hat die Hüllen geſprengt und iſt im Begriff die Schaale abzuſtreifen.
  • Fig. 12. Eine etwas ſpätere Stufe (n. G.). Das junge Pflänzchen iſt völlig ſelbſtſtändig geworden und das Knöspchen fängt an ſich zu Stengel und Blättern zu entwickeln.
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Vierte Vorlesung. Die Morphologie der Pflanzen.

[figure]
Alle Geſtalten ſind ähnlich, doch keine gleichet der Andern, Und ſo deutet der Chor auf ein geheimes Geſetz. (Göthe. )[76][77]

Vor mehreren Jahren ſtand ich in einem ſehr freundſchaftlichen Verhältniß zu dem dirigirenden Arzte an einer großen Irrenanſtalt und ich pflegte die mir deshalb geſtattete Freiheit, das Haus und ſeine Bewohner nach Gefallen zu beſuchen, fleißig zu benutzen. Eines Morgens trat ich in das Zimmer eines Wahnſinnigen, deſſen beſtän - dig wechſelnde ſeltſame Vorſtellungsſpiele mich beſonders intereſſirten. Ich fand ihn am Ofen niedergekauert, mit geſpannter Aufmerkſamkeit einen Tiegel beobachtend deſſen Inhalt er ſorglich umrührte. Bei dem Geräuſch meines Eintrittes drehte er ſich um und flüſterte mit wich - tiger Miene: Bſt, Bſt, ſtören Sie mir meine kleinen Schweine nicht, ſie ſind gleich fertig. Voll Neugier zu wiſſen, wohin ſich nun wieder ſein abnormer Gedankengang verirrt habe, trat ich näher. Sie ſehen , ſagte er leiſe, mit dem geheimnißvollen Ausdruck eines Alchymiſten, ich habe hier eine Rothwurſt, Schweineknöchelchen und Borſten im Tiegel, hier iſt Alles was nöthig iſt, es fehlt nur noch die Lebenswärme und das junge Schwein iſt wieder fertig hergeſtellt. So lächerlich wie mir damals dieſer Einfall vorkam, ſo ernſt bin ich in meinem ſpäteren Leben wieder an dieſen Wahnſinnigen erinnert worden, wenn ich über gewiſſe Irrwege der Wiſſenſchaft nachdachte, und wenn die bloße Form des Irrthums hier das Entſcheidende wäre, ſo müßten ſelbſt manche ausgezeichnete Naturforſcher unſerer Tage die enge Zelle meines unglücklichen Mahlberg theilen.

Der Irrthum allgemein ausgeſprochen lautet nämlich ſo, daß eine beſtimmte Miſchung beſtimmter Stoffe ſchon ein vollkommner individualiſirter Naturkörper ſey, während doch zweierlei zuſammen -78 kommen muß, nämlich Stoff und Form oder Geſtalt, welche beide gleich nothwendig ſind, um insbeſondere den Begriff eines Organis - mus zu vollenden. Die beſtimmte räumliche Abgrenzung der Materie iſt gerade das, was uns als Hauptmerkmal eines individualiſirten Naturkörpers gilt. Die uns umgebende körperliche Welt zeigt ſich uns, wie wir uns auch ſtellen mögen, immer von drei ganz verſchiedenen Seiten und jede derſelben giebt uns Gelegenheit zur Entwicklung eines eigenthümlichen wiſſenſchaftlichen Syſtems. Es liegt weit über die Vorausſicht aller Menſchen hinaus ob es jemals gelingen werde, zwei dieſer Syſteme oder gar alle in eine gemeinſame von einem Princip auslaufende wiſſenſchaftliche Weltanſchauung zu umfaſſen. Am Einfachſten und Verſtändlichſten laſſen ſich dieſe drei Syſteme, welche die Hauptabtheilungen unſerer geſammten Naturwiſſenſchaft ſind, an der Betrachtung unſeres Sonnenſyſtems nachweiſen. Wir finden in demſelben zuerſt große Körper, die aus Stoffen ver - ſchiedener Art gebildet ſind. Dieſe Stoffe, ihre Eigenſchaften, die Maſſe, die dem ganzen Syſtem zu Grunde liegt, iſt die erſte Aufgabe für unſere Unterſuchung, daraus bildet ſich die Lehre von den Stoffen oder die Hylologie. Wir bemerken aber auch eben ſo früh, daß dieſe ſchweren Maſſen des Stofflichen niemals in Ruhe ſind, daß raſtloſe Veränderung ihrer gegenſeitigen Stellungen ſie durch den Raum treibt. Dieſe Bewegungen und ihre Geſetzmäßigkeit bilden die zweite Auf - gabe für unſere Forſchung, die Bewegungslehre oder Phoronomie. Aber mit beiden haben wir die Kenntniß des Sonnenſyſtems noch nicht erſchöpft. Weder aus den Eigenſchaften des Stoffes, noch aus den Geſetzen der Bewegung läßt ſich ableiten weshalb gerade 14 Planeten die Sonne umkreiſen, weshalb nur Erde, Jupiter, Saturn und Uranus Trabanten, weshalb nur der Saturn einen Ring habe, weshalb die Ebenen der Planetenbahn gerade dieſe und keine andere Neigung gegen einander haben u. ſ. w. Kurz es giebt noch beſtimmte, feſtſtehende, gewordene, räumliche Verhältniſſe, welche nicht aus dem Geſetze der Bewegung folgen, welche nicht als Eigenſchaft der Materie, des Stoffes überhaupt betrachtet werden können, Verhält -79 niſſe, die die Form ausmachen unter der uns die bewegten Maſſen erſcheinen, mit einem Worte, eine beſtimmte Geſtalt dieſes unſeres Sonnenſyſtems, welche als zufällig in ſo fern erſcheint, als daneben noch unzählige andere Geſtalten möglich und vielleicht auch für andere Sonnenmittelpuncte wirklich ſind. Dieſe letzteren Betrachtungen geben uns die Lehre von der Geſtaltung oder die Morphologie. Gehen wir nun vom Sonnenſyſtem zu den Verhältniſſen unſerer Erde ſelbſt über ſo wird die Hylologie zur Chemie, die Phoronomie zur Phy - ſik, oder auf organiſche Körper angewendet zur Phyſiologie und die Morphologie liefert die characteriſtiſchen Lehren für Mineralogie, Zoologie und Botanik.

Die einfachſte Pflanze, welche wir unterſuchen, zeigt uns ſo gut wie jenes Sonnenſyſtem im Großen eine Reihe von Thatſachen, welche ſich vollſtändig unter jene drei Hauptabtheilungen der Naturwiſſen - ſchaft vertheilen laſſen. Die Pflanze, chemiſch zerlegt, ergiebt ſich als zuſammengeſetzt aus größern oder geringern Mengen verſchiedener Stoffe, deren Eigenſchaften, ſo weit wir ſie bereits kennen, aufs Engſte mit der Eigenthümlichkeit der ganzen Pflanze, verbunden ſind (Stoff - lehre). Aber bei genauerer Aufmerkſamkeit finden wir bald, daß dieſe Stoffe niemals in Ruhe ſind, daß Stoffe einerſeits in die Pflanze eintreten, andererſeits dieſelbe verlaſſen, in der Pflanze ſelbſt aber in einer beſtändigen Bewegung von einem Ort zum andern, in beſtän - diger Verbindung und Trennung begriffen ſind (Bewegungslehre oder Phyſiologie der Pflanze). Haben wir damit nun das ganze Weſen der Pflanze erſchöpft? Keineswegs, und zwar ſo fern ſind wir davon, daß es denkbar wäre, alle jene Stoffe, alle jene Bewegungen ſoweit ſie auf chemiſche Verbindungen und Trennungen abzielen in den Retorten und Tiegeln unſerer Laboratorien nachzumachen, ohne daß dabei eine Erſcheinung hervorträte, welche auch nur im Allerentfern - teſten an eine Pflanze erinnerte. Aus Zucker, Gummi oder Pflanzen - gallerte bildet ſich Zellſtoff, aber Zellſtoff iſt noch keine Zelle. Erſt die Zellenbildung, alſo die Geſtaltung, macht den Stoff zum pflanz - lichen Organismus. Aus gleichartigen Zellen ſind ſämmtliche Pflanzen80 zuſammengeſetzt, aber ſie unterſcheiden ſich untereinander als ver - ſchiedene Pflanzen eben durch den Umriß, die Zeichnung, nach welcher die Zellen aneinander gefügt ſind. Ob im Weſen der Sache begrün - det, wiſſen wir zwar nicht, aber für die Erſcheinung wenigſtens tritt bei Betrachtung der Pflanzen die Geſtaltenbildung ſo ſehr in den Vorgrund, daß man oft ſogar alles Uebrige ganz darüber vergeſſen hat und ſo wird die Geſtaltungslehre oder Morphologie auf jeden Fall die wichtigſte Disciplin in der ganzen Botanik. Aber man würde ſehr irren, wenn man glaubte, daß die Morphologie ſich nur bei einer magern Aufzählung und Beſchreibung der Formen zu beruhigen hätte. Auch ſie iſt eine naturwiſſenſchaftliche Aufgabe, auch ſie hat nach der Erkenntniß von Geſetzen zu ſtreben und muß wenigſtens vorläufig die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen unter Hauptgeſichtspuncte ordnen, nach Regel und Ausnahmen zuſammenſtellen und ſo allmälig der Auffindung wirklicher Naturgeſetze näher rücken.

Die Ahnung einer ſolchen Geſetzgebung für die Geſtaltung der Pflanzen iſt zuerſt von Göthe in ſeiner Idee einer Urpflanze aus - geſprochen worden, worunter er ſich eine Idealpflanze dachte, deren Verwirklichung gleichſam der Natur als Aufgabe vorgelegen und welche ſie in den einzelnen Pflanzen mehr oder minder vollkommen erreicht habe. Dieſer Gedanke leidet nun allerdings an einigen weſent - lichen Mängeln. Zunächſt iſt kaum für irgend Einen, der an ſcharfes Denken gewöhnt iſt noch zu erwähnen, daß überhaupt alle dieſe Be - ziehungen menſchlicher Beſtrebungen auf die Bildungen der Natur durchaus unhaltbare Spielereien ſind, durch welche im beſten Falle einem lahmen Kopfe die Verhältniſſe etwas der Anſchaulichkeit näher gerückt werden, aber ſtets auf Koſten der allein wahren Anſchauung ſelbſt. Aufſtellen eines Planes, Ausführung deſſelben, dabei Begehen von Fehlern, und folglich mehr oder minderes Gelingen des Ganzen ſind Beziehungen, welche nur auf die unvollkommene Vernünftigkeit menſchlicher Weſen paſſen, deren Wiſſen Stückwerk iſt. Dieſe ſogenannte Anthropopathie (Vermenſchlichung) hat aber für die Natur gar keinen Sinn; entweder iſt dieſe je nach dem Standpunct, den der81 Menſch bei ihrer Beurtheilung einnehmen will, das Product blinder nach ausnahmsloſen Naturgeſetzen wirkender Kräfte und da iſt von keinem Plane, keinem mehr oder minder Vollkommenen die Rede, weil alles ſtarre Nothwendigkeit iſt, oder ſie erſcheint uns als die lebendige Schöpfung eines heiligen Urhebers und dann iſt Plan und Ausführung im Größten wie im Kleinſten gleich vollkommen und vollendet, aber für den Erdenſohn überall gleich geheimnißvoll und unbegreiflich. Aber auch auf der andern Seite leidet jener Götheſche Gedanke einer Urpflanze an einer Unklarheit, da nicht deutlich wird wie man ſich eine ſolche Urpflanze zu denken habe. So viel iſt gewiß, daß ſolche widerlich geſchmackloſe Zuſammenhäufungen einer Menge im Einzel - nen möglicher Formen zu einer wahren Mißgeburt von Pflanze, wie ſie von Turpin in ſeinem Atlas zu Göthes naturwiſſenſchaftlichem Werke gegeben iſt, alles andere ſind nur nicht das, was ſich der klare Göthe unter einer Urpflanze vorſtellen mochte. Soll der Gedanke mit ſinniger Bedeutſamkeit zugleich ausführbar ſeyn, ſo müſſen wir uns als Urpflanze eine Zeichnung entwerfen, welche uns die höchſte Ent - wicklung der Pflanzenwelt in ihrer einfachſten Form giebt, woraus alſo alle niedrigern Entwicklungsſtufen durch bloße Weglaſſung oder Zuſammenziehung, alle nebengeordneten durch Combinationen und Verwicklungen abgeleitet werden können.

Den Verſuch, eine ſolche Pflanze hinzuſtellen, mag die Tafel vorführen. Man kann dieſes Bild als eine Abſtraction von einer ſehr einfachen und bekannten Pflanze, der Anagallis phoenicea an - ſehen, deren großblumige blaue Spielart auch als Topfpflanze unter dem Namen Anagallis Monelli unſere Fenſter ziert. Eine genauere Betrachtung dieſes Bildes kann dazu dienen, einige der wichtigeren morphologiſchen Begriffe geläufiger und anſchaulicher zu machen. Ein auch nur flüchtiger Anblick zeigt uns folgende Verhältniſſe. Zu - nächſt entdecken wir einen durchgehenden Hauptkörper (a bis aVI. ) und an dieſem verſchiedene ſeitliche Anhängſel (b, c bis cVII. und d). Bei genauerer Betrachtung zeigen aber dieſe letzteren einige ſehr auf -Schleiden, Pflanze. 682fallende Verſchiedenheiten, die ſie in 3 Claſſen zu ordnen verſtatten (demgemäß ſie durch die Buchſtaben b, c und d unterſchieden ſind). Noch genauere Unterſuchung zeigt uns, daß die mit d bezeichneten Organe (ſiehe Fig. dI. Fig. dII. ) ebenfalls aus einem Hauptkörper und ſeitlichen Organen zuſammengeſetzt und in ihrer ſpätern Entwicklung ſich ganz wie die Pflanze ſelbſt verhaltend nur Wiederholungen dieſer ſind, ſo daß ſie ſich von derſelben nur dadurch unterſcheiden, daß ihnen das freie untere Ende der Pflanze fehlt. Wir können dieſe Knos - pen genannten Theile alſo vorläufig ganz von unſerer Betrachtung ausſchließen. Die mit b bezeichneten Organe ferner ſind ſo ſehr über - einſtimmend in ihrer ganzen Erſcheinungsweiſe mit dem untern freien Ende des Pflanzenkörpers, daß wir ſie vorläufig als Theile deſſelben anſehen können, wenn auch die Wiſſenſchaft ſpäter nachweiſt, daß ſie in manchen Stücken weſentlich verſchieden ſind. So bleiben uns dann eigentlich nur noch zwei Organe an der ganzen Pflanze übrig. Das Erſte iſt der durchgehende Hauptkörper der Pflanze, Axe oder Stengel - organ genannt, letzteres weil die verſchiedenen Formen des Pflanzen - ſtengels ſich ſtets nur aus dieſem Theile entwickeln. Dieſe Axe iſt an der ganzen Pflanze bei ihrer Entſtehung das Erſte, Urſprüngliche und nicht ſelten bilden ſich die andern Organe nur ſehr unvollkommen, oder nur in einzelnen beſondern Erſcheinungsweiſen aus, wie die blattloſen Cac - teen, Stapelien und faſt alle paraſitiſchen Pflanzen zeigen. Das zweite Organ ſtellen die mit c bezeichneten ſeitlichen dar, bei mannigfacher Verſchiedenheit im Einzelnen doch eine weſentliche Grundphyſiogno - mie zeigend, welche ſie nie ablegen und welche beſonders in ihrer Ent - wicklungsgeſchichte hervortritt; man nennt ſie im Allgemeinen Blatt - organe oder Blätter. Auf dieſe Weiſe ergiebt ſich uns, daß auch die vollkommenſte Pflanze eigentlich nur zwei weſentlich ver - ſchiedene Grundorgane, nämlich Stengel und Blatt, beſitzt, daß alſo das in der Phantaſie ausgezeichnete Pflanzenideal, die Urpflanze, eine über alle Erwartung einfache Grundlage habe. Genauer müſſen wir aber noch folgende Modificationen der Grundorgane unterſcheiden und bezeichnen.

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1) An der Axe finden wir ein unteres Ende die Wurzel (a), mit deren ſeitlichen Organen, Nebenwurzeln (b), ein mitt - leres Stück (aI. bis aV. ) als eigentlichen Stengel und als Träger der Blattorgane und Knospen, endlich ein oberes Ende (aVI. ), das ſich ſpäter nach mannigfachen Vorgängen zum Saamen entwickelt und deshalb paſſend Saamenknospe (früher mit einem unglücklich gewählten Wort Pflanzenei ) genannt wird.

2) Bei den Blättern finden ſich folgende bei Weitem mannig - faltigere Verſchiedenheiten. Die erſten, welche eine ſich entwickelnde Pflanze zeigt, welche meiſt ſchon im Saamen ſich ziemlich ausgebildet an dem Keim nachweiſen laſſen, ſind die Saamenlappen oder Keimblätter (c), von ſehr einfachen Umriſſen. Von dieſen nach der Mitte des Stengels werden die Blätter nach einem ziemlich durch - greifenden Geſetz immer mannigfaltiger und verwickelter in ihren Um - riſſen und dann bis in die Nähe des oberen Endes wieder einfacher (cI. cIII.). Dieſe Formen bezeichnet man ſämmtlich als Laub - blätter , ſie machen das aus, was man im gemeinen Leben aus - ſchließlich unter dem Ausdruck Blätter zu verſtehen pflegt. Die dann folgenden Blattorgane (cIV. cVII. ) faßt man zugleich mit den zwi - ſchen ihnen befindlichen Stengeltheilen unter dem etwas unbeſtimmten Wort Blume oder Blüthe zuſammen, unterſcheidet aber noch wieder vier Entwicklungsſtufen. Die erſten, zweiten und vierten (cIV. cV. cVII. ), als Kelch Blumenkrone und Fruchtblät - ter , unterſcheiden ſich gewöhnlich nur noch durch ihre Zartheit und beſonders die zweiten durch ihre Farbe von den Laubblättern. Die Fruchtblätter erhalten ihren Namen davon, daß ſie in ihren ſpätern ſehr merkwürdigen Veränderungen meiſt den weſentlichſten Theil deſſen bilden, was man im Leben als Frucht bezeichnet. Ganz anders verhält es ſich aber mit der dritten Entwicklungsſtufe, in welcher das Blatt durch ſo weſentliche Structurverſchiedenheit verändert wird, daß es kaum als Blatt wieder zu erkennen iſt. Die Hauptſache beſteht darin, daß es ziemlich ſchmal und dick wird, indem ſich in demſelben mehrere (häufig vier) der Länge nach neben einander liegende Höhlen6*84bilden, die ſich mit zahlreichen ganz iſolirten, ſtaubähnlichen Zellen füllen und dieſe letztern dadurch, daß ſie regelmäßig ſich öffnen, aus - ſtreuen. Dieſe Blätter nennt man Staubfäden oder ſo weit die Höhlen reichen Staubbeutel und die iſolirten Zellen Blüthenſtaub oder Pollen.

An der hier betrachteten Idealpflanze braucht man nun nur die etwas zuſammengeſetztern Laubblätter (cI. und cII. ) wegzulaſſen, die Zahl der Blattorgane der Blüthe bis auf fünf vermehrt und in vier Kreiſe verwachſen zu denken, endlich ebenfalls ſtatt der einen Saamen - knospe viele anzunehmen, die auf einem knopfförmigen Ende des Stengels ſich vereinigen, ſo erhält man ein Pflänzchen jener oben genannten kleinen Anagallis.

Wollten wir aber aus dieſer Idealpflanze nun die einfacheren Pflanzenformen z. B. Farnkräuter, Mooſe, Schwämme u. ſ. w. ableiten, ſo müſſten wir dieſelbe ſo zuſammenſtreichen und verſchmel - zen, daß zuletzt gar Nichts mehr übrig bliebe, was noch eine entfernte Beziehung zu ihr hätte. Nun kann es uns aber mit den Verſuchen einer morphologiſchen Geſetzgebung eben ſo wenig darum zu thun ſeyn, ſtatt in der wirklichen Welt nur in den ſpieleriſchen Producten unſerer Einbildungskraft uns zu bewegen, als uns mit Erklärungen und Geſetzen zu begnügen, welche nur für einen kleinen Theil der Pflanzenwelt Anwendung finden, während alles Uebrige dunkel und nnverſtändlich bleibt. Es iſt daher mit Göthes Urpflanze überhaupt nichts anzufangen und wir müſſen uns nach anderen Eingängen in die Betrachtung der verwickelten Formenverhältniſſe der Pflanzenwelt umſehen.

Die Sache hat größere Schwierigkeiten als es anfänglich den Anſchein hat, und um eine richtige Einſicht in dieſe Fragen ſich zu verſchaffen, um ſelbſt grobe Fehler zu vermeiden, die ſogar von aus - gezeichneten Forſchern begangen ſind und noch täglich begangen wer - den, muß man weit über das Gebiet der Pflanzenwelt um ſich blicken. Wenn wir von Formen, von Geſtalten reden, ſo meinen wir damit beſtimmt begrenzte Körper in der Natur. Der Begriff eines jeden85 Körpers ſetzt aber ſchon zum Voraus, daß er nach allen drei Rich - tungen des Raumes, nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt ſey. Eine bloße Linie oder Fläche ſind keine Körper und daher keine Ge - ſtalten und die einfachſten Beziehungen zum Raum geben uns daher gar keinen Eintheilungsgrund. Zwar können auch bei einem Körper die eine oder zwei Richtungen der Ausdehnung vorherrſchen; wir unter - ſcheiden einen Faden leicht von einem Blatte Papier nur nach dieſen Verhältniſſen. Es liegt hier jedoch nur ein Mehr oder Minder, nicht aber ein innerer weſentlicher Unterſchied vor, wie es ſich am Deut - lichſten darin zeigt, daß da, wo eben die äußere Umgrenzung, die Ge - ſtalt, zuerſt in der Naturwiſſenſchaft eine große Bedeutung gewinnt, nämlich bei den Kryſtallen, ein und dieſelbe Kryſtallform als lange dünne Nadel, als ein kleines flaches Plättchen oder als ein nach allen Dimenſionen gleichförmig ausgedehnter Körper erſcheinen kann. Der in Pflanzen ſo häufig vorkommende kryſtalliſirte ſauerkleeſaure Kalk hat beſtändig in allen ſeinen Formen ein Quadrat zur Grund - fläche, auf welcher ſich eine quadratiſche Säule erhebt. Iſt dieſe aber ſehr kurz, ſo liegt ein kleines viereckiges Plättchen vor, wird ſie höher ſo nähert ſie ſich allmälig immer mehr einer Würfelform; noch länger geht ſie über dieſen hinaus und erſcheint endlich als ein langes dünnes Nadelchen faſt fadenförmig, immer bleibt dabei aber die Kryſtallgeſtalt, das Weſentliche der Form, völlig gleich, nämlich eine quadratiſche Säule; ungefähr wie wir die gleiche menſchliche Geſtalt anerkennen, mag der Menſch kurz und dick, oder ſehr lang und ſchlank ſeyn. Der Schluß, den wir gleich hieraus ziehen können iſt der, daß wir aus dem allgemeinen Begriff eines Körpers gar keine Merkmale ab - leiten können, um die Geſtalten zu unterſcheiden und anzuord - nen. Zwar laſſen ſich auf dem Papier in der Studirſtube präch - tige Syſteme ausdenken, aber für die Wirklichkeit haben dieſe gar keine Bedeutung. So wie wir an dieſe hinantreten, müſſen wir vielmehr beſcheiden erſt anfragen, ob die Natur geneigt ſey uns ihre Geheimniſſe zu verrathen, ob ſie in dieſem oder jenem einzelnen Falle uns offenbaren will, welche Merkmale ſich bei86 ihrer Geſtaltenbildung als weſentliche ausſprechen, welche Grund - lagen ſie uns alſo zur Bildung unſerer Syſteme anbietet.

In dieſer Beziehung ſtehen wir nun auf ſehr verſchiedenen Stu - fen der Vollendung unſerer Wiſſenſchaft bei den einzelnen Claſſen der Naturkörper, überall aber vom Ziele noch weit entfernt. Dieſes Ziel nämlich wäre, alle Geſtalten aus den geſetzmäßigen Wirkungen der Kräfte in der Natur erklären zu können, was aber zur Zeit noch in keinem einzigen Falle uns möglich iſt. Die vorbereitenden Stufen, um zu dieſem Ziel zu gelangen, beſtehen aber erſtens in der genauen Kenntniß und Anordnung der verſchiedenen Geſtalten nach ihren in - nern Verwandtſchaften und zweitens in der allmäligen vollſtändigen Auffindung und Sammlung der äußern Bedingungen, unter deren Einfluß ſich die einzelnen Geſtalten bilden. Für die letzte Aufgabe haben wir hin und wieder einzelne wenige Bruchſtücke geſammelt, für die erſte Hälfte iſt uns die Anordnung der Kryſtallgeſtalten ziemlich vollſtändig gelungen; dagegen haben wir für Pflanzen und Thier - welt nur von ſehr verſchiedenen Standpuncten aus einzelne Perſpec - tive und Ueberſichten gewonnen, die im Ganzen noch wenig innern Zuſammenhang darbieten.

Das Störende iſt im letzten Falle nämlich in gewiſſer Beziehung gerade das, was wir das Lebendige nennen; nur wird ſelten deutlich erkannt worin eigentlich das Characteriſtiſche dieſes Lebens liegt. Auch der Kryſtall ſpringt nicht auf einmal, eine fertige Minerva, aus dem Haupte Jupiters hervor, der Stoff, aus dem er ſich bildet, durchläuft eine ſtetige Reihe von Veränderungen, deren Endreſultat die vollendete Kryſtallgeſtalt iſt. Auch der Kryſtall hat eine individuelle Geſchichte, eine Lebensgeſchichte, aber nur eine Geſchichte ſeines Werdens, ſeines Entſtehens. Iſt er geworden, ſo iſt ſein Leben zu Ende, ſein Be - ſtehen ſchließt jede Veränderung aus; der Augenblick ſeiner Geburt iſt das Aufhören ſeines Lebens, er iſt todt von dem Moment an, in welchem er ſein vollendetes Daſeyn beginnt. Den geradeſten Gegen - ſatz dazu bilden Pflanzen und Thiere und eben hierin liegt das Ge - meinſchaftliche, was uns bewegt ſie unter einem Begriff als organiſche,87 oder lebendige Weſen zuſammenzufaſſen. Ich will hier aber meine folgenden Erörterungen auf die Pflanzenwelt beſchränken, um nicht zu weitläufig zu werden.

Wir vertrauen das Gerſtenkorn im Frühling der ernährenden Erde, der Keim fängt an ſich zu regen, ſprengt ſeine Hüllen, die der Verweſung anheimfallen. Ein Blatt nach dem andern tritt hervor und entwickelt ſich, dann erſcheinen die Blüthen in dichtgedrängter Aehre; durch wunderbare Wechſelwirkungen hervorgerufen, entſteht in jeder der Keim eines neuen Lebens und während dieſer ſich mit ſeinen Hüllen zum Korne ausbildet, gehen von Unten nach Oben ſtetige Veränderungen an der Pflanze vor ſich; ein Blatt nach dem andern ſtirbt ab und vertrocknet, zuletzt ſteht der dürre, nackte Stroh - halm da; gebeugt unter der Laſt der goldenen Gabe der Ceres bricht er zuſammen und verweſt im Boden, während leis und heimlich vom wärmenden Schnee gedeckt ſich in den verſtreuten Körnern eine neue Entwicklungsperiode vorbereitet, die im nächſten Frühling beginnen ſoll und ſo geht es ins Unendliche fort. Hier iſt nichts Feſtes, nichts Beſtehendes, ein endloſes Werden und Entwickeln, ein fortwährendes Abſterben und Vernichten neben einander und in einander greifend, ſo iſt die Pflanze. Sie hat eine Geſchichte nicht nur ihrer Bildung, ſondern auch ihres Daſeyns, nicht nur ihres Entſtehens, ſondern auch ihres Beſtehens. Wir ſprechen von Pflanzen; wo ſind ſie? Wann ſind ſie fertig, vollendet, daß ich ſie aus dieſem beſtändigen Wechſel des Stoffes und der Form herausreißen und als ein Gewor - denes betrachten dürfte; wir ſprechen von Geſtalten und Formen; wo ſollen wir ſie erfaſſen, die proteusartig jeden Augenblick wieder unter unſern Händen verſchwinden und in andere übergehen? Wie in Döblers dissolving views verſchwindet ganz unmerklich das eine Bild vor unſern Augen und ein anderes tritt an ſeine Stelle, ohne daß wir im Stande wären den Augenblick anzugeben, wo jenes aufgehört hätte zu ſeyn, dieſes begonnen hätte in die Erſcheinung zu treten. In jedem gegebenen Momente iſt die Pflanze die Ruine der Vergangen - heit und doch zugleich der entwicklungsfähige und ſich wirklich ent -88 wickelnde Keim der Zukunft, und noch mehr, ſie erſcheint uns auch noch dabei als ein fertiges, vollendetes und abgerundetes Product für die Gegenwart.

Hier liegt zwar die Grundurſache, weshalb eine Morphologie der Kryſtalle oder der unorganiſchen Welt eine ſo ganz weſentliche verſchiedene Bedeutung und Entwicklung gewinnen muß, wie die Ge - ſtaltenlehre der ſogenannten lebenden Weſen; es kommt aber noch ein anderes, freilich gegen das angegebene viel untergeordneteres Ver - hältniß hinzu, wodurch die Betrachtung der organiſchen Formen eine Schwierigkeit und Verwicklung erhält, welcher die menſchliche Faſſungs - kraft mit den ihr gegenwärtig zu Gebote ſtehenden Mitteln noch lange nicht gewachſen iſt.

Unter Geſtalt verſteht man die Begrenzung der Körper im Raume; die Grenzen, wodurch ſich eben die beſtimmte Geſtalt vom grenzen - loſen Raum abſcheidet, ſind Flächen. Flächen ſelbſt ſind entweder ebene und dann wieder durch Linien begrenzt, oder gekrümmte und dann in verſchiedener Weiſe durch das Verhältniß ihrer Theile zu einer oder mehreren Linien beſtimmt. Die ebenen Flächen ſind geo - metriſch leicht zu conſtruiren und zu ordnen, wenn ihre Grenzlinien gerade ſind, und ſomit auch die von ihnen begrenzten Körper, wie die Kryſtalle. Bei Ebenen, die von Curven begrenzt werden, wächſt die Schwierigkeit mehr und mehr, nach der größern Verwicklung, welche die Theorie der krummen Linien darbietet. Von den gekrümmten Flächen ſind dagegen nur wenige, wie die Kugel, das Elipſoid und ſo weiter, geometriſch ſcharf zu beſtimmen, ſehr bald werden die Verhält - niſſe ſo verwickelt, daß ſie den ſcharfſinnigſten Combinationen der größ - ten Mathematiker Trotz bieten. Nun ſind aber alle Linien und Flächen, die an organiſchen Körpern vorkommen, gekrümmt und faſt immer ſo unregelmäßig, daß an eine geometriſche Beſtimmung derſelben durch - aus noch nicht zu denken iſt. So ſind wir ſchon, abgeſehen von allen anderen Schwierigkeiten, bei der bloßen Bezeichnung der ein - zelnen organiſchen Formen außer Stand geſetzt, uns ſcharf beſtimmter geometriſcher Ausdrücke zu bedienen und wir können uns nur durch89 Vergleichungsformeln und eine eigenthümliche daraus entwickelte, aber natürlich ihres Urſprungs wegen ſehr ſchwankende Kunſtſprache helfen. Selbſt Ausdrücke wie cylindriſch, prismatiſch, kreis - und kugelrund, kegelförmig u. dgl. m., haben in ihrer Anwendung auf die Pflanzenwelt keine ſcharfe mathematiſche Bedeutung mehr, ſondern nur einen annähernden Vergleichungswerth.

Aus allem Dieſen ergiebt ſich nun, daß eine ſehr allgemeine Orientirung und ein eigenthümlicher naturwiſſenſchaftlicher Tact, ich möchte faſt ſagen Inſtinct, dazu gehört, um in der Formenlehre der Pflanzen mit Sicherheit einen Schritt vorwärts thun zu können und daß es hier vor Allem darauf ankommen wird, aus der Natur des Gegenſtandes ſelbſt ſpecielle, leitende Maximen zu entwickeln, nach denen wir die unzähligen möglichen Syſteme der vegetabiliſchen Morphologie kritiſiren, verwerfen oder zulaſſen. Damit iſt freilich noch nicht mehr als das negative Reſultat gewonnen, daß alle nach jenen leitenden Regeln verworfenen Syſteme gewiß unbrauchbar ſind, während die zugelaſſenen immer nur eine Möglichkeit, aber keine Gewiß - heit ihre Richtigkeit gewinnen. Gleichwohl iſt damit ſchon viel gewon - nen, da dadurch die Unterſuchungen unendlich viel einfacher werden.

Sehen wir uns nach ſolchen leitenden Principien um, ſo bietet uns die Pflanze zwei Eigenthümlichkeiten, welche ihren beſtimmten Anſpruch an Berückſichtigung an alle unſere Forſchungen geltend machen. Die eine iſt die Zuſammenſetzung der Pflanze aus kleinen faſt ſelbſtſtändigen und individualiſirten Elementarorganismen, näm - lich den Zellen, die andere iſt der fortgehende Proceß der Aufnahme und Ausſcheidung von Stoff, der Neubildung und Auflöſung von Zellen und in Folge von Beiden die beſtändige Veränderung der in - neren und äußeren Form, der Structur und Geſtalt.

Die daraus abzuleitenden Maximen lauten nun:

was in der Pflanze nicht auf ſeine Zuſammenſetzung aus ein - zelnen Zellen zurückgeführt iſt, bleibt zur Zeit noch unerkannt und un - verſtanden, kann alſo keiner theoretiſchen Betrachtung zum Grunde gelegt werden und zweitens

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keine einzelne feſtſtehende, oder vielmehr als feſtſtehend be - trachtete Form, ſondern nur die Entwicklungsreihen können Gegen - ſtand einer botaniſchen Formenlehre ſeyn, jedes Syſtem, welches ſich mit den herausgeriſſenen Formenverhältniſſen dieſes oder jenes Zeit - abſchnittes ohne Berückſichtigung des Entwicklungsgeſetzes beſchäftigt, iſt ein phantaſtiſches Luftſchloß, welches keinen Boden in der Wirklich - keit hat und gehört deshalb nicht der wiſſenſchaftlichen Botanik an.

Es kann hier nicht meine Aufgabe ſeyn, nunmehr unter Leitung jener Maximen alle einzelnen Sätze, welche die Morphologie bis jetzt gewonnen hat, oder doch gewonnen zu haben glaubt, aus den That - ſachen der Beobachtung ſelbſt zu entwickeln; es würde das nicht weni - ger heißen als eine ganze Botanik ſchreiben. Ich kann vielmehr hier nur einen Ueberblick über die ganze Pflanzenwelt nach ihren morpho - logiſchen Characteren ſkitzenhaft vorführen.

Betrachten wir die Pflanzenwelt als ein Ganzes, als ein Indivi - duum, deſſen verſchiedene Lebens - und Entwicklungsſtufen ſo neben einander vorliegen, wie ſie bei der einzelnen Pflanze nach ein - ander folgen, ſo können wir die einfachſten Formen gleichſam als die Anfänge der Pflanzenwelt betrachten und finden dann, daß dieſe ſich eben ſo wie die Einzelpflanze aus einer einfachen Zelle hervorbildet und entwickelt. Wo wir an alten feuchten Mauern und Bretterzäunen, an Gläſern, in denen wir zur Sommerszeit während mehrerer Tage weiches Waſſer ſtehen ließen, einen zarten, ſchöngrünen, oft faſt ſammetartigen Anflug finden, da begegnen wir den erſten Anfängen der Vegetation. Unterm Microſcop entdecken wir in dieſen grünen Maſſen eine Menge kleiner, kugelrunder Zellen mit Saft, farbloſen Körnchen und Chlorophyll erfüllt. An andern Orten finden ſich ähnliche, gelbliche, braune, rothe Zellen, und faſt alle darf man, wenigſtens zur Zeit noch, als ganze vollſtändige Pflanzen anſehen, welche von den Botanikern mit verſchiedenen Namen belegt ſind. Die paſſendſte Bezeichnung dafür iſt Protococcus, Urbläschen. Von dieſer einfachen als Pflanze ſelbſtſtändig vegetirenden Zelle nimmt die Entwicklung der Pflanzenwelt ihren Ausgang und ſteigt durch91 immer größere Combinationen und Verwicklungen endlich bis zu den complicirteſten Pflanzen auf, die wir als die höchſte Stufe anzuſehen gezwungen ſind, obwohl es dem Laien wunderbar vorkommen mag, wenn ich als einen Repräſentanten dieſes höchſten Ausdruckes vege - tabiliſcher Entwicklung das kleine, ſo allgemein verbreitete und des - halb meiſt verachtete Gänſeblümchen*)Marienblümchen, Masliebchen Bellis perennis. nenne.

Die jenen einfachſten Pflanzen zunächſt ſich anſchießenden Bil - dungen beſtehen zwar auch nur aus einer einzelnen einfachen Zelle, die aber doch ſchon fadenförmig verlängert, oft veräſtelt iſt und daher ſchon mehr Formenbildung zeigt, demnächſt reihen ſich die Zellen linien - förmig auf mannigfache Weiſe aneinander, es erwächſt ſchon eine man - nigfaltige Vegetation, die im Waſſer als Waſſerfäden oder Con - ferven, meiſt mit grüner Farbe oder an faulenden organiſchen Körpern als die vielfach verſchiedenen oft ſo zierlichen Formen des Schimmels in den bunteſten Farbenſpiel auftreten. Weiter legen ſich die Zellen zu flachen Gebilden zuſammen, unter dem Namen Ulven den Bota - nikern bekannt und häufig faſt jungen Sallatblättern ähnlich im Meere wachſend, oft grün oft purpurroth, armen Küſtenbewohnern nicht ſelten eine magere Speiſe. Weiter drängen ſich die Zellen endlich zu körperlichen Maſſen aneinander, verſchiedengeformte Klümpchen, Kugeln u. dgl. bildend. Nun beginnt eine mannigfachere und reichere Formenentwicklung als früher bei den einfachen Grundlagen möglich war, aber häufig wiederholen ſich beſonders auf den niederen Stufen der Pflanzenwelt auch noch für die einzelnen Gruppen und für die höhern Stufen faſt für alle einzelnen Organe die Unterſchiede der Entwicklungen nach der Länge, nach Länge und Breite, oder nach Länge, Breite und Tiefe.

Es iſt hier am Ort auf ein eigenthümliches Verhältniß bei den Pflanzen aufmerkſam zu machen, welches in der Thierwelt in ähn - licher Weiſe gar nicht oder doch keineswegs ſo auffallend vorkommt und dann immer nur da, wo ſich ohnehin die Analogien mit der Pflan - zenwelt am ſchärfſten faſſen und feſthalten laſſen, nämlich beim Kno -92 chen und Hautſyſtem. Bei den bisher erwähnten niederen Pflanzen läßt ſich überall in ihren einzelnen Theilen, ſo wenig wie eine be - ſtimmte Gliederung des Umriſſes, eben ſo wenig auch eine beſtimmte Vertheilung der Lebensthätigkeiten an einzelne beſtimmte Theile des Ganzen erkennen. Es finden ſich hier überall noch keine Organe weder ſolche, die durch eine beſtimmte Geſtalt, durch ein in gleicher Weiſe überall wiederkehrendes Verhältniß ihrer Form zur Form der ganzen Pflanze, alſo morphologiſch beſtimmt wären, noch ſolche, an welche bei einer von andern Pflanzentheilen verſchiedenen Form ſtets eine beſtimmte ein - zelne Lebensäußerung geknüpft wäre, die alſo als phyſiologiſch be - ſtimmte Organe bezeichnet werden könnten. Nach und nach ſehen wir zwar bei den etwas weiter entwickelten Tangarten, bei den Schwämmen und Flechten ganz beſtimmte Zellen, die ſich weſent - lich von andern unterſcheiden, für die Bildung der Fortpflanzungszellen beſtimmt; wir finden dieſe Zellen unter ganz beſtimmten Formen zu - ſammengeordnet, nach deren mannigfaltigen Bildungen man dann auch größere und kleinere Gruppen unterſcheiden kann, aber dabei bleibt die Sache in der Pflanzenwelt auch ſtehen. Bis zu den höchſt entwickelten Pflanzen hinauf finden wir ſtets, die Fortpflanzungsor - gane abgerechnet, eine völlige Unabhängigkeit der phyſiologiſchen von der morphologiſchen Bedeutung der einzelnen Organe, und es hat eine arge, ſchwer auszumerzende Verwirrung in die ganze Formen - lehre der Pflanzenwelt gebracht, daß man dieſes Verhältniß verkannt hatte. Ein und daſſelbe Organ kann bei verſchiedenen Pflanzen die verſchiedenſten Lebensthätigkeiten vermitteln und derſelbe Lebens - proceß kann bei der einen Pflanze an ein Blatt, bei der andern an den Stengel geknüpft ſeyn.

Nach dieſer Vorbemerkung können wir unſern Ueberblick des vegetativen Reichs nach ſeinen Geſtalten weiter auszeichnen. Die ganze Pflanzenwelt theilt ſich morphologiſch in zwei ungleiche Hälften, von denen die kleinere aus den drei Gruppen der Algen oder Tang - arten, der Schwämme und der Flechten gebildet wird. Bei dieſer Abtheilung iſt von weiteren Organen als dem Apparat zur93 Bildung der Fortpflanzungszellen überhaupt nicht die Rede und zwar deshalb, weil der Entwicklungsproceß in allen Theilen der Pflanze ein und derſelbe iſt, jeder Theil daher die ganze Pflanze repräſentirt und als ſolche fortwachſen und fortleben kann. Die Geſtalten ſind hier mei - ſtentheils von außerordentlich vagen Umriſſen begrenzt, am meiſten bei den Schwämmen, bei denen die eigentliche Pflanze nur ein außeror - dentlich vergängliches Geflecht einiger zarten Fäden iſt. Die gewöhnlich im gemeinen Leben als Schwämme bezeichneten Körper ſind nämlich nur die Fortpflanzungsorgane, gleichſam die Früchte der Pflanze. Aehn - liche Unbeſtimmtheit der Formen herrſcht noch bei den einfachen Algen, lauter Waſſerpflanzen, und nicht minder bei den niederen Flechten, den ſogenannten Kruſtenflechten, welche als ein weißlicher, grauer oder gelber Schorf alte Mauern, Steine und Planken überziehen. Nur bei den höheren Algen und Flechten werden die Formen etwas beſtimmter und zeigen oft ſehr conſtante Geſtalten, die ſelbſt die Aehnlichkeit von Stengeln und Blättern erhalten, aber ohne daß ſie dieſelbe Bedeutung, denſelben morphologiſchen Werth wie in der zweiten großen Pflanzenabtheilung erhielten.

Erſt in dieſer zeigen ſich zwei ſo weſentlich verſchiedene Entwick - lungsproceſſe an einer und derſelben Pflanze, daß man die Producte derſelben als weſentlich verſchiedene Grundorgane der Pflanze be - trachten muß.

Das eine Organ iſt das Erſte, Urſprüngliche, und bildet ſich immer an ſeinen beiden freien Enden fort, dieſe Enden ſind immer ſeine jüngſten zuletzt gebildeten Theile, wir nennen dieſes Organ Stengel im weite - ſten Sinne des Worts, oder Axe der Pflanze. An dieſem erſten Grundorgan und aus demſelben hervor bildet ſich dann ein zweites, deſ - ſen freies Ende zuerſt entſteht, alſo der älteſte Theil des Organs iſt, es wächſt nur an ſeinem Grunde, wo es mit dem Stengel zuſammen - hängt und auch hier nur eine gewiſſe Zeit lang fort, und wird auf dieſe Weiſe gleichſam aus dem Stengel hervorgeſchoben. Es wird Blatt in weiterer Bedeutung genannt. Während jenes ein unbe - grenztes Wachsthum als möglich erſcheinen läßt, iſt dieſes durch die94 Art ſeiner Bildung ſelbſt in beſtimmten Grenzen abgeſchloſſen. Man erſieht hieraus zweierlei: erſtens daß Stengel und Blatt ſich als Gegenſätze einander bedingen; nur wo das Eine vorhanden iſt, kann auch vom Andern die Rede ſeyn. Man unterſcheidet demzufolge jene beiden Hauptabtheilungen, auch als ſtengelloſe Pflan - zen und Stengel-Pflanzen. Zweitens ergiebt ſich aber auch aus dem Vorgetragenen, daß die Pflanze überall nur zwei ih - rem Weſen nach verſchiedene Organe haben könne, nämlich Blatt und Stengel, und daß alle übrigen ſogenannten Organe der Pflanze nur minder wichtige Abänderungen eines dieſer Organe, oder aus beiden zuſammengeſetzte und verſchmolzene Bildungen ſeyn müſ - ſen. Erſt ſeit Caspar Friedrich Wolff und Göthe hat man dieſen Satz mit Beſtimmtheit ausgeſprochen und aus den Verſuchen nach - zuweiſen, daß alle Organe der Stengelpflanzen ſich auf das eine oder andere Grundorgan zurückführen laſſen, iſt eine eigenthümliche Lehre entſtanden, für welche durch Göthe der Name die Metamorphoſe der Pflanze als allgemein gültig eingeführt iſt. Wie ſchon aus dem bisher Mitgetheilten klar geworden ſeyn wird, umfaßt dieſelbe nur einen ganz kleinen Theil derjenigen Lehre, welche als Morphologie ei - nen der weſentlichſten Abſchnitte der ganzen Botanik ausmachen ſoll.

Leicht könnten wir hier an einem Beiſpiel einen kurzen Ueber - blick dieſer Lehre geben, ohne gerade in alle Einzelnheiten, die noch manche Schwierigkeiten und ungelöſte Probleme darbieten, einzu - gehen. Das Wichtigſte iſt aber ſchon oben bei der Erläuterung der Idee der Urpflanze vorgekommen, und es bedarf hier nur noch eines kleinen Zuſatzes hinſichtlich der Blüthenbildung, welche einige Verwicklungen zeigt.

An der Stelle, wo ſich an der Urpflanze die Fruchtblätter und Saamenknospe befinden, alſo in der Mitte der Blume, zeigt ſich bei den meiſten Pflanzen ein Organ, welches rings geſchloſſen, im Innern hohl, die Saamenknospen umſchließt und deſſen Höhle nur nach Oben durch einen gewöhnlich ſchwer erkennbaren Kanal mit der Außenwelt communicirt. Dieſen Körper nennt man im Gan -95 zen Stempel, den Theil, von welchem die Saamenknospen umfaßt werden den Fruchtknoten (ſo viel als Fruchtknospe, Anlage zur Frucht) und die obere Oeffnung Narbe. Iſt der Körper zwiſchen Fruchtknoten und Narbe ſtielförmig in die Länge gezogen, ſo wird dieſer Theil Staubweg genannt (vergl. Taf. IV. Fig. 2). Dieſer Körper nun iſt es vorzüglich, welcher auf das Mannigfachſte zuſammengeſetzt iſt; bald ganz aus einem oder mehre - ren Fruchtblättern, gebildet wird, bald nur in ſeinem unteren Theile, dem Fruchtknoten, bald ganz aus einer eigenthümlichen Um - bildung des Stengels beſteht. Auch die Stengeltheile, welche ſonſt noch zur Blüthe gehören (aIII. aV. ) ſind oft auf die wunderbarſte Weiſe umgeſtaltet, und auf dieſen beiden Verhältniſſen beruht zum Theil die große Verſchiedenheit der Blumen, wozu dann noch die Zahl und Stellungsverhältniſſe der übrigen Theile das ihrige beitragen.

Wunderlich nehmen ſich die aus einer ſolchen wiſſenſchaftlichen Betrachtung hervorgehenden Bezeichnungen aus, wenn man ſie ins gemeine Leben überträgt, und es klingt ſeltſam genug, wenn man erfährt, daß uns die Erdbeere nur durch einen Theil des Blü - thenſtengels erfreut, während die wirklichen Früchte als kleine un - genießbare Körner erſcheinen, daß wir dagegen bei einer Himbeere eine Menge kleiner ächter Früchte, nämlich fleiſchig und ſaftig ge - wordene Fruchtblätter genießen, während dieſelben Stengeltheile, welche bei der nahe verwandten Erdbeere unſeren Gaumen reizen, hier einen kleinen weißen ſchwammigen Zapfen darſtellen, daß wir bei dem Apfel einen Theil des Blüthenſtiels, bei der Kirſche einen Theil eines Blattes verzehren, und daß bei der Ruß und Mandel ſogar eine ganze kleine Pflanze mit Wurzel, Stengel, Blättern und Knospe von uns verſchlungen wird.

Aber was ſchon im Eingang bei Betrachtung der Urpflanze er - wähnt wurde, müſſen wir uns hier noch einmal ins Gedächtniß zu - rückrufen: daß nämlich die bei der Urpflanze erwähnten einzelnen Theile und Formen bei weitem nicht bei allen Pflanzen, ja nicht ein - mal bei allen Stengelpflanzen, vorkommen. Auch unter dieſen letz -96 tern finden ſich eine große Anzahl, die viel einfacher gebaut ſind, und um hier die Entwicklung der Stufenleiter ferner zu durchlaufen, müſſen wir noch einmal auf die Fortpflanzung der Gewächſe zurückkommen.

Aus einer früheren Vorleſung iſt erinnerlich, daß die Bildung von beſtimmten Fortpflanzungszellen, die Lostrennung derſelben von ihrer Bildungsſtätte und ihre Entwicklung zu einer neuen Pflanze der allgemeine Vorgang der Vermehrung bei allen Pflanzen ſey, daß aber ſich ein weſentlicher Unterſchied darin herausſtelle, ob die Fort - pflanzungszelle ſich ſogleich ohne Weiteres im Waſſer oder in der Erde zu einer neuen Pflanze entwickeln kann, oder ob dieſe Ausbil - dung bis zu einer gewiſſen Stufe nur innerhalb eines eignen Or - gans der Pflanze, in der ſogenannten Saamenknospe, erfolgen könne. Zu den Pflanzen der erſten Art, welche Kryptogamen oder Geſchlechtsloſe genannt werden, gehört nun auch ein gro - ßer Theil der Stengelpflanzen. Namentlich will ich hier nur die Le - bermooſe und Mooſe, die Bärlappenarten (deren Fort - pflanzungszellen das ſogenannte Truden - oder Hexenmehl der Apo - theken ausmachen), die Farnkräuter und die Schachthalme (z. B. das Scheuerkraut) aufführen. Alle dieſe Pflanzengruppen gehören zu denen, bei welchen man deutlich Stengel und Blätter un - terſcheiden kann, aber es bildet ſich bei ihnen eine eigne Stufenfolge dadurch, daß die Bildung der Fortpflanzungszellen, welche bei Le - bermooſen und Mooſen noch in einer ihrer morphologiſchen Be - deutung nach unbeſtimmten Kapſel geſchieht, bei den folgenden Gruppen in immer engere Beziehung zum Blatte tritt, und zuletzt beſtimmte Blattorgane ſo ganz in Anſpruch nimmt, daß ſie ihre Aehn - lichkeit mit den übrigen Blätter genannten Organen ganz verlieren. Dieſe Blätter werden, da man die Fortpflanzungszellen als Sporen bezeichnet, Sporenblätter genannt, und bei den Schachthal - men erſcheinen ſie ganz in der Geſtalt wie in der folgenden und höchſten großen Abtheilung der Stengelpflanzen, nämlich bei den Geſchlechtspflanzen oder Phanerogamen, die Staub - fäden mit ihren Staubbeuteln ſich zeigen.

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Bei Lebermooſen, Mooſen und Farnkräutern findet ſich noch ein eigenthümliches Organ vor, welches ſeinen Structurverhältniſſen nach der Saamenknospe bei den Geſchlechtspflanzen entſpricht, ſei - ner morphologiſchen Bedeutung nach noch unbeſtimmt iſt, in phyſio - logiſcher Beziehung aber noch gänzlich unerklärlich daſteht und we - nigſtens gewiß mit dem Fortpflanzungsgeſchäft nicht in weſentlichem Zuſammenhange ſteht. Man nennt dieſe Organe gewöhnlich An - theridien. Sie erinnern auf's Lebhafteſte an eine Erſcheinung in der Stufenleiter der Thiere, wo wir ebenfalls nicht ſelten in einer Gruppe oder einem Geſchlecht ein Organ vorgebildet finden, welches hier aber gar nicht functionirt, ſondern erſt in einer benachbarten Gruppe ſeine wirkliche Bedeutung für das Leben gewinnt.

Stengel und Blatt als Grundorgane, beſtimmte Blätter umge - wandelt zu Sporenblättern für die Bildung der Fortpflanzungszellen und ein noch vages Organ mit den Structurverhältniſſen der Saa - menknospe, das ſind die Erwerbniſſe, mit denen die Natur an die Entwicklung der letzten großen Abtheilung der Pflanzenwelt geht, an die Gruppe der Geſchlechtspflanzen. Das Characteriſtiſche für dieſelben iſt, daß hier die Saamenknospe in ihre vollen Rechte als Fortpflanzungsapparat eintritt und zwar hier beſtimmt als End - glied der Stengelorgane erſcheint (aVI.).

Die ſämmtlichen Geſchlechtspflanzen zerfallen nun zuerſt wie - derum in zwei ungleich große Abtheilungen. In der erſten kleineren iſt die Blüthenbildung noch ſehr einfach, indem einerſeits noch das - jenige fehlt, was man im gemeinen Leben vorzugsweiſe unter Blume zu verſtehen pflegt, andererſeits die Saamenknospe und folglich auch der ſpäter daraus ſich entwickelnde Saame nackt, von keinem Frucht - knoten eingeſchloſſen ſich zeigt. Dieſe Abtheilung, welche die Na - delhölzer, die Loranthaceen mit der unſern Obſtbäumen ſo ſchädlichen paraſitiſch wuchernden Miſtel und eine tropiſche Pflan - zenfamilie, die Cycadeen, umfaßt, wird als Claſſe der Nackt - ſaamigen oder Gymnoſpermen der Claſſe der Verhüllt - ſaamigen oder Angioſpermen entgegengeſetzt.

Schleiden, Pflanze. 798

In dieſer letzten großen Abtheilung der Pflanzen endlich iſt es beſonders die Blüthenbildung, welche unſere Aufmerkſamkeit auf ſich zieht. Auch hierin laſſen ſich die Grundzüge einer Stufenleiter nicht verkennen, jedoch muß man hier noch eine andere Beſonderheit vor - her ins Auge faſſen, welche die ganze Menge der hierher gehörigen Pflanzen gleichſam in zwei parallele Entwicklungsreihen vertheilt. Wenn ſich aus der Fortpflanzungszelle allmälig die Keimpflanze ent - wickelt, ſo bildet ſich an dem natürlich zuerſt entſtehenden Axenkör - per entweder Ein erſtes Blatt, welches die ganze Pflanzenaxe ſchei - denförmig umfaßt, und im obern Theile ganz einhüllt, oder es bil - den ſich gleichzeitig und auf gleicher Höhe an der Stengelgrundlage Zwei erſte Blätter, welche ſich in den Umfang theilen und den obern Theil der Keimpflanze zwiſchen ſich einſchließen. Die erſte Reihe nennt man die Einſaamenlappigen oder Monocotyledo - nen, zu denen zum Beiſpiel alle Lilien-ähnliche Pflanzen, die Palmen, Gräſer und Rietgräſer gerechnet werden, die andere die Zweiſaa - menlappigen oder Dicotyledonen, wofür unſere gewöhnlich - ſten Gartenpflanzen und Laubbäume als Beiſpiele dienen können. Die Pflanzen beider Reihen weichen aber nicht nur in dieſem ſchein - bar untergeordneten Merkmale, ſondern auch in ihrer ganzen übri - gen Organiſation weſentlich von einander ab und unterſcheiden ſich ſelbſt ſo auffallend in ihrer äußeren Erſcheinungsweiſe, daß ein ei - nigermaßen geübtes Auge ſie leicht auf den erſten Blick erkennt. Die Erſten haben meiſt im Stengel zerſtreute, Faſern ähnliche Holz - bündel, wie der Maisſtengel, die andern einen feſtgeſchloßnen Holzkreis, wie die Weide; die erſteren haben gewöhnlich Blätter mit einfachen parallelen Längsadern, wie die Gräſer, die andern Adern, die ſich baumartig verzweigen und ſo ein zierliches Netz auf der Blatt - fläche bilden, wie bei der Linde; endlich finden wir in den Blüthentheilen der erſteren häufig die Dreizahl vorherrſchend, wie bei der Tulpe, bei den letzteren dagegen die Fünfzahl, wie bei der Primel. Dieſe beiden Reihen ſchreiten nun parallel neben einander, und was im Folgenden über die Blüthenbildung geſagt iſt, gilt für beide in gleicher Weiſe.

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Die Elemente, deren Combination zu höheren Einheiten hier der Natur zu Gebote ſteht, haben wir kennen lernen. Das Erſte, was ſie thut, iſt, daß ſie die Saamenknospe in den eigenthümlichen Apparat einſchließt, den wir oben als Stempel bezeichnet haben. Anfänglich ſind aber Staubfäden und Stempel noch ohne weſentliche räumliche Beziehung zu einander. Jedes Organ bildet eine Blüthe für ſich. Dann werden beide vereinigt, indem ſich eine beſtimmte Anzahl von Staubfäden um einen oder mehrere Stempel verſam - meln. Demnächſt treten erſt einer, dann mehrere Kreiſe von Blatt - organen zu dieſer Blüthe hinzu und bilden ſo das, was man ge - wöhnlich als Blume zu bezeichnen pflegt. Dieſe Blätter nehmen an - dere Formen, andere Farben, zum Theil auch zartere Structurver - hältniſſe an und werden als Blüthenhülle, Kelch, Blumenkrone u. ſ. w. bezeichnet. Endlich auf der höchſten Stufe vereinigt die Natur aber - mals eine Anzahl ſolcher einzelnen Blumen zu einem größeren abge - ſchloſſenen Ganzen, indem ſie dieſelben nach einem ganz ſcharf ge - zeichneten Typus zuſammenordnet und mit Kreiſen von Blättern um - giebt und abſchließt. Dieſe zuſammengeſetzten Blumen (wie Linné ſie nannte) characteriſiren in der erſten Reihe der monocotyle - donen Pflanzen die Gräſer, in der zweiten der dicotyledonen Pflan - zen diejenige Pflanzenfamilie, zu welcher das Marienblümchen, der Löwenzahn, die Diſteln, Artiſchocken und unzählige andere Pflanzen gehören, die man dieſer Eigenthümlichkeit wegen als die zuſammengeſetztblüthigen oder Compoſiten bezeichnet. Was das kränzewindende Mädchen Kornblume nennt, iſt in der That eine ganze Geſellſchaft kleiner, aber ganz vollſtändiger Blumen. Wenn wir in dem Fortſchritt vom Einfacheren zum Zuſammengeſetzteren eine Reihenfolge erkennen wollen, ſo müſſen wir offenbar die Gräſer und Compoſiten als die höchſte Stufe der gegenwärtigen irdiſchen Vegetation anſehen. Merkwürdig genug ſind es auch gerade dieſe beiden Familien, welche durch ihre Arten - und Individuenzahl den eigentlichen characteriſtiſchen Beſtandtheil der ganzen gegenwärtigen Erdenflora ausmachen, indem bei einer Geſammtzahl von etwa7*100300 Pflanzenfamilien die Familie der Gräſer allein 1 / 20, die der Compoſiten 1 / 10, alſo beide zuſammen faſt 1 / 7 ſämmtlicher Pflan - zenarten umfaſſen.

Ich muß mich hier damit begnügen, in der vorliegenden Skitze die Hauptgeſichtspuncte hervorgehoben zu haben, welche beim gegen - wärtigen Stande unſerer Wiſſenſchaft die Wendepuncte der morpho - logiſchen Betrachtung ausmachen. Daß ſich hier im Einzelnen noch zahlloſe Fragen und Betrachtungen aufdrängen, wird jedem Denken - den einleuchten. Demjenigen, der noch nicht ſich gewöhnt hat durch die äußere Erſcheinungsweiſe hindurch auf den weſentlichen innern Zuſammenhang der Geſtaltentwicklungen zu blicken, wird es freilich ſehr paradox vorkommen, wenn wir ihm ſagen, daß die kugelförmige gerippte fleiſchige Maſſe eines Cactus mit ſeinen prachtvollen Blü - then eigentlich nichts iſt als ein tropiſcher Stachelbeerſtrauch, daß die oft 30 Fuß hohen Palmen-ähnlichen Stämme der Dracä - nen mit mächtigen Büſcheln großer Lilienblumen durchaus demſel - ben Formen - und Entwicklungskreiſe angehören, wie unſer unſchein - barer Gartenſpargel, oder daß unſere an Dorfwegen überall die Ränder ſchmückende, kriechende Käſepappel oder wilde Malve mit den 6000 Jahre alten Rieſenſtämmen des Baobab auf der africaniſchen Weſtküſte bei Weitem näher verwandt ſey, als mit dem neben ihr vegetirenden wilden Mohn, und gleichwohl iſt dies Alles unzweifelhaft wahr. Denn um noch einmal auf das oben vorge - führte Princip zurückzukommen, bei den organiſchen Weſen entſchei - det nicht die Erſcheinung des Gewordenen, ſondern das Geſetz des Werdens über gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich und die Idee der Entwicklungsgeſchichte iſt der allein befruchtende Gedanke in der wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Lebendigen und beſtimmt den Werth der Diſciplinen; deshalb ſteht auch die Pflanzenphyſio - logie höher als die ſyſtematiſche Botanik, die vergleichende Anato - mie höher als die beſchreibende Zoologie und die Geſchichte höher als die Statiſtik.

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Fünfte Vorlesung. Vom Wetter.

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Die Stürme brauſen um die Wette, Vom Meer auf's Land, vom Land auf's Meer, Und bilden wüthend eine Kette Der tiefſten Wirkung rings umher. (Fauſt. )[102][103]

Seit lange ſchon iſt die beſſere Geſellſchaft darin übereinge - kommen, daß es wider den guten Ton ſey, vom Wetter zu reden, daß es nichts Langweiligeres gebe, als Wettergeſpräche und daß man dieſelben den Matroſen und unbeholfnen Liebhabern überlaſſen müſſe, und man verſichert ſich gegenſeitig, daß in allen Geſellſchaf - ten, wo guter Geſchmack herrſcht, das Wetter nicht mehr als Ge - genſtand der Unterhaltung vorkomme. Wenn ich gleichwohl mich unterfange, heute vom Wetter zu reden, ſo will ich zwar gern zu - geben, daß vielleicht mein Vortrag herzlich langweilig werden kann, aber ich muß es durchaus in Abrede ſtellen, daß auch in der beſten Geſellſchaft weniger als anderswo vom Wetter geſprochen werde, ich muß beſtimmt darin widerſprechen, daß das Wetter ein lang - weiliger Gegenſtand ſey. Was iſt überhaupt langweilig? ſelten oder nie der Gegenſtand, wohl aber die Art und Weiſe, in welcher er behandelt wird. Gäbe es wohl für Damen und vielleicht ſelbſt für einige Herren einen intereſſanteren Gegenſtand als die Mode? Und doch würde es eine Dame ebenſo langweilig finden, wenn Je - mand das Geſpräch mit der Bemerkung einleitete: wir haben jetzt eine ſehr hübſche Mode, ebenſo langweilig meine ich, als wenn Einer bemerkt: wir haben heute eine ſehr ſchöne Witterung. Wie anders aber, wenn man, leicht hervorhebend, wie gut die ge - wählte Haube zur Form des Kopfes paſſe, ſinnig zu den Hauben - formen der verſchiedenen Nationen, zu denen berühmter Frauen übergeht, nachweißt, welchen Einfluß Klima, Bedürfniß, Volksei -104 genthümlichkeit auf die Bildung gewiſſer Formen der Kleidungs - ſtücke haben, wie der Geſchmack die ſo entſtandenen Formen ergreift, nach ſeinem Zwecke umgeſtaltet und endlich ſich die Laune einmiſcht, um durch das Eingreifen ihrer Bizarrerien die bunte Mannigfaltig - keit hervorzurufen, die unſer Auge immer ergötzt, ſo lange nicht ein überſättigter Sinn und ein verdorbener Geſchmack offenbar Häßliches ſchaffen. Ebenſo beim Wetter, und um ſo mehr ſo, als nichts ſo tief in unſer körperliches und geiſtiges Leben eingreift, als eben dieſes. Wer möchte heut zu Tage bei unſern complicirten Lebens - verhältniſſen noch behaupten, er ſey abſolut geſund? und brauche ich es erſt auseinander zu ſetzen, welchen Einfluß das Wetter auf einen nicht vollkommen geſunden Menſchen ausübt, wie insbeſondere alle die an chroniſchen Krankheiten leiden, in ihrem Wohlbefinden von der Witterungsconſtitution abhängig ſind? Wer kennte nicht die alte Redensart: der Mann hat einen Kalender an ſich, welche ſich auf die beſtändig wechſelnden Gefühle in einem kranken Gliede, in größeren Wunden, oder an Amputationsflächen, ſelbſt dann, wenn der Menſch übrigens vollkommen geſund iſt, zeigen, ſo wie ſich be - deutende Veränderungen im Wetter zutragen. Hier ſind es die Nerven, die ſich im menſchlichen Körper überall hin gleichſam wie Fühlfäden der Seele ausſtrecken, welche oft genauere und frühere Kunde von den Veränderungen um uns geben, als die nur auffal - lende Erſcheinungen erfaſſenden Augen. Aber eben wegen dieſer Nerven muß man auch behaupten, daß ſelbſt der geſunde Menſch fortwährend den Einflüſſen der Witterung offen iſt. Von jedem Mann kann man zwar verlangen, daß er dieſen unmerklichen Ein - wirkungen durch den Willen zu widerſtehen vermag, daß er ihnen auf ſein Denken und Handeln keinerlei Einfluß geſtatte. Wer aber dieſe Einwirkung des Wetters auf ſich, auf das Gefühl der Luſt oder des Unbehagens, der Kraft und Geſundheit oder der Niedergeſchla - genheit und Mattigkeit ableugnen wollte, den müßte ich der Un - wahrheit oder der mangelhaften Selbſtbeobachtung zeihen, oder ihn als einen Mann von krankhaft abgeſtumpften Nerven beklagen. Ja,105 es ließe ſich vielleicht für jede Nüancirung des Wetters eine Ge - müthsſtimmung auffinden, welcher ſie durch ihren Einfluß auf die Nerven förderlich iſt, deren Gegentheile ſie alſo feindlich entgegen tritt. Schon unſere Vorfahren kannten und benannten einen Wonne - mond und in England heißt der November the month of fog, misanthropy and suicide. Thatſache iſt, daß die meiſten Selbſt - morde dort in dieſem Monat begangen werden. Frommond erzählt, daß beim Südwind die Einwohner der Azoren herumgehen, als wenn ſie vor den Kopf geſchlagen wären und daß ſelbſt die kleinen Kinder betrübt zu Hauſe ſitzen, ſtatt auf den Gaſſen zu ſpielen. Sanctorius bemerkte, daß alle Menſchen ſich ſchwerfälliger fühlten bei feuchtem nebligen Wetter und Unzer behauptet, daß Kranke und Geſunde ſtets wohler ſeyen bei hohem Stande des Queckſilbers. Schon bei Hippocrates finden wir bemerkt, daß feuchte Frühjahre heftige Fieberepidemien nach ſich zögen und an allen Seeküſten iſt der Glaube verbreitet, daß die Mehrzahl der Menſchen aus dem Leben ſcheide, wenn der Mond um 90 Grad von ſeiner Culmination entfernt ſey, nämlich zur Zeit der Ebbe. Ich führe dieſes Alles nicht an, weil ich die Thatſachen ſelbſt für über allen Zweifel erhaben halte, ſondern nur um zu zeigen, wie allgemein die Ueberzeugung verbreitet iſt, daß das Wohlbefinden des Menſchen vom Wetter ab - hängig ſey. Wenn wir auf ſehr hohen Bergen ſind, ſo liegen gar häufig Wolken, Regen und alle Trübſale des Wetters tief un - ter unſern Füßen und ſo mögen auch die, welche auf den Höhen der Menſchheit ſtehen, die Herrſcher der Völker und die Großen weniger berührt werden von dem Wechſel des Wetters, deſto mehr hängt in den niedern Regionen alles Wohl und alles Wehe des Lebens von Regen und Sonnenſchein ab. Stellen wir uns einen Augenblick ne - ben Le Sage's hinkenden Teufel und ſchauen in das Innere der Häu - ſer hinein; hier harret die liebende Gattin des Mannes, ſie eilt dem wiederkehrenden freundlich entgegen und wird mürriſch zurückgeſtoßen, jubelnd läuft der ſechsjährige Bube auf den Vater zu und beſchmuzt mit ſeinen Fingerchen deſſen Kleid. Ein derber Hieb iſt ſeine Be -106 grüßung; finſter wirft ſich der Mann auf's Canapee und peinliches Schweigen herrſcht im Zimmer, mit einem Worte, wo man Liebe und Freude geſucht, iſt Mißmuth und Trübſinn eingezogen, und warum? der anhaltende Regen hat die Heuernte ruinirt und wegge - ſchwemmt; der Schaden beläuft ſich auf viele tauſend Thaler.

Und dort: mit einer gewiſſen Bangigkeit blickt eine Frau in den ſonnigen Herbſtmorgen, da ſtürmt der Mann herein, umarmt ſie und ſpricht: Ein köſtliches Jahr, ein Wein wie der Elfer, baaren Gewinn von 10,000 Thaler, ſo eben verkaufte ich den ganzen Er - trag. Freue dich mit mir, Geliebte, und dabei überreicht er ihr den langerſehnten Caſchmirſhawl; Freunde kommen, um Glück zu wün - ſchen und bis ſpät in die Nacht tönt der Jubel der Freude aus dem Hauſe. Das Wetter iſt es, welches hier beglückt, dort Kum - mer bereitet.

Erheben wir uns endlich noch auf höheren Standpunkt. Die ganze Erde liegt ausgebreitet zu unſern Füßen. Dort ſehen wir ein weichliches Volk, der Deſpot in allen Lüſten ſchwelgend, der Bonze allmächtig, der Paria gedrückt und getreten, Aberglaube ſtatt Glaube, Formelweſen ſtatt Geiſt. Hier ein kräftiges Volk, ſtolz auf ſeine Macht, Freiheit kehrt ungehindert in die ärmſte Hütte ein und ſchüttet Reichthum aus auf die beglückten Fluren, *) Where liberty abroad walks unconfined even to thy farthest cotts and scatters plenty o'er the shining land. Thomson's seasons. wie der Dichter ſagt. Dort ſehen wir ein Volk, geiſtig entwickelt und gebildet, wie kein anderes, beſtändig beſchäftigt mit den höchſten Aufgaben der Menſchheit und meiſt in ihren Löſungen glücklich und bei dieſem re - gen Geiſtesleben faſt des Leiblichen vergeſſend und ſorglos einigen Wenigen die Leitung ſeiner Angelegenheiten überlaſſend und unter andern Breiten derſelbe Stamm, entartet durch Schwelgen, verſun - ken faſt in thieriſchen Genuß der Sinnenreize, über die er als deſpo - tiſcher Herr in ſeinen eignen Angelegenheiten gebietet und unbeküm - mert, ob es ein ſolches Ding wie eine Seele gebe, die ihr höheres Recht auf Entwicklung und Ausbildung geltend machen könnte.

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Mit einem Blick überſehen wir den fröhlichen Tahitier, den ſtum - pfen Feuerländer, den förmlichen Chineſen, den ungebundenen Be - duinen, den kindlichen Hindu, den männlichen Engländer, den ab - ſtracten Deutſchen, den materiellen Yankee und alle dieſe und neben ihnen die tauſend andern Nüancirungen der menſchlichen Natur ſind in ihren letzten Gründen abhängig, oder doch gefördert vom Wetter.

Iſt es denn nur möglich, daß der Menſch dieſe ſeine Abhängig - keit für längere Zeit vergeſſen kann? Und dieſe ungeheure Macht, die Körper und Geiſt, das Leben des Einzelnen wie die Geſchichte der Menſchheit beherrſcht, ſollte nicht ein würdiger Gegenſtand des Nachdenkens, der Unterhaltung ſeyn? Aber können wir wirklich in dieſe Werkſtatt der Natur eindringen, oder iſt etwa der Gegen - ſtand deshalb des Intereſſe's unwürdig, weil wir eben verdammt ſind bei ihm ſtets auf der Oberfläche zu bleiben? Unſere heiligen Schriften ſagen: Du hörſt wohl des Windes Rauſchen, aber du weiſt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt!

Leider kann ich den Vorwurf nicht ganz abweiſen, daß wir Naturforſcher nicht gar viel von der Bibel halten. Möglich iſt es da - bei freilich, daß eben, weil wir nicht viel davon halten, wir das Wenige, was wir davon behalten, auch klarer, reiner und deßhalb richtiger auffaſſen, als andere; doch das gehört nicht hierher. Ich muß allerdings zugeben, daß, ſo weit es naturwiſſenſchaftliche Fra - gen betrifft, wir der Bibel durchaus gar keine Autorität einräumen können, vielmehr behaupten müſſen, daß ſie ſich dabei auf einer menſchlich höchſt beſchränkten Stufe eines unwiſſenden und ungebil - deten Jahrhunderts bewegt. Wir glauben jetzt allerdings recht wohl zu wiſſen, von wannen der Wind kommt und wohin er fährt.

Doch zunächſt müſſen wir beſtimmter ſagen, was wir unter Wetter verſtehen. Den Hauptpunkt habe ich ſchon genannt. Für un - ſere Gegenden iſt es der Wind, der abwechſelnd nach ſeinen verſchie - denen Richtungen uns Wolken und Sonnenſchein, Wärme und Kälte, Regen und Schnee, Ruhe und Gewitterſturm bringt und durch al -108 les Dieſes dem allgemeinen Charakter der Jahreszeiten erſt die indi - viduellen Eigenthümlichkeiten aufprägt, die wir Wetter nennen. Alle jene verſchiedenen Erſcheinungen und vor Allen der Wind ſind aber nur Veränderungen, verſchiedene Zuſtände der Zuſammen - ſetzung, Ruhe und Bewegung der feinen Materie, die uns umgiebt, und die wir als Luft bezeichnen. Treten wir hinaus in die klare Nacht und blicken über uns aufwärts zu den Sternen, ſo erblicken unſere Augen keine Grenze zwiſchen uns und jenen Himmelslich - tern. Es deucht uns wohl ſo, als ob daſſelbe unſichtbare Etwas, welches uns umgiebt, ſich ununterbrochen hinauf erſtrecken müſſe, bis zu jenen glänzenden Welten, deren Licht ſcheinbar ſo ungehin - dert zu uns herabſtrömt. Dem iſt aber nicht alſo. Könnten wir auf - wärts ſteigen, ſo würden wir, ſchon ehe wir noch ein nennens - werthes Stück unſeres Weges zurückgelegt, an der Grenze der Luft angekommen ſeyn. Nicht unrichtig nennt ſie die dichteriſche Sprache Luftmeer, und die kühnen Sterblichen, die ſie durchflogen, Luft - ſchiffer. Wie eine dünne flüſſige Schicht umgiebt ſie unſeren Erdball und nimmt an ſeinen Schickſalen Theil. Mit ihm durchfliegt ſie die Räume des Weltalls in ſeinem Laufe um die Sonne, mit ihm dreht ſie ſich in gleicher Schnelligkeit von Weſt nach Oſten um ſeine Axe. Thäte ſie dieſes nicht, oder bewegte ſie ſich auch nur langſa - mer, als er, ſo würden wir, die wir an den Boden und ſeinen Umſchwung gefeſſelt ſind, uns durch ſie durchdrängen müſſen, ſie würde uns als Sturmwind entgegen zu kommen ſcheinen, eine Thatſache, die, wie ſich ſpäter erweiſen wird, von großem Ein - fluſſe auf die Theorie der Winde iſt. Ich habe die Luft eine Flüſſig - keit genannt und das iſt ſie in der That. Sie fließt aus einem Raum in den andern und eben dieſe Luftſtröme nennen wir Winde. Aber, wird man fragen, wo iſt denn der Raum, in welchen ſie ein - ſtrömen könnte, da ja überall Luft verbreitet iſt, alſo überall Gleich - gewicht herrſchen muß, wie in einem ruhig ſtehenden Gefäße mit Waſſer? Um dies zu erläutern, muß ich zunächſt eine der wich - tigſten Eigenſchaften der Luft näher aus einander ſetzen. Die109 Wärme hat bekanntlich die Eigenſchaft, die Körper, welche ſie durch - dringt, auszudehnen. Ein Eiſenſtab, wenn er glühend gemeſſen wird, iſt breiter, dicker und länger, als derſelbe Stab, nachdem er wieder vollſtändig erkaltet iſt. Daſſelbe gilt auch für die Luft, ſie wird aus - gedehnter und in Folge deſſen auch leichter, wie die einfachſte Form des Luftballons, die nach ihrem Erfinder ſogenannte Montgolfière beweiſt, welche dadurch ſteigt, daß man die gemeine, in einem unten offnen Ballon eingeſchloſſene Luft durch eine ſtarke, unten angebrachte Flamme erhitzt. Die leichter gewordene Luft ſteigt dann durch die kältere Luft wie Oel durch's Waſſer in die Höhe und ſchwimmt auf derſelben. Liegt die kalte Luft auf einer ſchrägen Fläche, ſo fließt die wärmere auf der kalten Luft herab, wie Waſſer an einem Berge, ſcheinbar ohne ſich, wenn der Temperaturunterſchied bedeutend iſt, mit derſelben zu vermiſchen.

Da aber die warme Luft dünner iſt, als die kalte, d. h. weil in einem gleichen Raume weniger Luft iſt, wenn ſie warm als wenn ſie kalt iſt, ſo fließt auch die kalte Luft in jeden Raum hinein, der er - wärmt iſt und zwar, weil ſie ſchwerer iſt, am Boden. Oeffnet man in ſehr kaltem Winter die Thür eines erheizten Zimmers, ſo ſtrömt die kalte Luft am Boden ein, die warme Luft in der Höhe aus, was ſich deutlich durch die Bewegung einer hoch oder tief in die Thür ge - haltenen Lichtflamme zu erkennen giebt. Dies iſt im Kleinen die Ver - anlaſſung zu dem von dem zarten Frauengeſchlecht und auch von einigen zarten Herren ſo ſehr gefürchteten Zuge. Dies im Großen die Urſache deſſen, was der Matroſe nach Umſtänden durch Beten und durch Pfeifen herbeiruft, oder verflucht, die Urſache des Windes und der Stürme. Freilich wird man mir antworten, daß wir damit immer noch nicht klüger geworden ſind. Denn wenn um den kahlen Gipfel des Brockens die Frühlingsſtürme brauſen und in ſchaurigem Treiben den Schnee aufwirbeln, daß der geblendete Wanderer nur noch hun - dert Schritte vom gaſtlichen Hauſe entfernt, ſich verirrt und eine Beute des Todes wird, ſo frägt ſich's immer noch, wo iſt denn hier das geheizte Zimmer und wo die geöffnete Thür? und am Ende be -110 hält die alte Rede doch Recht, die den für einen klugen Mann erklärt, der immer weiß ', woher der Wind weht. Ich getraue mir aber nachzuweiſen, daß das gar ſo ſchwer nicht ſey, denn jene Redensart ſetzt voraus, daß es ſo viele Winde auf Erden gebe, als die Wind - roſe des Compaſſes Puncte hat, während es doch in der That eigent - lich nur zwei Winde giebt.

Indeß, ehe ich zur Erklärung dieſer ſonderbar ſcheinenden Be - hauptung übergehe, muß ich noch einer anderen Eigenſchaft der Luft erwähnen, die für die Erſcheinungen, die wir Wetter nennen, nicht minder wichtig wird. Ich knüpfe an eine Allen bekannte Erſcheinung an. Wenn man ein ganz trocknes aber recht kaltes Glas in ein war - mes Zimmer bringt, ſo beſchlägt es, wie man ſagt, d. h. es bedeckt ſich plötzlich mit kleinen Waſſertröpfchen, und zwar um ſo ſtärker, je größer der Unterſchied zwiſchen der Wärme der Zimmerluft und der Kälte des Glaſes iſt. Woher kommt dieſes Waſſer? Sicher nicht aus dem Glaſe, denn dieſes war vorher trocken, ſondern aus der Luft in der Stube. Der Grund, daß dieſes vorher unſichtbare, luftförmige Waſſer plötzlich in Geſtalt kleiner ſichtbarer Tropfen erſcheint, liegt in dem Unterſchiede der Temperatur der Luft in der Stube und der Luft in der Nähe des kalten Glaſes und es zeigt ſich hierdurch zugleich das Geſetz, daß die Luft um ſo mehr unſichtbares Waſſer enthalten kann, je wärmer ſie iſt. Dieſes ganze Verhältniß iſt die Urſache der Wolkenbildung, des Regens, Schnee's und ähnlicher Erſcheinungen auf der Erde.

Beide Betrachtungen aber, ſowohl über die Urſachen des Win - des, als über die Bildung der wäſſrigen Niederſchläge der Atmo - ſphäre führten uns zu einer Kraft, von welcher beide Erſcheinungen wiederum abhängig ſind, nämlich zur Wärme. Suchen wir nach der allgemeinen Quelle derſelben, ſo werden wir auf die Sonne gewieſen. Sie iſt die Allbewegerin auf Erden und auf eine wunderbare einfache Weiſe unterhält ſie an der Erde einen beſtändigen Kreislauf der Stoffe, wodurch allein das Leben der organiſchen Weſen, der Pflan - zen und Thiere möglich gemacht wird. Schon der Kaiſer Aurelian111 ſagte, daß er unter allen den Göttern, welche die welterobernde Roma von den Beſiegten entlehnt und in ſich verſammelt hätte, keinen der Anbetung wahrhaft würdig gefunden habe, als die Sonne, und unter allen Formen des Heidenthums iſt gewiß die erhebenſte Feier die, wenn der Parſe frühmorgens am Ufer des Meeres harrt und bei den erſten Strahlen der Sonne, die über die tanzenden Wellen hinzucken, ſich mit dem Antlitz zu Boden wirft um im ſtillen Gebet die Wieder - kehr der Allbelebenden und Allzeugenden zu begrüßen.

Leider iſt hier abermals der Ausſpruch der Bibel, welcher eine gleiche Vertheilung der himmliſchen Gaben an alle Menſchen be - hauptet ( der Herr läßt es regnen über Gerechte und Ungerechte ) unrichtig und der Menſch hat je nach ſeinem Wohnplatz auf der Erde ſehr verſchiedenen Antheil an dem erwärmenden und belebenden Ein - fluß der Sonne. Nur dann ſpendet ſie ihren Seegen im höchſten Maße, wenn ihre Strahlen ſenkrecht den Erdboden treffen und dies geſchieht wegen der Stellung der kugelrunden Erde zur Sonne nur in einer ſchmalen Zone zu beiden Seiten des Aequators, im Ganzen etwa nur in einem Viertel der ganzen Länge vom Südpol bis zum Nordpol. Von dieſem Gürtel an nimmt ihre Einwirkung ſo ſchnell ab, daß ſie ſchon durchſchnittlich im 70° nördlicher und ſüdlicher Breite nicht im Stande iſt, den gefrornen Boden tiefer als wenige Fuß aufzuthauen und im 80° auch die Oberfläche ſogar im höchſten Sommer von unſchmelzbarem Eiſe ſtarrt. Der Aequator ſelbſt liegt zweimal im Jahre, zur Zeit der Herbſt - und Frühlings-Tagundnacht - gleiche, unter den ſenkrechten Strahlen und ebenfalls jeder Ort in der eben bezeichneten Zone, aber ſo, daß die Zeitpuncte immer näher zu - ſammenrücken bis ſie unter den Wendekreiſen zuſammenfallen, welche nur einmal im Jahre, und zwar der Wendekreis des Krebſes zur Zeit unſeres längſten Tages, der des Steinbocks zur Zeit unſeres kürzeſten Tages, von den ſenkrechten Strahlen der Sonne durchwärmt werden.

Wenn der Schiffer auf ſeiner Fahrt nach Süden mitten im at - landiſchen Oceane ſich dem Aequator nähert, ſo ergreift bange Furcht die ganze Equipage. Früher oder ſpäter, je nach der Jahreszeit, wird112 der günſtige Wind, der ihn bis dahin getragen, ſchwächer und ſchwä - cher, er ſchweigt anfänglich für kurze Zeit und zuletzt gänzlich. Um ihn breitet ſich das Meer aus, eine endloſe Spiegelfläche. Das vor Kurzem noch einem Vogel gleich dahin fliegende Schiff liegt feſtge - bannt auf dem flüſſigen Kryſtall. Die ſenkrecht herabfallenden Strahlen der Sonne durchglühen den engen Raum, auf welchem die Menſchen eingeſchloſſen ſind. Das Verdeck brennt durch die Sohlen der Schuhe. Ein erſtickender Dunſt füllt die Räume. Schon vierzehn Tage liegt der ſtolze Beherrſcher der Meere unbeweglich auf derſelben Stelle. Der Vorrath des trinkbaren Waſſers iſt verzehrt. Glühender Durſt heftet die lechzende Zunge an den Gaumen. Mit wilden, mordſchwan - gern Blicken der Verzweiflung ſieht jeder ſeinen Leidensgefährten an.

Die Sonne ſinkt herab, in eigenthümlichem Kupferroth leuchtet der abendliche Himmel. Und mit der emporſteigenden Nacht erhebt ſich auch eine ſchwarze Mauer in Oſten, ein leiſes ſchrilles Pfeifen tönt aus der Ferne, von woher ein weißer Schaumſtreifen über den ſchwarzen Ocean heranzieht. Das Schiff bewegt ſich und ſchwankt auf den unregelmäßig ſich erhebenden Wellen, aber noch hängen die Segel ſchlaff am Maſte herunter und klappern unheimlich an die Stangen. Da plötzlich raſt der Sturm mit furchtbaren Brüllen heran, kreiſchend zerreißen die Segel und fliegen in Fetzen davon, ein lautes Krachen, ein zweites, und der Hauptmaſt fliegt über Bord, mit An - ſtrengung gelingt es der Mannſchaft ſeine letzten Stricke zu durchhauen und nun fliegt das Schiff auf dem Ocean dahin, bald hoch auf den Rücken der Wellen gehoben, bald hinabgeſchleudert in die Tiefe, daß alle Rippen beben und knirſchen als wollten ſie von einander weichen. Endlos rollt der Donner, die Blitze zucken ohne Aufhören durch die empörte Atmoſphäre. In Strömen ſtatt in Tropfen ſtürzt der Regen herab. Zehnmal glauben ſich die Schiffenden verloren, wenn der zitternde Bau in den Abgrund der Wellen hinabſtürzte und immer wieder erhebt er ſich. Endlich läßt der Sturm nach, einzelne Stöße folgen immer ſeltener, die Wellen ebnen ſich und wenn die tröſtende Sonne im Oſten herauf ſteigt, beleuchtet ſie daſſelbe troſtloſe Bild,113 wie am vorigen Tage. Spiegelglatt dehnt ſich wieder die endloſe Fläche aus, nach acht Tagen iſt der geſammelte Waſſervorrath ver - zehrt und abermals ſchauen ſich die ſtumm herumſchleichenden Geſpen - ſter mit mordgierigen Blicken an. Ein neuer Sturm, eine neue Wind - ſtille und ſo in ſchrecklichem Wechſel fort, bis endlich das Schiff jen - ſeits des Aequators wieder in die Region der friedlichen Paſſate ge - jagt iſt. Hunderte von Schiffen ſind ſchon hier in den Stürmen zu Grunde gegangen, Hunderte haben durch den ſchrecklichſten Tod des Verdurſtens ihre Mannſchaft verloren. Und die, welche die ſchreck - liche Region der Calmen, oder Windſtillen, ſo nennt ſie der Schiffer, überſchritten haben, wenden ſich im ernſten Gebet zum Himmel und danken für das neugewonnene Leben.

Das deutſche Mährchen nennt eine Höhle, in der Frau Holle ſitzt und das Wetter braut. In der Wirklichkeit iſt jene Region der Windſtillen und Stürme Frau Hollens Höhle. Dort wird das Wetter gemacht für den ganzen Erdkreis.

Die Sonne, welche ſich zweimal im Jahre ſenkrecht über dieſer Region befindet, nie ſich weit genug entfernt, daß eine Abkühlung eintreten könnte, durchglüht hier die Atmosphäre ſo ſehr, daß ſie durch die Hitze dünner, leichter geworden, in einem fortwährend aufſteigenden Strome (courant ascendant) ſich befindet. Gleichzeitig verdunſtet von der ungeheuren Fläche des atlantiſchen und ſtillen Oceans eine namenloſe Menge von Waſſer, welche ſich in der heißen Luft verbreitet und mit ihr emporſteigt. Aber ſo wie die Luft höher und höher ſich von der Erde erhebt, kühlt ſie ſich mehr und mehr ab, oft plötzlich um viele Grade und ein großer Theil des mitgenommenen Waſſers ſchlägt ſich nun plötzlich in Tropfenform nieder, dadurch werden große Veränderungen in der Electricität der Atmosphäre her - vorgerufen und ſo bilden ſich die furchtbaren, ſchnell entſtehenden und ſchnell vergehenden Gewitterſtürme in der Gegend, die ſonſt wegen des beſtändigen Aufwärtsſteigens der Luft völlig windſtill erſcheint.

Anders aber geſtaltet ſich die Sache an den beiden Grenzen dieſer Zone. Die in Folge der Hitze fortwährend aufſteigende Luft läßt einenSchleiden, Pflanze. 8114Raum zurück, der nur äußerſt verdünnte Luft enthält und in dieſen ſtrömt von Norden und Süden her beſtändig die kalte Luft mit großer Heftigkeit und Stetigkeit hinein. Dies iſt der eine Wind der Erde, wir wollen ihn, weil er von den Polen nach dem Aequator zu fließt, den Polarſtrom nennen. Auf der nördlichen Halbkugel iſt er natürlich ein Nordwind, auf der ſüdlichen ein Südwind. Wir müſſen aber bedenken, daß ein ſolcher Strom oder Wind nur ein ſich fortbewegen - der Theil der Atmosphäre und daß dieſe in allen ihren Theilen an die Erde und ihre Schickſale gebunden iſt und, wie ſchon erwähnt, ſich mit derſelben von Weſten nach Oſten um ihre Axe dreht. Dies geſchieht aber in verſchiedenen Gegenden, wie ſchon ein Blick auf die Erdkugel lehrt, in ungleicher Schnelligkeit. Während am Pol ſelbſt ſich die Luft nur um ſich ſelbſt dreht, ohne vorwärts zu kommen, ſo legt die Luft am Aequator in Einer Stunde einen Weg von mehr als 200 Meilen zurück. Denken wir uns nun die Luft des Poles plötzlich an den Aequator verſetzt, ſo wird längere Zeit vergehen, ehe ſie die - ſelbe Geſchwindigkeit von Weſten nach Oſten angenommen, als die dort befindliche Luft, ſie wird gegen dieſe zurückbleiben, indem die Erde gleichſam unter ihr weggleitet, oder, mit andern Worten, ſie wird als Luft erſcheinen, die ſich von Oſten nach Weſten bewegt, d. h. als Oſtwind. Wenden wir dieſes auf die Polarſtröme an, ſo ergiebt ſich, daß dieſe, je länger ſie wehen, je mehr ſie ſich dem Aequa - tor nähern, um ſo mehr als Nordoſt - und Südoſtwinde erſcheinen müſſen. In der That zeigt ſich uns zu beiden Seiten der Region der Windſtillen und Stürme eine Region, in welcher Jahr aus Jahr ein, hier ein Oſtnordoſt -, dort ein Oſtſüdoſtwind, der allen Schiffern be - kannte Paſſatwind, weht.

Erwähnen wir nun noch, daß die Polarluft die ſchwerere, käl - tere, trocknere iſt, daß alſo beim Nord, Nordoſt und Oſt (alle drei ſind ja derſelbe Wind) das Barometer ſteigen, das Thermometer ſin - ken und der Himmel heiter werden muß, ſo haben wir alle weſent - lichen Eigenſchaften des einen Hauptwindes, des Polarſtromes, genannt.

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Wir müſſen aber weiter nach den ferneren Schickſalen der er - wärmten Luft fragen, welche in den Tropen den beſtändig aufſteigen - den Strom bildet. Je höher ſie ſich erhebt, deſto mehr kühlt ſie ſich ab und in Folge deſſen wird ſie ſchwerer und fängt an zu ſinken; da aber unter ihr der ſchwere, kalte Polarſtrom gleichſam einen feſten Boden bildet, ſo fließt ſie auf dieſer Luftſchicht ab gegen die Pole hin und bildet ſo den zweiten auf der Erde herrſchenden Wind, den man nach ſeinem Urſprunge paſſend den Aequatorialſtrom benennt. Für uns iſt derſelbe ein Südwind, für die ſüdliche Erdhälfte natürlich ein Nordwind. Aber ſo wie der Polarſtrom bei ſeinem Fortrücken gegen den Aequator ſich allmälig in einen Oſtwind umänderte, ſo wird aus denſelben Gründen der von dem Aequator zu den Polen abfließende Luftſtrom, im entgegengeſetzten Sinne abgelenkt, allmälig zum Weſtwind. Auch kommen dieſem Aequatorialſtrom natürlich ge - rade die entgegengeſetzten Eigenſchaften zu, wie dem Polarſtrome, er iſt leichter, wärmer und feuchter, er bringt das Barometer zum Fallen, das Thermometer zum Steigen und bedingt Bildung von Wolken, Regen und Schnee. Durch beide Ströme in Verbindung mit einan - der wird eine beſtändige Circulation in der geſammten Atmosphäre der Erde unterhalten, welche es unmöglich macht, daß irgendwo, durch locale Einflüſſe bedingt, ein den Organismen weſentlicher Stoff der Atmosphäre, z. B. Sauerſtoff oder Waſſerdampf, vollſtändig ver - zehrt werde, oder ein ſchädlicher, z. B. Kohlenſäure, ſich übermäßig anhäufe. So iſt alſo das Beſtehen der ganzen belebten Natur an dieſen Kreislauf gebunden.

Beim erſten Anblick ſcheinen die einfachen und großartigen Züge des Grundgeſetzes der atmosphäriſchen Veränderungen wie ich es ſo eben zu ſkitziren verſucht habe, durchaus nicht zu paſſen zu dem ſcheinbar ſo launenhaften Spiel des Wetters, wie es uns erſcheint und welches geradezu als Prototyp der Veränderlichkeit und Unbe - ſtändigkeit gilt. Das Folgende mag dazu dienen, dieſen ſcheinbaren Widerſpruch aufzuklären. Nach den Witterungserſcheinungen können wir die Oberfläche unſerer Erde in zwei ungleiche Theile theilen, in8*116die Region des beſtändigen Wetters und in die Region des veränder - lichen. So weit ſich der Einfluß der Paſſatwinde an beiden Seiten der Tropenregion erſtreckt, kann man faſt auf Tag und Stunde das Wetter auf viele Jahre vorherſagen. Die mittlere Zone (vom n. B.) iſt die, in welcher ohne Unterbrechung durch das ganze Jahr hindurch mit großer Hitze und Windſtille nächtliche Platzregen und Gewitterſtürme wechſeln. Zu beiden Seiten nach Norden und Süden folgt eine Zone (vom 10° n. Br.), wo die ſo eben genannten Erſcheinungen nur im Sommer eintreten, im Winter dagegen der Paſſatwind einen regenloſen Himmel bedingt. Sodann folgt eine Zone (vom 10° 20° n. Br.), wo im Winter und Sommer der un - ausgeſetzt wehende Paſſat keine Trübung des ewig blauen Himmels duldet und oft viele Jahre vergehen, ehe ein kurzer ſchnell vorüber - ziehender Regen die dürſtende Erde erquicket. Endlich bildet gegen Norden und Süden noch eine Zone (vom 20° 30° n. Br.) die Grenze des beſtändigen Wetters, in welcher die Paſſate einen regenloſen Sommer bedingen, der Winter aber einen warmen, jedoch nicht ganz beſtändigen Regen bringt. Die ungefähre Angabe der Breiten bezieht ſich nur auf die nördliche Halbkugel und den atlantiſchen Ocean, den einzigen Ort, für welchen wir genügend genaue Beobachtungen beſitzen. Nun folgt aber eine Breitenzone von etwa 24 Breitengraden, in welcher ein beſtändiges Kämpfen der Polarſtrömungen mit den zurückkehrenden Aequatorialſtrömen ein durchaus veränderliches Klima erzeugt, welches uns eben deshalb ſo launenhaft und zufällig erſcheint, weil die Bedingungen, von welchen das Vorherrſchen des einen oder des andern Stromes in einer gegebenen Localität abhängt, ſo com - plicirt ſind, daß wir das Geſetz für die Veränderungen noch nicht haben aus den verſchiedenen Beobachtungen ableiten können. Gehen wir der Sache genauer nach, ſo zeigt ſich uns nämlich Folgendes. Nach dem ſo eben Angeführten giebt es nur zwei Windſtröme auf der Erde, den von den Polen zum Aequator wehenden und den von dort zu den Polen zurückkehrenden. Denken wir uns irgend einen Ort in der Region des ſogenannten veränderlichen Wetters, etwa in Deutſch -117 land, und nehmen wir an, daß dieſer Ort gerade in der Richtung des Polarſtromes liegt. Es weht ein Nordwind, die Luft iſt kalt, der Himmel heiter und bleibt ſo, während der Wind nach und nach ab - weicht und zuletzt als reiner Oſtwind erſcheint, deſſen trockene ſauer - ſtoffreiche Polarluft dem Bruſtkranken ſo gefährlich iſt. Dieſer Oſt - wind weht ſo lange, bis ihn ein anderer Wind ablöſt, nun giebt es aber keinen andern als den Aequatorialſtrom, der ſtets als Südwind beginnt und das Zuſammentreffen dieſes Südwindes mit dem Oſt - winde bringt zunächſt mittlere Richtungen, ſüdöſtliche Winde hervor, in denen die feuchte, warme Luft des Aequatorialſtromes durch den kalten Polarſtrom abgekühlt und gezwungen wird, einen Theil ihres aufgelöſten Waſſers als Wolken, als Schnee oder Regen niederzu - ſchlagen. Allmälig wird der Aequatorialſtrom herrſchend, es wird bei Südwind hell und warm und bleibt ſo, bis allmälig der Aequa - torialſtrom mehr und mehr nach Weſten abweicht. Ihn kann wiederum nur der nördliche Polarſtrom ablöſen, deſſen Vermiſchung mit der feuchten Luft abermals im Nordweſtwinde häufige atmosphäriſche Niederſchläge hervorruft. Es ſind dies die kalten feuchten Tage, welche ſo ſchwer von denen ertragen werden, welche an Nervenſchwäche leiden. So geht es fort, ſtets in derſelben Ordnung, die man jetzt, nach dem, der zuerſt wiſſenſchaftlich dieſe längſt bekannte Thatſache auffaßte, das Dove'ſche Geſetz der Drehung der Winde genannt hat, und wir können mit großer Sicherheit das Wetter auch in dieſen Regionen vorherſagen, nur nicht für beſtimmte Zeiträume, da uns die Beding - ungen unbekannt ſind, an welche die Dauer des einen oder des an - dern Stromes oder ihres Kampfes im Südoſt - und Nordweſtqua - dranten geknüpft iſt.

Merkwürdiger Weiſe umfaßt dieſe Zone des Veränderlichen, welche man als die ungünſtigſte für die Entwicklung des Menſchenge ſchlechtes anſehen möchte, faſt ganz das mittlere Aſien, die Nordküſte von Afrika, Europa und Nordamerika, alſo den ganzen Schauplatz, auf welchem ſich die Geſchichte der Menſchheit und ihre allmälige geiſtige Entwicklung bewegt. Vielleicht hängt dieſe Erſcheinung damit118 zuſammen, daß dieſe Region ebenfalls auf die Entwicklung der Pflan - zenwelt einen ſo eigenthümlichen Einfluß hat, daß ſie nicht ohne Bei - hülfe menſchlicher Thätigkeit die nöthige Menge Nahrungsſtoff für eine irgend beträchtliche Menſchenmenge produciren kann und daher ſchon bei Befriedigung des erſten und dringendſten Bedürfniſſes den Menſchen zu geiſtiger Anſtrengung aufforderte. Jenſeits dieſer Region endlich, in der Nähe der Pole ſcheint das Klima wieder einfacheren Geſetzen ſich zu unterwerfen, aber aus leicht begreiflichen Gründen fehlen uns auch für jene Gegenden die genügenden Beobachtungen, um mit Sicherheit darüber abſprechen zu können.

Haben wir ſomit auf der einen Seite in großartigen Hauptzügen uns die Vertheilung des Wetters auf der Erde ſkitzirt, und das ein - fache Geſetz gefunden, welches ſeinem Wechſel zu Grunde liegt, ſo dürfen wir auf der andern Seite nicht vergeſſen, daß dieſe geſetzmäßige Vertheilung nur dann für die Erde Gültigkeit haben würde, wenn ihre Oberfläche überall dieſelbe wäre, wenn ſie entweder überall mit Waſſer bedeckt, oder überall mit einer gleichen ebenen Erddecke um - hüllt wäre. Das iſt ſie aber nicht und die Verſchiedenheit zwiſchen Meer und Land, Ebenen und Gebirgen, nackten Sandwüſten und dichten Waldſtrecken u. ſ. w. bringen ſo große Störungen in jene einfachen Geſetze, daß es lange gedauert hat, bis man dieſe unterge - ordneten Verhältniſſe überſehend ſich zur Erkenntniß jener einfachen Grundlagen durchgefunden hat. Alexander von Humboldt iſt hier der Erfinder der wiſſenſchaftlichen Meteorologie, Dove der, welcher das Syſtem zuerſt nach allen Seiten mit eminentem Talente ent - wickelt hat.

Von den Einflüſſen, welche die einfache Geſetzmäßigkeit in der Vertheilung des Wetters weſentlich modificiren, iſt eine der wichtig - ſten die eigenthümliche Vertheilung von Land und Waſſer auf der Erde. Das Land erwärmt ſich, den Sonnenſtrahlen ausgeſetzt, viel ſchneller, und nimmt eine viel höhere Temperatur an, als das Waſſer, welches ſich dafür auch, einmal erwärmt, um ſo langſamer abkühlt. Der nächſte Erfolg davon iſt, daß die heißeſte Zone, die Region der119 Windſtillen, nicht gleichmäßig an beiden Seiten des Aequators ver - theilt iſt, ſondern wegen der größern Maſſe des Landes auf der Nord - hälfte, ganz dieſſeits des Aequators liegt. Am Auffallendſten iſt dieſes Hinaufrücken nach Norden im Oſtindiſchen Meere zu bemerken, wo im Winter zwar der Nordoſtpaſſat weht, im Sommer aber vollſtändig verdrängt und durch den übergreifenden Südoſtpaſſat erſetzt wird. Dieſer muß aber, ſobald er den Aequator überſchreitet, wegen der Drehung der Erde nach Weſten abweichen und ſo bilden hier die beiden Paſſate die ſo regelmäßig von 6 zu 6 Monaten abwechſelnden Nordoſt - und Südweſtwinde, die die Schiffer als Monſoons bezeichnen. Viel wichtiger und intereſſanter für uns Europäer iſt aber die andere That - ſache, daß durch die große, bis zur höchſten Gluth von der Sonne durch - wärmte Sahara gerade im Süden von Europa die Region der Calmen, und ſomit auch die Region der Polarſtrömungen od. Paſſate, ſoweit nach Norden hinauf geſchoben wird, daß die zurückkehrenden warmen Aequa - torialſtröme erſt viel weiter nördlich, als in Amerika und Aſien der Fall iſt, den Boden erreichen, oder, wenn ſie früher herabkommen, in Italien als Sirocco, in den Alpen als Föhn ungleich heißer bei uns anlangen, als anderwärts. Darauf zum großen Theil beruht es, daß Europa bis weit gegen den Pol hin ein ſo viel milderes Klima hat, als alle an - dern unter gleicher Breite gelegenen Gegenden. Während am Ranen - fiord in Norwegen noch Roggen gebaut wird, ſtarrt in Nordamerika unter gleicher Breite Alles faſt während des ganzen Sommers von Schnee und Eis. Während bei Drontheim noch Weizen wächſt, iſt an der Houdſonsbay in gleicher Breite keine menſchliche Niederlaſſung mehr möglich; und in Sibirien thaut unter demſelben Parallelkreiſe der Boden ſelbſt im höchſten Sommer etwa nur zwei Fuß tief auf. Drontheim hat etwa die Temperatur von Canada, welches doch noch ſüdlicher als Paris liegt. In Newyork in gleicher Breite mit Neapel blühen die Bäume erſt zur ſelben Zeit wie in Upſala. Spitzbergen hat noch eine Art von kurzen Sommer, während ein warmer Sommertag auf der 3 Breitengrade ſüdlicher gelegenen Melvillesinſel 14° Kälte hat.

Indeſſen verdankt Europa dieſen Vorzug doch nicht allein dem120 angegebenen Verhältniß. Es bleibt noch ein weſentliches Moment zu erwähnen, welches an der Vertheilung der Wärme und ſomit des Wetters auf der Erde einen nichts weniger als unbedeutenden Antheil hat. Dies ſind die Strömungen des Waſſers in den großen Oceanen. Hier bringt nämlich die Erwärmung durch die Aequatorialſonne ganz ähnliche Erſcheinungen hervor wie in dem Luftmeere; auch hier ent - ſtehen Polarſtröme, welche das kalte Waſſer nach der Linie führen und rückkehrende Aequatorialſtröme, welche das wärmere Waſſer wieder nach dem Pole zurückbringen. Natürlich werden aber dieſe Strö - mungen, eingeſchloſſen in die vom feſten Lande gebildeten Betten, gehindert oder gefördert in ihrem Laufe von ſubmarinen Gebirgszügen, noch bei Weitem mehr von der aus dem Princip zu conſtruirenden Regelmäßigkeit abweichen, als die ungefeſſelt oft ſelbſt über die höch - ſten Berge dahinbrauſenden Luftſtrömungen. Aber einer dieſer rück - kehrenden Aequatorialſtröme, deſſen Wäſſer im Golf von Mexico wie in einen Keſſel gekocht ſind, fließt in nordöſtlicher Richtung gerade gegen die Weſtküſte von Europa ab und bringt dieſer die Wärme, welche er an der Küſte von Veracruz und Tampico in ſich aufgenom - men. Dies iſt der Golfſtrom, deſſen Lauf den Schiffer mit der Schnel - ligkeit von Meile in der Stunde vom klippenſtarrenden Cap Hatteras bis in die ſtürmiſche Bay von Biscaja führt und Producte der weſtindiſchen Inſeln bis an die Küſten von Irland treibt.

Eine andere Folge der verſchiedenen Erwärmung von Land und Meer iſt die Erſcheinung, welche alle Küſten darbieten, daß während des Tages ein ſtarker Zug nach dem ſtark erwärmten Lande von dem kühleren Meere her ein Landwind weht, der Abends in den ſoge - nannten Seewind , den Zug vom ſchnell ſich abkühlenden Lande auf das lange warm bleibende Meer, umſpringt. Abends verläßt der Schiffer den ſicheren Hafen, der Abſchiednehmende findet Troſt in den Armen des Schlafes, Morgens ſteuert der Schiffer zum Port und wer nach langer Abweſenheit aufs Neue die Heimath begrüßt, erblickt ſie im Glanz der aufgehenden Sonne.

Es würde hier zu weit führen, wollte ich alle die einzelnen Ver -121 hältniſſe entwickeln, welche dazu mitwirken, dem einfachen geſetzmä - ßigen Gang der Witterungserſcheinungen die zahlloſen kleinen Ab - weichungen einzuprägen, welche für jeden Ort den Localcharacter des Klimas bedingen. Aber erwähnen, wenn auch nicht ausführen, muß ich noch eine der wichtigſten Erſcheinungen, welche mit der An - ordnung des Wetters zuſammenhängt.

Wir haben geſehen, wie die Wärme und ihre verſchiedene Ver - theilung nach Breite und Länge, nach Höhe und Tiefe eigentlich das Grundphänomen iſt, um welches ſich die übrigen gruppiren, von wel - chem ſie abhängig ſind. Auf's Innigſte iſt damit der Feuchtigkeitsgrad der Luft verbunden und Wärme und Feuchtigkeit ſind die Grundbe - dingungen für alles Pflanzenleben. Von jenen beiden Hauptmo - menten hängt alſo auch zum großen Theil die Vertheilung der Pflan - zen auf der Erde ab. Und der Pflanze folgt die Thierwelt, da die Pflanzenfreſſer direct, die Fleiſchfreſſer indirect an beſtimmte Pflanzen - formationen gebunden ſind. So iſt nicht blos warm und kalt die Folge der Stellung der Sonne zur Erde, ſondern das ganze Leben derſelben, das Wirken ihrer mächtigſten Kräfte, im tobenden Orkan, welcher vier und zwanzigpfündige Kanonen durch die Luft ſchleudert*)Bericht des General Baudrand über den Orkan auf Guadeloupe am 25. Juli 1825. bis zur unſcheinbaren Arbeit des kleinſten Infuſorium, das Rauſchen der Chileniſchen Fichte und das leiſe Flüſtern der nordiſchen Birke, das Brüllen des Löwen, der die Gazelle würgt, bis zum Pfeifen des Käuzchens, welches Mäuſe fängt, und deſſen unheimliche Stimme der wachgerufene Aberglaube als Komm mit, komm mit deutet. Wir werden vom Fuchs und Tiger zu Huhn und Giraffe, von dieſen zu Gerſtenfeldern und Acacienhainen, von dieſen zur gemäßigten Zone Europas und zu den glühenden Savannen Afrikas gewieſen. Das Erſte, nicht nur Belebende und Erregende, ſondern auch das erſte Ord - nende iſt die Sonne, und ihre glänzenden Strahlen ſind die Griffel mit denen ſie Licht und Schatten, das glühende Gelb des dürren Sandes und das kühle Grün der feuchten Wieſe, mit denen ſie die122 Geographie der Pflanzen und Thiere auf die Erdoberfläche zeichnet und ſelbſt den Entwurf zu einer ethnographiſchen Karte für das Men - ſchengeſchlecht ſkitzirt.

Und wenn wir dieſen innern Zuſammenhang durchblicken, wenn wir erkennen, daß die alles Uebrige beherrſchenden Grundzüge ſich vielleicht nirgends ſo ſcheinbar regellos, ſo abnorm zeigen, als in unſerm gebildeten Europa, während ein Theil der Tropengegenden die einfachen Grundgeſetze Jedem verſtändlich ausſpricht, wenn wir ſomit finden, daß das, was den Fortſchritt in allen Disciplinen be - dingt, die Erkenntniß der Naturgeſetze, faſt nur in fremden Regionen möglich iſt, ſo erklärt ſich uns hier noch eine Erſcheinung, die ſonſt räthſelhaft und unerklärlich in der Geſchichte der Menſchheit daſtehen würde, daß nämlich in jeder mit den Naturwiſſenſchaften nur entfernt zuſammenhängenden Lehre, und zumal in jenen ſelbſt, der Fortſchritt aufs Engſte mit Erweiterungen unſerer geographiſchen Kenntniſſe zuſammenhängt, daß der Naturforſcher, den doch beſtändig eine Natur umgiebt, doch keinen höhern Genuß kennt, als Reiſen, daß er oft ſelbſt mit ungerechter Verachtung deſſen, was ihm ſeine Umgebung bietet, nach exotiſchen Schätzen greift, daß dem Botaniker Treibhäuſer, Herbarien, dem Zoologen Thiergärten und Sammlungen zum unab - weisbaren Bedürfniß geworden ſind.

Wollte ich überall in gleicher Manier zeichnen, ſo durfte ich von dem großen lebensvollen Gemälde nur eine flüchtige Skitze entwerfen, möchte es mir dabei gelungen ſeyn, wenigſtens die Hauptzüge mit genügender Schärfe und Klarheit hervorgehoben zu haben. Auf jeden Fall werde ich es mir gefallen laſſen müſſen, daß man auf die Frage: war's denn intereſſant? achſelzuckend antwortet: Je nun, es war von Nichts, als vom Wetter die Rede.

[123]

Sechste Vorlesung. Wovon lebt der Menſch?

Erſte Beantwortung.

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Nicht irdiſch iſt der Thoren Trank noch Speiſe. (Fauſt. )[124][125]

Wenn wir den Gelehrten fragen, was ihn treibt, daß er allen Genüſſen des Lebens fern auf ſeinem einſamen Stübchen über den abſtracteſten Problemen brütet, den Soldaten, warum er ſich's ge - fallen läßt, in Staub und Schweiß die ſaure Recrutenſchule durch - zumachen, den regſamen Kaufmann, zu welchem Endzweck er früh und ſpät Bedürfniß und Ueberfluß auf der Erde durch ſeine Thätigkeit auszugleichen ſucht, ja wenn wir ſelbſt beim Verbrecher nach der Urſache forſchen, die ihn verwegen dem ſchimpflichen Tode trotzen läßt, ſo werden wir von Allen eine Antwort vernehmen, deren Kern nach Abzug der einkleidenden Redensarten lautet: Was ſoll man machen, man muß wohl; der Menſch kann einmal nicht von der Luft leben. Die Antwort ſcheint denn auch Jedermann einleuchtend und ſelbſt die ſtrenge Criminaljuſtiz iſt von der Gültigkeit dieſer Rede ſo überzeugt, daß ſie den Hunger als Milderungsgrund in gewiſſen Fällen gelten läßt.

Da kommt aber der Naturforſcher, ein unbequemer Menſch, der keine Autorität anerkennen will, an Nichts glaubt, als was er mit Händen greifen kann, und ſpricht: Ihr närriſchen Leute, der Menſch kann allerdings von der Luft leben, ja er lebt allein von Luft und von gar nichts Anderem. Das ſcheint nun dem Theologen eine gar an - maßliche Rede, er mahnt zürnend: Menſch, bedenke dein Ende, du biſt vom Staube und mußt einſt wieder zu Staub werden. O der Thorheit! lacht der Naturforſcher, das wäre eine ſeltſame Verwand - lung der Stoffe; aus der Luft ſtammen wir und in die Luft kehren wir bei unſerer endlichen Auflöſung wieder zurück. Das ärgert nun126 auch den Moraliſten und er denkt, es könne wohl gar der Vorwurf: luftiger Patron oder Windbeutel noch einmal zum allgemeinen Ehrentitel aller Menſchen erhoben werden. Nun wird der Natur - forſcher bedenklich. Im Grunde möchte er es denn doch ungern mit all dieſen frommen Herren verderben. Die Paradoxe iſt aber einmal ausgeſprochen und er mag zuſehen, wie er ſie rechtfertigt.

Wovon lebt der Menſch eigentlich? Die Antwort lautet wohl ſehr verſchieden. Der Gaucho, der mit fabelhafter Gewandtheit ſein halbwildes Pferd in den weiten Pampas von Buenos-Ayres tum - melt, den Laſſo oder die Bolas ſchwingt, um den Strauß, das Gua - naco oder den wilden Stier zu fangen, verzehrt täglich 10 bis 12 Pfund Fleiſch und ſieht es als einen hohen Feſttag an, wenn einmal in irgend einer Hacienda ihm ein Stückchen Kürbis zur Abwechſelung geboten wird. Das Wort Brod ſteht überall nicht in ſeinem Wörter - buche. Im fröhlichen Leichtſinn dagegen genießt nach mühevoller Arbeit der Irländer ſein potatoes and point , er, der es nicht laſſen kann, ſelbſt in dem Namen, den er ſeinem kärglichen Mahle giebt, noch Poſſen zu treiben. Fleiſch iſt ihm ein fremder Gedanke und glück - lich ſchon der, dem es gelang, viermal im Jahre zur Würze der meh - ligen Knolle einen Hering aufzutreiben. Der Jäger der Prärieen hat mit ſichrer Kugel den Biſon niedergeworfen und der ſaftige, zart mit Fett durchwachſene Höcker deſſelben, zwiſchen heißen Steinen geröſtet, iſt ihm ein durch nichts zu erſetzender Leckerbiſſen; derweile trägt zier - lich auf weiße Stäbe gereiht der induſtrielle Chineſe ſeine ſorgfältig gemäſteten Ratten zu Markt, ſicher, unter den Feinſchmeckern von Peking ſeine gut zahlenden Käufer zu finden, und in der heißen, rauchigen Hütte unter Schnee und Eis faſt vergraben verzehrt der Grönländer ſeinen Speck, den er eben, jubelnd über den köſtlichen Fang, von einem geſtrandeten Wallfiſche abgehauen. Hier ſaugt der ſchwarze Sclav am Zuckerrohre und ißt ſeine Banane dazu, dort füllt der afri - caniſche Kaufmann ſein Säckchen mit der ſüßen Dattel als alleiniger Nahrung für die wochenlange Wüſtenreiſe, und dort ſtopft ſich der Siameſe mit Mengen von Reis, vor denen ein Europäer zurückſchrecken127 würde. Und wo wir hinantreten auf der bewohnten Erde und das Gaſtrecht begehren, faſt auf jedem kleinen Flecke, wird uns eine an - dere Speiſe vorgeſetzt und das tägliche Brod in anderer Form geboten.

Aber, dürfen wir fragen, iſt denn der Menſch wirklich ein ſo bewegliches Weſen, daß er aus den verſchiedenartigſten Stoffen doch auf gleiche Weiſe das ſichtbare Haus ſeines Geiſtes aufbauen kann, oder enthalten vielleicht alle jene ſo verſchiedenartigen Lebensmittel einen oder wenige gleiche Stoffe, die eigentlich dem Menſchen ſeine Speiſe bieten? Und allerdings findet das Letzte Statt.

Vier Elemente,
Jnnig geſellt,
Bilden das Leben,
Bauen die Welt.

Alles was uns umgiebt, iſt aus ſehr wenigen, etwa 53 Grund - ſtoffen oder Elementen zuſammengeſetzt, welche die Chemie nach und nach entdeckt hat. Aber von dieſen ſind es beſonders vier, welche faſt allein weſentlichen Antheil nehmen an der Zuſammenſetzung alles Deſ - ſen, was auf Erden organiſch, lebendig heißt: Stickſtoff und Sauer - ſtoff bilden die beiden wichtigſten Beſtandtheile der reinen atmoſphäri - ſchen Luft, Sauerſtoff und Waſſerſtoff ſind die beiden Elemente, aus deren Verbindung das Waſſer entſteht, Kohlenſtoff und Sauer - ſtoff ſind es, deren Zuſammenſetzung zu Kohlenſäure (ſog. fixer Luft) die Grotta del cane zu Neapel, und die Dunſthöhle zu Pyrmont zur Fol - terkammer der armen Hunde macht, endlich Stickſtoff und Waſſer - ſtoff treten zu Ammoniak, ſog. Salmiakgeiſt zuſammen, eine Luftart, welche in ungeheurer Menge den Eſſen des unterirdiſchen Feuers, den Vulcanen, entſtrömt hier haben wir die vier Elemente, den Kohlen - ſtoff, den Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff, welche in ihren Verbindungen alle diejenigen Subſtanzen bilden, aus denen Pflanzen und Thiere beſtehen; von ihnen ſind Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stick - ſtoff Luftarten oder Gaſe, der Kohlenſtoff aber ein feſter Körper, den wir, kryſtalliſirt, Diamant nennen. Zugleich nennen wir hiermit aber auch die wichtigſten und am Allgemeinſten in der Natur verbreiteten128 Verbindungen dieſer Elemente, nämlich das gewöhnlich flüſſige Waſ - ſer, welches aber auch in großer Menge als Dunſt in der Luft ent - halten iſt, ferner Kohlenſäure und Ammoniak, welche ſich beide nur als Gaſe in der Atmosphäre finden. Um die Betrachtung dieſer drei Verbindungen, jener vier Elemente dreht ſich die ganze Betrachtung des Thier - und Pflanzenlebens.

Unſere Atmosphäre iſt aus etwa Stickſtoff und Sauer - ſtoff gemengt, dazu kommen Kohlenſäure etwa 1 / 2000 und Ammoniak - gas in noch nicht genau beſtimmten Mengen. Seit man den Sauer - ſtoff durch Prieſtley kennen und ſeine Bedeutung beim Athmen hatte verſtehen lernen, glaubte man die Güte der Luft nach ihrem Antheile an Sauerſtoff beurtheilen zu können. Es entſtand eine eigene Wiſſen - ſchaft, die Eudiometrie, die hauptſächlich auf Ausmittelung des Ver - hältniſſes von Sauerſtoff und Stickſtoff in der Luft gerichtet war; nach und nach haben hierbei die Methoden größere Schärfe und Ge - nauigkeit gewonnen und man hat ſo gefunden, daß bis auf Tauſend - theile die Luft überall, wo man ſie auch unterſucht, ganz gleich zu - ſammengeſetzt gefunden wird. Sehr voreilig hat man aber von dieſer conſtanten Zuſammenſetzung der Atmosphäre Folgerungen in Bezug auf den Lebensproceß der Pflanzen und Thiere abgeleitet. Unſere ganze Atmosphäre enthält nämlich nach Poggendorfs Berechnung ohnge - fähr 1,954,570 Cubik-Meilen Sauerſtoff, der jährliche Verbrauch deſſelben durch das Athmen aller Menſchen und Thiere und durch ſämmtliche Verbrennungsproceſſe beträgt Cub. M., alſo in 100 Jahren 250 Cub. M. oder beinahe nur ein Zehntauſendſtel. Eine Verminderung um eine ſo geringe Größe würden unſere Inſtrumente aber ſelbſt dann noch nicht anzeigen, wenn ſie auch ſchon ſeit Jahr - hunderten ebenſo genau gearbeitet und angewendet worden wären. Eine bei Weitem größere Genauigkeit laſſen nun unſere Methoden zur Beſtimmung des Kohlenſäuregehalts der Luft zu und deshalb ſtellt man eine weit ſicherere Berechnung (wie ſich ſpäter ergeben wird, für dieſelben Folgerungen anwendbar) ſo: Beim Athmen haucht der Menſch für jeden Cubik-Zoll Sauerſtoff, den er aufnimmt, einen129 Cub. Zoll Kohlenſäure aus und ganz derſelbe Tauſch findet bei den Ver - brennungsproceſſen Statt. Nach den obigen Annahmen müßten alſo im Verlauf von 5000 Jahren ungefähr 12,500 Cub. Meilen Kohlenſäure in die Luft gehaucht ſeyn, wenn wir die großen Quantitäten, die den Vulcanen alljährlich entſtrömen, noch ganz unberückſichtigt laſſen. Es müßte folglich die Kohlenſäure in der Luft ſich zum Sauerſtoff wie 1: 500 verhalten, während ſie in der That doch nur den vierten Theil davon ausmacht. Es ergiebt ſich daraus, daß es irgendwo einen Proceß geben muß, durch welchen der Atmoſphäre die Kohlen - ſäure wieder entzogen und in andere Verbindungen übergeführt wird.

Der Sauerſtoff hat die Eigenſchaft, ſich leicht mit andern Stof - fen, beſonders mit Kohlenſtoff und Waſſerſtoff zu verbinden, ein Vor - gang, den der Chemiker Verbrennen nennt, wenn auch nicht gerade Lichterſcheinungen dabei Statt finden; bei welchem aber ſtets eine im Verhältniß zum verbrauchten Sauerſtoffe ganz beſtimmte Menge von Wärme entbunden wird. Der Stickſtoff dagegen hat nur ſehr geringe Verwandtſchaft zu andern Stoffen, er verbrennt faſt gar nicht, aber verbindet ſich leicht mit dem Waſſerſtoffe zu Ammoniak.

Die vier genannten Elemente bilden nun durch ihre Verbindun - gen unter einander zahlreiche Stoffe, aber für die organiſche Welt haben nur zwei Reihen eine durchgreifendere Bedeutung. Die eine Reihe umfaßt Stoffe, die aus allen vier Elementen zuſammengeſetzt ſind. Hierher gehören Eiweiß, Faſerſtoff, Käſeſtoff und Leim. Aus dieſen Stoffen iſt der ganze thieriſche Körper gebildet, und wenn ſie von demſelben getrennt, vom Leben verlaſſen werden, gehen ſie alle in kurzer Zeit durch Verweſung in Waſſer, Ammoniak und Kohlen - ſäure über, welche ſich in der Luft verbreiten. Die zweite Reihe enthält dagegen Stoffe, welche ſtickſtofffrei ſind, nämlich Gummi, Zucker, Stärkemehl, die daraus bereiteten Getränke, wie Spiritus, Wein, Bier, und endlich die Fettarten. Dieſe gehen ſämmtlich nur durch den thieriſchen Körper durch, indem ihr Kohlenſtoff und Waſſerſtoff durch den beim Athmen aufgenommenen Sauerſtoff verbrannt und als Kohlenſäure und Waſſer wieder ausgehaucht werden. Durch dieſenSchleiden, Pflanze. 9130langſam, aber unausgeſetzt fortgehenden Verbrennungsproceß wird die zum Leben unentbehrliche Wärme erhalten. Nun erfahren wir aber durch die glänzenden Entdeckungen der neueren Chemie und Phyſiologie, daß der thieriſche Körper unfähig iſt, die zu ſeiner Aus - bildung und Erhaltung durchaus nothwendigen Stoffe: Eiweiß, Faſerſtoff ꝛc. aus den Elementen zuſammenzuſetzen, oder aus andern Stoffen mit Ausnahme des Käſeſtoffes zu bilden, daß das Thier viel - mehr dieſe Stoffe ſchon fertig gebildet aufnehmen muß, um ſie zur Ernährung verwenden, oder zum Behufe der Knochenbildung in Leim umwandeln zu können. Eiweiß, Faſerſtoff und Käſeſtoff werden daher mit Recht von Liebig ausſchließlich Nahrungsmittel genannt, ſie können durch keine andern Stoffe erſetzt werden, bei ihrer völligen Ausſchließung geht der Körper rettungslos dem Hungertode entgegen. Daneben müſſen aber auch ſtickſtofffreie Beſtandtheile vorhanden ſeyn, gleichſam als Brennmaterial auf dem Herde des organiſchen Lebens, und dieſe Stoffe, die man im gemeinen Leben auch Nahrungsmittel nennt, bezeichnet Liebig treffend mit dem Namen Reſpirationsmittel. Vergleichen wir nun mit dieſen Anforderungen, welche der thieriſche Körper in Bezug auf ſeine Erhaltung macht, den Gehalt der Pflan - zen, welche Menſchen und Thieren als Nahrungsmittel dienen, ſo finden wir in allen Pflanzen, in allen Organen derſelben eine bald größere, bald geringere Menge Eiweiß, im Safte derſelben aufgelöſt. In den unſchätzbaren Geſchenken der Ceres, in den Körnern der Ge - treidearten, kommt bald mehr, bald weniger von einem Stoffe vor, den man früher als Kleber bezeichnete. Liebig und Mulder haben nachgewieſen, daß derſelbe einem Gemenge von Leim und thieriſchem Faſerſtoffe durchaus gleich ſey. In den Hülſenfrüchten entdeckte die frühere Chemie eine Subſtanz, welche man nach der Pflanzenfamilie, in welcher ſie ſich vorfand, nach den Leguminoſen, Legumin nannte. Jetzt wiſſen wir aus neuern Unterſuchungen, daß dieſes Legumin durchaus in Nichts vom thieriſchen Käſeſtoffe verſchieden iſt. Legumin und Kleber oder Käſeſtoff und Faſerſtoff kommen in geringer Menge wahrſcheinlich ebenfalls in den meiſten Pflanzenzellen vor.

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Die zweite Reihe, die der ſtickſtofffreien Subſtanzen oder der Reſpirationsmittel, iſt nicht minder allgemein in der Pflanzenwelt verbreitet. Ueberblicken wir alle die Nahrungsmittel, welche ſich der Menſch aus dem Pflanzenreiche gewählt, ſo finden wir drei Gruppen, von denen ſich die Erſte durch den großen Gehalt an Stärkemehl aus - zeichnet. Hierher gehören die Cerealien und Hülſenfrüchte, die Knollengewächſe, Kartoffeln, Erdäpfel, Manjoc, Yams - und Taroowurzeln, endlich die markigen Stämme der Cycadeen und Palmen, welche den Sago liefern; die zweite Gruppe umfaßt die zucker - und gummireichen Früchte, welche durch Apfel -, Citronen - und Weinſteinſäure ihre eigenthümlichen kühlenden Eigenſchaften und durch geringe Menge aromatiſcher Stoffe ihren Reiz erhalten, außer den bei uns bekannten Früchten, insbeſon - dere die Dattel, die Banane und die Brodfrucht, ferner die zuckerreichen Stengel, namentlich das Zuckerrohr, und endlich die zucker - und gummihaltigen fleiſchigen Wurzeln, die einen großen Theil unſeres Gemüſes bilden; die dritte Claſſe endlich beſteht aus den ölhalti - gen Kernen verſchiedener Früchte: der Cocusnuß, der Nußderchile - niſchen Fichte, der Paranuß und der vielen Nüſſe - u. Mandelarten, welche in Europa zum Theil dem Hunger, zum Theil nur dem Reize des Gaumens ihren Tribut zollen. Endlich dürfen wir bei dieſer Aufzäh - lung die vielen, faſt alle aus dem Pflanzenreiche ſtammenden Getränke nicht vergeſſen. Faſt überallhin iſt dem Europäer der Weinſtock ge - folgt, wo climatiſche Verhältniſſe ſeinen Anbau nicht unmöglich mach - ten. Obſtweine, Bier und Weingeiſt ſind weit verbreitete Ge - tränke. Eine eigenthümliche Aufgabe iſt in der That noch dem Pſycholo - gen aufbehalten in dem merkwürdigen Umſtande, daß, ſo weit wie das Menſchengeſchlecht auf Erden verbreitet iſt, auf dem höchſten Gipfel ſeiner Ausbildung wie in den erſten Anfängen der Cultur (vielleicht nur mit Ausnahme einiger weniger den Thieren faſt näher als den Menſchen ſtehender Stämme), auch der Gebrauch ſich findet, durch die verſchiedenartigſten Mittel ſich in einen erhöhten Zuſtand geiſtiger Thätigkeit zu verſetzen, den man in ſeinen höhern und ſchlimmern9*132Erſcheinungen Trunkenheit nennt. Der Magueywein oder Pulque der Mexicaner, der Palmenwein der Chilenen, der Trank aus ge - käntem Mais bei den Anwohnern des Orinocco u. Amazonenſtroms, endlich der Kumiß der Tartaren, aus Pferdemilch bereitet, ſtehen un - ſern Getränken in ſofern gleich, als bei allen der durch Gährung aus Zucker oder Stärkemehl erzeugte Weingeiſt das berauſchende Princip iſt. Ganz unbekannt iſt uns die Wirkung der Cocca, der Blätter eines americaniſchen Baums (Erythroxylon Coca). Der größte Genuß des peruaniſchen Muletero (Maulthiertreiber) beſteht darin, dieſe Blätter zu käuen und ſich dadurch in einen Zuſtand träumeriſchen Hinbrütens zu verſetzen, in welchem er, ohne trunken zu ſeyn, nur in ſüßer, künſt - lich erregter Faulheit Tage lang mit Nichtsthun zubringt. Dagegen iſt das Verzehren des Fliegenſchwammes bei den Bewohnern des nördlichen Sibiriens, das Rauchen des Opium bei den Südaſiaten, des Haſchich oder Hanfextracts bei den nördlichſten und ſüdlich - ſten Africanern und endlich der Genuß des Getränkes, welches ſich die Südſeeinſulaner aus einer beſondern Art von Pfeffer (Piper methys - ticum) bereiten, geradezu eine narcotiſche Vergiftung, welche bei öfterer Wiederholung ſehr ſchnell die Zerſtörung des Körpers nach ſich zieht. Allen dieſen Mitteln nun, durch körperliche Einwirkung die Thätigkeit des Geiſtes, insbeſondere der Phantaſie anfänglich auf angenehme Weiſe zu erhöhen, haben in der neueſten Zeit zwei Männer mit ſehr ungleichem Erfolge den Krieg erklärt; der Eine kämpfte mit materiellen Waffen und unterlag, nämlich der Kaiſer von China, der Andere erficht täglich neue Siege durch die Gewalt des Geiſtes, ich meine den kühnen Mäßigkeitsapoſtel, den frommen Pater Mathew. Der Letzte hat für die Entſagung, die er forderte, Erſatz geboten in einem andern Getränke, welches wir von den Chineſen entlehnt haben. Ob dieſes Getränk, der Thee, wirklich ein unſchuldiger Erſatz ſey, wäre vielleicht noch erſt einer genauen Unterſuchung zu unterwerfen, bei welcher ich mich hier aber nicht länger aufhalten kann. Ich kann aber nicht umhin, bei dieſer Gelegenheit auf ein intereſſantes, noch ungelöſtes phyſiologiſches Räthſel aufmerkſam zu machen.

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Im J. 1554 entſtand eine heftige Aufregung in Conſtantinopel; die hohe Geiſtlichkeit beſtürmte den Sultan und drohte mit allen Schrecken, welche ihr Amt ihr zu Gebote ſtellte, und der Grund war der glänzende Erfolg der in demſelben Jahre eröffneten erſten Caffee - häuſer. Den ganzen Tag waren dieſe belagert und die Moſcheen waren wie verwaiſt. Der Sultan half ſich durch den für ihn vor - theilhafteſten Ausweg; er legte eine hohe Abgabe auf die Caffeehäu - ſer, beruhigte dadurch die Muftis, verſchaffte ſich eine bedeutende Ein - nahme und der Genuß des Caffees breitete ſich trotz dem mit einer ungeheuren Schnelligkeit über Europa aus. 1652 eröffnete der Grieche Pasqua in George Yard, Lombard Street (nach M'Culloch in St. Michael's-Alley, Cornhill auf der Stelle, wo jetzt das Virginia - Caffeehaus ſteht) das erſte Londoner Caffeehaus und 1671 entſtand das erſte in Marſeille. Im Ganzen mag die Production jetzt etwa 500 Mill. Pfund betragen, während ſie vor etwa 150 Jahren ſchwer - lich 10 Mill. Pfund überſtieg. Im J. 1820 berechnete A. v. Hum - boldt die Conſumtion in Europa zu 150 Mill. Pfund im Werthe von 30 Mill. Speciesthaler, während der gegenwärtige Verbrauch von 250 Mill. Pfund vielleicht den Werth von 28 Mill. Speciesthaler noch nicht erreicht. Woher ſtammt der Gebrauch, Caffee zu trinken, wer entdeckte den köſtlichen Stoff? Wir wiſſen es nicht. Die ſicherſten Nachrichten darüber finden wir in dem Werke des Scheikh Abd-Alka - der Ebn Mohammed vom J. 1566, welches uns Sylveſtrede Sacy in ſeiner Chrestomathie Arabe mitgetheilt hat, und welches den Titel führt: Die Stütze der Unſchuld in Bezug auf die Geſetz - lichkeit des Caffees.

Danach führte im Anfange des 15. Jahrh. der ſehr gelehrte und fromme Scheikh Djemal-eddin-Ebn-Abou-alfaggar das Caffeetrinken in dem in neuerer Zeit politiſch ſo bedeutend gewordenen Aden ein, von wo es ſich bald nach Mekka und Medina verbreitete. Er ſelbſt war mit dieſem Getränke in Abyſſinien bekannt geworden, wo es ſeit undenklichen Zeiten bekannt war. Die gemeine Meinung, daß der Caffee urſprünglich in Arabien heimiſch ſey, iſt alſo ganz falſch.

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Man trank damals ebenſo oft eine Abkochung der geröſteten Schaalen, als der nach dem arabiſchen Worte Bounn ſo genannten Bohnen. Das Getränk hieß in beiden Fällen Kahwa. Weiſe Leute, wie z. B. Tadjeddin-Ebn-Jacoub, empfahlen ſchon damals kaltes Waſſer zum Caffee zu trinken, um der dem Genuſſe folgenden Schlaf - loſigkeit vorzubeugen. Indeß war dieſes gerade dem Grunde der Ein - führung des Caffees zuwider. Man wollte ſich nämlich durch denſel - ben während der heiligen Nächte zum Gebete wach erhalten. So wurde der Caffee anfänglich vorzugsweiſe beim Gottesdienſte in einer kleinen Schaale aus einer großen braunen Kanne geſchöpft und herum - gereicht, und ſo erklärt es ſich leicht, weßhalb dieſes Getränk für einige muhamedaniſche Orthodoxe ſogleich ein Gegenſtand der Anfeindung und überhaupt ein Gegenſtand ſehr gelehrter theologiſcher Unterſu - chungen werden konnte. Die Gegner des Caffees gingen ſelbſt ſo weit, zu behaupten, daß die Geſichter derer, welche Caffee getrunken, am Tage der Auferſtehung noch ſchwärzer als der Caffeeſatz erſcheinen würden. Da aber die Frauen nach dem Koran überhaupt nicht ins Paradies kommen, ſo können ſie ohne Furcht im Genuſſe ihres Lieb - lingsgetränkes ſchwelgen.

Nach den übrigen von Abd-Alkader-Ebn-Mohammed mitge - theilten Nachrichten ergiebt ſich übrigens, daß in Abyſſinien der Gebrauch des Caffeetrinkens über die Zeit der hiſtoriſchen Erinnerungen hinaus liegt und daß auch in Arabien der Caffee nur ein der Wirkung nach ähnliches Getränk den Cafta, von den Blättern des Cat (Celastrus edulis Forskael) verdrängte, deſſen Genuß ebenfalls ohne Kunde ſeines Urſprungs von den Vätern ererbt war.

Als die Spanier zuerſt in Mexico landeten, wurden ſie mit einem dort ſeit undenklichen Zeiten einheimiſchen Getränke bekannt, welches die Mexicaner Chocollatl nannten und aus den Saamen eines Baums bereiteten, der bei ihnen Cacahoaquahnitl, Caca - hoa-Baum hieß. So weit die ſpaniſche Herrſchaft ſich ſpäterhin aus - dehnte, ſo weit hat ſich auch der Gebrauch des Chocoladetrinkens ver -135 breitet, und das übrige Europa hat ſeinen reichlichen Antheil an die - ſem neuen Getränke gefordert.

Im Anfange des 17. Jahrhunderts wurden einer ruſſiſchen Ge - ſandtſchaft nach China für ihre prachtvollen Zobelpelze ſorgfältig ver - packte getrocknete grüne Blätter als Gegengeſchenk gegeben, und ſelbſt trotz ihres Proteſtirens gegen ſo unnütze Waare aufgedrungen. Aber als ſie dieſelbe nach Moskau brachten und vorſchriftsmäßig bereiten ließen, fand der Thee, denn das war es, gleich großen Beifall. Faſt um dieſelbe Zeit verſuchte die holländiſch-oſtindiſche Compagnie Salbey, den man damals ähnlich wie jetzt den Thee genoß, nach China zu verhandeln, und erhielt dafür als Aequivalent chineſiſchen Thee. 1664 glaubte die engliſch-oſtindiſche Compagnie dem Könige von England mit 2 Pfund Thee ein glänzendes Geſchenk zu machen. Der Gebrauch des Thees als Getränk verliert ſich in China in die früheſten Zeiten und die Sagen erzählen ſchon im 3. Jahrhundert mit Beſtimmtheit davon. Die älteſte chineſiſche Sage erinnert auf - fallend an den Grund der Einführung des Caffeetrinkens in Arabien. Sie erzählt: Ein frommer Eremit, der bei Wachen und Gebet oftmals vom Schlafe überraſcht worden war, ſo daß ihm die Augen zufielen, ſchnitt ſich, in heiligem Eifer gegen das ſchwache Fleiſch zürnend, die Augenlider ab und warf ſie auf die Erde. Aber ein Gott ließ aus denſelben den Theeſtrauch aufwachſen, deſſen Blätter noch die Form eines mit Wimpern beſetzten Augenlides zeigen und die Gabe beſitzen, den Schlaf zu verſcheuchen. Als die Europäer ihn kennen lernten, war er ſchon im ganzen ſüdöſtlichen Aſien allgemein verbreitet, und Europa blieb nicht lange hinter ſeinen Lehrmeiſtern zurück. Zur See werden jetzt jährlich etwa 50 Mill. Pfund aus China ausgeführt, über Kiächta gegen 10 Mill., nach Thübet, Indien ꝛc. zu kommen vielleicht nahe an 30 Mill. In China und Japan ſelbſt werden ſicher 400 Mill. Pfund conſumirt, ſo daß die Geſammtproduction mit 500 Mill. Pfund gewiß nicht allzu hoch angeſchlagen iſt.

Mit derſelben Leidenſchaft, mit welcher der Chineſe ſeinen Thee genießt, erfreut ſich der Braſilianer und faſt die ganze Bevölkerung von136 Südamerica am Maté oder Paraguay-Thee, den Blättern einer braſilianiſchen Stechpalme (Ilex paragayensis), welcher unter Um - ſtänden mit dem Camini, den Blättern der Cassine Gongonha oder mit der Guarana, einer Art von Caffee aus den Saamen der Paullinia sorbilis bereitet, vertauſcht wird. Auch der Gebrauch des Maté iſt ſeit undenklichen Zeiten in Braſilien einheimiſch.

So ſind dieſe Getränke überall zu nothwendigen Lebensbedürf - niſſen geworden, überall iſt der Anfang ihres Gebrauchs in mythi - ſches Dunkel gehüllt, überall hat der Menſch, nicht etwa durch ver - nünftige Ueberlegung, durch Kenntniß der Eigenſchaften und Wir - kungen, durch Vergleichung derſelben mit ſchon bekannten Nahrungs - ſtoffen geführt, ſondern gleichſam inſtinctmäßig dieſe Getränke in die Zahl ſeiner täglichen Bedürfniſſe aufgenommen.

Bei der großen Wichtigkeit des Stoffes ſelbſt und bei dem In - tereſſe, welches die eben angedeutete Betrachtung erregen mußte, hat denn die Chemie verſucht, in wie weit ſie zur Aufklärung dieſer ſelt - ſamen Erſcheinung beitragen könnte. Das Reſultat iſt gegen alle Erwartung ausgefallen und hat das Räthſel nur noch mehr verwirrt. Oudry fand im Thee einen in feinen weißen Nadeln kryſtalliſirenden Stoff, den er Thein nannte, und der etwa ½ Proc. des Thees aus - macht. Früher ſchon 1820 hatte Runge im Caffee eine Subſtanz ent - deckt, deren zarte ſeidenglänzende Kryſtalle kaum zu Proc. im Caffee enthalten ſind. Runge nannte ſie Caffein. Ein Anderer fand im Cacao das Theobromin in geringer Menge, dann wies man das Thein im Maté, das Caffein in der Guarana nach und endlich zeig - ten die genauern Unterſuchungen, daß Thein und Caffein ein und derſelbe Stoff ſey, der ſich von allen bekannten Pflanzenſtoffen durch ſeinen außerordentlich großen Stickſtoffgehalt auszeichnet, und daß Theobromin, wenn nicht vielleicht identiſch mit denſelben, doch höchſt nahe verwandt ſey. Muß es nicht im höchſten Grade auffallend er - ſcheinen, daß ein wenn auch nur ſehr geringer Gehalt eines und deſ - ſelben eigenthümlichen Stoffes ſich in allen dieſen Getränken finden muß, welche ſo auffallend ſchnell zu nothwendigen Bedürfniſſen der137 ganzen bewohnten Erde geworden ſind? Ein merkwürdiges Räthſel, von deſſen Löſung wir noch um ſo entfernter ſind, da von Aerzten und Chemikern angeſtellte Verſuche bis jetzt keine Andeutung einer beſon - dern Wirkung nach dem Genuſſe größerer Mengen reinen Theins erkennen laſſen, der Stoff alſo ohne auffallende Wirkung auf die thieriſche Oeconomie erſcheint.

Ich kehre nach dieſer Abſchweifung, die der Hauptfrage ohnehin nicht ſo fremd iſt, wieder zu meiner Aufgabe zurück. Der Menſch bedarf alſo zu ſeiner Nahrung zunächſt dreier ſtickſtoffreicher Subſtan - zen, des Faſerſtoffs, Käſeſtoffs und des Eiweißes, und dieſe findet er nicht nur im Thierreich, ſondern auch im Pflanzenreich allgemein verbreitet. Er verbraucht ferner zur Unterhaltung der Reſpiration und dadurch der Wärme eine gewiſſe Menge ſtickſtofffreier Subſtanzen, welche ihm außer im Fette der Thiere im reichſten Maaße von den meiſten und verbreitetſten Pflanzenſtoffen geboten werden.

Sehr leicht erklären ſich uns nun einige der auffallendſten Erſcheinun - gen in der Ernährungsweiſe des Menſchen und der Thiere. Jägervölker und fleiſchfreſſende Thiere bedürfen einer großen Menge ihrer gewöhnlich fettarmen Nahrung. Durch angeſtrengte körperliche Thätigkeit müſſen ſie dieſe ſtickſtoffhaltige Nahrung erſt in zwei Beſtandtheile zerlegen, einen der ſämmtlichen Stickſtoff, einen andern, der einen Theil des Kohlen - und Waſſerſtoffs enthält, und dieſen letztern verwenden ſie dann für die Reſpiration, da bei der Unverbrennlichkeit des Stickſtoffs ſtickſtoffhaltige Subſtanzen dazu untauglich ſind. Eben darin findet auch die unruhige, raſtlos thätige Lebensweiſe des reißenden Thiers, wie des Jägers ihre Erklärung, indem ſie nur durch heftige Anſtren - gungen des Körpers ſo viel der ſtickſtoffhaltigen Nahrung zerſetzen können, um für den Reſpirationsproceß das nöthige Material zu ſchaffen. Aber auch die große Maſſe von Nahrung, die eine ſolche Lebensart erfordert, iſt dadurch leicht erklärt, zumal da meiſt viel mehr thieriſches Leben vernichtet wird, als unmittelbar dem Nahrungsbe - dürfniß entſpricht. Aus beiden Gründen bedarf das reißende Thier138 wie das Jägervolk ein ausgedehntes Areal zu ſeiner Exiſtenz und bedingt eine ſehr dünne Bevölkerung.

Die Viehzucht bildet hier den Uebergang, indem der Menſch hier die Hausthiere benutzt, um in den Beſtandtheilen der Milch und in dem reichlichen Fette der Hausthiere, welches den wilden Thieren faſt ganz abgeht, ſich neben der Fleiſchſpeiſe auch mit ſtickſtofffreien Beſtandtheilen zu verſehen.

Die zweckmäßigſte Lebensweiſe führt aber das verſtändige Acker - bau treibende Volk, welches ſeine Nahrungsmittel ganz in dem Ver - hältniſſe miſcht, wie ſie die Natur dem Säugling in der Milch ge - miſcht hat. Dieſe enthält nämlich in dem Käſeſtoff die ſtickſtoffhaltigen Nahrungsmittel, in der Butter und dem Milchzucker die ſtickſtofffreien Reſpirationsmittel im richtigſten Verhältniſſe. Darüber hinaus finden wir die Extreme in den Völkern, welche, wie die oſtindiſchen Stämme, die Negervölker und die Bewohner einiger europäiſchen Landſtriche, ganz von Reis, Bananen, Kartoffeln und dergleichen Pflanzenſtoffen leben, in welchen nur wenig ſtickſtoffreiche Beſtandtheile vorkommen. Daher die ungeheuern Mengen, welche dieſe Völkerſchaften zu ſich zu nehmen gezwungen ſind, um aus der Maſſe der Reſpirationsmittel die nöthige Menge der wirklichen Nahrungsmittel zuſammenzuſuchen. Dieſen Völkern treten unſere ganz von Pflanzen lebenden Hausthiere und die übrigen Pflanzenfreſſer an die Seite, welche ihr ganzes Leben mit Freſſen und Schlafen zubringen und große Maſſen zu ſich nehmen muͤſſen, weil nur verhältnißmäßig geringe Mengen von wirklicher Nahrung darin enthalten ſind. Endlich finden wir noch in den ſämmt - lichen Polarländern den übermäßigen Genuß von Fett als unzer - trennlich mit der Lebensart in dieſen Climaten verbunden. Auch hier erklärt ſich uns dieſer Naturtrieb gar leicht aus den vorherigen Be - trachtungen. Der Menſch muß hier, um leben zu können, größere Mengen von Wärme produciren und bedarf dazu auch größerer Men - gen von Brennmaterial; dazu eignet ſich kaum eine Subſtanz ſo gut, als das ganz allein aus Kohlen - und Waſſerſtoff beſtehende Fett der Thiere.

So hätten uns unſere Betrachtungen alle dahin geführt, anzu -139 erkennen, daß die ganze Thierwelt zunächſt von der Pflanzenwelt lebt, entweder unmittelbar durch die Pflanzennahrung, oder mittelbar, indem die Pflanzenfreſſer die eigentlichen Nahrungsſtoffe aus den Pflanzen für die Fleiſchfreſſer ſammeln, die ſtickſtofffreien Reſpirations - mittel aber als Fett ablagern. Aber hier finden wir keinen Abſchluß und die Frage wirft ſich uns von ſelbſt auf, wovon lebt denn die Pflanze?

Die Beantwortung dieſer Frage umfaßt den Gegenſtand der leb - hafteſten Debatte, welche in neuerer Zeit in der Wiſſenſchaft geführt worden iſt, ſie umfaßt die Theorie des wichtigſten Gewerbes, welches der Menſch erfunden hat, nämlich des Ackerbaues. Die richtige Be - antwortung dieſer Frage findet ſich ſchon theilweiſe in der Mitte des vorigen Jahrhunderts bei Pflanzenphyſiologen und Chemikern, wurde ſeitdem immer genauer von Einzelnen entwickelt, aber erſt in neuerer Zeit durch Liebig mit einer Lebendigkeit und Klarheit geltend gemacht, daß ſie ſogleich einen lebhaften allgemeinen Kampf erregte, der damit endigen wird, daß die richtige Grundlage allgemein anerkannt und als neu gefundener Buchſtabe dem ABC der Wiſſenſchaft hinzuge - fügt wird.

Zunächſt müſſen wir hier fragen, woraus beſteht die Pflanze? Sehen wir vorläufig, wie wir auch beim Thiere gethan, von den un - organiſchen Beſtandtheilen, den Erden und Salzen, ab, ſo iſt die Ant - wort ſchon gegeben durch die beiden oben aufgeſtellten Reihen. Der Körper der Pflanze aber iſt aufgebaut aus ſtickſtofffreien Beſtandtheilen, nämlich aus Zellſtoff und Pflanzengallerte, welche mit den an - dern Stoffen, Zucker, Gummi, Stärkemehlganz gleich zuſammen - geſetzt ſind und ſich von den Fett - und Wachsarten nur durch ein geringeres Verhältniß des Sauerſtoffs in letzterem unterſcheiden. Da - neben aber bedarf die Pflanze der ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile nicht ſowohl um ihren Körper aufzubauen, ſondern um den chemiſchen Proceß zu veranlaſſen, durch welchen die Umbildung der aufgenom - menen Nahrungsſtoffe erfolgt. Die Frage nach der Ernährung der Pflanze umfaßt alſo die Frage nach dem Urſprunge des Kohlenſtoffs und Stickſtoffs, indem für Waſſerſtoff und Sauerſtoff durch Waſſer140 und atmoſphäriſche Luft genügend geſorgt iſt. Die bisherige allgemein geltende Anſicht ging nun dahin, daß die Pflanze ihren Kohlenſtoff und Stickſtoff dem Dünger oder dem Humus des Bodens entnähme.

Alle Thier - und Pflanzenkörper gehen nämlich, ſobald ſie todt ſind, in einen Zerſetzungsproceß über, durch welchen ſie früher oder ſpäter in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer verwandelt, ſich in die Atmoſphäre verlieren. So lange aber dieſer Zerſetzungsproceß noch nicht vollſtändig beendigt iſt, bleibt noch ein freilich ſchon veränderter Rückſtand mit brauner oder ſchwarzer Farbe, den man im Anfange der Zerſetzung Dünger, gegen das Ende derſelben Humus oder Baum - erde nennt. Es iſt ein complicirtes Gemiſch gar mannigfacher Zer - ſetzungsproducte. Man argumentirte nun ſo: Kohlenſtoff und Stick - ſtoff ſind reichlich im Humus vorhanden; auf einem Boden, der reich an Humus iſt oder gut gedüngt wird, gedeihen Pflanzen beſſer, als auf einem humusarmen, alſo iſt Humus die Quelle des Kohlenſtoffs und Stickſtoffs der Pflanzen. Dieſem ganzen Räſonnement fehlt aber die Schlußkraft.

Es gab eine Zeit auf unſerer Erde, in welcher noch keine Vege - tation die feſte Rinde bedeckte, in welcher kein Thier lebte, in welcher kein Humus vorhanden ſeyn konnte. Auf dieſem humusleeren Boden entwickelte ſich allmälig eine Vegetation in ſo großer Maſſe, in ſo rieſiger Ueppigkeit, daß dieſelbe, durch ſpätere Erdrevolutionen be - graben und uns aufbewahrt, einen höchſt weſentlichen Platz in dem Haushalte der heutigen Menſchheit einnimmt, ich meine die Vege - tation einer der älteſten geognoſtiſchen Formationen, der Steinkohlen - periode. Der jährliche Verbrauch der Steinkohle in Europa beträgt über 677,500,000 Centner und die Geognoſie weiſt nach, daß ſelbſt bei ſteigendem Verbrauche der Vorrath noch für 500 Jahre ſicher ausreicht. Ein ſolcher Vorrath entſpricht aber 240,500,000,000 Cent - nern Kohlenſtoff, den dieſe Pflanzen offenbar nicht dem humusleeren Boden der Urzeit entnommen haben konnten. Jenes falſche Räſon - nement ſetzt nämlich ſtillſchweigend folgende Hypotheſe voraus:

Es giebt auf der Erde eine beſtimmte Quantität organiſcher141 Subſtanz, welche zwiſchen Pflanzen - und Thierreich circulirt, das abſterbende Thier dient der Pflanze als Nahrung, und die entwickelte Pflanze wieder dem Thiere.

Das könnte nun auch ganz gut der Fall ſeyn, wenn der Ver - weſungsproceß nicht dazwiſchenträte, durch welchen doch ohne Frage fortwährend mindeſtens ein Theil der organiſchen Subſtanz dem an - geblichen Kreislaufe entzogen, und als unorganiſche Verbindung, als Kohlenſäure und Ammoniak, in die Atmoſphäre verflüchtigt wird. Im Verlaufe der Jahrtauſende müßte aber auf dieſe Weiſe ſämmt - liche angeblich mit der Erde zugleich geſchaffene organiſche Subſtanz längſt verbraucht ſeyn. Wir finden aber gerade das Gegentheil. So - wohl im Verlaufe der großen geognoſtiſchen Perioden als auch im Verlaufe der mit dem Menſchen beginnenden Geſchichte der Erde zeigt ſich uns dort von Periode zu Periode, hier von Jahrhundert zu Jahrhundert eine immer größere Fülle des organiſchen Lebens, eine fortwährende Vermehrung der Thier - und Pflanzenwelt. Woher ſtammt dieſe, wenn es nicht einen Proceß giebt, durch welchen die unorganiſche Subſtanz übergeführt wird in den Kreislauf des Orga - niſchen? Auf der andern Seite können wir leicht überſchlagen, welche ungeheure Mengen von Ammoniak und Kohlenſäure ſich durch Ath - mung und Verbrennungsproceſſe, aus der Verweſung ſo vieler Mil - liarden von Thier - und Pflanzenkörpern und durch die fortwährenden Ausſtrömungen der großen Vulcane in der Luft ſeit Jahrtauſenden müßte angehäuft haben, während in der That das Ammoniak in ver - ſchwindend kleinen Mengen, die Kohlenſäure in einem beſtimmbaren, aber ſehr geringen Antheil in der Atmoſphäre ſich befindet. Es muß alſo ein ganz geſetzmäßiger Abfluß Statt finden, durch welchen ebenſo der Atmoſphäre jene Stoffe wieder entzogen und der organiſchen Welt wieder einverleibt werden. Und wie im Großen können wir daſſelbe im Kleinen an Welttheilen und immer kleinern Gebietsgrößen nachweiſen.

Die Pampas von Südamerica hatten zur Zeit ihrer Beſitz - nahme durch die Spanier dieſelbe dürftige Steppenvegetation, wie noch jetzt, ſoweit ſie nicht in der nächſten Nähe der Städte und durch142 die Verwilderung der großen Pampasdiſtel und der Artiſchocke ver - ändert iſt; dieſelbe dünne Bevölkerung, dieſelben einheimiſchen Thier - mengen wie noch heute durchſtreiften dieſe öden Ebenen. Die Spanier führten das Pferd und das Rindvieh ein und dieſe vermehrten ſich in unglaublich kurzer Zeit in ſolchem Maaße, daß allein Montevideo jährlich 300,000 Stierhäute ausführt, daß die Kriegszüge des General Roſas viele Hunderttauſende von Pferden koſteten, ohne daß auch nur im Geringſten eine Abnahme merklich wurde. Das einhei - miſche organiſche Leben und ſeine Maſſe hat ſich ſeit der Entdeckung durch die Spanier alſo nicht vermindert, ſondern bedeutend vermehrt, und dabei ſind Millionen Pfunde von Kohlenſtoff und Stickſtoff zu organiſchen Subſtanzen verbunden durch den Handel mit Ochſen - häuten ausgeführt, ohne daß das Land den geringſten berechenbaren Erſatz an organiſchen Stoffen erhalten hätte. Woher können dieſe Maſſen anders entſtammen, als der Atmoſphäre? Wenn wir alle übrigen Beſtandtheile des Thees vernachläſſigen, ſo führt doch China mit dem halben Procent Thein alle Jahre über 300,000 Pf. Stick - ſtoff aus, ohne dafür irgend namhaften Erſatz wieder zu erhalten. Von dem in gutem Stande erhaltenen Walde gewinnen wir jährlich für den Morgen ohngefähr dritthalbtauſend Pfund trockenes Holz, welche etwa 1000 Pfund Kohlenſtoff enthalten. Aber wir düngen den Waldboden nicht, und ſein Gehalt an Humus, weit entfernt, erſchöpft zu werden, nimmt vielmehr von Jahr zu Jahr durch Wind - bruch und Blattfall bedeutend zu. Auf den für jedes Vieh unüber - ſteiglichen Alpen der Schweiz und Tyrols mäht der Wildheuer all - jährlich ſeine beſtimmte Menge Gras, ohne dem Boden auch nur das Allergeringſte an organiſcher Subſtanz wieder zurückzugeben. Woher ſtammt dieſes Heu, wenn nicht aus der Atmoſphäre? Kohlenſtoff und Stickſtoff bedarf die Pflanze, und in Südamerica, im Walde auf der wilden Alpe giebt es für ſie keine Möglichkeit, ſich dieſer Stoffe zu bemächtigen, als vermittelſt des Ammoniaks und der Kohlenſäure der Atmoſphäre. Die Provinzen Nord - und Südholland, Friesland, Gröningen und Dronthe führen alljährlich mit ihrem Käſe etwa143 1 Million Pf. Stickſtoff aus. Sie entnehmen dieſelben durch die Kühe ihren Wieſen, die niemals anders, als von dem darauf wei - denden Viehe gedüngt werden. Dadurch erhalten die Wieſen aber keinen Erſatz, denn Alles, was die Kühe produciren, ſtammt ja von den Wieſen her. Woher nun dieſe enormen Maſſen von Stickſtoff? Vielleicht der Veſuv oder Aetna, oder die großen Feuerſchlünde der Cordilleren hauchten die Menge des kohlenſauren Ammoniaks aus, welches den Pflanzen der holländiſchen Wieſen durch die Luftſtrö - mungen zugeführt und von dieſen durch die Kühe endlich als Käſeſtoff zum Gegenſtande des Handels und der Gaumenluſt gemacht wurde.

Dieſe und unzähliche ähnliche Thatſachen zuſammengenommen geben uns nun ſchon einen ſehr ſichern Abſchluß, welcher endlich durch die Verſuche Bouſſingaults, die großartigſten und faſt die einzi - gen wahrhaft wiſſenſchaftlichen, welche je in landwirthſchaftlicher Be - ziehung angeſtellt ſind, über allen Zweifel erhoben wird. Bouſſingault beſtimmte auf ſeinem Gute Bechelbronn im Elſaß 4 Hectaren Landes (genau 16 heſſiſche Morgen) zu Verſuchen, die mit derſelben Genauigkeit viele Jahre fortgeſetzt wurden. Die Länge der Zeit, die Größe des benutzten Areals vernichten alle Einwürfe, welche ſonſt bei Verſuchen im Kleinen gemacht werden können. Bouſſingault ließ jene 16 Morgen während 21 Verſuchsjahren ganz auf die im Elſaß gebräuchliche Weiſe beſtellen. Es wurde aber genau der Dünger ge - wogen, welcher aufgefahren, ebenſo alles das, was jedes Jahr ge - erntet wurde, und von beiden wurde ſtets durch genaue chemiſche Unterſuchungen die darin enthaltene Menge von Kohlenſtoff, Waſſer - ſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff und Aſchenbeſtandtheilen beſtimmt. Das Reſultat dieſer Verſuche war, daß durchſchnittlich im Jahre mit der Ernte zweimal ſo viel Stickſtoff, dreimal ſo viel Kohlenſtoff und Waſſerſtoff und viermal ſo viel Sauerſtoff vom Boden gewonnen, als mit dem Dünger darauf gebracht wird, wobei noch vorausgeſetzt iſt, daß der ſämmtliche Gehalt des Düngers den Pflanzen zu Gute kommt, was doch in der That nicht der Fall ſeyn kann.

Iſt nun Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer die Nahrung der144 Pflanze und finden wir, daß wir dieſe Stoffe niemals ſo combiniren können, daß ſie nicht bei Weitem mehr Sauerſtoff enthalten, als die in den Pflanzen vorkommenden Subſtanzen, ſo muß nothwendig bei dem Lebensproceſſe der Pflanze beſtändig Sauerſtoffgas frei und aus - geſchieden werden.

So erhalten wir als Endreſultat unſerer Betrachtungen folgende großartige Anſicht von dem Stoffwechſel in den drei Reichen der Na - tur. Die Verweſung und der Athmungsproceß löſen alle Pflanzen - und Thierſtoffe, indem der Sauerſtoff der Atmoſphäre vermindert wird, in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer auf, welche ſich in der Atmoſphäre verbreiten. Dieſer Stoffe bemächtigt ſich die Pflanze und bildet daraus unter beſtändiger Vermehrung des Sauerſtoffs der At - moſphäre kohlenſtoff - und waſſerſtoffreiche und ſtickſtofffreie Beſtand - theile: Stärke, Gummi, Zucker und Fettarten, und ſtickſtoffreiche Be - ſtandtheile: Eiweiß, Faſerſtoff und Käſeſtoff. Dieſe Beſtandtheile dienen dem Thiere, indem es aus Letztern ſeinen Körper baut und die Erſten im Reſpirationsproceſſe zur Erhaltung der nöthigen Wärme verbrennt. Dieſe Theorie ſteht nach den angeführten Thatſachen jetzt unerſchütterlich feſt und der Naturforſcher hat allerdings Recht, wenn er ſagt, daß der Menſch durch die Vermittelung der Pflanzen in letzter Inſtanz von der Luft lebt. Oder drücken wir es vielmehr ſo aus: aus der Atmoſphäre ſammelt die Pflanze die Stoffe, aus denen ſie die Nahrung des Menſchen zuſammenſetzt. Das Leben ſelbſt aber iſt nur ein Verbrennungsproceß, die Verweſung nur der letzte Abſchluß deſſelben. Durch dieſe Verbrennung kehren alle Beſtandtheile wieder in die Luft zurück und nur eine geringe Menge Aſche bleibt der Erde, der ſie entſtammt. Aber aus dieſen langſamen, unſichtbaren Flammen erhebt ſich ein neugeborner Phönix, die unſterbliche Seele, in Regio - nen, wo unſere Naturwiſſenſchaft keine Geltung mehr hat.

[145]

Siebente Vorlesung. Wovon lebt der Menſch?

Zweite Beantwortung.

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Staub ſoll er freſſen, und mit Luſt, Wie meine Muhme, die berühmte Schlange. (Fauſt. )Schleiden, Pflanze. 10[146][147]

Ob die Worte unſeres Motto, welche der Dichter dem böſen Geiſte in den Mund legt, Wahrheit haben? Ob die Rede des ge - meinen Lebens wie der heiligen Poeſie, daß der Menſch dem Staube entſtamme und wieder zu Staub und Aſche werde, mehr ſind als ein poetiſches Gleichniß? Nur die Naturwiſſenſchaft, die Phyſiologie kann es uns beantworten.

Es war mir erlaubt, in einer früheren Vorleſung den Natur - forſcher zu vertheidigen, wenn er behauptete, der Menſch lebe nur von der Luft, ſtamme von derſelben und kehre in dieſelbe wieder zurück. Die Verweſung löſt alle thieriſchen Körper in Ammoniak, Kohlenſäure und Waſſer auf, und dieſe verfliegen als Gas und Waſſerdunſt in die Luft. Seine Nahrung entnimmt der Menſch mit - telbar oder unmittelbar ganz dem Pflanzenreiche, und dieſes lebt weſentlich ganz auf Koſten der Kohlenſäure, des Ammoniak und des Waſſers der Atmoſphäre.

Dieſe Anſichten verdanken wir den ſich folgenden und ergänzen - den Unterſuchungen der ausgezeichnetſten Forſcher der letzten 100 Jahre; doch erſt in neueſter Zeit ſind ſie von Liebig in einer Weiſe ausgeſprochen, die die allgemeine Aufmerkſamkeit auf ſie lenkte. Gegen ihn haben ſich von den verſchiedenſten Seiten her lebhafte Stimmen erhoben, aber ſehr verſchieden ſind die Gründe und Ein - würfe, welche man gegen ihn geltend gemacht hat. Ein Theil der Oppoſition galt nicht den Anſichten, ſo weit ſie mitzutheilen mir früher vergönnt war, ſondern der gar nicht zu rechtfertigenden Unart, mit welcher Liebig ihm völlig fremde Wiſſenſchaften herabſetzte und in10*148Bauſch und Bogen die Männer, die ſie vertreten, verunglimpfte, während er gleichzeitig die craſſeſte Unwiſſenheit in dieſen Diſciplinen zur Schau trug. Ein andrer Theil der Einwürfe kam von den un - wiſſenden und beſchränkten Köpfen aus älteren naturwiſſenſchaftlichen Schulen, denen, um dieſe Sätze zu beurtheilen, nicht mehr als Alles und namentlich gründliche Kenntniß der Phyſik und Chemie abging. Endlich ein anderer Theil entſprang noch aus einem Mißverſtand, den Liebig ſelbſt durch unklare Auffaſſung und mangelhafte Einklei - dung veranlaßt hatte. Man glaubte nämlich, daß dieſe Theorie des Stoffwechſels durch die drei Reiche der Natur ſchon eine Theorie des Pflanzen - und Thierlebens ſeyn ſolle, und dachte mit dem Nachweis, daß hier gar Vieles unerklärt und dunkel bleibe, gar Vieles ſich nicht mit jener Theorie reimen laſſe, dieſe ſelbſt umwerfen zu können. Das Verhältniß jener großartigen Anſichten zum Thier - und Pflanzenleben iſt aber ein ganz anderes. Für ſich ſind jene allgemeinen Umriſſe voll - endet und unerſchütterlich feſtgeſtellt. Für das Pflanzen - und Thier - reich aber gelten ſie uns als leitende Maximen, mit denen in Einklang wir die genauere Auszeichnung des Bildes zu verſuchen, nach denen wir die Zuläſſigkeit der Hypotheſen im Einzelnen zu entſcheiden haben, und es mag ſeyn, daß wir noch lange forſchen müſſen, bis wir hier alle einzelnen Glieder auffinden, die die Kette vollſtändig ſchließen. Die Theorie des Stoffwechſels ſagt uns nur im Allgemeinen, was zwiſchen Pflanzen und Thieren, Thieren und Atmoſphäre, Atmoſphäre und Pflanzen vor ſich geht, aber ſie ſagt uns nicht, was für Proceſſe in der Pflanze, im Thier Statt finden, wohl aber bindet ſie unſere fer - neren Unterſuchungen in ſofern, als wir von vorn herein jeden Er - klärungsverſuch als falſch verwerfen müſſen, der jener Theorie des Stoffwechſels widerſpricht. Alle Verſuche z. B. die Ernährung der Pflanzen aus den organiſchen Beſtandtheilen des Bodens abzuleiten, ſtehen ganz müſſig da, weil wir durch jene Theorie wiſſen, daß wir mit den ſämmtlichen organiſchen Stoffen nie und nimmer auch nur für den vierten Theil der darauf wachſenden Pflanze Rechenſchaft geben können.

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Hier wirft ſich aber ganz von ſelbſt ein Einwurf auf, der der ganzen Theorie ſehr ungünſtig zu ſeyn ſcheint. Wir ſehen doch nun einmal unzweifelhaft, daß in humusreichem Boden, auf gutgedüngtem Felde die Culturpflanzen beſſer gedeihen, als auf ungedüngtem. Wenn aber die Pflanze Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer aus der Luft bezieht, wenn das ihre einzige Nahrung iſt, wozu nützt dann der Dünger, warum müſſen wir ihn anwenden, wenn wir nicht auf jedes Gedeihen der Culturpflanzen verzichten wollen? Dieſe Frage kann nur durch eine doppelte Antwort erledigt werden, die Eine aus der Phyſik, die Andere aus der Chemie entlehnte, die Eine die Wirkung des Humus im Allgemeinen, die Andere insbeſondere die Nothwen - digkeit oder Vortheilhaftigkeit des Düngers erklärend.

Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſerdunſt der Atmoſphäre ſind allerdings die Nahrungsmittel der Pflanzen, aber die Frage iſt, durch welche Organe ſie dieſelben aufnehmen. Beim Waſſer leidet es keinen Zweifel, daß es ganz oder doch zu 99 Procenten durch die Wurzeln aufgenommen werden muß. Aus den Verſuchen des Engländers Hales und des Deutſchen Schübler ſcheint hervorzugehen, daß die Pflanzen bedeutend größere Quantitäten von Waſſer verbrauchen, als mit dem Regen herabfällt. Eine Sonnenblume verbraucht täglich Pfund Waſſer; alſo wenn jede Pflanze 4 Quadratfuß einnimmt, bedürfen die Pflanzen eines Morgens in den vier Sommermonaten 1,500,000 Pfund. Der Boden zwiſchen ihnen iſt aber mit Gras und Unkraut bewachſen und auch dieſes verzehrt Waſſer, welches man noch zu 1,500,000 Pfund veranſchlagen kann. Im Ganzen verlangt alſo ein Morgen Landes mit Sonnenblumen beſetzt 3 Millionen Pfd. Waſſer.

Durch ähnliche Berechnungen findet man für den Bedarf eines mit Kohl bepflanzten Morgens 5 Millionen Pfund; für einen Obſt - garten mit Zwergbirnbäumen beſetzt ebenſoviel; für einen Morgen, der mit Hopfen bepflanzt iſt, ſogar 6 bis 7 Millionen Pfund.

Die dieſen Berechnungen zu Grunde liegenden Verſuche wurden in England angeſtellt, wo während der vier Sommermonate höchſtens 1,600,000 Pfund Regen auf den Morgen Landes fällt. Man würde150 aber einen großen Irrthum begehen, wenn man glaubte, daß dieſes Regenwaſſer alles den Pflanzen zu Gute käme. Es verfliegt vielmehr gleich ein großer Theil in die Luft, aber ein noch bei Weitem größerer Theil läuft ab und wird durch Quellen, Bäche und Flüſſe dem Meere zugeführt. Zur Beſtimmung dieſer letzten Menge beſitzen wir immer noch nicht genügend genaue Meſſungen und Berechnungen. Auffallend aber iſt es, daß, ſo wie ſich im Laufe der Jahrhunderte die Methoden der Beſtimmung mehr und mehr entwickelt haben, ſo wie die Beobach - tungen genauer wurden, ſich auch herausſtellte, daß man früher dieſe Waſſermenge viel zu klein angeſchlagen habe. Die ältern Phyſiker nahmen an, daß etwa des als Regen fallenden Waſſers durch die Flüſſe dem Meere zugeführt werde. Die ſchon viel genaueren Be - rechnungen von Dauſſe für die Seine und von D'Alton für die Themſe zeigten, daß man wenigſtens annehmen könne. Noch ge - nauer ſind die Angaben von Berghaus für den untern Rheinlauf, wonach ¾, und von Studer für den obern Rhein, wonach alles Regens, Schnee's und Thau's durch den Rhein abfließen würde. Endlich ſind die von Berghaus über die Weſer mitgetheilten ſehr ins Specielle gehenden Thatſachen der Art, daß es beinahe wahr - ſcheinlich wird, daß dieſer Fluß noch etwas mehr Waſſer abführt, als ihm die atmoſphäriſchen Niederſchläge liefern können, daß alſo noch andere Naturproceſſe ihn mit Waſſer verſorgen müſſen. Nehmen wir aber auch an, daß im Ganzen nur die Hälfte des Regenwaſſers abfließt, ſo ergiebt ſich doch ſogleich die Unmöglichkeit, daß die übrigbleibenden 800,000 Pfund Waſſer, auch abgeſehen von der Verdunſtung, den Bedarf der Pflanzen decken können, welcher von 3 bis zu 6 Millionen beträgt. Es muß den Pflanzen alſo der Waſſerdunſt der Luft noch auf andere Weiſe zugeführt werden, und dieſes geſchieht durch die Eigen - ſchaft der meiſten den Boden bildenden Beſtandtheile, die Waſſer - dünſte der Luft einzuſaugen. Dieſe Eigenſchaft kommt aber keiner Subſtanz in ſo hohem Grade zu, als dem aus der allmäligen Ver - weſung der organiſchen Subſtanzen entſtandenen Humus. Merk - würdiger Weiſe zeichnet ſich aber der Humus auch durch ſeine beſondere151 Kraft aus, Kohlenſäure und Ammoniakgas der Luft zu entziehen und gleichſam zu ſammeln; auch in dieſer Beziehung kommt ihm keine feſte Subſtanz des Erdbodens gleich und nur das Waſſer ſteht ihm darin am nächſten. Der Humus enthält ſomit unter allen Umſtänden ſtets ein mit Kohlenſäure und Ammoniak geſchwängertes Waſſer, und ſo wie ihm daſſelbe durch die Wurzeln der Pflanzen entzogen wird, erſetzt er den Verluſt wieder aus der Atmoſphäre. Sicher iſt dies der hauptſächlichſte Weg, auf welchem den Pflanzen das Waſſer zugeführt wird, höchſt wahrſcheinlich der weſentlichſte Canal, durch welchen ſie mit Ammoniak geſpeiſt werden, und gewiß wird ihnen dadurch wenigſtens ein großer Theil der Kohlenſäure zugeführt. Sehen wir eine kürzlich blosgelegte Fläche eines Granitblocks z. B. auf der Spitze des Brockens an, ſo finden wir, daß, ernährt von der geringen Menge von kohlenſaurem, mit Ammoniak geſchwängerten atmoſphäriſchen Waſſer ſich bald eine Vegetation einer kleinen zarten, nur unterm Microſcop erkennbaren Pflanze auf demſelben entwickelt. Dieß iſt der ſogen. Veilchenſtein, ein ſcharlachrother, pulverförmiger Ueberzug des nackten Geſteins, welcher durch ſeinen beſonders beim Reiben hervortretenden Veilchengeruch eine fleißig geſuchte Merkwür - digkeit für den ſinnigen Brockenwanderer geworden iſt. Durch das allmälige Abſterben und Verweſen dieſer kleinen Pflänzchen bildet ſich nach und nach ein ganz dünner Ueberzug von Humus, der ſchon ein Paar großen ſchwarzbraunen Flechten die nöthige Nahrung aus der Atmoſphäre zuführen kann. Dieſe Flechten, welche die Halden um die Tagöffnungen der Bergwerke von Fahlun und Dannemora in Schweden dicht überziehen und durch ihre düſtre Farbe, die ſie der ganzen Gegend aufprägen, jene Pingen oder Tagfahrten als die fin - ſtern Schlünde des Todes erſcheinen laſſen, haben die Botaniker tref - fend die ſtygiſche und die Fahluner Flechte genannt. Aber ſie ſind hier keine Boten des Todes; ihr Abſterben vielmehr bereitet den Boden für das kleine zierliche Alpenmoos, deſſen Vernichtung bald grünere und üppigere Mooſe folgen, bis ſich hinreichender Boden für die Rauſchbeere, für den Wachholder und endlich für die Fichte gebil -152 det hat. So erwächſt aus unſcheinbarem Anfange eine immer dickere Humusdecke über dem nackten Geſtein, und eine immer kräftigere und üppigere Vegetation nimmt Platz, nicht von jenem Humus ſich er - nährend, der ſich vielmehr mit jeder abſterbenden Generation ver - mehrt, ſtatt vermindert, ſondern durch ihn nur mit Nahrung aus der Atmoſphäre verſehen. Ein noch intereſſanteres Beiſpiel der Art führt Bouſſingault in ſeiner économie rurale an. Er beſuchte bei ſeinem erſten Aufenthalt in Amerika eine Gegend in der Nähe von La Vega da Supia die während ſeiner Anweſenheit durch einen Berg - ſturz in eine wüſte Fläche von Porphyrtrümmern verwandelt wurde, wobei alle Vegetation vernichtet und viele Klafter tief unter Fels - ſtücken begraben war. Als er nach 10 Jahren zum zweiten Mal in die - ſelbe Gegend kam, hatte ſich das wilde und nackte Felsgerölle bereits wieder mit einem jungen, üppig grünenden Acacienhain bedeckt. Sicher ſind auf ähnliche Weiſe die den Fluthen des Uroceans durch vulkaniſche Kräfte entſteigenden Felſeninſeln in einer Periode, die Hunderttauſende von Jahren über alle Menſchengeſchichte auf unſerer Erde hinausliegt, allmälig mit Vegetation bedeckt, bis an günſtigen Stellen ſich zuletzt die Maſſen von Humus anhäuften, die dem uner - ſchöpflichen vegetabiliſchen Leben der tropiſchen Urwälder zur üppigen Unterlage dienen. In dieſen phyſicaliſchen Eigenſchaften des Humus, nicht aber in ſeinen chemiſchen Beſtandtheilen haben wir den Grund zu ſuchen, warum auf einem humusreichen Boden eine üppigere Vegetation gedeihen kann, als auf einem andern, in deſſen Miſchung dieſe Subſtanz fehlt.

Wie nun aber? wenn Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer die alleinige Nahrung der Pflanzen ſind, wenn dieſe Stoffe in dem großen Reſervoir des Luftmeeres ſtets in genügender Menge vorhanden ſind, wenn ſelbſt ohne Humus dieſe Stoffe einer dürftigen Vegetation zu - geführt werden können, wenn dieſe durch ihr Abſterben beſſeren Pflan - zen den Boden bereiten, warum findet dennoch trotz alles Humusge - halts eine ſo große Verſchiedenheit in der Vegetation Statt? Weß - halb gedeiht eine und dieſelbe Pflanze auf dieſem Boden höchſt üppig,153 während ſie auf einem andern verkümmert oder überhaupt gar nicht ſich entwickelt?

..... Nicht jeder Boden trägt Alles. Hier gedeihen die Saaten üppiger, dort beſſer die Trauben*)..... .... non omnis fert omnia tellus, hic segetes, illic veniunt felicius uvae. Virg. Georg. . (Virgils Gedicht vom Landbau. )

Auf den Schweizer Voralpen wächſt unſere prachtvollſte Orchidee, der Frauenſchuh, überall, wo der ſogen. Alpenkalk den Boden bil - det; ſie begleitet den ganzen ſchwäbiſchen Muſchelkalk und verſchwindet dann plötzlich, ſo wie man dieſſeit der Donau auf den Sand der Jura - und Keuperformation gelangt. Erſt im thüringiſchen Muſchel - kalke tritt ſie wieder auf und zieht ſich mit demſelben an der Werra hinunter bis in die Gegend von Göttingen, überſpringt dann den bunten Sandſtein des untern Eichsfeldes, den Granit des Oberhar - zes, um wieder auf den Kalkformationen öſtlich vom Brocken den Wanderer zu erfreuen. Dann ſucht man ſie vergebens auf all den Thon - und Sandformationen der norddeutſchen Ebene, bis ſie im äußerſten Norden auf Rügen wieder ſich einfindet, wo ſich die Kreide - felſen von Arkona und Stubbenkammer erheben. An der weſtlichen Küſte von Frankreich wachſen verſchiedene unſcheinbar ausſehende Strandgewächſe, die Solſola - u. Salicornienarten, welche dort von den Einwohnern benutzt werden, um aus ihrer Aſche Soda zu gewinnen. Wenn wir von dort nach Oſten reiſen, ſo vermiſſen wir überall auch beim ſorgfältigſten Suchen dieſe Pflänzchen und nur hin und wieder zeigt ſich die eine oder andere da, wo der Boden von einer Salzquelle durchfeuchtet iſt. Endlich gelangen wir in die großen ſüd - öſtlichen ruſſiſchen Steppen, die, im Sommer oft mit einer dicken Salzkruſte bedeckt, ſich als der Boden eines ausgetrockneten Meeres zu erkennen geben, und hier treten jene Pflanzen wieder in derſelben Fülle und Ueppigkeit auf, wie an den Küſten von Frankreich. An den Küſten von Norddeutſchland wächſt auf dem dürftigen Dünenſande die kleine blaßrothe, ſtrohblumenartige Grasnelke und hat ſich überall154 auf den Sandflächen der norddeutſchen Ebene ausgebreitet; dann aber überſpringt ſie die Granite, Thonſchiefer und Gypſe des Harzes, die Porphyre und Muſchelkalke Thüringens und erſcheint erſt jenſeit des Mains wieder auf der Keuperſandebene, welche das ehrwürdige Nürnberg umgiebt. Weiter ſteigt ſie herab durch die Pfalz nach Süden, bis ihr abermals der Muſchelkalk der ſchwäbiſchen Alpe eine Grenze ſetzt; aber ſie überſpringt dieſen und die ganzen reichen Alpen, um endlich im nördlichen Italien wieder auf Sandboden zu erſcheinen. Wie kommt es nun, daß die genannten Pflanzen überall den üppig - ſten Boden in ihrem geographiſchen Verbreitungsbezirk verſchmähen, und nur auf ganz beſtimmte Gebirgsarten beſchränkt ſind? Sollte hier nicht der Kalk, das Salz, der Sand oder vielmehr die Kieſelerde den entſchiedenſten Antheil daran haben?

Und man kann noch weiter fragen: Weshalb kann ein und der - ſelbe Boden die eine Pflanze zur höchſten Stufe ihrer Entwicklung bringen, während eine andere auf ihm nicht im Stande iſt, ihr Leben zu friſten? Warum endlich ſehen wir das Leben und geſunde Gedei - hen unſerer meiſten Culturpflanzen ſo entſchieden an die Düngung des Bodens mit organiſchen Subſtanzen gebunden? Dieſe Frage hat nun zuerſt Liebig auf eine gründliche und ächt wiſſenſchaftliche Weiſe beantwortet. Weshalb, fragt er dagegen, gedeiht in dem humus - reichſten Boden, in reiner Baumerde, kein Weizen? Weil der Weizen einen Stoff, die Kieſelerde, enthält, ohne den er nicht beſtehen kann und den er gleichwohl in der Baumerde nicht findet. Wenn wir eine Pflanze, ſey es, welche es wolle, verbrennen, ſo erhalten wir als Rückſtand, der ſich nicht mit den Verbrennungsproducten verflüchtigt, eine größere oder geringere Quantität Aſche. Kalk, Kieſelerde, Soda und Pottaſche, Kochſalz und eine Verbindung von kohlenſaurem und phosphorſaurem Kalk (ſogen. Knochenerde, weil ſie den unverbrenn - lichen Theil der[thieriſchen] Knochen bildet), Gyps und einige andere Beſtandtheile ſind die Subſtanzen, aus welchen gewöhnlich die Aſche gemiſcht iſt. Vergleichen wir aber die Reſultate der Unterſuchung der Aſche einer größern Reihe von Pflanzen unter einander, ſo kommen155 wir zu einigen merkwürdigen Geſetzen. Wir finden, daß eine und dieſelbe Pflanze immer nahebei die gleiche relative Menge Aſche giebt, daß dieſe Aſche innerhalb gewiſſer ſehr enge nach chemiſchen Grund - ſätzen beſchränkter Grenzen ganz gleichmäßig zuſammengeſetzt iſt. Wir entdecken endlich, daß verſchiedene Pflanzen eine aus ſehr verſchiedenen Subſtanzen zuſammengeſetzte oder doch ſehr verſchieden gemiſchte Aſche nach dem Verbrennen hinterlaſſen.

So wenig wie es vernunftgemäß iſt, vorauszuſetzen, daß die Pfeilwurzel blos deshalb ein ſo reines Stärkemehl bildet, damit wir unſere Kinder und Kranken damit nähren können, ohne daß dieſe Subſtanz eine ganz beſtimmte Bedeutung auch für das Leben der Pflanze ſelbſt hätte, ebenſo verkehrt würde es ſeyn, anzunehmen, daß eine Pflanze ganz beſtimmte Mengen von Aſchenbeſtandtheilen nur deshalb aus dem Boden aufnehme, damit wir hin und wieder etwas Pottaſche daraus gewinnen können, oder damit dieſe Aſche uns ein läſtiger Rückſtand im Ofen bleibe. Wir müſſen vielmehr durch die Erſcheinung, daß gewiſſe Pflanzen ganz geſetzmäßig gewiſſe unorga - niſche Mineralbeſtandtheile aus dem Boden aufnehmen, zu der An - ſicht geführt werden, daß dieſe Beſtandtheile eben ſo weſentlich für das Beſtehen und folglich für die Ernährung der Pflanze ſind, als jene Ele - mente, aus denen dieſelbe ihre organiſchen Bildungen zuſammenſetzt. Dabei iſt es zunächſt ganz gleichgültig, ob wir durch den Stand unſerer Wiſſenſchaft ſchon befähigt ſind, in jedem einzelnen Falle nachzuweiſen, welche Bedeutung dieſem oder jenem beſtimmten Stoffe im Leben der Pflanze zukomme. Genug, daß wir wiſſen, daß dieſe Stoffe unerläß - liche Bedingung für das geſunde Gedeihen gewiſſer Pflanzen ſind.

So neu und fremdartig Manchem auch jetzt die Behauptung erſcheinen mag, daß die unbedeutende Aſchenmenge in einer Pflanze überhaupt im Leben derſelben berückſichtigt zu werden verdiene, ſo wird man ſie doch leicht gelten laſſen und ſich an dieſelbe gewöhnen, ſo lange und weil man dieſes Verhältniß immerhin nur für eine wenn auch in ihrer Weiſe nothwendige Nebenſache anſieht. Aber ganz an - ders nimmt es ſich aus, wenn wir, vertraut mit den Grundprincipien156 und dem Gange, den die Wiſſenſchaft in der nächſten Zeit nehmen muß und nehmen wird, ſchon jetzt das Schlußreſultat anticipiren, an deſſen vollkommener Begründung vielleicht noch ein Jahrhundert arbeiten kann. Dann lautet unſer Sprüchlein dahin, daß überhaupt der ganze Reichthum und die ganze Mannigfaltigkeit der irdiſchen Vegetation, ihre große Verſchiedenheit, ſowohl wenn wir Längen - und Breiten-Zonen, als wenn wir die wilde Natur mit dem Culturlande ver - gleichen, ganz ausſchließlich abhängig iſt von der Verſchiedenheit der un - organiſchen Beſtandtheile, welche die Pflanze aus dem Boden aufnimmt.

Betrachten wir die wilde Vegetation unſerer Breiten, ſo finden wir zwei Hauptclaſſen des Bodens, die eine im Torf - oder Moor - boden, welcher faſt ganz allein aus Humus, alſo aus verweſten or - ganiſchen Stoffen beſteht, und die andere im Kalk -, Sand - und Thon - boden, in welchem die unorganiſchen Beſtandtheile ſo ſehr vorherr - ſchen, daß der Humus in dem ſchwärzeſten Boden höchſtens 10 Procent und ſelbſt in dem üppigſten und pflanzenreichſten oft kaum ½ Procent ausmacht. Und jener an Humus ſo reiche Torf - oder Moorboden kann von den 5000 in Centraleuropa wachſenden Phanerogamen noch keine 300 ernähren, und vielleicht ſind es keine 50 Pflanzen, alſo noch nicht 1 Procent, deren Gedeihen wirklich durch den Moorboden bedingt wäre, die nicht auch anderweitig, wo ihnen die nöthige Feuchtigkeit geboten wird, trefflich gedeihen könnten. Die meiſten dieſem humus - reichſten Boden angehörigen Pflanzen ſind aus der Familie der Bin - ſen und Riedgräſer, welche dem Landmanne als ſogen. ſaures Futter völlig unnütz und verhaßt genug ſind. Dagegen ernährt die andere Claſſe die ganze Vegetation unſerer Breiten in einer Mannigfaltigkeit, die für unſer durch die Tropenwelt nicht verwöhntes Auge bunt genug iſt, und meiſt finden wir die reichſte Fülle auf dem Boden, der am ärmſten an Humus, aber am reichſten an unorganiſchen Beſtandtheilen iſt, auf Baſalt -, Granit -, Porphyr - und Kalkboden. Alle jene verſchie - denen Pflanzenarten kehren uns Jahr aus Jahr ein in derſelben Form wieder, der Kreis ihrer Merkmale iſt ſtreng begrenzt, und wenn wir die jüngſten geognoſtiſchen Formationen durchſuchen, ſo finden157 wir die Pflanzen der Jetztwelt ganz mit denſelben Merkmalen, welche ſie noch jetzt zeigen, in den Schutt der letzten Revolution der Erdoberfläche eingeſchloſſen. Ganz Hamburg, ſein Hafen und ein breiter Streifen nach Südoſt und Nordweſt von dieſer Stadt z. B. ruht auf einem untergegangenen Walde, der jetzt 30 bis 100 Fuß unter der Oberfläche begraben iſt. Dieſer beſtand ganz aus denſelben Linden und Eichen, die wir jetzt noch in jenen Gegenden kennen; zu andern Zwecken angeſtellte Aufgrabungen haben Tau - ſende von Haſelnüſſen aus jenem Grunde zu Tage gebracht, welche in Nichts von unſerer heutigen Haſelnuß verſchieden ſind. So hat ſich für unſre Breiten die wilde Vegetation ſeit Jahrtauſenden ganz in demſelben Charakter erhalten, den ſie angenommen hatte, als ſich nach der letzten Erdrevolution die climatiſchen Verhältniſſe ſo geſtaltet hatten, wie ſie gegenwärtig von uns beobachtet werden. Ganz anders verhält es ſich mit unſerm Culturboden, von welchem ich hier nur das Gartenland berückſichtigen will, weil es die hervor - zuhebenden Eigenheiten in der auffallendſten Weiſe zeigt.

Wir beſchränken unſern ſorgfältigen Pflanzenbau auf eine ge - wiſſe verhältnißmäßig kleine Anzahl von Kräutern, und die Aus - wahl derſelben, in früherer Zeit dem Zufalle überlaſſen, jetzt nicht ſelten mit Bewußtſein nach beſtimmten Grundſätzen geleitet, wird beſonders durch Eine Hauptrückſicht beſtimmt.

Unſere Culturpflanzen zeigen ſämmtlich Merkmale, die ihnen im wilden Zuſtande nicht zukommen, welche aber gerade das um - faſſen, was uns dieſelben werth macht. Die 4 bis 6 Pfund ſchwere, ſüße, ſaftige Altring hammöhre iſt im wilden Zuſtande eine dürre, dünne, ungenießbare Wurzel; der fauſtgroße, zarte, wohl - ſchmeckende Wiener Glaskohlrabi iſt wild ein ſchlanker, holziger, ſaftloſer Stengel; der weiße, weiche, gewürzige Blumenkohl iſt auf ſeinem natürlichen Standort, in ſeiner natürlichen Tracht, ein faden - dünner, verzweigter Blüthenſtiel mit kleinen grünen, bitter ſchmec - kenden Blüthenknospen und ſo fort. Alle dieſe ſo verſchiedenen Ei - genheiten, wodurch die Pflanzen ſo wichtige Begleiter des menſch -158 lichen Haushaltes geworden ſind, werden aber hervorgerufen durch einen eigenthümlichen, der Pflanze urſprünglich fremdartigen chemi - ſchen Proceß, den nicht die überall für alle Pflanzen gleichen und faſt gleichmäßig vertheilten organiſchen Elemente, ſondern die im Boden vorhandenen und durch die Wurzeln aufgenommenen unor - ganiſchen Beſtandtheile bedingen. Sobald ein Boden reich iſt an den verſchiedenen den Pflanzen überhaupt zukommenden Salzen, ſo ändern ſich die Charactere der Pflanzen, es entſtehen Varietäten, Monſtroſitäten u. ſ. w., was im wilden Zuſtande der Pflanze, wo ſie ſich immer nur auf dem genau ihr zuſagenden Boden hält, nie - mals Statt findet. Die Pflanzen zeigen aber eine ſehr verſchiedene Geneigtheit, durch ſolche äußere Einflüſſe in ihrer eigenthümlichen Natur abgeändert zu werden. Während einige unter den verſchieden - ſten Verhältniſſen bis in die geringſten Einzelnheiten hinein genau ihre Merkmale beibehalten, gehen andere leicht in unzählige Spiel - arten über. Während bei einigen die Spielarten nur wenig Be - ſtändigkeit zeigen, leicht wieder in die wilde Form oder in neue Spielarten übergehen, bilden andere Pflanzen mannigfaltige Ab - änderungen, die nach der Cultur einiger Jahre ſchon mit völliger Sicherheit durch den Saamen fortgepflanzt werden können und auf dieſe Weiſe ſogenannte Unterarten bilden. Gerade dieſe Eigenſchaft der Pflanzen aber iſt es, welche ſie geeignet macht, zu einem vor - theilhaften Gegenſtand der Cultur zu werden, daß ſie nämlich leicht ſehr verſchiedene und beſtändige Spielarten bilden, aus denen der Menſch ſich dann die für ſeine Zwecke vortheilhaften ausſucht und ſie in die Zahl ſeiner vegetabiliſchen Unterthanen aufnimmt.

Hier haben wir nun drei ſich gegenüberſtehende Verhältniſſe, den gemeinen Boden, den Moorboden und den Gartenboden. Der erſte nährt einen Reichthum verſchiedener Pflanzenformen, die ſich aber in ſtarrer Conſequenz durch Jahrtauſende gleich bleiben. Der Moorboden iſt außerordentlich arm an Gewächſen, nur die form - loſeſten und unbrauchbarſten Pflanzen bringt er hervor. Endlich der Gartenboden ernährt nicht nur üppig jede Pflanze, die ihm über -159 geben wird, ſondern er vermehrt ſelbſt beſtändig den Reichthum der Pflanzenformen ins Unendliche, wobei wohl nur die Ungunſt des Climas ein Ziel ſetzt und die Formen wieder auf ihre Urgeſtalten zurückführt, ſobald die begünſtigenden Einflüſſe der Cultur auf - hören. Dann treten zwei andere Verhältniſſe als Gegenſätze vor unſere Betrachtung. Wir haben einerſeits den gemeinen Boden mit wenig oder gar keinen organiſchen Reſten und ſeinem Pflanzenreich - thum, andererſeits den Moorboden und den Gartenboden, beide bis zum Uebermaaß reich an dem ſchwarzen Beſtandtheile, Humus ge - nannt, welcher aus der Zerſtörung thieriſcher und pflanzlicher Orga - nismen ſich gebildet hat. Und gleichwohl finden wir beim Moor - boden und Gartenland einen ſo verſchiedenen Einfluß auf die Vege - tation. Dieſer erklärt ſich aber leicht aus der Art und Weiſe, wie beide gebildet werden. Der Torfboden entſteht da, wo organiſche Subſtanzen bei Gegenwart von vielem Waſſer verweſen. Die Folge davon iſt, daß das Waſſer alle auflöslichen Salze, welche in jenen Organismen enthalten waren, ſogleich wie ſie frei werden, auf - nimmt und fortführt. Dagegen bleiben im Gartenboden alle jene löslichen Salze zurück, kommen unmittelbar der Pflanze zu Gute und häufen ſich bei einer reichlichen Pflege des Bodens zuletzt außer - ordentlich in ihnen an, während die organiſchen Beſtandtheile durch die ununterbrochen fortſchreitende Verweſung immer wieder vermin - dert werden und ſo nie ſich in der Weiſe anſammeln können, wie in Torf - oder Moorboden, wo die Gegenwart des Waſſers von einer gewiſſen Zeit an das weitere Fortſchreiten der Verweſung hemmt oder doch ſehr verzögert. Es kann nicht leicht einen ſchlagendern Beweis für die Richtigkeit der neuern Anſichten über die Ernährung der Pflanzen geben, als dieſe Betrachtungen, für Anſichten, welche faſt gleichzeitig von einem der ausgezeichnetſten Chemiker, Liebig und einem der bedeutendſten praktiſchen Landwirthe, Bouſſingault, aufgeſtellt und ausgeführt ſind.

Aber ich erlaube mir noch einmal auf die früher erörterte Frage zurückzugehen: wovon lebt der Menſch? Wir haben geſehen, daß160 die in ſeinem Körper enthaltenen nährenden Flüſſigkeiten, daß Muskeln, Haut und der Leim, welcher die Grundlage der Knochen bildet, weſentlich aus ſtickſtoffhaltigen Subſtanzen gebildet ſind, welche ihm die Pflanzen als Nahrung darbieten. Aber der Leim macht nicht allein den Knochen aus; wir finden vielmehr in dieſem neben dem Leim die ſogenannte Knochenerde, eine Verbindung von kohlenſaurem und phosphorſaurem Kalke. Dieſe iſt es, welche dem Knochen ſeine Feſtigkeit, ſeine Härte giebt, durch welche allein er fähig iſt, die ſtützende Grundlage des ganzen Körpers zu ſeyn; wir wiſſen, daß, wo dieſe Knochenerde mangelt, eine ſchreckliche Krank - heit, die ſogenannte Knochenerweichung, eintritt. Woher nimmt der Menſch dieſen nicht minder weſentlichen Beſtandtheil ſeines Kör - pers? Wir wiſſen ferner, daß alle Flüſſigkeiten des Körpers eine beſtimmte Menge gewiſſer Salze enthalten, daß ohne dieſelben dieſe Flüſſigkeiten dem Körper nicht die Dienſte leiſten, zu welchen ſie beſtimmt ſind. Auch von dieſen Stoffen müſſen wir Rechenſchaft geben, wenn wir die Ernährung des Thierkörpers erklären wollen. So wie von den ſtickſtoffhaltigen Theilen des Körpers wird auch be - ſtändig von dieſem Unorganiſchen eine gewiſſe Menge bei der Thätigkeit des Körpers zerſetzt und ausgeſchieden und muß erneuert werden. Wir denken hier unwillkürlich zunächſt an die Erde eſſenden Ottomaken, an die Thonkugeln verſchlingenden Neger, an die zahlloſen Beiſpiele, daß Menſchen in Hungersnoth, oder ſonſt aus einer Art Liebhaberei ſogenanntes Bergmehl, eine feine Kieſel - oder Kalkerde, verzehrt haben. Aber ſogleich werden wir dieſen Gedan - ken abweiſen, wenn wir bemerken, daß hiermit nicht allgemeine Nahrungsmittel aller Menſchen, ſondern nur einige wenige aus krankhafter Verſtimmung der Magennerven oder aus Noth hervor - gegangene abnorme Erſcheinungen genannt ſind. Die Quelle, aus welcher der thieriſche Körper die unorganiſchen Beſtandtheile ſchöpft, muß eine Allgemeine ſeyn, und wir ſehen uns damit wieder auf die Pflanzen gewieſen. Wenn nun Knochenerde und ſtickſtoffhaltige Be - ſtandtheile den thieriſchen Körper aufbauen, wenn wir wiſſen, daß161 alcaliſche Salze ſtets die Galle begleiten, welche nach Liebigs An - ſichten eine bedeutende Rolle in dem Athmungs - und Verbren - nungsproceß ſpielt, durch welchen die thieriſche Wärme unterhalten wird, ſo muß es uns natürlich überraſchen, bei den Pflanzen ganz conſtant die ſtickſtoffhaltigen Nahrungsmittel von phosphorſauren Salzen, die ſtickſtofffreien Reſpirationsmittel von Alcalien begleitet zu finden. So hat die weiſe Fürſorge der Natur ſogleich in der Pflanze vereint, was gerade in dieſer gewiſſen Verbindung ander - weitig im Thiere nützlich werden ſoll.

Die Naturwiſſenſchaft darf aber bei ſolchen teleologiſchen Be - trachtungen nicht ſtehen bleiben und unſere Aufgabe wird zunächſt ſeyn, nachzuweiſen, daß für die Pflanze ſelbſt jene unorganiſchen Salze ganz beſtimmte Bedeutung haben. Ja ſelbſt wenn wir die - ſen Nachweis noch nicht zu liefern im Stande ſind, ſo müſſen wir doch aus dem conſtanten Vorkommen beſtimmter Mineralbeſtand - theile in beſtimmten Pflanzen auf die Nothwendigkeit derſelben für das Beſtehen und Gedeihen der Pflanze ſchließen, wie zuerſt Th. de Sauſſure in ſeinen unſterblichen Recherches sur la végétation gethan hat. Auf dieſe Anſicht geſtützt ſprach nun Liebig aus: da die organiſchen Nahrungsmittel allen Pflanzen überall in gleichem Maße zu Gebote ſtehen, ſo kann in ihnen die Urſache der großen Verſchiedenheit der Vegetation nicht geſucht werden, folglich muß dieſelbe in den unorganiſchen Beſtandtheilen liegen, und wenn wir den Dünger auf den Acker bringen, ſo iſt es im Weſentlichen ganz daſſelbe, wenn wir ihn erſt verbrennen und nur die Aſche auf den Boden ſtreuen, denn nur in den Aſchenbeſtandtheilen kann ſeine Wirkſamkeit begründet ſeyn.

Es iſt leicht einzuſehen, daß dieſer Grundſatz, auf den Land - bau angewendet, über alle Erſcheinungen, um deren Erklärung man ſich bisher vergebens abmühte, plötzlich ein neues helles Licht ausgießt. Nun können wir es leicht begreifen, warum eine Rieſel - wieſe jährlich ohne Düngung die großen Mengen von Heu liefern kann, wenn ihr im Quellwaſſer die nöthigen Quantitäten vonSchleiden, Pflanze. 11162Salzen zugeführt werden. Es wird uns klar, wie der Peruaner auf dem dürrſten Flugſande die üppigſten Maisernten erzielen kann, wenn nur ein kleines Bächlein von den Schneegipfeln der Andes ihm die nöthigen auflöslichen Erdſalze zuführt. Hunderte von ähn - lichen Erſcheinungen werden plötzlich durch dieſen genialen Gedan - ken Liebigs aufgeklärt, aber auch Hunderte von neuen Gedanken fruchtbar für die Ausbildung und Verbeſſerung, für Vereinfachung und Sicherung des Landbaus werden angeregt, welche die nächſte Folgezeit ausbeuten wird, und wir fangen an, es natürlich zu fin - den, daß England, wo der Ackerbau auf einer nach dem bisherigen Maßſtabe ſo hohen Stufe ſteht, ihn, den Begründer einer rationel - len Pflanzencultur im Gegenſatz der bisherigen rein empiriſchen auf eine Weiſe feiern und mit Feſten und Ehrenbezeigungen aller Art überhäufen konnte, wie es kaum einem Menſchen und ſicher nie ei - nem Ausländer in England widerfahren iſt.

Wenn wir die Aſchen der Pflanzen unterſuchen, finden wir insbeſondere folgende vier Beſtandtheile, durch welche ſie charakteri - ſirt ſind: Leicht auflösliche alcaliſche Salze, Erden beſonders Kalk - und Talkerde, Phosphorſäure und Kieſelſäure oder Kieſelerde. Bald herrſcht eine, bald zwei von dieſen Subſtanzen in der Aſche der Pflanzen vor.

Hiernach theilte Liebig die Culturgewächſe ein in:

  • 1) Alcalipflanzen, wozu Kartoffeln und Runkeln;
  • 2) Kalkpflanzen, wozu Klee, Erbſen u. ſ. w.;
  • 3) Kieſelpflanzen, wozu die Gräſer;
  • 4) Phosphorpflanzen, wozu Roggen und Weizen gehören.

Aber außerdem enthalten die Pflanzen noch manche andere Stoffe, deren Mengen und Bedeutung wir nur zur Zeit noch weni - ger genau kennen. Bei fortſchreitender Wiſſenſchaft wird aber ſicher jene Liebig'ſche Eintheilung noch eine viel ausführlichere Geſtalt annehmen.

Alle jene Stoffe finden ſich nun zwar in den Gebirgsarten der feſten Erdrinde vor, aber faſt alle in einem völlig unauflöslichen,163 zum Theil kryſtalliniſchen, alſo für die Pflanze durchaus unbrauch - baren Zuſtande. Die Frage aber, wie dieſe Stoffe auflöslich gemacht, wie ſie allmälig zum Boden der Pflanze werden, kann uns nur die Geognoſie beantworten.

Verſetzen wir uns im Geiſte in eine Zeit, welche die großartig poetiſche Sage der Hebräer mit den Worten bezeichnet: Und die Erde war wüſte und leer, und es war finſter auf der Tiefe und der Geiſt Gottes ſchwebte auf den Waſſern; ſo zeigt ſich uns die Erde in dichte Nebel gehüllt, größtentheils mit Waſſer bedeckt, dem, durch vulcaniſche Kräfte gehoben, zuerſt die Gebirge entſtiegen, die in feurigem Fluß oder doch in breiartigem Zuſtande an die Luft treten und hier mehr oder weniger kryſtalliniſch als ſogenannte Ur - gebirge erſtarren. Gleichzeitig erhebt ſich durch dieſelben Kräfte der benachbarte Meeresboden über den Spiegel deſſelben und zeigt ſich in ſchichtenweis aus dem Meere abgeſetzten Niederſchlägen als Uebergangsgebirge. Sogleich aber beginnt der zerſetzende Einfluß der Atmoſphäre. In die Sprünge und Riſſe des feſten Felſens, die bei der Abkühlung entſtehen, drängt ſich das atmoſphäriſche Waſſer hinein. Durchs Gefrieren ausgedehnt ſprengt es die oberflächlichen Lagen, und die einzelnen Blöcke rollen an den Bergen hinab. An ihnen wiederholt ſich derſelbe Vorgang ſo oft, bis ſie zuletzt mit den ihnen nachfolgenden in Staub zerfallen ſind, den theils Regen - güſſe auf das flache Land hinabſpülen, theils die mächtigen Ströme dem Meere zuführen, wo er ſich wieder in Schichten abſetzt, die, ſpäter ebenfalls durch immer von Neuem aufſteigende geſchmolzene Maſſen gehoben, als ſecundäre und tertiäre Schichten und Dilu - vium erſcheinen. Die zerſtreuten größeren Maſſen auf dem feſten Lande werden durch furchtbare Regengüſſe zuſammengeſchwemmt, an allen blosliegenden Felſen nagt beſtändig neben der bloßen mechaniſchen Zerkleinerung, wodurch ſie in kleine Theile und in Staub zerfallen, noch ein chemiſcher Zerſetzungsproceß, durch wel - chen ganz neue Verbindungen gebildet werden, welche durch Regen und geringere Ströme zum Alluvium zuſammengewaſchen werden.

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So bildet ſich die nackte Rinde unſeres Planeten. Aber Bil - dungsproceſſe, von denen wir jetzt keinen Begriff mehr haben und haben können, laſſen gleich vom erſten Beginn an, wo ſich Meeres - ablagerungen als Uebergangsgebirge an die Luft erheben, vegeta - biliſche Keime entſtehen, welche in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer und in den Verwitterungsproducten der Geſteine ihre Nah - rung finden. Es entſteht eine lebensvolle Welt der Organismen auf der Erde, deren bunte Mannigfaltigkeit nicht bedingt iſt durch die vier Elemente, welche ihre organiſchen Beſtandtheile im engern Sinne bilden, ſondern vielmehr durch die unendliche Verſchieden - heit des chemiſchen Proceſſes, welche durch die mannigfaltige Art und Menge der unorganiſchen Stoffe hervorgerufen wird. Dagegen bildet die aus dem Abſterben der lebendigen Weſen hervorgehende ſchwarze Subſtanz, der Humus, die Möglichkeit, daß dieſe zahllo - ſen Organismen ſich zur höchſten Kraft entwickeln können, indem er ihnen die organiſche Nahrung zuführt. Die Verwitterung des Felſens und ſeine chemiſche Zerſetzung in auflösliche Beſtandtheile, ſowie die Verweſung der organiſchen Verbindungen hängen aber von der Wärme und der chemiſchen Zuſammenſetzung der Atmoſphäre ab. Verhältniſſe, wie wir ſie jetzt nur noch unter den Tropen fin - den, machen eine ſchnelle Verwitterung und eine ſchnelle Verweſung möglich und bedingen ſo die reiche und üppige Vegetation der Tro - pen. In einer früheren Periode der Erdemuß aber unſere Atmoſphäre überall feuchter, dicker und folglich wärmer geweſen ſeyn, und in dieſer Zeit konnte unbeſchränkt auf der ganzen Erde die Fülle von Organismen ſich entwickeln, die wir ohne Rückſicht auf die geogra - phiſche Breite jetzt als Verſteinerungen in den Felsſchichten be - graben finden.

Doch ich kehre wieder zu meiner Aufgabe zurück. Die geiſt - reiche, durch Liebig begründete Anſicht weiſt uns alſo nach, daß ge - rade die Beſtandtheile, welche wir gewohnt ſind, zu verachten und zu überſehen, für die Pflanzenwelt von der weſentlichſten Bedeu - tung ſind. Wohl beſtehen alle die ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile der165 Pflanzen, deren wir als Nahrung bedürfen, nur aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff. Aber alle Gegenwart dieſer Stoffe hilft allein der Pflanze nichts, ſie kann daraus nicht ein Körnchen Eiweiß oder Kleber bilden, wenn ſie nicht gleichzeitig in dem gehörigen Verhältniß phosphorſaure Salze erhält. Wohl iſt das nützliche Stärkemehl, der ſüße Zucker, die kühlende Citronen - ſäure, das gewürzige Orangenöl nur aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und Sauerſtoff zuſammengeſetzt, aber die Pflanze kann uns bei al - lem Ueberfluß an dieſen Elementen jene Geſchenke nicht bereiten, wenn es ihr an alcaliſchen Salzen fehlt. Der ſchlanke Stengel des Weizens kann ſich nicht erheben, um an der Sonne ſein Korn zu reifen, wenn ihm der Boden nicht die Kieſelerde liefert, durch welche er ſeinen Zellen die Feſtigkeit verleiht, um ſich aufrecht zu erhalten.

Auf dieſe Thatſachen geſtützt hat Liebig in neuerer Zeit ver - ſucht, unſer ganzes bisheriges landwirthſchaftliches Verfahren um - zuſtoßen durch die Empfehlung der von ihm erfundenen minera - liſchen Dünger, für deren Anfertigung er in England ein Patent gelöſt und daſſelbe an die Herren Musprath u. Comp. verkauft hat. Seine Abſicht dabei iſt, für jede Bodenart und für jede Pflanze eine eigne Compoſition derjenigen mineraliſchen Stoffe zu liefern, welcher die Pflanze bedarf und die in dem Boden fehlen, und zwar in einer ſo eigenthümlichen Verbindung, daß die Stoffe auflöslich genug ſind, um von der Pflanze aufgenommen werden zu können, und doch nicht ſo leicht auflöslich, daß der Regen bedeutende Mengen davon wegſpülen könnte. Ob Liebig dieſe Abſicht erreicht hat, läßt ſich erſt dann entſcheiden, wenn die Erfahrung ſich darüber ausge - ſprochen. Theoretiſch muß man behaupten, daß das Princip richtig und die Ausführung möglich iſt. Aber einen Einwurf wird die Pflanzenphyſiologie dieſem Syſtem der Düngung mit Recht machen und dieſen Einwand wird die Erfahrung beſtätigen, daß nämlich, wie im Vorigen nachgewieſen, der Humus zwar keineswegs ein Nahrungsſtoff für die Pflanzen iſt, aber doch für eine geſunde und166 kräftige Vegetation ein unerläßlicher Beſtandtheil auf allen Boden - arten bleibt, die nicht, was ſelten der Fall iſt, auf eine äußerſt glückliche Weiſe mit Thon, der einigermaßen den Humus erſetzen kann, gemiſcht ſind. Liebigs chemiſche Einſeitigkeit in dieſer Be - ziehung wird den Landwirthen, die nicht durch eigne gründliche na - turwiſſenſchaftliche Kenntniß dieſem Mangel entgegenwirken können, wahrſcheinlich ebenſo verderblich werden, als auf der andern Seite der Mangel an gründlichen naturwiſſenſchaftlichen Studien und die rohe empiriſche Einſeitigkeit in neueſter Zeit ſo viele, beſonders deutſche Landwirthe verhindert, an den großen, durch das Fort - ſchreiten der Wiſſenſchaften hervorgerufenen Verbeſſerungen Theil zu nehmen. Vielleicht aber giebt ein Ereigniß, welches an ſich trau - rig genug iſt, hier die Veranlaſſung zu einer ernſten Aufmerkſamkeit auf die Reſultate der Wiſſenſchaft und wird ſo, indem es weſent - liche Umgeſtaltungen in unſerem landwirthſchaftlichen Betriebe her - vorruft, zu einem ſegensvollen Momente in unſerer Culturgeſchichte. Ich meine die Kartoffelkrankheit, welche in dem letzten Jahre in einer ſo drohenden Geſtalt aufgetreten iſt, daß ſie wohl geeignet iſt, auch den Indolenteſten aus dem Schlummer aufzuwecken, und an der wir ei - nen der ſchönſten Belege für die Richtigkeit der Liebigſchen Theo - rieen haben.

Die vorjährige Erſcheinung ſteht keineswegs iſolirt da, ſchon ſeit mehr als 100 Jahren haben ſich Krankheiten unter den Kartoffeln gezeigt und ſind jedesmal bei ihrem Wiedererſcheinen in größerer Ausdehnung und Heftigkeit aufgetreten. Daß ſie nicht allein oder auch nur weſentlich von Witterungseinflüſſen abhängig ſind, zeigten ſchon ihre immer ſchlimmer werdenden Formen, insbeſondere aber ihre Verbreitung im Jahre 1845, indem ſie mit gleicher Furcht - barkeit im ſüdlichen Schweden und in Südamerika erſchien, welche beide Länder im Gegenſatz zum mittlern Europa einer ausgezeichnet ſchönen Witterung ſich zu erfreuen hatten. Uebrigens iſt die Kartof - fel in keiner Lage, bei keiner Culturmethode, bei keiner Spielart ganz verſchont geblieben, und ſchon das weiſt uns darauf hin, daß167 hier kein einzelner äußerer Einfluß, ſondern eine innere Ausartung der Kartoffel der eigentliche Grund der Krankheit ſeyn muß. Fragen wir, wie ſich eine ſolche Ausartung entwickeln konnte, ſo kann uns dabei nur folgende Betrachtung leiten. Die wilde Kartoffel iſt eine kleine grünliche, bitter ſchmeckende Knolle, welche aber viel Stärke - mehl enthält. Sie gehört zu den Pflanzen, welche leicht auf Cul - turboden Spielarten bilden, die ziemliche Unveränderlichkeit zeigen, wenn die Culturbedingungen genau dieſelben bleiben. Wenn dies nicht der Fall iſt, ſo bilden ſich neue Abänderungen, ſie arten aus, wie man zu ſagen pflegt. Die Verſchiedenheit dieſer Spielarten be - ſteht nun nur zum Theil in der bei Weitem unweſentlichern Verän - derung der Geſtalt der Kartoffel, in ihrem ſchnelleren oder lang - ſameren Reifen. Bei Weitem wichtiger dagegen iſt die Verſchieden - heit in dem chemiſchen Proceß, durch welchen die relativen Mengen des Stärkemehls und des Eiweißes in den Knollen verändert wer - den. Das Stärkemehl, ein ſtickſtofffreier Stoff, iſt der eigentliche characteriſtiſche Beſtandtheil der Kartoffel, eine Subſtanz, welche für ſich längere Zeit der Fäulniß widerſteht. Die Bildung deſſelben erfordert die Gegenwart einer großen Menge Kali und deshalb ge - hört die Kartoffel ganz beſonders zu den Alcalipflanzen. Das Ei - weiß dagegen, ſtickſtoffhaltig, iſt außerordentlich zur Zerſetzung und Fäulniß geneigt, und ſeine Gegenwart in größerer Menge macht auch andere Subſtanzen, die für ſich lange der Fäulniß widerſtehen, z. B. Zellſtoff und Stärkemehl, geneigter zu dieſem Auflöſungs - proceß. Die Entſtehung des Eiweißes ſetzt das Vorhandenſeyn einer großen Menge phosphorſaurer Salze voraus.

Unterſuchen wir nun die geſunde normale Kartoffel, ſo finden wir in ihr durchſchnittlich das Verhältniß der ſtickſtoffhaltigen Be - ſtandtheile zu den ſtickſtofffreien wie 1: 20; das Verhältniß der phosphorſauren Salze zu den Alcaliſalzen wie 1: 10. Dagegen ent - hält das friſchgedüngte Culturland aus phyſiologiſchen Gründen, welche zu entwickeln, mich hier zu weit führen würde, die genann - ten unorganiſchen Beſtandtheile faſt in dem Verhältniſſe wie 1: 2. 168Die Folge davon iſt, daß die in ſolchem Boden gebaute Kartoffel gezwungen wird, immer im Verhältniſſe zu den alcaliſchen Salzen eine größere Menge phosphorſaurer Salze aufzunehmen, als ſie ih - rer Natur nach bedarf, und in Folge deſſen bildet ſich auch in ihr eine größere Menge von ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheilen, von Eiweiß, als ſie in ihrem normalen Zuſtande enthalten ſollte. Dieſe letzteren aber müſſen unausbleiblich die Beſtandtheile der ſtets ſehr waſſerrei - chen Kartoffel zu Zerſetzungsproceſſen geneigt machen, die dann un - ter den verſchiedenſten Formen auftreten und bald, wie bei der früher ſchon beobachteten Trockenfäule (dry rot der Engländer), vorzugs - weiſe das Stärkemehl, bald, wie bei der vorjährigen naſſen Fäule, vorzugsweiſe den Zellſtoff ſelbſt angreifen. Daß eine ſolche Anlage augenblicklich ſich als verderbliche Krankheit zeigen wird, wenn äu - ßere Einflüſſe, beſonders ungünſtige Witterungsverhältniſſe, hinzu - kommen, iſt ſehr begreiflich, ſo wie es ſich auch von ſelbſt verſteht, daß, wenn die ſchädlichen Einflüſſe, welche die Krankheitsanlage er - zeugten, fortdauern, die Ausartung der Kartoffel und ihre Geneigt - heit zu Krankheiten ſich immer mehr ſteigern muß. In ſolchem Falle bietet uns nun jene Theorie von Liebig und Bouſſingault abermals einen ſichern Anhaltepunct zur Vermeidung des Uebels. Eine ſorg - fältigere Beachtung der unorganiſchen Subſtanzen läßt uns bald das Geſetz finden, daß es nicht allein darauf ankommt, daß die einzelnen Stoffe überhaupt in genügender Menge im Boden vorhanden ſind, ſondern, daß ſie auch zu einander in richtigem Verhältniſſe ſtehen; daß die Berückſichtigung dieſes Verhältniſſes am wichtigſten wird für die Pflanzen, welche ihrer Natur nach geneigt ſind, Abarten zu bilden, und am meiſten für diejenigen Pflanzen, deren chemiſche Zu - ſammenſetzung am wenigſten eine Veränderung ihrer Beſtandtheile ohne weſentliche Nachtheile erträgt. Alles dieſes trifft aber vorzugs - weiſe die Kartoffel, am wenigſten aber unſre Kornarten, Roggen und Weizen. Vergleichen wir nun die Aſchenbeſtandtheile dieſer letzteren mit dem Gehalte eines friſch gedüngten Bodens, ſo finden wir in beiden die Verhältniſſe faſt gleich und merkwürdigerweiſe bleibt,169 wenn wir die Aſchenbeſtandtheile des Roggens vom Gehalte des Bodens abziehen, faſt genau das Verhältniß der einzelnen Stoffe übrig, wie wir es in der Aſche der Kartoffel finden. Der Schluß iſt alſo einfach der, daß wir in Zukunft nicht mehr, wie es im größ - ten Theile von Europa bis jetzt geſchehen, die Kartoffeln als erſte Frucht bauen dürfen, ſondern daß wir mit dem Roggen anfangen und erſt die Kartoffel auf ihn oder vielleicht noch beſſer zwei Jahre ſpäter auf den Klee folgen laſſen müſſen, wenn wir eine geſunde Frucht erziehen und für die Zukunft von der vorjährigen Landplage befreit ſeyn wollen. Der Grundſatz wird fernerhin unerſchütter - lich ſtehen bleiben, daß die Nahrungsſtoffe, welche die Pflanze dem Boden ſelbſt entnimmt, im Weſentlichen nur in den unor - ganiſchen Beſtandtheilen deſſelben beſtehen, daß dieſe und nicht die organiſche Subſtanz im Boden ſeinen eigenthümlichen Reichthum ausmachen.

In der Pflanze aber ſind an die organiſchen Verbindungen un - trennbar die unorganiſchen geknüpft, und wenn wir uns jener be - mächtigen, müſſen wir dieſe mit in den Kauf nehmen.

Aber dieſelben ſind nicht nur nicht ein unnützer Ballaſt, ſon - dern ſie ſind ſelbſt für unſeren Körper und deſſen Erhaltung weſent - liche Beſtandtheile. Sehen wir nun zu, woraus der Menſch eigent - lich beſteht. Nach Quetelet wiegt der erwachſene Mann durchſchnitt - lich 140 ., und wenn wir die große Menge Waſſer, welche alle Theile unſers Körpers durchdringt, ſie geſchmeidig und biegſam er - hält, abziehen, etwa 35 . davon kommen 13 . auf die Kno - chen und 22 . auf alle übrigen Theile. Jene enthalten durchſchnitt - lich 66 %, dieſe 3 % erdige Beſtandtheile, die beim Verbrennen als Aſche zurückbleiben. Der Menſch beſteht alſo bis mehr als aus unorganiſchen Beſtandtheilen, die zu ſeinem Beſtehen nothwendig ſind, die er alſo auch mit der Nahrung aufnehmen muß. Er muß, wie der böſe Geiſt ſagt, in der That vom Staube ſich nähren.

Gerade ſo wie die weicheren Organe des menſchlichen Körpers bei jeder Thätigkeitsäußerung deſſelben zum Theil abgenutzt und ver -170 braucht und durch die Ernährung wieder erſetzt werden, verliert der Menſch auch beſtändig einen Theil jener unorganiſchen Subſtanzen und muß dieſen Verluſt durch Nahrungsmittel wieder ausgleichen. Zwiſchen beiden aufgenommenen Stoffen beſteht aber während des Lebens ein eigenthümliches Verhältniß. Beim Kinde, welches noch wachſen, ſeine Organe zum Theil erſt entwickeln ſoll, wird beſtändig von beiden Claſſen von Stoffen, von organiſchen ſowohl wie von un - organiſchen, bei Weitem mehr aufgenommen, als abgenutzt; beim Erwachſenen halten ſich Einnahme und Ausgabe gerade das Gleich - gewicht, im Greiſenalter dagegen tritt ein eigenthümliches Mißver - hältniß ein. Von organiſchen Stoffen verbraucht der Greis allmälig immer mehr, als er aus der Nahrung wieder erſetzen kann. Die Stärke ſeiner Muskeln ſchwindet, die Menge des Bluts wird gerin - ger, er magert ab. Die unorganiſchen Stoffe werden aber nicht in gleichem Maße abgenutzt, als ſie aus der Nahrung aufgenommen werden. In dieſer Beziehung tritt der Menſch auf die Kindheits - ſtufe zurück und wir erhalten eine der früher entwickelten faſt gerade entgegengeſetzte Anſicht vom Leben und vom Tode. Immer mehr und mehr ſetzen ſich erdige Beſtandtheile im Menſchen an, Organe, die früher weich und biegſam waren, verknöchern und verſagen ih - ren Dienſt, immer ſchwerer zieht ihn der Staub zum Staube nieder, bis endlich die leichtbeſchwingte Pſyche, des Druckes müde, die zu ſchwer gewordene Chryſalidenhülle abwirft. Sie überläßt den ſtaub - gebornen Leib der langſamen Verbrennung, welche wir Verweſung nennen. Ein Aſchenhäufchen bleibt der Erde, der es entlehnt war. Die Pſyche, ſelbſt unſterblich und unverwesbar, kehrt aus der Skla - verei der Naturgeſetze zum Lenker der geiſtigen Freiheit zurück.

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Achte Vorlesung. Ueber den Milchſaft der Pflanzen.

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Hier iſt ein Saft, der eilig trunken macht. (Fauſt. )[172]

Die Vignette zeigt eine Indianerfamilie bei der Bereitung des Cafſave - mehls aus dem Manioc beſchäftigt; in den aus dem gepreßten Wurzelbrei ab - tröpfelnden giftigen Milchſaft taucht eine der Frauen die Pfeile des Mannes.

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Auf jenem glänzenden Paradeplatz der ſchönen Welt, deſſen Eingang der berühmte Obelisk von Luxor ziert, auf jenem Felde, wo in unblutigen Kämpfen die Siege der Mode entſchieden werden, obgleich es urſprünglich der humilité de notre Dame geweihte Erde war, in Longchamp, ertönte vor nicht gar langer Zeit die Looſung: Paletot oder Mackintoſh. Für den Augenblick ſiegte der Paletot, aber bald mußte er ſelbſt dem Burnus und andern Nachfolgern un - terliegen, während der Mackintoſh ſein Leben wenn auch nicht mehr als Beherrſcher der Mode, bis dieſen Augenblick gefriſtet hat. Es mag der Mühe werth ſeyn zu fragen, was denn eigentlich dem Mackintoſh den Werth gegeben, der ihn wohl für längere Zeit als unentbehrlich zu gewiſſen Zwecken in der Garderobe erhalten wird. Es ſtehen ſich auch außer den Vorkämpfern der Mode zwei Parteien gegenüber, von denen die eine die Vortrefflichkeit, die andere die gänzliche Verwerflichkeit des Mackintoſh behauptet. Sollen wir ſie nicht hören?

Die Vertheidiger rühmen die Leichtigkeit bei völliger Waſſer - dichtigkeit und großer Wärme. Dieſe Vorzüge beruhen alle auf dem eigenthümlichen Stoff, mit welchem das Zeug zum Mackintoſh zu - bereitet worden iſt, auf dem ſogenannten elaſtiſchen Gummi oder Kaoutſchouck. In neuerer Zeit hat daſſelbe eine ſo ausgedehnte An - wendung in den Gewerben erhalten, daß eine nähere Kenntniß deſ - ſelben gewiß nicht unintereſſant iſt. Den großartigſten Gebrauch von dieſem eigenthümlichen Produkt der Pflanzenwelt machen die174 Engländer. 1830 wurden über 52,000 . in England eingeführt. Im Jahr 1829 faſt 100,000 . Im Zolljahr, welches mit 1833 zu Ende ging, waren 178,676 . verzollt. Seitdem hat ſich der Ver - brauch fortwährend geſteigert. In Greenwich werden in einer Fabrik allein täglich an 800 . in eiſernen Gefäßen der trocknen Deſtillation unterworfen. Der Rückſtand iſt eine eigenthümliche ſchmierige Sub - ſtanz, welche nie ihre Zähigkeit und Biegſamkeit verliert, jedem Einfluſſe von Luft und Waſſer Trotz bietet, und deshalb benutzt wird, die Stricke der engliſchen Marine zu tränken und ſie dadurch dauerhafter zu machen. Die überdeſtillirte Flüſſigkeit dagegen iſt ein flüchtiges, brenzliches Oel, welches die Eigenſchaft beſitzt, das Kaoutſchouck leicht aufzulöſen, aber nachher beim Verdunſten mit al - len ſeinen Eigenſchaften wieder zurückzulaſſen. Dadurch wurde es möglich, auf leichte Weiſe das Kaoutſchouck allen beliebigen Formen anzupaſſen und ſeine Undurchdringlichkeit für Luft und Flüſſigkeiten faſt aller Art auf jeden andern Stoff zu übertragen. So entſtanden denn die vielen waſſerdichten Zeuge, von denen eins nach ſeinem Erfinder Mackintoſh genannt wird. Auf die mannigfachſte Weiſe macht man ferner Gebrauch von ſeiner großen Elaſticität, einer für manche Zwecke höchſt ſchätzbaren Eigenſchaft. Zu dem Ende werden auf eignen Maſchinen die größern Kaoutſchouckmaſſen erſt in dünne Platten und dann in ganz feine Fäden zerſchnitten. Dieſe Fäden werden mit Leinen, Baumwolle oder Seide umſponnen und dann mit anderm gewöhnlichen Garn, welches als Einſchlag dient, zu Bändern u. dgl. verwebt. Endlich wird auch im unbereiteten Zu - ſtande das Kaoutſchouck vielfach angewendet, wobei ich nur an die ſogenannten Gummiſchuhe erinnern will.

Südamerika iſt das Land, welches für dieſen großen Bedarf die reichlichſte Menge Kaoutſchouck liefert; aber auch aus Oſtindien wird gar viel eingeführt und ſelbſt Afrika würde dieſen Stoff liefern können, wenn dort nicht die ſocialen Verhältniſſe der Eingebornen ſich der Benutzung ihrer einheimiſchen Hülfsquellen entgegenſetzten. Alle die Länder, welche Kaoutſchouck unter ihre Produkte zählen,175 gehören der heißen Zone an. Schon A. v. Humboldt bemerkt in ſeinen Ideen zu einer Pflanzengeographie, daß ſich die Milchſaft ge - benden Pflanzen vermehren, ſo wie man ſich den Tropen nähert. Es iſt aber gerade der Milchſaft der Pflanzen, welcher dieſe eigen - thümliche elaſtiſche Subſtanz enthält. Die tropiſche Wärme ſcheint auf die Ausbildung derſelben einen entſchiedenen Einfluß auszuü - ben, denn man hat die Bemerkung gemacht, daß dieſelben Pflanzen, welche unter dem Aequator reichlich Kaoutſchouck liefern, ſtatt deſ - ſen bei uns, ſelbſt in den Treibhäuſern, einen Stoff enthalten, der dem aus unſerer einheimiſchen Miſtel gewonnenen Vogelleim gleichkommt.

Wer von meinen Leſern hätte nicht unſre einheimiſche Wolfs - milch geſehen, deren weißer, milchähnlicher Saft vom Volksglau - ben als Mittel gegen Warzen empfohlen wird. Wer hätte nicht in ſeiner Jugend wenigſtens mit dem Schöllkraut Bekanntſchaft ge - macht, aus deſſen Stengel und Blatt, wenn man ſie abreißt, eine ſchöne orangenfarbene Milch ausfließt. Wer hätte nicht ſchon beobachtet, daß aus unſerem Salat, wenn er aufgeſchoſſen, bei der leiſeſten Berührung eine milchweiße Flüſſigkeit hervorſpritzt. Aber das Vorkommen ſolcher milchiger Säfte bei den Pflanzen iſt nicht auf dieſe wenigen beſchränkt. Die nützlichſten wie die giftigſten Stoffe bietet uns die Pflanzenwelt zum Theil in dieſen Milchſäften, und ich will hier nur an das Opium, den eingetrockneten Milchſaft unſeres großen Gartenmohns, erinnern.

Eine größere Anzahl von Pflanzen, welche insbeſondere drei großen Familien angehören, nämlich den Wolfsmilcharten, den Apocyneen (Juss. ) und den Neſſelpflanzen, zeichnen ſich durch einen eigenthümlichen anatomiſchen Bau aus. In ihrer Rinde und auch zum Theil in ihrem Marke finden wir eine Menge langer, vielfach gebogener und unter einander veräſtelter Röhren, die den Adern der Thiere nicht ganz unähnlich ſind. Dieſe Aehnlichkeit hat auch den Prof. Schultze in Berlin verführt, eine weitläufige Theorie der Cir - culation über dieſe Gebilde und die in ihnen enthaltenen Flüſſigkei -176 ten, die er Lebensſaft nennt, zu entwickeln, welche die beſonnene Wiſſenſchaft leider gezwungen war, ſogleich bei ihrer Bekannt - machung, die um ſo größeres Aufſehen machte, als ſie in einer von der Pariſer Akademie mit dem Monthyonſchen Preiſe beehrten Schrift erſchien, für ein bloßes Hirngeſpinnſt der Phantaſie zu er - klären. In jenen Röhren befindet ſich ein trüber Saft von der Con - ſiſtenz einer recht fetten Milch, der deshalb auch Milchſaft genannt wird. Seine Farbe iſt gewöhnlich milchweiß, doch kommen auch gelbe, rothe und ſehr ſelten blaue Milchſäfte vor, noch häufiger aber ſind ganz farbloſe. Aehnlich der thieriſchen Milch beſteht dieſer Saft aus einer waſſerhellen Flüſſigkeit und kleinen Kügelchen. Den Ge - halte nach finden wir die verſchiedenartigſten Stoffe in demſelben, und auf der verſchiedenartigen Menge und Miſchung dieſer Stoffe beruht die große Verſchiedenheit dieſes Saftes. In allen iſt in grö - ßerer oder geringerer Menge Kaoutſchouck enthalten, welches in Ge - ſtalt kleiner Kügelchen vorhanden iſt. Dieſe werden auf ähnliche Weiſe wie die Butterkügelchen der Milch durch eine eiweißartige Subſtanz am Zuſammenfließen gehindert. Gerade wie bei der Milch der Rahm (die Butter), ſo ſteigen aus dem Milchſafte der Pflanzen die Kaoutſchouckkügelchen beim längeren Stehen an die Oberfläche, bilden hier einen Rahm und fließen zuſammen, und können eben ſo wenig wie die Butter wieder in ihre getrennten Kügelchen zurück - geführt werden.

Alle jene drei großen Familien, welche ſich durch den Gehalt an Milchſaft auszeichnen, obwohl ſie botaniſch ſehr weit von einan - der verſchieden ſind, zeigen doch gerade durch die Natur ihres Milch - ſaftes einige höchſt merkwürdige Uebereinſtimmungen.

Es wird wohl nicht unintereſſant ſeyn, dieſe drei Familien et - was näher kennen zu lernen und beſonders die wichtigern Pflanzen derſelben zu erwähnen.

Die bedeutendſte iſt in Bezug auf den Kaoutſchouckgehalt die Gruppe der Wolfsmilcharten oder Euphorbiaceen. Aus dem Hafen von Para in Südamerika, aus der Guyana und den benachbarten177 Staaten wird eine unglaubliche Menge des Federharzes nach Europa verſchifft, welches hauptſächlich von einem großen Baum jener Gegen - den, der Siphonia elastica, gewonnen wird. Im J. 1736 machte der berühmte franzöſiſche Gelehrte la Condamine zuerſt auf das Kaout - ſchouck aufmerkſam und beſchrieb die Gewinnung deſſelben genauer. Jener bis 60 F. hohe, ſchöne Baum hat eine glatte, bräunlich graue Rinde, in welche die Indianer lange und tiefe Einſchnitte bis aufs Holz machen, aus denen dann reichlich der weiße Saft hervorquillt. Noch ehe er Zeit hat anzutrocknen, wird er auf Formen von unge - branntem Thon, gewöhnlich in Geſtalt größerer oder kleinerer, rund - licher und kurzhalſiger Flaſchen geſtrichen und dann über Rauchfeuer getrocknet. Man wiederholt dieſen Anſtrich ſo oft, bis der Ueberzug die gehörige Dicke erlangt hat. Durch dieſe Operation, bei welcher die fremdartigen Theile des Saftes nicht abgeſchieden und noch durch den Rauch mehr verunreinigt werden, erhält das Kaoutſchouck die braune oder ſchwarze Farbe, während das reine Kaoutſchouck weiß oder hellgelblich und halb durchſichtig iſt.

Spätere genauere Kenntniß des Baumes und ſeiner Verbreitung verdanken wir 1751 Fresneau, insbeſondere aber dem unermüdlich für Naturwiſſenſchaft thätigen Aublet du Petit-Thouars.

Noch eine große Zahl anderer Pflanzen dieſer Gruppe enthält Kaoutſchouck. Aus keiner iſt es ſo leicht in größerer Menge zu ge - winnen. Iſt nun der Saft der Siphonia mindeſtens unſchädlich, wird der Saft der Tabayba dolce (Euphorbia balsamifera Ait. ) ſogar einer ſüßen Milch ähnlich und von den Bewohnern der Canariſchen Inſeln, wie Leop. v. Buch in ſeiner intereſſanten Beſchreibung der Canariſchen Inſeln erzählt, zu Gelée eingedickt, als Delicateſſe ge - noſſen, ſo ſind doch die meiſten Pflanzen dieſer Gruppe eben ihres Milchſaftes wegen verdächtig, oder geradezu den heftigſten Pflanzen - giften beizuzählen. Und ſeltſamer Weiſe liefern ſie dennoch zum Theil die geſündeſte Nahrung, der wir kaum Aehnliches an die Seite zu ſetzen haben. Im ganzen heißeren Amerika macht der Anbau der Manjocwurzel (Jatropha Manihot) einen der wichtigſten Cultur -Schleiden, Pflanze. 12178zweige aus. Die eingebornen Wilden, wie der Europäer, der ſchwarze Sclave, wie der freie Farbige erſetzen auf gleiche Weiſe unſer Weißbrod und den Reis durch die Tapiocca und die Mandiocca farinha oder das Caſſavamehl, welches eben aus jener höchſt giftigen Pflanze gewon - nen wird, und durch die daraus bereiteten Kuchen (pan de tierra cali - ente der Mexikaner). Man unterſcheidet indeß die ſüße Juca (Juca dulce) (dies iſt der dortige Name der Manjocpflanze) von der ſauern oder bittern (Juca amara). Die Erſtere, welche deshalb vorzugs - weiſe künſtlich angebaut wird, kann ohne Gefahr ſogleich gegeſſen werden, dahingegen die Letztere, friſch genoſſen, ein ſchnellwir - kendes Gift iſt. Sie dient dem unciviliſirten Sohne der ſüdamerika - niſchen Tropen zur Nahrung und wir wollen ihn einen Augenblick in ſeinem Lager belauſchen. In den dichten Wäldern der Guyana hat der Indianerhäuptling zwiſchen hohen Stämmen der Magnolie ſeine Hängematte ausgeſpannt, im Schatten breitblättriger Bananen ruht er unthätig rauchend und dem Treiben ſeiner Familie neben ihm zu - ſehend. Mit hölzerner Keule in einem ausgehöhlten Baumſtamme ſtampft ſein Weib die geſammelten Manjocwurzeln und wickelt den dicklichen Brei in ein dichtes Flechtwerk von den zähen Blättern großer Lilienpflanzen. An einem Stabe, der auf zwei hölzernen Gabeln ruht, wird das lange Bündelchen aufgehängt und unten ein ſchwerer Stein befeſtigt, durch deſſen Gewicht es ausgepreſſt wird*)Man ſehe die Vignette.. Der abfließende Saft läuft in eine untergeſetzte Schaale des Calabaſſenkürbis (Cres - centia Cujete). Daneben kauert ein kleiner Knabe und taucht die Pfeile des Vaters in die herabtröpfelnde tödtliche Milch, während die Frau ein Feuer anzündet, um den ausgepreßten Wurzelbrei zu dörren und durch Hitze völlig von dem flüchtigen Giftſtoffe zu befreien. So - dann wird er zwiſchen Steinen gerieben und das Caſſavemehl iſt fertig. Unterdeſſen hat der Knabe ſein unheilvolles Geſchäft vollendet, der Saft hat nach längerem Stehen ein zartes weißes Kraftmehl ab - geſetzt, von welchem die giftige Flüſſikeit abgegoſſen wird. Nachdem179 das Mehl noch mit Waſſer ausgewaſchen, iſt es das feine weiße dem Arrowroot in jeder Beziehung ähnliche Tapiocca. Auf ähnliche mehr oder minder künſtliche Weiſe wird überall die Mandiocca und Tapiocca bereitet. Der geſättigte Wilde ſchlendert umher, um ein neues Plätz - chen zum Schlafen zu ſuchen, aber Wehe ihm, Unachtſamkeit hat ihn ver - leitet, unter dem furchtbaren Manchinellbaum (Hippomane Man - cinella) ſein Lager zu bereiten und ein plötzlich einfallender Regen träuft von deſſen Blättern auf ihn herab. Unter furchtbaren Schmerzen, bedeckt mit Blaſen und Geſchwüren, wacht er auf, und wenn er mit dem Leben davonkommt, ſo iſt er mindeſtens um eine furchtbare Er - fahrung über die giftigen Eigenſchaften der Euphorbiaceen reicher. Aber nur ſelten wird das einem Eingebornen begegnen, da der Man - chinellbaum in Amerika mit eben ſo geheimnißvoller und faſt aber - gläubiſcher Scheu gemieden wird, als der fabelhafte Giftbaum von Java. Zum Glück erhebt ſich gewöhnlich gleich neben dem Manchi - nellbaum als ſeine beſtändige Begleitung der ſchöne pupurblüthige Trompetenbaum (Bignonia leucoxylon), deſſen Saft das ſicherſte Gegengift gegen jene gefährliche Euphorbiacee gewährt. Mehrere ähnliche Bäume, deren Ausdünſtung ſchon, deren Saft aber ſicher, Geſundheit und Leben gefährdet, gehören dieſer Familie an. Der Pflanzer am Cap beſtreut mit den zerriebenen Früchten einer dortigen Pflanze (Hyaenanche globosa Lam.) Stücke Fleiſch und legt ſie als unfehlbares Gift den Hyänen vor. Mit einer Wolfsmilch (Euphor - bia caput Medusae) vergiften die wilden Bewohner des ſüdlichen Afrikas, wie uns Bruce berichtet, ihre Pfeile, von Andern (Euphorbia heptagona, E. virosa W., E. cereiformis) machen die Aethiopier nach Virey einen ähnlichen Gebrauch, ſo wie die Wilden des ſüdlichſten Amerika von dem Saft einer dritten (E. cotinifolia). Ja ſelbſt unſer ſcheinbar ſo unſchuldiger Buchsbaum, der ebenfalls dieſer Familie angehört, iſt ſo ſchädlich, daß in einer Gegend Per - ſiens, wo er ſehr verbreitet iſt, keine Kameele gehalten werden können, weil man ſie an dem Genuß dieſer ihnen tödtlichen Pflanze nicht zu hindern vermag. Ich kann dieſe Familie nicht verlaſſen, ohne noch12*180einer merkwürdigen Erſcheinung zu erwähnen, von der uns Martius in ſeiner inhaltsreichen Reiſe durch Braſilien berichtet hat. Dort wächſt nämlich eine Wolfsmilchart (E. phosphorea Mart.), deren Milch, wenn ſie in den dunkeln heißen Sommernächten dem Stamm entquillt, ein helles, phosphoriſches Licht um ſich her verbreitet.

Wenn die ſo eben berührte Familie, mit meiſt unſcheinbaren Blüthen verſehen, faſt nur durch die ſeltſamen Formen, in welchen einige von ihnen ſich den Cactuspflanzen annähern, die Aufmerkſam - keit unſerer Kunſtgärtner in Anſpruch nimmt, ſo iſt dagegen die Familie der Apocyneen eine ſolche, deren wunderbarer Blüthenſchmuck oft noch durch merkwürdige Blumenbildung und durch abweichende, ebenfalls den Cacteen ſich annähernde Geſtaltung der Pflanze ſelbſt anziehend, einen reichen Schmuck unſerer Gärten und Treibhäuſer ausmacht. Welcher Blumenliebhaber kennt nicht die prachtvollen Blüthen der Carissa, Allamanda, Thevetia, Cerbera, Plumeria, Vinca, Nerium - und Gelseminum-Arten, die ſeltſamen Stengel und krötenfarbigen, übelriechenden Blumen der Stapelien? Aber nicht minder intereſſant iſt dieſe Familie auch in andern Hinſichten. Das beſte bis jetzt bekannt gewordene Kaoutſchouck, das von Pulo-Penang, ſtammt von einer Pflanze dieſer Familie (Cynanchum ovalifolium). Auch das von Sumatra (Urceola elastica Roxb. ), von Madagascar (Vahea gummifera Poir), ein Theil des Braſilianiſchen (Collophora utilis Mart. und Hancornia speciosa Mart.) und des Oſtindiſchen (Willughbeja edulis) wird von Pflanzen gewonnen, welche der Gruppe der Apocyneen angehören.

Seltſamer Weiſe zeigt auch dieſe Familie eben ſo wie die folgende und letzte die eigenthümliche Erſcheinung, welche ſich ſchon bei der erſtgenannten der Euphorbiaceen ausſprach, nämlich daß der Milch - ſaft, der in einigen Arten reich an Federharz iſt, bei andern ſich zu einer zarten, wohlſchmeckenden und geſunden Milch mildert, während dagegen bei noch andern dieſe Flüſſigkeit nach und nach durch immer größeren Gehalt an ſchädlichen Stoffen bis zum furchtbarſten Gift181 geſteigert wird. In den Wäldern der engliſchen Guyana wächſt ein Baum, den die Eingebornen Hya-Hya nennen (Tabernaemontana utilis Arn.). Seine Rinde und ſein Mark ſind ſo reich an Milch, daß ein nur mäßiger Stamm, den Arnott und ſeine Gefährten am Ufer eines ſtarken Waldbachs fällten, das Waſſer deſſelben in Zeit einer Stunde ganz weiß und milchig färbte. Dieſe Milch iſt völlig unſchädlich, von angenehmem Geſchmack, und wird von den Wilden als erquickendes Getränk genoſſen. Noch ſchöner ſoll der Geſchmack der Milch des Ceylon'ſchen Kuhbaums, der Kiriaghuma (Gymneura lactiferum Rob. Br.) ſeyn, deſſen ſich die Cingaleſen nach Bur - mann's Erzählung ganz wie wir unſerer Milch bedienen.

Furchtbar dagegen ſind die Wirkungen des unter geheimnißvollen Zauberſprüchen von den Anwohnern des Orinoco gebrauten ſo ſchreck - lichen Woorareegiftes, zu welchem der Saft einer hierhergehörigen Pflanze (Echites suberecta) und die Rinde einiger andern ebenfalls der Familie der Apocyneen zugezählten Bäume (Strychnos gyanensis Mart. und Str. toxifera Schomb. ) die Hauptingredienzien liefern. Eine höchſt poetiſche Schilderung von der Bereitung dieſes Giftes hat uns in neueſter Zeit Schomburgk in ſeinen ſo reichhaltigen Reiſeberichten geliefert, welche bis jetzt leider nur noch bruchſtück - weiſe in einzelnen Zeitſchriften erſchienen ſind.

Pöppig hat auf ſeinen romantiſchen Wanderungen durch Süd - amerika oft genug Gelegenheit gehabt, die furchtbaren Wirkungen des Wooraree kennen zu lernen. Ein großes langes Rohr wird von den Indianern ausgehöhlt und mit vieler Sorgfalt geglättet. Von ſehr hartem Holze ſchnitzen ſie dann etwa fußlange Pfeile, deren Spitze in jenes Gift getaucht, deren anderes Ende mit Baumwolle umwickelt wird, ſo daß es genau jenes Rohr ausfüllt. Mit dieſer furchtbaren Waffe verſehen, beſchleicht der Wilde den argloſen Feind, der vielleicht gerade beſchäftigt iſt, ſich den eben gejagten Hirſch zum leckern Mahle zu bereiten. Kein Geräuſch verräth den geübten, leiſe dahingleitenden Fuß, kein Auge erkennt im dichten Gebüſch das ge -182 fährliche Rohr, aus welchem, nur vom kräftigen Hauche getrieben, lautlos und ſicher der geflügelte Bote des Todes ſelbſt auf 30 Schritte Entfernung das ungewarnte und wehrloſe Opfer erreicht, das bei der kleinſten Wunde ſchon nach wenig Minuten unter Convulſionen ſeine Seele aushaucht.

Auch die Nordamerikaner benutzen eine Apocynee (Gonolobium macrophyllum Mich.) als Pfeilgift und Gleiches erzählt Mungo Park von den Mandingos am Niger. (Bei ihnen iſt's eine Echi - tesart.)

Viele andere verwandte Pflanzen gehören noch zu den heftigſten Giften (Cerbera Thevetia und C. Ahovai), und beſonders zeichnen ſich die Saamen dieſer Pflanzengruppe faſt noch mehr wie die der vorigen durch ihre Gefährlichkeit aus, indem namentlich zwei der heftig - ſten Pflanzengifte, das Strychnin und das Brucin, in derſelben vorkommen. Bekannt ſind in dieſer Hinſicht insbeſondere einige der wirkſamſten Arzneiſtoffe unſerer Apotheken, wie z. B. die ſogen. Ignatiusbohne (Ignatia amara auf Manilla) und die Krähen - augen (Strychnos nux vomica, durch alle Tropen verbreitet).

Nicht unerwähnt bleiben darf hier ein ſeltſamer Gebrauch der Malgaſchen (der Bewohner von Madagascar), bei denen in einer Art von Gottesurtheil die Kraft des Magens über Schuld und Un - ſchuld entſcheidet. Wenn Jemand eines Verbrechens angeſchuldigt iſt, ſo zwingt man ihn in öffentlicher Verſammlung unter Vorſitz der Prie - ſter eine Thanginnuß (von Tanghinia venenifera) zu verſchlucken; wenn ſein Magen im Stande iſt, dies furchtbare Gift durch Brechen zu entfernen, ſo wird er freigeſprochen, wenn nicht, ſo iſt die Dar - legung ſeiner Schuld zugleich ſeine Strafe und der Unglückliche ſtirbt an den Folgen des Beweistermins.

Es würde nicht ſchwer fallen, ſelbſt einem botaniſchen Laien einige der weſentlicheren Charaktere der beiden erwähnten Pflanzen - familien ſo deutlich zu machen, daß er mit Leichtigkeit jede derartige Pflanze als ſolche erkennen könnte. Ganz anders iſt es mit der letzten183 und folgenden, der Juſſien'ſchen Familie der Neſſelpflanzen oder Urticeen. Auffallend verſchieden ſind die hierhergehörigen Pflanzen in ihrer äußern Bildung von den kleinſten, unſcheinbarſten Kräutern, wie unſer gemeines Glaskraut und unſere Neſſeln, bis zu den größten und ſtattlichſten Bäumen, den Brodfruchtbäumen (Artocarpus in - tegrifolia und incisa), die mit ihren weitgeſtreckten Aeſten und breiten, ſchöngeformten Blättern die Hütte des Südſeeinſulaners beſchatten, welchen ihre ſchmackhafte Frucht ernährt. Wenn in der Familie der Wolfsmilcharten nur einige wenige Pflanzen in ihren Saamen wohl - ſchmeckende, nußähnliche Kerne ſpenden (ſo Aleurites triloba auf den Molukken, Conceveiba gujanensis in Südamerika), wenn in der Gruppe der Apocyneen ſchon mehrere Bäume die ſaftig kühlenden und deshalb hochgeſchätzten Früchte den Bewohnern der heißen Ge - genden darbieten, Carissa Carandas in Oſtindien, C. edulis in Arabien u. ſ. w., ſo umfaßt die Familie der Urticeen die ſeltſamſte Mannigfaltigkeit der Fruchtbildung. Die kleinen ölreichen Körner des Hanfs, die grünen, Trauben ähnlichen Büſchel, welche anmuthig den ſchlank ſich windenden Hopfen zieren, die würzige Maulbeere, die ſüße Feige, die nützliche Brodfrucht, alle dieſe ſo verſchiedenen For - men gehören einer Pflanzengruppe an und der Botaniker verfolgt in allen die gleiche Grundbildung, ſo unvereinbar auch dem Laienauge dieſe mannigfaltigen Bildungen ſcheinen mögen. Nur eine Eigenheit er - ſtreckt ſich ohne Ausnahme auf alle Arten dieſer zahlreichen Ordnung, nämlich das Vorhandenſeyn feiner und doch ſtarker Baſtfaſern in der Rinde dieſer Pflanzen. Urſprünglich von den Faſern der Neſſel (Ur - tica cannabina) gemacht, trägt noch jetzt das Neſſeltuch ihren Namen, und der Kunſtfleiß des ſanften Tahitiers bereitet die zarteſten Stoffe ohne Spinnrad und Webſtuhl aus dem weißen, feinen Baſte des Auté oder Papiermaulbeerbaums (Broussonetia papyrifera Vent.).

Ein verwandter, zierlicher Baum, der Holquahuitl der Mexikaner oder Ule di Papantla der Spanier (Castilloa elastica Deppe) liefert das neuſpaniſche Kaoutſchouck, und die unbegreiflichen Mengen dieſer Subſtanz, welche von Oſtindien unſern Häfen zugeführt werden, ſind184 zum größern Theile von den ehrwürdigen Feigenbäumen geſammelt, an denen jene aſiatiſche Tropenwelt ſo reich iſt. Auf dickem, umfang - reichem, aber ſelten über 15 Fuß hohem Stamme ruht die ungeheure Krone der Banyane oder heiligen Feige (Ficus religiosa); wagerecht laufen die oft 100 Fuß langen Aeſte vom Stamme ab, in kleinern oder größern Zwiſchenräumen lange, gerade Wurzeln zur Erde herab - ſendend, die hier bald eindringen und feſtwachſen, auf dieſe Weiſe den langen Aeſten zur Stütze dienend. Dem Gotte Fo ſind dieſe wun - derbaren, jeder für ſich einem kleinen Walde gleichenden Bäume ge - weiht und auf ſeinen Zweigen baut ſich der unbehilfliche, faullenzende Bonze ſeine Hütte, einem Vogelkäfig nicht unähnlich, in den er ſeine Tage theils verſchläft, theils in beſchaulicher Unthätigkeit, froh des kühlen Schattens, verträumt. Dieſe großen Feigenbäume (Ficus re - ligiosa, indica, benjaminea L., elastica Roxb. ) geben ſüße Früchte und in ihrem Milchſaft das intereſſante Kaoutſchouck. Auch unter dieſen Pflanzen haben einige einen unſchädlichen Saft. Wohl am merkwür - digſten in dieſer Beziehung iſt der Palo de Vacca oder Arbol de Leche, der Kuhbaum von Südamerika (Galactodendron utile Kunth), mit welchem uns A. v. Humboldt zuerſt bekannt gemacht hat. Bei einem einigermaßen bedeutenden Einſchnitt in den Stamm dieſes Baumes fließt ſo Viel einer weißen, fetten, angenehm duftenden und ſüßen, der thieriſchen Milch ſelbſt in ihren Beſtandtheilen ſehr ähn - lichen Flüſſigkeit aus, daß es zur Erquickung und völliger Sättigung vieler Menſchen vollkommen hinreichend iſt.

Wie ſehr damit in Widerſpruch ſtehen dagegen die Eigenſchaften anderer Neſſelpflanzen. Man wird verſucht, ſie die Schlangen des Pflanzenreichs zu nennen, und die Parallele iſt nicht ſchwer durchzu - führen. Am auffallendſten iſt die Aehnlichkeit in dem Werkzeug, mit welchem beide ihre Wunden beibringen und vergiften. Die Schlangen haben vorn im Oberkiefer zwei lange, dünne, etwas gebogene Zähne, welche der Länge nach von einem feinen Canal durchbohrt werden, der ſich vorn an der ſcharfen Spitze öffnet. Dieſe Zähne ſind nicht wie die übrigen ganz feſt in den Kiefer eingefugt, ſondern ähnlich185 den Krallen der Katzen nur in minderem Grade beweglich. In der Höhle des Kiefers liegt unter jedem Zahn eine kleine Drüſe, in wel - cher das Gift bereitet wird, und der Ausführungsgang dieſer Drüſe verläuft in dem erwähnten Zahnkanal und öffnet ſich an ſeiner Spitze. Beim Beißen wird nun durch den Widerſtand des gebiſſenen Körpers der Zahn zurückgeſchoben, drückt ſo auf die Giftdrüſe und preßt aus derſelben den ätzenden Saft heraus und in die gemachte Wunde. Betrachten wir daneben die Haare auf den Blättern der Neſſeln, ſo finden wir eine wunderbare Uebereinſtimmung. Eine einzelne Zelle

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bildet das ſtechende Haar, oben in ein kleines Knöpfchen geendet. Nach unten erweitert ſich die Zelle in ein Säckchen, welches das ätzende Gift enthält. (Man ver - gleiche den Holzſchnitt.) Bei der leiſeſten Berührung bricht die ſpröde Spitze mit dem Knöpfchen ab, dadurch wird das Haar zu einem vorn offenen Canal, dieſer dringt dann in weichere Theile ein und in Folge des Drucks, der durch den Widerſtand beim Eindringen auf das Säckchen ausgeübt wird, ſpritzt ein Theil des Giftſaftes heraus in die ge - machte Wunde. Das Gift unſerer einheimiſchen Neſſeln und Schlan - gen iſt nur unbedeutend, aber je mehr wir uns den Tropen nähern, deſto häufiger und gefährlicher werden beide. Wo die glühende Sonne Indiens das Gift der furchtbaren Brillenſchlange kocht, da wachſen auch die gefährlichſten Neſſeln. Wer hätte nicht ſchon bei uns die kleinen, aber empfindlichen Stiche der Neſſel gefühlt, welche ſie durch die feinen, giftgefüllten Haare hervorbringt; aber keine Ahnung haben wir von den Qualen, welche ihre Nächſtverwandten (Urtica stimu -186 lans, U. crenulata Roxb. ) in Oſtindien hervorrufen. Eine leiſe Be - rührung genügt, um den Arm unter den furchtbarſten Schmerzen an - ſchwellen zu laſſen, und Wochen lang dauern die Leiden, ja eine auf Timor wachſende Art (Urtica urentissima Blume) wird von den Ein - geborenen Daoun Setan (Teufelsblatt) genannt, weil die Schmerzen Jahre lang anhalten und oft nur die Amputation des verletzten Glie - des vor dem Tode ſchützen kann.

Zwar finden ſich viele der heftigeren Gifte in dieſer Familie und ſelbſt einige Feigenarten (Ficus toxicaria L.) gehören zu den gefähr - lichſten Pflanzen, doch lohnt es nicht bei dieſen Minderbedeutenden zu verweilen. Aber faſt einer düſteren, unheimlichen Sage gleich ziehen ſich die Erzählungen vom Upas und vom Giftthal durch die Kenntniß des oſtindiſchen Inſellandes. Die Krone der holländiſchen Colonieen, Java, durch ihre günſtige Lage ſo wie durch den unerſchöpflichen Reichthum ihrer Producte dazu berufen, mit der Zeit der Mittelpunkt des großen indiſchen Archipelagus zu werden, hat von jeher auch die Aufmerkſamkeit der Naturforſcher in hohem Maße auf ſich gezogen. Holland hat ſtets den Ruhm gehabt, daß es in keiner Zeit und in keiner ſeiner Colonieen vergaß, auf die Kenntniß der natürlichen Pro - ducte der erworbenen Länder ſein Augenmerk zu richten und die Na - turwiſſenſchaften in ihren Beſtrebungen aufzumuntern, zu unterſtützen und zu belohnen. Swammerdamm, Leuwenhoek, Rheedetot Drakenſteen, Rumph und Andere, der Lebenden nicht zu gedenken, werden ſtets mit unſterblichen Namen in den Annalen der Wiſſenſchaft glänzen. Auch über die berüchtigten Giftbäume haben wir die Auf - klärungen, in deren Beſitz wir jetzt ſind, den Ermunterungen und Förderungen zu danken, welche die holländiſche Regierung den Natur - forſchern angedeihen ließ, insbeſondere den noch lebenden Dr. Blume und Dr. Horsfield, welcher Letztere, wenn auch ein Engländer von Geburt, doch ſchon 1802, alſo 8 Jahre vor der kurzen engliſchen Beſitznahme, unter dem Schutze der holländiſchen Regierung ſeine Forſchungen begann.

Schon im 16. Jahrhundert verbreiteten ſich die Nachrichten über187 den macaſſariſchen Giftbaum auf Celebes, und nach und nach mel - deten Aerzte und Naturforſcher von den Wirkungen des Giftes, welche ſo ſchrecklich geſchildert wurden, daß die geringſte Menge, in's Blut gebracht, nicht nur augenblicklich tödte, ſondern ſo furchtbar zerſtörend wirke, daß ſchon nach einer halben Stunde das Fleiſch von den Knochen falle. Die erſte Beſchreibung des Baumes gab im J. 1682 Neuhof. So fürchterlich aber auch die ältern Schriftſteller das Gift darſtellen, ſo ſind ihre Berichte doch noch frei von den finſtern Fabeln, welche Spätere darüber mittheilen. Schon zu Ende des 17. Jahrh. behauptete Gervaiſe, daß das bloße Anrühren und Beriechen des Giftes tödtlich werde, und bei Camel (1704) kommt ſchon die Er - zählung vor, daß die Ausdünſtung des Baumes alles Lebende auf eine beträchtliche Strecke ringsumher vertilge, und daß Vögel, welche ſich auf ihm niederlaſſen, ſterben, wenn ſie nicht gleich darauf Krähenaugen (die Saamen von Strychnos nux vomica) freſſen, wodurch ſie zwar am Leben erhalten werden, wenn ſie ſchon alle Federn verlieren. Schon früher hatte Argenſola (Conquista de las islas Molucas) von einem Baume berichtet, in deſſen Nähe Jeder einſchlafe und ſterbe, wenn er von der Weſtſeite darauf zugehe, wäh - rend die von der Oſtſeite ſich Nähernden gerade durch den Schlaf von der tödtlichen Wirkung befreit blieben. Jetzt berichtete man auch, daß das Sammeln des Giftes lediglich Verbrechern übertragen werde, welche ihr Leben verwirkt und welche von der Strafe befreit blieben, wenn ſie ihr Geſchäft glücklich vollendet. Durch Rumph erfuhr man, daß der Giftbaum außer auf Celebes auch auf Sumatra, Borneo und Bali vorkomme. Die abenteuerlichſten Berichte brachten aber erſt gegen das Ende des 18. Jahrh. der holländiſche Wundarzt Förſch über den javaniſchen Giftbaum in Umlauf. Sein Brief über denſelben erſchien zuerſt 1781 und wurde nach und nach in faſt alle europäiſchen Sprachen überſetzt, und ſein Inhalt in alle Handbücher der Natur - geſchichte, der Länder - und Völkerkunde aufgenommen. Ganz im ent - gegengeſetzten Sinne berichteten freilich ſchon 1789 die Commiſſäre der bataviſchen Societät van Rhyn und Palm, welche nicht allein188 die ſämmtlichen Erzählungen Förſch's als Lügen bezeichneten, ſon - dern auch ſelbſt die Exiſtenz eines ſolchen Giftbaums auf Java gänzlich in Abrede ſtellten. Faſt ebenſo äußerten ſich ſpäter Stanton, Bar - row und Labillardière, während dagegen Deſchamp, der ſich mehrere Jahre in Java aufhielt, verſichert, daß der Upas im Diſtricte von Palembang nicht ſelten vorkomme, daß aber ſeine Nachbarſchaft nicht gefährlicher ſey, als die jeder andern Giftpflanze.

Schon der vorſichtige und nüchterne Kämpfer fügte 1712 ſei - nem ausführlichen Bericht über den Giftbaum aus Celebes hinzu: Wer aber könnte Aſiaten etwas nacherzählen, ohne daß der Bericht mit Fabeln durchflochten ſey. Dennoch aber haben die neueren Unterſuchungen von Leſchenault (1810), von Dr. Horsfield (1802 18) und endlich von Blume die völlige Richtigkeit aller ein - zelnen Nachrichten beſtätigt und uns gezeigt, wie nur Verwechſelungen und Vermengungen ſehr verſchiedener Dinge die Veranlaſſung zu allen jenen zum Theil allerdings fabelhaften Erzählungen gegeben haben.

Zwei ſehr verſchiedene Bäume wachſen in jenen noch wenig be - ſuchten Urwäldern Java's. Wie zu den Pforten des Allerheiligſten ſind alle Zugänge zu denſelben verſperrt und bewacht. Nur mit Feuer und Axt bahnt man ſich einen Weg durch das undurchdringliche Ge - flecht der Schlingpflanzen, der Paullinieen mit ihren mehrere Fuß langen Trauben großer ſcharlachrother Blüthen, der Ciſſusarten, auf deren weithin kriechenden Wurzeln die wunderbare Rieſenblume der Raflesia Arnoldi wuchert. Palmen mit Stacheln und Dornen, ſchilf - artige Gewächſe mit ſchneidenden Blättern, welche wie Meſſer ver - wunden, weiſen den Eindringling ſogar angreifend zurück, und über - all im Dickicht drohen die ſchon erwähnten furchtbaren Neſſelarten. Große ſchwarze Ameiſen, deren ſchmerzhafter Biß den Wanderer peinigt, zahlloſe Schwärme quälender Inſecten verfolgen ihn. Sind dieſe Hinderniſſe überwunden, ſo folgen endlich noch die dichten Büſchel der oft 50 Fuß hohen und armdicken Bambusſtämme, deren feſte, glasharte Rinde ſelbſt der Art widerſteht. Endlich iſt auch hier der Weg gebahnt und jetzt öffnen ſich die majeſtätiſchen Dome des189 eigentlichen Urwaldes. Rieſige Stämme des Brodfruchtbaums, des eiſenfeſten Teckholzes (Tectona grandis), der Leguminoſen mit ihren prachtvollen Blüthenbüſcheln, der Barringtonien, Feigen und Lor - beeren bilden die Säulen, welche das dichte grüne Gewölbe tragen. Von Aſt zu Aſt ſpringen die muntern Schaaren der Affen, neckend den Wanderer mit Früchten werfend. Von einem moosumwachſenen Felſen erhebt ſich ernſthaft am Stabe in's dichtere Dickicht wandelnd der melancholiſche Orang-Utang. Ueberall iſt reiches animaliſches Leben und weit entfernt von dem öden und ſchweigſamen Charakter vieler amerikaniſchen Urwälder. Hier umſchlingt ein ſich windender und kletternder Strauch mit armdickem Stamme die Säulen des Do - mes, die höchſten Bäume überwuchernd, oft von der Wurzel an in einer Länge von 100 Fuß völlig einfach und aſtlos, aber mannigfach gewunden und gekrümmt. Die großen, glänzend grünen Blätter wech - ſeln mit langen ſtarken Ranken, mit denen er ſich feſtklammert, reiche Dolden grünlich-weißer, wohlriechender Blumen hängen von ihm herab. Dieſe Pflanze, der Familie der Apocyneen angehörig, iſt der Tjetteck der Eingebornen (Strychnos Tieuté Lesch. ), aus deſſen Wurzel das furchtbare Upas Radja oder Fürſtengift gekocht wird. Auf eine leichte Verwundung von einer damit vergifteten Waffe, einem kleinen Pfeile aus hartem Holz welcher auch eben ſo wie von den Südamerikanern aus Blasröhren verſchoſſen wird, fängt der Tiger an zu zittern, ſteht unbeweglich eine Minute da und ſtürtzt dann plötzlich wie von Schwindel ergriffen auf den Kopf und ſtirbt in kur - zen, aber heftigen Zuckungen. Der Strauch ſelbſt aber iſt ungefähr - lich und kein Nachtheil droht dem, deſſen Haut etwa mit ſeinem Safte in Berührung gekommen war. Aber gehen wir weiter, ſo überragt ein ſchöner ſchlanker Stamm die benachbarten Pflanzen. Völlig cylin - driſch ſteigt er 60 80 Fuß aſtfrei und glatt in die Höhe und trägt eine zierliche halbkuglige Krone, die ſtolz auf die niedern Gewächſe unter ihr, auf die vielen am Stamme aufſtrebenden Schlingpflanzen herabblickt. Wehe dem, der unvorſichtig ſeinen aus leicht verletzter Rinde reichlich hervorquellenden Milchſaft mit ſeiner Haut in Be -190 rührung bringt. Große Blaſen, ſchmerzhafte Geſchwüre, ähnlich wie bei unſerm Giftſumach, nur noch gefährlicher, ſind die unausbleib - lichen Folgen. Dies iſt der Antjar der Javaner, der Pohon Upas (wörtlich Giftbaum) der Malayen, der Ypo auf Celebes und den Philippinen (Antiaris toxicaria Lesch.). Von ihm ſtammt das ge - wöhnliche Upas (deutſch Gift), welches beſonders zum Vergiften der Pfeile diente, ein Gebrauch, der über alle Sundainſeln verbreitet ge - weſen zu ſeyn ſcheint, ſich jetzt aber nach Einführung des Feuerge - wehrs nur noch bei den Wilden in den rauhern und unzugänglichen Gebirgen des Innern der Inſeln findet. Schauerlich und zugleich großartig erhaben iſt auch der Charakter dieſer Gebirge, die wie die ganzen Inſeln den furchtbarſten vulkaniſchen Kräften ihren Urſprung verdanken. Ueberall noch zeigen ſich die Spuren der Thätigkeit des unterirdiſchen Feuers, ſelbſt in jenen Wäldern, beſonders wenn man beginnt in ihnen den Fuß der Gebirge allmälig hinanzuſteigen. Die höchſten Spitzen bilden die furchtbaren Vulcane, deren Schrecken längſt bekannt ſind. Ihnen reihen ſich die merkwürdigen Schlamm - vulcane an, die ohne Feuer - und Lichterſcheinung, oft ohne vorher - gehende Warnung plötzlich hervorbrechen. So entlud ſich am 8. und 12. Octbr. 1822 der Berg Galungung, indem er die Umgegend auf 40 engl. Quadratmeilen in eine Wüſte umwandelte, 40 50 Fuß tiefe Thäler ausfüllte, Flüſſe abdämmte, 11,000 Menſchen, unzählige Zugochſen, 3000 Acker Reisfeld und 800,000 Kaffeebäume unter ſeine ſchmutzigen Fluthen begrub. Endlich weiter unten am Fuß der Gebirge zeigen ſich Quellen aller Art, manche darunter ſauer von großen Mengen freier Schwefelſäure, andere mit aufgelöſter Kieſel - erde die benachbarten Bäume verſteinernd, oder milchweiß erſcheinend von dem darin vertheilten feinen Schwefelpulver. An andern Orten trifft man dicht aneinander geſtellte Gruppen von 3 5 Fuß hohen Gypskegeln, aus deren Gipfeln beſtändig heißes oder kaltes Waſſer ſprudelt, welches durch ſeinen Abſatz fortwährend die Kegel vergrößert. Große Strecken ſind durch die Wirkungen großer vulcaniſcher Phä - nomene verödet. Ueberall aber ſproßt neben der Zerſtörung neues191 friſches Leben hervor und überkleidet bald wieder die nackte Erde. Nur einzelne Regionen machen davon eine Ausnahme. Aus dem Dickicht des Urwaldes hervortretend erklettert man einen mäßigen Hügel und plötzlich breitet ſich in grauenhafter Wildniß, ein wahres Hoflager des Todes, ein ſchmales flaches Thal vor den Blicken des entſetzten Wanderers aus. Keine Spur eines Pflanzenwuchſes bedeckt die nackte, von der Sonne ausgedörrte Erde. Skelette von Thieren aller Art liegen auf dem Boden. Oft erkennt man an ihrer Lage, wie den furchtbaren Tiger im Augenblick, als er ſeine Beute ergriffen, mit dieſer zugleich das Verderben erfaßt, wie der Raubvogel, ge - kommen, um von der friſchen Leiche zu zehren, im Genuß vom Tode ergriffen wurde. Ganze Haufen todter Käfer, Ameiſen und anderer Inſecten liegen dazwiſchen und bewähren noch mehr das Treffende des Namens: Thal des Todes oder Giftthal, denn ſo heißen dieſe Orte bei den Eingebornen. Die Furchtbarkeit dieſer Localitäten beruht nämlich auf den Ausdünſtungen des Bodens, in kohlenſaurem Gaſe beſtehend, welches ſeiner Schwere wegen nur langſam in der Luft ſich zerſtreut. Gerade wie in der berühmten Grotta del cane bei Neapel, in der Dunſthöhle von Pyrmont, bringt dieſe Gasart Jedem, der ſich dem Boden nähert, unausbleiblichen Erſtickungstod. Nur der Menſch, dem es Gott gegeben, aufrecht zu wandeln, geht gewöhnlich ungefährdet über dieſe öden Strecken, indem die giftigen Ausdünſtun - gen nicht bis zu ſeinem Kopf hinanreichen. Wie auf dem Himalajah die Eingebornen das erſchwerte Athemholen auf den 15 und 16,000 Fuß hohen Alpenpäſſen der Ausdünſtung giftiger Kräuter zuſchrieben, ſo wurden auch dieſe grauenerregenden Erſcheinungen der Todes - thäler mit den Wirkungen des Antjargiftes und der gefährlichen Be - rührung des Pohon Upas verbunden, und die Sagen mußten nach und nach einen um ſo furchtbarern Charakter annehmen, als bis jetzt noch gegen jene heftigen und ſchnell wirkenden vegetabiliſchen Stoffe kein Gegengift bekannt geworden iſt. Wir wollen den Tropenbe - wohner nicht um die Milch ſeines Kuhbaums beneiden, und zufrieden mit dem Geſchenke des nützlichen Kaoutſchoucks gern auf die üppige192 Natur jener Gegenden verzichten, die neben aller Schönheit ſo viel Furchtbares haben. Noch bändigt kein Heilmittel die Wirkungen jener Gifte; als verderbliche Räthſel ſtehen ſie feindſelig dem Menſchenge - ſchlechte entgegen, auch von ihrer Seite den Satz beſtätigend, daß die hellen Lichter der tropiſchen Natur ebenſo ſchwarze Schatten neben ſich bedingen und daß mehr als ein Drache dieſe Gärten der Hesperiden bewacht.

Doch ich bemerke mit Schrecken, daß ich mich weit von meinem urſprünglichen Thema verirrt. Paletot und Mackintoſh war die Lo - ſung des Streites, die Vorzüge des Letztern ſollten mein Thema ſeyn, von dem ich mich aber wohl zu weit entfernt habe, um hier noch wieder darauf zurückkommen zu dürfen.

[193]

Neunte Vorlesung. Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen.

[figure]
Wer ſchaut hinab von dieſem hohen Raum In's weite Reich, ihm ſcheint's ein ſchwerer Traum, Wo Mißgeſtalt in Mißgeſtalten ſchaltet, Das Ungeſetz geſetzlich überwaltet. (Fauſt. )Schleiden, Pflanze. 13[194]

Die Vignette zeigt eine Gruppe von Cactuspflanzen.

[195]

Den nächſten und höchſten Zweck aller wiſſenſchaftlichen Natur - forſchung dürfen wir wohl beſonders ſeit den neueren Fortſchritten dahin beſtimmen, die ganze uns umgebende Welt als unter aus - nahmsloſe, mathematiſche Geſetze gebannt darzuſtellen und jede vor - gehende Veränderung aus ſolchen Geſetzen abzuleiten. Sehr ver - ſchieden aber iſt die Vollendung der einzelnen Zweige der Naturwiſ - ſenſchaft, je nachdem ſie dieſes höchſte Ziel ſchon erreicht haben, oder ihm noch näher oder ferner ſtehen. Von der Aſtronomie, dem vollen - detſten Theile unſerer menſchlichen Wiſſenſchaft, bis zur Kenntniß der organiſchen Weſen iſt eine große Kluft, an deren Ausfüllung die Menſchheit noch Jahrtauſende arbeiten wird, bis ein ſicherer Pfad hinüberführt. Da es wahrlich nicht an dem Fleiße der Forſcher liegt, ſo muß in der Sache ſelbſt der Grund geſucht werden, weshalb unſere wiſſenſchaftliche Kenntniß der organiſchen Weſen noch ſo weit von ihrem Ideal entfernt iſt, daß es ſelbſt Naturkundige giebt, die den endlichen Ausgangspunct noch nicht einmal anerkennen wollen. Der Grund liegt wohl in Folgendem. Wir finden in der Natur mannig - fache Stoffe, dieſe wirken auf einander ein und daraus geht ein be - ſtändiges Spiel von Thätigkeiten hervor, wofür uns die unverrückbare Geſetzmäßigkeit in den Bewegungen unſeres Sonnenſyſtems das klarſte und großartigſte Beiſpiel iſt. Dieſes Spiel von Kräften zeigt13*196ſich aber ſchon beim Sonnenſyſtem unter einer beſtimmten Form, in - dem die Planetenbahnen nicht alle gleichförmig um eine und dieſelbe an der Sonne gezogene Linie kreiſen, ſondern von dieſer Linie, jeder auf ſeine Weiſe abweichen, indem die Größe der Planeten nicht in einer ſtetigen Reihe von der Sonne aus zu - oder abnimmt u. ſ. w. Schon hierbei verlaſſen uns für jetzt unſere Kenntniſſe und wir ſind unfähig, eine geſetzmäßige Ableitung für dieſe Form des Sonnen - ſyſtems zu finden. Bei Weitem zuſammengeſetzter werden aber dieſe eigenthümlichen Formen bei den Naturproceſſen an der Erde und wir nennen ſie hier, wo ſie uns ſogleich anſchaulich entgegentreten und ſich leicht als ein Ganzes überſehen laſſen Geſtalten. Mögen wir nun zwar bei den Kryſtallen wegen ihrer regelmäßigen mathematiſchen Form ahnen, daß auch ſie ſtrengen Geſetzen bei ihrer Bildung unter - worfen ſind, ſo erſcheint es uns doch immerhin als rein zufällig, warum gerade das Kochſalz und der Schwefelkies in reinen Würfeln kryſtalliſiren und nicht wie der Flußſpath in achtflächigen Körpern. Endlich bei Pflanzen und Thieren werden die Formen ſo mannigfaltig und ſo abweichend, daß wir eine mathematiſche Grundlage auch nicht einmal zu ahnen vermögen. Alles erſcheint hier rein zufällig oder launenhaftes Spiel einer blind wirkenden Naturkraft. Es liegt aber im Menſchen ein unabweisbares Bedürfniß, in ſeiner Weltanſchauung Nichts dem Zufalle zu überlaſſen, der ihn troſt - und hoffnungslos den ihm überlegenen Naturkräften gegenüber ſtellen würde, und wo daher die Erkenntniß der Geſetzmäßigkeit zur Zeit noch verſagt iſt, legt er den Sachen nach Maaßgabe ſeiner eignen Handlungsweiſe eine Zweckmä - ßigkeit unter, deren letzte Urſache er in einem mächtigen und weiſen Schö - pfer und Erhalter der Welt ſucht. Wie ſehr aber für die wiſſenſchaftliche Beurtheilung der Natur dieſes unzureichend ſey, zeigt ſich gleich darin, daß wir mit einer ſolchen Beurtheilung nach Zwecken auch durchaus nicht ausreichen. Für die uns am Nächſten ſtehenden Thiere gelingt es freilich noch, ihre Formen in Beziehung zu ſetzen mit ihrer Lebens - weiſe, wir erkennen wohl, daß ein Vogel zum Fliegen, ein Fiſch zum197 Schwimmen am zweckmäßigſten gebaut iſt, und wir bewundern den Scharfſinn, mit dem Cuvier den Zweck, für den die Thiere beſtimmt ſind, benutzt hat, um daraus mit überraſchender Sicherheit ihre Ge - ſtalt und die feinſten Verſchiedenheiten ihres anatomiſchen Baues zu entwickeln. Treten wir aber in die Höhle von Antiparos, wo Tauſende von Kryſtallen das Licht der Fackeln in wunderbarem Glanze brechen und ein Mährchen aus der Feenwelt unſerm ſtaunenden Auge vor - führen, bahnen wir uns einen Pfad durch die dichten Wälder der Guyana, wo die Rieſenſtämme tauſendjähriger Bertholetien neben den ſchlanken Pfeilern der Palmen ſtehen, das zarte wunderbar ge - fiederte Laub der Farren mit den einfachen großen Blättern der Pi - ſanggewächſe ſeltſam contraſtirt, wo die kahlen, dünnen, hundert Fuß langen Stengel der Llanen ſich wie Schiffsſeile von Baum zu Baum ziehen, auf welchen die ſchlanke Tigerkatze auf - und abklettert, während Tauſende von verſchiedenen winzig kleinen und zierlichen Mooſen und Lebermooſen die Stämme überziehen; ſehen wir, wie dazwiſchen ſich in den bunteſten Farben und dem wunderbarſten Formenſpiele die ganze prachtvolle Blüthenwelt der Tropen ausſchüttet dann freilich erlahmt auch die kühnſte Einbildungskraft daran, für dieſe mannig - faltigen Formen und Geſtalten beſtimmte Begriffe der Zweckmäßigkeit aufzuſuchen und feſtzuhalten und wir haben nichts mehr, als das Princip der Schönheit, nach dem wir die Natur beurtheilen können; ſie allein ſpricht noch zu unſerm Gefühl und läßt uns in heiliger Ahnung ein höheres Weſen hinter dem unermeßlichen Reichthum man - nigfaltiger Geſtalten anbeten. Aber leider müſſen wir gewahr werden, daß auch dieſer Gedanke nicht ausreicht, um uns überall als Leitſtern durch die zahlloſen Formen der Natur zu dienen. Mit dem Gefühl, daß, wo wir nicht aus Geſetzen erklären, wo wir nicht nach Zwecken beurtheilen können, doch wenigſtens das unerklärte Weſen der Schön - heit auf eine geheimnißvolle Weiſe die Symbole der Natur uns aus - zudeuten vermöge, verlaſſen wir die Wälder der Guyana, die letzten Hängematten der Guaraunen zwiſchen den Stämmen der Mauritius -198 palme und treten hinein in die Pampas von Venezuela, von denen uns Humboldt ein ſo geiſtreiches und lebendiges Bild entworfen. Kein lachendes Grün überzieht hier den glühenden Felſenboden, in deſſen Ritzen nur hin und wieder mit furchtbar drohenden Dornen beſetzt die runden Ballen des Melonencactus ſich zeigen. Steigen wir höher an den Anden herauf, ſo bedeckt ſich die Erde ſtatt mit zarten Gräſern mit den fahlen, graugrünen Kugeln der ſtachligen Ma - millarien, dazwiſchen hebt ſich ernſt und traurig mit langen grauen Haaren behängt der Greiſencactus. Führt uns der Flug der Phan - taſie weiter nach Norden, ſteigen wir hinab in die Ebenen Mexico's, wo die Rieſentrümmer der Azteckenburg, ein Zeugniß einſtmaliger längſt verſchollener Cultur, ſich zeigen, ſo breitet ſich vor uns die Landſchaft aus kahl und nackt von der glühenden Sonne der Tierra caliente ge - dörrt; in mattem Graugrün, zweig - und blattlos erheben ſich, zwanzig, dreißig Fuß hoch, die kantigen Säulen der Fackeldiſteln mit einer un - durchdringlichen Hecke der empfindlich ſtechenden indianiſchen Feige eingefaßt, und rings umher zeigen ſich Gruppen der meiſt ſeltſam häß - lichen Geſtalten der Echinocacten und kleinen Cereen, zwiſchen denen ſchlangenartig oder wie großes giftiges Gewürm die langen, dürren Stengel des großblumigen Cactus (Cereus nycticallus) umherkriechen. Kurz, auf dieſer ganzen Wanderung begleitet uns eine Pflanzenfamilie, die der Cactusgewächſe, welche ſich in ihren wunderlichen Formen durchaus dem Princip der Schönheit zu entziehen ſcheint und die ſich gleichwohl ſo auffällig, ſo ſehr den eigenthümlichen Charakter der Landſchaft beſtimmend hervordrängt, daß wir gezwungen ſind, ihr unſere Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Und gewiß verdient eine Pflanzengruppe, die ſich ſo weit von allen Geſetzen der übrigen Vege - tation zu entfernen ſcheint, unſere ganze Theilnahme in hohem Grade. Sie iſt ihr in reichem Maaße geworden, und für die, denen Ver - hältniſſe nicht erlauben, aus eigner Anſchauung die Kinder einer humoriſtiſchen Laune der Natur kennen zu lernen, zeigen unſere Gär - ten, in denen die Cactusgewächſe eine der erſten Modepflanzen ge -199 worden ſind, eine reiche Auswahl der Geſtalten. Eine genauere Be - trachtung dieſer eigenthümlichen Familie möchte daher wie für den Naturfreund belehrend, ſo auch nicht ohne zeitgemäßes Intereſſe ſeyn.

Linné kannte von dieſer ganzen Familie nur etwa ein Dutzend Arten, die er unter dem Namen Cactus vereinigte, gegenwärtig ſind über 400 Arten bekannt, welche von den Botanikern in etwa 10 Geſchlechter vertheilt ſind. Die meiſten derſelben werden in Deutſch - land cultivirt. Die reichſte Sammlung möchte wohl die des könig - lichen botaniſchen Gartens bei Berlin ſeyn, welche über 360 Arten beſitzt; demnächſt folgt ohne Zweifel die fürſtlich Salm-Dyk-Reiffer - ſcheid'ſche Collection. Der königlich botaniſche Garten zu München, der Garten des japaniſchen Palais zu Dresden möchten demnächſt an Reichhaltigkeit die bedeutendſten ſeyn. In der Nähe ſind die Samm - lungen von Haage in Erfurt und die im Breiterſchen Garten in Leipzig die vollſtändigſten.

Alles an dieſen Pflanzen iſt wunderbar. Mit Ausnahme des Geſchlechts Peireskia hat keine hierher gehörige Pflanze Blätter. Denn was man beim Cactus alatus und der indianiſchen Feige wohl Blätter zu nennen pflegt, ſind nur platt ausgebreitete Sten - gel. Dagegen zeichnen ſich alle durch einen außerordentlich fleiſchi - gen Stengel aus, der mit einer graugrünen, lederartigen Haut be - deckt und an den Stellen, wo geſetzmäßig die Blätter ſitzen ſollten, mit mannigfaltigen Haarbüſcheln, Stacheln und Spitzen beſetzt durch ſeine verſchiedene Ausbildung den verſchiedenen Charakter der Pflanzen bedingt. In vier - bis neunkantigen oft faſt runden Säulen erheben ſich die Fackeldiſteln dreißig bis vierzig Fuß hoch, meiſt aſt - los, zuweilen aber auf die ſeltſamſte Weiſe Candelabern gleich ver - zweigt; niedriger ſind die indianiſchen Feigen, deren ovale flache Aeſte nach allen Seiten an einander gereiht eigne Geſtalten hervor - rufen. Die niedrigſten und dickſten Fackeldiſteln ſchließen ſich an die runden mit hervorſpringenden Rippen beſetzten Echinocacten und Melonencacten an und führen ſo zu den faſt ganz kugligen, mit län -200 geren oder kürzeren fleiſchigen Warzen ſehr regelmäßig bedeckten Mamillarien über. Endlich giebt es noch Formen, bei denen der Längswachsthum vorherrſcht, die mit langen dünnen, oft peitſchen - förmigen Stengeln wie der bei uns ſo häufig cultivirte Schlangen - cactus von den Bäumen, auf denen ſie paraſitiſch leben, herabhängen*)Man vergleiche die Vignette, welche die verſchiedenen Hauptformen dieſer Pflanzengruppe darſtellt..

Wenige Familien haben einen ſo engen Verbreitungsbezirk auf der Erde. Alle Cacteen vielleicht ohne eine einzige Ausnahme ſind in Amerika zwiſchen dem 40° S. Br. und dem 40° N. B. einhei - miſch. Von da haben ſich aber einige Arten ſo ſchnell gleich nach der Entdeckung von Amerika in der alten Welt verbreitet, daß ſie faſt als völlig eingebürgert anzuſehen ſind. Faſt alle lieben einen dürren und der brennenden Sonne ausgeſetzten Standort, der ſeltſam mit ihrem fleiſchigen, von wäſſrigem, nicht unangenehm ſäuerlichem Safte ſtrotzendem Gewebe contraſtirt. Durch dieſe Eigenſchaft ſind ſie für den verſchmachtenden Reiſenden von unſchätzbarem Werthe und Bernardin de St. Pierre hat ſie treffend die Quellen der Wüſte genannt. Auch die wilden Eſel der Llanos wiſſen ſich dieſe Pflanzen zu Nutze zu machen. In der trocknen Jahreszeit, wenn alles thie - riſche Leben aus den glühenden Pampas entflieht, wenn Crocodill und Boa in dem austrocknenden Schlamme in todtenähnlichen Schlaf verſinken, ſind es allein die wilden Eſel, welche die Steppe durchſtreifend ſich gegen den Durſt zu ſchützen wiſſen, indem ſie be - hutſam mit dem Hufe die gefährlichen Stacheln des Melonencactus abſtreifen und dann gefahrlos den kühlenden Saft der Pflanze aus - ſaugen. In der ſenkrechten Ausdehnung ſind die Cacteen weniger beſchränkt und ziehen ſich von den niedrigſten Küſtenſtrichen durch die weiten Ebenen hinan bis zum höchſten Rücken der Andeskette. Am Ufer des Sees von Titicaca 12,700 Fuß über der Meeresfläche ſieht man hochſtämmige Peireskien mit ihren prachtvollen dunkel - braunrothen Blüthen und auf dem Plateau des ſüdlichen Peru nahe201 der Vegetationsgrenze, alſo beiläufig 14,000 Fuß hoch wird der Wanderer durch eigenthümliche Geſtalten von gelbrother Farbe über - raſcht, die von Ferne täuſchend den Anſchein des ruhenden Wildes haben, ſich bei näherer Unterſuchung aber als unförmliche Haufen niedriger, mit gelbrothen Stacheln dicht beſetzter Cacteen ausweiſen.

Was die Natur aber dem äußern Anſehen der Pflanze entzogen, das hat ſie den meiſten in reichlichem Maaße in den prachtvollen Blü - then erſetzt. Man ſtaunt die unförmlich graugrüne Maſſe einer Mamillaria mit den ſchönſten purpurrothen Blüthen bedeckt zu finden. Seltſam iſt der Contraſt zwiſchen dem troſtloſen und unheimlichen Anblick des kahlen, dürren Stengels der großblumigen Fackeldiſtel (Cereus grandiflorus) und ſeinen großen prachtvollen, iſabellfar - benen, vanilleduftenden Blumen, die in verſchwiegener Nacht ſich entfaltend einer Sonne gleich ſtrahlen und in dem wunderbaren Spiel ihrer Staubfäden faſt zu einem höheren thieriſchen Leben hin - anzuſtreben ſcheinen.

Aber nicht die Schönheit der Blüthen allein iſt es, die den Menſchen erfreut, nicht ihr erquickender Saft allein, der den ſchmachtenden Wanderer erfriſcht. Auch ſonſt iſt ihr Nutzen für den Haushalt der Menſchen von mannigfachem Einfluß. Faſt alle Cacteen haben eßbare Früchte und ſie gehören zum Theile mit zu den ſchönſten Erquickungen in der heißen Zone, welche ſie zur Reife bringt. Faſt alle größeren Opuntien, die unter dem Namen der indianiſchen Feige bekannt ſind, liefern in Weſtindien und Mexico beliebte Früchte des Nachtiſches, und ſelbſt die kleinen roſen - rothen Beeren der Mamillarien, die bei uns geſchmacklos zu ſeyn pflegen, haben unter den Tropen einen angenehmen ſüßſäuerlichen Saft. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß ihre Frucht eine edlere Form der bei uns einheimiſchen Stachel - und Johannisbeeren iſt, denen ſie auch in botaniſcher Hinſicht am nächſten verwandt ſind. So ſaftreich auch der Stamm der meiſten Cacteen iſt, ſo bildet ſich doch mit der Zeit in ihnen ein eben ſo feſtes als leichtes Holz aus. 202Beſonders findet ſich dies bei den langen ſäulenförmigen Cereen, de - ren alte abgeſtorbenen Stämme, nach Zerſtörung der graugrünen Rinde, mit weißem Holze Geſpenſtern gleich zwiſchen den lebenden Stämmen ſtehen bleiben, bis ein von der Nacht überfallener Rei - ſender ſich ihrer bemächtigt, um in jenen holzarmen Gegenden ſich ein Feuer gegen Moſquitos anzuzünden, ſeinen Maiskuchen dabei zu röſten, oder indem er ſie als Fackel anbrennt, die dunkle Tropen - nacht zu erhellen. Von dem letztern Gebrauch haben ſie eben den Namen der Fackeldiſteln erhalten. Auf die Höhen der Cordilleren werden dieſe Stämme wegen ihrer Leichtigkeit auf Maulthieren hin - aufgeſchafft, um als Balken, Pfoſten und Thürſchwellen der häu - ſer zu dienen, wie z. B. in der Meierei von Antiſana, vielleicht dem höchſten bewohnten Ort der Erde (12,604 F.). Ganz wie bei uns ihre Verwandten, die Stachelbeerbüſche, vom Landmann zur Ein - zäunung ſeiner Gärten benutzt werden, wendet man in Mexico, an der Weſtküſte Südamerika's und in den ſüdlichen Theilen Europa's und auf den Canaren mit noch größerem Erfolg die Opuntien an, deren feſte, unförmliche Zweige ſich ſchnell zu einem undurchdring - lichen Zaun zuſammenſchlingen und durch ihre furchtbaren Stacheln jedem Eindringling ein unüberwindliches Hinderniß entgegenſetzen. Endlich geht auch der Arzneiſchatz nicht leer aus, indem die Aerzte Amerika's vielfach von dem ſäuerlichen Safte Gebrauch zu Umſchlä - gen bei Entzündungen machen und die eingekochten Früchte als Bruſtſaft anwenden, einiger anderer Vorſchriften nicht zu gedenken.

Aber in ähnlicher Weiſe wie Gras und Klee nicht ſowohl un - mittelbar, ſondern nur als Nahrungsmittel nützlicher Thiere dem Menſchen ſchätzbar werden, iſt es auch eine Anzahl von Cacteen, die ein Thier ernähren, welches von außerordentlicher Wichtigkeit iſt. Es iſt dies das Cochenille-Inſect (Coccus Cacti), ein klei - nes, höchſt unſcheinbares Thier, im Aeußern ganz dem kleinen wei - ßen, wolligen Schmarotzer ähnlich, der in unſern Treibhäuſern ſo häufig ſich auf den Pflanzen einfindet, und doch durch den unſchätz -203 baren Farbſtoff, den es enthält, ſo unendlich davon verſchieden. Früher war die Cochenillezucht allein auf Mexico beſchränkt und wurde daſelbſt mit großer Sorgfalt von der Regierung geheim ge - halten. Noch im Jahre 1725 wurden heftige Streitigkeiten in Eu - ropa darüber geführt, ob die Cochenille überhaupt ein Inſect, oder ein Saamenkorn einer Pflanze ſey. Nur mit Lebensgefahr brachte Thierry de Menonville ſie im Jahre 1785 nach dem franzöſi - ſchen Domingo hinüber. Seit 1827 iſt ſie auch durch Berthelot auf den Canaren eingeführt. Selbſt in Corſica ſo wie in Spanien ſind in neuerer Zeit glückliche Verſuche mit ihrer Cultur gemacht. Zwar auch in Braſilien und Oſtindien jetzt häufig gezogen, bleibt doch immer Mexico der Ort der größten Production und der ſchön - ſten Cochenille. Nach Alex. v. Humboldt (Essai politique sur la nouvelle Espagne Vol. III. ) beträgt die Ausfuhr der Cochenille noch jetzt allein aus Oaxaca viertehalb Millionen Thaler, eine un - geheure Summe wenn man bedenkt, daß das Pfund etwa 10 Tha - ler koſtet und 70,000 Thierchen zu einem Pfunde gehören. Es ſind beſonders die Provinzen Oaxaca, Tlascala und Guanaxuato, welche ſich mit der Zucht der Cochenille beſchäftigen. Auf großen Meiereien Nopaleros genannt, von dem ſpaniſchen Namen der Opuntia (Nopal) wird felderweiſe der Tunacactus (Opuntia Tuna) gezogen. Nur auf den weſtindiſchen Inſeln und in Braſilien bedient man ſich des ſogenannten Cochenillecactus (Opuntia coccinellifera). Die Pflanzungen müſſen oft erſetzt werden, weil das Inſect mit großer Schnelligkeit die Pflanze ſo ausſaugt, daß ſie vertrocknet und ab - ſtirbt. Die Kaufleute unterſcheiden zwei Sorten von Cochenille, die grana fina und grana sylvestre; die erſtere iſt reicher an Farbeſtoff und ihre Farbe feuriger als bei der letzteren, und der weiße Ueber - zug des Inſects mehr ſtaubig, bei der letzteren dagegen flockig. In - deß iſt es noch nicht gelungen auszumachen, ob dieſer Verſchieden - heit zwei verſchiedene Arten des Thieres zum Grunde liegen, oder ob die Verſchiedenheit von der Culturweiſe und der Art der Pflanze204 abhängt, auf welcher das Thier lebt. Wenn die Thiere völlig aus - gebildet ſind, werden ſie mit dem Schweife eines Eichhörnchens von den Zweigen der Pflanze abgekehrt und durch Sonnenhitze oder heiße Waſſerdämpfe getödtet, getrocknet und in den Handel gebracht. Bei uns wird daraus durch Zuſatz von Alaun der koſtbare Carmin und durch Zuſatz von Thonerde der Carminlack (Florentiner Lack) bereitet.

So wie aber die Familie der Cactusgewächſe durch ihre äußere häßliche Form, durch die Pracht ihrer Blüthen, durch ihren viel - fachen Nutzen im Allgemeinen ein hohes Intereſſe erregt, ſo iſt ſie auch in engerer Beziehung nicht minder für den Botaniker intereſ - ſant. Von jeher haben die Zoologen in der Betrachtung der Mißge - burten und der abweichenden Formen einen reichen Stoff gefunden, um ihre Kenntniſſe des regelmäßig ſich entwickelnden Organismus zu läutern und auszubreiten. Es läßt ſich daher auch erwarten, daß in der Pflanzenwelt ähnliche Verhältniſſe ähnlichen Werth haben werden, und welche Familie könnte man beſſer zu dieſem Zwecke auswählen, als die der Cacteen, die nur ein natürliches Muſeum von Mißgeburten zu ſeyn ſcheint und deren Formen zum Theil ſo ab - norm ſind, daß man eine Art überhaupt nicht anders als mit dem Na - men des monſtröſen Cactus (Cereus monstrosus) zu bezeichnen wußte. Auch haben ſie in vielfacher Hinſicht die Aufmerkſamkeit der Botaniker auf ſich gezogen und es haben ſich manche ſowohl anato - miſche als phyſiologiſche Eigenthümlichkeiten ergeben, durch welche ſie von allen übrigen ſelbſt den nächſt verwandten Pflanzen abweichen. Ja die Ergebniſſe würden ſicher noch viel intereſſanter ſeyn, wenn es nicht ſo unendlich ſchwer wäre, ſich das Material für die Unterſuchung zu verſchaffen, indem nur zu ſelten Gärtner und Blumenliebhaber ſich geneigt zeigen, ihre Lieblinge dem Meſſer der Wiſſenſchaft zu opfern.

Die Cacteen haben lange Zeit in der Wiſſenſchaft zur Stütze eines Satzes dienen müſſen, der durchaus falſch, doch häufig genug ſelbſt von ausgezeichneten Botanikern behauptet worden iſt, ich meine nämlich die Anſicht, als könnten viele oder gar alle Pflanzen ihre Nahrung aus der205 Luft ſaugen. Noch in den neuſten Zeiten iſt dieſer Gedanke von Liebig, deſſen organiſche Chemie ſo großes Aufſehen gemacht hat, mit den alten längſt widerlegten Gründen wieder aufgefriſcht. Man glaubte nämlich, daß aus der großen Maſſe des wäſſrigen Saftes in den Cacteen, verbunden mit der Thatſache, daß die meiſten und gerade die ſaftreichſten auf dürrem Sande in faſt von aller Dammerde entblößten Felſenritzen vegetiren, wo ſie noch dazu oft drei Viertel des Jahres den austrocknenden Sonnenſtrahlen eines ewig heitern Himmels aus - geſetzt ſind aus dieſem Zuſammentreffen eben glaubte man um ſo mehr mit Sicherheit ſchließen zu dürfen, daß dieſe Pflanzen ihre Nahrung aus der Luft anziehen, als man auch noch in unſern Treib - häuſern die Beobachtung machte, daß die Zweige von Cactusſtäm - men abgeſchnitten und in einem Winkel vergeſſen oft ohne Weiteres, ſtatt abzuſterben, weitergewachſen waren und drei und mehr Fuß lange Aeſte getrieben hatten. Erſt De Candolle kam auf den richtigen Weg, indem er ſolche ohne Boden fortwachſende Cactuszweige wog und dabei fand, daß die Pflanze ſo wie größer immer leichter wurde und daher weit entfernt, aus der Atmoſphäre etwas aufzunehmen, viel - mehr noch an dieſe abgegeben hatte. Das ganze Wachſen geſchieht hier auf Unkoſten des ſchon früher in dem ſaftigen Gewebe angeſam - melten Nahrungsſtoffes, und erſchöpft die Pflanze meiſt ſo ſehr, daß ſie nachher nicht mehr zu retten iſt. Es iſt gerade das vollſaftige Ge - webe, welches die Cactuspflanzen fähig macht, man könnte ſie den Kameelen vergleichen, auf lange Zeit im Voraus ſich mit Flüſſigkeit zu verſehen und ſo der regenloſen Jahreszeit trotzen zu können. Dabei werden ſie aber auf eigne Weiſe durch anatomiſche Verhältniſſe unter - ſtützt. Wir wiſſen durch die Verſuche von Hales, daß die Pflanzen hauptſächlich durch die Blätter das in ihnen enthaltene Waſſer ver - dunſten und gerade Blätter fehlen den Cacteen. Ihr Stamm aber iſt ebenfalls abweichend von allen übrigen Pflanzen mit einer eigenthüm - lichen lederartigen Haut bekleidet, welche die Verdunſtung faſt völlig verhindert. Dieſe Haut beſteht aus ſehr ſonderbaren faſt knorpeligen206 Zellen, in deren Wunden häufig die zierlichſten kleinen Canäle ver - laufen. Sie iſt bei verſchiedenen Cactusarten verſchieden dick und zwar am dickſten und daher undurchdringlichſten bei den Melonen - cactus, die in den dürrſten und heißeſten Gegenden wachſen, am wenigſten auffallend dagegen bei den Rhipſalisarten, welche paraſitiſch auf den Bäumen der feuchten braſilianiſchen Wälder leben.

Eine andere Merkwürdigkeit dieſer Pflanzengruppe iſt die Bildung einer außerordentlichen Menge von Sauerkleeſäure. Dieſe Säure würde in großer Menge in der Pflanze angehäuft für dieſelbe nothwen - dig tödtlich werden müſſen. Die Pflanze nimmt daher aus dem Boden, auf dem ſie wächſt, eine verhältnißmäßige Menge Kalk auf, dieſer ver - bindet ſich dann mit der Sauerkleeſäure zu unlöslichen Kryſtallen, welche ſich in allen Cacteen in großer Menge finden. In einigen Arten, z. B. dem peruaniſchen und Greiſen-Cactus enthält die Pflanze fünf und achtzig Procent oralſauren Kalk. Sicher ließen ſich die Cacteen unter den Tropen mit Vortheil zur Gewinnung des Sauer - kleeſalzes benutzen.

Eine dritte Eigenthümlichkeit zeigt ſich ferner bei den kugligen Formen der Melonencactus und Mamillarien in der Bildung des Holzes, welches durchaus von dem der gewöhnlichen Holzpflanzen abweicht. Das gewöhnliche Holz, z. B. der Pappel beſteht aus langen Holzzellen, deren Wände ganz einfach und gleichförmig ſind, und aus luftführenden Zellen, ſogenannten Gefäßen, deren Wände ganz dicht mit kleinen Poren beſetzt ſind. Ganz abweichend davon zeigt das Holz der genannten Cacteen nur kurze ſpindelförmige Zellen, in denen ſich höchſt zierliche ſpiralförmig gewundene Bänder, wie kleine Wen - deltreppen hinaufziehen.

Endlich verdienen die an der Stelle der Blätter ſitzenden Haare, Stacheln u. ſ. w. noch eine beſondere Erwähnung. Man kann im Allgemeinen drei Formen derſelben unterſcheiden, die gewöhnlich zu - ſammen an derſelben Stelle vorkommen. Die Erſten ſind ganz biegſame207 einfache Haare, welche ein kleines, flaches, weiches Kiſſen bilden. Zwi - ſchen ihnen findet ſich ein Büſchel etwas längerer, aber dünner Stacheln. Dieſe ſind es hauptſächlich, welche wegen ihres eigenthümlichen Baues das unvorſichtige Angreifen der Cactuspflanzen ſo gefährlich machen. Dieſe kleinen Stacheln ſind nämlich ſehr dünn und ſpröde, ſo daß ſie leicht abbrechen, und von oben bis unten mit rückwärts gerichteten Widerhaken beſetzt. Bei der Berührung drückt ſich gleich ein ganzer Büſchel in die Haut ein; verſucht man es abzuſtreifen, ſo brechen die einzelnen Stacheln in der Haut ab und die Stückchen dringen wieder in andere Theile der Haut; wo man mit der Hand überſtreift, hängen ſie ſich ein und ein unerträgliches Jucken und zu - letzt eine leichte Entzündung verbreitet ſich überall dahin, wo man ſie durch Berührung hingebracht. Beſonders zeichnet ſich dadurch die Opuntia ferox aus, die davon ihren Namen, die wilde, hat. Zwiſchen dieſen Haaren und kleinen Stacheln erheben ſich dann in verſchiedener Anzahl und Form ſehr lange und große Stacheln, welche die beſten Kennzeichen zur Beſtimmung der Arten abgeben. Dieſe ſind bei einigen ſo hart und ſtark, daß ſie z. B. häufig die Lähmung der wilden Eſel herbeiführen, wenn dieſe zur Stillung ihres Durſtes die Stacheln mit dem Hufe abſtreifen und dabei ſich unvorſichtig verletzen. Bei Opuntia Tuna, die am meiſten zu Zäunen benutzt wird, ſind ſie ſo groß, daß ſelbſt Büffel, die ſich dieſe Stacheln in die Bruſt rannten, an der darauf folgenden Entzündung geſtorben ſind. Gerade dieſe Art war es auch, welche in dreifacher Reihe als Grenzſcheide gepflanzt wurde, als die Engländer und Franzoſen die Inſel St. Chriſtoph zwiſchen ſich theilten.

Dieſe kurze Ueberſicht möge denn genügen, um das Intereſſe zu rechtfertigen, welches ganz allgemein jetzt dieſe Pflanzenfamilie er - weckt hat. Ihre genauere Erforſchung giebt dem Naturforſcher reichen Stoff, ihr mannigfaltiger Nutzen beſonders in ihrer Heimath lenkt mit Recht auf ſie die Aufmerkſamkeit der Staatsökonomen; aber be - deutungsvoller als dieſes wird ſie in der Mannigfaltigkeit ihrer durch -208 weg häßlichen Formen eine Aufgabe für den Naturphiloſophen, welche ihn daran mahnt, wie unzulänglich zur Zeit noch alles das iſt, was wir zum tiefern Verſtändniß der Natur erdacht haben, und wie end - los daher noch die Bahn vor uns liegt, die ganz durchlaufen ſeyn muß, ehe wir es wagen dürfen, an die Aufſtellung eines naturphilo - ſophiſchen Syſtems zu gehen, wenn es nicht ſtatt wiſſenſchaftlicher Begründung, die vielleicht ſchönen, aber immer unwahren Träume einer dichteriſchen Phantaſie bringen ſoll.

[209]

Zehnte Vorlesung. Die Pflanzengeographie.

Die Gegend wird zum Paradieſe, Hier blüht die ganze weite Welt. (Göthe. )
[figure]
Im Vatican bedient man ſich Palmſonntags ächter Palmen, Die Cardinäle beugen ſich Und ſingen alte Pſalmen, Dieſelben Pſalmen ſingt man auch, Oelzweiglein in den Händen, Muß im Gebirg zu dieſem Brauch Stechpalmen gar verwenden, Zuletzt, man will ein grünes Reis, So nimmt man Weidenzweige (Göthe. )Schleiden, Pflanze. 14[210]

Dem folgenden Vortrag wird vor Allem die Anſchaulichkeit fehlen, die dem - ſelben durch keine Macht der Sprache zu verleihen war. Ich muß meine freundlichen Leſer erſuchen, eine gute Weltkarte und die vortrefflichen Pflanzengeographiſchen Tafeln in Berghaus 'phyſicaliſchem Atlas zur Hand zu nehmen und dadurch die beim mündlichen Vortrag ſo bequem unterſtützende Demonſtration zu erſetzen, und gern will ich zugeſtehen, daß vielleicht ein Blick auf die Berghaus'ſchen Vege - tationstafeln lebendigere Anſchauung hervorruft und ebenſo zum Nachdenken erregt als dieſe Vorleſung.

[211]

Die Vertheilung der Pflanzen auf der Erdoberfläche.

Wenn wir die Erdkugel durch einen größten Kreis in zwei Hälf - ten theilen, ſo daß die eine Hälfte die größtmögliche Fläche feſten Landes umfaßt, ſo liegt ſeltſamer Weiſe London gerade im Mittel - punct dieſer Hemiſphäre. Können wir wohl einen beſſern Ausgangs - punct wählen, wenn wir uns zu irgend einem Behufe einen Ueber - blick über die Erde verſchaffen wollen? Wir treten ein in dieſe Metro - pole des Handels, nach dem unruhigen Umhertreiben ſuchen wir Er - holung im St. James Park und wenden uns von da über die Carl - ton Teraſſe in die Regentſtraße. Eine Geſellſchaft etwas fremdartig ausſehender Männer verführte uns, mit ihnen in Pall Mall einzubiegen und ein neues Prachtgebäude zwiſchen dem Athenäum und Reform - Club-Hauſe zu betreten. Es iſt der Verſammlungsort des Travellers - Club. In England verfolgt Jeder mit Freiheit ſeine Launen. Lord Ruſſel ſetzt ſeinen Ruhm darin, Führer eines Whigparlaments zu ſeyn, O'Connel in die Aufregung der Irländer, Oberſt Sib - thorp in ſeinen Schnurrbart, Graf D'Orsay in ſeinen Backenbart und Lord Ellenborough in ſeine Locken, die Mitglieder des Travel - lers Club kennen keinen andern Ehrgeiz, als weit gereiſt zu ſeyn und die Kellner im Club-Hauſe erhaſchen ſpielend aus den Geſprächen der Gäſte mehr geographiſche Kenntniſſe, als wenn ſie Jahre lang Ritters fleißige Schüler geweſen wären. Warum ſollten nicht auch wir von der Gelegenheit Nutzen zu ziehen ſuchen. Wir treten zu einem Tiſch an welchem drei Männer im eifrigen Geſpräche ſitzen, deren ſonnenverbrannte Geſichter ſogleich die leidenſchaftlichen Sports - men verrathen, die einer bloßen Tagslaune nachjagend oft An -14*212ſchauungen ſammeln, um welche viele Naturforſcher ſie beneiden würden.

In der Mitte des Octobers vorigen Jahres, erzählt der Eine, durchſtrich ich die wunderlieblichen Berge von Morray. Vor mir lag einer jener ſtillen, ſpiegelhellen Gebirgsſeen, welche jene Graf - ſchaft zieren, an deſſen einem Ufer ſich eine weite, mit Moos und Rietgräſern und mit dem weißhäuptigen Wollgraſe bedeckte Moor - niederung hinzog, während das andere Ufer ſich in maleriſchen Ab - ſtürzen zu grauen wilden Felſen, ſpärlich mit Birken und Haſelbüſchen beſetzt, erhob und zuweilen zu hohen Klippen aufſtieg deren Gipfel die Raben krächzend umkreiſten. Der dichte Herbſtnebel begann all - mälig vor der Sonne zu fliehen, die in den leicht bereiften Büſchen und Hecken in tauſend Diamanten funkelte. Zu phantaſtiſchen Ge - ſtalten dicht zuſammengeballt zog ſich die leichte Dunſtſchicht durch die Schluchten der Berge und ließ die benachbarten Hügel im düſtern Braunroth des Haidekrauts erglänzen oder drängte ſich höher hinauf im Gebirge durch die lichten, kräftigen Kämme der ſchottiſchen Fich - ten, die in immer beſtimmteren Zügen hervortraten. Lange hatte ich das Spiel einer beſonders wunderlich geſtalteten Wolke verfolgt, als ſie plötzlich vom leichten Morgenwinde zuſammengewirbelt und zu - rückgeworfen eine Hügelfläche frei ließ, auf welcher in ruhiger Maje - ſtät ein prachtvoller Sechszehnender gelagert war. Mein erſter Ge - danke war mich ſeinem Anblick zu entziehen, indem ich mich nieder - warf und rücklings eine kleine Böſchung herabkroch bis ich nur noch die Spitzen ſeines Geweihs erblicken konnte. Seine Stellung war die unvortheilhafteſte, die ſich denken ließ und meine Hoffnung, mich ſeiner zu bemächtigen, beruhte nur auf einem kleinen Bach, der ſich zwiſchen mir und ihm hinſchlängelte und ſich dann über einen ſteilen Abſturz in den See ergoß. Mit einem bedeutenden Umweg gelangte ich unbemerkt in ſein Bette, deſſen ſteile Wände mich verbargen, ſo daß ich, immer die Spitzen des Geweihs als Zielpuncte im Auge, mich bis auf etwa 100 Schritte an ihn heranſchleichen konnte. Hier hatte ich den vollen Anblick des ſchönen Thieres, wie es dalag, hingeſtreckt213 zwiſchen rother Haide und graugrünen Binſen unbeweglich und nur zuweilen ſich mit dem Gehörn die Weichen reibend. Endlich richtete es ſich auf, ſtreckte ſich und ſchritt langſam auf eine Biegung des Baches zu, von welcher ich nur durch einen flachen, ſchmalen Hügel, um den ſich dies Waſſer herumwand, getrennt war. Ich griff zur Flinte, wechſelte aus Vorſicht das Zündhütchen und kroch ſoweit das Ufer hinan, daß ich das Wild etwa 50 Schritt vor mir bis an die Knie im Waſſer ſtehend und in langen Zügen trinkend erblickte. Ich feuerte auf den Hals dicht am Kopf. Es ſtürzte in die Knie, erhob ſich aber ſogleich wieder und ſprang einen Hügel hinan, doch ſchon zu matt für dieſe Anſtrengung wankte es, kehrte zum Bache zurück und ſtürzte anſcheinend todt, wenige Schritte von mir, häuptlings in das tief eingeſchnittne Bette. Ich warf die Flinte fort und warf mich mit einem Freuderuf und mit gezücktem Waidmeſſer auf meine, wie ich glaubte, ſichere Beute. Aber kaum berührte ich das edle Thier als es aufſprang und mich mit einem Stoße rückwärts gegen die Steine ſchleuderte, daß ich nur mit Mühe und ſchmerzenden Gliedern mich wieder erheben konnte. Ich war betäubt und in einer unangenehmen Lage. Hinter mir der ſteile Abſturz, über welchen der Bach ſein Waſſer in den See ergoß, vor mir das zornige Thier von Schweiß und Waſſer triefend und wie es ſchien zu einem neuen Stoß ſich anſchickend. So ſtarrten wir einige bange Minuten Einer in des Andern Auge, bis ich mich etwas erholte und ſchnellen Entſchluſſes mit ſo raſcher Wendung mich auf den Uferrand ſchwang, daß mein Gegner nicht Zeit behielt ſeinen Stoß zu vollführen. Nun ſchlug ich von oben her dem ſchon matten Thier mein Plaid um Kopf und Augen, und warf mich abermals auf ihn. Aber erſt nach verzweifelter Gegenwehr von ſeiner Seite gelang es mir ihm den Genickfang zu geben und erſchöpft ſank ich neben meine Beute in das feuchte Moos nieder.

Es iſt nichts Seltnes, begann der Zweite, daß ein ſo edles und ſtarkes Thier den Jäger in gefährliche Verlegenheit bringt, ich erlebte aber im vorigen Jahre den lächerlichſten Auftritt in dem ohne meine Dazwiſchenkunft hoffnungsloſen Kampf eines Mannes mit einem der214 ſchwächſten und feigſten Thiere. An einem ſchönen Sonntage durchſtrich ich frühmorgens die weiten Ebenen von Gippsland. Meine Ge - danken waren durch die Eigenthümlichkeiten der mich umgebenden Natur ganz von meinem eigentlichen Zwecke der Jagdluſt abgezogen. Zuerſt führte mein Pfad durch jene ſchattenloſen Wälder Neuhollands von blattloſen Caſuarinen und von den ſchwachbelaubten Eucalyp - ten und Cajuputbäumen gebildet, deren ſchmale Blätter noch dazu in ſeltſamer Verdrehung nicht ihre Fläche, ſondern ihre Kanten nach Oben und Unten richten. Mit Bewunderung belauſchte ich die ſelt - ſame Thierwelt der Inſecten, unter denen beſonders eine Heuſchrecken - form, die vollkommen einem wandelnden Strohhalme glich, meine Aufmerkſamkeit feſſelte. Nun trat ich auf eine weite ſandige Fläche, zum Theil mit dem wunderlichen Grasbaum*)Xanthorrhoea australis. bedeckt. Die meh - rere Fuß hohen Stämme tragen auf ihrer Spitze einen Büſchel rieſen - mäßigen Graſes, aus deſſen Mitte ſich 14 20 Fuß hoch der den Blüthenkolben tragende Schaft erhebt. Zuweilen wurde der Boden feucht und die Vegetation, obwohl nur niedriges Buſchwerk, faſt undurchdringlich dicht. Nur hin und wieder erhoben ſich mit pracht - vollen goldgelben Blüthenbüſcheln ſüßduftende Acacien**)Acacia mollissima, affinis u. a. m., oft vom wilden Wein***)Cissus autarctica. , wie von rieſigen Stricken dicht verſchlungen. Auf et - was lichteren Stellen breitete der Lyraphaſan ſein prunkvolles Gefie - der aus und gefiel ſich darin, die ſämmtlichen Naturlaute dieſes eigen - thümlichen Landes, das Geſchrei verſchiedner Vögel, das Bellen der wilden Hunde, das Schreien der Cicaden täuſchend in unermüdlicher Ausdauer nachzuäffen. Mit einiger Mühe hatte ich mich durch dieſes Dickicht durchgearbeitet und erreichte jetzt ein ſumpfiges Gebiet, wel - ches aber ausgetrocknet durch die glühende Sonne nur noch einzelne Pfützen und Bächelchen zeigte, die mit dichten Gebüſchen rieſiger Riet - gräſer und breitblättrigen Schilfes abwechſelnd dem ſeltſamen Natur - ſpiele, dem Schnabelthiere, zum Aufenthalt dienen. Auf dem etwas215 beſſern Raſen feſſelte eine freundliche Erinnerung an die ferne Hei - math, die einzige in dieſem fremdartigen Lande, meine Blicke und eben bückte ich mich um dankbar das einſame kleine Marienblümchen zu pflücken, als ein lauter Hülferuf mit Geſchrei und Flüchen gemiſcht, mein Ohr traf. Ich eilte nach dem Orte hin, woher die in dieſer Wildniß überraſchenden Töne zu kommen ſchienen und war nicht wenig erſtaunt über das was ich entdeckte. In der Mitte eines Waſ - ſertümpfels ſtand ein feiſter männlicher Känguruh 7 Fuß hoch auf - recht auf ſeinen Hinterfüßen und am Ufer vor ihm lag ein zerfleiſch - ter, aus vielen Wunden blutender Hund. Ich griff zur Flinte und legte an, als meine Aufmerkſamkeit abgelenkt wurde durch das Antlitz eines Menſchen, welcher zerkratzt und blutig ſich zwiſchen den Binſen des Ufers zeigte. Sogleich ſprang ich zu Hülfe, aber während ich den Menſchen aus dem Schlamm hervorzog hatte der alte Mann*)Old man wird das männliche Känguruh von den Anſiedlern genannt. ſein Heil in der Flucht geſucht und war unſern Blicken entſchwunden. Die Wunden des unglücklichen Jägers waren zum Glück weniger ge - fährlich als ſie ausſahen und er hatte ſich bald erholt, ſo daß er mir ſeine Abentheuer erzählen konnte. Frühmorgens hatte er ſich ohne Flinte, nur von ſeinen Hunden begleitet, auf die Känguruhjagd bege - ben. Bald hatten die Hunde ein Rudel aufgeſpürt und verfolgt, aber nur einer derſelben war zu ſeinem Herrn zurückgekehrt. Nichtsdeſto - weniger hatte er ſeinen Waidgang fortgeſetzt und bald den alten Mann aufgetrieben, auf den er ſeinen Hund anhetzte. Das alte kluge Thier aber ſtatt zu fliehen, ſtellte ſich an jener Lache und hielt ſich mit den Vorderpfoten den Hund vom Leibe. Um nicht müſſig zu ſeyn verſuchte der Jäger einen Angriff von Hinten durchs Waſſer, aber das einmal gereizte Thier wendete ſich auch gegen ihn, zerkratzte ihm das Geſicht und warf ihn rücklings in die Lache. Jedesmal, wenn er verſucht hatte ſich wieder zu erheben, drückte ihn der alte Mann wieder mit dem Kopf unter das Waſſer, ſo daß er ohne meine Dazwiſchenkunft rettungslos ertrunken wäre. Inzwiſchen hatte das Thier wahrſcheinlich den Hund bei einem erneuerten Angriff216 kampfunfähig aus Ufer hingeſtreckt. Nachdem der Jäger ſich von Schlamm und Blut gereinigt, wendeten wir unſern Beiſtand dem ge - fährlich verwundeten Hund zu und trennten uns endlich, jeder ſeinen eigenen Weg verfolgend und der Jäger ſchwörend, daß er nie wieder ohne Flinte mit einem alten Mann anbinden wolle.

So niedlich ſolche Erzählungen ſich im Damenkreiſe ausnehmen mögen, hob der Dritte an, ſo ſollte der Mann doch darüber hinaus ſeyn in ſolchen Trivialitäten Genuß zu finden. Nur wenn das Leben täglich und ſtündlich aufs Spiel geſetzt wird, wenn die Gefahren in allen Formen ſich zeigen, läßt ſich von einer Aufregung reden, die eine würdige Unterhaltung des Mannes ſeyn kann, und wo fände man das in dem Maaße wie bei einer Wallfiſchjagd auf den nordiſchen Meeren. Mit Luft denke ich noch jetzt an eine Scene zurück, welche im vorletzten Winter bald auf eigenthümliche Weiſe meinem Leben ein Ende gemacht hätte. Wir hatten bereits 16 Tage bei einem furchtbaren Sturme am Eingang der Baffinsbay gekreuzt. Die Take - lage ſtarrte von Eis, die Seiten des Schiffes waren mit großen glän - zenden Maſſen überzogen. Die Mannſchaft war halb erfroren und wir konnten keinen Strick durch einen Block bewegen ohne vorher heißes Waſſer darüber gegoſſen zu haben. Wir hatten wenig Tages - licht wegen des dichten Nebels, aber noch furchtbarer waren die langen, ſchauerlichen Nächte, wenn das Schiff ſich auf den ſchwarzen Wellen bergan erhob und dann wieder hinabſtürzte in die Tiefe, ſo daß wir jeden Augenblick fürchten mußten an den Eismaſſen zu zerſchellen, welche der heulende Sturm wie fahl leuchtende und ſchäumende Nacht - dämonen zu unſerer Vernichtung geſendet über die brauſende Waſſer - fläche dahinjagte. Eines Morgens gegen Ende des Sturms nach einem friſchen Schneefall näherte ſich uns mit erſchreckender Ge - ſchwindigkeit ein 500 Fuß hoher Eisfelſen, ſchon war er in gefahr - drohender Nähe, da erſcholl plötzlich der Schreckensruf: Er wendet ſich! *)Die vom Polareiſe losgeriſſenen Eismaſſen, vom Sturm in niedere Breiten getrieben, ragen oft zwei und mehrere Hundert Fuß aus dem Meere hervor, aberDa kam er näher, ſeinen wankenden Gipfel langſam auf un -217 ſere Häupter niederbeugend. Unſer Schickſal ſchien entſchieden, die ganze rieſige Eismaſſe ſank auf unſer Schiff herab und mußte uns in Stuͤckchen zerſchmettern. Wir alle fielen auf unſere Knie, ſtill betend und den entſetzlichen Augenblick erwartend; ſelbſt der Steuermann kniete, ohne aber das Steuerruder aus den Händen zu laſſen. Schon war der Eisfelſen halb übergebogen, als er ſich durch eine ungleiche Schwere ſeiner untergetauchten Theile drehte und in demſelben Augenblick etwa auf Kabellänge hinter unſerm Spiegel ins Meer ſtürzte, das Waſſer in Schaummaſſen bis über die Maſtſpitzen ſchleudernd und uns alle blendend durch die Gewalt, mit welcher die eiſigen Tropfen in unſer Geſicht geſpritzt wurden. Eine Minute lang ſchienen die Wogen in ihrem Laufe gehemmt, die See ſchien zu kochen, das Schiff zitterte und ſchwankte und ſelbſt der Sturm ſchien geſtört, denn die Segel klapperten an den Maſten und warfen das Eis ab, mit welchem ſie ſo lange bedeckt geweſen waren. Da brach plötzlich die Sonne durch einen Wolkenriß und mit der eigenthümlichen Roſenfarbe des rothen Schnees*)Auf dem friſchgefallenen Schnee der Polargegenden und der höhern Alpen ſiedelt ſich nicht ſelten eine kleine microſcopiſche Alge, der Protococcus nivalis, an, welche nebſt einigen kleinen Infuſionsthierchen die roſenrothe Färbung oft ganzer Schneefelder bedingt. breitete ſich vor uns eine weite Küſte aus, die dem müden Schiffer eine kurze Raſt verhieß.

Welche contraſtirende Bilder führen uns dieſe Erzählungen vor, wie muß es zum Nachdenken auffordern, wenn wir bemerken, daß in jeder dieſer drei Skitzen die Naturverhältniſſe, Klima, Pflanzen und Thierwelt ſolche ſind, daß ſie in einer der Andern gar nicht vorkommen könnten. Ja die einzige Uebereinſtimmung, die ſelbſt dem Laien auf - fiel, das Vorkommen eines unſcheinbaren Blümchens unſerer Wieſen, gerade in dem eigenthümlichſten und fremdartigſten Lande, welches wir bis jetzt auf der Erde haben kennen lernen, kann nur dazu bei -*)ſind noch mit einer beträchtlich größeren Maſſe eingetaucht. Dieſe letztere wird bald von dem wärmern Waſſer des Oceans aufgelößt und dann tritt ein Zeitpunct ein, in welchem der ganze Eisberg ſich überſtürzt und ſein unteres Ende über die Meeres - fläche erhebt, während das bis dahin hervorragende Ende nunmehr eintaucht.218 tragen unſer Erſtaunen noch zu ſteigern. Bunt, formen - und far - benreich iſt der Teppich der Natur, aber gewiß nicht aus einzelnen Lappen regellos zuſammengeſtückt, ſondern wie eine Stickerei von künſtleriſchen Händen, nach einem ſchönen Plan gewirkt. Wenn wir aber uns vorſtellen, daß eine mit Sinn und Faſſungskraft begabte Mücke auf einem koſtbaren Gobelin umherkröche und aus den farbigen Pünctchen, die ſie einzeln nicht einmal ganz zu überſehen vermag, ſich ein Bild des Ganzen entwerfen, die Zeichnung und Farbengebung verſtehen und beurtheilen ſollte, wir würden zugeſtehen, daß ſie das größte Genie ſeyn müßte, das je gelebt. Und in wie viel unvortheil - hafterem Verhältniſſe ſteht der Menſch zur ganzen Erde. Wie Viele haben hier ihre Beobachtungen zuſammentragen müſſen, um nur ganz kleine Theile vorläufig überſehen und erkennen zu lehren, wie viele Meiſter werden noch ihr Leben daran ſetzen müſſen, bis uns eine völlige Kenntniß des Ganzen gewonnen iſt. Kaum können wir zur Zeit mehr thun, als die einzelnen Bilder jener Jäger vermehren und etwas genauer auszeichnen.

Ein Brauersſohn aus Huntingdon Oliver Cromwell ſchwang ſich in wenigen Jahren zum unumſchränkten Herrſcher von Großbrit - tanien auf, und ſchrieb ſelbſt dem halben Europa durch die Macht ſeines Geiſtes Geſetze vor. Die Tradition ſagt, daß ihn dabei eine ihm ſchon in früher Jugend eigne Redensart geführt: Der kommt am weiteſten, der nicht weiß, wo er hin will. Man kann dieſen Spruch in einer weniger paradoxen Sprache ſo ausdrücken, daß der Menſch in ſeinen Angelegenheiten nur dann etwas Tüchtiges erreicht, wenn er ſich von vorn herein die höchſte Aufgabe, das unerreichbare Ideal als Ziel ſteckt. In dieſer Weiſe aber können wir auch Crom - wells Lebensſpruch als Führer in jeder Wiſſenſchaft betrachten und wir werden finden, daß er auch hier ſeine Macht keineswegs ver - leugnet. Im erſten Augenblick mag man freilich glauben, daß es gar leicht ſey, einer ſolchen Anforderung nachzukommen. Es iſt ſo ſchwer nicht ſich das ethiſche, oder wenn man lieber will, das umfaſſendere chriſtliche Ideal auszuzeichnen und hinzuſtellen, aber gleichwohl ge -219 wiß, daß nichts deſto weniger in dieſer Beziehung von dem einzelnen Menſchen gar wenig erreicht wird. Man wird daraus den Schluß ziehen, daß es bei Weitem weniger auf die richtige Kenntniß des Ziels als vielmehr auf die Thätigkeit, durch welche wir daſſelbe erſtreben, an - komme. Man verwechſelt dabei aber zwei weſentlich verſchiedene Standpuncte mit einander und leider geht dieſe Verirrung durch einen großen Theil unſerer wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen durch und bringt ein gutes Theil des Mißverſtandenen, Unklaren und Falſchen in un - ſere Beurtheilungen hinein. Die Sache liegt ſo. An den auf Erden lebenden Menſchen wird eine gedoppelte Anforderung, für geiſtige Thätigkeit und Entwicklung, geſtellt. Die eine betrifft das ethiſch - religiöſe Element, die andere ſeine wiſſenſchaftliche Ausbildung. Beide greifen ineinander und unterſtützen ſich gegenſeitig; beide ſind aber ihrem Urſprung, ihrem innerſten Weſen nach ganz getrennt und haben eine unendlich verſchiedene Bedeutung, entſprechen einer un - endlich verſchiedenen Werthgebung für den Menſchen. Die ethiſch - religiöſe Entwicklung bezieht ſich auf den ewigen und unverderblichen Antheil des Menſchen auf ſeine ewige Seele, alſo auf das eigentliche nie aufhörende Ich. Hier ſtellt ſich eine allgemeine und nothwen - dige Anforderung an jeden Menſchen, es iſt der Punct wo wir alle vor Gott gleich, gleich berechtigt und gleich belaſtet ſind und zwar deshalb gleich, weil die einfachſte Selbſtverſtändigung ſchon hinreicht, die Aufgabe, das Ideal vollkommen und rein zu faſſen und auszu - ſprechen. Wir finden deshalb hierin auch keinen nennenswerthen Fort - ſchritt in der Geſchichte der Menſchheit. Von den älteſten bis auf die neueſten Zeiten ſind hier die Anforderungen in gleicher Weiſe, nur bald ſo, bald ſo im Ausdruck verſchieden geformt, klar und beſtimmt hingeſtellt worden. Hier iſt allerdings das Wichtigſte für den Ein - zelnen, jenen Anforderungen zu entſprechen und ſich dadurch, daß er ihnen entſpricht, als Menſch im edleren Sinne des Wortes, als ein zur höheren Vollendung und zu ewiger Dauer beſtimmtes Weſen zu legitimiren. Ohne dieſe Legitimation hat er keine Berechtigung auf Achtung, auf Anerkennung irgend einer Art, und möchte er in Bezug220 auf den zweiten, gleich zu erwähnenden Punct eine auch noch ſo hohe Stufe erſtiegen haben.

Die zweite Anforderung, die an die Menſchen geſtellt iſt, bezieht ſich dagegen auf ihre Ausbildung für ihren beſchränkten Standpunct auf der Erde. Hier iſt die Aufgabe, jede körperliche und geiſtige Seite unſeres Weſens zur vollkommenſten Ausbildungsſtufe zu erheben, um dadurch die Erreichung des erſtgenannten Ziels zu erleichtern und zu ſichern. Hierher gehören alle Wiſſenſchaften, die die Verhältniſſe für Staat und Kirche, für Natur und Kunſt, Genuß und Bequemlichkeit ordnen und fördern; Alle zuſammen, mag man ſie übrigens unter den Menſchen hoch oder niedrig ſchätzen, ſtehen darin auf einer und der - ſelben nichtigen Stufe, daß ihre Bedeutung ſogleich mit dieſem Leben aufhört, daß ſie nur hier auf unſerem kleinen Sonnenſtäubchen der Erde, Geltung und Werth haben. Hier mag einer Großes geleiſtet haben, es giebt ihm nicht den leiſeſten Anſpruch auf meine Achtung, meine Anerkennung, wenn er der höheren Anforderung ſittlich reli - giöſer Ausbildung nicht nachgekommen iſt. Was er etwa als Künſt - ler, als Gelehrter geleiſtet, ich nehme es an und verwende es für meinen Nutzen, aber ohne Dank, wie ich das Geldſtück einſtecke, was ich finde, während ich den Schmutzwiſch, in den es gewickelt war, mit Ekel von mir werfe. Was auf jenem Gebiete erlangt wird, be - ſchließt ſich im Individuum, mit dem dieſelbe Entwicklung ſtets wieder von Neuem beginnt, giebt ihm und nur ihm einen Werth. Was hier allmälig errungen iſt gehört nicht dem Einzelnen, ſondern der Menſch - heit und eine Zeit knüpft da an, wo die vorige aufhörte. Die Leiſtung des Einzelnen hat zwar Werth für die Menſchheit, ſie verleiht aber dem Einzelnen ſelbſt keinen Werth.

Auf der andern Seite darf ich meine Achtung, meine Anerken - nung eines edlen, geiſtigen Weſens auch dem nicht entziehen, der durch ſittlich religiöſes Leben ſeine Berechtigung auf dieſe Anerken - nung erwieſen hat, mag er auch noch ſo wenig in irgend einem anderen Zweige menſchlicher Ausbildung erreicht haben. Die letz - tere Anforderung iſt nämlich keine nothwendige und gleiche für alle221 Menſchen, ſondern vielfach modificirt, nach unzähligen Abſtufungen in äußeren Bedingungen, in Hemmungen und Begünſtigungen. Sie iſt deshalb keine allgemein gleiche und nothwendige, weil hier gerade umgekehrt die Erkennung der Aufgaben, die Stellung der zu löſenden Fragen, das bei Weitem Schwierigſte iſt und natürlich nur von dem eine richtige Antwort erwartet werden kann, dem die richtig geſtellte Frage vorlag. Insbeſondere gilt dies nun aber für alle naturwiſſen - ſchaftlichen Disciplinen und man könnte mit wenig Uebertreibung ſagen, fragt nur richtig, ſo bleibt die Naturwiſſenſchaft keine Antwort ſchuldig. Ihre Mangelhaftigkeit, ihr verhältnißmäßig noch ſo be - ſchränkter Standpunct liegt nur darin, daß die Fragen ſo ſchwierig richtig zu ſtellen ſind. Es ſammeln ſich Reihen von Thatſachen, die ſichtbar verwandter Natur ſind; wird ihre Menge bedeutend ſo faßt man ſie in ſyſtematiſcher Ordnung zu einer ſogenannten Wiſſenſchaft zuſammen, aber die Forſcher irren ohne Halt und Ziel hierhin, dort - hin, das Material wird angehäuft und dennoch kommt die Wiſſen - ſchaft um keinen Schritt weiter. Da tritt ein mit eminentem Genie begabter Mann oder oft auch nur ein durch den Zufall begünſtigter Glücklicher dazwiſchen und nennt das Räthſel, um deſſen Löſung man ſich ſchon lange gequält, ohne es noch zu kennen und nun plötzlich richtet ſich alle geiſtige Kraft der Forſcher dieſem einen Punct zu, Schlag auf Schlag fallen die Schranken, mit Riefenſchritten geht die Wiſſenſchaft vorwärts bis ſie wieder überall den Ausweg ver - ſchloſſen, überall eine gleiche und undurchdringliche Mauer ſich ent - gegengeſtellt ſieht und nun auf höherer Stufe dieſelbe Entwicklungs - geſchichte aufs Neue durchmachen muß, bis abermals ein neuer Führer an die rechte Stelle klopft, wo die Mauer hohl klingt und dadurch die Möglichkeit eines weitern Fortſchritts verräth. So haben wir auf dem ethiſch-religiöſen Gebiet Aufgaben, aber wir ſuchen die Wiſſenſchaften, die ihre Löſung ſichern; auf der andern Seite, da - gegen haben wir zahlreiche Wiſſenſchaftrn, die ſich aber ſtets im Kreiſe herumdrehen, bis bald dieſer, bald jener von der Vorſehung eine neue Aufgabe genannt und ſie ſo zu einem Fortſchritt befähigt wird.

222

Einen treffenden Beleg für dieſe Anſichten bietet uns zum Bei - ſpiel die Pflanzengeographie dar. Schon in den früheſten Zeiten der Botanik merkte man natürlich bei jeder Pflanze, welche man beſchrieb an, wo ſie zu finden ſey, aber Niemand ahnte noch in dieſen Be - merkungen die Keime einer Wiſſenſchaft. Da machte der geniale Botaniker Tournefort eine Reiſe in die Levante und bei Beſteigung des Ararat fiel es ihm auf, daß mit ſeiner allmäligen Erhebung über der Meeresfläche die Vegetation auch einen weſentlich verſchie - denen Character annahm, und daß dieſe Veränderungen nahebei dem entſprechen, was man beobachtet, wenn man von Kleinaſien nach Lappland reiſt. Hier war ein Räthſel genannt und eifrig ging man an die Löſung. Adanſon, nicht minder ausgezeichnet als Tourne - fort, ſprach es zuerſt aus, daß die Doldenpflanzen innerhalb der Wendekreiſe faſt gar nicht vorkommen und damit war eine Frage hin - geworfen, die abermals ihre Antwort erwartete. Im Jahr 1807 erſchien Humboldts essai sur la geographie des plantes, worin er die beobachteten Eigenthümlichkeiten in der Vertheilung der Ge - wächſe mit den Beſonderheiten des Climas in Verbindung zu bringen ſuchte. Aber erſt 10 Jahre ſpäter, nachdem ſich abermals die Maſſe der Thatſachen gehäuft hatte, ohne daß man etwas weſentlich Neues damit zu beginnen wußte, that abermals Humboldt den letzten Schritt, indem er mit einem genialen Blick die ganze Erde umfaſſend die Pflanzengeographie einer Theorie der Erde einfügte und die Ver - theilung der Pflanzen im Großen wie im Kleinen von der phyſicali - ſchen Beſchaffenheit der Erde abhängig machte. Damit zuerſt war nicht etwa die Wiſſenſchaft vollendet, ſondern erſt begonnen, ſie hatte einen beſtimmten Ausgangspunct erhalten, was aber ihr Endziel ſeyn wird iſt zur Zeit noch ſchwer, wo nicht unmöglich, zu entwickeln. Wenigſtens iſt es ſehr leicht an einigen Beiſpielen nachzuweiſen, daß für die ganze eine Hälfte der Erſcheinungen noch keine Andeutungen vorhanden ſind, woher, aus welchem Kreiſe von Naturgeſetzen der - einſt die Erklärungsgründe für ſie zu entlehnen ſeyn werden.

Dieſſeits der Alpen wachſen keine Orangen. Ueber die223 Breite von Berlin hinauf reift keine Traube mehr. In Schonen und auf der ſüdlichſten Spitze Norwegens erreicht die Buche ihren nördlichſten Standort. Von Biornoe, nörd - lich von Drontheim, zieht ſich eine Linie quer durch Nor - wegen, durch Jämtland und Herjedalen, welche im nörd - lichen Theil von Gefleborg die Oſtküſte von Schweden ſchnei - det und dem Anbau des Weizens nach Norden eine unüberſteig - liche Schranke ſetzt. Höher hinauf bildet die Kiefer die Baumvege - tation, aber wo ſelbſt die genügſame Birke zuletzt nicht mehr gedeiht, da erlaubt noch ein kurzer, aber wenigſtens zuweilen warmer Som - mer die Cultur der raſch wachſenden Gerſte. Für dieſe ganze Reihe von Thatſachen iſt es nicht ſchwer die Erklärungen aufzufinden, ſie ſind durchaus abhängig von klimatiſchen Einflüſſen und ſchon allein eine genaue Unterſuchung der Temperaturverhältniſſe genügt, um von allen dieſen Thatſachen erklärende Rechenſchaft ablegen zu können.

Ganz anders verhält es ſich mit den folgenden Erſcheinungen. Von der Südſpitze von Africa bis zum Nordcap auf Mageroe ziehen ſich durch die ganze alte Welt die Haidepflanzen, nur die eigentli - chen Tropengegenden überſpringend. In gleichen Breiten, bei gleichem Clima, gleichen Bodenverhältniſſen finden wir in ganz America nicht eine einzige ächte Haideart. Andere ihnen verwandte Pflanzen ver - treten ihre Stelle, Pflanzen, die wenigſtens derſelben Familie (den Ericeen) angehören; gehen wir aber nach Auſtralien, ſo finden wir unter entſprechenden Verhältniſſen auch nicht einmal eine Ericee, an deren Stelle eine andere zwar verwandte, aber doch ganz eigen - thümliche Pflanzenfamilie der Epacrideen, auftritt. In einem kleinen Winkel Aſiens wächſt die Theeſtaude und gewiß iſt es nicht der Mangel an entſprechenden climatiſchen Einflüſſen in der ganzen übrigen Welt, der den Thee auf China beſchränkt. Ein ſchmaler Gürtel an den Anden der nördlichen Hälfte von Südamerica wächſt das Geſchlecht der Chinarindenbäume, ſollte die ganze Erde weiter keinen Fleck aufzuweiſen haben, auf welchem gleiche Tempera -224 tur und Bodenverhältniſſe ſich zuſammenfänden? Doch genug, ſchon ein einziges Beiſpiel würde hinreichen, darauf aufmerkſam zu machen, daß es eine Vertheilungsweiſe der Pflanzen auf der Erde giebt, die von den uns bekannten Bedingungen der Vegetation nicht hervor - gerufen, durch dieſelbe nicht erklärt wird. Wir erhalten hier nebeneinander zwei ganz verſchiedene Gruppen von Kenntniſſen, die ſich auf dieſelben Pflanzen beziehen, denn jede zeigt in ihrer Weiſe beide Arten der Verbreitung. Es liegen neben einander eine auflös - liche und eine unauflösliche Aufgabe, die erſtere auflöslich, weil die Frage beſtimmt geſtellt werden konnte und durch A. v. Humboldt geſtellt iſt: nämlich die Abhängigkeit der Verbreitung der Pflanzen von den phyſicaliſchen Verhältniſſen des Erdkörpers, die zweite unauflöslich, weil wir eben keine beſtimmte Aufgabe, deren Löſung ſich die Forſchung zuwenden könnte, aufſtellen[könne]. In der erſten Beziehung können wir daher die ſämmtlichen Thatſachen in einen erklärenden Zuſammenhang bringen, aus dem letzten Geſichtspunct erhalten wir dagegen nichts als ein Aggregat unter ſich unzuſammen - hängender, zur Zeit noch keiner Erklärung fähiger, aber vielleicht eben deshalb um ſo mehr das Intereſſe in Anſpruch nehmender That - ſachen. Es ſey mir erlaubt in beiden Beziehungen das Verhältniß der Pflanzen zur Oberfläche der Erde in einer flüchtigen Skitze zu zeichnen und zum Schluß mit etwas größerer Ausführlichkeit gleich - ſam als ein mehr durchgeführtes Beiſpiel, die Verbreitung der wich - tigern Nahrungs - und Nutzpflanzen auf der Erde zu ſchildern.

Abhängigkeit der Pflanzenvertheilung von phyſicaliſchen Verhältniſſen.

Vom kleinſten, beſchränkteſten Kreiſe müſſen wir hier ausgehen, um uns zuletzt über die ganze Erde auszubreiten. Der kleine Anfang der umfaſſenden Pflanzengeographie iſt die alltägliche Frage: wo wächſt die Pflanze? und jede Botanik handelt mehr oder weniger oberflächlich ein Kapitel von den ſogenannten Standorten, dem Wohnort und Vaterland der Pflanze ab. Schon bei dieſen erſten225 Anfängen der Wiſſenſchaft iſt erſt nach und nach Licht und Ordnung in die Begriffe gekommen und noch wohl iſt Vieles verworren, was erſt Spätere aufklären werden. Zweierlei iſt aber weſentlich zu unter - ſcheiden. Die Haidepflanzen kommen vor auf trocknen, ſonnigen, ſandigen Ebenen, ſie verbreiten ſich vom Cap der guten Hoffnung durch Africa, Europa und das nördliche Aſien, bis an die äußerſten Vegetationsgrenzen in Scandinavien und Sibirien, in dieſem großen Gebiet vertheilen ſich dieſe Pflanzen, ſo daß Südafrica unzäh - lige, verſchiedene Arten hat, von denen aber ſtets nur wenige Indivi - duen neben einander wachſen, daß dann gegen Norden die Zahl der Arten ſich plötzlich bedeutend verringert, dagegen allmälig die Menge der Individuen zunimmt, bis endlich im Norden Europas eine ein - zige Art, die gemeine Haide*)Calluna vulgaris. , in Millionen von Einzelweſen ganze Länder überzieht. Zunächſt ſehen wir leicht, daß nur die erſte Be - ſtimmung, die des Vorkommens nämlich, ſich mit Nothwendig - keit auf jedes Individuum bezieht; daß dagegen der Verbreitungs - bezirk und die Vertheilungsweiſe Momente hervorhebt, welche für das einzelne Individuum gar keine, deſto größere Bedeutung da - gegen für die größeren Pflanzengruppen haben, die wir Art, Ge - ſchlecht, Zunft u. ſ. w. nennen. Hiervon gehört aber nur das erſte, das Vorkommen der Pflanzen ganz, die beiden andern dagegen nur theilweiſe zu den aus phyſicaliſchen Einflüſſen erklärlichen Verhält - niſſen, gleichwohl müſſen wir uns fürs Erſte mehr an jene Ordnung halten, da ſie eine logiſch ſtrenge iſt, die für unberechenbar lange Zeit unverrückbar ſtehen bleiben wird, während natürlich die letzte Anordnung nur für den jedesmaligen Stand der Wiſſenſchaft ihre Gültigkeit hat. Wenn wir nämlich die verſchiedenartigen Einflüſſe überblicken, von denen das Leben und die geſunde Vegetation einer Pflanze nach unſern gegenwärtigen phyſiologiſchen Kenntniſſen ab - hängig iſt, ſo finden wir bald, daß nur eine geringe Anzahl phyſica - liſcher Kräfte bis jetzt in ihrer Wirkung auf den Organismus vonSchleiden, Pflanze. 15226uns durchſchaut wird, daß dagegen eine nicht minder große Anzahl noch zur Zeit durchaus unſern Bemühungen um nähere Kenntniß ihrer Einwirkungen ſpottet, obwohl wir mit Sicherheit behaupten dürfen, daß das Pflanzenleben ſo gut von ihnen wie von den andern abhängig iſt und ſeyn muß. Nur Beiſpielsweiſe will ich hier Licht, Electricität und Luftdruck nennen. Die beiden erſten als beſtändig einwirkend auf jeden chemiſchen Proceß, der letztere für ſämmtliche Vorgänge und Verhältniſſe zwiſchen Gasarten und Dünſten von weſentlicher Bedeutung, müſſen auch das Pflanzenleben, welches in fortlaufenden chemiſchen Verbindungen und Trennungen, in beſtän - digen Aufnahmen und Ausſcheidungen von Dünſten und Gaſen be - ſteht, mächtig afficiren. Das Wie iſt uns aber noch völlig unbekannt, und manche uns zur Zeit noch ganz unbegreiflichen Verhältniſſe in Verbreitung und Vertheilung der Arten mögen über kurz oder lang in dieſen Einflüſſen ihre genügende Erklärung finden.

Wenn wir von den ſchneebedeckten Eisflächen des höchſten Nor - dens, wo nur noch die rothe Schneealge an eine pflanzliche Organiſation erinnert, uns nach Süden wenden, ſo breitet ſich vor uns zunächſt ein Gürtel aus, in welchem Mooſe und Flechten den Boden bedecken und eine eigenthümliche Vegetation niedriger mit unterirdiſchen Stengeln perennirender, meiſt groß - und ſchönblumiger Kräuter, die ſogenannten Alpenpflanzen, der Natur einen eigenthümlichen Character verleihen. Faſt ſämmtliche Pflanzen bilden kleine, flache, vereinzelte Polſter, Pyrola, Andromeda, Pedicularis, Löffelkraut, Mohne, Hahnenfuß und andere ſind characteriſtiſche Gattungen für dieſe Flora, in der kein Baum, kein Strauch gedeiht. Verlaſſen wir dieſe Re - gion, die von den Botanikern das Reich der Mooſe und Saxifra - gen, oder nach einem der Gründer der Pflanzengeographie Wahlen - bergs Reich genannt iſt und gehen mehr nach Süden, ſo zeigen ſich anfänglich kleine niedrige Gebüſche von Birken, dann mehr zuſammen - hängende Wälder, zu denen ſich Kiefern und andere Nadelhölzer hinzugeſellen und wir befinden uns endlich in einem zweiten größeren Vegetationsgürtel, der ſich dadurch characteriſirt, daß alle Wälder der227 Ebene faſt ausſchließlich aus Nadelhölzern gebildet ſind, die daher der Flora einen eigenthümlichen Character aufprägen, Kiefern und Fichten, Zürbeln und Lärchen bilden große und aus - gedehnte Waldmaſſen, an Bächen und auf feuchtem Boden finden ſich Weiden und Erlen ein. Auf dürren Hügeln wächſt die Renn - thierflechte und das isländiſche Moos. In der Preißel - beere, Multebeere*)Rubus Chamaemorus. , Johannisbeere und anderen bietet ſchon freiwillig die Natur, wenn auch ſpärliche Nahrungsmittel und ein reicher Flor bunter Blumen dient zur Verzierung der Zone, die ſich in Scandinavien bis an die ſchon erwähnte Nordgrenze des Weizen - baues, in Rußland und Aſien aber faſt bis Kaſan und Jakutzk erſtreckt. Wir wollen ſie die Zone der Nadelhölzer nennen. Schon in Drontheims Umgebungen fängt wenn auch noch ſpärlich der Obſt - bau an, bald tritt die kraftvolle Eiche auf, mit etwas zu weit getriebener poetiſcher Freiheit, die Deutſche genannt; Schonen, Seeland, Schleswig und Holſtein nähren die prachtvollſten Buchen wälder. Etwa in der Breite von Frankfurt a. M. geſellt ſich noch ein Baum hinzu, der ſich durch ſeine kühne, maleriſche Veräſtelung der Eiche an die Seite ſtellt, die er durch die Pracht ſeines Laubes, ſo wie durch den Nutzen ſeiner Früchte weit übertrifft, die edle Kaſtanie nämlich. Pyrenäen, Alpen und Kaukaſus bilden die Südgrenze dieſer Zone, in welcher mehr nach Oſten die Linde und Ulme in ſo reichlichem Maaße zur Waldbildung beitragen, daß erſtere ſelbſt den Verwüſtun - gen widerſteht, welche die Eſthen zur Anfertigung ihrer Lindenbaſtſchuhe anrichten. In dem Hopfen, Epheu und der Waldrebe finden ſich hier die erſten Repräſentanten tropiſcher Schlingpflanzen ein. Mit dem düſtern Schatten der Wälder wechſelt das lachende Grün der Wieſen und der Menſch hat ſich in Beſitz der Erde geſetzt, die wilde Vegetation bis auf das Nothwendigſte für Holz - und Heube - darf beſchränkend und reiche Saaten lohnen ſeinem Fleiß. Wir ver - laſſen dieſe Zone der ſommergrünen Laubhölzer, um die Felſen -15*228mauer der Alpen zu überſteigen, wodurch eine weiſe Vorſehung den Deutſchen gegen Süden beſchränkt hat, die er vorwitzig überſtieg, um aus dem ſinnlichen und verderbten Süden ſeinem Volke unendliches Elend und Jahrhunderte durch zehrendes Siechthum zu holen. Hier treten plötzlich ganz andere Pflanzenformen auf; an die großen Wälder aus Laubhölzern, deren lederartige, glänzende Blätter den leichten Winter überdauern, um deren mächtige Stämme ſich die Reben und feuerfarbigen Bignonien ſchlingen, ſchließen ſich ähnliche Gebüſche von Myrte, Tinus, Erdbeerbäumen und Piſtacien gebildet. Hin und wieder findet ſich die Zwergpalme ein, Labiaten und kreuzblüthige, und ſchönblühende Ciſtroſen erſetzen im Sommer die Frühlingsflor duftender Hyacinthen und Narciſſen, aber ſelten noch in günſtigſten Lagen erfreut ſich das vom Glanz der immer - grünen Blätter, oder von dem grellen Farbenſpiel nackter, zackiger Ge - birgszüge geblendete Auge des milden Schimmers grünender Wieſen. Dafür hat ſich der Menſch in dieſem Gürtel immergrüner Laubhölzer der Frucht der Hesperiden bemächtigt. Es iſt

das Land wo die Citronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn.

Aber weiter, immer weiter ſtrebt das unerſättliche Geſchlecht der Japetus, keine Sage vom afrikaniſchen Wüſtenſande, keine Todes - nachricht von den vielen kühnen Reiſenden, die ausgingen die Quellen des Nigers zu ſuchen, ſchreckt ihn zurück. An der Weſtküſte Africas, auf den canariſchen Inſeln, findet er zwar nicht mehr den rieſen - mäßigen Hund, nach welchem, wie Plinius berichtet, die Hunds - inſeln benannt ſind, aber Flora beut ihm die reichſten Schätze, welche ſie mit Hülfe der tropiſchen Sonne dem von Meeresdünſten durch - feuchteten Boden zu entlocken vermag. Um Sycomoren ſchlingen ſich mächtige Ciſſusſtämme, Capern und Bauhinien durch - flechten die Gebüſche von balſamreichen Sträuchern gebildet. Schlank erhebt ſich die Dattelpalme und zu rieſigen Holzmaſſen erwächſt der Baobab*)oder Affenbrodbaum, Adansonia digitata. . Die wunderlichen cactusähnlichen Formen229 blattloſer Wolfsmilcharten, durch ihre giftige oder wohlſchmek - kende ſüße Milch ausgezeichnet, verrathen eine eigenthümliche Bil - dungskraft in der Natur und der Drachenbaum in den Gärten von Orotava auf Teneriffa, eine rieſige baumartige Lilienpflanze, erzählt dem ſinnigen Lauſcher die Sagen von vielen Jahrtauſenden.

Sechs Vegetationsgürtel ſind wir ſo durchzogen, in denen die allmä - lig ſteigende Temperatur des Climas eine immer andere, eine üppigere Vegetation hervorrief und wir beſchließen unſere Wanderung, indem wir nach kurzer Raſt unter jenen fünftauſendjährigen Dracänen den Pic von Teyde erſteigen. Am flachen Fuße deſſelben hat der Menſch vom Boden Beſitz genommen und die urſprüngliche Vegeta - tion verdrängt. Durch Weinberge und Maisfelder ſteigen wir aufwärts bis uns die Schatten immergrüner Lorbeern umfangen. Sei - delbaſtarten und ähnliche Pflanzen ſchließen ſich an, wir durchwan - dern eine Zeitlang einen Gürtel immergrüner Laubhölzer. Auf einer Höhe von 4000 Fuß verlieren ſich die Pflanzen, die uns bis dahin begleitet haben. Nur eine geringe Anzahl eigenthümlicher Gewächſe deu - tet uns eine ſchnell durchſchrittne Zone ſommergrüner Laubhöl - zer an, und wir ſind umgeben von den harzigen Stämmen der canari - ſchen Kiefer. Ein Gürtel der Nadelhölzer ſchützt uns gegen die Sonnenſtrahlen bis zu einer Höhe von 6000 Fuß, dann wird die Vege - tation plötzlich niedrig, durch niedriges Gebüſch geht ſie über in eine Flor, welche ganz den Character der Alpenkräuter trägt, bis zuletzt nackter Fels jedem organiſchen Leben eine Schranke ſetzt und nur deshalb kein Schnee und Eis die Spitze des Berges bedeckt, weil ſeine Höhe von 11430 Fuß bei einer dem Wendekreis ſo nahen Lage nicht bis in die Region des ewigen Schnees hinaufreicht. Den weiten Weg von Spitzbergen bis zu den Canaren, eine Ausdehnung von mehr als 50 Breitengraden, haben wir, wenn wir ihn nach den Vegetations - grenzen beurtheilen, hier aufwärts ſteigend in wenigen Stunden zu - rückgemeſſen.

Auf dieſem ganzen Wege, abwärts nach Süden und aufwärts zur Spitze des Teyde, verändert ſich die Vegetation conform mit den230 climatiſchen Verhältniſſen und wir können faſt allein ſchon durch die Zunahme und Abnahme der Wärme für die beobachtete Vertheilung der Gewächſe Rechenſchaft geben. Wenn wir unſere Unterſuchungen weiter ausdehnen, können wir ſogar beſtimmte Pflanzenarten nennen, welche einer beſtimmten nördlichen Breite eigen ſind, aber in niederen Breiten auch regelmäßig in den Gebirgen auf einer beſtimmten Höhe ſich wieder einfinden. Indeß tritt dieſer Fall doch verhältnißmäßig ſelten ein und wir werden zuletzt gezwungen dafür auf andere, weni - ger oder gar nicht gekannte, Einflüſſe zu verweiſen. Wenn wir Ge - genden in den tropiſchen Gebirgen finden, die rückſichtlich der Feuch - tigkeit und Temperatur, ſo wie rückſichtlich der Bodenconſtitution durchaus gewiſſen Gegenden in nördlichen Breiten entſprechen und die dennoch eine dem allgemeinen Character nach zwar ähnliche, den Geſchlechtern und Arten nach aber ſo ganz verſchiedene Vegetation ernähren, ja wenn wir bemerken, daß die Uebereinſtimmung zwiſchen nördlicher Breite, und Erhebung über der Meeresfläche in ſüdlicher Breite ſich durchſchnittlich nur bis zu einer Höhe von etwa 6000 Fuß nachweiſen läßt, ſo werden wir darauf hingewieſen, dem Licht, dem Luftdruck u. ſ. w. einen weſentlichen Einfluß einzuräumen, wenn wir auch nicht im Stande ſind das Wie zu entwickeln.

Am Beſtimmteſten werden wir auf einen ſolchen zukünftigen Ent - wicklungsgang der Wiſſenſchaft hingewieſen, wenn wir die Vergan - genheit derſelben näher ins Auge faſſen und gewahr werden, wie hier die allmälig ſich entwickelnde genauere Kenntniß beſtimmter phyſica - liſcher Verhältniſſe auch die Erklärung vieler Erſcheinungen möglich gemacht hat, die früher ſehr räthſelhaft daſtanden. Am auffallendſten zeigt ſich dies in der Lehre von der Wärmevertheilung auf der Erde. Anfänglich verſuchte man, wie Halley, Euler und Andere, dieſe Vertheilung aus der Stellung der Erde zur Sonne zu berechnen, ein Verfahren was augenblicklich ſehr annehmlich erſcheint, da gegen - wärtig die Sonne, wenn nicht die einzige, doch die weſentlichſte Wärmequelle für die Erde iſt. Aber in welchem ſchreienden Contraſt treten mit den ſo gewonnenen Reſultaten die Erſcheinungen in der231 Wirklichkeit. Natürlich müßte dann die Temperatur regelmäßig mit der wachſenden Breite abnehmen, aber während die ruſſiſche Armee auf ihrem Marſch nach Chiwa unter dem 40. Grad der Breite durch Kälte zu Grunde ging, bleiben auf den Faröern unter dem 62. Breiten - grade die Schaafe während des ganzen Winters auf der Weide. Jede ſolcher Berechnungen hat nämlich nur unter der Vorausſetzung Werth, daß die ganze Erde vollkommen gleichförmig zu beiden Seiten des Aequators in völligen Ebenen mit Subſtanzen bedeckt wäre, die ſich gegen Wärmeſtrahlen völlig gleich verhalten und endlich völlig in Ruhe ſind. Von allen dieſen Bedingungen iſt aber keine einzige auf der Erde verwirklicht. Man wurde alſo auf die unmittelbare Beobach - tung gewieſen. Man fand, daß wenn auch die Wärme in Tages - und Jahreszeiten verſchieden vertheilt iſt, doch derſelbe Ort durch - ſchnittlich jedes Jahr eine gleiche Temperatur habe. Wenn man näm - lich von mehreren täglichen Beobachtungen die mittlere Zahl der Wärmegrade nimmt und dieſe mittleren Zahlen von allen Tagen im Jahre zuſammenſtellt und daraus abermals einen Mittelwerth zieht, ſo weicht der ſo gewonnene Mittelwerth von dem des vorhergehenden oder folgenden Jahres nur um wenige Grade ab. Nimmt man eine größere Anzahl Jahre z. B. 20, ſo erhält man einen Werth, der von dem der vorhergehenden oder nachfolgenden 20 Jahre kaum noch ein Zehntel eines Grades verſchieden iſt. Humboldt kam nun zuerſt auf den ſinnreichen Gedanken, alle Orte auf der Erde, die nach der eben beſchriebenen Beſtimmungsweiſe gleiche mittlere Temperatur haben, durch eine Linie auf der Karte zu verbinden (Iſotherme oder Linie gleicher Wärme), und bald fand man nun, daß ſo ſehr auch dieſe Iſothermen in ihren Biegungen von den Parallelkreiſen abweichen, doch ſich die Vegetationsgrenzen viel näher an ſie ſchmiegen als an dieſe. Noch immer aber blieben viele Räthſel ungelöſt. Drontheim z. B. hat gleiche mittlere Temperatur mit der ſüdlichſten Spitze von Island, die Hebriden, Orkaden und Shettlands Inſeln haben eine um faſt 3 ° höhere mittlere Temperatur. Gleichwohl hat Drontheim noch Obſt - und Weizenbau, während der Weizenbau232 erſt bei Inverneß in Schottland, der Obſtbau noch etwas ſüdlicher beginnt. So wurde man endlich darauf geführt auch die Vertheilung der Wärme innerhalb der Jahreszeiten mit in den Kreis der Unter - ſuchung zu ziehen, da ſich zeigte, das hiervon oft die Vegetation viel weſentlicher beſtimmt wird, als durch die mittlere Temperatur oder die Summe der Wärme, die ſie empfängt. Man berechnete nun auf die angedeutete Weiſe die mittlere Sommer - und Winterwärme und verband ebenfalls die Orte, die ſich in dieſer Beziehung gleich - ſtanden, durch Linien: Iſotheren (Linien gleicher Sommerwärme) und Iſochimenen (Linien gleicher Winterkälte). Nun hat z. B. Drontheim eine mittlere Winterkälte von 4°,8 während die Faröer eine mittlere Wintertemperatur von + 3°,9, die Shettlands Inſeln gar von + 4°,0 haben, aber die mittlere Sommerwärme beträgt in Drontheim + 16°,3, dagegen auf den Faröer nur + 10°,0, auf den Shettlandsinſeln + 11°,9 und dabei reift weder Weizen noch Obſt, obwohl Letzteres eine viel ſtärkere Winterkälte als 4,3 ver - tragen kann. Moscau, welches eine treffliche Vegetation hat, er - trägt eine mittlere Wintertemperatur von 10°,5. Das 15 Brei - tengrade nördlichere Mageroe, ſchon außerhalb aller Pflanzencultur gelegen, hat eine mittlere Temperatur des Winters von 5°,0 die der von Aſtrachan, 10 Breitengrade ſüdlicher als Moscau und wo ſchon Wein und Mais gedeiht, gleich iſt. Die mittlere Sommerwärme von Mageroe iſt aber + 6°,4, von Moscau + 16°,9 und von Aſtrachan + 22°,0 und es iſt ganz beſonders die Wärme, welche während der Vegetationszeit der Pflanzen herrſcht, die ihr Gedeihen beſtimmt. Bei einjährigen Pflanzen oder, man ſollte richtiger ſagen, bei Sommergewächſen verſteht ſich die Sache ohnehin von ſelbſt und die perennirenden Pflanzen treten meiſt im Herbſt in einen Zu - ſtand vegetativer Unthätigkeit, einen wirklichen Winterſchlaf, der ſie ſelbſt große Kältegrade ohne Nachtheil ertragen läßt.

Aber wir ſind durch alle dieſe Unterſuchungen noch lange nicht ans Ziel gekommen, der nächſten Zeit wird es obliegen, auch die Theilung der mittleren Temperatur in Winter - und Sommerwärme,233 noch weiter in die mittlere Temperatur der einzelnen Monate aufzu - löſen, denn die halbjährigen Abſchnitte ſind noch viel zu groß, um eine genauere Vergleichung mit den Vegetationsperioden der Pflanze zuzulaſſen. Sehr wahrſcheinlich wird es auch nicht allein darauf an - kommen, welche Temperatur die Pflanze überhaupt während ihrer Vegetationszeit empfängt, ſondern auch weſentlich darauf, wie dieſe Temperatur auf die Zeit des Keimens, Wachſens, Blühens und Früchtereifens vertheilt iſt. Hier wie überall ſieht der tiefer eindrin - gende Naturforſcher noch unendliche Arbeit vor ſich und nur der un - wiſſende Schwätzer glaubt ſchon etwas zu wiſſen, weil ſein blödes Auge nicht weiter reicht als das Buch, aus welchem er ſo eben müh - ſam ſein Krümchen Weisheit geſammelt.

Schon in frühern Vorträgen ſind wenigſtens die Hauptpuncte berührt, von denen das Leben der Pflanzen, von deren Verſchieden - heit auf der Erde alſo auch die Verſchiedenheit der Vegetation ab - hängt. Das erklärliche Leben der Pflanze iſt Bildung organiſchen Stoffes aus unorganiſchen Verbindungen. Abhängig iſt alſo die Pflanze von der Bodenbeſchaffenheit im weitern Sinne des Wortes, von ihrem Nahrungsvorrath und von Allem was den chemiſchen Pro - ceß der Bildung ſelbſt bedingt, alſo vorzugsweiſe von einer beſtimm - ten Temperatur. Nachdem ich die Temperaturverhältniſſe im Vori - gen berührt, will ich hier noch kurz den Einfluß des Bodens näher betrachten. Man unterſcheidet zwar gewöhnlich ſehr verſchiedene ſo - genannte Standorte der Pflanzen, aber ohne dieſelben eigentlich nach phyſiologiſchen Grundlagen beſtimmt zu haben. Das allgemeine un - entbehrliche Nahrungsmittel der Pflanze und zugleich der Stoff, durch welchen alle übrigen in die Pflanze eingeführt werden, iſt das Waſſer. Ohne Waſſer giebt es keine Vegetation. Dies Element der Alten bietet ſich der Pflanze in drei verſchiedenen Formen dar und danach vor allen Dingen müſſen wir die Standorte der Pflanzen unterſchei - den. Die Orchideen der tropiſchen Wälder laſſen ihre eigenthümlich gebaute Wurzel von dem Aſt, auf dem ſie kleben, in die feuchtwarme Atmoſphäre hineinhängen und ſaugen das Waſſer in Dunſtform234 auf. Nur von tropfbarflüſſigem Waſſer umgeben, oder doch mit den Wurzeln in ſolches eingetaucht, gedeihen unſere Waſſerlilien und die eigentlichſten Sumpfpflanzen. Ganz anders aber verhält es ſich mit der größten Anzahl der Pflanzen, die ihre Nahrung der Erde ent - ziehen müſſen, welche die Feuchtigkeit in einem eigenthümlichen Zu - ſtande aufgeſogen enthält. Fügen wir dieſen drei Claſſen der Luft -, Waſſer - und Erdpflanzen noch eine dritte hinzu, nämlich die ächten Paraſiten, welche wie unſere Flachsſeide ihre ſchon organiſirte Nahrung aus andern Pflanzen ſaugen, ſo haben wir die Hauptein - theilung für die Standorte gewonnen. Hieran erſt ſchließen ſich die Unterabtheilungen, die ſich nach den Stoffen beſtimmen, welche das Waſſer aufgelöſt enthält und ſo den Pflanzen zuführt. Daß unter dieſen Kohlenſäure und Ammoniakſalze ſich überall befinden müſſen, wo Vegetation möglich ſein ſoll, habe ich ſchon früher erörtert. Viel - leicht aber macht auch hier ſchon das Mehr oder Weniger beider Be - ſtandtheile und ihr Verhältniß zu einander einen Unterſchied, den wir noch nicht zu würdigen im Stande ſind. Deutlicher ſind uns die Be - ziehungen der unorganiſchen Beſtandtheile, der vom Waſſer aufge - löſten Salze, zur Pflanze. Die Wiſſenſchaft hat gerade in dieſer Be - ziehung mannigfach in den entgegengeſetzteſten Richtungen geirrt. Noch im Anfang dieſes Jahrhunderts gab es Männer, welche be - haupteten die Pflanzen könnten aus Luft und deſtillirtem Waſſer alle ihre organiſchen und unorganiſchen Beſtandtheile ſelbſt bilden. Ober - flächliche Experimente, die noch dazu von urtheilsloſen Akademikern gekrönt wurden, phantaſtiſches Geſchwätz ſtatt logiſcher Gedanken - ſchärfe ließen ſolche ſchiefen Anſichten bei einem Theil der Forſcher für eine zeitlang Geltung erlangen. Später irrte man in das ent - gegengeſetzte Extrem, indem man jeder geognoſtiſchen Formation eine eigne Flora zuzuſchreiben geneigt war und dieſer letzte Irrthum ſpukt noch jetzt in den landwirthſchaftlichen Lehren, die Güte und Gehalt des Bodens nach den darauf wachſenden Pflanzen beſtimmen wollen.

Das Richtige liegt hier zwiſchen beiden Extremen. Ich habe früher Gelegenheit gehabt auszuführen, wie die Pflanzen ſehr ver -235 ſchiedene Mengen und Arten von unorganiſchen Stoffen zu ihrer Vegetation in Anſpruch nehmen. Wenn wir finden, daß die Aſchen der Lucerne, des Tabaks, des Klee's über 60 Procent Kalk und Talkſalze enthalten, ſo kann es uns unmöglich Wunder nehmen, wenn wir dieſelben auf einem reinen Sandboden, der kaum Spuren von Kalk enthält, nicht antreffen, aber falſch iſt es, daraus zu ſchließen, daß gerade der Muſchelkalk, oder der Keuperkalk, oder der Jurakalk, oder irgend eine andere Kalkſchicht einer beſtimmten Formation gerade der eigentliche Boden für dieſe Pflanzen wäre. Daß eine Pflanze wie der große Zuckertang*)Laminaria saccharina. , der ſo reich iſt an Natron, Jod und Brom nur im Meere nicht im ſüßen Waſſer ſich findet, wo ihm Natron höchſt ſpärlich, Jod und Brom gar nicht zu - gemeſſen ſind, iſt wohl leicht begreiflich. Gleichwohl giebt es doch, wenn wir den Boden im Großen nach den geognoſtiſchen Grundlagen beurtheilen wollen, nur ſehr wenig Pflanzen, welche für gewiſſe Bodenbeſtandtheile characteriſtiſch ſind und zwar iſt auch dies Ver - hältniß wieder ſehr natürlich und nothwendig. Nahebei kann man behaupten, daß alle Pflanzen in ihrer Aſche dieſelben Beſtandtheile enthalten, aber in ſehrverſchiedenen Verhältniſſen. Auf einem Boden, der daher ganz rein aus einer Erdart, z. B. Kalk, Kieſel, Gyps beſtände, würde alſo gar keine Pflanze gedeihen können. Jeder Boden der Pflanzen trägt, enthält auch alle von allen Pflanzen ge - forderten Stoffe in ſeiner Miſchung, nur ſind die Verhältniſſe ver - ſchieden und das Vorwalten von Kieſelerde, Kalkerde, Kochſalz muß auch vorzugsweiſe das Wachsthum der Grasgewächſe, der Hülſen - pflanzen, der Strandpflanzen begünſtigen, obwohl dieſelben keines - wegs ausſchließlich auf den eigentlichen Sandboden, Kalkboden, oder auf den Strand beſchränkt ſind. Ich wüßte in dieſer Beziehung wahrlich keine andern Pflanzen als kohlenſaure Kalk -, Gyps - und Salzpflanzen als wirklich zu rechtfertigende Benennungen hinzuſtellen.

Es kommt zu dieſem chemiſchen Verhältniß aber noch ein236 anderes, welches das erſte modificirt und da wo es dieſelben Wir - kungen hervorbringt, dazu beiträgt, gewiſſe Pflanzen deſto feſter aus - ſchließlich an gewiſſe Bodenarten zu feſſeln, im entgegengeſetzten Fall auch dazu beiträgt den Zuſammenhang zwiſchen Pflanzen und chemi - ſchem Gehalt des Bodens zu verdecken oder zu verwiſchen. Es iſt dieſes der mechaniſche Zuſammenhang und die phyſicaliſchen Eigen - ſchaften des Bodens. So giebt es Pflanzen, die nur auf den unzer - kleinerten Felſen ſich anſiedeln, die dann, wenn die übrigen Bedingun - gen ſich dazu finden, von den Felſen auf unſere Mauern überſpringen wie die Mauerraute*)Asplenium Ruta muraria. , ein kleines Farnkraut, das von ſeinem Standort den Namen führt. Andere finden ſich nur da wo die Ver - witterung das derbe Geſtein zu kleinen Brocken zertheilt hat, Geröll - pflanzen, die dann dem Menſchen ſich anſchmiegend die ihrem natür - lichen Standort ähnlichen Schutthaufen wählen; unſere große Neſſel und das Bilſenkraut mögen als Beiſpiele dienen. Endlich andere Pflanzen wachſen nur in dem völlig zu feinen Pulver aufgelöſten Gebirge, im Sande oder in dem noch feinkörnigeren durch chemiſche Zerſetzung entſtandenen Thon. Die ſogenannte deutſche Saſſapa - rille, das Sandrietgras, iſt ein Beiſpiel für das erſte Ver - hältniß, dem nicht wohl ein beſtimmtes Verhältniß in der Nähe menſchlicher Wohnungen entſpricht. Dem Thone dagegen ſtellt ſich die aus Zerſtörung organiſcher Stoffe hervorgegangene ſchwarze Sub - ſtanz, der Humus, an die Seite. Beide reich an auflöslichen der Vege - tation wichtigen Salzen, beide ausgezeichnet in Rückſicht auf ihre Eigenſchaft, Gaſe und Waſſerdünſte aus der Atmoſphäre aufzu - ſaugen und ſo den Pflanzenwurzeln zuzuführen, bedingen einzeln oder in Verbindung miteinander die üppigſte Vegetation. Wir erhalten ſo eigentlich drei Stufen, hinſichtlich der Bodenbeſchaffenheit: reine Erdarten als völlig vegetationsleer, gemiſchte Erden ohne Thon und Humus mit zwar dürftiger aber characteriſtiſcher Vegetation und endlich thon - und humusreicher Boden mit der größten Fülle und237 Mannigfaltigkeit der Pflanzen. Selbſt im Norden fällt auch dem Laienauge der größere Reichthum und die kräftigere Entwicklung des Pflanzenreichs auf thonreichem Baſalt - oder Porphyrboden auf und reiner Quarzſand iſt ſelbſt unter der tropiſchen Sonne eine Wüſte, wenn ihm nicht Waſſer und darin fremde Stoffe zugeführt werden.

Vertheilung der Pf[l]anzen auf der Erde ohne nachweisbare Abhängigkeit von phyſi - caliſchen Bedingungen.

In den einleitenden Erzählungen zu gegenwärtigem Aufſatze habe ich ſchon bemerkt, daß Auſtralien eine ſehr gemeine Pflanze, das ſoge - nannte Gänſeblümchen, mit Europa gemein habe. Daſſelbe kleine Pflänzchen findet ſich in Nordaſien, in einigen Gegenden Africas und Südamericas und wo es vorkommt ſteigt es an den Bergen von dem Niveau des Meeres bis zur Schneegrenze hinauf. Das kleine Hexenkraut, die zarte Linnaea, das Bitterſüß, der Vogel - knöterich, die blaue Gentiane, die Zwergbirke und die kraut - artige Weide*)Circaea alpina, Linnaea borealis, Solanum dulcamara, Polygonum avi culare, Gentiana Pneumonanthe, Betula nana, Salix herbacea. und mehrere Andere ſind zugleich in Europa und Nordamerica einheimiſch. Der gemeine Braunheil, die Waſſer - linſe und unſer Schilf**)Prunella vulgaris, Lemna minor, Phragmites communis. wachſen auch in Neuholland. Das Torf - moos***)Sphagnum palustre. bedeckt ſo gut die Moore Peru's und Neu-Granada's als die des Harzes und des Dovrefjeld in Norwegen. Die bräun - liche Schorfflechte†)Parmelia subfusca. , welche alle unſere Mauern, Planken und alten Bäume überzieht, findet ſich nicht minder auf den Felſen des erſt 90 Jahre alten Yorullo in Mexico. Das bläuliche Borſten - gras††)Setaria glauca. , welches bei uns auf Sandboden das gemeinſte Garten - und Ackerunkraut iſt, wächſt ebenſo im Innern Braſiliens auf paſſen - dem Boden. Eine characteriſtiſche Pflanze unſers Strandes und der Umgebung der Salzquellen, die Ruppia†††)Ruppia maritima. , wächſt zugleich an der238 norddeutſchen Küſte, in Braſilien und Oſtindien. Doch wozu die Bei - ſpiele häufen, da dieſe ſchon hinreichen zu zeigen, daß die Anſicht einige Stütze in der Beobachtung findet, welche annimmt, daß jede Pflanze auch da auf der Erde ſich finden müſſe, wo die uns be - kannten Bedingungen ihrer Vegetation vorhanden ſind. Aber eben deshalb habe ich jene drei Scenen gleich an den Eingang meiner Mittheilungen geſtellt, um von vornherein darauf aufmerkſam zu machen, daß gerade die eben erwähnten Fälle, die uns auf den erſten Anblick eine natürliche und nothwendige Folge der Pflanzenorgani - ſation zu ſeyn ſcheinen, geradezu nur als ſeltene Ausnahmen vorkom - men. Schon das kleine Gänſeblümchen zeigt einen gewiſſen Eigen - ſinn. Es fehlt in ganz Nordamerica und was wir auf unſern Wieſen als unbedeutendes Unkraut zertreten, wird dort mit der zärtlichſten Sorgfalt in den botaniſchen Gärten erzogen. Gehen wir die Vege - tation verſchiedener Länder durch, ſo ſehen wir, daß die für unſere jetzigen Kenntniſſe gleich erſcheinenden Bedingungen zwar ähnliche aber keineswegs gleiche Pflanzenformen hervorrufen. Den Pflanzen einer beſtimmten nördlichen Breite entſprechen auf der analogen Höhe der ſüdlicher gelegenen Alpen andere Arten deſſelben Geſchlech - tes, oder andere Geſchlechter derſelben Pflanzenfamilie, oder die Pflanzen Americas werden auf gleicher Breite in der alten Welt durch andere aber in ihrer Entwicklung nahe verwandte Pflanzen vertreten. Ja ſelbſt Pflanzen, die ganz und gar verſchiedenen Familien ange - hören, nehmen wenigſtens in ihrer äußeren Erſcheinungsweiſe ähn - liche Geſtalten an. So entſprechen den Cacteen der neuen Welt die blattloſen fleiſchigen Wolfsmilcharten des heißen Africas.

Wenn wir auch ahnen, daß eine größere Mannigfaltigkeit der Vegetationsbedingungen der Grund iſt, weshalb die Mannigfaltigkeit der Vegetation, die Zahl der Pflanzenarten von den Polen nach dem Aequator hin ſtetig zunimmt und eben deshalb die Zahl der geſellig wachſenden Pflanzen, der Arten, welche in zahlloſen Exemplaren große Strecken überziehen, in eben demſelben Maaße abnimmt, ſo ſind wir doch weit davon entfernt uns darüber wiſſenſchaftlich Rechen -239 ſchaft ablegen zu können. Ganz Reſultat launenhafter Willkühr muß es uns aber erſcheinen, warum einzelne Pflanzen weit auf der Erde verbreitet ſind, während andere auf die kleinſten Flecke einge - ſchränkt leben müſſen, wie z. B. die ausſchließlich auf den Kärnthner Alpen vorkommende Wulfenie; warum einzelne Familien, wie die Compoſiten, über die ganze Erdevertheilt gedeihen, während andere, wie die Pfefferarten, die Palmen, nur zwiſchen ſehr beſtimmten Breitegraden zu beiden Seiten des Aequators, die Proteaceen nur auf der ſüdlichen Halbkugel, die Cactuspfanzen nur auf der weſt - lichen Hälfte der Erde ſich finden. Eben ſo wenig erklärlich iſt uns die Vertheilungs weiſe der Pflanzenfamilien. Während die Palmen - arten vom Aequator gegen die höheren Breiten abnehmen, erreichen die Compoſiten gerade in der mittleren Temperaturzone ihre höchſte Entwicklung, ihre Artenzahl nimmt von da nach beiden Seiten, ſo - wohl nach dem Aequator als nach den Polen zu, ab, während die Gräſer endlich ſtetig vom[Aequator] nach den Polen hin zunehmen.

Hier iſt aber noch eine eigenthümliche Betrachtungsweiſe her - vorzuheben, nach welcher man die Vertheilung der Familien zu beur - theilen pflegt.

Die Rietgräſer z. B. treten in der Flora von Frankreich mit 134 Arten auf, in der Flora von Lappland dagegen nur mit 55 Arten. Frankreich iſt alſo ohne Frage abſolut reicher an Arten als Lappland. Anders aber ſtellt ſich die Sache, wenn wir dieſe Pflanzen im Ver - hältniß zur ganzen Vegetation beider Länder betrachten und wenn es uns darauf ankommt, eben das Characteriſtiſche der Vegetationsge - biete aufzufaſſen, ſo dürfen wir nur dieſe Betrachtungsweiſe gelten laſſen. Frankreich beſitzt im Ganzen etwa fünftehalb Tauſend phane - rogame Pflanzen und davon machen die Rietgräſer nur 1 / 27 aus; Lapplands Phanerogamen dagegen beſchränken ſich auf etwa 500 Arten und darunter iſt 1 / 9 Rietgräſer. Die letztern ſind daher ein viel weſentlicherer Theil der Lappländiſchen Flora als der Franzöſiſchen, jene hat relativ eine größere Anzahl Arten als dieſe. Nur dieſes iſt es was man unter Zunehmen der Arten, in einer beſtimmten Richtung, verſteht.

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Durch dieſe uns unerklärliche Vertheilungsweiſe der Pflanzen nach Arten, Geſchlechtern, Familien, Ordnungen und Claſſen ent - ſtehen nun gewiſſe eigenthümliche Gebiete auf der Erde, welche ſich durch das Vorherrſchen gewiſſer Pflanzenformen oder das ausſchließ - liche Vorkommen beſonderer Familien characteriſiren. Man hat dieſe Theile der Erdoberfläche, deren man bis jetzt etwa 25 zählt, pflan - zengeographiſche Reiche genannt und ihnen die Namen der Männer beigelegt, welche ſich vorzugsweiſe um die Erforſchung dieſer Gegen - den berühmt gemacht haben.

Schon früher habe ich des Reichs der Saxifragen und Mooſe, oder des Wahlenberg'ſchen Reiches gedacht, welches ſich vom ewigen Schnee der Pole oder der Berggipfel bis an die Baumgrenze erſtreckt und ſich eben durch das gänzliche Fehlen der baumartigen Pflanzen und ſelbſt der höheren Büſche auszeichnet. An dieſes ſchließt ſich das große Lin - né'ſche Reich, Nordeuropa und Nordaſien umfaſſend, bis an die gro - ßen Gebirgsketten, welche ſich von den Pyrenäen bis zu den Alpen fort - ziehen. Wälder von Nadelhölzern oder von ſommergrünen Bäu - men, üppige Wieſen und weite Haiden, in Aſien die eigenthümlichen Salzſteppen beſtimmen vorzugsweiſe die Eigenthümlichkeiten die - ſes Gebiets, welches aber wenigſtens in ſeinem europäiſchen Theile ſchon zu ſehr von der Cultur in Beſitz genommen iſt, um noch ſeine natürliche Phyſiognomie zur Schau zu tragen. Das weite Becken von den Alpen bis zum Atlas, deſſen tiefſte Stelle das Mittelländiſche Meer erfüllt, bildet ein drittes Reich, durch den Reichthum an ge - würzigen Lippenblumen, ſchönen aber ſchnellvergehenden Lilien - pflanzen, und durch die harzreichen Ciſtroſen ausgezeichnet. Die ein - zelnen Zwergpalmen und Balſambäume deuten in dieſem Reiche Decandolle's auf einen Uebergang zu tropiſchen Regionen. Den letztgenannten beiden Reichen parallell theilt ſich Nordamerica in ein nördlicheres Michaux zu Ehren benanntes Reich, durch eigenthümliche Nadelhölzer, Eichen und Wallnüſſe, durch zahlloſe Aſtern und Goldruthen von dem Linnéſchen Reich unterſchieden, und in das ſüdlichere Reich Pursh's, in welchem beſonders die Bäume mit breiten241 glänzenden Blättern und großen prachtvollen Blumen wie der Tul - penbaum, die Magnolie und andere den Character beſtimmend hervortreten. Zwiſchen dem China und Japan umfaſſenden Reiche Kämpfer's, dem Wallich'ſchen Reiche im Hochlande von In - dien und dem durch ſeinen Giftbaum und ſeine Rieſenblume berühm - ten polyneſiſchen oder Inſelreiche Reinwardt's liegt Roxburgh's Reich, welches in beiden indiſchen Halbinſeln ſich ausbreitet und im Schatten der rieſigen Feigenbäume die prachtvollen Scitamineen od. Gewürzlilien, wie Ingwer, Cardamomen und Gelbwurz birgt oder in kleinen Wäldern die gewürzigen Rinden des Zimmts und der Caſſie, in dicken unförmlichen Stämmen das Stärkemehl des Sagos zeitigt. Wir überſpringen das Reich Blume's in den Gebirgen Javas, das Reich Chamiſſo's oder den Archipel der Südſee und das Reich Forſter's auf Neuſeeland, und wenden uns wieder nach Africa, wo die Wüſte, das Reich Delile's, in den Oaſen die Dattel reift und in den zartblättrigen Acacien die Mengen des arabiſchen und Senegalgummi's kocht, welche der Handel unſerem Kunſtfleiß zuführt. Hieran ſchließt ſich nach Oſten das Reich der Bal - ſambäume von Forskael beherrſcht, nach Süden das Reich Adan - ſon's, deſſen Characterpflanze ebenfalls den Namen jenes genialen Botanikers verewigt, die tauſendjährigen Rieſenſtämme der Adan - sonia digitata (oder Baobab). Das dürftig gekannte Africa bietet uns nur noch in ſeiner Südſpitze das Reich Thunberg's mit Sta - pelien, Meſembryanthemen, bunter Haide und übelriechenden Buccoſträuchern bedeckt, aber arm an Wäldern. Neuholland und Van Diemens Land tragen den Namen ihres erſten und gründlichſten botaniſchen Erforſchers Rob. Brown's und das mittlere und ſüdliche America vertheilt ſeinen Pflanzenreichthum noch in acht Reiche, welche Jacquin, Bonpland, Humboldt, Ruiz und Pavon, Swartz, Martius, St. Hilaire und d'Urville gewidmet ſind, unter denen das Jacquinſche Reich durch ſeine ſeltſamen Cacteen, das Reich Humboldt's auf den Höhen der ſüdamerica - niſchen Anden durch ſeine Chinawälder, und Martius 'Reich imSchleiden, Pflanze. 16242Innern Braſiliens durch ſeinen Reichthum an Palmen, durch die Menge der Schlingpflanzen und Schmarotzergewächſe ausgezeichnet ſind.

Dieſe wenigen Züge mögen genügen, nicht ein Bild der Erden - flora zu entwerfen, denn das erforderte die Kenntniß eines Rob. Brown, die Feder eines Humboldt, ſondern nur anzudeuten, welch 'ein Reichthum hier verborgen liegt, den nur zum Theil der Fleiß und Geiſt der ausgezeichneten Forſcher uns bis jetzt hat zu - gänglich machen können. Ich wende mich jetzt zum letzten Abſchnitt meiner Aufgabe, zu einer

Skitze der Verbreitung der wichtigſten Nahrungs - pflanzen auf der Erde.

Es giebt wohl kein Reich unter den im Vorigen Genannten, welches nicht einige ſeiner Bürger zur Verzierung unſerer Luſtanlagen oder zum Dienſt der Wiſſenſchaft in unſern botaniſchen Gärten hätte hergeben müſſen und wenn wir auch die aus den eigentlich tropiſchen Reichen von Martius, Jacquin, Adanſon, Reinwardt und Roxburgh entlehnten Pflanzen durch künſtliche Wärme entweder überwintern oder auch ſelbſt im Sommer gegen die Ungunſt des Climas ſchützen müſſen, ſo bleiben doch immer eine große Anzahl Pflanzen aus allen Theilen der Erde und aus den Tropen wenigſtens die Gebirgspflanzen übrig, welche von uns in freier Luft angebaut den Satz zu erhärten ſcheinen, daß auch in dieſer Beziehung der Menſch Herr der Schöpfung iſt und daß er, wie auch die Natur die Pflanzen - decke auf der Erde angeordnet haben möge, die Macht habe, dieſe Anordnung nach ſeinem Gefallen und beſonders zu ſeinem Nutzen abzuändern. Dem iſt aber nicht ſo und die ganze zu Grunde gelegte Thatſache nur illuſoriſch, wenn wir nicht auf die kleinen Erdfleckchen eines botaniſchen Gartens, ſondern auf die Culturen im Großen ſehen wollen, die doch allein von Bedeutung ſind. Hier erſcheint der Menſch wieder als ein ohnmächtiges Geſchöpf, ſeine Thätigkeit mit Ackern und Düngen als eine unbedeutende Beihülfe zum Gedeihen der Cultur -243 pflanzen, denen die climatiſchen Verſchiedenheiten ebenſo beſtimmte Ausdehnungsbezirke vorzeichnen wie der wilden Flora und welche die Gunſt oder Ungunſt einer Jahreswitterung zur üppigen Entwicklung bringt, oder vernichtet.

Auf der ganzen Erde hat der Menſch, um ſeinem Nahrungsbe - dürfniß zu entſprechen, ſich faſt nur Sommergewächſe, d. h. ſolche Pflanzen ausgewählt, die ihre geſammte Vegetation, oder doch die Entwicklung der die Nahrungsſtoffe enthaltenden Theile, innerhalb weniger Monate vollenden. Dadurch hat er ſich in den halb tropi - ſchen Gegenden von der Ungunſt der dürren Jahreszeit, in den höheren Breiten von dem ſtörenden Einfluß der Kälte unabhängig gemacht und ſo die Möglichkeit ſich geſichert, Pflanzen anbauen zu können, die dort der Dürre des Sommers, oder hier der Kälte des Winters erliegen müßten. Scheiden wir die mehr der Annehmlichkeit als der Nothwendigkeit dienenden Obſtarten aus, ſo bleiben uns unter den eigentlichen Nahrungspflanzen nur noch 3 baumartige Gewächſe auf der ganzen Erde übrig, nämlich die Brodfrucht, die Cocosnuß, die Dattel, welche wirklich für eine größere Menſchenmenge und auf einem größeren Areal das Hauptnahrungsmittel liefern und des - halb Gegenſtand der Cultur geworden ſind, und höchſtens kann man vielleicht für einen ſehr beſchränkten Kreis in Oſtindien noch die Cy - cadeen und Sagupalmen eben ihres ſtärkemehlreichen Markes wegen hinzurechnen. Alle andern Nahrungspflanzen ſind ſolche, die entweder einen unter der Erde fortvegetirenden, gewöhnlich knol - lenförmigen Stamm beſitzen, der nur wenige Monate dauernde Triebe über den Boden hervortreibt, an denen ſich Blüthen entwickeln und Früchte reifen, während er in der übrigen Zeit gleichſam ſchlafend unter der ſchützenden Erddecke der Ungunſt des Climas trotzt, oder ſolche, die am Ende einer kurzen Vegetationsperiode ganz abſterben und nur im ſchlummernden Keim des Saamens die zukünftige Wie - dererzeugung ſichern. Zu den erſtern gehören z. B. die den Cordil - leren Chili's, Peru's und Mexico's entlehnte Kartoffel, zu den andern faſt alle unſere Getreidearten.

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Nur eine Pflanze zeichnet ſich unter den Culturpflanzen noch durch eine beſondere Vegetationsweiſe aus, eine Pflanze die vielleicht das erſte Geſchenk der Natur an den erwachenden Menſchen und ſo - mit der Gegenſtand der allerälteſten Cultur iſt, ich meine die Ba - nane*)Musa sapientum. . Und nicht nur die erſte, auch die werthvollſte Gabe der Natur iſt dieſe Pflanze, deren ſchwacharomatiſche, ſüße und nahrhafte Früchte dem größten Theil der Bewohner der heißern Landſtriche die Einzige oder doch die vornehmſte Nahrung ſind. Ein unter der Erde fortkriechender Wurzelſtock treibt aus ſeitlichen Augen einen 15 20 Fuß langen Schaft in die Höhe, der nur aus den überein - andergerollten, ſcheidenförmigen Blattſtielen beſteht, welche die oft 10 Fuß langen und 2 Fuß breiten ſammetartig glänzenden Blätter tragen; nur die Mittelrippe des Blattes iſt derb und dick, die Blatt - fläche zu beiden Seiten aber ſo zart, daß ſie vom Winde leicht zerriſ - ſen wird, wodurch das Blatt ein eigenthümlich gefiedertes Anſehn erhält**)S. das Titelblatt rechts unter der Cocospalme.. Zwiſchen den Blättern hervor drängt ſich der reiche Blü - thenbüſchel, der ſchon drei Monate nachdem der Trieb ſich erhoben 150 bis 180 reife Früchte, etwa von der Größe und Form einer Gurke, gebildet hat. Die Früchte zuſammen wiegen etwa 70 80 Pfd. und derſelbe Raum, welcher im Stande iſt 1000 Pfd. Kartoffeln zu tragen, bringt in bedeutend kürzerer Zeit 44,000 Pfd. Bananen hervor, und wenn wir den Nahrungsſtoff ſelbſt in Rechnung bringen, den dieſe Frucht enthält, ſo kann eine Fläche, die mit Weizen beſtellt einen Menſchen ernährt, mit Bananen bepflanzt, fünf und zwanzigen ihren Unterhalt gewähren. Nichts fällt einem Europäer, der in der heißen Zone landet, anfänglich ſo ſehr auf als das winzige Fleckchen Culturland um eine Hütte, die eine höchſt zahlreiche Indianerfamilie birgt.

Erſt bei Weitem ſpäter lernte der Menſch die Gaben der Ceres kennen und anbauen. Jetzt muß es uns in der That überraſchen zu ſehen, daß bei Weitem dem größten Theile aller Menſchen nur245 wenige Arten einer einzigen Pflanzenfamilie den hauptſächlichſten Nahrungsſtoff liefern, nämlich die ſogenannten Getreidepflanzen oder Cerealien aus der Familie der Gräſer. Die Familie um - faßt nahe an 4000 Arten und von dieſen werden noch nicht 20 zur Nahrung für den Menſchen cultivirt. Dieſe Culturgräſer ſind ihrer Natur nach zwar ſämmtlich Sommergewächſe, aber von einigen der wichtigſten hat ſich der Menſch eigne Abarten gezogen, die in dem dazu geeigneten Clima im Herbſt geſäet keinen und dann unter der wär - menden Decke des Schnees überwintern, ſo daß ſie im Frühling ſchon kräftig fortwachſen können, während noch für die übrigen Sommer - gewächſe der Boden zur Aufnahme des Saamens vorbereitet wird. Mit Berückſichtigung dieſer Ausnahme kann man ſagen, daß das Gedeihen ſämmtlicher Cerealien von der Temperatur des Sommers oder der Vegetationszeit abhängig iſt, und wenn wir ihre Verbrei - tung auf der Erde uns verſinnlichen, ſo zeigen ſie uns Gürtel, welche nicht ſo ſehr wie manche andere Vegetationsverhältniſſe von dem Ver - lauf der Iſotheren abweichen.

Es laſſen ſich aber die Temperaturverhältniſſe, unter denen die Getreidearten vegetiren, noch vielleicht genauer entwickeln als durch die Angabe der Iſotheren möglich iſt. In Aegypten, an den Ufern des Nils, ſäet man die Gerſte Ende November und erndtet Ende Februar, die Vegetationszeit beträgt alſo 90 Tage und die mittlere Temperatur dieſer Zeit iſt 21°,0. In Tuquerés nahe bei Cumbal unter dem Aequator iſt die Beſtellzeit auf den Gebirgen für die Gerſte etwa am 1. Juny, die Zeit der Erndte Mitte November, die mittlere Temperatur dieſer Vegetationszeit von 168 Tagen iſt 10°,7. Zu Sta. de Bogota zählt man zwiſchen Ausſaat und Erndte 122 Tage mit einer mittlern Temperatur von 14°,7. Wenn man nun die An - zahl der Tage mit der Zahl der mittleren Temperatur multiplicirt ſo erhält man für Aegypten 1890, für Tuquerés 1798, für Sta. Fé 1793, alſo ſo nahebei dieſelbe Zahl als es die Unſicherheit in der Beſtimmung der Tage, der genaueren mittleren Temperatur und die Ungewißheit ob überall dieſelbe Gerſtenart gebaut wird, nur246 irgend erwarten laſſen. Aehnliche Reſultate erhält man beim Weizen, Mais, der Kartoffel und andern Culturpflanzen. Wir können die - ſes Reſultat ſo ausſprechen: jede Culturpflanze bedarf zu ihrer Ent - wicklung einer gewiſſen Quantität Wärme, es iſt aber gleichgültig ob dieſe Wärme auf einen längern oder kürzeren Zeitraum vertheilt wird, ſobald nur gewiſſe Grenzen nicht überſchritten werden; denn wo die mittlere Temperatur unter ſinkt, wo ſie ſich über 22° erhebt, da reift keine Gerſte mehr. Wir müſſen alſo, um genau die Temperatur - verhältniſſe, die eine Pflanze zu ihrem Gedeihen fordert, zu beſtim - men, angeben innerhalb welcher Grenzen ihre Vegetationszeit ſchwan - ken kann und welche Quantität der Wärme ſie bedarf. Auf dieſes höchſt merkwürdige Verhältniß iſt zuerſt von Bouſſingault aufmerk - ſam gemacht, aber leider beſitzen wir noch nicht genügend genaue Anga - ben über die Culturverhältniſſe in den verſchiedenen Gegenden der Erde, um dieſe geiſtreiche Anſicht bis in alle Einzelheiten verfolgen zu können.

Ich habe in Vorigem deshalb die Gerſte als Beiſpiel ge - wählt, weil ſie von allen Cerealien den größten Verbreitungsbezirk hat und von den äußerſten Grenzen der Cultur in Lappland bis auf die Höhen unmittelbar unter dem Aequator angebaut wird. Aber keineswegs hat ſie überall dieſelbe Bedeutung wie in den nördlichſten Gegenden, wo ſie in einem kleinen ſchmalen Gürtel als alleiniges Brodkorn auftritt, und nur in der letzten Beziehung ſoll im Folgenden die Verbreitung der wichtigern Cerealien betrachtet werden. Schon in Lappland und im nördlichen Aſien tritt ſehr bald neben ihr der Roggen auf, von der Ungunſt des Climas aber noch auf glückliche Jahre beſchränkt nnd daher nicht als die eigentliche Hauptnahrung anzuſehn. Erſt in Norwegen, Schweden, Finnland und Rußland wird der Roggen das eigentliche Brodkorn, dem dann im nördlichen Eng - land und Deutſchland der Weizen eben ſo an die Seite tritt als früher der Roggen der Gerſte ſich anſchloß. In der Mitte von Deutſchland, im ſüdlichen England, in Frankreich und in einem weiten Bezirk nach Oſten, das ganze caspiſche Meer umfaſſend, wird dann Weizen die herrſchende Culturpflanze, der ſich erſt am Becken des Mittelmeeres,247 ſo wie in ganz Nordamerica der Mais zugeſellt. Die Stelle des letztern vertritt in Aegypten und im nördlichen Indien der Reis, der ſelbſt dann wiederum auf beiden indiſchen Halbinſeln, in China, Japan und auf dem oſtindiſchen Inſellande zur Alleinherrſchaft ge - langt, die er auf der Weſtküſte Africas mit dem Mais theilen muß, der dagegen im größten Theil des tropiſchen Americas die ausſchließ - liche Culturpflanze iſt, wenn wir einige minderbedeutende Ausnahmen abrechnen. Im ſüdlichen America, Africa und Auſtralien tritt bei der wiederabnehmenden Temperatur auch der Weizen wieder in ſeine Rechte ein. Von bei Weitem untergeordneter Bedeutung iſt die Cultur des Tef*)Poa abyssinica. und Tocuſſo**)Eleusine Tocusso. in Abyſſinien, der Hirſe***)Sorghum vulgare u. a. in Weſtafrica und Arabien, ſo wie der Eleuſine†)Eleusine coracana et stricta. und Hirſe††)Panicum frumentaceum. in Oſtindien.

Einen bei Weitem weſentlicheren Antheil als die eben genannten Gräſer nehmen einige andere Pflanzen an der Ernährung der Men - ſchen. Schon in dem nördlichſten Gürtel der Gerſte und des Rog - gens bildet der Buchweizen den Gegenſtand einer ziemlich ausge - dehnten Cultur. Neben den ſchon beſprochenen Bananen geben die Yamswurzeln†††)Dios - corea sativa. , die Manjoc*†)Manihot utilissima. und die Batate*††)Batatas edulis. einen ſehr beträchtlichen Beitrag zu den alltäglichen Nahrungsmitteln der Tropenbewohner, ſowohl der alten als der neuen Welt, wozu auf den Anden noch ein eigenthümliches Gewächs, die Quinoa*†††)Che - nopodium Quinoa. kommt, eine Pflanze, die gleichzeitig eßbare Knollen und reichliche, dem Buchweizen zu vergleichende, Saamen bringt. Nicht über - gehen dürfen wir endlich die Brodfrucht im eigentlichen Sinne des Wortes, welche das Hauptnahrungsmittel der Bewohner der großen Inſelkette iſt, welche ſich von Oſtindien durch das ganze tropiſche Meer bis an die Weſtküſte von America hinzieht, die Gabe des ſchönen großen Baums aus der Familie der Neſſelpflanzen, den man ſeines Nutzens wegen den Brodfruchtbaum†*)Artocarpus incisa. genannt hat. Zur Abwechſe -248 lung bauen einige daneben noch die Tarroo-Wurzel*)Arum esculentum. , die Tacca - knollen**)Tacca pinnatifida. , oder einige Farnkräuter***)Aerostichum furca - tum, Pteris esculenta u. a., deren mehlreiche Blatt - ſtiele zur wohlſchmeckenden Speiſe dienen. Soll ich endlich noch die Kartoffel erwähnen, die ſich von den Gebirgen der neuen Welt mit ſolcher Schnelligkeit über die ganze Erde verbreitet hat, daß ſie an manchen Orten nicht eben zum Vortheil der Menſchen jede andere Cultur zu verdrängen droht. Nur ein Theil ihres Vaterlandes ſelbſt, nämlich Mexico, iſt freigeblieben und baut nur in neueſter Zeit wenige ſchlechte Knollen an den Küſtenorten, um den verwöhnten euro - päiſchen Gäſten ihre, man kann mit ſeltſamer Verkehrung der Begriffe ſagen, vaterländiſche Speiſe vorzuſetzen. Wozu bedurfte auch ein Land der Kartoffel, in welchem die vielleicht tauſendjährige Cultur den Boden ſo wenig erſchöpft hat, daß nach weniger Arbeit eine ſchlechte Maiserndte 200fältigen Ertrag liefert, der ſich in guten Jahren auf das 600fache ſteigert.

Und wir, die wir uns ſchmeicheln große Landwirthe zu ſeyn, die wir ackern, düngen und ſäen mit den ſinnreichſten Maſchinen, bilden uns ein, Großes gewirkt zu haben, wenn wir ein zwölffaches Korn erndten. Selbſt dieſes verdanken wir nicht unſerer Kunſt, der wir es ſo gern zuſchreiben möchten. Der am ſchlechteſten beſtellte Boden bringt in einem günſtigen Jahre reichere Erndte, als wir dem beſten Boden mit allem Culturfleiß in dem ungünſtigſten Jahre abzwingen können. Wahrlich, nur wer mit beſchränktem Blick an der Scholle kleben bleibt, die ſein Pflug aufgeworfen, kann noch das Gefühl der Bedeutſamkeit menſchlicher Thätigkeit in ſeiner Bruſt bewahren. Wer den freien Blick über das Rund der Erde ſchweifen läßt, und im Großen das Spiel der wirkenden Kräfte überblickt, der lächelt des grabenden, ſchleppenden, geſchäftigen, keuchenden Ameiſenhaufens, den wir Menſchheit nennen und der mit aller ſeiner eingebildeten Weis - heit nicht im Stande iſt, die kleinſte Wirkung der Geſetze zu ändern, welche die tyranniſche Rieſin Natur ihren Sclaven vorgeſchrieben.

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Elfte Vorlesung. Geſchichte der Pflanzenwelt.

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Ihr alle fühlt geheimes Wirken Der ewig waltenden Natur, Und aus den unterſten Bezirken Schmiegt ſich herauf lebend'ge Spur. (Fauſt. )[250]

Die Vignette zeigt eine Gruppe von verſteinerten Pflanzen oder Pflanzenab - drücken, z. B. ganz hinten einen Calamitenſtamm, links und rechts einige Farn - krautabdrücke und ſo weiter.

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Es könnte ſeltſam erſcheinen, daß der Menſch von den früheſten Zeiten an über nichts ſo gern nachgedacht, nichts ſo ausführlich ent - wickelt und über nichts ſo weitläufig gelehrt und geſchrieben hat als über das, wovon wir Menſchen nichts wiſſen und nichts wiſſen kön - nen. Gleichwohl iſt die Sache ſehr natürlich in der menſchlichen Trägheit einerſeits und Eitelkeit andererſeits begründet. Sobald die erſte Stufe ſinnlicher Anregung und gewohnheitsmäßigen Dahin - lebens überwunden iſt, ſobald der Menſch überhaupt anfängt an gei - ſtiger Bewegung Gefallen zu finden, erwacht auch der Ehrgeiz, mehr zu wiſſen, tiefer zu blicken als Andere. Der rechte Weg zu dieſem Ziele, umfaſſende Kenntniſſe und anhaltendes, ernſtes, begriffsmäßiges Nachdenken iſt aber gar zu beſchwerlich und deshalb nicht Jedermanns Sache, und ſtatt auf dieſem Wege dem wirklich Erkennbaren nachzu - ſtreben, wendet der Menſch lieber ſeine Phantaſie, ein Vermögen, deſſen Thätigkeit wegen ſeiner halb ſinnlichen Natur ſcheinbar einen ungleich größeren Genuß gewährt, den Regionen zu, wo nicht die unbequeme Thatſache und die ſicher abſprechende Logik den Anſichten in den Weg treten können, wo die Phantaſie, die nicht dem Urtheils - ſpruch der Wahrheit unterworfen iſt, in dem Einen eben ſo berechtigt iſt als im Andern und alſo von dieſem keine Widerlegung zu fürchten hat, und wo man, die Begründung der aufgeſtellten Träume klüglich ganz überſpringend, gleich ſich hinter die uneinnehmbare Verſchan - zung zurückzieht: Beweiſe mir das Gegentheil! Ich will hier nicht auf die verſchiedenartigen religiöſen Phantasmagorien, auf die Unterſuchungen über das, was nach dem Tode ſeyn wird, und der -252 gleichen eingehen, ſondern nur die Kosmogonien hervorheben, die ſich jedes Volk, ja in jedem Volke faſt jeder Einzelne anders auszeichnet und daran erinnern, daß mit mehr Eifer über die Wahrheit der ſechstägigen moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte geſtritten iſt, als man jemals daran gewendet, ſich den Spruch: liebe dei - nen Nächſten als dich ſelbſt in allen Beziehungen zu ent - wickeln und danach zu handeln. Während die übermüthige engliſche Hochkirche, viel verächtlicher als das Pabſtthum in ſeinen widerlichſten Extremen, ſich mit dem Schweiß und Blut von Millionen armer hungernder Irländer mäſtet, verfolgt ſie in England mit allen Nichts - würdigkeiten, die ihrer Macht zu Gebote ſtehen, jede wiſſenſchaftliche Unterſuchung, die ihrer bornirten Anſicht von der Buchſtabenwahrheit alter jüdiſcher Poeſien zu widerſprechen ſcheinen. Nirgend mehr und faſt nur da iſt der Menſch unduldſam, wo an eine wiſſenſchaftliche Begründung oder Widerlegung nicht zu denken iſt. Wer auf dem Gebiete des Beweisbaren dem geſunden Menſchenverſtande ins Ge - ſicht ſchlagen will, unterliegt dem Fluche der Lächerlichkeit, dem nichts widerſteht. Aber da, wo kein Beweis dafür und folglich auch in der Regel kein Beweis dagegen möglich iſt, erzwingt die Eitelkeit, wenn ſie mit Macht gepaart iſt, die Anerkennung ihrer Träumereien und behauptet wohl gar mit gottesläſterlicher Frechheit, daß der ewige Lenker der Welten ſie vor allen Menſchen mit beſondern geheimen Mittheilungen ausgerüſtet habe. Das Schlimmſte dabei bleibt aber, daß, während man ſich dem Ausſpinnen, Vertheidigen und An - greifen von Traumgebilden über unfaßbare Dinge hingiebt, ſo häufig die Zeit und Gelegenheit verſäumt wird, nicht nur ſeine Pflicht zu thun und Gottesfurcht im Leben zu üben, ſondern auch mit Ruhe und Klarheit die Verhältniſſe aufzufaſſen, die Thatſachen zu ſammeln, welche nothwendig ſind, um das mögliche Wiſſen zu fördern und zu entwickeln.

Ueber den einfachen Ausſpruch: Gott iſt der heilige Urheber aller Dinge, und ſeine Weisheit, ſeine Liebe hat die Welt erſchaffen , kommt auch der tiefſte Naturforſcher nicht hinaus. Er gilt ihm wie253 jedem in ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen als eine unantaſtbare Wahrheit. Aber er entwerthet dieſe Wahrheit nicht dadurch, daß er ſie in das Zeitliche und Räumliche oder gar in das blos Irdiſche überträgt. Er fragt nicht bei dem Allmächtigen nach dem menſchlich beſchränkten Wie der Vermittlung, nicht bei dem Ewigen, Zeitloſen, nach der nur in der Zeit Platz greifenden Folge von Urſache und Wirkung. Er weiß, daß, wo er die ihn umgebende Natur mit Beobachtung oder Gedanken rückwärts oder vorwärts verfolgt, er nur eine endloſe Reihe von Veränderungen des Geſchaffenen, aber nie ein Entſtehen, ein Vergehen finden kann.

Die einfach poetiſche Sage der Juden oder die ſogenannte Schö - pfungsgeſchichte bewegt ſich wie natürlich auf einem Standpunct, wo das Rund der Erde noch den Blick des Menſchen umfing, wo ihm Sonne, Mond und Sterne nur freundliche Lichter waren, den Tag zu erhellen, die Nacht zu verſchönern. Naturbetrachtungen im Großen und in einer großartigen Natur, noch unzerſtreut durch die verwirrende Menge der Einzelanſchauungen, mochten früh ſchon dem gebildeten Stand der ägyptiſchen Prieſter eine Ahnung erweckt haben, daß ge - waltige Umwälzungen unſere Erde erſt nach und nach zu dem Zu - ſtande gebracht, in welchem wir ſie jetzt finden. Es mochten ſich hier durch Nachdenken über das große Spiel der Naturkräfte beſtimmtere Anſichten gebildet haben über die allmälige Bildung der feſten Erdrinde, das Vorangehen der vegetabiliſchen Entwicklung von der thieriſchen und das endliche Auftreten des Menſchen als des vollkommenſten Orga - nismus, den wir auf Erden kennen, dem man billig das Unvollkomm - nere ſtufenweiſe vorhergehen ließ. Dieſe Anſichten über die allmälige Bildung der Erde, die dem damaligen Menſchen noch mit der Welt gleichbedeutend war, faßte einer der größten und genialſten Köpfe des Alterthums, Moſeh, mit ſeinem geläuterten und reinen Gottesglauben zuſammen und zeichnete ſie unter dem Bilde der Weltſchöpfung aus. Aber nicht die wenigen Züge naturhiſtoriſcher Kenntniß, die ſich darin finden, ſind das Großartige, das alle andern Sagen der Völker hoch Ueberragende, ſondern der Ausſpruch: die Welt iſt nicht ſeit an -254 fangsloſer Zeit geweſen, iſt nicht Spiel einer blinden Bildungskraft, nicht Product einer ſtarren Nothwendigkeit, eines Schickſals, ſondern es iſt die freie That eines heiligen Urhebers, einer ewigen Liebe. In dieſem Sinne hat ſich keiner der Menſchenſtämme je zu dem Begriffe der Schöpfung erhoben, denn ſelbſt die nahe anklingende und offenbar verwandte Brahmaſage iſt, gegen dieſen einfachen, klaren Gedanken gehalten, phantaſtiſch verworren und ſinnlich unklar. Immer bis in die fernſten Zeiten wird es unverändert wiederhallen: Gott ſchuf die Welt; aber weit hinaus ſind wir ſchon über die damit vermengten naturwiſſenſchaftlichen Anfänge. Sie beziehen ſich nicht auf die Welt, ſondern auf eines der kleinſten Stäubchen von Einem der unzählbaren Staubhäufchen, die im Aethermeere ihren endloſen Reigen tanzen. Von allen jenen Millionen andern größern, wunder - baren Weltkörpern wiſſen wir über Entſtehung und Entwicklung nichts. Von der Welt wiſſen wir nur, ſie iſt da und gehorcht jetzt einfachen, ausnahmsloſen Naturgeſetzen; jene moſaiſche Schöpfungs - geſchichte dagegen iſt zuſammengeſchmolzen zu Einer Zeile in dem Rieſenbuche, welches die zeitlichen Veränderungen des ſchon Geſchaf - fenen erzählt, eine Zeile, von der wir zwar einige Buchſtaben mehr entziffert haben als die Menſchheit zu Moſes Zeit, aber ohne daß wir ſie ſchon vollſtändig leſen könnten. Wir wollen verſuchen, wie wir die entzifferten Buchſtaben zu einem verſtändlichen Ganzen zuſammen - faſſen können.

Der erſte Zuſtand der Erde, auf deſſen Kenntniß noch mehr als bloße Träumereien, und wenigſtens wohl geordnete wiſſenſchaftliche Analogieen hinführen, iſt der einer geſchmolzenen, feurigflüſſigen Maſſe, umgeben von einer dichten Atmoſphäre, welche ſämmtliche jetzt auf der Erde fließende Gewäſſer als Dampf enthielt, vielleicht eine beträchtlich größere Menge Sauerſtoff, ſicher aber einen ungleich größeren Antheil an Kohlenſäure als jetzt zu ihren Beſtand - theilen zählte. In dem nach ungefähren Schätzungen wenigſtens 40 Grad kalten Weltraum mußte die Erde ſich allmälig abkühlen, die geſchmolzenen Maſſen mußten erſtarren und ſo bildete ſich eine255 feſte Rinde, auf welche ein Theil des Waſſerdampfes, von der ver - minderten Erdwärme nicht mehr zurückgehalten, als Regen nieder - ſtürzte. Jeder ſich abkühlende Körper zieht ſich aber zuſammen und ſo mußte ſich auch die Erdrinde zuſammenziehen, es mußten Riſſe ent - ſtehen, aus denen ein Theil des noch flüſſigen Kerns hervorgepreßt wurde, ſich über den Riß erhob und über ſeine Ränder ausbreitete, auf dieſe Weiſe die erſten Unebenheiten oder Berge, und dadurch auch zuerſt den Unterſchied zwiſchen höherem trockenem Lande und dem die Fläche bedeckenden Meere bildend. Bei immer größerer Abkühlung, bei immer ſtärkerer Verdickung und Zuſammenziehung der Erdrinde mußte ſich dieſer Vorgang öfter und in immer heftigerer Weiſe wiederholen, heftiger weil in der dickern Rinde die Spalten immer enger wurden und die ſchon durch Abkühlung mehr zähflüſſig gewordene Maſſe, ſich, aus den Riſſen hervortretend, nicht gleich über die Ränder ausbreitete, ſondern nach und nach immer höher hervorſchob. Aber in eben demſel - ben Maaße wie die feſte Kruſte dicker und widerſtandsfähiger wurde, mußten jene Proceſſe auch mehr örtlich werden, und ihre erſchütternde Wirkung ſich auf einen geringern Theil der Erdoberfläche ausbreiten. An manchen Stellen bildeten ſich auch wohl nur blaſenförmige Er - hebungen, die ausdem Waſſer hervortraten und öfter, wenn der Inhalt ſich anderswo Luft machte, ſchneller oder langſamer wieder einſanken.

Wie oft ſich ſolche Erſcheinungen im größeren Maasſtabe wiederholt haben mögen, wiſſen wir nicht. Viele Geologen nehmen nach den an unſern jetzigen Gebirgsſyſtemen beobachteten Verhältniſſen an, daß 12, 24 ſolcher Erhebungen Statt gehabt haben mögen, einige zählen noch mehr, andere noch weniger, indeß iſt die Annahme nur für das jetzt vor uns liegende Product gültig, denn Niemand kann uns darüber eine Andeutung geben, wie viele ganze Gebirgsſyſteme ſchon in frühern Zeiten beſtanden haben und völlig wieder vernichtet oder auf den Grund des Oceans hinab geſunken ſind.

Zu jener Erſtarrung der feurigflüſſigen Maſſen, woran vielleicht der Sauerſtoff der Atmoſphäre in ſo fern einen Antheil nahm, als er ſich mit dem Metall des Kalks, der Kieſelerde, des Kali, Natron256 und andern zu den Sauerſtoffverbindungen oder Oxyden verei - nigte, aus denen gegenwärtig die Gebirgsmaſſen beſtehen zu jener unmittelbaren Bildung der Gebirge aus der ſich abkühlen - den und erhärtenden Grundmaſſe, ſage ich, kam noch ein anderer Vorgang, der von nicht minder großem Einfluß war. Sobald näm - lich die erſten feſten Geſteinsmaſſen ſich in die Luft erhoben, waren auch ſchon Kräfte thätig ſie wieder zu zerſtören, Kräfte, die wir größ - tentheils noch jetzt, wenn auch vielleicht in minderer Heftigkeit, raſt - los an der Vernichtung und Verflachung der Gebirge arbeiten ſehen. Der Wechſel von Hitze und Abkühlung bewirkte ein Zerſpringen der Geſteinsmaſſen; in die Sprünge drang das von Kohlenſäure geſät - tigte Waſſer ein, zerſetzte die früher entſtandenen chemiſchen Verbin - dungen und lößte auf dieſe Weiſe den innern Zuſammenhang der Felſen, der zerbröckelte und endlich in Staub ſich auflöſte. So ſehen wir noch jetzt auf dem Brocken große Granitblöcke in einer Reihe von Jahren zu einem grobkörnigen Sande zerfallen. Jene Sand - und Staubmaſſen wurden aber von den gewaltigen Regengüſſen, die bei weiterer Abkühlung der Erde immer heftiger herunterſtürzten, in die Tiefen, die großen Becken des Uroceans zuſammengeſchwemmt und ſetzten ſich hier beim ruhigen Stehen des Waſſers ſchichtenweis auf dem Boden ab, bis etwa ein neuer Ausbruch dieſen Meeresboden und die darauf abgeſetzten Schichten wiederum über den Spiegel des Waſſers hinaushob. Es verſteht ſich, daß auch dieſe ſo gehobenen Gebirgs - maſſen dem Proceß der Verwitterung unterlagen, und daß die Producte derſelben zuſammengeſchwemmt zu neuen Ablagerungen anderer Art Veranlaſſung geben mußten. Indeſſen ſind doch die ur - ſprünglichen Verſchiedenheiten dieſer Ablagerungen der Zeit nach nicht ſehr verſchieden und laſſen ſich auf Sandſtein, Kalkſtein und Thone oder Mergel zurückführen, die in allen Perioden wiederkehren. Dieſe Vorgänge müſſen viele Hunderttauſende von Jahren gedauert haben, bis ſich die feſte Rinde des Erdkörpers allmälig der Geſtalt annäherte, welche ſie noch jetzt zeigt und bis ſich der heftige Kampf zwiſchen der noch feurigflüſſigen Maſſe und der Dampfatmoſphäre bis zu einer257 gewiſſen Ruhe gemäßigt hatte. Dieſe Bildungsgeſchichte unſeres Erd - körpers führt uns auf die Annahme zweier ihrem innerſten Weſen nach verſchiedenen Gebirgsmaſſen, nämlich der ungeſchichteten aus geſchmolzenem Zuſtande erkalteten und der geſchichteten aus den Ab - ſätzen des Waſſers entſtandenen Geſteine.

Zu irgend einer Periode dieſer allmäligen Geſtaltung des Landes entſtanden durch Kräfte, die zwar noch vorhanden ſeyn mögen, aber unter Bedingungen und einem Zuſammenwirken jener verſchiedenen Kräfte wie es jetzt auf unſerer Erde nicht mehr möglich ſcheint, die erſten Keime organiſcher Weſen. Wahr - ſcheinlich war das Meer die Geburtsſtätte dieſer Organismen und waren die Formen derſelben noch ſehr einfach. Die abſterbenden Organismen wurden im Grunde des Meeres von den Abſätzen be - graben und erhielten ſich ganz oder in ihren feſteren Theilen (Schalen oder Knochen), wenigſtens ihrer äußern Form nach, wenn auch die organiſche Subſtanz zum größten Theil zerſtört und oft durch ein - dringende unorganiſche Stoffe erſetzt wurde, als ſogenannte Ver - ſteinerungen (Petrefacten). Schon aus dem über die Bil - dungsgeſchichte der Gebirge Geſagten geht hervor, daß ſolche Ver - ſteinerungen nur in den geſchichteten Steinen vorkommen können. In ſpäteren Perioden entſtanden dann auch Organismen auf dem trocknen Lande und auch von dieſen gingen Reſte als Verſteine - rungen in die Gebirge über und zwar auf doppelte Weiſe, entweder wurden ihre Leichen durch Regengüſſe und die größeren Ströme dem Meere zugeführt, oder der ganze Boden, auf welchem ſie lebten, ver - ſank, wie oben erwähnt, unter den Meeresſpiegel und begrub ſie ſo in ganzen Maſſen unter den Abſätzen der Gewäſſer.

Das ſorgfältige Studium der Gebirgsſyſteme, Gebirgsmaſſen und Verſteinerungen hat nun dahin geführt, daß man die allmälige Bildung der Erde in beſtimmte, zwar nicht der Zeit aber doch ihren Producten nach begrenzte Perioden hat eintheilen können und man nennt dieſe Producte Gebirgsformationen, die in beſtimmter Reihefolge geordnet ſich ſo verhalten, daß nirgends auf der Erde ſichSchleiden, Pflanze. 17258eine tiefer in der Reihe ſtehende Formation auf einer höher ſtehenden aufgelagert findet, ſo daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß ſie in dieſer Ordnung nach einander ſich gebildet haben. Von dieſen Formationen faßt man nun mehrere zuſammen und bildet daraus größere Bildungsperioden, gleichſam Altersſtufen der Erde, nach denen ich dann auch im Folgenden kurz die allmälige Entwick - lung des Pflanzenreichs ſchildern will.

Ehe ich aber dazu übergehe muß ich noch einmal auf den ur - ſprünglichen Zuſtand der Atmoſphäre unſerer Erde, auf den clima - tiſchen Zuſtand derſelben und ſeine allmäligen Veränderungen zurück - gehen. Die Temperatur unſeres Erdkörpers hat eine doppelte Quelle, nämlich die eigne ihm inwohnende Wärme und die, welche er durch die Strahlen der Sonne erhält. Von der Wärme aber, die er hat oder erhält, giebt er beſtändig eine gewiſſe Menge an den kalten Weltraum ab. Abkühlung und Erwärmung von der Sonne her ſtehen jetzt in dem Verhältniß zu einander, daß ſie ſich vollkommen das Gleichgewicht halten und daß wenigſtens ſeit faſt 3000 Jahren die Temperatur der Erde ſich nicht um den zehnten Theil eines Grades verändert haben kann. Dafür haben wir zwei Beweiſe, einen aſtro - nomiſchen, welcher ſich auf die Beobachtungen der Mondfinſterniſſe des Hipparch ſtützt, den ich hier übergehe, und einen botaniſchen, den der geiſtreiche Arago zuerſt aufgefunden hat. Der Weinſtock reift dort keine Früchte mehr, wo die mittlere Temperatur des Jahres höher wird als 20 Grad, und umgekehrt gedeiht keine Dattel mehr, wo die Temperatur unter 20 Grad herabſinkt. Dieſe Bedingungen treffen nun gerade in Paläſtina zuſammen und hier fanden die Juden bei ihrer Einnahme des Landes Datteln und Trauben vereinigt; hätte ſich nun die Temperatur der Erde um ein Geringes ſeit jener Zeit erhöht oder erniedrigt, ſo müßte eine jener Pflanzen in Paläſtina verſchwunden oder doch unfruchtbar geworden ſeyn, was jedoch nicht der Fall iſt.

Wenn aber die Erde jetzt gerade ſo viel Wärme von der Sonne empfängt als ſie durch Abkühlung wieder an den Weltenraum ver - liert, ſo heißt das mit andern Worten, daß die Sonne jetzt die259 einzige Quelle der Wärme iſt und es muß daher die Wärme auf der Erde auch ihrer Stellung zur Wärmequelle gemäß vertheilt, die Tropen müſſen am heißeſten, die Pole kalt ſeyn, wie das ſchon in einer an - deren Vorleſung entwickelt wurde. Dies Verhältniß fand aber nicht immer Statt. So lange die Erde noch feurig flüſſig und von einer dichten, die Sonnenſtrahlen nur wenig durchlaſſenden Atmoſphäre umgeben war, blieb die Wärmemenge, welche ſie von der Sonne erhielt, verſchwindend klein gegen diejenige, welche ſie durch Abküh - lung verlor, oder mit andern Worten: zur Zeit der ſich erſt bildenden Erde lag die Quelle ihrer Wärme ſo gut wie ganz in ihr ſelbſt. Hier fand daher auch keine nur vom Stande der Erde zur Sonne abhängige Vertheilung der Wärme auf der Erde Statt und ſie hatte nahebei überall die gleiche hohe Temperatur. Eine heiße, feuchte Atmos - phäre, gegenwärtig das Characteriſtiſche der Tropenwelt, herrſchte damals auf der ganzen Erde und machte die Polargegenden den Tro - penländern gleich. Erſt nach und nach, wie ſich die Erde immer mehr und mehr abkühlte, die Atmoſphäre immer mehr ihrer Dämpfe als Regen herabſchüttete, ihre Kohlenſäure an die organiſche Welt ab - gab und ſo lichter und durchſichtiger wurde, gewann die Sonne eine größere Bedeutung und ſo gingen ſtufenweiſe die Gegenden höherer Breiten und ſelbſt die Polarländer nacheinander die Climate durch, die wir jetzt von dem Aequator zu den Polen nebeneinander auf der Erde finden. Dieſes Verhältniß wird ſich ſpäter zur Erklärung der verſchiedenen ſich folgenden Vegetationen an der Erde als ſehr fol - genreich erweiſen.

Wie ſchon erwähnt entſtanden wahrſcheinlich die erſten Keime des Lebendigen im Waſſer, und dem entſprechend finden wir in den älteſten geſchichteten Felsarten, dem Grauwackengebirge, oder wie die Engländer es nennen, dem ſiluriſchen Gebirge, nur einige wenige Reſte von Tangarten, begleitet von den ſchon in der vor - hergehenden cambriſchen Formation in einzelnen Vertretern ſich zeigenden Meerthieren. Die gefundenen Tangarten zeigen im Allge - meinen große Uebereinſtimmung mit den jetzt unter den Tropen vor -17*260kommenden Formen. Allerdings dürfen wir hier nicht unbemerkt laſſen, daß das Grauwackengebirge bis jetzt faſt nur in England und Deutſchland ſorgfältiger durchforſcht iſt, und daß gerade an dieſen Orten die Schichten deſſelben durch ſpäter aufſteigende Gebirge und durch die Einwirkung dieſer glühenden Maſſe ſo gewaltſam geſtört und verändert ſind, daß gewiß viele in denſelben eingeſchloſſene Reſte durch dieſe Revolutionen wieder vernichtet ſind. Dagegen ſcheint dieſe Formation in Rußland in ungemeiner Ausdehnung noch auf ungeſtörter Lagerſtätte vorzukommen, nur langſam und ruhig über das Niveau des Meeres emporgehoben, und von dort werden wir erſt in der Folgezeit eine genauere Kenntniß dieſer älteſten Meeresabſätze erhalten.

In der zweiten Periode haben ſich zahlreiche Inſeln gebil - det, deren Boden, zum größten Theil aus Schichten der vorigen Periode beſtehend, ſchon eine reiche Landvegetation ernährt. Ein Theil von England und Schottland, der Rheingegend, das Erzgebirge und die Sudeten, Mittelfrankreich, die Vogeſen, nördlich ein Theil von Schweden und Norwegen, die Alleghanys in Nordamerica und einige andere Puncte können wir mit Sicherheit als ſolche Inſelgruppen nen - nen, auf denen ſich eine ihrem Character nach ganz tropiſche, aber in ihren einzelnen Formen ganz fremdartige und zu einem großen Theil aus völlig von der Erdeverſchwundenen Pflanzengeſchlechtern beſtehende Ve - getation entwickelte. Wenige Palmen und einige Cycadeen, einige rieſige 12 20 Fuß hohe Formen von Schafthalmen, fanden ſich zerſtreut in dichten Wäldern von baumartigen Farn, die mit Lepido - dendren (zu mächtigen Stämmen ſich erhebenden Bärlappenar - ten), Sigillarien (vielleicht Cactus ähnliche Pflanzen) mit Cala - miten, Stigmarien und Radelhölzern abwechſelten. Noch finden wir keine Spur davon, daß dieſe Inſeln auch von Thieren be - wohnt geweſen ſind, aber im Meere jagten ſchon furchtbare Haie die kleinen Fiſche, die Ufer waren mit zahlreichen Formen von Co - rallen umſäumt, die Trilobiten, ſeltſame krebsartige Thiere, wunderliche den Nautilen verwandte Geſchöpfe und die zierlichen,261 lilienähnlichen Encriniten und Pentacriniten gaben der Waſ - ſerfauna eine reiche Mannigfaltigkeit. Ueberall auf der ganzen Erde iſt jene Flora dieſelbe, von den jetzt eiſigen Klüften Islands, bis zur glühenden Küſte von Malabar. Lange muß dieſe Vege - tation gedauert haben, oft muß der von den Reſten der abgeſtorbenen Pflanzen mit dicker Humusſchicht bedeckte Boden wieder unter den Meeresſpiegel verſunken und mit einer Schicht von Abſätzen überdeckt und dann aufs Neue emporgeſtiegen ſeyn, um einer gleichen und gleich üppigen Vegetation neuen Boden zu gönnen, denn dieſe Vegetation iſt es, welche die unberechenbar großen, halbzerſtörten, vegetabiliſchen Maſſen zurückgelaſſen hat, die als Steinkohle jetzt faſt einen der weſentlichſten Theile des natürlichen Reichthums eines Landes aus - machen. Wir finden oft 20 bis 30 Lager von Steinkohlen über - einander, immer durch Schichten von Meerthiere einſchließende Kalkabſätze getrennt. Wir finden oft in ſolchen Steinkohlenlagern noch die aufrechten Stämme ganzer Wälder, beweiſend, daß das ganze Land mit ſeiner Vegetation langſam und ohne bedeutende Revo - lution unter die Meeresfläche herabgeſunken iſt, wie Aehnliches noch jetzt an der Südweſtküſte von Nordamerica vorgeht; ja wir finden ſolche Stämme nach unten mit ihren Wurzeln in die Steinkohle, das heißt in den humusreichen Boden, der ſie nährte, verſenkt, während ihr oberer Theil von der ſpäter auf den Boden abgelagerten Kalkſchicht eingehüllt iſt. Wenn man bedenkt, daß bei der üppigſten Vege - tation der Tropen die Bildung einer 9 Zoll dicken Humusſchicht faſt ein Jahrhundert erfordert, daß dieſe Schicht, um zu Steinkohle zu werden, auf den 27ſten Theil ihrer Dicke zuſammengepreßt werden muß, ſo kann man ſich einen ungefähren Begriff von der Dauer jener Periode machen, da die übereinander liegenden Kohlenlager in Eng - land z. B. oft eine Geſammtmächtigkeit von 44 Fuß haben, alſo einem Zeitraume von faſt 100,000 Jahren entſprechen würden. Der Character der Pflanzenwelt der Steinkohlenperiode in dem Vor - herrſchen großer baumartiger Kryptogamen beſonders der Farnkräuter ausgeſprochen, erinnert am meiſten an die Flora der tropiſchen Süd -262 ſeeinſeln, auch ſcheint die Vegetation dieſer Organismen vorzugsweiſe durch eine heiße mit Feuchtigkeit geſättigte Atmoſphäre, wie wir ſie für jene Epoche der Erde anzunehmen gezwungen ſind, bedingt zu ſeyn.

In der darauf folgenden Periode der ſecundären Gebirge ſchei - nen die vorher vorhandenen Inſeln mit ihren Floren zum Theil wieder ins Meer verſenkt worden zu ſeyn, während ſich andere ausgedehntere Landſtriche erhoben, deren Boden vorzüglich aus den Kalken und Sandſteinen der Steinkohlenperiode beſtand. Zum Theil traten dieſe Landſtrecken wohl mit den noch vorhandenen Inſeln in Verbindung und ſo retteten ſich einzelne Pflanzenformen der vorigen Epoche in die neue Ordnung der Dinge herüber, während die meiſten eigenthüm - lichen Pflanzengeſchlechter theils mit ihrem Boden verſanken, theils wohl in Folge der allmälig weſentlich veränderten phyſicaliſchen Ver - hältniſſe ausſtarben. Die baumartigen Farnkräuter und die Calamiten ſind zwar noch vorhanden, werden aber ſeltener, dagegen ſind die Cycadeen und Nadelhölzer in größter Menge und in zahlreichen eigenthümlichen Formen entwickelt, dichte Wälder am Rande größerer Landſeen bildend, in denen große ſchilf - und bin - ſenartige Gewächſe vegetirten. Großartige Formen zu Bäumen ſich erhebender Liliaceen, der Bucklandien und Clathrarien bildeten vielleicht auf höherem Boden eigenthümliche Gruppen. Da - zwiſchen wälzten ſich die Rieſenleiber vorweltlicher Gaviale, Leguane und Schildkröten, flatterten die ſeltſamen Ptero - dactylus arten, coloſſalen Fledermäuſen vergleichbar, und auf den trocknen Plätzen ſpielten wunderliche Beutelratzen, während im Meere die Ungeſtalten der Pleſioſauren und Ichthyoſauren, halb Fiſche halb Eidechſen, ſich von den zahlreichen kleinen Bewohnern des flüſſigen Elementes ernährten, das außerdem durch Ammoniten und Nautilen, ſonderbaren Krebſen und eigenthümlichen Seeſter - nen belebt wurde. In ſehr kleinem Maaßſtabe wiederholten ſich hier die Verhältniſſe der Steinkohlenperiode und die Reſte jener Pflanzenwelt finden ſich in der ſogenannten Keuperformation als Letten -263 kohle hin und wieder ſo mächtig, daß man es der Mühe werth ge - achtet, ſie bergmänniſch zu gewinnen. Beſtand das Eigenthümliche der Steinkohlenflora in dem Ueberwiegen baumartiger Kryptogamen, zu denen ſich nur einzelne Coniferen und Cycadeen hinzugeſellt, ſo werden dieſe dagegen für die Periode der ſecundären Formationen die eigentlich den Character beſtimmenden Pflanzen, während ſich einzelne monocotyledone Formen einfinden. Aber ſchon gegen das Ende der ſecundären Periode ändert ſich der Character der Vegeta - tion, indem wahrſcheinlich ein großer Theil des ſchon gebildeten Landes abermals langſam in das Meer verſank, umrandet von mächtigen Coral - lenbänken, während anderwärts ſich mächtigere Continente, zum Theil ſchon den jetzt noch vorhandenen entſprechend, erhoben. Wir finden daher aus den letzten Formationen der ſecundären Gebirge faſt nur einige Algen und monocotyledone Waſſerpflanzen und nur Andeu - tungen, daß Cycadeen und Nadelhölzer nicht ausgeſtorben waren.

Die nun auftretende neue Ordnung, von den Geognoſten als tertiäre Bildungen bezeichnet, beginnt zwar noch mit einem weit auf der Erde verbreiteten tropiſchen Character, wir finden ſelbſt in hohen Breiten, ſo in England noch reiche Palmenvegetation, die überhaupt jetzt auffallend hervortritt und die Phyſiognomie der Landſchaft beſtimmt zu haben ſcheint, während Coniferen und Cycadeen allmälig ſich mehr auf beſtimmte Localitäten, vielleicht jene auf kühlere Höhen, dieſe auf trockene ſonnige Hügel, zurückziehen. Zwiſchen Pandaneen und mächtigen Rohrkolben weiden rieſen - mäßige Tapire und die ſchon von dicotyledonen Laubhöl - zern gebildeten Wälder werden durch Vögel und kleinere Landthiere belebt. Wale, Walroſſe und Robben durchziehen die Meere.

Während von den Polen her die Erde allmälig bis zu ihrer gegenwärtigen Temperatur abzukühlen beginnt, werden Pflanzen und Thierwelt immer beſtimmter localiſirt, es bilden ſich Faunen und Floren beſtimmter Zonen. Schon gegen das Ende dieſer Periode be - darf das Mammuth in den Steppen Sibiriens des wärmenden Wollhaares gegen die eindringende Kälte und ſtiefmütterlicher von der264 Natur bedacht als ſein jüngerer Bruder der Elephant, muß es von den ſich auf den Norden und die höheren Berge beſchränkenden Na - delhölzern zehren. Immer mehr treten in der Pflanzenwelt die Formen der Jetztwelt hervor. Erlen und Pappeln bedecken die friſche Nie - derung, Kaſtanien und Feigen die ſonnigen Hügel und ſchlanke Birken kämpfen mit den Fichten um den Beſitz des dürftigern und kühleren Bodens. Der Rieſenſtrom Nordamericas, der Miſſi - ſippi, wälzt mit ſeinen Fluthen alljährlich unmeßbare Maſſen fort - geſchwemmter vegetabiliſcher Leichen, große Baumſtämme aus den Wäldern ſeines Quellengebietes, abwärts dem Meere zu. Hier kann die langſamere Strömung jene ſchweren Leiber nicht mehr ſchwim - mend erhalten und ſetzt ſie an der Mündung ab, ihre Zwiſchenräume mit Schlamm und Steingerölle ausfüllend. Von Reworleans er - ſtreckt ſich eine ſumpfige Niederung viele Meilen abwärts, die ganz aus ſolchen zuſammengeſchwemmten, mit Sand und Thon verkitteten und allmälig zu einer braunkohligen Subſtanz zerſetzten Pflanzen - maſſen beſteht und für ferne Zeiten ein Kohlenlager bildet. Auf ähnliche Weiſe haben große Ströme dieſer Periode zahlloſe Stämme, beſonders von Nadelhölzern, in Buchten und Süßwaſſerbecken zuſam - mengeflößt und abgeſetzt, welche vielleicht durch ſpätere Senkungen noch tiefer unter die Meeresfläche gebracht, durch Ablagerungen von Sand, Kalk oder Thon bedeckt und dann mit an die Oberfläche ge - hoben wurden. Dieſe ſind es, welche die oft ſo ſehr ausgedehnten Braunkohlenflötze bilden, die immer ein werthvolles Geſchenk des Bodens, doch nur einen[d]ürftigen Erſatz für die verſagte Stein - kohle bieten.

Dieſem ganzen Leben ſcheint die abermalige Erhebung einiger bedeutenden Gebirgsſyſteme und insbeſondere der Himalaya durch die herbeigeführte Niv[e]auveränderung des Meeres zum größeren Theil ein Ende gemacht, und während gleichzeitig die Erde die Grenze ihrer möglichen Abkühlung erreichte, ſo die gegenwärtige Bildung des feſten Landes und ſeiner Organismen hervorgerufen zu haben. Alle folgenden Veränderungen, die noch Statt fanden, Hebungen265 und Senkungen des Landes ſind unmittelbar nur von untergeordneter localer Wirkung geweſen.

Wir können die hier vorgeführte Skitze kurz in folgende Haupt - puncte zuſammenfaſſen. Die allmälige Entwicklung der Pflanzenwelt beginnt bei den einfachſten Pflanzen und ſchreitet durch die ſich fol - genden Perioden allmälig bis zu den vollkommenſten Gewächſen un - ſerer gegenwärtigen Vegetation fort. Die Bildungen der erſten Perioden entſprechen einem gleichförmig über die ganze Erde verbrei - teten Tropenclima, welches erſt nach und nach von den Polen zum Aequator hin in die gegenwärtigen climatiſchen Verhältniſſe übergeht und damit gleichlaufend erſcheint, eine andere Veränderung, indem die Pflanzen der älteſten Perioden gleichmäßig über der ganzen Erde verbreitet geweſen zu ſeyn ſcheinen, erſt nach und nach die Ver - breitungsbezirke beſchränkter werden und ſo in die große geographiſche Verſchiedenheit der Pflanzenwelt übergehn. Die allmälige Umän - derung des allgemeinen Tropenclimas in die climatiſchen Zonen der Gegenwart, läßt ſich noch auf intereſſante Weiſe an einem ganz ſpe - ciellen Beiſpiele nachweiſen. Jeder Holzſtamm der Nadel-Bäume ver - dickt ſich fortwährend in ſeinem ganzen Umfang. In den Aequatorial - gegenden, wo das Clima unausgeſetzt denſelben Character das ganze Jahr hindurch beibehält, geht auch dieſe Verdickung des Stammes ununterbrochen und gleichförmig vor ſich, kein Merkmal verräth uns auf einem glatten Querſchnitt des Stammes die Zeit, welche zu ſeiner Ausbildung nöthig war. So wie wir aber nach Norden fortſchreiten, ſo wie die climatiſchen Verhältniſſe mehr und mehr eine Verſchieden - heit der einzelnen Jahreszeiten bedingen, ſo zeigt ſich auch dem ent - ſprechend das Wachsthum in die Dicke durch die begünſtigenden Jahreszeiten gefördert, durch die ungünſtigeren Zeiten dagegen ge - hemmt oder ganz unterdrückt. Auf einem Querſchnitte des Stammes zeigen ſich je mehr er in einer höheren Breite gewachſen iſt, um ſo mehr auch Verſchiedenheiten in der Bildung der aufeinander folgenden Theile des Holzes, die endlich in den Breiten mit ſcharfem Wechſel von Winter und Sommer ſo auffallend das zuletzt im Sommer ent -266 ſtandene von dem zuerſt im nächſten Frühjahre gebildeten Holze un - terſcheiden, daß man an den dadurch auf einem Querſchnitt hervor - gerufenen ringförmigen Zeichnungen mit der größten Sicherheit und Genauigkeit die Zahl der Jahre, welche das Holz zu ſeiner Bildung bis dahin gebraucht hat, abzählen kann. Man nennt deshalb auch dieſe kreisförmigen Linien des Querſchnittes, die jedem Förſter be - kannt ſind: Jahresringe. Vergleichen wir mit dieſer Kenntniß ausgerüſtet nun die Stämme der Nadelhölzer, welche uns aus den verſchiedenen Bildungsepochen aufbehalten ſind, untereinander, ſo finden wir, daß die älteſten Ueberreſte durchaus keine Spur von Jahresringen zeigen, daß aber ſo wie wir mit der Zeit fortſchreiten dieſe letzten immer ſchärfer und endlich in der jüngſten Bildung, z. B. in der obern Braunkohle, gerade ſo ſcharf hervortreten wie an den in denſelben Gegenden noch jetzt lebenden Bäumen.

So ſkitzenhaft und unvollkommen die von mir gegebene Darſtel - lung der ſich einander folgenden irdiſchen Vegetationen iſt, eben ſo, nur auf höherer Stufe unvollſtändig und lückenhaft, iſt überhaupt unſere Kenntniſſe von dieſen Zeiten, die nicht mehr ſind. Wenn man erwägt, wie viele Zufälligkeiten zuſammentreffen mußten, daß Orga - nismen, nur einigermaßen erkennbar, in ſich bildende Gebirgsmaſſen eingeſchloſſen werden konnten, wie vielerlei zerſtörende Kräfte während der Hunderttauſende von Jahren, die zwiſchen den erſten Anfängen einer Vegetation und der Jetztwelt liegen, ihren Einfluß auf die bewahrten Organismen geltend machen mußten, ſo wird man ſich nicht wundern, daß unſer Wiſſen hier, mehr wie irgend wo, Stückwerk iſt, aber man wird auch den Männern ſeine Bewunderung nicht verſagen können, deren raſtloſer Fleiß, deren geiſtreiche Combinationen das, was wir von der Urgeſchichte der Pflanzenwelt wiſſen, zu Tage förderten und mit einem ſo hohen Grade von Gewißheit hinſtellen konnten. Be - ſonders ſind hier die Ramen Sternberg, Brogniart, Göp - pert und Unger zu nennen, die ſich um die Kenntniß der urwelt - lichen Flora unſterbliche Verdienſte erworben haben.

Aber ich habe nur eine Skitze gegeben von dem, was wir267 wiſſen, von dem, was zu verſchiedenen Zeiten der Erde war, und gleichwohl möchte Manchem die Frage nach Dem was wir nicht wiſſen, nach dem wie es wurde, ein nicht minder großes Intereſſe zu haben ſcheinen. Hier nun gerathen wir faſt ganz in das Gebiet der willkürlichen Phantaſieſpiele, nur ſchwankende Analogieen können wir hin und wieder herbeiziehen, um uns die Bilder mit einem ſchwachen Schein von Wahrſcheinlichkeit auszumalen, und ſo natürlich es auf der einen Seite iſt, daß hier die Anſichten der einzelnen Forſcher unendlich von einander abweichen, ſo lächerlich und zwecklos iſt es doch auf der andern Seite, ſich über dieſe oder jede Meinung, über die Wahrheit oder Falſchheit eines wachen Traumes zu ſtreiten, wie nur zu oft geſchehen iſt.

Daß einmal wenigſtens aus dem Kampf der unorganiſchen Ele - mente die Keime des organiſchen Lebens an der Erde hervorgegangen ſeyn müſſen, leidet keinen Zweifel, aber eine andere Frage iſt die: hat dieſer Vorgang öfter Statt gefunden und mußte er öfter Statt finden? Da in dieſer Sache jeder ſeine Phantaſieen für ſich hat und haben darf, warum ich nicht die Meinige auch. Ich halte die Annahme einer mehrmaligen Urzeugung, einer ganz neuen Ent - ſtehung von Pflanzenkeimen aus unorganiſirten oder ſelbſt unorgani - ſchen Stoffen, für überflüſſig und folglich für verwerflich und zwar aus der Zuſammenſtellung folgender Betrachtungen über die allmä - lige Entwicklung der Pflanzenwelt. Die einfachſte Grundlage der ganzen Pflanzenwelt iſt die Zelle*)Man vergl. die zweite, dritte und vierte Vorleſung., ein ſehr einfach gebauter Orga - nismus, deſſen Entſtehung aus dem eigenthümlichen Zuſammentreten von Kohlenſäure und Waſſer einerſeits zu Gummi und Pflanzen - gallerte, und von Kohlenſäure und Ammoniak andererſeits zu Schleim oder Eiweiß, einer möglichen Erklärung nicht ſo ſehr ſich entzieht als die plötzliche Entſtehung eines Pflanzenkeims mit ganz beſtimmten Entwicklungsvermögen zu einer eigenthümlichen Pflanzenart. Daß die Zelle als eine ſelbſtſtändige Pflanze fortvegetiren kann, wiſſen wir268 aus der noch jetzt uns umgebenden Pflanzenwelt, da viele der einfacher gebauten Pflanzen, zumal der Waſſerpflanzen, aus einer einzelnen Zelle beſtehen und ſich unter einander nur durch die verſchiedene Form der Zellen unterſcheiden. Die Hauptbedingungen zu einer üppigen und formenreichen Pflanzenwelt unter den Tropen ſind Feuchtigkeit und Wärme, die Urſachen ihrer Mannigfaltigkeit ſcheinen in dem Reichthum des Bodens an leicht auflöslichen unor - ganiſchen Stoffen zu liegen, welche zunächſt eine Abänderung des chemiſchen Proceſſes in den Pflanzen und dadurch ein größeres oder geringeres Abweichen in den Formen hervorrufen*)Man vergleiche die ſiebente Vorleſung.. Beide Verhält - niſſe finden ſich unter den Tropen zuſammen, weil ſie von einan - der abhängig ſind, denn die durch feuchtwarme Atmoſphäre hervor - gerufene üppigere Pflanzenwelt bereitet durch ihr Abſterben und raſches Verweſen einen an leicht löslichen unorganiſchen Subſtanzen reicheren Boden für die folgende Generation. Aehnliche Verhältniſſe, das heißt größeren Reichthum an löslichen unorganiſchen Stoffen, zeigt auch unſer gedüngtes Culturland, und die Alpenregion, welche von den am meiſten der Verwitterung preisgegebenen nackten höheren Felſen beſtändig mit einem Reichthum auflöslicher Verwitterungsproducte verſorgt wird**)Es wird Niemand beſtreiten können, daß ſich die Alpenpflanzen in einem größeren Formenreichthum darſtellen und Reihen der auffallendſten Spielarten bilden, wenn man nur einen Blick auf ein Handbuch über eine genauer durchforſchte Flora wirft. Nicht ſo augenfällig möchte es für das Culturland ſeyn und ich erwähne daher hier noch kurz Folgendes: Unter den deutſchen Pflanzenfamilien ſind es beſonders die Gänſefußarten und Melden (Chenopodeen und Atripliceen), welche auf Schutt, Compoſthaufen und in Gärten, alſo recht eigentlich unter dem unvermeidlichen Ein - fluß der durch unſre Cultur gegebenen Bedingungen wachſen und keinem Pflanzen - kenner iſt es unbekannt, in welchem Reichthum von Formen und Spielarten gerade die Meiſten dieſer Pflanzen abändern. Nehmen wir aus der am beſten und ſorgfäl - tigſten gearbeiteten Flora von Deutſchland diejenigen Pflanzengeſchlechter heraus, die am meiſten feſtſtehende Arten zeigen, dabei aber zugleich einige Arten umfaſſen, welche ganz entſchieden unter den Einflüſſen unſerer Cultur vegetiren, ſo zeigt ſich uns ſo - gleich, daß dieſe letztern ausſchließlich oder doch vorzugsweiſe in einem Reichthum von Formenſpielen vorkommen, wobei ſie mehr oder minder ſich von dem Haupt - character ihrer Art entfernen. Ich nenne beiſpielsweiſe als ſolche Arten: Thalic -. Wir wiſſen ferner, daß einmal gebildete Spielarten,269 wenn ſie mehrere Generationen hindurch unter denſelben Bedingungen fortvegetiren, zuletzt in Unterarten, das heißt in Spielarten, die ſich mit Sicherheit durch ihren Saamen fortpflanzen laſſen, übergehen, wie das z. B. unſere Erbſenbeete, unſere Kohlpflanzungen, unſere Wei - zenfelder beweiſen. Wie nun aber, wenn dieſelben Einflüſſe, die eine Abänderung der urſprünglichen Form einer Pflanze hervorriefen, nicht Jahrhunderte und Jahrtauſende, ſondern 10 und 100 Tauſend Jahre in gleicher Weiſe zu wirken fortfahren, wird nicht da zuletzt wie aus der Spielart eine Unterart, ſo aus dieſer eine ſo feſtſtehende Pflan - zenform werden, daß wir ſie als Art bezeichnen und bezeichnen müſſen? Nun denn, iſt die erſte Zelle gegeben, ſo iſt dann mit dem Vorigen auch der Weg bezeichnet, wie ſich ausgehend von Derſelben allmälig der ganze Reichthum der Pflanzenwelt durch Bildung von Spielarten, Unterarten und Arten und ſo fort von dieſen aufs Neue beginnend, habe bilden können, freilich in Zeiträumen, von denen wir keinen Begriff haben, über die wir aber, wenn es ſonſt an Nichts fehlt, in unſern Träumen nach Belieben verfügen dürfen; denn um es hier noch zu erwähnen, alle neuern ausgezeichneten Geologen kommen im - mer mehr und mehr zu der Anſicht, daß gar Vieles bei der Bildung unſerer Erdveſte, was man früher heftigen, krampfhaften und plötz - lichen Revolutionen zuſchrieb, vielmehr das Product langſam aber durch ungeheure Zeiträume hindurch wirkender Thätigkeit geweſen ſey. Der Niagarafall z. B. ergießt ſich in eine Schlucht, die in eine Gebirgs-Terraſſe eingeſchniten iſt und Lyell hat nachgewieſen, daß**)trum minus, Ranunculus arvensis, Viola tricolor, Silene gallica und inflata, Spergula arvensis, Medicago falcata, lupulina, tribuloides, Vicia villosa, sepium, grandiflora, angustifolia, Knautia hybrida, arven - sis, Scabiosa gramuntia, Cirsium arvense, Taraxacum officinale, Galeopsis ladanum, Agrostis stolonifera, vulgaris, Aira caespitosa, Festuca ovina, rubra, Bromus secalinus. Ja manche Arten mögen erſt innerhalb der hiſtoriſchen Zeit aus ſolchen Spielarten entſtanden ſeyn, ſo Thalic - trum minus und majus, Veronica praecox und triphyllos. Daß alle eigent - lichen Culturpflanzen aber in zahlloſen Spielarten vorkommen, brauche ich wohl kaum noch zu erwähnen, da Erbſen, Kohl und Kartoffeln, der Obſtbäume gar nicht zu gedenken, Jedem dieſe Wahrheit nahe genug legen.270 der Waſſerfall anfänglich, das heißt ſchon am Ende aller ſogenannten Erdrevolutionen und Sündfluthen, ſein Waſſer über den Rand der Ter - raſſe ſelbſt herabgeſchüttet und erſt allmälig ſich jene Schlucht ausge - waſchen habe. Dazu bedurfte es aber eines Zeitraums von minde - ſtens 20,000 Jahren und ſo lange zum Wenigſten alſo beſteht Nord - america ſchon in ſeiner jetzigen Configuration und unter denſelben phyſicaliſchen Verhältniſſen. Ein anderes ähnliches Beiſpiel iſt ſchon oben bei den Steinkohlen angeführt worden, und es wäre leicht die Nachweiſe zu vermehren, daß der Zeitraum, den wir mit prahleriſcher Selbſtgefälligkeit die Weltgeſchichte zu nennen belieben, kaum die letzte flüchtige Minute in der unendlich langen Lebensgeſchichte unſeres winzigen Planeten iſt.

Erinnern wir uns nun der oben gegebenen Skitze der ſich fol - genden Vegetationsepochen, ſo ſehen wir, daß die Pflanzenwelt im Waſſer mit den einfachſten Formen und gerade in der Familie be - ginnt, wo am häufigſten noch jetzt eine einzelne Zelle die ganze Pflanze vorſtellt. Hieran ſchließen ſich in den folgenden Perioden dann die anderen Pflanzengruppen, indem ſie in einer Reihefolge auftreten, die ihrer immer höheren Organiſation, d. h. ihrem immer mannig - faltigeren Lebensproceß nach, dem mannigfaltiger und verwickelter wer - denden phyſicaliſchen Bedingungen entſpricht. So folgen auf die ſten - gelloſen Kryptogamen, die mit Stamm und Blättern Verſehenen. Dann miſchen ſich die Gymnoſporen (Nadelhölzer und Cyca - deen) ein, ihnen folgen die Monocotyledonen und endlich erſchei - nen auch die Dicotyledonen. So unvollſtändig auch die uns er - haltenen Acten ſind, ſo wenig wir auch noch davon entziffert haben, ſo finden wir doch in keiner Periode das Auftreten einer ganz neuen Schöpfung, ſondern immer ſchließen ſich die organiſchen Weſen in den unterſten Gliedern einer Periode denen der oberſten Glieder der Vorhergehenden in der Weiſe an, daß ſie wenigſtens denſelben Haupt - typus wiederholen, ja wir können noch mehr ſagen, wenn auch Ge - ſchlechter und Arten, ja ſelbſt Pflanzenfamilien von der Erde ver - ſchwunden ſind, ſo findet ſich doch ſelbſt unter den älteſten Ueber -271 bleibſeln keine eine eigenthümliche größere Gruppe gleichſam eine Bildungsſtufe der Pflanzenwelt ausmachende Pflanzenform, welche nicht ihre Repräſentanten auch noch in der Flora der Jetztwelt auf - zuweiſen hätte.

Dieſe Anſicht, daß aus einer einzigen Zelle und ihrer Nachkom - menſchaft, durch allmälige Bildung von Spielarten, die ſich zu Arten ſtereotypirten und dann auf gleiche Weiſe wieder die Erzeuger neuer Formen wurden, ſich allmälig die ganze Fülle der Pflanzenwelt entwickelt habe, iſt mindeſtens eben ſo möglich als jede andere, und vielleicht wahrſcheinlicher und entſprechender als jede andere, weil ſie das ab - ſolut Unerklärbare, nämlich die Urzeugung eines organiſchen Weſens, in die allerengſten Grenzen, die ſich denken laſſen, zurückweiſt.

Erſt am Ende dieſer ganzen Reihe von Entwicklungen tritt auf uns unerklärliche Weiſe der Menſch in den Kreis der Erdenbewohner und trennt dadurch die Reihe der vorhergehenden Veränderungen, als Urgeſchichte der Pflanzenwelt von den folgenden als Zeit - geſchichte ab. Die Grenze iſt etwas verwiſcht und ein Irrthum von 10 20,000 Jahren bei dem Verſuch einer Zeitbeſtimmung leicht möglich, ſogar wahrſcheinlich, gleichwohl haben ſich Thoren auf ſolche Angaben eingelaſſen, wie es ja auch complete Narren gab, die Jahr, Monat, Tag und Stunde ausrechneten, an denen Gott die Welt geſchaffen.

Aus der Hand der Natur empfing der Menſch ſein ihm bereitetes Erbtheil: Pflanzen und Thierwelt, die todten Stoffe und ihre Kräfte und wie hat er dieſes Erbtheil verwaltet? Mag er Rechenſchaft davon ablegen, aber zu fürchten iſt, daß er hier, wie überall, nur ſchlecht beſtehen werde.

Fragen wir nach den Zwecken, welchen die Pflanzenwelt, die bunte Decke der Erde, zu entſprechen beſtimmt iſt, ſo finden wir einen drei - fachen. Der niedrigſte iſt ohne Zweifel der, den gemeinen Bedürfniſſen der Menſchen, ſeiner Ernährung und ſeinem Gewerbe, in einem Wort, ſeinem Haushalt zu dienen. Ich nenne ihn den niedrigſten, weil hier nur jedes einzelne Individuum in ſeinen thieriſchen, wenn272 auch durch die Cultur noch ſo ſehr verfeinerten und übertünchten Be - dürfniſſen von der Natur Befriedigung fordert. Schon höher er - ſcheint die Bedeutung der Pflanzenwelt für die Regulirung zahlreicher und umfaſſender phyſicaliſcher Proceſſe an der Erde. Die Gluth der africaniſchen Wüſte, ihre dürre Regenloſigkeit und die Lebensfülle der Urwälder mit ihren Wolkenbruch ähnlichen Sturzregen, erhalten ihren eigenthümlichen Character durch die Pflanzenwelt. Feuchtigkeit und Trockenheit der Atmoſphäre, Wärme und Kälte des Bodens, Gleich - förmigkeit oder ſchroffer Wechſel im Clima und dergleichen mehr, und vor Allem das Leben der Thiere und endlich des Menſchen im Großen ſind bedingt durch die Ueppigkeit und Art der Vegetation. Dieſe Bedeutung des Pflanzenlebens bezieht ſich nicht auf das einzelne arm - ſelige Individuum, ſondern auf ganze Länder und Völkergebiete, auf zahlreiche einander folgende Generationen, bei denen Möglichkeit und Leichtigkeit des Lebens an die Formation der Pflanzenwelt im Großen geknüpft iſt. Endlich zeigt ſich eine dritte Seite, welche die Pflan - zenwelt uns zuzuwenden vermag, ohne Frage die Edelſte und Höchſte. Sie iſt ſo gut wie alle andere Natur Symbol des Ewigen; wir ehren hinter dieſem Spiel todter Naturkräfte und ſeiner Producte einen heiligen Urheber und Lenker. Die Pflanzenwelt iſt die reiche Altar - decke im Tempel Gottes, in welchem Anerkennung der Schönheit und Erhabenheit die Form des Cultus ausmacht.

Und der Menſch der Pflanzenwelt gegenüber? Mannigfach ver - ändernd hat er eingegriffen und die großen Phaſen ſeiner Geſchichte ſind auch auf dem grünen Blatte der Vegetation verzeichnet. Aber wie hat er gewirthſchaftet? Ei, die Culturgeſchichte wird uns ant - worten: Trefflich; er hat das rohe ungefüge Material der Natur durch weiſe Pflege erſt zu jenen köſtlichen Gaben gemacht, als welche es jetzt erſcheint. Nun ja, wir wollen ihm den Ruhm nicht abſtreiten, daß da, wo Eigennutz und thieriſches Bedürfniß ihn trieben ſich wohl der Einzelne auf ſeinen Vortheil verſtanden hat, aber dann mit Mitmenſchen und Nachwelt nur gezwungen durch Naturgeſetze den erlangten Vortheil theilend. Hingegen da, wo kein augenblicklicher273 Vortheil für ihn im Unterſtützen der Natur oder auch nur im Schonen derſelben lag, wo es ſich ja nur um das Elend von ein Paar Millio - nen Nachgeborner handelte, hat er mit barbariſcher Rohheit zerſtört und vernichtet, auf Jahrtauſende hinaus oft den nicht nur ihm, ſon - dern auch ſeinen Nachkommen verliehenen Segen Gottes liederlich ver - ſchleudert. Und hat er ſich bemüht, den Tempel Gottes zur allge - meinen Verehrung zu ſchmücken und zu heiligen? O nein, bei ſeinem eigennützigen Treiben, bei den Kummerthränen des durch ſeine Schuld elend gewordenen Bruders, bei dem Heulen des gepeitſchten Sclaven war ihm die beſtändige Erinnerung an Gott unangenehm und ſtörend, er erklärte das Wehen des göttlichen Odems in der Natur für ein Ammenmährchen, um nicht mehr durch ſein Gewiſſen erſchreckt zu werden. Die Schönheit, der Ausdruck des Göttlichen in der Natur verſchwand vor der eigennützigen Ausbeutung der Pflanzenwelt und höchſtens, engherzig nur für ſich ſorgend, grenzte ſich der Einzelne ein Räumchen ein, in dem er die Schönheit der Natur nicht als Cultus, ſondern als Sinnenreiz pflegte. Das ſind bis jetzt die Thaten der Menſchen, nach Jahrtauſenden hoffen wir Beſſeres berichten zu können, denn wir verzweifeln nicht an der Menſchheit, in ihr liegt der Keim des Göttlichen, der ewiger Entwicklung fähig und für dieſelbe be - ſtimmt iſt. Aber ſpottend möchten wir dem Geſchrei über unſere hohe Bildung entgegentreten, da doch jede ernſte ethiſche Betrachtung der Geſchichte uns ſagen könnte, daß wir uns kaum etwas aus dem Koth der tiefſten Erniedrigung und Rohheit hervorgearbeitet. Möchten die folgenden Thatſachen vielleicht in beſſerer Weiſe benutzt, die Anhaltepuncte zur Erlangung eines etwas beſſeren Reſultates ge - währen können.

Die Wiege des Menſchengeſchlechts, für uns in unerforſchliche Ferne geruͤckt, ſtand wahrſcheinlich in einem wärmern halbtropiſchen Clima, beſchattet von den breiten Blättern der Banane, des Pi - ſangs und dem zartgefiederten Laub der Dattelpalme. Was des Menſchen erſte Nahrung war, wiſſen wir nicht, aber früh ſchon ſcheint er ſich der genannten beiden Pflanzen bemächtigt zu haben, denn beideSchleiden, Pflanze. 18274zeigen ſchon ſeit den älteſten Zeiten, über welche uns Nachrichten auf - behalten ſind, ſich nicht mehr ſo, wie ſie aus der Hand der Natur hervorgingen, ſondern durch die Cultureingriffe der Menſchen weſent - lich verändert. Die wilde Banane iſt eine kleine grüne, unſchmack - hafte Frucht, erfüllt mit zahlreichen Saamen; die cultivirte Pflanze dagegen enthält in ihrer nahrhaften Beere gar keine keimfähigen Saamen; ihre Erhaltung, ihre Vermehrung iſt ganz von der Thätig - keit des Menſchen abhängig, der ſie künſtlich durch Stecklinge fort - pflanzt. Ebenfalls ſchon ſehr früh müſſen die Menſchen die großſaa - migen Gräſer ihrer Vorrathskammer zinsbar gemacht haben. Wir kennen von keiner jetzt als Brodkorn benutzten Pflanze die Zeit, in der ſie aus dem Eden Gottes auf die Felder der Menſchen verpflanzt wurde. Ihre Benutzung ging von Einem Völkerſtamm auf den Andern über, aber wenn wir an die älteſten Quellen kommen, ſo berichtet uns die Sage in mannigfachem Gewande und verſchiedenartiger Aus - ſchmückung, daß ſie Geſchenke der Götter ſeyen, daß dieſe dem Men - ſchen den Kornbau gelehrt.

Die Perſonificirung phyſiſcher Kräfte und Vorgänge, des Lichts, der Wärme, des Regens, der Nilüberſchwemmungen, mag ſich mit der Verehrung von den einzelnen hervorragenden Perſönlichkeiten, die zuerſt verſuchten in weiterem Umfange die Schätze der Natur für die Zwecke der Menſchen auszubeuten, mannigfach in ſolchen Sagen ver - bunden und vermiſcht haben. Eine auffallende Erſcheinung, die auf das ungeheure Alter des Anbaus der Cerealien hindeutet, iſt, daß man trotz vieler gründlichen Nachforſchungen bis jetzt nicht im Stande geweſen iſt, die eigentliche natürliche Heimath der wichtigeren Korn - arten aufzufinden. Keiner der fleißig forſchenden Reiſenden in America hat dort den Mais anders als cultivirt oder offenbar verwildert ange - troffen. Ueber unſere europäiſchen Kornarten beſitzen wir nur ſehr ungenaue Andeutungen, daß ſie hin und wieder in den ſüdweſtlichen Ländern Mittelaſiens wild gefunden ſeyn ſollen. Aber die Geſchichte weiſt uns nach, daß jene Gegenden früher eine ſo ſtarke Bevölkerung nährten, und in einem ſo hohen Culturzuſtande ſich befanden, daß275 die Annahme, jene Culturpflanzen fänden ſich noch jetzt dort in einem andern Zuſtande als dem der Verwilderung, ſchwerlich gerechtfertigt werden kann. Aus der Kenntniß des größten öſtlichen Theils von China wiſſen wir, daß eine dichte Bevölkerung bei einem gewiſſen Grade induſtrieller Cultur es in der That dahin bringen kann, jede wildwachſende Pflanze zu vertilgen und ausſchließlich mit abſichtlich gezogenen Pflanzen den ganzen Boden zu bedecken. Außer einigen wenigen Waſſerpflanzen, in den abſichtlich überſchwemmten Reis - feldern, findet der Botaniker im chineſiſchen Flachlande ſo gut wie keine Pflanze, die nicht Gegenſtand der Cultur wäre. So wäre es gar nicht unmöglich, daß die Cerealien, vielleicht urſprünglich, wie noch jetzt ſo viele Pflanzen Auſtraliens, auf einen engen Verbrei - tungsbezirk beſchränkt, der früh ſchon von einer ſich mächtig entwickeln - den Bevölkerung eingenommen wurde, in der That als urſprünglich wildwachſende Pflanzen ganz von unſerer Erde verſchwunden ſind.

Die älteſten Kornarten ſind ohne Zweifel Weizen und Spelze, welche ſchon im Homer als Brodkorn erwähnt werden, und Gerſte, womit Homers Helden, wie noch jetzt die Südeuropäer, ihre Roſſe fütterten. Erſt zu Galens Zeiten wurde über Thrazien her der Roggen in Griechenland eingeführt. Verſchiedene Haferarten wurden in Griechenland nicht zur Saamengewinnung, ſondern nur als Grünfutter gebaut. Der eigentliche Haferbau findet ſich erſt ſpäter in Deutſchland, wie es ſcheint von öſtlichen Völkern entlehnt, woher auch Deutſchland ſeinen Roggen erhielt. Nach der gewöhn - lichen Annahme hat zwar die ganze alte Welt den Maisbau erſt von America überkommen; indeß ſind doch auch Angaben verhanden, die es mindeſtens eben ſo wahrſcheinlich machen, daß ſchon zu Theo - phraſt's Zeit der Mais von Indien her bekannt war, und daß wenigſtens das öſtliche Europa den Mais aus dem Morgenlande erhalten habe. Eine ganz ähnliche Ungewißheit wie beim ſogenannten türkiſchen*)Schon dieſer in Deutſchland und Italien allgemeine Name, dem in Grie - Korn finden wir bei der Cactus Opuntia oder india -18*276niſchen Feige. Dieſe jetzt in ganz Südeuropa, Africa und einem Theil des Orients nach der Anſicht der Meiſten nur durch Verwil - derung einheimiſche Pflanze Americas, ſoll nach den Forſchungen An - derer mit größerer Wahrſcheinlichkeit als völlig einheimiſch in dieſen Gegenden angeſehen werden können. Dieſe durch die Einwirkungen der Menſchen bewirkten Wanderungen der Pflanzen ſind eine häufig gar nicht zu umſchiffende Klippe, an welcher die genaueſten Pflanzen - geographiſchen Unterſuchungen ſcheitern, wenn uns nicht beſtimmte hiſtoriſche Urkunden aufbewahrt ſind.

Was von den Getreidearten geſagt iſt, daß der Anfang ihrer Cultur weit über die hiſtoriſche Zeit hinausliegt, gilt auch von den meiſten unſerer Gemüſearten und Obſtbäume. Ja man kann be - haupten, daß mit äußerſt wenigen Ausnahmen alle weſentlichen Cul - turpflanzen ſchon ſeit undenklicher Zeit den Menſchen bekannt ge - weſen ſind, und daß, mit Ausnahme der Kartoffel, keine ſpäter dem wilden Zuſtande entriſſene Pflanze eine irgend bedeutende Rolle in unſerm Haushalte ſpielt.

Von allen Einflüſſen der Menſchen auf die Pflanzenwelt iſt ohne Zweifel eine der ſegensreichſten die von ihm bewirkte Umwandlung wilder, oft faſt ungenießbarer Vegetabilien in die köſtlichſten Zierden unſerer Tafel. Wenn auch in der That die Apfel -, Birn - und Kirſchbäume urſprünglich beſondere Arten ausmachen und nicht durch allmälige Veredlung aus den Holz-Aepfeln, Birnen und Kirſchen entſtanden ſind, ſo bleiben doch immer noch genug Pflan - zen übrig, an welchen man nachweiſen kann, welche große Macht in der That der Menſch hier über die Natur ausübt. Welche Aehnlich - keit hat denn der Blumenkohl, der krauſe grüne Kohl, der Kohlrabi mit der dürren, widrig bitter ſchmeckenden Kohlpflanze, die ohne Zweifel die Stammpflanze unſerer köſtlichen Gemüſe iſt, da wir dieſe durch Verwilderung leicht wieder in jene überführen kön - nen. Wer würde bei der Vergleichung der zuckerſüßen, zarten, orange -*)chenland ein ähnlicher (arabiſches Korn) ſubſtituirt wird, weiſt auf einen orientaliſchen Urſprung hin.277 gelben Carotte mit der ſpindligen und holzigen Wurzel der wil - den Möhre glauben, daß Beide einer und derſelben Pflanzenart angehören? und gleichwohl iſt es der Fall. Kurz der Menſch vermag hier weſentlich in die Entwicklung der einzelnen Naturkörper verän - dernd einzugreifen und wie er ſich aus dem blutgierigen Raubthier, aus dem wilden Hund, den neckiſchen Pudel, den nützlichen Jagdgenoſſen und den rettenden Bernhardshund oder aus irgend einem ſtruppigen Wollthier das edle Merinolamm erzogen, ſo gelingt es ihm auch in der Pflanzenwelt, das Nutzloſeſte was ihm die Natur anbietet zu einem werthvollen Gegenſtand ſeiner Cultur zu erheben.

Weniger bedeutend als dieſe Eingriffe könnten die Veränderungen, die der Menſch in der Vertheilung der Gewächſe hervorgerufen hat, erſcheinen. Als ganz natürlich muß es uns vorkommen, daß wir die Nutz - und Nahrungspflanzen dem Menſchen überall hin folgen ſehen, wo die climatiſchen Bedingungen ihres Wachsthums ſich noch vorfinden. Dieſe Pflanzenwanderungen ſind vom Menſchen mit Abſicht und Bewußtſeyn veranſtaltet und geführt. Aber ſchon an dieſe Pflanzenzüge ſchließt ſich, wie an große Völkerzüge das Geſindel der Nachzügler und Räu - ber, ganz untrennbar eine Menge von Pflanzen an, die der Menſch, der ſich eine Naturpflanze holt, gleichſam als Zugabe in den Kauf nehmen muß, ich meine die Unkräuter. Mit Sicherheit kann man behaupten, daß ein Theil unſerer Ackerunkräuter, die nie und nirgends bei uns gefunden werden als unter beſtimmten Saaten, nicht in un - ſeren Gegenden einheimiſch, ſondern mit den Culturpflanzen, zwiſchen denen ſie vorkommen, eingewandert ſind. Zu ſolchen ungebetenen Gäſten gehört ſicher das niedliche Adonisröschen, die blaue Cyane, die Kornrade, der Ackermohn, der Feldritterſporn, der Leinlolch, der Hanfwürger und viele andere.

In noch höherem Grade, freiwillig und ohne bewußte Mitwir - kung des Menſchen, ſchließt ſich eine gewiſſe Anzahl von Pflanzen an den Herrn der Schöpfung an und folgt ihm, wohin er geht, wo irgend auf Erden er ſeine Wohnung aufſchlägt, nicht an die von ihm mitgebrachten Culturgewächſe gebunden, ſondern ſich in unmittelbarer278 Nähe des Menſchen, um die Hütte, um den Stall, auf Dünger - und Compoſthaufen anſiedelnd. Es iſt mehr als wahrſcheinlich, daß die einzelnen großen Völkerfamilien auch in dieſer Beziehung ſich unter - ſcheiden, und daß man an den ſich feſtgeſetzt habenden Unkräutern mit einiger Sicherheit beſtimmen könne, ob Slaven oder Germanen, Europäer oder Orientalen, Neger oder Indianer u. ſ. w. ſich früher an dem Platze ihre Hütte gebaut. So werden uns noch jetzt die großen Völkerzüge, die ſich im Mittelalter von Aſien aus gegen das mittlere Europa wendeten, durch das Vordringen aſiatiſcher Steppenpflanzen, z. B. der Kochia*)Kochia scoparia. , des tartariſchen Meerkohls**)Crambe tatarica. , der er - ſteren nach Böhmen und der Krain, des letzteren durch Ungarn und Mähren bezeichnet. Sinnig benennt der nordamericaniſche Wilde unſern Wegebreit***)Plantago major. die Fußtapfe der Weißen und eine ge - meine Wickenart†)Vicia cracca. bezeichnet noch jetzt die ehemalige Wohnſtätte der norwegiſchen Coloniſten in Grönland. Wahrſcheinlich würde die genauere Kenntniß dieſer eigenthümlichen Floren uns noch manche intereſſante Aufſchlüſſe über die Wanderungen der Völkerſtämme und ihre Verwandtſchaften geben können, wenn nicht ſo viele botaniſche Rei - ſende ſogenannte Syſtematiker, d. h. geiſt - und kenntnißloſe Heuſamm - ler wären. Ich erwähne noch als Beiſpiele ſolcher, beſonders dem Euro - päer folgenden Gewächſe die Neſſel - und Gänſefußarten. Eins der auffallendſten Beiſpiele der Art iſt aber die allmälige Verbreitung des Stechapfels durch ganz Europa, der aus Aſien her den Zügen der Zigeuner gefolgt iſt, welche häufige Anwendung dieſer giftigen Pflanze bei ihren polizeiwidrigen Geſchäften machten, und die daher, vielfach von ihnen gebaut, auch ungefordert neben ihren Wohnplätzen ſich einfand. Auguſt St. Hilaire ſagt in ſeiner Einleitung in die Flora von Braſilien: In Braſilien wie in Europa ſcheinen gewiſſe Pflanzen dem Menſchen auf dem Fuße zu folgen und erhalten die Spuren ſeiner Gegenwart, häufig haben ſie mir mitten in den Wüſten, welche ſich über Paracuta hinauserſtrecken, die Stelle einer zer -279 ſtörten Hütte auffinden helfen. Nirgends haben ſich europäiſche Pflanzen in ſo großer Menge vermehrt als in den Gefilden zwiſchen Thereſia und Montevideo und von dieſer Stadt aus bis zum Rio negro. Schon haben ſich in der Umgegend von Sta. Thereſia das Veilchen, der Borretſch, einige Geranien, der Fenchel und Andere angeſiedelt. Ueberall findet man unſere Malven und Camillen; unſere Mariendiſtel, beſonders aber unſere Arti - ſchocken, welche in die Ebene des Rio de la Plata und Uru - guay eingeführt ſind, bedecken jetzt unermeßliche Landſtriche und machen ſie zu Weiden untauglich. Nach den Befreiungskriegen fand ſich an vielen Stellen, wo Koſacken gelagert, z. B. um Schwetzi - gen, eine den Gänſefußarten verwandte Pflanze*)Corispermum Marschallii. ein, welche ſonſt ausſchließlich in den Steppen am Dnieper einheimiſch iſt, und in ähnlicher Weiſe verbreitete ſich die Bunias orientalis mit den ruſſiſchen Heereszügen von 1814 durch Deutſchland bis Paris.

Aber auch ganz ohne Mitwirkung des Menſchen finden ſich ſolche Wanderungen der Pflanzen. An die Ufer der Malediven treibt von Meeresſtrömungen getragen die Sechellennuß**)Lodoicea sechellarum. und keimt dort im Sande. Die erſten Anſiedler neuentſtehender Coralleninſeln im ſtillen Ocean ſind Cocospalmen und Pandaneen, deren durch harte Schalen geſchützte Früchte man überall in jenen Meeren treibend findet. Flüſſe führen die Saamen höherer Landſtriche den Niederungen zu und ſo verbreiten ſich zum Beiſpiel an den Ufern der Alpenſtröme in Süddeutſchland, in Baiern und Würtemberg, Formen, die urſprünglich höhern Bergen eigenthümlich waren. Unbeabſichtigt giebt auch der Menſch den erſten Anſtoß zu ſolchen Wanderungen, die dann die Pflanze, unabhängig vom Menſchen, fortſetzt. So hat ſich der Calmus über ganz Europa ausgebreitet, der anfänglich aus Indien geholt in einigen botaniſchen Gärten gezogen wurde. Die india - niſche Feige und die americaniſche Agave haben verwildernd weſentlich die Phyſiognomie der Landſchaft im ſüdlichen Spanien,280 Italien und Sicilien verändert. In der Mitte des 17. Jahrhun - derts kam in einem ausgeſtopften Vogel ein Saame von Erigeron canadense nach Europa, wurde geſäet und jetzt iſt die Pflanze überall in ganz Europa auf Plätzen verbreitet, wo kein Menſch jemals ſie hingebracht hat. Die Bildung der Saamen und Früchte, welche ſie geſchickt macht weit vom Winde fortgetragen zu werden, die Gefrä - ßigkeit der Vögel, welche den unverdaulichen Saamen mit verſchlin - gen, der dann nachher oft in weiter Entfernung von ſeiner Mutter - pflanze im Auswurf des Vogels keimt und ähnliche Verhältniſſe ſind es, die dieſe leichte Verbreitung der Gewächſe erklären.

Ungleich bedeutender aber als alle dieſe Veränderungen im Klei - nen und Einzelnen ſind die climatiſchen Veränderungen, welche die Zeit oder die Einwirkung der Menſchen auf der Erde und in der Pflanzenwelt hervorruft. Zwar wiſſen wir, daß die Geſammt - menge der unſerer Erde zukommenden Wärme ſich ſeit Jahrtauſenden nicht um ſo viel verändert hat, um auch nur die geringſte Verän - derung in der Pflanzenwelt, die dadurch allein bedingt wäre, hervor - zurufen, aber die Vertheilung der Wärme auf der Erde und in den verſchiedenen Jahreszeiten kann im Laufe der Zeit eine weſentlich verſchiedene werden und dadurch die ganze Phyſiognomie eines Landes umgeſtalten. Das unglückliche Island hatte noch vor wenigen Jahr - hunderten Getreidebau*)ſogar bedeutenden Roggenbau., der jetzt ganz aufgehört hat und ſich auf einige dürftige, in den meiſten Jahren fehlſchlagende Gerſtenärndten beſchränkt; die ſonſt dichte Wälder bildende Birke iſt jetzt zu kurzem Geſtrüpp verkümmert. Bekannt iſt die weſentliche Veränderung des Climas, welche, mit dem zwölften Jahrhundert beginnend, Grönland zu einer faſt unbewohnten Eiswüſte gemacht hat.

So ſehr nun auch dieſe Vorgänge im Großen der Willkühr des Menſchen entzogen ſcheinen, ſo iſt dies doch keineswegs der Fall und ſeine fortgeſetzte auf einen beſtimmten Punct gerichtete Thätigkeit ver -281 mittelt zuletzt Erfolge, die ihn ſelbſt überraſchen, weil er augenblicklich die erſt allmälig eintretenden Folgen bei ſeinen Handlungen nicht bemerkte, noch, durch die nöthigen Kenntniſſe geleitet, das Endreſultat vorherſah.

Ueberall faſt finden ſich in den großen Zügen, mit denen die Natur ihre Chronik ſchreibt, in verſteinerten Wäldern, Braunkohlenlagern und ſo weiter, oder ſelbſt in den kleinen Aufzeichnungen der Menſchen, z. B. in den Urkunden des alten Teſtaments, Nachweiſe oder doch Andeutungen, daß jene Länder, die jetzt baum - und waſſerarme Wüſten ſind, ein Theil Aegyptens, Syriens, Perſiens und ſo weiter, früher ſtark bewaldete, von großen jetzt verſiegten oder doch verkümmerten Strö - men durchzogene fruchtbare Länder waren, während jetzt die dörrende Gluth der Sonne und beſonders der Waſſermangel, nur einer ſpärlichen Bevölkerung zu leben geſtattet. Im Gegenſatz dazu, wie muß nicht ein fröhlicher Zecher, der vom Johannisberg aus den Rheingau über - blickt und dem edelſten der deutſchen Ströme ein Hoch in Rüdesheimer bringt, lächeln, wenn er ſich des Ausſpruchs des Tacitus erinnert, daß am Rhein nie eine Kirſche, viel weniger ein Traube reifen könne. Und fragen wir nach der Vermittlung dieſer mächtigen Veränderun - gen, ſo werden wir auf das Verſchwinden der Wälder gewieſen. Mit dem ſorgloſen Vernichten des Baumwuchſes greift der Menſch mäch - tig verändernd in die natürlichſten Verhältniſſe eines Landes ein. Wohl können wir jetzt am Rhein einen der edelſten Weine bauen, wo vor zweitauſend Jahren noch keine Kirſche reifte, aber dagegen ſind jetzt auch da, wo die dichte Bevölkerung der Juden von einer üppigen Cultur ernährt wurde, halbe Wüſten. Der eine feuchte Atmoſphäre erfordernde Kleebau hat ſich von Griechenland nach Italien, von dort nach Süddeutſchland gezogen und fängt ſchon jetzt an jene immer trockner werdenden Sommer zu fliehn und ſich auf den feuchteren Nor - den zu beſchränken. Flüſſe, die ſonſt im ganzen Jahre in gleichmäßiger Fülle ihren Seegen ſpendeten, laſſen jetzt im Sommer die lechzende Flur verdurſten, während ſie im Frühjahr plötzlich die im Winter282 angehäuften Schneemaſſen über die Stätten der erſchreckten Menſchen ausſchütten. Wenn der fortſchreitenden Lichtung und Zerſtörung der Wälder anfänglich größere Wärme, ſüdlicheres Clima, üppigeres Gedeihen zarterer Pflanzen folgt, ſo zieht hinter dieſem erwünſchten Zuſtande doch auch bald ein anderer her, welcher die Bewohnbarkeit einer Gegend eben ſo ſehr und vielleicht in noch engere Grenzen als früher zurückdrängt. Kein Pythagoras brauchte jetzt in Aegypten ſeinen Schülern den Genuß der Bohne*)Nelumbium speciosum. zu verbieten, längſt iſt das Land unfähig geworden ſie hervorzubringen. Der Wein von Men - des und Moreotis, der die Gäſte der Kleopatra begeiſterte, den ſelbſt Horaz noch rühmte, er wächſt nicht mehr. Kein Mör - der findet mehr den heiligen Fichtenhain des Poſeidon, um ſich zu verbergen und dem zu dem Feſte heranziehenden Sänger aufzulauern. Die Pinie hat ſich längſt vor dem eindringenden Wüſtenclima auf die Höhen der arcadiſchen Gebirge zurückgezogen. Wo ſind die Wei - den jetzt, wo die Gefilde um die heilige Burg des Dardanus, die am Fuße des quellenreichen Ida die 3000 Stuten nährten**)Homers Iliade 20.? Wer möchte jetzt noch vom wogendrängenden Xanthos***)Homers Iliade 12, 310. reden ? Wer würde jetzt noch die roſſenährende Argos begreifen?

Ich ſchließe dieſe Skitze, wenn auch nicht den Worten, doch dem Gedankengange eines der edelſten Veteranen unſerer Wiſſenſchaft, des ehrwürdigen Elias Fries in Lund, folgend.

Ein breiter Streifen verwüſteten Landes folgt allmälig den Schrit - ten der Cultur. Wenn ſie ſich ausbreitet ſtirbt ihre Mitte und ihre Wiege ab und nur im äußerſten Umfang finden ſich ihre grünenden Zweige. Aber nicht unmöglich, nur ſchwer iſt, daß der Menſch, ohne auf die Vortheile der Cultur ſelbſt zu verzichten, den Schaden dereinſt wieder gut mache, den er angeſtiftet; er iſt zum Herrn der Schöpfung beſtimmt. Wahr iſt es, Dornen und Diſteln, häßliche und giftige283 Pflanzen, treffend vom Botaniker Schutt pflanzen genannt, bezeich - nen den Pfad, den der Menſch bisher durch die Erde gegangen iſt. Vor ihm liegt die urſprüngliche Natur in ihrer wilden aber großar - tigen Schönheit. Hinter ſich läßt er die Wüſte, ein häßliches, ver - dorbenes Land; denn kindiſche Zerſtörungsluſt, oder unbeſonnene Verſchwendung der Pflanzenſchätze haben den Character der Natur vernichtet und erſchreckt flieht der Menſch ſelbſt den Schauplatz ſeiner Thaten, um rohen Stämmen oder den Thieren die entwürdigte Erde zu überlaſſen, ſo lange noch ein anderer Fleck ihm in jungfräulicher Schönheit entgegenlächelt. Auch hier wieder eigennützig nur ſeinen Vortheil ſuchend und bewußter oder unbewußter folgend dem ſcheuß - lichſten Grundſatz, der größten moraliſchen Nichtswürdigkeit, die je ein Menſch ausgeſprochen: après nous le déluge , ſein Zerſtörungs - werk aufs Neue beginnend. So überließ die fortrückende Cultur den Orient und vielleicht früher ſchon die ihres Kleides beraubte Wüſte, ſo das ehemals ſchöne Griechenland wilden Horden, ſo wälzt ſich mit entſetzlicher Schnelligkeit dieſe Eroberung von Oſten nach Weſten durch America, und der Pflanzer verläßt ſchon jetzt häufig den ausge - ſogenen Boden, das durch Vernichten der Wälder unfruchtbar ge - wordene Clima des Oſtens, um im fernen Weſten eine ähnliche Revo - lution einzuleiten. Aber wir ſehen auch, daß edle Stämme, oder wahr - haft gebildete Männer ſchon jetzt ihre warnende Stimme erheben, im kleinen Hand anlegen an die zweite gewaltigere Arbeit, die Natur wie - der herzuſtellen in ihrer Kraft und Fülle, aber auf einer höheren Stufe als der der wilden Natur, vielmehr unterthan dem vom Menſchen gegebenen Zweckgeſetz, nach Planen, die der Entwicklung der Menſchheit ſelbſt nachgebildet ſind, geordnet. Freilich bleibt das Alles zur Zeit noch ein machtloſes und für das Ganze verſchwindend kleines Unterneh - men, aber es wahrt den Glauben an den menſchlichen Beruf und ſeine Kraft, ihn zu erfüllen. Dereinſt wird und muß es ihm gelingen die Natur, indem er ſie ganz beherrſcht, leitet und ſchützt, frei zu machen von der tyranniſchen Sclaverei, zu welcher er ſie jetzt noch284 erniedrigt und in welcher er ſie nur durch raſtloſen Rieſenkampf gegen die ewig ſich Auflehnende erhalten kann. Wir ſehen in nebelgrauer Ferne der Zukunft ein Reich des Friedens und der Schönheit auf der Erde und in der Natur, aber bis dahin muß der Menſch noch lange in die Schule der Natur gehen und vor Allem ſich ſelbſt von den Banden des Egoismus befreien.

[285]

Zwölfte Vorlesung. Die Aeſthetik der Pflanzenwelt.

Die Bedeutung der Geſtalten Möcht 'ich amtsgemäß entfalten, Aber was nicht zu begreifen, Wüßt ich auch nicht zu erklären. (Fauſt. )
[figure]
Daran erkenn 'ich den gelehrten Herrn, Was Ihr nicht taſtet, ſteht Euch meilenfern, Was Ihr nicht faßt, das fehlt Euch ganz und gar, Was Ihr nicht rechnet, glaubt Ihr ſey nicht wahr, Was Ihr nicht wägt, hat für Euch kein Gewicht, Was Ihr nicht münzt, das meint Ihr gelte nicht. (Fauſt. )[286][287]

Unerklärbar iſt das Weſen der Schönheit. Nur im Gefühle er - ſcheint es dem empfänglichen Gemüth und dem logiſch ordnenden, wiſſenſchaftlich verknüpfenden, theoretiſch ableitenden Verſtande bleibt es immer ein fremdes, verſchloſſenes Gebiet. Aber

Was kein Verſtand der Verſtändigen ſieht
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth.

Wenn wir mit unſeren Beobachtungen und Experimenten, mit Zergliederungen, Schlüſſen und Beweiſen uns die Natur in ein plan verſtändliches Gewebe von Stoffen und Kräften zerfaſert haben, treten uns die Schönheit und Erhabenheit derſelben dazwiſchen, ver - knüpfen das Zerlegte wieder zu einem einigen Ganzen und ſpotten unſerer Bemühungen das ewig Unbegreifliche begreifen zu wollen. Wir erklären's nicht und doch iſt es wahr, wir begreifen's nicht und doch iſt es da. Das reine Gemüth ſpricht es ohne Zaudern aus, was der ſchärfſte Verſtand nicht findet:

Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Veſte verkündet ſeiner Hände Werk. Ein Tag ſagt es dem Andern und eine Nacht thut es kund der Andern.

Immerhin, was wir nicht begreifen, nicht erklären können, mag doch vielleicht in ſo fern einer Auseinanderſetzung und Darlegung fähig ſeyn, daß wir uns klar machen wo, wie und warum das Unbe - greifliche nothwendig eintritt in das Geſammtgebiet unſeres Geiſtes - lebens. Wenn wir das Weſen der Schönheit an ſich auch nicht ent - wickeln können, ſo iſt es uns doch vielleicht möglich aufzufinden, was ſie für uns, die Menſchen, bedeutet, wie ſie erſcheint und was ihre wirkenden Elemente ſind.

Der Naturforſcher kennt und verſteht keine andere Entwicklung288 als den Fortſchritt vom Einfacheren zum Zuſammengeſetzteren, vom Unvollkommneren zum Vollkommneren und ſo hat jene andere Lehre keinen Sinn für ihn, die hin und wieder aufgetaucht und vertheidigt worden iſt, nach welcher der Menſch vollkommen aus der Hand der Schöpfung hervorging und allmälig durch Verderbniß und Verwil - derung zu dem geworden iſt, was er jetzt zeigt. Ich nannte den Fort - ſchritt vom Unvollkommenen zum Vollkommneren, muß aber bemerken, daß das nur ein Gleichniß, eine menſchlich unbeholfne Vorſtellung iſt, in der That aber auf die Producte der Natur und um ſo mehr auf die Schöpfung eines heiligen Urhebers der Dinge keine Anwen - dung findet.

Wenn die Geſchöpfe auch verſchieden erſcheinen, ſo ſind ſie doch von gleicher Güte*) Ἐί γὰϱ διάφοϱα τὰ γινόμενα, ἄλλα μιᾶς ἐισιν ἀγαϑότητος. Chry - sostomus πεϱί πϱόνοιας..

Wir müſſen uns dieſen Fortſchritt vielmehr auf eine andere Weiſe dem Verſtändniſſe näher bringen. Die ganze Pflanzen - welt wie die einzelne individuelle Pflanze entwickelt ſich aus einer Zelle. Die Zelle iſt es, welche das ganze Pflanzenleben in ſeinen mannigfachſten Erſcheinungen, in ſeinen verwickelſten Zuſammen - ſetzungen in ſich einſchließt; in ihr iſt aber Alles noch einfach und leicht zu überſchauen. Die Pflanzenzelle ſchreitet fort in ihrer Aus - bildung und nach und nach nehmen einzelne Theile derſelben eine andere Bedeutung an als die übrigen. Die ganze Zelle iſt anfäng - lich gleichmäßig Organ der Nahrungsaufnahme, der Aneignung, der Ausſcheidung und der Fortpflanzung. Zuerſt treten nur beſondere Theile der weiter entwickelten Zelle auf, welche ausſchließlich die Function der Fortpflanzung, die Bildung neuer Zellen übernehmen. Nach und nach wird eine größere Menge von Zellen unter dem Um - riß einer Pflanze vereinigt und dann vertheilen ſich ſchon die einzelnen Thätigkeiten auch an beſondere Zellen, in denen ſie wenigſtens vor - zugsweiſe hervortreten. Der Ernährungsproceß ſelbſt iſt anfänglich ſehr einfach; aus dem aufgenommenen Stoff wird direct das für das289 Leben der Zelle Wichtige gebildet und das Ueberflüſſige ausgeſchieden. Später treten mehr und mehr fremdartige Stoffe dazwiſchen und der unmittelbare einfache Vorgang der Nahrungsbereitung lößt ſich in eine ganze Reihe einzelner Proceſſe auf, deren Endreſultat erſt mittelbar die Erzeugung der Pflanzenſubſtanz iſt, während auf den Zwiſchen - ſtufen eine Anzahl von für das Weſen der Sache gleichgültigen Neben - producten entſtehen. Doch wozu das Gleichniß weiter ausführen; was uns als ein Fortſchritt erſcheint, iſt in der That eine Entwicklung im eigentlichſten Sinne des Worts, ein Entfalten und Auseinander - legen des Einfachen in eine größere Anzahl das Ganze zuſammen - ſetzender Theile. So iſt die Zahl 100 eine einfache Zahl, durch Ent - wicklung kann ſie aber zu 99 + 1, zu 3. 33 + 1, zu 3. (32 + 1) + 1, zu 3. [(4 mal 8) + 1] + 1 und ſo weiter werden, wir können uns die in ihr enthaltenen Verhältniſſe auseinanderlegen, ſtatt der einfachen Bezeichnung von 100 Einheiten eine höchſt verwickelte Rech - nung hinſtellen, deren Endproduct eben auch nur 100 iſt. Das iſt der Gang, den jede Entwicklung in der Natur annimmt.

Der leidende Grieche wendete ſich an den Prieſter des Hercules oder des Aeſculap. Ein Kraut, das dieſer neben dem Tempel baute, diente als Heilmittel und das Opfer, welches der Prieſter leitete, gab dem Sterblichen das Vertrauen auf den Beiſtand der unſterblichen Götter. Und was hat ſich Alles im Laufe der Zeiten aus dieſem ein - fachen Naturzuſtande entwickelt: Die ganze verwickelte Vergliederung unſeres geiſtlichen Standes und der Seelſorge einerſeits und anderer - ſeits die Medicin und Chirurgie, zerfallend in zahlreiche Zweige, die ſämmtlichen Naturwiſſenſchaften mit ihren einzelnen Diſciplinen; Pharmaceuten, Droguiſten ſind Nachfolger der Prieſter des Aeſculaps; die Jardins des plantes, die zoologiſchen Gärten und botaniſchen Anſtalten, die ganzen Landſtriche, in denen gewerbfleißige Menſchen officinelle Kräuter bauen, ſind alle Entwicklungen jenes Tempelgar - tens. Viele Hunderte von Menſchen wirken jetzt mit allen ihren gei - ſtigen und körperlichen Kräften zuſammen, um beſſer, beſtimmter, entwickelter das zu erreichen, was einfach jener Prieſter des Aeſculap,Schleiden, Pflanze. 19290wenn auch minder erfolgreich, in ſich vereinigte. Denn wir müſſen es eingeſtehen, daß, wenn auch nicht Gotteswerk, doch Menſchenwerk vom Unvollkommenen beginnt und zum Vollkommenen fortſchreitet, daß beim menſchlichen Thun und Treiben in der That der einfachere unentwickelte Zuſtand auch der unvollkommnere iſt. Gleichwohl fin - den wir auch in der menſchlichen Entwicklung ein ſolches Auseinander - treten der einzelnen Elemente, die anfänglich verbunden und ununter - ſcheidbar gleichſam in einem Chaos zuſammenliegen. Wir wollen hier aber nur ein Verhältniß näher ins Auge faſſen und uns klar zu machen ſuchen, nämlich die Stellung, welche der Menſch der Natur gegenüber einnimmt.

Im Beginn der Entwicklung finden wir ſtets eine innige und völlige Verſchmelzung von Phyſik und religiöſer Weltanſchauung und jede urſprüngliche Darlegung der frommen Gefühle des Menſchen iſt Naturdienſt. So ſpricht ſich in den ägyptiſchen Culten der Iſis und des Oſiris, der heiligen Thiere gar nicht zu gedenken, unmittelbar unter der Form der Gottesverehrung, die Anerkennung der um den Aegypter wirkſamſten und ſegenreichſten Naturkräfte aus, ſo geſtaltet ſich aus der üppigen Natur Indiens die bilderreiche Naturgeſchichte des Brahmanenthums und auf den lichten, ſonnigen Höhen Irans und Turans betet der Menſch die lichtbringende Sonne und ihr Symbol das Feuer an, während man in der nordiſchen Mytho - logie unſchwer den Kampf des eiſigen Winters und ſeiner Stürme mit dem kurzen Sommer erkennt. Am ſchönſten, feinſten und durch - gebildetſten erſcheint uns aber dieſe Naturreligion bei den geiſtig ſo hochbegabten Griechen, in deren im Ganzen trocknen heitern Lande das ganze Gedeihen der organiſchen Welt an die locale und jährliche Vertheilung der Feuchtigkeit gebunden war und ſo in der vergöttern - den Perſonificirung des heitern Zeus, der Wolken bringenden Here, des wärmenden Apollo, des blitzenden Hephaiſtos und ſofort eine wunderbar ſchöne Geſtaltung und Verſchmelzung von Religion, Phyſik und Poeſie, ein Mythos geſchaffen wurde, deſſen Reichthum291 und plaſtiſche Schönheit eine nie verſiegende Quelle des Genuſſes für alle Zeiten ſeyn wird.

Aber dieſes Verhältniß kann nur auf einer gewiſſen Bildungs - ſtufe der Menſchheit beſtehen. Der forſchende Vorwitz des Menſchen läßt ihn bald am Iſisſchleier der Natur zerren und je mehr es ihm gelingt denſelben zu lüften, deſto mehr ſchwinden die Götter aus ſei - ner unmittelbaren Umgebung, von der Erde und endlich auch aus dem Sternenhimmel und die ganze Natur mit ihrem Getriebe von Kräften und Stoffen fällt der gemeinen Deutlichkeit der Dinge , der entgei - ſternden Phyſik anheim. Es bleibt keine Subſtanz, nichts Weſent - liches in der Natur zurück, was eines Gottes bedürfte, einen Gott enthielte; unter weſenloſen, unveränderlichen Naturgeſetzen läuft das Uhrwerk ab und zieht ſich auf, ohne Bedürfniß, aber auch ohne Schönheit, ohne Freude. Aber ſeltſam! der Naturforſcher beweißt ſich unwiderleglich: es giebt in der Natur keine Farbe, ſondern nur Aetherwellen verſchiedener Länge, es giebt keinen Ton, ſondern nur Luftſchwingungen, die ſich langſamer oder raſcher folgen und ſo fort und doch entzückt ihn zugleich das Farbenſpiel des Regenbogens, doch ſchwellt das tiefe Flöten der Nachtigall ſeine Bruſt mit Sehnſucht, doch kann er von dem ganzen Haufwerke ſeelenloſer Maſſen, die als Land - ſchaft vor ihm liegen, den goldnen Duft der Morgenröthe nicht abſtreifen, wodurch ſie ihm lieblich zum Herzen ſpricht oder in ihrer Erhabenheit ſeine Seele fortreißt über die Grenze der Raumwelt; wohin? er weiß es nicht, nur ſein Gefühl pocht darauf: es muß ein Jenſeits geben; aber wo liegt dieſes?

Nicht im Raume, nicht in der Zeit. Zwar iſt das Paradies der Völker wie des Einzelnen, wenn auch nicht räumlich, doch zeitlich zu ermitteln. Das Eden des Menſchen iſt eben jene erſte urſprüngliche Stufe, wo er ſich noch keine Rechenſchaft gegeben über ſeinen Zuſtand, ſeine Stellung zur Natur, wo ihm Gott und Natur noch als Eins erſchei - nen, weil er von beiden falſche Vorſtellungen hat, die er ſich nach Ana - logie ſeiner eigenen Natur ausführt, Vorſtellungen, welche Natur und Gottheit einander nahe bringen, weil ſie jene zu hoch und dieſe zu19*292niedrig ſtellen. Aber die Lage des Jenſeits, welches der gebildete Menſch erſtrebt, wird durch kein Wo und kein Wann beſtimmt. So lange und ſo weit die Natur dem Menſchen noch unerklärlich und unverſtändlich iſt, ſucht er hinter dieſem von ihm nicht Durchſchauten ein ihm gleiches geiſtiges Weſen, er belebt die Nachtſeiten der Na - tur mit den von ihm ſelbſt geſchaffenen Geiſtern oder Geſpenſtern, die aber ſchnell vor dem Lichte der Wiſſenſchaft entfliehen. Auf der anderen Seite läßt ihn das Bedürfniß ſeines Herzens nach einer Macht ſuchen, in deren verſtändiger Lenkung der Begebenheiten er Schutz gegen das Spiel des Zufalls oder die Tyrannei des Schickſals fin - den könne, und dieſe Macht zeichnet er ſich nach dem Höchſten was er bis dahin kennen gelernt, nach dem Beſten, Weiſeſten der Menſchen und fügt dieſem Bilde nur noch die Herrſchaft über die Erſcheinungen hinzu, in denen er zuerſt Zufall und Schickſal fürchten lernte, nämlich über das Spiel der Naturkräfte. Immer aber bleibt der Menſch mit ſeinen Vorſtellungen von Gott in dem Kreiſe des Menſchlichen und deshalb fühlt er ſich dem ſelbſtgeſchaffenen Gotte immer noch ver - wandt genug, um, wenn auch nicht für ſich, doch für ſeine glücklichern Vorväter ihre gerade Abſtammung von den Göttern oder ihren un - mittelbaren Umgang mit denſelben in Anſpruch zu nehmen. Je weiter nun der Menſch in ſeiner Ausbildung und Entwicklung fort - ſchreitet, deſto klarer, durchſichtiger, verſtändlicher wird ihm die Na - tur, aber deſto weiter wird auch ſein Abſtand von Gott und deſto unbegreiflicher wird ihm derſelbe. Dem am Höchſten gebildeten Menſchen iſt Gott am unbegreiflichſten, denn er iſt ſich bewußt, daß jede Vorſtellung, ſey es welche es wolle, die er ſich vom höchſten Weſen entwirft, demſelben durchaus in keiner Weiſe entſprechen kann; aber nur Wenige erreichen dieſe Stufe der Ausbildung, nur wenige ſind ſo weit mit ſich ſelbſt verſtändigt, daß ſie ſich ruhig beſcheiden, daß der Men - ſchen Wiſſen nie dahin reicht, wo Gott und Unſterblichkeit wohnen. O! des thörichten Hochmuthes der Menſchen, die, um ſich ſelbſt nur nicht zu klein zu finden, lieber das höchſte Weſen zu ſich in den Staub menſchlicher Verſtändlichkeit herabziehen möchten.

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Wie aber finden wir uns hier zurecht und zu unſerer Auf - gabe ſelbſt zurück? Ich meine auf folgendem Wege. Die ganze Natur zeigt ſich uns in Raum und Zeit gebunden und eben deshalb erſcheint ſie uns auch mit Nothwendigkeit als nich - tig und unwürdig. In unſerm Herzen ſelbſt lebt unabweisbar die Forderung nach etwas Vollendetem, Unveränderlichem, wir fühlen uns zu dem Ausſpruch berechtigt: nur das Vollkom - mene beſteht wirklich ; aber was im Raum iſt, iſt auch wie der Raum ſelbſt ohne Grenzen, nirgends abgeſchloſſen, nirgends fertig, un - endlich, d. h. unvollendbar; was in der Zeit iſt, gehorcht dem Geſetz der Veränderung, oder der Aufeinanderfolge verſchiedener Zuſtände. In Raum und Zeit dürfen wir alſo Das nicht ſuchen, was unſerem Herzen Befriedigung gewähren ſoll, das wahrhaft Seyende, Vollendete; die allein wirkliche Gotteswelt iſt nicht die uns umgebende Natur. Nun denn, ſo wäre Alles, was uns anſchaulich entgegentritt, nichts als ein neckender Fiebertraum, ein leerer, weſenloſer Schein? Wohl hat es Leute gegeben, welche zu dieſem ſeltſamen Schluſſe gekommen ſind, der auch nach dem, was wir bisher erörtert, vielen Schein für ſich zu haben ſcheint. Aber der Schein gilt auch nur dem mangel - haft über ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen. Forſchen wir nämlich weiter, ſo kommen wir bald auf die Entdeckung, daß Raum und Zeit überall nichts den Dingen ſelbſt Angehöriges ſind, ſondern nur zu der Art und Weiſe gehören, wie wir menſchlich beſchränkt die Dinge auffaſſen und, ſo lange wir eben Menſchen bleiben, auch aufzufaſſen gezwungen ſind. Raum und Zeit ſind gleichſam die gefärbte Brille, welche wir Alle von der Wiege bis zur Bahre tragen, ohne ſie jemals ablegen zu können, was der Macht auch des Gebildetſten unmöglich iſt. Aber der wahrhaft Gebildete kann es wohl dahin bringen, einzu - ſehen, daß er eine Brille trägt, welche ihm die Dinge nicht ſo zeigt und nicht ſo zeigen kann, wie ſie in der That an ſich ſind. Nun, dann ſchließen wir weiter: ſo iſt es doch das Reich Gottes, welches uns umgiebt und aufnimmt und nur unſerem menſchlich beſchränkten Standpuncte, unſeren umdüſterten Blicken iſt es zuzuſchreiben, daß294 wir mit dem Scheine der größten Wahrheit, mit mathematiſcher Gewißheit nämlich, dieſe Welt ſo auffaſſen als ob ſie dem ewigen und heiligen Urheber der Dinge entfremdet wäre. Ein Nebelſchleier, den wir nicht zu heben vermögen, macht uns die Anſchauung des Gött - lichen in der Natur unmöglich, aber es wird, es muß ein Zuſtand kommen, wo Raum und Zeit, dieſe Schranken unſerer menſchlichen Auffaſſungsweiſe, fallen und wir ſchauen, was wir jetzt nur ahnen.

Wir ſehen jetzt durch einen Spiegel, in einem dunkeln Wort, dann aber von Angeſicht zu Angeſicht.

Jene ſcheinbar ſo feſte, klare mathematiſche Auffaſſung der Na - tur, und mit ihr alle Wiſſenſchaft, iſt alſo im Grunde die dürftigſte, niedrigſte, unwahrſte, weil ſie nur die menſchlich beſchränkte iſt. Aber ſo wie der dem Menſchen erſcheinenden Natur die hehre Gotteswelt zum Grunde liegt, ſo lebt auch in uns, ungeachtet unſeres menſchlich beſchränkten Zuſtandes, der göttliche Funke, nicht erloſchen, ſondern nur für die Zeit durch Staub und Aſche bedeckt. Dieſer Funke, die Sehnſucht nach dem Ewigen, Unverderblichen, fordert zu ſeiner Be - friedigung das ihm Gleichartige, und ahnt in der Erſcheinung das Weſen, im naturgeſetzlichen Mechanismus der todten Maſ - ſen das freie Göttliche, und was er niemals in klaren Begriffen auszuſprechen vermag, lebt gleichwohl als ſein edelſtes Erbtheil in den Gefühlen ſeines Herzens. Das eben iſt es, was ihm als uner - klärbar, unbegreiflich in der Natur entgegentritt, was ſich jeder wiſſenſchaftlichen Behandlung entzieht und doch als ein Beſſeres, Höheres denn alle Wiſſenſchaft ankündigt, das iſt es was uns als Schönheit in der Natur mit unendlichem Entzücken erfüllt, oder als Erhabenheit mit unausſprechlich heiligen Schauern durchbebt.

Und hier ſchließt die Entwicklung zu einem Ring zuſammen; auf der höchſten Stufe der Bildung gewinnen wir mit Bewußtſeyn und geläuterter Einſicht Das wieder, womit unbewußt der kind - liche Verſtand begonnen. Naturbetrachtung wird wieder Gottes - dienſt, aber erſt nachdem wir alles Ungöttliche, Menſchliche, alles wiſſenſchaftlich Erklärbare, gemein Begreifliche aus der Natur abge -295 ſchieden haben und nichts geblieben iſt als das Geheimniß der Schön - heit. In ihr geht uns die Ahnung einer höheren Bedeutung aller Erſcheinungen auf, ihre Anerkennung iſt Cultus, iſt der reinſte und höchſte Gottesdienſt, zu welchem der Menſch ſich erheben kann, in ihr wird uns die unmittelbarſte Offenbarung des Heiligen, deren der Menſch fähig iſt. Laßt uns, um Mißverſtand vorzubeugen, noch hinzufügen, daß die Schönheit der äußern körperlichen Natur nicht die höchſte iſt, die uns im Leben begegnet. Es giebt noch Edleres als die Körperwelt, das iſt der Geiſt des Menſchen; Schönheit der Seele und die edelſte Blüthe derſelben, reine Liebe, iſt ein noch vollkomm - nerer Abglanz des Göttlichen und nicht aus der Körperwelt, aus dem innerſten Leben des Menſchengeiſtes entlehnen wir daher unſere höchſten Symbole.

Hat nun auf dieſe Weiſe die Natur ihre eigentliche Bedeutſam - keit für uns erhalten, ſo ſcheinen wir mit unſerer Rede am Schluſſe zu ſeyn. Die Schönheit iſt keiner erklärenden Wiſſenſchaft fähig. Die Ausſprüche, in denen wir ſie anerkennen, die Geſchmacksurtheile ſind nicht durch Schlußreihen zu ſtützen. Jedes ſteht vielmehr für ſich allein da und macht ſeinen Anſpruch auf unmittelbare Gültigkeit, ſelbſt dann noch, wenn es ſich in der Seele verſchiedener Beſchauer ganz verſchieden geſtaltet. Woher ſollen wir den Stoff nehmen zu weiterer Ausführung? Können wir auch das Weſen der Schönheit nicht zerlegen, ſo können wir doch den Gegenſtand, der uns als ſchön erſcheint, einer genauern Betrachtung unterwerfen, wir können uns ſeiner einzelnen Theile und Merkmale, ihres Verhältniſſes zu einander bewußt werden und uns in einer gewiſſen Syſtematik entwickeln, welche Elemente und welche Verbindungen derſelben in uns das Ge - fühl des Schönen und Erhabenen beleben. Analog den Unterſuchun - gen über Harmonie der Farben, Regeln der Compoſition und ſo weiter, können wir auch in der Pflanzenwelt näher die Eigenthümlichkeiten aufſuchen, durch welche der äſthetiſche Eindruck, den ſie auf uns macht, vermittelt wird.

Vor Allem aber müſſen wir hier bevorworten, daß nirgends296 ſo wenig noch mit Geiſt und Geſchmack vorgearbeitet iſt, als gerade in dieſer höchſten Aufgabe der Botanik und daß wir hier deshalb wenig mehr finden als ſehr unzuſammenhängende Bruch - ſtücke. Dies mag denn das noch weniger als Skitzenhafte der fol - genden Mittheilungen entſchuldigen.

Das geſammte Material, welches uns hier zu Gebote ſteht, zerfällt in drei Gruppen, nach der Art und Weiſe, in welcher die Pflanzen ihre Bedeutſamkeit geltend machen. Das Erſte iſt die Symboliſirung der ein - zelnen Pflanzen. Der Menſch, ſobald er ſich dem roheſten Zuſtande des Jägerlebens entriſſen, wird ſchon durch den Heerden pflegenden Beruf des geſänftigtern Hirten, mehr aber noch durch die Eigenthum aner - kennende Geſittung des Ackerbaus auf die Beobachtung der Pflanzen im Einzelnen, ihres Entſtehens und Vergehens, ihres Lebens und ihrer Fortpflanzung, endlich ihrer Abhängigkeit von fördernden oder ſtörenden Einflüſſen der äußern Natur, von Sonne, Thau, Regen und Boden hingewieſen. Dem Menſchen, der zuerſt zum Gefühl eigner Freiheit erwacht iſt, der gefühlt hat, daß er Thäter ſeiner Thaten ſey, iſt es faſt unvermeidlich, überall da wo er Veränderung ſieht Handlung, wo er Thätigkeit ſieht Freiheit und daher geiſtiges Leben vorauszuſetzen. So erhält anfänglich jede Pflanze, jeder Baum, jede Blume ein perſonificirendes Princip, als einwohnenden Gott; Dryaden beleben die Wälder, im ſäuſelnden Graſe tanzen Elfen ihren leichten Reigen. Noch beſtimmter bemächtigt ſich ſpäterhin die ſymboliſirende Dichtung des Lebens der einzelnen Pflanzen und in Cultus und Poeſie verflechten ſich reiche Kränze aus dem friedlichen Reiche der Flora. Die Sehnſucht nach einer Fortdauer jenſeits des unvollkommenen Erdenlebens greift begierig nach jedem Zug in der Natur, der eine ſolche Unſterblichkeit andeutet. Die ernſte und dauernde Cypreſſe ſchmückte bei den Griechen die Gräber der Ge - liebten und die Wieſen der homeriſchen Unterwelt belebt der blaue Aſphodelos, deſſen lichte Blüthe, in jedem Frühling neu aus der in der Erde ſich bergenden Zwiebel emporgehoben, ein ewiges Wieder - aufleben, eine ſichere Unſterblichkeit verkündete. Auf den ſtillen Ge -297 wäſſern des ſeegenbringenden Nils, des allernährenden Iſisſtromes ruft der belebende Einfluß des Sonnengottes Oſiris die üppige Lotos - blume hervor, in ihren großen, mandelähnlichen Kernen dem älte - ſten Menſchengeſchlechte leicht gewonnene Nahrung ſpendend, und in dankbarem Gefühle wird dieſe Pflanze jenen milden Gottheiten ge - weiht; ſie ſelbſt wird das Symbol der Fruchtbarkeit, der ſegensvollen Kraft der Entwicklung der Natur, und nachdem die Nothdurft ander - weitig befriedigt iſt, wird der Genuß ihrer Frucht, als einer gehei - ligten, dem ſtaubgebornen Menſchen unterſagt; zugleich mit ägypti - ſcher Prieſterweisheit verkündet Pythagoras ſeinen Schülern das Verbot jene Bohnen zu eſſen. Es iſt Athene, die Göttin der hei - tern Luft, welche den Griechen den ſonnige Standorte liebenden Oel - baum ſchenkt und der Uferbenetzer Poſeidon kränzt ſeine Stirn mit den Zweigen der ihm heiligen Strandkiefer*)Pinus maritima. Poſeidons Fichtenhain. .

Leider iſt die Verbindung lebendiger Naturanſchauung mit todter philologiſcher Gelehrſamkeit noch viel zu neu, als daß es möglich wäre, die Symboliſirung der Pflanzenwelt durch alle Formen der Gottesverehrung bei den verſchiedenen Menſchenſtämmen zu verfolgen. Gerade die Seiten der alten religiöſen Mythen ſind bis auf die neueſte Zeit am meiſten vernachläſſigt worden, in welchen ſich ihre Verbindung mit dem Naturleben ausſpricht, in welchen man daher die ſicherſten Anhaltepuncte zu ihrer Erklärung und Aufklärung ge - funden haben würde, während man jetzt nur zu oft der Deutung die albernſten Phantaſien untergeſchoben hat.

Wir finden daher natürlich auch noch eine Menge von Be - ziehungen zwiſchen religiöſem Mythus und Pf[l]anzenwelt, welchen wir zu deuten gegenwärtig noch ganz außer Stand ſind. Die Deu - tung der Roſe und Myrte zum Beiſpiel auf Liebe und Ehe, ſchon den alten Völkern geläufig, beruht ſicher nicht auf einem bloßen äſthe - tiſchen Wohlgefallen, ſondern auf einer tiefern Beziehung zum griechiſchen Naturcultus, deren Entzifferung uns auch wohl erklären298 würde, weshalb zwei der Charitinnen mit Roſe und Myrte, die Dritte aber durch einen Würfel characteriſirt werden. Auch der Bogen des indiſchen Liebesgottes Kamadawa, aus Zuckerrohr gefertigt, ſymboliſirt wohl mehr als die bloße Süßigkeit der Liebe, was ohne - hin ein etwas froſtiges Gleichniß wäre und gewiß eine tiefſinnige Naturbetrachtung hat ihm als Pfeilſpitze die roſenrothen Blüthen - knoſpen des Amrabaumes gegeben.

Freilich muß zugeſtanden werden, daß dieſe ſymboliſche Auffaſ - ſung der Pflanzenwelt nicht mit einem beſtimmten Zeitalter der Menſchheit abgeſchloſſen iſt, ſondern daß der an ſich unerſchöpfliche Stoff auch fortwährend von dem dichteriſchen Geiſt des Volkes aus - gebeutet wird, mag ſich nun der Urſprung irgend einer ſolchen Parabel in der Menge des Volkes verlieren oder beſtimmt an ein einzelnes Genie knüpfen, welches mit ſo richtigem Gefühle dem Volke vorge - dichtet hatte, daß dieſes ſogleich den fremden Gedanken als Gemein - gut adoptirte. So mag es oft ſchwer halten zu beſtimmen, wie weit in der Geſchichte die erſte Entſtehung und Ausbildung eines ſpäter allgemein gebrauchten Gleichniſſes, einer typiſch gewordenen Bedeutung einer Pflanze oder eines Vorgangs aus ihrem Leben hinaufreicht. Die geknickte Lilie, das beſcheidene Veilchen, die ſtolze Kaiſerkrone und ſo weiter ſind ſo natürlich anſprechende und verſtändliche Bilder, daß wir ſie in gleicher Weiſe faſt bei jedem ge - bildeten Volke wiederfinden und doch kennt man weder von dieſen noch von den unzähligen ähnlichen, welche geradezu der Sprache ſelbſt angeeignete Formen geworden ſind, die erſten Urheber. Selbſt da ſind wir im Unklaren, wo die Eigenthümlichkeit des Symbols auf ganz beſtimmte Orte und Zeiten in der Geſchichte hinweißt. Der Mos - lem, der von Mecca zurückkehrt, bringt als Zeugniß ſeiner Pilger - fahrt die Aloe*)Aloe perfoliata vera. mit und hängt ſie, mit der Spitze nach Mecca wei - ſend, über ſeiner Schwelle auf, welcher dann kein unſauberer Geiſt mehr nahen kann. Dieſer Gebrauch, deſſen abergläubiſcher Theil299 ſelbſt auf die Juden und Chriſten in Cairo übergegangen iſt, hängt ſicher auf eigenthümliche Weiſe mit der Entſtehung der Pilgerſchaft nach Mecca und mit der Natur dieſer Pflanze zuſammen, aber das Wie iſt uns unbekannt.

Manche der früher gebräuchlichen Bilder und Symbole haben ſich auch im Laufe der Zeit umgeſtaltet, andere ſind an ihre Stelle getreten, wenn genauere Naturbeobachtung zeigte, daß ſie den zu be - zeichnenden Gedanken ſchärfer und prägnanter ausſprachen. Ja oft möchte man in ſolchen Vertauſchungen den ſtrafenden Volkswitz ver - muthen. Die alte deutſche Mannstreue*)Eryngium. iſt zwar eine etwas derbe, auch rauhe und ſtachliche Pflanze aber dauerhaft in Geſtalt und unverwüſtlich ächt in Farbe, was man dagegen heut zu Tage Männertreue**)Veronica chamaedrys. nennt iſt ein kleines blaues Blümchen, das kaum gepflückt ſchon abfällt, deſſen allerdings verlockend ſchöne Farbe ſchon nach wenig Stunden an der Sonne verbleicht.

Doch wozu noch dieſe einzelnen Anführungen häufen, da jeder Gebildete, der einigermaßen mit dem Geiſte ſeiner Mutterſprache ver - traut iſt, dieſer Bilder aus dem Pflanzenleben ſich zu Tauſenden aus ſeinen Sagen, Mährchen und Dichtungen erinnern wird.

Wichtiger und intereſſanter möchte es vielleicht ſeyn, mehr im Großen die Elemente der Pflanzenwelt aufzuſuchen, welche die Vermitt - ler des äſthetiſchen Eindrucks ſind. Hier treten uns nun wieder zwei verſchiedene Aufgaben entgegen. Was uns im Großen in der Natur entzückt, die als ein Ganzes zuſammengefaßten Naturerſcheinungen, mit einem Wort die Landſchaft, iſt eben eine Moſaik einzelner auch für ſich beſtehender und für ſich bedeutungsvoller Theile. Wald und Wieſe, in einer Gegend ſich gegenſeitig hebend durch den Contraſt und ſo die Schönheit derſelben bedingend, ſind auch für ſich, ohne Rückſicht auf den Antheil den ſie an der Zuſammenſetzung des größern Ganzen nehmen, characteriſtiſche Bildungen der Pflanzenwelt und jede auf eine beſondere Weiſe aus einzelnen Pflanzenarten zu einem300 beſtimmten äſthetiſchen Eindruck zuſammengeſetzt. Man kann ſolche Pflanzengruppirungen, wie Wald, Wieſe, Haide u. ſ. w., Pflanzenformationen nennen, und gewiß verdienen ſie eine bei Weitem tiefere Erforſchung und ſorgfältigere Darſtellung als ihnen bisher zu Theil geworden iſt.

Wir werden aber, wenn wir näher treten, bald darauf geführt, daß ihr eigenthümlicher Charakter wieder in mannigfacher Weiſe be - dingt iſt von dem ſo zu ſagen phyſiognomiſchen Ausdrucke der Pflan - zenarten, woraus ſie beſtehen. Die Botaniker unterſcheiden nach mannigfachen Merkmalen, am beſten und wiſſenſchaftlichſten nach den eigenthümlichen Verſchiedenheiten und Aehnlichkeiten in der gan - zen Entwickelungsgeſchichte der Pflanzen zahlreiche größere und klei - nere Gruppen, welche man gemeinhin als Familien bezeichnet. Die zu einer Familie gerechneten Pflanzen verknüpft natürlich ein enges verwandtſchaftliches Band, und wer ſich auf feinere phyſiognomiſche Studien verſteht, dem werden auch die feineren Familienzüge, in denen alle übereinſtimmen, nicht entgehen. Aber ſo wie im Großen unter Menſchen uns doch zunächſt die von Familienverwandtſchaften ganz unabhängigen Raçencharaktere und Spielartenbezeichnungen: Kalmückenaugen, Negerſchädel, Habichtsnaſen, Blondinen und Brünetten u. dgl. auffallend entgegentreten, ſo ſind es auch unter den Pflanzen durchaus nicht die Aehnlichkeiten und Verſchiedenheiten, welche durch die wirkliche natürliche Verwandtſchaft hervorgerufen werden, ſondern es ſind vielmehr allgemeinere, meiſtens in vielen Familien zugleich vorkommende Eigenthümlichkeiten der Er - ſcheinung und des Baues der Pflanzen, von welchen ihre phyſiogno - miſche Bedeutung für die Zuſammenſetzung der botaniſchen Formatio - nen und ſomit der Landſchaften abhängig iſt. Die Beachtung dieſer Eigenſchaften der Pflanzen läßt uns denn für ſie gewiſſe allgemeine Formen aufſtellen, nach welchen ohne Rückſicht auf die natürliche innere Verwandtſchaft die Pflanzen nur danach zuſammengeordnet werden, wie ſie einen gleichen gemeinſchaftlichen äſthetiſchen Ein - druck auf uns machen und zugleich als Charakter beſtimmend in den301 Formationen oder überhaupt in der Phyſiognomie der Landſchaft hervortreten.

So erhalten wir ſtatt der etwa 300 Familien, welche die Botaniker bis jetzt aufgeſtellt und durch feinere, ſorgfältig erforſchte Merkmale von einander unterſchieden haben, nur eine verhältniß - mäßig geringe Anzahl von Pflanzenformen.

Meiſt grau und dürr, ſchorfig flach oder ſtachlich, wie rieſige Schneekryſtalle in einander gewirrt, fröſtelnde Schauer hervorrufend, überzieht die Flechtenform die öden Grenzflächen der Vegetation gegen die unorganiſche Natur und zu dieſer gleichſam den Uebergang bildend, während in der Form der Mooſe dicht gedrängte, zarte gelblichgrüne Blättchen meiſt mit Seidenglanz einen polſterartigen Sammetüberzug über Boden und Geſtein bilden. Aehnlich den beiden Genannten, ſich nicht zu freien Geſtalten aufrichtend, ſondern faſt nur die nackte Fläche, nicht der Erde aber des Waſſers, kleidend ent - wickelt ſich bedeutungsvoll für die Schönheit aller waſſerreichen Land - ſchaften die Form der Seeroſen*)Die prachtvollſte von allen, die Victoria regia mit Blättern, die 15 Fuß, weiß und roſenrothen Blüthen, die 4 Fuß im Umfange haben, bildet den Mittelgrund des Titels.. Große breite Blätter, mit abgerundeten Umriſſen, flach auf dem Waſſer ſchwimmend oder etwas ſchüſſelförmig vertieft ſich wenig über daſſelbe erhebend, pracht - voll gefärbte Blumen von ſchönem Bau und großem Umfange, auch kaum aus dem naſſen Elemente auftauchend, ſind die bezeichnendſten Züge in der Phyſiognomie dieſer Gewächſe. Die Form der Grä - ſer zeichnet ſich vor Allen beſonders aus durch ihre Geſelligkeit; die nicht hohen Stengel tragen flache, ſchmale, biegſame, lebhaft und wohlthuend grüne Blätter, und auf dünnen Stielchen wiegen ſich im leiſeſten Hauche die feinen Blüthenriſpen; noch iſt in ihnen die Pflanzenwelt an den Boden gebannt, über welchen ſie ſich wenig erheben und den ſie als weicher, wolliger Teppich bedecken. Ihnen, die den Eindruck heiterer Behaglichkeit hervorrufen, des Hirten Freude, der Heerden üppiger Nahrung zur Seite ſteht die düſtere302 Form der Binſen; aus verſumpfter ſchwarzer Erde ragen in ſchmutzigem Graugrün die ſteifen, ſtruppigen, rundlichen Stengel und Blätter, hin und wieder Knäulchen brauner oder ſchwarzer trockener Blüthchen tragend oder weiße wollige Flocken, das Greiſen - haar der Früchtchen, in den herbſtlichen Sturmwind ſtreuend; ſaure Gräſer nennt ſie ſeufzend der Landwirth und das Vieh verſchmäht ſie. Am Rande friſcher Gewäſſer dagegen und zumal unter dem befruch - tenden Einfluſſe feuchtwarmen Tropenklimas erhebt ſich das Gras zur edleren hohen und breitblättrigen Schilfform*)Auf dem Titelblatte links ein Bambusgebüſch ſtellt dieſe Form am ſchön - ſten dar., in Hindoſtan ſelbſt Bäume überragend**)Panicum arborescens. und eine Wieſe über dem Walde bildend. Hier im Reiche der Gewürzlilien ſchwillt der Stengel von Saft, breitet ſich das Blatt in Länge und Breite, aber zur Seite der Mittelrippe ſo dünn, daß es leicht vom Winde zerſpalten wird; die Pflanze färbt ſich mit dunklem, ſammetſchillerndem Grün oder dem wärmſten Gelbgrün, und in reinen intenſiven Farben ſtrahlen die großen Blüthen - büſchel; ſo entſteht die Piſang-Form***)Rechts auf dem Titel die freudiggrünen Blätter der Banane., eine der characteriſtiſch - ſten für die Ueppigkeit der Tropenvegetation. Durch die Pracht der Blüthen den Piſang - oder Bananenpflanzen, durch die Tracht der Blätter faſt dem Schilfe ähnelnd, ſteht zwiſchen beiden gleichſam mitten inne die Form der Liliengewächſe, die einzige, welche gerade in dem hier genommenen Umfange einen künſtleriſchen Dar - ſteller an dem franzöſiſchen Blumenmaler Redouté gefunden hat. Endlich ſtellt ſich noch eine dritte Form der Aroiden†)Der Titel zeigt rechts in der Mitte eine blaugrüne Blättergruppe dieſer Pflanzen. daneben. Dreieckige oder pfeilförmige ſaftig grüne Blätter auf langen Stielen und wunderliche oft ſchön gefärbte Tuten, welche kolbenförmige Blüthenſtände umhüllen, bilden die Pflanzen, die auf den mächti -303 gen Stämmen tropiſcher Waldbäume ſich anſiedelnd, den Uebergang zu den Orchideen andeuten.

Wenn in allen dieſen zuletzt genannten Formen die Blattbil - dung übermäßig hervortrat, ſo ſetzen wir ihnen jetzt einige Formen entgegen, welche vielmehr eine bevorzugte Entwickelung des Stengels zeigen. Zunächſt möchte ich dahin die Haiden-Form rechnen; niedres, vieläſtiges, holziges Geſträuch, deſſen kleine matt - grüne oder graue Blätter ſo dicht gedrängt ſtehen, daß ſie faſt nur als Rauhigkeiten der Zweige erſcheinen und ſelbſt die oft ſchöne Farbe der trockenen Blüthen den traurigen Eindruck nicht verwiſcht, den die Pflanzen überall hervorrufen, wo ſie die Phyſiognomie der Land - ſchaft beſtimmen. Eine Nebengruppe könnte man hier für die Ca - ſuarinen beſtimmen und ſie baumartige Haideform nennen, die in Auſtralien die unheimlichen blatt - und ſchattenloſen Wälder bil - den. Noch auffallender iſt aber die Stammbildung begünſtigt in den ſtachlichen Cacteen, die nur aus fleiſchigen, wunderlich geform - ten Stämmen und Aeſten beſtehen, welche Cactusform noch in manchen andern Familien, z. B. bei den Wolfsmilcharten, bei den Stapelien, und wenn auch allerdings mit bedeutenderer Blattentwickelung, doch mit gleich phyſiognomiſchem Ausdrucke in den meiſten Fettpflanzen, Aloen und Meſembryanthemen wiederkehrt. Zwar nicht bezüglich ihrer wirklichen Organiſation, aber doch mit Berückſichtigung der eigenthümlichen Art und Weiſe, wie ſie Theil nehmen an der Zuſammenſetzung eines Pflanzengemäl - des, müſſen wir hierher zu den blattloſen oder vielmehr nur durch ihre Stengel wirkenden Pflanzen alle diejenigen rechnen, die wir mit den ſpaniſchen Anſiedlern in Amerika als Llanen oder Lianen - form*)Das Titelblatt zeigt einige kleinere Formen, zumal in der Mitte des ganzen Bildes ein Feſton einer prachtvoll blühenden Trichterwinde. zuſammenfaſſen. Wie ſtarke Schiffstaue gedreht oder ſchlangenförmig hin - und hergebogen, bald Schnüren gleich, bald flach und bandartig, bald abwechſelnd rechts und links mit flachen304 kammähnlichen Auswüchſen beſetzt, ziehen ſich 40, 50, ja 100 und mehrere Hunderte von Fußen blatt - und aſtlos die Bauhinien, Ariſtolochien, Winden, Bignonien und andere in den tropi - ſchen Urwäldern von Baum zu Baum; oft an dem Einen hinauf - ſteigend, ihn umſchlingend bis zum Erſticken, dann überſpringend auf einen Andern, dann herabfallend in einem Bogen und wieder bis in die höchſten Gipfel eines dritten Baumes hinankletternd, wo die Pflanze vielleicht einen Büſchel der prachtvollſten Blüthen in den lichteren Lüften wiegt, während ſie höhnend dem Wanderer im Waldesſchatten nichts beut als ihre nackten Stämme, mit denen ſie oft faſt undurchdring - lich das Dickicht verflicht. Aus dieſem Grunde wiſſen wir auch bei allem Fleiße der Sammler nur in den wenigſten Fällen, welche der zahlreichen in den Herbarien aufbewahrten Blüthen mit den ebenfalls reichlich geſammelten, oft gar wunderbar abweichend gebauten Stäm - men zuſammengehören.

Zu einer ganz eigenthümlichen Zeichnung verknüpft die Natur gleichſam die beiden in der vorigen Familie getrennt auftretenden Elemente, nämlich den Büſchel ſchön entwickelter Blätter und den rein für ſich ausgebildeten nackten Stamm in der von dem Cultus geheiligten, vom Alterthum geprieſenen, von Dichtern beſungenen Palmenform*)Die Einfaſſung des Titelblattes bilden rechts die ſchlanken Cocos mit ge - fiedertem Laube, links die kräftigere Mauritiuspalme mit fächerförmigen Blättern.. Es zerfällt aber dieſe Form in mehrere Unter - abtheilungen, bei denen beſonders durch die Subſtanz und Geſtal - tung der Blätter ihr phyſiognomiſcher Charakter noch eigenthümlich individualiſirt wird. Im Allgemeinen erhebt ſich bei dieſer Pflanzen - geſtalt der Stamm von einer ganz niedrigen, an einen Kugelcactus erinnernden Maſſe bis zu der ſchlankeſten, mehrere 100 Fuß hohen Säule, und natürlich iſt der Eindruck, den die faſt ſtammloſen Zwerg - und Nipapalmen hervorrufen, noch weſentlich verſchieden von der majeſtätiſchen Erhabenheit des 180 Fuß hohen Schaffts der Wachspalme der Anden; es bleibt aber doch insbeſondere die305 Anordnung und Form des Laubes, welche bedeutſamer den Total - eindruck modificirt. In dieſer Rückſicht unterſcheiden wir die Form der baumartigen Lilien oder die Agaven-Form, mit oft hin - und hergebogenen, zuweilen nach Oben in wenige kurze dicke Aeſte getheiltem Stamme, deſſen Enden einen nach allen Seiten gleich - mäßig ausgebreiteten Büſchel lilienartiger, gewöhnlich derber, ſtarrer, und deshalb von leichtem Winde nie bewegter, oft mattgrüner Blätter tragen und ſo das Bild der unerſchütterlichen Ruhe darbieten. Die thebaiſche Cocospalme, die rieſigen Fourcrojen, die Yuc - cen Mexicos, die Vellozien und Barbacenien Chiles, die großen Aloen Africa's, die Grasbäume Auſtraliens gehören hierher und Polyneſien liefert noch eine beſondere Form in den Pan - daneen, mit ſteifen, zweiſchneidigen, glänzend grünen und in auffallend hervortretenden Schraubenlinien geſtellten Blättern, die Schraubenfichten (screw-pine) der Engländer. Den Gegen - ſatz hierzu bildet die Form der Farnkräuter, deren zartes, viel - fach zerſchlitztes Laub ſchirmartig ausgebreitet, vor Allem den Charakter anmuthiger Zierlichkeit und im leiſeſten Windhauche zitternd den Ein - druck beweglicher Leichtigkeit hervorruft. Die Mitte zwiſchen beiden Extremen hält die Palmenform im engeren Sinne des Wortes, deren vollendete Geſtalten, gleichſam durch einen noch rohen, halbmiß - lungenen Verſuch der Natur in den Cycadeen vorgebildet, eigent - lich die imponirende Schönheit der Tropenwelt bedingen. Sie ver - dienen, daß wir einige Augenblicke bei ihnen verweilen, und wir können hier keinem Beſſern als A. v. Humboldt folgen.

Die Stämme der Palmen ſind bald unförmlich dick, bald rohrartig ſchwach, bald nach oben, bald nach unten, bald in der Mitte bau - chig anſchwellend, bald glatt wie abgedrechſelt, bald ſchuppig, bald dicht beſetzt mit fußlangen, ſchwarz glänzenden Stacheln, bald umwunden mit zartem Netz von braunen Faſern. Seltſam erſcheinen ſie, wenn ſie, durch hoch am Stamme entſpringende Wurzeln über den Erdboden gehoben, gleichſam vielfüßig daſtehen oder ihren Ur - ſprung in wulſtartig ſie umwuchernde Wurzelfaſern verſtecken. DieSchleiden, Pflanze. 20306großen Blätter ſind gefiedert oder fächerförmig zertheilt, die ſtarken Blattſtiele, welche man ſchon in Genua von der Dattelpalme als Spazierſtöcke benutzt, ſind bald glatt, bald ſcharf gezahnt. Das Grün der Blätter iſt bald dunkelglänzend, bald auf der untern Seite ſilberfarben weiß. Bisweilen iſt die Mitte des Fächerblattes mit concentriſchen gelben und bläulichen Streifen pfauenſchweifartig geſchmückt.

In Tracht und Phyſiognomie der Palmen liegt überhaupt ein großer, ſchwer mit Worten auszudrückender Charakter, beſonders durch die Richtung der Blätter ſelbſt hervorgerufen. Die Theile der - ſelben, die Blättchen, ſind theils kammartig in einer Fläche dicht aneinander gereiht mit ſteifem Zellgewebe, wie bei der Cocos und der Dattel, daher der herrliche Abglanz der Sonne auf der obern Blatt - fläche, welche friſcheren Grüns in der Strandliebenden Cocos, matter und aſchfarbiger in der Wüſten umſäumenden Dattel iſt; bald er - ſcheint das Laub ſchilfartig, von dünneren, biegſamen Elementen ge - webt und nach der Spitze hin gekräuſelt. Den Ausdruck hoher Ma - jeſtät gewährt den Palmen außer dem Stamme hauptſächlich die Richtung der Blätter. Je anſtrebender, je ſpitziger der Winkel iſt, den ſie mit dem Stamme nach oben machen, deſto großartiger und erhabener iſt die Form. Welchen verſchiedenen Anblick gewähren die herabhängenden Blätter der Palma de Covija am Orinoco, ja ſelbſt der Cocos - und Dattelpalme und die himmelanſtrebenden Zweige der Jagua und Pirijao! Alle Schönheiten der Form hat die Natur in der Jaguapalme, welche die Granitfelſen in den Kataracten des Atures und Maypure bekränzen, zuſammen - gehäuft. Ihre ſchlanken glatten Stämme erheben ſich 60 bis 70 Fuß hoch, ſo daß ſie über das Dickicht des Laubholzes wie ein Säulen - gang hervorragen. Dieſe luftigen Gipfel contraſtiren wunderſam mit den dickbelaubten Ceibaarten, mit dem Walde von Lauri - neen - und Balſambäumen, welche ſie umgeben. Ihre Blätter, kaum 7 bis 8, ſtreben faſt ſenkrecht 14 bis 16 Fuß hoch aufwärts. Die Spitzen des Laubes ſind federbuſchartig gekräuſelt. Die Blättchen307 haben ein grasartig dünnes Gewebe und flattern luftig und leicht um die ſich langſam wiegenden Blattſtiele. Bei Palmen mit gefiedertem Laube entſpringen die Blattſtiele entweder aus dem dürren, rauhen, holzigen Theile des Schaftes, oder auf dem rauhen Theile des Stammes iſt ein grasgrüner, glatter, dünnerer Schaft wie Säule auf Säule aufgeſetzt, aus dem die Blätter hervortreten. In der Fächer - palme ruht die blätterreiche Krone oft auf einer Lage dürren Lau - bes, ein Umſtand, der dem Gewächſe einen ernſten, melancholiſchen Charakter gewährt. In einigen Schirmpalmen beſteht die Krone aus wenigen ſich an ſchlanken langen Stielen erhebenden Fächern.

Unter dem Urſprunge der Blätter aus dem Stamme brechen bei allen Palmen die Blüthentheile hervor. Die Art dieſes Hervorbrechens modificirt ebenfalls ihre Geſtalt. Bei Wenigen ſteht die große tuten - förmig zuſammengerollte Scheide ſenkrecht und aus ihr erhebt ſich der dichte Strauß der Früchte, einer Ananas ähnlich. Bei den Meiſten hängen die oft mehrere Fuß langen Scheiden bald glatt, bald feindlich rauh abwärts, oft von blendender Weiße, die weit in die Ferne glänzt.

Auch in Geſtalt und Farbe der Früchte iſt mehr Mannigfal - tigkeit als man gewöhnlich glaubt. Die Lepidocaryen, die Sagupalme ſind mit eierförmigen Früchten geziert, deren ſchup - pige, braune, glatte Oberfläche ihnen das Anſehen junger ſchöner Tannenzapfen giebt. Welcher Abſtand von der ungeheuren dreikan - tigen Cocosnuß zu der Beere der Dattel und den kleinen kirſchenähn - lichen Steinfrüchten des Corozo. Keine Palmenfrucht kommt aber an Schönheit den Früchten der Pirijao von St. Fernando de Ata - bapo gleich; eierfarbene, goldfarbene und zur Hälfte purpurrothe Aepfel hängen traubenartig zuſammengedrängt von dem Gipfel der majeſtätiſchen Stämme herab.

Mag dieſes zur Charakteriſtik der Palmen genügen, uns bleibt noch eine letzte Hauptform zu betrachten übrig, in der ſich am innig - ſten Stamm und Blattbildung mit einander verſchmelzen und unge - ſondert den Totaleindruck beſtimmen, nicht ohne daß derſelbe bald vom Stamme und ſeiner Veräſtelung bald von den Blättern und20*308ihren Formen eigenthümliche Modificationen empfinge. Die Form der Bäume zerfällt wieder in noch größerem Verhältniß als die der Palmen in beſondere charakteriſtiſche Unterformen.

Drei derſelben liegen unſerer Anſchauung ſo nahe, daß es kaum mehr bedarf als ihrer zu erwähnen. Es ſind die Form des Laub - holzes mit ihrem nach allen Seiten verzweigten Stamme und ihrer reichen, kurz - und breitblätterigen Belaubung dichte compacte Pflan - zenmaſſen bildend; die Weidenform mit lockern, ruthenförmigen Zweigen, ſchmalen oder langgeſtielten flatternden Blättern, deren untere, gewöhnlich weiß behaarte Seite dem bewegten Laube einen eigenthümlichen weißen Schiller verleiht, bei uns durch Weide und Pappel, im Süden durch den nützlichen Oelbaum repräſentirt; endlich drittens die Form des Nadelholzes, durch die ſchmalen, graugrünen Blätter und die quirlförmig vertheilten oder ſchirmförmig ausgebreiteten Aeſte der braunrothen Stämme ausgezeichnet, faſt eine zwergartige aber dichte Binſenvegetation auf einem Baume angeſiedelt.

Ihnen ſtellen ſich drei Formen aus den ſüdlicheren und Aequi - noctialregionen gegenüber, die ſich bei ganz verſchiedenem Weſen doch in mancher Beziehung ihnen vergleichen laſſen. Die Maſſe der Laub - wälder, beſonders das Unterholz der Gebüſche wird unter den Tro - pen eigenthümlich charakteriſirt durch die Malvenform*)Auf dem Titel rechts nach unten zeigt eine Hibiscus die breite und doch luftige Belaubung dieſer Pflanzen., bei wel - chen die großen, handförmig gelappten, gewöhnlich langgeſtielten Blät - ter, die bei aller Ausbreitung in die Fläche ihres lockeren Standes wegen doch keine dunkeln Schatten geben, auf meiſtens kurzen dicken, nur an der Spitze zu einer Krone verzweigten, ſeltener zu lang ver - äſtelten, weit hin gekrümmten Stämmen vertheilt ſind. Der Rieſe der Pflanzenwelt, der heilige Baobab, die unförmliche Maſſe des ton - nenförmig angeſchwollenen Bombaxſtammes, die purpurblüthi - gen Eibiſchgebüſche gehören dieſer Geſtaltung an.

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Durch den eigenthümlichen Eindruck, den die Pflanzen durch die Textur und Farbe ihrer Blätter machen, iſt die Lorbeer - und Myrtenform den mehr nordiſchen Weiden verwandt, in welche viele neuholländiſche Myrtaceen geradezu bis zur phyſiognomiſchen Un - unterſcheidbarkeit übergehen. Im Ganzen ſind freilich breite, leder - artig ſteife, wie lackirt glänzende und das Licht blendend zurückwer - fende Blätter das Bezeichnende für dieſe Pflanzen, welches noch ſon - derbar modificirt wird, wenn ein weißer dichter Filz, wie bei den Proteaceen, die untere Blattfläche überzieht und ſo in das glän - zende Grün einen eigenen ſilberfarbenen Ton miſcht. Für die höchſte Vollendung aller Pflanzenformen aber möchte ich die Aca - cienform erklären. Die vielfache, oft ſchirmartig einfache, oft netzförmig luftige, oft eichenähnlich knorrige Veräſtelung der hier ſchlanken, dort maſſigen Stämme bedingt einen der Schönheit ſo förderlichen Reichthum von Formenſpielen, der aufs Mannigfachſte vervielfältigt wird von den gefiederten leichten Blättern, die bald klein und zierlich wie feinſte Stickereien und Spitzen ſich auf dem klaren Himmelsgrunde abzeichnen, bald weit ſich hinausſtreckend in maleriſchen Biegungen mit dem Palmenlaube wetteifern. Nur ein ſchwaches Bild giebt die aus Nordamerika bei uns eingewanderte Robinie von der Mannigfaltigkeit, der Zartheit, Pracht und Majeſtät, zu welcher ſich dieſe Form unter dem belebenden Strahle der tropiſchen Sonne entwickelt.

Wenn wir uns auf dieſe ſkizzenhafte Aufzählung charakteriſtiſcher Pflanzenformen beſchränken, ſo liegt es wohl in der Natur der Sache, daß dieſelbe keineswegs genügt, um den Reichthum der Natur zu malen, aber es fehlt uns gerade hier am meiſten an ſicheren, mit künſtleriſcher Hand entworfenen Zeichnungen. Die Reiſenden, nur zu oft geiſtloſe Sammler, haben noch zu wenig dieſe Seite der Na - turbetrachtung angebaut. Auch unter ſolchen, welche darauf Rück - ſicht nehmen, ſind gar Manche, deren Blick nicht ruhig und unbe - fangen genug iſt, das, was ihnen ſubjectiv auffällig und intereſſant erſcheint, von dem Charakterbeſtimmenden in der Landſchaft zu310 ſondern, Viele in dem eiteln Drange, etwas Abſonderliches ſagen zu wollen, reihen mühſam geſuchte Worte, die doch kein Bild geben, aneinander, oder überlaſſen ſich dem Uebermaaß der Gefühle und dem Fluge einer ungezügelten Phantaſie. Selten ſind die claſſiſche Objectivität und die plaſtiſche Anſchaulichkeit, welche die Natur - ſchilderungen des klaren Göthe, des reichen und lebendigen Seats - field, vor Allen aber den Meiſter der Wiſſenſchaft, der künſtleri - ſchen Auffaſſung und der Sprache, Alexander von Humboldt auszeichnen.

Ich habe jene Formen aneinander gereiht, je nachdem ſie blos die nackte Erde bekleiden oder ſich über derſelben zu ſelbſtſtändigen Geſtalten erheben und die letzteren, je nachdem ſie vorzugsweiſe durch Blattbildung oder mehr durch das charakteriſtiſche Hervortreten der Stämme oder endlich durch eine Verbindung und Verſchmelzung Bei - der den beſonderen Eindruck hervorrufen, den eine von ihnen beſtimmte Landſchaft auf den Beſchauer macht. Es ließen ſich aber wohl noch andere, wichtigere, mehr dem künſtleriſchen Standpunkte ent - nommene Eintheilungsgründe geltend machen. So wie wir die Landſchaft ſelbſt eintheilen in Vorgrund, Mittelgrund und Hinter - grund, ſo müßten auch vor Allem die charakteriſtiſchen Pflanzenformen in ihrer verſchiedenen Bedeutung für dieſe drei Theile jedes Natur - gemäldes aufgefaſſt und mit ſicherer Zeichnung hingeſtellt werden. Die kleinen Formen der Gräſer, nur in dem Totaleindruck ihrer Maſſen bedeutſam, verlieren nichts durch die größere Ferne, während Piſang - und Aroideengewächſe wegen der ſchönen Form ihrer großen Blätter ſelbſt den nächſten Vorgrund vertragen. Dagegen verſchwimmen die feinen Linien der Mimoſenblätter im Hintergrunde in eine grüne Maſſe, während die höheren Palmen, zu nahe geſtellt, der Totalanſchauung überlegen werden, ſo daß ihre Schönheit auf - hört wirkſam zu ſeyn.

Nachfolgende Reiſende werden die Zahl der Pflanzenformen ver - mehren, ihre Bedeutung beſtimmter hervorheben und die zarten Nüancirungen auffaſſen lehren, welche jene größeren Gruppen noch311 in kleinere zu zerfällen erlauben, und vorzugsweiſe wird die An - ſchauung gewinnen, wenn uns ein größerer Vorrath ſolcher künſt - leriſcher Darſtellungen vorliegt, wie ſie mit unnachahmlicher Treue Baron von Kittlitz in ſeinen Vegetationsanſichten geliefert hat.

Am Meiſten des Studiums werth, aber noch faſt gänzlich un - beachtet und unerforſcht iſt die Seite dieſer Pflanzenformen, welche ſich dem Menſchen, ſeiner Bildungsgeſchichte, ſeiner Lebensanſicht zuwendet. Hier gewinnen dieſe Typen der Natur erſt ihre höhere Bedeutung und werden für den Pſychologen, den Ethnographen faſt noch wichtiger als für den Pflanzenforſcher. Daß ſich anders die Weltanſchauung Dem geſtalten muß, der ſeine erſten Eindrücke von den ernſten wintergrünen Fichtenwäldern Schwedens erhielt, anders Dem, der in den nebelfeuchten Hochmooren und Haiden Schottlands aufwuchs und wieder anders bei Jenem, den von ſeiner Kindheit an das glänzende Laub der Lorbeeren und Myrten unter dem heitern griechiſchen Himmel umgab, liegt ſcheinbar zu nahe, um der Er - wähnung zu bedürfen, und doch läßt ſich die daraus hervorgehende Lebensanſchauung leichter herausfühlen als mit Worten klar und deutlich entwickeln. So wie bei der Mythologie, ſo iſt auch hier die lebensvollſte und fruchtbarſte Seite noch gar nicht erforſcht wor - den; gleichwohl können wir es als allgemeinen Satz geltend machen: es giebt keine Disciplin, die ſich irgendwie auf irdiſche Verhältniſſe bezieht oder in ſolchen verwirklicht wird, die ohne naturwiſſenſchaft - liche Grundlage je etwas Anderes als todte Wortgelehrſamkeit oder unwahre Phantaſterei ſein und werden könnte. Des Menſchen Seele verſteht man nicht ohne ihre Verbindung mit dem Körper und dieſen nicht ohne ſeine Abhängigkeit von der ganzen Natur und was gäbe es außerdem noch, was Gegenſtand der Wiſſenſchaft werden könnte.

Dieſen Einfluß, den insbeſondere auch die Pflanzenwelt auf die Entwickelung des Menſchen geltend macht, zeigen jene Pflanzen - formen aber nicht für ſich, ſondern vielmehr erſt in und durch ihre Verbindung zu den ſchon genannten Pflanzenformationen. 312Man erwarte auch hier von mir nicht mehr als eine ſkizzirte Hindeu - tung auf den unendlichen Reichthum der Natur, mehr zu geben ver - bietet mir der enge Rahmen, welcher meine Bilder begrenzt. Ja wenn es hier unſere Aufgabe wäre, vollſtändig dieſes Verhältniß zu er - ſchöpfen, ſo müßten wir ſelbſt Thierwelt und geognoſtiſche Grund - lage noch mit in den Kreis unſerer Betrachtung ziehen. Der natür - liche Menſch lebt nicht mit dieſen oder jenen Einzelnen Naturkörpern, ſondern mit dem Ganzen ſeiner Umgebung, die Landſchaft mit allen ihren ungeſonderten Elementen wirkt auf ſeine Gemüthsſtimmung und dadurch unmerklich auf die ganze Geſchichte ſeines Inneren, erſt allmälig bei fortgeſchrittener Bildung wird es ihm möglich, die ein - zelnen Beſtandtheile aus dem Bilde herauszulöſen und den Total - eindruck in ſeine Einzelwirkungen zu zerlegen. Nicht das Gras, ſon - dern die Wieſe, nicht der Baum, ſondern der Wald, nicht der Myr - tenbuſch, ſondern die ganze Fläche mit niedrig buſchigen, immer - grünen Pflanzen bedeckt, welche ſich als eigner Gürtel an den grie - chiſchen Bergen hinzieht, einerſeits mit den blühenden Wieſen, andrer - ſeits mit den hochaufſtrebenden Fichten contraſtirt, haben den mäch - tigen Einfluß auf das Behagen oder den Mißmuth des Menſchen ausgeübt. So wird uns die Betrachtung der Pflanzenformationen, wie ſie aus jenen Formen zuſammengeſetzt ſind, ungleich bedeutſamer und um ſo mehr ſo, als gerade hierin vorzüglich der eigenthümliche Character der verſchiedenen Länder ſich ausſpricht.

Keiner der Unſrigen, den ein freundlicher Genius in die reiche Welt der ſenkrechten Sonne führte und glücklich zurückleitete, hat ſich des Eindrucks erwehren können, den die Eigenthümlichkeit der Tropenvegetation auf ihn gemacht hat, und niemals wird er den - ſelben wieder vergeſſen. Nur unklar und matt ſind die gewöhn - lichen Ausdrücke: Reichthum, Fülle, Ueppigkeit, wodurch man jenen Character wiederzugeben ſucht; ja ſelbſt falſch ſind ſie, denn wer jemals einen nordiſchen Urwald ſah, die mächtig ragenden Stämme, die modernden Pflanzenleichen, die Fülle der Farnkräuter und Mooſe, Alles, Todtes und Lebendiges, bekleidend und umhüllend,313 der muß zu dem nahebei richtigen Glauben kommen: eine größere Ueppigkeit des Pflanzenwuchſes ſey nicht wohl denkbar. Schon mehr die richtige Vorſtellung erweckend iſt die Rede, daß, je mehr man ſich den heißen Gegenden nähere, um ſo mehr auch die geſellig le - benden Pflanzen ſich verlören, um ſo mehr die verſchiedenſten Pflan - zenformen durch einander vorkämen. Und gleichwohl, ſo wahr dieſer Satz iſt, wird Der weniger geneigt ſein ihn anzuerkennen, der, ſich mehr an die Phyſiognomie als an die botaniſchen Beſtimmungen hal - tend, einzelner characteriſtiſchen Waldformen, Gebüſchbildungen oder Steppen ſich erinnert, denn die Erklärung nennt zwar die Grund - urſache des Phänomens, ſie führt aber nicht aus, wie dieſelbe das Endreſultat vermittele.

Wenn wir von dem dunklen Schatten unſerer dichtbelaubten Buchenhochwälder einen Schluß machen auf die ungleich vollere und gedrängtere Vegetation in einem tropiſchen Urwalde, ſo fühlen wir uns ſeltſam getäuſcht, in ihm Alles ſo hell, ſo lichterfüllt zu finden. Dieſer Reichthum der Vegetation, der von den höchſten Gipfeln der Palmen und Bertholletien von Zweig zu Aſt, von Aſt zu Stamm herabſteigt, die Erde bekleidet und ſich noch in reichen Feſtons durch den Luftraum zieht, wäre aber gar nicht möglich, wenn nicht das der Vegetation unentbehrliche Licht bis in die niederſten Regio - nen Zugang hätte. Der dichte Schatten unſerer Wälder, den im Verhältniß zu den tropiſchen Urwäldern ſelbſt unſere feinnadeligen Kiefern durch ihre dichtgedrängte Verzweigung hervorrufen, durch welche ſie dem herbſtlichen Sturme, dem rauhen Winter, dem la - ſtenden Drucke der Schneemaſſen Widerſtand leiſten, verhindert ge - rade unter den Bäumen jene reiche mannigfaltige Entwicklung des vegetabiliſchen Lebens, welche unter den Tropen in Länge und Breite, in Höhe und Tiefe jeden Winkel erfüllt und ſchmückt. Es liegt näm - lich in dem Character der tropiſchen Waldbäume die eigenthümliche, weitläufige, luftige Verzweigung und eine Blattvegetation, welche, die Tracht der Palmen im Kleinen und Einzelnen nachahmend, ſich nur an den äußerſten Spitzen der Zweige geltend macht. Dazu314 kommt dann die große Verſchiedenheit der Pflanzen, welche auf einem kleinen Raume neben einander ſtehen und in ſo ungleicher Weiſe hin - aufragen in die Luft, daß ſchon in der Ferne ein tropiſcher Wald nicht die einfachen abgerundeten Umrißlinien zeigt, wie ein nordiſcher Buchen - oder Lindenwald. Endlich kommt noch hinzu das Vorherr - ſchen oder doch häufige Vorkommen glänzender Blätter, die das Licht der Sonne reflectirend in die dunkleren Schatten hineinwerfen oder der weißen Fläche der hoch aufgerichteten Palmenblätter und anderen Laubes, welche Spiegeln gleich die Strahlen der Sonne ins Innere der Wälder tragen. Aus dieſen und vielleicht noch unzählichen einzelnen kleinen Zügen iſt dies Bild zuſammengeſetzt, welches uns mit ſo fremdartigem Character und doch mit ſo anziehendem Reize entgegen - tritt.

Indem wir aber von Pflanzenformationen ſprachen, ent - lehnen wir dieſen Ausdruck eigentlich einer andern Wiſſenſchaft, der Geognoſie, und meinen auch, ſo weit überhaupt eine Vergleichung zuläſſig iſt, Aehnliches damit zu bezeichnen. So wie wir aber in der geognoſtiſchen Betrachtung der Erdoberfläche zunächſt zwiſchen ebenem Lande und Gebirgszügen unterſcheiden, können wir auch hier in Anwendung dieſer Betrachtungen auf die Pflanzenwelt zuerſt als zwei Hauptbildungen Plänen und Wälder von einander trennen. Jede dieſer Hauptabtheilungen zerfällt dann wieder in die einzelnen Formationen ſelbſt, die es ja eben ſind, die hier oder dort entwickelt, hervortretend oder zurückgedrängt, wie in der Geognoſie den geognoſtiſchen, ſo hier den vegetativ landſchaftlichen Charakter eines Landes beſtimmen. Insbeſondere in der Aufſuchung und Dar - ſtellung dieſer Formationen liegt eigentlich der Reiz, den man ge - wöhnlich mit einer Verwechſelung der Begriffe der Pflanzengeogra - phie zuſchreibt. Dieſe aber kann und ſoll wiſſenſchaftliche Zwecke verfolgen, theoretiſche Aufgaben ſich ſetzen und löſen und Grau, theurer Freund, iſt alle Theorie. Aber grün des Lebens goldner Baum und es iſt angedeutet, wie gerade dieſe ſtrenger Wiſſenſchaftlichkeit unzugängliche, äſthetiſche315 Seite der Natur es iſt, welche, wenn auch geheim und ſchwer in ihrem Wirken zu verfolgen, doch am allermächtigſten beſtimmend, hem - mend oder fördernd in den Gang der geiſtigen Entwicklungsgeſchichte eingreift. Wie der Menſch, ſo iſt ſein Gott iſt ſicher wahr, aber man muß noch weiter gehen und hinzufügen, der Menſch in ſeinen erſten Bildungsſtufen iſt auch wie die Natur, in der er aufgewachſen iſt.

Auf der anderen Seite müſſen wir aber auch eine weſentliche Verſchiedenheit hervorzuheben nicht verſäumen, wodurch ſich die geognoſtiſche Formation von der vegetabiliſchen unterſcheidet. Jene ſteht in ausgeprägter Starrheit unwandelbar und unveränderlich, wenigſtens weit hinaus über die höchſtens nach Jahrhunderten den - kenden und rechnenden Menſchen feſt, dieſe dagegen mit dem Ge - präge des organiſchen Lebens folgt in ihrer Weiſe dem Spiele der mächtigen Naturkräfte an der Erde. Die Zeichnung iſt keine feſte, unbewegliche, ſondern ſo wie ſich der Charakter der Natur im Gro - ßen ändert, zeigt ſie auch andere Züge und blickt den Menſchen gleich - ſam mit anderm Antlitz an, und dieſelbe Bildung, die heute zu fröhlichen Gefühlen erweckte, drückt vielleicht morgen das Gemüth mit dem Bilde melancholiſcher Verödung nieder. Je weiter hinauf wir in höhere Breiten kommen, deſto verſchiedener iſt die Natur in ihrem Winter - und Sommerkleide, und jenachdem die klimatiſchen Verhältniſſe bald nur eine, bald zwei, bald drei, bald vier Jahres - zeiten bedingen, iſt auch die Phyſiognomie der Pflanzenwelt bald eine feſte unveränderliche, bald eine in mannigfacher Weiſe ihren Charakter wechſelnde. Nicht aber in dieſem oder jenem einzelnen Zuſtande, ſondern ganz beſonders darin, wie die Geſchichte der Natur, der Ablauf ihrer Veränderungen, der Zeit nach die Thätig - keit des Menſchen begleitend beſtimmt, iſt die mächtige Einwirkung auf die Gefühle und ihr Spiel, auf den Gedankengang und ſeine Ausbildung begründet. Während das fahle Graugrün der Fichten - nadeln unter der laſtenden Schneedecke den Eindruck des Winters nur noch trüber und melancholiſcher macht, lügt der heitere Glanz der316 immergrünen Laubwälder des Südens noch einen Sommer in die Bruſt des Menſchen, wenn auch der Körper vom Froſtpunct getroffen, jene meteorologiſche Verirrung Lügen ſtraft.

Es iſt ſchwer den Character der verſchiedenen Waldformatio - nen mit Worten auch nur einigermaßen lebendig und anſchaulich wiederzugeben, was dem Landſchaftsmaler, dem Zeichnung, Baum - ſchlag, Farbe und Lichteffect zu Gebote ſteht, ſo leicht gelingt. Gleichwohl ſind die Verſchiedenheiten auffallend genug für Jeden, der mit offnen Sinnen an die Natur hinantritt. Schon die Fichten - und Kiefernwälder zeigen weſentliche Verſchiedenheiten in ihren Zügen; jene mit geraden ſäulenförmigen untereinander parallelen Stämmen, mit der kegelförmigen von quirlartig geſtellten Aeſten getra - genen Krone, dieſe auf knorrig gebogenen Stämmen, deren Linien ſich überall in der Perſpective kreuzen, einen flachen Laubſchirm tragend, eine Tracht, die am reinſten und edelſten von der Pinie dargeſtellt wird. Dieſe Kiefernwälder wie ſie im meilenweiter Ausdehnung die Mark Brandenburg bedecken, wiederholen ſich in üppiger Entwicklung in den Kiefernhaiden (Pine barrens) Nordamericas. Hier wie dort einen kieſeligen Boden liebend, ziehen ſie ſich in einem breiten, viele Hundert engliſche Meilen langen Gürtel an der Küſte von Virginien und Nordcarolina herab und bilden durch ihre Maſſe einen ſcharf her - vortretenden Zug in der Phyſiognomie des ganzen Landes.

Noch auffallender iſt der Unterſchied zwiſchen den einzelnen For - mationen des Laubholzes; der dichtgedrängte Stand der geſelligen Buchen, Linden oder Rüſtern bildet Wälder mit dunkeln Schat - ten und vegetationsleerem Boden, während die ſtolze Eiche, allen Baumwuchs in ihrer unmittelbaren Nähe unterdrückend auf einem mit Gras und Kräutern freundlich bekleideten Boden ſich vereinzelt oder in kleinen Gruppirungen zu den wunderbaren Waldlandſchaf - ten, vereinigt, die uns Ruisdaels unſterblicher Pinſel ſo oft vor - führt. Anders wirkt der maſſive Glanz der Magnolienwälder des ſüdlichen Nordamericas, als die zierliche Schönheit africaniſcher Acacienhaine oder die geiſterhafte Durchſichtigkeit nordiſcher317 Birken und vollends die Tropenwelt entwickelt eine Mannigfaltig - keit, deren Schilderung ein unerſchöpfliches Thema ſeyn würde. Ich will hier nur noch auf einen ſeltſamen Contraft aufmerkſam machen, welchen einige Gegenden der heißen Climate darbieten. Die rauhe Winterkälte beraubt unſere Wälder ihres ſchönſten Schmucks und entblättert ſtarren die ſchwärzlichen Ruthen aus dem Schnee, oder dem feuchten ſchwarzen Boden in die trübgraue Novemberluft; umgekehrt durchwandert der braſilianiſche Reiſende in der glühendſten Hitze die Catingas, Wälder, die durch den verdorrenden Einfluß der Sonne gerade im Sommer entlaubt werden und mit ihrer kahlen Verzwei - gung ſeltſam gegen das friſche üppige Grün am Ufer eines kleinen Baches oder gegen die von der Hitze unberührten, ſaftig-fleiſchigen Maſſen der Cacteen contraſtiren. Aber auch in der friſcheſten Be - laubung können die Wälder den Character der ſchauerlichſten und abſchreckendſten Wildheit annehmen. Wo dichte Belaubung den Ein - fluß der Sonne und den erfriſchenden Luftwechſel hindert und ſo die Zerſetzung der vegetabiliſchen Maſſen verlangſamt, wo der Boden flach und ohne Gefälle ohnehin ſchwer ſeines Waſſerreichthums ſich ent - ledigt, und um ſo weniger, wenn die aufgehäuften Pflanzenleichen be - ſtändig den Abfluß hemmen, und der entſtandene Humus begierig die Feuchtigkeit anſaugt, da bilden ſich die ausgedehnteſten Sumpf - moore. Durch die fortwährende Zunahme der Vegetationsreſte er - hebt ſich der Boden und oft liegt eine ſolche waſſerdurchtränkte, halbflüſ - ſige Maſſe zuletzt weit über dem Niveau der umgebenden Ebene, ohne daß jetzt noch die Sonne im Stande wäre, auch wenn Stürme das ſchützende Dach entfernen, den Sumpf auszutrocknen oder auch nur ſein Fortwachſen zu beſchränken. Ein ſolcher Sumpf erhebt ſich bis zu 12 Fuß über die umgebende Ebene in Virginien zwiſchen den Städten Suffolk und Waldon, von den Einwohnern the great dismal (der große Unſelige) genannt, der nicht unbeträchtlichen Flüſſen den Urſprung giebt und ſie mit Waſſer verſorgt. Es iſt beſonders die nordamericaniſche Cypreſſe*)Cupressus disticha. , welche mit ihrer feinen aber dichten318 Belaubung zur Bildung deſſelben Veranlaſſung gegeben. Derſelbe Baum iſt es, welcher die furchtbaren, verrufenen Cypreſſenſümpfe Louiſianas an den Ufern des Redriver und Miſſiſippi bildet. Rieſenſtämme von unerhörter Mächtigkeit drängen ſich aneinander, ihre Zweige ineinander flechtend und am hellſten Tage ein düſtres Dämmerlicht verbreitend. Der Boden beſteht nur aus halbverfaulten übereinander gethürmten Blöcken und dazwiſchen aus einem uner - gründlich tiefen flüſſigen Schlamm, in welchem ſich gefräßige Ali - gators und die beißende Schildkröte umherwälzen, die alleinigen Herren dieſer unter der Gluth der faſt tropiſchen Sonne qualmenden Hölle; ſo im hohen Sommer, während im Frühling ſich brauſend die trüben, ſchlammigen Fluthen der austretenden Ströme in meilen - weiter Ausdehnung durch dieſe feindſelige Vegetation ergießen. So entſprechen dieſe Cypreſſenſümpfe, von denen uns Seatsfield ein ſo lebendiges Bild entworfen, im Binnenlande, den Mangrove - wäldern, welche die Flußmündungen faſt aller Tropenſtröme um - ſäumen. Aus nur wenig Pflanzenarten zuſammengeſetzt, unter denen der Manglebaum der gemeinſte iſt, ſind ſie vorzugsweiſe durch die große Anzahl ihrer hoch am Stamme entſpringenden ſtarken Wurzeln, von denen jener über der Fläche des Bodens getragen wird, auffallend. Der eigentliche Standort dieſer Pflanze iſt das ſoge - nannte Brakwaſſer, welches zur Zeit der Ebbe aus dem ſüßen Waſſer des Fluſſes beſtehend, zur Fluthzeit vom andringenden Meer - waſſer verdrängt wird. Die zahlreichen Wurzeln bilden oft ein ſo dichtes Geflecht, daß die Lücken durch fallende Blätter verſtopft wer - den können und ſo ſich allmälig für eine zweite Vegetation ein Boden ſammelt, unter welchem zu verſchiednen Tageszeiten das Meer oder der Fluß ſeine Wogen dahinrollt. Häufiger aber beſchränkt ſich die Wirkſamkeit der Wurzeln darauf, den Strom des Waſſers zu ver - langſamen und zwiſchen ihrem Geflecht die vom Fluſſe herabgetrie - benen Pflanzen - und Thierleichen zurückzuhalten, die dann hier in Berührung mit dem Meerwaſſer und ſeinen Salzen faulen. So ent - wickelt ſich in dieſen Gegenden das furchtbare Schwefelwaſſerſtoffgas,319 die Atmoſphäre vergiftend, daß die von Jugend auf an dieſen Aufent - halt gewöhnten Eingebornen gleichwohl wie Geſpenſter herumwanken, während den eindringenden Europäer faſt unausweichbar der Tod dahinrafft. Dieſe Wälder ſind vorzüglich der Feind, welcher ſich bis - her unüberwunden faſt allen Nigerexpeditionen entgegengeſetzt und die Reihen der kühnen Abentheurer ſchrecklich gelichtet hat. Auch ich habe einen Freund, den für die Wiſſenſchaft zu früh geſtorbenen Theodor Vogel beweint, der auf Fernando da Po dieſem - mon znm Opfer fiel.

Wie zwiſchen Berg und Ebene der Hügel, ſo bildet zwiſchen Waldformationen und Plänen das Gebüſch und die nur mit ein - zelnen kleinen Baumgruppen beſetzte Ebene das Zwiſchenglied.

Zum Theil muß man ſchon die ſogenannten Wälder an der Nordküſte Auſtraliens hierher rechnen, die den ungeheuren Landſtrich, der ſich ſüdlich von der Rafflesbay und Eſſington ins Innere ausdehnt, bedecken. Sie zeigen eine ganz beſondere Phyſiognomie, die faſt überall in dieſem ſeltſamen Lande ſich wiederfindet. Die Bäume und Büſche haben lederartige Blätter, die Mehrzahl derſelben iſt mit einem weißen harzigen Staube bedeckt, der ihnen einen äußerſt monotonen, trübſeligen, blaßgrünen Schein verleiht. Die Haupt - bäume ſind Eucalypten, Acazien, Prachtfaden und Caje - putarten*)Eucalyptus, Acacia, Leptospermum, Melaleuca. . Mehrere andere Pflanzen können neben den Genannten kaum zählen und leben unter dem Schutz dieſer hohen graulichen, weit auseinander ſtehenden Stämme, deren mageres, unaufhörlich zitterndes Blätterwerk an die Trauerweiden mahnt. Schöne Gras - büſchel mit langem ſchlanken Halm wachſen in der ganzen Ausdeh - nung dieſer Büſche und darin niſten Känguruhs, die Ringel - taube und andere Vögel. Die Strahlen der Sonne dringen leicht durch die ſchmalen, ſtets auf ihren langen Stielen ſich wiegenden Blätter und machen ein zweifelhaftes mit flüchtigen Schatten ſich miſchendes Licht. Das Auge blickt weit hin durch die Gewölbe von320 Zweigen und Blättern und wird weniger durch die Dichtigkeit der Vegetation als durch den ſtets wechſelnden Glanz eines ungewiſſen myſtiſchen Lichtes aufgehalten.

Noch lichter, noch weniger den geſchloſſenen Stand der Wälder repräſentirend, iſt eigentlich die Palmenform überall da, wo ſich geſellig lebende Pflanzen derſelben zuſammengruppiren. Schon die wirklichen Palmenhaine am Nordrande der Sahara, an den Ufern der braſilianiſchen Ströme gleichen mehr offnen Säulenhallen mit durchbrochener Decke und ganz eigenthümlich ſtellen ſich auf dem dürren Boden der Hochebenen von Mexico die Stämme der Yucca, Fourcroya und andere hochſtämmige Lilienarten zuſammen, weder Schatten gegen die Sonne, noch Schutz gegen den Wind ge - während. An ſie ſchließen ſich die unförmlichen Pflanzenmaſſen der Magueypfanzen mit ihren breiten, dicken, graugrünen, ſteifen, am Rande ſcharf gezähnten Blättern und den 20 Fuß hohen Blüthen - ſchaften, durch Cacteen mannigfacher Form zu ſeltſam phantaſtiſchen, undurchdringlichen Gebüſchen abgerundet.

Die aus 6 7 Fuß hohen Mosquitoſträuchen gebilde - ten mit Lianen durchſchlungenen, undurchdringlichen Chappa - rals, in dem ausgedehnten Landſtrichen zwiſchen dem Nueces und Rio grande; die aus Schilf und Zwergpalmen gebildeten Palmettofelder an den Ufern der Sabine, Ratches und an - derer Flüſſe von Texas; die niedrigen Acaciengebüſche von Auſtralia felix und endlich die weit ausgedehnten von Elephanten und Tigern durchſtreiften, von Bambuſen und andern hohen Grä - ſern gebildeten Djungles in Oſtindien ſind eben ſo viele eigen - thümlich characteriſirte Formationen der Buſchbildung, die die Größe des Menſchen oft nicht erreichend oder doch nur wenig überragend den oft unüberwindlichen Widerſtand, den ſie dem Eindringling ent - gegenſetzen, beim erſten Anblick gar nicht verrathen und noch lange, nachdem ſchon der Menſch ſich in ihren Umgebungen angeſiedelt hat, nur auf Pfaden durchſchnitten werden können, welche die wilden Thiere vorgebahnt.

321

Der Wechſel iſt es, welcher durch die Bewegung, die er in der Anſchauung oder im Gedanken hervorruft als ein weſentliches Mittel zur Erweckung des äſthetiſchen Gefallens oder des Intreſſes auftritt. Die gerade Linie iſt nicht ſchön, ja eigentlich weder ſchön noch häß - lich, aber ſchon die gebogene, gebrochene Linie macht, indem ſie das Auge zu einer abweichenden Bewegung auffordert, Anſpruch auf äſthetiſche Beurtheilung und wir nennen ſie ſchön, wenn die Bewe - gung des Auges mild und ſtetig vermittelt iſt, häßlich, wenn das Auge oft und plötzlich von ſeinen Wege abgelenkt, der eckig geknickten Linie nicht mit Einer in ſich zuſammenhängenden Bewegung, ſondern nur in unvermitteltem Wechſel der Richtung folgen kann. Doch auch durch den Contraſt, durch den Gegenſatz kann das Gefühl für Schön - heit geweckt werden, wenn gleichſam einer unbewußt zum Grunde gelegten Geſetzmäßigkeit (wie in der bekannten Nebeneinanderſtellung der complementairen Farben) und der Anforderung der Ergänzung zu einem idealen Ganzen der Erſcheinung genügt und ſo im Contraſt ſelbſt ein befriedigendes Gefühl der Vollendung hervorgerufen wird. Aus dieſen Andeutungen verſtehen wir vielleicht beſſer die alte Rede, daß den heißen Gegenden ein landſchaftlicher Hauptreiz in dem Mangel unſerer Wieſen abgehe, denn an grasbewachſenen baumloſen Ebenen fehlt es keineswegs in der neuen Welt überhaupt, und beſonders unter den Tropen des alten und neuen Continentes. Wenn wir aber von der Schönheit unſerer Wieſen reden, ſo meinen wir in der That eigentlich gar nicht die Weiſe, d. h. die mit Gräſern bedeckte ebene Fläche, ſondern den formenreichen und dadurch anmuthigen Gegen - ſatz zwiſchen dem ſammetartigen grünen Teppich und den in ſchönen abgerundeten Formen daneben ſich erhebenden Gebüſchen, bis hinauf zum majeſtätiſchen Hochwald und die traurigen märkiſchen Kiefern - haiden würden dadurch um nichts ſchöner werden, wenn die ganze endloſe von keinem in ihr vorkommenden Hügel überſehbare Fläche mit Ausſchluß aller Baumvegetation von noch ſo üppigem Graswuchs bedeckt wäre.

Wenn wir nun die Formationen der Plänen, denen derSchleiden, Pflanze. 21322Wälder an die Seite ſetzen, ſo führen wir hiermit zugleich ein ganz neues äſthetiſches Element in die Naturbetrachtung ein. Aus den Wäldern iſt ſchon wegen des Reichthums der Formen, wegen der Verſchlungenheit der Zeichnung, die fortwährend das Gefühl und den Geiſt zu wechſelnder Thätigkeit anregen, das Element der Schön - heit nicht wegzudenken. Ganz anders iſt es mit den großen Pflanzen - ebenen, die deshalb auch einen durchaus eigenthümlichen Eindruck auf das Gemüth des Menſchen machen.

Mit einem gewiſſen Gefühle getäuſchter Erwartung reitet der Rei - ſende ein in die Prärien des Weſtens, nur unerquicklich ſcheint ihm die mit hohem Graſe gleichförmig bewachſene monotone Fläche, deren Hori - zontlinie von keiner noch ſo geringen Erhebung unterbrochen wird. Aber er reitet und reitet und immer dehnt ſich in gleicher Einförmigkeit, in glei - cher ruhiger Einfachheit der grenzenloſe Raum vor ſeinen Blicken aus. Was ſich anfänglich ſeiner Anſchauung entzog, die dem kleinen Menſchen überlegene Unendlichkeit, tritt ihm entgegen, das Gefühl der troſtloſen Einſamkeit ſchleicht ſich allmälig in ſein Herz. Ein Tag nach dem andern ſteigt im Oſten herauf und ſinkt im Weſten herab. Immer weiter und weiter dehnt ſich die Unendlichkeit um ihn aus und wächſt alle ſeine bisherigen Begriffe von Größe überragend. Immer mehr ſchrumpft das Selbſtgefühl zuſammen, immer lähmender und beklem - mender legt ſich das Bewußtſeyn der Nichtigkeit auf ſeine bebende Seele und noch ehe er die jenſeitige Grenze erreicht, haben Verzweif - lung oder eine unendlich tiefe und innige Frömmigkeit von ſeinem Herzen Beſitz genommen. Sobald das einförmig Große überhaupt geeignet iſt einen äſthetiſchen Eindruck zu machen, ſo iſt es der der Erhabenheit, vor der der Menſch anbetend in den Staub ſinkt. Eine beſondere Modification jener Prärien ſind ſo bezeichnend von den Anſiedlern rolling prairies (wogende Ebenen) genannt, ein grenzenloſes Meer flacher, gleichförmiger, 20 30 Fuß hoher Erd - wellen. Ich wage es nicht das andere zornglühende Antlitz dieſer Rieſenwieſen zu ſchildern, wenn im Sommer ein Zufall oder Abſicht das dürre Gras entzündet haben und der Brand ſich mit raſender323 Schnelligkeit über die Fläche fortwälzt; nach Cooper und Seats - field hieße das, Eulen nach Athen tragen.

Unter ähnlichen Breiten und climatiſchen Verhältniſſen gelegen, tragen die Pampas von Buenos-Ayres auch einen ähnlichen Character wie die nordamericaniſchen Prärien, nur hat hin und wieder der Menſch durch ſeine Einwirkung der Natur einen eigen - thümlichen Stempel aufgedrückt. Die mit der Ankunft des Europäers eingewanderte Diſtel und Artiſchocke haben ſich raſch des herren - loſen Bodens bemeiſtert und mit unglaublicher Schnelligkeit Gebiete von vielen Quadratmeilen mit ihrer ſtachlichen Vegetation überzogen, die hier ſich zu einer in Europa unerkannten Ueppigkeit entwickelt hat. So ſind dieſe Diſtelwüſten zu einer furchtbaren Landplage ge - worden, ſelbſt Räuber den Boden beſſeren Gewächſen wegnehmend und ein nicht zu beherrſchender Schlupfwinkel der großen raub - und mordgierigen Katzen und der noch viel gefährlicheren menſchlichen Banditen, dem ſtechenden Unkraut halber Civiliſation.

Faſt möchte man behaupten, daß die eigenthümlichen Steppen, welche uns zu allernächſt liegen, weniger bekannt ſeyen, als jene durch die Schilderungen genialer Männer uns faſt vertraut gewordenen Naturformen ferner Welttheile, denn in der That hört man nur zu oft aus den Reden der Menſchen, welche falſche Vorſtellungen ſie von jener ausgedehnten Plänen haben, die gewöhnlich mit dem Namen der norddeutſchen Haide bezeichnet werden. Von den Weſtgrenzen des nördlichen Frankreichs durch Belgien, Norddeutſchland, Rußland bis faſt zur Oſtgrenze Sibiriens zieht ſich eine breite Ebene, ſel - ten durch niedrige Höhenzüge unterbrochen und eben ſo ſelten aus - gedehnterem Waldwuchs einen paſſenden Boden darbietend, der ſich im Ganzen auf den von benachbarten Flüſſen durchtränkten beſſern Boden beſchränkt. Am Südrande dieſer Ebene hin zieht ſich eine Kette von Hügeln und Bergen, bald vorgebirgartig in die weiten Flächen hinaus vorſpringend, bald zu weitern oder engern Buchten zurücktretend, die Küſten eines ehemaligen die ganze Ebene bedeckenden Meeres. In dieſer ganzen unendlichen Ausdehnung hat eine einzige21*324Pflanzenart ſich eine faſt ausſchließliche Herrſchaft begründet, die Haide, welche dieſem Landſtrich ihren Namen geliehen hat. Aehn - liche Verhältniſſe aber als in Nordamerica den Unterſchied zwiſchen der Kiefernhaide und Cypreſſenſümpfen hervorrufen, ſind auch hier thätig eine weſentliche Verſchiedenheit zu begründen. Die große Ebenheit des Bodens, an manchen Stellen ſelbſt geognoſtiſche Verhältniſſe, indem geringere Bodenerhebungen flache rings geſchloſ - ſene Becken bilden, machen an vielen Orten den freien Abfluß des Waſſers unmöglich und die Haide, unterſtützt durch die von der Feuch - tigkeit hervorgerufene eigene Vegetation, bildet durch die jährlich ſich anhäufende Pflanzenſubſtanz, welche im Waſſer nur bis zu einem gewiſſen Grade verkohlt ohne völlig zerſetzt zu werden, jene ſchwarzen Maſſen vegetabiliſcher Ueberreſte, welche als Torf in der Oeconomie der Anwohner eine ſo weſentliche Rolle ſpielen. So wechſeln hier in verſchiedener Vertheilungsweiſe, dürre, trockne Sandhaiden mit feuchten ſchwammigen Torfhaiden oder Mooren. Am Rande der letzteren, ſeltner auf ihnen ſelbſt, pflegt ſich eine bald mehr bald weniger geſunde Baumvegetation anzuſiedeln und man findet oft in der Lüneburger Haide Gruppen von prachtvollen Eichen, welche eins jener behaglich freundlichen, ſtrohgedeckten Häuſer beſchattend, und gehoben durch den Hintergrund der in eigenthümlichen rothen Farbentinten ſchimmernden Haide, einen hier gar nicht vermutheten landſchaftlichen Reiz entwickeln. Dieſen großen Mooren reihen ſich noch die Torfmoore einiger höheren Gebirge des Brockens, der Röhn, des Fichtelgebirges und ſo weiter und die ſogenannten Mooſe von Süddeutſchland und der Schweiz an.

In einem andern Clima, in einem andern Vegetationsgürtel zeigen ſich analoge Verhältniſſe, den äußerſten Norden Europas durch - ziehend. Wie dort die dürre Sandhaide mit den waſſerdurchtränkten Mooren, ſo wechſeln auch hier in mannigfacher Weiſe trockene waſſer - leere Streifen mit ſumpfigem Boden. Aber wir befinden uns hier in Wahlenbergs Reich der Flechten und der Mooſe. Die dürren Stellen überziehen in unabſehbaren Flächen krauſe, trockene, bleigraue325 Flechten, unter denen das Rennthier ſeine dürftige Nahrung ſucht und auf dem tiefdurchnäßten, auch nicht die leichteſten Schritte tra - genden Boden, täuſcht eine üppige Moosvegetation von Ferne mit dem Schein einer lachenden Wieſe. Hier verſinkt der unvorſichtige Wanderer in das von den Mooſen mehr verſteckte als verdrängte Waſſer, während auf jenen Flechtenhaiden, Tundras nennt ſie der Lappländer, der ſonnendurchglühte Boden im Sommer jeden Schritt zur Qual macht.

So wie in den Waldformationen die ſüdamericaniſchen Catin - gas den nordiſchen Laubholzwäldern, ſo ſtehen auch unter den Ebenen die Lanos von Venezuela den ruſſiſchen Steppen gegen - über. In jenen, von welchen A. v. Humboldt ein ſo lebensvolles Bild entworfen, tritt der Schlaf der Natur im Sommer in der heißen, dürren Jahreszeit ein, die Vegetation vertrocknet und zerfällt zu Staub, den Boden nackt zurücklaſſend, das animaliſche Leben der Vierfüßler flieht das abgeſtorbene Land, während die Crocodile und Boas ſich in den Schlamm der allmälig verſiegenden Steppenflüſſe ein - wühlen und mit dieſem zugleich erſtarren, bis der erſte Regenguß, der eine friſche, jugendliche Vegetation auf dem öden Boden hervor - zaubert, auch ſie wieder zur Auferſtehung ruft.

Anders in den Steppen, welche ſich vom ſüdlichen Rußland nach Oſten durch das mittlere Aſien fortziehen. Nur erwähnen will ich der ſeltſamen Salzſteppen, die im Sommer oft wie vom friſch - gefallenen Schnee durch ausgewittertes Salz glänzen und eine ganz eigenthümliche Vegetation nähren. Dagegen kann ich es mir nicht verſagen, noch kurz eine Schilderung der, wenn auch dürftig bevölker - ten, doch bewohnten tartariſchen Steppen am Pontus zu verſuchen. Nicht überall bieten dieſelben eine gleichmäßige Fläche dar, die viel - mehr durch die Durrina's, niedrige Buſchparthien aus Schlehen, Weißdorn, Hagebutten und Brombeeren unterbrochen wird. Aber auch die übrige Vegetation wird noch von den Kleinruſſen, nach ihrem Nutzen für die Viehzucht, in zwei weſentlich verſchiedene Grup - pen getheilt, in die Truwa , den Raſen, und den Burian , die326 ſtruppigen hochaufſchießenden Kräuter, die wegen ihres holzigen Stengels keine Nahrung für die Steppenheerden ſind. Unter den Gräſern bildet das Federgras*)Scholkowoi Truwa (das Seidenkraut) in einigen Gegenden Deutſchlands Federgras genannt, Stipa pennata. die Hauptpflanze. Gleich nach der Blüthe ſtreckt es ſeine langen zartgefiederten Grannen, den fein - ſten Maraboutfedern nicht unähnlich, aus der Aehre heraus, ſich weit über die Büſchel ſchmaler, dürrer Grasblätter erhebend. Je älter die Steppe, deſto höher entwickelt ſich der holzige Wurzelſtock über den Boden, zum Aerger der mähenden Bauern. Wer nur wenige Meilen in der Steppe gereiſt iſt hört ſchon das Wort Burian. Auf den Burian ſchilt der Hirt mit ſeinen Rindern und Pferden, über den Burian jammert der Ackerbauer, der Burian iſt der Fluch des Gärtners und der Troſt der Köchin. Denn bei dem für gewiſſe Pflanzen, wir nennen ſie Unkräuter, eigenthümlich fruchtbaren Boden der Steppe ſchießen dieſe bis zu einer unglaublichen Höhe heran, wo irgend die Cultur den feſten Boden, den ſie meiden, gelockert hat und ihr einziger Nutzen iſt der, daß ſie im Herbſte abgedörrt zugleich das einzige Brennmaterial in dieſer öden Gegend liefern. Vor allen zeichnen ſich, wie in den Pampas von Buenos-Ayres, auch hier die Diſteln aus, die bis zu einer Größe, Entwicklung und Verzwei - gung kommen, die in der That bewundernswürdig iſt. Oft ſtehen ſie kleinen Bäumen gleich neben den niedrigen Erdhütten des Landmanns, oft bilden ſie auf günſtigen Bodenſtellen ausgedehnte Gebüſche, ſelbſt den Reiter zu Pferde überragend, der in ihm rathloſer iſt, wie im Walde, da ſie jeden Umblick verhindern und doch keinen Stamm dar - bieten, den man erklettern könnte. Neben der Diſtel erhebt ſich mannshoch der Wermuth untermiſcht mit der rieſenmäßigen - nigskerze, dem Steppenlicht der Kleinruſſen. Selbſt die kleine Schaafgarbe wird mehrere Fuß hoch und wird nicht gering ge - ſchätzt, da ſie von dem bei ärmlichem Vorrath die Hitzkraft des Burian ſorgfältig prüfenden Bewohner als das beſte Brennmaterial geſchätzt wird. Von allen Pflanzen des Burian iſt aber die characteriſtiſchſte327 die, welche die Ruſſen perekatipole den Springinsfeld, die deutſchen Coloniſten faſt noch bezeichnender die Windhexe nen - nen. Eine dürftige Diſtelpflanze zerſplittert ſie ihre Kraft in der Bildung zahlreicher, dürrer, dünner Zweiglein, die ſich nach allen Seiten hin ausbreiten und ineinander verwirren. Bitterer als der Wermuth wird ſie auch im dürftigſten Hungerjahr von keinem Vieh berührt. Die Kuppeln die ſie im Raſen bildet, werden oft drei Fuß hoch, haben zuweilen 10 15 Fuß im Umfang und ſind aus lauter zarten dünnen Aeſtchen gewölbt. Im Herbſt fault der Stamm der Pflanze ab, die Zweigkugel trocknet zu einem großen federleichten Balle aus, den dann der Herbſtwind durch die Lüfte über die Steppe führt. Viele ſolcher Bälle fliegen oft auf einmal über die Ebene, mit einer Schnelligkeit, daß kein Reiter ſie einholen kann, bald hüpfen ſie in kurzen raſchen Sprüngen über den Boden, bald wirbeln ſie in großen Kreiſen übereinander wegkugelnd zu ge - ſpenſtiſchem Reigen auf den Raſen fort, bald ſteigen ſie plötzlich vom Wirbel gefaßt zu hunderten hoch in die Luft. Oft häkelt ſich eine Windhexe an die andere, zwanzig andere geſellen ſich hinzu, die ganze rieſige und doch luftige Maſſe rollt vor dem pfeifenden Oſtwind da - hin. Man braucht wahrlich keine Felſenſchlünde, keine Bergwerke, oder heulende Seeſtürme, um Nahrung genug für den Aberglauben des Menſchen zu finden. Ein gefährlicheres Leben erhält die Steppe, wenn ein Landmann ſein Gehöfte gereinigt , d. h. den Burian auf demſelben und alle Reſte des durch die neue Erndte unbrauchbar gewordenen alten Strohs und Heus mit den darin enthaltenen Mäuſen und anderem Ungeziefer in Brand geſteckt und dieſer das dürre Gras der Steppe ergriffen hat. Im gewöhnlichen Graſe fährt er wie eine Schlange mit mäßiger Raſchheit dahin, hier ergreift er einen Bu - rianbuſch und mit gewaltigem Lärm, platzend und ziſchend lodert die Lohe hoch gen Himmel, dann eine Strecke mit üppigen Federgras erreichend zuckt ſie in zarten weißen Flammen auf, ſchwingt ſich mit ſchrecklicher Gewandtheit über das wogende Feld, die Millionen zarter Federchen in wenig Augenblicken verzehrend. Zuweilen, zwiſchen zwei328 vegetationsentblößte Wege, oder zwiſchen Waſſerriſſe eingeklemmt, zieht ſich die Flamme eng zuſammen faſt dem Verſchwinden nah, dann plötzlich eine neue Dürrgrasfläche erreichend, gewinnt ſie neue furchtbare Kräfte, in ein weites Rauch - und Feuermeer auseinander - gehend, in welchem die höher und heller aufwirbelnden Feuerſäulen die unglückſeligen Stätten menſchlicher Wohnungen bezeichnen. Auf unberechenbaren Kreuz - und Querwegen bewegt ſich ein ſolcher Step - penbrand oft acht und zehn Tage in einer Gegend umher, jedem verän - derten Windzuge folgend, oft jedem noch ſo wohl überlegten Verſuch zur Flucht Hohn ſprechend. Endlich kommt ein Regen und das mäch - tige Element des Feuers unterliegt dem noch mächtigeren des Waſſers.

Aber die Steppe iſt öde, der Vegetation beraubt, was die Flamme verſchonte war ohnehin ſchon als Opfer dem eiſigen Hauche des ein - dringenden Winters verfallen. Immer dichter und düſterer ziehen die Wolken heran, immer dichter fällt der Schnee und immer ſchneidender zieht der kalte Nord über die ſchutzloſe Fläche. Der verſpätete Reiſende treibt haſtig ſeine Pferde zur angeſtrengteſten Eile. Silberne Streifen erheben ſich von der Ebene und ſteigen immer häufiger auf, der Wind fängt an zu heulen und zu ſauſen, die Luft erglänzt mehr und mehr von Kryſtallen des Schnees und endlich wird dies Alles eine dichte dunkle Maſſe, die in einer Richtung fortzieht, bis ſie vom Wirbel - winde gefaßt ſich im Kreiſe dreht, oder von den erhabenen Stellen der Steppe abprallt. Es iſt der Buran, der Steppenſturm; ſchon lange hat der entſetzte Führer ſeine Wahrzeichen erkannt und mit verzweif - lungsvoller Kraft auf die allmälig ermattenden Pferde gepeitſcht. Heftiger und ſchneller folgen ſich die Schneewirbel, in wehendem Schwindel alles umkreiſend und betäubend, jeder Gedanke an Orien - tirung muß aufgegeben werden und blindlings überläßt man ſich dem Zuge der Roſſe, die nun ſelbſt wie vom Wahnſinn gejagt durch die Ebene dahinfliegen. An dem Schlitten vorbei brauſt eine entſetzte Heerde und kaum erlaubt ein flüchtiger Blick durch den dichten Schnee - ſtaub zu erkennen wie ſie blindlings in ihrer Angſt einen Felſenabhang329 hinunterſtürzt, an deſſen Fuße im nächſten Frühling ihre zerſchmet - terten Gebeine bleichen werden.

Jede Hoffnung ſcheint verloren und der Untergang gewiß, ſchon bricht die Nacht herein, da ermattet der Sturm; die aufgejagten Schneemaſſen ſenken ſich und plötzlich wie er entſtanden legt ſich auch nach kaum halbtägiger Dauer der Buran wieder, der Luftkreis wird noch einmal durch das abendliche Dämmerlicht erhellt und der erſchöpfte Reiſende ſieht vor ſich eine menſchliche Wohnung. Bietet ſie auch nur geringe Entſchädigung für die ausgeſtandenen Beſchwerden, ſo erlaubt ſie doch wenigſtens den Schlummer. Ein freundlicher Traum trägt den müden Wanderer in die ferne Heimath. An den freundlichen Ufern des ſanft dahingleitenden Fluſſes wandert er durch üppige Wieſen, der Abend ſenkt ſich herab auf die erwärmten Fluren. Feuchte Thaunebel erheben ſich erquickend vom Boden und ziehen durch die Ufererlen und hüllen ſie in ihren Schleier, Erlkönig und ſeine Töchter umſchweben in neckiſch-wechſelndem Spiel der Ge - ſtalten die altersgrauen Stämme der Weiden. Da bebt durch die duftige Abendluft ein leiſer Klang. Die Glocke des heimathlichen Dorfes ruft den Heimgekehrten nach raſtloſem Umherſtreifen in der großen Gotteswelt, nach reichen Anſchauungen, anregenden Aben - theuern, ſpannenden Mühſeligkeiten und wunderbaren Genüſſen zurück zur Ruhe, in das trotz alles Dazwiſchenliegenden unvergeſſene und unvergeßliche Paradies der Kindheit, in das Elternhaus, in die Arme der Mutter.

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

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About this transcription

TextDie Pflanze und ihr Leben
Author Matthias Jacob Schleiden
Extent357 images; 91417 tokens; 15884 types; 670716 characters
Responsibility Alexander Geyken, ed.; Susanne Haaf, ed.; Bryan Jurish, ed.; Matthias Boenig, ed.; Christian Thomas, ed.; Frank Wiegand, ed.

CLARIN-DNote: Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe

EditionVollständige digitalisierte Ausgabe.

About the source text

Bibliographic informationDie Pflanze und ihr Leben Populäre Vorträge Matthias Jacob Schleiden. . [4] Bl., 329 S., IV Bl. EngelmannLeipzig1848.

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Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz SBB-PK, M 2130http://stabikat.de/DB=1/SET=12/TTL=1/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=695057693

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Fraktur

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ClassificationFachtext; Biologie; Gebrauchsliteratur; Populärwissenschaft; Wissenschaft; Biologie; core; ready; china

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